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Full text of "Historische Vierteljahrschrift 26.1931"

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HISTORISCHE 
VIERTELJAHRSCHRIFT 


ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT 
UND FÜR 
LATEINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS 


HERAUSGEGEBEN VON 


Dr. ERICH BRANDENBURG 


O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


XXVI JAHRGANG 


VERLAG UND DRUCK 
BUCHDRUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG 
DRESDEN 1931 


Alle Rechte vorbehalten. 


-4 


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Hr. 


INHALT DES XXVI. BANDES. 


Aufsätze. 
a) Zur Geschichtswissenschäft. | 

Buchheim, Karl, Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke. . = . . . 
Fiehn, Karl, Albertus Stadensis. Sein Leben und seine Wer ze 
Franz, Eugen, Preußens Kampf mit Hannover um die Anerkennung des 
reußisch-französischen Handelsvertrages von 1862 . .. 2.2... 
Gackenholz, Hermann, Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 
Hashagen, Justus, Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 
Kayser, Emil, Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren 
Lies, Richard, Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige in ihrem Verhältnis 
zur Goldenen Bulle. ....................... 
Meiboom, Siegmund, Bismarck und Bayern am Bundestag 
Moeller, Richard, Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutsch- 
lands. 1527: ee Oe ee E nue A m 
Schiff, Otto, Die Wirsberger. Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionüren 
Apokalyptik im 15. Jahrhundert. ................. 
Schreiber, Albert, Drei Bei zur Geschichte der deutschen Gefangen- 
schaft des Königs Richard Lówenherz . . . . . . . . . 20000. 
Stach, Walter, Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die 
Stammesrechte. I. Teil: Probleme der handschriftlichen Überlieferung 
der bayerischen Lex. Mit zwei Exkursen zum Texte der Leges Visigo- 
lll. ee cw aa A 

Stein, S., Die Naturalwirtschaft. Eine kritisch-theoretische Studie . . 
Vossler, Otto, Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution 


b) Zur mittellateinischen Philologie. 

Fiehn, Karl, Albertus Stadensis. Sein Leben und seine Werke . . . .... 
Hofmeister, Adolf, Zur Überlieferung zu Cassiodors Variae. Mit einer Tafel: 
entum Koppmannianum. . . . 2.2 2 2 eres 
Lehmann, Paul, Ein neuentdecktes Werk eines angelsächsischen Gramma- 
tikers vorkarolingischer Zeit 
Ottinger, Hans, Zum Latein des Ruodlieb . ............. 
Schumann, Otto, ,,Bernowini episcopi carmina“. . . . . . . .. . .. 

Stach, Walter, Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft . . 
Strecker, Karl, Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis . . 
ue Hans, Lateinische Verseintráge in einem Vocabular des 15. Jahr- 
tt! ⁵ a a aa a a a a 


Kleine Mitteilungen. 
| a) Zur Geschichtswissenschaft. 
Herrmann, Otto, Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 
Lampe, K. H., Helwig von Goldbach, Mars , Landmeister und Land- 
komtur des Deutschen Ritterordens . . mne 
Laubert, Manfred, Bunsens Beziehungen zur polnischen Emigration in den 
Anfängen seiner Londoner Zeit 


IV Inhalt 


\ b) Zur mittellateinischen Philologie. | Seite 
Bulst, Walther, Zu Dante, de monarchia 122383 840 
Lehmann, Paul, Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit 605 
Strecker, "Karl, Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 178 
Wilsing, Niels, Naturgefühl im Mittelalter 349 


Bespreehungen. 
a) Zur Geschichtswissenschaft. 


Aegidius Romanus, De ecclesiastica yos usps ed. R. Scholz (Kim) . . . 398 
Ahlhaus, J., Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diózese Hildes- 


heim im Mittelalter Uhr 88 423 
Analecta 5 Tom. V (Dersch)))))))): 426 
Aus genealogischen Zeitschriften (Lampe) 2 99 o6 us u % 435 
hes iE ernardino, Le Finanze della Repubblica Fiorentina, Bd. I a 
Becker, Willy, Fürst Bülow und England 1897—1909 (Michaelis) . . . . . 654 
Beierlein, "i R., Geschichte der Stadt und Burg Elsterberg i. V., Bd. II i 

(LADO). 7 4-38 79€ ea EEE 42 
Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte. Festschrift für 

O. Dobenecker 9 nf Nee Be ee gr 414 
Biegeleben, Ludwig Freiherr von, Ein Vorkämpfer des großdeutschen Ge- 

dankens (Mommsen) PERRE ⁰ Zn Se ae der uc 434 
Borries, Kurt, Preußen im Krimkrieg (Heffter) )) 409 
Bonjour, Edgar, Preußen und Österreich im Neuenburger Konflikt 1856—57 

Michaelis). %.. ( ⁊ĩͤ ee 435 
Braun, Franz, und Ziegfeld, Hillen, Geopolitischer Geschichts-Atlas, 

1. Teil (Reuther) / rx "pam 216 
Fürst von Bülow, Bernhard, Denkwürdigkeiten, Bd. 1 und 2 (Brandenburg) 209 
Butler, Abt Cuthbert, Benediktinisches Mönchtum (Dersch) . . . . .. . 217 
Calmette, J. et Périnelle, G., Louis XI et l'Angleterre, 1461—1483 (Cartel- 5 

EIn ar Sande ⁵ð b ⁵ ⁵⁵⁵mp̃ ̃ĩðĩꝝtL̃ꝓß]· e RAN ee uude. 
Concilium Tridentinum ed. V. Schweitzer (Friedensburg). ). 665 
Constant, G., La Réforme en Angleterre, I. Le Schisme Anglican Henri VIII. 

(Leube) j dod exo RI e olt e diede Doe dea S ee 429 


Corpus Catholicorum, Heft 14: Johannes Eck, Vier deutsche Schriften, 
g. von K. Meisen und F. Zoepfl; Heft 16: Tres orationes funebres 
in exequiis Ioannis Eckii habitae. Hrsg. von J. Metzler (Wendorf). . 663 
Crous, Ernst, und Kirchner, Joachim, Die gotischen Schriftarten (Kirn) . 216 
Dahlmann- - Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte. 9. Aufl. Hrsg. 


von H. Haering (VOTBOUE)- 2 er e y EURO e 890 
Danzer, Beda, Die Benediktiner Regel in der Übersee (Dersch ). 217 
Dessau, Hermann, Geschichte der römischen Kaiserzeit, II, 2 (Groag) . 380 
Dorn, Arno, Robert Heinrich Graf von der Goltz (Heffter) QR are ar 410 
Elze, Walter, Tannenberg (R. Schmitt) . ............... 412 
Ders., Der Streit um Tauroggen (W). ......... es 433 
Festschrift, Armin Tille zum 60. Geburtstag (Lampe)... . . .. .- 416 
Fichte, J. G., Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von H. Schulz 

(Erben) „%% N Ze vera onc iod Nur dii Nae cera ue dn. Lad 221 
Franke, Richard Walter, Zensur und Presseaufsicht in Leipzig 1880—48 

(Wendorf) "——À / R o A A 667 
Franziskanische Studien, 16. und 17. Jahrgang (Dersch) 659 
Frey, Siegfried, Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in Oberitalien im 

12. und 13. Jahrhundert (Fed. Schneider) . ............ 201 


Germania Romana. Ein Bilderatlas, hrsg. von der Römisch-germanischen 


Kommission. 22. Aufl. (Stach) 639 
Götze, Ludwig, Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal (Lampe). 427 
Gradmann, Robert, Süddeutschland mie io ——— "nr 418 


Gutenberg- Jahrbuch 1930 (Herbst 662 


Inhalt 


Gutmann, Felix, Die Wahlanzeigen der Päpste bis zum Ende der avig- 

. nonesischen Zeit (W. Holtzmann) ................. 

Guyot, R, Lefebvre, G., et Sagnac, Ph., La Révolution française (H. 
Hintze 


FF ĩ ð ⁵ T e I9 C ose TROU oce di 
Hein, Max, Otto von Schwerin, der Oberpräsident des Großen Kurfürsten 
C 454 o Se oU» r oboe ĩðx ĩ a 
Hessel, Alfred, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Kónig Albrecht I. 
von Habsburg (Schmeidler) . . . ................. 
Hessische Biographien, hrsg. von H. Haupt (Oppermann) 
Hilpisch, Ay Im Geschichte des benediktinischen Mönchtums (Dersch) 
Holtzmann, Robert, Der Kaiser als Marschall des Papstes (Schmeidler) . . 
Hoppe, Willy, Lenzen. Aus tausend Jahren einer märkischen Stadt 929—1929 


International Bibliography of Historical Sciences, 1. Jahrg. (Stach) . 
Jaffé, Fritz, Zwischen Deutschland und Frankreich. Zur elsässischen Ent- 
wickl (König) , d e O E A 
Jecker, ie Heimat des hl. Pirmin, des Apostels der Alamannen (Stach) 
—, Dazu ein Nachtrag 
Jacoby, Felix, Die Fragmente der griechischen Historiker (Schachermeyr) 
Kirchner, Joachim, und Crous, Ernst, Die gotischen Schriftarten (Kirn) . 
Konetzke, Richard, Die Politik des Grafen Aranda. Ein Bei zur Ge- 
schichte des spanisch-englischen Weltgegensatzes im 18. Jahrhundert 
(Hasenclever) .......... 77 A o de RS 
Lan i 1 Bismarck und die norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866 
e)) ee ee 1e Ld 
Lefebvre, b. Guyot, R, et Sagnac, Ph., La Révolution francaise (H. 
Hintze 


Lemmens, Leonhard, Geschichte der Franziskanermissionen (W. Holtzmann) 
Lornsen, Uwe Jens, Briefe an seinen Vater (Bück) . . . . . . . ... 
Marx, Karl, Das Kapital. vg dure und eingeleitet von Kautsky ( Wendorf) 
M. G. H., Die Urkunden der deutschen Kónige und Kaiser, V,2. Die Ur- 

kunden Heinrichs III. (Schmeidler) . . . . ........... 
Michael, Horst, Bismarck, land und Europa (Michaelis). 
Müller, Karl, Aus der akademischen Arbeit. Vorträge und Aufsätze (Wendorf) 
. Nadolny, Rudolf, Germanisierung oder Slavisierung? (Neumann) . . . . 
Neubner, Joseph, Die Heiligen Handwerker in der Darstellung der acta sanc- 


Pontificum Romanorum diplomata papyracea in tabulariis Germaniae, 

Hispaniae, Italiae, BoulbllU suua‘ 
Preller, Hugo, Salisbury und die türkische Frage im Jahre 1895 (Michaelis) 
RA des Mainzer Domkapitels seit 1450. III, 1 (1514—1545) 
Quellen zur Frage Schleswig-Haithabu. . Von Otto Scheel (Hoffmann) 
Quellen zur Geschichte der Kaiverkrönung Karl des Groben.! Hrsg. von 

Dannenbauer (Stach). . . ........ ees 


VI Inhalt 


Regesten der Erzbischófe von Bremen. . von May (Lübbing) - er 
Richer, Histoire de France (888—996), éd. par touche, Tom. I (Manitius) 
Bore Fritz, Das Einkaufsbüchlein der Nürnberg-Lübecker Mulichs auf der 
ankfurter Fastenmesse des Jahres 1495 ( PP 
Rundnagel, Erwin, Die Chronik des Petersberges bei Halle (Herbst) 
Sagnac, h., Lefebvre, G., et Guyot, R., Le Rövolution francaise (H. Hintze 
Samanek, V., Studien zur Geschichte König Adolfs (Schmeidler . - - - - 
Scheel, Otto, Martin Luther, 3. und 4. Aufl. (Wendorff). 
—, Dokumente zu Luthers Entwicklung, bis 1519 (Wendorf) . . . - % 
Schiffers, Heinrich, Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt (Herbst) 
Schmidt, Alfred, Die Kölner Apotheken von der ältesten Zeit bis zum Ende 
der reichsstädtischen Verfassung (Englert) .. cc 
Seeley, J. R., Die Ausbreitung, Englandi (O. Vossler) » esset 
Sello, Georg, Oestringen und Rüstringen (Lübbing) . - - eben Kam. 
Sonderveröffentlichungen der Ostfälischen Familienkundlichen Kom- 
mission, Nr. tamp) din anan a a dud ed dis PE d 
Steck, F. B., The Jolliet- arquette Expedition, 1673 (O. Vossler) . » - - 
Strassmann, Paul, Aus der Medizin des Rinascimento (Englert) 
Studien und een zur Geschichte des Benediktinerordens und 
geiner Zweige. NF. Bd. 16 (Dersch) - » « = + „ a rahe 
Sütterlin, Berthold, Die Politik Kaiser Friedrichs II. und die rómischen 
Kardinäle in den Jahren 1239—1250 (Fed. Schneider 
Tümmler, Hans, Die ‚Geschichte der Grafen von Gleichen (Lampe) . - - 
Tschirch, Otto, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der 
Havel (Lampe). n" or dem Weltkrieg 1904-190 
Uppl . ERR Die englische Flottenpolitik vor dem Weltkrieg 1904—1909 
lll sec IMS, Bde 
Valentin, Veit, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—1849, Bd. 1 
f Hartung). ee ., der Stastskunst Kaiser Friedrichs Il 
Vehse, Otto, Die amtliche Propaganda in der Staatskunst Kaiser Friedrichs II. 
(Fed. r ICE E QUE S ROCHE: 
Wenger, Leopold, Der heutige Stand der römischen Rechtswissenschaft 
JJ EIU NIS UE IIT 
Zechlin, Egmont, Bismarck und die Grundlegung der deutschen Großmacht 
ff ee: 
Zedler, Gottfried, Die sogenannte Gutenbergbibel (Herbst)). . : 
Ziegfeld, H., und Braun, F., Geopolitischer Geschichts-Atlas, 1. Teil 
(Reutber ).. . . ale kirrkgizischen Wollgewerbes im 17. und 
Ziehner, LEE: Zur Geschichte des kurpfälzischen Wollgewerbes im 17. und 
18. Jahrhundert (Fischer)) 
b) Zur mittellateinischen Philologie. 
Asinarius und Rapularius, hrsg: von K. Langosch (Spanke )) 
Cooper, Lane, A Concordance of oethius (Blatt) . g. 
J f Putnam Fennell, A Concordance to the Historia Ecclesiastica of Bede 
Blatt) t noi der Bibliothek der Abtei St 
Montebaur, Josef, Studien zur Geschichte der Bibliothek der Abtei St. 
Eucharius-Matthias zu Trier (P. Lehmann). . - : . 1^, von K 
Walther von Chätillon, Moralisch-satirische Gedichte, hrsg. von K. 
Strecker (Herkenrath). . e 8 naliungen altpbilologischei 
Weinberger, Wilhelm, Wegweiser durch die Sammlungen altphilologischer 
Handschriften (Schreiber): - ... ; :,* fur Geschichte des Natur 
Wührer, K., Romantik im Mittelalter. Beitrag zur Geschichte des Natur- 
gefühls, im besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts (Wilsing ). 
Nachrichten und Notizen. 

Gelehrte Gesellschaften und (Publikations-) Institute 448, 
rr 8 448, 


Todesfälle: Paul Joachimsen 222. — Hermann Grotefend 672. 


671 


Mittellateinische Philologie und Geschichts- 
wissenschaft. 


Von 


Walter Stach. 


Wenn im folgenden von der lateinischen Philologie des Mittel- 
alters und ihrem Verhältnis zur Geschichtswissenschaft die Rede 
sein soll, so ist das in keiner Beziehung programmatisch gemeint. 
Was es im ganzen mit dieser jüngsten, zur Selbständigkeit 
erstarkten Eigenprovinz des philologischen Forschens auf sich 
hat, ist aus der klassischen „Einleitung“ L. Traubes sattsam 
bekannt!, und ihren nächstliegenden Aufgabenkreis im einzelnen 
hat bereits P. Lehmann in einer anregungsreichen Akademie- 
abhandlung zur Genüge umschrieben“. 

Hier handelt es sich vielmehr darum, daB dank dem Heraus- 
geber mit dem vorliegenden Heft der HistorischenVierteljahrschrift 
eine mittellateinische Zeitschriftabteilung beginnt. Damit er- 
hält die mittellateinische Philologie, die bislang in der deutschen 
Zeitschriftenliteratur nur Gastrecht genoß, erstmalig und endlich 
auch bei uns, obzwar kein selbständiges Organ, so doch ein 
eigenes und periodisches Forum. Daß dies im Rahmen gerade 
einer historischen Zeitschrift geschieht, hat einen tieferen Sinn. 
Er gründet sich auf die inneren Beziehungen zwischen Philologie 
und Geschichtswissenschaft und besteht in der zentralen Be- 


! L. Traube, Einleitung in die lat. Philologie des Mittelalters. Vorlesungen 
u. Abhandlungen B. 2. München 1911. 

2 P. Lehmann, Aufgaben und Anregungen der lat. Philologie des Mittelalters. 
SB. Ak. München 1918. Vgl.auch E. Faral, L'orientation actuelle des études relatives 
au latin médiéval. Rev. des études lat. 1 (1923), S. 26ff. — Für jüngere Lit. verweise 
ich auf K. Strecker, Forschungsberichte über Mittellatein, in den Jahresberichten 
für deutsche Geschichte. Jg. 1, Leipzig 1927 ff. — Vorzüglich zur ersten Orientierung 


über die Probleme und die wichtigste Lit. ist auch K. Strecker, Einführung in das 
Mittellatein. Berlin 1928. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 1 


2 Walter Stach 


deutung, die die mittellateinischen Studien für die geschichtliche 
Erforschung des abendländischen Mittelalters hesitzen. Darüber 
seien mir zum Geleit der neuen Abteilung einige Worte ver- 
stattet. 

Zwischen der mittellateinischen Philologie und der mittel- 
alterlichen Geschichtswissenschaft hat sich im Gange der 
Forschung eine Wechselbeziehung herausgebildet?, die man 
nicht selten als ein hilfswissenschaftliches Verhältnis zu charak- 
terisieren versucht“. Das träfe insoweit zu, als man das Neben- 
einander der beiden Disziplinen bloß nach der notgedrungenen 
Praxis arbeitsteiliger Zerfächerung beurteilen dürfte. In Wahr- 
heit aber handelt es sich um eine cooperative Zuordnung, die 
in wesentlichen Zügen der organischen Arbeitsgemeinschaft von 
klassischer Philologie und alter Geschichte entspricht, und die 
nur um deswillen nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit 
hingenommen und anerkannt wird, weil sie noch in den ersten 
Anfángen ihrer Entwicklung steckt. Denn hier wie dort ist die 
fachliche Verschwisterung durch die fundamentale Tatsache 
bedingt, daB selbst die Geschichtsüberlieferung dieser Zeiten in 
einem spracblichen Zustande vorliegt, der es dem Historiker 
verwehrt, sie auch für seine Zwecke anders zu aktualisieren als 
auf dem Umwege über eine philologische Interpretation. 

Aus dieser Tatsache erwächst für das mittelalterliche Arbeits- 
gebiet eine weitgehende Wesensverwandtschaft von historischer 


* Man kann mit diesen Beziehungen, wenn man will, bei den Maurinern in 
Frankreich beginnen. Wir Deutschen werden uns immer auf die grundlegenden 
Arbeiten von L. Traube, W. Meyer und P. v. Winterfeld berufen. 

* So z.B. E.Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode S. 87ff. u. 284 fl. — 
Man sollte m. E. diesen Behelfsbegriff überhaupt verpónen, der neuerdings her- 
halten muß, um jede beliebige r&yvr, ja ßrvausta mit Hilfe wirklicher Wissen- 
schaften als &xtornun zu drapieren. — Etwas anders als Bernheim urteilt 
auf Grund der inzwischen gewandelten Sachlage W. Bauer, Einführung in das 
Studium der Geschichte, Tübingen 1928?, S. 171: „Wenn K. J. Neumann 
(Entwicklung u. Aufgaben der Alten Geschichte, Straßburger Rektoratsrede 
1910) behauptet: Ohne volle Beherrschung der philologischen Technik wäre alte 
Geschichte Dilettantismus, so gilt dies... für alle Teile der Geschichte. Mag... 
die Altertumswissenschaft das unerreichte, wenn nicht unerreichbare Vorbild für 
unsere Forschungsrichtung sein, angestrebt muß die Verwirklichung des hier vor- 
gesteckten Zieles werden. Es sprechen schon alle Anzeichen dafür, daß nun 
das Mittelalter an die Reihe kommt, daß auch da Philologie und Geschichte 
sich einträchtig in die Hände arbeiten werden." 


Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 3 


und philologischer Methode, die es jedem mittelalterlichen 
Historiker auferlegt, pro rata ein mittellateinischer Philologe 
zu sein. Denn mag sich der Eigenbereich historischer Begriffs- 
bildung und Anschauung noch so sehr von dem eigentlichen 
und letzten Ziele philologischer Betrachtungsweise abheben: ein 
philologisch gelegtes Fundament und eine streng philologische 
Auslegung bleiben für mittelalterliche Quellen auch unter 
geschichtswissenschaftlichem Gesichtspunkt die allgemeinste 
und unerläßliche Voraussetzung®. Philologie ist nun einmal 
nach ihrem Kern die persönliche Kunst und Virtuosität in der 
Behandlung des schriftlich Erhaltenen, und nur im Zusammen- 
hang mit dieser Kunst und ihren Ergebnissen kann jede andere 
Interpretation von Denkmalen oder geschichtlich überlieferten 
Handlungen gedeihenf. Eben darum ist auch das eigentümliche 
Ethos der Philologie mit dem der mittelalterlichen Geschichts- 
forschung im tiefsten Grunde identisch. Mittelalterliche Ge- 
schichte und mittellateinische Philologie sind beide darauf 
angewiesen, ihren Aufstieg zu hóheren und allgemeineren Stufen 
geschichtlicher Anschauung auf die immer verfeinerte sprachliche 
Sicherung und kritische Deutung, auf die immer erneute und 
gesteigerte Verlebendigung eines erstorbenen Wortlautes zu 
gründen. Beide bedürfen daher auf diesem Quellenboden in 
besonderem Maße des intellektuellen Gewissens, zu dem die 
Philologie von jeher durch ihre ausdauernde Bescháftigung mit 
dem Letzten und Kleinsten in vorbildlicher Weise erzog“. 


5$ Vgl. H. Use ner, Philologie und Geschichtswissenschaft. Bonn 1882, S. 29: 
Wenn es wahr ist, daß der boden aller geschichtlichen wissenschaft das geschriebene 
wort ist, so folgt daB die kunst, welche dasselbe feststellt und deutet mittelst ihres 
grammatischen vermógens, die letzte voraussetzung aller geschichtlichen forschung 
ist. — Insoweit wird wohl jeder Usener beipflichten müssen, selbst wenn man ihm 
im übrigen, wie Bernheim a. a. O., die grundsätzliche Zurückführung der Ge- 
schichtsforschung auf die zwei elementaren Operationen der Philologie bestreitet: 
auf die recensio als die Feststellung der durch Überlieferung gegebenen Tatsachen 
und die interpretatio als deren kritische Durchdringung, ihr Begreifen. 

* W.Dilthey, in der Neuausgabe der Gesammelten Schriften, B. 5, S. 319; 
dazu ders. in den Zusätzen aus den Handschriften ebd. S.336: Faßt man den 
Begriff im weitesten Sinne, so ist Philologie nichts anderes als der Zusammenhang 
der Tätigkeiten, durch welche das Geschichtliche zum Verständnis gebracht wird. 

7 Vgl. Th. Mommsen, Rektoratsrede (1874) über das Geschichtsstudium 
(Reden u. Aufsätze, Berlin 1906; insbes. S. 10ff.), der von dem obigen Gesichts- 
punkt her die philologische Bildung neben der Kenntnis des Rechtes als eine dem 


1* 


4 Walter Stach 


Nun liegen die Dinge in praxi so, daß eigentlich nur die 
politische Geschichte des Mittelalters und die ehrwürdige, ihr 
zugeordnete Gattung der erzählenden Geschichtsschreibung es 
im wesentlichen aus eigener Kraft vermocht haben, das gegen- 
standsgebotene Ineinander von philologischer und historischer 
Methode zu betätigen. Denn. nur auf diesem Mutterboden der 
Geschichte ist es der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft 
bisher gelungen, in folgerecht zunehmender Philologisierung des 
Steinschen Nationalwerkes, der Monumenta Germaniae, sich 
das erforderliche Corpus kritischer Quellenausgaben zu schaffen 
und — um nur eines noch zu nennen — dazu in der Urkunden- 
lehre eine Musterstätte mittellateinischer Spezialforschung zu 
begründen, der die Gesamtdisziplin des Mittellatein, die daneben 
aus dem Schoße der klassischen Philologie hervorging, eine 
erhebliche Förderung ihres Aufbaues verdankt. 

Aber über die Erforschung und Darstellung politischer 
Wirkungszusammenhänge hinaus: für die Geschichte der Kirche 
und ihrer Lehre im Mittelalter, für die Geschichte seines geistigen 
Lebens überhaupt, für seine Bildung, Literatur und Welt- 
anschauung, kurz für die innere Ausweitung der mittelalterlichen 
Geschichte zu einem Gesamtwesen dieser Epoche und dessen 
Eingliederung in das Gefüge abendländischer Kultur, da über- 
steigt es die Durchschnittskraft des einzelnen, mittelalterlicher 
Historiker und mittellateinischer Philologe in einem und ganzem 
zu sein®. In dieser Beziehung sind beide Disziplinen durchaus 


Historiker unentbehrliche Propädeusis bezeichnet und u.a. ausführt: „Man hört 
wohl die Theorie aufstellen, daß das genaue Verständnis der Quellen eine spezifisch 
philologische Aufgabe sei und für den Historiker es genüge im allgemeinen sich 
durchfinden zu können; und diese Theorie ist der Praxis der Trägheit nur allzu will- 
kommen ... Das Übelste hierbei sind nicht die einzelnen Mißverständnisse, die daraus 
entstehen, sondern der Mangel an geistiger Durchdringung des Gegenstandes ... 
Um nur Rom zu nennen, wer dem Ennius und dem Horaz, dem Petronius und dem 
Papinian nicht nachzuempfinden vermag, der wird ewig von Roms Geschicken reden, 
wie der Blinde von der Farbe, mag seine.pragmatische Quellenforschung auch noch 
so korrekt sein“ (ebd. S. 12). — Vgl. für diese Zusammenhänge und für das Methodo- 
logische überhaupt auch Ph. A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodologie der 
philologischen Wissenschaften, hrsg. von E. Bratuscheck 1877, in 2. Aufl. von 
R. Klufmann, Leipzig 1886. 

8 Daß die Gegenwart die Schöpfung eines solchen individualwissenschaftlichen 
Gesamtbegriffes „Mittelalter“ tatsächlich heischt, ist unverkennbar. Ich verweise 
auf E. Troeltsch (Der Historismus und seine Probleme, S. 765), der dem Mittelalter 


Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 5 


zu gegenseitiger Fühlungnahme und wechselseitiger Ergänzung 
verurteilt; es erhellt aber auch mit einem Schlage die Unent- 
behrlichkeit, die der mittellateinischen Philologie für die gegen- 
wärtigen oder künftigen Aufgaben der mittelalterlichen Ge- 
schichts wissenschaft zukommt'. 


Das gilt bereits von der mittellateinischen Überlieferungs- 
geschichte, die auf der Handschriftenkunde im paläographischen 
Sinne aufruht. Denn bei dieser organischen Verbindung wird 
das mittelalterliche Handschriftenmaterial über die praktischen 
Zwecke kunstgemäßer Editionen hinaus zu einer Urkunden- 
sammlung des geistigen Lebens, auf die auch der Historiker 
zurückgreifen muß, wenn er den Geist des Mittelalters in seiner 
Unmittelbarkeit reaktivieren will. Sind doch die Texte als 
Handschriften Überreste von geistigen Prozessen, die sich in 
lebendigen Seelen vollzogen, und spiegeln von dieser Voraus- 
setzung her das geistige Schaffen verklungener Zeit in einer 
Ursprünglichkeit wider, vor der so manches äußere Zeugnis in 
seiner isolierten Zufälligkeit verbla8t!?, Schon daß überhaupt 
und wie irgendein Autor abgeschrieben worden ist, stellt eine 
kleine bistorische Tatsache dar, und alles, was dann folgende 
Schreiber von Eigenem mit Absicht oder unbewußt hinzugetan 
haben, ist der geschichtlichen Deutung und Auswertung fähig, 
so daß sich bereits die redaktionelle Wandlung der Texte, von 
den Randbemerkungen und Verbesserungen der Abschreiber 
bis zu ihren Fehlern, in die Geschichte des Geisteslebens der 
dem Autor gefolgten Zeiten einfügt. Ja im Zusammenhang mit 
dem oft aufschlußreichen äußeren Schicksal der Texte kann 


als der vierten Grundgewalt im Aufbau der europäischen Kultur eine der wichtigsten 
und wesentlichsten Funktionen zuweist und darum gerade für diese Epoche die 
verbreiterte und vertiefte Konzeption seines Gesamtwesens fordert, aber nicht im 
Sprunge dialektischer Konstruktionen, sondern auf empirische Forschung gegründet, 
als hóchste und schwierigste Leistung historischer Abstraktion. 

* Das ist natürlich a potiori der Quellen in lateinischer Sprache gemeint und soll 
die Bedeutung der benachbarten Philologien für diesen Aufgabenkreis in keiner 
Weise herabsetzen; im Gegenteil hat A. Hofmeister völlig recht, wenn er grund- 
sätzlich eine Philologie des Mittelalters überhaupt postuliert (Literarisches Zentral- 
blatt 1918, Sp. 503). 

1* Vgl. die mustergültige Leistung L. Traubes, Textgeschichte der Regula 
S. Benedicti (Abh. Ak. München, B. 25, 19100, an dessen philologiegeschichtliche 
Einleitung sich der folgende Satz im Wortlaut teilweise anlehnt. 


6 | Walter Stach 


daraus die Wiedererkenntnis literarischer Beziehungen und 
geistiger Strömungen entspringen, die sich der sonstigen Über- 
lieferung entziehen. Nur daß es zu solcher Aufgabe der eigens 
ausgebauten Forschung als Stütze bedarf, wie das die mittel- 
lateinische Philologie auf Traubes Grundlagen anstrebt: einer 
genetisch gedachten und streng historisch gerichteten Geschichte 
der Schrift, erweitert um die Erforschung der mittelalterlichen 
Schreibschulen und des mittelalterlichen Buch- und Bibliotheks- 
wesens. 

Gewiß ist ein solches Unternehmen auf weite Strecken 
philologisch-rekonstruktiv. Aber daß es zugleich für eine Ge- 
schichte der wissenschaftlichen Bestrebungen und des literarischen 
Geschmackes im Mittelalter erst die solide Grundlage schafft, 
steht außer Frage. Dazu kommt, daß die Textgeschichte nach 
der inhaltlichen Seite tief in die Erforschung mittelalterlicher 
Geistesart hineingreift. Ich meine die Überlieferung der antiken 
und patristischen Autoren, deren Nachleben einem großen Teil 
des mittelalterlichen Schrifttums das allgemeine tralatiziscbe 
Gepráge verleiht und dabei doch infolge der zeitlich und regional 
verschiedenen Stärke und Art der Nachwirkung das Gesicht der 
mittleren Jahrhunderte eigentümlich formt und ändert. Wohl 
fühlte man sich damals im ganzen als Erbe des Altertums, von 
einzelnen Eiferern gegen die artes abgesehen; ja man lebte zum 
Teil bewußt in einem beinahe humanistischen Dienste der 
Tradition, indem man Autoren von der klassischen Zeit bis zur 
christlichen Antike, die bis zu Augustin noch selbst von klassischer 
Bildung durchtränkt war, immer wieder nicht nur las, erklärte 
und abschrieb, sondern ihr Muster in schulmäßigen Übungen 
und in eigenen Werken der Gelehrsamkeit und Dichtung auch 
nachzuahmen und nachzubilden bestrebt war. Aber man durch- 
lebte dabei auch immer aufs neue die schicksalbafte Antinomie, 
daB man im Kampfe für die christliche Weltanschauung, im 
Ausbau einer einheitlich-christlichen Bildung auf heidnische 
Wissenschaft und ein Schrifttum zurückgriff, dessen heidnischem 
Anteil das christliche Gewissen zu widerstreben gebot. In dieser 
fortdauernden inneren Auseinandersetzung des Mittelalters mit 
dem Altertum ruht bereits selbst ein Problem, das sich bei 
einigem Nachdenken, wie L. Traube einmal gesagt hat, zu einem 
der wichtigsten unserer ganzen Kultur erweitert, dessen ge- 


Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 7 


schichtswissenschaftliche Bearbeitung aber nur auf die Ge- 
schichte der heidnischen und christlichen Texte im Mittelalter 
gegründet werden kann. 


Infolge der Einwirkungen nun, die von der fortlebenden 
Antike namentlich in Form und Stil auf das mittelalterliche 
Schaffen ausgestrahlt sind, berühren sich die einzelnen Schicksale 
der antiken Texte zugleich aufs engste mit der Geschichte der 
eigenen lateinischen Literatur des Mittelalters, die freilich neben 
den Nachahmungen römischer Vorbilder auch die selbständigen 
christlich-theologischen Werke und die volkstümlichen Schöp- 
fungen umfaßt, in denen sich „die nationale Literatur durch- 
ringt, ohne die Anwendung der nationalen Sprachen zu wagen“. 
Dieser Literatur im ganzen erst einmal Herr zu werden, ist eine 
weitere wichtige, ja die ureigentümliche Aufgabe mittellateinischer 
Philologie, die nach dieser Richtung noch eine wahre Pionier- 
arbeit für das geschichtliche Verständnis und die ideengeschicht- 
liche Durchdringung des Mittelalters zu leisten hat. Denn es 
sind Hunderte von irgendwie bedeutenden lateinischen Schrift- 
stellern und Schriften noch zum ersten Male zu veröffentlichen, 
Hunderte in kritisch befriedigender Form herauszugeben, 
Hunderte in ihrer Eigenart zu untersuchen und zu würdigen, 
untereinander zu verbinden, in die Geschichte der literarischen 
Stoffe, der formalen Gattungen, der Wissenschaften, in die 
Geschichte der geistigen Entwicklung einzelner Stätten, Stände, 
Völker und Länder einzureihen!!: ein schier unübersehbares 
Meer von Aufgaben, an dessen Horizont erst die ideale 
Geschichte des mittelalterlichen Geisteslebens auftaucht, so- 
wohl als Teil einer Geschichte der abendländischen Kultur, wie 
auch als Teil der Geschichte der romanisch-germanischen 
Völker!®. Ist doch die gesamte Literatur in der Übergangszeit 
vom Altertum zur Neuzeit entweder selbst lateinisch oder durch 


H P. Lehmann, Aufgaben und Anregungen, S. 53. — Das Ausmaß der Aufgabe 
erhellt für jeden schon aus der bahnbrechenden Vorarbeit von M. Manitius: Ge- 
schichte der lat. Literatur des Mittelalters, B. I u. II (III vor dem Abschluß), Mün- 
chen 1911 u. 1923. 

12 Wer mit vorschnellem Werturteil etwa bezweifelt, daß ein solches Unter- 
nehmen die aufzuwendende Mühe verlohnt, wer etwa für die antike Literatur zwar 
Usener (a. a. O. S. 28) zugibt, daB aus Archivalien allein, und wären es venezianische 
Gesandtschaftsberichte, sich Geschichte nicht schreiben läßt, aber der mittellatei- 


8 | Walter Stach 


das Latein bedingt und beeinfluBt!*. Dabei ist für die Geschichts- 
wissenschaft namentlich die literargeschichtliche Sonderung 
und Durcharbeitung der einzelnen Genera mittellateinischer 
Literatur von Bedeutung, da nur von diesem Zusammenhang 
her die Geschichte der Geschichtsschreibung des Mittelalters 
erforscht und dargestellt werden kann, eine Aufgabe, die selbst 
wieder eine wesentliche Voraussetzung zu verfeinerter, kritischer 
Würdigung der mittelalterlichen Geschichtsquellen ist. Denn 
wie die klassische Philologie in der neueren literargeschichtlichen 
Forschung die Technik der Erzählung in den Vordergrund ge- 
rückt hat und damit die Klassiker der rómischen Historio- 
graphie auf Grund des intensiven Studiums ihrer schriftstel- 
lerischen Eigenart und ihrer historiographischen Kunst auch als 
Geschichtsquellen in vertiefter Weise erschließt !4*, so sind auch 
auf mittelalterlichem Felde die Erzählertechnik eines Gregor 
von Tours, die weltanschaulich gerichtete Geschichtsbetrach- 
tung eines Otto von Freising, der erbauliche Unterhaltungs- 
charakter der Heiligenleben, die Stoffverknappung in der Anna- 
listik und anderes unter literarhistorischem Gesichtspunkt zu 
untersuchen und so die gesamte historiographischeÜ berlieferung im 
Sinne literargeschichtlicher Gattungen genauer zu analysieren Mb, 


nischen Literatur nicht zutraut, daß auch sie an ihrem Teile die treibenden Kräfte der 
Zeit zu künden weiß, den möchte ich auf zwei Aufsätze von P. v. Winterfeld ver- 
weisen: Die Dichterschule St. Gallens und der Reichenau unter den Karolingern und 
Ottonen, und Hrotsvits literarische Stellung, beide wieder abgedruckt in den Deutschen 
Dichtern des lat. Mittelalters, hrsg. von H. Reich, München 1922. — Ganz in 
dem obigen Sinne &uBert sich auch W. Bauer, Einführung S. 171f: Erst wenn 
auch für diese Zeit (sc. das Mittelalter) die Sprache der Bildung, der Philo- 
sophie und eines großen Teils der schönen Literatur, wenn das Latein, das in 
diesen Jahrhunderten eine sich weiterbildende, lebende Sprache war, nach allen 
Richtungen hin durchforscht und gedanklich wie formal ausgewertet sein wird, 
erst dann wird man die geistesgeschichtlichen Grundlagen gewonnen haben, um 
zum vollen Verstándnis seiner Kultur zu gelangen. 

33 L. Traube, Einleitung S. 137. 

14% Vgl. R. Heinze, Die gegenwärtigen Aufgaben der römischen Literatur- 
geschichte, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, B. 19, Jg. 1907, S. 170. 

14b Vgl. L. Traube im Vorwort zur 7. Aufl. von Wattenbachs Geschichts- 
quellen S. XI: Eine Geschichte der Historiographie im Mittelalter kann auf den 
verwischten Spuren und den übereinander gehäuften Trümmern der ersten Auf- 
lage der ,,Geschichtsquellen" nicht mehr errichtet werden; diese Geschichte, die 
uns nottut, ist von Grund auf neu zu schaffen. 


Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 9 


Neben der literarhistorischen Riesenaufgabe mittellateinischer 
Philologie steht eine zweite, die eigentlich alles bisher Gesagte 
als die primäre Voraussetzung trägt: die Erforschung des vom 
Mittelalter gebrauchten Lateins. Auf diesem sprachgeschicht- 
lichen Felde unterlag die Verklammerung von Philologie und 
Geschichtswissenschaft wohl nie einem Zweifel, und zum min- 
desten hierin ist der Historiker des Mittelalters zu eigener Mit- 
arbeit berufen und verpflichtet, wenn er anders nicht Gefahr 
laufen soll, zum Mietling im eigenen Hause zu werden!®. Nur 
darf man die Dinge nicht so ausschließlich unter den Gesichts- 
winkel eines neuen Du Cange oder eines verbesserten Forcellini 
rücken, wie das gewöhnlich geschieht und neuerdings durch das 
lexikographische Projekt der Union académique internationale 
selbst von mittellateinischer Seite nahegelegt scheint. Gewi ist 
ein solches Wörterbuch, wie es die vereinigten außerdeutschen 
Akademien für die Zeit bis zum Ende des 10. Jahrhunderts 
planen, ausgestattet mit einer systematischen Topographie der 
Belege und gerichtet auf die Erfassung des kirchlichen und 
vulgären Elementes im Mittellatein, ein wirkliches Desiderat und 
wäre neben dem Thesaurus linguae latinae, der auch dann noch 
die wissenschaftliche Grundlage bleibt, von beträchtlichem 
Nutzen. Aber es wäre ein Wahn zu glauben, man könnte die 
eigentlichen und wesentlichen Schwierigkeiten mittellateinischer 
Texte mit einer lexikographischen Großtat sozusagen aus der 
Welt schaffen. Denn das Mittellatein kennt wohl einen reichen 
Bedeutungswandel, der jeweils literarhistorisch bedingt ist, aber 
keine natürliche Wortgeschichte, wie das Wachstum einer 
lebenden Sprache. Und hinter der wechselnden Wortbedeutung, 
hinter der sich wandelnden copia verborum stünde noch immer 
das Mittellatein im Sinne der grammatischen Fügung und des 
stilistischen Ausdruckes, beide wiederum nicht im eigentlichen 


1$ In diesem Sinne auch E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 
S. 284f.: Je mehr der Historiker philologisch gebildet ist, um so tiefer und sicherer 
eröffnet sich ihm das Verständnis der Quellen. Während das auf dem Gebiet der 
alten Geschichte als selbstverständlich gilt, ist es auf dem der späteren Geschichte 
durchaus noch nicht genug anerkannt, obwohl der Mangel an philologischer Kennt- 
nis sich da kaum weniger rácht ... Es muB ein Lexikon und eine Grammatik der 
mittelalterlichen Latinität auf Grund von Einzeluntersuchungen geschaffen werden, 
wie davon nur erst wenige vorliegen. Hier gilt es, Hand anzulegen! 


10 Walter Stach 


Sinne organisch geworden. Denn das Mittellatein im ganzen ist 
eine ausgesprochene Buch- und Hochsprache, fast möchte man 
sagen: eine Schreibe und keine Rede, und stellt trotz allem 
lebendigen Gesprochenwerden einen künstlichen Synkretismus 
zwischen widerstrebenden sprachlichen Kräften dar, der ge- 
wissermaßen dauernd im Fluß bleibt. In seinem Grundstock 
hält es den sprachlichen und stilistischen Besitzstand des Spät- 
lateins aus dem 6. und 7. Jahrhundert fest, bevor die gesprochene 
Sprache in den auch später noch zurückwirkenden romanischen 
Idiomen eigene Gestalt gewann; daher auch sein analytischer, 
rhetorischer und beinahe hyperbolischer Grundzug. Ferner 
bleibt es auf die Dauer in hohem Maße literarisch abhängig von 
dem eigentümlichen Übersetzungslatein der Bibel, der Sprache 
der Liturgie und der kirchlichen Autoren und wird zum dritten 
selbst in dieser allmählich gefesteten Synthese immer wieder 
durchkreuzt und gebrochen durch den jeweiligen Bildungsstand 
und die Erudition dessen, der es gerade schreibt und dabei dem 
Einfluß der gelesenen und nachgeahmten älteren, auch klassischen 
Schriftsteller untersteht. Infolgedessen kann es einen Passe- 
partout zum Mittellatein, wie ihn viele zu wünschen scheinen, 
niemals geben, weder im Sinne einer Grammatik der mittel- 
alterlichen Latinitát, noch im Sinne eines Thesaurus linguae latinae 
medii aevi; sondern für jeden Schriftsteller, für jeden Text des 
Mittelalters erwächst eine neue, eigens zu lösende Aufgabe“. 
Dieser Aufgabe in concreto gilt es vorzuarbeiten und ihre 
Durchführung im einzelnen zu erleichtern durch das Bereit- 
stellen von Hilfsmitteln. Dazu gehórt in erster Linie, um nur 
einiges anzudeuten, die systematische Durchforstung des Spät- 
lateins nach der Seite der historischen Grammatik und der 
Geschichte des Stils, sowie die bereits angebahnte Erforschung 
des sogenannten Übergangslateins in seiner regionalen Differen- 
zierung. Dazu gehören aber auch für das gesamte Mittelalter 
semasiologische Spezialuntersuchungen, wie z.B. der Beitrag 
A. Hofmeisters über mittellateinische Altersbezeichnungen (in 
der Festschrift für Kehr); ferner umfassende Monographien zur 
Sprache einzelner wichtiger Autoren, wie die grundlegende Arbeit 


18 L. Traube, Einleitung S. 53, der mit Recht hinzufügt: Es gehört ja auch 
sonst in der Philologie zum Verstündnis eines Schriftstellers, daB man sich Grammatik 
und Lexikon selbst besorgt. 


Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 11 


M. Bonnets über das Latein Gregors von Tours oder E. W.Watsons 
Studie über Sprache und Stil des Cyprian; dazu gehören neben 
Stilanalysen literarischer Gattungen, wie des Kirchenrechtes 
und der Sprache der Vulgata, Untersuchungen über die Kunst- 
form der mittelalterlichen lateinischeu Prosa im ganzen, wie 
W. Meyers bahnbrechende Arbeiten zur mittellateinischeu Rhyth- 
mik oder das Buch von Polheim über den Reim in der lateinischen 
Prosa. Dazu gehört aber auch der Ausbau von Spezialwörter- 
büchern in Form von indices, womöglich pleni, plenissimi!?, für 
die wir z. B. in der Ausgabe des Ysengrimus von E. Voigt oder 
in den grammatischen und syntaktischen Anhängen einiger 
Monumenta-Ausgaben, z. B. des Jordanes und Cassiodor, der 
Leges Wisigothorum und der Hrotsvit, teils wertvolle Ansätze, 
teils vorzügliche Muster besitzen. Dazu gehört mit einem Wort 
das gesamte Arbeitsprogramm der mittellateinischen Philologie 
auf sprachgeschichtlichem Gebiet, das wie kein zweites unmittel- 
bar in den Dienst der mittelalterlichen Geschichtsforschung 
gestellt scheint!®. 


Überblicken wir zum Schluf das Gesagte, so ergibt sich aus 
der Gemeinsamkeit des Gegenstandes der beiden Disziplinen, 
aus ibrer weitgehenden methodologischen Verwandtschaft und 


7 L. Traube, Einleitung S. 80. 

In welche Gefahren der mit diesen Dingen zu wenig vertraute verstrickt ist, dafür 
nur ein einziges Beispiel aus der neueren geschichtlichen Forschung. Man hatte beider 
Beurteilung der päpstlich-fränkischen Abmachungen des 8. Jhs. behauptet, in Ponthion 
oder in Quierzy habe der Papst sich und die römische Kirche in aller Form rechtens 
dem karolingischen König und dem fränkischen Staat kommendiert. Den Beweis dafür 
hatte man in mehreren Stellen des Cod. Carolinus zu finden geglaubt, in denen von 
commendare, committere, tradere und andererseits von defensio die Rede ist, um die 
Beziehungen zwischen Papst Stephan und Pippin zum Ausdruck zu bringen. Diese 
Kommendationstheorie und die Aufnahme Stephans in den fränkischen Königs- 
schutz — der Vertrag von Ponthion sollte danach ein im Kerne germanischer Schutzver- 
trag sein -- fand ein anderer Gelehrter vor allem noch in der Übereinstimmung des 
entscheidenden Ausdruckes in manibus commendare mit dem fränkischen terminus der 
Kommendation bestätigt, bis schließlich von dritter Seite die ganze Haltlosigkeit 
und Unwahrscheinlichkeit dieser Kommendations- und Königsschutztheorie auf 
Grund des mittelalterlichen Sprachgebrauches dargetan wurde, und zwar durch den 
schlagenden Nachweis, daß die angezogenen Quellenstellen weder im Sinne des ger- 
manischen noch des römischen weltlichen Rechtes gedeutet werden dürf.n, sondern 
durchaus nur als Ausdruck kirchlicher Denk- und Redeweise und im bildlichen Sinn 
zu verstehen sind. 


12 Walter Stach: Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 


aus ihrem Angewiesensein auf eine wechselseitige Ergänzung, 
daß erst über die arbeitsteilige Trennung hinweg, die Mommsen 
einmal die widersinnige Scheidelinie der Fakultäten genannt hat, 
der Zusammenschluß von mittellateinischer Philologie und 
mittelalterlicher Geschichts wissenschaft zu einer Arbeitsgemein- 
schaft das ergeben kann, was A. Hofmeister mit Recht als Leit- 
gedanken für die Erforschung des Mittelalters gefordert hat: 
Philologie in dem weiteren Sinne einer Kultur wissenschaft in 
Zusammenarbeit mit der Geschichte. 


13 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae. 


Von 


Adolf Hofmeister. 


In meinem Besitz befindet sich aus dem Nachlaß des 1905 
verstorbenen hansischen Geschichtsforschers Karl Koppmann 
(aus Hamburg, seit 1884 Stadtarchivar in Rostock i. M.)! ein 
Pergämentblatt (27 cm breit und 18—19 cm hoch), das auf beiden . 
Seiten drei Spalten Schrift des 11. Jahrhunderts zeigt. Es hat 
als Überzug eines Buchdeckels gedient. Ob die Hs. oder auch 
nur das Werk, zu dessen Einband sie verarbeitet wurde, aus 
Norddeutschland stammte, ist nicht ohne weiteres zu sagen“. 
Einschlägige Vermerke fehlen. In dem freien Raum zwischen 
der zweiten und dritten Spalte der Außenseite steht quer von 
einer Hand des 13./14. Jahrhunderts: ‚Domine dominus noster 
quam admirabile est nomen tuum‘ (Ps. 8, 2. 10). 

Der erhaltene Text jeder Spalte umfaßt 28 Zeilen, von denen 
die erste und die letzte mitunter beschnitten sind. Die Linien 
sind in den drei Spalten der AuBenseite blind eingedrückt, auf 
der Innenseite nicht besonders vorgezeichnet. Nur in der mitt- 
leren Spalte jeder Seite sind die Zeilen vollständig erhalten; sie 
sind (nur den beschriebenen Raum gerechnet) 9cm lang. Auf 
der Außenseite ist in der ersten Spalte immer der Anfang (etwa 
/ der Zeile), in der dritten Spalte immer das Ende der Zeilen 
(durchschnittlich etwa 4—6 Buchstaben?) weggeschnitten; ent- 


! Über Koppmann vgl. W. v. Bippen, Hansische Geschichtsblätter Jahrgang 
1904— 1906, S. 9*—23*; A. Wohlwill, Mitteilungen d. Ver. f. Hamburg. Gesch. IX 
Heft 1, Nr. 5/6, S. 57—67; E. Dragendorff, Beiträge z. Gesch. der Stadt Rostock 
IV, 3. Heft, S. 3—6; F. Frensdorff in den Nachrichten von der Königl. Ges. 
d. Wiss. zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen 1905, S. 22—33. 

3 Doch würde der paläographische Befund zu norddeutscher Herkunft passen. 
S. unten S. 19—22. 

Einmal nur ein Buchstabe: „loquimufr) Nam“ S. 232 Z. 26—27 der Momm- 
senschen Ausgabe (s. unten S. 40). 


14 Adolf Hofmeister 


sprechend fehlt auf der Innenseite den Zeilen der ersten Spalte 
(= Spalte III der Außenseite) der Anfang (etwa 4-5 Buch- 
staben), denen der letzten Spalte (= Spalte I der Außenseite) 
der Schluß (etwa ?/, der Zeile). Die Zeilenfragmente von Spalte I 
der Außenseite (= Spalte III der Innenseite) sind 5 cm, die von 
Spalte III der Außenseite (= Spalte I der Innenseite) 7,5—7,9 cm 
lang. 

Die Hs., aus der unser Fragment stammt, war zweispaltig 
geschrieben. Es enthält Teile zweier zusammenhängender 
Blätter, also von 4 Seiten, und zwar so, daß Spalte II und III 
der Außenseite zusammen die Recto-Seite, Spalte I und II der 
Innenseite die zugehörige Verso-Seite desselben Blattes bildeten. 
Spalte I der Außenseite und Spalte III der Innenseite gehörten 
dagegen zu dem entsprechenden Blatt in der zweiten Hälfte 
derselben Lage, und zwar so, daß Spalte III der Innenseite die 
erste Spalte der Recto-Seite, Spalte I der Außenseite die zweite 
Spalte der Verso-Seite dieses Blattes bildeten. Die ursprüngliche 
Folge war also: 

Außenseite Spalte II, III, Innenseite Spalte (T), (II); dann 
eine Lücke, über deren Umfang gleich mehr zu sagen ist, und 
dann Innenseite Spalte (III), darauf zwei weggeschnittene 
Spalten, schlieBlich AuBenseite Spalte I. 

27cm 


JP il 
DOX 


I iH III 
(II) (ID (I) *) Hier Beginn des 


„ erhaltenen Tex 
bcm gem 7,5-7,9 in 


cm 


) 


(uo[teZ 82 
ulo 61—81 


Das Blatt stammt aus einer verlorenen Hs. von Cassiodors 
Variae; es ist deren Herausgebern bisher unbekannt geblieben. 
Sein Text beginnt (Spalte II der Außenseite) in Buch VIII 1 
gegen Ende (in $ 5, S. 232, Zeile 5 der Ausgabe von Theodor 
Mommsen, M. G., Auct. ant. XII, Berlin 1894) mit den Worten 
„condicionibus concedatis“ und reicht zunächst bis zu den 
Worten ,,optinere sine contentio[nibus]" im Anfang von VIII 2 
(8 2, S. 232, Zeile 20). Er fährt dann fort (Spalte III der Außen- 
seite), nach einer Lücke von nicht ganz 3%, Druckzeilen, in dem 


| 
| 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 15 


Text von VIII2 von „quod de aliis potuit approſbari]“ (83, S. 232, 
Zeile 23—24) bis „auctorem videret“ (8 5, S. 233, Zeile 7—8), 
darauf (Spalte I der Innenseite), nach einer Lücke von reichlich 
4 Druckzeilen, von „Ipraeteritorlum inmemores fuisse“ (8 6, 
S. 233, Zeile 12) bis zu dem Schluß von VIII 2 „possit augere“ 
(8.233, Zeile 26). Es folgt dann (Spalte ILder Innenseite), nach einer 
Lücke von fast 41/, Druckzeilen, der größte Teil von VIII 3 von 
„gratia commutata“ (S 1, S. 234, Zeile 2) bis „ vos autem civitatis 
Romane [so!] (S 4, S. 234, Zeile 16—17). Nun kommt eine 
groBeLücke von über 5 Druckseiten ( — fast 153 Druckzeilen); erst 
in VIII 10 setzt der Text (Spalte III der Innenseite) mit ,,sui 
sine offensione“ (8 3, S. 239, Zeile 25) bis „[aequa]bilia dispone- 
bat“ (S. 240, Zeile 11, in 8 5) wieder ein. Darauf folgt nach einer 
Lücke von fast 41!/, Druckzeilen schließlich noch (Spalte I der 
Außenseite) aus VIII 11 das Stück von „[excilpiendum est“ 
(S. 241, Zeile 24, in 8 1) bis „quod est felicissiimum]'* (S. 242, 
Zeile 7, in 8 4). Es liegen also vor: 
VUI 1$5 (ohne Anfang) — VIII 2 $ 2 (ohne Schluß) = fast 15 Druckzeilen; 
1. Lücke = fast 3!/, Druckzeilen; 
VIII 2 5 3 (ohne Anfang) — 5 (ohne Schluß) = 14!/, Druckzeilen ; 
2. Lücke = 4!/, Druckzeilen; 
$ 6 (letzte Worte) — 10 (Ende des Schreibens) = fast 14 !/, Druckzeilen ; 
3. Lücke = fast 4!/, Druckzeilen; 
VII 35 1 (ohne Anfang) — 4 (ohne die letzten Worte) = fast 15 Druckzeilen; 
4. Lücke — fast 153 Druckzeilen; 
VIII 10 $ 3 (Schlu8) — 5 (Mitte) — 14 Druckzeilen; 
6. Lücke = fast 41!/, Druckzeilen; 
VIII 11 $ 1 (ohne Anfang) — 4 (ohne Ende) = fast 14!/, Druckzeilen. 


Danach läßt sich die ursprüngliche Größe eines vollständigen 
Blattes der verlorenen Handschrift genau berechnen. Erhalten 
sind von jeder Spalte 28 Zeilen“; sicher unten®, vielleicht auch 
oben, sind weitere Zeilen weggeschnitten. Je 2 Zeilen der 
Handschrift ergeben durchweg ein wenig mehr als eine Druck- 
zeile. Es fehlen also in der 1., 2. und 3. Lücke je 7 Zeilen®. 


— — 


* Von Spalte I der Innenseite (VIII 2 $ 6—10) nur 27 Zeilen, da durch un- 
gerades Beschneiden oben die 1. Zeile fast ganz verloren gegangen ist; dafür bei 
den Spalten II der Außen- und der Innenseite noch kleine Reste der 29. Zeile. 

& Wie Buchstabenreste zeigen. 

* Man hat dabei zu berücksichtigen, daß teilweise auch die erhaltenen Zeilen 
am Ende bzw. am Anfang unvollständig sind. S. oben S. 13 f. 


16 Adolf Hofmeister 


Jede Spalte umfaßte mithin ursprünglich 35 Zeilen. Die 5. Lücke 
von fast 4115 Druckzeilen muß 2 volle Spalten (= 70 Zeilen) 
und dazu die 7 Ergänzungszeilen, im ganzen also 77 Zeilen der 
Handschrift enthalten haben. Die 153 Druckzeilen der großen 
4. Lücke (zwischen Spalte II und III der Innenseite) sind 287 Zei- 
len der Handschrift, d. h. 8 Spalten = 4 Seiten = 2 Blättern oder 
1 Doppelblatt gleichzusetzen. Mit anderen Worten: hier ist 
das innerste Doppelblatt einer Lage verloren gegangen, und das 
Fragment ist ein Stück des zweitinnersten Doppelblattes (also 
des 3. bei einem Quaternio). Wir werden später mit großer 
Wahrscheinlichkeit noch genauer feststellen kónnen, um die 
wievielte Lage der Handschrift und welche Blätter derselben 
es sich handelt. 

Die erhaltenen 28 Zeilen jeder Spalte sind 18—19 cm hoch. 
Rechnet man dazu die weggeschnittenen 7 Zeilen = gut 4 cm 
und einen kleinen Rand oben oder unten, so erhált man eine 
ursprüngliche Hóhe von rund 26 cm (eher etwas mehr). Die 
Breite ist mindestens auf rund 23 cm (oder etwas mehr) anzu- 
setzen, da die beiden in der vollen Zeilenbreite erhaltenen 
(Innen-) Spalten, den beiderseitigen Rand eingerechnet je 11 1⁄4 cm 
breit sind. Die Handschrift war also beinahe quadratisch, eher 
eine Kleinigkeit höher als breit. 

Die Schrift des Fragmentum Koppmannianum (Ko), wie 
unser Stück genannt sei, zeigt eine gleichmäßige, schlichte, aber 
nicht ungefällige Hand des 11. Jahrhunderts. Die Buchstaben 
sind klein, Buchstaben mit Oberlànge durchweg etwa 4 mm 
groß, Buchstaben mit Unterlänge meist etwas kleiner und mehr 
wechselnd, etwa 2 ½ —3 ½ mm, Buchstaben ohne Ober- und Unter- 
länge etwa 2 mm groß. Von den Kennzeichen der Schriftentwick- 

lung des 12. Jahrhunderts? ist nichts zu sehen. Die Brechungs- 
erscheinungen sind in Ko erst in den Anfängen. Von einer 


7 Vgl. z. B. B. Bretholz, Lateinische Paläographie (Meisters Grundriß der 
Geschichts wissenschaft I 1, 3. Aufl., 1926) S. 94. Eine Fülle von Einzelbeobach- 
tungen ist in den Erläuterungen in Chrousts Monumenta Palaeographica nieder- 
gelegt. Ein ausführliches Gesamtregister aller darin erwähnten Schriftmerkmale 
(Kürzungen, Buchstabenformen, Ligaturen, Interpunktionszeichen und dgl.) ist 
dringend erforderlich. — Bei der Untersuchung der Schrift haben mich seinerzeit 
schon die Teilnehmer meiner paläographischen Ubungen im Sommer 1914, be- 
sonders die Herren Dr. Posner, Herbert Hahn (t) und Bótiger, durch scharfsinnige 
Beobachtungen unterstützt. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 17 


„Umwandlung der Rundungen in gebrochene Formen“ kann 
nicht gesprochen werden, und von der beginnenden „Ausgestal- 
tung der Abgrenzungsstriche am Kopfe und am Fuße der Schäfte“ 
oder einer Gabelung® zeigen sich nur eben schwache Anfänge bei 
einigen, nicht allen Oberschäften, am regelmäßigsten beim d 
(aber auch nicht immer), viel seltener bei l, b und h, und ganz 
vereinzelt bei Unterscháften am p und am q, wo sie bei 
Otloh von St. Emmeram (2. Hälfte des 11. Jahrhunderts) schon 
auftreten. Das s hat immer, auch am Wortende, die lange Form 
(1), die niemals unter die Zeile hinunterreicht. Nur wenn das s 
am Wortende, was hin und wieder, aber nur zugleich am Zeilen- 
ende vorkommt, hochgestellt ist (z. B. decessore®, etas), treffen 
wir die runde Form, die in dieser Anwendung gerade einen 
Anhaltspunkt für das 11. Jahrhundert bietet, wáhrend sie im 
12. Jahrhundert nicht nur am Wortende auf der Zeile erscheint 
(so schon Otloh®), sondern auch in das Wortinnere eindringt. 
Für das 11. Jahrhundert sprechen alle Beobachtungen, die sich 
hinsichtlich der Buchstabenformen und der Buchstabenverbin- 
dung wie hinsichtlich der Rechtschreibung und der Verwendung 
von Kürzungen machen lassen. Das o ist ziemlich kreisrund, der 
Schaft des a deutlich schräg gestellt (à). Beim m und n hat 
der letzte Schaft unten einen kleinen rechts aufwärts weisenden 
Abstrich, während der erste, bzw. der erste und der zweite 
Schaft meist unten etwas nach links gekrümmt ist und mehr oder 
weniger spitz absetzt!!. Die Buchstaben n und u sind deutlich 
unterschieden. Von Ligaturen findet sich nur regelmäßig st (f) 
und & (= et), dieses sowohl alleinstehend wie, aber ganz ver- 
einzelt, als Verbalendung (assol&), niemals aber im Innern eines 


* Wie sie übrigens schon viel früher vorkommt, z. B. im Liber aureus von St, 
Emmeram (Mitte des 9. Jahrhunderts) bei Chroust, Mon. Pal. I. Serie, Lief. II, 
Taf. 5. 

® Bretholz S. 92. Die Schrift Otlohs in cod. lat. Monac. 14317 (zwischen 
1062 und 1062 oder nach 1066, bei Chroust I. Serie, Lief. IIT, Taf. 7) ist überhaupt, 
bei beträchtlichen Abweichungen im einzelnen, im ganzen Ko recht ähnlich; auch 
die beiden Schülerhände in cod. lat. Monac. 14673 (Otlohs Liber visionum mit 
eigenhändigen Korrekturen, 1062/66—c. 1075), Chroust ebd. Taf. 8b, stehen Ko 
nahe, verwenden aber (wie auch Otlohs Glossenschrift in cod. lat. Monac. 14490, 
ebd. Taf. 8a) sehr reichlich Kürzungen. 

1* So auch bei Otloh. 

1 Bei Otloh „geradlinig und gleich stark“. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 2 


18 Adolf Hofmeister 


Wortes; ferner regelmäßig 9x (= orum, mit Kürzung) und 
recht häufig am Wortende $ (= us), was sich z. B. auch in der 
Handschrift der Hildesheimer Annalen (jetzt Paris, National- 
bibliothek Lat. 6114) findet!?. Neuansetzen der Feder in dem, 
wie üblich, in zwei Zügen geschriebenen c tritt in der Regel sehr 
deutlich in die Erscheinung. Von den Majuskelbuchstaben mag 
das A = A oder A 2? und G = G 13 bemerkt sein; U erscheint 
immer in der spitzen Form V, M meist unzial = Q, einmal 
= M. Das Q ist fast dreieckig, nach unten breiter werdend, mit 
langer Zunge: A, . 

Innerhalb der Worte sind die Buchstaben háufig mehr oder 
weniger eng aneinander gerückt, so daß der Eindruck fort- 
laufender Schrift erweckt wird; ebenso oft aber stehen sie auch 
deutlich gesondert nebeneinander. Die Worttrennung ist mit 
verschwindenden Ausnahmen (meist in zusammengesetzten 
Wörtern wie que uis = quaevis, nihil ominus = nihilominus, quod 
ammodo = quodammodo, aber auch qui a = quia und um- 
gekehrt nama = nam a) richtig durchgeführt; hin und wieder 
ist das Umstandswort nicht für sich geschrieben (wie anobis = 
a nobis) oder die nachgestellte Partikel als ein selbständiges 
Wort behandelt (wie romanis que = Romanisque, teneri que = 
tenerique). Einmal findet sich eine falsche Satztrennung (S. 234, 
2 Mommsen: recte nobiscum agi credimus; Si aui ueneranda 
iudicia subsequamur). 

Die Satzanfánge werden regelmäßig durch Majuskeln hervor- 
gehoben. Als Satzzeichen finden sich, * und ;, dreimal, davon 
einmal am Schluß eines Briefes, *» für die große Pause (Punkt), 
. sowohl für die kleine wie für die groBe Pause (Komma oder 


Punkt), 7 für das Fragezeichen. Die Überschriften der einzelnen 
Briefe waren abgesetzt und in Majuskeln geschrieben; der Brief 
begann mit einer farbigen Initiale!$5, 

Die Rechtschreibung ist die im 11. Jahrhundert übliche mit 
nur wenigen Besonderheiten, also für das Mittelalter recht gut. 


1$ S. Taf. III und IV im Neuen Archiv der Ges. f. ält. deutsche Geschichts- 
kunde II. 

1 Vgl. in der Handschrift der Hildesheimer Annalen auf Taf. II (Aribo) 
und ebenda (Gosleri). 

14 Einmal auch für das Komma. 

15 Die Farbe ist nicht mehr zu bestimmen. 


„„ — — 7 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 19 


Findet sich einmal eine so auffällige Fehlschreibung wie , fili- 
citer'* statt „feliciter“, so darf man darin vielleicht einen Rest 
der alten Vertauschung von e und i in den Jahrhunderten des 
Überganges vom Altertum zum Mittelalter erblicken, der aus dem 
Archetyp in Ko übergegangen, in den übrigen Handschriften 
verbessert worden ist; Cassiodor kónnte übrigens selber recht 
gut „filiciter“ geschrieben baben. Doch ist natürlich nicht zu 
entscheiden, ob eine solche verwilderte Schreibung in dem 
Archetyp des Werkes oder nur in dem Archetyp der Hand- 
schriftenklasse IV, zu der Ko gehórt, ihren Ursprung hat. Áhnlich 
ist vielleicht „agnosceris“ (so auch B ursprünglich statt „agnos- 
ceres") und „optari statt „optare“ (so nur jüngere Hand- 
schriften) zu beurteilen!®. Auch „positis“ (statt „ possitis“) 
das in B wiederkehrt, ist von Ko wohl aus seiner Vorlage über- 
nommen. In den Endungen der 1. Deklination steht noch durch- 
weg das geschwänzte e (immer in einer durch den Doppelschwanz 
beachtenswerten Form: e), nur ganz vereinzelt einfaches e 
(diue memorie und ROQQ€), wie es im 12. Jahrhundert rasch 
häufig und von rund 1200 an allein herrschend wird, und niemals 
mehrae. Auch sonst kommt wohl einmal oe (coetum, aber prelia), 
niemals aber ae vor. Das doppelschwänzige e überwiegt auch 
durchaus in dem Relativum que (vereinzelt que, quedam). 
Wir haben auch gquabilem, c/ teris, aber einfaches e in etas, 
hec, sepe, primeuus, leticię und immer in der stets ausgeschriebe- 
nen, nie gekürzten Vorsilbe prae-: precessit, predicta, presenti 
usw. Neben obtestacione steht optinere. Bei ti und ci wird 
offenbar nach richtiger Scheidung gestrebt (audaciam, condi- 
cionibus, suspicio, aber clementiam, commonitio, contentio, 
interpositione, potius, sententia, servitio), doch nicht immer mit 
Erfolg (iusticiam, leticig, propicio, sedicio); regelmäßig wird in 
den Wörtern auf -atio c statt t gesetzt (consideracio, generacio 
usw.) Neben einem richtigen nuntii, nuntiata steht einmal 
nunctiamus, und statt actione finden wir einmal accione. Diese 
Mißschreibung kehrt „häufig, wenn auch nicht regelmäßig‘ 
wieder in der Handschrift der Hildesheimer Annalen in dem 
Abschnitt 1000—1040 (perfeccione, benediccionem, eleccioni, 


1€ S. unten S. 33 f., 46. Die Schreibung „ optari“ muB mindestens schon in dem 
gemeinsamen Archetyp der Klassen IV und V (aus denen VI erst abgeleitet ist) 
gestanden haben. 


2* 


20 Adolf Hofmeister 


defeccione), der nach Breßlaus Urteil im Zusammenhang in der 
2. Hälfte des 11. Jahrhunderts geschrieben ist!” und überhaupt 
in dem Gesamtcharakter der Schrift (nicht in allen Einzelheiten) 
Verwandtschaft mit dem allerdings regelmäßiger geschriebenen 
Ko aufweist. 


Ebenso unverkennbar, ja, vielleicht noch enger ist die Über- 
einstimmung des Gesamtcharakters der Schrift mit der Leipziger 
Handschrift von Cassiodors Psalmenerklärung (Expositio in 
psalmos), die höchst wahrscheinlich auf Befehl des Bischofs 
Imad (Immed) von Paderborn (geweiht 25. Dezember 1051, 
gestorben 3. Februar 107618) geschrieben und jedenfalls von 
diesem der Domkirche in Paderborn, also jedenfalls vor 1076, 
geschenkt wurde“. Im einzelnen und in Kleinigkeiten sind frei- 
lich auch in der Leipzig-Paderborner Handschrift die Buchstaben 
anders geformt, namentlich die Majuskeln, und von ein und 
demselben Schreiber kann nicht die Rede sein. Aber der Ge- 
samteindruck ist fast der gleiche. Genau entsprechend ist der 
Kürzungsstrich — gebildet, genau gleich die Verbindung & 
(= orum). Dazu stimmen beide Handschriften in einer weiteren 
Eigentümlichkeit überein, die an sich schon auf ein verhältnis- 
mäßig hohes Alter von Ko hindeutet. In der Leipzig-Paderborner 
Handschrift sind „Kürzungen viel spárlicher angewandt, als es 


17 N. Archiv II (1877), 564 A. 1 und S. 565 A. 2; dazu Taf. II—V (cod. Paris. 
lat. 6114). Die hier wiederholt auftretende Ligatur Y) = ni kennt Ko nicht, wo 
&uch sonst keine Spur kursiver Bestandteile mehr vorliegt. 

18 Hauck, Kirchengesch. Deutschlands im MA. IIP.*, 988. 

. 9? Handschrift der Leipziger Stadtbibliothek Rep. II fol. 51; Arndt-Tangl, 
Schrifttafeln zur Erlernung der latein. Palüographie II* (1906), Taf. 56. Der von 
Pertz, Archiv VI, 214, erwähnte Brief Imads (an Papst Gregor VIL) auf der letzten 
Seite der Handschrift ist von B. Schmeidler im N. Archiv XXXVII (1912), 804ff. 
veróffentlicht worden. Schmeidler bemerkt (S. 805, A. 2), daB in dem Cassiodor- 
Text der Handschrift zwei Schreiber zu unterscheiden sind; bei Arndt-Tangl ist 
die Hand des zweiten Schreibers (f. 871—172) wiedergegeben. — Gar keine Ähnlich- 
keit zeigt Ko mit der nordfranzósischen Schrift des 11. Jahrhunderts (z. B. bei 
Thompson, An Intróduction to Greek and Latin Palaeography, Oxford 1912, 
S. 425, Nr. 167 aus St. Bertin 1022—41) oder mit der Originalhandschrift von Sige- 
berts Gesta abbatum Gemblacensium, Arndt-Tangl IE, Taf. 56a, die, obwohl 
vor 1071 geschrieben, doch entschieden jünger wirkt als Ko; man muß freilich die 
vorgeschrittenere Schriftentwicklung im Westen gegenüber dem Osten und Norden 
berücksichtigen (denn an dieser altbewährten Anschauung muß m. E. durchaus 
festgehalten werden). 


pv 


**. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 21 


der Abfassungszeit der Handschrift entspricht‘‘, und in Ko sind 
diese womöglich noch seltener“. Von der sehr eigentümlichen 
Schreibung eiam = etiam abgesehen, die ich nirgends sonst 
nachzuweisen vermag?!, findet sich nichts, was über die aller- 
gewóhnlichsten und dauernd ganz allgemein gebrauchten Kür- 
zungen hinausgeht: außer den ständig angewandten Formen von 
noster und vester (nri, nro, ura, uros usw.) und der Endung % 
= orum aut = autem, dno = domino, ee = esse, glosi = gloriosi, 
gra usw. — gratia usw., int = inter, omium, omibus ( — omnium, 
omnibus), poplos = populos, -d; = que, qd = quod, getem 
= quietem, qm = quoniam, qq; = quoque, und auch dieses 
wenige nicht alles in allen Fällen. Niemals kommen die Zeichen 
für die Endungen us = 9 und ur = e^ vor. Selbst die Bezeich- 
nung des m nach einem Vokal durch den Kürzungsstrich ist zwar 
häufig, aber doch nur sehr in der Minderheit der Fälle angewandt, 
am häufigsten nach u, öfter auch nach a, ganz vereinzelt nach e 
(principe); es findet sich aber auch eni — enim und comune, 
comuni, comutata. Ständig findet sich p = per, auch in sem = 
semper, und £ = pro (einmal Promissio ausgeschrieben), auch 
im Innern des Wortstamms (wie apgpbari), während pre- 
immer ausgeschrieben ist*. 


= In Ko fehlen z.B. die in Lpz. häufigen Kürzungen e = est, n = non. 

n W. M. Lindsay, Notae Latinae. An Account of abbreviation in latin mss. 
of the early minuscule period (c. 700—850), Cambridge 1915, kennt sie noch nicht; 
er hat nur (S. 771.) et, eti (irisch) = etiam. Auch in der Leipzig-Paderborner Hand- 
schrift ist sie bisher nieht bemerkt. Die sich dort findende nicht sehr gewóhnliche 
Kürzung qid — quid ist aus Chroust, Mon. Pal., mehrfach zu belegen: aus Köln 
(985—999 und vor 1022: qid), aus Echternach (1002/7 oder 1039/43: qid, auch 
qis = quis), aus Essen (1036—56: qid); Mon. Pal. II. Serie, Lief. VII, Taf. 9; Lief. 
VIIL Taf. 2; Lief. X, Taf. 1; Lief. XXIV, Taf. 10. Diese Handschriften zeigen 
keine n&heren Berührungen mit Ko. 

23 Sehr nahe stehen Ko auch die Tegernseer Schriften bei Chroust, Mon. 
Pal. II. Serie, Lief. I, Taf. 7 (cod. lat. Monac. 18227, Homilien des Heimo, geschrieben 
von Ellinger, später 1018—26 und 1032—41 Abt von Tegernsee, } 1056) und be- 
sonders Taf. 8b (cod. lat. Monac. 18655a, Cassians Collat. patrum, geschrieben von 
Sigipoldus, vielleicht dem Sigipold, der 1031 den Abt Ellinger nach Benediktbeuern 
begleitete), die aber entschieden mehr Kürzungen als Ko aufweisen. Ein Zusammen- 
hang zwischen den Schreibschulen von Tegernsee und Hildesheim-Paderborn ist 
leicht denkbar. Godehard, der 1022 das Bistum Hildesheim übernahm, hatte 1001/2 
als Abt die Reform in Tegernsee durchgeführt und die Beziehungen zu diesem Kloster 
auch weiter aufrechterhalten (Hauck, Kirchengesch. Deutschlands III.“, 464). — 
Nicht un&hnlich ist Ko im allgemeinen die Hand B der Bernwardbibel in Hildee- 


22 Adolf Hofmeister 


Der Schriftbefund führt also zeitlich in die 2. Hälfte des 
11. Jahrhunderts, und zwar eher der Mitte als dem Ausgange zu, 
und örtlich vielleicht nach Niedersachsen, wo wir in Hildesheim 
und in Paderborn die nächsten Entsprechungen fanden“. Die 
Domschule zu Hildesheim, wo auch der spätere Kaiser Hein- 
rich II. als ursprünglich zum Geistlichen bestimmt seinen ge- 
lehrten Unterricht erhielt, war seit den Zeiten des Scholasters 
Thangmar und seines Schülers, des Bischofs Bernward (993 bis 
1022), ein berühmter und blühender Hauptsitz der Gelehrsam- 
keit im östlichen Sachsen. Bischof Godehards (1022—1038) 
zweiter Nachfolger Azelin (1044—1054) berief den Schwaben 
Benno, den Schüler Hermanns des Lahmen von Reichenau und 
späteren Bischof von Osnabrück, als Domscholaster nach Hildes- 
heim, wo dann unter Azelins Nachfolger Hezelo (1054—1079), wie 
Godehard aus Bayern, der Kanonist Bernhard, der Lehrer des 
Chronisten Bernold von St. Blasien, früher Vorsteher der Kon- 
stanzer Domschule, wirkte und nicht nur Theologie, sondern 
auch vorzüglich klassische Studien getrieben wurden“. In 
Thangmars Schule hat Bischof Meinwerk von Paderborn (1009 
bis 1036) gesessen, der, selber freilich weniger gelehrt, doch auch 
in seiner Bischofsstadt einen Aufschwung der Schule hervor- 
rief. Meinwerks Neffe war der Bischof Imad (1051—1076), 
unter dem nach Wattenbachs Urteil die Blüte der Studien in 
Paderborn ihren Hóhepunkt erreichte. Hier wirkte als Lehrer 
Altmann, der spátere Bischof von Passau (1065—1091), und 
hier schrieb unter Imad der Domherr Theoderich, ein Schüler 
Lanfranks, der also ebenso wie Hezelo von Hildesheim in Frank- 
reich Studien gemacht haben muß. Aus Frankreich könnte so 


heim, Chroust, Mon. Pal. II. Serie, Lief. XX, Taf. 1. Keine nähere Verwandtschaft 
zeigt das sogen. Evangeliar Bischof Hezilos von Hildesheim (1054—1079), Chroust 
ebd. Taf. 3 (sicher nicht lange nach der Mitte des 11. Jahrhunderts geschrieben). 
In beiden Fällen sind die Kürzungen spärlich. 

* Vgl. oben S. 13, 19 f. 

* Vgl. F. A. Specht, Gesch. des Unterrichtswesens in Deutschland bis zur 
Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, S. 343ff.; Wattenbach, Deutsch- 
lands Geschichtsquellen im MA. I“, 382ff., II“, 24ff., 33. 

* Über Meinwerk vgl. jetzt die Ausgabe der Vita Meinwerci von F. Tenck- 
hoff, Hannover 1921 (MG. SS. rer. Germ.) und J. Bauermann in Westfälischo 
Lebensbilder Hauptreihe I, Heft 1 (1930), S. 18—31. 

* Wattenbach, GQu. II“, 36f., Hauck, KGD. III*. 966 f. Besonders 
P. Scheffer-Boichorst, Annales Patherbrunnenses, Innsbruck 1870, S. 68ff., 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 28 


z. B. auch der Text der Variae nach Sachsen gekommen sein, der 
hier, wie ich annehmen möchte, sei es nun in Hildesheim oder in 
Paderborn in Ko abgeschrieben wurde“, wenn er nicht, was ich 
eigentlich lieber glauben würde, auf die alte Lorscher Hand- 
schrift des 9./10. Jahrhunderts oder eine andere süd- oder mittel- 
deutsche Handschrift zurückgeht“ . Nachrichten über eine 
sächsische Handschrift der Variae liegen freilich, so viel ich sehe, 
nicht vor; in dem normannischen Bec, wo Lanfranc lehrte, hat 
man wenigstens im 12. Jahrhundert zwei Handschriften des 
Werkes besessen“. Cassiodors Variae, die seit dem 12. und 
13. Jahrhundert zu den verbreitetsten Werken gehörten — 
Mommsen zählt weit über 100 Handschriften auf —, sind im 
Mittelalter nicht ihres Inhalts, sondern ihrer Form wegen als 
Stilmuster für die Briefkunst immer wieder abgeschrieben und 
zweifellos auch gelesen worden“. Es wäre wunderbar, wenn 
sich die Spuren dieser Benutzung nicht auch in der erhaltenen 
Brief- oder Briefstellerliteratur des Mittelalters sollten nach- 
weisen lassen. Es ist sehr möglich, daß auf diesem Wege auch 
für die von uns vermutete sächsische Handschrift, als deren 
Rest vielleicht Ko anzusprechen ist, noch greifbarere Gestalt 
gewonnen werden kann. Beobachtungen in dieser Richtung, die 
besonders für das 11. und 12. Jahrhundert wichtig wären, sind 
mir bisher nicht bekannt geworden?!, 


&uch über Theoderich und die von Imad gestifteten Hss., nach Jul. Evelt, Zur 
Geschichte des Studien- und Unterrichtswesens in der deutschen und franzósischen 
Kirche des 11. Jahrhunderts II, S. 22f., Progr. des Paderborner Seminars 1857. — 
Die schon von Steindorff, Jahrb. Heinrichs III. Bd. I, 232, A. ö gebührend zurück- 
gewiesene Angabe der späten und hier ganz unzuverlüssigen Vita Adalberonis (ep. 
Wirzburg.) c. 2 und 4, MG. SS. XII 130, daß Altmann in Paris studiert habe, hätte 
Specht S.393 nicht wiederholen sollen. Vgl. auch N. Archiv XXXVII, 128. 

T? Vgl. unten über die mutmaßliche Heimat der Hss.-Klasse, zu der Ko ge- 
hórt. Natürlich ist aber auch Herkunft aus Italien móglich, woher nach Mommsen 
das Hallenser Fragment des 11. Jahrhunderts (D) stammt, unten S. 29 u. 46. 

Vgl. unten S. 27, A. 38. 

* M. Manitius im N. Archiv XXXII, 652: „epistole Cassiodori" und „liber 
variarum Cassiodori". 

** Vgl. auch M. Manitius, Gesch. der lateinischen Literatur des Mittelalters I 
(München 1911), S. 40f. Im 2. Bande kommt, so viel ich sehe, Manitius auf die 
Variae nirgends zu sprechen. 

*! Herr Prof. Tenckhoff (t) in Paderborn hat, wie er mir mitteilte, in der Vita Mein- 
werci keine Spur der Benutzung der Variae gefunden; auch für die Ann. Patherbrunn, 
und den Cosmidromius des Gobelinus Person ist ihm von einer solchen nichts bekannt. 


24 Adolf Hofmeister 


Diese Auseinandersetzungen waren unumgänglich, weil, wenn 
Ko noch aus dem 11. Jahrhundert stammt — und daran ist kein 
Zweifel möglich —, es sich um ein Stück handelt, das hohe Be- 
achtung verdient. Ko stellt nicht nur die älteste erhaltene Über- 
lieferung der Variae dar, sondern auch eine Überlieferung, die 
den besten bisher bekannten Textzeugen ebenbürtig zur Seite 
tritt, ja, sie noch übertrifft. Nur ein noch weniger umfangreiches 
Pergamentblatt aus Halle mit noch nicht zwei Seiten Text (D) 
reicht ebenso wie Ko bis ins 11. Jahrhundert zurück. Trotz 
seines geringen Umfanges trägt Ko zu einer sicheren Entscheidung 
-über die richtige Lesung bei, indem es teils den Text von Momm- 
sen bestätigt, teils (sicher in drei, mit allergrößter Wahrschein- 
lichkeit auch in einem vierten Falle) ihn als falsch erweist, teilsauch 
das Vorhandensein von Fehlern nicht nur im Archetyp der 
Klasse IV (in zwei, vielleicht drei Fällen), sondern auch (in einem, 
vielleicht in vier Fällen) im gemeinsamen Archetyp aller für 
den Anfang des VIII. Buches vorliegenden Klassen (III, IV, V, 
VI) bekräftigt. | 

Die Überlieferung der Variae ist in Mommsens Ausgabe ge- 
sichtet und, soweit damals bekannt und irgend erheblich, für 
die Textherstellung verwertet. Neben der gewaltigen Arbeit, 
die damit grundlegend geleistet worden ist, tritt das, was etwa 
im einzelnen hier oder von anderen in Zukunft zur Textkritik 
beigesteuert werden kann, natürlich in den Hintergrund. Die 
von Mommsen geschaffene Textgrundlage wird vermutlich, falls 
nicht wenig wahrscheinliche Entdeckungen uralter, über den 
verlorenen Lorscher Codex des 9./10. Jahrhunderts?? hinauf- 
führenden Handschriften“ hinzukommen sollten, nicht erschüttert 


33 S. unten S. 27, A. 38. 

33 Wie es die Hs. des 12. Jahrhunderts aus Brauweiler in der Stiftsbibliothek zu 
Linköping nicht ist, obwohl sie nach EmilHägg, Linköpingshandskriften af Cassio- 
dorus’ Variae. Akademisk Afhandling. Göteborg 1911 (vgl. N. Archiv XXXVIII, 
327, Nr. 33), nicht geringen Wert hat. Die Schrift von Hägg, dem ich für freund- 
liche Unterstützung zu danken habe, zeigt an der Hand einer genauen Kollation, daß 
diese neue Hs. A zur Gruppe 1 der II. Klasse gehört (Buch I—VII, 41 enthaltend) 
und hier näher zu P D als zu L R tritt. Die Hs. 4 ist die zweitbeste Hs. dieser 
Gruppe (nächst L), besser als P, und hat in Zukunft statt P in Zweifelsfällen die Ent- 
scheidung zu geben; sie sichert mehrfach bisher nur zweifelnd angenommene Les- 
arten und schließt andere bisher aufgenommene Lesarten aus. Die Hs. wurde auf der 
Frankfurter Frühjahrsmesse 1699 von dem spätern Erzbischof Erik Benzelius ge- 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 25 


werden, und selbst dann würde es sich wohl nur um die Ersetzung 
jüngerer und abgeleiteter Zeugen der Überlieferung durch ältere 
und ursprünglichere, um eine Vereinfachung des Apparats und 
eine größere Sicherung des Wortlautes im einzelnen, nicht um 
einen Umsturz handeln. Es geschieht also mit dem Vorbehalt 
aller schuldigen Achtung vor der als Ganzes maßgebend bleiben- 
den Leistung, wenn hier auch abweichenden Meinungen Raum 
gegeben wird. 

Die Überlieferung der Variae ist zwar sehr ausgedehnt, aber 
durchaus nicht allgemein als gut zu bezeichnen. Mommsen 
führt die gesamte Uberlieferung“ der Variae auf einen nicht 
eben alten und nicht fehlerfreien Archetyp zurück, der nicht 
lange vor dem 11. Jahrhundert geschrieben sei (S. XXXIX ff.). 
Er unterscheidet sechs Klassen, die sich aber im Grunde auf vier 
zurückführen lassen, da II (B. I—VII 41) und IV (B. VII 42 bis 
XII) als die zunächst nur zufällig auseinandergerissenen Teile 
ein und desselben Archetyps betrachtet werden kónnen und VI 
einen auf I, III und die schlechteren und selbst bereits mit V 


kauft, dessen Handschriftensammlung dann durch seinen Sohn Car] Jesper Benzelius, 
Bischof von Strengnás, nach Linköping geschenkt wurde. Die Hs. trägt die Bezeich- 
nung XXXVI, B. 46, N. XLVI (KF. 46). — Nichts Nüheres bekannt ist mir über die 
junge Hs. in Valencia, Universit&tsbibl. Nr. 507, mb. s. 16. (N. A. 45, 1923, S. 144, 
Nr. 22), wenn sie nicht etwa mit dem auch nicht näher bestimmten Valentianus Nr. 71 
bei Mommsen S. CIX identisch ist, der 11 Bücher enthalten soll (aber als „mem- 
branaceus formae quadratae saec. XIV“ bezeichnet wird). Nicht wieder zutage 
gekommen sind anscheinend die in der Churer Dombibliothek 1457 und in der Neithart- 
schen Familienbibliothek zu Ulm 1465 vorhandenen Hss. (die Ulmer „in pergameno"); 
P. Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz I. 
Die Bistümer Konstanz und Chur (München 1918), S. 369 (Ulm); ders., Ein Bücher- 
verzeichnis der Dombibliothek von Chur a. d. J. 1457 (Sb. d. Bayr. Akad. d. Wiss. 
Philos. -philol. u. hist. Kl, München 1920, 4. Abh.) S. 6; M. Manitius, N. 
Archiv 48 (1929/30), S. 155. Aus alten Bücherverzeichnissen nennt Manitius, 
N. A. 36 (1911), S. 758 noch Has. von Arezzo 1338 (Testament des Notars Simon di Ser 
Benvenuto della Temha; vgl. Mommsen S. LXXIX über 2 Blätter des 13/14. Jhdts. 
in Aretiner Privatbesitz), Lüttich 1460 (Kirche St. Paul, „in pergameno“), Fulda 
16. Jhdt. (anscheinend doch nicht Mommsens L, der Leidensis ex libris Vulcanii 
n. 46 aus der 2. Hälfte des 12. Jhdts.) und Blois 1518 (sicherlich eine der heutigen 
Pariser Hss. der Nationalbibliothek, am ersten wohl etwa der Lat. 2187 aus dem 
14. Jhdt , den Mommsen S. XCV Nr. 65 aufführt). 

** Einen Vorbehalt, der aber doch in dem ersten Fall vielleicht nicht genügend be- 
gründet ist, macht er für das den Klassen III und IV gemeinsame Stück, B. VII, 42 bis 
VIII. 10, und außerdem natürlich für den auch inschriftlich überlieferten Satz aus VII, 7. 


26 Adolf Hofmeister 


kontaminierten Handschriften von IV zurückgehenden Mischtext 
darstellt. Vor allen Dingen ist die Überlieferung allgemein ver- 
hältnismäßig nicht alt — die große Masse der Handschriften 
gehört erst dem 14. und 15. Jahrhundert an, doch gibt es auch 
nicht wenige bereits aus dem 12. und 13. Jahrhundert — und 
für die verschiedenen Teile des umfangreichen Werkes ver- 
schieden. Vollständige Handschriften, die auf eine alte, ur- 
sprüngliche Überlieferung zurückgingen, gibt es nicht. Anschei- 
nend erst im Laufe des 12. Jahrhunderts hat man wieder be- 
gonnen, solche aus den verschiedenen Klassen der Überlieferung 
zusammenzustellen®, und auf diesem Wege ist man dann im 
13. und namentlich im 14. und 15. Jahrhundert fortgefahren. 
So ist die große Klasse VI (E, F aus dem 14. Jahrhundert u. a.) 
aus I, III und V sowie der schlechteren, selbst bereits mit V 
kontaminierten Nebenform von IV (besonders K) zusammen- 
gestellt worden. Ihr Text ist durchweg außerordentlich schlecht 
und steht damit auf der gleichen niedrigen Stufe, wie der Text 
der fünf letzten Bücher, der in einer sehr großen Anzahl von 
Handschriften der I. (wie M, 12. Jahrhundert, für I die beste 
Handschrift, und N, 13. Jahrhundert) und II. Klasse (wie K, 
13. Jahrhundert, für II unter den minderen die bei weitem 
beste) aus an sich schon mehr oder weniger schlechten oder noch 
erhaltenen Vertretern von IV hinzugefügt ist““. Diese voll- 
ständigen Handschriften, bei weitem die große Mehrzahl aller 
vorhandenen, sind für die Textherstellung fast völlig wertlos 
und nur deswegen überhaupt heranzuziehen, weil in ihnen eine 
vollständigere und bessere Handschrift von III (heute mit der 
überhaupt sehr schlechten Handschrift T aus dem 14. Jahr- 
hundert in B. VIII, 10, S. 241, 10 „sensum relinquitur" ab- 
brechend)?? benutzt ist und weil am Schluß von B. VII außer 


3 Daß es ursprünglich vollständige Hss. gab und die ZerreiBung zunächst nur 
durch zufüllige Verstümmelung herbeigeführt wurde, zeigen, wie Mommsen mit Recht 
hervorhebt, die vollständigen Inhaltsverzeichnisse zu B. IV in Klasse I (mit IV, 39 
abbrechend) und zu B. VII in Klasse II (mit VII, 41 abbrechend). - 

3° [n andern Hss. sind nur äußerlich 2 an sich verschiedene Stücke zusammen- 
gebunden, wie in Z für I eine Abschrift des 12. Jahrhunderts aus M und eine Hs. des 
13. Jahrhunderts von IV. Eine Abschrift aus einer so zusammengebundenen Hs. 
von I und einer Hs. von III liegt in T, 14. Jahrhundert, vor. 

7 Nur in VI ist die Lücke in B. VIII, 13, S. 244, 2 ausgefüllt, und offenbar 
richtig, Mommsen S. LXXVII. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 27 


ihnen für den ersten Satz von VII 42, S. 223, 5—10 überhaupt 
nur die beiden recht schlechten Handschriften von III (T und U, 
letztere bereits einige Zeilen spáter, S. 223, 17 ,, Nos enim cum" 
abbrechend) und für den Rest von VII, 42 bis zum SchluB (VII, 
47) neben T nur die allerdings beste vollstándige Handschrift . 
von IV (B) vorliegen. 


Die Überlieferung ist gut für die ersten sieben Bücher (ge- 
nauer bis VII 41), namentlich für B. I—IV 39, wo neben den 
alten, besonders in Deutschland (Fulda, Prüfening, Lorsch u. a.) 
heimischen Handschriften der II. Klasse (B. I—VII 41) aus dem 
13. Jahrhundert?® auch die schon im 12. Jahrhundert in Frank- 
reich verbreitete (nach Mommsens Annahme S. XLVI, die aber 
recht zweifelhaft scheint und kaum zutrifft, von Südfrankreich 
ausgehende) Klasse I vorliegt (B. I—IV 39), aber auch noch 
weiter bis VII 41, solange uns die Klasse II treu bleibt. Von 
B. VI an steht ihr die freilich nur sehr schlecht und spát über- 
lieferte, aber außerordentlich wichtige III. Klasse zur Seite, die 
mit Lücken in U (Cesena Bibl. Malatest. plut. 13,3 dextr., 15. Jahr- 
hundert) bis VII 42 (S. 223, 17 „Nos enim cum“) und in T (Bres- 
lau Stadtbibl. Nr. 63, früher Rediger. Nr. 14, 14. Jahrhundert) 
bis VIII 10 (S. 241, 10 „sensum relinquitur“) reicht. Neben III 


Daneben viele jüngere. Die Herkunft des Vatic. Palat. Nr. 273, 12. Jahr- 
hundert (P) scheint nach Mommsen nicht festzustehen. Doch erkennt Paul Leh- 
mann, Johannes Sichardus und die von ihm benutzten Bibliotheken und Hand- 
schriften, München 1911 (Traubes Quellen und Untersuchungen zur lateinischen 
Philologie des Mittelalters IV, 1), S. 189 (warum zweifelnd S. 130?) in ihm wohl 
richtig die im Anfang des 16. Jahrhunderts von Johann von Dalberg aus Lorsch 
nach Ladenburg gebrachte und dort 1627 von Johann Huttich gesehene Hs. Denn 
diese wird als „Epistolae‘‘ (oder , Epistolare") „Theodori(ci) regis (Gothorum)" 
bezeichnet (S. 126, 134f.) und der Pal. 273, der Cassiodors Namen nicht nennt, be- 
ginnt (wie allerdings auch andere Hss.) mit „Incipiunt epistole Theoderici regis" 
(Mommsen S. XV). Allerdings befand sich in Lorsch schon im 9. (Mommsen S. CIX: 
10.) Jahrhundert ein leider nicht auf uns gekommener „Liber“ (oder offenbar richtiger 
libri“) „epistolarum Senatoris diaconi postea presbyteri ad diversos numero XVII 
in uno codice", M. Manitius, N. Archiv XXXII, 652. Dieser alte Laures- 
hamensis ist vielleicht noch vollstándig gewesen; er kónnte dann der 
gemeinsame Archetyp der sich ergänzenden Klassen II und IV (und damit dann 
wohl mindestens auch von I und der Auswahlklasse V)gewesensein. Nicht Frank- 
reich oder Italien, sondern das karolingische Deutschland ist dann als der letzte er- 
reichbare Ausgangspunkt der Überlieferung zu betrachten. Unsicher bleibt nur, ob 
auch die III. Klasse damit in Verbindung steht. 


28 Adolf Hofmeister 


tritt, als II aufhört, mit einer Unterbrechung von wenigen Zeilen 
(s. oben S. 26 f.) von B. VII 42 an gewissermaßen als die Fort- 
setzung von II die IV. Klasse, zunáchst zwar nur in ihrem besten 
vollständigen Vertreter B (Brüssel 10018—10019, früher im 
Besitz Papebrochs und der Antwerpener Jesuiten, Ende des 
12. Jahrhunderts), von B. VIII 1 an aber auch mit ihren übrigen 
Handschriften (Z, N, M, K). Am schlechtesten ist also die Über- 
lieferung für B. VII 42—47 (für die beiden ersten Sátze von c. 42 
sogar nur III und daraus VI). Sie bessert sich wieder mit dem 
Beginn von B. VIII, ist aber noch nicht entfernt so, daß nicht 
jeder gute Zuwachs eine sehr erwünschte Bereicherung dar- 
stellte. Denn obwohl seit B. VIII 1 auBer Klasse III (in der 
sehr schlechten Handschrift T) und IV auch ein recht schlechter 
Auswahltext von 100 Briefen (darunter zuerst VIII 1—30) in 
der Klasse V (namentlich in England verbreitet, G H, daneben 
‚heute in Prag und Wien, IP IV, wohin die Handschriften aus dem 
Südwesten des Reichs gekommen sind, für B. VIII 10, S. 240, 7 
„studuisse‘‘ — 15, S. 246, 16 ,suavissimum vobis" auch zwei 
Blätter in Berlin aus der Sammlung von Sir Philipps, 924, die 
älteste Handschrift aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts) zu 
Gebote steht, bleibt noch viel zu wünschen übrig, weil nur IV 
Vertreter noch aus dem 12. Jahrhundert aufweist und unter 
diesen wieder nur B als gut bezeichnet werden kann. Die Auswahl 
in V ist nach Mommsen (S. LXVII) aus einer B sehr nahestehen- 
den Vorlage geflossen und gehört deshalb mit IV enger zusammen 
als mit III oder als III mit IV, so daß die Übereinstimmung von 
IV und V gegen III noch keine Sicherheit über die Lesart des 
Archetyps geben würde, dagegen die Übereinstimmung von III 
und V gegen IV, von III und IV gegen V*? entscheidet. Es ist 
daher z. B. B. VIII 1, S. 232, 9 „sensibus vestris“ mit III, V und 
VI“ gegen bloß „sensibus“ in IV, B. VIII 10, S. 240, 10 „locum 
merito“ mit III, V*' und VI zu schreiben (Mommsen S. LIX f.). 
Nur in B. VII 42—47, wo V noch nicht vorliegt, kann IV für 
sich, d. h. hier B allein, das Richtige haben. Wenn Lesarten von 


39 S. unten 32 f., 39, 44, 45. 

4% VI ist, wie bemerkt, nur als Ableitung einer besseren Hs. von III, als uns in T 
vorliegt, von Bedeutung. 

*1 In V im einzelnen verschiedene, für diesen Punkt aber belanglose Verschrei- 
bungen. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 29 


V auch in den schlechteren Handschriften von IV, namentlich 
in K und M, auch in N, auftreten, so ist das, wie Mommsen aus- 
führt, nur durch Kontamination aus V zu erklären, wie denn 
auch von bier aus weiter der an sich schon unmittelbar aus III 
und V gemischte Text von VI kontaminiert ist. 


In der Klasse IV haben wir für ein kleines Stück des 9. Buches 
(den Schlußsatz von IX 18 und die erste Hälfte von IX 19, S. 282 
15 „‚[cit]o sentiunt“ — S. 283, 29 „iure denega[mus]''** eine noch 
ältere und bessere Überlieferung in einem Hallenser Pergament- 
blatt (D) aus dem 11. Jahrhundert, das nach Mommsen aus Ita- 
lien stammt und von ihm mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit 
als ein Rest derjenigen Handschrift angesprochen wird, aus der 
die übrigen Handschriften von IV, auch die beste B, ferner Z 
(Paris lat. 2185 A, 13. Jahrhundert, aus Z abgeschrieben Paris. 
lat. 2186 und, aber wohl durch ein Mittelglied und aus V kon- 
taminiert, N= Neapel IV B 41, sowie ebenfalls von Z nur durch 
neue eigene Fehler unterschieden das Fragment B. VIII 1—21 
im Vatic. Ottobon. N. 265 + 418, alle aus dem 13. Jahrhundert) 
und die schlechten Mischhandschriften K (13. Jahrhundert) und 
M (12. Jahrhundert) mittelbar oder unmittelbar abgeschrieben 
sind“. 

Auch unser neues Fragment des 11. Jahrhunderts, Ko, 
gehört dieser IV. Klasse an. Auch Ko geht aufs engste mit deren 
besten Vertretern Z und dem noch besseren B zusammen, ist 


@ Mommsen hat S. Cf. die Schriftreste in D nach einer Abschrift von Krusch 
abgedruckt. Das Stück diente als Einband der Notae Fulvii Ursini in Ciceronem. 
Naeh Mommsen gehörte das Blatt der Universitätsbibliothek in Halle. Dort ist es 
auch, nachdem früher vergeblich danach gesucht war, nach gütiger Mitteilung des 
Direktors vom 21. Januar 1931, die mich während der Korrektur erreicht und hier 
mit gebührendem Dank verwertet wird, noch heute in einer Mappe mit aus alten 
Einbänden losgelösten Bruchstücken vorhanden. Die Kolumne von 30 Zeilen ist 
danach 25 em hoch und 8 cm breit; der Zwischenraum zwischen den beiden 
Kolumnen beträgt rund 2 cm. D sieht also ganz anders als Ko aus; beide können 
schon deshalb, ganz abgesehen von der Schrift, nicht zu derselben Hs. gehören. 


Völlig wertlos sind die kurzen Auszüge in der Pommersfelder Hs. Nr. 2792: 
13. Jahrhundert, die Mommsen als Nr. 88 A zur IV. Klasse stellt. Nach P. Leh- 
mann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz II 
(München 1928), S. 238 und 417, ist es dieselbe Hs., die in der 2. Hälfte des 15. Jahr- 
hunderts im Katalog der Karthause Salvatorberg bei Erfurt unter H 98 be- 
schrieben wurde. 


30 Adolf Hofmeister 


aber nicht nur älter, sondern auch bei unbedeutenden eigenen 
Fehlern noch besser als diese, selbst als die von Mommsen als 
außerordentlich sorgfältig geschrieben gerühmte Handschrift B, 
mit deren Hilfe er an sehr vielen Stellen erst die richtige Lesart 
herzustellen vermochte. Es würde von allerhöchstem Werte sein, 
wenn uns mehr von Ko erhalten wäre, dem auch so nach dem 
Alter und der Güte seines Textes die erste Stelle gebührt. In 
Mommsens Aufzählung der Handschriften wäre Ko unter Nr. 84* 
neben oder eigentlich vor dem Hallenser Bruchstück (Nr. 84) 
einzureihen. Zweifellos würde man leichter alle andern Hand- 
schriften von IV entbehren als Ko, wenn dieses vollständig er- 
halten wäre, und doch würden jene neben diesem nicht, wie neben 
einem vollständigen D, ganz überflüssig werden, weil Ko nicht 
wie D als die unmittelbare Vorlage der übrigen Handschriften 
von IV, sondern als eine durchaus gleichwertige, in Einzelheiten 
sogar bessere Schwesterhandschrift dieser Vorlage anzusprechen 
ist. Das zeigt der Textbefund mit aller Deutlichkeit, der auch 
eine schon durch die verschiedene äußere Ausstattung (je 2 Spal- 
ten von je 30 Zeilen in D, von je 35 Zeilen in Ko)“ so gut wie 
ausgeschlossene Zuweisung von D und Ko zu derselben Hand- 
schrift widerlegen würde. Während also Ko mit auch nur einer 
anderen Handschrift von IV (besonders B oder Z) die Lesart der 
Klasse eindeutig bestimmt, gilt dasselbe nicht für BZ (auch 
wenn etwa NKM hinzutreten) gegen Ko. Ko kann vielmehr 
allein die ursprüngliche Lesart von IV erhalten haben, und 
das ist sicher der Fall, wenn Ko gegen BZ (NKM) mit einer 
der anderen Klassen (III oder V, bzw. VI) zusammentrifft. In 
diesem Fall ist dann der Fehler erst in D eingedrungen; hóch- 
stens könnte ein Fehler des Archetyps, den noch Ko bewahrte, 
hier durch Konjektur gebessert sein. Wenn B gegen Ko und 
andere Handschriften von IV allein steht, ohne durch eine 
andere Handschriftenklasse gedeckt zu werden, so kann hier 
niemals eine echte Lesart, sondern hóchstens eine willkürliche 
Konjektur vorliegen, der nur im áuBersten Notfalle als solcher, 
tatsächlich aber niemals ein Platz im Texte gebührt. 


Mithin ist z. B. an folgenden Stellen zu lesen 


Vermutlich auch verschiedene Größe. Mommsen nennt D nur „formae 
maximae". Vgl. oben S. 29 A. 42 u. unten S. 46. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 31 


mit Ko gegen B und Mommsen: 
(sowie den übrigen Hss.): 
S. 934,3 (f. 3˙b, 2) 


aui ueneranda iudicia ueneranda iudicia aui 
S. 234,8 (f. 3'b, 12/13) 
in regnum nostrum suauissimus suauissimus consensus in regnum 
consensus nostrum 
S. 234,16/17 (f. 3'b, 28) | 
einitatisromane habitatio quieta habitatio quieta ciuitatis romanae 


Andre Fehler in B, die auch Mommsen als solche behandelte, 
sind z. B. folgende: 


Ko und die übrigen Hss.: B: 


8. 232,5 (f. 3a, 1) 
concedatis fehlt 


S. 232,7 (f. 3a, 5) 
esse suspecta suspecta esse 


S. 232,11 (f. 3a 10/11) 
Überschrift von VIII 2 fehlt 


S. 232,15 (f. 3a, 18) 
et ex (em. m. rec., fehlt HGJw) 


Ein Fehler in den übrigen Handschriften von IV (also in 
dem verlorenen D), den Ko, also auch der Archetyp von IV, 
noch nicht hatte, liegt vor 


Ko TMEFGHJ 924: BZNK: 
S. 240,7 (f. 6a, 20) 
bonorum (b...... Ko) honorum 


Fehler in Z, die auffallenderweise und nur durch die er- 
wáhnte Beeinflussung von VI durch die schlechten, selbst schon 
kontaminierten Handschriften von IV erklärlich zum Teil auch 
in VI (EF) wiederkehren, liegen vor 


Ko und andere: Z: 
S. 233,22 (f. 9'a, 20) 
creditis postulanda postulanda ereditis (auch NMKEFA) 
S. 234,5 (f. 3b, 7) 
actione (accione Ko) natione (ZKA, ratione M) 


S. 234,9 (f. 3'b, 14) 
remanere remare (auch NT, offenbar Zufall) 


32 | Adolf Hofmeister 


S. 234,11 (f. 3'b, 18) 


uideretur esse subtractus esse fehlt (auch KFA) 
S. 240,1 (f. 6a, 8) 

uerbis didicerat didicerat uerbis (auch NM KEFA) 
S. 242,5 (f. 6b, 23) 

nunc meorum (auch N) 


Ganz ausgeschlossen ist es, daß in einer selbst erst aus Z 
stammenden Handschrift wie N gegen die Übereinstimmung 
aller andern die Lesart des Archetyps erhalten würe. Wenn 
daher wirklich Cassiodor, wie Mommsen S. 488 mit Edward 
Schróder annimmt, die sprachlich falsche, aber, wie es a.a. O. 
heißt, in der alten Zeit fast ständig angewandte Schreibung 
„Hamali“ statt „Amali“ gebraucht haben sollte, so muß es 
doch nichts als ein Zufall sein, daß N S. 232, 24 als einzige von 
allen Handschriften „hamalis‘‘ (so Mommsen im Text) statt 
„amalis“ (so auch Ko) schreibt.“ 

Eine sehr eigentümliche Erscheinung treffen wir r S. 240, 4 
(f. 6a, 13), wo 


Ko BZT: NM? (Ma unbestimmt) 
KEFHGJ: 
cubicula gegen cunabula 


stehen. Mommsen schrieb „cunabula‘‘, was freilich dem Sinne 
nach leichter zu erklären scheint, ohne daß doch ,,cubicula'' 
unmöglich wäre. Hier stehen die 3 weitaus besten Vertreter 
von IV mit III gegen V und die schlechten aus V kontaminierten 
Handschriften der IV. Klasse (von denen N als Ableitung von Z 
hier sicher gegen seine Vorlage geändert haben muß, in M die 
Ánderung sogar noch vorliegt) und die Mischklasse VI, deren 
Text freilich auf eine bessere Handschrift von III zurückgeht, 
aber daneben auch stark aus V kontaminiert ist. Es ist also 
schr zweifelhaft, ob VI hier als Vertreter von III und nicht 
vielmehr von V anzusprechen ist. In das Handschriften- 
Stemma, wie es sich uns auf Grund von Mommsens Unter- 
suchungen ergibt, fügt sich ohne Schwierigkeit nur die zweite 


Vgl. auch M. Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen Personen- und 
Vólkernamen. Heidelberg 1911, S. 16 f. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 33 


Möglichkeit. Ich möchte deshalb nicht „cunabula“, sondern 
„cubicula“ für die Lesart des Archetyps halten, die in diesem 
Falle auch in den Text aufgenommen werden muß. 

Kaum zweifelhaft könnte die Lesung des Archetyps auch sein 
S. 241,31 (f. 6'b, 16) 

theodorieum Ko BEFG (the- Theodericum Mo. (also wohl mit 

doricum N) ZMKHJ), 
also die besten Handschriften von IV mit VI (das hier auch als 
Vertreter der in eigener Überlieferung nicht mehr vorliegenden 
Klasse III, andernfalls als Ableger von V zu gelten hat) und ein 
allerdings sehr schlechter Vertreter von V gegen die schlechtere 
Hälfte von IV und die Mehrzahl von V, wenn nicht in solchen 
Dingen ebenso leicht völlige Willkür, statt Anlehnung an die 
Vorlage angenommen werden müßte. Mommsen hat die in- 
schriftlich gesicherte Form mit e hergestellt. 

Fehler in Ko liegen, von zweifellos rein Orthographischem 
abgesehen, an folgenden Stellen vor: 


Ko: Mommsen: 

1) S. 232,9 (f. 3a, 7) 

sensibus (ganz IV) sensibus vestris (III, V, VI) 
2) S. 232,27 (f. 3b, 8) 

uobis (TZNEHGJ) nobis (BMKF) 
3) 8. 233,1 (f. 3b, 15) 

agnosceris (mit B!) agnosceres (die übrigen) 
4) S. 239,18 (f. 3'a, 13) 

& ceteris (alle Hss.) ohne a 
5) (f. 3'a, 14) 

nos vos (die übrigen) 
6) S. 233,19 (f. 3˙ a, 16) 

sigismere (mit ZMKTE) sigismerem (BNFHGJP A, sum Teil 

mit Verschreibungen im Stamm; nur 
s. J”) 

7) S. 240,7 (f. 68, 20) 

actum . actuum (alle übrigen) 
8) S. 240,10 (f. 6a, 26) l 

locus (mit BZ) locum (TNKMEFGHJ 924 A) 
9) S. 242,4 (t. 6b, 23) 

optari (mit BZMKE!FG 924) optare (NE HJ) 


Von diesen 9 Fällen geht der Fehler in Nr. 4 (a ceteris) und 
in Nr. 9 (optari, ursprünglich vielleicht nur orthographisch) 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. i. 3 


34 Adolf Hofmeister 


sicher, so gut wie sicher auch in Nr. 6 (sigismere, wo die Klassen 
IV und III mit einer Handschrift von VI gegen V und eine 
Handschrift von VI, sowie die hier offenbar durch Konjektur 
bessernden Handschriften B und N von IV stehen), vermutlich 
auch in Nr. 2 (uobis st. nobis, wo nur B und 2 schlechte Hand- 
schriften von IV und eine Handschrift von VI das Richtige 
haben) in den Archetyp zurück, und was wir im Text def Momm- 
senschen Ausgabe lesen, ist neue oder alte Konjektur. In Nr. 1 
(vestris fehlt) und 8 (locus) stand der Fehler sicher bereits in der 
Urhandschrift von IV, aus der vielleicht auch Nr. 3 (das in B 
alsbald verbesserte agnosceris) stammt. Damit ist für die 
meisten und die verhältnismäßig noch am schwersten wiegenden 
dieser überhaupt leichten Verderbnisse die eigene Verantwort- 
lichkeit von Ko ausgeschlossen. Dieser bleiben mit Sicherheit 
nur Nr. 5 (nos st. vos) und Nr. 7 (actum st. actuum) unter- 
worfen, also ganz leichte und gewöhnliche Verschreibungen, wie 
sie auch die sorgfältigste Feder nicht vermeidet. 

Ist so die Zugehörigkeit von Ko zur Klasse IV und seine 
führende Stellung innerbalb dieser Klasse neben und vor B 
festgelegt, so kann jetzt auch die Erörterung über die Gestalt 
der Handschrift, zu der Ko gehörte, und den Platz, den dieses 
(Doppel-) Blatt in ihr einnahm, zum Abschluß gebracht werden. 
Die Klasse IV begann, wie noch B am Ende des 12. Jahrhunderts 
zeigt, ursprünglich in B. VII 42, und das ist deshalb auch für die 
. reichlich 100 Jahre oder mehr ältere Handschrift Ko voraus- 
zusetzen. Der Text von B.VII 42, S.223,10 bis zum Einsetzen des 
Fragments gegen Ende von B. VIII 1 umfaßt 116 Druckzeilen, 
die in der Handschrift über 6 Spalten oder über 3 Seiten füllen 
würden, da immer 2 Zeilen der Handschrift Ko etwas über eine 
. Druckzeile ergeben und jede Spalte 35 Zeilen hatte. Ist nun 

einerseits denkbar, daß der Übergang vomVII. zum VIII. Buch 
in der Handschrift durch Absetzen vor dem Spalten- oder 
Seitenende und durch Beginn einer neuen Seite kenntlich ge- 
macht oder daß zu Anfang etwas freier Raum ausgespart war, 
ist aber andererseits auch anzunehmen, daß die dem VIII. Buch 
(wie den übrigen) vorhergehende Übersicht der 38 Briefe des- 
selben in Ko nicht fehlte, das ja auch im Text die Überschriften 
brachte, so kommen wir ziemlich gut auf rund 4 Seiten (= 8 
Spalten) oder 2 Blätter, die vor unserem Fragment verloren- 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 35 


gegangen sind. Mit anderen Worten, die Handschrift Ko be- 
stand aus Lagen zu je 4 Doppelblättern (Quaternionen) und, 
was uns vorliegt, ist ein Rest des 3. Doppelblattes der ersten 
Lage mit dem größten Teil von f. 3 und einem kleineren Teil 
(der 2. bzw. 4. Spalte) von f. 6: 


(1) (2 3 ($ 6 (7) 8) 


Es ist also: fol. 3 = Außenseite Sp. II und III, 
„ 9 — Innenseite Sp. I und II, 
„ 6 = Innenseite Sp. III, 
„ 6 -» Außenseite Sp. I. 

Das Ergebnis unserer Erórterung ist also in Kürze folgendes. 
Das Koppmannsche Fragment (Ko) ist ein Stück einer Hand- 
schrift, die in der 2. Hälfte (wohl bald nach der Mitte) des 
11. Jahrhunderts in Niedersachsen, vielleicht in Hildesheim 
oder in Paderborn geschrieben sein mag. Die Geschichte der 
Überlieferung der Variae ist eng mit den Hóhepunkten der 
Wissenschaftsgeschichte und den Fortschritten der geistigen 
Bewegung vom Mittelalter zur Neuzeit verknüpft. Sie haben 
bereits in der karolingischen „Renaissance Beachtung gefunden, 
und eine damals nach Lorsch gekommene Handschrift hat, 
wenn auch vielleicht nicht als einziger, so doch möglicherweise 
als der Hauptausgangspunkt der erhaltenen Überlieferung ge- 
dient. Sie sind in der Folge noch zweimal gewissermaßen neu 
entdeckt worden: das zweite Mal am Anfang des 16. Jahr- 
hunderts um ihres Inhalts willen von der humanistischen Wissen- 
schaft, die nicht zum wenigsten in Deutschland in ihnen die 
wichtige Quelle der Erkenntnis würdigte; das erste Mal im 
11. und 12. Jahrhundert im Zusammenhang mit jener zweiten, 
wesentlich in Frankreich wurzelnden und von Frankreich aus 
alle anderen Länder befruchtenden „Renaissance“ vor der 
eigentlichen „Wiedergeburt“ zu Ausgang des Mittelalters unter 
wesentlich praktischen Gesichtspunkten als Stilmuster, dessen 
Einwirkungen im einzelnen nachzuspüren vielleicht nicht un- 

8* 


86 Adolf Hofmeister 


lohnend wäre. Dieser älteren Periode gehört als ältester Zeuge 
neben dem Hallenser Fragment Ko an. Ko gehört zur Hand- 
schriftenklasse IV, auf der die Überlieferung der 5 letzten Bücher 
der Variae in der Hauptsache beruht, und ist dem besten Ver- 
treter dieser Klasse, der Brüsseler Handschrift 10018—10019 
vom Ende des 12. Jahrhunderts (B) aufs engste verwandt, 
aber besser als diese. Wäre mehr von Ko erhalten, so wäre dies 
die bei weitem wichtigste Handschrift der letzten 5 Bücher der 
Variae, neben der wir der anderen Handschriften der Klasse IV 
kaum, und auch der anderen Klassen nur in seltenen Fällen 
bedürfen würden. 

Als bester und zugleich neben dem derselben Klasse an- 
gehörenden, aber noch weniger umfangreichen Hallenser Frag- 
ment (D, 11. Jahrbundert) weitaus ältester Zeuge der gesamten 
Überlieferung der Variae darf Ko aber auch so sehr erhebliche 
Bedeutung beanspruchen. Ich gebe daber zum Schluß einen 
diplomatisch getreuen Abdruck der 4 in Ko erhaltenen Seiten, 
von denen die beiden ersten zum weitaus größten, die beiden 
letzten nur zum kleinsten Teil vorliegen. Abkürzungen sind 
in runden Klammern aufgelöst, die Lücken infolge Beschädigung 
von Ko kursiv in eckigen Klammern ausgefüllt. Abweichungen 
von Mommsens Text (Mo.) und den übrigen Handschriften 
der Klasse IV sind vollständig, die von Handschriften anderer 
Klassen nur dort, wo bereits eine Variante aus der IV. Klasse 
vorlag, angemerkt. 

Der Apparat der Mommsenschen Ausgabe ist sehr folge- 
richtig in der Ausscheidung alles unnützen Unkrautes von rein 
orthographischen Kleinigkeiten und wertlosen Eigentümlich- 
keiten später oder aus noch erhaltenen geflossener Handschriften. 
Auf denkbar geringstem Raum ist dort die denkbar größte 
Menge von Angaben gemacht. Aber dieser Apparat erschließt 
sich erst nach langwieriger und mühsamer, immer von neuem 
zu beginnender Durcharbeitung dem Benutzer, der den langen 
Reihen aneinandergereihter, zum Teil sogar mit zwei- oder 
mehrstelligen Zahlen (und diese wieder des öfteren mit einem 
Buchstabenindex versehen) untermischter großer Buchstaben 
gegenüber immer wieder seine Hilflosigkeit empfindet, bis er 
für sich jedesmal aufs neue die Verteilung dieser Chiffren auf 
die einzelnen Handschriftenklassen wiederholt, die der Heraus- 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 87 


geber natürlich vorher vorgenommen und in der Einleitung be- 
gründet hat. Man versteht nicht, daB bei einem so verwickelten 
Apparat und der doch geradezu verblüffend glatt durchführ- 
baren und in der Einleitung durchgeführten Gruppierung der 
Handschriften in bestimmt geordnete feste Klassen sich nicht 
jedem ohne weiteres die großen Vorteile aufdrängen, die in der 
streng durchgeführten Bezeichnung der einzelnen Handschriften 
mit dem betreffenden Klassenbuchstaben und einer ihrer Stel- 
lung innerhalb der Klasse entsprechenden Zahl liegen“. 
Erst wenn man sich den Apparat in dieser Weise umschreibt, 
wird jedesmal sofort auch die verwickeltste Verzweigung der 
Überlieferung durchsichtig und auf den ersten Blick ein sicheres 
Urteil über Wert oder Unwert der einzelnen Lesart ermöglicht. 
Um das zu veranschaulichen, habe ich im folgenden in dem aus- 
gewählten Apparat bei jeder Handschrift der Mommsenschen 
Buchstaben- oder Zahlen-Chiffre in Klammern kursiv die Be- 
zeichnung hinzugefügt, die ihr nach dem anderen Verfahren 
zukommen würde. Der Vorzug, der gewöhnlich in erster Linie 
für die Buchstabenchiffre geltend gemacht wird, daB sie ganz 
anders in innerer Beziehung zu der Handschrift stehe und an- 
schaulich an deren wesentlichste Eigenschaft, sei es Herkunft 
oder Aufbewahrungsort oder was sonst, erinnere, ist praktisch 
nur selten vorhanden. Ich wüBte nicht, wie T, Z, K, H, G, J, 
924. E innerlich berechtigtere oder anschaulichere Bezeich- 
nungen für Handschriften in Breslau, Paris, Florenz, Oxford, 
London, Prag und Wien, Berlin, Florenz sein sollten als C 1, 
D2b, D4, E 1, E2, E3, E4, F1. Die eine Art der Benenung ist 
so willkürlich wie die zweite, und die zweite bietet dabeiden großen 
Vorzug, daß sie sich zu einem genau durchdachten System zusam- 
menschließt und deshalb leichter dem Gedächtnis einprägt als die 
erste, wo die willkürlichen Chiffren jede einzeln für sich dastehen. 

Die Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Klassen 
und zwischen den einzelnen Handschriften innerhalb der Klassen 
nach Mommsens überzeugenden Ausführungen bestehen, können 


Natürlich könnte man auch die Klassen mit Zahlen und die Hss. in ihnen 
(fortlaufend) mit Buchstaben bezeichnen. — Anders liegt die Sache natürlich, wenn 
@ sich bei den Klassen nur um einzelne Hss., nicht um eine Mehrzahl von solchen 
handelt. Dann kann es unter Umständen zweckmäßig erscheinen, die Hss. mit für 
sie irgendwie beziehungsvollen Buchstaben zu benennen. 


38 Adolf Hofmeister 


in folgendem Stemma veranschaulicht werden, von dem sich 
der maßgebende Grundsatz der Textkritik in jedem einzelnen 


Fall ohne weiteres ablesen läßt. Nicht mehr erhaltene Hand- 
schriften sind in eckige Klammern gesetzt 


[Lorseh, 9/10. Jb. 


3 

P di 7 

` 

` 

fe) n (B) 1(A4) 1 

(B. vtl «9g —Xth (R i— v9 en (R 1— 1v 9) \ 

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4 

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IV (D) (E) : 
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A ` A 

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Ko (D1) p (D2) 75 H O 
LAND (sur B. iX 
14 ?1) 


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n. u orh.) . 


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E: MA — x 
Zz(D3) K 7e M (Ds) x 
ER N 
4 — 
ee (-, W/ rz ren 
(B vm - AU) 
vi (F) 
(B iI — In 
Es bedeutet: 
Mo. = Mommsens Text. 


T(C 1)“ = Breslau, Stadtbibl. Nr. 63, 14. J hdt., 
in B. VIII 10 S. 241, 10 „sensum re- | (= Klasse III C7) 
' inguitur“ abbrechend. 
Ko (D 1) — Fragmentum Koppmannianum 
2. HAlfte des 11. Jhdts. 
B (D 2a) = Brüssel Nr. 10018—10019, 
Ende des 12. Jhdts. 
Z (D9b) = Paris," Nationalbibl. Lat. Nr. 2185 A, 
13. Jhdt. 


(=Klasse IV [D] 
davon NM K /D W. 3.4) 
N (D 2b') = Neapel, Bibl. pubbl. Nr. IV B 41, aus Klasse V [E] 
13. Jhdt. (auf Z zurückgehend) kontaminierte Mischtexte) 
M (D3) = Montpellier, Ecole de Médecine 
Nr. 294, 12. Jhdt. 
K (D4) — 


Florenz Laur. Gadd. plut. 89 sup 
Nr. 23, 13. Jhdt. 


41) Da T hier der einzige unmittelbare Vertreter von Klasse III (C) ist, wird im folgenden 
statt C I einfach die Klasscnbezcichnung C gesetzt 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 39 
H (B1) = Oxford, Magdalen College Nr. 168, 
13. Jhdt. 


G (E2) — London reg. 8 B. XIX, 
Anfang des 13. Jhdts. 
JP (E 3a) = Prag, Univ.-Bibl. VIII 
D 1, 14. Jhdt. 
J" (E 3b) = Wien, Natbibl. Nr. 407 (= Klasse V [E]) 
(Philol. 70), 14. Jhdt. 
724 (E 4) = Berlin, Staatsbibl. Philipps. Nr. 1794, 
2 Blätter des 13./14. Jhdts., enthaltend B. VIII. 
10, S. 240, 7 „semper studuisse" — 15, S. 246, 16 
„suavissimum vobis" (Mommsen, Additamenta, 
S. CLXXXL; von mir selbst eingesehen) 


J (E 3) = 


(= Klasse VI //, Misch- 


E (P 1) — Florens Laur. plut. 16 sin. Nr. 11, text aus III /C] und V [E] 
Ende des 14. Jhdts. unter Einwirkung der 
F (F 2) = Florenz Laur. plut. 45 Nr. 11, 14. Jhdt. schlechteren Hss. von 
IV [D]) 


Acc. = Ausgabe des Accursius, Augsburg 1533 
(Mischtext). | 
a — dieJursprüngliche Lesart, die von derselben Hand verbessert ist 
b — Verbesserung von derselben Hand 
! — die ursprüngliche Lesart. die von anderer Hand geändert ist 
2 — Änderung von anderer Hand. 


(AuBenseite, IL Spalte =) fol. 3a. B. VIII 1 und 2, S. 232, 5—20. 
condicionibus concedatis. quas cum diue 
memorie domno auo n(ost)ro inclitos decessores 
u(est)ros constat habuisse, Aliquid forsitan & 
amplius mereor sinceritatis. cuius nec etas 
5 uidetur e(ss)e suspecta. nec generacio iam p(ro) 

batur extranea; Quedam uero p(er) suprascrip 
tos legatos n(ost)ros serenissimis sensibus uerbo 
intimanda commisimus. que clementie 
u(est)re more ad effectum facite p(er)uenire** 

10 gp. Senat YRBIS-ROME- ATHALA 
RICUS RER- 


Plenissimu(m) gaudium constat esse patres 


1 1 Cee e cacedatis] fehlt B (D3a) 

2 memorie] folgt uestrae B! (D2al) 

3 forsitan) forsitem Z T (D2b. C) 

5 esse suspecta) suspecta esse B (D2a), esse suscepta E (FI) 

7 sensibus] folgt uestris T E F H G J (C. F. E), was Mo. mit Recht in den Text setzt; uestris 
fehlt auser in Ko (D 1) auch in BZ NMI K Acc. (D2a.b.b'.3'. 4 u. 4oc.), also in der ganzen 
Klasse IV und in der Ausgabe des Accursius (1533), aber hier stehen III (= T, und daraus 
VI = BEP) und V (= HGJ) gegen IV, wo deshalb ein Fehler vorliegen muß. 

10'11 Die Überschrift fehlt, wie immer in B (D 2a), wo aber der Baum dafür freigelassen ist. 
12 Plenissimum] P schlichte farbige Initiale, deren Farbe aber völlig verblichen ist Ko (DI) 


40 Adolf Hofmeister 


eonscripti cognoscere dominantis exortu(m). 
ut qui creditur uniuersos poese p(ro)tegere. 

15 audiatur ad regni culmina p(er)uenisse *» 
Mensura leticie de magnitudine nuntii 
uenit. & tanta fit alacritas animi. quanta 
fuerit & consideracio rei; Nam si pruden 
tes uiros erigunt commoda predicta soda 

20 lium. si amicor(um) releuat sospitas nuntiata. 
quanta exultacione suscipi debet om(n)ium 
rectorem filiciter p(ro)uenisse terraru(m). que(m) 
non p(ro)tulit commota sedicio. non bella fer 
uentia pepererunt. Non rei publice da(m) 

25 na lucrata sunt. sed sic factus est p(er) q(ui)e 
tem. quem ammodum uenire decuit ci 
uilitatis auctorem 7 Magnu(m) p(ro)fecto feli 
eiltlatis genus optinere sine contentio 
[nibus prin]cip[atum et in illa re publica] 
[adolescentem dominum fieri, ubi multos 
constat maturis moribus inveniri . non 
enim polest cuilibet elati deesse consilium, 
ubi tot parentes publicos constat inventos. 
Prelata est ergo spes nostra cunctorum me 
vilis et certius fuit de nobis credi quam] 


18 dominantis] dominatis M (D 3) 

18 et] ex B (em. m. rec.) (D 2a), fehlt HGJW (E 1.2. 3b) 

20 releuat] reuelat K? ( 4% tnit T (C) 

22 filiciter) nur Ko (D 1), feliciter Mo. Sonstige Orthographica, wie ti statt cj, ae statt e sind 
hier nicht angemerkt. 

27/28 felicitatis] ciuilitatis N Db), fidelitatis Acc. 

28 genus) folgt est N (D25') mit EF J (F. E 3), vorher est K* (D 4*) 


(Außenseite, III. Spalte =) fol. 3b. B. VIII 2, S. 232, 23—233, 8. 


quod de aliis potuit app(ro)/bari non in | iuria] 
q(uonia)m que uis claritas generis amali/s | cedit] 
& sicut ex uobis qui nascitur origo s | /enato] 
ria nuncupatur. ita qui ex hac famili | /a progre / 
b ditur regno dignissimus app(ro)batur /p | roba] 
ta sunt presenti facto que loquimu | /r] 
Nam cu(m) domni aui n(ost)ri p(ro)beneficior(um) qu | Jantita / 
te dulcissima uobis recordatio urg/e | retur] 
extremis. magnitudinem dominationi | /s suae] 


2 amalils] ] hamalis N (D 2b') 

4 hac) illa K (D 4) 

7 cum) dum BI (D 2a!) 

8 nobis] Ko (DI) mit TZNEH GJ (C. D2b.b. F 1. E), nobis Mo. mit vor allem BM R 
(D 3a. 3.4). Da hier Ko (D 1) und andere Handschriften von IV (D) mit III (C) (daraus 
B = VI [F] = F]) und V (B) zusammenstehen, ist ein Fehler im Archetyp anzunchmen. 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 41 


10 tanta in nos celeritate transfudit. ut | [non iam] 
regnum quam uestem crederes e(ss)e mu/f | aiam] 
tot p(ro)eeres manu consilioq(ue) gl(ori)osi null | [um mur / 
mur ut assol& miscuerunt,: Sed ita c | /um mag] 
no gaudio secuti sunt principis sui i | /udicia] 
15 ut uoluntatem ibi potius agnosceris | /con] 
fluxisse diuinam; Qua p(ro)pter necessa | /rium] 
duximus p(ro)picio deo deortu regni n(ost)ri | /vos fa] 
cere certiores. quia dilatatu(m) quam | /mula] 
tum uidetur imperium. cum transi | /t ad] 
20 posteros. nam quod ammodo ipse put | /afur] 
uiuere. cuius uobis p(ro)genies cognoscit | [ur im] 
perare. Hoc habuerunt u(est)ra uota . hec | filius / 
fuit indubitata sententia. ut hered | /em bo] 
nor(um) suorum relinqueret qui bene | /ficia] 


25 eius in uobis possit augere, Amore | /princi] 
pum constat inuentum. ut simulac | /ris ae] 
neis fides seruaretur imaginis qua | tens / 
uentura p(ro)genies auctorem uideret | /qui sibi] 
[rem publicam mullis beneficiis obligas 


set. sed quanto verior est qui vivi in 
posteris, per quos plerumque et forma cor 
poris redditur et vigor animi prolelaiur! Et 
ideo nobilitatis vestrae fidem maiore nunc 
studio debetis ostendere, quatenus et pri 
ora munera meritis videantur esse collata et] 


10 transfudit] perfudit Ba (D2a95), transfundit T JW (C. E 3b). 

15 agnosceris] Ko (D1) mit B} (D3al), agnosceres Mo. mit den übrigen (cognosceres F 
[F3]) 

19 imperium] imperum B (D 2a) 

A cognoscit[ur]) noecitur K (D 4) 

?2 uestra uota] uota uestra NM (D'. 3) mit F (F2) 


(Innenseite, I. Spalte =) fol. 3'a. B. VIII, 2, S. 233, 11—26. 


Ifuluru indubitanter eis prestemus / quo /s / 

[preterii | orJu(m) inmemores fuisse minime sen 

[serim] | us? Nou/er/itis e(t)i&m diuina p(ro)uidentia 
[fuiss | e] dispositu(m) . ut gothor(um) . romanorumq(ue) 

[nobis] | generalis consensus accederet . & uo 

[luntat] | em suam quam puris pectoribus offere 

[bant,] | iuris e(t)iam iurandi religione firmarent; 


os 


3 Nou[erjitis] noueris K (D 4) 

4 gutborum romanorumque) romanorum gothorum que M (D 3), goth. et (ac G [E A) rom. 
HG J (E — V) 

5 accederet] accedere B! (D 2a!) 

7 religione] relligione Mo. 


42 Adolf Hofmeister 
[Quod] | uos secuturos esse minime dubitamus 
[tempo] | re non amore . nama uobis potuit in 
10 [choari] | . quod preuenti longinquitate sequi 
mini. | Constat enim excellentissimos patres 
[tanto] | amplius posse diligere . quanto maiores 
[honor] | es a ceteris ordinibus uisi sunt accepisse. Sed 
[ut pri] | mordia n(ost)ra & circa nos benignitatis posi 
15 [fs ag | njoscere . qui a decet curiam u(est)ram bene 
[ficiis $] | ntroire illustrem sigismere comitem 
[nostru] | m uobis cum his qui directi sunt feci 
[mus sa] | cramenta prestare . quia inuiolabiliter 
[servar] | e cupimus . qug publica auctoritate p(ro) 
20 [mitti | mJus. Si qua aut(em) anobis creditis postu 
[landa,] | que u(est)re securitatis incrementa mul 
ſtiplie | ejnt . indubitanter petite commoniti. 
[quos a] | d fundendas preces nos e(t)iam uidemur 
[hortar] | i. Promissio eni(m) est ista qua(m) commoniti 
25 [o: nam] | qui reuerendum senatum supplicare 
[precip] | it quod impetrare possit . nihil ominus 
[comprom] | isit; Nunc u(est)r(u)m est tale aliquid sperare. 
[quod c] | o(m)munem rem publicam possit augere, 


J. HT. POPVLO ROMANO ATHALARICVS REX. 


S4 vos externus heres imperii suscepisset, du 


bitare forsitan poteratis, ne, quos prior di 
lexerat, invidendo subsequens non amaret, 


quia nescio quo pacto, cum successor amplius 
laudari nititur, precedentis fama lenia 
tur. nunc vero persona tantum, non est autem. vobis] 


13 a ceteris] Ko (D 1) mit allen Handschriften, Mo. läßt das a fort. Die falsche Lesart muB 

bereits in dem Archetyp von III, IV, V gestanden haben. 

ordinibus] hominibus Na (D3b'a) 

nos] nur Ko (D 1). vos Mo. (wohl mit allen anderen Handschriften, also auch mit B /D2a7) 

benignitatis) KoBZNTE'F H d JP (D 1.2a.b.b'. C. F1*.2. E1.2.3a), benignitatem M K- 

E!JWAcc. (D3.4.F Ii. E b u. Acc.) l 

poel[tis] Ko (DI) mit B (D 2a), possitis Mo. 

16 sigismere] Ko (D1) mitZMKTE(D2b5.3.4.C.F 1),sigismerem Mo. mit BN JP (D 2a. 
d'. E 3a) und in mannigfachen Verschreibungen FH G Acc. (segismerem F [F ), sigismem 
H G [E I. 2], sigisinem Acc., s. JW[E3b]). Es steht also III (und ein Teil von VI) mit einem 
Teil von IV gegen einen anderen Teil von IV mit V (und einem Teil von VI). Da IV und WV 
nach Mo. untereinander enger zusammenzuhängen scheinen, als beide mit III, möchte ich den 
Fehler (-re) dem Archetyp zuschreiben und mehrmals unabhängige Verbesserung durch 
eine naheliegende Konjektur annehmen. 

18 inuiolabiliter] inulolabiter B (D 2a) 

19 que] quod MK (D 3. 4) mit F G Acc. (F2. E 2u. Acc.), non M (D4!) 

20 creditis postulanda] post. cred. Z NM K E F Acc. (D 2 b. b. 3. 4. F u. Acc.) 

24 enim) Ko (DI) mit BZ TH (D 2a. b. C. E 3) und Mo., folgt potius NF GJ (D2b'. F 9. 
B J. 3), vorher potius E (F1), bloß potius (ohne enim) M K Acc. (D 8.4 u. Acc.) 
commoniti[o]] monitio K (D 4) 

27 est] fehlt Ba (Daa) 


1 


ides 


Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 43 


(Innenseite, IL Spalte =) fol. 3'b. B. VIII 3, S. 234, 2-17. 


gr(sti)a co(m)mutata . quando recte /obiscum agi 
credimus; Si aui ueneranda iudicia subse 
quamur. N(ost)rg siquidem opinionis inter est. 
ut quos ille benignissime tuitus est . nos e(t)iam 
> statuta copia . & beneficior(um) ubertate pasca 
mus; Minus cogitant qui obscuris principibus 
& uersatis inmediocri accione succedunt. 
Nos talis precessit . ut exquisitis uirtutibus. 
eius sequi uestigia debeamus, Qua p(ro)pter q(uo)d 
10 auspice deo dietum sit, Gl(ori)osi domni aui n(ost)ri 
ita uobis nunctiamus ordinatione dispositum. 
ut gothor(um) . romanoru(m)q(ue) in regnu(m) n(ost)r(u)m . suauis 
simus consensus accederet . & ne aduersis re 
bus aliqua possit remanere suspicio . uota 
15 sas saeramentor(um) interpositione firmarunt. 
se dominatum n(osty(u)m tanto gaudio subire ta(m) 
quam si illis domnus auus noster fatali sorte 
non uideretur e(ss)e subtractus . ne solis lingu 
is . sed e(t)iam imis pectoribus p(ro)barentur e(ss)e 
Al deuoti . Quod si uos ut opinamur libenti 
animo similia feceritis. harum portitores sub 
obtestacione diuina uobis fecimus pollice 
ri . iusticia(m) nos & equabilem clementia(m) que 
pop(u)los nutrit iuuante d(omi)no custodire . Et 


— — 


l commutata] commitata B! (D2a') 
roblscum) uobiscum N HFH G J Acc. (D2b'. F 1'. 2. E u. Acc.), nobiscum Mo. (also mit 
BZMKT /D 23a. b. 3. 4. C/), auch Ko (D1) kann durchaus das richtige nobiscum gehabt 
haben. 

2 aul ueneranda iudicia] Ko (D 1) mit allen Handschriften außer B (D 2a), ueneranda iudicia 
aul B DA) und so mit Unrecht Mo. im Text. 

4 st—tuitus est] fehlt B! (D3a!) 

> «tatata copia] Ko (D1) mit BZE T E’ (D2a. b. 4. C. F 1*) und Mo., statuta constantia 
NE'FH GJ (D3V. F 1'.2. E), statuta constantia copia M Acc. (D 3 u. Acc.). Der Fehler 
constantia ist offenbar in V (=H G J, die 3 Worte später copia statt ubertate schreiben) 
entstanden und von da in VI und den schlechteren Handschriften von IV eingedrungen. 

7 accione] actione Mo., natione Z K Acc. (D2b. 4 u. Acc.), ratione M (D 8) 

1213 in regnum nostrum suauissimus consensus (-sensus auf Rasur Ko)) Ko (D 1) mit allen 
Handschriften außer B (D 2a), suauiss.cons.in regnum nostrum B (D 2a) und so mit Un- 
recht Mo. im Text. EP N 

M remanere) remare TZ N (C. D2b.') 

13 sua] folgt ne Ba (Da) 

1; domnus) damnus N (D2b’), domibus T (C), dans H (E 1), dominus G (E 2) 
sorte) morte Na (Db 

l^ non) zweimal N (D 2') 
esse) Ko B NTEHGJ (D1. 2a. v'. C. F 1. E), fehlt Z K F Acc. (D 20.4. F 2 u. Acc.) 

19 mais) unis K (D4) mit T (C) 

d opinamur] opin’ amur B (D 2a) 

3 equabilem] equalem N (D 2b’) 

3 muante] vorher d Na (D 2 4) 


44 


Adolf Hofmeister 


25 gothis. romanis que apud nos ius e(ss)e commu 
ne.nec aliud inter uos e(ss)e diuisum . nisi 
quod illi labores bellicos p(ro)co(m)muni utilita 
te subeunt . Vos fa /ut(em) ciuitatis romane 
[habitatio quieta multiplie at . Ecce ad con- 


[dicionem usw.] 


28 ciuitatis romane [habitatio quieta]] so offenbar Ko (D 1) mit allen Handschriften außer B 
(D 3 a), habitatio quieta ciuitatis romanae B (D 2a) und so mit Unrecht Mo. im Text 


(Innenseite, III. Spalte =) fol. 6a. B. VIII 10, S. 239, 25—240, 11. 


sui sine offensione trans/m 

matibus c[o]llegis semp(er) acc 

magne felicitatis uideretu 

gr(ati)am meruisse cunctor(um); 

5 adolescere teneri que an 
gentis audaciam condura 

directus est sirmensem . ut 

o uiro uerbis didicerat 

tate monstraret . egit d 


10 triumphum . & emerita(m) l. 


gressibus auspicatus neci 

toto orbe terribiles, Tal 

bicula bellatores . sic p 

ubi exercetur animus. n 

15 seruitio laboriosos sube 
citatione non didicit . u 

pleuit. Rediit subito & 

egressus primeuus . ut n 

sed armis semp(er) studuis 

20 rimator ille actum & b 
tor inspiciens uigorem 


is, carus sum] 
"[eptus, ut iam tunc] 
[r esse presagium] 
[Cuius ui coepi das] 
[ni in robustam / 

Ir, ad expeditionem] 
[quod ab illo Marti / 
[, in camporum liber] 
[e Hums inler akos] 
[audem primis con / 
[dedit Bulgares / 


[es mittunt nosira cu] 


[aratae sunt manus, ] 
[utritus in otioso] 

[git et quod ezer] 
[irtus prona comi] 

[d principem veransus / 
[on pacatis obseequii] 
[se crederetur. hoc / 
[morum remunera] 
[sll$ regiae domus vir] 


1/2 [sum]matibus] sumantibus B (D 2a!), sumatibus B? (D 2a*), summitatibus N’ (D25'*) 


5 adolescere] adulescere Mo. 
6 gentis] generis N J (D3b’. EA) 
7 directus] direptus M (D 3) 

est] fehlt M (D 3) 


8 uerbis (urbis T) didicerat] Ko BT H GJ [D1. 2a. C. E] (also die besten Handschriften 
von IV, dazu III und V), did. uerbis ZNM K EF Acc. /D 2b. b’. 3. 4. F u. Ac. (also 
die schlechteren Handschriften von IV, dazu VI und Accursius) 

10 emeritam] emeritum B! (D 2a!) 

12/13 [cu]bicula) Ko B Z T (D 1. 2a.b. C), cunabula N Mb K EF H G J /D 2b. 35. 4. F. E) (un- 
bestimmt Ma D 38/) und Mo. im Text. Aber da hier die weitaus besten Handschriften 
von IV mit III gegen V, VI und die schlechteren und contaminierten Handschriften von IV 
stehen, wird doch wohl an der Lesung cubicula festzuhalten sein. 

18 ut n[on]) non ut M (D 3) 

20 actum nur Ko (D 1), actuum Mo. 
b(onorum) Ko MT EF H G 92A (D1.3. C. F. E) und Mo. im Text, honorum BZ N X 
(D 2a. b. b'. 4) 


tutis contemplacione c 
ingeniosum bella p(ro)baue 
gis consiliis misceretur 
tilis . ad implenda robu 
tissimus.egit locus me 
cum ipso prelia cum ips 
bilia disponeba /t et in ta 


Zur Uberlieferung von Cassiodors Variae 


[usw.] 


23 ingeniosum] ingenuosum N?’ (D 2b") 

25 ad implenda] ad adimplenda K* (D 4*) 

26 locus me[ríto]] Ko B Z (D 1. 2a. b), locum merito (inito H /E 1), inicio J [E 3], mer. locum 
EAG /F 18. ES NMKTEb'FH dJ 92À Acc. (D. 3.4. C. F 15. 2. E 1—4. Acc.) 
und Mo. im Text. Es entscheiden hier III (mit VI) und V für locum gegen die besten Hand- 
schriften von IV. Der Fehler gehört der Urhandschrift IV an und ist in den jüngeren Hand- 
schriften von IV aus V oder durch Konjektur verbessert. 


[ommisi, ut quem] 
[rant, fortissimi ve] 
[ad invenienda sub] 
[stus, ad celanda cau] 
[ro publici secreti: ] 
[o negotiorum aequa] 
niam se similitudinem] 


(AnBenseite, I. Spalte =) fol. 6'b. B. VIII 11, S. 241, 24—242, 7. 


10 


[ideo alacriter exc 

. [sarie fuisset opta 
[le est iudicia pri] 
[propria, qus gratant] 
[ Retinelis me sena] 
[sed nunc mazime,] 
[re collegium. ass] 
[vesiri nobis gratiam du] 
[eos esse senlio, a qu] 
[fido . accedit etiam / 
[simum pignus, quod] 
[constat erectus, q] 

[in vobis putavit ab] 
[c4 honoratum. In ex] 
[apud gloriosae memor] 
[regum mea vobis] 
[quadam presentia ta / 
[ad quos me cum gratia] 
[dentius enim lud ex] 
[beneficia festinatur / 
[cios, sepe prefectos] 
[vi, vobis inpetrare 


2 utifle]] zweimal N (D2b') 
9 amari) amaret B?! (D3a!) 
15 theodoricum) Ko BB G (D 1. 2a. F. B 2), thedoricum N (D'), Theodericum Mo. 


$Jpiendu(m) est. quod neces 
n dum; om(n)ibus quidem uti 
ncipu(m) sequi . sed ipse facit 
er susceperit aliena . 

tus semp(er) fouisse coetum . 
cum u(est)r(u)m uideor intra 
umptio dignitatis ordinis 
plicauit . quando me int(er) 
ibus me amari posse con 
illud animi u(est)ri gratis 
patricior(um) genius p(er)nos 
uando nemo gentilium 
iectu(m) quod inme respi 
petendis q(uo)q(ue) honoribus 
ie theodoricu(m) principe(m) 
sepe uota coniunxi . ut 

lia uidear premisisse 

decebat intrare . confi 
petitur . ubi post collata 

„ Sepe consules . sepe patri 
habita intercessione p(ro)mo 
contendens . quod mihi ar 


Jia] praescientia talia MK F H d J 92À Acc. (D3. 4. F2. E u. Acc.), praesentia 


talia Mo. im Text (also wohl mit BZ NE /D 2a. b. b. F 1]), er schlägt aber als viellcicht 
zm lesen vor praescientia alta, was durch Ko (D 1) nicht gestützt wird (für praescientia Ist 
die Lacke kaum groß genug) 

22 contendens] contempnens BR (D 2a) 


46 Adolf Hofmeister: Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 


[due potuissem opt | a]ri . Congaudete nunc pa 
[tres conscripti meis] | auspiciis qui u(est)ris faui 
25 [semper honoribus. Vu] ltis scire qua uos affec 
[tione compleciar? in] | sertus stirpe regia . uoca 
[bulum vobiscum vol] | ui habere commune. Vi 
[vite deo propitio se | curi et qu Jod est fe / lici Jasi 
[mum usw.] 


28 [optalri] Ko BZ MK E F d 024 (D 1. 30. b. 3. 4. F 1'.2. E 2. 4), optare NEH J (D2b'. 
F1*. E 1. 3) und Mo, im Text. Der Archetyp hatte offenbar das (nur orthographisch ?) 
falsche optari 
OCongaudete] cumgaudete B! (D 2a!) 
nunc] meorum ZN (D32 b. d') 

27 commune] cummunc B! (D 2a!) 


Nachtrag zu S. 29 A. 42 (vgl. S. 24 und 36). 


Durch Vermittlung von Herrn Bibliotheksdirektor Wendel habe ich in- 
zwischen eine Photographie der 1. Seite des Hallenser Bruchstücks (D) erhalten. 
Dieses dürfte danach mindestens rund 50 Jahre &lter als Ko sein. Die Schrift ist 
wohl nicht jünger als das frühe 11. Jahrhundert und vielleicht etwa um 1000 an- 
zusetzen. Herr Direktor Wendel möchte sie sogar noch eher dem 10. als dem 
11. Jahrhundert zuweisen. Mit welchem Recht Mommsen auf italienische Her- 
kunft von D schloß, ist nicht ersichtlich, zumal der Druckband, aus dem das Blatt 
losgelóst wurde, sich auf der Universitütsbibliothek in Halle nicht mehr nach- 
weisen läßt. 


Tafel ] 


istorische Vierteljahrschrift Bd. XXVI, Heft 1 


(Zum Aufsatz Hofmeister) 


(3310suauuJ) uunueruuvurddow wnyuause 14 


» N 


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Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige 
in ihrem Verhältnis zur Goldenen Bulle. 


Von 


Richard Lies. 


Einleitung. 

Die politischen Verhandlungen, deren Ergebnis die Wahl 
Wenzels zum Könige war, sind in der historischen Forschung 
schon oft behandelt worden. Im ganzen ein Werk der diplo- 
matischen Kunst Karls IV., geben sie einen interessanten Ein- 
blick in die Mittel und Wege seiner Politik. Karl Hampe hat die 
Führung dieser Verhandlungen zum erfolgreichen Ziele als das 
schwerste Stück diplomatischer Arbeit bezeichnet, das Karl je 
geleistet habe!. Er gibt mit diesem anerkennenden Urteile der 
gemeinsamen Ansicht aller Forscher Ausdruck, die das Problem 
einmal behandelt haben. 

Dieser einheitlichen Beurteilung des Ganzen entsprechen 
aber keineswegs die stark auseinandergehenden Ansichten über 
die Einzelheiten dieser Verhandlungen. Besonders umstritten 
ist die Frage, in welchem Verhältnis die Wahl zu den Bestim- 
mungen über die Königswahl in der Goldenen Bulle gestanden 
hat. Ein Urteil darüber ist oft schwierig zu fällen. Denn die 
erhaltenen Quellen über die Wahlverhandlungen erwähnen die 
Goldene Bulle kaum. Dazu kommt, daß die Urteile der ein- 
zelnen Forscher nicht einer Gesamtbehandlung des Problems 
entstammen. Sie sind verstreut in rechtsgeschichtlichen Be- 
trachtungen über die Goldene Bulle oder in Arbeiten, die nur die 
politischen Vorgänge bei der Wahl behandeln!. 


1 Karl Hampe, Herrschergestalten des deutschen Mittelalters (1927), S. 378. 

* Devon ist auszunehmen M. G. Schmidt, Die staatsrechtliche Anwendung 
à Goldenen Bulle (Diss. Halle 1894), auf den in der vorliegenden Arbeit ver- 
schiedentlich Bezug genommen wird. 


48 Richard Lies 


Aufgabe dieser Arbeit ist es, durch eine Behandlung der 
einzelnen Fragen im Zusammenhange aus dem Widerstreit der 
verschiedenen Ansichten heraus der Wahrheit näherzukommen. 
Es ist in der historischen Forschung häufig betont worden, daß 
ebenso wie die Wahl Wenzels auch die Goldene Bulle ein Werk 
der diplomatischen Kunst Karls IV. war. Der geplante Vergleich 
verspricht also auch eine Beantwortung der Frage, wie der 
Gesetzgeber das selbst geschaffene Gesetz zur Anwendung ge- 
bracht hat. Damit muß sich auch ein Einblick in die Persönlich- 
keit und in die diplomatische Methode Karls IV. erschließen. 


I. 
Die politischen Motive des Gesetzgebers für die Künigswahl- 
bestimmungen der Goldenen Bulle. 

Für die Prüfung des Verhältnisses der Erwählung Wenzels 
zur Goldenen Bulle erscheint zunächst ein Überblick über die 
Vorschriften, die dieses Gesetz für eine Königswahl darbietet, 
notwendig. Denn in der Forschung liegt bisher eine gesonderte 
Betrachtung über die Ordnung der Kónigswahl in der Goldenen 
Bulle, herausgehoben aus dem Gesamtrahmen des Gesetz- 
buches, noch nicht vor. Die verfassungsgeschichtlichen Werke 
oder Einzeluntersuchungen, die sich mit der Goldenen Bulle 
beschäftigen, betrachten die Wahlbestimmungen in größerem 
Rahmen nach ihrem verfassungsgeschichtlichen Ursprung und 
ihrer Bedeutung für die Wahlrechtsentwicklung. Bei der Wahl 
Wenzels aber wurden die Wahlvorschriften durch den Schöpfer 
des Gesetzes selber zur Anwendung gebracht. Daher ist anzu- 
. nehmen, daB bei dieser Wahl nicht mehr oder weniger will- 
kürliche Deutungs- und Auslegungsmöglichkeiten, sondern in 
erster Linie die ursprünglichen politischen Motive für die schrift- 
liche Niederlegung der Wahlbestimmungen die Anwendung des 
Gesetzes bestimmten. Dieser Gedanke wird in der weiteren 
Entwicklung der vorliegenden Arbeit noch Bedeutung gewinnen. 
Zunáchst aber gibt er Veranlassung, mit dem Überblick über die 
Kónigswahlbestimmungen der Goldenen Bulle die Frage nach 
den unmittelbaren Motiven, denen sie ihre Aufnahme in das 
Gesetzeswerk verdanken, zu verbinden. | 

Schon Zeumer hat betont, daB sich der Inhalt der Goldenen 
Bulle aufs genaueste mit dem deckt, was Karl IV. nach den 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 49 


überlieferten Quellenstellen und im Proömium als Absicht seiner 
Gesetzgebung angab?*. Zur Beratung über Herstellung von Ruhe 
und Frieden hatte er den Reichstag berufen “. Und zu diesem 
Zwecke, so hatte er sich den Städteboten gegenüber geäußert, 
sollte u. a. endgültig die Frage geregelt werden, wer Laien- 
kurfürst sei. Dazu sollten Vorschriften erlassen werden, die 
bezweckten, daß nach seinem Tode der von der Mehrheit der 
Kurfürsten Erwählte von den Herren und Städten auch wirklich 
als König anerkannt würde5. 


Aus den Beratungen zur Durchführung dieser Absichten 
erwuchs die Zusammenstellung und schriftliche Niederlegung 
kurfürstlicher Rechte im Gesetzbuche der Goldenen Bulle. 
Es vereinte sich in diesem Gesetzeswerke der Wunsch zur Be- 
hebung von Mißständen im Reiche, also die Sorge um das Wohl 
des Ganzen, mit der Sicherung kurfürstlicher Sonderinteressen. 
Das Ganze aber war getragen von dem Gedanken Karls IV. 
der Dienstbarmachung kurfürstlicher Macht für die Regierung 
des Reiches. 


Im Proómium legt der Gesetzgeber noch einmal ausführlich 
den Zweck dar, den er mit der Aufzeichnung dieser Gesetze ver- 
folgt. Er erinnert an das Unglück, das dem Reiche in den ver- 
gangenen Jahrhunderten aus der Zwietracht und den Streitig- 
keiten der Kurfürsten erwachsen ist. Daher erläßt er die fol- 
genden Gesetze, um die Einigkeit unter den Kurfürsten zu fórdern 
und die Möglichkeit einer einmütigen Königswahl für die Zu- 
kunft zu geben. Die verabscheuungswürdige Zwietracht und 
damit die aus ihr erwachsenden Gefahren sollen für künftige 
Zeiten aus dem Kreise der Kurfürsten verbannt bleiben. Durch 
diese doppelte Absicht des Gesetzes, die Fórderung der Einigkeit 
unter den Kurfürsten und die Begünstigung einer einmütigen 
Königswabl, wird der Inhalt aller Bestimmungen der Goldenen 
Bulle, also auch der Kónigswahlbestimmungen, begrenzt. So 


.* Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karla IV. Weimar 1908. (Weiter 
zitiert: Zeumer, Goldene Bulle.) I. S. 185. 

4 J. Fr. Bóhmer, Acta Imperii Selecta Nr. 885: Karl IV. fordert Metz sur Be- 
sendung des Reichstages in Nürnberg auf: „de tranquillitate et pace communi sic 
agatur feliciter." 

$ Zeumer, Goldene Bulle II. S. 70. Nr. 12. Berichtschreiben der Ratsboten 
an Straßburg. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 4 


50 Richard Lies ` 
sind in den Kapiteln über die Wahl nur solche Anordnungen 
getroffen, die Rechte oder Pflichten der Kurfürsten darstellen. 
Und in ihnen allen zeigt sich die Absicht, eine einmütige Wahl zu 
fördern. 

Demgemäß dienen die Bestimmungen des I. Kapitels einem 
doppelten Zwecke, Ein Teil von ihnen soll jedem der Kur- 
fürsten unbedingt die Móglichkeit geben, an der Wahlhandlung 
teilnehmen zu können. Deshalb sind die Vorschriften über 
freies Geleit nach dem Wahlorte für jeden einzelnen genau 
geregelt. Der Erzbischof von Mainz, dem die Berufungspflicht 
zur Wahl obliegt, ist angewiesen in dem Berufungsschreiben 
einen Zeitpunkt anzusetzen, zwischen dem und dem Wahltage 
noch ein Zeitraum von drei Monaten liegen soll. Diese Bestim- 
mung soll jedem Kurfürsten rechtzeitige Kenntnis des Wahl- 
termins vermitteln. Tritt die Notwendigkeit der Wahl durch den 
Tod des Kónigs ein, so wird dem Mainzer eine bestimmte Frist 
gesetzt, innerhalb welcher er die Kurfürsten zur Wahl einberufen 
muB. Versáumt er das, so versammeln sich die Wáhler ohne Ein- 
berufung. Dadurch wird eine Verschleppung der Wahl seitens 
des Mainzer Erzbischofs unmóglich gemacht. Um auch den 
Kurfürsten, die verhindert sind, in eigener Person zur Wahl- 
handlung zu erscheinen, die Möglichkeit zur Abgabe ihrer 
Stimme  offenzuhalten, wird die Entsendung eines bevoll- 
mächtigten Vertreters gestattet. Die übrigen Bestimmungen des 
I. Kapitels sollen jegliche Hinderung der Wahl durch einen 
Kurfürsten oder andere Mächte unmöglich machen. Deshalb 
wird festgesetzt, daB jeder Kurfürst, der der Wahl fernbleibt, 
für das eine Mal sein Stimmrecht verliert. Um zu verhindern, 
daB ein gewaltsamer Druck auf die Stimmabgabe ausgeübt 
wird, ist jedem nur die Begleitung einer beschränkten Anzahl 
von Bewaffneten zum Wahlort gestattet. Der Schutz gegen 
eine Behelligung durch andere Máchte wird der Stadt Frankfurt 
übertragen®. Ihr droht kaiserliche Acht und der Verlust ihrer 
Privilegien, wenn während der Wahl Fremden, die an der Wahl 
nicht beteiligt sind, der Zutritt in die Stadt erlaubt wird. 


. * Von der Bedeutung dieses Wahlschutzes legen die Quellen sur Wahl Wenzels 
ein beredtes Zeugnis ab. In den Frankfurter Stadtrechnungen (RTA.T, Nr. 59, 5, 6, 8 9.) 
wird erwähnt, daß alle Tore der Stadt während der Anwesenheit Karls und der 
Kurfürsten mit besonderen Wachen belegt waren. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 51 


Sollten diese Bestimmungen es also jedem Kurfürsten mög- 
lich machen, rechtzeitig und unbehelligt zur Wahl erscheinen 
zn können, so folgt im zweiten Kapitel eine Reihe von Bestim- 
mungeu über die eigentliche Wahlhandlung. Auch hier sind nur 
solche aufgeführt, die dem Zwecke, zu einem eindeutigen Wahl- 
resultate zu kommen, am meisten dienlich sind. So ist der die 
Wahl einleitende Gottesdienst, bei dem der Wahleid abgelegt 
wird, aufgeführt. Er gibt der Wahl religiöse Weihe und soll 
die Kurfürsten ermahnen, nur nach ihrem Gewissen und nicht 
nach Versprechungen und Verträgen ihre Stimme abzugeben. 
Dann beginnt die Wahlhandlung. Es wird den Kurfürsten ge- 
boten, Frankfurt nicht eher zu verlassen, ehe nicht ein König 
einstimmig oder von der Mehrheit erwählt worden ist. Der von 
der Mehrheit Gewählte soll so angesehen werden, als sei er ein- 
stimmig erwählt worden. Hier kommt der Grundgedanke des 
ganzen Gesetzes, „electionem unanimem inducendam", am 
klarsten zum Ausdruck. Für besondere Fälle der Majoritäts- 
wahl sollen die letzten Bestimmungen etwaige Mißverständnisse 
ausschalten: Verspätet zur Wahl Eintreffende treten mit dem 
Zeitpunkt ihrer Ankunft in die Wahlhandlung ein. Wenn drei 
Kurfürsten einem vierten aus ihrer Mitte ihre Stimme geben, so 
kann er mit seiner eigenen Stimme die Mehrheit für sich berstellen. 

Nur eine Bestimmung fällt nicht unter den Grundgedanken, 
eine einmütige Wahl zu sichern. Doch stellt sie ein Recht der 
Kurfürsten dar. Es ist die Verpflichtung des Königs, sofort nach 
vollzogener Wahl den Kurfürsten ihre Privilegien zu bestätigen. 
Auf diese Bestimmung wird in einem späteren Teil der Arbeit 
zurückzukommen sein. 

Aus diesem Uberblick gewinnt man die wichtige Erkenntnis, 
daß die Wahlbestimmungen der Goldenen Bulle kein voll- 
ständiges. Wahlgesetz im modernen Sinne darstellen. Nicht alle 
für die Königswahl wesentlichen Punkte haben hier gesetzliche 
Regelung gefunden. Es ist nur eine Reihe von Gesetzes- 
bestimmungen, die erlassen sind in der Absicht, die kurfürst- 
lichen Rechte zusammenzustellen und eine einstimmige Wahl zu 
fördern. Wenn diese Tatsache in der historischen Forschung 
bisher keine Beachtung gefunden hat, so mag das begründet sein 
in der Tatsache, daß allerdings die für die Königswahl wich- 
tigsten Punkte sich unter den Bestimmungen finden. 

4* 


52 Richard Lies 


Die Aufzeichnung ist auch nicht mit dem Anspruch auf Voll- 
stándigkeit der Wahlregelung erfolgt. Das ersieht man schon 
aus der Tatsache, daB sich einige für die Wahl wesentliche Vor- 
Schriften in andern Teilen der Goldenen Bulle finden, die nicht 
unmittelbar im Hinblick auf die Wahl aufgezeichnet sind. So 
wird die Reibenfolge der Stimmabgabe bei der Wahl erst im 
IV. Kapitel unter den kurfürstlichen Ehrenrechten aufgeführt. 
Sie sollte eigentlich ihrer Bedeutung für den Wahlgang gemäß”? 
im II. Kapitel stehen, das doch über die Wahl handelt. Unter 
diesen Ehrenrechten kehrt auch die Berufung zur Wahl durch 
den Erzbischof von Mainz als ein Recht wieder, während 
sie im I. Kapitel eine Pflicht war, die der rechtzeitigen Benach- 
richtigung der Kurfürsten über den Wahltermin diente®. Die 
gesetzliche Festlegung des Wahlortes findet sich sogar erst im 
XXIX. Kapitel der Goldenen Bulle, zusammen mit der Be- 
zeichnung der Orte für die Krönung und den ersten Hoftag des 
Königs. 

Eine ganze Reihe von Punkten, die für die Königswahl wichtig 
sind, fehlen überhaupt. Es wird nichts angeordnet über die Beur- 
kundung und Publikation der Wahl. Ebenso wird die Altar- 
erhebung und das Königslager vor Frankfurt nicht erwähnt. Die 
Person des zu Wählenden wird nur in zwei Fällen in Verbindung 
mit kurfürstlichen Rechten — also gemäß dem Thema der Gol- 
denen Bulle! — genannt. Im ersten Absatz des II. Kapitels heißt 
es, der Heilige Geist möge die Herzen der Kurfürsten erleuchten, 
damit sie einen gerechten, guten und nützlichen Menschen er- 
wählen. Im zweiten Absatz des II. Kapitels erscheint dann die 
schon genannte Verpflichtung des Königs zur Bestätigung der 
kurfürstlichen Privilegien. 


Es wird auch nirgends entschieden, in welchen Fällen die 
Kurfürsten das Recht oder die Pflicht haben, zu einer Wahl zu 
schreiten. 


? Vgl. Ulrich Stutz, Abstimmungsordnung der Goldenen Bulle. (Z. Sav. R. G., 
Germ. Abt. 56. 1922.) S. 288. 

* Dieser Unterschied ist aus dem Text des Gesetzes klar zu ersehen. In Ka- 
pitel I, Abs. 15, heißt es: „archiepiscopus Maguntinensis ... electionem ... paten- 
tibus debeat litteris intimare....". Dagegen heißt es in Kapitel IV, Abs. 2: 
»... Maguntinensis archiepiscopus potestatem habebit. . .'*. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 53 


II. 


Die Goldene Bulle und die Wahl vivente imperatore. 


Es ist in der Goldenen Bulle nichts darüber gesagt, ob die 
Wahl eines neuen Königs ,,vivente imperatore“ zulässig ist oder 
nicht. Nun haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, daB die 
Goldene Bulle auch gar nicht beabsichtigt, eine Entscheidung 
über diese Frage zu fällen. Man muß sich daher hüten, das „ar- 
gumentum e silentio" anzuwenden und zu behaupten, daB die 
Goldene Bulle eine Wahl bei Lebzeiten des Königs deshalb ab- 
lehne, weil sie sie nicht erwähnt. Wollte man diesen Schluß ziehen, 
so würde man den Kurfürsten das Recht zur Wahl nur bei Er- 
ledigung des Thrones durch Todesfall zubilligen. Denn das ist 
der einzige Fall, für den die Goldene Bulle genauere Vorschriften 
trifft. Diese beziehen sich auf die Berufung der Kurfürsten zur 
Wahl. Es ist schon weiter oben gesagt worden, daB sie bezwecken, 
den Kurfürsten rechtzeitige Kenntnis des Wahltermins zu ver- 
mitteln. Wenn nun dem Erzbischof von Mainz nur für den be- 
sonderen Fall, daB das Reich durch den Tod des Kónigs erledigt 
wird, eine bestimmte Frist gesetzt wird, innerhalb welcher er 
die Aufforderungen zur Wahl abgeschickt haben muß, so geschieht 
das aus einem doppelten Grunde. Einmal lag nur für diesen Fall 
die Notwendigkeit einer Neuwahl klar auf der Hand. In den 
Fällen, wo sie durch Absetzung oder Abdankung des Herrschers 
sich ergab, hing sie doch wohl immer von vorhergehenden Ent- 
scheidungen des gesamten Kurfürstenkollegiums ab. Vor allenı 
aber wollte man wohl vermeiden, auf die heikle Frage der Ab- 
setzung näher einzugehen. Jedenfalls ergibt sich der Beweis da- 
für, daß die Goldene Bulle eine Neuwahl nicht nur auf den Tod des 
jeweiligen Herrschers folgen lassen wollte, schon aus der Tatsache, 
daß die Sonderbestimmung für den Todesfall der allgemeinen 
Bestimmung über die Berufungspflicht des Mainzers erst folgt. 


Die ältere Forschung hat trotzdem allgemein angenommen, 
die Goldene Bulle lasse eine Neuwabl vivente imperatore nicht 
zu, weil sie sie nicht erwähnt“. Es war einer Arbeit von Schmidt 


* Hans Jenkner, Die Wahl Wenzels (Diss. Gött. 1877), S. 24. Nerger, Die 
Goldene Bulle (Diss. Halle 1878.) S. 88. Theodor Lindner, Die Wahl Wenzels 
(Forsch. z. dt. Gesch. Bd. 14. Gött. 1874.) [Weiter abgekürzt zitiert: Wahl Wenzels.], 
8. 253. Theodor Lindner, Geschichte des deutschen Reichs unter König Wenzel 


54 Richard Lies 


vorbehalten, diese irrige Ansicht richtigzustellen.!? Er wies aus 
einer genauen Interpretation des Textes der Goldenen Bulle nach, 
daß sie „eben dadurch, daß sie die Thronerledigung überhaupt 
nicht erwähnt, alle Fälle vollkommen frei läßt“. Dabei stützte 
er sich auf die Stellen des Gesetzes, die die Veranlassung zu einer 
Neuwahl erwähnen. (Kapitel I, 1 — quotienscumque et quando- 
cumque necessitas sive casus electionis regis Romanorum in im- 
peratorem promovendi emerserit —; Kapitel XVIII. — electio- 
nem Romanorum regis, que ex racionabilibus causis imminet 
facienda —.) Dazu betont er, daB es als ein beispielsweise! an- 
geführter konkreter Fall zu betrachten sei, wenn die Berufungs- 
pflicht des Mainzer Erzbischofs im AnschluB an den Tod des 
Königs geschildert sei. 

Diese durchaus einleuchtenden und richtig belegten Aus- 
führungen sind aber von der späteren Forschung nicht beachtet 
worden . Zeumer hat sogar den Versuch unternommen, sie zu 
widerlegen l. Er erkennt zwar die Gründe Schmidt's als stich- 
haltig an dafür, daB die Goldene Bulle eine Neuwahl nicht nur 
beim Todesfalle des Kónigs gestatte. DaB sie aber auch eine Wahl 
vivente imperatore zulasse, widerlegt er folgendermaßen: „Nicht 
nur, daB die Goldene Bulle eine Wahl vivente imperatore nicht 
erwähnt; sie läßt dafür gar keinen Raum. Eine zwiespältige 
Wahl war im Falle einer Designation ja gar nicht denkbar; und 
doch wird als der Hauptzweck der Gesetzgebung die Sicherung 
der einhelligen Wahl hingestellt. Im Wahleide versprechen die 
Wähler dem christlichen Volke ein weltliches Haupt, temporale 


(Braunschweig 1875.), I. S. 21. Dort sagt er, daB die Wahl von Rechts wegen un- 
möglich sei, weil die Goldene Bulle nur von einer Wahl bei erledigtem Throne spricht. 

10 M. G. Schmidt, a. a O., S. 2. 

11 Mit der Ansicht, daB der Fall als Beispiel angeführt sei, deckt sich allerdings 
die Auffassung der vorliegenden Arbeit nicht ganz, wie die Ausführungen auf S. 50 
zeigen. 

13 Loserth, Geschichte des späteren Mittelalters, 1903, S. 377. L. von Winter- 
feld, Kurrheinische Bündnisse (Diss. Gött. 1912.), S. 80. Lindner, Deutsche Ge- 
schichte unter Habsburgern und Luxemburgern (Stuttgart 1893.), IL, S. 86, sagt 
allerdings nur noch, daß die Goldene Bulle nur von einer Wahl bei erledigtem 
Throne spreche. Er läßt im Gegensatz zu seiner früheren Darstellung die Be- 
hauptung (Wahl Wenzels, S. 24), daß die Wahl deshalb von Rechts wegen un- 
möglich sei, aus. 

18 Zeumer, Goldene Bulle I, S. 187. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige, usw. 55 


caput, zu geben, und entsprechend gibt auch Kapitel II, Absatz 3 
als Ziel die Wahl eines temporale caput mundi an; das aber kam 
nicht in Betracht, wenn die Christenheit schon im Kaiser ein 
solches Haupt besaß. ... Ferner versprechen die Wähler eidlich, 
daß sie wählen wollen nach freiem Ermessen absque omni pacto, 
wodurch bei strenger Interpretation die Wahl eines designierten 
Nachfolgers ausgeschlossen war.“ 

Diese Begründung erscheint wenig überzeugend. Zwar wird 
man Zeumers Behauptung!“ nicht bestreiten können, daß Karl IV. 
beim Erlaß der Goldenen Bulle keine dynastischen Absichten 
verfolgt hat und daher auch an die Möglichkeit einer Wahl seines 
Nachfolgers zu seinen Lebzeiten kaum gedacht hat. Das muß 
man schon aus dem einfachen Grunde annehmen, weil Karl zu 
dieser Zeit noch gar keinen Sohn hatte. Daß die Goldene Bulle 
aber keinen Raum für eine Wahl vivente imperatore läßt, ist 
weder aus diesem noch aus den oben angeführten Gründen ein- 
zusehen. 

Auch bei Designation war natürlich eine zwiespältige Wahl 
möglich. Wenn aber durch sie Einstimmigkeit gefördert wurde, 
80 lag doch nichts mehr im Sinne der Goldenen Bulle, als deren 
Hauptzweck Zeumer selber die Sicherung der einhelligen Wahl 
bezeichnet. Gegen den weiteren Einwand Zeumers, daß es nur 
ein temporale caput mundi geben durfte, braucht man nur die 
Beispiele aus der früheren Geschichte anzuführen, wo der Sohn 
schon zu Lebzeiten des Vaters erwählt wurde. Außerdem kam 
eine Wahl bei Lebzeiten des Königs in ihrer politischen Bedeutung 
auch erst nach dem Tode des gegenwärtigen Herrschers zur vollen 
Auswirkung, weil der Gewählte erst dann die Regierung des 
Reiches antrat 18. 

Durch das Versprechen der Kurfürsten ,,absque omni pacto“ 
zu wählen, war allerdings die Wahl eines designierten Nachfolgers 
bei strenger Auslegung scheinbar ausgeschlossen. Aber es war 
ja auch gar nicht nötig, daß ein zu Lebzeiten seines Vorgängers 
Erwählter designiert sein mußte. Und selbst eine Designation 
brauchte nicht unbedingt von Verträgen begleitet sein. Jeden- 
falls war die Gefahr, daß die Wahl auf Grund von Verträgen und 


14 Zeumer, Goldene Bulle I S. 187. 
18 Vgl. S. 80 der vorliegenden Arbeit. 


56 Richard Lies 


Versprechungen erfolgte, nicht größer, als bei einer Wahl nach 
Erledigung des Thrones. 


Nun ist allerdings die Wahl Wenzels nur durch solche Verträge 
zustandegekommen. Die unverbältnismäßig hohen Zugeständ- 
nisse, die Karl IV. den Kurfürsten machen mußte, sind hinläng- 
lich bekannt. Mit ihnen hat er zweifellos völlig gegen den Sinn 
des von ibm selbst geschaffenen Gesetzes verstoßen. Die Ver- 
meidung solcher Bestechungen für die Zukunft war einer der 
wesentlichsten Gründe für die schriftliche Niederlegung jener 
Wahlbestimmungen gewesen. Die Goldene Bulle sollte den Wahl- 
akt aus einer bloßen Formalität in die wirklich entscheidende, 
den König schaffende Rechtshandlung verwandeln. Bei der Wahl 
Wenzels aber war sie nach den voraufgegangenen Verträgen tat- 
sächlich nur eine solche Formalität. 


Doch liegt es nun einmal in der Natur der Gesetze, daß sie 
einen Spannungszustand zwischen den wirklichen Verhältnissen 
und den idealen Erfordernissen überbrücken sollen. Ist diese 
Spannung zu groß, so gelingt es selbst den straffsten Gesetzen 
nicht, die Mißstände in den wirklichen Verhältnissen zu besei- 
tigen!?, Auch ein Nachfolger Karls IV., der erst nach seinem 
Tode erwählt worden wäre, hätte nur durch hohe Versprechungen 
zum Throne gelangen können. Durch die Bestechungen unter- 
schied sich Wenzels Wahl nicht im geringsten von den früheren 
und erst recht nicht von späteren Wahlen, die erst bei erledigtem 
Throne zustandekamen. 


Wie sehr man sich dieses Verstoßes gegen das Gesetz bei der 
Wahl Wenzels bewußt war, zeigen die offiziellen Wahlurkunden. 
Im Notariatsinstrument von Frankfurt (RTA.I, 45) und in den 
Wahlanzeigen der Kurfürsten an den Papst (RTA. I, 79—82) 
werden alle voraufgegangenen Verträge und die Verhandlungen 
von Nürnberg und Rense peinlichst verschwiegen. Die Initiative 
zur Wahl und die rechtlich verbindlichen Vorbereitungen werden 
den Kurfürsten zugeschrieben. Man sucht die Wahl so darzu- 
stellen, als wäre den Kurfürsten erst in Frankfurt der Gedanke 
gekommen, daB Wenzel der geeignete sei “. 


1° Vgl. Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter (Historische Zeit- 
schrift. Bd. 120. 1919) S. 88. 
ı Vgl. S. 78ff. dieser Arbeit. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 57 


Haben sich die angeführten Gründe Zeumers als wenig stich- 
haltig für die Begründung seiner Ansicht erwiesen, so ist zu be- 
merken, daß er ein Argument, das viel stärker für seine Ansicht 
sprechen könnte, nicht zur Beweisführung heranzieht. Es ist die 
Tatsache, daß dem Erzbischof von Mainz das Berufungsrecht 
zur Wahl im IV. Kapitel Absatz 2 nur für den Fall der Erledigung 
des Reiches zugesprochen wird. Da nun im I. Kapitel Abs. 15 
und 16, wo die Vorschriften über die Bestimmung des Wahltermins 
und die Berufung zur Wahl aufgezeichnet sind, nur von einer 
Berufung durch den Erzbischof von Mainz gesprochen wird, so 
sollte man annehmen, daß die Goldene Bulle eine Wahl, solange 
der Thron nicht erledigt war, doch nicht vorgesehen hat. Be- 
trachtet man aber die Vorgänge bei der Wahl Wenzels, so findet 
man, daß hier die Festsetzung des Wahltermins durch einstim- 
migen Beschluß der Kurfürsten auf dem Reichstage zu Nürnberg 
erfolgte (RITA. I, 60). Hatte die Berufung durch den Mainzer Erz- 
bischof nur den Zweck, den Kurfürsten ein rechtzeitiges Erschei- 
nen zur Wahl zu ermóglichen 5, so erübrigt sich in diesem Falle 
selbstverstándlich eine besondere schriftliche Einberufung. Denn 
jeder Kurfürst ist ja durch den gemeinsamen Beschluß über den 
Wahltermin unterricbtet. Die Festsetzung dieses Termins erfolgte 
zugleich mit dem Beschluß der Kurfürsten darüber, ob die Not- 
wendigkeit für eine Wahl gegeben war. Es ist klar, daß die Ent- 
scheidung darüber nicht dem Mainzer Erzbischof allein überlassen 
werden konnte, Er erhielt das Berufungsrecht eben nur für den 
Fall, wo die Notwendigkeit zur Wahl unbedingt gegeben war, 
nämlich bei erledigtem Throne. Und auch dann war er für die 
Festlegung des Wahltermins an genaue Vorschriften gebunden. 
Daher widersprach der gemeinsame Beschluß der Kurfürsten zur 
Wahl keineswegs dem Sinn der Goldenen Bulle. 


Die Berechtigung zu solchem Vorgehen gab ihnen eine andere 
Bestimmung des Gesetzes. Im XII. Kapitel der Goldenen Bulle, 
das über den Plan regelmáBiger Kurfürstentage handelt, wird der 
,tractatus communis salutis et pacis“ als ihre Aufgabe bezeichnet. 
Mit der Notwendigkeit für das Wohl des Reiches aber begründeten 
die Kurfürsten die Wahl Wenzels. Pfalzgraf Ruprecht entschloß 
sich in seinem Wahlversprechen (RTA. I, 20) aus folgender Er- 


13 Vgl. S. 50 dieser Arbeit. 


58 Richard Lies 


wägung heraus, Wenzel seine Stimme zu geben: „das han wir für 
uns bedechticlich genomen der cristenheyt und des heiligen Reichs 
nucze und ere, dorzu wir verbunden sein, und fride des landes 
und der lute und ouch eyndrechtikeyt der obgenanten unsrer 
mitkurfursten an der kure." In der kürzeren Wahlanzeige der 
Kurfürster an den Papst (RTA.I, 79 und 81) lautet die Begrün- 
dung: ,,... ut idem sacrum Romanum imperium ... forti poten- 
tique presidiatore non careat, pro salubri comodo tocius christiani- 
tatis et statu ... Wenzeslaum ... eligimus ...'" Der gleiche 
Gedankengang wird in der längeren Wahlanzeige (RTA. I, 80 
und 82) ausführlicher verfolgt, beginnend: „ magne deliberationis 
studio sacri Romani imperii rempublicam ... una cum aliis prin- 
cipibus imperii coelectoribus meis sepe sepius ymmo sepissime 
prout expedit accuracius ponderantes ...' Man darf also sagen, 
daB die Goldene Bulle eine Wahl vivente imperatore keineswegs 
ausschlieBt, sondern im XII. Kapitel den Kurfürsten die Hand- 
habe für die Vornahme einer solchen Wahl bietet. 


III. 


Das Verhültnis des Papstes und der Kurfürsten zur Wahl bei 
Lebzeiten des Kaisers. 


Zeumer führt weiterhin an, daB die Goldene Bulle auf eine Wahl 
vivente imperatore so wenig eingerichtet sei, daB man es begreifen 
könne, wenn auf dem Reichs- und Wahltage von 1486 die Ansicht 
aufgetaucht sei, sie habe in einem solchen Falle überhaupt keine 
Geltung !*. 

Diese Feststellung legt die Frage nahe, wie denn bei der Wahl 
Wenzels die Beteiligten sich zu der Möglichkeit einer Wahl noch 
zu Lebzeiten Karls IV. gestellt haben. 

Was die Kurfürsten betrifft, so hatte Karl IV. die bóhmische 
und die brandenburgische Stimme selber inne. Der Erzbischof 
von Mainz und der Kurfürst von Sachsen waren ihm politisch 
so stark verpflichtet, daB man sich nicht wundern darf, wenn bei 
ihnen keine Bedenken gegen die Wahl aufgetaucht sind. Beide 
versprachen (RTA. I, 2 und RTA. I, 25), wenn sie von Karl 
oder von Wenzel dazu ermahnt würden, den letzteren ,,an 


1* Zeumer, Goldene Bulle I S. 187. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 59 


alles vercziehen und widerrede" zum Römischen Könige zu 
wählen “. 

Solche Bedenken gegen die Wahl sollte man schon eher bei 
den Erzbischöfen von Köln und Trier, deren Bereitwilligkeit 
Karl erst durch hohe Zugeständnisse erlangt hat, erwarten. Aber 
schon im Jahre 1371, als Karl mit seinem Plan wahrscheinlich 
noch nicht offen hervorgetreten war, wurde die Möglichkeit einer 
Wahl noch zu Lebzeiten des Kaisers von diesen beiden Kur- 
fürsten in Erwägung gezogen. In dem bekannten Vertrage, in 
dem sie sich gegenseitig zu gemeinsamem Vorgehen bei der Königs- 
wahl verpflichteten (RTA. I, 9), trafen sie Vereinbarungen auch 
für den Fall, daß diese Wahl noch zu Lebzeiten Karls stattfinden 
würde. Beide schienen also an der Möglichkeit einer Wahl vivente 
imperatore schon damals nicht zu zweifeln. Wenn sie allerdings 
im selben Vertrage einander versprachen, den daraus etwa er- 
wachsenden Nutzen untereinander zu teilen, so zeigt das genugsam 
den Grund für ihre Bereitwilligkeit. Ohne etwaige Vorteile hätten 
sie ihre Zustimmung sicher versagt. Der Vertrag, der zu einer 
Zeit abgeschlossen wurde, wo wahrscheinlich noch keine Ver- 
handlungen mit Karl IV. stattgefunden hatten, ist ein Zeichen 
für die Frivolitát der Kurfürsten, die mit einer solchen Wahl- 
rechtsauffassung den Kaiser zu seinem Vorgehen geradezu ver- 
anlaBten. 

Allerdings hätten grundsätzliche Einwände gerade der Kur- 
fürsten nicht einmal ihrem eigenen Interesse gedient. Die Berech- 
tigung, dem Kaiser schon zu seinen Lebzeiten einen Nachfolger er- 
wählen zu dürfen, konnte das kurfürstliche Wahlrecht nurerhöhen. 
Gerade ein solcher Fall bot ihnen Gelegenheit, persönliche Wün- 
sche und Forderungen umsoleichter durchzusetzen. Eine offizielle 
Designation Wenzels ist nicht erfolgt, und das freie Wahlrecht 
der Kurfürsten ist in keiner Weise angetastet worden. Der Kaiser, 
der selbst nur als Kurfürst und nicht in seiner Eigenschaft als 
Kónig an der Wahl teilnehmen durfte, muBte den EinfluB, den 


æ Weizsäcker druckt die Urkunde des Kurfürsten von Sachsen im Wortlaut 
nicht ab; denn das böhmische Kronarchiv, in dem sich das Original befindet, war 
ihm seinerzeit nicht zugänglich. Auf meine Bitte erhielt ich jetzt vom Tschecho- 
slowakischen Landesarchiv eine Photographie des Originals. Die Urkunde entspricht 
— abgesehen von den notwendigen Abweichungen in bezug auf Aussteller und 
Datum — wörtlich genau der Verpflichtung des Erzbischofs von Mainz. (RTA. I. 2.) 


60 Richard Lies 


er auf die Entscheidung seiner Mitkurfürsten zugunsten seines 
Sohnes gewann, teuer bezahlen. 

Ebenso wie der Trierer und Kölner scheint auch der Pfalzgraf, 
so schwer er sich zur Wahl Wenzels entschloß, durchaus nicht an 
der grundsätzlichen Möglichkeit dieser Wahl gezweifelt zu haben. 
Auch ihn bewogen natürlich nur finanzielle Vorteile, sich der 
Wahl Wenzels anzuschließen. Sein Wahlversprechen (RTA. I, 20) 
gab er erst, nachdem er die schriftliche Verpflichtung der übrigen 
Kurfürsten gesehen batte. Dann aber gelobte er, Wenzel seine 
Stimme zu geben, sobald er dazu ermahnt würde, gleichgültig ob 
von Karl IV. selber oder nach dessen Tode von Wenzel . 

Dieses Zeugnis für Ruprechts grundsätzliche Bereitwilligkeit 
zur Wahl muB um so schwerer wiegen, als er damals durchaus noch 
nicht mit der unbedingten Verwirklichung der Wahl Wenzels rech- 
nete. Am selben 22. Februar schloß er mit Ruprecht dem Jüngeren 
und Ruprecht dem Jüngsten einen Vertrag, in dem sie sich gegen- 


31 Weizsückers Regest in der Überschrift der Urkunde (RTA. 1, 20) ist un- 
genau und gibt den Inhalt in einer Weise wieder, die gerade Ruprechts Stellung 
zur Wahl vivente imperatore nicht erkennen läßt. Ruprecht der Ältere verpflichtet 
sich nicht etwa „dem Sohne bei der Wahl eines Römischen Königs nach Tod oder 
Abdankung des Vaters seine Stimme zu geben". Er sagt vielmehr, es bedünke 
ihn, daß Wenzel an Macht und Würdigkeit zum Könige am besten tauge nach dem 
Tode oder der Aufgabe des Reiches durch den Kaiser. Deshalb wolle er mit seinen 
Mitkurfürsten oder deren Mehrheit ihm seine Stimme geben, sobald er von Karl 
oder nach dessen Tode von Wenzel dazu ermahnt würde. Zwar kónnte man aus 
dieser Formulierung schlieBen, daB der Pfalzgraf seine Stimme Wenzel nur nach 
Tod oder Abdankung Karls geben will. In der naratio der Urkunde wird aber be- 
richtet, daB Ruprecht die Wahlversprechen der übrigen Kurfürsten gesehen habe. 
Und diese verpflichten sich ja — wie oben gezeigt wurde —, ohne weitere Bedin- 
gungen zur Wahl. Daraus ist sicher zu schlieBen, daB der Vertrag zwischen Karl 
und Ruprecht sich ebenso wie die übrigen Urkunden auf den Fall einer Wahl vor 
Abdankung Karls bezog. Hátte Ruprecht die Abdankung des Kaisers als Bedin- 
gung für die Wahl gefordert, so würe eine solche Verpflichtung dazu sicher noch 
ausdrücklich in die Urkunde aufgenommen worden. 

Auch das folgende Regest, das als Überschrift zu RTA.I, 21 dient, gibt den 
Inhalt der Urkunde nicht richtig wieder. Es muß nicht heißen: „Pfalzgraf Rup- 
recht II. der Jüngere und Ruprecht III. der Jüngste geloben dem K. Karl IV. 
und K. Wenzel'n, daB, falls der Kaiser stürbe, ehe sein Sohn zum römischen König 
gewählt wäre, derjenige von ihnen, der dann Kurfürst wäre, dem letzteren seine 
Stimme geben werde", sondern „Pfalzgraf Ruprecht II. der Jüngere, und Rup- 
recht III. der Jüngste geloben dem K. Karl IV. und König Wenzel, daB, falls 
Ruprecht der Ältere stürbe, ehe Wenzel zum Römischen Könige gewählt wäre, 
derjenige von ihnen . . usw. 


Die Wahl Wenzels sum Römischen Könige usw. 61 


seitig verpflichteten: Auch wenn einer von ihnen zum Ró- 
mischen Könige erwählt würde, so wollten sie sich doch an ihre 
sonstigen Verträge mit Wenzel für gebunden erachten (RTA.I, 21). 

Man sieht also: So schwierig es zunächst für Karl war, die 
Beteiligten gerade zur Wahl seines Sohnes bereitwillig zu 
machen, so wenig Widerstände grundsätzlicher Art gegen eine 
Wabl vivente imperatore hatte er zu überwinden. 

Auch der Papst äußerte zunächst keine Bedenken gegen die 
Gesetzlichkeit einer solchen Wahl. Freilich waren es auch bei . 
ihm durchaus politische Motive, die seine Haltung bestimmten. 
Als er erst mit der Móglichkeit rechnen muBte, daB Karl sich den 
gestellten Bedingungen, von denen die päpstliche Zustimmung 
abhängen sollte, zu entziehen gedachte, schrieb er dem Kaiser, 
eine Wahl vivente imperatore sei „tamquam insolitum“, daß 
er die Zustimmung der Kardinäle kaum dazu hätte erlangen 
können (RTA.I,61). Darin lag noch nicht die Behauptung, daß 
die Wahl gesetzlich unmöglich sei. Wenn aber die päpstliche Ein- 
wiligung von Bedingungen abhängig gemacht wurde, so klang 
schon leise die Haltung an, die der Papst nach vollzogener Wahl 
eingenommen hat. Eine Betrachtung der Verhandlungen wird 
zeigen, wie der päpstliche Standpunkt sich allmählich geändert hat. 

Daß eine Wahl vivente imperatore der Kurie keineswegs er- 
wünscht sein konnte, ist schon häufig genug betont worden. 
Wenn aber Engelmann“ und Lindner? behaupten“, die Be- 
stürzung in Avignon sei groB gewesen, als der Kaiser dem Papste 
seinen Plan eróffnet habe, so ist das sehr unwahrscheinlich. Schon 
deshalb, weil der Kurie genau so wie den Kurfürsten Karls Pläne 
schon seit langer Zeit nicht mehr unbekannt sein konnten. Dazu 
kam, daß Wenzel der Sohn eines der Kirche treu ergebenen Herr- 
schers war. Damit bot er doch eine gewisse Gewähr, daB er einst 
als König und Kaiser in dieselben Bahnen der Politik einlenken 
werde, wie sein Vater. Im Februar 1376 schrieb Gregor XI. dem 
Erzbischof Johann von Prag“, er habe von der schweren Krank- 
heit Karls IV. gehórt und fürchte, die Kurfürsten móchten bei 


= Engelmann, Anspruch der Päpste auf Konfirmation und Approbation bei 
den deutschen Königswahlen. Breslau 1880. S. 110. 

m Lindner, Wahl Wenzels, S. 270. 

* Die Behauptung wird von beiden nicht quellenmäßig belegt! 

= RTA. I. S. 94, Anm. 1. 


62 Richard Lies 


einem plótzlichen Tode des Kaisers einen andern als Wenzel zum 
Könige erwühlen. Daher schicke er den Kardinal Robert von 
Genf nach Deutschland, damit er Wenzel bei den Kurfürsten 
Gunst verschaffe und die Wahl eines anderen möglichst verhindere. 
Aus diesem Schreiben klingt die eindringliche Überredungskunst 
Karls IV. wieder. Seine Argumente für die Notwendigkeit, daB 
die Wahl Wenzels noch zu seinen Lebzeiten stattflnden müsse, 
hatten an der Kurie ihre Wirkung nicht verfehlt. Er trug sie 
später noch einmal dem päpstlichen Gesandten Audibert vor: 
Wenn man mit der Wahl bis nach seinem Tode warte, so würden 
die Kurfürsten bei ihrer kirchenfeindlichen Einstellung sicher 
einenderKurie ungünstig gesinnten Herrscher wählen (RTA.1,63,1). 

Zwar bestand die Gefahr, daß mit der Wahl des neuen Königs 
schon zu Lebzeiten seines Vorgängers wieder der Weg zu einer 
Erbmonarchie beschritten wurde. Aber dem stand für diesen 
Einzelfall der Vorteil gegenüber, daß ein der Kirche günstig ge- 
sinnter Kandidat auf den Thron gelangte. Und gegen die Nach- 
teile, die aus einer solchen Wahl vivente imperatore der Kurie 
erwachsen konnten, fand man Schutzmaßnahmen. Eine Reihe 
von Bedingungen wurde aufgestellt, die die Wiederholung einer 
solchen Wahl — wenigstens ohne die ganz ausdrückliche Ge- 
nehmigung der Kurie — unmöglich machen sollte. Von ihrer 
Erfüllung seitens des Kaisers machte der Papst seine Einwilligung 
abhängig. 

Aber je näher die Wahl Wenzels rückte, um so mehr steigerte 
sich die Befürchtung an der Kurie, daß Karl sich trotz seiner 
anfänglichen Geneigtheit der Erfüllung der gestellten Bedingungen 
entziehen möchte. Diese Befürchtung war der Grund dafür, daß 
der Papst Karl IV. mitteilen ließ, eine Wahl vivente imperatore 
sei den Kardinälen ,,valde novum et insolitum“ erschienen, daß 
sie ihre Zustimmung nur sehr ungern erteilt hätten (RTA.I, 62, 6). 
Der Ausdruck ist mit Sorgfalt gewählt. Der Papst hütete sich 
wohl, zu behaupten, daß eine solche Wahl ungesetzlich sei. Denn 
dann hätte er seine Zustimmung schlechterdings nicht geben 
können. Sein Urteil änderte sich erst, als die Wahl ohne seine 
Genehmigung vollzogen war. Allerdings hätten die Bedingungen, 
die der Papst an den Kaiser stellte, wären sie erfüllt worden, 
genügt, eine Wahl vivente imperatore in Zukunft nur den Wün- 
schen der Kurie gemäß zu gestalten. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 63 


Für den nächstfolgenden Fall einer Wahl sollten Karl und 
Wenzel versprechen, daß sie zu ihren Lebzeiten nie wieder eine 
Neuwahl veranlassen und einer von anderer Seite geplanten sich 
widersetzen würden. Für die weitere Zukunft verlangte der Papst 
dieZustimmung Karls zu einer päpstlichen Konstitution (RTA.I, 
63, 5), nach der die Kurfürsten eine Wahl in Zukunft nur bei 
Vakanz des Reiches vornehmen dürften; zu Lebzeiten des jewei- 
ligen Herrschers aber nur mit besonderer Erlaubnis (licencia et 
auctoritas) des Papstes, Ohne solche Erlaubnis sollte die Wahl 
„ipso jure irrita atque nulla“ sein. Hier kommt der Standpunkt 
des Papstes am klarsten zum Ausdruck. Eine Wahl vivente im- 
peratore hält er keineswegs für gesetzlich unmöglich. Sie soll es 
aber in Zukunft werden, wenn sie nicht mit seiner ausdrücklichen 
Erlaubnis vollzogen wird. Um die Einholung der Wahlerlaubnis 
bei der Kurie aller Welt vor Augen zu führen, gedachte man die 
Wahl Wenzels zu einem Präzedenzfall auszugestalten. Karl und 
Wenzel sollten persönlich nach Avignon kommen und die päpst- 
liche Genehmigung zur Wahl einholen. 

Diese Forderungen waren geschickt und durchdacht aufgebaut. 
Gelang es dem Papste, sie durchzusetzen, so machten sie aller- 
dings in Zukunft die Wahl eines Königs vivente imperatore 
ohne seine Zustimmung durchaus unmöglich. Er war sich der 
Tatsache wohl bewußt, daß sie eine starke Einschränkung des 
freien Wahlrechts der Kurfürsten bedeuteten. Er versprach 
Karl IV. die Geheimhaltung des Vertrages über die päpstliche 
Konstitution nicht etwa nur aus Rücksicht auf den Kaiser. Viel- 
mehr fürchtete er selber den Unwillen der Kurfürsten über eine 
derartige Beschränkung ihrer Rechte (RTA. I, 63, 5). 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Karl, der erfahrene 
Politiker, die staatsrechtliche Bedeutung dieser Forderungen 
sofort erkannt und beschlossen hat, sich ihrer Erfüllung zu ent- 
ziehen. Aus den Verhandlungen mit dem päpstlichen Gesandten 
Audibert ist zu ersehen, daß er mit Bestimmtheit zunächst nur 
sein Kommen nach Avignon zugesagt hat. Auf die übrigen 
Bedingungen hat er sich anscheinend überhaupt nicht festgelegt. 
Sein Verhalten im weiteren Verlaufe der Verhandlungen läßt 
das vermuten. Sicher hat er die Bitte um Wahlerlaubnis nicht 
zugesagt. Denn sein Brief vom 30. März 1376 an den Papst 
(RTA. I, 60) spricht mit so selbstverständlicher Sicherheit vom 


64 Richard Lies 


Beschluß der Kurfürsten zur Wahl, und die Abweisung der For- 
derungen Audiberts (RTA. I, 63, 1) klingt so entrüstet, daB ihnen 
auf keinen Fall eine Zusage vorausgegangen sein kann. 

Am leichtesten wurde es ihm, der Forderung auf Zustimmung 
zu der päpstlichen Konstitution auszuweichen. Es ist bekannt, 
daß er ironisch erklärt hat, der Papst möge so viel Konstitutionen 
erlassen, wie ihm beliebe. Er würde sie mit Geduld über sich 
ergehen lassen und nicht widersprechen. Seiner Zustimmung 
bedürfe der Papst ja gar nicht, da auch die früheren Päpste ihre 
Konstitutionen erlassen hátten, ohne die Einwilligung seiner 
kaiserlichen Vorgänger einzuholen. Im weiteren Verlaufe der 
Verhandlungen hat er dann dieses Verlangen stets mit Stillschwei- 
gen übergangen, obgleich es vom Papste bis zuletzt hartnäckig 
immer wiederholt worden ist (RTA.I, 75; 86, 4)*. Auch der 
Forderung, daß er und Wenzel sich verpflichten sollten, nie wieder 
die Wahl eines Nachfolgers zu ihren Lebzeiten zu gestatten, ist 
er immer wieder ausgewichen. Erst am 23. September 1377, als 
der Papst sich immer noch nicht zur Approbation Wenzels ver- 
standen hatte, hat er die Bedingung erfüllt (RTA. I, 89). Da je- 
doch Wenzel keine entsprechende Urkunde ausstellte, so war 
dieser nicht an die Verpflichtung gebunden. Auf das Versprechen 
Wenzels schien der Papst immer noch zu warten, als er kurz vor 
seinem Tode im Februar 1378 dem Kaiser schrieb, er sei erstaunt, 
daß Wenzel die verlangten Briefe immer noch nicht geschickt 
habe (RTA. I, 91) “. Und auch an dem Fehlen dieser Verpflichtung 
hat es dann gelegen, daB Gregor XI. die Approbation Wenzels 
nicht mehr vollzogen hat *. 

Wichtiger als diese Forderungen, die die Wiederholung einer 
Wahl vivente imperatore ohne Genehmigung des Papstes un- 


* Weizsäcker, Urkunden zur Approbation Ruprechts (Abh. d. Berl. Ak. d. 
Wiss. 1858.), S. 19. Engelmann, Anspruch der Pápste, S. 115 u. 127. 

7 Engelmann, a. a. O. S. 129. 

* Das nimmt auch Weizsäcker, Urkunden zur Approbation Ruprechts, S. 21, 
an. Nach ihm (Urkunden zur Approbation Ruprechts, S. 18) hat Wenzel dieses 
Versprechen am 5. 4. 1379 noch gegeben und darauf die Approbationsbulle des 
Papstes erhalten. Diese von Urban VI. ausgestellte Approbationsbulle ist nicht 
überliefert. (Vgl. Weizsäcker, Reichstagsakten I S. XCI—XCIIL) Dabei ist zu be- 
achten, daB diese Approbation erst nach dem Tode Karls IV. und nicht mehr von 
Gregor XI. vollzogen wurde. Sie hat also für die vorliegende Arbeit keine Be 
deutung. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 65 


möglich machen sollten, war der Kurie zunächst die persönliche 
Einholung der Wahlerlaubnis. Gelang es, die Wahl auf diese 
Weise zu einem Präzedenzfall zu gestalten, so bedeutete das aller- 
dings die Vernichtung des freien Wahlrechts der Kurfürsten — 
wenigstens für den Fall einer Wahl vivente imperatore. Es war 
eine grundlegende Umgestaltung des Wahlrechts. Der Nach- 
folger wurde vom Kaiser vorgeschlagen, vom Papste in bezug 
auf seine Idoneität geprüft, und sodann den Kurfürsten vom 
Papste die Erlaubnis erteilt, diesen vorgeschlagenen und als ge- 
eignet befundenen Kandidaten zu wählen. Damit blieb ihnen 
nur ein rein formelles Anerkennungsrecht. - 


Es entsprach der Bedeutung dieser Forderung, wenn die Kurie 
ihre Verwirklichung mit der größten Hartnäckigkeit durchzu- 
setzen versucht hat. Und die Bestürzung in Avignon war groß, 
als Karl IV. in dem bekannten Briefe vom 30. März 1376 (RTA. I, 
60) schrieb, daß er seiner Gesundheit wegen nicht mit Wenzel 
nach Avignon kommen kónne. Damit wurde dem fein ausge- 
klügelten Plane der Charakter einer óffentlichen Demonstration 
genommen. So hat der Papst nicht aufgehört, bis zum Wahltage 
bald flehend, bald drohend mit allen verfügbaren Gründen Karl 
doch noch zum Kommen zu veranlassen (RTA. I, 61; 62,4—13; 
67,7). Aber Karl hat nicht nachgegeben. 


Die Wahl Wenzels wurde am 10. Juni 1376 vollzogen, ohne 
daB der Kaiser auch nur eine der genannten Bedingungen erfüllt 
hätte. Man wird seiner Politik nicht gerecht, wenn man sich dem 
Urteil Vigeners?? anschließt, nach dem es nur die Rücksicht auf 
die Kurfürsten gewesen wäre, die den Kaiser veranlaßt hätte, 
den päpstlichen Forderungen auszuweichen. Zwar hat Karl die 
Ablehnung des päpstlichen Verlangens, nach Avignon zu Kom- 
men, mit der feindlichen Haltung der Kurfürsten begründet 
(RTA.I,63, 1). Aber es entsprach den Grundsätzen seiner Politik, 
wenn er eine klare Darlegung seiner eigenen Stellungnahme ver- 
mied und sich bedauernd hinter der ablehnenden Haltung anderer 
verbarg. War er denn nicht selber Mitglied des in seinen Rechten 
gefäbrdeten Kurfürstenkollegiums? Seine Verhandlungen mit 
dem Vertreter der Kurie entbehren auch keineswegs eines vor- 


— 


* Fritz Vigener, Karl IV. und der Mainzer Bistumsstreit (1373—1378). 
Westd. Zeitschrift. Ergh. XIV. Trier 1908. S. 96ff. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 5 


66 | Richard Lies 


sichtigen Zeugnisses seiner persönlichen Überzeugung. Als 
Audibert zum ersten Male die Forderung eines Schreibens stellte, 
in dem die päpstliche licencia und gratia zur Vornahme der Wahl 
durch die Kurfürsten erbeten werden sollte (RTA.I, 63, 1), erklang 
in der Antwort Karls ein Unterton persönlicher Entrüstung: 
Der Papst wolle doch wohl nicht, daß er als Kaiser so seine Ehre 
zerstöre und sich selbst wegwerfe. Wenn er das täte, so würden 
die Kurfürsten sich in Wahrheit von ihm verraten glauben und 
sagen, daB er ihre Rechte (jura que habent in eleccione impera- 
toris) preisgegeben habe. Aus dieser Antwort tritt uns nicht nur 
der Kaiser, sondern auch der Kurfürst Karl entgegen, der nicht 
gewillt war, das freie Wahlrecht der Kurfürsten, das er in der 
Goldenen Bulle einst selber zum Reichsgesetz erhoben hatte, preis- 
zugeben. Dann fáhrt er allerdings fort — und es klingt fast, als 
wolle er den Eindruck des bisher Gesagten wieder abschwáchen — : 
Er fürchte, da8 er sich die ewige Feindschaft der Kurfürsten 
zuziehen würde, wenn er diese Forderung erfüllen würde. Der 
Papst kenne die böse Gesinnung gewisser Fürsten nicht. Er sei 
Sicher, daB, wenn man nicht vorsichtig sei, die Herrschaft in die 
Hände eines Feindes der Kirche fallen würde. 

Wenn Karl dann, nachdem die Wahl Wenzels bereits erfolgt 
war, sich den immer dringender werdenden Forderungen des 
Papstes schließlich nicht mehr entziehen konnte, so hat er es 
doch an weiteren Versuchen nicht fehlen lassen, sie wirkungslos 
zu machen. Die vordatierte Bulle des Papstes vom 7. Mai 1376 
(RTA. I, 74) wurde nicht an den Kaiser übergeben, weil sein Ge- 
genschreiben (RTA. I, 73) zwar assensus, gratiae und favores des 
Papstes zur Vornahme der Wahl erbat, aber den der Kurie wich- 
tigsten Ausdruck beneplacitum durch benevolentia ersetzte. 


Auch in der Begründung der Notwendigkeit der Neuwahl 
wich Karls Gegenschreiben stark von der päpstlichen Bulle ab. 
In der Bulle erklärte der Papst, er erteile seine Zustimmung des- 
halb, weil Wenzel der Sohn eines der Kirche treuergebenen Herr- 
schers sei und daher der Hoffnung Raum gebe, daß er einst in 
die Fußstapfen seines Vaters treten werde (RTA. I, 74). Er gab 


** Vgl. Die Aufdeckung der Vordatierung durch Weizsäcker, Reichstagsakten I 
S. LXXXVIf f.; weiter Weizsäcker, Urkunden der Approbation Ruprechts, (Abh. 
d. Berliner Akad. d. Wiss. 1888.) S.15; Engelmann, Anspruch der Päpste, S. 128ff. 


— — 45 — 


Die Wahl Wenzels zum Rómischen Kónige usw. 07 


damit auch offiziell den Grund an, der ihm wirklich die Nachfolge 


Wenzels wünschenswert erscheinen lieB. Das kaiserliche Schrei- 
ben — ebenso wie die kurfürstlichen Wahlanzeigen an den Papst 
(RTA.I, 79—82) — aber begründete die Notwendigkeit der Wahl 
mit dem Alter und der Krankheit des Kaisers, dem eine Hilfe in 
der Führung der Reichsgescháfte zur Seite gegeben werden müsse. 


Nachdem es aber zum Austausch dieser Urkunden nicht ge- 
kommen war, und auch die Krónung Wenzels ohne Einholung 
der päpstlichen Approbation vollzogen wurde, hatte sich die 
Situation für die Kurie sowohl wie auch für Karl IV. vóllig ge- 
ändert. Die bisher wohlwollende Haltung Gregors XI. gegenüber 
dem Kaiser wurde immer unfreundlicher. Schon in den geheimen 
Zusätzen zu der Anweisung an seine Gesandten (RTA.I, 75), die 
noch vor der Krónung in Avignon abgeschickt wurde, bediente 
er sich schärferer Ausdrücke: Caveat omnino idem Wenceslaus 
Rex. Er móge ja vor der Approbation keine Regierungshand- 
lungen ausüben, oder sich krónen lassen. Sonst werde der Papst 
die Wahl nie approbieren. 


Die nachträgliche Approbation, d. h. die faktische Anerken- 
nung Wenzels durch den Papst aber konnte Karl IV. nicht ent- 
behren®!. Nicht nur deshalb, weil Wenzel vom Papste später 
einmal die Kaiserkrone empfangen sollte. Das Papsttum besaß 
immer noch zu große politische Macht und moralischen Einfluß 
im Reiche, als daß Wenzel ohne seine Zustimmung sich seiner 
königlichen Würde sicher fühlen konnte. Karl hatte sogar 
schon vor der Wahl in seinem Briefe an die Stadt Frankfurt 
(RAT. I. 44) fälschlich behauptet, die päpstlichen Gesandten 
hätten die Einwilligung des Papstes zur Wahl überbracht. 
Darin lag doch eine gewisse Befürchtung, daß die Wahl ohne 
diese Zustimmung die Billigung Frankfurts nicht finden würde. 
Auch der Kurfürsten, obgleich sie zur Zeit der Wahl der Kurie 
sehr feindlich gesinnt waren, mochte Karl nicht unbedingt sicher 
sein. Der Papst drohte damit, er würde die Wahl für ungültig 
erklären. Führte er diese Drohung nach Karls Tode aus, so war 
es bei der wankelmütigen Haltung der Kurfürsten durchaus 
nicht ausgeschlossen, daß sie dann gegen neue Konzessionen 
auch einen neuen König wählen würden. In Ludwig dem Bayern 


m Engelmann a. a. O. 3.109. 
5* 


68 | Richard Lies 


stand ihm das Schicksal eines von der Kurie angefeindeten 
Herrschers vor Augen. 

So hatte Karl denn nach langem Stráuben in den weiteren 
Verhandlungen um die Approbation im Jahre 1377 wenigstens 
in dieser Frage nachgegeben. Es ist bekanntlich zum Austausch 
zweier vordatierter Schreiben gekommen. Diese unterschieden 
sich von den obenerwáhnten ihrem Inhalte nach sehr stark. 
Die ausführliche Genehmigungsbulle des Papstes (RTA. I, 88), vor- 
datiert auf den 4. April 1376, erteilte für dies eine Mal ausnahms- 
weise die Genehmigung zur Vornahme der Wahl vivente impera- 
tore, obgleich eine solche eigentlich „jure irrita atque nulla“ sei. 
Damit hatte sich der grundsátzliche Standpunkt des Papstes 
völlig geändert. Hatte er vor der Wahl nur erklärt, eine Wahl 
vivente imperatore sei ungewohnt, und versucht, sie durch den 
Plan der Konstitution erst für die Zukunft ungesetzlich zu 
machen, wenn sie wider seinen Willen vollzogen würde, so hielt 
er an diesem Anspruch jetzt auch für die Wahl Wenzels fest. 
Man muß die Drohung, die in dieser Formulierung lag, mit in 
Betracht ziehen, wenn man verstehen will, warum Karl schlieB- 
lich doch noch nachgegeben hat. 


Wenn Schmidt?? hervorhebt, daß der Kaiser das päpstliche 
Genehmigungsrecht nur auf die spátere Kaiserkrónung bezog, 
so ändert das nichts daran, daß er es tatsächlich anerkannte. 
Gerade daß er so lange versucht hat, sich der Forderung zu ent- 
ziehen, zeigt, wie ungern er nachgegeben hat. Aber die wirk- 
liche Anerkennung Wenzels durch die Kurie war ihm nun mehr 
wert als die hartnáckige Auírechterhaltung des Gedankens, der 
Papst habe auch bei einer Wahl zu Lebzeiten des Vorgángers 
kein Genehmigungsrecht zur Wahl. Wußte er doch nicht einmal, 
ob dieser Fall so wieder eintreten würde. 


Aber eine völlige Niederlage Karls ist es doch nicht ge- 
wesen. Als Kónig und Kaiser, nicht aber als Kurfürst, sprach 
er die Bitte aus. Und da die Wahl des Kónigs in den Hánden der 
Kurfürsten lag, den Kónig aber nichts anging, so konnte diese 
Bitte auch unter einem Datum, das vor der Wahl lag, keine 
staatsrechtliche Bedeutung haben. Die Kurfürsten, die das freie 
Wahlrecht hatten, waren durch Karls Verpflichtung in keiner 


33 M. G. Schmidt, Staatsrechtliche Anwendung der Goldenen Bulle, S. 8. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 69 


Weise gebunden“. Außerdem erkannte Karl den grundsätz- 
lichen Anspruch des Papstes auf Genehmigung zur Wahl nicht 
an. Denn er verweigerte ja die Zustimmung zu der päpstlichen 
Konstitution “. 

So ist festzustellen, daß von seiten der Kurfürsten und zu- 
nächst auch von seiten des Papstes keinerlei Bedenken erhoben 
worden sind, nach denen eine Wahl vivente imperatore ungesetz- 
lich sei. Wenn man auch in Betracht ziehen muß, daß diese 
Haltung von politischen Motiven bestimmt wurde, so kann man 
doch bei Berücksichtigung der Interpretation der Goldenen 
Bulle sagen, daß auch bei der Publikation der Goldenen 
Bulle nicht beabsichtigt worden ist, eine Wahl vivente impera- 
tore auszuschließen. Wäre es so gewesen, so hätte Karls IV. 
staatsmännische Vorsicht sicher nicht versäumt, vor der Wahl 
Wenzels ein Abänderungsgesetz zu erlassen, das auch die Wahl 
vivente imperatore gestattete, so wie er es auch im Falle des 
Wahlortes getan hat. 


IV. 
Der Streit um den Wahlort. 


Karl IV. hat dem Verlangen Kunos von Trier, den Wahlort 
von Frankfurt nach Rense zu verlegen, erst nach langen Ver- 
handlungen und auch dann nur scheinbar nachgegeben. Denn 
die Urkunde vom 11. November 1374 (RTA. I, 5), in der er das 
Gesetz über die Ausschließlichkeit Frankfurts als Wahlort 3 


33 Das hat schon Lindner, Wahl Wenzels S. 300, hervorgehoben, daß Karl 
diese Bitte als Kónig ausgesprochen habe. 

*4 Zeumer, Goldene Bulle I, S. 196, zieht aus der Vordatierung der Urkunden 
(RTA. I, 87 u. 88) den Schluß, daB den Schreiben zwar keine aktuelle Bedeutung 
für die Wahl Wenzels zukam, daß sie aber eine prinzipielle Anerkennung der päpst- 
lichen Ansprüche bedeuteten. Karl IV. aber wird seinem Schreiben eine solche Be- 
deutung nicht zuerkannt haben. Denn sonst hätte er doch auch den Forderungen 
des Papstes auf Zustimmung zu der päpstlichen Konstitution nachgegeben. 

Das widerrufene Gesetz ist im 29. Kapitel der Goldenen Bulle enthalten, 
wo die Orte für die Wahl, die Krönung und den ersten Hoftag des Königs festgelegt 
werden. Weizsäcker, Rense als Wahlort (Abh. d. Akad. Berlin 1890.) [Weiter abgekürzt 
xtiert: Weizsäcker, Rense als Wahlort.], S. 26, u. Reichstagsakten I, S. 22, Anm.1, 
schreibt, der Wahlort würde im I. Kapitel, Abs. 16, festgesetzt. Dort wird aber, 
wie auf S. 50 der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, die Berufung zur Wahl ge- 
erdnet und Frankfurt nur genannt, weil es eben nn Wahlort ist, und nicht 
erst durch diese Bestimmung werden soll. 


70 Richard Lies 


aufhob, trägt eine Reihe von Merkmalen, die ihre rechtliche 
Gültigkeit stark in Zweifel stellen. Die Begründung ,,auf das die 
Wahl frij sijn muge" ist, wenn nicht unzureichend, so doch 
mindestens recht vieldeutig. Die Ausfertigung ist nur in deutscher 
Sprache erfolgt. Zeugen zur Beurkundung sind nicht heran- 
gezogen. Das ist schon sehr bemerkenswert. Denn in unzähligen 
Fällen sind die Kurfürsten bei viel weniger wichtigen Urkunden 
als Zeugen aufgeführt. Am erstaunlichsten aber ist die Tat- 
sache, daB der Kaiser besonders betont, er habe dieses Gesetz, 
das er jetzt „von volkommenheit kaiserlicher mechte'' wider- 
rufe, einst mit „willen und gehengnisse‘‘ der Kurfürsten erlassen. 
Wenn er auch an die Zustimmung der Kurfürsten gesetzlich 
nicht gebunden war“, so pflegte er sie doch für wichtige An- 
gelegenheiten der Reichsregierung einzuholen. Karl ist der 
Gedanke regelmäßiger Kurfürstentage, die im XII. Kapitel der 
Goldenen Bulle gesetzlich festgelegt wurden, immer ernst ge- 
wesen. Es hat nur an den Kurfürsten gelegen, wenn der Plan 
nicht zur völligen Ausführung gekommen ist. Der Kaiser hat sie 
häufig zur Beratung um sich versammelt“, und hat viele Re- 
gierungshandlungen mit ihrem Rate und Willen vollzogen®, 
besonders in Angelegenheiten, die das Kurfürstentum betrafen. 


Wenn er nun ein Gesetz, das er einst mit ihrer Zustimmung 
erlassen hatte, unter ausdrücklicher Betonung dieser Tatsache 
widerrief, obne ihre Einwilligung einzuholen, so muß dafür schon 
ein besonderer Grund vorliegen. Schon Schmidt“ hatte die 
Móglichkeit erwogen, daB Karl mit dieser unzureichenden Form 
der Abfassung beabsichtigt habe, die Gültigkeit dieses Wider- 
rufs von vornherein in Zweifel zu stellen“ und damit die An- 


s Vgl. Vogt, in Westdeutsche Zeitschrift Nr. 27, 1908, S. 484, und Zeumer, 
Goldene Bulle I, S. 187ff. 

9 Vgl. Böhmer, Regesta imperii VIII, Nr. 905, 1544a, 1561 a, 1698a, 1806 a, 
1807, 2284a, 23668, 2356, 20198, 2555 a, 2555 b, 8621a, 4298, 4591 a, 5042a, 5599 a, 
5600 b, 5636 b, 5637, Ergänzungsheft Nr. 6986 u. 72648. 

38 Vgl. Böhmer, Regesta imperii VIII, Nr. 711, 957, 1027, 1233, 1681, 1807 b. 
2860, 2878, 2380, 2397, 2406, 2590, 3295, 3443, 3552, 8698, 3701, 8840, 5055, 5095, 
6644, Ergänzungsheft 6731, 6987. 

3 Schmidt, Staatsrechtliche Anwendung der Goldenen Bulle, S. 11. 


* Vgl dazu Weizsäcker, Rense als Wahlort S. 48: Als das Wahrscheinliche 
kann man jetzt sagen, daß er keinen Augenblick seines Lebens daran gedacht hat, 


Die Wahl Wensels zum Römischen Könige usw. 71 


wendung bei der Wahl Wenzels unmöglich zu machen. Aber 
wenn Karl auch insgeheim den Plan gehegt haben mag, die Wahl 
doch in Frankfurt stattfindenzulassen, so durfte er diese Ab- 
sicht noch nicht offen durchblicken lassen. Denn er hatte 
für seine Person Kuno von Trier zum Zugeständnis dieses 
Widerrufs noch das Versprechen geben müssen, nach besten 
Kräften dafür zu sorgen, daß die Wahl Wenzels in Rense statt in 
Frankfurt gehalten würde. (RTA. I, 3, 18.) 

Ende März 1376 war in Nürnberg vom Kurfürstenkollegium 
der endgültige BeschluB zur Wahl gefaBt worden. Und in den 
letzten Tagen des Mai befand sich Karl mit Wenzel auf dem Wege 
nach Rense. Mit klugem Bedacht hatte er es vermieden, in dem 
Briefe vom 30. Márz (RTA.I, 60) dem Papste die Verlegung der 
Wahl nach Rense mitzuteilen. Der Ausdruck, man wolle zu 
Pfingsten der Wahl in Frankfurt ,debitum finem imponere", 
war so gewählt, daß der Eindruck erweckt wurde, die Wahl 
solle in Frankfurt stattfinden. Er hátte aber auch gepaBt, wenn 
gemäß der Abmachung Karls mit Kuno von Trier nur die Altar- 
erhebung in Frankfurt erfolgt wäre*!. Mit diesem Briefe wollte 
Karl dem Papste zu verstehen geben, daß die Kurfürsten die 
Wahl ohne Einmischung der Kurie zu vollziehen gedachten. 
Teilte er nun gleichzeitig mit, daß man als Wahlort nicht dem 
Herkommen gemäß Frankfurt nehmen wollte, so gab er der Kurie 
schon vorher eine erwünschte Handhabe zur Anfechtung der 
Wahl. Aus der Formulierung erklingt aber auch der versteckte 
Wunsch Karls, die Wahl doch noch nach Frankfurt zu legen. Für 
- ihn gab es nur einen Grund, der ihn veranlaßte, Frankfurt gegen- 
über Rense den Vorzug zu geben. Der Grund, der maßgebend 
war für seine Haltung in allen Verhandlungen und Vorgängen 
um die Wahl seines Sohnes. Er wollte diese Wahl so vollzogen 
wissen, daß später von keiner Seite irgendein Vorwurf wegen 
Verstoßes gegen die gesetzlichen Formalitäten erhoben werden 
konnte. 

Am 31. Mai traf der Kaiser die Erzbischöfe von Trier und 
Köln in Bacharach, um sich mit ihnen am folgenden Pfingsttage 


das dem Erzbischof gegebene Versprechen zu erfüllen, nämlich die Wahl seines 
Sohnes vornehmen zu lassen in Rense. Was er weiter tut nach diesem Versprechen, 
ist alles nur berechnet auf dessen Nichterfüllung. 

€ Fritz Vigener, Mainzer Bistumsstreit, S. 99, Anm. 291. 


72 Richard Lies 


zur Wahl nach Rense zu begeben. Hier haben die entschei- 
denden Verhandlungen stattgefunden, die dazu führten, daß in 
Rense nur die Nomination erfolgte, und die Wahl erst zehn Tage 
später wirklich am rechtmäßigen Wahlorte in Frankfurt voll- 
zogen wurde. Pfaffenlap (RTA. I, 53) berichtet zwar, daß diese 
Verhandlungen erst am 1. Juni in Rense stattgefunden hätten. 
Aber es ist ihm hier ein Irrtum umso leichter zu verzeihen, als 
aus der Abfassung seines Berichtes hervorgeht, daB er nuc 
Augenzeuge der Frankfurter Feier gewesen ist, an der Tagung 
in Rense aber nicht teilgenommen hat““. 


Wenn nun Pfaffenlap berichtet, daB der Trierer und Kólner 
in Rense mit dem Kaiser etwas „stößig“ geworden seien, so ist 
der Zusammenhang klar. Dieser Streit ist nicht erst in Rense, 
sondern schon am Tage vorher in Bacharach ausgetragen worden. 
Die neuen Konzessionen und das Zugestündnis, daB in Rense 
wenigstens eine Nomination Wenzels vollzogen werden sollte, 
haben die Erzbischófe von Kóln und Trier wohl bestimmt, nach- 
zugeben. So hatte Karl IV. sein Ziel schließlich doch noch er- 
reicht. Die Wabl wurde von Rense wieder nach Frankfurt gelegt. 


Die Frage ist nur, von wem und in welcher Form ist die 
Forderung Frankfurts als Wahlort erhoben worden? Es ist 
sehr unwahrscheinlich, daß es der Kaiser selber getan hat. Karl 


4 Der Bericht Pfaffenlaps enthält noch einen kleinen Irrtum: Erzbischof 
Ludwig von Mainz, der am 28. Mai in Oppenheim zurückgeblieben war, kann nicht, 
wie Pfaffenlap berichtet, erst am Pfingsttagmorgen vom Pfalzgrafen nach Rense 
geholt worden sein. Der Weg von Oppenheim nach Rense háütte in so kurzer Zeit 
unmöglich zurückgelegt werden können. Außerdem ist Ludwig auch schon am 
81. Mai als Zeuge in einer Urkunde aufgeführt, die in Bacharach ausgestellt wurde 
(RTA. I, 6). An diesem Tage stellte Karl IV. für die Erzbischöfe von Köln und Trier 
eine Reihe von Urkunden aus. In ihnen erfolgt zum größten Teil die Verbriefung 
der Versprechungen, die er im Jahre 1374 für ihre Wahlverpflichtung gelobt hatte. 
Zu diesen alten Versprechungen traten noch neue Konzessionen hinzu. Lindner 
(Wahl Wenzels, S. 283) nimmt an, daB es nur das Bestreben Karls gewesen sei, 
die Kurfürsten bei guter Stimmung zu erhalten, das ihn zu denerhóhten Konzessionen 
veranlaBte. Nun sind aber am 1. Juni in Rense, an welchem nach Pfaffenlap die 
Auseinandersetzung der Erzbischófe von Kóln und Trier mit Karl IV. erfolgte, 
überhaupt keine Urkunden ausgestellt worden. Und da anzunehmen ist, daB die 
beiden Erzbischófe für das Zugestándnis, die Wahl doch in Frankfurt zu vollziehen, 
sich neue Konzessionen machen ließen, so möchte ich die Urkunden von Bacharach 
als solche erklären. Pfaffenlap muß sich hier wie bei der Schilderung des verspäteten 
Erscheinens von Ludwig geirrt haben. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 73 


waren ja offiziell die Hände gebunden. Denn er hatte sich dem 
Trierer gegenüber verpflichtet, nach Möglichkeit dafür zu 
sorgen, daB die Wahl in Rense stattfinden würde. (RTA. I, 
3,13.) Er hatte selber in der Urkunde vom 11. November 1374 
die Eigenschaft Frankfurts“ als Wahlort aufgehoben (RTA. I, 3). 
Diese Urkunde aber trug, wie schon weiter oben angedeutet 
wurde, eine Reihe von Mängeln, die sie den Kurfürsten — mit 
Ausnahme des Trierers, ihres Urhebers, und des Kólners — 
nicht empfehlen konnten. Man sollte annehmen, daß, falls man 
sie nun hätte anwenden wollen, eine Neuausfertigung, die die 
genannten Mängel behob, erfolgt wäre. Eine solche Neuaus- 
fertigung, in der die Zustimmung der Kurfürsten aufgenommen 
war, ist aber ebensowenig bekannt wie eine Widerrufung. Dem- 
nach bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, daß ihre Gültigkeit 
bestritten und die Anwendung auf diese Weise verhindert 
worden ist. 

So nahe es liegt zu vermuten, daß Karl IV. durch die unzu- 
längliche Form des Gesetzes einen Protest der Kurfürsten hatte 
veranlassen wollen, so konnte er wegen seiner Verpflichtung dem 
Trierer gegenüber diesen Standpunkt doch kaum offen vertreten. 
Aus dem Kreise der Kurfürsten muß die Weigerung gekommen 
sein, diesen Widerruf anzuerkennen. Friedrich von Köln wird 
natürlich ebensoviel Interesse an der Erhebung Renses zum Wahl- 
ort gehabt haben“, wie sein Bundesgenosse Kuno von Trier. 
Um so weniger aber die übrigen Kurfürsten: Der Pfalzgraf, der 
Sachse und der Mainzer. Besonders war es der letztere, in dessen 


* Ganz ausgeschlossen scheint mir die Annahme Weizsäckers (Rense als Wahl- 
ort S. 28), nach der die Wahl Frankfurts als Wahlort durch Abstimmung der Kur- 
fürsten erfolgt sei. Zwar soll nicht bestritten werden, daB die Begründung der Ver- 
legung der Wahl von Frankfurt „auf das die wal frij sijn muge“ die Auslegung 
zul&Bt, der Wahlort solle nunmehr für jeden einzelnen Fall durch Abstimmung 
von der Mehrheit der Kurfürsten festgelegt werden. Aber bei der Wahl Wenzels 
hätte eine solche Abstimmung unbedingt zur Wahl Renses führen müssen. Nicht 
nur der Erzbischof von Trier und sein Parteigänger, der Erzbischof von Köln, hätten 
für Rense gestimmt. Auch Karl, der über die Stimmen von Böhmen und Branden- 
burg verfügte, hätte sich ihnen anschließen müssen. Denn dazu hatte er sich ja dem 
Trierer gegenüber verpflichtet. Es hätten sich also, selbst wenn man außer acht 
läßt, daß der Mainzer und der Sachse von Karl politisch stark abhängig waren, 
im Höchstfalle drei Stimmen für Frankfurt ergeben: die des Pfälzers, Mainzers 
und Sachsen. 

“ Weizsäcker, Rense als Wahlort S. 29. 


74 Richard Lies 


Diözese Frankfurt, die offizielle Wahlstadt, lag. Nach dorthin 
hatte er die Kurfürsten zur Wahl zu berufen. Dort übte er das 
Recht der Stimmabfragung aus und durfte die vollzogene Wahl 
öffentlich verkündigen. Von ihm mag also am ehesten die For- 
derung ausgegangen sein, in Aufrechterhaltung der Goldenen 
Bulle an Frankfurt als Wahlort festzuhalten und den Widerruf 
nicht anzuerkennen. 


Vielleicht hängt damit jene eigentümliche Tatsache zusam- 
men, die auf S. 72 schon angedeutet wurde: Am 28. Mai blieb 
Ludwig von Mainz in Oppenheim zurück und weigerte sich, 
nach Rense zur Wahl mitzukommen. Vigener“ hat dieses 
Ereignis im Zusammenhange mit dem Mainzer Bistumsstreit 
so erklärt, daß Erzbischof Ludwig seine Beteiligung an der Wahl 
in Rense von einer schriftlichen Bestátigung seines Kurrechts 
durch die anderen Kurfürsten abhängig machen wollte. Diese 
Erklärung ist in ihrer ausführlichen Begründung auBerordent- 
lich scharfsinnig und glücklich. Doch soll hier die Frage auf- 
geworfen werden, ob dies der einzige Grund gewesen sein kann, 
der Ludwig in Oppenheim zu bleiben veranlaBte. Vigener gibt 
selber zu, daß des Mainzers Kurrecht von keinem der Beteiligten 
angezweifelt wurde“. Weiter betont er, daß Ludwig nur mit 
Wissen und Willen des Kaisers zurückgeblieben sein kann. 
Welches Interesse aber hatte Karl an dieser schriftlichen Be- 
stätigung des Wahlrechts eines Kurfürsten, dem niemand sein 
Recht bestritt? Wenn der Mainzer schon mit seiner Einwilligung 
in Oppenheim zurückblieb, so muß auch Karl aus diesem Ver- 
halten bestimmte Vorteile für sich erhofft haben. 


Wenn man die Angelegenheit in Zusammenhang mit dem 
Streit um den Wablort bringen will, so besteht die Möglichkeit, 
daB Karl sogar Ludwig veranlaßt hat, Einspruch gegen Rense 


Frits Vigener, Mainzer Bistumsstreit, S. 98. 

Schon in der Wahlverpflichtung vom 12. Februar 1375 (RTA. I. 20) hatte 
Pfalzgraf Ruprecht gesagt, daß er das Wahlversprechen Erzbischof Ludwigs von 
Mains gesehen habe. Am 20. März 1876 war Ludwig Zeuge in einer Urkunde in seiner 
Eigenschaft als Erzbischof von Mains (Böhmer, Regesta imperii VIII Nr. 5641), 
und am 31. Mai war er, wie schon weiter oben erwähnt, ebenfalls Zeuge in einer 
Urkunde für den Erzbischof von Trier; und auch hier in seiner Eigenschaft als 
Erzbischof von Mains. Daraus ist doch zu schließen, daß über die Führung der 
Mainzer Stimme durch Ludwig alle Beteiligten unterrichtet waren. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 75 


als Wahlort zu erheben. Vielleicht hat der Mainzer sich ge- 
weigert, an einer Wahl in Rense teilzunehmen, und sich dabei 
auf die Goldene Bulle berufen. Er hat sich dann auch viel- 
leicht gestráubt, den Widerruf (RTA. I,5) der Bestimmung der 
Goldenen Bulle, die Frankfurt als Wahlort bezeichnete, anzu- 
erkennen, mit der Begründung, daß er ohne Zustimmung der 
Kurfürsten und in unzureichender Form erlassen sei. Daraufhin 
wurden die Erzbischöfe von Köln und Trier zunächst ,,stóBig''. 
Aber der geschickten Vermittlungskunst Karls IV. gelang es 
durch weitere Zugeständnisse und durch die Bewilligung der 
Nomination in Rense, sie zum Aufgeben ihrer Forderung zu 
veranlassen. Auf die Seite des Mainzers mag sofort Pfalzgraf 
Ruprecht getreten sein. Denn er war es, der Ludwig von Oppen- 
heim holte, und damit anscheinend die allgemeine Versöbnung 
vermittelte. Derselbe Pfalzgraf Ruprecht machte einige Tage 
später die Bürger von Frankfurt darauf aufmerksam, daß 
Wenzel noch nicht gewählt sei, als sie ihn schon mit königlichen 
Ehren empfangen wollten (RTA.I, 53). Also auch er hatte sich 
doch wahrscheinlich gegen eine Wahl in Rense erklärt und war 
jetzt bemüht, der stattgehabten Nomination in Rense jegliche 
Bedeutung für die Wahl zu nehmen. 

Ein völlig sicheres Urteil über diese Verhandlungen, in denen 
sich der Streit um den Wahlort mit dem Mainzer Bistumsstreit, 
den Ansprüchen des Papstes auf Beeinflussung der Wahl und 
dem Jagen der Kurfürsten nach neuen Konzessionen ver- 
mischte, wird wegen des unzulänglichen Quellenmaterials wohl 
nie möglich sein. Eins aber ist als sicher anzunehmen: Die ge- 
heime Initiative Karls für die Beibehaltung Frankfurts als Wahl- 
ort. Hätte er den ernsthaften Willen gehegt, sein Widerrufs- 
gesetz durchzusetzen, so wäre ihm das mit Hilfe der Erzbischöfe 
von Köln und Trier auch gelungen. Aber es kam ihm eben hier 
wie immer — so wird die weitere Darstellung zeigen — darauf an, 
die Bestimmungen der Goldenen Bulle zu wahren. 

Diesem Widerruf vom 11. November 1374 (RTA.I, 5) kommt 
noch eine ganz besondere Bedeutung zu. Seltsamerweise ist 
die Goldene Bulle während der ganzen Wahlverhandlungen 
nicht ein einziges Mal genannt worden. Nun ist es zwar sehr 
unwahrscheinlich, daß ein Gesetzgeber die selbst kodifizierten 
Rechtssätze nicht zur Anwendung bringen möchte. Da jedoch 


76 Richard Lies 


die Goldene Bulle bei der Wahl Wenzels einfach nicht genannt 
wird, so würde der direkte Beweis fehlen dafür, daß man ihre 
Bestimmungen auch beachtet hat. Aber in dieser Aufhebung 
Frankfurts als Wahlort zeigt es sich, daß König und Kurfürsten 
sich an ihr Gesetzwerk gebunden erachteten und im Falle eines 
Abweichens davon einen Widerruf des Gesetzes für notwendig 
hielten. Ja, daß man es trotzdem vorzog, im entscheidenden 
Augenblicke doch wieder der Goldenen Bulle zu folgen. Eine 
Maßnahme, die allerdings bei der unzureichenden Form des 
Widerrufs durchaus im Interesse der Kurfürsten lag. 


V. 
Das Verhältnis der Wahl in Frankfurt zur Goldenen Bulle. 


Mit den Konzessionen in Bacharach hatte Karl IV. alle 
Versprechungen, die er den Kurfürsten für die Wahl gelobt hatte, 
erfüllt. So waren sie nun verpflichtet, Wenzel ohne weitere Ein- 
wendungen zu wählen. Voraus ging nur noch die Nomination 
Wenzels in Rense. Es war die Hauptkonzession an Kuno von 
Trier und Friedrich von Köln, dafür daß sie im Streit um den 
Wahlort nachgegeben hatten. Da ihre „stößigkeit‘‘ schon am 
Tage vorher besänftigt war“, so ist die Nomination nur mehr 
eine Formalitát gewesen. Über die staatsrechtliche Bedeutung 
dieser „Nennung“ gehen die Ansichten auseinander. Lindner 
hat sie als Vorwahl bezeichnet“. Engelmann im Gegensatz dazu 
als förmliches Wahlversprechen 9. Sie war in ihrer Bedeutung 
für die Wahl die Einigung auf einen bestimmten Kandidaten mit 
dem bindenden Versprechen, ihn zu wáhlen. 

Für Karl IV. war die Nomination ein Zugeständnis, das er dem 
hartnäckigen Kuno von Trier nur ungern gemacht bat. Für seine 
Einstellung mußte es maßgebend sein, daß die Goldene Bulle 
eine Nomination an einem anderen Orte als Frankfurt nicht 
gestattete. Nach ihren Bestimmungen erfolgte die Berufung der 
Kurfürsten zur Wahl unmittelbar nach Frankfurt. Dort ist 
zwar durch die lange Fristsetzung von 30 Tagen die Möglichkeit 


7 Vgl. die Ausführungen in IV, wo zu zeigen versucht wurde, daß die Un- 
einigkeit über den Wahlort schon am 31. Mai in Bacharach beseitigt wurde. 

« Lindner, Wahl Wenzels S. 285. 

4 Engelmann, Anspruch der Päpste, S. 117 Anm. 5. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 77 


zu Verhandlungen über die Person des zu Wählenden geboten. 
Am Anfang dieser Wahlversammlung aber erfolgt die feierliche 
Ablegung des Wahleides. Und in diesem schwören die Kur- 
fürsten „absque omni pacto, stipendio, precio vel promisso" 
zu wählen. Mit einer solchen Verpflichtung aber ließen sich die 
Vorgànge in Rense nicht in Einklang bringen. 

Wollte man den Eindruck erwecken, als sei die Wahl den 
Vorschriften der Goldenen Bulle gemäß erfolgt, so mußte man 
die Nomination in Rense jetzt für ungültig erklären. Das ist 
zwar nicht geschehen. Aber man hat sich bemüht, diesen Wider- 
spruch auf andere Weise zu beseitigen. Wer seine Kenntnis über 
die Wahl nur aus den offiziellen Urkunden schöpfen würde, 
die in Frankfurt ausgestellt wurden, dem würden die e 
in Rense in ganz falschem Lichte erscheinen. 

Die einzige der offiziellen Wahlurkunden, die die Renser 
Vorgänge erwähnt, ist die längere Wahlanzeige der Kurfürsten 
an den Papst (RTA. I, 80 und 82). Und diese Schilderung ent- 
spricht den wirklichen Geschehnissen in keiner Weise. Nach 
diesem Berichte wäre in Rense von den Kurfürsten nur fest- 
gestellt worden, daß der Gesundheitszustand Karls IV. und die 
Lage des Reiches die Wahl irgendeines Nachfolgers zur Unter- 
stützung des alternden Kaisers nötig mache. Daher hätten sie 
beschlossen, diese Neuwahl am 10. Juni in Frankfurt vorzu- 
nehmen. 

Was war der Grund für die falsche Darstellung eines Er- 
eignisses, über dessen wirklichen Verlauf der Papst durch seine 
Gesandten doch ganz genau unterrichtet war? Prüft man zur 
Beantwortung dieser Frage den Unterschied der Darstellung 
von dem wahren Ereignis, so fällt zunächst die nachdrückliche 
Hervorhebung der Gefahren auf, die dem Reiche aus einer 
Vakanz des Thrones erwachsen kónnten. Mit dieser Begründung 
der Wahl steht im Zusammenhange die Erwáhnung der angeb- 
lichen Unterstützungsbedürftigkeit des Kaisers. Ganz wichtig 
aber ist das Verschweigen der Tatsache, daB man sich über die 
Person des zu Wáhlenden schon einig war und angab, in Rense 
sei nur der Beschluß zur Wahl überhaupt und die Festsetzung 
des Wahltermins erfolgt. 

Will man in dieser Darstellung eine Spitze gegen den Papst 
erblicken, so kann sie in der Betonung des freien Wahlrechtes 


78 Richard Lies 


der Kurfürsten gegenüber seinem Anspruch auf Genehmigung 
zur Wahl liegen. Noch waren die Tage, wo der päpstliche Ge- 
sandte diese Forderung täglich dringender wiederholte. Hätte 
man diesem Anspruche des Papstes vor der Wahl Wenzels 
stattgegeben, so hätte er den Kurfürsten die Erlaubnis zur Wahl 
eines ganz bestimmten Kandidaten erteilt, weil ihm gerade dieser 
geeignet erschien. In der Wahlanzeige aber wurde betont, daß 
die notwendigen Erfordernisse des Reiches und nicht die ge- 
eignete Persönlichkeit den Kurfürsten die Anregung zur Wahl 
gaben. Die ganze kurfürstliche Wahlrechtsauffassung im Gegen- 
satz zu den Ansprüchen der Kurie liegt in dieser Formulierung, 
wenn gesagt wird, daß die Kurfürsten den Beschluß zur Wahl 
faßten und den Wahltermin festsetzten. 

Das Bemerkenswerte an dieser unzutreffenden Darstellung ist, 
daß die Verhandlungen von Rense, so wie sie sie schildert, 
durchaus nicht mehr im Gegensatz zur Goldenen Bulle stehen“. 
Die Nomination, die in Rense stattgefunden hatte, wurde in 
dieser Wahlanzeige nach Frankfurt verlegt. Es wird berichtet: 
„et ibidem altissimo disponente in certam personam conveni- 
mus in Romanorum regem debitis loco et tempore nominandam 
ac post hoc ut moris est sollempniter eligendam." Dann beginnt 
der Bericht über die Wahl in Frankfurt. Und in den der Ab- 
stimmung vorausgehenden ,,tractatibus", die die Erkenntnis 
brachten, daß Wenzel der Geeignete sei, kann man die beab- 
sichtigte Nomination erblicken. 

Betrachtet man die anderen Wahlurkunden, so kehrt überall 
dasselbe Streben wieder, abweichend von den wirklichen Ge- 
schehnissen, in der Darstellung die Wahl den Vorschriften der 
Goldenen Bulle anzupassen. Das Notariatsinstrument über die 
Wahl in Frankfurt (RTA. I, 45) und die kürzere Wahlanzeige 
an den Papst (RTA. I, 79 u. 81) schildern nur den Teil der Wahl, 
der auch in der Goldenen Bulle der entscheidende, den König 
schaffende ist: den Gang der Abstimmung. Und zwar in der 
Reihenfolge, die im IV. Kapitel, Abs. 2, der Goldenen Bulle 
vorgeschrieben ist. 


9^ Schon Weizsäcker (Rense als Wahlort S. 40ff.) ist diese Tatsache aufge- 
fallen, und er schildert ausführlich, wie man auch aus den anderen offiziellen Wahl- 
urkunden den Eindruck gewinnen muß: es lag das Streben vor, das Ganze möglichst 
so darzustellen, als wäre man von Anfang an gemäß der Goldenen Bulle verfahren. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 79 


Besser als diese beiden Urkunden läßt die Übereinstimmung 
mit den Vorschriften der Goldenen Bulle wieder die ausführ- 
lichere Darstellung der längeren Wahlanzeige an den Papst 
erkennen. Nach dem irreführenden Bericht über die Beratungen 
in Rense folgt die Schilderung der Wahl in Frankfurt: Nachdem 
dort wiederum verschiedene Verhandlungen stattgefunden hatten, 
kamen die Kurfürsten zu der Überzeugung, daß zur Unter- 
stützung des Kaisers ein „princeps illustris catholicus juvenis 
fortis potens et tam terrarum rerumque diviciis quam eciam 
subjectorum hominum ceteros multa virtute precellens et per 
quem imperio sacro posset utiliter provideri“ berufen sei. Nach- 
dem sie so die Umstände und Verhältnisse vieler Personen 
und den Zustand von Reich und Kirche in Erwägung gezogen 
hätten aus den schon genannten Gründen ‚et nonnullis aliis 
nos ad hoc legittime moventibus“, sei ihnen Wenzel, der älteste 
Sohn des Kaisers, am geeignetsten und geschicktesten erschienen, 
mit der Bürde und Ehre der Aufgabe betraut zu werden. Und 
80 hätten sie Wenzel in der Bartholomäuskirche zu Frankfurt 
nach Beendigung der feierlichen Messe einstimmig gewählt. 
Nach der Wahl habe Wenzel sich zunächst damit ,,multipli- 
citer" entschuldigt, daß er für solche Ehre und Erhabenheit 
unwürdig sei, schließlich aber durch Vernunftgründe über- 
wunden (ratione victus) den Bitten nachgegeben und die Würde 
angenommen. 

Der Zweck dieser breiten Darstellung ist klar ersichtlich. 
Die Wahlhandlung in Frankfurt war eine bloBe Formalitát ge- 
wesen, umgeben von vielem Zeremoniell. Gerade dieses Zere- 
moniells aber wird kaum gedacht. Dagegen wird von ausführ- 
lichen Verhandlungen geredet, die in Wirklichkeit niemals in 
Frankfurt stattgefunden haben. Damit wollte man der rein 
formellen Wahlhandlung einen Inhalt geben, der ihr nicht zu- 
kam, der aber der Absicht entsprach, aus der heraus einst die 
Aufzeichnung der Wahlvorschriften in der Goldenen Bulle er- 
folgt war. Es war ein Hauptzweck dieser Gesetze, die Schaffung 
der Kónigswürde aus der Wahlhandlung und nur aus der Wahl- 
handlung heraus zu gestalten. Darum war es das Bestreben 
Karls IV., die Wahl der Öffentlichkeit so mitzuteilen, als sei sie 
peinlich genau den Vorschriften der Goldenen Bulle gemäß voll- 
zogen. Das ist der Sinn der Wahl Wenzels: die Wahlhandlung 


80 Richard Lies 


war aufgebaut auf Verträge, die Wahlschilderung aber auf das 
Gesetz. | 

Es darf die Bedeutung der Tatsache nicht unterschätzt 
werden, daß man dieser bloßen Formalität vom 10. Juni nach 
außen hin eine so starke inhaltliche Bedeutung zu verleihen 
suchte. Es war immerhin die Wahl und nur die Wahl, die dem 
Erwählten die königlichen Rechte und Würden verlieh. Pfaffen- 
lap setzt an den Schluß seines Wahlberichtes die Worte: „und 
det man ime do alles das man einem Künige tun sol“ (RTA.I, 53). 
Nicht einmal die Altarsetzung war für die Rechtsgültigkeit der 
Wahl notwendig 51. 

Unter dem Datum des 12. Juni, also sofort nach der Wahl, 
wurden die Urkunden ausgefertigt, in denen die Kurfürsten — 
jeder einzeln! — Wenzel gelobten „yn als lange er lebet vor 
einen rechten Remischen kunige zukumfftigen keiser nennen 
haben halten“ wollen (RTA. I, 49). Es kennzeichnet die Be- 
deutung dieses Gelöbnisses, daß es am gleichen Tage noch ein- 
mal in lateinischer Sprache ausgefertigt wurde (RTA. I, 50). In 
dieser Ausfertigung wird Wenzel „verus et legitimus Roma- 
norum rex promovendus in imperatorem" genannt. War es 
Absicht, daß in dieser Bezeichnung das Wörtchen ,,electus'' 
ausgelassen war, das den Namen des nur Gewählten vor der 
Krönung von dem vollen königlichen Titel „rex Romanorum 
semper augustus“ schied? 

Am gleichen Tage gaben die Kurfürsten in anderen Urkunden 
die Wahl allgemein bekannt und forderten auf, dem neuen 
Könige zu huldigen (RTA. I, 46). Bereits vom 11. Juni ist das 
Huldigungsschreiben der Stadt Frankfurt datiert (RTA. I, 55). 

Diese bereitwillige Huldigung sofort nach der Wahl schloß 
aber keineswegs die Bedingung ein, daß man den Erwählten 
schon zu Lebzeiten des Kaisers in die Regierung des Reiches 
eintreten lassen wollte. Kuno von Trier, der weitestblickende 
und vorsichtigste der Kurfürsten, hatte das gleich in die zahl- 


51 Das ergibt sich aus der Urkunde Karls IV. für den Erzbischof von Trier 
vom 11. November 1374. Dort heißt es nach dem Versprechen Karls, nach Möglich- 
keit dafür zu sorgen, daß Wenzel nicht in Frankfurt, sondern in Rense gewählt 
werde: „und darnach sol man den Roemschen kuning furen zu Frankeford uff den 
elter, als dass gewenlich ist“ (RTA. I, 3, 13). Der Gewählte wird also schon vor der 
Altarsit zung römischer König genannt. 


— — — -— 


Die Wahl Wenzels sum Römischen Könige usw. 81 


reichen Bedingungen, von denen er die Gewährung seiner Wahl- 
stimme abhängig machte, mit aufgenommen. Es wurde Wenzel, 
falls er noch zu Lebzeiten seines Vaters erwählt werden sollte, 
verboten, vor Erledigung des Reiches ohne Wissen und Willen 
Karls sich an der Regierung und Verwaltung zu beteiligen. 
Außerdem durfte das Reich nicht in zwei Teile zerlegt werden. 
Die Motive für diese Bedingung waren rein politischer Natur. 
Damit sollte das Reich vor den Gefahren einer Doppelherrschaft 
bewahrt bleiben. Auch bei Pfalzgraf Ruprecht kommt der 
Standpunkt, daß er Wenzel nicht vor Erledigung des Reiches 
in die Regierung eintreten lassen wollte, in seiner Wahlver- 
pflichtung (RTA. I, 20) zum Ausdruck. Er begründet seine Be- 
reitwilligkeit zur Wahl damit, daß ihn bedünke, Wenzel sei an 
Macht und Würdigkeit am besten geeignet nach dem Tode 
oder der Abdankung Karls IV. 

Dieser Auffassung entsprach es, wenn Frankfurt und die 
übrigen Stádte in ihren Huldigungsschreiben zwar gelobten, 
Wenzel auf Grund der Wahl für einen römischen König zu 
halten, aber die Verpflichtung, ihm als römischen Könige ge- 
horsam und verbunden zu sein, erst für den Fall des Todes oder 
der Abdankung Karls ablegten (RTA. I, 55). | 

Dachten die Kurfürsten in erster Linie an die Regierung 
und Verwaltung des Reiches, so stand beim Papste die Über- 
nahme des imperium und die Kaiserkrönung im Vordergrunde. 
Ihm war es selbstverstándlich, daB diese auch bei Wahl zu 
Lebzeiten Karls erst nach dessen Tode erfolgen werde. Audibert 
teilte dem Kaiser mit dem bedingten Einverständnis des Papstes 
zur Vornahme der Wahl durch die Kurfürsten vivente impera- 
tore mit, daB „ipse dominus Wenceslaus rex, postquam electus 
fuerit et per Romanam ecclesiam confirmatus debeat et possit, 
post mortem domini imperatoris sui patris vel si dominum 
imperatorem renunciare contigeret, assumere imperium 
Romanorum et se facere coronari juxta morem debitum et 
hactenus consuetum“ (RTA. I, 63, 1). 

Dieser Auffassung widerspricht die Begründung der Wahl, 
daB Wenzel den alternden Kaiser in der Führung der Regierungs- 
geschäfte unterstützen solle, aufs schärfste. Bedenkt man nun, 
daB Wenzel durch die Wahl grundsätzlich befähigt wurde, 
Regierungshandlungen zu vollziehen — gebot ihm doch die Be- 

Histor. Vierteljabrschrift. Bd. 26, H. 1. 6 


82 Richard Lies 


stimmung im II. Kapitel, Abs. 4 der Goldenen Bulle, sofort 
nach der Wahl die kurfürstlichen Privilegien zu bestätigen —, 
so ist der Zusammenhang klar. Die Verpflichtung an Kuno 
von Trier, daß Wenzel erst nach Erledigung des Reiches die 
Regierung übernehmen dürfte, entsprang nur politischen Mo- 
tiven. Gerade in ihr liegt der Beweis, daß es Wenzel gesetzlich 
erlaubt war, sofort Regierungshandlungen vorzunehmen. Denn 
sonst hätte es dieses schriftlichen Versprechens an den Trierer 
ja gar nicht bedurft. 

Die offiziellen Wahlurkunden entstanden in der Kanzlei des 
Kaisers. Er bestimmte nach seinen Vereinbarungen mit den 
Kurfürsten die Formulierung ihres Inhalts. Daher rührt es, 
wenn der Begründung der Wahl eine Form gegeben wurde, die 
zwar der wirklichen Veranlassung zur Wahl Wenzels gar nicht 
entsprach, die aber mit den Vorschriften der Goldenen Bulle 
vereinbar war. Es ist gezeigt worden, wie Karl außerdem Ver- 
stöße gegen die Satzungen der Goldenen Bulle zu vermeiden 
suchte, oder sie doch wenigstens so darstellen ließ, als sei der 
Standpunkt der Goldenen Bulle gewahrt worden. In dieser sich 
auch mit dem Unwesentlichen beschäftigenden Sorgfalt liegt 
das Bestreben, das Königtum seines Sohnes möglichst auf 
keinen auch noch so geringen VerstoD gegen das Gesetz aufzu- 
bauen. 


VI. 


Die Verhandlungen um päpstliche Approbation und die Goldene 
Bulle. 

Die Bestimmung im II. Kapitel, Abs. 4 der Goldenen Bulle, 
daß der Gewählte sofort nach der Wahl den Kurfürsten ihre 
Privilegien zu bestätigen habe, steht in schärfstem Gegensatz 
zum päpstlichen Approbationsanspruch. Es wird ausdrücklich 
vorgeschrieben, daß der König bei dieser ersten Regierungs- 
handlung sich seines königlichen Siegels zu bedienen habe. 
Damit war er in den vollen Genuß königlicher Rechte getreten, 
und seine Stellung als König wurde durch das etwaige Aus- 


‘2 Es ist bezeichnend, daB Wenzels erste Regierungshandlung am 8. Juli 137 6 
die Bestätigung kurfürstlicher Privilegien ausgerechnet für den Trierer gewesen 
ist (RTA. 1, 7). 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 88 


bleiben der päpstlichen Approbation in keiner Weise mehr er- 
schüttert. 


Zeumer®® ist zwar der Ansicht, daß die Approbation ja auch 
noch nach dieser ersten Regierungshandlung vor allen anderen 
übrigen Regierungshandlungen des Königs stattfinden könne. 
Er äußert diese Ansicht im Zusammenhange mit der These, 
Karl IV. habe die Goldene Bulle absichtlich gerade so abge- 
grenzt, daß ihre Stellung zum päpstlichen Approbationsanspruch 
unklar bleiben mußte. Jedoch ist diese Ansicht in der Forschung 
allgemein abgelehnt worden “. 


Man wird Zeumer nicht bestreiten können, daß die Appro- 
bation auch noch nach dieser ersten Regierungshandlung des 
Erwählten stattfinden konnte. Aber dann war sie eben keine 
wirkliche Approbation, d. h. Bestätigung des Königs, mehr, 
sondern nur eine Anerkennung. Die Bestätigung der kurfürst- 
lichen Privilegien war — wenigstens in den Augen der Kur- 
fürsten — die wichtigste Regierungshandlung vielleicht für die 
ganze Regierungszeit des Königs. Wenn die Kurfürsten bei der 
Schaffung dieses Gesetzes ein für die Stellung des Königs wesent- 
liches päpstliches Approbationsrecht anerkannt hätten, so hätten 
sie unbedingt eine Erneuerung dieser Privilegienbestätigung 
nach erfolgter Approbation verlangen müssen. 


ss Zeumer, Goldene Bulle 1 S. 193. 


s Zwar hat Hauck (Deutschland und die päpstliche Weltherrschaft Leipzig 1910. 
S. 50) Zeumer soweit beigepflichtet, daß er sagt, eine gegen die Kurie gerichtete Ab- 
sicht habe Karl gewiB ferngelegen. Auch Brandi betont in seiner Rezension (Anzeiger 
für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 33, 1909), daB die Ablehnung des 
Approbationsanspruches keine geflissentliche gewesen sei. Eine solche Beurteilung 
wird dem Charakter der Politik Karls IV. gerecht. Es hieße seine staatsmännische 
Vorsicht verkennen, wenn man leugnen wollte, daß er alles vermieden hat, was die 
Kurie herausfordern konnte. Andererseits aber darf man von ihm unmöglich an- 
nehmen, daB er die Tragweite dieser gesetzlichen Bestimmung nicht überblickte. 
Im Anschluß an die übrigen Rezensionen (Kentenich, Hist. Vierteljahresschrift 
XI. 1908; Vogt, Westdeutsche Zeitschrift 1908; Holtzmann, Theologische Literatur- 
zeitung 1909) hat Willy Scheffler (Karl IV. und Innozenz VI. Beiträge zur Geschichte 
ihrer Beziehungen 1355—1360, Berlin 1912. S. 99) in ausführlicher Weise dargelegt, 
daß die Goldene Bulle im ganzen, und besonders mit dieser Bestimmung über die 
j igung das kurfürstliche Wahlrecht zur allein gesetzlichen Grund- 
lage des deutschen Königtums gemacht hat. Damit wurden — wenn auch indirekt — 
die päpstlichen Ansprüche auf Approbation abgelehnt. 
6* 


84 Richard Lies 


So ließ diese Bestimmung für eine Approbation von staats- 
rechtlicher Bedeutung keinen Raum. Doch darf man deswegen 
noch nicht behaupten, daß sie aus diesem Grunde in die Goldene 
Bulle aufgenommen worden sei. Die sofortige Bestätigung ihrer 
Privilegien war ein so wichtiges Recht für die Kurfürsten, daß 
sie die Fixierung dieser Bestimmung sicherlich um ihrer selbst 
willen veranlaßt haben, Es ist oben hervorgehoben worden, 
daß sie ein wenig aus dem Rahmen der übrigen Wahlbestim- 
mungen fällt®®, weil sie nicht unmittelbar dem Zwecke einer 
einmütigen Königswahl dient. So sucht man nach der Absicht, 
der sie die Aufnahme in die Bestimmungen des II. Kapitels 
der Goldenen Bulle verdankt. 


Man könnte sie für eine Konzession halten, die der Kaiser 
den Kurfürsten für andere Zugeständnisse gewährt hat. Dem- 
gegenüber aber ist zu bedenken, daß Karl ja selber Kurfürst 
gewesen ist. Seinen Nachfolgern kam diese Bestimmung ebenso 
zugute, wie allen anderen Kurfürsten. Erst wenn man diese 
Tatsache mit in Betracht zieht, wird die Veröffentlichung der 
Goldenen Bulle ganz verständlich. Sie ist gewiß nicht als 
Ganzes das Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem König 
und den Kurfürsten“. Sie ist aber auch nicht, obgleich im 
ganzen der Initiative Karls IV. entsprungen, nur aus einem 
idealen Streben des Kaisers, dem Wohle des Reiches zu dienen, 
entstanden®”. Dem widerspricht schon die Tatsache, daß Bóh- 
mens Stellung im Rahmen des Kurfürstenkollegiums durch die 
Goldene Bulle der Tradition gegenüber gefestigt und gehoben 
wird. Der Hauptzweck der Goldenen Bulle war der Gedanke 
eines oligarchischen Reichsregiments der Kurfürsten, der seinen 
stärksten Ausdruck findet einmal in der Einrichtung regel- 
mäßiger Kurfürstentage nach dem XII. Kapitel, im ganzen 
aber in der schriftlichen Niederlegung der kurfürstlichen Rechte 


Vgl. S. 51 dieser Arbeit. 

% Zeumer, Goldene Bulle I, S. 184. 

7 Auch diese Behauptung Zeumers (Goldene Bulle I, S. 184) hat schon Brandi 
in seiner Rezension (Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd. 
33, 1909) kritisiert, unter Hinweis auf die Privilegien, die Böhmen in der Goldenen 
Bulle gesichert werden. Ebenso haben Vogt (Westd. Zeitschrift, 1908), und Holtz- 
mann (Theologische Literaturzeitung 1909) die Ansicht abgelehnt, daß Karl nu; 
sus einem idealen Streben heraus die Goldene Bulle publiziert habe. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 85 


überhaupt. Und diesen Gedanken hat Karl sicher nicht zur 
Förderung der Macht des ganzen Kurfürstenkollegiums, sondern 
vor allem wegen der Stärkung der Stellung Böhmens im Rahmen 
dieses Kollegiums verfolgt. Einerseits sah er in diesem Ge- 
danken eine Möglichkeit, die Kurfürsten für das Wohl des 
Reiches zu interessieren. Andererseits aber war er wohl sicher, 
daß er auf Grund seiner überlegenen politischen Befähigung 
und durch seine Doppelstellung als König und als Kurfürst das 
einflußreichste Mitglied dieses Kollegiums sein würde. So 
fixierte er im Rahmen seines Gesetzesprogrammes gesetzliche 
Bestimmungen, die Klarheit darüber gaben, wer den König zu 
wählen habe; die den Königswählern die Möglichkeit, zur Wahl 
zu schreiten, erleichterten; die Vorsorge trafen, daß innerhalb 
dieses Wahlkollegiums eine eindeutige Wahl zustande kam; und 
die klar zum Ausdruck brachten, daß die Wahl der Kurfürsten 
und nichts anderes den König schuf. Damit diente Karl dem 
Wohle des ganzen Reiches. Er diente zugleich aber auch dem 
Vorteile des Böhmenkönigs in seiner Eigenschaft als Kurfürst ®. 
Es war selbstverständlich, daß die Goldene Bulle die freie Wahl 
des Königs durch die Kurfürsten anerkannte. Karl wußte nicht, 
ob die Kurfürsten, wenn er einmal einen Sohn bekommen würde, 
diesen zum römischen Könige wählen würden. Aber er war 
sicher, daß sein Nachfolger als Inhaber der böhmischen Kur- 
stimme bei der Wahl des Königs gewichtigen Einfluß geltend 
machen konnte. 

So ist anzunehmen, daß die Sorge für sein böhmisches In- 
teresse verbunden mit den Ideen einer Reichsreform, die Karl IV. 
zur Publikation der Goldenen Bulle veranlaßten, ihm den Grund 
gaben für die Aufnahme der Privilegienbestätigung in die Goldene 
Bulle. Nicht aus der unmittelbaren Absicht heraus, den päpst- 
lichen Approbationsanspruch damit abzulehnen, wohl aber in 
der bewußten Erkenntnis, daß darin die Nichtanerkennung lag. 
Und unter diesem Gesichtspunkte sollte die Bestimmung bei 
der Wahl Wenzels Bedeutung gewinnen“. 


= Vgl. Ulrich Stutz, Abstimmungsordnung der Goldenen Bulle (Z. Sav. R. G., 
Germ. Abt. 56. 1922.) S. 262. 

® Die Approbationsverhandlungen werden in dieser Arbeit mit Vorbedacht 
getrennt von dem päpstlichen Anspruch auf Wahlgenehmigung (s. S. 61) behandelt. 
Die beiden Ansprüche sind in der bisherigen Forschung nicht immer scharf genug 


86 Richard Lies 


Das Charakteristische an den Verhandlungen zwischen der 
Kurie und Karl IV. ist, daß nicht um Approbation überhaupt 
gekämpft wurde. Der Papst war nur zu gern bereit, die Appro- 
bation zu erteilen. Was er mit größter Hartnäckigkeit, aber 
vergeblich, zu erreichen versucht hat, war, daß Wenzel vor der 
Approbation keine Regierungshandlungen ausüben dürfe“ und 
nicht gekrönt werden solle. 

Schon lange vor der Wahl auf die bloße Mitteilung Karls IV. 
hin, daß die Kurfürsten nach der Wahl Wenzels ohne längere 
Verzögerung die Krönung zu vollziehen gedächten (RTA. I, 60), 
erhielt Audibert den Auftrag, den Kaiser darauf aufmerksam 
. zu machen, daß der Erwählte vor der Approbation weder die 
Krone empfangen noch Regierungshandlungen ausüben dürfe 
(RTA. I, 62,15). Es kennzeichnet die Nervosität der Stimmung 
an der Kurie, daß Johann von Pignans, der einige Wochen 
später zur Unterstützung Audiberts zum Kaiser gesandt wurde, 
unter anderen Aufträgen genau dieselbe Anweisung erhielt 
(RTA.I, 67,5). Die Furcht in Avignon, daß Wenzel nicht bis 
nach erfolgter Approbation auf seine königlichen Rechte ver- 
zichten werde, muß sehr groß gewesen sein. In bezug auf die 
Krönung erscheint diese Angst nach dem Briefe Karls IV. ganz er- 
klärlich. Aber daß Wenzel auch schon Regierungshandlungen vor- 
nehmen würde, war doch zunächst noch nicht behauptet worden ®. 


auseinandergehalten worden, obgleich sie sich sowohl ihrer Begründung wie auch 
ihrem Inhalte nach stark voneinander unterscheiden. Die päpstlichen Gesandten 
waren deshalb auch angewiesen, die Ansprüche unabhängig voneinander vorzu- 
tragen (RTA. 1, 62, 14). 

% Die große Zahl der Quellenbelege (R.T.A. 61; 62, 15; 64, 2; 66; 67, 5; 68; 
16; dazu Vigener, Kampf um den Mainzer Bistumsstreit, S. 96, Anm. 282) bietet 
einen lückenlosen Beweis gegen Zeumers Ansicht, daß die Approbation ja noch nach 
der Privilegienbestätigung stattfinden könne (Goldene Bulle I S. 194), „caveat 
omnino idem Venceslaus rex, ne antequam electio per nos approbetur, in aliquo 
administret seu coronam recipiat, nec vos in hoc consensum prestetis, sed, si vellet 
facere, contradicatis omnino, quia, si hoc faceret, electionem suam nullo modo 
ratam haberemus nec eam approbaremus, et hoc summe cordi nobis est". So 
schrieb der Papst kurz nach der Wahl an seine Gesandten (RTA.I, 75). Schärfer 
kann es doch nicht zum Ausdruck gebracht werden, daB die Kurie eine Approbation 
nach dem Beginn der Regierungshandlungen für wertlos hielt. 

*!. Aus diesem Grunde könnte man fast versucht sein zu glauben, daß die päpst- 
liche Forderung auf Vermeidung von Regierungshandlungen ihren Grund hat in der 
Kenntnis der Privilegienbestimmung im Kapitel II der Goldenen Bulle an der Kurie. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 87 


Man war auf Widerstand im Lager des Kaisers gegen diese 
päpstlichen Forderungen gefaßt. Aus einer gutachtlichen An- 
frage Johanns von Pignans und deren Beantwortung (RTA. I, 68) 
geht hervor, daß die päpstlichen Gesandten sorgfältig auf eine 
Polemik über den Approbationsanspruch vorbereitet wurden. 
Man erwartete, daß Karl IV. sich auf frühere Fälle berufen 
würde, wo Herrscher ohne Approbation gekrönt worden seien. 
Es ist der geschickteste diplomatische Schachzug Karls IV, 
unter all den meisterhaft geführten Verhandlungen um die 
Wahl seines Sohnes gewesen, daß er es verstanden hat, dieser 
Polemik aus dem Wege zu gehen. Dadurch, daB er den Ent- 
rüstungssturm und die lange Erórterung über den Approbations- 
anspruch** unter den Kurfürsten hervorrief, hat er es ver- 
standen, sich in die Rolle des Vermittlers zwischen Papst und 
Kurfürsten zu drängen. Der Kurie war die Möglichkeit zum 
erfolgreichen Angriff auf den Kaiser genommen. Denn er schien 
ja Jetzt Vertreter ihrer Ansprüche gegenüber den rheinischen 
Kurfürsten, deren Feindschaft gegen Avignon in den Tagen 
von Frankfurt ihren Höhepunkt erreicht hatte . Sie weigerten 
sich, als Zeugen für die Bevollmächtigung, die Wenzel seiner 
Gesandtschaft an den Papst mitgab, zu dienen**. Und wahr- 
scheinlich haben sie (die Erzbischófe von Köln und Trier, und 
der Pfalzgraf) überhaupt keine Wahlanzeigen nach Avignon 
geschickt. Denn, sowohl von der kürzeren als auch von der 
längeren Wahlanzeige fehlen gerade ihre Ausfertigungen“. 


** RTA. 1,64,2 (et super hoc multa fuerunt dicta). Vgl. Engelmann, Anspruch 
der Päpste S. 115, u. Lindner, Wahl Wenzels S. 279. 

% Vgl. Hauck, Kirchengeschichte (Leipzig 1920. 1. u. 2. Aufl.) V 2, S. 667. 

* Nur die Namen Ludwigs von Mainz und Wenzels von Sachsen vertreten 
das Kurfürstenkollegium als Zeugen in dieser Urkunde (RTA. I. 78). Dagegen sind 
in der unter gleichem Datum ausgefertigten Bestätigung der Goldenen Bulle Sach- 
sens (RTA. I, 26) alle Kurfürsten als Zeugen aufgeführt. 

*$ [m Vatikanischen Archiv (vgl. RTA. I, 79—82) findet sich von der kürzeren 
Wahlanzeige nur die Ausfertigung Ludwigs von Mainz (RTA.I, 79); Abschriften von den 
im Original nieht erhaltenen Ausfertigungen von Brandenburg und Böhmen sind in 
Paris erhalten. Von der längeren Wahlanzeige befinden sich im Vatikanischen Archiv 
als Originale die Ausfertigungen von Mainz, Böhmen und Brandenburg (RTA.1,80 u. S2). 
Und da sich eine Abschrift der Urkunde des Kurfürsten von Sachsen in einem Kopial- 
buche des Weimarer Archives befindet (RTA. I, 80), so ist anzunehmen, daß auch von 
ihm wenigstens die lángere Wahlanzeige nach Avignon geschickt worden ist. Dagegen. 
finden sich von Ausfertigungen der drei rheinischen Erzbischöfe keinerlei Spuren. 


88 Ä Richard Lies 


Schon die Tatsache, daß die beiden Wahlanzeigen nicht von den 
Kurfürsten in ihrer Gesamtheit, sondern von jedem einzeln 
ausgefertigt wurden, erscheint sonderbar. Zwar waren solche 
Einzelausfertigungen auch schon bei der Wahl Karls IV. er- 
folgt. Aber wenn sich gerade von den Kurfürsten, die alle 
Ansprüche der Kurie aufs schärfste ablehnten, keine Ausferti- 
gungen finden lassen, so ist daraus doch zu schließen, daß sie 
überhaupt keine Wahlanzeigen nach Avignon geschickt haben. 
Lindner®? schließt allerdings aus einem Berichte Audiberts 
an die Kurie (RTA.I,64,4), der besagt, daß Karl IV. die Wahl- 
schreiben erlangt hätte ‚in ea forma qua potuit et non ut vo- 
luit", daß alle Kurfürsten Wahlanzeigen nach Avignon geschickt 
hätten. Für diesen Bericht ist aber zu bedenken, daß Audibert 
nicht unmittelbarer Zeuge der Verhandlungen zwischen dem Kaiser 
und den Kurfürsten gewesen ist. Er schöpfte sein Wissen darüber 
sicher nur aus dem Berichte Karls IV. Und dieser hat ihm die Ver- 
handlungen so geschildert, wie es in den Rahmen seiner Absichten 
der Kurie gegenüber paßte. Er benutzte die Opposition der rhei- 
nischen Kurfürsten als Entschuldigung für die Tatsache, daB die 
Wahlanzeigen nicht in einer der Kurie erwünschten Form abgefaßt 
waren. Daß aber alle Kurfürsten Wahlanzeigen ausgefertigt hätten, 
darf man aus Audiberts Bericht doch wohl nicht schließen ®. 
Wenn die rheinischen Kurfürsten keine Wahlanzeigen nach 
Avignon geschickt haben, dann fällt auch Lindners Annahme®, 


„ Vgl. M. G. h. Constt. VIII S. 93ff. 

* Wahl Wenzels S. 288. Ihm schlieBen sich Engelmann, Anspruch der Püpste 
S. 118 Anm. 3, u. Weizsäcker, Rense als Wahlort S. 40, an. 

„ Auch das von Muth (Beurkundung und Publikation der deutschen Königs- 
wahlen, Diss. Gótt. 1881. S.42) angeführte Argument, daß daslängere Wahlschreiben am 
Schluß den Satz enthält: „cuius vobis similis tenoris contenencie et effectus quilibet 
coelectorum meorum principum imperii suas specialiter literas destinare debebit“, 
beweist nicht, daB alle Kurfürsten Wahlanzeigen schickten. Der Gedanke drückt 
doch nur aus, daß sie es eigentlich sollen, und klingt viel mehr wie eine Entschuldi- 
gung dafür, daB sie es nicht alle tun. 

* Wahl Wenzels 8. 289. Unhaltbar ist auch die darauf aufbauende Ansicht 
Weizsäckers (Rense als Wahlort S. 41), Karl IV. habe die Zustimmung der rheinischen 
Kurfürsten zu der längeren Wahlanzeige dadurch erlangt, daß die Vorgängein Rense ge- 
nannt wirden (s. RITA. I. 80). Denn nach dem Bericht dieser Wahlanzeige hätte das Kur- 
fürstenkollegium in Rense nur den Beschluß zur Wahl überhaupt gefaßt und den Wahl- 
termin festgesetzt. Das aber schlug ja dem Wunsche des Trierers und Kö lners, den Vor- 
gängen in Rense eine staatsrechtliche Bedeutung zu verleihen, geradezu ins Gesicht! 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 89 


daB die doppelte Ausfertigung der Wahlanzeigen tatsächlich 
auf den Widerspruch der Fürsten zurückzuführen sei. Die Kur- 
fürsten, die Wahlanzeigen ausgefertigt haben, waren von Karl 
so abhängig, daB sie kaum Einspruch gegen ihre Formulierung 
erheben durften. Wahrscheinlich ist die doppelte Ausfertigung 
auf Karl IV. selber zurückzuführen, der seinen Gesandten 
beide Ausfertigungen nach Avignon mitgab mit dem Auftrage, 
die längere und inhaltlich weitergehende nur dann zu übergeben, 
wenn die kürzere nicht als ausreichende Verhandlungsgrundlage 
vom päpstlichen Hofe gewertet würde. 

Für den Papst mag das Ausbleiben der Wahlanzeigen der 
drei Kurfürsten nicht einmal von großer Bedeutung gewesen 
sein. Denn mit den Urkunden der vier anderen Kurfürsten 
genügte ja die Mehrheit des Kurfürstenkollegiums seinen An- 
sprüchen. Karl IV. aber ist in diesem Zusammenhange die 
feindliche Haltung der rheinischen Kurfürsten sicher nur an- 
genehm gewesen. Er konnte sie der Kurie gegenüber als Ent- 
schuldigung anführen dafür, daB die Wahlanzeigen in einer 
bestimmten Form abgefaßt wurden (RTA.I, 64,4). Auch in der 
längeren Wahlanzeige wurde der Papst nur gebeten, Wenzel 
„regem Romanorum nominare eiusque personam ad apicem 
tantae dignitatis ydoneam reputare". Die direkte Bitte um 
Approbation war vermieden??, Und doch hätte sich die Kurie 
vielleicht mit dieser Formulierung begnügt und die Appro- 
bation erteilt, wenn ihr in der zu kurz bemessenen Frist noch 
die Möglichkeit gegeben gewesen wäre. Johann von Pignans 
hatte auf seine gutachtliche Anírage bezüglich eines etwaigen 
Approbationsstreites mit dem Kaiser die Antwort erhalten, im 
Zweifelsfalle solle genau so verfahren werden, wie einst bei der 


7% Engelmann (Anspruch der Päpste S. 120) setzt zwar den Ausdruck nominare 
einem approbare gleich. Ihm schließt sich Weizsäcker (die Urkunden zur Appro- 
dation Ruprechts 5.23) an. Dagegen wendet aber Scheffler (Karl IV. und Innozenz VI., 
8. 91) ein, daß nominare nur die Anerkennung eines durch die Wahl vorhandenen 
Rechtszustandes bedeuten solle, während approbare die zur Schaffung dieses Rechts- 
sustandes notwendige Bestätigung sei. Für die Ansicht Schefflers spricht die Tat- 
sache, daß derPapst während der Verhandlungen immer nur den Ausdruck approbare 
verwandt hat, den der Kaiser und die Kurfürsten peinlichst vermieden. (Der Papst 
spricht von approbare in: RTA. I. 61; 62, 16, 16; 64, 2; 66; 67, 5, 7; 68). Engelmann 

( Anspruch der Päpste S. 120) gibt auch zu, daß der Ausdruck nominare statt 
approbare mit Bedacht gewählt sei. 


90 Richard Lies 


Wahl Karls IV. (RTA.I, 68). Dieser Wunsch der Kurie wird 
der Grund gewesen sein dafür, daß sowohl Wenzels Schreiben 
an die Kurie (RTA.I, 78), wie auch die längere Wahlanzeige 
der Kurfürsten (RTA.I, 80 und 82) fast wörtlich genau so ab- 
gefaßt sind, wie die Urkunden bei der Wahl seines Vaters . 


In den Tagen der Wahl wurde es an der Kurie klar, daß man 
ein persónliches Erscheinen Wenzels zur Bitte um Approbation 
nicht mehr erreichen würde. Nun hieß es schnell handeln, wenn 
man wenigstens das Prinzip retten wollte. In der Geheim- 
anweisung, die den pápstlichen Gesandten Audibert und Johann 
in Aix in Savoyen”? übergeben wurde (RTA. I, 72), kommt die 
neue Haltung zum Ausdruck: „Contenti tamen sumus“, so 


7 Die starke Ähnlichkeit zwischen dem Wahldekrete bei der Wahl Karls IV. 
(Constitutiones VIIl, Nr. 63, S. 94) und dem längeren Wahlschreiben der Kur- 
fürsten bei der Wahl Wenzels (RTA.I, 80) ergibt eine Vergleichung des Textes. 
Sehr ähnlich und hier nur wichtig sind natürlich nur die Stellen, wo die Bitte um An- 
erkennung an den Papst ausgesprochen wird (vgl. aus dem Wahldekret Karls): 

. „Quapropter vestre immense clemencie voto unanimi cum dictis principibus, 
meis collegis, tam devote quam humiliter supplico in hiis scriptis, quatenus dictum 
electum in Romanorum regem in imperatorem promovendum paternis ulnis beni- 
gnius amplectentes, ipsum regem Romanorum nominantes et reputantes, eidem 
munus consecrationis et dyadema sacri imperii de sacrosanctis manibus vestris 
conferendo dignemini loco et tempore oportunis favorabiliter impartiri, ut sciant 
et intelligant universi, quod posuerit in lucem gentium vos Dominus, et per vestre 
sanctitatis arbitrium orbi terre post nubilum exoptata serenitas eluscescat. 

Sehr ähnlich die betreffende Stelle in RTA. I, 80: „quapropter vestre immense 
clemencie cum dictis meis collegis coelectoribus principibus supplicamus tam humi- 
liter quam devote, quatenus dictum dominum nostrum Wenceslaum in Romanorum 
regem concorditer sic electum in imperatorem promovendum paternis affectibus 
benignius amplectentes regem Romanorum nominare ejusque personem ad apicem 
tante dignitatis ydoneam reputare nec non eidem munus consecrationis ac dyadema 
sacri imperii loco et tempore oportunis per vestre beatitudinis sanctas manus con- 
ferre dignemini, prout extat ab olim fieri solum et consuetum, ut sciant et intelligant 
universi, quod posuerit in lucem gencium vos dominus, et per vestre sanctitatis 
arbitrium orbi terre post nubilum optata serenitas elucescat." Beachtlich ist die 
Einfügung der Worte ,,prout extat ab olim fieri solum et consuetum" in die Urkunde 
zur Wahl Wenzels. 

Das Schreiben Wenzels an den Papst (RTA.I, 78) in dem er seine Gesandten 
bevollmáchtigt, den Eid der Treue zu leisten, und den Papst um favor et gracia 
und spätere Kaiserkrönung zu bitten, stimmt von inhaltlich unwesentlichen Ände; 
rungen abgesehen wörtlich mit dem Schreiben Karls IV. an den Papst Clemens 
(Constt. VIII, Nr. 95, S. 126) überein. 

?*? Vgl. RTA. S. 108, Anm. 2. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 91 


schreibt der Papst, ,quod in aliquo honesto colore quesito 
(eben die Bitte um Approbation) hoc flat." Wenzel soll 
entweder selbst kommen oder Boten mit der nótigen Vollmacht 
schicken. Und wenn er inzwischen keine Regierungshandlungen 
vornimmt und sich nicht krönen läßt, dann will der Papst die 
Approbation ohne Verzógerung erteilen. Aber selbst das sollte 
nicht mehr gelingen. 


Karl IV. hat es verstanden, das rechtzeitige Eintreffen der 
päpstlichen Approbation unmöglich zu machen. Zwar machte 
er dem päpstlichen Gesandten das scheinbar sehr wichtige Zu- 
geständnis, daB Wenzel vor der Krönung keine Regierungs- 
handlungen vornehmen werde. Es bleibt ein Rätsel, wie es dem 
Kaiser gelungen ist, den rheinischen Kurfürsten gegenüber 
diese Forderung durchzusetzen“. Aber es beweist doch, daß 
er in der Lage war, ihnen gegenüber seine Pläne zu verwirk- 
lichen. Es ist also nicht die Rücksicht auf die Kurfürsten ge- 
wesen, die ihn veranlaßt hat, Wenzel krönen zu lassen, bevor 
die päpstliche Approbation eingetroffen war““. Wenn Karl 
ernstlich auf das Eintreffen der Approbation hätte warten wollen, 
so hätte er auch eine weitere Verschiebung der Krönung von 
den Kurfürsten erreichen können. Aber das wünschte er gar 
nicht. 

Hier kehrt in seiner Haltung der Kurie gegenüber die poli- 
tische Methode wieder, die er auch beim Streit um den Wahlort 
angewandt hatte. Er gibt zunächst der Forderung des Gegners 
bereitwilligst nach. Aber er weiß schon vorher, daB sich der 
Erfüllung der Forderung Hindernisse entgegenstellen werden, 
die nicht von ihm selber ausgehen. Diese schützt er dann nachher 
vor und wahrt somit vor dem Gegner den Schein ehrlicher 
Haltung, ohne seine Forderungen erfüllen zu brauchen. 

So hat er im Approbationsstreit dem Papste scheinbar sogar 
noch die Möglichkeit gegeben, die Approbation zu erteilen. 


— 


78 Jedenfalls haben die Verhandlungen darüber erst nach der Wahl Wenzels 
stattgefunden. Am 3. Juni hatte Karl IV. mit Audibert noch nicht über die Ver- 
schiebung der Krönung verhandelt. Denn an diesem Tage schrieb er in einem Briefe 
an Frankfurt (RTA. I, 44), die Krönung solle am 24. Juni stattfinden. So wird er mit 
Audibert auch über die Verschiebung der Vornahme von R 
erst in Frankfurt verhandelt haben. 

* S. S. 65 dieser Arbeit. ö 


92 Richard Lies 


Dann aber behauptete er, in Rücksicht auf die Kurfürsten 
könne die Krönung nicht mehr länger verschoben werden 
(RTA.I, 64, 3). So wurde die Krönung am 6. Juli in Aachen 
vollzogen, ohne daß inzwischen die päpstliche Approbation ein- 
getroffen war. 

An der Kurie hat man das Spiel des Kaisers wohl durch- 
schaut”, Aber da der Kaiser seine formellen Pflichten alle 
erfüllt hatte und obendrein sich noch in der Rolle eines päpst- 
lichen Sachwalters im Kurfürstenkollegium gefiel, so konnte 
man ihm nicht einmal ernstliche Vorwürfe machen. 

Nachdem einmal die Krönung vollzogen war und Wenzel 
Regierungshandlungen vorgenommen hatte, war die päpstliche 
Approbation nur noch eine Anerkennung, nicht aber eine Be- 
stätigung seiner königlichen Stellung. Eine Beschränkung des 
kurfürstlichen Wahlrechts bedeutete sie nicht mehr. Den Kur- 
fürsten konnte es nun ganz gleichgültig sein, ob der Kaiser 
darum bat oder nicht. Und der Mißerfolg in Karls Politik nach 
der Wahl Wenzels liegt nicht darin, daß er noch um päpstliche 
Approbation eingekommen ist, sondern darin, daß der Papst 
sie nicht mehr erteilt hat. Wenzels Stellung wurde weiter nicht 
dadurch ernstlich gefährdet, daß Gregor XI. die Approbation 
verweigerte, sondern dadurch, daß er zugleich mit der Verweige- 
rung die Gültigkeit der Wahl anzufechten drohte, weil die 
Approbation nicht rechtzeitig erteilt worden war. Es ist weiter 
oben gezeigt worden, wie sich die Haltung der Kurie im Laufe 
der Verhandlungen verschärft hat. Der Papst hatte mehrfach 
erklärt, daß er die Approbation nie erteilen würde, wenn die 
Krönung Wenzels vor ihr erfolgen würde (RTA. I, 67, 5, und 75). 

Es war seine ungünstige politische Lage, die ihn zwang, 
nachher trotzdem wieder auf die Verhandlungen mit Karl IV. 
über Wenzels Approbation einzugehen. Und wenn sie sich nun 
noch immer weiter verzögerte, ja, Gregor XI. schließlich ge- 
storben ist, bevor er sie erteilt hatte, so lag die Schuld bei 
Karl IV. Er hat während der Verhandlungen, die sich noch fast 


7$ Der Papst wandte ja selber genau dieselbe Methode an, wenn er dem Kaiser 
mitteilte, er habe die Zustimmung der Kardinäle zur Wahl Wenzels kaum erlangen 
können (RTA.I, 61). Damit stellte er sich doch ebenfalls als Vertreter der kaiser- 
lichen Wünsche vor dem Kardinalskollegium hin. Und er ist damals sicher auf- 
richtiger um Karls Pläne besorgt gewesen, als dieser jetzt um die päpstlichen. - 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 93 


über zwei Jahre ausdehnten, immer wieder versucht, seine 
Gegenversprechungen inhaltslos zu machen, oder sich ihrer Er- 
füllung zu entziehen “. 

Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß es Karls Wunsch ge- 
wesen ist, auf jeden Fall eine Approbation von staatsrecht- 
licher Bedeutung zu vermeiden. Die Approbation, die er nun 
noch erstrebte, war nur eine Anerkennung, nicht aber eine Be- 
stätigung des Königtums seines Sohnes. 


Schluß. 
Die Bedeutung der Goldenen Bulle für die Wahl. 


Überblickt man die Ergebnisse unserer Untersuchung, so ist 
zu sagen, daß die Bedeutung der Goldenen Bulle für die Wahl 
Wenzels nicht überschätzt werden darf. Aus der Eigenart der 
Wahl ergab sich die erstaunliche Tatsache, daß fast alle Einzel- 
bestimmungen nicht zur Anwendung gekommen sind. 

Die Geleitsrechte brauchten von den Kurfürsten nicht in 
Anspruch genommen werden, da sie nicht den im I. Kapitel 
der Goldenen Bulle mit so groBer Genauigkeit vorgeschriebenen 
Weg nach Frankfurt benutzten, sondern sich alle von Rense 
aus zur Wahlstadt begaben. Der Erzbischof von Mainz konnte 
sein Berufungsrecht zur Wahl nicht ausüben, da der Thron ja 
nicht erledigt war. Keiner der Kurfürsten ging seines Wahl- 
rechtes verlustig, und keiner ließ sich durch einen Bevollmách- 
tigten vertreten. Sie waren alle persónlich zur Wahl anwesend. 


Den Wahleid haben zwar alle geschworen. Aber wer von 
ihnen konnte es mit reinem Gewissen tun? Sie brauchten nicht 
mehr die für die Wahl gestattete Zeit von 30 Tagen in Anspruch 
zu nehmen. Denn sie hatten sich ja vorher geeinigt und kamen 
schon am ersten Wahltage zur Abstimmung. Auch die wichtige 
Bestimmung, daB der von der Majorität Erwählte als ein- 
stimmig gewählt angesehen werden solle, kam nicht in Frage. 
Ebenso brauchte Wenzel durch seine eigene Stimme nicht die 


** Vgl. S. 64 dieser Arbeit, wo gezeigt worden ist, daß Karl IV. seine Zustimmung 
su der päpstlichen Konstitution nicht erteilt hat, und daß Wenzel sich nicht ver- 
pflichtete, zu seinen Lebzeiten nicht wieder die Wahl eines Nachfolgers vornehmen 
m wollen. Vgl. weiter S. 66, wo geschildert wurde, daß Karl IV. versucht hat, 
eines seiner Zugeständnisse wirkungslos zu machen. 


94 | Richard Lies 


Mehrheit für sich herzustellen. (Übrigens führte nicht er, e 
Karl IV. selber die böhmische Kurstimme.) | 

Die einzige Bestimmung, die unbedingt zur an 
kommen mußte, die Bestätigung der kurfürstlichen Privilegien, 
erfolgte nicht, wie in der Goldenen Bulle vorgeschrieben, sofort 
nach der Wahl, sondern erst nach der Krönung. Allerdings ist 
diese Verzögerung, da sie wohl mit Einwilligung aller Beteiligten 
eintrat, höchstens nach der formellen Seite als ein Verstoß 
gegen das Gesetz zu betrachten, zumal die Privilegienbestäti- 
gung ja trotzdem die erste Regierungshandlung Wenzels war. 
Auch in der Führung der Wahlstimmen, die mit so ausführlicher 
Klarheit als eine der wichtigsten Bestimmungen der Goldenen 
Bulle im VII. Kapitel geregelt ist, wurde ein formeller Verstoß 
gegen das Gesetz nicht vermieden: Nicht Kurfürst Otto, der 
mit dem Verzicht auf Brandenburg entgegen den Vorschriften 
der Goldenen Bulle? sich die Kurstimme auf Lebenszeit vor- 
behalten hatte, stimmte für Brandenburg, sondern Sigmund, 
der Sohn des Kaisers. Und dieser hatte das im VII. Kapitel 
der Goldenen Bulle für die Ausübung der kurfürstlichen Rechte 
vorgeschriebene Mindestalter von 18 Jahren noch nicht erreicht. 
Aber dieser Verstoß war so unwesentlich, daß man ihn überhaupt 
nicht beachtet zu haben scheint. 

Demgegenüber steht nun die Tatsache, daß es Karl IV. in 
schwierigen Verhandlungen schließlich doch noch gelungen ist, 
in der Frage des Wahlortes den Standpunkt der Goldenen Bulle 
zu wahren. Auch hat die Wahl in Frankfurt mit den Formali- 
täten und dem Zeremoniell stattgefunden, das die Goldene Bulle 
vorschrieb. Die Wahl wurde eingeleitet mit dem Gottesdienst 
in der Bartholomäuskirche, und bei der Abstimmung fragte 
Ludwig von Mainz die Stimmen seiner Mitkurfürsten ab, die 
sodann alle gemeinsam ihn um seine eigene Stimme befragten. 
Außerdem ist gezeigt worden, daß überall da, wo die Gescheh- 
nisse um die Wahl mit den Vorschriften der Goldenen Bulle 
nicht in Einklang standen, wenigstens die offizielle Verkündigung 
sie so geschildert hat, als habe ein Widerspruch zwischen ihnen 
und der Goldenen Bulle nicht bestanden. 


7 Vgl. Kapitel XX der Goldenen Bulle. 


Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 95 


Dazu sei noch einmal die gegenüber anderen Ansichten 
gemachte Feststellung hervorgehoben, daß die Wahl Wenzels 
in ihrem wichtigsten Punkte, nämlich der Vornahme der Wahl 
vivente imperatore, durchaus nicht im Gegensatz zur Goldenen 
Bulle stand. Aus der Formulierung des ersten Absatzes des 
I. Kapitels der Goldenen Bulle“, wo die Veranlassung für eine 
Neuwahl erwähnt ist, geht hervor, daß die Wahlbestimmungen 
der Goldenen Bulle in jedem möglichen Falle einer Neuwahl 
Anwendung finden sollten. Und im XII. Kapitel der Goldenen 
Bulle wurde den Kurfürsten durchaus die rechtliche Möglichkeit 
gegeben, eine Neuwahl bei zureichender Begründung auch schon 
zu Lebzeiten des jeweiligen Herrschers vorzunehmen. 

Erinnert man sich endlich daran, daß alle diese Einzel- 
bestimmungen dem einen großen Zwecke eines eindeutigen 
Wablresultates und der Förderung der Einstimmigkeit dienen, 
so treten die formellen Verstöße zurück hinter der bedeutsamen 
Tatsache, daß die Wahl Wenzels einstimmig erfolgt ist. Die 
Geschichte des Kurfürstenkollegiums hatte seit der Zeit Rudolfs 
von Habsburg nur ein einziges Mal, bei der Wahl Albrechts, 
solche Einstimmigkeit gesehen. Zwar war es die diplomatische 
Kunst und die offene Hand Karls IV. gewesen, und nicht die 
Achtung vor dem Gesetz, die diese Einigkeit erzeugte. Aber 
das Gesetz diente ja auch nur einem politischen Zwecke. Der 
Gedanke, der einst Karl IV. veranlaßt hatte, die Königswahl- 
bestimmungen in die Goldene Bulle aufzunehmen, hatte hier 
nicht durch formalistische Deutung und Anwendung der Rechts- 
sätze seine Verwirklichung gefunden, sondern durch lebendige 
politische Tat. 


7 . . . quocienscumgue et quandocumque futuris temporibus necessitas sive 
easus electionis regis Romanorum in imperatorem promovendi emerserit .... 


96 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke. 


Publizistische Dokumente aus der Kölnischen Zeitung 
1844 bis 1851. 


Von 


Karl Buchheim. 


Daß Heinrich von Sybel als junger Professor unter Um- 
ständen bereit gewesen wäre, den Gelehrtenberuf mit dem des 
Politikers zu vertauschen, darf als sehr wahrscheinlich gelten. 
War doch bereits sein Vater, der Justitiar der Düsseldorfer Re- 
gierung, Mitglied des rheinischen Provinziallandtages. Der ältere 
wie der jüngere Sybel dürfen den aktiven Mitgliedern der rheini- 
schen altliberalen Partei beigezählt werden, die schon gegen 
die Mitte der vierziger Jahre als verhältnismäßig geschlossene 
politische Gruppe hervortrat. Im Frühjahr 1848 eilten Vater 
und Sohn gemeinsam nach Frankfurt zum Vorparlament; und 
sicher hätte der Jüngere gern in der Paulskirche selber gesessen, 
wenn es ihm nur gelungen wäre, in Kurhessen, wo er sich als 
Marburger Professor zunächst betätigen mußte, ein Mandat zu 
erobern. Aber der Sohn der rheinischen Bourgeoisie, der sich 
nicht enthalten konnte, als Gegner des demokratischen Stimm- 
rechts aufzutreten, vermochte in Hessen keine wirkliche Volks- 
tümlichkeit zu erlangen. Auch in den Kasseler Landtag gelangte 
er nur, weil ihn im Herbst 1848 die Marburger Universität ab- 
ordnete. Seine konstitutionellen Freunde, die damals das Land 
beherrschten, verhießen ihm für die nächste Session das Präsi- 
dium des Landtages; aber in dem Wahlkreis, wo er nunmehr 
kandidierte, unterlag er der demokratischen Partei. Ins Erfurter 
Unionsparlament von 1850 kam er dadurch, daß ihn seine Partei- 
freunde ins Staatenhaus delegierten. Es war ihm nicht vergönnt, 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 97 


politisch „hochzusteigen‘‘, wie er sich selber ausgedrückt hat!. 
Zunächst hat er das sicher bedauert, doch hinterher begriff er 
bald, daß es das Schicksal wohl mit ihm gemeint hatte. Denn 
sicherlich wäre langwierige Festungshaft oder ein Flüchtlings- 
dasein das Los seiner nächsten Jahre gewesen, wenn er als 
Landtagspräsident in Kassel den Kampf gegen Hassenpflug auf 
exponiertem Posten hätte führen müssen. 


Wenn Sybel sich also auf die gelehrte Tätigkeit zurück- 
verwiesen sah, die er sich von Anfang an erwählt hatte, so kann 
dennoch das politische Intermezzo seit 1848 bei ihm keineswegs 
für etwas nur Zufälliges gehalten werden. Dazu war er als Mann 
der Wissenschaft schon von jeher viel zu sehr zugleich ein Mann 
der Politik gewesen. Sein Geschichtsstudium in Berlin hatte 
er in außergewöhnlichem Umfange mit juristischen Arbeiten 
verbunden und in seinen Doktorthesen die politisch-aggressiv 
klingende Behauptung aufgestellt, daß man Geschichte „cum 
ira et studio“ schreiben müsse. Liest man dann die wissenschaft- 
^ lichen Jugendarbeiten Sybels, so kann man bald den Eindruck 
gewinnen, einen ausgesprochenen politischen Menschen, der 
hauptsächlich aus dem Staatsgedanken heraus lebte und 
schrieb, vor sich zu haben. Um des Staatsgedankens willen trat 
er in seinem 1844 veröffentlichten Buche über die Entstehung des 
deutschen Königtums in Gegensatz zu der damals herrschenden, 
überwiegend von der Romantik befruchteten Geschichtsauf- 
fassung. Daß deren Anhänger eine rationalisierende Tendenz 
bei Sybel feststellen zu können glaubten, traf insofern das 
Rechte, als der Staatsgedanke, wenn er sich den romantischen 
Ideen des Volkstums oder der Rasse gegenüber befindet, einen 
für ihn konstitutiven rationalen Wesenszug nicht verleugnen 
kann. Dem moralistischen Rationalismus des Aufklärungs- 
zeitalters, den unter den zeitgenössischen Historikern Friedrich 
Christoph Schlosser noch vertrat, stand Sybel fern; bei ihm war 
der Rationalismus politisch“. 

Ganz und gar politisch verwandte Sybel seine Gelehrsamkeit 
in dem gleichfalls 1844 herausgekommenen Buche über den 


1 Vgl. P. Bailleu in der Allg. Deutschen Biogr. Bd. 54, S. 653. 


3 Vgl. C. Varrentrapp, Vorträge und Abhandlungen von Heinrich von Sybel, 
1897, S. 30. | 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H 1. 7 


98 Karl Buchheim 


„Heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen Heiligen Un- 
genähten Röcke“, das er zusammen mit dem Orientalisten Gilde- 
meister schrieb?. Der Gegenstand war hochaktuell, weil sich 
ganz Deutschland für und wider die Trierer Wallfahrten aufgeregt 
hatte. Darum machte die Schrift trotz betonter Wissenschaft- 
lichkeit Aufsehen in weiten Kreisen. Ihr Vorwort war vom 
Allerheiligentage 1844 datiert, und noch im Dezember wurde 
bereits eine dritte Auflage nótig. Da die Gegenpartei ihrerseits 
auf den Plan trat, verfaßten Sybel und Gildemeister noch drei 
weitere Broschüren, in denen sie „die Advokaten des Trierer 
Rockes zur Ruhe verwiesen". Daß es Sybel bei diesen Ausein- 
andersetzungen nicht nur und auch nicht hauptsáchlich um eine 
wissenschaftliche Streitfrage ging, war nicht schwer herauszu- 
merken. Aber die Gegner irrten sich, wenn sie als Motiv seines 
Auftretens Katholikenfeindschaft im Sinne religióser Gegner- 
Schaft annahmen. Es war vielmehr das politische Gewissen 
Sybels, das sich mit dem wissenschaftlichen hier verband und 
ihn zur Tat antrieb. Er bekámpfte die Macht der Kirche, weil 
sie in seinen Augen eine feudale, eine stándische Macht war, vom 
Mittelalter her die Teilhaberin an der Herrschaft des Adels und 
der Sippen, dem Widerpart jeder eigentlich politischen Ge- 
sellschaftsordnung, die immer wieder in Gefahr kommt, von den 
ständischen Gewalten überwuchert zu werden. So stellte er 
den Sachverhalt selber in einem nachher noch weiter zu erwähnen- . 
den Artikel der Kölnischen Zeitung dar“, wo er sagte: „Der 
Schreiber dieser Zeilen, der sich um kirchliche Dinge nie be- 
kümmert hat und hoffentlich nie bekümmern wird, als wo sie auf 
staatliche und wissenschaftliche Fragen einwirken, kann gelassen 
zusehen, wenn man ihn als Gegner der katholischen Kirche zu 
verrufen sucht; er stellt es den echten Freunden derselben an- 
heim, ob sie durch eine Verschmelzung ihrer Sache mit den 
ritterbürtigen Interessen sich in Wahrheit gefórdert halten 


* Düsseldorf 1844, bei Julius Buddeus. Die im Text weiterhin erwühnten 
folgenden Streitschriften sind unter dem gleichen Haupttitel als zweiter Teil: „Die 
Advokaten des Trierer Rockes, zur Ruhe verwiesen von Dr. J. Gildemeister und 
Dr. H. v. Sybel, Professoren an der Universität zu Bonn“ in drei Heften (sämtlich 
Düsseldorf 1845) erschienen. 


„Konservative Gesinnung und die Luxemburger Zeitung“ in Nr. 48 vom 
17. Februar 1846. 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 99 


werden." Das Zitat läßt erkennen, daß es Sybel darauf ankam, 
gegen diejenigen zu kämpfen, die der Hegemonie der politischen 
Idee zuwider waren. 

Der schlimmste feudalistische Fremdkörper im öffentlichen 
Leben der Rheinprovinz war die 1836 von Friedrich Wilhelm III. 
künstlich erneuerte „Autonomie“ des ritterschaftlichen Adels. 
Sie widersprach dem Gedanken der staatsbürgerlichen Gleich- 
heit und damit dem rheinischen Recht, in dem die Provinz ihr 
Palladium sah. Darum war sie von der öffentlichen Meinung 
von vornherein abgelehnt worden. Für Sybel war das .Auto- 
nomiestatut geradezu eine Art Sündenfall der berufenen Re- 
präsentanten des preußischen Staatsgedankens. Deshalb wurde 
ihm der Kampf gegen die Autonomie zum wesentlichsten po- 
litischen Anliegen. Er gab ihm Veranlassung, das erste Mal in 
der Kölnischen Zeitung das Wort zu nehmen. 

Sybel sah sich aus verschiedenen Gründen auf dieses Blatt 
hingewiesen. Unter den Dozenten der Bonner Universität, an 
der er sich im Herbst 1840 habilitiert hatte, war die Mitarbeit an 
der Kölnischen Zeitung nichts Seltenes. Bonn hatte von der 
preußischen Staatsregierung trotz mancher Petitionen keine 
eigene Zeitungskonzession erhalten und mußte deshalb mit der 
Presse der Nachbarstadt zufrieden sein. Sybels besonderer 
Gönner, der Ordinarius für Geschichte, Professor Joh. Wilh. 
Loebell, gehörte zu den Kollegen, die Beziehungen zur Kölni- 
schen Zeitung hatten. Er war um die Jahreswende 1842/43 
sogar auf den ausdrücklichen Wunsch der preuBischen Zensur- 
bürokratie Mitarbeiter geworden, weil diese damals hoffte, das 
weitverbreitete Blatt in gouvernementalem Sinne beeinflussen 
zu könnens. Doch war in dieser Beziehung nichts zu erreichen, 
weil der Verleger Joseph DuMont gerade im Frühjahr 1843 
den Zeitpunkt für günstig erachtete, offen zur politischen Oppo- 
sition überzugehen. Er war soeben stellvertretender Landtags- 
abgeordneter geworden, und wenn er auch zur Ausübung des 


5 Über die Geschichte der Kölnischen Zeitung und ihrer Mitarbeiter 
erschien im November 1930 eine ausführliche Darstellung vom Verfasser dieses 
Aufsatzes. Sie schließt sich an die 1920 veröffentlichte Geschichte der Anfänge 
des groBen rheinischen Blattes von Ernst von der Nahmer an und reicht vorl&ufig 
bis zum Jahre 1850. Der hier vorliegende Aufsats ist kein Teil davon, sondern 
eine selbständige Spezialuntersuchung. 

73 


100 Karl Buchheim 


Mandats nicht gelangte, so arbeitete er doch mit dem im Sommer 
zu Düsseldorf tagenden siebenten rheinischen Landtage, der 
einen reaktionären Strafgesetzentwurf der Regierung zurück- 
wies, aufs engste zusammen. Seitdem galt die Kölnische Zeitung 
als Hauptorgan des rheinischen Liberalismus und wurde so für 
Sybel nicht nur zum gegebenen Lokal-, sondern auch zum zu- 
ständigen Parteiblatt. 

Denn, wie eingangs erwähnt, darf man den jungen Professor — 
er bekam diesen Titel im Frühjahr 1844 — von Haus aus zu den 
rheinischen Liberalen rechnen. Anderseits muß man sich freilich 
hüten, ihn allzusehr mit dieser politischen Gruppe zu identiflzie- 
ren. Die Führer des vormärzlichen rheinischen Liberalismus 
waren sämtlich Kaufleute oder Industrielle. Sie kamen zur 
Politik und zur Staatsgesinnung nicht unmittelbar, sondern 
von den Erfahrungen und Bedürfnissen des Wirtschaftslebens her. 
Sybel aber stammte zwar ebenfalls aus großbürgerlicher Familie, 
aber aus keinem Kaufmannshause; er hatte einen akademischen 
Beruf und fühlte sich unmittelbar aus dem Staatsgedanken selber 
zur Politik getrieben. Seine Schrift über „Die politischen Par- 
teien der Rheinprovinz", die 1847 veröffentlicht, aber schon 
vorher entworfen und geschrieben worden ist, zeigt, daß er sich 
den rheinischen Liberalen nur insoweit zugehörig fühlte, als er 
bei ihnen Widerhall für seine betont politische Denkweise und 
Anerkennung des preußischen Staatsgedankens fand. Es 
entging ihm keineswegs, daß dieser Staatsgedanke spezifische 
Unterschiede gegenüber dem Liberalismus der rheinischen Bour- 
geoisie aufwies. Er bezeichnete es (a. a. O. S. 76f.) als eine Frage, 
„inwieweit gewisse Eigentümlichkeiten gerade der preußischen 
Politik bei ihnen (d. h. den rheinischen Liberalen) auf Pflege und 
Beistand rechnen dürften“. Und er fuhr fort: „Die Partei ruht 
durchaus auf Kapitalbesitz und Industrie. Daraus hat sie ihren 
Ursprung, ihre Farbe und ihre Kraft. Vom preußischen Staate 
kónnte kein Mensch das Gleiche behaupten, von jeher hat er 
sich nicht durch Erzeugen, sondern durch Sparen, nicht durch 
friedliche Fülle, sondern durch militärische Stärke charakterisiert. 
Der Widerspruch zwischen beiden Standpunkten ist klar“. 
Sybel glaubte nicht befürchten zu müssen, „daß irgendeine 
konstitutionelle Kammer etwa die Heeresausgaben als unproduk- 
tive Last beseitigen und zur Unterstützung des Gewerbes ver- 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 101 


wenden würde‘; dergleichen Gedanken würden in der scharfen 
Luft einer reichsständischen Versammlung bald verwehen. Aber 
die Möglichkeit, daß der Liberalismus die Staatsmacht „den 
Zwecken des Gewerbes dienstbar“ und „das Gemeinwesen voll- 
kommen materialistisch‘ machen könne, erwog er doch selber. 
Er tröstete sich mit der Hoffnung, daß bei wachsender politischer 
Schulung des ganzen Volkes auch das Bürgertum die Forderung 
erfüllen werde, , die politische Tätigkeit, als eine höchst geistige, 
soviel wie möglich in die Hände derer zu legen, deren Gedanken 
nicht ausschließlich mit Geld und Gelderwerb erfüllt sind“ (a. 
a. O. S. 78). Mansieht aus diesen Äußerungen, daß die wachsende 
Durchdringung des rheinischen Liberalismus mit dem preußischen 
Staatsgedanken für Sybel eine Hoffnung war, deren Verwirk- 
lichung ihm am Herzen lag. Sein eigener Ausgangspunkt aber 
war dabei der Staatsgedanke und nicht die bürgerliche Ideologie. 
Der achte rheinische Landtag (1845), von dessen Ergebnissen 
Sybel in seiner eben herangezogenen Abhandlung über die poli- 
tischen Parteien ausging, war in seinem ganzen Verlaufe Gegen- 
stand seines lebhaftesten Interesses. Schon die Wahlhandlungen 
für den Landtag verfolgte er aufmerksam; um ihretwillen schrieb 
er im November 1844 seinen ersten Artikel für dieKölnische 
Zeitung. Der kleine Beitrag hatte, weil der Kölner Zensor, 
Regierungsrat Wenzel, Schwierigkeiten machte, sein besonderes 
Schicksal: die zweite Hälfte kam nämlich erst sechs Wochen 
nach der ersten in die Zeitung. Von der Haltung der Zensur wird 
nachher noch weiter die Rede sein. Zunächst ist es aber not- 
wendig, den ganzen Artikel, weil er als solcher in der Kölnischen 
Zeitung gar nicht auffindbar ist, hierher zu setzen: 
* * Vom Rhein, 20. Nov. Die Aufforderungen der Behörden rufen auf den 
2. und 6. Dez. in Koblenz und Düsseldorf die Mitglieder der rheinischen Ritter- 
schaft zur Wahl mehrerer Stellverteter aus ihrem Stande für den bevorstehenden 
Landtag zusammen. Es ist zu wünschen, daß diese Wahl auf Männer der Provinz 
fallen möge, die auf das allgemeine Vertrauen einen gerechten Anspruch haben, 
deren Name dafür eine Gewährleistung ist, daß sie nicht, durch einseitige korpo- 
rative Standesinteressen gebunden, diesen das Gesamtinteresse aller Stände der 
Provinz nachsetzen werden. — Die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder der . 
rheinischen Ritterschaft hat es wiederholt ausgesprochen, daß sie sich nicht 
durch autonome Mitglieder auf dem Landtag vertreten zu sehen wünscht, weil 
sie die politischen Prinzipien einer korporativen Absonderung für unverträglich 
mit dem wahren Interesse des ganzen Ritterstandes und der Provinz hält. Für 
die nichtautonomen Rittergutsbesitzer muß es daher erfreulich sein, am 2. und 


109 Karl Buchheim 


6. Dezember abermals durch das Ergebnis der Wahlen beweisen zu kónnen, daf 
sie ihre politischen Ansichten nicht geändert haben, und daB sie nach wie vor 
keiner besonderen Statuten bedürfen, um in gleicher und treuer Liebe zum Könige 
mit gleichem und treuem Eifer für ihre Mitbürger die stándischen Pflichten zu 
erfüllen. 


Die Autorschaft Sybels für diesen Artikel ist aus einem 
Briefe des Verlegers DuMont vom 21. November 1844 und aus 
dem Erkenntnis des Oberzensurgerichts vom 17. Dezember 1844, 
das am 3. Januar 1845 in der Kólnischen Zeitung abgedruckt 
wurde, erweislich®. An diesem Tage wurde auch die zweite Hälfte 
des Ártikels — vom Gedankenstrich an — in der Zeitung noch 
abgedruckt, natürlich zu spát für ihren Zweck, auf die Wahlen 
einzuwirken. Die erste Hälfte hatte in Nr. 327 vom 22. Novem- 
ber 1844 gestanden. 

Der Gegenstand, den der Verfasser behandelte, war nicht 
derart, daB er dabei im voraus und mit Sicherheit auf das 
Stirnrunzeln der Zensurbürokratie hätte gefaßt sein müssen. 
Wenn man auch die Verteidigung der Adelsprivilegien in PreuBen 
zu den konservativen Grundsätzen rechnete, so brauchte doch ein 
Angriff auf die katholischen Autonomen im Rheinland keines- 
wegs hóheren Ortes unbeliebt zu machen. Für die gleichzeitige 
Untersuchung über den Trierer Rock hatte Sybel soeben erst 
den Beifall einflußreicher Beamter, auch den des Kultusministers 
Eichhorn, gefunden’. Der Kölner Zensor war in der Tat seiner 
Sache nicht sicher, als er in dem Zeitungsartikel die zweite 
Hälfte strich. Er bestárkte den Verleger selber in der Absicht, 


* Nicht erweislich aus dem Briefe DuMonts ist, daB Sybel wirklich das erste 
Mal einen Beitrag an die Kólnische Zeitung einsandte. Deshalb entsteht die Frage, 
ob er sich nicht schon früher an dem Blatte beteiligt haben könnte. Man beobachtet, 
daB 2 ½ Jahre später, am 20. Juli 1847 (Nr. 201) der von Sybel stammende Artikel 
„Arndts Briefwechsel‘‘ genau wie der kleine Beitrag vom November 1844 die Si- 
gnatur ** Vom Rheine trägt. Es läge also nahe, der Vermutung Raum zu geben, 
daB von den Artikeln mit der gleichen Bezeichnung, die vor dem November 1844 
zu finden sind, der eine oder andere von Sybel stammen kónnte. Der Jahrgang 
1844 enthält nur eine beschränkte Anzahl so bezeichneter Beiträge. Keiner von 
ihnen zeigt aber einen Inhalt, nach dem man auf Sybel als Verfasser schließen 
dürfte. Ja, aus dem Honorarbuch DuMonts läßt sich der Nachweis führen, daB die 
meisten dieser Artikel von dem radikalen Literaten Karl Heinzen verfaBt sind. 
Alle Umstände sprechen dafür, daß der kleine Beitrag vom November 1844 wirklich 
der erste Artikel Sybels in der Kólnischen Zeitung war. 

7 Vgl. Varrentrapp a. a. O., S. 38f. 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 103 


Beschwerde beim Oberzensurgericht einzulegen, weil ihm daran 
gelegen sei, dessen Ansicht über eine solche Materie kennen zu 
lernen. Sybel scheint sogar davon überzeugt gewesen zu sein, 
daß man den Zensurstrich nicht aufrechterhalten werde. Denn 
er schickte bereits unterm 25. November 1844 einen langen 
Aufsatz: „E.M.Arndt über die rheinischen ritterbürtigen 
Autonomen‘, der die gleiche Tendenz zeigt, und den er trotz- 
dem nunmehr mit seinem vollen Namen signierte. Eben hatte 
ihm DuMont im Briefe vom 21. November noch versichern zu 
sollen geglaubt, daß vor dem Oberzensurgericht sein Name ,,gar 
nicht zur Sprache kommen‘ werde. Anscheinend wollte Sybel 
gerade deshalb zeigen, daß er sogar gern persönlich für seine 
Tendenzen eintreten werde. Der neue Beitrag wurde, wie DuMont 
am 29. November mitteilen mußte, „ganz und gar vom Lokal- 
zensor gestrichen“, aber man appellierte natürlich diesmal erst 
recht an das Oberzensurgericht. Die Entscheidung in dieser 
Sache fiel erst am 17. Januar 1845. Die Druckerlaubnis wurde 
erteilt „unter Aufhebung der entgegenstehenden Zensurver- 
fürung vom 28. November 1844". Am 1. Februar 1846 (Nr. 32) 
konnte dieser Sybelsche Aufsatz ebenfalls in der Kölnischen 
Zeitung erscheinen. 

Der Verfasser benutzte die Autorität Arndts, um mit den 
staatverneinenden feudalistischen Theorien der ritterschaftlichen 
Autonomen nunmehr gründlicher abzurechnen. Es kam ihm 
darauf an festzustellen, daB der Gesetzgeber, der das Autonomie- 
statut von 1830 eingeführt, es auch Jederzeit ohne weiteres wieder 
aufheben kónne, und daB ein rheinischer Landtag, der etwa die 
Vernichtung der Autonomie beantrage, keinesfalls eines Angriffs 
auf wohlerworbene Rechte beschuldigt werden dürfe. Unter 
Berufung auf die Pandektenvorlesung seines Lehrers Savigny 
erklärte Sybel, daß man diesen Begriff nur auf individuelle 
Rechtsverhältnisse, also etwa den Besitz eines Rittergutes, nicht 
aber auf abstrakte Befugnisse gewisser Stände oder Klassen 
anwenden dürfe. Die autonome Partei ließ diese Darlegungen 
in der von ihr unterhaltenen Luxemburger Zeitung be- 
streiten, u.a. auch mit Hinweis auf das deutsche Bundesrecht, 
von dem sie vor der Aufhebung des Autonomiestatuts durch den 
preußischen Staat geschützt zu sein behauptete. Sybel konnte 
dies Argument entkräften, indem er daran erinnerte, daß die 


104 Karl Buchheim 


autonomen Familien keine ehemaligen Reichsunmittelbaren 
waren. Er tat dies in dem Artikel „Konservative Gesinnung 
und die Luxemburger Zeitung‘ (in Nr. 48 der Kölnischen 
Zeitung vom 17. Februar 1845), aus dem oben schon ein Zitat 
angeführt wurde, und noch einmal unter der Überschrift: „Die 
rheinischenAutonomenunddieEinheitdespreußischen 
Staates“ (in Nr. 78 vom 14. März). 

In allen drei Arbeiten, mit denen er im Frühjahr 1845 in der 
Kölnischen Zeitung auftrat, kam es Sybel politisch auf die Ver- 
teidigung des Staatsgedankens an. Darum durfte er auch darauf 
vertrauen, daß das Oberzensurgericht einer solchen Tendenz 
schlechterdings kaum entgegen sein konnte. Da die Luxem- 
burger Zeitung z. B. behauptete, daß es einen preußischen Staat 
eigentlich gar nicht gäbe, sondern nur ein Konglomerat mehrerer 
durch Personal- und Realunion verbundener Territorien, so 
konnte er den Anhängern feudalistischer Theorien überhaupt 
das Recht bestreiten, sich konservativ zu nennen. Auf diese 
Bezeichnung, führte er aus, habe nimmermehr irgendeine abso- 
lute und unveränderliche Richtung Anspruch, wie z. B. diejenige, 
die für die Immunität des Adels eintrete, sondern nur wer wirk- 
lich das politisch Bestehende bewahren wolle. Der Begriff des 
Konservatismus könne also einen sehr unterschiedlichen Inhalt 
haben, je nach dem Staat, auf den man ihn anwende. In Preußen 
sei allein die Fortsetzung der Politik des Großen Kurfürsten 
und der ersten Könige, der Schöpfer dieses Staates, wahrhaft 
konservativ. Deren unabänderlicher Grundatz aber sei gerade 
gewesen, alle ritterliche und provinziale Eigenwilligkeit der 
einigen und umfassenden Staatsgewalt zu unterwerfen. So ver- 
derblich es also auch sein möge, das Prinzip der Volkssouveräni- 
tät zu vertreten und seinetwegen eine gesamtpreußische Volks- 
repräsentation zu verlangen, so sei es doch noch viel schlimmer 
und absolut unkonservativ, eine solche Volksvertretung auf 
Grund feudalistischer Theorien zu verwerfen: „Alle Grundlagen 
unserer Monarchie kehrt um, wer mit der Luxemburger Zeitung 
gegen Reichsstände deshalb protestiert, weil damit die ,,Selb- 
stándigkeit" und ,,Eigentümlichkeit" einer einzelnen Provinz 
gefährdet würde, wer mit ihr die Grundsätze der Hallerschen 
Schule, die Division des Staates und die Souveränität des Guts- 
herrn über die Bruchteile predigt“ (K. Z. 1845 Nr. 48). 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 105 


Das Autonomiestatut wollte Sybel vom Staatsgedanken aus 
beurteilt wissen: seine Wirkungen müßten unter beständiger 
Kontrolle der óffentlichen Meinung gehalten werden, und dem 
Staate allein dürfe die Entscheidung darüber zustehen, ob und 
wielange es als politisch zweckmäßig bestehen bleiben dürfe. 
Sybel war kein grundsátzlicher Gegner des Adels, zumal seine 
eigene Familie auf Grund der Verdienste seines Vaters geadelt 
worden war. Aber er stellte die Frage, ob speziell der deutsche 
Adel nach seinen bisherigen Überlieferungen politisches Ver- 
trauen verdiene, und verneinte sie damals schon ebenso ent- 
schieden wie in späteren Aufsätzen aus den Jahren 1850 und 
18515. Eine Aristokratie, die es als obersten Grundsatz betrachte, 
„ebenbürtig‘‘ zu heiraten und ihren Genossen zu verbieten, 
Handel und Gewerbe zu treiben, die ihren Stamm lieber ver- 
armen und austrocknen lasse, „statt ihn durch die Verbindung 
mit mächtiger Industrie oder schönen Erbtöchtern zu erfrischen 
und zu bereichern“, eine solche Aristokratie hielt Sybel für un- 
heilbar borniert und zu großen politischen Leistungen nach dem 
Muster ihrer englischen Standesgenossen gänzlich unfähig. 
Während die britische Gentry mit ihrem König um den Besitz 
der Staatsgewalt gerungen und dabei die Majestät besiegt habe, 
hätten in Deutschland allein die Landesfürsten den Staatsgedan- 
ken begriffen; dem Adel aber sei er über seinen Privilegien 


gänzlich abhanden gekommen, so daß ihn die Territorialherren . 


hätten zwingen müssen, das politische Ganze zu respektieren. 
Nach solchen geschichtlichen Erfahrungen könne man Provinzial- 
landtagen und ritterlichen Autonomen nur insoweit Existenz- 
berechtigung zusprechen, als sie sich als Mitträger des Staats- 
gedankens bewáhrten. Sybel beendete seinen am 1. Februar 1845 
veröffentlichten Hauptartikel mit dem charakteristischen Satze: 
„Denn wenn die Revolution den Alleinbesitz der Krone der 
Herrschaft bedroht, so untergrábt die Autonomie die Möglich- 
keit jeder Herrschaft von Grund aus." — 


3 Vgl. die in dieser Abhandlung weiter unten besprochenen Zeitungsartikel 
und den Aufsatz „Die christlich-germanische Staatslehre, ihre Bedeutung 
in der Gegenwart, ihr Verhältnis zum geschichtlichen Christen- und Germanentum“ 
in Biedermanns , Germania“ 1861, S. 1ff., wieder abgedruckt in den Kl. Hist. Schriften 
Sybels, im ersten Bande. 


/ 


106 LT Karl Buchheim 


Erst nach zwei Jahren, nachdem inzwischen die Schrift über 
die politischen Parteien erschienen und der Vereinigte Landtag 
in Berlin zusammengetreten war, kam Sybel wieder dazu, in 
der Kölnischen Zeitung zu schreiben. Er war unterdessen nach 
Marburg berufen worden und hatte sich dort in sein neues Lehr- 
amt einleben müssen. Er hatte wieder Gelegenheit, an den 
Namen Ernst Moritz Arndts anzuknüpfen, weil er ein neues 
zweibändiges Werk von diesem mit dem umständlichen Titel 
„Notgedrungener Bericht aus seinem Leben und aus und mit 
Urkunden der demagogischen und antidemagogischen Um- 
triebe“ zu besprechen hatte. Der Rezensent überging dabei den 
ersten Band völlig, weil er ihm in keiner Weise aktuell erschien, 
und hielt sich an den zweiten, der mit Briefen angefüllt war, die 
Arndt mit dem Freiherrn vom Stein, mit Gneisenau, Schleier- 
macher und anderen gewechselt hatte. So kam der anonyme 
Artikel: „ Arndts Briefwechsel“ zustande, den die Kölnische 
Zeitung in Nr. 201 vom 20. Juli 1847 brachte. Sybel stellte 
diesmal eine Honorarforderung an den Verlag, vielleicht ein 
Zeichen dafür, daß er ein regelmäßigerer Mitarbeiter zu werden 
beabsichtigte. Die Forderung und natürlich auch der Artikel, 
auf den sie sich gründete, gingen Mitte Juni in Köln ein, zu 
einem Zeitpunkte, wo der Vereinigte Landtag noch versammelt 
war. Die Redaktion ließ den Aufsatz über fünf Wochen liegen, 
sicherlich weil es an Raum fehlte, solange die Verhandlungs- 
berichte aus Berlin allem anderen vorgingen. DuMont selber 
hatte gerade einen Erholungsurlaub genommen und war von 
Köln abwesend. So kam er erst am 30. Juli dazu, Sybel zwölf 
Taler Honorar zu übersenden und ihn gleichzeitig brieflich zu 
fernerer Mitarbeit aufzufordern. Im Honorarbuch des Verlegers 
wurde damals ein Konto für den Marburger Professor eingerichtet. 
Da dieses aber erst für 1850 wieder Beiträge verzeichnet, so 
können wir sicher sein, daß wirklich über drei Jahre vergingen, 
ehe Sybel dazu kam, jener Aufforderung Folge zu leisten, und 
daß man in den Jahrgängen 1847 bis 1849 der Kölnischen Zei- 
tung keine weiteren Artikel von ihm zu suchen braucht. 

Für den Aufsatz „Arndts Briefwechsel“ konnte schon Varren- 
trapp Sybels Verfasserschaft nachweisen und auch aus dem Inhalt 
einiges hervorheben“. Der Artikel ist jedoch nicht nur geschrie- 


*? A. a. O., S. 47fl. 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 107 


ben, „um den hohen Wert der Solidarität zwischen Volk und 
Krone anschaulich zu machen“, sondern, um der politisch un- 
erzogenen nationalen Romantik, die 1847 noch ebenso gefährlich 
werden konnte, wie nach 1813, eine Absage zu erteilen. Sybel 
wollte dem weiten Leserkreis der Kölnischen Zeitung die un- 
gewohnte Erkenntnis vermitteln, daß der „Liberalismus, wie 
er 1817 beschaffen war“, an der nachfolgenden Reaktion selber 
mit schuld gewesen sei. Er bezog sich auf einen Brief des Frei- 
herrn vom Stein vom 5. Januar 1818, worin sich dieser über die 
.Narrheiten" von Jahn und Oken beklagte, und meinte, daß 
der Liberalismus von 1847 einsehen lernen müsse, wie seine 
Vorläufer nach den Freiheitskriegen „sich zu jeder festen Staa- 
tengründung ganz untauglich“ gezeigt hätten. Der Fehler der 
Karlsbader Beschlüsse sei nicht gewesen, „daß sie diese Pflanze 
dem Volke nicht zur Nahrung dienen lassen wollten, sondern daß 
sie dieselbe ausrissen, statt sie zu veredeln“. Und weiter hieß es 
in demselben Gedankengang: ,,Die óffentliche Meinung war, ein 
großes Ziel im Auge und ein edles Gefühl im Herzen, auf wunder- 
liche doktrinäre Abwege geraten. Gerade in einer solchen Lage 
erscheint der edelste Beruf einer einsichtigen Regierung der Beruf 
nicht der Züchtigung und Bándigung, sondern der Erziehung. 
Aber die Karlsbader Versammlung entschloß sich in dem ent- 
gegengesetzten Sinne.“ 

Diese Distanzierung von der nationalen Gefühlspolitik steht in 
Parallele zu der Korrektur der romantischen Geschichtsvorstel- 
lungen, auf die es Sybel in seinem Buche über die Entstehung des 
deutschen Königtums angekommen war. Beides war die Konse- 
quenz bewußt politischer Denkweise. Umgekehrt entsprach 
seinem Anschluß an den Liberalismus die gleichzeitige MiB- 
billigung des Systems der vormärzlichen Regierungen. Mit den 
rheinischen Liberalen verwarf er jede ständische Sonderung von 
Stadt und Land, von Bürgertum und Güteradel. Deshalb wurden 
die konkreten Verfassungsvorschläge des Freiherrn vom Stein, 
die eine solche Sonderung vorsahen, von seiner Ablehnung mit 
betroffen: Wenn nicht für jene Zeiten, so seien sie mindestens 
in der Gegenwart gänzlich unzeitgemäß. Ohne die unterschied- 
lichen Berufsinteressen als Gegenstand der staatlichen Volks- 
wirtschaftspflege zu verneinen, wollte Sybel in staatsbürgerlicher 
Hinsicht überhaupt keine Stände mehr gelten lassen. — 


108 Karl Buchheim 


Wenn Sybels Mitarbeit an der Kölnischen Zeitung nach dieser 
Kundgebung, wie erwähnt, eine Pause von über drei Jahren erlitt, 
80 liegt das natürlich daran, daß sich ihm seit 1848 jene politische 
Wirksamkeit in Kurhessen eröffnete, die einleitungsweise schon 
gestreift wurde. Er schrieb damals eine Reihe von Zeitungs- 
artikeln, aber nicht in der Kölnischen, sondern in der Neuen 
Hessischen Zeitung, dem Organ der konstitutionellen Partei 
im Lande. Erst als dieses Blatt wegen eines von Sybel verfaßten 
Aufsatzes in einen, allerdings siegreich durchgefochtenen Prozeß 
verwickelt wurde und bald darauf die Hassenpflugschen Sep- 
tember-Ordonnanzen von 1850 die Freiheit der Meinungsäußerung 
in Kurhessen unterbanden, ergab sich der Anlaß, wieder das große 
rheinische Blatt zum Sprachrohr zu nehmen. Demzufolge sind die 
Beiträge, die Sybel nunmehr für dieses verfaßte, zunächst Aus- 
läuferseinerkurhessischen Politik. Um socharakteristischer ist es, 
daß der Autor bald wieder auch in die prinzipiellen Gedanken- 
gänge seiner vormärzlichen Artikel einmündete und die Ver- 
teidigung des Staatsgedankens gegen feudalistische Reaktion 
von neuem in den Mittelpunkt stellte. 

Am 21. September 1850 hatte Hassenpflug einen Beschluß 
des faktisch wiederhergestellten, von Preußen aber noch nicht 
anerkannten Frankfurter Bundestages herbeigeführt, worin dem 
kurhessischen Ministerium Bundeshilfe in Aussicht gestellt wurde, 
falls es der konstitutionellen Opposition des Landes nicht Herr 
werden könnte. Seit Anfang des Monats war der Landtag auf- 
gelöst, hatte aber vorher noch einen Steuerverweigerungsbeschluß 
gefaßt, der nicht nur von der Öffentlichen Meinung, sondern auch 
von den Verwaltungsbehórden und von den Gerichten Kur- 
hessens anerkannt wurde. Die am 23. erfolgte Veröffentlichung 
des Bundesbeschlusses machte geringen Eindruck, weil man in 
weiten Kreisen mit Bestimmtheit erwartete, die preuBische Re- 
gierung werde niemals eine Bundesexekution zugunsten Hassen- 
pflugs dulden. Dieser Erwartung gab auch die Kólnische 
Zeitung im Leitartikel ihrer Sonntagsnummer vom 29. Sep- 
tember Ausdruck. Die Redaktion begnügte sich im übrigen mit 
einigen verhältnismäßig knappen Bemerkungen, die lediglich 
als Rahmen für einen ,,soeben zukommenden Artikel aus Kur- 
hessen“ dienten, in der Weise, daB dieser den wesentlichen Inhalt 
des Ganzen ausmachte. Der Verfasser der Zuschrift war Sybel, 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 109 


und die Redaktion gab deshalb dem ganzen Leitartikel die 
Signatur S. Neben dieser stand als Datum: „Köln, 28. Sep- 
tember“, obwohl Sybel natürlich in Marburg und einige Tage 
früher geschrieben haben muß. Dieses Verfahren entsprach den 
Gepflogenheiten der Redaktion: sie übte die Praxis, wenn Auf- 
sätze auswärtiger Mitarbeiter als Leitartikel Verwendung fan- 
den, regelmäßig die Originaldatierungen zu streichen und den 
Vortag der betr. Nummer neben der Ortsbezeichnung Köln ein- 
zusetzen, so daß solche Arbeiten von den redaktionellen Leit- 
aufsätzen nicht zu unterscheiden waren. 


Zehn Tage später traf eine zweite Korrespondenz von Sybel 
ein und wurde von der Redaktion genau so behandelt, also 
wieder in redaktioneller Umrahmung als Kölner Leitartikel ver- 
öffentlicht (Nr. 242 am 9. Oktober). In den einleitenden Sätzen 
hieß es, daß Kurhessen zur Zeit neben Schleswig-Holstein der 
einzige hellstrahlende Stern am trüben Himmel der deutschen 
Politik sei. Bereits in der Sonntagsnummer vom 13. Oktober 
(Nr. 246) war Sybel mit einem dritten Leitaufsatz ,, Die Denk- 
schrift des Ministeriums Hassenpflug“ vertreten, zum 
ersten Male ohne redaktionelle Einführung. Dann folgten einige 
nicht an leitender Stelle verwendete Korrespondenzen, meist 
mit der Signatur S aus Kurhessen (Nr. 253, 256, 261) und ein 
paar Leitartikel, auf die wir noch zu sprechen kommen “. 


10 Eine vollständige Übersicht der von Sybel 1850 und 1851 in der Kölnischen 
Zeitung veröffentlichten Artikel kann, wie folgt, gegeben werden: 

1850 Nr. 284 vom 29. September, Leitartikel „Preußen und Kurhessen“, S Köln, 
28. September. 
Nr. 249 vom 9. Oktober, Leitartikel „Aus Kurhessen“, S Köln, 8. Oktober. 
Nr. 248 vom 10. Oktober. Ein der Angabe in DuMonts Honorarbuch ent- 
sprechender Artikel mit erkennbarer Signatur ist nicht auffindbar. Einen 
kurhessischen Bericht, wie er für Sybel in Betracht käme, enthält die Berliner 
Korrespondenz mit drei Sternen in der 2. Ausgabe der Nummer. Diese 
-Korrespondenz besteht aus zwei unzusammenhängenden Teilen, die vielleicht 
irrtümlich zusammengeschoben worden sein könnten. 
Nr. 246 vom 13. Oktober, Leitartikel „Die Denkschrift des Ministeriums 
Hassenpflug", S Köln, 12. Oktober. 
Nr. 288 vom 22. Oktober, 2. Ausg., S Aus Kurhessen, 19. Oktober. 
Nr. 256 vom 25. Oktober, 2. Ausg., S Aus Kurhessen, 22. Oktober. 
Nr. 261 vom 31. Oktober, 2. Ausg., S Aus Kurhessen, 28. Oktober. 
Nr. 288 vom 26. November, Leitartikel „Auch eine Parallele“, S Köln, 
25. November. 


110 | Karl Buchheim 


In den hier zunächst hervorgehobenen Aufsätzen vertrat Sybel 
den Rechtsstandpunkt auf Grund der kurhessischen Verfassung 
und der Verpflichtungen des Staates gegen die preußische Union, 
die das Ministerium Hassenpflug beide gröblich gebrochen habe. 
Anfangs waren Sybels Ausführungen in einem Tone gehalten, 
als handele es sich garnicht um einen politischen Konflikt, sondern 
geradezu um einen Kriminalfall. Nicht bloß die in Aussicht ge- 
stellte bewaffnete Intervention des Bundestages wurde als ganz 
ungesetzlich bezeichnet, sondern auch jeder Gedanke an einen 
schiedsrichterlichen Schritt, von welcher Seite er auch komme, 
rundweg abgelehnt. Es handele sich nicht, hieB es in dem Artikel 
vom 29. September, um rechtmäßige Meinungsverschiedenheiten 
zwischen Regierung und Landtag, sondern um das Verbrechen des 
Hochverrats an der kurhessischen Verfassung, begangen von dem 
leitenden Minister. Dagegen kónne nur das Mittel der Minister- 
anklage in Betracht kommen. Ein Schiedsgericht würde schon 
als solches eine Verhóhnung aller Rechtsbegriffe bedeuten, geradeso 
wie „wenn jemand, der eben den auf frischer Tat ertappten Dieb 
zum Kriminalgefängnis bringen läßt, eingeladen würde, seine 
‚verwickelte‘ Streitigkeit vor einem Schiedsgericht ‚schlichten‘ 
zu lassen". Am 9. Oktober wandte sich Sybel gegen die Kreuz- 
zeitung und andere konservative Blätter, die selber nicht leugnen 
könnten, daß Hassenpflug das Recht gebrochen habe, die sich 
aber dann kein Gewissen daraus machten, die Staatsstreichpolitik 
zu preisen, da sie sich gegen die,, Feinde“ der deutschen Monarchien 
und gegen die Vertreter des „französischen Konstitutionalismus“ 
richte. Sybel benutzte den Anlaß, um sich wiederum gegen den 


Nr. 298 vom 7. Dezember, Leitartikel ‚Österreich und Deutschland", S 
Kóln, 6. Dezember. 
Nr. 802 vom 18. Dezember, A Aus Kurhessen, 16. Dezember. 
1851 Nr. 8 vom 3. Januar Leitartikel „Unsere Zukunft", X Köln, 2. Januar. 
Nr. 9 vom 10. Januar, O Kassel und X Aus Kurhessen, 5. Januar. 
Nr. 85 vom 9. Februar, X Aus Kurhessen, 6. Februar. 
Nr. 59 vom 9. März, 2. Ausg., ( Kassel, 6. März. 
Nr. 188 vom 3. Juli, 2. Ausg., * Kassel, 30. Juni. 
Nr. 208 vom 24. August, 2. Ausg., * Marburg, 20. August. 
Der Wechsel in den Signaturen ist vermutlich vorgenommen worden, um die An- 
onymitát umso besser zu bewahren. Sybel hätte seinen Marburger Lehrstuhl sofort 
verloren und wäre in Haft genommen worden, wenn er als Verfasser dieser Artikel 
bekanntgeworden wäre. 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 111 


Grundsatz der Volkssouveränität zu erklären: Hessen kämpfe 
nicht für diese Theorie, sondern für seine legitime Verfassung, 
die doch eine gute deutsche Verfassung sei. Niemand mache 
dem Kurfürsten das Recht der Ministerernennung streitig, und 
niemand verlange von Hassenpflug, daß er zurücktrete, bloß weil 
er ein Mißtrauensvotum erhalten habe, sondern weil materielle — 
was offenbar wieder etwas áhnliches bedeuten soll wie kriminelle — 
Gründe zum Mißtrauen vorlägen. Wirkungsvoll stellte Sybel den 
kurhessischen Minister gewissermaBen auch als Verbrecher gegen 
seinen Fürsten hin, weil ein Verfassungsbruch auch diesem den 
Rechtsboden entziehe: Hassenpflug habe den Kurfürsten vom 
legitimen Souverän zum revolutionären Gewaltherrscher er- 
niedrigt. Umgekehrt verteidigte Sybel am 13. Oktober die 
Rechtmäßigkeit der Haltung der kurhessischen Beamten, die 
Hassenpflug die Gefolgschaft versagt hatten, und die des Steuer- 
verweigerungsbeschlusses der Kammer. Nur krasse Unkenntnis 
könne behaupten, daß diese Entschließung die Existenz des 
Staates gefährdet habe. 

Für Sybel war dieser Kampf für „Recht“ und „Freiheit“ 
trotz der moralisch-kriminalistischen Wendungen, die er gegen 
Hassenpflug gebrauchte, dennoch ein rein politischer Kampf. 
Die kurhessische Verfassung war ihm keine moralische, sondern 
eine politische Errungenschaft, ein Phánomen der Staatsidee. 
Denn eine Verfassung ist eine Art Epiphanie des Staats- 
gedankens. Deswegen konnte sich ein politischer Mensch wie 
Sybel ebensosehr dafür begeistern, wie der unpolitische Friedrich 
Wilhelm IV., der feudalistisch-romantischen Ideen anhing, ob- 
wohl er Kónig von PreuBen war, das ,,Blatt Papier' zwischen 
König und Volk haBte. Sybels Interesse war an sich ganz über- 
wiegend auf den preuBischen Staat gerichtet, an Kurhessen 
lag ihm sehr wenig. Aber die Manifestation des Staatsgedankens, 
die in einer Verfassung liegt, erschien ihm immer als ein poli- 
tisches Gut, das Verteidigung verdiente. So war ihm der Kampf 
zum Schutze des „„ Rechtes“ in Kurhessen keine bloße Redens- 
art, obwohl er gleich darauf selbst einer gewaltsamen Lösung 
des Knotens das Wort redete. 

Die Korrespondenz S Aus Kurhessen, die in der Kölnischen 
Zeitung vom 31. Oktober 1850 erschien, gehört mit den Leit- 
artikeln „Auch eine Parallele“ (S Köln, Nr. 283 vom 26. No- 


112 Karl Buchheim 


vember), „Österreich und Deutschland“ (S Köln, Nr. 293 
vom 7. Dezember) und „Unsere Zukunft“ (X Köln, Nr. 3 
vom 3. Januar 1851) zusammen in eine Gruppe. Da im November 
1850 ein bewaffneter Konflikt zwischen Preußen und dem auf 
Österreich gestützten Bundestag bevorzustehen schien, so war 
die Möglichkeit einer gewaltsamen staatlichen Neuordnung 
Deutschlands in die Nähe gerückt. Sybel und seine Gesinnungs- 
genossen hofften einen Augenblick auf den Sieg einer auf die 
preußischen Waffen gestützten Revolution. Daher gab er am 
81. Oktober in der Kölnischen Zeitung die bis dahin bewahrte 
Haltung der Loyalität gegen den Kurfürsten von Hessen, in 
dessen Diensten er als Marburger Professor stand, preis und 
griff ihn mit harten Worten an: „Es ist ein trauriges Schauspiel, 
dieser Fürst, der, durch Parteileidenschaft und elende Ratgeber 
erniedrigt, das ihm anvertraute Land und die eigene Souveränität 
in blindem Eifer unter den Fußtritt der Fremden werfen möchte, 
auf die Gefahr hin, daß die hier entzündete Flamme Deutschland 
und Europa ergreife." Der Wortlaut läßt erkennen, daß Sybel 
selbst von Leidenschaft ergriffen war: die „Fremden“, unter 
deren „Fußtritt‘‘ der Kurfürst das Land „werfen“ wollte, waren 
ja keine Ausländer, sondern die Österreicher und Bayern. Der 
Kampf für das konstitutionelle Rechtin Kurhessen warnun vorbei; 
Sybel sah für die Zukunft des Landes nur noch eine Alternative: 
entweder wurde es eine Beute der demokratischen oder 
der preußischen Revolution. Unzweideutig schloß er den 
erwähnten Artikel mit folgendem Satze: „Neun Zehntel unseres 
Landes wären in ihren heißesten Wünschen dem Radikalismus 
überliefert, sobald Preußen die Usurpation duldete oder be- 
günstigte, in neun Zehnteln wäre die Demokratie vernichtet, 
sobald Preußen sein mächtiges Wort für die Errettung des Rech- 
tes einlegte.'' | 
Aber Preußen schreckte vor der revolutionären Rolle, die ihm 
zugedacht wurde, zurück. Die Hoffnungen begannen zu welken: 
die Olmützer Punktationen standen unmittelbar bevor. -Da 
wies Sybel am 26. November auf eine geschichtliche Parallele 
hin, an der sich die Leser der Kölnischen Zeitung trösten könn- 
ten. Es handelte sich um den Einfall, den Kurfürsten von Hessen 
mit Jakob Il. aus dem Hause Stuart zu vergleichen. Möglicher- 
weise verdankte ihn Sybel selber erst der Lektüre der Kölnischen 


- * * A T 
& — T ar 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 113 


Zeitung. Einige Wochen vorher hatte nämlich der Londoner 
Korrespondent Marquardsen einen Aufsatz zur kurhessischen 
Frage eingesandt, der ebenfalls als Leitartikel Verwendung ge- 
funden hatte (# Köln in Nr. 236). Dieser Autor schrieb öfters 
über innerdeutsche Angelegenheiten. Der erwähnte Artikel war 
„Schiedsgerichte“ überschrieben und ließ durchblicken, daß 
gegen den Wortbruch eines Fürsten, der sein Volk um die ver- 
fassungsmäßigen Rechte betrüge, keine Gerichtsbarkeit, sondern 
nur eine Revolution helfen könne. In diesem Zusammenhange 
hatte Marquardsen zuerst den Kurfürsten von Hessen mit Jakob 
Stuart verglichen, an dem die „glorreiche“ Revolution den 
„Schiedsspruch des Landes“ vollzog. Sybel spann nun die 
Parallele weiter aus. Er zeigte, wie unter den letzten Stuarts 
in England der Gegensatz zwischen Herrscher und Parlament 
schärfer und schärfer geworden sei, wie König Jakob selber eine 
Art Landesverrat getrieben habe, und wie das ganze Volk in 
allen seinen Parteien ratlos dagegen gewesen sei. Denn, man 
wollte zwar die politische Freiheit nicht verlieren, wünschte aber 
nach den trüben Erfahrungen mit dem independentischen Radi- 
kalismus auch keine revolutionäre Volkserhebung. Da fand sich 
der Befreier in Wilhelm III. von Oranien, der, wie besonders 
hervorgehoben wird, mit militärischer Macht nach England kam 
und dort den reaktionären Spuk zerblies. Sybel schloß mit einer 
ausdrücklichen Aufforderung an König Friedrich Wilhelm IV., 
sich zu entschließen, „der Oranier Preußens und Deutschlands 
zu werden“. Um die Parallele zu vervollständigen, wies der 
Verfasser noch darauf hin, welches Interesse Frankreich einst 
an dem Bestande des Stuartthrones in England genommen 
habe. Wilhelm von Oranien habe aber nicht gewollt, „daß 
England unter dem Titel eines engen Bündnisses in franzósische 
Dienstbarkeit gerate". Das Unausgesprochene war leicht zu 
erraten: daß nämlich im Falle Kurhessens Österreich an die 
Stelle Frankreichs zu setzen wäre. 

Wir sahen bereits, daß Österreich in Sybels Augen nur noch 
eine fremde außerdeutsche Macht war. Mit dieser Behauptung 
begann er den Leitartikel vom 7. Dezember: ‚Seitdem das Haus 
Habsburg an der Spitze des Deutschen Reiches gestanden, hat 
über Deutschland ein nichtdeutsches Interesse regiert, ein In- 
teresse, welches für die nationalen Bedürfnisse des deutschen 

Bistor. Vierteljahrschrift. Bd.?6, H. 1. 


114 Karl Buchheim 


Volkes kein Bewußtsein hatte, sondern, nach europäischen Ge- 
sichtspunkten dynastische Zwecke verfolgte.“ Ein solches Urteil 
ist ohne Zweifel ungerecht, und die geschichtlichen Beispiele, 
die Sybel anführt, kónnen darum auch nicht überzeugen. Er 
wollte selber nicht leugnen, daß Österreich jahrhundertelang 
mit Recht „Mehrer des Reiches“ genannt worden sei, aber es 
habe nur seine Hausmacht und mit dieser hóchstens indirekt 
das Reich verteidigt. Österreichs konsequenten Widerstand 
gegen Frankreich in den Revolutionskriegen, der in bemerkens- 
wertem Gegensatze zu der frühzeitigen Neutralität Preußens 
steht, wollte er nicht hoch bewerten. Daß Friedrich der Große 
ein Feind des Reiches gewesen sei, flel nicht ins Gewicht dagegen, 
daB er den wahren Anfang eines deutschen Staatswesens be- 
deute.— Soweit war der Artikel rein aggressiv gegen Österreich 
gehalten. Charakteristisch ist aber nun, daB das Urteil weit 
positiver wurde, sowie Sybel auf die eigenstaatliche Leistung 
Österreichs zu sprechen kam. Ob die Habsburgermonarchie 
als ein deutscher, magyarischer oder slawischer Staat anzusehen 
gei, erklárte er für eine müBige Frage; denn sie sei in Wahrheit 
einfach ein kaiserlicher Staat, der alle Nationalinteressen dem 
gesamtstaatlichen unterordne. Dieser politischen Leistung konnte 
ein Publizist wie Sybel seine Anerkennung niemals versagen, und 
S0 bekam der Artikel folgende den Kaiserstaat positiv würdigende 
SchluBwendung: ,Man macht es niemandem zum Vorwurf, 
wenn er weiter existieren will; wir finden es menschlich, begreif- 
lich und notwendig, daß das Haus Österreich solange als möglich 
auf seiner Politik beharrt, deren Aufgeben eine Verwandlung 
seiner selbst wäre. Aber man richte auch gegen uns keine An- 
klage, weil wir die vorhandenen Tatsachen aussprechen und 
ihnen gegenüber auch für uns das Recht des Daseins in Anspruch 
nehmen. Dem übrigen Europa gegenüber gibt es für Deutsch- 
land keinen besseren Verbündeten als Österreich und umgekehrt. 
Aber jede Einmischung Österreichs in die inneren deutschen An- 
gelegenheiten ist Deutschlands nationaler und politischer Tod. — 
Mit diesen Sátzen stehen wir am Programm der Herren von Ga- 
gern und von Radowitz, und wahrlich, es wird nicht eher Friede 
in Mitteleuropa sein, als bis es verwirklicht und Österreich 
ebenso damit ausgesóhnt ist, wie es den Verlust Schlesiens, 
Belgiens und des deutschen Zollvereins zu ertragen gelernt hat.“ 


—————————MM——— — —— — 


Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 115 


Wenn Sybel so die politische Leistung Österreichs als sölche 
anerkannte, so war es die mangelhafte Entwicklung des po- 
litischen Bewußtseins, die er an Preußen feststellen und be- 
klagen zu müssen glaubte. In Preußen, meinte er am 3. Januar 
1851, könne nichts anderes kommen, als was sich in Kurhessen 
schon vollendet habe: der Triumph der feudalen und hierarchi- 


schen Prinzipien über die Politik! Preußen sei seinem Berufe 


nicht nachgekommen und habe Recht und Freiheit in Hessen 
nicht geschützt. Mit der hessischen Verfassung war auch das 
Staatsdienergesetz zertrümmert worden, und zu den Besiegten 
gehórte auch die hessische Bürokratie, die berufsmáBige Trügerin 
staatlichen Wesens. Zu Hassenpflug hátten nur die Ritterbürti- 
gen und, in stattlicher Zahl, die geistlichen Herren gehalten. 
Sie hätten nun in Hessen erreicht, was die Umstände in Preußen 
bisher noch nicht zu realisieren erlaubten, was aber nun unver- 
meidlich auch dort eintreten müsse: „Was die ‚Neue Preußische 
Zeitung‘ so unendlich oft gepredigt: zu brechen sei der Stolz der 
eigensinnigen, bürgerlichen und religionslosen Emporkömmlinge, 
die vom grünen Tische her Volk und Adel, Königtum und Kirche 
in ihr Schlepptau gerissen, — es scheint den hessischen Partei- 
genossen auf das vollständigste gelungen." Wie vor Jahren 
schon wies Sybel erneut auf das Beispiel des englischen Adels 
hin, der sich mit gesetzlichem und öffentlichem, also mit poli- 
tischem Geiste erfüllt und dadurch in der Macht erhalten habe. 
In vollendetem Gegensatz dazu schien ihm wiederum die un- 
endliche Borniertheit der deutschen Feudalen adeligen wie geist- 
lichen Standes zu stehen, die sich dem politischen Geiste ab- 
sichtlich verschlössen und sogar den Monarchen von ihm ab- 
zögen, indem sie vorgäben, die Natur seines Amtes sei es, der 
erste Edelmann und der oberste Bischof des Landes zu sein. 
Mit der größten Verzweiflung mußte es Sybel erfüllen, daß 
der König von Preußen offenkundig die hierarchisch-feudalen 
Anschauungen begünstigte und im Gegensatz zu seinen Vor- 
fahren kein Verständnis für die politische Aufgabe des 
Königtums zeigte. Diese schmerzliche Feststellung enthielt, 
durch Sperrdruck hervorgehoben, der Satz: „Wahrlich, ein 
größeres Unheil kann Deutschland nicht treffen, als wenn 
die Monarchie diese traurige Solidarität weiter auf sich lasten 
láBt.'*. ! : | 7 ; | l 
8* 


116 Karl Buchheim: Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 


Als Folge der endgültigen Verwirklichung des „christlich- 
germanischen“ Prinzips und der Vernichtung des politischen 
Geistes prophezeite Sybel eine vollständige sittliche Zersetzung, 
die er im Schlußabschnitt seines letzten Leitaufsatzes des näheren 
ausmalte. Den Gewinn werde schließlich einzig und allein der rote 
Umsturz einheimsen: „Der Radikalismus wird sich des Schauspiels 
freuen, wie konservative Politik gemacht wird, wenn Ehrgefühl, 
National- und Rechtssinn im Volke zu Staub zerrieben sind !'* 

Auf einige kurhessische Korrespondenzen, die Sybel zwischen 
und vor allem auch nach den erwähnten Artikeln noch schrieb, 
brauchen wir kaum einzugehen. Sie beschäftigen sich mit 
Einzelheiten: Einige bekämpfen z. B. den von Hassenpflug nach 
Marburg berufenen Staatsrechtslehrer Leopold Ilse, einen poli- 
tisch. schwankenden Charakter, der Sybel persónlich wider- 
wärtig war. Ein Kasseler Brief (Nr. 59, 2. Ausgabe vom 9. März 
1851, Signatur (2) enthält eine Besprechung des Buches des 
ehemaligen Redakteurs der Neuen Hessischen Zeitung, Dr.Pfaff: 
„Das Trauerspiel in Kurhessen“ und rekapituliert einiges Prin- 
zipielle, das Sybel früher gesagt hatte. Der letzte Beitrag ist 
eine ganz kurze Marburger Korrespondenz (mit einem schiefen 
Kreuz in der 2. Ausgabe der Nr. 203 vom 24. August 1851), 
worin ein Gerücht dementiert wird, daß Sybel einen Ruf nach 
Bonn erhalten habe. In der ersten Ausgabe derselben Nummer 
hatte die Redaktion eine Erklärung an der Spitze des Blattes 
eingerückt, daß sie ihre bisherige Opposition gegen die preußische 
Machthaber einstellen wolle, weil sie sonst die Existenz der Zei- 
tung aufs Spiel setze. An die auswärtigen Mitarbeiter erging 
folgende Anweisung: „Wir ersuchen unsere Herren Korresponden- 
ten in Preußen und in Deutschland, sich soviel wie möglich auf 
genaue Angaben der Tatsachen zu beschränken und sich alles 
Raisonnements, das mißliebig werden könnte, zu enthalten." Für 
Sybel verlor damit die Tätigkeit für die Kölnische Zeitung ihren 
Sinn, und es ist nur natürlich, wenn DuMonts Honorarbuch keine 
weiteren Beiträge von ihm verzeichnet. Er hatte im Dezember 1850 
dreißig Taler Honorar ausgezahlt bekommen; zu Neujahr 1852 
schickte ihm der Verleger weitere zwanzig für die Korrespondenzen 
des letztvergangenen Jahres. Sybel hatte sich unterdessen aus- 
schließlich wissenschaftlicher Tätigkeit zugewandt, in erster Linie 
bekanntlich den Quellenstudien über die französische Revolution. 


— — —— — «LI m — — — 


117 


Bismarcks Friedenspolitik 
und der Machtverfall Deutschlands. 


Eine kritische Betrachtung 
von 


Richard Moeller. 
Fortsetzung.) 


Will Noack auf Fehler der Bismarckschen Außenpolitik, 
also auf eine tragische Schuld, die noch dadurch verstärkt und 
unausweichlicher wird, daß die Außenpolitik zuletzt durch die 

terung des ganzen Bismarckischen Staates bedingt sein 
soll, den deutschen Niedergang und Zusammenbruch zurück- 
führen, so wird man, auch wenn man die Ergebnisse der Noack- 
schen Betrachtungen und Konstruktionen für von Grund auf 
verfehlt ansieht, doch aufs stärkste den tragischen Zug in der 
Bismarckschen Außenpolitik betonen müssen! 

Die beiden größten von ihm entworfenen außenpolitischen 
Konzeptionen sind Bismarck mißlungen! Er hat, trotz jahre- 
langer Bemühungen, die bis stark an die Grenze einer für Deutsch- 
land noch ehrenvollen Politik gingen, es nicht erreicht, Frankreich 
mit dem Zustande nach dem deutsch-französischen Kriege aus- 
zusöhnen. Mit einer Großzügigkeit, der so leicht nichts in der 
Weltgeschichte an die Seite zu stellen ist, hat er Frankreich auf 
dem ganzen Erdenrund Entgegenkommen und Kompensationen 
versprochen und verschafft, in der Hoffnung, daß es nun auf- 
hören werde, auf seine Ostgrenze, auf die „verlorenen Provinzen‘ 
zu starren. Frankreich verdankt seine moderne koloniale 
Stellung in Afrika, in Asien dieser Bismarckschen Politik der 
Ablenkung; aber diese Politik ist restlos gescheitert! 

Noch tragischer ist aber das Mißlingen der anderen Aktion, 
die in die engsten Kreise der Bismarckschen Außenpolitik ein- 


118 Richard Moeller 


schneidet; das Mißlingen des Versuches, das freundschaftliche 
oder nur auskömmlich-nachbarliche Verhältnis derbeiden anderen 
kontinentalen Kaisermächte aufrechtzuerhalten! An dem eigenen 
Bundesgenossen, der Kurzsichtigkeit und Hartköpfigkeit, der 
Mischung von Fortwurstelei, mißtrauischem Nichtmitspielen- 
wollen und trotzdem Überalldabeiseinwollen, an der Intriguen- 
sucht althergebrachter österreichischer Staatskunst, die in 
Kaiser Franz Joseph ohne Zweifel einen noch bei weitem starreren 
Vertreter fand als in Kalnoky, ist Bismarcks Kontinentalpolitik 
zuletzt gescheitert, besonders tragisch, da er den rechten Weg 
sah und dem Bundesgenossen zu zeigen nicht ermüdete und doch 
nicht die Kraft besaß, mit dem ganzen Register von der freund- 
lichen Zurede über die beschwörende Warnung bis zum herben 
Vorwurf und zum eisigen Wasserstrahl hin Eindruck auf die 
Österreicher zu machen! 

Irgendwie hat man in Wien immer gewußt, daß man am 
längeren Hebel saß, daß Deutschland auch ein noch so verkehrt 
auftretendes und handelndes Österreich nicht aufgeben, nicht 
fallen lassen könne! Und Bismarck hat das auch selbst gewußt: 
daß er Österreich als Großmacht nicht entbehren könne und 
daß Österreich das wisse! Von Zeit zu Zeit zerrt er an diesen 
Fesseln, denkt darüber nach, ob er sie nicht doch abwerfen, 
Österreich seinem selbst heraufbeschworenen Schicksale über- 
lassen solle. Waldersee, Noacks Kronzeuge für den gemein- 
schaftlichen Krieg gegen Rußland, hat sich bis zu diesem Ge- 
danken der Preisgabe Österreichs „durchgerungen“, Bismarck 
hat ihn immer wieder verworfen — weil im selben Augenblick 
Deutschland isoliert oder auf das hochmütig-tatarische Wohl- 
wollen Rußlands angewiesen wäre. Bismarck läuft Österreich 
nicht nach; dafür gibt es eine Grenze! Aber er sieht sich ge- 
zwungen, auch der verkehrten Richtung Österreichs einen Rück- 
halt zu geben, nicht durch Deutschland selbst, aber durch eine 
andere Kombination, die wiederum er selbst schaffen muß. 
Denn Österreich ist wie ein verzogenes Kind; es stürzt sich 
eigensinnig in Gefahren, deren Größe es nicht einmal sieht, 
ohne sich im geringsten zu sichern; es tut selbst nichts, sondern 
verläßt sich in jeder Beziehung auf seinen mächtigen Beschützer! 

Gewiß leidet Bismarcks Größe nicht im geringsten an diesen 
Mißerfolgen! Er scheitert — wenn man das überhaupt sagen 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 119 


darf; denn er ist ja nicht daran „gescheitert‘‘— an Verhältnissen, 
die stärker sind als der stärkste einzelne; aber seine Größe wird 
dadurch so tragisch, wie nur seine nächsten und vertrautesten 
Mitarbeiter es empfunden haben, wie es aber in der geschicht- 
lichen Betrachtung noch kaum zum Ausdruck gekommen ist! 


Er wird deswegen noch kein Donquixote einer undurchführ- 
baren Politik! Er begnügt sich, da er sieht, daß er das größte 
nicht erreichen kann, mit dem möglichen, und leistet darin 
vielleicht das Genialste. Er baut sein System von Aushilfen auf, 
das im Jahre 1887 in dem Rückversicherungsvertrag auf der 
einen, in der Bildung der „Orientgruppe“ auf der anderen Seite 
gipfelt ! | Ä 

In diesem „System von Aushilfen“ sieht Noack nichts al 
die verhängnisvolle Folge der verkehrten Politik, die große Ab- 
rechnung mit Rußland nicht zu wollen, Deutschland den Frieden 
zu erhalten, der doch nicht erhalten bleiben konnte. 


Und da er nun doch nicht einen Bismarck konstruieren kann, 
der gänzlich blind gegen die Wirklichkeit ist, zeigt er dafür einen 
Bismarck des Schwankens und Zickzackkurses!, einen Bismarck, 
der von Zeit zu Zeit lichte Momente hat und dann auch einen 
Anlauf nimmt, um aus dem Kreise, in den er sich selbst verstrickt 
hat, herauszukommen, aber dann doch wieder zu sehr verblendet 
ist, um den Weg zu finden, der so greifbar nahe vor ihm zu 
liegen scheint. 

Dadurch werten sich alle Werte um. Bismarck wird ein 
schwankender Politiker, schwankend zwischen zwei in sich 
geschlossenen Ideen, der russischen, die bewußt auf die russische 
Durchdringung des Balkan und mittelbar auf die Zertrümmerung 
Österreich-Ungarns ausging, und der englisch-österreichischen 
der Niederhaltung RuBlands, allerdings mehr von England, vor 
allem von Churchill, getragen, als von Kalnoky, der „gegenüber 
Bismarck stets nur zuviel Nachgiebigkeit“ zeigte“. „Der Ge- 
danke einer Entente zwischen England, Österreich und Italien 
war im Grunde doch eine Idee Churchills®.‘‘ Bismarck aber — 
man hóre und staune! — ,,vollzog in seinem Friedenssystem eine 
Verbindung der Ideen Churchills, wie sie... in der Mittelmeer- 


! Vgl. Noack SS. 249, 256, 282, 289, 347 etc. * Noack S. 277. ® Noack S. 
2831. | 


120 Richard Moeller 


entente... zum Ausdruck kamen, mit den Ideen Schuwalows, 
wenn man die Meerengenpläne RuBlands so bezeichnen will“.“ 

Eine kühne Umwertung aller Werte! Die europäischen 
Kabinette und Staatsmänner seiner Zeit haben ohne Ausnahme 
in dem deutschen Kanzler, der alle Marionetten Europas an 
seiner Hand tanzen lieB, den Hexenmeister gesehen, der alles 
tun, alles lassen kónne; ja, einer seiner vertrautesten Mitarbeiter 
spricht einmal von einer „von einem Vater und zwei Söhnen 
ausgeübten Weltherrschaft |5'' 

Jetzt erfahren wir erst von dem KompromiBler, der sich aus 
fremden Ideen mühsam eine schwächliche, noch dazu in ihren Aus- 
Wirkungen katastrophale „Friedenspolitik“ zusammenklaubte. 
Da ist es denn kein Wunder, daß von diplomatischen Erfolgen 
dieser Politik nicht die Rede sein kann, sondern daß sie von 
Mißerfolg zu Mißerfolg schreitet und der eigenen Linie überdies 
entbehrt, meist in Rußlands Fahrwasser segelt. 

Ich habe stark hervorgehoben, daß die Außenpolitik Bismarcks 
ihr höchstes Ziel, die Verständigung Rußlands und Österreichs 
über den Balkan, nicht erreicht habe, weil der Bundesgenosse 
sich versagte, und insofern tragisch geblieben ist. Immer wieder 
rollte der Stein herunter, bevor er den Gipfel erreicht hatte. 
Aus der Einsicht heraus, daß die Drei-Kaiser-Entente nicht 
mehr erhalten bleiben kónne, auch nicht mehr auf dem Papier, 
seitdem Kalnoky im November 1886 unter magyarischem Ein- 
fluB in den Delegationen seine drohende Rede gegen RuBland 
gehalten hatte, hat Bismarck nicht im Ziel, aber im Weg eine 
Schwenkung vollzogen; der Sonderabschluß des Vertrages 
zwischen Deutschland und Rußland sollte die gleiche Wirkung 
haben, als ob die Drei-Kaiser-Entente noch bestünde®. 

Auch diese Schwenkung ist also keine Veränderung der 
Politik, sondern lediglich der Taktik. 

Und so ist selbst der Abschluß des deutsch-österreichischen 
Bündnisses im Jahre 1879 keine politische Schwenkung im Sinn 
einer Abwendung von Rußland gewesen, sondern — abgesehen 
von dem ausgesprochenen Zweck, Österreich gegen ein aggressives 


* Noack 8.808. 5 Schweinitz II, S. 282. 
* Vgl. Bericht Bismarcks an Kaiser Wilhelm I. v. 28. Juli 87, G. P. Bd. V, 
S. 267. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 121 


Rußland zu schützen und in seiner Großmachtstellung zu er- 
halten — ein taktisches Mittel, um aus dem aggressiven Rußland 
wiederum ein friedliches und zum Anschluß an die beiden anderen 
Kaisermächte wieder geneigtes Rußland zu machen?! Wie die 
nachbismarckische Politik daran gescheitert ist, daß sie die 
Friedensliga, den Dreibund als ein isoliert zu handhabendes 
Mittel deutscher Politik ansah, ist früher bereits betont worden. 
Auch Noack hat den doppelseitigen Charakter des Zweibundes, 
seine notwendige Ergänzung, sei es durch ein dreiseitiges Drei- 
kaiserverhältnis, sei es durch ein deutsch-russisches Sonder- 
verhältnis, gar nicht erkannt. Die Rückversicherung ist ihm 
eine „innere Unmöglichkeit‘‘®. Gegen Rußland hätte es für ein 
zielbewußtes Deutschland, wenn wir ihm glauben sollen, nur 
eine Antwort gegeben: „Festigung des deutsch-österreichischen 
Zweibundes und Ausbau des Dreibundes'.“ 


So sieht Noack Bismarck in den Fesseln des russischen Macht- 
willens schon 1881, z.Zt. der Erneuerung des Drei-Kaiser- 
Verhältnisses. 

Er sieht in diesem Dreikaiserverhältnis einen außerordentlich 
geschickten Schachzug Rußlands, um Österreich auf dem Balkan 
lahmzulegen. Da man Deutschland nicht von Österreich trennen 
konnte, „gedachte man die ganze Kombination zur Festigung 
der russischen Stellung auf dem Balkan zu benutzen, indem man 
durch Deutschland der österreichischen Politik eine antienglische 
Stellungnahme aufzwingen wollte, wodurch es von Englands 
Orientpolitik getrennt und in seinen Balkanbestrebungen isoliert 
werden konnte. Konnte man Österreich nicht mit Hilfe Deutsch- 
lands vernichten, so wollte man es wenigstens durch die Freund- 
schaft mit Deutschland lahmlegen!?.'' 


Es ist wirklich schwer, sich vorzustellen, daß die Tatsachen 
noch mehr auf den Kopf gestellt werden könnten! 


Die Wiederannäherung Rußlands an Deutschland und Öster- 
reich ist der stärkste Erfolg des deutsch-österreichischen Bünd- 
nisses, ein Erfolg, auf den Bismarck außerordentlich stolz 
gewesen ist. Saburow, der russische Botschafter in Berlin, ist 
in den Verhandlungen, die zur Wiederherstellung der Drei- 


Von Noack S. 105 richtig erkannt, nur ohne die richtigen Folgerungen daraus. 
* Noack S. 290ff. ® Noack S. 297. 1* Noack S. 108. 


P4 


122 Richard Moeller 


kaiserentente führten, kaum etwas anderes wie Bismarcks 
„Organ“ Ii gewesen, und Bismarck hatte völlig Recht, die von 
ihm angeregten und von Saburow aufgenommenen Verhandlungen 
mit Petersburg als „meine diplomatische Kampagne“ : zu be- 
zeichnen! 


Die Konstruktion Noacks, daß Rußland auf diesem Wege 
Österreich von der englischen Orient politik lösen und so auf 
dem Balkan isolieren wollte, paßt zu der tatsächlichen Lage 
des Herbstes und Winters 1880 überhaupt wie die Faust aufs 
Auge. Noack, der ein ganzes Kapitel!“ dazu benutzt, um Eng- 
lands heißes Liebeswerben aus dem Jahre 1879 um ein Bündnis 
mit Deutschland gegen Rußland darzustellen, berührt den inner- 
politischen Umschwung durch die Frühjahrswahlen von 1880 und 
die durch sie völlig veränderte außenpolitische Situation Englands 
mit keinem Wort. Alles, was nicht in seine Konstruktion paßt, 
läßt er unter den Tisch fallen oder trägt es — was fast noch 
bedenklicher erscheinen muß — nachträglich!“ und ohne Zu- 
sammenhang mit seinen Konstruktionen nach — eine Methode, 
die an wichtigsten Stellen immer wieder angewandt wird und 
doch fast schon an Quellenverfülschung grenzt! Unter dem 
Gladstoneschen Regime ist nun bekanntlich eine auBerordentlich 
starke Verstimmung zwischen Österreich und England ein- 
getreten, so daß es nicht mehr nötig war, England und Österreich 
voneinander zu trennen; geht doch Gladstone vorübergehend 
darauf aus, seinerseits mit RuBland zu einer einseitigen Lósung 
der türkisch-orientalischen Frage ohne und vielleicht sogar 
gegen Österreich sich zu verstündigen!5] 


Die Noacksche Konstruktion eines durch die Erneuerung 
des Dreikaiserverháltnisses zugunsten Rußlands gefesselten 
Österreich ist somit total verkehrt — im Gegenteil: die Wieder- 
gewinnung RuBlands für die Mittelmächte bedeutet nicht nur 
ein Aufhóren der russischen Bedrohung Österreichs, sondern 
auch den Verzicht Rußlands darauf, ohne und gegen Österreich 


11 Vgl. G. P. Bd. III, S. 162. !* Vgl. G. P. Bd. III. S. 162. 

18 Noack S.80ff. Vgl. jetzt auch Horst Michael, Bismarck, England und Europa, 
S. 406ff, wo eine scharfe Ablehnung der Nockschen Theorien erfolgt; ich konnte 
dio Darstellung Michaels im übrigen nicht mehr benutzen. 

M In diesem Fall S. 112ff. 

18 Vgl. Instruktion v. 7. XI. 1880, G. P. Bd. IV, S. 18. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 123 


im Einvernehmen mit England die Orientpolitik zu betreiben. 
Nicht England und Österreich, sondern England und Rußland 
sind durch die Erneuerung der Dreikaiserentente voneinander 
gelöst worden! 


Gab die Wiederannäherung RuBlands an die Zentralmächte, 
der Vertrag, der jede Veränderung im status quo der europäischen 
Türkei vor der Übereinstimmung der drei „Höfe“ abhängig 
machte, der Österreich seine Stellung in Bosnien und der Herze- 
gowina sowie im Sandschak sicherte und als Zugeständnis für 
Rußland nur die Vereinigung von Bulgarien und Rumälien, 
„si cette question venait à surgir par la force des choses“ !“, 
vorsah, dem Bündnisabschluß von 1879 die stärkste Auswirkung, 
so sieht freilich Noack in dieser Erneuerung keineswegs einen 
Gewinn für Österreich. „Für Österreich war es kein Gewinn, 
wenn Rußland versprach, daB keine Veränderung auf dem 
Balkan ohne Zustimmung Österreichs sich vollziehen dürfe. 
Wichtiger als das Recht, hierbei mitzureden, was sich bei Öster- 
reichs Machtstellung von selbst verstand, wäre es für Österreich 
gewesen, eine Sicherheit dafür zu bekommen, daB bei solchen 
Veränderungen Rußland nicht oder doch möglichst wenig mit- 
zureden hätte!?.‘ 


Noack macht sich die antirussische Politik Andrassys zu 
eigen!®, die doch aber darin bestand, die Stellung der Türkei 
möglichst zu erhalten. Ist nicht aber der Vertrag, der jede 
Veränderung des status quo an die Zustimmung der beiden 
deutschen Mächte bindet, gleichbedeutend mit der Möglichkeit, 
den Zeitpunkt möglichst weit hinauszuschieben, an dem die 
türkische Erbschaft liquidiert werden sollte? Bismarck hat sich 
Andrassys Orientpolitik niemals zu eigen gemacht. Ihm liegt 
die Lösung näher, die Gegensätze der großen europäischen 
Mächte auf Kosten der Türkei und auch auf Kosten der Selb- 
ständigkeit der kleinen schon befreiten Balkanvölker zum 
Ausgleich — freilich nicht unter Aufhebung der Rivalität — 
zu bringen. 

Und so ist ihm der Gedanke, Rußlands Einfluß aus der 
Balkansphäre gänzlich zurückzudrängen, allerdings niemals 
Fekommen: In Wirklichkeit ist ja auch die Konstruktion der 


* Die Verträge i in G. P. Bd. III, S. 176fl. 17 Noack S. 112. 18 Noack 8. 110. 


124 Richard Moeller 


österreichischen Monarchie, die die Mission übernimmt, bis 
ans Ägäische Meer heran, vielleicht bis Konstantinopel, ihr 
Reich vorzuschieben und alle Südslawen in sich zu vereinigen, 
eine reine historische Selbstbefriedigung. In der Tat hat auch 
die ausschweifendste österreichische Phantasie sich solche Bilder 
nicht zurechtgemacht. Wie hätten sie auch verwirklicht werden 
sollen, da Österreich doch schwerlich einen Genossen zu diesem 
Ziel hin hätte finden können? Noack stellt die Dinge stets so 
dar, als habe der Balkan, die Südslawen, die Türkei, aber auch 
Europa sehnsüchtig auf den Augenblick gewartet, an dem die 
Südslawen in die habsburgische Monarchie einverleibt werden 
konnten; und auch die Magyaren hätten ihren Herrschafts- 
anspruch über Kroatien aufgegeben, „sobald der westliche 
Balkan österreichisch geworden... Rußland in eine ungefährliche 
Ferne gerückt war“ und „Ungarn dann in einem Freihafen in 
Saloniki... eine hinreichende Kompensation für ein etwaiges 
Aufhören der unmittelbaren Zugehörigkeit Kroatiens zur 
Stephanskrone''!? fand. 

Andrassy, der imperalistischste und russenfeindlichste unter 
den Staatsmännern der Donaumonarchie, traute ihr doch nicht 
einmal die Kräfte zu, um die Annexion Bosniens und der Herze- 
gowina schon vollziehen zu können, für die es ein europäisches 
und ein russisches Plazet gab — ein Versäumnis, das sich ein 
Menschenalter später bitter gerächt hat. Wie sollte Österreich- 
Ungarn die Kraft haben, gegen jedermann den ganzen Westen 
der Balkanhalbinsel bis Saloniki hin sich zu assimilieren?®? 

Es paßt Noack in sein System, sich vorzustellen, als würden 
die Südslawen selbst diese staatsrechtlichen Veränderungen in 
einer Art von Betäubungszustand haben über sich ergehen lassen. 
Er übersieht völlig, wie in einer solchen, gegen Rußland durch- 
geführten ,,Befreiungs-", richtiger Annexionspolitik Rußland 
alle Mittel, Österreich das Leben zu erschweren, in seiner Hand 
gehabt hätte, wie es gleichmäßig nationale und religiöse Energien 
in allen Balkanländern gegen Österreich hätte mobilmachen 
können! 


1* Noack S. 110. 

3? Also auch gegen England, wo Gladstone gerade damals die Befreiung der 
kleinen christlichen Balkanvölker gegen den österreichischen Balkanimperialismus 
forderte? Vgl. Noack S. 118ff. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 125 


So ist denn auch der Plan, Rußland aus dem Balkan zurück- 
zutreiben und ein großes habsburgisches Balkanreich zu be- 
gründen, nichts als eine harmlose nachträgliche Geschichts- 
klitterung, der Haymerle, Kalnoky, Andrassy und der Kaiser 
Franz Joseph ebenso fern stehen wie sonst jemand! 


Für Bismarck, der mit Gegebenheiten rechnete, mußte es 
darauf ankommen, den wiedergeschlossenen Bund der drei 
Kaisermächte auch in Zukunft zu erhalten und, mit einer ge- 
wissen Erhaltung der Rivalität, doch einen Ausgleich der russischen 
und österreichischen Balkaninteressen zustandezubringen; aus 
diesem Bedürfnis der deutschen Politik heraus erklärt sich die 
jahrelang fortgesetzte und immer wieder BUgenommene „Demar- 
kationspolitik Bismarcks 

Es ist selbst verständlich, daß Noack in der Demarkations- 
politik, dem Versuch Bismarcks, Bulgarien der russischen, 
Serbien der österreichischen Interessensphäre zuzuweisen, eine 
Art von fixer Idee sieht, deren Gelingen unweigerlich zum Unheil 
für Österreich-Ungarn und Deutschland hätte ausschlagen 
müssen. Er ist entsetzt über Haymerle, den,, unseligen“ Haymerle, 
der unter dem Druck Bismarcks sogar zugegeben hatte, daß 
Rußland freie Hand im Nordosten der Halbinsel haben solle 
und „auf eine allmähliche Durchdringung der ganzen Halbinsel 
mit österreichischem Einfluß und Übergewicht ohnedies ver- 
zichtet hatte?!'', 

Wäre er nicht ein „sterbender Greis“ gewesen, „er würde 
dem Fürsten Bismarck eher den Zweibundsvertrag vor die 
FüBe geworfen haben, als gegen Pflicht und besseres Wissen 
seine Zustimmung zu einer ganz ephemeren Scheinverstándigung 
zu geben!“. Unsinn vom Anfang bis zum Ende. Weder war 
Haymerle ein sterbender Greis, noch das Zugestündnis, daß 
Österreich über die Okkupation des Sandschak nicht hinaus- 
gehen werde, irgendwie bedenklich für Österreich, das sich doch 
sogar unter Andrassy dem Sultan gegenüber verpflichtet hatte, 
die Okkupation Bosniens nicht in eine Annexion umzuwandeln. 


So fällt aber Noacks ganzer Zorn auf diesen unseligen öster- 
reichischen Staatsmann und auf den Abschluß des Vertrages 
von 1881, „bei dem man in aller Eile dem Zaren Geschenke 


31 Noack S. 125f. 33 Noack S. 128. 


126 | Richard Moeller 


darbrachte in der Form von Zusagen und Verzichten, als gelte 
es noch rasch vor Toresschluß seine Gnade sich zu sichern“. 

Nicht Haymerle war unselig, daß er den von seinem Nach- 
folger Kalnoky 1884 erneuerten Vertrag schloß, sondern Öster- 
reich war es, daß es in maßloser Überschätzung seiner Kräfte 
und Möglichkeiten von sich abwies, die Demarkationsvorschläge 
Bismarcks anzunehmen. 

Es ist selbstverständlich, daß Noack dieser Politik Österreichs 
von Herzen seine Zustimmung gibt. Der einzige Vorwurf, den 
er ihr macht, ist der, daß sie sich nicht rücksichtslos genug gegen 
Bismarck habe durchsetzen können, daß auch Kalnoky viel zu 
oft und zu sehr nachgegeben habe. 

Das Gegenteil ist richtig! Hätte Österreich, statt eine ziellose 
Politik des Sichüberalleinmischens zu treiben, sich entschlossen 
darauf beschränkt, seinen Einfluß in Serbien auszudehnen — 
was nur in Übereinstimmung mit Rußland geschehen konnte — 
dann hätte es wirklich die Möglichkeit gehabt, durch einen 
Umbau seines Reiches im föderativen Sinn das ganze Südslawen- 
tum an sich heranzuziehen — während Bulgarien doch niemals 
russische Provinz hätte werden können!“. 

Der ósterreichischen Politik fehlte es sowohl an dem richtigen 
Ergreifen des Augenblickes und des Möglichen (Annexion 
Bosniens und der Herzegowina, Sicherung der Einflußsphäre 
in Serbien durch Ausgleich mit RuBland) als auch an dem 
ruhigen Abwarten der sich weiter etwa anbahnenden Ent- 
wicklung im Schicksal der Türkei. Ángstliches MiBtrauen und 
überhebliches Vordrángen geben die widerwärtigste Mischung, 
die im 19. Jahrhundert in der Politik einer groBen Macht über- 
haupt zu finden ist. Qui trop embrasse, mal étreint! 

Und dabei lag die Situation gerade in den Jahren des Ab- 
schlusses der Dreikaiserentente für Österreich außerordentlich 
günstig. 1882 hat Bismarck das Bündnis mit Italien zustande- 
gebracht, fast möchte man sagen, gegen Österreich selbst, dessen 
fahrige Kreuz- und Quersprünge dabei die absonderlichsten 


23 Noack S. 130. Bismarcks Urteil über den Vertrag s. G. P. Bd. III, S. 173ff. 

. ^ Friedjung, Zeitalter des Imperialismus, Bd. I, S. 106, verteidigt die Politik 
Kalnokys gegen Bismarck. Bismarck habe die orientalischen Dinge nicht so über- 
sehen können wie ein in österreichischer Tradition aufgewachsener Staatsmann — 
eine Auffassung, die durch den Ausgang des Weltkrieges entwurzelt sein dürfte! 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 127 


Verzögerungen und Veränderungen hervorgerufen haben“. Wenn 
auch in der von Österreich besorgten Formulierung des Bünd- 
nisses“ der eigentliche Zweck, den Bismarck ihm geben wollte, 
nämlich Rückenfreiheit Österreichs gegen Italien bei einem 
russischen Angriff, nicht gedeckt ist — eine diplomatische Un- 
zulänglichkeit, von der Bismarck es richtig fand, sich im ganzen 
abzuschwören?? — so ist praktisch durch das Bündnis die öster- 
reichische Rückenfreiheit doch eingetreten. 

Auf der andern Seite ist der russische Minister Giers — sein 
Ministerium ist der größte Erfolg der Abkühlungspolitik Bis- 
marcks — Anhänger einer vorsichtigen und abwartenden Politik, 
die es nicht liebt, „schlafende Hunde zu wecken“. 

Bismarck möchte über das Bestehende hinauskommen. Der 
Vertrag von 1881 hat nicht eigentlich viel Leben gehabt — man 
müßte darüber hinauskommen, wirklich in einer Frage zum 
Ausgleich kommen — und so bedient sich Bismarck wieder des 
ehrgeizigen Saburow, um die Demarkation auf dem Balkan 
anzuregen oder wenigstens vorsichtig darüber zu sondieren. 
Aber Kalnoky lehnte solche „halsbrecherischen Pläne“ » mit 
Entsetzen ab. 

Bismarck läßt jedoch nicht ab, um die Seele des Bundes- 
genossen zu werben. In Gastein, wo er gerade mit Bratianu, dem 
führenden Staatsmann Rumäniens, über die Einbeziehung 
Rumäniens in die deutsche Friedensliga mit Erfolg verhandelt, 
entwirft er zugleich das große Programm einer künftigen deutsch- 
österreichischen Orientpolitik. Dieser Brief vom 8. September 
1883 gehört zu den großartigsten politischen Räsonnements, 
die Bismarck jemals entwickelt hat““ 

Er wirbt um den Bundesgenossen, wie er einst, im Herbst 1879, 
vor Abschluß des Bündnisses mit Österreich, um die Seele seines 


3$ Die Darstellung Pribrams, Die politischen Geheimverträge Üsterreich-Ungarns, 
Bd. I, S. 128ff ist vielfach schief und unzutreffend. Ich behalte mir vor, darauf zurück- 
zukommen. 

* Noack S. 135 gibt den Inhalt des Bündnisses als „gegenseitige Hülfe im 
Falle eines Angriffes von seiten einer vierten Macht“ vollkommen verkehrt wieder, 
eine Schludrigkeit, die man eigentlich nicht erwarten sollte! 

* Vgl. G. P. Bd. III, S. 247. 

39 Vgl. Bericht Schweinitz v. 30. III. 83, 6. P. Bd. III, n 288. 

?* Bericht Reuss v. 29. IV. 88, G. P. Bd. III, S. 289. 

G. P. Bd. III, S. 294f. 


128 Richard Moeller 


Königs geworben hat. Er entwirft das großartige Muster einer 
österreichischen Politik im nahen Orient, und es wird zugleich 
wieder, wie einst das „Kissinger Diktat“, zu einem Tableau der 
europäischen Politik und des europäischen Gleichgewichtes. 
Saburows Gedanken einer endgültigen Lösung der türkischen 
Frage dienen ihm als Grundlage; es sind ja seine eigenen Ge- 
danken! Gewiß, sie mögen noch unzeitgemäß sein, abgesehen 
davon, daß der russische Außenminister, jeder Bewegung abhold, 
sie nicht deckt. Tauchen aber in der europäischen Politik nicht 
noch ganz andere, noch unzeitgemäßere Gedanken auf, die eines 
Tages nach Verwirklichung drängen und diese Verwirklichung 
auch finden? Es ist Bismarcks Überzeugung, daß eines Tages, 
er mag früher oder später liegen, die orientalische Frage gelöst 
werden muß! Die Erhaltung der europäischen Türkei in ihrem 
gegenwärtigen Umfang ist ja nichts als die Folge der europäischen 
Verlogenheit und Feigheit, des,, Fortwurstelns"', das den ,,Fragen'' 
lieber aus dem Wege geht, statt sie zu lósen, das lieber hundert 
kleine Verlegenheiten statt einer groBen Notwendigkeit in Kauf 
nimmt. So sieht die Bismarcksche Realpolitik nicht aus. Im 
luftleeren Raum der Ideen arbeitet sie freilich nicht. Aber das 
Brausen der aufgestörten Balkanvölker, der innere und äußere 
Verfall der Türkei, der russische Nationalwille, der zu den Meer- 
engen hindrängt und dem sich auch ein vorsichtiger Außen- 
minister auf die Dauer nicht wird verschlieBen kónnen: das sind 
ja Tatsachen! 

Unreife Früchte vom Baume zu brechen wäre nicht Bis- 
marcksche Art. Solange der Bundesgenosse widerstrebt, läßt 
sich der gordische Knoten der orientalischen Frage nicht zer- 
hauen — aber hat er nicht selbst ein Interesse? Ist er nicht selbst 
lüstern, seine Großmachtstellung auszubauen? Und muß er 
nicht einsehen, daß dies nicht im Kampf gegen Rußland, sondern 
nur im Zusammenwirken mit Rußland möglich ist? 

Von diesen Grundlagen aus entwickelt Bismarck eine „mög- 
liche" ósterreichische Balkanpolitik. Die letzten Ziele dürfen 
allerdings nur angedeutet, nicht klar ausgesprochen werden. 
Kalnoky darf nicht glauben, daß Bismarck die russische statt 
der Österreichischen Karte spielen wolle; sonst wird sein ewig 
waches MiBtrauen alles verderben. Deshalb muß der Ausgangs- 
punkt auch die ósterreichische Stellungnahme sein. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 129 


Österreich will die Dreikaiserentente verlängern. Bismarck 
auch! Das gute Verhältnis der drei Kaiserhöfe mäßigt die 
unberechenbaren Kräfte und Spannungen Rußlands am sichersten. 
Aber diese Kräfte und Spannungen sind vorhanden; sie können 
eines Tages ausbrechen — und was wäre dann die Aufgabe der 
befreundeten und verbündeten deutschen Mächte? 

Wenn auch über die Berechtigung der russischen Bestrebungen 
nichts zu sagen ist — ein Politiker kann kein Richter sein, am 
wenigsten über fremde Völker zu Gericht sitzen — so sind sie 
doch da! Sollte es nicht das richtigste sein, ihnen freie Fahrt zu 
lassen? Sollten Deutschland und Österreich oder auch einer von 
beiden berufen sein, diesen Stoß aufzufangen und dadurch den 
ganzen russischen Haß auf sich zu ziehen? Sind nicht andere 
Mächte vorhanden, die ein näheres und dringenderes Interesse 
daran haben, die russischen Bäume nicht in den Himmel wachsen 
zu lassen ? 

Freilich würde es diesen, Rumänien, der Pforte, England sehr 
recht sein, wenn wir ihre Geschäfte besorgten, ihre Kriege 
führten! Sie würden sich gern von uns die Kastanien aus dem 
Feuer holen lassen — aber ist das unser Interesse? Rußlands 
Vordringen auf oder bis Konstantinopel hin ist für Rumänien 
und die Pforte, aber nicht minder für England noch bedenklicher 
als für die ósterreichisch-ungarischen Interessen! Wenn wir nur 
abwarten, werden sie den Widerstand aufnehmen müssen und 
unserer Hilfe bedürftig werden — wie wir der ihren, aber un- 
gewissen, wenn wir der Katze die Schelle umgehängt haben! 

Es ist schon die zweite Stufe einer echtbismarckschen 
„Klimax“, der wir hier begegnen, während die unveränderte 
Erneuerung der Dreikaiserentente und die Bewahrung des 
status quo die erste Stufe darstellt. Will Rußland einseitig den 
status quo verändern, so bricht es seinerseits den Frieden und 
muß zurückgedrückt werden — aber nicht von seinen bisherigen 
Freunden. Andere Mächte sind dazu berufen. Ihnen gebührt 
die Vorderhand im Spiele! Behalten Deutschland und Österreich 
ihren klaren Kopf, lassen sie sich nicht nervös machen und aus 
der Hinterhand herausmanóvrieren — wozu Österreichs Neigung, 
den Polizisten Europas in der Beaufsichtigung Rußlands zu 
Spielen, bedenklich tendiert — dann haben sie das Spiel in der 
Hand und können sich immer noch für oder gegen, für Rußland 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. i. 9 


130 Richard Moeller 


oder für England, entscheiden, mit ganz anderem politischen 
und strategischem Gewicht. Denn wenn Rußland durch Bulgarien 
vorwärtsgegangen ist, liegt es unter der Flankierung der sieben- 
bürgischen Position, in die es gar nicht hineingeht, wenn Öster- 
reich schon den ersten Stoß pariert. 


Aber eben diese strategische Lage läßt sich nicht nur im 
Kriege, sie läßt sich auch politisch im Frieden verwerten. Die 
dritte Stufe der Klimax erscheint! Zwar ist es möglich, russische 
VorstóBe auf den Bosporus und Konstantinopel durch das 
natürliche englische Gegengewicht unmöglich zu machen — 
wenn man nur England den Vortritt läßt; denn England kann 
nicht — trotz Gladstone — Konstantinopel und die Meerengen 
in russischen Händen dulden; es kann die Russen aus dieser 
Stellung weder vertreiben noch sich ein Äquivalent dafür 
sichern. Auch die dauernde Besetzung Ägyptens würde — das 
hat Salisbury seinerzeit Bismarck gegenüber ausgesprochen — 
kein Äquivalent für die russische Beherrschung Konstantinopels 
und der Meerengen sein. 


Bedeutet die russische Meerengenstellung aber auch für 
Österreich-Ungarn eine Lebensgefahr? In der vorgeschobenen 
Position würde Rußland dem Druck Österreich-Ungarns ganz 
anders ausgesetzt sein wie ohne sie und würde zu Kompensationen 
geneigt sein, die es für Österreich geben könnte, um so mehr, 
wenn es sich nicht Österreich allein, sondern Österreich im 
dauernden Bunde mit Deutschland gegenübersieht! 


Rußland und Österreich können sich auf dem Balkan ver- 
ständigen; und diese Verständigung wird um so mehr zu Öster- 
reichs Vorteil ausfallen, je mehr Rußland eine vorgeschobene 
Stellung einnimmt und je ruhiger Österreich dabei bleibt! 
Deutschland würde aber, ohne selbst territoriale Bedürfnisse 
und Begehrlichkeiten zu haben, jeder Art von Verständigung 
Österreichs und Rußlands als wohlwollender Nachbar beiwohnen 
und zustimmen können! 


Geht diese Verständigung und  Generalbereinigung der 
orientalischen Frage ohne Verschwörung gegen den Sultan vor 
sich — es wäre ja möglich, daß er freiwillig dem Zaren eine die 
Meerengen beherrschende feste Stellung einräumt — um so 
besser! Ist sie nur möglich ohne Rücksischt auf die Türkei — 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 131 


nun, so wäre die Verständigung der drei Kaisermächte immer 
noch nützlicher als irgendeine andere Lösung der Situation. 


Kann sich aber Österreich zu einer solchen Verständigung 
mit Rußland (dritte Stufe der Klimax) nicht entschließen, so 
darf es wenigstens nicht Rußland als erster in den Arm fallen 
und muß anderen Mächten den ersten Widerstand überlassen! 
Soweit der Inhalt des Schreibens. Auch Noack hat sich mit 
diesem Brief „von fundamentaler Bedeutung“ 1 eingehend be- 
schäftigt, aber er kommt zum Schluß, es sei in ihm, in der Uber- 
bewertung der englischen Orientinteressen, ein fundamentaler 
Rechenfehler und verhängnisvoller Irrtum enthalten, abgesehen 
von anderen inneren Widersprüchen“, und seine Ratschläge an 
Osterreich seien „im Grunde weder eindeutig, noch durch- 
sichtig“ “. 

Lauter völlig schiefe Fehlurteile! 

Noack druckt zwar wie immer erhebliche Stücke des Schreibens 
wörtlich ab, aber seinen Aufbau, seine klimaxartige Gliederung 
zu erkennen, hat er vielleicht gerade deshalb nicht einmal 
versucht. Er stellt „die bestechende Logik dieser Gedanken- 
gänge“ auf eine Ebene und will ihren fundamentalen Rechen- 
fehler dann sogar darin sehen, daß Englands Orientinteressen 
überbewertet seien; denn England habe an der Erhaltung der 
türkischen Herrschaft und selbst an Konstantinopel seit Anfang 
der 70er Jahre gar nicht mehr das alte traditionelle Interesse 
gehabt“. 

Das ist ohne Zweifel weit übertrieben% — aber selbst wenn 
man es als wahr unterstellte — wie sollte dadurch die Bismarcksche 
Politik in einen „verhängnisvollen“ Irrtum verstrickt werden? 


Fiel England als das Gegengewicht gegen Rußland aus — was 
bekanntlich nicht der Fall war, nicht einmal zur Zeit Gladstones— 
um go mehr erhält dann ja die dritte Stufe der Bismarckschen 
Vorschläge ihre Bedeutung, Österreich solle Rußland die Meer- 
engenstellung einräumen und sich seine Kompensation dafür 
sichern — denn allein, ohne England, konnte es den Vorstoß 
Rußlands auf Konstantinopel nur unter schwerstem Risiko 
aufhalten! 


21 Noack S. 147. ** Noack S.148. * Noack S. 150. “ Noack S. 149. 
*5 Vgl. auch Noack S. 281. 


132 Richard Moeller 


Wie kann man aber zur wirklichen Kenntnis und zum Ver- 
ständnis der Bismarckschen Politik gelangen, wenn man gar nicht 
den Versuch macht, in seine Gedankengänge einzudringen ? 


Es war die große Stunde Österreichs! Hätte Kalnoky sich 
bis zur Höhe Bismarcks erheben können, so konnte sich Österreich- 
Ungarn, von Rußland unangefochten, des deutschen Rückhaltes 
sicher, auf dem Balkan seine Großmachtstellung schaffen“; und 
es konnte sie innerlich durch die Durchführung des Trialismus 
verstärken — ja, es konnte dann ruhig abwarten, ob die kleineren 
Nachbarn, Bulgarien, Rumänien und Griechenland, ihre natür- 
liche Anlehnung auf die Dauer nicht eher bei Österreich als bei 
Rußland suchen mußten und gesucht hätten! 


Es ist Österreichs Tragik, daß seine Leitung zu solchen 
Konzeptionen weder fähig noch willens war; daß sie sich zu 
schwach fühlte, um, auch im Bunde mit Deutschland und im 
Ausgleich mit Rußland, sich weiter auf das Gebiet des Balkan 
zu wagen — aber stark genug, um Rußland aus dem Balkan zu 
verdrängen und so gewissermaßen hintenherum doch noch die 
Hegemonie auf der Halbinsel zu gewinnen. An dieser Über- 
spannung seiner Kräfte ist Österreich-Ungarn zugrunde ge- 
gangen, nicht daran, daß es im Zeitalter des Nationalstaates 
ein überlebtes Gebilde war — und weil das nachbismarckische 
Deutschland diese Überspannung deckte, ist auch das Bis- 
marcksche Reich zerbrochen. 


Übrigens hat Kalnoky trotz der angeblichen Unklarheit der 
Bismarckschen Vorschläge sie in ihrer siclı steigernden Gestuftheit 
durchaus richtig erkannt. Aber ihm ist es — es wird fort- 
gewurstelt — das bequemste und sicherste, bei der ersten Stufe, 
der einfachen Verlängerung des bisherigen Verhältnisses, stehen 
zu bleiben; ja, eigentlich geht ihm schon das zu weit, und er 
spielt nicht ungeschickt den gelegentlichen Bismarckschen 
Gedanken, auch die Türkei in die Friedensliga einzubeziehen, 
gegen Bismarck aus? Nur insoweit geht er auch auf die zweite 
Stufe der Bismarckschen Klimax ein, als auch er nicht der Katze 
die Schelle umhängen, sondern lieber etwaigen russischen Aus- 
brüchen freie Fahrt lassen will, bis sie auf andere Widerstände 


3* Vgl. G. u. E. II. S.291, wo die Möglichkeiten Österreichs breit ausgeführt sind. 
7 Bericht Reuss v. 12. Sept. 83, G. P. Bd. III, S. 298. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 133 


stoßen. Hier kommt die allgemeine Österreichische Lethargie, 
mehr noch die des Kaisers als die des Ministers, den Bismarck- 
schen Vorschlägen weit entgegen — eine Handlungsweise, die 
Noack von seinem ,,Plan'' aus Kalnoky als Schlappheit gegenüber 
Bismarck und Untreue an der österreichischen „Mission“ scharf 
anrechnet. „Es war eine Halbheit'', meint er, ‚daß man Serbien 
durch südöstliche Vergrößerungen von Bosnien und Kroatien 
glaubte ablenken zu können, statt danach zu streben, selber das 
ganze mazedonische Gebiet in die eigene Hand zu bekommen®®.‘‘ 


Der Bundesgenosse ist für die große Politik nicht zu gewinnen! 


Es ist nicht Bismarcksche Art, gegen die Wand anrennen zu 
wollen; er begnügt sich mit der ersten und der zweiten Stufe 
der Klimax, wenn das höchste Ziel nicht erreichbar erscheint; 
auch hat er seine Ideen so vorsichtig, fast möchte man sagen, 
so akademisch formuliert, sie nur als Möglichkeiten durch- 
scheinen lassen, als Grundlagen unverbindliche Vorschläge 
Saburows, von denen man kaum weiß, ob sie mehr als Privat- 
meinungen sind, gewählt, so daß er den diplomatischen Rückzug, 
wenn man es überhaupt Rückzug nennen will, ohne jede Schwie- 
rigkeit antreten kann?“. Auch er will sich mit der einfachen 
Verlängerung der bisherigen Entente begnügen, die Dinge weiter 
laufen lassen, wie sie in den letzten Jahren gelaufen sind — weiß 
er doch auch, daB weder Alexander III. noch Giers schlafende 
Hunde wecken wollen, daß das Ruhebedürfnis des amtlichen 
Rußland und des amtlichen Österreich stärker als alles andere 
ein plótzliches jähes Aufflammen der Gegensätze verhindern 
wird. Freilich weiß er aber auch, daß es nur eine Entente auf 
dem Papier bleiben wird, ein durch Paragraphen kaum ge- 
mildertes gegenseitiges MiBtrauen Rußlands und Österreichs 
gegeneinander, Spannungen und Friktionen an der diplomatischen 
Außenfront — denn die politische Aktivität pflegt in Rußland 
und in Österreich mit dem Quadrat der Entfernung von der 
Zentrale zuzunehmen — und zwischen beiden Mächten Deutsch- 
land mit der Aufgabe, beide an der Stange zu halten. Es mag 
glücken, solange weder auf russischer noch auf österreichischer 
Seite der Wille zur Entscheidung sich zusammenballt, solange 


** Noack S. 153. l 
® Bismarck an Reuss v. 15. IX. 83, G. P. Bd. III, S. 299f. 


134 Richard Moeller 


Kalnoky und Franz Joseph auf der einen, Giers und Alexander III. 
auf der anderen Seite den maBgebenden EinfluB haben — und 
wie er ihnen, den Monarchen, gegenüber das monarchische 
Interesse als eigentlichen Grund, Ziel und Wert des Zusammen- 
schlusses hervorhebt, das haben wir früher schon verfolgen 
kónnen, gegen das MiBverstehen Noacks auch hier. 


„Bismarcksche“ Politik ist dies Sichbescheiden freilich nicht, 
wenn wir nämlich unter Bismarckscher Politik das Streben zum 
Hóchsten begreifen wollen; aber es ist klar, daB es ebensowenig 
in der Bismarckschen Politik liegt, das Unmögliche möglich 
machen zu wollen. 


Ich nannte dies Versagen des Bundesgenossen, die Un- 
möglichkeit, ihn für das Höchsterrungene und zuletzt auch 
Notwendige zu gewinnen, das tragische Moment in Bismarcks 
Außenpolitik! Hätte Noack einen Sinn dafür gehabt, so würde 
er nicht in die Mißdeutung dieser Politik, als von „verhängnis- 
vollen Irrtümern“, „fundamentalen Rechenfehlern“ und „über- 
lebter Staatskunst“ bestimmt, verfallen sein — er hätte dann 
gerade im Unausweichlichen das Wesen des Tragischen gefunden, 
und zugleich in der Kunst, die Aushilfen zu finden, das tiefst- 
geniale der Bismarckschen Außenpolitik, nicht aber , Quadratur 
des Zirkels“, „innere Unmöglichkeit“, nicht „Doppelspiel“ und 
„Macchiavellismus der Friedenserhaltung“, nicht,, Kleistern und 
Flicken". Er hätte sich nicht bis zu dem Satz versteigen können: 
„Diesem Streben, das Reich zu erhalten und zu festigen, wohnte 
keine gestaltende Kraft inne, welche die politischen Gefahren 
jenseits der Reichsgrenzen wirklich bannte, indem sie sie be- 
meisterte und gerade aus ihnen Kräfte schópfte zu neuen Ge- 
staltungen politischen Lebens“.“ 

Noch jahrelang hat Bismarck es nicht aufgegeben, den Ge- 
danken des Ausgleichs, der Demarkation dem Bundesgenossen 
wieder und wieder nahezubringen. 

Es ist natürlich, daB Noack diese Politik nicht nur für ver- 
lorene Liebesmüh, sondern auch voll und ganz Kalnokys Stand- 
punkt, keine Demarkation zu wollen, für den einzig richtigen 
und möglichen hält“ 1. Und doch war Kalnokys Politik, über jede 
Betätigung des russischen Einflusses in Serbien als über eine 


Noack S. 167. 41 Vgl. Noack S. 177f., 180. 


———— — . ——— —— py E a EE cu t 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 135 


Verletzung heiligster österreichischer Rechte zu schelten, jede 
österreichische Intrigue in Bulgarien aber als heiliges öster- 
reichisches Recht zu kennzeichnen, in ihrer Auswirkung nicht 
nur töricht, kurzsichtig und verderblich, sondern auch illoyal 
und perfide; denn schließlich gingen die Grundlagen der Stellung 
Rußlands in Bulgarien und Osterreichs in Serbien nicht nur auf 
denselben europäischen Vertrag, sondern noch stärker auf die 
eigenen, freiwillig abgeschlossenen Vereinbarungen mit Rußland 
von 1881 und 1884 zurück! 

Noack kommt zu dem Urteil, Bismarck habe überhaupt „ für 
die Situation Österreichs auf dem Balkan merkwürdig wenig 
Verständnis“ “ gezeigt. Denn Kalnoky habe Recht darin gehabt, 
„daß eine dauernde und schrankenlose russische Einflußnahme 
in Bulgarien eine Bedrohung des Bestandes der österreichischen 
Monarchie war", während Rußland, , wenn Bulgarien unter 
österreichischem Einfluß seine Selbständigkeit errang, weder 
geographisch noch ethnographisch irgendwie dadurch tangiert'' 
wurde“. Stimmt das letztere, nämlich, daB Bulgarien, ohne jeden 
territorialen Zusammenhang mit Rußland und ohne ethnische 
Verwandtschaft mit den Russen, sich gar nicht dazu eignete, 
eine russische Provinz, ja, sogar nur dem russischen Einfluß auf 
die Dauer zugänglich zu werden — was sich geschichtlich schon 
unter Alexander von Battenberg gezeigt hat — so ist natürlich 
die Voraussetzung, daB von Bulgarien aus der Bestand der 
österreichischen Monarchie bedroht werden könne, haltlos, 
gleichgültig, ob damals Österreichische, über die wirklichen 
Verhältnisse und Kräfte einsichtslose und über die zukünftige 
Entwicklung der Donaumonarchie voraussichtslose Politiker 
oder ob heut ein in der historischen Rückschau ebenso ein- 
sichtsloser Historiker es behauptet. Wie hätte denn auch ein so 
leicht in Schach zu haltender Staat — wenn man Noacks Urteil 
darüber Glauben schenken soll — seinerseits eine Großmachts- 
politik, die fast die ganze Halbinsel in österreichisches Gebiet 
verwandeln sollte, führen können! Wie konnte aber andererseits 
ein Rußland, zu dessen endgültiger Schwächung und Zurück- 
drängung aus Europa eigentlich nur ein Entschluß zu fassen war, 
doch die Kraft und den Willen aufbringen, seinerseits die Donau- 


*$ Noack S.178. „ Noack, a. a. O. 


136 Richard Moeller 


monarchie in ihrem Bestand zu bedrohen? Noacks falsche 
Methode, Rußland bald als ein verderbenbringendes Ungeheuer, 
bald als einen tönernen Riesen anzusehen, entwertet an sich ja 
schon alle seine Schlüsse! Weder war es so gefährlich, wie Noack 
es darstellt, noch so ohnmächtig, daß Österreich ungestraft seine 
selbstmörderische Politik auf die Dauer betreiben konnte! 


Wie sehr von allen guten Geistern die österreichische Politik 
verlassen war, zeigt sich darin, daB sie im November 1885 in 
den bulgarisch-serbischen Konflikt eingriff und durch Drohungen 
die Bulgaren, die sie soeben noch gegen Rußland auszuspielen 
versucht hatte, zum Waffenstillstand zwang, eine Torheit, die 
nur zu geeignet war, Bulgarien wieder in die Arme Ruslands 
zu treiben“ | 


Mochte 1884 ein notdürftiges Zusammenspannen Ruflands 
und Österreichs erreicht sein“ — daB das Verhältnis ohne einen 
wirklichen Ausgleich nicht von Grund aus geheilt werden konnte, 
ist Bismarck immer klar gewesen, und so ist es wohl richtig, 
daß der Gedanke der „ Demarkation“ zeitweise zur „fixen Idee“ 
bei ihm wurde; denn die „Krise“ riß nicht mehr ab, seitdem die 
Einigung zwischen Bulgarien und Rumelien vollzogen war; 
um so mehr wäre ein endlicher Ausgleich nötig gewesen! Tat- 
sáchlich hat allerdings die bulgarische Krise der Demarkations- 
politik ein Ende gemacht, weil nun die Móglichkeit eines Interessen- 
ausgleichs zwischen Österreich und Rußland nicht mehr vor- 
handen war; objektiv ist sie vorhanden; RuBland ist wohl für 
sie zu gewinnen, Österreich nicht! Die volle Tragik setzt wieder 
ein! Zugleich aber auch das geniale System der Aushilfen! 


Hatte es bisher ausgereicht, die beiden widerstrebenden 
Nachbarn zusammen an der Stange einer Entente zu halten, so 
wurde das in Zukunft unmöglich. Sollte das gleiche Ziel weiter 


*4 Vgl. Bismarck an Reuss v. 6. XII. 85 G. P. Bd. V, S. 26ff. u. die Antwort 
Kalnokys im Bericht Reuss v. 9. XII. 85, G. P. Bd. V, S. 30ff. 

Noack S. 182 ist der Meinung, Bismarck habe die augenblickliche Entspannung 
im Osten dazu ausgenutzt, um im diplomatischen Kampf gegen England das neue 
deutsche Kolonialreich zu gewinnen. Das ist im einzelnen ebenso unrichtig gesehen, 
wie im ganzen falsch verstanden. Zur Gewinnung der Kolonien hat Bismarck die 
franzósisch-englische Spannung benutzt — ein Zusammenhang mit der Kontinental- 
politik besteht nicht! Seine Kolonialpolitik ist reine ,,Gelegenheitspolitik'', freilich 
auch ein Vorstoß über die bisherige „Saturiertheit‘“. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 137 


verfolgt werden — die kriegerische Auseinandersetzung Öster- 
reichs und Rußlands zu verhindern, aus der doch die Konflagration 
des europäischen Festlandes mit ziemlicher Sicherheit hervor- 
gehen mußte — so waren stärkere Mittel, stärkere Aushilfen 
nötig. 

Innerlich freilich, für sich, für die deutsche Politik hielt 
Bismarck am Gedanken der „Demarkation“ fest. Sie ist die 
Richtlinie, die er nicht verläßt, sein „Pivot“. Und es ist nur 
um so tragischer, daß er wohl Rußland je länger je mehr — 
freilich wohl in dem Maße, wie Rußland tatsächlich in Bulgarien 
an Einfluß verliert — von der Richtigkeit seiner Auffassung 
überzeugt. Noch im September 1886 berichtet Bernhard 
v. Bülow: „Herr v. Giers sprach das Wort Demarkationslinie 
nicht aus, aber ich hatte den Eindruck, daß er in der Abgrenzung 
der Machtsphären Rußlands und Österreichs auf der Balkan- 
halbinsel das einzige ernsthafte und dauernde Mittel sieht, um 
einem Zusammenstoß zwischen beiden Reichen vorzubeugen.‘ 
„Ich auch!“, fügt Bismarck aus voller Überzeugung hinzu. Was 
nützt das aber gegenüber dem schwunglosen Eigensinn des 
österreichischen Kaisers und dem zähen Mißtrauen Kalnokys 
gegenüber allem, was nach Handeln aussieht? Was nützt es 
gegen die siegesgewisse Arroganz der magyarischen Politiker, 
denen zuliebe Kalnoky von Zeit zu Zeit immer wieder den starken 
Mann gegen Rußland spielen muß, als den er sich nicht einmal 
fühlt ? 

Es ist einfach nicht wahr, was Noack behauptet, daß Kalnoky 
„im Banne der Bismarckschen Politik... sich ihre Argumente 
und Gedankengänge weitgehend zu eigen machte''*. Das Gegen- 
teil ist richtig! 

Es ist geradezu, vom deutschen Standpunkt aus, erschütternd 
anzusehen, mit welcher gerissenen Taktik der Österreicher jeder 
Bismarckschen Anregung begegnet. Zunächst pflegt er völlig 
zuzustimmen, ist frappiert, überwältigt, dankbar — um dann 
leise mit Bedenken und Zweifeln herauszukommen und zum 
Schluß nichts zu tun und in seinen altösterreichischen Schlendrian 
zurückzufallen. Gelegentlich läßt Bismarck sich zum Zorn über 
dieses System hinreißen: , Wenn Ew.pp. sagen, daB Graf 


* G.P. Bd. V, S. 133. 7 Noack S. 228. 


188 Richard Moeller 


Kalnoky sich immer noch kein rechtes Bild machen kónne, wie 
der Gedanke der Teilung der russischen und österreichischen 
Interessensphären auszuführen sein würde, so heißt das nichts 
anderes, als daB er sie nicht will“, schreibt Bismarck, über die 
Erfolglosigkeit seiner Bemühungen für den Bundesgenossen 
verärgert, im Dezember 1885 an Reuß“; und solche harten Töne 
schallen nun jahrelang, gleich erfolglos, nach Wien hinüber. 


Wenn Kalnoky, gegenüber den bauernfängerischen Ver- 
suchen Churchills, Österreich für die englischen Orientinteressen 
gegen Rußland einzuspannen, ebenfalls in seinem mißtrauischen 
Nichtstun verharrt, so gleicht das nur äußerlich dem Rat Bis- 
marcks. Es ist vollendete Planlosigkeit, die freilich zuweilen 
die Gestalt eines Planes zu zeigen scheint. 


Es ist die vollendetste Torheit Österreich-Ungarns, Rußland 
nicht den kleinsten Erfolg in Bulgarien zu gönnen, dadurch 
Wasser auf die Mühlen der Panslawisten zu treiben, den russischen 
Kaiser schwer zu verärgern und Giers’ Stellung zu schwächen — 
erklärlich eben nur aus dem Gefühl, gegenüber Deutschland 
schließlich doch am längeren Hebel zu sitzen. Zwar, Österreich 
ist viel mehr deutscher Hilfe bedürftig, als Deutschland öster- 
reichischer Hilfe, aber: das Dasein Österreich-Ungarns ist zuletzt 
für Deutschland die größere Notwendigkeit, als umgekehrt das 
Dasein Deutschlands für Österreich-Ungarn; aus diesem Gefühl 
heraus, eigentlich dem eines faulen Gewissens, erklärt sich fast 
die ganze Vorkriegspolitik Osterreich-Ungarns gegenüber Deutsch- 
land, und so genießt es, um mit Thomas Mann zu sprechen, 
„alle Vorteile der Schande“, der Lebensunfähigkeit und des 
Pochens darauf, daß Deutschland im eigensten Interesse helfen 
müsse, das sterbende Leben, auch um den Preis des eigenen 
Lebens, zu erhalten. Soweit wäre Bismarck niemals gegangen — 
aber die nachbismarcksche Politik hat es getan! 

Endlich, im November 1886, stellt Noack fest, verzichtete 
Bismarck auf den Gedanken der Demarkation. „Alles schien 
sich zu vereinigen, um der deutschen Politik eine neue Wendung 
zu geben“. Auch das ist in dieser Formulierung weder richtig 
noch eindeutig. Solche „Schein“-Sätze, die an entscheidenden 
Stellen bei Noack außerordentlich beliebt sind, gehen an dem 


—— —— — — 


4 G. P. Bd. V, S. 29. ** Noack S. 249. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 139 


Wesen der Bismarckschen Politik vorüber, ohne es auch nur zu 
streifen. 


Bismarck verzichtete auf den Gedanken der Demarkation 
nicht; er verzichtete nur darauf, ihn zur Zeit bei den beiden 
Nachbarn geltend zu machen; grundsätzlich aber hat sich in 
seiner Anschauung nicht das geringste geändert. Am 16. De- 
zember 1886 diktiert er seinem Schwiegersohn Rantzau: „Wir 
hätten unseren Wunsch einer Demarkationslinie leider weder 
in Wien noch in Petersburg zur Annahme bringen können; das 
hinderte aber nicht, daß wir unsere Auffassung nach wie vor für 
die richtige hielten und unsere Politik danach einrichteten“.“ 
Und dabei bleibt es“. Und so bleibt auch die Richtung der 
deutschen Politik dieselbe wie bisher, es gibt keine Knicke, 
Schwenkungen und Schwankungen. Sie geht ohne jede Wendung 
nach wie vor dahin, Europa den Frieden zu erhalten, Deutsch- 
land den Frieden zu erhalten, den es braucht, und zu dem 
Zwecke die Gegensätze zwischen Rußland und Österreich nicht 
bis zum kriegerischen Austrag kommen zu lassen. 


Es ist selbstverständlich, das die bisherigen Mittel dazu, 
die vertragsmáBigen Abmachungen zwischen den drei Kaiser- 
mächten, unzulänglich geworden sind — daB die Technik des 
Auseinanderhaltens, nachdem die beiden Nachbarn nicht zu- 
sammenzuhalten waren, weitaus kompliziertere Aushilfen er- 
heischte, Aushilfen freilich, die in ihrer genialen Einfachheit zu 
ersinnen und durchzuführen ein Bismarck nötig war. Diese 
Kombination nicht aufrechterhalten zu haben, ist die Todsünde 
der Caprivi und Marschall geworden; aber es ist nicht richtig, 
wenn sie sich damit entschuldigten, das System sei für gewöhnliche 
Politiker zu schwierig gewesen; nicht das „Spiel“ war schwierig, 
sondern die moralischen Grundlagen, der Mut der Durchführung, 
war es, was ihnen fehlte; in der Geschichte ist bei fast allen großen 
Entscheidungen nicht Einsichtslosigkeit, sondern Mutlosigkeit 
die Wurzel alles Übels! 

Kalnoky war freilich naiv genug, obgleich er selbst durch 
seine plumpen Angriffe gegen Rußland die Grundlagen der 
Dreikaiserentente zerschlagen hatte, bis zum letzten Augenblick 


80 G. P. Bd. V, S. 150. 
1 Vgl. auch G. P. Bd. V, SS. 146, 186, 196 und passim. . 


140 Richard Moeller 


an ihre Erneuerung zu denken und selbst darauf zu hoffen®®. 
während Bismarck in der Erkenntnis, daß es nicht mehr möglich 
sein werde, zu dreien abzuschließen, den Abschluß zu zweien, 
den „Rückversicherungsvertrag‘‘, schon seit dem Januar 1887 
betrieb. 

Die Grundlage auch dieses zweiseitigen Vertrages blieb die 
Demarkation, nämlich die Anerkennung durch Deutschland, 
daß Rußland einen legalen Einfluß in Bulgarien auszuüben habe 
und insoweit Deutschland die österreichische Politik nicht 
stützen werde! 

Dem Bundesgenossen klarzumachen, daß Deutschland in 
der bulgarischen Frage den ,,casus foederis" nicht erblicken 
könne noch wolle, ist fast der wesentliche Inhalt der deutsch- 
österreichischen Beziehungen in den Jahren 1886 und 1887 
gewesen®, was denn freilich das Verhältnis nicht verbesserte 
und zuletzt doch nur möglich wurde, weil es dem geheimsten 
österreichischen Verlangen, nichts zu tun, weit entgegenkam. 


Das Verhältnis zu Rußland praktisch so zu gestalten, „als 
ob“ Österreich noch daran beteiligt sei, ist, wie schon früher 
ausgeführt, die leitende Idee der Rückversicherung“; ja, sie geht 
noch weiter; sie fingiert sogar, „als ob“ Österreich jener obersten 
Stufe der Bismarckschen Klimax vom 8. September 1888 (d. h. 
der Ermutigung Rußlands in der Richtung auf die Meerengen) . 
zugestimmt habe, treibt also in kühnster Weise richtige öster- 
reichische Politik ohne Österreichs Beteiligung — ein Verhältnis, 
das Noack allerdings nicht sehen kann. 


Scheint es doch sogar, als ob Bismarck in dem zweiseitigen 
Vertrag eine größere Möglichkeit sieht als in dem bisher drei- 
seitigen, den Frieden zu wahren“, einmal, weil Deutschland als 
alleiniger Partner gegenüber Jedem der Genossen eine erhóhte 
und gegen Durchkreuzung von seiten des Dritten mehr gesicherte 


53 Vgl. Berichte Reuss v. 17. I. 87, 18. V. 87, 4. VII. 87, G. P. Bd. V, SS. 217, 
236, 261f. 

5 Vgl. Schweinitz, Denkwürdigkeiten II, S. 312. 

sê Bismarck an Reuss v. 20. VII. 87, G. P. Bd. V, S. 264; Bismarck an Kaiser 
Wilhelm I. v. 28. VII. 87, G. P. Bd. V, S. 267. 

85 Vgl. G. P. Bd. V, S. 267: „Die beiden Verträge zu zweien .. . bilden einen 
Ersatz für den ... Dreikaiservertrag; der Form nach keinen vollständigen, in der 
Tat aber einen mindestens ebenso wirksamen ...“. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 141 


Wirkungsmöglichkeit besitzt, dann aber auch, weil Österreich 
zu erhöhter Vorsicht Rußland gegenüber schon durch das 
Nichtmehrbestehn des bisherigen Vertrages gedrängt werden 
kann. Aus diesem Grunde ist Bismarck auch die russische 
Bedingung, den Vertrag vor Österreich geheimzuhalten, nicht 
unangenehm gewesen. 


Für Noack aber, der die Auffassung Andrassys teilt, die 
Dreikaiserentente sei das Unheil und das einzige Heil bestehe 
darin, den Krieg gegen Rußland zu machen, der Bismarcks 
scharfe Abwehr einer Verfälschung des Zweibundes, seiner 
Umfälschung zu einem Kriegsbündnis gegen Rußland, geradezu 
für eine Felonie gegen Österreich-Ungarn hält — ‚es sei denn, 
daß man die Gewißheit des österreichischen Unterganges voraus- 
bestimmen wollte“ — für Noack, der in Variierung eines Bis- 
marck-Wortes der Meinung ist, „die Passivität gegenüber der 
langsam aber sicher wirkenden panslawistischen Gefahr“ müsse 
„einer Kometenbahn verglichen werden, auf der Österreich wie 
Deutschland nach kurzer Sonnennähe auf noch unberechenbare 
Zeiträume ins Dunkel geschleudert werden sollten""' — für 
Noack ist der Rückversicherungsvertrag denn auch eine innere 
Unmöglichkeit. Denn er bedeutet für die Zeit seines Bestehens. 
Frieden zwischen Deutschland und Rußland, gerade das, was 
nach Noack Rußland braucht, denn: „Der Krieg mit Deutsch- 
land und seinen Bundesgenossen bedeutete die Zerstörung aller 
russischen Expansionswünsche und die Rettung und künftige 
Sicherung Österreichs.‘ 


Wir stoßen immer wieder auf das „proton pseudos“ des 
Noackschen Buches, seine petitio principii, seine Konstruktion 
des Krieges gegen Rußland, dem die deutsche Hegemonie 
Europas, dem das habsburgische Slawengroßreich folgen muß 
wie ein richtiger Schluß auf richtige Prämissen. 


Nicht Noack, sondern Bismarck hat Recht: Solange Deutsch- 
land auf der einen Seite mit Österreich, auf der anderen mit 
Rußland im Vertragsverhältnis steht, solange gibt es „eine starke 
Nötigung für die beiden anderen Kaisermächte, untereinander 
Frieden zu halten®®. 


% Noack S. 262. 57 Noack a. a. O. Vgl. dazu G. P. Bd. V, S. 145fl. 53 Noack 
S. 292. ® G. P. Bd. V, S. 268. 


142 Richard Moeller 


Wir haben in der deutschen Geschichte nicht die Gepflogen- 
heit, einzelne Jahre als besonders hervorragende oder ent- 
scheidungsreiche mit besonderen Beinamen herauszuheben. 
Wenn dem so wäre, dann würde das Jahr 1887 wohl den Namen 
des besonders ruhmreichen tragen müssen; jedenfalls ist es das 
Jahr der kühnsten Konzeptionen und des groBartigsten Gelingens 
in der gesamten Bismarckschen Außenpolitik“ 

Auf der einen Seite fängt er den versinkenden Dreikaiserbund 
durch einen Sonderabschluß mit Rußland auf — auf der anderen 
gelingt es ihm, Italien und England an Österreich heranzuziehen 
und ihm so die doppelte Sicherung zu geben. 

Es ist zuzugeben, daß auch diese Phase der Bismarckschen 
Politik tragisch umwittert ist! Je genialer die Aushilfen sich 
steigern, um das scheinbar Unmögliche doch noch möglich zu 
machen, desto mehr mag dem Nachlebenden schwindeln, der 
das System in seiner Abgewogenheit nicht erkennen mag oder 
kann — aber von höchster Einfachheit und Wirklichkeitsnähe 
ist dies Spiel in jedem Augenblick geblieben! 

Seit dem Auseinanderfall der Dreikaiserentente, die seit dem 
November 1886 irreparabel erscheint, geht Bismarcks Politik 
einen doppelten Weg zum gleichen Ziel, zur Erhaltung des 
europäischen Friedens. 

Der erste Weg führt zum Abschluß des Rückversicherungs- 
vertrages mit Rußland: er hält Rußland vom Abschluß des 
Bündnisses mit Frankreich zurück und Deutschland den Rücken 
in einem wegen der bulgarischen oder orientalischen Frage 
ausbrechenden Kriege frei — auch wenn es deswegen zu einem 
russisch-Österreichischen Kriege kommen sollte. Österreich 
wird kein Hehl daraus gemacht, daß Deutschland für Bulgarien 
und die Türkei nicht fechten könne. 

Trotzdem weiß Bismarck, daß Deutschland unter Umständen 
doch in einen russisch-ósterreichischen Krieg hineingezerrt 
werden könne — nämlich dann, wenn Österreich in ihm ent- 
scheidend geschlagen und mit dem Verlust seiner Großmacht- 
stellung bedroht werden würde. Das kann Deutschland nicht 
zugeben, selbst dann nicht, wenn Österreich durch eigene Schuld 
in den Abgrund hineingerissen wird! 

“ Zu einem ähnlichen Urteil kommt Meinecke, Gesch. des deutsch-engl. Bünd- 
nisproblems, S. 10. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 148 


Österreich zu sichern und Deutschland dabei freizuhalten — 
das ist der große Gedanke des Jahres 1887, das Korrelat zum 
Rückversicherungsvertrag. 


Auch in der Bismarckschen Politik des Jahres 1887 sind 
mit beinahe lächerlicher Konsequenz wiederum drei Stufen einer 
Klimax zu finden! 

Die erste und unterste Stufe ist die, daß Deutschland auf 
keinen Fall in einen nicht durch einen russischen Angriff provo- 
zierten russisch- österreichischen Krieg hineingerissen werden 
dürfe — diese Stufe schien durch den Abschluß des Rück- 
versicherungsvertrages und durch die offene Warnung an Oster- 
reich, sich wegen orientalisch- bulgarischer Verwicklungen nicht 
auf deutsche Hilfe zu verlassen, hinlänglich erreicht zu sein. 


Wenn aber Osterreich den Krieg trotzdem heraufbeschwört ? 
Wenn es geschlagen, gerade durch seine Hilflosigkeit Deutsch- 
land doch zum Eingreifen zwingt? Das darf nicht geschehen! 
Osterreich, auch im Falle einer verkehrten und gefährlichen 
Politik, gegen eine Niederlage zu schützen und doch Deutschland 
herauszuhalten, ist die zweite Stufe der Bismarckschen Politik 
von 1887; ihr dient der Versuch, Osterreich einen Rückhalt selbst 
für seine verkehrte Politik gegen Rußland zu schaffen, dient die 
Bildung der englisch-italienisch-ósterreichischen „Gruppe“, die 
stark genug ist, um dem russischen Schwert Widerstand leisten 
zu können (2. Stufe der Klimax) oder es sogar durch das bloße 
Gegengewicht in der Scheide zu halten (3. Stufe der Klimax). 

Noack beurteilt auch diese Verhältnisse völlig verkehrt. 

„Der Gedanke einer Entente zwischen England, Italien und 
Österreich war doch im Grunde eine Idee Churchills“ 1, schreibt 
er kühn, hat dabei aber den Akzent wieder völlig verschoben. 
Was Churchill wollte, war etwas ganz anderes, aber Noack hat 
diesen phantasiereichsten, gleichzeitig aber unzuverlässigsten 
der damaligen englischen Staatsmänner tief in sein Herz ge- 
schlossen, weil er in ihm „seine“ Idee, die des europäischen 
Kreuzzuges gegen Rußland, wiederzufinden hofft. Und doch 
war Churchill englisch-offen oder englisch-naiv genug, um aus 
seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. 


1 Noack S. 283. 
** Vgl. Noack S. 220ff, für die frühere Zeit auch SS. 85ff., 46ff., 80ff., 138ff. 


144 Richard Moeller 


Noack sieht den eigentlich entscheidenden Fehler der deut- 
schen Politik darin, daß sie in unüberwindlichem Mißtrauen 
gegen England dessen seit 1879 mehrfach wiederholtes Liebes- 
werben ablehnte. Er verlängert die Streitfrage, ob es ein Fehler 
der deutschen Politik um die Jahrhundertwende war, die eng- 
lischen Annäherungsversuche abzuweisen, gewissermaßen nach 
rückwärts, obgleich das Problem doch zur Bismarckzeit, so- 
lange das Einvernehmen Deutschlands mit Rußland bestand 
und es ein russisch-französisches Bündnis nicht gab, ganz anders 
gelagert war als später. Und jedenfalls ist er England gegenüber 
außerordentlich bescheiden, begnügt sich mit einer wohlwollenden 
englischen Neutralität auch im Fall eines kontinentalen Doppel- 
frontenkrieges. 

Und doch hatten Bismarck und Kalnoky das allerdringendste 
Interesse, sich diesen englischen Plänen gegenüber auf nichts 
einzulassen, zumal, wie schon gesagt, Churchill aus seinem 
Herzen keine Mördergrube machte, sondern seine Wähler 
öffentlich darüber informierte, wie er sich das Bündnis denke. 
Noack hat aus der berühmten Dartforder Rede Randolph Chur- 
chills die entscheidenden Sätze sogar abgedruckt: „Da dies so 
ist (sc. Österreich ein lebenswichtiges Interesse an der Freiheit 
und Unabhängigkeit der Donaufürstentümer und Balkanvölker 
habe) kann England sehr wohl, ohne unehrenhaft zu handeln 
und ohne seine Sicherheit zu gefährden, mit Genugtuung ansehen, 
daß die Macht, deren Interessen am unmittelbarsten und vi- 
talsten betroffen sind, auch den Anfang bei dieser großen inter- 
nationalen Arbeit übernimmt*?". Das ist die Kastanientheorie 
in geradezu klassischer Ausprägung; und da Churchill abermals 
offenherzig oder naiv genug war, um auch in diplomatischen 
Verhandlungen offen zu betonen, England könne aus innerpoli- 
tischen Gründen nicht daran*denken, die Spitze gegen Rußland 
zu übernehmen“, ja nicht einmal sich gemeinschaftlich mit 
Österreich expektorieren, wenn Deutschland nicht ebenfalls 
helfe, und auch der Premierminister Salisbury eine exponierte 
Stellungnahme Englands für schwer möglich hielt®, so ist es 
doch kein Wunder, daß nicht nur Bismarck die schärfsten 

** Noack S. 226. i 


*4 Vgl. Berichte Hatzfeldts v. 20. u. 24. IX. 86, G. P. Bd. IV, SS. 270, 272. 
:9$ Bericht Hatzfeldts v. 13. VIII. 86, G. P. Bd. IV, S. 266. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 145 


Ausdrücke über Churchills Bauernfängertaktik brauchte“, sondern 
daß auch Kalnoky insoweit nicht gesonnen war, die Politik der 
Nadelstiche gegen Rußland unter Englands Beifall mit der der 
Schwertstreiche zu vertauschen und so England den Willen zu 
tun, ja, daß er sogar spöttisch und der Wahrheit nicht eben 
entsprechend noch im Oktober 1886 den Engländern erklärte, 
„die Beziehungen Österreichs zu Rußland seien ... vortreff- 
lich“ 7. Zwar wurde daraufhin Churchills Sprache um einige 
Grade wärmer, wenn auch vielleicht nicht ehrlicher“; aber 
nach wie vor wollte er Österreich, mit stillschweigendem Ein- 
verständnis Deutschlands, die erste Last des Krieges gegen 
Rußland auferlegen. 


Noack, gewöhnt, die Werte zu vertauschen, sieht in dem 
Widerstand Bismarcks gegen diese Bauernfängerei, oder, ernst- 
haft gesprochen, gegen eine Politik, die Österreich und wahr- 
scheinlich auch Deutschland mit dem ganzen Risiko eines 
kontinentalen Krieges belasten wollte, während England ohne 
jedes Risiko das Ergebnis dieses Krieges hätte abwarten können 
— obgleich der Krieg gegen Rußland England ein weit geringeres 
Risiko aufgelegt hätte als einer kontinentalen Macht — ein 
hartnäckiges und starres Mißtrauen, erscheinend „als ein ver- 
räterischer Ausdruck der geheimen eigenen Hintergedanken, 
deren verborgene Absicht es ja war, England gegen seine eigenen 
Interessen auszunutzen‘‘®. 


Auch hier möchte man wiederum sagen, daß nicht nur der 
Akzent der Bismarckschen Politik verschoben, sondern daß 
Wort für Wort dieser Erläuterung falsch ist! Die Dinge liegen 
so: Churchill— und in zweiter Linie auch Salisbury — wünschten 
Österreich und Deutschland dazu zu benutzen, um den welt- 
politischen Gegensatz zwischen England und Rußland im Kampf 
auszutragen. Auf die Bewahrung des europäischen Friedens 
kam es ihnen dabei nicht an; auch eine Einbeziehung Frank- 
reichs in den Krieg wäre bei den außerordentlich gespannten 
englisch-französischen Beziehungen dieser Jahre von ihnen gern 


G. P. Bd. IV, SS. 271, 273, 275. 
*' G. P. Bd. IV, SS. 264, 278. 

* Vgl. G. P. Bd. IV, S. 279. 

® Noack S. 231. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 10 


146 Richard Moeller 


in Kauf genommen worden”. Sie selbst aber behielten England 
bei dem zu führenden Kriege eine außerordentlich bescheidene 
Rolle, etwa den Schutz der deutschen Küste oder der deutschen 
Kolonien gegen französische Angriffe, vor. 

Bismarck nahm nicht diese Idee auf, sondern verwandelte 
sie in allen entscheidenden Punkten in ihr Gegenteil. Wollte 
England Österreich und Deutschland zum Krieg gegen Rußland 
gewinnen, so ging nun Bismarck daran, England für Österreich 
zu gewinnen, aber nicht zum Krieg, sondern vielmehr zur Er- 
haltung des Friedens. Ich habe das die dritte Stufe der Bis- 
marckschen Klimax von 1887 genannt. Wie Noack in dieser 
Veränderung aller Vorzeichen, der Reihenfolge der Glieder und 
der totalen Änderung der Richtung doch „im Grunde eine Idee 
Churchills“ “1 erkennen kann, das muß allerdings ein Geheimnis 
bleiben. 

Und wie die Ziele dieser Politik in das Gegenteil der Chur- 
chillschen Ideen umgebogen sind, so scheinen auch die diplo- 
matischen Mittel wie aus zwei verschiedenen Welten. Ging 
Churchill gradlinig, wie er glauben mochte, plump, wie die zünf- 
tigen Diplomaten es ansehen mußten, auf sein Ziel los, so: ist 
in der Bildung der neuen Entente durch Bismarck wiederum 
der ganze magische Zauber Bismarckscher Diplomatie ent- 
halten. Den groben Faden, den Churchill — der sich übrigens 
bereits im Januar mit einer sonderbaren Schwenkung aus dem 
englischen Kabinett herausmanövrierte — auf die Spindel ge- 
zogen hatte, ließ er abreißen. Von einer ganz andern Seite her 
wurde das Spiel wieder aufgenommen; zwischen England und 
Österreich wurde ein Mittelsmann eingeschoben — Italien! 

Das Problem hat Bismarck sich wieder in einem seiner großen 
überschauenden Diktate, vom 27. November 1886, entwickelt“. 

Worauf kommt es an? Solange Österreich in der bulgarischen 
Frage allein bleibt, ist eg Deutschlands Aufgabe, ihm nicht nur 
vom direkten Widerstand gegen Rußland abzuraten, sondern es 
auch „durch jedes anwendbare Mittel zu entmutigen‘‘, schon 
aus dem Grunde, weil aus einem österreichisch-russischen 
Kriege, den Österreich ohne Bundesgenossen führen müßte, sich 

7 Vgl. Bericht Hatsfeldts v. 21. XII. 86, G. P. Bd. IV, S. 292. 


71 Noack S. 283f. 
73 G. P. Bd. IV, S. 283ff. 


Bismarcks Friedenspoltik und der Machtverfall Deutschlands 147 


auch ein deutsch-russischer und ein deutsch-französischer Krieg 
entwickeln würde, ein Doppelfrontenkrieg, dessen Last in der 
Hauptsache auf Deutschlands Schultern liegen würde. Kann aber 
Österreich sich auf die Hilfe Englands verlassen, so würde es 
Rußland gar nicht erst zum Angriff kommen lassen — hier er- 
scheint gleich die dritte Stufe der Klimax. Von der kriege- 
rischen Abwehr russischer Angriffe durch die neue Entente ist 
war an andern Stellen, nicht aber hier die Rede; das höchste 
Ziel wird gleich gesehen und bezeichnet! 

Wie aber zu der englisch-ósterreichischen Entente kommen ? 
Churchill ist keinen Augenblick im Zweifel darüber, wie es 
möglich sei: „Zwischen England und Österreich werde die Ver- 
ständigung jeden Tag und ohne Schwierigkeit zustandekommen, 
sobald Eure Durchlaucht sie für wünschenswert hielten und 
fördern wollten“, berichtet Hatzfeldt am 5. Dezember 1886 als 
Meinung Churchills“. Überaus bezeichnend, diese Meinung, daß 
der „Minister Europas“ alle Länder dahin leiten könne, wohin 
er wolle (wieweit sind doch diese Staatsmänner von der wahren 
Erkenntnis Noacks entfernt!). Aber noch bezeichnender: Bis- 
marck notiert zu dem Wort „wünschenswert halten“: „das ist 
der Fall und sie liegt doch nicht vor!“ “. Das ‚fördern‘ läßt er 
ohne Bemerkung passieren. 

Bismarck wünscht die englisch-österreichische Entente; 
eine direkte Vermittlung lehnt er ab — ohne Zweifel aus dem 
Grande, weil das Bekanntwerden dieser Vermittlungsaktion in 
Rußland nicht nur die Dreikaiserentente sprengen würde — an 
der ist ohnehin nichts mehr zu retten und zu verderben — son- 
dern weil eine Indiskretion es auch Deutschland erschweren 
würde, seine Beziehungen zu Rußland aufrechtzuerhalten! 

Die Schalen liegen in gleicher Waage. Das kommt wunder- 
voll zum Ausdruck in dem Erlaß Bismarcks an den Botschafter 
Radowitz vom 17. Februar 18877, den Noack” zwar nicht un- 
richtig interpretiert, dessen Akzent er aber wiederum verschiebt, 
wenn er in ihm eine Wendung zur Quadrupelallianz sieht, die 
aber sofort wieder eingeschränkt sei. Das Bild ist so schlecht 


G. P. Bd. IV, S. 286. 
A. a. O. S. 287. 
78 G. P. Bd. V, S. 118ff. 
" Vgl. Noack 8. 282. 
10* 


148 i Richard Moeller 


wie unzutreffend. Wollte man ein Bild anwenden, so könnte 
man es vielleicht so sehen, daß an diesem Punkte mit besonderer 
Deutlichkeit sichtbar wird, wie Bismarcks Politik jetzt auf zwei 
fast parallel zueinander laufenden, sich niemals kreuzenden 
Wegen zum gleichen Ziel hinmarschiert. Es weder mit Rußland 
noch mit England zu verderben ist die Richtung, den europäischen 
Frieden durch eine neue Verteilung der Gewichte und Gegen- 
gewichte im Orient zu erhalten, das Ziel. 


Die Bemerkung, „daß wir nach wie vor den für unsere Ge- 
samtpolitik maßgebenden Wunsch haben, unsere Beziehungen 
zu Rußland vor allen andern zu pflegen‘, ist die Einleitung, die 
Grundlage des Erlasses an Radowitz; sie steht im Vordergrund 
der Politik. Noack läßt sie zunächst unbeachtet, stellt die 
Notwendigkeit voran, die Möglichkeit einer Annäherung an 
England nicht zu zerstören, und hat damit den Akzent schon 
gründlich verschoben; wenn er nach seiner Gewohnheit dann 
wieder nachträgt, was er zunächst in den Schatten zu stellen 
versucht hat, selbst mit der Hinzufügung, daß es ‚im Anfang des 
Erlasses“ stehe, so ist das die Quellenbehandlung, die über das 
Maß des wissenschaftlich zu Verantwortenden hinausgeht. 
„Gleichgewicht“ ist die Quintessenz dieses Erlasses, „bis auf 
weiteres in allen russisch-englischen Streitfragen nicht, wie dies 
bisher geschehen ist, die russische Auffassung aktiv zu befür- 
worten und noch weniger der englischen entgegenzutreten, 
sondern volle Zurückhaltung und Unparteilichkeit zu beobach- 
ten". Aber „eine aktive Förderung englischer Wünsche ist 
hiermit ... ebensowenig meinerseits anempfohlen, sondern nur 
passive Zurückhaltung‘. 


Nicht „Neutralität“ ist damit angekündigt, sondern Teil- 
haben an beiden Seiten; denn beide Aktionen, die Vorfühlung 
mit Rußland, die zur Rückversicherung führen soll, und die 
Vorfühlung mit Italien, die zur Mittelmeerentente führen soll, 
sind längst im Gange! 

Wir müssen einen Augenblick zu den Verhandlungen hin- 
überschauen, die vor der Verlängerung des Dreibundes in Wien, 
Rom und Berlin geführt sind, auf die Noack kaum eingegangen 
ist. Sie sind ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie kläglich 


” G. P. Bd. V, S. 1198. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 149 


auf der ganzen Linie die Politik Kalnokys versagt, wo sie nicht 
von Bismarck gestützt und geleitet ist! 


Wie Österreich es schon im Jahre 1882 durch seine Finesserien 
verstanden hat, einen Vertrag abzuschließen, durch den es im 
wahrscheinlichsten Fall eines russischen Angriffes nicht rücken- 
frei wurde, jedenfalls nicht nach dem Wortlaut des Vertrages, 
wie es durch diese diplomatische Schludrigkeit Bismarck zwang, 
formell die Verantwortung für Form und Inhalt des Vertrages 
von sich abzulehnen, haben wir schon früher gesehen; die óster- 
reichische Ungeschicklichkeit bei der Erneuerung des Vertrages 
ist noch weit größer“. 


Hat 1882 Osterreich Italien aktiven Schutz gegen französische 
Angriffe versprochen, ohne dafür eine gleichwertige Gegenleistung 
zu erhalten, so kommt Kalnoky jetzt auf den Gedanken, 
von Italien mehr herauszuholen. Denn auch dieses ist 
seinerseits mit dem bisherigen Umfang des Bündnisses nicht 
zufrieden, sondern wünscht eine Erweiterung nach Nord- 
afrika hin. 

Bismarck geht darauf ein, ohne seinerseits Gegenforderungen 
zu stellen; kommt Italien wegen nordafrikanischer Reibereien 
mit Frankreich in Konflikt, so wird Deutschland es doch halten 
müssen, um kein französisch-italienisches Bündnis zustande zu 
bringen?“. Deshalb aber auch Italien noch zu mehr Gegenlei- 
stungen heranzuziehen, scheint ihm untunlich. Ihm besteht der 
eigentliche Wert des Dreibundes immer in der österreichischen 
Rückenfreiheit gegen Italien, jedenfalls mehr in ihr als in der 
aktiven italienischen Mitwirkung im Kriege. 


Anders Osterreich! Kalnoky und sein Kaiser verfallen auf 
die Idee, Italiens Hilfe gegen Rußland in Anspruch zu nehmen“, 
und zwar auch in einem Kriege, der nicht durch einen Angriff 
Rußlands auf Österreich herbeigeführt ist — sie wollen also 
den bisher defensiven Sinn des Bündnisses entscheidend er- 
weitern. Italien soll in Balkankriegen gegen Rußland mit- 


"e Pribrams Darstellung a. a. O. S. 169ff. ist an entscheidenden Stellen irrig. 
leh muß mir vorbehalten, das an anderer Stelle im einzelnen nachzuweisen. 

1» Vgl. G. P. Bd. IV, S. 199ff. 

* Vgl. G. P. Bd. IV, S. 203. 


150 Richard Moeller 


kämpfen — aber am Mitreden über die orientalischen Fragen 
soll es trotzdem nicht beteiligt werden; denn Österreich kann, 
außer ganz allgemeinen Zusagen, sich auf nichts einlassen, 
„was uns im Orient gegenüber Italien die Hände binden oder 
Italien bezüglich irgendwelcher Territorialfragen zu einer be- 
sonderen Einflußnahme berechtigen kónnte''?!, 


Die übliche habsburgische Hochmutsgeste in Reinkultur! 
Ihr Ziel erreicht sie nicht, im Gegenteil; durch die Torheit, 
Italien zur aktiven Teilnahme in einem Balkankrieg gegen 
Rußland aufzufordern und ihm zugleich den Mund in orienta- 
lischen Fragen verbieten zu wollen und ihm Kompensationen im 
Fall territorialer Änderungen zu versagen, hat Kalnoky es zu- 
letzt dahin gebracht, Italien diese Kompensationen und die 
gleiche Stimme in Balkanangelegenheiten zugestehen zu müssen, 
ohne daß der casus foederis für Österreich ausgedehnt wurde — 
eine schwere selbstverschuldete diplomatische Niederlage, deren 
Ergebnis — mit dem Hin und Her der Verhandlungen, die in dem 
Buch von Pribram vielfach verkehrt charakterisiert sind, können 
wir uns an dieser Stelle nicht beschäftigen — Bismarck durchaus 
zufrieden stimmte; denn ihm war es durchaus erwünscht, auf 
diese Weise Italien am Balkan zu interessieren, nicht nur Italiens 
willen, dessen Kompensationsansprüche er für gerechtfertigt 
hielt, sondern das er nun in die neue Entente hineinziehen 
konnte! 


Im Verfolg der deutschen Vermittlung bei den Verhandlungen 
über die Verlängerung des Dreibundes findet Bismarck die 
entscheidende Wendung. Er drängt Italien, jetzt seinerseits 
nachdrückliche Versuche bei Salisbury zu machen, um eine 
enge gemeinschaftliche Front mit England zu bilden, indem 
er darauf hinweist, aus einem solchen Bündnis lasse sich 
für Italien eine viel stärkere Stellung gegen Frankreich ge- 
winnen !5* 

In dieser Bismarckschen Initiative aus dem Dezember 1886 
liegt die Begründung der späteren „Gruppe“; man kann aber- 
mals nur bewundernd feststellen, daB die Bismarcksche Politik, 


— 


si Bericht Reuss v. 8. XII. 86, G. P. Bd. IV, S. 211. 
en Vel. Aufs. St. S. Graf H. Bismarck v. 27. XII. 86, G. P. Bd. IV, S. 224. 
s G. P. Bd. IV, S. 225; vgl. auch G. P. Bd. IV, S. 814f. u. Noack S. 295. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 151 


wie sie eine direkte Vermittlung zwischen Österreich und 
England ablehnte, um nicht Rußlands MiBtrauen zu erregen“, 
sondern das Zwischenglied Italien einschob, so auch Italien 
gegenüber den Wert der englischen Entente gegenüber Frank- 
reich betonte und die Balkanfrage insoweit zunächst aus dem 
Spiel ließ, obgleich sie das wahre Ziel der Aktion ist“; auch hier 
wird also mit wundervollster Vorsicht dafür gesorgt, daß keinerlei 
Indiskretionen Deutschland als Treiber gegen Rußlands Balkan- 
politik erscheinen lassen konnten! 


In diesem Doppel der Verknüpfung, der Interessierung 
Italiens an den Balkanfragen, dem durch Kalnokys Ungeschick- 
lichkeit herbeigeführten österreichischen Zugeständnis, in Zu- 
kunft Italien als gleichberechtigten Partner in der Orientpolitik 
anerkennen zu wollen, auf der einen Seite, dem Zusammenführen 
Italiens und Englands — wobei Italien zunächst nur auf die 
antifranzösische Seite dieser Entente blicken sollte — auf der 
anderen, liegt die spätere englisch-italienisch-ósterreichische 
Balkan-,‚Gruppe‘‘ vorgebildet! Man vergleiche die wundervolle 
Leichtigkeit dieser Politik, die doch niemandem Unrecht tat, 
niemanden zwingen wollte, sich seiner eigenen Interessen zu 
entschlagen, niemanden verleiten wollte, für andere Kastanien 
aus dem Feuer zu holen, mit dem plumpen Vorgehen Churchills, 
Österreich in den Krieg gegen Rußland zu hetzen und Deutsch- 
land mindestens diplomatisch dabei mitwirken zu lassen — und 
man wird Noacks Hypothese, daB die englisch-italienisch- 
österreichische Entente nichts als eine „Idee Churchills" war, 
wirklich für nichts als eine verblendete Studierstubenpolitik“ 
halten! | 

Bismarcks Wunsch, Österreich in Italien und England einen 
Rückhalt bei seinen Händeln mit Rußland zu geben, in die es 
infolge seiner Balkanpolitik verwickelt werden könnte, bei denen 
jedoch die deutsche Hilfe im deutschen Interesse versagt bleiben 


%4 Vgl. G. P. Bd. IV, S. 322: „Wenn wir Rußland gegen uns mißtrauisch machen 
dadurch, daß wir uns an den englisch-italienisch-ósterreichischen Verhandlungen 
beteiligen, so ist es kaum zu vermeiden, daB wir in einen russischen Krieg mit- 
verwickelt werden 

ss Vgl. darüber G. P. Bd. IV, S. 316. 

% So A. O. Meyer, Bismarcks Friedenspolitik, „Zeitwende“, Aprilheft 30, S. 295 
jetzt auch Sonderdruck. Münchner Universitätsreden, S. 10. 


152 Richard Moeller 


mußte, liegt schon im Januar 1887 völlig fest. Natürlich ist in 

diesem Wunsche wieder eine starke tragische Note nicht zu ver 

kennen — denn er ist nur eine Folge davon, daß es ihm nicht 

gelingt, den nächsten Bundesgenossen von der Notwendigkeit, 
sich um seiner eigenen Interessen und um seiner Zukunft willen! 
mit Rußland zu verständigen, zu überzeugen, daß er die öster- 
reichische Halsstarrigkeit, die unheilvolle Mischung von Indolenz 

und vielgeschäftiger Intriguensucht nicht überwindet — daB er 
nicht nur mit ihr rechnen, sondern sie sogar notgedrungen noch 
unterstützen muß, um Österreich nicht als Opfer seiner eignen 

Unfähigkeit fallenzulassen; denn Österreich selbst hat von 

seiner Seite zwar alles, um Rußland zu verstimmen und es selbst 

zum Kriege zu reizen, aber nichts, um sich gegen diese Gefahr 
zu sichern, getan®, Selbstsüchtig wie es ist, rechnet es damit, 

daß der Bundesgenosse es um seiner selbst willen zuletzt doch 

nicht im Stich lassen kann und darf. 


Bismarck läßt es auch nicht im Stich, aber genial liefert er 
ihm die notwendige Hilfe, ohne Deutschland dabei aufs Spiel 
zu setzen, und er liefert sie ihm in einer solchen Stärke, daß der 
Friede dabei erhalten bleiben kann. 

Die Bildung der ‚Gruppe‘, die lediglich den defensiven Zweck 
der Erhaltung des status quo verfolgen darf, gelingt nicht gleich 
völlig beim ersten Anlauf im Frühjahr 1887. 


Zwar kommt es zum Austausch von Noten, durch die auch 
Österreich sich dem englisch-italienischen Mittelmeerabkommen 
anschließt®; aber doch ist weder Österreich ganz bei der Sache, 
da es ihm lieber wäre, Deutschland hinter sich herzuschleppen, 
noch auch England; Salisbury ist nach dem Ausscheiden Chur- 
chills noch weniger für eine kriegerische Auseinandersetzung, ja 
auch nur für eine Spannung mit Rußland zu haben und erwägt 
sogar, wenn auch nur ungewiß und von fern, einen Ausgleich mit 
Rußland herbeizuführen. Er ist ja schon vor dem Berliner Kon- 
greß der Auffassung gewesen, daß die Erhaltung der Türkei einen 
europäischen Krieg nicht lohne, und kommt von Zeit zu Zeit 
auf diesen Gedanken zurück, besonders mit Rücksicht auf den 


8? Vgl. G. P. Bd. IV, S. 228. 
*5 Vgl. G. P. Bd. IV, S. 323f. 
** Der ganze Notenwechsel bei Pribram, S. 36ff. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 153 


"it ; Teil der Liberalen, der seine Regierung stützt" — aber schließ- 
ht u lich ist er ein konservativer Politiker, der nicht in Gladstones 
hm E Spuren wandeln kann. Es ist geradezu wundervoll zu sehen, wie 
pi Bismarck dies schwankende Verhalten Salisburys dazu benutzt, 
‚tg um ihn im Gegenteil fester an die Gruppe heranzuziehen, und 
lie c wie er dazu abermals Italien, jetzt unter dem unternehmungs- 
lun lustigen, ehrgeizigen, von ihm ganz eroberten Crispi, vorschiebt, 
p ie um die „, Gruppe“ wirklich zu dem zu machen, was sie sein soll: 

id einer Lebensversicherung für Österreich, für das Österreich, das 
gegen Rußland nach einer Hegemonie auf dem Balkan strebt, 

zugleich aber einer Versicherung gegen den Krieg! 


Noack freilich sieht nur ‚den großen Gesichtskreis der 
id englischen Weltpolitik“ 1, im Gegensatz zu den bescheidenen 
Zielen der deutschen Friedenserhaltung; auch hier liegen seine 
^| Akzente falsch wie überall! 


Das England Salisburys zeigt in besonders hohem MaBe 
į politisch-diplomatische Unfähigkeit und Unbeweglichkeit, was 
.&1 die Weltstellung Englands an sich noch nicht vermindert, es 
aber unfähig macht, diese Stellung auszunutzen. Weder in 
Samoa noch in Sansibar, wo damals kleine englisch-deutsche 
J Reibungen zum Austrag kommen, sondern in Europa und an 
seiner Peripherie lag damals das Zentrum der Weltpolitik, wie es 
| noch zu Anfang des Weltkrieges da gelegen hat — erst durch 
seinen Ausgang ist die große säkulare Verschiebung erfolgt 
und Europa ein ae Schauplatz zweiten Ranges ge- 
worden. 

Noack hat gelegentlich den Versuch gemacht, das Bismarck- 
sche System bildlich darzustellen: „Der Dreikaiserbund war 
der innere Ring des Bismarckschen Friedenssystems, der dessen 
innersten Kern, den konservativen Monarchismus, vor allem 
schützte; der äußere Ring bestand in dem Bun Verhältnis zu 
England. gegenüber Frankreich?? .'' 


Das heißt die Dinge zu einfach darstellen. Das System ist 
ja überhaupt fast zu groB, um es mit Worten darstellen zu kónnen; 
eher wáre es graphisch móglich, aber auch das hat seine Schwierig- 
keiten. 


* Vgl. Bericht Hatzfeldts v. 3. VIII. 87, G. P. Bd. IV, S. 337. 
n Noack S. 296. ® Noack S. 302. 


154 Richard Moeller 


Dann würde nach meiner Meinung die Sache so aussehen: 


Vor 1887 


Bis zur Auflösung der Dreikaiserentente würde als innerster 
Ring das deutsch-ósterreichische Bündnis zu gelten haben, wie 
nachher auch noch; als nächster Ring lagert um ihn freilich das 
Bestreben, die Freundschaft unter den drei Kaisermächten zu 
erhalten. Das ist auch nach 1887, nach der Nichterneuerung 
der Entente zu dreien, so geblieben; der Rückversicherungs- 
vertrag ist insoweit die logische Fortsetzung der Dreikaiser- 
entente und behält deren Platz im System. Nur als äußere Ringe 
kónnen dagegen die beiden Dreibünde gelten; denn sie dienen 
nur als Auffangorganisationen für den Fall, daß die Politik der 
inneren Ringe einmal zerbricht — beide, der Dreibund mit und 
der Dreibund ohne Deutschland (das Verhältnis zu Rumänien 
ist hier nicht besonders erwáhnt) sind nur Abwehrstellungen 
der zweiten Linie; und es ist die entscheidende Wendung der 
nachbismarckischen Politik Deutschlands, daB sie aus dem 
Dreibund eine Politik des innersten Ringes gemacht hat, eine 
Stellung der ersten Linie — dadurch ist das System und dann 
auch das Reich Bismarcks zerschlagen“. 

Ich kann dies aber hier nicht weiter verfolgen, sondern wende 
mich noch einmal der Bildung der „Gruppe“ zu, in dem über 


Noack ist nicht so verbohrt, daB er nicht gelegentlich das Großartige in der 
„weltumspannenden Friedenspolitik Bismarcks sähe. Vgl. S. 302f, wo das zu 
schönem Ausdruck kommt. Aber leider geht diese Einzelerkenntnis in der ver- 
fehlten Gesamtkonstruktion des Buches bald wieder zugrunde! 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 155 


ihr Zustandekommen entscheidenden zweiten Ansatz zu ihrer 
Verwirklichung. . 

Mit dem Abschluß des Rückversicherungsvertrages war zwar 
eine ziemlich große Sicherheit darüber erreicht, daß für die Zeit 
seiner Gültigkeit ein russisch-französisches Bündnis nicht 
zustande kommen und daß Rußland im Fall eines deutsch- 
französischen Krieges, der im Frühjahr und Sommer 1887 durch 
die Treibereien Boulangers bedenklich nahe gerückt schien, 
ruhig bleiben werde, aber der Hetze des panslawistischen Ruß- 
land gegen Österreich und Deutschland war damit kein Ende 
gemacht. Die Fortdauer dieser Hetze, die Möglichkeit, daß auch 
das offizielle Rußland eines Tages von ihr angesteckt werde, die 
Ohnmacht des Außenministers Giers außerhalb seines eigenen 
Ressorts, vor allem seine Einflußlosigkeit auf Presse und óffent- 
liche Meinung, die Unsicherheit einer nur auf die beiden Augen 
des russischen Kaisers gestellten Politik, die unverhüllte Feind- 
seligkeit zwischen Rußland und Österreich, die auch von den 
amtlichen Stellen kaum noch bemäntelt wurde — alles das trieb 
Bismarck dazu, die Gruppe enger als bisher zu gestalten! 


Noack stellt die interessante These auf, daß Salisbury im 
Sommer 1887 eine Gegenkonstruktion gegen die Bismarcksche 
Außenpolitik versucht habe”; er beabsichtigte danach eine 
Verständigung mit Rußland über die europäische Türkei, mit 
dem Hintergedanken, dadurch den Druck RuBlands auf Oster- 
reich so zu verstärken, daß Deutschland nicht mehr anders 
könne, als schließlich in die Front gegen Rußland einzutreten. 

Man kann die Dinge gewiß nicht verkehrter ansehen! 

Dies hieße England zutrauen, Rußland ohne Kompensation — 
denn Ägypten besaß man ja schon — den Siegespreis vorweg- 
zugeben, um dann um so sicherer den Kontinentalkrieg gegen 
Rußland zu entzünden — mit welchem Ziel? Wahrscheinlich 
doch mit dem, Rußland nicht nur aus der europäischen Türkei, 
sondern auch aus dem ganzen Balkangebiet wieder zu vertreiben! 

Das sind nicht Überlegungen eines Politikers oder eines 
Historikers, sondern ist die tollste Phantasie, die je in einer 
Studierstube ausgebrütet ist 

Tatsächlich gab es für England nur zwei Möglichkeiten: 


* Noack S. 314ff. 


156 Richard Moeller 


1. die, sich im Bunde mit den Mächten, auf deren Hilfe man 
zählen konnte — und dazu gehörte in diesem Falle Deutsch- 
land nicht — gegen die russische Expansionspolitik an den 
Meerengen stark zu machen, also ,, Gruppe“ zu bilden, oder 

2. sich mit Rußland über die Meerengen zu verständigen, dann 
aber nicht nur zum Schein und mit dem Hintergedanken, das 
so vorgelockte Rußland dann unschädlich zu machen, sondern 
eine wirkliche Verständigung zu erzielen, die den Spannungen 
zwischen England und Rußland auf lange Sicht ein Ende 
machen und der sogar ein Bündnis folgen konnte! 


Meinecke hat darauf hingewiesen, daß Bismarck schon 1885 
„die Möglichkeit einer englisch-russischen Allianz mit unheim- 
licher Schärfe ins Auge gefaßt habe“, 

Aber er gibt die näheren Umstände dieser Situation von 1885 
nicht an. 

1885 handelte es sich ja um die Gladstonesche Idee einer 
russisch-englichen Verständigung auf Kosten der Türkei und 
auf Kosten Österreich-Ungarns, und in solchen Ideen sieht 
Bismarck mit vollem Recht eine große Gefahr, weil — ich muß 
hier die ganze Stelle aus dem Brief Bismarcks vom 27. Mai 1885 
an Kaiser Wilhelm abdrucken“ — ‚weil der darin ausgesprochene 
Gedanke eines englisch-russischen Bündnisses von der pan- 
slawistischen Partei, welche .die eigentliche Trägerin der Idee 
des Krieges gegen Österreich und eventuell gegen Deutschland 
ist, gehegt wird und dem Programm Gladstones von Hause aus 
angehört. Käme diese englisch-russische Allianz zustande mit 
ihrer angeblich christlichen und antitürkischen, in der Tat 
panslawistischen und radikalen Richtung, so wäre derselben die 
Möglichkeit gegeben, sich jederzeit nach Bedürfnis durch Frank- 
reich zu verstärken, wenn die russisch-englische Politik bei 
Deutschland Widerstand fände; es wäre die Basis einer Koalition 
gegen uns gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht 
gegenübertreten kann.“ 

Hat Bismarck die katastrophale Wendung hier vorausgesehen 
— eine Wendung, die allerdings nur durch deutsche Fehler 
möglich wurde — und sogleich den einzig möglichen Schluß 


Meinecke a. a. O., S. 12f. 
% G., P. Bd. IV, S. 125. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 157 


daraus gezogen, daß die deutsche Politik nicht durch einen 
Druck auf Rußland ein solches englisch-russisches Bündnis 
zustandebringen dürfe — so sind 1887 die Voraussetzungen für 
ein so gestaltetes englisch-russisches Bündnis nicht gegeben! 
Das geht aus den knappen Ausführungen Meineckes nicht hervor. 
Salisbury fehlt von Haus aus die feindliche Stimmung gegen Öster- 
reich, die zu Gladstones ursprünglichem Programm gehórt — ohne 
daß er ihr dann praktisch Folge gegeben hat — Salisbury 
denkt an oder vielmehr spricht von einer solchen Verstándigung 
zwischen RuBland und England, die ,,nach seiner Überzeugung 
auf keinen Fall eine Schädigung Österreichs“ zur Folge haben 
dürfe”, 

Eine große Klarheit wohnt diesem Programm gewiß nicht 
inne, während man der Gladstoneschen Konstruktion mit ihrem 
Haß gegen Österreich und die Türkei und ihrer etwas doktrinären 
und schwärmerischen Vorliebe für die „Freiheit“ der christlichen 
Balkanvölker Unklarheit nicht vorwerfen kann — schließlich 
ist es ja auch diese Politik Englands gewesen, der das alte 
Österreich erlag. 

Von einer Richtung auf die, 1885 von Bismarck einen Augen- 
blick befürchtete, französisch-russisch-engliche Koalition kann 
1887 nicht die Rede sein. Was Salisbury zu seinem nicht klar 
durchdachten Gedanken, den man weder Vorschlag noch Plan 
nennen kann, vor allem getrieben hat, war die Besorgnis vor 
einem deutsch-französischen Krieg, der es Rußland ermöglichen 
könne, auf eigene Faust, eventuell nach Niederwerfung Öster- 
reichs, im Orient vorzugehen; ein, wenn auch nur magerer 
Vergleich mit Rußland schien ihm vielleicht besser als die 
Unsicherheit eines Krieges; denn durch eine Verständigung mit 
Rußland würde der sehr fühlbare Druck Frankreichs auf das 
Inselreich genommen sein; diesem Erfolge mochte man immerhin 
gewisse Zugeständnisse an Rußland im Orient zum Opfer bringen 
können. 

Es war die Politik eines Mannes, der besorgt die Möglichkeiten 
erwägt, die gegen sein Land ausschlagen können, sicher nicht 
die Politik eines starken Mannes, ganz gewiß aber noch weniger 
die eines Intriganten, der auf diesem Wege zuletzt die An- 


* Bericht Hatzfeldts v. 3. VIII. 87, G. P. Bd. IV, S. 336. 


158 Richard Moeller 


spannung Deutschlands gegen Rußland betrieb und diesem nur 
Judasgeschenke geben wollte! l 

Kann man diese kaum ernstgemeinte, mit allem Vorbehalt 
angestellte Sondierung eine Gegenkonstruktion Salisburys gegen 
die Bismarcksche Friedenspolitik nennen? Sollte oder konnte 
sie Bismarck unter irgendeinen Druck setzen, der ihn zwang, 
seine Bahnen zu verlassen oder auch nur zu ändern. 


Wenn Salisbury den Wettbewerb um Rußland mit Deutsch- 
land aufnehmen wollte — was nach der ganzen Art seines Vor- 
gehens wie nach seiner Veranlagung mehr als unwahrscheinlich 
ist — wenn er in Bismarcks Politik hineinfahren wollte (zu 
welchem Zweck er aber das Spiel in Petersburg beginnen mußte), 
so wäre es ein kühnes Spiel gewesen, Rußland die Türkei auf- 
zuopfern, ohne irgendwelche direkte Vorteile dafür zu erlangen, 
ein Spiel, für das der Premierminister kaum auf Mitspieler im 
Kabinett oder im Parlament hätte rechnen können, von der 
Königin ganz zu schweigen. Wenn England die Türkei ein- 
schließlich der Meerengen oder doch mindestens des Bosporus 
an Rußland preisgab, dann wäre das gleiche verklausulierte 
Zugeständnis Deutschlands an Rußland im Zusatzabkommen 
des Rückversicherungsvertrages allerdings entwertet gewesen“ 
Wollte England mit Deutschland um Rußlands Gunst konkur- 
rieren, so hatte es größere Mittel zur Verständigung in der Hand 
als Deutschland -— aber es mußte eigene Interessen dabei preis- 
geben, während Deutschland keine Opfer zu bringen hatte! 


Bismarck hat in seine Berechnung vorsichtigerweise auch ein- 
gestellt, daß England auch unter Salisbury, trotz dessen gegen- 
teiliger Behauptung, es bis zu einer Preisgabe Österreichs an 
Rußland kommen lassen wolle. Auch für diesen Fall sieht er 
die Situation nicht als bedrohlich an — ja, ihm wäre eine der- 
artige Politik Englands nicht einmal unerwünscht; denn sie 
könnte dahin führen, daß Österreich, in seiner orientalischen 
Politik von Deutschland nicht unterstützt und jetzt auch von 
England im Stich gelassen, zwangsläufig den Weg gehen müßte, 
den Bismarck ihm als den einzig richtigen so oft empfohlen 


98 Insoweit hat Noack S. 318 Recht! 
® Für das Folgende vgl. Bismarck an Hatzfeldt v. 8. VIII 87, G. P. Bd. IV, 
S. 388fl. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 159 


hatte — seinerseits nun, den Wettbewerb mit England auf- 
nehmend, sich mit Rußland zu verständigen! Der Erfolg wäre 
dann wiederum ein Dreikaiserbündnis gewesen, an dem England 
selbst teilnehmen konnte, wenn es wollte. 


Ging Bismarck so auf den Gedanken einer russisch-englischen 
Verständigung — ohne Richtung gegen Österreich — so bereit- 
willig ein, so ist es allerdings fraglich, wieweit sich dahinter nur 
Taktik verbirgt, die Besorgnis, vor einer solchen Annäherung 
Besorgnis zu zeigen und sie dadurch zu einem Pressionsmittel der 
englischen Politik — was Salisbury augenscheinlich fernlag — 
zu machen; aber wir haben bereits früher darauf hingewiesen, 
daß Bismarck schon im Kissinger Diktat von 1877 es für Deutsch- 
land nützlich hielt, „einen Ausgleich zwischen England und Ruß- 
land zu fördern, der... gute Beziehungen zwischen beiden... und 
demnächst Freundschaft beider mit uns in Aussicht stellt!99.'' 

Es ist also mehr als Taktik, es ist der alte Wunsch, die Be- 
ziehungen zwischen England und Rußland zu einer Entspannung 
zu bringen, wenn Bismarck seinen Vertreter in London anwies, 
England zur Initiative auf dem von Salisbury angedeuteten 
Wege zu ermutigen! 


Und doch ist er es, der zugleich wiederum ein wunderbar feines 
Gegenspiel beginnt und dadurch Salisbury zu einem überaus 
schnellen und kläglichen Rückzug zwingt — einem kläglichen 
Rückzug nämlich dann, wenn es Salisbury Ernst war, wirklich 
ein Gegenspiel gegen Bismarck in Szene zu setzen! Er láBt dem 
englischen Premierminister raten, in die von ihm gewünschte 
Politik des Ausgleiches mit RuBland sofort praktisch einzutreten, 
und zwar in der Weise, daB er in der Lósung der bulgarischen 
Frage vorangehe; gerade darin sei RuBland jetzt — nachdem 
durch die Wahl des Koburgers Ferdinand die bulgarische Krise 
abermals eine Verknotung erfahren hatte — besonders empfind- 
lich und für jede Hilfe außerordentlich dankbar; erreiche Eng- 
land durch Eingehen auf die russischen Wünsche, durch ihre 
Propagierung in Europa, durch Anregung zu einer demnáchst 
in London abzuhaltenden europáischen Konferenz eine Lósung 
der bulgarischen Frage im russischen Sinn, so werde das den 
Ausgleich zwischen England und RuB8land mehr fórdern als 


1 G. P. Bd. II, S. 163. 


160 Richard Moeller 


irgend etwas anderes, und zugleich dem englischen Minister auf 
dem Umwege über außenpolitische Erfolge eine gefestigtere 
innenpolitische Stellung geben. Großmütig gibt der deutsche 
Kanzler, wie öfters schon, dem englischen Kollegen sein Ge- 
heimnis preis, wie man durch starke und erfolgreiche Außen- 
politik die innere Politik seines Landes „ ins Schlepptau nehmen“ 
könne! 


Ist dies Mittel darauf berechnet, Salisbury mitfortzureißen 
oder zum Stillstehen zu bringen ? 


Ich glaube, daß die Transparenz der Bismarckschen Politik 
an dieser Stelle wiederum herrlich aufleuchtet! 


Bismarcks Politik ist niemals Fläche, stets Körper, stets 
dreidimensional. Sie gibt niemals einen, stets verschiedene 
Ansatzpunkte für den Verhandlungsgegner; aber, wie er sich 
auch einstellen mag, er kann nie anders als Bismarcksche Politik 
treiben! 


Greift Salisbury zu, wenn es ihm ernst ist mit dem Gedanken 
eines russisch-englischen Ausgleichs, so wird das für Deutschland 
im doppelten Sinn einen großen Erfolg bedeuten: in der bulga- 
rischen Frage wird Deutschland durch Vermittlung Englands 
sein Ziel erreichen, seine Auffassung, daß die „Demarkations- 
linie“ den Einfluß in Bulgarien Rußland zuweise, von Europa 
anerkannt sehen und zugleich Rußland den Erfolg gewähren, 
den es braucht, um Radikalismus und Panslawismus zu ent- 
kräften und das System Giers zu befestigen! Verschafft Salisbury, 
gewissermaßen als Handlanger Bismarcks, Rußland in Bulgarien 
die von ihm beanspruchte Vorhand, so können die russisch- 
deutschen Beziehungen nur herzlicher werden; denn Europa 
wird es sofort erkennen, wer eigentlich hinter der Aktion Eng- 
lands steht und sie verursacht hat! 


Und zu diesem ersten Erfolg würde sich alsbald der zweite, 
nicht minder wichtige, gesellen: was Deutschland nie erreichen 
konnte, die Einwilligung des eigenen Bundesgenossen, die 
Demarkationslinie anzuerkennen, würde nun durch die englische 
Politik Österreich abgezwungen werden; tritt England mit seiner 
Auffassung der bulgarischen Frage auf Deutschlands Seite, so 
wird es „englischen und deutschen Vorstellungen in Wien 
gelingen... auch die Zustimmung Österreichs zu dieser im Sinne 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 161 


der ungarischen Politik nicht leichten Konzession zu erlangen!“ 
und so würde denn auch die Möglichkeit gegeben sein, die 
früheren österreichisch-russischen freundschaftlichen Beziehungen 
nach Ausräumung des größten Streitpunktes wiederherzustellen. 
Mit einem Schlage wären für Deutschland alle Wolken vom 
politischen Himmel entfernt, ohne daß es selbst dabei viel 
einzusetzen hätte! Und allerdings, wenn man diese Perspektiven 
betrachtet, die Bismarck seinen Botschafter beauftragt, wörtlich 
dem englischen Premier vorzutragen, so kann man schwerlich 
glauben, daß es Bismarck ernst damit gewesen wäre, diese im 
deutschen Sinne höchsten Ziele seiner Kontinentalpolitik durch 
Anspannen Englands zu erreichen. 

Salisbury, mißtrauisch und initiativlos. wie er war, mußte — 
und sollte auch wohl — zurückweichen, wenn ihm solche Konse- 
quenzen der von ihm selbst nur von fern in Aussicht genommenen 
Politik gezeigt wurden; er mußte den Eindruck gewinnen, daß 
das deutsche, nicht englische Politik treiben heiße, und gar vor 
dem Rezept, die englische Innenpolitik auf dem Wege über die 
Außenpolitik umzustürzen, ein echt englisches Grauen empfinden. 
Das hieß denn doch revolutionäre, nicht: konservative Politik 
betreiben!“ 

Und so gab er denn seine Vorsätze — wenn es überhaupt 
welche gewesen waren — auf und zog sich auf den Boden des 
Festhaltens am englisch- italienisch- österreichischen Einverständ- 
nis zurück, das allerdings, wie Bismarck nach diesem Rückzug 
vertraulich schreibt, von Deutschland „ primo loco“ gewünscht 
wurde!?3, 

Aber diese Bewegung selbst durfte nicht zum Stillstand 
kommen. Es genügte nicht, den Zustand der Gruppe, wie er 
bestand, wiederherzustellen-, sie muBte verstárkt werden; und 
so benutzt Bismarck die Gelegenheit, um im Nachstoß Salisbury 
stärker als bisher gegen Rußland zu verpflichten ; die diplomatische 
Aktion Salisburys schloB damit allerdings in einer Weise ab, die 
ihrem Ausgangspunkt ganz entgegengesetzt war, mit dem 
Stärkerwerden der Gruppe gegen Rußland! Also — wenn schon 


101 G. P. Bd. IV, S. 339. 

1 Vgl. G. P. Bd. IV, S. 348f. 

1€ Vgl. G. P. Bd. IV, S. 343: „Uns ist Hauptsache die Erhaltung der Freund- 
schaft zwischen England Osterreich—Italien. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 11 


162 Richard Moeller 


Salisbury eine diplomatische Aktion gegen Deutschland ein- 
leiten wollte, so sah er sich am Schluß dieser Aktion in eine 
Richtung mit lauter umgekehrten Vorzeichen gedrängt. 

Wie öfter schon benutzte Bismarck seinen Sohn Herbert, 
„um einen persönlichen Triumph über den vom Fürsten bereits 
besiegten englischen Minister... zu feiern“ ! 4. Der Staatssekretär 
durfte Salisbury das Leitseil über den Kopf werfen, und wenn 
schon die nackte und brutale Art des Sohnes, dem in seiner 
Politik ja alle die Halbtöne fehlen, die den Menschen und Staats- 
mann Bismarck so bezaubernd machen, Salisbury im Innersten 
gewiß ebenso mißfallen hat wie allen seinen Verhandlungs- 
gegnern, so ist der Erfolg dieser Konferenz!?5 doch der Auftrag 
an die drei Botschafter der „ Gruppe“ in Konstantinopel, einen 
konkreteren Plan für das künftige Zusammengehen im Orient 
auszuarbeiten. Das Fundament der „8 Punkte“ ist in diesen 
Besprechungen Herbert Bismarcks mit Salisbury gelegt worden, 
das Gebäude selbst dann durch die Verständigung Bismarcks 
mit Crispi bei dessen Oktoberbesuch in Friedrichsruh entworfen. 

Aber es bedarf dann noch der letzten Anstrengung, um dem 
ewig zógernden Salisbury den Absprung in die neue ,,Gruppe'' 
hinein zu ermöglichen. 

Der grandiose Privatbrief Bismarcks an Salisbury vom 
22. November 18871 ist der Schlußstein des ganzen Gebäudes 
geworden. 

Es ist schon fast selbstverständlich, daß Noack, wie er den 
ganzen Sinn der angeblichen englischen Gegenkonstruktion 
verkennt, so auch den Briefwechsel zwischen Bismarck und 
Salisbury gröblich mißversteht! 

Was wir für den größten Erfolg Bismarcks in diesem span- 
nungs- und schicksalreichen Jahr 1887 halten — daß er es erreicht, 
mit Rußland zu einem Sonderabkommen zu gelangen, das eine 
russisch-französische Entente für die Zeit seiner Dauer ver- 
hindert, und zugleich für Österreich in der zunächst lose, dann 
fester gestalteten „Gruppe“ einen Wall zu schaffen, der den 
Frieden verbürgt, aber auch im schlimmsten Fall, dem eines 
kriegerischen ZusammenstoBes zwischen Rußland und der 

108 Vgl. Schweinitz II, S. 299. 


108 Vgl. den Bericht H. Bismarcks v. 24. VIII. 87, G. P. Bd. IV, S. 8451f. 
108 G. P. Bd. IV, S. 376ff. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 163 


Gruppe, Österreich einen solchen Rückhalt schafft, daß Deutsch- 
land seine Rückenfreiheit behalten kann — das mißversteht 
Noack im tiefsten: „Es ist der Geist des Rückversicherungs- 
vertrages, der lähmend über den Entschlüssen der deutschen 
Politik lastete!9?.'' 

Wenn denn schon von einer „Gelähmtheit“ die Rede sein 
soll, so finden wir diese Lähmung des politischen Willens zwar 
damals weit verbreitet, wie fast immer und überall, wie solcher 
Zustand der Lethargie zu seinem Unglück auch das Europa von 
1914 erfüllt hat; wir finden sie in Rußland, das sich in der 
bulgarischen Frage zu einer Initiative nicht entschließen kann, 
sondern alles Heil von Bismarck erhofft und- erwartet — wir 
finden sie bei Österreich, das in seiner Verblendung eine Hege- 
monie auf der Balkanhalbinsel gegen Rußland erstrebt, zu der 
ihm alle äußeren und inneren Mittel fehlen, und nicht einmal 
von sich aus etwas dazu tut, um eine Koalition gegen Rußland 
zusammenzubringen?!°®, das also ein großes Ziel nur mit negativen 
Mitteln und der ehrwürdig-habsburgischen Tradition des Fort- 
wurstelns zu erreichen versucht —- wir finden sie endlich bei 
England, das mit dem Gedanken eines neuen „départ“ zwar 
spielt, ohne doch die Kraft und den Entschluß zur Verwirklichung 
zu finden — wir finden sie auch bei Frankreich, wo die Lähmung 
allerdings mehr aus dem überlegenen Gegenspiel Bismarcks 
hervorgeht. Inmitten dieses lethargischen Europa ist es, begleitet 
allerdings durch den tatfrohen, von ihm geleiteten Crispi, 
Bismarck allein, der Politik treibt, der ‚unterscheidet, wählet 
und richtet!“ 

Wie kann man die Dinge so weit umdrehen, wie Noack es tut, 
um einer unhaltbaren These zu dienen ?! 

In einer Situation, da alles zu „versumpfen“ droht, dem Zu- 
stand, den Bismarck für den gefährlichsten in der Politik hält, 
gibt der deutsche Kanzler durch sein Schreiben an Salisbury 
den letzten entscheidenden Stoß zum Festwerden der Gruppe — 
und das Gleichgewicht Europas ist wiederhergestellt, der Friede 
gesichert, Deutschlands Stellung in der Hinterhand, so daß alle 


1" Noack S. 336. 

188 Noch am 24. August 1887 beklagt sich Salisbury gegen Herbert Bismarck: 
„leh werde nicht klug aus Österreich, ich weiß nie, was es will, und habe mit ihm 
leider weniger Fühlung als je.“ G. P. Bd. IV, S.846f. 


11* 


164 Richard Moeller 


Mächte seiner bedürftig sind, gewahrt — eine Campagne ab- 
geschlossen, mit deren Ergebnis Bismarck zufrieden sein konnte, 
deren Verlauf wir aber nur mit Bewunderung nachspüren 
können! 

Wie die Situation auf beiden Seiten fast in den gleichen Tagen 
ihren Höhepunkt erreicht und mit fast den gleichen Argumenten 
auf der einen Seite der russische Kaiser bei seinem Berliner 
Besuch beruhigt und wiedergewonnen, auf der anderen Salisbury 
in die Gruppe hineingezogen wird, das haben wir bereits früher 
gesehen. Hier ist nur noch nachzutragen, daß Noack auch den 
Briefwechsel zwischen Bismarck und Salisbury gröblich miB- 
verstanden hat! 

Vorher noch eine grundsätzliche methodologische Bemerkung. 
Noack versteht das ganze geschichtliche Leben nicht, wenn 
er in Oszillationen schon Anzeichen eines Erdbebens sieht. 
Oszillationen gehóren zum Wesen des geschichtlichen Lebens. 
Das Gleichgewicht in der Geschichte beruht nicht auf der Leere 
. eines statischen Systems, sondern auf der Erfülltheit mit Kräften, 
dessen Mehren sich dauernd in leisen Erschütterungen zeigt. 
Diese geschichtliche „Unruhe“ hat mit geschichtlichen Krisen, 
mit Erdbeben noch nichts zu tun. 

Noack betont mit leisem Triumph gegen Bismarck!?*, daB auch 
nach dem Abschluß des Rückversicherungsvertrages die Rei- 
bungen zwischen Rußland und Deutschland nicht aufhórten — 
wobei er es sich wiederum leicht macht, unter „Rußland“ zu 
verstehen, was er gerade will. Da aber selbst der Zar in solche 
Reibungen verwickelt ist, ausgesprochene Feinde Deutschlands 
befördert oder dekoriert, wäre für Noack die „richtige“ Folgerung 
aus diesen Friktionen der Entschluß zum Kriege! 

Er sieht eben einen Bismarck, oder vielmehr, er braucht 
einen Bismarck, der bei der geringsten Veranlassung zur ,,ultima 
ratio“ greift! Aber das ist niemals Bismarcks Art gewesen; 
das äußerste Mittel ist ihm stets das Äußerste geblieben; und 
jetzt braucht er den Krieg nicht, um den wachsenden russischen 
Druck auf Ósterreich — nicht auf Deutschland — zu paralysieren ; 
es genügt dazu die Festigung der Gruppe. Er würde gewiB vor 
einem Krieg auch jetzt nicht zurückschrecken, wenn es einen 


109 Vgl. Noack S. 338ff. und passim! 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 165 


anderen Ausweg nicht mehr gäbe; aber es bis zum Äußersten 
nicht kommen zu lassen, wenn es andere Mittel gibt und wenn 
der Gewinn zum Risiko in keinem entsprechenden Verhältnis 
stehen kann — das ist doch das Wesen der Größe gerade des 
Realpolitikers. Noack „fordert“ statt eines Bismarck einen 
Napoleon; und doch hatte dieser die geschlossene Volkskraft 
eines seit Jahrhunderten staatlich zusammengeschlossenenV olkes, 
einer „unzerreißbaren“ Nation hinter sich, Bismarck nicht! 
Noack hat ganz vergessen, daB nach 1870 das deutsche Volk 
gleichsam nur auf Probe geschaffen war — er sieht freilich, wie 
wir alle, von einem Deutschland aus, dessen Unzerreißbarkeit 
auch in der Niederlage für uns die beglückendste Erfahrung in 
allen Fehlern, allem Unglück geworden ist! 

DaB die Anregung zu den Verhandlungen der drei Botschafter 
in Konstantinopel von Bismarck ausgegangen ist, daB Herbert 
sie im August 1887 an Salisbury lancierte, haben wir bereits 
gesehen. Noack stellt fest, daß Crispi, „dem Rat Bismarcks 
zuvorkommend, schon Mitte September in London und Wien 
ein besonderes Abkommen über die Orientpolitik angeregt‘ 
habe!!9. Er wünscht eben stets den Eindruck aufrechtzuerhalten, 
daß Bismarck sich von den Dingen und von anderen treiben ließ, 
während tatsächlich doch alle Fäden von ihm ausgingen und in 
seiner Hand zusammenliefen. 

Aber auch die Politik der „8 Punkte“ mißversteht Noack 
gründlich. Sie stabilisieren ein System des ,,quieta non movere", 
und ,,Maintien'' ist ihr Wesen, schon um das Streben RuBlands 
nach Veränderung des status quo — wenn es einsetzen sollte — 
illusorisch zu machen. 

Noack aber tadelt Kalnoky stark, daB er den günstigen 
Moment nicht benutzte, um seinerseits jetzt die Teilung der 
Türkei zu betreiben und ihr Haupterbe zu werden!!!, Vielleicht 
war Italien, um den Preis schwerwiegender Kompensationen, 
dafür zu gewinnen!!? — wie sollte aber der 6. Punkt, der beab- 
sichtigte, den Sultan in das Lager der , Gruppe“ hineinzuziehen, 
mit solcher Politik zu vereinen sein? Das hätte doch bedeutet, 
die Türkei bedingungslos in die Arme Rußlands zu werfen! 

110 Noack S. 349. 
111 Noack S. 852. 
713 Auch das ist sehr fraglich. Vgl. Noack S. 858. 


166 Richard Moeller 


Endlich die Stellungnahme Englands zu den 8 Punkten! 

Auch hier verschiebt Noack die Akzente sofort und gänzlich. 
England, das einen Augenblick daran gedacht hatte, den , départ“ 
nach Rußland zu machen, näher an die Gruppe heranzuziehen 
und die Gruppe selbst, wenn auch nur zu defensiven Zwecken, 
stärker zu aktivieren, ist der Zweck der ganzen Campagne 
Bismarcks. Bei Noack wird es umgekehrt: ,,Salisbury wollte... 
Deutschland näher an die von Bismarck selbst geförderte 
antirussische Koalition heranziehen“; und „es sollte sich zeigen, 
daB nicht Bismarck, sondern Salisbury der Werbende war!!?*'', 

Freilich hatte England seine Sorgen wegen der deutschen 
Haltung; denn der schlechte Gesundheitszustand des deutschen 
Kronprinzen ließ das englische Kabinett für die Zukunft eine 
Wendung Deutschlands zu RuBland hin befürchten, und zwar 
eine so feste Verständigung, daB daraus „eine aktive Unter- 
stützung Rußlands im Orient gegen die Mächte hervorgehen 
könnte, deren Verständigung wir heute hier befürworteten!!*.'* 


Insofern, als Salisbury eine beruhigende Erklärung über 
diesen Punkt von Deutschland zu erhalten wünschte, mag man 
ihn als „Werbenden‘‘ um Deutschland ansehen, wenn es auch 
nichts zu werben gab; denn Bismarcks ganze Politik beruhte ja 
darauf, Deutschland aus der aktiven Beteiligung an der kriege- 
rischen Lösung der orientalischen Frage, sei es auf der Seite 
RuBlands gegen die Gruppe, sei es auf seiten der Gruppe gegen 
RuBland, fernzuhalten. 

Und auch Salisbury fordert von vornherein keine aktive 
Beteiligung Deutschlands, „keinerlei Verpflichtung zu einer 
aktiven Unterstützung der drei Mächte“ 18, sondern nur das 
Fernbleiben von einer aktiven Wendung gegen die Gruppe. 

Die Antwort Bismarcks ist schon durch diese Fragestellung 
Salisburys zwingend festgelegt; daß ihr die Form des Privat- 
briefes gegeben wurde, der in diesem Fall fast eine zwingendere 


118 Noack S. 364. 

114 Bericht Hatzfeldts v. 12. XI. 87, G. P. Bd. IV, S. 369. 

ns G. P. Bd. IV, S. 371. Vgl. auch Noack, S. 365ff., der die Berichte Hatzfeldts 
eingehend kommentiert, daraus aber wiederum die Folgerung zieht, England habe 
einen Beitritt zum deutsch-ósterreichischen Bund propagiert — was er von seiner 
These aus für die einzig mögliche Politik Deutschlands hält. Eine weitere Dis- 
kussion darüber erübrigt sich! 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 167 


Verbindlichkeit haben mußte als ein Staatsdokument und doch 
nicht seinen Weg durch die Büros in die internationalen Schleich- 
handelswege der Diplomatie finden konnte, gehört zu den 
Wundern der Bismarckschen Diplomatie. Es ist hier nicht der 
Ort, in eine eingehende Interpretation des grandiosen Briefes 
einzutreten — genug, zu sagen, daß er den ihm gesetzten Zweck 
völlig erreicht. Er beruhigt Salisbury darin, daß Deutschland 
nach den ihm schicksalsmäßig auferlegten politischen Not- 
wendigkeiten niemals Rußland militärisch gegen eine der Mächte 
der „Gruppe“ unterstützen könne und werde — darin liegt das 
Schwergewicht des Briefes, wie in der Feststellung, daß Deutsch- 
land in einem Kriege gegen Rußland neutral bleiben müsse, 
solange keine deutschen Interessen auf dem Spiele stünden und 
die Unabhängigkeit Österreich-Ungarns nicht in Frage gestellt 
sei. Grandiose Wahrheit, die den letzten Schleier wegzieht 
und doch dem Empfänger die Hoffnung läßt, Deutschland auf 
seiner Seite zu finden, wenn die Gruppe einmal den Entschei- 
dungskampf gegen Rußland aufzunehmen gezwungen sei, die 
ihm aber zugleich zeigt, daß das volle Schwergewicht Deutsch- 
lands nicht irgendeinem Krieg, sondern dem Frieden zu dienen 
bestimmt seil 


Man mag in dem Briefe eine tragische politische Hybris 
finden — insoweit er auf die Zwangsläufigkeit politischer Ent- 
scheidungen eingestellt ist und von der Voraussetzung ausgeht, 
daß der politischen Gegebenheit ein politisches Ergebnis mit 
fast mathematischer Sicherheit folgen müsse. Richtige Politik 
zu treiben ist Gnade; daB sie ófter versagt als gewährt wird, 
weiß das heutige Deutschland. Bismarck aber tut nicht nur so, 
sondern scheint auch selbst zu glauben, daß Deutschland auch 
in Zukunft richtige Politik treiben werde. Der Sinn jenes Satzes 
— in dem man freilich nur tragische Hybris finden kann — 
taucht auf, den der Kanzler einmal zu Schweinitz!!9 gesagt hat, 
„er habe sich ganz mit dem Staat und dessen Interessen iden- 
tifiziert; er sage freilich nicht wie Louis XIV.: L'Etat c'est moi, 
sondern: Moi je suis l'Etat". 


Und dies Verbundenheitsgefühl, das Bismarck mit dem Reich, 
Seine Politik, unter welchem Kaiser es auch sein mag, mit 


ue Schweinitz, Denkwürdigkeiten Bd. II, S. 270. 


168 Richard Moeller 


Bismarckscher Politik identifliziert, wirkt freilich besonders 
tragisch in einem Augenblick, wo von der Gegenseite her das 
Stichwort: „der junge Prinz" zum erstenmal ausgesprochen ist! 

Noack sind alle Zusammenhänge, die zum Bismarck-Salis- 
buryschen Briefwechsel führen und sein positives Ergebnis 
feststellen, verborgen geblieben: „Aus Bismarcks Brief mußte 
ihm (sc. Salisbury) klar sein, daß er mit seinem Bestreben, ein 
deutsch-englisch-Osterreichisches Zusammengehen gegen Ruß- 
land zu erreichen, nicht durchgedrungen war!!?.' 


Wiederum kann man nur sagen: Wort für Wort falsch! 


Daß Salisbury ein solches Bestreben, wie Noack es ihm unter- 
schiebt, nicht gehabt hat, schon weil er es für aussichtslos halten 
mußte, ist bereits festgestellt. Aber Noack ist von seinen Thesen 
80 leicht nicht abzubringen. Es muß ihm darauf ankommen, daß 
Salisbury tatsächlich den Bismarckschen Brief als nicht weit 
genug entgegenkommend abgelehnt habe — und mit Hilfe einer 
elementar falschen Interpretation des Salisburyschen Antwort- 
schreibens an Bismarck gelingt ihm das auch. 


Der Satz, der diese falsche Interpretion ergibt, heiBt auf 
englisch! 1s: „We then asked ourselves what ground we had for 
assuming that Germany, engaged in a severe struggle with 
France, might not take a neutral line, or even a line favourable 
to Russia.“ 


Noack!!? übersetzt diesen Satz: „Das englische Kabinett habe 
sich deshalb gefragt, welchen Grund es habe, anzunehmen, daß 
Deutschland, wenn es in einen ernsten Kampf mit Frankreich 
verwickelt sei, nicht neutral bleiben oder vielleicht sogar eine 
russenfreundliche Politik treiben würde.“ 


Schwertfeger!?? übersetzt folgendermaßen: „Wir müßten uns 
dann selbst fragen, welchen Grund wir hätten anzunehmen, daß 
Deutschland, in einen ernsten Kampf mit Frankreich verwickelt, 
nicht eine neutrale oder wenigstens Rußland günstige Haltung 
einnehmen werde." Das letzte ist ohne Zweifel ganz falsch 
übersetzt; das zweite Glied des letzten Satzes enthält keine 


117 Noack S. 380. 

315 Schreiben Salisburys an Bismarck v. 80. XI. 87 G. P. Bd. IV, S. 387. 
219 Noack S. 382. 

120 Wegweiser Bd. I, S. 293. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfal] Deutschlands 169 


Abschwächung, sondern eine Steigerung. Ich übersetze folgender- 
maßen: 


„Wir fragten uns dann selbst, welchen Grund wir zu der 
Annahme hätten, daß Deutschland, in einen schweren Krieg 
mit Frankreich verwickelt, nicht neutral bleiben oder sogar 
Rußland Hilfe leisten werde.“ 


Der Sinn dieses Satzes ist trotz der reichlich unbestimmten 
Fassung, die ich durch etwas freiere Übersetzung zu verdeutlichen 
gesucht habe, völlig klar. Das englische Kabinett befürchtet, 
daß Deutschland in einem Kriege der Gruppe gegen Rußland, 
um nicht einem Doppelfrontenkrieg ausgesetzt zu sein, nicht 
neutral bleiben, ja vielleicht sogar Rußland aktiv unterstützen 
werde. Bismarck zerstreut schon in einer Randbemerkung diese 
Befürchtung, indem er zu „ neutral“ hinzusetzt ,,yes'!*!, also die 
Neutralität verspricht. Noack??? sagt dazu: „Es ist bezeichnend, 
wie er zu Salisburys Befürchtung: Deutschland könne 
neutral bleiben!?*, ein klares ja setzte und also Salisburys 
Behauptung, Bismarck habe diese Besorgnis beseitigt, direkt 
viderlegte.'' 

Das heiBt doch den Sinn der englischen Politik in ihr Gegenteil 
verkehren! Salisbury ist befriedigt, Deutschlands Neutralität 
in einem Krieg der Gruppe gegen Rußland gesichert zu sehen, 
allerdings vielleicht in der stillen Hoffnung, die er aber nirgends 
ausgesprochen hat, daB die kriegerischen Ereignisse, wenn sie 
eintreten sollten, Deutschland am Ende doch nótigen würden, 
eine aktive Stellung auf seiten der „Gruppe“ einzunehmen. 


Aber es ist nicht Salisburys Meinung und Absicht, diesen 
Krieg zu entfesseln. Auch er sieht die Bedeutung der Gruppe 
so wie Bismarck: „Die Staatengruppierung, die das Werk des 
letzten Jahres gewesen ist, wird ein wirksames Hindernis gegen- 
über jedem möglichen Angriffe Rußlands sein, und deren Schaf- 
fung wird nicht zu den geringsten Diensten gehóren, die Eure 
Durchlauchtigte Hoheit der Sache des europäischen Friedens 
erwiesen haben “.“ 


m G. P. Bd. IV, S. 388. 

1 Noack S. 382. 

* Von mir gesperrt. 

1^ Schwertfeger, Wegweiser I, a. a. O. 


170 Richard Moeller 


Und so ist das Ziel, das Bismarck im Jahre 1887 zu erreichen 
sich vorgenommen hat, voll erreicht. Österreich hat seinen Wall 
gefunden, um russische Angriffe abzuwehren, wenn es sie sich 
durch seine Balkanpolitik zuzieht — aber darüber hinaus ist 
die dritte Stufe der Klimax erreicht. Schon das Vorhandensein 
der Gruppe in ihrer neuen festeren Gestalt wird genügen, um 
Rußland von Angriffen abzuhalten und so den Frieden zu sichern; 
und Frankreich, ohne Hoffnung auf russische Unterstützung, 
muß auch seinerseits den Frieden halten. | 


In der scheinbar akuten Kriegsgefahr, die sich kurze Zeit 
nach dem Abschluß der Gruppe, im Dezember 1887, zwischen 
Rußland und Österreich zu zeigen scheint und in der der deutsche 
Generalstab eine etwas undurchsichtige Rolle spielt, weil er 
das Prävenire spielen will, sind die politischen Sicherungen des 
Friedens nicht durchgebrannt; auch über diese Krise kommt 
man hinweg, und wie jede überwundene Krise hat sie eine Ent 
spannung von längerer Dauer zur Folge. Nun erst kann sich 
die neue Gewichtsverteilung richtig auswirken. 


Den Erfolg dieser Politik des Friedens kann auch Noack 
nicht ganz verschweigen; so sucht er ihn zu relativieren: „alles 
war nur auf den Moment gestellt, die Katastrophe war vertagt, 
nichts gemeistert, nichts Festes, nichts Bleibendes wurde ge- 
schaffen, keine neuen Dauerformen des europäischen Vólkerlebeas 
wurden gestaltet, wie eine Staatskunst sie suchen mußte, die 
der aufstrebenden Nation der Mitte gesicherte starke Fundamente 
gewinnen wollte 128,‘ 

Es tut mir leid: aber ich kann in diesem Satz nichts als 
Phrasen einer dogmatischen und im tiefsten Sinn unhistorischen 
Betrachtungsweise sehen. Dauerformen des Völkerlebens zu 
schaffen bleibt dem Staatsmann versagt. Politik wie Krieg 
kennen keine festen Systeme, sie kennen nur Aushilfen! „Rück- 
versicherung" und „Gruppe“ sind geniale Aushilfen, um eine 
Entladung zu verhindern, die Deutschland keinen Nutzen 
bringen, sondern es selbst und ganz Europa in schwerste Er- 
schütterungen versetzen mußte, ja, in Erschütterungen, die 
nun wirklich als eine Art von Dauerzustand Europas für lange 
Zeit hätten bestehen können. 


155 Noack S. 416. 


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Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 171 


Daß die Entladung eines Tages kommen „mußte“, ja, daB 


11 die franzósisch-russische Koalition schon damals „zur Gewißheit 


le N 


J geworden war“ 126, entspricht ebensowenig den Tatsachen wie der 
„| Struktur historischer Wirklichkeit. 


. Für den Staatsmann kommt es darauf an, den Gefahren des 
Augenblicks gewachsen zu sein und die Forderung des Tages zu 
erfüllen. Bismarck ist in dieser Hinsicht, obgleich ihm das 
höchste Ziel versagt war, dauernd der Herr der Situation ge- 
blieben. Es ist keine Geschichtsbetrachtung, wenn man erklärt, 


daß eines Tages „trotzdem“ die Situation stärker geworden 


wäre als der Staatsmann und er den Ausbruch dann auch nicht 
mehr hätte verhindern Können. 


Wir sehen etwas stark Tragisches auch insofern in Bismarck, 
wie wir es bei der Besprechung des Schreibens an Salisbury 
angedeutet haben. Jeder große Staatsmann arbeitet, „als ob“ 


er unsterblich sei, „als ob“ die Richtung, die er der Politik seines 


Landes gegeben hat, über sein Ausscheiden oder seinen Tod 
hinaus festgelegt seiwie eine mathematische Wahrheit — während 


| der Mensch in der Tat dem Irrtum und dem Wechsel unterworfen 


ist und der Gang der Geschichte daher dem Zickzack der Flüsse 
entspricht. 

So sehen wir fast ein geschichtliches Gesetz darin, daß ein 
Verlassen der Bahnen Bismarcks nach seinem Sturz eintreten 
mußte! Ihn dafür verantwortlich zu machen, ist so ungeschicht- 
lich, wie ein Genie dafür verantwortlich zu machen, daß es keine 
ihm ebenbürtigen Kinder hinterläßt — obgleich es unter meta- 
physischem Aspekt vielleicht dafür verantwortlich zu machen 
wäre. 

Es bleibt uns noch übrig, ein einziges Problem, das auch bei 
Noack eine Rolle spielt, zu betrachten — nämlich das, inwieweit 
Rückversicherungsvertragspolitik und geburtshelfende Tätigkeit 
bei der Bildung der „Gruppe“ sich miteinander vertragen. 


Für Noack ist es ein Doppelspiel !“, was dabei herauskommt, 
wenn auf der einen Seite Bismarck die russische Politik, in dem 
Geheimzusatz zum Rückversicherungsvertrag, dazu ermuntert, 
eine aktive Meerengenpolitik zu treiben, den Schlüssel seines 


136 Noack S. 414. 
137 Vgl. Noack S. 310ff. 


172 Richard Moeller 


Hauses in die eigene Hand zu nehmen, auf der anderen die 
Gruppe zustandebringt, deren Hauptaufgabe es ist und sein soll, 
den status quo der europäischen Türkei aufrechtzuerhalten und 
die Aufsicht über die Meerengen ungeschmälert in ihrer Hand 
zu lassen. 

Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß hier die Bismarcksche 
Politik den höchsten Grad der Kühnheit erreicht hat und daß 
der Gedanke naheliegt, hier sei der Macchiavellismus soweit 
getrieben, daß man unbedingt von Hinterhältigkeit und Doppel- 
züngigkeit zu sprechen gezwungen sei; denn daB diese Politik 
der Bewußtheit nicht entbehrte, geht aus dem Schreiben 
Bismarcks vom 9. Mai 1888 an den Kronprinzen Wilhelm deutlich 
hervor. Es heißt da:!?® „Die geheimen Verträge, welche wir mit 
Rußland haben, sind Ew. Kais. Hoheit bekannt. Ihr Text gibt 
die Gewißheit, daß Rußland beabsichtigt, in die Sackgasse 
(sc. Meerengen) hineinzugehen, und es würde schon darin sein, 
wenn es nicht auf unser Verlangen durch österreichische Oppo- 
sition daran gehindert würde. Kommt diese Opposition in 
Wegfall, so hört damit auch die russische Zurückhaltung auf.‘ 

Man kann demgegenüber nicht mit Becker!*? und Meinecke! 
ohne weiteres sagen, daß zwischen Rückversicherungsve-trag 
und „Gruppenabmachungen“, rechtlich betrachtet, kein Wider- 
Spruch bestünde. 

Der Artikel 2 des Rückversicherungsvertrages'!spricht davon, 
daB beide vertragschließenden Mächte sich verpflichten, keine 
Ánderung des status quo auf der Balkanhalbinsel ohne ein 
vorhergehendes Einverständnis zwischen ihnen zuzulassen, und 
entspricht insoweit dem Punkt 2 des Mittelmeerabkommens!**— 
aber damit ist noch keineswegs erwiesen, daB die Bestimmungen 
des Geheimvertrages erst dann eintreten sollten, sobald der 
status quo der Türkei von dritter Seite verletzt wáüre!??, 

Vielmehr wird im Hauptvertrag mit Rußland die Änderung 
des status quo ja nur von einem „accord préalable'* der beiden 


135 G. P. Bd. VI, S. 306. 

1 O. Becker, Bismarcks Bündnispolitik S. 163. 
180 Meinecke a. a. O., S. 11. 

131 Vgl. G. P. Bd. V, S. 253. 

1832 Pribram S. 52fl. 

138 So O. Becker a. a. O. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 178 


vertragschließenden Mächte abhängig gemacht; und wenn im 
Zusatzvertrag Deutschland versprach, seine moralische und 
diplomatische Unterstützung zu geben für den Fall, daB der 
russische Kaiser sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte, 
die Verteidigung des Zugangs zum Schwarzen Meer in seine 
eigene Hand zu nehmen, so ist insoweit in Ergánzung des Artikels 
des Hauptvertrages — zu dessen Ergänzung und Vervollstän- 
digung nach dem Protokoll der Zusatzvertrag hinzugefügt ist — 
ein „accord préalable" bereits hergestellt; es bleibt nach dem 
klaren Wortlaut des Vertrages dem russischen Kaiser allein 
überlassen, den Zeitpunkt zu bestimmen, den er für den richtigen 
hält, um den Schlüssel seines Hauses an sich zu nehmen, ohne 
daB eine Stórung des status quo von dritter Seite erforderlich 
wäre. 

Demgemäß ist es eine Tatsache, die durch Becker nicht fort- 
interpretiert werden kann, daß Bismarck auf der einen Seite 
dem russischen Kaiser carte blanche für eine Politik, die auf die 
Gewinnung mindestens des Bosporus hinausläuft, gegeben 
hat — übrigens wiederholt schon vor Abschluß des Rück- 
versicherungsvertrages!?* — freilich nur moralische und diplo- 
matische Unterstützung versprechend, auf der anderen Seite 
aber das Zustandekommen einer Entente bewußt herbeiführte, 
die diesem Streben Rußlands Widerstand leisten sollte. Un- 
bedingt ist dies der Punkt in Bismarcks Außenpolitik, der die 
Kennzeichnung „Macchiavellismus“ am meisten rechtfertigen 
könnte, besonders im Zusammenhalt mit der obenerwähnten 
Stelle des Briefes aus dem Mai 1888 an den damaligen Kron- 
prinzen Wilhelm. Trotzdem möchte ich glauben, daß auch dies 
gewagteste diplomatische Meisterstück Bismarcks eine Ver- 
urteilung, nach rechtlichen Momenten, nicht zu ertragen braucht. 


In der Politik ist alles politisch, möchte man sagen; 80 selbst- 
verständlich und nichtssagend das klingen kann, soll es hier 
heißen: Politische Maßnahmen dürfen allein nach politischen, 
licht nach formalrechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden. 
Und wenn schon die „Kompatibilität‘‘ des Rückversicherungs- 
vertrages mit der Gruppenbildungspolitik unter formalrecht- 
lichem Gesichtspunkt schwer zu bejahen wäre, so ist die Verein- 


^^ Vgl. G. P. Bd. V, S. 879f., 213, Bd. VI, S. 102 usw. 


174 Richard Moeller 


barkeit beider Abmachungen unter historisch-politischem Aspekt 
durchaus in die Augen springend. Es könnte ein gemeines 
und hetzerisches Doppelspiel sein, auf der einen Seite Rußland 
gegen die Meerengen vorzutreiben, auf der anderen eine starke 
Gegnerschaft dagegen zustandezubringen; es ist in diesem Fall— 
unter schärfster Berechnung der Wirklichkeit — kein Doppelspiel 
gewesen. 

Bismarck konnte damit rechnen und hat darauf gerechnet, 
daß Rußland den Weg zu den Meerengen, der sich ihm durch 
den geheimen Zusatz zum Rückversicherungsvertrag zu eröffnen 
schien, nicht gehen wolle, gewiß nicht in den drei Jahren, auf 
die das Abkommen mit Rußland begrenzt war, aber auch darüber 
hinaus in absehbarer Zeit nicht. Insoweit stimmt es nicht, was 
er im Mai 1888 an den Kronprinzen schrieb, daB nur der Wider- 
stand Österreichs Rußland von dem Weg in die Sackgasse 
zurückgehalten habe. Selbst die entschlossensten Vorkämpfer 
einer „großen“ und starken russischen Außenpolitik, die Brüder 
Schuwalow, waren im Jahre 1887 noch der Meinung, die „ferme- 
ture des Détroits'' sei „eine Sache, die wir doch erst in mebreren 
Jahren erreichen kónnten, wir müssen erst noch unsere Flotte 
im Schwarzen Meer wesentlich verstärken.“ Giers aber, der 
Außenminister, der trotz mangelnder „Stellung“ bei Hof und 
in der Gesellschaft Kaiser Alexander gegenüber in den entschei- 
denden Augenblicken seine Politik fast immer durchzusetzen 
verstand, auch gegen den „glänzenden“ Paul Schuwalow, wollte 
von dem geheimen Zusatz eigentlich gar nichts wissen. „Was 
könne es Rußland helfen“, hat er Schweinitz gesagt!?®, „wenn wir 
ihm erlaubten, etwas zu tun, wozu ihm die Flotte, das Geld, 
die Macht fehlten? Wenn es bekannt würde, daß Kaiser Alexan- 
der sich vertragsmäßig die Freiheit ausbedungen habe, die 
Meerengen in Besitz zu nehmen, so könne es nicht ausbleiben, 
daß Italien und England, wahrscheinlich auch andere Mächte 
sich vereinigen; für 20, für 50 Jahre hinaus werde Rußland wohl 
kaum imstande sein, derartige Pläne auszuführen, warum also 
in ein Abkommen, das nur für 3 Jahre gelten solle, eine solche 
Forderung aufnehmen? Graf Schuwalow wolle hierdurch dem 


1355 G. P. Bd. V, S. 213. 
136 Bericht Schweinitz v. 80. IV. 87, G. P. Bd. V, S. 226f. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 175 


Vertrage Glanz verleihen ...'" Wenn Rufland trotzdem, unter 
dem EinfluB Schuwalows, auf dem Zusatz bestand, der ja auch 
den innersten Wünschen des Kaisers Alexander entsprach!??, 
80 war von der Formulierung bis zur Ausführung doch ein weiter 
Weg. Giers hat seine Auffassung nie geändert; noch im Juli 
1888 hat er in Petersburg Herbert Bismarck gesagt, er hoffe 
die Lösung dieser Frage (sc. Meerengen-) nicht zu erleben!?®, 
Diese politische Wirklichkeit ist Bismarcks Ausgangspunkt; wie 
immer treibt er auch hier ,,Gelegenheits'-Politik. Den brennen- 
den Wunsch des Kaisers, einmal die Meerengen zu besitzen, 
benutzt er gern!“, um durch die Aufnahme dieses Wunschzieles — 
eigentlich nur eines Wunschtraumes — sich den Kaiser Alexan- 
der im besonderen MaBe zu verpflichten, in der GewiBheit, daB 
er den ,,Brotkorb'' nicht erst „‚hochzuhängen“ brauche, um ihn 
für Rußland unerreichbar zu machen; denn die Passivität des 
Kaisers war nicht geeignet, die entschiedene Abneigung seines 
Außenministers gegen orientalische Abenteuer zu überwinden! 

Konnte Bismarck so mit Sicherheit darauf rechnen, daß 
Rußland trotz des Geheimzusatzes keine Schritte tun werde, 
um das Zusatzabkommen zum Rückversicherungsvertrage von 
sich aus zu realisieren, so ist es eben diese schärfste Berechnung 
der Wirklichkeit, die ihm ermöglichte, den „Punkten“ der Orient- 
entente seine Zustimmung zu geben. Er wußte, daß von russi- 
scher Seite ein Vorstoß nicht zu erwarten war und daß also 
russische Ansprüche aus dem Zusatzvertrage an Deutschland 
nicht herantreten würden; und aus eben diesem Grunde konnte 
er politisch ein Abkommen billigen, in dem die Mächte der 
„Gruppe“ sich verpflichteten, eine Änderung des status quo der 
Türkei und der Meerengen nicht zuzulassen, ja, konnte er es 
befördern; denn Österreich mußte in dem Maße sicherer werden 
und das Gefühl verlieren, daß es aus Angst vor Regen ins Wasser 
springen, aus Furcht vor einem russischen Angriff den Krieg 
gegen Rußland herbeiführen müsse, als es sich gegen Rußland 
durch das Festerwerden der Gruppe gedeckt sah. 

Wenn man versuchen will, in einem Bilde die kühne Bis- 
marcksche Politik, die zur Rückversicherung und zur Bildung 

W' Vel. dazu G. P. Bd. V, S. 47, Bd. VI, S. 101. 


ue Vgl. G. P., Bd. VI, S. 336. 
2 Vgl. vor allem G. P. Bd. VI, S. 102. 


176 Richard Moeller 


der Gruppe geführt hat, zu begreifen, so ist es nicht Noacks 
Deutung!“ von den beiden sich kreuzenden Wegen, die zutrifft; 
denn es gibt keine Kreuzungsstelle auf diesen beiden Wegen. 
Man könnte wohl eher sagen, daß Bismarck durch seine Politik 
die beiden Gegenpole so dicht aneinander herangeschoben hat, 
daß eine Funkenstrecke sich nicht mehr bilden konnte. Was 
tollkühn aussieht, was den Krieg unvermeidlich zu machen 
scheint, ist doch in Wirklichkeit so geeignet wie möglich, um 
alles in der Schwebe zu halten; bei stärkster Rivalität kann eine 
Entladung nicht eintreten. Stirn an Stirn gegeneinander ge- 
preßt, halten die beiden Gegner sich die Waage — und wenn es 
ein dynamisches, nicht ein statisches Gleichgewicht ist — nun, 
so erinnern wir uns, daß alle Politik dem organischen Lebens- 
bereich angehört! 

Als Macchiavellismus kann man auch dies genialste aller 
Bismarckschen Meisterwerke nicht ansehen. Es ist nichts darin, 
was gegen die landläufige Moral ginge. Niemand wird getäuscht 
oder übervorteilt ; ja, man kann sagen, nicht nur nach dem eigenen 
wahren Vorteil der so aneinander geschobenen Máchte, sondern 
auch aus ihrem eigenen, von Bismarck aufs schärfste er- 
kannten Wesenswillen heraus hat er diese Politik geordnet und 
gerichtet. 

Es bleibt die Tragik, daß die Nachfolger, Caprivi und Mar- 
schall, uneingeweiht und sachfremd, sich für zu unbedeutend 
oder für zu ehrlich hielten, um diese Politik hóchster sachlicher 
Ehrlichkeit fortzusetzen, und daB sie sie deshalb zertrümmerten. 
Aber damit ist zugleich zwischen der Bismarckschen „Friedens- 
politik“ und der deutschen Politik, die zum Weltkriege und zum 
Zusammenbruch des Bismarckschen Reiches führte, nachdem das 
Bismarcksche System längst zusammengebrochen war, der 
Kausalzusammenhang zerrissen! 

Wir kónnen, wenn nicht schon in unsere politische Gegen- 
wart, so doch in unser geschichtliches BewuBtsein das groBe 
Bild unzerstórt hinüberretten, das Bild des groBen Staatsmannes, 
der, wie man zu dem Wert seiner innerpolitischen Leistungen 
stehen mag — ich teile darin Noacks Auffassung zum größten 
Teil — in seiner AuBenpolitik das von ihm gegründete und ge- 


14 Vgl. Noack S. 356. 


Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 177 


führte Reich der Mitte zum Bollwerk des europäischen Friedens 
machte! 

Noacks Gebilde eines durch Krieg gegen Rußland erneuerten 
und vergrößerten Mitteleuropa ist ein Spuk und ein Schemen. 
Noack sieht die eigentliche, verfehlte Aufgabe des Deutschtums 
und seines größten Staatsmannes darin, ein neues Großösterreich 
bis ans Ägäische Meer und an die Pforten des Bosporus zu schaffen. 
Nachbismarckische Politik hat getan, was Noack verlangt. Sie 
hat die junge und unverbrauchte Kraft Deutschlands eingesetzt 
für das imperialistische Gebilde des Habsburgerreiches, das 
nicht die moralische Kraft hatte, neue innerpolitische Voraus- 
setzungen für sein Territorium zu schaffen. Wir haben, als wir 
Österreich-Ungarn nicht nur in seinem Bestande als Großmacht 
schützten, sondern es in den Imperialismus gegen die kleinen 
Balkanvölker hineingehen ließen und zuweilen selbst hinein- 
trieben, uns an dem Geist der Geschichte versündigt, der über- 
nationale Imperien in Europa nicht mehr duldet! 

Wenn die Geschichte auf solche Sünden Strafe folgen läßt, 
80 ist sie eingetreten, wie uns scheint, über das Maß unserer 
Sünden hinaus. Das Habsburger Reich ist nicht mehr — und 
Deutschland wird ein Jahrhundert brauchen, um sich aus dem 
Zusammenbruch wieder zu erheben; inzwischen aber hat Europa 
aufgehört, ein geschichtlicher Schauplatz ersten Ranges zu sein; 
es ist in den Schatten des weltgeschichtlichen Geschehens gerückt. 

Aber die Taten der großen Staatsmänner verblassen nicht; 
sie bleiben nicht nur als Erinnerung an die Vergangenheit, sondern 
auch als Vorbild für die Zukunft. Und wie der größte deutsche 
Staatsmann auf der Höhe seines Wirkens als „Minister von 
Europa! für alle gewirkt hat, so kann auch das heutige Deutsch- 
land sein Teil dazu beitragen, das kommende Europa zu ge- 
stalten, dem gewiß die Freiheit aller seiner Nationen nicht 
fehlen kann, in dem aber die Freiheit des einzelnen in der Ein- 
heit, dem Frieden des Ganzen, gekrönt und aufgehoben sein wird! 


M1 Vgl. A. O. Meyer, a. a. O., S. 16. 


Histor. Vierteljahrschrift. Band 26, H. i. 12 


178 


Kleine Mitteilungen. 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer!. 


Bischof Balderichus von Speyer (970—987) hatte seine Schülerin Ha- 
zecha, die später Schatzmeisterin des Klosters Quedlinburg (Harster II, 
S.102, ad Hazecham sanctimonialem urbis Quidilinae kimili- 
archen) war, beauftragt, das Leben und Leiden des hl. Christophorus zu 
besingen, und sie hatte sich dieser Aufgabe inaudita in id genus ver- 
suum dulcedine entledigt. Leider hatte der Bibliothekar des Bischofs 
das wertvolle Werk verloren?, und nun wandte dieser sich mit demselben 


1 Unten werden zitiert: a) Harster I= Walther v. Speier, ein Dichter des 
X. Jahrhunderts. Von Dr. W. Harster. Beigabe zum Jahresbericht 1876/77 der 
K. Studienanstalt zu Speier. 1877. b) Harster II — Waltheri Spirensis Vita et 
Passio Sancti Christophori Martyris von W. Harster. Beigabe zum Jb. 1877/78 d. 
K. St. z. Speier, München 1878. 

2 Harster I, S. 15, bezweifelt die Richtigkeit dieser Angabe: „Übrigens stimmt 
das obige, in dem Briefe Walthers an Hazecha enthaltene Lob sehr wenig zu den 
Worten, die derselbe in dem prosaischen Prologe seinen Lehrer an ihn richten läßt: 
Hunc (historiarum s. Christophori) libellum, quem quorundam negli- 
gentium depravavit incuria scriptorum, tibi emendandum vel potius 
iuxta Maronis in versibus disciplinam etc. exarandum iniungam, 
und es entsteht die Vermutung, daB es mit der Meldung Walthers an Hazecha von 
dem Verluste ihres Werkes nicht so ganz richtig gewesen und vielmehr die Arbeit 
von Balderich zu schwach befunden worden sei, der dann Walther beauftragte, 
sich an demselben Gegenstande zu versuchen." Ich habe nicht die Aufgabe, Walther 
und seinen Bischof gegen den Vorwurf der Lüge zu verteidigen, muß aber doch 
bemerken, daß das in den angeführten Worten nicht enthalten ist. Der Libellus, den 
der Bischof ihm als Material überreicht, kann doch dieselbe Quelle sein, die schon 
Hazecha benutzt hatte, von ihrer Arbeit ist hier mit keinem Wort die Rede. — Auch 
K. Richter, Der deutsche St. Christophorus, Diss. Berlin 1895, hält Walthers ÁuBe- 
rung für Unwahrheit und hat sogar einen ganzen Roman in Bereitschaft, aus dem 
man die Veranlassung zu diesen Schwindeleien ersieht. Bis auf weiteres halte ich 
mich an das, was der Dichter sagt. Auch Manitius, Littg. 2, S. 504, wendet sich gegen 
Richters Ausführungen. 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 179 


Wunsche an seinen jungen Schüler, den Subdiaconus Walther, und zwar 
wollte er, daß er eine Vers- und eine Prosabearbeitung des Themas liefere: 
Harster II, S. 106, iuxta Maronis in versibus disciplinam sive Cice- 
ronis in prosa oder S. 104 gemina scribendi qualitate; das geschah 
ja häufig bei solchen Stoffen, ich erinnere nur an Sedulius, Carmen paschale, 
Bedas Vita Cuthberthi, Alkuins Vita Willibrordi. Das Werk kam zustande 
und wurde Balderich vorgelegt, der es durchkorrigierte und auch Erklärungen 
beifügte, vgl. Epist. ad Hazecham, Harster II, 104, ab eo emendatum et, 
utrerum series poscebat, diligenter expositum; Epist. ad collegas, 
Harster II, 2, examinatione probavit probatumque expositionis 
pollice elimavit. Soweit ging aber seine Beteiligung an dem Werke nicht, 
daß er es in 6 Bücher geteilt hätte, wie man vielfach annimmt, das wäre 
dech auch ein sehr starker Eingriff gewesen und hütte sicherlich teilweise 
geradezu eine Umarbeitung erfordert; Harsters Ansicht, I S. 57, der áuBere 
Umfang des Werkes und die Einteilung des Stoffes in Hauptabschnitte sei 
von Balderich zugleich mit der Stellung der Aufgabe vorgenommen worden, 
wird wohl niemand sich aneignen wollen. Diese starke Beteiligung des Bi- 
schofs an dem Werke haben Harster, I 57, Pannenborg, GGA., 1879, 635, 
Manitius, Littg. 2, S. 504 aus den Worten an Hazecha gefolgert, Harster II, 
104, toto nisu perfectum praefati monitoris manibus in sex quo- 
dammodo libellos dispersum reportavi, das steht aber nicht darin, 
sobald man nur richtig konstruiert, manibus ist nicht Abl. instrumenti 
zu dispersum, sondern Dativ, manibus reportavi, „ich habe es in seine 
Hände gelegt.“ Walther berichtet dann der Hazecha weiter tuae praesen- 
tiae servandum in theca reposui; daB er das Werk — ob es nur das 
Gedicht war, nur dieses war ja in 6 Bücher geteilt, oder auch die Prosa, 
wird nicht klar — an Hazecha geschickt hütte, wird nicht gesagt. 

Was aus diesem für Hazecha aufbewahrten Exemplar wurde, ob sie noch 
einmal nach Speyer gekommen ist, oder ob man es ihr später noch zugesandt 
hat, wissen wir nicht, wohl aber erfahren wir, daB die Kunde von diesem 
Wunderwerk weithin gedrungen sein muß, denn aus dem fernen Salzburg 
richteten mehrere Brüder die Bitte an den Autor, es ihnen zu schicken, Epist. 
ad. coll., Harster II 1, quem visendigratia vestra postulavit adoptio. 
Dieser kam Walther nach, die einzige Handschrift, die uns sein Werk 
aufbewahrt hat, zugleich die einzige, die Nachrichten über ihn enthält®, 
trägt vorn den Widmungsbrief des Dichters ad collegas Urbis Salinarum. 
bxc c MEN . 

* elm. 332 u. 13074, die ebenfalls die Prosa enthalten, 18074 auch den Wid- 
Mungsbrief an Balderich, gehen auf unsere Hs. zurück. 

12* 


180 K. Strecker 


Sie ist uns freilich nicht in Salzburg erhalten, sondern in St. Emmeram in 
Regensburg, von wo sie dann nach München kam und der Kgl. Bibliothek 
als Nr. 14798 einverleibt wurde. 


Es erhebt sich die Frage, was das für ein Exemplar ist. Ist es dasselbe, 
das Walther für Hazecha in der Theca aufbewahrte und das er etwa, nach- 
dem sie es gesehen, nach Salzburg geschickt hat? Ist die uns vorliegende 
Handschrift die nach Salzburg geschickte, oder ist es eine Abschrift, die man 
dort genommen hat und die dann nach Regensburg kam? Von diesen Fragen 
kann man nur eine mit Sicherheit beantworten: die Handschrift, von der 
er der Hazecha schreibt, ist es nicht, obwohl doch der Brief an sie darin 
steht, denn diese war mit Balderichs Erläuterungen versehen, der elm 14708 
aber hat keine solchen. Ungewiß ist auch, ob die Prosa darin stand. So 
fragt es sich weiter, ob es das Exemplar ist, das Walther nach Salzburg 
schickte, oder eine Abschrift desselben. Wenn es wirklich das Dedikations- 
exemplar ist, so haben wir immer noch die zwei Möglichkeiten, daß Walther 
es entweder selbst geschrieben hat oder durch einen andern hat schreiben 
lassen. 


Da gehen nun die Ansichten recht weit auseinander. Der Münchener 
Katalog, d. h. Wilhelm Meyer aus Speyer, der großes Interesse für seinen 
Landsmann hatte, gibt an: „Vitam a. 083—987 conscriptam ex hoc codice 
autographo ut videtur edidit Pez“; danach hätten wir das Original, von 
Walther selbst geschrieben. Sehr prüzis, dabei aber merkwürdig flüchtig, 
sagt Schönbach, Anz. f. d. A. 6, 1880, 156: ,,die einzige Hs. des Gedichtes, 
welche genauer ins Jahr 983 zu setzen ist“ usw. Da der Tod des Bischofs 
(987) in ihr erwähnt wird, kann sie unmöglich ins Jahr 983 gesetzt werden; 
vermutlich liegt ein Versehen vor, Schönbach wollte wohl schreiben ‚welches‘, 
denn das Gedicht muß man wirklich ins Jahr 983 setzen nach den Schluß- 
versen 


Hee ypolgvita Waltherus ab urbe Nemeta 
Pro vice Christophori metrica depinxit amussi, 
Cum primum regno successit Tercius Otto. 


W. Meyers Ansicht gegenüber, die Einrichtung des Ganzen, insbesondere 
der Über- und Unterschriften der einzelnen Bücher, kónnten den Gedanken 
erwecken, daB wir in der Hs. das Autograph des Dichters selbst besitzen, 
weist Harster I, S. 8 auf allerlei Schreibfehler hin, die es doch recht zweifel- 
haft machten, ob wirklich der Dichter selbst so geschrieben haben könnte; 
viele seien freilich von derselben oder einer gleichzeitigen Hand verbessert 
worden, viele aber auch stehen geblieben, z. B. proslamba nomenon, wo 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 181 


erst eine spätere Hand einen Verbindungsstrich gezogen hat, und ähnliches 
mehr, was man dem Dichter selbst kaum zumuten dürfe. Auch sei der Um- 
stand bei einem Original recht auffallend, daß auf den 41/, Seiten leeren 
Pergaments, die zwischen der metrischen und der prosaischen Passio stehen, 
in ungewöhnlich großen Buchstaben ein Hymnus auf den Erzengel Michael 
eingetragen sei. (Warum das bei einem Original auffallend sein soll, ist mir 
nicht ganz klar.) Pannenborg sagt kurz ohne Begründung GGA. 1879, 
634 „eine Abschrift desjenigen Exemplares, welches der Verfasser nach 
987 seinen Salzburger Kollegen schickte“. Ähnlich auch K. Richter. Nicht 
ganz deutlich schließlich Manitius Lttg. 2, 503: ,, Jedenfalls vereinigte Walther 
später alle die zur Geschichte seines Werkes gehörigen Briefe mit demselben, 
und eine solche Abschrift aus St. Emmeram ist als einzige Überlieferung 
auf uns gekommen“. — Einen ganz eigenartigen Standpunkt nahm, um auch 
das noch zu erwühnen, Nolte in der Besprechung der Harsterschen Ausgabe 
Za. f. d. österr. Gymnasien 30, 617ff. ein: „Leider ist der Codex reich an 
Corruptionen und, wie Dr. Harster richtig bemerkt, kein Original. Ich bin 
der Ansicht, daB er wie die Mehrzahl der vorhandenen Hss. kopiert wurde 
aus einem Codex, der durch Alter, Gebrauch, Feuchtigkeit abgenutzt, viel- 
leicht hie und da durchlöchert ziemlich unleserlich geworden war. Unter 
solchen Umständen ergänzten die Abschreiber das unleserlich Gewordene 
oder Verlorengegangene, so gut sie es vermochten“. Eine solche — aller- 
dings ganz unbewiesene und unbeweisbare — Sachlage vorausgesetzt, muß 
man dann allerdings die Berechtigung in Anspruch nehmen, den korrupten 
Text dureh starke Ánderungen wieder in Ordnung zu bringen, und Nolte hat 
denn auch von dieser Berechtigung reichlichen Gebrauch gemacht und an 
Konjekturen nicht gespart; leider hat er ihnen keine Erklärungen mit auf 
den Weg gegeben, deren sie dringend bedürfen, einige wirklich gute Ver- 
besserungen ausgenommen, Diese ganze Methode ist recht veraltet, wir 
können die Behauptung, daß wir in 14798 die Abschrift einer stark beschä- 
digten Vorlage hätten, ohne Schaden beiseite lassen. — 

Ist clm 14798 Original oder eine in Salzburg, vielleicht auch in Regens- 
burg, wohin ja das Original verliehen werden konnte, gemachte Abschrift? 
Will man der Wahrheit näher kommen, so muß man die Hs. genauer be- 
trachten als bisher geschehen ist. Harster, ebenfalls ein Landsmann des 
Dichters, der ihm sonst so außerordentlich viel Mühe widmete, hat in dieser 
Beziehung mancherlei zu tun übriggelassen. 

Die Hs. besteht aus zwei nicht zueinander gehörenden Teilen: f. 1—70 
enthalten Walthers Passio des Christophorus mit den verschiedenen dazu- 
gehörigen Stücken, f. 71—92 bilden einen zweiten für sich stehenden Kodex, 


182 K. Strecker 


der von einer etwas früheren Hand, 9. bis 10. Jhdts., geschrieben ist; er wurde 
später mit dem Christophoruskodex vielleicht deswegen zusammengebunden, 
weil er ebenfalls hagiographisch ist; f. 71r—86v steht die Vita Euphrosynae, 
Bibl. hagiogr. Nr. 2722, und f. 86v—92v die Passio Felicis et Regulae, Bibl. 
hag. 2891. 

Uns beschäftigen nur Bl. 1—70. Walthers Werk besteht aus einer ganzen 
Reihe von Teilen, die hier kurz in der Reihenfolge der Hs. aufgeführt seien. 
Den Anfang macht die Widmungsepistel an die Salzburger (Prosa). Es folgt 
der Prologus in Scolasticum (metrisch), die Praefatio ad invitandum 
lectorem idonea (metrisch) und der Primuslibellus de studio Poetae, 
qui et Scolasticus, darauf die metrische Passio in 5 Büchern und die 
prosaische Epistel an Hazecha. Nach 4!/, leeren Seiten, die später beschrie- 
ben worden sind, beginnt dann der prosaische Prologus de vita s. Christo 
phori, an den die prosaische Passio sich reiht. Diese endet auf f. "Or, 
auf f. 70v war eine Balderich gewidmete Miniatur geplant, die von einem 
aus vier Hexametern gebildeten Rechteck, fast Quadrat eingerahmt war. 
Die Hexameter mit ihrer Widmung an B. sind eingetragen, die Miniatur 
selbst ist nicht zur Ausführung gelangt. Man glaubt zwar Spuren von einigen 
Vorzeichnungen, Linien und Halbkreisen, zu erkennen, die Ausführung. ist 
aber aus irgendeinem Grunde unterblieben. 

Sieht man nun f. 1—70 genauer an, so erkennt man mit Überraschung, 
daB man es mit zwei, oder eigentlich drei Handschriften zu tun hat, die 
später vereinigt worden sind. Die Zusammensetzung ist folgende: die erste 
Lage besteht lediglich aus einem Doppelblatt; von diesem ist die erste Hälfte, 
das erste Blatt, als Schutzblatt außen leer (im 12. Jh. hat jemand mit 
Minium eine Mitra darauf gemalt, die auf dem Kopf steht, im 14. Jh. wurde 
Vita sti xpoferi metrice et prosayce darauf geschrieben), während die 
ganze Versoseite der in roter Capitalis ausgeführten Widmung Epistola 
Waltheri subdiaconi ad collegas Urbis Salinarum directa vorbe- 
halten ist. Das Blatt ist nicht numeriert. Auf f. 1r, 1v ist dann der Wid- 
mungsbrief selbst eingetragen, Inc. Dominis liutfredo, Expl. placuit 
vocari. Dies Doppelblatt war noch nicht mit dem folgenden ersten Qua- 
ternio vereinigt, als es beschrieben wurde, das erkennt man deutlich daraus, 
daB der letzte Satz der Widmungsepistel Titulum uero — placuit vocari 
mit kleineren Buchstaben geschrieben und von dem Worte propter an enger 
zusammengepreBt worden ist, der Schreiber muBte eben mit dem zur Ver- 
fügung stehenden Raume auskommen. Hätte die Epistola, als sie hier ein- 
getragen wurde, schon zum Kodex gehört, also in einer abzuschreibenden 
Vorlage gestanden, so würde der Schreiber sich wohl nicht so eingeschränkt, 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 183 


sondern auf der folgenden Seite, f. 2r, weitergeschrieben haben. Wie mir 
scheint, läßt sich schon hieraus mit einiger Wahrscheinlichkeit der Schluß 
ziehen, daB unser Kodex nicht aus dem nach Salzburg geschickten 
Exemplar kopiert, sondern mit ihm identisch ist. Warum übrigens 
dieser letzte Satz noch unbedingt zugefügt werden mußte, ist nicht klar, 
er hinkt merkwürdig nach. Bemerkt sei noch, daß diese Widmungsepistel 
wohl von derselben Hand geschrieben ist, wie der übrige Kodex. Freilich, 
wenn man die Hs. zum ersten Mal aufschlägt und f. 1v, den Schluß des 
Briefes, neben f. 2r, dem Anfang des Prologus, sieht, urteilt man bestimmt 
anders, durch längeres und häufiges Vergleichen bin ich zu der Überzeugung 
gekommen, daß für beide derselbe Schreiber angenommen werden muß. 


Es folgen in der Hs. zunüchst fünf Quaternionen: 1) f. 2—9, die inneren 
Blätter 5, 6 hängen nicht zusammen, sondern sind eingeheftete Einzelblätter. 
2) f. 10—17. 3) f. 18—25; auch hier sind die inneren Blätter 20, 21 Einzel- 
blätter. 4) f. 26—33. 5) f. 34—41. Daran schließt sich ein Ternio, drei zu- 
sammenhängende Doppelblütter f. 42—47; doch sind nur die ersten vier 
Blätter, 42—45, ganz beschrieben, von f. 46r enthält nur die obere Hälfte, 
10 Zeilen, den Schluß der Epistola ad Haz., die also zur metrischen Passio 
gehört. Der Rest des Ternios, f. 46r zur Hälfte, 46v, 47r, v, blieb zunächst 
leer. An das leere Blatt 47r,v schließen sich zwei Quaternionen, f. 48—554 
und 56—63, von denen wieder zwei Blätter nicht zusammenhängen, und 
schließlich folgt eine Lage von 7 Blättern; das siebente ist angeheftet, auBer- 
dem sind aber auch die Blätter 66, 67 einzeln eingefügt; f. 48—70r enthalten 
die Prosa und davor den Prologus de vita s. Christophori; der SchluB steht 
auf 70r, auf 70v die obenerwühnten Anfänge einer geplanten aber nicht 
ausgeführten Miniatur. Die Texte sind auf f. 48—70r von derselben Hand 
geschrieben wie f. 1—46, die Ausstattung ist dieselbe, die Seiten haben eben- 
falls 20 Zeilen, trotzdem kann man aber feststellen, daB diese letzten Lagen 
mit der Prosa (von 48v an) als eine selbstándige Handschrift gedacht waren, 
denn der Text beginnt erst auf S. 48v. Das hat m. E. nur dann Sinn, 
wenn diese leere Seite 48r als Schmutzblatt die AuBenseite einer eigenen 
Handschrift bilden sollte, nicht aber, wenn diese drei Lagen f. 48—70 von 
vornherein dazu bestimmt waren, als Fortsetzung des metrischen Christo- 
phorus hinter 47v angebunden zu werden. Sie können um so weniger zu 
diesem Zweck geschrieben sein, als der metrische Christophorus ja gar nicht 
die letzte Lage der ersten Handschrift füllt, sondern 31/, Seiten leer läßt. 
Sollte von Anfang an der prosaische Christophorus auf den metrischen folgen, 


— 


* In der Hs. sind die Blätter von 50 an nicht mehr numeriert außer 60 r, 70r. 


184 K. Strecker 


so hätte man auf S. 46r fortgefahren zu schreiben. Man darf überhaupt die 
beiden Bearbeitungen des Stoffes, die metrische und prosaische, nicht als 
ein Werk ansehen, das gewissermaßen als ein Corpus dem Bischof überreicht 
wäre, sondern sie sind zu verschiedenen Zeiten fertiggeworden, und zu ver- 
schiedenen Zeiten überreicht worden, das geht für mich daraus hervor, daß 
jede eine eigene Widmung an Balderich hat, beide Widmungen aber teil- 
weise dieselben Gedanken fast mit denselben Worten aussprechen, was m. E. 
kaum möglich wär, wenn sie zu einem Werke vereinigt gewesen wären. 
Vgl. Harster II, S. 6, 24 omnibus inversam vitiis obducito pennam, 
S. 108 erratis pennam invertas. 6, 25 proice quisquilias. S. 108 
superflua reseces. S. 6, 25 hiantes oblinerimas. S. 108 rimas hian- 
tium suppleas. S. 6, 26 dictaque commodius in gratum suscipe 
munus. S. 108 commode dictis surrideas, Zu dieser Selbstándigkeit 
der Prosa stimmt es nun vortrefflich, daB sie in der erhaltenen Hs. ein eigenes 
Schmutzblatt hat. 

Was folgt aus dem Dargelegten? Daß elm 14798 die genaue Abschrift 
des von Walther nach Salzburg geschickten Exemplars ist, scheint so gut 
wie ausgeschlossen zu sein, man hätte ohne Zweifel die 41/, Seiten, 46r ff., 
eingespart, hátte von der Lage, die mit der Prosa beginnt, nicht die erste 
Seite 48r leer gelassen, hütte schlieBlich den Widmungsbrief nicht auf ein 
einzelnes Doppelblatt geschrieben, wobei man sich zum SchluB mit dem 
Raum so behelfen mußte. Dazu kommt noch ein merkwürdiger Umstand: 
die Hs., wie sie uns jetzt vorliegt, stimmt nicht zu der Widmung an die Salz- 
burger. Wenn es dort heißt, Harster II, S. 1: Libellum nostrae modula- 
tionis, quem visendi gratia vestra postulavit adoptio, quatenus 
opera fidem praebeant dictis, iuxta promissum in promptu habe- 
tis, so paßt dieser Ausdruck nur für f. 2—47, Nehmen wir an, daß nur der 
metrische Christophorus, der Libellus modulationis, mit dem mannig- 
faltigen Beiwerk, Prologus, Praefatio, Epistola ad Hazecham und Widmung 
nach Salzburg geschickt werden sollte, so erklärt es sich, daß die letzten 
31/, Seiten leer blieben; wenn von Anfang an die Beigabe der Prosa beabsich- 
tigt wurde, so ist diese Verschwendung nicht zu begreifen, noch weniger ver- 
steht man, weshalb die AuBenseite des ersten Quaternios der Prosa, 48r, 
frei blieb. Warum der Autor sich entschloB, die Prosa beizugeben, kónnen 
wir nicht wissen. Jedenfalls aber steht bei dem dargelegten Tatbestande für 
mich fest, daß 14798 keine Abschrift des Dedikationsexemplars ist, 
sondern dieses selbst, wie W. Meyer annahm. 

Leider muß zugestanden werden, daß wir auch bei der Annahme, 14798 
sei das Geschenk an die Salzburger auf große Schwierigkeiten stoßen. Wa- 


Die Handschrift des Christophorus von Waither von Speyer 185 


rum ist die Prosa entgegen der zuerst bestehenden Absicht später zugefügt 
worden? Und wenn sie ursprünglich nicht für den Geschenkband bestimmt 
war, wie kommt es dann, daß sie gerade so geschrieben ist, von derselben 
Hand, auf Blättern desselben Formats, 20 Zeilen auf der Seite, die ganze 
Ausstattung dieselbe ist? Eine einfache Lösung wäre es, wenn man annehmen 
könnte, Walther hätte die ganze Hs. selbst geschrieben, dann hätte es nichts 
Auffallendes, wenn er das Exemplar der Prosa, das er etwa Balderich über- 
reichte, gerade so ausstattete, wie später die Hs. für die Salzburger, ja, man 
könnte sich denken, daB beide Teile unserer Hs., die metrische Behandlung 
wie die Prosa, ursprünglich dem Balderich gehört hätten und nach des 
Bischofs Tode dem Dichter zurückgegeben wären. Doch ist das kaum möglich, 
denn der Brief an Hazecha, der den ersten Teil beschließt, ist ja nach des 
Bischofs Tode geschrieben. 

Und noch eine Schwierigkeit. Zu der Annahme, daß die Prosa ursprüng- 
lich selbständig war, stimmt es nicht, daß die Lagen der Hs. von f. 2 an durch- 
numeriert sind! Fol. 9v, 17v, 38v, 41v, 55 v, 63v sind die Kustoden deutlich 
lesbar, f. 25 v und 47v sind sie (III und VI) wegradiert; ob auf dem Schluß- 
blatt 70 v eine Zahl steht, kann ich nicht erkennen. Diese Durchnumerierung 
spricht wohl nicht dagegen, daB die Prosa ursprünglich nicht mit der metrischen 
Bearbeitung zusammenhing, sie kann ja erfolgt sein, als der ganze Kodex 
zusammengestellt wurde, notwendig war sie, wenn die Hs. nicht sofort ge- 
bunden wurde, wie das ja nicht selten war (vgl. Wattenbach, Schriftwesens, 
995), wenn man das auch bei einem Geschenkbande nicht gern annehmen 
möchte. Daß die Lagen eine Zeitlang lose übereinanderlagen, scheint daraus 
hervorzugehen, daß die äußeren Blätter der Lagen vielfach anders, dunkler 
gefärbt sind als die inneren; am meisten fällt es bei IL, III., IV., V. auf. 
Gegen diese Annahme scheint nun aber eine andere Tatsache zu sprechen: 
sämtliche Lagen und auch das Doppelblatt mit der Widmung am Anfang 
haben in der halben Hóhe der Seite ein Heftloch, das bei dem jetzigen Ein- 
band nicht benutzt ist. Wenn feststánde, daB der jetzige Einband auf den 
Binder zurückgeht, der unseren Kodex mit dem obenerwühnten hagio- 
graphischen zusammenband, so würde man zu der Vermutung gedrängt, daß 
jenes jetzt unbenutzte Heftloch auf den ersten Einband zurückgeht, und 
den móchte man doch wohl vor die Übersendung nach Salzburg setzen. 
Volle Klarheit darüber zu gewinnen scheint schwer, fast aussichtslos. Sicher 
aber ist es mir, daB wir den Geschenkband haben. 

Nun aber noch eine Frage: Folgt daraus ohne weiteres, daB wir Walthers 
Autograph besitzen? W. Meyer hat die Frage nicht so gestellt, ihm ist das 

letztere selbstverständlich, während Harster umgekehrt zu schließen scheint, 


186 K. Strecker 


wenn die Hs. nicht von Walther geschrieben sei, so könne sie nicht das nach 
Salzburg geschickte Original sein. Beides scheint mir nicht ohne weiteres 
gewiß zu sein; ist es denn nicht denkbar, daß Walther einen Kodex, den er 
verschenken wollte, von einem anderen schreiben ließ, oder einen schon vor- 
handenen schickte? Wie schwer es ist, nachzuweisen, daß wir dies und das 
Autogramm aus dem MA. haben, ist bekannt, darum lohnt es sich, der Frage 
nachzugehen, selbst wenn eine ganz klare Entscheidung sich nicht ergeben 
sollte. Jedenfalls lohnt es sich deswegen, weil dabei einiges Licht auf Walthers 
Werk fällt, das der Erläuterung noch sehr bedarf. 

Einige Beobachtungen scheinen die Annahme zu bestätigen, daß wir 
Walthers Autogramm haben. In dem mehrfach erwähnten Widmungsbrief 
an die Salzburger folgen auf den Schluß iterum iterumque valete noch 
die merkwürdigen Worte Aegritudo et infirmitas infirmavit literas. 
Bedeuten die literae die Buchstaben, also die Schrift, oder den Inhalt? 
Meiner Ansicht nach kann sich der Ausdruck nicht auf den Inhalt beziehen — 
sollte man überhaupt an den Inhalt des Briefes oder des ganzen Werkes 
denken? —, sondern nur auf die äußere Form, die Schrift, wenn man auch 
nicht recht einsieht, inwiefern es da einer Entschuldigung bedarf, denn sie 
unterscheidet sich nicht wesentlich von der auf den andern Blättern. Der 
Mann, der in diesem Briefe zu seinen Kollegen spricht, ist Walther. Wenn am 
Schluß die Entschuldigung wegen der schlechten Schrift steht, so scheint 
sie doch eigentlich nur Sinn zu haben, wenn der Brief von dem Sprechenden 
selbst geschrieben ist, nicht von einem namenlosen Schreiber. Ferner: Zu 
Anfang in der Anrede des Briefes steht Waltherus quod magnis auf 
Rasur wie es scheint von erster Hand. Ist es denkbar, daß ein Schreiber 
gleich zu Anfang seiner Tätigkeit den Namen seines Auftraggebers falsch 
geschrieben oder ausgelassen hatte, so daß schon hier eine Rasur nötig wurde, 
um ihn einzufügen? Man wird zugestehen, daß diese Anstöße sich leichter 
erklären, wenn Walther selbst der Schreiber ist. — Auch sonst ist einiges 
anzuführen, was dafür sprechen könnte. Die Verse 1, 87—91 sind f. 8T von 
derselben Hand, aber wie es mir scheint, spáter eingetragen, die Zeilen stehen 
enger aneinander, so daß die Seite 21 Zeilen hat. Von Rasur ist nichts zu 
bemerken, so kommt man zu der Vermutung, da8 der Raum leer gelassen 
war und dann vom Verfasser, nicht von einem Schreiber ausgefüllt wurde. 
Áhnlieh steht es auf der Versoseite mit V. 106—113, die auf Rasur ge- 
schrieben sind. Auch f. 51 Z. 5—8 haben wir den Fall, daß man in dem 
Schreiber auch den Verfasser zu erkennen glaubt. 

Aber es spricht doch gar mancherlei dagegen. Wer W. Meyers Meinung, 
wir hätten das Autogramm des Dichters, beitreten will, muß sich unbedingt 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 187 


mit dem Einwand abfinden, den Harster I, S. 8 mit vollem Recht gegen 
jenen erhoben hat: er verweist auf die zahlreichen Schreibfehler. Es ist 
richtig, der Schreiber hat auffallend viel Fehler gemacht, die Hs. ist teil- 
weise voller Rasuren und Korrekturen von einer gleichzeitigen Hand. Es 
ist schwer zu entscheiden, ob es die erste Hand ist, ich bin geneigt es anzu- 
nehmen, obwohl die Tinte zuweilen anders ist, auf alle Fälle ist die Korrektur 
bald erfolgt. Aber viele Schreibfehler sind nicht korrigiert: ist es denkbar, 
daB der Dichter solche Fehler machte und sie nicht einmal korrigierte? 
Hier erhebt sich wieder eine Frage, die Harster sich offenbar gar nicht 
gestellt hat, die aber zunächst geklärt werden muß: was ist als Schreibfehler 
anzusprechen? Ich muß bitten, hier eine kleine Abschweifung zu entschul- 
digen, die Sache ist prinzipiell nicht uninteressant. Wenn man foronte 
statt fronte liest, lacorum statt locorum, fronsitan statt forsitan, 
so sind das natürlich Schreibfehler, und diese können auch dem Verfasser 
selbst in die Feder kommen, auch wohl bei einer Revision übersehen werden. 
Wenn solche Fälle sich häufen, wird man freilich bedenklich werden und 
lieber den bekannten gedankenlosen Schreiber zur Aushilfe heranziehen. 
Doch ist hier dringend Vorsicht geboten. Harster I, S. 8 erklärt Schreib- 
weisen wie Passiphen (Pasiphaen), Phoetontis (Phaetontis), Phyta- 
gorae (Pythagorae), Agrimnia (Agrypnia) für Schreibfehler und 
korrigiert die Wörter einfach nach der klassischen Schreibweise ab. Das ist 
methodisch natürlich ganz falsch. Woher weiß der Herausgeber, daß Walther 
nicht Passiphen usw. geschrieben hat? Bei solchen orthographischen und 
ähnlichen Fragen soll man sich im MA. nicht übereilen, am wenigsten bei 
Walther, der uns mit seinem Vokabelschatz allerlei Rätsel aufgibt. Wenn 
wir diese vorläufig nicht alle lösen können, so haben wir damit noch nicht 
das Recht, so etwas als Schreibfehler zu erklären und munter darauflos zu 
korrigieren. Nehmen wir als Beispiel 1,81 Nomius atque Pales hinnidum 
plebe secuta. Harster macht aus hinnidum kurzerhand hinnientum 
(dreisilbig), die Korruptel sei ja auch nicht schwer zu erklären, in hin nientum 
hätten e und t sich zu d verbunden, hinnientes = equi finde sich zweimal 
bei Apulejus. Nun, wenn diese Korrektur richtig ist, so ist damit auch die 
Frage beantwortet, ob Walther der Schreiber ist, denn daß er selbst hinni- 
entum in hinnidum verdorben hätte, ist ja wohl nicht anzunehmen. Aber 
nach meinem Urteil ist es ganz unzulássig, so vorzugehen; wenn ich dazu 
komme den Walther zu drucken, so wird man bei mir die Form hin nid um 
finden, falls sich nicht noch irgendeine andere Lósung findet. Ein Beispiel 
dafür, wie sehr man sich solche Ánderungen überlegen muB, will ich etwas 
eingehender besprechen. In Buch I handeln V. 182—203 von der Musik, 


188 K. Strecker 


V. 191 ff. von den fünf Intervallen, und zwar heißt es vom yẽvog sgunlacıor 
V. 194 Tripla quater triplices profert asnomia cantes. Harster 
korrigiert die unheimliche Stelle mühelos zu profert harmonia cantus. 
Begründung: „harmonia glaube ich statt des handschriftlichen asnomia 
lesen zu müssen, und zwar braucht hierbei nur eine Verschreibung von r in s, 
und eine Umstellung von m und n angenommen zu werden, das h fehlt auch 
V. 198 in armonicam.“ Nun, daß „nur“ eine Verschreibung von r und s 
angenommen werden muß, klingt fast so, als urteilte Harster nach unserer 
gedruckten Antiqua, ebenso wie oben, wo er d aus et entstanden sein läßt, 
aber er hatte doch die Hs. selbst gesehen und hätte wissen können, daß r 
und s damals gar nicht so ähnlich sind. Und vier Verse später ist dies hier 
so grausam verstümmelte Wort richtig geschrieben! Harster hat eins dabei 
gar nicht beachtet: das Wort asnomia steht ebenso wie cantes auf Rasur! 
Wenn ein Wort wegradiert wird, damit es durch ein neues, richtigeres ersetzt 
werde, wird man nicht ohne weiteres glauben dürfen, daß der Korrektor, 
ob es nun derselbe Schreiber oder ein anderer war, sich in dem als Korrektur 
eingesetzten neuen Worte gleich zweimal verschrieb. Nach meiner Ansicht 
dürfen wir asnomia ebensowenig ändern wie das erwähnte hinnidum, 
wenn wir auch zugestehen müssen, daß wir das Wort nicht verstehen; hoffent- 
lich gelingt es noch einmal, das betreffende Glossar oder den Kommentar 
festzustellen, dem Walther es entnahm. Solche Quellen benutzte er zweifel- 
los, wie z. B. das Wort clasendix, 6, 184 beweist, und ebenso an unserer 
Stelle das Wort cantes. Auch dies steht auf Rasur, auch hier soll sich der 
auf Rasur korrigierende Schreiber verschrieben haben. Höchst merkwürdig. 
Harster bemerkt zu der Stelle: „desgleichen ist unzweifelhaft cantus mit 
Pez statt cantes zu schreiben, ebenso wie 5, 93.“ Wenn das nur so un- 
zweifelhaft wäre! V. 1, 194 wurde oben abgedruckt, 5, 93 lautet: Quid 
tardas fragiles impellere, psaltria, cantes? Diese doppelte Ver- 
schreibung cantes statt cantus ist bei einem so geläufigen Worte doch 
sehr wunderbar (1,86, 1,93, 1,186 ist es richtig geschrieben), und dazu 
findet sich V. 1,194 dieser angebliche Schreibfehler auch noch auf Rasur 
ebenso wie bei as nomia. Und man sehe sich die Verse an: beide Male, 1, 194 
und 5,93, wird durch Harsters Ánderung ein korrekter leoninischer Reim 
zerstört! 

Wie steht es denn mit dem Reim bei Walther? Harster II, S. V hat 
gerade für die beiden hier in Betracht kommenden Bücher den Reim 
untersucht, ich kann kurz auf seine Ergebnisse verweisen: Buch I hat nach 
ihm unter 271 Versen 198 reine Leoniner, unrein sind im ganzen 44, reimlos 
29, also etwas mehr als der zehnte Teil. Im fünften Buche ist es nicht 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 189 


viel anders, dort sind von 250 Versen gerade 30 reimlos®. Also kann man 
sagen, daß ungefähr % der Verse leoninisch sind, der leoninische Reim 
ganz offenbar gesucht wird. Und Harster zerstört in beiden Büchern durch 
die Anderung cantus je einen leoninischen Vers! Ist das methodisch richtig? 
Er weiß sich allerdings zu helfen, II, S. VI, „wenn der Reim als zweites den 
Versbau bestimmendes Prinzip in Geltung ist, so brauchen wir uns nicht zu 
wundern, daß in der Hs. unseres Gedichtes von dem an den Gleichklang 
gewohnten Abschreiber mehrfach Fehler gemacht wurden“ mit Beziehung 
auf 1,194, 5, 93. Ganz hübsch ausgeklügelt, aber nicht eben überzeugend, 
vor allem nicht, weil es an beiden Stellen sich um dasselbe so bekannte Wort 
cantus handelt. Kann man denn nicht an cantes festhalten? Walther 
hat so manche merkwürdigen Wörter, daß man sie nicht ohne Prüfung 
hinauswerfen sollte. So auch hier. Im Lexikon des Papias, übrigens auch 
bei Du Cange zitiert, steht: cantes proprie sunt fistulae, quarum 
sonus musicam edidit. Vgl. auch Osbern, A. Mai, Class. auct. 8, 138. 
l, 193f. heißt es: diplasii octonas erexerat archia chordas, tripla 
quater triplices profert aanomia cantes. Ist diese Parallele von chor- 
das und cantes nicht vortrefflich? Und merkwürdig, 1, 93f. haben wir 
dieselbe Parallele, hier erst cantes, dann chordas. Das soll Schreibfehler 
sen? eantes ist an beiden Stellen beizubehalten. Auch sonst geht Harster 
dem Reim schonungslos zu Leibe. 2, 71 wird der reine Reim neci-trilingui 
durch seine Änderung necis zerstört, ohne daß dadurch etwas gewonnen 
würde. Ebenso mitleidslos geht er 6, 30 mit dem Text um, indem er aus dem 
reinen Reim bello-praedo den unreinen bello-praeda macht; auch hier 
ist ihm ausdrücklich der reine Reim ein Zeichen der Korruptel! 1, 207 et 
primum Boreae gelida defixit ab aure (es handelt sich um den nórd- 
liehen Polarkreis). Es ist ein guter Leoniner, freilich ist mit dem Ohr des 
Boreas nicht viel anzufangen, darum macht Harster aura daraus. Der 
gute Leoniner ist dahin, wenn man ja auch den Reim auf der vierten Hebung 
gelida-aura gelten lassen kann. Aber was heißt das? Mir ist es wahrschein- 
licher, daB v. Winterfeld arce mit Recht für aure eingesetzt hat, dann 
ist Reim und Sinn gerettet. 
Noch einen fünften Leoniner muß ich vor Harster schützen. 1, 55 In- 
strepuit salibus prae cunctis Alphesiboeus, Euterpe tibiis. Ist 
das richtig? salibus hieße doch wohl „mit Witzen'* (Osbern: sales verba 
iocose inventa), das paßt doch schlecht zu instrepuit und zu der Pa- 


* Meine Zahlen stimmen nicht gans zu denen von Harster, doch kommt es ja 
hier nicht auf den einzelnen Fall an. 


190 K. Strecker 


rallele Euterpe tibiis. Harster hält es für verderbt und ich glaube auch 
nicht recht daran. Wie ist zu helfen? Nach Vergil, Ecl. 5, 73 saltantes 
satyros imitabitur Alphesiboeus druckt Harster Instrepuit saltu 
usw. Der schöne Leoniner ist wieder dahin und für den Sinn nicht viel ge- 
wonnen, neben Euterpe tibiis paßt saltu nicht besser als salibus, und 
die Änderung wäre doch sehr bedeutend. Aber Alphesiboeus kann nicht nur 
tanzen, sondern nach der 8. Ecloge auch singen, darum ist doch sehr zu 
erwägen, ob nicht auch hier v. Winterfeld mit seiner Änderung fidibus 
für salibus recht hat. Dann ist der Leoniner auch hier gerettet. Die beiden 
letzten Stellen zog ich heran, weil sie für den Reim wichtig sind, doch passen 
sie insofern nicht hierher, als in ihnen wirklich eine Korruptel vorliegt. — 
Noch eine Stelle möchte ich schließlich besprechen, weil Harster I, S. 8 be- 
sonderes Gewicht darauf legt. Prosa Kap. 29 heißt es von den Wundern 
am Grabe des Heiligen Ubi inter cetera miraculorum genera caecis 
visus, surdis auditus, claudis gressus, mente etiam captis prior 
reparatus est actus. Also: Die Blinden erhalten das Gesicht wieder, 
die Tauben das Gehör, die Lahmen das Schreiten, und die geistig Umnach- 
teten, die Irren den prior actus. Was ist das? Wenn der Text so über- 
liefert wäre, müßte man in Erwägung ziehen, ob er nicht korrupt ist. Aber 
in der Hs. steht gar nicht so, sondern manu etiam captis! Kann etwas 
zu dem prior reparatus est actus besser passen? Die an den Beinen 
Gelähmten können wieder gehen, die an den Händen Gelähmten wieder 
arbeiten! 

Nach dieser Digression komme ich zu meinem Thema zurück. Ich habe 
gezeigt, daB man den Text Walthers nieht unvorsichtig und unnótig ándern 


* Daß Noltes Korrekturen meist recht bedenklich sind, habe ich oben angedeutet. 
Da ich eben bescháftigt bin, die Lesarten des Kodex zu verteidigen, so móchte ich 
hier die Gelegenheit benutzen, eine Probe von Noltes Textbehandlung zu geben und 
eine Stelle gegen ihn zu schützen, weil auch Harster sie nicht verstanden hat, 
4,231ff.Membra levamus eo, quonostraduxitorigo(— Christus) Insinuans 
nobis arti dextralia callis obliquo laevum spectantia lumine ramum, 
per quem mortiferae descendent pignora vitae aeternumsubiturachaos 
cum plebe deorum. Harster bemerkt: „dextralia: der Gegensatz laevum — 
ramum, welches letztere Wort übrigens in der Bedeutung Seitenweg weder Forcellini 
noch Du Cange kennt, zeigt, daB dextralia callis nichts anderes ist als dextrum 
callem oder etwa dextri callis mysteria; die Verbindung mit obliquo ... 
spectantia lumine bleibt freilich eine ziemlich gewagte.“ Nolte weiß Rat, er 
schlägt vor 233 zu schreiben spectantes lumen amoenum! Es bedarf keiner 
Ánderung, wenn man sich klar macht, daB hier auf die Littera Pythagorae angespielt 
wird, vgl. Pers. 8, 56ff. Beispiele sehr häufig, einiges bei Strecker, Cambr. Lieder, 
Nr. 12, 3b. 233 arti callis ist natürlich biblisch (Matth. 7, 14). 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 191 


darf. Aber wenn ich auch in einigen Fällen die Lesart der Hs. gerettet zu 
haben glaube, so bleiben doch andere, wo man der Ansicht sich zuneigen muß, 
daß Walther den Text nicht geschrieben haben kann. Nehmen wir die oben 
schon erwähnte Stelle 1, 55 Instrepuit salibus. Ich habe mich für Winter- 
feds Emendation fidibus ausgesprochen; aber ist sie paläographisch mög- 
lich? Ich glaube doch: s undfsind bekanntlich sehr ähnlich und werden oft ver- 
wechselt, al konnte aus id verlesen werden, wenn der Schreiber in seiner 
Vorlage ein offenes a, wie es in früheren Zeiten üblich war, zu lesen glaubte. 
Wenn dies ganz sicher wäre, so müßte man es als einen zwingenden Beweis 
dafür betrachten, daß Walther nicht der Schreiber ist. Andere Stellen weisen 
nach derselben Richtung. Mag man noch so vorsichtig mit Änderungen sein, 
so ist es doch wirklich kaum zu glauben, daß der Dichter 4,60 von der Venus 
Dedalia gesprochen hat, während ihm bei seinem intensiven Studium des 
Vergil die Venus Idalia (Aen. 5, 760) geläufig gewesen sein muß, die er 
doch kaum mit Daedalus zusammengebracht haben kann. Freilich wer 
will das entscheiden, findet sich bei ihm doch manches, was bei seiner guten 
Schulbildung sehr stark überrascht, wenn man es auch nicht korrigieren 
darf, so wenn er den Regulus gegen die Parther ziehen läßt, Praef. 22, wenn 
Phrixus mit Hellas über das Meer reitet, 1,62, wenn Marsyas und Thamyris 
verwechselt werden, 1,90, Helike in der Form elix erscheint, 1,210, Aurora 
in der Form aura 4,179, 6,167 ? Trotzdem wird es schwer, an eine Venus 
Dedalia zu glauben. Und so sind doch manche Stellen, die gegen ein Auto- 
graph zu zeugen scheinen, beispielsweise (es handelt sich um die Feldmeß- 
kunst) 1,177 Arripiens radium semetretas fecit agrorum. Harster 
hat sich zu helfen gesucht, indem er schrieb radium metretam feeit. 
Die Lösung ist mir nicht sehr wahrscheinlich, wenn ich auch keine bessere 
vorzuschlagen weiß, aber sicher ist es, daß hier ein schlimmer Fehler steckt. 
1,119 steht parua uetustas. Prantl hat korrigiert praua, zweifellos besser, 
aber nicht ausreichend, auch hier würde ich vorziehen, was ich bei Winter- 
feld fand, furva vetustas. 2,8 Samon que caput urbis erat. Samon, 
Samos ist die Hauptstadt von Syrien und kann doch nicht caput urbis 
genannt werden. 6,13 ist exurgent zu verbessern, 6,19 serpant. Einige 
Verse sind unvollständig und nicht zu lesen; daß das bewußte Nachahmung 
des Vergil sei, wird niemand Harster glauben. 5,244ff. sind unverständlich, 
Harster nahm wohl mit Recht Ausfall eines Verses an. In der, Prosa sind 
Stellen wie Harster II, S. 106, 15f., S. 107, 12f. irgendwie nicht in Ordnung, 
am Schluß, Harster II, S. 129, 22 ist sogar der Name des Dichters falsch 
geschrieben, Vultherus. Dazu kommen die ungewöhnlich zahlreichen Ra- 
suren, die beweisen, daß der-Schreiber sich außerordentlich häufig verschrie- 


192 K. Strecker 


ben hat. So komme ich zu dem Ergebnis, daB wir zwar das nach Salzburg 
gewanderte Exemplar haben, aber Walther es nicht selbst geschrieben hat, 
sondern ein anderer. Da wäre es ja immer noch möglich, ja, recht nahe- 
liegend, daß er wenigstens die Vorrede selbst geschrieben hätte, dann wären 
wir doch noch im Besitz seines Autographs, aber wie ich schon betonte, 
ich kann trotz allem nicht daran glauben, daß der Brief von einer anderen 
Hand geschrieben ist als die übrige Handschrift. Freilich, der Satz aegritudo 
et infirmitas usw. behält dann seine Anstößigkeit. Und wer hat die Worte 
auf der ersten Rasur Waltherus quod magnis geschrieben ? 
Schwierigkeit macht auch die Frage nach den Korrekturen. Vielfach 
kann man ohne weiteres sagen, daß der Schreiber selbst einen Fehler berich- 
tigt hat. Andere Korrekturen erkennt man auch als alt und ungefähr gleich- 
zeitig, aber die Tinte ist zuweilen anders, heller, zuweilen auch dunkler. 
Wo Buchstaben auf Rasur verbessert sind, ist nicht selten die Tinte ausge- 
laufen und hat so von selbst eine hellere Farbe angenommen. Wenn sonst 
die Schattierungen der Tinte anders sind, so kann dies daran liegen, daß 
die Korrektur vielleicht einige Zeit später erfolgt ist. Man kann hier m. E. 
nicht überall eine klare Entscheidung treffen, ich persönlich bin überzeugt, 
daß die meisten dieser Korrekturen von der Hand des Schreibers stammen. 
Noch ein kurzes Wort über die 41/, leeren Seiten in der Mitte des Kodex. 
Leeres Pergament übte bekanntlich im MA. großen Reiz aus, und so sind 
denn diese Seiten bald beschrieben worden; wenn Harster I, 8f., wie oben 
bemerkt, sagt, dieser Umstand sei bei einem Original weit weniger begreiflich 
als bei einer Abschrift, so kann ich das nicht zugeben, in der Beziehung 
empfand man damals anders als wir. Von S. 46r ist, wie gesagt, nur die 
obere Hälfte, 10 Zeilen, mit dem Schlusse des Briefes an Hazecha beschrieben, 
die untere Hälfte, 9 Zeilen, enthält, nicht viel später geschrieben, einen 
arithmetischen Traktat, Inc. Si uis inuestigare qd (= quod, gemeint 
natürlich quot) numos. libras. solidos. vncias habeat aliqs. Die 
Fortsetzung, ebenfalls 9 Zeilen, steht f. 46v auf radiertem Blatt. Der 
Rest der Seite ist radiert, aber leer, von 47r an hat dann eine Hand des 
11. Jh. mit klobigen Buchstaben eine Sequenz auf den Erzengel Michael (mit 
Neumen) Inc. (A)d celebres rex eglice, A. h. 53 no. 190, eingetragen. 
Die Seiten 47r, v, 48r reichten nicht ganz, so stehen die letzten Wörter am 
unteren Rande von f. 48v u. 49r. Die Hs. ist dann noch einmal beschnitten 
worden, einzelne Wörter des Hymnus sind infolgedessen verstümmelt, z. B. 
fehlt 14,8 zweites n in administrantia, 15,5 unt bzw. int in assistunt; 
vermutlich geschah dies bei der Gelegenheit, wo sie mit der erwähnten hagio- 
graphischen Hs. (fol. 71—92) vereinigt wurde. Man möchte wissen, ob diese 


Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 193 


Sequenz noch in Salzburg oder schon in Regensburg geschrieben ist, doch 
läßt sich das bei diesem ungemein verbreiteten Stück kaum feststellen. 
Sie ist noch in drei weiteren Regensburger Hss. erhalten, doch liegen keine 
Anhaltspunkte vor, nach denen man auf irgendwelche nähere Verwandt- 
schaft schließen könnte, im Gegenteil; 6,2 spirituum in elm 14083 
md 14322, letzteres nach freundlicher Mitteilung von B. Bischoff nur Auszug 
aus 14083, dagegen pneumatum oder vielmehr pnematum in 14798. 
91 Theologa in 14798, während die drei Regensburger mit den meisten 
Has. Theologica lesen. 

Im 12. Jh. war E jedenfalls in Regensburg, denn der clm 13074, 12 Jh., 
der die prosaische Passio und den Prologus aus E abgeschrieben hat, stammt 
aus Regensburg. Freilich nicht aus St. Emmeram, sondern aus Prüfening. 

Berlin. K. Strecker. 


Histor. Vierteljahrschrift. Band %, H 1. 19 


194 


Kritiken. 


Johannes Haller, Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen. 

XI. u. 242 S. Stuttgart u. Berlin 1930, J. G. Cottasche Buchhdlg. 

Mit diesem aus Vorträgen erwachsenen, fesselnd geschriebenen Buch will der 
Verfasser keine gelehrte Forschung bringen, sondern dem Leser und insbesondere 
der deutschen Jugend das brennendste Problem der Gegenwart, das deutsch-fran- 
zösische Verhältnis in seiner Entwicklung und historischen Einheit vor Augen 
führen. Aber wie stets weiß er auch hier altbekannte Tatsachen in eine neue Be- 
leuchtung zu rücken, vieler irterten Fragen andere Seiten abzugewinnen und da- 
durch auch die Forschung anzuregen und zu befruchten. 

Die Keimzellen der Erbfeindschaft der beiden Völker erblickt er in der bei 
Nachbarn fast regelmäßigen gegenseitigen Abneigung sowie in den Ansprüchen, 
Wünschen und Hoffnungen, die sich in Frankreich an das vermeintliche Erbe Karls 
des Großen knüpften, die aber auf die Politik des Staates lange Zeit keinen Einfluß 
ausgeübt haben. Erst die Heirat Philipps des Schönen von Österreich mit Maria 
von Burgund und die Bildung des habsburgischen Universalreiches drängten die 
französische Politik in die Richtung nach Osten. Wie Franz I. und Heinrich IV. 
sah sich auch Richelieu in der Defensive. Aber dadurch, daß er vom Bedürfnis 
der Sicherheit seines Landes ausgehend, zur Offensive schritt und deutsches Gebiet 
eroberte, hat er die in der Nation schlummernde Begehrlichkeit entzündet und die 
französische Außenpolitk in die Bahnen gelenkt, in denen sie bis auf unsere Tage 
verblieben ist. So läßt Haller „das Drama der deutsch-französischen Beziehungen“ 
erst mit Richelieu beginnen, das frühere ist ihm Vorspiel. Wird er schon hiermit 
nicht in allem Zustimmung finden, so weicht er in der Beurteilung Ludwigs XIV. 
erheblich von der herrschenden Anschauung ab. Die namentlich von A. Sorel be- 
gründete Meinung, daß der Sonnenkönig Richelieus System verfälscht habe, wird 
zurückgewiesen, seine Pläne waren nicht so maßlos, wie man sie hingestellt hat. 
„Die wirklich großen Ziele von Ludwigs Ehrgeiz, neben denen seine Bestrebungen 
und Kämpfe in Europa zu Begleiterscheinungen herabsinken, lagen auf dem Wasser 
und jenseits des Ozeans“; vorwiegend deshalb hat er auch die spanische Krone 
für seinen Enkel angenommen. Ich muß gestehen, daß ich das nicht unterschreiben 
kann. Auch das Frankreich des 18. Jahrhunderts erscheint mir auf dem Kontinent 
nicht so saturiert, wie Haller es schildert. 

Das Schwergewicht des Buches liegt auf den letzten hundert Jahren, denen 
von den 8 Kapiteln 5 gewidmet sind. Als das eigentliche Schicksal Frankreichs 
und Deutschlands bezeichnet es dieeingehend gewürdigte Persönlichkeit Napoleons III. 
Von dem Gedanken an die Gegenwart aus, der ihn nach seinem Zeugnis bei 


Kritiken 195 


der Arbeit nie verlassen hat, untersucht Haller besonders die Frage, weshalb das von 
Napoleon gewünschte und auch von Bismarck mehrfach erwogene französisch- 
preußische Bündnis nicht zustande gekommen ist. Es ist, wie die jüngst erschlos- 
senen Quellen erhärten, nicht an Bismarck gescheitert, sondern an der Volks- 
stimmung in Frankreich, gegen die der kaiserliche Usurpator seine eigene Politik 
nicht durchsetzen konnte. Der 70er Krieg machte ein Zusammengehen der beiden 
Mächte vollends unmöglich. Das hatte Bismarck sofort erkannt und daraus, wie 
Haller schon in seiner Schrift über Bismarcks Friedensschlüsse dargetan hat, mit 
der Annexion des Elsaß und Lothringens die Konsequenzen gezogen. Deshalb 
vermag ich der These, daß seit dem Berliner Kongreß ein Zusammenschluß Deutsch- 
lands, Englands und Frankreichs, ergänzt durch das deutsch-österreichische Bündnis, 
ein Lieblingsgedanke des Kanzlers gewesen sei, wenigstens in dieser Form, nicht 
beizupflichten. Gewiß erstrebte er 1879 eine Einbeziehung der Republik in die 
ihm vorschwebende allgemeine Friedensassekuranz gegen die russischen Kriegs- 
gelüste. Aber er faßte, wie er dem französischen Botschafter in Varzin ausführte, 
nicht eine Koalition ins Auge, sondern das Nebeneinander von zwei Friedensgruppen, 
einer deutsch-österreichischen und einer englisch-französischen Gruppe. Denn über 
die Aussichtslosigkeit einer deutsch-französischen Allianz konnte er sich keiner 
Täuschung hingeben. In erster Linie kam es ihm darauf an, Frankreich und Rußland 
auseinander zu halten, was ihm auch, solange er am Steuer des Reiches stand, 
gelungen ist. Nachdem die Republik nach seinem Sturz die langersehnte Anlehnung 
an das Zarenreich endlich gefunden hatte, hat sie sich den immer wieder erneuerten 
Annäherungsversuchen Deutschlands erst recht entzogen. „In ungleicher Weise 
verteilt sich die Schuld; hat Deutschland wohl den Willen, aber nicht immer das 
nötige Geschick bewiesen, so darf man von Frankreich sagen: es hat nicht gewollt.“ 
In diesem Satz faßt Haller das Resultat seiner Betrachtungen zusammen. Ganz 
offen bekennt er im Vorwort, an eine wirkliche Verständigung zu denken, erscheine 
ihm heute und für lange Zeit vermessen. In diesem Pessimismus trifft sich der 
deutsche Historiker mit dem Franzosen Ernest Lavisse, der nach dem Weltkriege 
die Überzeugung aussprach, zwischen den beiden Völkern gebe es keine Versöhnung 
mehr, zum Unglück für sie selbst und für die ganze Welt. 
Frankfurt a. M. Walter Platzhoff. 


Geschichte des benediktinischen Mönchtuns. In ihren Grundzügen dargestellt von 
Dr. Stephanus Hilpisch, Benediktiner der Abtei Maria Laach. Mit17 Bil- 
dern auf 10 Tafeln. Freiburg i. Br., Herder u. Co. 1929. X, 483 S., geb. 13.50. RX. 

Der Herder-Verlag hat im Jubeljahre von Monte Cassino diese Festgabe be- 
schert, deren Verfasser sich bereits als Mitarbeiter an dem Prachtwerk der Abtei 

Maria Laach (s. 25 S. 674) und gründlicher Erforscher der Entstehung und Organi- 

sation der Doppelklöster (1928) bewährt hat. Dieser grundrißartige Überblick der 

benediktinischen Ordensgeschichte ist um so mehr zu begrüßen, als das Buch von 

U. Berliöre, L'ordre monastique des origines au XIIe siècle (3. Auflage, Maredsous 

1924) nicht weiter gediehen ist. Es wird jedem Ordenshistoriker neben Herib. Holz- 

apfels Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens (Freiburg 1909) gute Dienste 

listen. Die in den Anmerkungen zusammengebrachten Literaturnachweise zeigen, 
wie notwendig eine Zusammenfassung der ausgedehnten Einzelforschungen war. 

Die Frauenklöster sind nicht berücksichtigt. Hierfür wird man zu Heimbuchers 

16* 


196 Kritiken 


Werk greilen und H. C. Wendlandt, Die weiblichen Orden und Kongregationen der 
katholischen Kirche und ihre Wirksamkeit in Preußen von 1818 bis 1918 (Pader- 
born 1924), wo auch die neuere Literatur steht, heranziehen. 

Die Einleitung behandelt die Entstehung des Mönchtums, sein Wesen und seine 
Ideale: das Einsiedlertum, die Zönobiten Pachomius und Basilius. In der Ein- 
samkeit der Wüste führten die Eremiten unter Hingabe des Besitzes und Verzicht 
auf die Ehe das Leben der Apostel, wie es das Evangelium vorschrieb, um der Voll- 
kommenheit des Heilandes möglichst nahe zu gelangen. Das Eremitentum mußte 
zur Gemeinschaft führen. In Ágypten entstand die erste Klosterordnung mit dem 
Gehorsamsbegriff, der schließlich zum Inhalt des klósterlichen Lebens werden sollte. 

Der erste Teil beschäftigt sich mit dem hl. Benedikt und der Ausbreitung seiner 
Regel. Auch im Abendlande gab es Mónchsgemeinschaften, die sich vielfach um die 
Bischófe scharten. Orientalische Anschauungen verkórperten sich in dem Bischof 
Martinus von Tours und Johannes Kassianus. Caesarius von Arles trat für die 
„Stabilität“, die Bindung des Mönchs an den Ort seines Klosters und seiner Gemein- 
schaft, ein. Auf dieser Tradition schuf Benedikt seine Regel, deren Weite und Án- 
passungsfähigkeit, deren Lebensweisheit und Seelenkunde, verkörpert in der väter- 
lichen Autorität des Abtes, bis heute wirksam sind. In Gebet und Arbeit erschöpft 
sich das Leben der benediktinischen Klostergemeinschaft. Diese Philosophie der 
benediktinischen Lebenshaltung ist jetzt in der Übersetzung von Abt Cuthbert 
Butlers Buch, „Benediktinisches Mönchtum“ (Missionsverlag St. Ottilien 1929) 
vortrefflich gedeutet. Von England aus, wo das irische Mönchtum (Kolumban) eine 
besondere Propaganda entwickelte, erfolgte die Missionierung Deutschlands. Mit 
Bonifatius kam die Benediktinerregel zur Alleinherrschaft. Gegen ihre Verwelt- 
lichung richtete sich Benedikt von Aniane, über den jetzt eine Sonderschrift von 
Jos. Narberhaus (Münster 1930) vorliegt. 

Nachhaltiger wurde die Wirksamkeit der Reformklöster Cluny und Citeaux, 
welche im zweiten Teil des Buches behandelt wird. In Italien suchten Romuald von 
Camaldoli und Petrus Damiani den alten orientalischen Ereinitengedanken aufleben 
zu lassen, um ihn auf die Spitze zu treiben (, Athleten der Kasteiung‘‘). In den Klö- 
stern der Kluniazenser und Hirsauer kam der Chordienst wieder zu Ansehen. Je 
mehr er mechanisch zu werden begann, desto rascher kam der Verfall. In Citeaux 
wurde die buchstabengetreue Befolgung der Regel Benedikts verlangt. Die groß- 
artige Organisation der Zisterzienserklöster unter der Autorität des Generalkapitels 
und die hohe Bewertung der Feldarbeit waren die Stärke dieser Neubildung, welche 
den Anstoß dazu gab, daß auch die Benediktineräbte in Provinzialkapiteln zusammen- 
kamen. Der Seelsorge und Predigt nahmen sich die Augustinerchorherren und 
Prämonstratenser an. Das alte Einsiedlerideal und die ursprüngliche Regel Benedikts 
sollten wiederhergestellt werden durchdie Silvestriner, Cölestiner und die Olivetaner. 

Die alten Grundsätze der Benediktinerregel waren nicht mehr auf längere 
Dauer aufrechtzuerhalten. Der Verfall setzte ein in wirtschaftlicher, wissenschaft- 
licher und geistlicher Beziehung. Die Abteien wurden Versorgungsanstalten und er- 
strebenswerte Kommenden. 

Die Reformen wiederholten sich. Sie werden im dritten Teil bis zur großen 
Säkularisation besprochen. Voran geht Subiaco (1364), dann Padua (St. Justina) 
und Valladolid. In Deutschland wurden St. Jakob in Lüttich und Kastl (Bayeın) 
Ausgangspunkte einer Observanzbewegung. Gelegentlich des Konstanzer Konzils 


Kritiken 197 


tagten die Ábte der Mainzer Kirchenprovinz 1417 in Petershausen. Der Erfolg der 
hier eingeleiteten Reformen war gering, aber die Mainzer Provinzialkapitel fanden 
trotz aller Widerstände bis zum Beginn der Reformation statt. Wirksamer war der 
ZusammenschluB der ósterreichischen Klóster unter Führung von Melk, das gleiche 
Observanz und gegenseitige Unterstützung verlangte, aber keine Generalkapitel 
kannte. Erst die Bursfelder Bewegung fand die Form einer Kongregation, auf deren 
Jahreskapiteln die Reformen im Geiste der ursprünglichen Regeln angeordnet wurden. 
Landesherren und Kirchenfürsten, wie Nikolaus von Cues, förderten das Werk, wel-, 
ches an die Traditionen der Kluniazenser und Hirsauer anknüpfte, bis es der Re- 
formation des 16. Jahrhunderts zum Opfer fiel. Aber schon die Reformbestimmungen 
des Tridentiner Konzils gaben den Anstoß zur Bildung neuer Kongregationen, vor 
allem in Belgien und Frankreich, wo die Tätigkeit der Mauriner für die Wissenschaft 
Außerordentliches schuf. In Deutschland stieß die Bildung von Kongregationen 
lange auf Widerstand. Die Eigenbrötelei der stolzen Reichsabteien und die Ab- 
neigung gegen fremde Visitatoren, die päpstlicherseits vorgeschickt wurden, mögen 
schuld daran gewesen sein. Die Verhandlungen der Äbte in Regensburg in den Jahren 
1630/31 mit dem Ziel: in Anlehnung an die Bursfelder Kongregation, bei Wahrung 
aller bischöflichen Ansprüche, eine deutsche Union zu schaffen, scheiterten. Statt 
dessen gab es acht Kongregationen. Kunst, Wissenschaft und Unterricht lebten in den 
einzelnen Klöstern zur Barockzeit noch einmal auf, bevor der Säkularisations- 
gedanke, von Frankreich und Österreich ausgehend, wiederum den Orden nahezu 
vernichtete. Mit Recht betont der Verfasser, daß für die beiden der Säkularisation 
vorausgehenden Jahrhunderte noch zahlreiche Untersuchungen erwünscht seien. 

Der vierte Teil gilt der Zeit der Restauration. Nach der Wiedereröffnung von 
Metten (1830), lebte die bayrische Kongregation wieder auf. Aus Metten zog P. Boni- 
fas Wimmer 1846 nach Amerika. Die Brüder Maurus und Placidus Wolter wurden 
die Begründer der Kongregation des Klosters Beuron, wo Kunst und Liturgie eine 
Auferstehung feierten. Die Askese wurde nicht nach dem Buchstaben der Regel be- 
trieben, sondern den veränderten Zeitverhältnissen angepaßt. St. Ottilien in Ober- 
bayern wurde 1884 als Missionskloster errichtet, und die Kongregationen von Beuron, 
England und Subiaco bestimmten 1887 Sant' Anselmo in Rom als allgemeines 
Studienkolleg. Dieses wurde Sitz des Primas der von Leo XIII. 1893 begründe- 
ten Union aller Benediktiner-Klóster, welche die Selbstándigkeit der einzelnen 
Kongregationen nicht aufhob. Auch jedes Kloster bewahrt seine Selbständigkeit, 
soweit das Hausgesetz der Regel es zuläßt. „Solange eine Institution sich selber treu 
ist, solange wird sie bestehen und wirken“ (S. 389). Heute bestehen 165 Männer- 
klöster in 15 Kongregationen, die sich über die ganze Welt verteilen. Sie sind be- 
sonders aufgezählt (S. 390ff.). Für Deutschland kommen in Frage die bayrische, 
Beuroner (17), Sublazenser (Siegburg, Ilbenstadt, Kornelimünster), österreichische 
von der Unbefleckten Empfängnis, österreichische vom hl. Joseph und die Kongre- 
gation von St. Ottilien. 

Von Bildern sind beigegeben die Klóster Subiaco, Montecassino, Cluny, Hirsau, 
St. Justina in Padua, Kastl, Bursfeld, Fulda, Melk, Solesmes und Beuron. 
Das Register berücksichtigt außer den Personen- und Ortsnamen auch die Sachen, 
kónnte aber in dieser Richtung erschópfender sein. Die Quellen- und Literatur- 
angaben im Anhang genügen für die erste Orientierung durchaus. 

Breslau. | Wilhelm Dersch. 


198 Kritiken 


Otto Vehse, Die amtliche Propaganda in der Staatskunst Kaiser 
Friedrichs II. München, Münchner Drucke 1929. 247 S. 8, 8.— RA. 
Die vorliegende Arbeit, eine Dissertation aus der Schule Brackmanns. stammt 
aus dem Jahre 1924, konnte aber durch die Ungunst der Zeiten erst jetzt (als 1. Bd. 
der , Berliner Forschungen zur mittleren u. neueren Geschichte") veróffentlicht 
werden. Man ist geneigt, zunächst Wolfram von den Steinen, „Das Kaisertum 
Friedrichs II. nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe“ (1922) zum Vergleich 
heranzuziehen. Aber zwischen diesem für die geistigen Strömungen, die den Kreis 
der kaiserlichen Diplomaten beherrschten, so aufschlußreichen Buche und dem vor- 
liegenden besteht ein methodischer Unterschied: von den Steinen setzt still- 
schweigend voraus, daB die politischen Denkschriften der Regierung Friedrichs IL 
dessen persönliche Meinungen wiederspiegeln; im Hintergrunde steht ein mehr 
geschautes als begründetes System von Friedrichs II. Staatsmetaphysik. Man weiß, 
daß E. Kantorowicz diesen Standpunkt vertreten hat und Kampers von ihm 
abgerückt ist. Ich selbst habe vor kurzem darauf hingewiesen, daß man erst die 
Persönlichkeit des Petrus de Vinea und die Staatslehre der Capuaner Schule heraus- 
arbeiten müsse, ehe man an den Kaiser selbst herankommen werde. So halte ich 
bis zur methodischen Klärung des Problems die Arbeit von den Steinens für 
einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnis der Geisteswelt jener campanischen Diplo- 
maten, nicht des Kaisers selbst. Solange man das Briefbuch des Petrus de Vinea 
nicht mit den von Schmeidler so erfolgreich auf das XI. Jahrhundert angewendeten 
Methoden der Stilvergleichung untersucht, wird es bei der Skepsis sein Bewenden 
haben müssen, bei der Sthamer, Eigenes Diktat in den Briefen der sizilischen 
Kanzlei des 13. Jahrhunderts (Festschrift für Alexander Cartellieri, 1927), S. 8 
(des Sonderdrucks) endete. Daß Sthamer Recht hatte, sich meiner Auffassung 
von dem beherrschenden Einfluß, den Petrus de Vinea auf den Kaiser übte, anzu- 
schließen (S. 3), werde ich in den Quellen und Forschungen unseres Instituts, Bd. 
XXII, beweisen. Über die diametral verschiedene Beurteilung durch Kantorowicz 
vgl. auch Hessel in H.Z. 142, S. 104. Wie ganz anders tritt etwa die persónliche 
Note Gregors VII. in den Diktat-Untersuchungen von Blaul hervor! So muB ich 
(bei aller Anerkennung der Leistung von den Steinens) der Methode Vehses den 
Vorzug geben. Dieser junge Gelehrte tritt an die breiten Massen des Materials ohne 
derlei Voraussetzungen heran, die im circulus vitiosus zu Folgerungen werden. 
Eine gewisse Nüchternheit wirkt wohltuend gegenüber dem feierlichen, pathetischen 
Ton, der in Deutschland (im Gegensatz zu neueren Franzosen) nachgerade Bedürfnis 
zu werden scheint, wenn man vom Kaiser spricht. V. schlieBt mit Recht das Problem 
des kaiserlichen Stils, seiner Vorbilder und Nachwirkungen aus, solange die Unter- 
suchung der Überlieferungsgruppen (Briefbücher) noch keine endgültigen Resultate 
über die kaiserliche Publizistik ergeben haben (S. 137 A.). Nur so könnten „die 
verschiedenen Verfasser der Manifeste Friedrichs II.“ aufgedeckt werden! Worte, 
die zeigen, daß V. meine Überzeugung teilt (vgl. auch S, 38 A.). | 
Nicht ein Referat über den Inhalt der Manifeste, wie Gräfe für die letzte und 
entscheidende Epoche Friedrichs IL, will V. geben; er wil) die Rolle untersuchen, 
die die Publizistik als Mittel der kaiserlichen Politik spielte. Immer wieder kommt 
der augenblickliche Anlaß zu grundsätzlichen Verkündungen der kaiserlichen Staats- 
auffassung zur Sprache; damit erhalten wir einen Gesichtspunkt, der bei allen früheren 
Versuchen, aus den einzelnen verlautbarten Ideen das System zu rekonstruieren, 


Kritiken 199 


vernachlässigt werden mußte. Nicht als ob ich ablehnen wollte, daß ein solches 
System bestand; man muß nur kritisch an das Material herantreten. Wie wenig 
ernsthaft 3. B. das gelegentliche Ausspielen der Romidee, etwa im Briefe an die 
Römer vom Januar 1238 (S.63f.), gemeint war, hat Burdach, Rienzo S. 356 gefühlt. 
Und in diesem Zusammenhang ist noch nicht an Cassiodor erinnert worden. Genau 
wie bei diesem nicht vaniloguentia, wie man verständnislos gesagt hat, sondern 
das alte Kunstmittel der captatio benevolentiae die anscheinende Phrasenhaftigkeit 
erklärt, ist es auch in den Manifesten Friedrichs II. Diesen Gesichtspunkt muß man 
im Auge behalten, um nicht zu viel System herauszulesen. Daß mein „Rom und 
Romgedanke" stellenweise (S. 63f., 181) hätte erwähnt werden können, hat R. 
Holtzmann, D.L.Z. 1929, Sp. 1782 angemerkt. Neben dem Romgedanken werden 
so ziemlich alle Zeitanschauungen als Mittel zum jeweiligen Zweck benützt, und zwar 
sehr geschickt. Polemisch setzt man eindrucksvollen Theorien des Gegners wohl 
ein eignes Svstem entgegen, wenn es ein argumentum ad hominem ist; ich móchte 
der Erwägung anheimstellen, ob die „F Staatsmagie mit ihrer Ausschaltung der 
hierokratischen Zweischwertertheorie Innocenz’ III., nach der die weltliche Gewalt 
nicht unmittelbar von Gott stammt, sondern dem Kaiser nur durch päpstliche 
Verleihung zukommt, teilweise antithetisch aus der jeweiligen politischen Lage zu 
erklären ist. V. behandelt diese grundsätzlichen Dinge recht summarisch. Er hat 
schon recht, daß der Kaiser (d. h. die amtliche Publizistik) an jenem System, das den 
Staat aus Naturrecht und göttlicher Weltordnung begründete, festhielt; doch von 
dem gefährlichen Gegensatz solcher christlichen, damals aber nicht mehr kirchlichen 
Theorien zu dem herrschenden Kirchenbegriff des Corpus mixtum sagt er kein Wort. 

Es wäre an dieser Stelle undurchführbar, den 1. Teil (S. 5—136), der die Propa- 
ganda im einzelnen chronologisch mustert und mit einem willkommenen Anhang 
über die Kriegsberichterstattung schlieBt, genau durchzusprechen. Der Abschnitt 
wird von der Forschung dauernd neben den Regesta Imperii heranzuziehen sein; 
gelegentliche Ungenauigkeiten fallen nicht ins Gewicht. Der 2. Teil (Form, Ideen- 
gestalt und Wirkung, S. 137—237) beginnt mit dem auf fleiBigen Quellenstudien 
aufgebauten $ 12 über Stil und Aufbau, der auch die päpstliche Propaganda ver- 
gleichend heranzieht. Dann wird über die leitenden Ideen zusammenfassend das 
Wichtigste zusammengestellt und als deren Gipfelpunkt das Programm der Kirchen- 
reform herausgehoben. Richtig sind die Widersprüche dieses Systems betont; daß 
der nationale Gedanke noch nicht beachtet wurde, war der entscheidende Fehler. 
Für die Ideen der kaiserlichen Staatskunst hat V. bestimmt nicht das letzte Wort 
gesagt, aber der Forschung einen Ausgangspunkt gewiesen. Die politische Wirkung 
der Propaganda wird vielleicht zu äußerlich beurteilt; die joachitische Bewegung, 
die doch nicht zufällig mit dem Tode des Kaisers einsetzt, würde in den Zusammen- 
hang des kirchlichen Reformprogramms zu bringen sein. Die Wirkung auf die Ge- 
schichtsschreibung ist für die Quellenkunde von Wert, aber gegenüber den großen 
Zeitströmungen sekundär. Zum Schluß wird mit Recht diese von einer weltlichen 
Zentralregierung aus geleitete Propaganda als wichtiger Markstein der Entwicklung 
der Staatspersönlichkeit gewertet. 

Frankfurt a.M. Fedor Schneider. 


Erwin Rundnagel, Die Chronik des Petersberges bei Halle (Chronica Montis 
Sereni) und ihre Quellen. Halle a. S.: Niemeyer 1929. VII, 199 S. 8°. 


200 Kritiken 


(= Ausgewählte Hallische Forschungen zur mittleren und neueren Geschichte. 
Heft 1.) 

Daß ich diese fleiBige Arbeit von E. Rundnagel erst so spät zur Anzeige bringe, 
beruht auf einem Versehen meinerseits, das ich zu entschuldigen bitte. Es war 
mir das Buch rechtzeitig zur Verfügung gestellt worden. Es sind in der Zwischen- 
zeit zahlreiche anerkennende Besprechungen erschienen, auf die bier hinzuweisen 
ich nicht unterlassen will (u. a. von GroBkopf in der „Zeitschrift des Vereins für 
Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1930“; von Zatschek in den „Mitteilun- 
gen des Österreich. Instituts für Geschichte 1930“). Rundnagel behandelt in drei 
Hauptteilen die Überlieferung der Chronica Montis Sereni, die Verfasserfrage 
und die Frage nach den Quellen. 

Die Chronik ist in 5 hss überliefert. Die heute älteste hs (A) gehört dem Thür- 
ringisch-Sächsischen Geschichtsverein; sie ist 1492 geschrieben, vielleicht im Leip- 
ziger Augustinerchorherrenstift St. Thomas. Auf diese hs gehen zurück der Góttinger 
Kodex im Jahre 1506 und der Wolfenbüttler Kodex, um 1600 davon abgeschrieben. 
Beide hss sind unwichtig. Vom Anfang des 16. Jahrhunderts stammt die Zerbster hs 
(B 1) der Chronica, zu Nienburg entstanden, und aus der Mitte des 16. Jahrhunderts 
stammt die Dresdner hs (B 2). Die erschlossene Vorlage x, die allen drei hss zu- 
grunde liegt, den beiden bss B 1 und B2 auf dem Umwege über eine erschlossene 
hs b, ist 1478 nachweisbar. Sehr weit zurück läßt sich also die Überlieferung der 
Chronik nicht verfolgen, und für alle weiteren auftauchenden Fragen ist die Grund- 
lage zum Aufbauen sehr schmal. Es liegt z. B. die Frage nahe, cb wir in der jetzigen 
Fassung wirklich die Urform vor uns haben. Damit haben sich schon die Gelehrten 
des 17. und 18. Jahrhunderts befaBt. Rundnagel hat diese Frage noch einmal ge- 
prüft („die neueren Forscher sind diesem Problem ausnahmslos ausgewichen“ 
S. 22) und kommt zu dem Ergebnis, daß die Frage nach einer verloren gegangenen 
Urform der Chronica negativ su beantworten sei. „Kurz, die . . . Theorie einer reich- 
haltigeren Fassung der Chronica ist völlig unbeweisbar" (S. 26). M. E. ist hier 
doch etwas mehr Vorsicht am Platze angesichts der jungen Überlieferung und 
angesichts der Zweifel, die schon von älteren Forschern wie Mader u. a. auage- 
sprochen worden sind. Es wäre nicht das erste Mal, daß eine alte Tradition einen 
richtigen Kern enthielte. In dieser Hinsicht erscheint mirnicht unwichtig cod. membr. 
384 der Universit&tsbibliothek Leipzig, derim Jahre 1300 zu Pegau im St. Jakobskloster 
geschrieben ist und auf fol. 182r—189v einen Abschnitt aus der Chronica bringt, 
námlich die Vita des Pegauer Abtes Siegfried von Recklin (1185—1224) mit sum 
Teil ganz abweichenden Lesarten von den drei obengenannten hss und ansehnlichen 
Texterweiterungen (soweit ich nach meinen vor Jahren angefertigten Exzerpten 
richtig sehen kann). Liegt hier nicht ein Hinweis vor &uf eine bisher unbekannte 
und verloren gegangene Fassung der Chronik? 

Nach Rundnagel ist der Verfasser der Chronik ein Kustos Martin vom Kloster 
auf dem Lauterberg, der bis 1229 daselbst urkundlich nachweisbar ist. Er hat die 
Chronik 1230 bis höchstens 1231 abgefaßt, nachdem er lange Zeit Material gesammelt 
hatte. Die Untersuchungen R.s in der Verfasserfrage sind umsichtig und eindringlich 
in der Prüfung der &lteren Ansicht, daB ein Konrad Verfasser der Chronik war, 
wie nicht minder in der Beweisführung, daß Martin der wahre Verfasser sei. Gegen 
den Verfasser möchte ich mit Apel und WeiBenborn doch vermuten, daß der Autor 
der Chronik zur Zeit ihrer Abfassung nicht mehr auf dem Lauterberg weilte. So 


Kritiken 201 


scharf gegen seinen Propst zu schreiben, konnte er wohl nur in der Fremde wagen. 
Der Autor stammt aus der Gegend von Pegau (S. 68), er hat das Pegauer Kloster- 
archiv benutzt (S. 170), er fügt seiner Chronik eine Vita des Pegauer Abtes Sieg- 
fred ein, mit dem er in den Reformbestrebungen zusammenging, er weiß zahl- 
reiche andere Pegauer Einzelheiten, sollte es nicht möglich sein, daB er im Pegauer 
Kloster ein Asyl gefunden hat und hier seine Chronik schrieb? Ich glaube, daß in 
dieser Frage noch nicht das letzte Wort gesprochen worden ist. 

Am umfangreichsten ist der letzte Hauptteil, der über die Quellen der Chronika 
handelt. Als Hauptquellen kommen nach Rundnagel für die Reichsgeschichte 
in Frage die Nienburger Annalen bis 1151, für die Zeit danach bis 1166 die Ilsen- 
burger Annalen und schließlich die Magdeburger Bischofschronik. Eine weitere 
Quelle bildet die sog. Wettiner Genealogie, die, wie Rundnagel darlegt, zwischen 
1211 und 1215 auf dem Lauterberg geschrieben worden ist, aber von einem anderen 
Verfasser als dem der Chronik. 

Die Arbeit von Rundnagel ist gründlich und gewissenhaft, und dem schon von 
anderer Stelle gespendeten Lob kann ich vollauf zustimmen. Dringend notwendig 
ist eine moderne handliche Ausgabe der Chronik. Rundnagel dürfte der gegebene 
Bearbeiter sein. 

Wolfenbüttel. H. Herbst. 


Siegfried Frey, Das óffentlich-rechtliche Schiedsgericht in Oberitalien 
im XIL und XIII. Jahrhundert (Züricher Dissertation). Luzern 1928. 
XVIII. 178 S. 89. 

Das Vorwort beginnt aktuell genug mit einem Hinweis auf Völkerbund und 
Schiedsgerichtsidee. Verf. bekeunt, die Anregung von Max Huber, starke Fórderang 
von Karl Meyer empfangen zu haben; und in der Tat ist es ein Verdienst des Zü- 
richer Historikers, seine Schüler auf Oberitalien zu weisen, das bisher neben Toscana 
und der Romagna ungebührlich zurücktrat. Neben dem gedruckten Material sind 
auch die Archivalien von Mailand und Cremona, Modena und Mantua herangezogen. 
Neuere wichtige Urkundenpublikationen für Mantua und Piacenza scheinen dem Ver- 
fasser entgangen, und daß Muratori seinen Urkundendrucken in den Antiquitates 
Italicae keine Quellenangaben beifügt, kann man so allgemein nicht behaupten. Zum 
Vergleich hätten außer den Urkundenpublikationen für Florenz (Santini), Siena 
(Reg. Sen.), Volterra (Reg. Volat.), Arezzo (Pasqui), Pisa (Dal Borgo, Bonaini). 
auch Davidsohn, Geschichte von Florenz, und Hessel, Geschichte von Bologna, 
herangezogen werden sollen, ebenso das Werk von Arias über die Florentiner Han- 
delsvertráge. F. hat sich zu scharf auf sein Spezialgebiet beschränkt. 

Er geht zu stark induktiv vor, indem er, da das Mittelalter transzendental ein- 
gestellt sei, den Schiedsgerichtsgedanken aus religiösen Wurzeln ableitet. Es wäre 
wichtiger, das Laudum in seiner Bedeutung während der präkommunalen Periode 
zu würdigen. Die Schiedsgerichtsbarkeit tritt subsidiär für das in einem natural- 
wirtschaftlichen Staat naturnotwendig versagende öffentliche Gerichtswesen ein 
und ist eines der wichtigsten Fundamente des sich bildenden comune (vgl. S. 26). 
Aber bald erscheint der Schied als öffentlichrechtliches Verfahren zwischen selb- 
ständigen Städten: die Voraussetzungen — Solidarität gegenüber dem staufischen 
Hofgericht — werden S. 19ff. dargelegt. Andere Faktoren treten hinzu: Lehns- 
gericht, kirchliches Schiedsgericht, dem S. 32—72 ein langer Exkurs gewidmet ist. 


202 Kritiken 


Auch vom Schied in der Zivilgerichtsbarkeit ist die Rede (S. 24—29); daB das Stadt- 
gericht aus dem Schiedsgericht hervorgeht, wissen wir übrigens durch Davidsohn, 
Gesch. von Florenz I, 661. Die berühmten alten Statuten von Pistoja sind aber 
nicht von 1107, wie S. 25 zu lesen ist, sondern von 1177, wie Zdekauer nachwies, 
vgl. Davidsohn, Forsch. I, 137. Sehr eingehend handelt dann das 4. Kapite) über 
die Voraussetzung des Schieds, das Einverständnis der Parteien oder Kompromiß 
(S. 733—101). Die Untersuchung verfährt nicht nur formaljuristisch; quellenkritisch 
wird gezeigt (S. 73—85), wie der Schiedscharakter eines Urteils je nachdem, ob 
eigentliche Kompromißformulierungen vorliegen oder nicht, erkennbar wird. Leider 
sind für die Streitigkeiten Pistoja-Bologna 1212 die Akten im Pistojeser Liber surium 
nicht herangezogen (S. 79 u. sonst, vgl. Davidsohn, Gesch. II 1, S. 24f., u. Forsch. 
IV 7). Scharf juristisch disponierend, unterscheidet F. das isolierte und institutionelle 
(d. h. für den Einzelfall oder dauernd eingesetzte) Schiedsgericht. Das 5. Kapitel 
(S. 102—178) untersucht den Prozeß des Schieds: Richter, Verfahren, Urteil. 

Im ganzen eine fleißige und scharfsinnige Arbeit, die dem Historiker erwünscht 
sein wird, wenn er sich mit Schiedsurkunden zu beschäftigen hat. Nur das Material 
ist zu begrenzt, um auf einem Gebiet des Gewohnheitsrechts allgemeingültige Folge- 
rungen zu ziehen, und noch begrenzter ist der Blick des Verf., der zu ängstlich ver- 
meidet, über die Grenzen seines Gebiets zu schauen. Zum SchluB (S. 178) wird z. B. 
richtig bemerkt, zwar sei über Ausführung von Sanktionen bei Bruch des Schieds- 
vertrags nichts überliefert, daraus dürfe aber nicht geschlossen werden, daB jeder 
Schied auch beobachtet worden sei. In dem reichen gedruckten Material aus Toscana 
dürfte schon etwas darüber zu finden sein. Man könnte z. B. den Memor:alis offen- 
sorum von Siena ed. Banchi, Arch. Stor. It. ser. III Bd. 22 mit den überlieferten 
Schiedsverträgen vergleichen. Aber bei solchen umfassenderen Gesichtspunkten 
wäre die Arbeit wahrscheinlich über den Rahmen einer Dissertation hinausgewachsen, 
und als solche überragt sie den Durchschnitt. 

Frankfurt a.M. Fedor Schneider. 


Oldenburgisches Urkundenbuch, im Auftrage des Staates herausgegeben vom Olden- 
burger Verein für Altertumskunde und Landesgescbicbte. Band 3 (Olden- 
burg 1927) 538 S., Band 4 (ebenda 1928), 589 S., Band 5 (ebenda 1930), 551 S. 
Sámtlich herausgegeben von G. Rüthning. Verlag G. Stalling, Oldenburg. 

Mit einem bewundernswerten und rüstigen Eifer gibt sich der Nestor der olden- 
burgischen Landesgeschichtschreiber, Geh. Studienrat G. Rüthning, der Heraus- 
gabe des Oldenburgischen Urkundenbuchs hin. Dieses Werk bedeutet für ihn eine 
letzte Krönung seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit, die übrigens am 9. März 1930 
auch von der Universität Halle durch Überreichung des „goldenen“ Doktordiploms 
anerkannt wurde. 

Über grundsätzliche Erwägungen zum Gesamtanlageplan des Werkes und über 
Band 2 im besonderen habe ich mich an dieser Stelle bereits (Jahrgang 25, 1929, 
S. 212ff.) geäußert und muß die dort erhobenen grundsätzlichen Einwände und Be- 
denken auch auf die neuen Bände beziehen. Der Band 3 umfaßt in unmittelbarer 
Fortsetzung von Band 2 die Urkunden der Grafschaft Oldenburg von 1482 bis 
1550 und erleichtert durch diesen Sprung in die Neuzeit dem Forscher nordwest- 
deutscher Territorialgeschicbte seine Arbeit natürlich erheblich. Es versteht sich 
von selbst, daB zur Bewültigung des anschwellenden Stoffes immer mehr zur Re- 


Kritiken 203 


gestenform gegriffen werden mußte. Wenn dadurch zwar dem Rechts- oder Wirt- 
schaftahistoriker gewisse für ihn aufschlußreiche Formen verloren gegangen sind, so 
ist im ganzen der Ausfall an wirklichen Rechtsaltertümern oder technischen Aus- 
drücken doch wohl gering anzuschlagen. 

Der Urkundenbestand von Band 3 zählt 827 Nummern, wozu noch kleinere 
Regesten in den Anmerkungen und Fußnoten kommen, ein Verfahren, das ich auch 
jetzt nicht billigen kann. Von auswärtigen Archiven konnten etwa 150 Urkunden 
beigesteuert werden, und gerade diese wie schon früher und in den folgenden Bänden 
bedauerlicherweise in kürzester Regestenform. An gedruckten Urkunden wurde 
diesmal nur etwa ein Zehntel übernommen, und der weitaus größte Teil entstammt 
den Urkundensammlungen des Oldenburger Landes-Archivs. Für die Zeit des 
16. Jahrhunderts nehmen dabei Aktenstücke einen breiteren Raum ein, vor allem 
aus einem ReichskammergerichtsprozeB zwischen dem Stift Münster und der Graf- 
schaft Oldenburg, der um den Besitz von Delmenhorst geführt wurde. Da nun der 
Herausgeber zu gewissen anderen Punkten seine eigenen Arbeiten ausgiebig zitiert, 
so wäre es doch wohl billig gewesen, bei den vielen Aktenstücken zur Delmenhorster 
Frage gelegentlich hinzuweisen auf die Darstellung von K. Sichart im Oldenburger 
Jahrbuch 16 (1908). Bei genauem Studium des Quellenmaterials hierselbst hätte 
Rüthning übrigens noch andere wichtige Aktenstücke ermitteln kónnen, so eine 
Beschwerdeschrift Graf Johanns an Kaiser Karl V. (Sichart a. a. O. 227), u. a. m. 
Ebenfalls wäre bezüglich der Briefe aus der Reichskanzlei Kaiser Maximilians und 
Karls V. ein Hinweis auf die Arbeit von D. Kohl über das staatsrechtliche Ver- 
hältnis der Grafschaft Oldenburg zum Reiche (Oldenburger Jahrbuch 9, 1900) an- 
gebracht gewesen. | 

Wir berühren damit bereits den Inhalt des Urkundenbuchs. Obschon manche 
Urkunde nur lokales oder familiengeschichtliches Interesse erweckt, muß doch auf 
eine Reihe von anderen Nummern hingewiesen werden, die den Rechtshistoriker 
angehen. Aus dem Stedingerlande an der Hunte und Weser liegen mehrere auf- 
schlußreiche Dokumente zum Deich- und Spatenrecht vor. Ferner begegnen wir 
einer Reihe wichtiger Stücke hinsichtlich der Entstehung der Landeshoheit bzw. 
des Umfangs altbäuerlicher Gerechtigkeiten. Für die große Politik ist naturgemäß 
geringere Ausbeute zu erwarten; dagegen finden sich für das niedersächsisch-west- 
fälische Gebiet manche wertvollen Notizen (z.B. über die Sächsische Fehde!). 
Interessant sind die Verhandlungen von 1515 zwischen dem Grafen Johann und dem 
Hof von Burgund, die zum Abschluß eines Dienstvertrages führten und dem Olden- 
burger ein Jahrgeld von 1000 fl. zusicherten. Ferner taucht in Nr. 804 von 1548 ein 
burgundischer Plan auf, an der Wesermündung festen Fuß zu fassen; ein kluger po- 
litischer Gedanke, bei dessen Gelingen Burgund die ganze südliche Nordseeküste 
von Westfriesland bis Wurstenland beherrscht hätte. Im einzelnen wird auf das 
Register verwiesen, dessen zweiter Teil, das Sachregister, gegenüber dem wertlosen 
Versuch eines solchen in Band 2 erheblich erweitert ist. Es möchte dem Laien- 
benutzer die Arbeit durch moderne, m. E. aber unangebrachte unwissenschaftliche 
Schlagwörter (wie: Palastrevolution, Sipo!) erleichtern und ist auch jetzt für wissen- 
schaftliche Zwecke keineswegs erschöpfend genug. 

Der 4. Band des Oldenburger Urkundenbuches enthält die Urkunden 
derim Bereich der Grafschaft Oldenburg gelegenen ehemaligen Klöster Rastede 
(Benediktinerorden), Hude (Zisterzienser), Blankenburg a.d. Hunte (Domini- 


204 Kritiken 


kanerinnen), der Johannitergüter sowie der Kollegiatstifter St. Lamberti 
zu Oldenburg und St. Mariae zu Delmenhorst. Abgesehen von dem nur 
11 Nummern umfassenden Urkundenbestand der einst blühenden Johanniterkommen- 
den sind die Archivalien der anderen genannten Klöster und Stifter verhältnismäßig 
gut durch die Wirrsale der Reformationszeit hinübergerettet und in ziemlich ge- 
schlossenen Sammlungen erhalten. Nur ein ganz geringer Prozentsatz der 1370 Num- 
mern des 4. Bandes bezieht sich auf gedruckte Quellen. Die Ausbeute an aufschluß- 
reichem Material für die allgemeine Ordens- und Kirchengeschichte ist mäßig: ich 
erwähne an unbekannten Or.-Papsturkunden solche von Alexander IV., Nikolaus IV., 
Johann XXII., Innozenz VI. Recht interessant sind die Urkunden und Akten aus 
der Reformationszeit, aus denen sich ein sehr ungünstiges Bild des Landesfürsten- 
tums ergibt. Am meisten Gewinn vermag vielleicht die Wirtschaftsgeschichte aus 
allem zu ziehen, handelt doch die Mehrzahl der Urkunden von Kaufgeschäften. 
Sozialgeschichtlich bedeutsam ist der Niedergang und die Verarmung des Adels, 
der übrigens auch in den anderen Bänden aus den zahlreichen Güterauflassungen an 
die Grundherrschaften spricht. Für das Territorium der Grafschaft Oldenburg haben 
die Klöster an Grundbesitz den Landesherrn offenbar weit übertroffen. Genauere 
wirtschaftsstatistische Arbeiten hierüber fehlen noch, und G. Sellos sonst brauch- 
bare Schrift über das Zisterzienserkloster Hude (1895) schweigt gerade über den 
Grundbesitz desselben sich vóllig aus. Es ist übrigens nicht einzusehen, weshalb 
Rüthning die von Sello bereits mitgeteilten Urkunden nicht als gedruckt erwähnt: 
unbegreiflich ist auch, daß die für den Zustand des Klostergebäudes wichtige Lokal- 
terminakte von 1560 übergangen ist (Sello S. 125), wofür die N. 602 bei Rüthning 
nicht ontfernt einen Ersatz bietet. 

Was die Rasteder Urkunden anbelangt, so muß gesagt werden, daß die gedruckte 
Urkundenliteratur leider nicht vollzählig durchgearbeitet ist. Aus dem West- 
fälischen Urkundenbuch 8, sowie aus Hammerstein, Der Bardengau, ließen sich noch 
wichtige Urkunden für die westfälischen und lüneburgischen Besitzungen bzw. Lehen 
des Klosters Rastede heranziehen. Ferner befinden sich noch ungedruckte Doku- 
mente in den Archivbestánden der hannoverschen Stifter Lüne und Medingen, die 
auch für die Vervollständigung der Abtslisten nicht unwichtig sein dürften. Was soll 
man dazu sagen, daß im Regest von N. 40 der Abtsname Albert ausgelassen ist? 
Wenn derartiges vorkommt, muß man leider fürchten, sich noch öfters auf unsicherem 
Boden zu befinden. Eine kritische Neubearbeitung der Rasteder Klosterchronik, 
die in den Mon. Germ. SS. XXV und im Friesischen Archiv II (1854) in mangel- 
hafter Weise gedruckt ist, wird auf keinen Fall dadurch erleichtert. Ich behalto mir 
vor, eine ausführliche Ergänzung zum Rasteder Urkundenmaterial in einer von mir 
vorbereiteten Geschichte des Benediktinerklosters Rastede zu veröffentlichen. 
In N.140 spricht das Regest von der Entleihung des 6. Bandes der Dekretalien. 
Vom Herausgeber eines U-Buches sollte man erwarten dürfen, daß er vom Corpus 
iuris canonici mindestens den Titel des Liber sextus kennt. 

Der 5. Band des Oldenburger Urkundenbuchs mit 1077 Nummern 
enthält die Urkunden Südoldenburgs, welches den größten Teil vom ehe- 
maligen Niederstift Münster und das Amt Wildeshausen umschlieBt. 
Ein Gebiet also, das im wesentlichen durch den Reichsdeputationshauptschluß 1803 
zu der alten Grafschaft Oldenburg kam, in dem aber schon im Mittelalter die Grafen 
von Oldenburg bedeutsame Besitzungen gehabt hatten. Etwa 680 Urkunden, von 


Kritiken 205 


denen über 100 den Osnabrücker Archiven und über 400 dem Oldenburger Landes- 
archiv entstammen, waren ungedruckt. Den Hauptanteil hiervon bestreiten die 
Bestände des Wildeshauser Alexanderstifts, dessen Pfründen einst begehrt waren, und 
der Stadt Wildeshausen, eines im Mittelalter bedeutenden nordwestfälischen Markt- 
feckens an der hansisch-flämischen Straße. Seine reichbewegte Geschichte, die ur- 
kandlich in die Zeiten Wittekinds des Sachsenherzogs zurückgeht, hat noch keine 
ersehöpfende Bearbeitung gefunden. Dankenswerte Übersiehten gaben H. Oncken 
in den Oldenburger Bau- und Kunstdenkmälern, Band 1 (1896) und G. Sello in: 
Alt-Oldenburg (1903). Die Urkunden des Alexanderstiftes waren auf Grund des 
Stiftskopiars z. T. bereits in der Westfälischen Zeitschrift (Band 6, 1843) gedruckt, 
und von anderen gedruckten Quellen lieferte das Osnabrücker Urkundenbuch etwa 
160 Regesten. Über das innere Leben im Stift und über die Verwaltung der Stifts- 
güter erhalten wir sehr wertvolle Aufschlüsse; dazu trägt auch eine Reihe wichtiger 
Regesten aus dem Repertorium Germanicum im Geheimen Staatsarchiv Berlin- 
Dahlem manches bei. Die reformationsgeschichtlichen Urkunden gruppieren sich 
um die Gestalt des Bischofs Franz von Münster und bilden eine wichtige Ergánzung 
zu Band 4. 

Zu den früheren allgemeinen Bemerkungen jetzt noch mehrere Einzelheiten. 
Bei N. 78 ist octavo Id. Jun. als Juni 6 statt 20 aufzulósen. Dann vermisse ich als 
erste und älteste Urkunde Südoldenburgs die Immunitätsverleihung Ludwig d. Fr. 
für Abt Castus von Visbek aus dem Jahre 819. Hier haben wir einen besonders 
krassen Fall dafür, wie unsystematisch der Gesamtanlageplan des Oldenburger 
Urkundenbuches ist. In Band 2 ist diese Urkunde zwar erwähnt, obwohl sie streng 
genommen nicht einmal dahin gehört, aber sie durfte in Band 5 um so weniger fehlen, 
als Rüthning sonst keineswegs davor zurückschreckt, schon im 1. Band gedruckte 
Urkunden zu wiederholen; etwa in Band 4 N. 107, wo sogar völlig übersehen ist, 
daß sie in Band 1 bereits gedruckt wurde. Bei den Urkunden der Ottonenkaiser in 
und für Wildeshausen hätte nach guter Gepflogenheit ein Hinweis auf den Druck 
derselben in den M G Abt. DD nicht fehlen sollen; der Druck im Hamburger Ur- 
kundenbuch ist diplomatisch doch wohl unzulänglich. Eine Reihe von Urkunden 
hätte sich aus dem Urkundenbuche des Hochstifts Hildesheim, dem Westfälischen 
Urkundenbuch 5, dem Urkundenbuch des Bistums Lübeck u. &. gewinnen lassen. 
Über die Besetzung der Wildeshauser Propstei handeln im Vorbereicht von Scheidts 
Bibliotheca historica Goettingensis I (1758) eine Reihe diesbezüglicher wichtiger 
Urkunden, die bisher übersehen worden sind. Auch Vogts Monumenta inedita sind 
ungenügend benutzt. Schließlich ist nicht einzusehen, weshalb die am Schlusse 
unter der Überschrift „Wildeshausen und die Hanse“ zusammengestellten Urkunden 
nicht an ihrem chronologischen Platz eingereiht sind. Berechtigung haben sie an 
dieser Stelle nicht, vielmehr scheinen sie nach AbschluB der Sammlung bei einer 
verspäteten Durchsicht des Hansischen Urkundenbuches entdeckt und nach- 
tráglich angehüngt zu sein. 

Zusammenfassend kann man über die vorliegenden Bände des Oldenburger Ur- 
kundenbuches urteilen, daB wir in ihnen eine dankenswerte Bereicherung nieder- 
sächsischer Hilfsmittel zur Geschichtsforschung besitzen, die manche hannoverschen 
und westfälischen Forscher mit Nutzen da anwenden werden, wo ihre eigenen Ur- 
kundenwerke mit dem späteren Mittelalter abbrechen. Die oldenburgische Landes- 
geschichtsforschung betrachtet mit etwas gemischten Gefühlen ihr neues Hand- 


206 Kritiken 


werkszeug. Mit Freude über das rasche, vielleicht allzu rasche Wachsen der Samm- 
lung und über den geringen Preis der Bände; mit Kümmernis dagegen über die 
Unvollkommenheit und mangelhafte Organisation des Unternehmens, die jeden 
ernsthaften Forscher zwingt, zur größeren Sicherheit nach wie vor alle irgend er- 
reichbaren Urkundenbücher der Nachbargebiete heranzuziehen. Wir wollen indes 
wünschen, daß die entsagungsvolle Arbeit Rüthnings dennoch ihre Früchte trägt, 
und daß die in Aussicht genommenen weiteren Veröffentlichungen von Chroniken 
einen höheren Grad von Vollkommenheit erreichen. 
Oldenburg in Old. Hermann Lübbing. 


Karl Lange, Bismarck und die norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866. Berlin, 
Carl Heymann. 1930. VIII und 289 S. 

Diese Monographie, die sich aus einer Vorstudie des Verfassers über „ Braun- 
schweig im Jahre 1866"! entwickelt hat, stützt sich auf eine gründliche Benutzung 
der Akten im Archiv des Auswärtigen Amts zu Berlin und in den wichtigsten klein- 
staatlichen Archiven. Jm wesentlichen beschränkt sie sich auf die Monate vom 
offenen Beginn des preußisch-österreichischen Konfliktes bis zum Bundesvertrag 
vom 18. August 1866, der Grundlage des Norddeutschen Bundes. Immerhin ist sie 
eine erwünschte Ergänzung zu Schüßlers Buch „Bismarcks Kampf um Süddeutsch- 
Jand 1867". Nur ist die Darstellung zu trocken und aktenmäßig; sie bätte an 
Lebendigkeit gewonnen, wenn der Verfasser das farbige Bild der Kleinstaaterei, 
das hinter den diplomatischen Verhandlungen in manchen amüsanten Einzelzügen 
erscheint, kräftiger ausgemalt hätte. 

Die norddeutschen Kleinstaaten haben trotz ihrer machtpolitischen Bedeu- 
tungslosigkeit im Sommer 1866 doch eine nicht unwichtige Rolle in der Politik 
Bismarcks gespielt. Denn sie waren nach dem Übergang aller Mittelstaaten ins 
österreichische Lager die einzigen halbwegs freiwilligen Genossen eines natienalen 
Bundesstaats unter preuBischer Führung. Bei der entscheidenden Sitzung des Bun- 
destags am 14. Juni, die den Krieg bedeutete, wagten es von ihnen nur Meiningen 
und Reußä.L., offen gegen Preußen zu stimmen. Aber der preußischen Aufforderung 
zum militärischen und politischen Bündnis fügte sich die Mehrzahl dieser Klein- 
staaten nur zögernd und widerstrebend. Partikularistische Besorgnis vor einer 
Mediatisierung, großdeutsche Gesinnung und Anhänglichkeit an den alten Bund, 
Abneigung gegen den Bruderkrieg und Mißtrauen gegen Bismarcks Politik wirkten 
hier zusammen; gerade Herzog Ernst Il. von Koburg-Gotha, der Schutzherr des 
Nationalvereins, und Großherzog Karl Alexander von Weimar, der Schwager König 
Wilhelms, gehörten ja zu dem Kreise der höfischen Gegner Bismarcks, dem sie als 
liberale Fürsten den Verfassungskonflikt, als Anhänger des Augustenburgers seine 
schleswig-holsteinische Politik vorwarfen. Der eigentliche Wunsch der Kleinstaaten 
war Neutralität; einige hatten kurz zuvor ihre Truppenteile eiligst in die süddeut- 
schen Bundesfestungen geschickt, um sie der Teilnahme am Krieg zu entziehen. 
Am raschesten vollzogen den Anschluß an Preußen die bereits durch Militärkonven- 
tionen eng verbundenen Staaten wie Anhalt — hier zeigte sich sogar eine spontane 
Parteinahme der Bevölkerung für Preußen —, Altenburg und Koburg-Gotha. 
Ebenso Großherzog Peter von Oldenburg und Großherzog Friedrich Franz Il. von 


1 vui. H. V. Bd. XXV, 8. 56ff. u. 266ff. 


Kritiken 207 


Mecklenburg-Schwerin, ein warmer Anhänger König Wilhelms, seines Oheims, 
und auch des vielgehaßten preußischen Ministerpräsidenten, allerdings ganz im 
Gegensatz zu seinen adligen Ständen. Der Weimarer Großherzog aber sträubte sich 
leidenschaftlich gegen die Annahme der preußischen Forderungen, während der 
bewegliche Koburger realpolitisch genug dachte, um trotz seiner Bismarckfeindschaft 
rechtzeitig und nun mit aller Entschiedenheit umzuschwenken: er konnte der preu- 
Bischen Kriegsführung, als er seine Truppen bei Langensalza den Hannoveranern 
in den Weg warf, sogar einen wertvollen Dienst leisten. Braunschweig und erst 
recht Mecklenburg-Strelitz verzögerten ihre Mobilmachung absichtlich bis zum 
Eintritt des Waffenstillstandes, und unter den Hansestädten wehrte sich Hamburg 
lange gegen den Zwang, seine Neutralität aufzugeben. Im Grunde bewahrte nur 
der übermächtige Druck, dem die norddeutschen Kleinstaaten innerhalb der preu- 
Bischen Machtsphäre unterlagen, die deutsche Politik Bismarcks vor der paradoxen 
Ausicht auf einen Bund ohne Bundesgenossen. Dennoch hat Bismarck auch mit 
bemerkenswerter Geduld und Vorsicht um sie geworben. Die Behauptungen, daB 
er damals an eine Annexion etwa Braunschweigs? oder Hamburgs gedacht habe, 
werden durch diese Schrift unzweideutig widerlegt. Gerade dem widerspenstigen 
Hamburg gegenüber blieb Bismarck sehr maBvoll, im Unterschied su seinem Ge- 
sandten v. Richthofen, der zur militärischen Besetzung der Hansestadt drängte. 
Nur das feindliche Reuß A. L. wollte er eigentlich mit dem Verlust der Selbständig- 
keit bestrafen, aber hier konnte sich König Wilhelm zur Absetzung des Fürsten- 
hauses nicht entschließen, und der Gedanke einer Gebietsabtrennung erledigte 
sich durch die „Unmöglichkeit, das Ländchen .. noch zu verkleinern, wenn es 
überhaupt bestehen soll* (S. 212). In Meiningen schließlich, dem zweiten Kriegs- 
gegner unter den norddeutschen Kleinstaaten, hatte es mit der Abdankung des alten 
Herzogs Bernhard Erich Freund sein Bewenden; dem von je preuBenfeindlichen 
Nachfolger Georg II. wurde die vom Vater verlangte Kriegsentschädigung und 
Gebietsabtretung erlassen. Heinrich Heffter. 


Preller, Hugo, Salisbury und die türkische Frage im Jahre 1895. Beiträge 
zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges. Heft 9. 
Stuttgart 1930. W. Kohlhammer. 

Salisburys ,, Teilungsplan" vom Jahre 1895 ist bis heute umstrittenes Gebiet histo- 
rischer Forschung. Der Mangel ausreichenden Quellenmaterials verwehrt noch immer 
eine klare Einsicht in das rein Tatsáchliche dieser Frage, über die sich zwei Auf- 
fassungen entgegengesetzten Charakters herausgebildet haben. Die Vertreter der 
einen sehen in dem Projekt des englischen Premiers ein „wohlausgedachtes Pro- 
gramm", an das man — sofern es ehrlich gemeint war — deutscherseits die Hoffnung 
knüpfen konnte, Bismarcks vergebens gehegten Plan einer Abgrenzung der Interessen- 
sphären Österreichs und RuBlands auf dem Balkan zu realisieren, den Hauptgrund 
der russischen Verstimmung gegen Deutschland zu beseitigen und damit zugleich 
den Wert des französischen Bündnisses für Rußland zu vermindern. Es schien 
möglich, den einen Brandherd des politischen Europa in Auswirkung des englischen 
Planes bis auf den Boden zu löschen und auch dem zweiten seine Schärfe zu nehmen. 
Die Vertreter der anderen Auffassung wollen in Salisburys Vorschlag nur den Ver- 


è? 80 Rosendahl, vgl. K. v. Bd. XXV, 8. 547ff. 


208 Kritiken 


such schen, „die Gegensätze in Europa wieder lebendig zu machen“, die im Wider- 
spruch zu den britischen Interessen infolge Rußlands Schwenkung nach dem Fernen 
Osten einzuschlafen drohten. Natürlich, daß die ersteren das kühl ablehnende 
Verhalten der deutschen amtlichen Stellen gegenüber Salisburys Sondierungen 
verurteilen, ihnen zumindest den Vorwurf nicht ersparen, ungeschickt und politisch 
unklug gehandelt zu haben. Eine der uns günstigen Chancen im Deutschland- 
England-Verhältnis hätte man ungenutzt gelassen, ja auch nur den Versuch zu 
ihrer Auswertung nicht unternommen. 

Diese kurzen Ausführungen mögen zugleich zeigen, in welch hohem Grade der 
vorliegende Problemkreis noch der Sphäre des Politischen angehört und daß er die 
Distanz zu leidenschaftslos „objektiver“ Darstellung noch nicht erreicht hat. 

Dieser Bedingtheit des Stoffes konnte sich auch der Verfasser der vorliegenden 
Untersuchung nicht entziehen, obwohl er ausdrücklich darauf Anspruch erhebt, die 
historische Methode, „die lediglich auf eine Ermittelung des Tatsächlichen ausgeht“ 
eingeschlagen zu haben, im Gegensatz zu der politischen — wie sie nach Prellers 
Auffassung in dem von ihm gänzlich verurteilten Buche Friedrich Meineckes: Ge- 
schichte des deutsch-englischen Bündnisproblems 1890—1901 verkörpert ist — 
die von Wunschbildern aus Stellung nimmt und Urteile fállt. Im Widerspruch zu 
dem eben bezeichneten Grundsatz will aber der Verf., darin mit Meinecke einig, 
von der englischen Politik aus zu einem Urteil über die deutsche gelangen. Und 
wenn er auch versucht, diese wertende politische Linie von der „historischen“ äußer- 
lich zu trennen, um erst im SchluBteil der Untersuchung das Urteil über die von 
Deutschland befolgte Politik auszusprechen, so drüngt sich dieses und die politische 
Auffassung des Verfassers im Gesamtverlauf der Arbeit so stark in den Vordergrund, 
daB man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, ein gut Teil politisches Interesse 
habe sich mit dem historischen zur Abfassung der Untersuchung vereint. 

Die besondere Bedeutung von Prellers Arbeit beruht aber darin, daB sie dem 
Widerstreit der Meinungen über die Bewertung des Salisburyschen „Planes“ eine 
neue These hinzufügt. Wohl wissen wir bereits, daB sich Salisbury der armenisch- 
türkischen Frage innerlich nur mit Widerstreben annahm, auch daß er — trotz 
seiner Überzeugung von der drohenden und unvermeidlichen Auflösung der Türkei — 
schwerlich die Absicht gehabt haben konnte, die Initiative zu einer Teilung des 
ottomanischen Reiches zu ergreifen. Dies wird durch die vorliegende Untersuchung 
erneut bestátigt. Die Frage, ob der Premier für den von ihm also nicht gewünschten 
Fall der Zerschlagung der Türkei dennoch einen Plan über die Art und Weise der 
etwa möglichen Verteilung der türkischen Reichsteile an die Mächte entworfen, 
wird verneint. Warum aber hat Salisbury mit fast allen Müchten, wie Preller an 
Hand des vorliegenden Materials ausführlicher nachweist, über die Liquidation 
der Türkei Fühlung genommen? Auf diese Frage antwortet die Untersuchung mit 
dem Hinweis auf die uns gleichfalls nicht unbekannte auBerordentlich weitgehende 
innerpolitische Bindung seines Kabinetts. Als ein unbequemes Erbstück des vorauf- 
gegangenen liberalen Ministeriums hatte es die armenisch-türkische Frage und den 
Gedanken einer Teilung der Türkei übernommen. (Auch auf die mögliche Existenz eines 
Teilungsplanes der Königin Viktoria weist Pr. hin!) Im Interesse der Dauer seines 
Kabinetts sah sich Salisbury gegenüber der liberalen Opposition und der óffentlichen 
Meinung gezwungen, sich dieses Problems anzunehmen und Möglichkeiten seiner 
Lósung zu erwügen. Die türkische Frage war der Hebel, mit dem die Liberalen 


Kritiken 209 


ihre konservativen Gegner aus dem Sattel heben konnten: „Die Gegensätze zwischen 
liberal und konservativ in London werden auf dem Rücken und auf Kosten des 
türkischen Reiches ausgefochten.“ 

Unter dieser Perspektive allein wertet Pr. Salisburys Beschäftigung mit der 
türkischen Frage. Er sieht an jenem außenpolitischen Phänomen des Teilungs- 
gedankens nur die innenpolitische Bedingtheit und nimmt ihm damit die Elastizität 
und Komplexität einer staatsmännischen Idee. Der orientalische Problemkreis 
erscheint im Rahmen der Politik des englischen Premiers nur als ein notwendiges 
Übel, dem er sich nicht entziehen konnte, als eine Frage, die er auf ihre Lösungs- 
möglichkeiten prüfen mußte, freilich um an dem Verhalten der übrigen Mächte 
bald zu erkennen, daß sie nicht an eine Teilung der Türkei dachten, sich ihr im 
Gegenteil widersetzen würden, daß eine ernste Inangriffnahme einer solchen Lösung 
unabsehbare Komplikationen heraufbeschwören würde, und der darum froh war, 
diesem Problem aus dem Wege gehen zu können, als ihm mühselig erzwungene . 
Reformzusagen des Sultans einen den Liberalen und der öffentlichen Meinung 
gegenüber notwendigen Erfolg gesichert hatten. 

Diese Auffassung läßt zugleich die Methode erklärlicher erscheinen, die der 
Premier — soweit wir heute zu sehen vermögen — dabei befolgte: ein unbestimmtes, 
unfaßbares, zurückhaltendes Besprechen und Andeuten von Eventualitäten, in 
einer Weise, aus der nicht nur der optimistische Hatzfeldt, sondern auch die andern 
Mächtevertreter nicht klug zu werden vermochten, die einen guten Nährboden für 
Verdächtigungen und Befürchtungen über unheilvolle Pläne der englischen Politik 
lieferte und auf deutscher Seite unter dem Einfluß der „Kastanientheorie‘‘ auch 
dahin gedeutet wurde. Kann man aber — wie Meinecke — noch von einer Schuld 
der deutschen Staatsmänner reden, als sie den Sondierungen Englands aus dem 
Wege gingen? Gab nicht Salisburys Verhalten allen Grund dazu? Im ganzen 
kommt Pr. über die deutsche Stellungnahme begreiflicherweise zu dem Urteil, 
daß „im Rahmen des zur Zeit psychologisch Möglichen“ „gegen den verantwort- 
liehen Lenker der deutschen Außenpolitik von 1895 ein Vorwurf kaum zu erheben“ 
sein wird. Ein recht vorsichtiges Urteil, das sich von der bei Pr. sonst üblichen Art, 
Wertungen auszusprechen, auffallend abhebt; es sei nur auf die selbstbewußte, 
ja überhebliche Kritik des Meineckeschen Buches hingewiesen. 

Dies möge zur Charahterisierung der stoffreichen Arbeit Pr.s genügen. — Ob 
es freilich begründet ist, Salisburys Türkenpolitik ausschließlich unter dem Ge- 
üchtswinkel innerpolitischer Bindung zu betrachten? Ob ihr nicht doch weiter- 
gebende Pläne zugrunde lagen, sich Ansätze entwickeln ließen, die gerade für 
Deutschland sich fruchtbar hätten auswirken können, wenn sich Berlin den Son- 
dierungen zugänglicher erwiesen hätte? Vielleicht lassen sich doch von der Ver- 
öffentlichung der englischen Akten nähere Aufschlüsse erwarten. 

Berlin. Herbert Michaelis. 


Bernhard, Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1 u. 2. Berlin (Ullstein). 
XXIII, 634, XV, 531 S., gr. 8°. 

Immer stärker häufen sich die Erinnerungsbücher, in denen die Diplomaten 
der Vorkriegszeit ihre Erlebnisse und Bestrebungen der Nachwelt in ihrer eigenen 
Beleuchtung darbieten. Ihre Bedeutung ist natürlich sehr verschieden nach der 
Stellung und Persónlichkeit ihrer Urheber. Jetzt haben auch Fürst Bülows Memoiren 

Histor, Viertel ;ahrschrift, Band 6, H. i. 14 


210 Kritiken 


zu erscheinen begonnen, und der Historiker hofft natürlich aus den Erinnerungen 
eines Mannes, der in entscheidungsvoller Zeit über zehn Jahre lang die auswärtige 
Politik Deutschlands geleitet hat, mancherlei neue Aufschlüsse zu gewinnen. Liest 
man aber diese Aufzeichnungen, so weicht diese Hoffnung bald einer großen Ent- 
täuschung. Bülows Memoiren haben als Geschichtsquelle nur einen sehr bedingten 
Wert, obwohl man ihrem Umfang nach berechtigt wäre zu glauben, daß der Autor 
recht viel zu erzählen habe. Die beiden ersten Bände, die bisher vorliegen, behandeln 
die Jahre, in denen Bülow Staatssekretär des Auswärtigen und Reichskanzler war. 
Der dritte Band soll seine Erlebnisse nach seinem Abgang, der vierte Band seine 
Jugendzeit schildern. 

Das ganze Werk ist im leichten Plauderton geschrieben und bildet eine mühe- 
lose Unterhaltungslektüre. Der Fürst hat es von Anfang bis zu Ende diktiert und 
dann einer Durchsicht und teilweisen Umarbeitung unterzogen. Er hat dabei offen- 
bar eine chronologisch geordnete Sammlung der in seinem Besitz befindlichen Briefe 
und Dokumente zur Hand gehabt. Daraus erklärt es sich, daß auch häufig solche 
Stücke der Erzählung ganz lose und äußerlich eingefügt sind, weil sie gerade in 
die Zeit gehören, von der er spricht, ohne mit den vorher oder nachher berichteten 
Dingen einen inneren Zusammenhang zu haben. Überhaupt entbehrt das Buch 
als Ganzes jeder Komposition. Bülow erzühlt, was ihm gerade aus irgendeinem 
AnlaB einfállt und schweift oft seitenlang ab, um von den Schicksalen einzelner 
Menschen, die gerade erwühnt werden, oder auch von ihrer Familie oder Verwandt- 
schaft zu reden. Alles dies tut er mit behaglicher Breite, ja man tut ihm nicht un- 
recht, wenn man sagt: mit greisenhafter Geschwützigkeit. Das geistige Niveau 
ist überhaupt erstaunlich niedrig. Bülow galt immer tür einen hochgebildeten 
Mann; er hatte auch tatsächlich sehr viel gelesen und liebte es schon in seinen öffent- 
lichen Reden, seine Kenntnis der ülteren und neueren Klassiker durch reichlich 
eingestreute Zitate zu zeigen. Dieser Gewohnheit ist er auch in seinen Memoiren 
treu geblieben. Fast auf jeder Seite werden bedeutende Dichter und Denker vom 
grauesten Altertum bis in die Gegenwart zitiert. Sehr häufig sind diese Zitate aller- 
dings an den Haaren herbeigezogen, und ein Leser, der einigen literarischen Ge- 
schmack besitzt, wird sich häufig versucht fühlen auszurufen: das durfte jetzt aber 
nicht kommen! Aber über diese erhebliche Belesenheit hinaus ist von wirklicher 
Bildung, von eigenem Nachdenken über die groBen Probleme der Gegenwart oder 
vom Streben nach einer irgendwie tiefer fundierten Weltanschauung nichts su 
bemerken. Alles bleibt an der Oberfláche, und man wird vom Strom einer ewig 
gleichmäßigen plauderhaften Redseligkeit von Seite zu Seite sanft weiter- 
getragen. 

Den wesentlichen Inhalt bilden Erzählungen, die sich an die Person der Herr- 
scher und Diplomaten anknüpfen. Man kann sich kein vollständigeres Handbuch 
des Diplomatenklatsches der letzten Jahrzehnte denken, als dieses Buch, dessen 
Verfasser in einem für diese Dinge ausgezeichneten Gedächtnis sorgfältig jedes kleine 
Vorkommnis dieser Art aufbewahrt hat. Gewiß befinden sich darunter einige recht 
hübsche, amüsante, und, mögen sie nun wahr sein oder nicht, auch bezeichnende 
Anekdoten; aber das sind doch nicht eigentlich die Dinge, die man in einem solchen 
Werke sucht. 

Die Zuverlässigkeit der Berichte gibt zu vielen Zweifeln Anlaß; man muß 
bei der Verwertung von Bülows Erzählungen noch vorsichtiger sein, als man es 


* 


Kritiken 211 


überhaupt Memoirenwerken gegenüber gewohnt ist. Er berichtet oft ausführlich 
über weit zurückliegende Unterredungen mit wörtlicher Anführung der dabei ge- 
fallenen Äußerungen. Nur in ganz seltenen Fällen, die er ausdrücklich hervorzu- 
beben pflegt, hat er gleichzeitige Aufzeichnungen darüber vor sich gehabt; sonst 
hat er sich offenbar völlig auf sein Gedächtnis verlassen, und es muß mindestens 
sehr zweifelhaft erscheinen, ob nicht ein großer Teil nachträgliche Rekonstruktion 
unter Hinzufügung starker Ausschmückungen ist. 

Alle Memoiren dienen bis zu einem gewissen Grade der Selbstverteidigung, 
namentlich wenn der Autor im óffentlichen Leben an hervorragender Stelle ge- 
standen hat, und wenn seine Taten Gegenstand heftiger Kritik gewesen sind. Bei 
Bülow tritt dies in auBerordentlich starkem MaBe hervor. Er benutzt jede Ge- 
legenheit, um giftige Pfeile gegen alle diejenigen zu versenden, die er als seine Gegner 
betrachten zu müssen glaubt. Alles was seine Nachfolger getan haben, wird bitter 
und gehässig kritisiert, und sehr häufig entspringen seine Äußerungen dem Bedürfnis, 
sich an denen zu rächen, die ihn nach seiner Meinung irgendwie gekränkt haben. 
Seine Äußerungen über den Kaiser, den Grafen Monts, den Botschafter Hohenlohe, 
Gelehrte wie Delbrück, Harnack, Schiemann und viele andere sind nur unter diesem 
Gesichtspunkt zu verstehen. Vielen von ihnen macht er den Vorwurf, sie hátten 
ihm geschmeichelt, so lange er Macht und Einfluß besaß, und sich nach seinem 
Sturze von ihm abgewandt. Er weiB hierfür kein anderes Motiv zu finden als charak- 
terloses Strebertum. Es ist aber doch sehr wohl möglich, daß viele dieser Männer 
ihn anfangs wirklich für einen bedeutenden Staatsmann gehalten, ja sogar bewundert 
haben, später aber an ihm irre geworden sind, als sie die Wirkungen seines Systems 
zu durchschauen begannen. 

Für uns ist natürlich die weitaus wichtigste Frage, ob man für die großen poli- 
tischen Ereignisse und Entscheidungen jener Tage aus diesem Buche etwas Neues 
erfährt. Aber in dieser Beziehung ist die Enttäuschung besonders groß. Liest man 
3. B. die recht breiten Erörterungen über die deutsch-englischen Bündnisverhand- 
lungen von 1898 bis 1900, so sieht man mit Staunen, daß Bülow auf die eigentlichen 
Probleme überhaupt nicht eingeht. Er hat sich offenbar nicht die Mühe genommen, 
das heute der Öffentlichkeit vorliegende umfangreiche Aktenmaterial noch einmal 
anzusehen, sondern begnügt sich mit ganz allgemeinen Bemerkungen. Seine eigene 
Stellung dazu ist weder klar noch richtig gekennzeichnet. Über die Verschiedenheit 
der Auffassung, die zwischen ihm, dem Kaiser und dem Baron von Holstein über 
diese Fragen obwalteten, erfährt man so gut wie gar nichts. Ganz ähnlich 
verhält es sich mit seiner Stellung zur Marokkofrage, die doch für die weitere 
Entwicklung der Ereignisse so außerordentlich bedeutungsvoll geworden ist. 
Er weicht auch hier jeder ernsteren Erörterung über die vorhandenen Möglich- 
keiten und über die Gründe seiner eigenen Stellungnahme aus und behauptet 
nur immer wieder, daß das, was er getan habe, das einzig mögliche und richtige 
gewesen sei. 

Ebenso unvollständig und irreführend ist seine Darstellung der Entstehung 
des Vertrages von Björkö. Er sagt nichts davon, daß der Text des ganzen Vertrages 
dem Kaiser vom Auswärtigen Amt telegraphisch übermittelt worden ist, um das 
Übereilte und Unüberlegte in der Handlungsweise des Kaisers recht grell hervor- 
treten zu lassen. Auch was er über die Motive für sein damaliges Entlassungsgesuch 
sagt, ist nicht. überzeugend. In der Vorgeschichte der Konferenz von Algeciras 

14* 


212 Kritiken 


verschweigt er ganz die Verständigungsangebote Rouviers, die ihm schon damals 
sehr unbequem waren und die er ja dem Kaiser völlig vorenthalten hat, wie aus 
dessen späteren Randbemerkungen hervorgeht. Obwohl die ganze Konferenz ein 
großer Mißerfolg war und zum ersten Mal die verhängnisvolle Isolierung Deutsck- 
lands in voller Schärfe hervortreten ließ, sucht Bülow sie hier, genau wie schon 
damals in seinen offiziellen und offiziösen Äußerungen, als einen großen Erfolg 
seiner Politik hinzustellen. In seiner Darstellung der bosnischen Krise verschweigt 
er völlig das auf seinen Befehl an Rußland gerichtete Ultimatum und sucht es 
fälschlich so darzustellen, als ob Rußland Deutschlands Eingreifen als Befreiung 
aus einer schwierigen Lage dankbar begrüßt habe. In der Schilderung der Daily- 
Telegraph-Affaire hält er vollständig an seiner früheren Behauptung fest, daß er den 
ihm vom Kaiser übersandten Artikel selbst gar nicht gelesen habe, und sucht die 
Verantwortung dafür, daB kein Einspruch gegen die Veröffentlichung erhoben 
wurde, auf untergeordnete Beamte des Auswärtigen Amtes und auf den ihn in 
Norderney begleitenden Gesandten von Müller abzuwälzen. Ganz abgesehen davon, 
daß es eine grobe Pflichtverletzung gewesen wäre, wenn er das Schriftstück nicht 
selbst gelesen hätte, kann es wohl nach den letzten Veröffentlichungen über diesen 
Punkt als urkundlich gesichert betrachtet werden, daß Bülow den Artikel tatsäch- 
lich gelesen, ja sogar den vom Auswärtigen Amt angeregten Änderungen noch neue 
Änderungsvorschläge hinzugefügt hat. Der ganze Bericht über diese Angelegenbeit 
ist also auf einer handgreiflichen Unwahrheit aufgebaut. Offenbar hat Bülow damals 
die Gefährlichkeit der Veröffentlichung gar nicht erkannt, ihre Wirkungen gar nicht 
vorausgesehen, und hat erst, als er die Folgen sah, sich in einer ziemlich kläglichen 
Weise aus der Affäre zu ziehen versucht. Er hat auch in seinen Memoiren nicht den 
Mut getunden, die Wahrheit einzugestehen. Er hätte ja dann auch zugeben müssen, 
daB der Kaiser völlig im Recht war, als er von ihm erwartete, daB er die Verant- 
wortung mit übernehme. 

Doch genug der Einzelheiten, deren Nachprüfung ja doch der Einzelforschung 
überlassen bleiben muß. Das Angeführte wird genügen, um zu zeigen, daß die 
Glaubwürdigkeit dieser Memoiren da, wo sie nicht durch Dokumente gestützt 
wird, sehr gering ist. Solche Dokumente sind der Darstellung zuweilen eingefügt. 
Darunter befinden sich manche wichtige und interessante Stücke, Privatbriefe, 
die Hatzfeldt und Metternich aus London neben ihren amtlichen Berichten an ihn 
geschickt haben, Berichte von Eulenburg aus der Umgebung des Kaisers, der Bericht 
des Kardinals Kopp über die Papstwahl von 1903, die Aufzeichnung des Kaisers 
über seine Unterredung mit Papst Leo XIII. und manche andere. 

Über die leitenden Persónlichkeiten jener Zeit, die Bülow ja alle sehr genau 
gekannt hat, findet sich manche charakteristische Mitteilung, ohne jedoch wesentlich 
Neues zu bringen. Die größte Rolle spielt natürlich die Persönlichkeit Kaiser Wil- 
helms II. Bülow kann sich nicht genug tunin der Heranziehung einzelner Äußerungen 
und Handlungen des Kaisers, die seine Hemmungslosigkeit und leichte BeeinfluB- 
barkeit, seine Eitelkeit und seine Abhängigkeit von gefühlsmäßigen Stimmungen 
recht deutlich illustrieren sollen. Ein großer Teil davon wird richtig sein; aber man 
wird den Eindruck nicht los, daß sehr viel absichtliche Gehässigkeit hinter diesen 
Erzählungen steckt. Denn obwohl Bülow gelegentlich ein Wort über die sym- 
pathischen Seiten in der Persönlichkeit des Kaisers einfließen läßt, und obwohl er 
wiederholt betont, daß er selbst der z. B. vom alten Hohenlohe geäußerten An- 


Kritiken 213 


schauung, der Kaiser sei geisteskrank, immer auf das entschiedenste entgegen- 
getreten sei, kann er doch nirgends verbergen, daß der Wunsch nach Rache ihm 
auch hier häufig die Feder geführt hat. Er hat es dem Kaiser nie vergeben, daß 
dieser ihn 1909 entließ und während des Weltkrieges nicht wieder an die Spitze 
stellte. Auch sein eigenes Verhältnis zum Kaiser stellt er völlig unrichtig dar, 
wenn er sich selbst beständig in der Rolle des getreuen Eckard auftreten läßt, der 
den Herrscher an seine Pflichten mahnt, ihn vor Torheiten bewahrt und ihm im 
Gegensatz zu seiner schmeichlerischen übrigen Umgebung immer die Wahrheit 
sagt. Wir wissen aus Bülows eigenen Briefen und anderen Quellen nur zu genau, 
daß er selbst einer der schlimmsten Schmeichler war, wie ja überhaupt alle Künste 
des glatten Hofmannes ihm wohlvertraut waren. 

Und damit komme ich auf einen letzten Punkt, den ich hier noch berühren 
möchte. Bülow hat immer als ein geschickter Diplomat gegolten, und das ist er 
zweifellos auch gewesen. Aber wenn es noch Leute gegeben hat, die ihn für einen 
bedeutenden Staatsmann gehalten haben, so hat er sie durch dieses Buch selbst 
eines Besseren belehrt. Diese Denkwürdigkeiten zeigen uns einen leitenden Minister 
ohne irgend welche größeren leitenden Gesichtspunkte oder feste Ziele, die er mit 
innerer Leidenschaft verfolgt hätte. Bei niemandem Anstoß zu erregen, von Moment 
zu Moment weiterzulavieren, das ist seine ganze Kunst. Sollte man nicht in diesem 
Buche irgendeine Erörterung darüber erwarten, ob das aus Bismarcks Zeiten über- 
lieferte Bündnissvstem unter den veränderten Weltverhältnissen noch ausreichend 
war, um Deutschland vor den schwersten Gefahren zu sichern? Sollte man nicht 
irgendeine Auseinandersetzung mit dem schwierigen österreichischen Problem 
darin erwarten? Aber man findet nichts von alledem. Nicht nur in der Zeit als er 
Reichskanzler war, sondern auch noch in den letzten Jahren, als er diese Memoiren 
schrieb, sind ihm offenbar die schweren Probleme, vor die Deutschland damals 
gestellt war, gar nicht deutlich zum Bewußtsein gekommen. Was er über die inneren 
Fragen zu sagen hat, ist geradezu kläglich. Daß er kein wirklicher Staatsmann war, 
wußte man freilich auch schon vorher und findet es hier nur bestätigt; aber mit 
großem Bedauern erkennt man aus diesem Buche auch, daß er kein Gentleman war. 

Leipzig. Erich Brandenburg. 


Nadolny, Rudolf, Germanisierung oder Slavisierung? Eine Entgegnung auf Masaryks 

Buch „Das neue Europa". Otto Stollberg, Berlin 1928, 208 S. 

Dieses aus aktuell-politischem Anlaß geschriebene Buch greift doch über diesen 
Anlaß weit hinaus. Es ist quellenmäßig so gründlich unterbaut, in ihm ist ein so 
ernster Forscherwille spürbar, daß man es als einen bleibend wertvollen Beitrag zu 
der Frage der germanisch-slavischen Wechselbeziehungen in der Geschichte füglich 
bezeichnen darf. Einer allgemeinen Einführung folgt ein umfängliches Kapitel über 
„Pangermanismus und Panslavismus". Klar und einleuchtend werden diese termino- 
logisch einander entsprechenden, wesensmäßig jedoch voneinander verschiedenen 
Bezeichnungen auf ihren historischen Sinngehalt hin untersucht. Dabei ergibt sich 
denn eine Geschichte des deutschen National- und Nationalstaatsgedankens in nuce. 
Der Panslavismus als geistesgeschichtliche und politische Bewegung ist in der Syn- 
these glücklicher dargestellt als selbst in Fischels dieselbe Bewegung behandelndem 
anerkanntem Werk. Nur halten wir es — trotz Nadolnys Einwänden (S. 68f.) — 
für zumindest mißverständlich, die Slaven insgesamt als einheitliche ,, Rasse“ (an- 


214 Kritiken — Nachrichten und Notizen 


Statt vorsichtiger als Völkergruppe) und den Panslavismus als „Rassenbewegung“ 
zu bezeichnen. Er ist vielmehr eine aus völliger Verkennung geschichtlich gewordener 
Gegebenheiten erwachsene, romantische Volkstumsbewegung. Die ideellen Ur- 
sprünge des Panslavismus seit Križanić, seine entscheidende Befruchtung durch 
Herder werden denn auch in Nadolnys Darstellung durchaus deutlich, ebenso seine 
beiden Spielarten, der imperialistisch-expansive Panrussismus (Danilevskij) und der 
national-humanitäre Austroslavismus (PalackY), ihre Angleichung und schlieBliche 
Einmündung in die „slavische Wechselseitigkeit“, die den slavischen Einzelvölkernihre 
nationale Unabhängigkeit belassen will. Der zweite große Abschnitt des Buches, 
„Germanen und Slaven“, gibt den geschichtlichen Befund. Der Verf. erklärt es mit 
Recht als nicht angängig, die Geschichte der slavisch-germanischen Besitzverhältnisse 
im ostelbischen Gebiet erst seit etwa 800 zu datieren (wie Masaryk das tut). Quellen- 
kritisch unterbaut, wobei von slavischen Historikern vor allem SafaHk herangezogen 
wird, wird die Entwicklung dicser Verhältnisse von den letzten vorchristlichen Jahr- 
hunderten bis in die Neuzeit dargelegt ; eine Entwicklung, die derBeweis für den expan- 
siven Charakter des Slaventums ist. Der,, Schlußbetrachtung“ des Buches gegenüber wird 
man Vorbehalte machen müssen. Nadolny beantwortet nämlich die Frage nach der 
künftigen volklichen Gestaltung des gemischtvölkischen Raumes zwischen Elbe 
Saale Böhmerwald im Westen und Weichsel — Karpathen im Osten so: nicht Ger- 
manisierung, nicht Slavisierung, sondern Verschmelzung zu einem neuen, deutsch- 
slavischen Volkstum, dem ostelbischen völkischen Sondertypus. Nun steht es außer 
Zweifel, daß die deutsch-slavische Mischzone einer geistesgeschichtlichen und ethno- 
logischen Betrachtung manch einheitlichen Zug darbietet — Josef Nadlers Theorie 
von der geistigen Sonderart der deutschen „Neustämme“ klingt hier an. Aber, 
abgesehen davon, daß es immer miBlich ist, geschichtliche Abläufe vorauszusagen, 
ist Nadolnys Lósungsversuch zu glatt: es geht nicht an, den AltpreuBen, den Ober- 
sachsen, den Deutsch-Bóhmen und nun gar die um sie oder unter ihnen wohnenden 
slavischen Völkerschaften einem einheitlichen „ostelbischen Typus“ zuzurechnen. 
Jedenfalls liegt der Wert der Schrift Nadolnys überwiegend in ihren beiden mittleren 
Hauptabschnitten. 
Leipzig. Friedrich Wilhelm Neumann. 


Nachrichten und Notizen. 


R. Oldenbourgs Geschichtliches Quellenwerk, herausgegegeben von Erich Chud- 
zinski. München und Berlin, Druck und Verlag von R. Oldenbourg. 9 Bde von 
je 8—10 Druckbogen Umfang. Preis je 2,20 RA. 

Von der im ganzen neun Bände umfassenden Sammlung liegen folgende fünf zur 
Besprechung vor: Teil I: Altertum, bearbeitet von Dr. Thomas Lenschau; Teil III: 
Vom Mittelalter zur Reformation, bearbeitet von Dr. Hans Gille; Teil V: Absolu- 
tismus und Aufklärung (1648—1789), bearbeitet von Dr. Erich Chudzinski; 
Teil VII: Vom Wiener Kongreß bis zum Jahre 1861, bearbeitet von Karl Bau- 
städt; Teil VIII: Bismarck, bearbeitet von Dr. Walter Seefried. 

Der Zweck dieses Quollenwerkes reicht weit über den Rahmen einer gewóhn- 
lichen historischen Quellensammlung hinaus. „Es will ein Quellenwerk für jeden 
geschichtlichen Unterricht in der Schule sein, also in gleicher Weise für die Profan- 


Nachrichten und Notizen 215 


geschichte wie für die Kirchengeschichte, für die politische wie für die Verfassungs-, 
die Wirtschafts- und die Gesellschaftsgeschichte dienstbar sein. Vor allem sind 
auch Philosophie und Kunstgeschichte in dem Umfange berücksichtigt, wie die 
Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen es notwendig machen.“ Die 
Bände können also nicht nur im eigentlichen Geschichtsunterricht, sondern auch in 
jedem anderen Unterricht, der es irgendwie mit geschichtlichen Problemen zu tun 
hat, Verwendung finden und auf diese Weise dazu beitragen,, daß die viel geforderten 
Querverbindungen zwischen den verschiedenen Fächern ermöglicht werden und 
ihre innere Zusammenarbeit sichergestellt wird‘. 

Die Gliederung des Stoffes erfolgt in allen Bänden, abgesehen vom ersten, nach 
folgenden Gesichtspunkten: a) Staatliche Entwicklung; b) Verfassung; c) wirt- 
schaftliche und soziale Verhältnisse; d) Religion und Kirche; e) Geistige Strömungen; 
f) Kunst. 

Es ist ungemein schwer, ja eigentlich unmöglich, über den Wert eines für den 
Unterricht bestimmten Werkes ein gerechtes und zutreffendes Urteil zu fällen, bevor 
man es mehrfach und längere Zeit hindurch in der Praxis erprobt hat. Aber das 
Zeugnis wird man dem Oldenbourgschen Quellenwerke unbedingt ausstellen dürfen, 
daB der Eindruck, den man bei der ersten Durchsicht erhält, sehr günstig ist. Man 
merkt, daß überall tüchtige und solide Arbeit geleistet worden ist. Die Auswahl der 
Quellen, die ja, dem Zwecke des Werkes entsprechend, den verschiedensten Kultur- 
gebieten entstammen, verrät durchweg Umsicht und Sachkenntnis, so daB man 
wohl die Erwartung aussprechen darf, daß das Werk dem geschichtlichen Unterricht 
im weitesten Sinne des Wortes sehr gute Dienste zu leisten vermag. Aber trotz der 
Anerkennung, die man dem Werke gern zollt, wird man einige Bedenken dagegen 
nicht unterdrücken können. Die neun Bände kosten zusammen etwa 20 ZA. 
Das ist im Verhältnis zu dem Reichtum des Inhalts nicht viel, für den Schüler be- 
deutet es doch eine ganz außerordentlich hohe finanzielle Belastung, auch wenn 
man berücksichtigt, daß sich die Ausgabe auf drei Jahre verteilt. Denn das Quellen- 
werk kann und soll ja doch wohl die eigentlichen Lehrbücher in den einzelnen Fä- 
thern, wo es Verwendung finden soll, nicht ersetzen. Und die Beschränkung auf nur 
einige von den neun Bänden, die natürlich an sich möglich ist, entspricht kaum dem 
ursprünglichen Zweck, der dem ganzen Unterrichtswerk zugrunde liegt. Aber bedarf 
es zum Erteilen eines guten und erfolgreichen Geschichtsunterrichtes wirklich un- 
bedingt so umfangreicher Lehrbücher? Ich glaube, daB man diese Frage durchaus 
verneinen muB. Dazu kommt ein anderes Bedenken, das aber nach derselben Rich- 
tung weist. Die Quellenstücke sind — das liegt in der Natur der Sache — teilweise 
so gehaltvoll und entsprechend schwierig. daB es einer sehr eingehenden und zeit- 
raubenden Bahandlung bedarf, wenn sie dem Schüler einigermaßen zum Ver- 
stándnis gebracht werden sollen. Ich halte es deshalb für gánzlich ausgeschlossen, die 
Quellenstücke auch nur annäherungsweise in vollem Umfange zu bewältigen. Auch 
das zeigt, daB die Fülle des Gebotenen zu reich ist. Endlich noch eine kurze Be- 
merkung zum ersten Bande, der Quellenstücke aus dem Altertum enthält. Die Aus- 
wahl ist hier fast durchweg unter dem Gesichtspunkte erfolgt, daß der Schüler die 
einzelnen geschichtlichen Persónlichkeiten, Tatsachen und Ereignisse, z. B. die Ver- 
fassung Drakons, die Schlacht bei Marathon, Tib. Gracchus und seine Reform, 

dureh verschiedene, háufig weit voneinander abweichende Berichte kennen lernt. 
Sicher ist der Vergleich eines der vorzüglichsten Mittel, den Schüler zu geschichtlichem 


216 Nachrichten und Notizen 


Denken zu erziehen, aber es erscheint doch fraglich, ob es zweckmäßig ist, diesen 
einen Gesichtspunkt in dem Maße in denVordergrund zu stellen, wie es hier geschehen 
ist. Es ist auf diese Weise auch viel höchst Unwichtiges mit aufgenommen worden, 
an dessen Stelle man lieber Wertvolleres sähe. 

Leipzig. Hermann Reuther. 


Dr. Franz Braun und A. Hillen Ziegfeld, Geopolitischer Geschichts-Atlas. 
I. Teil. Das Altertum. 54 Karten auf 25 Tafeln. Hierzu: 56 Seiten Textbuch. 
Dresden 1927, L. Ehlermann. 

„In dem Zusammenwirken von Karte und Text geschichtliches Geschehen zu 
lebendiger Anschauung zu erheben und räumlich einzuordnen, d. h. mit der Ver- 
mittlung grundlegenden Wissens zugleich an raumpolitisches Denken zu gewöhnen“, 
ist das Ziel dieses Unterrichtswerkes. Im Vordergrunde soll dabei durchaus die 
Karte stehen. Das Bild der in dem Atlas enthaltenen Karten weicht wesentlich 
von dem Herkömmlichen ab, vor allem durch die Beschränkung auf die Schwarz- 
Weiß-Technik, also gänzlichen Verzicht auf Farbe, und ferner durch Anwendung 
verschiedener neuartiger kartographischer Hilfsmittel, die sämtlich dazu dienen, 
die Anschaulichkeit und Plastik der Karten aufs höchste zu steigern. Nur als Er- 
gänzung tritt zur Karte das Textbuch, das die Aufgabe hat, den geopolitischen 
Gehalt der Karten herauszuarbeiten, und einen kurzen Abriß der Geschichte des 
Altertums darstellt. Es ist nicht immer ganz leicht, aber überaus klar geschrieben, 
und bei aller Knappheit außerordentlich inhaltsreich. Im Zusammenhange mit 
diesem Textbuch ist der geopolitische Geschichtsatlas ein in jeder Beziehung her- 
vorragend geeignetes Mittel, die Behandlung der alten Geschichte staatsbürgerlicher 
Erziehung dienstbar zu machen. Freilich bedarf es, — das soll durchaus kein Vor- 
wurf sein — um die in ihm enthaltenen Werte voll auszunutzen und wirksam zu 
machen, eines Lehrers, der historisch, geographisch und politisch gleichmäßig ge- 
schult ist und über ein sehr hohes Maß von Lehrtalent verfügt. Dabei wird er vor 
allem aber auch darauf bedacht sein müssen, eine Gefahr zu vermeiden, die die Be- 
nutzung dieses Unterrichtswerkes mit einer gewissen inneren Notwendigkeit in 
sich birgt, die Gefahr, durch einseitige Betonung geopolitischer Gesichtspunkte 
diejenigen Seiten der antiken Geschichte allzusehr in den Hintergrund treten zu 
lassen, die ihrem Wesen nach grundsätzlich der Sphäre geopolitischer Betrachtungs- 
weise entrückt sind. Hermann Reuther. 


Ernst Crous und Joachim Kirchner, Die gotischen Schriftarten. Leipzig 1928, 
Klinkhardt & Biermann. 46 S. u. 64 Tafeln, 4°. 

Die vorliegende Veröffentlichung geht von der zutreffenden Beobachtung aus, 
daß das Kapitel von der gotischen Buchschrift bis vor kurzem sehr stiefmütterlich 
behandelt worden ist. Bahnbrechend für eine gründlichere Bearbeitung war 1923 
Alfred Hessel vorangegangen mit einem Aufsatz „Von der Schrift zum Druck“ 
(Zeitschrift des deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum; auch selbständig 
erschienen). Ihm folgend, versuchen die beiden Verfasser, die Terminologie der 
gotischen Buchschriften festzulegen und zugleich Vorarbeit zu leisten für ein Auf- 
finden zeitlicher und örtlicher Datierungsmerkmale. Sie teilen sich so in den Stoff, 
daß Kirchner auf 19 Seiten die gotischen Schriftarten in den Handschriften, Crous 
auf 13 Seiten die gotischen Schriftarten im Buchdruck behandelt. Ein vortrefilich 


Nachrichten und Notizen 217 


ausgewähltes und vortrefflich wiedergegebenes Abbildungsmaterial nimmt mehr 
Raum ein und beansprucht gleiche Bedeutung wie der Text. 

Kirchner hat sämtliche Beispiele, die er vorführt, und auf die er sich bezieht, 
der Handschriftenabteilung der Preußischen Staatsbibliothek entnommen, in der ja 
typische Erzeugnisse der verschiedenen deutschen Landschaften, auch genug fran- 
sösische und italienische Handschriften sich finden. Einsetzend mit einem Beispiel 
aus dem 11. Jahrhundert, das 12. und 13. etwas breiter berücksichtigend, findet er 
vom 14. ab die schon von Hessel annáhernd ebenso charakterisierten Typen der in 
Italien entstandenen Rotunda, Florentiner Bastarda und Gothicoantiqua ausgeprägt, 
während ein anderer, noch einflußreicherer Typus der Bastarda in Nordfrankreich 
entstand. Ihnen steht die ihren gotischen Grundcharakter am stürksten bewahrende 
Textura gegenüber. Aus den Ursprungslündern gelangen die Schriftarten bald zu den 
andern Völkern des Abendlandes. Das 15. Jahrhundert gestaltet sie mannigfaltiger, 
in ihm lassen sich in Deutschland z. B. eine oberrheinische, schwübische, bayrisch- 
österreichische usw. Bastarda verfolgen. Schriftprovinzen des kolonialen Deutsch- 
land werden nicht abgegrenzt; die schwere, aber wichtige Aufgabe einer Schrift- 
geschichte dieser Lande kann wohl noch lange nicht und jedenfalls nicht nebenbei 
gelöst werden. 

Wie der in einem Zeitpunkt so weitgehender Differenzierung und Zersplitterung 
einsetzende Buchdruck das Vorgefundene übernimmt und nach manngifachem 
Schwanken wieder eine gewisse Einheitlichkeit schafft, wenigstens für Ländergruppen 
und Sachgebiete (indem etwa fremdsprachlichen Texten neben der herrschenden 
eine besondere Schriftart vorbehalten bleibt), das verfolgt Crous bis ungefähr zum 
Ausgang des 18. Jahrhunderts. 

Mit Recht haben die Verfasser auch die kurzlebigen Versuche, neue Typen zu 
schaffen, berücksichtigt, mit Recht neben den Einzelformen den Gesamteindruck 
der ganzen Buchseite sprechen lassen. 

Leicht war es nicht, Schrifttypen, zwischen denen so vielfache Berührungen 
vorkommen, klar zu bezeichnen. Sind doch z. B. Rotunda und Gothicoantiqua beide 
darin verwandt, daß sie in die gotische Zeit gehören, aber den bekanntlich dem Ita- 
liener unsympathischen gotischen Stilcharakter tunlichst zurückdrängen. Im all- 
gemeinen folgen die Verfasser der Terminologie, die Hessel in kritisch durchdachtem 
Anschluß an die Schreibmeister des 15. und 16. Jahrhunderts eingeführt hat, und 
die sich wohl behaupten wird. Nur gegen eine Bezeichnung — die bei Hessel nicht 
vorkommt — möchte ich Einspruch erheben: den Ausdruck Gitterschrift für das 
Schriftbild, das Tafel 1 aus einer französischen Handschrift des 11. Jahrhunderts 
bietet, sollte man vermeiden. Erstens kann ich nicht finden, daß sie an ein Gitter 
erinnert, und zweitens ist der Ausdruck Gitterschrift schon lange eingebürgert für die 
extrem ausgestaltete verlängerte Schrift der Kaiser- und Papsturkunden. 

Leipzig. Paul Kirn. 


Abt Cuthbert Butler, Benediktinisches Mönchtum. Studien über benediktinisches 
Leben und dio Regel St. Benedikts. Autorisierte deutsche Übersetzung. 
Missionsverlag St. Ottilien, Oberbayern, 1929. XVI, 491 S., geb. 14 RA. 

Die Benediktinerregel in der Übersee. Kurzer geschichtlicher Überblick über die 
Ausbreitung des Benediktinerordens und seiner Zweige in den außereuropä- 
ischen Ländern von P. Beda Danzer O. S. B., Mönch der Erzabtei St. Ottilien. 


218 Nachrichten und Notizen 


Missionsverlag St. Ottilien, Oberbayern, 1929. VIII, 276 S., 23 Kartentafeln, 

geb. 8 AM. | 

Das 1884 gegründete Mutterhaus der Benediktus-Missionsgesellschaftin St.Ottilien 
bringt zur 1400-Jahrfeier des Mutterklosters Monte Cassino, der Wiege des Ordens, 
zwei wertvolle Gaben heraus, dienach Inhalt und Ausstattung sehr beachtenswert sind. 

Der Abt von St. Stephan in Augsburg, Dr. Placidus Glogger O. S. B. hat ge- 
legentlich einer Anzeige des 1919 (2. Auflage 1924) erschienenen Werkes „Benedictine 
Monachism, Studies in Benedictine Life and Rule“ des Abtes von Downside, Cuthbert 
Butler, auf die Notwendigkeit einer Übersetzung dieses Buches hingewiesen. 1924 
erschien eine franzósische von Ch. Grolleau, jetzt eine deutsche, an der in erster Linie 
Prof. Dr. Joh. Nep. Hebensperger in Dillingen a. D. und P. Beda Danzer in St. Otti- 
lien beteiligt sind. Der Verfasser des Werkes, das man eine Wesensschau des Bene- 
diktinertums genannt hat, betont im Vorwort, daB die Benediktinerregel, eine der 
beherrschenden Kräfte in der Geschichte des Abendlandes, wohl Kapitel für Kapitel 
erklürt, aber noch nie in ihren Grundgedanken und deren praktischen Verwirklichung 
planmäßig geschichtlich untersucht worden sei. Der Verfasser hat aber auch „den 
Auswirkungen des neuzeitlichen Benediktinertums nach seiner mannigfaltigen Ge- 
staltung im ganzen heutigen Europa" Beachtung geschenkt, so daß das Buch nicht 
nur geschichtlich-wissenschaftlich, sondern auch praktisch für Predigt, Katechese 
und persónliches Innenleben mit Nutzen verwertet werden kann. 

In 22 Kapiteln entrollt sich ein eindruckvolles Bild des Lebens und Wirkens, 
wie es der Ordensstifter gewollt hat, und der Auswirkungen des benediktinischen 
Gedankens im Laufe der Jahrhunderte. Den Grundgedanken formuliert der Ver- 
fasser in folgenden Worten: „eine Gemeinde von Mönchen heranzubilden, die ver- 
pflichtet sein sollten als eine religiöse Familie im Kloster ihrer Profeß unter einer 
Regel bis in den Tod ein Leben völliger. Gemeinschaft zu führen, das ganz dem Dienste 
Gottes geweiht war, ohne sich durch übergroße Strenge hervorzutun" (S. 327 fl. 
In dieser Schule für den Dienst Gottes spielt die Selbstzucht die Hauptrolle, nicht 
im Sinne kórperlicher BuBübung, sondern im Streben nach Vollkommenheit durch 
Führung eines geistlichen Lebens. Einige Stichworte mógen den weiteren, reichen 
Inhalt des Buches kennzeichnen: Gebet, Mystik, Gelübde, Armut, die Regel Bene- 
dikts, die benediktinische Familie, Regierung und Verfassung, das tügliche Leben 
im Kloster, die Studien, der Abriß der benediktinischen Geschichte, eine Bene- 
diktinerabtei im 20. Jahrhundert. Sehr wertvoll sind die von P. Beda Danzer bei- 
gesteuerten Anmerkungen und die erschöpfenden Namen- und Sachregister, die auf 
alle Fragen zuverlüssige Auskunft geben. 

P. Danzers Buch verfolgt auf Grund eines ausgedehnten Quellenstudiums 
die Ausbreitung der Mónche und Nonnen des Benediktinerordens und seiner Zweige, 
also auch der Zisterzienser, Trappisten, Silvestriner, Olivetaner, Camaldulenser und 
Humiliaten, seit dem 8. Jahrhundert über die ganze Welt in Asien, Afrika, Amerika, 
Australien und sogar in Grönland. Es ist daher missionsgeschichtlich von Be- 
deutung. Im Anhang hat der Verfasser ein Verzeichnis móglichst aller benedikti- 
nischen Niederlassungen in den überseeischen Gebieten, die bestanden haben und 
noch blühen, zusammengestellt. Ihre Lage ist mit Hilfe der beigegebenen Karten- 
skizzen leicht festzustellen. Jedem einzelnen Abschnitt sind reichhaltige Literatur- 
angaben vorangestellt. 

Breslau. W. Dersch. 


Nachrichten und Notizen 219 


Robert Holtzmann, Der Kaiser als Marschall des Papstes. Eine Untersuchung 
zur Geschichte der Beziehungen zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter. 
(Schriften der Straßburger Wissenschaftlichen Gesellschaft in Heidelberg. 
Neue Folge 8. Heft). Berlin und Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1928. 50 S. 

Auch der einigermaßen bewanderte mittelalterliche Historiker wird aus dieser 

Untersuchung, die zuerst als Vortrag auf dem Grazer Historikertag dargeboten 

worden ist, im Druck zahl- und umfangreiche Noten und Belege erhalten hat, viel 

Neues lernen: daß Vorgänge der behandelten Art, des Zügelführens (officium stra- 

toris) und Bügelhaltens (officium marscalei) bis 1155 (ausschließlich) zwischen 

Kaisern (Kónigen) und Päpsten nur viermal vorgekommen sind, 745 (Pippin und 

Stephan II.), 858 (Ludwig II. und Nikolaus I.), 1095 (Konrad, der Sohn Heinrichs IV. 

und Urban II.) und 1131 (Lothar III. und Innocenz II.); daß das officium stratoris 

und officium marscalci zwei verschiedene Dinge sind; daß bis 1095 nur officium 
stratoris verlangt und geleistet wurde, beruhend auf der Konstantinischen Schen- 
kung; daB 1131 erstmalig das officium marscalci dazu verlangt und geleistet wurde, 
mit der unbestreitbaren Absicht auf kirchlicher Seite, den Kaiser dadurch als Be- 
amten oder Lehensmann des Papstes erscheinen zu lassen; daß nach 1155 der Dienst 
sehr háufig wurde und schnell an innerer Bedeutung verlor. Wenn Holtzmann 
(S. 38) schlieBt und vermutet, daB Friedrich I. 1155 eine authentische Interpretation 
oder bindende Zusage erlangt habe, daB das Bügelhalten nur eine Ehrenerweisung 
in frommer Demut sei und mit einem vassalitischen Brauch nichts zu tun habe, 
so scheinen mir diese und die hier folgenden Hypothesen nicht sehr gesichert und not- 
wendig zu sein. Den bald hervortretenden Wechsel in der Bedeutung dieser Zeremonien 
kann man auch anders erklären als mit solchem durchgesetzten Verlangen des Kaisers, 
von dem doch der damaligen Welt nichts bekannt geworden zu sein scheint. 
Ein paar Kleinigkeiten: mehrmals muß es heißen Nicolaus de Carbio (Calvi) 
statt Curbio. Den etwas sonderbaren und naiven Bericht Helmolds über die Szene 
von Sutri möchte ich nicht mit Hauck und Holtzmann als bewußte Ironie Helmolds 
erklären, die ich dem Pfarrer von Bosau nicht zutraue, für die ich kein zweites Bei- 
spiel in seiner Chronik wüßte. Er empfing diesen wie andere Berichte in diesen 

Teilen der Slavenchronik durch mündliche Erzählung seines Bischofs Gerold von 

Oldenburg-Lübeck, der Friedrichs Romzug mitgemacht hat (hatte evtl. auch noch 

andere Gewährsmänner aus den Kriegern Heinrichs des Löwen), und hat seinen 

Bericht durch Mißverständnis und Erinnerungsirrtum bei zirka 12 Jahre späterer 

Aufzeichnung entstellt. 

Erlangen. B. Schmeidler. 


P. N. Leonhard Lemmens O. F. M. Geschichte der Franziskanermissionen. 
Missions wissenschaftliche Abhandlungen und Texte herausgegeben von Prof. 

Dr. J. Schmidlin, Band 12. Münster i. W., Aschendorff 1929, XX u. 378 S. 89. 

Die Heidenmission der Minoriten knüpft an die bekannte Reise des hl. Franz 
zum ägyptischen Sultan Melek-el-Kamel an und ist seitdem nie mehr zum Stillstand 
gekommen. Noch im 13. Jahrhundert sind es Franziskaner gewesen, welche die 
Missionierung der Mongolenreiche, die aus der gewaltigen Ländermasse Dschingis- 
khans hervorgegangen waren, in Angriff nahmen; berühmt sind die Berichte eines 
Johannes von Piano di Carpine und Wilhelm von Ruysbroeck, die dem Abendlande 
zuerst Kenntnisse über die Völker des Fernen Ostens vermittelten. Das vorliegende 


990 Nachrichten und Notizen 


Werk setzt sich zur Aufgabe, die in neuester Zeit stark angeschwollene Literatur 
über den Gegenstand übersichtlich zusammenzufassen und das ältere Hauptwerk 
von Marcellinus da Civezza, Storia universale delle missioni francescane I—V III 
(1857—95) zu ergánzen und durch eine knappe Darstellung zum Unterricht in den 
Ordensschulen zu ersetzen. Man darf feststellen, das dies dem gelehrten Verfasser 
wohl gelungen ist; für zahlreiche Einzelheiten, besonders soweit sie die Heiden- 
mission im Ordenslande Preußen und in Palästina angehen, konnte er sich auf eigene 
Vorarbeiten stützen. Wie umfangreich aber trotzdem noch das zu bearbeitende 
Quellenmaterial war, zeigt ein Blick in die 14 Seiten umfassende Literaturübersicht. 
Auch ungedrucktes Material aus dem Archiv der Propaganda hat dem Verfasser zur 
Verfügung gestanden, ebenso Urkunden aus dem Archiv seines Ordens. Die Schilde- 
rung im einzelnen geht geographisch, nach Ländern und Erdteilen, vor; zuerst 
werden die Missionen unter den Sarazenen des Mittelmeerbeckens geschildert, wo 
die Erfolge der bekannten Haltung des Islam entsprechend, am geringsten waren. 
Auch die europäischen Missionen, abgesehen von der Bekämpfung der Sekten 
hauptsächlich in den Gebieten des slawischen Ostens, gehören zu den weniger 
erfolgreichen. Im heiligen Land beschränkte sich die Tätigkeit der Franziskaner 
im Mittelalter auf die Behauptung der aus der Katastrophe der Kreuzfahrerstaaten 
geretteten Trümmer; aber Erstaunliches hat schon im Mittelalter die Mission in den 
Mongolenreichen des Fernen Ostens geleistet, wenn auch das Erreichte in China im 
14. Jahrhundert vor allem wegen des Mangels eines einheimischen Klerus und der 
Schwierigkeit, bei den damaligen Verkehrsverhültnissen Krüfte aus dem Abendland 
heranzuziehen, wieder zugrunde ging. Um so lebhafter war die Tätigkeit in diesen 
Gebieten nach ErschlieBung neuer Reisemóglichkeiten. Das interessanteste Kapitel 
aus dieser ostasiatischen Missionsgeschichte ist ja China, das im Anfang des 18. Jahr- 
hunderts nahe an der Christianisierung war. Leider ist die Darstellung Lemmens' an 
dieser Stelle lückenhaft; einganzer Druckbogen, der den Ritenstreit in China behandelt, 
ist nachträglich aus dem Bande entfernt worden infolge eines Verbotes der Propa- 
ganda, den Gegenstand zu behandeln. Dieser Ritenstreit war im Grunde ein Gegen- 
satz zwischen den Missionsmethoden der Jesuiten, die mit ihrer Weltgewandtheit 
die größten Erfolge in China errangen, und der am Armutsideal festhaltenden Bettel- 
mönche, die eine intransigentere Auffassung über die zu billigenden Gebräuche im 
Kultus vertraten. Man muß diese Lücke, die unsere Kenntnis über den Gegenstand 
auf Quellen und Darstellungen aus dem Lager der Jesuiten verweist, um so mehr 
bedauern, als der Verfasser sich in den übrigen Partien seines Buches — auch auf 
andern Schauplátzen hat es an Reibungen zwischen den Orden nicht gefehlt — von 
jeder Polemik fernhält. Waren die Missionen der Franziskaner unter den Negern 
Afrikas bis in die neuere Zeit hinein ohne größere Erfolge, so stehen dem die dauernden 
Ergebnisse in den spanischen Kolonien Mittel- und Südamerikas und im portugie- 
sischen Brasilien gegenüber; die Christianisierung des spanischen Südamerika vor 
allem ist, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise, das Werk der Söhne des 
hl. Franz. 
Berlin-Lichterfelde. Walther Holtzmann. 


Otto Tschirch, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel. 
Verfaßt im Auftrage der städtischen Behörden. Festschrift zur Tausendjahrfeier 
der Stadt. 1928/29. Brandenburg (Havel) 1928. Band I. 284 S. Band II. 4158. 


Nachrichten und Notizen 221 


Diese Arbeit des bekannten brandenburgischen Historikers geht weit über den 
Rahmen dessen hinaus, was leider sonst meistens von Städten als Festschrift heraus- 
gegeben wird. Es ist eine tiefgründliche wissenschaftliche Arbeit, ein Muster einer 
Stadtgeschichte, wie sie sein soll. Eine jahrzehntelange, oft mühselige Kleinarbeit 
hat mit dem vorliegenden Werke ihren Abschluß erreicht. Es wird aber auch mehr 
als nur die Geschichte der beiden Städte Brandenburg geboten. Eng ist die ehe- 
malige Hauptstadt mit den Geschicken des Landes verbunden, als Haupt der Städte 
spielt sie eine führende Rolle, als Sitz des Schöppenstuhles ist sie maßgebend für die 
rechtlichen Verhältnisse der Mark, ja als Sitz eines Bischofs wird sie auch in die 
religiösen Meinungsverschiedenheiten mit hineingerissen. All das meistert T. vor- 
züglich. In klarer lebendiger Weise schildert er von Anbeginn an die äußeren wie die 
inneren Verhältnisse der beiden Städte. Daß sich durch ihre enge Verbindung zu 
den Markgrafen und ersten Kurfürsten seine Schilderung zu einer Geschichte der 
Mark Brandenburg ungefähr bis zur Reformationszeit entwickelt hat, will uns darum 
nicht wunder nehmen. Und doch merkt man überall die liebevolle Kleinarbeit, sei 
es, daß er bei der Namenserklärung mit schlagenden Gründen den Einfluß des Sla- 
wischen zurückweist, sei es bei der Begrenzung des Stadtgebietes. Für besonders 
wertvoll halte ich die Abschnitte über die Entwicklung der Stadt (1. Buch 1), über 
die Wittelsbacher und Lützelburger (3. Buch, 2—4), über das geistige Leben (5. Buch, 
9) und über Kunst und Privatleben (7. Buch, 9). Die neuere Zeit wird etwas summa- 
rischer behandelt und zeigt nicht die Abgerundetheit der früheren Abschnitte. 

Wenn ich nun einige Bemerkungen anfüge, so sollen diese den Wert des Werkes 
nicht herabsetzen. Um 1400 kann man wohl kaum noch die Brandenburger Bürger als 
„im Kriegswesen noch wenig geübt“ bezeichnen (S. 115). S. 180f. und S. 243f. wird 
der Streit um den entflohenen Priester nicht ganz ebenmäßig erzählt. Ein Hinweis auf 
die frühere Schilderung hätte wohl S. 2431. genügt. Überhaupt ist es mir aufgefallen, 
daB háufiger Begebenheiten doppelt berichtet werden, wo ein Hinweis genügt hátte. 
So wird uns Bd. II, 69 und 76 erzáhlt, daB die Bürgermeister der Altstadt zur Pest- 
zeit 1566 die Stadt verlassen und sich in die Weinberge bei Radewege geflüchtet 
hätten, damit die Sitzungen des Schöffenstuhles nicht unterbrochen würden. S. 44 
wird berichtet, daB sich allgemein die Bürgermeister in Pestzeiten dahin flüchteten, 
S. 66, daB die Schóffen dort zu Pestzeiten ihre Sitzungen abhielten. Das ist wohl 
des Guten zu viel. Erwühnen móchte ich noch die reichen bildlichen Beigaben, 
darunter die beiden ältesten Urkunden der beiden Städte. Die Personen- und Orts- 
weiser sind von Else Lesser verfertigt. 

Neuruppin. Lampe. 


J. G. Fichte, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Ges. u. hrsg. von Hans 
Schulz. Nachtrag. H. Haessel, Leipzig 1930 (56 S., 6 ZA). 

Zu der 1925 erschienenen zweibändigen Ausgabe, über welche Historische Viertel- 
jahrschrift 23, 374ff. eingehend berichtet wurde, ergaben sich zunächst aus den von 
Maria Fehling herausgegebenen Briefen an Cotta Ergánzungen, auf welche ich a. a. O. 
554 hinwies. Nun hat Schulz selbst eine stattlichere Anzahl von Nachtrügen zu- 
stande gebracht, die er als ein inhaltreiches Heft in der bewührten Weise vorlegt, 
Drei Briefe werden nach den früher noch nicht benützten Originalen wiederholt. 
zu dreien sind wesentliche Erklärungen beigefügt, und 27 früher nicht aufgenommene 
Briefe werden in die Reihe neu eingeschaltet. Unter diesen 27 erscheinen fünf hier 


222 Nachrichten und Notizen 


zum ersten Male im Druck und davon ist der letzte zugleich der, soweit die bisherige 
Kenntnis reicht, jüngste Brief von Fichtes Hand, geschrieben am 10. Januar 1814, 
eine Woche, nachdem Fichtes Frau Johanna durch ihren aufopfernden Dienst im 
Lazarett erkrankt war, eine Woche, bevor auch bei ihm selbst die Ansteckung aus- 
brach, die ihn bald dahinraffen sollte. Man ersieht aus diesem Brief, daß an den Sorgen 
des Fichteschen Hauses damals die beiden Brüder Hufeland mit ihrem ärztlicheg Rat 
Anteil nahmen: Christoph Wilhelm, der berühmte und einflußreiche Leibarzt des 
Königs, mit dem Fichte im Spätherbst 1806 gemeinsam die Flucht des Hofes nach 
OstpreuBen mitgemacht hatte. sein vertrauter Helfer auch in anderen Dingen, und 
dessen seit 1812 in Berlin wirkender, jüngerer Bruder Friedrich. Von geringerer 
Bedeutung für Fichtes Lebensgeschichte sind die übrigen vier Neufunde; sie be- 
ziehen sich zumeist auf Geschäftliches (über Vorlesungsankündigung an den Jenaer 
Prorektor Gruner, Einladung zu Vorträgen an Erman, Abrechnung über die Reden 
an die Deutsche Nation an Reimer, nur einer an Tieck handelt von den unerfreu- 
lichen Beziehungen zwischen Schelling, den Schlegels und Tieck. Dagegen bringt der 
Neudruck des Briefes, womit Fichte am 22. Mai 1799 seinen für die Üffentlichkeit 
bestimmten „aktenmäßigen Bericht über die Anklage“ (bei Schulz Nr. 365) an Rein- 
hold übersandte, und der jetzt aus dem in Marbach wiederentdeckten Original in 
ursprünglicher Gestalt an den Tag kommt (Nr. 364), neue Aufschlüsse über die 
peinliche Lage, in die der Philosoph durch seine Entlassung im Frühjahr 1799 ge- 
raten war. Es zeigt sich, daB er im Mai über die von dem preuDischen Hof zu er- 
wartende Haltung noch die schwürzeste Meinung hegte und ernstlich mit der Not- 
wendigkeit rechnete, trotz allen Stráubens nach Frankreich gehen zu müssen. Ein 
wenige Wochen vorher nach Bern gerichtetes Anerbieten (Nr. 363b, leider nur im 
Auszug), auf dessen Beantwortung Fichte noch im Juli 1799, wie es scheint, dringend 
wartete (vgl. Nr. 376), vervollständigt das ergreifende Bild eines zwischen Volks- 
empfinden und Freiheitsliebe hin- und hergerissenen Lebens. 
Graz. W. Erben. 


Paul Joachimsen. 


Am 25. Januar 1930 starb in München der Honorarprofessor an der Universität 
München Paul Joachimsen, ein Historiker von zielbewußtem Forscherwillen und 
hoher Selbstdisziplin, von klarem und scharfem Verstande, von ausgesprochener 
pádagogischer Begabung. gleich ausgezeichnet als Gelehrter und Lehrer. Er wurde 
geboren am 12. März 1867 in Danzig als Sohn eines Holzgroßhändlers: sein Leben 
sollte den Sohn des Ostens ganz in Münchener Boden verwurzeln lassen. Die Disser- 
tation über Gregor von Heimburg, mit der er sich hier im Sommer 1889 einführte, 
kündigt schon die Wahl seines geistigen Interessengebietes und die Vorzüge seiner 
Arbeitsweise an. Sein damaliger Plan einer gelehrten Laufbahn wurde schon zu Beginn 
durch ungünstige äußere Umstände gestört. Joachimsen sah sich genötigt, nachdem 
er in den Jahren 1894/95 das Staatsexamen bestanden hatte, in den bayerischen 
höhern Schuldienst einzutreten. Nach einigen Anfängerjahren in Augsburg und Hof 
wurde er 1900 an das Gymnasium in Nürnberg, und dann 1%3 an das Wilhelm- 
Gymnasium in München berufen. Hier hat er bis zum Jahre 1925, vor allem als 
Geschichtslehrer in den oberen Klassen, eine Wirksamkeit entfalten können, die sich 
nach allgemeinem Urteil hoch über das gewöhnliche Maß erhob: dieser mit Liebe 
und natürlicher Begabung (von derauch seine „Geschichtswiederholungenin Frage und 


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Nachrichten und Notizen 223 


Antwort, 4. Anfr. 1929 zeugen) ergriffene Tätigkeit hat der charaktervolle Mann einen 
großen Teil der Arbeitskraft seines Lebens gewidmet. Daneben vermochte er, nach 
seiner Rückkehr nach München und erfolgter Habilitation an der Universität im 
Jahre 1908, eine akademische Tätigkeit aufzunehmen, immerhin sehr verspätet 
gegenüber seinem ursprünglichen Lebensplan und fortan dauernd in einem doppelten 
Geschirr der Pflichten gehend. Seine akademische Tätigkeit war vor allem in seinen 
Seminaren von hervorragendem Erfolg begleitet; wenn seiner „Laufbahn“ hier der 
äußere sichtbare Erfolg versagt war, so waren eben äußere Umstände dafür ent- 
scheidend, und es ist keine Frage, daß das Ganze seines wissenschaftlichen Lebens- 
werkes ihn über solche Äußerlichkeiten hinweghebt. 

Der Ausgangspunkt und in gewissem Sinn auch der bleibende Mittelpunkt der 
Studien Joachimsens war der Humanismus; wo er über dieses Gebiet hinausschritt, 
ist er in der Regel von einem humanistischen Interesse weitergeführt worden. Er hatte 
schon im Jahre 1893 den Briefwechsel Hermann Schadels herausgegeben und wandte 
sich dann einem groBangelegten Unternehmen, einem Werke über „die humanistische 
Geschichtschreibung in Deutschland" zu, von der er 1895 einen ersten Band: „Die An- 
finge Sigmund Meisterlin“ herausbrachte, der mit sorgfältiger Einzelforschung in 
die Welt des scholastischen Humanimus und seiner neuen historiographischen Ziel- 
setzungen einführte. Er sollte aber diese ınonographische Behandlungsweise, die ihn 
naturgemäß tief in die jeweiligen örtlichen und persönlichen Zusammenhänge seiner 
Autoren verflechten mußte, in diesem Stile nicht fortführen. Vielmehr entschloß er 
sich, als er nach längerer Pause zu dieser Studie zurückkehrte, zu einem viel weiter 
ausholenden Anlauf. In einer Habilitationsarbeit ,,Geschichtsauffassung und Ge- 
schichtschreibung unter dem Einfluß des Humanismus (1910) stellte er sich die Auf- 
gabe, vor allem die grußen Linien der Entwicklung aufzusuchen und die Summe ihrer 
formalen und inhaltlichen Probleme zu ziehen. Die Art, wie dieses Buch in einer Ver- 
bindung von gründlicher Sachkenntnis und kritischer Umsicht seine Aufgabe löst, gibt 
ihm einen bleibenden Wert; wenn es unvollendet blieb (der zweite Band, der es ab- 
schlieBen sollte, ist nie erschienen), so mag das mit dem Dazwischentreten der durch 
Burdach, Goetz, Brandi u. a. veranlaBten allgemeinen Renaisancediskussion zu- 
nmmenbängen, durch die der Horizont dieser Probleme nicht nur erweitert, sondern 
such verschoben wurde. Joachimsen hat in diese Diskussion mit immer neuen Ab- 
handlungen fórdernd eingegriffen, er hat sich mit Burdach ablehnend auseinander- 
gesetzt und ist tief in den italienischen Humanismus eingedrungen. Vor allem begann 
win wissenschaftliches Interesse jetzt vom Humanismus zur Reformation vorzu- 
shreiten: so z. B., wenn er die Fortbildung der , Loci communes“ von Agricola und 
Eraamus his zu Melanchthon verfolgte und in dem melanchthonischen Wissenschafts- 
system die letzte Auseinandersetzung des reifen HumBmismus mit dem deutschen 
Geiste erkannte. Dagegen gelangte er nicht dazu, ein abschließendes Gesamtbild des 
Humanismus zu entwerfen, wie es ihm ursprünglich vorgeschwebt hatte. Am ehesten 
beschreitet diesen Weg sein Salzburger Vortrag von 1929, die reifste und abgeklürteste 
Prucht dieser Studien. 

Gleichzeitig sollte die Beschäftigung mit dem N und der von ihm 
geförderten nationalen Romantik Joachimsen dazu führen, in die Entwicklung des 
deutschen Nationalbewußtseins und von hieraus auch des deutschen Staatsgedankens 
tiefer einzudringen. Krieg und Nachkriegserlebnisse trugen zu dieser Wendung bei, 
und der pädagogische und ethisch-nationale Zug seines Wirkens kam darin zu voller 


224 Nachrichten und Notizen 


Geltung. Diesem Kreise seiner Arbeiten gehören vor allem an die Bücher „, Vom 
Deutschen Volk zum deutschen Staat“ (aus Natur- und Geisteswelt 1916) und „Der 
deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Friedrich den Großen“ (1921), 
sowie die Abhandlung , Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedan kens“ 
(1929). Sie alle trugen die Züge der geistigen Wesensart ihres Autors: sie sind ein- 
dringend und klar, im Bedürfnis auch Klarheit auch wohl in das Allzubegriffliche 
verlaufend, zugleich von verständnisvoller Wärme und tiefen Ethos durchzogen. 

So berühren sie sich auch mit dem Unternehmen, das Joachimsen im letzten 
Jahrzehnt seines Lebens am innerlichsten erfüllte. Von Haus aus gewöhnt, „sich mit 
Rankeschem Geiste zu durchdringen, hatte er sich schon länger mit dem Gedanken 
einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Rankes, „des historischen Klassikers, 
wie ihn kaum eine andere Nation besitzt“, getragen, und im Dezember 1921 gelang es 
ihm, die verstándnisvollen Leiter des Drei-Masken-Verlagesin München für seinen weit- 
ausschauenden und gründlich durehdachten Plan zu gewinnen. Schon im Jahre 1925 
konnte er die vonihm selber bearbeitete Neuausgabe der sechs Bünde der ,, Deutschen 
Geschichte im Zeitalter der Reformation" mit hóchst wertvollen Ergebnissen vor- 
legen, und er litt in seinen letzten Jahren darunter, daB die Fortführung des Unter- 
nehmens, das ihm „eine allgemeine geistige und zugleich nationalpüdagogische Not- 
wendigkeit" dünkte, unter der Ungunst der Zeiten nicht so schnell voranschreiten 
durfte, wie er gehofft hatte. 

Seine wissenschaftliche Produktivität stieg in diesen letzten Jahren — er hatte 
sich im Jahre 1925, um ganz seinen Studien zu leben, aus dem Schuldienst zurück- 
gezogen — auf den Höhepunkt. Die Beschäftigung mit Ranke hatte ihn tiefer in 
reformationsgeschichtliche Studien geführt, in denen seine wissenschaftliche Persön- 
lichkeit und man darf wohl sagen sein Herz zu Hause waren; es war auch sein reli- 
giöses Empfinden, dasin Luther eindrang. Im Jahre 1926 zum Mitgliede der Münche- 
ner Historischen Kommission gewählt, übernahm er die Oberleitung der neuen mitt- 
leren Serie der Reichstagsakten (seit 1485). Und wenn er bis dahin vor allem Forscher 
gewesen war, so sollte er jetzt auch die Gelegenheit einer umfassenden Darstellung 
ergreifen, indem er den Abschnitt über die Reformationsgeschichte in der Welt- 
geschichte des Propyläen-Verlages übernahm. Diese Darstellung, erst nach seinem 
Tode erschienen (Bd. 5, 3—216), istinihrem klaren Aufbau, in der begrifflichen Durch- 
dringung, in der Abgewogenheit des Urteils ein schönes letztes Monument eines 
Lebenswerkes, dem niemand die ideale geistige Einheit absprechen kann. 

So erschien Joachimsen, sich spät erst ganz entfaltend, auf der Höhe seiner Ent- 
wicklung, als ein plötzlich auftretendes Leiden seinen Tagen ein Ziel setzte und den 
Zweiundsechzigjährigen, viel zu früh für das, was von ihm zu erwarten war, aus einem 
arbeitsamen und würdig angewandten Leben hinwegnahm. 

Berlin. Hermann Oncken. 


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,Bernowini episcopi carmina." 


Albert Brackmann zum 60. Geburtstag, 
24. Juni 19311. 


Von 


Otto Sehumann. 


Unter den Mànnern der Umgebung Karls des GroBen hat 
neben Alkuin und Einhart der Franke Angilbert dem Herrscher 
besonders nahe gestanden. Er hat ihm als Staatsmann gedient 
und ist mit wichtigen Ámtern und Sendungen von ihm betraut 
worden. Bekannt ist, daB er mit Karls Tochter Berta in freier 
Ehe verbunden war, was dann die Sage auf Einhart und seine 
Gemahlin Imma übertragen hat.  Nithart, der Geschicht- 
Schreiber, und Hartnit sind diesem Bunde Angilberts und Bertas 
entsprossen. 

Auch an den literarischen Bestrebungen Karls hat Angilbert 
regen Anteil genommen. Es ist ja besonders bezeichnend für 
das geistige Leben an Karls Hofe, daß sich auch die Laien daran 
beteiligen, voran der Herrscher selbst, neben ihm Einhart und 
eben Angilbert. Dieser tat sich besonders als Dichter hervor und 
führte als solcher den „Akademienamen“ Homerus; weshalb 
gerade diesen, wissen wir nicht. Denn von seinen Gedichten 
sind leider nicht viele erhalten. Dümmler hat unter dem Titel 
„Angilberti (Homeri) carmina PAC 1, 355ff. 10 Texte zusam- 
mengestellt; nr. I. II sind höfisch-panegyrischen Inhalts, nr. III. 
IV und V, I—IV Weihinschriften aus St. Ricquier (Centula), 


! Die Abhandlung war bestimmt für die Festschrift, die zu demselben Tage 
erscheint. Sie wurde aber dafür su umfangreich, und die Fertigstellung zögerte sich 
zu lange hinaus. So erscheint sie denn hier gesondert als Gruß und als Zeichen des 
Dankes an den verehrten Lehrer, zu dessen Füßen ich gerade vor 50 Semestern 
meine Studien begonnen habe, insbesondere auch die paläographischen Studien, 
die mir bei der vorliegenden Arbeit in reichem Maße zugute gekommen sind. 


Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 15 


226 Otto Schumann 


dem Kloster, dessen Leitung Angilbert von Karl übertragen 
worden war. Nr. VI ist das berühmte epische Fragment, dem 
man die Überschrift „Karolus Magnus et Leo papa" gegeben 
hat; es ist Angilbert ohne jeden stichhaltigen Grund zugesprochen 
worden. Schon die Handhabung des Verses läßt mit großer 
Sicherheit darauf schlieBen, daB es nicht von ihm sein kann. 
Ganz willkürlich vollends hat Dümmler ein Gedicht über die 
Bekehrung der Sachsen als nr. VII hierher gestellt Daß es 
Angilbert gehóre, hat meines Wissens noch niemand ernstlich 
zu behaupten gewagt. 

Dagegen kommen zu den echten Gedichten Angilberts noch 
hinzu ein Gruß an Petrus von Pisa (PAC 1, 75 nr. XLII) sowie 
Prolog und Epilog zu einer Handschrift von Augustins De doc- 
trina christiana (zuletzt gedruckt PAC 4, 915f.). Daß diese 
beiden 'etzteren Gedichte nicht, wie Mabillon gemeint hatte, 
einem Abt Angilbert von Corbie, sondern Angilbert von St. Ric- 
quier gehóren, hat Traube in seiner berühmten Abhandlung 
O Roma nobilis nachgewiesen (Abh. der Bayer. Akad., I. Kl., 
XIX 2 [1891] S. 322 fl.). Ein noch größeres Verdienst um den 
Dichter Angilbert hatte sich Traube bereits vorher erworben. 
In seinen „Karolingischen Dichtungen“ (1888) S. 51ff. hat er 
dargelegt, daB noch eine ganze weitere Gruppe von zwar inhalt- 
lich mit einer Ausnahme nicht eben bedeutenden, aber formal 
groBenteils eigenartigen Gedichten Angilbert zuzuweisen sei. 

Der im 9. oder 10. Jahrhundert geschriebene Cod. Vat. Reg. lat. 
2078, einst im Besitze Alexander Petaus, enthält auf fol. 117 —149, 
mit anderen Bestandteilen (Aldhelm, Symphosius, Eugen von 
Toledo u. a.) untermischt, eine Sammlung von Gedichten aus 
karolingischer Zeit, die Dümmler PAC 1, 393ff. unter der Über- 
schrift „Hibernici exulis et Bernowini carmina'' abgedruckt hat, 
nachdem bereits vorher Mabillon, Marténe und Durand, endlich 
Angelo Mai Teile davon veröffentlicht hatten. Über die „Hiber- 
nici exulis carmina“ hat ebenfalls Traube in ,,O Roma nobilis“ 
gehandelt (a. a. O., S. 333ff.). Als ,,Bernowini episcopi carmina“ 
faBt Dümmler (S. 418ff.) die Gedichte zusammen, die in der 
Hs. von fol. 1437, Z. 23 ab bis fol. 149' einschließlich stehen; 
es sind in seinem Abdruck 32 Nummern. In einem großen Teil 
der Texte erscheint ein gewisser Bernowtnus; anderwärts ist ein 
ursprünglicher Eigenname durch 1H oder ähnlich ersetzt, die 


„Bernowini episcopi carmina" 227 


Gedichte sind also dadurch zu Formeln gestempelt; wieder an 
anderen Stellen ist ein Eigenname einfach weggelassen. Ein 
großer Teil der Gedichte trägt den Schmuck von Akrosticha, 
Mesosticha und Telesticha. In diesen Akrosticha usw. kehrt 
fast ständig der Name Angilbert wieder. Daß hierunter der 
berühmte Abt von St. Ricquier zu verstehen sei, schloB schon 
Dümmler daraus, daß nr. XXI5—8 der ,,Bernowingedichte'* mit 
der u. a. von Hariulf, dem Chronisten von St. Ricquier, überliefer- 
ten Grabschrift Angilberts weitgehend übereinstimmt und daB 
ein anderes (VIa, s. unten) bis auf den Namen identisch ist mit 
einer gleichfalls bei Hariulf erhaltenen Weihinschrift Angil- 
berts für St. Ricquier. Traube hat nun gezeigt, daB wir auch 
in den anderen Gedichten für Bernouuinus regelmäßig Angil- 
bertus einzusetzen haben. Besonders deutlich wird das in 
nr. XXI 1. Der Vers lautet in der Hs.: Rez requiem bernouuino 
da pater atque pius rex. Das ist kein Hexameter. Ersetzen wir 
aber bernouuino durch angilberto, so ist alles in Ordnung. Weiter 
zeigt Traube, daß auch dort, wo die Hs. i# oder Ähnliches hat 
oder wo sie einen Eigennamen ausläßt, in den meisten Fällen 
der Name Angilberts einzusetzen ist (in den Akrostichagedichten 
waren ihm darin schon Bethmann und Dümmler vorangegangen); 
dort aber, wo der Name eines Heiligen vermißt wird, der des 
Schutzheiligen von Angilberts Kloster, Richarius. Abgesehen 
von nr. XXVIII, dem auch Traube eine Sonderstellung zu- 
weist, geht die Rechnung überall glatt auf. Es hat also ein 
Mann namens Bernowin in die Gedichte statt des Namens Angil- 
bert überall, so weit móglich, den seinigen hineingebracht, oder 
ein anderer hat es für ihn getan. Er war, wie nr. VIII 5 und 
die Überschrift zu nr. XXVIII zeigen (s. unten), ein Bischof. 
Traube hält ihn für den Erzbischof Barnoin von Vienne, der 
als solcher 887 zuerst erscheint und 899 gestorben ist; ob mit 
Recht, ist fraglich. Wir werden noch darauf zurückkommen. 
Den gróBeren Teil der von Dümmler unter Bernowins Namen 
gestellten Gedichte betrachtet Traube als Eigentum Angilberts. 

Das Hauptergebnis der Darlegungen Traubes: daß außer 
in nr. XXVIII allenthalben die Namen Angtlbertus und Richa- 
rtus einzusetzen sind, bleibt bestehen. Zweifelhaft aber er- 
scheint, ob die fraglichen Gedichte wirklich sámtlich von ihm 
herrühren. Und auch sonst läßt sich zu seinen Ausführungen 

15* 


228 Otto Schumann 


im einzelnen manches ergänzen und berichtigen; desgleichen zu 
Dümmlers Text und varia lectio. Auf diese mußte sich Traube 
verlassen; die Hs. hat er erst später kennen gelernt. Ich habe 
für die Untersuchungen über den gesamten Komplex der ,, Berno- 
wini episcopi carmina", die ich im folgenden vorlege, Photo- 
graphien benutzt, die ich mir mit gütiger Erlaubnis des Präfekten 
der Vaticana, Monsignore G. Mercati, habe anfertigen lassen. 
Mit B I usw. bezeichne ich die „F Bernowingedichte“ nach Dümm- 
lers Zählung; P ist der cod. Reg.; D. = Dümmler, Tr. = Traube, 
H. = W. Heraeus, dem ich für vielfache Unterstützung, vor 
allem auch für eine Reihe schlagender Emendationen des über- 
lieferten Textes, zu herzlichem Dank verpflichtet bin. Meine 
Ausführungen ergänzen und berichtigen, was ich in Stammlers 
Verfasserlexikon des deutschen MA.’s I 83 über diese Gedichte 
dargelegt habe. 

Den „Bernowingedichten“ gehen in P auf fol. 141° (fol. 141* 
war ursprünglich leergelassen und ist dann in einer viel kleineren 
Schrift mit Gedichten des Eugenius von Toledo gefüllt worden, 
es ist hier also ein Einschnitt in der Hs.) bis fol. 143" voraus die 
Texte, die D. als Hibernicus exul XX, I—VIII und XXI druckt. 
Auf letzteres Gedicht folgt dann noch der 162eilige Text Ad 
Boree partes, Riese Anth. lat. II nr. 679, dann erst BI. Vor 
Hib. ex. XX, I—VIII und XXI ist jedesmal eine Zeile für die 
Überschrift freigelassen, vor Ad Boree partes dagegen zwei 
Zeilen, desgleichen dahinter; die zweite der letzteren füllt die 
Überschrift von BI VERSVS DE ADNVNCIACIONE; es 
ist die erste, die wirklich eingetragen ist. Durch diese Frei- 
lassung von zwei Zeilen davor und dahinter soll der Text Ad 
Boree offenbar als ein andersartiger Einschub gekennzeichnet 
werden. Die vorhergehenden wie die folgenden Texte sind durch- 
weg Inschriften, Ad Boree dagegen eine Übersicht über die 
Sternbilder; warum sie hier eingeschoben ist, hat Tr. gezeigt 
(Münch. Abh. 19, 2, S. 335): in der vorletzten Zeile von Hib. 
ex. XXI ist von astrilogi die Rede. Auch formal unterscheidet 
sich Ad Boree partes von den vorhergehenden und den folgenden 
Texten: diese bestehen durchweg aus Distichen (mit Ausnahme 
von BII), Ad Boree (und B II) aus Hexametern. Äußerlich 
fállt dies freilich in der Hs. nicht auf. Pentameter sind ebenso 
geschrieben wie Hexameter, die Initialen der Verse stehen in 


„Bernowini episcopi carmina" 229 


einer Senkrechten untereinander. Anders wird das erst mit 
B VIa, dem ersten der Texte, in welchem der Name Bernowtnus 
begegnet; Tr. bezeichnet so das zwölfzeilige Gedicht Omni- 
potens dominus qui celsa uel ima gubernas, das D. hier weggelassen 
hat, weil er es bereits unter Angilberts Gedichten (als nr. V, I, 
S. 865) gedruckt hatte. In diesem Text ebenso wie in den folgen- 
den, B VI—VIII, sind die Pentameter gegenüber den Hexa- 
metern eingerückt. Schon äußerlich bilden so die Texte B VIa. 
VI—VIII eine Gruppe für sich. 

Auffällig ist allerdings, daB zwischen der letzten Zeile von 
B V und der ersten von B VIa keine Zeile für eine Überschrift 
leergeblieben ist. Die Hs. bezeichnet sonst auf diesen Seiten, 
von fol. 141" ab (und auch schon vorher) bis fol. 147“ 2.8 — 
von der schon áuBerlich ganz abweichenden Gruppe B XXVII 
bis X X XII sehe ich einstweilen ab —, den Beginn eines neuen 
Textes auf dreifache Weise: durch Freilassung einer Zeile, 
durch eine groBe Initiale und dadurch, daB die erste Textzeile 
in Capitalis rustica (nicht, wie Bethmann und D. angeben, in 
Unziale) geschrieben ist. So ist der Textanfang gekennzeichnet 
in Hib. ex. XX, I—VIII. XXI. B II. IV. VI. VIII. IX. X. XI. 
XIII—XVII. Zwei Zeilen sind oder waren, wie gesagt, leer- 
gelassen vor Ad Boree und B I. Von B XVIII an, fol. 145" oben, 
bleibt keine Zeile mehr frei. Durch gróBere Initiale und Kapital- 
schrift der ersten Zeile sind hervorgehoben B XVIII—XX. 
XXIII—XXVI; nur durch Kapitalschrift B XXI v. 5 und 
B XXII v. 41; nur durch gróBere Initiale B VIa v. 1 und v. 7. 
Es ergibt sich daraus, daß wiederholt in der Hs. Texte als Ein- 
heiten erscheinen, die keine sind; u. a. sind B XI und XII so 
geschrieben, als bildeten sie einen zusammenhängenden Text. 
D.hat die Bestandteile in den meisten, aber, wie wir sehen 
werden, nicht in allen Fällen richtig von einander getrennt. 

Eingetragen sind die Überschriften nur zu B I. II. IV. Das 
hebt die Gruppe B I—V schon äußerlich von den folgenden wie 
von den vorhergehenden Texten ab. Von den folgenden weicht 
auch ab die Schreibung der Distichen (s. oben). Wichtiger 
ist der inhaltliche Unterschied: B I—V sind keine Inschriften 
auf kirchliche Gebäude wie B VIa usw., sondern solche auf 
bildiche Darstellungen, wohl Gemälde, von Szenen aus dem 
Leben Christi. Irgendwelche Beziehung auf Bernowin oder 


230 Otto Schumann 


Angilbert ist in ihnen nicht enthalten; sie nennen außer bibli- 
schen überhaupt keine Eigennamen. Tr. hat sie daher in seiner 
Untersuchung beiseite gelassen, weil aus ihnen weder für noch 
gegen Angilberts Verfasserschaft etwas zu entnehmen sei. 
Ich gehe auch sie im einzelnen durch. Ich berücksichtige 
dabei — ebenso wie bei den übrigen Gedichten der Sammlung — 
nicht alle Einzelheiten, notiere aber das Orthographische, da D. 

darin inkonsequent ist. Wo nichts anderes bemerkt ist, bin ich 
mit D.’s Emendationen einverstanden. Die beigebrachten 
Parallelen — ich habe mein Augenmerk hauptsächlich auf die 
. Hexameter- und Pentameteranfänge (HA), auf Hexameter- 
schlüsse (HS) und Pentameterschlüsse (PS) gerichtet — machen 
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Immerhin werden sie 
einen Eindruck davon geben, wie stark auch diese Texte mit 
geprägten Formeln arbeiten. Die schon von D. PAC 2, 693f. 
angeführten Parallelen wiederhole ich im allgemeinen nicht. 

B I—V sind recht fehlerhaft überliefert. Aus Hexametern 
besteht B II, die übrigen aus Distichen. B I, überschrieben 
VERSVS DE ADNVNCIACIONE, lautet in D.’s Abdruck so: 

Hic Mariam claro Gabrihel sermone salutans 
Inquid: „Amica dei, virgo tonantis, ave!" 
Hic fert ecce deum Christum veneranda Maria; 
Ioseph in obsequio gratus utrique comes. 
Et domini reddit mater praecelsa futura: b 
„Sie mihi fiat", aiens, „pareo namque libens." 
Propitius nobis, petimus, iam parce redemptis, 
Pro quibus es factus, rex, homo, iure deus. 

Es fällt auf, daß dies Gedicht aus 4, B III—V aus je 3 Disti- 
chen bestehen. Prüft man genauer, so erkennt man, daß auch 
B I auf diesen Umfang zurückzuführen ist. Denn v. 5f. schließt 
sich unmittelbar an v. 2 an. Das dazwischenstehende, gleich 
B I—V mit Hic beginnende Distichon, v. 3f., ist der Eingang 
eines weiteren titulus (B Ia), der die heilige Familie schilderte 
(Flucht nach Ágypten? Der Ausdruck comes scheint darauf zu 
weisen); der Rest ist uns verloren. — Der HS parce redempiis 
BI5 (7) ist der SchluBzeile des berühmten, dem Paulus 
Diaconus zugeschriebenen Hymnus Ut queant laxis resonare fibris, 
An. hymn. 50 nr. 96. — In P folgt auf B I 8 als 9. Zeile, als 
gehórte er zu B I, v. 1 von B II, dann die Überschr. DE 


„Bernowini episcopi carmina“ 231 


NATIVITATE, dann in Kapit. und mit großer Init., BII2. 
D. hat den Fehler stillschweigend verbessert. 

Die 4 Hexameter von B II beschreiben eine bildliche Dar- 
Stellung der 4 Himmelsgegenden, auf welcher im Westen abge- 
bildet war die Geburt, im Osten das Leiden, im Süden die Auf- 
erstehung, im Norden die Himmelfahrt Jesu. Anscheinend 
trugen diese Darstellungen außer dem Haupttitulus noch 
Einzelbeischriften, von denen uns die drei letzten in B III—V 
erhalten sind; denn deren Inhalt entspricht genau den Angaben 
in B II. Dagegen ist die erste (B IIa) verloren bis auf die Über- 
schrift DE NATIVITATE, die in der Hs. (und bei D.) fälsch- 
lich zu dem Haupttitulus gezogen worden ist. Auch B Ia und 
B IIa werden aus je 3 Distichen bestanden haben. — Zu dem 
HS B II 4 ad ethera vectum vgl. B XXVIS8 super aeth. vesit; 
Aen. VII 65 und Damasus 2, 11 trans a. vectae (us). 

B III: Die von D. richtig ergänzte Überschrift DE PAS- 
SIONE ist in der Hs. verlorengegangen. In dieser folgt 
BIII1 auf B II 4 ohne jede besondere Hervorhebung, als 
bildeten B II und B III einen zusammenhängenden Text. 
Ebenso erscheinen in P B IV und B V als eine Einheit. — 
1: HS passio. Chris: Commodian C. apol. 311; Sedul. C. 
pasch. V 261; Theodulf XIX 31; XLI, I 39. B III —V erweisen 
sich auch dadurch als besonders eng zusammengehörig, daß 
in ihnen durchweg die erste Zeile mit Christi endet (passio, 
gloria, ascensio Chr.); dasselbe wird in B IIa der Fall gewesen 
sein. — 4. 6: Die PS praemia larga Sund crimina cuncta - 
begegnen wieder in B VII 8.6.—5: Wegen mors mortis vgl. 
die Zusammenstellungen bei Diehl Inscr. christ. I S. 485 oben. — 
Zu dem HS ture colenda est vgl. den HS i. colendum Walahfr. I, 
XI 33. 

BIV: Die Überschrift VERSVS DE ASCENSIONE, die 
D. beibehalten hat, ist falsch ; sie gehört zu B V. B IV müßte DE 
RESYRRECTIONE überschrieben sein. — 1: HS gloria 
Christi: Dam.2, 7; 8,8; 27,3; gl. Christo (-us) Aldh. C. de 
virg. 506. 2824; Alcuin LXVIII 25; Angilb. II 40; PAC I 113 
hr. IX 3.—3f.: Qui ter discipulis uno sub limine solis Apparuit; 
man ist versucht, lumine zu schreiben, denn am Morgen des 
Auferstehungstages ist Christus nur den Frauen (oder nur der 
Maria Magdalena) erschienen. HS lumine (Ca) solis ist uralt, 


232 Otto Schumaan 


vgl. u.a. Ihm zu Dam. 9, 4; desgl. limine (-a) s.; sub limine (-a) 
und sub lumine (-a) gehen in den Hss. auch sonst durch- 
einander; vgl. Norden zu Aen. VI 255 und die v. I. zu Ju- 
venc. II 482; III 314; IV 27. Vielleicht liegt an unserer Stelle 
kein Schreiberfehler vor, sondern der Dichter selbst hat den 
durch häufigen Gebrauch und jene Verwechselung abgeblaBten 
Ausdruck uno sub limine solis im Sinne von „im Laufe eines 
Tages“ verwendet; daher ist es doch ratsamer, das überlieferte 
limine beizubehalten. — 4: PS gaudta magna ~ S: Angilb. 
I 2.8; V, I (=B VIa) 10; aber auch sonst, so Sedul. Hymn. 
1, 28, 2; auch z. B. bei Alc. 

BV: 5: HS mortibus ornet: vgl. Hor. Ep. 2, 1, 2 m. ornes. 

Die nun folgenden vier Gedichte B VIa. VI—VIII bilden 
in P, wie wir sahen, ebenfalls schon äußerlich eine Gruppe für 
sich. Sie bestehen durchweg aus Distichen und sind auch inhalt- 
lich gleichartig, denn es sind lauter Kircheninschriften aus 
St. Ricquier, wenigstens in ihrer, von Tr. hergestellten, ursprüng- 
lichen Fassung. 

. B VIa (— Angilbert V, I, PAC 1, 865) ist nach Hariulfs aus- 
drücklichem Zeugnis die Inschrift, die Angilbert im Innern des 
Westturms der Kirche von St. Ricquier in gyro hatte anbringen 
lassen. In P ist Angilbertus v. 8 durch Bernouuinus ersetzt. 
Auffällig ist in P außerdem die große Initiale von v. 7, durch die 
das Gedicht in zwei gleiche Hälften zerlegt wird. Ähnliches 
findet sich in P einige Seiten weiter, nàmlich in B XXVII. XXX. 
XXXI. Hier steht jedesmal genau in der Mitte ITEM ALIVM, 
in B XXVII und XXX hinter dem letzten Vers der ersten 
Hálfte, in B XXXI sogar auf besonderer Zeile zwischen den 
beiden Hälften; in diesem Falle wird durch die Überschrift 
ein Pentameter von dem zugehórigen Hexameter losgerissen. 
Wie ist das zu erklären? B XXVII. XXX. XXXI sind Epi- 
taphien. Standen sie auf dem Stein etwa in zwei Kolumnen, 
und spiegelt sich das in den Abschriften wider? Und sollte die 
Zweiteilung in B VIa nicht ähnlich zu erklären sein? Vielleicht 
war dieser Text im Turminnern in zwei Zeilen geschrieben, oder 
er war in der Mitte unterbrochen, etwa durch ein Fenster oder 
eine Tür. Gibt es andere Beispiele einer derartigen Überlieferung 
von Inschriften? — 1: HA Omnipotens Dominus Aldh. C. de 
virg. praef. 11, v. I. (=B XXVIII b) 1); Petr. v. Pisa, PAC 1, 73 


»Bernowini episeopi carmina" 233 


nr. XL 7; u. sonst. — 2: PS semper ubique deus Alc. XLVIII 
38; LXXXIX, VIII 4; s. ub. deo Alc. LI, II 4; CXIII 30; 
Walahfr. VIII 28; vgl. PAC 1, 118 nr. IX 8. Die Wendung semper 
wbique liebt Alc. überhaupt sehr, besonders als HS: XII 1; 
XXV u. ö. — 7: Wegen des HS culmina templi vgl. zu 
B XXII1. — 8: Angibertus ego: ders. HÀ Angilb. V, II 2; 
PAC 1,75 nr. XLII2 (Ang. an Petrus von Pisa); B VII 3; 
B VIII 5; als PS Angilb. I 32. — v. 9f. ähnlich B VII 7f. (Tr.) 
— 9: HS virtute peregit Sedul. C. pasch. I 293. 296. — 
10: Wegen des PS s. zu B IV 4. — 11: Quisquis et hic summas 
precibus pulsaverii aures; hic Hariulf D., htnc P; ist nicht hinc 
vorzuziehen? — 12: PS semper habere — S auch B XXX 12. 
B VI: Zu v. 1 Hec construxit opus, lector, quod cernis, hone- 
stum (HONESTV P) vgl. Angilb., PAC 4, 915 v. 3 Haec tibi 
mulia doceni, lector, quod quaeris, honeste. Die Anrede lector 
honeste auch Hrab. LXXIX, 12; XCII, 13; XCVII 1. Daher ist 
auch an unserer Stelle honeste einzusetzen. — 2: Angilbertus 
( Bernouuinus P D., Ang. Tr.) ovans ductus amore dei ist fast 
= Ang. V, II 2 (Ang. ego); vgl. ferner PAC 2, 672 nr. II 4 An- 
seghisus ovans d. am. de; Angilb. ovans als Verseingang auch 
Ang. IV 3; ovans an dieser Versstelle wie auch als PS ist 
gerade in Inschriften sehr häufig; ductus amore de als 
PS Alc. XCIX, XXII 2; als HA Alc. LXVI, II 5; PAC 4, 1015 
nr. VI 1; Ähnliches auch sonst; —.. amore dei ist häufig, vgl. 
u.a. Jhm zu Damas. 11,2. — 3: Ille (nicht Ill.) P; Richarii 
Tr. — 5: sam ammıracula P. — 6: Septus P. — 7: Si uenicł quis- 
que P; quisquis Mab. D.; die Ánderung ist ganz unnótig. — 8: 
Quod ptt inuenit P; inveniet D. Ist nicht invenii beizubehalten? 
Es würde dem folgenden quod cupit, ecce, tenet sehr gut ent- 
sprechen, vgl. ferner den Schluß von B VIII Et quam ... 
poscel, habet veniam. — 9: Vos fratres veniae (uenie P!) peti- 
tores, obsecro vobis druckt D. Aber obsecro c. dat. ist doch sehr 
anstößig. Sollte nicht hinter obsecro ein Komma zu setzen und 
vobis zu petitores zu ziehen sein? Auch das würde trefflich zu 
dem Folgenden passen: Poscite factors dona superna domus: „die 
ihr für euch um Vergebung bittet, erbittet (auch) für den Erbauer 
dieses Hauses.. Oder ist votis für vobis zu schreiben? (H.). 
B VII: 1f.: Haec tibi constitui itt ( Richart Tr.) magne sacer- 
dos Quae nitd hic dmi culara domus ohne Lücke P; Hanc und 


234 | Otto Schumann 


..culara D. Tr. schlägt vor buticulara oder -ata unter Berufung 
auf zwei Stellen bei Hariulf, so II 3 turris ergo orientalis cum 
cancello et butico sancto Richario dicata est. Buticum erklärt 
Tr. mit Mab. als gleichbedeutend mit ciborium „Überbau des 
Altars“. Ich dachte etwa an (tam pro)cul ara domus. Alle diese 
Besserungsversuche, auch D.'s Hanc für Haec, erledigen sich 
durch H.’s glänzende Emendation cul(mina c;lara domus. — 
3: Bernouuinus ego PD.; Angtlbertus ego Tr.; vgl. zu B VI a,8. — 
4: precipue P. — 5f.: Te rogo subpliciter, pro me prece posce 
tonantem, Ut purget venta crimina cuncta mea; dazu vgl. Theod. 
carm. XLI, II 47f. (PAC 1, 540) Hane, rogo, mercedem pro me 
deposce tonantem, Ut mihi det veniam seu pius addat opem; der 
Hex.-Schl. (de)posce tonantem auch PAC 2, 477 nr. IV 5; 
8, 811 nr. XXXIV 12; 3, 351 nr. CXL 15; der Versschluß tonan- 
tem (-ts usw.) ist überhaupt sehr beliebt, besonders bei Ald- 
helm. — 6/8: Vgl. oben zu B III 4/6; PS crimina cuncta ~ x— 
auch Alc. XC, XV 8. — 7f.: Vgl. zu B VIa 9f. 

B VIII: 1: HS forte v1ator Buecheler Carm. epigraph. 982, 1 ; 
Alc. III, XV 1; LXXXIX, VI 3; sicher auch sonst. — 8: 
reddiit P. Merkwürdig die Mahnung an den Besucher der Kirche, 
die Inschrift, die, wie aus v. 8 hervorgeht, über der Tür ange- 
bracht war, erst zu lesen, wenn er wieder herauskomme (cum 
re[d ]dut); der Dichter will ihn also nicht aufhalten, er soll erst 
drin sein Gebet verrichten. Gibt es Parallelen? — 5: Hier sind 
Text und v. I. Ds ganz unzulänglich und irreführend. In P 
stand ursprünglich: Bernouuinus ego nam dior humilimus 
(so!) eps; das o von Bernouuinus, mu von humtlimus und das e 
von eps sind ausradiert, aber auf der Photographie ganz deutlich 
zu erkennen. D. hat ipse für ps eingesetzt, Tr. sich damit begnügt, 
Bernouuinus in Angilbertus zu verwandeln. Es liegt auf der 
Hand, daß ursprünglich der Vers lautete: Angilbertus ego (s. oben 
zu B VIa 8) nam dicor humillimus abbas; als humilis abbas be- 
zeichnet sich Angilbert Ang. V, II, 1 (S. 365) und PAC 4, 915 
v. 21. Für Angilbertus wurde in P (oder bereits in einer Vor- 
lage von P?) Bernouuinus, für abbas episcopus eingesetzt, denn B. 
war Bischof, nicht Abt. Daß dies zwei Silben zuviel gab, 
blieb, sei es dem Schreiber selbst, sei es einem Korrektor, nicht 
verborgen, und man suchte zu bessern, vielleicht in wiederholten 
Ansätzen, ohne aber etwas Gescheites zustande zu bringen. — 


„Bernowini episcopi carmina" 235 


6: Culmina que feci carmina que cecini P; C. qui f. carminaque cec, 
D; besser wird wohl auch hinter carmina das que durch qui er- 
setzt; vgl. auch Alc. carm. XXXIII, II 2 (S. 250) cecini qui 
carmina Christo; carmina tunc. cecın? als PS und HE Baudri v. 
Bourgueil nr. 206, 15—18 (ed. Ph. Abrahams S. 264). — 7: 
Qui uent£ ueniat scelara deposcere flu P; Qui veniet veniam 
scelerum. dep. fl. richtig schon Mab., ebenso D. Vgl. dazu Alc. 
carm. LXX XIX, XXV 6 (S. 312) Et veniens veniam poscat et 
ipse suam; ferner B XXVII 3 inveni(es ven) am, das Wortspiel 
ist schon sehr alt, vgl. meine Anm. zu Carm. Bur. ed. Hilka- 
Schumann nr. 31, 9, 1/4. — 8: — loca sancta — S: Alc. XLVIII 
6.40; LXXXIX, VI 4 (s. oben zu v. 1); Hrab. LXVIII 8; 
LXXV, III 2. —9: i P; Richarius Tr. — 10: Ezimtus meritis; 
vgl. das Epitaph des Paulus Diac. auf Fortunat, PAC 1, 57 
nr. XIX 12 Eximiis meritis (ebenfalls HA); Ähnliches, wie Egre- 
gius meritis, begegnet öfters. — piacate P. — Der Pent.-Schl. et 
pietate potens auch Alc. XLVI 8, PAC 1, 259; HA Sed p. p. 
Theod. LX XV 119. — 11: HA Illic invenies Ov. Ars am. 1, 91; 
Sedul. C. pasch. praef. v. 11. — HS (spes) certa salutis Diehl, 
Inser. christ. lat. vet. nr. 1784, 8. — 12: Wegen des Präs. habet 
ventam vgl. zu B VIS. 

Auf diese geschlossene Gruppe folgt in P (fol. 144) B IX. In 
der Hs. sieht der Text so aus: 


OMNIPOTENS MISERERE REDEMPTOR REX PIVS 
adque decus uita salus hominum. 
Omnipotens ds tu miserere ipsius esto memor. rex pius adq, mej 


Von Omnip. ds bis mej ist alles, eng zusammengedrängt, fast 
ohne Worttrennung, in eine Zeile geschrieben. D. hat den Text, 
von Bethmann verleitet, in 6 Zeilen gedruckt, mit vielen durch 
Punkte ausgefüllten Lücken. Tr. meinte, hier habe der Schreiber 
den Wortlaut wegen zu vieler Beziehungen bis auf ein paar Vers- 
fragmente ganz unkenntlich gemacht. In der 3. Zeile ergänzte 
er Angilberis, durchaus richtig, nur an der falschen Stelle, hinter 
tu, weil er durch D.’s verkehrtes dominus für ds irregeführt wurde. 
Weitere Herstellungsversuche hat er nicht unternommen. Hátte 
er die Hs. oder eihe Photographie vor sich gehabt, so würde er 
sicherlich sofort erkannt haben, daB der Text viel weniger ver- 
stümmelt ist, als er annahm. Es sind zwei Distichen, deren 


236 Otto Schumann 


Pentameter vollständig erhalten sind; man braucht nur aus der 
1. Zeile REX PIVS an den Anfang der 2. zu setzen. Die Hexa- 
meter sind unvollständig. Aber in v. 3 (v. 5 bei D.) ist ganz 
deutlich zu sehen, wo die Lücke ist und wie sie ausgefüllt werden 
muB: hinter deus ist — — mit vokalischem Anlaut zu 
ergänzen, und zwar muß es der Gen. (oder Dat.) eines Eigen- 
namens sein, abhängig von miserere; sonst fehlt das Beziehungs- 
wort zu ipstus. Setzen wir Angilberti ein, so ist alles in bester 
Ordnung. Desgl. v. 1, wenn wir dieselbe Form hinter Omnipotens 
einfügen. Über das Verhältnis zwischen den beiden Distichen 
wird noch zu handeln sein. — Zu rez ptus (so auch in v. 4 [6], 
nicht pie, wie D. druckt) adque decus (met) vgl. den PS Alc. LV, 
V 6 rez pius atque pater; zu v. 2 vita salus hominum Alc. I 2 
Vita salus hominum; zu v. 3 (5) den HA Omnipotens deus 
Walahfr. LX X XIV 8; zu v. 4 (6) Ipsius esto memor PAC 4, 1015 
nr. V, VI 4 Illius esto memor. 

Nun folgt der Anfang eines Gedichtes ganz anderer Art, 
B X. Nur der Anfang; denn seltsamerweise überliefert die Hs. 
es in zwei Teilen: auf fol. 144' stehen nur v. 1—3, d.h. die 
1. Strophe; dann bricht die Aufzeichnung ab, obwohl noch vier 
Zeilen auf der Seite sind, und setzt erst wieder ein auf fol. 147* 
unten, unmittelbar und ohne Kennzeichnung, daB hier ein neuer 
Text anfängt, hinter B XXVI, dem letzten der Akrosticha- 
gedichte auf Angilbert. Und hier sind v. 4—6 = Str. 2 fort- 
laufend, als Prosa, geschrieben, wenn auch die Langverse durch 
groBe Anfangsbuchstaben voneinander abgehoben sind. Erst 
von v. 7 ab steht wieder wie bei v. 1—3 (fol. 144") jeder Lang- 
vers für sich auf einer Zeile, mit Initiale, also ganz 80, wie sonst 
die Hexameter und Pentameter geschrieben werden. 

Inhaltlich ist dieser Text ganz von gleicher Art wie B Vla. 
VI—VIII. Aber formal hebt er sich von allen anderen ab; denn 
es ist der einzige Rhythmus. Über seine Form handelt kurz W. 
Meyer, Ges. Abh. 1, 205. Es sind (was in D's. Druck leider nicht 
zum Ausdruck kommt) 5 Strophen zu je dreirhythmischen trochä- 
ischen Tetrametern oder Fünfzehnsilbern, mit regelmáBigem Ein- 
schnitt hinter der 8. Silbe, meist (in 12 von 15 Zeilen) auch hinter 
der 4. „Taktwechsel“ begegnet in der ersten Vershülfte (8 — ~) 
viermal, in der zweiten (7 — —) fünfmal, mit daktylischem Wort- 
schluß in 7 — — v. 2 et veniam poscere, in 8 — ~ v. 7, wenn 


„Bernowini episcopi carmina" 237 


gelesen wird Qu: cupit (so schon Mab.; cupiat P D.) ingredi do- 
mum (d. ingredi P D.; es ist allerdings auch domum ingredi denk- 
bar). Die Strophen sind gereimt aaa; der Reim ist einsilbig und 
min. V. 6/7 reimen perfrui: domui, 13/14 mirabilis : ineffabilis; 
nirgends aber ist zweisilbiger Reim durch eine Strophe durch- 
geführt, und W. Meyer sagt zuviel, wenn er behauptet, der zwei- 
silbige Reim finde sich „oft“. Allerdings sind Ansätze dazu vor- 
handen: in Str. 3—6 stimmen außer den Vokalen der letzten 
auch die der vorletzten überein, desgl. in v. 4/5. 

Auch in diesem Gedicht ist wie in dem vorhergehenden Text 
zweimal, v. 5 und 11, der Gen. eines Eigennamens einfach weg- 
gelassen, ohne daß in der Hs. eine Lücke wäre. D. ergänzt 
beide Male Bernowint, Tr. sicher richtig Angtlberti. Das gibt 
freilich in v. 5 Hiat (Angtlberti et), den einzigen innerhalb der 
Langzeile in diesem ganzen Gedicht; doch werden durch Eigen- 
namen (und Zitate) derartige Unregelmäßigkeiten ja sehr oft 
in der mlat. Rhythmik entschuldigt. — In v. 1 besteht ebenso- 
wenig wie in B VI 7 eine Notwendigkeit, das überlieferte QV IS- 
QVE durch quisquis zu ersetzen. — Hinter v. 3 ist Punkt zu 
setzen st. Komma, da hier eine Strophe zu Ende ist. — 4: Sic 
pro te tuisque cutis redde uota dno P; cunctis Mab. D., wohl richtig. 
Allenfalls zu erwägen curis, kaum carts (Marténe). — 6: quifun 
dauid (so, nicht fundauid) P, bezeichnend für die Gedanken- 
losigkeit des Schreibers. — 10: Das Komma hinter subplez ist 
zu tilgen. — 11: Denkbar ist natürlich auch Angilberto (st. -) 
miserere. 

Hinter der 1. Strophe von B X beginnen, noch auf fol. 144 
unten, die Akrostichagedichte. Es sind zusammen 14. Sie 
stehen in zwei Gruppen: B XI—XX (fol. 144'—145") und 
XXIII—X XVI (fol. 146“—1477). Dazwischen geschoben sind 
BXXIf. Jene 14 Gedichte stimmen inhaltlich und auch formal 
weitgehend überein. Es sind durchweg Gebete an Gott oder an 
Christus um Aufnahme ins Himmelreich. Alle bestehen aus 
10 Hexametern, nur das erste, B XI, hat deren 12. Alle haben 
Akrostichon und Telestichon. Das letzte, B XXVI, begnügt 
sich hiermit; die anderen haben außerdem 1—3 Mesosticha. 
Angilberts Name erscheint in den senkrechten Reihen überall 
auBer in B XI, XIII, XVIII. Im eigentlichen Text begegnet er 
in B XVIII 10 (wo P bernouuino dafür eingesetzt hat); X XIII 1 


238 . Otto Schumann 


(ILE P; Angilbertum Bethmann D. Tr); XXV 1 (ILLO P; 
Angtlberto Bethm. D. Tr.). Sonach vun dieser Name nur in 
BXI und XIII. 

Diesen Gemeinsamkeiten stehen Verschiedenheiten im ein- 
zelnen gegenüber. Es heben sich besonders zwei Gruppen von 
den übrigen ab, 

a) In B XI. XII. XXIII Setzen sich die Mesosticha lediglich 
aus Anfangsbuchstaben von Wörtern zusammen. In BXI und 
XXIII, wo wir drei Mesosticha haben, stimmen diese unter sich 
und mit Akrost. und Telest. überein (B XI DEVS MISERERE, 
B XXIII ANGILBERTO); das ergibt in jedem Hexam. min- 
destens vierfache Allitteration. B XII hat nur 1 Mesost., und 
die drei Senkrechten sind verschieden (PIVS ADESTO/ANGIL- 
BERTO/DEVS ETERNE). In den übrigen Gedichten sind die 
Mesosticha nicht an den Wortanfang gebunden. 

b) In B XIII. XVIII. XXIV. XXV ist die Zahl der Buch- 
staben in den einzelnen Zeilen gleich, die Mesosticha sind symme- 
trisch angeordnet und bilden, wenn ein Buchstabe unter den 
andern geschrieben wird, gleich Akrostichon und Telestichon 
eine genau senkrechte gerade Linie; als Beispiel drucke ich 
B XIII in dieser Weise ab: 


DONAANIMEMISERENDOMEESEDEMOROQVIETI S8 
ETLARGIREPRECORMIHISEMPERMVNERAVITAE 
VTMEREARFLORERETVAIVGEIVSTICIAAVCTOR 
SISPIVSETCLEMENSMIHISISSPESVNICAVITE 
ALMASALVSVENIEPLACIDVMFACADDERELVMEN 
DAROGOTRANQVILLOREQVIEMDEDVCEREVVLTV 
ETTVAMEPACISSERVETPETODEXTERAREGNANS 
SISETERNEPARENSMIHIMITISSEMPERAMATOR 
TEMEREARSINEFINEFRVIFACTORPRECORALME 
- OMNIPOTENSEXCELSEVENIQVOTEROGOSVPLEX 


Jeder Vers hat also 36 Buchstaben; die Mesosticha stehen an 
12. und 24. Stelle. Das Akrost. ist = Mesost. II, Mesost. I = 
Telest. Ganz genau so ist B XXIV gebaut (zweimal ANGIL- 
BERTO/SERVVLO TVO). Ebenso entsprechen einander genau 
B XVIII (dreimal DEVS ADESTO) und XXV (dreimal ANGIL- 
BERTO): 34 Buchstaben in der Zeile, das einzige Mesost. an 
18. Stelle, also in der Mitte. In allen anderen Gedichten auBer 


„Bernowini episcopi carmina" 239 


in diesen vier ist die Zahl der Buchstaben in den Zeilen überhaupt 
verschieden und ebenso die Abstánde zwischen den senkrechten 
Buchstabenreihen; schreibt man also diese Texte so, daB ein 
Buchstabe unter den anderen steht, so bilden Mesosticha und 
Telestichon keine geraden, sondern sehr unregelmäßige Zickzack- 
linien. Weder D. noch Tr. haben offenbar diesen Unterschied 
bemerkt ; auch ich bin bezeichnenderweise erst auf ihn aufmerk- 
sam geworden, als ich anfing, diese Texte aus den Photographien 
in Maschinenschrift zu übertragen: Nachträglich habe ich dann 
festgestellt, daß auch in der Hs. wenigstens B XIII und XVIII 
sich deutlich von den übrigen abheben, indem hier, bes. in 
B XIII, die Buchstaben der Mesosticha sauber in einer Reihe 
untereinander stehen (bei den Akrosticha ist es natürlich überall 
80, auch bei den Telesticha, indem der letzte Buchstabe der Zeile, 
gleichviel wie lang diese ist, an den rechten Rand gerückt wird); 
sonst (auch in B XXIV und XXV) muß man sich die Mesosticha 
mehr oder minder mühselig zusammensuchen, obwohl selten 
vergessen ist, die dazu gehörigen Buchstaben groß zu schreiben, 
auch davor regelmäßig eine Lücke ist; dagegen sind die Wörter 
in diesen Texten in der Regel nicht getrennt. 

Daß Tr. den Unterschied nicht erkannt hat, ergibt sich aus 
seinen Ausführungen über B XVIII 10 (s. unten); daB auch D. 
nicht darauf aufmerksam geworden ist, aus seiner Orthographie. 
Denn freilich, die Orthographie der Hs. muß an einer ganzen 
Reihe von Stellen geándert werden, wenn gleiche Buchstaben- 
zahl und symmetrische Anordnung der Mesosticha in jenen 
vier Gedichten hergestellt werden sollen, So ist in B XIII 1 
mee für meae P zu schreiben, desgl. in v. 4 utte für -ae, v. 5 uenie 
für -ae, v. 8 eterne für aeterne (aber v. 2 ist uitae beizubehalten !). 
Fast durchweg kommen wir mit diesem einfachen Ersatz von ae, 
das in P überwiegt, durch e aus. Nur an einigen Stellen in 
B XXIV und XXV sind etwas tiefere Eingriffe in den über- 
lieferten Text notwendig.  . 

Isoliert steht B X XVI; es hat Akrost. und Telest. (ANGIL- 
BERTO / SIT VERA LVX), aber kein Mesost.; die Buchstaben- 
zahl der Zeilen ist nicht geregelt. 

Dagegen sind die 6 noch übrigen Texte dieser Art in ihrem 
Bau aufs náchste miteinander verwandt, B XIV —XVII. XIX. 
XX. Alle haben 3 Mesosticha, das mittlere lautet regelmäßig 


240 Otto Schumann 


ANGILBERTO, das Akrost. wird stets im Telest. wiederholt; 
z. B. BXIX SALVS MVNDI/SERUULO TVO/ANGIL- 
BERTO/PIVS ADESTO/SALVS MVNDI. Die einzelnen 
Wendungen kehren meist in verschiedenen Gedichten wieder; 
so steht SERVVLO TVO als 1. Mesost. in BXVII und XIX; 
als 3. Mesost. in B XIV; endlich als 1. Mesost. und als Telest. 
in B XXIV. 

Ich gehe nun diese Akrostichagedichte einzeln in derselben 
Weise durch wie die vorhergehenden. 

B XI: Das Gedicht ist ebenso wie B XII und XIII benutzt 
in B XXVIII; s. zu diesem. — 1: Xps schreibt P, auch sonst in 
der Regel; nur B XIV 2 christE. Abkürzungen außer von 
Nomina sacra sind selten. — enim als Flickwort in der 1. Zeile 
auch in B XII. — HS semine David auch B XIV 1. — 8: AV 
schreibt P; desgl. B XII 3 und XXVI 9 (aber B XXIV 4 
hies T). — 5: Mitis tu, miserere mei et miserere meorum: vgl. 
Fulbert v. Chartres, An. hymn. 50 nr. 214,18 Parce, precor, 
miserere mei, mis. meorum. Zufall? — 11: HA Rez regum auch 
B XXV 8; Aldh. C. de virg. praef. 28; Hrab. LXXXVII 18. 

B XII: 1: David ist Abl., zu natus v. 2 gehórig. — 3: tu ganz 
richtig P, nicht to, wie D. angibt. — 4: HS omnta Christus (-1 
usw.) häufig, Commod. C. apol. 582; Damas. 37,8; öfters bei 
Alc., 2. B. 11580; XX 36; u. sonst. — 9: Wegen ubique deus 
vgl. zu B VIa 2. 

B XIII: Hier ist mehrfach ae durch e zu ersetzen, s. oben. — 
2: HS munera (-e) vitae: Juvenc. II 229. 769 u. ö.; Aldh. C. de 
virg. 752. 2688 (munia v. ebd. 700); Theod. LX XV 118; Aedil- 
wulf XIV 8. — 4: HA Sit pius et clemens Alc. LII 16; XCIX, 
X] 7; ähnl. XV 9. — HS spes unica vitae: Beda, An. hymn. 50 
nr. 93, 31; Carm. de convers. Saxonum 58 (PAC 1, 381); 
Hrotsv. Gongolf. 281; sicher auch sonst; sp. un. — O oft seit 
Sedul. C. pasch. I 60 (von D. angeführt) sp. un. mundi, doch 
Schon Juvenc. III 521 vitae sp. un. fatur und ebd. III 536 
sp. un. restat. — 5f.: Alma salus, venie placidum fac addere 
lumen! Da, rogo, tranquillo requiem deducere vultu! Sind hier 
fac addere und da deducere Umschreibungen für adde und deduc, 
oder wie soll man die Wendungen sonst erklären ? 

B XIV: 1: HS = B XI 1. — 8: reGolis P. — 4: Aplez P. — 
10: quo Osindef Ortis P. 


»Bernowini episcopi carmina" 241 


B XV: 2: incli Ta uotA richtig D.; aber P hat deutlich indi Ta. 
— b: parent P, metrisch und dem Sinne nach richtig; pavent D. — 
6: dexteraM P. — 9: dommahbVs P. 

B XVI: 1: Deus 1nchte DaviD; David ist hier Gen.; vgl. 4. 
Reg. 20, 5; Is. 38, 5. — 5: Aderne Danda P. — 7: haec verba 
micantia an derselben Stelle des Hexam. bei Angilbert, PAC 4, 
916, II 21. — Über den Schluß von v. 10 s. unten zu B XXII 37. 

B XVII: 7: Sit famulO mihi, fast ders. Hex.-Eing. B XIX 
ebenfalls in v. 7: Ut famulO mihi. — 9: Der Hex.-Schl. gaudia 
vilae ist sehr häufig; den von mir zu Carm. Bur. 40 III bei- 
gebrachten Beispielen kónnte ich jetzt Dutzende hinzufügen: 
Cat. Dist. 4, 17, 2; Bonif. Carm. II 11; Sed. Scott. II 6, 21 und 
20, 45 u. a. mehr. — 10: populOs salvans P, nicht populO (wohl 
Druckfehler bei D.). 

B XVIII: Vgl. den Abdruck weiter unten. — 1: Det PD.; 
es ist doch wohl Des zu lesen, zu Det würde ein Subj. fehlen; 
denn David kann hier nur Dat. sein. Die Entstellung wohl her- 
vorgerufen durch das vorhergehende et. — Zu v. 6 vgl. Alc. carm. 
XXXVII 7 (S. 252) dic, dic, dulcissime David; mit diesem HS 
vgl. auch B XVIII 1 mitissime David und B XIX 9 certissime 
David. Vgl. ferner Othloh, Anal. hymn. 50, 325 nr. 251, 10 Die, 
dic ergo pia nobis dulcisgue Marta. — iungere doch wohl „schließ 
dich an“, „komm her zu mir". — 8: HA — deus omntpotens 
Angilb. II 88 und PAC 4, 916 nr. I 29 u. II 14, doch auch sonst 
oft, bes. bei Alc. — 10: O pi£as bernouuino O praecurre (so 
richtig P, nicht praecurrere, wie D. in der v. l. angibt) cltentO 
PD.; Tr. ersetzt bernouutno richtig durch Angtlberto, will aber das 
zweite O dahinter streichen und cl:ento durch clienilo ersetzen. 
Das geht nicht, denn die erste Vershälfte hätte dann einen 
Buchstaben zu wenig, die zweite einen zu viel, und das O des 
Mesostichons würde um eine Stelle nach links verschoben. Es 
bleibt also bei dem doppelten O und bei cliento, dessen o durch 
das Telestichon gesichert ist. Die Form läßt sich vergleichen mit 
vatorum, das in dem 2. Gedicht Angilberts häufig begegnet 
(vatorum est gloria David u.a.). — Weiteres über B XVIII s. 
unten. 

B XIX: 2 Alma fid Eilurcui Netorum rectissuma uittA P; 
fid Es und cuNctorum D., letzteres natürlich richtig; aber kann 
nicht fidei (ei einsilbig) beibehalten werden? Vgl. z. B. den 


Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 16 


242 Otto Schumann 


PS Alc. XC, XXI 4 per pia vota fida. — 4: Uaste P D.; 
I. Uasto, zu hiatu. — 6: Magneds Luansuerbum P; saLvans 
D., wohl richtig. — 7: Vtfamulo Omihid Esuentam P; famulO D.; 
. er faBt also das doppelte o als Verschreibung auf. Dergleichen 
begegnet auch sonst: qua Ae für quAe B XV 2; auch das Umge- 
kehrte: Spontesu Adeunt B XVI 4 für sua Adeunt. Unbedingt 
nótig ist hier die Streichung des einen o aber nicht. Vgl. auch zu 
B XVII 7. — HS gloria regni schon Lucr. II 38; Aldh. C. de 
virg. 112. 2894; Theod. XXXV 1; u. sonst. Ähnliches (gl. gentis, 
gl. plebis usw.) häufig. 

B XX:1: AETERNE P. — 4: co Imachina P (vgl. B XVIII 3 
comulato). —8: leta E P, nicht letaA, wie D. angibt. 

B XXIII: V. 3 f. lauten: Grandis erus. Gabrihel Gerolus Grandis 
quoque magoG Inuentor Iuuenis Iuuenum Iuuenilia loet I. Das 
ist sehr dunkel. Gabrihel und Grandis Magog sind wohl Gen. 
Aber wovon hängen sie ab? Magog z. B. von gerolus oder von 
invenlor? Und was heißt gerolus Magog oder M. inventor ? 
inv. könnte = creator sein (repertor wird öfters so gebraucht, 
2. B. mundi, rerum rep., vgl. Ihm zu Ps.-Dam. 68, 11). Aber was 
bedeutet tuvents iuvenum usw. ? Ist loeti der Gen. von letum oder 
steht es für laeti? Wer hilft hier weiter? — 6: Bona PD. gibt 
keinen Sinn; I. Bone. — 7: Eximus P. — 8: actor, v wohl m, ein- 
gefügt. 

B XXIV: 1: ASPICAE CELESTI P. — 3: a£ernae P D.; 
l. aeterne. —5: Luz v1a vita als HE Alc. XX XVII 5 (das Gedicht 
ist an Homerus, d.h. an Angilbert gerichtet); ebenso PAC 1, 844 
nr. CXII 14; als Eing. der 2. Pent.-Hälfte Alc. XXXVII 6; 
XLVIII 44; XCV 22. — 6: Blandiorocae Limthitusiso Biime- 
praesuL P; D. trennt Blandi oro cae Li, es ist doch wohl Blandior, 
o, ceLt (bl. im Sinne von oro) mindestens zu erwägen. cel4 ist 
auf jeden Fall zu schreiben, sonst hat das erste Versdrittel einen 
Buchstaben zu viel. Andererseits fehlt im letzten Drittel ein 
Buchstabe. Man wird entweder oBtimae praesuL schreiben müssen 
(s. Zu v. 7) oder oBtime praessuL. ss für s finde ich auch sonst in 
Figurengedichten, um die gewünschte Symmetrie herzustellen: 
Ios. Scott. carm. III, PAC 1, 152f., IESSVS, im Eingang des 
von (v)I(vens) v. 1 nach rechts unten gehenden Hexam.; dass. 
ebd. carm. IV, S. 154 f., v. 26; ebd. carm. VI, S. 158f. NEGAN- 
TISS (in dem Kreuz rechts unten); IESSV auch Alc. VI 1 


„Bernowini episcopi carmina" 243 


(gleichfalls Fig.-Gedicht); pressul schreibt die Hs. PAC 3, 239 
v. 27 (kein Fig.-Gedicht). — 7: Ei me lucifluO miserens bon E 
praecluae donO D.; aber P hat praeduae, und das ist sicher bei- 
zubehalten. Offenbar ist der Imp. gebildet in Anlehnung an den 
alten Konj. dutm, duis usw. Was sollte praecluae heißen? Auch 
das schlieBende ae von praeduae muB stehen bleiben, sonst 
haben wir wieder einen Buchstaben zu wenig. Entsprechend 
kann auch in v. 6 oBitmae für -e der Hs. gesetzt werden, wenn 
man nicht den anderen Ausweg vorzieht. — 8: beTi P D; l. 
le Ti. — 10: quaeam P; queam richtig D. 

B XXV: 2: Zu dem Hex.-Schl. per lumina lumen vgl. Wey- 
man, Beitr. z. Gesch. d. christl.-lat. Poesie S. 231 über den Hex.- 
Schl. de lumine lumen, der oft begegnet. — 3: cui Grande mole 
subito G P D.; es ist wohl zu lesen cut Grandi mole subit OG , dem 
der Riese Og erlegen ist“; vgl. Num. 21, 33ff.; Deut. 3, 1ff. (bes. 
v. 11) u.a. Bibelstellen. — 4f.: Illius, en, miserere, pius, qui 
septa uocat: Laete hic fecit: H. schlägt locari für uocati vor; sonst 
müßte vocati wohl = dict: (scil. Angilberti) sein. Was heißt hier 
septa? Ist es = cancelli? — 6: Bellum quo fugiat ea Buli dis- 
crimine cum io B P D. Die zweite Vershälfte hat 3 Buchstaben zu 
viel, auch ist mit discrimine nichts Rechtes anzufangen. Ich 
schlage vor za Bli de semine; vgl. Matth. 13, 24ff. und 36ff.; die 
Formen diabli, gabli begegnen auch sonst bei karoling. Dichtern: 
PAC 4, 83 v. 127 und 287 v. 810. — 7: HS lumina (-e) vitae 
schon bei Lucrez, I 221 u. sonst; Juvenc. IV 442. 734. 756; 
Aldh. C. de virg. 308; u. sonst, auch B XXIX 7. — 8: Wegen 
Rez regum s. zu B XI 11; HS iuris amator Ven. Fort. 6, 2, 79; 
Theod. XXVIII 45; Áhnliches (virtutis, pietatis am.) oft. 

B XXVI: 1: Vgl. Eug. v. Toledo, An. hymn. 50 nr. 77,11 
qui regnans irinus et unus; HS tr. et un. auch sonst. — 2: Vgl. 
Aldh. C. de virg. 1684 qui ... dempsisset crimina mundi; Alc. 
CXVII, II 2 qui tollit cr. m.; ähnl. Hincmar II 47. — 3: Wegen 
des HS vgl. zu B II 4. — 7: preci P. —8: HS ante tribunal: Tu- 
venc. IV 590; Sed. C. pasch. V 139; Diehl Inscr. 3482, 9; Alc. 
LI, VI 5. 

Zwischen die beiden Gruppen von Akrostichagedichten 
geschoben sind die Texte, die D. unter den Nummern XXI und 
XXII zusammengefaßt hat. Wir betrachten zunächst B XXII. 
Tr. erklärt dies Gedicht für die selbstverfaßte Grabschrift Angil- 

16* 


244 Otto Schumann 


berts; doch sei nur der Schluß, nach Hariulfs Zeugnis, „in der 
etwas veränderten Form von B XXI 5—8‘ wirklich auf das 
Grab gesetzt worden. Tr. widerspricht sich hier selbst; denn er 
läßt das Gedicht — und zwar mit Recht — schon mit v. 30 
enden; und gerade von dem Schluß, d. h. v. 41 —44 (der übrigens 
in P als selbständiges Stück dadurch gekennzeichnet wird, daß 
v. 41 in Kapit. geschrieben ist), sagt er nachher, er sei ,,wahr- 
scheinlich eine einfältige Spielerei“. V.1—30 druckt er S. 55f. 
neu ab. Zu diesem Gedicht ist folgendes zu bemerken. 

Daß es der Grabschrift Alkuins (Alc. CX XIII, S. 850) nach- 
gebildet ist, hat Tr. festgestellt und durch Beispiele belegt; ich 
verzichte darauf, diese zu vervollständigen. — Zu v. 1 Haec gui 
sacra pelis venerandi culmina templi vgl. Aldh. carm. eccl. II2 
Cui (Mariae) veneranda rudis sacrantur culmina. templi; HS 
culmina (-e) templi: 8. Thes. 1. I. 4, 1291, 28ff.; B VIa 7; Aldh. 
C. de virg. 562; Alc. 1306; u. ö. — 2: pi Datis ut habent P. — 
4: ora P. — Zu v. 6 Principibus multo carus amore puis vgl. die 
spätere Grabschrift Angilberts, die ihm gesetzt wurde, als das 
Grab von seinem ursprünglichen Platz vor der Kirche von St. 
Ricquier in diese hinein verlegt worden war, PAC 3,814 nr. XLV 
6 Dogmatibus clarus, principibus socius sowie die Grabschrift 
des Megingoz aus St. Alban in Mainz, PAC 4,1038 v. 9 Regibus 
hic carus multis (zu beiden Stellen verweisen die Herausgeber auf 
B XXII 6). — 7f.: Gloria me rerum magi (mage Mab., magni 
D. Tr.) referebat opima, Sed regum solita plures (- is D. Tr.) ami- 
cita. Die Emendationen D.’s. sind wohl sicher, gleichwohl bleibt 
die Stelle schwierig. „Der persönliche Gebrauch wie magni refert 
studium atque voluptas bei Lucrez ist bekannt, aber dann fehlt 
die Person, der an etwas liegt, und man erwartet allenfalls einen 
Dat., also mi. Wenn aber me richtig überliefert ist, so ist es wohl 
aus der Vermischung von refert und referre zu erklären.“ (H.) — 
11: Es ist doch wohl ereptum zu schreiben und das Komma hinter 
sorte zu tilgen; sonst muß zu dem überlieferten (von D. und Tr. 
beibehaltenen) ereptus ein sum ergänzt werden, und das ist miß- 
lich. — 13: figurE P. — 14: Totius hoc uitae quo gradiaris steR 
P D.; Tutius hinc Tr.; Tutius sicher richtig, hinc unnötig. — 
18: (caeca talenta) In barairi mittunt antra sacra suoS P; sacrata 
Mab. D.; sopora Tr. Beides sehr bedenklich; secreta? (secretus 
mit kurzer erster Silbe Hrotsv. Maria 398. 473; Gesta Ott. 518 


„Bernowini episcopi carmina“ 245 


u. ö.; sicher auch bei anderen.) Oder serata ? — 20: Vgl. Aen. I 639 
arte laboratae vestes; ab arte ist ovidisch. — V. 21f. lauten bei D. 
nach P: Nam datur infelix corpus, cui tanta parantur, adfore mox 
pulvis, vermibus esca simul. Tr. schreibt paratur und streicht 
dahinter das Komma: „dem es bestimmt ist bald ebensoviel 
Staub zu sein." Aber pulvis ist Mask.! Es ist doch wohl besser 
parantur beizubehalten; tanta bezieht sich auf die in v. 19f. 
geschilderten irdischen Genüsse; corpus datur pulvis adfore deute 
ich als etwa gleichbedeutend mit fit, ut c. pulvis sıt. Eine Parallele 
für ein solches dart mit Nom. c. inf. vermag ich allerdings nicht 
beizubringen. — 24: Atque „Angilberti“ (so Tr.; in P, Illius D.) 
dic „miserere deus; die zweite Pent.-Hälfte genau so nicht bloß bei 
Angilbert PAC 4, 915 v. 20, wo Strecker auf unsere Stelle ver- 
weist, sondern auch Alc. LXXX, I8; PAC 1, 115 nr. XI 14; 
3,318 nr. XLII 4; 4, 1010 nr. IV 8 u. ö.; als Hex.-Eing. Alc. XX 5; 
vgl. auch Alc. CXIII 8. — In v. 28 ist Tr.'s Interpunktion „, Surge 
iam tuba nostra iubet vorzuziehen. — Zu v. 29 Vita salus requies 
usw. vgl. Riese Anth. lat. nr. 689“ (Versus Silvii de cogno- 
mentis Salvatoris) v. 5 und die von Weyman a. a. O. S. 60 dazu 
beigebrachten Parallelen. — Zu v. 30 Da ventam famulo tu mihi, 
Christe, tuo vgl. den Schluß der Grabschrift des Erzbischofs 
Landulph von Mailand (gest. 900), PAC4, 1010 nr. IIS Da 
veniam famulo, da, pater alme, tuo. 

Der Rest von B XXII zerfállt in 3 selbstándige Stücke: 
v.91—86. 37—40. 41—44. Desgleichen besteht B XXI aus 
2 Teilen: v. 1—4 und 5—9, was durch die Hs. bestátigt wird 
(Kapitalschrift in v. 5!). Diese 5 Texte gehóren zusammen. Sie 
sind Variationen der im cod. Vat. Reg. lat. 235 und danach 
von Hariulf überlieferten echten Grabschrift Angilberts (MG 
SS XV 179): 

Rex, requiem Angilberto da, pater atque pius rex. 

Lex legum vitam aeternam illi da, quia tu es lex. 

Lux, lucem semper concede illi, bona qui es lux. 
Pax, pacem illi perpetuam dona, es quoniam pax. 
Nach H.'s Bericht war v. 1 zu Häupten, v. 2 links, v. 3 zu Füßen, 
v. 4 rechts eingehauen. Man könnte auf den Gedanken kommen, 
daß sie in Kreuzform angeordnet waren, von außen nach der 
Mitte zu verlaufend, wo sie in dem allen gemeinsamen schließen- 
den X (das sich ja gleich bleibt, von welcher Seite man es auch 


246 Otto Schumann 


sieht) zusammenstießen. Aber der Wortlaut bei H. spricht doch 
für rechteckige Anordnung. 

Wichtig scheint mir eine weitere Beobachtung. V. 3 und 4 
haben je 37 Buchstaben; desgl. v. 2, wenn man eternam für 
aet. schreibt. Auch in v. 1 (39 Buchst.) läßt sich dieselbe Buch- 
stabenzahl herstellen, wenn man atq; (so P in dem, abgesehen 
von bernouutno für Angilberto, völlig gleichlautenden Vers 
B XXII, wo allerdings der Raum knapp war) für atque einsetzt. 

Wie schon gesagt, gibt B XXI 5ff. die Grabinschrift ziem- 
lich wörtlich wieder. Abweichungen: 6: Angtlberto] IET P, 
¿lli D. (aber in v. 6 und 7 hat P ili, hier wird besonders deutlich, 
daB überall dort, wo P das Pronomen in jener Weise abkürzt, 
ein Eigenname getilgt ist). — ADQVE P. — 6: uita aderna 
P. — Stärker geändert ist v. 8: Paz, pacem largire pia 
(ptam Tr.) uera es quontam paz. — Dann ist ein fünfter Vers 
hinzugefügt: Rez lex lux paz nunc miserere. Fügen wir Angilberti 
vor nunc ein, so gibt auch das einen vollständigen Hexameter, 
der das Vorhergehende zusammenfaßt; vgl. übrigens den HS 
B IX 3 (5) Angilberti tu miserere; ferner B XII 7 eia tu nunc 
miserere. i 

Wenig geändert ist der Vierzeiler auch i in B XXI 1—4. In v. 1 
ist bernouutno eingesetzt für Angilberio, v. 4 ist wörtlich = v. 8 
(nur piam für pia, piam von Tr. auch in v. 8 eingesetzt, dem 
Sinne nach keineswegs unbedingt nötig). Etwas stärker weichen 
ab v. 2f.; doch ist auch hier die Übereinstimmung des Ein: 
gangs- und Schlußwortes festgehalten. 

Dasselbe ist der Fall in B XXII 41—44. Sonst weicht der 
Wortlaut ab. In v. 41 ist mit Traube Angilberto für IE P, li D. 
einzusetzen und das von Wattenbach interpolierte vitae zu 
streichen. Bestätigt wird dies durch die Beobachtung, daB in 
diesem. Text anscheinend ebenso wie in der echten Grabschrift 
die Zahl der Buchstaben in den einzelnen Versen die gleiche 
ist, so daB also, ebenso wie dort, wenn man genau einen Buch- 
staben unter den anderen setzt, die vier schlieBenden X in einer 
Senkrechten untereinander stehen. V.41 hat 34 Buchstaben, 
desgleichen v. 44. V. 42 lautet: Lex pia percipiat uitam (vitae 
ändert D. ganz unnötig) per saecula te leX. Streichen wir das 1. a 
in saecula, so haben wir auch hier 34 Buchstaben. Schwieriger 
ist die Sache in v. 48: Lux tecum uigeat uere qui diceris o luX. 


„Bernowini episcopi carmina" 247 


Das sind nur 32 Buchstaben. Einen mehr erhalten wir, wenn wir 
qui durch quia ersetzen (auch quae wäre zu erwägen); den 34., 
wenn wir hinter tecum noch ein o einfügen. Eine andere Möglich- 
keit sehe ich nicht; aber bei dem Zustand, in welchem uns die 
Hs. die Texte sonst überliefert, lassen sich die kleinen Änderun- 
gen doch wohl vertreten. Doppeltes o in derselben Zeile auch 
B XVIII 10. In den anderen Variationen der Grabschrift 
scheint Gleichheit der Buchstabenzahl nicht angestrebt zu sein, 
wohl aber in der Nachbildung B XXVIIIa), s. unten. Natür- 
lich kann sie in den Fällen, in denen wir sie feststellen zu dürfen 
glaubten, auch auf Zufall beruhen, zumal ja immerhin einige 
Änderungen erforderlich waren; aber es ist doch wenig wahr- 
scheinlich. Sind andere Beispiele von Inschriften dieser Art 
bekannt? ` 

B XXII 37—40 behält die Hexameterform und den Beginn 
der Verse mit Rex Lex Lux Pax bei, gibt es aber auf, die Verse 
mit diesen Wörtern zu schließen. Daher ist in v. 40 schwerlich. 
mit Wattenbach am Ende, wo zwei Silben fehlen, tu paz, son- 
dern etwa servum zu ergänzen; das Wortspiel serva-servum 
wird beabsichtigt sein. V. 37 lautet in P: Rez iH intumulo placi- 
dam concede quidem; für 4H (illi D.) ist Angilberto einzusetzen, 
dafür entweder placidam oder in tumulo zu tilgen. Es ist der 
einzige Fall in diesen Gedichten, wo anscheinend versucht 
worden ist, den durch Beseitigung des Eigennamens aus den 
Fugen geratenen Vers wieder einzurenken. Denkbar ist freilich 
auch, daB der Vers ursprünglich ein. Heptameter war. Dieselbe 
Möglichkeit besteht bei B XVI 10 Ezaudi rector servo mihi 
iustus semper ubique, wo D. semper getilgt hat (über den HS 
semper ubique vgl.zu B VIa 2). Warum soll nicht in diesen 
Gedichten auch einmal ein solcher Fehler mit untergelaufen 
sein? — HS concede quietem "Theod. XXVI 33. — 39: HS sine 
fine — — — ist häufig. 

Noch größere Freiheit gegenüber der Vorlage als B XXII 
37—40 gestattet sich B XXII 31—36. Die Verseingánge Rez 
usw. sind beibehalten, aber die Hexameter sind ersetzt durch 
Distichen, und für die 3. Person ist die 1. eingetreten (mihi. 
largwe quietem usw.), der Name Angilbert fehlt und ist auch 
nirgends zu ergánzen. Unmittelbar liegt augenscheinlich B XXI 
6—9 zugrunde, denn wie dort in v. 9 haben wir hier eine Zu- 


248 Otto Schumann 


sammenfassung: v. 35 Rez et lex et lux et paz usw. Dagegen 
fehlen Distichen, die mit Lex und Pax beginnen; die Überliefe- 
rung ist wohl unvollständig. — 31: Vgl. den HS noctem largire 
quietam PAC 1, 78 nr. XLIX 8. — 32: Der Pent.-Schl. sine 
fine quies auch Theod. XL 18; PAC 8, 308 nr. XXVII 22; 3, 
814 nr. XLIII 14; sine fine ~ O überaus häufig. 

Wer hat nun diese fünf Variationen der Grabschrift Angil- 
berts verfaßt? Etwa er selbst? Überhaupt, welche von den 
vorstehend betrachteten Gedichten sind als sein Eigentum anzu- 
sehen und welche ihm abzusprechen? Es ist eine schwierige 
Frage. Mit metrischen und sprachlichen Gründen läßt sie sich 
nicht entscheiden. Metrische Verstöße sind besonders in einem 
Teile der Akrostichagedichte nicht selten (häufig vor allem 
Längung kurzen Vokals, gewöhnlich in der Hebung, so XVII 1 
via, X XV 10 rotans), in anderen fehlen sie, aber das Vergleichs- 
material ist zu gering — es sind in den Akrostichagedichten ja 
jedesmal nur 10, hóchstens 12 Verse —, die Unterschiede kónnen 
also sehr wohl auf Zufall beruhen. Sie bestehen auch zwischen 
den anderwärts überlieferten echten Gedichten Angilberts. 
Stilistisch sind wiederum die Akrostichagedichte besonders 
schwierig, die Zwangsjacke der Form nötigt den Dichter oft 
zu einer gequälten Ausdrucksweise. Freilich ist das verschieden; 
so lassen sich B XVIII und XIX, wenn man richtig interpungiert 
(D. hat darauf in diesen Gedichten fast völlig verzichtet), ganz 
gut verstehen (B XVIII s. unten); dagegen ist besonders ver- 
schroben in seiner Ausdrucksweise z. B. B XXIII. Aber daraus 
auf Verschiedenheit des Verfassers zu schlieBen wáre ganz unzu- 
lássig; wir kónnen nicht wissen, ob nicht in B XXIII die Schwie- 
rigkeiten, die sich aus dem Schema ergaben, besonders groB 
gewesen sind. Auch die Orthographie hilft nicht weiter. In B XIII 
ist fast durchweg e für ae zu schreiben: 1 anime, mee; 4 utte; 
5 uenie; 8 eterne; dagegen hat B XVIII durchweg ae: 4 saecula, 
laetus; 6 caeli; 10 praecurre. Aber auch B XIII 2 hat usiael Es 
ist also ae oder e jeweils nach Bedarf gesetzt worden, und es ist 
sicherlich Zufall, wenn die eine Schreibung hier, die andere 
dort vorwiegt oder allein herrscht. Wir sind also, wenn wir 
einer Entscheidung jener Frage nach dem Verfasser näher 
kommen wollen, auf andere, besonders auf inhaltliche Kriterien 
angewiesen. 


„Bernowini episcopi carmina“ 249 


Beginnen wir mit den Fällen, wo die Sache besonders klar 
liegt. Das sind B VIa einerseits, B IX 3 (5) f. andererseits. 
Für B VIa bezeugt Hariulf die Verfasserschaft Angilberts. Da- 
gegen ist das Distichon B IX 8 (5)f. sicher nicht von ihm. Es 
lautet nach richtiger Herstellung (s. oben): 

Omnipotens deus, Angilberti tu miserere! 
Ipsius esto memor, rex pius, adque mei! 
Der Verfasser fügt also der Fürbitte für Ang. eine solche für 
sich selbst an, er kann folglich nicht mit ihm identisch sein. 

Vergleichen wir nun dieses Distichon mit dem vorangehenden 

(B IX If.): 
Omnipotens, Angilberti miserere, redemptor, 
Rex pius adque decus, vita, salus hominum! 

Es ist klar, daß nicht beide Distichen zusammen einen ein- 
heitlichen Text bilden, sondern daß eines die Dublette, die Um- 
arbeitung des anderen sein muß. Welches das ursprüngliche ist, 
läßt sich kaum entscheiden. Stellt v. 3 (5)f. die ursprüngliche 
Fassung dar, so ist auch v. 1f. natürlich nicht von Angilbert. 
Anderenfalls ist es móglich, aber nicht sicher. 

Angilberts Grabschrift ist in der authentischen Form, wie 
sie sonst überliefert ist, in P nicht enthalten. Wohl aber haben 
wir hier, wie wir sahen, fünf Bearbeitungen derselben, die sich 
teils enger an das Original anschlieBen, teils weiter davon ent- 
fernen. Ob Ang. die Grabschrift selber gedichtet hat, wissen 
wir nicht; Hariulf sagt nichts darüber. Von den Bearbeitungen 
ist es schwerlich anzunehmen. Ganz ausgeschlossen erscheint 
es ja nicht, daß Ang. in dieser Weise an seiner eigenen Grab- 
Schrift herumprobiert hat. Aber viel wahrscheinlicher ist es 
doch, daß es poetische Stilübungen sind, die in der Schule von 
St. Ricequier im Anschluß an die Grabinschrift des verdienten 
und hochverehrten Abtes angefertigt worden sind. 

Derartige Stilübungen beruhen ja auf alter Schulüberliefe- 
rung. Und gerade aus St. Ricquier haben wir dergleichen auch 
sonst. Unter dem Titel „Carmina Centulensia" hat Tr. PAC 3, 
265ff. aus zwei ehedem zusammengehórigen, aus Gembloux 
stammenden Brüsseler Hss. eine hochinteressante Sammlung 
von Gedichten veröffentlicht, die in St. Ricquier entstanden 
Bind. Sie ist einige Jahrzehnte jünger als die in P erhaltene. 
Es sind zu einem groBen Teile tituli, darunter viele Epi- 


250 Otto Schumann 


taphien; und auch hier haben wir wiederholt verschiedene 
Bearbeitungen desselben Themas: so zwei Epithaphien auf 
Ruodulfus, die sich — ganz wie BIX 1f. und 3f. — im einzelnen 
wörtlich berühren (nr. CXLI und CXLII, S. 352f.); ähnlich 
steht es mit nr. XCVI/XCVII 1. 2/XCVII 1. 3/ (S. 333); nr. IIC 
1f./3 f./ö f. IC 1 f./3 f. (ebd.); LVI 1/2/3/4/5 und LVI 6/7/8 (S. 317). 

Es herrschte also offenbar gerade in St. Ricquier ein reger 
dichterischer Wetteifer; wir dürfen das wohl auf den Einfluß 
Angilberts zurückführen. Vieles von dem, was dabei zustande 
kam, hat man zusammengeschrieben; und von derartigen 
Sammlungen nahmen oder erbaten Auswärtige Abschriften, 
um Formeln und Muster zu erhalten (die Eigennamen sind auch 
in der Brüsseler Sammlung oft getilgt). Eine solche Abschrift 
liegt augenscheinlich auch in P vor. 

Versuchen wir weiter, von einander zu sondern, was in dieser 
Sammlung Angilbert selbst gehört und was nicht. Auf B VIa 
folgen unmittelbar B VI—VIII, formal wie inbaltlich mit B VIa 
gleichartig. Es besteht keine Veranlassung, die Verfasserschaft 
Angilberts zu bezweifeln, dessen Name nach Tr.s völlig einwand- 
freiem Nachweis in allen dreien einzusetzen ist. In B VIII 
bezeichnet er sich sogar ausdrücklich als auctor carminis. 
B VI—VIII sind auch nicht, wie B XXI1-—4 usw., bloße Be- 
arbeitungen einer Vorlage, sondern, trotz gelegentlicher wört- 
licher Anklänge an andere, sicher echte Gedichte Angilberts, 
durchaus selbständig. 

Die Gruppe B I—V (dazu die ganz oder teilweise verlorenen 
B Ia und IIa) ist inhaltlich und gróBtenteils auch formal eng 
zusammengehörig und stammt sicherlich von einem Verfasser. 
Ob dies Angilbert gewesen ist, läßt sich kaum entscheiden. 
Wie wir sehen, enthält B III bemerkenswerte wörtliche An- 
klänge an B VII, das sicher von ihm ist. Doch kann natürlich 
auch ein anderer diese Wendungen aus B VII entlehnt haben. 
Soviel läßt sich indes wohl aus ihnen schließen, daß auch diese 
Gruppe von Texten zu der Sammlung aus St. Ricquier gehört. 

Ob das auch bei der in P vorhergehenden Gruppe von 
Gedichten (Hibernicus exul XX, I—VIII und XXI bei D.) der 
Fall ist, muß dahingestellt bleiben. Bis jetzt habe ich in ihnen 
nichts gefunden, was dafür, und ebensowenig, was dagegen 
Sprechen kónnte. 


„Bernowini episcopi carmina" 251 


Inhaltlich mit B VIa. VI—VIII gleichartig ist B X. Auch 
hier ist nach der ganzen Umgebung, in der das Gedicht steht, 
kein Zweifel, daB Tr. in v. 5 und 11 mit Recht Angilberts Namen 
ergánzt hat. In v. 11 wird dieser ausdrücklich als Dichter be- 
zeichnet. Wir werden ihm also B X mit derselben Sicherheit 
zuweisen dürfen wie B VI—VIII. 

Wie dieser Rhythmus B X, so nehmen die Akrostichagedichte 
unter Angilberts Dichtungen eine Sonderstellung ein. Auch hier 
zeigt er sich uns von einer Seite, die wir aus den anderwürts von 
ihm erhaltenen Gedichten nicht kennen lernen. Denn mindestens 
zum Teil werden auch die Akrostichagedichte wirklich von ihm 
herrühren. Besonders wahrscheinlich ist mir dies bei B XVIII, 
das sich inhaltlich von den anderen stark abhebt. Ich drucke es 
hier ab mit den Ánderungen, die mir erforderlich erscheinen, 
vor allem mit Interpunktion ; dagegen lasse ich die Hervorhebung 
des Mesostichons und des Telestichons weg und verweise dafür 
auf D.'s Abdruck. 

Da, pietate potens, et des. mitissime, David, 
E propria curas qui demere crimina plebe, 
Ut tua percipiat comulato gaudia fructu! 
Sit vere miti iunctus per saecula laetus 
Ac valeat caeli permagna videre patrata! 5 
Dic, dic ergo, pius: „ condigne iungere, David, 
Et sacris felix cantes modulis sine fine!“ 
. Sic, deus omnipotens, sic illi cede, beatus 
Tu, cuius bonitas iustis tua gaudia donat! 
O pietas, Angilberto, o, praecurre cliento! 10 

(Für v. 6 ist auch zu erwägen die Interpunktion Dic dic 
ergo: „ptus, cond. iung., David“) 

V. 1—9 sind ein Gebet um Aufnahme Davids, d. h. Karls des 
GroBen, ins Himmelreich. V. 10 aber ist eine Bitte für Angilbert 
selbst: „O du Frommer, geh deinem Diener Angilbert voran!“ Ich 
fasse hier also O pietas — O pie und als Anrede an David auf. 
Ist das richtig, so ist das Gedicht nicht bloB sicher von Angil- 
bert, es läßt sich auch sehr genau datieren. Denn es setzt 
voraus, daß Karl der Große bereits gestorben war; wie hätte 
der Dichter sonst wünschen kónnen, er móge ihm ins Himmel- 
Teich vorangehen? Nun ist Karl am 28. Januar 814 gestorben, 
Angilbert aber wenige Wochen danach, am 18. Februar. In diesen 


252 Otto Schumann 


letzten Tagen seines Lebens muß also das Gedicht entstanden 
sein, als Abschiedsgruß an den verehrten und geliebten Herrn. 
Vielleicht ist es das Letzte, was er überhaupt geschrieben hat. 

Völlig sicher erscheint freilich die vorstehende Deutung von 
v. 10 nicht. O pietas könnte auch Anrede an Gott sein; prae- 
curre Angilberio müßte dann sein = duc Angilberium (scil. ad 
tua gaudia oder ähnl.). Ein Wechsel in der Anrede gegenüber 
v.1—9 würde dann nicht eintreten. Allein in B XIX 9 (s. unten) 
erfolgt der gleiche Wechsel sogar innerhalb desselben Satzes 
und Verses. Vor allem aber steht v. 10, wenn er an Gott ge- 
richtet ist, ohne rechten Zusammenhang mit dem vorhergehen- 
den Gebet für „David“, er erscheint fast als eine dem Schema 
zuliebe angeflickte Verlegenheitsphrase, während er bei der 
anderen Deutung einen sehr schönen und wirksamen Abschluß 
bildet. Daher ist mir doch diese Erklárung die wahrscheinlichere. 

Im Gegensatz zu B XVIII ist B XIX ein Gebet für das 
Seelenheil Angilberts. Aber der Schluß (v. 9f.) lautet: 

Da, domine, ut videam te, mi certissime David, 
In solio excelso, felix qui es gloria regni! 

Auch hier ist unter David Karl zu verstehen; es braucht aber 
nicht angenommen zu werden, daß dieser damals schon tot 
war, die Schlußwendung scheint dem sogar eher zu widersprechen. 

Mir scheint, daß man diese beiden Gedichte mit ihrem be- 
sonderen persönlichen Einschlag Angilbert zuschreiben muß, 
ganz einerlei, wie man die letzte Zeile von B XVIII auffassen will. 
Dagegen glaube ich, daß von den übrigen in erster Linie B XXV 
ihm abzusprechen ist. Hier lautet v. 7: Et mertto habeat prae 
magno lumina vitae, und in v. 5 heißt es, er sei vigil et vere sibi 
consul gewesen. Ein solches Selbstlob wäre in Gedichten dieser 
Art ganz unerhórt, wider alle Etikette. Das kann nur ein anderer 
geschrieben haben. Dazu kommt ein weiteres. Akrostichon, 
Mesostichon und Telestichon dieses Gedichtes lauten überein- 
stimmend Ang:lberto „dem Angilbert‘‘. Sonst heißt es in diesen 
Gedichten meist Pius adesto Angilberto, deus eterne; Salus mundi, 
da auxilium Angilberto et tuere eum, salus mundi und ähnlich. 
Das sind Gebete, und so kann Ang.selbst gesprochen haben. 
Aber einfaches Angtlberto ist kein Gebet, sondern eine Widmung; 
auch sie weist darauf, daB ein anderer ihm zu Ehren dies Gedicht 
verfaBt hat. 


„Bernowini episcopi carmina“ 253 


Dasselbe gilt nun auch von B XXIII (fünfmal Angtlberto) 
und B XXIV (zweimal Angilberto servulo tuo). Alle drei Gedichte, 
die in P zusammen die zweite Gruppe der Akrostichagedichte 
eröffnen, scheinen formale Nachbildungen von solchen der ersten 
Gruppe zu sein: B XXIII von B XI, B XXIV von B XIII, 
B XXV von B XVIII. Daß B XVIII sehr wahrscheinlich Angil- 
bert gehört, sahen wir schon. Vermuten darf man, daß auch die 
beiden anderen Vorbilder, B XI und XIII, von einem Dichter 
herrühren, der in diesen Dingen als Autoritát galt; und das kann 
kaum ein anderer als wiederum Angilbert gewesen sein. 

Über die anderen Akrostichagedichte, die formal vereinzelt 
stehenden B XII und XXVI und die fünf, die formal ebenso 
gebaut sind wie B XIX (3 Mesosticha), läßt sich keine irgendwie 
sichere Entscheidung treffen. Es ist schon darauf hingewiesen 
worden, daß die Akrosticha usw. einander großenteils sehr ähn- 
lich sind. Man vergleiche z. B. BXIX und XVII: 

Salus mundi/servulo tuo/Angilberto/pius adesto/salus mundi 
Serenus rex/servulo tuo/Angilberto/pius adesto/serenus rex. 
Es erscheint sehr wohl denkbar, daß hier ein anderer sich die 
Aufgabe gestellt hatte, oder daß sie ihm in der Schule vom 
Lehrer gestellt worden war, in den nur wenig, nur durch die Er- 
setzung des gleichlautenden Akrost. und Telest. durch ein anderes 
veränderten Rahmen von B XIX einen neuen Text hineinzu- 
komponieren. Aber es kann natürlich auch sein, daß Angilbert 
Selbst gerade an dieser schwierigen Form solchen Gefallen ge- 

funden hatte, daB er sich immer wieder darin versuchte. 

Schwierig ist die Entscheidung der Verfasserfrage auch bei 
BXXII1—30. Nach Tr.s Meinung ist es die Grabschrift, die 
Ang. für sich selbst gedichtet hat, wenn auch nachher auf den 
Grabstein ein ganz anderer Text gesetzt worden ist (s. oben). 
Daß sich B XXII 1—80 in Gedankengang und Wortlaut eng 
an Alkuins Grabschrift anschließt, darf man nicht gegen Angil- 
berts Verfasserschaft geltend machen. Darin war man ja da- 
mals sehr unbefangen. Auch verhält sich der Dichter doch seinem 
Vorbild gegenüber durchaus selbständig. So enthält Alkuins 
Grabschrift gegen Schluß den Wunsch, das Grab möge bis zum 
Jüngsten Gericht unangetastet bleiben. Das ist in der Nach- 
bildung übernommen, mit starken wörtlichen Anklängen, aber 
doch mit einer charakteristischen speziellen Wendung an die 


254 Otto Schumann 


Nachfolger in der Abtswürde: v. 25f. Hunc concede mihi, quis- 
quis succedis honore Nostro, deposui cui mea membra, locum; 
eine Mahnung, die die Nachfolger, wie wir schon sahen, nicht 
beherzigt haben. Und noch charakteristischer ist eine andere 
Erweiterung. Alk. sagt (v. 5), er sei famosus 1n orbe gewesen. 
Auch diese Wendung wird in B XXII wiederholt; aber der Ge- 
danke wird erheblich erweitert (v. 5ff.): 
Dives eram quondam, lato famosus in orbe, 
Principibus multo carus amore piis. 
Gloria me rerum magni referebat opima, 
Sed regum solita pluris amicitia. 
Propterea populi largo venerabar honore 
Muneribus nimiis atque favore precis. 
Mit Recht rühmt Tr. das stolze Selbstbewußtsein, das aus diesen 
Worten spricht. Man kónnte nun auch hier wieder einwenden, 
daB ein derartiger Selbstruhm in jener Zeit, zumal in einer Grab- 
schrift, durchaus ungewöhnlich ist; zum guten Tone gehört es 
doch vielmehr, sich selbst nach Möglichkeit herabzusetzen, vor 
den Menschen wie vor Gott. 

Aber hier dient der Ruhm der hohen, angesehenen Stellung, 
die der Sprecher in dieser Welt einnahm, ja nur als Folie; oenn es 
geht dann weiter (v. 11f.): 

Sed subita ereptum tanto de culmine sorte 
Angusti requies me tenet ista loci; 
und schon vorher heißt es (v. 3f.): 
Hoc relegas carmen nostri miserabile casus, 
Ultima quem vitae contulit ora mihi. 

So läßt sich auch dieser Einwand entkráften. Allein in v. 11 
fällt doch sehr auf der Ausdruck subita sorte. Soll man aus dieser 
Wendung, die gleichfalls bei Alk. keine Entsprechung hat, ent- 
nehmen, daß Ang. durch einen plötzlichen Tod aus seinem 
reichen und glänzenden Dasein abberufen worden ist?  Be- 
richtet ist nichts darüber; eine gewisse Bestátigung kónnte darin 
liegen, daB er, wofern wir B XVIII richtig gedeutet haben, 
noch kurz vor seinem Tode im Besitz seiner dichterischen Schaf- 
fenskraft gewesen ist. Dann kónnte natürlich Angilbert nicht 
der Verfasser sein, sondern ein anderer müßte ihm, wohl unter 
dem unmittelbaren Eindruck seines Hingangs, diese Worte in 
den Mund gelegt haben. Wenn Angilbert sich in v. 28 selbst 


„Bernowini episcopi carmina" 255 


als den Dichter bezeichnet, so kónnte das einfach aus Alkuins 
Grabschrift übernommen sein; die Wendungen stimmen fast 
wörtlich überein. Ich wage es nicht zu entscheiden, ob der Aus- 
druck subita sorte wörtlich zu nehmen ist oder ob er nur den 
scharfen Einschnitt bezeichnen soll, den in allen Fállen der Tod 
in das Dasein macht. Mit der Móglichkeit, daB auch dieses Ge- 
dicht nicht von Ang. selbst herrührt, muß auf jeden Fall gerech- 
net werden, um so mehr, als auf sein Grab ja nicht diese, sondern 
eine ganz andere Inschrift gesetzt worden ist. 

Schade wäre es freilich, wenn man ihm das Gedicht ab- 
sprechen müBte; denn unter allen, die wir von ihm haben oder 
für die seine Verfasserschaft in Frage kommt, ist es zweifellos, 
trotz der starken Anlehnung an ein Vorbild, das wertvollste. 
Und so viel scheint sicher, daß es sich einer großen Wert- 
schätzung schon zu seiner Zeit erfreut hat. Die Mainzer Grab- 
schrift des Megingoz (PAC 4, 1038) hat die Wendung Regibus 
hic carus multis offenbar aus unserem Gedicht übernommen; in 
der des Bischofs Adventius von Metz (ebd. S. 1033) scheint die 
ausführliche Darstellung der glänzenden irdischen Stellung des 
Verstorbenen auf dasselbe Vorbild zurückzugehen; und auch die 
fast wörtliche Übereinstimmung des Schlußverses der Grab- 
schrift Erzbischof Landulphs von Mailand (PAC 4, 1010, s. oben) 
mit dem unseres Gedichtes könnte, so allgemein die Wendung 
auch gehalten ist, sehr wohl aus unmittelbarer Benutzung dieser 
Vorlage zu erklären sein. 

Fassen wir zusammen, so ergibt sich: Ausdrücklich . von 
anderer Seite ist nur B VIa als Eigentum Angilbert bezeugt. 
Mit großer Sicherheit dürfen wir ihm auch B VI—VIII. X zu- 
weisen, mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit B XI. 
XIII. XVIII. XIX. Sicher abzusprechen ist ihm B IX 3 (5)f., 
wahrscheinlich auch B XXI 1—4. 5—9. XXII 31—36. 37—40. 
41—44. XXIII—XXV. Bezüglich der übrigen: B I—V (+ Ia. 
IIa). IX If. XII. XIV—XVII. XX. XXII 1—30. XXVI, müssen 
wir es, einstweilen wenigstens, bei einem Non liquet bewenden 
lassen; doch gehóren auch diese Gedichte sámtlich in seinen 
Kreis. 

Anders steht es mit den übrigen Texten, die D. mit B I— 
XXVI unter dem Titel „Bernowini episcopi carmina‘‘ vereinigt 
hat. Sie heben sich schon äußerlich in der Hs. scharf von den 


256 Otto Schumann - 


vorhergehenden ab. Auf v. 8—15 von B X, die fol. 147" oben 
stehen, folgt zunächst ein EPHYTAPH YV M (eines Priesters 
Audax), das den Rest dieser Seite füllt (B X XVII). Geschrieben 
ist es mit anderer Tinte, durchweg in Kapitalen und in der Weise, 
daB nicht die Worte, sondern die VersfüBe voneinander getrennt 
sind. Auf fol. 148' oben steht B XXVIII. Der Rest dieser Seite 
ist leer. Auf fol. 148" und in der oberen Hälfte von fol. 149' 
folgen dann wieder drei Epitaphien, B XXIX—XXXI, ge 
schrieben von derselben Hand und Tinte und in derselben Weise 
wie B XXVII. Dann, mit anderer Tinte, wohl auch von anderer 
Hand, dazu in Minuskeln (auBer v. 1), mit Trennung der Vers- 
füge durch über die Zeile gesetzte Punkte, B XXXII, ebenfalls 
ein Epitaph. 

Das einzige dieser Gedichte, das deutliche Beziehungen zu 
der vorhergehenden Sammlung aus St. Ricquier aufweist, ist 
B XXVIII, das wir hier zunächst behandeln wollen. Es sieht 
in der Hs. so aus: 

VERSVS BERNOVVINI EPI ADCRVCEM 
CONDITOR :AETER-NAEQVEM -LAVDO VERSIBVS-ISTI C 
REXREQVI-EMBER-VVINIDA- PATER -PIVSREDEMPTOR 
VIRTVS-VIRTV-TVMVIC-TORVIC-TORIA- HIES V 
XPETVIVSTVSIV.DEXMISEREREMIHIIAMVERVSRE X 
OMNIPOTENS DNS MVNDI FORMATOR ETAVCTOR 
SISPIVS ETCLEMENS MIHI SIS SPES VNICA VITAE 
SVSCIPE HAEC MVNVS ACCIPE SVPPLEX ROGO' 

VERSVS INCALICAE ETPATENA' 

BERNVVI: NVSHVMI-.LISSVA. REDDIT. VOTATO-NANTTI 
HOCCOR: PVSHVMI- LIS PRAESTATVI:. TABEA TA 

Man erkennt schon an der Schreibung, daB es drei Texte 
sind: in dem mittleren sind keine Versfüße, sondern Wörter 
voneinander abgehoben, und die trennenden Punkte fehlen 
(die übrigens in B XXVII. XXIX —XX XI nirgends begegnen). 
Auch D. hat die 3 Texte richtig voneinander gesondert. 

In v. 1—4 hat D. folgendes geändert: 1: aeterne. — 2: Bern- 
wini da, pater atque red. — 4: miserere mei rer. Es darf aber 
schlechthin gar nichts geändert werden. Der Vierzeiler ist 
augenscheinlich gearbeitet nach dem Muster der echten Grab- 
schrift Angilberts oder einer der Bearbeitungen einerseits — 4 
Hexameter, in v. 2 wörtlicher Anklang —, nach dem der Akro- 


„Bernowini episcopi carmina" 257 


stichagedichte andererseits, Auf das Vorbild der Grabschrift 
oder einer Bearbeitung derselben scheint auch zurückzugehen 
die Regelung der Buchstabenzahl in v. 1 und 2. Beide haben 
je 88 Buchstaben. Sieht man sich das Schriftbild genauer an, 
80 erkennt man, daB sogar versucht ist, zwischen den einzelnen 
untereinanderstehenden VersfüBen Gleichheit der Buchstaben- 
zahl herzustellen (dadurch werden übrigens die Schreibungen 
AETERNAE und BERVVINI als ursprünglich gesichert). 
Erst gegen SchluB von v. 2 wird das aufgegeben, und in v. 3f. 
ist sogar auf die Gleichheit der Gesamtbuchstabenzahl verzichtet 
(in v. 4 läßt sich die Zahl von 38 Buchstaben zur Not herstellen, 
indem man die Schreibung X PE beibehält und MEI für MIHI 
einsetzt; aber v. 3 hat nur 33 Buchstaben, und ändern läßt 
sich nichts). Offenbar hatte der „Dichter“ sich vorgenommen, 
eins jener technischen Kunststücke, die seine Zeit so bewun- 
derte, nicht bloß nachzubilden, sondern zu übertrumpfen, mußte 
aber im Laufe der Arbeit erkennen, daB nicht nur das zweite, 
sondern auch das erste seine Kräfte überstieg. Ein echtes 
Dilettantenstückchen! 

Dilettantisch ist auch die Art, wie das Ganze aus mehr 
oder minder wörtlichen Entlehnungen zusammengeleimt ist. 
Die 1. Hälfte von v. 3 ist = der 1. Hälfte von B XII 3, die 
2.=der2. von B XI 3. B XI ist auch benutzt in v. 2: vgl. B XI 
9 rez pius atque redemptor; ferner in v. 4: vgl. B XI 5f. miserere 
me... tustus tu iudex. Für v. 2 ist ferner die Grabschrift oder 
eine der Bearbeitungen in B XXI herangezogen, wo v. 1 lautet 
Rez, requiem Angilberto da, pater atque pius rez. (Tr. hat dies 
richtig erkannt, aber falsch ist seine Behauptung, die Verse 
stimmten abgesehen von den Eigennamen genau überein; die 
anderen Entlehnungen in diesen Versen sind ihm wohl ent- 
gangen, jedenfalls führt er nichts dergleichen an, er áuBert nur 
die ganz richtige Vermutung „es könnten . .. diese Verse ein 
Pasticcio aus Angilbert sein“.) In v. 1 stammt die zweite Hälfte 
aus Aldhelm C. de virg. praef. v. 6 Cum sanctis requiem, quos 
laudo versibus istic. Der Eingang Conditor aeterne geht wohl 
zurück auf den Hymnusanfang Aeterne rerum conditor. — Über 
die Metrik von v. 2 und 4 s, unten. 

Im Gegensatz zu B XXVIIIa) und c) nennt BXXVIIIb) 
keinen Namen. Daß dieser Text dennoch ebenfalls jenem 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 17 


258 Otto Schumann 


Bernowin gehört, ergibt sich aus der Feststellung, daß auch 
diese Verse teils auf Aldhelm, teils auf Angilbert beruhen: 
b) 1 ist fast wörtlich = Aldh. C. de virg. praef. v. 11 Omnitenens 
(aber v. I. omnipotens /) dominus m. form. et auctor; b) 2 = BXIII 4; 
und auch das Ende von v. 3 klingt an den Schluß von B XIII an 
(v. 10 te rogo supplex). Marténe hat v. 3 so hergestellt: Suscipe 
hoc munus, te supplex accipe rogo; das hat D. übernommen. 
Noch viel weiter geht Tr.: Angtlbertus ait: „hoc munus tu accipe 
supplex." Er hat dann als Akrost. OSA, als Telestichon REX, 
nimmt in der Mitte aus dominus v. 1 und clemens v. 2 je ein N 
und aus ait das A heraus und gewinnt so OSANNA REX. Es 
Johnt sich nicht, das zu widerlegen; es liegt auf der Hand, daB 
Tr. hier, geleitet von dem Wunsch, möglichst viel angilbertisches 
Gut in diesen Versen nachzuweisen, die dem Textkritiker ge- 
zogenen Grenzen erheblich überschritten hat. Mir scheint, auch 
hier darf nichts geándert werden; der Vers ist ein Pentameter: 
Súscipe hdec, munùs dcctpe supplex rogó. 

In c) 2 ist HV MILIS natürlich falsch, es ist, wie schon D. 
vermutet hat, eine Dittographie des darüberstehenden Wortes. 
Es wird HOMINI dafür einzusetzen sein. c) 1 ist ein für die 
Karolingerzeit tadelloser Hexameter (daB h als Konsonant ge- 
wertet wird, begegnet ja sehr häufig); zum HS vgl. Walahfr. V, 
III 8 reddis dum vota Tonanti. V. 2 dagegen ist wieder ein 
Pentameter von derselben Art wie b)3; wie er zu lesen ist, 
zeigt die Hs. D. druckt vitam beatam; aber könnte nicht bei 
einem Dichter, der solche Verse baute, der vulgäre Abfall des 
auslautenden m ursprünglich sein? Ich würde vita beata stehen 
lassen. Tr.’s wieder viel zu weit gehenden Vorschlag zur Emen- 
dation dieses Verses übergehe ich. 

Tr. meinte, nur c) gehöre wirklich einem Bischof Bernowin 
an; a) und b) seien „doch schließlich wohl nur Überarbeitungen 
angilbertischer Texte“. An letzterem ist nur so viel richtig, daß 
für diese centoartigen Gedichte ganz besonders Angilbert ge- 
plündert worden ist. Als Ganzes genommen gehören aber auch 
a) und b) durchaus dem Bernowin (oder Bernwin oder Berwini, 
wie er hier im Text genannt wird). Schon Tr. wäre ganz sicher 
zu diesem Ergebnis gekommen, wenn er den Text selbst vor 
Augen gehabt hätte. Gerade dies Beispiel zeigt uns wieder 
einmal recht deutlich, wie viel besser wir doch daran sind als die 


„Bernowini episcopi carmina" 250 


Forscher noch vor einem halben Jahrhundert, weil wir mit 
bequem und billig zu beschaffenden Photographien arbeiten 
kónnen. 

D. und Tr. haben sich bemüht, so gut es ging, die 3 kleinen 
Gedichte so zu emendieren, daB sie sich den Regeln der klas- 
sischen Metrik fügen. Wie mir scheint, mit Unrecht. Die Verse 
a) 2. 4, b) 8 und c) 2 lassen diese Regeln großenteils außer acht. 
Aber ich glaube, man darf das nicht auf verderbte Überlieferung 
zurückführen. Ebensowenig lassen sich die Verstöße in diesen 
Versen einfach als ,,Stümperei'" des Dichters abtun. Vielmehr 
haben wir hier Zeilen, die unter bewußter weitgehender Ver- 
nachlässigung der Quantität wie auch des Wortakzents gebaut 
sind, sogen. „rhythmische“ Hexameter — ich gebrauche diesen 
Ausdruck, gegen den sich sehr ernsthafte Einwendungen er- 
heben lassen, mit allem Vorbehalt —, wie sie uns zuerst bei 
Commodian, dann häufig auf Inschriften begegnen, und eben- 
solche Pentameter. 

In dieser Meinung bestärkt mich der Umstand, daß sich auch 
in den anderen Gedichten dieser Gruppe dergleichen Verse 
finden: B XXIX und XXXII bestehen ganz oder fast ganz 
daraus. In B XXVII scheint wenigstens ein Dist. dieser Art 
eingesprengt. Ich gehe auch diese Gedichte der Reihe nach 
durch. Tr. hat sie anscheinend nur flüchtig geprüft; was er über 
sie sagt, ist jedenfalls fast durchweg nicht zu halten. 

B XXVII: Wegen der merkwürdigen Zweiteilung dieses 
Gedichts sowie von B XXX und XXXI in P vgl. oben zu B VIa. 
—3: PROTINVS INVENI AMPOR TVMQVESA LVTIS 
P; inventes ventam richtig Marténe D. Das Schriftbild zeigt 
handgreiflich, wie der Fehler zustandekam. Vermutlich ist schon 
die Vorlage in derselben Weise geschrieben gewesen. Wegen des 
Wortspiels vgl. zu B VIII 7. — 4: QVERIS P. —5: PV RVS- 
AE P. — 7: ira beizubehalten? — Auffällig fervor habendi; 
sonst belegt? —9: SEDCON STANSHV MI LISLA R GVSPA 
CIENS PIVSSE DVLVS P; pius almus Mart. D., pattensque 
piusque Mai, ersteres besser; eher noch an ursprüngliches aptus 
für sedulus zu denken. Es findet sich, worauf mich H. hinweist, 
in südgallischen Inschriften háufig im VersschluB, und zwar eben- 
falls in Kumulation mit anderen Eigenschaften, z. B. Carm. 
epigr. 1387, 9 — Diehl Inscr. christ. 1073 mansuetus patiens 

17* 


260 Otto Schumann 


mitis venerabilis aptus; vgl. auch den Thes. 1. 1. 8. v. aptus p. 334 
oben. Man wird dann annehmen müssen, daB das Wort aptus 
einem Schreiber in solchem Zusammenhang ungewohnt war 
oder unpassend erschien und deshalb von ihm durch sedulus 
ersetzt wurde. Auch an aequus könnte gedacht werden, doch 
wäre es weniger leicht zu erklären, weswegen man an diesem 
Wort sollte Anstoß genommen haben. — Schwierig ist das Dist. 
v. 15f.: 

QVEMAE TERNOSV OSDILI GENSCVS TODITA MORI 
ACMERI TISPARI TER REQVIISE QVET SEPTE NIS. 
Quem aeterno dominus diligens custodit amore schreibt D. Sollte 
nicht der Vers 80, wie er überliefert ist, beizubehalten sein? Der 
Sinn ist recht gut. Zu v. 16 (die Vermutungen D.'s und Tr.'s 
übergehe ich) bemerkt H.: „In dem Monstrum requüsequet sehe 
ich nichts als requiescit in bekannter vulgärer Schreibung. Massen- 
hafte Belege bei Diehl nr. 3091ff. für das Simplex, 3115 fl. für 
das Kompositum. Kaum ein Wort hat für die Ungebildeten so 
viel Schwierigkeiten gemacht. Man findet u.a. (re) guiiscit, 
quiscet, quiesquet, (re)quesquet; vgl. auch Corp. Gloss. lat. III 
68, 4 quisequente (sol). Das meritis ... septenis wird von dem 
ungeschickten Interpolator wohl nicht allgemein = multipk- 
cibus gedacht sein, sondern mag die tatsächliche Zahl der Bauten 
des Verstorbenen verewigen sollen.“ So gibt das Dist. einen ganz 
guten Sinn: „Diesen (den vicus, den er mit Gebäuden geziert 
hat) hütet er (Audax), mit ewiger Liebe die Seinen liebend, und 
er ruht zugleich aus auf Grund seiner siebenfachen Verdienste." 
Wir haben dann auch hier ein „rhythmisches“ Distichon. Daß 
es unter sonst korrekt gebauten Versen steht (kleine Ausnahmen 
in v. 17. 20, s. zu v. 20), mag daraus zu erklären sein, daß in dem 
Gedicht, wie das oft vorkommt, eine ältere Vorlage ,,adaptiert" 
worden ist, was Tr. ohne Not für die ganze Gruppe annahm. — 
18: VI TE PREMIA PERPETYV E P. — 20: NAMQVEPE 
TENSCAE LVM AETERNATE NENS P; N. p. c. regna 
beata tenet A. Mai; N. petit c. altaque regna tenet D.; beides geht 
natürlich viel zu weit. Es wird vor aeterna ein Verb. fin. zu 
ergänzen sein, etwa vivit oder gaudet. Die Vernachlässigung der 
Quantität in aeterna muB ebenso in Kauf genommen werden 
(dergleichen ist ja häufig) wie die in Series v. 17, wo Tr. ganz 
willkürlich annimmt, in der Vorlage habe Septenis gestanden. 


„Bernowini episcopi carmina" 261 


B XXIX ist das Epitaph eines Vornehmen namens Hebrarius, 
der nach der Unterschrift im Alter von 30 Jahren 7 Monaten 
starb. Tr. verweist darauf, daB die Wendung oblima queque 
v. 5 in B XXXII 4 wiederkehrt. Wie er daraufhin zu dem 
Schlusse kommt, in B XXIX ‚leuchte das Original auf eine edle 
Frau noch durch“, verstehe ich nicht; beide Male ist opttma 
quaeque deutlich Acc. plur., so dunkel sonst auch B XXIX 5 
ist. — Das Epitaph besteht ganz aus,, rhythmischen“ Hexametern. 
Die Quantität ist weitgehend vernachlässigt, dagegen ent- 
sprechen die Versakzente meist dem Wortton, am stärksten in 
v.7: QARTO NONASNOVEMBRIS CARVIT LVMINE 
VITE. Richtig überliefert scheinen v. 1, 2, 6, 7; dagegen sind 
offenbar schwer verderbt v. 3—5: 

TEGITVRHOC TVMVLVM ACERVA AETATI' 

INPVL SANOBILES HACMORTUUS AETATIINPVLSA: 
CVNCTA SIMILES HABVIT OBTIMAQVEQV E INLUSTER 
Daß das doppelte aetatt inpulsa nicht ursprünglich ist, liegt auf 
der Hand, ebenso daß acerva vulgäre Schreibung ist für acerba, 
tumulum für -o (so D.); wohl auch nobiles und similes für -ıs. Aber 
wie sonst zu bessern ist, sehe ich bis jetzt nicht. Vulgáre Formen 
(wie vtta beata B XXVIII c) 2 für vitam beatam und requiisequet 
B XXVII 16, s. oben) sind ferner in v. 1 breve vita (Quisquis 
magnorum dolet brepe decidere vita) und in v. 2 commune (1ngemat) 
causa, wo D. inkonsequenterweise (denn in v. 1 hat er breve vita 
stehen lassen) communem causam schreibt. Übrigens kónnte ja 
commune causa auch Abl. sein. (Ganz unnótig Tr.'s casum für 
causam.) — Wegen des HS lumine vite (so, nicht -ae P, s. oben) 
vgl.zu B XXV 7, ferner zu B XXXII. 

B XXX beginnt: 

HICCONSTANSALA CERCELE BRIPROBI TATERE FERTVS: 
CAELUMCORDEPE TENS MEMBRACA VITVMVLO 
CVINO MENPRIS CVMVENI ENSDE STERPEPE LAGRT: 
PERTITV LVSMORVM GLORIA CELSADE DIT 

Auf Grund von v.1 hat D. das Gedicht überschrieben EPI- 
TAPHIUM CONSTANTIS; aber Tr.’s Zweifel, daB der Ver- 
storbene Constans geheißen habe, sind sicher berechtigt. Wenn 
er freilich meint, es handle sich hier um das Epitaph eines Mannes 
mit griechischem Namen, so hat er sich irreführen lassen durch 
D.'s Emendation in v. 3 de stirpe Pelasgi. Pelagri wird vielmehr 


262 Otto Schumann 


entstellt sein aus Pelagi ſi oder Philagri (H.). Im übrigen ver- 
stehe ich v. 3 f. nicht, auch wenn ich mit D. titulos für -us einsetze. 
In v. 2 schreiben Wattenbach und D. locat tumulo; locarit humo 
überzeugend H. Der HS probitate refertus in v. 1 erinnert an den 
zuerst bei Lucrez (II 1164), in der Karolingerzeit wiederholt (z. 
B. Alc. III, XX XIV 69) begegnenden HS pietate repletus (-um). — 
Aus v. 5f. ergibt sich, daß der Verstorbene ein Richter war; 
seine Unbestechlichkeit wird gerühmt. — V. 7f. lauten: 


Quicquid opum sancto vivendi more locavit, 
Aut tribuit natis aut sibi post obitum. 


Der Sinn ist klar: der Verstorbene hat einen Teil seines Ver- 
mógens nach seinem Tode für sich verwendet, d. h. frommen 
Stiftungen vermacht. So faBt es auch Tr. Warum er aber be- 
hauptet, in der Vorlage habe tib: statt sibi gestanden, und davor 
sei ein Distichon mit dem Namen eines Heiligen unterdrückt 
worden, ist mir wieder ganz unverständlich. — V. 9f. lauten: 
ETLICET OMNEFRE TVMSE CLIVIA SCASA LVTIS: 
GESTO RVMMERI TISEX SVPER ESSEPRO BET 
exsuperasse richtig Mart. D. Aber in v. 9 ist nicht mit D. omne 
fretum, declivia cuncta sal. zu schreiben, sondern omne fr. secl: 
via sancta sal.; der Vers ist tadellos überliefert! fretum saecl: 
stammt aus Prud. Cath. 5, 109 (H.). — Schwer verderbt sind die 
folgenden Verse, 11—14. In P stehen diese 3 Zeilen: 


ETSESA LVTIS PROSPEX ITMENTE SANCTAVI VENDI 
CAUSASEM PERHABE RE SVAMCV I SIQVID | 
NOXAE CONDAM PV ERILI BVS AN NISCON TRAXITIAM 

[SENSVS 
(SVS übergeschrieben!) D. beginnt neue Zeilen mit Vivendi, 
Cw und Contrazit, er ändert causa in -am. Tr. schlägt für v, 11 
vor Et se salvato prospexit mente sagaci, als Ergänzung von v. 14 
etwa zam senio pepulit. H. legt dar, daß das Dist. v. 11f. doch 
wohl Nachsatz sein muß zu dem vorhergehenden Et licet usw. 
„In v.11 scheinen sowohl et als salutis durch v. 9 alteriert zu 
sein. V.11f. würen etwa so herzustellen: 


Esse satis prospexit sancta mente vivendi 

Causa -— =. — semper habere suam.“ 
Eher ist wohl noch zu erwägen Esse satis pr. s. m. — - Vivendi 
causa s. h. s.; vivendi wäre die einzige falsche Quantität in dem 


„Bernowini episcopi carmina" 263 


Gedicht. Dem Ursprünglichen wird eine derartige Herstellung 
näher kommen. Vor oder hinter causa wäre dann ein Fem. zu 
ergänzen, wozu suam Attribut sein würde. Aber welches? Der 
Gesamtsinn muß einen Gegensatz bilden zu dem Vorhergehenden 
wegen licet v. 9. Wer hilft weiter? — In v. 14 móchte ich, in 
Anlehnung an Tr., etwa ergänzen (Cut, si quid noxae) Contrazl, 
sensus iam (senior pepulit). — 15: precibus pretio: das im Mlat. 
sehr beliebte Wortspiel geht zurück auf Hor. Ep. 2, 2, 173 und 
Ov. Fast. II 806. — HS praemia Christi: Diehl Inscr. chr. 
1090, 7; 1957, 5. — 16: VENIE P. 


B XXXI:2: EVA LISTER RIS INVIDI OSEIA CES P; 
Heu qualis Bethmann, D. Aber es scheint vielmehr in Evalıs 
der sonst vermiBte Name des Verstorbenen zu stecken: Eulah 
verm. H.; -is ist terris angeglichen. Eulalius als Männername 
öfter bei Diehl Inscr. chr. Zu dem Namen paßt dann die An- 
spielung in v. 6 Tu pollens Lat: (so schon Mart. richtig für 
POL LIENSLA CI) lingua decoris eras (vgl. Carm. epigr. 1758 
Buech. Latiae pollens moderamine linguae). — 7: HS pietate 
magistra: Ven. Fort. 4, 1, 21; Diehl Inscr. chr. 990,11; Alc. X XI 7; 
Angilb. V, III 7 u. sonst; Ähnliches öfter (arte, bonitate, gravitate 
mag.), vgl. C. Caesar, Observ. ad aetatem titulorum latinorum 
christianorum deflniendam spectantes, 1896, S. 62 (zuerst Aen. 
XII 427 arte mag.). — 9: HS flore iuventae erklärt Tr. als über- 
nommen aus einem Epitaph auf den Bischof Pantagathus von 
Vienne; es ist der eine der Gründe, die er für seine Annahme bei- 
bringt, der Bernowin unserer Sammlung sei identisch mit Barnoin 
von Vienne. Aber die Wendung ist ganz gebráuchlich schon in der 
klass. Zeit, s. Thes. I. 1. 6, 934, 73ff. — 10: salibus cordis ver- 
teidigt Tr. mit Recht gegen D.'s Anzweiflung. — Zu v. 11 Te 
conlapsa domus, te mens perculsa requirit verweist H. auf Carm. 
epigr. 1382, 7 Buech. Te quaerunt omnes, te saecula nostra re- 
qurunt, auch auf Ven. Fort. 4, 9, 5 Qem plebs cuncta .. . requirit. 
— 14: QVODLE TVSPATRI AEQVODPIA GESTA DOCE- 
BUNT; docent richtig Mart., D.; letus] luctus Mart., D.; fletus 
H., inhaltlich gleichwertig, aber graphisch noch einfacher zu 
erklären. — Zu v. 16 ne doleare dole verweist H. auf Mart. 2, 
80, 2 ne moriare mori, Claud. Cons. Stil. I 341 ne timeare times. — 
17: PRES TITVS P. 


264 Otto Schumann 


BXXXII ist in P so geschrieben: 

QVANTVM IVREPOTEST ORNARIFEMINADONIS- 
Tantis est ditata dida iamualdebonis- 

Felix quidudum mansit cum uiro beato" ` 
Ardoinus nobilis optima quaequae gua 

Quicquid- uiuendi reliquid opes more locauit b 
Aut egenis tribuit. aut natis erogauit. 

Quidecies ter simul uixisse feliciter annos 

Bis quater pariter & mensibus undecim: 

Kalendas caruit ille lumine marcias uitae 

Ianu decimo migrauit arii dida kalendas 10 


In v. 2 setzt D. ditata est ein, in v. 8 quae, in v. 5 viventt, 
in v. 7 vixit. Alle diese Änderungen erscheinen unnötig: ést 
dilatá ist in diesen Pentametern nicht auffällig (s. unten); qut ist 
vulgärlat. für quae; auch vivendt ist zu halten: es ist mit opes zu 
verbinden. Das Dist. v. 5f. ist ganz deutlich B XXX 7f. (s. 
oben) nachgebildet ; offenbar hat der Nachahmer dort opum .... 
vivendi als zusammengehórig betrachtet und diesen Ausdruck 
hier (im Sinne von opes ad vivendum necessarias) eingesetzt. 
Endlich wird virisse vulgáre Schreibung sein für vizısset. „In 
den Carm. epigr. erscheint bei Altersangaben ófter der Conj. Perf., 
z. B. 2193, 5 (= Diehl Inscr. chr. 1515 A) bis undenos orbes 
nobenque duxerit mensibus aevum; 1885, 5 (= Diehl 3426) seza- 
ginta duos felix bene clausertt annos; 666, 3 (Diehl 78) complens 
ter denos quae vitam vixerit annos. Man hat überall den Ind. 
Plusqupf. vorgeschlagen, ohne Not. Den Ursprung der Syntax 
verraten Fälle wie 1444, 1 (= Diehl 3346) septenis dectes cum 
Eustacia vixerit annis; 1985, 4 cum menses seplem et denos ter 
vireris annos. Der Abfall des lautschwachen t ist genügend 
bezeugt; auch umgekehrte Schreibungen finden sich wie visus 
fuit reddidisset u.ä.‘ (H.) 

Die Form ist ganz klar: v. 1 ist ein korrekt gebauter Hexa- 
meter; man darf vermuten, daß er einfach anderswoher über- 
nommen ist. Im übrigen sind v. 1—8 „rhythmische“ Distichen, 
v. 9f. ebensolche Hexameter. Hexameter dieser Art gibt es ja 
Sehr viele; aber Pentameter, wie wir sie hier, in B XXVII 16 
und in B XXVIII b)3 und c) 2 haben, sind äußerst selten. 


„Bernowini episcopi carmina" 265 


Bisher fand ich sie anderwürts nur in einer spanischen Brücken- 
inschrift vom J. 668 (653?), Diehl Inscr. chr. nr. 777. Da be- 
gegnen Pentameter wie (2) lápsum ét senid rüptum pendebat 
opüs und (10) hóc magis miraculüm pätrare nón destitit. Unsere 
Texte sind für die Kenntnis dieser Hexameter und Pentameter 
um so wertvoller, als die Hs. uns unwiderleglich zeigt, wie sie 
gelesen wurden: ohne jegliche Rücksicht auf die Quantität einer- 
seits, auf den Wortakzent andererseits. Das letztere tritt be- 
sonders bei den Pentametern in Erscheinung. Denn bei den 
„rhythmischen“ Hexametern fallen wenigstens am Versschlusse 
fast durchweg Vers- und Wortton zusammen. Das ist ja auch, 
infolge der Akzentgesetze der lat. Sprache, bei den regelrecht 
quantitierenden Hexametern der Fall, außer wenn der Vers mit 
einem einsilbigen Wort schlieBt und diesem einsilbigen ein mehr- 
silbiges Wort vorangeht, so Aen. I 65 divom pater atque hominum 
rez. Rhythmische Hexameter dieser letzteren Art sind hóchst 
selten. Mir sind bis jetzt nur zwei Beispiele bekannt: das eine ist 
BXXVIIIa) 4... miserere mihi iam verus rez, das andere PAC 4, 
726 nr. CXLI 3 Cuntncpert florentissimus ac robuslissimus rez. 
Beim Pentameter ist umgekehrt infolge derselben Akzentgesetze 
der lat. Sprache Zusammenfall von Wort- und Versakzent nur 
móglich, wenn das letzte Wort einsilbig ist, was sich gar nicht 
durchführen ließ. Liegt hier die Ursache, weshalb „rhythmische“ 
Pentameter so selten sind? 

Nun zum Inhalt von B XXXII. Was Tr. darüber sagt, ist 
ganz unverstündlich. Er meint, es sei für das Grab einer Frau 
mit daktylischem Namen bestimmt gewesen, in seiner jetzigen 
Form aber einem 38jährigen Edlen Ardoin gewidmet. Wenn 
man abweichend von D. hinter beato v. 3 einen Punkt setzt, 
hinter sua v. 4 aber ein Komma, — daß das Distichon dadurch 
in der Mitte zerrissen und der Pentameter zu dem folgenden 
Dist. gezogen wird, ist natürlich mißlich, aber kaum zu ver- 
meiden und in Versen von dieser Mache durchaus annehmbar 
— 80 ist der Sinn ganz klar: es ist die Grabschrift eines adligen 
Ehepaars, das 38 Jahre und 11 Monate verheiratet gewesen ist. 
Die Frau, Dida, starb zuerst, am 23. Dezember, der Ehemann, 
Ardoin, am 1. März, wohl des folgenden Jahres. Seine Hinter- 
lassenschaft hat er nach dem Brauche teils seinen Kindern, teils 
den Armen vermacht. — 4: Wegen optima quaeque s. zu B XXIX 


266 Otto Schumann 


5. Auch die Wendung caruit lumine vitae v. 9 findet sich in 
B XXIX (in v. 7) wieder. — Wegen der Übereinstimmung von 
v. bf. mit B XXX 7 f. s. oben. Daß B XXIX, XXX, XXXII 
zusammengehóren, wohl an demselben Orte entstanden sind, 
sah schon Tr. — 7: HS feliciter annos (is) sehr häufig: Sedul. 
C. pasch. II 12; Aldhelm C. de virg. 793; Alc. I 499, 835 u. ö.; 
Angilb. PAC 4, 916 nr. 129; II 14; Waltharius 1450; u. sonst. 
Zu v. 10 vgl. das auch in P (fol. 140") überlieferte Epitaph Karls 
d. Gr., PAC 1, 408 nr. XIX 9 Febro- migravit quinto -arii ex orbe 
kalendas. Ist dies in B XXXII benutzt? Es scheint so: mit 
B XXXII 7 vgl. v. 7 des Karlepitaphs Qu: dectesque quater per 
ser feliciter annos (sceptra tenens). Daß dem Karlepitaph 
B XXXII zu Grunde läge, ist kaum anzunehmen. Dann ergibt 
sich 814 als terminus a quo für B XXXII. 

Kehren wir noch einmal zu den einzigen Versen dieser Gruppe 
zurück, die nähere Beziehungen zu den vorher betrachteten aus 
St.Ricquier aufweisen, zu B XXVIII. Denn sie bieten noch ein 
besonderes Interesse. Jene Gedichte Angilberts und seiner 
Schule sind gewiB inhaltlich fast durchweg unbedeutend, formal 
nicht fehlerfrei. Aber sie stehen im allgemeinen doch durchaus 
auf der Hóhe ihrer Zeit. Die kümmerlichen Centonen des Berno- 
win bilden zu ihnen einen scharfen Gegensatz. Aber für die 
Literaturgeschichte sind auch diese von nicht geringem Wert. 
Dieser Bernowin ist nicht unberührt von der großen literarischen 
Bewegung seiner Zeit. Er kennt den Aldhelm, einen ihrer Klas- 
siker; er ist, wie es scheint, im Besitz der Abschrift einer Samm- 
lung von Gedichten eines der berühmtesten Dichter der neuen Rich- 
tung und seiner Schule; und er versucht es, diese Vorbilder nach- 
zuahmen. Aber seine Versuche fallen sehr kümmerlich aus. Ganze 
Verse und Vershälften übernimmt er einfach, und sowie er sich 
irgend weiter von den Vorlagen entfernt, fällt er zurück in eine ältere 
Überlieferung und baut „rhythmische“ Hexameter und Penta- 
meter. Altes und Neues kreuzt sich wunderlich in seinen Versen. 

Und Bernowin war kein homo obscurus, sondern ein Kirchen- 
fürst, ein Bischof. Tr. meint sogar, ein Erzbischof. Einen der 
Beweise, die er für diese Behauptung anführt, haben wir oben 
zu B XXXI 9 als nicht stichhaltig erkannt. Der andere — daß 
P die Gedichte des Alcimus Avitus von Vienne in einer für 
ihre Klasse besonders echten Überlieferung wiedergibt — wiegt 


„Bernowini episcopi carmina" 267 


nicht viel schwerer. Auch spricht dagegen, daß die Hs. B. nur 
als Bischof, nicht als Erzbischof bezeichnet. Die französischen 
Bischofslisten des 9. und 10. Jh.s verzeichnen eine ganze Reihe 
von Bischöfen dieses Namens: B. von Clermont-Ferrand, um 
811; B. v. Laon, 829; B. von Besançon, t 829; B. von Chartres, 
829—836; B. von Viviers 851—874; B. von Vienne; B. von Senlis 
937; B. von Verdun 925—939. Nach Tr. müßten die Träger 
dieses Namens aus der ersten Hälfte des 9. und die aus dem 
10. Jh. auBer Betracht bleiben, die ersteren, weil man die Um- 
arbeitung der Gedichte B VIa ff. nicht allzu nahe an Angilberts 
Zeit heranrücken dürfe (,, man konnte Poesien, die man in dieser 
Weise für eigene Zwecke gebrauchen wollte, doch nur aus der 
Rumpelkammer holen“), die anderen, weil er die Hs. im Alter 
nicht so weit herabrücken móchte. Beide Gründe erscheinen 
mir nicht durchschlagend. Wie wenig man sich im MA scheute, 
Gedichte schon ganz kurz nach ihrer Entstehung für eigene 
Zwecke umzumodeln, dafür bietet Str. 27 der berühmten Satire 
Propter Sion non tacebo, Carm. Bur. nr. 41, ein höchst lehrreiches 
Beispiel (s. meinen Komm. zu dieser Strophe). Und Hand- 
schriften lassen sich rein nach dem Schriftcharakter doch in der 
Regel nur sehr ungefáhr datieren; so auch die unsrige. Es wird 
also, einstweilen wenigstens, dahingestellt bleiben müssen, wel- 
cher von den aufgeführten franzósischen Bischófen, ja ob über- 
haupt jemand von ihnen in Frage kommt. Man kónnte auch 
an einen Italiener denken. Gerade die Langobarden liebten ja 
jene ,rhythmischen" Hexameter besonders. Die italienischen 
Bischofslisten aus jener Zeit weisen zwar den Namen nicht auf; 
aber das beweist nichts, denn sie sind überaus lückenhaft. 
Auch die Listen der anderen Länder (Spanien, Deutschland usw.) 
nennen den Namen nicht. 

So viel ist sicher, daß der Verfasser jener Gedichtchen dem 
hohen Klerus des frünkischen Reiches angehórte. Und seine 
Verse zeigen uns, daB auch in diesen Kreisen die neue Bewegung 
sich keineswegs sofort allenthalben durchgesetzt hat. Wohl ist 
sie deutlich im Vordringen; aber noch behauptet sich neben 
diesem Klassizismus eine ältere, mehrere Jahrhunderte lang 
gepflegte, mehr volksmäßige Tradition. Und so liefern uns denn 
diese wenigen und an sich wertlosen Verse doch einen lehrreichen 
Beitrag zur Geistesgeschichte der karolingischen Zeit. 


268 


Drei Beiträge zur Geschichte der deutschen 
Gefangenschaft des Königs Richard Löwenherz. 


Von 
Albert Schreiber. 


I. Die Vorgeschichte des Bannerstreites von Akkon. 


Die Ursachen des bekannten Bannerstreites zwischen Richard 
Löwenherz und Leopold von Österreich sind noch nicht 
völlig aufgeklärt. Wenn Richard auch so jähzornig war, daß 
er von seinem Zeitgenossen Alanus ab insulis mit Ajax verglichen 
werden konnte, wenn er weiter aus Eifersucht und Hochmut 
die gepriesene Tapferkeit der deutschen Kreuzfahrer anzu- 
zweifeln und zu bespötteln pflegte (ann. Colon. max. usw.), 
wenn er endlich in Palästina gerade mit Leopold schon vorher 
andere Streitigkeiten gehabt haben sollte, so reicht dies alles 
doch noch nicht hin, einen derartig maßlosen Wutausbruch 
zu rechtfertigen, wie er uns aus Akkon berichtet wird!. 

Das haben denn auch schon andere empfunden. Von Kralik 
z. B. (Österreichische Geschichte, Wien 1914, XVI u. S. 636, 
40, 31), sucht die Verunglimpfung des österreichischen Banners 
auf eine staatsrechtliche Streitfrage grundsätzlicher Art zurück- 
zuführen. Das Herzogtum Österreich war bekanntlich bei seiner 
Begründung i. J. 1156 mit großen Vergünstigungen begabt 
und zu einer selbständigen, dem Reichsverbande nur noch 
locker eingegliederten Erbmonarchie erhoben worden. Leopold 
habe nun offenbar — so meint von Kralik — für seinen verhältnis- 
mäßig jungen Staat die politische Gleichberechtigung mit 
England und den übrigen christlichen Reichen durchsetzen 
wollen und daher im Orient vor dem ganzen fürstlichen Areopag 


! Cartellieri, Phil. Aug., II. Bd., 224, Anm. 6: Das Zusammentreffen 
englischer, französischer, deutscher und christlich-morgenländischer Quellen spreche 
für die Richtigkeit ihrer Mitteilung. 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 269 


des christlichen Europas eine weltgeschichtlich bedeutsame 
Kundgebung des österreichischen Selbstbewußtseins beabsich- 
tigt, als er sein Banner neben dem des Kaiserreiches, Englands 
und Frankreichs aufziehen ließ. Richard habe diese Heraus- 
forderung als solche empfunden und ihr sofort deutlich und be- 
stimmt die Anschauung entgegengesetzt, daß Österreich nur 
ein Vasallenstaat sei. Von Kraliks Meinung hat viel für sich, 
läßt aber noch nicht alle Wurzeln erkennen, aus denen das 
unheilvolle Zerwürfnis erwachsen ist. Durch einige zeitlich 
zurückliegende, familienpolitische Ereignisse dürfte sich jenes 
Übermaß persönlichen Grolles, oder, wie es in Hugos Cont. 
Weingart. M. G. SS. XXI, 479 genannt wird, jenes „latens 
odium" angesammelt haben, das bei dem Flaggenstreite und 
später bei Richards Gefangennahme so grell zutage trat. 

Vor allem ist stets das Verhältnis zu beachten, in dem die 
beiden Beteiligten zu Heinrich dem Lówen standen. Dieser 
hatte am 1. Februar 1168 Richards Schwester Mathilde heim- 
geführt, die 1156 geboren, also nur ein Jahr älter als Richard 
war. Welch lebhaften Anteil seitdem die Glieder des Hauses 
Plantagenet an den wechselvollen Schicksalen des Welfen- 
herzogs genommen haben, ist hinreichend bekannt. Am englisch- 
normannischen Hofe fand Heinrich als Verbannter die herz- 
lichste Aufnahme, das erste Mal vom 25. Juli 1182 bis zum Herbst 
1185, das zweite Mal von Ostern bis Michaelis 1189. Namentlich 
Richard fühlte sich seinem Schwager, seiner Schwester und 
ihren Kindern so eng verbunden, daß er ihre Angelegenheiten 
als die seinigen zu betrachten pflegte. Die älteste zweiteheliche 
Tochter Heinrichs des Lówen, die 1172 geborene Mathilde, 
vermáhlte Richard im Sommer 1189 mit dem Grafen Galfried 
von Perche, dem angesehenen SpróBling eines altberühmten 
Geschlechts. Seinen Liebling Otto aber, den um 1180 geborenen 
dritten Sohn des Herzogspaares, überhäufte er mit Wohltaten 
und Gunstbezeigungen. So lieB er es sich z. B. nicht nehmen, 
ihn persónlich zum Ritter zu schlagen. Und als seine Absicht, 
ihn mit der reichen Grafschaft York zu begaben, auf unvorher- 
gesehene Widerstände stieß, machte er ihn zum Grafen von 
Poitou und Herzog von Aquitanien, also zu seinem eigenen 
Nachfolger in diesen seinem Herzen besonders nahestehenden 
Landschaften. Daß 1198 der noch sehr jugendliche Otto, 


270 | Albert Schreiber 


obwohl er doch gar kein deutscher Fürst war, als Gegenkónig 
gegen Philipp aufgestellt wurde, verdankte er hauptsächlich 
dem Einflusse Richards, der seit dem endgültigen Sturze Hein- 
richs des Lówen die einfluBreichste Persónlichkeit der ganzen 
Welfenpartei geworden war. 

Wie grundverschieden hiervon waren die Beziehungen 
zwischen Leopold von Österreich und Heinrich dem Löwen! 
Gertrud, die Mutter Heinrichs, hatte 1139 ihrem sterbenden 
Gatten, dem geächteten Heinrich dem Stolzen, gelobt, die An- 
sprüche ihres Sóhnchens auf die Herzogtümer Bayern und 
Sachsen kräftig zu vertreten. Aber schon im Jahre 1142, als 
sie dem Markgrafen Heinrich Jasomirgott von Österreich ihre 
Hand reichte, brach sie ihr Versprechen. Denn sie bewog 
ihren erst 13jährigen Sohn zum Verzicht auf Bayern und brachte 
dieses Herzogtum ihrem zweiten Gatten zu. Heinrich der Löwe 
wurde durch die Neuvermählung seiner Mutter der Stiefsohn Hein- 
richs Jasomirgott und der Stiefbruder Leopolds von Österreich. 

Die Hoffnungen, die die deutschen Versöhnungspolitiker, 
namentlich auch König Konrad III., an diese Annäherung des 
welfischen und babenbergischen Hauses geknüpft hatten, 
sollten sich aber nicht erfüllen. Denn Gertrud starb bereits 1143. 
Und so blieb denn auf welfischer Seite nur die bittere Empfindung 
zurück, daß die Heiratslust der erst 26jährigen Witwe von der 
Gegenseite geschickt ausgenützt worden sei. Neue Verwick- 
lungen folgten. Die Rückgabe des verkleinerten Bayerns an 
Heinrich den Löwen (1156) bedeutete nur einen äußerlichen 
unter dem Drucke der Verhältnisse abgeschlossenen Frieden 
und vermochte nicht die feindselige Stimmung und das MiB- 
trauen hinwegzuräumen, die sich nach und nach der Haupt- 
beteiligten bemächtigt hatten. 

Leopold, der seinem Vater 1177 auf dem österreichischen 
Herzogsthrone gefolgt war, schloß sich um so enger an die Staufer 
an, je mehr sein Stiefbruder Heinrich sich von ihnen ab- 
wendete. Aus welchem Grunde, das sollte bald offenbar werden. 
Der unvermählte und unheilbar kranke Herzog Ottokar von 
Steiermark, der Letzte aus dem Hause der Traungauer, hatte 
nach langen, schon im Jahre 1184 beginnenden Verhandlungen 
mit kaiserlichem Vorwissen dem Herzog Leopold, dem Bruder 
seiner verstorbenen Braut, am 17. August 1186 seine reichen 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 271 


steirischen Allode durch den bekannten Vertrag vom St. Ge- 
orgenberge vermacht. Welcher Unwille hierdurch bei den 
unberücksichtigten Seitenverwandten Ottokars erregt worden 
ist, habe ich anderwärts bereits im einzelnen gezeigt!. Von 
einigen wissen wir es, daß sie wegen ihrer Erbansprüche ab- 
gefunden werden mußten. Und Ansberts Bemerkung, Leopold 
habe das Erbe Ottokars nur „post multos labores' in Besitz 
nehmen können, läßt noch weitere Quertreibereien der ent- 
täuschten Verwandtschaft ahnen. 

Nun war aber auch Heinrich der Löwe mit Ottokar bluts- 
verwandt, und zwar nach der im Lehnrecht geltenden römisch- 
rechtlichen Zählung sogar um zwei Grade näher, als Leopold 
(5 gegen 7). 

Allerdings gewährte das strenge Reichslehenrecht in unserem 
Falle weder Leopold noch Heinrich einen Erbanspruch auf das 
Herzogtum. Aber die Kaiser hatten doch zuweilen nicht nur 
männliche, sondern auch weibliche Seitenverwandte und deren 
Abkömmlinge in Reichslehen succedieren lassen. Und was 
die Allode anlangte, so enthielt das steirische Landesrecht die 
durch den Vertrag vom St. Georgenberge ausdrücklich aufrecht- 
erhaltene Bestimmung: „Si Stirensis intestatus obierit, jure 
succedat heredis qui proximus fuerit sanguinis 2 
Unter solchen Umständen mußte nach dem Empfinden der 
Zeitgenossen bei der Wiederverleihung des Herzogtumes der 
nähere Verwandtschaftsgrad zugunsten Heinrichs und zu- 
ungunsten Leopolds schwer in die Waagschale fallen. Weit 
mehr noch galt dies bei der Vererbung des sehr reichen traun- 
gauischen Allodialbesitzes, ohne den die steirische Herzogs- 
würde nur einer tauben Nuß glich?. Wie in Fürstenkreisen die 
welfischen Ansprüche gewertet wurden, beweist beispielsweise 
die auffallende Tatsache, daB der Kónig Bela III. von Ungarn 
1185, während Heinrich noch als Verbannter am englischen 

3 Neue Bausteine zu einer Lebensgeschichte Wolframs von Eschenbach, 
Deutsche Forschungen, Heft 7, Frankfurt a. M., 1922, S. 93ff. — Vgl. auch Max 
Vancsa, Gesch. Nieder- und Oberósterreichs, Bd. VI, 1 der Deutschen Landes- 
geschichten. Gotha 1905, 304ff; 365fl. 

3 Vancsa, a. a. O. 368: „Bei dem ausgedehnten Grundbesitz des steierischen 
Herzogs im Lande und seinen vielen Ministerialen und Untertanen wäre es übrigens 


auch schwer möglich gewesen, einen anderen als Herzog durchzusetzen, als den 
Erben dieses Besitzes.“ 


Leopold IL der Schöne Ottokar III. Welt I. 


Mkgf. v. Österreich } 1096 Mkgf. v. Steier f 1078 Hzg. v. Bayern } 1101 
——— óc puo tnum 
Leopold HT. Elisabeth * Ottokar IV. Heinrich der Schwarze 
der Heilige Mkgf. v. Steier } 1122 Hzg. v. Bayern t 1126 
Mkgf. v. Österreich 
+ 1137 
En — S ———2ꝑ᷑-kʒ1w.•.ñ3———— 
Heinrich II. Leopold I. * Sophia Heinrich 
Jasomirgott Mkgf. v. Steier der Stolze 
3 Hzg. v. Österreich + 1129 Hzg. v. Bayern und 
t 1177 Sachsen T 1139 
poa — ———— —— 
E 5 Ottokar V. Heinrieh der Löwe 
v. Österreich Mkgf. v. Steier + 119 
pud N + 1164 
+ 119 | 
Ottokar VI. 


seit 1180 Hzg. v. Steier 
f als letzter Traungauer 1192 


272 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 273 


Hofe weilte, um die Hand seiner Tochter Mathilde anhalten 
ließ. Heinrichs Macht und Ansehen hatten doch aber seit 1180, 
d. h. seit der Aberkennung seiner Reichsämter und Reichslehen, 
ganz beträchtlich gelitten. Seine Zukunft war sogar völlig 
ungewiß. Auch hatte Bela die erst 13jährige Mathilde über- 
haupt noch nicht gesehen. Er muß daher für seine Werbung 
einen besonderen Grund gehabt haben. Offenbar sah er in 
Heinrich den vermutlichen Erben der an Ungarn angrenzenden 
Steiermark und erhoffte von einer Verbindung mit dem Welfen- 
hause einen Gebietszuwachs für sein Königreich. War doch, 
wie er behauptete, das östliche Steierland zwischen Mur und 
Raab den Ungarn ehedem widerechtlich entrissen worden. 
Die ,,gravis dissensio de disterminio terrae suae'' (Ansbert), die 
zwischen Bela und seinem Schwager Leopold nach dem Be- 
kanntwerden des Vertrags vom St. Georgenberge entstand, 
ehe noch der Letztere endgültig in Steiermark succediert war, 
spricht für die Ernstlichkeit und Hartnäckigkeit der unga- 
rischen Ansprüche. 

Der Vertrag vom St. Georgenberge war nicht nur unter 
freiem Himmel im Beisein vieler österreichischer, bayrischer 
und steirischer Edelleute abgeschlossen, sondern auch durch 
eigene Ausschreiben feierlich verkündigt worden. (Luschin, die 
steirischen Landhandfesten, in den Beitrr. zur Kunde steierm. 
G.-Qu. 9. Jahrg., 1872, S. 130.) Wie ein Lauffeuer durcheilte 
die Kunde davon das ganze Reich. Der Welfenpartei brachte 
sie eine neue, bittere Enttäuschung. Lag doch die Auffassung 
nur allzunahe, daß Heinrich der Löwe zum zweiten Male durch 
das geschickte Ränkespiel eines Babenbergers empfindlich ge- 
schädigt worden sei. Die Aussicht auf einen Wiederaufstieg 
seines Hauses rückte für den Gedemütigten in immer weitere 
Ferne“. Daß der leicht erregbare Richard an diesem neuen 


* Über Sophia, die Vatersschw. Heinrichs des Löwen, und ihre Heirat mit 
Mkgr. Leopold I. von Steiermark vgl. Annalista Saxo in MG. SS VI, 744, Zeile 
11ff; Leibn. SS Brunsv. III, 662; Orig. Guelf. II, Lib. VI, 393, $ 60 u. 394, $ 61; 
Cohn-Voigtel, Stammtaf. 27 u. Berichtigung dazu; Krones, Gesch. Üsterreichs, 
Stammtafel der Traungauer im Anhang zu Bd. II; Krüger, Ursprung des Welfen- 
hauses, Wolfenbüttel, 1899, Taf. XIII; Muchar, Gesch. der Steiermark, Stamm- 
tafel im Anhang zu Bd. II; Anthony v. Siegenfeld, Landeswappen der Steier- 
mark, Tafel zu S. 136ff. — Die Benachteiligung der Welfen durch den Vertrag vom 
St. Georgenberge ist, soviel ich sehe, seither ganz unbeachtet geblieben. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 18 


274 Albert Schreiber 


Mißgeschick seines Schwagers den lebhaftesten Anteil ge- 
nommen hat, ist ohne weiteres klar. Als er am 3. Februar 1190 
vor seiner Abfahrt nach Sizilien mit seinem Neffen Heinrich 
dem Langen von Braunschweig zu La Réolle im südlichen 
Frankreich noch einmal zusammenkam, um die schwierige 
Lage der Welfenpartei zu beraten, da wurde wohl sicherlich 
auch Leopolds und des von ihm listigerweise geschlossenen 
Erbvertrages in wenig schmeichelhafter Weise gedacht. Jeden- 
falls ist nach allem Gesagten die außergewöhnliche Gereiztheit 
verständlich, mit der Richard die deutschen Mitkämpfer, und 
besonders den Herzog Leopold, auf seinem Kreuzzuge be- 
handelt hat. 

Wenn er das österreichische Banner nicht nur als das eines 
Welfenfeindes, sondern auch als das eines Erbschleichers ansah, 
so erklärt sich ohne weiteres, warum er es neben der stolzen 
englischen Königsstandarte nicht dulden wollte, sondern 
schimpflich herabreißen ließ, 


II. Richards Flucht von der Adria bis Wien. 


Die abenteuerliche Rückfahrt Richards aus Palästina und 
seine Gefangennahme in Wien haben die Phantasie der Zeit- 
genossen mächtig angeregt. In unseren Geschichtsquellen tritt 
das oft derartig stark zutage, daß Wahrheit und Dichtung nur 
sehr schwer auseinanderzuhalten sind. Auch Widersprüche und 
Unklarheiten ergeben sich zuweilen aus der poetisch-subjektiven 
Färbung der Berichte, Philippson, Heinr. d. Löwe, 2. Aufl., 639, 
hält nur zwei Darstellungen für durchweg glaubhaft: erstens die 
kurze Nachricht, die Kaiser Heinrich VI. dem König von Frank- 
reich sandte, und zweitens die ausführlichere Schilderung 
Radulfs v. Coggeshal. Außerdem möchte ich noch den mit den 
österreichischen Verhältnissen wohlvertrauten Ansbert, Alberi- 
cus Triumfontium und Otto von St. Blasien als brauchbare 
Nebenquellen betrachten. Fast alle übrigen Chronisten schreiben 
entweder von den Obengenannten ab, oder lassen mehr oder 
weniger ihrer Phantasie die Zügel schießen, 

Von den beiden Hauptquellen verdient Coggeshals Dar- 
Stellung den Vorzug. Sie beruht auf den Mitteilungen eines 
namhaft gemachten Begleiters des Königs, nämlich seines 
Kaplanes Anselm, der später zum Bischof von Durham ernannt 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 275 


worden ist und über Richards Erlebnisse selber ein leider nicht 
erhaltenes Werk verfaßt hat (Vgl. Liebermanns Vorr. in M. G. 
SS. 27, 81 u. 330). Soweit wir die von Coggeshal überlieferten 
Einzelheiten nachprüfen können, erweisen sie sich als zuver- 
lässig (vgl. u. 111 Anm. 7). Da Coggeshal auch sonst für einen 
der besten englischen Chronisten gilt, darf man wohl in unserem 
Falle unbedenklich auf die Richtigkeit seiner ganzen Erzählung 
schließen. Der Kaiserbrief dagegen ist zwischen dem 21. und 
28. Dezember 1192, also kurz nach der Gefangennahme Richards, 
auf dem Wege von Eger nach Regensburg in dem kleinen Flecken 
Reinhausen bei Stadtamhof ziemlich eilig niedergeschrieben 
worden, ehe noch Heinrich VI. mit Richard selbst zusammen- 
getroffen war. Er gibt also bloB die zu allererst eingelaufenen 
Nachrichten wieder, die erfahrungsgemäß nicht immer die zu- 
verlássigsten zu sein pflegen. Behandelt doch eine solche Eil- 
botschaft oftmals nicht nur die hauptsáchlichsten Ereignisse, 
sondern daneben auch bloße Gerüchte unterschiedslos als Tat- 
sachen (ähnlich Winkelmann, Phil. v, Schwaben, Jahrbb. d. 
deutsch. Gesch. I, 536 in seiner Kritik der zeitgenóssischen 
Berichte über Philipps Ermordung). 

Über den ersten Teil der verhängnisvollen Fahrt herrscht 
in den Quellen vóllige Klarheit (vgl. Cartellieri, a. a. O. III, 27ff). 
Richard verläßt am 8./9. Oktober 1192 mit seiner Gattin Beren- 
garia und seiner Schwester Johanna von Sizilien Akkon. Be- 
unruhigende Nachrichten aus der Heimat treiben ihn zur Eile 
an. Aber heftige Herbststürme werfen sich seiner Flotte ent- 
gegen, so daB er erst nach großen Verlusten an Schiffen und 
Mannschaft um die Mitte des Novembers im westlichen Mittel- 
meere eintrifft. Nur noch etwa drei Segeltage ist er von Marseille 
entfernt, als ihn allerlei Nachrichten über eine Verschwörung 
seiner Feinde erreichen. Insbesondere der Kaiser, der König von 
Frankreich und der Graf Raimund von Toulouse haben, wie man 
ihm meldet, ein richtiges Kesseltreiben gegen ihn eingeleitet. 
Da seine zusammengeschmolzenen und kampfesmüden Truppen 
ebensowenig, wie seine schwerbeschädigten Schiffe den Angriffen 
einer solchen Übermacht gewachsen sind, entschließt sich 
Richard, die überall auf ihn lauernden Späher und Häscher zu 
täuschen. Seinen Kurs oftmals ändernd, fährt er ‚non regia via, 
sed cancrizando’ (Cont. Cremifanensis) zunächst ein beträcht- 

x 18* 


276 Albert Schreiber 


liches Stück wieder ostwärts zurück, sodann nordwärts in das 
ionische und adriatische Meer. Um seine Verfolger auf eine 
falsche Fährte zu locken, trennt er sich — nach Ansbert in Pola, 
nach Coggeshal in Corfu — von seiner Gattin, seiner Schwester 
und seinem Hofstaat. Das bis dahin von ihm benutzte Schiff 
schickt er mit dem Rest seiner Flotte nach Brundusium, wo es 
von englischen Pilgern gesehen wird; er selbst setzt seine 
Flucht mit etwa 20 Begleitern fort. Auch wechselt er vor- 
sichtshalber seine Kleider und läßt sich Bart und Haupthaar 
lang wachsen. 

Über den zweiten Teil der Flucht gehen die Nachrichten 
öfters auseinander. Toeche, Heinrich VI., 560ff hat sie in der 
Hauptsache zusammengestellt. Nach dem Kaiserbriefe wird das 
vom Sturmwind beschädigte Schiff Richards ‚versus partes 
Istriae‘‘ getrieben, wo es an einem Orte „inter Aquileiam et 
Venetias‘ vollends zerbricht. Ansbert erwähnt überhaupt keinen 
Schiffbruch, sondern nur eine, durch die Heftigkeit der Stürme 
erzwungene Landung in Pola. Von dort aus läßt er Richard 
sogleich den Landweg durch Friaul nach Österreich einschlagen. 
Coggeshal endlich erzählt, Richard sei von Corfu aus auf gemie- 
teten Seeräuberschiffen „in partes Sclavoniae“, und zwar bis 
Zara, gelangt. Von dort aus habe er sogleich einen Boten in eine 
nahe Burg an den „dominus provinciae illius“ geschickt und ihn 
unter Übersendung eines kóstlichen Rubins um freies Geleit 
ersucht®. Der Burgherr habe aber das Geschenk abgelehnt und 
dabei dem Boten bedeutet, daB es seiner Überzeugung nach von 
Richard komme. Nur freien Abzug, nicht aber sicheres Geleit 
könne er diesem zugestehen. Als dem König das gemeldet 
worden, sei er „de villa praedicta“, also von Zara aus, „com- 
paratis equis' mitten in der Nacht aufgebrochen und lüngere 
Zeit (diutius) unbehelligt von dannen geritten. Der dominus 
terrae aber habe seinen Bruder, durch dessen Gebiet die weitere 
Reise der Flüchtlinge ging, von der Sachlage verstándigt, damit 
dieser, wenn er wolle, Richard fangen kónne. Sofort habe der 
denn auch einen Fahndungsbefehl erlassen und einen seiner 


5 J. J. 1197—1198 wendete sich der aus Palästina heimkehrende Bischof Gardolf 
von Halberstadt „ad partes Histriae advectus um gastliche Aufnahme und sicheres 
Geleit an Meinhard von Górz. Seiner Bitte wurde bereitwilligst entsprochen. Vgl. 
Gesta episcoporum Halberstad. In M. G. SS. 23, 112. 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 277 


Leute, Roger von Argentan®, mit der Aufspürung und Fest- 
nahme Richards beauftragt. Als Normanne habe Roger aber 
seinen angestammten Herzog nicht verraten mögen, sondern 
ihm sogar ein ausgezeichnetes Pferd verschafft und so zu rascherer 
Flucht verholfen. 

Die beiden Brüder, von denen hier die Rede ist, waren 
Engelbert III. und Meinhard II., Grafen von Görz und Pfalz- 
grafen von Kärnten, deren Familie durch eine günstige Heirat 
bedeutende Besitzungen auf der Halbinsel Istrien erworben hatte. 
Auch auBerhalb ihrer eigentlichen Grafschaft hatten sie als 
Schutzvögte des Hochstifts Aquileja auf dem Gebiete der Landes- 
verteidigung und Rechtspflege mancherlei wichtige Befugnisse, 
durch die sie zu regelmáDigen Rundreisen in Istrien und zu 
wiederkehrenden Besuchen der zahlreichen Burgen des Patri- 
archates genótigt wurden (v. Czórnig, Górz und Gradisca, Wien 
1878, S. 397, 416, 503ff, 613). Die südlichsten dieser castella, wie 
z. B. Albona, Fianona, Pola, Rovigno usw. lagen in der-Luftlinie 
nur etwa 80—90 km von Zara entfernt, so daß Richard -von 
diesem seinem Landungsplatze aus sehr wohl einen Boten zu 
Schiffe an Engelbert gesendet haben kann, wie Coggeshal be- 
richtet. Daß wirklich Zara und nicht, wie Wilken und Toeche 
annehmen, Górz (Goritia) in Frage kommt, bestätigen außer 
Coggeshal (,applicuerunt in partes Sclavoniae in quandam 
villam nomine Gazaram‘‘) noch Roger von Hoveden (,,Gazere 
apud Raguse‘‘) und der Anon. Laudunensis (,revertens per 
Dalmatiam Ragusiensem‘‘)”. 

Auf welchem Wege gelangte nun aber Richard selber von 
Zara aus nach Górz? Da nichts davon gesagt wird, daB er noch 
einmal zu Schiffe gegangen sei, vielmehr ausdrücklich Pferde als 


* Argentan im Département Orne, Normandie, wo König Heinrich II. und die 
aus Deutschland verbannte Familie Heinrichs des Lówen zeitweilig Hof hielten. 
Dort wurde um 1182 Heinrichs Sohn Otto, der spátere deutsche Kaiser, geboren. 

? Coggeshals Zuverlässigkeit offenbart sich auch in Kleinigkeiten und Neben- 
dingen. Er erzählt z. B., der zweite dominus terrae, dessen Gebiet die Flüchtlinge 
berührten, d. h. also Meinhard II. v. Görz, habe seinem Vasallen Roger v. Argentan 
versprochen: „sese ei medietatem urbis daturum, si Regem intercipere posset." 
Nun gehörte aber tatsächlich damals nur die Hälfte von Górz zum gräflichen Be- 
sitze, während die andere Hälfte kraft Schenkung Kaiser Ottos III. seit 1001 den 
Patriarchen von Aquileja zustand. Erst 1202 wurde den Grafen das ganze Schloß 
und Gebiet von Görz überlassen (v. Czórnig a. a. O., 505 f). 


278 Albert Schreiber 


seine Transportmittel erwähnt werden, bleibt nur die Annahme 
übrig, daß er zunächst östlich durch das dalmatinisch-ungarische 
Hinterland Zaras, sodann nördlich an der kroatischen Küste 
entlang bis nach Istrien, endlich aber durch diese Halbinsel 
hindurch nach dem Gebiete von Aquileja und der Grafschaft 
Görz gezogen ist. Das war allerdings ein beträchtlicher Umweg. 
Doch die Reise von Zara nach Görz dauerte ja auch ,,diutius"', 
was völlig zu den sonstigen Zeitangaben der Quellen stimmt. 
Mitte November 1192 trifft Richard in Corfu ein, erst einige Tage 
vor dem 21. Dezember aber in Erdberg bei Wien“. Daraus 
errechnet sich eine fast 40tägige Reisezeit, die zwar um ver- 
schiedene kleinere Aufenthalte, z. B. in Zara, Górz und Friesach, 
sowie um die Dauer des letzten scharfen Rittes von Górz bis Erd- 
berg gekürzt werden muß, aber immerhin noch lang genug ist, 
um auch für die Landstrecke Zara—Görz vollkommen aus- 
zureichen. (Luftlinie: etwa 240 km). Es kommt hinzu, daB 
nicht nur Arnold von Lübeck (M. G. SS. 21, 179) sondern auch 
zwei spätere, aber aus zuverlässigen Quellen schópfende Ge- 
schichtsschreiber, Albericus Trium fontium (M. G. SS. 23, 869) 
und Otto von St. Blasien, der Fortsetzer Ottos von Freising 
(M. G. SS. 20, 323), ausdrücklich berichten, daß Richard durch 
Ungarn gezogen sei. Auch der zeitgenössische Chronist Radulf 
von Diceto meldet uns: „applicuit in Sclavonia; cum autem 
transisset Veneciam et Aquilejam“ usw. Applicare und transire 
Stehen hier in einem gewissen, durch autem hervorgehobenen 
Gegensatz zu einander, so daB das letztere wohl wórtlich gemeint 
sein dürfte. Mit Radulf de Diceto stimmt endlich das itinerarium 
Ricardi Londonensis fast völlig überein: „transvectus est in 


* Die Ortschaft Erdberg ist in dem Wienerischen Stadtteil LandstraBe auf- 
gegangen (zwischen der heutigen Schlachthausbahn und dem Donaukanal) Die 
ErdbergstraBe zwischen dem Zentralviehmarkt und dem Donaukanal, sowie die 
Erdberglände und das Erdberger Mais am rechten Ufer des Donaukanals zwischen 
der Rotunden- und Schlachthausbrücke erinnern noch daran. 

In der Einfahrt des Hauses Erdbergstr. 41 ist eine Tafel angebracht mit 
folgender Inschrift: ‚An dieser Stelle stand das Jägerhaus (Rüdenhaus), in welchem 
im Jahre 1192 Richard L, König von England, durch Leopold von Österreich ge- 
fangen genommen und von da nach Schloß Dürnstein a. d. Donau gebracht wurde.‘ 
Das Rüdenhaus diente der Aufzucht und Unterbringung von Hetzrüden; eine Rüden- 
gasse befindet sich heute noch in der Nühe. (Gütige Mitteilung des Herrn Dr. Karl 
Schneider in Wien, III, Erdbergstr. 35/14.) 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 279 


Sclavoniam; inde pertransiens Aquileiam‘‘. Nun führte aber der 
Landweg Zara—Görz tatsächlich größtenteils über ungarisches 
Gebiet. Selbst das später venetianische Zara befand sich gegen 
den Schluß des 12. Jahrhunderts in ungarischem Besitz. 
Auch die scheinbar ganz abweichende Darstellung des Kaiser- 
briefs steht übrigens vielleicht mit unserer Ansicht im Einklang. 
Wenn der Kaiser schreibt, Richards schwerbeschädigtes Schiff 
sei „versus partes Istriae in locum, qui est inter Aquileiam et 
Venetias" getrieben worden, so spricht das allerdings auf den 
ersten Blick für eine Örtlichkeit an der Nordküste des Golfs . 
von Venedig. Da nun aber Venetia oder Venetiae nicht nur 
die Stadt Venedig, sondern auch den Staat Venetien bezeich- 
nete, der Machtbereich des letzteren aber an der Ostküste der 
Adria bis hinab nach Ragusa reichte, so lag das ungarische Zara 
tatsächlich nicht nur,, in partibus Istriae“, sondern auch ungefähr 
in der Mitte zwischen Aquileja und dem dalmatinischen Venetien. 
Es folgt nun der dritte, abenteuerlichste Akt der tollen Flucht. 
Nachdem Meinhard von Görz noch 8 Ritter weggefangen, 
sprengte Richard mit dem Rest seiner Leute eiligst den Alpen 
zu. Der treue Normanne Roger, der bereits 20 Jahre im Dienste 
Meinhards gestanden hatte und also Land und Leute genau 
kannte, dürfte sich kaumdamit begnügt haben, seinem Herzog 
und König ein vortreffliches Pferd zu verschaffen. Sicherlich 
hat er ihn auch über wichtige Einzelheiten der weiteren Flucht, 
z. B. über Wege und Stege, Schlupfwinkel und Verstecke, 
Herbergen und Quartiere, nach bestem Wissen beraten. Auch 
den die deutsche Sprache beherrschenden Knaben, durch dessen 
Ungeschicklichkeit freilich spáter in Erdberg Richard erkannt 
wurde, scheint ihm Roger mitgegeben zu haben. Noch einmal, 
bei der salzburgischen Veste Friesach, die den Übergang vom 
' Gurk- zum Murtale deckte, wird die kleine Schar gestellt. Der 
Befehlshaber der dortigen Besatzung, der erzbischófliche Mini- 
steriale Friedrich von Pettau, verlegt ihr mit Übermacht den 
Weg und nimmt weitere 6 Ritter gefangen. Nur mit dem er- 
wähnten Knaben und einem einzigen Ritter, Wilhelm von Etang?, 


* Nach V.4457ff. des durch Paul Meyer herausgegebenen altfranzösischen 
Gedichts: Histoire de Guillaume le Maréchal comte de Striguil et de 
Pembroke (Paris 1891—1901) war Wilh. v. E. unter den 3000 Rittern, die z. Zt. 
des Königs Jungheinrich v. England um 1180 an dem großen Turnier zu Leigni 


280 Albert Schreiber 


gelingt es Richard zu entkommen. In wahnsinniger Hast jagen 
die 3 Flüchtlinge weiter bis Erdberg, wo das Verhängnis sie 
ereilt. 

Welche Wege sie im einzelnen von Görz über Friesach bis 
Erdberg gewählt haben, wird wohl niemals ermittelt werden. 
Immerhin läßt sich im allgemeinen folgendes sagen: Da nun 
einmal Richard durch die Verhältnisse gezwungen worden war, 
die Rolle des Löwen, die er in Palästina gespielt, mit derjenigen 
des Fuchses zu vertauschen, wird er gewiß belebte Heer- und 
Handelsstraßen tunlichst vermieden und wohlbemannte Burgen 
und Ortschaften vorsichtig umgangen haben. Aber, mag er 
nun von Górz aus am Isonzo oder am Tagliamento hochgezogen 
sein, mag er in den Alpen durchweg die bekannteren Pässe, oder 
auch teilweise heimliche Saum- und Schleichpfade benutzt ha- 
ben — in jedem Falle galt es, auf einer Strecke von rund 500 km 
mehrmals starke Steigungen bis zur höchsten Höhe von rund 
950 m (Semmering!) zu überwinden. Und dies in der eis- und 
schneereichen Winterszeit, in der die Tageslänge einschließlich 
der beiden Dämmerungen höchstens 8%, Stunden betrug und 
die um so längeren Nächte selbst bei klarem Wetter nur zeit- 
weise und mangelhaft durch die schmale Mondsichel erhellt 
wurden. (Erstes Viertel am 16.—17. Dezember 1192.) Des 
Vergleichs wegen sei darauf hingewiesen, daß sogar ein Schnell- 
zug 15—17 Stunden für dieselbe Strecke braucht, die Richard 
und seine Begleiter in 3 Tagen und 3 Nächten zurückgelegt 
haben sollen! Nach solch einem Gewaltritt bedurften Roß und 
Reiter begreiflicherweise der Ruhe. Waren ihnen doch oben- 
drein in den letzten Tagen Speisen und Futter vollständig aus- 
gegangen. 

Welche Umstände und Gründe mögen nun aber Richard 
bestimmt haben, den überaus gefährlichen Weg über Wien ein- 
zuschlagen? Der Kaiser weiß nichts darüber zu melden, son- 
dern spricht nur von einer göttlichen Fügung. Andere, wie Ger- 
vasius Cantuarensis, glauben an einen unglücklichen Zufall, ein 
triste infortunium. Neuerdings auch so Cartellieri, a.a. O., III,79. 
Daß Richard aber „gar keinen Reiseplan gehabt, sondern sich 


sur Marne teilnahmen. Auch soll er zu den Gesandten gehört haben, die König 
Johann i. J. 1200 als seine Werber um die Tochter des Königs von Portugal ab- 
schickte (a. a. O., I, 133f., Anm. 3). 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 281 


blindlings dem blinden Schicksal überantwortet habe, wie Pauli 
und Wilken annehmen, heißt, bei aller Abenteuerlichkeit des 
Königs ihm mehr als menschenmógliches zutrauen“ (Kneller, 
des Richard Löwenherz deutsche Gefangenschaft, Freiburg i. Br. 
1893, Ergänzungsheft 59 zu den Stimmen aus Maria-Laach). 
Das Fehlen zuverlässiger Nachrichten über solch einen Plan 
beweist doch nicht sein Nichtvorhandensein, sondern höchstens 
seine strenge Geheimhaltung durch den König, wie solche wohl 
nicht nur während, sondern auch nach der Flucht aus Gründen 
der Sicherheit und aus Rücksichten auf dritte Personen geboten 
war. Den meisten Anklang hat eine Vermutung Coggeshals 
gefunden. Ihr zufolge soll sich Richard schon während der See- 
fahrt entschlossen haben, heimlicherweise durch Deutschland 
nach Sachsen zu seinem Schwager Heinrich dem Löwen zu ziehen, 
weil ihm der Heimweg durch das westliche Mittelmeer von 
Philipp August, Raimund von Toulouse und anderen Feinden 
verlegt gewesen sei. Die politische Lage Heinrichs des Löwen 
hatte sich allerdings gerade damals wider Erwarten bedeutend 
gebessert. Den kombinierten .Angriff der sächsischen Fürsten 
hatte er 1191—1192 siegreich abgeschlagen. Sein ältester Sohn 
Heinrich war glücklich im August 1191 aus dem kaiserlichen 
Lager vor Neapel entkommen und nach Braunschweig zurück- 
gekehrt, sein zweiter Sohn Lothar aber als Geisel des Kaisers 
schon früher verstorben, so daß sich keines seiner Kinder mehr 
in der Gewalt des verhaßten Staufers befand. Eine gefährliche, 
auf den Sturz des staufischen Kaisertumes abzielende Fürsten- 
verschwörung, die der alte Löwe kräftig schürte, griff in der Stille 
mehr und mehr um sich. Aber noch war der Posten des An- 
führers zu besetzen. Für ihn mußte Richard, als die glänzendste 
Persönlichkeit, ja das eigentliche Haupt der welfischen Partei, 
den Verschwörern wie kein zweiter geeignet erscheinen (Philipp- 
son, a. a. O., 532). Zu allem kam endlich hinzu, daß Leopold 
von Österreich am 24. Mai 1192 zum Nachteil des Welfenhauses 
mit der Steiermark belehnt worden war (vgl. o. S. 271). Den 
beiden Schwägern Heinrich und Richard dürfte also aus man- 
cherlei schwerwiegenden Gründen eine persönliche Aussprache 
höchst erwünscht gewesen sein. 

Dem Einwand, daß der kürzeste Weg von der Adria nach 
Sachsen doch nicht über Wien geführt habe, suchen manche 


282 Albert Schreiber 


Anhänger Coggeshals durch eine weitere Vermutung zu begeg- 
nen: Richard habe zwar nordwärts durch das Salzburgische 
ziehen wollen, sei aber an einer Gabelung der Alpenpässe irr- 
tümlich ost-, statt westwärts geritten und so wider seinen Willen 
nach Wien geraten (Kneller, a. a. O. 28; Cartellieri, a. a. O., III, 
27ff.). Weit wahrscheinlicher ist es jedoch, daß Richard mit 
voller Absicht nach Wien gezogen ist; nicht etwa, wie Luden 
sonderbarerweise gemeint hat, um Leopold wegen des Bänner- 
streites um Verzeihung zu bitten, sondern, um auf der Donau 
Gran, die damalige Hauptstadt Ungarns, zu erreichen. Von dort 
aus hätte er dann gefahrlos und leicht seinen weiteren Reiseweg 
nach Sachsen und England in nordwestlicher Richtung durch 
Mähren und Böhmen nehmen können, da deren Herzöge mit 
dem Kaiser verfeindet waren (Toeche, 240ff). 

Seit 1173 regierte in Ungarn König Bela III. Dieser galt 
als Freund der Pilger und Kreuzfahrer. Er hatte schon kurz 
nach seiner Thronbesteigung Heinrich dem Löwen, der als 
Pilger aus Palästina heimwärts zog, freundliche Aufnahme und 
sicheres Geleit gewährt. Der Werbung Belas um eine Tochter 
Heinrichs wurde bereits gedacht. Für die Fortdauer der freund- 
schaftlichen Beziehungen zwischen dem ungarischen und welfi- 
schen Hofe spricht die Tatsache, daß 1194/1195 der sterbende 
Herzog Leopold von Österreich den Welfenprinzen Wilhelm, 
der als Geisel bei ihm weilte, an Bela schickte, damit dieser ihn 
zu seinem Vater Heinrich dem Löwen zurückführen lasse. Die 
sicherste Verbindung von Wien nach Sachsen führte also auch 
nach Leopolds Ansicht damals über Ungarn!®. Richard Löwen- 
herz selbst war mit dem ungarischen Königshause durch Familien- 
bande verknüpft. Denn Belas zweite Gemahlin Margarete, eine 
Halbschwester Philipps II.. August, war in ihrer ersten Ehe mit 
Jungheinrich von England, dem 1183 verstorbenen, älteren 
Bruder Richards, vermählt gewesen. Als richtige Base (Vaters- 
schwesterstochter) des Königs Alfons VIII. von Kastilien war 
sie noch auf andere Art mit Richard verschwägert, seitdem 
Alfons 1170 die Schwester Richards, Eleonore, geheiratat hatte. 
Mit der jungen Gemahlin Richards, Berengaria von Navarra, 


10 Die Annales Stadenses lassen, wenn auch fälschlich, Heinrich den Langen 1190 
von Neapel aus „per Graeciam, Ungariam et Boemiam" nach Braunschweig heim- 
kehren. M. G. SS. XVI, 352. 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 283 


war sie sogar blutsverwandt, da deren Mutter Sancia und Mar- 
garetes Mutter Constanze als Schwestern dem Hause Kastilien 
entstammten. Wenn auch Jungheinrich, Margaretes erster 
Gatte, mit seinem Bruder Richard öfters in heftige Fehden ver- 
wickelt gewesen war, so hatte man doch englischerseits das 
Wittum Margaretes vor ihrer Ubersiedelung nach Ungarn zu 
ihrer vollsten Zufriedenheit geordnet. 

Schon die angeführten Gründe dürften ausgereicht haben, 
um dem englischen König in seiner verzweifelten Lage den ungari- 
schen Hof als nächstes und sicherstes Asyl erscheinen zu lassen. 
Zu den erwähnten verwandtschaftlich-schwägerschaftlichen Be- 
ziehungen gesellten sich aber auch politische, da der Vertrag 
vom St. Georgenberge sowohl welfische, als auch ungarische 
Ansprüche verletzte. Daß Bela mit seinem Schwager Leopold 
wegen steirischer Gebietsstreitigkeiten zerfallen war, wurde 
oben S. 273 bereits erwähnt. Durch sie wurde Leopold bestimmt, 
sich 1189 dem Heere Kaiser Friedrichs I. nicht anzuschließen, 
sondern als Nachzügler ein ganzes Jahr später den Seeweg nach 
Palästina zu wählen. 

Bundesgenossen gegen Leopold mochten wohl auch unter 
den enttäuschten Erben Ottokars (oben S. 270f.), sowie unter 
jenem Teile des steirischen Adels zu finden sein, der von dem 
Anschlusse an Österreich nichts wissen wollte. Wenn uns auch 
bestimmte Nachrichten über eine solche Bewegung fehlen, 
so ist doch mancherlei zwischen den Zeilen des Vertrages 
vom St. Georgenberge zu lesen. Schon die Tatsache, daß in ` 
ihm die Rechte der steirischen Ministerialen besonders eingehend 
sichergestellt werden, beweist, mit welchem Mißtrauen dieser 
einflußreiche Stand an die ganze Sache herangegangen ist. 
Vergebens bemüht sich Muchar, auf andere Weise zu erklären, 
warum in der Vertragsurkunde „so wenige Edelherren aus 
Steiermark, und größtenteils nur aus Bayern und Österreich als 
Zeugen unterschrieben worden sind!!!“. Selbst die äußere Form 
der Vertragsurkunde bestätigt unsere Ansicht. Denn mitten 
in der Zeugenreihe, und zwar in ihrer zweiten Zeile, befinden sich 

11 Kleine Berichtigung: Nicht das Weihnachtsfest 1186, wie Muchar will, 
sondern das 1185 hat Herzog Ottokar, „umgeben von einem halben Hundert seiner 
Ministerialen und Stände des Landes“, zu Admont gefeiert. Es beweist also nichts 


für das durch Muchar angenommene Einverständnis der Ministerialen mit dem 
St. Georgenberger Vertrage. 


284 Albert Schreiber 


zwei auffallende, nicht etwa durch Rasur entstandene Lücken. 
Hier hätten insgesamt 3 +2 — 5 Namen Platz gehabt. Statt 
ihrer erscheint aber nur eine waagrecht verlaufende, wellige Linie, 
die durch 6 +6 Strichpaare in der Richtung von rechts oben 
nach links unten im Winkel von etwa 45 Grad gekreuzt wird 
(vgl. das etwas mangelhafte Faksimile bei Muchar IV, 521; 
nach dem Drucke bei Zahn, U. B. von Steiermark I, 651, Nr. 677 
reicht umgekehrt die erste Lücke für 2, die zweite aber für 3 Na- 
men. Luschin, die steirischen Landhandfesten, in den Beiträgen 
zur Kunde steiermärkischer Gesch.- Qu., 9. Jahrg. 1872, S. 170ff. 
erwähnt diese Lücken merkwürdigerweise überhaupt nicht.) 
Offenbar sollten hier nachträglich die Namen von 5 Edlen ein- 
geschrieben werden, auf deren Zeugenschaft man bestimmt 
gerechnet hatte, die jedoch entweder bis zum Schlusse der Ver- 
handlung überhaupt nicht kamen, oder aber trotz ihrer Anwesen- 
heit bei der letzteren schlieBlich ihr Zeugnis verweigerten. 
Niedere Adlige kónnen es nicht gewesen sein, da sie ihren Platz 
zwischen den Grafen von Pilstein, Morle, Scala, Liebenau und 
Plaien erhalten sollten. Wenn dann Graf Friedrich von Pilstein- 
Morle, der Sohn Sigfrieds, um 1215 den steirischen Panther 
als Anspruchswappen führt, wenn weiter der steirische Land- 
marschall Berthold von Treun noch später für die Ungarn- 
herrschaft in Steiermark eintritt, so läßt sich auch daraus auf 
die „multi labores" schließen, die den Babenbergern nach der 
Inbesitznahme des steirischen Erbes erwachsen sind (Ansbert). 
Einige der Vertragszeugen vom St. Georgenberge kommen übri- 
gens 1191—1192 in Palästina vor, z. B. die Grafen Konrad III. 
von Pilstein, Heinrich und Sighard von Scala, Sigfried von Lie- 
benau, Liutold und Heinrich von Plaien, Konrad von Dorenberg, 
Otto von Chlamm-Velburg, sowie die Edlen Friedrich von Berg, 
Albrecht von Weixelberg und Liutold von Gutenberg. Durch 
Sie kónnte der Inhalt der Vertragsurkunde im Kreuzritterheere 
genauer bekannt geworden sein. DaB im Orient steirische Parti- 
kularisten mit dem englischen Kónige Fühlung genommen und 
so die Veranlassung zu seinem Zuge durch Steiermark abgegeben 
hátten, láBt sich allerdings nicht beweisen. Die Nachricht der 
Cont. praedic. Vindobonensium, Richard habe den Weg nach 
Wien gewählt, weil er das Land Leopolds kennenlernen wollte, 
klingt denn doch zu vag und unbestimmt. 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Lówenherz 285 


In jedem Falle wäre aber ein Bündnis der rheinisch-welfisch- 
englisch-böhmischen Koalition mit Ungarn und gegebenenfalls 
mit Steiermark geeignet gewesen, jene Einkreisung des Kaisers 
zu vervollständigen, die, wohl zweifellos im welfischen Interesse, 
am 11. November 1190 durch Richards Bündnis mit Tancred so 
aussichtsreich eingeleitet worden war (Toeche, 157f. 199). 

Daß derartige Gedanken den englischen König auf seiner 
Heimfahrt bewegt und zu seinem sonst nur schwer begreiflichen, 
tollkühnen Vorstoß nach Osten mitveranlaßt haben, dürfte mehr 
als wahrscheinlich sein. Vielleicht erklärt sich hierdurch auch 
Richards Landung in Zara. Schon damals hat er möglicher- 
weise beabsichtigt, auf dem Landwege in nordóstlicher Richtung 
durch Kroatien und Slavonien nach Gran zu gelangen. Aber die 
feindselige Haltung der ráuberischen Bewohner jener Küsten- 
striche, über die auch anderwärts geklagt wird, mag ihn abge- 
schreckt und mit seiner kleinen Schar nordwärts auf den ver- 
hàngnisvollen Umweg über Wien gedrängt haben. Wilh. Neu- 
burg in M. G. SS. XXVII, S. 240, Zeile 13ff: ‚propriam.... 
celans personam didicit, regem Anglorum hominibus regionis 
illius ob necem Conradi marchionis, quae ipsi imputabatur, 
esse invisum nec posse ibidem tutum habere hospitium...'' 
Fünf Jahre spáter z. B. wurden deutsche Fürsten, die zu Schiffe 
von Palästina abgefahren waren und von der Ostküste der Adria 
aus den Landweg einschlagen wollten, unterwegs auf griechi- 
schem Gebiet schándlich behandelt und vollständig ausgeplün- 
dert (Gesta ep. Halberstad. in M. G. SS. XXIII, 112)". 


B Kleine Berichtigungen zur seitherigen Literatur. — Car- 
tellieri, Philipp II. August, III, 27ff. macht Friesach zum Wohnsitz des treuen 
Normannen Roger von Argentan und damit auch zu demjenigen Meinhards von Görz. 
Es muß aber Görz heißen. Friesach war salzburgisch. Dort hätte der Graf von Görz 
nicht ‚medietatem urbis‘ als Preis auf Richards Kopf setzen können, wie dies Cogge- 
shal berichtet (vgl. o. 277). — Wilken, Gesch. der Kreuzz. IV, 597, behauptet irr- 
tümlich, Graf Meinhards Bruder habe in Friesach geherrscht. — Toeche, Hein- 
rich VL, 258 und 561, Z. IV verwechselt die Rollen, die Meinhard und Engelbert 
von Górz nach Coggeshals Darstellung gespielt haben, obwohl er sich auf letzteren 
beruft. — Pauli, Gesch. v. England, III, 249, macht gar den salzburgischen Mini- 
sterialen Friedrich von Pettau zum Grafen, zum Bruder Meinhards und zum Herren 
von Friesach. — F. Liebermann in den M. G. SS. XXVII, S. 348, Anm. 4 und 5, 
verwechselt die grüflichen Brüder von Görz, verlegt die Görzer Ereignisse nach 
Friesach und erklärt demgemäß an Stelle Meinhards von Górz den Ministerialen 
Friedrich von Pettau zum Herren Rogers von Argentan. — Vgl auch Hagen in 
der Z. f. d. Phill. 38 (1906), S. 32ff. 


286 Albert Schreiber 


III. Die geheimnisvolle „promissio“ Richards 
vom 29. Juni 1193. 


Der Vertrag, den Kaiser Heinrich VI. nach viertägiger Ver- 
handlung am 29. Juni 1193 zu Worms mit Richard Löwenherz 
über dessen Freilassung abschloß, — mehrfach abgedruckt, 
z.B. M. G. LL. II, 196 — enthält u. a. folgende Bestimmungen: 
Von dem vereinbarten Lósegeld zu 150000 Mark reinen Silbers 
nach Kölner Gewicht! werden sofort 100000 Mark geleistet. 
Für die Restschuld zu 50000 Mark hat Richard Geiseln zu 
Stellen, und zwar dem Kaiser für 30000 Mark 60 Geiseln, dem 
Herzog Leopold von Ósterreich aber für 20000 Mark 7 Geiseln. 
Nach der Zahlung von 100000 Mark und nach der Stellung der 
Geiseln kann Richard frei heimkehren. 

„Si autem dominus rex solverit promissionem, quam 
domino imperatori de Henrico quondam duce Saxoniae fecerat, 
imperator de quinquaginta millibus marcarum regem liberum 
dimittens et absolutum, pro ipso rege solvet duci Austriae 
viginti millia marcarum, et rex non tenebitur dare duci Austriae 
Septem obsides, nec imperatori sexaginta. Cum igitur rex prae- 
dictam promissionem de Henrico quondam duce Saxoniae imple- 
verit et centum millia marcarum solverit, libere recedet... si 
promissio de Henrico quondam duce Saxoniae completa non 
fuerit, quinquaginta millia marcarum, quae residua sunt, sol- 
ventur infra septem menses, postquam dominus rex in terram 
suam redierit...‘ 

Ferner werden ausdrücklich alle Abmachungen bestätigt und 
aufrechterhalten, die in „literis familiaribus" des Kaisers und 
des Kónigs sich vorfinden, sofern die Schriftstücke von beiden 
Teilen besiegelt sind. Einschlägige Nebenabreden dieser Art 
sind uns nicht überliefert. 

Der Gegenstand der promissio wird von den beiden vertrag- 
schließenden Parteien offenbar aus politischen Gründen geheim- 
gehalten. Als späterer Mitwisser kommt Heinrich der Löwe in 
Betracht. 

Der Kaiser verzichtet auf 50000 Mark, also auf ein volles 
Drittel des vereinbarten Lösegeldes, und zwar im Endergebnis 


13 [n dem Würzburger Vertrage zwischen dem Kaiser und Herzog Leopold 
von Österreich d. d. 14. Februar 1193 war nur von 100000 Mark Silbers die Rede 
gewesen. 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 287 


zu Gunsten Heinrichs des Löwen, wogegen der letztere dem 
Kaiser etwas nicht näher Bezeichnetes, aber zweifellos Gleich- 
wertiges zu leisten hat. Da außerdem nach vollzogener Leistung 
die 67 Geiseln nicht mehr gestellt zu werden brauchen, muß es 
sich für den Kaiser um eine Angelegenheit von großer politischer 
Bedeutung gehandelt haben. 


Heinrich der Löwe war zur Zeit des Wormser Vertrages so 
macht- und einflußlos, daß er eine entsprechende positive 
Leistung (Waffenhilfe, Gebietsabtretung u. dgl.) nicht mehr auf- 
zubringen vermochte. Auf seiner Seite kann also nur ein Dulden 
oder Unterlassen, insbesondere aber ein Verzichten in Frage 
kommen. Dafür spricht auch der Umstand, daß die promissio 
noch während der Gefangenschaft Richards erfüllbar war. 
Denn ihre Erfüllung sollte diesen ja von der Pflicht entbinden, 
zwecks Erlangung seiner Freiheit Geiseln zu stellen. 


Richards Aufgabe aber bestand darin, die 50000 Mark, die - 
er eigentlich dem Kaiser und dem Herzog Leopold schuldete, 
seies durch Barzahlung, sei es durch eine gleichwertige Leistung, 
seinem Schwager Heinrich dem Löwen zuzuführen und diesen 
so für das zu entschädigen, was er dem Kaiser zugestehen 
sollte!“. 


Am 20 — 22. Dezember 1193 muß die Zahlung der 100 000 Mark 
vollzogen und die Erfüllung der promissio in sicherer Aussicht 
gewesen sein. Denn an diesen Tagen teilen der Kaiser sowohl, 
wie Richard nach England mit, daß Richard am 17. Januar 1194 
in Worms oder Speier freigelassen und am 23. Januar 1194 zum 
König des Arelates gekrönt werden solle. Lösegeld und Geiseln 
werden überhaupt nicht mehr erwähnt, während doch Richard 
früher die englischen Großen „humiliter“ um fleißiges Geld- 
sammeln und um vorsorgliche Bereithaltung von Geiseln er- 
sucht hatte (Hoveden in M. G. SS. XXVII, 161, Zeile 16 u. 55ff.). 
Man hatte eben inzwischen bereits „infinitam pecuniam“ ge- 
sammelt und den Boten des Kaisers, die in London erschienen, 
„maximam partem redemptionis“ überliefert (Hoveden, a. a. O. 
166, Zeile 22 ff.). Schon der Wormser Vertrag scheint die Samm- 
lung als beendet, oder doch als fast beendet vorauszusetzen, 


^ Die verschiedenen Ansichten, die bisher über den Gegenstand der promissio 
geäußert worden sind, finden sich zusammengestellt bei Kneller, a. a. O., S. 73ff. 


288 Albert Schreiber 


denn er regelt gleich in seinen ersten Worten die Abholung des 
Geldes: „Dominus Imperator mittet nuntios suos cum nuntiis 
Domini Regis, qui Londonias ibunt et ibi recipient 100 na 
marcarum. 

Als nun aber die Königin-Mutter Eleonore, der an sie ergan- 
genen Einladung folgend, nach dem 6. Januar 1194 mit großem 
Gefolge in Worms oder Speier eintrifft, zeigt sich ihr ein völlig 
anderes Bild: Der Kaiser hat sich bereits vor dem 2. Januar 1194 
nach Würzburg begeben. Eine französische Gesandtschaft hat . 
seine früheren Entschließungen durch günstige Anerbietungen 
ins Schwanken gebracht, so daß er von dem Wormser Vertrage 
ganz und gar zurücktreten möchte. Erst den Vorstellungen eini- 
ger deutschen Fürsten gelingt es, ihn davon abzubringen. Um 
80 rücksichtsloser verlangt er nun aber die genaueste Erfüllung . 
des Wormser Vertrages, insbesondere die Zahlung des Lóse4 
geldrestes oder die Stellung der dafür ausbedvngenen Geiseln. 
SchlieBlich verschiebt er Richards Haftentlassung vom 17. Ja- 
nuar auf den 2. Februar 1194. Die Art und Weise, wie nun die 
zahlreichen Geiseln in dieser kurzen Zwischenzeit zusammen- 
gebracht werden, bezeugt es deutlich, daB man,englischerseits . 
mit der Erfüllung der promissio bestimmt gerechnet hatte und. 
deshalb auf einen derartigen Ausgang nicht vorbereitet gewesen 
war. Hauptsächlich ‚ex nobilibus, qui ad eum ( — regem) visi- 
tandum?!’ accesserant", muß der „exactus obsidum numerus“ 
entnommen werden. Beispielsweise verpflichten sich der Erz- 
bischof Walter von Rouen, specialis Angliae justitiarius, und 
der Kanzler Wilhelm von Ely, die als geladene Gáste zur Krónung 
erschienen sind, für die zunächst fällige Rate mit ihrer Person 
zu haften und bis nach geschehener Zahlung in Deutschland zu 
verbleiben. Ihnen schließt sich unter anderen ein Prinz von 
Navarra an, also ein Schwager Richards. Auch verschiedene 
deutsche Fürsten springen in die Bresche und leisten dem Kaiser 
Sicherheiten für die Zahlung des Lósegeldrestes (Dict. of National 
Biography, 48, 141, 3p. 1). Heinrich der Löwe stellt dem Herzog 
Leopold, seinem St; ‚bruder, seine Söhne Otto und Wilhelm als 
Geiseln, obwohl et nach dem Würzburger Vertrage (unten 


i 

15 Rad. de Diceto in M. G. SS. XXVII, 282: ...fiebant crebri concursus epis- 
coporum, abbatum, comitum et baronum, aliorum etiam medie manus hominum, 
quos desiderium traheb: , videndi regem... 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 289 


Anm. 13) dieser Verpflichtung ausdrücklich enthoben ist. Die 
| weitischen Prinzen begleitet als Geisel Balduin von Béthune, 

der seinerzeit im Dezember 1192 mit noch sieben anderen Rittern 

zu Görz auf der Flucht Richards von dem Grafen Meinhard 

gefangen worden ist und alsbald nach seiner Freilassung und 

Heimkehr seinen gefangenen König von England aus am Rheine 
aufgesucht hat!®. Sogar das erst 4jáhrige Söhnchen eines flandri- 
schen Adeligen erscheint unter den Geiseln; von den in Deutsch- 
) land weilenden Engländern weigert sich einzig und allein der 
. Baron Robert von Nonant, ein Anhänger des Grafen Johann 
von Mortaigne, für Richard Geisel zu sein, und wird deshalb 
| später in England verhaftet. 


à 
È Endlich, am 4. Februar 1194, naht für Richard „ post multas 
L| anxietates et labores" die Stunde der Befreiung. Von seiner 


>+ Krönung zum König des Arelates ist aber nicht mehr die 

|. Rede. die 
j| Das wichtige Ereignis, das zwischen dem 22. Dezember 1193 
di und dem 17. Januar 1194 die Erfüllung der promissio vereitelt 
er und die gesamte politische Lage von Grund aus verändert hat, 
^ ist nun aber nichts anderes gewesen als die alle Welt hóchlichst 
ui überraschende Heirat Heinrichs von Braunschweig, des ältesten 
ei Sohnes Heinrichs des Löwen, mit Agnes, der Tochter und Allein- 
fe 1* Zur rechten Stunde trifft er in Worms ein, während die Verhandlungen über 
fr‘ die Sicherstellung des Lösegeldes noch schweben. Als dann Leopold später in Wien 
zl droht, für den Fall unpünktlicher Zahlung der Lósegeldraten Geiseln tóten zu lassen 
d (Hoveden, IIT, 275), wird Balduin wiederum nach England geschickt, wo es ihm 
= gelingt, die stockende Sammlung der geschuldeten Restsumme wieder in Fluß zu 
ii bringen. Wie dankbar Richard nach seiner eigenen Freilassung Balduins Verdienste 
na anerkannt hat, ergibt sich aus Guillaume le Maréchal V., 10120ff., wo der König 
j (| mch seiner Heimkehr im April 1194 folgendermaßen zu seinen Baronen spricht: 
. 1.1 E bien sachent petit e grant que Baudevins que ge vei ci De Betune, mon bon ami, 
D. Y'a plus valu en ma prison, tant com ge ai esté en prison, e porchacié ma delivrance, 
pi di n'en seiez mie en dotance, Itant vos di a la roünde, Que nul hom qui seit en cest 
i^ monde; Kar ja ne fusse de prison Eissu, por veir, se par lui non.‘ Wilh. Marschall 
Jer var ein Freund Balduins (a. a. O., V., 5879ff.). Ambr se, estoire de la guerre 
Jm ;| inte, V. 6429, 6979, 9991, 11429 erzählt von ihm, er ^ Je sich in den Kümpfen 
(ur! egen die Sarazenen ausgezeichnet. Balduin ist unter „nen 3000 Rittern, die an 
m großen Turnier zu Leigni sur Marne um 1180 teilnahmen, ebenso Wilh. v. 
P Etang, der spáter Kónig Richard auf seiner abenteuerlichen Flucht bis Wien 
ai^ Btgleitete. (Vgl.o.279). Im Jahre 1194 gab Richard dem treuen Balduin v. Béthune 
die Gräfin v. Albemarle (Aumale) und Holderneß zur Gatin. B. starb i. J. 1211. 

Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 19 


290 Albert Schreiber 


erbin des Pfalzgrafen Konrad bei Rhein". Wenn auch die 
bekannte ausführliche Darstellung, die Wilhelmus Neubrigensis 
von diesem eigenartigen Zwischenfalle gibt, manche anek- 
doten- und romanhafte Züge aufweist, so dürfte sich doch aus 
der Übereinstimmung deutscher und englischer Quellen das 
eine mit Sicherheit ergeben, daB hier bráutliche Liebe und 
mütterliche Schlauheit über alle politischen Winkelzüge einen 
glänzenden Sieg davongetragen haben. 

Schon in kindlichem Alter waren Heinrich und Agnes verlobt 
und ihre künftige eheliche Verbindung durch eidliches Ver- 
sprechen der beiderseitigen Eltern sichergestellt worden (Ann. 
Stederb. in M. G. SS. XVI, 227: „juratum matrimonium“; 
Braunschw. Reimchronik, 4216ff: „daz echt,... daz so verre 
was gelobet und gesvoren“; Wilh. Neubrig. M. G. SS. XXVII, 
241, 21f: „contemplatione juramentj olim ...praestiti"...). 
Der heftigste Gegner dieser Verbindung war begreiflicherweise 
der Kaiser. Da sein ganzes Sinnen und Trachten zu jener Zeit 
darauf gerichtet war, durch einen siegreichen Römerzug die 
deutsch-sizilianische Erbmonarchie seines staufischen Hauses 
zu begründen!®, brauchte er in Deutschland dringend friedliche 
Zustände und eine sichere Rückendeckung. Beides wurde aber 
ständig durch die welfische Gefahr in Frage gestellt. Als einziger 
der deutschen Fürsten hatte Heinrich der Löwe nach dem Zu- 
sammenbruche der großen Verschwörung des Jahres 1193 noch 
keinen Frieden mit dem Kaiser geschlossen (Hoveden, M. G. 
SS. XXVII, 163, Z. 37). Heinrich VI. fürchtete, wie er noch 
1194 selbst schreibt, die „ malitia“ des Herzogs, hielt ihn für 
,Suspectus' und glaubte, daB er immer wieder zu seinen alten 
und stets geübten Gewohnheiten zurückkehren werde. Auch die 
treulose Fahnenflucht des jüngeren Heinrich von Braunschweig 
bei der Belagerung von Neapel i. J. 1191 und seine tatkráftige 
Beteiligung an der großen Fürstenverschwörung waren noch 

17 Abel, 23 und 309, sowie Toeche 293 meinen zwar auch, daB die Heirat Hein- 


richs von Braunschweig den Aufschub der Freilassung Richards verschuldet hat. 
Sie ziehen aber nicht die weitere, entscheidende Folgerung, daB die Verhinderung 
dieser Heirat den Gegenstand der promissio Richards gebildet hat. 

18 Chron. Ursperg. in M. G. SS. XXIII, 364, Z. 4ff.: lerem vero 100 milia 
marcarum sibi ab eodem (= Richardo) data fecit militibus dard soldum et magnum 
adunavit exercitum in Apuliam".... Vgl auch Herm. 8 Kaiser- 
wahlen und die Entstehung des Kurfürstentums, Leipzig und Be m, 1911, S. 24. 


X 
* 
4 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 291 


zu frisch in aller Gedächtnis. Begreiflicherweise suchte der 
Kaiser jede Erweiterung der welfischen Macht mit allen Mitteln 
zu verhindern. So erklärt es sich z. B., daß er trotz des Wider- 
spruchs Heinrichs des Löwen die schwäbischen und italienischen 
Besitzungen des alten Herzogs Welf von Altdorf, die dieser 1169 
dem Kaiser Friedrich I. vermacht hatte, nach Welfs Tode 1191 
in Besitz nahm, soweit sie nicht schon früher den Staufern über- 
geben worden waren. So erklärt es sich weiter, daB das Herzog- 
tum Steiermark und die reiche Allodialerbschaft der Traungauer 
1192 dem Herzog Leopold von Österreich zugewiesen wurden, 
obwohl doch Heinrich der Löwe um 2 Grade näher mit dem 
Erblasser Ottokar verwandt war (o. S. 271!°). So erklärt sich 
endlich auch die Politik, die der Kaiser bei der Verheiratung 
seiner Base Agnes befolgte. Die Pfalzgrafschaft bei Rhein in 
ihrer damaligen Gestalt, war recht eigentlich eine Schópfung 
Friedrichs des Rotbarts, der sie als kostbaren Teil der stauflschen 
Hausmacht seinen Halbbruder Konrad verlieh. Agnes, als 
alleinige Erbin eines so schönen und reichen Landes, „a multis 
impetebatur, ab imperatore ad hoc destinatis" (Ann. Stederb. 
M. G. SS. XVI, 227). Insbesondere bemühte sich der Kaiser 
„omnibus modis", eine Heirat zwischen ihr und dem Herzog 
Ludwig von Bayern zustande zu bringen (Hug. chron. cont. 
Weingart. M. G. SS. XXI, 479). Aber alle derartigen Heirats- 
pläne mußten an dem beschworenen Verlóbnis scheitern. Denn 
nach der Auffassung des damals in erster Linie maßgebenden 
kanonischen Rechtes begründeten sponsalia de futuro nicht ein 
bloBes obligatorisches Vertragsverhältnis, sondern ein der Ehe 
verwandtes Familienverhältnis zwischen den Verlobten, das 
ihrer EheschlieBung mit jeder dritten Person als impedimentum 
impediens entgegenstand. In Ermanglung eines von den geist- 
lichen Gerichten als triftig anerkannten Grundes konnte es 
überhaupt nicht einseitig aufgekündigt, sondern nur durch 
gegenseitige Einwilligung der Beteiligten aufgelóst werden. Bei 
dieser Rechtslage ließen sich die kaiserlichen Pläne nur mit 
Zustimmung Heinrichs des Lówen verwirklichen, der als wel- 


1* Da die Steiermark mit ihren verhältnismäßig bequemen Alpenpässen eine 
wichtige Brücke zwischen dem Regnum Romanum und dem Konigreich Sizilien 
bildete, mußte dem Kaiser viel daran liegen, sie in unbedingt zuverlässigen Händen 
zu wissen. 

19* 


292 Albert Schreiber 


fisches Familienhaupt zu den ehemaligen eidlichen sponsores 
gehörte. 

Für die unerläßlichen Verhandlungen mit ihm war nun der 
Kaiser, wie er selbst fühlen mochte, die allerungeeignetste 
Persönlichkeit. Er rief deshalb die guten Dienste Richards 
an, der die Rolle des Vermittlers, wenn auch anscheinend 
erst nach längerem Widerstreben, übernahm und nach besten 
Kräften durchzuführen versprach. Außer der ‚‚dissipatio“ 
der dem Kaiser höchst unerfreulichen Verlobung umfaßte 
vielleicht die promissio noch einen weitern Punkt, der für den 
Kaiser und den Herzog Leopold von Österreich besonders wichtig 
war, nämlich den Verzicht Heinrichs des Löwen auf die steirische 
Erbschaft (o. S. 271f.). Wegen der Herzogtümer Bayern und 
Sachsen dagegen, an die manche gedacht haben, bedurfte es für 
den Kaiser keines Verzichtes mehr, nachdem sie seinerzeit dem 
Löwen durch rechtskráftiges Urteil des zuständigen Gerichtes 
aberkannt worden waren. 

Wie es scheint, haben Richards Bemühungen bei seinem 
Schwager Erfolg gehabt. Dafür spricht vor allem die o. S. 287 
bereits erwähnte Tatsache, daß englischerseits die Geiselstellung, 
wodurch die promissio im Falle ihres Fehlschlagens ersetzt 
werden sollte, am 17. Januar 1193, dem ersten Freilassungs- 
termin, überhaupt nicht vorbereitet war. Sodann dürfte der 
beschwerliche Ritt in winterlicher Zeit, den der 60jährige Pfalz- 
graf bald nach der Hochzeit seiner Tochter nach Braunschweig 
zu Heinrich dem Löwen unternahm, ein ziemlich sicheres Zeichen 
dafür sein, daß der letztere den kecken Streich seines Sohnes 
keineswegs guthieß, sondern erst durch den Pfalzgrafen mit den 
Neuvermählten und der Pfalzgräfin Irmingard versöhnt werden 
mußte. Wäre damals nur eine Ladung Heinrichs vor den Kaiser 
zu überbringen gewesen, so hätte man sich wohl eines anderen, 
jüngeren Boten bedienen können. 

Auch v. Heinemann, Heinr. v. Braunschweig, 38, Anm. 1, 
nimmt an, daB Heinrich der Lówe die eigenmáchtige Handlungs- 
weise seines Sohnes mißbilligt hat. Vermutlich waren durch sie 
gewisse vorteilhafte Abmachungen, die er mit seinem Schwager 
Richard über die Erfüllung der promissio getroffen hatte, durch- 
kreuzt worden. Endlich ist hier daran zu erinnern, daB Heinrich 
seine Söhne Otto und Wilhelm dem Herzog Leopold v. Öster- 


Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 293 


reich als Geiseln gestellt hat, obwohl er nach dem Würzburger 
Vertrage (o. S. 286, Anm. und S. 288) dieser Verpflichtung aus- 
drücklich enthoben war. Dieses Entgegenkommen des sonst so 
unnachgiebigen Löwen läßt das Vorhandensein ganz besonderer 
Beweggründe bei ihm vermuten. 

Nach dem Gesagten durfte um die Jahreswende 1193/94 
Richards Freilassung in Gemäßheit des Wormser Vertrags 
erwartet werden, als plötzlich der König von Frankreich durch 
seine Winkelzüge, insbesondere aber durch seine Werbung um 
Agnes eine völlige Wendung der Dinge herbeiführte??, Was der 
Kaiser aus politischen Rücksichten „gratanter“ begrüßte und 
gleich dem Pfalzgrafen als glänzende Verbindung des staufischen 
Hauses ansah, das erregte begreiflicherweise im Hinblick auf die 
schändliche Behandlung der armen Ingeborg, Philipp Augusts 
zweiter Gemahlin, bei dem weiblichen Teile der pfalzgräflichen 
Familie den größten Abscheu. Rasch entschlossen stellte die 
willensstarke Hennebergerin?! um Neujahr 1194 ,,propter eventus 
ancipites'' nicht nur den Pfalzgrafen, ihren Gatten, sondern auch 
den Kaiser samt seinem ganzen Fürstenrate und der französi- 
schen Gesandtschaft vor eine vollendete Tatsache. Die Erfüllung 
der promissio Richards war damit endgültig vereitelt. Wie 
heftig der Kaiser deswegen erzürnt gewesen ist, beweist sein 
Verhalten gegen alle, die er im Verdacht hatte, an diesem Fehl- 
schlage beteiligt gewesen zu sein. Der Pfalzgraf konnte ihn nur 
mühsam besänftigen und durch Ablegung eines Eides von seiner 
Unschuld überzeugen. Richard Löwenherz und Heinrich der 
Löwe aber mußten sich zu Sicherheitsleistungen verstehen, die 
noch über den Rahmen des Wormser Vertrages hinausgingen. 
Die Geiseln hatten nunmehr nicht nur für die richtige Zahlung 
des Lösegeld-Restes?? zu haften, sondern auch ,,de pace servanda 


9 Laut Guillaume Maréchal, a. a. O., V. 11518ff. sagte Richard nach seiner 
Befreiung zu dem Kardinal Peter v. Capua: „. . tant a fait li reisde France Envers 
mei mal et mesprison, E mist conseil en ma prison E en mei tenir longement, E en 
mon desheritement A lonc tens tendu e tendra". 

*. Philippson, Heinrich der Löwe, 541 und Namenregister dazu S. 645, macht 
Irmingard irrtümlich zu einer Gräfin von Hennegau. Sie war aber die Tochter Bertholds 
von Henneberg nach v. Bibras Stammtafel im Arch. d. hist. V. für Unterfranken und 
Aschaffenburg 1879, 25. Bd., 2. u. 3. Heft. 

? Noch vor dem Schlusse des Jahres 1195 war diese Schuld völlig geordnet, 
3o daß die Geiseln freigelassen werden konnten. Toeche, 3691. 


294 A. Schreiber: Drei Beitrr. z. Gesch. d. dtsch. Gefangensch. d. Königs R. Löwenherz 


Imperatori et imperio suo et omni terrae suae dominationis“, 
(Hoveden bei Bouquet XVII, 563), „pro reliquis articulis con- 
ventionis solvendis‘‘ (Ansbert 121), „sive etiam pro quorundam 
fide pactorum" (Wilh. Neubrig. Cap. 40 f.). Die welfischen 
Prinzen Otto und Wilhelm kamen in den sicheren Gewahrsam 
des Kaisers und Leopolds von Osterreich. Ihr ältester Bruder 
aber, der neuvermählte Heinrich, erhielt zwar Ende Januar 1194 
die Verzeihung des Kaisers, jedoch nur unter der Bedingung, 
daß er sich an dem italienischen Feldzuge des Kaisers beteiligte. 
Erst nach solchen Zugeständnissen gelang es Mitte März 1194 
auf dem Sühnetage von Tilleda wieder einmal einen kurzen 
Frieden zwischen Staufern und Welfen zustandezubringen. 


Ergebnisse. 


I. Der Bannerstreit von Akkon ist nicht die Ursache, sondern 
eine Folge der zwischen Richard Löwenherz und Leopold von 
Osterreich schon länger bestehenden Feindschaft gewesen. Als 
Grundursache der letzteren sind die bedeutenden Schädigungen 
zu betrachten, die Richards Schwager Heinrich der Löwe durch 
das babenbergische Haus erlitten hat: der Verlust des Herzog- 
tums Bayern i. J. 1142, bzw. eines Teiles desselben i. J. 1156, 
sowie der weitere Verlust der Erbschaft Ottokars von Steier- 
mark i. J. 1180. 

II. Richard ist keineswegs als Abenteurer planlos von der 
Adria nordöstlich gezogen und schließlich durch einen Zufall 
nach Erdberg bei Wiengeraten. Sein Reiseziel ist der Hof König 
Belas von Ungarn zu Gran (Strigonia) gewesen, das von Wien aus 
auf der Donau leicht und rasch erreichbar war. Dort durfte er nicht 
nur für seine Person Schutz und Sicherheit, sondern auch für 
seine welfenfreundliche und stauferfeindliche Politik Verständnis 
und Förderung erhoffen. Die Heimreise nach England hätte er 
von Ungarn aus durch Mähren, Böhmen und Sachsen bewerk- 
stelligen können. 

III. Das geheimnisvolle Versprechen, das Richard dem 
Kaiser „de Henrico quondam duce Saxoniae“ am 29. Juni 1193 
zu Worms gab, hatte vermutlich einen Verzicht des letzteren 
zum Gegenstande, und zwar auf den Vollzug des matrimonium 
juratum seines áltesten Sohnes Heinrich von Braunschweig mit 
Agnes, der Erbtochter des rheinischen Pfalzgrafen Konrad. 


295 


Lateinische Verseinträge in einem V ocabular 
des 15. Jhds. 
(cod. Frankfurt a. M., Barthol. 136). 


^w 


Von 


Hans Walther. 


Das Vocabular der Hs. 136 der ehemaligen Dombibliothek 
zu Frankfurt a. M.! ist in einer ziemlich flüchtigen und groben 
Kursive von einer einzigen Hand geschrieben. Es ist eine Papier- 
hs. von 409 Bll., 15,5 & 21,5 cm, mod. Blattsignierung mit Blei- 
stift, in Holzdeckel mit gepreBtem, dunkelbraunem Lederüber- 
zug, dessen Schließen abgerissen sind. Die Perg.-Schutzbll., 
gram. Text, etwa s. XIII. ex. Zur Datierung und Lokalisierung 
helfen folgende Eintragungen: f. 23' (v. Schreiber d. Voc.) Annus 
jubileus est annus gratie. p. ein genadereich jar. Paulus II. papa 
instituit in 25. anno et 1475. f. 4087: Anno domini millesimo 
quadringentesimo septuagesimo sexto obiit dominus Michael 
Rotel, predicator Cubitensis capellanus fraternitatis, publicus 
notarius; orate pro anima ipsius et tandem pro domino Wenzes- 
lao Scherfen, plebano in Kungsuurd, quicumque in futuro tem- 
pore erit possessor istius libri, propter deum et retributionem 
omnium bonorum. Diese Notiz und eine Bemerkung über einen 
ungewöhnlichen Schneefall zu Mariae Verkündigung 1477 (f. 409") 
rühren von anderer Hand her. Es ist anzunehmen, daß die Hs. 
im Jahre 1475 geschrieben wurde und daß die zahlreichen Zusätze 
verschiedener Hände in den unmittelbar darauffolgenden Jahren 
vorgenommen wurden. 

Das Vocabular unterscheidet sich kaum wesentlich von den 
zahllosen anderen Glossaren der Zeit. Es beruht — soweit ich 
I Pank der Liebenswürdigkeit der Verwaltung der Stadtbibliothek konnte ich 


die Hs. Aug. 1930 im Lesesaal der Bibliothek und darauf längere Zeit an der UB. 
Göttingen studieren. 


296 Hans Walther 


feststellen konnte — hauptsächlich auf Papias und Hugucio. 
Besonderes Interesse hatte der Sammler für die hebr. Eigennamen 
der Bibel und für botanische und medizinische Ausdrücke. Aus 
zahlreichen Neubildungen und Bedeutungsentwicklungen scheint 
mir bestätigt zu werden, daß die lat. Sprache im MA. in gewissem 
Umfange als Umgangssprache diente. Wegen der spezifisch 
mittelalterlichen Färbung des enthaltenen Wortschatzes dürfte 
auch dieses Glossar, auf das hier nicht näher eingegangen werden 
soll, ein gewisses Interesse beanspruchen können; es beginnt, 
da f. 1 mit allerlei Versen bedeckt ist, auf f. 2" Aaron magnus 
vel fortitudo interpretatur... Vor jedem Artikel ist Wortart 
und grammatisches Geschlecht mit Anfangsbuchstaben ange- 
geben. Manche Übersetzungen sind seltsam, einige offensichtlich 
falsch. Die etymologischen Erklärungen bewegen sich in den- 
selben Bahnen, wie man es auch sonst im MA. gewohnt ist; ich 
führe als Beispiele an: f. 56" Caribidis* est locus periculosus 
in mari et quasi carinas abdens i.e. naves abscondens; f. 336' 
Roma interpretatur tonitruum, tristis, merens vel sublimis et 
est civitas capitalis, ubi residere dicitur apostolicus, etiam quasi 
rodens manus peregrinorum; dazu die Verse: Versus (versa Hs.) 
amor mundi caput est sive (sum Hs.) bestia terre. Amor, um- 
gekehrt Roma! clm 10751 f. 74" statt sive] et; vgl. Hist. Jb. d. 
Gg.47,496. Von a. Hd. sind weitere Roma-Verse zugefügt: 

Curia Romana non querit ovem sine lana, 

Dantes exaudit, non dantibus hostia claudit. 

Über den ziemlich verbreiteten Spruch und ebenso den folgenden 
wird der demnáchst erscheinende 2. Bd. der neuen Carm. Bur.- 
Ausg. (ed. Hilka-Schumann) unterrichten. 

Roma manus rodit; quas rodere non valet, odit. 

Und die folg. Casusspielerei: 

Accusative si Romam ceperis ire, 

Veneris (veris Hs.) in nichilo, si veneris absque dativo. 
Gedr. v. Zingerle, WSB. 54, 316 u. Grauert, Magister Heinrich, 
der Poet v. W. S. 106, findet sich auch bei Salimbene (MGH. 
SS. 32, 227) und cod. Tours 890 (x. XII.) f. 727; vgl. auch Hist. 
Jb. d. Gg. 47, 497; eine dreizeil. Fassung im Anzeiger f. Kunde 
d. d. Vorz. 20, 101; noch erweitert im elm 107651 f. 577: 


* Ich behalte die Schreibung der Hs. bei; durch Sperrung hebe ich das Stich- 
wort hervor, unter dem der betr. Vers usw. im Vocabular eingetragen ist. 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 297 


Accusativus Rome perit absque dativo, 

Aut accusetur aut accusare laboret, 

Proficit in neutro nisi subveniente dativo; 
Rex et papa favet, favet et patriarcha dativo, 
Judex justus erit; „nequeo“ vel ,,nescio'' dicit, 
Accusativus si venerit absque dativo. 


Bemerkenswert kühn ist die Orthographie des Schreibers; ich 
führe nur einige besonders markante Beispiele an, wobei ich die 
gewöhnlichen ma. Eigentümlichkeiten übergehe: Acaris- acharis 
(non gratiosus), achatemia — academia (villa Platonis, in qua 
studuit), agonisare —-izare (häufig!), anichalare = annihilare 
(auch sonst auffallend háuflg Konsonantenvereinfachung bzw. 
-Verdoppelung und Unsicherheit in den Vokalen der unbetonten 
Silben), athramen — atr... nigredo (wdh. th für t), bapharia — 
Bavaria (überhaupt oft Wechsel von f, ph und v: fallis — vallis), 
bestvalia =Westfalia (b — v öfter, allerdings auch in der Schrei- 
bung ähnlich), discregare = disgregare = dispergere (nicht ver- 
einzelt), enerchia — energia, fescidudo — fessitudo — lassitudo (das 
d wohl nur verschrieben, allerdings wiederholt), kathervarius — 
caterv. = princeps in turba, prossus = prorsus, scissitare = 
scisc., sciren = Sirene, sevirus=zephyrus; besonders kühn sind 
natürlich die Schreibungen der aus dem Griechischen und Hebrä- 
ischen stammenden Wórter und Namen. Einen Hinweis ver- 
dient die höchst seltsame Kürzung xpa = christa = signum galee. 

Indessen nicht dieses Vocabular erweckt so sehr das Interesse, 
sondern die zahlreichen Verse, die verschiedene Hände über die 
ganze Hs. verstreut?, zu den einzelnen Artikeln des Vocabulars 
als Beispiele und zur Einprägung hinzugesetzt haben, z. T. ist 
es dieselbe Hand, die auch einzelne Wörter samt den Erklärungen 
bzw. Übersetzungen am Rande und zwischen den Zeilen nach- 
getragen hat. Die Hauptmasse dieser Verse sind Sprichwörter, 
2. T. bekannte, z. T. unbekannte, vorwiegend spätma. Weisheits- 
gut; ich habe sie vollständig kopiert und werde später darauf 
zurückkommen; es zeigen sich besonders Beziehungen zu den 
Sprüchen, die J. Klapper kürzlich veröffentlicht hat (Die Sprich- 
wörter der Freidankhss. Breslau, 1927.), ferner zu der öfter 
em scharfen Auge Lorenz Dieffenbachs, der die Hs. in dem hs. Katalog 


der Hss. der Stadtbibliothek beschrieben hat, ist diese Tatsache entgangen; er sig- 
nalisiert nur die Gedichte und Verse, die dem Glossar auf f. 409 u. 410 angehängt sind. 


298 Hans Walther 


gedruckten Sammlung ,,Sententiae proverbiales de moribus. . .'*, 
z. B. Basileae, 8. a. (1568), Oporin, und zu einer von mir kopierten 
Spruchsammlung einer Kremsmünsterer Hs.; seltener begegnen 
Übereinstimmungen mit den Sprüchen einer Wiener Hs. und 
den in Müllenhof-Scherers Denkmälern abgedruckten Sprich- 
wórtern. Eine zweite umfängliche Gruppe von Versen sind 
medizinische und botanische Merkverse, zum allergeringsten 
Teil der — im MA. sonst für diesen Zweck verwendeten — 
Schola Salernitana (ed. S. de Renzi, Neapel, 1859) entnommen; 
anscheinend liegt für sie eine andere, mir nicht bekannte Quelle 
zugrunde. Ebenso zahlreich sind etwa die Verse grammatischen 
Inhalts zur Einprägung der Etymologien, der prosodischen 
Längen und Kürzen usw. 

Nicht auf diese drei Gruppen wollte ich hier die Aufmerksam- 
keit lenken, sondern auf eine Reihe von Versen, die mir aus ver- 
schiedenen Gründen beachtenswert erscheinen. Auf f. 63" liest 
man die folgenden Zeilen: 

O, tu pincerna, qui cervisie dominaris, 

Quod confundaris,si das, quod conglomeraris (quid gloriaris Hs.)! 

Si das ,,Quicumque'', diabolus fundat utrumque! 

Ibis (plus Hs.) ad astra poli per das „Me tangere noli“. 

Cervisiam (cervisia Hs.) lente, vinum infunde repente! 
Zur Deutung: , Quicumque" (Cuicumque?) und ,,Me tangere 
noli" dürften scherzhafte Bezeichnungen für Weinsorten sein; 
möglicherweise steckt auch eine solche in dem „quid gloriaris“, 
da dann das „fundat utrumque“ besseren Sinn ergeben würde; 
aber die Hs. hat „confundat“, in welchem Sinne auch das von 
mir eingesetzte „fundat“ zu verstehen ist, „utrumque‘ bezieht 
sich dann auf den pincerna und die von ihm verschenkte schlechte 
Weinsorte „Quicumque‘; die Hs. hat allerdings, wie gesagt 
confundat", doch glaube ich, daß dieses versehentlich aus der 
vorhergehenden Zeile hineingeraten ist (Kürzung), da sonst die 
beiden Verse fehlerhaft wären. Weswegen ich diese Verse aber 
hier mitteile, das ist nicht der Inhalt, sondern die Überschrift 
„Vagus“. Die mannigfachen Versuche, die in letzter Zeit zur 
Bestimmung des Begriffes „Vagantenlyrik“ gemacht worden 
sind (ich erwähne nur die Arbeit von B. Jarchow, Die Vorläufer 
des Golias, Speculum 3, 1928, 523—79, und die Ausführungen 
O. Schumanns in der Einleitung zu der eben erschienenen neuen 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 299 


Ausgabe der Carmina Burana (Heidelberg, 1930, S. 82ff.), be- 
rücksichtigen m. E. zu wenig die hs. Überschriften, die bestimmte 
Erzeugnisse ausdrücklich mit ,,vagus, scolaris, Golias (u. Ab- 
wandlungen dieses Sammelnamens)“ u. à. bezeichnen; es wäre 
wichtig, solche hs. Zeugnisse einmal zu sammeln, vielleicht 
würde sich dann doch ergeben, daß man besser dichtende Uni- 
versitätsprofessoren, wie Walter von Chatillon, elegante Hof- 
dichter, wie Henry v. Avranches, u.a. überhaupt nicht mit 
dieser Literatur in Verbindung bringt. Von Versen der Hs. aus 
der Sphäre des Vagantenlebens erwähne ich nur einiges: f. 13": 
Dum alauda canit „zirzir“, scolares currunt „pirpir“, 
wo ,pirpir'" anscheinend das Fortschwirren lautmalerisch zum 
Ausdruck bringen soll. Hierzu gehóren auch die Bettelverse, 
von denen unsere Hs. einige Beispiele bietet; f. 61": Qui mihi 
dat cenam sine potu, dat mihi penam, ohne Var. auch in clm 
10761 f. 11" u. in Wolfenbüttel, Helmst. 529; auch bei J. Werner, 
Lat. Sprichw. S. 77. Zu vergleichen ist in unserer Hs. f. 118“: 
Qui mihi dat potum cum esca, dat mihi totum, worauf (als 
Antwort ?) folgt: Esca datur gratis, mos est, ut potum ematis 
(potum ut Hs.). 
Die reinen Trinkverse berücksichtige ich hier nicht, nur 
soweit um einen Trunk gebettelt wird; f. 394': 

Vivat in eternum, qui dat potare valernum(!), 

Qui mihi dat villum, deus autem destruat illum! 
Der 2. V. begegnet unten f. 399" noch einmal; die beiden Verse 
auch in Göttingen, Lüneb. 2 f. 22575, wo v. 1. potare] mihi dulce, 
v. 2. Satanas male torqueat i.; vgl. a. Sent. Prov. l. c. S. 171 u. 
Medulla facetiarum... Stuttgart, 1863, Nr. 340. 

f. 93": Qui dare vult aliis, non debet dicere ,,vultis?''; Hoc 
verbum „vultis?“ nocet sepissime multis; dessen 1. V. häufiger 
überliöfert, z. B. J. Werner, Sprichw. S. 77. 

f. 99": „Do“ plus letificat, quam si quis bis „dabo“ dicat. 
(oder: „bis dabo“ ?) Var.:signiflcat, Göttingen, Lüneb. 2 f. 228'*, 
u. magnificat, J. Klapper l. c. 148. 

f. 100": Audio sic dici: donando simus amici! J. Werner, 
l.c. 8.6: dando retinentur a. 

f. 146' u.“: Frigora grandia sunt mala gaudia veste carenti; 
wörtl. auch cod. Kremsmünster 81 f. 84”. 

f. 308": Subvenias, presul, quoniam sum pauper et exul. 


300 Hans Walther 


f. 365°: Omnia prebentem spernit, qui spernit egentem. 
Auch bei Werner, I. c. S. 66 u. J. Klapper, I. c. 419. 

f. 402°: Vivere de vento quemquam non posse memento! 

Aber nicht nur diese Bettelverse und die mannigfachen 
Sprüche über das Poculieren führen zu der Vermutung, daB 
Schüler dies Vocabular benutzt haben, sondern auch die Verse 
über medizinische Dinge, über Kräuter und Tiere, die gewählten 
Beispiele für grammatische Regeln und Wortbedeutungen liegen 
in der gleichen Richtung, ja, die getroffene Auswahl der berück- 
sichtigten Wórter im Glossar legt die Vermutung nahe, daB es 
von einem Scholaren angelegt ist. Denselben Geist zeigt etwa 
ein Tintenrezept, f. 402", überschrieben „Incaustum“: 

Uncia sit galli, media pars (sit) quoque gummi, 
Tercia vitrioli, quantumvis sume valerni! 
auch in Göttingen, Jurid. 152 (s. XIV.) f. 1* (m. Var.). 

Um auf das ,,Vagantenproblem'' nochmals zurückzukommen: 
noch ein anderer Weg zur Aufhellung scheint mir bisher nicht 
genügend begangen zu sein. Es müßten die zahlreichen ma. 
Glossare unter den in Betracht kommenden Stichwórtern einmal 
planmäßig verglichen werden. Ich stelle im folgenden einiges 
aus unserer Hs. zusammen, ohne auf die Erklärungen anderer 
Glossare einzugehen: 

f. 12" agula dicitur leccator, leno vel ioculator vel a gogula 
quasi agens gulam. — f. 17 ambrones ...homines divagantes 
et leccatores, etiam ab am, i. e. circa cum prosis cibus. — f. 25" 
apparitores vel apparatores ...ioculatores... — f. 30“ arde- 
lio, -onis ...leccator nequam vel ioculator, quasi ardens in 
alienis, scil. lingendo scutellas alienas et habens amorem ad 


meretrices. — f. 42" balo, -onis dicitur leccator inutiliter 
clamans et balans ante mensas dominorum et cibaria eorum 
devorans. — f. 44" beanus dicitur leccator pauco tempore in 


studio existens, malos et grossos mores ad modum bestie habens. 
— f. 48" bolinus ...leccator multa garrolans(!), ein herolt.— 
f. 65° circumcellio ...monachus, qui semper circum cellas 
vagatur et spaciatur et potest dici monachus vagus. — f. 87" 
degulus ...leccator vel mimus. — f.158' gesticulator 
...loculator vel portator. — f.164' guliardus ...leccator 
quasi ardens in gula. — f. 168" heroldus ...vagus, ein herolt 
(s. O. l). — f. 171” hystrio, i. e. leccator vel ioculator vel sal- 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 301 


tator, qui gesta mulierum impudicarum et fabulas exprimit. — 
f. 200" istrio ...leccator... ab is et sto, quia solet instare 
mensas dominorum. — f. 196" iocista, ioculator, iocularius 
...idem significant. — f. 2197 ludius ...histrio, qui semper 
ludit. — f. 237 mimus ...est leccator vel ioculator. — Fallitur 
ile nimis, qui dat sua munera mimis. Und von a. Hd.: Mimis 
dona dare thus est dare demonis are. — f. 249" nebulo, -onis 
...leccator gulosus, qui est vanus in verbis, qui potest mul- 
tum comedere (Franci nebulones? Völkerspott? ?). — f. 275" 
panthominus (), panthonomus ...leno, ioculator. — 
f. 27771 parasitus ...histrio vel leccator, para —iuxta, situs = 
venter(!). — f. 849" scurra ...serviens vel comes Sa sequor et 
curia, quasi sequens curiam vel quasi scutellam radens. scurror 
.. irrisor sive leccator, qui aliquem sequitur causa cibi vel potus. 

Im folgenden gebe ich noch einige Beispiele aus dem 2. Teile 
der Hs., die mir der Welt der „Vaganten‘ zu entstammen schei- 
nen: 

f.118': Bursa carens ere nequit inter vina sedere. o. Var. 
bei Werner, I. c. S. 7, u. ö. —f. 128°: Est monachus fabas, dum 
pisces comedit abbas. Auch Erlangen, UB. I, 49 f. 132" (gedr. 
Katal.) u. ö. —f. 1427: Fons valet oranti, cervisia grata cubanti, 
Vinum studenti, medo quoque basea(!) danti. — f. 143': For- 
mosior stella me diligit una puella, Non est in villa, que sit 
speciosior illa. Auch (fehlerhaft) f. 318'. — f. 172“: Est hospes 
mitis „Vos fratres, unde venitis? Hic bibat, hic comedat, qui 
vult, sed postea solvat!“ Auch Vat. Pal. Lat. 719 (s. XV.) f. 23", 
wo v. I. vos f. ] recipit vos. — f. 172": Hostia sunt clausa 
dominorum non sine causa, Nam timent dentes potantes esu- 
rentes, M. Var. bei Werner, l. c. S. 67. — f. 303°: Omnibus 
est notum, quia maxime diligo potum ; Si possem, pellem pro 
potu ponere vellem. M. Var. cod. Wolfenbüttel, Aug. 2792 
(3. XV.) f. 180°, gedr. Sent. prov. l.c. S. 107 u. Medulla fac. 
Nr. 194. — f. 309“: Quatuor hii fari bene possunt atque iocari 
In mensa: princeps, doctor, ioculator et hospes. — f. 348°: 
Quidquid voraris sub paupertate scolaris, Non est delictum, 
per Paulum sit tibi dictum. Ist gedacht an Gal. 6, 1ff.? — 
[.348': Ignes solares faciunt resilire scolares. — f. 3497: 
Scribere qui nescit, nullum putet(!) esse laborem; Tres digiti 
scribunt totum corpusque laborat. Ein häufig begegnender 


302 Hans Walther 


Schreibervers. — f. 400°: Cum duo sunt vina, mihi de meliori 
propina! Ebda.: Dumbibo vinum,loquitur mea ligwa latinum, 
Dum bibo cervisiam, tunc perdo philosophiam. In umgekehrter 
Reihenfolge auch f. 248". Habe ich auch notiert aus Wolfen- 
büttel, Helmst. 1140 (s. XV.) f. 4". Man wird erinnert an Archi- 
poeta III, 4f. (ed. M. Manitius, 2. Aufl. München, 1929, S. 26f.). 

Mógen diese Beispielsverse zugleich einen Eindruck vom 
Wesen der hier vorliegenden Sprüche vermittelt haben! Die 
zahlreichen Frauenverse (contra feminas), die wenigstens zu 
einem guten Teil auch in den Kreisen der Fahrenden heimisch 
sind, habe ich hier ebenso übergangen wie die reinen Potatoria, 
da ich sie bei Gelegenheit in dem gehórigen Zusammenhange 
veróffentlichen werde. Aber in den Kreis dieser Vagantenverse 
gehóren auch gewisse Verse des Primas, über dessen Dichtungen 
Wilhelm Meyers grundlegende Arbeit zu vergleichen ist: Die 
Oxforder Gedd. des Primas, Magister Hugo v. Orleans. Nachr. 
d. Gött. Ges. d. W. ph.-h. Kl. 1907, 765—111, 113—765. f. 227 
(auch f. 226', wo falsche Reihenfolge) steht in unserer Hs. das 
bekannte Gespräch mit seinem Mantel: 


O, bone mantelle, sine pilis et sine pelle, 

Si potes, expelle frigus rabiemque procelle! 

Dixit mantellus: ,,Mihi nec pilus est neque vellus, 
Complerem iussum, sed Jacob, non Esau sum“. 


Dazu f.50': Prespiterum struma, fex cleri, sordida spuma, 
Prebuit in bruma michi mantellum sine plumas. 


Die Überschrift „Primas“ trägt f. 159" der folgende Vers: 
Me frigus cogit, proprio crescit in agro gith. Ich habe den Vers 
sonst nirgends feststellen kónnen, auch bei W. Meyer findet er 
Sich nicht, soviel ich sehe. Er steht auch f. 307" in unserer Hs., 
an beiden Stellen zu „gith“ die Glosse „thurt“ (gith wohl von 
jeten=Unkraut; die Gl. jedenfalls = lolium). Dagegen trifft 
man den Vers (f. 309): „Quid facis hic, Primas?“ „Lego 
stramen, obstruo rimas!“ auch unter den von W. Meyer l. c. 
S. 118 besprochenen Versen. 


* Bei W. Meyer l. c. S. 115f. stehen die Verse in etwas abweichender Fassung; 
vgl.auch meinen Nachtrag aus einer Erfurter Hs. (Mittelalterl. Hss. Festgabe f. 
Herm. Degering, Leipzig, 1926, S. 313). 

5 W. Meyer, I. c. S. 115; Festg. f. Degering, S. 313. 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 303 


Im Zusammenhang mit dem Primas scheinen mir auch die 
Verse zu stehen, die mit „Petre, quid est...“ beginnen. Hier 
steht f. 396' der folgende: „Petre, quid est venter?'' „Pelles 
mendica frequenter!“ Sollte es sich dabei um eine Art von 
Schülerspiel handeln, bei dem der eine Schüler die erste Hälfte 
des Hexameters sagte, der zweite die reimende zweite Hälfte 
finden mußte ? Ich habe 6 solcher Verse aus der schon erwähnten 
Erfurter Hs. mitgeteilt (Ma. Hss. 1. c. S. 313). Der obige jetzt 
auch bei J. Klapper, 1. c. 451. Ich kann heute noch einen wei- 
teren aus der mehrfach zitierten Hs. clm 10 751 f. 43" hinzufügen: 
Petre, quid est nequam? Qui normam non tenet equam! 

Um die Mannigfaltigkeit der Verseintráge der Hs. zu kenn- 
zeichnen, teile ich im folgenden noch einiges mit, das vielleicht 
im Zusammenhang mit bereits Bekanntem oder auch als Novum 
zu interessieren vermöchte. Zunächst drei Reisesegen in Versen: 

f. Ir (rhythm. ): Jesus Christus cum Maria 

sint nobiscum in hac via, 
ut eorum in virtute 
transeamus cum salute! 

f. 228": Per mundi maria nos perduc, Virgo Maria! — 
Ebda.: Dum transis maria, cane sedule „Virgo Maria''!$ 

Merkwürdige Regeln für die Behandlung von Gastfreunden 
geben einige andere Verse, f. 18": 

Hospes amice veni, sed tempore non tamen omni; 

Semel, bis vel ter tibi do (do tibi Hs.) prandere libenter, 

Si velles, frater, tibi continuareque quater, 

Frater dilecte, si vis discernere recte, 

Porta quid tecum, si vis comedere mecum! 


In V. 1 fehlt tamen in der Hs., korrigiert nach J. Werner, I. c. 
8. 37, wo nur dieser Vers und als 2. V.: Bis vel ter venias: sic 
Satis esse scias. Entstellt in unserer Hs. f. 57", 2 V.: 

Amice care veni non tempore omni, 

Si venis bis vel ter, dabo prandere libenter". 


l. 57“: Cas eus est carus, dixit quidam (mihi?) semper avarus, 
Non importetur, nisi festa dies celebretur. Basel. UB. A. XI, 67 
— — 


' Zu dem ersten der beiden Hexameter vgl. Florilegium Gottingense Nr. 83 
(Roman. Forsch. 3, 1878, 2811f). 

’ In sehr viel besserer Form (3 Dist.) abgedruckt bei J. Werner, Beiträge... 
Aaa, 1905, S. 158. 


304 Hans Walther 


(die von J. Werner, Sprichw. benutzte Hs., dieser Spruch vonW. 
nicht mitgeteilt) f. 1327 hat V. 1 quidam dicebat avarus, V. 2 
Non incidatur, nisi festa dies comitatur. Steht auch in Oxford, 
Bodl. Laud. Misc. 465 und in den ,, Altniederl. Sprichwörtern. 
hrsg. von Hoffmann v. Fallersleben, Hannover, 1854, 448. 

Von den zahlreichen Versspielereien und Scherzen mógen 
auch einige Beispiele angeführt werden. An Blasphemie grenzen 
die folgenden Spielereien, deren Form im MA. sehr beliebt war: 

f. 82": Traditor est Cristus Joseph pater eius adulter, 

Judas est sanctus justus deus et maledictus. 
Während diese Verse mir sonst unbekannt sind, sind die ff. häufig 
überliefert, allerdings ohne den V. 3 (vgl, z. B. Werner, I. c. 
S. 20); f. 94“: Dilige luxuriam, vicium cole, destrue sanctos, 
Virtutem fuge, sperne deum, Sathan venerare! Si tu sic vivis, 
nunquam mala morte peribis; in der letzten Zeile die 3 letzten 
Wörter gestrichen und ersetzt durch: salvus eris. Eine unglaub- 
lich obszöne Blasphemie auf f. 49' übergehe ich. Ein Scherz, 
der auch in Bern 211 (s. XV.) f. 127" mit geringen Abweichungen 
sich findet, steht f. 208' (dies im Text des Vocab.): Inde dicebat 
dyabolus quidam monacho: 

Super latrinam non debes dicere primam. 

Et monachus: 

Purgo meam ventrem, colo deum omnipotentem; 

Hoc deo, quod supra, sed hoc tibi, quod cadit infra. 
Bern fügt hinzu: Hic et ubique deo possum servire meo. (vel 
deum colere p. meum.). f. 897: Demon sedebat, bracam cum 
reste suebat; Si non est pulchra, tamen est consutio firma; 
o. Var. in clm 10751 f. 18', in erw. Form (7 V.) in Zeitz, Dom- 
herrnbibl. LXI (s. XIV.) f. 120. — Einen VergeBlichen scheint 
zu verspotten, f. 237': Les sua mi stultus calcaria viscitur obli. 
— miles obliviscitur. 

Parodie auf die beliebten „Liebesgrüße“ mit „quot —tot“ 
(vgl. meinen Aufsatz in d. Zeitschr. f. dt. Altert. 65, 1928, 257 
bis 89 u. 66, 68; das dort gebotene Material läßt sich verviel- 
fachen) liegt wohl ziemlich sicher in dem folg. Verse vor, über 
dem ich lange getüftelt habe, das Ergebnis will ich nicht vor- 
legen, f. 291“: Alpi pen ca bas tot habet in nas quot habet gras. 
Diese Sprüchlein sind also schon lange vor den Dunkelmänner- 
briefen verspottet worden. 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 305 


Die oft gewagten Konstruktionen der sogen. „Liebesgrüße“ 
scheinen die ff. Verse zu verspotten; f. 393": 

Ignis scintillans, terra lapides, aqua stillans, 

Celum virtutes tociens tibi mitto salutes, 

Cum mundi mete, tibi tociens mitto valete. 
Oder soll man etwa bessern: i. scintillas, terre 1., aque stillas, 
celi v.? Wodurch freilich auch nicht viel geholfen wáre. Ich 
glaube eher das erstere, zumal wenn man solchen Schülerquatsch 
ansieht wie f. 2757: Quid stanter fanter canter panter quid 
ovanter! Oder f. 235': Vidi unus homo, qui portabatur equum 
bis, Vidi plures canes, quis amabatur ab unus. : 

Ein Gruß anderer Art f. 399“: 

Dulcis amica, vale! carmen dono tibi tale: 

Deprecor, ut villici tibi nunquam fiunt(!) amici. 

Von scherzhaften Sprüchen erwáhne ich noch, f. 54*: ,,Salve, 
mi socie!“ dixit tortor campaniste; „Tu trahis, ego traho, sic 
fune vescimur ambo". 

Ziemlich háuflg kleidete man solche Sprüche in kurze Dialoge, 
wofür auch unsere Hs. verschiedene Beispiele liefert; f. 103": 
„Est mihi sensus ebes, ideo michi parcere debes."  ,,Parcere 
nolo tibi, quia nequam te fore scivi." Auch in 3 anderen Hss. 
f. 301": ,, Quid nobis portas?'* „Fero sportas!“ „Aperi portas!“ 

An die oben mitgeteilten Scherzverse des Primas erinnern 
die folgenden, f. 3997: ,, Quid facis in vico?“ „Mulierem follibus 
ico!“ „Est tua vel cuius?“ „Mea non, sed pauperis huius!“ 

Gelegentlich begegnen wir akrostischen Spielereien, wie 
f. 42": Bibens acriter eervisiam, humiliatione audiens nullius 
Sapientiam = bachans. Oder f. 917 die Interpretation von 
Deus: Dans eternam uitam suis. Und f. 401“ ein Vers über das 
Merkwort „saligia‘‘ (auch clm 4409 f. 10): Si tibi sit vita, semper 
saligia vita, wo saligia die 7 peccata mortalia oder capitalia 
bezeichnet: Superbia, avaritia, luxuria, invidia, gula, ira, 
&ccidia. In derselben Linie liegen die Interpretationen und 
Silbenspielereien über das Halleluja (7. V.), die sich auf f. 14" 
bis 15° finden (im Text): 

Alle narrate, lu laudem, ia dominoque. 
Alle salvifica, lu me(!) sit, ia tibi, Christe etc. 

Es schlieBen sich (a. R.) 3 Prosainterpretationen an, deren 
erste: Al i. e. dominus, le i. e. levatur in cruce, lu i. e. lugent 

Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 20 


306 Hans Walther 


apostoli, ia i. e. iam surrexit. Eine ähnliche Definition für das 
Kyrieeleis auf f. 203” und f. 238" über die Heilswirkung des 
Miserere. | 

An die obenerwähnten Merkwürdigkeiten und Spielereien 
dürfen wir nicht unsern Maßstab anlegen; das MA. war stolz 
darauf, man findet immer wieder ähnliches. Es braucht hierbei 
nur an die so außerordentlich beliebten Wortspiele erinnert zu 
werden, wofür ein Beispiel (für viele) auf f. 2017: Judicis (judex 
Hs.) est recti: prece nec precio male flecti. M. Var. bei Werner, 
l. c. S. 44. Sent. prov. l. c. S. 76 ist das Wortspiel zerstört: nec 
munere nec prece; es findet sich z. B. auch bei Walter v. Chatil- 
lon, Moral.-satir. Gedd. ed. K. Strecker, 1929, 69, 26, 3. Die 
Vorliebe der mlat. Schriftsteller für Wortspiele geht m. E. zum 
guten Teil auf die in der Schule auswendig gelernten Verse über 
Homonymen und über Prosodie zurück. Unter den sehr zahl- 
reichen Beispielen greife ich beliebig das für pendere und pendere 
heraus, f. 288': | 

Justus homo pendit, latro pendet uterque pependit. 
Pendere tortoris, sed dic pendere doloris. 
. Pendere vult justus, sed vult pendere malignus. 
Oder f. 174": Si non vis jacere lapidem, dimitte jacere. 
Ich wáhlte dies Beispiel, um eine im MA. nicht ganz ungewóhn- 
liche Verwendung von „dimittere“ zu zeigen. 
Von sprachlich und literarisch bemerkenswerten Sprüchen 
seien noch die folgenden mitgeteilt: 

f. 204”, unter der Überschr. „Ad vocem": 

Instrumenta novem sunt pulmo, ligwa, palatum, 
Quatuor et dentes et duo labra simul. 

f. 48" ist für die „barbarlexio, barbarlexis“ (commixtio 
latini sermonis cum barbaro) als Beispiel gesetzt: Est bona vox 
na ly, melior py, optima lypi, was ich nicht zu deuten vermag; 
es erinnert an die Verse „Est bona vox Hol wyn... (z. B. Anz. f. 
K. d. d. Vorz. 27,139); als weiteres Beispiel: Qui plus vult forcern 
quam suum aratrum kan (der) eren, Non est wunder, das her 
sepe paciatur hunger’. 

e Ähnliche, ebenso fehlerhafte Mischhexameter (sie kommen in sauberer Form 
vor!) finden sich in einem Formular, das kürzlich K. Burdach veróffentlicht hat: 
Schles-bóhm. Briefmuster a.d. Wende d. 14. Jahrh. Berlin, 1926. S. 107 (, Vom 
MA. z. Ref. V.). 


. Läteinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 307 


Aber auch für sogen. „echte Maccaroneana“, deren Existenz 
ich noch vor kurzem für das MA. leugnen mußte (vgl. W. Heraeus 
Rhein. Mus. NF. 79, 273), bietet unsre Hs. einen — wenn auch nur 
einzeiligen — Beleg auf f. 62”: Non aufert (hoc) Cephäs, quod 
contulit o theus ymas, wo cephas —Haupt der Apostel Papst; 
vgl. Eberh. Bethun., Graecismus, ed. Wrobel, S. 68, V. 260: 
Hoc nomen cephas fertur caput esse Latine, Dicitur et Cephas, 
quod caput ecclesiae. - | 

Eine echt mittelalterliche Variation des „Et prodesse volunt“ 
auf f. 286': Metra juvant animos, comprehendunt plurima 
paucis, Pristina commemorant, satis sunt hec tria legenti. 

Einen mannigíach variierten Gedanken finden wir in dem 
Spruch f. 300°: | | 

Ars esurit, decreta tument, lex lucra ministrat, 
Pontificat Moyses, thalamos medicina subintrat, 


worüber zuletzt gehandelt hat: K. Strecker, Quid dant artes 
niei luctum! Stud. Mediev. NS. I, 391. cod. Góttingen, Ju- 
rid. 152 f. 1', V. 1 vigent. 

Eine merkwürdige Einstellung zu den Juden verraten die 
folgenden Zeilen f. 201' (in d. Hs. hinter dies eingesch. fides): 
Quatuor ex causis judeis parcere debes: Lex patrum, extrema 
dies, memoria Christi. (5 Verse in Wolfenbüttel, H. 1042 Hinterd. 
gedr. Katal.; stehen auch clm 5173 Vorderd.; zu vgl. Floril. 
Gottingens. I. c. Nr. 10). 

f. 1” bietet die bekannten Verse über den Sieg der Laster der 
der neuen Zeit über die Tugenden der alten; da sie hier einiger- 
maßen vollständig sind, teile ich sie mit: 


Justitia ist geslagen tot, 
Veritas dy leydet grosse not, 
Fallacia ist geporn, 

Fides hat den streyt vorlorn, 
Pacientia ist worden kalt, 

Ira, Odium ist manigkfalt, 
Caritas ist niedergeslagen, 
Luxuria regniret in allen tagen. 


Die Verse erinnern mich immer an Walther v. d. Vogelweide: 
untriuwe ist in der säze, gewalt vert üf der sträze: fride unde 
Teht sint sére wunt. Noch auffälliger ist der Anklang an 


20* 


308 Hans Walther 


Walthers Spruch 20, 31ff. Mir ist verspart der Saelden tor, 
f. 297°: 

Forte michi stillat, tibi quando deus pluviam dat; 

A pluvia dura fit mollis undique terra.- 

Allerdings ist das Bild alt: et clementia eius quasi imber 
serotinus. Prov. 16, 15. An das Wasser der Tegernseer Mönche, 
über das Walther spottet, denkt man bei der Erfahrung, die ein 
Vagant in Regensburg gemacht zu haben scheint, f. 328°: 

In Ratispona dantur tibi fercula bona: 
Pisces parantur, pro nummis hii bene dantur. 

Von Spottversen gegen Völker und Städte hat Wattenbach 
hier und da etwas publiziert; auch hier gibt es einige Beiträge, 
z. B. f. 15”: 

Allec assatum Turingis est bene gratum: 
De solo capite faciuntur fercula quinque’. ] 

f. 46: Westvalus est raptor, fur Friso Saxoque latro. ent- 
stellt (par ferro) auch f.346'; 2 V. in Basel A. XI, 71 f. 182', 
gedr. Katal. — f. 227: Anglicus a tergo caudam gerit, est canis 
ergo. — Ebda.: Anglicus angelus est, cui numquam credere 
phas est. Vgl. zu beiden V. Anz. f. K. d.d. Vorz. 24, 340; der 
2. V. hat eine reiche Überlieferung. — f. 467: Dünne preye, grob 
brot, lange meyle, Sunt in Vestvalia; si non vis credere, tempta. 
Steht unter „Bestvalia“ (auch so geschr.!) — f. 487: Est quasi 
bos et mus de iure dictus Bohemus: Bos ad potandum, mus 
ad furtum faciendum. Melk. 415f. 423': dictus de iure. — 
f.278': Parisius locus egregius, mala gens, bona villa, Nam duo 
pastilla pro nummo dantur in illa?®. f.306': Nemo sine veste debet 
intrare Preneste. Schließlich 2 Verse auf den Sachsen, f. 291°: 

In brevi tunica saltat Saxo quasi pica. 
Ut pica pirum, comedit Saxo butirum. 

Wetterregeln, in den Vulgársprachen so außerordentlich 
verbreitet, begegnen lat. seltener. f. 2287: 

Dum Mars arescit et mensis (mens Hs.) Aprilis aquescit, 
Mayus humescit, frumenti (-ta Hs.) copia crescit”. 

° Gedr. Sent. prov. I. c. S. 63; V. 1 scheint eine Parodie auf entsprechende 
Verse der Schola Salernitana, ed. Renzi S. 18, wo statt Turingis ] convivis. 

10 Wörtl. in Göttingen, Lüneb. 2f. 226va; vgl. Hauréau, Notices et extr. IV, 39 
und Notices et extr. 35, I, 210, wo 6 V. abgedruckt sind; eine 4zeilige Fassung in 


clm 10751f. 46r. 
11 Vgl. Müllenhoff-Scherer, Denkm. XLIX, 12. 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 309 


f. 400°: Vincenti festo si sol radit, memor esto: 
Prepara tibi vasa, vites dant tibi uvas. 

Der zweite Vers wird aus Bern 211 f. 145' korrigiert: Ut facias 
cuvas(!), quoniam vitis dabit uvas. (Auch in 3 weiteren Hss.) 
Eine Parodie auf solche Wetterprognosen scheint vorzuliegen 
f. 134“: In sexta feria cibus mutatur et aura: Aut pluit aut 
ningit aut nostra pedissequa mingit; der 2. V. öfter vorkommend. 

In den Sprüchen und Sentenzen unserer Sammlung ist er- 
klärlicherweise überhaupt viel volkstümliches Gut mit gelehrt- 
schulmäßigem vermischt. Ich gebe nur zwei Beispiele; f. 328”, 
die Sage vom Mann im Monde: Rusticus in luna, quem (que Hs.) 
sarcina detinet una, Monstrat per spinam nulli prodesserapina m. 
Und ein bekanntes Volkslied haben wir in lateinischen Versen 
im folgenden vor uns, wenn sie auch im Zusammenhang mit den 
auBerordentlich zahlreichen Spottversen auf die Bauern zu 
betrachten sind, die in gelehrt-hóflschen Kreisen entstanden; 
f. 238": 

Norma talis datur: quando clericus generatur, 

Tres rustibaldi, qui sunt abiles sibi valde, 

Secum nascuntur, qui tune pro clero dabuntur; 

Primus ad inferna pro clero descendit ad yma, 

Sequens per aratrum nutrit clerum quasi thaurum, 

Tercius uxorum nutrit, sed valde decorem. 
Volkstümliche Elemente enthalten — wenn auch nur zu einem 
sehr kleinen Teile — die mlat. Rätsel, die einmal eine zusammen- 
hängende Behandlung verdienten; ihre eigentliche Heimat ist 
die Schulstube. Ich stelle zusammen, was mir unter den vielen 
Rand- und Zwischenversen aufgefallen ist; f. 36": 

Est quoddam sine c, quod splendet clarius igne, 

Si c addideris, propellitur quilibet hostis. — 

Solutio: (c)astrum. Hs.. 

An die oben angeführten Spielereien erinnert — wie manches 
andere im folgenden — f. 46": 

Sennahoi suetham sucram sacul tacideneb; 

Expone versum! Si nescis, vade retrorsum! 
Der erste Vers ist natürlich rückwärts zu lesen, ein häufiger 
Scherz, der auch oft von einer ähnlichen Aufforderung gefolgt ist. 


l ? Die Auflösungen stehen, wenn nichts besonderes vermerkt ist, nicht in der Hs. 
Mit „Est quoddam. .“ fangen des öfteren Rätsel an. 


310 Hans Walther 


Und ein in der ganzen Weltliteratur geläufiges Rätsel, daß auch 
in versch. lat. Formen begegnet, f. 23": 
Cuncti narretis animal, quod sepe videtis: 
Mane quadrupes, meridie bipes, vespere tripes. 
Was die folgende (obszöne ?) Cassusspielerei bedeuten soll, 
vermag ich nicht anzugeben; f. 58' (im Text): 
Questio solvatur, cum Castor ab hoste fugatur(-tor Hs.): 
Cur ablativus dentes gerit in genetivos, 
Ut vitam redimat, genitalia dentibus aufert. 
Vermutlich enthält V. 3 die Antwort. f. 79": Res volat in nemore 
nigro vestitus(-to Hs.) colore, Si caput abstuleris, res erit alba 
nimis. — Sol. (cor)nix. (Gedr. I. B. Friedreich, Gesch. d. Rát- 
sels. Dresden, 1860, S. 212; ich habe eine englische und eine 
Münchner Hs. verzeichnet.) 
f. 89“: In densis silvis venor bis quinque catellis, 

Quod capio, perdo, quod non capio, mihi servo, 
ist das bekannte Láuserátsel (Friedreich, 1. c. S. 181, mir dreimal 
hs. vorgekommen). — f. 85': Quinque cibant, bis bina volant, 
tria stant, (et) duo pulsant. Sol.(d-a-p)es. (Vgl. Friedreich, I. c. 
S. 219; reiche Überlieferung.) — f. 137': Sedif, seps, satirack, 
hec tria dulcius quam lac; Hic non introeas, nisi prius solvere 
scias. (Vgl. o. Bemerkung zu ,,Sennahoi...'' f. 457.) Sehr ver- 
breitet (Friedreich, 1. c. S. 212) das folgende, f. 2457: 

Si caput est, currit et sine flne volabit, . 
Adde pedes, comede et sine ventre bibe. Sol. muscatum. 
Das folgende, f. 250', liest man auch in Bern 211 f. 126°: 
Salve, nepos frater! dixit filio(-ia Hs.) sua mater; 
Verum dicebat; si quis scit solvere, solvat! 
Auch die Erklärung in der Berner Hs. bringt nicht volle Klarheit 
in den verwickelten Fall: Nota, quod intellegitur casus iste in 
thoro et matrimonio legittimo et de lege posita et quod hoc est 
possibile fleri. 
Das folgende findet sich auch in cod. Cambridge, Trin. Coll O. 2, 
45 f. 12", in der unsrigen f. 262": 
Est avis in nemore reliquis avibus nutriens se, 
Ablato (all-Hs.) capite multum prandebit avare. 
Sol. (ni)sus. (Hs. sus) — 
f. 267“, auch in Göttingen, Lüneb. 2f. 221°: 
Est animal notum, quod permanet (dicitur Hs. G)utile totum, 


Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 311 


Illi (!) nil peyus, si demitur caput eius, — Sol. (p)orcus. 
V. 2 auch in Hs. G fehlerhaft: Nihil hoc peius, si removeris c. e. 

f. 2707: Os poterit fari, si demas cornua fronti. Sol. (b)os. — 
f. 357“: In silvis cresco, campis graminibus vescor, In domi- 
bus canto; dic mihi, quid sum ego? Sol. lutina Hs. (, Laute“), 
m. Var. gedr. nach einer Münchn. Hs. Anz. f. K. d. d. Vorz. 26, 
100; 2 weitere Hss. 

Von den auf das Vocabular in der Hs. folgenden Versen mógen 
die satirischen Zeilen auf verschiedene Mónchsorden zum Schluß 
hier Aufnahme finden. Sie sind alle von derselben Hand ge- 
schrieben und erwecken den Eindruck, als bildeten sie ein zu- 
sammenhängendes Stück, was indessen nicht der Fall ist. Sie 
stehen auf f. 408°: 

Dum videas (vides Hs.) monachum, cruce (te)signare memento! 
auch in clm 17 274 inn. Hinterd., wo fehlerhaft videris und richtig 
te, es folgen in dieser Münch. Hs. noch 2 holprige Hexameter. 
Auf die Benediktiner: 

O, monachi nigri, vos estis ad omnia pigri, 
Vos mala gens estis, confundat vos mala pestis! 
Die beiden Verse führt K. Strecker (Zeitschr. f. d. A. 64, 1997, 
106) aus einer Hs. s. XIII. an, wo V. 1 vos] non, omnia] impia, 
V. 2 Nigra notat vestis, quales intrinsecus estis; V. 1 (o]vos, 
sonst wie Hs. Str.) habe ich auch aus Flor., Laur. 12, 27 f. 64 
notiert. 
Àuf die Franziskaner: 

O, Franciscini(!), qui curritis per mundum trini, 

Si estis trini, tercius (est) generis feminini. 
Auf die beiden großen Bettelorden: 

Fratres Minores, elati Predicatores! 

Semper truffatis mundum et (!) infatuatis 

Et mendicatis, universa queque rogatis: 

Ova, frumentum(-ta Hs.), saginam, caseos quoque centum, 

Linum pro panno; hoc fit bene quater in anno. 

Jam non est villa, quin monachus fuit (!) in illa. 

Oder ist der letzte Vers für sich zu nehmen? Jedenfalls trifft 
dies für die beiden Schlußverse zu: 

Dum clerius plattam spernit et monachus cappam 

Et virgo sertum, hec signant vicia certum!®. 


P? In der Hs. hinter hec] tria; eins von beiden überflüssig. 


312 


Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt. 


Von 
Justus Hashagen. 


Wie immer sicb auch die äußeren Lebens- und Berufs- 
verháltnisse Arndts gestalten mögen, immer wieder ist er in 
allen seinen verscbiedenen Entwicklungsperioden durch eine 
Frage gefesselt worden. An ihrer Beantwortuug hat er alle die 
Jahre gearbeitet und um sie gerungen. Es ist die alte und ewig 
ungelöste Frage nacb dem Verhältnis von Freiheit uad Not- 
wendigkeit. Wenn Arndt sagen soll, was der Mensch ist, so sagt 
er immer zuerst und vor allem: der Mensch ist ein freies Wesen. 
Aber es bleibt nicht bei diesem Satze. Er fügt sofort die groBe 
Einschránkung hinzu. Aber, sagt Arndt, der einzelne Mensch 
stebt nicht für sich allein. Sondern andere Mächte, über die der 
Mensch im Grunde keine Gewalt. hat, umgeben ihn von allen 
Seiten: Mächte der Erde und Mächte des Himmels. Soll er sie 
anerkennen, oder soll er ihren Befehlen trotzen ? Darüber sinnt 
und schreibt Arndt unablässig. Diese Frage hat er immer wieder 
als einer der größten Volksschriftsteller des Jahrhunderts zu 
lösen versucht. Derselbe Mann, der alle Schranken hinwegräumen 
will, die die freie Entfaltung menschlicher Kraft und mensch- 
licher Größe hemmen, derselbe Mann ist ein Prediger der Ge- 
bundenheit. Vielleicht am wirksamsten unter allen Volksschrift- 
stellern des Jahrbunderts hat er die von ihm gepredigte Freiheit 
selbst wieder eingeschränkt oder ihr wenigstens eine bestimmte 
Bahn gewiesen. Sein Blick bleibt nicht baften auf dem einzelnen 
in der Welt und mit der Welt kämpfenden Menschen. Sondern 
er richtet den Blick höher hinauf auf Mächte, die über dem 
einzelnen Menschen stehen, auf überindividuelle Mächte. Nur 
der auf sich selbst gestellte Mensch kann absolut frei sein. In 
der Gemeinschaft mit andern muß er diese Freiheit opfern. 


Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 313 


Arndt ist nicht der Prediger einer Freiheit schlechthin, sondern 
der Prediger der gebundenen Freibeit. 

Sehr merkwürdig, wogegen sich bei Arndt zuerst der Frei- 
heitsdrang wendet. Er ist auf Rügen unter dem befreienden 
Hauche des Meeres aufgewachsen. Das erste, was von poli- 
tischen Gedanken in dem Jünglinge bervortritt, ist ein starkes 
monarchisches Bewußtsein, zunächst dem Schwedenkönige, 
dann aber auch Friedricb dem Großen zugewandt. Aber er 
vermißt in dem preußischen Staate eines, was ibm gerade für 
seine eigenen Anfänge als das wertvollste erscheint: den Raum 
für freie Entfaltung einer freien Persönlichkeit. Arndt wagt es 
1802, in seiner Schrift über Germanien und Europa, den fride- 
ricianischen Staat zu kritisieren, vom Standpunkte seines 
persönlichen Freiheitsbedürfnisses, welches sich gegen den 
mechanischen Staatszwang auflehnt. Aus demselben Grunde 
bekämpft er aber auch die französische Revolution: als freiheits- 
durstiger Mensch. Schon als Primaner hatte er einem Lehrer 
widersprochen, als dieser die Revolution kritiklos verherr- 
lichte. 1799 war er nach Frankreich gereist. Im Interesse der 
Freiheit, der menschlich-individuellen, nun aber auch der 
religiös-individuellen Persönlichkeit erhob er Einspruch gegen 
die Knechtung der Kirche durch die französische Republik. 
Als er im Sommer 1799 durch die von den Franzosen schon seit 
fast fünf Jahren beberrschten Rheinlande in die deutsche Heimat 
zurückstrebt, da erfrischt er sein durch die französischen Er- 
fahrungen empörtes Freiheitsgefühl, indem er sicb unter die 
kriegerischen Bauern mischt, die im Spessart und Odenwald 
einen neuen Bundschuh gegen die Franzosen erheben. Als Arndt 
von seinem Aufenthalte in Frankreich und am Rheine spricht, 
sagt er 1800 in seiner Reisebeschreibung: ‚Ich habe in Frank- 
reich einige Franzosen verabscheut, die meisten beklagt, viele 
geschätzt und einige geliebt. Hier (in Deutschland) lerne ich 
sie hassen als Feinde und Verderber meines Volkes ... Und 
diese predigen uns das Gesetz der Freiheit und Gleichheit? . 
Noch ehe Napoleon seine schwere Hand auf die Deutschen legt, 
hat Arndt sich ein von seinen individuellen Bedürfnissen aus- 
gehendes Freiheitsideal gebildet. 

Nicht minder wesentlich für die Charakteristik seiner Geistes- 
art ist die Tatsache, daß er dies sein höchst persönliches Frei- 


314 Justus Hashagen 


heitsideal keineswegs auf das politische Gebiet beschränkt. 
Auch der Grundzug seiner Erziehungslehre (Fragmente über 
Menschenbildung, 2 Teile 1805), ist das Trachten nach Freiheit. 
Wie Arndt auf politischem Gebiete die Tyrannei des Monarchen 
und die Tyrannei des Volkes bekämpft, so als Pädagoge die 
Tyrannei des Erziehers. Wie er dort Achtung predigt vor dem 
einzelnen Menschen, der Anspruch habe auf die Schätzung 
seiner Individualität, in der absoluten Monarchie sowohl wie in 
der absoluten Republik, so predigt er jetzt dem Erzieher die 
Achtung vor der Individualität des Kindes. Er verlangt deshalb 
von seinem Erzieher, er solle ein aufmerksamer Jünger des Zög- 
lings werden, sich in seine Individualität vertiefen; denn er habe 
nicht das Recht, diese Individualität zu beeinträchtigen. Ganz 
im Sinne seiner optimistischen Zeit und Rousseaus kann er nicht 
glauben, daß schon im unmündigen Kinde alles Böse vorgebildet 
sei. Auch verwirft dieser eifrige Anwalt des Sports und der leib- 
lichen Erziehung die Leibesstrafen als etwas die Freiheit Schädi- 
gendes. Ja er möchte im Interesse der Freiheit den Unterricht 
erst im vierzehnten Lebensjahre beginnen lassen. Auch Arndts 
„Versuch über die Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern 
und Rügen“ (1803) wird man hier einreihen dürfen, weil er für 
die Freiheit des Bauern gegen den Adel eine Lanze bricht. 
Vor allem Arndts publizistischer Kampf gegen Napoleon 
ist vom Freiheitsgeiste erfüllt. Denn alles, was sich bei Arndt 
im Laufe einer vielbewegten Jugendzeit an Freiheitsgedanken 
allmählich angesammelt hat, wird von dieser einen überragenden 
Gestalt unter die Füße getreten. Was Arndt gegen sie auf dem 
Herzen hat, findet man schon im ersten Teile seiner großen, 
„Geist der Zeit“ betitelten, im Herbst 1805 begonnenen Pro- 
grammschrift. Sieben Jahre später verfaßte er den kurzen 
Katechismus für deutsche Soldaten, der die radikalsten Töne 
anschlägt: „Es sind viele Laster schändlich zu nennen, doch 
das schändlichste von allen ist ein knechtischer Sinn. — Denn 
Gott wohnt nur in den stolzen Herzen, und für den niedrigen 
Sinn ist der Himmel zu hoch.“ — Und später in seinem Liede: 
„Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.“ 
Nach dem Sturze Napoleons galt es in dem ja nur äußerlich 
befreiten Deutschland neue Freiheitsaufgaben zu erfüllen. Die 
wichtigsten Zukunftsprobleme wurden von Arndt schon in 


-.r 


Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 315 


einer kurz nach der Leipziger Schlacht erschienenen, besonders 
gehaltvollen Flugschrift berührt: „Das preußische Volk und 
Heer im Jahre 1813.“ Hier nennt er die beiden Mittel, die Preu- 
Ben seit 1808 groß gemacht haben: daB es den Mut hatte, ‚den 
Geist frei zu lassen und das Volk kriegsgeübt zu machen“. Die 
Schrift ist das Präludium zu dem Freiheitskampfe, den Arndt 
unter preußischer Herrschaft gegen die preußische Reaktion 
geführt hat. Im Sommer 1818, im vierten und letzten Teile 
des großen Werkes über den „Geist der Zeit" erhebt Arndt 
flammenden Protest gegen die neuen Feinde, die die Freiheit 
von allen Seiten erdrücken. Das mutige Bekenntnis zum Ver- 
fassungsstaate gibt dem bedeutenden Buche das entscheidende 
Gepräge. Schon 1815 war er auch für die akademische Freiheit 
eingetreten. Er nannte sie damals die „lieblichste und köstlichste 
Blume des germanischen Geistes“ und feierte die Universität 
auch schon als ein Mittel des sozialen Ausgleichs. Es kann nur 
noch angedeutet werden, daß Arndt auch nach seiner Ab- 
setzung (1820) und nach seiner Wiedereinsetzung (1840) den 
alten Freiheitsidealen treu geblieben ist. 


* * 
»* 


Aber das alles ist nicht der ganze Arndt. So stark immer 
wieder seine freiheitsdurstige Individualität emporquillt, so 
flammende Worte er auf allen Stufen seines Lebens gefunden 
hat, um das Recht der freien Persónlichkeit durchzusetzen 
gegen Tyrannentrug, in welches lockende Gewand er sich auch 
kleiden möge: Arndts Stellung in der deutschen Geistes- 
geschichte ist mit dem allem erst zu einem Teile umschrieben. 
Denn Arndts Freiheitsbegriff ist nicht mehr der lehrhaft in die 
Wolken hinein konstruierte Freiheitsbegriff des achtzehnten 
Jahrhunderts. Nach Arndt wird die Freiheit vielmehr erst dann 
für das praktische Leben brauchbar, wenn sie auf allen Seiten 
von Schranken umgeben wird. Er hat diese Schranken nicht 
künstlich ausgeklügelt. Sondern sie sind bei ihm das Ergebnis 
einer reichen persónlichen Lebenserfahrung und einer tief ein- 
dringenden und systematisch betriebenen Beobachtung der 
Völkerentwicklung. Beide Motive werden durch starke parallele 
Zeitströmungen mächtig angeregt. Arndt gehört zu den Be- 


316 Justus Hashagen 


kämpfern der individualistischen Aufklärung. Während diese 
den Menschen gerne von allen natürlichen und geschichtlichen 
Bedingungen loslöst und als isoliertes, gleichförmiges Individuum 
vorstellt, hat sich Arndt zeitlebens bemüht, den Menschen gerade 
im Rahmen seiner natürlichen und geschichtlichen Bedingungen 
zu verstehen, ihn damit in seiner unerschöpflichen Vielgestaltig- 
keit zu vergegenwärtigen und nicht zuletzt die weitreichende 
Herrschaft objektiver Mächte zu erforschen, an denen die 
Freiheit des Einzelnen ihre Grenze findet. Schon in seiner Jugend 
beginnt Arndt ins Herrschaftsgebiet dieser Mächte große geistige 
Forschungsreisen, von denen er so reiche Schätze heimgebracht 
hat, und die erst ihr Ende finden, als er selbst mit über neunzig 
Jahren 1860 die Augen schließt. Auf diesen das ganze Leben 
hindurch fortgesetzten Forschungsreisen sind sie ihm der Reihe 
nach alle begegnet — diese großen Mächte, menschliche Ge- 
nossenschaften und  Genossenschaftsvorstellungen: Familie, 
Sitte, Sittlichkeit, Kunst, Religion, Recht, Pflicht, Gewissen. 
Und was er über sie zu sagen weiD, ist bei allem überstiegenen 
Enthusiasmus und aller luftigen Schwärmerei doch durchtränkt 
von Sachlichkeit und Erfahrungsweisheit. Es ist für Arndt 
charakteristisch, daB er vor diesen Mächten eine um so höhere 
Achtung hat, als sich ihr Wirken zu einem groBen Teile nicht 
in der nüchternen Tageshelle, sondern im Geheimnis vollzieht. 
Ein zeitgemäßer Irrationalismus ergreift schon von dem jungen 
Arndt Besitz. n 

Schon als Erzieher ist er deshalb darauf aus, der Erziehung 
gegenüber dem Unterrichte eine beherrschende Stellung zu 
sichern und besonders den unbewußten, mit jenen objektiven 
Mächten zusammenhängenden und von ihnen geleiteten Re- 
gungen des Menschenherzens gerecht zu werden. Wie er auf der 
einen Seite die übertriebene und einseitige Verstandesbildung 
der Aufklärung verwirft und auf der anderen Seite die über- 
triebene gefühlsmäßige Schöngeisterei, mag sie sich in klassi- 
zistisches oder romantisches Gewand hüllen, so richtet er in 
der Erziehung seine besondere Aufmerksamkeit auf den ganz 
ursprünglichen, nicht durch klare Beweggründe bestimmten, 
aber eben deshalb nur um so mächtiger wirkenden Willen. 
Gerade als Erzieher hat er besonders heftige Worte gegen das 
äußerliche Klugmachen ausgesprochen. Von hier aus bestimmt 


— oe 
en —— — — . —— co, 


2 4 E-—Y— et IV 


Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 317 


sich auch die pietätvolle Haltung, die Arndt zeitlebens dem 
Weibe gegenüber angenommen hat: „Von etwas, was ewig ver- 
hüllt und geheimnisvoll bleiben soll, von dem Weibe und ihrer 
innigsten Natur läßt sich nur in Andeutungen und Gleichnissen 
sprechen." Besonders liebevoll würdigt Arndt auch die Natur- 
bedingtheit des Menschen in der Erziehung. Das Kind soll 
früh seine Naturbedingtheit erkennen. Die Hauptaufgabe der 
Eltern gegenüber den Kindern besteht darin, daß sie die Kinder 
in die Welt der notwendigen Naturtatsachen langsam, schonend 
und doch sicher einführen: in die ,,Festigkeit und Frótnmigkeit 
des ewigen Naturgesetzes". Darüber schreibt schon der junge 
Arndt: „Es ist doch ein schönes Ding um die Notwendigkeit. 
Ihr Gesetz ist oft leichter als alle Wahl, weil es alle Wahl ab- 
schneidet und so als das heiligste Gesetz dem Gemüte zur Frei- 
heit wird.“ i 
Man muß sich doch wohl dieser Würdigung des einzelnen 
Menschen bei Arndt erinnern, wenn man die einschneidenden 
und zukunftsreichen Reformen und Umwälzungen verstehen 
will, die er im Bunde mit anderen und gewiß Bedeutenderen bei 
Beurteilung allgemeinerer Größen wie des Staates, der Nation 
und der Religion mit hat heraufführen helfen. Von jeher ist 
sein Interesse und sein Verständnis für die unübersehbare Fülle 
der Tatsachen der vergleichenden Völkerkunde, Völkergeschichte 
und Volkskunde ungemein rege und tief. So schreibt er 1814 
„über Sitte, Mode und Kleidertracht‘‘. Es ist eins der schönsten 
Kapitel, die Arndt je verfaßt hat, wo er von der Gewalt der 
Erinnerungen redet, die sogar von den äußeren Gegenständen 
auf den Menschen übergehen. In Arndts „Erinnerungen aus 
dem äußeren Leben“ waltet derselbe anziehend reizvolle Geist. 
Es ist für ihn nicht schwer, zu der Erkenntnis zu gelangen, 
daß jedes Volk seinen besonderen Nationalgeist in sich trägt, 
und daß sein deutsches Volk davon keine Ausnahme machen 
kann. Napoleon ist nicht nur der Freiheitszerstörer, sondern 
der Feind des deutschen Nationalgeistes. Auf das sechste 
Kapitel, das im Soldatenkatechismus von dem großen Tyrannen 
handelt, folgt das siebente von dem fremden Volke. Arndt ist 
gegen eine allgemeine Völkerverbrüderung, erst recht gegen die 
Universalmonarchie, von der damals so viele träumen. Be- 
sonders fruchtbar sind Arndts Gedanken dann, wenn er den 


318 Justus Hashagen 


Nationalgeist gewissermaßen auf dem Boden projiziert. Das 
ist besonders der Fall in seiner berühmten Schrift: „Der Rbein, 
Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze“, vom 
Herbst 1813. | 

Auch die Macht der Religion, für deren Erneuerung in der 
Erhebungszeit und nachher er so viel getan hat, ist schon früh 
in sein Leben getreten. Ein konfessionelles und ein überkonfessio- 
nelles Element gehen in Arndts Religion eine merkwürdige Ver- 
bindung ein. In der französischen Reisebeschreibung von 1800 
findet sich der Satz: „Im Grunde haben alle Menschen eine 
Religion, die für das Höchste und Unendliche ihrer Natur gebaut 
ist, und diese Religion wird sie schon in den Hauptpunkten zu- 
sammen führen.“ Das ist doch wohl noch mehr als die natürliche 
Religion der Aufklärung. Gewiß, Arndt lebt der heiligen Über- 
zeugung, daß unter allen Bindungsmächten die Religion die 
stärkste ist, daß sie eines leiblichen Gewandes, eines mensch- 
lichen, vielleicht allzu menschlichen Gewandes bedarf, um auf 
die Menschen zu wirken. Arndt ist stets ein überzeugter Pro- 
testant gewesen. Aberdie Religion kanndiesmenschliche Gewand 
auch abstreifen, und mit ihrem Haupte ragt sie doch weit über 
die Erde empor in alle Himmel. Noch als Arndt 1819 eine 
Schrift: „Vom Wort und Kircbenlied'', hinausgehen läßt, ist es 
ihm darum zu tun, „ein christlich-teutsches Gesangbuch für die 
Christen aller Bekenntnisse herzustellen", Die kräftigsten 
Zeugnisse von Arndts religiöser Gesinnung sind jedoch seine 
Flugschriften von 1812 und 1813. Der dritte Grund zum Kampfe 
gegen Napoleon ist für Arndt wie für viele seiner Zeitgenossen 
ein religiöser. Denn für Arndt ist Napoleon nicht nur der Unter- 
drücker von Freiheit und Nation, sondern geradezu der Geist 
aus dem Abgrund. 


* * 
* 


Erst in der Beugung unter objektive Mächte wird Arndt 
der ganze Arndt. Er hat sich ihnen aber nicht erst als alter 
Mann, sondern schon als Jüngling gebeugt. Darin liegt seine 
geistesgeschichtliche und sittliche Größe. Schon der Jüngling 
ist ein Prediger der gebundenen Freiheit. Doppelt erscheint 
ihm in dem „Entwurfe einer teutschen Gesellschaft“ von 1814 
die Aufgabe des Menschen: ,innerlich unendlich und über- 


Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Morits Arndt 319 


schwenglich“, das führt hinein zu den Freiheitsidealen, ,,áuBer- 
lich klar und gemessen‘‘, das führt binaus zu den Bindungs- 
mächten, die über dem Menschen walten. 

Arndts Gedanken sind nicht die Gedanken eines weltfremden 
Stubengelehrten, sondern die Gedanken eines weltoffenen 
Wirklichkeitsmenschen, wie er sie schon früh in den Wahl- 
spruch zusammengefaßt hat: „Frei mein Bekenntnis und mein 
Glaube, gebunden mein Wandel und mein Tun.“ 


320 


Bismarck und Bayern am Bundestag. 
(1851—1859.) 


Von 
Siegmund Meiboom, Rüstringen. 


Bismarck wurde nach Frankfurt berufen, als Vorkämpfer 
für eine Politik der Freundschaft zwischen Preußen und Öster- 
reich. So wollte es der in romantischen Anschauungen befangene 
Kónig, so dachte sich die kleine, aber máchtige Partei der Hof- 
camarilla sein Wirken in der Hauptstadt des deutschen Bundes. 
Als Anhänger des Legitimitätsgedankens, als Freund und Schütz- 
ling des reaktionären Generals von Gerlach, als führendes Mit- 
glied der Kreuz-Zeitungspartei, kam Bismarck nach Frankfurt. 
Die Freundschaft mit Österreich war diesen Politikern ein erstes 
Gebot, solange in Deutschland noch revolutionäre Umtriebe 
eine Rolle spielten. Ihr Hauptgegner war die Revolution, und 
da Osterreich aus innerpolitischen Gründen ein stárkstes Interesse 
an der Erhaltung des Absolutismus hatte, schien es auch der 
sicherste Bundesgenosse für das vom Liberalismus bedrohte 
Deutschland zu sein. Die auswärtige Politik dieser Staats- 
männer war völlig von der Innenpolitik abhängig. Bündnis- 
fähig war für sie nur der Staat, der den Legitimitätsgedanken 
hoch hielt. 

Nach der Reaktivierung des Bundestages strebten diese 
Politiker mit besonderem Nachdruck darauf hin, auch die 
kleinsten Errungenschaften der Revolution wieder abzuschaffen. 
Um das zu erreichen, wurde vom Bundestag im August 1851. 
ein „Reaktionsausschuß‘‘ eingesetzt. Österreich und Preußen 
standen darin einträchtig Seite an Seite. Dieser Ausschuß 
wollte unter anderem auch gegen die Hamburger Verfassung 
vorgehen. Bismarck fand das durchaus in der Ordnung. Die 
konservativen Grundsätze waren gefährdet, der Bund mußte 


Bismarck und Bayern am Bundestag 321 


deshalb mit allen Mitteln versuchen, die alten Zustände wieder 
herzustellen. Er stieß dabei auf scharfen Widerstand des 
bayerischen Kabinetts. Der bayerische Minister des Äußeren 
von der Pfordten erkannte sofort die Gefahr, die der Selbständig- 
keit der Einzelstaaten drohte, wenn der Bund zum Eingreifen 
in die inneren Verfassungszustände eines Landes ermächtigt 
wurde. General v. Xylander, der bayerische Bundestags- 
gesandte, protestierte deshalb im Auftrage von der Pfordtens 
zum größten Verdruß Bismarcks, der deshalb Xylander ,,be- 
schränkt und ehrlich“ nannte!. Trotz dieser Ehrlichkeit konnte 
Bismarck es nicht über sich gewinnen, Xylander Vertrauen zu 
schenken?. Er tat ihm damit Unrecht. Xylander war ein offener, 
ehrlicher, unbedingt zuverlässiger Charakter, der mit der Offen- 
heit des Soldaten dem Diplomaten entgegentrat, einerlei, 
welches Land oder welchen Rang er zum Gegner hatte. Aller- 
dings war er diplomatisch nicht begabt und durchschaute nur 
sehr langsam die politischen Zusammenhänge. Als er aber von 
Pfordten die Weisung erhalten hatte, gegen das Vorgehen des 
Reaktionsausschusses in der Hamburger Angelegenheit zu 
protestieren, da führte er diese Weisung voll rücksichtsloser 
Entschiedenheit durch. Bismarck, noch ganz befangen in den 
konservativen Anschauungen von der österreichisch-preußBi- 
schen Einheitsfront gegen die Revolution, nannte ihn deshalb 
„das übelste Element“ in dem Ausschuß?! In wie seltsamem 
Kontrast steht das zu der Haltung, die Bismarck einige Monate 
später einnahm, als er jeden als willkommenen Streiter an seiner 
Seite begrüßte, der mit ihm gegen die Stärkung des Bundestages 
kämpfte. Doch im Sommer und Herbst 1851 hielt er noch fest 
an den Lehren der Kreuzzeitungspartei. Die Mittelstaaten 
spielten in deren außenpolitischem Programm kaum eine Rolle. 
Sie hatten sich der österreichisch-preußischen Einigkeit zu 
fügen, die es ja so gut mit ihnen meinte. 

Bismarcks offene Augen sahen aber schon bald, daß Öster- 
reich nicht so gut auf Preußen zu sprechen war wie die Gerlachs 
es glaubten, und daß die Mittelstaaten die Angst vor der preußi- 
schen Union noch nicht verwunden hatten. Diese Feststellung 


1 Bismarck an Gerlach 22. VI. 51. G. W. I, S. 6. 
1 Bismarck an Manteuffel 26. V. 51. G. W. I, S. 5. 
2 Bismarck an Manteuffel 9. X. 51. G. W. I, S. 71. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 21 


322 Siegmund Meiboom 


befremdete ihn zunächst. „Das Traurige (!) ist, daß es sich 
hier fast nur um Parteistellungen von österreichisch oder preu- 
Bisch zu handeln scheint, während eine richtige Teilungslinie 
so liegen müßte, daß man entweder ósterreichisch und preuBisch 
oder keines von beiden wäre“. Nur die Legitimisten sehnten 
diese nur theoretisch richtige Front herbei. Bismarck rechnete 
sich zu ihnen. Nur daraus läßt sich sein abfälliges Urteil über 
Xylander erklären, als dieser gegen eine Stärkung der Zentral- 
gewalt polemisierte. Auch Bismarcks Stellung zur Zentral- 
Polizeibehórde, sein langsamer, zógernder Widerspruch gegen 
die bayerischen Angriffe, ist nur zu verstehen als die Politik 
eines Mannes, der noch an die österreichisch-preußische Freund- 
schaft glaubt und mit den Mittelstaaten nichts anzufangen weiß. 

Im Winter von 1851 auf 52 wurde der österreichisch-preußi- 
sche Gegensatz offenkundig®. Der Streit wurde bis in die Presse 
getragen, weder Bismarck noch Thun gaben sich irgendwelche 
Mühe, die Gegensätze zu verbergen. Bismarck hatte jetzt klar 
erkannt, daß der Bundestag nur eine Plattform war, auf der der 
Kampf um die Gleichberechtigung Preußens mit Österreich 
ausgekämpft werden mußte. Hie Preußen, hie Österreich, das 
waren die Fronten in Frankfurt, nachdem das Trugbild der 
Einheitsfront der beiden Großmächte sich aufgelöst hatte. 
Die Bedeutung der Mittelstaaten wurde durch diese Verschie- 
bung gewaltig gehoben, sowohl Österreich wie Preußen mußten 
mit ihnen als den wichtigsten Bundesgenossen rechnen, wenn 
sie in Deutschland Erfolge haben wollten. In Bismarcks Be- 
richten und Briefen kommen seit dieser Zeit immer wieder 
Äußerungen vor, die die politische Bedeutung Bayerns gegen- 
über Manteuffel und Gerlach hervorhebenf. Er entwarf im 
Frühjahr 1852 ein großes politisches Programm, das die Gewinnung 
Bayerns als Bundesgenossen gegen Österreich zum Ziele hatte". 
Mit Österreich seien Konflikte gar nicht zu vermeiden, Bayern 
dagegen teile mit Preußen „das Bedürfnis, das Gewicht des 
Bundeskollegiums im Gegensatz zu den hegemonischen Be- 
strebungen des Präsidialhofes zu erhalten und zu verstärken‘. 


* Bismarck an Gerlach 22. VI. 51, S. 7. 

s Vgl. A. O. Meyer Bismarcks Kampf mit Österreich (1927), S. 59ff. 
Bismarck an Gerlach 20. II. 62, S. 28. 

7 Bismarck an Manteuffel 8./9. III. 53. G. W. I, S. 307. 


Bismarck und Bayern am Bundestag 323 


Preußen müsse in Deutschland der „Vertreter der Geltung und 
der Interessen aller übrigen Bundesstaaten“ sein. Die wichtigste 
Stütze in diesem Kampfe sah er mit Recht in Bayern „als dem 
an Bedeutung den übrigen erheblich und schon dem nächst- 
folgenden um mehr als das Doppelte überlegenen Bundes- 
staate‘‘. Bayern müsse ‚schon vermöge seiner geographischen 
Lage' von Österreich alles befürchten, mit Preußen gerate es 
dagegen nirgends zusammen. Um diese Gedankengänge in 
Berlin durchzusetzen, unternahm Bismarck es, die bayerische 
Opposition gegen das preußische Unionsprojekt mit gerechtem 
Verständnis für die Schwierigkeit der bayerischen Lage zu 
verteidigen. „Es hat der außerordentlichen Ereignisse der letzten 
Jahre bedurft, um an Stelle dieser natürlichen Verbindung eine 
argwöhnische Gereiztheit bei Bayern und an vielen Stellen auf 
preußischer Seite eine geringschätzige Bitterkeit treten zu 
lassen." Preußen müsse darauf bedacht sein, sich mit Bayern 
trotz dessen Opposition in der Zollvereinskrisis „überhaupt 
auf besseren Fuß“ zu setzen; zwar sei Bayern da „der große 
Dieb“, aber in diesem Falle sollte man nur die Kleinen hängen, 
die Großen aber laufen lassen?. — Außer der Einflußnahme auf 
den König und die Minister bemühte Bismarck sich, die preußi- 
sche Presse günstiger für Bayern zu stimmen. Auch darin 
zeigt sich, mit welchem Ernst er die Versóhnung und engere 
Verbindung mit Bayern anstrebte. Er hielt es für falsch, den 
Mittelstaaten noch immer Rheinbündelei vorzuwerfen?. „Ich 
móchte hier an das Beispiel von Leuten erinnern, welche zu 
Dieben geworden sind, weil doch Niemand an ihre Rechtlichkeit 
glauben wollte." Er gab also Preußen selbst die Schuld, wenn 
Bayern dem Ausland in die Arme getrieben wurde. Auch Wagener 
gegenüber betonte er, daB das Bündnis PreuBens mit den 
Mittelstaaten gegen Österreich ein selbstverständliches sei. 
Das Mißtrauen gegen Preußen stamme aus der Zeit der Unions- 
politik. Die preußische Presse müsse alles tun, um es zu über- 
winden. „Ich habe bisher nicht den leisesten Verdacht gegen 
Bayern; es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß man in München 
jetzt schon zur eventuellen Parteinahme für Frankreich ent- 


* An Gerlach 16. III. 53, S. 67. 
* An Wagener 27. X. 53. Bismarckbriefe S. 165. 


21* 


324 Siegmund Meiboom 


schlossen sei“ !, schrieb er in den ersten Anfängen der orien- 
talischen Wirren. Je schärfer der österreichisch-preußische 
Gegensatz wurde, desto stärker wurde naturgemäß das Interesse 
Bismarcks an den Mittelstaaten. Ein preußischer Diplomat 
schrieb damals, daß Österreich jetzt dabei sei, das Werk Fried- 
richs des Großen, das es im siebenjährigen Kriege nicht zer- 
stören konnte, „auf dem Wege diplomatischer Manöver“ zu- 
grunde zu richten! Genau so wird Bismarck gedacht haben, 
wenn er als die Aufgabe preußischer Politik bezeichnete, „ge- 
rade Bayern zu gewinnen'!*, Sein politischer Gesichtskreis 
ging damals noch nicht über den Deutschen Bund hinaus. 
„Unsere Politik hat keinen anderen Exerzierplatz als Deutsch- 
land." Nur weil er diese Erkenntnis für grundlegend und richtig 
hielt, maß er Bayern eine so große Bedeutung zu. 

Der Krimkrieg führte zu einem Höhepunkt in der Annähe- 
rung der Mittelstaaten an Preußen, als Österreich unter Auf- 
bietung aller Mittel danach strebte, den Bund an dem orien- 
talischen Kriege aktiv teilnehmen zu lassen. Sowohl Beust wie 
von der Pfordten wehrten sich mit allen Kräften gegen diese 
Politik. Bei Bismarck fanden sie tatkräftigste Unterstützung. 
Den Bamberger Konferenzen, auf denen die Mittelstaaten im 
Mai 1854 ein Programm der Neutralität durchsetzen wollten, 
versagte er im Gegensatz zu dem übel gelaunten Prokesch seine 
Anerkennung nicht. „Ich kann dem staatsmännischen Gebaren 
und der Courage mit welcher die Firma Beust, Pfordten und Co. 
operiert, meine Anerkennung nicht versagen!?*." Bei Manteuffel, 
riet er dringend, „in wohlwollender Form" die Forderungen 
der Mittelstaaten zu beantworten. Kabinett und Ministerium 
in Berlin waren nicht so entschieden für eine neutrale Politik. 
Stets gaben sie den österreichischen Forderungen in unwürdiger 
Schwäche nach. Bis ins späte Alter hat Bismarck das nicht 
vergessen können. In Frankfurt konnte er sich „einer Be- 
schämung und Erbitterung nicht erwehren“ ““, als Preußen jede 
selbständige Politik opferte. Er konnte nichts darauf erwidern, 


10 An Gerlach 26. XI. 53, S. 106. 

u Küpfer an Manteuffel 2. XII. 53. Unter Friedrich Wilh. IV. II, S. 339. 
13 An Gerlach 19./20. XII. 53, S. 114/15. 

13 An Gerlach 6. VI. 54, S. 155. 

14 Gedanken und Erinnerungen (1898) I, S. 96. 


Bismarck und Bayern am Bundestag 325 


als ein Vertreter der Mittelstaaten Preußen vorwarf, es sei noch 
schwarz-gelber als Österreich und falle im österreichischen 
Interesse über Deutschland her!®. Die Krimkriegpolitik war eine 
sehr wichtige Periode der preußischen Politik, ohne die die miB- 
trauische Haltung der Mittelstaaten gar nicht zu begreifen wäre. 
Sie fürchteten während des Krimkrieges neben der preußischen 
Hegemonie ständig, daß Preußen zu weit gehe in der Verleugnung 
seiner eigenen Interessen zugunsten Österreichs. Bismarck 
wurde nicht müde, Berlin in seinem Sinne zu beeinflussen. Er 
sah in der Wahrung und Stärkung der Bundeshoheit, in der 
festen Bindung Österreichs an Frankfurt die günstigste Position 
der preußischen Politik, in der es sich mit den Mittelstaaten 
zusammenfinden konnte. Ihn empörte das „wahrhaft über- 
mütige Zutrauen“ Österreichs auf preußische Nachgiebigkeit!®. 
Aus eigenster Anschauung erlebte er immer wieder, wie stark 
der Widerwille der Mittelstaaten gegen Buol war, wie sehr sie 
sich damals nach einer entschiedenen preußischen Führung 
sehnten. Es war ein schweres Verhängnis für die preußische 
Politik, daß das Berliner Kabinett es nicht verstand, diese 
Lage richtig auszunutzen. Anfang Oktober 1854 schrieb Manteuffel 
voll törichter Arroganz an Fürst Hatzfeld: „Die deutschen 
Staaten ... erklären sich sämtlich in unserem Sinne E.E. 
wissen, daß ich darauf gar nichts gebe“ 7. Diese Haltung mußte 
die Annäherung der Mittelstaaten an Preußen verhindern. 
Auch Bismarck wußte, daß die Freundschaft der deutschen 
Kabinette für Preußen nur durch die Umstände geboten war, 
aber er wollte sie doch ausnutzen. „Häuser baue ich auch nicht 
auf die Mittelstaaten, aber es ist auch unbillig, daß das MiB- 
trauen, welches von 1848-—51 so tiefe Wurzeln geschlagen hat, 
jetzt in sechs Monaten verschwinden soll‘‘!®, Er nannte Bayern, 
Sachsen, Württemberg usw. „unsere Freunde in Deutsch- 
land“ 19. 

Der Ausgang des Krimkrieges brachte es mit sich, daß sich 
die Mittelstaaten wieder stärker von Preußen abwandten. „Auf 


15 An Manteuffel 16./17. VI. 54. G. W. I., S. 456. 

10 An Manteuffel 23. VIII. 54. G. W. I, S. 485. 

17 Manteuffel an Hatzfeld, Anfang Oktober 54. Preußens Ausw. Politik II, S. 505. 
ı8 An Gerlach 6. I. 55, S. 186. 

19 An Gerlach 6. II. 55, S. 195. 


326 Siegmund Meiboom 


unsere bisherigen guten Freunde werden wir jetzt auch weniger 
zählen können, denn mit der Entfernung unmittelbarer Kriegs- 
gefahr wird sich ihr politischer penchant wohl in gewohnte 
Bahnen zurückbegeben9.' Ein weiterer Grund der Entfrem- 
dung war die Abberufung Prokeschs aus Frankfurt, dessen 
ungezügeltes Temperament und gewissenlose Rücksichtslosig- 
keit häufig zu heftigen Zusammenstößen mit den mittelstaat- 
lichen Gesandten geführt hatten. Sein Nachfolger, Graf Rech- 
berg, schlug eine viel wohlwollendere Tonart an. Rechberg 
war Bayer. Mit Schrenk war er aus früher Jugend her befreundet, 
sie duzten sich und machten „täglich weite und einsame Pro- 
menaden miteinander*'", Bismarck beunruhigte diese Freund- 
schaft sehr. Er hätte Prokesch gern zurückgehabt. Die Ent- 
fremdung der Bamberger fand ihren sichtbaren Ausdruck auf 
einem Diner, das die Königin von Württemberg den Bundes- 
gesandten gab, auf welchem sie Bismarck ignorierte?*, Bis- 
marcks Mißtrauen auch gegen Bayern wuchs?. Es schwand 
jedoch noch einmal wieder, als erim Dezember 1855 in München 
mit den maßgebenden Persönlichkeiten zu sprechen Gelegenheit 
hatte“. Bei Pfordten fand er ‚größtes Mißtrauen‘‘ gegen 
Österreich, weil die „staatsmännische Unfähigkeit“ des Grafen 
Buol eine kluge Politik unmöglich machte. Vorsichtig sondierte 
er, ob Bayern noch an Bündnisse mit Frankreich denke, doch 
von der Pfordten ‚lehnte jeden Verdacht einer an den Rhein- 
bund erinnernden Politik mit einer wie mir schien, aufrichtigen 
Erregtheit ab, indem er darauf hinwies, daß schon in der Persön- 
lichkeit des Königs Max die Unmöglichkeit derartiger Pläne 
gegeben sei, selbst wenn ein bayerischer Minister sich gegen- 
wärtig bereit finden könnte, zum Verrat an Deutschland die 
Hand zu bieten. Ich habe in München den Eindruck gewonnen, 
daß diese Äußerung für die Gegenwart in der Wahrheit begründet 
ist.“ 

Damit finden die gerechten Äußerungen Bismarcks über 
Bayern ihr Ende. Seit 1856 dachte Bismarck über die Bedeutung 


20 Manteuffel an Bismarck 26. IV. 55. Unter Fr. W. IV. III, 38. 
21 An Manteuffel 13. IV. 55. G. W. II, S. 41. 

12 Unt. Fr. W. IV. II, S. 476. 2. VII. 55. 

23 An Gerlach 31. X. 55, S. 257. 

3 An Fr. W. IV. 21. XII. 55. G. W. II, S. 84. 


Bismarck und Bayern am Bundestag 327 


der Mittelstaaten, soweit er ihnen solche überhaupt beimaß, 
ganz anders. Es ist ihm plötzlich selbstverständlich, daß sie 
sofort mit Frankreich zusammengehen, sobald sie nur eine 
Gelegenheit dazu haben. Die Fürsten würden ihre Truppen 
gern Frankreich zur Verfügung stellen, wenn sie dadurch vor 
den Übergriffen ihrer Parlamente gesichert wären“. „Von den 
dirigierenden Ministern von Bayern, Württemberg, Baden, 
Darmstadt, Nassau habe ich es im vorigen Jahr zur vollsten 
Evidenz erfahren können, daß sie es für ihre ehrliche Pflicht 
halten, den Bund aufzugeben, wenn die Interessen oder gar 
die Sicherheit des eigenen Fürsten und Landes durch Festhalten 
am Bunde gefährdet wäre.“ Die Urteile in diesem abfälligen 
Sinne wiederholen sich bis zu seinem Sturze sehr häufig. Wie 
ist es zu erklären, daß Bismarck seine gerechte Beurteilung aus 
der Zeit vor dem Ausgang des Krimkrieges aufgab ? 

Die Durchführung eines so großzügigen Programmes der 
Gewinnung der deutschen Kabinette für Preußen hätte nur 
dann erfolgreich sein können, wenn die Frankfurter Diplomaten 
in ihren Heimatresidenzen von entscheidendem Einfluß gewesen 
wären. Davon konnte aber gar keine Rede sein. Oft genug war 
Bismarck selbst nur mangelhaft orientiert. „Die Regel ist, daß 
niemand etwas weiß.“ Vollends der Freiherr von Schrenk 
war völlig ungeeignet für diplomatische Aktionen. Er war bis 
zu seiner Berufung nach Frankfurt Regierungspräsident von 
Niederbayern gewesen, kam also wie Bismarck als Neuling in 
den diplomatischen Dienst. Aber welch’ ein Unterschied! Wäh- 
rend Bismarck das neue Handwerk sofort mit dem Geschick 
des geborenen Diplomaten ergriff, blieb Schrenk stets ängstlicher 
Jurist. Die beiden Männer kamen immer ausgezeichnet mit- 
einander aus, aber großzügige politische Zusammenarbeit kam 
bei Schrenks Naturell niemals zustande. Für die völlig un- 
politische Art Schrenks sei nur folgendes Zeugnis angeführt: 
Im Jahre 1870 forderte er die europäische Unabhängigkeit 
Bayerns. Das veranlaßte den Kabinettssekretär Eisenhart zu 
folgendem, durchaus berechtigtem Urteil: „Der politische Theil 
des Briefes des Freiherrn von Schrenk ist mir — im Vertrauen 


* An Manteuffel 26. IV. 56. G. W. II, S. 141. 
* An Gerlach 27. IV. 55, S. 215. 


328 Siegmund Meiboom 


gesagt — unfaBlich. Wie kann ein früherer Minister und Bundes- 
tagsgesandter und Reichsrath — mit anderen Worten, eine 
staatsmännische Capazität — glauben, daß jetzt, wo die nationale 
Strömung so stolz und gewaltig, jetzt, wo leidenschaftliches 
Parteileben in unserem Lande die Regierungsgewalt so hemmt, 
Bayern auf die Dauer isoliert bleiben könnte! Ich halte es für 
absolut unmöglich und glaube nicht, in dem Fall der Irrende zu 
sein“.“ 

Der unpolitische Charakter Schrenks war aber nicht der 
Hauptgrund für die völlige Abwendung Bismarcks von Bayern 
und den Mittelstaaten überhaupt. Dieser lag auf außenpoli- 
tischem Gebiet. Um mit einem Bilde Bismarcks zu reden, 
kann man ihn so formulieren: Während vor 1856 für Bismarck 
Deutschland der Exerzierplatz der preußischen Politik war, 
wurde es nach 1856 Europa. Seine großen Reisen nach Paris, 
Kopenhagen und an die sämtlichen Kabinette der deutschen 
Staaten hatten seinen außenpolitischen Blick geschult. Vor 
allem die Pariser Reisen bedeuten Wendepunkte in der poli- 
tischen Entwicklung Bismarcks. Der Gedanke des preußisch- 
französischen Bündnisses taucht seitdem immer wieder auf. 
Deutschland war zu eng gewesen für die Erkämpfung von 
Preußens Gleichstellung neben Österreich. Die politischen 
Kräfte Europas wollte er für Preußens Kampf mit Österreich 
ausnützen. Die Pariser Reisen hatten ihm dieses Europa zum 
ersten Male gezeigt. Nach dieser Erkenntnis war die Haupt- 
aufgabe, seine neuen Gesichtspunkte in Berlin zur Anerkennung 
zu bringen. Die Mittelstaaten, deren Friedensliebe er vorher 
so beredt geschildert hatte, wurden plötzlich zu den übelsten 
Feinden Preußens, die bei der ersten besten Gelegenheit zu- 
Sammen mit Frankreich es zu zerstückeln versuchen würden. 
„Sie werden beizeiten in Paris direkte Garantien zu erhalten 
suchen, vielleicht sogar Aussicht auf Gewinn ... Die Bamberger 
Staaten finden in Frankreich den schlieBlichen Stützpunkt der 
unabhängigen und schiedsrichterlichen Stellung, welche sie in 
den Rivalitäten der deutschen Großmächte annehmen konn- 
ten?9," Er wollte das Berliner Kabinett glauben machen, daß 

1 Kabinetts-Sekretär Eisenhart an Staatsrat v. Daxenbeeger. Zitiert nach 


Doeberl: Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, S. 310. 
38 Denkschrift an Manteuffel Mai 57. G. W. II, S. 217fl. 


Bismarck und Bayern am Bundestag 329 


die Mittelstaaten nur solange die preußische Freundschaft 
suchen würden, als sie Preußen für befreundet mit Frankreich 
halten“. Gleichzeitig stellte er mit besonderer Eindringlichkeit 
dar, daB Österreich viel mehr Mittel als Preußen besitze, die 
mittelstaatlichen Minister sich gefügig zu machen, und er tat 
von der Pfordten das bittere Unrecht an, auch ihn zu den von 
Österreich „gezähmten“ Ministern zu rechnen“. Von der Pford- 
ten hatte bei weitem tapferer als das preuBische Kabinett 
während des Krimkrieges Österreichs Anmaßung bekämpft. 
Bismarck war jedoch jedes Mittel recht, um die Notwendigkeit 
des preuBisch-franzósischen Bündnisses darzulegen. Alle Hoff- 
nungen auf den Bundestag hatte er aufgegeben: „Es ist für 
Preußen nach menschlicher Voraussicht unmöglich, Österreich 
den dominierenden Einfluß zu entreiBen''?!, Die Mittelstaaten 
stünden ständig gegen Preußen. Ihre Sympathien seien niemals 
zu gewinnen®. Sein Widerwille gegen die Mittelstaaten trieb 
ihn im Sommer 58 sogar zu der maßlos übertriebenen Be- 
hauptung: Rechberg sei „beschränkt und leidenschaftlich 
genug, um nicht zu merken, wie die Mittelstaaten ihn gegen 
Preußen mißbrauchen®®.‘‘ Also Österreich kämpfte im Gefolge 
der Mittelstaaten gegen Preußen! Eine gröbere Verzeichnung 
der Wirklichkeit ist kaum denkbar. 

Als natürliche Reaktion begann damals die bayerische 
Opposition gegen Bismarck. Schrenk sagte in Wien: „Herr von 
Bismarck sei eigentlich die einzige Ursache des ungemüthlichen 
Lebens in Frankfurt und nach seiner Entfernung würde alles 
in Friede und Einigkeit lebens“. In demselben Sinne wirkte 
Graf Bray in Berlin, wie es Graf Montgelas schon vor ihm getan 
hatte. Von der Pfordten war empört über Bismarcks „, durch- 
aus revolutionäres“ Verhalten, als er wegen geringster Kleinig- 


keiten im Februar 1858 mit Österreich einen Streit vom Zaune 
brach®®, 


Denkschrift an Manteuffel 2. VI. 57. G. W. II, S. 231. 

% An Manteuffel 14. III. 58. G. W. II, S. 294. 

21 Denkschrift für den Prinzen von Preußen, März 58. G. W. II, S. 311. 
33 Ebenda, S. 317. 

3 An Bernstorff 7. V. 58. G. W. II, S. 330. 

* Graf Arnim an Manteuffel 17. VII. 58. Preußens ausw. Pol. III. S. 468. 
% Montgelas an den König 16. III. u. 24. III. 58. M. A. II, S. 218. 

% Vgl. A. O. Meyer a. a. O., S. 410ff. 


330 Siegmund Meiboom 


Der Freiherr von Beust hat sich in seinen Memoiren Bis- 
marck gegenüber zum Verteidiger der Mittelstaaten aufgeworfen 
und gesagt, der Kenner könne sich „kaum eines willkürlichen 
Anfluges von Heiterkeit erwehren, wenn er die Schilderung jener 
Macchiavellistischen Umtriebe des Wiener Kabinettes aus einer 
Zeit liest, wo die Regierungen der Mittelstaaten ebenso oft und 
vielleicht noch öfter in Disharmonie mit Wien als mit Berlin 
waren?”.‘‘ Ohne Frage ist das richtig. Bayern stand sowohl in 
den Fragen der Bundeskompetenz wie während des ganzen 
Krimkrieges und in vielen kleinen Streitigkeiten stärker auf 
seiten Preußens als Österreichs; und in der Zollkrisis von 1851/52 
hatte Preußen an Sachsen einen starken Rückhalt. Und doch 
bleibt Beust mit seiner These der preußisch-mittelstaatlichen 
Freundschaft nur an der Oberfläche der Dinge. Zwar war es 
Tatsache, daß in Einzelfragen die Mittelstaaten häufiger mit 
Preußen als mit Österreich gingen, aber im Grunde waren sie 
doch Gegner Preußens in dessen Kampf um die Gleichstellung 
mit Österreich. Von der Pfordten sprach das offen aus: „‚Öster- 
reich ist und bleibt die erste deutsche Großmacht, und Preußen 
muß sich darein ergeben, wie Jedermann in das Maß von Größe 
und Mächt, das Gott ihm zugeteilt hat?®.‘‘ Dieses Urteil von 
der Pfordtens steht im vollen Einklang mit einer Äußerung des 
Prinzregenten Friedrich von Baden: „In Berlin ist die Kon- 
fusion größer wie jemals, und es wird dort in gewissen Kreisen 
ganz vergessen, daß Preußen nur ein deutscher, noch aber 
kein europäischer Groß-Staat ist.‘ Genau so dachte Beust. 
Bei dieser antipreußischen Grundhaltung spielte die Zustimmung 
in Einzelfragen nur eine untergeordnete Rolle. Bismarck 
wollte gerade die Überzeugung von der österreichischen Hege- 
monie für immer aus der Welt schaffen. „Preußen kann nicht 
auf den Anspruch der Gleichstellung mit Österreich ver- 
zichten®.“ 

Doeberl hat Bismarck als Kronzeugen für die Berechtigung 
des bayerischen Partikularismus angerufen“. Mit Unrecht. 


37 Beust: Aus dreiviertel Jahrhunderten, S. 150. 

38 Geh. Staatsarchiv München M. A. II. 106 v. d. Pf. an Schrenk 27. I. 57. 
39 Oncken: Friedrich I., S. 5. 

40 Denkschrift f. d. Prinzen v. Preußen G. W. II, S. 316. 

41 Doeberl: Bayern u. d. Bismarcksche Reichsgründung, S. 213. 


Bismarck und Bayern am Bundestag 331 


Die Äußerungen Bismarcks über bayerische Größe haben fast 
immer nur taktische Bedeutung. Man könnte ihnen genau so 
viele Spottworte Bismarcks über bayerische Politik an die Seite 
stellen, in denen er sich über die „bayerischen Großmacht- 
gelüste' lustig macht, oder in denen er von dem lüsternen 
Bayern spricht, das „nur in der Bocksaison‘ große Politik 
mache. Diese Äußerungen fehlen allerdings in der ersten Ver- 
öffentlichung seiner Frankfurter Berichte durch Poschinger 
(1882—84) und in den 1896 veröffentlichten Briefen an Ger- 
lach. Bismarck hatte sie selbst gestrichen, auch dabei be- 
wegten ihn taktische Gründe. 

In dem berühmten Kapitel über Dynastien und Stämme hat 
Bismarck dem bayerischen Nationalgefühl hohe Worte der 
Anerkennung gewidmet, die zweifellos seine wirkliche Ansicht 
wiedergaben, vielleicht damals auch ihre tiefe Berechtigung . 
hatten. Er bekannte sich zu der Anschauung, daß das deutsche 
Nationalgefühl nur durch die Dynastien zusammengehalten 
sei, ja daß es der Dynastien bedürfe, um lebendig zu werden. 
„Wenn man den Zustand fingierte, daß sämtliche deutsche 
Dynastien plötzlich beseitigt wären, so wäre nicht wahrschein- 
lich, daß das deutsche Nationalgefühl alle Deutschen in den 
Frictionen europäischer Politik völkerrechtlich zusammenhalten 
würde.“ Sämtliche deutschen Dynastien sind gefallen. Trotz 
der Stürme des Weltkrieges und ihrer verheerenden Folgen hat 
Deutschland zusammengehalten. Die Geschichte hat gezeigt, 
daß diese Anschauung Bismarcks der realen Grundlage ent- 
behrte. Hierin hat Bismarck geirrt. Zum Segen Deutschlands. 
Das Nationalgefühl der Deutschen quillt — jedenfalls heute — 
nicht mehr aus der dynastischen Bindung, sondern aus dem 
Bewußtsein des gemeinsamen Schicksals. 


“ G. W. I, S. 289. G. W. I, S. 308. G. W. II, S. 17. G. W. II. S. 87. G. W. 
II. S. 294. 


Gedanken und Erinnerungen I, S. 291. 


332 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866. 


Ein Beitrag zur Kritik der „Gedanken und Erinnerungen“. 
Von 
Hermann Gackenholz. 


Bismarck erzählt im zweiten Abschnitt des ,,Nikolsburg'' 
überschriebenen 20. Kapitels seiner ,, Gedanken und Erinnerun- 
gen'' den Verlauf eines Kriegsrates, der während des böhmischen 
Feldzuges in Czernahora stattgefunden hat. Dort hätte er — 
einen von der Auffassung Moltkes abweichenden Vorschlag 
machend — in den Gang der militärischen Operationen ein- 
gegriffen und die Billigung des Kónigs dafür gefunden. 

Der wórtliche Bericht Bismarcks lautet: ,,Am 12. Juli fand 
in dem Marschquartier Czernahora Kriegsrat statt ... An jenem 
Tage handelte es sich um die Richtung des weiteren Vorgehens 
gegen Wien; ich war verspátet zur Besprechung erschienen, 
und der König orientierte mich, daß es sich darum handle, die 
Befestigungen der Florisdorfer Höhen zu überwältigen, um nach 
Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beschaffenheit der Werke 
schweres Geschütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müsse, 
und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich sei. 
Nachdem Bresche gelegt, sollten die Werke gestürmt werden, 
wozu ein mutmaflicher Verlust von 2000 Mann veranschlagt 
würde. Der Kónig verlangte meine Meinung über die Frage. 
Mein erster Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren 
durften, ohne die Gefahr mindestens der französischen Ein- 
mischung sehr viel näher zu rücken, als sie ohnehin lag (in An- 
merkung: Die Situation war áhnlich wie 1870 vor Paris). Ich 
machte meine Besorgnisse geltend und sagte: „Vierzehn Tage 
abwartender Pause kónnen wir nicht verlieren, ohne das Schwer- 
gewicht des französischen Arbitriums gefährlich zu verstärken.“ 
Ich stellte die Frage, ob wir überhaupt die Florisdorfer Befesti- 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 333 


gungen stürmen müßten, ob wir sie nicht umgehen könnten. 
Mit einer Viertelschwenkung links könne die Richtung auf 
Preßburg genommen werden und die Donau dort mit leichterer 
Mühe überschritten werden. Entweder würden die Österreicher 
dann den Kampf in ungünstiger Front nach Osten südlich der 
Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann 
sei Wien ohne Schwertstreich zu nehmen. Der König ließ sich 
eine Karte reichen und sprach sich zugunsten dieses Vorschlages 
aus; die Ausführung wurde, wie mir schien widerstrebend, in 
Angriff genommen, aber sie geschah‘ 

Bismarck führt dann als Wirkung seines Eingreifens einen 
„erst“ unter dem 19. Juli ergangenen Heeresbefehl an und 
schließt den Abschnitt nach einer längeren Betrachtung über 
die Unnötigkeit eines preußischen Einmarsches in Wien mit 
dem Satz: „Die Verstimmung, die mir mein Verhalten in den 
militärischen Kreisen eintrug, habe ich als Wirkung einer 
militärischen Ressortpolitik betrachtet, der ich den entschei- 
denden Einfluß auf die Staatspolitik und deren Zukunft nicht 
einräumen konnte.‘ 

Wenn wir die Darstellung der Vorgänge von Czernahora 80, 
wie sie aus der Feder Bismarcks stammt, ohne jeden Vorbehalt 
übernehmen, so ergibt sich u. E. eine Reihe sowohl für das 
Verhältnis von Bismarck zu Moltke wie auch für das Problem 
„Kriegführung und Politik“ höchst bedeutsamer Tatsachen: 

1. Bismarck hat seine militärische Ansicht, wo er während 
des Feldzuges von 1866 für nötig hielt, nicht nur geäußert, 
sondern sogar mit Hilfe der königlichen Autorität durchgesetzt 
— mit anderen Worten und für das Problem ,,Kriegführung 
und Politik“ gefaßt, die Politik hat hier einmal die Strategie 
bis in die Einzelheiten der Operationen beherrschend beeinflußt. 

2. Dabei ist ein — wenn auch mehr innerlicher, als äußer- 
lich erkennbarer — Konflikt mit Moltke entstanden, der 
sich ja der Meinung Bismarcks nur „widerstrebend“ gefügt hat. 

3. Der Krieg von 1866 stellt also ein Vorspiel zu dem spáteren 
Konflikt zwischen Moltke und Bismarck dar, von dem sich eine 


t Bismarck weist auch an einer anderen Stelle, in dem späteren Kapitel „Ver- 
sailles“, noch einmal deutlich auf seine Einwirkung auf die Änderung der Richtung 


" Vormarsches hin. Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe, Stuttgart 1922, 
S. 108. 


334 Hermann Gackenholz 


„Verstimmung der militärischen Kreise" bis zum Beginn des 
Krieges von 1870/71 erhalten hat“. 

In der Tat müssen wir bei einer Betrachtung der Literatur, 
die sich — meist von jener Streitfrage „Politik und Krieg- 
führung“ herkommend — mit dem Kriegsrate von Czernahora 
beschäftigt hat, feststellen, daß die Erzählung Bismarcks aus 
den „Gedanken und Erinnerungen“ meist vorbehaltlos über- 
nommen worden ist, und auch die von uns oben skizzierten 
Folgerungen gezogen worden sind. So fällt denn auch die 
Beurteilung des Eingrifis Bismarcks in den Lauf des Feldzuges 
verschieden aus, je nachdem, ob sich die Betrachter auf Seiten 
der militärischen oder der politischen Leitung befinden: Diese 
loben Bismarck, ,,daB er seine militärische Ansicht zur Geltung 
brachte und durchsetzte, wo er es aus politischen Gesichts- 
punkten für nötig hielt“ — jene weisen einen solchen Einfluß 
Bismarcks auf die Operationen mehr oder weniger scharf zu- 
rück: So vor allem die Offiziere, die sich mit dem Problem 
„Kriegführung und Politik“ auseinandersetzen; wir nennen u. a. 
W. v. Blume, v. Freytag-Loringhoven und v. Haeften “. Wohl 
ráumen alle Bismarck das Recht ein, auf die politischen Gefahren 
aufmerksam zu machen — „dem Könige aber bezüglich der 
daraus zu ziehenden militärischen Folgerungen Rat zu erteilen, 
dazu war er nicht berufen' 5, Denn sie alle sind überzeugt, 
daB Bismarck damit nur „seine höhere militärische Einsicht“ 
zur Geltung bringen wollte, zu der er auch ,,einem Moltke ge- 
genüber hohes Vertrauen besaß“ 7. 

Während also der Bericht der,, Gedanken und Erinnerungen“ 
von einer Anzahl der Betrachter des Problems „B Kriegführung 
und Politik“ ohne weiteres übernommen und verwertet worden 
ist, sind dagegen Versuche zu einer Kritik an der Bismarckschen 


* Vgl. Bismarcks Schilderung dieser Stimmung im Zusammenhang der Eisen- 
bahn-Episode zu Beginn des Krieges von 1870. Gedanken und Erinnerungen. II. 
S. 107f. 

Hermann Oncken, Politik und Kriegführung. München 1928, S. 8. 

v. Blume, Politik und Strategie, Moltke und Bismarck 1866 und 1870—1871 
Preuß. Jahrb. 111, S. 236ff. — v. Freytag-Loringhoven, Politik und Kri 
Berlin 1918. — v. Haeften, Bismarck und Moltke. Preuß. Jahrb. 177, S. 84ff. 

Blume S. 238. 

Haeften S. 85. 

7 siehe Note 5. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 335 


Erzählung nur ganz vereinzelt gemacht worden, obgleich eine 
Reihe von Unklarheiten und Widersprüchen in der Erzählung 
geradezu dazu herausfordern. Den ersten Hinweis auf die 
Zweifelhaftigkeit des Berichtes besonders hinsichtlich der Zeit- 
folge gibt v. Lettow-Vorbeck „Der Krieg von 1866“ in einer 
kurzen Randnotes. Hierdurch angeregt beschäftigen sich dann 
Max Lenz in seiner „Kritik der Gedanken und Erinnerungen‘“®, 
und W. v. Blume in seinem Aufsatze „Politik und Strategie“ 10 
mit dem Berichte Bismarcks. Beide geben ausführliche und 
fruchtbare Untersuchungen, die eine Reihe von Widersprüchen 
und Ungenauigkeiten aufdecken und festlegen und so auch 
uns wertvolle Fingerzeige geben. Dennoch sind beide Arbeiten 
u. E. kaum als abschließend zu betrachten, da sie darauf ver- 
zichten, die gefundenen Widersprüche quellenmäßig zu klären, 
ja dem Kernproblem, wie uns scheint, aus dem Wege gehen: 
Max Lenz, indem er den Schwerpunkt seiner Kritik auf einen 
Teil des Berichtes legt, der u. E. nebensächlich und eigentlich 
ohne Zusammenhang mit den Vorgängen von Czernahora ist, 
auf die Frage des preußischen Einzuges in Wien!; W. v. Blume, 
indem er letzten Endes sogar von seiner eigenen Kritik wieder 
abrückt, weil er den Bericht so, wie er aus Bismarcks Feder 
stammt, doch am vorteilhaftesten im Rahmen seiner Polemik 
über „Politik und Kriegführung“ verwenden zu können glaubt!2. 


® v. Lettow-Vorbeck, Der Krieg von 1866. Berlin 1899, II, S. 651. Fußnote. 

Lenz, Kritik der Gedanken und Erinnerungen. Berlin 1899, S. 62ff. 

? siehe Note 5. 

u Lenz stellt in den Mittelpunkt seiner kritischen Erörterungen die Frage eines 
preußischen Einmarsches in Wien, dessen Unnötigkeit Bismarck im Anschluß an 
die Erzählung der Vorgänge von Czernahora hervorhebt. Lenz bringt die Ausfüh- 
rungen Bismarcks in einen logischen Zusammenhang mit dem Rate, die Donau 
bei Preßburg zu überschreiten, so, als ob die Vermeidung des Einzuges in Wien für 
Bismarck der Grund zu seinem Eingreifen in die Operationen gewesen ist. Ein 
solcher Zusammenhang besteht aber zweifellos nicht, wie der Wortlaut der Erzäh- 
lung Bismarcks sofort zeigt: „ .. dann sei Wien ohne Schwertstreich zu nehmen...“ 
(Gedanken und Erinnerungen II, S. 41.) Wir schließen uns vielmehr der Auffassung 
Horst Kohls (s. unten) an, der die Kritik Lenz’ zurückweisend darlegt, daß der 
Erörterung Bismarcks nur eine rückschauende Betrachtung zugrunde liegt. Gedan- 
ken und Erinnerungen II, S.41. Fußnote. 

" Blume weist sehr richtig auf die Rolle der Belagerungsartillerie hin. Er 
kommt sogar zu dem Schlusse, daß „innere und äußere Gründe für die Annahme 
sprechen, daß Bismarcks Erinnerung ungenau war." — Demgegenüber betont er 


336 Hermann Gackenholz 


Diese Ansätze zu einer kritischen Betrachtung sind nun auch 
nicht unwidersprochen geblieben von solchen, die an der Wahr- 
heitstreue der Erzählung der „Gedanken und Erinnerungen“ 
unbedingt festhalten wollen und deshalb wiederum gegen Lenz 
und Lettow-Vorbeck Stellung nehmen: so Pahncke in seinen 
„Parallelerzählungen“ i, und der Herausgeber der Neuen Aus- 
gabe der „Gedanken und Erinnerungen‘, Horst Kohl, in seinen 
Randnoten dazu!“. 

Die durch die Unvollständigkeit der bisherigen Unter- 
suchungen entstandene Lücke in der Kritik auszufüllen und 
zugleich die kleine Polemik abzuschließen, soll in dieser 
Arbeit versucht werden. Wir halten eine solche kritische 
Zergliederung eines Abschnittes aus dem Testament des großen 
deutschen Staatsmannes für berechtigt und gewinnbringend, 
umso mehr, weil wir hoffen, so Klarheit über die Bedeutung der 
Erzählung Bismarcks als historische Quelle und über die Be- 
rechtigung ihrer so vielfachen und verschiedenartigen Aus- 
beutung zu erlangen. 

Über den Verlauf der Besprechung von  Czernahora 
liegen uns zwei gleichzeitige Quellen vor, nämlich ein Be- 
richt Benedettis, der Napoleon über die Erfolge seiner per- 
sönlichen Intervention informieren sollte!5, und ein Bericht 
von Bismarcks eigener Hand, der dem Kronprinzen durch 
dessen in das Hauptquartier gesandten Adjutanten zugestellt 
wurdeis. Von beiden ist der letztere der für uns bedeut- 
samere, da Bismarck sich dem Kronprinzen gegenüber auch 
über die Motive zu den Entschlüssen des Kriegsrates aus- 


dann aber am Schlusse seiner Ausführungen — nun wiederum ganz ohne jeden 
Zweifel an der Wahrheitstreue Bismarcks —, daß „Bismarck bei dem Militärvortrage 
von Czernahora nach seinem eigenen Berichte unternommen hat, in einer rein 
militärischen Frage der Kriegführung die Ansicht Moltkes zu berichtigen, und daß 
die Art und Weise, wie er davon spricht, erkennen läßt, wie hohes Vertrauen er zu 
seiner eigenen militärischen Einsicht auch einem Moltke gegenüber besaB." Blume 
schließt dann — der Polemik seines Aufsatzes folgend — mit einer scharfen Zurück- 
weisung dieses Eingriffs Bismarcks. 

13 Pahncke, Parallelerzählungen Bismarcks. Halle 1910, S. 129f. 

^ Horst Kohl, der Herausgeber der Neuen Ausgabe der Gedanken und 
Erinnerungen, beteiligt sich mit seinen FuBnoten an der Kontroverse, s. Note 9. 

!5 Origines diplomatiques de la guerre de 1870/71. XI, S. 17ff. 

16 Abgedruckt bei Lettow-Vorbeck. II, S. 594ff. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 337 


spricht, die Benedetti gegenüber streng geheim behandelt 
wurden. Aus diesen Quellen geht nun deutlich hervor, 
daß der Hauptgegenstand des Kriegsrates, der sofort nach 
der um 5 Uhr nachmittags erfolgten Ankunft des Haupt- 
quartiers in Czernahora abgehalten wurde, die durch die plötz- 
liche Ankunft Benedettis besonders akut gewordene Frage 
eines Waffenstillstandsangebotes an Österreich war. Ein solches 
den Österreichern zu machen, wurde in der Beratung abgelehnt, 
da man dazu — wie Bismarck in seinem Bericht angibt — 
„1. die Einwilligung Italiens und 2. einige Sicherheit über die 
künftigen Friedensbedingungen“ für notwendig erachtete. Da- 
gegen entschloß man sich, gegen genügende militärische Sicher- 
heiten eine Waffenruhe — „abstention d'hostilités" — von 
drei Tagen anzubieten. 

Wie aus Bismarcks Bericht an den Kronprinzen klar ersicht- 
lich, ist die Neigung zu einer solchen zeitweiligen Einstellung 
der Feindseligkeiten nicht unwesentlich verstärkt worden da- 
durch, daß „die Herren vom Militär (Se. Kgl. Hoheit Prinz 
Friedrich Karl) erklärt hatten, daß die Armee zwei Ruhetage 
unbedingt notwendig hätte zur Herstellung des Schuhzeuges“ 17. 
Dieser Hinweis Bismarcks auf die Meinung „der Herren vom 
Militär, besonders des Prinzen Friedrich Karl“ erlaubt uns die 
Annahme, daß in jenem Kriegsrate auch militärische Dinge 
zur Sprache gekommen sein müssen. Wir erkennen nämlich 
in der „Meinung des Prinzen Friedrich Karl“ einen Bericht 
wieder, den dieser am 11. Juli 6 Uhr nachmittags an das Haupt- 
quartier gesandt hatteis. In diesem meldet er neben dem Ein- 
marsch seiner Avantgarde in Brünn, daß „die großen Anstren- 
gungen beim Überschreiten des Gebirges sowie das dringende 
Bedürfnis, der Retablierung des Schuhzeuges bei der Infanterie 
sowie des Beschlages bei der Kavallerie für seine Armee eine 
zweitägige Ruhe in Brünn in hohem Maße wünschenswert 
machen.. Daß dieser Antrag von entscheidender Bedeutung 
für die Frage eines Waffenstillstandsangebotes geworden war, 
haben wir oben gesehen, es ist aber u. E. mit Bestimmtheit an- 
zunehmen, daß auch die folgenden beiden Punkte des Berichtes 


" siehe Note 14 


* Abgedruckt bei Haeseler, Zehn Jahre im Stabe des Prinzen Friedrich Karl. 
Berlin 1915, IIT, S. 183£ 


Histor. Vierteljahrschrift. Rd. 26, H. 2. 22 


— 


338 Hermann Gackenholz 


des Prinzen den Kriegsrat beschäftigt haben, nämlich seine 
Bitte um Zuweisung von Pontonkolonnen und schwerem Be- 
lagerungsgeschütz. Es heißt in dem Berichte des Prinzen: 


„Durch die Direktion meiner Armee von Brünn auf Wien wird 
derselben naturgemäß seinerzeit die Aufgabe des Überschreitens 
der Donau zufallen ... Schon vor mehreren Tagen habe ich den 
Chef des Generalstabes der Armee, General von Moltke, ersuchen 
lassen, die von Torgau nach Turnau herangezogenen Ponton- 
kolonnen des II. und III. A.Ks. von letzterem Orte aus der 
1. Armee schleunigst folgen zu lassen; ich selbst wäre nicht 
imstande, diese Anordnungen zu treffen, da keine Verbindung 
mit Turnau bestand. Sofern diese beiden Pontonkolonnen im 
Anmarsch zu meiner Armee sind, würde ich an ihnen doch kein 
hinreichendes Material zum Überschreiten der Donau an mehreren 
Punkten besitzen. Ich bitte deshalb Ew. Majestät allertunter- 
tänigst, mir auch noch die sämtlichen bei der 2. Armee be- 
findlichen Pontonkolonnen zu diesem Zwecke überweisen zu 
wollen. 

„Hieran schließt sich aber auch ferner die Bitte um schweres 
Geschütz. Ich werde die Donau nicht überschreiten können, 
bevor ich nicht im Besitze der Florisdorfer Verschanzungen bin, 
und in deren Besitz gelange ich voraussichtlich nur durch 
schweres Geschütz. Ew. Majestät wollen daher die Zuteilung 
von schwerem Geschütz allergnádigst zu befehlen geruhen''!9, 

Als Ergebnis der auch über diese beiden Punkte des Berichtes 
des Prinzen Friedrich Karl stattgefundenen Beratung dürfen 
wir die entsprechende Antwort Moltkes am nächsten Tage auf- 
fassen®: 

„Des Königs Majestät bewilligen den Truppen der ersten 
Armee nach den bisherigen anstrengenden Märschen eine zwei- 
tägige Ruhe. 

„Die schon früher nach Turnau dirigierten Pontonkolonnen 
wolle das Oberkommando sogleich durch Landmarsch nach 
Pardubitz heranziehen, wo dieselben für ihren später etwa an- 
zuordnenden Weitertransport durch die Eisenbahn bereit zu 
halten sind. 


19 siehe Note 18 
Moltke, Militärische Korrespondenz 1866. Nr. 176. S. 259. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 339 


„Die beantragte Heranziehung von 50 schweren Geschützen 
ist einstweilen noch nicht auszuführen; weitere Bestimmung 
darüber bleibt diesseits vorbehalten“. 

Dieses „einstweilen noch nicht“ des letzten Abschnittes be- 
zeichnete eine vorläufige Suspendierung der Heranziehung der 
Geschütze bis zu dem Zeitpunkt, wo man im Besitze einer 
direkten Eisenbahnverbindung mit Dresden über Prag sein 
würde. Am 14. Juli wurde nämlich der Befehlshaber der in 
Dresden zusammengezogenen Festungsartillerie, Oberst Mertens, 
telegraphisch angewiesen, „daß 50 dorthin dirigierte Geschütze 
so bereit zu halten sind, daß sie, sobald es befohlen würde, ohne 
Zeitverlust auf der Eisenbahn abgesendet werden können“. 
Moltke beabsichtigte also für die Nachführung sowohl der 
Pontonkolonnen, die er nach Pardubitz an die Eisenbahnlinie 
befohlen hatte, wie auch des Belagerungsgeschützes das rasche 
Beförderungsmittel der Eisenbahn zu benutzen®#. 

Offenbar ist neben der Frage des Waffenstillstandsangebotes 
und den Eingaben des Prinzen Friedrich Karl noch über einen 
dritten Punkt gesprochen worden: An dem oben erwähnten eigen- 
händigen Bericht Bismarcks an den Kronprinzen findet sich näm- 
lich ein Vermerk von der Hand des mit der Beförderung des 
Berichtes beauftragten Adjutanten des Kronprinzen. In diesem 
Zusatz hat der Adjutantaugenscheinlich mündliche Informationen 
fixiert, denn es findet dort u.a. der „Wunsch“ Bismarcks, daß 
„unsererseits (d. h. von der zweiten, der kronprinzlichen Armee) 
etwas gegen Ungarn unternommen werden sollte, um dort den bald 
im Zuge befindlichen Vorbereitungen zu revolutionären Be- 
wegungen eine Basis und neuen Anstoß zu geben“ . Hieraus 


n siehe Note 20 

n Der Feldzug von 1866 in Deutschland. Redigiert vom Großen Generalstab. 
Berlin 1867. S. 484. 

# Moltke hat von Beginn des Feldzuges an die Bedeutung der Eisenbahnlinie 
Dresden—Prag—-Brünn als wichtige Etappenstraße für die in Böhmen operierenden 
Truppen erkannt und auch schon am 2. Juli befohlen, diese Linie durch Besetzung 
von Theresienstadt und Prag in preußische Hände zu bringen und sofort verwendungs- 
fähig zu machen. (Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 150, S. 241.) Nachdem dann 
Prag von der Garde-Landwehr-Division besetzt worden war, rechnete Moltke, wie 
aus einem Brief von 12. Juli (Ges. Schriften VI, S. 452) hervorgeht, mit einer Inbe- 
triebnahme der Eisenbahnlinie für diesen oder für die nächsten Tage. 

* Lettow-Vorbeek III, S. 596. 


22 * 


340 Hermann Gackenholz 


glauben wir entnehmen zu können, daß auch die Frage, ob und 
wieweit das Schüren revolutionärer Umtriebe in Ungarn als 
Kampfmittel gegen Österreich angewendet werden sollte, be- 
handelt worden ist. Man scheint zu dem naheliegenden Schlusse 
gekommen zu sein, die Antwort Österreichs auf das Waffen- 
ruheangebot abzuwarten und dann erst zu diesem neuen Druck- 
mittel gegen Österreich zu greifen. So geschah es nämlich in der 
Tat: Auf die ablehnende Antwort Österreichs erfolgte am 
14. Juli der Befehl zur Gründung einer Ungarischer Legion“. 
Daß Bismarck den „F Wunsch nach einer baldigen Unternehmung 
gegen Ungarn‘ gerade dem Kronprinzen übermitteln ließ, er- 
scheint uns aus dem naheliegenden Grunde erklärlich, daß 
nämlich die 2. Armee, den linken Flügel des nach Süden vor- 
rückenden Heeres bildend, der ungarischen Grenze und Be- 
völkerung am nächsten kommen mußte. 

Wenn wir an dieser Stelle uns noch einmal zusammen- 
fassend darüber klar werden wollen, was wir — unabhängig 
von dem Berichte Bismarcks in den „Gedanken und Erinnerun- 
gen“ — aus den anderen uns vorliegenden Quellen als tatsäch- 
lichen Gegenstand des Kriegsrates von Czernahora heraus- 
geschált haben, so bleiben drei Punkte, von denen wir mit einer 
gewissen Sicherheit behaupten kónnen, sie seien verhandelt 
worden: 

1. Die Waffenstillstandsfrage, deren Ergebnis, nicht zu- 
letzt auf Grund der Eingabe des Prinzen Friedrich Karl auf 
Ruhezeit, das Angebot einer dreitägigen „abstention d'hosti- 
lités“ war; 

2. Die weiteren Anträge des Prinzen auf Zuweisung von 
Pontonkolonnen und Belagerungsgeschütz, die von Moltke ,,einst- 
weilen noch“ zurückgestellt wurden, bis man sich im Besitze 
einer geregelten und leistungsfáhigen Bahnverbindung und damit 
der Móglichkeit rascher Befórderung befinden würde; 

3. Die Frage, ób und wieweit man sich des neuen Druck- 
mittels einer Unterstützung der revolutionären Stimmung in 
Ungarn bedienen sollte. 

Der groBe Unterschied, der zwischen dem von uns heraus- 
gearbeiteten Inhalt des Kriegsrates von Czernahora und dem 


** Lettow-Vorbeck III, S. 599. — Vgl. auch Roloff, Brünn und Nikolsburg. 
H. Z. 136, S. 461f. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 341 


Berichte Bismarcks in den „Gedanken und Erinnerungen“ 
besteht, wird bei einer Gegenüberstellung sofort deutlich. 
Wir gewinnen den Eindruck, daß Bismarcks Darstellung zu- 
mindest stark irrtümlich, wenn nicht sogar falsch ist. Und 
doch lassen sich in seinem Berichte drei Erinnerungsmomente 
feststellen, die bei näherem Zusehen den dargestellten Ver- 
handlungspunkten ohne Zweifel entsprechend zugehören: Die 
Waffenstillstandsfrage als „drohende französische Einmischung“, 
die Anträge Friedrich Karls um Pontonkolonnen und Be- 
lagerungsgeschütz und die Debatte über deren Heranschaffung als 
„Zeitverlust von 14 Tagen Transportzeit‘‘ und endlich die Bil- 
dung einer Ungarischen Legion als „Viertelschwenkung links 
auf Preßburg“. Die starke Wandlung der tatsächlich besproche- 
nen Fragen bis zu den eben schlagwortartig skizzierten Er- 
innerungsmomenten, die deutliche Verschiebung ihres ur- 
sprünglichen Gewichtes und ihre eigenartige logische Ver- 
knüpfung in Bismarcks Darstellung finden eine überraschende 
Erklärung in einer Tatsache, zu deren Erkenntnis uns Bis- 
marck selbst den Weg gewiesen hat: Durch Zitate aus den von 
ihm benutzten Hilfsquellen und durch vor- und rückschauende 
Hinweise gibt uns Bismarck die Möglichkeit, seinen Gedanken- 
gängen bei der Entstehung dieses Abschnittes der „Gedanken 
und Erinnerungen“ nachzuspüren, ihn bei seiner Arbeit sozu- 
sagen zu belauschen — ein reizvolles, aber wegen des großen 
menschlichen Abstandes nicht gefahrloses Unterfangen. 
Bismarck hat, wie aus seiner Darstellung hervorgeht, bei 
der Entstehung des den Krieg von 1866 behandelnden Kapitels 
der „Gedanken und Erinnerungen‘ verschiedene Werke als 
Ergänzung und Hilfe für sein Gedächtnis an diese Zeit, die ja 
fast ein Menschenalter hinter ihm lag, herangezogen: vor allem 
Sybels Geschichte der Begründung des Deutschen Reiches für 
die politische Seite des Krieges und das Generalstabswerk für 
die militärische. Bei der Durchsicht dieses letzteren sehr ins 
Einzelne gehenden Werkes ist Bismarck — wie die von ihm 
selbst gesetzte Fußnote“ zeigt — auf die schon von uns oben 
herangezogene Bemerkung gestoßen, daß „am 14. Juli der 
Oberst Mertens angewiesen wurde, 50 nach Dresden dirigierte 


” Gedanken und Erinnerungen II, S. 40, Fußnote. 


342 Hermann Gackenholz 


Geschütze so bereit zu halten, daß sie, sobald es befohlen würde, 
ohne Zeitverlust auf der Eisenbahn abgesendet werden könn- 
ten“ “7. Diese Bemerkung hat nun bei Bismarck eine Erinnerung 
an die Debatte über diesen Punkt wachgerufen. In deren Ver- 
lauf mag Moltke etwa ausgeführt haben, daß eine der Eingabe 
Friedrich Karls entsprechende sofortige Heranführung der 
Geschütze nur mit Pferdetransport hätte erfolgen können, 
daß dazu bei der Unbeholfenheit des damaligen Belagerungs- 
parkes aber „14 Tage Transportzeit‘‘ nötig gewesen wären, und 
daß er die Möglichkeit der einfacheren und rascheren Beförde- 
rung mit der Eisenbahn abzuwarten beabsichtigtes. Dieser letzte 
Entschluß Moltkes ist offenbar in Bismarcks Erinnerung nicht 
mehr deutlich geworden, während dagegen die „14 Tage Trans- 
portzeit mit Pferden'' ein ihrer Bedeutung gar nicht entsprechen- 
des Gewicht bekommen haben. Dadurch ist die Gedankenfolge 
Bismarcks in eine eigenartige Richtung gelenkt worden: Er 
glaubte eine Übereinstimmung in der Lage vom 12. Juli 1866 
und in den ihm deutlicher vor Augen stehenden, weil ihn ja auch 
innerlich viel näher berührenden Vorgängen 1870 vor Paris zu 
erkennen. Das beweist sowohl die von ihm gesetzte Fußnote: 
„Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris‘‘®, wie auch der 
Hinweis, mit dem er später bei der Erzählung des Konfliktes 
über die Beschießung von Paris an den Kriegsrat von Üzerna- 
hora erinnert: „Es fehlte ... an schwerem Belagerungsgeschütz, 
wie im Juli 1866 vor den Florisdorfer Linien“ oO. In diesem 
Bestreben Bismarcks, eine Parallele zu den Vorgängen von 1870 
zu sehen und auch darzustellen, liegt u. E. der Schlüssel zu der 
Erkenntnis, wie der Unterschied zwischen der Darstellung 
Bismarcks und dem von uns dargelegten Inhalt der Beratung 
zu klären ist. Denn folgerichtig in dem unbewußten Streben, 


# siehe Note 22 

22 Bei dem Transport der Geschütze mit der Eisenbahn kann von 14 Tagen 
Transportzeit natürlich nicht die Rede sein. Das ergibt eine einfache Berechnung 
der Entfernungen: Die Länge der Eisenbahnlinie von Dresden bis Brünn und weiter 
bis zu den südlich davon operierenden Truppen beträgt rund 300 km. Selbst wenn 
wir mit vielen Fahrtunterbrechungen und der Zeit zum Ein- und Ausladen rechnen 
müssen, ergeben sich doch höchstens drei bis vier Tage als für die Heranschaffung 
notwendige Zeit. 

? Gedanken und Erinnerungen II, S. 40. Fußnote. 

20 Gedanken und Erinnerungen II, S. 127. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 343 


die Lage von 1866 mit der von 1870 so übereinstimmend zu 
gestalten, tritt in Bismarcks Erinnerung die Waffenstillstands- 
frage, die doch — wie wir oben dargelegt haben — den wichtigsten 
Punkt der Verhandlung gebildet hat, ganz zurück, und nur ein 
schwaches Erinnerungsmoment an die Sendung Benedettis 
wird mit der Transportfrage so verknüpft, als ob, wie 1870 vor 
Paris, die für die Heranschaffung der Geschütze notwendige 
Zeit die Gefahr einer Einmischung hier Frankreichs — dort 
des neutralen Auslandes vergrößert hätte. 

Zweifellos hat der ip dem plötzlichen Auftauchen Benedettis 
im Preußischen Hauptquartier besonders fühlbare Versuch 
Napoleons, die Dinge nach seinen Wünschen zu beeinflussen, 
eine gewisse Beunruhigung Bismarcks hervorgerufen. Er hat 
aber, wie aus allen Quellen deutlich bervorgeht?!, diesen Stö- 
rungsversuchen seiner Politik 1866 bedeutend überlegener und 
zuversichtlicher gegenüber gestanden als 1870, vor allem hat 
er ein militärisches Eingreifen Napoleons am wenigsten ge- 
fürchtet. Deshalb erscheint uns die Verbindung der völlig 
voneinander unabhängigen Erinnerungsbilder an die Sendung 
Benedettis und an die Transportzeit der Geschütze als eine reine 
nachträgliche Konstruktion, deren Unlogik überdies bei einem 
Vergleich der äußeren Verhältnisse sofort deutlich wird: 1870 
hatte die Belagerung von Paris schon eine gewisse Zeit ergebnis- 
los gedauert, als der Streit um die Beschießung ausbrach — 
damals konnte in der Tat ‚eine Zeit von 14 Tagen abwartender 
Pause“ die Gefahr der Einmischung des Auslandes vergrößern. 
1866 befand sich die Armee erst mitten im Vormarsch auf die 
noch 100 km entfernten Befestigungen — man hätte sie also 
erst nach einer Reihe von Tagen erreicht®, so daß die „Zeit 
abwartender Pause“ ohnehin von selbst zusammengeschrumpft 
wäre. 

Nachdem wir so zu der Ansicht gelangt sind, daß die Ver- 
knüpfung von Geschütztransport und Einmischung Frankreichs 
als eine nachträgliche Konstruktion anzusehen ist — entstanden 
eben aus dem mehr oder weniger unbewußten Streben Bis- 


*! Vgl. Roloff S. 467. 

*! Stosch, Denkwürdigkeiten. Stuttgart 1904. S. 103. 

:* Moltke rechnete am 12. Juli mit sieben Tagesmärschen bis Wien. Ges. 
Schriften VI, S. 452. 


344 Hermann Gackenholz 


marcks, die Vorgänge von 1866 mit denen von 1870/71 so über- 
einstimmend wie möglich zu gestalten —, fällt für uns die Not- 
wendigkeit fort, die darauf begründete Folgerung, das Ein- 
greifen Bismarcks in den Gang der militärischen Operationen, 
anzuerkennen. 

Diese Auffassung erscheint uns umso berechtigter, als 
sich in der Tat weder in den unmittelbaren Quellen zu diesen 
ganzen Tagen, noch in dem Verlauf der Operationen selbst ein 
beherrschender, ja überhaupt ein Einfluß Bismarcks auf die 
militärische Leitung finden läßt. Weder in jenem Berichte Bis- 
marcksanden Kronprinzen über die in der Konferenz gefaßten Ent- 
schlüsse noch aus den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen Bis- 
marcks und der anderen Persönlichkeiten des Hauptquartiers 
können wir ersehen, daß vom 12. Juli an die Richtung des Vor- 
marsches auf Preßburg gelenkt worden ist. Im Gegenteil: Das be- 
kannte Telegramm, das Bismarck am 17. Juli 255 Uhr nachmittags 
an den Botschafter Goltz in Paris sandte —als Antwort auf dessen 
beunruhigende Nachricht, daß Napoleon gegen seinen Willen 
doch noch zum Kriege gedrängt werden könnte, wenn nicht 
ein deutlicher Erfolg der französischen Vermittlungsaktion 
sichtbar würde — bestärkt uns in der Auffassung, den Anspruch 
Bismarcks auf die Urheberschaft des Planes einer Richtungs- 
änderung auf Preßburg abzulehnen. In diesem Telegramm 
teilt Bismarck nämlich mit, daß „er sich mit Moltke dahin ge- 
einigt habe, Napoleon zuliebe nicht nach Wien zu gehen, und 
daß beide hofften, die Genehmigung des Königs dazu zu er- 
langen. Ein Vordringen bis an die Donau ober- oder unterhalb 
Wiens, unter Bedrohung dieser Hauptstadt, werde aber un- 
entbehrlich sein, um die Neigung Kaiser Franz Josephs zur 
Fortführung des Krieges zu überwinden“ l. Welche Fülle von 
Widersprüchen entsteht hier zwischen der aus dem Inhalte 
des Telegramms hervorgehenden Lage und Bismarcks Dar- 
stellung in den „Gedanken und Erinnerungen“: Hier am 
17. Juli die „sofortige“ Einigung mit Moltke — dort am 12. 
der „widerstrebende, aber doch sich unterordnende“ Leiter 
der militärischen Operationen; hier die „Hoffnung beider auf 
die Genehmigung des Königs‘ zu ihrem Entschlusse, nicht in 


* Brandenburg, Aktenstücke und Untersuchungen zur Geschichte der Reichs- 
gründung. Leipzig 1916, S. 617. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 345 


Wien einzurücken — dort die königliche Autorität, die den 
Ausschlag zugunsten des Vorschlages Bismarcks gegeben hatte; 
hier die „Notwendigkeit des weiteren Vordringens gegen die 
Donau ober- oder unterhalb Wiens, unter Bedrohung dieser 
Hauptstadt“ — dort die „Umgehung“ der so unangenehmen 
Florisdorfer Verschanzungen und das „Überschreiten der Donau 
mit leichtrer Mühe" und größeren strategischen Aussichten. 
Da wir bei dieser Gegenüberstellung dem Telegramm den Vorzug 
der größeren Glaubwürdigkeit zugestehen müssen, so kommen wir 
zu dem Schluß, daß Bismarcks Anspruch auf entscheidenden 
Einfluß auf den Gang der militärischen Operationen nach dem 
12. Juli nicht zu halten ist. Um so weniger, als sich auch aus 
dem tatsächlichen Verlauf des Vormarsches des preußischen 
Heeres ein solcher Einfluß im Sinne der Darstellung Bismarcks 
nicht erkennen läßt. 

Moltke hat vielmehr — ganz im Sinne des Telegramms an 
Goltz — auch in den Tagen nach dem 12. Juli die Armeen 
bis vor die Tore Wiens geführt, wie seine Armeebefehle ohne 
weiteres zeigen®. Er befand sich in dem festen Glauben, daß 
die Österreicher, verstärkt durch die inzwischen eingetroffenen 
Teile der siegreichen und völlig intakten Südarmee, von Floris- 
dorf her eine Offensive gegen die aufmarschierenden preußischen 
Armeen unternehmen würden?. Deshalb befahl er am 19. Juli 
— es ist dies der Befehl, den Bismarck in den „Gedanken und 
Erinnerungen" abdruckt als die „erst am 19. Juli und nur 
widerstrebend'" in Angriff genommene Ausführung seines Vor- 
schlages vom 12.(!): „Die Armee soll sich in einer Stellung 
hinter dem Rußbach konzentrieren, und zwar die Elb-Armee 
bei Wolkersdorf und die 1. Armee bei Deutsch-Wagram (d.h. 
beide mit der Front gegen Wien) ... Dort soll die Armee zu- 
nächst in der Lage sein, einem Angriff entgegentreten zu können, 
den der Feind mit 150000 Mann von Florisdorf aus zu unter- 
nehmen vermag; demnächst soll sie aus dieser Stellung ent- 
weder die Florisdorfer Schanzen rekognoszieren und angreifen 
oder aber unter Zurücklassung eines Observationskorps gegen 
Wien möglichst schnell nach Preßburg abmarschieren können... 

*5 Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 176—198. S. 259ff. 


Moltke überschätzte die in Wien versammelten Kräfte der Österreicher 
stark. Vgl. Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 186. 


346 Hermann Gackenholz 


Gleichzeitig mit dem Vorrücken an den Rußbach soll der Ver- 
such gemacht werden, Preßburg durch überraschenden Angriff 
in Besitz zu nehmen und den eventuellen Donauübergang 
daselbst zu sichern.“ “ Wir ersehen aus diesem Befehl, daß 
Moltkes Sorge vor einer ósterreichischen Offensive von Floris- 
dorf aus die preußischen Armeen eine Aufnahme- und Angriff- 
stellung®® mit der Front nach Südwesten gegen Wien beziehen 
ließ, und finden also die Armeen dort, wohin Bismarck sie gerade 
nicht geführt haben wollte. Die Operation gegen PreBburg 
hat im Rahmen des Befehls nur die Bedeutung einer Neben- 
handlung, die nur die günstigen Vorbedingungen für einen 
„eventuellen“ Donauübergang dort schaffen sollte“. 

Direkt und indirekt glauben wir so den Beweis erbracht zu 
haben, daß auch der Anspruch Bismarcks auf entscheidenden 
Einfluß auf den Verlauf des Vormarsches gegen Wien als eine 
nachträgliche Konstruktion anzusehen ist — ebenso wie 
sein Motiv dazu, die Verknüpfung der Frage der Artillerie- 
Heranschaffung und der Einmischung Frankreichs. Aller- 
dings ist uns hier die Möglichkeit versagt, den Erinnerungs- 
gängen und Gedanken Bismarcks nachzugehen. Wir halten 
uns nicht für berechtigt, solche Gedankengänge ohne An- 
haltspunkte, wie sie uns Bismarck in der Artillerie- 
frage und der Einmischungsgefahr selbst gegeben hatte, zu 
erfinden oder gar, wie es von den militärischen Betrachtern 
wohl gelegentlich geschehen ist, „eine Eitelkeit Bismarcks auf 
seine militärischen Fähigkeiten“ als Ursache seines Anspruches 
anzunehmen. Wir wollen uns deshalb begnügen, auch in diesem 


?' Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 195. S. 272ff. 

3 Wir sagen ausdrücklich auch „Angriffsstellung“, da nach dem Befehl vom 
19. Juli durchaus ein Angriff als die in erster Linie beabsichtigte Operation aus der 
Stellung hinter dem Rußbach angesehen werden muß. 

3 Haeseler III, S. 210 und mit ihm Buchfink, Graf Haeseler, Berlin 1928, S. 54 
machen das ,,Überlassen" des Angriffs auf PreBburg dem Kommando der 1. Armee 
zum Gegenstand ihres Tadels, da „der Feldherr dazu neigt, im Angesichte des 
Friedens die bisher erworbenen Lorbeeren nicht preiszugeben... Der geschwüchten 
Unternehmungslust gegenüber sollte man nicht ‚überlassen‘, sondern befehlen. — 
Uns erscheint dieses „ Uberlassen“ dadurch erklärlich, daß die Aufmerksamkeit 
Moltkes durch den erwarteten Angriff der Österreicher von Florisdorf her in Anspruch 
genommen war, und daß er deshalb die Operation gegen Preßburg nur als zweit- 
rangig betrachtete. 


Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 347 


Falle als Grundlage der Darstellung Bismarcks nur eine Ver- 
schiebung des Gewichtes von Erinnerungsmomenten anzu- 
sehen, etwa an die in Czernahora stattgefundene Erörterung 
über die Unterstützung der ungarischen Insurgenten, aus der 
ja — wie oben dargelegt — der , Wunsch" Bismarcks ent- 
standen war, „es sollte von der zweiten Armee gegen Ungarn 
unternommen werden“, und, damit vielleicht verbunden und 
undeutlich vermengt, an die Besprechung mit Moltke über den 
Einzug in Wien vom 16. oder 17. Juli, als deren Ergebnis wir 
das oben von uns herangezogene Telegramm an den Botschafter 
Goltz betrachten müssen. Daß in dieser letzteren Besprechung 
von der Möglichkeit eines Überganges bei Preßburg gesprochen 
worden ist, liegt nahe — aber auch hier kann sich nicht etwa 
eine Szene im Sinne des Berichtes der „Gedanken und Erinne- 
rungen“ abgespielt haben, denn die Einigung gelingt ohne 
Schwierigkeit, ohne den Machtspruch der königlichen Autorität, 
und auch hier bleibt ja noch die Richtung des ‚weiteren Vor- 
gehens gegen die Donau, ober- oder unterhalb der zu bedrohenden 
Hauptstadt‘‘, völlig unbestimmt und offen als notwendiger 
Spielraum für die strategischen Überlegungen Moltkes, der ja 
auch dann diesen folgend, seine Armeen gegen die Florisdorfer 
Schanzen führt. 

Die Gegenüberstellung der von uns aus den Quellen heraus- 
geschälten Tatsachen und dem Berichte Bismarcks in den 
„Gedanken und Erinnerungen“ abschließend, können wir nun 
feststellen, daß Bismarcks Darstellung uns ein von den tat- 
sächlichen Vorgängen völlig abweichendes und deshalb un- 
richtiges Bild gibt. Wir haben uns bemüht, den Erinnerungs- 
gängen Bismarcks nachzuspüren, wozu er uns selbst den Weg 
gewiesen hat, und konnten dabei erkennen, daß die Ursache für 
seine irrtümliche Darstellung in dem mehr oder weniger un- 
bewußten Streben zu suchen ist, die Ereignisse von 1866 unter 
dem Gesichtswinkel ihrer vermeintlichen Ähnlichkeit mit denen 
von 1870/71 zu sehen und auch darzustellen. So verknüpft 
Bismarck die Erinnerungsbilder an die Heranschaffung der 
Belagerungsartillerie mit der Gefahr einer franzósischen Ein- 
Mischung — eine Verbindung zweier völlig voneinander un- 
abhàngiger Fragen — und schafft sich damit die Berechtigung 
für seinen Anspruch auf entscheidenden Einfluß auf die mili- 


348 Hermann Gackenholz: Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 


tärischen Operationen — auch dieser Anspruch eine nach- 
trägliche Konstruktion, da ein solcher EinfluB de facto in der 
von Bismarck dargestellten Weise zu keiner Stunde bestanden 
hat. 

Damit ist das Urteil über den Wert des Berichtes Bismarcks 
als historische Quelle u. E. gesprochen. Wir sind nun auch im- 
stande, die von uns eingangs aus dem Berichte Bismarcks ge- 
zogenen Folgerungen für das Verhältnis von Bismarck zu Moltke 
von „ Politik“ zu,, Kriegführung“ während des Krieges von 1866 zu 
korrigieren: Bismarck hat während dieses Kriegeszu keiner Stunde 
einen durch die Autorität des Königs gestützten, die Strategie 
bis in die Einzelheiten beherrschenden Einfluß im Sinne seines 
Berichtes in den „Gedanken und Erinnerungen‘ ausgeübt. Der 
angeblich „widerstrebende, sich aber doch fügende" Moltke 
hat bis zum letzten Augenblick des Feldzuges unbeirrt nur 
seine eigenen, den militärischen Notwendigkeiten entsprechenden 
Überlegungen die Operationen geleitet. Wir können deshalb 
annehmen, daß ein Konflikt zwischen den beiden Männern 
darüber niemals ausgebrochen sein kann. Die mühelose Eini- 
gung am 16. oder 17. Juli über den Einzug in Wien und andere 
bekannte Tatsachen — so die Hilfe, die Moltke in den schweren 
Tagen von Nikolsburg Bismarck geleistet hat“ — zeigen viel- 
mehr den Feldherrn immer zu vollem Verstándnis für die poli- 
tischen Notwendigkeiten und zum sofortigen Zurücksetzen 
seiner eigenen Pläne — soweit er es mit seinen strategischen 
Ideen vereinbaren zu können glaubte — bereit. Der Krieg von 
1866 stellt also nicht ein Vorspiel für die späteren Konflikte 
zwischen Bismarck und Moltke dar, sondern beweist vielmehr, 
daß auch diese beiden sich des Gewichts ihrer Stellung sehr 
wohl bewußten Persönlichkeiten einen Weg zu verständnis- 
voller und deshalb reibungsloser Zusammenarbeit gefunden 
haben — welt entfernt von schweren, jahrelang nachwirkenden 
Konflikten oder gar der Unterwerfung der einen unter den Willen 
der anderen. 


4% W. Busch, Der Kampf um den Frieden im preußischen Hauptquartier in 
Nikolsburg im Juli 1866, H. Z. 92, 1904 und Roloff a. a. O. 


m n 


349 


Kleine Mitteilungen. 


Naturgefühl im Mittelalter. 


Der Stand des Problems und seine Methode!. 


Das zweifellos bedeutsame Problem, in welchem Verhältnis die Menschen 
der mittelalterlichen Epoche zur Natur gestanden haben, bzw. welcher Art 
die Gefühle waren, die sie der Natur entgegenbrachten und die in ihnen durch 
Naturerleben ausgelöst wurden, war von der Forschung des ausgehenden 
19. Jahrhunderts großenteils übergangen, wenn nicht geleugnet worden. 
Es ist das Verdienst von W. Goetz, die ersten Arbeiten mit dieser Problem- 
stellung angeregt und veröffentlicht zu haben. Neuerdings hat nun ein Schüler 
von A. Dopsch, K. Wührer, diese Frage erneut stellen und beantworten 
zu müssen geglaubt, und die Anzeige dieser Arbeit nehme ich zum Anlaß 
einer ausführlichen Besprechung der gesamten Problemlage. — Zur Ein- 
führung in die unten genannte bisherige Literatur und zur Kennzeichnung 
ihrer gelegentlich etwas eigenartigen Methode seien zunächst noch einige 
Vorbemerkungen verstattet: 

G. Stockmayer hat sich darauf beschränkt, für das 10. und 11. Jahr- 
hundert Quellenmaterial zu sammeln, welches das Vorhandensein von Natur- 
gefühl beweisen sollte. Ganzenmüller hat dann 1914 die Untersuchung 
auf das ganze Mittelalter ausgedehnt und zugleich die Fragen nach Art und 
Herkunft des Naturgefühls behandelt. Derselbe Ganzenmüller hat dann 1916 
ein teilweise wörtliches Exzerpt seines Buches aus dem Jahre 1914 im Archiv 
für Kulturgeschichte veröffentlicht — ohne dies Buch auch nur einmal zu 
erwähnen! Das Neue an diesem Aufsatz bestand darin, daß Ganzenmüller 
aus seinem Material die Stellen auswählte, in denen eine „sentimentale“ 
Einstellung zur Natur, wie sie das endende 18. Jahrhundert gehabt habe, 
zum Ausdruck kommen sollte. Wührer endlich zitiert zwar in seiner Ein- 


! G. Stockmayer: Über Naturgefühl in Deutschland im 10. und 11. Jahr- 
hundert. Beitr. zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, hrsg. 
von W, Goetz, Heft 4 (1910). 

W. Ganzenmüller: Das Naturgefühl im Mittelalter. Ebda, Heft 18 (1914). 

Derselbe: Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter. Archiv für 
Kulturgeschichte. 12. Bd., (1916), S. 195ff. 

K. Wührer: Romantik im Mittelalter. Beitrag zur Geschichte des Natur- 
gefühl, im besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts. Veröffentlichungen des 

minars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien, hrsg. von 
A. Dopsch, Heft 6 (1930). 


350 N. Wilsing 


leitung alle drei Vorarbeiten, verweist aber in seiner Darstellung stets nur auf 
die beiden ersten von ihnen, obwohl er gerade mit dem zweiten Aufsatz 
Ganzenmüllers die Themastellung und die Form der Einführung mit einem 
und demselben Schillerzitat gemeinsam hat?. Die Feststellung derartiger 
Koinzidenzen der Findigkeit des Lesers zu überlassen ist meines Wissens 
nicht wissenschaftliche Gepflogenheit! 

Praktisch ergibt sich aus den angedeuteten Affinitäten der einzelnen 
Arbeiten, daB die Materialsammlung G. Stock mayers in den darauf folgenden 
Veröffentlichungen benutzt ist, daß ferner der zweite Aufsatz Ganzenmüllers 
nicht besonders behandelt zu werden braucht, da nur die Perspektive darin 
neu ist und diese wiederum von Wührer verwendet ist. Es wird also genügen, 
wenn wir zunächst Wührers Arbeit als die jüngste Publikation genauer 
betrachten und danach die gemeinsamen methodischen Voraussetzungen aller 
übrigen Arbeiten, unter denen die erste Abhandlung Ganzenmüllers die 
wichtigste ist, besprechen, um daran den augenblicklichen Stand des Problems 
zu bemessen. 

Wührer nennt in der Einleitung (S. 1) als Ziel der Arbeit: „Es soll an 
Hand der Quellen untersucht werden, ob der Mensch des Mittelalters und im 
besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zur Natur 
einige von den seelischen Kräften deutlich ausgebildet besaß, die um die 
Wende des 18. und 19. Jahrhunderts dem romantischen Menschen eigen 
sind." Er fährt dann fort (S. 2): „Und es ist zu beachten, daB nur die Voll- 
zähligkeit aller romantischen Züge den Romantiker ausmacht; ob aber diese 
Vollzähligkeit für das Mittelalter und im besonderen für das 10. und 11. Jahr- 
hundert festgestellt werden kann, wird hier nicht entschieden." Andererseits 
ändert die Tatsache, daB diese „romantischen“ Züge sich schon im Natur- 
gefühl der Antike und jeder Zeit finden, nichts an der Notwendigkeit, „für 
die mittelalterliche Seele diese Seite des Gefühlslebens ausdrücklich hervor- 
zuheben". (S.3.) — Es ist schwer, hierin eine logische Ordnung zu finden: 
Offensichtlich ist es das Bestreben des Verfassers, das Verhältnis mittelalter- 
licher Autoren zur Natur als romantisch zu kennzeichnen und damit von 
anderen Naturgefühlen anderer Zeiten abzuheben. Wenn er dabei auf Voll- 
zähligkeit verzichtet und damit auf den exakten Nachweis von „Romantik“, 
so ist das ein Notbehelf, der allerdings mehr als angebracht ist angesichts der 
erstaunlichen Absicht, den geistigen Habitus einer bestimmten Dichter- und 
Philosophengeneration um Jahrhunderte zurück projizieren zu wollen. Der 
apriorischen Unmöglichkeit seines Themas ist sich der Verfasser aber nur 
insoweit bewußt geworden, daß er auf Vollständigkeit keinen Anspruch zu 
erheben wagte, — man könnte sonst versucht sein, ihm die Wiederentdeckung 
des Humanismus im Altertum anzuraten! Tatsächlich ist der Sachverhalt 
eben der, daß Wührer — fast ausschließlich mit dem Material, das ihm seine 
Vorgänger geliefert haben, und mit der bereits von Ganzenmüller 1916 
angedeuteten Perspektive — die Forschung fördern zu können vermeint hat. 
Angesichts dieses grundsätzlichen Mißgriffs genügt es, eine Reihe von Bei- 
spielen für Wührers Verfahren im Einzelnen herauszugreifen. 


3 Man vergleiche Wührer a. a. O. S. 2ff. und Ganzenmüller 1916, S. 195f. 


Naturgefühl im Mittelalter 351 


Gemäß seiner Absicht entwickelt er zunächst das Naturgefühl der 
Romantik (S. 4—16) und findet als dessen besondere Kennzeichen: pessi- 
mistische Sehnsucht nach der Natur, Wandertrieb, Liebe zum Mond, Hang 
zur Einsamkeit, Beseelung und Belebung der Natur, Vorliebe für die Nacht, 
für Tráume und Visionen und für Naturschilderungen, die ein Gegenbild der 
Seelenstimmung sind. — Diese logisch und sachlich heterogenen Begriffe 
werden nun kapitelweise bei mittelalterlichen Autoren zu belegen versucht. 
Verfasser nimmt sich dabei in den wenigsten Fällen die Mühe, genau über- 
einstimmende Vergleichsstellen nachzuweisen, sondern sieht seinen Zweck 
erfült, wenn die oben angegebenen Stichworte auch nur entfernt auf den 
Text des mittelalterlichen Autors anwendbar scheinen — und reicht der Text 
nicht aus, so hilft eine Paraphrase nach! 

Im „liber de restauratione monasterii Tornacensis" (MG SS XIV 293), 
steht von der Gegend, in der sich das Kloster befand: „ubi sic segnis animus 
recreabatur, acsi partem amenitatis paradysi se occupasse gratularetur.'' 
Nach Wührer (S. 18) heißt das, daß die Seele durch die Natur, geheilt“ werde, 
obwohl doch offentsichlich nur gemeint ist, daB die schóne Gegend den Món- 
chen schon auf Erden einen Abglanz des Pradieses bietet, denn ,,segnis'' 
heißt nicht krank, sondern müde und „recreare“ erfrischen. — Das darauf 
folgende Zitat aus der „Ecbasis cuiusdam captivi“ (V. 590ff.) besagt, daB der 
kranke König Löwe an dem bezeichneten Ort Speise und Trank finden wird, 
und es ist bezeichnend für das „Naturerleben“ des Autors, daß er dabei an 
Kräuter denkt. Davon, daß der Löwe „angesichts der lieblichen Natur 
Linderung der Schmerzen suchen“ soll, wie Wührer paraphrasiert, steht 
schlechterdings nichts da. — Von zwei gefangengehaltenen Kindern heißt es 
(Lampert v. Hersfeld edd. Holder-Egger S. 275), daß sie ab und zu auf die 
Jagd mitgenommen wurden, um ihren bedrückten Sinn durch diese Auf- 
forderung zu erheitern (,, ut oppressas merore ac tedio mentes hoc advoca- 
mento recrearent‘‘); Wührer fügt in seine Paraphrase ein: „damit sie ihre. ... 
Gemüter durch den Aufenthalt in der Natur erfrischten" (von mir 
gesperrt). — Wenn Jean Paul das sanfte und stille Leben und Sterben des 
vergnügten Schulmeisterleins Wuz mit dem Umlegen einer Lilie vergleicht, 
so setzt das Wührer in unmittelbare Parallele mit dem Ausruf: ,, Quis enim 
lilii candorem.... absque gemitu videat transire in pallorem?“ (S. 21f.). 

Zu dem Abschnitt „Liebe zum Mond" (S. 28ff.) bringt Wührer ganze 
fünf Belegstellen. In einer Anmerkung S. 30 erfährt man: „Bei Heranziehung 
des gesamten Quellenmaterials liege sich die mittelalterliche Mondliebe und 
Schwärmerei bedeutend besser belegen. Die Geschichtsschreiber, die im 
Vordergrunde dieser Untersuchung stehen, sind dafür keine gute Quelle“ 
Ein derartiges Unterfangen, wissenschaftliche Beweise durch Vertröstungen 
zu ersetzen, muß denn doch um so entschiedener zurückgewiesen werden, 
als nicht erkennbar ist, ob und von welchen sachlichen Gesichtspunkten 
Wührer sich bei seiner selbstgewollten Beschränkung hat leiten lassen. 

Weitere Trübungen des Textes finden sich z. B. im Kapitel „Einsamkeit“ 
(S. 32). Der von Eckehart IV. angegebene Grund für den Einsamkeits- 


* Ähnlich S. 51, Anm. 3; 62, 2. 


352 N. Wilsing 


willen des Bischofs Salomon ist rein praktischer Natur: er will mit seinen 
Besuchen Abt und „familia“ nicht belästigen. — Von Benno v. Osnabrück 
erzählt Norbert v. Iburg (SS rer. Germ. in usum schol. S. 17f.); daß er sich 
in einsamer Gegend ein befestigtes Haus baute, nicht, wie Wührer kühnlich 
behauptet (S. 32), um allein zu sein mit der Natur, sondern um in Stille seinen 
Angelegenheiten nachgehen zu können“ (ähnlich Otto III. S. 35) und Feinden 
zu entgehen. Letzteres ist die Hauptsache, wie die darauffolgende Erzählung 
deutlich beweist. — S. 33 liegt ein offensichtlicher Übersetzungsfehler vor: 
denn ,,monitu angelico atque ductu“, d. h. auf Wink und unter Geleit eines 
Engels bringt der Lehrer den hl. Vitus übers Meer — Wührer macht daraus 
das „romantische Gemälde“, daB Vitus von einem Engel übers Meer entführt 
wird. — S. 42—44 bringt Verfasser ein ausführliches Zitat aus der Vita 
Heinrichs IV. (SS rer. Germ. in usum schol. cap. 40): Markgraf Eckbert von 
Meißen wird zufällig in einer einsamen Mühle entdeckt von Feinden, die in der 
Mittagsglut Erfrischung suchten, und nach hartem Kampf getótet. Verfasser 
findet, daB hier von einer anmutigen und lieblichen Natur die Rede sei und 
versteigt sich zu der Behauptung, dadurch gerade solle im Leser eine unheim- 
liche Stimmung hervorgerufen werden. Man sieht sich auBerstande, der- 
artige Vorstellungen zu widerlegen! — Wenn Bruno im ,Sachsenkrieg'' 
(SS rer. Germ. in usum schol. cap. 11) berichtet, daB Konrad in einen Hinter- 
halt fállt und in der Einsamkeit ums Leben gebracht wird, so denkt der Ver- 
fasser an den Golo in Tiecks Genoveva (S. 46) — als ob eine hinterhältige 
Ermordung coram publico stattfinden kónnte! — Und schließlich noch ein 
Beispiel für „echt romantische Analyse des eigenen Seelenlebens": da steht 
nämlich bei Walther von Speyer: wer mit der Geliebten vereint ist, den quälen 
nicht Sorgen noch Mühsal und Krankheit! Wührer interpretiert (S. 72): 
„nur im Liebesgenuß peinigen ihn (scil. den mittelalterlichen Liebenden) 
keine Sorgen und bösen Gedanken, doch schwebt ihm der Gedanke daran auch 
im Glück stets vor und vergleicht damit Hölderlin: „ . warum schläft denn 
nimmer nur mir in der Brust der Stachel?“ Das Umbiegen des durch den 
Text gegebenen Sachverhaltes zu der an den Stoff herangebrachten These des 
Verfassers kann kaum deutlicher beleuchtet werden! 

Diese Beispiele mógen genügen, um zu zeigen, daB ebensowenig wie die 
These des Verfassers seine Beweisführung ernst genommen zu werden ver- 
dient. Aber abgesehen von der Unmöglichkeit eines „romantischen“ Natur- 
gefühls müssen noch sehr erhebliche Einwände gemacht werden sowohl gegen 
die Art, wieWührer überhaupt ein Naturgefühl feststellen zu kónnen glaubt, 
als auch gegen die geistigen Voraussetzungen, mit denen er arbeitet. 

So sind z. B. alle Zitate als verfehlt zu betrachten, in denen es sich ledig- 
lich um einen Vergleich mit der Natur handelt. S. 68 begegnet Wührer diesem 
Einwand zwar mit der Behauptung: „...auch ein Vergleich mit der Natur 
ist niehts anderes als Ausdruck der eigenen Stimmung durch die Natur." 
Wührer unterschätzt hier wie auch in anderen Fällen, worin er allerdings nicht 
allein steht, die literarische Tradition doch ganz beträchtlich®. Es läßt sich 


* ubi et secretius ad quae vellet vacare posset et quandoque etiam turban 
declinaret infestam! 


Darüber und den Zusammenhang mit der Antike s. u. S. 358ff. 


Naturgefühl im Mittelalter 353 


gerade an vom Verfasser angeführten Stellen der einwandfreie Nachweis 
führen, daß ein unmittelbares Naturerleben, das mit echtem Gefühl eine 
anschauliche Vorstellung erzeugt hätte, keineswegs vorhanden ist. Wenn 
es im Ruodlieb heißt: 
„femina quae lune par est in flore iuvente, 
vetule simie fit post etate senecte.“ 

(Wührer S. 30, Anm. 1), so hat der Dichter zum Mond ein genau so inniges 
Verhältnis wie zum Affen, wie gerade die Nebeneinanderstellung deutlich 
genug verrät. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Vergleichen um altes 
tralatizisches Gut, das zu jeder Zeit anzutreffen ist. — Die Klage im Chronicon 
Laureshamense über die Hirschauer Mönche: „ factis silvestres, silvestria corda 
gerentes (S. 50) beweist erstens natürlich nichts von Romantik — überhaupt, 
wie romantisch müßte Homer sein, wenn Naturgleichnisse auch nur etwas 
darüber besagten! — und zweitens ist es in der lateinischen Sprache durchaus 
üblich, vom dauernden Aufenthaltsort eine gewisse Lebensart abzuleiten 
(cf. „urbanus, rusticus"). Mit einer mehr oder weniger gefühlvollen Vor- 
stellung vom Walde hat das nichts zu tun; die Mónche benehmen sich wie 
Leute, die die Gewohnheiten des Waldlebens angenommen haben, nàmlich 
versteckt und hinterhältig — „simplicium mentes versute decipientes". — 
Ebensowenig ist an Beseelung als vielmehr an rhetorische Hyperbel zu denken 
bei Ausdrücken wie „regionis serenitas“ (S. 52); vor allen Dingen gilt das von 
Hymnen und Gebeten (S. 52ff.), in denen es von jeher zum Stil gehört, die 
ganze Natur mitfeiern zu lassen. Gerade die regelmáBig wiederkehrende Voll- 
zähligkeit von Blumen, Feld, Bach, Meer, Sonne, Vögeln und sonstigem 
Getier sollte doch bedenklich stimmen gegen die Annahme, daß dem jeweilig 
ein echtes Naturgefühl zugrunde gelegen habe. 

Eine weitere Gruppe von Fehlern ist enthalten in der Verwertung der 
Nachrichten über die Lokalität von Klöstern, Eremitagen u. ä. (S. 30ff.). 
Die Wahl einer Örtlichkeit von Mönchen ist doch primär von ganz anderen 
Gesichtspunkten bestimmt, und die Tatsache, daß man nicht gerade die ödeste 
Gegend besiedelte, besagt allein sehr wenig. Wenn dabei das Aufsuchen der 
Einsamkeit fast stets als agens genannt wird, so ist damit die ethisch-religiöse 
Verpflichtung des Gottesdienstes gemeint; ganz deutlich wird das, wenn 
noch, wie bei Johannes von Gorze (MG SS IV 346, Wührer S. 35, Anm. 5) 
hingewiesen wird auf das Vorbild der antiken Einsiedler; schon der Vorbild- 
gedanke hat moralisch bindende Kraft, und den Eremiten des ausgehenden 
Altertums eine Naturfreudigkeit beizulegen hieße denn doch den Ernst wie 
die Tendenz ihres Lebens verkennen. Wührer aber sieht in dem angeführten 
Zitat eine Gelegenheit, seine Geschichtsauffassung kulminieren zu lassen in 
dem Satze: „Es bestand also zwischen den Einsiedlern des Mittelalters und 
ihren Vorbildern in frühchristlicher Zeit ein ähnliches Verhältnis wie zwischen 
Romantik und Mittelalter." Das ist nun wirklich das Non plus ultra der 
Perversion aller Geistesgeschichte. 

Schließlich müssen auch ausgeschaltet werden alle Zitate, in denen von 
Wunderzeichen u. ä. die Rede ist (Wührer S. 40—42, 47). Vor Kometen hat 
man vom Altertum bis zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges Furcht empfunden, 


. und auch sonst pflegen zu besonderen Ereignissen Vorzeichen berichtet 


Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 23 


354 N. Wilsing 


zu werden, die entweder dem betreffenden Vorgang parallelisiert sind (wie das 
Beispiel Wührer S. 40, Thietmar IX 28) oder durch ihre Ungewöhnlichkeit 
lediglich die Besonderheit, meist in schrecklichem Sinne, vorbereiten solle... 
Wührer ist sich dabei über die Frage, wo denn nun in jedem dieser Fälle das 
Naturgefühl einsetzt, nicht recht klar geworden; S. 47 sagt er, daB die Un- 
erklárbarkeit der Natur Ursache des mittelalterlichen Grauens sei, und trifft 
damit etwas Richtiges, was aber keineswegs auf das Mittelalter beschránkt ist. 
Bei den S. 40ff. angeführten Beispielen glaubt er dagegen ein Wohlgefallen 
an grausigen Naturbildern konstatieren zu kónnen. Die damit postulierte 
gänzlich andere Haltung des Schriftstellers gegenüber seinem Objekt be- 
rücksichtigt er nicht, versucht auch nicht, an Hand genauer Interpretation 
seine These zu stützen. Tatsächlich sind auch gerade die von ihm angeführten 
Stellen dafür denkbar ungeeignet; bei dem Vergleich zwischen Tieck und 
Hrotsvit a. a. O. übersieht er z. B. den entscheidenden Unterschied, daB bei 
Tieck das Verirren tatsächlich zur Katastrophe führt, bei Hrotsvit dagegen 
nicht — ganz abgesehen davon, daß diese im Gleichnis redet (s. o. S. 352 f.). 

Ein weiteres Eindringen in Einzelheiten kann unterbleiben, da an dieser 
Stelle mehr als eine bloBe Kritik beabsichtigt ist. Für die Frage nach dem 
Stand des Problems muß unter diesen Umständen auf die früheren Arbeiten 
G. Stockmayers und W. Ganzenmüllers zurückgegriffen werden. Dabei 
wird sich eine ins Einzelne gehende Kritik um so entbehrlicher machen, als 
wir einige methodologische Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken 
müssen, die ebenso auf alle bisherige Literatur zu unserem Thema anwendbar 
sind, wie sie auch vielleicht die Ansatzpunkte für die weitere Forschung 
anzudeuten vermögen. 

Da ist zunächst zu bemerken, daß sich keiner der bisherigen Autoren, 
wie es scheint, den Umfang und die geistigen Voraussetzungen des Themas, — 
ich meine die der Sache inhärierenden, aus ihr von selbst hervorgehenden 
Forderungen — genügend klar gemacht hat. So fehlt z. B. — ohne daß damit 
der angedeutete Mangel allein behoben wäre — ein klarer Begriff oder auch 
nur eine deutliche Vorstellung von „Naturgefühl‘‘®. Die Folge davon ist, 
daß letzten Endes alles, was man — um vulgär zu sprechen — „draußen, im 
Freien" wahrnehmen kann, als zur Natur gehörig angesehen wird und alle 
darauf irgendwie Bezug nehmenden Textstellen mehr oder minder geschickt 
zu einem Katalog des Naturgefühls zusammengestellt werden, der dann 
also rein nach den Objekten des Erlebens, nicht nach den Wesenszügen des 
Gefühls gegliedert ist. Besonders macht sich das deutlich bei Stockmayer 
und Wührer, obwohl letzterer beide Dispositionsmóglichkeiten ad libitum 
verwendet, aber auch Ganzenmüller ist diesem, wie ich meine, grund- 
legenden Irrtum auf weite Strecken seines Buches erlegen. Freilich ist diese 
Betrachtungsweise leicht zu erklären, wollte man doch, wie gerade die Stock- 
mayersche Arbeit zeigt, dem kategorischen Leugnen eines Naturgefühls 
im Mittelalter einen ebenso entschiedenen Nachweis seiner Existenz gegenüber- 


* Die wenigen Ausführungen Ganzenmüllers zu diesem Punkt in seiner Ein- 
leitung genügen um so weniger, als er hauptsächlich den Naturbegriff philosophisch 
erórtert, um dann diesen Weg als ungangbar zu bezeichnen (S. 2), dagegen über das 
Naturgefühl (S.4) nur eine Antizipation seiner Untersuchungsergebnisse bringt. 


—ů — — — o 


— 


— — — 


h m e WB. w O h C ë O —e— ee PESO T 


— = — 


Naturgefühl im Mittelalter 355 


stellen. Man verlor dabei erstens die Tatsache außer Acht, daB es hier nicht 
auf das „Das“ ankommt, sondern auf das „Was“ und das , Wie“, und zweitens 
Wypostasierte man mehr oder minder bewußt die begriffliche Abstraktion des 
mittelalterlichen Menschen, dem man gewisse Eigenschaften ebenso sicher 
beilegen zu können meinte, wie sie ihm von der älteren Literatur abgesprochen 
worden waren; womit vom geistesgeschichtlichen Standpunkt aus das Re- 
sultat mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholt, jedoch der Fehler nicht 
behoben war. Zwar beschränkten Stockmayer und Wührer sachlich und 
chronologisch ihren Stoffkreis, versuchte Ganzenmüller über die Kon- 
statierung des Tatbestandes hinaus eine Entwicklung des Naturgefühls 
aufzuzeigen und die einzelnen geistigen Strömungen zu verfolgen, die dabei 
einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, aber es erhellt wohl ohne 
weiteres aus den obigen Darlegungen, daB bei Annahme eines mittelalterlichen 
Naturgefühls und gleichzeitiger Beschränkung des Belegmaterials die Frag- 
würdigkeit des Ergebnisses nur zunehmen kann. Ganzenmüller befand 
sich insofern auf dem richtigen Wege, wenn er das Naturgefühl des Mittel- 
alters „von innen heraus, aus seiner geistigen Eigenart“ zu verstehen suchte 
(S. 4) und dabei auch den entwicklungsgeschichtlichen Momenten Rechnung 
trug. Jedoch unter den damaligen Umständen war dieser Versuch verfrüht, 
zumal da auch er einige Stufen des methodischen Gedankenganges über- 
springen zu können vermeinte und andererseits von der bereits charakte- 
risierten Art der Materialsammlung sich nicht entschieden genug loszulösen 
vermochte. Und so ist denn auch die abschließende Beschreibung des mittel- 
alterlichen Naturgefühls, auf die er nicht verzichten wollte (S. 290ff.) — ab- 
gesehen davon, daß sie durch die polemische Auseinandersetzung mit Lamp- 
recht in ihrer originären Unmittelbarkeit beeinträchtigt ist — für die heutige 
Forschung unbefriedigend als eine verfrühte Normalisierung. Man darf die 
nur scheinbar in sich widerspruchsvolle Tatsache nicht verkennen, daß 
Probleme wie dieses nicht quantitativ teilweise bearbeitet werden können, 
daß aber andererseits für so komplizierte geistesgeschichtliche Sachverhalte 
eine in wenigen Worten etikettartig fixierte Lösung keinesfalls das allein 
erstrebte Ziel sein darf, ja daß das formulierbare Ergebnis sogar relativ wenig 
bedeutet gegenüber dem Gang der Einzeluntersuchung. 

Um Mißverständnissen vorzubeugen, seien noch einige grundsätzliche 
Ausführungen verstattet: Wenn ich an die Spitze einer Untersuchung über 
das mittelalterliche Naturgefühl dessen begriffliche Klärung gestellt 
wissen wollte, so ist damit nichts weniger gemeint als das leere Gehäuse einer 
Formel, in das der Inhalt der Einzeluntersuchung gepreßt werden soll. Gerade 
eine derartige Deduktion würde ja zu dem oben abgelehnten Resultat führen. 
Ebensowenig gangbar ist aber der induktive Weg, den Ganzenmüller 
beschritt, der aus der Summe der Einzelergebnisse das — allein maßgebliche — 
Fazit zieht und dabei übersieht, daß dies Ergebnis im Grunde nicht aus der 
Untersuchung von selbst hervorgewachsen ist, sondern daß zu seiner gedank- 
lichen Unterbauung implicite eine Reihe begrifflicher Voraussetzungen — 
wie z. B. die oben erwähnte des mittelalterlichen Menschen — verwendet 
wurden und verwendet werden mußten, weil man sich auf rein empirischem 
Wege eines geistesgeschichtlichen Sachverhalts schlechterdings nicht be- 

23 * 


356 N. Wilsing 


mächtigen kann. Es bedarf also einer Methode, die ich in gewissem Sinne 
als aristotelisch bezeichnen möchte, insofern, als sie das Ganze eher annimmt 
als die Teile und doch in den Teilen das Telos „aufgehoben“ sein läßt. Denn 
die Inangriffnahme des Themas setzt eine Reihe phänomenologischer Er- 
örterungen voraus über die Art der Erkenntnisse, die man zu gewinnen denkt, 
also nicht eine „‚petitio principii", wohl aber eine uneriäBliche Selbstsicherung 
vor nur zu leicht auftretenden Verfälschungen des Sachverhaltes. Ebenso 
unumgänglich ist dann aber, wie wohl nicht weiter ausgeführt zu werden 
braucht, bei der Durcharbeitung des Stoffes eine philologische Betrachtungs- 
weise, die allein einige konkrete Sicherheit zu gewühren vermag. 

Wendet man diese Postulate auf das vorliegende Problem an, so ergibt 
sich aus einer einfachen Analyse des Tatbestandes, daB es darauf ankommt, 
seelische Erlebnisse zu rekonstruieren, die sich an einer unübersehbaren Zahl 
mannigfacher Objekte entzünden, deren Gesamtbegriff der der Natur ist. 
Es gilt nun, diejenigen Erlebnisse allein zu untersuchen, die diesen Namen zu 
Recht tragen, d. h. deren Echtheit und Unmittelbarkeit unanzweifelbar ist. 
Von der Möglichkeit, diese Aktualität des Erlebens festzustellen, wird noch 
die Rede sein müssen. Vorerst wenden wir unser Augenmerk den besonderen 
Wesenszügen jenes seelischen Aktes zu, den wir als Naturgefühl bezeichnen. Er 
stellt sich uns dar auf seiten des Erlebnistrügers als eine seelische Haltung, 
in der das Ich der sichtbaren oder unsichtbaren Natur in einer wechselseitigen 
Verbundenheit gegenübersteht, die ihn ebenso Subjekt des Erlebnisses sein 
läßt, da es eine seelische Bereitschaft durchaus energetischer Art voraussetzt, 
wie auch Objekt, da dem Erlebnisgehalt bestimmte formgebende Kräfte 
innewohnen. Der Sinn, den das Erlebnis — wie jedes — intendiert, ist letzten 
Endes immer die Frage nach dem Sinn des Seins, nach dem Wirken jener 
geheimnisvollen Kräfte, denen der Mensch alles körperliche und geistige 
Leben unterworfen sieht — eine Frage, die wohlgemerkt in unzähligen Varia- 
tionen empfunden und — was damit nicht identisch ist — ausgedrückt werden 
kann. Daraus ergeben sich für uns bereits zwei höchst wichtige Differen- 
zierungen: Erstens die grundsätzliche Trennung bewuBter und unbewußter 
Erlebnisse; denn es erhellt ohne weiteres, daß das Ich bereits eine besondere 
Stufe des Erlebens erreicht hat, wenn es sich seiner Innervationen und damit 
des intendierten Erlebnissinnes bewußt wird. Da nun die Literatur zwar 
nicht das einzige, aber das hier allein diskutierte Mittel der Erkenntnis jener 
Erlebnisse ist, werden wir nicht nur in den allermeisten Fällen auf bewuBtes 
Naturgefühl beschränkt sein, sondern auch — und damit ist eine weitere 
Unterscheidung gewonnen — auf solches, das irgendwie literarisch ausgedrückt 
worden ist. Schon dadurch sind der Erkenntnis Schranken gesetzt, die nicht 
ungestraft vergessen werden können, muß man sich doch unter diesen Um- 
ständen stets bewußt sein, wie eng der Zugang zu dem Problem für uns 
zwangsläufig ist. 

Die Reziprozität der Spannung, die dem Erlebnis zugrunde liegt, er- 
möglicht nun unbeschadet der permanenten Identität des abstrakten Erlebnis- 
sinnes eine unendlich variierte Färbung des einzelnen Erlebnisgehaltes von 
beiden Polen her. Einmal dergestalt, daB jedes Ich entsprechend seinen 
individuellen Möglichkeiten sich die ihm gemäße Perspektive wählt, unter 


Naturgefühl im Mittelalter 357 


der es zu dem Sinngehalt vordringt, d. h. daß es sozusagen mit Hilfe des 
Naturerlebens sein Naturgefühl aufbaut; damit unlöslich verbunden ist 
nun aber der komplementäre Vorgang, daß jedes Naturgeschehen eine unge- 
fähre Richtung auf den Sinngehalt festlegt, also gewisse konstitutive Momente 
des Naturgefühls quasi bereit hält. Untersucht man also ein konkretes 
Naturerlebnis, so ermöglicht die Feststellung seiner Struktur, d. h. der Frage, 
welche individuelle Tönung der Erlebnisgehalt auf Grund des besonderen 
Naturaspektes erhalten hat, dank der gewonnenen spezifischen Charakteri- 
stika diesen Akt von anderen abzuheben, die entweder einen anderen Erlebnis- 
träger oder einen anderen Erlebnisgrund aufweisen. Die Unterscheidungs- 
möglichkeiten sind auf diese Weise so zahlreich, wie es für eine präzise For- 
schung nötig ist. Andererseits besteht nicht etwa die Gefahr des Auseinander- 
fallens der Untersuchung in beliebig viele nebeneinander stehende Einzel- 
fälle, denn die Möglichkeit zur Synthese ist gegeben durch die Betrachtung des 
Erlebnissinnes, der, wie wir gesehen haben, unabhängig von den einzelnen 
Erlebniskomponenten der gleiche sein kann. Es besteht also theoretisch 
wenigstens die Möglichkeit, den Erlebnisgehalt einer oder mehrerer Personen 
— und dann schließlich auch generalisierend den einer Epoche des Schrift- 
tums — mit einer und derselben Abstraktion zu identifizieren. Selbst- 

verständlich wird damit die einmalige Besonderheit des einzelnen Falles 

nicht beseitigt, sondern wie bei jedem dialektischen Stufengange „auf- 

gehoben'* in der bekannten Dreideutigkeit des Wortes. Das erfordert mithin 

eine genügend breite Grundlage des durchgearbeiteten Materials, andererseits 

die bereits oben postulierte Besinnung darauf, daß die Analyse der einzelnen 

Erlebnisse niemals ersetzt, d. h. überflüssig gemacht werden kann durch die 

abschließende abstrakte Formulierung. 

Blicken wir an diesem Punkte unserer Betrachtung nochmals auf den 
von der bisherigen Literatur antizipierten Begriff des mittelalterlichen Men- 
schen bzw. des mittelalterlichen Naturgefühls, so wird auch hier wiederum 
gewiss, daß man zu diesen Begriffen vorzustoßen erst berechtigt ist am Ende 
einer Untersuchung, die den Anspruch auf wirkliche Vollständigkeit erheben 
kann. Die Problemforschung wird sich also bis auf weiteres mit Teillösungen 
begnügen müssen, natürlich nicht in quantitativem Sinne, sondern mit der 
sukzessiven Bestimmung der konstitutiven Elemente mittelalterlicher Natur- 
erlebnisse, die den Weg zu einer letzten umfassenden „Zusammenschau“ 
anbahnt. | 

Nach diesen allgemein-begrifflichen Erwägungen können wir uns nun- 
mehr der Frage nach den konkreten Forschungsmóglichkeiten zuwenden. 
Die sachimmanenten Bedingungen, die die Literatur als Untersuchungshilfs- 
mittel stellt, sind z. T. erschwerender, z. T. erleichternder Art, beides infolge 
der Verschiedenartigkeit der literarischen Genera, die einerseits leichte Dis- 
positionsmöglichkeiten schafft, andererseits an die differenzierende Inter- 
pretation besondere Anforderungen stellt“. Ein lyrisches Gedicht, das un- 
mittelbar einem Erlebnis Ausdruck zu verleihen sucht, setzt sich zu diesem 


— 


Auch die hierdurch bedi Besonderheiten der Methode sind von der 
bisherigen Forschung meines Erachtens nicht genügend gewürdigt worden. 


358 N. Wilsing 


Erlebnis in eine gänzlich andere Beziehung als die Notiz eines Historikers 
über das Verhalten dritter Personen der Natur gegenüber. Man muß also 
erstens scharf darauf achten, wessen Naturgefühl man eigentlich unter- 
sucht; ferner ist es klar, daß von den eben angeführten Beispielen das zweite 
nur sehr viel vorsichtigere Rückschlüsse sowohl auf die Aktualität wie auf 
die Artung des Gefühls zuläßt, muß man doch gerade in diesem Falle zunächst 
die Frage zu klären suchen, inwieweit etwa der mittelalterliche Autor von 
sich aus interpretiert und damit seiner Individualität zugehörige Momente 
hineingetragen hat. Aber auch abgesehen von dieser besonderen Möglichkeit 
bieten die einzelnen Literaturgattungen dank ihrer Stileigengesetzlichkeit 
durchaus heterogene Ansatzpunkte. Der Anlaß, der dem Autor eine / 
ermöglicht, der wir eine Erkenntnis über sein Naturgefühl entnehmen können, 
ist jeweilig verschieden und — deshalb ist dieser Gesichtspunkt so wichtig — 
beeinträchtigt mehr oder minder den Wert des Zeugnisses für die von uns an 
den Text gerichtete Frage. Und schließlich wird, worauf oben bereits hinge- 
wiesen ist, die einzelne schriftstellerische Persönlichkeit weder jedem Erlebnis 
einen völlig äquivalenten Ausdruck geben noch von dem Ideal einer „wirklich- 
keits“‘-getreuen Wiedergabe immer in gleicher Weise abweichen. Es kann also 
ohne eine annähernde Kenntnis der stilistischen Eigentümlichkeiten eines 
Autors — Stil hier nicht nur im schriftstellerischen, sondern auch persön- 
lichen Sinne gemeint — ein solches Problem kaum mit Sicherheit gefördert 
werden. | 

Nunmehr sind wir erst in der Lage, unseren Blick mittels einer noch- 
maligen Verengerung der Perspektive auf die mittelalterliche Literatur 
zu richten. Zwar bin ich mir bewußt, mit zunehmender Konkretisierung den 
Charakter der Allgemeingültigkeit, den die rein methodologischen Ausführun- 
gen beanspruchen sollen, bis zu einem gewissen Grade preiszugeben. Trotzdem 
glaube ich einer erneut einsetzenden Forschung nicht vorzugreifen, da die 
hier gegebenen Hinweise das Problem des Naturgefühls nicht unmittelbar 
angehen, sondern einer philologischen Betrachtung der mittelalterlichen 
Literatur, wie sie auch anderen Problemstellungen zugute kommen könnte, 
zum Siege verhelfen will. 

Die Tatsache, daß die mittelalterliche Literatur eine abhängige ist, 
verlangt unbeschadet des Grades und der Auswirkungen dieser Abhängigkeit 
hervorragende Beachtung. Die beiden Kulturmächte, aus deren Streit und 
Synthese das Mittelalter hauptsächlich hervorgewachsen ist, — Christentum 
und Antike — haben auch die Literatur nachhaltig beeinflußt. Die hier be- 
sprochenen Arbeiten haben darüber hinweggehen zu können vermeint mit 
Argumenten, die noch beleuchtet werden sollen. Vorerst sei besonders 
Ganzenmüller erwähnt, der als einziger neben der Antike auch das Christen- 
tum als Richtung gebend für das Naturgefühl ansieht, merkwürdigerweise 
aber nicht die literarhistorischen Konsequenzen zieht. Außerdem versucht 
er, auch die dritte Komponente der mittelalterlichen Kultur, das Germanen- 
tum, in den Kreis seiner Untersuchung zu ziehen, ein zwar durchaus richtiges, 
aber meiner im Folgenden dargelegten Meinung nach verfrühtes Unternehmen. 
Im übrigen begnügen sich Ganzenmüller wie auch Stockmayer und 
Wührer mit Erklärungen, die letzten Endes alle besagen, daß der antiken 


Naturgefühl im Mittelalter 359 


Literatur höchstens die Formulierung eines Textes entstammen könne, 
daB aber ein Zitat doch auch nur gewählt würde, wenn man dadurch 
einem eigenen gleichen Gedanken einen vollendeten Ausdruck verleihen 
wollte. 

Was die Abhängigkeit einer Literatur für tiefgehende Folgen nicht nur 
in formaler Beziehung hat, weiß — um nur zwei Beispiele zu nennen, — 
jeder Kenner der römischen Literatur und der deutschen im beginnenden 
18. Jahrhundert. Für das Mittelalter liegen die Verhältnisse vom Stand- 
punkt der Originalität aus noch besonders ungünstig, weil es — anders als 
Rom und Deutschland — eigentlich nur Fortsetzerin des beeinflussenden 
Schrifttums war und in gewissem Sinne auch sein wollte, was ja schon im 
Gebrauch derselben Sprache zum Ausdruck kommt?. Gerade in diesem Falle 
darf man zweierlei nicht übersehen: Erstens, daB eine Anlehnung im Wort- 
laut mit dem Begriff des Zitats durchaus nicht zusammengebracht werden 
darf, schon deshalb nicht, weil die Quelle nie genannt ist und in den meisten 
Fällen auch nicht erkannt werden soll. Zweitens aber hat die bewußte 
Nachahmung eines anderen Autors meist stilistische Gründe — das liegt an 
der jahrhundertelangen Selbsterziehung, die sich die lateinische Literatur 
gegeben hat — und läßt infolgedessen inhaltliche Koinzidenzen außer Betracht. 
Drittens gehörte die gedächtnismäßige Beherrschung bestimmter Autoren 
zum feststehenden Bildungsgut, und man überschätzt, meine ich, in den 
meisten Fällen die eigene Gedankentätigkeit eines mittelalterlichen Autors, 
wenn man generalisierend behauptet, daß eine klassische Formulierung mehr 
als ein Stilornament oder die stichwortartige Bezeichnung eines Sachverhalts 
bedeutet. Daß dabei der „Plagiator‘‘ den psychischen Akt nacherzeugt habe, 
der zu jenem Ausdruck führte, ist nicht nur in strengstem Sinne unmöglich, 
sondern auch schon der hohen Zahl der Fälle wegen höchst unwahrscheinlich. 
Und nun vergegenwärtige man sich, daß es sich in unserer Betrachtung um 
Empfindungen handelt, die zu den unmittelbarsten gehören, deren der 
Mensch fähig ist! Ein Schriftsteller, der zu deren Schilderung nur sein Ge- 
dächtnis zu verwenden vermocht hätte, kann wahrlich auf den Echtheits- 
glauben der Nachwelt keinen Anspruch erheben. 

Zum zweiten unterliegt das mittelalterliche Schrifttum in hohem Aus- 
maße bewußter und unbewußter Beeinflussung seitens des Christentums. 
Teilweise identifiziert sich diese Abhängigkeit mit der zuerst genannten, 
indem die in christlichem Sinne klassische Literatur ebenso oder ähnlich 
zum Muster genommen wird wie die klassisch-römische; teilweise verläuft 
aber dieser — wenn man sich so ausdrücken darf — christliche Klassizismus 
den Intentionen auf die römische Antike parallel, mit anderen Worten: 
neben die Vorbilder des alten Rom tritt die Bibel. Es ist klar, daß es sich 
dabei nur um eine der vielfältigen Ausstrahlungen christlicher Kultur handelt, 
denen die Menschen des Mittelalters ausgesetzt waren, aber es ist auch hier 
gefährlich, wie Ganzenmüller tut, den Komplex des Christentums im 


* Auf die merkwürdige Vorstellung G. Stockmayers (S. 2) und Wührers (S. 17), 
als habe man die lateinische Sprache zwar angewendet, aber nicht genügend be- 


herrscht, um sich und seine Gefühle klar auszudrücken, möchte ich nicht verfehlen 
hinzuweisen. 


360 N. Wilsing 


Ganzen als Faktor in das mittelalterliche Naturerleben hineinzubeziehen, 
ohne die Frage gestellt zu haben, inwieweit dadurch für dieses Erleben selbst 
Trübungen entstehen. Tatsächlich wird man behaupten können, daß Zitate 
oder Anlehnungen an die Bibel und andere kanonische, christliche Literatur 
vielfach ein religiöses Autoritätszeugnis repräsentieren sollen, das auf eine 
Seelenhaltung schließen läßt, die mit einem unmittelbaren Erlebnis nicht 
mehr vereinbar ist. 

Ohne mich weiter in diese Betrachtungen verlieren zu wollen, glaube ich 
bereits aus dem bisher Gesagten ein Axiom ableiten zu können, dem man sich 
nicht leicht verschließen kann. Die Geschichte der mittellateinischen Lite- 
ratur — und ein in ihren Stoffkreis fallendes Thema stellt auch unser Problem 
dar — steht vor einer ähnlichen Aufgabe wie die Geschichte der klassisch- 
römischen Literatur, nur in einem früheren Stadium der Lösung. Und so 
kónnte ein Blick auf das verwandte Gebiet wohl belehrend wirken: Lange 
Zeit hat man sich dort damit abgemüht, die Nachahmung der Griechen durch 
die Rómer bis in alle Einzelheiten festzustellen, ja man war in Übertreibung 
des Prinzips soweit gekommen, daB man die literarhistorische Forschung für 
abgeschlossen hielt, wenn ein Autor unter ein oder mehrere Vorbilder griechi- 
schen Schrifttums rubriziert werden konnte. Daß damit schließlich schiefe 
und unzulängliche Werturteile über diese Literatur „zweiter Hand“ ent- 
standen, ist bekannt. Und keinesfalls zielen meine Hinweise auf die literari- 
schen Bindungen der mittelalterlichen Literatur auf eine ähnlich abschätzende 
Kritik. Denn so wie die römische Literaturgeschichte seit der Jahrhundert- 
wende den neuen Weg beschritt, gerade innerhalb der Abhängigkeit das Eigene, 
Ursprüngliche zu suchen, indem man eine im Ganzen bewußt nachgeformte 
Stelle mit dem Vorbild auf die Unterschiede verglich, so, glaube ich, kann auch 
die mittellateinische Philologie die Geistesgeschichte einen, wenn nicht den 
sicheren Weg zur Originalität des mittelalterlichen Schrifttums finden lehren. 
Es ist unangängig, bestehende Ubereinstimmungen zu ignorieren, vielmehr 
muß die umgekehrte Perspektive angewandt werden, die die Koinzidenzen 
aufsucht, weil nur durch sie und in ihnen mit einiger Zuverlässigkeit das 
eigentliche Ziel erreicht werden kann. Man kann sich auf diesem noch 80 
wenig bearbeiteten Gebiete nicht den Sprung über einige Entwicklungsstadien 
erlauben, sich einen ähnlichen Weg, wie ihn die ältere Nachbar wissenschaft 
gegangen ist, nicht ersparen. Nicht als ob ich der Forschung zumuten wollte, 
sich sehenden Auges einer noch unvollkommenen Methode zu verschreiben, 
sondern sie wird aus dem analogen Beispiel ebenso wie aus den abstrakt- 
methodologischen Ausführungen ersehen können, daß der Grund der bewußten 
und gründlichen Abhängigkeitsforschung gelegt sein muß, ehe man zum Ver- 
ständnis und zur Würdigung originaler mittelalterlicher Bewußtseins- und 
Erlebniskomplexe schreiten kann. — 

So seien denn nunmehr nicht mit dem Anspruch auf vollinhaltlich maß- 
gebende Bearbeitung des Problems, sondern nur zur Erläuterung der bis- 
herigen kritischen Ausführungen einige Textstellen besprochen: 

Ich beginne dabei mit der Behandlung einiger Einzelstellen, wie sie mir 
vornehmlich die Wührersche Arbeit an die Hand gegeben hat; zum Schluß 
willich an Hand eines Gedichts Wahlafried Strabos versuchen, ein ergiebigeres 


Naturgefühl im Mittelalter 361 


Objekt für die vorliegende Frage und die dadurch gegebenen Interpretations- 
möglichkeiten vorzuführen. 

Zur Erläuterung des Zusammenhangs mit der Antike mögen einige Stellen 
Walther von Speyers dienen, die ich Wührer entnehme. Besonders 
instruktiv ist die doppelte Ausfertigung einer Darstellung in Poesie und Prosa: 
Vita et passio S. Christophori II 218 und Vita S. Christophori cap. X (Wührer 
S. 22). Sie beweist nur die bereits S. 7 aufgestellte Behauptung, daB vom 
antiken Enkomien- und Gebetsstil her die vollständige Aufzählung der 
virtutes" bzw. die Zerlegung einer „virtus“ in ihre verschiedenen Erschei- 
nungsformen ins Mittelalter gedrungen ist. Für die Prosaausfertigung begnügt 
sich Walther von Speyer mit der kürzeren Angabe: „per quem omnia virent 
virentiaque producuntur in germen“; die poetische Darstellung dagegen er- 
zwingt die konkrete Veranschaulichung dieses abstrakten Satzes auf allen 
denkbaren Gebieten. Aber im ganzen beweist doch die Gegenüberstellung 
mit unhintertreiblicher Logik, daB Walther von Speyer sich nicht von spon- 
tanem Gefühl, sondern von literarischen Notwendigkeiten veranlassen lieB, 
daB dies Zeugnis des Naturgefühls nicht gegenständliche Bedeutung besitzt, 
weil es ein Schreibtischprodukt ist. 

Zwei weitere Stellen desselben Dichters — Vita et passio S. Christophor 
VI 193ff. (Wührer S. 29) und Vita S. Christophori cap. 25 (Wührer S. 64), 
dazu noch Richer Historiae IV 50 (Wührer S. 48) — kónnen ebenfalls gemein- 
sam besprochen werden. Es ist im Epos seit Homer stetes Gesetz, daB der 
Dichter Anfang oder Ende eines Tages ausdrücklich hervorhebt; für das eine 
dient die Morgenróte, für das andere die Sterne, mit Vorliebe der Abendstern. 
Derartiger Verse gibt es infolgedessen schon in klassischer Zeit eine Unzahl; 
wenn Walther sie noch vermehrt hat, so sehe ich hier den Zwang der literari- 
schen Gattung so deutlich vor Augen, daß ich nicht einmal wage, mittels 
scharf logischer Interpretation Besonderheiten seiner Fassung als bewußt 
und wesentlich hinzustellen?. 

Für die zweite Gruppe von Stellen, die aus der Bibel übernommen sind, 
stehen mir ebenfalls zwei Beispiele zur Verfügung: Die Gründungslegende von 
Gandersheim, die Hrotsvit (primordia mon. Gand. 185ff.) schildert, ist ja 
doch stimmungsmáBig wie auch in der Nachbildung der konkreten Einzel- 
heiten eine Wiederholung von Luc. ev. 2, 8ff. — daB der Engel des Evange- 
liums durch die unbestimmten Lichter im Walde ersetzt ist, war ein Gebot 
der Distanz und des Taktes. Aber für unsre Belange ist es unzweifelhaft, 
daß die Parallelerfindung, die dem Ruhme Gandersheims dienen sollte, die 
primäre Absicht der Dichterin darstellt, und daB demgegenüber ihr Verhältnis 
zur Natur an dieser rein im Zusammenhang christlich-literarischer Tradition 
stehenden Stelle nur sehr bedingt erläutert werden kann. Denn die anschau- 
liche Vorstellung des selbst geschaffenen Bildes ist beim Evangelisten zu 
suchen, nicht bei Hrotsvit. — Ähnlich liegen die Dinge, wo nicht eine Szene, 
sondern eine bestimmte Äußerung übernommen worden ist. Ein äußerst lehr- 


. Zur Anlehnung auch an antiken Sprachgebrauch: taetra caligo bei Richer 
ist eine überaus hä Verbindung, in der erstangeführten Stelle VI 193 zeigt ja 
auch die künstliche Verwendung der antiken mythologischen Bezeichnungen die 
Einstellung des Dichters. 


362 N. Wilsing 


reiches Beispiel bietet dafür die von W. Stach aufgedeckte Anlehnung Not- 
kers an Augustin bzw. den Psalmisten (Archiv f. Kulturgesch. XVI, S. 39f.). 
Hier liegt das unmittelbare Naturerlebnis beim Psalmisten, der den Libanon 
besingt; die Anwendung auf die Alpen ist ein rein literarischer Akt, dessen 
Zeugniswert für selbständiges Empfinden zumindest unbeweisbar ist. — 
So ist auch der von Wührer S. 43 besonders hervorgehobene Ausruf: „Wie 
geheimnisvoll, Gott, sind deine Gerichte!" nicht für die Absicht des Ver- 
fassers beweisend, eine unheimliche Stimmung zu erzeugen. Vielmehr zitiert 
er angesichts des tragischen Todes des Markgrafen von Meißen den Bibelvers 
Röm. 11, 33. 

Eine größere Zahl solcher Parallelstellen anzuführen versage ich mir; 
da ich mit ihnen auch nur paradigmatische Absichten verfolge, glaube ich 
mich auf die mitgeteilten beschränken zu können und möchte dafür der Inter- 
pretation des „Metrum Sapphicum" von Wahlafried Strabo (MG Poetae 
Latini II 412) um so gróBeren Raum geben. 


Es ist nicht leicht, dies hóchst komplizierte Gebilde dichterischer Kunst, 
persönlichsten Erlebens und religiöser Gebundenheit als Einheit zu erfassen und das 
von igfachen anderen Empfindungen und Intentionen umschichtete Natur- 
gefühl des Verfassers bloBzulegen. Machen wir uns daher zunächst die Situation 
klar, in der das Gedicht entstanden ist: Der junge Mónch ist von Reichenau nach 
Fulda gezogen, um dort seine Ausbildung zu vervollständigen (Str.2) Hrabanus 
Maurus, sein verehrter Lehrer, dem er dorthin gefolgt war, ist zu jener Zeit abwesend 
(Str. 7). Und nun leidet er unter vielfachen Unannehmlichkeiten: die anderen Lehrer 
Fuldas enttüuschen ihn, bei aller Freundlichkeit kommen sie ihm innerlich nicht 
näher (Str. 2); schlimmer steht es mit den übrigen Klosterinsassen, die den Fremd- 
ling aus dem Süden anscheinend nicht gern gesehen und in Abwesenheit seines Pro- 
tektors auch nicht gut behandelt haben. (Darauf deuten meines Erachtens: Str. 2: 
„et malis tactus variis perosus plango colonus", Str. 7: „credo nil laesisse tui 
misellum pectus alumni", wührend P. von Winterfeld, Deutsche Dichter der 
lateinischen Mittelalters S. 404 den Streit zwischen Hrabau und Gottschalk als 
die Voraussetzung der verzweifelten Stimmung Wahlafrieds ansieht.) So hat man ihm 
eine recht primitive Zelle gegeben, deren Ärmlichkeit auf ihn geradezu beschämend 
wirkt (Str. 1). Und in diesem traurigen Zufluchtsort sitzt nun der junge Wahlafried 
und klagt sich sein Leid, seine Einsamkeit und seine Schmerzen. Denn zu allem 
seelischen Kummer kommt auch noch die Wirkung des ungewohnten Klimas: die 
FüBe sind erfroren, Tag und Nacht wird er nicht warm, findet keinen Schlaf (Str. 4-5) 
— da denkt er in bitterer Sehnsucht des friedlichen Ausruhens, das ihm Reichenau 
N hat, und aus dem Grübeln über das Hier und Jetzt wird die schmerzliche 

'erlebendigung der geliebten Heimat. 

Das aus dieser Stimmung entstehende Gedicht stellt nach Form und Inhalt 
dem Interpreten viele Aufgaben, die in unserem Zusamme zwar beachtet 
werden müssen, aber keine zentrale Bedeutung erlangen können. Um zunächst die 
Beziehung anzudeuten, in die wir das eigentliche Ziel der Betrachtung mit den zu 
erörternden Interpretationsfragen rücken, sei folgendes bemerkt: Sowohl in der 
Klage über die Trostlosigkeit seines Aufenthalts wie in dem Lobpreis Reichenaus kom- 
men Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck, die für das Naturgefühl von 
Belang sind. Die Aufgabe besteht darin, aus dem Verständnis des Ganzen heraus 
die spezifische Eigenart dieser Außerungen sowie ihre Verbundenheit mit anderen 
Bezirken der Seele herauszuanalysieren. 

Gehen wir zunächst von der Form aus, so verlangt die Verwendung der sapphi- 
schen Strophe Beachtung, da Wahlafried dieses VersmaB sonst. nur für Hymnen 
benutzt. Der Schluß ist zwingend, daß in seinen Augen der Lobpreis der Heimat 
als Hymnus gilt und daher trotz seines partiellen Umfanges den eigentlichen Inhalt 
des Gedichtes ausmacht, zugleich aber, daB der Gefühlsgrund, aus dem das Gedicht 


Naturgefühl im Mittelalter 363 


entstand, in die Sphäre der Religion hineinragt. Inwieweit die Geschichte des 
sapphischen VersmaBes Aufschluß über den Sinn seiner Verwendung bei Wahlafried 
geben kónnte, vermag ich nicht anzugeben. Jedenfalls ist an Verst&ndniserleichte- 
n von dieser Seite zu denken. Merkwürdig isoliert und als Fremdkórper wirkt 
der Ei des Gedichts: der Anruf an die Muse, die der Dichter als seine Schwester 
bezeichnet, àltestes Charakteristikum der antiken Poesie seit Homer, von Horaz 
erweitert und vertieft zum Prinzip der dialogischen Ode (vgl. Heinze, Hermes 1924) 
kann hier nichts anderes bedeuten als die Verwendung einer herkómmlichen Form, 
deren inhaltliche Voraussetzungen nicht berücksichtigt werden, denn der Verlauf 
des Gedichtes macht den Gedanken an die verkündende Muse unmöglich. So kann 
diese Form der Einführung nur gemeint sein als Symbol der Feierlichkeit, als Auf- 
ford an den Leser, in dem Gedicht eine gewisse hochgespannte Poetik zu er- 
warten. ich unvermittelt und mir weniger erklürbar ist in Str. 14 die Bezeich- 
nung „Christus tonans“; das stehende Attribut Jupiters hat zu der Umgebung, 
in der es hier steht, keine erkennbare Beziehung. Lenkt man nach dem ersten Ergeb- 
nis der Interpretation sein u... auf die Strophen 8—13, so erkennt 
man in ihnen, wenn auch in stark verdünnter Form, die Art des antiken Enkomions, 
das nicht nur als Redegattung, sondern auch in Biographie und Historiographie 
verbreitet, einen bedeutsamen Platz in der klassischen und nachklassischen Literatur 
einnahm und gerade im späten Altertum durch die reichhaltige Progymnasmenlitera- 
pulär 5 war, vor allem auch zum Lehrstoff der Schule gehörte. Nur 
zu kleinem Teile hat der Preis Reichenaus Beziehungen zu der Person des Verfassers 
aufzuweisen; gerade die ersten Strophen wollen ganz allgemein aus seiner Geschichte 
— wie aus dem Leben eines Menschen — seinen Ruhm ableiten. Natürlich zeigt sich 
dabei deutlich die Umbildung der Werte, die gegen frühere Zeiten vorgenommen 
worden ist und die das Hauptgewicht auf die religiösen Vorzüge legt. 
Zu dieser Schwierigkeit gesellt sich bald eine andere: es ist dem 8 Aa 
a aus dem Gedicht eine Komposition herauszuanalysieren, die unter Wahr- 
rung des Primats des Mittelstücks die übrigen Teile des Gedichts harmonisch einzu- 
ordnen vermöchte. Zwar sind Ubergang vorhanden, aber die Gesamtstruktur 
scheint uneinheitlich. Dieser Vorwurf läßt sich nur zum Teil beheben, wenn auch 
mit Gesichtspunkten, wie sie für die nachgeahmte antike Form solcher Gedichte 
nicht kompetent wären; zum Teil freilich kann er nicht entkräftet werden. Die Ein- 
heit des Gedichts beruht auf der Stimmung, der es entstammt, jenem stark religiös 
gefärbten Sehnen Wahlafrieds, das sowohl der Grund seiner Reise nach Fulda war 
als auch die Ursache seiner en Seelennot. Formal hen lassen sich deshalb 
noch nicht alle Partien des ichts durch eine einheitliche Interpretation innerlich 
verknüpfen, wohl aber genügt die angedeutete Perspektive für unseren Zweck um so 
mehr, als wir in erster Linie die Gefühlswelt Wahlafrieds im Auge haben. 

Der Ausdruck, zu dem das religiöse Sehnen gelangt und der vor allem die zu- 
nächst besonders Wer Ai erscheinenden Strophengruppen 1—7, 8—13 in nähere 
Verbindung bringt, ist der des Wärmebedürfnisses (Str. 2, 3, 6, 8, 15), das nun in 
einer merkwürdigen Hell-Dunkelmanier fast gleichzeitig konkret und abstrakt ver- 
standen werden will; gerade diese Zweideutigkeit, die die Grenzen von Körper und 
Geist in dem Sinne zu verwischen sucht, daß sie die n des einen dem anderen 
substituiert, ist meines Erachtens ein wesentliches Merkmal dieses Gedichts und 
soll unsrer Interpretation gerade bei der Erfassung des Naturgefühls weiterhelfen. 
Diese „Wärme“, die Wahlafried bei seinem Lehrer kennengelernt und in Reichenau 

enossen hat, wünscht er sich wieder (Str. 15), freilich nicht für sich, sondern zum 
e Christi, dem er dann dank dessen eigenen Geschenkes sein Loblied singen zu 
können verhofft. — Mit dieser Gedankenlinie läßt sich auch der durch seine dog- 
matische Gebundenheit etwas isolierte Schlußteil dem Ganzen innerlich etwas 
angliedern. 
Schon hier kann man erkennen: unmittelbar ist das Gefühl des Dichters nicht. 
ist — um mich einer Nietzscheschen Perspektive zu bedienen — eine durch das 
Christentum gebrochene Seele, die sich uns hier offenbart. So naturalistisch die 
Angaben über die Wirkungen des Frostes am eigenen Körper sind — wir werden 
gleich noch darauf zu sprechen kommen — so groß die Anlehnungen im Ausdruck 


364 N. Wilsing; Naturgefühl im Mittelalter 


an Ovids Klagen über den Sarmatenwinter sind: (Dümmler hat nicht alle verzeichnet, 
aber weder die angegebenen noch die fehlenden sind in diesem Zusammenhange be- 
langvoll, weil Wahlafried eine eigene Dichterpersönlichkeit ist, die sich gerade hier 
deutlich ausprágt; der Fall liegt hier also ganz anders als z. B. bei den Vergilparallelen 
zum Waltharilied.) Wenn man die Stellen nicht aus dem Zusammenhang reißen 
und substantialisieren will, muß man erkennen, daß dieser Mensch nicht mehr 
unmittelbar zu empfinden imstande ist, daß er im Gegenteil nicht nur durch Erziehung 
und Veranlagung gezwungen, sondern auch aus eigenem Impuls stolz darauf ist, 
seine Erlebnisse in der Begegnung mit der Natur umzusetzen in die Sphäre des 
Geistes, in der er sich in Wahrheit zu Hause fühlt und in der die Natur nur noch die 
Rolle eines Symbols oder einer Anfechtung spielen kann. Eine Seele wie diese benutzt 
sozusagen die körperliche Erscheinungswelt — also die „Natur“ im konkreten 
Sinne — um an ihr und durch sie geistige zus transparent werden zu lassen. Daher 
ist es Wahlafried möglich, seinen Lehrer als Vater, seine Erziehungsstätte nicht nur 
als Heimat, sondern sogar als Mutter anzusprechen, und zwar so, daß beide Stellen 
in Beziehung gesetzt werden müssen. Seine „natürlichen“ Eltern existieren für ihn 
nicht; die Person und die Státte, denen er sein Leben im religiós-christlichen Sinne 
verdankt, sind an ihre Stelle getreten. Der geistige Gehalt, mit dem Wahlafried die 
konkrete Natur erfüllt, ist nicht etwa der den Dingen selbst innewohnende Geist, 
soll es auch nicht sein. Es ist keine 55 er Natur im Sinne einer gerad- 
linigen Vertiefung des Konkreten zum Abstrakten, sondern es ist ein eigenwilliges 
und willkürliches Umbrechen und Umdenken der äußeren Gegebenheiten nach dem 
MaBstabe seines Geistes, wobei, wie die Verwendung des Elternmotivs zeigen 
sollte, die „natürlichen“ Dinge und Bezüge nur Mittel der Verdeutlichung darstellen, 
die gerade ihrer immanenten Idee entkleidet worden sind. Daß diese geistige 
Haltung nichts mit Subjektivismus zu tun hat, sondern es sich vielmehr um die 
ne transzendentaler Anschauung handelt, bedarf wohl keiner weiteren 
usführung. 

Die stark realistische Schilderung (Str. 3—6) steht dazu nur scheinbar in Wider- 
spruch. Es ist nicht schwer einzusehen, daß die Seele des Dichters, die ihrem Wesen 
nach der Naturerscheinung als solcher unzugünglich ist, an einem Tatbestand nichts 
zu veründern oder zu beschónigen vermag, der ihm das Eigenrecht der Natur schmerz- 
lich fühlbar macht. Gerade weil er die unmittelbaren Wirkungen des Frostes auf 
seinen Kórper nicht in die Spháre des Geistes verflüchtigen kann, weil sie in sein 
Weltbild nicht passen, ist er um so eher zum krassen Realismus in ihrer Schilderung 

nótigt, weil er ihnen sozusagen hilflos ausgeliefert ist, auch im seelischen Sinne. 
braucht nicht betont zu werden, daß mit den Begriffen , Realismus“ und ,, Natura- 
lismus" nicht eine Antizipation moderner Kunstrichtungen angedeutet werden soll, 
vielmehr scheint es sich mir eher um jene Art im Grunde wirklichkeitsfremden 
„Naturalismus“ zu handeln, wie man ihn gelegentlich in mittelalterlichen Skulpturen 
antrifft; jedoch kann hier eine Verallgemeinerung nach dieser Richtung nicht unter- 
nommen werden. 

Das eigentümliche Verhültnis des jungen Dichters zur Natur, soweit es sich 
gerade aus diesem Gedicht erschließen läßt, stand im Mittelpunkt der Betrachtung, 
und es zum Schluß nur noch einmal hervorgehoben werden, daß nach meiner 
Meinung die Möglichkeit einer so weitgreifenden Interpretation bei mittelalterlichen 
Autoren durchaus nicht die Regel ist, daß vielmehr jene Fälle in der Mehrzahl sein 
dürften, wo man aus Gründen unmittelbarer Anlehnung an die klassische Literatur 
der Antike oder des Christentums mangelnder Anschauung und Spontaneität des 
Erlebens zu spezifizierten Ergebnissen nicht wird gelangen können. 


Leipzig. N. Wilsing. 


Otto Herrmann: Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 365 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich. 


Worauf beruht es, daß Friedrich dem Großen im Siebenjährigen Kriege 

von seinem vertrauensvoll in alle Sorgen und Hoffnungen eingeweihten und 
immer wieder zum Nebenfeldherrn ernannten Bruder Heinrich so oft, teils 
offen mit Gleichgültigkeit oder ablehnendem Schmollen, teils heimlich mit 
Verunglimpfungen und Intrigen gedankt wurde? Th. von Bernhardi! hat den 
Grund für dieses unbrüderliche Verhalten auf militärischem Gebiete zu finden 
geglaubt, insofern Heinrich als Anhänger einer vorsichtigen Manöverstrategie 
im Gegensatz zu der kühnen, eine Entscheidung durch Offensivschlachten 
erstrebenden Anschauung Friedrichs gestanden habe. Nun soll ein derartiger 
sachlicher Gegensatz zwischen den Brüdern keineswegs geleugnet werden, 
aber allein kann er für jenes Verhalten des Prinzen nicht ausschlaggebend 
gewesen sein. Denn wie merkwürdig, daß Heinrich nur drei Jahre vor dem 
Beginn des Riesenkampfes in einem damals erwarteten Weltkriege Preußen— 
Frankreichs gegen Österreich, Rußland und England— Hannover die kühnste 
Offensive vorschlug und den Plan zu einer Entscheidungsschlacht (in Han- 
nover) entwarf? Und daß er auch in einer gleichzeitigen pseudonymen Denk- 
schrift eine Art von Niederwerfungsstrategie vertrat?? Sollte er wirklich in so 
kurzer Zeit aus rein sachlichen Motiven seine militärische Anschauung so 
grundlegend geändert haben? Wie merkwürdig ferner, daß der König selbst 
schon im Jahre 1769 der Meinung ist, daß die meisten Generäle nur deshalb 
zu dem „Auskunftsmittel“ der Schlacht greifen, „weil sie sich nicht anders 
zu helfen wissen?!" Wie merkwürdig endlich, daß Heinrich im Siebenjährigen 
Kriege, wie nachgewiesen®, zwar nicht in Worten, aber in der Tat oft eine 
Kühnheit zeigte, die der seines Bruders ähnelte, während dieser zwar über- 
kühne Pläne entwarf, beim Handeln aber nüchterner dachte? Die Lösung 
des Rätsels scheint mir darin zu liegen, daß weder dieser militärische Gegen- 
satz noch der ebenfalls vorhandene politische — Heinrich war gegen das 
Bündnis mit England und gegen einen Präventivkrieg — die alleinige Ursache 
seiner oppositionellen Haltung waren, sondern daß neben und über diesen 
Gegensätzen, sie zum Teil erst hervorrufend, die persönliche Abneigung des 
Prinzen gegen seinen Bruder eine entscheidende Rolle spielte. 

— . 

In seinem Werke: Friedrich der Große als Feldherr, 2 Bände, Berlin 1881. 


* Vgl. meinen Aufsatz in den „Forschungen zur brandenburg. u. preuß. Ge- 
schichte“ 24, Bd. 2. 

* Vgl. die „Betrachtungen über das militärische Talent und den Charakter 
Karls XIL, Königs von Schweden“. 


* Von R. Schmitt, Prinz Heinrich v. Pr. als Feldherr im Siebenjährigen Kriege, 
Greifswald 1897, 


366 Otto Herrmann 


Ein Beweis für diese persönliche Abneigung ist schon der anmaßende und 
gereizte Ton, den der Prinz in der erwähnten Denkschrift und in seinen Me- 
moiren über den Ursprung des Siebenjährigen Krieges® anschlägt, desgleichen 
die abfälligen Bemerkungen über den König, welche sich in den Schriften der 
dem Prinzen ergebenen Offiziersfronde, besonders seines Adjutanten, des 
Grafen Henckel von Donnersmark, zahlreich vorfinden. Wie tief und leiden- 
schaftlich diese Abneigung aber gerade zur Zeit des großen Krieges war, das 
erschloß sich mir erst aus einem Einblick in die vertraulichen Briefe, welche 
Heinrich in dieser Zeit an seinem ihm ganz ergebenen Bruder Ferdinand® 
richtete. Die Schärfe der in ihnen gebrauchten Ausdrücke über den König ist 
eine so überaus große, daß mir von meiner Abschrift des französischen Origi- 
nals im Jahre 1918 durch die Verwaltung des damaligen königlichen Haus- 
archivs in Charlottenburg, des Ursprungsortes der Briefe, eine ganze Anzahl 
Stellen herausgeschnitten wurde, die ich erst jetzt (1930) infolge meines An- 
trages bei dem nunmehrigen Brandenburgischen und Preußischen Hausarchiv 
zurückerhielt. Wenn ich diese und andere im weitesten Sinne auf den König 
bezüglichen Stellen hier mitteile, so geschieht es natürlich nicht aus Sensations- 
lust, sondern weil die wissenschaftliche Welt einen berechtigten Anspruch 
darauf hat, zu erfahren, wie ein doch militärisch und politisch nicht unbedeu- 
tender nächster Verwandter Friedrichs im Grunde seines Herzens über ihn 
gedacht hat, und weil nur auf diese Weise meine Vermutung eine kräftige 
Stütze erhält. — 

Sehr charakteristisch ist es schon, daß Heinrich, wenn er von dem Könige 
spricht, ihn nie als seinen Bruder bezeichnet. Hin und wieder sagt er „der 
König“, am häufigsten aber begegnet das lieblose „man“. So heißt es in einem 
Briefe, den Heinrich am 29. Dezember 1757 an seinen damals bei der Armee 
des Königs in Schlesien weilenden Bruder Ferdinand richtete: „Du wirst mich 
besonders verpflichten, wenn Du mir mitteilst, ob ‚man‘ viel und in welchem Tone 
von mir spricht“; in einem Briefe aus Leipzig vom Januar des folgenden Jahres: 
„Erkundige Dich geschickt, aber ohne einen diesbezüglichen Wunsch von mir 
zu äußern, ob ich in Sachsen bleiben werde oder ob ‚man‘ mich nach Schlesien 
beordern wird. Vielleicht kannst Du es durch Retzow? erfahren. Du tätest 
mir einen wirklichen Dienst, wenn Du mich davon benachrichtigtest, jedoch 
ohne mich zu nennen, denn ‚man‘ soll von meiner Neugierde in dieser Beziehung 
nichts wissen" ; in einem Briefe aus Dresden vom April desselben Jahres: „Di- 


* Vgl. A. Naudé in den „Forschungen usw." 1. 

* Friedrich (geb.1712) hatte drei Brüder: August Wilhelm en 1722), Heinrich 
(geb. 1726) und Ferdinand (geb. 1780). 

7 Quartiermeister. 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 367 


nierst Du jeden Tag in Grüssau®? Sitzt ‚man‘ lange bei Tisch? Schreibe mir 
doch Details darüber! Ich würde alles in der Welt darum geben, wenn, man 
dich — woran ich aber sehr stark zweifle — hierher schickte.“ 

Bald aber wird dieses verhältnismäßig harmlose „man“ von andern Aus- 
drücken verdrängt, Ausdrücken, die einen so tiefen Widerwillen, einen so 
leidenschaftlichen Haß gegen den König verraten, wie man sie selbst dem 
Prinzen Heinrich, dem „allzu heftigen kleinen Mann", wie ihn Carlyle nennt, 
nicht zugetraut hätte. Ich zähle sie auf, indem ich allerdings zu bedenken 
gebe, daß die Worte des französischen Originals sich für deutsche Ohren viel- 
leicht nicht ganz so schlimm anhören als die übersetzten. 

Noch einigermaßen glimpflich klingt die Bezeichnung Friedrichs als: Der 
Mensch, ein gewisser Mensch, die Person, unser gemeinsamer Feind, oder das 
ironische: der gute Sire, der öffentlich zum Dichter gekrönte Held?; voller 
Bitterkeit schon: unser Wüterich, der Tyrann, die drückende GeiBel, der raub- 
gierige Mensch, der närrische und überspannte Mensch, der Hanswurst, der 
boshafte und eingebildete Narr, die Eule, die Fledermaus, der Teufel, der 
Allesverderber; und endlich, von blindestem Hasse eingegeben: der Schurke, 
der Bluthund, der größte SchmutzfinE und Geizhals, der garstigste und bos- 
hafteste Dummkopf, die gemeinste Bestie (la plus vilaine bête), die Europa 
hervorgebracht hat. 

Prüfen wir, da es aus dieser allgemeinen Schimpfwörterkanonade doch 
nicht zur Genüge erhellt, welche Eigenschaften Friedrichs im besonderen seinem 
Bruder zuwider sind. Man kann sie in zwei Gruppen teilen: angebliche sitt- 
liche und geistige Defekte. Beginnen wir mit den ersteren, so wird der König 
zunächst einer tyrannischen Willkür und Ungerechtigkeit bezichtigt. So ist 
Heinrich , empört“ darüber, daß den Offizieren des Regiments Ferdinand nach 
der Schlacht bei Leuthen die erbetenen Pour le mérites verweigert wurden. 
Über die bei Henckel!? ausführlich besprochene Angelegenheit des älteren 
Leutnants v. Kalkreuth, Bruder des späteren Feldmarschalls, schreibt er: 

„Der ältere Kalkreuth ist kassiert worden. Sage bitte jedem, der mit Dir 
darüber. spricht, ich hätte Dir geschrieben, nur ein Hundsfott könne behaupten, 
daB er diese Behandlung verdient habe, und erzähle namentlich Mantel}, er 
sei kassiert worden, weil er krank ist.“ Auch die ungerechte Behandlung des 


— MÀ MÀ —— 


* Damals kónigliches Hauptquartier. | 

* Anspielung auf die Oeuvres du philosophe de Sanssouci, die, ursprünglich 
aur für Vertraute bestimmt, wegen schlechter Nachdrucke auf Befehl des Königs 
im Jahre 1760 unter dem Titel Poésies diverses in Holland veröffentlicht wurden. 

% Tagebuch von 1757 unter dem 9. April. 

u Wohl Leutnant v. Manteuffel, der auf Heinrichs Wunsch in das Regiment 
Ferdinand eingetreten war. 


368 Otto Herrmann 


Generals Fink nach der Katastrophe von Maxen wird natürlich erwähnt, wenn 
auch merkwürdigerweise nur in einem Briefe, dem vom 5. Januar 1760, wo 
es heißt: „Dumme Schwätzer, die Berliner! Fink soll allein schuldig sein! 
Diese Schafsköpfe werden immer das Falsche herausfinden, bis ihnen die Rus- 
sen oder Österreicher in Berlin selbst die Augen öffnen. Ach, lieber Ferdinand, 
es ist sehr leicht, über Menschen abzusprechen, wenn man nur die Hälfte der 
Geschichte kennt.“ 

Zur Ungerechtigkeit trat nach Heinrich beim Könige die Grausamkeit. 
Einen Beweis für diese glaubte er besonders in der harten Behandlung seines 
Bruders August Wilhelm nach dessen unglücklichem Rückzuge aus Böhmen 
im Jahre 1707 zu sehen, denn er schrieb dieser Behandlung ziemlich direkt 
den im folgenden Jahre erfolgten Tod dieses Prinzen zu. Schon PreuB hat in 
der akademischen Ausgabe der Werke Friedrichs des GroBen (Bd. 26) darauf 
hingewiesen, daB Heinrichs Aversion gegen den König sich besonders seit dem 
erwähnten Anlasse gezeigt habe; wie groß diese Aversion aber war, verbunden 
mit der Furcht, daß es ihm ebenso gehen könnte, das erkennen wir erst aus 
unseren Briefen. Nachdem er schon am 17. April 1758 dieser Besorgnis starken 
Ausdruck gegeben, — er hatte eg auch abgelehnt, das Kommando über die 
von seinem Bruder geführte Armee zu übernehmen — erklärt er am 20. Juni, 
daB sein Herz die Trauer um den am 12. gestorbenen Bruder niemals über- 
winden werde. „Seit acht Tagen habe ich den Tod unseres unglücklichen 
Bruders erfahren; das bedeutet, daß ich seit dieser Zeit unsäglich gelitten habe. 
Ich werde geduldig weiter leiden, aber niemals diesen teuren Bruder und die 
schreckliche Ursache seines Todes vergessen." Am 20. Juli hofft er, Ferdinand 
werde die Strapazen des Rückmarsches von Olmütz gut überstanden haben. 
„Der erlittene Verlust läßt mich zittern für die Verwandten und Freunde, die 
ich noch habe." Am 31. Juli klagt er: „Wir sind beide sehr unglücklich daran, 
aber deine Standhaftigkeit hat mich entzückt. Deine Antwort war so, wie es 
sich gehört; mit Recht hast du den Ankläger gespielt, indem du den Tod 
unseres lieben Bruders dem (eben durch den König veranlaßten) Kummer zu- 
schriebst. Dieser Grund ist nur zu wahrscheinlich. Ich habe den Dr. Herzog 
gesprochen, der während seiner ganzen Krankheit bei ihm war, und den Kam- 
merdiener Fraise, den ich übernommen habe. Alle Einzelheiten seiner Krank- 
heit sind mir bekannt, und dies Unglück kommt uns von dem,der sein ganzes 
Land unglücklich macht." Der Prinz deutet dann noch au, was wir genauer 
bei Henckel!“ finden, daß dem Thronfolger im Vorjahre bei dem Durchmarsch 
durch Leipzig die von ihm erbetene Zuziehung des Leibarztes Cothenius ver- 
sagt worden sei. Heinrich erwähnt schließlich, daß der Verstorbene in seinem 


7 Tagebuch von 1757 unter dem 17. Oktober. 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 369 


Testament „an uns alle“ gedacht habe, und daB er zum Vollstrecker ernannt 
sei. Er wechsele darüber mit dem König Briefe, die Sache ziehe sich aber, 
wie es am 8. Dezember heißt, in die Länge, denn ,,man'* wolle zwar das Testa- 
ment nicht anfechten, aber „man“ sei — eine neue, übrigens einzig dastehende 
Anklage — zu „faul“, um die für die Entsiegelung und Verteilung nötigen 
Schriftstücke zu unterzeichnen, und Heinrich müßte sich daher mit Geduld 
wappnen, um von der Stimmung des Königs zu profitieren und ihn nicht zu 
reizen. 

Nicht grade grausam, aber doch lieblos soll sich der König auch gegenüber 
dem Prinzen Ferdinand verhalten haben, und demgemäß wird diesem einge- 
schärft, überhaupt nicht mehr an ihn zu schreiben, denn solche Korrespondenz 
tauge nicht für einen Dreier. „Wenn der Hof nach Magdeburg geht“, heißt ea 
am 15. Februar 1760, „dann tue, was Du willst, nur schreibe nicht an den 
König! Setze Dich in das richtige Verhältnis mit ihm und frage ihn nicht wie 
ein Kind, wo Du Luft schöpfen darfst, denn das wird ihm sehr gleichgültig sein, 
wenn Du nur darauf achtest, Dich nicht gefangen nehmen zu lassen." Schon 
im Januar 1758 warnt er den eben genesenen Bruder: ,,Geh' nicht zu früh aus, 
treibe Deinen Eifer nicht auf die Spitze! Vor zwei Monaten ersuchte ich Dich, 
nicht zu quittieren, und jetzt bitte ich Dich, nicht derart verblendet zu sein, 
daß Du Dein Leben und die Zuneigung Deiner Freunde für Dich einem .. 
opferst. 

Unfreundliches und launisches Benehmen ihm selbst gegenüber wurde schon 
erwähnt bei Gelegenheit des Briefwechsels, den Heinrich als Testaments- 
vollstrecker des Prinzen August Wilhelm mit dem Könige zu führen hatte. 
Unfreundlich habe ihm auch der König anläßlich der Niederlage bei Brand 1d 
geschrieben, oder wie Heinrich sich ausdrückt, er habe ihn beschimpft! (il 
commengait & m’insulter). 

Als unnötig hart muß nach dem Briefe vom 4. Januar 1762 die Behandlung 
der gefangenen österreichischen Offiziere erscheinen. Sie „sollten wissen, daß 
der König ihnen keinen Urlaub bewilligt, ja nicht einmal den Verwundeten 
unter ihnen erlaubt, sich in den Bädern zu kurieren." Die braven gefangenen 
preußischen Offiziere aber hätten sich nur an ihren König zu halten, wenn es 
ihnen in der Gefangenschaft schlecht ginge: „Er hat zu allen den Vorgängen 
ermuntert, die das Völkerrecht verletzen und so viele Menschen unglücklich 
machen." 

Ein Gegenstand, der den Prinzen besonders erregt, sind, neben dem mehr ge- 
legentlich erwähnten Plündern und Einüschern von Ortschaften, die ihm wegen 

** Am 14. und 15. Oktober 1762. Vgl. den Brief des Königs in der „Politischen 
Korrespondenz Friedrichs des Großen“ Bd. 99, S. 281 u. 282. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 36, H. 2. 24 


370 Otto Herrmann 


der damit verbundenen Grausamkeit äußerst widerwärtigen Beitreibungen 
in dem ihm unterstellten Sachsen. Er schreibt darüber im Januar 1762 aus 
Hof: „Ich habe Dir, glaube ich, noch nicht erzählt, daB ‚man‘ drei Schufte 
zur Ausplünderung Sachsens hergeschickt hat, darunter auch Monsieur An- 
halt, Ich habe ihn nach Gebühr empfangen. Ohne ihm etwas zum Essen 
oder Trinken anzubieten, habe ich ihn nach Leipzig!5 geschickt." Er führe 
deshalb, heißt es im April, mit dem „Sire“ einen sehr scharfen Briefwechsel, 
teils wegen seiner, ungeheuren Geldforderungen“, teils wegen der „Kanaillen, 
die er deshalb hierher geschickt hat." Wenn Berlin, was leicht möglich sei, 
noch einmal in Feindes Hand fiele, so würde er sich an Stelle der Gegner von 
dieser Stadt allen Schaden ersetzen lassen. Über das Bombardement von 
Dresden im Juli 1760 notiert Heinrich ironisch: „Die Belagerung von Dresden 
ist nach Einäscherung der halben Stadt aufgehoben worden; es geht also alles 
vortrefflich!“ Geraubte Möbel aus dem Nachlaß eines Freikorpsführers will 
er natürlich nicht kaufen, um sein Haus nicht „durch Teilnahme an fremden 
Diebstahl" zu schünden. 

Eine besondere Abart der Grausamkeit war nach Heinrich bei seinem 
Bruder die Lust am BlutvergieBen; die Folge dieses „ Blutdurstes sieht der 
Prinz darin, daß der König sich gegen den Abschluß des Friedens, den er, 
Heinrich, so sehnlich herbeiwünschte, gesträubt habe. Dieses Thema wird 
in den Briefen an Ferdinand wiederholt angeschlagen. Am 5. Dezember 1757 
hofft er, daß die Vorsehung „trotz der Absicht dieses Menschen . . weiteres 
Blutvergießen verhindern werde." Am 17. April des folgenden Jahres fordert 
er seinen Bruder auf, ihm Einzelheiten darüber mitzuteilen, „was unser Wü- 
terich sagt und tut. Wird er bald gesättigt sein von Blut? ... Ich danke Gott, 
daß ich nicht bei ihm bin und würde alles in der Welt darum geben, wenn ich 
Dich und unsere Freunde seinen Krallen entreißen könnte.“ Am Schluß des 
Feldzuges werde es ihm sicher wie dem Prinzen Thronfolger ergehen. In dem 
schon erwähnten Brief über den Tod dieses Prinzen heißt es: ,, Und diea Unglück 
kommt uns von dem, der sein ganzes Land unglücklich macht und Europa 
mit Blut überschwemmt“, und weiter: „Wenn wir nur unsere Pflicht tun, 
können wir gleichgültig mit ansehen, falls wir am Leben bleiben, wie die Blut- 
hunde (les hommes sanguinaires) sich Europa teilen." Am 29. März 1762: 
„Der Friede mit Rußland steht vor der Tür, und wir könnten selbst zu einem 
allgemeinen kommen, wenn nur der Allesverderber nicht auf seinem Kopfe 
besteht und unsere berechtigten Hoffnungen vereitelt. Aber die Tiger lieben 
rohes Fleisch, und Menschenblut fließen zu sehen, macht so viel Vergnügen, 


I. Flügeladjutant. | 
1 Sitz des preußischen Beitreibungskommiseariates, 


Friedrich der Große im Spiegel seines Brudeis Heinrich 37 ] 


daB der Geier vor Kummer sterben würde, wenn er sich nicht mehr im Blute 
seiner Untertanen baden könnte.“ | i 
Zu diesen widerwürtigen Charakterzügen kommt — immer nach Heintich 
— die Neigung zum Schwindeln und Verleumden. Am 8. Dezember 1758 
schreibt er seinem Bruder: „Ich benütze die Abreise Cocoejis 1e, um Dir zu 
schreiben. Du wirst.(durch ihn) von den Begebenheiten ausführliche Kunde 
erhalten und selbst von dem, was nicht wahr ist und doch dafür gelten sóll. 
Dein Seharfsinn wird Dich die Wahrheit über die Schlachten bei Hochkiroh 
und Zorndorf sowie über die Mársche, Láger usw. erkennen lassen, wenn diese 
Dinge an der Tafel in Breslau besprochen werden." Im Juli 1761 weist er 
Ferdinand darauf hin, wie „man“ betrügt und so viele Lügen verbreitet, daB 
er keineswegs überrascht sei über das, was „man“ von dem Abmarsch der 
Armee Dauns von Sachsen nach Schlesien — der seine Stellung wesentlich 
erleichtert hätte — „fabele“. Am 5. Oktober 1762 hofft er, alle Dummköpfe 
würden jetzt endlich wissen und davon überzeugt sein, „daß die mir gegen- 
überstehende Armee über doppelt so stark ist wie meine, und werden nicht 
mehr den Verleumdungen des Schurken Glauben schenken, der behauptet 
hat, es ständen mir nur 16000 Mann gegenüber." Und er setzt die haßerfüllten 
Worte hinzu: „Bei ‚Schurke: fällt mir ein, unser lieber Bielfeld!? scheint noch 
immer von ihm infiziert zu sein. Sage doch diesem guten Freunde in meinem 
Namen, er müßte wissen, daß ich niemals großes Aufheben von den Verdiensten 
eines gewissen Menschen gemacht hätte, daß er mir aber seit den sechs Jahren, 
wo ich ihn näher kennengelernt habe, die größte mit Empörung gesellte Ver- 
schtung eingeflößt hätte und daß ich allen Grund hätte, ihn als das bösartigste, 
erbärmlichste Geschöpf zu betrachten, daß ich auch kein Geheimnis daraus 
machte und die Person das wohl wüßte, daß ich sie durchschaue; dies wäre 
auch die Ursache, weshalb ich ihr gegenüber ziemlich von oben herab reden 
und einen Ton anschlagen könnte, den unser Freund B. vielleicht nicht für 
möglich hielte. Im Frieden allerdings muß ich mich darauf gefaßt machen, 
daß die Person mir nachstellt, denn sie ist zu eitel, neidisch und bösartig, um 
sich nicht an mir für die Dienste zu rächen, die ich ihr erwiesen habe.“ 
Hier werden als weitere moralische Mängel die Bosheit, Eitelkeit und 
Scheelsucht an den Pranger gestellt. Vom Geiz des Königs war schon unter 
den allgemeinen Ausdrücken die Rede: dieser Eigenschaft wegen bezweifelt 
Heinrich anfangs auch mißtrauisch die Höhe der ihm wegen seines Freiberger 
Sieges ausgesetzten Rente. Endlich wird auf den Eigensinn Friedrichs hin- 


1 Adjutant des Marschalls Keith, der bei Hochkirch gefallen war. 
” Der bekannte Hamburger Kaufmannssohn und Freund der königlichen 
Familie, 
24* 


372 Otto Herrmann 


gedeutet mit der Bemerkung, daß er kurz vor Maxen, obwohl gichtkrank, den 
persönlichen Oberbefehl über Heinrichs Armee (und damit zugleich über das 
Korps Fink) übernommen habe. 

Aber nicht nur die Moral des Königs wird herabgesetzt, sondern auch seine 
Intelligenz. Zu Fehlern auf diesem Gebiete rechnet Heinrich zunächst seine 
strategische Ungeschigklichkeit, wie sie namentlich bei Maren hervorgetreten 
sei; hier verfuhr er, sagt der Prinz ironisch, so „glücklich“, daß er dem 
Marschall Daun den Angriff auf Fink sehr erleichterte. Auch den Verlust von 
Kolberg im Jahre 1761 führt Heinrich auf falsche Maßnahmen des Königs 
zuruck; wenn es nach ihm selbst gegangen wäre, so hätte der Prinz Eugen von 
Württemberg im Frühjahr die Stellung bei Kolberg aufgegeben und wäre im 
Verein mit dem Korps des Generals Platen den Russen in den Rücken gefallen. 
Deswegen handle er, Heinrich, nunmehr auch ganz selbständig. Zur mili- 
tärischen Ungeschicklichkeit, meint er, sei auch Unsicherheit hinzugetreten. 
„Man hat mir“, bemerkt er im März 1760, „das Kommando in Schlesien übertra- 
gen, schreibt mir nun aber wieder anders, sodaß ich auf meiner Hut bin. Der gute 
Sire ist etwas wirre, er weiß oft nicht, was er will“; infolgedessen wisse er, 
Heinrich, natürlich auch nicht, was er tun, ob er „kämpfen oder sich neutral 
verhalten" solle. „Ich habe diesen verdammten Krieg völlig satt und wollte, 
der Teufel hätte seinen Urheber an dem Tage geholt, als er die Armee aus- 
marschieren ließ.“ Und, mit Bezug auf die Veröffentlichung des,, Philosophen 
von Sanssouci“ in Holland!*: „Da haben wir den öffentlich zum Dichter ge- 
krönten Helden, der bis jetzt noch nicht weiß, ob er im Norden oder Süden 
kommandieren soll. Diese Unwissenheit hat etwas Komisches, und wir beide, 
lieber Kese!?, wollen sie nur belachen." Der König, heißt es an einer anderen 
Stelle (2. Juli 1761), sei auch ein Phantast gewesen, der sich an Luftschlössern 
berauscht habe. „Was nützt es zu wissen, daß man in der und der Provinz 
sich vergraben will, welehe Kunst man anwenden wird, um die Oberhand zu 
gewinnen und den Feind durch Hunger zu vernichten, wie man verhandelt, 
wie man betrügt, wie man Angst hat, wie man sich als Helden aufspielt, um 
seine Schwäche zu verstecken! Das sind alles schöne Phantasiebilder, und 
ich will froh sein, wenn die Greuel ein Ende haben." Auch der Plan des Königs, 
mit oder ohne Hilfe der Türken im Jahre 1762 die sächsische Hauptstadt 
Dresden zum Behuf eines besseren Friedensabschlusses zurückzuerobern 
(vgl. Politische Korrespondenz Friedrichs d. Gr. Bd. 21 u. 22 passim), sei ein 
reines Phantasiegebilde gewesen. Der Prinz schreibt darüber im April 1762: 


—— — —À —9À 


1* Vgl. oben, S. 6, Anm. 1. 


t° Beiname des Prinzen Ferdinand, vielleicht daher entstanden, daß er als 
Kind öfter: , Qu'est-ce?" fragte. 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 373 


„Es wird so viel gelogen, daß ich mich über die Lüge, wir würden Dresden 
belagern, nicht wundere“; im Mai und Oktober fügt er hinzu, nur „Dumm- 
köpfe“ könnten an die Eroberung Dresdens glauben, denn die unangreifbaren 
Stellungen der österreichischen Armee zwischen Plauen und Dippoldiswalde 
lägen als zweite Festung dahinter. 

Bei dieser geistigen Verfassung ist es natürlich auch kein Wunder, daß der 
König ein schlechter Prophet ist. „Daß die Briefe des Königs sich wider- 
sprechen, wundert mich nicht, wohl aber, daß man seinen Vorhersagungen 
Glauben schenkt. Wenn England und Frankreich sich vertragen, werden 
auch wir Frieden bekommen, aber erst nach Abschluß dieses Feldzuges, also 
in vier Monaten wird es sich entscheiden, ob Aussicht dazu vorhanden ist 
oder nicht“ (3. September 1761). 

So gilt Friedrich seinem Bruder nicht nur als der Urheber des „unge- 
rechten" Krieges”, sondern auch als der Schurke (fripon), Allesverderber 
(gäte-mönage) und Narr (fou), der die Schuld an allem Unglück trage, das 
während des Krieges über die Nationen gekommen sei. Seiner unheilvollen 
Persönlichkeit wegen kann sich daher Heinrich auch nicht recht über den Um- 
schwung zum Besseren freuen, der durch die Ereignisse m Rußland im Jahre 
1762 herbeigeführt wurde, jedenfalls nicht mit Ferdinand der Vorsehung 
dafür dankbar sein. Am 26. Juli bedauert er, daß sein Korrespondent umsonst 
zur Begrüßung des Zaren nach Stettin gereist sei. „Du wirst den armen Peter 
nicht sehen und hast also eine beträchtliche Ausgabe ganz umsonst gemacht. 
Das tut mir Deinetwegen und noch mehr des armen Peter wegen leid. Einige 
sagen, daß er getötet, andere, daß er infolge seines merkwürdigen Eifers für 
S. M. für blödsinnig erklärt worden ist. Den armen Peter habe ich immer für 
etwas närrisch, sonst aber für gutmütig gehalten. Ach, wenn die gutmütigen 
Narren schon ein solches Schicksal haben, welches wird das der boshaften 

sein?“ 

Am 8. August heißt es: „Der Kaiser ist also erledigt n. Schreibst Du diesen 
Mord der Vorsehung oder der menschlichen Schlechtigkeit zu? Du behauptest, 
daß es ohne die Vorsehung um uns geschehen war; sage mir doch, was Du mit 
dem, um uns geschehen, meinst? Gibt es denn noch eine schlimmere Lage 
als die. von einem Tyrannen abhängig zu sein? Wenn die Vorsehung unserem 


— — — — 


** Von einer Absicht Friedrichs, den Krieg, wie M. Lehmann will, zur Eroberung 
von Sachsen und Westpreußen eröffnet zu haben, deutet Heinrich übrigens nichts 
an; der Krieg erscheint ihm auch erst dann ungerecht, als er sich wider Erwarten 
in die Länge zog. 

n Pete: III. war auf Betreiben seiner Gemahlin Katharina entthront und dann 
am 17. Juli ermordet worden. 


íi. — o e 


374 Otto Herrmann 


unglücklichem Vaterlande eine Wohltat hätte erweisen wollen, so würde sie 
es schon lange von ihm befreit haben, aber so lange diese drückende Geißel 
nicht verschwindet, kann man von Wohltaten, welche die Vorsehung unserem 
armen Vaterlande erwiesen hätte, nicht reden." Er bedaure zwar das Schicksal 
des russischen Kaisers, aber sein verrückter Enthusiasmus für den König habe 
ihm ein solches Los bereiten müssen. 

. Und Heinrich schließt diese Betrachtungen am 21. August mit den haß- 
erfüllten Worten: „Du glaubst, daß Gott die Kaiserin von Rußland“ bestrafen 
wird. Bist Du dessen gewiß? Wie viele schlechte Menschen sterben ruhig in 
ihrem Bette, und der niederträchtigste Kerl (la plus vilaine böte), den Europa 
hervorgebracht hat, befindet sich ausgezeichnet und verübt seit 20 Jahren 
alle möglichen Bosheiten! Er läßt zwar nicht gerade köpfen, aber tötet die- 
jenigen durch Gram, deren er sich entledigen will. Die Vorsehung tut ihm 
nichts, ja sie überhäuft den erbärmlichen Menschen noch mit Glücksfällen!“ 

Nur der Tod des Königs erscheint dem Prinzen Heinrich also als eine wirk- 
hohe Entspannung der Lage. Demgemäß gibt ihm auch die damals erfolgte 

Inthronisation seines Bruders Ferdinand als Herrenmeister des Johanniter- 
ordens Veranlassung zu bissigen Bemerkungen. Ferdinand solle nicht ver- 
gessen, daß er, Heinrich, den „Heiligen Geist", der die Ritter zu seiner Wahl 
inspiriere, nie anerkennen und schätzen werde. „Ich hoffe, daß Du ihn nicht 
anbeten wirst. Falls er erscheint, wird er jedenfalls als Fledermaus erscheinen. 
Von dem echten muß er sich jedenfalls unterscheiden, denn er hat nichts 
weniger als die Sanftheit und Lieblichkeit einer Taube." Und er fordert seinen 
‚Bruder auf, zu seiner Wahl einen Jäger mit einer Flinte bereit stehen zu lassen; 
‚wenn dann die Eule oder Fledermaus erscheine, solle er sie sofort abschieBen. 
Seinen eigenen Beruf als preußischer General hält der Prinz unter diesen 
Umständen, d. h. unter einem solchen Könige, für den schlimmsten, den es 
geben könne. Er möchte, wie er im November 1761 schreibt, ebensogern „eine 
Karre durch den Dreck schieben, Rüben mit Salz futtern, Hausierer oder 
(3aleerensklave sein" wie preußischer General. Denn das sei ein Mensch, von 
dem man das Unmögliche verlange, der kein festes Ziel, keine Belohnungen 
vor Augen hátte, den die Zeitungen zehn-, zwanzig- oder fünfzigtausend Mann 
befehligen ließen und der nie auch nur den vierten Teil davon hätte. Deshalb 
erklàrt Heinrich auch wiederholt seine Absicht, das Kommando niederlegen zu 
wollen, jedenfalls aber werde er nicht unter den direkten Befehl des Königs 
treten und sich von ihm nichts vorschreiben lassen. Trotzdem sei er so me- 
lahcholisch, traurig und niedergeschlagen, daß er es nicht aussprechen kónne, 
denn er sehe bei der Geringfügigkeit der preußischen Kräfte und Mittel den 


* Katharina IL, 1762— 1796. 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 375 


sicheren Untergang des Staates voraus, den kaum ein Wunder retten könne, 
Die folgenden Stellen mögen als Beleg für diese Stimmungen dienen. | 
Schon im Februar 1768 schreibt der Prinz aus Halberstadt, er habe dort 
eine widrige Kommission. „Aber obwohl ich Dich über alles gern wiedersehen 
möchte, so mag ich doch nicht nach Schlesien gehen und möchte mich lieber 
aufhängen als unter den Augen des Narren dienen. Hier und in Sachsen hänge 
ich von niemandem ab und kann selbständig disponieren." Am 27. November 
1769: „Ich bin entschlossen, mit diesem Feldzug meine militärische Laufbahn 
zu beendigen." Am 20. Dezember desselben Jahres: „Du bist sehr gütig, 
mein lieber Ferdinand, da8 Du mir die Rettung des Vaterlandes zutraust, 
aber wenn ich auch alle die Fähigkeiten hätte, welche Du mir in Deinem Edel- 
mute zuschreibst, sie würden mir absolut nichts nützen, da ich gegen den 
Willen, welcher uns lenkt, nichts vermag. Wer unter dem Kónig kommandiert, 
büßt an Ehre und Achtung ein, und es ist ein Wunder, daß ich mich bisher 
noch so aus der Affäre gezogen habe. Dem will ich mich aber nicht länger aus- 
setzen, und zwar um so weniger als ich bei Fortdauer des Krieges ja doch nicht 
immer mich entgegenstemmen könnte und weil, selbst wenn ich es könnte, ein 
närrischer und überspannter Mensch die von anderen errungenen Vorteile 
wieder zunichte machen würde. Der Staat, m. I. F., ist ein Name, dessen man 
sich bedient, um dem Publikum Sand in die Augen zu streuen; ein Hanswurst 
ist er, der alle Errungenschaften für sich in Anspruch nimmt und dem man 
folglich seine Dienste widmet." Am b. Januar 1760: Heinrich wolle sich nioht 
falsch beurteilen lassen, nicht gefangen werden wie Fink, sich nicht vor der 
Übermacht zurückziehen, sich nicht die Frucht seiner Mühen und Sorgen 
entreißen lassen, und daher gedenke er, den Kopf ganz sachte aus der Schlinge 
zu ziehen. „Der Mensch ist zu schlecht; ich verliere unfehlbar Ansehn und 
Ehre, denn bei dem geringsten MiBerfolg, den ich hátte, würde ich verleumdet 
werden, des ist Fink Zeuge!" Am 1. Juli: Tausendmal in einer Viertelstunde 
bedaure er, ein Kommando für dieses Jahr übernommen zu haben. Am 20. Juli: 
„Ich bin mir selbst verhaßt, daß ich die Dummheit begangen habe, in diesem 
Jahre eine Armee zu befehligen, und werde für die Zukunft vor jedem Kom- 
mando zurückschreoken." Am 26. Juli: „Ich wünschte, daß man ebensoviel 
Mitgefühl für mich hätte als ich für diejenigen, die sich aus diesem grausamen, 
verwänschten, ungerechten Kriege zurückziehen durften. Ichhabemehreren von 
ihnen dabei geholfen und sie nicht mitschönen Phrasen von Staatswohl, Pflicht- 
erfüllung, allgemeinem Nutzen usw. belästigt. Am 11. Dezember: „Der König 
weiß, daß er mir nichts vorschreiben kann; wir stehen auf gutem Fuß mit- 
einander und werden es hoffentlich auch weiter tun.^ Am 26. Februar 1761: 
Wäre man seinem Rate gefolgt, so würde der Krieg vielleicht schon lange zu 


376 | Otto Herrmann 


Ende sein. „Unsere Landsleute müssen blind sein, wenn sie glauben, von wirk- 
lichen Armeen beschützt zu werden; aus österreichischen Gefangenen und 
eingeborenen kleinen Kindern wird man vielleicht zwei Heere bilden.“ Am 
17. September: Nur wer mitten darin stecke, kenne von Grund auf die Jäm- 
merlichkeit unserer Hilfsmittel, den erbärmlichen Zustand unserer Truppen 
und die Dummheit derer, die sie befehligen. Am 2. Dezember: „Einen künig- 
lichen Befehl erhalte ich niemals, und selbst wenn ‚man‘ wünschte, ich solle 
den Feind in seiner festen Stellung bei Freiberg angreifen, so verrät es eine 
geringe Kenntnis meiner Person, mich der demütigen Ausführung eines solchen 
Befehls für fáhig zu halten.^ Am 21. Dezember: ,, Wenn ich mich der Stadt 
indessen bemüchtigen kónnte, würde ich es tun, ohne ihm davon Mitteilung 
zu machen, und wenn ich es nicht kann, so wird sein Schreien und Befehlen 
mich nieht einen Schritt vorwürtsbringen." Am 4. Januar 1762: „Unser 
Land ist sicher zu beklagen, aber das ist es schon seit dem 31. Mai 174085. 
Damals begann die unglückliche Epoche, welche die Quelle unseres ganzen 
Elendes ist. Hätte es doch Gott gefallen, daß unsere verstorbene Mutter am 
24. Januar 1712% eine Fehlgeburt gehabt hätte!“ Am 16. Mai: „Von meinem 
Angriffsplan und daß ich die Mulde überschreiten wollte“, hat der König rein 
nichts gewußt, wie Du jedermann versichern kannst.“ 

Die ganze Lauge seines Hohnes gieBt der Prinz daher auch über die öffent- 
liche Meinung aus, soweit sie auf Friedrichs Seite steht, sowie über seine 
Freunde und Bewunderer, während er die von ihm getadelten Personen heraus- 
streicht. Die Berliner, welche dem König zujubeln, sind ihm „dumme 
Sohwätzer , oder gelten ihm als „ungebildet, geistlos und langweilig" (ni 
instruits, ni spirituels, ni amusants). Von Peter III. und dem Flügeladjutanten 
Anhalt war schon die Rede. Fouqué, den Jugendfreund des Künigs, bezeichnet 
er als ,,boshaft". Der Marquis d’Argens schreibt „falsch und seicht“; bei Tisch 
sei er ja ganz unterhaltend und drollig, aber wenn er sich anmaBe, von Politik 
zu sprechen, werde er unlogisch. Sein „teurer Herr* würde ohne ihn, Heinrich, 
auch noch das Letzte verlieren (Dez. 1760). Von dem bekannten Prediger 
Achard sagt Heinrich (Juni 1762), er finde, daß der gute A. sich durch seine 
Lobrede auf den schlimmen König verächtlich gemacht habe, denn er recht- 
fertige damit zugleich alle Greuel, die dieser sein Volk erdulden lasse. — Und 
andererseits nimmt er Fink und Bevern in Schutz — von seiner Teilnahme für 
den Prinzen von Preußen wurde schon gesproehen — rühmt den Erbprinzen 


Thronbesteigung Friedrichs. 

* Geburtstag Friedrichs. - 

® Vor Heinrichs siegreichem Gefecht bei Döbeln am 12. Mai, 
œ Vgl. S. 6. 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruder Heinrich 377 


von Braunschweig und seinen Neffen, den späteren König Friedrich WilhelmlIl., 
und erkundigt sich wiederholt auf das angelegentlichste nach dem Marschall 
Keith und den bei Kunersdorf verwundeten Generälen Seydlitz und Prinz 
Eugen von Württemberg. Der Ton dem letzteren gegenüber ist freilich ein 
schwankender. Zuerst heißt es, am 28. Oktober 1759: „Du wirst Dich gefreut 
haben, den Prinzen von Württemberg wiederzusehen und zu pflegen. Ver- 
sichere diesen braven, teuren Prinzen meiner Liebe; ich lasse ihm baldigste 
Heilung wünschen.“ Und am 26. Juli 1760 läßt Heinrich dem Prinzen teil- 
nahmvoll bestellen, ersolle doch ja seine völlige Genesung abwarten, bevor er sich 
wieder zur Armee begebe. Am 15. November 1761 dagegen wird darauf ange- 
spielt, daß Heinrich dem Prinzen schon im Mai vergeblich geraten habe, sich 
nicht in Kolberg einschließen zu lassen. „Er ist ein guter, tapferer Junge, aber 
capitus non habet." Die Erklärung für dieses harte Urteil findet sich bald, 
am 2. Dezember: „Der kleine Württemberg hat den Monsieur Anhalt als 
Gouverneur bei sich. Sehr ehrenvoll, von solchen Lehrern und Meistern sich 
leiten zu lassen! Wenn er nicht alle Ordres buchstäblich befolgt hätte, würde er 
viel erfolgreicher operiert haben“, und in den verüchtlichen Worten vom Januar 
1762: „Den Prinzen von Württemberg pflegte er (Anhalt) wie eine Marionette 
zu leiten und hat ihm auch derartig imponiert, daß der Prinz ihm förmlich 
den Hof gemacht hat und ihm noch jetzt regelmäßig rapportiert. Der kleine 
W. hat sich schon bei anderen Gelegenheiten ziemlich dumm benommen; es 
nützt nicht immer, blos gut, gut, gut und außerordentlich tapfer zu sein.“ 
Man sieht, wie auch bei dieser Beurteilung der persönliche Haß gegen Anhalt 
oder eigentlich gegen Friedrich eine große Rolle spielt. 

Nur ganz wenige lichte Stellen finden sich in dem düsteren Bilde, welches 
der Prinz von seinem Bruder entwirft. Er will „zugeben“, daß es weise 
von ihm gehandelt war, nach dem Oderübergang der Russen und ihrer Ver- 
einigung mit Laudon im Jahre 1761 das Lager von Bunzelwitz zu beziehen 
und zu behaupten. Auch freut er sich darüber, daß der König ihm im Oktober 
1762 seinen früheren Adjutanten, den ihm ganz ergebenen Grafen Henckel, 
betreffs mündlicher Regelung der Verstärkungen für die Armee des Prinzen 
mit einem „höflichen Briefe“ zugeschickt, desgleichen, daß er bei seiner An- 
kunft im Hauptquartier des Prinzen — nach der Schlacht bei Freiberg — sich, 
allerdings zu Heinrichs „größter Überraschung", so höflich und entgegen- 
kommend wie nie gezeigt habe. „Er war gnädig zu jedermann und bewilligte 
alles, worum man ihn bat; er benahm sich ohne Góne und ohne Zwang, kurz, 
alles verlief bewunderungswürdig." Aber auch mitten in dieser ganz verein- 
zelten Lobeserhebung kann Heinrich nicht umhin, die Höhe der ihm ausge- 


— — — 


= Vgl. Politische Korrespondens Friedrichs d. Gr. Bd. 22, 8. 266/261. - 


378 Otto Herrmann 


setzten Rente — nach der „Behauptung“ des Königs 10000 Thaler als Güter- 
erträge — miBtrauisch zu bezweifeln. Und nachdem ihm Ferdinand darüber 
beruhigt — der Ertrag der beiden Lehnsgüter betrage 5732 und 4561 Thaler —, 
scheint er eine gewisse Schadenfreude zu empfinden, als er hört, daß auch der 
Fürst von Anhalt-Bernburg Ansprüche auf die Güter erhebe, denn „ich habe 
C8 Prozeß mit mir anfangen will, ver- 
weise ich ihn an den König.“ 

Nach obigen Mitteilungen aus ds Briefen des Prinzen Heinrich ist wohi 
einleuchtend, daB wir es hier nicht etwa mit einer getreuen Charakteristik, 
sondern vielmehr mit einem von blindem Hasse suggerierten Zerrbilde des 
preußischen Königs zu tun haben. Nur ein von solchem Hasse vergiftetes 
Gemüt konnte sich verschlieBen gegen die so offen zutage liegende GróBe 
des Königs, die unermüdliche, aufopferungsvolle Tätigkeit im Dienste 
seines schwerbedrohten Staates, jene innere „Erleuchtung“, die Goethe an 
Napoleon so bewunderte“ und die bei Friedrich vielleicht noch bewunderns- 
werter ist, weil er zum Unterschied von Napoleon auch für die edelsten 
Kulturgüter ein lebhaftes Interesse hatte. Nur ein sich aufs tiefste verletzt 
fühlender Bruder konnte nicht nur dieses Genie, sondern auch die trotz aller 
Bedrängnis hervortretende Güte des Königs“ verkennen, seine mutige An- 
griffsbereitschaft zur sadistischen Lust am Massenmord stempeln, seine 
militärisch notwendigen ZwangsmaBnahmen, wie Beitreibungen und Re- 
pressalien, als Folge kalter Grausamkeit auffassen, seinen Optimismus als 
Phantasterei verspotten, kurz nichts an ihm sehen als Irrtümer, Fehler und 
Untugenden, diezum Teil, wie Spottlust, Härte, Ungerechtigkeit, Geiz, Eigensinn 
und namentlich Herrschsucht, ja immerhin vorhanden waren, denn Friedrich 
war kein Engel, in ihrer einseitigen Hervorhebung und Übertreibung aber 
natürlich ein grundfalsches Bild ergeben. 

Wie dieser Haß des Prinzen, der über den Tod seines Bruders hinaus- 
dauerte, zu erklären ist, soll hier nicht näher untersucht werden?! ; der Haupt- 
grund dafür liegt m. E. darin, daß Heinrich, eine Führernatur wie Friedrich 
und ebenso stolz und ehrgeizig, wenn auch nicht so begabt, dazu in einen 


Vgl. oben. 

0 Vgl. Eckermanns Gespräche mit Goethe ed. Höfer, S. 628. 

*9 Vgl. die Briefe an den Lordmarschall, Frau v. Camas, die Markgräfin Wil- 
helmine und seinen Bruder Ferdinand, um dessen Befinden er, im Gegensatz zu 
Heinrichs Behauptungen, zártlich besorgt war und den er einmal. nach einem Besuch 
bei dem Fieberkranken, mit den Worten lobte: ,,C'est le meilleur enfant qu monder 
jusque dans son délire il a les rêves d'un honnête homme.“ 

31 Vgl. darüber namentlich Preuß in der Einleitung su den Oeuvres Bd. 26 
und Krauel, Prinz Heinrich v. Preußen in Paris, Berlin 1901. 


Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 379 


für ungerecht gehaltenen Kriege durch Krankheiten“, Anstrengungen und 
Strapazen®® bei zarter Konstitution nervös überreizt, die Unterordnung 
unter die Autorität seines Bruders, des Urhebers dieses Krieges und damit 
auch seiner eigenen Leiden, während der langjährigen engen Berührung mehr 
und mehr als einen geradezu unerträglichen Druck empfand. Welclies aber 
auch die Quellen dieses mit Furcht, mit Trotz und mit Verachtung gepaarten 
Hasses, den wir im übrigen mehr auf das Konto eines tragischen Schicksals 
setzen als dem Prinzen in die Schuhe schieben wollen, da er sich dem Bruder 
gegenüber doch ziemlich korrekt benahm — das uns so unsympathische 
Spionieren und Intriguieren hatte ja auch dieser als Kronprinz betrieben —, 
welches auch die Quellen dieses Hasses gewesen sein mögen, die sachliche 
Meinungsverschiedenheit in strategischen Dingen, damit komme ich auf 
das in der Einleitung Gesagte zurück, scheint mir am wenigsten dazu zu ge- 
hören. Vielmehr glaube ich aus der leidenschaftlichen Heftigkeit dieses in 
den Briefen an Ferdinand immer wieder hervortretenden Unlustgefühles 
den Schluß ziehen zu müssen, daß eher umgekehrt das strategische Denken 
und Handeln des Prinzen im Siebenjührigen Kriege, soweit es irgend mit dem 
Könige in Beziehung steht, durch den persönlichen Gegensatz zu ihm mit- 
bestimmt wurde, also namentlich sein langjähriger Kampf gegen das „Ba- 
taillieren" Friedrichs und der dann plötzlich gefaßte EntschluB zur Ent- 
scheidungsschlaeht**, Die historische Forschung würde dieser Hypothese 
freilich noch genauer nachzugehen haben. Otto Herrmann 


— — 


32 Er spricht in unseren Briefen von Fieber infolge der bei Roßbach empfangenen 
Wunde, Leibschneiden und neuralgischen Schmerzen, Kolik mit Fieber und Schmer- 
sen im ganzen Rücken bis zur Hüfte, Rheumatismus und Gliederschmerzen, Krämpfen 
und Kopfschmerzen. 

32 Nach dem Brief vom 5. Oktober 1762 hatte der Prinz z. B. einmal drei Tage 
und drei Náchte, ohne sich niederzulegen, zu Pferde gesessen. 

Schon Schmitt a. a. O. Bd. 2, S. 273/4 weist darauf hin, der Prinz habe nach 
Warnery (Campagnes de Frédéric II.) zum Teil auch deshalb vor der Ankunft des 
Verstärkungskorps unter General Wied bei Freiberg angegriffen, um sich nicht von 
dem bei diesem Korps befindlichen Flügeladjutanten v. Anhalt „den Ruhm rauben 
zu lassen". Aber merkwürdiger als der vorzeitige Angriff ist es doch, daß der Prinz 
überhaupt angriff! Die Erklärung dafür finde ich in dem Briefe an Ferdinand vom 
29. Oktober 1762, wo er sagt, der Kónig habe ihn nach den früheren unglücklichen 
Gefechten für „eingeschüchtert“ gehalten (il m'a cru battu de l’oiseau). Doch sicher 
such um dem verhaBten Bruder zu zeigen, daß er nicht verängstigt sei, griff er, 
die so oft betonte Abneigung gegen Offensivschlachten plötzlich verleugnend, mit 
voller Macht an und lieferte so zum freudigen Erstaunen Friedrichs das einzige 
größere, und zwar siegreiche Treffen, zu dem es überhaupt in den beiden letzten 
Kriegsjahren fonce: ist — die Schlacht bei Freiberg. 


380 


Kritiken. 


Hermann Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit. Zweiter Band, 
zweite Abteilung. Die Länder und Völker des Reichs im ersten Jahrhundert 
der Kaiserzeit. Berlin, Weidmann, 1930. 

Dessau gibt in dem vorliegenden Halbbande seines großangelegten Werkes 
keine fortlaufende politische, sondern Landesgeschichte in geographischer An- 
ordnung. Der Band entspricht demzufolge, nach der Gliederung des Stoffes und 
nach dem Inhalt, soweit die hier behandelte Epoche in Betracht kommt, dem fünften 
Bande von Mommsens Römischer Geschichte. Indes, ganz abgesehen davon, daß 
das Quellenmaterial in dem Halbjahrhundert seit dem Erscheinen des berühmten 
fünften Bandes eine gewaltige Vermehrung erfahren hat, und, zum Teil dadurch 
bedingt, viele neuen Kenntnisse gewonnen, neue Gesichtspunkte erschlossen wurden, 
ist es an sich von hohem Wert für die historische Erfassung der Kaiserzeit, daß hier 
das gleiche Thema von zwei Forschern ersten Ranges behandelt wird: von Mommsen 
in seiner bekannten glänzenden, geistvollen, scharf pointierten, literarisch überaus 
wirkungsvollen Art, von seinem Schüler Dessau mit der Klarheit und Präzision, 
der besonnenen, sorgsam abwägenden Sachlichkeit und Selbständigkeit des Ur- 
teils und dem kritischen Scharfblick, die Hauptvorzüge dieses Forschers sind. 
Dessau vermeidet jede Wiederholung des bereits von Mommsen Gesagten; die Ab- 
weichungen ergeben sich vielfach aus der Darstellung selbst, zuweilen werden die 
Thesen seines großen Vorgängers von Dessau ausdrücklich berichtigt. Eine dritte 
Darstellung desselben Stoffgebietes, nur mit besonderer Betonung des sozialen und 
wirtschaftlichen Momentes, hat vor wenigen Jahren Rostovzeff in seinem hervor- 
ragenden Werke The social and economic history of the Roman Empire (Oxford 
1926) geboten!; auch mit diesem sehr selbständigen Forscher setzt sich Dessau 
in den Anmerkungen wiederholt auseinander. 

Dessaus Urteil über die kaiserliche Regierung und ihr Verhältnis zu den Völkern 
des Reiches fällt im allgemeinen nicht günstig aus. „InRom hatte man," schreibt er 
anläßlich des (aus Besorgnis vor einer mißgünstigen Auslegung aufgegebenen) 
Projektes eines Saone-Moselkanals, „für solche nur dem Wohlstand der Unter- 
tanen fördernde Unternehmen keinen Sinn, zu keiner Zeit" (S. 506). Und an einer 
anderen Stelle spricht er von „der im Laufe der Jahrhunderte zunehmenden Stumpf- 
heit der Regierenden" (S. 692). Wie aus gelegentlichen Äußerungen hervorgeht, 
scheint er das Regierungssystem der Achaemeniden über jenes der Imperatoren su 
stellen. Allerdings war die kaiserlich rómische Innenpolitik durch das überkommene 
Erbe schwer belastet und hatte überdies mit unermeBlichen Schwierigkeiten mannig- 
facher Art zu kämpfen, die sich allein schon aus der ungeheuren Ausdehnung des 


! Eine deutsche (von Lothar Wickert besorgte) Übersetzung des Werkes ist im Erscheinen. 


Kritiken 381 


Reiches und der verhältnismäßig doch unzureichenden Verkehrstechnik ergaben. 
Selbst die wohlmeinendsten unter den Imperatoren waren diesen unabänderlichen 
Erscheinungen gegenüber machtlos. Aber es kann andrerseits nicht in Abrede ge- 
stellt werden, daB die kaiserliche Regierung vielfach nicht die richtigen Wege ein- 
geschlagen hat, um den Symptomen des Niederganges, die den leitenden Männern 
wenigstens teilweise nicht entgingen, wirksam zu begegnen. Der Gnomon des Idio- 
logen hat Zeugnis davon abgelegt, mit welch hemmungslosem Fiskalismus Rom 
regiert hat, und wenn auch die Verhültnisse im Nilland ganz besondere, z. T. von 
den früheren Regierungen übernommen gewesen sind, lehren doch die Nachrichten 
über Steuerdruck und Steuerrevolten in anderen Provinzen, daß auch dort die 
Befriedigung der Ansprüche der Reichsregierung als die Hauptsache galt und daß 
diese Anforderungen auf die sehr differenzierten Wirtschaftskräfte der Bevölkerung 
nicht die so notwendige Rücksicht nahmen. Auch die Verbindung einer durchaus 
plutokratischen Gesellschaftsordnung mit dem unseligen System der Liturgien oder 
numera und der (trotz scheinrepublikanischer Formen) unleugbar waltende Ab- 
solutismus waren Momente, die den ZersetzungsprozeB in verhängnisvoller Weise 
forderten. Die kaiserliche Regierung hat es verabsäumt, dem nominellen Mit- 
herrscher, dem Senat, einen ernstlich ins Gewicht fallenden Anteil an der Staats- 
gewalt zu gewähren, und auch die Möglichkeit, die Konzilien der Reichsländer zu 
Mittelpunkten eines freieren politischen Lebens in engerem Bereich auszugestalten, 
ist nicht ausgenützt worden. 

Dessau zerstört die Legende, die noch Mommsens Darstellung beherrscht, daß 
die „Landtage“ im ganzen Reich „als feste Einrichtung von Augustus ins Leben 
gerufen" worden seien, um „die Wünsche der Provinz dem Statthalter oder der 
Regierung zur Kenntnis zu bringen und überhaupt als Organ der Provinz zu dienen" 
(Mommsen S. 317; S.84 sagt Mommsen darüber: , wie der hellenischen Nation 
so verlieh Augustus der gallischen eine organisierte Gesamtvertretung, welche 
dort wie hier in der Epoche der Freiheit und der Zerfahrenheit wohl erstrebt, aber 
nie erreicht worden war“). Wie Dessau darlegt, kann von einem einmaligen Willens- 
akt der Regierung keine Rede sein. Den westlichen Provinzen wurde nach und nach 
(zuerst den drei Gallien) die Vergünstigung eines Provinzialkaiserkultes und der 
damit verbundenen, von dem jährlich wechselnden Kaiserpriester veranstalteten 
Festlichkeiten gewährt; den Notabelnversammlungen, die an diese Einrichtungen 
anknüpften, fielen erst „mit der Zeit auch andere Funktionen zu als die, den Kaiser- 
priester zu wählen und seine Darbietungen zu genießen“; das „Petitionsrecht des 
Landtages“, das sich bekanntlich auch gegen abgehende Statthalter richten konnte, 
war jedoch „nimmermehr der Zweck der Einrichtung‘, es ist weder formuliert noch 
gewährleistet worden (S. 489ff.). 

Im Osten gab es in Achaia überhaupt keinen Provinziallandtag, sondern 
nur Tagsatzungen kleinerer Verbände, die „kaum der Befriedigung berechtigter 
Lokalinteressen, sondern mehr der kleiner Eitelkeiten“ dienten (S. 545). Nur in der 
Provinz Asia bestand bereits in der ausgehenden Republik eine Vereinigung der 
Städte, der Augustus durch den Kult der Roma und seiner Person „eine neue Auf- 
gabe zuwies, die bald ihre wichtigste wurde und ihr Wesen erheblich veränderte“ 

(S. 586). 

Die Schilderung, die Dessau von den Zuständen des Mutterlandes Italien 
gibt, ist im allgemeinen recht günstig, vielleicht allzu günstig. „Man kann wohl 


382 Kritiken 


sagen," schreibt er (S. 408), „daß Italien zu Beginn der Kaiserzeit, abgesehen viel- 
leicht von einigen Teilen des äußersten Ostens, das am besten, nicht gerade am 
intensivsten, aber am mannigfaltigsten angebaute Land der weiten Erde war.“ 
Kein so „erfreulich helles Bild des frühkaiserlichen Italien“ entwirft Rostovzeff 
(S. 183ff.), der auf den frühzeitig einsetzenden Niedergang des Handels und der 
Industrie des von den Provinzen überflügelten Mutterlandes hinweist. Die landläufige 
Meinung, daß die damals in Italien herrschende Form der Bewirtschaftung die 
Latifundienwirtschaft gewesen sei, eine Auffassung, die sich auf des älteren Plinius 
bekanntes Wort latifundia perdidere Italiam beruft, wird von Dessau abgelehnt: 
Die Güter „waren meist von mäßigem Umfang". Plinius spreche von verflossenen 
Zeiten; die Latifundien der republikanischen Zeit waren durch die Aufteilungen 
im Revolutionszeitalter „der Hauptsache nach verschwunden". In Italien über- 
wog das Pachtsystem, die Verpachtung von Grundstücken bescheidenen Umfanges 
an „freie“ Kleinpächter, ein System, das freilich im Lauf der Zeiten die bekannte 
verhüngnisvolle Entwicklung durchgemacht hat, die mit der Fesselung des Ko- 
lonen an die Scholle endete. Neben den Kleinpächtern war (nach Dessau S. 419) 
in der Frühzeit des Kaiserreichs auch die selbständige freie Bauernschaft auf italie- 
nischem Boden keineswegs ausgestorben. 

Die Expropriationen und Truppenansiedlungen der letzten Zeit der Republik 
haben, wie Dessau ausführt (S. 420f.), die einheimische Bevölkerung nicht ver- 
drängt und den nationalen Charakter Italiens nicht erheblich beeinflußt. „Ethnisch 
blieb Italien noch lange das alte, und auch die Verschiedenheiten der einzelnen 
Volksstämme haben sich nicht vollständig verwischt, ja Spuren hinterlassen bis 
auf späte Zeit in Verschiedenheiten der Aussprache des heutigen Italiens“ (S. 423). 
Allerdings denkt Dessau hiebei hauptsächlich an die Zwangsenteignungen, von denen 
Italien in der Kaiserzeit verschont blieb. Die starke Beeinflussung der Zusammen- 
setzung des Volks durch die Freilassung, die Beimischung des peregrinus ac servilis 
sanguis kommt in diesem Bande nicht zur Sprache (einiges darüber Bd. I, S. 69ff.). 

Es würde zu weit führen, wenn hier auf die Darstellung jeder einzelnen Provinz 
und auf die vielen Details, in denen bisher geltende Anschauungen bekämpft 
oder widerlegt werden, eingegangen würde. Aus der großen Anzahl sei nur einiges 
hervorgehoben. 

Für die Verschiedenartigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse im Reich ist 
kennzeichnend, daß Afrika im Gegensatz zu Italien das Land der Riesengüter 
war, die sich großenteils im Besitz senatorischer Familien befanden, sie wurden 
von Eingeborenen (nicht, wie Mommsen und Rostovzeff meinten, z. T. von aus Italien 
herangezogenen Bauern) bewirtschaftet, die den Großpächtern fast vollständig 
ausgeliefert waren (S. 474ff.). Noch im ersten Jahrhundert wurden diese Latifundien 
größtenteils zu kaiserlichen Domänen. In der Lage der Kolonen wird zunächst 
keine wesentliche Anderung eingetreten sein; erst im zweiten Jahrhundert wurden 
Versuche einer Verbesserung ihrer Lage in Angriff genommen, die jedoch zu keinem 
dauernden Erfolge führten. In den gallischen Provinzen war nach Dessau 
(S. 510f.) „die Verteilung des Grundbesitzes weniger ungleichmäßig oder doch 
weniger ungerecht, willkürlich als in anderen Landen. Wir hören in Gallien kaum 
jemals etwas von Latifundiep, und diejenigen, die es gab, standen nicht wie die 
alten italienischen und die neuen afrikanischen im Besitze ortsfremder oder land- 
fremder Herren, die in der fernen Hauptstadt oder gar jenseits des Meeres lebten, 


Kritiken 383 


sondern gehörten einheimischen Großen, die im Lande, vielleicht selbst auf dem 
Lande lebten". 

Über die tristen ökonomischen Verhältnisse in dem entvölkerten und ver- 
armten Altgriechenland (der Provinz Achaia) stimmen die Urteile Mommsens 
und Dessaus überein; etwas (aber nicht viel) günstiger urteilt Rostovzeff. Umso 
erfreulicher waren die Zustände in dem blühenden, dicht bevölkerten „Lande der 
500 Städte“, in Asia. In dem Kapitel, in welchem Dessau diese für das wirtschaft- 
liche und kulturelle Leben der Kaiserzeit so wichtige Provinz behandelt, geht er 
ausführlicher auf allgemeine Grundsätze der römischen Provinzialverwaltung ein 
(S. 594ff.). Er gedenkt ferner der großen Verbreitung des römischen Bürgerrechtes 
unter den Notabeln von Asia, fügt jedoch die Bemerkung hinzu (S. 592): „Nirgendwo 
wurde die Oberherrschaft Roms so unbedingt und so dankbar anerkannt wie in dem 
griechischen Vorderasien; und doch stand man hier dem Reiche fremd gegenüber. 
Die Oberherrschaft Roms blieb eine wohltätig empfundene und oft aufrichtig, ja 
begeistert gerühmte Fremdherrschaft; und doch ersetzte Rom diesen Griechen 
keineswegs das Vaterland.... Das römische Bürgerrecht... blieb eine Deko- 
ration.“ 

Das Aufsteigen der provinzialen Oberschicht in den Reichsbeamtenstand und 
schließlich in den Senat wird von Dessau, der über diese Frage eine aufschlußreiche 
Arbeit im Hermes (1910 S. 1ff.) veröffentlicht hat, bei allen Provinzen erörtert. 
Die geringe Anzahl der gallischen Senatoren glaubt er damit erklären zu können, 
daß diese ,, Nordlünder'* zu sehr an ihrer Heimat gehangen hätten (etwas abweichend 
hatte er Herm. a. a. O. S. 13 geurteilt; vgl. auch Arthur Stein Röm. Ritterstand 
385f.); doch möchte ich eher glauben, daß die Fernhaltung der Gallier von der 
senatorischen Laufbahn in der Besorgnis der Caesaren vor dem Unabhängigkeitssinn 
der gallischen Edlen und vor ihrem starken Anhang unter den Volksgenossen be- 
gründet war — Tatsachen, die den Regierenden in Rom wiederholt Sorge bereitet. 
hatten. Diese Politik, die wohl von Vespasian inauguriert worden ist — Claudius 
nahm noch, wie seine Rede über das ius honorum beweist, einen anderen Stand- 
punkt ein —, war ein Fehler; gerade die Angehörigen dieser Nation, die Dessau mit 
Recht als „das lebensfrischeste der großen von Rom unterworfenen Völker“ be- 
zeichnet, hätten ein wertvolles Ferment des Senates abgegeben. 

Von besonderem Interesse sind die umfangreichen Abschnitte, in denen 
Ägypten und Judaea behandelt werden; hier ist auch die Fülle des überlieferten 
Stoffes so reich, daß ein in sich geschlossenes Gesamtbild geboten werden kann. 
Für Ägypten ist das gewaltige, seit Mommsens Darstellung zugewachsene (nament- 
lich papyrologische) Material mit Umsicht und Vorsicht verwertet. Dessau erörtert. 
u. a. die Teilung der Bewohner des Niltales in „die vom Gymnasium" und „die 
Ägypter, die Ägypter bleiben wollten“ (S. 688f.); er verwirft die Auffassung, daB 
die Regierung mit der „künstlichen Aufrechterhaltung' dieser Scheidung „einen 
Rest von Trägern hellenischer Bildung oder hellenischer Art“ habe schützen oder 
erhalten wollen. Die in Kyrene neugefundenen Edikte des Augustus lassen indes 
erkennen, daB Augustus den Griechen mit bewußter Absicht eine bevorrechtete 
Stellung im Reiche gewährt und sie über die anderen Untertanenvölker hinaus- 
gehoben hat; es wird demnach für die Aufrechterhaltung eines Numerus clausus 
in Ägypten doch nicht allein das fiskalische Interesse und das Mißtrauen gegen 

die einheimische Bevölkerung das beherrschende Motiv gewesen sein. 


384 Kritiken 


Das ungünstige Urteil, das Dessau über das ägyptische Volk fällt, ist wohl 
zu hart. Weder ist die ägyptische Literatur minderwertig gewesen, noch kann mit 
Recht gesagt werden „von den Resten fachwissenschaftlicher Literatur wird besser 
nicht geredet" (S. 697): Schriften, wie der nach Edwin Smith benannte medizi- 
nische Traktat (auf den Otto, Kulturgesch. d. Altertums 1925, 19f. aufmerksam 
macht) oder das Gesprüch des Lebensmüden mit seiner Seele geben uns doch ein 
wesentlich günstigeres Bild von den geistigen Leistungen und von der Gedanken- 
welt der Ägypter. Bei der Beurteilung des ägyptischen Volkscharakters soll nicht 
übersehen werden, daß auf diesem reich begabten und tiefgründigen Volke durch 
Jahrtausende das schwere Joch einer drückenden Knechtschaft lastete und daB es 
den Regierenden wohl allezeit — vielleicht nur wenige Zeiträume (wie etwa die 
Epoche der zwölften Dynastie) ausgenommen — einzig darauf ankam, aus dem 
geplagten, hilflosen Volk an Abgaben und Frondiensten soviel herauszupressen, 
als nur móglich war. 

Ausführlich behandelt Dessau die Zustände in Ägyptens Hauptstadt Alexan- 
dria, deren Schilderung bekanntlich einen Glanzpunkt des Mommsenschen Werkes 
bildet. Dessau stellt (gegen Mommsen und Wilcken) in Abrede, daB die Alexan- 
driner gegen die kaiserliche Regierung in hartnäckiger, gewissermaßen grundsätz- 
licher Opposition gestanden seien. Der alexandrinischen Spottlust und ,,Unbot- 
mäßigkeit‘‘ legt er keine tiefere Bedeutung bei; die ständigen Aufläufe seien nicht 
„zu ernst zu nehmen“. „Mehr noch als andre Städte hat Alexandrien sich in Hul- 
digungen an das Kaiserhaus erschöpft“, „die Kaisertreue der Stadt Alexandrien 
ist mitunter von der höchsten Stelle anerkannt worden“ (S. 643). Immerhin ge- 
nügen die vorhandenen Zeugnisse, um zu erweisen, daß die kaiserliche Regierung 
bei den Alexandrinern keineswegs beliebt war; der Grund liegt 3. T. darin, daß die 
Caesaren der zweiten Großstadt des Reiches und ersten Handelsstadt der damaligen 
Kulturwelt aus übergroßer Vorsicht die volle Selbstverwaltung und verschiedene 
sehr begehrte Rechte wie die Aufnahme von Neubürgern und Wahl von Ehren- 
bürgern versagt haben (vgl. Dessau S. 655—665). 

Eingehend behandelt Dessau (S. 667—676) die zumeist feindseligen Beziehungen 
der ,hellenischen" Bürgerschaft Alexandrias zu der großen Judengemeinde der 
Stadt, Beziehungen, die durch das von Bell herausgegebene Sendschreiben des 
Claudius in neues Licht gerückt worden sind*. Das Schreiben, das nach Dessaus 
Urteil von Claudius selbst herrührt und die Eigentümlichkeiten dieses Herrschers 
deutlich erkennen läßt, brachte keine Lösung der alexandrinischen Judenfrage, die 
den Kaisern des zweiten Jahrhunderts ebenso zu schaffen gab, wie denen des 
ersten. 

In dem ausführlichen Abschnitt über Judaea und die Juden (S. 706—831) 
kommt Dessau auch auf den Ursprung des Christentums zu sprechen, wobei er 
mit vollem Recht vermeidet, auf Fragen des Weltanschauung und des Glaubens 
einzugehen. 

Anders als die meisten anderen Vólker, die in Dessaus Darstellung an uns 
vorüberziehen, und nur den Hellenen des Mutterlandes vergleichbar hatten die 
Juden eine sehr klare und sehr hohe Vorstellung von ihrer groBen Vergangenheit. 
„Die gemeinsame Mneme, die allein eine Gruppe von Sippen oder Stämmen zum 


2 vgl. jetzt auch das neue Bruchstück der „heidnischen Märtyrerakten‘ (Uxkull- 
Gyllenband Sitz.-Ber. Berlin 1930, 664 fl.). 


| . 


Kritiken 385 


Volke bindet, saß hier tief (S. 707). Mit feinem Empfinden charakterisiert der 
Verf. das reiche jüdische Schrifttum, in dem der „Hauch der Freiheit weht, von dem 
am Nil und in Mesopotamien nichts zu spüren‘ war (S. 709). Er weist auf die un- 
geheure Bedeutung hin, die die Zusammenfassung der heiligen Schriften „ in einer 
Bibliothek“ für den Zusammenhalt und die Lebenskraft der jüdischen Diaspora 
besaß, die gerade dadurch alle anderen nationalen Landsmannschaften zu über- 
dauern vermochte. Doch scheint erst die Vernichtung des religiösen Zentrums des 
Judentums diesem Zusammenhalt den rechten Kitt gegeben zu haben. In der Zeit 
vor der Zerstörung des Nationalheiligtums begegnen Erscheinungen, die, wenn die 
weitere Entwicklung sich in derselben Linie vollzogen hätte, zur Auflockerung des 
echten Judentums hätten führen müssen: es sei an Philon von Alexandria erinnert, 
dessen geistige und litterarische Eigenart Dessau mit feinfühligem Verständnis 
zeichnet (S. 730f.). Wie charakteristisch ist es, daB der Neffe Philons, Tiberius 
Julius Alexander, dem Judentum abgesagt hat und als Vertreter der Staatsgewalt 
gegen seine Stammesgenossen mit nicht geringerer Härte vorging, als irgendein 
italischer Kollege es getan hätte (vgl. S. 650. 675. 733). 

Für die politische Geschichte Palästinas in dieser Zeit ist bekanntlich Flavius 
Josephus der Führer. Dessau legt den Maßstab strenger Kritik an den Schrift- 
steller wie an den Menschen Josephus; er verkennt die unerfreulichen Eigenschaften 
des Mannes keineswegs, aber sein sorgsam abwägendes Urteil sucht doch der viel- 
geschmähten Persönlichkeit gerecht zu werden und zollt dem Geschichtschreiber 
des Jüdischen Krieges hohe Anerkennung (S. 809ff.). 

Der Ausbruch der jüdischen Insurrektion findet m. E. auch in Dessaus Dar- 
stellung keine vollkommen befriedigende Erklärung. So wenig sich die Juden mit 
dem Regiment der Caesaren ausgesöhnt hatten, so sehr ihr starkes und bald er- 
regtes Eigenbewußtsein sich durch die Behandlung, die sie von den römischen 
Behörden erfuhren, verletzt fühlen mußte, so reichen doch weder der Zwiespalt 
in Caesarea noch die Unfähigkeit und Böswilligkeit des Prokurators Gessius Florus 
hin, um zu erklären, daß dieses an Leiden und Drangsal gewöhnte Volk plötzlich 
den aussichtslosen Krieg gegen die überwältigende Übermacht entfesselte. Es hat 
vielmehr den Anschein, als ob der Aufstand der Juden von der rómischen Regierung 
geradezu provoziert worden sei und zwar in der Absicht, die überaus starke mili- 
tärische Machtstellung des Domitius Corbulo, die Nero und seine Berater gewiß 
seit langem als schwere Bedrohung empfanden, durch Entfachung eines „jüdischen 
Krieges" und die dadurch notwendig werdende Abkommandierung von Legionen 
empfindlich zu schwächen. Vielleicht ergibt sich noch Gelegenheit, diese These 
ausführlich zu begründen. — 

Den Abschluß des Bandes bilden Noten und Nachträge zu den ersten zwei 
Bänden. Dessau kommt hier auch auf die (bereits oben erwähnten) Edikte des 
Augustus und auf die Festordnung von Gythion zu sprechen, über die Kornemann 
(Abhandl d. schles. Gesellsch. f. vaterl. Kultur I 1929) gehandelt hat. Register 
verzeichnen die Personen, Völkerschaften, Örtlichkeiten u. a., sowie die wichtigsten 
behandelten Textstellen. Wünschenswert wáre, wenn den folgenden Bünden Karten 
beigegeben würden, wenn möglich mit Einzeichnung der Reichsstraßen. 

Àn mehreren Stellen des vorliegenden Bandes lesen wir Bemerkungen, die einen 
Ausblick auf spätere Zeiten eröffnen und unsere Wißbegierde erregen, wie Dessau 
diese Urteile näher begründen wird. Um nur einzelnes zu erwähnen, bemerkt er 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 25 


386 Kritiken 


(S. 675), daß das Kaisertum im zweiten Jahrhundert der Christenfrage gegenüber 
völlig versagt habe; an einer anderen Stelle (S. 725) gedenkt er des Umstandes, 
daß das bewegliche Kapital seine Rolle als führender Faktor des Wirtschafts- 
lebens ausgespielt habe, und verspricht, die Gründe und die Folgen dieser Erschei- 
nung darzulegen; am Schlusse des Bandes lesen wir ein ablehnendes Urteil über 
Traians Orientpolitik — kurz, diese und andere Andeutungen lassen uns mit Span- 
nung und hohen Erwartungen dem nächsten Band entgegensehen, mit umso größerer 
Spannung, als Dessau mit diesem Bande (so seltsam dies klingt) gewissermaßen 
wissenschaftliches Neuland betreten wird; denn das universalgeschichtlich so be- 
deutungsvolle Zeitalter der Flavier und Antonine hat bisher noch keine zusammen- 
fassende, auf der Höhe der Forschung stehende historiographische Darstellung 
gefunden. 

Die Hoffnung der am Schlusse der obigen Besprechung Ausdruck ge- 
geben wurde, — es möge Dessau vergönnt sein, seine Geschichte der Kaiser- 
zeit fortzuführen und zunächst das bisher auffällig vernachlässigte Zeitalter 
der Flavier und Antonine darzustellen, — wird nicht in Erfüllung gehen. 
Der Tod hat dem nimmermüden Forscher die Feder aus der Hand genommen. 

Wien. Edmund Groag. 


Quellen zur Frage Schleswig-Haithabu im Rahmen der fränkischen, säch- 
sischen und nordischen Beziehungen. Herausgeg. von Otto Scheel 
und Peter Paulsen. Kiel (W. G. Mühlau) 1930. VII, 167 S. 

Schleswig-Haithabu: diese Namen bezeichnen das bedeutendste Problem 
nicht allein der schleswig-holsteinischen, sondern in gewissem Umfange der skan- 
dinavischen Frühgeschichte überhaupt, ein Problem, das, so heftig es auch um- 
stritten ist, so viele Thesen und Antithesen auch aufgestellt worden sind, in irgend- 
wie befriedigender Weise noch nicht gelóst worden ist. Und da dies mit Hilfe der 
literarischen Überlieferung und der Ergebnisse der bisherigen Ausgrabungen nicht 
möglich ist, haben auf Otto Scheels Initiative hin im vorigen Jahre für längere 
Zeit geplante, umfangreiche Grabungen begonnen. Hoffentlich vermógen dann die 
Schátze, die der alte historische Boden der Oldenburg auf dem der Stadt Schleswig 
gegenüberliegenden Ufer der Schlei und ihrer Umgebung birgt, zusammen mit den 
Runensteinen und den übrigen Nachrichten der mittelalterlichen Geschichts- 
schreibung das Geheimnis um Schleswig-Haithabu zu enthüllen. Als „Auftakt“ 
zu den Grabungen haben Otto Scheel und Peter Paulsen die literarischen Quellen 
bis zum Jahre 1000 etwa, soweit sie diese Frage im Rahmen der fränkischen, säch- 
sischen und nordischen Beziehungen behandeln, zusammengestellt, nicht rein 
chronologisch, sondern gegliedert nach Quellengattungen: Runentexte, Annalen 
und Briefe, Vitae et res gestae, Sagas, geographische und kulturelle Nachrichten. 
Die Wiedergabe der Texte erfolgt nach vorhandenen Ausgaben. Wo nötig, 
sind bei den einzelnen Texten Angaben über Parallelstellen in anderen Quellen 
— allerdings ohne Hinweise auf etwaige Abhängigkeitsverhältnisse — und über 
die wichtigste, noch in Betracht kommende Literatur gemacht. Zum Formalen 
der Ausgabe, das nicht in allem befriedigen kann, ein paar Bemerkungen. Wenn 
die Abhängigkeit der Texte voneinander auch im allgemeinen nicht gekennzeichnet 
werden sollte, so mußte dies m. E. aber dennoch wenigstens dort geschehen (durch 
Petitdruck oder Randvermerke), wo wörtliche oder nahezu wörtliche Entlehnungen 


Kritiken 387 
- 
vorliegen. Unter n. 138 z. B. wird der Bericht Adams von Bremen über den Erb- 
folgekrieg der Sóhne Kónig Góttriks (lib. I cap. XV) wiedergegeben und unter den 
Nachweisen der Parallelstellen auch auf die Annales Fuldenses zum Jahre 812 
aufmerksam gemacht. In Wirklichkeit ist die betreffende Stelle mit Ausnahme des 
\etzten Satzes von Adam den Fuldaer Annalen entnommen, also gar nicht Eigengut 
Adams. Solche Fälle kommen natürlich häufig vor. Wo neuere Schulausgaben 
der Monumenta vorliegen, hätten die älteren Ausgaben in der Reihe der Scriptores 
nicht berücksichtigt zu werden brauchen, wenigstens hätte es vermieden werden 
sollen, bald diese, bald jene Ausgabe heranzuziehen. So sind die Annales Vedastini 
in n. 64 nach der Schulausgabe, in n. 65 nach SS 2, in n. 66 und 67 wieder nach 
der Schulausgabe benutzt. An den letztgenannten Stellen wird sogar unter den 
Angaben der Parallelquellen auf die älteren Ausgaben, die natürlich den gleichen 
Text — nur nach schlechteren Handschriften — bieten, verwiesen! So wird ferner 
Liudprands Antapodosis in n. 117 und 118 nach SS 3 benutzt, wobei in n. 117 (S. 77 
Z. 31) das unverständliche ,,nationis" mitübernommen wird. Später, in n. 179, 
wird auf die in n. 117 wiedergegebene Stelle verwiesen, hier jedoch unter Zitierung 
der neuen Schulausgabe, die nach den besseren Handschriften das sinngemäße 
nationibus bietet. Die Annalen Lamberts von Hersfeld werden in n. 133 nach 
SS 3 zitiert! Hier ist — nebenbei bemerkt — die Seitenangabe fehlerhaft: statt 
S. 27 muB es S. 63 heißen; dasselbe gilt z. B. auch von S. 104 Z. 20, wo die be- 
treffende Stelle SS 8 S. 367, nicht 639, steht. Bei n. 60 und 73 vermiBt man Hin- 
weise auf die Ausgaben in den Epistolae- bzw. Diplomata-Bánden. Das Schreiben 
P. Nicolaus I. an Kónig Horich gehórt nach Epp. 6 S. 293f. ins Jahr 964, vgl. auch 
J.-L. 2761. — Auf die Anmerkungen, die textliche und sachliche Erläuterungen 
der verschiedensten Art bieten, hütte noch gróBere Sorgfalt verwendet werden 
kónnen. Warum z. B. werden nur für einzelne lateinische Ortsnamen die jetzigen 
Formen gegeben? Entweder muBte die Wiedergabe in deutscher Form in den 
Anmerkungen konsequent durchgeführt werden, oder sie mußte gänzlich unter- 
bleiben. Da die Textstellen aus dem Zusammenhang genommen sind, muBte, wo 
sie auf Teile, die beim Abdruck wegfielen, Bezug nehmen, dies vermerkt werden; 
so ist, um nur ein Beispiel anzuführen, das „sibi“ auf S. 77 Z. 36, das sich auf den 
von Liudprand früher genannten Kónig Hugo von Italien bezieht, ohne Anmerkung 
unverständlich. Bei den Anmerkungen zu Zeile 8 und 23 auf S. 62 erwartet man 
eher Hinweise auf die neueren Untersuchungen der Hamburger Fälschungen von 
Schmeidler und Peitz als auf K. Koppmanns 1866 erschienene Dissertation, auch 
wenn Waitz sie an der betreffenden Stelle seiner Ausgabe der Vita Anskarii nennt. 
— Diese Ausstellungen, die sich leicht vermehren liessen, betreffen im wesentlichen 
Äußerlichkeiten, sie können und sollen deshalb das Verdienst nicht mindern, das 
sich die Herausgeber mit ihrer wohl erschöpfenden Sammlung der ältesten Quellen 
zur Frage Schleswig-Haithabu erworben haben. 
Kiel. G. E. Hoffmann. 


Die Quellen zur Geschichte der Kaiserkrönung Karls des Großen. Hrsg. von 
H. Dannenbauer. Berlin (Walter de Gruyter) 1931. 66 S. (= Kleine Texte für 
Vorlesungen und Ubungen, hrsg. von H. Lietzmann. H. 161). 

Bei dem Andrang zu den Universitätsseminaren, wie er heutzutage leider die 

Regel ist, scheitern nicht selten gerade die ersprießlichsten und ergiebigsten Themata 

958 


388 Kritiken 


an der Schwierigkeit, kritische Textausgaben in genügender Anzahl für die Übungs- 
teilnehmer bereitzustellen. Im Hinblick auf diesen Notstand, der dem akademischen 
Geschichtsunterricht nur zu leicht eine gewisse Enge und Gleichförmigkeit aufprägt 
und vor allem die Auswahl der Übungsprobleme nach pädagogisch-didaktischen 
Erwägungen und nach den Bedürfnissen der späteren Berufstätigkeit der Studierenden 
nicht wenig erschwert, erscheint mir besonders dankenswert, daß Dannenbauer in 
dem vorliegenden Heft der Lietzmannschen Texte eine Quellenlese zur Kaiser- 
krönung von 800 zusammengestellt hat und damit einen ebenso vielseitigen wie lehr- 
reichen Fragenkomplex aus der Geschichte des frühen Mittelalters für den akademi- 
schen Übungsbetrieb eigentlich erst erschließt. 

Dannenbauer gibt zu diesem Zweck in der ersten Hälfte des Heftes (bis S. 35) 
Quellenbelege für die Ereignisse bis zum 25. Dezember 800, und zwar zunächst 
Annalenstellen, dann Stücke aus der Vita Karoli Magni und der Vita Leonis III., 
dazu in dankenswerter Weise die einschlägigen Partien aus Theophanes, während 
dessen blofe Ausschreiber mit Recht unterdrückt sind; daran reiht sich der Ab- 
druck von zeitgenössischen Briefen, insbesondere Karls und Alchvines, und schließ- 
lich der Wortlaut des Reinigungseides Leos III. Im zweiten Teil des Heftes (bis 
S. 65) druckt Dannenbauer vor allem spätere Quellen, die die politischen Nach- 
wirkungen und die „Umgestaltung der mit dem Kaisertum verbundenen Vor- 
stellungen" veranschaulichen sollen. Dazu gehören die beiden Briefe Karls an 
Nikephoros und Michael I., ferner die sog. Divisio regnorum v. J. 806 und die 
Ordinatio imperii v. Juli 817; dazu das in seiner Echtheit zwar umstrittene, aber 
wichtige Rechtfertigungsschreiben Ludwigs II. an Kaiser Basilius v. J. 871; dazu 
u. a. der Titel XVII der 'Exloyn tov vouo» naga Alovros xai Kovorarrirov 
und einige etwas reichlich bemessene Partien aus der "Ex#eos ths H j, 
tafems des Konstantinos Porphyrogennetos, ferner die bekannten zwei Akkla- 
mationsformulare aus der Zeit um 800 und schlieBlich der Libellus de imperatoria 
potestate in urbe Roma, der nach K. Heldmann (Das Kaisertum Karls des Großen. 
Theorien und Wirklichkeit. Weimar 1928) durchaus nicht in jeder Beziehung das 
MiBtrauen verdient, das F. Hirsch und andere seiner Glaubwürdigkeit entgegen- 
gebracht haben. Diesen Quellenstücken schickt Dannenbauer ein knappes Ver- 
zeichnis einschlügiger Literatur voraus und hüngt an den SchluB eine Zeittafel der 
oströmischen Kaiser bis 1025. 

Mit der Auswahl im ganzen, die in ihrer Fülle auch den weitestgehenden 
Ansprüchen Rechnung trägt, wird sich wohl jeder zufrieden erklären; höchstens, 
daB man sich um der Vollständigkeit der Quellengattungen willen noch den Abdruck 
des Epos Karolus Magnus et Leo papa und eine Probe aus dem Monachus San- 
gallensis, etwa 126, hinzuwünschen könnte. Fragt man aber nach der Eignung des 
Heftes für seine Verwendung in historischen Übungen, so fühlt man sich im einzel- 
nen zu mancherlei Einwänden und Bedenken gedrängt, die im Hinblick auf die 
bald zu erwartende Neuauflage und auf etwaige weitere fachhistorische Übungs- 
materialien der „Kleinen Texte' nicht unterdrückt werden sollen. 

Für einen grundsätzlichen Mangel, der bei der anderweit vorbildlichen Aus- 
stattung der Lietzmannschen Hefte mit kritischem Apparat besonders auffällig 
ist, halte ich Dannenbauers Verzicht auf eine konsequente Beigabe der varia lectio. 
Zwar findet man S. 16, Anm. 1 einen überraschend ausführlichen Hinweis, daß die 
Ausgabe der Annales Laureshamenses von Pertz z. J. 800 den Zeilenabsatz der Wiener 


Kritiken 389 


Hs. nach „et ita fecit" nicht abgedruckt habe. Aber mit dieser Mitteilung ist in 
ihrer isolierten Zufälligkeit in einer Übung wohl ebenso wenig etwas Ernsthaftes 
anzufangen, wie mit der merkwürdig vagen Art, den Brief Ludwigs II. (S. 41ff.) 
plötzlich mit Lesungen und Konjekturen von Pertz auszustatten, die auf derdeutschen 
Übersetzung einiger Fußnoten aus der Neuausgabe von Henze, M. G. Epp. VII, 
386ff., beruhen. Eine Schulung und Erziehung der Studierenden zu verständnis- 
voller Benutzung kritischer Ausgaben ist jedenfalls auf einen derartigen Varianten- 
eklektizismus schwerlich zu gründen. 

Dazu treten einige Schönheitsfehler: neben vereinzelten Druckversehen in 
den griechischen Textproben vor allem der schnurrige Einfall, die Seitenbezifferung 
der Textvorlage womöglich mitten im Wortkörper kenntlich zu machen, wie z. B. 
8. 43, 2.17: „Aegyptio (S. 387) rum“ oder S. 51, 2.21: „earo — (S.193) — r, 
und schließlich der Umstand, daß jede Zeilenzählung am Textrande fehlt. Das 
scheint an sich zwar belanglos; aber man fragt sich vergebens, wie man sich so im 
Zuge der Übung z. B. über eine Einzelstelle der Vita Leonis, der überdies noch jede 
Kapitelbezifferung abgeht, ohne ärgerlichen Zeitverlust verständigen soll. 

Schwerer wiegt vielleicht eine gewisse Willkür in der Beigabe von kommen- 
tierenden Anmerkungen, vor allem in sprachlicher Hinsicht. Allerdings erklärt 
Dannenbauer von vornherein, er habe absichtlich „die Erläuterungen auf das 
unbedingt Notwendige beschränkt, keine Daten aufgelöst usw., um dem Studierenden 
das eigene Suchen und Nachdenken nicht zu ersparen“. Aber ich halte es trotz- 
dem für abwegig, in einer solchen Quellensammlung für akademische Übungszwecke 
päpstlicher zu sein als der Papst und dem Anfänger Erleichterungen des Verständ- 
nisses künstlich vorzuenthalten, die jede kritische Ausgabe dem Forscher zur be- 
quemen und selbstverstándlichen Verfügung stellt. Eine Übung über eines der ver- 
vitkeltsten Probleme des frühen Mittelalters hat nach meiner Ansicht andere Ziele, 
ak nebenher in die Benützung des Du Cange oder des kleinen ,,Grotefend" einzu- 
führen; und falls man das doch will, weshalb dann nicht folgerecht auch in die 
Handhabung der Konkordanz, wozu die zahlreichen Bibelzitate, die Dannenbauer 
samt und sonders identifiziert, Gelegenheit genug geboten hätten? Mich dünkte 
es jedenfalls Zeitvergeudung, wenn man den Studenten veranlassen wollte — wohl 
verstanden: in einer Übung über die Kaiserkrönung Karls d. Gr.! — sich etwa über 
ein „tu lo iuva'* (S. 55, Z. 2 v. u.) den Kopf zu zerbrechen, während Holder-Egger 
m seiner Ausgabe ausdrücklich dazu bemerkt: Litania composita est Romae et 
zermone magis Italico quam Latino, praesertim verbis tu lo, los = illum, illos iuva. 
Entsprechend hätte ich (S. 9) bei dem Anachronismus der Annales regni Francorum 
2. J. 796 einen Hinweis nach Art von Kurzes Anm. 1 oder wenigstens auf Simsons 
Jahrbücher II, S. 108 erwartet. Oder soll etwa der Student die Zeitangaben der Annalen 
durchgängig mit Hilfe von Mühlbachers Regesten kontrollieren, statt seine bemessene 

t vor allem auf die Einarbeitung in die umfängliche Literatur verwenden zu 
können ? Mit einem Wort: Solche Florilegien sollten in den ausgewählten Partien 
die kritischen Ausgaben tunlichst ersetzen und der genauen Interpretation nicht 
Erößere Schwierigkeiten bereiten als die eigentlichen Texte selbst. Denn wenn man, 
vie in Dannenbauers Abdruck, den vom Editor oft mühsam erarbeiteten Sprach- 
und Sachkommentar fast ganz unterdrückt, so schickt man damit den Studenten 
Auf eine umständliche und womöglich erfolglose Suche, die ihn von der Vertiefung 
IN das eigentliche Ubungsthema nur abhalten kann. 


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Statt dessen hielte ich es umgekehrt didaktisch für wesentlich, dem Benutzer 
nicht Ergebnisse der Quellenkritik, deren Gewinnung m. E. eine Aufgabe der Ubung 
ist, in fertiger Formulierung darzubieten, wie das Dannenbauer 3. B. bei der Litania 
Karolina (S. 55) und den Laudes (S. 57) getan hat. Denn bei dem ersten dieser beiden 
Formulare ergibt sich der terminus a quo ohne weiteres durch die Erwähnung der 
Fastrada, die erst seit 783 mit Karl verheiratet ist, und ebenso der terminus ad 
quem durch die Nennung Pippins des Buckligen, den man 792 ins Kloster gesteckt 
hat. Hier führt also das Nachdenken den Studierenden unmittelbar zum Ziel und 
hütte auch paradigmatischen Wert. Bei dem zweiten Formular aber ist die Rand- 
bemerkung Dannenbauers sogar bedenklich. Denn wie Heldmann betont hat, ist 
diesmal der Name einer Kónigin nicht erwühnt, so daB die Entstehung des Formulars 
möglicherweise erst in die Zeit von Karls dritter Witwerschaft nach dem Tode der 
Liutgard (4. Juni 800) fällt. Vollends mißlich wird diese Art von Kommentar, 
wenn der Wortlaut, wie in der Anm. 1, S. 10 bei Dannenbauer, geradezu falsche 
Vorstellungen erweckt. Denn nach Dannenbauers Angabe müßte die Akklamations- 
formel in den Annales Maximiniani z. J. 801 genau so lauten,.wie in den Annales 
regni Francorum, während es in Wahrheit dort heißt: Karolo Augusto a Deo co- 
ronato, magno pacifico imperatori, vita et victoria, also wie in der Vita Leonis III. 
ohne den Zusatz Romanorum, aber gegen die rómische Version und wie in den 
Annales regni Francorum und qui dicuntur Einhardi auch ohne das piissimo, jedoch 
mit Unterdrückung des et zwischen magno und pacifico. GewiB kommt auf eine 
solche Kleinigkeit bei der ziemlich einhelligen Überlieferung der Formel nicht allzu 
viel an. Aber man sähe statt des verunglückten Zusatzes doch lieber eine Beleg- 
stelle mehr abgedruckt, wie etwa den parallelen Passus der Annales Mettenses 
priores, die neben den Annales Maximiniani trotz oder gerade wegen ihrer weit- 
gehenden Übereinstimmung mit den Annales regni Francorum wenigstens in FuB- 
note hätten angeführt werden können, wie ich ebenso auf S. 9 in dem Abdruck aus 
den Annales regni Francorum zu dem Tode Hadrians die spätere (z. J. 798) Angabe 
zu dem Regierungsantritt der Kaiserin Irene vermisse. 

Doch wird über all diese Dinge am besten die Praxis entscheiden und meine 
Erwägungsvorschläge sollen der umsichtigen und fleißigen Zusammenstellung 
Dannenbauers keinerlei Abbruch tun. 

Leipzig. | W. Stach. 


Berthold Sütterlin, Die Politik Kaiser Friedrichs II. und die römischen Kardinz le 
in den Jahren 1239—1250 (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und 
neueren Geschichte Heft 58). Heidelberg, C. Winter, 1929. 142 S. 

Die vorliegende saubere und verstándige Untersuchung aus der Schule Hampes 
schließt sich an Fehling an, der das gleiche Thema 1901 für die Jahre 1227—1239 
behandelt hatte. Mit dem Einsetzen des Endkampfes wird für Friedrich II. das 
Kardinalkolleg ein politischer Faktor von hóchster Bedeutung, zu dessen Gewinnung 
die kaiserliche Diplomatie auf der Hóhe ihrer Reife gezwungen ist, alle ihre Künste 
zu entfalten. Die Probleme dieses Jahrzwölfts hatte Hampe im wesentlichen be- 
reinigt: durch seine Forschungen über das Konklave von 1241, auf das dann Wenck 
zurückgekommen ist, ferner über die Flugschriften zum Lyoneser Konzil von 1245 
und über die sizilische Verschwórung von 1246; auch einige treffliche Arbeiten seiner 
Schüler kommen hinzu. Zu S. 28 ist jetzt der Schlußteil von K. Burdach, Rienzo 


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und die geistige Wandlung seiner Zeit, S. 380ff., zu vergleichen. Nicht unbedeutend 
hat auch inzwischen O. Vehse in seinem Buche über die amtliche Propaganda 
Friedrichs II. das Verständnis gefördert, vgl. auch dessen Anzeige des vorliegenden 
Buches, H.Z. 141, S. 634, wo mit Recht straffere Beschränkung auf das Thema 
gewünscht und die Menge der Abschweifungen auf die allgemeine Geschichte getadelt 
wird. Ob aber die Kernfrage, warum der Kaiser das Kardinalskolleg trotz allen 
Entgegenkommens nicht gewonnen hat, überhaupt zu beantworten ist? Es gab 
nicht nur einen Korpsgeist des Kollegs, sondern auch einen spezifischen Geist jenes, 
wie ich es nennen möchte, jüngeren Baronalpapsttums (1188— 1261), für das neben 
den universalen Belangen die Territorialpolitik des Patrimoniums den Ausschlag 
gab; und dieses war eben von Friedrich II. in den entscheidenden Jahren bedroht. 
Selbst Innocenz IV., der anscheinend jene Reihe von Baronalpäpsten neueren Stils 
unterbricht, steht ihrem Geiste nicht so fern: die drei Kardinäle in Rom haben 
1246 die kuriale Politik stark beeinflußt (vgl. S. 102). 

Nach einer einleitenden Übersicht wird (S. 7—46) die Zeit von Friedrichs II. 
zweiter Exkommunikation bis zum Tode Gregors IX. behandelt. Um den Konzils- 
vorschlag dreht sich bald der diplomatische Kampf, der Prálatenfang von Monte- 
cristo gibt der praktischen Diplomatie für die kommenden Jahre eine harte Aufgabe. 

Sehr zeitig enthüllt sich der schwache Punkt in der Stellung des Kaisers. Seine 
Vermittlungspolitik (vgl. S. 37 im Briefe an Rainald von Ostia) schob dem Kolleg 
eine Selbständigkeit neben dem Papst zu, die kanonistisch gar nicht zu rechtfertigen 
war (vgl. S. 12, 20ff., 35). Sie setzte aber auch Einmütigkeit der Kardinäle für den 
Kaiser voraus (vgl. S. 181), und diese Voraussetzung war aus persönlichen wie 
sachlichen Gründen falsch. Die Untersuchung von S. wäre straffer geworden, wenn 
er diese Taktik der kaiserlichen Diplomatie durchgeführt hätte; es ließe sich syste- 
matisch begründen, warum sie scheitern mußte. Eine Parallele mit der Politik, die 
an das Solidaritätsgefühl aller weltlichen Machthaber appellierte, liegt nahe, Die 
Politik des Kaisers wurde auf ihrer Höhe unsicher, weil seine Stellung im Kampf 
mit der Kirche schwach war. Genau wie einst die seines Vaters. 

Über die Sedisvakanz von 1241—1243 (S. 46—66) haben Hampe und Wenck 
Klarheit geschaffen. Wenck hatte geglaubt, der Unbekannte, auf den im zweiten 
Wahlgang des Konklaves von 1241 die Stimmen fielen, sei der damalige Dominikaner- 
provinzial Humbert von Romans: S. macht in einer Beilage (S. 133—137) kritische 
Bedenken geltend. Zu berichtigen ist S. 51, Kardinal Rainald, von dem es einige 
Zeilen vorher hieß, daß er nach Coelestins IV. Tode in Rom geblieben sei, wäre nach 
Anagni gegangen: S. hat ihn mit Rainer von Viterbo verwechselt. Beachtenswert 
ist S. 68f. der Hinweis auf die Szene, die den Haß des Kaisers gegen Kardinal Jakob 
Pecorara erklärt: dieser hat damals als Gefangener dem Kaiser persönlich den Bann- 
fuch ins Gesicht geschleudert! S. 59. A. 4 ist irrig princeps als neutraler Ausdruck, 
wenn man nicht imperator sagen wolle, aufgefaßt: nach dem Sprachgebrauch des 
Corpus iuris sagte man damals beides abwechselnd in gleicher Bedeutung. 

Über die Parteistellung der einzelnen Kardinäle ist schwer Aufschluß zu er- 
reichen, da sie nicht immer gleichblieb. So ist Rainald von Ostia 1241 unter den 
Gegnern, Rainer von Viterbo unter den Freunden der Versöhnung, Die Streitfrage, 
mit welchem Recht Friedrich II. den genuesischen Kardinal Sinibald Fiesco di La- 
vagna für seinen Freund hielt und ihm zur Tiara verhalf, ist deshalb schwer zu lösen. 
1241 war er Friedensgegner; daß er dann bei der Spaltung des Kollegs vermutlich 


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mit den Versöhnlichen nach Anagni ging, wie Hampe mit Recht annimmt, mag 
die Meinung des Kaisers erklären. Seit der Gang der Friedensverhandlungen 
(S. 66—86) durch Rodenbergs vorbildliche Untersuchung aufgeklärt ist, darf man 
ja Innocenz IV. nicht mehr beschuldigen, diese Verhandlungen nur zum Schein 
und in betrügerischer Absicht geführt zu haben. Nicht aus Prinzip ist der endgültige 
Bruch erfolgt, sondern weil die unentrinnbaren Staatsnotwendigkeiten, die in der 
lombardischen Frage lagen, eine Verständigung ausschlossen. Hier bietet S. nicht 
viel Neues; in der Beurteilung der Rolle, die Rainer von Viterbo beim Bruch spielte, 
tolgt er der Auffassung von Elisabeth von Westenholz. Ich habe schon im Literar. 
Zentralblatt von 1914, Sp. 813f. auf das Willkürliche in deren psychologischer 
Konstruktion hingewiesen, die ein den Tatsachen (Wähler Coelestins IV., dann in 
Anagni) widersprechendes Bild gibt, und bin gerade durch Hampes Arbeit über 
das Konklave darin bestürkt worden, daß Rainer erst nach der Wahl von 1243 
jener fanatische Feind des Kaisers (S. 71) wurde. Die Bemühungen des Kaisers, 
die Kardinäle für sich zu gewinnen, erringen ihren höchsten Erfolg, als ihnen Einfluß 
auf die Bestimmungen des Gründonnerstagsfriedens von 1244 zugestanden wird 
(S. 78). Nachdem die Aussöhnung an den Lombarden gescheitert ist, versucht 
Friedrich II. immer noch, diesen durch befreundete Kardinäle entgegenzuwirken. 
Da zwingt Innocenz IV. durch die Kreation von 12 neuen Kardinälen zu den 7 vor- 
handenen das Kolleg endgültig in den Dienst seiner nun zum Abbruch entschlossenen 
Politik. 

Die Rolle der Kardinäle beim Lyoneser Konzil von 1245 (S. 86—99) ist wichtig, 
doch nicht mehr entscheidend (S. 88). Die drei in Rom zurückgelassenen, den stadt- 
römischen Baronalhäusern angehórigen Kardinäle und Rainer, der als Feldherr 
der Kirche in Mittelitalien blieb, wagten nicht, dem Ruf des Papstes nach Lyon 
zu folgen. Ein Pamphlet Rainers diente dann als Konzept für das Absetzungsdekret. 

Im Endkampf von 1245—1250 (S. 95—122) konnte sich keine persönliche 
Meinung eines Freundes Friedrichs II. mehr hervorwagen: in Cluni empfingen die 
Kardinäle den roten Hut zum Zeichen, daß sie mit dem Papst in den Tod zu gehen 
hätten (S. 96). Tatsächlich handelt es sich nur noch um die Rolle der einzelnen 
Kardinäle als Werkzeuge des päpstlichen Vernichtungswillens. Doch vielleicht 
nicht so ganz. Unschätzbar ist der von Hampe gefundene und ausgewertete Brief, 
den Kardinal Richard Annibaldi aus Rom an den Papst geschrieben hat. S. (S. 102) 
urteilt, man sehe nicht ganz klar, welchen Anteil die Kardinäle an dem Entwurf 
der Verschwórung zur Ermordung Friedrichs II. im Jahre 1246 hatten. Aber auch 
schon der Eindruck, daß sie einen Anteil daran hatten, ist wichtig, da man in der 
Regel Innocenz IV. als den persönlichen, unbeeinfluBten Träger seiner Kampf- 
politik auffaBt. Oben wurde schon darauf hingewiesen, daB er mindestens hier 
vom Geist des Baronalpapsttums durch die drei römischen Baronalkardinále beein- 
fluBt worden ist. Über das Wirken von Ottaviano Ubaldini, der von Lyon seinen 
vier in Italien wirkenden Brüdern zu Hilfe geschickt wurde, erfahren wir allerlei 
Neues: im ganzen hat man den Eindruck, daß die Kardinüle im Kampf mit welt- 
lichen Waffen gegen den Kaiser versagten, nachdem das grandiose kombinierte 
Projekt vom Jahre 1246 fehlgeschlagen war. 

Dem Urteil, daß eine förderliche Untersuchung vorliegt, tut die Berichtung 
einiger kleinerer Versehen keinen Eintrag, 3. 6 wäre (wie richtig S. 34 u. sonst) 
Brescia zu schreiben, nicht Breszia. S. 8 wird Kantorowicz statt der von diesem 


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benutzten grundlegenden Untersuchungen von Ficker zitiert; K. 's „caesarische 
Groß- Signorie“ würde ich mir nun gar nicht zu eigen machen. S. 18 sind die Noten 
in Unordnung; die Quellenzitate sind sehr häufig ungenau, selbst sinnstörend. 
Der Quellenwert von Matthaeus Paris (so, nicht „von Paris“ I) wird öfter ungerecht 
eingeschätzt (S.32, 38, 51 A. 2), richtig S. 43 A.3, — S. 41 A.1: Petrus de Collemedio 
war sicher Italiener, Burgruine Colledimezzo im Volskergebirge, Gregorovius V, 
59; daher heißt er richtig natione Campanus. S. 53: der Brief Ludwigs IX. konnte 
als Stilübung fortbleiben. S. 58 „Prior und Kardinal des Klosters zu Fons Avel- 
lana“!! S. 54: das Wortspiel ist im Deutschen unverständlich und bedurfte der 
Erklärung: salmo (Lachs)-Salomo. Wer ist S. 43 A. 1 d. Barnensıs ven. cardinalis? 
Doch wohl Rainerus (Rain. zu Barn. verlesen)? Es wäre wieder ein Beweis, daß 
Rainer ursprünglich zum Frieden neigte. S. 39 wird Gregorius de Romania in Ver- 
wechslung mit G. de Montelongo als Legat der Lombardei bezeichnet, wie schon 
bei E. von Westenholz S. 51 zu lesen war; er war Legat von Genua. S. 83: Segusia 
ist Susa. S. 114 A. 7: Bischof Marcellin war Lehensmann des Kaisers nur in dem 
Sinne gewesen, daB er als Bischof von Arezzo Grafenrechte besaB (richtig Westen- 
holz) S. 122: Johann Colonna ist 1216, nicht 1212 Kardinal geworden. S. 123 
J. Zagarolo statt Zaparolo. S. 130: Rainald von Segni war natürlich nicht „aus 
Genua", S. 131: das Kloster „Zu Tres Fontium“ heißt Tre Fontane. 

Eine brauchbare Vorarbeit zu der von Wenck geforderten Fortsetzung von 
Brixius, Die Mitglieder des Kardinalkollegiums von 1130—1181 ist die erste Bei- 
lage: ,,Das Kardinalskollegium im Jahre 1239" (S. 122—133). 

Die Beiträge, die ich QF. XVIII, 232—236, und 239—241 aus der Formel- 
sammlung des Petrus de Boateriis zur Legation des Kardinals Peter Capocci in den 
Marken gab, sind übersehen. 

Frankfurt a. M. Fedor Schneider. 


Vincenz Samanek, Studien zur Geschichte König Adolfs. Vorarbeiten zu 
den Regesta imperii VI 2 (1292—1298). Akademie der Wissenschaften in 
Wien, philos. histor. Kl, Sitzungsberichte, 207. Band, 2. Abhandluug. 
Wien und Leipzig 1930, Hólder-Pichler-Tempsky A.-G., Kommissionsverlag. 
VII, 303 S. 

Die Eigenart dieser Studien wird durch den Untertitel gekennzeichnet: es 
Sind Vorarbeiten zur Neubearbeitung der Regesta imperii von 1292-1298. Das 
Unternehmen ist außerordentlich begrüßenswert. Daß die mittelalterliche Ge- 
sthichtswissenschaft in der langen Zeit von ca. 1900 — 1930 fast gar keine Leistungen 
zur Fertigstellung der von der Generation der großen Historiker des 19. Jahrhun- 
derts begonnenen Unternehmungen aufzuweisen hatte, ist, mit so verschiedenen 
Gründen und Einflüssen man es auch erklären kann, doch ein Mangel, ohne dessen 
Beseitigung ein gesichertes Fortschreiten eindringlicher Erkenntnis der deutschen 
Geschichte des Mittelalters nicht erwartet werden kann. Samanek gibt denn auch 
sme Studien ganz im Stile der Einzelforschungen des 19. Jahrhunderts: mil- 
verstandene Ausstellungsorte, richtige Datierung von Urkunden und Akten, Her- 
Anziehung entlegener Überlieferungen, möglichst vollständige Herbeischaffung des 
Quellenmaterials — das gibt einem Teil seiner sorgsamen, auf Kenntnis vieler 
Originalurkunden und ihrer Schreiber aufgebauten diplomatisch - historischen 
Untersuchungen das Gepräge. 


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Aber sie erstreben doch auch mehr, sie wollen auf dieser gesicherten Tatsachen- 
grundlage zugleich einen inneren Zusammenhang in der Geschichte und den Hand- 
lungen dieses jedenfalls doch unglücklichen deutschen Königs erkennen lassen. 
Ich gebe einen kurzen Überblick über den inneren Gang und Hauptinhalt der 26 
Einzeluntersuchungen. Etwa I—IX könnte man zu einer Gruppe zusammenfassen, 
die sich mit der Wahl des Königs— unter dem Einfluß des Kölners und (in gewissem 
Sinne abschließend und entscheidend) des Mainzers — und mit seinem Verhalten 
in seiner ersten Regierungszeit beschäftigen, mit dem Druck, unter dem er von seiten 
des Kölners stand und den Maßregeln, durch die er sich davon zu befreien trachtete, 
mit ersten Handlungen zum Schutze der Westgrenze des Reiches gegen Frankreich. 
Etwa X—XII bieten vorwiegend Einzeluntersuchungen, etwa XIII—XVI Unter- 
suchungen zu seinem Verhalten in der Frage der Freigrafschaft Burgund und Meißen- 
Thüringen. Nr. XVII—XXV könnte man dann einheitlich zusammenfassen unter 
der Überschrift: Die Bestechung Adolfs von Nassau ?, wobei das Wesentliche und 
Neue bei Samanek das Fragezeichen ist. Er behauptet an keiner einzigen Stelle 
mit ausdrücklichen Worten, daB er diese Bestechung, die zuletzt F. Kern, MIOeG. 
30 in einer über jeden Zweifel erhabenen Weise bewiesen zu haben meinte, als nicht 
erfolgt widerlegt habe; aber er trägt alles zusammen, was sie als unwahrscheinlich 
gelten lassen kann. Bei dem Interesse, das gerade dieser Gegenstand aus der Ge- 
schichte Adolfs notwendigerweise erwecken muß, sind ein paar nähere Bemerkungen 
darüber unerläßlich. 

Nach Samanek kann von Scheinmanövern und Zweideutigkeiten Adolfs in 
seiner Politik gegenüber England und Frankreich nicht die Rede sein. Er hat jeder- 
zeit aufrichtig und mit allen (schwachen) ihm zur Verfügung stehenden Kráften 
den Schutz der Westgrenze des Reiches gegen Frankreich, mit Hilfe Englands, 
betrieben. Er ist dabei eifriger gewesen als der englische Kónig, der die Dinge viel 
mehr hat gehen lassen und eher den deutschen Kónig im Stich gelassen als dieser 
ihn. Der sorgfáltig auf die Tatsachen begründete und richtig verstandene Zu- 
sammenhang in Adolfs Handlungen allein schon reinigt ihn von jedem Vorwurf. 
Auf Soldverträge, die seiner als deutschen Königs nicht würdig gewesen wären, 
hat er sich gar nicht eingelassen (S. 136—139); die in der Denkschrift des Musciatto 
Franzesi behauptete angebliche Bestechung ist mit den Tatsachen nicht in Einklang 
zu bringen (S. 157), teils hatten die Geldzahlungen „gar nichts Auffallendes an sich“ 
(S. 204, vgl. 200—204), teils zeigten die Aufzeichnungen den,, König Adolf bei dieser 
Sache keineswegs im Vordergrunde“ (S. 204, Anm. 67) und endlich dürfe man die 
Behauptung, „daß es Musciatto wirklich gelungen sei, Adolf zu ‚gewinnen‘ nach dem 
Gesagten unbedenklich als eine derjenigen Übertreibungen ansehen, mit denen 
es die Denkschrift verstanden hat, den Erfolg der Tätigkeit dieses Finanzmannes 
recht handgreiflich erscheinen zu lassen“. Vgl. noch die ganze Seite 205 mit Argu- 
menten gegen die Annahme einer „Bestechung“ König Adolfs. 

Zu einer Widerlegung der These Kerns scheint mir das doch noch nicht auszu- 
reichen. Dazu wäre m. E. doch in ganz anderem Umfange eine Hauptuntersuchung 
der Denkschrift des Musciatto Franzesi, eine Erschütterung ihrer Glaubwürdigkeit, 
in Widerlegung der Argumente, die Kern dafür beigebracht hat, erforderlich. 
Und wenn Samanek seine Widerlegung mehr indirekt, durch Aufzeigung einer seiner 
Meinung nach sehr klaren und eindeutigen, bis zuletzt folgerichtigen Politik Adolfs 
gegen Frankreich, für England, führen will, so ist zu bedenken, daB die Politik des 


Kritiken 395 


späteren Mittelalters in allen Fällen, die wir neuerdings genauer zu durchschauen ge- 
lernt haben, ungeheuer kompliziert und raffiniert, vieldeutig und verschlagen ist, 
keineswegs und niemals einfach. Die Probleme und Untersuchungen nehmen es 
an Kompliziertheit und Schwierigkeit mit den modernsten zur Vorgeschichte des 
Weltkrieges durchaus auf, und dabei ist das Material im 13.—15. Jahrhundert 
doch meist noch viel lückenhafter und zufälliger als für unsere Gegenwart. Also 
zu eindeutigen Lösungen zu kommen ist da sicher sehr schwer, und auch gegen 
Samanek.wird sich in diesen Fragen viel sagen lassen. Ich habe mir zu seinen Aus- 
führungen im einzelnen viele Fragezeichen gemacht, die ich allerdings hier nicht 
vorführen und begründen kann. Sicher bleibt auch nach seinen Ausführungen, daß 
das Königtum Adolfs eine traurige Erscheinung war; er persönlich nach Samanek 
nicht würdelos, aber eine tragische Figur. Für die deutsche Geschichte im ganzen 
ist damit nicht sehr viel gebessert. 

Die letzte, 26. Untersuchung behandelt dann noch Adolfs Absetzung und die 
Kurie: zur Kritik der Überlieferung. Die Gesamtheit dieser mit Vorsicht und Umsicht 
ausgeführten Untersuchungen ist höchst verdienstlich, ebenso die Abdrucke von 42 oft 
nur in schlechtem Text oder genauer bisher gar nicht bekannten Urkunden, denen 
Samanek noch wertvolle Vorbemerkungen über Schreiber u. dgl. beigibt. Das 
ganze Buch wird für lange Zeit eine Hauptgrundlage für alle weiteren Forschungen 
und Darstellungen zur Geschichte Adolf von Nassau sein. 

Erlangen. B. Schmeidler. 


Jahrbücher des Deutschen Reiches unter König Albrecht I. von Habsburg. Von 
Alfred Hessel. Herausgegeben durch die Historische Kommission bei der 
Bayer. Akademie der Wissenschaften. München, Duncker & Humblot, 1931. 
XXXI, 251 S. 

Es ist für den Historiker des deutschen Mittelalters eine Freude, diesen Band 
anzeigen zu können. Denn er bedeutet die Wiederaufnahme und Fortführung 
eines der groBen Unternehmen zur deutschen Geschichte, die die erste Generation 
der hervorragenden deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, Ranke, seine 
Schüler und ersten Nachfolger, begonnen hatten, die aber z. T. seit einiger Zeit, 
wenigstens die Regesten und Jahrbücher, in unerwünschter Weise liegen geblieben 
waren. Die letzten Werke der Jahrbücher der älteren Reihe — ganz abgeschlossen 
sind ja auch diese noch nicht — hatten z. T. nur mit etwas gemischten Gefühlen 
aufgenommen werden können, sie waren doch in äußerlichen Traditionen halb 
erstarrt und nicht mehr recht zum Kerne ihrer Aufgaben vorgedrungen. Der erste 
König des späteren Mittelalters, Rudolf von Habsburg, ist von Oswald Redlich, 
dem Hessels Band mit Fug und Recht gewidmet ist, in mustergültiger Weise, formell 
außerhalb der Jahrbücher, bearbeitet worden, nur ausführlicher als heutige mate- 
rielle Mittel es für anschließende Bände gestatten. Nun bietet Hessels Werk einen 
frischen Ansatz zum Fortschreiten in der eigentlichen Reihe der Jahrbücher, und 
erfreulich ist bei ihm nicht nur die Tatsache des Daseins, sondern in der Haupt- 
sache auch die Art der Ausführung. 

Nach den Beschlüssen der herausgebenden Kommission (vgl. Hist. Zs. 107 
[1911], S. 698), ist von den Quellen nicht mehr der Wortlaut aufgenommen, sie 
sind nur ganz kurz zitiert worden, wobei diese Zitate wie der gesamte Anmerkungs- 
apparat durch ein dem Bande vorausgeschicktes alphabetisches Literaturverzeichnis 


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entlastet worden ist. Nach den Erörterungen, die sich an eins der letzten Werke 
der Jahrbücher angeschlossen haben, das einzig richtige Verfahren! Ferner ist die 
tote, seelenlose Zusammenstellung des Materials Jahr für Jahr aufgegeben, es sind 
sieben große Kapitel zur Erzielung einer möglichst abgerundeten Darstellung, 
zum Herausarbeiten der großen Entwicklungslinien gebildet worden. Auch dies 
nur ein äußerst begrüßenswertes Verfahren, das in den besseren Bänden der älteren 
Reihe der Jahrbücher zum Teil auch schon befolgt worden ist. Man könnte höchstens 
noch wünschen — was man bei vielen Darstellungen solcher Art bemerken kann —, 
daß eine möglichst genaue und häufige Anführung der Daten, auch der Jahreszahlen, 
im fortlaufenden Text gegeben werden möge, damit der auf genaue Anschauung 
bedachte Leser nicht öfter einmal Seiten zurückblättern muß, um das Jahr, in dem 
er steht, festzustellen. 

Hessels Abschnitte lauten, nach einer Einleitung von zwei Seiten über Albrechts 
Stellung in der deutschen Geschichte: 1. Unter König Rudolf; 2. Der Thronstreit 
mit Adolf von Nassau; 3. Der Kampf mit den rheinischen Kurfürsten; 4. Papst 
Bonifaz VIII.; 5. Der Kampf mit Böhmen; 6. Reichsgut und Hausgut (ein sehr 
erwünschtes allgemeines Kapitel zur inneren Regierung und Gesamtgeschichte); 
7. Tod und Ausgang. Man wird gerechter Weise nur sagen können, daß das Buch 
mit sehr umfassender Sammlung, Durcharbeitung, Bereitstellung des Materials 
in den Anmerkungen, mit Darbietung eines Textes, der sich seiner Aufgaben wahrer 
historischer Forschung und Darstellung stets bewußt bleibt, eine wesentliche För- 
derung für die deutsche Geschichte des späteren Mittelalters bedeutet. — Zur all- 
gemeinen Form der Jahrbücher, wie sie hier erstmalig richtunggebend für die 
jüngere Reihe vorgelegt worden sind, kann man vielleicht noch die Frage auf- 
werfen, ob nicht Einzeluntersuchungen und Exkurse — natürlich nur solche mit 
förderlichen Ergebnissen — beigegeben werden könnten. Beispielsweise solche 
über die Urkunden und die Kanzlei, wie sie Samanek in seinen Studien zur Ge- 
schichte König Adolfs mit großem Nutzen anstellt und verwertet. Man wird das 
dem einzelnen Bearbeiter, je nach der Art seiner Arbeit und seines Verhältnisses 
zum Stoffe, anheimgeben müssen; es kann außerordentlich förderlich sein, wird 
nicht als Forderung oder Bedingung gestellt werden können. Im ganzen kann 
man nur sagen: möge die Reihe so fortschreiten, vivant sequentes! 

Nach diesen Bemerkungen über die Form und Technik des Bandes soll nicht 
unterlassen werden, auch zu der inneren Auffassung des Gegenstandes Stellung 
zu nehmen. Was hat Hessel zu der Herrscherpersönlichkeit Albrechts I. zu sagen, 
wie weit kann man ihm zustimmen ? Seine Beurteilung des Königs ist einigermaßen 
zwiespältig. Er verkennt nicht, daß die deutschen Könige des späteren Mittel- 
alters des festen Rückhaltes einer Hausmacht bedurften, daß sie mit dem Kur- 
fürstenkolleg, mit Frankreich und der römischen Kurie zu ringen hatten, daß die 
deutsche Geschichte des 13. bis 15. Jahrhunderts sich räumlich in der Verlegung 
des Machtmittelpunktes vom Westen nach dem Osten vollzieht (S. 1/2). Er billigt 
Albrecht in der Einzelausführung seiner Politik hohe staatsmännische Eigenschaften 
zu (S. 107), er versagt es sich mit Bewußtsein völlig, bei ihm anläßlich einer De- 
mütigung vor dem Papsttum Schwäche oder besondere Ehrfurcht vor der über- 
irdischen Institution des Papsttums anzunehmen, da für ihn allein politische Gründe 
maßgenbend sein konnten (S. 131). Er beobachtet, wie der König verspricht, ohne 
halten zu wollen (S. 139f.), wie er einen durch Glückszufall erlangten Vorteil sich 


Kritiken 397 


dann nicht durch maBlose Forderungen verdirbt (S. 158). wie er bei jedem Unter- 
nehmen die günstige Gelegenheit abzuwarten versteht (S. 162). Er spricht ihm 
rastlosen Tatendrang, gepaart mit nie ermattender Spannkraft zu (S. 182), stellt 
sein ganz persönliches Regiment fest (S. 207); er verzeichnet sein planmäßiges 
Streben nach Wiederherstellung des Herzogtums Schwaben, mit der naheliegenden 
Konsequenz: „Wäre es den Habsburgern gelungen, sich die deutsche Thronfolge 
zu sichern, sie hätten ohne Zweifel bald Reichs- und Hausgut hier im Südwesten 
ganz zur staatlichen Einheit verschmolzen“ (S. 220). Und alle diese Äußerungen 
schließt ab S. 223: „Des Maien Anfang 1308 .... als das der Urkundenfälschung“, 
in welcher Stelle Hessel die Katastrophe der deutschen Geschichte durch Albrechts 
Tod mit der von 1197 durch Heinrichs VI. Tod vergleicht. 

Alledem stehen einige andere Äußerungen entgegen, hauptsächlich des Inhalts, 
daB Albrecht nur nach Macht und Erhóhung seines Hauses gestrebt und dafür die 
Macht und die Ehre des Reiches leichten Herzens dahingegeben habe (S. 132f., 
140, 145, 149, 2371), daß ihm „das lebendige Gefühl für das Prestige, um nicht 
zu sagen, der einem deutschen Könige unentbehrliche Ehrbegriff mangelte", daB 
ihm auf dem Gebiet der Verwaltung „die eigene große und schöpferische Idee 
fehlte", er „überhaupt keine ausgesprochene Neigung zeigt, neue Institutionen zu 
schaffen". Was ist von diesen Vorwürfen und Rügen zu halten? 

Der letztangeführte Satz Hessels bietet eine positive Beobachtung zur Cha- 
rakteristik Albrechts, die einfach hinzunehmen sein wird, der vorletzte enthält 
eine Beobachtung gemischt mit Beurteilung, die schon zweifelhaft sein kann. Zu 
Albrechts absoluter Nüchternheit und Gleichgültigkeit gegen Prestige kónnte man 
manche Äußerung und manches Verhalten Bismarcks als Parallele heranziehen, 
es fragt sich, ob der von Hessel geforderte Ehrbegriff, dem dann Heinrich VII. 
entsprach, nicht ein stark romantischer, unstaatsmännisch-reaktionärer gewesen ist. 
Diese Frage wird dringend bei dem von Hessel wieder und wieder erhobenen Vor- 
wurf der reinen Territorialpolitik Albrechts, seiner angeblichen Gleichgültigkeit 
gegen die Ehre und die Interessen des Reiches. War nicht rücksichtslose Haus- 
machtpolitik das einzige Mittel, um auch dem Reiche wieder auf die Beine zu helfen ? 
Hätte nicht die Regierung von Söhnen und Enkeln vollenden können, was Albrecht 
nur beginnen konnte? Hessel hat sich solchen Fragen nicht verschlossen. ‚Welche 
Entwicklung hätte das deutsche Königtum nehmen können, wäre es dem zweiten 
Habsburger möglich gewesen, noch bei Lebzeiten einen seiner Söhne als Nachfolger 
im Reiche durchzusetzen ? In anderem Zusammenhange wurde auf die Schwächen 
und Nachteile der einseitigen Hausmachtbestrebungen Albrechts hingewiesen. 
Demgegenüber muß hier betont werden, daß diese Politik, von seinen Kindern 
und Enkeln konsequent fortgesetzt, ganz wohl zu ähnlichen, auch für Deutschland 
günstigen Ergebnissen hätte führen können wie hundert Jahre früher für die Herr- 
schaft der Kapetinger“ (S. 172). Und S. 227f. die Feststellung der Nachteile seiner 
Politik für das Reich, mit der anschließenden Frage: „Doch ist damit über den 
Habsburger das letzte Wort schon gesprochen ? Wir wissen, ihm eignete die staats- 
männische Fähigkeit des Wartens. Vielleicht harrte er nur des günstigen Augen- 
blicks, um die Territorialpolitik bis zur wahren Reichspolitik zu steigern.“ Wenn 
man aber dies erwägt, — und die nun folgenden tatsächlichen Ausführungen wider- 
legen die Annahme dieser Möglichkeit durchaus nicht —, dann haben die ganzen 
Vorwürfe wegen einseitiger Territorialpolitik keinen Sinn und keine Berechtigung 


398 Kritiken 


mehr. Es ist wahrlich nicht Albrechts Schuld, daß er im Alter von wenig mehr 
als fünfzig Jahren, nach knapp zehnjähriger Regierung über das Reich ermordet, 
daß ihm die weitere, aussichtsreiche und glänzende Tätigkeit abgeschnitten 
worden ist. 

Hessel hat 1922 einen Aufsatz über Albrecht I. veröffentlicht (Historische 
Blätter Band I, Wien 1921/22, S. 373—396), in dem viele der hier angezogenen 
Stellen schon mehr oder weniger wörtlich stehen, der die gleichen Grundzüge der 
Auffassung enthält. Aber die beiden hier zuletzt angeführten Stellen von (Buch) 
S. 172 und 227f. stehen im Aufsatz nicht oder sind mindestens um die wesentlichen 
Sätze hier vermehrt; man sieht deutlich, Hessel ist von früher schárferer Ver- 
urteilung Albrechts etwas zurückgekommen, ist bei genauerer Durcharbeitung des 
Materials nachdenklicher geworden. Aber er ist immer noch auf halbem Wege 
stehen geblieben, nicht zu restlos einheitlicher und anerkennender Auffassung, 
die ich für die einzig richtige halte, durchgedrungen. Sein Buch schlieBt mit den 
gleichen Versen Dantes wie sein Aufsatz. Dante als Mensch und Dichter in allen 
Ehren, aber als Politiker sollte man ihn nicht gegen einen wahren Staatsmann 
ersten Ranges wie Albrecht ausspielen, nicht glauben, einen Phantasten und 
Reichsverderber wie Heinrich VII. durch Berufung auf ihn schützen und stützen 
zu können. 

Im einzelnen nur wenige Bemerkungen. Peter Aspelt war nicht einfacher 
Leute Kind, ein einfacher Bürgersohn (S. 47, 136), sondern entstammte einem luxem- 
burgischen Dienstmannengeschlecht, wie neuestens E. Stengel, Avignon und Rhens 
S. 226—228 bewiesen hat. Zu Hessels absprechender Beurteilung Papst Clemens V. 
(S. 230) vgl. gleichfalls Stengel S. 10—18—35, doch wohl wesentlich richtiger. 
Kann man (Hessel S. 148) wirklich Otto IV. von Brandenburg als den eigentlichen 
Vertreter der Reichsgewalt in Norddeutschland bezeichnen? S. 50 wäre eine nähere 
Ausführung der umfangreichen Versprechungen an Wenzel II. im Text doch viel- 
leicht erwünscht gewesen. 

Abweichende Auffassungen im einzelnen, oft auch im ganzen, sind bei jedem 
historischen Gegenstand, jeder historischen Untersuchung möglich, vielleicht un- 
vermeidlich. Das kann nicht hindern, abschlieBend für Hessels Buch nochmals 
stark zu betonen, daB ein aussichtsreicher Weg zur Fortsetzung der „Jahrbücher“ 
in das spätere Mittelalter in verheißungsvoller Weise hier beschritten ist, daß die 
Ausführung dieses ersten vorgelegten Bandes fast restlos billigenswert und erfreulich 
ist. Nochmals: Vivant sequentes! 

Erlangen. B. Schmeidler. 


Aegidius Romanus, De ecclesiastica potestate, hrsg. von Richard Scholz. 
Weimar 1929, Hermann Bóhlaus Nachfolger. XIV u. 215 S. 

Aegidius Romanus ist eine sehr interessante literarische Erscheinung trots 
allen ermüdenden Wiederholungen in seinem großen Traktat De ecclesiastica 
potestate, der — wie der Verfasser selbst gesteht — eine compilatio ist und uns wohl 
noch mehr als solche erscheinen würde, würen uns seine Vorgünger vollstándiger 
bekannt. Die Zahl der Autoren, die er kennt und zitiert, ist groß. Man kann sie 
jetzt bequem überblicken dank den von Richard Scholz in seiner Ausgabe gemachten 
Zusammenstellungen (S. IX Anm. 5 u. S. 214); am häufigsten kommen Augustin, 
Aristoteles und Hugo von St. Viktor vor. Auffallen mag, daß Gregor VII. 


Kritiken 399 


weder genannt noch angeführt wird. Immerhin kommt Aegidius in Buch III, 
Kap. 4 (S. 163) einem Lieblingsgedanken dieses Papstes so nahe auch in der For- 
mulierung: „Qui spiritualia iudicat, multo magis potest temporalia et secularia 
iudicare" und führt dazu eine auch von jenem zu gleichem Zweck verwandte Bibel- 
stelle an, daB man einen wenigstens mittelbaren Zusammenhang annehmen móchte. 
(Vgl. Registrum VIII 21 ed. Caspar p. 550 und die dort genannten Parallelstellen 
IV 2, IV 23, VII 14a = p. 296, 338, 487). 

Der päpstliche Absolutismus ist selten einseitiger vertreten worden als von 
Aegidius. Dieser bringt es fertig, dem Papste sogar die Interpretation der welt- 
lichen Gesetze zuzuschreiben (S. 187) und an anderer Stelle zu folgern: soweit Ver- 
gehen, die sich auf weltliche Dinge beziehen, aus insipiencia hervorgehen, handelt 
es sich um geistliche Delikte, die in erster Linie vor das geistliche Gericht gehören 
(S. 180). Die einzige Schranke der souveränen Machtausübung des Papstes liegt 
darin, daß auch für ihn der Satz gilt: legis positivus debet esse legis observativus 
(S. 181 u. 190). 

Aegidius ist Theologe, polemisiert mehrfach gegen die Juristen und steht 
doch völlig im Bann jener Geisteshaltung, die alle Probleme juristisch sieht. Das 
geht so weit, daß er Daniel vom Feuer und von den Löwen an Gott appellieren läßt 
(S. 158f.). Sehr der Beachtung wert scheint mir, daB er nicht ius aequum und ius 
strictum unterscheidet, wie das seit dem hohen Mittelalter wieder geschah, 
sondern eine Dreiteilung in ius mite, ius equum und ius rigidum vornimmt, bei 
der das ius aequum natürlich das mit der Norm genau übereinstimmende Recht 
ist (S. 143f.). | 

Die ganze Gedankenwelt des Aegidius ist auch darum so bemerkenswert, 
weil die berühmten Formulierungen der Bulle Unam sanctam mit ihr bekanntlich 
in engem Zusammenhange stehen. Endlich sind die auffallenden Standpunkts- 
änderungen dieses Schriftstellers ein besonderes Problem. Darüber mag man in 
den neueren Büchern von Jean Riviére und Alois Dempf nachlesen, vor allem 
aber in dem grundlegenden und noch immer unentbehrlichen Buche von 
Richard Scholz selbst über „Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und 
Bonifaz VIII“. 

Die vorliegende Ausgabe von De potestate ecclesiastica ist eine sehr dankens- 
werte Leistung des um die Geschichte dieses Zeitalters schon überaus verdienten 
Herausgebers. Sie wird künftig allein zu benutzen sein, nicht mehr ihre verunglückte 
Vorgängerin von Boffito und Oxilia (Florenz 1908). Von den 7 Handschriften, 
die es gibt, liegen ihr die vier allein in Frage kommenden zugrunde, es sind sogar 
von allen diesen Handschriften die Seitenanfänge gewissenhaft vermerkt. Zu 
kritischen Ausstellungen besteht kein Anlaß. Nur um die Benutzung zu erleichtern, 
merken wir Folgendes an: S. 14 umfaßt das Bibelzitat aus Hebr. 7 nur eine Zeile, 
während 3 kursiv gedruckt sind. Umgekehrt müßten S. 72 Zeile 14 v. o. die Worte 
von quod masculus bis populo suo kursiv gedruckt sein. S. 84 in dem Zitat im 3. Ab- 
satz muB es heißen promptior statt promotior. Dem Sach- und Wortregister könnte 
Man noch hinzufügen die vier Stellen, wo der Augustinische Begriff der latrocinia 
für Reiche, in denen keine Gerechtigkeit waltet, gebraucht wird: S. 15, 149, 154, 201 
und die zwei sonderbaren Adjectiva incensivus (S. 94) und subcensivus (S. 95) für 
anspflichtig. 


Paul Kirn. 


400 Kritiken 


Otto Scheel, Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation. 3. und 
4. Aufl. Bd. 1, 1921, VIII, 340 S., Bd. II, 1930, XII, 694 S., gr. 8°. Tübing -, 
J. C. B. Mohr!. 

Derselbe, Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519). Sammlung aus- 
gewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften, hsg. ‚on 
G. Krüger, N. F. 2., 2. neubearb. Aufl. Tübingen (J. C. B. Mohr) 1929, XII. 
364 8. 

Die Problematik der Erforschung der Anfünge Luthers liegt darin, daB es so 
gut wie ganz an direkten Zeugnissen aus der Zeit bis 1512 fehlt. Erst mit der großen 
Psalmenvorlesung von 1513/15 setzt der breite Strom der Überlieferung ein, der 
nicht mehr versiegen sollte. Das bedeutet aber, daB wir für die entscheidende Zeit 
seines Lebens, in der sich seine Persönlichkeit formte, ohne zuverlässige Nachrichten 
sind. Was wir trotzdem von dieser Zeit wissen, ist nicht wenig und geht auf den 
Reformator selbst zurück, der in Predigten, Tischgesprüchen, Briefen und Schriften 
gern auf die Vergangenheit zu sprechen kam. AuBerdem haben Persónlichkeiten, 
die ihm im Leben nahe gestanden haben, allen voran der ihm engst verbundene 
Melanchthon, Lebensbeschreibungen irgend welcher Art von ihm hinterlassen, 
deren Angaben um so leichter Glauben finden mußten, als sie durch die Persönlich- 
keit ihrer Urheber und die Kenntnis von ihrem vertrauten Umgang mit Luther 
gestützt wurden. So ist allmáhlich ein Lutherbild entstanden, das schlieBlich inner- 
halb des Protestantismus von Generation zu Generation weitergegeben wurde, 
ohne jemals einer kritischen Überprüfung unterworfen zu werden. 

Grundsätzlich in Frage gestellt wurde es zum ersten Male durch Denifles 
„Luther und Luthertum“, der seine neue Auffassung immerhin mit so vielen Gründen 
belegte, daB eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion einsetzte, die die wertvollsten 
Ergebnisse für die Forschung zeitigte und heute noch keineswegs abgeschlossen ist. 
In diesen oft sehr temperamentvollen und scharf polemischen Auseinandersetzungen 
wurde manche Nachricht der Biographen, aber auch manche auf Luther selbst 
zurückgehende Angabe als nicht zutreffend erwiesen. Aber dabei blieb man doch 
meist beim singulären Einzelfall stehen, und ohne grundsätzliche quellenkritische 
Untersuchungen auf das Ganze der Überlieferung anzustellen, beschránkte man 
sich in der Regel darauf, die einzelnen Angaben mit den erreichbaren, denselben 
Vorfall betreffenden Quellenstellen in Zusammenhang zu bringen und auf ihre 
innere Wahrscheinlichkeit hin zu prüfen. 

Von dieser ganzen Literatur scheiden sich die Untersuchungen Scheels grund- 
sätzlich nach Ausgangspunkt und Methode. Nicht mehr die spärlichen Quellen- 
nachrichten mit ihrer schwankenden Zuverlässigkeit bilden das Fundament, sondern 
in Verbreiterung der Quellenbasis wird die gesamte Umwelt Luthers in die Be- 
trachtung einbezogen, vor allem diejenigen überpersönlichen Zusammenhänge 
und gesellschaftlichen Bildungen, denen Luther eingegliedert war und die an der 
Formung seiner Persónlichkeit beteiligt gewesen sind. 

Die Eigentümlichkeit der Methode Scheels zeigt sich gleich zu Beginn der 
Untersuchung, die sich der Familie und der háuslichen Umwelt zuwendet; gleich 
hier wird einer Legende ein Ende bereitet, die sentimental-andächtiger Luther- 


l pa eine Besprechung dieser für die Lutherforschung wichtigen Untersuchungen l 


bei Erscheinen der ersten Auflage nicht erfolgen konnte, nehmen wir die Neuauflage des 
zweiten Bandes zum Anlaß, das ganze Werk ausführlicher zu würdigen. | 


4 Kritiken 401 


betrachtung das Relief gegeben hat — der von der großen Armut und Dürftigkeit 
de., Lutherschen Elternhauses. Aus Akten und Urkunden der Städte Eisleben und 
Mausfeld wird der äußere Rahmen wiederhergestellt, in dem sich das Leben der 
Fame, abgespielt hat. GewiB war der Zuschnitt knapp und äußerst einfach, aber 
: das’war nicht die Dürftigkeit eines Hausstandes der untersten Volksschichten, 
- sendern die weise Selbstbeschränkung eines aufstrebenden Geschlechts, das alle 
Kräfte zusammennahm, um vorwärts zu kommen. Schon 1491 war der Vater Luther 
. einer der Vierherren, die die Rechte der Bürgerschaft dem Rat gegenüber zu ver- 
- treten hatten; 1502 ist er als Eigentümer eines Hauses in der Hauptstraße nachzu- 
- weisen; das Studium seines Sohnes Martin in Erfurt konnte er bestreiten, ohne die 
. leicht zu erlangenden Benefizien und Stundungen in Anspruch zu nehmen; 1507 
- begegnet er als Pächter eines im selben Jahre noch erweiterten Hüttenunternehmens 
. von 500 Gulden jährlicher Pachtsumme, daneben war er noch am Abbau von Schäch- 
— ten beteiligt, was doch im ganzen das Bild eines vorwürtsstrebenden Unternehmers 
ergibt, dessen wirtschaftlicher Lage es wohl entsprach, wenn er mit 20 Pferden zur 
- Primiz seines Sohnes kam und dabei das ansehnliche Geschenk von 20 Gulden 
. machte. Eine genaue Prüfung der späteren Äußerungen des Reformators ergibt, 
daß keine von ihnen diesem aus anderen Quellen gewonnenen Bilde widerspricht, 
die Züge der Armut und Dürftigkeit sind ihm erst von der späteren Mythenbildung 
- eingefügt worden. 
c Die gleiche Methode verfolgt Scheel auch sonst: erst wird aus allgemeinen 
Quellen ein deutlich klares Bild des Lebenskreises entworfen, in dem Luther ge- 
-* standen hat; dann werden die besonderen Angaben Luthers und seiner Mittels- 
.. personen an diesen einwandfrei festgestellten Tatbeständen gemessen und ausge- 
geschieden, was an ihnen von vornherein unmöglich ist, weil es mit den tatsächlichen 
„Verhältnissen nicht in Einklang zu bringen ist. Zu erklären sind diese Entstellungen 
leicht. Sie finden sich in denjenigen Quellen, deren Wortlaut nicht auf Luther 
selbst zurückgeht, und sind da besonders groß, wo es sich um Institutionen handelt, 
is die durch die Reformation beseitigt oder so stark umgebildet worden sind, dab 
xà Zuhörer, Nachschreiber oder Verarbeiter keine rechte Vorstellung mehr von den 
1 Dingen und Verhältnissen hatten, von denen Luther sprach, und deshalb das Fehlende 
„e aus ihrer Phantasie zu ergänzen gezwungen waren, wobei es ohne starke Verzeich- 
„nungen nicht abgehen konnte. So findet sich bei Scheel eine grundsätzliche Prüfung 
des Quellenwertes der einzelnen Überlieferungsgruppen; zu bedauern ist, daß sie 
-. sich über sein Lutherwerk zerstreut vorfinden, wie es das Fortschreiten der Dar- 
;. stellung mit sich bringt, und daher der leichten Zugänglichkeit ermangeln, die man 
im Interesse der Forschung gern sähe, etwa in Zusammenfassung zu Kapiteln 
‚» quellenkritischer Art oder in besonderer Behandlung überhaupt. Vielleicht hätte 
,; bei diesen Untersuchungen die psychologische Bedingtheit der einwandfrei "iber- 
„lieferten Äußerungen des alternden Luther noch schärfer herausgehoben werden 
können, als es geschehen ist. 
Auf diese Weise weitet sich die Lebensgeschichte des jungen Luther zu einer 
„ Behandlung aller Institutionen um die Wende des 15./16. Jahrhundert, die be- 
5 stimmend auf seinen Entwicklungsgang eingewirkt haben; wir erhalten, dem Zweck 
und Gang der Untersuchung entsprechend, eine eingehende Darstellung des ge- 
^ samten Bildungswesens jener Zeit: von den Trivial-, den Stadt- und Domschulen, 
den Unterrichtseinrichtungen der Brüder vom gemeinsamen Leben bis zur spät- 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 26 


E 


402 Kritiken 


mittelalterlichen Universität in Einrichtung und Lehrplänen. Gerade auf die 
letzteren ist besonderes Gewicht gelegt worden, da es ja Ziel der Untersuchung 
ist, die Einflüsse aufzuzeigen, unter denen Luthers geistiges Werden gestanden hat. 
Es ist im höchsten Grade beachtenswert, wie viel an Erkenntnissen für die Frühzeit 
Luthers gewonnen wird durch die Verknüpfung dieses allgemeinen Rahmens des 
akademischen Unterrichts mit den Vorlesungen, die er hörte, und den Büchern der 
Alten (Aristoteles!), die er lesen und interpretieren lernen mußte, mit den wenigen 
sicher überlieferten Zeugnissen jener Jahre. 

Mit dem Eintritt Luthers in den geistlichen Stand wachsen die Schwierigkeiten, 
wächst aber auch der Reiz der Aufgabe, die Scheel sich gestellt hat. Der weitaus 
größere Umfang des zweiten Bandes legt davon Zeugnis ab. Zu dem Aufbau der 
mehr äußeren Organisation kommt als Neues hinzu die Bestimmung der eigen- 
tümlichen geistigen Atmosphäre, die Luther von nun an umgab, in innerer Ent- 
gegensetzung zu der sich sein eigenwüchsiges inneres Leben formte, die die seelischen 
Spannungen schuf, die sich dann in einem neuen Typ der Frömmigkeit lösten. Über 
die Rekonstruktion der Institutionen und Ordnungen der Augustiner-Eremiten, 
über die genaue Feststellung des Lebens und der Schicksale Luthers in die- 
ser Gemeinschaft, über die sorgsamste Durchleuchtung des Lehrbetriebes der 
theologischen Fakultät hinaus galt es jetzt zu zeigen, in welcher Erscheinungsform 
die damals keineswegs so einheitliche Kirche der werdenden religiösen Persönlichkeit 
Luthers entgegentrat. Hier wird nun die von Scheel befolgte Methode fruchtbar, 
indem sie in genauester Analyse alle die Faktoren untersucht, die die geistige Phy- 
siognomie der eng verbundenen Dreiheit: Kloster, Generalstudium und Universität 
bestimmten, aufgebaut auf der Grundlage der mehr als 1000jährigen Entwicklung 
der Kirche und des Dogmas. | 

Weil es nun für diese Zeit an primären Quellen so gut wie ganz fehlt und die 
sekundären nur mit größter Vorsicht zu brauchen sind, konnte es nicht ausbleiben, 
daß die weltanschaulichen Voraussetzungen von seiten des Autors von größter 
Bedeutung für das entworfene Lutherbild wurden, zum mindesten so weit dieses mit 
den Zügen des Außerordentlichen ausgestattet wurde. So finden sich von der Hinein- 
projizierung der reformatorischen Haltung oder wenigstens des Bewußtseins der 
reformatorischen Sendung bis zu dem Zerrbild einer allenfalls durch Anomalitäten 
des Geistes und der Veranlagung zu erklärenden abgrundtiefen Bosheit und Ver- 
ruchtheit in stufenweisem Übergang alle Möglichkeiten der Deutung, und ganz 
„wissenschaftlich“ dünkt man sich zu verfahren, wenn man auf einem so unzu- 
länglichem Material das Krankheitsbild eines pathologischen, mit einem krankhaft 
. überreizten Nervensystem ausgestatteten Menschen zeichnete. 

Alle derartigen Erklärungsversuche lehnt Scheel ab. Sehr mit Recht, denn nichts 
in den Quellen, wenn man sie nur mit der nötigen Sorgfalt und Sachkunde inter- 
pretiert, gibt Anlaß zu der Annahme, daß sich Luther schon damals grundsätzlich 
in seinem geistigen und religiösen Leben von seiner Umgebung abgehoben hätte. 
Wollte er aber auf diesem Gebiet, das wie wenig andere die Geister scheidet und die 
Leidenschaft und Unduldsamkeit des konfessionellen Kampfes auf den Plan ruft, 
nicht neben die schon vorhandenen Anschauungen eine neue setzen, die dieselben 
Angriffsflächen bot wie jene, so mußte er von seinem grundsätzlich neuen Standpunkt 
aus in den Fragen auf den Grund gehenden Untersuchungen den letzten Gründen 
der abwegigen Lutherauffassungen nachspüren, und durch Aufweisung der in ihnen 


Kritiken 403 


liegenden Fehler ihre Unhaltbarkeit dartun. Ist so auf weite Partien ein polemischer 
Zug in das Werk Scheels gekommen, so liegt das also in der gestellten Aufgabe 
selbst begründet. Aber das ist keine unfruchtbare, rechthaberische Polemik, es werden 
vielmehr in diesen auf einer immensen Gelehrsamkeit beruhenden Auseinander- 
setzungen die unanfechtbaren wissenschaftlichen Fundamente errichtet für das 
protestantische Lutherbild. Leider hat aber unter diesem Bestreben nach viel- 
seitiger Grundlegung und Unterbauung die Lesbarkeit nicht wenig gelitten, und man 
möchte wünschen, daß diesem Denkmal gründlichen Gelehrtenfleißes eine kürzere 
Darstellung zur Seite träte, die in stärkerer Hervorhebung der Grundlinien die Züge 
des Lutherbildes klarer und deutlicher hervortreten ließe. 

Eines wird man, so weit nicht Voreingenommenheit von irgend einer Seite den 
Blick trübt, Scheel und seinem Werk zuerkennen müssen: alles was bei den Schwierig- 
keiten der Quellenüberlieferung überhaupt nachweisbar ist, dürfte hier im wesent- 
lichen richtig gesehen und gezeichnet sein. Dahin gehört vor allen Dingen die Ab- 
lehnung aller Versuche, die originale religiöse Leistung Luthers möglichst weit 
in sein Leben hinaufzudatieren. Was psychologische Besinnung allein schon 
wahrscheinlich macht, wird hier unanfechtbar bewiesen: in seinem ganzen Ent- 
wicklungsgang vom Eintritt in den Orden, über Profeß, Priesterwürde, akademische 
Laufbahn bis zur biblischen Professur fehlt jedes Moment des Außergewöhnlichen, 
aus dem Rahmen des Herkömmlichen Herausfallenden. Was ihn von seinen Kloster- 
brüdern schied, seine spätere eigenartige Stellung in der Welt des Glaubenslebens 
andeutend, war tief in seinem Inneren verschlossen, vollzog sich in einer ganz all- 
mählichen inneren Auseinandersetzung mit dem Ziel gerade des völligen Hinein- 
wachsens, innerlich und äußerlich, in den Organismus der Kirche. In keiner der er- 
haltenen Nachrichten, weder in den Randbemerkungen zu den Sentenzen des Petrus 
Lombardus noch in der Betonung des Schriftprinzips, zeigt Luther sich anders als 
auf den Wegen der schulgerechten Spätscholastik, weder in der Lehre vom freien 
Willen, deren Verwerfung später ein Angelpunkt seiner theologischen Lehrmeinungen 
war, noch in der Frage der Buße hat er andere Auffassungen vertreten, als es in 
seiner Schule üblich war. 

Die Hinwendung zu dem spezifisch Neuen vollzog sich in einer ganz anderen 
Ebene des persönlichen Lebens, der rückschauenden verstehenden Deutung stellt 
sie sich dar als eine allmählich sich vollziehende Bereitung des seelischen Bodens, 
die ihn in der Stille so umschuf, daß in einer Stunde der Begnadung das alles er- 
fassende und durchdringende Feuer angefacht werden konnte. Wie dieses ge- 
schehen, dieses wichtigste Problem der initia Lutheri findet bei Scheel eine aus- 
giebige Behandlung, die zugleich den Schluß des Werkes bildet, denn von nun an 
fließen die Quellen für die innere und äußere Geschichte Luthers reichlicher und 
bedürfen nicht mehr so fein geschliffener und wohlabgewogener Methoden zu ihrer 
sinnvollen Erschließung. 

Wenn heute in die Anschauungen über die Entdeckung des Evangeliums eine 
größere Übereinstimmung gekommen ist, so ist das nicht zuletzt der 1. Auflage 
des Scheelschen Lutherwerkes zu danken, das z. B. für die wichtige Frage des Zeit- 
punktes anfängliche Divergenzen in der Ansetzung von nicht weniger als rund 
12 Jahren unmöglich gemacht und in der Festlegung des Oktobers 1512 (Doktor- 
promotion) als des Terminus a quo und des Sommers 1513 als des Terminus ad 
quem die Forschung auf einen engen Zeitraum verwiesen hat. Leider hat sich nun 

26 * 


404 Kritiken 


Scheel in der vorliegenden Auflage durch inzwischen erschienene Arbeiten zu einer 
Verwässerung seines Standpunktes bestimmen lassen, die in den Quellen nicht 
begründet erscheint. Wenn Scheel die Äußerung Luthers, ihm sei der Heilsweg des 
Evangeliums noch unbekannt gewesen, als er Doktor wurde, für die Datierung aus- 
scheiden möchte, so dürfte hierin ein Übermaß an kritischer Haltung zum Ausdruck 
kommen. Der Ausspruch ist zwar durch den nicht immer zuverlässigen Rörer 
überliefert, aber inhaltlich so eindeutig, daß Verwechslung und Irrtum kaum möglich 
erscheint, auch ist die Überlieferung derart, daß diese Stelle anzweifeln den Quellen- 
wert Rörers überhaupt in Frage stellen hieße. Auch eine Erinnerungstrübung bei 
Luther anzunehmen, wie eine Wendung bei Scheel S. 571 nahelegt, liegt kein hin- 
reichender Grund vor. Beide Ereignisse, die Übertragung der biblischen Professur 
und das Aufgehen seiner neuen Erkenntnis, waren für Luther von so fundamentaler 
Bedeutung, daß er wohl für die ganze Zeit seines Lebens eine deutliche Vorstellung 
über Gleich- oder Vorzeitigkeit beider bewahrt haben dürfte. So scheint mir keinerlei 
Grund zu bestehen, die Predigtäußerung Luthers für die Datierungsfrage zu ent- 
werten. 

Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus ad quem. Auch hier ist es durchaus 
möglich, zu genaueren Bestimmungen vorzudringen. Daß dies in engstem Zu- 

sammenhang mit den Problemen der ersten Psalmenvorlesung steht, hat Scheel 
sehr mit Recht ausgesprochen. Aber leider hat er sich hier wieder durch neuere 
Erscheinungen von der in der 1. Auflage ausgesprochenen Anschauung, daß die 
neue Erkenntnis bereits in den Scholien zu Psalm 1 enthalten ist, abbringen lassen. 
Gerade die, übrigens von Scheel selbst zitierte Akademieabhandlung Heinrich Böh- 
mers über „Luthers erste Vorlesung‘ zeigt doch mit aller Deutlichkeit, daB nur ein 
Teil der Scholien zum ersten Psalm der Umarbeitung für den Druck vom Jahre 1516 
angehört, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil aber mit Sicherheit bereits 1513 im 
Zusammenhang der Vorbereitungen für die Vorlesung entstanden ist, und es ist 
mehr als wahrscheinlich, daß gerade in diesen Partien die neue Erkenntnis mit 
aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen ist. Bei der Eigenart der Über- 
lieferung wird nur eine eindringende Untersuchung, die auf die Handschrift zurück- 
geht. in diesem Punkte weitere Klärung geben können. 

Immerhin zeigt das Werk Scheels, daB auch bei der fast hoffnungslos zerrütteten 
Quellenüberlieferung für die Geschichte des jungen Luther, was mehr die äußeren Daten 
seiner Entwicklung angeht, sehr wohl gesicherte Ergebnisse erzielt werden können. 
Auch über die dogmatischen Formen, in denen sich seine innere Entwicklung voll- 
zogen hat, ist eine Einigung nicht unmöglich, Scheel selbst dürfte Wesentliches zu 
ihr beigetragen haben. Aber ist nun durch ihn die Gestalt des werdenden Reformators 
so in ihren Grundzügen festgelegt, daB der wissenschaftliche Streit um ihn ver- 
stummen müßte, daß nur Übelwollen und Rechthaberei noch an eigener Linien- 
führung festhalten kónnten? Dies zu hoffen steht nur dem frei, der so wenig in das 
Wesen geistesgeschichtlicher Forschung eingedrungen ist, daB ihm die grundsätzliche 
Bedeutung der weltanschaulichen Faktoren für die wissenschaftliche Erkenntnis 
verborgen bleiben konnte. Es würde sogar die weitergehende Frage zu verneinen sein, 
ob überhaupt eine allgemein gültige Verstándigung über eine Persónlichkeit wie 
Luther im Bereich der Möglichkeit liegt; daß z. B. ein gläubiger Katholik selbst bei 
vorurteilsfreier Auswertung der Quellen, an der es die katholische Forschung zu 
ihrem eigenen Schaden nur zu sehr hat fehlen lassen, infolge der Voraussetzungen, 


Kritiken 405 


die sich aus dem Standpunkt der Kirche für ihn ergeben, zu Wertungen kommen 
muß, die ein wesentlich anderes Gesamtbild zur Folge haben, ist ohne weiteres 
deutlich. Aber es gibt ja auch noch andere weltanschauliche Standpunkte, denen 
man es nicht verwehren kann, mit der Frage an die Quellen heranzugehen, was denn, 
abgesehen von den dogmatischen Formen, in denen Luthers Seelenleben seinen 
Ausdruck gefunden hat, an originären psychischen Erfahrungen hinter allen diesen 
Formulierungen gestanden hat, Auffassungen, die sich nicht dabei beruhigen können, 
die Formen des christlichen Glaubenslebens mit ihrer Gotteserfahrung für schlechthin 
letzte Gegebenheiten anzusehen, sondern denen auch die verschiedenen Konfessionen 
mit ihren Differenzierungen nur verschiedene Ausdrucksformen eines hinter ihnen 
stehenden psychischen Seins sind und für die die schwersten Probleme jetzt erst 
anheben. Hiermit soll jedoch nur angedeutet werden, daß bei aller Vortrefflichkeit 
des Scheelschen Lutherbuches dieses keineswegs einen Abschluß der Lutherforschung 
zu bedeuten braucht, für alle, die auf dem Boden des Protestantismus stehen, dürfte 
es allerdings neben der Grundauffassung auch weitaus die meisten Fragen in ab- 
schließendem Sinne einer Lösung zugeführt haben. 


Alle, denen an der Gewinnung einer vorurteilsfreien, kritisch gegründeten 
Lutheranschauung gelegen ist, werden es begrüßen, daß geringe Zeit zuvor die zweite 
Auflage der Dokumente erschienen ist. Scheel verwahrt sich zwar dagegen, sie mit 
der Lutherbiographie derart in Verbindung zu bringen, als ob sie die Belege für seine 
Lutherauffassung enthielten, eine Anschauung, die sich schon durch den Vergleich 
des Erscheinungsjahres der ersten Auflagen beider Werke als irrig erweist. Er wird 
es aber nicht verhindern können, daß sich jeder, dem nicht die Weimarer Ausgabe, 
geschweige denn die an zerstreuter Stelle abgedruckten Stücke, zugänglich sind, 
sich freuen wird, hier eine einzig dastehende Sammlung der wichtigsten Quellen- 
stellen zur Entwicklung Luthers zu haben. In der Anordnung der mitgeteilten 
Quellenstücke ist eine Zweiteilung vorgenommen in Rückblicke und Zeugnisse. 
Erstere sind eine Zusammenstellung aller Rückerinnerungen des Reformators an die 
Zeit bis 1519, besonders dankenswert ist hierbei die bequeme Zugänglichmachung 
der in der Forschung viel erörterten Praefatio der Gesamtausgabe von 1545 und 
eine Wiedergabe der verschiedenen Berichte von anderen über Luthers Entwicklung, 
wie von Melanchthon, Cochläus, Oldecop, Ratzeberger, Mathesius u.a.m. Die 
zweite Abteilung Zeugnisse enthält eine Sammlung aller für Luthers Entwicklung 
charakteristischen Partien seiner Werke und Briefe bis 1519, aus der Frühzeit 
besonders dankenswert durch den Wiederabdruck der Randbemerkungen zum Petrus 
Lombardus aus W.A.IX, ferner Auszüge aus der ersten und zweiten Psalmen- 
vorlesung, den Vorlesungen über den Römer- und Galaterbrief, aus Predigten und 
Briefen der Jahre 1501—1519 enthaltend. In beiden Teilen ist die Reihenfolge 
unter Verzicht auf systematische Ordnung streng chronologisch nach der Ent- 
stehungszeit geordnet, an kritischen Bemerkungen sind in der Regel, um dem eigenen 
Urteil des Benützers nicht vorzugreifen, nur die der betreffenden Ausgabe angeführt. 
Ein Orts- und Namensverzeichnis, sowie ein Sachregister erhöhen die Benützbarkeit 
der Sammlung; hervorzuheben wäre noch das beigegebene Literaturverzeichnis, 
das zwar auf irgendeine Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, aber doch in 
145 Nummern eine Fülle von Literatur zusammenträgt. Zu bedauern bleibt jedoch, 
daß die Vorrede zur ersten Auflage, in der der Herausgeber sich über das Grund- 


406 Kritiken 


sätzliche von Auswahl und Anordnung ausgesprochen hatte, nicht wieder — wohl 
wegen der Gespanntheit der wirtschaftlichen Lage — abgedruckt worden ist. 
H. Wendorf. 


Fritz Jaffé, Zwischen Deutschland und Frankreich. Zur elsássischen Ent- 
wicklung. 1931. Cotta. 4138. 

Der Verlust Elsaß-Lothringens, die Haltung seiner Menschen drängt die Frage 
nach ihrer seelischen Verfassung und ihrer seelischen Entwicklung auf. Daß das 
Volkstum in seinen natürlichen Lebensäußerungen deutsch ist, dem kann sich auch 
Frankreich — widerwillig — nicht verschließen. Andererseits aber.ist doch auch auf 
Grund der alten Ost-Westspannung zwischen Deutschland und Frankreich im Elsaß 
eine Bewußtseinswelt entstanden, die das Elsaß sich auch Neudeutschland gegen- 
über hat irgendwie verschließen lassen. Wie hat das so werden können, so frägt 
der Historiker, der das elsässische Problem meistern will. 

Fr. Jaffé sucht die Antwort auf die Frage zu geben. Das Buch ist glänzend 
geschrieben und birgt eine Fülle bestechender Formulierungen. Wie so vielen ist 
auch Jaffé das Elsaß zum Erlebnis geworden, das ihn nicht losgelassen hat; es hat 
ihn gezwungen, sich Rechenschaft sowohl über das französische wie über das deutsche 
Kraftfeld zu geben und dabei sich nicht nur über das politische Geschehen, sondern 
auch über die kulturellen Ströme und soziologischen Antriebe Klarheit zu ver- 
schaffen, die ins Elsaß hineinwirkten. 

Hauptstück im Buche ist der Abschnitt von 1648—1870. Den Rahmen bildet 
natürlich der äußere Verlauf der Geschichte. Er wird aber nur soweit herangezogen, 
als es für die Darstellung derjenigen Momente nötig ist, „deren Kräftespiel jeweils 
Einstellung und Veränderung entsprungen sind". Ziel ist Darstellung und Be- 
gründung „der Willensrichtung und der seelischen Haltung" (S. 3). Dabei ergibt 
sich als Richtlinie, daß während der altmonarchischen Periode die politischen, 
während der Umwälzung die sozialen, von dann erst die seelischen Momente 
im Vordergrund zu stehen haben. Und in der Tat: Bis 1789 ist es die politische 
Herrschaft des Bourbonentums, die den Boden bereitet, sich einnistet, be- 
fiehlt und ordnet und sich mächtig neben das Alte setzt, es aushöhlend und sich 
selber eindrucksvoll empfehlend, so daß an die Stelle der Ferne zwischen einander 
in den Anfangszeiten langsam die Gewöhnung aneinander tritt. Sodann aber ist 
es der Prozeß der soziologischen Umwälzung, der den mittelalterlichen 
Gesellschaftskörper des Elsasses gleich dem Innerfrankreichs im Revolutionszeit- 
alter ergreift und aus den Ruinen die einheitliche société frangaise erstehen läßt, 
deren Oberschicht nunmehr die neue, den Prinzipien der französischen Revolution 
ergebene, völlig individualisierte Bourgeoisie ist. Aber noch ist die deutsche Seelen- 
haftigkeit des Elsass es da, sich an die Landschaft klammernd, sich in Sprache, 
Sitte, Haltung äußernd. Hier bleiben die Grenzen bestehen. Die Entfremdung von 
der deutschen Welt war Frankreich, so formuliert Jaffé, ‚in erster Linie dem Willen 
gegenüber gelungen, dem politischen Willen n&mlich, der sich mit dem Fremdstaat 
abgefunden und seine in der Revolution geborenen Grundsätze sich zu eigen gemacht 
hatte. Es war in beschränktem Maße auch schon dem Geiste gegenüber gelungen, 
setzt man Geist gleich Bildung, insofern als die Bildung im klassenmáBig hóheren 
Sinne westlichem Ideal und franzósischer Doktrin hórig wurden. Aber die in den 
Tiefen des Volkstums wurzelnde Seele blieb deutsch, beirrt wohl, gedrückt und ge- 


Kritiken 407 


blendet ... Den Franzosen war der Sieg über das Bewußte gelungen, das neue 
Richtung erhielt, das Unbewußte, Unterbewußte, das durch inneres, stilles Gesetz 
unabänderlich Bestimmte widerstand ihrer Macht“ (S. 240). Wie sich „, bedrückt“, 
„beirrt“, „geblendet‘‘ die deutsche Seele im 19. Jahrhundert behauptet, das wird 
in dem eindrucksvollen Abschnitt geschildert, der „Kulturelle Ergebnisse'' 
überschrieben, die Seiten 243—318 einnimmt. Frankreich umklammert so in diesem 
Zeitraum die elsässische Seele immer mehr; das Ergebnis aber, zu dem Jaffé kommt, 
ist, daß der Zugriff des modernen Nationalstaates natürliche Anlagen erstickt hat, 
ohne aber Neues wecken zu können (S. 246). Und dennoch die Hingabe an Frank- 
reich, auf die wir schon 1815, vor allem aber dann 1870 stießen! Die Antwort, die 
Jaffé gibt, liegt verführerisch nahe: „Das Franzosentum war wie es war, es war als 
Macht einfach anwesend, ohne sich darüber hinaus sonderlich Mühe zu geben, 
Herzen zu gewinnen oder psychologische Schwierigkeiten zu beheben: die Tatsache 
der Anwesenheit genügte, die Stimmung zu schaffen, auf die wir nach dem Frank- 
furter Frieden stießen ..... Wir müssen zugeben, daß es den Franzosen gelungen 
war, in einem auf gewaltsame Weise genommenen deutschen Lande durch ihr Wesen 
sich Affektionswerte zu schaffen ..... Fremde Herren schmeicheln sich dem Herzen 
einer deutschen Landschaft ein, Herren mit weichen Samtpfötchen, die aber immer 
bereit sind, wenn es nottut — jedoch eben nur dann, recht tüchtige Krallen zu weisen. 
Es ist etwas GroBes um diesen instinkthaften und zugleich durchdachten, diesen 
konsequenten und zugleich lautlosen Penetrationswillen, und schlieBlich wirken 
hier alle guten Eigenschaften der so widerspruchsvollen und zugleich so einheitlich 
klaren Nation zusammen" (S. 315). — Aber Jafíé scheint mir da des Guten zu viel 
zu tun. Das Elsässertum hat trotz allem bis zum Schlusse in das Wort „Welsch“ 
recht wenig Hochachtung hineingelegt. GewiB, Frankreich hat in jenen Zeitläuften 
eine große Anziehungskraft besessen, aber die Hinwendung zu ihm, dem zivili- 
satorisch und machtpolitisch führenden, ist doch in hohem Maße auch eine An- 
gelegenheit des Interesses der betreffenden Persönlichkeiten und Schichten. Ganz 
kraß gesagt: Frankreich hatte auf die Dauer einfach mehr zu bieten. Wie hätte 
man sich zu dem politisch, national, ökonomisch, sozial unförmigen Deutschland 
zurückwünschen sollen ? Man darf den Vorgang nicht zu mystisch erscheinen lassen. 
Tatsache ist, daß das Elsaß 1870 willens- und gefühlsmäßig Frankreich zu- 
gewandt war. Den Prozeß, der dahin führte, psychologisch zu fassen, ist eine bedeut- 
same Aufgabe. Psychologische Deutung ist aber immer ein gefährliches Unterfangen. 
Wie leicht drängt sich subjektives Räsonnieren ein, wie leicht entschlägt sich die 
subjektive Schau des Beweises. Und das Elsaß schillert in vielen Farben! Immer 
ist vieles zugleich im Elsaß. Kein Wunder, daß auch Jaffes Buch in vielen Farben 
schillert, ja gelegentlich sogar recht widerspruchsvoll erscheint. Da hätte doch viel- 
leicht manches auf einen einheitlicheren Nenner gebracht werden können. Warum 
hat der Verfasser übrigens für den Zeitraum vor der französischen Revolution 
nicht neben Reuß, Spahn und Stählin auch Rudolf Wackernagels, des Baslers, aus- 
gezeichnete Geschichte des Elsasses herangezogen? Aber wie alledem auch sein 
mag, aufs ganze gesehen, besteht Jaffés Buch; es zeugt von einem Einfühlungs- 
vermögen seltener Art. Vielleicht mußte das Leid des Verlustes kommen, ehe dies 
so möglich ward. — 
Der neudeutschen Zeit ist nur ein kurzer Abschnitt gewidmet. Der Ver- 
fasser erklärt selbst, daß die Zeit zu abschließendem Urteil noch nicht reif sei; er 


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wolle nur einige Gedanken ohne Anspruch auf absolute Gültigkeit aussprechen. 
Auch dies ist ein gefährliches Unterfangen. Allzuleicht wird unter dem Eindruck 
des äußeren MiBerfolges geurteilt. Allzuleicht spricht man vom Versagen des Reichs. 
Allzuleicht spricht man ein Schuldig aus und läuft dabei Gefahr, die stille Arbeit 
und die große Leistung, die drauf und dran waren, ihren Lohn zu finden, gering ein- 
zuschätzen. Und auch Jaffe kritisiert scharf, aber es ist immerhin ein Versuch zu 
positiver Kritik, hervorgewachsen aus einem grundsätzlichen Wandel der volks- 
politischen Einstellung. Wie so viele aus der Kriegsgeneration ist Jaffé Großdeutscher, 
Volksdeutscher geworden. „Dem Elsaß gegenüber fehlte im neuen Reich die weiche 
und doch Gehorsam heischende Stimme des alten Österreich, die Musikalität seiner 
Landschaft, die sanft einordnende Routine seiner vornehmen Diplomatie und Be- 
amtenschaft." Und in der Tat: Das neue Deutschtum war politisch und gesell- 
schaftlich nach anderen Prinzipien geformt wie das alte, zu dem einst auch das Elsaß 
gehórt hatte, aber auch wie das ElsaB der nachrevolutionüren Zeit. ,,Vielleicht 
liegt im Mißglücken der großdeutschen Bewegung, in der Entwicklung, die nach 
Königgrätz führte, die neue deutsche Tragik vorbeschlossen“ (S. 322). Jaffe zeigt 
das Unzulängliche der staatsrechtlichen Lösung vom Jahre 1871, wobei wie im 
ganzen Buch das deutsche Sprachgebiet Lothringens (die Lorraine allemande) zu 
stiefmütterlich behandelt wird, er zeigt den Weg zur Verwirklichung des Autonomie- 
gedankens auf, den das Elsaß gegangen ist, und die Hemmungen, die reibungsloser 
Entwicklung sowohl von seiten des Reichs und der preuBisch-deutschen Gesell- 
schaft als von seiten der Einheimischen entgegentraten. Zwar sei das ElsaB auf dem 
besten Wege gewesen, in die deutsche Familie hineinzuwachsen (S. 348), aber ,,man 
hat im innersten Sinne nicht verstanden, wo man sich befand" (S. 345). Die These 
mag im ganzen richtig sein. Aber es besteht auch bei Jaffe die Gefahr, daB unzu- 
lässige Werturteile ausgelöst werden. Es hat keinen Sinn, das PreuBentum zum 
Prügelknaben zu machen. Der Preuße war nicht unbeliebter wie die andern ,,Schwoo- 
we" auch. Daß das preuBisch-deutsche System vom Staat und Gesellschaft auf 
andern Voraussetzungen beruhte, als sie elsässischem Empfinden entsprachen, 
das war nun einmal so. Das mußte zu Reibungen führen. Das war nicht zu ändern. 
Dazu hütte es der Entstehung einer neuen, gemeinsamen Erlebnisgrundlage be- 
durft. Es war letzten Endes nicht Schuld, es war Schicksal, was im ElsaB geschah. 

Zum Schlusse wird der Leser im Fluge durch die 12 Jahre der neufranzósischen 
Zeit geführt. Auch dies eine nur summarische Betrachtung, die nur die Grundlinien 
heraustreten lassen will. „Vor dem Kriege ein Deutscher mit Vorbehalten, wurde 
der Elsässer ein Franzose mit Reservaten." Aber es ist heute nicht einfach um- 
gekehrt wie nach 1870. „Jetzt werden gegen eine ganz andere Bedrohung ganz 
andere Werte verteidigt als damals. Ging es zur deutschen Zeit um einen poli- 
tischen Dissens (mit fremdnationalem Einschlag), so geht es heute um einen völ- 
kischen (mit politischem Einschlag), ging es einst um langsam sich glättende 
Unebenheiten, geht es heute um die Tiefe der Seele“ (S. 387). Im ganzen eine knappe 
Darstellung der Voraussetzungen und der Geschichte des Autonomismus unserer Tage, 
die an die heutige Problemlage heranführt, ohne den Gegenstand erschöpfen zu 
wollen. Wertvoll ist die Erörterung des , Regionalismus und Föderalismus im 
heutigen Frankreich", entsprechend dem sehr lehrreichen früheren Abschnitt 
über Wesen, Entwicklung und Recht der ständischen Provinzen Frankreichs im 
18. Jahrhundert. 


Kritiken 409 


Das Buch stellt als seelischer Einbruch in das elsässische Zwielicht von reichs- 
deutscher Seite eine Leistung nicht geringen Grades dar. Von seinem reichen Inhalt 
auf kurzem Raume ein Bild zu geben, ist unmöglich; es birgt eine Fülle wertvollen 
Wissens und wertvoller Gesichtspunkte; es ist ein Buch eines innerlich ergriffenen 
politischen Menschen von bedeutender Gestaltungskraft, der auf Grund der vor- 
handenen Literatur und seiner Erfahrung zur Darstellung eines Gesamtbildes 
des Wandels in der Psyche des Elsässertums zu kommen sucht. Mag historische 
Analyse auch einzelnes zurechtrücken können, so plastisch und, was die große 
Linie angeht, so wahr ist die Geschichte dieses Wandels bisher noch nicht ge- 
staltet worden. 

Gießen. F. König. 


Kurt Borrie, Preußen im Krimkrieg (1853—1856). Stuttgart, W. Kohl- 
hammer. 1930. X, 420 S., 12 Bildtafeln. 

Zur Geschichte der preußischen Politik während des Krimkrieges sind bereits 
eine ganze Reihe wertvoller Teiluntersuchungen geliefert worden. Das Buch des 
Tübinger Historikers faßt dies Thema zum ersten Mal in einer vollständigen Mono- 
graphie zusammen, die man wohl als abschließend bezeichnen darf. Der Verfasser 
hat ein reichhaltiges Aktenmaterial, namentlich aus den Berliner Archiven, ver- 
verwerten können. Mit gründlicher und sorgfältiger Forschung verbindet er eine 
lebendige und kräftige Darstellung, die ohne Schaden für die Unparteilichkeit 
doch auf kühle Zurückhaltung verzichtet. 

In vielen Punkten hat Borries nur die bisherigen Forschungsergebnisse zu 
bestätigen und zu unterstreichen. Namentlich das ausgezeichnete Werk A. O. 
Meyers „Bismarcks Kampf mit Österreich 1851—59“ (1927) kommt auch hier 
zu seinem Recht. So tritt der starke Einfluß, den Bismarck von Frankfurt aus 
auf die preußische Außenpolitik übte, in Borries' Buch gleichfalls deutlich hervor, 
und ebenso wird das ungünstige Urteil A. O. Meyers über die österreichische Politik 
wieder aufgenommen, die unter der Leitung Graf Buols, im Gegensatz zur Metter- 
nichschen Tradition, Preußen die Gleichberechtigung unter den Großmächten wie 
ım Deutschen Bunde verweigerte und doch seine Gefolgschaft erwartete — freilich 
besaß Buol mehr den kalten Egoismus als die auch in den letzten Entschlüssen 
rücksichtslose Kraft seines Meisters Schwarzenberg. 

Den dramatischen Höhepunkt der preußischen Parteigegensätze während des 
Krimkrieges bedeutet der Sturz des Grafen Pourtalés, des Londoner Botschafters 
Bunsen und des Kriegsministers Bonin im Frühjahr 1854 — als die Partei Beth- 
mann-Hollweg, bereits im Begriff, die AuBenpolitik in ihre Bahnen zu lenken, mit 
einem Schlage das ganze gewonnene Terrain verliert, als der Kónig selbst einen 
offenen ZusammenstoB mit dem Prinzen Wilhelm erlebt. In der Streitfrage der 
Entlassung Bunsens widerlegt Borries mit überzeugender Kritik den Versuch der 
Schrift Reinhold Müllers „Die Partei Bethmann-Hollweg und die orientalische 
Krise 1853—1856‘ (1926), Bunsen vom Vorwurf der eigenmächtigen Überschrei- 
tung seiner Instruktionen zu reinigen; er stellt als endgültige Lösung dieser Frage 
fest: „Bunsen fiel durch eigene Schuld, seine Entlassung war eine im Interesse 
des Staats dringend erforderliche MaBregel." 

Auch da, wo das Buch nur Bekanntes wiederholt, bleibt es wertvoll durch 
klare Zusammenfassung, durch die plastische Herausstellung der handelnden 


410 Kritiken 


Persönlichkeiten und durch die Einordnung des Themas in die größeren Zusammen- 
hänge. In eindrucksvoller Weise hebt es die damals noch gegensätzliche politische 
Haltung Bismarcks und des späteren Königs Wilhelm hervor, richtet es sich am 
Schluß auf die zukünftige Reichsgründung aus, zu deren wesentlichen Voraus- 
setzungen, wenn auch nur durch negative Entscheidung, die preußische Politik 
während des Krimkrieges gehört. 

Wenn aber Borries zu Beginn seiner Darstellung das Urteil fällt, Friedrich 
Wilhelm IV. habe „die schwerste außenpolitische Krise seiner Regierung“, nämlich 
die Gefahren des Krimkrieges, „erfolgreich bestanden‘, wenn er sogar einen Aus- 
spruch Treitschkes aufgreift, „die Haltung Preußens während des orientalischen 
Krieges sei das Beste gewesen, was dem König Friedrich Wilhelm IV. in der aus- 
wärtigen Politik gelungen sei" — so möchte ich dieser Formulierung doch wider- 
sprechen. Zweifellos hat die Neutralität Preußens das so wertvolle Ergebnis der rus- 
sischen Freundschaft gehabt, allerdings auch nur im Kontrast zu der undankbaren 
und feindseligen Haltung Österreichs: das Beste an der preußischen Politik waren 
die Fehler Buols! Aber so sehr die Neutralität im Krimkrieg sich durch die Folge- 
zeit gerechtfertigt hat, so wenig kann sie dem König als politisches Verdienst an- 
gerechnet werden. Eine Neutralitätspolitik, wie sie Bismarck damals in Frankfurt 
plante und erstrebte, wäre eine staatsmännische Leistung gewesen — wie sie Frie- 
drich Wilhelm IV. trieb, war sie Schwäche und stammte sie aus Schwäche. Er 
war als Herrscher unmöglich, zumal für den Militärstaat Preußen, diese am meisten 
gefährdete und auf die Zukunft angewiesene Großmacht: das beweist gerade das 
Buch Borries’ selbst am eindringlichsten. Das harte Wort Bismarcks, diesem König 
könne man „nur mit Hilfe der Religion" gehorchen, ist keineswegs zu hart. Gewiß 
war Friedrich Wilhelm IV. eine menschlich sympathische und liebenswürdige Per- 
sönlichkeit, aber der politische Historiker hat im politischen Bereich letzten Endes 
„ohne Ansehen der Person‘ zu urteilen. Gewiß war der König geistvoll und hoch- 
gebildet: die Bedeutung, die er als Mittelpunkt des christlich-germanischen Kreises 
der Gerlachs sich in der Ideenwelt der politischen Romantik gesichert hat, ist ja 
genugsam bekannt; es wäre dies jedoch nicht der einzige Fall, der vom Standpunkt 
der rein politischen Geschichte aus eine ganz andere Einschätzung zu erfahren 
hätte als in der rein ideengeschichtlichen Betrachtung. Bei den größten Entschei- 
dungen seiner Regierung, im März 1848 und bei der Unionspolitik von 1849/50, 
hat Friedrich Wilhelm IV. ganz persönlich versagt, und sein Gottesgnadentum 
wirkt in der Praxis lediglich als Anmaßung. Die Tatsache, daß die Neutralität im 
Krimkrieg die Interessen Preußens am besten gewahrt hat, bleibt — aber ich ver- 
mag in dieser Neutralität kein Verdienst zu sehen, weil sie im Grunde nur das 
negative Ergebnis der lähmenden Anarchie in den preußischen Hof- und Regierungs- 
kreisen gewesen ist. Heinrich Heffter. 


Arno Dorn, Robert Heinrich Graf von der Goltz. Ein hervorragender Diplo- 
mat im Zeitalter Bismarcks. Ausgewählte Hallische Forschungen zur mittleren 

und neuen Geschichte, Heft 3. Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1929. VII, 278 S. 

Diese Schrift kommt einem Wunsch entgegen, den genau zur gleichen Zeit 
Schüßler in seinem Buch „Bismarcks Kampf um Süddeutschland 1867“ ausge- 
sprochen hat: dem Wunsch nach einer „Würdigung der politischen und mensch- 
lichen Persönlichkeit des Grafen Goltz und seines Verhältnisses zu Bismarcks 


Kritiken 411 


Politik“. Der Verfasser hat den überaus reichen Nachlaß Goltz’ verwerten können; 
er hat daraufhin seine Untersuchung, die ursprünglich nur den Beziehungen des 
Grafen zu Bismarck gelten sollte, zum Versuch einer Biographie erweitert. Dieser 
Versuch ist allerdings nicht als befriedigend zu bezeichnen. Es fehlt an der inneren 
Verarbeitung des Stoffs, an darstellerischer Fähigkeit. Immer wieder, namentlich 
im Anfang, fallen Urteile auf, die das echte historische Verständnis vermissen lassen. 
Es geht doch wirklich nicht an, den interessanten Plan eines kleindeutschen 
Bundesstaats, den Goltz in dem wirren Jahr 1848 entworfen hat, mit einer Kritik zu 
begleiten, die einfach die Entwicklungsspanne zwischen 1848 und dem heutigen 
Standpunkt zu ignorieren scheint. Eine solche Kritik ist vor allem in einer wissen- 
schaftlichen Spezialuntersuchung ganz überflüssig; denn die Ideen des jungen Goltz 
sind wichtig für uns wohl wegen ihrer Richtung, aber viel weniger wegen ihrer Richtig- 
keit. Und was soll am Schluß der seitenlange Bericht über Art und Verlauf von Goltz’ 
Todeskrankheit, der sich in einer medizinischen Zeitschrift weit besser ausnehmen 
würde? Wenn trotz der ungeschickten Darstellung die Persönlichkeit des Grafen Goltz 
: dem Leser anschaulich und lebendig wird, so liegt das an der Reichhaltigkeit des 
Materials, von der die im Anhang abgedruckten Stücke einen deutlichen Begriff geben. 
Bismarck selbst hat noch in den ,,Gedanken und Erinnerungen" den Grafen 
Goltz neben Harry Arnim als den befähigsten unter seinen diplomatischen Mit- 
arbeitern anerkannt, hat ihm sogar mehr Patriotismus und Charakter zugebilligt 
als Arnim. Die groBe Leidenschaft dieses ganz und gar politischen Menschen war 
der persónliche Ehrgeiz, der ihn ebenso 1861 zum Anschluf an die Opposition 
der Partei Bethmann-Hollweg veranlaßte wie 1854 zur Rückkehr in den Staats- 
dienst, als die Oppositionsstellung aussichtslos wurde. Nach einer lángeren Warte- 
zeit auf dem Gesandtenposten in Athen und Konstantinopel rückte 1862 die Er- 
füllung seines höchsten Zieles, die Ministerpräsidentschaft, in nächste Nähe. Und 
gerade jetzt wurde sie ihm durch Bismarck endgültig versperrt. Der Zweite zu 
bleiben, wurde sein Schicksal. So folgte er Bismarck als Botschafter erst in Peters- 
burg, bald darauf in Paris, dem nunmehr wichtigsten Posten der preußischen Diplo- 
matie. Hier brach sofort der Machtkampf mit Bismarck aus. Anfangs wollte Goltz 
wohl noch auf dessen Nachfolge warten; wenn der Rivale sich im Verfassungs- 
konflikt die Finger verbrannt hätte, dann meinte Goltz aus seiner Reservestellung 
in Paris als Retter berufen zu werden. Aber die Reservestellung wurde zur Dauer- 
stellung. Hinzu kam, daß Goltz die Bismarcksche Politik von Anfang an verwarf. 
Er hatte zwar auch 1848 als einer der konservativen Vorkämpfer gegen die März- 
revolution begonnen, hatte sich jedoch bald zum Anhänger der Unionspolitik Rado- 
witz’ und zum Mitstreiter der Wochenblattsopposition entwickelt; so hielt er jetzt 
die schroffe Durchkämpfung des Verfassungskonflikts gegen den Liberalismus für 
unvereinbar mit einer erfolgreichen Außenpolitik. Auch wollte er andere außen- 
politische Wege gehen als Bismarck, wünschte z. B. in der schleswig-holsteinischen 
Frage Preußen an der Spitze der nationalen Bewegung Deutschlands zu sehen, 
selbst unter Verzicht auf die Annexion der Herzogtümer. Seine kampflustige 
Natur trieb ihn zur offenen Auflehnung gegen Bismarck, die sich in seinen 
Immediatberichten an König Wilhelm am gefährlichsten äußerte. Bismarck nahm 
den Kampf gegen den Anwärter auf seine Nachfolge mit aller Schärfe auf, deren er 
‚gerade in solchen persönlich zugespitzten Gegensätzen fähig war; die Abberufung 
Goltz’ vermochte er freilich beim König nicht zu erreichen. Wenn Goltz wiederholt 


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über seine Weisungen eigenmächtig hinausging, so unterließ es Bismarck absichtlich, 
den Botschafter über wichtigste Vorgänge der auswärtigen Politik zu unterrichten, 
über seine letzten Ziele aufzuklären. Jedenfalls wurde das Verhältnis der beiden 
immer gespannter. Wie es geendet hätte, wenn nicht Goltz’ tödliche Erkrankung 
ihn schon 1868 ausgeschaltet hätte? Der Fall Harry Arnim ist eine naheliegende 
Parallele. Versucht man ein abschließendes Urteil, so muß Goltz doch gegenüber 
Bismarck schlecht abschneiden. Die maßlose Gehässigkeit seiner Kritik an dem 
überlegenen Rivalen wirkt äußerst unerquicklich. Goltz überschätzte die eigenen 
diplomatischen Erfolge bei weitem und zeigte sich außerstande, Bismarcks Genie 
anzuerkennen, ja überhaupt zu erkennen. Wohl erstrebte auch er eine lediglich vom 
egoistischen Staatsinteresse bestimmte preußische Großmachtpolitik, aber ihm 
fehlte doch der Wagemut und die große politische Linie Bismarcks, und mit Recht 
sagen ihm die „Gedanken und Erinnerungen” auch einen Mangel an Diszipliniert- 
heit und Nüchternheit nach. In dem wohl wichtigsten Augenblick seiner Pariser 
Mission, angesichts der Friedensvermittlung Napoleons III. nach Königgrätz, hat 
er im Grunde versagt und durch seine Eigenmächtigkeit schwerwiegende Fehler 
begangen; der krampfhafte Ton, mit dem er sich dennoch das alleinige Verdienst 
des siegreichen Friedens zuschreiben möchte, ist Verblendung. Es ist übrigens fest- 
zustellen, daß der Verfasser hier die Persönlichkeit des Grafen in den wesentlichen 
Zügen richtig sieht und zutreffend einschätzt. 

Vom Biographischen abgesehen, bringt die Schrift Dorns keine neuen Erkennt- 
nisse. In der Geschichte der Partei Bethmann-Hollweg geht sie doch im wesent- 
lichen über die Monographien von Walter Schmidt (1910) und Reinhold Müller (1926) 
nicht hinaus, noch weniger in der Darstellung der Pariser Botschafterjahre über 
Brandenburgs „ Reichsgründung“ und Onckens „Rheinpolitik Napoleons III.“. 
Für die letztere Periode sind dem Verfasser ja auch nur die Briefe, nicht die Akten 
des Goltzschen Nachlasses freigegeben worden; er behält sich hier eine spätere 
Monographie vor. Die Einwände, die er zu der Frage, ob Goltz’ Berichte aus Paris 
zum Abschluß des Vertrags von Gastein wesentlich beigetragen haben (S. 197/198), 
und zu der weiteren Frage, wie Goltz im Juli 1866 dem französischen Kaiser die 
Abtretung Landaus in Aussicht stellen konnte (S. 209/210), gegen Brandenburgs 
Auffassung vorbringt, vermögen nicht recht zu überzeugen. 

Eine kleine Berichtigung: der auf S.97 erwähnte Stolberg ist nicht, wie im 
Namensregister angegeben wird, Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode, der spätere 
Vizekanzler Bismarcks, sondern Graf Anton, der Hausminister Friedrich Wilhelms IV. 

Heinrich Heffter. 


Walter Elze, Tannenberg. Das deutsche Heer von 1914, seine Grundzüge und 
deren Auswirkung im Sieg an der Ostfront. Breslau 1928. Verlag von Fer- 
dinand Hirt. 370 S. mit 15 Karten. 12 ZA. 

Im 25. Jahrgang der Historischen Vierteljahrschrift, S. 690 und 691 habe ich 
die Schrift von Walter Elze über den Grafen Schlieffen besprochen. Im selben 
Jahre und im gleichen Verlag wie diese kleine Schrift erschien das große Werk des- 
selben Verfassers: Tannenberg. Wie schon der Untertitel sagt, beschränkt es sich 
nicht auf die Entscheidungsschlacht bei Tannenberg, sondern gibt in einer aus- 
führlichen Einleitung einen Überblick über den Zustand des deutschen Heeres von 
1914, bringt aber auch Mitteilungen über das russische Heer und das französisch- 
russische Bündnis. 


Kritiken 413 


Natürlich muß der Leser des Buches bald Stellung nehmen zu dem Schlieffen- 
schen Plan. Ich wiederhole, was ich in dem oben erwähnten Referat S. 690 und 691 
gesagt habe: Der Schlieffensche Plan gab den Osten preis und erfüllte nicht die 
berechtigten Wünsche der Österreicher. Wenn sie mit uns ein Bündnis geschlossen, 
so taten sie es, um einen Kampfgenossen gegen die Russen zu finden, nicht aber, 
um außer ihren Grenzen auch noch die unsrigen decken zu müssen. Mit der Redens- 
art, daß Österreichs Schicksal sich nicht am Bug, sondern an der Seine entscheiden 
würde, konnte man die Bundesgenossen nicht vertrösten, noch weniger mit der 
Behauptung, die Russen würden nicht in Galizien einmarschieren, ehe nicht die 
Würfel im Westen gefallen seien. (Elze, S. 34.) Eine bittere Enttäuschung war es 
für Conrad von Hötzendorf, daß Moltke ihm im Mai 1914 sagte, es würde nach 
Kriegsbeginn etwa sechs Wochen dauern, ehe die Deutschen den Österreichern 
wirksame Hilfe leisten könnten. 

War der preußische Generalstab entschlossen, im Osten nur eine geringe Heeres- 
macht zurückzulassen, so war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß ein Mann an 
die Spitze dieser Armee gestellt würde, der seiner schweren Aufgabe gewachsen 
war. Das ist leider nicht geschehen. 

General-Inspekteur der I. Armee-Inspektion war der Generaloberst von Pritt- 
witz. Ihm war der Schutz der Ostgrenze im Kriegsfall anvertraut. Moltke kam 
schon Anfang 1914 zu der Ansicht, daB Prittwitz nicht die geeignete Persönlichkeit 
war. (Elze S.93.) Er schlug vor, ihn durch einen anderen Feldherrn zu ersetzen. 
Aber das Militärkabinett und der damalige Kriegsminister von Falkenhayn unter- 
stützten ihn nicht. Die Gründe, die Falkenhayn angab, sind nicht nur für Prittwitz, 
sondern auch für den Kaiser beleidigend. Wenn er meinte, daß dann jener diesen 
ungünstig beeinflussen könnte, so gab es doch wohl Mittel und Wege, das zu ver- 
hindern. Ein ungeeigneter Oberbefehlshaber im Osten war doch eine größere Gefahr, 
als ein Ohrenbläser im Hofgefolge. Moltke sorgte nun dafür, daB einer seiner tüch- 
tigsten Mitarbeiter, der General Graf Waldersee, Chef des Generalstabes der 8. Armee 
wurde. Er hofíte, daB dieser einen guten EinfluB ausüben würde. Die Kriegs- 
geschichte kennt Beispiele, daB ein solcher Ausweg zum Ziel geführt hat, sie lehrt 
aber andererseits, daß der beste Generalstabschef nichts erreichen kann, wenn der 
Oberbefehlshaber sich nicht raten läßt und der Generalstabschef nicht versteht, 
sich durchzusetzen. 

So kam es, daB Waldersee keinen Erfolg hatte und in den Sturz des General- 
obertsen mit hineingerissen wurde. 

Wie der Zusammenbruch in Ostpreußen kam, wird uns von Elze eingehend 
geschildert. Die Korpskommandeure, die offenbar das Gefühl hatten, klarer die 
Sachlage zu erfassen, als ihr Oberbefehlshaber, handelten auf eigene Faust, manchmal 
sogar gegen die Befehle, die ihnen erteilt worden waren. So entglitten dem Feld- 
herrn die Zügel, er verlor den Überblick und verstand es nicht einmal, die Erfolge 
auszunutzen, die General Francois durch eigenmächtiges Vorgehen errungen hatte. 
Schließlich faBte er den unglücklichen Entschluß, bis hinter die Weichsel zurück- 
zugehen. 

Da griff Moltke ein. Elze weist überzeugend nach, daB dieser es war, der es 
durchsetzte, daß Hindenburg an die Spitze der 8. Armee gestellt und Ludendorff 
ihm als Generalstabschef beigegeben wurde. Wenn das einen Monat früher ge- 
schehen wäre, wie viel Elend würde dann Ostpreußen erspart geblieben sein! 


414 Kritiken 


Mit Geschick hat Elze dargestellt, in welchem Zustande Hindenburg die Armee 
vorfand, wie auch er anfangs unter der Unbotmäßigkeit einiger Untergebenen zu 
leiden hatte, aber mit Energie durchgriff. Selbst in den schlimmsten Lagen verlor 
Hindenburg nicht die klare Umsicht und Ruhe, zielbewußt führte er seinen Plan 
durch und erfocht schließlich einen der schönsten Siege des Weltkrieges. 

Bekanntlich haben sich später verschiedene Generäle und  Generalstabs- 
offiziere gerühmt, daß ihnen ein Hauptteil des Erfolges gebühre. Elze weist mit Recht 
nach, wie unbegründet derartige Anmaßung ist. Es ist und bleibt Hindenburg, 
der in den vielen kritischen Stunden unbeirrt durch ängstliche Meldungen seinen 
Siegeswillen durchsetzte und sich nicht mit einem Teilerfolg begnügte, sondern 
einen ausschlaggebenden Erfolg errang. Elze weist S.151 mit Recht darauf hin, 
daß selbst der vorzüglichste Stand der Ausbildung und die fachliche Befähigung von 
Heer und Führer nicht genügen, um den Sieg zu erringen, sondern daß die mensch- 
lichen Beharrungskräfte und der sichere Sinn für das augenblicklich Richtige als 
unerläßliche Eigenschaften des Oberbefehlshabers hinzukommen müssen, das haben 
die Tage von Tannenberg bewiesen. 

Charlottenburg. Richard Schmitt. 


Nachrichten und Notizen. 


Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte. Festschrift für 
Otto Dobenecker zum siebzigsten Geburtstage am 2. April 1929, mit 1 Bildnis 
und 6 Tafeln, Jena 1929. Gustav Fischer. 

Eine stattliche Anzahl von Gelehrten, Freunden und Schülern hat sich zusammen- 
gefunden, um Otto Dobenecker für seine unermüdlichen, erfolgreichen Arbeiten auf 
dem Gebiete der thüringischen Geschichte zu seinem 70. Geburtstage durch eine 
gediegene Festschrift Dank und Anerkennung auszusprechen. Von der Urzeit bis 
in die neueste Zeit hinein sind meist aus dem Forschungsgebiet des Jubilars wertvolle 
Veröffentlichungen, Untersuchungen und Schilderungen beigesteuert worden. Bei 
der außerordentlichen Reichhaltigkeit der Festschrift ist es ausgeschlossen, auf die 
einzelnen Arbeiten näher einzugehen. 

Gustav Eichhorn (S. 1—16) spricht über die prähistorischen Forschungen 
Klopfleischs auf der Plattform und am Fuße des Jenzig, und Martin Wähler (S. 17 
bis 36) untersucht die einstigen slawischen Nebensiedlungen in Thüringen, die heute 
durch die Vorsetzung von Windisch-, Wünschen-, Wenigen- und Klein- kenntlich 
sind. Ein Verzeichnis führt insgesamt 60 Dörfer auf, von denen 84 mit Klein- und 
18 mit Wenigen- beginnen. Über die Grenzen Thüringens hinaus geht eine Studie 
von Alexander Cartellieri (S. 87—62), der Leben und Werk Ottos II. würdigt, 
dessen kriegerische Natur er hervorhebt, ihm aber große Feldherrngaben ab- 
spricht. Ernst Devrient (S. 63—78) stellt in seiner Untersuchung fest, daB nicht 
Erzbischof Willigis von Mainz das Kloster Jechaburg bei Sondershausen gegründet 
oder eingeweiht hat, sondern erst Adalbert I. (1111—1137). — Armin Tille (S. 79 
bis 90) schildert die Anfänge der Stadt Weimar, die erst 1410 ihr Stadtrecht von 
Weißensee bekommt. — Woldemar Lippert (S. 931—110) druckt und untersucht das 
älteste Urkundenverzeichnis des Thüringisch-Meißnischen Archivs, das 1880 auf- 
gestellt sein muß und gibt dazu einen geschichtlichen Überblick der Zeitverbältuisse. 


Nachrichten and Notizen 415 


— Wilhelm FüBlein (S. 111—138) steuert eine Monographie der Thüringer Grafen- 
fehde von 1342—1346 bei unter Verwendung von einigem neuen Urkundenmaterial. — 
Die Arbeit von Bernhard Willkomm (S. 139—162), der auf Grund eines Ausgaben- 
verzeichnisses vom 3. 5. 1382—10. 10. 1383 das Jenaer Klosterleben am Ende des 
14. Jahrhunderts schildert, gibt einen Beitrag zur Geschichte der Dominikaner in 
Deutschland. Das Verzeichnis selber hat Devrient schon teilweise im Jenaer Ur- 
kundenbuch abgedruckt. — Fritz Körner (S. 163—176) behandelt die Flurgröße 
der Wüstungen in den Amtsgerichtsbezirken Apolda, Buttstädt, Großrudestedt, 
Vieselbach und Weimar. — Friedrich Schneider (S. 177—182) druckt eine Bulle 
von Papst NicolausV. für Heinrich den Älteren Reuf von Plauen ab (1453), in der dieser 
dem Vogt die Erlaubnis gibt, einen eigenen Beichtvater zu halten. — Carl Georg 
Brandis (S. 178—182) beschreibt den Inhalt eines Bücherverzeichnisses aus Milden- 
furth, das vor 1478 in eins der geschenkten Bücher eingetragen ist. — Paul Weber 
(S. 205—224) bringt Allgemeines über die spätgothischen Altäre Thüringens und 
wendet sich dann der Jenaer Werkstatt Johann Lindes (um 1500) zu. Als mut- 
maßlichen Nachfolger Lindes möchte er den Meister Hermann aus Jena ansprechen. — 
Von dem „Verfügungsrecht über die Stadtpfarrstellen im ernestinischen Thüringen 
und die Reformation“ spricht Rudolf Herrmann (S. 225—242). Er stellt fest, daß 
von einer Besetzung durch den Bischof nicht gesprochen werden kann, wohl aber 
durch geistliche Korporationen. — Neue Beitrüge zur Kenntnis der Wohnung 
Luthers und einiger zeitgenóssischen Humanisten in Erfurt liefert Johann Biereye 
(S. 243—266). Herbert Koch (S. 267—276) wertet das Verzeichnis der Jenaer 
Türkensteuer von 1542 für die Jenaer städtischen Verhältnisse aus. — Berthold 
Schmidt (1) (S. 277—294) spricht über die Gefangennahme Heinrich Reuß des 
Alteren von Plauen durch Valten Müller genannt Franck in der Schlacht bei Sievers- 
bausen und die Streitigkeiten, die sich daran anschlossen. — Georg Arndt (S. 295 
bix 326) würdigt die Tätigkeit von Christian Fischer (1520—1598) als Generalsuper- 
intendent und Reformator der Grafschaft Henneberg, als Visitator und Organisator 
und beschließt seine Arbeit mit einem Verzeichnis der Schriften F.’s während seiner 
Thüringer Tätigkeit und dem Wiederabdruck einer Stammtafel. — Wie eingehend 
schon im 16. Jahrhundert in einzelnen Fällen die Echtheit der Urkunden untersucht 
wurde, schildert uns Wilhelm Engel (S. 327—342) in einem Streit zwischen der 
Abtei Hersfeld und dem Kurfürstentum Sachsen, in dem die Echtheit einer Pfand- 
verschreibung von 1407 über Gericht und SchloB Creyenburg bewiesen werden 
sollte, — Walter Schmidt-Ewald (S. 343—360) druckt die zwei Fassungen des 
Bücherverzeichnisses des thüringischen Gelehrten Marcus Wagner aus Friemar, der 
1567 bei der Gothaer Belagerung seine Bücher eingebüßt hatte, mit Bemerkungen 
ab. Es sind 119 bzw. 66 Nummern. — Georg Götz (S. 361—370) behandelt den 
Streit von Justus Lipsius um das Dekanat in Jena (1773) und seinen Sieg über die 
Professoren und Max V ollert (S. 490—504) die gerade hundert Jahre später erfolgte 
Berufung Rudolf Euckens nach Jena (1873). — Über die neuen Funde der Landes- 
vermessungen Mathias Oedeıs (f 1614) in Thüringen und im Osterland aus den 
Hauptstaatsarchiv Dre.den berichtet Hans Beschorner (S. 871—984). — Theodor 
Lockemann (S. 885—408) schildert die Anstrengungen und den Kampf des Ma- 
gisters und Adjunkten der philosophischen Fakultät in Jena Joh. Ch. Mylius um He- 
bung und Sicherung seiner wirtschaftlichen Belange als Bibliothekar. — Georg 
Menz (S. 409—426) bringt aus dem literarischen Nachlaß des Grafen Eustachius von 


416 Nachrichten und Notizen 


Sehlitz, gen. von Görtz, der von 1761—1775 die Erziehung Karl Augusts und seines 
Bruders Constantin leitete, interessante Mitteilungen über Leute und Leben in Wei- 
mar, besonders seinen Zógling Carl August betreffend. — In das Revolutionsjahr 1848 
in Rudolstadt führt uns die Studie Fr. Lundgreens (S. 467—489) über Friedrich 
Carl Hönninger, der jedenfalls wohl, weil er in der Beförderung übergangen worden 
war, sich der Revolution anschloß, das Schwarzburger Ländchen in Frankfurt ver- 
trat, aber 1850 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Als Privatmann und be- 
geisterter Republikaner ist er 1874 gestorben. — R Gerhardt (S. 445—466) gibt eine 
geschichtliche Entwicklung des Landtagswahlrechts in dem Großherzogtum Sarhsen- 
Weimar-Eisenach bis zur Umwälzung des Jahres 1918. — Ernst Anemüller 
(S. 490—505), der Herausgeber des Urkundenbuches von Paulinzelle, gibt einen 
Überblick über die Paulinzeller Forschungen innerhalb der letzten 50 Jahre. — 
Kunz v. Kauffungen (S. 190—204) teilt Rechtssprüche der Schóffenstühle von 
Leipzig und Magdeburg mit und Benno v. Hagen (S. 427—444) druckt die 
Schilderung der Balearen aus dem Tagebuch eines Rheinbundoffiziers ab. 
Neuruppin. Lampe. 


Festschrift, Armin Tille zum 60. Geburtstag, Weimar 1930, Hermann Böhlaus 
Nachf. G. m. b. H. Preis geh. 19.— RA. 

Die zu Ehren des Weimarer Staatsarchivdirektors erschienene Festschrift bringt 
eine Anzahl trefflicher Arbeiten aus allen Gebieten des thüringischen Geisteslebens. 
Rudolf Kötzschke eröffnet den Reigen der Gratulanten mit einem Überblick 
über die Stellung Thüringens innerhalb der deutschen Siedlungsgeschichte 
(Thüringen in der deutschen Siedlungsgeschichte, S. 1—16). Die Besonderheit 
Thüringens in der Frühzeit und in der Zeit, als es Grenzland gegen den 
Osten war, läßt der Sprachgebrauch deutlich hervortreten. Wenn sich auch 
einzelne slawische Siedlungen in Thüringen befinden, ist doch der Grundzug der 
Besiedlung Thüringens, die am besten mit der Ostfrankens vergleichbar ist, 
durchaus deutsch. Der Überblick über die thüringische Siedlungsgeschichte ist ein 
Spiegelbild der Gesamtgeschichte. — O. Dobenecker, Ein Kaisertraum des Hauses 
Wettin (S. 17—38) schildert die Hoffnungen und Bestrebungen der Wettiner nach 
dem Tode Konradins. Friedrich II., der Sohn Margaretas, der Tochter Kaiser Fried- 
richs IL. die mit Landgraf Albrecht von Thüringen vermählt war, war für die An- 
hänger der staufischen Partei der sehnsüchtig erwartete Kaiser Friedrich III. der 
Kyffhäusersage, für den dann später sein Großvater Friedrich II. und zuletzt erst 
Friedrich Rotbart eintraten. — Kekulé von Stradonitz bringt aus der Chronik 
des böhmischen Humanisten Prokop Lupatsch von Flavatschowa (T 1587) ein zeit- 
genössisches Heldengedicht „Von der Schlacht bei Crècy“, 25. August 1346 (S. 39 bis 
46) in freier deutscher Übersetzung und schlieBt daran heraldisch-genealogische 
Erlüuterungen teilweise unter Zugrundelegung der bóhmischen Geschlechtergruppen 
oder Wappensippen. — Zur Geschichte des Finnedistriktes, der im 14. Jahrhundert 
einige Zeit selbständig gewesen ist, gibt Hans Beschorner (Beiträge aus dem 
Hauptstaatsarchiv Dresden zur Geschichte des Finnedistriktes im Mittelalter, S. 47 
bis 69) urkundliches Material unter Beifügung einer Kartenskizze. — Zwoi bisher 
ungedruckte Urkunden, die zu den wichtigsten der späteren reußischen Geschichte 
gehören, veröffentlicht Friedrich Schneider: (Die Belehnungsyrkunde Kurfürst 
Friedrichs IL des Sanftmütigen für die Herren Reußen zu Greiz im Jahre 1449 und 


Nachrichten und Notizen 417 


der Teilungsvertrag der Gebrüder ReuBen im Jahre 1485, S. 71— 86). — Die Ge- 
schichte der Herrschaft und des Fürstentums Querfurt zwischen 1496 (nach dem 
Aussterben der Querfurter Dynastien) und 1815 hat Hellmut Kretzschmar nach 
Akten des Hauptstaatsarchivs Dresden und des Staatsarchivs Magdeburg bearbeitet 
(S. 87—117). Wichtig ist, daß Querfurt beim Übergang an das Erzstift Magdeburg 
(1496) seine Selbständigkeit nicht verlor, sondern diese trotz wechselnder Schicksale 
erst ganz allmählich bis 1815, beim Übergang an Preußen aufgibt. — Walter Tröge 
(Lucas Cranach d. Ä. als genealogisches Phänomen, S. 119—133) hebt bedeutende 
Männer hervor (Goethe, Berisch, die Gebrüder Schlegel und Karpow), die Cranach- 
blut in den Adern haben. Der von Tröge gewählte Titel ließ nach der Einleitung einen 
anderen Gang der Abhandlung vermuten. — Walter Schmidt-Ewald, (Das 
älteste ernestinische Urkundenverzeichnis, S. 135—152) würdigt das älteste ernesti- 
nische Urkundenverzeichnis, das zwischen August 1486 und spätestens August 1493 
abgefaßt ist und sich in zwei Stücken im Weimarer und in einem Stück im Gothaer 
Staatsarchiv befindet. — Über die Bedeutung des Vogtlandes als Durchgangsland 
für den Handelspricht Erich Wild (S. 153—171), in einer aufschlußreichen Studie. — 
Carl Georg Brandis (Ein thüringisches Passional, S. 172—178), beschreibt ein 
Passional des 14. Jahrhunderts, aus der Jenaer Universitätsbibliothek, das aus dem 
Kloster Mildenfurt stammt. Dasselbe Buch war vollständig in der Bücherei des 
Servitenklosters in Erfurt vorhanden. Es vergleicht die Jenaer Handschrift mit 
der Legenda aurea des Jacobus a voragine. — Otto Clemens bringt Beiträge über 
den Lebensausgang des in Venedig 1531 verstorbenen Gregor Holoander (S. 173 bis 
178). — Ernst Brinkmann veröffentlicht neue Forschungen zum Leben der großen 
Mühlhäuser Musiker (S. 190—197), Joachimus à Burck, Johannes Eccard, Joh. 
Rudolf Ahle, Joh. Georg Ahle und Joh. Sebastian Bach. — In Form eines scherzhait 
gehaltenen Briefes an den Jubilar druckt Hans Wahl (S. 198—214) ein Aktenstück 
über die 1631 in Dornburg erfolgte Untersuchung und Stäupung des Kroaten Joh. 
Faust ab, das sich nur in einer Abschrift in der handschriftlichen Chronik des Joh. 
Samuel Schröter, Rektor in Dornburg (1756—1763) erhalten hat. — Theodor Locke- 
mann (Die Anfänge des Jenaer akademischen Konzerts, S. 215—233) berichtet 
über die Gründung des Akademischen Konzerts 1769, gibt seine Verfassung 
(Satzung) und schildert die Reform desselben. — Werner Deetjen (Johann 
Matthias Gesner und die Weimarer Bibliothek, S. 234—251) hebt die Verdienste 
von Joh. Matthias Gesner um die innere Ausgestaltung und ordnungsgemäße Kata- 
logisierung der Weimarer Bibliothek hervor, deren Leiter er ungefähr 5 Jahre war. 
Die groBen Kenntnisse G.'s gehen aus einer einem Briefe beigefügten und hier ab- 
gedruckten Beilage hervor. G. starb 1761 als Professor der Poesie und Beredsamkeit 
in Góttingen, wo er auch eine ausgezeichnete Bibliothek anlegte und organisierte. — 
Wolfram Suchier (Rechtskandidat F. W. v. Leysser als Dozent der Botanik in 
Halle 1758—65, S. 252—268), gibt einen Überblick über die botanischen Vorlesungen 
an der Universität Halle und der Bedeutung L.'s, dessen Leben eingehend gewürdigt 
wird. — Herbert Koch (Die Rosenschule in Jena, S. 269—274), schildert die nur 
kurze Lebensgeschichte der 1761 von Joachim Georg Darjes begründeten Real- 
schule zur Erhaltung und Erziehung armer Kinder. — Max Hecker teilt (S. 275 
bis 291) einen Brief der Ottilie v. Goethe an den Kanzler Friedrich von Müller vom 
15. August 1840 aus Wien mit und gibt aufschluBreiche Anmerkungen dazu. — 
Felix Pischel druckt (292—300) aus den Briefen des Staatsministers Bernhard 


Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 21 


418 Nachrichten und Notizen 


von Watzdorf an den Großherzog Carl Alexander einen Brief vom 29. August 1858 
zur Erziehung des Erbprinzen Karl August und einen vom 7. März 1859 zur Stellung 
Preußens in Deutschland ab und gibt erläuternde Anmerkungen dazu. 

Neuruppin. Lampe. 


Robert Gradmann, Süddeutschland. 2 Bde. Stuttgart 1931, J. Engelhorns 
Nachf. (Bibliothek länderkundlicher Handbücher, herausg. von Albrecht 
Penck). 215 u. 553 Seiten, 49 Textabbildungen, 43 Tafeln und Karten. 

Nach mehr als 12jähriger Arbeit hat Robert Gradmann, wohl der beste Kenner 
der Landeskunde Süddeutschlands, ein Werk vollendet, das in der deutschen 
landeskundlichen Literatur eine besondere Stellung einnimmt, sowohl inhaltlich 
und methodisch, wie auch in bezug auf die Ausstattung. Gradmann, der von Haus 

aus evangelischer Geistlicher, dann Universitätsbibliothekar war, und seit 1909 

die Geographie an der Universität Tübingen, seit 1919 an der in Erlangen vertritt, 

hat sich besonders verdient gemacht durch seine gediegenen Arbeiten auf dem Ge- 
biete der Pflanzen- und Siedlungsgeographie Südwestdeutschlands, besonders 

Württembergs. Er hat alle Gaue Süddeutschlands durchwandert und urteilt aus 

eigener Beobachtung. Dabei verwertet er zugleich die überaus reichliche ein- 

schlägige Literatur, die er wie kein Zweiter beherrscht. Er hat damit die erste aus- 
führliche Bearbeitung Süddeutschlands nach den Grundsätzen der wissenschaft- 
lichen Länderkunde geschaffen, ein Werk, wie wir es bisher noch für keinen anderen 
größeren Teil des Deutschen Reiches besitzen. Unbeirrt durch den in den letzten 
Jahren entfachten Streit um die landeskundliche Darstellung hält er fest an der 
alten gutbewährten Methode der Länderkunde. Sein Werk soll kein Lehrbuch, 
sondern ein wissenschaftliches Handbuch sein. Es will über den Stand der Pro- 
bleme berichten und auf neue Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten hin- 
weisen. Das Hauptgewicht wird dabei auf eine möglichst scharfe Herausarbeitung 
der „natürlichen Landschaften" gelegt. Sie bilden für das ganze Werk die metho- 
dischen Einheiten. Angestrebt wurde ferner eine Herausarbeitung der inneren 

Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Um diese Zusammenhänge möglichst 

klar hervortreten zu lassen, sind bei den einzelnen Landschaften den umfang- 

reicheren Abschnitten kurze Übersichten vorausgeschickt und die nur für den 

Fachmann bestimmten Quellenangaben und kritischen Auseinandersetzungen in 

nachträgliche Ausführungen verwiesen. Unter Süddeutschland, richtiger eigentlich 

Südwestdeutschland, versteht der Verfasser den im Süden gelegenen Teil des Deut- 

schen Reiches innerhalb der Reichsgrenze, aber einschließlich ElsaB-Lothringen, 

wodurch eine Zerreißung der Einheit der Oberrheinebene vermieden wird. Im 

Osten reicht also Süddeutschland bis zur Grenze gegen Böhmen, im Südosten und 

Süden bis zu der gegen Österreich und die Schweiz, und im Westen bis zur ehe- 

maligen deutsch-französischen Reichsgrenze. Auch das Saargebiet und die Pfalz 

gehören mit dazu. Als Nordgrenze nimmt Gradmann mit Recht nicht die Main- 
linie, die zusammengehörige Gebiete zerschneidet, sondern den Südfuß der Mittel- 
deutschen Gebirgsschwelle. Sein Süddeutschland reicht also bis zum Südrand des 

Rheinischen Schiefergebirges, des Vogelberges und der Rhön, bis zur Wasser- 

scheide zwischen Main und Werra und bis zum Frankenwald und Fichtelgebirge. 
Der erste, weniger umfangreiche Band enthält den allgemeinen Teil. Er befaßt 

sich mit Begriff, Grenzen, Gliederung und natürlichen Landschaften Süddeutsch- 


Nachrichten und Notizen 419 


lands, behandelt dann die Landformen, das Klima, die Bodenbeschaffenheit, Pflanzen- 
und Tierwelt, geographische Entwicklung der Landesbesiedlung, Volk und Staat 
nach ihrer räumlichen Entwicklung, Rasse, Sprache, Volkstum, Landwirtschaft 
und ländliches Siedlungswesen, Forstwirtschaft, Jagd, Fischerei, Städte und Märkte, 
gewerbliches Leben, Handel und Verkehr, Bevölkerungszahl und Volksdichte, 
seelisches und geistiges Leben. Für den Historiker wichtig sind besonders die Ab- 
schnitte über die geographische Entwicklung der Landesbesiedlung, über Volk und 
Staat nach ihrer räumlichen Entwicklung, Rasse, Sprache und Volkstum, länd- 
liches Siedlungswesen, Städte und Märkte. Feinsinnige Betrachtungen enthalten 
die Kapitel über den süddeutschen Menschenschlag, Sprache und Mundart, Volks- 
tum, Volksbewußtsein und Volkscharakter. Pflanzengeographische Studien haben 
Gradmann zu der wichtigen Erkenntnis geführt, daß ein enger Zusammenhang 
zwischen der Entwicklung der Vegetation nach der Eiszeit und der ursprünglichen 
Besiedlung besteht. Es herrscht eine weitgehende Übereinstimmung der vorge- 
schichtlichen und zum größten Teile auch der frühgeschichtlichen Siedlungsflächen 
mit den Verbreitungsgebieten der Steppenheide. Erst nach dem Einzuge der ersten 
seBhaften Bevölkerung, also frühestens gegen Ende der jüngeren Steinzeit (um 
2000 v. Chr.) kann die Steppenheideflora dem Überhandnehmen des reinen Wald- 
klimas gewichen sein. Von großer Bedeutung für die alte Besiedlung ist die Ver- 
breitung der Lößgebiete als alter Siedlungsflächen. 

Der zweite, umfangreichere Band bringt die Darstellung der einzelnen Land- 
schaften. Gradmann gliedert Süddeutschland in 13 natürliche Landschaften: 
Oberrheinisches Tiefland, Schwarzwald, Odenwald und Spessart, Wasgenwald 
und Pfälzer Hardt, Nordpfälzisches Bergland mit Saargebiet, Lothringisch-west- 
pfälzisches Hügelland, Neckarland, Mainland mit Oberpfälzer Senke, Schwäbische 
Alb und Ries, Fränkische Alb, Böhmer Wald mit Fichtelgebirge, Alpenvorland, 
Bayrische Alpen. Auch in diesem Bande sind jeweils bei den einzelnen Landschaften 
die Abschnitte über den Gang der Besiedlung, Herkunft und Abstammung der 
Bevölkerung, Rodung, Volkstum und politische Geographie, vor- und frühgeschicht- 
liche Besiedlung und Städtebildung für den Historiker wichtig. Das Schriften- 
verzeichnis am Schluß des 2. Bandes enthält 2285 Nummern, stellt aber nur eine 
kleine Auswahl aus der gesamten, fast unübersehbaren Literatur zur süddeutschen 
Landeskunde dar. Das Werk ist prächtig ausgestattet mit hervorragend schönen 
Abbildungen, darunter vielen Luftbildern, zahlreichen instruktiven Karten und 
Kartenskizzen. H. Rudolphi. 


Joseph Neubner, Die Heiligen Handwerker in der Darstellung der acta sancto- 
rum. Ein Beitrag zur christlichen Sozialgeschichte aus hagiographischen 
Quellen. = Münsterische Beiträge zur Theologie. Heft 4. Münster 1929. 
Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, XVI u. 272 S. u. 6 Tafeln. 

Verfasser will aus den hagiographischen Quellen das soziale Leben und Wirken 
der Kirche und die Gebrüuche des christlichen Volkes erschlieBen. Er stellt fest, daB 
nur männliche Vertreter bei den Handwerksheiligen in Betracht kommen. Nach 
einer eingehenden Würdigung besonders der geschichtlichen Glaubwürdigkeit der 

Quellen und einer Zusammenstellung über die Zahl der Handwerksheiligen werden 

die heiligen Handwerker des christlichen Altertums und des Mittelalters behandelt. 

Der Schlußabschnitt beschäftigt sich mit den Handwerksheiligen vom 16. Jahr- 


91* 


420 Nachrichten und Notizen 


hundert an und ihr Fortleben bis in die Neuzeit. Durch die sehr sorgfältigen An- 
merkungen und ein ausführliches Register gewinnt diese ansprechende, flüssige 
Zusammenstellung an Wert. 

Neuruppin. Lampe. 


Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und 

seiner Zweige. Herausgegeben von der bayerischen Benediktinerakademie. 

N. F. Band 16, der ganzen Reihe Band 47. München, Komm.-Verl. R. Olden- 

bourg 1929. 223, 40, XVI S. 

Zur Geschichte der Benediktinerregel sei der Aufsatz von Herib. Plenkers, 

Neue Ausgaben und Übersetzungen der Benediktinerregel (S. 183—195) hervor- 
gehoben, der die Arbeiten von Butler (1927), Vidmar (1927) und Linderbauer (1923) 
würdigt. Die „Chronik“ bringt einen Nachruf für P. Benno Linderbauer, dem 
feinfühligen Erforscher, Erklárer und Herausgeber der Regel im Stift Metten. Zu 
einer Textfrage des 1. Kapitels der Regel äußert sich Th. Michels (196—200). 
Rom. Bauerreiß, der verdiente Schriftleiter der Zeitschrift, untersucht sorgsam 
die aus dem 14. Jahrhundert stammenden, stark legendären Einträge in dem An- 
dechser Missale (52—90), die z. T. schon fehlerhaft in den Monumenta Boica 8 
gedruckt sind. Aus Anlaß des Jubiläums von Monte Cassino entwirft W. Fink ein 
Bild von St. Benedikt, dem Propheten seines Jahrhunderts, auf Grund der Dialoge 
des hl. Gregor (106—112). — Raph. Molitors Aufsatz „Über die Observanz kassi- 
nesischer und süddeutscher Benediktinerklóster gegen Ende des 16. Jahrhunderts“ 
(91—102) ergänzt seine Ausführungen über die Visitation der Benediktinerklóster durch 
Petrus Paulus Benallis im Auftrage Klemens’ VIII. im Jahre 1593 im zweiten Bande 
seines Buches ,,Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbünde". Es handelt 
sich um eine Handschrift im Staatsarchiv Zürich, die Fragen und Antworten über 
83 Kapitel der Regel erläutert und für das Leben und die Tätigkeit der Mönche von 
größter Wichtigkeit ist. P. Volk, „Ein Säkularisationsplan sämtlicher deutscher 
Benediktinerklóster zu Anfang des 17. Jahrhunderts" (146—156) ist bemerkenswert 
für die Kritik von Pastors Papstgeschichte und die Lebenskraft der Bursfelder 
Kongregation. Einzelforschungen über die bedeutenden Äbte Johann Bernhard 
Schenk in Fulda und Leonhard Colchon in Seligenstadt könnten hier noch weiter 
helfen. — Für einzelne Persönlichkeiten liegen folgende Untersuchungen vor: P. Le h- 
mann, Dicta Pirminii (45—51): L. stimmt im wesentlichen G. Jecker bei, der die 
Heimat des Gründers von Murbach und Reichenau in Spanien oder Südfrankreich 
sucht. Rud. Creutz, Der Arzt Constantinus Africanus von Monte Cassino (1—44; 
um 1010—1087; der Vermittler der arabischen medizinischen Literatur) Rom. 
BauerreiB, Abt Alban von Seeon, ein bayerischer Bildhauer des 12. Jahrhunderts 
(200—204). L. Hartmann, Der Physiker und Astronom P. Placidus Heinrich von 
St. Emmeram in Regensburg 1758—1825 (167—182). Laur. Hanser, Thaddäus 
Siber als Ordensmann (204—208; in Scheyern, starb 1854 als Mathematikprofessor 
in München). — Im ersten Heft ist die von Bauerreiß bearbeitete Bibliographia Bene- 
dictina für 1928 abgedruckt. 

Breslau. W. Dersch. 


Pontificum romanorum diplomata papyraces in tabulariis Germaniae, 
Hispaniae, Italiae Band I: 15 Briefe aus der Zeit von 819 bis 1022 auf 


Nachrichten und Notizen 421 


43 Tafeln im Formate von 64x88 cm. 1931, in Mappe AA 360.—. 
M. Bretschneider, Rom, Via Cassiodoro 19. 

Von den fast 4000 bekannten Papstbriefen aus der Zeit vor dem Jahre 1000 
sind nur ca. 30 im Original erhalten. Ihre außerordentliche Bedeutung für die Ge- 
bräuche und Regeln der päpstlichen Kanzlei, für die Paläographie und Diplomatik 
der Papsturkunden ist offensichtlich. Es ist darum auf das lebhafteste zu be- 
grüßen, daß sie in möglichst originalgetreuer Wiedergabe der Forschung zugänglich 
gemacht werden. Die Durchführung dieser Aufgabe ist der in derartigen Arbeiten 
bestens erfahrenen Firma R. Danesi übertragen worden, nachdem die Originale 
in der Vatikanischen Werkstatt durch Dr. H. Ibscher, Berlin einer gründlichen 
Überholung unterworfen worden sind. Der vorliegende 1. Band enthält 10 in 
Spanien, 3 in Italien und 2 in Deutschland liegende Originale, deren ältestes 
das Privileg Paschalis’ I. für Ravenna vom Jahre 819, das jüngst: das Privileg 
Benedikts VIII. für Hildesheim vom Jahre 1022 fst. Die übrigen Originalurkunden 
befinden sich in Frankreich und sollen im 2. Band nach den gleichen Grund- 
sätzen vorgelegt werden. 


Richer, Histoire de France (888—995), éditée et traduite par Robert Latouche, 
tome I°", 888—954. (Les classiques de l'histoire de France au moyen âge, 
publiés sous la direction de Louis Halphen, vol. XIL) Paris, H. Champion, 
1930. XVII u. 303 S. 

In der Sammlung „Les classiques de l'histoire de France au moyen äge«, die 
seit 1923 unter der Leitung von L. Halphen erscheint und mit einer Neuausgabe 
der „vita Karoli" Einharts von Halphen eingeleitet wurde, veröffentlicht Rob. 
Latouche in 2 Bänden eine Ausgabe der „historiae“ des Reimser Mónchs Richer 
aus dem 10. Jahrhundert. Dem lateinischen Text ist eine franzósische Übersetzung 
gegenübergestellt. 1930 erschien der 1. Band, der die Bücher 1 und 2, den Zeit- 
raum von 888 bis 954, umfaBt. 

Text und Apparat beruhen auf einer Revision der Ausgaben von Pertz (1839) 
und Waitz (1877) in den Mon. Germ. hist., die L. mittels Photographien der einzigen 
erhalte: en Hs. (Bamberg. E. III. 3, saec. X; Richers Autograph) nachprüfte. 
Wichtigere Abweichungen vom Waitzschen Text und Apparat sind mir, soweit ich 
Stichproben machte, nicht aufgefallen. Allerdings ist aus der neuen Ausgabe kein 
so genaues Bild der handschriftlichen Verhültnisse zu erlangen wie bei Waitz. 
L. weist nicht auf die Foliierung der Hs. hin, er lóst jedes € der Hs. in ae auf (und 
schreibt so z. B. praelium u. caedere f. cedere!) und geht an einzelnen Stellen 
auch weniger genau auf die Kenntlichmachung der vielen Abkürzungen und späteren 
Zusätze in der Hs. ein als Waitz. Aber seiner Ausgabe liegen wohl philologische 
Zwecke ferner, und abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist der Text sehr genau 
und sauber. — Der Kommentar, der zugleich die Abhüngigkeit Richers von Flo- 
doard im einzelnen behandelt, ist ausführlich und kritisch gehalten; er verarbeitet 
die neuere franzósische Literatur zur Geschichte des 10. Jahrhunderts, vor allem 
die Forschungen Ph. Lauers (,, Louis IV d’Outremer‘‘ und die Ausgabe der Annalen 
Flodoards). Leider fehlen Erörterungen über Sprache und Stil Richers fast ganz, 
denn auch die Einleitung bringt darüber nur ganz wenig. — Die Übersetzung hält 
sich sehr eng an den lateinischen Text, über ihre sprachlichen Qualitäten steht mir 
kein Urteil zu. — In der Vorrede stellt L. die wenigen sicheren Daten zusammen, 


422 Nachrichten und Notizen 


die wir über Richer und sein Buch besitzen. Es folgt ein wohl abgewogenes, kri- 
tisches Urteil über Methode, Wert und Wesen von Richers Geschichtsschreibung, 
wobei L. dessen Unzuverlässigkeit und Vorliebe für rhetorische Effekte in den 
Vordergrund rückt. Eine kurze Beschreibung des Hs., eine Liste der wenigen Aus- 
gaben und Übersetzungen des Werkes und eine Literaturübersicht schließen die 
Vorrede ab. — Die Anm. 3, p. VIII, enthält die Berichtigung eines Irrtums, der 
seit Pertz’ Ausgabe vom Jahre 1839 stets wiederholt wurde: der Eigentumsvermerk 
im Paris. 4789 (lex Salica) ist von Pertz falsch gelesen worden und hat mit Richer 
nichts zu tun (cf. M. Manitius, Geschichte der latein. Lit. des Mittelalters II [1923] 
p. 2178). 
Waldenburg i. 5a. K. Manitius. 


Willy Hoppe, Lenzen. Aus tausend Jahren einer märkischen Stadt 929— 1929. 
Lenzen (Elbe) 1929. Selbstverlag des Magistrats. 180 S. 89. 

Nach Brandenburg hat auch die kleine Prignitzstadt Lenzen ihre Tausend- 
jahrfeier gehabt, für die W. Hoppe auf Grund eingehender Studien eine sehr 
lesenswerte Geschichte geschrieben hat. Bei „Lunkini“, der ,,Bogenburg"', setzt 
929 der GegenstoB König Heinrichs I. gegen die Redarier an. Lenzen ist damals 
wohl nur ein slawischer Burgwall auf der Kuppe des Hügels gewesen, der jetzt die 
Stadt überragt. 1043 unter dem Obotriten Gottschalk ist dort ein Kloster gegründet 
worden, dessen Lage unbekannt ist, doch beginnt damit das Deutschtum in der 
Gegend festen Fuß zu fassen. Verfasser schildert die mannigfachen Schicksale des 
Ortes unter den Askaniern, wo Lenzen als Zollstätte erwähnt wird. 1224, um 
welche Zeit Lenzen auch zur Stadt erhoben wird, ist dort König Waldemar von 
Dänemark als Gefangener. Nach dem Aussterben der Askanier bis ungefähr 1324 
ist die Stadt unter der Lehnshoheit der Havelberger Bischófe. Seitdem ist sie bei 
den Markgrafen von Brandenburg, die sie verschiedentlich verpfánden und später 
Amtsleute einsetzen. In meisterhafter Weise versteht der treffliche Kenner der 
brandenburgischen Geschichte die Entwicklung der Stadt in die Allgemeingeschichte 
hineinzusetzen. Doch nicht nur die äußere Entwicklung lernen wir kennen, sondern 
wir folgen auch gern dem Verfasser, wenn er uns in die inneren Verhältnisse des 
kleinen Landstädtchens einführt, das abseits großer VerkehrsstraBen keinen großen 
Aufschwung nehmen konnte. Nicht einmal der Elbzoll gehörte ihm. Im Vergleich 
zu der Geschichte Brandenburgs ist diese Geschichte als Vorbild für diejenigen 
Orte anzusehen, denen das Geschick nicht vergönnt hatte, sich durch ihre günstige 
Lage zu einer bedeutenden Stadt zu entwickeln. 

Neuruppin. Lampe. 


Hans Tümmler, Die Geschichte der Grafen von Gleichen von ihrem Ursprung 
bis zum Verkauf des Eichsfeldes, cr. 1100--1294. Neustadt-Orla 1929, 

J. K. G. Wagnersche Buchdruckerei. 
Die Arbeit, die ihre Vorgänger ergänzt und übertrifft, ist auf Anregung von 
O. Dobenecker entstanden und behandelt in 3 Abschnitten den Aufstieg der Grafen 
von Tonna im 12. Jahrhundert, die Grafen von Gleichen auf der Höhe ihrer Macht 
in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, und die Grafen von Gleichen im Zeichen 
ihres wirtschaftlichen Niederganges. An der Spitze der Stammreihe steht Graf 
Erwip I. von Tonna (um 1100), der sich auch Graf von Thüringen nennt wie sein 
Sohu, Enkel und Urenkel, die Vögte von Erfurt und des Erfurter Petersklosters 


Nachrichten und Notizen 423 


sind. Durch ihre engen Beziehungen zum Erzstift Mainz, die sich auch durch die 
Belehnung Erwins II. mit der Burg Gleichen (kurz vor 1162) ausdrücken, erringen 
sie sich oft als Gegner der Landgrafen von Thüringen eine sehr einflußreiche Stellung. 
Aber durch ihre Teilnahme an der Reichspolitik sowie durch ihren Kampf gegen 
die Markgrafen von Meißen wird ihr wirtschaftlicher Niedergang angebahnt, der 
sich durch den Verkauf zahlreicher Besitzungen kundtut und einen vorläufigen 
Abschluß im Verkauf der Herrschaft Gleichenstein im Eichsfeld (1294) durch den 
jüngeren Zweig des Hauses findet. Dieser hatte schon längst in Dänemark, wohin 
er durch die Orlamünder infolge verwandtschaftlicher Beziehungen zum Königs- 
hause gekommen war, eine neue Heimat gefunden. Eine Beilage untersucht, wann 
die Grafen von Tonna in den Besitz der Burg Gleichen kamen, und sucht zu erweisen, 
daß Erwin II. mit ihr belehnt worden ist. Zeittafeln, Register, Stammtafeln und 
ein ausführliches Literaturverzeichnis fehlen nicht. Christina ist eine Tochter 
Albrechts III. und nicht seiner Schwester. Vgl.sonst die Besprechung Devrients 
in der Zeitschr. f. Thürgua. 29. S. 260ff. 
Neuruppin. Lampe. 


Joseph Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diózese Hildes- 
heim im Mittelalter. Freiburg i. Br. (J. Waibel) 1928, (VIII, 188 S.). 

Die vorliegende Abhandlung verdankt noch einer Anregung G. v. Belows ihre 
Entstehung und wurde bereits 1913 als Freiburger Dissertation eingereicht. Obwohl 
die Drucklegung dem Verfasser erst lange nach dem Weltkriege möglich geworden 
ist, lag kein Anlaß zur Umarbeitung vor, indessen ist die neuere Literatur nach- 
getragen und verwertet worden. Über die mittelalterliche Pfründenbesetzung be- 
kommen wir durch Ahlhaus’ Arbeit erstmalig für Nordwestdeutschland eine wertvolle 
Ergänzung zu süddeutschen Studien auf demselben Gebiete. Das Ergebnis ist im 
Vergleich mit Oberschwaben, wo nach G. Kallens Untersuchungen etwa 31 v.H. 
Laienpatronaten 69 v. H. geistliche Patronate und Inkorporationen gegenüberstanden, 
in Norddeutschland für die Laienpatronate günstiger; das Verhältnis ist in Hildes- 
heim etwa 36,5:63,5 v.H. EineUntersuchung, die noch weiter nach dem Norden fort- 
schritte, dürfte in Friesland ein Überwiegen des Laienpatronats ergeben. 

Die Feststellung der Patronate begegnete nicht geringen Schwierigkeiten, da eine 
große Masse von Einzelurkunden aus noch ungedruckten Kopiaren heranzuziehen 
war; erleichtert wurde sie durch reformatorische Kirchenvisitationsprotokolle. 
So kann der Verfasser im 2. Kapitel doch eine ziemlich genaue Patronatsstatistik 
darbieten. Interessant ist übrigens das Ergebnis, daB die Archidiakonate mit über- 
wiegend geistlichem Patronat sich fast decken mit dem Teil der Diózese, wo der 
Bischof zugleich Landesherr ist. Das letzte Kapitel handelt über die Rechtsverhält- 
nisse des geistlichen Patronats, die Rechte und Pflichten des Patrons u. à. Der 
Terminus „incorporare“ läßt sich im Hildesheimschen zuerst 1288 nachweisen. Zur 
Klärung des Rechtsverhältnisses der Inkorporation, das in der kirchenrechtlichen 
Literatur bisher weniger als das Patronatrecht beachtet wurde, bringt Ahlhaus 
aufschlußreiche Belege. Schon dadurch erweist sich die Arbeit als ein wertvoller 
Beitrag zur kirchenrechtlichen Literatur; ein Autoren- und Ortsregister, bei dem 
leider die Ortsnamen in den Anmerkungen oft übergangen werden, sind eine will- 
kommene Zugabe. 

Oldenburg i. Old. Hermann Lübbing. 


424 Nachrichten und Notizen 


Hävernick, Walter, Der Kölner Pfennig im 12. und 13. Jahrhundert (Beiheft 18 
zur Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte), 219 Seiten. 
Verlag von W. Kohlhammer in Stuttgart, 1930. 

Im Anfang dieser sorgfältigen und ergebnisreichen Studie wendet sich der 
Verf. gegen die Hypothese von Eheberg über die Territorialität des Geldes und 
seine beschränkte Geltung während der Dauer eines Marktes; er weist aus den Münz- 
funden nach, daß der Geldumlauf weder zeitlich noch lokal begrenzt war. Mit der 
Überlassung des Münzrechts erlangte aber der Beliehene die volle Selbständigkeit 
und Verfügung über das Münzwesen, wodurch die fiskalischen Gesichtspunkte 
in den Vordergrund traten; die Verschlechterung des Münzfußes auch an den größeren 
Münzstätten war die Folge, aber auch die Verpflichtung des Münzherrn zur Aus- 
prägung nach eigenem Schrot und Korn und unter eigenem Bild, die unberechtigten 
Nachprägungen vorbeugen sollten. Dadurch, daß der Kölner Denar schwer und 
vollwichtig geprägt wurde, schuf er sich ein großes Umlaufsgebiet, das so ziemlich 
den ganzen Niederrhein und Mittelrhein umfaßte, so daß er ebenbürtig neben dem 
für Baiern und Österreich maßgebenden Regensburger Denar stand. Im Bopparder 
Vertrag 1282 gewährte König Rudolf sogar dem Kölner Erzbischof Siegfried die 
Gleichberechtigung der von ihm geprägten Münzen im ganzen Reiche. Aber fast 
zur gleichen Zeit nahm die Vormachtstellung des Kölner Denars ein Ende. Die 
Periode der territorialen Pfennigmünze wurde abgelöst durch das Aufkommen der 
Großsilberprägung und das Vordringen der Goldmünzen. Heller sind seit der 
Mitte des 13. Jahrhunderts am Mittelrhein nachweisbar, wenig später Turnosen 
in Köln selbst. Der Münzfuß der Mark ergibt sich aus einer Urkunde von 1166, 
wonach sie auf 144 Pfennige kam; sie war leichter als die um 1170 auftauchende 
schwere Mark (magna marca), aus der bei gleichbleibendem Denargewicht 160 
Denare geschlagen wurden; denn durch die Münzfunde des 12./13. Jahrhunderts 
steht fest, daB das Gewicht der Kölner Denare in dieser Zeit unverändert geblieben 
ist, wie schon Lamprecht und Kruse angenommen hatten. 

In einer wichtigen Einzeluntersuchung weist der Verf. nach, daß der Kölner 
Erzbischof zweierlei Münzstätten gehabt hat, solche, welche in seinem angestammten 
Territorium lagen, und solche im Herzogtum Westfalen, insgesamt 13, und an einer 
größeren Zahl als Mitbesitzer beteiligt war. Besonders interessant, aber auch mühsam 
ist die Feststellung, die der Verf. über das Umlaufsgebiet des Kölner Pfennigs 
gemacht und durch Tabellen und kartographisch anschaulich gestaltet hat mit 
Abgrenzung gegen die Umlaufsgebiete anderer Denare; sie ist begründet durch 
Münzfunde und urkundliche Erwähnungen und daher durchaus zuverlässig, Auf 
der Karte zeigt sich das Gebiet als ein langgestreckter mehrfach ausgebauchter 
Gürtel, der von den Niederlanden bis an die Nahe und in die Gegend von Frank- 
furt reicht. 

Köln. Herm. Keussen. 


Paul Reinhard Beierlein, Geschichte der Stadt und Burg Elsterberg i. V. 
2. Band: Geschichte der Kirche und Schule. Dresden-A. (1929) Selbstverlag 
des Verfassers. 8°. VIII u. 292 S. mit 8 Bildbeilagen. 

Dieser Band, der die Geschichte der Kirche und der Schule behandelt, will 
mir besser gefallen, als der Urkunden- und Regestenband. Weit über die Hälfte 
dieses Werkes behandelt die Geschichte der Kirche, deren Bau nach den Aus- 


Nachrichten und Notizen 425 


führungen des Verfassers nicht vor 1200 anzunehmen ist. Nach der allgemeinen 
kirchlichen Entwicklung wird der Kirchensprengel und besonders die Filialkirchen 
Steinsdorf und Holmdorf behandelt. Wir erfahren, was über die geistlichen Ge- 
bäude zu ermitteln war. Die Kaplane und Prediger vor der Reformation, die Archi- 
diakonen und Diakonen nach der Reformation, sowie die Kirchbeamten werden 
in ihrem Wirken geschildert. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem Schul- 
wesen und bringt wieder erst eine allgemeine Entwicklung des Schulwesens, dann 
die der Mädchenschule und der Knabenschule. Auch hier lernen wir die Lehrer- 
schaft in ihrem Wirken kennen. Im Text und in den Anmerkungen werden noch 
eine ganze Anzahl Urkunden gegeben, die der 1. Band nicht bringt. Am Schluß 
lernen wir die Elsterberger kennen, die von 1443—1792 auf den Universitäten 
Leipzig, Erfurt, Wittenberg, Jena, StraBburg und Frankfurt a. d. O. studiert haben, 
soweit sie aus gedruckten Quellen entnommen werden konnten. Das ausführliche 
Register entspricht allen Anforderungen. — S. 11, deutet wohl doch der Ausdruck 
„in aller Massen als wie die gehabet und besessen haben“ darauf hin, daß die Kur- 
fürsten das Patronatsrecht und nicht nur ein Vorschlagsrecht gehabt haben. Wenn 
S. 93 davon gesprochen wird, daß die Bauern bei Ablieferung des Zinsgetreides 
vom Pfarrer nach genau vorgeschriebener Weise beköstigt werden mußten, so hätte 
ich gern die Beschreibung dieses doch kulturgeschichtlich wichtigen Herkommens 
gehabt. Hoffentlich gelingt es dem fleiBigen Verfasser, dieses für die Geschichte 
des Vogtlandes so wertvolle Werk durch die Herausgabe des 3. Bandes, der die 
Geschichte des Schlosses und der Stadt im engeren Sinn behandeln und wertvolle 
Beilagen bringen soll, uns recht bald zu geben. 
Neuruppin. Lampe. 


Georg Sello, Oestringen und Rüstringen. Studien zur Geschichte von Land und 
Volk. Oldenburg i. O. 1928, Littmann. XVI, 406 S. i 

Als Georg Sello im Sommer 1926 die so oft geführte und sehr gefürchtete 
kritische Feder für immer fortlegte, hinterließ er der Nachwelt ein letztes Ver- 
mächtnis seiner friesischen Lieblingsforschungen. Es ist eine unvollendete, von 
seinem Sohne Wolfgang Sello gewissenhaft betreute Neuauflage seiner 1898 er- 
schienenen „Studien zur Geschichte von Oestringen und Rüstringen“, die damals 
wegen mangelnden Interesses in nur 100 Exemplaren gedruckt werden konnten, 
inzwischen aber ihren Wert vielfach bewiesen haben. Vor allem waren sie unent- 
behrlich geworden durch die am Schluß gedruckten „Kleinen friesischen Chroniken“, 
und es ist sehr schmerzlich, daß bei der Neuauflage gerade diese Quellen nicht wieder 
mit aufgenommen sind. (Es ist dringend zu wünschen, daß die ostfriesischen, 
oldenburgischen und bremischen Landesgeschichts-Forscher und -Vereine endlich 
eine Ausgabe derselben und anderer einschlägiger Chroniken, darunter in erster 
Linie der kurzen Annalen des Dominikanerklosters in Norden und der Bremischen 
Chronik von Renner, bewerkstelligen!) 

G. Sello konnte in 25 jähriger archivalischer Tätigkeit ein gewaltiges Material 
für einen kleinen Bezirk des Oldenburger Landes ansammeln, so daB die Beherr- 
schung des Stoffes ihm erhebliche Schwierigkeiten bieten mußte. In der Tat ist 
er nicht immer Herr der Stoffmenge geworden, und man ertrinkt selbst fast in der 
Flut der Probleme, der kritischen Erörterungen usw., unter denen sich einzelne 
von juristisch-subtilster Art befinden, die man lieber in einem Zeitschriftenaufsatz 


426 Nachrichten und Notizen 


läse. Im hohen Alter hat Sello es nicht mehr vermocht, wissenschaftliche Anmer- 
kungen vom Text zu trennen, so daß die Lektüre oft qualvoll wird. 

Nach einer 54 Seiten langen Einleitung werden im zweiten Abschnitt die Terri- 
torien des Jeverlandes, Rüstringen, Oestringen, Wangerland, Wangerog mit 
ihren Burgen, Häuptlingen usw. besprochen. Kapitel 3 und 4 handeln von Stadt 
und Burg Jever, denen sich ein antiquarisches Kapitel über Jeverland und das 
Gudrunlied anschließt, worin starke Nachklänge der Normannenzeit in Friesland 
nachgewiesen werden, Bedauerlich ist, daß Sello dab i die neuere Literatur nicht 
mehr verfolgt hat, so daß man von germanistischer Seite nicht alles übernehmen 
wird, ohne nachzuprüfen. Kapitel 6 und 7 handeln über das Dominikaner- 
kloster Oestringfelde und dessen unglaublich verstümmelte Chronik, deren 
kritische Untersuchung ein Hauptverdienst Sellos bleiben wird. In Kapitel 8 
finden wir nützliche Stammtafeln, die einen guten Leitfaden durch die verworrene 
Genealogie friesischer Adelsfamilien darstellen. Kapitel 9 endlich ist ein 
überarbeiteter Abdruck seiner 1903 erschienenen Monographie über den Jade- 
busen, die endlich einmal von den zünftigen Geographen beachtet werden und mit 
der irrigen Vorstellung über die Entstehung dieses verhängnisvollen Meerbusens 
aufräumen sollte. Die dazugehörigen Karten sind vorsichtig rekonstruiert, dürften 
aber einer kritischen geologischen Betrachtung, die von den Bohrungen H. Schüttes 
zu erwarten ist, nicht immer standhalten. Beigegeben sind dem Buche außer den 
Karten 4 Tafeln friesischer Siegel mit Erläuterungen, ferner zahlreiche ältere und 
neuere Abbildungen. Ein sehr sauber gearbeitetes Register erschließt den reich- 
haltigen Inhalt der Studien, an denen kein Forscher der friesischen Marschgebiete 


vorübergehen kann. 
Oldenburg i. O. Hermann Lübbing. 


Analecta Praemonstratensia. Tomus V (Tongerloae 1929). 

Die Aufsatzreihe von A. Zak, Episcopatus ordinis Praemonstratensis wird 
zu Ende geführt (46—56, 132—147, 289—249). Für die Brandenburger Bischöfe 
ist jetzt der neue Band der Germania sacra I 1 (1929) heranzuziehen. À. Erens 
(Les soeurs dans l'ordre de Prémontré, S. 5—26) behandelt eine bemerkenswerte 
Seite des Ordenslebens, über die wir durch St. Hilpischs O.S.B. Buch ,,Die Doppel- 
klöster“ (1928) für die Frühzeit gut unterrichtet sind. Zur Geschichte der deutschen 
Prämonstratenserstifte ist zunächst die gründliche Arbeit von J. Ramackers: 
Adlige Praemonstratenserstifte in Westfalen und am Niederrhein (200—238, 
320—343) hervorzuheben. Sie weist nach, daß in den der westfälischen Zirkarie 
angehörigen Stiften Kappenberg, Varlar, Klarholz, Hamborn und Scheda seit 
etwa 1200 die ritterschaftlichen Geschlechter überwiegen. Eine ähnliche Unter- 
suchung für das Kolonialland wäre wünschenswert. Th. Paas veröffentlicht wieder 
Beiträge zur Geschichte von Steinfeld (Reliquien des hl. Norbert 1627 und ein 
Gelöbnis-Formular von 1436 bei Übertragung eines Beneficiums). Die Aufsätze 
von H. Kissel über Knechtsteden (57—66), Arnstein (148—156) und Schussen- 
ried (374—382) bringen nichts Neues und nennen für Arnstein die neueste Literatur 
nicht. Über belgische Stifte handeln Q. Nols, Les anciennes cures de l’abbaye 
du Parc (109—120), J. A. Versteylen, Les chartes de fondation de l'abbaye du 
Parc (121—131, Urkunde Friedrichs I. von 1154 mit Faksimile), M. de Meule- 
meester, Les soeurs Norbertines de Tusschenbeek (192—199, 306—319), A. Erens, 


Nachrichten und Notizen 427 


De valsche Stichtingskronijk der Abdij Tongerloo (844—373) und Em. Val- 
vekens, Rumoldus Colibrant, eerste Abt van Postel ( 1626), een figuur uit de 
Premonstratenzer Reformatie (27—45) und De Admonitiones van prelaat Andries 
van Sint-Michiels te Antwerpen 1588 (250—260). Die gute Lówener Dissertation 
(1929) des P. Em. Valvekens, des Sekretürs der „Commissio historica ordinis 
Praemonstratensis": De Zuid-Nederlandsche Norbertijner Abdijen en de Opstand 
tegen Spanje (Maart 1576-1585) wird S. 387—395 ausführlich von Lefèvre be- 
sprochen. — E. Becks Aufsätze ,,The appropriated churches of the English White 
Canons“ (97—108, 177—191, 289—305) sind für die englischen Praemonstratenser- 
stiftungen beachtenswert. — Zwei Anzeigen über denselben Aufsatz (J. Greven, 
Die Schrift des Herimannus quondem Judaeus de conversione sua opusculum, 
S. 406) hintereinander zu drucken, ist überflüssig. Im Anhang werden fortlaufend 
die Urkunden von St. Katharinenthal und die Kapitelsprotokolle der schwäbischen 
Zirkarie (1578—1688) veröffentlicht. 


Breslau. W. Dersch. 


Ludwig Götze, Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal. Neudruck der 1873 
erschienen 1. Auflage. Mit einer Ergänzung von Kupka, Stendal 1929. 8". 
642 S. Verlag Hermann Geißier, Inh. Karl Dannemann. 

Da die 1. Auflage dieser wertvollen Stadtgeschichte seit Jahren völlig vergrifien 
war, hat sich der genannte Verlag entschlossen, sie neu aufzulegen und von Kupka 
von 1800 bis zur Gegenwart ergänzen zu lassen. Allerdings ist es kein Wiederabdruck 
des alten Werkes, da verschiedene Kürzungen und Erweiterungen vorgenommen 
sind. Mit dem, was ausgelassen und hinzugefügt ist, kann man völlig einverstanden 
sein. Allerdings hätte, da doch nicht der alte Text wiederabgedruckt ist, vielleicht 
noch einiges auf Grund neuer Forschungen hinzugefügt werden können. So 2. B. 
hätte das Verzeichnis der Ratsmänner ergänzt werden können. Wertvoll ist das, 
was Kupka teils als Überarbeitung und Ergänzung der G.'schen Geschichte. teils als 
Fortführung der Arbeit bis zur Gegenwart uns bietet, und das allen wissenschaft- 
lichen Anforderungen standhält. Auch das Namenregister von Kurt Meyerding 
de Ahna ist eine wertvolle Bereicherung. Danach hätte aber auch das zweite alpha- 
betische Register, das von Goetze übernommen und ergänzt ist, sorgfältiger durch- 
gesehen werden müssen. Ein Orts- und Sachregister hätte genügt. Die Personen- 
namen sind hier nur ungenügend angeführt. Aber auch verschiedene Orte fehlen. 
Doch sollen diese kleinen Ausstellungen den Wert des Buches durchaus nicht be- 
einträchtigen. Mag jede Stadt so liebevolle Bearbeiter für das Werden ihres Gemein- 
wesens finden. 


Neuruppin. Lampe. 


Die Protokolle des Mainzer Domkapitels seit 1450. IIT. Band. 1. Hälfte, 
Aus der Zeit des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514—1545, be 
arbeitet und herausgegeben von D. Fritz Herrmann. Paderborn, Ferdinand 
Schöningh, 1929. 508 S. 49. 

Unter den reichen Handschriftenschützen des ehemaligen Mainzer Kurstaates, 
die heute im Bayrischen Staatsarchiv Würzburg liegen, nehmen die Protokolle des 
Mainzer Domkapitels einen besonderen Platz ein. Lebendiger als jede andere Quelle 
lassen sie die Sorgen und Wünsche, die innere und äußere Politik dieser mächtigen, 


428 Nachrichten und Notizen 


zumeist aus Angehörigen des rheinischen Adels zusammengesetzten Körperschaft 
in ihren unmittelbaren Äußerungen erkennen. Die Maßnahmen eines zähen und 
mächtigen Gegenspielers des infolge seiner chronischen Geldnöte oft so ohnmächtigen 
Erzbischofs treten darin zutage. Überdies zeigen sie den — ähnlich dualistisch wie 
im typischen Ständestaat aufgebauten — Verwaltungsapparat eines wichtigen und 
eigenartigen deutschen Territoriums und überliefern mit größter Deutlichkeit das 
Technische der Beratungen, Wahlen, Beschlüsse und aller möglichen Rechtshand- 
lungen. Dazu bieten sie auf Schritt und Tritt wertvolle Nachrichten zur Geschichte 
des Kulturlebens, neben wirtschaftlichen Dingen — eine große Rolle spielt die Für- 
sorge des Kapitels für Menge und Güte seiner Weine — stehen Angaben über welt- 
liches und geistliches Gerichtswesen, aus den Bereichen von Kunst und Religion. 

Diese Quellen im Original zu benutzen, ist sehr belehrend und erfreulich. Die 
Historische Kommission für Hessen plant schon seit mehr als 20 Jahren ihren Druck 
und hat nun die erste Hälfte des 3. Bandes herausgebracht, die die Jahre 1514—1531 
umfaßt. Den Text vollständig abzudrucken, war unmöglich; daher werden deutsche 
Inhaltsangaben von den anfangs meist lateinisch, später überwiegend deutsch ab- 
gefaßten Einträgen geboten. Sie füllen allein für die genannten Jahre 508 große 
Quartseiten. 

Auf die mühevolle Editionsarbeit des verdienten Archivrates D. Fritz Herr- 
mann, der das Vorliegende bearbeitet und erläutert hat, werden wir zurückkommen, 
wenn der Band abgeschlossen ist. Der politische und der Kirchenhistoriker wird die 
ihn berührenden Zeitabschnitte ganz durcharbeiten müssen; möge für den an einzel- 
nen Personen oder Sachgebieten Interessierten ein reichhaltiges Register sorgen, in 
dem z. B. der Biograph Karls von Miltitz von den Verhandlungen auf S. 243 an 
alles Einschlägige bis zum letzten Urlaub (S. 424) und der Verfügung über die Kurie 
des Verstorbenen (S. 426) und der Musikhistoriker die Orgelausbesserung auf S. 14 
finden kann. 

Leipzig. | Paul Kirn. 


Paul Strassmann, Aus der Medizin des Rinascimento. An der Hand des „Leben 
von Benvenuto Cellini“ nach der Übersetzung Goethes. Mit 22 Abb. Leipzig, 
Georg Thieme Verlag 1930. 49. 56 S. 

Paul Strassmann, der vielbeschäftigte Berliner Gynäkologe, beschenkt uns 
mit, einer Studie zur Geschichte der Medizin im Zeitalter Cellinis. Die heute viel zu 
wenig beachtete Übersetzung des Lebens von Benvenuto Cellini ist auch ihm zu 
einem starken Erlebnis geworden. Die zahlreichen medizinischen Berichte, vor 
allem die Krankheitsschilderungen, die dieses Werk enthält, reizen den praktischen 
Arzt geradezu zu einer Darstellung, und darum wendet sich die Str.'sche Publikation 
in erster Linie an die Ärzte. Strassmann hat versucht, in knapper, skizzenhafter 
Form Ausblicke auf das gesamte kulturelle Leben im Zeitalter Cellinis zu ent- 
wickeln und vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beleuchten. Kritisch 
wäre etwa zu bemerken, daß der Einfluß Galens auf das Abendland im Mittelalter 
entschieden zu stark überschätzt wird, — nicht anderthalb Jahrtausende, sondern 
die Hälfte der Zeit ist er wirksam gewesen — während Strassmann zu Unrecht in 
Albertus Magnus zu sehr den einseitigen Nachbeter des Aristoteles erblickt, der wie 
die neuere Forschung zeigen konnte, selbständiger Meinungen durchaus nicht ganz 
entbehrte. In dem Abschnitt über Astrologie wird vor allem ein Hinweis auf die 


Nachrichten und Notizen 429 


engen Zusammenhänge mit der Konstitutionslehre vermißt, die in den „Planeten- 
kindern“ scharf umrissene Typen geschaffen hat. Der Hinweis darauf, daB sich 
in Vesals Anatomie noch teilweise Abbildungen finden, die tierische Verhältnisse 
wiedergeben, ist richtig, und darf vielleicht durch den Hinweis ergänzt werden, 
daß vor allem an der Darstellung der Leber deutlich die allmähliche Überwindung 
des Tierpräparates zu verfolgen ist. 

Strassmanns Studie ist in einer sehr hübschen, sorgfältig gedruckten und vor- 
bildlich illustrierten Fassung erschienen, die auch den Ansprüchen des verwöhnten 
Bücherfreundes entsprechen dürfte. 

Leipzig. Ludwig Englert. 


G. Constant (Professeur à l'Institut Catholique de Paris), La Réforme en Angle- 
terre, I. Le Schisme Anglican Henri VIII. (1509—1547). Paris, Librairie 
Académique Perrin et Cie. 1930 (VI, 777 S.). 

Der Verfasser ist durch sein zweibündiges Werk Concession à l'Allemagne 
de la communion sous les deux espéces 1923 in Deutschland nicht unbekannt. 
Nun greift er mit einem neuen umfassend angelegten Werk, dessen 1. Band zur 
Besprechung steht, auf die englische Reformationsgeschichte über. Gründlichste 
Beschäftigung mit Quellen und Literatur ist vorausgegangen. Das Buch enthält 
neben 282 Seiten Darstellung rund 450 Seiten Anmerkungen, in denen C. neben den 
Anlagen auch die Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen gibt. Diese Beherr- 
schung des Stoffes ist der Arbeit in vieler Hinsicht zugute gekommen: Wertvoll 
ist das Einschieben vieler zeitgenössischer Urteile, wichtig die klare Scheidung 
der Verhandlungen in den beiden englischen Kammern u. a. Doch das Buch recht- 
fertigt durch eine besondere Note sein Erscheinen. Constants Urteil über die eng- 
lische Kirche der Zeit lautet: schismatisch, aber orthodox. Daher findet die englische 
Mittelpartei, der Gardiner, Bonner, Tunstall, Stokesley angehórten, stürkste Be- 
achtung. Auch die dogmatische Entwicklung, die an den einzelnen Bekenntnissen 
verfolgt wird, ist unter diesem Gesichtspunkt dargestellt, so daB der Kampf Hein- 
richs VIII. gegen Rom nur eine Episode des ewigen Streites zwischen Kirche und 
Staat ist. Freilich gerade in diesem Punkte wird die Auseinandersetzung ein- 
treten müssen. Denn darf man wirklich die 10 Artikel vom Jahre 1536 als orthodox 
im Sinne der rómischen Kirchenlehre hinstellen? C. sieht sogar in ihrer Begründung 
der Lehre auf die ganze heilige Schrift einen Gegensatz zu den Protestanten, „qui 
rejettent de ce canon divers livres" S. 255. Man wird der Eigenart der englischen 
Theologie, die ja auch in den Verhandlungen mit den Schmalkaldenern stark her- 
vortritt, nur gerecht, wenn man ihrer inneren Verbindung mit dem Humanismus 
nachgeht. Dann bleibt allein die Frage zu beantworten, ob die von den Oxford 
Reformers eingeleitete Entwicklung von innen heraus den Bund mit Rom gesprengt 
hätte, den diese Männer selbst aus Pietät oder Autoritütsbedürfnis festhielten. 

Breslau. Hans Leube. 


Johannes Paul, Gustaf Adolf. 2. Bd.: Schwedens Eintritt in den Dreißigjährigen 
Krieg. Leipzig, Quelle & Mayer 1930. 

Dem ersten Bande seines Gustaf Adolf (vgl. Hist. Vierteljschr. 24, 653, und 
Nils Ahnlund in den Hansischen Geschichtsbl. 33, 1929, S. 225—231) hat Paul 
in der vorgesehenen Einteilung den zweiten folgen lassen. Inzwischen hat er auf 
dem Internationalen Historikertage zu Oslo über „Gustaf Adolf in der deutschen 


430 Nachrichten und Notizen 


Geschichtsschreibung einen Vortrag halten können, der in dieser Zeitschrift 25, 
415ff. abgedruckt ist. Er gibt im wesentlichen das, was er als Vorwort oder Ein- 
leitung für sein eigenes Werk hätte sagen können. Auch in der Festschrift für 
Erich Brandenburg „Staat und Persónlichkeit" hat er einen hierher gehörigen 
Beitrag veröffentlicht: „Die Ziele der Stralsunder Politik im Dreißigjährigen Kriege 

Ein Fünftel etwa des neuen Bandes gibt die Grundlage für des Kónigs Eintritt 
in die Weltpolitik, zeichnet Schwedens innere Entwicklung unter Gustaf Adolf, 
wie sie im Ganzen seiner Regierung bis über seinen Tod hinaus gewesen ist. Diese 
Kennzeichnung des Bodens, auf dem er stand, der Mittel und Menschen, deren er 
sich bediente, ist bei aller gebotenen Knappheit ausreichend und lebendig, auch 
selbständig im Urteil. Dann beginnt mit der Darstellung des Angriffs auf Preußen 
im Jahre 1626 die Geschichte von Gustaf Adolfs auswärtiger Politik, die von nun 
an den Band beherrscht. Von vornherein wird gezeigt, wie er von hoher Warte aus 
alle Kriege in Europa als eine Einheit ansah. Schon in Preußen wird er als der 
Löwe von Mitternacht begrüßt. Wie schwierig seine Lage war, wie er diplomatisch 
und militärisch kämpfen mußte, das wird auch für die nächsten Jahre im Kampfe 
gegen Polen gründlich und schrittweise gezeigt. Betont sei, daß Wallenstein den 
Kampf des Kaisers gegen den Schwedenkönig eröffnet hat, wie mit Recht hervor- 
gehoben wird. Die habsburgischen Vormachtpläne führen zum Kampfe um Stral- 
sund. Es ist sehr gerechtfertigt, daß Paul das diplomatische Spiel gerade hier 
ausführlich, aber auch durchsichtig vorführt. Die zwei Jahre bis zum persönlichen 
Erscheinen des Schwedenkönigs auf dem Boden des Reichs werden in der ganzen 
Breite ihrer politischen Erscheinungen dargelegt, alle Figuren im Schachspiel 
geprüft, Lübecker Frieden und Restitutionsedikt gewürdigt und die langen Vor- 
bereitungen in Schweden für das Eingreifen in Pommern nach Beweggründen und 
Ziel ausgebreitet. 

„Der Kampf um den pommerschen Brückenkopf“, „Magdeburg“ und „Von 
Magdeburg bis Breitenfeld" sind die folgenden Hauptabschnitte. Schrittweise 
in vielfältiger Auseinandersetzung mit G. Droysen und M. Ritter folgt Paul dem 
Weg seines Helden in Krieg und Diplomatie bis zum großen Siege in der ersten 
Feldschlacht. In großer Spannung entläßt er den Leser. 

Leipzig. Hans Schulz. 


Richard Konetzke. Die Politik des Grafen Aranda. Ein Beitrag zur Geschichte 
des spanisch-englischen Weltgegensatzes im 18. Jahrhundert. |. Historische 
Studien, herausgegeben von Dr. E. Ebering, Heft 182.| Berlin, Emil 
Ebering, 1929. 217 S. 

Konetzkis auf archivalischem Material in Wien, besonders aber in Madrid — die 
Berliner Akten scheinen nicht berücksichtigt worden zu sein, obwohl der Verfasser in 
Berlinlebt — beruhende Studie über den GrafenAranda willnichteine Biographie dieses 
spanischen Diplomaten bieten, sondern sie behandelt im wesentlichen nur die 14 Jahre 
von 1773—1787, während deren er Botschafter am Hof von Versailles war, und wenn 
Aranda auch vorher schon in der inneren Politik seines Vaterlandes eine wichtige 
Rolle gespielt hatte, so stand für ihn die AuBenpolitik doch an erster Stelle, und des- 
halb gehören die 14 Jahre seiner Botschaftertätigkeit in Frankreich zu den bedeutend- 
sten scines Lebens. Sein Ziel war die Hebung der internationalen Stellung Spaniens 
gegenüber Frankreich, an das es durch den Bourbonenvertrag von 1761 gekettet 


Nachrichten und Notizen 431 


war, gegenüber England, dessen koloniale Begehrlichkeit die sichere Zukunft des 
spanischen Kolonialreiches in Amerika zu bedrohen schien. Das Mittel war ihm zu- 
nächst die Stärkung seines Heimatlandes im Mittelmeergebiet durch Wiedererlangung 
der in englischem Besitz befindlichen festen Stellungen Gibraltar und Minorca, 
während er der Behauptung der spanischen Macht in Marokko skeptisch gegen- 
überstand, sodann aber besonders die Bekämpfung Englands in Nordamerika. 
Aranda ist es gewesen, der mit Feuereifer die Beteiligung Spaniens am Unabhüngig- 
keitskrieg der englischen Kolonien an der Seite Frankreichs betrieben hat; im Grunde 
genommen eine kurzsichtige Politik, denn wohl wurde England durch den Verlust 
seiner amerikanischen Kolonien empfindlich, wenn auch keineswegs vernichtend, 
getroffen; für Spanien bestand jedoch nunmehr die Gefahr, daB es, da das englische 
Kanada nicht in Betracht kam, fortan neben den Vereinigten Staaten auf dem 
amerikanischen Kontinent die einzige europüische Macht war, und ob die Vereinigten 
Staaten wirklich, wie Aranda hoffte, sich durch ein Gefühl von Dankbarkeit von einem 
Übergreifen auf spanischen Besitz auf die Dauer würden zurückhalten lassen, war 
zum mindesten fraglich; gleichwohl hat er den AnschluB betrieben, weil er England 
überhaupt schwächen wollte, um seine Absichten auf den gesamten Kolonialbesitz 
Spaniens in Amerika auch in der Zukunft zu vereiteln, und unter diesem Gesichts- 
winkel betrachtet, hat Arandas Politik doch eine gewisse Berechtigung. 

Aranda hat seine politischen Ideale an leitender Stelle zu vertreten niemals Ge- 
legenheit gehabt; er hat Ratschläge nach Madrid erteilt, er hat scharfo Kritik geübt. 
weil seine Ratschläge vom Standpunkte der gesamt-spanischen Interessen aus nur 
zu oft nicht befolgt worden sind; die Frage muß deshalb offen bleiben, ob er an ober- 
ster verantwortlicher Stelle seine antienglische Politik, so wie sie ihm während seines 
Aufenthaltes in Frankreich vorschwebte, wirklich in die Tat umgesetzt hätte, in die 
Tat hätte umsetzen können. Und als er schließlich im Jahre 1792 im Alter von 
73 Jahren Staatssekretär des Äußeren wurde, betrachtete er es als seine, wie wir heute 
wissen, letzten Endes unlösbare Aufgabe, gegenüber dem revolutionären Frankreich 
die politische Lage aufrechtzuerhalten, welche einst, vor drei Jahrzehnten, zum Ab- 
schluß des Bourbonenvertrages geführt hatte, weil, wie er wenigstens meinte, die 
Gefahr bestand, daß bei einem Zerwürfnis zwischen Frankreich und Spanien England 
über die spanischen Kolonien in Amerika herfallen würde; sogar die Hinrichtung 
Ludwigs XVI. hat ihn in dieser Neutralitätspolitik nicht wankend zu machen ver- 
mocht, freilich, da damals bereits der Friedensfürst Godoy die spanische Außen- 
politik leitete, war Aranda der eigentlichen Verantwortung überhoben. Es ist, wie der 
Verfasser mit Recht betont, und wie auch der Untertitel seiner gewissenhaften Studie 
hervorhebt, der Gegensatz zu England, der vor allem Arandas politisches Denken und 
Handeln bestimmt, ein Gegensatz, der nicht kontinental umgrenzt ist, der nicht an 
Europa haftet, der vielmehr seine Berechtigung in dem Streben nach der Behauptung 
von Spaniens weltpolitischer Stellung findet, 

Göttingen. Adolf Hasenclever. 


Sonderveröffentlichungen der Ostf&lischen Familienkundlichen 
Kommission. Leipzig. Nr. 1. Kinderbuch der Brauer- und Bäcker-Innung 
der Altstadt-Magdeburg. Hrsg von Ernst Neubauer. 1928. Nr. 2. Das 
Bremer Adreßbuch von 1796. Hrsg. von Hermann Entholt. 1929. Nr. 8. Das 
Woltenbütteler Adreßbuch von 1725. Hrsg. von Paul Zimmermann. 1929: 


432 Nachrichten und Notizen 


Die nun im vierten Jahre bestehende Ostfälische familienkundliche Kommission 
hat beschlossen, „Einzelquellen, die ausschließlich oder überwiegend aus Namen 
und Zahlen bestehen, in Faksimile zu veröffentlichen“. Das ist an und für sich ein 
sehr schöner Gedanke, doch muB man sich fragen, ob sich dabei auch immer die 
Kosten lohnen. In der Hauptsache sollten doch wohl nur solche Handschriften 1m 
Manulverfahren vervielfältigt werden, die sehr wertvoll sind und vielleicht trotz 
aller Konservierungsversuche immer mehr zerfallen. Das trifft wohl für alle drei 
Veröffentlichungen nicht zu. Und doch ist die Herausgabe des Kinderbuches 
wegen seiner Eigenart in diesem Verfahren willkommen. „Ein Kinderbuch ist ein 
Buch, in das die Mitglieder einer Innung ihre Kinder eintragen ließen, um ihnen da- 
durch die Mitgliedschaft urkundlich zu sichern, sobald sie erwachsen waren“, sagt 
der Herausgeber, der bekannte Magdeburger Stadtarchivar. Das Buch enthält 
Eintragungen von 1634 bis 1697. Und das ist der Wert des Buches für Magdeburg. 
Die Zerstörung Magdeburgs vom 10./20. Mai 1631 hatte fast restlos alles urkund- 
liche Material vernichtet. Nun mußte mit allem von vorn angefangen werden. 
Da setzen die Kinderbücher bei den Innungen ein. Die vorliegenden Aufzeichnungen 
bringen auch Kinder, die vor dem Brande geboren sind. Sie enthalten ferner, da 
ja zur Brauerinnung fast alle wohlhabenden Familien der Stadt gehörten, viel über 
diese. Aber gleichzeitig werden dadurch auch die Braugerechtigkeiten wieder fest- 
gelegt. Es ist also ein Buch, das über den familiengeschichtlichen Wert hinaus 
auch große Bedeutung für die Stadtgeschichte hat. Eine treffliche Einleitung und 
ein einwandfreies Register gehen dem Manuldruck voraus. 

Weniger kann ich mich von der Notwendigkeit eines Neudruckes der beiden 
AdreBbücher überzeugen. Es ist sicher auch kulturhistorisch sehr lehrreich, sich 
einmal in diese alten AdreBbücher zu vertiefen, doch das rechtfertigt wohl kaum 
einen Neudruck. Auch bezweifele ich, ob sie gerade für die Familienforschung von 
so überragender Bedeutung sind, daß sich zumal ein Manuldruck als notwendig 
erwiese. Sollte es da nicht auch für die Familiengeschichte wichtigere Quellen geben, 
die veróffentlicht werden kónnten? Ich denke da z. B. an Bürgerbücher, Innungs- 
rollen und Lehnskopiare. Immerhin wollen wir auch diese Veróffentlichungen 
dankbar begrüBen, da nun manch einem die Gelegenheit gegeben wird, sich ein- 
gehend in aller Ruhe in diese Schriften zu vertiefen. Hervorheben móchte ich noch 
die gediegene Einleitung, die P. Zimmermann dem Wolfenbüttler Adreßbuch voraus- 
schickt, in der er auch den ersten Herausgeber, den Kupferstecher Jacob Wilhelm 
Heckenauer, würdigt. 


Adalbert Scharr, Chronik der Familie Klavehn, Halberstadt 1928. Privatdruck. 

Werner Küchenthal, Geschichte des Geschlechtes Küchenthal, Küchendahl, 
Kükenthal, Kückenthal, Kückendahl. 182 S. und 5 Stammtafeln. Braun- 
schweig 1928. Beiträge zur Deutschen Familiengeschichte. Herausgegeben von 
der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte. Band 7. 
Leipzig 1927. 

Die Familie Klawehn stammt aus dem Kreise Neuhaldensleben und läßt sich 
dort seit ungefähr 1600 in ununterbrochener Stammfolge in Süpplingen nachweisen, 
von denen ein Zweig nach Althaldensleben übersiedelt und in der 2. Generation (um 
1815) zum Handwerk und dann zum Leinenhandel übergeht. Dadurch wurde ein 
Grund zum sozialen Aufstieg der Familie gelegt, die heute in Magdeburg eine an- 


Nachrichten und Notizen 433 


gesehene Stellung einnimmt, gleichzeitig aber auch durch den Erwerb eines Muster- 
gutes zur Beschäftigung der Väter zurückgekehrt ist. Scharr hat in lebendiger Dar- 
stellung ein Bild von dem Aufstieg der Familie gegeben und gut ausgearbeitete 
Stammtafeln beigefügt. Als Zeichen selbstbewußten Bürgertums ist das von Guein- 
zius entworfene und gezeichnete Wappen dem Werke vorangestellt, das auch sonst 
reichlich mit gutem Bildschmuck versehen ist. 

Mit großer Sorgfalt hat Küchenthal alle Nachrichten über seinen Namen ge- 
sammelt und legt uns dieses Material vor. Da die Familie zuerst Anfang des 15. Jahr- 
hunderts in der Nähe der Wüstung Kuckenthal in der Grafschaft Hohenstein auftritt, 
so ist die Namengebung nach diesem Orte als die wahrscheinlichste anzunehmen. 
Fast restlos glaubt Verf. alle K. auf einen gemeinsamen Stammvater zurückführen 
zu können. — Einige nicht unterzubringende Namensträger werden gleich zu Anfang 
genannt. — Allerdings fehlen meist, wie Verf. gesteht, die urkundlichen Beweise. 
Beim 2. Hauptstamm (Friedrich) scheint mir der Zusammenhang am fraglichsten 
zu sein, da dort die wirtschaftlichen Verhältnisse ganz anders liegen. Aber sonst wird 
man im großen und ganzen dem Verf. folgen können. Es werden gesondert 3 Haupt-, 
2 Nebenstämme und 3 Linien behandelt. Mit der letzteren Bezeichnung will wohl 
Verf. andeuten, daß der Zusammenhang am fraglichsten ist, obwohl mir die Ver- 
wandtschaft der Großbodungen-Buhlaer Linie mit den Bleichrödern durch Vor- 
namengleichheit sicherer erscheint als die des 2. Hauptstammes. Hierbei sei bemerkt, 
daß Hans Scheffer, gen. Küchenthal sicher kein Sohn erster Ehe, sondern ein vor- 
eheliches Kind ist. Als Quellen kommen für die vorliegende Arbeit außer den Kirchen- 
büchern Urkunden, „Archivalien“ und Leichenpredigten in Betracht. Was sonst 
Verf. als „benutzte Quellen" anführt, sind durchweg Bearbeitungen, die auch aus- 
giebig von ihm, allerdings nicht kritiklos, verwertet werden. Leider fehlt das wohl 
wichtigste Verzeichnis der behandelten K., während Verzeichnisse der angeheirateten 
Personen und der vorkommenden Orte vorhanden sind. Aber was am meisten ver- 
mißt wird, ist, daß Verf. nicht über eine an sich wertvolle Materialsammlung hinaus- 
kommt und eben keine Geschichte, wie der Titel sagt, bietet. An die Geschichte 
eines Geschlechtes sind doch höhere Anforderungen zu stellen, aber als Material- 
sammlung ist die Arbeit sehr verdienstlich. 

Neuruppin. ` Lampe. 


Walter Elze, Der Streit um Tauroggen. Breslau (Ferdinand Hirt) 1926. 88 S. 8°, 

Gewiß kein weit ausschauendes Problem, das E. in dieser Abhandlung unter- 
sucht; die Frage wird an Hand der Quellen einer eingehenden Prüfung unterworfen, 
ob Yorck bei der Konvention von Tauroggen aus eigener Verantwortlichkeit ge- 
handelt hat oder ob er durch geheime königliche Instruktionen gedeckt war. Zu- 
nächst gibt E. eine Übersicht über die Entwicklung der Tauroggenfrage in der 
historischen Literatur von Droysen, der als erster die Nachricht von der geheimen 
Instruktion durch v. Seydlitz in die Literatur eingeführt hatte, ohne sich aber in 
der Annahme der vollen Verantwortlichkeit Yorcks irre machen zu lassen, bis auf 
die neuesten Erörterungen der Frage. Dann wird die Überlieferung des Majors 
von Seydlitz und des damaligen Majors und persönlichen Adjutanten Friedrich 
Wilhelms III., von Wrangel, die beide geheime Instruktionenen für Yorck behaupten, 
in nicht immer ganz glücklichen quellenkritischen Darlegungen untersucht mit dem 
Ergebnis, daß weder die Seydlitzsche Instruktion, Yorck möge „nach Umständen“ 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 28 


434 Nachrichten und Notizen 


handeln, noch die Wrangelsche Überlieferung königlicher Weisungen über eine 
Trennung seines Korps von den Franzosen auf die Konvention von Tauroggen bezogen 
werden können, daß also an der vollen Verantwortlichkeit Yorcks für seine politisch 
wie militärisch bedeutsame Tat nicht mehr zu zweifeln ist. W. 


Ludwig Freiherr von Biegeleben. Ein Vorkämpfer des groBdeutschen Ge- 
dankens. Lebensbild, dargestellt von seinem Sohne Rüdiger Freiherr von 
Biegeleben. Amalthea-Verlag Zürich-Leipzig-Wien 1929, 393 S. 

Die hier durch den Sohn vorgelegte Biographie Biegelebens bedeutet im Grunde 
eine schwere Enttäuschung, zum mindesten für den Historiker, denn er findet in 
diesem Band sehr wenig Neues. Wir lernen in der Biographie, so sehr man manches 
von der Schilderung des Sohnes über den Vater abstreichen muß, einen menschlich 
sympathischen und künstlerisch interessierten Menschen kennen, aber die politische 

Seite seiner Tätigkeit, und damit die Hauptseite, kommt völlig zu kurz. Das liegt 

nur zum Teil daran, daß das vorliegende Buch bereits 1908 abgefaBt ist und die 

spätere Literatur nicht mehr berücksichtigt. Auch nicht deshalb, weil, wie 
verständlich, der Verfasser einen etwas einseitigen antipreußischen und anti- 
bismarckschen Standpunkt einnimmt und sich nicht den Gesichtspunkt zu eigen 
macht, den Srbik in seinem schónen, dem Buch vorausgeschickten Vorwort fordert: 
»Verstehen des Trennenden deutscher Geschichte ist Vorbedingung deutscher Zu- 
kunft." Vor allem deshalb ist das Buch enttäuschend, weil das mitgeteilte Material 
aus dem FamiliennachlaB ziemlich nichtssagend ist und auch der Anhang, auBer 
zwei Denkschriften von 1848, die sich mit dem Gedanken einer Einteilung Deutsch- 
lands in 22 Reichsländer beschäftigen, über die politische Tätigkeit Biegelebens so 
gut wie nichts enthält. Die zahlreichen Privatbriefe, vor allem der Briefwechsel 
Biegelebens mit seiner Frau, sind politisch fast bedeutungslos, auch in der Zeit, 
in der Biegeleben Legationssekretär Hessen-Darmstadts in Wien und dann Unter- 
staatssekretär im Ministerium der Frankfurter Nationalversammlung war. Über die 
politische Entwicklung bis 1848 erfahren wir so gut wie nichts und auch für die Stim- 
mungen in der 48er Zeit sind die Briefe der Frau gelegentlich interessanter als die 
meist ganz farblosen des Gatten. Auch seine Mitteilungen über die Verhandlungen, 
die zum „Interim“ von 1849 führten, sind über Einzelheiten hinaus recht unbedeutend. 

Als Biegeleben dann 1850 nach Wien berufen wurde, und dort im österreichischen 

Staatsdienst Referent für die deutsche Politik Österreichs wurde, bricht die Mit- 

teilung der Korrespondenz vóllig ab, so daB wir über die eigentlich entscheidende 

Tátigkeit Biegelebens überhaupt dokumentarisch nichts erfahren, zumal die Dar- 

stellung des Sohnes nie entscheiden läßt, was sein eigenes Räsonnement und was 

wirklich Ansicht des Vaters war. Immerhin sei verzeichnet, daß er Olmütz als 

Triumph begrüßt und im Grunde darüber hinaus es für einen Fehler hält, daß man 

PreuBen damals einen Vergleich gewührte, anstatt ihm eine entscheidende Niederlage 

beizubringen (S. 250). Diese Auffassung ist auch insofern nicht uninteressant, als 

sie zeigt, daB man Biegeleben doch kaum, wie es im Untertitel heißt, „einen Vor- 
kämpfer des groBdeutschen Gedankens“ nennen kann, denn was er als österreichischer 

Staatsdiener vertrat, war österreichische und nicht groBdeutsche Politik. So spricht 

er selbst in einem Brief bei Übernahme des Amtes von seiner „‚Austriazisierung“ 

(S. 238). 

Marburg/Lahn. Wilhelm Mommsen. 


Nachrichten und Notizen 435 


Edgar Bonjour, Preußen und Österreich im Neuenburger Konflikt 1856/57. 
Bern 1930. 60 S. 89, (Separatdruck aus der „Zeitschrift für Schweizerische 
Geschichte“, X. Jhrg., Heft I.) 

Die auf Grund bisher unbekannter Quellen aus dem Preußischen Geheimen 
Staatsarchiv und dem  Brandenburgisch-PreuBischen Hausarchiv gearbeitete 
Studie untersucht den Streit zwischen Preußen und der Schweiz um das Neuen- 
burger Land vornehmlich nach der ideellen Seite — den politischen Anschauungen 
Friedrich Wilhelms IV. entsprechend — als Aus einandersetzung zwischen den 
Grundsätzen der althergebrachten monarchischen Ordnung und dem modernen 
Prinzip der Revolution. Die, allem politischen Interesse entgegen, von dem preu- 
Bischen König sehnsüchtig erstrebte Solidarität der beiden deutschen Großmächte 
gegen den politischen Radikalismus der Schweiz läßt der Verfasser durch ihre 
Rivalität um die Hegemonie in Deutschland als unmöglich erscheinen; wenngleich 
B. mit gutem Recht auch auf Österreichs gefährdete Lage innerhalb der revolutio- 
nären und internationalen Spannungen jener Epoche hinweist, die in Wien die 
Befürchtung nährte, daß eine kriegerische Lösung des Neuenburger Handels den 
schwelenden Brand der Revolution neu entfachen würde. Selbst gegen die Zu- 
sicherung preußischer militärischer Hilfe zur Behauptung seines Besitzstandes in 
Italien verweigert Österreich eine tatkräftige Unterstützung. Edwin von Man- 
teuffel, der Anfang Januar 1857 in Sondermisssion zu Franz Joseph nach Italien 
geeilt war, kehrte ohne positive Zusicherungen des Kaisers nach Berlin zurück. 

Im Anhang der flüssig geschriebenen Arbeit wird ein Briefwechsel zwischen 
Friedrich Wilhelm IV. und Kaiser Franz Joseph erstmalig veröffentlicht. Bedauerlich, 
daß der Verfasser — mit Ausnahme der eigenhändigen Instruktion des Königs für 
Edwin von Manteuffel — auf die Wiedergabe der wertvollen auf die Mission 
Manteuffels bezüglichen Dokumente verzichtet hat. 

Berlin. Herbert Michaelis. 


Aus genealogischen Zeitschriften. 


Das eifrige Arbeiten am Ausbau der genealogischen Zeitschriften hat angehalten. 
Neue, meist landschaftliche sind entstanden, die die Quellen ihres besonderen Ge- 
bietes aufzuschließen versuchen. Eine große Anzahl von Namensverzeichnissen 
wollen die in den Archiven oder im Privatbesitz befindlichen Quellen der Allgemein- 
heit zugänglich machen. Dazu dienen auch weiter zahlreiche Aufsätze zur För- 
derung der genealogischen Wissenschaft. Als erste nenne ich wieder die Familien- 

Blätter‘. Aus Anlaß des 25jàhrigen Bestehens der Zentralstelle in 
Leipzig hat das Institut begonnen, Ahnentafeln berühmter Deutscher herauszugeben, 
die vorerst in diesen Blättern veröffentlicht werden. Dazu steuert in diesem Ab- 
schnitt bei: Peter von Gebhardt die Ahnentafeln von Oswald Spengler (Vorfahren 
um 1700 aus der Harzgegend)*, Ernst Moritz Arndt, dessen Urgroßvater erst auf 
Rügen nachzuweisen ist“, des Juristen von Savigny, dessen Vorfahren erst seit 
der Übersiedlung des Geschlechts nach Deutschland (um 1600) als sicher beglaubigt 
gelten können“, Anselm Feuerbach, dessen Vorfahren aus der Wetteraue stammen*.— 


1 Hrsg. v. d. Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig. 
Monatsschrift für die gesamte deutsche wissenschaftliche Genealogie. 26. Jg. (1928), H.11—12; 
27. Jg. (1929); 28. Jg. (1980), H. 1A. 

® Ebenda 26, 319—8260. ° Ebenda 27,691. * Ebenda 27,98—98. * Ebenda 27, 207—270. 

28* 


436 Nachrichten und Notizen 


Joachim von Goerzke* gibt die Ahnentafeln des Fürsten Bernhard von Bülow, 
die wie die Ahnentafeln Bismarcks und Hindenburgs in glücklicher Weise Adel und 
Bürgertum verbinden. Als Ergánzung dazu kann man die Arbeit Paul Th. Hoft- 
manns“ ansehen. Die mütterliche Linie des Fürsten (die Hamburger Kaufmanns- 
geschlechter Rücker und Jenisch) sind kurz angegeben. — Kurt Berger und Ger- 
hard Stephan bringen die Ahnentafel von Gotthold Ephraim Lessing und stellen 
soziologische Betrachtungen voran*. — Auch Ansätze zu Sonderheften hat die 
Zeitschrift gemacht, von denen eines Oldenburg? gewidmet ist, ein anderes Bismarck! 
ein drittes schließlich norddeutsche Familienforschung behandelt!. Im ersten Heft 
veröffentlicht Ludwig Koch eine Übersicht über die kirchlichen familienkundlichen 
Quellen des Herzogtums Oldenburg!? und beschäftigt sich in einem weiteren Aufsatz“ 
mit dem Pastorengeschlecht der Armbster, die von 1666—1799 7 Pastoren gestellt 
haben. Georg Jansen!* gibt Beiträge zu den heimatlichen Namen im nördlichen 
Oldenburg. Im zweiten Hefte führt Herbert Fuhst“ den Nachweis, daB Bismarcks 
mütterliche Großmutter tatsächlich aus der ostpreuBischen Wildnisbereiterfamilie 
Böckel stammt, und A. Rieber gibt Ergänzungen zu Bismarcks süddeutschen 
Ahnen aus Ulm und Memmingen, deren ältester Vorfahre wahrscheinlich der Bürger- 
meister Leo zu Giengen 1283 ist!é. Beigefügt ist eine Enkeltafel des Fürsten. Im 
dritten spricht Georg Fink” über die reichlichen Hilfsmittel der Lübecker Familien- 
geschichtsforschung und Hagedorn!* erläutert die Bedeutung des Hamburger 
Staatsarchivs für die Hamburgische Familiengeschichtsforschung. Hans Arnold 
Plóhn!* beschäftigt sich mit dem Ursprunge der ständischen Entwicklung Hol- 
steins und weist nach, daß nur in der Haseldorfer Marsch Ministerialen gesessen 
haben. Nach den einschneidenden Jahren 1223—1227 bildet sich die Ritterschaft, 
die im Lehnsverhältnis zum Landesherrn steht, aber sich nicht mehr durchweg aus 
einheimischen Familien zusammensetzt. — Aus der Arbeit von Eric von Born* 
erfahren wir, daß um 1500 in Schweden die Namen erblich werden und erst später 
in den übrigen nordischen Ländern; dies geht auch aus einer Studie von Aj. Björk- 
man und Karl Hedman über älteste Kaufmannsgeschlechter in Christinenstadt 
hervor. — Sehr wertvoll ist die Arbeit von Freiherrn von Houwald®®, der auf 
Grund neuen ermittelten Materials nachweist, daß Caroline von Moggen wohl die 
zweite Frau des Vicekolonells Christoph von Müllendorf (Mihlendorf), aber nicht 
die Mutter des Christoph Friedrich v. M., des Pflegesohnes des Grafen Ch. Ernst 
von Manteuffel gewesen ist, auf dessen Veranlassung er 1742 den Titel Freiherr 
von Manteuffel bekommen hat, sondern Friederike von Biehsenroth. Er vermutet, 
daß der Kolonell, über dessen Herkunft wir sonst nichts wissen, zur altmärkischen 


* Ebenda 28, 1—4. 
2. d. Zentralstelle f. niederskchs. FG. 11. Jg. S. 129—131. 


* FG. B. 11. 27, 23—28. * Ebenda 27, H. 1. 1 Ebenda 27, H. 4. 

" Ebenda 28, H. 3—4. 18 Ebenda 27, 1—14. 1 Ebenda 27, 19—21. 
^ Ebenda 27, 18—16. 

18 Bismarcks ostpreußisches Blut. 1% Ebenda 27, 117—120. 


1” Die Lübeckische Familiengeschichtsforschung und ihre Hilfsmittel. Ebenda 28, 71—78. 

18 Ebenda 28, 97—102. 

10 Die Ursprünge der ständischen Entwicklung Holsteins. Ebenda 28, 107—114. 

** Namen- und Wappenstudien in Nordeuropa. Ebenda 28, 116—118. 

m Genealogiska Samfumdets 1 Finland 18, S. 303, 3211. 

® Zur Abstammung des preußischen Ministerpräsidenten Otto und des Generalfeld- 
marschalls Edwin Freiherren von Manteuffel. FG. B. 11, 27, 137—140. 


Nachrichten und Notizen 437 


Familie von Müllendorf gehört. — von Ehrenkrook® bespricht die Stammreihe 
des Hannöverschen Geschlechts von Rhoden. Er vermutet einen Zusammenhang 
der in Südhannover auftretenden Geschlechter dieses Namens, äußert sich aber 
leider nicht über die Verwandtschaft mit den Hardenbergs, die von den R.'s behauptet 
wird. — O. Hütteroth** weist nach, daß die Familie von Saint George in Freyse 
aus dem Geschlecht Tonsor (Scherer) stammt. — Zusammenfassend handelt Fr. 
v. Klocke über Wolfram von Eschenbach und sein Geschlecht, wobei er den 
Dichter in die urkundlich bezeugten Herren v. E. einzureihen sucht. — Forch 
spricht über die Müllergeschlechter der Neumark nebst Grenzgebieten. — Wor- 
ringer“ stellt die familiengeschichtlichen Quellen Kurhessens zusammen, und 
K. H. Lampe: prüft die Glaubwürdigkeit der sogenannten Feldmannschen Chronik 
von Neuruppin. — Mit allgemeinen Fragen beschäftigen sich verschiedene Auf- 
sätze. Felix Landois® stellt als Grund für das Erlöschen der Familien im Mannes- 
stamm fest: Zölibat, sterile Ehen, absichtliche beschränkte Kinderzahl, gehäufte 
Mädchengeburten, Tod im Jünglings- und Unmündigenalter und Kriegsverluste. 
Das einzige Mittel, das Aussterben der Familien zu verhindern, scheint ihm Hebung 
der Familientradition und des Familiensinnes zu sein. — Gottfried Rößler liefert 
Beiträge zur Philosophie des Genealogischen?®, und beschäftigt sich in einem 
weiteren Aufsatz mit der Frage der Rassenhygiene und Familienpolitik i. Endlich 
möchte ich die Arbeit des Schriftleiters der Zeitschrift, Joh. Hohlfeld“, erwähnen. 
Er bescháftigt sich mit der Volksgenealogie und weist nachdrücklich auf das viele 
deutsche Blut im Auslande hin, das schnell seine Verbindung mit der Heimat verliert. 
Er fordert einen Zentralauswandererkatalog, um die volksmäßige Abstammung er- 
fassen zu kónnen, und verspricht sich ein Festhalten der Deutschen an ihrem Volks- 
tum, wenn die Familientradition nicht abreißt. — Empfehlend sei auf die Ver- 
öffentlichung der Kamenzer Bürgerbücher durch Gerhard Stephan“ hingewiesen. 

Für das niedersächsische Gebiet ist die Zeitschrift der Zentralstelle für Nieder- 
sächsische Familienforschung in Hamburg durchaus führend. Sie vor allem trägt 
durch Veröffentlichungen vieler alter Register dazu bei, daß der tote Punkt, der oft 
beim Aufhören der Kirchenbücher eintritt, überwunden wird. Es sind da zu nennen 
die Kornregister des St. Johann. Klosters in Hamburg®, das Lüner Schatzregister 
um 154096, das Türkensteuerregister für das Amt Lauenburg a. Elbe von 1557 und 
die Ahrenbóker Heuer-Register von 1622**, Um die Erschließung der Stadtarchive 


1 Niedersächsische Beamtenfamilien. IIL Die Familie von Roden. Ebenda, 27, 277—253. 

“ Die ältesten Vorfahren der Familie von Saint George in Treysa. Ebenda 27, 830—846. 

* Zur Familiengeschichte Wolframs von Eschenbach und seines Geschlechtes. Ebenda 28, 
3—20. 

Ebenda 27, 345—352. m Ebenda 28, 21—34. 

ss Kritische Bemerkungen zu Bernhard Feldmann, Miscellanea Historica der Stadt Neu- 
Ruppin. Ebenda 27, 851—360. 

se Das Problem des Erlóschens von Familien im Mannesstamme. Ebenda 27, 209—222. 

% Ebenda 27, 257—202. 31 Ebenda 27, 333—340. 

** Auslandsdeutschenforschung. Ebenda 27, 161—170. 

ss Ebenda 27, 41—48, 91—94, 128—120, 147f., 171—176, 225—228, 361—364, 385—388; 
24, 35—40, 119f. 

Herausgeber Wilhelm Weidler, 10. Jg. (1928). H. 11—12; 11. Jg. (1929). 

ss Von Armin Clasen. Ebenda 11, 1—7. 

se Von Ernst Reinstorf. Ebenda 11, 53—57, 65— 71. 

*' Von demselben. Ebenda 11, 151—155. 

? Von Friedrich Knoop. Ebenda 11, 155—100. 


438 Nachrichten und Notizen 


für familiengeschichtliche Zwecke machen sich Georg Nahnsen®® und Wilhelm 
Weidler“ verdient. — Th. O. Achelis bringt eine Liste der Hadmerslebener 
Stadtschreiber von 1569—1850 mit Lebensläufen® und Mecklenburgische Lehrer- 
verzeichnisse@ als Fortsetzung früher schon veróffentlichter Verzeichnisse aus 
anderen Gegenden. — Über einzelne Familien oder Personen haben wir Aufsätze 
von P. v. Gebhardt“ und von Ludwig Volkmann“, der über den Bürgermeister 
Dietrich V. (1582—1664), einen Tuchmacher von Beruf, spricht und ein anschau- 
liches Bild von seinem Streite mit dem Amtsvogt Balthasar von Bothmer in Falling- 
bostel gibt. — Franz Reiche“ schildert Joh. Albert Heinrich Reimarus (1694 bis 
1768), den Sohn des Wolfenbütteler Fragmentisten, als Arzt. — Karl Nissen liefert 
Beiträge zur Geschichte des alten Pastorengeschlechts Augustiny, das seit 1560 
in Schleswig-Holstein ansássig ist. — Georg Nahnsen* gibt einen kulturgeschicht- 
lich interessanten Überblick über die ültesten Kaufmannsgeschlechter Hannovers 
seit 1241 nach dem ältesten Kopmansbok. — Ernst G. J. Knoop“ druckt seine 
bedeutend erweiterte Übersicht über die familiengeschichtliche Quellenkunde 
Schleswig-Holsteins ab. — Carl Ludwig Wunderlich“ stellt die Familiengeschichten 
und -blätter mecklenburgischer Familien zusammen. — Wilhelm Jensen“ kommt 
zu dem Ergebnis, daB innerhalb eines von ihm untersuchten Zeitraums von 200 
Jahren (1700—1900) die Beziehungen zwischen den hannóverschen und holsteinschen 
Elbmarschen nicht sehr eng gewesen sind. — Westberg#! setzt seine genealogisch- 
juristischen Mitteilungen über Entscheidungen der hóchsten Gerichte fort. — Am 
interessantesten ist der Vortrag von Georg Nahusen** über mittelalterliche Fa- 
milienforschungen. Unter Mittelalter versteht er die Zeit von der Entstehung der 
Familiennamen bis zur Einführung der Kirchenbücher, also gleich der 11. bis 20. 
Generation. Er gibt Hinweise für Adels-, Kaufmanns-, Rats- und Handwerker- 
geschlechter, bei denen es durch die vorhandenen Quellen meist nicht allzuschwer 
fallen kann weiterzukommen, auch móglichst die nackte Stammtafel durch lebens- 
volle Hinweise zu ergänzen und dadurch hier schon Fragen zu lösen, die die moderne 
Genealogie wesentlich bescháftigen. Am schwierigsten wird immer die Erforschung 
der Bauerngeschlechter in den früheren Zeiten bleiben. | 
Im Deutschen Herold 9) tritt die Behandlung der Wappenfragen mehr hervor. 
Gerhard Wernicke“ unterrichtet über die Siegel und Wappen der Stadt Beelitz 
Die umfangreiche Arbeit von Macco* bringt fast in jedem Hefte 16 Siegel von 
Rhóngeschlechtern, sowie Nachrichten über die betreffenden Familien; die er in 


o» Das Stadtarchiv Hannover als Quelle für dle Familienforschung. Ebenda 11, 27—33. 
** Die Bedeutung des Altonaer Stadtarchivs für die Familienforschung. Ebenda 11, 120 


bis 129. a Ebenda 11, 7f. € Ebenda 11, 97f., 250f. 
* Stammliste Wetken. Ebenda 11, 242ff. 
Ebenda 11, 17—27. * Ebenda 12, 1—5. ** Ebenda 12, 8—11, 17—23. 
" Ebenda 12, 23—27, 41—47. * Ebenda 11, 105—112. * Ebenda 12, 57—66. 


* Diefamiliengeschichtlichen Beziehungen zwischen den hannöverschen und holsteinischen 
Elbmarschen. Ebenda 11, 131—135. 

1 Ebenda 11, 209—218. 

Mittelalterliche Familienforschung. Ebenda 11, 178—185. 

9 Zeitschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde. Hrsg. v. Verein,, Herold“, Berlin. 
Schriftleiter: G. Adolf Cloß. 59. Jg. (1928), H. 11—12; 60. Jg. (1929); 61. Jg. (1930), H. 1—6. 

Ebenda 60, 35ff. 

* Zur Siegel- und Familienkunde einiger Rhönfamilien. Ebenda 60, 4f., 16, 24ff., 34 fl., 
45ff., 54f., 64 f., 77f., 3 f., 93 f., 1171., 1261; — 61, 4ff., 21ff., S8f. 


Nachrichten und Notizen 439 


Akten verschiedener Archive gefunden hat. Ottfried Neubecker“ bespricht die 
neuen Wappen der preußischen Provinzen, die leider oft nicht den Regeln der 
Heraldik entsprechen. Derselbe weist an Hand von Abbildungen und Erläuterungen 
nach, welche Rolle die Politik jetzt auch in der modernen Heraldik spielt. — Ebenso 
unheraldisch sind die meisten studentischen Wappen, über die eine kleine Abhandlung 
von W. Czermak®? unterrichtet. Und schließlich bespricht Kurt Mayer“ das 
Wappenwesen der Grafen von Orlamünde. — Freiherr von Houwald® kommt zu 
der Feststellung, daß der untitulierte russische Adel in Deutschland nur das Adel- 
zeichen führen darf, das ihm in Rußland zustand. Sehr interessant sind die Er- 
läuterungen, die Adolf Clo89? über den Buchstaben Q im Figuren-Alphabeth des 
Meister E. S. macht. Es handelt sich in dieser Darstellung nicht um den Schweizer- 
oder Schwabenkrieg von 1499, sondern der Buchstabe bringt eine Versinnbild- 
lichung des Kampfes der Stádte mit dem Adel, unter dem der Bauer zu leiden hatte. 
— Ed. de Lorme*! untersucht die álteste Genealogie des Geschlechts von Campe, 
genannt von Elze, besonders die Abstammung Johanns III. von C. (um 1500). — 
E. Wollesen® stellt in seiner Untersuchung fest, daß der Aland ein Grenzfluß 
gewesen ist und daherWendemark und Parishof ihren Namen haben. — H. F. Macco*? 
verüffentlicht seine verdienstvollen Forschungen über die Abstammung des amerika- 
nischen Präsidenten Hoover aus Ellerstadt bei Dürkheim, wohin die Familie aus 
der Schweiz eingewandert ist. Es gelingt ihm sogar, das noch heute bestehende 
Stammhaus des Präsidenten nachzuweisen. — Nachdem Sartorius die noch lebende 
zahlreiche Nachkommenschaft Luthers zusammengestellt hat, ist es Mode geworden, 
die sámtlichen Nachkommen eines berühmten Mannes festzustellen. Diesem Be- 
streben zollt Friedrich Graf Lanjus** seinen Tribut, indem er auf die zahlreichen 
Nachkommen von Wallensteins Tochter Maria Elisabeth (1626—1662), die mit 
dem Grafen Rudolf von Kaunitz verheiratet war, eingeht. — Stefan Kekulé von 
Stradonitz** weist als Mutter des berühmten Physikers Franz Neumann die 
Gräfin Charlotte Friederike Wilhelmine von Kahlden, separierte Gräfin von Mellin, 
nach, die er auf Grund weiteren Materials mit Recht eine Art kleiner Katharina II. 
nennt. Schließlich bringt W. v. Schiber-Burkhardsberg** Vorschläge über 
Darstellung von Ahnentafeln und Nachfahrenlisten. — In der Vierteljahrschrift** 
werden größtenteils die Arbeiten der vorigen Jahrgänge fortgesetzt**. Die Arbeit 
von M. B. von Zehmen*? wird abgeschlossen. Die Wrangelsche Regestensammlung 


% Ebenda 60f., vgl. Kornberg, Landkreiswappen in FG. B. 11, 27, 220f. — Politik in moder- 
ner Staatsheraldik. Heroid 60, 104ff. 

" Studentische Heraldik. Ebenda 60, 101f. „Ebenda 60, 1165ff. 

# Darf der untitullerte russische Adel cin Adelszeichen führen? Ebenda 60, 16f. 

„% Ebenda 60, 56fl. 1 Ebenda 60, 3ff., 14f., 22ff. 

* Die von Rindorf auf dem Parishof. Ebenda 60, 43ff., 53f. 

* Die angebliche Abstammung des amerikanischen Prüsidenten Hoover aus Baden-Baden. 
Ebenda 60, 55f. — Die deutsche Abstammung des Präsidenten der Vereinigten Staaten Herbert 
Hoover. Ebenda 61, 12—15, 27—30. 

*" Dic Nachkommen Wallensteins. Ebenda 60, 99ff. * Ebenda 60, 109—112. 

** Nachfahrentafel und Nachfahrenverlust. Ebenda 61, 35—38. 

* Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde. Hrsg. v. , Herold“ in 
Berlin. Gel. v. G. Adolf CloB. 54. Jg. (1928), H. 4; 55. Jg. (1929); 56. Jg. (1930), H. 1. 

* O. Frhr. von Boilieu-Marconnay, Die von Anno 1315 bei Sachsen-Weimar fortgeführte 
Hof-Marschallsfolge. Ebenda 55, 1—12, 33—36, 65. 

% Allianzen des Geschlechts von Zehmen. Ebenda 55, 25—32, 51—64, 66—75; 56., 1—3. 


440 Nachrichten und Notizen 


wird bis zum Jahre 1559 (Nr. 752) weiter geführt“. Neu begonnen wird die Arbeit 
von Freiherrn Karl von Bothmer”!, der uns den Aufstieg einer hannoverschen 
Organistenfamilie zeigt, die um 1550 auftritt und 1765 den Reichsadel erhält. Es 
sollen die unter dem niedersächsischen Adel jetzt noch verbreiteten zahlreichen 
Tochterstämme, bei denen Namensverbindungen eingetreten sind, mitbehandelt 
werden. — Ein besonderes Heft befaßt sich mit dem Stand der genealogischen 
Forschungen in Amerika“. 

Der Ekkehard’ hat sich weiter sehr erfreulich als Mitteilungsblatt der genea- 
logischen Abende entwickelt. Er bringt viele Namensverzeichnisse aus mittel- 
deutschen Quellen und bleibt damit seinem Grundsatz treu, hauptsächlich Material 
für Weiterforschung zu liefern. — Franz Herrmann“ gibt die ersten Siedler der 
Kolonie Berg-Kienitz am Finowkanal (1440—1467). Da die Herkunft angegeben 
ist, können wir feststellen, daB sich Friedrich der Große auch hier Siedler aus dem 
ganzen damaligen Deutschland geholt hat. — Erich Wentscher?* behandelt die 
Braunschweigisch-Grubenhagenschen Müller im Jahre 1683. — Über die Buchkunst- 
schätze der Landesbibliothek Fulda unterrichtet uns J. Theele“. — S. D. G. Frey- 
dank“ sucht den Namen Coppenbrücke bei Hameln als Cobbanburg zu erklären. — 
B. v. Dungern?? schildert Schloß Dehrn an der Lahn und seine Besitzer. — Aus 
einem Stammbuch kann Bernhard Sommerlad?? neue Aufschlüsse über den Histo- 
riker Chr. Fr. Ferdinand Haacke geben, u. Friedrich Riem® bringt Beiträge zur 
Geschichte der Familie des ReichsauBenministers Curtius. — H. Frey dank? ver- 
öffentlicht die Jugenderinnerungen des pommerschen Juristen Carl Wünsch (1832 
bis 1884), die uns ein lebensvolles Bild aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts über 
die Lebensbedingungen einer pommerschen Bürgerfamilie entstehen lassen. — Und 
schließlich will ich noch die Arbeit von Boehr® über die Hugenottenfamilie Ancillon 
erwáhnen. 

Die Mitteilungen des Dresdener Rolands® bringen eine sehr beachtliche Studie 
von Muth“ über den familiengeschichtlichen Quellenwert der Leichenpredigten, in 
der er gegen von Arnwald an der Glaubwürdigkeit dieser Quellengattung festhält. — 
Über die mütterlichen Ahnen des Dichters Lenau bringt B. Völlick® einige Er- 
gánzungen. — R. Fetscher“ untersucht das Geschlechtsverhältnis der Neugebore- 
nen in kinderreichen sächsischen Familien und vermutet danach, daB die Knaben- 
ziffer mit dem Alter der Mutter steigt, aber unabhängig vom Alter des Vaters ist. — 


" Georges Baron von Wrangell, Geschichte der Wrangel zur Dänischen und Ordenszeit. 
Ebenda 55, 18—22, 37—50, 76—112; 56., 19—32. 

" Die niedersächsische Familie von Schilden (Schild, Schildt). Ebenda 56, 4—18. 

" Richard Wilh. Staudt, Genealogie in Amerika. 

? Mitteilungsblatt Deutscher Genealogischer Abende. Schriftleiter: F. Herrmann 4. Jg. 
(1928), Nr. 5—6. Schriftleiter: H. Freidank 5. Jg. (1929), 6. Jg., Nr. 1—2. 

Ebenda 4, 66f. — Vgl. auch Friedrich Werwach, Ehemalige friedericianische Soldaten 
als Bürger und Einwohner Potsdams. Ebenda 4, 67f. 

Ebenda 5, 19f. 5 Ebenda 5, 54f. 

" Was bedeutet der Ortsname Koppenbrücke? Ebenda 5, 103f. 

" Ebenda 5, 104f. 1 Ebenda 6, 23ff. ** Ebenda 6, 26. 

1 Ebenda 6, 2, 20, 57, 73ff., 105f.; 6, 25ff. "a Ebenda 4, 66, 82; 5, 3, 20f. 

13. Jg. (1928); 14. Jg. (1029); 15. Jg. (1930), Nr. 1—4. 

„ Ebenda 15, 11—14. Vgl. auch Richard Hrdlička, Von der Verläßlichkeit in den alten 
Matriken. In Zeitschrift d. tsch.-slow. stammgesch. Ges. in Prag, 1, 85f. 

% Ebenda 13, 51. % Ebenda 14, 10f. 


Nachrichten und Notizen | 441 


Kunz von Kauffungen“ schildert nach dem Bericht einer Klosterhandschrift 
der Dresdener Landesbibliothek die Stellung K. v. K.s beim sächsischen Prinzenraub. 
Schließlich möchte ich erwähnen, daß Kurd von Stranz®® viele Ausstellungen am 
„Gothaer macht, die von verschiedenen Seiten berichtigt werden. 

Der Familienforscher*? bringt auch recht viel erfreuliches Quellenmaterial. Von 
den Abhandlungen seien erwähnt die von Hans Arnold Plöhn, in dem einmal die 
Verbindungen des Adels mit der Geistlichkeit in den Grafschaften Hoya und Olden- 
burg®® gezeigt und zum andern Nachrichten über die Amtsverwalter-Dynastien in 
Holstein gebracht werden’. — von Ehrenkroock® setzt die Ahnenlisten-Samm- 
lung mit der Ahnenliste Coqui fort®. — Carl Freiherr von Eichendorf steuert 
Beiträge zur Stammtafel seiner Familie bei, und Felix Bondi® macht darauf auf- 
merksam, daß Schriftstücke den Erben gemeinsam gehören, auch wenn sie mit dem 
Erblasser nicht verwandt sind. — H. Krämer® bringt in seiner Arbeit viel be- 
völkerungsgeschichtlich interessantes Material. Leider ist Heft 7—8 in ein zweites 
Heft 7—12 so hinein gearbeitet, daß die Seitenzahlen nicht übereinstimmen. 

Die Braunschweigischen Genealogischen Blätter bringen in dem einzigen er- 
schienenen Hefte die Musterrollen vom Jahre 1600 im Stadtarchiv Braunschweig 
von Werner Spieß. 

Der Erfurter genealogische Abend unter der Leitung von W. Suchier veröffent- 
licht in seinem Jahresberichte von 1929 ein Namenregister zum jetztlebenden Erffurt 
von 1703%, Sonst hat er schon drei wissenschaftliche Abhandlungen herausgebracht. 
In Heft 1 beschäftigt sich Hans Schuchardt mit Willroda und den Nachfahren 
Fridangs von Wildenrode (um 1450) und Wilhelm Biereye® schildert die Blüte- 
zeit (ca. 1400 —1530) des Erfurter Patriziergeschlechtes von den Sachsen, dessen 
wirtschaftlichen Sinn, diplomatisches Geschick und Familiensinn er besonders 
hervorhebt. — Im zweiten hat Kurt Nieding!® ein Namenverzeichnis zum Erfurter 
Verrechtsbuch zusammengestellt, das nicht nur Namen enthält, sondern auch ver- 
wandtschaftliche Beziehungen aufzeigt und durch Angabe der Straßen und des Haus- 
besitzes sehr wertvoll ist. — Im dritten Heft unterzieht W. Biereyel?! das Erfurter 
Patriziergeschlecht der Ziegler einer eingehenden Behandlung. — Der Göttinger 
genealogische Abend bringt zum ersten Male in dem Neuen Göttinger Jahrbuch 


einen Bericht über seine Tätigkeit in den Jahren 1926—1928 und druckt seine Satzun- 
gen ab1!%, 


* Ebenda 15, 1f. % Ebenda 14, 9—12 und 31—34. 

Monatsschrift für Familiengeschichte und Wappenkunde, 3. Jg. (1928), H. 7—12. 
Schriftleiter: Max Käßbacher. Mannheim. 

* Die geistlichen Familien und der Adel in den Grafschaften Hoya und Oldenburg, 3, 

207, bzw. 982—980. 1 Ebenda 3, 218—220. 

Ebenda 3, 207—212, bzw. 250—254. *! Ebenda 3, 232ff. bzw. 254—257. 

* Familienpapiere und Familienbilder im Erbe. Ebenda 3, 228—233. 

Auf verwehten Spuren. Einwanderungen nach Baden über drei Jahrhunderte aus dem 
Allgäu, Bayern, Böhmen, Elsag, Österreich, Schwaben, Schweiz, Steiermark, Tirol, Ungarn: 
Ebenda 3, 208—318. 

" Hrsg. vom Braunschweiger Genealogischen Abend. Schriftleitung: Rudolf Borch, 
Nr. 6 (November 1928). 
—6. 


* 8. 1 
8 Willroda und die Willröder. Ein Beitrag zur Thüringer Heimat- und Familienforschung. 
Ebenda 8. 75—96. 1% Erfurt 1929. 


"! Erfurt 1930. 1" B. 1, 1928, S. 86—901. 


442 Nachrichten und Notizen 


Die Nachrichten der Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck!” 
bringen Ergänzungen zu der Arbeit von Karl Knetsch über die Nachfahren der 
Margarete von Hessen von Eduard Grimmel!*. Derselbe eifrige Genealoge liefert 
zwei Arbeiten aus dem Tagebuche des Superintendenten Hütterodt in Eschwege!® und 
stellt die hessischen Pfarrer um 1570 aus dem Superintendenturarchiv in Eschwege 
zusammen, wobei er in den Anmerkungen wertvolle Nachrichten über die einzelnen 
Persönlichkeiten beifügt!®, Schließlich behandelt er!” die ihn bekanntgewordenen 
Mehrlingsgeburten, von denen er 4 Vierlings- und 24 Drillingsgeburten anführt. — 
Hans Kurt von Ditfurth!® bringt die 512 Ahnen Wilhelms IV., Landgrafen von 
Hessen, der eine zahlreiche nicht zum Fürstenstamme gehörende Nachkommenschaft 
hinterlassen hat, um die Wege für diese Nachfahren zu den jetzt beliebten Karolinger- 
Abstammungsreihen zu ebnen. Interessant ist auch das Testament des Góttinger 
Studenten Johann Daniel Gottschalk von 1747, das Hugo Schünemann abdruckt 
und bespricht!®, 

Auch in den außerdeutschen Ländern hat die Genealogie einen bedeutenden 
Aufschwung genommen. Sehr rührig sind die Deutschen in Bóhmen und Máhren. 
Die Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens!“ 
bringt eine Beilage!!!, die Quellen zur Familienforschung veröffentlicht. In der Zeit- 
schrift spricht Imanuel Schwab? über Nicolaus von Melnick!!? und untersucht das 
Herkommen dieses Mannes, kommt jedoch zu keinem abschließenden Ergebnis. 
Er macht es aber wahrscheinlich, daß der Iglauer Stadtschreiber gleich dem Brünner 
Propst Nicolaus Pauli von Austerlitz ist. N. ist sicher ein Brünner Stadtkind. 

Die neugegründete Zentralstelle für Sudetendeutsche Familienforschung gibt 
eine sehr beachtenswerte Zeitschrift heraus. Wie viele Zeitschriften des deutschen 
Auslandes nimmt sie sich gleich der Kirchbuchforschung an. Karl Enz mann“ bringt 
die Anfangsjahre der Matriken in den deutschen und gemischtsprachigen Pfarreien 
der Prager Erzdiözese, Johann Micko!!3 die der Diözese Budweis, Julius Ródert* be- 
handelt die Diózesenmatriken zu Olmütz, Heinrich Ankert!!? die ülteste Matrik zu 
St. Thomas in Prag, die Judenmatriken!!* und die ältesten Matrikenduplikate im 
Domarchiv zu Leitmeritz!?, Gustav Freixler!9 bringt ein ausführliches Glossar 
des Kirchenbuchlateins, das von verschiedenen!?! und besonders von Jul. Röder” 


1*5 4, Jg. (1929). Schriftleiter: Werner Paulmann, Kassc! 1929. 4 Hefte mit ausführl. 
Inhalts- und Namenverzcichnis. 

1% Hessenblut. Ergänzungen und Nachträge. Ebenda S.18—25, 33—43. 

19 Verzeichnis aller lebendigen Seelen, Jungk und Alt, Man und Weib, Kinder undt Ge- 
sinde, so sich in Guxhagen, Büchenwerda und dem Kloster Breidenau nach fleiBiger Umbfrage 
der Vorsteher in den Gemeinden befinden. Ebenda S. 55—58. — Ein Schülerverzeichnis der 
Schule zu Rotenburg a. Fulda a. d. J. 1659. Ebenda S. 58f. 

10% Ebenda S. 96—112. 107 Ebenda 8. 65—73. 10% Ebenda S. 74—95. 

10% Ebenda 8. 59— 63. 

110 32. Jg. (1930). Schriftleiter: Paul Strzemcha. 

"n! Famitienforschung. H3 S, 113—128. 

!? Sudetendeutsche Familienforschung. Hrsg. v. d. Mittelstelle (von Heft 2 ab: Zentral- 
stelle) für (Sudetendeutsche) Famillen forschung des Verbandes für Heimat forschung und Heimat- 
bildung I. d. tschecho-sl, Republik mlt dem Sitze in Aussig. Geleitet von Anton Dletel und Franz 
Josef Umlauft. Jährlich 4 Hefte. 1. Jg. (1928 — 1929); 2. Jg. (1929—1930). 

114 Ebenda 1, 18—21. !! Ebenda 1, 62ff. 1 Ebenda 2, 7—12, 122—120, 153—150. 

1" Ebenda 2, 58f. 18 Ebenda 1, 174f. us Ebenda 2, 1521. 

ue Latein in Kirchenmatriken 1, 25—29, 601. 

|! Ebenda 1, 127f., 176. n Ebenda 2, 112ff. 


Nachrichten und Notizen 443 


aus Eintragungen in der Olmützer Erzdiözese beträchtlich ergänzt wird. Über die 
Entstehung der Familiennamen und Geschlechter in Böhmen spricht Karl Gaub e!?*, 
Er stellt fest, daß nur noch ein Trümmerfeld der einst so ausgebreiteten deutschen 
Familiennamen vorhanden ist. Es ist ein kunterbuntes Gemisch geworden, wie auch 
im inneren Deutschland, daß „unser Namengut und damit auch unser Blut tief 
hineingreift in das Volkstum des tschechischen Nachbarn“. Über die Rassenverhält- 
nisse des Kuhländchens stellt Oswald Cubiena!** fest, daß die nordischen Besiedler 
weitaus in der Mehrzahlsind. Die ostisch-mongoloide, slawische Umgebung kommt 
kaum in Betracht. Oskar Meister!# behauptet auf Grund einer Liste von 33 Abi- 
turienten, die 1905 ihr Examen gemacht haben, daß schon damals ein starker Drang 
zum Studium da war und nur sehr wenige den Beruf des Vaters wieder ergriffen 
haben. Allerdings müssen umfangreichere derartige Untersuchungen abgewartet 
werden. — Acht Ahnentafeln berühmter Sudetendeutscher werden gebracht!“. — 
Friedrich Kubasta1# erläutert eine von ihm aufgestellte graphische Ahnentafel. — 
Die Wappenbewerber aus der Gegend des böhmischen Mittel- und Erzgebirges!2 
und des Iser- und Jeschkengaus?? stellt Anton Ressel!?? zusammen. — Quellen zur 
Familiengeschichte weisen Karl Oberdorfer!? für Brüx, Walter König! für den 
Jeschken- und Isargau und Joachim Blósl!** allgemein für die mährische Heimat- 
und Familienforschung nach. — Für die Forschungen über die Verwandtschaft 
der Ratsherrengeschlechter sei auf die Zusammenstellung von Georg Schmidt 
aufmerksam gemacht. — Selbstverstándlich fehlen nicht zahlreiche Quellenveróffent- 
lichungen, von denen besonders der Wiederabdruck des Egerer Landsteuerbuches 
von 1392 erwähnt sei. — Das letzte Heft bringt an allgemeinen Aufsätzen: Franz 
J. Wünsch, Warum treibt man Familienforschung? Karl Gaube, Die Familien- 
forschung als Volkswissenschaft und Gerhard Eis, Dichtung und Genealogie, 
sowie Fritz Günste!?, Vorschläge zur Anlage von Familiengeschichtsregesten, 
Wobei zu bemerken ist, daB auch Regesten des gleichen Jahres auf je einen besonderen 
"Zettel zu schreiben sind. Albert Stára!5? nennt einige Sudetendeutsche aus dem Mittel- 
alter, die in den Klöstern der Mark Meißen lebten. 

Die neu gegründete tschecho-slowakische stammesgeschichtliche Gesellschaft in Prag 
bringt im ersten Jahrgang ihrer Zeitschrift! neben allgemein einleitenden Auf- 
sätzen an Geschlechtsgeschichten die Arbeiten von Karl Chytil!” (Johann Gottfried 


m Ebenda 2, 19—33. 14 Ebenda 1, 119—122. 

18 Sippe und Beruf. Ebenda 1, 123—126. 

1 Heinrich Schicht. Ebenda 1, 40. — Hans Kudlich. Ebenda 1, 81. — Adalbert 
Stifter. Ebenda 2, 31, 176ff. — Kar! Kaspar Prokop Reitenberger, Gründer Marien- 
bads. Ebenda 1, 1371. — Georg Johann Mendel. Ebenda 1, 186f.; 2, 76—80. — Emil Leh- 
mann, bekannter Führer der sudetendeutschen Heimatbewegung. Ebenda 2, 36. — Imanuel 
Hegenbarth, akademischer Maler. Ebenda 2, 81. — Alois John, Heimatschriftsteller des 
Egerlandes. Ebenda 2, 1751. 

im Ebenda 2, 14—17. "* Ebenda 1, 82—86. 1% Ebenda 1, 177ff.; 2, 24ff. 

1 Ebenda 1, 110f. 1 Ebenda 2, 4—7, 55—58. 

133 Geschichtsquellen der mährischen Heimat- und Familicnforschung. Ebenda 2, 59—62, 
121f. 

"3 Mieser Ratsherren und Bürgermeister des 17. Jahrhunderts. Ebenda 1, 111—115. 

1M Ebenda 2, 100—109. 138 Ebenda 2, 146—151. "* Ebenda 2, 156fl. 

1 Sudetendeutsche in Klöstern der mittelalterlichen Mark Meißen. Ebenda 2, 160. 

"* (asopis Rodopisné společnosti Československé v. Praze. Schriftleiter: Anton Markus, 
B. 1 (1929); 2 (1930), Nr. 1—2. 

1 Die Stammesforschung bei Mánes. Ebenda 1, 39—45. 


444 Nachrichten und Notizen 


Manes wandert 1723 aus Lauingen a. d. Donau nach Zdevatze bei Prag ein und ver- 
heiratet sich mit Magdalena Schwichner), Teply!#, Fr. Ignaz Hornftek!“, Karel 
Pej3al und Vone s, sowie eine Arbeit von A. P. Slechta!€: Die Rückführung 
in die tschechische Vergangenheit der Vanderbilts in Amerika, die mit Gottlieb be- 
ginnt, der um 1658 über Holland nach Amerika ausgewandert sein soll und sich dort 
Philip oder Philipsen genannt hat. Besonders wird sein Enkel Friedrich Philips 
berücksichtigt, der den großen Reichtum der Familie begründete. Leider wird uns 
nicht gesagt, wann und wodurch die Namensänderung eingetreten ist, aber besonderer 
Wert wird darauf gelegt nachzuweisen, in welche europäischen Adelsgeschlechter die 
Familie eingeheiratet hat. — Der Aufsatz von Anna Vavrou&ková!6 gibt nur an, 
welcheWerke, Handschriften, Regesten usw.Sedlacek über dieses Thema aus Böhmen 
Mähren und Oberschlesien gesammelt hat, enttäuscht also etwas, da man nach dem 
Titel mehr erwartete. — Artur BroZek!# spricht über Individualität und Stammes- 
forschung. — Genealogische Nachweise aus Archiven und Matriken liefern Oskar 
Mitis!*, Franz Roubik!“#, Heinrich Wenzel Bezd&ka!*, Josef Piln&átek!9 und 
Zdenko Kolovrati^!, — Das neue Heft des 2. Jahrganges beginnt Karel Galla! 
mit einer Besprechung einer Schrift von Franz Weyra (Prag 1927), an die er kritische 
Bemerkungen anknüpft. — Bogumil Lifka!" behandelt die Exlibris und Supralibris 
in genealogischer Hinsicht. — Franz Tepliy!* gibt einen familiengeschichtlichen 
Überblick über die tschechischen Auswanderer in Hof (Bayern) — Beiträge zu 
Stammesgeschichten liefern Franz Roubík!5 und Heinrich Wenzel Bezdik#®. — 
Namensverzeichnisse aus Matriken bringen J. Bily!59 und Stanislaus Ondrak!P. 
Besonders das letzte Verzeichnis (von Cheléic) zeigt, daß die Bevölkerung dieses 
Ortes weit überwiegend deutsche Namen hatte. Schließlich sei noch erwähnt, dab 
ein Verzeichnis der deutschen genealogischen Zeitschriften“ gegeben wird, sowie 
eine Zusammenstellung von hauptsächlich erbbiologischen Arbeiten“. 


1% Der Zusammenhang in dem Geschlechte der Malovec von Malovic. Ebenda 1, 78—76 

141 Stammesgeschichtliche Chronik (der Hornicek) 1, 988—107. 

1 Die stammesgeschichtliche Verbreitung des Geschlechtes Pejäa (ein Färbergeschlecht, 
keine Jahreszahl ist in dem kurzen Überblick angegeben). Ebenda 1, 128—132. 

1? Der Name Voneš. Ebenda 1, 132f. 14 Ebenda 1, 82—87. 

1% Die Zugehörigkeit der Landbevölkerung zur Scholle und ihr Ausdruck in der stammes- 
geschichtlichen Forschung. Ebenda 1, 17—28. 

ue Ebenda 1, 29—38. 

1 Stammesgeschichtliche Bemerkungen aus Österreich. Ebenda 1, 45—49. 

1 Stammesgeschichtliche Quellen im Ministerium des Innern in Prag. Ebenda 1, 76—81. 

1% Namensübersicht der ältesten Matriken von Pfibram. Ebenda 1, 116—123. 

1 Familiengeschichtliche Erinnerungen in dem Familienarchiv der österreichischen 
Grafen von Fünfkirchen. Ebenda 1, 124—128. 

"^ Dic Agnoszierung der Leichen in den Gräbern des Klosters Maria Schnee in Prag. Ebenda 
1, 50—73. 

132 Die Vorherrschaft der Intelligenz und der gebildeten Menschen. Ebenda 2, 1—8. 

11 Ebenda 2, 9—14. 186 Ebends 2, 15ff. 

1% Zur Stammesgeschichte der Chod von Domažlic. Ebenda 2, 18—22. 

!* Das Geschlecht der BeEdek. Rund um dle Familienchronik, wie sie entstand, ihr gel- 
stiger Inhalt und ihre Ziele. Ebenda 2, 27—34. 

1 Aus den ältesten Matriken von Choustnick (1701—1783). Ebenda 2, 23—27. 

1% Namensinhalt der Matriken von Cheltic von 1664—1851. Ebenda 2, 36—44. 

1% Ebenda 2, 34—36. 

1% Bibliographie der familiengeschichtlichen und historischen Schriftstellerei rassen- 
hygienischer und verwandter Wissenschaften. Ebenda 2, 45—55. 


Nachrichten und Notizen 445 


Im neuen Jahrgang vom „T urul 461 verteidigt Ladislaus Kelemann!® seine 
Ansicht über das gekaufte Gut und das Töchterviertel. — Auf Grund neuer Urkunden 
des 14. bis 16. Jahrhunderts entwirft Koloman Juhatsz!** ein ausführliches Lebens- 
bild vom Bischof Desiderius von Csanád aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, 
in dem er ihm sowohl in seiner kirchlichen, wie auch in seiner politischen Wirksam- 
keit volles Recht angedeihen läßt. — Anton’Aldäsy! bringt Beiträge zur Geschichte 
der Familie Bezeredj, die sich auf das Geschlecht Lörenta (zuerst erwähnt 1236) 
zurückführen will, doch läßt sich der Zusammenhang nicht einwandfrei beweisen, ist 
aber immerhin auf Grund späteren urkundlichen Materials möglich. Die lückenlose 
Stammreihe der B.s beginnt 1343. — Nikolaus Nag yl schildert die Stellung der 
altadligen Familie Ghyczy (seit 1244 nachzuweisen) in der Geschichte der ungarischen 
Nation, in der sie besonders im Kampf gegen die Türken eine nicht unbedeutende 
Rolle gespielt hat. Der bedeutendste unter ihnen in dieser Zeit ist Johann G., der 
als Regent von Siebenbürgen (f 1589) Ruhe und Frieden des Landes bewahrte. — 
Koloman Haczi! beschäftigt sich mit den Zelchéni und ihrem Besitz; Ladislaus 
Toth!* gibt Beitráge zur Geschichte der Bonfini und veróffentlicht ihren Adels- 
brief. — Das Siegel der Stadt Miskolo behandelt kurz Ladislaus von Szabo!*$, — 
Zoltan Vergha!® beschäftigt sich mit der Familie Pettes (Pethes) de Réthalap, die 
mit Beginn des 16. Jahrhunderts auftritt. 

In The Genealogist Magazin? setzt W. F. J. Gun"! seine Arbeit über die 
Nachfolge in den Baronis fort. Er beginnt mit den Writs of Summons aus dem Ende 
des 13. Jahrhunderts und stellt im Verlauf der Entwicklung fest, daB sich Ende des 
17. Jahrhunderts die Erbfolge der einzigen Tochter durchgesetzt hat. H. J. J. 7 
bringt Beiträge zur Geschichte der Familie Washington und beschäftigt sich be- 
sonders mit dem Herkommen von Amphilis Longden. — Cregoe P. G. Nichelson!?* 
erläutert an Hand von Beispielen den genealogischen Wert der ersten englischen 
Zeitungen, nachdem er einen allgemeinen lehrreichen Uberblick über den Beginn 
des englischen Zeitungswesens gegeben hat. — Oswald Greenwaye Knapp!“ be- 
schäftigt sich mit den weiblichen Vornamen, besonders zur Zeit der Königin Elisa- 
beth. — J. Harvey Bloom?!” untersucht einige Königssiegel des 14. Jahrhunderts, 
und Sir Henry L. L. Deny“ berichtet über die Vorfahren des Lordmajors von 
London Sir William A. Waterloo. 


101 Turul. A Magyar Heraldikai és Genealogiai Társaság Közlönye. Hrsg. von Áldásy 
Antal und Tóth László. 34. Jg. (1929). !** Ebenda 34, 83—96. 

1 Desiderius, Bischof von Csanád. Ebenda 34, 96—105. 

1% Beiträge zur Geschichte der Familie Bezerédj. Ebenda 34, 1—11. 

1* Die Familie Ghyczy in der Geschichte der ungarischen Nation. Ebenda 34, 11—37. 

1% Die Zelchénl. Ebenda 84, 37—47. 

1* Analecta Bonfiniana. Ebenda 34, 48—680. 1% Ebenda 34, 107f. 

1% Die Familie Pettes (Pethes) de Réthlap. Ebenda 34, 62ff. 

110 The Genealogists Magazine. Official Organ of the Society of Genealogists. Quar- 
terly. London. Herausgeber: Sir H. L. L. Denny, T. C. Dale und W. T. J. Gun. Vol. 5 (1929/30). 

ın The Succession to Baronies by writ of sommons. Ebenda 5, 2—5. 

n Notes concerning the Washington family. Wife of the Rev. Lawrence Washington. 
Ebenda 5, off. 

1 The genealogical value of tlie carly english newspapers. Ebenda 6, 14—17, 711. 

ı Female christian names. Ebenda 5, 19fl. 

ne Olavis Regni. Ebenda 5, 67—70. 

10 Notes on the ancestry of the Rt. Hon. Sir William A. Waterlow, Lord Mayor of London. 
Ebenda 5, 468. 


\ 
446 Nachrichten und Notizen 


Viel Freude bereitet mir immer die Durchsicht der Jahresschrift der finnischen 
Genealogischen Gesellschaff!*, In vielen größeren Aufsätzen erweitert sie das Material 
und vertieft die Kenntnisse über Volk und Land. Mehr einführend in die Erblich- 
keitslehre ist der Aufsatz von Gunnar Johnson"?*, — Die Reihe der Veróffentlichun- 
gen über Grabinschriften setzt H. Y. S. Södermann!” von dem alten Friedhof 
zu Pori (Björneborg) und Gösta Forsskáhl!9? von dem Friedhof zu Porvoo (Borgå) 
fort. Hieraus seien die deutschen Grabinschriften von Jacobine Winter (1799.—1834) 
und ihrem Sohne Berndt Ed. Winter (1830—1831) erwähnt. — H. J. Björk mann 
veröffentlicht die ältesten Hinterlassenschaftsaufnahmen zu Pietarsaari (Jacob- 
stadt) von 1706—1800 in Auszügen, aus denen man den großen Wert dieser Quellen- 
art ersehen kann. Es wäre zu wünschen, daß in Deutschland mit derartigen Ver- 
öffentlichungen begonnen würde. Derselbe!® stellt von Kokkola (Gamlakarleby) 
ein Häuserverzeichnis unter Angabe der Besitzer im 18. Jahrhundert zusammen, auf 
Grund dessen es ihm dann gelingt, einen Stadtplan zu rekonstruieren. — Einen 
weiteren wertvollen Beitrag! liefert er mit Carl Hedmann zusammen über die 
ältesten Kaufmannsgeschlechter in Christinestad. Wie schon erwähnt, ersehen wir 
aus diesen Stammreihen, daß erst um 1700 der Familienname in Finnland fest wird. 
Der rührige Sekretär der Gesellschaft Osmo Durchman!* setzt seine Beiträge zur 
Kenntnis der im Ritterhause Finnlands nichtimmatrikulierten Adelsgeschlechter 
fremder Herkunft fort mit der Familie Krakau, deren Stammvater in den Kriegen 
Karl XII. mitkämpfte. Die polnische Herkunft des Geschlechtes läßt sich nicht 
beweisen und ist auch nach der ältesten Namensform und dem Wappen unwahr- 
scheinlich.— Mit Christian Swanljung!** zusammen behandelt er das aus Schweden 
stammende Geschlecht S., das im Gelehrtenberufe und im Kaufmannsstande be- 
sonders in Brahestadt und Varsa vertreten ist. — Carl Hedmann!# gibt Ergänzun- 
gen zu dem Geschlecht Rein. — Einen adligen Zweig des Geschlechts von Berg, 
das schon in der Arbeit über die Kaufmannsgeschlechter in Christinestad berück- 
sichtigt war, behandelt Georg Rein!®. In umfangreicher Arbeit stellt H. J. Bo- 
stróm!*? alles zusammen, was er über die Geistlichkeit zu Alatornio und der Stadt 
Tornio wührend der schwedischen Herrschaft ermitteln konnte. Auch hier finden 
wir häufig Verwandtschaft der einzelnen Pastorenfamilien. Die Geschlechter Kämpe, 
das wir auch als Ratsherrengeschlecht in Nykarleby finden, Grape und Brunnius 
sind häufiger vertreten. — Osmo Durchmann!®# veröffentlicht ferner die Rech- 


1 Suomen Sukututkimusseuran Vuosikirja. Genealogiska Samfundets 1 Finland. Ar» 
krift. XII. (1928) und XIII. (1029). Hrsg. Osmo Durchman. Helsingfors 1929 bzw. 1930. 

17° Mielisairauksien periytymsestä. Ebenda 13, 4—13. 

1 Hautakirjoitukset Porin vanhalla hautausmaalla vuonna 1928. Ebenda 13, 14—48. 

16° Inskrifter på gravvårdar från 1800etalet på Borgå begravningsplats (Näsebacken). 
Ebenda 13, 49—94. 

1^ Ebenda 13, 95—232. 

1 Gårdar och gärdsägare i Gamlakarleby på 1700-talet. Ebenda 18, 256—276. 

1 Aeldre kópmansslükter 1 Kristinestad. Ebenda 18, 277—371. 

1% Ebenda 13, 372—378. 188 Ebenda 13, 386—404. 

!* Reini, Reinius, Rein. Kompletteringar till utredningen 1 ,,Sukukirja". Ebenda 18, 
233—255. 

18t Köyhä aatelisperhe. Ebenda 12, 18—21. 

1 Alatornion ja Tornion kaupungin paimenmuisto Ruotsin vallan aikana. Ebenda 12. 
22—102. 

1% Ebenda 12, 103—275. 


Nachrichten und Notizen 447 


nungen der Domkirche zu Viborg von 1655—1704, die besonders für die Herkunfts- 
fragen baltischer und nordischer Familien wichtig sind. Auf eine eigentümliche 
Sitte bei Erteilung der Taufnamen (bestimmtes Rückgreifen auf Vorfahren und 
Verwandte), die sich bis ins 18. Jahrhundert gehalten hat, macht Hugo Logstróm!99 
aufmerksam. Es würde zu weit führen, näher auf diese Eigentümlichkeit einzugehen, 
die wesentlich dazu beiträgt, die Verwandtschaftsverhältnisse festzustellen. — Die 
Liste der Bürgermeister und Ratsherren von Nykarleby in den Jahren 1680—1750 
veröffentlicht K. V. Åkerblom?” als Fortsetzung seiner früheren Arbeit, auch 
diesmal gibt er reiches biographisches und genealogisches Material aus den ver- 
schiedensten Quellen über die einzelnen Personen. — W. Backmann??* behandelt 
ein Geschlecht seines Namens nebst den Nachkommen der Töchter und Robert Est- 
lánder!9 sein in der Kulturgeschichte Finnlands bekanntes und geachtetes Ge- 
schlecht, das ursprünglich aus Uleaborg stammte. 

In der schwedischen Personengeschichtlichen Zeitschrift l“ gibt uns H. L. von 
Dardel!% auf Grund von Briefen des Grafen F. A. von Fersen an den Oberstadt- 
halter Freiherrn Carl Sparre aus dem Sparrschen Familienarchiv einen Einblick 
in die Verhältnisse des pommerschen Krieges 1757—1762. — Harald J. Heymann!" 
spricht über Márten Pedersson Blixencron und seine Zeichnungen für die Almanache, 
die in der Universitátsbibliothek zu Upsala liegen. Er führt ein Verzeichnis der 
Bilder aus den Almanachen der Jahre 1633, 1643, 1645, 1649, 1651, 1659 auf und 
fügt ein Personenregister mit Kommentar bei. — Im südlichen Schweden wollen 
viele Familien von polnischen Adelsgeschlechtern abstammen. Eine solche Sage 
untersucht H. Södersteen! und stellt fest, daB es sich um Johanna Helena Ros- 
nowski (der russische Adel dieses Geschlechtes wurde erst 1848 bestätigt), seit 1775 
Gemahlin des Leutnants Carl Sewalt Cameen, handelt und nicht um ein Geschlecht 
Rosinofsky; die Abstammung von August dem Starken ist aber Sage. — Über 
C. J. L. Almquist spricht Henry Olss ons. — Bengt Hildebrand! würdigt in 
einem sehr warm empfundenen Nachruf das Leben und die Verdientse des Grafen 
Fredrik Ulrik Wrangel (1853—1929) und fügt eine Bibliographie seiner Schriften 
bei. — Gustaf Jacobson? erweitert unsere Kenntnis über den Generalmajor 
Gustaf Wilhelm Coyet (1678—1730). — H. J. S. Kleberg? veröffentlicht eine 
kurze Stammreihe des Geschlechtes Leschinsky, das um 1700 mit Jacob L. aus den 
Üstseeprovinzen nach Finnland und Schweden eingewandert ist. — Auf Grund eines 


1e Ebenda 12, 283—286. 

a Ebenda 12, 287—307. 

n En släkt Backman jämte Attlingar på kvinnolinjen. Ebenda 12, 308—329. 

"' Ebenda 12, 830— 375. 

'* Personhistorisk Tidskrift utgiven av Personhistoriska Samfundet genom Bengt Hilde- 
brand. Jg. 30. (1929) und 31. (1930) H. 1—2. 

Brey under Pommerska kriget 1757—1762 från F. A, von Fersen till Carl Sparre. 
Ebenda 30, 1—23. 

* Ebenda 30, 37—111. 

Den polska ,,prinsessan' i Småland. Ebenda 30, 112—116. 

1 C. J. L. Almquists levnadsepilog. Met sárskild hänsyn till hans ställning under 1840- 
talet. Ebenda 30, 117—139. 

* Ebenda 80, 183 —101. 

** Karolin och politisk äventyrare. Nägra drag ur generalmajoren Gustaf Wilhelm 
Coyets levnadahistoria, Ebenda 30, 192—213. 

* Ebenda 30, 214—290. 


448 Nachrichten und Notizen 


Briefes weist Birger Linden nach, daß die Grafen Erich und Gustav Brahe in 
Polen begraben sind. — Sten Engström?® bringt Beiträge zur weiteren Kenntnis 
der Brigittaoffenbarung. — Bengt Hildebrand macht Bemerkungen zur schwe- 
dischen mittelalterlichen Genealogie im AnschluB an Arbeiten von K. H. Karlsson 
u.a. und führt den Ursprung des mittelalterlichen Geschlechtes Brahlstorp nach 
Mecklenburg auf Grund von Vornamen und Wappen bis ungefáhr 1300 zurück. 
Eme Stammliste ist beigegeben. — Neues zur Lebensgeschichte des 1606 hingerichte- 
ten Papisten Petrus Petrosa gibt Folke Lindberg. — Ergänzungen zu schwedi- 
schenPfarrerverzeichnissen liefern Gunnar Hellström% und Gerhard Hafström®®, 
— Sten Lewenhaupt?® schildert, wie Prinz Louis Napoléon 1848 von London 
nach Frankreich als Graf Sten Lewenhaupt reiste, und fügt drei Briefe bei. 
AbschlieBend erwühne ich, daB die meisten Zeitschriften kurze Mitteilungen, 
Gelegenheitsfunde, Besprechungen und ausführliche Register bringen. Einige gehen 
dazu über, reichen Bildschmuck beizufügen, besonders das Jahrbuch der Finnischen 
Gesellschaft. Die Zeitschrift für Sudetendeutsche Familienforschung bringt ein 
Verzeichnis der für die Familienforschung wichtigen Sudetendeutschen Schriften, 
und die Familiengeschichtlichen Blätter veröffentlichen alphabetisch fortlaufend 
selbstándige und in Schriften erscheinende genealogische Arbeiten. Lampe. 


Wissenschaftliche Gesellschaften und (Publikations-) Institute. Der 18. Deutsche 
Historikertag findet vom 6.—9. Oktober in Koblenz und Bonn statt. Das aus 
führliche Programm wird noch veröffentlicht. Vorher findet vom 2.—6. Oktober 
in Koblenz die Tagung des Verbands Deutscher Geschichtslehrer statt. 


Personalien: a) Historiker: Es wurden berufen: Priv.-Doz. Dr. Helmut 
Göring in Köln als o. Prof. für Geschichte an die Technische Hochschule in 
Stuttgart; Priv.-Doz. Dr. Walter Holtzmann in Berlin als o. Prof. nach 
Halle a. S.; Prof. Dr. Fr. Schacher-Meyer in Iunsbruck als o. Prof. für alte 
Geschichte nach Jena; o. Prof. Dr. Otto Becker von Halle a. S. nach Kiel 
auf den Lehrstuhl von Fr. Wolters; der ao. Prof. der Geschichte u. hist. Hilfsw. 
Dr. Ernst Perels in Berlin zum Ordinarius daselbst ernannt. 

b) Kirchenhistoriker: Priv.-Doz. Lic. Ernst Wolf in Rostock als o. Prol. 
nach Köln; o. Prof. D. Hans Rückert-Leipzig in gleicher Eigenschaft nach 
Tübingen berufen. 


*" Ett brey om Erik och Gustaf Brahes öden i Polen. Ebenda 30, 221 f. 

s Ormungen och hans moder. Till tolkningen av en Brigitta-uppenbarelse. Ebends 3l, 
1—6. 

% Några anteckningar om svensk medeltidsgenealogl. Ebenda 31, 7—11. 

*5 Ebenda 31, 12—24. 

% Kring Petrus Petrosa. Nya bidrag. Ebenda 31, 25—54. 

% Rättelser och tillagg till Aerkestiftets och Strängnäs stifts herdaminnen hämtade W 
Stockholms stads äldre tänkeböcker. Ebenda 31, 5560. 

*9 Prästerskapets 1 Kinds och Ydre kontrakt. Ett bidrag till Linköpings stifts berds- 
minne. Ebenda 31, 61—68. 

% När prins Louis Napoléon reste som svensk greve. Ebenda 31, 69—72. 


il 


449 


Zum Latein des Ruodlieb. 


Von 
Hans Ottinger. 


In seiner Ausgabe der Fragmente des Ruodlieb-Romans 
(Halle 1882) versucht Friedrich Seiler unermüdlich, durch 
den lateinischen Ausdruck hindureh den zugrunde liegenden 
deutschen zu erkennen. Das Kapitel V der Einleitung bietet 
ein langes Verzeichnis von „Germanismen“, die nach Wahr- 
scheinlichkeit und Schwere in Gruppen geteilt sind. In einem 
kleingedruckten Anhang zur Vorrede nimmt er wohl manches 
davon zurück, aber Rudolf Koegel, der in seiner Literatur- 
geschichte Seiler folgt, hat das übersehen. Er findet! im Ruod- 
lieb nicht nur „Germanismen‘ schlechthin, sondern gleich die 
Sprache des höfischen Epos. S. 408 heißt es kurz und bündig: 
„ . . 68 ist alles ein Germanismus“. 

Entschieden gegen Koegels Methode wandte sich zuerst 
Paul v. Winterfeld?. Dann trat ein halb ärgerliches, halb be- 
lustigendes Ereignis ein: der franzósische Gelehrte M. Wilmotte 
reklamierte den Ruodlieb für Frankreich?: für ihn ist alles 
ein Romanismus. Karl Strecker hat das in seinem Aufsatz 
„Die deutsche Heimat des Ruodlieb““ mit verdienter Schärfe 
zurückgewiesen. 

Was unser Dichter schreibt, muß doch wohl Latein sein, 
wenn auch ein anderes, als das des Waltharius. Eckehard 
dichtet in engster Anlehnung an Vergil und Prudentius, seine 
Arbeit ist also Nachahmung, Schulleistung, Humanismus. 
Gelegentlich aber gleitet er in ein Latein hinein, das dem des 

1 ], 2, S. 347. 

3 Arch. f. d. Stud. d. neuen Sprachen 114. 

* Romania 1916/17, S. 373ff. 

Neue Jahrb. 1921, S. 289ff. 

5 Vgl. K. Strecker, N. Jb. 3, 641 ff. und Wilh. Meyer aus Speyer, Zs. f. d. A. 48, 114ff. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 29 


450 Hans Ottinger 


Ruodliebsehr nahe kommt. So findet Koegel' in mortem gustare 
(v. 870) das deutsche den tot chiesen. In der Vulgata heiBt es 
aber Joh. 8, 52: si quis sermonem meum servaverit, non gustabit 
mortem, und im Hebräerbrief 2, 9: ut gratia dei pro omnibus 
gustaret mortem. Eckehard ist da offenbar nicht in seine Mutter- 
sprache, sondern in das Latein der Bibel hineingeraten, das 
ungefähr so, vielleicht mit noch vulgäreren Bestandteilen ver- 
mischt, wohl auch in seinem Kloster gesprochen wurde. 

Hier sind wir bereits in dem Milieu, in dem der Dichter des 
Ruodlieb sein Latein gelernt hat. Die Formel lautet so, wie 
sie Karl Strecker in seinem grundlegenden Aufsatze bereits 
skizziert hat: Unser Dichter schreibt das ans Spätlatein an- 
knüpfende Latein seiner Zeit. Von dem Ehrgeiz, klassische Vor- 
bilder erreichen zu wollen, ist er fast ganz frei, man muB in 
der Regel zu den der Volkssprache am nächsten stehenden spät- 
lateinischen Autoren greifen, um Ähnliches zu finden. Im ganzen 
ist der Sprachzustand des Ruodlieb etwa der gleiche, wie er 
uns in der volkstümlichen mittellateinischen Mönchs- und 
Novellenliteratur entgegentritt, also in dem ungefähr gleich- 
zeitigen Liber de miraculis des Johannes Monachus, oder dem 
Alexanderroman des Archipresbyters Leo, oder in der etwas 
späteren Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi und der von 
Hilka entdeckten Historia septem sapientum I”. 

Vielleicht hat der Dichter des Ruodlieb in erster Linie 
Latein und dann erst Deutsch gekonnt, wie man bei uns früher 
zum schriftlichen Ausdruck die französische Sprache wählte, 
weil sie geschmeidiger war. Vielleicht haben ihm auch manche 
von den Novellen und Schnurren, die er erzählt, schon in latei- 
nischer Fassung vorgelegen und sind ihm als etwas recht eigent- 
lich Lateinisches erschienen. 

Jedenfalls erweist die folgende Untersuchung die Mehrzahl 
der Germanismen Seilers als harmlosen spätlateinischen Sprach- 
gebrauch. Die Germanismen-Theorie darf also als im Prinzip 
widerlegt gelten. 

Wie schwer es ist, einen wirklichen Germanismus nachzu- 
weisen, will ich an einem Beispiel zeigen, bei dem Seiler auch 

* J, 2, S. 812. 

? Alle vier Büchlein jetzt bequem zugänglich in der Sammlung mittellateini- 
scher Texte von Alfons Hilka. 


m - 


— 


Zum Latein des Ruodlieb 451 


nicht an die Möglichkeit eines Zweifels dachte. Ruodl. IV, 226 
heißt es: cum sat lorifregi, quae porrexere recepi, und zu lori- 
fregi steht am Rande die Glosse zugilprechoto. Nun heißt es 
aber im Aesop des Romulus in der 62. Fabel (Thiele S. 203): 
(vitulus) calcibus in altum saltus dedit loraque confringens 
fugam petiit. Mit lora confringere ist für einen spätlateinischen 
Autor, zumal einen Dichter, ohne weiteres auch lora frangere 
gegeben. Ist hier wirklich das Deutsche Original? Oder das 
Lateinische? 

Als ich diese Arbeit begann, zog ich aus, um über die In- 
dizien hinaus, die deutsche Namen und Glossen, Fundort und 
Zustand der Hs. an die Hand geben, die deutsche Heimat des 
Ruodlieb aus der Sprache zu erweisen. Aber ich fand keinen 
einzigen völlig einwandfreien Germanismus, wie die nach- 
stehende Untersuchung zeigt“. 

Präpositionen. Seiler leitet dieses Kapitel S. 114 mit 
den Worten ein: „Ihr Gebrauch zeigt zahlreiche Abweichungen 
vom klassischen Latein, von denen viele offenbare Germanismen 
sind.“ In Abweichungen vom Klassischen fassen wir aber 
nicht unseren Dichter, sondern zunächst nur das ans Spätlatein 
anknüpfende Latein seiner Zeit. Erst wenn wir Abweichungen 
von dem beobachten, was im späten und mittelalterlichen Latein 
allgemeine Ubung ist, können wir Eigenheiten unseres Dichters 
konst atieren. 

Ad: 1) lokal gebraucht: ad mensam = bei Tische I, 104; 
ad latum = an der breiten Seite, ad artum = an der schmalen 
Seite I, 29. 

Über diesen in der Volkssprache wurzelnden Gebrauch 
handelt Schmalz, Syntax S. 394. Vgl. auch Ahlquist, Studien 
zur spätlateinischen Mulomedicina Chironis, Diss. Uppsala 1909, 
und Krebs-Schmalz, Antibarbarus I, 80. Belege bietet jeder 
spätlateinische Text, z. B. der Engländer Beda Historia ec- 
clesiastica (Holder, Freiberg und Tübingen 1882): S. 106, 5: 
Sedentibus iam ad mensam fratribus’. Ad mensam findet sich 
_ * Verzeichnis der im folgenden zitierten Ausgaben und Schriften s. am Ende 
des Aufsatzes. 

* Ad mensam sedere auch p. 106,7; 231,10; 233,7; 130,4: ad dexteram altaris; 


251, 30: resederunt circa me, unus ad caput et unus ad pedes. Petronius 46: habebis 


ad latus servulum; zahlreiche Beispiele aus Gregor. Turon. bei Bonnet, Le Latin 
de Grégoire de Tours. 


99* 


452 Hans Ottinger 


schon bei Plautus inc. frg. 41, Martial 2, 57, 7 und Scaevola, 
dig. 2, 14, 47, 1. Über mensa = cena vgl. Antibarbarus s. v. 
mensa. 

2) Ad temporal gebraucht (Seiler S. 114): ad seram = auf 
den Abend X, 15. induciare ad diem = auf einen Tag fest- 
setzen V, 392. 

Vgl. zu dem ganzen Gebrauch Krebs-Schmalz Anti- 
barbarus I, 81, Thesaurus l. l. und Hand Tursellinus vol. I, 
p. 99ff. Der Gebrauch begegnet schon bei Cato agr. 162,3 
(semen maturum fit ad autumnum), Plautus Men. 965 (ad noctem 
saltem intromittar domum) und Pseud. 4, 7, 77; Varro r. r. 2, 2, 
11 (ad solis occasum), sogar bei Cicero div. 1, 103 (ea ipsa die 
domum ad vesperam rediit) und Verr. 3, 92 (ad horam nonam 
praesto est), Horaz ep. 9. 2, 98 (ad lumina prima), Tacitus an. 
15, 60 (ad eum diem ex Campania remeaverat) und bei Vitruv I 
praef. 3 (ut ad exitum vitae non haberem inopiae timorem). 
Sehr háuflg in der Vulgata z. B. Apocal. Joh. 3, 10 (servabo 
te ad horam temptationis). Mulomedicina Chironis 162, 19 
(ad medium diem da bibere aquam et ad vesperum da herbam). 
In der Peregrinatio Aetherie begegnen etwa 40 mal Zeitangaben 
wie ad nonam oder ad lucernare. Häufig auch bei Beda hist. 
eccl. z. B. p. 106, 5: reversus ad vesperam!!. Vgl. auch Bonnet 
S. 583 für Gregor. Turon. 

3) Ad final gebraucht (Seiler 114): dare equos ad alendum IV, 
104; mensas ad habendum XV, 28; ferner saccus ad fodrum I, 23. 

Dieser Gebrauch ist im Spätlatein stark erweitert worden, 
wie denn diese Spätlinge oft alle theoretischen Ausdrucksmöglich- 
keiten, die sie vorfinden, rücksichtslos ausnützen. Häufig findet 
er sich in der Vulgata z. B. Joh. 6, 52 (carnem dare ad mandu- 
candum)!, Victor Vitensis (ed. Petschenig) z. B. 38, 10 (hordeum 


19 Ebd. 16, 14 (congregare illos in proelium ad diem magnum dei), Ev. Joh. 7, 8 
(vos ascendite ad diem festum hunc, ego non ascendam ad diem festum istum). 
7,10 (ascendit ad diem festum). 

11 Ad vesperam auch p. 150, 16, 28, 29 und p. 151, 4, 7, 84 u. ö. p. 29, 18: 
(ecelesia ad diem resurrectionis dominicae frondibus contexta), 125, 31 (servare 
se ad tempora meliora). 

12 Thim. 4, 3 (quos deus creavit ad percipiendum), 6, 17 (praestat nobis omnia 
abunde ad fruendum); 1. Cor. 11, 21 (suam caenam praesumit ad manducandum); 
11, 22 (numquid domos non habetis ad manducandum et bibendum); 9, 10 (panem 
ad manducandum); Matth. 2, 13 (quaerat puerum ad perdendum eum); 5, 28 (omnis 


Zum Latein des Ruodlieb 453 


ad vescendum ut iumenta accipiunt), 17, 15 (qui coartaret ad 
tradendum ministeria divina), 81, 11 (ad excolendum agros 
accipiatis), Historia Apollonii (Riese, Bibl. Teubn.) p. 75,11 
(venit ad repetendam filiam suam), háufig bei Beda Hist. eccl. 
z. B. 43,28 (eosque aliis mulieribus ad nutriendum tradant)!®?, 
Peregrin. Aeth. 37, 3 (manum autem nemo mittit ad tangendum), 
Anton. Placent. (Itinera Hierosolymitana ed. Geyer) p. 172, 1 
(dominus noster ascendit ad crucifigendum). Vgl. auch Ahlquist 
S. 59 und Bonnet S. 584. 

Interessanter sind finale Verwendungen von ad folgender 
Art: Vulgata 2. Cor.11,8 (alias ecclesias expoliavi accipiens 
stipendium ad ministerium vestrum = um euch dienen zu 
können). Act. ap. 3, 10 (ad aelemosynam sedebat = er saß um 
Almosen); Fulgentius Myth. 1, 27 (maligna ad mariti mortem 
(= um ihn töten zu können) suam vitam reputat nihili); Beda 
p. 214, 11 (ad peccata vigilant = um zu sündigen), 94, 4 (in eodem 
fano et altare haberet ad sacrificium Christi et arulam ad victi- 
mas daemoniorum). Weitere Parallelen zu unseres Dichters 
„Saccus ad fodrum“ bieten: Anton. Placent. Itin. (G), S. 182, 1 
(ad cellarium .legumina vel oleum ad luminaria), Disciplina 
clericalis S. 50, 5 (timor domini est clavis ad omne bonum), 
Aesop des Rom. (Th) p. 271 (abundabis pulcherrima carne 
ad escam). Viele Beispiele bringt Ahlquist S. 59 aus der Mulo- 
med. Chiron, z. B. 284, 20: medicamentum ad bovem. Weitere 
Beispiele aus der Sprache der Mediziner im Thesaurus l. 1. 

4) Seiler S. 114: „Adverbiale Bestimmung: vestire ad 
honorem = nach eren IV, 232.“ Auf S. 136 führt Seiler dann 
ad honorem als besonders charakteristischen Germanismus an. 

Krebs-Schm. Antibarb. I, 81: ,,Richtig, wo ad, zu, soviel ist 
als „nach, demgemäß“, z. B. ad voluntatem loqui, nach dem 
Willen; ad nutum, nach dem Winke." Vgl. Thes. und Hand. 
Tursell. vol. I, 108. Bei Cic. de fin. 1, 9, 30 bieten einige codd.: 
qui aut ad naturam aut contra sit, einige secundum naturam. 
Ad und secundum sind also synonym gebraucht. Der Gebrauch 


qui viderit mulierem ad concupiscendam eam, iam moechatus est); Jacob. 3, 3 
(equorum frenos in ora mittimus ad consentiendum nobis). 

13 64, 30 (multique ad emendum confluxissent), 127, 2 (intrabant ad pranden- 
dum), 138, 3 (persuasus maxime ad percipiendam fidem a filio regis), 139, 11 (hortari 
ad intellegendum), 251, 32 (ac mihi librum ad legendum dedit) u. ö. 


454 | Hans Ottinger 


ist auch in spáterer Zeit lebendig geblieben, z. B. Plinius n. h. 24, 
8, 301% und 16, 11, 8015, wörtlich bei Apuleius met. 8,2: ad 
honorem splendidae prosapiae inter praecipuos hospites domum 
nostram receptus. Beda p. 35, 30 (ad iussionem regis residentes), 
180, 27 (ad saeculi huius dignitatem nobilis)!*: Mulomed. Chiron. 
p.165, 28 (ad rationem compositionis utere medicamento). 
Der Ausdruck hat also nichts Ungewóhnliches, zweifeln kónnte 
man hóchstens, ob unser Dichter dieses ad nicht vielmehr in 
finalem Sinne verstanden hat, also ad honorem = honoris 
causa. In frg. XV, 44 schreibt er nämlich: contra quae agmen 
surrexit eis ad honorem. Dieser Gebrauch ist im Spätlatein 
überaus háufig: Vulgata Rom. 15, 4 (ad nostram doctrinam 
scripta sunt), 1. Cor. 7, 35 (ad utilitatem vestram dico)“, 
Beda 62,6 (virtutes sanctorum ad exemplum vivendi posteris 
collegit) is, Victor Vitensis p.19,17 (quasi ad maiorem ob- 
probrium), Johannes Monachus p. 4, 32 (quae ibi ad laudem 
dei fiunt), 33 (ponimus ad laudem animarum). Vgl. Thes. I. l. 

5) Seiler S. 114: ,, Adverbiale Bestimmung vasa ad grossum 
nucis = in der Größe V, 123." 

Grossus = crassus ist im Spätlatein weit verbreitet. Die 
Substantivierung des Adjektivs darf nicht befremden, da das 
gesamte Spätlatein darin sehr Kühnes leistet. Wir haben offen- 
bar einen Akkusativ des Maßes vor uns, wie sie Ahlquist S. 39f. 
aus der Mulom. Chiron. zusammenstellt, z.B. p. 205, 20: 
tumorem eminentem mollem nucis magnitudinem demonstrat 
oder 215, 15: abscidito medium frustum quaternario duplicis 
magnitudinem. Gelegentlich tritt nun zu einem solchen Akkusa- 


M Foliis cum vino tritis ad virium portionem. 

15 Teredines capite ad portionem gravissimo. 

16 150, 38: ad legis Mosaicae decreta tempus paschale custodiens, 173, 19: 
ad exemplum venerabilium patrum, 219, 21: ad fidem et preces famuli dei, 222, 10: 
ad tui oris imperium, 263, 14: ad iussionem praefati regis. 

17 10, 11: scripta sunt autem ad correptionem nostram, 14, 26: omnia ad 
aedificationem fiant, 15, 34: ad reverentiam vobis loquor, 2. Cor. 1, 20: ad gloriam 
nostram, 7,3: non ad condemnationem dico, Philipp. 1, 25: permanebo in omnibus 
vobis ad profectum vestrum et gaudium fidei, Tim. 1, 16: ad exemplum eorum 
qui, Petr. ad gent. 4, 12: ad temptationem vobis fit, Apocal. Joh. 22, 2: folia 
liqui ad santatem gentium. 

18 95, 6: ad utilitatem eorum qui, 180, 40: ad utilitatem legentium, 171, 37: 
ad indicium virtutis illius, 177, 80: quae et ad memoriam aedificationemque se- 
quentium descripta habentur.  — 


Zum Latein des Ruodlieb 455 


tiv des MaBes das bekannte ad, das einen Annäherungswert 
ausdrückt. So entstehen Ausdrücke wie Mulom. Chiron. p. 163, 30: 
ad magnitudinem fabae; 208, 22: ad magnitudinem nucis. 
Andere Beispiele bietet der Thesaurus, z. B. Plin. n. h. 16, 203: 
crassitudinis ad trium hominum complexum; 19, 110: ad trium 
denariorum pondus; Celsius 4,19 p.145: laser ad piperis 
magnitudinem. Ähnliches finde ich noch bei Soran. Gynaec. 
p. 20,18: ad magnitudinem ovi, ebenso p. 22,5; Disciplina 
clerical. p. 35, 2: caseum ad magnitudinem clipei factum!?. 

Per: 1) Seiler S. 114: „Per für abl. causae bei Sachen IV, 
241; XVI, 17." 

Über per vgl. Schmalz, Synt. S. 405. Der modale Gebrauch 
hat sich aus dem instrumentalen entwickelt und im Spätlatein 
sehr ausgebreitet. Zur instrumentalen Bedeutung von per 
vgl. z. B. Terenz Phorm. 1038: minas triginta ab illo per fal- 
laciam abstuli; Hist. Apoll. p. 38, 10: per ceram mandavi, 
quae pudorem non habet“. Häufig auch in der Vulgata, z. B. 
1. Cor. 15, 2: (evangelium) per quod et salvamini; 2. Cor. 1, 4: 
per exhortationem?!, 

Von der instrumentalen Bedeutung nicht immer glatt zu 
scheiden ist die kausale (vgl. Draeger Hist. Synt. I, 607). 
Per bezeichnet wie der abl. causae sowohl den inneren als den 
äußeren Grund (Seiler: „bei Sachen“). Zur Bezeichnung des 
inneren Grundes dient per etwa: Cic. Tusc. 4,37: per iram; 
De or. 3, 3, 11: per invidiam. Ebenso bei Liv. Curt. Tac. Flor. 
u.a. Hist. Apoll. p. 107, 8: per impietatem; Beda 40, 25: per 
ignorantiam??; Mulom. Chiron. p. 4, 12: si quid enim per 


19 Hierher gehören auch Ausdrücke wie Petron. 97: hominis vestigium ad 
corporis mei mensuram figuravi; Beda 9,21: singulae earum ad modum humani 
femoris grossae; 118, 7: fossam ad mensuram staturae virilis altam. 

39 Vgl. die Beispiele aus Tertullian bei Hoppe S. 33, aus Gregor. Turon. bei 
Bonnet S. 590, aus der Mulom. Chiron. bei Ahlqu. S. 65, aus Jordanes bei Werner 
S. 59 und schließlich die Indices des Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 
und die lange Aufzühlung bei Draeger Hist. Synt. I, 603 und bei Liesenberg S. 14 
aus Ammian. Marc. 

21 6, 7: per arma iustitiae; Ephes. 3,7: per evangelium factus minister; 
Ooloss. 2, 8: videte ne quis vos decipiat per philosophiam et inanem fallaciam; 
1. Timoth. 4, 5: sanctificatur enim per verbum dei et orationem; 2. Timoth. 1, 6: 
per impositionem manuum mearum; Tit. 3, 5: per lavacrum regenerationis. 

33 40, 27: per furorem, per mansuetudinem, per considerationem; 45, 28: 
per delectationem; 45, 81: per nequitiam; 180, 7: per ignorantiam vel incuriam. 


456 Hans Ottinger 


ignorantiam male factum fuerit; 68, 11: vehementer per do- 
lorem volutant; Vulgata Matth. 27, 18: sciebat enim quod per 
invidiam tradidissent eum*, Zum Ausdruck des äußeren 
Grundes: Terenz Andr. 157: ut per falsas nuptias vera obiurgandi 
causa sit. Draeger führt unter anderem an: Caes. b. c. 3, 24 
(per causam exercendorum remigum); Liv. 2, 32 (per causam 
renovati ab Aequis belli; Suet. Nero 36 (quasi per iustam 
causam). Ferner findet es sich bei Petron. 112 (quicquid boni 
per facultates poterat coemebat), Vitruv. p. 30, 22 (per sacri- 
ficium), Cypr. 1, 255, 5 (quod necdum edere posset per aetatem), 
Commod. instr. 2, 22, 5 (vino copioso parce, ne per illum aberres), 
Vulg. 2. Cor. 8, 5 (per voluntatem dei), Hist. Apoll. p. 41, 17 
(per meam iussionem), Peregrin. Aeth. c. 20, 9 (scio per scrip- 
turas), Beda p. 194, 22 (per iussionem papae), Ahlqu. bringt 
aus der Mulom. Chiron. S. 66 z. B. p. 8, 21 (non facile sitit per 
gracilitatem venarum); 46, 25: interiorum dispositio per fati- 
gationem nimiam invalida flet?*5. Sehr kühne Verwendungen 
des kausalen per finden sich bei Gregor. Turon. (vgl. Bonnet 
S. 591) z. B. h. F. 2, 3 p. 64, 5: virtutem dei invidere per pecuniam 
und bei Vict. Vit. p. 26, 11: coepit per conversationem operum 
bonorum venerabilis haberi; 33,23: alii per aetatum annos 
a lumine temporali privati. 

2) Seiler S. 114 „Für abl. limitationis: lances per circuitum 
cubitales V, 309; per suras suspendi ‚an den Waden' III, 5. — 
per girum ambire V, 348; per frusta caedere ,in Stücke schnei- 
den‘ II, 40.“ 

Der Typus per circuitum, per girum ist im Spätlatein, beson- 
ders im Kirchenlatein, weit verbreitet, z. B. Peregrin. Aeth. 
c. 2,5: mons per giro quidem unus esse videtur; 2, 6: montes qui 
per girum sunt?®. Häufig in den Itinera Hierosolymitana (Geyer) 
z.B. Adamnan. de loc. sanct. 224, 14: per circuitum, ebenso 
p. 246, 12 u. 247, 10, p. 224, 8: per circuitum civitatis. Mulom. 

? (salat. 1,15: vocavit per gratiam; 5, 13: per caritatem servite in invicem. 

*4 35, 26: per consuetudinem; 47, 1: per caementorum raritatem; 178,7: 
per panni raritates. 

35 63, 10, 12: per calorem; 154, 12: per negligentiam; 208, 2: per quam causam 
ambulare non possunt. 

% 3, 1: non eos subis lente et lente per girum; 4, 4: petra ingens est per girum 
habens planitiem supra se; 8,1: ingens fuit per girum; 13,3: per girum ipeius 
colliculi parent fundamenta; 19, 10: custodirent civitatem per giro clusam. 


Zum Latein des Ruodlieb 457 


Chiron. p. 290, 22: cum pice liquida per girum linito; 14, 29 u. 
71, 12: per circuitum; Vulg. Ex. 16, 13: ros iacuit per circuitum 
castrorum u. ó. Ebenso häufig ist in giro, in circuitu. Vergleich- 
bar sind ähnliche Wendungen wie Peregrin. Aeth. 5,1: per longum 
— der Länge nach, ebenso Mulom. Chir. p. 23, 14. Anton. Pla- 
cent. (Itinera) 3, 1: per directum — auf dem graden Wege. Vulg. 
Joh. 19, 23: per totum = ganz und gar; Beda p. 92, 23: per 
quadrum = quadratisch. 

Auch der Ausdruck „per suras suspendi'' ist keine Besonder- 
heit unseres Dichters. Vgl. Plautus Asin. 2, 2, 35: nudus vinctus 
centum pondo es quando pendes per pedes; Catull 17,9: ire 
praecipitem in lutum per caputque pedesque; Mulom. Chir. 
p. 78, 1: si per aliam partem tenueris eum; Gregor. Turon. hist. 
F. 3, 7 p.114,20: pueros per nervos ad arbores appendentes; 
5,38 p. 230, 10: adpraehensam per comam puellam”. 

Ausdrücke vom Typus per frusta = frustatim finden sich 
allenthalben, z. B. Vict. Vit. p. 96, 7: linteamina per fila con- 
sciderunt (in Fetzen); Jordan. Get. 5, 42: per familias divisi; 
Soran. Gynaec. 6, 10: per partes dividere; Seneca de ira: per 
singulos artus laceravit; Celsius 6, 9, 6: per testas excidet deus; 
Lucif. Calar. aus Jos. c. 27: oblati sunt per plebes, obtulit po- 
pulum per tribus, per domos, per viros; Irenaeus 2, 28, 4: verbum 
nostrum profertur non de semel sed per partes; Soran. Gynaec. 
41, 16: per partes paulatim. 

Post: Seiler S. 114: „post = ‚hinterher‘ bei Ausdrücken 
des Sehens I, 52, 64, bei maerere XVI, 7, gemere IV, 164, flere 
X,9. Merkwürdig ist der finale Gebrauch bei den Verben der 
Bewegung; hier steht post ganz wie das deutsche ‚nach‘ = um 
zu rufen, holen, fangen; so pergere post ursum I, 130, salire post 
herilem XIII, 52; deutlich unterscheidet sich namentlich bei den 
Verben des Schickens post von dem rein lokalen ad usw.“ 

Das Spätlatein geht in der präpositionalen Verwendung von 
post über die Zurückhaltung der klassischen Normalprosa weit 
hinaus: Vulg. Matth. 15, 23: dimitte eam quia clamat post nos; 
Joh. Mon. p. 181, 6: tunc sanctus magnus Georgius exclamavit 


7 Cels. 3, 21,5: prendere per multas partes cutem et adtrahere; 3, 27, 1A: 
per omnia membra; Leo de proel. p. 91, 12 und 116, 5: apprehendere per manum; 
Hist. sept. sap. I, p. 11, 11: accepit illum per capillos et barbam; 17, 8: cepit eam 
per testiculos. 


458 Hans Ottinger 


post eos dicens: nolite timere. Auch bei den Verben der Bewe- 
gung findet sich post in der Bedeutung „hinterher“, z. B. v... 
Luc. 14, 27: qui non baiulat crucem suam et venit post me, no1 
potest esse meus discipulus; Matth. 16, 23: vade post me; 1 

si quis vult post me venire, abneget semet ipsum; 4, 19: ait illis 
venite post me??; Lucif. Calar. p. 211, 14 (aus Deut. 13, 4): post 
dominum deum vestrum abibitis et ipsum timebitis; 223, 8 (aus 
IV reg. 23): ire post dominum; 5, 22: quia non abierimus post 
idololatriam tuam; 16, 22: post illos abibat; Eugipp. p. 84, 7: 
curram post vocem hanc et apprehendam te; Anton. Placent. 
Itin. p. 163, 10: revertentes post nos; 167,6: Jordanis cum 
rugitu redit post se; 198, 28: venientes post nos Iudaei; Beda 
h. eccl. p. 51, 31: abeuntibus autem praefatis legatariis misit 
post eos litteras (schickte ihnen nach); 166, 20: absolvit eum et 
post Theodorum ire permisit (nachreisen); Bonnet S. 592 zitiert 
aus Gregor. Turon.: vade post eum und post Gundobadum 
abiit; Joh. Mon. p. 59, 23: secutus sum vero post illos, ut vi- 
derem ubi sepelirent eum; Hist. sept. sap. I, p. 7, 8: picam post 
eam (ihr nach) misit; 10, 16: ivit autem anus in domum puellae, 
et canis post eam; 11, 7: ibo post ipsam et cognoscam, ubi me 
ducet. Ivitque post eam. 

Außer der Richtung bezeichnet die Präposition post dann 
allmählich auch den Zweck, eine Entwicklung, die ja auch das 
deutsche „nach“ durchgemacht hat. Vgl. Schmalz Synt. S. 397. 
Vulg. Joh. 12, 15: misit serpens ex ore suo aquam post mulierem 
tamquam flumen; Peregrin. Aeth. c. 7, 4: cum vidissent Egyp- 
tios post se venientes (ihnen nachsetzen); 8,5: post aliquem 
occupare (nacheilen, nachsetzen). Vgl. Löfstedts Kommentar 
S. 192, wo er noch beibringt Liber Jubil. 30, 26: non persecuti 
sunt post Iacob, ut nocerent eum; Gregor. Turon. h. F. 4, 2 
p. 142, 20: misit post eum cum muneribus; 4, 16 p. 154, 10: 
cum exercitu post eos dirigens. Beispiele mit unzweifelhaft 
finalem Sinn bringt Zink S. 44 aus Fulgent. Myth. z. B. III, 10: 


33 Luc. 19, 14: miserunt legationem postillum (ursprünglich — hinter jemandem 
herschicken); 23, 26: portare crucem post eum (ihm nachtragen); Act. Ap. 5, 37: 
avertit populum post se (Luther: „und machte viel Volks abfällig ihm nach“); 
20, 30: exsurgent viri loquentes perversa, ut abducunt discipulos post se; Petr. 2, 10; 
qui post carnem in concupiscentia immunditiae ambulant (nachwandeln); Jud. 7: 
abeuntes post carnem alteram; Ps. 62, 8: adhaesit anima mea post te (nachhängen), 


—— — — — 


Zum Latein des Ruodlieb 459 


.post quam (Euridicen) maritus ad inferos descendit (nach ihr = 
„sie heraufzuholen). Ferner bringt er einen Beleg aus Luc. 
„Ampel. Lib. mem. c.2 p.3,3 (Teubner): canis post aquam anhe- 
." min puteum se proiecit. Eine ganz deutliche Parallele zu 
unseres Dichters pergere post ursum bietet endlich die Hist. sept. 
Sap. I p. 12, 6: videntes cervum in agro cucurrerunt post eum. 
Erinnert sei auch an das von Strecker a. a. O. S. 298 Anm. 1 
aus einer irischen Vita beigebrachte Beispiel curre post ignem! 

Angemerkt sei hier, daß ganz ähnlich auch ante —,,vor 
jemandem her‘ im Spätlatein gebraucht wird. Geyer (Itin.) 
bringt hierfür mehrere Belege, z.B. Anton. Placent. Itin. p. 184, 7: 
fugit ante Jezabel; Theodos. 833: fugiebat ante Saul; Mon. 
Germ. Hist. XV, 1 p. 11: ante suos fugere compulsus est hostes. 
Vgl. ferner: Vulg. Joh. 10, 4: ante eas vadit; Joh. Mon. p. 49, 31: 
ibat ante eum et perduxit usque prope villam; Leo, de proel. 
p. 130, 12: pergebat ante currum suum; Hist. sept. sap. I p. 17, 4 
vade ante et sequar te. 

A, ab. Der Dichter des Ruodlieb gebraucht a statt des abl. 
causae II, 33: canis obcecetur ab ipso (pulvere) und statt des 
abl. instrum. XVII, 47: factus tristis ab hac re. 

Schmalz Synt. S. 407 sagt darüber: „Im allgemeinen ist 
festzustellen, daß in der Volkssprache die Präposition ad sehr 
häufig und zwar oft im Interesse der Deutlichkeit gebraucht wird, 
wo die klassische Sprache sie entbehrlich findet; dienachklassische 
Latinität nimmt zumeist die Eigentümlichkeit der Volkssprache 
an, die späte Latinität ist geradezu überschwänglich darin“. 

Für a zur Unterstützung des abl. causae vgl. Cic. acad. 1, 7, 
29: (nihil) a quo intereat; Nep. reg. 3, 3: a morbo periit; Verg. 
g. 1, 234: torrida ab igni; Liv. 2, 14, 3: inopi tum urbe ab longin- 
qua obsidione; Vitr. 1, 4, 3: ferrum ab ignis vapore percale- 
factum; Sen. clem. 1, 20, 1: a duabus causis usw. Häufig in der 
Mulom. Chir. (vgl. Ahlqu. S. 73 ff.), 2. B. p. 206, 18: a qua causa 
articuli intumescunt, ebenso p. 212, 15; 213, 26; 220, 27; 140, 24. 
Besonders die Ursache der Krankheit wird hier durch a aus- 
gedrückt, z. B. p. 39, 13: si a lassitudine eius febricitare coe- 
perit?. Zahlreiche Beispiele bringt auch Bonnet p. 598 aus 

3 66, 12: Si quando ab opere ventrem dolent; 121, 18: vitium incidet in eos 


a sicca esca ; 40, 19: ab eo morbo pereat; 59, 21: ab hoc morbo moriuntur; 172, 25: 
si aures doluerint ab aqua. 


460 Hans Ottinger 


Gregor. Turon. Deutlich auch Joh. Mon. p. 74, 20: vidit dolium 
quod ante vacuum fuerat plenum et supereffluens in terra a 
plenitudine olei. Wohlbekannt auch im Bibellatein: Itala gen. 
32, 12 (Lugd) arena maris quae numerari non potest a multi- 
tudine; Vulg. Ezech. 43, 2: et terra splendebat a maiestate eius??. 

Als Ersatz für den abl. instrum. gestattet sich Cicero den 
Gebrauch von a, wenn eine Personification vorliegt, z. B. inv. 
1, 24: ab natura datus. Die Augusteischen Dichter bezeichnen 
auch das konkrete Werkzeug durch ab (vgl. Draeger Hist. Synt. I 
& 230), z. B. Ovid ex P. 4, 7, 9: laesus fallaci piscis ab hamo u. ö. 
Häufig wird dieses ab im Spätlatein, z. B. Cels. 7, 55: ne nervus 
a telo laedatur; Tertull. Exh. cast. 2: quae vetat non vult, a qui- 
bus et offenditur; Cypr. ep. 49 c. 13: ab aqua salutari tantum per- 
fusi; Commod. 1, 35, 5: exul factus a verbo; 2, 4, 8: vincetur ab 
igne potente; 2, 2, 1: impius occupetur ab igne; Vict. Vit. p. 21, 20: 
saturatur ab ubertate domus dei; Hist. Apoll. p. 33, 11: fllia ab 
amore incensa; Ánton. Placent. Itin. p. 159, 9: civitas subversa 
est a terrae motu; 177, 2: levata a nube; 180, 3: ubi Esaias a 
serra necatus est; zahlreiche Beispiele bietet wieder die Mulom. 
Chir. (Ahlqu. S. 75)?! und Gregor. Turon. (Bonnet S. 600)“. 
Joh. Mon. p. 70, 6: cum esset oppressa ab inopia; Latein. Aesop. 
des Rom. p. 263: ab unius consilio multos de periculo liberari; 
Vulg. (vgl. Kaulen S. 234) Rom. 12, 21: noli vinci a malo; Eph. 
5, 13: omnia autem quae arguuntur a lumine manifestantur?.. 

Cum: Seiler S. 114: ,,cum steht háufig für den abl. instru- 
menti gemäß dem deutschen ‚mit‘ z. B. 2, 38: capram cum 
fune secum ducente sodale oder 2, 41: quam super aspergunt 
cum pulvere und noch sechs ähnliche Fälle“. 

.» Os. 7, 5: furere a vino; Ps. 38,12: defeci a fortitudine manus tuae; Act. 
Ap. 28, 3: Vipera a calore cum processisset; Apocal. 18,1: terra inluminata est 
a gloria eius. 

31 p. 84, 21: calefactionem autem praestare ab igne et fumo; 95,9: ab igne 
castrati; 173, 6: ab aqua auriculam extergito diligenter; 217, 22: curato ab axungia; 
207, 24: ab ustione sanas facies. 

33 H. F. 4, 49, p. 185, 5: multos a lapidibus obrui praecipiens; Mart. 10, 495, 26: 
erat a foliis contectum; Mart. 2,33, p. 621, 27: stratas ab arborum foliis vias; 
2, 41, p. 624, 15: a fuste percussus. 

33 Jac. 2. 9: redarguti a lege; 3, 4: naves cum a ventis validis minentur, circum- 
feruntur a modico gubernaculo; Luc. 21,20: circumdari ab exercitu Hierusalem; 


Apoc. 9, 18 ab his tribus plagis occisa est (gleich darauf in v. 20 ist derselbe instr. 
durch in ersetzt: qui non sunt occisi in plagis). 


Zum Latein des Ruodlieb 461 


Im Altlatein und in klassischer Zeit taucht cum statt des 
abl. instr. allerdings nur sporadisch auf. Immerhin gibt es 
eine ganze Anzahl Beispiele, worüber Hand. Turs. II, 145, 3 u. 
161, C. F. W. Müller in N. Jb. 1890 S. 717 und der Thes. IV 
Sp. 1369 zu vergleichen sind. Häufig wird der Gebrauch im 
nachklassischen, besonders im späten Latein: Apul. met. 6, 30: 
cum suo Sibi funiculo devinctam; Vitr. 2, 1, 5: subacta cum 
paleis terra; 2,8, 4: cum his ansis ferreis et plumbo frontes 
vinctae sint; Paul. Fest. p. 93, 1: tibiae cum quibus canitur; 
Val: Flacc. 6, 532: frontem cum cornibus auxit; Mart. 9, 90, 16: 
cum ture meroque libetur; Firm. err. 12, 5 p. 29, 7: scelus cum 
morte domini implere. Zahlreich sind wieder die Belege aus der 
Mulom. Chir. (Ahlq. S. 75) z. B. p. 71, 5: deprimes vesicam cum 
oleo**. Der Gebrauch des instrumentalen cum ist gerade in der 
medizinischen Literatur gang und gábe. So führt z. B. auch aus 
der Mulom. des Vegetius C. F. W. Müller a.a. O. zahlreiche 
Fälle an, z. B. 1,11, 8: ungere cum vino*5, Theod. Prisc. eup. 
faen. 8: loca ante cum aqua calida dulci vaporabis; 45: trociscos 
cum aqua resolves; Pseud. Prisc. (Rose) p. 284, 28: salviam cum 
digito aut cum penna sibi inliniat; 289, 17: ne cum ferro tangas; 
Cass. Fel. 5 p. 13, 5: alopeciam nitro trito cum panno fricabis. 

Daß dieses cum auch in der Vulg. nicht selten ist, zeigen die 
bei Kaulen S. 203 aufgeführten Belege, z. B. Ecel. 7,33: pro- 
purga te cum brachiis ; 34: de negligentia tua purgate cum pannis; 
Ps. 15, 11: adimplebis me laetitia cum vultu tuo usw. Auch 
sonst ist im Kirchenlatein (vgl. besonders die Indices zu Geyers 
Itin. Hieros.) und dem daran anknüpfenden Mittellatein in- 
strumentales cum ganz gewóhnlich: Cypr. p. 360, 22: cum vi 
doloris ; Petr. Diac. p. 109, 3: sudarium cum quo Christus faciem 
suam extersit; 109, 5: arundo cum qua caput eius percussum 
est; 109, 6: loracum quibus ligatus est; Anton. Placent. p. 164, 13: 
cum paleas incendentes?*. Beda h. eccl. p. 264, 21: cum sub- 
scriptione sua corroboravit. Zahlreiche Beispiele bringt auch 


*4 95, 29: cum aqua calida delavabis; 150, 26: aspargi cum aqua mulsa; 160, 9: 
cum medicamento ungeto; 290, 22: cum pice liquida per girum linito. 

35 8, 6, 4: cum pulvere conspersus; 40,1: cum sagitta tangere; 45,3: cum 
pannis vinctus pes. 

** 174, 13: lapides cum quibus lapidatus est; 177,19: catena cum qua se 
laqueavit; 179, 21: cum maxilla asini occidit mille viros. 


462 Hans Ottinger 


Bonnet S. 603 aus Gregor. Turon. z. B. h. F. 2, 37 p. 101, 7: 
brachium cum oleo benedicto contrectans?. Latein. Aesop. des 
Rom. p. 271: cervum de loco movit cum sagittis; Joh. Mon. 
p. 106, 1: cum spata ista percutiam te; Leo de proel. p. 59, 3: 
percussit eum cum baculo®. Hist. sept. sap. I, p. 4, 10: scindens 
genas cum ungue. Cum konnte also schon im Altlatein, dann 
auch in der klassischen und nachklassischen Zeit zum instru- 
mentalis hinzutreten. Im Spätlatein endlich, als der abl. all- 
máhlich ein unverstandener Kasus geworden war, wanie es 
ganz gewöhnlich. 

De: Seiler S. 114: de = von her, von ab. Über de handelt 
z. B. Löfstedt Komm. z. Peregrin. Aeth. 103 ff., wo sich auch 
Literaturangaben finden. Für de statt ab führt er aus der Pere- 
grin. Aeth. an z. B. 1, 2: habebat autem de eo loco ad montem 
dei forsitan quattuor milia; 8, 1: de Arabia autem civitate quat- 
tuor milia passus sunt Ramessen ; 12, 7: nam de Segor forsitan 
sexto miliario ipse locus est (weitere Beispiele in Geyers Index zu 
den Itin. Hieros.). Belege für den Gebrauch, der in der Volks- 
Sprache wurzelt, finden sich im volkstümlichen Latein aller 
Zeiten: Plaut. Asin. 2, 2, 10: De tergo ( — von hinten) ducentas 
plagas praegnantis dabo; Iustin. 20, 5, 5: de tergo intentis in 
proelium hostibus. Über de zur Bezeichnung der Herkunft vgl. 
Kaulen S. 203, z. B. Vulg. Tob. 5, 16: de qua domo, aut de qua 
tribu es tu? 1. reg. 1, 1: fuit vir unus de Ramathaimsophim; 
Ps. 84, 12: veritas de terra orta est usw. (schon klassisch sagt 
man ja z.B. caupo de via Latina u.ä.). Petr. Diac. (Itin.) 
p. 116, 5: locus non longe a castro est, i. e. de Clesma, hier also a 
und de nebeneinander! 116, 8: venientes naves de India; 
Theodos. (Itin.) p. 141, 3: de Calvariae locum usque in Golgatha 
passus numero XV ; p. 147, 12: secundo miliario de Hierusalem; 
144, 21: de montes Armeniae exeunt flumina; Anton. Placent. 
Itin. p. 170, 18: de Gessemani ascendimus ad portam; 183, 5: 
venientes de heremo; 183, 15: de petra eduxit aquas. Wie de 
in der Mulom. Chir. in lokaler Bedeutung ohne Unterschied mit 


7 2, 37, p. 101, 8: cum contis ei latera feriunt; 3, 15, p. 124, 18: ianuas cum 
cuneis obseraverat; 8, 15, p. 335, 10: confractum cum malleis. 

3 73, 12: ut cum securibus rumperent fundamenta muri; 73, 17: ut percuterent 
murum cum verbicibus; 84, 18: preparavit pontem super ipsum fluvium cum tabulis 
et catenis; 116, 1: conculcantes honines cum pedibus suis. 


Zum Latein des Ruodlieb 463 


ab und ex wechselt, zeigt Ahlq. S. 76 f. Für Gregor. Turon. vgl. 
Bonnet S. 608. Für de — a beim Passiv habe ich keine Belege 
gefunden, kann mich aber nicht entschlieBen, es für einen Ger- 
manismus zu halten. 

Ex: 1) Seiler S. 115: „e steht für den abl. instr.: vestis velut 
ex fuligine tincta 8, 90“. 

Das Spätlatein stützt den unverstandenen Kasus mit a, de, 
per und in, warum nicht auch mit ex? Vgl. Schmalz Synt. 
S. 408: „Der instrumentale Gebrauch gehört dem Spätlatein 
an, wo z.B. Commodian instr. 1, 18, 14 sagt: ex eo prodigio 
quot perdidit ille propheta". 

Hand. Turs. vol. II, 648 zitiert Palat. 11, 17, 1: mustum agi- 
tabis ex canna radicata vehementer; Hygin. fab. 24: Medea ex 
venenis multa miracula fecit; auBerdem finde ich instrumentales 
ex: Aesop. des Rom. p. 284: ex multitudine calculorum aqua 
ex urna sursum perfusa est; Anton. Placent. Itin. p. 171, 12: 
Petra ornata ex auro et gemmis; 174, 19: ornatam ex gemmis; 
175, 17: petra ornata est ex auro et argento. Aus Gregor. Turon. 
erwáhnt Bonnet S. 614: z. B. 39 p. 772, 12: scriptum ex atra- 
mento. Häufig ist dieser Gebrauch wieder bei den Medizinern, 
so zitiert Ahlq. (besonders S. 85 ff.) aus der Mulom. Chir. z. B. 
p. 61, 8: ex eo potionare morbidos oportere; 156, 9: ex eo ob- 
linies caudam*?, Ebenso zahlreiche Belege finden sich in Ahl- 
quists Anmerkungen aus Theod. Prisc., Veget. und Cass. Fel. 

2) Seiler S. 115: ,,e steht für den Gen. part.: terna coclearia 
ex limpha VIII, 99.“ | 

Draeger Hist. Synt. I, 636: ,,ex steht oft und in allen Zeiten 
statt eines partitiven Genetivs." Im Spätlatein tritt dieses ex 
geradezu massenhaft auf, vgl. die Sammlung aus der Mulom. 
Chir. bei Ahlq. S. 80: z. B. p. 68, 22: dabis ex oleo eminam; 
60, 17: ex eo medicamento coclearium ; ebenso 73, 2 u. 73, 22 u. 
ó. Auch in der Vulg. begegnet ex — gen. part. auf jeder Seite, 
z. B. Joh. 16, 17: dixerunt ergo ex discipulis eius ad invicem; 
Act. Ap. 21, 16: venerunt autem et ex discipulis nobiscum; 
Apoc. 2, 10: ecce missurus est diabolus ex vobis in carcerem. 
Natürlich ist das partitive ex auch in der spáteren christlichen 

** 226, 7: ex aqua lavato spongia; 282, 14: ex aceto acro ea dilues; 105, 26: 


ex quo ordeum aspergis; 71, 27: auriculas ex oleo perunguere; 240, 18: purgabuntur 
ex hoc; 60,21: ex hac potione morbidos liberabis. 


464 Hans Ottinger 


Literatur weit verbreitet, z. B. Beda h. eccl. p. 56, 1: 8i qua ex 
his u. ö. Anton. Placent. 161, 9: ex quibus duas; 168, 2: aliqua 
ex ipsis u. ö. 

3) Ruodl. XI, 19: ex uno pane edere. 

Eng mit den eben behandelten zusammen gehören die Fälle, 
wo ex auch zu Verben als partitives Objekt tritt. Z. B. Vulg. 
Gen. 3, 16: in laboribus comedes ex ea; Joh. 6, 26: quia man- 
ducastis ex panibus *?; Beda h. eccl. p. 63, 7 (aus Joh. 31, 16/18): 
si comedi bucellam meam solus, et non comedit pupillus ex ea; 
Anton. Placent. p. 85, 11: ex quo etiam pro condito bibent; 
169, 5: dactalum de libra, ex quibus mecum aduxi. Häufig 
wieder bei den Medizinern, vgl. Ahlq. S. 81 aus der Mulom. Chir. 
p. 244, 24: ex eo medicamento imponis*' ; Pseud. Prisc. p. 285, 22 
simulac ex eo biberit. Im Mittellatein finde ich z. B. bei Joh. 
Mon. p. 46, 11: comedere ex his quae secum ferebant“. Sämt- 
liche Funktionen von ex, die im Ruodlieb erscheinen, liegen 
schon im Spätlatein vor. 

Prae: Seiler S. 115: ,,prae = coram IV, 129; Securus prae 
‚sicher vor‘ V, 258.“ 

Über den Gebrauch von prae in guter Zeit vgl. Hand. Turs. 
IV, 522 f. Im späteren Latein dehnt prae sein Bereich soweit 
aus, daß es schließlich völlig in die Bedeutung von ante eingeht: 
Columel. 1, 5, 4: ut a tergo potius quam prae se flumen habeat; 
Apul. de mundo p. 69, 22 (Elmh.): limina vero alia prae aliis 
erant. Hierher gehórt auch die Wendung prae oculis habere 
(Sen. u. Plin.: ante o.), die im Spátlatein háuflg begegnet, z. B. 
Beda h. eccl. p. 96, 31 u. 251, 27; Ammian. Marc. 19, 8, 1 u. 
30, 4, 18; Beda de loc. sanct. p. 305, 18: prae oculis depingere 
ebenso p.311,2. Zu vergleichen ist auch die Wendung prae 
manu — ad manus oder in manibus. Tritt prae nun zu einer 
Personenbezeichnung, so erhált es geradezu die Bedeutung von 
coram, 2. B. Apul. de deo Socrat. p. 51,2 (Oudend.): Sciatis 

4 Joh. 6, 51: si quis manducaverit ex hoc pane; 4, 13: omnis qui bibet ex 
aqua hac sitiet iterum. qui autem biberit ex aqua quam ego dabo non sitiet in 
aeternum; Matth. 26, 27: bibite ex hoc omnes. 

41 202, 22: ex eodem ordeo in frumentum bis in die mittito; 65, 20: in auriculas 
ex hoc oleo calido suffundere; 133,2: dabis ex hac potione; 168, 11: ex pastillis 
qui supra scripti sunt ei dato; 98, 8: ex eodem pulvere in vinum et aquam coquito usw. 


43 p. 46, 24: accipe, comede ex sancta communione; 22,21: ut emamus ex 
eo; 25: tollemus et nos ex mercibus quas habetis. 


Zum Latein des Ruodlieb 465 


nihil homini prae istis custodibus nec intra animum nec foris 
esse secreti. Floridus interpretiert dieses prae denn auch durch 
coram. Von hier aus erklärt sich auch die zweite von Seiler 
angemerkte Stelle Ruodl. V, 258: secure miseram dum posses 
ducere vitam prae tot tam validis tibi tam diris amicis. Bei Beda 
h. eccl. p. 55, 14 findet sich securus ante, und für dieses ante könnte 
nach spätlateinischem Sprachgebrauch eben auch prae stehen“. 

Zu dem temporalen Gebrauch von prae in Ruodl. 13, 103: 
cum quo prae pacificat se vgl. Hist. sept. sap. I p. 27, 27: pre- 
mirata est deinde gavisa ait. 

Für prae — vorn (im Gegensatz zu post — hinten, Seiler S.116) 
ist mir keine Entsprechung begegnet, ich halte das aber für Zufall, 
da ja prae und ante im Spätlatein synonym gebraucht werden. 

Pro: Seiler S. 115: „Pro ‚wegen, aus‘ = propter; pro 
faida patriam deserere I, 88; pro causa vili occidere II, 65; est 
breve colloquium pro consensu sapientum IV, 125; bei Aus- 
drücken des Affekts: congaudere X, 19; angi XVI, 7; pro matre 
lacrimis perfunditur V, 265; als Verstärkung zu causa V, 396“. 

Pro = wegen ist für das ganze Spätlatein charakteristisch, 
vgl. Loefst. Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 156 u. Schmalz Synt. 
S. 410. Kalb „Roms Juristen“ bringt S. 140 einige Beispiele 
für pro = propter und meint, daß dieser Gebrauch hauptsäch- 
lich dem gallischen Latein angehört. Er kommt aber bei Spät- 
lateinern aller Nationalitäten massenhaft vor, kann also höch- 
stens zu den Romanismen gehören, die ins Gemein-Spätlatein 
eingegangen sind. 

Vulg. Luc. 1, 20: pro eo quod non credidisti“; Hist. Apoll. 
p. 47, 1: quid respondebo pro te (deinetwegen) patri tuo ?*5; 

43 Übrigens kann schon in alter Zeit pro nach securus stehen (Antib. II, 551), 
z. B. bei Sen. const. 2, 1: securum pro Catone te esse iussi. Dieser Gebrauch mag 
die Einbürgerung von prae erleichtert haben, denn die Funktionen von pro und 
prae kreuzen sich im Spátlatein vielfach: Beide bedeuten , wegen" (prae auch in 
positivem Sinne!), und diese Bedeutung reicht vielleicht alleine schon hin, die Ver- 
wendung bei securus zu erklären. 

“ 1. Kor. 10, 30: quid blasphemor pro eo quod gratias ago; 2. Cor. 5, 12: 
occasione damus gloriandi pro nobis; 12, 5: pro huiusmodi gloriabor, pro me autem 
nihil gloriabor; 7, 4: multa mihi gloriatio pro vobis; 9, 2: pro quo de vobis glorior; 
8, 22: confidentia multa in vos sive pro Tito. 

*5 63, 9: apud semet ipsam consiliata pro scelere quod excogitaverat; 89, 8: 
pro eo quod pecunia ingenti me honorasti; 98, 11: pro quibus usque ad necis veni 
perfidiam. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 90 


466 Hans Ottinger 


Fulg. Myth. 3, 7: pro libidine per talum occiditur; Cassian. Inst. 
3, 4, 3: pro causa qua diximus“; Vict. Vit. p. 40, 12: ut die con- 
stituta pro disputatione fidei veniatur*'; Commod. c. Apoll. 301: 
non ita suademur credere pro tempore clauso, sed propter fu- 
turum tempus; 436: qui frustra pro vita (= vivendi causa) 
coluntur; Peregrin. Aeth. (Geyer) p. 45,6: qui tamen pro aetate aut 
inbecillitate occurrere non poterantí*; Petr. Diac. (Itin.) p. 113, 
12: de quo lapide nunc frusta tollunt venientes pro salute sibi**; 
Theodos. de situ (Itin.) p. 145, 25: ecclesia super cameras 
maiores excelsa fabricata est pro Jordane, quando implet; Anton. 
Placent. (Itin.) p. 186, 16: discurrentes cum ipsis per heremum 
pro costodia monasteriorum et heremitarum propter insidias; 
184, 13: omnes pro devotione barbas et capillos suos tondent; 
Beda h. eccl. 48, 4: pro eo quod sacerdos alius in loco deest*9. 
Beispiele für pro — causa, ob oder propter aus Gregor. Turon. 
führt Bonnet S. 615 an, 2. B. h. F. 3, 13 p. 120, 7: pro ridiculo = 
pour faire rire; 2, 37 p. 99, 17: pro reverentia beati Martini”. 
Eine bei Caspari gedruckte St. Galler Predigt bietet S. 203, 25: 
pro hac ergo causa dominus et salvator noster venit in simili- 
4 3, 10: pro hac eadem re; 3, 11: pro ipsius collectae vel communionis dominicae 
reverentia; öfters findet sich pro hoc ipso = ob id ipsum und pro eo = quamobrem. 
Weitere Stellen in Petschenigs Index zu Cassian. 

7 88, 12: sese pro defensione ecclesiarum catholicarum venisse; 95, 7: Vandali 
pro hac re ubique fuerant destinati; 109, 10: (quibus frumentum) pro miseratione 
dari praecepit. 

“ 66, 21: pro memoria illius; 78, 13: ubi luminiaria pro hoc ipsud pendent; 
15,28: pro monacontes, qui pedibus vadent, necesse est lenius iri; 77, 16: pro 
sollemnitate autem et laetitia ipsius diei infinitae turbae se undique colligent ; 95, 9: 
lente et lente itur totum pro populo, ne fatigentur pedibus. 

*9 116, 11: portus famosus est pro advenientibus ibi mercatoribus de India; 
116, 17: castrum postmodum ibi positum est pro defensione et disciplina pro 
incursione Sarazenorum; 118, 29: murmuravit populus pro aqua. 

5 83,34: pro vestra redemptione filium suum unigenitum misit; 97,9: tam 
pro vestrae caritatis affectu quam pro tantarum provinciarum spatiis; 98, 29: pro 
qua etiam re; 154, 5: episcopum pro insita illi prudentia diligebat; 160, 12: minime 
valuimus nunc repperire pro longinquitate itineris; 175, 84: decimum capitulum 
pro coniugiis; 195, 32: collecta pro hoc in Britannia synodo; 241, 34: ut pro diversa 
capillorum specie unus Niger Heuwald, alter Albus Heuwald diceretur; 206, 13: 
pro eo quod. 

9 1, 24, p. 45, 11: ob suae malitiae scelere, hoc est pro nece quam in dominum 
nostrum exercuit; 6, 4, p. 246, 20: pro uno homine committere proelium; Mart. 2, 8, 
p. 634, 24: spes nobis erat maxima pro eo quod de te legantur plurima quae feceris. 


Zum Latein des Ruodlieb 467 


tudinem carnis peccati. Nicht angeführt sind die zahlreichen 
Stellen, wo pro c. gerund. = finalem propter (klassisch ad) ist. 
Im Mittellatein finde ich z. B. Joh. Mon. p. 123, 26: pro hac 
causa; Hist. sept. sap. I p. 6, 19: noli interficere filium tuum 
pro verbis uxoris tuae; 20, 18: pro qua causa? u.ä. 

Nicht von den bereits angeführten Fállen zu scheiden sind 
diejenigen, wo pro bei einem Ausdruck des Affekts steht; z. B. 
Lucif. Calar. (Hartel) p. 216, 11: dolere pro te; Commod. 
instr. I, 1, 7: doleo pro civica turba; II, 12, 13: ille pro victoria 
laetus suscipit ; I, 32, 10: pro eo timebis; Beda h. eccl. p. 74, 27: 
post multas preces ac lacrimas ad dominum pro statu ecclesiae 
fusas. Übrigens sagt schon Cicero sollicitum esse pro, z. B. 
Lael. 45: ne necesse sit unum sollicitum esse pro pluribus. Eine 
aus den VIII. 8aec. stammende St. Galler Predigt bietet bei 
Caspari S. 212, 7: non dolebit amicus super amicum nec frater 
pro fratre nec parentes pro filiis nec servus fidelis pro domino. 
Joh. Mon. p. 125, 28: maneo pro te in amaritudine; Leo de proel. 
p. 99, 7: plorabant enim Perses non tantum pro morte (Darei), 
quantum pro pietate Alexandri; Aesop. des Rom. p. 181: tristis 
pro te; Hist. sept. sap. I p. 12, 18: scidit rex vestes suas et tur- 
batus est pro filio; Discipl. clerical. p. 42, 5: veniebat de foro 
laetus pro lucro. Die in Frage stehenden Verwendungen von pro 
sind also im Spätlatein allgemein üblich. 

In: Das Kapitel Seilers, das über die Práposition in handelt, 
ist eines der germanismenreichsten. Er notiert zunáchst (S. 115): 
„In c. acc. drückt das deutsche ‚zu‘ aus in: costam facere in 
mulierem XV, 74; reperire in mulierem; in dotem dare 
aliquid XVII, 45, 80; adverbial: in mercedem ,zum Lohn' 
VII, 85." 

Über finales und konsekutives in vgl. Schmalz. Synt. S. 412 
u. Draeger Hist. Synt. I, 658. Sen. prov. 6, 2: nati sunt in exem- 
plar; Ov. am. 1, 10, 25: sumite in exemplum pecudes ratione 
carentes; Plin.n.h. 7,96: in spolium capere; Oros. 7,8,1: 
Pisonem sibi in fllium et in regnum adoptavit. Eine genaue 
Parallele zu unserem aliquid in dotem dare bei Colum. 4, 3, 6: 
(fundi) partem tertiam nubenti maiori filiae dedisse in dotem 
und bei Apul. apol. c. 92: quodcunque aliud in dotem acceperis. 
Aus der Fülle von Belegen, die Kaulen S. 230 aus der Vulgata 
gibt, z. B. Tob. 6, 13: dabit tibi eam in uxorem; 1. reg. 15, 1: 

30* 


468 Hans Ottinger 


ut ungerem te in regem®?. Dieselbe Verwendung von in findet 
sich auch sonst allenthalben in der christlichen Literatur. Über 
konsekutives und finales in bei Tertull. vgl. Hoppe S. 38, z. B. 
homini facto in animam vivam, das öfters vorkommt, oder 
Marc. 4, 35: lapis factus est in caput anguli; 5, 4: efficeret tor- 
tuosa in viam rectam et aspera in vias lenes®. Lucif. Calar. 
p. 87, 19: in regem unctus; 216, 9 ebenso; 295, 9: in ovem, 
cum sis lupus, perfrigescis*; Cypr. I, 19, 11 (Hartel): ut in 
deum surgat fulminatur; II, 258, 12: unxit Saul in regem; 
269, 25: sanctum sanctorum in imaginem hominis unctum; 
Hist. Apoll. p. 53, 9: in filiam suam sibi adoptavit (über in 
fllium adoptare als typische Wendung des Spätlateins vgl. 
Antib. I, 102). Paulin. Nolan. (Hartel) I p.28,19: socrum 
sanctam in matrem sortitus; 63, 8: te elegit nobis dare in fra- 
trem55; Beda h. eccl. p. 60, 37: (quosdam fratrum) in tutamentum 
coepit observantiae regularis habere; 79, 9: accepta in coniugem 
filia®®; Gregor. Tur. h. F. 1, 1 p. 85,9: factus est in animam 
viventem; Mart. 78 p. 541, 11: ut sis in ridiculo omnibus; Brevi- 
arius de Hieros. (Geyer) p. 154, 6: obtulit Abraham Isaak filium 
suum in sacrificium; Adamn. (Geyer) p. 272, 18: ea in escam 
sumere cupiunt. Das Fortleben der Konstruktion im Ma. zeigen 
Joh. Mon. p. 108, 29: voluit eam ducere sibi in uxorem; Hist. 


53 Ps. 131, 13: elegit eam in habitationem sibi; Gen. 2, 7: factus est homo 
in animam viventem; 2, 24: erunt duo in carne una (abl. statt acc.). Andere Bei- 
spiele etwa Ez. 23, 32: eris in derisum et in subsannationem; Rom. 11, 9: fiat mensa 
eorum in laqueum; 2. Cor. 6, 18: ero vobis in patrem et vos eritis mihi in filios et 
filias; Hebr. 8, 10: ero eis in deum et ipsi erunt mihi in populum; Act. ap. 7, 21: 
enutrivit eum sibi in filium; Petr. 2, 7: hic factus est in caput anguli; Apocal. 8, 11: 
facta est tertia pars aquarum in absintium. 

56 4, 13: legimus positum eum in lapidem offendiculi et in petram scandali 
(1. Petr. 2, 8); 5, 2, 11: posui te in lumen nationum; Pro jeiun. 4: vobis erit in escam. 

84 41, 12: quem sibi deus in profetam atque regem elegerat; 290,24: quae 
cuncta dura mens tua in necem suae gignit salutis; 47, 2: facit in contumeliam 
maiestatis eius vitulas; 218, 26: statuit eos sibi in deos. 

ss 102, 18: tantam in domum urbem accipere; 214, 28: me totum in dexteram 
Christi factum; 234, 13: adsumpsit te in vas electionis suae; 360, 17: positus in 
caput populi, electus in virum gregis. 

s 79, 13: non esse licitum Christianam virginem pagano in coniugem dari; 
113, 19: erat filiam accepturus in coniugem, ipsum sibi accepit in filium; 158, 9: 
consecratus ergo in episcopum; 158, 23: ordinandus in archiepiscopum; 159, 27: 
dedi te in lucem gentium; ebenso 159, 35; 197, 27: quam habuerat in coniugem. 


Zum Latein des Ruodlieb 469 


sept. sap. I p. 25, 1: habebat strigam in mulierem suam (zur 
Frau); Discipl. clerical. p. 5, 3: eam acciperet in uxorem; 6: 
dedit ei puellam nobilem in uxorem; 8: si eam acciperet in uxo- 
rem. — Die fragliche Verwendung von in gehört also haupt- 
sächlich dem sogenanntem Kirchenlatein an, in das sie vielleicht 
durch hebräischen und griechischen Einfluß hineingekommen ist. 

Als Parallelen zu unserem in mercedem = „zum Lohne“ 
mögen folgende Stellen dienen: Suet. Tiber. 49: in gratiam 
Quirini; Calig. 15: in memoriam patris; Plin. n. h. 15, 1, 1: 
multis fortuna parcit in poenam; Tac. an. 11, 6: quodsi in nul- 
lius mercedem negotia agantur; Iustin. 11, 12, 2: Alexander in 
pretium captivarum regnum omne, non pecuniam petiit ; 19, 10, 
6: ibi in monumenta rerum a se gestarum Barcen condidit; Sen. 
ep. 79,2: ut in honorem meum Aetnam quoque adscendas; 
Aesop d. Rom. p. 155: in pretium medicinae linxit manum 
pastoris; Peregrin. Aeth. c. 8, 2: eo quod filiis Israhel in honore 
ipsorum eas posuerint (über in honore(m) als feste Formel der 
Zeit vgl. Loefst. Komm. S. 182). Beda h. eccl. p. 80, 34: in 
pignus promissionis implendae; 143, 31: (se ei) ornamenta regia 
vel donaria in pretium pacis largiturum®”. Etwas anders er- 
scheint der Ausdruck gewendet bei Sen. benef. 4, 1: inveniuntur 
qui honesta in mercedem colant ( — propter m.), ebenso Liv. 21, 
48, 7: in hanc opimam mercedem arma capite. 

Seiler S. 115: „tribuere in aliquos = unter jemand verteilen 
V, 171“. | 

Vgl. Krebs-Schmalz Antib. I, 463 und Draeger Hist. Synt. 
I, 657. Plaut. Aul. 1, 2, 30: dividere argenti nummos in viros; 
Cic. Verr. 2, 53: discribebat censores binos in singulas civitates; 
Liv. 40, 59: divisit in singulos; Tac. an. 2, 8: distributis in le- 
giones ac socios navibus; hist. 8, 58: curam dilectus in consules 
partitur. — Vulg. Jos. 18, 3: in quinque regulos Philistium divi- 
ditur*?; reichliche Beispiele bringt Ahlq. S. 11 u. 93 aus der 


9 159, 23: radix lesse qui stat in signum populorum; 186,20: in signum 
adoptionis duas illi provincias donavit; 226, 14: (partem de capillis) ostendere in 
signum miraculi; 235, 15: quia salutari fonte in remissionem peccatorum essem 
ablutus. 

50 Luc. 9, 13: emamus in omnem hanc turbam escas, wo offenbar ein Begriff 
des Verteilens vorgeschwebt hat; Marc. 8, 19: V panes fregi in V milia; 20: et VII 
panes in IV milia. 


470 Hans Ottinger 


Mulom. Chir. z. B. p. 285, 17: cottidie in singulos boves dato“. 
Eine bei Caspari gedruckte Pfingstpredigt aus saec. V bietet 
S. 197: divisum esse in apostulos munus divinae gratiae. 

DaB unser Dichter tribuere statt distribuere schteiben kann, 
erklärt sich daraus, daB tribuere im Spätlatein vielfach synonym 
mit dare gebraucht wird (vgl. Hartel, Ind. zu Ennod.), tribuere 
in entspricht also dem dare in Chir. Mul. Schließlich bleibt noch 
die Móglichkeit, daB in hier nur der Deutlichkeit wegen statt 
der unverstandenen Dativendung steht (hierüber vgl. Rónsch, 
Itala u. Vulgata S. 426 c). 

Seiler S. 115: „caput in pedes ponere — zwischen XIII, 93.“ 
— Der Ausdruck bedeutet wohl „den Kopf auf die Pfoten 
legen", gehórt also zum folgenden Kapitel. 

„Ponere in c. acc.“ — Draeger Hist. Synt. I, 658: „Die Regel, 
daB hier in c. abl. zu stehen pflegt, gilt zwar für alle Zeiten, aber 
daneben findet sich überall in c. acc.“ Vgl. auch Hand. Turs. III, 
806, 11. Plaut. Trin. 739: te in crimen ponat atque infamiam; 
Ov. rem. am. 719: omnia pone feros quamvis invitus in ignes; 
met. 8, 451: in flammam triplices posuere sorrores ; Sen. ira 8, 33, 
4: in ignem posuit. Das Verhalten der Volkssprache zeigt uns 
Cato, der acc. und abl. unterschiedslos nebeneinander gebraucht. 
In spáterer Zeit, als die normierende Schriftsprache aufhórt ihren 
Zwang zu üben, kommt die volkstümliche Unsicherheit in der 
Beantwortung der Fragen wo? und wohin? wieder zum Vor- 
schein: Colum. 3, 10, 19: deputatum est in terram depositum; 
Vulg. (vgl. Kaulen S. 207 u. 232): 1. Macc. 14, 3: posuit eum 
in custodiam; Matth. 14, 3: posuit in carcerem; Iud. 6, 10: in 
medium populi illum statuentes; Comm. instr. 1, 7, 11: in vulnera 
positi; Mulom. Chir. p. 118, 22: plenas ungulas in terram ponere; 
177, 16: imponito ei in eum locum; Joh. Mon. p. 24, 16: episto- 
lam posuit in loculum“. | 

„Ardere in aliquem“. — Der Grammatiker Servius sagt zu 
Verg. Aen. 12, 71: communis sermo habet ,,ardeo illa re“; sed 
figuratius ,,aardes in illam rem“ dicimus. 


% 290, 5: in singula capita quartaria singula; 165, 28: si i n breviorem numerum 
equorum uti volueris. 288, 5: vini boni sextario per triduum in singulis iumentis 
dato. 
% 42, 19: reposuit illud in secreciora domus sue; 59, 25: posuerunt eum in 
monumentum; 92, 26: deposuerunt me in terram. 


Zum Latein des Ruodlieb 471 


Für ardere in entnehme ich dem Thesaurus folgende Bei- 
spiele: Manil. 4, 220: in bellum ardentis animos; Tac. h. 1, 48: 
in caedem eius ardentes; Amm. Marc. 22, 83, 11: in Silvam necem 
effrenatius arsisse; Stat. Ach. 1, 473: omnis in absentem belli 
manus ardet Achillem. Beispiele für exardere in aliquid bietet 
Hand. Turs. III, 322, 34. Auch speziell von der Liebe wird 
ardere so gebraucht: Sen. Herc. 369: brevique in illas arsit 
Alcides face; Cypr. ad Don. 8: Jovem in terrenos amores arden- 
tem (dies zugleich als Parallele zu fervere in amorem alcs.); 
Nemesian. 4, 66: quum sic in Meroen totis miser ignibus arsi. 
Sonst finde ich noch: Vict. Vit; p. 24, 12: magis erubescens 
amplius in illis exarsit, wo Verwechslung von acc. u. abl. vor- 
liegt. Vulg. Rom. 1, 27: exarserunt in desideriis suis in invicem ; 
Cassian. p. 146, 8: copia earum in abundantiorem fomitem cupi- 
ditatis exarsit; Beda h. eccl. p. 184, 24: ecce ignis mihi appro- 
pinquat. at ille quod non incendisti, inquit, non ardebit in te; 
135, 19: quod incendisti, inquit, hoc arsit in te. 

Hier läßt sich die Bemerkung anknüpfen, daß das Spátlatein 
überhaupt reich ist an solchen z. T. merkwürdigen Konstruk- 
tionen mit in. Vereinzelt findet sich derartiges schon früher, so 
setzt Liv. in bei detestari, exsecrari, increpare (Draeger Hist. 
Synt. 1, 654). Tac. an. 5, 7 hat: cum in Blaesum multa foedaque 
incusavisset. Andere Beispiele führt Rönsch S. 427 an, z. B. 
Catull: deditus in adultera — adulterae. Über Ausdrücke wie 
Amm. Marc. 19, 8, 12: in montes petimus handelt Loefstedt 
Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 192. Solin. 22: nulla illi datur 
femina propria, sed per vicissitudines in quamcumque commotus 
sit, usurariam sumit. In der Vulg. findet sich z. B. 2. Cor. 5, 2: 
in hoc ingemiscimus ; 10, 2: audere in quosdam; 18, 12: salutate 
in invicem; Phil. 1, 6: qui coepit in vobis in opus bonum perfi- 
ciet; 2, 22: servivit in evangelium; Thess. 4, 18: consolamini 
in invicem; 3. ep. Joh. 5: quidquid operaris in fratres et hoc 
in peregrinos; Hist. Apoll. p. 54, 4: quantum in amissam coniu- 
gem flebam, tantum in servatam mihi filiam consolabor; Luc. 
Calar. p. 216, 14: usquequo luges tu in Saul ? Und diese Beispiele 
lieBen sich leicht vermehren. 

Seiler S. 115: foramen in os für oris VII, 104. Parallelen 
wird man am ehesten bei Medizinern suchen. Wirklich bietet 
die Mulom. Chir., der wir über manchen Sprachgebrauch des 


472 Hans Ottinger 


Spátlateins AufschluB verdanken, eine ganze Reihe ähnlicher 
Ausdrücke, z. B. p. 21, 8: de incomatio in oculo; 19: de marmore 
in genibus; 10, 24: omnes haec venae in pedibus post sanguinis 
emissionem fasciola constringuntur®!. Ebenso Soran. Gynae. 
p. 15, 5: bono colore in facie sit und wohl auch Beda h. eccl. 
p. 172, 5: habente foramen in pariete und Commod. (Dombart) 
p. 60, 1: neque dolores in suis corporibus sentiunt vel ulcera 
nata. 

Schlagende Parallelen zu unserem foramen in os entstehen, 
wenn zu diesem freien Gebrauch von in noch die für das ganze 
Spätlatein charakteristische Verwechslung von abl. und acc. 
hinzukommt. So z. B. Mulom. Chir. p. 162, 1: si vulnus in 
ventrem habuerit; 168, 5: humores eius erunt in totum corpus; 
105, 2: solves venas in faciem et in pectore. 

In c. abl. = „an“. — Seiler S. 115: „Mit dem abl. drückt 
in nicht selten das deutsche ,an, in' aus und steht für den abl. 
instr. und lim. bei Verben: cernitur in comitatu I, 136; vobis 
in re patet ipsa ,an sich selbst' XVI, 45; est sat in hoc ,daran' 
VIII, 66.“ 

Wir wenden uns zunáchst dem Ausdruck cernitur in comitatu 
zu. Nach Krebs-Schm. Antib. I, 295 wird cognoscere in der Be- 
deutung „einen an etwas erkennen“ von Plaut. mit de, von den 
Klassikern seltener mit a, háuflger mit ex, und von den Nach- 
klassikern meist mit dem bloßen abl. konstruiert. Eine spätere 
Zeit, die den abl. überhaupt nicht mehr verstand, mußte ihn 
natürlich verdeutlichen. Zu diesem Zwecke wird in der Vulg. 
und auch sonst im Kirchenlatein oft in verwendet, so z. B. 
Matth. 26, 35: in hoc cognoscent omnes quia mei discipuli estis, 
besonders häufig im 1. Brief Joh.: z.B. 2,3: et in hoc scimus 
(daran merken wir) quoniam cognovimus eum si mandata eius 
observemus; 2, 5: in hoc scimus quoniam in ipso sumus““; Cypr. 

*! 16, 21: si cui iumento in ipso folliculo vernucae natae fuerint vel quoquo 
loco in corpore; 47, 15: tumor in cruribus (ebenso 27); 49, 13: (si iumentum) suffu- 
sionem in pedibus habuerit; 51, 13: venae in cruribus plenae sanguine sunt; 21, 25: 
quodcumque iumentum in capite ossum quoquo loco fregerit; 174, 19: recentia 
vulnera in oculis; 161, 30: de vulneribus in ventre et saniem habentibus. 

e 3, 16: in hoc cognovimus caritatem; 3, 19: in hoc cognoscimus quoniam ex 
veritate sumus; 3, 24: in hoc scimus quoniam manet in nobis de spiritu quem nobis 
dedit; 4, 2: in hoc cognoscitur spiritus dei; 4, 9: in hoc apparuit caritas dei in nobis, 
quoniam; 4, 13: in hoc intellegimus quoniam in eo manemus; 5, 2: in hoc cognoscimus 


Zum Latein des Ruodlieb 473 


p. 632, 21: cum magis in hoc indicium divinae pietatis et paternae 
lenitatis appareat; Commod. Instr. 1, 18, 15: senties in fatis; 
Theodos. p. 139, 3: sanctus Cleopas cognovit Dominum in con- 
fractione panis. Eine noch spátere Zeit gebraucht dann statt 
dieses limitierenden in das limitierende per, so heißt es in den von 
Werner gesammelten Sprichwórtern des Ma. S. 43 unter Nr. 116: 
intima cognosces per mores exteriores u. à. 

In re patet ipsa. — Die Stelle lautet im Zusammenhang 
Ruodl. XVI, 43: quanto maerore mea mater quove labore per- 
tulerit multa . . . curando cuncta, vobis in re patet ipsa. Man 
kann dieses in ohne weiteres erklären wie das eben behandelte: 
vobis patet heißt ja weiter nichts als cognoscitis. Möglich ist 
aber auch, daß wir es hier mit einem rein instrumentalen in zu 
tun haben. Außer a, de, ex, per dient ja auch „in“ dem Spät- 
latein zur Stützung des unverstandenen abl. instr. Aus der Vulg. 
bringt Kaulen S. 205 eine kleine Auswahl, mehr bei Rónsch 
S. 396. Ganz typisch für die Vulg. sind z. B. Wendungen wie 
Jos. 10, 35: percussitque in ore gladii omnes animas ; Iudic. 15, 15: 
(maxillam) arripiens interfecit in ea mille viros; Luc. 22, 49: 
percutimus in gladio. Für Tertull. sammelt Hoppe S. 32 Belege, 
z. B. res. 61: non in pane vivit homo, sed in dei verbo; Pall. 1: 
(habitus) circum strictus in fibulae morsu; Beispiele für Cassian 
sind in Petschenigs Index zusammengestellt, z. B. Inst. 10, 7,9: 
in hoc (dadurch) rebelles eos notat, für Vict. Vit. ebenfalls in 
Petschenigs Index, für Commod. in Dombarts Index z. B. II, 
68, 20: in dando promeruit inde levari; 24: in dando divitias 
vestras ostendite totas. Dieses instrumentale in findet sich bis 
ins Mittellatein hinein. So betrachtet würde vobis in re patet 
ipsa bedeuten: „Das ist euch durch die Dinge selbst deutlich, 
davon kónnt ihr euch durch die Tatsachen, durch den Augen- 
Schein überzeugen". 

Est sat in hoc. — Die Stelle lautet im Zusammenhang (es 
ist die Gerichtsszene): „iudicat haec semet, vos dicite, si sat in 
hoc sit.“ Es ist durchaus möglich, daß wir hier ein limitierendes 


quoniam diligimus natos dei; 2. Gor. 4, 10: ut et vita Ihesu in corporibus nostris 
manifestetur (offenbarwerden an); 4,11: ut et vita Ihesu manifestetur in carne 
nostra mortali; 1. Cor. 4, 6: haec autem fratres transfiguravi in me et Apollo propter 


vos, ut in nobis (an uns) discatis; Rom. 9, 17: ut ostendam in te (an dir) virtutem 
meam. 


474 Hans Ottinger 


oder instrumentales in vor uns haben. Dann würde die Stelle, 
wie Seiler will, heißen: ob es genug daran, damit ist. Erwägens- 
wert erscheint mir aber auch die Möglichkeit, dieses in hoc final 
zu fassen: si sat in hoc sit würde dann heißen: ob es ausreicht 
dazu, für diesen Zweck (d.h. ein so schweres Verbrechen zu 
sühnen). Über in hoc und in id = „zu diesem Zweck, dazu“ und 
über in quod (quid) = „ zu welchem Zweck, wozu“ unterrichtet 
Hand. Turs. III, 320, 31 durch eine lange Reihe von Beispielen 
aus Liv. Hor. Ov. Sen. u. a., z. B. Florus 4, 7, 13: speculator in 
id missus; Quint. 4, 5, 16: etiamsi ipsa sunt dura, in id tamen 
valent, ut ea molliant. Auch in der Vulg. häufig, z. B. Joh.18,37: 
ego in hoc natus sum et ad hoc veni in mundum, ut testimonium 
perhibeam veritati; Rom. 9, 17: quia in hoc ipsum excitavi te; 
14, 9: in hoc enim Christus mortuus est et resurrexit ; 2. Cor. 5, 5: 
qui autem effecit nos in hoc ipsum; ad gent. 3, 9: quia in hoc 
vocati estis; 2. Tim. 2, 14: noli verbis contendere, in nihil utile 
est u. ö. Und noch bei Beda h. eccl. p. 120, 27: lota igitur ossa 
intulerunt in thecam quam in hoc praeparaverant; 197,30: 
lapidem de quo locellum in hoc facere possent; 220, 15: con- 
veniunt in hoc ipsum multi de fratribus. 

Mag man dieses in nun limitierend, instrumental oder final 
fassen, in jedem Falle ist es überflüssig, deutschen EinfluB an- 
zunehmen. | 

In bei Adjektiven: Seiler S 115: „bei Adjektiven: in 
cursu velox I, 44; similis in V, 271; hispidus in facie VII, 99; 
— dulcis in comedendo XIII, 46; alias in pensando leviores 
V, 351.“ 

Hand. Turs. III, 273, 39 sagt därüber: ,,Saepe adiectiva 
ita construuntur, praesertim apud posteriores scriptores“. 
S. 274 führt er einige Beispiele an: Velleius Paterc. 2, 105, 2: 
virum multiplicem in virtutibus; 2, 83, 1: in omnia et in omni- 
bus venalis; Quint. 12, 10, 12: M. Tullium... habemus.. in omni- 
bus, quae in quoque laudantur, eminentissimum: quem tamen et 
suorum homines temporum incessere audebant ut tumidiorem .. 
et in repetitionibus nimium et in salibus aliquando frigidum; 
9, 4, 138: in narratione pleni atque expressi, in argumentis 
citati. Hinzugefügt sei noch Petron. 52: in argento plane stu- 
diosus sum. Auch die Vulg. kennt das, z. B. Ephes. 2, 4: deus 
autem qui dives est in misericordia; Act. Ap. 7, 22: erat potens 


Zum Latein des Ruodlieb 475 


in verbis et in operibus suis“. Ebenso auch anderswo im Spät- 
latein, z. B. Eutrop. 8, 1: moderatus in; 7,17: in privata vita 
mollis; 9, 13: potens in bello; Cassian. p. 386, 4: in eadem mira- 
culorum potentia superiorem. Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet 
S. 616 ff., z. B. h. F. 4, 11 p. 148, 8: nullum sibi putans in sancti- 
tate haberi praestantiorem; 4, 24 p. 160, 1: virum in scapulis 
validum, lacertu robustum, in verbis tumidum, in responsis 
oportunum, iuris lectione peritum; praef. p. 81, 5: peritus dia- 
lectica in arte; 2, 23 p. 86, 6: te in eo scelere fuisse participem ; 
2, 40 p. 108, 23: particeps in tribulatione et regno et patientia. 
Auch im Mittellatein z. B. bei Joh. Mon. p. 9, 23: eram dives 
in auro et argento et in aliis rebus; 6, 2:in religiositate precog- 
nitus et in diviciis locupletatus; 69, 22: pavendus est in sen- 
tencia et benignus in misericordia; 99, 25: in dignitate et diviciis 
praepotens; Discipl. clerical. p. 38, 31: quem antea cognoverat 
in saecularibus esse prudentem. 

Speziell das Adjektiv similis ist wie bei unserem Dichter mit 
in konstruiert z. B. bei Lucif. Cal. p. 172, 9: similem te in omnibus 
videmus sive in crudelitate sive in sacrilegio; Eugipp. (Knoell) 
p. 75, 18: ne in utroque hominibus similis longe esset a deo aut 
in utroque deo similis longe esset ab hominibus; Mulom. Chir. 
p. 70, 19: invenies duritiam ingentem cucurbitae rotundae in 
longo (longum = die Länge, Größe) similem; Anton. Placent. 
Itin. p. 162, 5: provincia similis paradiso, in tritico et in frugis 
similis Aegypto, modica quidem, sed praecellit Aegyptum in 
vino et oleo et poma; vgl. auch p. 180, 10: ibi est puteus pacis 
in latitudine maior. Aus der Zeit unseres Dichters endlich führt 
Seiler S. 115 Anm. 2 selbst einige Parallelen an; Froumund 12, 8: 
pulcher in facie; 20, 76: doctior in verbis, altior in meritis. 

Eine genaue Entsprechung zu dulcis in comedendo bietet 
Jul. Val. 1, 36: quod interpretibus haud difficile in enodando 
fuit. Eine Parallele zu alias in pensando leviores ist die Wendung 
des ungefähr gleichzeitigen Joh. Mon. p. 2, 2: (si) stilum aliquem 
dulcem in componendo haberem. 

Opes in chrusinis. — Seiler S. 115: „in bei Substantiven: 
opes in chrusinis ‚Schätze an‘ XI, 39“. 


® 18, 24: potens in scribturis; 1. ep. Joh. 4, 18: non est perfectus in caritate; 
Apoc. 1, 9: participes in tribulatione et regno et patientia; Rom. 16, 19: sapientes 
esse in bono et simplices in malo. 


476 Hans Ottinger 


Dieser Gebrauch ist der Vulgata durchaus geläufig. Kaulen 

S. 205 (von Seiler selbst im Nachtrag zitiert) sagt über in: „bei 
Aufzählungen entspricht es unserem deutschen „an“, indem es 
das Bestehen eines Ganzen in seinen Teilen ausdrückt.“ Vulg. 
Tob. 10, 10: tradidit ei Saram et dimidiam partem omnis sub- 
stantiae suae in pueris, in puellis, in pecudibus, in camelis et 
in vaccis et in pecunia multa; Gen. 8,17: cuncta animantia tam 
in volatilibus quam in bestiis et universis reptilibus; Iud. 15, 14: 
universa dederunt Iudith in auro et argento et vestibus et gemmis. 
Ähnlich Beda h. eccl. p. 54, 13: dona in diversis speciebus per- 
plura. Eine genaue Entsprechung auch bei Joh. Mon. p. 99, 26: 
dimisit divitias ei multas in auro et argento et navibus. Auch die 
Wendung p. 28, 32: negotium quod fecerat in stagno et plumbo 
gehört wohl hierher. 

In beim abl. temp. — Seiler S. 115: „ferner steht es oft für 
den abl. temp.: in momento II, s IV, 120; in Maio mense V, 
363; in hac nocte VII, 6 usw.' 

Auch diesen Germanismus hat Seiler S. IX nachträglich 
zurückgenommen. In der Tat gehört in statt des abl. temp., das 
wohl zuerst von der Volkssprache der Deutlichkeit halber gesetzt 
wurde, zu den für das gesamte Spätlateintypischen Erscheinungen. 
Für die Vulg. bringt Kaulen S. 232 einiges z. B. 3. reg. 22, 2: in 
anno autem tertio descendit ; 1. Macc. 1, 61: in omni mense “. Dieses 
in ist geradezu das Übliche, der bloBe abl. tritt davor zurück. 
Dasselbe Bild zeigen die anderen spátlateinischen Texte. Für 
Tertull. bringt Hoppe S. 31 eine Anzahl Beispiele, z. B. Res. 34: 
in novissima die; Marc. 4, 21: in tempore famis. Vgl. überhaupt 
die Indices des Corpus script. eccl. lat. Hist. Apoll. p. 48, 9: in illa 
die; 114,6: in illo tempore; Peregrin. Aeth. (Geyer) p. 39, 8: in ea 
nocte; 28: in ea die; 63, 18: in ea ergo die et in ea hora usw. Mulom. 
Chir. p. 60,18: in primis diebus; 160, 27: in altero die; 174, 29: in 
mense Augusto; 114, 21: in novissimo tempore; 286, 20: in primo 
vere usw. (vgl. Ahlq. 95 u. Oders Index s. v. dies u. cottidie). 
Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet S. 620 (in eo anno, in hora 
quinta, in septembre, in octubre, in hieme usw.), für Jordan. Get. 
vgl. Werner S. 67. Auch Beda hat dieses in unendlich oft, z. B. h. 


* Jos. 11, 21: in illo tempore venit. Außerdem z.B. Luc. 1,26: in mense 
autem sexto; 2, 41: in die sollemni paschae; Matth. 10, 19: in illa hora; 24, 37: 
in diebus Noe; 1. Cor. 15, 52: in momento; Thess. 5,2 sicut fur in nocte. 


Zum Latein des Ruodlieb 477 


eccl. p. 44, 23: in eisdem diebus; 109, 27: in die dominica; 150, 
18: in ipsa vespera; 176, 7: in mense; 194, 6: in tempore Mar- 
tini usw.® 

Ovare in. — Seiler S. 115: „ovare in = sich freuen ‚über‘ 
XIII, 30“. 

Die Verba, die „sich freuen, sich rühmen“ bedeuten, werden 
in der Vulg. vielfach mit in konstruiert. Das mag damit zu- 
sammenhängen, daB in dort — ursprünglich wohl den unver- 
standenen abl. causae unterstützend — „wegen, um willen“ 
bedeuten kann, ein sehr háuflger Gebrauch, für den Kaulen 
S. 204 Beispiele bringt wie Matth. 6, 7; putant enim quod in 
multiloquio suo exaudiantur u. à. 

Aus der Vulg. ist mir bekannt: Rom. 16, 19: gaudeo igitur 
in vobis; Luc. 18, 17: omnis populus gaudebat in universis quae 
gloriose fiebant ab eo; Phil. 1, 18: et in hoc gaudeo; 2. Cor. 6, 17: 
gaudeo autem in praesentia Stefanae; Act. Ap. 7, 41: lae 
tabantur in operibus manuum suarum. Auch gratulari in der 
Bedeutung „sich freuen über“ wird so konstruiert (vgl. Kaulen 
S. 154) z. B. Bar. 4, 31: qui gratulati sunt in tua ruina punientur. 
Ebenso auch dolere: Act. Ap. 20, 38: dolentes maxime in verbo 
quod dixerat. Sehr háufig gloriari (Kaulen S. 226) z. B. Ps. 51, 3: 
quid gloriaris in malitia; Rom. 5, 2: gloriamur in spe gloriae*®. 
Auch sonst ist das im Spätlatein nicht selten: Commod. p. 166, 
194: gaudet in deo; 140, 386: populus iam in illo laetatur; Vict. 
Vit. p.13,13: in domino laetabatur, ebenso 27,25; 89, 6: 
gaudentes in domino; 92,16: in domino gloriantur; Beda h. 
eccl. p. 53,28: in hoc gaudete, quia nomina vestra scripta 
sunt in caelo; 159, 19: quis non exultet et gaudeat in his piis 
operibus. Etwa aus der Zeit unseres Dichters: Joh. Mon. 


$5 Strecker sagt a. a. O. S.299: „Seiler notiert höchst überflüssigerweise in 
Maio mense, Vilmotte ahnt einen Germanismus und fragt vorwurfsvoll, ob er denn 
nicht an den franzósischen Gebrauch gedacht habe. Es ist wirklich nicht zu ver- 
stehen, daB ein Mann, der über diese Dinge im Tone der Überlegenheit redet, ‚qui 
se hasarde dans la philologie medievale', wie er ironisch (S. 388) von Seiler sagt, 
so verblendet sein kann, daß er das Nächstliegende nicht sieht, denn er muß ver- 
mutlich auch gelegentlich einen lateinischen Text der Zeit aufschlagen, wo der- 
gleichen auf jeder Seite begegnet.“ 

* Rom. 2, 23: qui in lege gloriaris; 1. Cor. 1, 31: in domino glorietur; 


3, 21: nemo glorietur in hominibus; 2. Cor. 10, 16: gloriantes in alienis la- 
boribus usw. 


478 | . Hans Ottinger 


p.69,5: gaudere te magis oportet in hoc; 75,2: in omnibus 
bonis operibus semper gaudens u. ö. 

Die fragliche Konstruktion ist also spätlateinisches Gemein- 
gut und als solches im Mittellatein aufgegangen. Somit sind 
alle durch Seiler angemerkten Verwendungen von in auf den 
Gebrauch des Spätlateins zurückgeführt: unser Dichter schreibt 
eben kein traditionsloses, hausgemachtes Latein. 

Sub: Seiler S. 115: omni sub honore = mit aller Ehre 
VI, 16. | 

Schmalz Synt. S. 414: „Den Aug. Dichtern, so z. B. Properz, 
dann der nachklass. Latinität seit Celsus ist eigen sub zur 
Bezeichnung der Weise oder des Grundes, z. B. Cels. 5, 26, 31: 
Sub frigido sudore moriuntur. Dies hat sich ins Spätlatein 
herein erhalten, vgl. Apoll. Sidon.: sub ope Christi, sub in- 
vidia sorditatorum.' Die folgenden Beispiele zeigen, wie sub 
im späteren Latein alle Arten von Modalitäten und begleitenden 
Nebenumständen im weitesten Umfange ausdrücken kann. 

Vulg. Gen. 43,3: sub attestatione iuris iurandi; Iud. 1, 6: 
sub caligine. Für Ammian. Marc. gibt Lisenberg S.17 eine 
Reihe von Belegen, z. B. sub uno elogio iubere, sub absolu- 
tionis aliqua spe attineri claustris, sub exsecrationibus iurare, 
sub consecratione iuris iurandi promittere u.ä. Commod. I, 
12, 17: sub ludicro suo honorem illi dedere; c. ap. 859: sub 
quorum martyrio decima pars conruit urbis; Vict. Vit. 75,12: 
in exilium sub prosecutione idonea mitterentur; 91,22: sub 
festinatione. Deutliche Beispiele auch bei Cassian, z.B. 
Inst. 2, 5, 5: duodecimum (psalmum) sub alleluiae responsione 
consummans; 3, 8, 4: his sub eadem quiete residendi ternas 
adiciunt lectiones”; Ennod. z. B. p. 65, 1: amantem vestri sub 
omni dignatione relevate; 73, 24: ut sub omni celeritate nuntius 
me adtollat; 31, 25: sub hac devotione respondeam; 32,15: 


7 12, 11, 1: tantam peccatorum materiem sub unius verbi plena confessione 
consumpsit ; Coll. 6, 17, 3: sub illius quaestionis interrogatione cognovimus; 9, 7,3: 
sub huius quaestionis indagine a coepto narrationis ordine longius evagantes; 10, 2, 1: 
sub una diei huius festivitate concelebrant; 19, 6, 3: sub unius saporis oblectatione; 
19, 16, 3: ut sub recordatione sanctarum feminarum vel sub sacrae lectionis historia 
noxiae titillationis stimulus excitetur; Contra Nest. 6, 12, 3: illi sub aemulatione 
legis (negabant dominum), tu sub professione antistitis. Weitere Beispiele in 
Petschenigs Index. 


Zum Latein des Ruodlieb 479 


sub solida gratulationef*?; Sedul. II, 87: patrandum sub honore 
crucis; Hist. Apoll p. 112, 10: sub testificatione confessione 
facta. Besonders oft verwendet Theod. Prisc. sub in dieser 
Weise (vgl. Roses Index) z. B. Log. 2, 106: simili sub diligentia 
visitantur ., aequali sub indignatione tumescunt; 13: freniticis 
capitis est vel meningae simili sub extensione vel constrictione 
periculum ... letargici vero sub simili incommoditate 

molestius deprimuntur; 37: sub dolore nimio; 58: sub civili 
aegritudine medicinae iam beneficio repugnamus, ebenso oft 
auch bei Celsus. — Peregrin. Aeth.: sub praesentia matris; 
Gregor Turon.: sub grandi testificatione, sub dolo factum 
(Bonnet S. 621); Jordan. Get. 37,196: proelium sub trepida- 
tione committit; 16, 93: sub admiratione (vgl. Werner S. 67); 
Beda h. eccl. p. 220, 7: sub praesentia regis, ebenso p. 220, 28; 
Leo de proel. p. 54, 3: sub omni diligentia. Dieser Gebrauch 
von sub ist also im Spátlatein etwas ganz Gewóhnliches: unser 
Dichter verwendet sub so, wie er es bei seinen Vorbildern vorfand. 

Super: Seiler S. 115: super c. acc. lokal: super aram est 
posita V,9; super equum salire I, 42; c. abl. — auf: super 
arbore scandere II, 42; — an: suspendi super arbore VIII, 45. 

Beim lokalen super, das sowohl die Bewegung nach einem 
Ort als die Ortsruhe ausdrückt, scheint der acc. älter zu sein, 
der abl. findet sich nicht vor Lucrez und auch dann immer 
selten (Schmalz Synt. S. 414). Im ganzen Spätlatein ist super 
eine der beliebtesten und häufigsten Präpositionen. Da diese 
späte Zeit abl. und acc. auch sonst durcheinandermengt, kommen 
natürlich auch bei super beide Kasus vor, ohne daß es sich ver- 
lohnte, sie zu scheiden. 

Petron. c. 64: (panem) ponebat super torum; 76: iussit 
super dorsum ascendere suum; 108: cultrum tonsorium super 
iugulum meum posui; 60: Lares super mensam posuerunt; 
17: sedens super torum meum; Apul. met. 6, 31: super aliquod 
saxum asinum exponere; 1,11: super eum me recipio; 4, 12: 
Super lapidem recidens; 5,23: evomuit stillam ferventis olei 


** 59, 16: amica expectatio sub omni credulitatis meae despectione frustratur; 
78,8: sub invocatione dei; 91,2: sub ea qua promisistis cura; 174, 23: sub ob- 
testatione dei; 183,25: sub loquendi ubertate narrare; 198,17: sub celeritate 
= celeriter; 206, 4: sub ea qua ambulare soles velocitate; 218, 8: sub festinatione; 
225, 24: sub celeritate; ebenso 241, 8 u. 246, 21; 329, 16: sub quadam verecundia u. &. 


480 Hans Ottinger 


super humerum dei; 5,26: eam super ripam exposuit; 9, 2: 
super constratum lectum abiectus; 9, 10: manu super dorsum 
meum iniecta. Ungeheuer häufig antwortet super in der Vulg. 
auf die Fragen wohin? und wo?: Matth. 4, 5: statuit eum super 
pinnaculum templi; 5, 15: (ponunt lucernam) super candelabrum 
10, 29: (passer) cadet super terram; Joh. 12, 15: sedens super 
pullum asinae; Matth. 25,31: sedebit super sedem maiestatis 
suae®, Mit abl.: Act. Ap. 20,9: sedens super fenestra. Hist. 
Apoll. p. 50, 9: speciosum corpus puellae super rogum posui; 
34, 4: sedit super torum; 46, 14: iactavit se super corpus eius; 
63, 2: posuit super lectulum; Vict. Vit. p. 81, 15: stabat super 
montem; Peregrin. Aeth. c. 10, 5: imposuerat enim Moyses manus 
suas super eum u. ö. Adamnan. p. 229, 13: super dorsum 
iacere; 334, 9: mensa super quam... offerentur; 243, 10: petra 
super quam; 270, 12: super quem salvator sedebat. Beispiele 
aus der Mulom. Chir. bringt Ahlq. S. 97. Besonders häufig ist 
super auch hier bei den verba ponendi, z. B. p. 217, 18: super 
lignum solidum caudam ponis; 216, 12: super carbones ponito; 
26, 23: (lanam) super oculum eius impones; 46, 7: muscae 
multae super tergus insident; 72, 3: super renibus et super 
totum tergus sacellationes impones; 80, 9: super carbonibus; 
Pseud. Prisc. p. 273, 21: pones super focum u. ö. Für Gregor. 
Turon. vgl. Bonnet S. 621 (z. B. super equum quem sedebat, 
manum super oculos ponens, super altare posuit, ascendit super 
nidum). Beda h. eccl. p. 67, 5: tollite iugum meum super vos; 
69, 4: super ripam praefati fluminis posita; 152, 25: super hanc 
petram aedificabo ecclesiam meam; Lat. Aesop. d. Rom. p. 28: 
ascendens super eius orbem; 88: ascendunt super illud (lignum) 
272: super equum ascendens; Leo de proel. p. 57, 5: ascendit 
super equum; 111, 22: arbor, quae non habebat fructum neque 
folia, et sedebat super avis; Discipl. cler, p. 33, 18: super arborem 
sedit; 36,13: super tectum ascendebam; 40,19: priusquam 

o 27, 29: (coronam) posuerunt super caput eius; Marc. 16, 18: super egrotos 
manus imponent; Act. Ap. 14, 9: surge super pedes tuos rectus; 15, 10: imponere 
iugum super cervicem; 17, 26: inhabitare super universam faciem terrae; 26, 16: 
exsurge et sta super pedes tuos; Petr. 2, 24: peccata nostra ipse pertulit in corpore 
suo super lignum; Apocal. 5, 13: creaturam quae in caelo est et super terram; 7, 1: 
quattuor angelos stantes super quattuor angulos terrae; 10, 2: posuit pedem dextrum 


super mare, sinistrum autem super terram; 13, 18: stabat super montem; 18, 19: 
miserunt pulverem super capita sua; 20, 9: ascenderunt super latitudinem terrae. - 


** — 


4 7a T.a 7 w 7A 


Zum Latein des Ruodlieb 481 


veniat aliud ferculum super mensam = bevor ein anderer 
Gang ,,auf den Tisch kommt" — welch grober Germanismus! 

Eine Parallele zu unseres Dichters suspendi super arbore 
bietet die Hist. Apoll. p. 5, 6: caput eius super portae fastigium 
suspendebatur. Ähnlich wohl p. 99, 6: invenit Ap. super collum 
(am Halse) Tharsiae flentem. 

Super edictum = gegen (Seiler S. 115). 

Die Präposition super hat ihre Bedeutungssphäre im Spát- 
latein so stark erweitert, daß sie schließlich sogar synonym mit 
in, contra gebraucht wird. Für Gregor. Turon. konstatiert 
dies Bonnet S. 621: h. F. 5, 49 p. 241, 33: non potest persona 
inferior super sacerdotem credi. Besonders vom militärischen 
Angriff (Bonnet S. 622): venerunt hi barbari super nos; in- 
missis super eum percussoribus ; super fratrem iturus; cum omni 
exercitu meo super te pergam. Denselben Gebrauch kennt 
z. B. Iordan., aus dem Werner S. 67 Beispiele bringt wie 
Get. 48, 248: super Vinitharium duxit exercitum. Gleich in 
c. acc. scheint super auch in der Vulg. gelegentlich gebraucht 
zu sein, 2z. B. Luc. 6, 35: quia ipse benignus est super ingratos 
et malos; Ephes. 2, 7: in bonitate super nos; Commod. p. 40, 5: 
sit is tu super divitias. Doch lassen sich diese Stellen zur Not 
auch unter super = de (s. u.) begreifen. Deutliche Fälle von 
super = contra im militärischen Sinne bietet wieder Leo de 
proel. z.B. p.105, 13: pergebant pugnaturi super homines; 
15: impetum facientes super Indos cum sagittis; 110, 21: 
impetum autem facientes super eum u. ö. Diese Verwendung 
ist also im Mittellatein durchaus lebendig. 

Ob hoc super edictum wirklich hierher gehórt, ist aller- 
dings zweifelhaft. Seiler erklärt super als ‚über hinaus = gegen“ 
und kommt damit dem Richtigen vielleicht sehr nahe. Super 
bezeichnet ja seit alter Zeit das Überschreiten einer Grenze, 
hoc super edictum heißt also womöglich nur „über die in dem 
edictum gezogene Grenze hinaus“. 

Super = außer. — Die Präposition findet sich statt praeter 
zuerst bei Sallust frgm. inc. 28: casu super (nach Prisc. = praeter 
ea quae casu accidebant), dann bei Tac., Dichtern und Juristen, 
und schließlich im Spätlatein (vgl. Schmalz Synt. S. 414). 

Hor. sat. 2, 6, 3: super his. Oft bei Cels. z. B. 2, 8: super tabem 
si mulieri suppressa quoque menstrua fuerunt; 6, 6, 1: super 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 31 


482 Hans Ottinger 


magnum dolorem; 6, 26: super id; 3,19: super haec. Aus 
Tertull. führt Hoppe S. 41 an: Ux. 1, 7: super haec recogites; 
praescr. 33 in: adhibeo super haec ipsarum doctrinarum recogni- 
tionem; An. 20 (333, 7); Monog. 9: adulteratur ... qui aliam 
carnem sibi inmiscet super illam pristinam. Für Ammian. 
Marc. vgl. Lisenberg S. 17. Mulom. Chir. p. 92, 28: super 
quam (unctionem) similiter sacellionem vaporabis. Super 
= außer ist also nichts Auffälliges. 

Super — mehr als. — Ruodl. XVII, 83/84: Nunc opus est 
aliam, reor ut, mihi poscere sponsam Quae non furtive quem 
suescat amare super me. — Seiler S. 115 zieht dieses super me 
mit unter das Kapitel super — praeter, vielleicht mit Unrecht. 
Super kann nämlich im Spätlatein, besonders in der Vulg. auch 
einen Grad bezeichnen, so daß es etwa die Bedeutung von 
„mehr als" erhält. Hierüber vgl. Krebs-Schmalz Antib. II, 626. 

Plin. epp. 7, 13, 2: es tu super omnes beatus; Sueton. Vitell. 
c. 13: super ceteras famosissima; Vulg. Matth. 10, 37: qui amat 
patrem et matrem plus quam me non est me dignus. et qui 
amat fllium aut filiam super me, non est me dignus: hier steht 
super me deutlich parallel zu plus quam me. Ebenso ist wohl 
aufzufassen ib. 10,24: non est discipulus super magistrum 
neque servus super dominum suum. sufficit discipulo, ut sit 
sicut magister eius et servus sicut dominus eius. Philipp. 2, 9: 
donavit illi nomen quod est super omnem nomen”. Anton 
Placent. Itin. p. 183, 10: quorum odor suavitatis super omnia 
aromata. Aus Tertull. führt Hoppe S. 41 einige Beispiele an: 
Scorp.14 ex: super deum diligere nec animam licebit; ib. 1: 
eloquia domini dulcia super mella et favos”!. Aus Iordan. Get. 
zitiert Werner S.67: 50, 262: super ceteros amasse; pr.2: 
super omne pondus; 38, 199: super ceteros regulos diligebat. 
Ioh. Mon. p. 4, 6: vidit enim in celo signum sancte crucis super 
splendorem solis fulgens. 

Man könnte vermuten, daß der oben zitierte Passus aus dem 
Ev. Matth.: qui amat filium aut filiam super me, non est me 


7 Ps. 18, 11: dulciora sunt super mel et favum. Vgl. Kaulen S. 221: Eccli. 23,28: 
multo plus lucidiores sunt super solem; Ex. 18, 11: magnus dominus super omnes 
deos; Num. 12,3: mitissimus super omnes homines. 

71 Pall. 2 ex: amoenus super Alcinoi pometum et Midae rosetum; Pud. 13: 
super ethnicum delinquendo — durch seine mehr als heidnische Sünde. 


Zum Latein des Ruodlieb 483 


dignus bei, unserer Ruodliebstelle Pate gestanden hat. Der 
Vers 84 heißt: „die nicht heimlich einen anderen mehr liebt 
als mich." Auch der Nachsatz des Matth. „non est me dignus'' 
klingt ja in den Worten Ruodliebs als Unterton mit. 

Super = de. — Ruodl. 8, 85: mentiri super aliquo; I, 14: 


super hoc quid agat; XVI, 54: super hac re quid faciatis; 


VIII, 68: rogitat super hoc plus; IV, 204: super hac re quid 
vereare. Auch bei den Verben des Affekts: IV, 107: queri 
super; XI, 78: gaudere super. Seiler glossiert rogitat super 
hoc plus durch das deutsche „hierüber“. 

Die Verwendung von super — de gehórt der Volkssprache 
an. Daher findet sie sich in Ciceros Briefen, die ja der ge- 
sprochenen Sprache náher stehen. Daher findet sie sich massen- 
haft im Spätlatein, das ja oft wegen der mangelhaften lite- 
rarischen Bildung der Autoren einen volkstümlicheren Charakter 
trägt. Von der Häufigkeit dieses Gebrauches im Spätlatein 
mögen die folgenden Beispiele ein Bild geben: 

Apul. met. 7,1: super investigatione facti cuiusmodi con- 
silium caperent; 4, 13: famam celebrem super quodam Demo- 
chare; 5,21: mira super conservo suo renuntiat; Plat. 1, 10: 
nostrae super earum cursibus opiniones; Socr. 4: mirari super; 
10: disserere super; 11: gloriari super; Mund. 24: verba facere 
super; Flor. 20: sapientis viri super mensam celebre dictum. 
Über die Juristen vgl. Kalb „Roms Juristen" S. 105, z.B. 
Scaev. d. 18, 7, 10: constitutionem super hoc prolatam ; 32, 37, 5: 
iusiurandum dedisse super hoc; 32, 39, 1: super hoc nec dubi- 
tandum esse usw. Vulg. Luc. 2,33: mirantes super his quae 
dicebantur; 7, 18: misericordia motus super eam; Matth. 7, 28: 
ammirabantur turbae super doctrina eius??; Fulgent. Myth. 3, 6: 
multa super curiositate puellae increpitans; Tertull. (Hoppe 
S. 41) An. 6: plenissime super anima commentatus; Apol. 35: 


71 Matth. 18, 13: gaudebit super eam magis quam super 99 quae non erraverunt; 
Luc. 19, 41: flevit super illa; 23, 28: nolite flere super me sed super vos ipsas flete 
et super filios vestros; 1. Cor. 13, 6:,non gaudet super iniquitatem; Rom. 15,9: 
super misericordiam honorare deum; 2. Oor. 9, 15: gratias deo super inenarrabili 
bono; 12, 21: non egerunt paenitentiam super inmunditiam; Áct. Ap. 5, 35: super 
hominibus istis quid acturi estis; 15,2: statuerunt ut ascenderent ... in Hieru- 
salem super hac quaestione; Iacob. 5, 14: orent super eum; Apoc. 1, 7: plangent 
se super eo; 18, 11: lugebunt super illam; 18, 20: exulta super eam und sehr oft. 


31* 


484 Hans Ottinger 


perscrutari super Caesaris salute?*; Cassian. coll. 4, 4, 1: super 
puritate cordis extollamur; 4,15,2: super successibus puri- 
tatis confidere; 17, 22: super huiuscemodi causis inevitabile 
esse mendacium; 17, 24, 1: apertum super his indicare menda- 
cium; 23, 15, 7: ingemescens super hac lege; Lucif. Calar. 302, 30: 
super ista quae iam intulisti tormenta exspectantes sumus; 
282,4: quae super illa gesserit; Ammian. Marc. (Lisenberg 
S. 17) 15,9, 2: ambigentes super origine Gallorum scriptores; 
18, 3, 1: super hoc consulere?*; Peregrin. Aeth. c. 12, 7: fallere 
vos super hanc rem non possum; Gregor. Turon. (Bonnet 
S. 621) z. B. dolebat super eos; quae super his audivi u. ö. 
Beda h. eccl. p. 15, 9: gaudere super mortuum; 53, 7: epistula 
super miraculis; 53, 23: nolite gaudere super hoc; Lat. Aesop 
d. Rom. p.197: licet muneribus multi super me (um mich) 
contendant; Hist. sept. sap. I p. 6, 24: erat celans super eam 
(eiferfüchtig auf); 8, 4: mentita es super uxorem meam; 13, 15: 
clama ad deum super ipsum. 

Super = de ist also im Spätlatein und erst recht im Mittel- 
latein gang und gäbe. 

Ruodl. VIII, 41: ulcisci me super opto. — Seiler konstatiert 
S.116 für dieses super eine neue Bedeutung ,,deshalb, des- 
wegen“. Mir scheint vielmehr, daB die uns bekannten Be- 
deutungen zur Erklärung der Stelle ausreichen. Ich sehe drei 
Möglichkeiten, dem Ausdruck beizukommen: Erstens kann 
Ellipse eines selbstverständlichen hoc vorliegen, ähnlich wie 
bei Leo de proel. p. 111, 22: arbor. ... et sedebat super avis etwa 
ein „ea“ ausgefallen ist. Zweitens besteht die Möglichkeit, me 
super zusammenzufassen: „ich will nicht meinetwegen Rache 
nehmen'. Drittens lieBe sich mit der schon früher üblichen 
Bedeutung von super = „überdies, obendrein“, die ja auch 
sonst in unserem Gedicht begegnet, auskommen: die Sünderin 
würde dann sagen ,,ich will mich nicht obendrein noch rächen“. 
Ohne mich für eine von diesen drei Möglichkeiten entscheiden 


73 Paen. 12 ex: super illa tacere. Mit acc.: Cult. f. 1, 1: sententia dei super 
istum; Oar. Ohr. 18: dispositio rationis super filium dei ex virgine proferendum; 
Praescr. 1 in: mirari super haereses istas. 

78 19, 1, 6: super deditione moneri; 14, 10, 2: super praeteritis daumis maerens; 
25, 3, 20: super imperatore creando caute reticeo; 21, 4, 5: super quibus nihil fuerat 
imperatum u. ö. 


Zum Latein des Ruodlieb 485 


zu wollen, glaube ich doch, daß wir die Annahme einer neuen 
Bedeutung von super entbehren können. 

Superducere = überziehen mit Farbe XV, 97. — Der Vers 
lautet: datque superductam cocco crusinam migalinam. Seiler 
glossiert S. 116 superducere durch das deutsche „überziehen“ 
und vermutet offenbar einen Germanismus. In Wahrheit finde 
ich das nämliche superducere bei Commod. instr. 2, 19, 12: 
malam medicatis quodam superducto rubore. Der Heraus- 
geber Dombart erläutert dieses superducere im Index S. 244 
mit inlinere. Ähnlich ist super inducere gebraucht in der Mulom. 
Chir. (Oder) S. 247c. 803: si equus tumorem in oculo habuerit 
aut laesum fuerit ... facies ei unctionem super oculum hanc ... 
haec omnia in uno commiscito et in lana perducis et super 
oculum inducis. 

Am Ende von Seilers Kapitel über die Präpositionen an- 
gelangt, stellen wir fest: Gerade in den beiden Hauptpunkten, 
bei in und post, ließ Seilers Germanismentheorie sich restlos 
widerlegen. Ebenso steht es bei den anderen Präpositionen, 
übrig geblieben sind nur prae — ,,vorn' und de beim Passiv. 
Wahrscheinlich aber liegt dies lediglich an der Unvollständig- 
keit meines Materials. — Seiler irrt also, wenn er am Beginn 
seiner Behandlung der Präpositionen behauptet, daß viele 
der Abweichungen vom klassischen Latein auf deutschem Ein- 
fluB beruhen: Unser Dichter setzt im allgemeinen einfach den 
Sprachgebrauch des Spätlateins fort. | 

Ante aliquem venire — vor jemandem erscheinen, Ruodl. 
IV, 189. — Diese Wendung ist im Spát- und Mittellatein sehr 
häufig und begegnet hauptsächlich in Ausdrücken vom Typus 
ante regem und ante iudices venire, kónnte also aus der offiziellen 
Sprache stammen. Genaue Entsprechungen finde ich: Lat. 
Aesop. d. Rom. p.18: cum autem ante iudices venissent; 
p. 24: cum venissent ante iudicem; Beda h. eccl. p. 229, 9: erat 
autem in villa non longe posita quidam adulecsens mutus epi 
Scopo notus, nam saepius ante illum percipiendae elymosynae 
gratia venire consueverat; 290, 23: parere semper ante faciem 
tuam; Hist. sept. sap. I p. 4,24: pergat ante regem; 4, 27: 
venit ante regem; ebenso 9, 4; Discipl. cler. p. 5, 27: producitur 
ante iudices; 6, 10: ante regem duxerunt; 11, 24: accusatus 
quidam ductus est ante regem iudicem; 29,32: me sumentes 


486 Hans Ottinger 


ante deum ducebant; ebenso p.30,2. Zu vergleichen sind 
auch die bei stare (s.u.) aufgezählten Belege für stare ante 
aliquem = vor jemanden hintreten, z. B. Joh. Mon. p. 99, 7: 
praecepit educere latronem et ante se stare; 115, 13: adduxit 
sorrores ante senem; 122,19: veniens ante praesentiam im- 
peratoris; 121, 27: deferre ante imperatoris praesentiam. Vulg. 
act. ap. 23, 33: statuerunt ante illum et Paulum; Matth. 11, 10: 
mitto angelum meum ante faciem tuam; Luc. 11, 6: non habeo 
quod ponam ante illum; Peregrin. Aeth. c. 37, 4: sic itur 
ante crucem; Leo de proel. p. 83, 23: portavit potionem ante 
eum; 85, 28: statuerunt illum ante eum; 114, 15: adducat me 
ante te; 99, 32: astiterunt ante eum; 100, 21: adduxerunt eos 
ante Alexandrum; 110, 23 (puellam) mittere ante eum; 114,16: 
venio ante te; 129,106: fecit introire omnes ante se; Hist. 
sept. sap. I p. 3, 6: ibis ante tribunal regis (auch sonst sehr 
häufig); 3, 7: venit ante regis presenciam; 4,19: caput eius 
ante presenciam suam portari; 5, 18: posuit librum ante regem. 

Peritus in, Ruodl. I, 94. — Seiler führt diesen Ausdruck 
S. 136 unter den „besonders charakteristischen'* Germanismen 
auf. Freilich knüpft er die Bemerkung daran: „Bei letzterer 
(Wendung) ist es insofern zweifelhaft, ob sie ein Germanismus 
ist, als die ahd. und mhd. Ausdrücke für ‚erfahren‘ antkundi, 
wise etc. meistens den gen. regieren; doch kommt, wie Lexer 
und das M. H. D. W. erweisen, daneben auch die Präposition 
an vor." 

Wir haben schon oben die schlagende Parallele aus Gregor. 
Turon. kennen gelernt: h. F. praef. p.31: peritus dialectica 
in arte, ebenso die Konstruktion von particeps und conscius 
mit in statt des gen. Die Konstruktion von peritus stammt 
wohl aus den Dichtern, so findet sich schon bei Properz 3, 32, 82: 
sive in amore rudis, sive peritus erit. Erklärt sich die Kon- 
struktion hier vielleicht aus dem Bau des ganzen Verses, so 
ist das nicht mehr der Fall bei Spart. Hadr. 15, 10: in omnibus 
artibus peritissimus. Im Mittellatein bietet Leo de proel. 
p. 77, 26: periti in omnem artem pugnandi (mit dem acc. als 
Universalkasus) und p. 82, 9: in omnibus peritissimus. Schmalz 
unterrichtet im Antib. II, 282 wenigstens für die ältere Zeit 
über diese Erscheinung und macht darauf aufmerksam, daB 
sich das in leicht aus dem ursprünglich verbalen Charakter 


Zum Latein des Ruodlieb 487 


von peritus erklären läßt. — Daß der Dichter sich eine in seiner 
Muttersprache seltene Ausdrucksweise herausgesucht habe, 
um in seine lateinische Arbeit einen grammatischen Schnitzer 
hineinzubringen, wird niemand annehmen wollen. 

Nubere ad, Ruodl. VI, 24. — Seiler S. 137: „nubere ist 
mit ad verbunden nach hiraten zuo." — Ich vermute aber, 
daB hier eine derjenigen Konstruktionen vorliegt, in denen 
ad einfach den stark auBer Kurs gekommenen Dativ ersetzt. 

Über das Prinzipielle der Erscheinung sagt Schmalz Synt. 
S.395: „Im ganzen mag festgestellt werden, daB die Präpo- 
sition ad in der Vulgársprache einen viel ausgedehnteren Ge- 
brauch hatte, als in der Urbanitát und daB sie oft in der Sprache 
des Volkes gesetzt wurde, wo die urbane Diktion sich mit 
dem bloBen Kasus (Dat.) begnügte. So sagt Plautus Capt. 360: 
quae ad patrem vis nuntiari, ferner Vitruv. ad solvendum esse 
statt solvendo esse, und so macht sich schon frühe das Be- 
streben bemerkbar, den Dativ durch den Accusativ mit ad 
zu ersetzen (vgl. auch N. Jb. Suppl. 26, 480 Anm. 4). Das- 
selbe finden wir spáter allgemein z. B. bei Commodian, welcher 
A. 36: cur nos similemus ad illas (= illis) schreibt, bei Hygin 
und anderen Vulgärschriftstellern, und im Übergang zum Ro- 
manischen verdrängt ad mit Acc. allmählich den Dativ, vgl. 
Meyer-Lübke $ 45," Vgl. auch den Thes. und Rónsch S. 426. 
Einige Beispiele zur Erläuterung: 

Plaut. Truc. 4, 1, 4: ad me magna nuntiavit; Capt. 5, 4, 22: 
hunc ad carnificem dabo; Liv. 27, 15: ad Q. Fulvium dediderunt 
se; Apul. met 10, 26: enarratis cunctis, ad uxorem mandato, 
deposceret; Hieron. ep. 82,8: ad cuius imperium caelum et 
terra serviebant; Vulg. act. ap. 3, 12: respondit ad populum; 
21,40: adnuit manu ad plebem; 22,1: audite quam ad vos 
nunc reddo rationem; 22,15: quia eris testis illius ad omnes 
-homines; 26, 6: in spe quae ad patres facta est; Hist. Apoll. 
p. 71, 2: quantum dedit ad te iuvenis qui ad te modo intro- 
ivit; 73, 10: exponens ad omnes universos casus meos; Vita 
Caes. Arel. 23 (MG. SS. r. Merov. III): puellam ad ipsum 
demonstrat; Anton. Placent. 30: munera dantes ad servientes; 
Hygin. fab. 3: cuius beneficio ad sororem Medeam est commen- 
datus; 72: ad pastores demandavit; 184: ad hospitem mandavit; 
Paulin. Nol. 14, 113: martyris ad tumulum debes et tu, terra, 


488 Hans Ottinger 


coronas; Mulom. Chir. p. 146, 3: sic ad eos des manducare; 
Gregor. Turon. h. F. 5, 47 p. 239, 3: Gregorius episcopus eam 
ad filium Sygiberthi tradere distinat. — Wie die romanischen 
Sprachen zeigen, muß dieser Ersatz des Dativs durch ad noch 
viel allgemeiner gewesen sein, als er uns heute in den Resten 
der spätlateinischen Literatur faßbar ist. 

Das Adjektivum. — Seiler sagt S.116: „Der Dichter 
braucht gern die Neutra der Adjektiva substantivisch sowohl 
im Singular als auch im Plural, besonders in Verbindung mit 
Präpositionen .. S. 117 heißt es dann: „Der substantivische 
Charakter dieser Neutra springt scharf ins Auge, wenn ein 
Genetiv davon abhängt, so in cuius medio usw." Am Ende 
des S 5 faBt er zusammen: ‚secretum ‚geheimes Gemach‘ 
kommt schon im Altertum vor, wie vielleicht noch eine oder 
die andere der aufgezählten Wendungen; das ändert an der 
entschiedenen Neigung des Dichters nichts. Die Korrektur 
V, 565 verrät übrigens doch einen gewissen Zweifel an der Zu- 
lässigkeit solcher Wendungen.“ 

In Wahrheit hat der unbedenkliche Gebrauch substanti- 
vierter Adjektiva seit der silbernen Latinität in einem solchen 
Umfange zugenommen, daß man wohl von einer Neigung des 
gesamten Spätlateins, nicht aber eines einzelnen Spätlings 
sprechen kann. Wenn unser Dichter nun trotzdem V, 565 ad 
noctis medium in ad noctem mediam verbessert, so beweist 
das hóchstens, daB gelegentlich auch ihm eine klassische Re- 
miniszenz auftaucht. Man muß diese Erscheinungen eben in 
einen größeren Zusammenhang stellen. 

Ad modicum. — Vulg. Iac. 4,15: quae enim est vita 
vestra? — vapor est ad modicum parens, deinceps extermina- 
tur; Cassian. inst. 2, 15, 1: ad modicum subsistere; 4, 16, 2: 
si cum aliquo vel ad modicum substiterit vel si ad punctum 
temporis uspiam secesserit; ebenso Collat. 1, 10, 2 u. 17, 28,3; 
Vict. Vit. 3,27: ad modicum atque temporaliter gloriari; 
3, 51: ad modicum gloriare; Pass. 8: temporalia ad modicum 
sufferre supplicia; Beda h. eccl. p.91,8: itaque haec vita 
hominum ad modicum apparet; Soran. Gynaec. p. 60, 11: 
ante modicum datus cibus; Joh. Mon. p. 87, 6: ad modicum 
constituit eum in priorem ordinem. Auch der bloBe acc. modicum 
findet sich ganz wie im Ruodlieb, z. B. Vulg. Ioh. 16, 16: mo- 


Zum Latein des Ruodlieb 489 


dicum et iam non videbitis me. et iterum modicum et videbitis; 
ebenso 16, 17 u. 19. Cassian. inst. 3, 7, 2: si ultra praestitutam 
dilationis horam vel modicum retardarit; 4, 16,1: si decantans 
psalmum vel modicum titubaverit; ebenso Collat. 24, 9, 3; 
Beda h. eccl. p. 181, 12: modicum silens tertio dixit; 202, 3: 
dein modicum requietus levavit se; 228, 14: modicum siluerat; 
Ioh. Mon. p. 58, 28: modicum expectate et videbitis eum. 
Zu vergleichen sind ähnliche Wendungen wie Vulg. Act. ap. 26, 
28: in modico (es fehlt nicht viel, so) suades me Christianum 
fieri. et Paulus: opto apud deum et in modico et in magno 
(Luther: mag nun viel oder wenig fehlen) non tantum te sed 
omnes hodie fieri tales; Luc. 19, 17: quia in modico (im kleinen) 
fidelis fuisti; 16, 10: in minimo et in maiori fidelis est, et qui 
in modico iniquus est, et in maiori iniquus est; Beda h. eccl. 
p. 173, 15: (monasterium) quod nunc grande de modico effectum ; 
144, 2: a parvo usque ad magnum delere. 

Post modicum. — Soran. Gynaec. p. 38, 1: post modicum; 
37, 28: post quantum lavacri ad didam adplicandus est infans? 
Vulg. Matth. 26, 73: post pusillum; Act. ap. 27, 14: non post 
multum; Cypr. p. 107,9: quod quidem post paulum dicturi 
sumus; Lucif. Calar. p. 306, 11: post paululum; Vict. Vit. p. 109, 
12: post modicum temporis; 31,3: post paululum; 88, 9: alii 
post paululum exalaverunt; ebenso 101,4 u. 111,4; Beda h. 
eccl. p. 159, 25: post paululum; 30: post possillum; 209, 2: post 
pussillum, ebenso 235, 10; 255, 26: post multa; Ioh. Mon. p. 84,10: 
post paululum video Eulogium. 

Ad breve, in brevi. — Anton. Placent. Itin. p. 159, 16: 
triginta milia ad breve missi hic perierunt. Vulg. Act. ap. 5, 34: 
iussit foras ad brebem homines fleri. Auf gleicher Stufe steht 
die beliebte Wendung in brevi: Flor. 1, 1, 15: auctis in brevi 
viribus; Vellei. Paterc. 2, 61, 2: in brevi in formam iusti 
coiere exercitus; Oros. (Zangenmeister) p. 52, 16: quis credat 
ita in brevi eorum excidisse memoriae; 481, 7: in brevi iram 
dei provocat; 537, 11: ostendente in brevi iudicio dei (quid 
possit); Cassian. inst. 12, 33, 1: in brevi nos de hoc saeculo 
migraturos; Commod. 1, 21, 10: in brevi laetaris et postmodum 
plangis in imis; Vict. Vit. p. 7, 6: in brevi avitas atque 
paternas opes tali industria abstulit rapax; 17, 21: in brevi tur- 
pissima consumptus est morte; 30, 10: amputatis igitur in brevi 


490 Hans Ottinger 


omnibus quos timebat; 107,13: in brevi simili morte periit; 
Beda h. eccl. p. 22, 25: (pestis) quae in brevi tantam eius multi- 
tudinem stravit; 241, 26: multos in brevi ab idolatria ad fidem 
converterent. Bloßer abl. p. 26, 14: decursisque brevi spatiis 
pelagi. Für Iordan Get. vgl. Werner S. 66. 

Per totum, in totum. — Vulg. Joh. 19, 23: tunica incon- 
sutilis desuper contexta per totum; Cypr. I p. 216, 10: tunica 
eius per totum textilis et cohaerens. Weit häufiger ist jedoch 
in totum in der Bedeutung ,,ganz und gar, omnino". Es begegnet 
bei Sen. phil., Plin. m., Minuc. Fel.; aus Cels. Quint. und Colum. 
bringt Hand. Turs. II, 331 einige Beispiele. Aus Tertull. bringt 
Hoppe S. 101 viele Belege, z. B. Praescr. 39: fabulam in totum 
aliam; Res. 55: perisse est in totum non esse; Car. Chr. 11: 
(animam) in totum invisibilem; Hermog. 16: mala in totum 
materia; Marc. 5, 12; (domus) in totum dissoluta usw. Ebenso 
háuflg bei Cypr. (Hartel, Index) z. B. I p. 290, 3: hoc est ab 
hoste in totum non cavere; 596, 10: qui illi credit in totum ab 
ecclesia pereat; 627, 18: ut nec in totum spes communicationis 
et pacis lapsis denegaretur; 635, 20: si in totum mortui essent 
usw. Cassian. Collat. 13, 14, 2: licet gratia dei non in totum illi 
defuisse credenda sit; Commod. 1, 37, 22: in totum erratis, si 
deum et fana colatis; 2, 16 inscr.: saecularia in totum fugienda; 
2, 38, 6: in totum ne facias sic orationem usw. Mulom. Chir. 
(Oder, Index) z. B. p. 19, 22: haec enim causa in totum auferri 
non potest; 95, 21: ut os in totum aperire non possit; 140, 5: 
in totum non tangat; Soran. Gynaec. p. 32, 16: ad virum suum 
in totum non accedat; 42, 1: sic in totum novissime lacte dene- 
gare; 47,13: in totum nihil; 49, 4: in totum non purgatur usw. 

In omni — in jeder Beziehung, Ruodl. V, 408, 419. — Den 
Singular in omni habe ich sonst nicht gefunden. Das scheint 
Zufall zu sein, denn andere Singulare, z. B. in nullo, in aliquo 
sind häufig. Ich glaube, daB unser Dichter in omni aus metri- 
schen Gründen (V, 408 offensichtlich des Reimes wegen) statt 
in omnibus gesetzt hat, das ja massenhaft im ganzen Spátlatein 
vorkommt. Für unsern Dichter ist mit in omnibus ohne weiteres 
auch in omni gegeben. | 

In nullo, in aliquo u.a. — Tertull. An. 45: in nullo per- 
moveremur; Marc. 3, 12 in: illam (comparationem) in nullo con- 
venire; Vulg. 2. Cor. 7,9: in nullo detrimentum patiamini; 


Zum Latein des Ruodlieb 491 


Philipp. 1, 20: quia in nullo confundar; 20: in nullo terreamini; 
Jac. 1, 4: sitis perfecti et integri in nullo deflcientes; 2, 10: qui- 
cumque autem totam legem servaverit, offendat autem in uno 
(in einem Punkte) factus est omnium reus; Tertull. Cult. f. 2, 5: 
Christianus a malo illo adiuvabitur in aliquo; Marc. 2, 28: paeni- 
tuit mali in aliquo deum nostrum; 4, 25: si in aliquo deliquissent 
(Hoppe S. 99); Beda h. eccl. p. 101, 30: neque in aliquo eis 
magis communicare quam paganis; Ioh. Mon. p. 87, 24: num- 
quid scandalizavi te in aliquo? 97, 12: in reliquo emenda te 
ipsum. | 

In omnibus = ‚in jeder Beziehung‘ ist sehr häufig, z. B. 
Vulg. 1. Cor. 1, 5: quia in omnibus divites facti estis; 2. Cor. 2,9: 
an in omnibus oboedientes sitis; 7, 16: gaudeo quod in omnibus 
confido in vobis”®. Ähnlich gebraucht die Vulg. in multis (Luther: 
„in vielen Stücken“) z. B. Marc. 15, 3: accusabant eum summi 
sacerdotes in multis; 2. Cor. 8, 22: quem probavimus in multis 
saepe sollicitum esse; Iac. 3, 2: in multis enim offendimus omnes; 
Peregrin. Aeth. c. 5, 12: licet semper deo in omnibus gratia agere 
debeam, non dicam in his tantis et talibus; 23, 5: qui mihi di- 
gnatus est indignae et non merenti in omnibus desideria complere; 
Beda h. eccl. p. 33, 28: in omnibus humiliter oboedite; 34, 19: 
(presbyterum) caritati vestrae in omnibus commendamus”. 
Auch Beda kennt in multis: p. 67, 22: quia in multis nostrae con- 
suetudini.. contraria geritis, et tamen si in tribus his mihi ob- 
temperare vultis; 70, 23: vitam ac professionem minus ecclesiasti- 
cam in multis esse cognovit. Auch in der Mulom. Chir. findet 
sich in omnibus 2. B. p. 63, 2 u. 6. 

Per omnia. — Gleichbedeutend mit in omnibus und nicht 
minder häufig wird seit Liv. (10, 39, 8) per omnia (mit limi- 
tierendem per, vgl. Schmalz Synt. S. 405) gebraucht, z. B. Vulg. 
1. Cor. 10, 33:8icut et ego per omnia omnibus placeo; Ephes.4,15: 

15 8, 7: in omnibus abundatis fide; 9,8: in omnibus semper sufficientiam 
habentes; 11: in omnibus locupletati; 11,6: in omnibus autem manifestus sum 
vobis; 11, 9: in omnibus sine onere me vobis servavi; Ephes. b, 24: sicut ecclesia 
subiecta est Ohristo, ita et mulieres viris suis in omnibus; 6, 13: in omnibus per- 
fecti u. ö. | 

76 88, 31: in omnibus se secuturum doctrinam illius; 97, 12: ut in omnibus 
devotioni vestrae nostrum concursum praeberemus; 107, 11: libenter in omnibus 


auscultans; 152,38: huius cupio in omnibus oboedire statutis; ebenso 160, 2, 10; 
177,26; 195, 38; 229, 31; 261, 3; 280, 1. 


492 Hans Ottinger 


crescamus in illo per omnia; Thess. 5, 23: sanctificet vos per 
omnia; Coloss. 1, 10: deo per omnia placentes; 3, 20: oboedite 
parentibus per omnia; Act. ap. 17, 22: per omnia quasi super- 
stitiosos vos video; Beda h. eccl. p. 67, 38: quod ita per omnia.. 
patratum est; 94,16: vir per omnia christianissimus; 118, 28: 
sanum per omnia; 168, 24: dignus per omnia; 196, 11: viri bene 
religiosi ac per omnia egregii; 202, 22: illi per omnia simillimum; 
205,3: regulari vita per omnia; ebenso 219, 13; 228, 10; 233, 
28; 281, 23. 

In sua — in ihr Land, Ruodl. 5, 584. — In, ad sua und das 
gleichbedeutende in, ad propria findet sich bei den verschieden- 
sten Schriftstellern, ein Germanismus liegt also nicht vor. Vulg. 
Act. ap. 21,5: expletis diebus profecti ibamus deducentibus 
nos omnibus cum uxoribus et filiis usque foras civitatem.. et 
cum vale fecissemus invicem ascendimus in navem, illi autem 
redierunt in sua; Ioh. 16, 32: dispargimini unus quisque in pro- 
pria; 1, 11: in propria venit et sui eum non receperunt ; Com- 
mod. 2, 13, 2: ad sua recurrunt; A. 228: in sua venturum pro- 
pria; ähnlich 2, 1, 32: transiit ad nostra; Beda h. eccl. p. 20, 24: 
quibus ad sua remeantibus; Peregrin. Aeth. c. 19, 13: necesse 
fuit eos statim reverti ad sua, id est in Persida (dieses Beispiel 
zeigt zugleich, wie die Funktionen von in und ad durcheinander 
gehen); Iordan. Get. 53, 274: ad sua revertens; 10, 65: ad sua 
reversi sunt; 54, 279: ad sua pervenerunt; Aesop.d. Rom. 157: 
invitat eum redire ad sua. Im Mittellatein Ioh. Mon. p. 16, 11: 
abierunt unusquisque in sua (in ihre Häuser). 

In altum comburere — in die Tiefe brennen Ruodl. VIII, 
82. — Gerade altus gehórt zu den Adjektiven, die zu allen Zeiten 
unbedenklich substantiviert worden sind. So begenet denn altum 
= die Höhe oder die Tiefe das ganze Spätlatein hindurch in allen 
Kasus: Apul. met. 3, 21: mox in altum sublimata forinsecus totis 
alis evolat; 4,3: lumbis elevatis in altum ; 5,14: prosiliunt in altum 
(in die Tiefe); 5, 24: cum termino sermonis in altum se proripit ; 
ähnlich 10, 34: in excelsum prorumpit; Vulg. Luc. 24, 49: quo- 
adusque induamini virtutem ex alto; Ephes. 4, 8: ascendens in 
altum; Commod. p. 10, 26: in altum; ebenso 16,19; 35, 31; 
40, 5; ab alto: p. 14, 4; 34, 15 u. ó. Adamnan. p. 228, 9: in altum 
extenditur; 242,2: quorum (puteorum) unus in altum infinita 
profunditate productus extenditur; 248, 16: in altum sublimatus; 


Zum Latein des Ruodlieb 493 


Beda h. eccl. p. 134, 7: cum ergo in altum esset elatus; 119, 20: 
volantibus in altum scintillis; 221, 14: elevata in altum voce; 
ebenso p. 104, 29; Cels. 5, 23 in: ubi ex alto deciderunt ; 3, 5 in: 
si ex alto (aus der Tiefe) calor venit; Mulom. Chir. (Ahlquist 
S. 94) p. 34, 1: suspendis in altum; 32, 16: radices eius de alto 
eximet. (von Grund auf); 32, 19: si in alto (in der Tiefe) spur- 
citia aliqua vulneris remanserit; 31, 26: ossum in alto vexatum; 
47,4: sanguis profluet ex alto; Aesop. d. Rom. p. 55: praedam 
dimittas ab alto; 203: calcibus in altum saltus dedit; 241: fame 
vulpis coacta uvam sursum in alto pendentem viderat ad quam 
pervenire volebat saltus in altum dans. 

In unum. — Seiler führt diese Wendung unter der Über- 
schrift ,, Deutsche Wendungen sind wórtlich in das Lateinische 
übertragen worden, wo eine ganz andere Wendung eingesetzt 
werden mußte“ auf und sagt S. 139 dazu: ,,convenire in unum 
- IV, 33, wo locum zu ergánzen unmóglich ist, unum also neutr. 
ist — enein". In dem mehrfach erwáhnten Nachtrag allerdings 
wird diese Behauptung zurückgenommen. In der Tat findet sich 
in unum — una, simul in jedem spätlateinischen Text. 

Petron 50: facta sunt in unum aera miscellania und gleich 
darauf: ex omnibus in unum, nec hoc nec illud. Für die Vulg. 
vgl. Kaulen S. 140, der darauf aufmerksam macht, wie der Aus- 
druck in unum — una hervorgegangen ist aus dem Gebrauch 
des ntr. unum — dasselbe, das nàmliche, eins, z. B. Ioh. 17, 21: ut 
omnes unum sint sicut tu, pater, et ego unum sint; 22: ut sint 
unum sicut nos unum sumus; 23: ut sint consummati in unum; 
1. Cor. 3, 8: qui plantat autem et qui rigat unum sunt. Gal. 3, 28: 
omnes enim vos unum estis; 29: si autem vos unum estis; 1. Ep. 
Ioh. 5, 8: tres unum sunt; 1. Cor. 11,5: unum est enim ac si de- 
calvetur. Ebensooft begegnet in unum, z. B. Ex. 28, 7: ut in 
unum redeant; Ps. 48, 3: simul in unum dives et pauper; 132, 1: 
habitare fratres in unum; Act. ap. 4, 26: principes convenerunt 
in unum; Matth. 22, 34: convenerunt in unum; Ioh. 11, 52: (ut 
filios dei) congregarent in unum; 1. Cor. 11, 20: convenientibus 
ergo vobis in unum; 14, 28: si ergo conveniat universa ecclesia 
in unum; Act. ap. 15, 25: placuit nobis collectis in unum; Hist. 
Apoll. 42, 9: quando in unum se coniungerent ; 11: in unum con- 
veniunt; 3: quibus convocatis in unum pariter rex ait ,,amici, 
Scitis quare vos in unum congegraverim ?' 102, 4: quos repen- 


494 Hans Ottinger 


tina causa coagulavit in unum; Cassian. inst. 2, 15, 2: in unum 
fratribus congregatis; 4, 17: in unum consederit; 4, 19, 2: con- 
venientibus in unum fratribus; Lucif. Calar. p. 14, 1: facite 


pacem et estote in unum; 10, 22: in unum convenire; Vict. Vit. 


110, 7: habitantes in unum quia bonum est habitare in unum; 
Ammian. Marc. 16, 2, 8: in unum congregatus exercitus, 10, 5: 
in unum coacta multitudo; 12, 1: in unum robore collecto ; 17, 10, 
2: omnes conspirantes in unum u. ö. (Lisenberg S. 4 f.); Anton. 
Placent. Itin. p. 178, 18: omnes in unum requiescunt; 163,8: 
fontes in unum iunctae; Beda h. eccl. p. 174, 22: in unum con- 
venientes; 154, 38: congregati in unum. Besonders oft natur- 
gemäß in der medizinischen Literatur z.B. Mulom. Chir. p. 98, 14: 
vino et oleo in unum ungito; 99, 13: omnia in unum miscebis; 
116, 29: in unum contusa; 124, 10: picem, ceram et resinam 
cabialem et thuris polline aequis ponderibus in unum coquito; 
128, 32: contundis in unum; 188, 27: omnibus in unum com- 
mixtis u. ó. Soran. Gynaec. p. 44, 11: in uno tritas u. ó. Theod. 
Prisc. p. 268, 13: in unum conterito; 269, 8: in unum conteres; 
277,30: gallae et bacae lauri pulvere aequali ponderi in unum 
commixto; 67, 12: in unum commiscebis u. ö. Ioh. Mon. p. 39, 
31: ad summam senectutem pervenerunt simul in unum; 46, 8: 
pueri essent in unum; 10: consedentes vero pueri in unum. 
„In einer bei Caspari S. 190 ff. gedruckten Pfingstpredigt aus 
Saec. V ist uns sogar ein geistlicher Kommentar zu diesem in 
unum erhalten (S. 195): ,,et cum complerentur dies pentecostes 
erant omnes simul in unum. Pulchra est scriptura divina. Cum 
dixisset: erant in unum, non addidit in unum locum, ut intelle- 
geremus scilicet, hoc, quod ait in unum, non ad locum tantum 
esse referendum. Erant, inquit, omnes in unum, id est in unam 
fidem eandemque sententiam, quia nec mereri unum spiritum 
potuerunt, nisi fidei unitate placuissent, sicut scriptum est: 
„Erat credentium anima et cor in unum“. 

In commune. — Es sei mir gestattet, den ebenfalls weit 
verbreiteten Gebrauch von in commune = pariter, una (Hand. 
Turs. III, 331) zu erwáhnen: Tac. h. 1, 25: in commune omnes 
metu terrebantur; 1, 36: quos adhuc singulos exstimulaverat, 
accendendos in commune ratus; Sen. ep. 95, 53: habeamus in 
commune quod nati sumus; Cypr. I p. 313, 24: et illis et nobis 
in commune laetitia est; 512, 22: (de his) in commune tractabi- 


Zum Latein des Ruodlieb 495 


mus; 605, 4: quae in commune tractanda sunt; 607,1: quod 
nobis in commune placuisset u. ö. Cassian. inst. 4, 18: cunctis 
in commune reficientibus; 5, 8: hune esse perfectae virtutis in 
commune omnibus finem; Beda h. eccl. p. 104, 30: dominum 
in commune deprecemur; 174, 25: ut in commune omnes pro 
nostra fide tractemus; 175, 2: ut sanctum diem paschae in com- 
mune omnes servemus; 175, 26: placuit omnibus in commune; 
175, 31: nonum capitulum in commune tractatum est; 176, 1: 
his itaque capitulis in commune tractatis. — Es sei noch an 
einige andere áhnliche Wendungen erinnert: In incertum, z. B. 
Liv. 43, 12, 8; Vulg. 1. Cor. 9, 26: curro non quasi in incertum. 

In universum, z. B. Colum. 4, 24, 4: haec in universum, illa 
per partes custodienda sunt; 3, 12, 6: nobis in universum prae- 
cipere u. ö. ö 

In plenum, z. B. Plin. h. n. 16, 40, 79: in plenum dici potest, 
utique quae odore praecellant, ea aeternitate praestare; Pere- 
grin. Aeth. c. 9, 6: quia ad plenum discere volebam loca; Iordan. 
Get. 58, 299: ut in plenum suam progeniem dilataret. Caspari 
S. 189: eadem erit ad plenum contemplatio. 

In immensum, z. B. Ov. am. 3, 12, 4: exit in immensum fecunda 
licentia votum ; Vulg. 2. Cor. 10,13: non in immensum gloriabimur 
Apul. met. 10, 14: in immensum procedentem querelam. 

In vacuum = frustra, besonders im Kirchenlatein häufig: 
Tertull. (Hoppe S. 101) z. B. praescr. 29: non perperam nec in 
vacuum; Hermog. 43: in vacuum laborasset; Marc. 4, 2 ex: ne 
forte in vacuum cucurrisset; Scorp. 1: in vacuum flagellant u. ö. 
Vulg. 2. Cor. 6, 1: ne in vacuum gratia dei recipiatis; Gal. 2, 2: 
ne forte in vacuum currerem ; Philipp. 2, 16: quia non in vacuum 
cucurri neque in vacuum laboravi; Beda h. eccl. p. 147, 36: in 
vacuum currere u. ö. 

In vanum in gleicher Bedeutung, z. B. Tertull. Marc. 4, 9: 
in vanum descendit. Ebenso Cassian. inst. 5, 18, 1 u. 2; 7, 22 u. ö. 

In obliquum, in rectum u.ä. z.B. Plin. h. n. 27, 9, 55: ra- 
dices utrique longae in obliquum; 19, 6, 31: cepe et allium non 
nisi in rectum radicantur; Mulom. Chir. p. 53, 8: tensis oculis 
in obliquum respicit; 110, 19: in obliquo tensis oculis attonite 
Tespicit; 46, 1: stans in obliquo; 199, 21: religatum pedem loro 
in recto duo tenent; 290, 29: sic in recto facies; 33, 16: cutem 
Contra se in directo venae ad duos digitos aperies. Anton. Pla- 


496 Hans Ottinger 


cent. 160, 13: per directo; Peregrin. Aeth. c. 8, 1: totum ad 
directum subis; Soran. Gynaec. p. 58, 12: in rectum iacere. 

In longum, in latum u. à. z. B. Mulom. Chir. p. 31, 29: callosi- 
tatem totius vulneris in longum et in curtum faciunt ; 33, 11: 
contra locum causae aperies in longum dextra sinistra. 70, 18: 
invenies duritiam ingentem cucurbitae rotundae in longo simi- 
lem; 23, 14: praecides per longum ad diastimam oculi; Vulg. 
Ezech. 40, 7: thalamum uno calamo in longum et uno calamo 
in latum; Peregrin. Aeth. c. 2, 1: in longo milia passos forsitan 
sedecim, in lato autem quattuor milia; 2, 3: placuit ut per me- 
diam vallem ipsam, qua iacet in longo, rediremus; 5, 1: per valle 
illa media qua tenditur per longum; Iordan. Get. 1,6: in longo 
latoque extensam; 50, 264: in longo porrecta; 36, 192: in 
longum centum leuvas, in latum septuaginta. 

Nachdem wir in obliquum — schief, in rectum = gerade, 
in longum = in die Länge, in latum = in die Breite u. a. kennen 
gelernt haben, wollen uns Wendungen unseres Dichters wie ad 
grossum, ad latum nicht mehr auffällig erscheinen: mit der- 
artigen Dingen muß man im Spät- und Mittellatein eben rechnen. 

Per siccum, Ruodl. V, 525. — Siccum = „das Trockene“ 
finde ich bei Petron. 72: qui interventu suo nos trementes extra- 
xit in siccum ; Gregor. Turon. h. F. 1, 10, p. 39, 20: illis per sicca 
gradientibus in litus illud transgrediuntur; Ioh. Mon. p. 18, 18: 
eduxerunt navem vacuam in siccum. 

In arto, Ruodl. V, 442. — Über den Gebrauch des substan- 
tivierten Neutrums artum — spatium artum unterrichtet der 
Thes. s. v. Einige Belege: Liv. 23, 27,7: in artum compulsi; 
Apul. met. 11, 14: compressis in artum feminibus. Gerade der 
abl. mit in ist sehr häufig: Liv. 26, 39, 18: ita in arto stipatae 
erant naves; 34, 15, 8: caeduntur in portis suomet ipsi agmine 
in arto haerentes; 28, 33, 9: quod in arto pugna Romano aptior 
quam Hispano militi futura videbatur; Sol. 22, 10: aquis in arto 
ludentibus; Val. Flac. 6, 346: saeptus in arto leo; Sen. ep. 78, 8: 
quicquid aliud in copore exile est, acerrime saevit, cum in arto 
vitia concepit; Stat. Theb. 1, 64: trifidaeque in Phocidos arto 
implicui regem. 

In altis, Ruodl. XI, 62. — Der Plural der Neutra wird im 
gleichen Umfang substantiviert wie der Singular, die Aufzählung 
dieser Dinge beansprucht bei Roensch, Kaulen, Hoppe u.a. 


Zum Latein des Ruodlieb 497 


immer mehrere Seiten. Ich raffe einige Beispiele auf: Vulg. 
Hebr. 1,3: ad dexteram maiestatis in excelsis; Luc. 2, 14: 
gloria in altissimis deo; Commod. 1, 22, 9: sic ipsi complacuit 
domino dominorum in altis; Beda h. eccl. p. 178, 22: videntibus 
cunctis ad caeli se alta subduxit; 246, 39: modo alta peterent, 
modo ima baratri repeterent. Für in altis gebraucht die Vulg. 
oft auch das ähnliche in caelestibus: Ephes. 1, 20: suscitans 
illum a mortuis et constituens ad dexteram suam in caelestibus; 
2, 6: consedere fecit in caelestibus; 3, 10: ut innotiscat in cae- 
lestibus ; 6, 12: contra spiritalia nequitia in caelestibus; Tertull. 
sagt Hermog. 7: deo in sublimibus habitanti. Die Synonyma: 
caelestia, sublimia, alta u. à. gehóren durchaus zur christlichen 
Terminologie. 

Cordisabimis, Ruodl. V, 449. — Sowohl der Plural als der 
Singular von imus erscheinen mehrfach auch anderswo sub- 
stantiviert: Beda h. eccl. p. 134, 9: at ille oculos in inferiora de- 
flectens vidit quasi vallem tenebrosam subtus se in imo positam; 
Adamnan. p. 229: ex quibus quattuor in imo illius lectuli positae; 
p. 286, 13: ab imo fundamentorum in tribus consurgens parie- 
tibus. Der Plur. bei Beda h. 116, 35: tantae flagrantia suavitatis 
ab imis (aus dem Innern) ebullivit; Commod. 2, 4, 7: uritur ab 
imis terra montesque liquescunt; 1, 21, 10: in brevi laetaris et 
postmodum plangis in imis. In den letzten Stellen bedeutet ima 
vielleicht prägnant „die Hölle“. Cassian. coll. 9, 4, 1: ad ima 
terrae; 24, 15, 2: ad manuum summa, ad pedum ima. Zu ima 
cordis vgl. Beda h. eccl. p. 81, 10: saepe diu solus residens ore 
quidem tacito, sed in intimis cordis multa secum conloquens. 

Neutra plur. mit gen. — Im Gebrauche substantivierter 
Neutra plur. mit abhängigem gen. ist das Spätlatein geradezu 
überschwenglich: Liv. 26, 40, 9: infima olivi; 28, 33, 6: media 
urbis; Apul. met. 8, 28: per avia montium; 4, 15: ad reliqua 
fallaciae pergimus; 4, 24: se ad sectae sueta conferunt; 4, 35: 
vehens per devexa rupis; Vulg. (Kaulen S. 219) z. B. Ps. 62, 10: 
introibunt in inferiora terrae; 138, 9: in extremis maris; Tob. 1,1: 
in superioribus Galilaeae; 1. Cor. 2, 10: profunda dei; 2. Cor. 4, 2: 
occulta dedecoris; Hebr. 6,19: in interiora velaminis; 1. Cor. 
14, 25: occulta cordis eius manifesta fiunt; Tertull. Res. 62: non 
magis sollemnibus carnis obnoxii sub angelico indumento, quam 
angeli tunc sollemnibus spiritus sub humano; Päl. 5 in: de 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 32 


498 Hans Ottinger 


necessariis fidei; Ammian. Marc. 18, 8, 7: editiora collis; 16, 11, 
11: ad intima Galiarum; 20, 4, 10: ad orbis terrarum extrema; 
Cels. 7, 7, 18: interiora oculi; 7, 29: extrema corporis; 8, 10, 2: 
eminentia cubiti; Dictys Cret. 3, 21: cuncta regni; 6, 4: reliqua 
praedae; 4, 8: adversa fortunae; 1, 27 u. 23: necessaria cibi u. ö. 
Cassian. inst. 5, 21, 2: luxuriae praerupta; 39, 3: victus neces- 
saria; 40, 1: in interioribus deserti; 41: prospera mundi; 12, 2: 
in posterioribus libelli; Coll. 1, 15, 2: mirabilia mysteriorum; 
6, 11, 2: in occultis eonum; 14, 16, 1: arcana sensuum u. ö. (vgl. 
Petschenigs Index); Commod. 1, 32, 14: ultima fatorum non 
providens; Vict. Vit. 1, 3: praerupta terrarum vel seclusa; 2, 24: 
verecunda pudoris; 3, 58: silvarum secreta; Adamnan. p. 233, 7: 
cuius in superioribus; Beda h. eccl. p. 121, 37: in cuius interiori- 
bus; 171, 9: discussis penetralibus cordis nostri; 222, 19: irrepunt 
in interiora corporis mei; 258, 25: in profundis tartari. 

In cuius medio, cuius ad extremum, in tiliae summo u. à. 
(Seiler S. 117). Derartige Wendungen sind keine Eigenheiten 
unseres Dichters, sondern typisch spätlateinisch. 

Liv. 27, 48, 17: iam diei medium erat; 1, 57, 9: in medio 
aedium ; 35, 13, 4: extremo iam hiemis; 33, 48, 6: in serum noctis; 
Vulg. Ps. 67, 23: in profundum maris; Luc. 2, 46:. sedentem 
in medio doctorum; Matth. 10, 6: mitto vos sicut oves in medio 
luporum; 13, 49: separabunt malos de medio iustorum; 18, 2: 
Statuit eum in medio eorum; 18, 20: ibi sum in medio eorum; 
Luc. 4, 30: transiens per medium illorum; 21, 21: in medio eius; 
1. Cor. 5, 2: tollatur de medio vestrum; 2. Cor. 6, 17: exite de 
medio eorum??; Commod. 1,30, 2: in medio populi; Cassian. 
coll. 3, 22, 4: medium noctis; Ammian. Marc. 15, 7, 10: noctis 
medio, ebenso 19, 5, 5; Vict. Vit. p. 10,17:in medio Vandalorum; 


” 14, 6.4: ad tranquilliora vitae discessit; 14, 6, 25: aurigarum equorumque 
praecipua vel delicta; 16, 7, 4: eius praecipua; 15, 9, 8: sublimia naturae; 17, 3, 1: 
dubia bellorum; 22, 4, 8: per silvarum densa; 31, 9, 2: per montium celsa; 21, 6,4: 
per plana camporum usw. (Lisenberg S. 2). 

7 Philipp 2, 15: in medio nationis pravae; Thess. 2, 7: in medio vestrum; 
Hebr. 2, 12: in medio ecclesiae; Act. ap. 1, 15: in medio fratrum; 2, 22: in medio 
vestri; 17, 22: in medio ariopagi; 17, 33: exivit de medio eorum; 23, 10: rapere 
eum de medio eorum; 27,21: stans in medio eorum; Apoc. 1,13: in medio VII 
candelabrorum, ebenso 2, 1; 4, 6: in medio sedis; 5, 6: in medio throni et in medio 
seniorum; 7, 6: in medio quattuor animalium; 7,17: in medio throni; 19, 11: 
volabant per medium caeli; 22, 2: in medio plateae. 


X u a 


= 4 


Zum Latein des Ruodlieb 499 


18, 16: in medio crepidinis; 29, 18: in medio civitatis; 32, 8: in 
medio gregis; Visio Pauli 48 (p. 39, 23): in medio illorum; Anton. 
Placent. p. 173, 14: circa medium noctis; Adamnan. p. 230, 6: 
in medio eius; 239,13: in medio civitatis; 240, 1: in medio terrae, 
ebenso 240, 5; 264, 1: in quorum medio ; Beda de loc. s. p. 310,13: 
in cuius medio; 312, 16: in medio ecclesiae; H. eccl. p. 19,4: in 
medio sui; 25, 29: usque ad medium itineris; 69, 33: in medio 
pene sui?*; Dict. Cret. 4, 21: in medio itineris; 5, 10: medio 
campi. 

Vulg. Matth. 18, 6: demergatur in profundum maris; Luc. 
16, 29: intinguat extremum digiti sui in aqua; 2. Cor. 25: in pro- 
fundum maris; Tim. 6, 17: in incerto divitiarum; Act. ap. 1, 8: 
usque ad ultimum terrae; 13, 47: usque ad extremum terrae; 
Cassian. instr. 4, 37: ad extremum vitae; Ammian. Marc. 19, 2, 
10: ad extremum usque diei; 2, 5: usque diei ultimum; 19, 11, 4: 
hiemis durissimo; 19, 10, 1: in orientis extimo; 20, 7, 17: in ex- 
tremo Mesopotamiae; 16, 8, 6: in abrupto necessitatis; Vict. 
Vit. 1, 38: in angusto fugae; Minuc. Fel. 1, 4: profundum tene- 
brarum; 9,7: per incertum sortis; 16, 2: incertum propositionis ; 
Vis. Pauli 16: audivi voces in excelso celorum; Beda h. eccl. 
p. 9, 23: in profundum fluminis; 279, 21: in abdito cordis; 206, 22 
ob insigne pietatis et gratiae; Iordan. Get. 1, 9: in ultimo plagae 
occidentalis; Mulom. Chir. p. 44, 19: venae quae in extremo 
aurium finiuntur; 156, 26: per ipsum extremum folliculi. — 
Der Gebrauch mag ursprünglich von Dichtern ausgegangen 
sein, weil diese Neutra metrisch bequemer waren als die meist 
làngeren Substantiva. Für den Spát- oder Mittellateiner kam 
noch der Vorteil dazu, daß er auf diese Weise mit einem kleineren 
Wortschatz auskommen konnte; jedenfalls war es ihm grund- 
sátzlich erlaubt, Substantiva aus Adjektivis durch Substanti- 
vierung der Neutra zu gewinnen. 

Adjektivum statt Adverbium. — Seiler S. 117: 
„Öfter steht das Adjektivum für das Adverbium, libens VII, 
89; VIII, 44, 64; XI, 18; XIV, 55; citus VIII, 126; IX, 42“. 
Zu vergleichen sind Schmalz’ Synt. S. 150 und als wichtige 

?9 74, 33: oves Christi in medio luporum positas; 92, 21: in cuius medio; 
192, 22: contra medium Australium ; 197, 22: in medio suorum; 24: in medio eorum ; 
246,16: in medium frigoris; 246, 18: in medium flammarum; 246, 37: in medio 
tenebrarum; 256, 33: huius in medio; 257, 28: in cuius medio. 

32* 


500 Hans Ottinger 


Ergänzung dazu Loefstedts Kommentar zur Pereg'n. As - 
S. 213 f. Dort heißt es: „Das Adjektiv ist die ältere, persön..- 
und plastische Ausdrucksweise und bleibt eben deswegen 
der volkstümlichen sowie in der dichterischen Sprache beliebt 
deren Tendenzen hier wie in so vielen anderen Fällen zusammen- 
treffen; die jüngere abstraktere adverbiale Konstruktionsweise 
gehört dagegen naturgemäß der klassischen Normalprosa an.“ 
Beispiele bei Schmalz, Kühnast (Hauptpunkte der livianischen 
Synt. S. 56/7) und Draeger (Synt. d. Tac. $ 8). 

Für das Spätlatein diene folgendes: 

Apul. met. 6, 8: dotem libens offero; 6, 10: libentes tandem 
accedunt; 6, 16: urnulam citata rettulit; 9, 5: inprovisus hospi- 
tium repetit; 9, 7: otiosus adsiste; 9, 20: inprovisus maritus 
adsistit; 10, 6: foro se festinus inmittit; 11, 6: vives autem 
beatus.. gloriosus; Dict. Cret. 2, 49: transversi agebantur; 4, 5: 
diversi exercebantur; 2, 43: promptus stetit; 2, 52: libens man- 
data efficit u. ö. Tertull. Praescr. 42: humiles et blandi et sum- 
missi agunt; Marc. 2, 14 ex: qui legatos eius totiens superbus 
excusserat; Cassian. inst. 4, 2: diuturna perduret; 4, 24, 4: ta- 
citus senex exploraret; 5, 33: infatigabilis persistit; 12, 28: ta- 
citus intra semet volvens; coll. 1, 2, 1: agri glaebas frequenti subigit 
vomere; 18, 15, 6: matutinus occurreret; 20, 9, 2: se festinus 
abstraxerit u.ä. Ammian. Marc. 17, 12, 11: obtinere sedes im- 
pavidi; 19, 11,9: stabant incurvi; 14,3,4: dux tabescebat 
immobilis; 29, 6, 9: mansit immobilis (Lisenberg S. 5); Com- 
mod. 2, 12, 9: matutinus signa revise; 2,12,10: agonia sume 
propinquus; Vict. Vit. 1, 12: abstulit rapax; 1, 14: servi perpetui 
remanerent; 1, 29: apud Edessam commanet peregrinus; 1, 47: 
callidus praecipiens; 3, 44: pergit festinus; Pass. 4: crudelissimus 
imperavit u. à. Hist. Apoll. p. 6, 3: festinus perveni; Beda h. 
ecel. p. 30, 26: festinus obtemperat ; 127, 7: festinusque accedens; 
133, 7: ministerio sedulus insistere; 169, 19: introivit ille con- 
citus; Peregrin. Aeth. 10, 9: nos satis avidi optati sumus re. 

Die Komparation. Komparativ statt Positiv. — Seiler 
S. 117: „Der Komparativ für zu erwartenden Positiv ist ungemein 
häufig bei citius z. B. V. 246... ferner kommt es vor bei pro- 
perantius V, 13; VII, 92; bei cautius V, 119. Entwickelt hat 
Sich diese Eigenheit aus dem bekannten Komparativ, den man 
mit ,ziemlich' zu übersetzen pflegt.'' 


Zum Latein des Ruodlieb 501 


Auch, = lies ist keine Eigenheit unseres Dichters: die Erschei- 

"E gchört unter das große Kapitel von der Abschwächung 
uad Verwirrung der Komparationsgrade (vgl. z.B. Schmalz 
Sint. S. 616 f). Die Volkssprache bevorzugte die entwerteten 
Komparativformen wohl einfach deswegen, weil sie voller und 
wohlklingender waren. 

Ter. Andr. 724: accipe a me hunc ocius; Apul. met. 5, 2: 
cunctisque istis ocius tecum relatis ; 8, 5: quin ocius indipiscimur ? 
Petron 96: non discedunt ocius nequissimi servi? Vulg. Ioh. 18, 
27 sehr deutlich: quod facis, fac citius; Hebr. 13, 23: cum quo, 
si celerius venerit, videbo vos. Besonders häufig bei Ammian. 
Marc. (Lisenberg S. 5) z. B. 15, 8, 16: vultus excitatius gratus; 
16, 5,10: cum artem modulatius incedendi disceret; 18, 7, 5: 
inmanius efferascunt; 20, 6, 4: ferocius se proripientes; 22, 9, 9: 
acrius exsurgens; 16, 21: colens secretius deos; 2, 4: loquebatur 
asperius; 5, 18: voluntas ad altiora propensior; Fulgent. Myth. 
p. 610: citius sopiturum; I, 8: citius auferens; II, 3: citius fugi- 
tiva; Commod. A. 787: citius recordari debemus; 659: implere 
hydrias velocius; Cassian. inst. 4, 24, 1: frequentius iniungebat ; 
4, 30, 3: diutius pro foribus perseverans; 7, 8: unde si quoquam 
se non celerius asportavit; 10, 2,1: crebrius ingemescit; Coll. 
9, 35, 1: illud evangelium praeceptum diligentius observandum 
est; 15, 3, 3: qui studiosius confluxerant (Petschenigs Index); 
Vict. Vit. 1, 11: dulcedo suavitatis dulcius propinata; 1,27: 
voluerunt saepius necare; 1,43: diu ac saepius; ib.: allatis 
crebrius fortioribus; 2, 2: vehementius inhiabat ; 3, 38: libentius 
forte cantabat (vgl. Petsch. Ind.); Anton. Placent. Itin. p. 173,1: 
si non clauditur citius; Adamnan. 285, 10: ite citius; 291, 17: ser- 
munculis ocius terminatis; 226, 13: citius eam emendat; Soran. 
Gynaec. p. 58,17: aliquando citius ad se redeant; Aesop. des Rom. 
p.46: ostium cellarii citius aperuit. . . citius se abscondit ; 163: suc- 
curre velocius. leo diutius iacuit in terra; Beda h. eccl. p. 110, 28: 
adceleravit ocius egredi; 180, 19: nec dubium remansit, quin 
aliquis citius esset moriturus; 182, 17: cum ibidem diutius oraret; 
Mulom. Chir. p. 65, 15: si celerius succuratur; 41,1: si citius 
succurreris; 64, 1: velocius haec vitia mortem inferunt; 94, 16: 
ita sani velocius fiunt u.ä. (Oders Ind. S. 309). 

Positiv statt 5 hier liegt die im Spät- 
latein übliche Verwechselung der Komparationsgrade vor. Pa- 


502 Hans Ottinger 


rallelen zu Ruodl. XV, 16 bietet z. B. Vict. Vit. 1, 51: persecu- 
tionis quanto sublimiter, tanto crudeliter gestae; 3, 59: quanto 
Sibi videbantur superbi, tanto amplius deficiebant; Cassian. 
inst. 6,17: quantum sublime est praemium castitatis, tanto 
gravioribus insidiis lacessitur; Lucif. Calar. p. 287, 27: quantoque 
varie vexamur, tanto firmiter roboremur; Mulom. Chir. p. 70, 21: 
quem quanto duriorem inveneris; tanto plurimis diebus dolere 
eos scias (hier korrespondieren also Komparativ und Superlativ). 

Positiv für Superlativ. — Seiler S. 117: „(der Positiv 
Steht) für den Superlativ bei quam, wo das Altertum zwar auch 
den Positiv kennt, aber den Superlativ vorzieht: quam bene 
IV, 248 usw.“ 

Ausschlaggebend für uns ist, daB der in Rede stehende Ge- 
brauch im ganzen Spätlatein gang und gäbe ist. Schmalz sagt 
Antib. II, 440: „Im nachklassischen vielleicht, sicher im Spät- 
latein steht dann überhaupt quam mit Positiv = möglichst z. B. 
Apul. met. 4, 3: loro quam valido caedendo; man wird darin eine 
vielleicht auf Mißverständnis beruhende Wiederauffrischung des 
exclamativen quam erblicken.“ Seit Apul. begegnet der Gebrauch 
dann allenthalben, z. B. bei Lact., Arnob., Boethius u. a. 

Quam mit Komparativ. — Seiler S. 118: ,,quam mit dem 
Komparativ dagegen ist durchaus unlateinisch: quam citius 
III, 69.“ 

Schmalz sagt Antib. II, 439: „Nur im Spätlatein, wo die 
Komparationsgrade in ihrer Bedeutung sich verschieben, lesen 
wir quam plures im Sinne von quam plurimi, häufig bei Mart. 
Cap. und sonst, vgl. Wölfflin Komp. S. 70 usw." So finde ich 
bei Vict. Vit. 2, 64: quam plura und Mulom. Chir. 183, 20: de 
quam pluribus; 136, 6: addito aceti quam acrius sextarium unum. 
Besonders die Verbindung quam citius scheint es bis zu einer 
gewissen Legitimität gebracht zu haben. Schmalz Synt. S. 726 
sagt: ,,Eine merkwürdige, sonst wie es scheint noch nicht be- 
obachtete Erscheinung ist quam mit Komparativ. Aus den Mir. 
Theclae 7 (172, 23) habe ich notiert: quam citius potuit.. pro- 
fectus est." Dieser Gebrauch ist besonders im Mittellatein zu 
Hause, ich kenne Discipl. cler. 19, 22: ut quam cicius poteris 
huius miserearis; Hist.sept.sap.I p.31,18: dominus quam 
cicius potuit turrim ascendit; auch in der Hist. sept. sap. II 
kommt quam cicius etliche Male vor. 


Zum Latein des Ruodlieb 503 


Multum. — Seiler S. 139: ,, Multum für valde ist zwar eben- 
falls nicht unlateinisch, aber seine häufige Verwendung hat es 
jedenfalls dem deutschen ,vil' zu verdanken.“ 

Schmalz Synt. S. 613 Anm. 1 sagt: „Während multum bei 
Plautus vielfach gebraucht wird, verschmäht es der feinere 
Terenz, Horaz hat es überwiegend in den Satiren und Episteln, 
sonst findet es sich bei Archaisten und vulgären Autoren, be- 
sonders im Spätlatein z. B. Epit. Caes. 1, 22: vini multum ab- 
stinens; Cic. hat es agr. 3, 18: vir multum bonus est (,hóhnisch 
vulgär‘, wie C. F. W. Müller acc. 60 meint) und fam. 6, 6, 9: 
vir acutus est et multum providens.“ 

Plaut. Aulul. 2, 1, 5: multum loquaces; Hor. sat. 2, 3, 147: 
medicus multum celer. Für die Vulg. vgl. Kaulen S. 139, z. B. 
2. Par. 18, 1: inclytus multum; Ps. 102, 8: multum misericors; 
Pred.7,17: iustus multum; Ps.119,6: multum incola fuit 
anima mea; Beda h. eccl. p. 6, 1: fluviis multum piscosis; 89, 1: 
multum solicitus; 89, 19: cum exercitu multum impari; 102, 1: 
multum honorifice; 107, 12: multum diligenter; 126, 32 multum 
misericors; 127, 12: multum illi esse placatum; 135, 34: multum 
veracem et religiosum; 181, 7: gratus multum; 196, 31: multum 
diu; 201, 10: multum amabilis; 230, 32: multum insipienter et 
indocte; 259, 36: multum eruditus; Anton. Plac. p. 166, 14: non 
multum longe ad Segor; 168, 7: non multum longe, ubi; 176, 21: 
non multum longe ab; Aesop. des Rom. p. 197: meretrix quae 
erat perfida multum multis. Sehr oft bei Soran. Gynaec. z. B. 
praef. p. 3: quibusdam vero capitulis multum breviter dictis; 
16, 1: multum fortiter; 29, 15: multum mollis; 32, 6: multum 
grandes; 35, 22: cibos multum solidos; 39, 20: multum calidus; 
48, 21: multum pingues, ebenso 49, 22 u. ó. Joh. Mon. p. 60,21: 
multum sum peccator; 64,24: lapidem preciosum multum; 
99, 22: multum misericors. 

Damit schlieBen wir das Kapitel über die Komparation 
ab. Zwar sehen wir gerade hier deutlich, daß das Volks- 
tümliche und das schlechthin Fehlerhafte selten glatt zu 
Scheiden sind; aber jene Zeit, wo die eine oder die andere 
dieser Erscheinungen vielleicht wirklich ein ,,Fehler" war, 
liegt weit zurück: für die Zeit unseres Dichters sind diese Er- 


scheinungen längst durch die Vulgata geheiligt, sind sie eben 
Latein. i 


504 Hans Ottinger 


Der Infinitiv. Der Infinitiv nach Verben der sinnlichen 
Wahrnehmung. — Seiler S. 123 811: „Nach Verben der sinn- 
lichen Wahrnehmung steht statt des Participiums nach deutscher 
Weise der Inflnitiv: prospicit socios emergere X, 86; dominas 
stare videbo XVII, 8.“ 

Die Regel ist auch in klassischer Zeit niemals ganz streng 
gewesen, man hat videre, prospicere usw. zu allen Zeiten auch 
mit dem a. c. i. konstruieren können. Feinheiten wie sie Stilisten 
von der Qualität Ciceros gelegentlich durch das Participium 
ausgedrückt haben, dürfen wir vom volkstümlichen Spätlatein 
nicht erwarten. Vgl. zur ganzen Frage Draeger Hist. Synt. II, 381. 

Der finale Infinitiv. — Seiler S. 124: „Der Infinitiv des 
Zweckes kommt öfter vor: citat hanc intrudere V, 600; surgens 
dicere grates V, 43 usw.“. 

Der finale Infinitiv kommt, besonders bei verbis movendi, 
Schon im Altlatein vor, dann bei Dichtern und in Prosa seit Val. 
Max., vgl. darüber Schmalz Synt. S. 420. Im Spätlatein, be- 
sonders im Kirchenlatein, gehórt der Infinitiv des Zweckes zu 
den alltáglichsten Erscheinungen. 

Apul. met. 4, 3: cunctanter accedo decerpere. Massenhaft 
in der Vulg. z. B. Matth. 2, 2: venimus adorare eum; Ioh. 1,33: 
misit me bapticare; Luc. 4,16: surrexit legere; 18: misit me 
praedicare; Matth. 5,17: nolite putare quoniam veni solvere 
legem.. non veni solvere sed adimplere; 10, 34: non veni pacem 
mittere; Luc. 8, 46: circumspiciebat videre eam; 14, 23: ascen- 
dit in monte solus orare®; Tertull. (Hoppe S. 42) z. B. Pud. 21 
in: qui pati venerat; Virg. vel. 1: venturum iudicare; Val. 7: 
accedunt monere eum; Marc. 4, 22 ex: discessit oculus percutere; 
1,17: erumpunt dicere; 4,30: cum surrexerit comminuere; 
Val. 14: prosiluit.. inquirere; Apol. 39: provocatur deo canere 
u. ö. Commod. 1, 41, 8: veniet prius signare; 2, 1, 14: nec ruent 


% Joh. 4, 7: venit haurire aquam; Matth. 24, 16: non descendat tollere aliquid; 
25, 10: irent emere; Luc. 19, 12: abiit accipere sibi regnum et reverti; Matth. 26, 55: 
existis comprehendere me; 28, 8: currentes nuntiare; Rom. 15, 12: exsurget regere 
gentes; 15, 25: proficiscar ministrare sanctis; 1. Cor. 1,17: misit me bapticare; 
10, 7: sedit populus manducare et bibere et surrexerunt ludere; 16, 3: hos mittam 
perferre gratiam; Gallat. 2, 4: subintroierunt explorare; Tim. 1, 15: venit peccatores 
salvos facere; Act. ap. 1, 24: quem elegeris accipere locum; 14, 11: ascendi adorare; 
26, 17: mitto te aperire oculos eorum; Apoc. 3, 10: ventura est temptare; 16, 14: 
procedet congregare illos; 22, 6: misit angelum ostendere. 


Zum Latein des Ruodlieb 505 


ad manus pacem aliquando tenere; 2, 9, 15: occurrit tradere sese; 
2, 17, 8: surrexerunt ludere; 2, 35, 3: venisti fundere preces u. ö. 
(Dom barts Ind.); Vict. Vit. 2, 65: venturus est iudicare; 2, 90: 
venturus est arguere; Hist. Apoll. p. 70, 11: insidiabatur exitus 
rerum videre; 85, 10: eum provoces ad lucem exire; 89, 5: pro- 
voca eum exire; Peregrin. Aeth. c. 30, 3: festinat manducare; 
87, 1: vadent in Syon orare; 43, 4: revertitur resumere se; Anton. 
Placent. p. 169, 14: ascendit videre; 172, 4: ibat Isaac offerre; 
Beda h. eccl. p. 14, 22: festinavit ei occurrere; 32, 27: misit 
servum dei praedicare; 106, 12: admotaque manu requirere quid 
esset; 116, 24: egressi dignoscere, quid esset; 140, 5: misit prae- 
dicare; 170, 7: vocare venerunt ; 202, 20: venit quaerere; 228, 5: 
exierat videre; Gregor. Turon. (Bonnet S. 647): Mart. 87 p. 546, 
36: cum omnes in Iordane descenderent abluere vulnera ; Iul. 45 
p. 581, 28: egrediens dare responsum; Andr. 1 p. 827, 22: prae- 
dicare verbum dispersi; h. F. 4, 84 p. 169, 19: ut annonas ad 
Solem siccare ponerent. 

Dersubstantivierte Infinitiv. — Seiler S. 124: „Im R. 
Stehen so die Verba velle, posse, vivere, vigilare, famulari, und 
zwar in allen Kasus mit Ausnahme des Dativs.“ 

Über Anfänge und Entwicklung des Gebrauchs unterrichtet 
die bekannte Abhandlung Wölfflins Arch. III, 70 ff. Die Blüte 
dieser Verwendung des Infinitivs fällt ins Spät- und Mittellatein. 
Eine Hauptrolle spielen von Anfang an die Verba velle, posse, 
vivere. Schon bei Tertull. kommt der substantivierte Infinitiv 
in allen Kasus vor, worüber Hoppe S. 42 zu vergleichen ist. Vgl. 
auch Schmalz Synt. S. 419 Anm. 2. 

Mart. 5, 82,2: velle tuum nolo; Pers. 1,9: nostrum istud 
vivere triste aspexi; 5, 53: velle suum cuique est; Macrob. 
8at. 8, 1, 4: contra suum velle; Mar. Vict.: supra esse et supra 
vivere et supra intelligere deus est; ante omnium vivere; ultra 
suum velle (Arch. III, 79); Tertull. Res. 7: totum vivere animae 
carnis est; ib.: ipsum mori carnis est, cuius et vivere; Exh. 
Cast. 10: rape occasionem.. non habere (Gen!); Bapt. 4: spiri- 
talem (materiam) et penetrare et insidere (Dat.) facilem ; Marc. 2, 
4: bonus et dicere et facere (acc. graec.); Cypr. I p. 3, 10: ne 
loqui nostrum arbiter profanus impediat; p. 300, 6: Christum 
videre gaudere est u. ö. (Hartels Ind.); Cassian. coll. 13, 12, 1: 
bonum nec velle nec posse concessit; 16, 3, 4: in quibus unum 


506 Hans Ottinger 


velle ac nolle consistit; Nest. 5, 8, 3: esse nec initium nec ter- 
minum habet; 7, 2, 4: posse promptum fuit; 7,5,6: ad totum 
velle suffecit u.ö. (Petschenigs Ind.); Commod. 1,28, 7: aut 
ferro parantur supplicia aut longo carcerere flere; A. 34: hoc est 
beluarum adesse; Hilar. Trin. 10, 1: ad velle id quod verum est; 
Venant. Fort. I, 5, 24: quantum posse valet, plus mihi velle 
placet; IV, 5, 184: sed quod velle prius, postea nolle fuit; X, 
1, 36: bonum velle non habet; 3, 8: qui et velle tribuit et posse 
complevit; XI, 26, 18: posse utinam sic sit quam mihi velle 
placet; V. M. 3, 72: est mihi velle loqui; 2, 220: cui minus in 
posse est; 1,119: unum velle trium; Carm. V, 14, 16: posse 
vetante (abl); Hist. sept. sap. I p. 18, 22: cognoscens velle 
mulieris; 26, 28: vis facere meum velle? 30, 1: feci velle Sindi- 
baris; Discipl. cler. p. 24, 21: secundum posse suum, ebenso 
24, 41. Schmalz Synt. S. 419 Anm. 2 heißt es: „Im mittelalter- 
lichen Latein, z. B. bei Conrad Hirsaugiensis, kommt z. B. oft 
vor: pro posse nostro = entsprechend unserem Können.“ 

Der Dichter stimmt also bis in die Bevorzugung der 
Verba velle, posse, vivere mit dem Spát- und Mittellatein zu- 
sammen. 

Die Modi. — Seiler S. 123: ,, Grammatisch nicht zu recht- 
fertigen ist dagegen der Konj. in rex alter doma revisat V, 152 
(Reim), in Sátzen mit quicumque, quisquis etc. V, 187; XIII, 54; 
XV, 79; mit sive — sive VIII, 106; XVII, 128; ep. VI, 3; in 
beiden Fállen werden wir Einwirkung des deutschen Sprach- 
gefühls annehmen dürfen.“ 

Ruodl. Vers V, 152 lautet bei Seiler: Rex ait: „id flat." — 
Rex alter doma revisat. Ich halte es für zwecklos, sich über 
revisat den Kopf zu zerbrechen. Einmal kann Seilers Inter- 
punktion falsch sein und revisat auf gleicher Hóhe mit flat 
stehen: „der andere König möge nach Hause zurückkehren.“ 
Sodann könnte revisat erste Konjugation sein: Konjugations- 
austausch und -unsicherheit gehört ja zu den typischen Er- 
scheinungen des Spätlateins. Schließlich kann der Dichter auch 
geglaubt haben, unter Reimzwang den Konjunktiv setzen zu 
dürfen. 

Quicumque, quisquis c. coni. — Schon im Altlatein 
dringt der Konjunktiv wie in die übrigen, so auch in die ver- 
allgemeinernden Relativsátze gelegentlich ein. In der guten 


Zum Latein des Ruodlieb 507 


Zeit allerdings behält der Indikativ die Oberhand, und in der 
klassischen Latinität ist er Regel. Über die Folgezeit sagt 
Schmalz Synt. S. 532: ,, Anders verhält es sich in nachklassischer 
Zeit und besonders im Spätlatein, denn hier findet sich gerade 
wie bei quamquam der Konjunktiv, der mit Liv. und Plin. m., 
Suet, Gell. sein Gebiet erweitert und im Spätlatein, besonders 
bei den Eccl. ganz gewöhnlich wird, z. B. Plin. h. n. 27, 109: 
purgat cicatrices et nubeculas et quicquid obstet. Hieron. ep. 
119, 1: haec qualiacumque sint dictare compellor; Fulg. 1, 2: 
omne tempus quodcumque gignat consumit." Ich gebe noch 
einige Beispiele: Vulg. 1 reg. 2, 13: quicumque immolasset 
victimam; Iud. 2, 15: sed quocumque pergere voluissent ; Tertull. 
Scop. 2 ex: quoscumque eduxerit; Praescr. 29 in: quoquo modo 
sit erratum; Marc. 5, 13: quaecunque substantia sit; Cassian. 

Nest. 2, 7, 38: quaecumque audieris; 4, 1, 1: quidquid necessarium 

non esset defensioni; 1, 1, 1: quidquid ferrum secantis abscideret ; 

2, 4, 8: quidquid sumpseris; Gregor. Turon. mart. 7, 6 p. 294, 4: 

quisque (= quicumque) urbem ingrederetur; patr. 8, 9 p. 699,13: 

quisque vidisset subscriptionem; Iordan. Get. 11, 69: quidquid 

precepisset; 30,157: quodcumque homo disposuerit; 36, 187: 

quidquid commiserit; 55, 280: quidquid vehiculi fuerit (Werner 

S. 96). 

Sive-sive. — Schmalz Synt. S. 590: ,,Seit der Zeit Ciceros 
kommt sive-sive in allgemeinen Gebrauch. Der Modus ist der 
Indicativ; allein schon bei Cic. und Caes. vereinzelt, mehr bei 
Liv., Plin. m. und Tac., besonders häufig im Spätlatein liest 
man auch den Konjunktiv, z.B. bei Lact. Oros. Claud. Mam. 
Apoll. Sidon. u.a. Dieser Konjunktiv kann irreal sein, wie Cic. 
Tull. 33, oder iterativ wie Tac. an. 4, 60, oder Konjunktiv der 
fremden Meinung wie ib. 4, 56, oder konzessiv wie Tac. dial. 25; 
im Spätlatein ist oft ein Grund für den Konjunktiv nicht er- 
sichtlich.“ 

Aus Draeger entnehme ich z. B. Suet. Iul. 57: seu sol seu 
imber esset; Lamprid. Al. Leo. 47: sive convaluissent illi seu 
perissent; Val. Max. 6, 9 prf.: sive nostros status sive proxi- 
morum ingenia contemplemur; ib. ex. 2: sive patrem aspiciam 
sive matrem; Plin. n. h. 20, 132: sive in potu detur sive in cibo; 
23, 150: sive edantur sive bibantur usw. Für das Spätlatein sei 
hinzugefügt: August. civ. dei 2, 11: sive tribuantur sive distri- 


508 Hans Ottinger 


buantur; 2, 25: seu vivant seu moriantur; Vulg. Thess. 5, 10: 
sive vigilemus sive dormiamus; Cassian. Nest. pr. $4: sive par 
sim sive non sim; 4, 13, 2: sive ex gentibus sit sive ex Iudaeis; 
5, 9, 5: sive in eum credat, sive non credat; ebenso Coll. 21, 10, 2; 
Commod. instr. 1, 21, 6: seu regant seu minuant; Lucif. Calar. 
248, 21: sive quod eum in carcerem coniecerit; sive quod inter- 
fecerit; Tyrann. Rufin. p.29,19: sive id malitia sive etiam 
inperitia faciat. Beide Modi p. 95, 13: sive hos intellectuales 
spiritus appellemus sive ignem incorporeum seu quolibet alio 
nomine nuncupandi sunt ; Beda h. eccl. p. 1, 9: sive enim historia 
de bonis bona referat seu mala commemoret de pravis. 

Auch das Kapitel über die Modi schlieBt also mit dem Ergeb- 
nis, daß von einer Einwirkung deutschen Sprachgefühls nicht 
die Rede sein kann. 

Gerundium und Gerundivum. — War das Kapitel über 
die Präpositionen der erste Grundpfeiler der Germanismen- 
theorie, so ist das vom Gerundivum der zweite. Die Germanis- 
mentheorie in diesem Punkte widerlegen heißt ihre Grundlagen 
umstoßen. 

Filia est tibilucranda XVIII, 12. — Seiler S. 124: „Das 
Gerundium bezeichnet auch die Móglichkeit nach dem bekannten 
Germanismus, der noch heutigen Tages auf den Lateinschulen 
grassiert, z. B. filia est tibi lucranda ‚du kannst gewinnen 
XVIII, 12.“ 

Wir sehen uns den Zusammenhang an: Der Zwerg verkündet 
Ruodlieb: „Zwei Könige werden mit dir kämpfen (preliaturi) 
und von deiner Hand fallen (per te perimentur)“. Also Prophe- 
zeiungen, Futura! Und nun folgt: ,, Aber die Erbin ihrer Schätze 
est tibi lucranda sed non sine sanguine magno." Das muß doch 
heißen: „Aber ihre Tochter wird von dir gewonnen werden, 
allerdings nicht ohne Blutvergießen.“ Ebenso will Ruodliebs 
Antwort non occidendus es a me doch offenbar sagen: „Du 
wirst nicht getótet werden." Das Gerundivum bezeichnet hier 
also gar nicht die Möglichkeit, sondern es vertritt das Futurum 
Passivi. Daß die Stellen so richtig gedeutet sind, wird sich im 
folgenden erweisen: 

Schmalz sagt über diesen Gebrauch Synt. S. 463: „Im 
Spätlatein entspricht tradendus est dem griechischen weis: 
coceò t oo aber wie victurus sum = vivam, so wird auch 


Zum Latein des Ruodlieb 509 


tradendus est = tradetur, vgl. Vict. Vit. 2, 34: exhibendus est = 
exhibebitur neben sepulturi sunt = sepelient, ja es vollzieht 
sich hier der gleiche Prozeß wie bei der aktiven Coniugatio peri- 
phrastica; wie victurus erit — vivet, wird salvandus erit = sal- 
vabitur. So bekommt denn z. B. agendum esse seit Tertull. 
geradezu die Bedeutung eines Inf. Fut. Pass. und tritt an die 
Stelle von actum iri... und der Grammatiker Diomedes erkennt 
agendum esse förmlich als Inf. Fut. Pass. an.“ Sowohl Draeger 
Hist. Synt. II, 820 als Rónsch S. 433 und Kaulen S. 195 wissen 
von dem Gebrauche zu berichten. 

Aus Rónsch entnehme ich z. B. Vulg. Matth. 17, 22: filius 
hominis tradendus est — tradetur; Gen. 18, 18: cum benedicen- 
dae sint in illo omnes nationes terrae; Eccl. 1, 9: quod faciendum 
est; 2. Macc. 7,14: iterum ab ipso suscitandos. Hinzufügen 
lassen sich: Act. ap. 28, 6: existimabant eum in timorem conver- 
tendum et subito casurum; 1. Petr. 5, 1: quae in futuro reve- 
landa est = revelabitur; Apoc. 6, 11: qui interficiendi sunt. 
Besonders oft auch bei den script. hist. Aug., bei Ammian. Marc., 
Symmachus, Sidonius (vgl. Neue-Wagner III, 180 ff.). Sulpic. 
Sev. Hist. 1, 40, 3: templum illud solo aequandum = aequatum 
iri; 48, 5: polliceretur nec hydriam farre nec vas oleo esse minu- 
endum — minutum iri; 48,3: videbat dominum poenitentia 
populi placandum = placatum iri; Hieron. vit. Hilar.: se ad 
dominum migraturum et liberandum = liberatum iri; Tertull. 
(Hoppe S.54) z. B. Hermog.16 in: in praestructione huius 
articuli et alibi forsitan retractandi — der nochmals behandelt 
werden wird; Praescr. 11: sero aliud esse inveniendum; Com- 
mod. A. 285: profetae canunt invisibilem esse videndum. Für 
Ennod. vgl. Hartels Ind.; Hist. Apoll. p. 114, 8: occidendum se 
putabat; Gregor. Turon. (Bonnet S. 654) z. B. patr. 13, 2 p. 716, 
8: scito me post triduum liberandum; stell. 12 p. 861, 19: qualiter 
homo sit resuscitandus; 23 p. 866, 2: quod esset erigenda u. à. 
Über Iordan. Get. vgl. Werner S.92 Anm. 10, z. B. 32,165: 
rem publicam occupandam existimantes; 39, 202: eum credidit 
confirmandum = confirmatum iri. Eine deutliche Vorstellung 
von der außerordentlichen Häufigkeit dieses Gebrauches gibt 
die seitenlange Beispielsammlung bei Neue-Wagner. 

Consilio inveniendo opus est. — Seiler S. 125: ,,opus 
est hat den abl. partic. fut. pass.: consilio inveniendo IV, 1.“ 


510 Hans Ottinger 


Man kann sich diese Konstruktion einfach als Kontami- 
nationserscheinung erklären, sodaß consilio inveniendo opus est 
entstanden wäre durch Ineinanderschiebung von einerseits: 
consilium inveniendum est und andererseits: consilio opus est. 
Gefördert könnte diese Kontamination sein durch den auch im 
Spätlatein noch lebendigen Gebrauch von opus est c. abl. partic. 
perf., z. B. Lact. 1, 580: dicto non opus est. 

Wahrscheinlicher aber ist mir, daß diese Erscheinung zu den 
vielen Versuchen des Spätlateins gehört, den Infin. Praes. durch 
Gerund. und Gerundiv. zu ersetzen. Schmalz sagt Synt. S. 447 
$180 Anm.: „Spätlateinisch ist das Gerundium im Acc. ohne 
Präpos. anstelle des Infin. Praes. Act., z. B. bei Fredegar I, 123: 
incipiens scribendum; es entspricht dieser Gebrauch dem des 
Abl. gerund. für den Infin., z. B. defatigabor manendo statt 
manere." Und weiter unten: ,,Ferner entspricht dem dignus 
exspectari im Spätlatein dignus exspectandum; so steht bei 
Venant. Fortun. dignus, oportunus und necessarius mit acc. 
ger." In gleicher Weise wird das Gerundiv. für den Infin. Praes. 
Pass. gebraucht, z. B. bei Vict. Vit. 1, 29: episcopos interdiceret 
ordinandos; 2, 1: statuit requirendos hereticos; 3, 10: hoc ob- 
servandum praeceperant; 3,13: hoc praecepit observandum; 
vgl. Schmalz Synt. S. 448 $8171, 2. Am nächsten kommt dem, 
was wir suchen, wohl das Material bei Rónsch S. 434: „ Gerundiv. 
= Infin. Praes. Pass.: Gromat. vett. p. 312, 30: signa requirenda 
oportet; 313, 10; 317,8. 322, 23: limites requirendos oportet; 
817, 31: terminos excogimus requirendos ; 365, 29: requirendum 
oportet." Vgl. auch Koffmane „Gesch. d. Kirchenlateins‘‘. S. 128 
und 2. B. Lucif. Calar. p. 283, 5: deo oportuerat an Christo 
placendum. Nach derselben ratio wie hier oportet, scheint 
unser Dichter sein opus est konstruiert zu haben: consilium in- 
veniendum oportet wird eben, sobald man opus est einsetzt, zu 
consilio inveniendo opus est. 

Finaler Gebrauch des acc. gerundii. — Seiler S. 125: 
„Ein höchst eigentümlicher Gebrauch des acc. gerundii und 
gerundivi hat sich aus dem deutschen gerundium (ze c. dat. 
inf.) entwickelt. Da nämlich in den meisten Fällen das deutsche 
gerundium beim Ubersetzen ins Lateinische einfach durch den 
nom. oder acc. (bei do, trado, mando etc.) ohne Präposition 
wiedergegeben wird, so hat sich dieses präpositionslose gerundi- 


. Tun ~y - * 


Zum Latein des Ruodlieb 511 


um auch da eingedrängt, wo nach lat. Sprachgebrauch die 
Präposition ad nicht fehlen dürfte. I. Vornehmlich tritt dies 
hervor bei den Verben der Bewegung: intromittuntur regi 
consilium tribuendum IV, 122; misit praecones satrapas 
vocandos IV, 247; donec accurram hanc rapiendam VII, 78; 
requiescendum meemus VII, 128; it se discaligendum XIII, 
113. — II. Auch bei anderen Verben erscheint dieser eigen- 
tümliche acc. gerund. des Zweckes: vinum sit dulce (ad) biben- 
dum V, 113; sol monet (ad) hospitium petendum VI, 9; si 
praesentare mihi vis cuiusque farinae vel modium vel dimidium 
panes faciendum VI, 81; parare sat edendum VII, 106“. 
Dieser Gebrauch ist unter demselben Gesichtspunkt zu 
betrachten wie der eben behandelte, auch er findet seine Er- 
klärung durch die Neigung des Spätlateins, den Infin. durch 
Gerund. und Gerundiv. zu ersetzen. Und zwar ist es hier der 
Infinitiv des Zweckes, der in dieser Weise ersetzt wird. Zuerst 
behandelt ist der flnale Gebrauch des acc. gerund. und gerundiv., 
soweit ich sehe, von Einar Loefstedt „Spätlatein. Studien‘ 
S. 86f. Er bringt folgende Belege bei: CIL. X, 5348: quod 
opera thermarum estivalium vetustate corrupta s. p. restituit 
exornavitque, porticos etiam circumcingentes colimbum a 
solo constituit, statuam amplificandam memoriam eius ponendam 
censuerunt. Lucif. Calar. p. 7, 14: iste homo dei, qui a deo 
obiurgandum Hieroboam regem fuerat missus; Eugipp. V. 
8.5,3: perlato sibi quod turba latrocinantium babarorum 
aliquos captivasset ex Rugis, virum dei misit protinus con- 
sulendum, Ven. Fort. carm. 5, 1,1: quem dominus revisendum 
post meridiem pergeret; 2,9,46: advolat ante alios mysteria 
Sacra requirens undique quisque suo templa petenda loco; 
Paulin. Mediolan. V. A. 37: cum ad praetorium Macedonii, tunc 
magistri officiorum, pro quodam intercedendum perrexisset ; 
Mulom. Chir. p. 42, 15: alio die ambulandum ducere (sc. iumen- 
tum) et dare herbam mollem zoelotum ; Ven. Fort. v. M. 2, 219: 
explicuit votum, si non valet ire iuvandum. Entgangen ist 
ihm wohl: Lucif. Calar. p. 168, 13: cum te urgueremus 
sectam damnandam Arii. Zu vergleichen ist auch Knoells 
Ind. zu Eugipp. S. 92. Nach Loefstedts Vorgange kon- 


statiert dann auch Schmalz diesen Gebrauch iind S. 447, 
$ 180 Anm. 


512 Hans Ottinger 


Dare ad c. gerund. — Seiler S. 125: „Umgekehrt steht 
bei dare statt des acc. gerundivi ad c. gerundii.: ad manducandum 
sibi sat da sive bibendum V, 112; sibi nil dedit ad comedendum 
VI, 61 usw.“ 

Man hat bei den Verben des Übergebens und Übernehmens 
zu allen Zeiten auch ad c. gerund. gebraucht, worüber z. B. 
Draeger Hist. Synt. II, 128 unterrichtet. Das Spätlatein ge- 
braucht ad c. gerund. ganz unbedenklich. Einige Belege sind 
schon oben beim finalen ad angeführt. Ioh. Mon. p. 2,8: ad 
scribendum librariis tradebat; 125,12: dare ad devorandum, 
ebenso p. 125, 27; 120, 1, 30, 41. 

Conveniendus. — Seiler 8.125,3: „Merkwürdig ge- 
braucht wird das gerundivum von venire. Conveniendus ist 
eigentlich ‚einer, mit dem man zusammenkommen muß‘, 
daraus entwickelt sich, wenn der Betreffende jemand ist, dem 
man zu gebieten das Recht hat, die Bedeutung ‚einer, der 
herbeikommen soll‘. So steht es in: convocat suos summates 
conveniendos V, 153; rufus pastorem vocat unum convenien- 
dum VI, 10; quare nunc ad vos misi me conveniendos 
XV, 50.“ 

Eine schlagende Parallele scheint mir Commod. instr. 2, 1, 46: 
(quos) in variis poenis cruciabat sibi credendos. Dombart 
erklärt sibi credendos als ut sibi crederent und verweist auf 
Koffmane S. 127: „Eine Reihe intransitiver Verba formieren 
ein Partizip. Futuri nicht mit der aktiven, sondern mit der 
passiven Endung. So permanenda elementa statt permansura: 
Philastr. 80. Derselbe c. 80 dreimal pereunda elementa und 
pereunda semina; c. 134 pereundam vitam usw." Ob Dombart 
sibi credendos richtig erklärt, steht dahin. Sicher aber ist, 
daB unser ad vos misi me conveniendos genau ebenso kon- 
struiert ist und auch bedeutet: ut conveniretis. Nur will mir 
scheinen, daB der oben nachgewiesene Gebrauch des finalen 
Gerundivums auch zur Erklärung dieser Stelle ausreicht. — 
Nur Vers V, 153 làBt vielleicht noch eine andere Deutung zu. 
Convenire aliquem wird ja im Kirchenlatein auch — admonere 
aliquem gebraucht. Auf diesen Bedeutungswandel achten die 
Indices des Wiener Corp. script. eccl. lat. 

Was die Verwendungen des abl. gerundii angeht, so wären 
Seilers Ausführungen S. 126 höchstens dahin zu berichtigen, 


Zum Latein des Ruodlieb 513. 


daß alle diese Erscheinungen bereits im Spätlatein vorliegen, 
worüber u.a. besonders Koffmane S.126fl. zu vergleichen 
ist. — Abschließend dürfen wir feststellen, daß unser Gedicht 
im Gebrauche des Gerundiums und Gerundivums keine Ger- 
rnanismen aufweist. 

Consilium transgredi I, 115. — Die Wendung wird 
von Seiler S. 139 als „geradezu unlateinische Übersetzung“ 
gebucht und durch das deutsche gebot, rat übergan glossiert. 
Schon der Georges belehrt darüber, daß transgressio = „Über- 
schreitung eines Gesetzes“ bei Augustin und Ambros., und 
transgressor = „der Ubertreter“ bei den Eccl vorkommen. 
Vulg. Matth. 15,2: quare discipuli tui transgrediuntur tradi- 
tionem seniorum? 15,3: quare et vos transgredimini manda- 
tum dei propter traditionem vestram ? Commod. Instr. 2, 17, 19: 
transgrederis legem; Lucif. Calar. p. 218, 29: transgressus est 
testamentum meum; 214, 11: quia transgressus est testamentum 
domini. Das Substantiv transgressor begegnet z.B. Vulg. 
Ies. 53, 12: pro transgressoribus rogavit; Iac. 2, 11: factus es 
transgressor legis; 2,9: redarguti a lege quasi transgressores. 
Ebenso Cypr. I p. 404, 27; Cassian. Poll. 17,30, 1 u. 21, 6. 
Das Substantiv transgressio steht z. B. Vulg. Gal. 3, 19: lex 
propter transgressiones posita est. Sehr oft bei Tertull. (Hoppe 
S. 125). Cypr. I p. 409, 16; 551,21; Oros. Apoll. p. 646, 18; 
Ennod. p. 313,16; 481,13; 494,7; Cassian. Coll. 6, 11, 11; 
8, 22; 11,8, 5; 17,10; Beda h. eccl. p. 115, 17. 

Subire = descendere I,57. — Auch dies nach Seiler 
eine „geradezu unlateinische Übersetzung". Doch habe ich 
den Gebrauch wenigstens einmal gefunden bei Beda h. eccl. 
p. 247, 16ff.: Trahentes autem eos maligni spiritus descenderunt 
in medium baratri illius ardentis; factumque est ut cum 
longius subeuntibus eis fletum hominum et risum daemoniorum 
clare discernere nequirem, sonum tamen adhuc promiscuum 
in auribus haberem. Interea ascenderunt quidam spirituum 
obscurorum. ... Diese Bedeutung scheint selten zu sein, kann 
Sich aber aus der Grundbedeutung des Wortes ,,dicht an etwas 
heran-, daruntergehen“ ebenso leicht entwickeln, wie die um- 
gekehrte und üblichere „heraufsteigen“ . — Wahrscheinlicher 
aber ist mir, daB subire hier, wie auch sonst bei unserem Dichter, 
einfach etwa im Sinne von adire gebraucht ist. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 33 


514 Hans Ottinger 


In cras induciare. — Häufiger ist zwar in crastinum, aber 
wie andere Adverbia im Spätlatein mit Präpositionen ver- 
bunden werden, so auch die Zeitadverbia hodie, cras, sero, 
mane, nunc, tunc usw. Reiches Material findet sich bei Kaulen 
S. 289 und Rónsch S. 231. Für cras ist noch der Thes. zu ver- 
gleichen. 

In cras findet sich Symm. ep. 3, 13, 1: in cras es mihi attra- 
hendus. Ähnlich sagt Mart. 2, 37, 1: cras te, Caeciliane, non 
vocavi, wozu der Thes. mit Recht bemerkt, daB cras hier — in 
cras steht. Ungleich häufiger finde ich den Gebrauch bei hodie, 
z. B. Peregrin. Aeth. c. 2, 2: qui locus usque in hodie ostenditur; 
4, 2: spelunca in hodie ibi ostenditur; 4, 6: qui rubus usque in 
hodie vivet; 5, 3: nam in eo loco fixus est usque in hodie lapis 
grandis; Ebenso 5, 5; 8, 1; 10, 4; 12, 2, 5; 15, 3; 16, 1, 6; 19, 1, 12; 
21, 1. Hist. Apoll. p. 102, 7: quam ad nos expoliandos usque 
hodie depressit. Sehr häufig ist usque hodie in der Kirchen- 
geschichte Bedas, 2z. B. p. 7, 38; 8, 3 usw., ich habe es über 
dreißig Mal gezählt. Oft auch bei Gregor. Turon. Vgl. die ganz 
ähnlichen Wendungen Peregrin. Aeth. c. 37, 8: usque ad sero; 
27, 4: usque ad mane; 27, 7: usque in mane u. ó. Vulg. Luc. 22, 
69: ex nunc; Gen. 2, 23: hoc nunc = abl. = „diesmal“; Ps. 112, 
2: ex hoc nunc; Ies. 48, 3, 5, 6, 7, 8: ex tunc; Matth. 26, 16: ex 
tunc quaerebat opportunitatem; Ps. 92, 2: parata sedes tua ex 
tunc; Beda h. eccl. p. 224, 26: qui nunc usque superest. Wie 
mane als indeklinables Neutrum gebraucht wird (Hor. sat. 1,3,18: 
ad ipsum mane; Vulg. ex. 18, 13: a mane usque ad vesperam; 
4. reg. 3, 20: factum est igitur mane u. ó. vgl. Kaulen S. 35), 
so auch sero (z. B. Vulg. Matth. 27, 57 cum sero autem factum 
esset), und auch eras wird so behandelt. 

Über den substantivischen Gebrauch von cras besitzen wir 
zwei antike Grammatikerzeugnisse: Prisc. gramm. II, 552, 9: 
adverbium loco nominis ut mane novum et sponte sua et euge 
tuum et cras alterum. Und Pomp. gramm. V, 136, 3: adverbia 
ponis pro nominibus.. si dicas cras mane item quo modo dicit 
Persius (5, 66 ff.) aliud cras. aliud cras, si habet genus, sine 
dubio nomen est. Martial hat 5,85 viermal cras istud. Vulg. 
Tob. 8, 4: deprecemur hodie et cras et secundum cras; Prud. 
psych. 617: nonne vides, ut nulla avium cras cogitet? Aug. 
serm. 61, 2: transibit hodie transit et cras et aliud cras addes ad 


Zum Latein des Ruodlieb 515 


crastinum; 22, 5, 5: ab hodierno die te muta, cras te alterum 
inveniet. 

Sine fraude. — Seiler S. 138: ‚sine fraude käme schwerlich 
so oft vor (V, 39; VI, 101; XVI, 86), wäre nicht ane falsch so 
gewóhnlich gewesen." Die Wendung findet sich auch bei Com- 
mod. instr. 2, 23, 18: sine fraude vivendo, während 2, 15, 7 das 
positive fraudibus vivere vorkommt. Ennod. p. 454, 15: cui 
proprium sine fraude servivit ingenium; Carm. II, 45, 16: hoc 
satis est nobis quod sine fraude libet. — Die Wendung ist also 
nicht unlateinisch und kommt im Kirchenlatein, das im übrigen 
unseres Dichters Vorbild ist, wiederholt vor. Wo es aber nicht 
unbedingt nötig ist, einen Germanismus anzunehmen, da halte 
ich es für falsch. | 

Ieiunia frangere. — Von Seiler S. 139 durch das deutsche 
„die vaste brechen“ glossiert. Nun sagt aber Cic. Rosc. com. 16: 
fidem frangere — sein Wort brechen. Und Scaur. 42 sowie Pis. 28 
hat er foedus frangere — die Abmachung brechen. Hor. hat 
nach Georg.: mandata frangere, und derartiges ist auch im Spät- 
latein nicht selten: beide Sprachen bedienen sich zufällig des- 
selben Bildes. Für unseren Dichter ist mit fidem, foedus frangere 
ohne weiteres auch ein ieiunium frangere gegeben. Ähnlich ist 
z. B. im Aesop. d. Rom. rumpere gebraucht; p. 177: rupit spon- 
sionem; 208: pacem rupere; 237: rupit iuramentum. 

Cremare,incendere. — Seiler S. 139: ,,cremare und incen- 
dere mit persónlichem Objekt bedeutet IV, 97 und VI, 6 meto- 
nymisch jemandes Haus verbrennen, im Lat. kommt ähnlich 
nur ardere vor.. während „einen brennen, verbrennen“ nicht 
gerade selten ist in der Bedeutung „durch Brand schädigen“. 

Die Verba cremare und incendere haben im Spätlatein ihre 
Bedeutung stark erweitert. Incendere aliquem heißt allmählich 
überhaupt „jemanden grausam martern, quälen“, eine Be- 
deutungserweiterung, die auch von cremare und concremare 
angenommen wird. Vict. Vit. 2, 24: cremantes gravi suspendio 
atque ingentia pondera pedibus conligantes lamminasque ferri 
dorso, ventri, mamillis et lateribus adponebant. quibus inter 
supplicia dicebatur... Das cremare meint also hier die supplicia, 
das Aufhängen usw. Ebenso 3, 26: dum in conspectu vulgi con- 
tinuato suspendio cremaretur. Petschenig erläutert denn dieses 

cremare im Index auch richtig durch cruciare. Ebenso deutlich 


33* 


516 | Hans Ottinger 


3, 21: addidit itaque bestia illa, sanguinem sitiens innocentum, 
episcopis.. tortores crudelissimos destinare, ut nulla remansisset 
domus et locus, ubi non fuisset eiulatus et luctus, ut nulli etati, 
nullo parceretur sexui.. Hos fustibus, illos suspendio, alios 
ignibus concremabant: also tortores besorgen das concremare 
mit Knute, Strick oder Feuerbränden. Ähnlich gebraucht Victor 
auch incendere — ignibus cruciare (Petschenig Ind.), z. B. 1, 10; 
2, 1; 2, 14; 2, 15: uxorem cum alia... in medio civitatis incendit. 
Quarum corpora per vicus et plateas trahi mandavit, quae to- 
ta die iacentia.. vix vespere sepeliri concessit. Die Frauen sind 
also nicht verbrannt, sondern sie sind gemartert worden. Eben- 
so 2, 16. 

Wenn also der Rote Ruodl. VI, 6 den Bauern, die ihn ver- 
prügelt haben, das incendere androht, so meint er offenbar: „Ich 
will euch bei lebendigem Leibe braten, das Fell über die Ohren 
ziehen!“ Und wenn IV, 97 die Feinde ihre Gefangenen incendunt 
so will das offenbar heißen, daß sie dieselben gemißhandelt haben. 

Übrigens hat incendere schon frühe auch eine etwas anders 
gefärbte allgemeine Bedeutung angenommen, die Georges durch 
„verderben, zugrunderichten‘ umschreibt. So z.B. Plaut. 
Trin. 675: si istuc, ut conare, facis, indigne tuum incendes genus; 
Sall. Cat. 52, 24: coniuravere nobilissimi cives patriam incendere; 
Stat. Theb. 1, 631: campos incendere — brandschatzen, ebenso 
Vulg. 4. reg. 8, 12: dixit inimicus incendere fines meos. 

Stare. — Seiler S. 139: „Zahlreicher sind die geradezu un- 
lateinischen Übersetzungen: stare a) stehen: os stat patulum 
VII, 13; ähnlich V, 357; sua res stet = sin dinc stat X, 2; omnia 
stant X, 62, 63; ira stat durabilis V, 453; in fine brevis stat, 
epistula V, 250." Weitere Angaben finden sich im Glossar. — 
Das Kapitel stare ist der dritte Grundpfeiler der Germanimen- 
theorie. | 

Hátte Seiler alle vorkommenden Verwendungen von stare 
. vorgelegt, so würde der Leser leicht erkennen, daB es hier mit 
der Annahme von Fehlern und Germanismen nicht getan ist, 
sondern daß eine ganz andere ratio zugrunde liegt: Die poetische 
wie die volkstümliche Sprache — beide in dem Bestreben nach 
lebendiger, sinnfälliger Ausdrucksweise — verwenden das Ver- 
bum stare oft statt irgend eines blasseren Ausdrucks (vgl. Loefst. 
Glotta III, 182). Das ist schon in sehr alter Zeit der Fall, z. B. 


Zum Latein des Ruodlieb 517 


bei Lucr. II, 181: tanta stat praedita culpa; Prop. 3, 19, 20: 
infamis stupro stat Pelopea domus; 3, 22, 22: nam quantum 
ferro, tantum pietate potentes stamus. Besonders beliebt aber 
ist das malerische stare im Spátlatein, wo es meist geradezu für 
esse steht (vgl. Rónsch S. 388). Dieser Tatbestand hat ja bekannt- 
lich in den Stammformen von être seinen klaren Ausdruck 
gefunden. Auch Seiler erklärt im Glossar, wenn er keinen ent- 
sprechenden deutschen Ausdruck zur Hand hat, stare — esse. 
Das lateinische stare und das deutsche stehen haben eben eine 
gleiche Entwicklung durchgemacht: beide werden gern statt 
des farblosen „sein“ verwendet, Eine Reihe von Beispielen zur 
Erläuterung: : 

Apul. met. 11, 27: nec diu res in ambiguo stetit; 2, 4: colum- 
nis per singulos angulos stantibus; 3, 11: ut in aere stet imago 
tua; Vulg. Matth. 18, 16: ut in ore duorum testium vel trium 
stet omne verbum; 24, 36: stare (bestehen) ante fllium hominis. 
Ioh. 8, 43: in veritate non stetit; Rom. 5, 2: gratia in quastamus; 
14, 9: stabimus ante tribunal dei; 1. Cor. 16, 13: state in flde; 
2. Cor. 1, 24: fide enim statis; Ephes. 6, 11: stare adversus in- 
sidias diaboli; 13: in omnibus perfecti stare. 14: state ergo in 
veritate*!; Cypr. p. 225, 23: stat mundus non illis viribus quibus 
prius steterat; 217, 2: stare et vivere; 762, 6: stant omnia (von 
Hartel erklärt = omnia rata sunt, also eine genaue Parallele 
zum stant omnia unseres Dichters!); 300, 14: stare in sermonibus 
suis ; 230, 4: in fide stare; 538, 20: in eodem consilio stare; 444, 5: 
stare contra Christum u. ó. Ennod. carm. 2, 27, 1: stante domo 
(naeh Hartel — dum sui vivunt; vgl. Ruodl. sua res stat usw.). 
Cassian. coll. 4, 10, 3: secundum illud stare non posse; 5, 24, 2: 
quae figura in nobis quoque stare cognoscitur; 13, 12,1: quo- 
modo stabit domini sententia; 23, 15, 1: in illorum persona hoc 
penitus stare non posse; 16, 5: quod perpetua amicitia nisi inter 
perfectos stare non possit. 16, 11, 2: in alterius magis quam suo 
credat stare iudicio; Nest. 6, 17, 2: nec stare potest ratio resur- 
rectionis, nisi.. Lucif. Calar. p. 138, 27: illa circa te stare peri- 
cula; 301, 27: stat semper gladii acies parata (, steht bereit“ vgl. 


*! Philipp. 1, 27: statis in uno spiritu; 4, 1: state in domino. 1. Tess. 3, 8: 
statis in domino; 2. Tess. 2, 15: state et tenete traditiones; 2. Tim. 2, 19: firmum 
fundamentum dei stetit; 1. Petr. ö, 12: in qua (gratia) state; Apoc. 6,17: quis 
poterit stare; 12, 4: dracho stetit ante mulierem. 


518 Hans Ottinger 


Ruodl. os stat patulum usw.!); Commod. A. 925: stat tempus 
in finem fumante Roma maturum = steht reif; Instr. 2, 14, 1: 
de semine lolii qui stant in ecclesia mixti = das Unkraut „steht“; 
Peregrin. Aeth. c. 2, 2: lapis grandis ibi fixus stat in ipso loco; 
12, 7: ubi stetit columna illa; Petr. Diac. p. 109, 14: in eadem 
vero valle stetit palma; Anton. Placent. Itin. p. 167,6: stat 
aqua; 168, 3: mittitur illuc alia infantula, ut numerus stet; 
170,1:stat in ipso statu in quo fuit (stareund esse nebeneinander); 
170, 21: ficulnea cuius talea stat munita petris; 168, 14: domus 
Raab stat; 171,2: cuius liminare et tabulatio stat; 172, 20: stella 
stat super ea = der Stern, „steht“; Adamnan. p. 232, 6: altare 
ante ostium stans; 233, 11: lignea crux infixa stetit; 239, 13: 
columna in medio civitatis stans; 239, 21: solis claritas in aestivo 
solstitio meridianis horis stantis = die Sonne „Steht“; 246, 12: 
ubi grandis ecclesia stat; 264,16: ubi sacerdotum steterunt 
pedes; 266,7: ecclesia stat super aquas; Ven. Fort. 5, 5, 153: 
qui tuus, ipse meus stat conditor; 9, 2, 84: stat modo pressus 
humo; 10, 8, 26: stes placitura deo; 11, 2, 6: te celante mihi stat 
sine sole dies; 7, 12, 192: longa stante die; Veget. epit. rei mil. 
p.51,1: revertebantur ad suos et post eos stabant; 150,15: 
apud Misenum singulae legiones stabant; 151, 3: Liburnis autem 
quae in Campania stabant praeerat; 15, 19: acies stabat inmota; 
51,6: gravis armatura tamquam murus ferreus stabat — stand 
wie eine Mauer; 98,4: stando pugnandoque repellere; 60,8: 
ante quarum impetum nec equites possunt hostium stare; 108, 7: 
qui contra ipsum stat — gegenübersteht; 116, 14: procugnacu- 
lum quod tribus radiis stat ; 23, 18: qui priores steterant — vorne 
stehen; Avienus 2, 206: sidus stat; 1512: calida stat luppiter 
aethra; 3, 1173: stat disclusa palus; 4, 453: brevisque iuxta 
' Strongile stat insula; 495: hinc Minervae stat sacra; 3, 106: 
scopuli stant ardui utrimque; 200: vicina sibi stant litora; 4, 341: 
stant columnae; 555: qua pinifertae stant Pyrenae vertices ; 581: 
tres stant insulae; 2, 881: hominem quadrupes sustollit equino 
ventre super stantem (vom Kentauren); 4, 513: oppidum quon- 
dam stetit — eine Stadt „stand“; 438: in isto litore stetere 
crebrae civitates antea; 447: urbes hic stetere plurimae u. 0. 
(vgl. Holders Ind.) Beda h. eccl. p. 95, 4: parietes hactenus stare 
videntur; 120, 21: columna lucis a carro illo ad caelum usque 
porrecta stabat; 229, 15: tantum in circuitu horridi crines stare 


Zum Latein des Ruodlieb 519 


videbantur =rundherum standen Haare; 275, 37: luna stetit 
in ordine suo (vgl. Habac. 3, 11: sol et luna steterunt in habita- 
culo suo); 257, 19: cuius pars minor ante ostium stat; Boetius 
p. 130, 11: altrinsecus duo tetragoni stant — auf dem Papier 
„stehen“; 374, 14: recta linea super rectam lineam stans ; ebenso 
17 ; Ioh. Mon. 34, 4: Cyborium autem quod stat super mensam — 
auf dem Tische „stehen“; 76, 27: ubi lapis steterat; Hist. sept. 
sap. I p. 20, 1: videns eum stantem in arbore; 22, 6: stans in 
ipso ardore — in Glut stehen. 

Stare —treten. — Ruodl. XVII, 23 ad fenestellam stare 
glossiert Seiler S. 139 durch zuo dem venster stan. Im Glossar 
führt er weitere Belege für stare — treten an, z. B. VIII, 21: 
qui dum venerunt coram rectore steterunt; 15,6: quae cum 
venisset hanc hi circumque stetissent usw. und fügt in Klammern 
hinzu „oft Germanismus"'. 

Ob stare wirklich eine Bewegung ausdrückt, läßt sich oft 
nicht mit Sicherheit entscheiden. Wenn es XVII, 22 heißt: ab 
eo properando recedit adque fenestellam stans solvit pixeden 
illam, so kann das natürlich auch heißen: „sie verließ ihn und, 
am Fenster stehend, löste sie das Päckchen.“ Ebenso steht es 
mit den anderen Beispielen. Ich würde also die Bedeutung 
Stare — treten überhaupt anzweifeln, wenn mir nicht neben 
vielen zweifelhaften auch einige sichere Belege aus dem Spät- 
latein bekannt wáren, die es nun ihrerseits wahrscheinlich 
machen, daB auch im Ruodl. stare tatsächlich gelegentlich 
„treten“ bedeutet. 

Gesichert erscheint die Bedeutung „treten“ in Zusammen- 
hängen wie Vulg. Luc. 6, 8: surge et sta in medium, et surgens 
stetit; Aesop. d. Rom. p. 266: iubet omnes simios adstare ante 
se.. taliter ante se eos stare fecit; 282: vulpes autem veniens 
ante speluncam stetit et salutavit eum; 286: puer in silva.. 
Stetit super quendam lapidem; Ioh. Mon. p. 99, 7: praecepit 
educere latronem et ante se stare; Leo de proel. p. 69, 25: movit 
se inde cum toto exercitu. ex adversa parte stetit ante Alexan- 
drum et coepit acriter pugnare; 71, 6: (venit ad fluvium) stetit 
ante eum homo et dixit; 85, 24: abiit occidere Alexandrum; 
mixtus militibus suis stetit post tergum Alexandri; 93, 11: tunc 
ascendit Alexander equum.. et occurrit et stetit in medio ante 
omnes; 105, 22: stetit solus ante hostem et locutus est Poro regi; 


520 Hans Ottinger 


127, 23: surrexerunt a mensa et quamvis forinsecus steterunt, 
ut viderent finem; Hist. sept. sap. I p. 23, 1: extrahe arma et 
sta iuxta portam. Ähnlich adstare = herantreten, z. B. Beda 
h. eccl. p. 231, 9: adstans dixit orationem super illam; 213, 35: 
vidi adstantem mihi subito quendam. — Ja, adstare kann sogar 
ganz wie das deutsche ,,beistehen'' eine Hilfeleistung ausdrücken, 
z. B. Ioh. Mon. p. 89, 4: deus, qui astas mihi in hac hora. 

Wahrscheinlich drückt stare die Bewegung nach einem Ort 
aus. Vulg. Ioh. 20. 19: venit Iesus et stetit in medio discipulorum ; 
20, 26: venit Ihesus ianuis clausis et stetit in medio. Marc. 11,25: 
cum stabitis ad orandum, dimittite si quid habetis adversus 
aliquem (, etwas gegen jemanden haben“); Act. ap. 25, 10: ad 
tribunal Caesaris sto. Ibi me oportet iudicari; Apoc. 8, 3: venit 
et stetit ante altare; Ammian. Marc. 30, 3, 4: ad ipsam margi- 
nem Rheni stetit (auch von Lisenberg S. 8 so aufgefaßt); Ioh. 
Mon. p. 75,13: venientes ad quendam lapidem magnum et 
planum super illud posuerunt panem.. Et steterunt ante illud. 
Dagegen bedeutet stare oft „stehen“ trotz eines folgenden ad, 
das-eben auch die Ortsruhe bezeichnet, so z. B. Vulg. Ioh. 18, 18: 
stabant autem servi et ministri ad prunas quia frigus erat, worauf 
es eindeutig: erat autem cum eis et Petrus stans heißt; 18, 16: 
Petrus autem stabat ad ostium foris; 20, 11: (Maria) stabat ad 
monumentum foris plorans. Interessant, weil wörtlich mit 
Ruodl. XVII, 23 übereinstimmend und doch nicht „treten“ 
bedeutend: Discipl. cler. p. 20, 19: mulier sua.. ascendit fe- 
nestram et euntes et regredientes intente aspexit. Haec una die 
cum ad fenestram staret (= „stand“, weil es sich um das erhöhte 
Fenster des Erdgeschosses handelt, zu dem man erst ascendere 
muß, um auf dem Sims „stehen“ zu können), vidit quendam 
iuvenem... R 

Auch das Kapitel stare, das dritte Haupt- und Kernstück 
Seilers, bringt uns die Erkenntnis, daB die Germanismenhypo- 
these verfehlt ist. 

Constare. — Anschließend muB noch ein Germanismus 
aus der Welt geschafft werden, mit dem Laistner (Anz. f. d. A. 9) 
das Register Seilers bereichert hat. Ruodl. IV, 201: Sed timeo, 
domine, quod mox irasceris in me, Si fortuna iuvet, mihi quod 
victoria constet. Seiler konstatiert im Glossar einfach: constare 
— zuteilwerden. Laistner aber vermutet hinter constare das 


Zum Latein des Ruodlieb 521 


deutsche einem gestan. Wie aber stare von der Sprache der 
Dichter und des Volkes &ern statt eines blasseren Ausdrucks 
gebraucht wird, so auch exstare und constare, vgl. auch hierzu 
Loefstedt Glotta III, 182: Auch dieser Gebrauch ist schon sehr 
alt, z. B. Lucr. 1, 245: inter se quia nexus principiorum dissi- 
miles constant aeternaque materies est. Besonders häufig aber 
im Spätlatein, z. B. Eugipp. V. S. p. 27, 9: dum adhuc Norici 
ripensis oppida superiora constarent ; 38, 14: per id temporis quo 
Romanum constabat imperium. Oft bei Ennod. (vgl. Hartels 
Ind.) z. B. p. 377, 16: quibus inmanior apud suos poterat constare 
calamitas, hier auch etwa = zuteilwerden ; 233, 16: dubitationem 
de rebus constantibus non haberes; Carm. 2, 5, 5: viduata tibi 
sic constitit aetas; 1, 5, 24: viduamque domum constante (= 
vivo) marito reddebant; Ven. Fort. 9, 1, 99: cui simul arma 
favent et littera constat amore; 11, 16, 16: alterius facinu$ ne 
mihi constet onus; Ioh. Mon. p. 49, 10: in vico quodam qui octo 
milibus constat a nostra civitate. Dies ist (neben dem unpersón- 
lichen constat) die häufigste Verwendung von constare im Spät- 
latein. Zu vergleichen ist auch Aesop. d. Rom. p. 174: cessabant 
quadrupedes et stetit victoria avium. Ganz ähnlich Eugipp. 
p. 64, 13: ex qua parte stet victoria, wórtlich ebenso Zeile 14. — 
Victoria mihi constat heißt nach spätlateinischem Sprach- 
gebrauch etwa: „der Sieg gehört mir, wird mir zuteil.“ Möglich 
bleibt allerdings auch, daß eine Analogie zu sibi constare = 
„Sich treu bleiben“ vorliegt und victoria mihi constat also be- 
deutet „der Sieg bleibt mir treu, bleibt mir fest“. 

Propria ancilla V, 476. — Seiler sieht S. 139 in dem Aus- 
druck eine „geradezu unlateinische Übersetzung“ und vergleicht 
das deutsche „eigen diu“. Vgl. XI, 81: servus proprius. 

Die erste Stelle lautet im Zusammenhang: Ancillam pro- 
priam quamvis nimium speciosam non velut uxorem facias tibi 
consocialem, ne contemnat te tibi respondendo superbe. Seiler 
faßt diese Lehre offenbar so: „Heirate keine leibeigene Dirne 
(denn die taugen alle nichts).“ Dem Zusammenhange nach kann 
man die Lehre aber auch so auffassen: „Laß dich mit deiner 
eigenen Magd nicht in Verhältnisse ein (velut uxorem), denn das 
untergräbt die Autorität.“ Oder aber, wenn man dem velut 
keine besondere Bedeutung zumessen will: „Heirate niemals 
deine eigene Magd, denn das steigt ihr zu Kopfe.“ Propriam 


522 Hans Ottinger 


ancillam wäre also =tuam ancillam. Und damit kommen wir 
auf den Kern der Frage. Es gehört nämlich zu den Eigentüm- 
lichkeiten des Spätlateins, betontes suus oder tuus durch pro- 
prius zu ersetzen. Und natürlich ist die Entwicklung hierbei 
nicht stehen geblieben, sondern man hat proprius auch bald 
statt eines beliebigen unbetonten suus oder tuus gebraucht. 
Daß auch unser Dichter diesem Gebrauch folgt, zeigen III, 17; 
V, 222; V, 540; X, 11. Aus der Fülle von Beispielen: 

Eugipp. V. S. p. 2,17: imperitiam propriam accusando; 10,6: 
reverti ad propria; 14, 10: salute propria desperantes; 22,4: 
remisit ad propria; 27, 24: propria manu; 32, 13: propriis mani- 
bus; 44, b: sedes proprias relinquentes; 45, 21: propria manu, 
ebenso 55, 18; 56, 13: aliena quasi propria errata deflens; 59, 15: 
remeavit ad propria; 63, 10: ad propria revertisse u. 0. Avien. 
2, 85: ponderis et proprii (Eigengewicht) tradit incliniatio cae- 
lum; 431; 1031; 1349; 1709; Veget. epit. rei mil. p. 59, 19: pro 
salute propria et libertate communi; 66, 5: magis propria multi- 
tudine quam hostium virtutes; 45,7; 152,9, 87,15; 46,3: 
ceteros ad imitationem proprio cohortarentur exemplo u. ö. 
Vict. Vit. p. 75, 12: de proprio ablati in exilium mitterentur; 
Anton. Placent. p. 201, 27: manu propria seminavit; Adamnan. 
p.229,8: propria mensus est manu, ebenso 234,22; 235,8; 
235, 21: propriis conspexit obtutibus, ebenso 257,6; 296, 11; 
262, 6: propriis conspexit oculis — mit eigenen Augen; ebenso 
241, 3; 288, 11; 295, 15; 295, 2: proprii stercus ventris; 296, 13: 
proprii aurium audivit auditibus; Ioh. Mon. p. 6, 7: ad pro- 
priam domum reverti; 41, 10: cum non haberes propriam uxorem, 
62, 2: propriam matrem non iniuratus es; 67, 14: propriis mani- 
bus, ebenso 67, 29; 82, 7: veniens ad propriam cellulam; 91, 6: 
propriam uxorem; 92, 8; 98, 12: mulier non habet proprii cor 
poris potestatem. Aus Iordan. Get. bringt Werner S. 129 eine 
größere Anzahl Beispiele. Boet. 8, 3: in propria semper vi (se 
custodiunt) — durch eigene Kraft. 

Induere se V, 575. — Seiler sagt S. 139: „induere se abso- 
lut —sich anlegen Nib. 516,1. Nith. 37, 7 (vgl. auch sich 
kleiden)." — Der absolute Gebrauch von induere und exuere 
kommt im späten Latein wiederholt vor. Eine genaue Parallele 
bietet schon Petron. 62: ille exuit se et omnia vestimenta secun- 
dum viam posuit. Ähnlich Vict. Vit. III, 35: priusquam exuere- 


Zum Latein des Ruodlieb 523 


tur = bevor er entkleidet wurde. Es liegt eben Ellipse des 
psychologisch selbstverständlichen vestem vor. Auch induere 
aliquem ohne vestem = jemanden ankleiden kommt vor: Ioh. 
Mon. p. 62, 34: tu autem reindue me sicut me invenisti. cum 
vero induissem eam, statim reclinavit se. 89, 21: cum autem 
induisset eum frater; ib. 32: cum enim induerem eum; 39, 5: 
nudos induis; 109, 25: exuens eum. 

In toto mundo VI, 68; XV,80; nach Seiler S. 139 eine 
„geradezu unlateinische Übersetzung". — Vulg. Matth. 26, 17: 
evangelium in toto mundo dicetur; Ioh. Mon. p. 3, 10: in toto 
mundo praedicantes; Leo de proel. p. 119, 10: in toto mundo; 
Discipl. cler. p. 32, 40: in toto mundi ambitu. Vulg. Rom. 1, 8: 
in omni mundo; Coloss. 1, 6: in universo mundo. 

Via vadit per villam V, 612; Seiler vergleicht ,,der. wec 
gat“. — Das volkstümliche Spätlatein verbindet via gern mit 
einem konkreten bildlichen Ausdruck des Gehens oder Steigens: 
Anton. Placent. Itin. p. 179, 10: via quae vadit in Gaza; 175, 5: 
platea quae discurrit ad Silvam fontem; 181, 1: caput heremi 
qui vadit ad Sina; 176, 18: ad viam, quae respicit ad occidentem, 
quae descendit ad Ioppe; Vulg. Act. ap. 8, 26: viam quae des- 
cendit ab Hierusalem in Gazam; Peregrin. Aeth. c. 14, 3: via 
quam videtis transire inter fluvium Iordanem et vicum istum; 
Sedul. (Huemer) S. 229, 14: semitam.. quae.. subit arduam 
latenter ad portam. 

Mox ut VIII, 107. Seiler vergleicht S. 140 „also schiere.“ 
Über mox = simulac und andere als Konjunktionen verwendete 
Adverbia vgl. Loefstedt Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 289; über 
mox ut, iam ut usw. vgl. Schmalz Synt. S. 572 Anm. 1. 

Paulin. Nolan. 26, 314: mox ut sustulerat; Oros p. 71, 13: 
mox ut adolevit; 89, 3; 345, 14; 391, 14; 394, 14; 401, 1; 
481, 9; Ennod. p. 345, 22: mox tamen ut portas ingressus est; 
377, 13; Lucif. Calar. p. 37, 20: mox ut inimicum suum videt; 
38, 13: mox ut ascendit; 52, 9; 158, 19; 170, 25; 207,6; 162, 19; 
Vulg. Philipp. 2, 23: mox ut videro; Hist. Apoll. p. 60, 13: mox 
cum de schola venerit; 98, 2: statim ut; Peregrin. Aeth. c. 3, 6: 
iam ut exiremus; 35, 2: statim ut manducaverint; Anton. Pla- 
cent. p. 185, 29: mox luna introierit; Beda h. eccl. p. 4, 7: mox 
ut consummare potui; 8, 11; 65, 23; 69, 27; 91, 39; 92, 18; 122, 6; 
202, 15; 213, 30; 243, 19; 252, 19; 94,18: mox ubi, ebenso 


524 Hans Ottinger 


106, 15; 165, 20: statim ut. Häufig auch bei Gregor. Turon. vgl. 
Bonnet S. 320. Hist. sept. sap. I p. 20, 32: mox ubi vidit. 

Plenissime dicere XVII, 62. Seiler S. 140 vergleicht 
„volsagen“ . — Pleniter, plenius und plenissime sind in der- 
artiger Verwendung im Spätlatein durchaus üblich. — Hist. 
Apoll. p. 23, 3: ut plenius misericordiae suae satisfaceret; 
102,8: plenius gratias referat; Cypr. I p.373, 13: plenius 
consulatur; 537, 3: plenius cognovi; 489, 2: plenissime instruerer; 
616,11: machinas plenissime instrueret; 570,7: tractaturi 
plenissime de omnibus; Oros. p. 42, 6: haec plenius proferantur, 
ebenso 45,11; 154,7; 369,11: historiam plenissime explicuit ; 
Ennod. p. 139, 6: exorare pleniter; Lucif. Calar p. 84, 4: ut 
plene videre possis; 191,2: plenissime examinari; Commod. 
A. 482: plenius ostendere; 655: plenius demonstraret; Veget. 
epit. rei mil. p. 33, 1: plenissime clementiam vestram peri- 
tissimeque retinere; 75,11: itineraria omnium regionum ple- 
nissime debet habere perscripta; Beda h. eccl. p. 106, 26: 
non plene secundum scientiam; 107,17: linguam iam plene 
didicerat; 133,39: plenius scire; Ioh. Mon. p. 38, 6: pleniter 
scriptum est. 

Omni sine tegmine VIII, 80. — In der Umgangssprache 
gebrauchte man schon in frühester Zeit nach sine auch omnis, 
worüber Krebs-Schmalz Antib. II, 211 und Brix zu Plaut. 
Trin. 338 unterrichten. Plaut. Trin. 338: quia sine omni mali- 
tiast; 621: sine omni cura dormias; Aulul. 215: sine mala 
omni malitia; Ter. Andr. 391: sine omni periclo. Aus dem Spät- 
latein habe ich mir notiert: Vict. Vit. p. 55, 16: sine omni in- 
firmitate; Ioh. Mon. p. 128, 35: sine omnibus bonis; Discipl. 
cler. p. 28, 37: absque omni incommodo. 

Vinum de quo bibit VII, 20. — Schon im Altlatein kann 
statt des Genetivs de eintreten, z. B. Cato agr. I, 158: addito 
de perna frustum. Im Spätlatein breitet de sich so aus, daß 
der partitive Genetiv schließlich ganz verschwindet, vgl. Schmalz 
Synt. S. 407, Loefstedt Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 106, 
Hoppe S.38. Die Beispiele sind Legion: Vulg. 2. Tim. 2, 6: 
de fructibus accipere; Act. ap. 2,17: effundam de spiritu meo 
ebenso 2,18; 1.ep. Ioh. 3,24: manet in nobis de spiritu; 
4,13: de spiritu suo dedit; Apoc. 21, 6: sitienti dabo de fonte; 
Peregrin. Aeth. c. 3, 6: dederunt nobis eulogias, id est de pomis; 


Zum Latein des Ruodlieb 525 


5, 7: ubi de spiritu Moysi acceperunt; Beda h. eccl. p. 119, 11: 
tulit itaque de pulvere terrae illius secum; 124, 27: habeo de 
ligno; 128, 19: misit de oleo; 140, 40: de cibis illius acciperent; 
232, 13: miserat de aqua benedicta. — Petron 66: de scriblita 
quidem non minimum edi, de melle me usque tetigi und weiter 
unten: de quo cum gustasset; Apul. met. 10, 26: de potione 
gustavit ampliter; Vulg. Matth. 15, 27; edunt de micis; 1. Cor. 
9, 7: de fructu eius non edet? de lacte gregis non manducat? 
11, 28: de pane illo edat et de calice bibat; Apoc. 2, 7: dabo ei 
edere de ligno vitae; 18, 3: de ira fornicationis eius biberunt; 
14, 10: biberit de vino irae; 1. Cor. 10, 3: bibebant de spiritali 
petra; bibere de finde ich noch bei Adamnan. p. 270, 17; 272,3; 
273, 8; 235, 4; Anton. Placent. p. 163, 1; Peregrin. Aeth. c. 5, 7; 
Aesop des Rom. p. 184; Hist. sept. sap. I, 13, 20; 18, 23; 14, 6. 

Ut für qualis, I, 116: Namque meas causas, ut sunt, tu 
coniciebas. Der Dichter wollte sagen: coniciebas meas causas, 
quales sint, dazwischengeschoben hat sich aber der Gedanke: 
ut sunt = „wie sie tatsächlich sind“. Genaue Entsprechungen 
finde ich bei Apul. met. 10, 9: ergo, ut res est, de me cognoscite; 
Ioh. Mon. p. 90, 14: recitavit mihi adminutum, ut fuerat causa. 

Quam für ut, IV, 106. — Vgl. Loefst. Beitr. S. 20 u. Spätl. 
Studien S. 15 u. Schmalz Synt. S. 546. Außer den bei Loefst. 
zitierten Stellen vgl. Phaedr. III epit. 33: quondam legi quam 
puer sententiam; Venant. Fort. carm. 11, 26, 18: posse utinam 
sic sit, quam mihi velle placet. 

Ut fürquam. — Mit einer Vertauschung von ut und quam 
muß man im Spätlatein immer rechnen: Gregor. Turon. (Bonnet 
S. 320) h. F. 2, 27 p. 89, 10: nullus tam inculta ut tu detulit 
arma u.ó. Mulom. Chir. p. 18, 18: si quod iumentum camba 
laxaverit, non alias curabis sicut superius est; 45, 9: ne minus 
ut semihora; Gregor. Turon. h. F.5,19 p.216,21: adhuc 
abundantius ut consueverat. Also selbst unseres Dichters 
flere magis ut puer ist kein Germanismus! Leo de proel. p. 110, 1: 
volabant ibi et vespertiliones tam magni ut columbae. 

Quam für quomodo, XVII, 88. — Der Gebrauch erklärt 
sich bequem aus der exklamativen Bedeutung von quam, die 
ja auch im Spátlatein noch lebendig ist, z. B. Lucif. Calar. 
p.308,10: quam melius est ...! quam est optimum ...! 
Ennod. 11,9: quam voluissem ...! Wenn ein solcher Satz 


526 Hans Ottinger 


abhängig wird, so entsteht eben ein Gebilde wie Ruodl. XVII, 88: 
revelat, quam velit glorificare, z. B. Lucif. Calar. p. 195, 12: 
quam inimicus noster extiteris, potest conici; Ennod. p. 232, 22: 
ostende, quam valeas. Schon Cic. Sull. 33: attende, quam ego 
defugiam auctoritatem consulatus mei. 

Aut und ve für an, Ruodl. II, 20; III, 47. — Nach Schmalz 
Synt. S. 471 nur spátlateinisch: Cassian. Nest. 3, 6, 2: credis 
apostulo aut non credis? Paulin. Nolan. XVIII, 274: (lucem 
tenebris dedisti?) aut ullis profugos curasti prodere signis ? 
Oft bei Oros. (vgl. Zangemeisters Ind.), oft bei Ennod. z. B. 
p. 197, 25: aut forte putas, quod ...? ebenso p.211, 23; 
249, 24; 252, 7; 255, 3. Oft auch bei Ludif. Calar. z. B. 161, 15: 
aut temptabis negare? ebenso 187, 17; 236, 31. Auch bei 
Cassian., Commod. u.a. Über aut-aut statt utrum- an bei 
Tertull. vgl. Hoppe S. 74. Constantin-Roman p. 22, 21: si 
mortuus sit aut vivat deus scit. Ioh. Mon. p. 1, 20: cum nescirem, 
utrum tibi obedirem aut ignorantiam meam silencio tegerem. 
DaB unser Dichter auch ve so verwendet, ist prinzipiell dasselbe. 

Seu für an, Ruodl. 1V, 89. — Schmalz Synt. S. 521 bringt 
Belege für vulgäres utrum-seu, utrumne-an-seu, si-necne und 
si-seu. Außerdem finde ich z.B. Tyrann. Rufin. p. 12, 8: 
quod sive rusticitatis sive libertatis meae fuerit, vos probate; 
Lucif. Calar. p. 217, 28: cur haec audire a deo meruerit? quia 
perpecerit dei inimicis? an quia ...? seu quia ...? Venant. 
Fort. 7, 4 steht sive und seu mehrmals hintereinander zwischen 
an und aut, ebenso Vita Martini 4, 503ff. 

An statt seu-seu, Ruodl. V, 216. — Es handelt sich wohl 
um zweifelnde Fragen, bei denen der Begriff incertum est als 
psychologisch selbstverstándlich fehlen kann: Tac. an. XII, 67: 
nec vim medicaminis statim intellectam, socordiane an Claudii 
vinolentia; XIII, 12: fato quodam, an quia praevalent inlicita; 
XIII, 19: nemo adire praeter paucas feminas, amore an odio 
incertas. 

Ipse idem, Ruodl. V, 31. — Vgl. Loefst. Komm. z. Per- 
egrin. Aeth. S. 65, Hoppe S. 104, Koffmane S. 137. Der Ge- 
brauch kommt im Spätlatein massenhaft vor, z.B. Vulg. 
Hebr. 13,8: heri et hodie ipse et in saecula; Iacob. 3, 10: ex 
ipso ore procedit benedictio et maledictio, ebenso Rom. 15, 5; 
1. Cor. 1, 10; Philipp. 2, 2; 2,18; 4,2; Arnob. p. 158, 23fl. 


Zum Latein des Ruodlieb 527 


Cypr. I p. 810, 7: ipsa atque eadem domus; Paulin. Nolan. 
XXI,196; Ennod. p.197,13: per ipsum callem vindictam, 
per quem venerat error; 259,6; Lucif. Calar. p. 18, 9: ipsum 
sibi et patrem esse et filium; 329, 28. 

Adhuc. — Seiler S. 138: „adhuc von der Vergangenheit 
IV, 127 u. beim comparativus für etiam (noch) VIII, 63.“ — 
Adhuc bei der Vergangenheit ist schon sehr frühe üblich: 
Petron 47: nec adhuc sciebamus, ebenso 57; 61; 63; Tertull. 
Virg. vel. 5: statim mulier est cognominata, adhuc felix, adhuc 
digna paradiso, adhuc virgo; ib. 8; Cult. f. I, 2; An. 19; Orat. 22; 
Scorp. 10; Vulg. Matth. 26,47: adhuc ipso loquente venit; 
27, 63; Ioh. 20, 1; Luc. 24, 6; 25, 44; Rom. 5,6; 5, 8; 2. Thess. 
2, 5 u. ö. Beda h. eccl p. 36, 25: dum adhuc Romani Brit- 
taniam incolerent ; 40, 18; 88, 40; 93, 1; 99, 16; 123, 27; 132, 28; 
153, 25; 172,15. Wie unser deutsches „noch“ wird adhuc 
seit Quintil. oft auch von der Zukunft gebraucht. Auch beim 
Komparativ ist es seit Sen. phil. sehr häufig, z.B. Quintil 
1,5, 12: adhuc difficilior; 2, 15, 18: adhuc concitatior; Sen. 
ep. 85, 34; Tac. Germ. 19; Curt. 9, 6, 23; Tertull. Car. Chr. 21; 
22; Marc. 1,27; 4,7; Pud. 18; An. 27; vgl. Hoppe S. 110; 
Vulg. Ps. 91,15: adhuc multiplicabuntur; 1. Cor. 12, 31; 
Hebr. 7,15; Hist. Apoll. p. 99, 11; Cypr. p. 284, 14; 232, 13; 
751, 19; 289, 4; Peregrin. Aeth. c. 18, 2; Gregor. Turon. h. F. 
5, 19 p. 216, 21. 

Unus als unbestimmter Artikel. — Vgl. Schmalz 
Synt. S. 623. Beispiele bietet jeder spätlateinische Text, 
2. B. Vulg. Ioh. 6, 9: est puer unus hic qui habet; Matth. 26, 69: 
accessit ad eum una ancilla; Marc. 12, 42; venisset autem una 
vidua; Vict. Vit. 1, 41: lector unus canebat; 2, 21: venit unus 
asinus; 2, 30; Anton. Plac. Itin. p. 164, 17; 181, 12: habentes 
unum asellum; 177, 18: in uno angulo; Peregrin. Aeth. c. 4, 4: 
dietus unus psalmus aptus loco. Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet 
S. 258. 

Si = ob. — Über die Anfänge des offenbar volkstümlichen 
Gebrauches vgl. Loefst. Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 327. 
Über die weitere Entwicklung Schmalz Synt. S.519. Schon 
Vitruv kennt num gar nicht mehr, für ihn ist si die Regel. 
Jeder spätlateinische Text bietet Beispiele: Petron. 71: vide 
diligenter, si haec satis idonea tibi videtur. Für Tertull. vgl. 


528 Hans Ottinger 


Hoppe S. 73, für die Vulg. vgl. Kaulen S. 211, Rónsch S. 403, 
z. B. Luc. 14, 81: cogitat, si possit; 6, 7: observabant, si curaret; 
6, 9; interrogo vos, si licet; Matth. 19, 3; Ioh 9, 25; Marc. 15, 
44; Act. ap. 5,8; 17,11; 19,2; u. ö. Hist. Apoll. 74, 2: nescio, 
si tu possis virgo permanere; Beda h. eccl. p.39, 24: Inter- 
rogatio Augustini, si debeant ... accipere; 42,14; 174,31; 
202,21; 211,12; 235,5; Ioh. Mon. p.53, 24: interrogavit, 
si ita gestum esset; 74, 10; 104, 22; 109, 25; 112, 31; 53, 31. — 
Auch ni = nisi quod ist kein Germanismus, da nisi = nii 
quod auch in der Vulg. vorkommt, vgl. Kaulen S. 211 

Iubere ut. — Vgl. Schmalz Synt. S. 576. Iubere ut schon 
bei Plaut. Liv. Hor. Tac., bei Cic. im offiziellen Stile. Im Spät- 
latein allgemein üblich: Tertull. Marc. IV, 29: iubet ut parati 
simus; V, 12; Cypr. II p. 191, 27; Vulg. (Kaulen S. 249, 
Rönsch S. 427) z. B. Gen. 42, 25: iussit ministris ut implerent; 
Dan. 13, 32; Aug. civ. dei 2, 24: iussit ut vesceretur; 5, 18; 
3, 21: iussisse ne fieret; Hist. Apoll. p. 82, 6: iussit quod crura 
ei frangantur; 114, 9: iubet ut eum comprehenderent; Lucif. 
Calar. p. 32, 14; 199, 29; Beda h. eccl. p. 149, 15; 223, 15; 
261, 40; Ioh. Mon. p. 30, 35: iussit ei ut bapticaret; 42,12; 
45, 27; 86, 24; 91,26; 101,6. Auch mit dem Infinitiv wird 
iubere verbunden, z. B. Vulg. 1. Macc. 1, 54 u. Tob. 6, 7. Oft 
steht auch parataktisch der Konjunktiv, z. B. Lucif. Calar. 
p.111,13. Und da quo statt ut gebraucht wurde, konnte 
gelegentlich auch quo zu iubere treten. 

Velle ut. — Im Spätlatein sehr beliebt: Liv. 1, 16, 7: 
caelestes ista velle, ut mea Roma caput orbis terrarum sit; 
Vulg. Luc. 6,31; vultis ut faciant; 14,29: quid volo nisi ut 
ascendatur; Matth. 20, 32; Ioh. 17,24; 1.Cor. 16,12; Hist. 
Apoll. p. 55, 1: volo ut flliam meam nutriat; Mulom. Chir. 
p. 233, 2: quare ex equo primum ut imponas volo? Ioh. Mon. 
p. 97, 4: vis ut loquar? Leo de proel. p. 50, 2: vis ut credam 
tibi? 87, 21; Hist. sept. sap. I p. 29, 4: volo ut clam portes; 2, 28. 

Videtur ut. — Vgl. Cypr. I p. 537,11: quamvis mihi 
videatur, ut debeant pacem accipere. 

Decet ut. — Vgl. Venant. Fort. 3,9,67: non decet ut 
humili tumulo tua membra tegantur; 5, 5, 2; V. M. 2, 342. 

Non dubitare c. a. c. i. — Im silbernen Latein und bei den 
Kirchenschriftstellern wechselt nach non dubitare und non 


Zum Latein des Ruodlieb 529 


dubium est der AcI mit quin, bei den script. hist. Aug. findet 
er sich sogar ausschließlich, vgl. Schmalz Synt. S. 428. Nach 
Kühnast S. 249 ist der AcI bei Liv. häufiger als quin. Für 
Tertull. vgl. Hoppe S. 50. Beda h. eccl. p. 37, 30: quam te 
bene nosse dubium non est; 52,29; 124,9: nec dubito me 
rapiendum; 151, 23; 192, 15. In der Vulg. wird non dubitare 
sogar mit quod konstruiert, z. B. Tob. 7, 13. 

Triduo V, 564. — Über Herkunft und Entwicklung des Ge- 
brauchs in durativen Zeitbestimmungen unterrichtet die knappe 
Darstellung in Loefstedts Komm. z. Peregrin. Aeth. S.51. 
lm Spätlatein ist der abl. tempor. für die Zeitdauer gang und 
gàbe: Oros. 4, 12, 7: quamdiu? anno uno; Bell. hispan. 3, 1: 
aliquot mensibus ibi detinebatur; Petron. 86: aliquot horis 
spatiatus; 139; Apul. met. 9, 8: pauculis ibi diebus commorati; 
für Tertull. vgl. Hoppe S.31, für die Vulg. Kaulen S. 232, 
z. B. Matth. 15, 32: triduo iam perseverant mecum; Ioh. 11, 6; 
Matth. 26, 40; Act. ap. 9, 9; 28, 7; 28, 19: mansimus ibi triduo; 
Hist. Apoll. p. 58, 13; 113, 8; Peregrin. AetK. c. 6, 1: biduo im- 
morari; 9, 1; Beda h. eccl. p.13,3; 114,3; 165,3; 218,11. 
Die Mulom. Chir. umschreibt diu ófters durch multo, longo, 
plurimo tempore, quamdiu durch quanto tempore usw. Da 
der allmählich immer seltener werdende acc. tempor. außer 
durch den abl. auch durch per c. acc. ersetzt wird, so ent- 
Stehen gelegentlich Mischgebilde wie Peregrin. Aeth. c. 25, 11: 
per triduo ergo haec celebratur oder per quatriduo, per triduo 
usw., die sich in der Mulom. Chir. finden. 

Ovare alicuius rei. — Die Verba des Freuens werden 
schon spátlateinisch mit dem Gen. verbunden, z.B. Apul. 
met. 1, 24: voti gaudeo; Tertull. Apol. 1 ex: cuius reus gaudet. 
Die Konstruktion mag aus dem Griechischen stammen. 

Dominari alicuius, IV, 98. — Im Spätlatein sehr häufig: 
Apul. Ascl. 27: terrae dominantur; Min. Fel 12,5: vestri 
dominantur; Tertull. Apol. 26; Cult. f. 1, 1; Marc. 3, 6; u. ö. 
Vulg. (vgl. Kaulen S. 225, Rónsch S. 438) z.B. Gen. 4,7: 
dominaberis illius; Rom. 6,9; Matth. 20, 25; 2. Cor. 1, 24. 
Auch regnare wird mit dem Gen. verbunden, z. B. Vulg. Sap. 
3, 8; 1. Macc. 13, 39. Dominari wird auch mit dem Dativ 
(Cassian, Vict. Vit.) mit in c. acc. oder abl. (Vulg. kon- 
struiert. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 34 


530 Hans Ottinger 


Fraudare c. gen.? — Fraudare heißt in der Vulg. meist 
„unterschlagen, schmälern“, z.B. Act. ap. 5,2: fraudavit 
de pretio oder Lucif. Calar. p. 160, 21: quod fraudaverint de 
pretio. Auch das promissorum Ruodl. IV, 183 läßt sich als 
gen. part. auffassen. 

Replere c. gen. — Bei complere und implere steht der 
Gen. schon bei Plaut. Amph. 1016; Cato; Lucr.; Verg.; Cic. 
Verr. 5,57,147. Bei Liv. ist nach Kühnast S. 77 bei implere 
der Gen. häufiger als der Abl. Beide Kasus bei Apul. met. 3, 2: 
magistratibus eorumque ministris et turbae miscellaneae cuncta 
completa. Oft in der Vulg. z. B. Ezech. 35, 8: implebo montes 
eius occisorum; 2. Tim. 1, 4; Matth. 22,10: impletae sunt 
nuptiae discumbentium, wo der Cod. Cantabr. repletae bietet. 
Einmal hat auch schon Liv. replere so: 6, 25, 9. 

Vacuare c. gen. — "Tertull. Pall. 2: vacans hominum; 
Idol. 8: alterius vacat; Venant. Fort. 4, 26, 70: mercedis non 
vacuatur; Eugen. ep. III, 1 (Mon. Germ. Hist. XIV) p. 286, 22: 
quamvis sit sapientiae privata. 

Saturare c. gen. — Plaut. Stich. 18; Ter. Heaut. 4, 8, 28. 
Aus dem Spätlatein kenne ich nur Avien. 2, 1094: satur luminis 
omnis, doch liegt die Analogie von plenus und den Verben des 
Anfüllens sehr nahe. 

Promptus c. gen. — Für Iustin. vgl. Georges; Vulg. 
2. Cor. 8, 11: quemadmodum promptus est animus voluntatis, 
ita sit et perficiendi. 

Longus c. gen. I, 28. — Colum: 5, 6, 18: longus sex pedum; 
Var. r. r. 2, 4, 14: hara trium pedum alta. Offenbar liegt Kon- 
tamination vor: die Gedanken sex pedes longus und sex pedum 
ergeben durcheinandergeschoben eben longus sex pedum. 
Vgl. Iord. Get. p. 87, 8: virtutis et nobilitatis eximius; 118, 9: 
seniorem prudentiaeque maturum. 

Sollicitus c. gen. — Sen. ad. Marc. 19, 5: sollicitus futuri, 
Coripp. Ioh. VII, 200: sollicitus rerum patriaeque suaeque salutis. 
Von der Beliebtheit der bequemen Genetivkonstruktion bei Ad- 
jektiven gibt Hartels Index zu Paulin Nolan. oder Ennod. ein Bild. 

Par c. gen. XV, 60. — Der im Altlatein übliche Gebrauch, 
taucht im Spätlatein wieder auf, besonders oft bei Tertull., 
vgl. Hoppe S. 23. Cassian. inst. 5, 22, 29: parem virtutis u. ö. 
(Petschenigs Ind.); Ennod. p. 3,9; Ven. Fort. 9, 1, 108. 


Zum Latein des Ruodlieb 531 


Deficere c. dat. — Für die Vulg. vgl. Kaulen S. 225. 
Cypr. II p. 46,3: cum arantibus sementa defecerit; Tyrann. 
Rufin. p. 255, 20; Aesop. d. Rom. p. 214; Discipl. cler. p. 29, 18. 

Misereri c. dat. ist die im Kirchenlatein übliche Kon- 
struktion, vgl. Kaulen S. 227 u. Rónsch S. 413. 

Libet me. — Vict. Vit. p. 37,17: nos libebat pergere; 
Coripp. praef. 3: scribere me libuit; V, 175; Ven. Fort. 10, 9, 11. 

Intromittere se. — Aesop. d. Rom. p. 65: nemo se intro- 
mittat de sibi incongruis operibus; Leo d. proel. p.55, 20: 
quare voluisti te intermittere de caelestibus elementis? Discipl. 
cler. p. 12,3: si quemlibet videris malis operibus pregravari, 
ne te intromittas. 

Exire c. acc. haben schon Ter. Hec. 378 u. die Dichter, 
in Prosa Tac., Hieron. ep. 22, 25 u. Apul. met. 9, 19. Vulg. 
Matth. 26,71: exeunte autem illo ianuam; Cypr. vita c. 18: 
cum exire praetorii fores; Paulin. Nolan. c. 15, 254. Ungleich 
hàufiger ist der acc. bei egredi und evadere. 

Requirere aliquem = jmd. fragen. — Ven. Fort. 7, 20, 2: 
saepe requiro viros (quae tibi salus); Ioh. Mon. p. 10, 18: re- 
quisivit eum, ubi esset dominus. 

Nostri hospes, IV, 13 (Seiler S. 118). — Der Gebrauch 
findet sich zuerst bei Dichtern, dann in nachklassischer Prosa, 
endlich im Spätlatein. Für Tertull. vgl. Hoppe S.18 (z.B. 
Marc. 4, 25: magnitudinem sui absconderat), für Cypr. vgl. 
Hartels Ind. (z. B. I p. 239, 27: mei membra; 352,16: origo 
sui; 485, 3: praesentia nostri u. ö.), für die Vulg. vgl. Kaulen 
S.142 u. Rónsch S. 418. Aufschluß über die Verbreitung des 
Gebrauchs geben z. B. die Indices des Corp. script. eccl. lat. 

Anakoluthe beim partic. coniunct. Seiler S. 124. — 
Solche Anakoluthe gehóren zum charakteristischen Gesamt- 
bilde des späten Lateins. Vulg. Matth. 10,1: convocatis dis- 
cipulis suis dedit illis potestatem; Luc. 19, 33: solventibus autem 
ilis dixerunt domini eius ad illos; Ioh. 15, 2: omnen palmitem 
in me non ferentem fructum tollet eum; Peregrin. Aeth. c. 
2,2: ubi sanctus Moyses cum pasceret pecora, iterum locutus 
est ei deus. | 

Abl. abs. statt part. coni. bietet jeder spátlateinische 
Text. Für die Vulg. vgl. Rónsch S. 450. Hist. Apoll. p. 98, 8: 
me namque in cunabulis posita Stranguillioni sum tradita; 


34* 


532 Hans Ottinger 


Peregrin. Aeth. c. 24, 2: exeunte episcopo omnes ad manum 
ei accedunt ; Beda h. eccl. p. 189, 39: cunctis convenientibus ... 
fratribus communicent omnes. Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet 
S. 559, für die Mulom. Chir. vgl. Ahlquist S. 50. Anton. Plac. 
Itin. p. 177, 14: revertentibus nobis.... venimus. Ebenso 
177,20; 179,9; 183,1. Leo de proel. p. 92, 20: sedente vere 
Dario vidit signum; 97, 12; 104, 10. 

Herilis = Fräulein. — Apul. met. 4, 27: bono animo 
esto, mi erilis, ebenso p. 9, 6. 

Laudare = vovere. — Bei Eugipp. (Knoells Ind.) be- 
deutet laus auch sacrificium, bei Commod. (Dombarts Ind.) 
auch meritum. Laudgre bedeutet z. B. in der Discipl. cler. 
p. 19, 21 „raten“: laudo tibi, ut quam cicius poteris huius 
miserearis. Bei Leo de proel. p. 76, 12 bedeutet laudare tat- 
sächlich „versprechen“: laudasti et prophetizasti illi bene. 

Rumor = nuntius? Seiler S. 138. — Rumor scheint 
im Ruodl. etwa „Neuigkeit“ auszudrücken, rumoris cupidi IV, 
191 mag heißen: „auf Neuigkeiten gespannt" (vgl. Tac. an. 
13, 6: in urbe sermonum avida). Ein ähnliches Mittelding 
zwischen Nachricht und Neuigkeit bezeichnet rumor etwa in 
der Discipl. cler. p. 42, 6: quem cum videret dominus, timuit 
ne aliquos rumores. ... diceret et dixit: cave ne dicas mihi 
rumores malos! Servus: non dicam rumores malos, sed canis no- 
stra parvula mortua est. Ebenso p. 38, 365. 

Reconsiliari = widerraten. — Das Wort wäre gebildet 
wie repugnare, rebellare, reboare u.ä. Möglicherweise aber 
steht hier — mit der Vorliebe der Volkssprache und des Spät- 
lateins für die tönenderen Komposita — reconsiliari = con- 
siliari. So gebraucht z.B. Tertull.: respondere = spondere 
(Hoppe S. 138), Commod.: redarguere = arguere, referre 
= ferre, reportare = portare; Cassian.: reputare = putare 
(Petschenigs Ind.), Eugipp.: recognoscere = cognoscere, re- 
putare — putare, requirere — quaerere, retractare — tractare 
(Knoells Ind.). 

Licentia = urloub. — Leo de proel. p. 115, 8: Eamus 
ad Alexandrum et postula me ab illo et ego venio tecum ... 
Accepta licentia abiit cum eo. Hist. sept. sap. II p. 11, 19: 
licentia repatriandi a Cesare impetrata; 42,29: ex licentia 
regis in secretum secedunt locum; 43,10: ut sibi ad propria 


Zum Latein des Ruodlieb 533 


remeandi daretur licentia; Aesop d. Rom. p. 219: abire si quo 
est animus, est licentia? Discipl. cler. p. 38, 18: querentibus 
licitum repatriandi. 

Prosapia generosa progenitus, I, 1: Koegel: „der von 
adele was geborn". — Vgl. Sedul. p. 219, 7: quos nec generosa 
prosapies ortu terrenae nobilitatis inflaret ; Discipl. cler. p. 9, 12: 
nobili ortus prosapia; Paulin. Nolan. XXI, 212: nobilem pro- 
sapia; Ennod. p. 460, 19: cuius prosapiem splendidam tempus 
postulat scientiae te radiis adornare; 330, 5: vultis vos numerari 
inter splendidas prosapias. 

Moribus ingenitam decorabat nobilitatem. Koegel 
vergleicht „von gebare und von gelaze gezieret uz der maze“. — 
Ein Hinweis auf die eben zitierte Wendung des Ennod. p. 460, 19 
scheint mir zu genügen, um gegen Koegels Methode miBtrauisch 
zu machen. Vgl. auch die von Ott in Fleckeis. Jb. 1874, S. 842 
beigebrachte Stelle aus Capitolin.: ut nobilitatem generis 
splendore virtutis illuxerit. 

Post mensam, V. 565. — Bekannt sind die Redensarten: 
de mensa mittere alicui, secunda mensa = Nachtisch, summa 
mensa = Hauptgericht (Mart. X, 37, 9). Mensa und cena 
werden also geradezu synonym gebraucht (vgl. Antibarb. II, 73). 
Petron. 94: mensa = Freitisch. Apul. met. 9,24: mensam 
nobiscum participat; 9, 26: mensam potius postulabat = er 
verlangte lieber zu essen; flor. XX: sapientis viri super mensam 

— über das Trinken) celebre dictum est: prima creterra ad 
sitim pertinet, secunda ad hilaritatem ... Colum. 11, 1, 19: 
mensae aliquem adhibere — ad cenam vocare. Der Rómer sagt 
wie der Deutsche „bei Tische“ oder „zu Tische laden“. Aesop 
d. Rom. p. 64: asinus quotidie videbat catellum blandiri do- 
minum et de mensa saturari. Ven. Fort. X, 11 praescr.: in 
mensa = in convivio; 31: quos invitavit Martini mensa beati. 
Apul. met. 4, 22: mensa decedere; Leo de proel. p. 127, 23: 
surrexerunt a mensa. Apul. met. 8, 29 wird erzählt, wie die 
wunderlichen Heiligen paucisque admodum praegustatis olusculis 
ante ipsam mensam ihre Lüste an dem Esel stillen. Ante ipsam 
mensam fasse ich als „noch vor Tische", das wäre denn eine 
Parallele zu unserem post mensam. 

Vestro amore, III,15; IV,167; V,30; IV, 90. Amor 
bedeutet in unserem Gedicht etwa „freundliche, leutselige, 


534 Hans Ottinger 


menschliche Gesinnung“. Amor auf das Gebiet menschlicher 
und gesellschaftlicher Bildung übertragen, findet sich z. B. 
auch bei Venant. Fort. X, 11, 23: quos sibi Martinus collegit 
amore benignus; 31: quos invitavit Martini mensa beati, sumite 
gaudentes quod dat amore dies. Hist. sept. sap. I p. 31, 7: 
quedam domicella a me quam plurimum dilecta heri de partibus 
meis ad me venit, cum qua oportet me post triduum repatriare: 
rogo ut amore ipsius (etwa = ihr zu Ehren) hodie mecum 
prandeatis. 

Sedeo für sido. — Diese beiden Wortgruppen, besonders 
die Komposita, lassen sich überhaupt nur in wenigen Formen 
unterscheiden: Vermengung ist also von vornherein zu er- 
warten, zumal die jeweilige Bedeutung sich ja aus der Situation 
ergibt. Bei stare haben wir eine derartige Entwicklung bereits 
festgestellt. Aesop d. Rom. p.176: in nidum lusciniae cum 
sederet acceptor (vgl. Thieles Komm. S. 179); 302: aquila cum 
tristis sederet in arborem; rec. vet. p. 271: hoc dicto venator 
super equum sedens cervum de loco movit, wo die rec. gal. 
p.272 super equum ascendens aufweist. 

Alius statt alter. V,144. — Nach Schmalz Synt. S. 629 
hat die Volkssprache nie scharf geschieden zwischen alius 
und alter, im Spátlatein gehen beide allgemein durcheinander. 
Cypr. I p. 197, 9: quis non ... fugiat quod alii fuerit exitio? 
quis id adpetat ... quod ad necem alterius pro gladio fuerit? 
226, 7; 540, 3 u.ö. Peregrin. Aeth.: alia die statt altera die 
c. 6,1; 38,1; 45,2 und in der Mulom. Chir. z.B. p. 43,5; 
87, 4. Vulg. Luc. 7, 41: duo debitores ... unus debebat denarios 
quingentos, alius quinquaginta; Apoc. 17,10; Hist. Apoll. 
p. 116, 4: unum volumen Diane in templo ... aliud in biblio- 
theca; Beda h. eccl. p.91,4: per unum ostium ingrediens 
mox per aliud exierit; Aesop d. Rom. p. 172: nulla pars alii 
cedebat (vgl. Thieles Komm.). 


Zitierte Ausgaben und Schriften. 


1. Aus dem Wiener Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum: 
Cassianus ed. Petschenig vol. XVII. 
Cyprianus ed. Hartel vol. III, 1,2. 
Commodianus ed. Dombart vol. XV. 
Ennodius ed. Hartel vol. VI. 
Eugippius ed. Knoell vol. IX. 


Zum Latein des Ruodlieb 535 


Itinera Hierosolymitana ed. Geyer vol. XXXIX. 
Lucifer Calaritanus ed. Hartel vol. XIV. 
Orosius ed. Zangemeister vol. V. 

Victor Vitensis ed. Petschenig vol. VII. 


. Mulomedicina Chironis ed. Oder, Bibl. Teubn. 

Historia Apollonii ed. Riese, Bibl. Teubn. 

Baedae Historia ecclesiastica ed. A. Holder, Freiburg u. Tübingen 1882. 
Silviae (Aetheriae) peregrinatio ad loca sancta ed. W. Heraeus, Heidelberg 1908. 


Der lat. Äsop des Romulus und die Prosafassungen des Phädrus ed. G. Thiele, 
Heidelberg 1910. | 


. Einar Loefstedt: Philologischer Kommentar zur Peregrinatio Aetheriae, Uppsala- 
Leipzig 1911. — Spátlatein. Studien, Uppsala 1908. 

Herm. Rónsch: Itala u. Vulgata, Marburg u. Leipzig 1869. 

Fr. Kaulen: Handbuch zur Vulgata, Mainz 1870. 

H. Hoppe: Syntax u. Stil des Tertullian, Leipzig 1903. 

Fritz Werner: Die Latinität der Getica des Iordanes, Diss. Halle 1908. 
Helge Ahlquist: Studien zur spütlat. Mulomedicina Chironis. Diss. Uppsala 1909. 
Max Bonnet: Le Latin de Grégoire de Tours. Paris 1890. 


. Aus der Sammlung mittellateinischer Texte von Alfons Hilka. Band 1: Dis- 
ciplina clericalis des Petrus Alfonsi. 4 u. b: Historia septem sapientum I u. II. 
6: Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo. 7: Iohannes Monachus. 


536 


Albertus Stadensis. 


Von 


Kari Fiehn. 


1. Sein Leben. 


Über das Leben Alberts von Stade wissen wir wenig, nur das, 
was uns seine eigenen Werke, wie die Weltchronik (über den 
Titel s. unten) und das Gedicht Troilus, oder einige urkundliche 
Überlieferungen mitteilen. 

Sein Geburtsjahr und seinen Geburtsort freilich erfahren 
wir auch da nicht genau. Nur vermutungsweise können wir 
sagen, daß Albert in den beiden letzten Jahrzehnten des 12.Jahr- 
hunderts geboren ist (weiteres siehe S.537f.) und seine Heimat 
Niederdeutschland sein mag. Sein ganzes Leben hat sich nach 
den uns vorliegenden Zeugnissen in den Elblanden abgespielt, 
nirgends erscheint er als zugewandert, und Lappenberg weist 
SSXVI, p. 271 auf die in norddeutschen Formen wieder- 
gegebenen Eigennamen in Alberts Chronik hin (siehe zum Jahre 
1019, 1020, 1023 u. a.). 

Nicht genügend gestützt dürfte die Annahme tappet 
(S S XVI, 271) sein, daß Albert niederer Herkunft gewesen sei, 
wenn auch Merzdorf (Troilus praef. VI) und Wachter, die Chronik 
des Albert von Stade (Einl. V) dem zugestimmt haben. Lappen- 
berg beruft sich auf zwei Stellen der Chronik. Zum Jahre 1255 
nümlich berichtet Albert davon, daB die Bestrebungen eines 
Mainzer Bürgers Waltbodo (Walpode), der Wegelagerei ein Ende 
zu machen und Frieden zu schaffen, von Fürsten, Rittern und 
Räubern abgelehnt worden seien: es wäre unanständig, daß 
Kaufleute über ehrbare Männer und Edle herrschen wollten. 
Zum Jahre 1256 werden in der Chronik Ritter von Bederekesa 
„berühmte Räuber“ genannt. Im Hinblick auf diese Notizen 
meinte Lappenberg, man habe es hier mit Urteilen zu tun, wie 


Albertus Stadensis 537 


sie nur der Niedriggeborene gegen den Edelmann in die Dar- 
stellung einfiechten könne. Freilich liegt es nahe, da, wo Zeit- 
genössisches erzählt wird, auch besonders persönliche Stellung- 
nahme des Erzählers zu vermuten; aber man muß sich ebenso 
hüten, ohne sicheren Anhalt das persönliche Urteil des Chro- 
nisten vorauszusetzen, wo doch auch eine zeitgenössische Quelle 
herangezogen sein kann. Im übrigen widerlegt zweierlei geradezu 
die Auffassung Lappenbergs. In dem Abschnitt der Chronik 
zum Jahre 1112 findet sich die Bemerkung (S S XVI, 
S. 321, 2.22ff), daB der Graf Friedrich für seine Sache mit 
plebeischen Zeugen aufgetreten sei, die er zu jedem Eide bringen 
konnte (cum testibus, plebeis videlicet, quos ad quidlibet 
iurandum compellere poterat), und daß sein Gegner sich diesem 
leichtfertigen Zeugnisse (levi testimonio) nicht aussetzen wollte. 
Hätte Albert, wenn er an den andern Stellen bewußt für die 
Niedriggeborenen hátte Partei nehmen wollen, hier in dieser 

Weise erzáhlt? Das ist sehr unwahrscheinlich, auch wenn man 
bedenkt, daß er nicht von seiner eigenen Zeit spricht und von 

den Quellen beeinfluBt ist. Aber noch etwas anderes macht 

Lappenbergs Ansicht zweifelhaft. Wir werden unten (S. 549) 

sehen, daß Albert garnicht allein an der Chronik gearbeitet hat, 

sondern Helfer hatte. Allerdings gilt das zunáchst wohl nur bis 

zum Jahre 1240; aber es hindert auch nichts, über 1240 hinaus 

mit der gleichen Arbeitsmethode zu rechnen. So glaube ich, 

mindestens schlieBen zu müssen, daB Lappenbergs Behauptungen 

nicht zwingend sind. Es muß ungewiß bleiben, welcher Volks- 

Schicht Albertus angehórte. 

Aus der Troilushandschrift wissen wir, daB Albert magister 
war; aber keine Nachricht besagt, wo und wann er diesen Grad 
erworben habe. Wenn Lappenberg a. a. O. aus einer Urkunde 
des Jahres 1224 (Hamb. U. B. I, S. 418) den dort erwáhnten 
magister Albertus, canonicus Bremensis, richtig mit dem unsern 
identifiziert, dann sehen wir ihn zu dieser Zeit also als Dom- 
herrn zu Bremen. Mit dem gleichen Titel und ohne ihn nennen 
einen Albertus de Rameslo eine Urkunde des Jahres 1217 (Hamb. 
U. B. I, S. 359) und eine solche des Jahres 1206 (a. a. O. S. 
313f.), sicherlich denselben, der als praepositus de Ramesloh in 
einer Urkunde des Jahres 1232 (Vogt, Monument. ined. II, 19) 
erscheint. Folgen wir weiterhin Lappenberg, der auch in diesen 


+ 
* 


538 Karl Fiehn 


Urkunden Albert von Stade angeführt sieht, dann hätte Albert 
1206—1232 dem Kloster Rameslo(h) angehört, zuletzt sogar als 
Propst (Prior), und sei außerdem auch als canonicus Bremensis 
1217 und 1224 bezeugt. Bei dieser Gleichsetzung bereitet nur 
Schwierigkeiten, daß Albertus im Jahre 1232 als praepositus 
de Ramesloh hervortritt und noch im gleichen Jahr in gleicher 
Würde in das Marienkloster von Stade übergegangen sein muß, 
wo er im August 1232 sogleich zum Abt aufsteigt. Denn in 
Alberts Weltchronik zum Jahre 1232 heißt es, daß Albertus 
damals in Stade Abt geworden sei, einst Prior derselben Kirche. 
Zwar ist ein solches Geschehen nicht unmöglich, aber zum min- 
desten eigenartig und daher nicht ohne Vorbehalt anzunehmen. 
Manitius freilich schreibt ohne weiteres im Lit. Zentralblatt 1875 
Sp.1249 von, Albertus de Rameslo“ unter völliger Gleichstellung 
mit Albertus Stadensis (vgl. auch Merzdorf, Troilus praef. V). 

Albert, der nach seiner Chronik zum Jahre 1232 dem Christo- 
phorus als Abt im Stader Marienkloster folgte, war nach dem 
Stader Äbtekatalog der vierte in der Reihe der Äbte (Lappen- 
berg, Geschichtsquellen des Erzstiftes und der Stadt Bremen, 
S. 190). An derselben Stelle heißt es auch, daß er „ab Aldewino, 
legato Livoniae", geweiht worden sei. Lappenberg hat wohl 
richtig vermutet, daB hier mit Aldewinus Balduin von Aulne 
(Zisterzienserkloster) gemeint ist, der im Januar 1232 vom Papst 
zum Bischof von Livonien geweiht und gleichzeitig zum päpst- 
lichen Legaten bevollmächtigt ward. Da die Reise nach Livonien 
Balduin auch nach dem Erzbistum Bremen, das ja mit dem 
Schicksal Livoniens aufs engste verbunden war, führen mochte. 
weihte er bei dieser Gelegenheit den im August 1232 gewählten 
Abt Albertus. Es soll dahin gestellt bleiben, ob man daraus auf 
einen Gegensatz Alberts zum Erzbischof von Bremen, der sonst 
die Äbte von Stade weihte, schließen darf, und ob sich hierin 
schon die strengere Richtung Alberts, seine Neigung zu den 
Zisterziensern, verrät. „Albertus abbas Stadensis“ erscheint 
vielfach in Urkunden der Jahre 1235, 1236, 1238, 1240, (Vogt, 
Monum. ined. II, S. 28, Hamb. U. B. I, S. 434 und 438, West- 
phalen, Monument. ined. IV Nr. 3495); im Troil. VI, 677ff. spielt 
Albertus selbst auf seine Würde an. Diese Verse mógen hier im 
Wortlaut folgen; denn sie sprechen auch von dem Kloster, in dem 
Albert als Abt regierte. 


Albertus Stadensis 539 


677. Ecclesiam scis in Stadio, quam protegit alis, 
Nam caput est eius, virgo beata suis. 

Qui scribens ,in principio verbum caro factum" 
680. Intonat, illius ad latus ille! volat. 

Prodiit ex rutilo roseus locus iste? roseto? 

Ingenua matrem nobilitate sequens. 
Sic florendo vigent, ut odore, colore, sapore 
Nuncquam degenerent; his tribus ambo placent. 
685. Splendescit virtute color doctrinaque pascens 
Est sapor et fame balsama spargit odor. 
Abbatem nosti Tirricum, cui dedit olim 
Ecclesie dicte virgo patrocinium. 

Cui virtus animam decorat, facundia linguam, 
690. Dapsilitate nitet, utilitate viret. 

Ille“, suos quondam non ultimus inter amicos, 

Ante virum talem qui tulit eius honus, 

Edidit hunc ............... libellum. ...... 

Also: das Kloster (die ecclesia) in Stade war der Jungfrau Maria 
sowie dem Apostel und Evangelisten Johannes geweiht. Es 
wurde gegründet (prodiit) von dem Kloster Hersevelde und 
suchte dem Ruhm des Mutterklosters nachzueifern, wie die 
Verse 681f. und die hinzugefügten Scholien besagen. 

Der Dichter verwandte statt der nüchternen Ortsnamen ein- 
mal ,,Rosenplatz'' (roseus locus) und dann „aus der rotleuchten- 
den Rosenhecke“ (ex rutilo roseto). Das konnte er in Anknüpfung 
an den zweiten sehr gebráuchlichen Namen für Hersevelde 
(Harsefelde, auch Hassefelde) ,,Rosenfelde'', der, wie es scheint, 
vor allem dem Kloster im Gegensatz zu der Ortschaft Herse- 
velde beigelegt wurde; auch die Gründungsbulle von 1104 redet 
von ,monasterium, quod in loco situm est, qui Rosenfeldt 
dicitur". Dehio (Gesch. des Erzbistums Hamb.-Bremen II, 13) 
meint, daß ,,geschmacklose Mönchssentimentalität“ den Namen 
geschaffen habe; eigentlich heißt es Rossefeld, ein Name, der 
auch vielfach begegnet (vgl. Jaffé, Monum. Corbeiens., Wibalds 
Briefe epist. 219: Rosvelde, und Helmoldus, Cron. Slav. 69: 
Rossevelde). Schon Joh. Vogt (Monum. ined. 1741, I, 2, 106f.) 
hat sich in der Vorbemerkung zum Chronicon Monasterii Rosen- 
feldensis seu Hassefeldensis mit der Doppelnamigkeit beschäftigt 


1 Schol: Johannes. 

* Schol: Stadis. 

3 Schol: Hersevelde. 

* Schol: Albertus abbas Stadensis. 


540 Karl Fiehn 


und u.a. die Meinung Joh. Daniel Grubers mitgeteilt, daß der 
ursprüngliche Name ,,Rossefeld" von den Sachsen mit Um- 
stellung der Buchstaben zu Horsefeld (vgl. engl. horse) gewandelt 
worden sei; Horsefeld (somit auch Harsefeld und Hersefeld) sei 
dasselbe wie Rossefeld. „Rosenfeld“ ist demnach eine falsche 
Weiterbildung, die aber den Mónchen geflel, weil sie ihnen zum 
Ausdruck ihrer frommen Schwármerei für ihr Kloster dienen 
konnte. Vgl. Annal. Stad. zum Jahre 1001 (Lappenberg SS 
XVI): Eodem tempore venerabilis comes Heinricus in Rosa- 
feldan, quod nunc Hersevelde vel urbanius Rosenvelde dicitur. 
Auch der Abt Albertus redet daher von Hersevelde im Sinne 
eines Rosenfelds oder einer roten Rosenhecke und läßt von hier 
aus Stade als zweiten Rosenplatz entstehen. In Durchführung 
des Bildes sagt er dann von beiden 683ff.: Sic florendo vigent, 
ut odore, colore, sapore Nuncquam degenerent ; his tribus ambo 
placent ... Soviel mag hier über die beiden Klóster gesagt sein; 
ich gedenke eingehender ihre Geschichte in einem anderen Auf- 
satz zu behandeln. Jetzt ist noch hinzuzufügen, daB die Verse 
auch den Nachfolger Alberts, den Abt Tirricus (Theodoricus 
im Äbtekatalog), wegen seiner hervorragenden Eigenschaften 
und als Freund Alberts rühmen. 

Neben die Verse Alberts über Stade und Harsefelde— Rosen- 
felde müssen jene gestellt werden, die sich ganz allein mit Rosen- 
felde beschäftigen. Sie finden sich in dem schon genannten 
Chron. Monast. Rosenf. S. 136 und stammen nach der Be- 
merkung des Verfassers der Chronik ‚ex metrico libro, qui 
dicitur Quadriga“. (Vgl. darüber S. 552fl.) Die Verse, Hexa- 
meter, sind außerdem noch abgedruckt in Georgius Roth, Res 
Stadenses, Hamburg 1714, S.26f. und in der Praefatio zu 
Merzdorfs Troilusausgabe S. VI. Sie lauten: 


Est locus, a roseo qui traxit nomina nomen?, 
In spacio speciosus et in specie spaciosus®, 
Quem situs ipse loci, quem rerum copia monstrat, 
Quem comitum prelarga manus, quem culmen honorat, 
5. Quem pietas procerum, quem vestit gloria regum. 
Est locus ipse rosae (Merzdorf falsch: ipsa rosa) rosa, campi gloria; nescit 
Haec rosa spinetum neque pungit spina rosetum. 


5 Vgl. Troil. VI, 681. 
* Vgl. Troil. III, 642: speciosa polis et spaciosa. 


Albertus Stadensis 541 


Est locus ipse rosae (so Res Stad.! Vogt: ipsa rosa), non haec rosa mane 
Gydippe, 
Vespere lucis erit, modo florens, protinus arens, 
10. Nunc rubra, mox pallens, mox invida, livida statim, 
Nunc oriens simul et moriens, arescere nunquam 
Haec solet aeterni foecunda propagine veris, 
Non aestas, non audet hyems, non Aeolus istam 
Derosulare rosam”. Mos est pallere rosarum 
15. Solis ad intuitum?; trahit haec a sole ruborem. 
Quicquid habet natura boni, locus iste locorum 
Continet, omne mali fermentum longius arcet 
Regia (Merzdorf falsch!) solis ibi (Merzdorf falsch!) sublimibus alta columnis“. 


Diese Verse schópfen die Móglichkeiten des Vergleichs mit der 
Rose nach jeder Richtung aus. Besonders fällt das dreimalige 
Est locus ... auf. An zweiter Stelle heißt der Platz ‚‚rosae rosa, 
campi gloria"; Vogt interpunktiert freilich .... rosae, rosa. 
An dritter Stelle scheinen die Res Stadenses mit „ipse rosae“ 
das Richtige zu bieten; durch die Lesart ipsa rosa (so die 
Chronik) wäre kein neuer Vergleich gegeben. So aber bekommen 
wir den Gedanken: Es gehórt der Platz ganz der Rose .... 
Für ,,mane Cydippe“ erwägt G. Roth (Res Stad. S. 27) „mala 
Cydippes“ = Äpfel oder Wange der Cydippe zu schreiben, weil 
er das Wortspiel des Dichters offenbar außer Acht läßt. Aber 
„mane Cydippe“ paßt gerade sehr gut, wenn man Cydippe als 
metaphorisches Gegenstück zu „arens“ nimmt: Cydippe steht 
für das Eigenschaftswort ‚rot‘ (vgl. Ov. epist. 19,5 fg.). V. 8f. 
heißen demnach so: „Nicht wird diese Rose morgens wie Cydippe 
rot sein, am Abend des Tages aber, eben noch blühend, sogleich 
verdorrt.'' 

Sowohl der Inhalt der Verse wie die Ausdrucksweise (Wort- 
schatz, Bilder, Wortspiele), auch der Versbau legen durchaus mit 
Recht die Annahme nahe, daß der Dichter derselbe sei wie der 
des Troilus, was noch wahrscheinlicher wird durch unmittelbar 
nachweisbare Parallelen, wie sie oben am Rande verzeichnet 
sind. Das letzte Wort jedoch kann darüber erst gesprochen 
werden, wenn noch andere wichtige Erwägungen angestellt 
sind. (Siehe S. 552ff.) 


? Vgl. Troil. IV, 224 (Walter v. Chat., Lieder von St. Omer 24, 3, 6 (Strecker). 
* Vgl. Troil. I, 587 und III, 152. 
* Vgl. Troil. I, 131 (Ov. met. II, 1). 


542 Karl Fiehn 


Albertus hat offenbar während seiner Abtregierung viel 
kämpfen müssen. Zwar spricht er im Troil. (VI, 683ff.) mit be- 
sonderer Anerkennung von dem Geist, der in Stade wie in Rosen- 
felde geherrscht habe; aber diese Worte dürften nur als dichte- 
rische, rhetorische Wendungen zu gelten haben. Denn in der 
Weltchronik (S S XVI) erzáhlt er uns zum Jahre 1240, daB 
er damals wegen des Sittenverfalls im Kloster seine Abtwürde 
niedergelegt habe und in den Minoritenorden übergetreten sei. 
Schon lange habe er mit Besorgnis die Lockerung der Mónchs- 
zucht, die der hl. Benedikt jedem auferlegte, beobachtet und der 
Stelle in der Regel (c. 58) gedacht, wo gesagt wird, daB derjenige, 
welcher dieselbe zu befolgen gehalten ist und sie nicht befolgt 
hat, wissen solle, er sei von Gott verdammt, welchen er ver- 
spottet. Bei einem Besuch in Rom 1236 suchte er vom Papst 
Gregor IX. zu erwirken, daB das Kloster unter die strengere 
Zisterzienser-Regel gestellt würde, ,,damit so die dort lebenden 
Brüder unter der Beobachtung der heil. Regel den jüngsten Tag 
und die Ankunft des gestrengen Richters ohne die schwerste 
Gefahr für das Heil ihrer Seelen erwarten könnten‘. Der Papst 
erlieB daraufhin ein Schreiben an den Erzbischof von Bremen 
Gebhard II., in dem er kundtat, „daß wir ..... auf Bitten des 
Abtes desselben Klosters (nàmlich der hl. Maria in Stadium) 
heilsam Abhilfe zu treffen wünschen‘, und anordnete, falls das 
Kloster sich durch seine eigene Regel nicht reformieren lasse, 
eine Umwandlung in ein Zisterzienserkloster ins Auge zu fassen; 
dabei sollten die Mónche, die sich etwa weigerten, eine derartize 
Reform mitzumachen, in andere Benediktinerniederlassungen 
geschickt werden, und solche, die zuchtlos seien, der kirch- 
lichen Disziplin unterworfen werden. In Ausführung des Papst- 
schreibens berief der Erzbischof am Tage der Maria Magdalena 
(22. Juli) den Abt und den ganzen Konvent nach seiner Kapelle 
in Stade; er scheint sich jedoch nach Verlesung des päpstlichen 
Briefes mit der Mahnung begnügt zu haben, man solle mit der 
alten Ordensregel selbst zu reformieren suchen, sonst müsse er 
dem päpstlichen Befehl folgen. Aber wie an vielen Stellen 
Deutschlands, so fand auch in Stade der Zisterzienserorden fast 
einhellige Ablehnung (vgl. Hauck, Kirchengeschichte IV?, S. 
347f.); die alten Benediktinerorden wollten sich Eingriffe in ihr 
Leben nicht gefallen lassen. Dabei muß zugegeben werden, daß 


Albertus Stadensis 543 


vielfach schwere Verstöße gegen die Vorschriften des hl. Benedikt 
vorlagen. Drei Jahre, so heißt es, wartete Albert, daß durch- 
greifende Maßnahmen ausgeführt wurden; aber auch der Erz- 
bischof und das ganze Domkapitel in Bremen schienen die Sache 
nicht ernst zu nehmen, obwohl der Abt es nicht an mahnenden 
Vorstellungen fehlen ließ. Daher gab Albert schließlich sein 
Bemühen auf und legte 1240 sein Amt nieder. 

Ein Zeugnis für den Ernst seiner Bestrebungen und für die 
Anerkennung, die diese auch gefunden haben mögen, haben wir 
in den Annal. Hamburg. (SS XVI, S. 383) zum Jahre 1238 
erhalten in den Versen: 

Tres, ubi crescit olus, nec erant tunc sydera, solus 

Abbas Albertus posuit radiantia quercus. 

Diese Worte sind, wie mir scheint, bisher falsch gedeutet worden. 
Lappenberg (Arch. f. ältere deutsche Gesch., Bd. VI, 328) nennt 
sie „rätselhaft“ und meint, sie „sollten uns vielleicht die Nach- 
richt aufbewahren, daß er (Albert) damals in den Kohlgarten 
des hernach Sternberg benannten Dorfes (im Kirchspiele St. Wille- 
hadi vor Stade) drei Eichen gepflanzt habe“. Und Weiland 
(Forsch. z. deutsch. Gesch., Bd. XIII, 169, Anm. 5) kann diese 
Worte nicht rätselhaft finden; er sieht in ,,ubi crescit olus“ eine 
Zeitbestimmung, „im Frühsommer“, und bezieht „radiantia“ 
zu „sydera“. Darnach übersetzt Weiland die Verse so: Als der 
Kohl ausschlug und der Himmel mit Wolken bedeckt war, hat 
der Abt Albert drei Eichen gepflanzt. In welchem Zusammen- 
hang Weiland sich das gesagt denkt, verschweigt er. — Es ist 
wohl außer Zweifel, daß die Verse anders verstanden werden 
müssen. Das Jahr 1238, unter dem sie in den Annal. Hamb. an- 
geführt werden, gehórt in die Kampfzeit Alberts um Besserung 
des Lebens in seinem Kloster. Auf diese Krise spielen ganz 
offenbar die Verse an, und zwar in einem Bilde: ,, Wo Kohl (ge- 
deiht) gedieh und keine Sterne damals schienen, dort war es der 
Abt Albert allein, der drei Eichen als Leuchten (nämlich kraft- 
vollen Glaubens) aufrichtete.“ Für die übertragene Bedeutung 
von „Olus“ im Sinne des Minderwertigen ist auf zwei Parallelen 
zu verweisen. Troil. II, 128 besagt es „allerlei“, das aber dem 
„minderwertig‘‘ nahesteht; Sedul. carm. Pasch. I, 15f., wahr- 
scheinlich Alberts Vorbild an dieser Stelle, gebraucht „olus“ 
ausdrücklich im Gegensatz zum Wertvollen: doch wir pflückten 


544 Karl Fiehn 


aus ärmlichem Garten nur Geringes, was der irdene Krug als 
Kohl zur Mahlzeit liefert (oder mit anderer Zeichensetzung: 
wir pflückten nur geringen Kohl, den der ird. Krug z. M. liefert) 
(vgl. S. 562). Keine Sterne scheinen, völlige Finsternis herrscht, 
wo der Teufel sein Reich errichtet hat oder wo eben das Minder- 
wertige gedeiht. Da haben wir die Anspielung auf die schlechten 
Zustände im Stader Marienkloster, unter denen Albert so litt, 
wie er es in seiner Chronik zum Jahre 1240 äußert. Eichen 
galten nach mehreren Bibelstellen als Sinnbilder der Glaubens- 
kraft; drei Eichen mußte wohl Albert pflanzen nach Maßgabe 
der Heiligkeit dieser Zahl, die ja den dreieinigen und doch 
einen Gott darstellte. Bei dieser Deutung der Verse wird man 
auch dem „Tres“ am Anfang des ersten Verses gegenüber dem 
„Solus“ am Schluß gerecht: der Abt Albert stand ja schließlich 
allein" mit seinen Erneuerungsbestrebungen; ebenso kommt 
jetzt „radiantia“ an seinen rechten Platz, es kann nämlich nur 
Prädikatsnomen zu „tres quercus“ und Gegenstück zu ,,nec ... 
sydera" sein. Nach alledem darf man wohl annehmen, daB die 
Verse uns ein lobendes Urteil über Alberts Reformbemühungen 
in seinem Kloster bieten. 

Aber noch aus anderen Gründen sind die besprochenen 
Verse hier zu betrachten. Es geht ihnen nämlich in dem Ab- 
schnitt zu 1238 in den Annal. Hamb. der Satz voran: ,,Comes 
Adolfus cum uxore sua Heilewiga Livoniam ivit." Unter den 
Teilnehmern an diesem hier erwähnten Zuge Adolfs von Hol- 
stein nach Livonien (Livland) suchte man bisher stets auch 
Albert von Stade, weil man die Verse „Tres, ubi crescit ...." 
glaubte mit der Nachricht von der Fahrt Adolfs verbinden zu 
müssen. Schon die Lübecker Chronisten Detmarus und Rufus 
scheinen daher ihr Wissen zu schópfen, wenn sie schreiben: 
se hadden mit en den abbet Alberte van Staden (Chron. deutsch. 
Städte 19, S. 318). Aber, wie Vergleiche mit anderen Ab- 
schnitten solcher Annalen und Chroniken zeigen, sind oft ver- 
schiedene Nachrichten zu den einzelnen Jahren ohne inneren 
Zusammenhang aneinander gereiht. So auch hier. Nach der 
obigen Erklärung der Verse beziehen sich diese auf Vorgänge 
in der Heimat und enthalten nichts, was zu. dem Unternehmen 
Adolfs von Holstein passen kónnte. Albert war gar nicht mit 
in Livonien. Andernfalls hätte er auch in der Weltchronik 


Albertus Stadensis 545 


nicht völlig davon geschwiegen (vgl. vielmehr seine Bemerkung 
zum Jahre 1238, die fast der in den Annal. Hamb. gleicht). 
Dazu kommt, daß eine Urkunde vom Oktober 1238 (siehe 
oben S. 538), die zu Stade ausgestellt ist, seine Unterschrift 
trägt, ein unwiderleglicher Beweis, daß er zu der Zeit in der 
Heimat war. So kann man mit Bestimmtheit sagen, daß Albert 
von Stade nicht mit Adolf von Holstein nach Livland ge- 
zogen ist. 

Der Übertritt Alberts zu den Minoriten und sein Verzicht 
auf die Abtwürde im Stader Marienkloster erfolgten im Jahre 
1240, wenn wir der Chronik glauben dürfen (SS XVIS. 366). 
Nach deren Rechnung wurde Albert 1232 Abt und weilte 1236 
(Merzdorf falsch: 1234) in Rom; daraufhin äußerte sich der 
Papst noch im selben Jahre am 6. Mai an den Erzbischof von 
Bremen, wie oben dargelegt. Am 21. Juli fühlte sich der Erz- 
bischof veranlaBt, eine Versammlung des Konventes abzuhalten 
und an der Hand des Papstschreibens Alberts Reformgedanken 
dringend zu empfehlen. „Mehr als drei Jahre“ wartete Albert 
auf die Erfüllung seiner Forderungen, ehe er sich zum Rück- 
tritt vom Amte des Abtes entschloß. Demnach kommt man 
leicht in das Jahr 1240, in dem sich Albert am 20. August, an 
einem Montage, unter die Minderbrüder begab und zum Nach- 
folger den Abt Thiderich (Tirricus oder Theodoricus, siehe oben 
S. 540), Mönch von Rarstede (Rastede im Herzogtum Olden- 
burg), erhielt. Wir könnten uns mit diesen Feststellungen be- 
gnügen, wenn nicht der Äbtekatalog von Stade abweichende 
Zahlen brächte. Dort heißt es: (Albertus) rexit annis X et 
resignavit; dazu war sein Amtsantritt für 1233, wie nach Lap- 
penbergs Anmerkung ursprünglich geschrieben war, angesetzt. 
Demnach hätte Albertus 10 Jahre das hohe Amt innegehabt, 
also 1233—1242, und entsprechend beginnt auch im Äbte- 
katalog der Nachfolger Alberts mit dem Jahre 1242. Nach der 
Chronik wirkte Albert als Abt 1232—1240. Bei der Erwägung, 
welche Rechnung vor der anderen mehr Vertrauen verdient, 
wird man sich zu der Überlieferung, die Alberts Weltchronik 
gibt, neigen. Denn es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie 
gerade in diesem wichtigen Punkte von Alberts Leben ungenau 
sein sollte; ferner wird die Zeitordnung der Weltchronik dadurch 
gestützt, daß die Weihe Alberts mit der Sendung Balduins im 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 35 


546 Karl Fiehn 


Jahre 1232 zusammenstimmt. Es erscheint ausgeschlossen, 
daß Balduin den Albertus, wenn er erst 1233 Abt geworden 
wäre, hätte weihen können; denn Balduin hätte nach seiner 
Abordnung und Weihe im Jahre 1232 nicht ein ganzes Jahr 
vergehen lassen, ehe er seine wichtige Mission durchführte, 
Es wird wohl ein Fehler im Äbtekatalog vorliegen. 

Noch ein Wort darüber, daß Albertus seinen Nachfolger 
Thiderich „monachus von Rarstede“ nennt (SS XVI S. 366). 
Ist dieser Mónch erst als Abt nach Stade gekommen und ge- 
hórte er etwa zu der scharfen Richtung, die Albert vertrat? 
Letzteres liegt umso näher, als Albertus im Troil. VI 689ff. den 
Thidrich besonders feiert und hervorhebt, er selbst sei „non 
ultimus inter amicos" dieses Mannes gewesen. Außerdem fällt 
auf, daß Albertus zum Jahre 1240 erzählt, an der vom Erz- 
bischof Gebhard II. berufenen Versammlung der Mónche des 
Marienklosters habe neben zwei Minoriten auch ein Mónch von 
Rarstede, namens Johannes, ebenfalls später Minorit, teil- 
genommen. So könnte man glauben, daß Alberts Drängen auf 
größere Strenge doch wenigstens den Erfolg gehabt hat, daß 
man einen Abt aus einem Kloster mit straffer Zucht an seiner 
Statt wählte. 

Über das Wirken Alberts als Minorit wissen wir nichts. 
In einer Urkunde des Jahres 1250 (Hamb. U. B. IS. 467) wird 
er als „frater Albertus, quondam abbas beate Marie in Stadio“ 
erwähnt. Auch in der Handschrift des Troilus heißt es am 
Anfang: „Incipit .... qui postea factus est frater minor.“ 
Übrigens steht tatsächlich „minor“, nicht „minorum“ da, wie 
Peiper (Jen. Literaturzeit. 1875 S. 547) Merzdorf gegenüber be- 
hauptete; ein Kompendiumzeichen bei „minor“ ist nicht vor- 
handen. — 

Das Todesjahr Alberts kónnen wir ebenso wie das Geburts- 
jahr nur vermutungsweise angeben. Der Äbtekatalog verzeichnet 
allein den Todestag, den 9. Februar. Einen terminus post quem 
erhalten wir durch die Chronik Alberts, aber freilich auch einen 
schwankenden. Wenn die Eintragungen des  Todesjahres 
Alexanders IV. und der Regierungszeit Urbans IV. 1961—1264 
von Albert zweifellos stammten, dann wäre er nach 1264 ge- 
storben (vgl. S. 549). Da aber der Papstkatalog in der Chronik 
sehr wohl durch andere in dieser Weise ergänzt sein kann, ist 


LT F2. 


ao — Pr — . sy P — — PA Ey "2 — -5. 


Albertus Stadensis l 547 


es auch möglich, Alberts Tod schon ins Jahr 1256, in dem die 
letzte Bearbeitung der Chronik nachweislich (vgl. zum Jahre 
532) stattgefunden hat, zu setzen. 


2. Die Werke Alberts. 


Im Katalog des Augustinerchorherrnstifts Bordesholm- 
Neumünster (Kieler Universitätsbibliothek MS. Bord. 1, a b 
fol), der, wie am Schluß bemerkt im Jahre 1488 zusammen- 
gestellt ist, sind unter Afol. 1" folgende Werke Alberts ver- 
zeichnet: ; ° 

Alberti abbatis Stadensis Troilus G XVIII. (in gleichem Titel noch einmal 
unter T fol. 797 und im Standortsregister fol. 90Y ). 

Auriga Alberti abbatis in Stadis continens concordantias ewangeliorum F XV 
(in fast gleichem Titel noch einmal unter A fol. 6” (bei Auriga), nur daß 
hier ewangelistarum zu lesen ist, und im Standortsregister fol. 907 Auriga 
Alberti abbatis Stadensis). 

Alberti abbatis Stadensis cronica usque ad annos MOOXL G VIII. (fol. 18 7 
unter C: Cronica & principio creationis mundi usque ad annum 1240. und 
fol. 90% im Standortaregister: Cronica Alberti abbatis Stadensis a principio 
mundi usque ad annum domini MCOLVI III). 

Alberti abbatis Stadensis Raymundus metricus N XXVI (in gleichem Titel 
noch einmal fol. 63" unter R und dann noch einmal im Standortsregister 
fol. 957 mit vollständigerem Titel Summa Raymundi metrica Alberti 
Stadensis abbatis). 

Am bekanntesten von diesen Werken Alberts waren stets 
die Cronica, deren Titel freilich umstritten ist. Lappenberg 
hat seiner Edition dieser in den SS XVI S. 271ff. den Titel 
vorangestellt „Annales Stadenses auctore Alberto“, und nach 
der Praefatio dem eigentlichen Geschichtswerk die Überschrift 
gegeben „Annales Alberti abbatis Stadensis.“ Wie Lappenberg 
zu diesen Bezeichnungen kommt, sagt er a. a. O. S. 280, wo er 
sich auf die Worte von Alb. Crantzius, Metropolis VIII, 2 be- 
ruft: Albertus Stadensis abbas quem sequimur authorem in 
antiquitatibus huius regionis, scripsit enim temporum annales. 
Hier sei, so meint Lappenberg, ganz deutlich Alberts Geschichts- 
werk mit „Annales“ bezeichnet; man habe daraus zu lernen, 
daß das der richtige Titel sei für das uns vorliegende Buch, 
und nicht etwa eine verlorene Schrift Alberts, die so benannt 
gewesen sei, anzunehmen. Scheint es auch zweifellos, daB 
Crantzius auf das uns bekannte Geschichtswerk Alberts an- 
spielt, so ist es doch keinesfalls erwiesen, daB er den genauen 


35* 


548 Karl Fiehn 


Titel und nicht nur eine allgemein charakterisierende Bezeich- 
nung des Werkes mit ‚temporum annales“ geben will, wie ja 
auch hinter dem ,,authorem in antiquitatibus huius regionis" 
kein bestimmter Titel eines Werkes vermutet wird. Dazu kommt, 
daB, selbst wenn wir von Crantzius den Titel „Annales“ über- 
nehmen wollten, wir für den Zusatz „Stadenses‘‘ doch keinerlei 
Stütze fánden. Schon Wattenbach beanstandet in der Ein- 
leitung zu der deutschen Ausgabe „Die Chronik des Albert 
von Stade" in der Sammlung ,,Geschichtsschreiber der deut- 
schen Vorzeit“ Bd. 72 2. Ausgabe S. VIII, daß Lappenberg die 
Überschrift „Annales Stadenses“ gewählt hat. Er meint, es 
seien „keine Annalen von Stade, sondern die Absicht war, eine 
Weltchronik zu schreiben, wenn auch, wie in der Regel die 
Chroniken, nach Jahren geordnet, und am Schluß mit gleich- 
zeitigen Aufzeichnungen fortgeführt“. 

Wir sehen, für den Titel „Annales Stadenses“ ist eigentlich 
keine stichhaltige Begründung vorhanden. Dagegen haben wir 
eine gute Überlieferung, die für „Cronica“ spricht. Lappenberg 
wußte offenbar nichts davon, daß im Bordesholmer Katalog 
auch die „Cronica“ Alberts unter seinen Werken angeführt 
werden; denn sonst hätte er das gewiß beachtet und auch darauf 
Bezug genommen, als er S. 271 Anm. 1 mitteilte, daß in dem 
cod. Guelferbitanus, den er für seine Ausgabe benützte, „a manu 
satis recenti“ geschrieben sei: „Chronica Alberti abbatis Sta- 
densis cum supplementis." Zu diesen Zeugnissen kommt noch 
des Reineccius Ausgabe 1587, auf die auch Lappenberg a. a. O. 
S. 283 verweist; diese war auf Grund des jetzt verlorenen 
cod. Ranzovianus (einstmals im Besitz des holsteinischen 
Ritters Rantzau) entstanden. Reineccius bemerkt in der Ein- 
leitung, daB der Titel des Werkes nicht feststehe, aber in einem 
alten Register (wohl der Bordesholmer Katalog gemeint) heiBe 
es „Chronica Alberti Stadensis"; er entscheide sich daher für 
„Chronicon Alberti Stadensis“, denn damit sei der Inhalt des 
Buches am vollständigsten angedeutet. Nach alledem halte 
ich es für richtiger, von den Chronica Alberts zu sprechen. 
Merkwürdigerweise gibt Steffenhagen (Die Klosterbibliothek 
zu Bordesholm S. 4) an, daß die im Katalog von B. geführte 
Chronik des Albertus Stadensis verloren sei wie der Auriga 
desselben Verfassers. Dazu wird auf SS XVIS. 280 verwiesen, 


Albertus Stadensis 549 


wo aber, wie schon gesagt, Lappenberg die Annales (= Chro- 
nica) gerade für das einzige Geschichtswerk Alberts erklärt und 
den Verlust eines zweiten bestreitet. 

Über die Entstehung der Chronik bietet Reineccius wieder 
aus dem cod. Ranzovianus eine sonst nicht überlieferte Notiz: 
Librum hunc conscribi fecit Albertus, abbas S. Mariae virginis 
in Stadio, postea Minor frater ibidem, perducens narrationem 
rerum usque ad annum Domini MCCXL, scilicet usque ad 
annum Gregorii Papae IX decimum quartum, Frederici II vi- 
gesimum etc. Aus dem ersten Teil dieser Worte ist zu erkennen, 
daß Albertus, wohl in seiner Abtzeit 1232—1240, die Mönche 
zur Ausarbeitung dieser Jahresbücher veranlaßt habe; er mag 
sich die letzte Hand an dem Ganzen vorbehalten haben, aber 
die zeitraubende und anstrengende Sammelarbeit war demnach 
auf mehrere Kräfte verteilt. Mit dem Austritt Alberts aus dem 
Stader Marienkloster im Jahre 1240 fand das Werk fürs erste 
seinen Abschluß und erhielt auch damals die Vorrede (SS XVI, 
S. 283), die vom Standpunkt des Jahres 1240 aus geschrieben 
ist; in diesem Jahre ist auch gewiß eine letzte Durchsicht er- 
folgt, wie z. B. Bemerkungen zum Jahre 1202 zeigen: Senior 
vocabatur Redwinus, iunior Ethelerus, ambo adhuc super- 
stites, scilicet anno Domini 1240. Schwerlich aber ist aus der 
Vorrede zu schließen, daß das ganze Werk erst im Jahre 1240 
entstanden sei. „Dies setzt“, wie Weiland (Forsch. z. deutsch. 
Gesch. XIII 164) sagt, „bei dem jetzigen Umfang des Werkes 
eine fast übermenschliche Arbeitskraft voraus“; Weiland sieht 
freilich in Albert den alleinigen Verfasser der Chronik. Aber 
selbst wenn man mehrere sich in die Arbeit an dem umfassenden 
Werk teilen läßt, wäre sie kaum in weniger als einem Jahr zu 
schaffen, da die Mönche nur eine begrenzte Zeit für diese Tätig- 
keit zur Verfügung hatten, und ihr Abt durch seine Reform- 
bestrebungen, gerade im Jahre 1240, zweifellos stark bean- 
sprucht und beunruhigt war. Als Minorit, der großen Pflichten 
eines Abtes ledig, mag sich Albert wieder seine Chronik vor- 
genommen und sie sicherlich überarbeitet sowie bis zum Jahre 
1256 erweitert haben; Weiland a. a. O. rechnet sogar mit einer 
wahrscheinlich von Albert stammenden Fortsetzung bis zum 
Jahre 1265, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Neben 
Weiland hat das alles Lappenberg a. a. O. S. 274ff. ausführlich 


550 Karl Fiehn 


behandelt. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß im Bordes- 
holmer Katalog zweimal als Abschlußjahr der Chronik 1240 
begegnet, und einmal, im Standortsregister, also am Ende des 
Katalogs, 1256. Daß es sich nicht um verschiedene Ausgaben 
handeln kann, geht daraus hervor, daß alle drei Eintragungen 
mit derselben Standnummer versehen sind. Die Kloster- 
bibliothek von Bordesholm hatte ganz offenbar die auch uns 
vorliegende Fassung der Chronik bis zum Jahre 1256 in ihrem 
Bestand. Aber der Katalogverfasser hat die ersten beiden 
Notizen nach dem Blatt der Vorrede gemacht, in der als Zeit 
des Werkes 1240 genannt wird; als er dann jedoch das Stand- 
ortsregister machte, ist ihm die spätere Weiterführung bis 1256 
zum Bewußtsein gekommen und nun auch verzeichnet worden. 

Wir wenden uns jetzt dem Werk Alberts zu, das im Bordes- 
holmer Katalog an zweiter Stelle unter „Albertus“ erscheint, 
dem ,Auriga". Weder Merzdorf noch Lappenberg haben ge- 
nügend den erklärenden Zusatz beachtet, mit dem der Katalog- 
verfasser den „Auriga“ versehen hat: continens concordantias 
ewangeliorum (bzw. ewangelistarum). Merzdorf (Bibliotheka- 
rische Unterhaltungen, Neue Sammlung 1850, S. 12) notiert 
dafür einfach: Auriga (super IV evangelia) und Lappenberg 
übernimmt dies. Der Zusatz in dem Katalog ist deshalb so 
wichtig, weil wir uns aus ihm allein ein Bild von dem Inhalt des 
„Auriga“ machen müssen. Denn das Werk selbst ist verloren. 
wenigstens bisher nirgends aufgefunden. Es ist weder in der 
Kieler Universitätsbibliothek noch in den Kónigl. Bibliotheken 
Kopenhagens oder Soroes (Seeland), wohin über die Gottorfer 
Bibliothek im wesentlichen die einst geretteten Schätze der 
Bordesholmer Stiftsbibliothek gelangt sind. (Merzdorf a. a. O. 
S. 76. Steffenhagen-Wetzel, Die Klosterbibliothek zu Bordes- 
holm S. 81 Anm. 103.) Ebensowenig ist der „Auriga“ in dem 
Zisterzienserstift Neukloster in Wiener-Neustadt, wohin einiges 
aus Bordesholm gekommen ist (Anz. für Kunde der deutsch. 
Vorzeit 1854, 5ff. und 27ff.), nachzuweisen. Nur eine Möglich- 
keit, auf den „Auriga“ einmal zu stoßen, gibt es noch. In Rom 
nämlich wird auch Bordesholmer Gut bewahrt, wie aus Joh. 
Carl Dreyers Notitiae librorum manuscr. hist. Cimbr. 1759, 
S. 86/87 zu ersehen: Reformationis aevo Monachi occupatissini 
fuerunt cimelia quaevis, diplomata et chartularia vel ad lares 


Albertus Stadensis 551 


domesticos papales vel ad montem Cassini Romamque 
transmittere, adhibito omni modo possibilitatis et imposturae. 
Ipse ex ore b. Reinbothii percepi praecipuum quendam Purpu- 
ratum retulisse ipsi et aliis, quod Romae olim viderit ingens 
„volumen rerum Bordisholmensium‘ et in transcursu 
brevi annotationes de relictis Bordisholmiae thesauris et redi- 
tibus reconditis. So wäre es nicht ausgeschlossen, daB eines 
Tages der bisher vermißte Auriga in Rom ans Licht käme. 
Aber es ist auch gewiD, daB viel aus den Schátzen Bordesholms, 
namentlich im 17. Jahrhundert, dem Untergang verfiel (Merz- 
dorf a.a. O. S. 10. Ratjen, Zur Geschichte der Kieler Universi- 
tátsbibliothek 1862 S. 6f.), und es muB damit gerechnet werden, 
daß damals auch der „Auriga“ vernichtet wurde. 

Was mag nun sein Inhalt gewesen sein? Wir wissen zunächst 
nicht, ob das Buch eine Dichtung oder ein Prosawerk war; der 
Katalogschreiber hat leider nur hinzugesetzt: continens concor- 
dantias ewangeliorum (bzw. ewangelistarum). Sehr wahr- 
scheinlich folgte er darin nicht einer entsprechenden náheren 
Bestimmung durch Albert selbst, sondern gab nur seinen Ein- 
druck wieder. Albert konnte damals kaum von einer Concordanz 
sprechen; denn der hl. Antonius von Padua (1195—1231) soll 
zum erstenmal ein derartiges wissenschaftliches Hilfsmittel 
verfaßt haben, und zwar in Gestalt einer Realconcordanz; 
diese ist „ein Verzeichnis von Predigtstoffen mit Angabe der 
entsprechenden Bibelstellen“ (Buchberger, Kirchl. Handlex. I, 
625). Verbalconcordanzen, d. h. Zusammenstellungen von Bibel- 
versen nach bestimmten Stichworten, gab es erst später. 
Hátte Albert schon sein Buch eine Concordanz genannt, und 
wäre es in vollem Sinne eine solche gewesen, so wäre nicht zu 
verstehen, warum er nicht neben Antonius von Padua als früher 
Verfasser von Concordanzen erwáhnt wird. Aber sein Werk 
wird nur eingeschränkt diesen Titel verdient haben. Es war 
vielleicht nach Art einer Realconcordanz angelegt, indem 
Predigtstoffe nicht nur verzeichnet, sondern auch gleich be- 
handelt waren; ferner berücksichtigte er nicht die ganze Bibel, 
sondern nur die vier Evangelien. Und was die Form anbetrifft, 
so kann er sich der metrischen Rede bedient haben. Das alles 
mag veranlaBt haben, daB er nicht als Mitbegründer der eigent- 
lichen Concordanzen galt. 


C, 


552 Karl Fiehn 


Der Titel „Auriga“ scheint auf den ersten Blick recht gut 
zu einem Werk zu passen, das einer Realconcordanz ähnelt. 
Diese will ja ein „Führer“, ein „Lenker“ anderer durch die 
vier Evangelien sein. Und wenn man dem Bilde weiter nach- 
geht, so gehört zu dem ,,auriga" auch eine „quadriga“, ein 
Wagen, der die Belehrung suchenden Menschen trägt. In dem 
Gedichte Alberts, Troilus, stoßen wir II, 123f. auf eine für uns 
sehr wichtige Stelle: 

Sudavit nostris per te Raymundus in armis; 

Scit tibi bis binis ire quadriga rotis. 

Die Verse stehen in einer Rede, die der Dichter das erzürnte 
Metrum halten läßt, für den Fall, daß er etwa Fehler gegen die 
Versgesetze beginge. Dann würde ihm manches andere Werk, 
das er in Unterwerfung unter die Versgesetze geschaffen, vor- 
gehalten werden, so der „Raymundus“ (siehe unten), und dann 
würde es heiBen: ,,scit tibi bis binis ire quadriga rotis", ,,Dein 
Wagen fährt doch gut auf seinen vier Rädern dahin", das be- 
treffende Gedicht also ist in seinen Versen einwandsfrei. Welches 
Gedicht ist hier gemeint? Am nächsten liegt, daß es , quadri: a“ 
geheiBen habe. M 

In der Tat wird uns ja ein solcher Gedichtstitel überliefert 
und auch mit Albert von Stade in Verbindung gebracht. Im 
Chronicon des Klosters Harsefelde oder Rosenfelde (Joh. Vogt, 
Monum. ined. rer. Germ. 1741, I, 136) wird nämlich erzählt, daB 
ein ,,quidam" das Kloster Harsefeld ‚in quodam metrico libro 
qui dicitur quadriga (continet enim quatuor Evangelia)" ge- 
rühmt habe; darauf folgen als Beispiel einige Verse aus dem 
Gedicht, die oben (S. 540) besprochen worden sind. Es fällt 
hier sogleich auf, daß der Inhalt des metricus liber die vier 
Evangelien seien. Das läßt uns ohne Zwang an den ,,Auriga" 
denken. Dieses Werk hatten wir oben als eine Realconcordanz 
bezeichnet, von der man nicht eigentlich sagen kann, daß sie 
die vier Evangelien enthalte; vielmehr handelt es sich um Er- 
klárungen zu den Evangelien, um Ausführungen über ihren 
Inhalt. Wenn man genau der Angabe der Chronik von Harse- 
feld folgt, dann bestand die „ Quadriga“ genannte Schrift aus 
den vier Evangelien. Ganz offenbar wird „quatuor evangelia“ 
ausdrücklich mit ,,quadriga", als Viergespann gedacht, in Ver- 
bindung gebracht, ein Bild, das man z. B. auch gern gebrauchte 


Albertus Stadensis 553 


für die vir Tugenden u. à. (vgl. Du Cange). Man müßte dem- 
nach in dem Buch eine Zusammenstellung der vier Evangelien 
vermuten, etwa mit Einleitungen, einzelnen Erklärungen, 
Bildern usw. Wie paßt das aber dazu, daß „Quadriga“ ein 
„metricus liber' ist, und zwar in Hexametern, wie die daraus 
angeführten Verse beweisen? In einem solchen Gedicht kónnten 
doch die vier Evangelien nur zusammengefaßt vorkommen, 
etwa in der Art einer Messiade; aber eine quadriga wäre das 
dann nicht. Ein solcher Buchtitel hat nur Sinn, wenn auch eine 
Vierheit in dem so benannten Werk zur Geltung kommt. An- 
gesichts dieser Sachlage erhebt sich die Frage, ob vielleicht die 
Inhaltsandeutung für die ,,Quadriga" ungenau und nicht 
treffend genug gegeben ist, ob man nicht an ein Werk zu denken 
habe, wie es der ,,Auriga" gewesen sein muß. 

Tatsächlich legt ja die innere Beziehung der beiden Titel 
eine solche Frage nahe. Lappenberg hat daher folgenden Weg 
beschritten (S S XVI 272). Ausgehend von der Beobachtung, 
daB die aus der sog. „Quadriga“ wiedergegebenen Verse im 
Inhalt und in der Form den Versen Alberts von Stade im 
Troilus VI, 670ff. ähneln (siehe oben S. 540), erklärt er, daß 
der als ,quidam'' bezeichnete Dichter kein anderer als Albert 
Seiu könne und wir nunmehr den richtigen Namen seines Ge- 
dichtes, nämlich „ Quadriga“, vor uns hätten; „Auriga“ erweise 
sich deutlich als eine Verschreibung im Bordesholmer Katalog. 
Merzdorf hat dann in seiner Troilusausgabe, Praef. 6, Lappen- 
berg zugestimmt und noch bekráftigend hinzugefügt, daB im 
Bordesholmer Katalog die Verschreibung von ,,Quadriga" zu 
„Auriga“ ganz erklärlich sei. Der Schreiber habe nämlich vorher 
„Auroga Petri de Riga" und „Aurora Petri de Riga“ gesehen 
und, mit diesen Titeln im Sinne, „Auriga“ hingeschrieben statt 
„Quadriga“. Dieser Hinweis Merzdorfs ist hinfällig. Denn im 
Standortsregister fol. 901 des Katalogs, worauf sich Merzdorf 
allein bezieht, könnte allenfalls eine solche Erklärung gelten. 
Aber der „Auriga“ erscheint noch außerdem an zwei anderen 
Stellen im Katalog, wo ein Verschreiben nicht moglich ist: 
unter „Albertus“ fol. 1Y in der Aufzählung von Alberts Werken 
und unter Au— in der Reihenfolge des Buchstabens A fol. 67, 
wo der Titel ,, Auriga" Alberti usw. auf der letzten Zeile steht 
und am Anfang oben von fol. 6“ „Auroga Petri de Riga“ folgt. 


554 Karl Fiehn 


Also „Auriga“ ist wohl damit als unantastbar anzusehen; mit 
einer Verschreibung oder Verwechslung kann nicht gerechnet 
werden, wenn dreimal einwandsfrei der gleiche Titel im Bordes- 
holmer Katalog geführt wird. Ebensowenig ist Albert als Ver- 
fasser des „Auriga“ anzuzweifeln. Dagegen fällt es sehr auf, 
daß unter den Schriften Alberts im Bordesholmer Katalog kein 
Gedicht „ Quadriga“ aufgeführt wird. 

Demnach werden wir umgekehrt als Lappenberg verfahren 
müssen. Der ‚„quidam‘, der die „Quadriga‘‘ gedichtet hat, ist 
nicht ein „monachus Rosenveldensis", wie Lappenberg unbe- 
gründeterweise annimmt; dann kónnte er ja auch auf keinen 
Fall Albert von Stade sein, der dem Kloster Rosenfeld nie 
nachweisbar angehört hat. Zu diesem paßt es jedoch, daß der 
Dichter als ,tam honestatem quam eiusdem loci religionem 
diligens et admirans' bezeichnet wird, und zwar noch mehr, 
wenn diese honestas und religio wurzeln, wie der Chronist S. 136 
schildert, in der Zisterzienserbewegung, die durch die Mónche 
von Hilsineborch (Ilsenburg) von Halberstadt her nach Harse- 
feld kam. Zudem wissen wir aus Troil. VI, 670ff., wie hoch das 
Mutterkloster des Marienklosters von Stade in Alberts Liebe 
steht. Endlich haben wir oben die Übereinstimmung der Vers- 
technik und des dichterischen Ausdrucks zwischen der Troilus- 
stelle und den Quadrigaversen gesehen. So ist es gewiB nicht 
gewagt zu schließen, daß der vom Rosenfelder Chronisten 
nicht genannte Dichter des metricus liber Albertus Stadensis ist. 

Wir kehren nun zu der Frage zurück, was in der,, Quadriga 
gestanden haben mag. Die vier Evangelien konnten es nicht 
sein, wie wir gezeigt zu haben glauben, vielmehr muß es ein 
metrisches Werk über diese gewesen sein. Dann würde aber 
die „Quadriga“ inhaltlich dem „Auriga“ ähnlich sein, ja die 
Identitàt beider offensichtlich. Darin wird man Lappenberg 
recht geben, nur daB wir jetzt sagen, der echte Titel des Werkes 
ist ,, Auriga", der mehrfach gestützt ist. Und weiterhin: der 
„Auriga“ ist somit auch ein Gedicht Alberts in Hexametern, 
von denen uns eine Probe in der Rosenfelder Chronik vorliegt, 
dort freilich angeblich der,, Cuadriga“ entnommen. „Quadriga“ 
wird eine zweite Bezeichnung sein, unter der der ,, Auriga" be- 
kannt war. Sie entstammte vielleicht einem ausführlicheren 
Titel, der das Bild vom ,,Auriga" etwa in dem Sinne vervoll- 


Albertus Stadensis 555 


ständigen sollte: Auriga (qui quadriga evangeliorum studiosos 
vehit). Jedenfalls nimmt der Dichter, wenn wir Troil. II, 123f. 
richtig deuten, auf sein Gedicht mit dem Wort „quadriga“ 
Bezug, indem er eben mit dem „auriga“ die „quadriga‘‘ ver- 
bindet, die nicht nur im verstechnischen Sinne eingeführt wird, 
sondern gewiß auch als der Wagen gelten soll, auf dem die 
Gláubigen in die Evangelien getragen werden. Der Name 
„Quadriga“ hat sich vielleicht besonders leicht eingebürgert, 
weil man ihn, unter Umstànden ohne Willen des Dichters, mit 
der Vierzahl der Evangelien in Zusammenhang brachte. 
Bisher nirgends beachtet worden ist das Werk Alberts, das 
im Bordesholmer Katalog fol. 1 unter „Albertus“ an letzter 
Stelle steht, der , Raymundus metricus" oder Summa Ray- 
mundi metrica, wie fol. 95" im Standortsregister gesagt ist. 
Von dieser Katalognotiz fállt erst ein wunderbares Licht auf die 
schon erwähnten Verse Troil. II, 123f., die bis dahin unklar 
bleiben muBten. Was sollte es heiBen: ,,Raymundus hat durch 
dich in unseren Waffen geschwitzt“? Es ist deutlich: das 
redende Metrum weist den Dichter darauf hin, daB er dem Ray- 
mundus seine (des Metrums) Waffen aufgezwungen hat, d. h. 
daß sein Raymundus-Gedicht keine Anstöße im Versbau zeigt. 
Albertus Stadensis hat somit die Summa des berühmten 
Raymundus von Pennaforte metrisch bearbeitet, wie das im 
Laufe des Mittelalters viel getan worden ist; gewóhnlich trugen 
diese Bearbeitungen den Namen Summulae, da sie nur ver- 
kürzte Kompendien der großen Summa Raymunds waren, 
in Prosa oder Versen verfaßt. Alberts Arbeit verdient vielleicht 
deswegen besondere Beachtung, weil er wahrscheinlich eine der 
ersten Zusammenfassungen von Raymunds berühmtem Werk 
geschaffen hat, ja unter Umstánden die erste überhaupt. Denn 
der Dominikaner Raymundus von Pennaforte war sein Zeit- 
genosse. Er lebte zirka 1175—1275 und verfaßte zwischen 1234 
und 1244 ein berühmtes moralistisch-kasuistisches Handbuch, 
die Summa de poenitentia et matrimonio, die wohl aus seiner 
reichen Erfahrung als Poenitentiarius Gregors IX hervorge- 
gangen sein mag. Albertus dürfte sich gerade mit diesem Werk 
recht gründlich beschäftigt haben, da er, selbst sehr streng ge- 
sonnen, 1236 wegen einer Klosterreform nach Rom ging und 
dort jedenfalls über diese Angelegenheit mit Raymundus ver- 


556 Karl Fiehn 


handelt haben wird. Vielleicht trafen sich beide Männer in 
ihren Ansichten vom Ernst der Klostergelübde, der Dominikaner 
und der spätere Franziskaner, und vielleicht war es auch Ray- 
mund, der das für Albert eintretende päpstliche Schreiben an den 
Erzbischof von Bremen veranlaßte und wesentlich beeinflußte 
(vgl. S S. XVI, S. 366). | 

Alberts Dichtung ist wie der „Auriga“ verloren gegangen; 
auch hier können wir nur noch hoffen, daß er in Rom verborgen 
ist (siehe S. 550). Um uns die Art des ,,Raymundus metricus“ 
zu vergegenwártigen, müssen wir die einleitenden Verse einer 
andern, oft genannten Summula heranziehen, nämlich die des 
Adamus, der nach Schulte (Gesch. der Quellen und Literat. des 
canon. Rechts II, 427f.) um die Mitte des 14. Jahrhunderts 
lebte. Auf Grund einer Berliner Handschrift aus dem Jahre 1415 
und einer Druckausgabe, Straßburg 1504, ergibt sich folgender 
Textil: 

Summula de summa Raymundi prodiit ista; 

Non ex subtili, sed vili scribimus ista 

Eloquio; placet hec sociis: quia magna studendi 

Cura sibi non est, modus his valet ergo loquendi. 

5. Inter doctores hunc nolumus ire libellum, 

Parvis et rudibus quem tradimus esse legendum!!, 

Invenient in eo quid, quod iuvat, utilitatis! . 

De sacramentis primo tractatur et indel?* 

Hic de baptismo, de coniugio, symonia, 
10. Furtis et spoliis usuris atque rapinis, 

Sortilegis vitiis carnis tractatus habetur!?, 

Hinc sequitur finis confessorum simul actus. 

Quedam longavi non inscius et breviavi 

Ut melius metro sensus tibi luceat isto. 


Áhnlich wie in vorstehenden Versen wird die Herausgabe der 
Summula in einer Glosse zur Ausgabe Adams 1504 begründet: 
Raymundus (man sah als Verfasser der Summulae den Domi- 
nikaner selbst an) ...., qui videns imperitorum clericorum 
paupertatem in tantum, quod non poterant eis libros emere 


10 Es werden nur die Varianten des Berl. cod., die Sinn geben, hier angeführt. 
11 Berl. cod.: Pronis .... traximus .... loquendi. 

12 Berl. cod.: Inveniunt .... quidquid manet ........ 

138 Berl. cod.: Fehlt im Berl. cod. 

13 Berl. cod.: Sacrilegis viciis ............ 

M Fehlt im Berl. cod. 


Albertus Stadensis 557 


in iure canonico, in quo studere poterant, hanc summulam 
compilavit, in qua sub brevibus continentur plura omnibus 
sacerdotibus scire necessaria .... Man sieht, die Geistes- 
richtung Alberts, die wir kennen gelernt haben, paßt zu seiner 
eingehenden Beschäftigung mit dem Werke des berühmten 
Ravmundus von Pennaforte. 

Endlich möge hier die Dichtung Troilus etwas näher be- 
trachtet werden, die im Bordesholmer Katalog unter den 
Werken Alberts an erster Stelle steht. Sie ist gut erhalten, in 
einer einzigen Handschrift, die jetzt in der Wolfenbüttler 
Herzog August-Bibliothek unter Gud. Lat. 378 aufbewahrt wird. 
Sie ist zusammengebunden mit kurzen Fragmenten aus Lactanz 
und Cornelius Nepos sowie mit einem großen Teil von Ciceros 
Philippischen Reden. Der ganze Band umfaßt 162 Blätter; 
81—160 enthalten den Troilus. Dieser Teil ist in einer Schrift 
des 13. bis 14. Jahrhunderts geschrieben. Am oberen Rande 
von Blatt 81, dem ersten also des Troilus, findet sich von einer 
Hand des 14. Jahrhunderts „liber sce marie in novo monas- 
terio" und nochmals 160Y von derselben Hand ,,l. sce m. vir- 
ginis in n.". Darnach ist die Handschrift in Neumünster ent- 
standen und von dort bei der Übersiedelung des Konvents 
unter dem Propst Heinrich Swineborg nach Bordesholm im 
Jahre 1832 mitgekommen; in dessen Bibliothekskatalog ist der 
Troilus daher auch aufgeführt, und zwar unter G XVIII. 1606 
wurde die Bordesholmer Bibliothek aufgelöst und gab den größten 
Teil ihrer Schátze an die Gottorfer. Aus dieser erwarb die 
Troilushandschrift Marquard Gude, der berühmte Bibliophile 
und Gelehrte des 17. Jahrhunderts, 1671—1678 Bibliothekar 
der Gottorfer Bibliothek, für seine Sammlung. Als dann 1710 
der wertvolle Nachlaß Gudes in Hamburg versteigert wurde, 
kaufte u. a. auch den Troilusband der Herzog Anton Ulrich 
von Braunschweig und brachte ihn so in die Wolfenbüttler Bi- 
bliothek, wo er sich noch heute befindet (Merzdorf, Bibliothekar. 
Unterhalt., Neue Sammlung 1850, S. 4, 78f., und Troilus 
praef. VIII und XVII. Steffenhagen-Wetzel, Die Kloster- 
bibliothek zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek S. 79ff., 
von Heinemann, Die Handschriften der Herzogl. Bibliothek zu 
Wolfenbüttel IV. Abt. Die Gudischen Handschriften 1913, 
S. 227f.). 


558 Karl Fiehn 


Die editio princeps des Troilus machte auf Grund der er- 
wähnten Handschrift 1875 Theod. Merzdorf in der Bibliotheca 
scriptorum medii aevi Teubneriana und erfuhr eine geradezu 
vernichtende Kritik durch R. Peiper in der Jenaer Literatur- 
zeitung 1875 S. 547ff. „Es ist aber das Unglück der mittel- 
alterlichen Autoren lateinischer Zunge, daß man mit einigen 
Reminiscenzen aus der Schulgrammatik und Schullektüre zu 
ihrem Verständnis, wohl gar zu ihrer Bearbeitung sich wohl aus- 
gerüstet meint‘‘, so schrieb damals Peiper und fügte nach Auf- 
zeigung einer Menge von Fehlern am Ende seiner Besprechung 
hinzu: „Correxit pigritans“ kann man als Endurteil dem 
Dichter VI 695 entlehnen; „labor hic quam scribere maior‘ mag 
der ausrufen, der berufen ist, das Werk des Albertus, wie es 
vorliegt, von all den tausend Fehlern zu sáubern." Auch Mani- 
tius fällte ein ähnlich mißbilligendes Urteil im Lit. Zentral- 
blatt 1875 Sp. 1294f. Ein Jahr später hat dann H. Dunger in 
Fleckeisens Jahrbüchern Bd. 113 (1876) noch einmal im gleichen 
Sinne kritisiert: die Ausgabe des Troilus genüge „selbst geringen 
Anforderungen nicht“; auch Dunger hat mehrere Fehler noch 
nachgewiesen und zu bessern gesucht. 

Trotz dieser starken Ablehnung, die die Erstausgabe des 
Troilus erfuhr, sind nun bald 60 Jahre vergangen, ohne daß 
man sie durch eine neue ersetzt hätte. Die Folge ist, daß Albertus 
Stadensis ein kaum beachtetes Dasein fristet und nur wenige 
Arbeiten ihm gewidmet sind. Vor Erscheinen der Ausgabe be- 
schäftigte sich mit ihm Dunger in der Programmschrift Dresden 
1869: „Die Sage vom trojan. Kriege in den Bearbeitungen des 
Mittelalters und ihre antiken Quellen." Nach 1875 gab Chris- 
tensen in seinem Buch: „Das Alexanderlied Walters von Cha- 
tillon“ einige Parallelstellen, dasselbe tat E. Voigt, ,,Ysen- 
grimus“ p. XV für drei Stellen, und endlich notierte M. Mani- 
tius in Roman. Forsch. IV 423ff. mehrere Entlehnungen Alberts 
aus anderen Dichtern, namentlich aus Galfredus de Vinosalvo, 
Poetria Nova im 4. Buch des Troilus. 

Nachdem ich die Wolfenbütteler Handschrift selbst ge- 
lesen und mit der Ausgabe Merzdorfs verglichen habe, möchte 
ich hier einige Fragen zum Text und Inhalt des Troilus 
behandeln und damit, wie ich hoffe, eine Neuausgabe vor- 
bereiten. 


Albertus Stadensis 559 


Troil. VI 737f. heißt es: Bis denis adde ter centum milia 
quinque, Hoc numero textus texitur historie. Demnach soll 
die Dichtung 5320 Verse umfassen, wie am Rand bemerkt ist, 
excepto prohemio et capitulis. Wenn man aber die Verszahlen, 
die Merzdorf unrichtig angibt, genau feststellt, dann hat B. I 
800 Verse (nicht 801; Merzdorf setzt V. 545 falsch); B. II 844 
Verse (nicht 850; Merzdorf macht Fehler bei V. 355 und 695); 
B. III 878 Verse; B. IV 884 Verse; B. V 1020 Verse; B. VI 
880 Verse und 8 Verse des Epilogs (die von Merzdorf als 881f. 
gezählten Verse sind in der Handschrift non sunt de texto ge- 
kennzeichnet und passen in der Form ja auch tatsächlich nicht 
hierher). So ergeben sich nur 5314 Verse. 

Wie ist diese Unstimmigkeit zu erklären? Einmal vird 
man mit Recht sagen, daß bei Zahlenüberlieferungen leicht 
Fehler vorkommen, zumal wenn diese in metrischer Form ge- 
geben werden. Auch VI, 715f. paßt die Gesamtzahl der Ge- 
fallenen nicht zu den vorher einzeln aufgeführten Zahlen: 
Millesies mille permixtim quinque trecenta Et decies (Dunger 
hatte schon richtig vermutet, was die Handschrift hat) octo 
milia cesa puta. Das wären also 1385000 Gefallene auf beiden 
Seiten, während vorher 886000 Tote (VI, 707) bei den Griechen 
und 949000 bei den Trojanern (VI, 713f.: Peiper hat schon 
richtig nongenta eingesetzt) genannt wurden, also hátten es 
zusammen 1835000 sein müssen. Offensichtlich hat der Dichter 
durch Verstellung der Ziffer 8 irrtümlich die falsche Gesamtzahl 
in den Vers gesetzt. Das ist ein Beweis dafür, wie bald sich in 
die gesehene oder vorgestellte Zahl schon bei dem Dichter 
selbst ein Fehler einschleichen konnte. Die andere Möglichkeit, 
den Widerspruch zwischen der Angabe des Dichters und dem 
tatsáchlichen Befund etwa aus dem Verlust von 6 Versen zu 
erklären, findet in der Handschrift keinerlei Anhalt; freilich 
kónnten diese 6 Verse ja schon in der Vorlage unserer Hand- 
Schrift gefehlt haben. 

Die Zahlangabe des Entstehungsjahres des Gedichts scheint 
einwandsfrei; sie steht auch bei Merzdorf ohne Fehler VI, 671 f. 
Darnach ist der Troilus im Jahre 1249 gedichtet. 

Das Metrum zeigt nichts Auffallendes im Vergleich zu 
anderen mittelalterlichen lateinischen Dichtern. Wir haben im 
Prooemium und in den Capitula durchgehend Hexameter, im 


560 Karl Fiehn 


eigentlichen Gedicht Distichen. Elision ist durchgängig ver- 
mieden, nur einzelne Verschleifungen sind zu beobachten wie 
z. B. in II, 644 (utrique est); III, 21 (certe est); III, 24 (tua est); 
III, 99 (adeo est); IV, 123 (ferendum est); VI, 487 (relicta est); 
VI, 722 (sibi est). Hiat vereinzelt, nur da, wo er auch bei den 
Klassikern ohne AnstoB war, z. B. O, ait, Antenor .... I, 158. 
An einer Stelle, nàmlich I, 541f., findet sich das Zusammentreffen 
von m mit folgendem Vokal, wenn die Handschrift richtig gelesen 
ist. Merzdorfs Text ist hier falsch. Mir hat sich dieses ergeben: 
Nondum oontigerant Ohiteram, sic insula dicta 
Est, et nomen idem, o Chitarea, tenes. 
In der Handschrift steht hinter nomen: ib (das „b“ nicht 
sicher, leicht auch als „d“ zu lesen), o Chiaterea (am Rand 
Chitarea), woraus Merzdorf „ab o, o Cytherea" macht und 
dabei noch „tenes“ in „tenet“ ändert. Die Aufeinanderfolge 
idem, o.... hat Parallelen in Guiard. 435: Despiciens stadium 
ignara scientia verum (Roman. Forsch. XXVI, S. 443) und 
Ysengr. V, 415: quidem his dictis. Ernst Voigt, Ysengr. XX XI, 
freilich hält diese von allen Handschriften gegebene Lesart für 
falsch und will umstellen, weil ihm quidem his nicht moglich 
erscheint. Wird man aber nicht doch, wenn auch vereinzelt, 
mit solchen Fállen rechnen müssen, die ja dadurch erheblich 
gemildert sind, daß sie in der Caesur stehen? 
In einem gewissen Humor zeigt der Dichter II, 116ff., wie 
ernst er es mit den Gesetzen des Metrums nimmt. In der Auf- 
zählung der Griechen, die gegen Troia ziehen, hat er zuletzt den 
Meriones genannt und ihm verschiedene Beiwörter gegeben, 
als letztes „mente tenax“, in Vermeidung von „pertinax“, das 
Dares XIII gebraucht. Darnach fährt er fort: 
Dicere cum volui, quia (so Hs.!) pertinax esset, oriri 
Me contra cepit protinus ira metri. 

„Me duce qui tocies", inquid, ,,mea signa tulisti, 
Quis modo persuasit illa negare tibi! 

Exitus acta probat; finis, non pugna coronat, 

120. Laudamus tandem sole cadente diem. 

Nostra probabiliter huc usque secutus es arma; 
Nunc quasi deficiens ylia ducis iners. 

Sudavit nostris per (so Hs.!) te Raymundus in armis!5; 
Scit tibi bis binis ire quadriga rotis. 


15 Vgl. Galfredus de Vinos. 493: In cruce sudavit Dominus .... 


Albertus Stadensis 561 


125. Occupat extremum scabies, quia ducis in aulam 
Proscriptos nostram rem recitando ream. 
Est tibi gramatice nimis artus fertilis hortus, 
Qui, quibus et quabus, omne ministrat olus? 
An non pro verbo didicisti sumere verbum, 
130. Ut teneant proprium singula queque locum? 
Territus his iaculis cessavi ponere „perti — 
Nax“, ponens eius nomine „mente tenax". 
Crudelem si dico virum, si dico virilem, 
Vel si virosum, sustinet illa metrum. | 
Im allgemeinen wäre hier zunächst an einen ähnlichen Scherz 
des Ovid in Pont. IV, 12 zu erinnern, wo von der Schwierigkeit 
die Rede ist, den Namen Tuticanus in den Vers zu bringen: 
7. Nam pudet in geminos ita nomen findere versus“, 
Desinat ut prior hoc incipiatque minor. 
Et pudeat, si te, qua syllaba parte moratur, 
10.  Artius appellem Tuticanumque vocem ....!? 
15. His ego si vitiis ausim corrumpere nomen, 
Ridear et merito pectus habere neger!®, T 
Zu vergleichen ist auch Hor. serm. I, 5, 87: Mansuri oppidulo, 
quod versu dicere non est. Áhnlich beginnt Galfredus de Vino- 
salvo seine Poetria Nova (ed. Faral, Les Arts poétiques du XIIe 
et du XIII? siecle): 

Papa stupor mundi, si dixero Papa Nocenti, 

Acephalum (Faral: Acephatum) nomen tribuam; sed si caput addam, 

Hostis erit metri.... 

Über Merzdorf hinaus sind dann noch folgende Entlehnungen 
Alberts festzustellen: (Vgl. auch Manitius, Roman. Forsch. IV, 
423). V. 117: Ov. rem. 4: Tradita qui toties te duce signa tuli. 
V. 119: Für den ersten Teil gibt schon Merzdorf Ov. her. II, 85; 
der ganze Vers aber erscheint auch in Guiard. 807f. (Roman. 
Forsch. XXVI, 455): Hoc sapiens dicit: f., non p. coronat / Et 
sic alter ait: exitus a. p. Zu dieser Stelle noch weitere Parallelen 
à. a. O. und in der neuen Ausgabe der Carm. Bur. von Hilka- 
Schumann zu XV, 4,1f. V. 122 Hor. epist. I, 1,9: (ne) .... 
et ilia ducat. Zu Vers 123f. ist schon oben S. 555 das Notwendige 
gesagt worden. Zu V. 125 führt bereits Merzdorf richtig Horaz 
epist. II 3, 417 als Vorbild an; im zweiten Teil ist wohl Guiard. 
37 im Ausdruck zu vergleichen: Iste suos ducit eterni regis 
in aulam. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Dichter auch, 


16 Vgl. Troil. II, 1317. 17 Vgl. Troil. II, 116f. — !* Vgl. Troil. II, 116. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 8. 96 


562 Karl Fiehn 


wenn er die falsch gebauten Verse „proscriptos“ nennt, einem 
bestimmten Vorbild folgt. Für V.127f. muß Albert Sedul. 
carm. Pasch. I, 16f. vorgeschwebt haben: At nos exiguum de 
paupere carpsimus horto, / Rubra quod appositum testa 
ministratolus. Dem „ paupere“ entspricht im Troilus „ artus“, 
das, wie ich glaube, Dunger mit Recht halten will; auch das 
offenbar beabsichtigte Wortspiel artus ... hortus ist dabei nicht 
zu übersehen; Peiper und Manitius wollen ,,artis" ändern und 
damit gramatice als adjektivischen Genitiv verbinden. Vgl. 
auch Verg. ecl. VII, 34: Custos es pauperis horti .... und 
Galfr. de Vinos. 1226f. .... discerpat in agro / Rhetoricae flores 
eius, woraus sich eine Parallele zu gramatice .... hortus ergibt. 
Dunger hat recht, wenn er die Verse als ersten Teil einer Frage 
ansieht, deren zweiter mit „an“ weitergeführt wird: „Ist Dir 
der fruchtbare Garten der Grammatik zu eng, der allen mög- 
lichen Leuten (quibus et quabus = aliquibus et aliquabus) 
jeglichen Kohl liefert?“ In Migne 19, 552 ist ministrat, olus 
geschrieben, also ministrat und olus nicht mit einander ver- 
bunden, sondern ... exiguum ... carpsimus ..... olus; in der 
Troilusstelle ist freilich keine andere Auffassung móglich. — 
V.129 erinnert an Hor. epist. II, 3, 133: nec verbo verbum 
curabis reddere fidus und V. 130 an Hor. epist. II, 3, 92: Singula 
quaeque locum teneant sortita decenter. 

Der Name für die Dichtung ist Troilus. Der Grammatiker, 
der einen ,,accessus in Troilum“ geschrieben hat, bemerkt 
(Merzdorf S. 6), daß der Name gewählt sei ,,propter quandam 
similitudinem nominis materiae (Merzdorf falsch: modo) compe- 
tentem, ut Troilus quasi (nicht mit Merzdorf quod) Troicus, 
cum etiam (nicht et) ipse Troicus fuerit et Troiani regis, scilicet 
(nicht seu) Priami, filius et fortia facta in eodem bello gesserit, 
vel ideo quia (nicht quod) idem Troilus fratrum suorum minimus 
erat et ultimus, strennuus tamen, et hic liber, quia de eadem 
materia est extremus, utilis tamen, tali est nomine non incongrue 
appellatus teste Horatio: 

.... licuit semperque licebit 

Signatum presente nota producere nomen. (Epist. II, 3, 58). 

Hier werden also zwei Gesichtspunkte angeführt, die für die 
Betitelung des Gedichtes maßgebend gewesen seien: 1. die 
Ähnlichkeit von Troilus mit Troicus hätte gut auf den Stoff 


Albertus Stadensis 563 


hingewiesen; 2. Troilus sei der jüngste Sohn des Priamus ge- 
wesen, aber doch tapfer, und dies Buch, zwar das letzte über 
diesen Stoff, doch nützlich. Diese Deutung des Grammatikers, 
die in ihrem zweiten Teil wohl recht gesucht ist, gibt im ersten 
Teil offenbar nur die beiden Schlußverse des Prooemiums zum 
Troilus wieder: 

„Troilus“ est Troilus Troiano principe natus, 

Et liber est „Troilus“ ob Troica bella vocatus. 

Merzdorf hat diese Verse eingeklammert, weil er gegen ihre 
Echtheit vorgebrachte Bedenken andeuten wollte. Heusinger 
war nämlich der Ansicht, daB die Verse niemals Alberts Eigen- 
tum sein kónnten, da der Grammatiker in der Einleitung (dem 

Accessus) sie völlig übergehe und sie außerdem am Schluß der 
Handschrift wiederholt würde (Heusinger, Fl. Mallii Theodori 

de metris liber Lugd. Bat. 1766 S. 114ff.). Merzdorf aber will 
die Verse doch Albert zusprechen, da sie seine Freude an Wort- 
spielen verrieten. Im übrigen schließen sie auch gut das Prooe- 

mium, in dem an keiner Stelle vorher von dem Titel des Gedichts 

die Rede war. Ferner beachtet der Grammatiker sehr wohl die 

Verse, wenn er bemerkt, Troilus weise auf Troicus und sei des 

jüngsten Priamussohnes Name. DaB die Verse am SchluB der 

Handschrift nach dem „Explicit“ wiederkehren, ist auf einen 

Einfall des Schreibers zurückzuführen und beeinträchtigt die 

Frage nach der Echtheit nicht im geringsten. 

Die Hauptrolle spielt freilich Troilus in dem nach ihm be- 
nannten Gedicht nicht, es wird nicht etwa, wie früher vermutet 
worden ist, die Geschichte von. Troilus und Chryseis in den 
Mittelpunkt gestellt. Troilus tritt nur verschiedentlich unter den 
kámpfenden Troern hervor, aber nicht mehr als Hektor, Aeneas 
u.a. Als jüngster Sohn des Priamus begegnet er uns I, 119f. 
im Kreise seiner Eltern und Geschwister; die Verse müssen 
gegen Merzdorf so heiDen: 

Hector, Alexander primi sunt, Deiphebusque 


Tertius est, Helenus quartus et hinc Troilus 
Filius; Andromacha, Cassandra, Polixena nate. 


Darnach wird er unter den Anführern mit seinen Brüdern ge- 

nannt und beschrieben (II, 41f.). Mit Hektor und Aeneas zu- 

sammen sehen wir ihn im Kampf II, 726ff. (Merzdorf fälschlich 

= T01ff), ebenso auch III, 311ff. III, 330 liest Merzdorf falsch 

Troilus statt Troibus. Es heißt dort 329 mit Aen. II, 553: Iecit 
36* 


564 Karl Fiehn 


et in ventre capulo tenus abdidit ensem (Subjekt Achilles) und 
dann im folgenden Vers mit demselben Subjekt weiter: Nec dedit 
horrorem Troibus inde levem. III, 377ff. soll Troilus mit Paris 
und Helenus dafür sorgen, daß Hektor nicht in den Kampf 
zieht. IV, 45 fl. schlägt Troilus die Griechen ins Lager zurück 
und führt am nächsten Tag die Seinen zur Schlacht. Zu seinem 
besonderen Ruhme lesen wir hier Verse wie 53f.: 

Fulminat (nicht culminat!) e bello Troilus, contaminat ensem 

Sanguine nunc plebes nunc feriendo duces. 

Im Rat der Griechen wird er von Diomedes dem Hektor gleich- 
gestellt (IV, 159f.). In neuer Schlacht verwundet Troilus den 
Menelaus (IV, 179) und ordnet die Troer zum Kampf. Diomedes 
wird jetzt von ihm getroffen, und ebenso Agamemnon (IV, 
183 ff.). Wiederum ist er in vorderster Linie (IV, 257) und er- 
muntert am nächsten Morgen die Troianer (IV, 265ff.); er kämpft 
so heftig, daß der Dichter von ihm sagt: 

Plectit eos Troilus, sicut persepe rotundum 

Suevit corrigia pellere stricta trocum. (IV, 281f.) 

In der zwanzigsten Schlacht, die sechs Tage dauert, et prodit 
Troilus mente manuque ferus (IV, 298); gegen den wild drein- 
schlagenden Troilus erhebt sich nun wiederAchilles, der sich aber 
bald, von dem Helden verwundet, wieder ins Lager zurückziehen 
muß (IV, 301ff.). Jetzt, am siebenten Tage, ruft Achilles die 
Myrmidonen auf, alle Kräfte gegen Troilus zu wenden; Troilus, 
timendum Troie presidium, ferreus oder murus patrie, protectio 
Troie et rosa milicie genannt, tritt auf den Plan, wie immer, 
fällt aber unter dem wohlgezielten Streich des Achilles, als er 
sich nach dem Sturz seines Pferdes wieder aufrichten will. 
Memnon verhindert, daß die Leiche in die Hände des Achilles 
und der Griechen kommt (IV, 311—345). Der Tod des Troilus 
wird dadurch noch besonders bedeutsam, daß Hekuba nun alles 
darauf anlegt, ihn wie Hektor an Achilles zu rächen (IV, 368fl.). 
Diese Verse lauten: 


368. Irrigat ingenuas lacrima mesta genas!®, 
Pulmonis rigidas agitant suspiria cellas®, 
970. Afficit interior arida corda dolor. 
Frendit in Eacidem calcata sevius idra®! 
Diri rancoris mente venena gerens; 
Et quia vi superare virum disfidere (so Hs.!) visa 


19 Ov. am. I, 7, 50. ®% Alex. V, 334. u Vgl. Alex. II, 34; Ov. met. X, f 


Albertus Stadensis 565 


374. Est, cacabo cordis decoquit illa dolum?*. 
Fraudis ad incudem defertur malleus ire? 
Vindicte (nicht vindice) fabricans igne doloris acum. 
Femineam fraudem nemo cognovit ad unguem:* 
Scit magis instabilem prendere (schon von Peiper geándert!) nullus avem. 
Evocat hec Paridem: ,,Nosti, Paris", (nicht patris!) inquit, „Achillem 
380. Hectoris et Troili membra dedisse neci. 
Aus der weiteren Rede Hekubas und dem anschlieBenden Ab- 
schnitte hebe ich dann folgende Verse hervor: 
384. Inclita milicia predita (nicht perdita!) vita dedit“. 
386. In stadio mundi** non habuere pares. 
389. Articulata preit“ vox, prodit inarticulatim?? 
Et singultatis subicit illa sonis:“ 
„Nunc primum flore renitebant ambo iuvente?®, 
392. Hach (nicht Vae!) toti patrie, quam (nicht quum!) cecidere male! 
Von den folgenden Versen fallen 407f. wegen des hier gebrauch- 
ten Bildes auf: 
Ut vulpes vulpe capiatur, raro videtur; 
Assa tamen vivam decoriare potest. 
Der Text ist ganz in Ordnung; es soll klar gemacht werden, daß 
bei einem schlauen, vorsichtigen Gegner besondere Vorsicht und 
List am Platze sei. Der Fuchs sieht sich vor seinesgleichen vor, 
es gelingt aber sicher, ihn mit seinem eigenen Fleisch zu über- 
listen und ihm das Fell zu nehmen, wenn ihm sein Fleisch nicht 
gleich erkennbar ist, nämlich wenn es gesotten und gekocht ist. 
So empfiehlt auch Hekuba, ganz besondere Schlauheit anzu- 
wenden, um Achilles in die gewünschte Falle zu locken: V.411ff. 
411. Mitte virum qui dicat ei: Quam diligis (nicht diligas!), optat 
Federe coniugii rex sociare tibi?!, 
421. Et moveant (nämlich brachia s. V. 420) socii, nec cesset (nicht cessent!) dextera 
(erg. manus), donec .... 
426. Ammoneo, veniat ne quis ad ista loquax**. 
Schon aus dieser kurzen Übersicht wird deutlich, daß es sich im 
Troilus um eine ausführliche Erzáhlung des trojanischen Krieges, 


33 Vgl. Alan. Anticl. I, 8, 2f.: .. . . quae sic rationis in igne decoquitur. — 
Galfr. 723: decoctum pectoris igne. 

33 Vgl. Galfr. 724: Transfer ad incudem studii. — Galfr. 725: Malleus ingenii. 

* Vel. Hor. serm. I, 5, 32f. 

3 Milicia Ablativ! zu predita; Objekt zu dedit im vorhergehenden Vers: laudes 
eximias. æ Vgl. Alex. VII, 37; auch ebd. IX, 572: in theatro mundi. 

# Nicht perit! Am Rande von zweiter Hand verbessert. 

38 Nicht inarticulata! — * Ov. tr. III, 5, 16. * Vgl. Alex. V, 501. 

*! Achilles liebte nämlich Polyxena. * Ov. a. a. II, 608. 


566 Karl Fiehn 


wie sie damals sehr beliebt war, handelt, in der zwar Troilus als 
Sohn des Priamus und besonders tapferer Held verherrlicht 
wird, aber nur neben anderen Helden und daß er keinesfalls irgend- 
wie im Mittelpunkt steht. 

Welcher Zweck Albertus mit diesem Troja-Gedicht vor- 
schwebte, sagt er uns in VI, 3651ff. und 867ff. Letztere lauten so: 
867. Ite (Hs. Ite ergo) per exemplum, genus o mortale, reorum, 

Ad finem duxit quos mala vita malum. 

Cum feriant (Hs. fuerint; verb. nach Ovid) unum, non unum fulmina terrent? ; 
Verbera non nostra nostra putare salus! 

In foveam cuncta cadit extollencia pena“ 
Gloria; planicies omne cacumen habet (planicies Acc. plur.). 

Jetzt sollen einige Beispiele folgen, die zeigen, wie unser 
Text durch Nebeneinanderstellen von Handschrift und Dares 
(mit Varianten, namentlich der St. Galler Handschrift G) in 
Ordnung zu bringen ist. DaB Albert sich inhaltlich in erster 
Linie auf Dares stützt, bekennt er ja Troil. II, 17ff., III, 2391. 
und VI, 697ff. Wie wenig Merzdorf diese Zusammenhänge aus- 
genutzt hat, betont schon Peiper a. a. O. S. 549: „Zunächst ist 
der Apparat der neuen Ausgaben jener Schriftsteller (Dares und 
Dictys) ganz und gar nicht, wie doch nötig war, benutzt; es 
würde sich daraus ergeben haben, daB die Namen, die der Codex 
des Albertus gibt, auf handschriftlicher Tradition beruhen und 
also beizubehalten sind; daB ferner so mancher unerklärliche 
Name, dem wir begegnen, auf Grund einer Corruptel bei jenen, 
vielleicht auch in Folge flüchtiger Lektüre vom Dichter neu 
geschaffen ist. Ähnlich hat dann auch Manitius a. a. O. Sp. 1249 
die Übergehung der Lesarten von der St. Galler Handschrift 
G getadelt. 

Eine irrtümliche Benutzung des Dares durch Albert hat schon 
Merzdorf zu Troil. II, 17ff. aufgedeckt. Im Anfang des zweiten 
Buches erzählt nämlich Albert, daß nur die „fabula stultorum" 
Castor und Pollux nach ihrem Tode unter die Sterne versetzte; 
Dares, „qui Troica prelia scripsit“, wisse nichts von deren Tode 
zu berichten, wohl aber davon, daß er sie beim Friedensschluß 
gesehen habe. Außerdem hätten auch Trojaner das Brüderpaar 
öfter getroffen. Hier hat Merzdorf richtig erkannt, daß Albertus 
u Ov. Pont. III. 2, 9. 


* So die Hs.; nicht excellentia. Vgl. Matth. 15, 14. — Hauréau, Notices et 
extraits IV, 289: In foveam ductor primus cadet, inde secutor. 


Albertus Stadensis 567 


Dares XI Schluß und XII Anfang falsch verstanden hat. In 
dem Satze: ,,Dares Phrygius .... ait se militasse .... hos se 
vidisse ....'' ist ,,hos'' nicht auf Castor und Pollux zu beziehen, 
sondern auf die nachher aufgezáhlten Helden. Sonst hátte der 
letzte Teil des Satzes nicht lauten können: A Dardanis autem 
audisse (scil. se — Daretem), qua facie et natura fuissent Castor 
et Pollux. Warum die Anführung der Namen, wenn sie vorher 
mit hos gemeint gewesen wären? Warum mußte ferner Dares 
erst von den Dardanern etwas über Gestalt und Wesen der 
göttlichen Brüder erfahren, wenn er sie selbst gesehen hat, wie 
doch aus ,,hos se vidisse" hervorgehen müßte, falls unter ,,hos'' 
Castor und Pollux zu verstehen wáren? Es ist ganz klar, Dares 
XI Schluß ist der Auszug der Brüder, ihre Schwester zu suchen, 
und ihr Verschwinden in der Gegend von Lesbos erzáhlt, und 
Albert ist dem gefolgt, fügte dann aber in irriger Auslegung von 
Dares XII Anfang die Verse II, 13ff. hinzu. Übrigens seien hier 
noch die Fehler in Merzdorfs Lesung von II, 3f. beseitigt; es 
muß heißen: | | 
In Paridem rapta Oastor Polluxque sorore 
Aspera vindicte mittere tela student. 

Troil. I, 353 steht völlig sinnlos „mirificum‘‘, die Handschrift 
hat „Mercurium“, ein Vergleich mit Dares X überzeugt davon, 
daB die Handschrift das Richtige bietet. — I, 581 setzt Merzdorf 
„Paean oppidulo mare lux stabat Apollo“; hierzu fügt er eine 
FuBnote, in der er seine Ratlosigkeit der Stelle gegenüber an- 
deutet: Sic! Sensus? Apud oppidum erat mare, lux Paean 
Apollo? Dagegen versucht Merzdorf in der Praefatio XVI, zwar 
mit allem Vorbehalt, eine Konjektur, da ihm die gewaltsamen 
Längungen in ,,mare'' untragbar scheinen; er will hier schreiben: 
„Paean oppidulo mane lucebat Apollo." Er glaubt sich berech- 
tigt, „mane“ in der zweiten Silbe lang zu messen, da es in der 
Arsis stehe, und fernerhin „lucebat“ für „stabat“ einzusetzen, 
allerdings mit dem Bedenken, daß der nächste Vers vielleicht 
gerade das „stabat“ des vorangegangenen Schlusses wiederholen 
solle. Es bedarf keines Wortes weiter, daB die ganze Stelle so 
unmöglich ist. In der Handschrift lesen wir aber „Lean 
oppidulo mare lux stabat Apollo", und Dares X bestätigt, daß 
in dieser Überlieferung tatsächlich von einer Stadt „Helaea“ 
die Rede ist. Albertus hat mit der Freiheit, mit der man im 


568 Karl Fiehn 


Mittelalter die antiken Namen gestaltete, seinem Verse ent- 
sprechend ,,Lean'' gebildet, wohl aus ‚Lea in“ zusammengezogen. 
Aber auch so fehlt dem Vers immer noch mindestens eine lange 
Silbe vor „stabat“ und außerdem ist die rechte Verknüpfung mit 
dem Satzganzen für „mare“ nicht gegeben; Dares X heißt es 
„ad mare“. Da nun lux in keinerlei Weise, auch nicht im Ver- 
gleich zu Dares, paßt, dürfte wohl hier der Fehler liegen und statt 
„Jux“ „iuxta“ zu schreiben sein. „stabat Apollo“ ist völlig 
gesichert durch die ganz offenbar beabsichtigte Wiederholung im 
folgenden Verse. Somit lauten I, 581f.: 

Lean oppidulo mare iuxta stabat Apollo, 

Stabat fatidico iuncta Dyana deo. 

In dem Abschnitt II, 153—206 ist besonders viel nach der ge- 
nannten Methode zu bessern. 159f. hat die Handschrift: 

Lercius atque Dimas, Prothenor et Archesilaus 

Expense (schon Peiper richtig!) socii suntque laboris ei. 

Dares XIV werden nur Archesilaus (auch Arcesilaus) und 
Prothoenor (auch Protenor) genannt, aber, wie Peiper schon 
hervorhebt, heißt es Dictys Cret. I, 18: Peneleus insecutus ... 
dein Prothoenor et Leitus. Dazu stimmt Il. Lat. 167f.: 

Peneleus princeps et bello Leitus (andere Hss.: Lercius und Lertius) acer 

Arcesilaus (andere: Archesilaus) atrox Prothoenorque (andere: Protenor) 

Oloniusque. 

In der Ilias Latina also steht der homerischen Überlieferung 
gemáB ein vierter Held neben Peneleus, namens Clonius. Im 
Troilus sind beide Überlieferungen zusammengefaßt, was noch 
deutlicher wird, wenn man II, 157f. hinzunimmt: Peneleus 
princeps quem prompta Boecia mittit, Quinquaginta rates, ut 
fabricentur, agit. (Vgl. Il. Lat. 167.) Darnach hat im Troilus 
Peneleus die fünfzig Schiffe der Boeoter gestellt, nicht, wie nach 
Dares, Archesilaus und Prothoenor; diese sind hier aber die 
Gefährten des princeps Peneleus. Zu diesen gehören weiterhin 
Lercius atque Dimas, wie nach Il. Lat. Leitus (Lercius) und 
Clonius. Die Frage ist nun, wie Albert auf den Namen Dimas, 
der sonst nirgends begegnet, verfallen ist. Wahrscheinlich ist er 
eine Variante von Clonius, erklärlich aus den ll. Lat. 168 an- 
geführten Varianten: Didoniusque und Cremus que. 

Vers 168 wird man unbedenklich mit der Handschrift lesen: 
Aschepius fortis et Epistrophus ex Policemo, da ja Dares XIV 


Albertus Stadensis 569 


die Lesart G Phodicenno das „Policemo“ unserer Stelle stützt; 
dagegen ist Merzdorfs „Polixeno“ wenig einleuchtend (vgl. 
Peiper). 

Vers 172 heißt: Dat semel Etholicus et quater octo Thoas. 
Thoas leistet also mit vierzig Schiffen (8 + 32) Hilfe und kommt 
aus Etholien (Aetolien). Der Scholiast aber merkt am Rande 
an: Etholicus octo, Thoas X XXII; er nimmt also irrtümlich zwei 
Personen an. Dares XIV steht klar und deutlich: Thoas ex 
Aetolia (Etholia G) cum navibus numero XL. 

Zu Vers 175 erklárt Merzdorf über Venerius: Quis sit, nes- 
cimus, quum de Venereo quodam altum silentium, wáhrend 
Peiper auf die zu „Nireus“ (Dares XIV) gegebene G-Variante: 
„Venerius“ verweist. 

Wenig hilft der Vergleich mit Dares im Vers 180, der von 
Merzdorf vóllig willkürlich gebildet ist. Die Handschrift ist hier 
nicht zweifelsfrei zu lesen; ich glaube aber, daß in 179f. folgendes 
dasteht: Octoginta vehit ex Creta Meriones, si Prestetur socius 
Ydomeneus ei. (Vgl. III, 443: Ydomeneum und II, 614: Mne- 
steus). Die auch sonst bei Homer übliche Vereinigung von 
Idomeneus und Meriones hat ebenfalls Dares XIV. 

Vers 182 übernimmt Merzdorf aus dem Darestext Meisters 
„o Eumele“, während in unserer Handschrift ,,0 Emelee“ er- 
Scheint, was gut zu Dares-G: „Emeleus ex Pirgis“ paßt, zumal 
Albert auch seinen Helden „ex Pirgis“ kommen läßt (Dares- 
Meister: ex Pheris). 

Nach Vers 183 stellen dreißig Schiffe ,,Polidarius atque 
Machaon“, bei Dares (XIV) nur Podalirius oder Prodalirius 
allein; dieselbe Namensform Dares XIII (Meister S. 17), wo die 
Heerführer beschrieben werden, hier nur die G-Variante: Po- 
lachrium. Il. Lat. 218 findet sich wie Troil. II, 183: „.... Poda- 
lirius (andere Polidarius) atque Machaon.“ Daneben gibt es im 
Troilus noch einen Helden Polidorus (II, 109f.), der dem Poda- 
lirius des Dares XIII in der Beschreibung gleicht. So haben wir 
also noch eine Wandlung des homerischen Podaleirios. 

Jedoch ist der Vers 109 aus einem anderen Grunde besonders 
bemerkenswert, weil in seinem zweiten Teil die Lesung Bedenken 
macht. Merzdorf druckt, und zwar diesmal in Übereinstimmung 
mit der Handschrift: At crassus Polidorus erat, Neoclecicus 
audax (Neoclericus und Neocleticus auch móglich!); dem ent- 


570 Karl Fiehn 


spricht am Rand von der Hand des Scholiasten, der alle Helden- 
namen dort noch einmal herausstellt: Polidorus et Neocleticus. 
Es handelt sich also um einen zweiten Helden, der im Vers 109 
neben Polidorus angeführt wird ? 

Polidorus bekäme demnach lediglich die ‚„Helden‘-Eigen- 
schaft der Dicke zugesprochen, dem Neoclecicus aber würde 
allein das,, audax“, ‚‚tristis‘‘, „prevalidus‘‘ (so!), „mente timente 
tacens" gelten, womit Dares XIII Podalirius (= Polidorus) 
charakterisiert. Macht diese Beobachtung schon die Annahme 
eines „Neoclecicus“ unwahrscheinlich, so noch mehr, daß in der 
übrigen Aufzáhlung der Helden und ihren Schilderungen stets 
nur ein Held in zwei, verschiedentlich sogar in vier Versen be- 
trachtet wird, außer dem Brüderpaar Helenus und Deiphebus 
(II, 37 ff.), die in einer Verszeile genannt und weiterhin zusammen 
betrachtet werden; das hat aber seinen guten Grund darin, dab 
auch Dares beide miteinander zusammenstellt. Sonst behandelt 
Albertus jeden Helden für sich, warum sollte er II, 109, ab- 
gewichen sein, zumal ihn sein Vorbild Dares dazu garnicht an- 
regte? Dieser kennt vielmehr, und das ist der dritte Einwand, 
weder einen Neoclecicus noch einen Neocleticus, ebenso wenig 
wie Albertus sonst in seiner Dichtung. Im übrigen darf man 
wohl Dunger (Fleckeis. Jahrb. 1876, S. 650) recht geben, der 
von einer Scheu des Dichters spricht, neue Namen aus seiner 
Erfindung heraus da einzuführen, wo die Quellen keine bieten; 
welcher Anlaß hätte zudem bestanden, hier einen selbst erdich- 
teten Namen einzufügen? Viertens könnten sich manche auf den 
Scholiasten berufen und dessen in seiner Randnotiz hervor- 
tretende Auffassung. Es sei aber daran erinnert, daß sich der 
Scholiast nachweislich in seiner Notiz zu II, 172 geirrt hat, wo 
er auch ,,Etholicus et Thoas' als Bezeichnung für zwei Helden 
auffasste; da konnte man freilich den Fehler durch Vergleich mit 
Dares und Il. Lat. leicht aufdecken. Nach diesen Feststellungen 
erscheint es mir unzweifelhaft, daß der Vers II, 109 in der 
Form, die Merzdorf nach der Handschrift gibt, nicht haltbar 
ist. Neoclecicus bzw. Neocleticus muß eine Korruptel sein. 
aber nicht eines anderen Namens, sondern vielmehr eines Aus- 
drucks, der einen Gegensatz zu „crassus“ enthält. Denn es ist 
nicht recht denkbar, daß der für einen Helden eigenartigen 
Eigenschaft der Dicke nicht etwas Ausgleichendes entgegen 


Albertus Stadensis 571 


gestellt wird. Aus „neoclecicus‘ ergibt sich da, wie ich glaube, 
ohne große paläographische Schwierigkeiten: „nec secius“, was 
sich aufs beste dem Sinn eingliedern läßt: Doch Polidorus war 
dick, aber nicht weniger kühn .... 

In Übergehung anderer Namenverschreibungen will ich noch 
auf eine Mißdeutung kommen, die II, 253 durch Merzdorf er- 
fahren hat. Er gibt den Vers zunächst richtig: „Calchas divinus 
et Nestore natus eodem....'', knüpft aber daran die Frage: 
Quis Troianorum est Nestore natus? Peiper hat schon die 
falsche Auffassung, die hier zu Grunde liegt, hervorgehoben und 
aus Varianten des Dares- und Dictystextes gezeigt, daB Calchas 
öfter als Sohn des Nestor bezeichnet wird (vgl. Dares XX). 
Merkwürdigerweise fügt Peiper aber hinzu, der Dichter habe . 
zwei Personen durch das „et“ eingeführt. Wenn Calchas Sohn 
des Nestor ist, kónnen doch von Albert nicht zwei Personen ge- 
meint sein. Dann sind divinus et Nestore natus zwei Attribute, 
die eben zu Calchas gehóren: Calchas der góttliche und Sohn 
des Nestor. Die Verbindung zweier Attribute durch „et“ ist 
im Lateinischen ganz geläufig; im Deutschen setzen wir einfach: 
der göttliche Sohn des Nestor. So ist auch Dungers Änderung 
von et zu de unnótig. Im übrigen ist nur daran zu erinnern, 
daß das Prädikat singularisch ist und daß nachher allein von 
Calchas die Rede ist. Aber es wäre zu überlegen, ob nicht für 
„Nestore“ „Testore“ zu schreiben ist, da IV, 165 Calchas 
„Testorides“ genannt wird. Sollte demnach nicht „nestore“ in 
unserer Handschrift fälschlich für „testore“ stehen? 

Es mógen nun noch einige Beispiele folgen, die zeigen sollen, 
daB Merzdorf nur die Handschrift richtig wiederzugeben brauchte, 
um einen lesbaren Text zu liefern: 

I, 135ff.: Urbe reformata, nisi rex et tota reformet?5 
Regni presidia, litus arasse putat?®. 
Pergama milicie non solum flore coronat, 
Immo replet, patria milite tota viget. .... 
143. Segnicies causam dederat quia perdicioni 
Hesyone decoris, Laomedontis, opum. 


Tota recognorat hoc curia, desidiosi 
Quod pridem tanti causa fuere mali“. 


*5 Reformat Manitius. 
35 Vgl. Ov. her. V, 116. trist. V, 4, 48. — Verg. Aen. VII, 798. 
® Vgl. Verg. Aen. VI, 93. 


572 Karl Fiehn: Albertus Stadensis 


I, 375 ist in Ordnung, wenn ‚‚ulturo‘‘ statt des sinnlosen ,,ultori'', 
das Merzdorf noch mühevoll zu erklären versucht, eingesetzt 
wird; „dedecus‘“ ist Objekt zu „ulturo“. I, 458 muß heißen: 
Quam (sc. Troia) modo terra tremit, pascua bubus erit (Vgl. 
Verg. georg. I, 330; Ov. a. a. III, 2) Ohne Anstoß ist I, 564 f., 
wenn wir lesen: 

Splendeat ut limbus lateque refulgeat aurum, 

Ornat se vestis ambicione Paris®. 
1,707 ff. erhält rechten Sinn, wenn man die Handschrift heranzieht : 
Deveniunt Thenedon, membra quiete fovent“. 

Ex siccis oculis tergit Medea madorem “, 

Nullis flet lacrimis emula veste nivis.*! 

„Medea“ ist m. E. gegen Dunger, der „Ledea“ ändern will, 
beizubehalten. Denn Helena, die ja hier gemeint ist, soll gerade 
als Medea, als der Typus von Grausamkeit und Falschheit er- 
wiesen werden; ferner ist die Alliteration ,,Medea madorem"' zu 
berücksichtigen. „emula“ habe ich statt des handschriftlichen, 
sinnlosen ‚‚ollea‘‘ eingesetzt; Merzdorfs ,,oblita'' ist keine Lösung. 
„Ollea“ scheint mir Korruptel von el’a = emula, das sich auch 
in I, 580 und IV, 678 in Verbindung mit nivis findet; „veste“ 
ist dann Ablat. limitat. zu ,,emula nivis". So wäre zu über- 
setzen: „Sie weint ohne Tränen, in schneeweißem Gewande“, 
ein wirksamer Gegensatz: innerlich falsch — äußerlich schön 
anzusehen. —- Zum Schluß noch einen besonders schlagenden 
Beweis, wie die Handschrift, richtig gelesen, Klarheit schafft. 
An II, 145 hat sich Peiper schon versucht, ohne vollen Erfolg 
zu haben; die Handschrift besagt: „Insolitam patitur pinus 
secura securim" (Vgl. Alexandr. III, 105). 

Es lieBen sich noch sehr viele Beispiele für die Màngel der 
Merzdorfschen Troilusausgabe und für die Moglichkeit ihrer 
Beseitigung anführen. Das würde aber den Rahmen dieses Auf- 
satzes überschreiten. Eine Neuausgabe müßte auch mancherlei 
sachliche Erklärungen, die bisher völlig fehlen, bringen, z. B. im 
4. Buch zur Beschreibung des Schmuckes der Penthesilea 
(765 ff.), im 5. Buch zur Schilderung der kostbaren Vorhänge 
und Teppiche im Palaste des Priamus (20ff.—184), Partien, in 
denen viel mittelalterliches Gut bewahrt ist. 


8 Vgl. Ov. met. IT, 734: Collocat, ut limbus totumque appareat aurum. 
Maxim. I. 40. Vgl. Luc. Phars. IX, 1038. 4 Vgl. I. 580; Alexandr. V, 190. 


573 


Die Ursprünge 
der Amerikanischen Revolution von 1776. 
Von 
Otto Vossler. 


Wenn man fragt, wie es gekommen ist, daß die englischen 
Kolonien, aus denen später die Vereinigten Staaten von Amerika 
entstanden sind, mit ihrem Mutterland in Streit geraten sind und 
schließlich sich von ihm losgesagt haben, so liegt es nahe, zuerst 
einmal die Amerikaner selbst zu hören, die damals die Trennung 
vollzogen haben. Sie melden sich selbst zum Wort; in ihrer 
Unabhängigkeitserklärung von 1776, dem nämlichen entschei- 
denden Dokumente, in dem sie ihre Selbständigkeit verkünden, 
nennen sie aus „gebührender Achtung vor der Meinung der Welt“ 
die Gründe, die sie zum Abfall gezwungen haben. Und da zählen 
sie in einer langen, eindrucksvollen Liste unter nicht weniger als 
18 Abschnitten alle Rechtsverletzungen, Gewalttaten, Grausam- 
keiten der englischen Regierung auf, von der bekannten Stempel- 
steuer und den neuen Zöllen, den Straf- und Zwangsmaßnahmen 
bis zu den Greueln des Krieges. Diese Dinge, diese Tatsachen, 
wie es heißt, sollen der Welt beweisen, daß die Engländer die 
Kolonien unter eine despotische Herrschaft zwingen wollen, so 
daß den Amerikanern schließlich nichts anderes übrig bleibe als 
sich vom Mutterlande zu trennen, um ihre Freiheit zu wahren. 
Nach dieser Auffassung wäre es also das tyrannische Verhalten 
des Mutterlandes, das den Konflikt und die Katastrophe der 
Amerikanischen Revolution hervorgerufen hat, dafür die Ver- 
antwortung trägt und die Schuld!. 


1 Vgl. etwa die „klassische“ Darstellung von G. Bancroft, A History of the 
U. S., Boston 1883—85. Der Weltkrieg hat Versuche zur Verständigung gebracht; 
vgl. Claude H. Van Tyne, England and America, Kap. I., N. Y. 1927. Anderer- 


574 Otto Vossler 


Der amerikanischen Darstellung, die heute noch in den Ver- 
einigten Staaten die geläufigste ist, steht freilich die englische 
gegenüber. Und da wird von der Gegenseite, auch mit eindrucks- 
vollen Belegen erwiesen, daß es die Kolonien gewesen sind, die 
durch ihr gesetzwidriges Verhalten, durch Rebellion und un- 
erträgliche Terrorakte den Frieden gestört haben, daß die Kolo- 
nisten die Verantwortung für den Revolutionskrieg treffe. 

Beide Erklärungen sind selbstverständlich parteiisch und ein- 
seitig tendenziös, sie sind im Streit selbst entstanden, im Geist 
des Patrioten, des Politikers und Anwalts verfaßt, nicht im Geist 
des Historikers und können nicht ungeprüft angenommen werden. 
Aber selbst wenn man nun versucht, die widerstreitenden 
Darstellungen von ihrer parteiischen Einseitigkeit zu befreien, sie 
einander anzunähern oder gar zum Ausgleich zu bringen, um 
dadurch zu erfahren, wie nun in Wirklichkeit die Revolution ent- 
standen ist, man kommt damit nicht zum Ziele. Man wird dabei 
zwar manches zurechtrücken, klären und lernen, aber den Ur- 
sprung der Amerikanischen Revolution wird man und kann man 
auf diese Weise nicht ergründen. Denn die beiden Auffassungen, 
die man zu korrigieren unternimmt, behandeln in Wirklichkeit 
gar nicht, wie sie es vorgeben, die historische und theoretische 
Frage nach dem Ursprung der Revolution, sondern etwas grund- 
sätzlich anderes, nämlich die moralische und eminent praktische 
und politische Frage nach der Schuld an der Revolution. Die 
Schuldthese mit ihrer moralischen Einstellung will werben und 
wirken, handeln und kämpfen, nicht erklären; sie ist Politik, 
nicht Geschichte, sie ist politischer Wille und kann nicht durch 
noch so gut gemeinte objektive, vermittelnde Korrekturen in 
historische Erkenntnis umgewandelt werden. Mit anderen Wor- 
ten: die englisch-amerikanische Schuldthese erklärt nicht den 
englisch-amerikanischen Konflikt, sie ist dieser Konflikt. Denn 
sobald sich das Mutterland und die Kolonien gegenseitig für 
schuldig halten, ist der Streit schon da und es gilt jetzt erst die 
eigentlichen Gründe des Streites aufzufinden, der sich unter 
anderem eben als Schuldthese äußert. 


seits jedoch ist unter dem Bürgermeister von Chicago wegen „vaterlandsloser“ 
Darstellung des Konfliktes von 1776 ein Streit um Geschichtsunterricht und Schul- 
bücher entstanden; mächtige patriotisch-historische Gesellschaften beteiligen sich 
wacker an diesem Kampf gegen die Erforschung der Am. Geschichte. 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 575 


Diese eigentlichen, tieferen Gründe, die mit Schuld und Un- 
schuld nichts mehr zu tun haben, glaubt man vor allem in der 
Wirtschaft gefunden zu haben, in ökonomischen Interessen, óko- 
nomischen Kräften und Gesetzen. Zuerst sind es die englischen 
Freihändler des vorigen Jahrhunderts gewesen, die die Auffas- 
sung vertreten haben, daß die grundsätzlich verfehlte schutz- 
zöllnerische, merkantilistische Handelspolitik des Britischen Im- 
periums die Amerikanische Revolution verursacht habe. Mit 
seiner irritierenden Bevormundung, Regulierung, Einschnürung 
und gar Unterdrückung des kolonialen Handels, vor allem aber 
durch die unerträgliche einseitige wirtschaftliche Unterordnung, 
einseitige wirtschaftliche Ausnutzung der Kolonien zugunsten des 
Mutterlandes habe der Merkantilismus Amerika zum Abfall ge- 
zwungen, da es nur durch die Trennung die notwendige ókono- 
mische Freiheit und Gleichberechtigung erlangen konnte. Agi- 
tatorisch zugespitzt drückt diesen Gedanken Richard Cobden in 
der Behauptung aus: einem Drei-Pence-Zoll auf Tee verdanke 
England den Verlust Amerikas. 

Neuerdings dagegen hat man es vor allem in den Vereinigten 
Staaten unternommen, die etwas summarische Auffassung der 
englischen Freihändler mit exakter, vorwiegend sozialökono- 
mischer Methode, am liebsten mit Zahlen und Statistiken zu ver- 
feinern und zu erhärten. Man weist z. B. darauf hin, daß nicht 
der Teezoll an sich drückend gewesen sei — er war ja niedriger 
als in England selbst — vielmehr habe das gleichzeitige Monopol 
der East India Company im Teegeschäft die kolonialen Händler 
wirtschaftlich bedroht. Auf Grund von Geschäftsbüchern ist 
ganz genau ausgerechnet worden, welchen Schaden die Molasse- 
Zölle für die neuenglischen Kaufleute bedeutete. Bei der Stem- 
pelsteuer betont man, daß sie in verhängnisvoller Weise gerade 
die Kaufmannschaft, die Rechtsanwälte und die Presse, also 
gerade die führenden und einflußreichsten Kreise des öffentlichen 
Lebens betroffen und aufgebracht habe. Für die südlichen, über- 
wiegend agrarischen Kolonien haben diese Gründe zwar weniger 
Geltung. Dafür aber war dort die mächtige Pflanzeraristokratie 
an die Geldgeber in England schwer verschuldet. Und zudem 
wurde eine der Haupteinnahmequellen dieser Pflanzer, dieBoden- 
spekulation, ganz empfindlich beeinträchtigt, als die englische 
Regierung den lockenden Landerwerb im Indianerterritorium 


576 Otto Vossler 


kurzerhand verbot. Weitere Untersuchungen auf anderen, geld- 
wirtschaftlichen, währungspolitischen, konjunkturellen Gebieten 
usw. haben noch eine ganze Reihe übriger ökonomischer Gründe 
für den Abfall nachgewiesen, so daß schließlich die amerikanische 
Unabhängigkeitsbewegung, die für die hohen Ideale von Recht 
und Freiheit und Menschenwürde zu streiten behauptete, nach 
dieser neuen, exakten Auffassung geradezu als ein bloßes Rechen- 
exempel erscheint, als eine einfache Gegenüberstellung von Soll 
und Haben‘. 

Es ist nutzlos sich gegen diese prosaische „materialistische“ 
Erklärung nur mit frommer Entrüstung zu sträuben. Die ameri- 
kanischen Freiheitskämpfer waren auch keine unmenschlichen 
Idealisten, sie hatten und kannten ihre wirtschaftlichen Inter- 
essen und wahrten sie, so lang es ging. Nur dachten sie gerade 
umgekehrt über die Posten des Rechenexempels. Denn zu einem 
Zeitpunkt, als sie die politische Oberherrschaft des englischen 
Parlaments schon grundsätzlich abgelehnt haben, fordern sie 
nicht etwa Aufhebung des Wirtschaftszwangs, sondern im Gegen- 
teil, sie erklären sich ausdrücklich bereit die merkantilistische 
Handelsgesetzgebung des Parlaments freiwillig auch weiterhin 
anzuerkennen. Das war durchaus wirtschaftlich gedacht. Es 
verhielt sich nämlich keineswegs so, wie später die Freihändler 
voreilig annahmen, daß der imperiale Merkantilismus die Inter- 
essen der Kolonien einseitig dem Mutterlande aufopferte, sondern 
das ganze Imperium sollte gefördert werden und wurde auch ge- 
fördert, das Mutterland und die Kolonien. Welcher der beiden 
Partner dabei das bessere Geschäft gemacht hat, wird sich heute 
schwerlich ausrechnen lassen. Wenn das System seine nur ungern 
ertragenen Härten und Nachteile für die Amerikaner hatte, so 
hatte es sie für die Engländer genau so. Soviel aber ist klar und 
sicher, auch ohne Zahlen und Statistiken, daß im ganzen ge- 
nommen das Ausscheiden aus dem englischen Imperium, aus dem 
reichsten, gewaltigsten, blühendsten Wirtschaftssystem der Welt, 
für die Amerikaner damals ein ziemlich schlechtes Geschäft ge- 
wesen ist. 

3 A. M. Schlesinger, The colonial Merchants and the Am. Revolution, 
1763—1776. . N. Y. 1918; Cl. H. Van Tyne, England and America; ders. The 


Founding of the Am. Republic, Vol. I. The Causes of the War of Independence, 
London 1925. 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 577 


Die wirtschaftliche Überlegung im ganzen sprach also gegen 
die Trennung. Aber es bestanden doch eine Reihe einzelner óko- 
nomischer Interessen — der Teehändler, Zuckerhändler, ver- 
schuldeten Bodenspekulanten usw. — die für die Trennung arbei- 
teten. Sie waren in der Minderheit, aber sie standen nicht allein. 
Zu den ökonomischen Gründen traten noch andere hinzu. Man 
hat beobachtet, daß in den Nordkolonien im großen ganzen die 
soziale Unterschicht gegen, die Oberschicht für England Stellung 
nahm. Auch ist — wiederum statistisch genau — festgestellt, 
daß im Norden die Dissenter, die Puritaner, vorwiegend revo- 
lutionär waren, während die Anhänger der anglikanischen Staats- 
kirche meist loyal blieben®. Es hätten demnach bei der Spaltung 
des britischen Imperiums auch soziale und religiöse. Momente 
mitgespielt; und mit ihnen noch andere. Im Siebenjährigen 
Krieg ist es zu häufigen Reibungen und Mißhelligkeiten gekom- 
men zwischen den englischen Berufssoldaten in Amerika und den 
kolonialen Miliztruppen. Die Stimmung nach dem Siege, als 
hüben und drüben das Kraftgefühl, das Selbstbewußtsein ge- 
waltig gestiegen war, war gewiß nicht geeignet eine versöhnliche 
und nachgiebige Behandlung vorhandener Gegensätze zu fördern. 
Die Verständigung war ja ohnedies nicht leicht zwischen der 
stolzen, traditionsbewußten, aristokratischen Regierung des Mut- 
terlandes, mit ihrer konservativen, autoritären, oft langsamen 
Mentalität und den anderseits vorwiegend kleinbürgerlich-farme- 
rischen Kolonisten, die gewohnt waren mit unbeschwerter, rück- 
sichtslos vorwärtsdrängender Zuversicht ohne viel Umstände sich 
selbst zu helfen*. Solche seelische Schwierigkeiten der Verständi- 
gung wurden noch weiter erschwert durch das geographische 
Moment der großen Entfernung. Nicht nur, daß der persönliche 
Verkehr, die persönliche Bekanntschaft und die verwandtschaft- 
lichen Beziehungen über den Ozean sehr gering waren, auch die 
englische Kolonialverwaltung litt ganz empfindlich unter der 
Entfernung von der Zentralregierung. Dauerte es doch ein Vier- 
teljahr und meistens länger, ehe auf eine Anfrage Antwort von 


3 Van Tyne, Causes etc., ders. England and America; J. Franklin Jameson, 
The Amer. Revolution considered as a social Movement, Princeton 1926. 

* Ch. McLean Andrews, The Amer. Revolution, An Interpretation, in Am. 
Hist. Rev. XXXI. Jan. 1926; L. B. Namier, England in the Age of the Amer. 
Revolution, London 1930. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 37 


578 Otto Vossler 


jenseits des Meeres eintreffen konnte. Das war nicht der einzige 
und gar nicht der größte Mangel der englischen Kolonialverwal- 
tung; man kennt ihrer eine ganze Menge; Fälle von Protektion 
und Bestechung, Stellenverkauf und -vertretung, Organisations- 
fehler und persönliche Unfähigkeit und Schlamperei waren durch- 
aus keine Seltenheit und werden als weitere Gründe für den 
Abfall angeführt. 

Alle diese Dinge, von den wirtschaftlichen und sozialen Kräf- 
ten bis herab zu Einzelmotiven lokaler oder nur persönlicher Art 
sind von der jüngsten Geschichtsschreibung sehr eingehend und 
umständlich klargestellt. Man kennt heute die Amerikanische 
Revolution in allen ihren Einzelheiten so genau wie nur wenige 
Abschnitte der europäischen Geschichte, und man verdankt die- 
sen Untersuchungen der modernen — vor allem natürlich ameri- 
kanischen — Geschichtswissenschaft ein neues, ungleich reiche- 
res und richtigeres, feineres und volleres Bild von der Unab- 
hängigkeitsbewegung als man es früher hatte. Wo man ehedem 
in patriotischem Vollgefühl nur einen groben Gegensatz von Frei- 
heit und Tyrannei, Recht und Rebellion, kurz von Gut und Böse 
sehen wollte, erkennt man heute frei von Leidenschaft mit wis- 
senschaftlicher Kühle ein viel komplexeres, viel komplizierteres 
Geschehen, das von den verschiedensten Kräften und Motiven 
aus den mannigfaltigsten Gebieten mit Notwendigkeit hervor- 
gebracht wird. 

Aber so bestechend, so überlegen auch diese neue, exakte Auf- 
fassung gegenüber der alten Schuldthese ist, es verbleibt doch 
ein Rest von Unbehagen, es schleichen sich doch wieder Zweifel 
ein. Genügen diese Gründe? Kommen sie auf gegen die sehr 
vielen und sehr gewichtigen — aber weniger erforschten — 
Gegengründe, die gegen die Trennung sprechen? Können sie 
überhaupt wirklich die Revolution erklären? Denn, drückende 
neue Steuern, wirtschaftliche Interessen im Gegensatz zur be- 
stehenden politischen Ordnung, soziale, religiöse, psychische, geo- 
graphische, organisatorische Schwierigkeiten, Gegensätze, Span- 
nungen, das alles gibt es doch immer wieder, gibt es fast in 
sämtlichen Staaten, ohne daß diese davon gesprengt werden, 
ohne daß diese Gründe immer gerade dieselben Folgen haben 
müßten, die man ihnen in Amerika zuschreibt. Man mag jeden 
einzelnen Grund noch so genau nachweisen, seine Wirkung bleibt 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 579 


doch immer unsicher, man mag daher auch noch soviele neue und 
immer wieder neue Gründe herbeischaffen und zusammenaddie- 
ren, ihre Summe bleibt erst recht von unbestimmter Wirkung, 
sie vermag niemals zwingend zu zeigen, daß die Katastrophe 
nicht auch hätte ausbleiben können. Mit diesem Einwand soll 
nicht etwa gesagt sein, daß alle diese Dinge, die die amerikanische 
Forschung ans Licht gebracht hat, nun gar nichts erklären oder 
gar, daß sie mit der Unabhängigkeitsbewegung überhaupt nichts 
zu tun haben. Gewig nicht. Aber alle die nachgewiesenen Gründe 
sind nicht — wie diese Geschichtsforschung gern glaubt — um 
endlich ganz deutlich zu sprechen, die Ursachen, die die Revo- 
lution bewirken, die Ursachen, aus denen sich ihre Notwendigkeit 
errechnen und beweisen ließe. Sie spielen eine bescheidenere 
Rolle. Sie sind nur die Bedingungen, nur die Umstände, die Ge- 
gebenheiten, unter denen sich die Revolution abspielt; oder, wie 
einer der führenden Freiheitskámpfer bei der Melasseakte hübsch 
gesagt hat: „Die Melasse war ein wichtiges Ingredienz bei der 
Zubereitung der amerikanischen Freiheit." Ingredienz, aber 
nicht Ursache! 

So lassen sich die Ursprünge der Amerikanischen Revolution 
ebensowenig kausal beweisen als moralisch rechtfertigen; aber 
was mehr ist, sie lassen sich historisch verstehen. Dazu freilich 
ist es notwendig, die etwas vernachlässigte Vorfrage nach der 
Bedeutung, dem Sinn des Umsturzes kurz zu klären. Der ist nun 
nicht einfach, wie es bisher scheinen konnte, ein bloßer Gegensatz 
England—Amerika und läßt sich daher nicht vom englisch-ameri- 
kanischen Gesichtspunkt aus verstehen. Vielmehr gilt es sich 
auf einen dritten, umfassenden, vereinenden Gesichtspunkt zu 
stellen, auf den des britischen Imperiums. Und man darf das 
Geschehen nicht einfach als einen Streit zwischen England und 
Amerika erklären — das ist schon die Revolution — sondern als 
Krise und Katastrophe in der Entwicklung des britischen Im- 
periums. Es handelt sich ja nicht um einen Konflikt zwischen 
zwei Staaten, die zwei Staaten sind erst hinterher da, sie sind das 
Ergebnis des Konflikts. Vor dem Konflikt aber haben wir nur 
einen Staat, das britische Weltreich. Und das Problem, das zum 
Konflikt führt, das in ihm zum Ausdruck gelangt, aber nicht zur 
Lösung, heißt nicht Recht gegen Unrecht, Freiheit gegen Ty- 
rannei, wirtschaftlicher Gewinn gegen Verlust, Oberschicht gegen 


37* 


580 Otto Vossler 


Unterschicht, Dissenter gegen Anglikaner, Interesse gegen Inter- 
esse usw.; das alles sind nur die einzelnen besonderen Umstände, 
unter denen sich das umfassendere, grundlegende Problem ab- 
spielt, das Problem der imperialen Einheit. Es ist also 
eine Frage von allererster Bedeutung, um die es sich in der 
Amerikanischen Revolution handelt, es ist die Lebensfrage 
des Imperiums, die heute noch die britischen Staatsmänner 
beschäftigt: Wie sind die verschiedenen Teile des Weltreichs 
in ein Ganzes, zum Zusammenleben in einer Einheit einzu- 
ordnen? Um die Ursprünge der Revolution zu erkennen, gilt 
es daher das Wesen und Werden der imperialen Einheit, des 
britischen Reichsgedankens zu verfolgen bis zu dem Punkte 
seiner Entwicklung, an dem er versagt, zur Krise gelangt und 
Katastrophe5. | 

Wie steht es nun mit dieser Einheit des Weltreichs? Um 
gleich von einer Grundtatsache auszugehen: Das britische Im- 
perium ist schon von seinen Anfángen an in erster Linie eine 
Wirtschaftseinheit, ein Handelsreich. Eine politische, eine staat- 
liche Einheit ist es nur in zweiter Linie, die politische Einordnung 
der Kolonien in das Reichsganze ist gewissermaßen nur sub- 
sidiär, sie geht in der Hauptsache nur so weit als das notwendig 
scheint, um die einheitliche Handelspolitik zu gewährleisten, den 
Handel nach innen und aufen zu schützen. Zum Unterschied zu 
dem überseeischen Ausgreifen der anderen Nationen, der Portu- 
giesen, Spanier, Franzosen, ist es bei den Engländern schon bei 
der Gründung nicht die politische Instanz, nicht der Staat, nicht 
die Regierung, die die Initiative und Ausführung der Kolonisation 
übernimmt. Es fehlen in den Anfángen des britischen Reichs die 
Vertreter der heimischen Staatsmacht, die großen Gouverneure, 
Conquistadores und Missionare, die für Gott und Kónig ausziehen 
Reiche zu erobern. Der Träger der englischen Kolonisation ist 
statt des Staats und der mit ihm verbündeten Kirche einfach der 


5 G. L. Beer, The commercial Policy of England toward the Am. Colonies, 
N. Y. 1893; ders. British Colonial Policy 1754 — 65, N. Y. 1907; E. B. Greene, 
Provincial America 1690—1740, N. Y. London 1905; ders. The provincial Governor 
in the English Golonies of North America, N. Y. 1898; O. M. Dickerson, Amer. 
Colonial Government 1690—1765, Cleveland 1912; Ch. M. Andrews, The Colonial 


Period, N. Y. London 1912; A. B. Hart; Formation of the Union 1750—1829, ' 
N. Y. 1925. 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 581 


private Unternehmer. Die Regierung gibt wohl ihren Segen zu - 
deren Gründungen, nimmt sie auch unter ihre Oberherrschaft, 
aber sich selbst aktiv beteiligen, vor allem zahlen, will sie nicht. 
Die Siedlungen müssen sich finanziell rentieren und selbst erhal- 
ten, andernfalls sollen sie eben eingehen. 

Dagegen kümmert sich die Regierung in London sehr an- 
gelegentlich um den Handel der Kolonien, denn nicht unmittel- 
bar, sondern auf dem Umweg über ihren Handel sind sie politisch 
äußerst wertvoll; der imperiale Handel erzeugt Reichtum und 
Schiffahrt und das bedeutet politische und militärische Macht, 
ja der Handel wird bekanntlich zur eigentlichen Grundlage der 
britischen Machtstellung. Daher die sorgfältige Handelspolitik 
der Reichsregierung nach den damals unwidersprochenen Lehren 
des Merkantilismus; daher der Gedanke der Navigationsakte, daß 
der Handel innerhalb des Imperiums nur englische und koloniale 
Schiffe benutzen soll; daher der Gedanke, daß die wichtigsten 
Erzeugnisse der Kolonien nur nach England exportiert werden 
dürfen, wofür dann anderseits die Engländer Kolonialprodukte 
nur aus den eigenen, nicht aus fremden Kolonien beziehen dürfen. 
Das Geld soll im Reich bleiben, und deshalb auch sollen die Kolo- 
nisten Manufakturerzeugnisse möglichst in England kaufen. 
Solche Leitsätze sind in einer langen Reihe von Gesetzen und 
Verordnungen bis ins einzelnste ausgearbeitet und mit Hilfe von 
Zóllen und Verboten, aber auch von Prámien und Vergünsti- 
gungen wird den verschiedenen Teilen ihre besondere, angemes- 
sene Rolle innerhalb des groBen Wirtschaftssystems des Reichs 
zugewiesen. Diese wohlausgebaute, systematische Handelsgesetz- 
gebung der Zentralregierung bildet die eigentliche Grundlage der 
imperialen Organisation. 

Die politische Einordnung der Kolonien in das Reichsganze 
bleibt dagegen, wie schon gesagt, viel unsystematischer, lockerer 
und schwächer. Alle englischen Kolonien genießen die Rechte 
und Freiheiten der Engländer, genießen Selbstverwaltung, was 
ihre eigenen Angelegenheiten angeht, sind sie in der Hauptsache 
sich selbst überlassen. Das unterscheidet sie grundsätzlich von 
den Kolonien anderer Nationen. Die Selbständigkeit ist dem 
Grade nach besonders in der Frühzeit von Fall zu Fall verschieden, 
und es hat auch nicht an Versuchen der Reichsregierung 
gefehlt, sie zur strafferen Zusammenfassung des Imperiums zu 


582 | Otto Vossler 


beschränken und zu vereinheitlichen. Solche Bemühungen haben 
indes nur zum geringen Teil Erfolg gehabt; sei es, daß die Lon- 
doner Regierung im 17. und 18. Jahrhundert von den großen 
inneren Umwälzungen und dann von den großen auswärtigen 
Kriegen zu sehr in Anspruch genommen war, und ferner ergreift 
das englische Parlament selber für die Freiheiten der Kolonien 
Partei, weil es in ihnen einen Verbündeten sieht in seinem Kampf 
gegen die Krone. Immerhin ist schließlich eine gewisse Einheit- 
lichkeit erreicht worden, so daß in der Mehrzahl der Fälle die 
Eigenregierung einer Kolonie nach englischem Muster aus Unter- 
haus, Oberhaus und Gouverneur besteht. Das Unterhaus wird 
von den Kolonisten selbst gewählt, der Gouverneur von der 
Zentralregierung ernannt, und er ernennt seinerseits die Mit- 
glieder des Oberhauses. Die innerpolitische Entwicklung in den 
Kolonien geht jedoch, ähnlich wie im Mutterlande dahin, daß 
das Unterhaus an Macht gewinnt, während Oberhaus und Gou- 
verneur an Bedeutung verlieren. Das hängt selbstverständlich 
auch zusammen mit dem außerordentlich schnellen Wachsen der 
Bevölkerung und des Reichtums der überseeischen Siedlungen. 

Diese „demokratische“ Entwicklung in den Kolonien hat aber 
eine bedenkliche Folge für das Reich. Der Gouverneur vertritt 
-die gemeinsame imperiale Oberleitung, das Unterhaus die Sonder- 
interessen der: Kolonie. Es ist ganz klar, je schwächer die 
Stellung des Gouverneurs wird, desto schwächer wird zugleich 
die gemeinsame Oberleitung, der politische Zusammenhalt des 
Imperiums. Die Portugiesen, Spanier, Franzosen kennen solche 
Schwierigkeiten nicht; ihre Kolonien werden zentralistisch und 
autoritär von Lissabon, Madrid und Paris aus regiert. Bei den 
englischen Kolonien dagegen rückt der Schwerpunkt der Macht 
und der Schwerpunkt der Regierung mehr und mehr von London 
weg hinüber nach Boston, New York, Philadelphia, Williams- 
burg usw. Und trotzdem sollen die Kolonien weiter einheitlich 
geführt werden. Das ist eine ernste Schwierigkeit, und schon ehe 
sie ihre Unabhängigkeit offiziell erklären, sind die Kolonien tat- 
sächlich schon so gut wie selbständige Staaten geworden. Wirk- 
lich gefährlich aber für die Einheit des Reichs kann das solange 
nicht werden, als die Franzosen in Canada und im Mississippi- 
becken stehen, in einem gewaltigen Bogen die englischen Sied- 
lungen drohend im Rücken umfassen und sie durch diesen außen- 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 583 


politischen Druck gewissermaßen von hinten an das Mutterland 
anpressen. 

Aber die Mängel, die Schwäche der Reichsorganisation, die 
die wirtschaftliche Einordnung der Kolonien in den Vordergrund 
stellt, aber die politische Einordnung vernachlässigt, die zeigt 
sich schon deutlich im Siebenjährigen Krieg. Da sollen sich die 
Amerikaner gegen die Canadier verteidigen, die unter einer 
äußerst straffen, schlagfertigen, einheitlichen Führung stehen, 
und es ist notwendig, daß die 13 englischen Kolonien einem 
solchen Feind gegenüber nun auch geeint auftreten. Deshalb 
macht die Reichsregierung — deren normale Mittel für eine 
solche Aufgabe nicht ausreichen — als der Krieg drüben schon 
ausgebrochen ist, den Vorschlag, es sollten Abgeordnete der 
Kolonien einen Plan für eine gesamtamerikanische Oberleitung 
ausarbeiten. Das Ergebnis ist ein merkwürdiger Verfassungs- 
entwurf von Benjamin Franklin. Er fordert die Bildung eines 
amerikanischen Kongresses, in dem Vertreter der Kolonien unter. 
einem englischen Gouverneur vereint sind. Dieser Kongre$ soll 
das Recht haben gewisse Steuern zu erheben, Truppen auszu- 
heben, soll die Leitung des Krieges haben und die indianischen 
Angelegenheiten regeln, kurz er soll die auswártige Politik gegen 
den Westen übernehmen. Das Problem der Einheit, die Not- 
wendigkeit, das Verhältnis der Reichsteile zueinander neu und 
zwar enger zu gestalten, tritt da unter der äußeren Gefahr schon 
ganz deutlich auf, und Franklins Plan zeichnet zwei Lósungen, 
die später für dieses Problem gefunden worden sind, voraus. Er 
ist ein Vorláufer der Verfassung der Vereinigten Staaten von 
Amerika und auch der Zusammenschlüsse, durch die aus Grup- 
pen englischer Kolonien die großen, selbstándigeren Dominions 
entstanden sind. Damals freilich wird Franklins Plan abgelehnt 
und die einheitliche Oberleitung bleibt einfach bei der Reichs- 
regierung in London. Man kann wirklich nicht sagen, daß es ihr 
mit Hilfe ihrer Gouverneure gelungen sei, die Kolonisten zu dem 
notwendigen geschlossenen und kräftigen Vorgehen gegen den 
nationalen Feind zu bewegen. Vielmehr muß nach einer höchst 
zersplitterten, lahmen, halbherzigen und wenig ruhmvollen 
Kriegführung durch die Amerikaner schließlich England selbst 
für das Reich einspringen und mit seinem Geld und seinen Trup- 
pen den Sieg in Amerika erringen. Kurz, im Siebenjährigen 


584 Otto Vossler 


Krieg zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß die imperiale Orga- 
nisation, der vorhandene politische Apparat der Reichsleitung in 
den Kolonien — der im wesentlichen zur Sicherung der Handels- 
politik geschaffen war — für die Durchführung einer außen- 
politisch-militärischen Aufgabe gegen den Westen völlig unzu- 
reichend ist. 

Man könnte nun meinen, daß diese Aufgabe ohnedies durch 
den siegreichen Ausgang des Krieges erledigt sei, so daB das alte 
Kolonialsystem bleiben konnte. Das Gegenteil ist richtig: Gerade 
der Friede von 1763 verschärft die äußere Aufgabe gegen den 
Westen und bringt damit das imperiale Einheitsproblem zur ver- 
hängnisvollen Krise. Damals verliert Frankreich ganz Canada 
und das halbe Mississippibecken an das Britische Reich. Das 
bedeutet einerseits, was die amerikanischen Kolonien im Beson- 
deren angeht, das Aufhören des außenpolitischen französischen 
Druckes von hinten, sie haben den Rücken frei, fühlen sich sicher, 
brauchen den Schutz des Mutterlandes nicht mehr, kurz sie sind 
wieder um ein Bedeutendes selbständiger geworden. Jetzt erst 
ist überhaupt die Vorbedingung, die Möglichkeit einer Unab- 
hängigkeitsbewegung geschaffen. 

Andererseits aber, was das Imperium betrifft, stellt das neu- 
erworbene, gewaltige Gebiet die Reichsleitung vor neue Auf- 
gaben, ja das Reich ändert überhaupt seinen Charakter. Bis 
dahin ist es ein Handelsreich gewesen, hat es nur Kolonien ge- 
habt, die sich wirtschaftlich selbst erhalten, und die sich selbst 
verwalten können. Jetzt ist das anders geworden. Das große 
Gebiet im Westen ist auf lange Zeit hinaus wirtschaftlich passiv, 
es rentiert sich nicht, es kostet; es ist von Indianern bewohnt und 
kann sich nicht selbst verwalten. Aber wenn es überhaupt wert- 
voll, das heißt kolonisiert werden soll, und wenn die Indianer 
nicht zu einer dauernden Gefahr für die weißen Siedlungen werden 
sollen, so muß das Gebiet in Ruhe und Ordnung gehalten und 
der Besiedlung friedlich eröffnet werden. Früher haben die Fran- 
zosen das Territorium verwaltet. Wer soll das jetzt tun? Die 
13 Kolonien sind dazu völlig ungeeignet, das zeigt sich schon 
sehr bald, sie richten sofort Verwirrung und Unheil an, es kommt 
zu Zusammenstößen und schließlich zu einem sehr gefährlichen 
ausgedehnten Indianeraufstand. Es ist daher unbedingt not- 
wendig, daß die einheitliche Oberleitung die westlichen, india- 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 585 


nischen Angelegenheiten den Kolonien entzieht und selber in 
ihre Hand nimmt und die Politik der Kolonien gegen Westen 
koordiniert. 

So ist die nur vorübergehende auswärtige Aufgabe des Sieben- 
jährigen Krieges durch den Frieden zu einer dauernden geworden 
und die Reichsregierung in London. muß zu der alten Aufgabe der 
wirtschaftlichen Einordnung die neue übernehmen, ihre ameri- 
kanischen Kolonien gegen Westen auch politisch einzuordnen. 
Im selben Augenblick also, in dem durch den Abzug der Fran- 
zosen der Zusammenhalt des Imperiums gelockert ist, ist die 
Zentralregierung gezwungen die Einheit straffer anzuspannen. 
Jetzt da die Kolonien sich mächtiger fühlen und fast schon selb- 
ständige Staaten geworden sind, muß die Zentrale ihre Oberherr- 
schaft stärker durchsetzen, um ihrer neuen Verantwortung zu 
genügen. Sie plant drei Maßnahmen, um der Situation an der 
amerikanischen Westgrenze zu begegnen. Um Zusammenstöße 
zwischen Indianern und Kolonisten zu verhüten, soll eine pro- 
visorische Scheidelinie zwischen beiden gezogen werden. Das 
geschieht. Ferner soll ein kleines Heer den Schutz der Grenze 
gegen die Eingeborenen übernehmen. Dazu kommt es gar nicht 
mehr. Und schließlich sollen die Kolonisten wenigstens einen 
Teil der Kosten für diese ihre eigene Verteidigung selber tragen. 
Als aber in Ausführung dieses letzten Programmpunktes das 
englische Parlament die Stempelsteuer in Amerika einführt, 
leisten die Kolonisten Widerstand; die Stempelakte kann nicht 
in Kraft treten. Jetzt ist der Konflikt da. 

An dieser Stelle rückt endlich das Einheitsproblem in ein 
grundsátzlich neues und kritisches, letztes Stadium. Der Versuch, 
die imperiale Einheit zu stärken, stößt nicht bloß auf das 
Streben der Kolonien, ihre Selbständigkeit ungeschmälert zu 
wahren, sondern er gerät mit einem neuen und weit gefährlicheren 
und unversöhnlicheren Gegner in Konflikt, mit dem Geist der 
englischen Freiheit und Verfassung®. Die Kolonisten lehnen die 
Steuer nicht als zu hoch ab, sondern grundsätzlich, als verfas- 
sungswidrig, als eine Verletzung ihrer ererbten und verbrieften 


* Moses Coit Tyler, The Literary History of the Amer. Revolution, N. Y. 1897; 
Ch. A. MeIlwain, The Amer. Revolution, A constitutional Interpretation, N. Y. 
1925; R. Greenfield Adams, Political Ideas of the Amer. Revolution, Durham 1922; 
C. L. Becker, The Spirit of 76, Washington 1927. 


586 Otto Vossler - 


englischen Rechte und Freiheiten. Damit wird der Streit gleich 
bei seinem Ausbruch vom praktischen auf das verfassungsrecht- 
liche, prinzipielle Gebiet verlegt und außerordentlich verschärft. 
Außerdem aber konımt es jetzt erst zum Vorschein und zum Be- 
wußtsein der Kolonisten, daß nach anderthalb Jahrhunderten 
der Trennung, unter verschiedenen Lebensbedingungen, Erfah- 
rungen und Umständen die Vorstellungen von englischen Rech- 
ten, englischen Freiheiten und englischer Verfassung diesseits und 
jenseits des Ozeans sich auseinanderentwickelt haben, nicht mehr 
die gleichen sind. | 

Die Amerikaner berufen sich da gegen die Stempelsteuer auf 
den bekannten englischen Grundsatz 'no taxation without repre- 
sentation'. Sie sind in der Reichsregierung nicht vertreten, also 
kónnen sie von ihr nicht besteuert werden. Das kann die Reichs- 
regierung keinesfalls zugeben. Sind doch die weitaus meisten 
Engländer selbst, und ganze große Städte nicht im Parlament 
vertreten und werden doch zu Recht von ihm besteuert. Die 
Reichsregierung hat auch immer schon unwidersprochen Zölle 
in den Kolonien erhoben, das ist auch eine Besteuerung, und die 
ganze imperiale Handelsgesetzgebung wäre in Frage gestellt, 
wenn der Satz nicht mehr die in England anerkannte, selbstver- 
stándliche Bedeutung haben soll: Keine Besteuerung ohne das 
Parlament. Die Amerikaner denken anders; bei ihnen ist — ganz 
anders als im Mutterland — das Wahlrecht gleichmäßig verteilt, 
das Gros der Steuerzahler ist tatsáchlich wahlberechtigt, für sie 
kann daher der Satz nur die wórtliche Bedeutung haben: Keine 
Besteuerung ohne Wahlrecht. Dasselbe englische Prinzip, das- 
selbe Wort, representation, hat auf den beiden Ufern des Meeres 
nicht mehr dieselbe Bedeutung, Engländer und Engländer ver- 
Stehen sich nicht mehr. 

Das Hauptargument der Kolonisten gegen die Reichsregie- 
rung ist die Berufung auf ihre verbrieften englischen Rechte und 
Freiheiten; diese, ihr teuerstes Erbgut, seien unantastbar, un- 
verletzlich, denn jede rechtmáBige Regierung sei beschränkt und 
gebunden durch die Verfassung, die Staatsgewalt stehe unter 
dem Recht, sonst sei sie Despotismus. Bei den Amerikanern 
trifft das zu, ihre kleinen kolonialen Regierungen sind tatsächlich 
an das Recht, an geschriebene Verfassungen, die Charter und an 
das Common Law gebunden; wenn sie diese verletzten und ihre 


Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 587 


Befugnisse überschreiten, werden ihre Gesetze annulliert. Als 
einziges Volk im ganzen Abendlande haben die Kolonisten das 
Wirken und die Notwendigkeit einer unumschränkten, absoluten 
Staatsgewalt nie erlebt. In England hatte man früher auch so 
gedacht, gerade zur Zeit als die Kolonisten ausgewandert waren. 
Seither aber ist das Parlament längst zur höchsten, souveränen, 
unumschränkten Gewalt aufgestiegen, es steht über, nicht unter 
dem Recht, sein Wille ist Gesetz, die alten englischen Rechte und 
Freiheiten sind nur eine freiwillige Selbstbeschränkung, die es 
sich selbst auferlegt hat und die es daher auch wieder aufheben 
kann. Die Autorität des Parlaments ist nach englischem Recht, 
damals wie heute, absolut, sie leugnen heißt Aufruhr. Die Reichs- 
regierung würde jaabdanken wenn die Kolonisten die englischen 
Rechte selber auslegen und ihr vorschreiben wollen, was sie tun 
darf und was nicht, das hieße ihnen erlauben, nach Belieben den 
Gehorsam zu verweigern. 

Man sieht an den zwei Beispielen, wie die verfassungsgeschicht- 
liche Entwicklung und damit auch das verfassungsrechtliche 
Denken in England und Amerika auseinandergegangen ist und 
eine Verständigung unmöglich macht. Von hier aus erscheint die 
Schuldthese, die wir zu Anfang kennen gelernt haben, als eine 
historische Notwendigkeit. Nach ihren besonderen amerika- 
nischen Erfahrungen und Vorstellungen müssen die Kolonisten 
den Anspruch der Reichsregierung auf Besteuerung ohne Wahl- 
recht, auf unumschränkte Souveränität als unerhörte, boshafte 
Neuerung, als reine Tyrannei und als das sichere Ende ihrer 
teuersten Rechte und Freiheiten betrachten. Anderseits muß die 
Reichsregierung nach ihrer englischen Vergangenheit in dem An- 
spruch der Kolonisten auf Vertretung, auf Unantastbarkeit ihrer 
Rechte Unaufrichtigkeit und Rebellion sehen, das Ende ihrer 
Oberherrschaft im Reich, das Ende der Einheit des Reichs. Beide 
haben recht, beide müßten ihre Vergangenheit, ihre historische 
Mission, ja sich selbst verleugnen, wollten sie nachgeben. Und 
die Gegensätze, die sie vertreten, sind unvereinbar, ein Ausweg, 
eine Verbindung und Versöhnung von imperialer Oberherrschaft 
und amerikanischer Freiheit ist im damaligen Reiche unmöglich. 
Die Vertretung der Kolonien in der Zentralregierung scheitert ja 
schon an geographischen Gründen, und die Sicherung der Grund- 
rechte nach amerikanischen Vorstellungen, durch eine geschrie- 


588 Otto Vossler: Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 


bene Verfassung und ein Gericht, das sie auslegt, ist beim eng- 
lischen Parlament undenkbar. 

An dieser Unmöglichkeit aber, eine Reichsverfassung zu fin- 
den, in der die notwendige Macht und Überordnung der Zentral- 
regierung mit der ebenso notwendigen Wahrung der englisch- 
amerikanischen Rechte und Freiheiten in Einklang gebracht ist, 
geht schließlich das Britische Imperium zugrunde. Jahrelang 
kämpfen beide Teile mit einer rechthaberisch, kleinlich, ja schi- 
kanös anmutenden Verbissenheit um ihr Prinzip, bis nur noch 
das Schwert entscheiden kann. Die Reichsregierung kommt zum 
Schluß, daß sie entweder abdanken muß, oder sich mit Gewalt 
durchsetzen. Sie versucht das letztere. Gleichzeitig gewinnen 
die Kolonisten die Überzeugung, daß ihre Ideale von Recht, Frei- 
heit und Verfassung, so wie sie sie verstehen, ererbt und erprobt 
haben, die sie als ihr höchstes Gut geschätzt und immer für den 
Stolz, den Ruhm, das eigentliche Kennzeichen des Engländers 
gehalten haben, daß die von der Reichsregierung verleugnet und 
bedroht sind. Wenn diese freie Verfassung sich nicht auf das 
Reich übertragen läßt — und sie läßt sich damals nicht über- 
tragen — um so schlimmer für das Reich. Sie wollen die Freiheit 
ihrer Väter verteidigen, dann eben gegen das Reich. 


589 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren 
(September und Dezember 1831). 


Von 


Emil Kayser. 


Eines der eigentümlichsten staatsrechtlichen Gebilde, welche 
die Geschichte Europas kennt, ist das Fürstentum Neuenburg, 
das einerseits in den Königen von Preußen die 1707 von den 
Ständen anerkannten Inhaber der monarchischen Gewalt besaß 
und anderseits im Laufe der Zeit der Republik der Schweize- 
rischen Eidgenossenschaft als vollberechtigtes Glied (Kanton) an- 
geschlossen war. Es ist begreiflich, daß diese Doppelnatur, trotz- 
dem sie in ihren Ursprüngen und in ihrem Fortbestand auf dem 
freien Entschluß der verfassungsmäßigen Vertretung des Landes 
beruhte, mit der Zeit als eine Abnormität empfunden wurde, und 
daß die geschichtliche Entwicklung schließlich zur Lösung des 
Bandes führte, welches das kleine Land französischer Zunge am 
Jura mit dem fernen Königshause in der Mark Brandenburg ver- 
band. Der Revolution vom 1. März 1848, welche die tatsächliche 
Beendigung der Hohenzollernherrschaft in Neuenburg bewirkte, 
verlieh der am 26. Mai 1857 zu Paris zwischen den fünf Groß- 
mächten und der Schweiz abgeschlossene Vertrag, in welchen 
der Preußische König auf die ihm zustehenden Souveränitäts- 
rechte über das Fürstentum Neuenburg und die Grafschaft Va- 
langin verzichtete, das völkerrechtliche Siegel. 

Wie die Pariser Februarrevolution vom Jahre 1848 der gei- 
stige Ausgangspunkt der Neuenburger Umwälzung wurde, so 
war auch der Sturz der französischen Bourbonen im Jahre 1830 
wie für andere Kantone der Schweiz so für das Fürstentum 
Neuenburg zu einem Signal demokratischer Erhebung geworden. 
Wie matt aber noch die Stoßkraft demagogischer Schlagwörter 
in Neuenburg war, läßt schon der Umstand ersehen, daß erst am 


590 Emil Kayser 


Ende des Jahres 1831 die gegen die monarchisch-aristokratische 
Verfassung des Fürstentums gerichtete Bewegung zur Aktion 
kam. Im Jahre 1931 sind 100 Jahre vergangen, seitdem der erste 
Versuch unternommen wurde, den Kanton Neuenburg seines 
monarchischen Charakters zu entkleiden und ihn als unabhängige 
Republik den anderen Kantonen der Schweiz gleichzustellen. 
Wenn Ernst Gagliardi in seiner vortrefflichen Geschichte der 
Schweiz (Bd. I, S. 107) sagt: „Die Schweiz ist aus den mittel- 
alterlichen Bauern- und Stadtstaaten erwachsen, und die Demo- 
kratie erscheint deßhalb für sie als ein die ganze Existenzform 
durchdringendes inneres Leben“, so muß das Fürstentum Neuen- 
burg von dieser Charakterisierung ausgenommen werden. 

Als Friedrich Wilhelm III. nach der Herrschaft des Mar- 
schalls Berthier (1806—1814) wieder die durch Entscheidung der 
drei Stände des Fürstentums Neuenburg vom 3. November 1707 
dem Hause Hohenzollern übertragene Souveränität über Neuen- 
burg und Valangin übernahm, bestätigte er in der Charte vom 
18. Juni 1814 die von seinen Vorfahren übernommene Verpflich- 
tung, die alten Freiheiten und Rechte zu achten. 

Sehen wir uns diese alten Freiheiten und Rechte (libertes et 
franchises, wie es in der Charte heißt) etwas näher an. 

Die Regierungsgewalt lag in den Händen des Staatsrats, 
dessen Vorsitz der vom Fürsten ernannte Gouverneur innehatte. 
Ohne daß eine gesetzliche Bestimmung das Amt eines Mitglieds 
des Staatsrats von adliger Geburt abhängig gemacht hätte, hatte 
sich die Tradition ausgebildet, daß ausschließlich Edelleute Mit- 
glieder dieser obersten Behörde sein konnten. Auch in bezug auf 
die übrigen höheren Ämter (chátelains, chefs de jurisdiction) be- 
stand ein tatsächliches Vorrecht des Adels. Verwaltung und 
Justiz waren nicht getrennt. Während der Staatsrat neben der 
obersten Leitung der Landesverwaltung als solcher auch richter- 
liche Befugnisse besaß, übte er außerdem in den beiden höchsten 
Gerichtshöfen der drei Stände von Neuenburg und Valangin 
einen entscheidenden Einfluß dadurch aus, daß in der Regel zwei 
Drittel der Mitglieder zugleich dem Staatsrat angehörten. 

Bei aller Bedeutung, die hiernach dem Adel zukam, fand das 
demokratische Element in den vier „bourgeoisies‘‘ von Neuen- 
burg, Valangin, Boudry und Landeron eine entscheidende Gel- 
tung. Insbesondere erscheint die Bourgeoisie von Valangin 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 591 


gleichsam wie eine Landsgemeinde der Urschweiz. Alle drei Jahre 
versammelten sich die Bürger der 27 Gemeinden, welche die 
Grafschaft bildeten, mit ihren Fahnen auf einer Festwiese, um 
ihre Behörden zu wählen und über ihre partikularen Angelegen- 
heiten, auch wohl die des ganzen Fürstentums zu beraten. 

Der Gedanke der Volksvertretung war alt im Fürstentum. 
Zwar waren die Landstände (audiences générales) seit 1618 nicht 
mehr einberufen worden, aber die „Vereinigung der Körper- 
schaften und Gemeinden‘ hatte die Aufgabe übernommen, den 
Wünschen der Gesamtbevölkerung gegenüber der Regierungs- 
gewalt berufenen Ausdruck zu verleihen. Das Edikt vom 26. De- 
zember 1814 knüpfte an die Einrichtung des 17. Jahrhunderts 
wieder an und bestimmte hinsichtlich der Zusammensetzung der 
wiedererrichteten audiences générales, daß die zehn ältesten 
Staatsräte ihnen kraft eigenen Rechts angehörten, daß der . 
Fürst 14 Notabele, darunter 4 Geistliche, als Mitglieder zu er- 
nennen befugt sei, daB 21 Bezirksvorsteher (chátelains) durch 
den Staatsrat zu berufen seien und 30 Mitglieder als Abgeordnete 
der Bezirke zu wählen seien. Das Bureau bestand abgesehen vom 
Gouverneur aus dem Kanzler, dem Generalprokurator und dem 
Staatssekretär, welche drei letztere Mitglieder des Staatsrats 
waren und somit neben den zehn ältesten Staatsräten als Ver- 
treter des Staatsrats in den audiences générales in Betracht 
kamen. 

Die durch die franzósische Revolution von 1830 in Neuenburg 
hervorgerufene Erregung bescháftigte sich hauptsáchlich mit der 
Zusammensetzung der Volksvertretung; ihr Ziel war eine gesetz- 
gebende Versammlung, die auf direkten Wahlen beruhte: ein 
corps législatif sollte an die Stelle der audiences générales treten. 

Die Initiative ergriff klugerweise der Staatsrat selbst, indem 
er die Bourgeoisien veranlaßte, Vorschläge zu machen und den 
Postdirektor Louis Jeanrenaud beauftragte, die von den Bour- 
geoisien gefaßten Beschlüsse der Krone zu unterbreiten. Es han- 
delte sich dabei nicht allein um Vorschläge der vier Bourgeoisien 
selbst, sondern auch um Vorschläge, die von den einzelnen Ge- 
meinden beschlossen wurden. Während die Bourgeoisien als 
solche eine Vertretung verlangten, fand dieser Sonderanspruch 
in den meisten Einzelgemeinden Ablehnung. Auch über die 
Frage, ob der Krone die Befugnis einzuráumen sei, Vertreter zu 


592 Emil Kayser 


ernennen, gingen die Beschlüsse auseinander; immerhin sprach 
sich die Mehrzahl der Gemeinden in Übereinstimmung mit sämt- 
lichen vier Bourgeoisien grundsätzlich zugunsten der „Königs- 
deputierten“ aus. Einstimmigkeit bestand bezüglich des Wahl- 
verfahrens: Die Wahl sollte geheim und direkt vollzogen werden. 
Von der Auflösung des Bandes zwischen dem Lande und dem 
brandenburgischen Fürstenhause war nicht die Rede. 

Der daraufhin von Friedrich Wilhelm III. mit unbeschränkter 
Vollmacht ausgestattete Generalmajor von Pfuel erließ, nachdem 
er das Land bereist und dabei die Wünsche der Bevölkerung — 
auch diese hatten in keinem Falle die Beseitigung der Monarchie 
zum Gegenstand — entgegengenommen hatte, am 22. Juni 1831 
eine Ordonnanz, welche die angestrebte Änderung wenigstens 
insoweit brachte, als der durch sie ins Leben gerufene gesetz- 
gebende Körper — außer zehn vom König berufenen Mitgliedern 
aus 78 vom Volk — den 22jährigen Bürgern — in geheimer und 
direkter Wahl gewählten Mitgliedern bestehen sollte. 

Die Mitte Juli eröffnete Sitzung des gesetzgebenden Körpers 
spielte sich in vollkommener Ruhe ab und endigte mit einer 
Kundgebung, die dem König für sein Wohlwollen dankte!. 

Man hätte nach alledem meinen sollen, eine volle Beruhigung 
der Gemüter sei nunmehr eingetreten. Aber bald straften die 
Ereignisse solchen Optimismus Lügen. 

Der radikalen, auf Beseitigung jeder Verbindung mit dem 
preußischen Königshause in geheimer Verschwörerarbeit tätigen 
Gruppe war nicht Genüge geschehen. Wie eng dieselbe mit 
französischen Einflüssen verknüpft war, erhellt schon aus der 
Tatsache, daß ihre politischen Gedanken von einem aus Frank- 
reich zugewanderten Journalisten, Armand, in dem Wochenblatt 
„Messager de Neuchátel' vertreten wurden. Wenn auch schließ- 
lich einheimische Elemente die Führung in die Hand nahmen, so 
verdient in diesem Zusammenhange doch der Umstand Beach- 


! Die im Allgemeinen mit ausgesprochner Tendenz gegen die monarchisch- 
aristokratische Verfassung von Neuenburg gerichtete , Geschichte des Schweizer- 
volkes von Otto Henne am Rhyn kann nicht umhin, die Öffentlichkeit der Ver- 
handlungen, Preßfreiheit als Ergebnis der Sittung zu buchen. „Durch diese Ver- 
fassungsrevision war bezüglich der Repräsentation ein weiterer Fortschritt ge- 
schehen, als z. B. in Zürich, Luzern und Solothurn, wo die Hauptstadt mehr Vor- 
rechte für sich behalten hatte, als in Neuenburg der König.“ (III, 295.) 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 593 


tung, daß der Geist der Unruhe und der Änderung hauptsächlich 
im Val de Travers seinen Sitz hatte, in dem die Uhrenindustrie 
verbreitet war und ihre Anziehungskraft über die Landesgrenzen 
hinaus ausgeübt hatte. So war es auch im Val de Travers, in 
Couvet und Rochefort, wo unter der Leitung von Dr. Petitpierre 
aus Travers, Dr. Roessinger aus Mötiers, H.C. Dubois aus Buttes, 
Alfons Bourquin aus Corcelles und dem Advokaten Humbert- 
Droz aus La Chaux-de-Fonds die vorbereitenden Versammlungen 
stattfanden. 

Am 12.September gelangten die Pläne zur Ausführung, 
welche das ausgesprochene Ziel verfolgten, die Herrschaft des 
Kónigs von PreuBen zu stürzen und dem Staatsrat die Rene: 
rungsgewalt zu entreißen. 

Eine Abteilung, die sich überwiegend aus Einwohnern des 
Val de Travers zusammensetzte, bemáchtigte sich, ohne Wider- 
stand zu finden, unter dem Kommando von Alfons Bourquin in 
einer Stárke von etwa 250 Mann des Neuenburger Schlosses. Eine 
andere Abteilung, deren Mannschaften aus den Gemeinden des 
Rebgelündes stammte, besetzte das Rathaus in Neuenburg und 
vereinigte sich alsdann mit der Truppe Bourquin. 

An die Spitze der alsbald von den Aufständischen eingesetzten 
Regierung wurde der Vertreter von Fleurier im Corps législatif, 
Jonas Berthoud, berufen. Der gesetzlich als oberste Regierungs- 
stelle wirkende Staatsrat hatte zwar vor den Aufstándischen das 
Feld auf dem SchloB geráumt, sich aber nach fehlgeschlagenen 
Versuchen, die Gescháfte von Valangin oder von Le Lócle aus 
wahrzunehmen, furcht- und harmlos in der Hauptstadt selbst 
niedergelassen. Wie wenig er sich durch die Ereignisse hatte ein- 
schüchtern lassen, bewies er des weiteren dadurch, daß er sofort 
den gesetzgebenden Kórper einberief, den Generalprokurator de 
Chambrier nach Luzern entsandte, um die eidgenóssische Unter- 
stützung zu erbitten und bei den Kantonen Freiburg, Waadt und 
Bern militárischen Beistand zu beantragen. 

Während der von Seiten der Aufständischen ebenfalls nach 
Luzern geschickte Fritz Courvoisier vom Landammann Am Rhyn 
mit der freundlichen Aufforderung abgespeist wurde, immer 
guter Schweizer zu sein und Blutvergießen zu vermeiden, er- 
schienen am 21. September die eidgenóssischen Beauftragten 
v. Tillier (Bern) und Sprecher v. Bernegg (Graubünden) in 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 38 


594 Emil Kayser 


Neuenburg, um den Streit in friedlicher Weise zu schlichten. 
Eine an den folgenden Tagen einrückende Abteilung, bestehend 
aus 2 Batterien, einer Kompagnie Karabiniers und 3 Bataillonen 
Infanterie, sollte ihren Vorschlägen und Maßnahmen den allen- 
falls notwendigen Nachdruck verleihen. 

Nach eintägigen Verhandlungen kam am 27. September eine 
Verständigung unter folgenden Bedingungen zustande: 

.1. Durch die Vergangenheit wird beiderseits ein Strich ge- 
macht ; 

2. Alle Bewaffneten werden an demselben Tage in die Heimat 

entlassen; 

3. Das Schloß und das dem Kanton gehörige Kriegsmaterial 

wird den eidgenóssischen Truppen übergeben. 

Die eidgenössischen Kommissare übernahmen die Gewähr für 
die Ausführung dieser Bedingungen, und der Staatsrat erklärte, 
daß er der Einberufung der Urwählerversammlungen zur Be- 
ratung über die Frage: „Monarchie oder Republik“ kein Hinder- 
nis in den Weg legen werde. 

Nachdem der Staatsrat als gesetzmäßige Regierung unter 
dem Schutz der eidgenössischen Truppen wieder das Schloß be- 
zogen hatte, versammelte sich der gesetzgebende Körper, um 
über die Einberufung der Urwähler Beschluß zu fassen. Er ver- 
warf indessen mit 47 gegen 31 Stimmen die Einberufung und 
sprach sich für die Aufrechterhaltung der Monarchie ohne Be- 
fragung der Urwähler aus. 

Damit schien die Frage, deren Lösung das letzte Ziel der auf- 
ständischen Bewegung gewesen war, vom Standpunkt sowohl der 
zu Recht bestehenden Verfassung als auch weitgehender Rück- 
sicht auf divergierende Volksmeinungen aus dem Bereich der 
Gegenwartssorgen ausgeschieden. Die Führer der Bewegung 
waren jedoch nicht dieser Meinung. Es war' ihnen gelungen, sich 
nach Yverdon im Kanton Waadt zu flüchten, wo sie alsbald ein 
neues Unternehmen vorbereiteten. Während sie unter ihren An- 
hàngern im Neuenburger Lande verbreiten ließen, daß sie mit 
einer Heeresmacht von einigen tausend Mann aus den Kantonen 
Waadt, Freiburg und Genf anrücken würden, und daß ihnen 
sogar Geschütze zur Verfügung ständen, beschränkte sich ihre 
Kerntruppe in Wahrheit auf 200 Arbeiter aus Genf, die zudem 
bei ihrer Landung in Morges durch waadtländische Truppen ent- 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 595 


waffnet wurden. Nachdem die Genfer wieder mit Waffen ver- 
sehen worden waren, gingen sie in zwei Abteilungen in der Rich- 
tung des Val de Travers vor, wo am ehesten politische Ge- 
sinnungsgemeinschaft und militärischer Beistand zu erwar- 
ten war. 

Die eine dieser Abteilungen stieB in Bevaix am 17. Dezember 
auf den General v. Pfuel mit einem Milizbataillon und der Neuen- 
burger Stadtgarde, dem es ein Leichtes war, die Aufständischen 
zurückzuwerfen und zu zerstreuen; einer der Führer, Dr. Roes- 
singer, geriet dabei in Gefangenschaft. Gleich am folgenden Tage 
wurde Pfuel bei Travers auch mit der anderen Abteilung fertig; 
nur die Aufständischen hatten dabei einen Toten zu beklagen. 
Louis Grandpierre, der an diesen Kämpfen auf der Seite der Auf- 
ständischen beteiligt war, und dessen ,,mémoires politiques“ wir 
bei der Darstellung der Begebenheiten gefolgt sind, zieht das 
Facit des Aufstandes mit den Worten (S. 231): 

„Le parti libéral était désormais vaincu et sans res- 
sources, les chefs dispersés, quelques centaines de citoyens 
emprisonnés, un nombre plus considérable encore répandu 
sur la frontiére des cantons voisins et de la France. 

Grandpierre widmet ein ganzes Kapitel seiner Erinnerungen 
den Vergeltungsmaßregeln, die von den Inhabern der gesetz- 
mäßigen Gewalt nach Niederwerfung des Aufstandes getroffen 
worden seien. Wenn er seine Erórterungen mit einer allgemeinen 
Betrachtung über den Charakter der aristokratischen und der 
der demokratischen Parteien mit Rücksicht auf ihr Verhalten 
nach gewonnenem Sieg eróffnet und den Unterschied darin sieht, 
daB die Demokratie für gleiches Recht und das Gemeinwohl 
kämpft, während die Aristokratie sich ihre Sonderrechte an- 
gelegen sein lasse, so dürfte dieses Bild im Lichte der Geschichte 
doch weniger objektiven Wahrheitswert besitzen als die Ab- 
hängigkeit menschlicher Urteile vom Parteistandpunkte kenn- 
zeichnen. Daß Grandpierres Zeichnung auf die Neuenburger 
Dinge nicht paBt, hat Frédéric de Chambrier in seinen ,,men- 
songes historiques sur Neuchátel'" in geradezu klassischer Weise 
nachgewiesen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit überschrei- 
ten, wenn die Einzelheiten des dem Aufstand folgenden gericht- 
lichen und polizeilichen Nachspiels hier eingehender behandelt 
würden. Es mag nur erwähnt werden, daß im Laufe der fraglichen 

38* 


596 Emil Kayser 


Bewegungen dreimal eine Amnestie verkündet und jedesmal mit 
einer neuen revolutionären Handlung der Demokraten beant- 
wortet wurde, daß von den politischen Gefangenen gleich in den 
ersten Tagen eine große Zahl — de Chambrier glaubt 135 an- 
nehmen zu dürfen — wieder entlassen wurde, und daß Dr. Roes- 
singer sich nicht zu beklagen hatte, wenn er die im Gnadenwege 
an Stelle der Todesstrafe getretene Festungshaft in preußischen 
Festungen (Ehrenbreitstein und Wesel) verbüßen durfte, wo ihm 
alle mit der Lage der Dinge zu vereinbarenden Erleichterungen 
gewährt wurden. 

Nun spricht auch Ernst Gagliardi (a. a. O. S. 367) von einer 
„drakonischen Niederwerfung des Aufstandes durch den Ge- 
neral v. Pfuel". Wenn wir in dieser Frage in erster Linie eben- 
falls dem republikanischen Gewährsmann das Wort erteilen, 80 
muß hervorgehoben werden, daß der Name des Generals bei 
Grandpierre im Kapitel der „Vengeances‘‘ nur einmal genannt 
wird und zwar im Zusammenhange mit der Entlassung Roes- 
singers aus der Festungshaft, die Pfuel erwirkt habe, als er sich 
bei einem Besuch Roessingers von dem gedrückten Gemüts- 
zustand desselben überzeugte. Und die allgemeine Charakter- 
schilderung, die Grandpierre von Pfuel gibt, bezeichnet ihn als 
einen Mann von liberaler und hoher Gesinnung. Er spricht sogar 
die Überzeugung aus, daß Pfuel selbst die Unabhängigkeit des 
Landes von der preußischen Krone erlangt hätte, wenn das Land 
sie verlangt haben würde. 

Dagegen erwähnt Frédéric de Chambrier drei Verordnungen, 
die durch den Aufstand veranlaßt waren und die Unterschrift 
des Generals von Pfuel tragen. 

1. Die Verordnung vom 22. November 1831 legt den Aus- 
ländern (also auch den Angehörigen anderer Schweizer Kantone), 
welche an dem Zuge gegen das Neunburger Schloß teilgenommen 
haben, die Verpflichtung auf, sich den Gesetzen des Fürstentums 
durch eine entsprechende Erklärung zu unterwerfen, und bedroht 
diejenigen Ausländer, welche diese Erklärung verweigern oder 
einer neuen Gesetzesverletzung durch gerichtliches Urteil für 
schuldig erkannt werden, mit der Ausweisung; 

2. Die Verordnung vom 26. Dezember 1831 weist die Ge- 
meinden auf die Berechtigung hin, nicht allein die nicht im Be- 
sitz der Neuenburger Staatsangehörigkeit befindlichen Personen, 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 597 


sondern auch die Bürger anderer Neuenburger Gemeinden aus- 
zuweisen, wenn ihr Betragen Anstoß errege; 

3. Die Verordnung vom 27. Januar 1832 hebt angesichts der 
wiederholten Strafhandlungen von Ausländern die bisher geübte 
Duldung derselben im Fürstentum auf und spricht, wie de Cham- 
brier offenbar mit Recht meint, bei vorliegen solcher Hand- 
lungen, die Ausweisung derselben aus. 

Grandpierre selbst, der Lobredner und Vorkämpfer der repu- 
blikanischen Staatsidee, erkennt ausdrücklich (S. 208) an, daß 
jeder, der sich in einem fremden Lande niederlasse, sich dadurch 
den Gesetzen und der Verfassung (regime) des Landes unter- 
werfe. ; 

Es geht aber auch vom Standpunkt des gesunden Menschen- 
verstandes nicht wohl an, die Ausübung des Hausrechts, die in 
diesen drei Verordnungen zum Ausdruck kommt, zu beanstanden, 
und sie lassen sich ebensowenig wie das sonstige Verhalten des 
Generals von Pfuel bei der Niederwerfung des Aufstandes unter 
die Rubrik ,,drakonische Strenge“ bringen. 

Nein: der Freund Heinrichs von Kleist, der 1815 nach der 
Einnahme von Paris durch die Verbündeten als Kommandant 
dieser Stadt mit einer besonders delikaten Aufgabe betraut war, 
und dessen ,,menschenfreundlichen und schonenden Weisungen“ 
es nach Bulle (Geschichte der neuesten Zeit IV, 12) zum großen 
Teil zu danken war, wenn es am 15. März 1848 noch ,,ohne das 
Aergste ablief‘‘, der am 31. Oktober 1848 als Ministerpräsident und 
Kriegsminister mit den Liberalen für den Antrag Rodbertus 
stimmte und die Reichsregierung zum Schutz der Wiener Freiheit 
anrief, war seiner ganzen Natur nach kein Mann ,,drakonischer 
Strenge“. 

Wenn wir Pfuels Gesamthaltung gegenüber der Unruhe, die 
im Fürstentum Platz gegriffen hatte, gerecht und ohne Vor- 
urteil betrachten, so müssen wir im Gegensatz zu Gagliardi das 
volle Verständnis für die politischen Gegebenheiten und das auf- 
richtige Bemühen, die ihm gestellte Aufgabe mit der weitest- 
gehenden Rücksicht auf die in Mitleidenschaft gezogenen Men- 
schenschicksale zu lösen, anerkennen. Klugheit, Wohlwollen und 
Milde waren die Leitgedanken seines Handelns. | 

Pfuels MaBhaltung verdient um so mehr Anerkennung als die 
aufständische Bewegung des Jahres 1831 in keiner Weise den 


598 Emil Kayser 


Anspruch erheben konnte, der natürliche Ausdruck einer in der 
Mehrheit der Bevölkerung lebendig gewordenen Überzeugung 
und eines von der Mehrheit getragenen zielbewußten Verlangens 
nach einer Beseitigung des monarchisch-aristokratischen Systems 
zu sein. 

Grandpierre, dem wir zur Bekräftigung dieses Urteils über 
die innere Berechtigung des Aufstandes das Wort geben wollen, 
findet, daß die Stärke der beiden Parteien nicht schwer zu be- 
rechnen gewesen sei, und fügt (a. a. O. S. 187) freimütig hinzu: 
„il était évident que nous étions de beaucoup les moins nom- 
breux.“ 

Wie stand es denn ferner mit der zahlenmäßigen Kampfkraft 
der Aufständischen? Grandpierre gibt für das erste Unternehmen 
vom September die Zahl der Aufständischen insgesamt mit 350 
an, von denen 250 auf die durch das Gebirge gegen das Schloß 
vorrückende und 100 auf die die Seestraße benutzende Abteilung 
entfielen, diesich des Neuenburger Rathauses bemächtigen sollte. 
Wahrlich, eine einleuchtendere Veranschaulichung des geringen 
Anhanges, den die Revolutionsidee 1831 im Lande fand, kann 
man sich nicht denken, und Grandpierre fühlt dies auch: 

„A part un petit nombre de localites du Vignoble et du Val- 
de-Travers, le sentiment n'était nullepart à la revolution.‘ 

Bei der zweiten Aktion im Dezember bildeten gar die 200 
Genfer Arbeiter den Hauptbestandteil der Revolütionsarmee, 
und wir hóren nur von Leuten aus dem Val-de-Travers, die am 
18. mit den Genfern zusammen vom General v. Pfuel geworfen 
wurden. Die Zahl der im Dezember militärisch beteiligten Neuen- 
burger Landeskinder muf auBerordentlich gering gewesen sein, 
da die Gesamtstárke der bei Travers ins Gefecht getretenen Ab- 
teilung von Grandpierre nur auf 200 Mann angegeben wird. 

Die Beweiskraft dieser Zahlen für die geringe Bedeutung der 
republikanischen Bewegung wird noch verstärkt durch Urteile 
unseres radikalen Gewährsmannes Grandpierre über das ge- 
sinnungsmäßige Verhältnis des Neuenburger Volkes zu seinen 
Hohenzollernfürsten. Er weist darauf hin (a. a. O. S. 519), daß 
die Liebe zu ihnen wie die Anhänglichkeit an das monarchische 
System während der ersten Regierungsperiode des preußischen 
Königshauses (1707—1806) zur Entstehung gelangt sei, daß diese 

Gefühle im Gegensatz zur Herrschaft des Marschalls Berthier 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 599 


(1806—1814) zur Begeisterung sich gesteigert hätten“, und daB 
in dem der Revolution unmittelbar vorangegangenen Zeitab- 
schnitt von 1814—1830 sich nichts ereignet habe, was die Zu- 
neigung der Neuenburger zu den Königen von Preußen hätte zer- 
stören können (a. a. O. S. 520). 

Wenn wir uns hiernach ein zusammenfassendes Bild des Lan- 
des, des Volkes und der. waltenden politischen Triebkräfte vor 
Augen stellen, so gewinnen wir doch wohl den Eindruck, daß die 
Neuenburger Revolution von 1831 einen frivolen Charakter trug. 
Bestätigt nicht auch Grandpierre diese Auffassung, indem er von 
den fünf Mitgliedern des Revolutionsausschusses von Yverdon, 
welche die Betreiber des Dezember-Aufstandes waren, sagt, daß 
sie das ganze Land in Gefahr gebracht hätten, um durch ein Vor- 
gehen mit bewaffneter Hand die Möglichkeit der Heimkehr zu 
erzwingen, nachdem die Regierung ihre Stellung wiederbefestigt 
hatte und ihnen dadurch die Hoffnung genommen war, auf 
* Weise den Boden des Landes wiederzubetreten (a. a. O. 

S. 233)? 

Und doch bewiesen die öiäbendssischen Kommissare Sprecher 
v. Bernegg und Monod (der an die Stelle von Tillier getreten war) 
politischen Scharfblick, wenn sie in ihrem Bericht an die Tag- 
satzung erklärten: 

„Es scheint uns, daß angesichts der Lage von Neuenburg 
zwischen Frankreich und den demokratisierten Cantonen der 
Schweiz die hohe Regierung dieses Staates — vorausgesetzt, daß 
ihr nicht außerordentliche Umstände zu Hilfe kommen — sehr 
viele Schwierigkeiten zu bewältigen haben wird, um auf die 
Dauer die monarchische Verfassung aufrechtzuerhalten, und daß 
sie daher gut tun würde, allen billigen Wünschen des Volkes zu- 
vorzukommen, damit sie, im Falle die Entwicklung schließlich 
zu unvermeidlichen Bewegungen führen wird, im Stande sein 
werde, sie selbst zum Wohle des Landes zu leiten.“ 

Einstweilen hatten die monarchischen Strömungen im Neuen- 
burger Volke bis zu dem Grade die Oberhand gewonnen, daß 
nach dem Vorgang der Bourgeoisie von Valangin fast alle Ge- 
meinden eine Adresse an den General v. Pfuel richteten, in der er 

3 „Im Fürstentum Neuenburg ging der allgemeine Volkswunsch auf Rückkehr 


zu Preußen und zur Schweiz zugleich" (Oechsli, Gesch. der Schweiz im 19. Jahrhdt., 
Bd. II, S. 153). 


600 Emil Kayser 


um seine Vermittlung beim König zur Herbeiführung der Tren- 
nung von der Schweiz? gebeten wurde, und daß die gesetzgebende 
Versammlung eine Adresse an den König beschloß, in der um 
Einleitung von Verhandlungen im gleichen Sinne gebeten wurde. 
Die Monarchie schien auch weiterhin auf festen Füßen zu stehen, 
und als im September 1842 König Friedrich Wilhelm IV. und 
Königin Elisabeth dem Lande einen mehrtägigen Besuch ab- 
statteten, da bekundete die überwältigende Mehrheit der Be- 
völkerung noch einmal ihre Anhänglichkeit an das angestammte 
Fürstenhaus. Wir besitzen über die Einzelheiten einen, wie ich 
glaube, vom Kanzler Favarger abgefaßten Bericht*. Trotz hófi- 
scher Überschwenglichkeiten verdient diese Darstellung in Be- 
such auf seinen tatsächlichen Inhalt vollkommene Glaubwürdig- 
keit; er verschweigt auch die Vorkommnisse — die ostentative 
Abwesenheit einiger Einwohner von Mótiers (im Val de Travers), 
der mit „Vive le Roi“ verbundene Ruf „Vive la Suisse“ in 
einem einzelnen Falle, die Überreichung einer auf die grund- 
legende Änderung der monarchischen Verfassung hinzielenden 
Petition in La-Chaux-de-Fonds — nicht, die dem sonst so glänzen- 
den Bilde von der Loyalitát der Neuenburger einige Schatten 
verleihen. Nach diesem Bericht wurde das Kónigspaar überall, 
wo es sich zeigte, mit heller und, wie man aus den angegebenen 
Tatsachen schließen darf, aufrichtiger Begeisterung begrüßt. Ja, 
selbst an Straßen, auf denen man es von Anfang an nicht er- 
warten konnte, waren Triumphbogen errichtet. „Die ungeheure 
Mehrheit der Bevölkerung“, schrieb die Baseler Zeitung, ‚‚hat ihre 
Loyalität laut bekundet; nicht allein die Reichen, sondern auch 
der Handwerker und der Árme liefen von allen Seiten hinzu. 
Die persónlichen Eigenschaften des Kónigs, die Bekundung einer 
volkliebenden Gesinnung, deren Zeugen sie waren, haben auf die 
Vertreter der Schweiz, v. Muralt und Ruchet, den günstigsten 
Eindruck gemacht." (de Chambrier a. a. O. S. 153.) 

Nicht ganze sechs Jahre vergingen nach dem Königsbesuch, 
da wurde am 1. Márz 1848 die monarchische Regierung gestürzt 


* Sowohl Grandpierre (a. a. O. S. 124) wie Oechsli, Gesch. der Schweiz im 
19. Jahrhdt., Bd. 1I, S. 805 weisen darauf hin, daß ein Teil der Bevölkerung schon 
vor 1831 die engere Verbindung mit der Schweiz gern rückgängig gemacht hätte. 

* Relation du séjour de L. L. M. M. Le Roi et La Reine de Prusse dans leur 
principauté de Neuchátel et Valangin (Neuchátel, Attinger). 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 601 


und nach wiederum sechs Jahren wurde die monarchische Gegen- 
bewegung, die unter der Führung der Oberstleutnants von Meu- 
ron und von Pourtales im September 1856 die Herrschaft der 
Hohenzollern wieder herstellen wollte, im Handumdrehen von 
kantonalen Truppen niedergeschlagen. Sechs Jahre hatten genügt, 
um den anscheinend festbegründeten Fürstenthron so zu unter- 
graben, daß er unter dem von der Pariser Februarrevolution an- 
gefachten Sturm zusammenbrach. Die führenden Royalisten, 
aber auch die ihnen nahestehenden Berliner Kreise°, erlebten 
eine grausame Enttäuschung, als dieser letzte Versuch, das 
Fürstentum Neuenburg und Valangin in seiner alten Gestalt 
wieder aufzurichten, so vollständig mißlang. 

Noch einmal wurde Neuenburg wie im Jahre 1707, als sich 
15 Bewerber um die Souveränität im Fürstentum stritten und 
die brandenburgisch-preußischen Ansprüche® ungeachtet der 


5 Albert von Ruville sagt in seinem Aufsatz „Die Lösung der Neuenburger 
Frage im Winter 1856/57“ (Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Geburtstag, S. 336), 
„daß der König und die maßgebenden Personen das Unternehmen nicht bloß billigten, 
sondern auch in jeder möglichen Weise zu unterstützen geneigt waren. Friedrich 
Wilhelm war Feuer und Flamme dafür. Wenn dem Grafen (nämlich Friedrich 
Pourtalés), wie er versicherte, sein Gewissen verbot, ohne Einwilligung des Königs 
zu handeln, so genügte das, was er erfuhr, vollständig, um solche Bedenken zu 
zerstreuen. 

Dieser Auffassung gegenüber darf ein an den Grafen Pourtalès unter dem 
23. März 1857 nach vorhergegangenem Besuch in Berlin und einer „sehr vertrau- 
lichen" Aussprache mit dem Prinzen Wilhelm über die Ereignisse von 1856 gerich- 
tetes Schreiben des Neuenburger Pfarrers Frédéric Godet, des Erziehers des Kaisers 
Friedrich, Anspruch auf besondere Beachtung erheben. Es heißt darin: „Je crois 
à la parfaite loyanté du roi et du prince de Prusse. S'il y a des apparences contraires, 
je les envisage comme le résultat d'un malentendu. Ce serait un grand bonheur 
pour moi d'avoir une fois l'occasion de m'expliquer avec vous sur ma conviction 
et de vous prouver qu'elle n'a rien d'offensant pour vous et en aucun sens quel- 
conque. Si j'ai parlé de malentendu, ne pensez pas, Monsieur le Comte, que ce 
soit au hasard. Je ne crois pas seulement qu'il y a eu malentendu; je crois com- 
prendre quel il a été et je suis prét à vous donner de bouche toutes les explications 
que vous pouvez désirer." (Phil. Godet u. Fréd. Godet, S. 303). Ob die von 
Godet vorgeschlagene Unterhaltung stattgefunden hat, und welche Aufklürung 
er über das von ihm behauptete ,,MiBverstándnis" geben konnte, ist mir nicht 
bekannt. 

* Leibniz hat in der oranischen Erbschaftssache zwei Gutachten für den preuBi- 
schen Hof gegeben, die sich im Berliner Staatsarchiv befinden: 

1. Représentation des raisons qui regardent le droit sur la succession de Guil- 
laume (IIT), Roy de la Grande Bretagne, entre Frédéric, Roy de Prusse, et Jean 


602 Emil Kayser 


Drohungen Ludwig XIV. durchdrangen, zu dem Mittelpunkt der 
europäischen Politik, und es fehlte nicht viel daran, daß der 
Gegensatz zwischen der historischen Rechtsauffassung* und dem 
von der Mehrheit getragenen Volkswillen zum kriegerischen 
Austrag gekommen wäre. Es ist menschlich zu verstehen, wenn 
Friedrich Wilhelm nicht leichten Herzens auf sein ‚liebes Länd- 
chen am Jura'' Verzicht? leisten konnte, dessen Bevölkerung ihn 
1842 so begeistert zugejubelt hatte. Aber das Spiel hätte wahr- 
lich den Einsatz nicht gelohnt, und Theodor Fontane hat den 
Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er am 13. Januar 1897 an 
Wilhelm und Henriette von Merkel schrieb: 

„Es ist nicht unwichtig, daB der Ehren-, Rechts- und Prin- 
zipien-Standpunkt aufrechterhalten wird. Glückt uns das aber, 
so könnten wir nicht froh genug sein, den ganzen Quark Neu- 
chätel schließlich noch mit Manier los geworden zu sein. Die 
Haltung, die wir während des Konfliktes beobachtet haben, wird 
uns trotz aller Spötteleien Palmerston’scher Blätter zur Ehre 
gereichen.“ 

Die Zeiten hatten sich geändert. Die demokratischen Ge- 
danken hatten, und zwar in besonderem Maße in der Schweiz, 
Herrschaft über die Geister gewonnen, für die Schweizer Ver- 
hältnisse kam hinzu, daß sie mit der zentralistischen Tendenz, 


Guillaume Frison, Prince de Nassau, touchant les biens venus de l'ayeul des deux 
Roys. 

2. Bedenken in der Oranischen Sache. 

Es ist wohl unzweifelhaft, daß nicht diese Gutachten, sondern politische und 
konfessionelle Gesichtspunkte (das Land war bis auf zwei Gemeinden — Landeron 
und Cressier — reformiert) den Ausschlag zu Gunsten Friedrich I. gegeben haben. 

7 Oskar Jäger sagt in seiner Weltgeschichte (Bd. IV, S. 533/534): „Das Recht 
des Königs und das Unrecht der Schweiz war klar genug, und dennoch konnte 
jeder Versuch, jenes Recht geltend zu machen, der Natur der Sache, d. h. der Wider- 
natürlichkeit des Verhältnisses nach, die noch klarer war als Recht oder Unrecht 
im juristischen Sinn, nur mit seiner Beseitigung in Glimpf oder Unglimpf endigen.“ 
Ernst Gagliardi, der in seiner Polemik mit Sybels „Gründung des Deutschen Reichs“ 
(Bausteine) Jäger lobt, weil er Licht und Schatten gleichmäßig verteile, nennt ihn 
einen anderen preußischen Geschichtsschreiber, wohl weil Jäger Direktor des 
Kgl. Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Köln war. Jäger war aber Schwabe und, 
so viel ich weiß, ein Neffe des Dichters Gustav Schwab. 


® Nach v. Srbik (Metternich, II, 493) erteilte Metternich auf Bitte Friedrich 
Wilhelms dem König seinen Rat zur Regelung der Neuenburger Streitsache. Er 
empfahl raschen Ausgleich mit der Schweiz. 


Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 603 


mit der sich die verfassungsrechtliche Sonderart von Neuenburg 
nicht vertrug, Hand in Hand gingen und in dem Schweizerischen 
Nationalgefühl, das auch das Neuenburger Land immer mehr 
durchdrang, einen kräftigen Nährboden erhielten. Die eidge- 
nössische Zentralgewalt, die im Jahre 1830 gegenüber den An- 
griffen auf die verfassungsmäßige Regierung dieser ohne Zaudern 
volle Vertragstreue bewiesen hatte, war seit dem Aufstand von 
1848 die Beschützerin der Republik geworden. Aber noch im 
Jahre 1856 wurden in der Neuenburger Volksvertretung und 
im Kreise der übrigen Kantone Stimmen laut, die von der allge- 
meinen Haltung abwichen. 

Am 7. September 1856 teilte der Neuenburger Staatsrat dem 
eidgenössischen Bundesrat und den in der Eidgenossenschaft 
verbundenen Staaten den Erfolg der republikanischen Sache mit, 
aber unter den darauf eingegangenen Glückwünschen fehlten 
diejenigen von Basel-Stadt, das sich des Beistandes des monar- 
chischen Neuenburg in seinem Streit mit der Landschaft erinnerte, 
sowie Schwyz, Uri und Nidwalden, bei denen die Haltung Neuen- 
burgs in der Kloster- und in der Jesuiten-Frage wie auch gegen- 
über dem Sonderbund nicht vergessen war. Und selbst in dem 
gesetzgebenden Körper des Kantons Neuenburg stimmten 16 Ab- 
geordnete gegen die mit 72 Stimmen angenommene Dank- 
Adresse an die Bundesversammlung für die dem Kanton Neuen- 
burgaus Anlaß derroyalistischen Erhebung bewiesene Sympathie. 

Wir dürfen im Rückblick auf den gesamten Ablauf der Be- 
gebenheiten und Verhältnisse von 1707—1857 wohl sagen, daß 
das Ende einer der ältesten Monarchien Europas sich nicht als 
die Folge einer die Entwicklung hemmenden und die Bevölkerung 
bedrückenden Mißwirtschaft® sondern als Ergebnis einer poli- 
tischen Zwitterstellung sowie als Auswirkung des Zeitgeistes dar- 
stellt, der nun einmal der Beständigkeit abhold ist. Und schließ- 
lich fühlte sich die Eidgenossenschaft stark genug, das Jurator 


* Im Februar 1848, also unmittelbar vor dem republikanischen Handstreich 
vom 1. Mürz sprach der Prüsident der Berner Regierung gegenüber dem Neuen- 
burger Abgeordneten zur eidgenössischen Tagsatzung, Calame, seine Anerkennung 
der Neuenburger Zustünde aus: ,,Das Neuenburger Land ist das glücklichste, das 
ich kenne. Volle Gewerbefreiheit, eine ausgezeichnete Verwaltung, alle Voraus- 
setzungen das Gedeihens. Ihr seid freier wie die Berner." (de Chambrier, 
a. a. O. S. 176.) 


604 E.Kayser: Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (Sept. u. Dez. 1831) 


zu bewachen, dessen Schutz die weitblickenden Berner vor 
150 Jahren in den Händen der weit entfernten protestantischen 
Macht gesichert glaubten!®. Eine geopolitische Notwendigkeit 
für die Grenzbildung der Schweiz hatte im Wechsel der Zeiten 
veränderte staatspolitische Voraussetzungen erfahren. 

Als ich im Jahre 1926 Valangin besuchte und mir den Festsaal 
des Schlosses zeigen ließ, da war das Erste, daß die junge Füh- 
rerin auf das die Mitte der Hauptwand einnehmende Bild Fried- 
rich des Großen mit den Worten hinwies: ,, Voilá Frederic II, roi 
de Prusse, prince de Neuchâtel et Valangin.“ Sie kannte wahr- 
scheinlich den Brief des großen Königs an Voltaire nicht, in dem 
er darüber klagt, daß man Rousseau trotz des Schutzes, den er 
ihm habe angedeihen lassen, aus dem Lande (Neuenburg) ver- 
trieben habe, daß er auch die Verfolgung des die ewige Verdamm- 
nis leugnenden Pfarrers Petitpierre durch die orthodoxe calvi- 
nische Geistlichkeit nicht habe verhindern können, und in dem 
er mit den denkwürdigen Worten seine Regierungsgrundsätze für 
Neuenburg bekundet: 

„Ich habe in diesem Lande meine Zuflucht nicht zu 
dem Mittel genommen, dessen sich der französische Hof 
bedient, um die Parlamente seinem Willen gefügig zu 
machen; ich achte die Verträge, auf welche dieses Volk 
seine Freiheit und seine Rechte gründet, und ich übe die 
Staatsgewalt in den Grenzen aus, die sie selbst bestimmt 
haben, als sie sich meinem Volke hingaben.“ 


Aber die Erinnerung an die Verbindung von Neuenburg mit 
der „maison de Brandebourg“ und der Stolz auf eine Vergangen- 
heit, über welche die Gestalt des großen Preußenkönigs strahlte, 
war trotz allem Wandel der Zeiten in dieser Neuenburgerin 
lebendig geblieben. 


10 3. Oechsli, Gesch. der Schweiz im 19. Jahrhdt., Bd. I, S. 69—72. 


605 


Kleine Mitteilungen. 


Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit. 


Als Ludwig Traube die bibliotheksgeschichtlichen Studien in den Rahmen 
der lateinischen Philologie des Mittelalters aufnahm und insbesondere mich, 
den er in den vier letzten Jahren seines Lebens nahe an sich heranzog, unter 
anderem zur Erforschung alter Büchersammlungen ermunterte, da wollte er 
keineswegs nur die hilfswissenschaftlichen Aufgaben seiner schwerbepackten 
Disziplin vermehren. Schrift, Buch, Bibliothek waren ihm wichtiger Ausdruck 
des antiken und mittelalterlichen Geisteslebens. Auch nach Fritz Milkau 
kommt es für den Betrachter der Bibliotheksbestünde und Bibliotheksschick- 
sale zumal auf die innere Geschichte an, auf den Geist, der die Bibliothek 
beseelte, die Wirkung, die von ihr ausging, den EinfluB, den die Gestaltung 
des wissenschaftlichen Betriebes auf sie ausübte, die Anregung, die sie aus 
ihrer Arbeit heraus zur Förderung des gesamten Bibliothekswesens beisteuerte. 

Diese Gedanken und Forderungen hat Josef Montebaur Leitsterne seiner 
Studien zur Geschichte der Bibliothek der Abtei St. Eucharius— 
Matthias zu Trier, Freiburg i. B. (Verlag Herder u. Co.) 1931 (26. Supple- 
mentheft zur Rómischen Quartalschrift für christliche Altertumskunde und für 
Kirchengeschichte) sein lassen und sich bemüht, nicht im Detail zu ersticken. 
Anerkennenswerterweise befleiBigt er sich überall in der Darstellung, zwischen 
den Schicksalen der Bücher und der Bibliothek, dem Inhalt und Außeren der 
Codices einerseits, den geistigen Strömungen und Erscheinungen der Zeiten 
andererseits Verbindungslinien zu ziehen oder doch die Beziehungen anzu- 
deuten. Das hätte jedoch nicht zu bewirken brauchen, daB die „subtilen 
Einzelforschungen“ nur allzuoft unbefriedigend ausgeführt wurden. Ich 
stelle mir nicht gern vor, daß die Philosophische Fakultät der Universität 
Berlin, die 1926 Montebaurs Arbeit als Dissertation annahm, die recht erheb- 
lichen Unvollkommenheiten in vollem Maße übersehen hat, möchte lieber 
annehmen, daß mancher Fehler erst nachträglich eingedrungen ist. Auf die 
zahlreichen Druck- und Schreibversehen Montebaurs will ich gar nicht ein- 
gehen. Viele wird ja der Leser selbst leicht beheben können, andere, z. B. die 
Verwechselung von Juvencus und Juvenalis S. 16, Anm.2, werden nicht 
sofort gemerkt und sind doch recht peinlich. Wenn mir die Arbeit rechtzeitig 
vorgelegen hätte, würde ich beispielsweise den Satz (S. 51) „dagegen ist der 
Bestand an mittellateinischer Literatur dürftig" nicht haben durchgehen 
lassen. Denn: Sind nicht auch die vielen Exemplare von Werken mittelalter- 
licher Exegese, Dogmatik, Philosophie, Homiletik, Asketik, Hagiographie, 
Geschichtsschreibung, Musikkunde, Lexikographie, Grammatik, Medizin 


606 P. Lehmann 


und Jurisprudenz, die im Kloster vorhanden waren, mittellateinisch? Und 
selbst von der mittellateinischen Dichtung, die Montebaur anscheinend vor- 
züglich ins Auge gefaßt hat, war mehr da, als der Verfasser uns S. 51 ff. glauben 
macht. Z. B. verzeichnet er nicht die carmina super lamentacionem J heremie 
secundum sensum historicum, allegoricum et moralem (no. 18), die massa 
computi metrice composita (no. 604), die versus Fortunati episcopi laudes 
s. Agricii continentes (no. 555), die egloga Hucbaldi de calvis (no. 625), den 
primarius (lies penitenciarius) metrice (no. 427), die vita s. Benedicti ab- 
batis metrice (no. 506) u. a. 

Ein unbestreitbares Verdienst des Autors ist es, daB er einen ausführ- 
lichen Katalog des 16. Jahrhunderts insoweit veröffentlicht hat, als darin 
Handschriften beschrieben sind. „Die Untersuchung des Kataloges brachte 
folgendes Ergebnis: Um das Jahr 1530 umfaBte die eigentliche Klosterbiblio- 
thek der Abtei St. Matthias 1677 Werke, von denen 639 Handschriften waren. 
Von diesen konnten vorläufig 222 als erhalten nachgewiesen werden.“ (S. 53.) 
Eine praktische Übersicht über das Erhaltene, das nebenbei gesagt bestimmt 
die Zahl von 222 Bünden überschreitet, vermisse ich. Über die philologischen 
Codices aus St. Matthias hätte sich Montebaur übrigens aus dem alten Wytten- 
bachschen Kataloge orientieren kónnen, der im Original in Trier, in Abschrift 
zu Bonn in der Universitätsbibliothek, zu Berlin in der Staatsbibliothek 
zugänglich ist. Gewiß hat Montebaur beim Katalogdruck jeweils zu der alten 
Beschreibung eines Manuskriptes in Klammern die moderne Signatur eines 
geretteten Bandes beigefügt. Das Seltsame ist nur, daB er zwar von 222 
erhaltenen Handschriften spricht, trotzdem aber bloß 189 bzw. 190 Codices 
im Einzelnen nennt. Warum das geschah, ist mir einstweilen unerfindlich, 
zumal da Montebaur bei der Rekonstruktion schon vor Jahren durch P. Virgil 
Redlich unterstützt wurde und auch ich meine Sammlungen zur Verfügung 
gestellt hatte. Unerklärlich ist mir, daß nicht nur die von mir gegebenen Hin- 
weise auf die alte Evangelienhandschrift Edinburgh Univ. Western Mediaeval 
Ms. 12, auf Nürnberg Germ. Museum 3738 (im Katalog F.85), Berlin lat. oct. 
162 (K. 64) und die Handschriften London Brit. Mus. Add. Ms. 11035 (K. 63), 
München Antiquariat Jacques Rosenthal (vgl. Bibliotheca medii aevi manu- 
scripta I no 22 mit Tafel; F. 35) fehlen, sondern sogar in der Verzeichnung 
der noch heute in Trier (Seminarbibliothek, Dom- und Stadtbibliothek) selbst 
aufbewahrten und zumeist durch gedruckte Kataloge übersehbaren Codices 
beträchtliche Lücken sind. Ich beschränke mich hier — ohne damit 
alles erschópft zu haben — auf folgende Ergánzungen: B. 73 — Stadt 
120; B. 101 = Sem. 94; C. 43 = Stadt 1060; D. 104 = Sem. 87; E.1 = 
Sem. 72; E. 55 — Stadt 1055; E. 56 = Stadt 1053; E. 99 — Stadt 138; 
E. 100 — Stadt 139; E. 173 — Sem. 113; F. 12 — Sem. 77; F. 34 — Sem. 148; 
F. 60 = Stadt 95; F. 89 — Stadt 137; F. 182 jetzt im Besitz des wieder- 
gegründeten Klosters St. Matthias, das auch noch einige andere Codices 
besitzt, wie mir P. Virgil Redlich vor Jahren mitgeteilt hat; F. 185 — Sem. 
107; F. 197 = Stadt 193; F. 230 = Sem. 110; F. 254 — Stadt 1056; F. 255 = 
Trier Hist. 508 (1250); F. 265 — Stadt 213; F. 269 — Stadt 558; F. 270 — 
Stadt 1041; F. 283 — Stadt 567; F. 301 = Stadt 353; F. 317 zum Teil er- 
halten in Trier Hist. 507 (1249); F. 320 = Sem. 135; J. 11 = Sem. 42; J. 64 


Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit 607 


= Dom 93a (vgl. MG. SS. rer. Merov. VII, 689; J. 82 — Sem. 141 (?); J.87 = 
Sem. 79; K. 41 = Stadt 1989; K. 62 — Stadt 1036; L. 42 — Stadt 1893; 
M. 1 — Stadt 1086; M. 63 — Sem. 44; N. 73 — Stadt 639; N. 90 — Stadt 1104 
laut Nachweis von Prof. Dr. G. Kentenich (Trier); N. 91 — Stadt 1092; vgl. 
Ernst Klug, De florilegiis cod. Monac. 6292 et cod. Trevir. 1092, Greifswald 
1913; O. 25 = Stadt 811; O. 32 — Stadt 813. Ob Montebaur außerdem nicht 
verschiedene Handschriften, die im alten Katalog verzeichnet sind, ver- 
sehentlich ganz ausgelassen hat, kann ich zur Zeit nicht nachprüfen. Die 
starken Fehler und Verlesungen, deren sich der Abschreiber des 16. Jahr- 
hunderts schuldig gemacht, sind von Montebaur nur in wenigen Fällen be- 
seitigt worden. Häufigere Eingriffe hätten nicht geschadet, namentlich da 
sehr oft aus den Titeln der erhaltenen Codices die richtigen Lesarten hätten 
festgestellt werden können. Schon die falsche Trennung von Priscianus 
ex Dionisio translatus und de situ orbis durch ein Semikolon bei L. 59, die 
fehlende Ergänzung in der Vergilhandschrift M.1 egloga esusdem Ro... 
nascentibus statt Rosss nascentibus zeigte mir, daß der Herausgeber nicht 
immer genügend Bescheid wußte über die Büchertitel. In geradezu er- 
schreckender Weise haben mir aber die S. 17ff. gebotene „Zusammenstellung 
der Werke, die nachweislich am Ende des 14. Jahrhunderts in der Bibliothek 
vorhanden waren" und dann das Schriftsteller- und Schriftenverzeichnis 
S. 118—159 gezeigt, wie wenig noch Montebaur von den alten Texten kennt 
oder kannte, bzw. wie flüchtig er gearbeitet und den Druck überwacht hat. 
Meiner guten persönlichen Beziehungen wegen bedaure ich diese öffentlichen 
Feststellungen machen zu müssen. Unterdrücken kann ich meine Kritik 
nicht, da ich hoffe, daB sie mit dem Buch zusammen der Wissenschaft dient. 
S. 17 wird unter den Werken, die um 1400 vorhanden gewesen sein sollen, 
Jacobus de Straelen, Expositio in apoc. zitiert. Tatsächlich hat dieser Autor, 
laut einer Bemerkung von Johannes Trithemius, noch 1496 gelebt, also sicher 
nicht schon Ende des 14. Jahrhunderts ein Kommentar verfaßt gehabt. Auf 
derselben Seite werden Sermones praepositivi verzeichnet, im Register fehlen 
sie beim Buchstaben P; denn Montebaur weiB offenbar nicht, daB Praeposi- 
tinus von Cremona, Kanzler von Nótre Dame Paris, ein berühmter Scho- 
lastiker des 13. Jahrhunderts gemeint ist. S. 18 werden Schriften De offi- 
ciis divinis, Liber officiorum, Exposito canonis missae teils unter den 
Ascetica, teils unter den Canonistica erwühnt. Das kühne und tiefsinnige philo- 
sophische Werk De divisione naturae des Johannes Scottus saec. IX figuriert 
S. 19, weil es im Katalog den Titel PAysiologia führt, unter den Medicinalia! 
In derselben Rubrik finden wir zu unserer Überraschung auch Julius Solinus 
de situ orbis terrarum, Raimundi Lulli ars inventiva, Conradi Argentor. 
computus, einen algorismus und fraesagta tonitruum. Zu den Gramma- 
tikern wird Minutius Felix de nuptiis philologie gerechnet. Als gelehrter 
Geistlicher hátte Montebaur wirklich nicht Marcianus Capella und Minucius 
Felix, den Verfasser des Dialogs Octavius, der vielleicht ältesten auf uns 
gekommenen christlichen Schrift in lateinischer Sprache, verwechseln dürfen. 
Geradezu komisch wirkt (S. 19) in einer von einem „Mittellateiner“ verfaBten 
Dissertation Hucbaldus als Autor der Fabulae a Fulgentio ad Catum. Als 
ich Herrn Montebaur brieflich für die Übersendung seiner mir sehr will- 


608 P. Lehmann 


kommenen Arbeit dankte, hatte ich die Prüfung der, wie mir schien, ziemlich 
überflüssigen, aber leicht zu erarbeitenden Listen (S.17—19) unterlassen 
und das Register noch kaum angesehen. Meine Enttäuschung wurde größer 
und größer, sobald ich, durch einige Fehler stutzig gemacht, die Untersuchung 
nachholte. Eine Blütenlese aus dem von mir Bemerkten und Berichtigten 
möge meine Verwunderung begreiflich machen: 

Unter Albinus' vermißte ich S. 119 die disputatio Pippini cum Albino, 
fand sie S. 149 unter ‘Pippinus’, als ob dieser Sohn Karls des Großen und 
nicht der Angelsachse Alchvine der Verfasser gewesen. S. 119 steht ohne 
Fragezeichen A manus imperfectus wie im Katalog, die Verbesserung Avianus 
lag nahe genug. Anverus presb. Anglicus mag., opus de practica artis 
musicae S. 120, erhalten in Trier Sem. 44 mit dem Incipit „Licet mihi" ist 
wohl Alfredus Anglicus de musica, wofür John Bale dasselbe Initium bezeugt. 
Bei Bartholomeus Faccius ( ?) trialogus ad Alfonswm de vite felicitate steht 
S. 124 das Fragezeichen zu Unrecht, denn Bartolomeo Fazio ist ein bekannter 
italienischer Humanist des 15. Jahrhunderts aus dem Kreise des Aragonier- 
königs Alfonso von Neapel. Mit Boldensten Guslhelmus, de terra sancta 
usw. S. 128 ist der westfälische Palüstinafahrer saec. XIV Wilhelm von 
Boldensele gemeint. Für Calbinicus ist S.129 ruhig auf Terentius verwiesen, 
wo man auch keine Aufklärung erhält. Offensichtlich hat Montebaur nicht 
verstanden, daß es sich in dem verschollenen Codex N. 6 bei der questio 
oria inter Terentium et Calbinicum quam auctores postea sedaverunt 
um einen Textzeugen für Virgilius Maro Grammaticus handelt, der einmal 
über den vierzehntügigen Streit der Grammatiker Galbungus (das ist jener 
Calbinicus) und Terrentius um den Vocativ von „ego“ berichtet. S. 129 
lesen wir, wie schon S. 116 bei der Handschrift N. 91, Cato dans castigamina 
mato. Durch die Verbesserung von mato zu nato wäre der Titel in Ordnung 
gekommen; Die Dicta Catonis ad filium suum sind gemeint. S. 130 hätte 
bei dem Tract. Circa Instans auf den Verfasser, den Mediziner Platearius 
aufmerksam gemacht werden sollen. S. 131 ist Conradus Zabraensis super 
firmiter dem weitverbreiteten Conradus de Soltau (Zoltaensis) super sim- 
bolum „Firmiter credimus" gleichzusetzen. Hier wie in anderen Fällen 
hätte der Verfasser aus meinen ja von ihm zum Vorbild genommenen Re- 
gistern zu den beiden ersten Bänden der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge 
Deutschlands und der Schweiz schnell Belehrung schöpfen können. S. 131 
wie S. 115 steht unverbessert Crescentius v. cl. qu(intus), c(onsul), Ars de 
nomine et verbo da. Wir haben kein Werk von einem Grammatiker dieses 
Namens. Sicher haben wir es mit Consentius zu tun, dessen Bezeichnung 
v. C. = vir clarissimus auch anderwärts, z. B. in Bern Manuskript 432, dazu 
geführt hat ihn zu einem V. (quintus) consul zu stempeln. Der Daniel de 
Racharo, Verfasser einer vita S. Johannis Climaci S.131, ist der Sinaimónch 
Daniel von Raithu. S. 133 stößt man auf einen Eucheriades als Verfasser 
der scolsca de musica. Es handelt sich um eine Musica enchiriadis, ein Hand- 
buch der Musik des Hoger von Werden, vgl. M. Manitius, Geschichte der 
lateinischen Literatur des Mittelalters. I. 449f. Unter Franco ist S. 134 
Franco de Meschede (vgl. Analecta hymnica. XXIX, 183ff. und E. Schröder 
in den Nachrichten der Ges. d. Wiss. zu Göttingen. 1927, S. 119ff.) zu ver- 


Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit 609 


stehen; der Katalog hat unter F. 247 Franconis scholastici meschren ( ?). 
S. 137 ist die Ordnung des Alphabets gestört, so daß Gualtherus zwischen 
Guigo und Guilelmus steht. S. 138 lies bei Hermannus de Schildis de cavendis 
statt de canendis. Johannes Pethau de Pethano, Verfasser einer Perspec- 
tiva, ist natürlich John Pecham, o. f. m., Erzbischof von Canterbury (} 1292). 
S. 142 und 109 Johannes Fralecis de arte memorate ist unverständlich. 
Hätte der Herausgeber die gedruckten Trierer Kataloge sorgfältig studiert, 
hátte er die betreffende Handschrift in der Stadtbibliothek unter no. 1036 
wiedergefunden und gesehen, daß ein Johannes Frowerss mit seiner Schrift 
de arte memorie gemeint ist. S. 143 Lacryma ecclesiae ist, was auch aus der 
in Trier erhaltenen Handschrift hervorgeht, ein Werk des Konrad von Megen- 
berg. S. 144 lies Leontius Neapolitanus (Cypri) statt Leontius Neopolatius 
Macrobius fehlt im Register, S. 144, ganz, da der Herausgeber S. 109 die 
Zusammengehörigkeit des von ihm durch Semikolon getrennten Somnium 
Scipionis und des Excerptum ex libro de re publica Ciceronis verkannt 
hatte. S. 145 schreibe man Martinus Dumiensis statt Martinus Dienensis, 
ferner versiculi funebres statt v. funebri! DaB Maurus Honoratus einen 
Sermo de natura syllabarum verfaßt habe, wie S. 145 und 116 zu lesen ist, 
wirkt recht sonderbar: für sermo ist Servii zu lesen. S. 146 ist Nicolaus 
Magnus de Jalbor gleich Nicolaus Magni de Jawor d. h. Jauer. S. 147 
kommt ein Nitadus abbas mit einer Vita s. Lutwini vor. Thiofrid von 
Echternach dürfte gemeint sein. S. 147 muB es bei Odo Cameracensis 194* 
statt 149 heißen; Fehler in den Zahlen sind leider nicht selten, jedoch will 
ich sie nicht alle anmerken. S. 148 De ortu et obitu prophetarum gehört 
unter Isidorus Hispalensis, Johannes Persant, in Aristot. super perspectiva 
communi unter Johannes Pecham. S. 149 fehlt Praepositinus. Der pri- 
marius metrice auf derselben Seite ist ein Penitenciarius. S. 150 fehlt Proclus 
574; der Herausgeber hatte S. 109 den liber tertius summe Udalrici de 
Argentina durch kein Satzzeichen vom Iiber rarus proculi getrennt und 
durch Kleinschreiben von proculi bewiesen, daß er nicht an den Neuplatoniker 
Proclus gedacht hatte. S. 151 lies Ropertus Lincolniensies statt R. Lin- 
corniensis. S. 152 Seneca Hulvillogus epistola gehören nicht zusammen: 
nach den Senecabriefen wird in der Handschrift der spätmittelalterliche 
Vocabularius Hubrilugus gestanden haben, vgl. über ihn H. Schreiber, Die 
Bibliothek der ehemaligen Mainzer Kartause, Leipzig 1927, S. 111. Aus dem 
antiken Dichter der Thebais und Achilleis sind S. 154 zwei Autoren geworden: 
Statius Papirius Surculus und Statius Neapolitanus. In der Liste derVitae 
sanctorum S. 156ff. lies Caloceri et Parthenii statt Colocerii et Parthemii, 
Fusciani statt Fustiani, Getulii statt Getunlii, Eliphii statt Elphii, Urs- 
mari Veronensis statt Usma oder Usmarensis. S. 158 ist die Entstellung 
von Walafridus zu Walusfridus unbeanstandet gelassen, ebenso wie S. 59, 
62, 159 Zacharius Crispolitanus und dergleichen für Chrysopolitanus ge- 
schrieben steht. 

Der Lücken, Mißverständnisse und Nachlässigkeiten sind zu viele, als 
daB sie mit wohlwollendem Stillschweigen übergangen werden könnten. 
Gerade weil ich möchte, daß Josef Montebaur, der nun in der Vaticana tätig 
ist, seine Erforschung von Trierer und anderen Bibliotheken und Hand- 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H.3. 39 


610 Lampe 


schriften des deutschen Mittelalters fortsetzt, wobei ihm meine Hilfe gewiß 
ist, mußte ich ihm und anderen einmal zeigen, daß zu solchen Studien eine 
größere Genauigkeit und eine gute Kenntnis alter Literatur gehören, Ent- 
sagung und Wissen nicht geringen Maßes, nicht zuletzt auch Scharfsinn und 
Kombinationsgabe. Im nächsten Heft hoffe ich von dem von Montebaur 
mitgeteilten Titel der Grammatik eines Antholinus ausgehend darlegen 
zu können, daß und wie mit Hilfe des Trierer Katalogs ein mehrfach be- 
sprochenes, angeblich karolingisches Literaturwerk völlig anders als bisher 
datiert und beurteilt werden kann. 
München. P. Lehmann. 


Helwig von Goldbach, Marschall, Landmeister und Landkomtur 
des Deutschen Ritterordens. 


Helwig von Goldbach stammt jedenfalls aus dem Geschlechte der 
Marschälle von Eckartsberga und Sondershausen. Sein Vater Helwig ist 
als Marschall der Landgrafen von Thüringen 1240—1275 nachweisbar!, und 
war mit einer Beatrix verheiratet, deren Geschlechtsname bis jetzt unbekannt 
ist. Wir wissen nur, daß sie 1292 noch lebt und in diesem Jahre zusammen 
mit ihrer Tochter Adelheid dem Deutschordenshause in Nägelstedt einige 
Besitzungen übertragen läßt?. In dieser Urkunde wird der jüngere Helwig 
Stellvertreter des Meisters des Deutschen Ordens genannt. Kurz darauf 
treffen wir ihn als Landkomtur von Thüringens. Er war damals keine un- 
bekannte Persönlichkeit mehr, sondern hatte schon hohe Ehrenstellen im 
Orden bekleidet. Da wir ihm zuerst im Ordenslande Preußen begegnen, so 
ist er jedenfalls dort vielleicht im Jahre 1272 dem Orden beigetreten. Vermut- 
lich ist er mit Markgraf Dietrich von Landsberg, der in diesem Jahre einen 
Kreuzzug nach Preußen unternommen hatte, ins Ordensland gekommen 32, 
Vom nächsten Jahre an bis 1276 erscheint er b mal als Zeuge“, und zwar immer 
an letzter Stelle, aber bemerkenswerterweise auch immer als einziger, der 
kein bestimmtes Amt unter den Zeugen hat. Wir müssen daraus schließen, 
daß er irgendwie durch seine Fähigkeiten sich dort schon ausgezeichnet 
hatte. Im Jahre 1277 wird er dann Komtur in Christburg? als Nachfolger 
des tapferen Hermann von Schónenberg, der an die Spitze des Kulmer Landes 
gestellt wirds. Als er gegen die aufstándigen Pogesanen mit ins Feld zieht, 
wird er vielleicht durch einen plótzlichen Überfall zusammen mit dem Kom- 
tur von Elbing gefangen genommen und entrinnt mit knapper Not durch 
Hilfe eines dem Deutschen Orden wohlgesinnten Pogesaniers durch Flucht 
dem Tode’. Zweifellos hat er sich wohl wieder an den Kämpfen der nächsten 


1 Posse, Siegel des Wettiner Adels II, S. 100 ff. 

2 Demnächst Thüringische Geschichtsquellen 10, I, 530. 

3 Publikationen a. d. kel. Preuß. Staatsarchiven, 3, 551. 

*» Dusburg, Chronicon Prussiae, S. 225. — Lucas David 4, S. 122. — Voigt, 
Geschichte Preußens III, S. 314ff. 

* Preuß. Urkundenbuch (Pol.-Abt.) I, 2, Nr. 314, 329, 343, 347, 350. 

5 Ebendas. 354, 359. 

* Voigt, Geschichte Preußens III, 351. 

? Dusburg, Chronicon Prussiae III, c. 184. — Voigt a. a. O. S. 348 f. 


H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 611 


Jahre beteiligt, aber wir wissen nichts über ihn, bis er uns im Jahre 1280 als 
Komtur in Balga wieder begegnet®. In dieser Stellung ist er jedenfalls bis 
zum Jahre 1284 geblieben, wenn wir auch weiter keine Nachricht darüber 
haben. In diesem Jahre aber erscheint er als Vogt von Natangen. Beide 
Ämter wurden bald nach seiner Tätigkeit zusammengelegt, doch Helwig 
hat sowohl in Balga wie auch in Natangen, das er bis 1285 verwaltet, noch 
einen Nachfolger!®. Daß Helwig sich großen kriegerischen Ruhm erworben 
haben muß, geht aus seiner Ernennung zum Marschall von Preußen hervor. 
Er wird in diesem Amte Nachfolger von Konrad von Thierberg dem Jüngeren, 
der seit 1283 neben dem Marschallamt auch das eines Landmeisters in Preußen 
verwaltet hatte!?. Die Gründe zu dem ziemlich plötzlichen Wechsel in der 
Amtsführung sind nicht klar erkennbar. Konrad von Thierberg hatte die 
Litauer geschlagen, so daB nun ziemliche Ruhe in Preußen herrschte. Er 
widmete sich eifrig der inneren Landesverwaltung und der Befestigung der 
Grenzen. Wir müssen demnach annehmen, daß ihn diese Verwaltungs- 
tätigkeit in Preußen festhielt, so daB er für die Kämpfe in Livland als Mar- 
schall nicht abkómmlich war und deswegen Helwig zwischen dem 16. April 
und 30. April 1285 mit dem Marschallamt betraut wurde!3, In dieser Stellung 
bleibt er bis zur Ankunft des Hochmeisters Burchard von Schwanden, An- 
fang Februar 1288, in Preußen!®. Der Orden hatte in Livland Ende des 
Jahres 1284 eine große Niederlage gegen die Semgallen und die ihnen ver- 
bündeten Samaiten und Litauer bei Riga erlitten®. Die Kunde davon 
erreichte den Hochmeister in Deutschland. Sofort zog er mit einer großen 
Schar Ritterbrüder aus Franken und Schwaben nach Preußen, wo er Anfang 
Februar 1288 eintraf und den Orden zu einem Kapitel in Elbing versammelte. 
Dort fand sich auch der Ordensmarschall Helwig von Goldbach nebst vielen 
anderen ein. Warum der Hochmeister sofort eine Umbesetzung in den Stellen 
vornahm, wissen wir nicht. Es scheint doch aber so, als ob sich Helwig in 
seinem Amte nicht bewährt hat; denn wieder wird der jüngere Konrad von 
Thierberg Marschall, während die Landmeisterstelle der tüchtige Meinhard 
von Querfurt erhält. Helwig wird, aber nur vorübergehend, Komtur von 
Christburg!$, wo er schon einmal gewesen war. Wenn Voigt!" im Namens- 
kodex angibt, daB Helwig dies Amt bis zum 29. Juni 1289 verwaltet hat, 
so kann das nicht stimmen. Er urkundet zuletzt am 5. Februar 128918, Am 
12. Juni ist aber schon Konrad Sack sein Nachfolger!®, während in der- 


s Preuß. UB. a. a. O. 380. 

* Ebendas. 435, 464. 

10 Voigt, Namen-Codex, S. 19 u. 72. 

11 Preuß. UB. a. a. O. 483, 499. 

12 Voigt, Namen-Oodex, S. 4 f. 

13 Am 18. April urkundet er noch als Vogt von Natangen (Preuß. UB. a. a. O. 464) 
und am 30. April zum ersten Mal als Marschall (Voigt, Cod. dipl. Pruss. 1, 173). 
14 Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 29 f. 

18 Ebendas. S. 27 f. 

16 Preuß. UB. a. a. O. 525, 552. 

17 Voigt, Namen-Codex S. 25. 

18 Voigt, Cod. dipl. Pruss. II, 19. 

1 Preuß. UB. a. a. O. 539. 


39* 


612 Lampe 


selben Urkunde nach diesem ein Bruder Helwig als Zeuge genannt wird, den 
ich für Helwig von Goldbach halte. 

Seine Tätigkeit im Ordenslande ist damit vorläufig beendet. Jedenfalls 
holt ihn der neue Hochmeister Konrad von Feuchtwangen nach Deutsch- 
land, wo wir ihn im September 1290 zusanımen mit Barthold von Gepzen- 
stein, dem Landkomtur von Franken, als Zeugen in einer Urkunde des 
Grafen Albrecht von Hohenberg finden, durch die dieser seine Burg WeiBeneck 
und andere Güter an den Böhmenkönig Wenzeslaus verkauft und von ihm als 
Lehen wiedererhàlt9. Im nächsten Jahre hält er sich jedenfalls noch ohne 
ein Amt vielleicht im thüringischen Deutschordenshause zu Nägelstedt 
auf. Über die persönlichen Verhältnisse selbst hervorragender Mitglieder 
des Ordens erfahren wir ja meist nichts. Es ist deswegen schwer zu sagen, 
warum Helwig während dieser Jahre in Deutschland weilte. Nach allem 
möchte ich annehmen, daß er im steten Kampfe gegen die Feinde des Ordens 
seine Kräfte verbraucht hatte und nun in Deutschland wieder gesunden 
sollte; denn daß seine Rolle im Orden noch nicht ausgespielt war, beweisen 
die folgenden Jahre. Der Landkomtur von Thüringen, Heinrich von Hoch- 
heim, hatte sich in seiner Stellung nicht bewährt. Es war ihm nicht gelungen, 
einen alten Streit zwischen den Grafen von Gleichen und dem Deutsch- 
ordenshause in Nägelstedt über Mühlenregale zu schlichten. Deswegen er- 
hält nun Helwig, der, wie wir gesehen haben, in dieser Zeit in seiner Heimat 
weilte, vom Hochmeister den Auftrag, diesen Streit endlich zu endigen. 
Dies glückt ihm auch. Kurz vorher treffen wir ihn erst wieder in einer 
Urkunde des Landgrafen Albrecht dat. Eisenach, 1292 Sept. 29, durch die 
„brüder Helwig von Goltbach und sineme orden" nach dem Tode seiner 
Mutter Beatrix und seiner Schwester Adelheid das Gut Mosbach mit allen 
Zubehorungen zugeeignet wird?!. Bald darauf schenken beide dem Deutsch- 
ordenshaus zu Nägelstedt. In dieser Urkunde wird Helwig von Goldbach aus- 
drücklich als Stellvertreter des Meisters bezeichnet“. Da Heinrich von Hoch- 
heim noch am 30. September als Landkomtur urkundet®, Helwig uns aber am 
15. November schon in dieser Stellung begegnet?*, so muß die Ausstellung der 
genannten Urkunde in der Zwischenzeit erfolgt sein. Wir sehen gleichzeitig 
daraus, daB sich hier der Wechselim Landkomturamt ziemlich plötzlich vollzieht 
und müssen also annehmen, daB Helwig auf direkten Befehl des Hochmeisters 
eingesetzt ist, während Heinrich von Hochheim als Komtur nach Halle ver- 
setzt wird“, Anfang des Jahres 1293 treffen wir den neuen Landkomtur 
in Mergentheim, wo er mit dem dortigen Komtur einen Streit zwischen dem 
Kloster Gerlachstein und Reinhard von Hartheim schlichtet®. Wir gehen 
wohl nicht fehl in der Annahme, daß Helwig hier an einem Kapitel der 
deutschen Balleien teilgenommen hat und seine Bestätigung als Land- 
T " Emler Reg. Boh. et Mor. II, 1512. — Ludewig, Reliquiae VI, 29 (m. Dat. 

390). 

21 Demnächst Thüringische Geschichtsquellen a. a. O. 528. 

22 s. Anm. 2. 

33 Demnächst Thüringische Geschichtsquellen a. a. O. 529. 

*i s. Anm. 3. 


“a Fbendas. 
235 Württembergisch Franken 5 (1859) S. 108. 


H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 613 


komtur erhielt. Seine Stellung bekleidet er bis in den Januar 129552. Dann 
entschwindet er wieder für die nächsten Jahre unseren Blicken. Vielleicht 
ist er aber noch bis Anfang 1296 in diesem Amte, da sein Nachfolger 
Gottfried v. Körner, vorher Komtur in Griefstedt, am 9. Juni 1296 zum 
ersten Male als Landkomtur der Ballei Thüringen urkundet?. Dann ist 
er sicher wieder nach Preußen zurückgekehrt; denn ich halte den am 
21. Dezember 1298 in Rehden als Zeugen genannten Deutschordensbruder 
Heinrich von Goldbach für unseren Helwig??, da sonst in der Familie der 
Name Heinrich nicht vorkommt und es sich bei den beiden Urkunden 
um Abschriften in einem Handfestenbuch handelt, ein Verschreiben also 
möglich ist. Die Stellung in der Zeugenreihe weist auch darauf hin, daB der 
„Heinrich“ v. G. schon länger dem Deutschen Orden angehört. 

Am schwierigsten sind die nächsten beiden Urkunden, in denen Helwig 
vorkommt. Am 26. Juni 1299 erscheint er in einer in Elbing ausgestellten 
Urkunde als Komtur in Cella Regis? und am 3. August desselben Jahres 
wird er in Wien in einer Hochmeisterurkunde Komtur in Rothenberg ge- 
nannte. Wo liegen die beiden Orte? Seraphim übersetzt in der Anmerkung 
Cella Regis mit Königshofen, läßt aber die Frage offen, ob seine Übersetzung 
richtig ist. Ein Deutschordenshaus Königshofen gibt es nicht. Es ist völlig 
unklar, welcher Ort gemeint sein soll. Da aber in Wien sein Amt nach Rothen- 
berg verlegt wird, so ist vielleicht anzunehmen, daß es sich hier um die 
gleiche Komturei handelt. Aber ein Deutschordenshaus Rothenberg gibt 
es ebensowenig. Dagegen bestand die Komturei Rothenburg o. T. seit einigen 
Jahren?!, Es ist wohl zweifellos, daß es sich hier um diese Komturei handelt; 
denn ein Verschreiben zwischen -berg und -burg kommt häufiger vor. Ein Ort 
Rothenburg i. Thür. in der Nähe von Kelbra, an den Wegele®!a denkt, kommt 
nicht in Frage. Die Grafschaft Rothenburg befand sich seit Mitte des 13. Jahr- 
hunderts im Besitz der Grafen von Beichlingen, die gerade in den Jahrzehnten 
vor 1300 dem Deutschen Orden zahlreiche Zuwendungen machten. Aber von 
Zuwendungen bei der Burg Rothenburg — einen Ort dieses Namens hat es 
jedenfalls nie gegeben — oder überhaupt in der Grafschaft wissen wir nichts, 
so daß eine Komturei Rothenburg i. Thür. nicht bestanden haben kann. 
Wenn wir annehmen, daB Cella Regis wirklich mit Kónigshofen übersetzt 
werden kann, und ich sehe keine andere Möglichkeit der Übersetzung, so sind 
wir vielleicht auch berechtigt, anzunehmen, daB dem Schreiber der Ur- 
kunde die Lage der neuen Komturei noch nicht bekannt war, und daß er 
Königshofen gesetzt hat. Allerdings sind bis jetzt keine Besitzungen in 
Königshofen nachgewiesen. Seraphim hat bei der ersten Urkunde, bei der die 
Jahresangabe fehlt, nachzuweisen versucht, daß es sich nur um das Jahr 


36 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 3, 437 (Landgraf Albrecht von Thü- 
ringen schenkt (6. Jan.) dem Deutschordenshause in Mühlhausen das Dorf Runderode). 

*?' Ebendas. 455. 

3 Preuß. UB. a. a. O. 702, 703. 

2 Ebendas. 713. 

20 Ebendas. 725. 

„ Die Deutschordenskomturei Rothenburg o. Tauber im Mittelalter, 
S. 


7»: F, X. Wegele, Friedrich der Freidige S. 274, Anm. 1. 


614 zZ Lampe 


1299 handeln kann, und ich schließe mich vollkommen seinen Darlegungen 
ans. Aber vorläufig scheint sich mir dieser ganze Fragenkomplex doch noch 
nicht ganz einwandfrei zu lösen; denn wenn Helwig von Goldbach tatsäch- 
lich 1299 Komtur in Königshofen oder Rothenburg war, so ist es doch merk- 
würdig, daß er sich dann in Preußen befindet. Sollte Cella Regis vielleicht 
doch eine kleine Komturei in Preußen sein ? Als Helwig zusammen mit Konrad 
Stange, dem Komtur von Thorn und Vizelandmeister von Preußen, als Ab- 
gesandter an den Hochmeister Gottfried von Hohenlohe geschickt wird? 
mit der Bitte, ihre Wünsche für die Erhaltung des christlichen Glaubens in 
Preußen, die sie schon einmal vorgetragen hatten, doch nicht unberücksichtigt 
zu lassen, treffen sie ihn jedenfalls in Wien. Und dort finden wir dann am 
3. August desselben Jahres unseren Helwig als Zeugen in der Urkunde des 
Hochmeisters Gottfried von Hohenlohe, in der er eine Schenkung der Witwe 
des Burggrafen von Meißen Bernhard von Hartenstein an den Deutschen 
Orden bestätigt. Die Zeugenreihe lautet: frater Chunradus de Baben- 
berch preceptor Pruscie, frater Ditoldus provincialis Bohemie, frater Hel- 
wicus de Goltpach commendator de Rotenberg, frater Reinhardus de Sunt- 
housen tesaurarius in Veneciis, frater Sifridus de Feuchtwanch commen- 
dator in Wienna. Wir sehen aus der Stellung in der Zeugenreihe, daB sich 
Helwig trotz seines augenblicklich bescheidenen Amtes ein gewisses Ansehen 
im Orden erfreute. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß ihm die 
neugegründete Komturei Rothenburg, die von Würzburg sich gelöst hatte, 
übertragen wurde. Er hatte ja schon in Thüringen bewiesen, daß er ein 
Geschick hatte, schwieriger Verhältnisse Herr zu werden; denn ganz einfach 
lagen die Verhältnisse für den Orden im Taubertal auch nicht®. 

Aber auch hier sollte der unermüdlich tätige Bruder noch keine Ruhe 
finden. Als der Landmeister in Preußen, Ludwig von Schippen, gestorben 
war, wurde auf dem Generalkapitel zu Frankfurt im Frühjahr des Jahres 
1300 der schon vielfach bewährte Helwig von Goldbach zu seinem Nach- 
folger in Preußen gewählt. Seine fast 30jährige Wirksamkeit im Orden, 
seine verschiedensten Stellungen und Aufträge schienen ihn als ganz besonders 
geeignet für dieses Amt zu empfehlen. Er kommt im Vorsommer desselben 
Jahres in Preußen an und verwaltet es als Landmeister 2 Jahre lang. Aus 
dem Jahre 1300 sind uns keine Amtshandlungen erhalten. Am 26. März 1301 
überträgt er dem Heinrich von Rehden, dem Schulzen von Blumenau, 
40 Hufen zur Lokation. Die Urkunde selber ist in Marienwerder ausgestellt“. 
Am gleichen Tage erhält auch ein gewisser Wilune und seine Erben zwei 
Hufen und 4% Joch in dem bei der Burg Roggenhausen gelegenen Dorfe“. 
Am 9. April weilt der Landmeister in Graudenz und erlaubt den Bewohnern 


22 Preuß. UB. a. a. O. 713 Anm. 3 (ist aber Anm. 2). 

33 Jedenfalls, wie aus der untenstehenden Zeugenreihe hervorgeht, ist der Land: 
meister Konrad von Babenberg selbst bei der Gesandtsch: aft. 

3 Preuß. UB. a. a. O. 725. 

35 Weigel, a. a. O. 

3$ Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 160. 

3 Preuß. UB. a. a. O. 758. 

35 Ehendas. 759. 


H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 615 


in Pribenz, die für ihre Güter schädlichen Gewässer durch einen Graben 
auf das Deutschordensgut in Stolno abzuleiten. Am 29. Mai befindet sich 
Helwig in Danzig, das er für den Orden in Stellvertretung des Königs von 
Bohmen und Polen in Besitz genommen hat, nachdem Swenzo, der Palatin 
von Pommern, und Bogussa, der Richter in Danzig, und die Danziger selber 
dem zugestimmt haben. Er verpflichtet sich, die Stadt wieder auszuliefern, 
wenn der Kónig mit der Übergabe nicht einverstanden sei oder sich weigere, 
die stádtischen Privilegien zu bestátigen. Im Namen des Ordens verpflichtet 
er sich, seinerseits die Privilegien der Stadt zu achten, solange er sie besitze, 
auch in dem Falle, daß ihm der König die Stadt mit ihrem Gebiet zum Eigen- 
tum übergeben würde. Die Urkunde besiegeln Günther von Schwarzburg, 
der Kulmer Landmeister, und Conrad Sack, der Komtur in Thorn, mit“. 
Beide sind ebenfalls Thüringer und spielen neben unserem Helwig eine be- 
deutende Rolle in Preußen. Am 17. August weilt Helwig in Germau und 
verleiht zwei Haken im dortigen Gebiet dem Kämmerer Leykaute und 
seinen Erben, und am 20. August gibt er bei Pobethen im Samlande dem 
Swentike und dem Kerse ein Stück im Poweikenfeld, das nórdlich des Ortes 
lag, wie es ihnen von Bruder Ortlof, dem Vogt des Samlandes, gezeigt worden 
ist“. Zum letzten Male begegnet uns Helwig im März 1302 als Landmeister. 
Am 26. März verleiht er dem Johann, dem Sohne Berthold, gen. von Okenicz, 
im Dorfe Schönwalde 70 Hufen zur Lokation unter den üblichen Be- 
dingungen“ und am 28. März vergleicht er sich in Elbing mit dem Dom- 
kapitel in Marienwerder, dem er den Mariensee überläßt, wofür er den See 
Schinewiten erhält“. Bald darauf wird er wohl sein Amt niedergelegt haben. 
Seine Amtszeit war voll von Kämpfen. Die verheerenden Kriegszüge 
der Litauer dauerten an. Besonders Ermland hatte schwer darunter zu 
leiden. Doch gelingt es Helwig überall die Ruhe herzustellen, so daß er im 
großen Maße für das Wohl des Landes sorgen konnte. Ja sogar mit dem 
Erzbischof in Riga wird durch einen Vergleich für einige Jahre ein erträg- 
licher Zustand geschaffen. Voigt“ schildert eingehend die Verwaltungs- 
tätigkeit des Landmeisters, dessen Mildtätigkeit ihm den ehrenden Bei- 
namen, Vater der Armen, erwarb. Es mag aber sein mildes Wesen in die 
rauhen Verhältnisse im Ordenslande nicht gepaßt haben. Da dem Hoch- 
meister verschiedene Klagen über die schlechten Sitten mancher Ordens- 
brüder zu Ohren gekommen waren, hatte er rücksichtslos die Ordens- 
gesetze verschürft und sich dadurch unbeliebt gemacht. Aus diesem 
Grunde entschlieBt sich Gottfried von Hohenlohe sein Hochmeisteramt 
niederzulegenfé. Inzwischen aber war Helwig schon von seinem Posten als 
Landmeister zurückgetreten. Simon Grunau“ behauptet, daß er seines 


33 Ebendas. 760. 

19 Ebendas. 762. 

41 Ebendas. 760. 

4 Ebendas. 767. 

43 Ebendas. 771. 

“ Ebendas. 772. 

Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 161 ff. 
“ Ebendas. 171 ff. 

47 Preußische Chronik I, S. 446. 


616 Lampe 


Amtes entsetzt worden sei. Das stimmt aber nieht. Sein Verzicht ist ein 
freiwilliger*®. Voigt“ meint, daß er das Amt bis Ende des Jahres 1302 ge- 
führt hat, doch finden wir schon im September Conrad Sack als seinen Nach- 
folger®. Demnach stimmt es auch nicht, daß Helwig sein Amt niedergelegt 
hat, weil Gottfried von Hohenlohe auf die Hochmeisterwürde verzichtet hat, 
sondern meiner Meinung nach hat Helwig bald nach dem Eintreffen des 
Hochmeisters diesem im Sommer sein Amt zur Verfügung gestellt. Ganz 
zu verwerfen ist die Angabe Simon Grunauss? über die Gründe, durch die 
Gottfried v. Hohenlohe zum Verzicht auf sein Hochmeisteramt veranlaßt 
sein soll: wan ausz ubermiettigen worten desc lanthmeister von Preussen, 
bruder Helwici von Goltbach er entsatzt were. Übereinstimmend berichten 
die Chroniken, daß er sich dann wieder nach Deutschland zurückbegeben 
hat. Wo er aber in den nächsten Jahren weilt, wissen wir nicht. Jedenfalls 
stimmt es aber nicht, wie bis jetzt jedenfalls auf Grund der kurzen Nachricht 
bei Dusburg angenommen wurde, daß er bald darauf gestorben ist; denn 
am 22. April 1305 begegnet er uns als Komtur in Rochberge in einer Urkunde 
des Markgrafen Friedrich von Meißen für das Kloster Ichtershausen als 
erster Zeuge. Er wird dort genannt, der ehrbare Mann Bruder Helwie 
von Goltbach, Komtur des Teutschen Hauses in Rocheberge. Auch hier 
wieder die Frage, welches Deutsche Haus ist damit gemeint? Rocheberg 
ist unbekannt. Auch im Deutschordenszentralarchiv in Wien war nichts 
über dieses Deutschordenshaus zu finden. Es ist wieder die einzige Möglich- 
keit, daB wie schon einmal Rothenburg o. T. damit gemeint ist, und daß 
Helwig nach seiner Rückkehr aus PreuBen wieder die Verwaltung dieses 
Hauses bekommen hat. Nachdem uns durch Weigel® bekannt gemachten 
Material über diese Komturei ist die Möglichkeit durchaus zuzugeben. Daß 
wir ihn nun hier beim Kloster Ichtershausen“ treffen, ist weiter nicht ver- 
wunderlich, denn in der Nähe liegt das Dorf Goldbach, das im Besitze seiner 
Familie war. Wir müssen also annehmen, daß Helwig zur Regelung irgend 
welcher familiären Angelegenheiten in seiner Heimat weilte. Und über ein 
Jahr später (1306, Juli 9.) wird er noch einmal in gleicher Stellung erwähnt. 
Landgraf Albrecht von Thüringen verspricht auf dem Fürstentage zu Fulda 
dem Könige Albrecht, innerhalb von acht Tagen seine Burg Wartburg mit 
den Türmen religiosis viris Ber[tholdo] de Gepzenstein commendatori do- 
morum in Spira et in Wizzenburg, nec non Helwico de Goltbach commen- 


48 Dusburg, a. a. O. III, 267: Resignato officio reversus fuit Almanniam. ibique 
mortuus et sepultus. 

Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 173. — Die Darstell von Lucas David, 
Preußische Chronik V, 139, wonach Helwig schon 1300 oder zu Anfang 1301 gestorben 
sei, stimmt nicht, steht auch im Widerspruch zu dem, was er S. 135 von der Wahl 
Helwigs zum Landmeister erzählt. 

50 Preuß. UB. a. a. O. 777. 

5! Dusburg, a. a. O. III, c. 267 f. 

52 g. a. O. S. 447. — David a. a. O. V, 144. 

53 S. Anm. 48. 

5* Reitzenstein, Reg. d. Grafen v. Orlamünde S. 120. 

55 Weigel, a. a. O. s. besonders S. 114. 

56 bei Gotha. 


H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 617 


datori in Rodemberg fratribus ordinis de domo Theutonica, quorum puri- 
tatis fidem, cireumspectionis providenciam preelegimus, zu übergeben, damit 
das Reich, an das Thüringen nach seinem Tode fallen werde, dies Gebiet 
ungehindert in Besitz nehmen könne”. Treuhänder des Reiches werden 
diese beiden Männer, die schon einmal eine wichtige Urkunde mitbezeugt 
hatten. Auch diese letzte Erwähnung des Deutschordensritters läßt uns er- 
kennen, daß sein Ansehen nicht nur im Orden groß war. Wer beide zu diesem 
verantwortungsvollen Posten vorgeschlagen hatte, lasse ich dahingestellt. 
Jedenfalls sind beide sowohl dem Könige als auch dem Landgrafen genehm 
gewesen. Wie aus dem Chronicon Sampetrinum Erfurt. hervorgeht, wurden 
die Deutschordens-Komture gleichsam als königliche Verwalter der Land- 
grafschaft eingesetzt. Denn Albrecht mußte dem Könige geloben, daß er 
sich nicht den Maßnahmen widersetzen würde, die die beiden Verwalter in 
den den König und ihn betreffenden Dingen anordnen würden. Ihnen ver- 
sprach er auch jede Burg oder Stadt seiner Landgrafschaft auszuliefern, die 
zurückerobert würde58. So schließt die Laufbahn dieses Ordensritters 
glänzend ab. Nachdem er Jahrzehnte hindurch dem Orden wertvolle Dienste 
geleistet hatte, sollte es ihm nun noch vergönnt sein, auch seinem durch 
Familienzwistigkeiten so sehr zerrütteten Heimatlande Ruhe und Frieden 
zu bringen. Doch leider kam er nicht zur Verwirklichung dieser hohen Auf- 
gabe. Landgraf Albrecht entzog sich wieder seinen Verpflichtungen und 
lieferte die Burg nicht aus. Der Kampf ging weiter?. Leider erfahren wir 
nichts über die Stellung Helwigs in diesen Streitigkeiten. Versuchte er zu 
vermitteln? Vertrat er als Sachwalter des Königs dessen Ansprüche? 

Über den Rest seines Lebens sind wir völlig in Unkenntnis. Wir wissen 
nicht, wann und wo er gestorben ist. Wir können nur annehmen, daß der 
Hauskomtur Helwig in Elbing, der dort am 12. März 1308 als Zeuge in einer 
Urkunde steht“®, mit unserm Helwig von Goldbach identisch ist. Denn einmal 
kommt der Name Helwig in der damaligen Zeit sonst nicht im Deutschen 
Orden vor und gehört überhaupt zu den selten gebrauchten Vornamen. 
Andererseits pflegte aber der Orden alten verdienten Mitgliedern für ihren 
Lebensabend eine ruhige Stelle zu geben. Es mochte wohl auch der Wunsch 
des Hochmeisters mitsprechen, diesen verdienten Mann, der durch sein 
ruhiges, mildes und überlegenes Wesen so viel Gutes für den Orden gewirkt 
hatte, in dem immer noch unruhigen Preußen zu wissen. Konnte er doch 
hier durch seine reiche Erfahrung nur fördernd eingreifen. Aber leider 
bleibt auch dies nur Annahme. 

Ich habe im Vorhergehenden versucht, ein kurzes Bild über die Wirk- 
samkeit dieses hervorragenden Deutschordensritters zu geben. Leider 
konnten nicht alle Fragen restlos gelöst werden. Vielleicht wird es später 
noch einmal gelingen, wenn sich in den tausenden noch unbearbeiteter 
Deutschordensurkunden weitere Nachrichten über ihn finden sollten. 
Lampe. 


57 Jul. Ficker, Die Überreste des Deutschen Reichs-Archives zu Pisa S. 56, Nr. 32. 
5 Wegele a. a. O. S. 273f. 

* Wegele a. a. O. S. 277ff. 

*9 Preuß. UB. a. a. O. 887. 


618 Manfred Laubert 


Bunsens Beziehungen zur polnischen Emigration in den Anfängen 
seiner Londoner Zeit!. 


Wenige diplomatische Aktenstücke haben in der Geschichte der preu- 
Bischen Polenpolitik so gewaltiges Aufsehen erregt wie die Denkschrift, die 
der Gesandte in London, Christian Carl Josias Frhr. v. Bunsen am 1. März 1854 
dem Minister Frhrn. v. Manteuffel einreichte. Er forderte darin den Eintritt 
Preußens in den Krimkrieg an der Seite der Westmächte und in Aufwärmung 
der Frhr. v. Arnimschen Märzpolitik von 1848? die Wiederherstellung Polens 
als Sturmbock gegen Rußland. Diesem neu geschaffenen Polen sollten 
Galizien und unter Umständen Ostposen zugeteilt werden?. 

Wenn derartige Gedankengänge auch durchaus in der Richtung der 
liberalen Ideologie jener Tage lagen und es weiter vollkommen dem dilet- 
tantenhaften Charakter der Bunsenschen Politik entsprach, daß er überall 
Hoffnungen zu erwecken versuchte, die sich aus Mangel an jedem realen 
Hintergrund nachher niemals verwirklichtenf, so ist eine derartig scharfe 
Ausprägung eines Preußens Zerstückelung vorschlagenden Projektes durch 
den Inhaber der beinahe vornehmsten Stelle der Diplomatie seines Landes 
ganz auf eigene Faust immerhin schwer verständlich, sofern man sie als 
eine Improvisade des damaligen Augenblicks allein betrachten müßte. 
In Wirklichkeit liegt der Schlüssel zu Bunsens Auffassung vermutlich darin, 
daß er bereits seit langem in ähnlicher Richtung beeinflußt und deshalb in 
verwandte Ideen hineingewachsen war. Ä 

Schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt hatte er Beziehungen zu 
einem Vorkämpfer des polnischen Protestantismus, Valerian Grafen 
Krasinski, angeknüpft, dem er später einen schmeichelhaften Brief Friedrich 
Wilhelms IV. und das von Krasinski abgelehnte Angebot eines Lehrstuhls 
an der Berliner Universität verschaffte®. Des Grafen 1848 in seinem Buch: 


1 Nicht registr. Oberpräsidialakten Nr. 84, bzw. Rep. 77, 379, 5. Bd. II u. 508. 
1. Bd. III in den Staatsarchiven zu Posen u. Berlin. 

3 Jetzt ausführlich bei Hallgarten: Studien über d. deutsche Polenfreundschaft. 
München u. Berlin 1928. Über Bunsens Denkschrift S. 113. 

3 Diese im Sinn der dem Thronfolger nicht fern stehenden Bethmann-Hollweg- 
schen Wochenblattpartei gehaltenen Gedanken riefen natürlich den schärfsten 
Widerspruch Bismarcks hervor (vgl. „Gedanken u. Erinnerungen. Volksausg. I. 
S.133). Vgl. H. Wendt: Bismarck u. d. poln. Frage. Halle a. S. 1922, S.8. Die 
Denkschrift wurde in F. Nippolds dt. Ausgabe seiner Bunsenbiographie von dessen 
Witwe ohne Andeutung alolrter Kürzungen, aber unter ME renard der gravie- 
rendsten Stellen veröffentlicht (Bd. III, Lpz. 1871, S. 337 ff.) und deshalb v. Bogislaw 
(Lothar Bucher) in d. „Deutschen Revue“ 1882 (S. 155ff.) nochmals vollständig 
abgedruckt, weil ein damals zutage gekommener Brief des falsch unterrichteten 
Prinzen Albert Bunsens Entfernung von seinem Posten als russische Intrigue hin- 
stellte, während in Wahrheit das ominöse Machwerk seine Abberufung erfordert 
hatte. 

4 Aufzeichnungen v. Anna Gräfin v. Bernstorff, Gemahlin von Bunsens Nach- 
folger Albrecht Grafen v. B.: „Im Kampf für Preußens Ehre“, hrsg. v. Ringhoffer. . 
Berlin 1906, S. 256. Über Bunsens Londoner Tätigkeit vgl. Treitschke: Deutsche 
Gesch. 4. A. V., S. 126ff. u. die Denkwürdigkeiten des mit B. befreundeten Frhrn. 
Christian Friedr. v. Stockmar. Braunschweig 1872, S. 384ff. 

5 Leo Rogalski: Gesch. d. poln. Literatur. Warschau 1871 (poln.), S. 496. 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 619 


Panslavismus und Germanismus®, endgiltig formuliertes Glaubensbekenntnis 
lief ebenfalls auf Gründung eines polnischen Pufferstaates zwischen dem 
Westen und Rußland hinaus, da die Polen sonst zur Anlehnung an letzteres 
gezwungen sein würden. Überhaupt propagierte er die Wichtigkeit des 
Slaventums und dessen verheißungsvolle Zukunft. Schon vorher wirkte er 
durch zahlreiche Aufsátze in demselben Sinn und bemühte sich insbesondere, 
dem englischen Publikum Verständnis für die Mission seines Vaterlandes 
beizubringen. 

Bunsens Freundschaft benutzte er, um ihm zu Beginn des Jahres 1843 
drei Denkschriften zur Weitergabe an das preußische Ministerium des 
Auswärtigen zu übermitteln, von wo sie an den Kultusminister Eichhorn, 
und am 31. Januar an den Minister des Inneren Grafen Arnim geschickt 
wurden. Der Minister des Äußeren, Graf Bülow, hatte erläuternd am 
11. Januar bemerkt, der Verfasser nenne sich einen „protestantischen Slaven“. 
Dem Aufstand von 1831 stand er fern und war seinen Bestrebungen abhold, 
übernahm aber trotzdem im Auftrag des Warschauer Senats eine Sendung 
nach Berlin, um dort den Hof milder für die Sache der Polen zu stimmen, 
doch wurden ihm die Pässe verweigert. Russischerseits nahm man davon 
so wenig Notiz, daß man ihn weiterhin als gentilhomme de la chambre 
de Sa Majesté führte und zur Rückkehr auf seinen Posten in St. Peters- 
burg aufforderte. Krasinski zog es indessen vor, den Rest seines Lebens im 
Interesse Polens und der protestantischen Kirche der Wissenschaft zu widmen, 
wozu ihm auf sein Gesuch die Entlassung in Gnaden erteilt wurde. Seitdem 
lebte er in England, schrieb besonders für den Morning Herald und be- 
mühte sich, dadurch eine materiell unabhüngige Existenz zu gewinnen. 
Bunsen rühmte ihn als wirklich edelen, rechtschaffenen Mann, dessen Artikel 
eine lobenswerte Tendenz hatten. 

Auch Eichhorn hob die Mäßigung der Denkschriften hervor, aus denen 
sich manche Fingerzeige mit Vorsicht gebrauchen ließen, und hielt unter 
Umständen sogar einen Bericht an den König für angezeigt. Hingegen 
stand Arnim trotz lobender Verbrámung der Sache skeptischer gegenüber 
und wollte ein näheres Eingehen auf die Vorschläge vermeiden. Schon 
Eichhorn hatte bemerkt, daß eine prinzipielle Förderung und Entwickelung 
der slavischen Elemente bedenklich sei, weil sich damit leicht politische 
Bestrebungen und Sympathien verbinden würden, deren Begründung nichts 
weniger als erwünscht sein konnte. Diese Ansicht unterstrich der Graf voll- 
kommen. Die Ereignisse und Wahrnehmungen der letzten Zeit waren ganz 
dazu geeignet, die Tendenz, aus der man von mehreren Seiten die Befestigung 
und Verbreitung der polnischen Sprache und Nationalität gefördert hatte, 
der genauesten Beobachtung, nicht aber der Begünstigung wert erscheinen 
zu lassen. Die Idee der künftigen Wiedervereinigung ihres Vaterlandes 
hatten die Polen nie aufgegeben. Sie wurde, wenngleich nur dunkel umrissen, 
auch bei Krasinski sichtbar. Der polnische Adel würde sich nach Arnims 
Kenntnis von ihm nicht leicht davon trennen und gegenwärtig am aller- 


Aus d. Englischen v. Lindau. Dresden u. Lpz. 1849. Später auch französisch 
erschienen. Vgl. W. Feldmann: Gesch. d. politischen Ideen in Polen usw. München 
u. Berlin 1917, S. 158. 


620 Manfred Laubert 


wenigsten. Diese Idee durfte aber von Preußen keine Nahrung erhalten, 
weil sie an und für sich gegen seine Integrität gerichtet war. Die längere 
Trennung der preußisch-polnischen Landesteile von den russischen und 
österreichischen, die Fortdauer der bestehenden Normen in Justiz, Verwaltung 
und Militärwesen, Offenheit und Gerechtigkeit bei Behandlung der Provinz 
Posen und diejenige Annäherung an deutsche Sprache, Sitte und Verhält- 
nisse, die durch kráftig befórderte Chaussee- und bevorstehende Eisenbahn- 
bauten notwendig herbeigeführt werden mußte, schienen ihm einfachere 
und sichere Garantie dafür zu bieten, daß das noch vorhandene fremde 
Element mit den deutschen Teilen des Staates allmählich assimiliert würde. 
Weit gefährlicher war der vorgeschlagene Ausweg, das Slaventum durch 
unmittelbare Einwirkung der Regierung weiter auszubilden, um dadurch 
einen — bei dem Gemisch von Zähigkeit und Unzuverlässigkeit, das den 
Grundtyp des slavischen Charakters darstellte, sehr wenig verbürgten — 
Gegensatz zwischen den diesseitigen Polen und ihren Stammesgenossen 
jenseits der Grenze hervorzurufen?. Teils unausführbar, teils unrätlich 
waren auch die Mittel, durch die Krasinski sein Ziel für erreichbar hielt. 
Die Literaten, die für ein Zeitungsunternehmen, wie solches übrigens in 
Posen schon bestand, gewonnen werden konnten, waren selbst von einer 
politischen Gesinnung, die den Prinzipien der Regierung nicht entsprach, 
oder von Persönlichkeiten abhängig, die, den junghegelschen Theorien er- 
geben, darauf hinzielten, die verschiedenen Fraktionen der Polen unter- 
einander und mit den Deutschen im GroBherzogtum zu einer kompakten 
Masse zu vereinigen, um neben Erlangung gewisser Zugestándnisse für die 
polnische Sprache und Nationalität für die Durschsetzung ,,destruktiver 
Tendenzen, insbesondere konstitutioneller Regierungsformen, Bahn zu 
brechen". Dieses Bestreben machte sich schon durch zwei Aufsätze der 
deutschen Posener Zeitung (Nr. 49 u. 54) bemerkbar, die mutmaßlich von 
Karl Libelt? herrührten, einem entschiedenen Junghegelianer und „fanatischen 
Verfechter ultrademokratischer Staatsformen“. Auf solchen Mann konnte 
unmöglich von seiten des Staates in der von Krasinski gewünschten Weise 
zurückgegriffen oder gebaut werden. Sein Einfluß und der seiner Genossen, 
zu denen leider deutsche Beamte in Posen gehörten, war bedeutend genug, 
um andere Kapazitäten wie etwa Lukaszewicz® am Einschlagen des ent- 


7 Ein solcher Gegensatz hat sich bei der Kulturförderung durch die preußische 

ierung tatsächlich später herausgebildet und wirkt heut noch nach, ohne die 
politischen Ziele des Polentums in seiner Gesamtheit irgendwie zu verrücken. Viel- 
mehr hat gerade die Schulung der preußischen Polen wesentlich zur Schaffung des 
neuen Staates beigetragen und ihm über die Anfangskrisen hinweggeholfen, z. B. 
militärisch und finanziell. 

8 Über L., der später die Posener Zeitschrift Rok (Das Jahr) herausgab, und 
einer der am schwersten belasteten Verschwörer von 1846 war, vgl. Laubert in 
Dt. Wissenschaftl. Zs. für Polen H. 6 u. Studien z. Gesch. d. Prov. Posen I. Posen 
1908. Das berührte Zusammengehen der Polen mit den deutschen Konstitutionellen 
hatte sich auf dem Provinziallandtag v. 1843 entwickelt; vgl. Laubert in Hist. 
Vierteljahrschr. 1920. 

® Der Historiker Joseph L. war Bibliothekar der Raczynskischen Bücherei in 
Posen, Lehrer des Polnischen am dortigen Gymnasium und Mitherausgeber mehrerer 
poln. Zeitschriften der Provinz; vgl. Laubert: Studien. 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 621 


gegengesetzten Weges zu hindern. Die Erweiterung der polnischen Zeitung, 
die die Regierung schon deshalb nicht in der Hand behalten durfte, um dem 
Organ nicht in der öffentlichen Meinung zu schaden, konnte unter diesen 
Umständen nur eine Opposition großziehen, die umso gefährlicher werden 
mußte, weil sie sich auf dem doppelten Boden der Politik und Nationalität 
bewegen würde. Unter diesem Gesichtspunkt war es auch keineswegs ratsam, 
durch Sonderbevorzugung polnische Kräfte in weiterem Umfang, als es frei- 
willig geschah, zum Eintritt in den Staatsdienst zu veranlassen. Ebenso 
erschien die Errichtung einer Akademie, nicht zweckmäßig“. Man begründete 
damit nur ein neues Moment für die Partikularisierung einer Provinz, deren 
Aufgehen in der Gesamtmonarchie notwendig war. Der Protestantismus 
endlich hatte sich erfahrungsgemäß ,,als ein sehr wesentliches Vehikel für die 
Vereinigung der noch vorhandenen polnischen Elemente mit den deutschen 
bewährt“. Es lief nach des Ministers Ansicht deshalb dem wahren Vorteil 
Preußens im höchsten Grade zuwider, dieses Vehikel durch Erneuerung des 
polnischen Gottesdienstes in der protestantischen Kirche und durch Schaffung 
einer polnisch-protestantischen Literatur gewaltsam der entgegengesetzten 
Tendenz dienstbar zu machen. 

Arnim konnte sich hiernach des Gedankens nicht erwehren, daß Kra- 
sinski vielleicht die Absicht hatte, seiner Nationalität dadurch einen Dienst 
zu erweisen, daß er den Wünschen für ihre Erhaltung und Emporhebung 
die Wendung gab, als liege ihre Erfüllung im Interesse des Staats, der 
die Hand zu ihrer Verwirklichung bieten sollte. Wenigstens für jetzt konnte 
der Graf darum sich mit einem Eingehen auf besagte Wünsche nicht be- 
freunden und stellte anheim, sie auf sich beruhen zu lassen. 

Wenngleich eine direkte Verbindung zwischen den Denkschriften und 
der preußischen Verwaltungspraxis der folgenden Jahre nicht nachweisbar 
ist, so lief diese doch in manchen Punkten durchaus in der darin vorgezeich- 
neten Richtung, nur gaben die Ereignisse von 1846/48 den Besorgnissen des 
ehemals als Oberpräsident in Posen tätigen Arnim vollauf Recht. Bleibenden 
Eindruck mögen Krasinskis Ausführungen hingegen auf Bunsen gemacht 
haben, der den Verkehr mit dem Autor eifrig weiter pflegte. Allerdings 
wurde ihm noch von anderer Seite eine ähnliche Auffassung des polnischen 
Problems nahe gebracht!“. 

Bunsen war nàmlich seit Jahresfrist mit einem von ihm immer nur Dr. X. 
genannten deutschen Gelehrten und ehemaligem ,,Umtriebler" aus 
Baden in Berührung gekommen, der sich zuerst bei ihm mit Mitteilungen 


10 Von einem in London lebenden Posener Polen war der Gesandte schon im 
Frühjahr 1842 heimgesucht worden, wobei ihm eine Liste von 14 angeblich demnächst 
mit falschen Pässen nach Posen und Polen aufbrechenden Agenten der Brüsseler 
und Versailler Polenkomités eingehändigt wurde. Dieses Mal hatte Bunsen vor- 
sichtigerweise eine Belohnung des Denunzianten von dem Wert seiner Angaben 
abhängig gemacht. Ein allgemeines Stelldichein der Emissäre sollte bei Graf Bninski 
im Brombergschen geplant sein und die Pässe wollten 4 Agenten in Frankfurt, 
Dresden, Leipzig und Breslau besorgen. Die allen Landräten anbefohlenen Nach- 
forschungen zeitigten jedoch nach den Akten keinerlei Ergebnis. 

11 X, erschien Bunsen als ein gegenüber Franzosen und Polen gut deutsch 
gesinnter Mann, so da8 er ihm tiefste Verschwiegenheit zusicherte. Krasinski be- 


622 Manfred Laubert 


über die Machenschaften österreichischer Agenten gemeldet hatte, die sich 
zum Teil als zutreffend erwiesen. Unter anderem hatten sie deutsche Flücht- 
linge für Schmähartikel gegen Preußen und die Hohenzollern in der Zeit- 
schrift: British & Foreign Quarterly Review, gewonnen und bezahlt. 
Am 23. Februar 1844 meldete Bunsen nach Berlin, daß X. ihm 
Aufklärung über die Anzettelung neuer Unruhen in Posen gegeben 
hatte. Als freisinniger Katholik genoB X. das Vertrauen der beiden unter den 
Polen in England bestehenden Parteien, der jesuitischen und demokratischen. 
Sie hatten sich jetzt entzweit und jede forderte von ihm Rat und literarische 
Hilfe. Auf diese Weise hatte er erfahren, daB vier Verbannte, davon drei aus 
Paris, entsandt seien, um Posen zum Schauplatz einer Schilderhebung zu 
machen. Die Katholiken wollten ein groBes katholisches Bündnis zustande 
bringen, wozu Louis Philippe die Hand bieten sollte, der zu diesem Zweck 
die Pyren&enhalbinsel bearbeitete und sich Üsterreich genähert hatte. Die 
Demokraten gingen aus auf eine Revolution zugunsten von Polen und Italien 
und rechneten ebenfalls auf den Bürgerkónig. Auch eine Heranziehung der 
oberschlesischen Bevölkerung war in Aussicht genommen. Diese Angaben 
waren X. bestätigt worden durch die gewissermaßen unparteiischen, aber 
nach beiden Seiten Verbindung haltenden Polen Worcel2 und Stolzman'®. 
Beide Fraktionen, die Jesuiten unter dem Geistlichen Vincent Zienkiewicz!*, 
ihre Gegner unter Ostrowski®, stimmten darin überein, daß ein deut- 
sches Reich mit Ausschluß der ehemals polnischen Landesteile 
und der Rheinprovinz gebildet werden mußte. Nach Ostrowski war 
die Agentenabsendung durch die Anhänger Ledochowskis!6 und Dwernickis!? 
eingeleitet worden, während Rybinskis!® Gesinnungsgenossen der Sache in 
Polen entgegenwirkten. Sie waren aus Haß gegen ihre Rivalen bereit ihre 


urteilte ihn ebenfalls als einen durch jugendliche politische Torheiten und langes 
‚Elend oft an die Grenze des Wahnsinns getriebenen, dem Trunk ergebenen, aber 
ehrlich patriotischen Menschen von großen schriftstellerischem Talent. Deswegen 
schätzte und unterstützte ihn auch Carlyle. Er befand sich in großer Not und es 
war wünschenswert, ihn durch Ermöglichung der Heimkehr aus Trunk und Armut 
zu reißen. X. war auch zu den notwendigen Schritten bei seiner Landesregierung 
entschlossen, hatte aber wenig Hofinung auf Erfolg. In London war er ständiger 
Korrespondent: der Augsburger Allgem. Zeitung und hatte früher die Vorrede zur 
deutschen Ausgabe von Emile de Girardins gemeinnützigem Journal geschrieben. 
Bunsen versprach ihm bei gutem Ausfall einer verheiBenen Denkschrift eine Geld- 
unterstützung und wollte Bülows Hilfe zwecks Erlangung einer Amnestie in Baden 
in Aussicht stellen. 

12 Der ehemalige Reichstagsabgeordnete Stanisl. W. Vgl. über die folgenden 
Namen Gadon: Emigracya Polska. Krakau. 3 Bde. 1901/2 u. z. T. noch Bar- 
zykowski: Powstania Listopadowego (D. Novemberaufstand). Posen. 5 Bde. 1883/4. 

13 Artilleriehaupt mann Karl S. 

14 Bei Gadon flüchtig III, S. 98 als in England lebend erwähnt. 

15 Jos. Boleslaw O., bekannter Publizist, während der Warschauer Revolution 
Sekretär d. Justizministers u. Herausgeber d. Nowa Polska, die er später in Paris 
aufleben ließ, aber von London aus redigierte. 

16 D. ehemalige Abgeordnete Johann Graf L. 

17 D. bekannte General Jos. D. 

18 General Matthäus R., gleich Dwernicki einer der bekanntesten Aufstands- 
führer. 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 623 


Gegner zu opfern. Auf Bunsens Einwand, der Plan eines Aufstandes in Posen 
oder Polen sei zu einfältig, um ihm Glauben beizumessen, hielt X. an seinen 
Nachrichten fest. Einige im Posenschen wieder seBhaft gewordene Flücht- 
linge!® wollten ihre Freunde aus dem Zarenreich als vermeintliche Überläufer 
nach der Provinz schaffen. Krasinski erklärte gleichfalls vertraulich, von 
London aus sei nichts unternommen, aber die Pariser Tollköpfe seien zu allem 
fähig. So wurde auch Bunsen überzeugt. 

Die Entsendung der Emissäre wurde der Ausgangspunkt zu seinen fast 
täglichen Besprechungen mit X. und Krasinski. Ersterer reichte ihm drei 
Berichte über alle ihm bekannten Intriguen der Emigranten im Zusammen- 
hang mit den Posener Unruhen ein. X. hatte Ostro wski1839 als entschiedenen 
Gegner Czartoryskis und Lord Dudley Stuarts? kennen gelernt. Seine drei- 
bändige polnische Geschichte in englischer Sprache war bei allem Fleiß doch 
nur eine Zusammenstellung von Tatsachen ohne leitende Idee auBer katho- 
lischen Tendenzen, Deutschenhaß und Panslavismus. 1843 war er Geschäfts- 
träger des in Paris lebenden Rybinski, der nach polnischer Fiktion als letzter 
Prásident vor dem Fall Warschaus noch der gesetzmüBige Leiter und offizielle 
Vertreter der polnischen Emigrantion überhaupt war. Ostrowski vertrat 
dessen Richtung mit einer bis zum Republikanismus gesteigerten Demokratie. 
Auch Zienkiewicz, einer der ersten Ankómmlinge in England, war Gegner 
des Hotel Lambert und repräsentierte die katholische Strömung mit an- 
scheinend wichtigen Verbindungen in kirchlichen Kreisen. Er schrieb für 
das Dublin Rewiew, erwähnte den geplanten Putsch mit Unbehagen und 
sprach von der demokratischen Partei höchst mißbilligend. Das gleiche tat 
Ostrowski. Beide hielten sie für unbedeutend, mittel- und einflußlos. Sie 
war 1832 von Adam Gurowski?! in Paris gegründet und hatte in London 1838 
nur 17 Anhänger, einst im ganzen aber über 1000. Sie verlor stark durch 
ihr Manifest von 1836, weil sie darin den Katholizismus für antisozial erklärte 
und geradezu den Atheismus predigte. Auch trieb sie adelsfeindliche Politik. 
In Paris war sie der Spielball aller Gesandtschaften, die sich mit den Polen 
befassen wollten, und darum der Tummelplatz mehrseitiger, sich durch- 
kreuzender Intriguen. Stolzman und Worcell, beide ohne Talent, gehórten 
zu dem enge Beziehungen mit Mazzini?? aufrecht erhaltenden, 87 Kópfe 


1* Unter Friedrich Wilhelm IV. wurde zahlreichen Emigranten die Rückkehr 
nach Posen gestattet. Auch wurde die Kartellkonvention mit RuBland wegen 
gegenseitiger Auslieferung von Verbrechern und Fahnenflüchtigen nicht erneuert, 
so daB einige tausend Überläufer sich in den Ostprovinzen aufhielten; vgl. Laubert 
in Dt. Rundschau Sept. 1924. 

39 Lord Dudley Ooutts St., englischer Parlamentarier und Vorkämpfer für die 
Wiederherstellung Polens, da er glaubte, nur durch sie den russischen Imperialismus 
eindämmen zu können. Unermüdlich forderte er von Parlament Hilfe für die poln. 
Emigration, zu deren Gunsten er groBe Wohltätigkeitsfeste veranstaltete. 

21 Graf G., später als russophiler Renegat von polnischer Seite gebrandmarkt, 
spielte eine bedeutende Rolle im Aufstand und anfänglich in der Emigration. 

33 In den unregistrierten Posener Oberprásidialakten Nr. 44 befindet sich über 
M., der sich nach seiner Wegweisung vom franzósischen Boden in Süddeutschland 
eingeschlichen haben sollte, eine Verfügung des Ministers d. Inneren, Frhrn. v. Brenn, 
an alle Oberpräsidenten v. 31. Mai 1883. wonach die Polizeibehörden auf dieses 
„sehr gefährliche Subjekt“ fahnden sollten auf Grund folgenden Signalements: 


624 Manfred Laubert 


starken „Jungen Polen", dessen Chef Lelewel® zur Zeit des Frankfurter 
Putsches gewesen war. Dwernicki schien in der Emigration stark an Ansehen 
eingebüßt zu haben, während sein Name in der Heimat noch guten Klang 
hatte. Ledochowski galt für hinterhältig und besaß nach seiner galizischen 
Heimat österreichische Manieren. Er verfügte über eine stattliche Rente aus 
dem Vermögen seiner Frau, war aber jetzt viel reicher, denn die in Paris 
verstorbene Gräfin Malachowska hatte ihm acht Millionen Gulden und Dwer- 
nicki 150 000 frs vermacht. Die Polen hielten das Testament für erschlichen, 
da die Gräfin Geschwister in Polen besaß. Von Rybinski und Czartoryski 
abgewiesen, wandtesich der Graf in Ermangelung von etwas Besserem an die 
demokratische Partei, die er jetzt leitete. 

Den Aufstandsplan schrieb Zienkiewicz diplomatischen Intriguen zu, 
ließ aber ungewiß, ob er von österreichischer, russischer oder von beiden 
Seiten herrührte. Die geringe Agentenzahl verstärkte die Überzeugung, daß 
er gemacht, d. h. weniger eine Konspiration als eine Zettelung war. Geringe 
Aussicht bestand, die Namen der Sendboten zu erfahren. X. wußte aus 
eigener Praxis, daß Lelewel, mit dem er in Paris sehr gut stand, ohne sein 
Vorwissen Leute nach Deutschland schickte. Als X. selbst dorthin reiste, 
wurde ihm nicht ein Wort von dem Frankfurter Attentat verraten, obwohl 
bereits Polen zur Hilfeleistung unterwegs waren. Nach der in ihrer Heimat 
durchlaufenen Schule waren die Polen in solchen Dingen sehr vorsichtig 
geworden. Die Leitung ging gewöhnlich von einem Mann aus, der allgemeines 
Vertrauen genoß und über das Geld ohne Rechnungslegung verfügte. Gerade 
bei dem Frankfurter Wachensturm hatte X das wohl vorbildliche System 
Lelewels studieren können. Lelewel stand mit dem Vaterlandsverein in Ver- 
bindung, hauptsächlich durch den in London verstorbenen Expriester 
Pula(w)ski**. Andere Fäden waren während des Durchzugs der Polen durch 
Deutschland angesponnen worden. Hauptagent für Deutschland war ein 
Walewski, jetzt vermutlich Weinhändler in Südfrankreich, einst in genauer 
Fühlung mit dem 1834 in Paris gestorbenen Handelskommis Wolfrum, einem 
sehr tätigen Mitglied des deutschen Pressevereins. Durch Vermittelung von 
X. hatte dieser eine Stelle bei Girardin zur Vertreibung von dessen Journal 
erhalten, ging dieses Postens aber verlustig, weil er über seiner politischen 
Propaganda die Zwecke seines Brotherrn vergaß. X. selbst erhielt dann die 
Namen von Vertrauensleuten, die er mit Garnier-Pagés als Leiter der frei- 
lich nicht mehr öffentlich bestehenden Societé aide-Toi in Beziehung 
bringen sollte. Er wußte deshalb, daß die fraglichen Organisationen wenige, 
aber einflußreiche Männer umfaßten, der Vaterlandsverein auch Rotteck. 
Ebenso gehörten ihm einige Mitglieder des älteren Männerbundes der Follen- 
schen Richtung an, der auch nie viel über 40 Köpfe gezählt hatte, darunter 


25 années, avocat, taille moyenne, complexion niaigre, teint olivátre, visage plutót 
oblong, cheveux trés noirs, veux noirs et brillants, front trés beau, petites moustaches 
noires, voix belle et sonore, grande volubilité de langue, port noble et énergique 
dans toute ses actions. 

23 Joachim L., Führer des linken (roten) Flügels der Emigration im Gegensatz 
zu der von Czartoryski beherrschten Partei der Weißen im Hotel Lambert. 

* Kasimir Alex. P. 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 625 


den im Gefängnis zu Darmstadt geendeten Dr. Weidig®. X. wurde unmittel- 
bar nach dem Frankfurter Putsch verhaftet. Aber er sah bei Rotteck einen 
polnischen Mitkämpfer aus der Mainstadt, der gestand, daß er und seine durch 
die Schweiz ziehenden Landsleute von Lelewel ausgeschickt waren. Daraus 
schloß X., daß bei den analogen Vorgängen in Polen die Emissäre nicht zu 
den eigentlichen Verschwörern, sondern zu einflußreichen Leuten von un- 
bedingter Verschwiegenheit sich durchschlichen, um sich zu orientieren. 
Sie summierten dann ihre Beobachtungen und hinterbrachten jedem Auf- 
traggeber, aber auch jedem Korrespondenten angenehme Nachrichten, so 
daß sich das falsche Bild ergab, es sei in Preußisch-Polen, Galizien und 
Rußland alles zum Aufstand bereit und es fehle nur an 50—60 ent- 
schlossenen Männern, um irgendwo anzufangen, damit das ganze Land in 
Flammen stehe. 

Einen Aufstand anzufachen war schon deshalb leicht, weil die Konspira- 
tion permanent war, d. h. alle Polen die Wiederherstellung ihres Vaterlandes 
wünschten. Im Inneren waren sie bei der scharfen Überwachung auf einen 
engen Kreis beschránkt, doch alle lokalen Verbindungen fanden ein gemein- 
schaftliches Zentrum im Ausland, wo die Fáden zusammenliefen. Daher 
wuBte man in Paris über den Gesamtzustand der polnischen Provinzen mehr 
als in diesen selbst. Vom Ausland konnte mithin am leichtesten das Signal 
zum Losbruch gegeben werden. Um an einem Punkt Unruhen zu stiften, 
brauchte man nur wenige Emissáre mit geringen Geldmitteln dorthin zu 
senden. Es war dabei gleichgiltig, ob hinter der demokratischen Partei diplo- 
matische Intriguen verborgen waren oder ob sie das Geld von anderer Seite 
erhielt, was in Paris, wo die Geheimverbindungen fast ganz Europas ihre 
Spitze hatten, unschwer möglich war“. Bei dieser Sachlage konnte eine anti- 
russisch gerichtete Regierung durch eine Lappalie zu einem entgegengesetzten 
System genötigt werden. 

Auch Preußen hatte aus dieser Erkenntnis seinen Kurs geändert. Die 
Erlaubnis, die man Flüchtlingen und Deserteurs zur Ansiedlung dicht an der 
Grenze gegeben hatte, war einem befreundeten Staat gegenüber doch zu 
gewagt; dadurch, daß es neuerdings diese Erlaubnis im Einklang mit der 
völkerrechtlichen Gewohnheit eingeschränkt hatte, wurde Rußland jeder 
Grund zur Beschwerde genommen, jedoch ohne daß man sich in Berlin die 
Hände für die Zukunft band. Auch lag es wohl kaum im Interesse Preußens, 
die Fäden des Komplotts vollständig zu verfolgen, selbst wenn die Möglich- 
keit dazu vorhanden war. Die Zahl der Schuldigen und das Odium waren zu 
groß. Jedoch mußte heilsamer Schrecken verbreitet werden. Dies war aber 
bereits durch die verhängten Maßnahmen gegen das Flüchtlingswesen ge- 
schehen. Zur Verteidigung in den Zeitungen erschien eg zweckmäßig, die 
Gefahr aufzubauschen, die Bewegung als eine von Paris aus eingeleitete 
Handlung aller polnischen Parteien hinzustellen und eine durchlaufende 


235 Gemeint ist der Rektor Friedr. Ludw. W. in Butzbach, der 1837 durch Selbst- 
mord im Gefängnis verschied. 

Die Richtigkeit dieser Schilderung wird z. B. durch den unsinnigen Kalischer 
Aufstandsversuch von 1833 belegt, aber ähnlich verhielt es sich auch mit der In- 
surrektion von 1846, vor allem für Russisch-Polen. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 40 


626 Manfred Laubert 


Verschwörung in allen polnischen Provinzen vorzutäuschen. Dabei konnte 
die Undankbarkeit der Bewohner von Preußisch-Polen betont werden, die 
die milden Absichten der Regierung mißbraucht hatten. Durch die Presse 
konnte man das Schwert über allen schwingen, ohne Haß zu erwecken. Die 
Behörden durften gar nicht zugeben, daß die Veranlassung zu ihren sonst 
lächerlich erscheinenden Abwehrmaßnahmen unbedeutend war. 

Aus dem Gebiet der revolutionären Taktik auf das der allgemeinen 
Politik führt ein Artikel Ostrowskis vom 28. Februar, den X. für die 
Presse zustutzen sollte. Hiernach bewiesen die neuerlichen Verfolgungen, 
Rußlands und Preußens strenge Maßregeln gegen die Emigranten, daß die 
Vernichtung der polnischen Nationalität noch unvollendet war. Dieses Volks- 
tum hatte die Berechnungen der ingenieusesten Tyrannei enttäuscht und 
war lebendiger und drohender denn je. Rußland hatte durch die Verfolgungen 
und dadurch, daß es Preußen zwang, ebenfalls gegen die Flüchtlinge zu wüten, 
das Geheimnis seiner Schwäche verraten und offenbart, „par où elle périra 
infailliblement“ . Friedrich Wilhelm IV. schien nach seiner Thron- 
besteigung durch den Friedensschluß mit der katholischen Kirche und die 
feierliche Ankündigung einer Aufrechterhaltung der polnischen Nationalität 
Preußens demütigende Rolle im Schlepptau Rußlands verändern zu wollen, 
das, anscheinend sein hochherziger Bundesgenosse, in Wahrheit sa protec- 
trice intéressée, sa dominatrite war. Es war ein tiefer, glücklicher Ge- 
danke, Preußen eine wirkliche politische Unabhängigkeit zu sichern und 
es von Wieser gefährlichen Freundschaft, diesem Protektorat zu erlösen, das 
eines Tages mit einer tatsächlichen Beherrschung, mit der Zergliederung und 
Vernichtung der Monarchie endigen konnte wie 1806. Die russische Politik 
war unter dem Schein größter Selbstlosigkeit treulos und macchiavellistisch 
gewesen. Der Zar trug 1815 viel zum Wiedererstarken Preußens bei, aber 
nur, um sich gegen Österreich einen dankbaren Verbündeten zu sichern und 
sich Einfluß in Deutschland zu verschaffen. Preußen täuschte sich gröblich 
in der Voraussetzung, Rußland wünsche seine Vergrößerung und werde es 
bei Kriegen und Verhandlungen unterstützen, um eine deutsche Vormacht 
erstehen zu lassen. Es bediente sich seiner nur, das war der eigentliche Sinn 
der beiderseitigen Allianz. Niemals konnte der Zar gestatten, daß Preußen 
stark genug wurde, um der russischen Hegemonie entgegenzutreten und seine 
Unabhängigkeit auf dauerhafte Grundlage zu stellen. 

Durch Begünstigung des Polentums hatte Friedrich Wilhelm IV. das 
unfehlbare Mittel gefunden, um seinen Staat eine wahrhafte Freiheit zu 
verschaffen und das russische Protektorat abzuschütteln, das sehr schlecht 
das Vasallentum verbarg. Polens Wiederherstellung mußte Preußen 
seine Unabhängigkeit zurückgeben und seine Tendenz befördern, 
eine wahrhaft deutsche Großmacht zu werden. Polen, weit entfernt, 
sich dieser Neigung entgegenzustemmen, hatte viele Gründe, um die Einigung 
der deutschen Staaten unter Preußens Führung herbeizusehnen, schon, um 
jeden fremden Einfluß, namentlich von russischer Seite, auszuschalten. 
Durch Preußen desorganisierte und beherrschte das Ausland die deutschen 
Fragen, denn desorganisieren hieß die Vernichtung, die Demembrierung 
vorbereiten. 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 627 


Die Wiederverfolgung der polnischen Emigranten deutete aber darauf 
hin, daß der Monarch sich unter Aufgabe seines glücklichen Gedankens aber- 
mals den Forderungen seines Alliierten beugen wollte. Das war ein ungeheurer, 
für Preußen der verhängnisvollste (funeste) Fehler. Nach der edelen An- 
wandlung (velleité) der Unabhängigkeit mußte die Knechtschaft doppelt 
drückend sein. Es war den Polen unverständlich, welche Motive Preußen 
für den Verzicht auf seine einsichtsvolle Politik und die Sympathie der Sar- 
maten haben konnte. Bei gegenseitiger Anlehnung hätte es die russische 
Schutzherrschaft abgewälzt und wieder Handlungsfreiheit gewonnen. Die 
polnische Insurrektion war nur für Rußland gefährlich und kein Polen war 
unklug genug, gegen Preußen feindselige Absichten zu hegen, sobald es auf- 
hörte, seine Nationalität und Kirche zu unterdrücken und sobald es den 
Willen ankündigte, sich von der Freundschaft oder vielmehr Herrschaft 
(domination) der Moskowiter zu befreien. 

Unleugbar bereitete sich in ganz Polen ein Aufstand vor, aber dieser war 
bestimmt nur gegen Rußland gerichtet. Preußens Nutzen entsprach es nicht, 
durch Ausrottung des Polentums dessen Vormacht zu fördern. Die Polen 
hegten den lebhaften Verdacht, daB das Attentat auf Nikolaus" und der 
daraus gefolgerte Plan einer Erhebung in PreuBen ein Werk der Petersburger 
Regierung war. Rußland drängte einige ahnunglose Polen, die nicht wuBten, 
daB sie die Todfeinde ihres Vaterlandes wurden, durch seine Agenten vorwärts, 
. wollte aber nur Preußen erschrecken und seine Unabhängigkeit ersticken, 
vor allem die Erneuerung des Auslieferungskartells erlangen. In Preußen 
gab es 50 000 Flüchtlinge, die nur Waffen und günstige Umstände zur Rück- 
kehr erwarteten, um in Polen eine gegen den Zaren allein gerichtete Insur- 
rektion zu entflammen. Dieses Druckmittel durfte man in Berlin nicht aus- 
liefern. 

Als Beweis dafür, daB die in PreuBen beabsichtigte Erhebung wahr- 
scheinlich eine von RuBland provozierte Erfindung war, genügte die Kenntnis 
der Tendenzen und Hoffnungen der Emigration. Sie besaB in ihrem Vaterland 
tiefe Wurzeln und Verzweigungen. Darum mußte Preußen zur Unterbindung 
ihrer Experimente hauptsächlich versuchen, auf sie einzuwirken. Ihre drei 
Parteien unter Czartoryski, Rybinski und Dwernicki wichen in ihren Mitteln 
ab, waren aber einig im Ziel der Unabhängigkeit Polens. Die von dem 
verfehmten Gurowski gegründete, wegen der moralischen Defekte ihrer 
Vertreter in MiBkredit gekommene demokratische Partei hatte weder in 
der Emigration noch in Polen eine Superiorität, war aber allein unklug 
genug, um dort Bewegungen zu versuchen. Sie entsandte ihre Provoka- 
teure , massqués par un patriotisme, par un dévouement les plus ardents“. 
Czartoryski hatte seine Rolle ausgespielt und amüsierte sich mit dem Arrange- 
ment üppiger Bälle in seinem herrlichen Palais. Verachtet von der Emigration, 
verabscheut im Vaterland, fürchtete er eine Insurrektion mehr als der Zar. 


„ Über das nie aufgeklärte Attentat in Posen am 19. Sept. 1843 vgl. Laubert 
in Forsch. z. Brandenb. u. Preuß. Gesch. 1922, S. 131ff. 

3$ Die Zahl ist innig. In d. Prov. Posen befanden sich nie wesentlich mehr 
als 3000 Überläufer, zumeist harmlose, dem Militärdienst entschlüpfte Elemente. 


40* 


628 Manfred Laubert 


Er erwartete Polens Wiederherstellung nach der traditionellen Politik seiner 
Familie nur von der Vorsehung und der Hochherzigkeit der europäischen 
Monarchen, ohne selbst die Mitwirkung des Kaisers von Rußland abzulehnen. 
Er wollte Polen retten, indem er es dem Zaren unterwarf und mußte darum 
jedem Aufstand fernbleiben. Rybinski, eine der ersten strategischen Kapazi- 
täten Europas (?), würde nie eine insurrektionelle Bewegung ohne die Ge- 
wißheit entscheidender Ergebnisse organisieren. Gegenwärtig würde sie aber 
zur unvermeidlichen Katastrophe führen und Rußland dienen, Preußen in 
dessen Arme treiben und in Polen die Kräfte brechen, die bloß in günstigen 
Augenblicken hervortreten durften. Unzweifelhaft war die jetzige Ver- 
schwórung von RuBland erfunden und von einigen aufrichtigen, aber unklaren 
Polen unterstützt. 

Europas Lage komplizierte sich mehr und mehr und allenthalben glaubte 
man aus dieser Verfahrenheit nur durch einen allgemeinen Krieg herausfinden 
zu können. Ihn mußten die Polen näher glauben als man dachte. Wenn sie 
aber verfrühte Teilvorstöße organisierten, die Mächte verschnupften, die 
nur den Augenblick abwarteten, um der russischen Vormacht ein Ende zu 
bereiten, schadeten sie sieh selbst und wurden das Werkzeug ihrer eigenen 
Zerstórung. Wenn PreuBen in seiner neuen Stellung beharrte, die polnischen 
Sympathien sammelte (ralliant) und innerhalb der gegebenen Umstände 
Polens Erneuerung begünstigte, konnte es das russische Joch zerbrechen 
und seine konforme VergróBerung fórdern, die es nicht durch Mithilfe bei der 
Zerstückelung Polens fand. Es würde Veranlassung zu lebhaftem Bedauern 
haben, wenn es seine Position aufgab, die am meisten zur Festigung seiner 
Unabhängigkeit beitrug und am gefährlichsten für Rußland war. Das Inter- 
esse Preußens und Deutschlands widerstrebte dessen Ziel, die Unterjochung 
der Polen zu vollenden und dadurch für die Deutschen wieder furchtbarer 
zu werden denn je. Allerdings verlangte auch die Unabhängigkeit Preußens 
heroische Anstrengungen, damit das Zarentum geschwächt wurde durch die 
Befreiung der polnischen Nationalität. — So weit Ostrowski, dessen Gedanken- 
gänge 1848 ein Arnim vollauf teilte. 

Um Einzelheiten über die Aussendung der Emissäre und vor allem ihre 
Namen zu erfahren, stellte X. seinem Gewährsmann eindringlich die unseligen 
Folgen eines solchen Tuns vor Augen, das viele Leute ihres Asyls in Preußen 
berauben und die Regierung wahrscheinlich wieder zu einer entgegengesetzten 
Politik nötigen würde. Das einzige Mittel, um die unentschuldbar heraus- 
geforderten Berliner Regierungsstellen zu besänftigen und von dem guten 
Willen der meisten Emigranten zu überzeugen, erblickte er in der Benennung 
der Schuldigen, die keine Schonung verdienten und von allen Parteien wie 
Seeräuber behandelt werden mußten. Nach anfänglichem Schwanken lehnte 
Ostrowski trotzdem jede weitere Auslassung ab, denn auch seine Partei hatte 
Verbindungen in Polen, durch deren Verrat sich die Demokraten rächen 
konnten. Aber während letztere sich durch ihr törichtes Beginnen ruinierten, 
war jener redlich und diskret, so daß man sich auf ihn verlassen konnte. Er 
hatte sich überzeugen lassen, daß Polen seine Wiederherstellung am ehesten 
von Preußen erwarten durfte und urteilte selbst: Wir können uns am leich- 
testen mit Preußen verständigen, denn von ihm brauchen wir bloß eine Million 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 629 


Menschen zu verlangen; für alles übrige genügt ein liberaler Handelsvertrag. 
Von Österreich müssen wir viel mehr fordern. — Er betrachtete als offenbar 
nur Posen, nicht Westpreußen als polnisches Gebiet und hielt mit Wilson an- 
statt des Korridors eine Sicherung freier Durchfuhr für ausreichend. 

Immerhin war die Verschwörung nicht so harmlos wie Ostrowski sie 
hinstellte. Ledochowski schonte sein Geld nicht, denn er war ein Verschwender. 
Alles in allem handelte es sich vielmehr um eine einzige revolutionäre Be- 
wegung durch ganz Europa. Die polnischen Parteien waren überhaupt nicht 
streng geschieden, und neben ihnen gab es noch militárische Abenteurer, 
denen jedes Unternehmen einleuchtete, wenn der Reiz des Geldes am Anfang 
lockte. 

Gurowski stand angeblich im Sold der französischen Regierung, obwohl 
sie wußte oder vermutete, daß er auch von Rußland bezahlt wurde, damit 
er ihr günstige Berichte nach der Newa schicken sollte. Doch noch andere 
Personen wurden von Frankreich bestochen (X. an Bunsen 1. März). 

X. zog aus diesen Unterlagen die allgemeine Folgerung, daß bei den 
Unruhen in Posen mit der demokratischen Partei als Ausgangspunkt un- 
mittelbar die ganze polnische Angelegenheit in Mitleidenschaft gezogen wurde, 
denn die Verschwörertätigkeit war allgemein. Als man 1834 Czartoryski in 
Paris für einen Verräter erklärte, wurden in Posen 800 begreiflicher Weise 
unveröffentlichte Unterschriften gesammelt. Rybinski war von den jetzigen 
Vorgängen genau unterrichtet. Seine Anhänger befolgten einesteils den 
Fiescoschen Grundsatz, nicht nachzugehen, wo andere anfingen, übten andern- 
teils aber Konnivenz in der stillen Hoffnung, es könne doch etwas erreicht 
werden, was sich zu einem allgemeinen Aufstand benutzen ließ. Deshalb 
mußte eine rücksichtslose Verfolgung zu einem für Preußen peinlichen Mon- 
streprozeB gegen den polnischen Patriotismus schlechthin führen. Vorteil- 
hafter erschien das Verlangen nach Garantien von polnischer Seite für eine 
Nichtwiederholung der eben für die gewährte Nachsicht bewiesenen Undank- 
barkeit. 

Die bisherige Politik der Güte reichte indessen nicht aus. Die Gegner 
sahen darin eine Falle zur Fusion der preußischen Polen mit den Deutschen 
und wirkten ihr deshalb nach allen Regeln ihrer Parteitaktik entgegen. Den 
anderen genügte die ihnen gewordenen Duldung nicht und sie wurde nur 
benutzt, um die Erneuerung Polens vorzubereiten. Es war also fraglich, ob 
man sich in Unterhandlungen mit Rybinski einlassen sollte nach dem Beispiel 
der vorangegangenen französischen Regierung. Selbst die Kammer nahm 
in Paris Verbindung mit ihm auf. Sie adressierte ihre Antworten an den 
Généralisme Prés. du Gouvernement polonais. Hieran hing auch die Frage 
der preußischen Politik Frankreich gegenüber, das zur Wiederherstellung 
Polens mit Österreich gegen Rußland gehen mußte. Man versicherte bestimmt, 
daß Louis Philippe einen solchen Antrag gestellt hatte, ohne aus leicht be- 
greiflichen Gründen Eingang zu finden. Aber selbst die katholische Fraktion 
begann zu fühlen, daß wenn Preußen mit Frankreich zu einer Einigung kam, 
es England mit sich ziehen würde und Österreich dann folgen müsse. 

Krasinski hatte erklärt (Brief an B. 4. März), je mehr er an die Ereig- 
nisse in Posen denke, umso trauriger werde er wegen ihrer unglücklichen 


630 Manfred Laubert 


Folgen. Mehrere dort geduldete Emigranten hatten beim Verlassen von 
England und Frankreich auf die ihnen hier von der Regierung gewährte 
Unterstützung verzichtet. Sie besaßen einige Mittel, um in Posen zu leben, 
aber bei ihrer Rückverweisung waren sie ganz entblöst. An Bällen und Mee- 
tings für sie würde es nicht fehlen, aber welche Kommentare würde es darüber 
in den Zeitungen, besonders den Times geben! Obendrein litten viele für die 
Torheit anderer ohne Anteil daran. Darum wäre es gut, wenn Preußen denen 
eine Unterstützung bewilligte, die mittellos von Posen sich in das Innere des 
Landes zurückziehen mußten. Die Ausgabe war nicht groß und ohne Zweifel 
nur provisorisch, wenn sich ihre Schuldlosigkeit herausstellte. Auf diese 
Weise vermied man eine Vergiftung der Gemüter und milderte wahrhafte 
Leiden der Unschuldigen. Eine Zeitungserklärung konnte parallel laufen. 
Selbst die russische Regierung, deren System ganz auf der materiellen Kraft 
basierte, verachtete solche Wege nicht. Das polnische Journal in Petersburg 
war sehr gut redigiert und machte manchmal starken Eindruck, sogar auf die 
Emigranten. Viel mehr ließ sich ausrichten mit einem Organ in Preußen, 
dessen System auf der moralischen Gewalt beruhte. Auch einige Broschüren 
über die position r&ciproque zwischen Regierung und Polentum konnten 
von wesentlichem Nutzen sein. Selbst die Gemäßigten fanden die Verord- 
nungen gegen die in Posen ansässigen Polen „sehr hart" und unpolitisch. 
Es mußte durchaus etwas geschehen, um die Meinung des Polentums in 
Preußen zu leiten, denn es war völlig ziellos (dérouté) und es war in dieser 
Hinsicht tatsächlich nichts unternommen. Es war aber viel zu erreichen, um 
die Geister zu beruhigen und selbst zu versóhnen, indem man die Frage 
gerecht darstellte sous un véritable jour. 

Bunsen sandte geschäftseifrig alle diese Schriftstücke am 7. März 
an Bülow. Man konnte danach in X. den Mann von Talent zur Beobachtung 
und Darstellung nicht verkennen, dessen Angaben in der Hauptsache von 
Krasinski bestátigt wurden. Auch war er, wie Carlyle und alle seine Bekannten 
versicherten, kein feiler Spion; Bunsen hatte ihm 20 Pfund gegeben, wofür 
er einen Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung versprach. Bunsen 
besaß zu viele Unterpfänder gegen ihn als daB er es nicht für vorteilhaft 
erachten sollte, treue Dienste zu leisten. Die russische Regierung benutzte 
einen verunglückten österreichischen Philosophen und Naturforscher Lhotzky, 
den Bunsen abgewiesen hatte. 

Bülow hielt nunmehr dem König Vortrag, der die Skripturen Arnim 
mitzuteilen befahl. Sofern dieser darin neue Tatsachen oder Anhaltspunkte 
für das Ermittelungsverfahren über die Posener Unruhen fand, erwartete 
der Monarch Anzeige. Die Gesandtschaften in Paris und anderwärts hatten 
die Materialien erbeten, um sich ihrer mit Vorsicht zur Beseitigung des Ein- 
drucks zu bedienen, den preußenfeindliche Artikel der Auslandspresse über 
die Posener Vorgänge hervorgerufen hatten. 

Arnim sah aber von einem Immediatvortrag ab. Er beurteilte die 
Dinge sehr gelassen. Bunsens Bemühungen waren dankenswert, hatten 
aber keine neuen Tatsachen zutage gefördert. Allerdings lieferten die Be- 
richte ein unerfreuliches Bild von dem Gebahren der polnischen Flücht- 
linge (an Bülow 28. März). 


Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 631 


Am gleichen Tage schickte der Graf die Stücke dem Posener Ober- 
präsidenten v. Beurmann zur umgehenden Äußerung darüber, ob und 
welche Fakta für die Ermittelungen von preußischer Seite darin zu finden 
waren. Die Absendung der 4 Emissäre stimmte mit den Anzeigen des Pariser 
Vertreters überein, so daß Beurmann sicherlich bereits die nötigen Anord- 
nungen getroffen hatte, um ihnen auf die Spur zu kommen. Nützlich er- 
schien auch eine Beobachtung der von Bunsen namhaft gemachten Personen, 
die sich in neuerer Zeit mit Londoner Pässen nach dem Posenschen begeben 
hatten. Endlich wurde Beurmann anheimgestellt, sich nach Krasinskis Rat 
der Presse zu bedienen, um durch geeignete, nicht amtliche Artikel Einfluß 
auf die Stimmung in der Provinz zu gewinnen. 

Beurmann antwortete am 4. April verbindlich, die Mitteilungen seien 
interessant. Wegen der erwarteten Emissäre war der Polizeidirektor Frhr. 
v. Minutoli instruiert worden. Unter den mit Gesandtschaftspässen ver- 
sehenen Personen verdienten Graf Bninski und Student Wladyslaw v. Lacki, 
Sohn Antons v. L. auf Posodowo (Kr. Buk) und Neffe Emilie v. Sczanieckas??, 
Aufmerksamkeit. Diese hatte nach Frau v. Lackas Tod die Kinder erzogen 
und wenn sich ihr Einfluß auch hauptsächlich auf die Töchter erstreckt 
hatte, so war sie doch wohl nicht ohne Eindruck auf die Söhne geblieben. 
Bninski-Samostrzel stand im Verdacht, Frl. v. Sezanieckas Korrespondenz 
mit der Emigration zu befördern, was durch die fast gleichzeitige Paßerteilung 
für ihn und Lacki noch wahrscheinlicher gemacht wurde. Bei dieser Ge- 
legenheit erbat Beurmann eine Anweisung an die Gesandtschaften in London 
und Paris, jede Paßausstellung für die Provinz möglichst schnell nach Posen 
anzuzeigen, da jetzt solche Mitteilungen in der Regel zu spät eintrafen. 
Entsprechend waren beide Regierungen beauftragt worden, den Ober- 
prásidenten von jeder PaBgenehmigung nach England und Frankreich in 
Kenntnis zu setzen. Bei Durchführung beider MaDnahmen lieB sich ME 
ersprieBliche Kontrolle hoffen. 

Von bleibendem Wert sind bei diesen Diskussionen die Gedanken, die 
auf Neubelebung Polens zur Einschnürung RuBlands abzielten. Stockmar 
hat sie in einem Memorandum vom März 1854 angedeutet: Preußen — ein 
unglückliches Land! Der König steht unter russischer Botmäßigkeit, teils 
aus Furcht vor Rußland, teils aus vernunftwidriger Sentimentalität für 
seinen Kaiser, den Repräsentanten der Heiligen Allianz. ... Die Hofpartei 
ist teils aus Gewohnheit, teils aus Interesse Rußland servil ergeben, betet 
den Kaiser an als Schutzherrn der Reaktion, sieht in seiner Schwächung 
den eigenen Untergang. 

Noch weit deutlicher ist das Echo in Bunsens Schrift. Hier wird als 
Zweck des bevorstehenden Kampfes die Zurückdrängung Rußlands auf 
seine natürlichen Grenzen gepredigt, denn „Rußland verhehlte nicht, daß 
es eine seit einem Jahrhundert beanspruchte und angebahnte Schutzmacht- 
stellung nur staatsrechtlich anerkannt wissen wollte“. Nun aber „handelte 


* Bekannte polnische Patriotin, die 1831 selbst nach Polen eilte zur Mithilfe 
am Aufstand. W. v. Lacki wurde 1846 verhaftet, aber merkwürdigerweise trotz 
schwerer Belastung freigesprochen. Dagegen erhielt sein Schwager Konstantin 
v. Sezaniecki, 8 Jahre Festung neben Verlust von Adel und Nationalkokarde. 


632 Manfred Laubert: Bunsens Beziehungen zur poln. Emigration usw. 


es sich darum, das zu tun, was Friedrich der Große, Pitt, ja, selbst Napoleon 
nicht hatten tun könenn, Rußlands Übermacht zu brechen“. „Alle Prinzipien, 
auf welchen die moralische Macht Preußens ruht, werden von Rußland mit 
Notwendigkeit erdrückt oder gelähmt. Rußland kann nur eine Scheinfreiheit 
in Deutschland dulden und muß den Protestantismus zurückdrängen, wo 
er . . eine Weltstellung sich zu erwerben im Begriff steht. Dies trifft Preußen 
im innersten Kern seiner Macht". „Aber im Hintergrund steht als politische 
Möglichkeit die Sünde des 18., die Pestbeule des 19. Jahrhunderts — Polen. 
Ist es möglich, Polen wiederherzustellen, so muß es in einem so erhabenen 
Augenblicke der Weltgeschichte geschehen.‘ 

Diese Sentenzen zeigen, wie stark Bunsen für Krasinskis Programm 
gewonnen worden war und wie bereitwillig er auf die Sirenenklänge der 
Emigration lauschte, nicht als preußischer Staatsmann, sondern als liberaler 
Doktrinär: Nur mit polnischer Hilfe kann sich Preußen aus der Knecht- 
schaft der Moskowiter befreien. Durch Wiederherstellung Polens muß es 
die öffentliche Meinung Deutschlands für dessen Einigung unter preußischer 
Spitze gewinnen, das ist der Kernpunkt des Problems, um den sich der 
uralte Gedanke an den polnischen Pufferstaat gruppiert. 

Dabei wird völlig übersehen, daß Polen niemals ein Schutzwall gegen 
eben jenes Moskowitertum war und daB seine Bundesgenossenschaft nur 
erlangt werden konnte durch Aufgabe der Ostmark, womöglich bis an die 
Oder, um den Preis der Schaffung einer Lage, wie die Gegenwart sie bietet, 
gesteigert bis zu dem Dmowskischen Programm des österreichischen An- 
schlusses gegen Preisgabe OstpreuBens. Deshalb sollte Preußen vorerst 
den Polen die Kastanien aus dem Feuer holen, wie es mit feinem politischem 
Instinkt die Emigranten von 1831 schon vorausgeahnt haben, wenn sie die 
Erneuerung ihres Vaterlandes am ehesten von deutscher Seite erwarteten. 
Auch das hat PreuBen-Deutschland im Weltkrieg getan und dabei erfahren, 
wie unsinnig Bunsens Kombinationen waren und wie recht Bismarck mit 


ihrer Ablehnung hatte. 
Manfred Laubert. 


Kritiken 633 


Kritiken. 


International Bibliography o! Historical Sciences. First Year: 1926. Ed.by the 
International Committee of Historical Sciences. Berlin (Walter de 
Gruyter) 1930. GroB-Oktav. LXVII, 366 S. RÆ 12,60. 

Die internationale Bibliographie der Geschichtswissenschaft, deren erster Jahr- 
gang (zur Literatur von 1926) hier angezeigt wird, bildet eine wichtige und im Hin- 
blick auf das Gesamtgebiet der Weltgeschichte unerläßliche Ergänzung zu den für 
jeden Geschichtsbeflissenen unentbehrlichen Jahresberichten für deutscheGeschichte, 
die A. Brackmann und F. Hartung seit 1927 (K. F. Koehler, Leipzig) herausgeben 
(1. Jg. = Berichtsjahr 1925), da in diesem neuen deutschen Unternehmen im Gegen- 
satz zu den alten Jastrowschen Jahresberichten auf eine Einbeziehung auch der 
Literatur zur Geschichte des Auslandes von vornherein verzichtet worden ist. 

Der Plan zu dem vorliegenden Annuaire international de Bibliographie historique 
wurde 1926 auf der ersten Tagung des Comité international zu Genf gefaßt und durch 
eine Spende der Rockefeller-Memorial-Stiftung für die ersten drei Bände finanziell 
gesichert. Über den Gang der umfänglichen Vorbereitungen und über die Richtlinien 
für den Ausbau des Ganzen berichtet zusammenfassend die Vorrede von R. Holtz- 
mann, der als Nachfolger H. Reincke-Blochs (}199) zum Vorsitzenden der 
Bibliographischen Kommission bestellt worden ist. Über die Einzelheiten in den 
Verhandlungen informiert der I. Bd. des Bulletin du Comité, von dem zur Zeit 
bereits der III. Bd. im Erscheinen ist. 

Schwierigkeiten bereitete vor allem die Einteilung des Stoffes, bei der man sich 
schließlich für eine sachliche Gliederung statt einer geographischen Gruppierung 
entschied, und die Abgrenzung des Materials gegen die sog. nationalen Bibliographien, 
wie z. B. gegen die oben zitierten Jahresberichte für deutsche Geschichte. Man hat 
sich auf den einleuchtenden, aber in praxi wohl nicht immer leicht durchzuführenden 
Grundsatz geeinigt, im allgemeinen nur solche Schriften zu verzeichnen, die für 
mehrere Lánder von Bedeutung sind, und daneben den Ausbau der nationalen 
Bibliographien in allen Ländern tunlichst zu fördern (vgl. Bulletin I, 217ff.; 457ff.). 
Infolgedessen bleiben — exceptis excipiendis — grundsätzlich solche Schriften aus- 
geschlossen, die nur ein einzelnes Land oder gar nur Provinzen und einzelne Städte 
betreffen, selbst wenn es sich um Darstellungen von hohem wisssenschaftlichen 
Werte handelt. Was in das Internationale Jahrbuch aufgenommen wird, sollen viel- 
mehr ausschließlich Arbeiten sein, die auf die Beziehungen der Staaten und Völker 
untereinander Bezug haben und überdies einen wirklichen Fortschritt in der ge- 
schichtlichen Erkenntnis bedeuten. Auch aus den weiten Gebieten der Kirchen-, 
Literatur-, Rechts-, Wirtschafts- oder Kunstgeschichte soll nur dasjenige ausgewählt 
werden, was für die allgemeine Kulturentwicklung der Völker einfluBreich und ent- 


634 Kritiken 


scheidend war, wie andrerseits aus naheliegenden Gründen in der neuesten Zeit auch 
die rein politischen Veröffentlichungen ausgeschlossen bleiben. 

Die nach diesen Grundsätzen bearbeitete Titelbibliographie ist nach folgenden 
Abteilungen gegliedert: Hilfswissenschaften (S. 1ff.), Handbücher, Allgemeine Werke 
(18fl.); Vor- und Frühgeschichte (67ff.); Die Völker des alten Orients (76ff.); 
Griechische Geschichte (89ff.); Römische Geschichte (98ff.); Geschichte der alten 
Kirche bis auf Gregor d. Gr. (110ff.); Byzantinische Geschichte seit Justinian (116ff.) ; 
Geschichte des Mittelalters (120ff.); Neuzeit: Allgemeine Werke (163ff.), deren 
Religionsgeschichte (179ff.), deren Bildungsgeschichte (191ff.), deren Wirtschafts- 
und Sozialgeschichte (217ff.), deren Rechts- und Verfassungsgeschichte (234ff.); 
Geschichte der Beziehungen zwischen den modernen Staaten (244ff.); Asien (288ff.) ; 
Afrika von der Urzeit bis zur Kolonisation (294ff.); Amerika desgleichen (296ff.). 
Besondere Vorzüge sind dabei die reiche Beigabe von Besprechungsnachweisen zu 
den meisten der aufgeführten 4908 Nummern und die beiden angehüngten Register, 
ein Autoren- und Personenregister und ein geographisches. Voraus geht ein 37 Seiten 
umspannendes Verzeichnis der exzerpierten Zeitschriften, das das RiesenmaB der 
geleisteten Arbeiten am besten verdeutlichen kann. 

Überblickt man diese Inhaltsangabe, so erübrigt sich jedes Wort des Lobes für 
diesen Markstein internationalen Gelehrtenfleißes. Gerade wer selbst einmal mit 
Hand angelegt hat an der unsäglich mühevollen, vielfach tief verachteten und doch 
im Großbetriebe moderner Wissenschaft für eine technische Materialbeherrschung 
ungeheuer wichtigen bibliographischen Sammelarbeit, sei es in den Jahresberichten 
für deutsche Geschichte, sei es bei der Erneuerung unseres Dahlmann- Waitz, der 
wird ein Werk, wie diesen Band des Internationalen Jahrbuches, nur mit Bewunde- 
rung für den Riesenaufwand intellektueller Energie und mit Dank für die entsagungs- 
volle Arbeitsleistung seiner Mitarbeiter begrüßen und benützen. Wenn ich daher 
einige Kleinigkeiten nicht unerwähnt lassen will, die wie ein Tadel klingen könnten, 
so sind es in Wahrheit nur positiv gemeinte Worte einer Kritik, um die der Heraus- 
geber ausdrücklich gebeten hat. 

Auf einen grundsätzlichen Mangel hat die Redaktion bereits selber den Finger 
gelegt, wenn sie beklagt, daß ‚eine völlige Einheitlichkeit bei den Abkürzungen der 
Zeitschriftentitel" in diesem ersten Band der Bibliographie noch nicht zu erreichen 
war, und statt dessen auf eine bevorstehende internationale Übereinkunft über die 
Abkürzungen vertróstet. Jedes Zaudern in diesem Punkte bedeutet m. E. eine 
bedauerliche Erhöhung der Druckkosten, für die der Redaktion natürlich kein Vor- 
wurf gemacht werden kann, die aber doch der AuDenstehende nur schwer begreift. 
Denn wenn überhaupt eine Instanz, so schiene gerade das neutrale Comité inter- 
national des Sciences historiques am ehesten in der Lage zu sein, in diesem schon seit 
Jahrzehnten beklagten Durcheinander endlich einmal Wandel zu schaffen: eine 
Abhilfe, die in vielem (Dahlmann- Waitz!) schon jetzt zu spät kommt. Ein weiterer 
drucktechnischer Wunsch, dessen Erfüllung vielleicht ein rascheres Überfliegen der 
Kolumnen ermóglicht und damit die Benutzung nicht unwesentlich erleichtern 
könnte, wäre die Verwendung von Fettdruck und Petitsatz, jenen statt der Groß- 
buchstaben in der Wiedergabe der Autorennamen zu Ánfang der einzelnen Nummern, 
diesen zur besseren Abhebung der beigefügten Rezensionen von den unmittelbaren 
bibliographischen Angaben. Ferner wáre in dem Verzeichnis der Zeitschriften 
gelegentlich eine Vervollstándigung der Untertitel zu begrüBen, so etwa p. XLX bei 


Kritiken 635 


der Historischen Vierteljahrschrift oder p. LXI beim Speculum. Dazu käme höch- 
stens noch die Erwähnung einiger Druckfehler: p. XIII Bibliotek in dem Lemma 
„Deutschland‘‘, p. XIX Paläolitik und Mesolitik, p. XXI Epigraphie. Im übrigen 
verdienen der sorgfältige Druck und noch mehr seine gewissenhafte Überwachung die 
höchste Anerkennung. 

Leipzig. W. Stach. 


Wilhelm Weinberger, Wegweiser durch die Sammlungen altphilologischer 
Handschriften. Wien u. Leipzig 1930. 136 S. (— Akad. d. Wissensch. in 
Wien, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 209, Abh. 4.) 

Weinbergers bibliographische Arbeiten auf dem Gebiet der Handschriftenkunde 
sind zu bekannt und geschätzt, als daB man nicht eine neue dieser Art unbesehen 
mit Freuden begrüßte, wenn nur der Titel verspricht, daB man ein wertvolles Hilfs- 
mittel zu erwarten hat. Wer würde dies nicht bei einer Arbeit tun, welche die Samm- 
lungen altphilologischer Handschriften mit bibliographischen Nachweisen verzeichnen 
will? Überzeugt doch ein kurzer Blick in das stattliche Heft, daB gewesene und be- 
stehende, öffentliche und private Bibliotheken des In- und Auslandes in gleicher 
Weise berücksichtigt sind! Seit dem Erscheinen des Catalogus Catalogorum, den 
Weinberger im Jahr 1902 im Auftrag der Wiener Akademie als Hilfsmittel für ihre 
Kirchenvüterausgaben bearbeitet hat, sind beinahe 30 Jahre vergangen; dies Men- 
schenalter bringt notwendig vielerlei Bereicherung, sei es durch Erscheinen neuer 
Inventare, sei es durch neue Kenntnisse des mit dem Fortschritt der Fachwissenschaft 
stets mit der Materie vertrauter gewordenen Verfassers. Und deshalb wáre diese 
neue Arbeit nötig, selbst wenn nicht inzwischen seine Beiträge zur Handschriften- 
kunde (1908 und 1909 in den Wiener Sitzungsberichten), seine Berichte in den 
Jahresberichten über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft ge- 
kommen wären, ja selbst wenn sich die neueste Bibliographie nicht auf ein anderes 
Gebiet spezialisierte, als die erste. Denn es ist doch, wie sich in der weitgehenden 
Gleichheit der behandelten Bibliotheken und ihrer Literatur zeigt, kein groBer Unter- 
schied zwischen den Bibliotheken, die uns Handschriften der Kirchenschriftsteller, 
und solchen, die uns Klassikerhandschriften überliefert haben. Man bedauert deshalb 
beim Erscheinen einer solchen Teilarbeit, daß noch niemand den Mut gefunden hat 
(und warum sollte nicht Weinberger der Mann dazu sein ?) die Literatur der Samm- 
lungen mittelalterlicher Handschriften überhaupt in der Weise wie hier diese Sonder- 
gebiete (nämlich mit alphabetischen Nachweisen der Provenienzen) zu behandeln. 
Man kann noch einen Schritt weitergehen und den Wunsch aussprechen, es möge 
jemand mit dem durch Weinbergers und vieler anderer weitgehenden Vorarbeiten 
bereitgestellten Material wenigstens einmal den Versuch machen, Stammbäume und 
Ahnentafeln der Handschriftenwanderung aus den alten, bzw. der Wanderung in 
die neuen Bibliotheken aufzustellen zum Nutzen aller Forscher, denen auch die 
Geschichte der Handschriften etwas zu sagen hat. Weitgehende Ansätze dazu hat 
Weinbergers neue Arbeit durch dıe Verweisungen auf die in bestehende Bibliotheken 
übernommenen Handschriftenbestände, bzw. auf die Orte. nach denen die alten 
Bibliotheken zerstreut worden sind. Aber diese Hinweise sind weder einheitlich noch 
vollständig. Und vor allem ist es für den nicht nur auf altphilologische Handschriften 
ausgehenden Gelehrten nicht stets leicht, zu entscheiden, ob die Hinweise Wein- 
bergers nur für solche Handschriften gelten, ob er weiteres für andere Gebiete ver- 


222: mA KEEN CUI ⅛ mum ß 8 il ar u ̃ nn, EE O N 


636 Kritiken 


schweigt, kurz, wie er die Auswahl der genannten Bibliotheksorte trifft. Wenn z. B. 
für die Universitätsbibliothek Leipzig der Sinai als Herkunftsort angegeben ist, so 
kann es sich kaum um andere als Tischendorfsche Handschriften handeln (vorzüglich 
den Codex Sinaiticus und andere nicht philologische Texte!); Tischendorf selbst ist 
nicht unter den Vorbesitzern genannt; man findet ihn dagegen im Alphabet der 
Bibliotheken, und zwar lediglich mit dem Hinweis auf die Septuaginta-Handschrift. 
Auch anderes nimmt bei den Leipziger Provenienz-Angaben Wunder: Pithou, 
de Rosny sind einer einzigen Haenelhandschrift wegen für Leipzig erwähnt; das 
Collegium Claromontanum, das mehrere Handschriften geliefert hat, nicht, auch 
nicht beim Nachweis des Verbleibs der Claromontani (wo auch der Hinweis auf 
Meermann fehlt, während er für Leipzig wiederum angegeben ist). Erfurt (Kartause 
und Benediktiner), Pirna, drei Leipziger Klöster, Petersberg bei Halle, Eichstätt, 
Jena, Salza, Eisenach konnten mit gleichem Recht wie Chemnitz, Pegau u.a. als 
Leipziger Provenienzen angegeben werden, wenn auch, wie in vielen anderen Fällen, 
gedruckte Kataloge noch nicht restlos darüber Auskunft geben, ob altphilologische 
Handschriften dabei mitbetroffen sind. Grünhain jedoch, das bei Leipzig genannt ist, 
wäre besser bei Jena erwähnt worden; entsprechend ist auch der Hinweis zu ändern. 
Es wäre natürlich zuviel verlangt, wollte man auch nur alle wichtigeren Provenienzen 
hier verzeichnet finden — auch das wäre eine der notwendigen großen Vorarbeiten 
für die Handschriftenkunde der Zukunft —; aber es überrascht, wenn man keine 
rechte Einheitlichkeit, auch im Äußern, findet. Nicht nur ist die Regel, nicht mehr 
bestehende Bibliotheken durch kursiven Druck anzudeuten, nicht völlig durch- 
geführt, auch von der regulären Verweisung von der vergangenen auf die bestehende 
Bibliothek gibt es Ausnahmen. Selten ist bei den Klosterbibliotheken der Orden 
angegeben; eine Ausnahme ist die Kartause Buchsheim, meist bekannt als Buxheim 
(und in dieser Form mit einem abweichenden Artikel bedacht); die erstere Form ist 
in Sperr-, die zweite in Kursivdruck; unfehlbar ist aber die gleiche Bibliothek . 
gemeint, deren nicht sehr seltenen Katalog (er steht z. B. in München im Hand- 
schriftensaal) Weinberger nicht gesehen hat (Graf Waldbett-Bassenheim auf 5.43 ist 
jedoch nur Druckfehler für Waldbott, wie S. 129 lehrt); denn der Hinweis auf Gustav 
von Emichs 1906 in Wien versteigerte Sammlung (wo Buchsbaum offenbar für 
Buchsheim steht) läßt schließen, daß es sich um die heute noch für den bibliophilen 
Markt so ergiebige Buxheimer Bibliothek wirklich handelt, deren weite Zerstreuung 
mit den Angaben der heutigen Heimatbibliotheken S. 43 nur schwach angedeutet 
ist. Doch kann, wie gesagt, nicht verlangt werden, daB man alle durch die bisherige 
Literatur bekannten Handschriftenwanderungen in dieser Übersicht beachtet findet ; 
zudem muß sich der Erforscher von Handschriften mittelalterlicher Schriftsteller 
stets vor Augen halten, daB die Handschriften der klassischen Autoren wenn nicht 
allein berücksichtigt, so doch Hauptgegenstand dieser Zusammenstellung sind, die 
außerdem ganz offensichtlich das Bestreben hat, so kurz als möglich zu sein. Man 
kennt vor allem aus den „Beiträgen zur Handschriftenkunde" Weinbergers raffi- 
nierte Kürzungsmethoden, die nahe an eine wissenschaftliche Geheimsprache heran- 
reichen. Bedenkt man aber, wie vielen Wissenszweigen derartige bibliographische 
Nachweisungen von Wert sind, so versteht man die Forderung, daß keine Wissen- 
schaft so sehr auf leichte Verständlichkeit ihrer Kürzungen achten muß, als gerade 
die bibliographische. Die geringe Raum- und Schreibersparnis muß oft mit lang- 
wierigem Suchen durch den Leser und mancherlei Zeitaufwand des Bibliothekars 


Kritiken 637 


bezahlt werden. Ist solche Arbeit rationell? So ist z. B. die Kürzung der Jamesschen 
Kataloge für die Cambridger Colleges wenig glücklich; die Aufzählung des Berliner 
Handschriftenkatalogs (Nr. 318) ist in ihrer Ungleichmäßigkeit nicht voll verständlich 
(auch in der auffallend ausführlichen Anmerkung). Husungs, von Weinberger nicht 
gesehene, „Bucheinbände aus der preußischen Staatsbibliothek‘ sind wohl in einer 
derartig eng begrenzten Bibliographie falsch am Platz. Wo jeder Doppelpunkt, 
jeder Stern seine Bedeutung hat, vermutet man auch in den eckigen Klammern einen 
besonderen Sinn; es hat aber nichts zu bedeuten. Typographische Unregelmäßig- 
keiten stören an manchen Stellen, wenn Klammern falsch stehen, Artikel falsch ins 
Alphabet gereiht sind (Matthaei), Absätze nicht richtig eingehalten sind (Fabri 
de Peiresc); ja schon die kleinen Abkürzungsauflösungen im allgemeinen Teil sind 
leicht zu übersehen und wären glücklicher für sich gestellt. Gercken heißt S. 30 
Gercke, Sondheim S. 38 Sandheim. Die Forderung bibliographischer Genauigkeit 
wäre noch weiter auszudehnen; solange bibliographische Hilfswerke die Regeln der 
Bibliographie nicht beachten, wird das Unwesen der Zitiertitel nicht aufhören. Man 
hätte doch erwarten dürfen, daß das Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche 
Geschichtskunde richtig zitiert wird, wenn es schon nach anderen Regeln gekürzt 
wird, als denen, die sich jetzt international durchzusetzen beginnen. Weniger dem 
Verfasser als der Not der Bibliotheken und der Wissenschaft muß es zur Last gelegt 
werden, daß viele wichtige Werke, die er zitiert, von ihm nicht eingesehen werden 
konnten. Ganz ungenau ist er bei einigen Auktionskatalogen, deren bibliographisch 
wichtigster Bestandteil allerdings der Besitzername ist; aber es genügt nicht, nur 
Katalog der Sammlung Lempertz zu schreiben, wenn deren einige Dutzend erschienen 
sind. Weinberger ist mit den Schicksalen auch der kleineren und privaten Biblio- 
theken vertraut wie nicht leicht jemand, er kennt trotz der vielen Veränderungen 
den heutigen Stand auch in entlegeneren Ländern, ja ist mit seinem Wissen der Ent- 
wicklung voraus (z. B. wenn von Prag, Lobkowitz berichtet wird, „jüngst der Uni- 
versitätsbibliothek einverleibt“). Deshalb kann es für den zukünftigen Forscher, der 
mitaltphilologischen Handschriften zu tun hat, keinen wichtigeren Führer geben, für 
den Handschriftenforscher überhaupt keine anregendere Übersicht, als diese Arbeit 
Weinbergers, mit der er den Kreis seiner in den „Beiträgen“ eröffneten Forschungen 
schließt, den Hütern der Handschriftenschätze aller Bibliotheken ein Ansporn, mit 
allen Kräften die einheitliche Erschließung der Bestände in Katalogen zu fördern. 
Leipzig. Heinrich Schreiber. 


Leopold Wenger, Der heutige Stand der römischen Rechtswissenschaft. 
Erreichtes und Erstrebtes. München (C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung) 
1927. X, 113 S. Geh. 5,80 RM. 

Durch leidige Zufälligkeiten erheblich verspätet, soll hier die Anzeige des 11. Heftes 
der „Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechts- 
geschichte" (hrsg. von L. Wenger u. W. Otto) nachgeholt werden, in deren Reihe 
als 9. Heft die bahnbrechende Untersuchung von E. Fr. Bruck über „Totenteil und 
Seelgerät im griechischen Recht" (ebd. 1926) und als 10. Heft die Studie von 
A. Stein: „Der römische Ritterstand" (ebd. 1927) vorangegangen waren: jene um 
der Fülle der beigebrachten Parallelen willen auch für den Deutschrechtler und 
Germanisten aufschluBreich, diese vor allem für den sozialgeschichtlich interes- 
sierten Historiker des Rómischen Reiches unentbehrlich. 


638 Kritiken 


Bei der Veröffentlichung Wengers. die von den drei genannten Heften die 
allgemeinste Beachtung beanspruchen darf, handelt es sich um den stofflich er- 
weiterten und durch eine reichhaltige Literaturübersicht vermehrten Abdruck der 
Wiener Antrittsvorlesung eines der anerkannten Führer auf dem Gebiete der roma- 
nistischen Rechtswissenschaft. Man kann den Inhalt vielleicht am besten als einen 
-Forschungsbericht von programmatischem Zuschnitt charakterisieren, der in der 
souveränen Stoffbeherrschung und in der Weite des Blickfeldes an die im gleichen 
Verlag erschienene (1925) , Kulturgeschichte des Altertums" von Walter Otto 
gemahnt. Dabei macht der Verf. trotz seiner straff gezügelten methodischen Haltung 
nirgends an den äußeren Grenzen der eigenen Fachwissenschaft Halt, sondern sucht 
auch das speziellste Problem in seinen Bezügen auf die allgemein-geschichtliche Er- 
forschung des abendländischen Kulturkreises zu packen: m. E. ein heutzutage 
dringend gebotener Weg, die Nachteile und Schäden der geisteswissenschaftlichen 
Arbeitsteilung allmählich zu überwinden, die uns als die Erben eines positivistischen 
Zeitalters noch immer nur zu sehr belasten und hemmen. 

Der Fülle von Anregungen und Forschungsimpulsen, die der Verf. von dieser 
hohen Warte aus gibt, im einzelnen gerecht zu werden, scheint mir in dem engen 
Rahmen einer kurzen Besprechung unmöglich. Nur einige seiner Gesichtspunkte 
will ich herausgreifen. 

Ausgehend von dem Postulat einer Erweiterung der römischen Rechtsge- 
schichte zur antiken überhaupt, worunter er eine „vom Standpunkt des Juristen aus 
gesehene, Staat und Recht in den Mittelpunkt stellende Kulturgeschichte des 
Altertums‘‘ verstanden haben will (S. 5), erörtert W. zunächst den Unterschied 
von rechtsdogmatischer und rechtsgeschichtlicher Betrachtungsweise und 
würdigt dabei das spezifisch Geschichtswissenschaftliche an Methode und Ziel ge- 
schichtlichen Forschens mit soviel Wärme und Verständnis, wie man das von juri- 
stischer Seite kaum gewöhnt ist, da man anderweit eher geneigt scheint, den Gegen- 
satz von historischer und juristischer Methode zuungunsten jener soviel als möglich 
zu verschroffen. Jedenfalls wird man W.s Werben für eine ersprießliche Zusammen- 
arbeit von Rechts- und Geschichtswissenschaft auf philologischer Grundlage, auf 
deren Ineinandergreifen der Grundton des ganzen Buches abgestimmt ist, vom 
Standpunkt des Historikers aus nur beipflichten können und sich der Perspektiven 
freuen, die ein solches Programm für die künftige Forschung eröffnet. 

Nachdem W. sodann seinen Plan einer antiken Rechtsgeschichte zeitlich und 
örtlich noch des Näheren umgrenzt hat, verbreitet er sich ausführlich über den gegen- 
wärtigen Stand dieser Disziplin. Dabei entspricht es durchaus der Grundtendenz 
des Ganzen, wenn er sich nicht begnügt, das ihm bedeutsam Scheinende für die 
engsten Fachgenossen zu umreißen, sondern sich mit Bedacht bemüht, auch dem 
Fernerstehenden an Einzelheiten zu verdeutlichen, was die „römische Rechtswissen- 
schaft bei ihrer Arbeit schon erreicht hat, wo wenigstens der Anfang gemacht ist, 
und was einstweilen noch der Zukunft überlassen bleiben muß.“ So verbreitet er sich 
u. a. über Quellen und lexikographische Hilfsmittel der römischen Rechtsgeschichte, 
über Digestenkritik und dabei auch über die methodologische Bedeutung der antiken 
Satzschlußtechnik, über Papyrologie, Epigraphik und sonstige Grenzgebiete, über 
frühhistorische Rechtsforschung und über Recht und Religion, über Universalrechts- 
geschichte und Rechtsphilosophie, über den Übergang der Antike zum Mittelalter 
namentlich in rechts- und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht und faßt schließlich 


Kritiken 639 


(S. 104) seinen Rundblick dahin zusammen, daB die, römische“ Rechtswissenschaft 
von heute charakterisiert sei: örtlich durch die Ausweitung der römischen zur 
antiken Rechtsgeschichte infolge der Einbeziehung der ganzen mittelländisch-vorder- 
asiatischen Kulturkreise; zeitlich durch den Versuch, einerseits zu den Anfängen 
einer früh- und vorgeschichtlichen Rechtskultur vorzudringen und andererseits in 
das untere Grenzgebiet mehr vom „Mittelalter“ miteinzubeziehen, inhaltlich durch 
die steigende Berücksichtigung des öffentlichen Rechts und der Wirtschaft und das 
Nachlassen rein privatrechtsgeschichtlicher Forschungen; methodisch durch die 
möglichsteNutzbarmachung der alten neben der Erschließung neuer Quellen und durch 
die enzyklopädische Zusammenfassung und Verarbeitung des gegenwärtigen Wissens- 
stoffes; alles dies unter immer stärkerer Besinnung auf die Rechtsphilosophie. 

]ch hoffe, daß diese Andeutungen einer schier überstrómenden Gedankenfülle, 
die W. in seinem Buche entfesselt, zur Genüge dargetan haben, wie anregend und 
befriedigend seine Lektüre für jedermann sein muß, der an der Antike und am 
Mittelalter geschichtlich interessiert ist. 

Leipzig. W. Stach. 


Germania Romana. Ein Bilderatlas. Hrsg. von der Rómisch-germanischen Kom- 
mission des Deutschen archäologischen Instituts. 2. erw. Aufl. Bamberg 
(C. C. Buchners Verlag) 1924—1930. 5 Lfgn. mit 293 S. Text u. 229 Tafeln. 
89, Text u. Tfln. getrennt in 2 Bd. 16,— RA. 

Der vorliegende Bilderatlas ist eines der vielen unter den groBen Verdiensten 
der Frankfurter Kommission des Deutschen archäologischen Instituts, das dank 
seiner zielbewußten und opferbereiten Tätigkeit längst über den Aufgabenbereich 
des grandiosen Limeswerkes hinaus zu einer zentralen Musterpflegstätte Germanischer 
Altertumskunde in römischer Zeit erwachsen ist. Aber obschon die Kommission 
— zumal organisatorisch — heute bereits die gesamte Spatenforschung im Süden 
und Westen des alten Germaniens lenkt und fördert, kann man füglich bezweifeln, 
daß die Bedeutung ihrer Aufgaben auch allerseits die rechte Würdigung fände, 
von einer ausreichenden Weiterverwertung der bisherigen Erfolge und Resultate 
durch die Nachbardisziplinen ganz zu schweigen. Denn der Philologe und der 
Historiker des frühen Mittelalters, die beide die Ergänzung und Kontrolle der 
spärlichen schriftlichen Quellen durch das unmittelbare Zeugnis der Überreste 
bewillkommnen müßten, schrecken nur zu leicht vor der Überfülle von zersplitterten 
Fundberichten und sonstiger Kleinliteratur der archäologischen Forschung zurück, 
ohne so recht zu bemerken, was ihnen damit entgeht. Und die geschichtlich inter- 
essierte Welt der Gebildeten scheint zwar heutzutage von einem fast fieberhaften 
Anteil an Dingen und Problemen der germanischen Vor- und Frühgeschichte erregt, 
erbaut sich aber zumeist lieber an pseudohistorischen Wunschbildern einer kultur- 
politisch gerichteten Germanomanie, als daB sie ein wirkliches und lebendiges 
Verständnis besäße für die Ziele und Wege einer wissenschaftlichen und darum 
streng sachgebundenen Altertumsforschung. Zur Verdeutlichung dessen dürfte ge- 
nügen, wenn ich auf den Notschrei verweise, zu dem sich S. Loeschcke veranlaBt sah, 
um die gefáhrdeten Ausgrabungen des groBen Tempelbezirkes im Altbachtale bei 
Trier zu retten. Jedenfalls mag es mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt werden, 
wenn ich Anlaß nehme, eine Buchanzeige mit einer Empfehlung zu begleiten, deren 
gerade das vorliegende Werk nach Inhalt und Ausstattung an sich am wenigsten 


640 Kritiken 


bedarf. Vor allem möchte ich auch die höhere Schule hinweisen, sich dieser überaus 
billigen und bequemen Möglichkeit zu bedienen, den Geschichtsunterricht und die 
Schriftstellerlektüre mit einem bildlichen Anschauungsmaterial zu beleben, zu 
dessen wissenschaftlich einwandfreier Erklärung dem Lehrer die besten Fachleute 
Deutschlands die Hand bieten, ohne daß unter dieser Eignung die Verwendung 
des Atlasses zu einem rein fachlichen Studium irgendwie litte. Im Gegenteil: Ich 
kann mir auch für Studenten und Historiker zur ersten und raschen Einführung 
in die Probleme der römisch-germanischen Forschung kein besseres Hilfsmittel 
denken. 

Enthielt die erste Auflage von 1922 in Folioformat bereits etwa 800 Abbil- 
dungen mit weit über tausend dargestellten Einzelobjekten, aber nur 24 Seiten 
erklärenden Text, so hat man diesmal auf den ursprünglichen Plan zurückgegriffen, 
der sich in der damaligen Notzeit nicht verwirklichen ließ, und die zweite Auflage 
in folgenden Doppelhelften durchgeführt, die außer einem noch erheblich vermehrten 
Abbildungsmaterial vor allem ausführliche Erläuterungen bieten, die allenthalben 
zugleich auf die einschlägige Fachliteratur verweisen: I. DieBauten desrömischen 
Heeres, mit einem Textteil (52 S.) von Fr. Koepp. II. Die bürgerlichen Siede- - 
lungen, mit einem Textteil (34 S.) von Fr. Drexel. III. Die Grabdenkmäler, 
mit einem Textteil (56 S.) von Fr. Koepp. IV. Die Weihedenkmäler, mit 
einem Textteil (66 S.) von Fr. Koepp. V. Kunstgewerbe und Handwerk, mit 
einem Textteil (31 S.) nach der 1. Aufl. von Fr. Drexel, bearbeitet von Maria Bersu. 

Im I. Teil bietet Koepp in zusammenhängender Darstellung alles Erforderliche 
zum Verständnis der römischen Lagertechnik, erörtert die Ausgrabungsergebnisse 
von Haltern, Novaesium und Vetera und gibt eine vorzügliche Zusammenfassung 
der Limesforschung. Im II. Teil erláutert Drexel die bürgerlichen Bauten von Trier 
und spricht über Städte und Märkte, über Landhäuser und Gutshöfe, über Rómer- 
straßen, Wasserleitungen, Tópfereien und Ziegelöfen, über Gräber, Friedhöfe und 
Heiligtümer. Im III. Teil schickt Koepp seinen Erläuterungen zu den Grabdenk- 
mälern eine ausgezeichnete Einführung in die provinzialrómische Bildkunst voraus, 
die in den keltischen und germanischen Grenzlanden am Rhein und an der Donau 
zutage tritt; wie er ähnlich im IV. Teil der Erklärung der Kultdenkmäler eine 
religionsgeschichtliche Betrachtung zur Interpretatio Romana, zum Mithrasdienst 
und zur Matronenverehrung zur Seite stellt, die mir als die gelungenste Partie des 
ganzen Werkes erscheint und einen instruktiven Einblick in den eigentümlichen 
Synkretismus der Nordprovinzen des Römischen Reiches gewährt. Im V. Teile, 
der den Abschluß bildet, beleuchtet Bersu die Fülle der Kleindenkmäler; sie gibt 
erklärende Bemerkungen zu Terrakotten, Bronze- und Eisengeräten, Münzen und 
Schnitzereien, zu Gläsern und Tongefäßen und schließt mit einem Abschnitt über 
Militärisches, über Kleininschriften und Funde aus frühchristlicher Zeit. 

Leipzig. W. Stach. 


Gall Jecker O. S. B., Die Heimat des hl. Pirmin, des Apostels der Alaman- 
nen. Beiträge zur Geschichte des alten Mónchtums und des Benediktiner- 
ordens, hrsg. von Ildefons Herwegen. Heft 13. Münster i. W. (Verlag der 
Aschendorfischen Verlagsbuchhandlung) 1927. XVI, 192 S. 

Man war in der neueren Forschung schon seit langem mehr und mehr geneigt. 
die Heimat Pirmins, des viel berufenen Wanderbischofs und Organisators der nach- 


Kritiken 641 


maligen Benediktinerklöster Reichenau, Murbach und Hornbach, in Spanien zu 
suchen. Seit vollends Pérez die dahin zielenden paláographischen Beobachtungen 
Traubes und die sprachlichen Indizien Morins durch eine Reihe von quellenana- 
lytischen Hinweisen gestützt und verstárkt hatte (vgl. Levisons sorgsam abgewogenen 
Literaturbericht: NA 45, 1924, S. 385 n. 247), widersprach bis zuletzt mit einer ge- 
wissen Hartnäckigkeit eigentlich nur noch Flaskamp, indem er in den Bahnen von 
de Smedt die irische Herkunft Pirmins verfocht (vgl. dessen Forschungsbericht : 
ZKG 44, 1925, S. 199ff.). Durch das Buch von Jecker scheint mir die Streitfrage 
zugunsten des westgotischen Stammlandes entschieden, mag auch die náhere 
Lokalisierung — nach J. kam Pirmin aus der Umgegend von Narbonne — vielleicht 
für immer zweifelhaft bleiben. 

In seiner Einleitung (S. 1—17) gibt der Verf. einen Überblick über die Quellen 
und den seitherigen Gang der Pirminforschung, die er in die Frage ausmünden läßt, 
warum Pirmin , peregrinus genannt wurde, ohne Schotte zu sein, und allenthalben 
die Benediktinerregel einführte, ohne mit den Angelsachsen in Verbindung zu stehen. 
An die Lósung der Frage — sie bildet das Leitziel der Untersuchungen — arbeitet 
sich J. durch eine erschópfende Textanalyse des Scarapsus heran, füs dessen Quellen- 
kritik schon Caspari den Grund gelegt hatte, und deren systematischer AbschluB von 
Pérez besonders nahegelegt war. Die Basis dafür verschafft sich J. durch eine 
Neuedition (S. 18—73), indem er die Gestaltung des Textes im allgemeinen zwar 
auch auf die einzige vor ihm verwertete Hs. gründet: auf die Überlieferung in dem 
bekannten Einsiedler Homiliar (bei J. — E), aber daneben noch zwei weitere Text- 
zeugen beibringt: die zuerst durch Wilmart namhaft gemachten Abschriften des 
Scarapsus in den codd. Paris. Bibl. Nat. 1603 (bei J. — A) und 13408 (bei J. = C). 
Sie sollen einen selbständigen Seitenzweig der Überlieferung darstellen, der neben 
dem direkten Abkómmlinge E über ein oder zwei verlorene Zwischenglieder bis auf 
die Urschrift zurückgreift, die Pirmin aus seiner westgotischen Heimat nach Rei- 
chenau und an die Grenze von Rátien mitgebracht hätte. Diese Neuedition J.s, 
die auBer dem kritischen Apparat auch einen reichen Sachkommentar bietet, ist in 
pal&ographischer Hinsicht mit besonderer Sorgfalt durchgeführt und verleiht dem 
Buche über die Klärung der schwebenden Kontroverse hinaus einen bleibenden 
Wert, zumal da die verdienstliche áltere Ausgabe von Caspari in den Kirchen- 
historischen Anecdota I (Christiania 1883) nicht jedem zugänglich ist. Nur entbehrt 
man gerade bei einem vulgärlateinisch so interessanten Denkmal, wie dem Scarapsus, 
sehr schmerzlich die Beigabe eines index verborum und vermißt in der an sich aus- 
führlich gehaltenen Beschreibung der Hss. eine zusammenfassende Charakteristik 
ihrer Eigenheiten in Orthographie und Formenlehre, wie überhaupt die sprachlichen 
Dinge, die J. gelegentlich streift, zu sehr am Rande der Untersuchung verbleiben, 
obwohl der Verf. ausdrücklich (S. 81 Anm. 22) auf ihre Bedeutung für seine Frag- 
stellung verweist. Jedenfalls lehrt bereits eine flüchtige Musterung der beigegebenen 
varia lectio, daB die gróBere Glátte der Formen auf Seiten des sicherlich karolingisch 
beeinfluBten C ist (vgl. z. B. S. 36 Z. 18 der Ausgabe von J. operaberis C; operaveris 
A; operaviris E; ebd. Z. 22 concupisces C; concupiscere A; concupiscis E), wie um- 
gekehrt die massenhaften Vulgarismen von E seinen unbedingten Vorzug vor À und C 
und eben dadurch die beste Überlieferung verraten (vgl. z. B. die bei Caspari nicht 
genügend erkenntliche Vertauschung von i und e und u und o, zugunsten zumeist von 
i und u, und anderes). 


Histor. Vierteljahrschriit Bd. 26, H. 3. 41 


642 Kritiken 


Anschließend an seine Ausgabe erörtert J. sodann in Kürze die Fragen nach 
Inhalt, Verfasser, Zweck und Entstehung des Scarapsus (S. 74-88). Er stellt ihn 
neben die Bauernpredigt Martins von Braga (de correctione rusticorum) und Augu- 
stins größere katechetische Musterrede (de catechizandis rudibus) und zeigt, daß der 
Text in einen geschichtlich-belehrenden, dogmatischen Teil (eine erzählende Dar- 
legung der Heilsgeschichte und der Glaubenswahrheiten in den capp. 2—11) und in 
einen praktischen, ethischen Teil (eine Ermahnung zur Erfüllung der Christen- 
pflichten in den capp. 13—27) zerfällt, der sich in zwei weitere Abschnitte gliedert, 
das Böse zu meiden (capp. 13—26) und das Gute zu tun (cap. 27). Die bekannte 
Schwierigkeit des Titels im Einsiedler Homiliar (E): Incipit dicta abbates Priminii 
de singulis libris cannonnicis scarapsus, behebt J. durch die m. E. einleuchtende 
Annahme, daB hier offenbar eine doppelte Überschrift ineinandergeschoben erscheint, 
námlich die ursprüngliche des Verfassers: Incipit de singulis libris cannonnicis 
scarapsus, und die spütere eines Schülers oder Benützers: Dicta abbates Priminii, 
so daB Pirmin selbst seinen Traktat, den er für seine und seiner Jünger Missions- 
tütigkeit zusammenstellte, als einen Auszug aus der Bibel und anerkannten kirch- 
lichen Schriftstellern bezeichnet hätte. 

Nach Erledigung dieser Vorfragen wendet sich J. schließlich seinem Haupt- 
thema zu: dem Nachweis der Vorlagen, aus denen die Disposition und der Text des 
Scarapsus kompiliert worden sind (S. 89—158). J.s Ergebnisse, deren kritisch be- 
sonnene Ableitung im allgemeinen durchaus überzeugt, liefern im wesentlichen eine 
erwünschte Bestätigung und Vervollständigung dessen, was nach den Arbeiten von 
Caspari und Pérez nach dieser Richtung zu erwarten war. Benutzt sind neben den 
genannten Schriften Martins von Braga und Augustins, an die sich — wie J. erst- 
malig dartut — auch der Aufbau des Ganzen und die Stoffverteilung auf die Unter- 
abschnitte anlehnt, vor allem Predigten des Caesarius von Arles und andere Homilien 
verwandter Provenienz, wie namentlich die von J. neu herangezogene fast vollständig 
in den Scarapsus aufgenommene Homilia sacra (gedruckt von Elmenhorst, Hamburg 
1614) und die bekannte schon bei Caspari zitierte pseudocaesarianische Homilia 17 
(Migne 67, 1079 CD). Auf spanisch-westgotische Kreise verweisen auch die zahl- 
reichen Zitate aus Isidor von Sevilla (Et. in capp. 12 u. 16; Sent. in 14, 18 u. 20; 
Norma vivendi in 18; Syn. in 18 u. 27), die Darstellung der Hóllenfahrt Jesu mit 
Anklängen an Ildefons und Julian von Toledo (Exp. fidei ex cod. Aug. XVIII), die 
Art des Symbolums und vieles andere mehr. Etwas fragwürdig dünken mich dagegen 
die ziemlich lockeren Berührungen mit der Mönchsregel Benedikts, obschon der 
Verf. in Aussicht stellt, daß Pérez den Nachweis erbringt, die Benediktinerregel sei 
nicht nur in Septimanien, sondern auch in Spanien schon unter westgotischer Herr- 
schaft verbreitet gewesen. Doch selbst wenn der Verf. hier (und vielleicht auch sonst 
da und dort) im suggestiven Zuge seiner Beweisführung der Verlockung erlegen sein 
: sollte, geringfügige Anklünge zu überschützen: der Eindruck dominierend west- 
gotischer Vorlagen im ganzen würde von solchen vereinzelten Abstrichen kaum 
beeintráchtigt werden, und besonders die Ausführungen J.s zur homiletischen Lite- 
ratur dieser Zeit, die sich wiederholt zu eigenhaltigen Forschungsexkursen erweitern, 
wie über die Oktoade der Hauptsünden und über Pönitentialien, blieben auch dann 
noch von Wert und Bedeutung, zumal da sich J. gerade in diesen Partien der per- 
sónlichen Beratung Morins erfreute, des kompetentesten Kenners frühmittelalter- 
licher Predigtliteratur überhaupt. So kann man im ganzen nur lebhaft bedauern, 


Kritiken 643 


daß der Verf. von vornherein absieht, den Nachweis seiner These allseitig abzuschlie- 
Ben und auch die zahlreichen Bibelzitate des Scarapsus nach ihrer Sonderart genauer 
zu bestimmen: eine noch immer notwendige und sicherlich lohnende Aufgabe, zu der 
Levison schon 1924 nachdrücklich angeregt hatte (NA 45, 386). 

Immerhin rundet J. im letzten Teil des Buches, nachdem er zuvor (S. 159—164) 
zur Sicherung seiner Ergebnisse den Scarapsus mit einigen andern verwandten 
Texten vergleicht, seine Beweisführung insofern ab, als er noch anderweitige An- 
zeichen der westgotischen Heimat Pirmins kurz zusammenstellt, die sich aus seinem 
Namen, seinem Wirken und seinen Stiftungen ergeben (S. 165ff.). Was zunáchst 
den seltsamen oder wenigstens sehr seltenen Namen anlangt, so folgert J. im An- 
schluß an Traube und Morin mit Recht, daß der Name, wie man ihn auch schreiben 
mag, nur aus dem Romanischen stammen kann und sich keinesfalls mit germanischen, 
irischen oder angelsächsischen Namen in Verbindung bringen läßt: ein Indiz, das 
freilich für sich allein nicht viel besagt. Beweiskräftiger sind auf jeden Fall die 
Spuren, die J. den im Scarapsus vorgetragenen Anschauungen entnimmt. Ich greife 
aus der Fülle der beigebrachten Gesichtspunkte nur einige Einzelmomente heraus, 
um den Gedankengang J.s zu illustrieren. Wenn z. B. Pirmin die Frage erörtert, ob 
Christus in der Vorhölle nur die Seelen der Gerechten oder auch die der Sünder befreit 
habe, so paßt es aufs beste dazu, daß diese Frage damals gerade in Nordspanien mit 
besonderem Eifer behandelt worden ist. Oder wenn Pirmin zur Osterfeier bemerkt: 
tercia die quodomnesChristiani celibrant pascha, so würde auch das zu den weste 
gotischen Konfessionsverhältnissen stimmen, vorausgesetzt, daß man aus dem 
„omnes wirklich einen Hinweis auf Christen verschiedenen Bekenntnisses entnehmen 
darf. Für wichtiger halte ich dagegen die bei J. betonten Beziehungen zwischen 
Scarapsus und westgotischem Recht. Es ist das einerseits die Tatsache, daß Pirmin 
bei der Zählung der Verwandtschaftsgrade der römisch-rechtlichen Komputation 
folgt, die damals nur im Westgotenreiche gebräuchlich war, und andrerseits der 
Gegensatz Pirmins zu der Novelle Chindasvinds in den Leges Visigothorum III, 6, 2 
(ed. Zeumer; vgl. dens., NA 26, 619f.): nullus virorum excepta manifesta forni- 
cationis causa uxorem suam relinquat, was sich als Abwehr der kirchlichen Praxis 
begreifen läßt, die schon die bloße suspicio fornicationis als Scheidungsgrund gelten 
lieB, wie auch Pirmin, der hierin wohl Hieronymus folgt (Comm. ad c. 19 Matth.). 
Dazu kommt, daß selbst die eigentümliche Organisation der Stiftungen Pirmins mit 
dem congregationsartigen ZusammenschluB der nordspanischen Klóster aus jener 
Zeit übereinzustimmen scheint, wie sich ja auch die politischen Ereignisse im West- 
gotenreich nach 711 und deren Folgen für Narbonne i. J. 720 mit der Flucht Pirmins 
nach dem Norden ohne weiteres in Einklang bringen lassen. 


| Leipzig. | W. Stach. 


Monumenta Germaniae historiea, Die Urkunden der deutschen Könige und 
Kaiser, 5. Band, 2. Teil. Die Urkunden Heinrichs IIT. 1047—1056. Nach den 
von H. Bresslau (T) und H. Wibel (1) hinterlassenen Abschriften und Vorarbeiten 

herausgegeben von P. Kehr. (Mit dem Titel für den ganzen Band: Die Ur- 
kunden Heinrichs III. Herausgegeben von H. Bresslau (T) und P. Kehr). 
Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1931. S. I — LX XVII und 269 — 705. 

In meiner Anzeige des ersten Teils dieses Bandes in dieser Zeitschrift Bd. 24, 

S. 625 ff. sprach ich die Hoffnung aus, daß sich eine geeignete Persönlichkeit zur Be- 


41* 


644 Kritiken 


treuung der salischen Diplome bis 1125 finden möge, als Ersatz für Bresslau könne 
nur eine höchstgeeignete, in jeder Beziehung vollwertige Kraft in Frage kommen. 
Diese Hoffnung ist, jedenfalls für den Rest der DD. H. III., in einer über Erwarten 
glücklichen ‘Weise erfüllt worden; Paul Kehr selber, der Vorsitzende der Zentral- 
direktion und wohl erfahrenste Archivkenner nicht nur in Deutschland, sondern 
ganz Europa, seit langem auch mit dem Stoff der Kaiserurkunden höchst vertraut, 
hat sich der verwaisten Aufgabe mit der ihm eigenen, unvergleichlichen Energie 
angenommen und legt bereits jetzt den Rest der DD. H. III mit einer umfang- 
reichen, eindringlichen und fórderlichen Einleitung vor. Wenn ich in meiner ersten 
Anzeige aus eigener Arbeit an dem ersten Halbband einige Beobachtungen beibrachte, 
so kann ich mich jetzt in der Hauptsache darauf beschränken, über die vom Heraus- 
geber erarbeiteten und in der Einleitung formulierten Erkenntnisse zu berichten 
und sie allenfalls mit einigen Bemerkungen zu begleiten. 

In der Vorrede gibt Kehr ausführlich Auskunft über die stets schwierige und 
peinliche Aufgabe, vor der er mit der Herausgabe eines fremden, recht trümmer- 
haften und unvollstándigen Nachlasses stand, und über die intensive Arbeit, die 
er in die Fertigmachung des Materials gesteckt hat. Er hat sein Werk mit seiner 
ganzen unnachahmlichen und erfreulichen Frische und Vorurteilslosigkeit angefa Bt 
und sich von dem manchmal etwas starren Stil der MG. DD. freizuhalten gewußt, 
auch manche sehr begrüßens werte Neuerung eingeführt, anderes für künftig angeregt. 
Auf S. XX begründet er als erstmalig, in Abweichung von allen bisherigen Diplo- 
matabänden eingeführte Neuerung, daß er „besonders jetzt, da die Untersuchung 
der Diktate eine neue Bedeutung für die mittelalterliche Forschung gewinnt und 
noch mehr zu gewinnen verspricht“, „wenigstens die besonders charakteristischen 
Elemente in den individuellen Diktaten angeführt“ hat (vgl. die Ausführung davon 
in der Einleitung S. XLIX—LVII). Daß ich nach der Art meiner eigenen Arbeiten 
und Auffassungen diese Neuerung für hocherwünscht halte und freudig begrüße, 
brauche ich wohl kaum zu sagen. Von den von Bresslau beabsichtigten und z. T. 
angekündigten Sonderuntersuchungen hat sich im Nachlaß leider für Granfelden 
und St. Ursitz sowie für Brauweiler nichts gefunden, für Benediktbeuern und die 
deutsch-burgundischen Beziehungen nur Anfänge und Bruchstücke, die nicht 
vollendet und nicht druckfertig sind (S. IXf.), Für die Texte des ersten Halb- 
bandes dagegen stellt Kehr nach genauer Nachprüfung fest, daB sie so genau sind, 
wie menschliches Kónnen sie überhaupt herzustellen vermag, und daB auch die 
Schriftbestimmungen in jeder Hinsicht gesichert sind; auf S. XXIX, N. 5, XXXIII, 
N. 6 und XLV, Z. 5 ff., und im zweiten Abschnitt bringt er freilich allerhand Be- 
richtigungen zu &lteren Schriftbestimmungen Bresslaus, wohl in Übereinstimmung 
mit dessen letzter Meinung. S. XVII, N.1 schlägt er zur Ergänzung der Lücken 
der bisherigen DD.-Bände, der Karolingerurkunden und der DD. des 10. und 
11. Jahrhunderts einen Ergänzungsband am Schluß der beiden Serien vor, S. XX, 
N. 1 ein Ergánzungsheft zu den bisherigen elf Lieferungen der Kaiserurkunden in 
Abbildungen, beides überaus begrüBenswerte Vorschlüge. 

In der Einleitung auf S. XXIII. findet sich eine Übersicht über die Zahl und 
Art der Urkunden nach Originalen, Kopien, Fälschungen (von No. 383—409, 
37 Stücke), eigentlichen Diplomen und andersartigen Texten, Entwürfen usw. 
Es ergibt sich, daB die Überlieferung der deutschen Urkunden an Originalen viel 
besser ist als die der italienischen, wie in der ganzen deutschen Kaiserzeit. Kehr 


Kritiken 645 


schließt daran (S. XXV—XXXVII—XLIX) die übliche Übersicht über das Kanzlei- 
personal, Mitteilungen über Einzelheiten der äußeren Ausstattung der Urkunden 
(das Beizeichen und Rekognitionszeichen) und die ganze Art der Organisation der 
Kanzlei mit mancherlei fórderlichen und Neues bringenden Erórterungen, über die 
z. T. nachher noch zu berichten ist. Im ganzen ergibt sich, daB die Verhältnisse 
in der Kanzlei, wie ich auch bereits aus dem Material des ersten Halbbandes er- 
schloß, recht ruhig und geregelt waren. Dann folgt die bereits erwähnte Charak- 
teristik der einzelnen Kanzleinotare nach Schrift und Diktat (S. XLIX—LVII), 
weitere diplomatische Mitteilungen (LVII—LXII) und Datierungsfragen (LXII 
bis LXXV), endlich Mitteilungen über die Siegel (LXXV—LXXVIT). 

Kehr nimmt dabei zu mancherlei schwebenden wissenschaftlichen Fragen 
Stellung, soweit die DD. H. III. dazu Veranlassung geben. Die sehr gleichmäßige 
Ausstattung und Schrift der kóniglichen und kaiserlichen Diplome des 11. Jahr- 
hunderts erklärt er (S. XLVIIIff.) hypothetisch mit einer Schreibschule am Hofe, 
vielleicht in Verbindung mit der kóniglichen Kapelle, die er vermutungsweise erst 
in Speyer, mit größerer Bestimmtheit später in Goslar annehmen zu können meint. 
Mit Hirsch und Zatschek an Bamberger Einfluß zu denken geben die DD. H. III. 
keine Veranlassung. Auf S. LXIVf. beschäftigt sich Kehr mit der „jüngst ernsthaft 
von Ed. Sthamer aufgestellten These (SBA. 1927), daB in den Urkunden des Mittel- 
alters Nachtragung von Tag und Ort die Regel gewesen sei“, allerdings nur um sie 
einzuschränken und die Erscheinung, soweit sie auftritt, für sein Material wesentlich 
anders zu erklären, wozu dann noch ausführliche Erórterungen über Datierungs- 
fragen bis S. LXXV folgen. Im Einzelnen beurteilt Kehr nur das von Bresslau 
als „phantastische Fälschung“ bezeichnete D. 111 anders, wie er in den Nach- 
trägen und Berichtigungen S. 696 ausführlich begründet. 

In den Registern lehnt Kehr das von Bresslau und R. Holtzmann ausgebaute 
System der administrativen Bestimmung der Ortsnamen nach Provinz, Regierungs- 
bezirk, Kreis usw. ab, da die MG. „doch keine postalische Behörde“ seien. Man 
kann, in leichtem Unterschied von meinen Ausführungen in meiner ersten Be- 
sprechung, zugeben, daD die tatsüchliche Leistung einer móglichst genauen Be- 
stimmung der Ortsnamen, der auch Kehr mit aller Kraft nachgestrebt hat, die 
Hauptsache ist und daB daneben das „wie“ der Ausführung weniger wichtig ist. 
Ich glaube allerdings, daß auch das „wie“ der Bresslau-Holtzmannschen Methode 
trotz Kehrs Einwänden (S. XVII) mancherlei für sich hat und in vielen Fällen 
guten Nutzen gewährt. Immerhin, die Hauptsache ist das „was“, und wie auch 
hier alle wünschenswerte Sorgfalt angewendet worden ist, legt Kehr S. XITf. dar. 

Kehrs gesamte Ausführungen sind ebenso sehr getragen von autoritativer 
Kenntnis und Verantwortungsbewußtsein wie im einzelnen durchsetzt von Äuße- 
rungen frischer Lebendigkeit der Auffassung. Eberhard A. ist ihm „der typische 
Kanzleirat, eine durchaus subalterne Figur"; er spricht von „den nüchternen 
Kanzleiráten der deutschen Kanzlei“; „in der Bürokratie macht man nicht so 
schnelle Karriere" wie die durchaus politisch zu nehmenden Kanzler in Deutsch- 
land. Alles bei ihm zeigt das Bestreben, die Urkunden und ihre gesamte Entstehung 
etwas lebendiger und unmittelbarer auszuwerten als nur nach dem etwas starren 
Schematismus der reinen Urkundenlehre und der bisherigen Bánde der Diplomata. 
Auf S. X kündigt er seine Absicht an, zu den Karolingerurkunden, deren Bear- 
beitung ihm vor allem am Herzen liegt, überzugehen — und schon sind, wie man 


646 Kritiken 


hört, einige Bogen der DD. Ludwigs des Deutschen gedruckt —, also zunächst 
nicht zu den Urkunden Heinrichs IV. und Heinrichs V. Aber man wird von der 
starken und frischen Arbeitskraft des Mannes, der kürzlich seinen 70. Geburtstag 
gefeiert hat, noch viele und große Leistungen für die Monumenta erwarten dürfen. 
Erlangen. B. Schmeidler. 


Bernardino Barkadore, Le Finanze della Repubblica Fiorentina. Bd. 1. (Im- 

posta diretta e debito pubblico fino all' istituzione del Monte.) Firenze 1929. 

Herrscht in den letzten Zeiten auf dem Gebiet der Erforschung der Wirtschafts- 
geschichte Italiens eine höchst erfreuliche, vom deutschen Standpunkt aus gesehen 
fast beneidenswerte Lebendigkeit, scheinen dort für wirtschaftsgeschichtliche Quel- 
lenpublikationen geradezu fürstliche Mittel zur Verfügung zu stehen, so gilt. das 
insbesondere von den Untersuchungen zur Finanzgeschichte der großen italienischen 
Kommunen des Mittelalters. Zu den bekannten Werken Sievekings — um von 
älteren, wie denen Pagninis, Canestrinis, Banchis zu schweigen — über Genua, zu 
dem groBen Unternehmen der Veróffentlichung der Venetianer Finanzrechnungen 
und den sich daran anschlieBenden Forschungen von Luzzatto, Besta, Cessi u. a. 
gesellt sich nun für Florenz ein ebenfalls im größten Stil angelegtes, auf eine größere 
Zahl von Bánden berechnetes Werk, das die Finanzgeschichte der Arnostadt wührend 
ihrer groBen Zeit, d. h. vor allem von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Beginn 
des Prinzipats, nach allen Richtungen hin zu klären sich zur Aufgabe gesetzt hat, und 
von dem der erste Band uns jetzt vorliegt. Aus den unerschópflichen Beständen des 
Florentiner Staatsarchivs schópfend legt Barbadoro in breiter, hie und da wohl etwas 
allzubreit geratener Erzählung zunächst die Geschichte der direkten Steuern und 
der damit in engstem inneren Zusammenhang stehenden Staatsanleihen bis zu der 
entscheidenden Wendung dar, die in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts die 
Zusammenfassung und Konsolidierung aller Staatsanleihen im sogenannten „Monte 
commune“ brachte und damit in der Tat die gesamte Finanzgebarung der Republik 
auf eine neue Basis stellte. Das Verweilen bei an sich nebensächlichen Kleinigkeiten, 
die breite Auseinanderfaltung des Verlaufs von Ratssitzungen, die nicht immer 
grundsätzlich oder historisch Bedeutsames enthalten, scheint mir in der gewählten 
Ausführlichkeit in einem Werke von solchen Ausmaßen unnötig und daher störend, 
weil sie geeignet ist, das historisch Relevante unter der Fülle der Einzelheiten nicht 
gebührend hervortreten zu lassen. 

Im übrigen gewinnt man aus Barbadoros Werk eine Fülle neuer Erkenntnisse 
und eine Belehrung, die, wie fast stets, wo es sich um die groBe Florentiner Zeit 
handelt, weit über das Gebiet der Lokalgeschichte hinausreicht. Wer von den un- 
endlich viel einfacheren Verhältnissen deutscher Kommunen des Mittelalters an 
diese Dinge herantritt, der wird zunächst verblüfft durch das dauernde Auf und Ab, 
den ewigen Wechsel von Versuchen, des drängenden außerordentlichen Staats- 
bedarfs — denn nur ihn zu decken sind direkte Steuern und Anleihen da — mit den 
verschiedensten, oft verzweifelt ausgeklügelten finanziellen Mitteln Herr zu werden. 
Direkte Steuern der verschiedensten Art, Zwangsanleihen, die z. T. die gesamte 
bürgerliche Bevölkerung umfassen und dann oft als antizipierte Steuern auftreten, 
z. T. nur einzelnen Kreisen auferlegt sind, verzinslich und unverzinslich; endlich 
freiwillige Anleihen bei den großen Bankhäusern wechseln in einer auf den ersten 
Blick scheinbar regellosen Folge. Es ist, als ob die gleiche unerhört rege, alle Wirk- 


Kritiken 647 


lichkeiten und Möglichkeiten umkreisende und abtastende Phantasie der Floren- 
tiner, wie wir sie in allen Zonen des kulturellen Lebens als schicksalshafte Gabe 
in jenen Zeiten tätig finden, jene Phantasie, die ihren größten Sohn durch Hölle 
und Himmel wandern hieß, die hinter ihrer Freude an jeglichem Experimentieren 
waltete, auch auf diesem Gebiete rastlos tätig war und zum Teil schon Wege andeu- 
tete, die erst weit spätere Zeiten ungefährdet zu gehen imstande waren. — In der 
scheinbaren Wirrnis lassen sich aber, von Barbadoro klar und scharfsinnig nach- 
gezogen, gewisse Richtlinien erkennen, die vor allem den engen Zusammenhang 
zwischen der innerpolitischen Entwicklung im allgemeinen, deren wechselnden Aspek- 
ten, den Kämpfen der einzelnen sozialen Mächte im Staate um die politische Macht 
und den Hauptrichtungen der Steuerpolitik zu klären imstande sind. Jede Herrschaft 
der großkaufmännisch-kapitalistischen Kreise im Staate ist durch das Überwiegen der 
Anleihewirtschaft gekennzeichnet (vor allem die Periode von 1315—1327); jede 
Reaktion gegen das plutokratische Regiment von unten her, von seiten des werk- 
tätigen Mittelstands und später auch des industriellen Proletariats, wie von oben her 
während der kurzen Episoden tyrannischer Einzelherrschaft durch ein Vorherrschen 
der direkten, womóglich progressiv gestaffelten Klassensteuern. 1378 im Ciompi- 
aufstand war es eine der ersten Maßregeln der sieghaften Arbeiter, nicht nur die 
Zinsen der laufenden Anleihen erheblich zu kürzen, sondern auch einen Plan für 
ihre Amortisation zu entwerfen und eine direkte progressive Steuer an ihre Stelle 
zu setzen. R 

Sehr bedeutsame und interessante Aufschlüsse verdanken wir Barbadoro über 
das Wesen des „Estimo“, wie er sich, ausgehend von der Besteuerung der Geistlichen, 
in Florenz, entwickelt und im Laufe der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts feste 
Gestalt bekommen hatte: ein eigentümliches Mittelding zwischen der Schätzung der 
Substanz und der des Ertrags, das nur eine ideale, d.h. nicht durch irgendeine 
konkrete Gestaltung verwirklichte Basis für die jeweilig nach besonderer Verfügung 
zu erhebende „Libra“ darstellt, deren Höhe, durch die des jeweiligen Staatsbedarís 
bedingt, in einer prozentualen Quote des Estimo ausgedrückt wurde; durch die 
Klarlegung dieses komplizierten, schwer zu deutenden, weil weit von unseren moder- 
nen Anschauungen abliegenden, Sachverhalts werden die bis dahin herrschenden 
Ansichten Canestrinis an einem, an dem entscheidenden Punkte berichtigt. Auch 
die „Libra“ selbst erhält neues und schärferes Licht: eine Steuer, die zwar ihrem Wesen 
nach als auBerordentliche Abgabe, nach Bedarf in unregelmáBiger Hóhe und unregel- 
mäßigen Abständen zu erheben, betrachtet wird, in praxi sich dann allerdings zeit- 
weise zu einer beschränkten Regelmäßigkeit durchgebildet hat. Immerhin ist es 
bemerkenswert, daß zu einer Zeit, da in dem steuertechnisch so unendlich rückstän- 
digen Deutschland doch schon beachtliche Ansätze zur Ausbildung ordentlicher 
direkter Steuern zu erkennen sind, in Florenz davon — sehen wir von der ganz rohen 
» Herdsteuer'' (focatico) der Frühzeit ab — kaum etwas zu finden ist; denn auch die 
auf dem berühmten Kataster von 1427 beruhende Besteuerungsform trägt noch ganz 
das Gepräge der auBerordentlichen Steuer. Noch dominiert in dem ganzen Steuer- 
system der Gedanke, daß der ordentliche Staatsbedarf, d. h. im wesentlichen der der 
inneren Verwaltung hauptsächlich durch indirekte Steuern, Zölle und Gebühren zu 
decken sei, wie diese im Dienste der Brutalität frühkapitalistischer Wirtschafts- 
gesinnung letzten Endes auch der Verzinsung und Amortisation der Anleihen zu 
dienen hatten; daß auf alle Fälle direkte Steuern und jede Form der Anleihe für die 


648 Kritiken 


wechselnden außenpolitischen Konjunkturen des Staats und seine Nöte, für alle die 
Zufälligkeiten kriegerischer Stürme und Gewitter bereitzustellen seien. 

Liegen so der allgemeine Gang der Staatswirtschaft und die ihn leitenden Ge- 
danken in dem geschilderten Zeitraum auf den hier behandelten Gebieten klar zutage, 
so tauchen in diesem Raum einzelne Systeme vorübergehend auf, die in Florenz, weil 
gleichsam anorganisch eingesprenkelt, nur Episode geblieben sind, wührend sie in 
andern italienischen Stádten schon damals grundlegende Bedeutung gewonnen 
haben. So bleibt in Florenz die „gabella delle possessioni", eine katasteráhnliche 
Aufnahme des Grundbesitzes als objektive Basis für eine klassenmáBig abgestufte 
Grundsteuer, einmal flüchtig auf, während eine ähnliche Institution z. B. in Siena 
längst Wirklichkeit geworden war, und Florenz im Kataster von 1427 dies Prinzip, 
nun über das gesamte nutzbare Vermögen verbreitert und ganz auf die Selbstein- 
schätzung der Besteuerten gestellt, ältere Erfahrungen nutzend und weiterbildend 
sich zu eigen macht und damit das Zeitalter wesentlich subjektiver Einschätzung 
durch Sachverständigenkommissionen überwindet. 

Was die Anleihen angeht, so sind sie auch ihrer inneren Struktur nach durchweg 
Geburten des Augenblicks, der momentanen Nöte, nur auf deren Hebung, d. h. auf 
kurze Sicht berechnet; auch wenn sie Zinsen trugen, was bei den Zwangsanleihen 
nicht durchweg der Fall, als schwebende Schulden gedacht und auf baldige Rück- 
zahlung angelegt. Eben dadurch aber entsteht allmählich das Chaos sich kreuzender 
und eben damit sich wechselseitig hemmender Verpflichtungen des Staats, entsteht in 
wachsendem Maße aber auch das Bedürfnis nach Konsolidation, von seiten des Staates 
nach Vereinheitlichung und Verbilligung des Staatskredits, von seiten der kapitalkräf- 
tigen Kreise der Bevölkerung aber das Streben, für brachliegendes Kapital eine einiger- 
maßen sichere Daueranlage zu gewinnen und durch billigen Aufkauf der zirkulieren- 
den Staatsschuldverschreibungen sich auch dann eine angemessene Verzinsung zu 
verschaffen, als der Staat selbst durch die große Konsolidierungs- und Konvertie- 
rungsaktion der Jahre 1343/47 den Zins auf 5%, herabgedrückt hatte. So sichern 
sich als Staatsgläubiger diese kapitalistisch-plutokratischen Kreise noch einen nicht 
unbedeutenden Nebeneinfluß auf die Geschicke des Staates in einer Periode, die im 
übrigen durch die Teilnahme des bürgerlichen Mittelstands am Staatsregiment 
politisch und sozial gekennzeichnet ist. — 

Nur weniges, was mir von allgemein-wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung schien, 
sollte hier aus der Fülle der Ergebnisse des Buches herausgehoben sein. Daß es für 
die Lokalgeschichte der Florentiner Republik viele wertvolle neue Einsichten beschert, 
kann hier nur kurz erwähnt werden. Wenigstens auf das eine sei noch hingewiesen, 
daß die beiden Episoden tyrannischen Regiments, die die Florentiner Geschichte 
vor dem Zeitalter der Medici aufzuweisen hat, die des Fürsten von Calabrien 1327 
und die des Herzogs von Athen 1342/43, beide von den gleichzeitigen, der bürger- 
lichen Oberschicht angehörenden Historikern so gebrandmarkt, daß auch die neueren 
Darstellungen in die gleichen Wege geleitet wurden, hier als erste Vertretungen jenes 
monarchischen Herrscherwillens erscheinen, der später gerade auf dem Gebiete der 
Finanzpolitik auch den unteren Klassen einer einseitig plutokratischen Interessen- 
wirtschaft gegenüber gerecht zu werden bemüht ist. 

Den weiteren Bänden des großen Unternehmens Barbadoros sehen wir nach 
dieser ersten Probe mit großem Interesse entgegen. Alfred Doren. 


Kritiken 649 
Ludwig Freiherr von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des 
Mittelalters. Bd. 13. Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen 
Restauration und des 30jährigen Krieges Gregor XV. und Urban VIII. 

- (1621—1644). Teil 1 und 2, 1.—7. Aufl. Freiburg, Herder 1928 und 1929. 

XVI, 1057 S. 16.— RA (geb. 20 u. 23) und 14.— RA (geb. 18 u. 21). 

Referent muß den Eingang seiner Anzeige der Bände XI und XII des Pastor- 
schen Werkes in dieser Zeitschrift (Bd. 25, Heft 1, S. 128ff.) dahin einschränken, 
daB auch noch der kurz nach dem Tode des Verfassers (1 1928) erschienene 13. Band 
von diesem selbst druckfertig gemacht und in den Druck gegeben worden ist. In 
zwei Teile geteilt führt der Band die Geschichte der Päpste um ein ereignisreiches 
Vierteljahrhundert fort, das von den Regierungen zweier Püpste ausgefüllt wird: 
Gregors XV. (Ludovisi), der drei Jahre, und Urbans VIII. (Barberini), der 22 Jahre 
lang die Tiara trug. Dieser in seiner Art letzte Band erweist noch die unverminderte 
Arbeitskraft des Verfassers, er teilt die Vorzüge der vorangegangenen Bände, aber 
auch ihre Mängel und Schwächen, vor allem die konfessionelle Befangenheit 
v. Pastors, wie ich sie in der angezogenen Besprechung der Bände XI und XII zu 
cbarakterisieren versucht habe. v. Pastor steht nicht über seinem Stoffe, seine Dar- 
legungen sind Plaidoyers eines Anwalts für die Sache des Katholizismus. Dabei 
versteht er es, aus der überreichen Masse seines in langen Jahrzehnten zusammen- 
getragenen Stoffes jeweils eine oder die andere Quellenstelle oder die ÁuBerung eines 
(und zwar mit Vorliebe eines protestantischen) Forschers heranzuholen, die dem 
Anschein nach die von ihm vorgetragene Auffassung belegt und stützt. Sieht man 
freilich näher zu, so erweist sich die Sache meist weniger schlüssig, als sie der Verfasser 
angesehen haben móchte. Ein wahres Zerrbild wird z. B. von Gustav Adolf ent- 
worfen; v. Pastor will bei dessen Eingreifen in Deutschland die religióse Triebfeder 
zwar nicht gänzlich ausschalten, aber das eigentlich Bewegende ist ein „titanischer‘ 
Ehrgeiz. Dafür wird eine lange nach Gustavs Tode getane Äußerung Oxenstiernas 
herbeigeholt, derzufolge der Kónig danach gestrebt habe ,, Kaiser von Skandinavien" 
zu werden. Abgesehen davon, daß eine derartige allgemeine und gelegentliche späte 
Äußerung wohl keine sonderlich hohe Beweiskraft haben kann, ist doch von selbst 
klar, daB sich Gustav so umfassende Ziele, wenn überhaupt, erst auf Grund der 
gewaltigen Erfolge gesetzt haben kann, die er in Deutschland errang; für die Beweg- 
gründe seines Eingreifens dort durfte sie daher unter keinen Umständen verwertet 
werden (XIII, 1, S. 421). Den Kurfürsten Johann Georg von Sachsen bezeichnet 
v. Pastor S. 409 schlechthin als „kaisertreu“; daB der nämliche Fürst sich dann dem 
Schwedenkönig nur zógernd anschloß, erscheint dem Verfasser gleichwohl als ein 
Anzeichen dafür, daß die deutschen Protestanten selbst nicht an die religiösen 
Antriebe bei jenem glaubten. Eine sehr üble Note erhält bei v. Pastor Kardinal 
Richelieu; jener bringt kein Verständnis dafür auf, daß Richelieu als leitender 
französischer Staatsmann die Belange Frankreichs vorangestellt und nicht seine 
höchste Pflicht darin gesehen hat, sich als gehorsamer Diener des Pontifex in Rom 
zu bezeigen ! 

Das Hauptgewicht bei der Darstellung der Politik Urbans VIII. legt v. Pastor 
darauf, die Auffassung Rankes und Gregorovius’ zu widerlegen, wonach der genannte 
Papst ein Parteigänger Frankreichs und Feind Spanien-Österreichs gewesen sei. 
Schon verschiedene Forscher, zuletzt Aug. Leman, Urban VIII et la rivalité de la 
France et de la maison d’Autriche de 1631 à 1635 (1920) haben auf Grund eines reich- 


650 Kritiken 


haltigeren und authentischeren Quellenmaterials als es Ranke zur Verfügung stand, 
jene Auffassung erschüttert und Pastor tut nun ein übriges, um ihr den Garaus zu 
machen. Gleichwohl wird man nicht sagen wollen, daß die ältere Auffassung (wie 
sie Ranke besonders aus den Venetianischen Relationen entgegentrat) völlig aus 
der Luft gegriffen sei. In Urbans Politik liegt seine grundlegende französische Ein- 
stellung im Kampf mit dem Streben des katholischen Oberhauptes nach Neutralität 
zwischen den beiden katholischen Großmächten und Versöhnung ihrer widerstreiten- 
den Belange; den Papst kurzweg als französisch und antihabsburgisch gesinnt zu 
bezeichnen geht freilich nicht mehr an. 


Der Stoff ist auf die beiden Abteilungen des Bandes so verteilt, daß in der ersten 
der Pontifikat Gregors XV. (Errichtung der Congregatio de propaganda fide) ab- 
gehandelt und die Stellung seines Nachfolgers inmitten der Weltereignisse heraus- 
gearbeitet wird, wogegen der zweiten Abteilung die im engeren Sinne kirchlichen 
Dinge (Glaubenssachen, Missionen, ferner Kardinalsernennungen usw.) unter Urban, 
die Beziehungen dieses zu den italienischen Staaten (Venedig) und das Walten des 
Papstes als Herr des Kirchenstaates und der Stadt Rom (Bauleidenschaft Urbans; 
Rom als Barockstadt) vorbehalten bleiben. Das Fehlurteil gegen Galilei gibt v. Pastor 
notgedrungen zu, spitzfindig bemüht, es mit der von Christus dem Heiligen Stuhle 
verliehenen Unfehlbarkeit (!!) in Einklang zu bringen. Ausführlich behandelt Ver- 
fasser Jansenius und den Jansenismus, der als Gegner des von ihm über alles ge- 
schätzten Jesuitenordens natürlich sehr schlecht wegkommt. Eingehend wird auch 
die Lage der Katholiken in den protestantischen Staaten besprochen. Es ist ein auf 
allen Gebieten ebenso ereignisreicher wie bedeutsamer Zeitraum, den v. Pastor hier 
behandelt und zu dessen allseitiger Erläuterung er ungedruckten Quellenstoff in 
Fülle heranzieht, von dem er auch im Anhang, wie üblich, einige Proben mitteilt. 


Wernigerode a. H. Friedensburg. 


La Révolution française par Georges Lefebvre, Raymond Guyot et Philippe 
Sagnac. Peuples et Civilisations, Histoire générale publiée sous la direction 
de Louis Halphen et Philippe Sagnac Bd. XIII. 583 S. Paris, Librairie 
Félix Alcan 1930. 


„Nicht nur unter dem Gesichtspunkt Frankreichs, sondern unter dem Ge- 
sichtspunkt der Universalgeschichte erscheint die franzósische Revolution als das 
Hauptereignis am Ende des XVIII. Jahrhunderts" — diese Einleitungsworte kenn- 
zeichnen sehr glücklich den Charakter der neuen Revolutionsgeschichte, die aus der 
gemeinsamen Arbeit von drei rühmlich bekannten Historikern: Georges Lefebvre, 
Raymond Guyot und Philippe Sagnac hervorgegangen ist. 

Das große Geschehen, das eine neue Epoche eröffnet, wird — vor allem in 
seinem Ursprungsland — immer wieder unter wechselnden Gesichtspunkten durch- 
forscht und dargestellt, aber ganz vorwiegend vom franzósischen Standpunkt aus. 
Das berühmte Buch Albert Sorels „L' Europe et la Révolution francaise“, das eine 
wichtige Ausnahme darstellt, liegt schon ziemlich weit zurück; es war fast voll- 
stándig erschienen (1885—1903), ehe die Arbeiten Aulards den Revolutionsstudien 
eine entscheidende Wendung gaben; Aulard selbst hat sich in seinem Hauptwerk 
ausdrücklich auf die innerpolitischen — wir würden in deutscher Sprache am besten 


Kritiken 651 


sagen: die verfassungsgeschichtlichen — Zusammenhänge beschränkt.  Jaurés, 
dessen „Sozialistische Geschichte der französischen Revolution“ die genialste 
Leistung der letzten 50 Jahre auf diesem Gebiet bedeutet, brachte die unschätzbare 
Ergänzung des ökonomisch-sozialen Unterbaus hinzu, freilich nicht ohne den Aus- 
strahlungen der Revolution auf Europa liebevolle Beachtung zu schenken; Albert 
Mathiez, der Hüter und Vermittler des historischen Erbguts von Jean Jaurés, 
hat in seinen zahlreichen, ebenfalls stark die ökonomisch-sozialen Zusammenhänge 
berücksichtigenden Arbeiten wieder fast ausschließlich den französischen Blick- 
punkt gewahrt. 

Es bedeutet also eine — in französischen Fachkreisen auch viel beachtete — 
Neuerung, daß in dem vorliegenden Buch die Revolution von vornherein in die 
großen europäischen Zusammenhänge hineingestellt wird; das Wagnis war deshalb 
besonders kühn, weil das Werk sich einer allgemeinen Geschichte in Einzeldarstel- 
lungen einfügen mußte und nur ein verhältnismäßig beschränkter Raum zur Ver- 
fügung stand. Durch die gerade auf dem Gebiet der Revolutionsgeschichte viel 
geübte Arbeitsteilung ist es gelungen, den ungeheuren Stoff in dem gegebenen 
Rahmen zu meistern. Neben gedrängten, aber bedeutsamen Einleitungsworten 
hat der Straßburger Professor Lefebvre ein großzügiges Bild des „Abendlands im 
Jahre 1789“ gezeichnet: eine Übersicht, die neben den Vereinigten Staaten auch 
Latein-Amerika berücksichtigt, er hat ferner die beiden ersten Bücher geschrieben: 
„Die revolutionäre Expansion bis zur Bildung der großen Koalition" (Mai 1789 
bis Januar 1793), „Die Koalition und die Revolution bis zu den Verträgen von 1795“. 
Das dritte Buch: ,,Die franzósische Revolution und die Eroberung Europas (1795 
bis 1799)“ stammt aus der Feder des Pariser Professors Guyot. Sagnac, der Nach- 
folger Aulards auf dem Lehrstuhl für Revolutionsgeschichte an der Sorbonne, hat 
das vierte vorwiegend geistesgeschichtlich orientierte Buch geschrieben: ,,Die 
französische Revolution und die europäische Civilisation“; er hat ferner die wichtige 
SchluBbetrachtung beigesteuert, die in den Worten gipfelt: „Den Widerständen 
der Vergangenheit zum Trotz, inmitten der größten Völkerkonflikte, die Europa 
je gesehen hat und die noch etwa fünfzehn Jahre dauern sollen, wird allmählich 
eine neue Welt geschmiedet; die Seelen gestalten sich um; die Revolution hat den 
Geist selbst verwandelt.‘ 

Das Werk ist sehr reich und übersichtlich in Kapitel und kurze Unterabtei- 
lungen gegliedert; es gewinnt für den Fachhistoriker noch dadurch an Bedeutung, 
daß eine erstaunlich ausgebreitete, im weitesten Sinne internationaleLiteratur 
zugrunde gelegt und in bibliographischen Notizen verarbeitet ist, die den einzelnen 
kleinen Abschnitten beigefügt sind: im besten Sinne „haute vulgarisation“, auf der 
Höhe moderner Forschung stehend ist es somit ein sehr willkommener Führer 
durch das unübersehbare Feld der Revolutionsgeschichte. 

Berlin. Hedwig Hintze. 


Uwe Jens Lornsens Briefe an seinen Vater (1811—1837), in Verbindung mit 

G. E. Hoffmann herausgegeben von Wilhelm Jessen. Breslau: Ferd. Hirt, 1930, 

VI. 197 S., gr. 8° (= Veróffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Uni- 
versitätsgesellschaft Nr. 29). 

Für die Erkenntnis von U. J. Lornsens Wesen und Wirken waren wir bisher 

vor allem auf das Werk von Karl Jansen (U. J. Lornsen, Kiel 1872) angewiesen, eine 


652 Kritiken 


gründlich gelehrte Arbeit, die vielleicht nur den Fehler hat, daß ihr Verfasser allzu- 
sehr durch die Brille des augustenburgischen Parteimannes sah. Jansen hatte eine 
große Anzahl Lornsenscher Briefe zur Verfügung gestanden, freilich fast nur aus der 
Zeit nach 1830. Von diesen Briefen wurden etwa 40 an Lornsens Vater gerichtete, 
terner die Briefe an Lornsens Kieler Freund Frz. H. Hegewisch im Jahrgang 1903 
der Itzehoer Nachrichten, z. T. freilich durch Lese- und Druckfehler arg entstellt, 
im Zusammenhang veröffentlicht. Die Briefe an Hegewisch wurden aus ihrem Ver- 
steck in der Tageszeitung 1925 von V. Pauls hervorgeholt und in Buchform heraus- 
gegeben; es wurde damit eine wertvolle Quelle der Allgemeinheit zugänglich gemacht. 
Nimmt man das Buch des Dänen Graae (U. J. Lornsen, 1891) und etwa noch die 
neuerliche Arbeit von P. Richter hinzu (Zeitschr. der Gesellsch. für Schlesw.-Holst. 
Geschichte, Bd. 58, 1929), die mittelbar auch manches Neue für die Lornsensche Be- 
wegung, zumal für ihre Vorgeschichte, bringt, so hat man damit, von Einzelfunden 
abgesehen, das Material nahezu beisammen. Die Hoffnung, weiteres unmittelbares 
Material für die Lebens- und Entwicklungsgeschichte des großen schleswig-holstei- 
nischen Freiheitskämpfers zu finden, war gering. Da wurden wir vor einigen Jahren 
mit der Kunde überrascht, daß sich auf Sylt, der Heimatinsel Lornsens, eine Menge 
Briefe, großen Teils unbekannte, gefunden hätten, fast alle an den Vater gerichtet, 
der den Sohn um 5 Jahre überlebte, und von der Familie aufbewahrt; sie um- 
fassen die Jahre von 1811 bis 1837, also von des Briefschreibers 18. Lebensjahre bis 
kurz vor seinen freiwilligen Tod. 

Diese Briefe, etwa 160 an der Zahl, werden in dem vorliegenden Bande von dem 
Entdecker, Konrektor W. Jessen, in Verbindung mit dem Kieler Archivrat G. E. Hoff- 
mann veröffentlicht. Wegen der zahlreichen rein familiären Angelegenheiten eigneten 
sich nicht alle Briefe und nicht alles in den Briefen für die Wiedergabe. Manches 
ist ausgelassen, anderes nur in kurzem Regest gegeben. Von den bereits 1903 in den 
Itzehoer Nachrichten bekanntgemachten Briefen sind die inhaltreichsten wieder 
aufgenommen worden, was nur zu begrüßen ist; das Verhältnis stellt sich so, daß 
etwa drei Viertel der Briefe bisher günzlich unbekannt waren. Mit Recht betont 
Jessen im Vorwort: „Über den jungen Lornsen...haben seine Biographen wenig 
berichten kónnen. Die Hauptbedeutung der vorliegenden Veróffentlichung dürfte 
daher für alle, die nicht nur das Werk, sondern auch das Werden Lornsens inter- 
essiert, in der Mitteilung der bisher unbekannten Briefe aus den Jahren 1811 bis 1826 
liegen." Auch insofern ergánzt diese Sammlung sehr glücklich das Briefcorpus an 
Hegewisch, das die Jahre 1831—1838 umfaßt. 

Lornsen war schon fast ein Zwanzigjühriger, als er 1818 in die Sekunda der 
Schleswiger Domschule eintrat, und stand im 23. Lebensjahr, als er sich in Kiel 
immatrikulieren ließ. Dieser späte Zugang zu den gelehrten Studien ist aber bei 
Lornsen durchaus nicht durch eine späte Entwicklung bedingt. Daß er, wie sich aus 
den Briefen ergibt, 1817 an der Waterloofeier teilnahm, ist bezeichnend für ihn und 
war für einen Kieler Studenten damals noch durchaus nichts Selbstverständliches; 
hatte doch der Landesvater, der dänische König, 1813 in Napoleons Lager gestanden. 
Welch tiefes Erlebnis für Lornsen sein einjähriger Studienaufenthalt in Jena 
(1818/1819) bedeutete, wird erst aus diesen Briefen recht klar. Das eine Jahr in 
Jena schuf die unverrückten Grundlagen für die spätere geistige Entwicklung 
Lornsens; er spricht selbst davon (Brief v. 2. Dez. 1818), „welchen glücklichen Ein- 
fluß der Entschluß, nach Jena zu gehen, auf mich gehabt hat, und daß mein Leben 


Kritiken 653 


dadurch eine ganz andere und höhere Tendenz bekommen hat." Wir sehen auch 
deutlich, welcher Natur diese Tendenz war. „Eine Idee — schreibt er am 16. März 
1819 — insbesondere ist es, die bey mir sich hier zu einer solchen Lebendigkeit und 
Klarheit ausgebildet hat, daß ich deren Realisierung mein ganzes Leben und Streben 
widmen werde; eine Idee, die, so natürlich sie dem Menschen an sich auch ist, ganz 
aus unserm Leben verdrängt ist. Es ist die Freyheit in ihrem vollen Umfang, ohne 
welche nichts Wahres, Großes und Schönes im Leben entstehen und bestehen kann.“ 
Es sind zur Hauptsache die Ideen der deutschen Burschenschaft, die Lornsen den 
Antrieb gaben. Noch als er Jena schon wieder verlassen hat, klingt die Stimmung 
nach — 10. Mai 1819 — „ . ich tappte und rang nach etwas Höherem. . . was ich 
denn auch in Jena gefunden habe. Ohne diesen Fund hätte ich mich, wie ein Schiff 
ohne Steuer und Segel, jämmerlich im Leben herumgetrieben." Die Zustände in der 
Heimat wollten ihm nicht behagen, alles Interesse am öffentlichen Leben bestände 
dort in Kannegießerei, bekennt er mit Schmerz. Er denkt im Ernst daran, am grie- 
chischen Freiheitskampfe teilzunehmen, und nur die Rücksicht auf den alternden 
Vater hält ihn zurück und gibt ihm den Gedanken ein, die Laufbahn des Beamten 
— in der schleswig-holsteinischen Kanzlei in Kopenhagen — einzuschlagen (1821). 
Wie er hier bald vom Volontär zu der angesehenen Stellung des Kontorchefs aufrückte, 
ist bekannt. Doch bringen die Briefe auch für diese Jahre viel Neues, so über seine 
rätselhafte Krankheit, die ihm die besten Stunden raubte. Freilich hören wir recht 
wenig über seine politische Entwicklung, gern würden wir im einzelnen erfahren, wie 
der kühne Plan sich in ihm vorbereitete, den er im November 1830 scheinbar so un- 
vermittelt verwirklichte, als er mit seiner Broschüre über das Verfassungswerk in 
Schleswig-Holstein der Kopenhagener Regierung den Fehdehandschuh hinwarf. Man 
darf aber nicht vergessen, wer der Empfänger dieser Briefe war, nämlich der Vater, 
dem gegenüber doch manche Zurückhaltung geboten war. Wie sehr viel freier er sich 
zu Freunden aussprach, das lehrt ein Vergleich der Briefe aus den dreißiger Jahren, 
wo Briefe an den Vater und an Hegewisch zugleich zur Verfügung stehen. — Im 
Oktober 1833 trat Lornsen jene große Reise nach Rio de Janeiro an, wo er dreieinhalb 
Jahre verweilte, eifrig mit der Abfassung seines Werkes über die Unionsverfassung 
der Herzogtümer beschäftigt und stets voll reger Teilnahme für die öffentlichen 
Verhältnisse der Heimat. Da für diese Zeit auch andere Quellen zu Gebote stehen, 
ist die Ausbeute, die die Briefe hier gewähren, nicht so reichhaltig wie für die früheren 
Jahre. Doch auch hieraus tritt uns der kühne, hochstrebende Mann entgegen, dessen 
ganzes Leben unverrückt auf das Rechte gerichtet war, dem Kleinliches fremd war, 
der für seine Tat einstand und die Folgen ohne Klagen auf sich nahm. Nach dem 
Antritt seiner großen Reise hat Lornsen die Heimat nicht wiedergesehen. Auf 
der Rückfahrt begriffen, fand er im März 1838 in den Fluten des Genfer Sees 
sein Ende, gebrochen, aber nicht gebeugt, nach einem Leben voll schwerer Schick- 
sale, gegen die er vergeblich ankämpfte, wie seine Worte im letzten Briefe an den 
Vater lauten. 

Den Herausgebern gebührt Dank für die Besorgung der Sammlung. Durch ver- 
ständige Weglassung des nicht allgemein Interessierenden, durch kurze Überleitungen 
und Anmerkungen — diese meistens von Hoffmann herrührend —, sorgsame Er- 
gänzung mancher durch äußere Schäden entstandener Lücken, durch Stammtafeln 
und Register ist der Wert dieser Briefe noch merklich erhöht worden. | 

Kiel. Rudolf Bülck. 


654 Kritiken 


Becker, Willy, Fürst Bülow und England 1897—1909. Greifswald 1929. Verlag 
Ratsbuchhandlung L. Bamberg. VII, 410 S. 

Beckers Buch stellt sich die Aufgabe, die Politik des Fürsten Bülow in ihrem 
Verhältnis zu England umfassend zu untersuchen und damit die entscheidende 
Periode in den deutsch-englischen Beziehungen ursächlich zu klären. In bunter 
Fülle und nicht immer zugunsten der Geschlossenheit seines Werkes breitet der 
Verfasser das Gewirr der diplomatischen Wechselbeziehungen zwischen Berlin und 
London von neuem aus und ordnet es, dem konstruktiven Charakter seiner Auffas- 
sung entsprechend (ohne Einbeziehung der Marokkokrise) zu einer Trilogie poli- 
tischer Disharmonien. Ein Teil, der erste, behandelt Deutschlands Orientpolitik, als 
deren Exponent die Bagdadbahn erscheint. Die Bündnisverhandlungen, die größte 
Nähe beider Mächte, erfahren in Verbindung mit der Südseepolitik eine ausnehmend 
breite Darstellung in einem zweiten, während im dritten Teil die Frage der Flotten- 
rivalit&t erórtert wird. 

Der zweifellos folgenreichste Irrtum der deutschen politischen Führung unter 
Bülow war der unerschütterliche Glaube an die unwandelbare Existenz des Gegen- 
satzes zwischen dem Zweibunde und England, auf dessen Hintergrund sich die 
unselige These von der arbiter mundi-Stellung des Deutschen Reiches und die 
Politik der „Zwei Eisen im Feuer“ konstruieren ließ, und aus der die ungreifbare, 
verschwommene Weltmachtsideologie erwachsen konnte. Zwei Flügel setzte sie der 
europazentrischen Politik Bismarcks an: einen kontinentalen, die Orientpolitik ; 
einen maritimen, die Flottenpolitik. 

Becker ist entschiedener Vertreter der deutschen Orientprojekte. „Es wird das 
Verdienst der kaiserlichen Regierung bleiben, sich in dem groBen Plan nicht haben 
beirren zu lassen“ (S. 53). Ja, die Orientpolitik allein hätte ‚in zielbewuBter Durch- 
führung die dauernde Sicherheit unserer mitteleuropäischen Stellung uns zu geben 
vermocht". Ihre MiBerfolge seien nicht im Ziel, sondern in der Methode zu suchen. 

Es mag dahingestellt bleiben, ob die Orientpolitik so weit gesteckte Erwartungen 
jemals hätte erfüllen können. Von anderer Seite wird dies m. E. mit gutem Recht 
bestritten. Die Mittel aber, die der Verfasser für eine erfolgreiche Durchführung des 
kontinentalen Programnıs angibt, scheinen mir zu wenig an der politischen Wirk- 
lichkeit orientiert zu sein. Becker entwirft. ein großzügiges, aber im einzelnen unklares 
Reformprojekt, mit dessen Hilfe die Länderbrücke zum Goldenen Horn hätte ge- 
festigt werden können: Die Auflösung des österreichischen Kaiserstaates sei in keiner 
Weise „schicksalsnotwendig‘' gewesen; ihr hätte seitens Deutschlands entgegen- 
gewirkt werden können und müssen. Becker empfiehlt die Überführung des habs- 
burgischen Familienstaates in einen Nationalitätenstaat, in einen neuen Donaustaat 
auf bundesstaatlicher Grundlage, gibt aber in anderem Zusammenhang selbst zu, 
daß scharfe Grenzlinien als Ausdruck einer Staatenbildung auf nationaler Grundlage 
nicht gezogen werden konnten; weiterhin plädiert er für AbstoBung der Minder- 
heiten in den Grenzráumen, wo die benachbarten Nationalstaaten den natürlichen 
Anziehungsherd bildeten. Die Wirtschaftsgemeinschaft einer deutsch-österreichi- 
schen Orientpolitik würde dann nach Beckers Meinung das wirksamste Einheitsband 
des neuen Staates dargestellt haben. Gewiß, Österreichs innerpolitische Methoden 
und seine Behandlung der Balkanvölker sind selten glücklich gewesen. Welcher 
Staatsmann des Deutschen Reiches aber wäre imstande gewesen, dem verbündeten 
Donaustaate zu einer derartigen reformatio in capite ac membris anregend und 


Kritiken 655 


leitend die Hand zu bieten? Wir brauchen nur an unsere Elsaß-Lothringen- und 
Polenpolitik zu denken, um die Problematik des ósterreichischen Staatswesens 
einigermaßen zu ermessen. Und die von Becker geforderten Umbildungen hätten 
eine Freiheit und Energie des Entschlusses zur Voraussetzung gehabt, wie sie von 
Wien kaum jemals erwartet werden konnte. Deutschlands Gewicht im Bündnis 
mit Österreich-Ungarn ist stets eine Funktion seiner Stellung innerhalb des allge- 
meinen Máchtesystems gewesen, und es ist nicht zu übersehen, daB man in der 
WilhelmstraBe die innere Zersetzung der Donaumonarchie gar nicht für so weit 
vorgeschritten gehalten zu haben scheint und sich offenbar auch aus diesem Grunde 
— neben der Rücksicht, die man dem letzten Bundesgenossen schuldig zu sein 
glaubte — einer Einflußnahme auf seine inneren Verhältnisse enthielt. 


Becker betont von vornherein und mit Recht die Unüberbrückbarkeit des Gegen- 
satzes zu RuBland, dessen Druck auf Deutschlands mitteleuropüische Stellung und 
seine Politik in Vorderasien nur durch Verständigung mit England hätte paralysiert 
werden können. Von der Erreichbarkeit eines Bündnisses mit England ist der Ver- 
fasser überzeugt und steht daher in seiner Darstellung der Verhandlungen um die 
Jahrhundertwende der deutschen Haltung durchaus kritisch gegenüber, während 
er m. E. die Großzügigkeit und die Weite des politischen Blicks allzu freigebig dem 
Engländer zollt und die Stellung Chamberlains in Kabinett und öffentlicher Meinung 
überschätzt. Im deutschen Lager sei von Bülow der stärkste Widerstand gegen eine 
Verstándigung mit England ausgegangen. Die Flottenpolitik sei das entscheidende 
Motiv für seine ablehnende Haltung gewesen. Diese Feststellung des Verfassers 
erschüttert die bisher fast allgemein vertretene Ansicht, daB der Flottengedanke auf 
die Bündnisverhandlungen keinen maßgebenden Einfluß ausgeübt habe. Nur unter- 
legt der Verfasser auch hier der Neigung, einen Faktor aus der Gesamtheit der 
politischen Kräfte zu lösen und seine einzigartige Bedeutung zu erweisen, ohne seine 
organische Verknüpftheit mit den gleichzeitig wirkenden Faktoren gebührend zu 
berücksichtigen. Mit dieser einseitigen Überschätzung geht Becker gewiß an manchen 
Nuancen von Bülows Englandverhältnis vorüber. 


In Deutschlands Flottenpolitik sieht der Verfasser auch den Hauptgrund für 
die wachsende Entfremdung zwischen beiden Mächten, während seine Erörterungen 
das nur noch vereinzelt vertretene Argument der Handelsrivalität auszuschalten 
bemüht sind. Dieser Nachweis ist dem Verfasser überzeugend gelungen, und es ist 
zu wünschen, daß mit dieser von den Vertretern der Flottenpläne unermüdlich ins 
Feld geführten These endlich aufgeräumt werde. 


Fürst Bülow hatte die schwere Aufgabe übernommen, die Kaiser-Tirpitz-Pläne 
zu realisieren und in der Zeit des Übergangs das deutsche Staatsschiff durch die 
Wogen der für Deutschland immer bedrohlicher werdenden Umlagerungen innerhalb 
des europäischen Mächtesystems zu bugsieren. Frühzeitig, schon im Jahre 1904, 
stiegen ihm Zweifel an der Durchführbarkeit der Flottenpläne auf, von der Erkenntnis 
diktiert, daß die Rüstungen eines Staates stets eine Funktion der Rüstungslage des 
andern sind, eine Erkenntnis, von der die Flottenfanatiker bekanntlich nicht be- 
schwert waren. Wohl neigte er am Ende einer Verständigung mit England und einer 
Einschränkung des Flottenbautempos zu, aber er betrieb beides nicht mit der nötigen 
Energie und Kraft des Entschlusses. ,,Es war sein großer Fehler, trotz dieser richtigen 
Krkenntnis den Endkampf gegen die Widersacher nicht zu wagen. Letzten Endes 


656 Kritiken 


fehlte ihm auch in diesem Falle der leidenschaftliche Tatwille des aufrechten und 
starken Staatsmannes." 

Beckers Charakteristik der staatsmännischen Persönlichkeit Bülows hält sich 
vollständig in den bisher vertretenen und durch die Memoiren des Fürsten bestätigten 
Auffassungen. Nur hätte man gewünscht, daß die politische Struktur des Kanzlers 
und sein Verhältnis zu England in einem mit scharfem Griffel gezeichneten Kapitel 
zusammenfassend dargestellt worden wäre; einen Ersatz dafür kann die Schluß- 
betrachtung des Buches nicht bieten. 

Alle diese Erörterungen vermögen aber das Verdienst des Verfassers nicht zu 
berühren, die Problematik des deutsch-englischen Gegensatzes, in der alle Betrach- 
tung der diplomatischen Vorgeschichte des Weltkrieges kulminiert, in einem respek- 
tablen Erstlingswerk zum ersten Male umfassend untersucht und damit einen wert- 
vollen Beitrag zur Vorgeschichte des Weltkrieges geliefert zu haben. 


Berlin. Herbert Michaelis. 


Nachrichten und Notizen. 


Karl Müller, Aus der akademischen Arbeit. Vorträge und Aufsätze. Tübingen, 
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1930, IV, 356 S. 89. 


Man mag zu den jetzt in Aufnahme gekommenen Wissenschaften in Selbst- 
darstellungen stehen, wie man will, wenn eine wissenschaftliche Persónlichkeit 
sich dem 80. Jahre nähert, ihr Leben und Arbeiten dem Abschlusse nahe fühlt und 
nun rückschauend von ihrem inneren und äußeren Werden erzählt, so wird man mit 
Ehrerbietung nahen, und wenn es mit einer solchen Schlichtheit geschieht, wie 
Karl Müller in der diesem Bande vorausgeschickten, ursprünglich für die , Reli- 
gionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen“ bestimmten Lebens- 
skizze, so wird man diese Blätter nicht ohne ein Gefühl der Verehrung aus der Hand 
legen. Wenige, denen seine Kirchengeschichte ein geschätztes Lehr- und Nach- 
schlagebuch geworden ist, werden die Tragik geahnt haben, die dieses Werk für das 
Leben ihres Verfassers bedeutet hat. Auf Anregung des Verlegers übernommen, 
weil er von der Notwendigkeit eines derartigen Handbuchs überzeugt war, wurde 
es zu einer lähmenden Kette, zu einer dauernden schweren Belastung für ihn. Der 
Zwang einer gleichmäßigen Behandlung aller Zeiträume nótigte zu breiterer Be- 
schäftigung auch mit den Stoffen, die keine größeren Probleme boten, und hielt 
ihn eben hierdurch von der Vertiefung in die Zeiten ab, deren gründlichste Durch- 
forschung ihm Herzensbedürfnis war. Von dem Reichtum seines Geistes zeugt, 
daß es Karl Müller trotzdem möglich geworden ist, der kirchenhistorischen For- 
schung eine so große Zahl von Spezialuntersuchungen zu widmen, daß das beige- 
gebene Schriftenverzeichnis nicht weniger als 47 Arbeiten zu den verschiedensten 
Zeiten und Problemen aufweist. Von ihnen sind fünfzehn Vortráge und Aufsátze 
in dem vorliegenden Bande vereinigt, die mit Ausnahme eines Vortrages den Wieder- 
abdruck an entlegener Stelle erschienener oder längst vergriffener Arbeiten dar- 
stellen. Die verschiedenen Bereiche seiner Gelehrtentätigkeit sind vertreten, das 
Gebiet der alten Kirche mit den Abhandlungen „Das Reich Gottes und die Dä- 
monen in der alten Kirche", „Konstantin der Große und die christliche Kirche“ 


Nachrichten und Notizen 657 


und „Die Kirchenverfassung im christlichen Altertum". Merkwürdigerweise findet 
sich kein Beitrag aus dem Gebiet des Mittelalters, von dem, insbesondere von der 
Zeit Ludwigs des Bayern, Müller seinen Ausgang genommen hat. Dagegen aus 
seinen reformationsgeschichtlichen Forschungen die 6 Arbeiten: „Die großen 
Gedanken der Reformation und die Gegenwart", „Wesen und Bedeutung der 
Kirche für den einzelnen Gläubigen nach Luther‘, „Die Anfänge der Konsistorial- 
verfassung im lutherischen Deutschland“, „Calvin und die Anfänge der französischen 
Hugenottenkirche", „Die Bartholomüusnacht" und „Aus den Aufzeichnungen 
flüchtiger Hugenotten“. Die württembergische Kirchengeschichte, der Müller durch 
seine Herkunft innerlich verbunden war und deren Erforschung er sich nach seiner 
Berufung nach Tübingen im Jahre 1903 angelegen sein ließ, ist durch die drei Auf- 
sätze vertreten: „Die künftigen Aufgaben der württembergischen kirchengeschicht- 
lichen Forschung“, „Zur Geschichte der katholischen Professuren an der Universität 
Tübingen" und „Die religiöse Erweckung in Württemberg am Anfang des 19. Jahr- 
hunderts." Den Beschluß der Sammlung bildet die Behandlung zweier allgemeiner 
Fragen: „Gefahr und Segen der Theologie für die Religiosität“ und „ Wissenschaft 
und Erbauung." So sind in diesem Bande eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen, 
die schwer zu erreichen waren, wieder zugänglich gemacht, zugleich aber ein Beweis 
gegeben von den weiten Ausmaßen des Lebenswerkes von Karl Müller. Für beides 
sind wir zu Dank verpflichtet. Wendorf. 


Hessische Biographien, in Verbindung mit Karl Esselborn und Georg Lehnert, 
herausgegeben von Herman Haupt. Bd. I Lieferung 2—4 S. 129—520; Bd. II 
Lieferung 1—6 (Lieferung 5—9 der ganzen Folge) 502 Seiten; Bd. III Lieferung 
1—3 (Lieferung 10—12 der ganzen Folge) S. 1—288. Darmstadt, (GroBherzoe- 
lich) Hessischer Staatsverlag. 1913— 1931. 

Die erste Lieferung der Hessischen Biographien, die im Jahre 1912 erschienen ist, 
wurde im 18. Bande der Historischen Vierteljahrschrift (1918) 421 von mir angezeigt. 
Seither ist das Unternehmen mit 11 weiteren Lieferungen rüstig fortgeschritten. 

In dem ersten Bande, dessen drei weitere Lieferungen 1913—1918 heraus- 
gekommen sind, wird u.a. Karl Theodor Welcker von Wentzcke behandelt, Georg 
Büchner von Collin, der Mainzer Domkapitular Moufang von Forschner, Rudolf 
Oeser, der unter dem Namen O. Glaubrecht bekannte Volksschriftsteller, von 
Roeschen, Otto Roquette von Knispel, Gervin us von O. Harnack, Wilhelm Schulz 
von Nabholz. Collin bat den geistigen EinfluB der Apostel Saint-Simons, den Büchner 
in Straßburg erfuhr, und der entscheidend für seine politische Betätigung in Hessen 
wurde, gut aufgezeigt; noch K. E. Franzos hatte in seiner sonst vortrefflichen Ein- 
leitung zu Büchners Sämtlichen Werken (1879) zwischen der Straßburger und der 
GieBener Zeit keinerlei Beziehungen herzustellen vermocht. Moufang ist seither in 
Vigeners Ketteler-Biographie in etwas schärferen Linien gezeichnet worden, als es 
hier durch Forschner geschehen ist. Harnacks Gervinus ist etwas mager ausgefallen. 
In der Biographie von Wilhelm Schulz hätte man nähere Mitteilungen über seine seit 
1831 veröffentlichten Vorschläge zur Errichtung einer deutschen Nationalvertretung 
gewünscht, die für dieGeschichte dieser Einrichtung von erheblicher Bedeutung sind. 

Im zweiten Band (erschienen 1920—1927) wird man u.a. unterrichtet von 
K. v. Gareis über Michael Birnbaum, der, als 21. Kind eines fürstbischöflichen Hof- 
bedienten 1792 zu Bamberg geboren, Professor der Rechte in Lüttich, Freiburg, 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd.26, H.3. 42 


658 Nachrichten und Notizen 


Utrecht, Gießen war, von Lauckhard über die Dichterin Luise von Ploennies, von 
R. Schäfer über den liberalen Politiker Ernst Emil Hoffmann, Vorkämpfer des Deut- 
schen Zollvereins und Schöpfer des Hessischen Volksblattes, der ersten freien poli- 
tischen Zeitung im Lande, von W. Wolkenhauer über Ernst Dieffenbach, der, wegen 
Beteiligung an der Burschenschaft landflüchtig, in England heimisch und der erste 
wissenschaftliche Erforscher Neuseelands wurde, von Alexander Schnütgen über den 
Mainzer Domkapitular Bruno Liebermann. A. v. Grolmans Lebensabriß des Dichters 
und Architekten Fritz Hessemer ist ein Auszug aus v. Grolmans Buch über Hessemer, 
das 1920 als Nr. 1 der Frankfurter Lebensbilder erschienen ist. Ein Artikel über den 
niederländischen Staatsmann Thorbecke von Blok ist mit Rücksicht auf Thorbeckes 
kurze Tätigkeit als Privatdozent für Geschichte und Philosophie in Gießen 1822/23 
aufgenommen. 

Die drei ersten Lieferungen des 3. Bandes enthalten u. a. Biographien des Dich- 
ters Eduard Duller (R. Newald), des namentlich durch seine Beziehungen zu Freilig- 
rath bekannten Schriftstellers Karl Buchner (K, Hensing), Alexanders v. Battenberg, 
Fürsten v. Bulgarien (L. Kattrein) und des Ministers Frhn. du Bos du Thil 
(H. Ulmann). 

Von den drei Herausgebern, deren Mitarbeit sich über alle Bünde verteilt, hat 
H. Haupt seine liebevolle Aufmerksamkeit vor allem den politischen Mürtyrern, 
Flüchtlingen und Auswanderern zugewandt, deren Schicksale der hessischen Ge- 
schichte ihr besonderes Geprüge geben; wir nennen Friedrich Walloth, der sich der 
Untersuchung wegen burschenschaftlicher Umtriebe durch die Flucht entzog, am 
badischen Aufstand teilnahm, in Asturien im Dienste einer englischen Holzhandels- 
gesellschaft ein Vermógen erwarb und schlieBlich in Genf als Hausgenosse von Karl 
Vogt lebte, Karl Seebold, der in der christlich-teutschen Burschenschaft in Gießen 
dem Radikalismus Karl Follens entgegentrat und dann, mit J. Fr. Fries eng be- 
freundet, als Dozent der Philosophie in Gießen und Basel, als Lehrer in England und 
in Mannheim tätig war, Gustav Schleicher, der in Texas zu führender Stellung auf- 
stieg, Ferdinand von Loehr, der seine Landsleute zur Teilnahme am badischen Auf- 
stand fortzureißen suchte und dann in San Franzisko als Arzt und Politiker wirkte, 
die Brüder Friedrich und Georg Münch, die dem Kreise der Gießener Schwarzen an- 
gehórten und dann als Führer einer deutschen Niederlassung in Missouri durch 
unermüdliche und erfolgreiche Tätigkeit zu höchstem Ansehen gelangten, J. Ph. 
Doerschheimer, Gastwirt in Buffalo, der als Wortführer der Republikaner deutschen 
Stammes 1856 bei der Aufstellung Fremonts für die Präsidentschaftswahl in ent- 
scheidender Weise mitwirkte, Karl Minnigerode, als Gießener Student Mitglied der 
von Georg Büchner gestifteten Gesellschaft der Menschenrechte und später gefeierter 
Kanzelredner und führender Geistlicher zu Richmond in Virginien, Emil Glauprecht, 
Schriftsteller und Vorkämpfer des Deutschtums in Cincinnati, den Chemiker Fried- 
rich Wilhelm Bopp, den ein Nervenfieber dahinraffte, während er seiner Verurteilung 
wegen Teilnahme am badischen Aufstand entgegensah, den glänzend begabten 
Karl Ohly, der kurz vor seinem Eintritt in den Pfarrdienst gemeinsam mit F. v. Loehr 
an die Spitze der hessischen Aufstandsbewegung trat, später ein karges Brot als 
Mitarbeiter der Allgemeinen Zeitung in England fand und in geistiger Umnachtung 
endete. Esselborn hat sich u.a. des Theologen Wilhelm Baur, des Schriftstellers 
Johannes Weitzel und des Dichters Ernst Niebergall angenommen, über den er 1922 
eine ausführliche Biographie veröffentlicht und von dessen Werken er eine neue Ge- 


Nachrichten und Notizen 659 


samtausgabe besorgt hat. Die Beiträge von Lehnert sind vorzugsweise klassischen 
Philologen (Georg Rettig, Ludwig Lange, Ferdinand Dümmler, Eduard Lübbert, 
Engelbert Schneider, Heinrich Rumpf, Andreas Weidner) gewidmet. 

Durchgängig sind die bibliographischen Angaben mit besonderer Sorgfalt be- 
handelt. Wir wünschen dem verdienstlichen Unternehmen, das bei aller Mannig- 
faltigkeit des Inhalts die Eigenart des hessischen Volksstammes eindrucksvoll zur 
Erscheinung bringt, weiteren gedeihlichen Fortgang. 

Utrecht. O. Oppermann. 


Regesten der Erzbischöfe von Bremen von Otto Heinrich May. (Ver- 
öffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, 
Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen, Heft XI.) Bremen, Kom- 
missionsverlag G. Winter, 1928 (97 S.). 

Bei der Bedeutung, die das Erzbistum Bremen mit seinen Bischöfen vom 
Range eines Ansgar, Adalbert, Johann Rode in der mittelalterlichen Geschichte ein- 
nimmt, ist es verwunderlich, daß seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also seit 
den Editionen Lappenbergs und v. Hodenbergs, für die Quellenherausgabe der 
Bremer Erzdiözese so wenig geschehen ist, B. Schmeidlers würdige Ausgabe des 
Adam von Bremen natürlich ausgenommen. Und da die Hauptmasse des alten erz- 
bischöflichen Archivs, einst in Stade verwahrt, unter dem Titel ,,Erzstift Bremen“ 
in Hannover ruht, hätte man von hier aus schon längst eine Bearbeitung des Materials 
erwarten dürfen. Die Historische Kommission für Niedersachsen, wie sie kurz 
genannt wird, erkannte schon bald nach ihrer Gründung, daß die Herausgabe der 
Regesten der Erzbischöfe von Bremen eine ihrer dringendsten Aufgaben sei. Endlich 
betraute sie O. H. May, der schon mit seiner Dissertation, den „Untersuchungen über 
das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Bremen im 13. Jahrhundert“ (Arch. f. 
Urk.-Forschung 4, 1922) wertvolle Vorarbeiten geleistet hatte, mit der umfassenden 
Aufgabe. Im Niedersächs. Jb. 1 (1924) legte er einen vorläufigen Bericht über seine 
Vorarbeiten und Unternehmungen nieder. 

Endlich ist der von vielen Seiten sehnlichst erwartete 1. Band mit einer Lieferung 
erschienen, die die Zeit des Erzb. Willehad von 787 bis zum Tode des Erzb. Liemar 
(1101) umfaßt. Die nächste Lieferung soll bis zum Tode Erzb. Giselberts (1306) 
führen und den ersten Band abschließen. Da das Vorwort mit den Grundsätzen der 
Herausgabe, sowie ein Literaturverzeichnis, eine Liste der Siglen und ein Register 
ebenfalls dann erst zu erwarten sind, so behalte ich mir vor, alsdann auf das ganze 
Werk zurückzukommen. Schon jetzt läßt sich sagen, daß May für den ersten Teil 
seines Buches eine sehr sorgfältige, gewissenhafte Arbeit geleistet hat, wofür ihm der 
Dank mindestens aller Forscher im Bereich des alten Erzstifts Bremen sicher sein 
wird. Darüber hinaus aber darf man erwarten, daß auch im übrigen Deutschland bei 
den vielfachen Berührungen, die die bremische Stiftsgeschichte mit anderen Provin- 
zen verbinden, Mays Regestenwerk volle Anerkennung finden wird. 

Oldenburg i. Old. Hermann Lübbing. 


Franziskanische Studien. 16. u. 17. Jg. Münster i. W. 1929 u. 1930. 
Ordensgeschichte: Dem. Doelle, Zur Geschichte der Betrachtung im Franzis- 
kanerorden (16, 229—235): Seit 1452 wird auf den Kapiteln die Verpflichtung zur 
täglichen Betrachtung (meditatio oder oratio mentalis) gefordert. G. Haselbeck, 
42* 


660 Nachrichten und Notizen 


Ein neuer Typ der Statuta Julii II. (17, 356—360): Ein Druck aus Herzogenbusch 
in Fulda (1509), der für die Martinianische Reform wichtig ist. Fid. v. d. Borne, 
Ursprung und erste Entwicklung des franziskanischen Dritten Ordens (16, 177 bis 
192): Fortsetzung von des Vf. „Anfänge des Dritten Ordens“ im 8. Beiheft der 
Fr. Stud. (1925). Eine Weiterführung dieser ideengeschichtlich wichtigen Studien 
durch das Mittelalter ist erwünscht. Die Hauptlinien hat H. in der Linzer Quartal- 
schrift 1919, S. 32ff. gezogen. Will. Lampen, Quaracchi. Leo XIII. und die Fran- 
ziskanerschule (17, 241—252), betr. die Lehre des hl. Thomas. — Ordensangehörige: 
Ludg. Meier, St. Bonaventura als Meister der Sprache (16, 15—28). Fid. Schwen- 
dinger, Die Erkenntnis in den ewigen Ideen nach der Lehre des hl. Bonaventura 
(16, 29—64, 3. Teil). F. Imle, Die Gemeinschaftsidee in der Theologie des hl. B. 
(17, 325—341). L. Meier, Bonaventuras Selbstzeugnis über seinen Augustinismus 
(17, 342—355). Jos. Klein, Die Überlegenheit der Charitaslehre des Johannes 
Duns Skotus (16, 141—155). P. Fleig, Um die Echtheit von Duns Scotus' De 
anima (16, 236—242). Frz. Pelster, Eine Münchener Handschrift des beg. 14. Jahr- 
hunderts mit einem Verzeichnis von Quaestionen des Duns Scotus und Herveus 
Natalis (17, 273—291). W. Lampen, Alexander v. Hales u. der Antisemitismus 
(16, 1—14). B. Geyer, Die Frage nach der Echtheit der Summa des Al. Halensis 
(16, 171—176). W. Pohl, Ein bedeutsames Werk der Franziskanerscholastik des 
13. Jahrhunderts. Bemerkungen zu Jansens [1922—1926] Olivisusgabe (16, 65—71). 
Kol. Juhász, Der erste Franziskanerbischof in Südosteuropa, Antonius, Bischof 
von Tschanad (16, 156—170): Zuerst 1298 genannt. Der Verf. hat auch 1927 in 
Heft 8/9 der von Gg. Schreiber hsggb. Sammlung ,,Deutschtum und Ausland" die 
»Stifte der Tschanader Diózese im Mittelalter" behandelt. L. Meier, Der Sentenz- 
kommentar des Matthias Doering (17, 83—89): Ergänzung zu Alberts Arbeit 
(1892) über D., ,scharfkantig zwar und voll sprühender Kampfbereitschaft, aber 
frei von der nominalistischen Gelehrtenhybris". Joh. Kist, Der hl. Johannes 
Kapistran und die Reichsstadt Nürnberg (16, 193—215): mit wertvollen Briefen 
K.'s aus den Jahren 1451/52. Ger. Hesse, Augustin von Alfeld, Verteidiger des 
Apostolischen Stuhles (17, 160—178): zwei Schriften des Leipziger Lektors aus dem 
Jahre 1520. Herm. Bücker, Dr. Konrad Klinge, der Führer der Erfurter Katho- 
liken z. Zt. der Glaubensspaltung (17, 273—297): neuer Beitrag zu Kl., über den der 
Vf. schon F. St. 10, 177ff. und 15, 252ff. Aufsätze veröffentlicht hat. Bei den Be- 
ziehungen zu Georg Witzel u. a. ist auf Gr. Richters Arbeiten, namenflich Bd. 10 
der Veróffentlichungen des Fuldaer Geschichtsvereins (1913) hinzuweisen. H. Dau- 
send, Franz Xaver Lohbauer (17, 298—306): Verfasser eines Rituale (T 1885 in 
München). — Misstonsgeschichte: Cajus Oth mer über den sel. Thomas v. Tolentino 
(1321) in Indien (16, 72—80) und Liberat Weiß (1705—12) in Äthiopien (16, 243 bis 
267). O.Maas gibt eine Übersicht über Missionsliteratur des Jahres 1929 (17, 
383—400). — Provinzen und einzelne Konvente: K. Kantak, Die Entstehung der 
polnischen Konvente der böhmisch-polnischen Fr.-Provinz (16, 81 —119):Kustodien 
Krakau, Gnesen, Lemberg, Wilna. Patr. Schlager, Zur Geschichte der Franziska- 
nerinnen zu Goch (16, 216—219): Nekrolog des Klosters bis 1801. Nachruf für den 
am 17. Februar 1930 verstorbenen Vf.: 17, 401. Hil. Rieck, Zur Geschichte des 
Wallfahrtsortes Marienthal [Westerwald] (16, 120—132). Ambr. Gótzelmann, 
Das Studium der Philosophie und Theologie im Franziskanerkloster Miltenberg 
a. Main 1743—1807 (16, 268—274): Der Lektor P. Ildephons Kobel ist der Neffe 


Nachrichten und Notizen 661 


des letzten Direktors des Hammelburger Gymnasiums P. Odorikus Kobel, vgl. 
Ed. Kreß, Das höhere Bildungswesen in Hammelburg seit der Reformation (1925), 
29f. Götzelmann, Zum 300jährigen Jubiläum des Fr.-Kl. Miltenberg (17, 
361—382). W. Felten, Zur Geschichte des Minoritenklosters Seligenthal an der 
Sieg (16, 275—302). — Heft 1 und 2 des 17. Jahrgangs ist der Sächsischen Provinz 
zur Feier ihres 700jáhrigen Bestehens gewidmet. Der Herausgeber Ferd. Doelle gibt 
als Einleitung eine knappe, klare Entwicklungsgeschichte der Provinz in Leid und 
Arbeit (17, 1—11) und stellt die Provinzialvikare der Observantenprovinz seit 1669 
auf Grund sorgfältiger Quellenstudien zusammen (17, 58—82). Weiter sind zu 
nennen: Mich. Bihl, Franziskanerwunder in Deutschland im 13. und 14. Jahr- 
hundert (17, 26—57). Engelb. Büscher, Die Franziskaner und das Theater (17, 
106—119): Schuldramen, deren Stoffe dem Alten und Neuen Testament, den Heili- 
genleben und der Geschichte entnommen wurden. Manfr. Loddenkótter, P. Gregor 
Janknechts Verdienste um die süchsische Provinz (17, 211—227): langjühriger Pro- 
vinzial und Organisator (} 1896 Paderborn) in Amerika und Brasilien. O. Maas, 
Die Missionstätigkeit der Provinz (17, 120—139). Einhard Oberthür, Das Fran- 
ziskanergymnasium der sächsischen Provinz im 17. und 18. Jahrhundert (17, 179 
bis 198): in Dorsten, Vechta, Rheine, Warendorf, Vreden, Geseke, Wipperfürth, 
Recklinghausen, Rietberg, Meppen, Osnabrück und Coesfeld. Ziel der Erziehung war 
die vera pietas und die vera eruditio. — Zur Geschichte der einzelnen Konvente 
sind zu nennen: Ang. Heddergott, Das Franziskanerkloster zu Dingelstädt im 
Kulturkampf (17, 199—210). Hans Mertens, Die alte Franziskanerbibliothek in 
Hannover (17, 97—105). Jak. Wallenborn, Luther und die Franziskaner von 
Jüterbog (17, 140—159): in den 1519 abgefaßten und hier abgedruckten „ Articuli“ 
des P. Bernhard Dappen wird zum ersten Male der Name „Lutheraner gebraucht. 
Th. Noll, Das Totenbuch der Mühlhäuser Franziskaner (17, 12—25): die Ver- 
öffentlichung des gesamten Textes wäre wünschenswert. Beda Kleinschmidt, 
Zur Ikonographie des hl. Franziskus (17, 229—232): ein Barockgemälde aus dem 
Franziskanerkloster Paderborn. Jos. Schmidt, Die Bibliothek des Franziskaner- 
klosters Weida (17, 90—96): Katalog aus dem Weimarer Staatsarchiv (1525). 
O. Clemen, Ein ausgetretener Zwickauer Franziskaner (16, 306—308): Johann 
Günter, 1533 Pfarrer in Bockwa bei Zwickau. O. Clemen, Reste der Bibliothek des 
Franziskanerklosters in Zwickau (17, 228). | 
Breslau (Januar 31). Wilhelm Dersch. 


Dr. Alfred Schmidt, Die Kölner Apotheken von der ältesten Zeit bis zum Ende 
der Reichsstädtischen Verfassung. Veröffentlichungen des Kölner Geschichts- 
vereins E. V. Bd. 6. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Köln 1931. 
Verlag des Kölnischen Geschichtsvereins E. V. In Kommission bei Creutzen 
& Co., Köln, Schildergasse 82. X, 164 S., 27 Tafeln. 4°. 

Dem verdienten Erforscher der Drogen- und Apothekengeschichte, der uns 
leider heur im März viel zu früh entrissen wurde, Alfred Schmidt, war es vergönnt 
eben noch die zweite Auflage seiner historischen Studie über die Kölner Apotheken 
erscheinen zu sehen. Wenn er in seiner übergroßen Bescheidenheit noch eine Ent- 
schuldigung dafür geben zu müssen glaubte, daß er, der Erwerbstätige, sich un- 
zünftig auf das Gebiet der Wissenschaft gewagt habe, so beweist uns seine Arbeit, 
daß dieses Wagnis ein sehr glückliches gewesen ist. Alfred Schmidt verarbeitete 


662 Nachrichten und Notizen 


das Material, das Friedrich Ballingrodt im Kölner Stadtarchiv gesammelt hatte, 
und an dessen Veröffentlichung ihn ein frühzeitiger Tod verhindert hatte. Das 
ganze Material wäre jahrzehntelang liegen geblieben, wenn sich Schmidt nicht 
seiner im Jahre 1904 angenommen, es durch weitere Nachforschungen erheblich 
vermehrt und in eine glücklich gestaltete Form gebracht hätte. Die aus den Stadt- 
akten publizierten Schriftstücke bereichern unsere Kenntnisse von der Entwicklung 
des Apothekerwesens auf das reichste und das ganze Buch beleuchtet paradigmatisch 
die Beziehungen zwischen den Apotheken und einer Stadt mit ihren Ständen. 
Ähnliche Arbeiten über die Entwicklung der Apotheken in anderen Städten wären 
vom pharmakologiegeschichtlichen und soziologischen Standpunkte aus sehr wün- 
schenswert. Die neue Auflage bringt zwei neue Tafeln und ein gutes Namen- und 
Sachregister. Ludwig Englert. 


Gutenberg-Jahrbuch 1930. Herausgegeben von A. Ruppel. Mainz: Verlag der 
Gutenberg-Gesellschaft. 1930. 359 S. 4°. 

Gottfried Zedler, Die sogenannte Gutenbergbibel sowie die mit der 42zeiligen 
Bibeltype ausgeführten kleineren Drucke. Mainz: Verlag der Gutenberg- 
Gesellschaft. 1929. XVI, 125 S., 52 Tafeln. 49. ( Veröffentlichungen der 
Gutenberg-Gesellschaft 20.) 

Eine ausführliche Besprechung und Würdigung der beiden vorliegenden Werke 
soll in dieser Anzeige nicht gegeben werden. Sie beabsichtigt vielmehr nur, auf 
diese Schriften die Aufmerksamkeit der Historiker zu lenken, denen vielleicht nicht 
allen die Veróffentlichungen der Mainzer Gutenberg-Gesellschaft bekannt sind. 
Vom Gutenberg-Jahrbuch liegt nunmehr der fünfte Jahrgang dieser internationalen 
Zeitschrift für die Wissenschaft vom Buche im weitesten Sinne vor. Der sehr rührige 
Herausgeber A. Ruppel, Direktor des Mainzer Gutenbergmuseums, hat es auch 
diesmal verstanden, ausgezeichnete Gelehrte aus den verschiedensten Ländern der 
Erde als Mitarbeiter zu gewinnen. Im einzelnen kann nicht auf die dreißig unter- 
einander ganz verschiedenartigen Aufsätze eingegangen werden. Der Inhalt ist 
äußerst vielseitig, wie ja die Wissenschaft vom Buche umfangreich ist: Geschichte 
des Buchdrucks, Geschichte einzelner Drucker, Notendruck, Exlibris, Buchschmuck 
(Holzschnitt, Kupferstich), einzelne Buchkünstler u.a. Es ist mir aufgefallen, daß 
der Bucheinband nicht mehr mit Untersuchungen vertreten ist wie in den ersten 
Jahrgängen (Arbeiten von Husung, Theele u.a.). Das ist sehr zu bedauern und 
kann auch damit nicht begründet werden, daß für die Finbandforschung jetzt ein 
eigenes Organ (Jahrbuch der Einbandkunst) existiert. Das trifft doch auch für an- 
dere Gebiete der Buchwissenschaft zu, ohne daß im Gutenberg-Jahrbuch dies 
Beachtung fände. Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß in den folgenden Bänden 
das Gutenberg-Jahrbuch auch der Einbandforschung wieder seine Pforten öffnet. 

Mit dem zweiten der oben angekündigten Werke beginnt Gottfried Zedler 
eine Reihe von Veröffentlichungen zur Geschichte des frühen Buchdrucks. In dem 
ganzen Komplex der hiermit verknüpften Fragen und Probleme bedeutet der 
Name des Verfassers bereits ein Programm. In dem hin und her gehenden Streite 
um die Erfindung der Buchdruckerkunst sieht Zedler — seine Ansicht ist am deut- 
lichsten ausgesprochen und am besten nachzulesen in seinem Buche ‚Von Coster 
zu Gutenberg! — in dem holländischen Frühdrucker Laurentius Coster den Er- 
finder der beweglichen Typen und des Sandgußverfahrens, während Gutenberg das 


Nachrichten und Notizen 663 


Verdienst dar Erfindung des verstellbaren GieBinstruments zukommt. In dem 
allgemein üblichen Sinn ist also Gutenberg nicht mehr der Erfinder der Buch- 
druckerkunst. Der Titel des neuen Werkes zeigt bereits, in welcher Richtung Zedler 
seine Untersuchungen weiterführt. Das berühmteste Druck-Erzeugnis, die Guten- 
bergbibel, ist ihm nur noch die sogenannte Gutenbergbibel. „Gutenberg kommt 
als Bibeldrucker hinfort nicht mehr in Frage." Er hat von vornherein nicht an 
einen Bibeldruck gedacht, sondern den Druck eines Missale für die Mainzer Diözese 
geplant. Der Herstellung des hierfür notwendigen Druckapparates (u. a. fünf ver- 
schiedene Typen) diente die Geschäftsverbindung mit Fust. Die für Gutenberg 
unglückliche Auflösung dieser Gesellschaft beraubte ihn seines Materials, mit dem 
nun Fust und Schöffer nicht den Druck eines Missale, sondern. den der 42zeiligen 
Bibel, der von Zedler jetzt sog. Gutenbergbibel unternahmen. Die Ergebnisse 
dieser Untersuchungen — ein langes Leben ist an ihre Herausarbeitung gesetzt 
worden — sind gewiß umstürzlerisch und beseitigen alte, eingewurzelte Vorstel- 
lungen; sie sind aber m. E. überzeugend und beweiskräftig vorgetragen. Es folgt 
noch eine Untersuchung der sonstigen mit der 42zeiligen Bibeltype hergestellten 
Drucke. Es sind nur wenige und ziemlich bedeutungslose Druckwerke bekannt 
geworden: a) ein liturgischer Psalter, von dem nur 1 Blatt erhalten ist, b) mehrere 
Donate und c) schließlich einige Fälle einer gelegentlichen Verwendung als Aus- 
hilfstype. 
Wolfenbüttel. i H. Herbst. 


Corpus Catholicorum, Werke katholischer Schriftsteller im Zeitalter der Glau- 
bensspaltung. Münster i. Westf. Aschendorfsche Verlagsbuchhandlung. 

Heft 14: Johannes Eck, Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther, 
den Bürgermeister von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sam. Nach 
den Originaldrucken, mit bibliographischer und sprachwissenschaftlicher Ein- 
leitung, Anmerkungen und einem Glossar hsg. von Karl Meisen und 
Friedrich Zoepfl. CXI, 82 S. gr. 80. 

Heft 16: Tres orationes funebres in exequiis Ioannis Eckii 
habitae. Accesserunt aliquot epitaphia in Eckii obitum scripta et catalogus 
lucubrationum eiusdem (1543). Nach den Originaldrucken mit bio-biblio- 
graphischer Einleitung, einer Untersuchung der Berichte über Ecks Tod und 
einem Verzeichnis seiner Schriften hsg. von Joh. Metzler S. J. CXXXVI, 
103 S. gr. 8° mit 4 Tafeln. 

Mit diesen beiden Veröffentlichungen wird die kritische Ausgabe der Werke 
des bedeutendsten altgläubigen Gegners Luthers fortgesetzt (die übrigen vgl. Heft 
1. 2, 6, 13 Corp. Cath.). Heft 14 bringt vier seiner wichtigsten deutschen Schriften 
aus den Jahren 1520—1527. An erster Stelle eine Auseinandersetzung mit Luther 
unter dem Titel „Des heilgen concilii tzu Costentz, der heylgen Christenheit und 
hohlöblichen keyBers Sigmunds und auch des teutzschen adels entschüldigung, 
das in bruder Martin Luder mit unwarheit auffgelegt, sie haben Joannem Hub 
und Hieronymum von Prag wider babstlich, christlich, keyserlich geleidt und 
eydt vorbrandt“; sie ist eine Entgegnung gegen die Angriffe Luthers auf das Kon- 
stanzer Konzil in der Zeit der Leipziger Disputation, bleibt jedoch nicht bei diesem 
Gegenstand stehen, sondern geht auf die gesamte Lehre Luthers ein, ist aber trotzdem 
weniger bedeutsam in wissenschaftlich-dogmatischer Hinsicht als wichtig für die 


664 Nachrichten und Notizen 


Kenntnis und Beurteilung der Persönlichkeit Ecks selber, durch die jp ihr enthal- 
tenen Mitteilungen über die Leipziger Disputation, Ecks Aufenthalt in Rom und die 
Zustände an der Kurie. Es ist dies die Schrift Ecks, die die Entgegnung Luthers 
„Von den newen Eckischen Bullen und lugen“ hervorgerufen hat. Sodann sind 
aufgenommen zwei Schriften aus den literarischen Kämpfen um die Einführung 
der Reformation in Konstanz. Als 1526 eine Reihe führender katholischer Gelehrter 
(Eck, Faber u. a.) auf dem Wege zur Disputation in Baden die Stadt Konstanz 
berührten, suchte der Rat eine Disputation mit den evangelischen Prädikanten 
herbeizuführen. Die Unterhandlungen zerschlugen sich jedoch. In dem literarischen 
Streit, der sich nunmehr erhob, und in dem die Parteien sich gegenseitig die Schuld 
an dem Scheitern .zuschoben, nahm Eck in diesen beiden Schriften zweimal das 
Wort, in der „Ableinung der verantwurtung burgermeistera und rats der stadt 
Costentz und der „Antwurt uff das ketzerisch büchlin Ambrosi Biarers". Die letzte 
Schrift der Edition „Wider den gotzlesterer unnd ketzer Cunraten Som“ ist eine 
Herausforderung zu einer óffentlichen Disputation über das Sakrament des Abend- 
mahls an den Ulmer Reformator Konrad Sam. Neben der bei Editionen üblichen 
textkritischen Einleitung, die wie die Ausgabe selbst von Zoepfl herrührt, hat 
Meisen eine umfangreiche sprachliche Untersuchung vorausgeschickt, in der er den 
Sprachgebrauch Ecks in diesen vier Schriften in Vokalismus, Konsonantismus, 
Formenlehre und Syntax untersucht und wahrscheinlich macht, daB die verschie- 
denen Sprachtypen und linguistischen Eigentümlichkeiten der Drucke auf Eck 
selbst zurückgehen, der sich auf diese Weise seinem Leserkreis verstándlicher zu 
machen suchte, wenn auch in diesen Fragen letzte Klárung nur das lángst verloren 
gegangene Manuskript Ecks selbst geben könnte. Ein ausführliches Glossar rundet 
die sprachlichen Untersuchungen ab und macht die Sprache Ecks für die Entwick- 
lungsgeschichte der deutschen Schriftsprache nutzbar. 

Die Kenntnis der Persönlichkeit Ecks wird weiter gefördert durch die im 
16. Heft des CC. erfolgte Herausgabe der drei bei den Hauptgedächtnisgottesdiensten 
auf Joh. Eck gehaltenen Trauerreden, sowie der Trauergedichte, die dem Verstor- 
benen von Freunden und Schülern gewidmet wurden. Dieser Sammlung schickt 
der Herausgeber J. Metzler S. J. eine sehr gelehrte, doch nicht immer glückliche 
Einleitung voraus, die wertvolle Nachrichten über die einzelnen Verfasser zusammen- 
trägt, aber mit viel zu großem Ernst allen entstellenden Nachrichten und Gerüchten 
über Ecks Tod nach Entstehung und Verbreitung nachgeht, obwohl doch derartige 
Geschichten durchaus zeitgebunden sind, sich bei so gut wie allen hervorragenden 
Persönlichkeiten sämtlicher Religionsparteien finden und von keinem ernsthaften 
Forscher für bare Münze genommen werden. Wertvoll ist ein Verzeichnis von 107 
von Metzler nachgewiesenen verschiedenen Schriften Ecks unter genauer Bezeich- 
nung der verschiedenen Ausgaben und unter Angabe der Bibliotheken, in denen 
sie sich vorfinden. Doch gibt gerade das Fundortsverzeichnis zu einigen Bean- 
standungen Anlaß. So wäre es besser gewesen, positiv auszusprechen, daß die Zu- 
sammenstellung auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, anstatt nur zu sagen, 
daß durch Aufführung Vorhandensein auf einer anderen Bibliothek nicht ausge- 
schlossen sei. Es ist z. B. nicht recht einzusehen, warum wohl die Stadtbibliothek 
Leipzig mit ihren 9 Eck-Drucken aufgenommen ist, dagegen die Universitäts- 
bibliothek, die über 30 Eck-Schriften, darunter einige in mehreren Drucken, besitzt, 
nicht berücksichtigt worden ist. Befremden muß auch, daB für Zürich noch die 


Nachrichten und Notizen 665 


Stadt-, Kantonalbibliothek usw. genannt werden, obwohl alle diese Institute seit 1916 
zur Zentralbibliothek zusammengeschlossen sind, ferner, daB nach den Angaben. 
in Hamburg auf Bestehen einer Stadt, Staats- und Universitätsbibliothek geschlossen 
werden müßte, während es sich in allen Fällen um dasselbe Institut am Speersort 
handelt. Diese Ungenauigkeiten der Benennung sind um so verwunderlicher, als 
sie durch Heranziehung eines der neueren Bände des Jahrbuchs der Bibliotheken 
oder der Minerva hätten vermieden werden können, doch sind sie verschwindend 
gegenüber den großen Vorzügen, die die Ausgabe bietet. Wendorf. 


Concilium Tridentinum... nova collectio ed. Societas Goerresiana Tomus XII, 
Tractatuum pars prior. complectens tractatus a Leonis X temporibus usque ad 
translationem concilii conscriptos. Coll., ed., illustr. Vincentius Schweitzer. 
Frib. Brisgoviae 1930. Herder & Co. LX X X, 884 S. 4°. 60,— AM geb. 78.-- AM. 

Von der großen Veröffentlichung der Görres-Gesellschaft über das Konzil von 
Trient ist nach den Abteilungen Diaria, Acta und Epistolae nun auch die letzte Ab- 
teilung, die der Traktate, durch einen stattlichen Band eróffnet worden. Die Vor- 
arbeiten hat noch St. Ehses (t 1926) begonnen, Herausgeber ist Vincenz Schweitzer. 
Den Traktaten sind im ganzen 2 Bánde zugewiesen worden; der erste, jetzt vorlie- 
gende, reicht vom Auftreten Luthers und dessen Ruf nach einem Konzil bis zum 
Ende des Pontifikats Pauls III., ein SchluBband soll die Zeit von der Erhebung 
Julius' III. bis zum AbschluB des Konzils behandeln. Ausführlich wird über die 
handschriftlichen Quellen berichtet, aus denen der Stoff geschópft worden ist (Einl. 
S. XVI—XLVT); letzterer findet sich ganz überwiegend in Italien, und zwar in erster 
Linie im Archiv und der Bibliothek des Vatikans; unter den übrigen Fundstätten in 
Italien erwies sich die Ambrosiana in Mailand am ergiebigsten. Fast auffällig gering 
war der Befund in den übrigen Ländern: Deutschland, Österreich, Spanien, Frank- 
reich, der Schweiz. | 

Nicht alles, was der Band bringt, war bisher ungedruckt; Herausgeber nimmt. 
grundsätzlich auch solche Stücke auf, die schlecht oder an seltenen, nicht jedermann 
zugänglichen Orten gedruckt sind. Ebensowenig beschränkt sich Herausgeber auf 
Denkschriften, die sich unmittelbar auf die Konzilsfrage beziehen; wir finden viel- 
mehr auch zahlreiche Traktate, die ganz oder vorwiegend die kirchliche Reform zum 
Gegenstand haben. In der Tat gehen die Reformfrage und die Frage der Abhaltung 
eines Konzils nebeneinander her und berühren sich so eng und so vielfältig, daß eine 
strenge Scheidung auf Grund dieses Gesichtspunkts kaum durchführbar wäre; be- 
kanntlich hat ja das Konzil auch schon in seiner ersten Tagungsperiode die dogma- 
tische und die Reformsache nebeneinander behandelt. Andererseits war unter der 
Gesamtmasse der aufgefundenen Schriften natürlich eine Auswahl für die Herausgabe 
zu treffen, für den verantwortlichen Herausgeber keine leichte Sache es jedem recht 
zu machen; doch empfängt man den Eindruck, daß jener sich dabei nur von sachlichen 
Gesichtspunkten hat leiten lassen. 

Der Band zerfällt in drei Abteilungen: 1. Traktate der Zeit Leos X., Adrians VI. 
und Klemens VIJ.; 2. der Zeit Pauls III. bis zur Eröffnung des Konzils (Dezember 
1545); 3. von der Eröffnung bis einschließlich der 7. Session, d. h. also bis zur Ver- 
legung der Versammlung nach Bologna; die Traktate der Bologneser Periode finden 
sich bier nicht, sie sollen beim dritten Teil der Acta, den Sebastian Merkle bearbeitet, 
Verwendung finden. Im übrigen sind die einzelnen Stücke streng nach der Zeitfolge 


666 Nachrichten und Notizen 


geordnet; soweit sie ohne Datum überliefert sind, hat Herausgeber sich bemüht sie 
zu bestimmen; oft galt es auch, den Verfasser ausfindig zu machen. 

Im ganzen bringt der Band 126 Stücke, von denen 57 vor, 69 nach der Eröffnung 
des Konails fallen. Von den ältesten Stücken betrifft die Mehrzahl die Reformsache, 
die durch Adrian VI., aber auch durch die aus Deutschland herübertönenden Be- 
schwerden sozusagen aktuell wurde. Auch unter Paul III. wechseln sich Schriften 
zur Konzilsfrage im engeren Sinn mit solchen über mehr oder minder weitgehende 
Reformen ab, letztere überwiegend von Kurialen — wie Contarini, Tommaso Cam- 
pegi, Guidiceione. Aleander — herrührend. An die erste Verkündigung des Konzils 
in Deutschland durch den Nuntius Vergerio schließt sich ein Gutachten Johann 
Haners pro felici successu concilii an. Von andern deutschen Gelehrten treffen wir 
Friedrich Nausea mit den sehr weitschichtigen Miscellanearum libri VIII. und Cochlaeus 
mit Patrocinium parvulorum an. Von der Gegenseite wird die englische Absage an 
das Konzil von 1537 nach dem einzig aufgefundenen Exemplar des gleichzeitigen 
Druckes in lateinischer Fassung nebst zwei Gegenschriften, von Antonio Massa und 
Albert Pighius, mitgeteilt. 

Die letzte Abteilung bringt meist kürzere Stücke, zumal Äußerungen einer 
größeren Anzahl von Konzilsteilnehmern über die einzelnen jeweils behandelten 
Fragen dogmatischer und reformatorischer Art. Hervorzuheben sind die ausführ- 
lichen Abhandlungen des Hieronymus Seripando über die Bücher der Heiligen 
Schrift, die Tradition, über die Erbsünde und die Rechtfertigungslehre, aus dem auf 
der Bibliothek von Neapel verwahrten NachlaB des Seripando. Über letzteren 
Gegenstand erhalten wir neben anderen auch eine Äußerung des Jesuiten Alfonso 
Salmeron. Einen besonderen Charakter weist eine Schrift des Wieners Wolfgang 
Lazius auf: de sessione aut jure sedendi Romani regis (nämlich im Konzil), die den 
Vorrang des römischen vor dem französischen König zu erhärten sucht. 

So stellt der vorliegende Band eine wichtige Ergänzung zu den übrigen Teilen 
des Gesamtwerkes dar, in erster Linie zum ersten Bande der Acta concilii, für die 
wir dem Herausgeber um so dankbarer sein müssen, als er große Sorgfalt darauf ver- 
wandt hat, die Texte auch durch gehaltvolle Anmerkungen sowie durch Beigabe eines 
Namen- und Sachregisters und eines Verzeichnisses der Bibelzitate zu erláutern und 
zu erkláren. 

Wernigerode a. H. Friedensburg. 


John Robert Seeley, Die Ausbreitung Englands, herausgegeben und eingeführt von 
Karl Alexander von Müller, Übersetzung von Dora Schöll. XLIII u. 221 S. Stutt- 
gart- Berlin-Leipzig (Deutsche Verlagsanstalt) 1928. 10.— &, Lw. 12.— AR. 

Seelevs „Ausbreitung“ gehört zu den eigenartigsten, anregendsten und einfluß- 
reichsten Werken der neueren Geschichtschreibung. Daß sie jetzt in deutscher Über- 
setzung vorliegt ist gewiß besonders zu begrüßen, und man möchte nur bedauern, daß 
das nicht schon längst der Fall gewesen ist. Wenige Schriften sind so geeignet von 
der Insularität zu befreien, die keineswegs eine ausschließlich englische Eigenschaft 
ist, und der glänzende politische Erzieher seiner englischen Nation kann auch für 
unser politisches Denken sehr nützliche Lehren geben. Es ist überflüssig weiteres 
über 5. zu sagen; Adolf Rein hat eine ausgezeichnete Studie über den Historiker 
verfaBt und K. A. v. Müller schickt der Übersetzung in dankenswerter Weise eine 
feinfühlige, treffliche Einführung voraus. Otto Vossler. 


Nachrichten und Notizen 667 


Francis Borgia Steck, O. F. M., Ph. D. The Jolliet-Marquette Expedition, 1673, 
Quincy, III. U. S. A. 1928, XIV u. 334 S. 


Das Buch ist die vollstándigste und gründlichste, aber auch umstündlichste 
Untersuchung über die bedeutsame Expedition von 1673. Diese hat von Canada aus- 
gehend den Hauptteil des Mississippi erforscht und, ehe Lasalle den Strom ganz bis 
zum Meer hinabgefahren ist, festgestellt, daB er sich in den Golf von Mexiko ergießt 
und nicht in den Pazifischen Ozean, wie man auf der Suche nach-der nordwestlichen 
Durchfahrt gehofft hatte. Steck zeichnet den historischen Rahmen des Unternehmens 
und unternimmt dann in etwas ermüdender und ófters polemisierender Gelehrsam- 
keit einen dreifachen Nachweis: Einmal, daB es sich 1673 um die Erforschung und 
nicht Entdeckung des großen Stromes gehandelt hat — was eine vorwiegend philo- 
logische Frage betrifft; ferner, daß der Führer der Expedition nicht der Vertreter der 
Kirche, der Jesuit Marquette war, dem zu Unrecht der gróBere oder gar alleinige 
Ruhm zuteil geworden ist, sondern Tolliet, der Laie und Vertreter der Regierung. 
Drittens endlich setzt er auseinander, daB der erhaltene Bericht über die Expedition 
nicht von Marquette verfaßt sein kann, wie man bisher geglaubt hat. St. neigt dazu, 
den Bericht als eine nachträgliche jesuitische Kompilation zu betrachten. Ihr hätten 
u. &. die verlorenen Aufzeichnungen von Jolliet zugrunde gelegen, aber sie habe in 
tendenzióser Weise die führende Rolle Jolliets zugunsten des Jesuiten Marquette 
vertuscht, um für die Gesellschaft Jesu das Verdienst der Erforschung jener west- 
lichen Gebiete in Anspruch zu nebmen. Otto Vossler. 


Rich. Walter Franke, Zensur und Prefaufsicht in Leipzig 1830—1848. Archiv 
für Geschichte des deutschen Buchhandels Bd. XXI (zugleich Leipziger Disser- 
tation). Leipzig (Verlag des Börsenvereins) 1930, 194 S. 89. 


Infolge der einzigartigen Stellung, die Leipzig infolge der Konzentration des 
deutschen Buchhandels seit dem 18. Jahrhundert für das geistige Leben Deutsch- 
lands im 19. Jahrhundert einnahm, erhielt die Handhabung der Zensur eine weit über 
die Grenzen des Landes Sachsen hinausgehende Bedeutung. Sie für dieZeit zwischen 
den beiden Revolutionen von 1831 und 1848 behandelt zu haben, ist das Verdienst 
dieser fleißig und sorgfältig gearbeiteten Erstlingsschrift. Die Verhältnisse der Zensur 
werden von allen Seiten beleuchtet, ihre rechtliche Grundlage in der Gesetzgebung 
des deutschen Bundes und des Königreichs Sachsen wie ihre Organisation in Zusam- 
mensetzung der Behörde in allen Veränderungen während des angegebenen Zeit- 
raumes, die Verteilung der Geschäfte, der Vorgang der Zensur, ihre Strafmittel und 
die Reichweite ihrer Wirksamkeit. Die Kgl. Sächsische Regierung war ja in ihrer 
Zensurpolitik nicht freier Herr ihrer Entschlüsse, sie war in zweifacher Hinsicht 
gehemmt, durch den Deutschen Bund und durch die politischen Einwirkungen der 
beiden deutschen Großmächte. So ist denn die sächsische Zensurpolitik in dem 
behandelten Zeitabschnitt die Resultante zwischen eigenem politischen Wollen und 
den von außen wirkenden Kräften. Dies ist deutlich daran zu sehen, daß in den Zeiten 
einer liberalen Richtung unter dem Ministerium Lindenau die Behandlung der inneren 
Angelegenheiten des Landes fast völlig freigegeben wird, während bei Schriften von 
allgemeiner Bedeutung den Wünschen sowohl des Bundes, noch mehr aber der beiden 
Großmächte Rechnung getragen werden muß. Wendorf. 


668 Nachrichten und Notizen 


Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Im Zusammenhang aus- 
gewählt und eingeleitet von Benedikt Kautsky. 2 Bde. Króners Taschen- 
ausgabe Bd. 64 u. 65. Leipzig, Alfred Króner Verlag, XLV, 398; IX, 356 S. 8°. 

In einer Zeit wie der gegenwärtigen Krise, die, von vielen vorhergesagt, den 
einen als die schwerste der bisherigen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft, den 
anderen als die Krisis des Kapitalismus erscheint, in der sich das herrschende Wirt- 
schaftssystem ad absurdum führt, sich überstürzt, um einer neuen Form des Wirt- 
schaftens Platz zu machen, in einer solchen Zeit wächst das Bedürfnis nach Erfassung 
und gedanklicher Durchdringung der wirtschaftlichen Zusammenhänge, die in Gestalt 
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unsere gesellschaftliche Existenz bedingen. 
Da begegnet denn unter diesen Umständen der Versuch von Karl Marx einem ge- 
steigerten Interesse, der es in der Zeit des in der Entfaltung begriffenen Hochkapi- 
talismus in dem umfassendsten Werk seines Schaffens unternommen hat, diese Wirt- 
schaftsform in ihrem strukturellen Aufbau auseinanderzulegen, um aus ihrer genauen 
Erkenntnis Mittel und Wege zu ihrer Überwindung begründen zu können. 

Aber der Zugang zu Marx’ Hauptwerk ist nicht leicht. Der erste, von ihm selbst 
herausgegebene Band war wohl in der Kautskyschen Volksausgabe bei Dietz in 
Stuttgart zugänglich, aber er war doch nur ein Torso, für die beiden anderen Bände 
war man auf die selten gewordene Ausgabe von Friedrich Engels angewiesen. Hier 
Abhilfe geschaffen zu haben ist zweifellos ein Verdienst des Krönerschen Verlags, 
einmal durch einen Neudruck des gesamten Werkes, nicht minder aber durch Auf- 
nahme der vorliegenden beiden Bändchen in die Taschenausgabe. Marx hat ja dem 
Verständnis seines Werkes selbst die größten Schwierigkeiten aufgetürmt. Er hat 
es zur Überwindung und Kritik der von ihm vorgefundenen nationalökonomischen 
Lehrmeinungen so mit Gelehrsamkeit belastet, daß die Systematik der Gedanken- 
führung vielfach überwuchert ist und sich nur mit Mühe abhebt. Der Nichtfachmann 
wird es darum begrüßen, daB ihm hier eine Ausgabe vorgelegt wird, die unter Weg- 
lassung des in den zahlreichen Anmerkungen niedergelegten Materials von nur 
dogmengeschichtlicher Bedeutung, unter Auslassung der als Beleg gedachten breiten 
Zustandsschilderung englischer industrieller Verhältnisse u. a. m. die systematische 
Linienführung des,, Kapitals“ deutlich und klar hervortreten läßt. BenediktKautsky 
hat diese Aufgabe mit Umsicht und Sachkenntnis durchgeführt. Er hat seiner Aus- 
gabe eine Einleitung vorausgeschickt, die zunüchst das Wichtigste aus Marx' Lebens- 
gang gibt, dann aber in die eigentümliche Problematik seines Hauptwerkes einzu- 
führen sucht, wobei man wieder einmal die alte Beobachtung machen kann, daß 
der Jünger nicht immer der geeignetste Interpret ist, weil ihm infolge der ihm not- 
wendig eigenen Problemblindheit die Blickrichtung auf manche Gelenke und Ver- 
strebungen des Systems und dadurch auf manche brüchige und schadhafte Stelle 
verbaut ist. Um auch dem Ungelehrten den Zugang zu erschließen, ist im Text alles 
Fremdsprachliche mit Übersetzung versehen und außerdem jedem Band ein Fremd- 
wörterverzeichnis beigefügt, das in durchaus richtiger Einstellung den Sinn der 
einzelnen Wórter so wiedergibt, wie sie Marx angewandt hat. Ein am Ende des 
2. Bändchens gegebenes Verzeichnis der ausgelassenen Kapitel gibt die Möglichkeit 
der vergleichenden Orientierung an der groBen wissenschaftlichen Ausgabe und 
vollendet den Charakter der beiden Bändchen als einer sinnvollen Einführung in ein 
Werk, das sonst nur dem engeren Kreise der nationalókonomisch geschulten Fach- 
leute zugänglich war. Wendorf. 


Nachrichten und Notizen 669 


Fritz Uplegger, Die englische Flottenpolitik vor dem Weltkrieg 1904—1909. 
Beiträge zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges. 
Heft 8. Stuttgart (W. Kohlhammer) 1930. 128 S. 6.— RA. 


Der Verfasser gibt eine gründliche Untersuchung der englischen Flottenpolitik 
bis zur Dreadnoughtpanik des Jahres 1909, die das englische Wettrüsten mit Deutsch - 
land, wie der Verfasser nachweist, einleitete, und will damit indirekt auf die Be- 
urteilung der deutschen Marinepolitik neues Licht werfen. 


In einer exakten, leider mitunter nur skizzenhaften Darstellung präzisiert U. 
die Rolle, die Englands lebenswichtigstes Machtinstrument im Rahmen der all- 
gemeinen Politik und im besonderen in dem Verhältnis zu Deutschland spielte. 
Von der stolzen Höhe englischer Seemacht um die Jahrhundertwende — im Jahre 
1904 — hatte Englands Flotte in der Tonnage der Schlachtschiffe, wie auch in den 
Kosten einen Three-Power-Standard erreicht! —, über das erste Bewußtwerden 
der wachsenden Gefährlichkeit der entstehenden deutschen Flotte seit dem Kieler 
Besuch 1904, das den deutschen Flottenbau alsbald zum Gegenstand ernsthafter 
politischer Debatten machte, und die Reorganisation und Umgruppierung der 
englischen Kriegsmarine unter dem Admiral Fisher, dem eifrigen Verfechter des 
Präventivkrieggedankens gegen Deutschland, führt uns U. zu der entscheidenden 
Wendung in Englands Flottenpolitik: dem Dreadnoughtbau, mit dem das Insel- 
reich seine Übermacht zur See auf lange Zeit hinaus zu sichern gedachte, in Wirk- 
lichkeit aber bald einsehen mußte, daß es mit der Einführung des dazu technisch 
verfehlten Typs seine alte unerreichbare Überlegenheit aus der Hand gegeben hatte. 
Der Verfasser entwickelt ausführlich und betont mit gesteigertem Nachdruck die 
entscheidende Bedeutung der innerpolitischen Verhältnisse Englands, aus denen 
heraus die Flottensparpolitik der liberalen Regierung, der damit im Zusammen- 
hang stehende Abrüstungsvorschlag auf der zweiten Haager Konferenz und die 
erfolglosen Besprechungen mit Deutschland im Sommer 1908 allein zu verstehen 
und zu bewerten sind. 


Unter den für das Verhältnis Englands zum deutschen Flottenbau wertvollen 
Ergebnissen von U.s Arbeit will ich nur das auffallende Fehlen ‚einer den deutschen 
Flottenbau mildernden oder hemmenden diplomatischen Einflußnahme“ Londons 
noch nach dem Scheitern seines Abrüstungsvorschlages auf der Haager Konferenz 
hervorheben. England war um diese Zeit noch in dem Gedanken verstrickt, mit 
dem Dreadnoughtbau seine maritime Vormachtstellung „verewigt“ zu haben. 
Ja, diese Haltung ging so weit, daß die englische Regierung den Übergang Deutsch- 
lands zum Bautempo von jährlich vier Schiffen nicht mit entsprechenden Gegen- 
rüstungen erwiderte, sondern trotz einer gegen den deutschen Flottenplan laut- 
werdenden Erregung in der öffentlichen Meinung in ihrem fast vier Monate nach 
Veróffentlichung der deutschen Novelle eingebrachten Marineetat für 1908 die 
Bauserie von zwei Schlachtschiffen beibehielt. Interessant sind weiterhin die Mit- 
teilungen über die Machenschaften der englischen Rüstungsindustrie, die zur Ent- 
stehung und Belebung der Dreadnoughtpanik von 1909 in beträchtlichem Maße 
beitrug, in der der Hinweis auf angebliche deutsche Baubeschleunigung in bewußt 
verzerrter Aufmachung den wirksamsten Agitationsstoff lieferte. — 


Dem Verfasser dieser gründlichen und dankenswerten Untersuchung, zu der 
englisches Material reichlich Verwendung gefunden hat, wünschte man nur eine 


670 Nachrichten und Notizen 


schärfere Einsicht in die Universalität des politischen Geschehens, der dem Ganzen 
erst die nötige Geschlossenheit verliehen hätte. Herbert Michaelis. 


- Wissensehaftliche Gesellschaften und (Publikations-) Institute: Einem Bericht der 
Historischen Kommission jür Hessen und Waldeck ist zu entnehmen, daB im 
April d. J. der 2. Band der von Archivdirektor Dr. Küch bearbeiteten „Quellen 
zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg‘ erschienen ist. Eine größere Zahl von 
Publikationen sind druckfertig bzw. bereits im Druck: Gundlach, „Hessische Zen- 
tralbehórden'* Bd. 1; Korn, Klosterarchive Bd. 3 (Oberhessische Klöster und Stifter); 
Eckhardt, „Quellen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte der Werrastädte“; 
„Quellen zur Kurmainzischen Verwaltungsgeschichte in Hessen“; Bruchmann, 
»Territorialgeschichte des Kreises Eschwege“, ferner die entsprechenden Arbeiten 
von Brauer über Ziegenhain, Eisenträger über Ahna-Beuna-Gudensberg, Schröder- 
Petersen über Wolfhagen-Schartenberg-Zierenberg, Lotzenius über Battenberg- 
Wetter und Sponheimer über die Niedergrafschaft Katzenellenbogen. Möchte es 
der rührigen Kommission vergünnt sein, von diesen in besseren Zeiten durchgeführten 
Untersuchungen und Publikationen die bereits im Druck befindlichen noch jetzt 
herauszubringen, die übrigen werden wohl auf unbestimmte Zeit zurückgestellt 
werden müssen. 


Die Preußische Staatsbibliothek in Berlin hat die Vorarbeiten für den Druck 
des Gesamtkatalogs der preußischen Bibliotheken abgeschlossen. Das Unternehmen 
ist auf etwa 150 Bände von je ca. 90 Bogen veranschlagt und soll im Preise so niedrig 
gehalten werden, daß auch kleinere Bibliotheken es sich anschaffen können. Für 
privaten Besitz dürfte es trotz seiner bibliographischen Bedeutsamkeit schon wegen 


des Umfanges kaum in Frage kommen. 

Über das Oldenburgische Urkunden buch}, herausgegeben vom Oldenburger 
Verein für Altertumskunde und Landesgeschichte [Band I Stadt Oldenburg von Dietrich 
Kohl, die übrigen Bände, TI Grafschaft Oldenburg bis 1482, III Grafschaft Oldenburg 
1482—1550, IV Grafschaft Oldenburg, Klöster und Kollegiatkirchen bis 1550, V Süd- 
oldenburg (Wildeshausen und das Oldenburgische Münsterland) bis 1550, VI Jever- 
land (mit Kniphausen) in Arbeit, von Gustav Rüthning] glaubt, da das Werk sich 
dem Abschluß nähert, der unterzeichnete Vorsitzende des Vereins der Öffentlichkeit 
eine Rechenschaft über den Aufbau, die Arbeitsleistung und die Beschaffung der 
Mittel schuldig zu sein; seine Vorschläge hat der Vorstand gebilligt, Träger des 
Unternehmens ist der Verein. Vorbilder für den Aufbau in synchronistischer Folge 
hätten das Bremische, Ostfriesische und das Osnabrückische Urkundenbuch sein 
können. Dagegen trat aber vor allem das Bedenken hervor, daß bei uns am Ende 
des Mittelalters drei abgeschlossene Hoheitsgebiete vorhanden waren: die Graf- 
schaft Oldenburg-Delmenhorst mit den Wesermarschen Stadland und Butja- 
dingen in der Hand der Grafen, das Oldenburgische Münsterland mit Wildeshausen 
unter dem Bistum Münster und Jeverland mit Kniphausen unter Häuptlingen 
zweier Familien. Die Urkunden dieser Gebiete aus dem Oldenburger Landes- 
archiv, dem Archiv der Stadt Oldenburg, den Staatsarchiven zu Bremen, Aurich, 
Hannover, Münster, Osnabrück und dem Domarchiv und dem Generalvikariats- 
archiv zu Osnabrück zu bearbeiten, mit der Auswertung einiger Privatarchive der 


! Vgl. diese Zeitschrift Bd. XXV, S. 122ff., Bd. XXVI, S. 2021. 


Nachrichten und Notizen 671 


Grafen Merfeldt auf Füchtel bei Vechta, der Fürsten Knyphausen auf Lütetsburg 
bei Norden und einiger anderen zu verbinden und die vorhandenen fremden Urkunden- 
bücher zu Rate zu ziehen: das war im ganzen das Arbeitsfeld. Die Urkunden unserer 
Hoheitsgebiete gleichmäßig in genauer Datumfolge, alles durcheinander, nach und 
nach in sechs Bänden herauszugeben, erschien aus verschiedenen Gründen nicht 
angebracht. Wer die noch jetzt vorwaltende Verschiedenheit der Gebiete unseres 
Landesteils beachtet, wird zugeben, daß die Trennung nach Hoheitsgebieten für den 
Gebrauch unseres Leserkreises unbedingt den Vorzug verdiente, zumal da die 
Archivverwaltung in Oldenburg großen Wert darauf legte, daß im ganzen die Ab- 
teilungen des Oldenburger Landesarchivs im Urkundenwerke der bequemen Be- 
nutzung zugänglich gemacht würden. Dabei war von vornherein unser Ziel, jeden 
Block des Urkundenbuches bis an die Aktengrenze 1550 oder etwas darüber hinaus 
zu Ende zu bringen. Da für Band II bis VI kein Mitarbeiter zu finden war, so lag 
die ganze Arbeitslast in meiner Hand allein. Daher ist von Jahr zu Jahr immer ein 
Band zu seinem Ziele gebracht und fertiggestellt, auf Mitarbeiterleistungen brauchte 
nicht gewartet zu werden. Wären wir in der Einrichtung des Oldenburgischen 
Urkundenbuches dem Vorbilde der Nachbargebiete gefolgt, so würen wir in der 
Gefahr gewesen, wie sie vor der Vollendung stecken zu bleiben: das Bremische 
Urkundenbuch (Ehmck und von Bippen) kam nur etwas über 1430 hinaus, das 
Osnabrückische (Philippi und Bär) bis 1300, das Ostfriesische (Friedländer) bis 1500. 
Und damit hängt nun die wichtige Frage der Finanzierung zusammen. Um an 
die Staatsbehörden herantreten zu können, wurden 1914 die Barmittel des Ver- 
eins, mit einem Zuschuß von 400 von der Stadt Oldenburg, dazu verwendet, 
um das Urkundenbuch Band I herauszugeben, die Arbeit brachte Herrn Prof. 
Dr. Kohl die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft vom GroBherzog ein. 
So hatten wir den Anfang gemacht. DaB dann nach dem Weltkriege von 1926 an 
die anderen Bände folgen konnten, verdanken wir dem Entgegenkommen des Staats- 
ministeriums und des Landtages, Herr Finanzminister Dr. juris Willers insbesondere 
ist mit regem Interesse auf unsere Wünsche eingegangen und hat Jahr für Jahr die 
gesamten Kosten der Drucklegung, die durch die Firma Gerhard Stalling in Olden- 
burg in vorbildlicher Weise erfolgte, in den Voranschlag aufgenommen. Jahr für 
Jahr muBte daher dem Staatsministerium und dem Landtage ein abgeschlossener 
Teil vorgelegt werden. Wäre dies nicht geschehen, wäre das Urkundenbuch einmal 
aus dem Voranschlag herausgekommen, so hätte es sehr schwer gehalten, es in dieser 
bösen Zeit wieder hinein zu bringen. Zur Vollendung gelangten auch die Register, 
die von Band zu Band bei zunehmender Erfahrung besser wurden, Personen und 
Örtlichkeiten blieben beieinander, weil die Namen einander allzu oft überschneiden. 
Auch die Sachregister sind nach und nach erheblich ausgebaut worden. Dadurch, 
daB bei der Arbeit von jeder Urkunde sofort die Angaben in den Registerzettel- 
kasten aufgenommen wurden, ist eine lästige Fehlerquelle verstopft worden, und 
beim Fortgang des Studiums war man immer gleich im Bilde. Wenn Band VI, 
Jeverland, hoffentlich noch vor Weihnachten ausgegeben ist, so bleiben für einen 
uns schon in Aussicht gestellten Nachtragsband vor allem noch die Parochial- 
kirchen von Nord-Oldenburg (für Süd-Oldenburg haben wir Karl Willoh, Ge- 
schichte der katholischen Pfarreien), ferner die Kapitulation des Bischofs Franz 
von Waldeck vor dem Domkapitel in Osnabrück nacb dem Generalvikariatsarchiv, 
die in unserem Band V nur im Auszug zu finden ist, die Urkunde Kaiser Ludwigs 


672 Nachrichten und Notizen 


von 819, vielleicht nach einer Bearbeitung des Herrn Geh. Oberregierungsrats 
Kehr, und die Erfüllung einiger Wünsche aus dem Leserkreise und den Bespre- 
chungen. Dr. Rüthning. 


Personalien. Ernennungen, Belörderungen. a) Historiker: Es habilitierte sich 
in Kiel Dr. Otto Graf zu Stollberg-Wernigerode für neuere Geschichte. 

Archivrat Dr. Harry Gerber in Frankfurt erhielt einen Lehrauftrag für 
Handschriftenwesen und Urkundenlehre an der Universität daselbst. 


Der ao. Professor der alten Geschichte, Dr. Felix Stähelin in Basel, wurde 
zum ord. Professor daselbst ernannt, der Priv.-Doz. Dr. Hermann Heimpel in 
München als ord. Professor der mittelalterlichen Geschichte nach Freiburg i. Br. 
berufen (Nachfolger von E. Caspar). 


b) Kunsthistoriker: Es habilitierte sich in Tübingen Dr. H. H. Mahn für neuere 
Kunstgeschichte. 

Die Privatdozenten Dr. Alfred Stange an der Universität München und 
Dr. Eberhard Hempel in Graz wurden zu ao. Professoren ernannt. 


Der o. Professor Dr. Hans Jantzen wurde zu gleicher Stellung nach Frank- 
furt a. M., der ord. Professor Dr. Alb. Er. Brinkmann von Köln an die Universität 
Berlin berufen. 


Todesfälle: Ende Mai starb der em. Direktor des Staatsarchivs in Schwerin 
Dr. Hermann Grotefend im 87. Lebensjahre. In Hannover am 18. Januar 1845 
geboren, trat er nach Abschluß seiner Studien in den Archivdienst, war von 1881 
bis 1887 am Stadtarchiv in Frankfurt a. M. tätig und gab hier heraus die ‚Quellen 
zur Frankfurter Geschichte‘, 2 Bände 1884—1888. Im Jahre 1887 Staatsarchiv- 
direktor in Schwerin geworden, widmete er sich mehr der mecklenburgischen Ge- 
schichte und gab Band 15—21 des „Mecklenburgischen Urkundenbuchs‘ heraus, 
ebenso die „Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte“ von ihrem 
53.—84. Jahrgang (1888—1920). Sein Hauptarbeitsgebiet war jedoch die historische 
Chronologie. Schon 1872 veröffentlichte er das „Handbuch der historischen Chrono- 
logie des Mittelalters“, in 2 Bänden neubearbeitet als „Zeitrechnung des deutschen 
Mittelalters und der Neuzeit" (1891 und 1898 erschienen). Daneben hat sich die 
kürzere handliche Bearbeitung der Chronologie als „Taschenbuch der Zeitrechnung“ 
die Wertschätzung aller Archivbenutzer erworben, die bereits 1922 in 5. Auflage 
erscheinen konnte. Auch die übrigen Hilfswissenschaften hat er gefördert, so schrieb 
er.1869 (2. Aufl. 1875) ein Werk „Über Sphragistik“ und „Stammtafeln der schle- 
sischen Fürsten bis zum Jahre 1740“, 1876, in 2. Auflage 1889 erschienen. Seine 
stete Sorge galt aber der Chronologie, für die er im „Korrespondenzblatt des Gesamt- 
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine" unter der Überschrift 
„Chronologisches“ eine Sammelstelle für kleinere Mitteilungen aus dem Gebiete der 
Zeitrechnung geschaffen hatte, immer bemüht, dieses unentbehrliche Hilfsmittel auf 
der Höhe der neuesten Forschungen zu halten. 


673 


Die Naturalwirtschaft. 


Eine kritisch-theoretische Studie 
von 


S. Stein. 


Das neue Buch von A. Dopsch (Naturalwirtschaft und Geld - 
wirtschaft in der Weltgeschichte, 1930) ist wie alles, was aus 
der Feder dieses ausgezeichneten Gelehrten kommt, interessant 
und anregend. Mit Hilfe eines erdrückenden historischen’ 
Materials behandelt er das Thema, das bis zuletzt hauptsáchlich 
von Nationalókonomen behandelt worden ist. Er kommt zu dem 
Schlusse, daß die Natural- und Geldwirtschaft keine Antithese 
ist, daB im Gegenteil die beiden Wirtschaftsformen friedlich 
nebeneinander bestehen können und daß es zweckmäßiger wäre, 
diese Begriffe zu vermeiden. 

Das ganze Buch bezweckt die Vernichtung des Schemas 
Naturalwirtschaft — Geldwirtschaft, und da es dieses durch kein 
ebenbürtiges ersetzt, sondern vorwiegend kritischer Natur ist, 
bleibt es fraglich, ob das Buch seinen Zweck erfüllen wird. 
Gegen diese Theorie sind schon manche Argumente angeführt 
worden. Sie ging aus der Schlacht immer siegreich hervor, weil 
bis jetzt keine andere den Platz behaupten konnte. Ihre An- 
hänger gaben manchmal offen ihre Mängel zu und verschanzten 
sich hinter der Behauptung, daß das Schema notwendigerweise 
das historische Leben vereinfachen müsse und nur das Wichtige, 
das Charakteristische hervorzuheben habe. Freilich hat niemand 
das Geheimnis der Scheidung des Wichtigen und Charakte- 
ristischen verraten. Nichtsdestoweniger ist im Augenblicke die 
Theorie — wie auch übrigens jede Theorie — mit bloßen Tat- 
sachen nicht zu widerlegen. 

Diese Erwägungen geben mir den Mut, das Schema Natural- 
wirtschaft — Geldwirtschaft einer erneuten, Prüfung zu unter- 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 43 


674 S. Stein 


ziehen, wobei ich mich hauptsächlich auf die theoretische Seite 
des Problems beschränken werde. 


* * 
* 


Vom theoretischen Standpunkte aus ist es von großer Wichtig- 
keit, den Begriff der Naturalwirtschaft genau zu präzisieren. 
Dieser wird gewöhnlich in zwei Bedeutungen gebraucht: erstens 
zur Charakterisierung der geldlosen, der sogenannten Natural- 
tauschwirtschaft, und zweitens der tauschlosen. Von einem all- 
gemeineren Standpunkte aus können diese beiden Bedeutungen 
ohne weiteres als zwei Stufen einer Entwicklungsreihe aufgefaßt 
werden, und zwar der Reihe: Naturalwirtschaft, Naturaltausch- 
wirtschaft, Geldwirtschaft. Die beiden letzten Glieder der Reihe 
würde man zweckmäßigerweise unter den Begriff der Tausch- 
wirtschaft subsummieren, da der Unterschied zwischen den beiden 
. nur in der Art und dem Mittel, welcher man sich bei dem Tausche 
bedient, besteht. Vom welthistorischen Standpunkte aus ist der 
Gegensatz zwischen der tauschlosen und der Tauschwirtschaft 
weitaus der wichtigste. Im Folgenden wird der Begriff Natural- 
wirtschaft nur indem Sinne der tauschlosen Wirtschaft gebraucht. 


* * 
* 


Als Vertreter der herrschenden wirtschaftsgeschichtlichen 
Lehrmeinungen kann wohl Karl Bücher gelten. Er ist nicht der 
alleinige Urheber der unter seinem Namen bekannt gewordenen 
Theorie, hat ihr aber zweifelsohne die práziseste Form und den 
besten Ausdruck gegeben. Und seine Theorie kann, trotz der 
wichtigen und manchmal sogar entscheidenden Widersprüche, 
auf die sie gestoBen ist, noch heute als die anerkannteste be- 
trachtet werden. Darum erscheint die Auseinandersetzung an 
erster Stelle mit K. Bücher als geboten. 

K. Bücher ist vielmals als ein ausgezeichneter Historiker und 
nicht minder hervorragender Theoretiker gerühmt worden. Das 
sind die beiden Eigenschaften, die zur Schaffung eines historischen 
Schemas unentbehrlich sind. Versuchen wir von diesen beiden 
Standpunkten aus K. Büchers Werk zu würdigen. 

Es sind viele Standpunkte, von welchen aus man einen 
Historiker würdigen kann, entscheidend aber ist dieser: er be- 
steht in der Betrachtung der Art und Weise, wie ein Historiker 
ihm zur Verfügung stehende Quellen behandelt. Das ist der 


Die Naturalwirtschaft 675 


wichtigste Prüfstein. Hat man genau das Maß der Gewalttätig- 
keit festgestellt, das der Historiker bei der Interpretation der 
Quellen anwendet, so hat man schon das Hauptcharakteristikon 
in der Hand. Manchmal ist diese Aufgabe sehr schwer. Bei 
K. Bücher ist das aber einfach. Er gehórt als Historiker zu den 
gewalttätigsten. Und seine Art, die Quellen zu behandeln, kann 
recht anschaulich an zwei Beispielen dargelegt werden. 

Zum Beweise, daB das Altertum keine Verkehrswirtschaft ge- 
kannt hat, führt K. Bücher! u.a. ein Zitat aus Plinius dem 
Älteren an: „Der Landwirt taugt nichts, der das kauft, was 
eigene Wirtschaft ihm gewähren kann." Wie wird nun dieser 
Satz interpretiert? Es ist ganz klar, daB, wenn wir aus diesem 
Satz die tatsáchlichen Verháltnisse ergründen wollten, wir eher auf 
das Vorhandensein der ,,nichtstaugenden Landwirte“ schließen 
müßten, nicht aber auf das Nichtvorhandensein von Kaufge- 
schäften. Denn diese praktische Maxime kann, wenn schon 
einen, so doch nur den Sinn einer Belehrung und Bekehrung 
haben. Lassen wir das jedoch beiseite. Nehmen wir das Zitat, 
wie es Bücher verstanden haben will: Der rómische Bauer hat 
eine Abneigung gegen die Verkehrswirtschaft; er kauft nur im 
Notfalle. Damit wäre nur ein ziemlich konstanter Zug der 
Bauern aller Zeiten und Vólker hervorgehoben. Das Interessan- 
teste ist nun, daB derselbe Bücher wenige Seiten vor dem Zitat 
behauptet: „die bei unseren Landwirten fortdauernde Eigen- 
produktion’ tue keinen Eintrag „der Herrschaft der Tausch- 
wirtschaft'?, Sollte man nicht dem römischen Bauer zubilligen, 
was man dem modernen einräumt? 

Ein anderes Beispiel. Das Paradestück der Bücher’schen Be- 
weisführung ist ein Zitat aus dem „Satyrikon“ von Petronius?: 
„Du darfst nicht glauben, — sagt einer der Gäste über den 
reichen Emporkómmling, — daB er etwas kauft, alles wird bei 
ihm erzeugt’. 

Es muß ohne weiteres zugegeben werden, daß der erste Ein- 
druck von dem Zitat ein ganz überzeugender ist; doch schlägt 
dieser bald ins Gegenteil um. 


1 K. Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft, 1. Aufl., 1893, S. 38, 11.Aufl., 
1919, S. 111. . 

2 Ebenda, 1. Aufl., S. 21; 11. Aufl., S. 97. 

3 Ebenda, 1. Aufl., S. 24; 11. Aufl., S. 100. 


43* 


676 S. Stein 


Zuerst muß der Umstand festgestellt werden, daß Bücher den 
Satz nicht bis zu Ende zitiert hat. Er brach bei dem Doppel- 
punkt ab. Und nach dem Doppelpunkte folgenziemlich interessante 
Worte:....... „alles wird bei ihm erzeugt: Wolle, Pomeran- 
zen, Pfeffer, ja, wenn man Hühnermilch sucht, wird man sie da 
finden““. Dieser Nachsatz ändert bedeutend den Sinn des ganzen 
Satzes, indem er ihm den Charakter der Übertriebenheit ver- 
leiht. Oder sollte Bücher wirklich meinen, daß Hühnermilch 
zu den Produkten einer geschlossenen Hauswirtschaft gehört? 

Noch schlimmer wird es, wenn man sich nicht mit einem 
Zitat begnügt, sondern das ganze Werk zu Rate zieht. Dann er- 
fährt man seltsame Sachen. In einer geschlossenen Hauswirt- 
schaft werden nach dem Berichte des Verwalters an einem Tage 
„zehn Millionen Sesterzen, was nicht angelegt werden konnte, 
in die Kasse abgeführt“ . Das ganze Werk wimmelt von Geld- 
geschäften und Spekulationen. Nehmen wir nun die Erzählung, 
wie es der Emporkömmling zu seinem Reichtum gebracht hat: 
„Ich bekam Lust Geschäfte zu machen ... Ich kaufte fünf 
Schiffe, und Wein — und damals war er Gold wert — und schickte 
sie nach Rom. . . Alle Schiffe litten Schiffbruch . . . An einem 
Tage schluckte der alte Neptun dreiBig Millionen. Glaubt ihr, 
daB ich die Courage verlor? . . . Als wenn nichts geschehen wäre, 
baute ich andere, größere, bessere und glücklichere . . . Damals 
bewies Fortunata ihre Anhänglichkeit: denn all ihren Gold- 
schmuck, all ihre Kleider verkaufte sie und gab mir hundert 
Goldstücke in die Hand...“ Man könnte das Zitieren beliebig 
fortsetzen. Es scheint aber genug zu sein. Ich gehe wohl mit 
der Behauptung nicht fehl, daß man kaum ein unglücklicheres 
Beispiel wählen könnte, als das von Bücher angeführte. 

Damit ist aber die Sache noch nicht erledigt. Wir kónnen 
die bisher angeführten Argumente beiseite lassen und das Zitat 
so nehmen, wie es Bücher genommen haben wollte: auf einem 
Zechgelage wird der Reichtum des Gastgebers von einem Zecher 
mit den Worten charakterisiert: er ist so reich, daB er nichts 
zu kaufen braucht. Kann man diese Worte als einen Beweis für 
eine Vorherrschaft der abgeschlossenen Hauswirtschaftsform be- 

* Petronii Cena Trimalchionis, übers. v. L. Friedländer, 2. Aufl., S. 103. 


Ebenda, S. 141. 
6 Ebenda, S. 208. 


Die Naturalwirtschaft 677 


trachten? Durchaus nicht. Denn Bücher hat die tiefste Pointe 
des Satzes nicht bemerkt. Die von einem der Zecher aufgestellte 
Behauptung soll nämlich nicht die Bewunderung Büchers und 
seiner Leser erregen, sondern die des Mitzechers. Und man kann 
unmöglich den Satz in dem Sinne interpretieren, als ob der 
Gastgeber eine allgemein typische Form der Wirtschaft verkör- 
pert, sondern nur in dem Sinne, daß er eine Ausnahme bildet. 
„Denk dir mal, der Raffke ist so reich, daB er nichts mehr zu 


kaufen braucht“. 


* x 
* 


Bei der Interpretation von Plinius verfährt Bücher wie ein 
Fremder, der aus einem Öffentlichen Anschlag: „Rauchen ver- 
boten“ den Schluß zóge, daB in der Stadt überhaupt nicht ge- 
raucht werde. 

Bei Petronius macht Bücher aus einem gerissenen Spekulan- 
ten einen Vertreter der patriarchalischen Naturalwirtschaft. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß man nur dann 80 
gewalttätig interpretieren und die evidentesten Dinge entstellen 
kann, wenn man im Banne einer Theorie steht. Man kann der 
Wirklichkeit blind gegenüberstehen, wenn man a priori weiB, 

wie die Wirklichkeit aussehen muB. 

Betrachten wir nun die rein theoretischen Grundlagen von 
Büchers Stufenleiter. 

Der erste Eindruck ist ein ungemein bestechender. Der Ge- 
danke, die einzelnen Stufen an der Länge des Weges zu messen, 
den die Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten zurück- 
legen, scheint ganz überzeugend zu sein. Dazu scheint auch der 
Maßstab ungemein glücklich gewählt zu sein. Er ist einfach und 
kann — scheinbar — die verwickeltsten Zusammenhänge auf- 
‚lösen. In seiner Einfachheit erinnert der Maßstab an das Atom- 
gewicht in dem System der chemischen Elemente. Es nimmt 
einen nur Wunder, warum Bücher bloB drei Stufen konstruiert: 
die erste Stufe, wo das Gut in einer Wirtschaft konsumiert wird, 
in der es produziert worden ist; die zweite, wo das Gut aus 
der Wirtschaft des Produzenten in diejenige des Konsumenten 
unmittelbar übergeht, und die dritte, wo das Gut eine Reihe 
von Zwischenstellen durchláuft, bevor es in die Wirtschaft des 
Konsumenten gelangt. Es scheint, daB er damit der Mannig- 


678 S. Stein 


faltigkeit der Anwendungsmöglichkeiten seines Maßstabes Ein- 
trag tut. Sieht man genauer zu, so ist es nicht schwer festzu- 
stellen, daß das eigentlich kein Zufall ist. Denkt man sich nämlich 
die Wirtschaftsordnungen, wodas Gutzwei, dreiusw. Wirtschaften 
passiert, so wird einem klar, daB man keine neuen „chemischen 
Elemente‘‘, keine greifbaren Konturen bekommt. Mit anderen 
Worten: das zahlenmäßige an dem Maßstab von Bücher ist nur 
ein trügerischer Schein. 

Führt man die Analyse weiter, so wird es bald klar, daß bei 
Bücher nicht drei, sondern nur zwei theoretisch selbständige 
Stufen da sind: die erste und die dritte. Die zweite Stufe — 
die der Stadtwirtschaft — ist eigentlich eine Zusammenfassung 
theoretisch grundverschiedener Wirtschaften: derjenigen der 
Bauern, die noch die typische Form der ersten Stufe aufweist, 
und derjenigen der Städter, denen schon die typische Form der 
dritten Stufe eigen ist. Mit anderen Worten: die zweite Stufe ist 
eine typische Übergangsstufe, und Bücher wendet seinen 
theoretischen Maßstab garnicht an, sondern begnügt sich nur mit 
dessen zwei Werten, dem niedrigsten, dem Nullwerte, und dem 
höchsten. Das heißt, rein theoretisch betrachtet, daß sein Schema 
mit dem Schema Naturalwirtschaft — Tauschwirtschaft identisch 
ist, wobei er für die einzelnen Abstufungen der Tauschwirt- 
schaft gar kein Kriterium übrig hat. 


* * 
* 


Die Theorie Büchers ist weder Theorie noch Geschichte. Es 
bleibt nur noch zu erklären, wie diese Theorie so lange das 
Feld behaupten konnte. Die einzig mögliche Erklärung be- 
steht wohl darin, daß sie als eine Ausgestaltung der land- 
läufigen Meinungen einer bestimmten historischen Weltan- 
schauung entspricht. 

Das ist auch der Fall. Denn das der Theorie von Bücher zu 
Grunde liegende Schema: Naturalwirtschaft — Tauschwirtschaft 
scheint über alle Zweifel erhaben. Daß die moderne Tausch- 
wirtschaft aus der Naturalwirtschaft entstanden ist, das scheint 
zu dem eisernen Bestand der wirtschaftshistorischen Doktrin 
zu gehören. Woraus konnte sonst die Tauschwirtschaft entstehen? 
Und diese Überzeugung ist stärker als alle Tatsachen, als alle 
historischen Quellen, denn das ist eben eine theoretische Über- 


Die Naturalwirtschaft 679 


zeugung, die aller Tatsachen uud aller Quellen spottet. Wenn 
die Quellen dem nicht entsprechen, umso schlimmer für die 
Quellen. Erfolgreich bekämpfen kann man deshalb diese Theorie 
nur mit rein theoretischen Argumenten. 

Zunächst muB zugegeben werden, daß die Entwicklung der 
verkehrswirtschaftlichen Erscheinungen zu den charakteri- 
stischen Merkmalen der Entwicklung unserer modernen Wirt- 
schaft gehört. Das ist gewißrichtig. Irrig ist dagegen der Glaube, 
daß die Naturalwirtschaft die Urform der modernen Wirt- 
schaft darstellt und mit ihr durch eine gerade Linie verbunden 
sein soll. 

Die historische Entwicklung kann überhaupt nicht durch eine 
gerade Linie wiedergegeben werden, höchstens durch eine wellen- 
artige, denn das geschichtliche Leben, wie das Leben überhaupt, 
ist immer ein Auf und Nieder. 

Wir können zu demselben Schluß von einer anderen 
Seite kommen. 

Die Behauptung, daß die Tauschwirtschaft aus Naturalwirt- 
schaft entstanden ist, ist eine Antwort auf die Frage: woraus 
ist die Tauschwirtschaft entstanden ? 

Dieser Frage aber kann eine andere beigesellt werden: Wie 
ist die Naturalwirtschaft entstanden. Und eine mögliche Antwort 
auf diese Frage wird lauten: aus der Tauschwirtschaft. 

Die Tauschwirtschaft ist durch die Entwicklung des Tausches 
entstanden. Ausseinem Absterben entsteht die Naturalwirtschaft. 

Das ist keine Wortspielerei. Denn sehen wir genauer zu, so 
beziehen sich fast alle Beispiele der „Naturalwirtschaft‘‘ auf die 
Fälle, wo der Hausherr sich den Unbequemlichkeiten der Tausch- 
wirtschaft entziehen will. Die vollendete Naturalwirtschaft ist 
ein Programm und keine Tatsache. ,,Entziehe dich dem Handel, 
wenn du es kannst“ sagt Plinius der Ältere. Und der Empor- 
kömmling von Petronius kann sich die besten Leckerbissen zu 
Hause herstellen lassen, ohne auf die unzuverlässigen Händler 
angewiesen zu sein. Jeder, der den Weltkrieg durchgemacht hat, 
kann eine Reihe weiterer Beispiele für die Entstehung der Natu- 
ralwirtschaft anführen. 

Wenn wir nun die beiden Fragestellungen miteinander ver- 
binden, so bekommen wir eine Reihe, in welcher die Natural- 
wirtschaft und die Tauschwirtschaft einander ablösen. 


680 S. Stein 


Diese Linie ist grundsätzlich unendlich. Sie kommt aus einer 
Unendlichkeit und geht in eine Unendlichkeit hin. Und das ist 
gut so. Denn die Frage, wie die Urwirtschaft ausgesehen hat, 
ist im Grunde genommen keine historische. Wie weit wir auch 
in der Geschichte zurückgehen mögen, auf ganz primitive Wirt- 
schaft stoßen wir nie. Und die Ergründung dieser urersten pri- 
mitiven Wirtschaft müßte eigentlich aus der Wissenschaft ver- 
bannt werden. 

Die Frage nach der Entstehung des Staates ist schon aus 
der Wissenschaft verbannt. Warum zögert man, dasselbe mit 
der Naturalwirtschaft als Urwirtschaft zu tun? Es kommt wohl 
heute keinemVerfassungshistoriker in den Sinn, sich den Urzustand 
so vorzustellen, als ob die einzelnen in den Urwäldern umher 
irrenden Menschen plötzlich den Plan gefaßt hätten, den Contrat 
social zu schließen. Warum glauben die Wirtschaftshistoriker 
immer noch an den Naturzustand, an die Naturalwirtschaft, bei 
der die einzelnen Wirtschaften durch keine Beziehungen mit- 
einander verbunden waren. 

Noch tief stecken in uns die Ideen der Aufklärung, und es 
fällt uns schwer, uns von ihnen loszumachen. Die Kultur aber 
ist nicht aus der Natur entstanden und man muß sich an den 
Gedanken gewöhnen, daß die Geschichte auch ewige The- 
mata kennt. 

Zu diesen Themata gehört nebst dem Staate — auch die 
Volkswirtschaft. Es ist nicht nur geschichtswidrig, sondern auch 
wirklichkeitswidrig, sich die Volkswirtschaft irgend einer Ge- 
schichtsperiode als eine Zusammensetzung von einander unab- 
hängigen und gleichartigen Wirtschaften vorzustellen. Denn die 
Wirklichkeit war nie und kann nicht homogen sein. Sie war 
immer ein Ganzes, in dem sich die einzelnen Teile ergänzten. 
Andererseits kann der Verkehr zwischen einzelnen Elementen 
und deren gegenseitiges Wechselwirken — es mag minimal ent- 
wickelt sein — niemals als etwas Untergeordnetes weggedacht 
werden, denn eben der Verkehr und die Wechselwirkung machen 
auseinem technischen und physiologischen Thema — ein soziales. 
Es wäre doch absurd, wenn ein Biologe die Theorie der ,,natu- 
ralen Selbständigkeit“ einzelner Organe bei den niedrigsten 
Lebensformen aufstellte, warum tut das unbekümmert der So- 
zialtheoretiker, ohne zu bemerken, daß er dabei nicht nur die 


Die Naturalwirtschaft 681 


wirklichen Verhältnisse entstellt,sondern auch an seinemeigensten 
Thema vorbeigeht ? 


* * 
* 


Kehren wir zu unserer Wellenlinie zurück. Daß die Tausch- 
wirtschaft durch die Hochpunkte und die Naturalwirtschaft 
durch die Tiefpunkte wiedergegeben werden, bedarf wohl keines 
Beweises, wenn wir nicht die grundlegensten Wahrheiten der 
Nationalökonomie in Zweifel ziehen wollen. Und es bleibt uns 
noch ein Schritt zu tun und das Schema zu präzisieren. Es ist 
von vornherein klar, daß die beiden Begriffe — Naturalwirt- 
schaft und Tauschwirtschaft — nicht absolut zu denken sind, 
denn die Höhe des Absteigens und die Tiefe des Absinkens sind 
nicht a priori bestimmbar. Das gibt uns den Wink, diese ab- 
soluten Begriffe durch Richtungsbegriffe zu ersetzen. Die volks- 
wirtschaftliche Entwicklungslinie ist somit am besten durch eine 
wellenartige darzustellen, wo die Naturalisierungs- und In- 
dustrialisierungstendenzen einander ablösen. 

Diese Linie stellt das oberste Prinzip der Entwicklung dar, 
und als solche ist sie ziemlich inhaltsarm und muß so sein. 
Nichtsdestoweniger ist an dieser Linie als dem obersten Thema 
besonders für jeden Wirtschaftshistoriker festzuhalten, denn sonst 
wird jede Wirtschaftsgeschichte zugleich sinnlos und unmöglich. 
Sinnlos, weil sie zu einem Haufen disparater Tatsachen wird, 
unmöglich, weil jedem Historiker nur ein Teil der Tatsachen zu- 
gänglich ist, den er nie verwenden kann ohne' die Annahme, 
daB dieser Teil nicht nur sich selbst darstellt, sondern auch das 
Ganze ahnen läßt. 

So wird die Naturalwirtschaft zu ihrem Gegenteil. Aus einem 
absoluten Begriffe, der eine natürliche Wirtschaftsordnung be- 
zeichnen soll, wird sie zu dem Grenzbegriffe einer Entwicklungs- 
tendenz, die die Auflösung und den Tod bedeutet. Und es ist 
richtig so, denn die „Naturalisierungen“, soweit wir sie geschicht- 
lich belegen können, gehen Hand in Hand mit einem katastro- 
phalen Sinken des wirtschaftlichen Niveaus. 

Es wäre vielleicht an der Zeit, sich von der schlechten Roman- 
tik zu befreien und die Naturalwirtschaft sich nicht als einen 
paradiesischen Zustand der noch unschuldigen Menschheit vor- 
zustellen. 


682 


Geschictswissenschaft und Rechtsgeschichte 
im Streit um die Stammesrechte. 


Ein Literaturbericht! 
von 


Walter Stach. 


I. Probleme der handschriftlichen Überlieferung 
der bayerischen Lex. 
Mit 2 Exkursen zum Texte der Leges Visigothorum. 


Im Jahre 1924, als noch das geschichtswissenschaftliche 
Leben in Deutschland unter den Wirkungen der Nachkriegszeit 
fast wie gelähmt schien, veröffentlichte B. Krusch im Verlag 


1 Der Literaturbericht, dessen nachstehender Teil Probleme der handschrift- 
lichen Überlieferung zur Lex Bajuvariorum behandelt und dessen Abschluß im 
nüchsten Heft Sprachliches, Quellenanalytisches und Fragen der Entstehung 
auch der anderen oberdeutschen Leges erórtern soll, beabsichtigt nicht, mit neuen 
Thesen in den Streit der Meinungen einzugreifen; sondern ich will damit in erster 
Linie meiner schon vor Jahren übernommenen Pflicht als Rezensent genügen und 
versuchen, für Leser der Zeitschrift, die dem Austrag der Kontroverse ferner stehen, 
eine kritische Übersicht über den Gang der Legesforschung, über die wichtigste 
neuere Literatur und über den gegenwürtigen Stand der Probleme zu bieten. Eine 
solche Würdigung der jüngeren rechtsgeschichtlichen Forschung auch von historischer 
Seite dürfte bei der hervorragenden Bedeutung des Fragenkomplexes für die ältere 
deutsche Verfassungsgeschichte schon im Sinne eines „Audiatur et altera pars" ge- 
rechtfertigt sein, nachdem sich bisher eigentlich nur die deutschrechtliche Fach- 
wissenschaft ausgiebig zum Worte gemeldet hat; sie scheint mir aber auch durch die 
Tradition der Historischen Vierteljahrschrift nahegelegt, in der zu G. Seeligers Zeit 
gerade rechtgeschichtliche Fragen der germanischen und fränkischen Periode mit 
größter Aufmerksamkeit verfolgt und diskutiert worden sind. Daß dies im vor- 
liegenden Falle statt durch eine Folge von Einzelanzeigen in Form einer rückblicken- 
den Sammelbesprechung geschieht — nur der verspätete Zeitpunkt fällt mir per- 
sónlich zur Last — war von der Schriftleitung von jeher beabsichtigt, und eine Reihe 
von Verlegern hatte dazu seit langem in dankenswerter Weise Besprechungsstücke 
zur Verfügung gestellt. Es sind das folgende Werke: 

BRUNO KRUSCH, Die Lex Bajuvariorum. Textgeschichte, Handschrif- 
tenkritik und Entstehung. Mit zwei Anhüngen: Lex Alamannorum und Lex Ri- 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 683 


der Wr *imannschen Buchhandlung ein umfängliches Werk über 
die 1 ‚juvariorum. Krusch übte in diesem Buche eine ver- 
nichte Kritik an der seit Jahrzehnten geplanten und schon 
seit 181. im Druck befindlichen Ausgabe des -bayerischen 
Stammesrechtes von E. v. Schwind, die erst zwei Jahre später 
in der Öffentlichkeit erschien. Darüber hinaus trat Krusch auf 
breitester Front und in schärfster Form der unter H. Brunners 
Ägide unbestrittenen germanistischen Schulmeinung über die 
Entstehung der bayerischen, alamannischen und ribuarischen 
Volksrechte entgegen. Es war ein wahrhaft revolutionäres 
Buch und dabei keineswegs aus der Feder irgend eines jugend- 
lichen Heißspornes, sondern verfaßt von dem ältesten Mit- 
gliede der Zentraldirektion, dessen gewaltige Arbeitskraft und 
überragende editorische Fähigkeit neben die Auctores anti- 
quissimi Mommsens die Reihe der Scriptores rerum Mero- 
vingicarum gestellt hatte und der in unsere auf weite Strecken 
aphilologisch gewordene W issenschaftsperiode hineinragt, wie eine 
lebendige Verkörperung der Traditionen von Pertz und Waitz?. 


buaria. Berlin (Weidmannsche Buchhandlung) 1924, Gr. 8°. (II), 347 S. (künftig zit. 
Krusch, Lex). 

KONRAD BEYERLE, Lex Baiuvariorum. Lichtdruckwiedergabe der 
Ingolstädter Handschrift des bayerischen Volksrechts mit Transkription, Textnoten, 
Übersetzung, Einführung, Literaturübersicht und Glossar. Zur Jahrhundertfeier der 
Übersiedelung der Universität von Landshut nach München im Auftrage der Juristi- 
schen Fakultät und der Universitätsbibliothek München... herausgegeben und 
bearbeitet. München (Max Hueber, Verlag) 1926. Lex. 8%. XCIV, 214 S. (zit. K. 
Beyerle). 

LEGES BAIWARIORUM. Edidit Ernestus Liber Baro de Schwind. 
MGH. Legum sectio I. Legum nationum Germanicarum tomi V. pars II. Hannover 
(Hahnsche Buchhandlung) 1926. 49. VII, 314 S. (zit. als Ausgabe v. Schwinds). 

BRUNO KRUSCH, Neue Forschungen über die drei oberdeutschen 
Leges: Bajuvariorum, Alamannorum, Ribuariorum. Mit 8 Schrifttafeln. 
Abhandlungen d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Philol.-hist. Klasse, N. F. Bd. XX, 1. 
Berlin ( Weidmannsche Buchhandlung). 1927. Gr. 8°. (II), 208 S. (zit. Krusch, Neue 
Forschungen). 

KARL AUGUST ECKHARDT, Die Lex Bajuvariorum. Eine text- 
kritische Studie. Untersuchungen z. deutschen Staats- u. Rechtsgeschichte, hrsg. 
v. J. v. Gierke. 138. Heft. Breslau (Verlag von M. & H. Marcus) 1927. Gr. 89. 71 S. 
(zit. Eckhardt). 


2 So P. Kehr beim Hinweis auf die geplante Neuausgabe der Frankengeschichte 
Gregors von Tours durch Krusch; vgl. den jüngsten „Bericht über die Herausgabe 
der Monumenta Germaniae Historica". SB. Ak. Berlin XX (1931), S. 4. 


684 Walter Stach 


Wie war es zu diesem merkwürdigen Buche gekommen ? 

H. Brunner hatte schon in den siebziger Jahren des vorigen 
Jahrhunderts ein weitschauendes Programm aufgestellt, das 
die Herausgabe der Rechtsquellen in den MG. betraf, und dabei 
mit dezidierter Kritik an den damaligen Plänen von G. Waitz 
nicht gekargt?. Ein Jahr nach dem Tode von Waitz war er 
selbst durch die Preußische Akademie in die Zentraldirektion 
gewählt worden und hatte die Leitung der nach seiner Über- 
zeugung hóchst revisionsbedürftigen Legesabteilung mit der 
Möglichkeit übernommen, sie nunmehr in seinem Sinne auszu- 
bauen und umzugestalten. Dabei war Brunners besonderes 
Augenmerk schon 1875 auch auf die Folio-Serie der germa- 
nischen Stammesrechte gerichtet gewesen: er hatte eine Quart- 
reihe und dafür u. a. die energische Inangriffnahme der Lex 
Salica gefordert, die er am liebsten in den Händen von R. Sohm 
gewußt hätte; umgekehrt hatte er die bereits 1863 erschienene 
Folio-Ausgabe der alamannischen und der bayerischen Leges 
von J. Merkel (MG. LL. III) auf schwerste getadelt, so daB 
man diese fortan namentlich von rechtshistorischer Seite für 
mehr oder minder verfehlt hielt*. 

Noch eindringlicher waren diese Ansichten Brunners in dem 
Kapitel,, Rechtsquellen“ in der „Deutschen Rechtsgeschichte“ 
zutage getreten, einem Werk, dessen erster Band schon im Jahre 
des Eintrittes von Brunner in die MG. erschien und das noch 
heute als die schlechterdings klassische Darstellung der ger- 
manischen und fränkischen Rechtsperiode unbestritten aner- 
kannt wird ö. In diesem Kapitel wiederholte Brunner mit Nach- 


* Vgl. H. Brunner, Die Umgestaltung der Monumenta Germaniae. Preuß. 
Jbb. 35 (1875), S. 535ff. — G. Waitz, Die Abteilung der Leges der Mon. Germ. hist. 
Ebd., S. 656ff. 

* Brunner a. a. O., S. 539; 538; 540. Die Auswirkung des Brunnerschen Ver- 
dikts über Merkel in der herrschenden Meinung spiegelt sich deutlich in den Rechts- 
geschichten von Schröder und v. Amira. 

* Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. I (1887), I* (1906); II (1892), II? (be- 
arbeitet von Cl. v. Schwerin 1928). War dieses darstellende Werk nach Form, 
Sprache und Aufbau von einer in der Rechtsgeschichte bis dahin unerhörten Voll- 
endung, so hatte doch Brunner seine wissenschaftliche Autorität schon längst zuvor 
durch ein Meisterwerk der Forschung begründet: durch seine 1872 erschienene Mono- 
graphie über die Entstehung der Schwurgerichte. Vgl. zur Würdigung seiner wissen- 
schaftlichen Bedeutung die Nachrufe von U. Stutz, ZSav RG. 36 (1915); E. v. 
Schwind, MJÖG. 37 (1917) u. K. v. Amira, Jb. Ak. München 1915. 


+4 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 685 


druck seine Kritik an Merkel. So führte er zur Lex Alaman- 
norum des Näheren aus, daß sich Merkels Annahme von drei 
verschiedenen Redaktionen, die Unterscheidung einer Lex 
Hlothariana (aus der Zeit Chlotars II. bis zu der Zeit zwischen 
Dagobert und Lantfrid I.), einer Lex Lantfridana (aus den 
Jahren 724—730) und einer jüngeren Lex Karolina, bei ein- 
gehender Untersuchung der überlieferten Textformen nicht auf- 
recht erhalten ließe; vielmehr liege — außer dem ältesten, 
wahrscheinlich noch unter Dagobert I. entstandenen Pactus 
Alamannorum — nur eine einzige Redaktion der Lex unter 
Herzog Lantfrid vermutlich aus den Jahren 717—719 vor, 
und die Verschiedenheiten der von Merkel nur konstruierten 
drei Texte beruhten zum Teil auf einer unrichtigen Verteilung 
der Lesarten, zum Teil seien sie auf Rechnung der handschrift- 
lichen Fortbildung der Lex zu setzen®. 

Ganz ähnlich lautete auch seine Kritik an Merkels Bayern- 
gesetz’. Auch hier wandte sich Brunner gegen die ZerreiBung 
der Lex in drei oder mehrere Satzungen verschiedener Ent- 
stehungszeit. Roth und Merkel, die Hauptvertreter einer 
solchen Zerlegungstheorie, hätten ihre Schlußfolgerungen nur 
aus dem Inhalte der Lex gezogen; in der handschriftlichen 
Überlieferung fände ihre Lehre keine Stütze. Insbesondere 
habe Merkel in seiner Ausgabe ohne ersichtlichen Grund 
drei getrennte Formen des Textes gedruckt: einen Textus 
primus in 22 Titeln, einen Textus secundus in 54 Titeln und 
einen Textus tertius in 21 Titeln. Aber seine gesamte Text- 
analyse sei zu verwerfen. Wenn den dritten Text die jüngere 
Sprache und die Umstellung einzelner Titel charakterisieren 
sollten, so sei dem entgegenzuhalten, daß Texteinteilung und 
Titelrubriken erst nachträglich von den Schreibern der Hand- 
schriften in verschiedener Weise zugefügt worden seien und 
somit nichts zu beweisen vermöchten. Wenn Merkel ferner aus 
dem ersten Text fünf Appendices ausscheiden wolle, so sei in 
Wahrheit höchstens der zweite Anhang ein jüngerer Zusatz, 
während die übrigen vier zum ursprünglichen Text gehörten. 
Außerdem böte der zweite Text an einzelnen Stellen sogar 

* Brunner, DRG. I!, S. 308—312. 


7 Ebd. 8.318ff.— Zu Brunners späterem Urteil über die Merkelsche Appendix II 
vgl. jedoch Anm. 33. 


686 Walter Stach 


bessere Lesarten als I und III, so in den Bußzahlen von V,7 
und VI,6. Jedenfalls zeichne sich das bayerische Stammesrecht 
gerade durch seinen einheitlichen Charakter vor den übrigen 
Leges aus; es sei das Ergebnis einer einzigen Satzung und seine 
Abfassung lasse sich mit ziemlicher Bestimmtheit in die Jahre 
743—748 verlegen, in die Zeit, da der Bayernherzog Odilo nach 
seiner Aussöhnung mit den Franken, aber unter Abhängigkeit 
von der fränkischen Staatsgewalt wieder in sein Amt eingesetzt 
worden war. Dem fügte Brunner später noch die folgenreiche 
Vermutung hinzu, daß dem I. und II. Titel der bayerischen 
Lex — und damit auch der eben genannten Appendix II — 
ein wahrscheinlich unter Dagobert I. 629—634 entstandenes 
merovingisches Königsgesetz kirchen- und staatsrechtlichen In- 
halts zugrunde läge, das ursprünglich für eine Mehrheit fränki- 
scher Herzogtümer bestimmt gewesen und auch bei der Ab- 
fassung der Lex Alamannorum benutzt worden seis. 

Bei der Erschließung dieser verschollenen Quelle war eine 
weitere Hypothese Brunners von ausschlaggebender Bedeutung, 
die überhaupt seine quellenkritischen Ansichten über die Ent- 
stehung der meisten Stammesrechte in steigendem Maße be- 
einfluBt hat: die bekannte „Zeumer-Brunner-Krammersche“ 
Euricianushypothese?. Ihr Ausgangspunkt lag in einer ur- 
sprünglich ganz beiläufigen Anmerkung des I. Bandes der 
„Deutschen Rechtsgeschichte'' über textliche Anklänge zwischen 
der Lex Salica einerseits und der Lex Burgundionum und den 
Leges Visigothorum andererseits!®, worin Brunner schon damals 
die Spuren einer westgotisch vermittelten Seitenverwandt- 
schaft unter den genannten Leges zu erkennen glaubte 1. Denn 


5 Brunner, Über ein verschollenes merovingisches Kónigsgesetz des 7. Jahr- 
hunderts. SB. Ak. Berlin 39 (1901), S. 932ff. 

* So hat sie v. Schwind (NA. 33, S. 616; 618) mit Recht genannt, der im 
übrigen — ohne Brunners Theorie damit antasten zu wollen — wiederholt vor der 
,Pandorabüchse" des Euricianus warnte und hin und wieder die Annahme grad- 
liniger Abhàngigkeit zwischen den Leges einer eurizianisch vermittelten Seitenver- 
wandtschaft vorzog, , wenigstens daneben", wie er sich gelegentlich ausdrückt. 

10 Brunner, DRG. I!, 5. 300, Anm. 44. 

11 Überdiese „schwer zu verfolgenden Auseinandersetzungen“ — so v. Schwerin, 
Einführung in das Studium der germanischen Rechtsgeschichte (1922), S. 99 Anm. 2 
— habe ich bereits unter Anführung der Fachliteratur in der Einleitung meines Auf- 
satzes berichtet: W. Stach, Lex Salica und Codex Euricianus. Eine textkritische 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 687 


er nahm zur Erklärung dieser Übereinstimmungen an, die beiden 
ostgermanischen Leges hätten textlich eine gemeinsame Vorlage 
in der Kodifikation König Eurichs gehabt, die andererseits auch 
bei der grundlegenden Redaktion der Lex Salica wenigstens für 
die Fragstellung ihrer Rechtssätze als Muster benutzt worden 
sei. Ausdrücklich aber hatte er seinen Beispielen hinzugefügt, 
der ganze Problemkomplex erfordere noch eingehende Unter- 
suchung; so namentlich das stellenweise Übergreifen der Pa- 
rallelen auch auf andere Leges, wie auf die bayerischen und auf 
den Edictus Rothari, auf den Brunner durch Zeumer aufmerk- 
sam gemacht worden war. Doch dieser Vorbehalt einer weiteren 
Verifizierung der damals noch sehr vorsichtig formulierten Ver- 
mutung blieb unter dem suggestiven Eindruck von Brunners 
überragender Stellung in der germanistischen Rechtswissen- 
schaft für den Fortgang der Forschung ohne die richtige Wir- 
kung. Zumal da ja die westgotisch-bayerischen Textbezie- 
hungen völlig evident waren 13, nahm man von anderer Seite, 
gestützt auf Brunners Autorität, statt einer behutsamen Nach- 
prüfung sofort die Brunnersche Versuchshypothese für eine 
erwiesene Theorie, auf der sich unbesehen weiterbauen ließ. 

So veröffentlichte G. Tamassia bereits 1889 eine Spezial- 
analyse zum langobardischen Edikt, die er 1897 unter Aus- 
dehnung auf die späteren Leges Langobardorum mit dem Er- 
gebnis abschloß, daß sich die Annahme westgotischer Ein- 
flüsse auch auf diesem Quellenboden in weitestem Umfange 


Studie zur Abhängigkeitsfrage des salischen Rechtes. HV. 21 (1922/23), S. 385—393, 
worauf ich im folgenden teilweise zurückgreife. 


12 Etwa die Hälfte der Textparallelen zwischen den westgotischen und baye- 
rischen Stammesgesetzen ließ sich unmittelbar aus der ältesten Überlieferung der 
westgotischen. Leges, den sog. Pariser Fragmenten (cod. Paris. lat. 12161, meist 
Euricianus genannt), belegen, und bei den übrigen trugen die meisten westgotischen 
Leges die Überschrift „Antiqua“. Danach waren Eurichs Konstitutionen von den 
bayerischen Redaktoren in reichem Maße verwertet worden: eine Beziehung, die 
— ühnlich, wie bei den Leges Burgundionum — der rechtsgeschichtlichen Forschung 
von jeher aufgefallen war, aber ohne daß man früher diesen Beobachtungen besonders 
nachgegangen würe; vgl. z. B. O. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen. 
I. Bd. (1860), S. 159f.; 90. Völlig neu war an Brunners Ausführungen (s. o. Anm. 10) 
eigentlich nur, daB er auch die Lex Salica in derartige Abhüngigkeitserwügungen ein- 
bezog, obwohl er miBverstándlich von Übereinstimmungen sprach, die bis dahin 
„allgemein übersehen“ worden wären. 


688 Walter Stach 


bewahrheite??, So stellte fernerhin K. Zeumer 1894 für die 
Wiedergewinnung nicht erhaltener Euricianischer Leges den 
Grundsatz auf, man dürfe diejenigen westgotischen ,,Anti- 
quae", die in die Gesetzessammlungen der Bayern, Burgunden 
und Franken übernommen oder von diesen benutzt worden 
seien, ohne weiteres als ehemalige Eurich- Satzungen an- 
sprechen“. Damit war der Hypothese Brunners unter Be- 
rufung auf ihn eine Bahn gewiesen, die schlieBlich dahin 
geführt hat, daB man überhaupt bei textlichen Zusammen- 
klängen der älteren Stammesrechte mit Vorliebe an eine ge- 
meinsame Euricianus-Grundlage dachte, und ganz in diesem 
Sinne verfuhr Brunner schließlich selbst, wenn er sich bei der 
Entdeckung seines verlorenen fränkischen Königsgesetzes dar- 
auf berief, eine vorsichtige Konjekturalkritik vermöge die 
trümmerhafte Eurichüberlieferung einigermaßen zu ergänzen, 
da feststünde, daß die Leges Eurici nicht nur bayerisch, 
burgundisch und langobardisch, sondern auch in der Lex 
Salica und in salischen Kapitularien, ja sogar an einigen 
Stellen der Lex Alamannorum verwertet worden seien l. 
Nach alledem hatte sich das Bild der germanischen Stammes- 
gesetzgebung unter Brunners maßgebendem Einfluß in wesent- 
lichen Punkten gewandelt, und es lag nahe, daß man bei der Bear- 
beitung der Texte für die neue Leges-Serie derMG. aus dem verän- 
derten Stande der Forschung die praktischen Folgerungen zog!$. 


13 G. Tamassia, Le fonti dell’ editto di Rotari, Pisa 1889; ders., Römisches 
und westgotisches Recht in Grimowalds und Liutprands Gesetzgebung. ZSavRG.G 
18 (1897), S. 148ff. — Wie blindlings Tamassia der Anregung Brunners gefolgt war, 
zeigen selbst Zeumers Rezensionen NA. 15, S. 217 und ebd. 23, S. 588. 

14 Leges Visigothorum antiquiores (vgl. Anm. 19), praef. p. XIV: Certe eas 
leges „antiquas“ Eurico attribuere debemus, quae in Leges Baiuvariorum, Burgun- 
dionum, Francorum receptae vel ibi adhibitae sunt. 

15$ Vgl. Brunner a. a. O. (Anm. 8), S. 937f. u. 949ff. — Bei der Einbeziehung 
auch der alamannischen Leges in den Kreis der Euricianussprößlinge handelt es sich 
um den Titel XLII, 2 u. 1 (zwei Stellen, an denen Zeumer bis zuletzt die alamannische 
Abhängigkeit von den bayerischen Leges verfocht) und Titel X X XIX, dessen nahezu 
wörtliches Korrelat in der L. Bai. VII, 1--3 Zeumer als Euricianum bestimmt hatte. 
DaB diese beiden Novellen der Lex Alamannorum gleichwohl mit Eurich nichts zu 
tun haben, sondern vielmehr auf das rómische Recht der Westgoten zurückgehen, 
hat inzwischen Krusch, Neue Forschungen S. 100ff., wohl unwiderleglich dargetan. 

16 Methodisch wäre freilich der umgekehrte Weg, wie ihn auch Zeumer bei seiner 
Geschichte der westgotischen Gesetzgebung gegangen ist, besser gewesen. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 689 


Dort waren bereits 1888 die Leges Alamannorum von K. 
Lehmann (Legum Sectio I. Legum nationum Germanicarum 
tomi V. pars I) erschienen, wobei sich der Herausgeber in seiner 
Selbstanzeige!“ wegen der textlichen Umgestaltung ausdrück- 
lich auf die oberste Verantwortung Brunners und auf die ent- 
scheidende Mitwirkung Zeumers berief. Dort hatte ferner 1892 
R. v. Salis die Leges Burgundionum (ib. tomi II. pars I) neu 
ediert: eine Ausgabe, die freilich schon wenige Jahre danach 
der kritischen Sonde Zeumers wieder zum Opfer flel 18s. Dort 
wurden weiterhin 1902 die Leges Visigothorum in Zeumers 
Quartausgabe (ib. tomus I) veróffentlicht, nachdem bereits 
1894 eine Ausgabe in Oktav vorangegangen war!?; beide Aus- 
gaben bedeuteten in der Tat, im Verein mit den begleitenden 
Aufsätzen Zeumers, einen epochalen Fortschritt in der Er- 


17 ZSavRG.G 10 (1889), S. 248ff. Insbesondere führt Lehmann S. 248 aus, daB 
die Ausgabe statutengemäß vor der Drucklegung unter die Kontrolle Brunners und 
Zeumers getreten sei, und zwar dergestalt, daB Zeumer bei jedem Druckbogen Text 
und Noten zunächst vom Standpunkt der äußerlichen, dann aber auch vom Stand- 
punkt der hóheren Kritik revidierte, daB bei Meinungsverschiedenheit die Stimme 
Brunneis als des ständigen Leiters der Abteilung den Ausschlag gab und daß der 
Leiter das Ganze schließlich in letzter Lesung genehmigte. 

15 Zeumer, Zur Textkritik und Geschichte der Lex Burgundionum. NA. 25 
(1900), S. 257ff. Zeumer legte mit durchschlagenden Gründen dar, daB die Hss.- 
Klassifizierung bei v. Salis durchaus verkehrt und wissenschaftlich nicht zu recht- 
fertigen ist. Es sind zwei selbstándige Überlieferungszweige der Leges Burgun- 
dionum zu scheiden: die Hss. B9 und B10 im Gegensatz zu den übrigen. Wührend 
diese sich aus einem Archetypus mit gewissen Auslassungen und Entstellungen her- 
leiten, sind B 9 und B10 aus einem Exemplar hervorgegangen, das diese Verderbnisse 
noch nicht enthielt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daB man sich als Benutzer 
der Salisschen Ausgabe nótigenfalls den Text nach folgender kritischer Regel erst 
selbst herstellen muss: Was B9 oder B10 mit auch nur einer der übrigen Hss. ge- 
meinsam hat, gehórt dem ültesten Text an, den wir auf Grund des hs. Materials über- 
haupt herstellen können. Für die verbleibenden Fälle ist Zeumers Aufsatz zu Rate 
zu ziehen, der mit den Mitteln der inneren Kritik zwischen den verschiedenen Les- 
arten so entschieden hat, daß in keinem Falle zu Zweifeln Raum bleibt. Allerdings 
ist die Anwendung der obigen Regel auf den älteren Teil der Leges Burgundionum 
bis einschlieBlich Titel LX XXV beschrünkt. 

19 Die Oktavausgabe der Legum codicis Euriciani fragmenta und der Lex 
Visigothorum Reccessvindiana mit den von Gaudenzi entdeckten Fragmenten führt 
den Titel: Leges Visigothorum antiquiores. — Von den Aufsätzen Zeumers 
ist am wichtigsten seine Geschichte der westgothischen Gesetzgebung: 


NA. 23 (1898), S. 419ff.: eb. 24 (1898); S. 39ff.; eb. 24 (1899), S. 571ff.; eb. 26 (1900), 
S. 91ff. 


Histor. Vierteljahrschriit. Bd. 96, H. 4. 44 


6% Walter Stach 


forschung der Frühgeschichte des germanischen Rechtes“, ob- 
zwar die Zuverlässigkeit des kritischen Apparates gerade in der 
größeren Ausgabe manches zu wünschen übrig läßt, wenn man 
Zeumers varia lectio mit den handschriftlichen Grundlagen 
genauer vergleicht?!, Dort sollte schließlich auch die kritische 
Ausgabe der Lex Salica erscheinen, deren Vorbereitung in den 
Händen von M. Krammer lag. 

Dieser hatte unter Zeumers Anleitung und Billigung in den 
Mittelpunkt seiner Voruntersuchungen die vielberufenen Leges 
Eurici geschoben, und zwar zunächst mit der Behauptung, 
die Einflüsse Eurichs wären vom Titel VI der Lex Salica ab 
in allen salischen Handschriften zu finden; doch hätte die so- 
genannte II. Textfamilie die Abdrücke der westgotischen Vor- 
lage zumeist weit besser bewahrt; mithin wäre auch mit ihrer 
Hilfe der salische Grundtext vorwiegend zu rekonstruieren 22. 
Das fand auch Brunners ungeteilten Beifall. Obwohl er sich das 
endgültige Urteil bis nach Fertigstellung der neuen Ausgabe 
vorbehielt, gab er in der Neuauflage des I. Bandes der ,,Deut- 
schen Rechtsgeschichte" zunächst allgemein seiner Genug- 
tuung Ausdruck, wie durch Zeumer, Tamassia und Krammer 
die Euricianushypothese bekräftigt worden sei, und er er- 
kannte weiterhin an, daß Krammers Beginn ,,einer systema- 
tischen Vergleichung der Lex Salica mit dem Euricianus und 
dessen Sprößlingen‘‘ den von Pardessus und Waitz aufgestellten 
Stammbaum der salischen Handschriften ins Wanken bráchte; 
nur müsse man dann auf eine verlorene ältere Vorlage der 
codd. 6,5 zurückschlieBen, da unmóglich selbst christianisierte 
Stellen der II. Textklasse von den codd. 1—4 nachträglich 
wieder ausgestoßen sein könnten. Ja, es widersprach sogar 
niemand, als Krammer diese neuen Ansichten über die salische 
Textkritik kurzerhand wieder im Stiche lieB und darzulegen 
versuchte, daB in Wahrheit weder die seitherige I., noch die 


2 Vgl. dazu die Würdigung der Oktavausgabe durch A. B. Schmidt,ZSavRG.G 
16 (1895), S. 231#f. 

31 Vgl. den unten angehängten Exkurs II (S. 730ff.) über Zeumers Ausgabe des 
Corpus Reccessvindianum und Ervigianum. Zu Zeumers Ausgabe der Fragmenta 
legum codicis Euriciani vgl. auch den I. Exkurs (S. 722ff.). 

33 M. Krammer, Kritische Untersuchungen zur Lex Salica. I. (Ein II. Teil 
ist nie erschienen). NA. 30 (1905), S. 261ff. 

33 Brunner, DRG. I:, S. 438f.; 430f. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 691 


eben von ihm selber an die Spitze gerückte Textklasse II den 
Grundstock der salischen Überlieferung bildeten, sondern viel- 
mehr die codd. 7—9, die bis dahin allgemein für die III. und 
jüngste Handschriftenfamilie gegolten hatten. Im Gegenteil: 
Trotz B. Hilligers eindringlichem Protest“ wurde von dieser 
seltsamen textkritischen Voraussetzung her zuletzt der Druck 
der neuen Ausgabe begonnen, mit dem bekannten Endresultat, 
daß 1916 — ein Jahr nach Brunners Tod — die ausgedruckten 
Bogen auf Grund zahlreicher Gutachten von führenden Ju- 
risten, Historikern und Philologen wieder eingestampft wurden, 
nachdem B. Krusch den Widersinn der Krammerschen Theo- 
rien und die Unmöglichkeit seiner editorischen Grundsätze in 
zwingender Beweisführung dargetan hatte“. 

Inzwischen war nach 25 jähriger Vorarbeit endlich auch die 
Schwindsche Ausgabe der bayerischen Lex bis zur Veröffent- 
lichung gediehen. Aber leider gab auch sie zu gewichtigen 
Bedenken Anlaß. Nach langwierigen internen Auseinander- 
setzungen, die seit dem Krammerschen Unglück nicht wieder 
zur Ruhe gekommen waren “, wurde darum 1920 von der Zen- 
traldirektion beschlossen, auch diese Edition noch vor dem 
Erscheinen fachmännisch überprüfen zu lassen. In die damit 
betraute Kommission wurde außer Seckel, Heymann und Tangl 
erneut B. Krusch gewählt, und er unterzog sich auch der wei- 


24 B. Hilliger, Lex Salica. Epilog und Hunderttiteltext. HV. 14 (1911), 
S. 153ff. — Für weitere Angaben muß ich auf meinen in Anm. 11 zitierten Aufsatz, 
S. 389 ff. verweisen. Nur einige Literatur sei noch genannt: M. Krammer, Zur 
Entstehung der Lex Salica. Sonderdruck 1910 aus der Festschrift für Brunner. 
— S. Rietschel, Die Münzrechnung der Lex Salica, Exkurs. Vjschr. Soz. WG. 9 
(1911), S. 78ff. — M. Krammer, Forschungen zur Lex Salica NA. 39 (1914), 
S. 599ff. 

3$ B. Krusch, Der Umsturz der kritischen Grundlagen der Lex Salica. NA. 40 
(1916) S. 497ff. — Ders., Der neu entdeckte Urtext der Lex Salica. Nachr. d. Ges. 
d. Wiss. Göttingen, philol.-hist. Klasse 1916, S. 683ff. — Für die Gutachten, die 
Stellungnahme Heymanns und für Krammers Erwiderung vgl. NA. 41 (1919); für 
das Urteil v. Schwerins über Krammers Ausgabe: Zur Textgeschichte der Lex Salica. 
NA. 40 (1916), S. 581ff. 

Vgl. dazu Krusch, Neue Forschungen S. 6ff.; Kehr, NA. 46 (1925), 160ff., 
der in seinem Nachruf auf Seckel betont von der Polemik Kruschs gegen Brunner 
als Abteilungsleiter abrückt und Brunner sowohl wie Zeumer von jeder Mitverant- 
wortung an den Legesausgaben entlastet; Heymann, SB. Ak. Berlin 1922, S. 39 und 
dessen Sondervorwort zur Schwindschen Ausgabe. 


44* 


692 Walter Stach 


teren Aufgabe, sein Urteil in einer besonderen Abhandlung ein- 
gehend zu begründen, mit der ihm eigenen Energie und Gründ- 
lichkeit. Eben diese Abhandlung ist das eingangs genannte 
Buch, in dem der Verfasser die gesamte Arbeit, wie sie eigentlich 
einem Neubearbeiter der Merkelschen Ausgabe zugekommen 
wäre, ab ovo noch einmal geleistet hat?”. 

Was nun Krusch bei diesem unfreiwilligen Einbruch in die 
Domäne der Juristen in kürzester Frist geschaffen hat, ist nach 
meiner Überzeugung das methodisch reifste und inhaltlich 
gediegenste Werk, das die deutsche Forschung zur Textkritik 
der Leges besitzt. Unter den Lebenden wäre wohl kein zweiter 
imstande gewesen, das außerordentlich komplizierte Über- 
lieferungsproblem gerade dieses Stammesrechtes, dessen Schwie- 
rigkeiten sich am ehesten mit der Rekonstruktion des Urtextes 
der Lex Salica vergleichen lassen, bis zu dem Grade der Voll- 
endung zu lösen, und angesichts dieser überragenden Leistung 
hat man nur den einen Wunsch, es möchte der älteren deutschen 
Rechtsgeschichte vergönnt sein, von dem souveränen Beherr- 
scher merovingischer Textfragen auch noch die grundlegende 
kritische Ausgabe der Lex Salica geschenkt zu erhalten. 

Freilich, von dem Inhalte des Büches eine zulängliche Vor- 
stellung zu geben, ist außerordentlich schwer. Denn in An- 
betracht des methodologischen Grundsatzes, daß ja nur auf der 
Tatsachengrundlage der handschriftlichen Überlieferung alle 
geschichtlichen Rückschlüsse hinsichtlich der Entstehung der 
Lex aufgebaut werden können, ist genau genommen beinahe 
jede Seite des Buches und beinahe jeder Variantenexkurs gleich 
wichtig und wertvoll, ganz zu geschweigen des kunstvollen In- 
einandergreifens aller Einzelbeobachtungen, auf deren bis ins 
Kleinste durchdachtem Gefüge das eigentlich Zwingende der 
subtilen Beweisführung beruht. 

Die Einleitung des Buches beginnt mit dem jüngsten Ab- 
schnitt der Textgeschichte: mit einem Rückblick auf die frü- 
heren Ausgaben der bayerischen Lex, angefangen von der 


T E. v. Schwind, Kritische Studien zur Lex Bajuvariorum. I. Teil: NA. 31 
(1906), S. 398ff.; II. Teil: Eb. 33 (1908), S. 605ff.; III. Teil: Eb. 37 (1912), S. 413ff. 
— Seine textkritische Haltung in diesen Studien ist widerspruchsvoll und schwan- 
kend; mit den Hss. befaBt er sich eingehend erst ganz zuletzt, und gegen diesen 
III. Teil ist Kruschs Kritik in erster Linie gerichtet. Vgl. Krusch, Lex S. 5, Anm. 1. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 693 


Editio princeps Sichards aus dem Jahre 1530, bis zur ersten 
Monumenta-Edition. Man ersieht, daß die Lesarten der älteren 
Drucke, die hin und wieder selbst in der jüngeren Forschung 
noch eine Rolle gespielt haben, in Wahrheit keinerlei Hand- 
schriftenwert besitzen, so daß sich die Merkelschen Siglen E 12 
(Sichard), E 8 (Tilius) und E11 (Herold, und nicht etwa die 
Varianten eines verlorenen Fuldensis, wie noch Merkel gemeint 
hatte) in Zukunft erübrigen. Ferner erkennt man, daß Merkel 
eigentlich nur einen Vorläufer gehabt hat: Mederer, der mit 
seinem wohlbedachten Abdruck des alten Ingolstädter Codex 
(B 1) den bis dahin von der Forschung gänzlich vernachlässigten 
Antiquatext des bayerischen Stammesrechtes zum ersten Male 
ans Licht zog. Man ermiBt aber auch mit Bewunderung den 
ungeheuren Fortschritt in der kritischen Herausgabe germa- 
nischer Rechtsquellen, den seinerzeit die Merkelsche Bear- 
beitung des Textes sozusagen mit einem Schlage bewirkt hat. 
Denn wie Krusch im Gegensatz zu der landláuflgen Anzweife- 
lung Merkels schon eingangs darlegt, hat dieser in zehnjähriger 
Anstrengung als erster das umfangreiche und auBerordentlich 
verworrene Material zur Überlieferung der Lex vollstándig durch- 
gearbeitet und gesichtet, seine Ausgabe mit einem lichtvollen 
kritischen Apparat versehen, die Quellen fleiBig notiert und 
durch Heranziehung anderer Rechtsdenkmäler und Urkunden, 
auch der späteren volkstümlichen Gesetzgebung, für das Ver- 
ständnis des Textes und die Kenntnis der Entwicklung des 
Bayernrechtes so viel geleistet, daB seine Arbeit zu den besten 
gezählt werden darf, die in der Leges-Serie der MG. erschienen 
sind. Selbst die Handschriften-Filiation, die Merkel seiner Aus- 
gabe zugrunde gelegt hat, erweist sich im großen und ganzen als 
wohl begründet und bedeutet als Pionierarbeit auf einem da- 
mals noch unerschlossenen Quellenboden eine hervorragende 
Leistung. Daher hätte es die Rechtswissenschaft Merkel 
danken sollen, statt seine Lebensarbeit zu verfemen, daß er in 
seinem Textus primus aus seinen Handschriftenklassen A und B 
den alten barbarischen Wortlaut der Lex zum erstenmal auf 
breiter wissenschaftlicher Grundlage herzustellen versucht hat, 
mag auch sein Textus secundus einen handschriftlichen Zwitter 
bilden, der in seiner disparaten Zusammensetzung eine auch nur 
äußerliche Sonderstellung auf keinen Fall verdient, obschon 


694 Walter Stach 


Brunner gerade hierin Lesarten finden wollte, die besser wären 
als die von I und III. Ebenso zutreffend war es, daß Merkel 
seinem ersten Text A B eine jüngere, sprachlich korrektere und 
in fester Ordnung angelegte Sammlung gegenüberstellte, wie 
sie in den Handschriften E und den Vulgär-Ausgaben vorliegt. 
Daß er diesen Emendatà-Text als III. auch räumlich von der 
Antiqua trennte, bildet lediglich eine Frage der formalen Aus- 
gabetechnik und sollte mit der Merkelschen Annahme ver- 
schiedener Legislationen nichts zu tun haben, wie das aus dem 
Kleindruck der Nebentexte auch deutlich hervorgeht. Selbst 
von dem inneren Verhältnis seines ersten Textes zum dritten, 
von der Stellung von AB zu E, der Antiqua zur Emendata, 
hatte sich Merkel ein im wesentlichen richtiges Bild gemacht. 
So fallen ihm eigentlich nur seine Gutgläubigkeit gegenüber 
dem Prolog und seine Anhängerschaft an Roths Ansichten über 
die sukzessive Abfassung einzelner Teile der Lex zur Last: 
Punkte, in denen schon Waitz und ebenso Brunner mit ihrer 
Kritik unbedingt im Rechte waren, mit der man aber gleich- 
wohl nur den Forscher und nicht den Herausgeber Merkel zu 
treffen vermag. 

Im Anschluß an diese Ehrenrettung setzt Krusch noch kurz 
auseinander, wie nun umgekehrt E. v. Schwind alle die müh- 
samen Errungenschaften seines Vorgängers wieder zunichte 
macht, indem er sich für die Konstituierung des bayerischen 
Grundtextes nach mehrfachem Schwanken erneut an die Hand- 
schriften mit der „reineren“ Latinität anlehnt und damit von 
der Antiqua-Ausgabe Mederers und Merkels zu einer Art mo- 
dernisierter Emendata-Edition umschwenkt und so den ge- 
schichtlichen Gang der Handschriftenentwicklung geradezu auf 
den Kopf stellt. Dabei war dieser Umsturz letzten Endes 
— ganz ähnlich wie bei.der Lex Salica — um einiger vorgefaßter 
Theorien willen erfolgt. Denn abgesehen von der sachlich un- 
haltbaren Auffassung v. Schwinds, daß es eine Edition nicht 
nötig habe, die Geschichte des betreffenden Textes auch nach 
der sprachlichen Seite mit philologischer Genauigkeit widerzu- 
spiegeln, ist es nach den Ausführungen Kruschs mit Händen 


38 Vgl. v. Schwind, NA. 31, S. 401f. und ebd. 37, S. 436. Dort äußert v. Schwind 
schon bei Übernahme der Aufgabe Bedenken, ob die Mühe einer Umformung der 
Folioausgabe ins Quartformat mit Herübernahme des ganzen Variantenapparates 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 695 


zu greifen, daß sich der neue Herausgeber den Weg zu einer 
ungetrübten quellenkritischen Einsicht vor allem durch seine 
grundsätzliche Anhängerschaft an die Vorstellungen Brunners 
von den Textverhältnissen der bayerischen Lex verbaut oder 
zum mindesten erschwert hat, trotz des vorläufigen und proble- 
matischen Charakters der Brunnerschen Thesen, die zwar auf 
einer äußerst scharfsinnigen Kritik edierter Wortlaute, aber 
beinahe nirgends auf einer Autopsie der handschriftlichen 
Überlieferung beruhten. So wird man es auch solcher Befangen- 
heit zuschreiben müssen, daß v. Schwind, selbst angesichts der 
erfolgreichen Anbahnung der richtigen Lösung durch Merkel, 
sogar vor der Hauptaufgabe eines Herausgebers, die Filiation 
der Handschriften klarzustellen, vollständig kapitulierte und so 
eine Ausgabe zustande gebracht hat, die als kritische Gesamt- 
edition durchweg verfehlt ist und deren Apparat und Sach- 
kommentar wichtiger und wertvoller sind als der Text®. 


überhaupt im rechten Verhältnis stehe zu dem wissenschaftlichen Gewinn, oder ob 
nicht gerade die bayerische Lex vielmehr den Gedanken nahelege, das „heutige 
System der Edition der Verewigung so vieler nichtssagender Versehen und Schreib- 
fehler jedes Schreibers“ als eine Übertriebenheit aufzugeben. — Hier führt v. Schwind 
am Ende seiner Arbeit aus, daß für den Text das Schwergewicht ja doch auf der 
sachlichen Wiedergabe, nicht auf den Vulgarismen liege und daß es daher gerecht- 
fertigt sei, den Hss. zu folgen, die inhaltlich i. a. als die zuverlässigeren erscheinen, 
ganz gleich, ob man an sich diese Vulgärformen für älter und ursprünglicher hielte 
oder nicht. Verloren gingen diese Formen ja auch dann nicht, wenn man sie aus dem 
Text in die Anmerkungen verbannt. — Als ob sich der paläographischhe, sprachliche 
und der überlieferungsgeschichtliche Maßstab in der textkritischen Bewertung des 
Inhaltes überhaupt in dieser Weise trennen ließen! Jedenfalls fühlt man sich ange- 
sichts solcher Grundsätze einigermaßen an den — allerdings in anderem Zusammen- 
hang stehenden — Ausspruch Brunners erinnert (Preuß. Jbb. 35, S. 540): „Der 
Jurist handhabt seine Quellen anders wie der Historiker und will vor allem eine 
^ handbare Ausgabe." 

? Dabei fehlt es der editorischen Arbeit v. Schwinds durchaus nicht an offen- 
kundigen Vorzügen, die auch Krusch betont hat. Sie beruhen vor allem auf der müh- 
samen quellenanalytischen Vorarbeit v. Schwinds, die bei dem kompilatorischen Ge- 
. práge der Lex doppelt ins Gewicht fällt. Denn nicht nur, daß v. Schwind dabei u. a. 
die Abhängigkeit der bayerischen Redaktion auch von der Lex Salica entdeckte, 
sondern er hat solche Lehnstellen in seinem Text durch kleineren Druck gekenn- 
zeichnet und überdies sämtliche Parallelen aus den übrigen Leges unter dem Text 
in extenso mit aufgenommen. Man kann es daher nur dankbar unterschreiben, wenn 
er von sich selber sagt: , Wenn ich diesen Fragen besondere Aufmerksamkeit ge- 
widmet habe und dabei dem Beispiele gefolgt bin, das mein Lehrer der Diplomatik 
Th. v. Sickel in der Ausgabe der Ottonendiplome gegeben hat, solche Entlehnungen 


696 Walter Stach 


Den Beweis für die Unhaltbarkeit des Schwindschen Ver- 
fahrens liefert Krusch vom dritten Kapitel seines Buches an 
(Lex, S. 38ff.) auf Grund einer Analyse der wichtigsten Hand- 
schriften, in denen das bayerische Gesetz erhalten ist®. Er 
beginnt mit einer durchgängig aus eigener Anschauung er- 
wachsenen Übersicht über das Material und gibt zunächst eine 
eingehende Handschriftenbeschreibung, die Merkels Studien?! 
in wesentlichen Punkten ergánzt und verbessert. Indem er 
dabei die Merkelschen Gruppen A (der reinste Text), B (der 
älteste bayerische Text), C (Merkels II. Text), D (der ältere 
bayerische Mischtext), E (die Emendata; Merkels III. Text), 
F (die norditalienische Rezension des Lupus) und G (der jüngere 
bayerische Mischtext) Schritt vor Schritt verfolgt, kommt er 
neben aufschlußreichen neuen Einzelerkenntnissen, z. B. daß 
die Hss. A 1 und A 4 von bestimmten Stellen ab in einen E-Text 
hinüberwechseln??, zu einer ersten grundlegenden Sichtung 


auch graphisch in augenfälliger Weise im Druck zu kennzeichnen, so glaube ich, daß 
die darauf angewendete Mühe vielleicht das beste brachte, das ich bei dem ganzen 
Editionswerke zu leisten vermochte“ (NA. 37, S. 450). 

* Es fehlen in Kruschs Kollationen nur noch die Pariser Hss. E4. 6a. 10, 
Modena (F1) und eine Anzahl Hss. des Prologes und einzelner Fragmente, Merkels 
Klassen H und J; wie man sieht: samt und sonders nur unwichtige Stücke, die das 
Gesamtergebnis der Untersuchungen Kruschs nicht beeinträchtigen können, sondern 
höchstens für eine weitere Differenzierung der E-Klasse in Betracht kämen. 

*! Archiv d. Ges. f. ält. dt. Geschichtskunde 11 (1858), S. 535ff. und MG. LL. 
III, p. 184ff. 

32 Wegen der Wichtigkeit dieser Beobachtungen für die Textkritik sei noch des 
Náheren daraus mitgeteilt (vgl. Krusch, Lex S. 40ff.; 49; 130): 

À1— Paris n. 4633 s. IX / X, bringt die L. Bai. auf fol. 18—44 Y; doch ist «lie 
Rückseite von fol. 35 freigelassen, ohne daB etwas fehlt. Diese Freilassung markiert 
einen bedeutsamen Einschnitt. Gegen Pertz hat nàmlich der Augenschein gelehrt, 
daB die Fortsetzung auf fol. 36, die mit L. Bai. XII, 8 beginnt, nicht nur von einem 
anderen Schreiber, sondern auch von einer anderen Vorlage herrührt. Der erste 
Schreiber (Ala), den Krusch in das Ende des 9. Jh. setzt, folgte einem A-Text, 
während der zweite Schreiber, vielleicht aus dem Anfang des 10. Jh., für seine Er- 
günzung eine E-Vorlage benutzt hat, so daB von fol. 36 an der Text einen ganz 
anderen Charakter bekommt. Die roten Kapitelüberschriften des ersten Teiles hóren 
auf, und während vorher in der A-Vorlage weder Kapitel noch Titel numeriert waren, 
ist. die Vervollständigung aus einem Exemplar der E-Familie erfolgt, das eine durch- 
gehende Kapitelzählung aufwies. — 

A4= Ivrea, Archiv des Domkapitels n. 33 s. X, bietet die L. Bai. mit Prolog 
und Kapitelverzeichnis, das in A1—3 fehlt. Dieses hat aber die E Form (LL. III. 
358ff.), bringt auch die Zusätze dieser Rezension und stellt entsprechend die Appen- 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 697 


des Gesamtmaterials, die völlig frei von allen Theorien unmittel- 
bar aus dem paláographischen Befunde abgelesen ist. Danach 
muB sich in einer künftigen Ausgabe an die beiden ersten 
Klassen A B die karolingische Bearbeitung E anschlieBen; auf 
diese würde am natürlichsten die ihr am náchsten stehende, 
noch recht alte Rezension F folgen, wáhrend die nachkarolin- 
gischen Mischtexte C D G, aus deren Varianten man in der seit- 
herigen Forschung bisweilen gewichtige Schlüsse gezogen hat, 
als späte und nebensächliche Schößlinge ganz an den Schluß 
treten. 

Auf Grund dieses allgemeinsten Resultates ist die Textfrage 
zugleich dahin vereinfacht, daß sich die Entscheidung über den 
Überlieferungsvorrang der einzelnen Zweige im wesentlichen auf 
das Verhältnis der Antiqua- und Emendata-Handschriften 
(A B zu E) beschränken läßt. Mit diesem Problem befaßt sich 
Krusch in Zusammenhang mit der weiteren Frage nach dem 
Archetypus der Handschriftengruppen im vierten Kapitel 
seines Buches (Lex, S. 125ff.). Als Ansatzpunkt zur Lösung 
wählt er mit sicherem Griff den bekannten Einschub nach 
II, 8 (= Merkels Appendix II: St quis autem duæ de provincia 
illa, quem rex ordinaverit .. .), der in sämtlichen E-Hss. auf- 
tritt und den Vorteil einer festen Datierungsmóglichkeit bietet. 
Diese Textschwellung in E behandelt bekanntlich den Fall eines 
rebellischen Bayernherzogs und bedroht die Rebellion auBer mit 
der Aberkennung des Herzogtums auch mit dem Verlust des 
Seelenheiles und bedient sich dabei der typischen Formeln des 
Anathems. Sie läßt sich, wie insbesondere schon Riezler ver- 
mutet hat, am ehesten als eine Novelle begreifen, die auf dem 
MajestátsprozeB gegen Tassilo fuBt, und zwar wahrscheinlich 
auf dem Ungehorsamsverfahren v. J. 787, wofür die Antiqua 
noch keine Bestimmung besaß (vgl. Krusch, Neue Forschungen, 
S. 47ff.), während für das Delikt des Hochverrats v. J. 788 die 
Lex Bai. IL1 von alters eine Handhabe geboten hätte. 


dices I und III, wie E, hinter VII (VI), 3 und IV, 31 (111,32), während sie im Text, 
wie in B, hinter 1,13 und IX, 4 stehen. Dabei bricht die Appendix III schon bei 
„repraesentet“ unvollständig ab, eine Stelle (X,5), wo nach Kruschs Entdeckung 
auch dieser A-Text wie Al in einen E-Text hinüberwechselt. Die Appendix IV steht 
daher wie in E am Schlusse von XVIII (XVIT) und die Appendix V fehlt ganz, da 
sie E schon hinter IV (III), 25 eingereiht hatte. 


698 Walter Stach 


Allerdings hatte Brunner gemeint, die Satzung II, 8a hätte be- 
reits zu seinem verschollenen Kónigsgesetz aus Dagoberts I. 
Zeiten gehórt und wáre umgekehrt in den bayerischen Hand- 
schriften nur weggeblieben®. Aber diese merovingische lex 
perdita Brunners führt schon an und für sich in einen wahren 
Strudel unbeweisbarer Behauptungen hinein, in dem jede 
Wahrscheinlichkeit ertrinkt, wie später noch dargelegt werden 
soll. Und vollends im vorliegenden Falle wird man — wenig- 
stens bei vorurteilsfreier Würdigung der Quellenlage — un- 
bedingt mit Krusch die durch Überlieferungstatsachen beglau- 
bigte und bei dem Ineinandergreifen von Satzung und Straf- 
taten Tassilos geradezu erdrückende Schlußfolgerung vor- 
ziehen, daß in der Merkelschen Appendix II in der Tat eine 
lex Tassilonis vorliegt und daß danach die gesamten E-Hss. 
von einer frühesten 787/788 entstandenen fränkischen Text- 
vorlage herrühren müssen. 

Überdies leitet Krusch aus diesem Zusammenhang noch eine 
wichtige Feststellung für die Hs. A 1 ab, da sie als einzige in 
der Gruppe A B gleichfalls die Tassilo - Interpolation enthált. 
Dadurch nämlich bekundet A1 selbst in dem älteren Teile 
A 1a (vgl. Anm. 32) eine deutliche Beziehung zu E, die sich auch 
sonst in einigenyVarianten verrät. Mithin muß sie an diesen 
Stellen als reiner Vertreter der Gruppe ausscheiden und tritt 
im Gegensatz zu Merkels Anordnung hinter ihre Zwillings- 
schwester A 2 zurück, die zwar dem gleichen Exemplar al 
entsprossen, aber in früher Zeit nach Aquitanien verschlagen 
und von der übrigen Textentwicklung getrennt, den ursprüng- 


33 Dies in schroffem Gegensatz zu Brunners früherer Ansicht; vgl. DRG. II, 
S. 319 Anm. 22 und oben S. 686 mit der (in meiner Anm. 8 zitierten) Abh., S. 935. — 
Es erscheint geradezu unbegreiflich, wie man sich auf juristischer Seite dem mathe- 
matisch-schlüssigen Beweise Kruschs, den er in den „Neuen Forschungen" auf brei- 
tester Grundlage wiederholt, immer wieder zu entziehen versucht. Selbst Eckhardt 
(S. 48ff.) rückt von diesem „einhelligen Widerspruch aller Rechtshistoriker, die 
sich zu dieser Frage geäußert haben“, entschlossen ab und meint, wenn man die 
Emendata ins Jahr 187 statt 788 setzte, entfielen alle die geltend gemachten rechts- 
historischen Bedenken, und insofern behielte auch Brunner gegen Krusch Recht. 
Gegenüber einem solchen gutgemeinten Vermittlungsversuche (vgl. Eckhardt S. 8) 
muB doch festgestellt werden, daß sich einerseits Krusch niemals auf das Jahr 788 
in dieser Weise versteift hat und daß andererseits Brunner später niemals auch nur 
im entferntesten an das J. 787 gedacht hat. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 699 


lichen Charakter der gemeinsamen Vorlage weit besser bewahrt 
hat. Entsprechend liegen nach Kruschs Beobachtungen die 
Dinge in der A 1 analog gearteten (wenn auch zu einem andern 
Stammvater a3 gehörigen) Hs. A 4, so daß Merkel recht tat, 
wenn er die Lesarten von A1 und A4 wohl mit einem ge- 
wissen Fingerspitzengefühl für die Entwicklung der Texte 
zumeist in den Apparat versetzt hat. 

Im Gegensatz zu A 2.1, den eben genannten romanischen 
Absenkern von «, der Stammutter von A, (zu deren Tochter- 
gruppe al über die weiteren verlorenen Zwischenstufen 7 
und 9 hinweg auch die entfernteren Sippen C und D gehören), 
neigt das auf deutschem Boden erwachsene A 3, dessen späterer 
Korrektor sich selbst durch die Ánderung der Lex vestra in 
XVI, 2 zur nostra als Bayern bezeichnet, eher zu B hinüber 
und rührt auf jeden Fall von einer anderen Abschrift a 2 her, 
auf die neben B 6 (und vielleicht A 5. 6) in entfernterem Grade 
auch G (= B6 + B3 und E D) zurückweist. Im ganzen stellt 
sich danach heraus, daB die diplomatische Grundlage für die 
Wiedergewinnung des ältesten Textzustandes leider sehr dünn 
und schmal ist. Weder A 5, das Bruchstück einer mit A 3 und 
A 1 verwandten Hs.s. IX/X im kleinsten Sedezformat, noch die 
ähnlichen Fragmente der Hs. A 6 s. IX, noch auch die beiden 
A-Hss., die Merkel irrig in die B-Familie eingereiht hatte: 
B 6 und das unvollständige B 7, können über die Spärlichkeit 
der ältesten Überlieferungsschicht hinweghelfen, obgleich ihre 
Verwandtschaft mit A völlig klar ist; denn wie sich B6 an A 3 
anschließt, so B 7 an A 4, wobei diese letzten beiden noch eine 
dritte gemeinsame Vorlage voraussetzen, das oben genannte 
a 3, das daneben gewisse verwandtschaftliche Beziehungen auch 
zu A3 nicht verleugnet. 

Noch heller werden diese verwickelten Beziehungen dadurch 
beleuchtet, daB Krusch den Nachweis führt, wie die Hand- 
schriften A 2. 3. B6 in XIV, 17 und XV,9 an zwei auDer- 
ordentlich wichtigen Stellen die dem Archetyp am nächsten 
stehenden Lesarten erhalten haben, die in A 1 und B (E) als 
obsolet gewordene Ausdrücke in verschiedener Weise emendiert 
worden sind. An der ersten Stelle haben nämlich A 2.3 B 6 
sivis oder (B 6) si quis, an der zweiten übereinstimmend swe, 
während dafür in A 1.4 EB meist quamvıs steht. Die in ihrer 


700 Walter Stach 


barbaries ehrwürdige und sonst nicht belegbare Konjunktion 
stets kehrt nun auch in der Lex Alamannorum, der Quelle des 
bayerischen Gesetzes, noch zweimal wieder und wird dort von 
späteren Schreibern mit Vorliebe durch quamvis, einmal aber 
(und, wie Krusch meint, wohl richtiger) durch ut ettam „gesetzt 
auch den Fall, daß“ gebessert. Daraus ergibt sich, daß A 2.3 
und mit Einschränkungen auch B 6 an den obigen Stellen den 
ursprünglichen Wortlaut aufweisen; ein wichtiger Fingerzeig, 
daB uns der Urtext nicht immer in vólliger Reinheit vorliegt, 
sondern daB auch die beste Überlieferung hin und wieder, wie 
Krusch sich ausdrückt, einer leichten Besserung unter Heran- 
ziehung von Parallelen bedarf. 

Hat sich bisher gezeigt, daß die Hss. A 1—4 und B6.7 
durch ihre Vorlagen a 1.2.3 auf eine gemeinsame Quelle « 
zurückgehen, deren einzelne Ableitungen, wie besonders À 1 
und A 4, durch mehr oder minder fremde Zutaten verunreinigt 
sind, so tritt neben diesen in seinem besten Vertreter A 2 
auf Aquitanien hinweisenden Überlieferungsstamm « in den 
Hss. B1—3 ein bayerischer Stamm, der bei der relativen 
Schwäche des ersten für die Rückgewinnung des Archetypus 
unter gewissen Kautelen von großem Werte ist. Auch für diese 
Hss. gelingt es Krusch, wie bei E, den terminus a quo ihrer Ab- 
zweigung fest zu datieren. Denn die B-Überlieferung hat 
allenthalben in XI,5—7 die Kapitel 12. 11. 13 des Neuchinger 
Konzils von 722 mit aufgenommen, die demgemäß auch nur 
locker mit dem Inhalt ihrer Umgebung verflochten erscheinen, 
und hinter jedem ist mit Nachdruck bemerkt: Hoc est decre- 
tum. Darin sieht Krusch, wie schon Mederer, mit Recht die 
Bekundung eines aktuellen Interesses an der Durchführung der 
Neuchinger Beschlüsse und folgert daraus für B eine gemein- 
same Vorlage 3 von ca. 722. Dieser Rückschluß wird durch 
die Tagesordnung jenes Konzils in erwünschter Weise be- 
státigt**. Zudem ist es aus paläographischen Gründen sicher, 


** [n der Notitia (MG. Conc. IT, p. 104) heißt es ausdrücklich von den Aufgaben 
dieser Synode: ut ibidem tam regularem moderaret in sancto habito cenobio virorum 
et puellarum quam episcopales moderaretur obsequias, insuper gentis suae 
institutiones legum per primatos inperitos universa consentiente multitudine 
quae repperit diuturna vitiata et videbantur abstrahenda evelleret et quae decretis 
placuit conponenda instituerentur. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 701 


daß der älteste Vertreter von B nicht viel später, vielleicht noch 
Ende des 8. Jh., geschrieben sein muß: B 1, die bekannte 
Münchener Prachthandschrift in schöner Minuskel, die — wie 
oben erwähnt — schon Mederer abgedruckt, übersetzt und 
kommentiert hat und deren wundervolles Faksimile wir neuer- 
dings K. Beyerle verdanken (s. Anm. 1). Was sonst das Ver- 
hältnis der B-Hss. zueinander anlangt, so ist B 1 wegen seiner 
eigenwüchsigen Einschaltungen und Lücken ein selbständiger 
Absenker von ; dagegen müssen B 2—4 nach den Darlegungen 
Kruschs aus einer besonderen Zwischenvorlage b stammen, 
einer Schwester-Hs. von B 1, wobei B 3 entweder mittelbar auf 
B 2 zurückgeht oder aus einer B 2 náchstverwandten Vorlage 
c herrührt, während B4 eine bloße Abschrift von B3 ist. 
Allerdings ist die These Kruschs, daß im Hinblick darauf B 4 
besser B 3* hieBe, von Eckhardt (S. 19) als falsch hingestellt 
worden; man müsse dieses B 4 vielmehr aus einer besonderen 
Vorlage d herleiten, einer verlorenen Schwester von B 3, die 
Eckhardt eigens zu diesem Zwecke konstruiert und auch in 
seinen Berichtigungsvorschlag des Krusch-Stemmas eingetragen 
hat (S. 24). Als Begründung für die Unterstellung eines solchen 
immerhin groben Versehens weiß Eckhardt freilich nicht mehr 
als eine einzige Lesart beizubringen: B 3 läse in VIII,9 „nur 
coꝛtum“, B 4 aber „die sinnlose Lesartenháufung cottum ictum“, 
so daB jene nicht die Vorlage von dieser sein kónnte. Man kann 

sich das zunächst nicht enträtseln, da umgekehrt Krusch (Lex 
S. 217) mit Nachdruck zweimal versichert, B 3 überliefere zu- 
sammen mit B 1. 2 an der betreffenden Stelle beides, das ver- 
derbte coitus neben dem sinngemäßen ictus; ja, aus dieser Über- 
einstimmung hatte er sogar gefolgert, daß demgemäß jenes 
¿ctus schon im Archetypus der B-Klasse übergeschrieben ge- 
wesen sein müsse. Geht man dem Widerspruch auf den Grund, 
so hat in Wahrheit die Ironie des Schicksals Eckhardt einen bösen 
Streich gespielt. Denn er hat sich bei seiner „nebenbei be- 
merkten!“ Bemängelung Kruschs offenbar unbesehen auf den 
Apparat der Schwindschen Ausgabe verlassen, die allerdings 
zu einem derartigen Irrtum geradezu zwingt, während ihn 
— wenn er schon Krusch nicht trauen wollte — die alte ,,ver- 
fehlte" Ausgabe Merkels ohne weiteres darüber belehrt hátte, 
daB in B 3 eben doch das erforderliche coitum ictu steht. Immer- 


702 | Walter Stach 


hin hat dieser Lapsus vielleicht das Gute, daß nunmehr auch 
die Befürworter der Schwindschen „Emendata“ einsehen 
müssen, wie unbrauchbar und gefährlich diese Edition in der 
Hand selbst eines sachkundigen Forschers sein kann““. 

Wenden wir uns schließlich der E-Klasse zu, so scheint mir 
die von Krusch geschaffene Grundlage durch den gehäuften 
Widerspruch, den gerade diese Aufstellungen von rechtshisto- 
rischer Seite gefunden haben, nachgerade beinah verdunkelt, 
so daß es wohl angebracht ist, hier etwas ausführlicher zu be- 
richten. 

Im Vordergrunde von E steht nach Krusch E1?5. Der Vor- 
zug dieser Handschrift beruht auf ihrem hohen Alter und auf 
der Güte ihrer — freilich nicht immer getreu bewahrten — Vor- 
lage. Sie bestätigt als einzige Hs. der E-Klasse richtige Schrei- 
bungen von AB, wie palpebrem, labiam, sie hat allein mit A 2 
idiomatische Wortformen bewahrt, wie genelogiam, nequtevertt, 
imbolaverit (vgl. L. Sal. ed. Hessels Sp. 625) und dazu allein 
in E das Überbleibsel einer alten Konstruktion: aliis vero dentes. 
Am nächsten kommt ihr E 2, und sie bildet mit dieser zusammen 
und mit E 2a. F, d. h. mit der Merkel noch unbekannten Klitsch- 
dorfer Hs. und der Rezension des Lupus (von ca. 830)°7, eine 
Sonderversippung auf Grund einer gemeinsamen Vorlage e, um 
deren Voraussetzung man im Hinblick auf gewisse eigentümliche 
Fehlergemeinschaften nicht herumkommt und deren innere Be- 
ziehung zu A, und zwar im besonderen zu A 2, nach den zahl- 
reichen Belegen bei Krusch vóllig evident ist. Der deutlichste 


35 In gegenteiligem Sinne hat sich vor allem E. Hey mann geäußert, indem 
er zugunsten der Schwindschen Ausgabe ins Feld führte, daß sie als Emendata- 
Edition „wenigstens von sachkundiger Hand sehr wohl verwertet werden" könnte. 
Vgl. dens., Zur Textkritik der Lex Bajuwariorum, in der Festschrift für P. Kehr: 
Papsttum und Kaisertum, S. 134. à 

3 St. Paul, Benediktinerstift in Kärnten, jetzt XXV, 4. 8. Die Hs., die aus 
Norditalien stammt und eine altertümelnde Schrift von halbunzialem Gepräge zeigt, 
ist von Krusch, Lex S. 80ff., eingehend beschrieben, und die „Neuen Forschungen“ 
bringen daraus im Anhang sechs ausgezeichnete Reproduktionen. 

37 Vgl. Krusch, Lex, S. 117: Wie die durch die beiden Hss. F1. 2 (Modena und 
Gotha) überlieferte Rezension F auf die Rechts-Hs. des Grafen Everard von Friaul 
zurückgeht, so verleugnet sie auch textlich nicht den norditalienischen Ursprung. 
Die von Lupus benutzte Vorlage war auf das engste verwandt mit der norditalieni- 
schen Hs. E1 und mit der vermutlich ebenfalls aus einem italienischen Exemplat 
abgeschriebenen Hs. E2. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 703 


Beweis für die engere Zusammengehörigkeit dieser Hss. ist neben 
den unwiderleglichen Rückschlüssen Kruschs aus der gleich- 
artigen Stellung der Novellen eine merkwürdige Umstellung im 
Text, die Krusch zuerst beobachtet hat. Statt des Schlußsatzes 
der lex Tassilonis (nach II, 8) überliefern nämlich E2. F1.2 
(E 2a hat dort eine Lücke) die sonderbare Bestimmung, daß nach 
der Verurteilung des aufsässigen Herzogs seine Töchter (in F: 
seine Söhne) die Erbschaft besitzen sollen. Das aber gehört nach 
Kruschs Entdeckung an den Schluß von II, 7 und ist an seinem 
ursprünglichen Ort in diesen Hss. durch ein Homoioteleuton 
ausgefallen, desgleichen aber auch in E 1. Daraus erhellt zur 
Genüge, daß schon in der gemeinsamen Vorlage e von E 1. 2. F 
am Ende von II, 7 ein Satz übersprungen war, der — vielleicht 
am unteren Rande der Seite nachgetragen — von E 1 am Anfang 
von II, 9, von E 2. F aber am Ende des vorausgehenden Kapitels 
wieder eingefügt worden ist. Die verschiedene Art der Ein- 
reihung bekundet zugleich, daß neben der ältesten Hs. E 1 eine 
Schwester-Hs. f gestanden hat, aus der außer E 2 und (nach 
anderweitigem Ausweis auch) E 2a die Mutter-Hs. g für die 
beiden Zwillinge F 1 und F 2 entsprossen ist. Für die gelegent- 
liche Güte der Überlieferung aber in e und damit für dessen 
Archetypusnähe, die sich um eine Stufe größer erweist als die 
der sonstigen E-Klasse, liefert Krusch ein schlagendes Beispiel 
aus I, 7. Dort lesen die Hss. E 3—7. 10 ein responsum dare, das 
in den Sachzusammenhang in keiner Weise hineinpaBt und das 
entsprechend der Überlieferung in AB nur die Entstellung eines 
ursprünglichen repraesentare sein kann®®. Nun steht in E 1 dafür 
pdicare, ein Flüchtigkeitsfehler beim Diktat, in E 2 aber und 
ebenso in F 2 res pdare, aus dem sich die allmáhliche Verschlech- 
terung des Textes vorzüglich erklärt. Denn die letzte Variante 
steht dem echten repsentare noch sehr nahe, und man be- 
greift, wie leicht aus einer solchen Kontraktion in E 3—7. 10 
die falsche Suspension resp dare — responsum dare entstehen 
konnte. 


38 Merkel bevorzugt in 1,7 verkehrterweise A3. 4. B7 B1—4 vor A1.2. B6. 
Wie Krusch darlegt, erfordert der Sinn des Bestimmung: si presbiter repraesentare 
ausus non fuerit. So überliefern A 1. 2. B6, während E und B und daran anschließend 
auch A3. 4 den Konditionalsatz unter Weglassung der Negation zum Folgenden 
ziehen und bereits damit den ursprünglichen Gedanken verbiegen. 


704 Walter Stach 


Damit heben sich von E1.2.2a.F die übrigen Hss. von 
E: 3—7. 10. 13 aufs deutlichste als codices deteriores ab, und es 
dürfte sich kaum verlohnen, deren Beziehungen untereinander 
bis ins einzelne nachzugehen“, obschon sich darunter die Vati- 
cana E3 befindet, die bei der Schwindschen Textgestaltung 
eine maßgebliche Rolle gespielt hat und der auch Heymann 
(s. Anm. 35) das Wort redet. 

Doch bevor wir uns damit auseinandersetzen, gilt es, die für 
das gesamte Textproblem grundlegende Frage zu klären, wie 
sich nun eigentlich E zu AB genauer verhält. Diese schwierige 
Frage hat Krusch (Lex, S. 146ff.) an Hand der Merkelschen 
Appendices mit unüberbietbarer methodischer Feinheit geradezu 
glänzend gelöst. Gegen Brunners Behauptung, diese Zusätze 
seien in Wahrheit Stücke des genuinen Bestandes, führt Krusch 
zunächst eine genaue Übersicht vor, die die wechselnde Ein- 
gliederung der App. I, III—V in AB klar vor Augen stellt. 
Danach bleibt bei unbefangener Betrachtung nur für die eine 
Erklärung Raum, daß diese Partien unbedingt im Archetypus 
noch gefehlt haben. ,,Sie stehen mit Ausnahme der App. V in 
allen Hss., sind also in einem älteren Stadium der Entwicklung 
hinzugekommen als die App. II“; sie waren schon vorhanden, 
als sich die Familien A und B zu trennen begannen, hatten aber 
noch keinen festen Standort innerhalb des Textes, so daß sie die 
Stammväter von A und B, die Redaktoren von « und f, je nach 


Nur eine Betrachtung von allgemeiner Bedeutung, die Krusch (Lex, S. 145f.) 
an E6 anknüpft, sei noch mitgeteilt: Der Zweck der Rezension E als einer sprach- 
lich-inhaltlichen Revision der barbarischen Antiqua ließ sich nur so verwirklichen, 
daß man eine A-Hs. zugrunde legte (wie Krusch beweist, muß diese vom Typus des 
erhaltenen A2 gewesen sein), diese dann durchemendierte und von dieser korrigierten 
Vorlage sofort eine größere Zahl von Abschriften für die bayerischen iudices herstellen 
ließ. Angesichts dieser Sachlage ist von vornherein zu erwarten, daß bereits die erste 
Vervielfältigung des durchkorrigierten A-Exemplares je nach der Zuverlässigkeit der 
betreffenden Abschreiber mehr oder minder kräftige Versehen aufwies. Das bezeugen 
auch die z. T. recht altertümlich anmutenden Fehler der vorhandenen E-Hss. Wenn 
nun überdies die Lesarten der einzelnen E-Hss. großenteils ihre eigenen Wege gehen, 
so daß man fast von jeder dieser Hss. den Eindruck einer sondertümlichen Ab- 
stammung bekommt, von der sonst nichts erhalten scheint, so drängt sich dazu noch 
die weitere Vermutung auf, daß womöglich einzelne dieser Ábschreiber da und dort 
den ursprünglichen A-Text statt der Korrekturen kopiert haben. 

“ Vgl. o. S. 697f., wo die nur in E überlieferte App. II bereits als lex Tassilonis 
erörtert worden ist. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 705 


ihrem subjektiven Geschmacke in einen verschiedenen Zusam- 
menhang bringen konnten.“ Dabei geht B 6 völlig mit A 1. 2. 3 
und auch B 7 hält mit gewissen Einschränkungen zu A. Diesem 
A und nicht etwa B folgt aber auch das gesamte E, so daB der 
im Auftrage Karls d. Gr. um 788 schreibende Redaktor der 
Emendata, wie wir schon sahen, für seine Bearbeitung der baye- 
rischen Antiqua eine A-Hs. benutzt haben muß. 

Dieser áuBere Befund wird von Krusch mit durchschlagenden 
inneren Gründen gestützt und bestátigt. So zeigt er, daB die 
App. I mit ihren grausamen Strafen für die Nichteinhaltung der 
bis zum absoluten Reiseverbot verschärften kirchlichen Sonn- 
tagsruhe in die Regierungszeit Tassilos nach dem Aschheimer 
Konzil (756), das von diesen drakonischen Vorschriften noch 
nichts weiß, und vor die Synode von Dingolfing (770) gehört, die 
bereits auf unsere Novelle Bezug nimmt, woraus sich die wichtige 
Erkenntnis ergibt, daß der Archetypus unserer Hss. in die Zeit 
von 757—770 fällt. Dazu kommt, daB sich diese Satzung auch 
durch ihre Einreihung in eine sachfremde Umgebung als unver- 
kennbarer Einschub erweist. Ihr zelotischer Eifer, der ebenso 
das Konzil von 770 beherrscht, bedroht den Sonntagsreisenden 
bei Rückfall mit einem Drittel Vermógensverlust und mit Ver- 
knechtung. Nun gliedern aber AE diese Bestimmung ausgerech- 
net vor VII, 4 dem Titel über die unerlaubten Ehen ein, wo sie 
am allerwenigsten hinpaßt, da das folgende Kapitel, dem älteren 
Rechtszustande gemäß, noch verbot, einen Freien ohne ein todes- 
würdiges Verbrechen überhaupt zu versklaven. Und wenn sie 
andrerseits in B und ebenso in A 4. B7 am Schlusse des ersten 
Titels steht, so spricht auch diese Tatsache nicht minder für eine 
spätere Zufügung, da ja hier der freie Raum zu Nachträgen 
geradezu einlud. Aus dem gleichen Grunde findet sich die 
App. III in den reineren Hss. A 1. 2. 3. B 6 hinter IV, 31; nur 
daB diesmal die andere Gruppe diese bequemste Gelegenheit zur 
Unterbringung gewählt hat*!, Ähnlich verrät sich die App. IV 
als solche „fliegende Satzung“; sie ist in dieser Eigenart nach 
Kruschs interessanter Beobachtung im besonderen dadurch 
kenntlich, daB sie — wie auch sonst derartige Nachtráge in der 


*! [m übrigen macht Krusch darauf aufmerksam, daB bei der ungewóhnlichen 
Hárte der Strafen in den App. I und III wohl beide derselben Zeit und derselben 
Feder entstammen dürften. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 45 


706 Walter Stach 


alamannischen und bayerischen Lex — den ersten Textsatz 
zugleich als Überschrift formuliert und benutzt hat. Und 
vollends durchsichtig sind die Verhältnisse bei der App. V, die, 
wie Krusch sich ausdrückt, das Scheumachen der Schweineherde 
eines Freien „durch Freudengebrüll und anderen Spektakel“ 
behandelt. Dieses schon an sich etwas wunderliche Delikt wird 
von A1.2.3.B6.E in IV unter die Gewalttaten gegen Freie 
eingereiht, in eine Umgebung, in der sich wildgemachte Schweine 
noch erstaunlicher ausnehmen. In B aber bildet es am Schluß 
von XXII das letzte Stück der ganzen Lex. Indem nun die Hss. 
im Register Cap. I hinzufügen, also zu einer Kapitelsummierung 
(wie bei den vorausgehenden Titeln) ausholen, sieht man im 
vorliegenden Falle einen neuen Titel (XXIII: De porcıs) ge- 
wissermaßen in statu nascendi, dem schließlich in B2.3 noch 
ein weiterer (X XIV: De servo fiscalino) mit zwei Kapiteln ange- 
hängt wird, während in A 4 und B 7 die App. V überhaupt fehlt. 

Danach erweisen sich diese fünf Partien (Merkels App. I—V), 
und zwar besonders deutlich hier am Ende der Lex, als unver- 
kennbare Wachstumssymptome des ursprünglichen Inhaltes. Sie 
zeigen, wie sich auf dem ältesten Textbestande immer neue 
Schichten abgelagert haben“, sei es, daß solche Zutaten viel- 
leicht ursprünglich als „fliegende Satzungen“ auf einem Sonder- 
blatt zum Einheften in die Gesetzes-Hss. gestanden haben; sei 
es, daß sie zunächst auf dem freien Pergament am Ende der Lex 
oder auch ihrer Titel nachgetragen worden sind, um schließlich 
von dort nach dem Belieben spáterer Abschreiber auch in das 
Innere des Textes verpflanzt zu werden. 

Für die inneren Beziehungen der einzelnen Textgruppen zu- 
einander ergibt sich auf Grund der Analyse von Krusch, daB 
die Vorlage von E mit A noch eine Weile zusammengegangen ist, 
als sich B, ja als sich a 3 schon getrennt hatte, d. h. daB also E 
aus A entsprossen sein muß, und zwar aus einer a 1 ähnlichen 
Hs. e, der danach der Rang zwischen a 1 und a 2 oder, unter den 


42 Krusch verweist hier auf seinen von mir oben (Anm. 25) genannten Aufsatz 
im NA. 40, S. 547 und bemerkt, daB der cod. 1 der L. Sal. (ed. Hessels) als einzige 
salische Hs. die dortige Novellenreihe noch durchweg adkapituliert, wührend die 
übrigen codd. die wichtigsten Nachträge bereits in den Text einschieben; dabei muß 
eine dem cod. 1 ähnliche Hs. noch von der salischen Em. 11 (es ist das die wichtige 
Hs. A2 in der L. Bai.) für die Anhänge benutzt worden sein. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 707 


erhaltenen A-Hss., dicht hinter A 2. 1 gebührt. Gliedert doch B 
die vier älteren Novellen dem Textbestande an anderen und wohl 
auch passenderen Stellen ein als A, dem E in der Stellung dieser 
Zusätze folgt. Doch springt in die Augen, daß dem Redaktor 
von E gleichwohl die Textklasse B nicht fremd geblieben sein 
kann. Wie man nun solche zunächst widerspruchsvoll scheinende 
Berührungspunkte zwischen E und dem älteren B zu beurteilen 
hat, erläutert Krusch paradigmatisch an dem Zusatz der B-Hss. 
in IV, 29, wo sich eine derartige textliche Beziehung gleichsam 
vor unseren Augen erst bildet: Nach dem Vorgange der ala- 
mannischen Lex (LIX, 2) sollten auch bayerisch Unbilden gegen 
Frauen ursprünglich doppelt gebüßt werden, weil sich, wie die 
bayerische Lex in A von sich aus hinzusetzt, die Frau nicht mit 
der Waffe verteidigen kann. Das beschränken dann die B-Hss, 
durch die Beigabe des „echtbayerischen‘‘ Ausnahmefalles: St 
autem pugnare voluerii per audatiam cordis sui, sicut vir, non erit 
duplex compositio eius. Das greifen auch die E-Hss.“ auf, aber 
unter der weiteren ins Positive gewendeten Vervollständigung: 
sed sicut fraires eius, tta et ipsa recipiat. Aus dieser allmählichen 
Entfaltung des Textes ersieht man, daB E mit seiner Abrundung 
des Zusatzes von 3 im Vergleich zu diesem eine jüngere Über- 
lieferung bildet und daß eine textliche Einwirkung, die zwischen 
E und B spielt (für die noch anderweitige, wenn auch spárliche 
Zeugnisse vorliegen)“, nur in der Weise gedacht werden kann, 


43 Mit der etwas rätselhaften Ausnahme von E6; vgl. dazu Krusch, Lex S. 145. 

** Es handelt sich namentlich um sprachlich-stilistische Anstöße in A, die E 
mit Hilfe von B beheben konnte, wie etwa das oben erwähnte ,quamvis' für ‚sivis‘. 
Krusch präzisiert seine Auffassung solcher Berührungspunkte (Lex, S. 159f.) dahin: 
Schrieb E zunächst einen A-Text ab und korrigierte ihn dann aus seinem eigenen 
Wissen und mit seinen anderen Hilfsmitteln, so konnten einzelne Abschreiber offen- 
bare Fehler seiner A2-ähnlichen Vorlage übernehmen, die in EI. 2 und auch in ande- 
ren E-Hss. noch erscheinen, andere wieder die Korrektur wählen. Es ist auch ohne 
weiteres klar, daß mit dem höheren Bildungsstande der Abschreiber der Bestand an 
bloßen Schreibfehlern sich verringern mußte, die jeder lateinkundige Mann sofort 
bemerkte und zu verbessern vermochte. Um so dankbarer müssen wir den Schreibern 
von E1. 2 sein, daß sie uns trotzdem Erinnerungen an den Fehlerbestand von A2 
erhalten haben, wie 1,6 ,more'] ,morte' A1. E1; ,mortem' A2 — ‚et pellem non 
fregit] = L. Al. LVII, 35; fehlen A1. 2. E1—X,2 ,pessulis ‘],pessalis‘ A2; ,pesalis' 
E1; , pesculis“ F— XII, ,ubi'] ‚abi‘ A2; ‚ab‘ E1. 2. F. Am wichtigsten ist der letzte 
Beleg, wo ‚ab‘ für ,ubi' nur aus ‚abi‘ A2 zu erklären ist und wo man erkennt, daß in 
dem Archetypus von A2. E 1.2 das ,u' eine dem ‚a‘ ähnliche Form gehabt haben muß. 


45* 


708 Walter Stach 


daß E die B-Interpolation, die A noch nicht hatte, nachgetragen 
und weitergeführt hat. | 

Für das Verhältnis der B-Hss. aber (bzw. ihres Archetypus g) 
zu den einzelnen Sippen von A ergibt sich aus der Novellenana- 
lyse, daß das Exemplar a 3, aus dem A 4 und B 7 entstammen, 
untrügliche Anzeichen einer Verwandtschaft mit B aufweist, die 
auch sonst von spezifischen Fehlergemeinsamkeiten zwischen 
A 4 und B 7 bestätigt wird (so z. B. IV, 26 nihil amplius [fecerit 
vel Zus. A4. B7 mit B1.2.3, nicht A 1. 2. 3. B 6. E] commi- 
serit). Dadurch gewinnt die an sich ziemlich mangelhafte Über- 
lieferung von a 3 an Bedeutung und die Hss. A 4. B 7 bilden ein 
wichtiges Mittelglied zwischen « und f, da sie nach beiden Seiten 
Beziehungen aufweisen (z. B. die Hs. A 4 zu A 3). Zugleich aber 
erkennt man, da8 man sich auf Übereinstimmungen von a 3 mit 
B nicht verlassen kann, sondern daß a 1. 2 den Vorrang ver- 
dienen. Ebenso entbehren die nicht in AB enthaltenen Varianten 
der E-Rezension der Beglaubigung, und gleiche Lesarten in E 
und B ergeben keineswegs immer den Archetypus, da eben E nur 
den Wert hat, der ihm als Ableitung aus der A-Hs. « zukommt. 

So liegen die Voraussetzungen für die Rekonstruktion des 
Textes, auf dem der Bestand aller erhaltenen Hss. beruht, reich- 
lich kompliziert. Daher ist es m. E. ein für die Methodologie der 
Textkritik geradezu grundlegendes Verdienst von Krusch, daß 
er in bewußt durchgeführter Rangordnung der Maßstäbe als 
weiteres Kriterium der textlichen Differenzierung neben dem 
Kapitelverzeichnis den Sprachgebrauch in A und E heranzieht, 
nachdem der MaBstab erster Ordnung: die Erkenntnis der Hss.- 
Filiation aus paläographischen und innertextlichen Merkmalen, 
erschöpft ist, ohne daß sich bereits eine eindeutige und um- 
fassende textkritische Regel für die unmittelbare Erschließung 
des Grundtextes hätte aufstellen lassen. 

Doch bevor ich das Problem in der Fortsetzung meines Be- 
richtes auch nach dieser Seite verfolge, dürftesich als vorläufiger 
Abschluß ein Eingehen auf Eckhardt“ empfehlen, der bei aller 


1$ Vgl. Anm. 1. — Hatte Krusch seine obigen Aufstellungen in die Zeichnung 
eines Hss.-Stammbaumes ausmünden lassen (Lex, S.162 und desgl. Neue For- 
schungen, 5. 72), so glaubt sich Eckhardt zunächst genötigt, eine verbesserte Zeich- 
nung zu entwerfen (S. 10), weil die eigene von Krusch dessen Ansichten „keineswegs 
einwandfrei‘ wiedergübe. Das ist wohl zuviel behauptet, und Eckhardt hätte nur 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 709 


sonstigen Anerkennung der Verdienste Kruschs gegen wichtige 
Thesen gerade des vorigen Kapitels entschiedenen Einspruch er- 
hebt“. Diese Einwände richten sich zunächst gegen die Ein- 
schätzung der E-Hss. und dehnen sich im Zusammenhange damit 
schließlich bis auf Kruschs Auffassung der B-Klasse aus. Es dreht 
sich dabei im Grunde genommen um die Frage, inwieweit einige 
wenige und durchaus vereinzelte“ Lesarten aus E, weil sie 
besser zum Wortlaut gewisser bayerischerseits benutzter Vor- 
lagen stimmen, dazu ausreichen, um die von Krusch nach ander- 


sagen dürfen: „keineswegs erschöpfend“. Aber dann wäre der ganze Streitfall mäßig 
gewesen. Denn eine solche graphische Wiedergabe der Filiationen ist m. E. ein 
bloBes Veranschaulichungsmittel, das eben für diesen Zweck nur das Elementarste 
und Wichtigste ausdrücken kann; je übersichtlicher, desto besser. Der Fall liegt 
ganz ühnlich wie etwa bei dem Stemma Mommsens zu seiner Ausgabe des Jordanes: 
MG. auct. ant. V,1 praef. p. LXXII, wo die Zeichnung auch nur bei Zuziehung der 
beigefügten Erläuterungen „, einwandfrei“ ist. — Und umgekehrt: Wie sollte man 
aus Eckhardts Schema ohne weiteres die Hauptsache ablesen kónnen, daB die 
Rekonstruktion des Árchetypus aus den Absenkern von « und g erfolgen muß, also 
in praxi neben A2 die Hs. B1 als führende Hs. der B-Klasse tritt? Das sind Dinge, 
die in der Zeichnung von Krusch auf den ersten Blick hervortreten, während Eck- 
hardts Verbesserung nach meinem Dafürhalten das Primäre (die Rangordnung der 
Hss.) den sekundáren Einzelheiten (ihrer teilweisen Überarbeitung) aufopfert. 

Eckhardt bezieht sich dabei zugleich auf den oben (Anm. 35) genannten Auf- 
satz von E. Heymann in der Festschrift für Kehr und auf die Besprechung von 
Krusch durch Herbert Meyer in den GGA. 1927, S. 241ff., deren Standpunkt er 
wieder aufgreift und ausdrücklich mit vertritt. Dazu kommt die Sammelrezension 
von W. Merk in der HZ. 138 (1928), S. 866ff., der behauptet, Eckhardt habe an 
der Hand von schlagenden Belegen seine Einwünde gegen Krusch bis zur Ge- 
wißheit gesichert. 

7 Daß es sich nur „um einige wenige Fälle“ handelt, geben sowohl Heymann 
als auch Eckhardt ohne weiteres zu; nur nehmen sie beide an dieser für ihre Polemik 
bedenklichen Tatsache keinerlei Anstoß. Heymann (S. 132) beruft sich darauf, daB 
der weitere Ausbau der positiven Aufstellungen von Krusch sehr wohl noch Beweise 
dafür erbringen könnte, daß die E-Hss. in manchen Einzelfällen noch bessere Über- 
lieferungen mit sich führen, als wir nach dem derzeitigen Stande der Dinge annehmen 
müssen, und pflichtet im übrigen Franz Beyerle bei, der in seiner Rezension des 
Buches von Krusch (vgl. ZSavRG. d 45, S. 415ff.) dem unzeitgemäßen Kult von 
Stammbäumen (d.i. Krusch) die sonderbare Frage entgegengestellt hatte, warum 
denn die Emendata neben dem Archetypus unserer A-Hss. nicht auch andere ver- 
lorene Codices mit gelegentlich besserer Lesart benutzt haben sollte. Eckhardt da- 
gegen (S.16) hilft sich über die quantitative Schwäche seiner Beweisunterlagen 
mit der Bemerkung hinweg: Wieviele (sc. solcher Fälle, die heute gegen Krusch 
sprächen) mögen erst bei der Umschreibung in reineres Latein verloren ge- 
gangen sein! 


710 Walter Stach 


weitigen Kriterien aufgestellte Genesis der bayerischen Gesamt- 
überlieferung in wichtigen Punkten zu erschüttern. 

Seinen Ausgang nahm dieser Streit von Heymanns Versuch, 
die Schwindsche Ausgabe wenigstens als eine Art unfreiwilliger 
Emendata-Publikation im Nachhinein dadurch zu rechtfertigen, 
daß die Hss.-Gruppe der Vaticana (d. h. im wesentlichen die bei 
v. Schwind öfters bevorzugte Hs. E 3) an mindestens zwei Stellen 
(XII, 4 und IX, 17)“ die Diktion der Vorlagen besser bewahrt 
hätte und somit auf einen älteren Archetypus zurückgeführt 
werden müsse, wie ihn etwa der relativ gute Text eines Antiqua- 
Exemplares aus der karolingischen Königskanzlei geboten haben 
könnte. Auf diese mit vorsichtiger Zurückhaltung geführte Ver- 
teidigung v. Schwinds hatte Krusch in den ,, Neuen Forschungen“ 
eingehend erwidert (S. 14ff.). Entgegen dem Heymannschen Be- 
streben, die Entscheidung tunlichst in der Schwebe zu lassen, 
legte Krusch im AnschluB an seine früheren Forschungen (Lex, 
S. 243ff.) zunächst nochmalig dar, daB die neue Ausgabe auch 
als bloße Separatedition einer Lex Batuvartorum Carolıno tem- 
pore emendata weder gelten dürfe, noch gebraucht werden könne, 
da ja v. Schwind ein textliches mixtum compositum darbietet, 
in dem nicht nur die wertvollere E-Überlieferung (E 1. 2) grund- 
sätzlich hinter der minderen (E 3) zurücktritt, sondern überdies 
Lesarten aus der Antiqua und sogar aus späten codices mixti den 
Emendata-Text derart durchsetzen, daß selbst unter dem ver- 
änderten Gesichtspunkt einer Parallelpublikation der baye- 
rischen E-Rezension in Quart und der baldigst nachzuholenden 
Antiqua-Ausgabe in Oktav die Schwindiana den ihr nachträglich 
zugedachten Textcharakter auch nur verunechtet und verfälscht 
wiederzugeben vermöchte. Im übrigen aber wies Krusch —außer 
einer Zurückweisung im einzelnen — darauf hin, daß es doch wohl 
nicht angängig wäre, statt einer Widerlegung seiner text- und 
sprachgeschichtlichen Beweise die darauf gegründeten Ergeb- 


48 Heymann (S. 129) resümiert selbst über die von ihm vorgetragenen Fälle: 
Faßt man dies alles zusammen, so bleibt für v. Schwinds These, nämlich daß sich die 
reinere Latinität der Vaticana aus der reineren Latinität der Vorlage (Eurich) erkläre, 
allerdings kein durchschlagender Beweis übrig. Abgesehen von der im Grunde un- 
verwendbaren Stelle XII,1 (vicenos) bleibt nur, daB in X11,4 (antiquitus, decoreas, 
probantur und ev. reformandum) und in IX, 17 (inquirat) die Vaticana und ihre 
Gruppe eine offenbare stärkere Anlehnung an die Vorlage hat; schon in VIIL19 
(coitu-ictu) und in 1,12 ist das Bild nicht mehr sicher. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 711 


nisse mit dem Hinweis auf ein halbes Dutzend scheinbar wider- 
streitender Varianten aus minderwertigen Vertretern von E an- 
zuzweifeln: Varianten, die bei der unangefochtenen Gültigkeit 
unserer textkritischen Methode eben nur als Zufallskoinzidenzien 
erklärt werden dürfen, zu denen spätere emendierende und kon- 
jizierende Abschreiber ganz von selber geführt worden sind. 

In der Tat gibt es ja bei der handschriftlichen Tradition 
unserer Texte auch anderweit Beispiele genug für diese Art von 
blendendem Anschein vorzüglicher Lesarten in jüngeren Hss. 
minderen Ranges, und es wäre nicht auszudenken, wohin wir 
kämen, wenn man zu deren Erklärung — aller sonstigen Einsicht 
in die Versippung des erhaltenen Materiales zuwider — zu der 
unbeweisbaren Möglichkeit griffe, es handle sich da um späte 
Reflexe verschollener älterer, hochwertiger Vorlagen, so schwierig 
es auch meistenteils ist (und namentlich dort, wo man mit un- 
kontrollierbaren Interpolationen zu rechnen hat), das Blendwerk 
im Einzelfalle durch die Motivierung des wahren Zusammen- 
hanges zu beheben. Ich erinnere nur an zwei landläufige Bei- 
spiele aus der klassischen Philologie: an die verblüffenden 
Varianten der Seneca-Hs. E und an die byzantinische Über- 
lieferung der griechischen Tragiker und des Aristophanes, zu der 
A. Gercke bemerkt, daß sich heutzutage wohl niemand mehr 
versucht fühlt, diese Texte den älteren als gleichwertig an die 
Seite zu stellen oder gar diese verdrängen zu lassen, obwohl der 
Schein zunächst für ihre Güte spricht, solange man nur ober- 
flächlich zusieht. Dazu kommt im vorliegenden Falle, daß wir 
dank Krusch die Scheidung der älteren bayerischen Gesetzes- 
Überlieferung in Klassen und Gruppen aufs deutlichste über- 
sehen und mit dem Charakter der verdächtigen E-Hss. aufs beste 
vertraut sind, daß wir ferner die eigentümliche Technik der 
karolingischen Überarbeitung von älteren,, barbarischen“ Texten 
genau kennen und wissen, daß diesem Bestreben aus der Gelehr- 
samkeit späterer mittelalterlicher Schreiber geradezu eine „Kon- 
kurrenz'' erwuchs, die sich nach der gleichen Richtung ausgewirkt 
hat. Da begreift man schwer, wie man sich trotzdem auf rechts- 
historischer Seite immer von neuem gegen die Anerkennung einer 
Handvoll nachträglicher Schreiberkonjekturen stráubt und lieber 
in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten von verlorenen 
Texten flüchtet. 


712 Walter Stach 


Denn was es in Wahrheit mit dem besser bewahrten Wortlaut 
der Vorbilder an den umstrittenen Stellen auf sich hat, darüber 
entscheidet m. E. ein für allemal der in seinem Zusammentreffen 
beweiskräftiger Nebenumstände geradezu ideale Fall“, wo sich 
ein offenkundiges Schreiberversehen der Eurich-Überlieferung 
(c. 280) in die bayerische Entlehnung des betreffenden Passus 
fortgeerbt hat. Es handelt sich um den Wortlaut in XV, 4: 
furem sua investigatione perqutrat] B; suam A 2. 3: suum E mit 
A1.4.B6. Die unsinnige Wortfügung furem suam stand zwei- 
felsohne schon im Euricianus; das beweisen die Pariser Frag- 
mente, das beweist auch die jüngere westgotische Hs. R2 zur 
Reccessvindiana mit ihrer Schlimmbesserung suam investigatio- 
nem. Der Unsinn ist bayerischerseits getreulich kopiert in 
A 2. 8 und stand demgemäß im Archetypus. Er wurde aber von 
E (mit dem A 1 und 4 in diesem Teile der Lex konform gehen) in 
seinem oberflächlichen Bereinigungseifer zu furem suum verball- 
hornt, so daB man alles Wünschenswerte für die Beurteilung der 
Überlieferungsqualitäten beisammen hat: die barbarische Indo- 
lenz von A mit dem versteinerungsmäßig genauen Abdruck der 
rezipierten Stelle und die skrupellose Emendationsweise von E, 
dem es weniger um den ursprünglichen Sinn des Textes als um 
die „karolingische“ Korrektheit der Sprache nach den Vor- 
schriften der Grammatik zu tun ist“. Nimmt man vollends 
hinzu, daß Krusch u. a. gegen Heymanns Erwägungen ausführt 
(Neue Forschungen, S. 24ff.), wie in XII, 4 ein probantur der 
westgotischen Antiqua X, 3, 3 auf der bayerischen Seite zu- 
nächst als vulgarisiertes probant erscheint (nämlich mit Aus- 
tausch des genus verbi, wie auch sonst im Merovingerlatein), das 


** Über den sich übrigens die Gegner Kruschs auffällig ausschweigen. 

% Ganz ähnlich sind die Dinge in XIL,6 gelagert, worauf Krusch gleichfalls 
schon Lex, S. 213f. aufmerksam gemacht hatte: ,Damnum pervasionis“] E mit 
Al. 4; aber ,damnum persuasiones A2. B6 — ,damnum persuasionis' A3. B1. 2.3. 
Zweifellos ist ,pervasionis' von E die sinngemäße Lesart, und ,damnum pervasoris' 
liest auch der Euricianus (c. 276). Aber die Übereinstimmung von A2. 3. B6 mit der 
B-Klasse macht es trotzdem fast zur Gewißheit, daß im Archetyp die fehlerhafte 
Lesart ,persuasionis' stand, wie in der Tat die beste Hs. R1 der Reccessvindiana 
X, 3, 5 noch schreibt, mit der übereinstimmend auch das folgende bayerische Kapitel 
X11,7, admiserit‘ hat und nicht ,dimiserit', wie Eurich. Danach ist es auch hier mehr 
als wahrscheinlich, daB die korrekte und scheinbar dem Euricianus näherstehende 
Lesart in E. A1. 4 nichts weiter darstellt als eine spontane spátere Korrektur. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 713 


von E natürlich wieder eingerenkt wird, und wie schließlich ein 
Korrektor von C 2 dieselbe Verbesserung sozusagen vor unseren 
Augen vollzieht, so hätte man glauben sollen, die Sachlage wäre 
geklärt. 

Aber Eckhardt steht auf dem entgegengesetzten Standpunkt, 
indem er Heymann bedeutet, er sei in der Auswertung solcher 
Fälle noch viel zu zaghaft gewesen. Denn diese Stellen, in denen 
der Wortlaut der Westgotengesetze getreuer in E bewahrt sei, 
reichten vollkommen aus, um den Stammbaum von Krusch zum 
Teil zu Falle zu bringen. Die A-Vorlage von E müsse einen Text 
enthalten haben, der in gewissen Fällen korrekter gewesen sei als 
die gesamte sonstige Überlieferung, und die E-Klasse stelle 
danach eine selbständige, wenn auch A keineswegs ebenbürtige 
Ableitung aus dem bayerischen Archetypus dar (Eckhardt, S.16). 
Auch lasse sich nachweisen, daß nicht E, sondern B eine Kom- 
pilation sei (ebd. S. 17) und daß der Redaktor von f zu diesem 
Zweck neben seiner zur A-Klasse gehörigen, mit A 4. B 7 nächst- 
verwandten Hauptvorlage die Textform der Antiqua benutzt 
habe, aus der später die Emendata hervorgegangen wäre (ebd. 
S. 23). 

Zum Beweise dessen greift Eckhardt zunächst auf den Passus 
in XVI, 5 zurück, wo die E-Hss. probaverit lesen, wie der Euri- 
cianus auch, während in A dafür haberet steht, und er lobt die 
Entschiedenheit, mit der H. Meyer betont habe, daß entspre- 
chend auch probaverit dem bayerischen Archetypus entstamme, 
da es unmöglich in E eine bloße Abschreiberkorrektur sein 
könnte, die rein zufällig zum Euricianus zurückgeführt habe 51. 


91 Das klingt sehr plausibel und beleuchtet doch blitzartig m. E. den latenten 
Widerstreit zwischen der historisch-philologischen Behandlung der Überlieferung und 
ihrer Würdigung von juristisch-rechtsgeschichtlicher Seite. Mir will es scheinen, als 
sei man auf diesem Standort der Gefahr ausgesetzt, an einer konkreten Quellen- 
situation, wie der obigen, in logizistischer Subsumierung des Besonderen unter all- 
gemeinste Wahrscheinlichkeitsmomente vorbeizuurteilen. Zum mindesten habe ich 
den Eindruck, als vergäße man über der konsequenten Handhabung eines text- 
kritischen Prinzips bisweilen die übergeordnete Einsicht, daB unsere quellenanalyti- 
schen Regeln doch keine mathematischen Axiome darstellen, sondern nichts weiter 
sind als eine im Laufe von Generationen erworbene und bis zur Bewußtheit in der 
Anwendung gesteigerte Empirie im Umgang mit Quellen, so daB der Beweiswert der 
historischen Methode nicht auf ihrem logischen Gehalt, sondern auf ihrer Tatbewüh- 
rung beruht. Daher bedarf sie auch der dauernden Anpassung an die jeweilige Lage- 
rung des Objektes, einer Modifizierung im besonderen Fall, die allem Anschein nach 


714 Walter Stach 


Dabei war gerade zu dieser Stelle, deren besonderer Lockung 
schon v. Schwind erlegen war, inzwischen von Krusch alles Er- 
forderliche zur Klarstellung des Sachverhaltes gesagt (Lex, 
S. 232 f. und Neue Forschungen, S. 28f.). Krusch hatte gezeigt, 
daß zunächst bei Eurich der Tatbestand des Deliktes ein völlig 
anderer ist als bayerischerseits. Dort läßt sich jemand als 
Sklaven verkaufen und legt hinterher die Beweise vor (liber- 
tatem probaverit: Euricianus c. 290 und A 1. 4. E), daß er ein 
Freier ist, so daß den Verkäufer keinerlei Schuld trifft. Hier 
wird ein Freier gegen seinen Willen verkauft, obwohl seine Frei- 
heit notorisch ist (libertatem haberet: AB), und der Verkäufer ist 
der Schuldige, der bestraft wird. Krusch hatte ferner gezeigt, 
wie das haberet der bayerischen Antiqua noch durch die nach- 
folgende Eigenbemerkung der bayerischen Bestimmung: sicut 
prius habuit, nochmals deutlich aufgenommen und in seiner 
Ursprünglichkeit gesichert wird. Und er hatte schließlich betont, 
daB E ja bloß an einen Fall von streitiger Freiheit zu denken 
brauchte, um auf seine für den bayerischen Sinnzusammenhang 
abwegige Konjektur zu verfallen, da nun einmal bewetsen latei- 
nisch probare heißt. Ich wüßte nicht, was ich diesen durchschla- 
genden Gründen noch hinzufügen sollte, es sei denn die Gegen- 
frage an die Anhänger v. Schwinds, wie sie sich wohl umgekehrt 
die lectio difficilior haberet in AB entstanden denken, wenn sie 
nicht aus dem Archetypus der Überlieferung hergeleitet werden 
soll. 

Zur Ergänzung Heymanns holt Eckhardt sodann seine eige- 
nen Argumente aus einer Betrachtung von alamannischen 
Lehnstellen in der bayerischen Lex9*, Zuerst vergleicht er zu 
diesem Zweck die alamannische Wundbussennorm LVII, 34: S: 
autem ferrum calidum intraverit ad stagnandum sanguinem... 
mit der bayerischen in IV, 4. Hier lautet die ältere Überlieferung 
in AB: Si in eum vena percusserit, ut sine igne stagnare non possit 
dem juristischen Bedürfnis nach Konsequenz im Formalen zuwiderläuft. Etwas zu- 
gespitzt könnte ich sagen: Die Nichtverwendbarkeit eines textkritischen Kriteriums 
erhellt aus den unbrauchbaren Resultaten; nicht aber verbürgt seine logische Evidenz 
schon die Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall. 

5* Gerade von diesem Lehngut hatte Krusch (Lex, S. 201) versichert: Diese 
Vorlage geben besonders die Hss. A 1. 2 einzeln oder zusammen in ihrem barbarischen 


Gewande getreulich wieder, und E bietet statt dessen einen überall nach der Gramma- 
tik korrigierten Text. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 715 


[rena in eum Al; vena A2; in eum venam B 6; in eo venam 
B 2—5. 7], während es in E heißt: St in eo venam percusserit, ut 
sine igne sanguinem stagnare non possit [veniam corr. venam E 2; 
veniam E 6]. Daraus folgert nun Eckhardt (S. 13), nur E habe 
das für den Sinn kaum entbehrliche sanguinem erhalten, das 
durch die Vorlage (L. Al.) als ursprünglich gesichert sei; man 
könne sich kaum vorstellen, daß die bayerischen Redaktoren das 
sachlich wichtige Wort übergangen haben sollten, und anzu- 
nehmen, es sei erst von E durch Konjektur eingefügt worden, 
bedeute eine unnótige Komplizierung der handschriftlichen Be- 
ziehungen. Dem gegenüber muß ich zunächst hervorkehren, daß 
die alamannisch-bayerische Textbeziehung gerade im vorliegen- 
den Falle bei weitem nicht so eng ist, wie Eckhardt voraussetzt 
und wie die Schwindsche Ausgabe durch den Kleindruck des 
sanguinem stagna(re) vorgibt. Von einer Sicherung des san- 
guinem der bayerischen E-Klasse durch das alamannische Vor- 
bild kann jedenfalls keine Rede sein, sondern höchstens von der 
Möglichkeit einer Entlehnung. Gewiß ist auf beiden Seiten 
von einer qualifizierten Blutwunde die Rede, die zu ihrer Heilung 
gebrannt werden muß. Im übrigen aber spricht die alamannische 
Lex von dem Sonderfall einer Schwerverletzung infolge Durch- 
bohrung der Hand, und zwar im Gegensatz zur einfachen blu- 
tenden Handwunde; dagegen die bayerische Lex von einer 
Schlagaderverletzung ganz im allgemeinen. Zudem wird dort 
die das Bußmaß erhöhende Folge beschrieben (ferrum calıdum 
intrare), während hier der ursächliche Tatbestand formuliert ist 
(venam percutere). Infolgedessen ist alamannisch die Zufügung 
von sanguis tatsächlich ein integrierendes Stück des Gedankens; 
denn von einer angeschlagenen Ader war vorher nichts erwähnt. 
Dagegen wäre in den bayerischen Hss. A B dieser Zusatz nicht 
nur unnötig, sondern paßt in die Konstruktion des Satzes über- 
haupt nicht hinein: Wenn er ihm eine Ader angeschlagen hat, so 
daß sie ohne Brand nicht gestillt werden kann. Denn daß stagnare 
hier passiv verstanden sein will (und nicht etwa als aktiver 
Infinitiv eines transitiven Verbs), steht außer Frage und bezeugt 
genau so wie die vorausgehende Kasusvertauschung in A 1. 2 (in 
eum vena für in eo venam) gerade den Sprachzustand, den man 
von der ungelenken Latinität der älteren Zeit zu erwarten hat. 
Hätte sich der Redaktor von E um den von A gemeinten Sinn 


716 Walter Stach 


ernstlich bemüht, so hätte er mit der kleinen Änderung von 
stagnare zu siagnarı die erwünschte sprachliche Glätte erzielt, 
ohne erst aus der angeschlagenen Ader, die nicht zum Stehen 
gebracht werden kann, den Verletzten zu machen, der das aus 
der Wunde fließende Blut nicht zu stillen vermag. So aber ist 
er in seiner Flüchtigkeit über das mit e vertauschte i bzw. über 
den Genusaustausch in A gestolpert (wie anscheinend auch 
Eckhardt, der offenbar vom klassischen Sprachgebrauch her 
meint, aktives stagnare lasse sich eben nicht absolut gebrauchen). 
Die Folge ist das schiefe in den ursprünglichen A-Satz hinein- 
geflickte sangutnem, das mit dem alamannischen sangutnem 
weder logisch noch sachlich das geringste gemein hat. Man kann 
geradezu sagen, stünde nicht an sich bereits fest, daB dieses 
sanguinem in E eine karolingische Einschwellung ist: man müßte 
es auch dann aus dem Texte wieder hinauswerfen, wenn man 
ohne die Kenntnis der álteren Überlieferung, allein von E aus, 
eine vorkarolingische Textstufe zu rekonstruieren versuchte. 
Daraus erhellt wohl zur Genüge, daB das erste von Eckhardt 
angezogene Beispiel bei näherem Zusehen gerade das Gegenteil 
von dem beweist, was es soll. 

Um den zweiten Beleg — und mehr bringt Eckhardt nicht 
bei — ist es m. E. nicht besser bestellt. Es handelt sich um den 
bereits bei v. Schwind verwerteten und dann von Krusch (Lex, 
S. 203ff.) eindringlich behandelten Brandstiftungspassus in X, 1, 
der bayerisch in dreifacher Fassung überliefert ist: 

I. Si quis per [super A 1. 4. E] aliquem in nocte [in(n)ocentem 
A 4. E 1. 10. F] ignem inposuerit et incenderit .. . A. E; 

II. Si quis per aliquam invidiam vel odtum [B 2. 3; domum B 1] 
in nocte etc. B 1. 2. 3; 

III. Si quis aliquem per invidiam vel dolum in nocte etc. B 6. 


Dazu treten folgende Bestimmungen, die bei der Redaktion 
dieser Satzung zur Vorlage gedient haben kónnen: 

a) L. Al. LXXVI, 1: Si quis aliquem foco in nocte miserit, 
ut domus incendat, seu et sala sua...; 

b) L. Sal. XVI (XIX), 1: Si quis casa quamlibet super homi- 
nem dormientem incenderit...; 

c) L. Bai. I, 6: Si quis res ecclesiae igne cremaverit per 
invidiam more furtivo in nocte. . 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 717 


Zunächst erscheint es schon äußerst befremdlich, wenn man 
das Bemängelungsverfahren gegen die Gesamtergebnisse Kruschs 


ausgerechnet auf eine Stelle zu gründen versucht, an der die 


Überlieferung offensichtlich bis in die älteren Handschriften 
hinein (B 1) getrübt ist und wo möglicherweise bereits im Arche- 
typus unserer Texte eine Störung vorlag, mit der sich die ein- 
zelnen Schreiber auf ganz verschiedene Weise abgefunden haben. 
Denn klar und ohne jeden inhaltlichen Anstoß ist allein die ala- 
mannische Bestimmung (a), in der aliquem für alicu:, d. h. der 
acc. als vulgárer obliquus universalis für den dat. fungiert; sie 
nennt den Täter und den Geschädigten, den dominus, auf den 
auch der Ausdruck sala sua verweist. Dagegen spricht das baye- 
rische Gesetz in der ältesten Fassung vom Urheber und von dem 
Beihelfer (per aliquem), den er zur Brandlegung anstiftet. Das 
letztere scheint zwar rechtlich nicht vonnóten, ist aber kaum ein 
unhaltbarer Unsinn, wie Eckhardt behauptet, da ja náchtliche 
Brandstiftungen in der Regel nicht ohne Mittelsperson durch- 
geführt worden sein dürften. Jedenfalls bildet dieser — wenn 
man will: merkwürdige — Wortlaut den áltesten Text der baye- 
rischen Überlieferung, bis zu dem wir vorzudringen vermógen. 
Denn daß sich das per aliquem nicht durch die Motivangaben in B 
(per invidiam etc.) aus der Welt schaffen läßt, gibt auch Eckhardt 
zu. Nicht nur, daß das alamannische Vorbild für eine derartige 
Textaufschwellung keinerlei Anhalt bot, sondern offensichtlich 
ist es das per aliquem selber gewesen, von dem die Interpolationen 
in II und III ausgehen. Das bezeugt vor allem, wie Krusch 
betont, das erstarrte Masculinum altquem in III, an das der 
Motivzusatz noch ohne grammatische Beziehung angehängt ist. 
Dafür spricht aber auch, daß in der bayerischen Satzung über die 


Kirchenbrandstiftung (c) schon in ganz ähnlicher Weise von der 


invidia als Triebfeder der Brandstiftung die Rede war, so daß 
selbst nach der inhaltlichen Seite der Quellpunkt für diese nach- 
träglichen Einschübe in II und III aufgedeckt ist. Aber ebenso 
sicher ist es, daB man andrerseits dieses per alıquem nicht aus 
dem super aliquem der E-Hss. herleiten darf, obgleich sich 
Eckhardt mit Leidenschaft dafür einsetzt und Krusch mit ziem- 
licher Entrüstung vorwirft, er wolle nur seinem Stammbaum 
zuliebe den Text durch Abschreiberunsinn entstellen, und an- 
deutet, Krusch schiene aus bloßer Verranntheit zu bestreiten, daß 


718 Walter Stach 


eine Verschreibung von super zu per überhaupt denkbar sei. 
Aber um die paläographische Möglichkeit oder Unmöglichkeit 
eines solchen Schreiberversehens, auf das Eckhardt das ganze 
Problem zuspitzt, handelt es sich wirklich nicht, sondern um den 
anerkannten Grundsatz der lectio difficilior, den man psycho- 
logisch einmal sehr richtig als das ,, Gesetz der steigenden Platt- 
heit" definiert hat. Das will im vorliegenden Falle besagen: 
Es ist a limine unwahrscheinlich, daB man sich angesichts eines 
ursprünglichen super aliquem veranlaßt gesehen hätte, aus einer 
derartig geschmeidigen Angabe einerseits in A einen unnötigen 
Gehilfen bei der Brandstiftung zu machen oder andererseits in B 
überflüssige Motivumschreibungen dafür einzusetzen, wührend 
der umgekehrte Vorgang, die Entwicklung eines ursprünglichen 
per aliquem zu super aliquem ohne weiteres einleuchtet. Denn ob 
man hierbei annimmt, daß gerade zu dieser Präposition die 
Anregung der Salica-Stelle (b) geführt hat, wie v. Schwind und 
Krusch vermuten, oder ob man den Anteil der Vorlage b be- 
streitet, wie Eckhardt das tut, ist für den Hergang ziemlich 
belanglos. Die dadurch bewirkte textliche Gláttung paBt auf 
jeden Fall vortrefflich zu dem Gesamtcharakter von E und findet 
sich bezeichnenderweise ebenso als Korrektur für das ,,barba- 
rische‘‘ aliquem in der karolingischen Überarbeitung des ala- 
mannischen Textes, wo von einem per überhaupt keine Rede 
ist 9. Oder soll dieses super aliquem der alamannischen Karolina 
etwa auch entgegen dem Zeugnis der besten Hss. die ursprüng- 
liche Fassung abgeben? Freilich möchte nun Eckhardt gern 
wissen, wie dann das per in den „Urtext“ der bayerischen Lex 
hineingeraten wáre, wenn es nicht aus super verschrieben sein 
soll. Aber das ist eine Frage quid juris, deren Beantwortung, wie 
bei so mancher crux philologica, die Grenzen des tatsáchlich 
Feststellbaren überschreitet. Denn ausmitteln läßt sich nur, 
daß jenes per aliquem im Archetypus unserer hs. Überlieferung 
de facto gestanden hat. Das beweist die Einmütigkeit aller Text- 
zeugen, da wir — ganz abgesehen von der Beweiskraft des 
Stammbaumes, von der Eckhardt nicht viel wissen will — eben 
nirgends eine Variante ohne das per bzw. ohne die daraus ent- 
standenen Entartungen vorfinden. Aber daß nun per aliquem 


63 „Ein solcher Parallelismus spricht Bände“, möchte man mit Eckhardt aus- 
rufen, nur daß dieser verkennt, wofür der Parallelismus spricht. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 719 


deswegen auch schon zum Urtext gehórt hátte, ist von niemand 
behauptet worden; sondern für dessen hypothetischen Ansatz 
scheint mir durchaus unbenommen, etwa zu konjizieren, daß 
dort móglicherweise die reine Fassung a stand, d. h. wie in der 
L. Al. ein nacktes aliquem im Sinne von alicut, so daß vielleicht 
eine für uns nicht mehr greifbare Störung im „Urtext“ zu dem 
inhaltlich unbehaglichen per aliguem des Archetypus geführt hat. 
Jedoch mit dem Problem der Hss.-Versippung hätte eine Ver- 
mutung nach dieser Richtung ja nichts mehr zu tun. 

Damit dünkt mich die These von der überragend guten 
Antiquavorlage aller E-Hss. und von deren sondertümlichen Ab- 
zweigung aus dem Archetypus der L. Bai. — trotz der weiteren 
Unterbauung durch Eckardt — abermals widerlegt, und es fragt 
sich, wie es um die anschließende Behauptung Eckhardts steht, 
daB nicht E aus B, sondern B aus E interpoliert sei (Eckhardt, 
S. 17ff.). Daß derartige kompilatorische Beziehungen zwischen 
diesen beiden Familien vorhanden sind, ist bereits oben (S. 707 f. 
und Anm. 44) im Anschluß an Krusch dargelegt worden, und aus 
dem instruktiven Beispiel des B-Zusatzes zu IV, 29 hatte sich 
ergeben, daß solche Gelegenheitseinwirkungen in der Richtung 
von B nach E verlaufen. Das lehrte die allmähliche und orga- 
nische Entfaltung dieses Einschubes, zusammen mit dem höheren 
Alter von B. Um nun den Weg für eine gegenläufige Deutung 
überhaupt frei zu bekommen, muß Eckhardt entgegen der Sinn- 
fälligkeit dieses Beispieles zu der konstruierten Ausflucht greifen, 
daß nicht die eine Rezension aus der anderen unmittelbar inter- 
poliert worden sei, sondern daß B zum Zwecke der Kompilation e, 
die mutmaßliche Antiquavorlage von E, benutzt hätte, und 
daß der Redaktor von B den E-Zusatz in IV, 29 entweder 
ignoriert oder in & noch gar nicht vorgefunden hätte. Das 
scheint mir ein bedenklicher und waghalsiger Ausweg: waghalsig, 
weil es wohl kaum angängig ist, aus den an sich recht spärlichen 
Textbeziehungen zwischen E und B (vgl. Anm. 44) so weit- 
gehende Schlüsse zu ziehen, und bedenklich, weil man zum 
mindesten hätte erwarten dürfen, daß die Berechtigung dazu auf 
Grund einer Kollation der von Krusch noch nicht eingesehenen 
Pariser Hss. E 4. 6a. 10 angestrebt worden wäre. Statt dessen 
beruft sich Eckhardt ausschließlich auf einige wenige Fälle von 
Variantenhäufungen in B und sieht deren Beweiskraft vor allem 


720 Walter Stach 


darin, daß in E dergleichen völlig fehle. Das halte ich für ein 
sehr brüchiges argumentum e silentio. Wohl steht es außer 
Frage, daB auffállige Textdubletten auf den Mischcharakter einer 
. Hs. hindeuten kónnen. Aber niemals vermag deren Fehlen die 
anderweitig erhürtete Tatsache der Interpolation aus einer 
zweiten Hs. wirksam zu widerlegen. Vor allem im vorliegenden 
Falle nicht. Denn es widerspráche vóllig dem (auBer vielleicht 
in E 1) deutlich erkennbaren Bestreben von E, einen möglichst 
lesbaren Text herzustellen, wenn man nicht bei der Redaktion 
zugleich solche sinnstórende Additionen sachlich identischer Les- 
arten auf alle Fälle zu vermeiden gesucht hätte. Dazu kommt, 
daB die von Eckhardt vorgeführten Belege für solche Lesarten- 
häufungen in B durchweg eine andere Erklärung geradezu ver- 
langen oder wenigstens offen lassen. Das liegt in der Verschieden- 
heit der Ursachen begründet, die zu solcher Variantenabundanz 
geführt haben kónnen. Wirklich eindeutig wáren daher über- 
haupt nur Beispiele von folgendem Typus: E 3 verbessert in VII 
(VI), 1 die verkehrte Lesung familiam fratris zu filtram fratris und 
E 4. 6. 6a schreiben danach filiam familiam fratris. Aber von 
diesem Schlage ist m. E. kein einziges der Eckhardtschen Zeug- 
nisse aus B. 

So trágt er (S. 22) beispielsweise folgendes vor: Wir lesen in 
E I, 10: tbi sit firmata usque in perpetuum und dafür in A: bt 
sint firma tunc usque etc. Die Entstehung dieser Form sei leicht 
zu erklären; der Schreiber habe firmata zu firma tc verlesen und 
danach korrekt zu tunc aufgelóst, ohne sich viel um die Richtig- 
keit dieser Wiedergabe zu kümmern. Während nun die Haupt- 
vorlage von B mit A zusammen firma tunc las, habe der Schreiber 
der Stamm-Hs. von B aus einer anderen Hs. — und dies kónne 
eben nur die Ántiquavorlage der Emendata gewesen 
sein — die Silbe ta über der Zeile nachgetragen, und eben diese 
Fassung fänden wir auch in B 1; dagegen hätten die übrigen 
B-Hss. die „wohl undeutlich geschriebene Interpolation ver- 
kannt“ und überlieferten infolgedessen firma ex tunc. — Das 
heißt doch wahrhaftig das erwünschte « an den Haaren herbei- 
zerren und dafür das Nächstliegende — man möchte fast sagen: 
um jeden Preis — übersehen! Im Ingolstadtensis (B 1), bei 
K. Beyerle S. 40 für jeden zu lesen, ist vom Korrektor der Hs., 
wie natürlich auch Eckhardt weiß, über firma tunc die Silbe ta 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 721 


hinzugefügt: eine spontane, aus dem Gedankenzusammenhang 
getroffene Konjektur, genau wie das abwegige ex tunc der anderen 
B-Hss. auch. Und diese zwei Buchstaben soll sich die zweite 
Hand von B1 aus einem besonders guten Exemplar der frän- 
kischen Kanzlei erst haben herbeischaffen müssen, und aus- 
gerechnet aus demselben Exemplar, aus dem später die Emen- 
data hervorging? Selbst wenn es aller Wahrscheinlichkeit zu- 
wider so gewesen wäre, dürfte man dann weiterhin um dieses 
winzigen Falles willen die B-Hss. bereits Kompilationen nennen, 
codices mixti, die durch Emendationen nach einer zweiten Vor- 
lage entstanden wären ? Ich glaube wohl kaum. 

Auch die weiteren Beispiele Eckhardts können mich keines 
besseren belehren. Denn wenn z. B. B1 in XIV, 17 siquamvıs 
schreibt, so ist das nach meiner Überzeugung nun und nimmer 
eine Variantenaddition aus dem swis der „Hauptvorlage‘“ und 
einem quamvis, das „der Schreiber aus einer zweiten Hs.“ (also 
e und wiederum nur c?) „interpoliert hatte“, wie Eckhardt will; 
sondern eine ganz gewöhnliche und natürliche Kontamination 
aus dem überlieferten und obsolet gewordenen swis und der 
einem späteren Schreiber geläufigen Konjunktion quamvis. 
Wollte man in analogen Fällen mittelalterlicher Texte jedesmal 
nach der zweiten Vorlage suchen, so dürfte das mit Leichtigkeit 
zu den absonderlichsten Filiationen führen. Wenn irgendwo, 
gilt eben hier der methodische Grundsatz: simplex sigillum veri! 
Die einfachste Erklärung, die der wenigsten Hilfskonstruktionen 
bedarf, hat im Zweifelsfalle die Wahrscheinlichkeit für sich“. 

So kann ich selbst den restlichen Ausführungen Eckhardts 
(S. 24—29), die eine immanente Kritik an Krusch und seiner 
Auffassung der Textverwandtschaft zwischen A 2. 1 und El, 
nebst dessen Untersippe, versuchen, beim besten Willen nicht 
mehr entnehmen, als daB zwischen den codices deteriores von E 
(E 3—7. 10. 13) und f, der Stammutter von E 2. 2a. F, vielleicht 
textliche Beziehungen spielen, die sich bei weiterem Verfolg 


54 Das trifft auch für die weiteren Beispiele Eckhardts zu: VIII (VII), 19 
‚coitu-ietu‘ (vgl. Krusch, Lex S. 217ff. u. Neue Forschungen S. 28); XII,4 ‚antiqui 
tunc — antiquitus' (vgl. Krusch, Lex, S. 227 u. Neue Forschungen, S. 25), über die 
mir bei Krusch alles Erforderliche gesagt scheint. Und ebensowenig vermag ich 
mit Eckhardts Belegen II, 17 ,perperam — per pecuniam' und IV, 16 (E) ‚unum- 
quemque' etwas anzufangen. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 46 


722 Walter Stach 


solcher Berührungspunkte noch deutlicher klären dürften. Aber 
die Filiation der Haupt-Hss. (über den Gruppengegensatz von 
E 3—7. 10. 13 gegenüber E 1. 2. 2a. F) bis in alle Verästelungen 
nach unten weiter fortzusetzen, hatte ja Krusch (Lex, S. 143) 
ausdrücklich abgelehnt, da diese Untersuchung für die Kon- 
stituierung des Grundtextes kein erhebliches Interesse besitzt. 
Doch bleibt es selbstverständlich möglich und erwünscht, 
die Forschungen Kruschs nach dieser Richtung noch zu er- 
gänzen und zu vervollständigen. 


* * 
* 


I. Exkurs. 
Zu Zeumers Ausgabe (4?) der Fragmenta legum codieis Eurieiani. 


Im Zusammenhang mit Untersuchungen zu Sprache und 
Stil der Westgotengesetze, worüber ich unten (S. 730f.) noch 
einiges andeuten werde, war ich im Oktober 1926 in Paris, um 
neben jüngeren Handschriften dieser Leges vor allem den cod. 
Parisinus lat. 12161, den sog. Euricianus, nochmals an Ort und 
Stelle vollständig nachzuvergleichen®. Ich habe unsägliche 


55 Der Aufenthalt wurde mir durch eine Beihilfe der Notgemeinschaft und der 
Vereinigung von Fórderern und Freunden der Universitát Leipzig ermóglicht, wofür 
ich beiden zu gróBtem Dank verpflichtet bin. In Paris selbst wurden mir von H.Omont, 
an den ich durch B. Krusch persönlich empfohlen war, bei der Benutzung des 
Lat. 12161 alle nur denkbaren Erleichterungen gewährt. So durfte ich z. B. um des 
günstigeren Lichtes willen am Platze der Photographen arbeiten. Was den eigent- 
lichen Zweck meiner Nachvergleichung des Eurich angeht, so hatte ich insbesondere 
gehofft, im e. 320 der Fragmente (de successionibus), an einer, wie Zeumer sagt 
(NA. 26, S. 99), für die Erforschung des germanischen Erbrechtes geradezu grund- 
legenden Stelle mit bloBem Auge mehr zu lesen, als meinen Vorgängern gelungen 
war. Vergebens! Eine weitere Hoffnung hatte ich auf die phototechnische Behand- 
lung der Handschriftenblütter (photochromatische Aufnahmen unter Verwendung 
geeigneter Farbfilter und Anwendung einer Analvsenquarzlampe) an Ort und Stelle 
gesetzt. Aber die vorhandenen Hilfsmittel erwiesen sich dafür als unzulänglich. 
SchlieBlich trug ich H. Omont die Bitte vor, die kostbare Handschrift dem Photo- 
chemischen Institut in Karlsruhe anzuvertrauen, um die entscheidenden Stellen von 
Kögel selbst nach seinem neuen Palimpsestverfahren photographieren zu lassen, und 
zwar unter Einbeziehung auch der Seiten 81; 82; 87—90; 95; 96; d. h. von Stücken 
der Hs., die schon die Mauriner als Palimpsestblätter angesprochen haben, auf denen 
man aber mit bloBem Auge keinerlei Spuren einer Primärschrift mehr zu erkennen 
vermag. H. Omont gab auch nach anfänglichem Bedenken persönlich seine Zustim- 
mung und erklärte, einen diesbezüglichen Antrag Kögels aufs wärmste befürworten 


Gescbichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 723 


Zeit und Mühe mit diesem erneuten Entzifferungsversuch ver- 
braucht, und wenn ich jetzt eine Gelegenheit benütze, um das 
magere Ergebnis meiner Anstrengungen in Gestalt einiger Text- 
bemerkungen zu Zeumers Euriciana-Ausgabe zu veróffentlichen, 
so schöpfe ich den Mut dazu aus einer Äußerung von Anschütz, 
der in gleicher Lage der Hoffnung Ausdruck gab, es würde auf 
diesem schwierigen Felde auch der kleinste Beitrag willkommen 
seins, 

Zeumers Absicht bei seiner letzten Ausgabe der Fragmente 
war es, auf Grund unermüdlich wiederholter Kollation der 
Hs.5 einen diplomatisch möglichst getreuen Abdruck des 
Textes herzustellen, indem er eigene Ergänzungen in eckige 
Klammern und Ergänzungen von Flüchtigkeitslücken, die auf 
den Schreiber der Hs. zurückgehen, in Winkelklammern setzen 
und ferner unsicher Gelesenes kursiv, unsicher Ergänztes aber 
kursiv in Klammern drucken ließ®®. Diese Absicht des Heraus- 
gebers ist für mich maßgebend gewesen, wenn ich im folgenden 
hin und wieder auch Stellen erwähne, wo an der Richtigkeit 
des Zeumerschen Textes kein Zweifel besteht, sondern nur am 
Grade der Lesbarkeit des Originals, die damals besser gewesen 
sein könnte als heute und sich vielleicht durch die an- 
dauernde Nachwirkung der angewandten Reagenzien noch 
weiterhin verschlechtern wird. Jedenfalls würde ein Text- 


zu wollen. Aber trotz der weiteren empfehlenden Physikergutachten von Langevin 
in Paris und Einstein in Berlin, an die ich mich persönlich gewandt hatte, und trotz 
des offiziellen Gesuches von Kögel an das zuständige französische Ministerium ist 
die Erlaubnis zuletzt doch noch versagt worden. Und so war auch meine letzte Hoff- 
nung, zu einer inhaltlichen Erweiterung des Fragmententextes vorzudringen, ge- 
scheitert, vermutlich am Widerstand des damaligen Conservateur de la Bibliothéque 
Nationale Roland Marcel. Umso dankbarer bin ich den übrigen genannten Herren 
für die Fórderung und Unterstützung meines Vorhabens, auf das zu gelegenerer Zeit 
zurückzukommen ich mir vorbehalten muß. 

š Vgl. A. Anschütz, Archiv d. Ges. f. ält. dt. Geschichtskunde 11 (1858), 
S. 21öff. 

V' Vgl. Zeumers praef. der Quartausgabe, p. XVII: et ipsum codicem iterum 
iterumque ipse perscrutatus sum et exemplaria singularum paginarum arte photo- 
eraphica...facta adhibui. 

88 Praef. ib.: Quae non lecta, sed suppleta sunt, uncis quadratis inclusimus, 
haud certo lecta extra, haud certo supplenda intra uncos cursivis litteris expressa 
sunt. Quae in codice non scripta, sed per negligentiam ps omissa sunt, inter 
haec signa 0 supplevimus. 


46* 


724 Walter Stach 


abdruck auf Grund meiner Kollation von 1926 überraschend 
mehr an unsicher Gelesenem und unsicher Ergänztem aufweisen, 
als Zeumers Ausgabe jemals hätte vermuten lassen. Dieses Ge- 
samtergebnis kommt in der folgenden Zusammenstellung nur 
beispielsweise zum Ausdruck, bei der ich den Seiten des Codex 
in der Ordnung folge, daß ich mich zugleich nach Seite und 
Zeile auf den fortlaufenden Text in Zeumers Quartausgabe be- 
ziehen kann. 

eod. p. 93: Zeumer, S. 5 Z. 7 sind von der Kapitelzahl 
CCLXXVII, die völlig in einem dunkelbraunen Farbflecken 
liegt und die Zeumer trotzdem noch sicher zu lesen vermocht 
hat, kaum einige Spuren vorhanden. — Ebd. ist am Zeilenende 
bei tertias weder ein s (Zeumer) noch ein m als Wortschluß er- 
kennbar. — Ebd. Z. 12 steht in revocare das oc auf Rasur. — 
Ebd. Z. 15 sind die Schriftreste eines m am Zeilenende nur aus 
dem Zusammenhang zu deuten. 

eod. p. 94: Ebd. Z. 26 ist das letzte Wort sed, das Zeumer 
gelesen haben will, eine bloße Konjektur. Auch sa, wie Knust 
gesehen hat, ist unsicher. Allenfalls sind Andeutungen eines s 
vorhanden; aber daB diesem noch zwei Buchstaben folgen, 
bezweifle ich sehr. — Ebd. S. 6 Z. 1 ist Zeumers cum Deo 
eine glänzende Vermutung, aber als Lesung trotzdem völlig 
unsicher. Nach cum ist Raum für drei Buchstaben, von denen 
der mittlere vielleicht als e angesprochen werden darf; mehr 
läßt sich nicht behaupten. — Ebd. Z. 4 ist für emiss ſum / in 
den Text emissa zu setzen. Das auslautende a steht außer allein 
Zweifel; blickt man schräg von links auf das Pergament, so ist 
es deutlich lesbar. Daraus folgt dann zwingend auch die Auf- 
lösung der Buchstabenreste des zugehörigen quae, wo als letzter 
Buchstabe für das Auge an sich d, s oder e möglich erscheint. 
Auch das vorausgehende ut ist noch völlig erkennbar, wie das 
noch in Zeumers Oktavausgabe zum Ausdruck kam, so daß die 
vollständige Zeile lauten müßte: [ri] ut qua(e) cum lege vi(d)e- 
remus emassa. T 

eod. p. 105 col. 2: Ebd. Z. 15 ist das requiratu[v], wofür 
Zeumer in der Oktavausgabe creditor accı[piat] lesen wollte, 
durch die mit Sicherheit festzustellende Buchstabenfolge 
. tra.... völlig gedeckt, so daß Zeumers ausdrückliche Be- 

rufung (Z. 43f.) auf den Text der westgotisch bayerischen Pa- 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 725 


rallele nicht vonnöten ist. — Ebd. S. 7 Z. 2 ist statt cogatu / v 
eæsol / zu drucken cogatur [exsol]. — Ebd. Z. 5f. habe ich 
cavallum statt cuballum und weiterhin idem und praestitus mit 
solcher Bestimmtheit gelesen, daß sich Zeumers Anm. Z. 42 
völlig erübrigt. | 

eod. p. 106 col. 1: Ebd. Z. 17 ergibt /[arder]e non statt 
[ardere] non. — Ebd. S. 8 Z. 1 ist unbedingt aput für Zeumers 
apud zu lesen. — Z. 6 steckt in dem Wort investigatione noch 
ein Buchstabe zwischen a und t, den man als s deuten kónnte. 

cod. p. 103 eol. 2: Hier gibt Zeumers Text zu Bemerkungen 
keinen AnlaB. In der Mitte (Z. 7/8 des cod. — Z. 20/21 bei 
Zeumer) ist ein Riß im Pergament, so daB man an dieser Stelle 
überhaupt nichts mehr festzustellen vermag. | 

cod. p. 104 eol. 1: desgl.; die sicheren Lesungen Zeumers, 
S. 9 Z. 19—21, wo wiederum in der Hs. überklebt worden ist, 
beruhen in der Mitte des Pergamentes mehrfach nur auf der 
wörtlichen Parallele in den LL. Vis. V, 5, 5. 

cod. p. 85: Die Seite ist gänzlich dunkelbraun und dunkel- 

, blau, und stellenweise hat man derart mit Reagenzien gearbeitet, 

daB das Pergament teils gequollen, teils schon angefressen ist. 
Soweit ich zu lesen vermochte, hat sich Zeumers Text durchaus 
bestátigt. Nur S. 11 Z. 8 ist bei cau[tae] der Rest des t vóllig 
deutlich und das vorausgehende vero vom Schreiber vielleicht 
aus verschriebenem vel korrigiert. 

cod. p. 86: Trotz der dunklen Tónung ist die Schrift bis auf 
die Zeilen 5f., 9f. gut zu erkennen. Zeumer, Z. 16 móchte ich 
für /aut m etu mortis lieber mit Bluhme ſper m etum mortis 
lesen, wie Zeumer selbst in der Oktavausgabe ergänzt hatte. 
Seine spátere Grundlage ist ausschlieBlich der Wortlaut der 
L. Bai. XVI, 2. Die Unsicherheit der Lesung geht aber wahr- 
scheinlich auf eine heute nicht mehr durchsichtige Korrektur 
des Schreibers zurück, so daB die frühere Anmerkung Zeumers 
in den Leges Visigothorum antiquiores S. 8: incertum, utrum 
[m]etu an [m]etum scriptum sit, dem Hs.-Befund zweifellos am 
besten entspricht. — Quartausgabe S. 12 Z. 8 ist mir Zeumers 
crimen quod sibi obiecerat unverständlich geblieben. Von einem 
sibi ist m. E. nichts zu sehen, und obwohl die Buchstabenfolge 
en quo nicht ganz sicher scheint, geht der vorhandene Raum 
genau auf für en quod obice, so daß für sib: an sich schon der 


726 Walter Stach 


Platz fehlt. — Ebd. Z. 10 begreife ich ebensowenig, warum 
Zeumer quoties statt quotiens gegen die Übereinstimmung der 
LL. Vis. V, 4, 8 mit der L. Bai. XVI, 4 konjiziert hat. Für 
3 Buchstaben ist an der Stelle ausreichend Platz, und außerdem 
kann man durch die Lupe auch Spuren eines ns finden. 

eod. pp. 91; 92; 104 col. 2; 103 eol. 1: Geben zu Textbemer- 
kungen keinen Anlaß. 

eod. p. 106 eol. 2: Zeumer, S. 16 Z. 32 ist statt «nig[uum] 
zu drucken iniqu ſum /. — Ebd. S. 17 Z. 3 ist aecclestae nur mit 
einem c geschrieben. — Z. 4 ist mum non esse sicher zu lesen. — 
Z. 9 steht auf alle Fälle nur cent:a am Zeilenanfang; das / fi / 
gehört an den Schluß der vorigen Zeile. Dann folgt ein deutlich 
lesbares aeclıstae und nicht aeclestae. — Z. 11 ist aus den Buch- 
stabenresten, die über den unteren gezackten Rand der Kolumne 
hinausragen, m. E. rebus ziemlich sicher herzustellen. 

eod. p. 105 eol. 1: Ebd. Z. 16 kann nach testes nichts mehr 
gelesen werden, so daß Zeumers ingenut eine bloße Vermutung 
bleibt, die sich lediglich auf LL. Vis. V, 2, 7 zu stützen vermag. 
— Z. 19 ist Zeumers unsichere Lesung durch deutliches non 
fue(rint) praesen völlig zu erhárten. — Z. 23 ist zu drucken 
potest. Et similis de uxoris. Für potest ohne et wäre schon der 
Raum merkwürdig groD; ferner sind die Buchstabenreste zwi- 
schen potest und simalıs mit leidlicher Bestimmtheit als ei zu 
deuten, das überdies die Parallele in den LL. V, 2, 7 auch hat, 
obschon mit anderer Stellung. — Z. 24 ist zweifelsfrei que für 
Zeumers quae zu lesen, das ja auch in der angeführten Stelle 
der späteren Leges wiederkehrt. Außerdem wäre für 3 Buch- 
staben an dieser Stelle kein Raum. — Ebd. S. 18 Z. 4 beginnt 
nicht mit st, sondern mit tur; überdies schließt die Zeile mit 
einem Buchstabenrest, hinter dem Bluhme ganz richtig ein m 
vermutet hatte. Danach ist bei Zeumer zu schreiben: /larg: Jtur, 
ul post eius mortem. 

eod. p. 83: Ebd. Z. 11 steht in der Hs. weder donactoris noch 
donoatoris, sondern m. E. donotoris. — Z. 18 ist heredib mit 
einem diakritischen Häkchen im oberen Bogen des B gekürzt, 
wie schon Bluhme bemerkt hatte, was aber Zeumer in keiner der 
beiden Ausgaben erwähnt. — Z. 15 speraverat habe ich nicht 
mehr lesen können. — Z. 24 reicht der Wortkörper bis potesta[te], 


desgl. S. 19 Z. 5 bis et s[i]. — Übrigens finden sich auf dieser 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 727 


relativ gut erhaltenen Seite des cod. mehrfach Punkte in mitt- 
lerer Höhe der Buchstaben, die als Interpunktionszeichen 
dienen, so Z. 3 des cod. nach keredib., Z. 13 nach mendare, Z. 14 
nach prohiberi, Z. 17 nach servetur, Z. 20 nach quendos, Z. 21 
nach donata sunt. 

cod. p. 84: Eine der wenigen Seiten der Fragmente, die 
fast restlos noch mit größter Sicherheit zu lesen ist; auch hier 
finden sich die eben erwähnten Interpunktionszeichen, so Z. 4 
des cod. nach iubemus, Z. 6 nach sociare, Z. 16 nach repetenda. 
— Zeumer Z. 18 muß es statt /Ar/ma heißen /[Arm]/a. — 
Ebd. Z. 22 ist das quae am Zeilenende völlig unsicher; ich würde 
que vorziehen. — Z. 24 ist Bluhmes /occupa /ndam richtig, nicht 
Zeumers /occup]andam. Zeumer behandelt Zeilenanfang und 
-ende gerade in diesem Punkte sehr widersprechend. Ein deut- 
liches Beispiel bietet auf S. 20 der Ausgabe der Beginn von 2.3 
und 4. Dort hätte gedruckt werden sollen /recıpia /t und hier 
gerade umgekehrt /tione] pulsetur, wenn anders das Verfahren, 
Anfang und Ende des erhaltenen Textes in der Edition graphisch 
kenntlich zu machen, seinen Sinn behalten soll. 

eod. p. 144: Zeumer Z. 16 ist in der Stelle de res sibi a marito 
donatis der Buchstabenrest nach re nicht zu deuten; es kann 
ebenso b wie s sein; darum hätte ich Bluhmes reb. vorgezogen, 
das möglicherweise auf korrigiertem res steht. — Ebd. Z. 19 
kann ich mich mit Zeumers Wortlaut, der im wesentlichen auf 
einer wörtlichen Herübernahme der LL. Vis. V, 2, 5 fußt, nicht 
recht zufrieden geben; m. E. ist am Ende der Zeile als vorletztes 
Wort ein cu: ziemlich sicher erkennbar, so daB ich im ganzen 
ergänzen möchte: Sin autem p[er adul]terium seu inhonesta 
coniunctione, cur [se mi]scursse convincitur, quidquid etc. 

eod. p. 143: Bietet zusammen mit den letzten 5 Zeilen der 
vorigen Seite den bedeutsamen Eingang des inhaltlich wichtigen 
Titels De successtonibus, bei dem auch meine Bemühungen, mit 
bloBem Auge zu einer Erweiterung des Textes zu kommen, 
leider gescheitert sind. Zeumers Wunsch, die Verwaltung der 
Pariser Nationalbibliothek möchte an diesen entscheidenden 
Quellenstellen nochmals die Anwendung chemischer Mittel ge- 
statten, kann ich nur wiederholen, zugleich mit der Bitte, 
andernfalls doch wenigstens eine Aufnahme nach der Methode 
von Kögel im Interesse der Forschung möglich zu machen. — 


728 Walter Stach 


Zeumer, S. 21 Z. 4 ist zu Beginn zu drucken /quale /m. ebenso 
ist das d in quod völlig deutlich. — Ebd. Z. 14 ergab /vo Jluerit, 
und am Ende der Zeile wäre anzumerken gewesen, daB der 
. Schreiber der Hs. in sanctimonia wohl die Silbe mo zu mu bzw. 
mi verschrieben hat. — Z. 17 lautet der Anfang [Quod sji, und 

am Ende der Zeile halte ich nulla für höchst unwahrscheinlich; 
denn ich lese dort allenfalls nullu /m /. Da nun auf der nächsten 
Zeile (18) zwischen testament... und puella m. E. nichts mehr 
gelesen werden kann, erscheint mir Zeumers ratıo als bloBe Kon- 
jektur, so daß man auch ergänzen könnte: ut nullum fuerit 
testamentum factum. — Z. 19 ist am Ende portio noch deutlich 
vorhanden, und Zeumers po/rtio] muß ein Irrtum sein. — Z. 22 
beginnt /[vero s]uum; das s ist völlig weggeschnitten. 

eod. p. 140 eol. 2: Zeumer Z. 33 auf 34 ist abzuteilen percipi- 
at. — Z. 35 lese ich cum vero statt cum autem. Vergleicht man 
4 Zeilen tiefer den Platz für auiem mit dem Abstand zwischen 
cum und filius hier, so scheint Zeumers Lesung schon ráumlich 
sehr fraglich. AuBerdem glaube ich an der Stelle ein v und eino 
zu erkennen. Das gábe vero, wie auch in der Parallele LL. Vis. 
]V, 2, 18 steht. 

cod. p. 139 col. 1: Diese Seite ist typisch für die eigentüm- 
lichen Schwierigkeiten, den Text der Euriciana zu rekonstru- 
ieren. Nur die Parallele mit den LL. Vis. V, 2 (18) 14 macht 
es móglich, manche Buchstabenreste überhaupt zu identiflzieren 
und daraus Wörter und einen inhaltlichen Zusammenhang 
herzustellen. Im übrigen ist zu textlichen Bemerkungen kein 
Anlaß. 

eod. p. 142 eol. 2: Zeumer S. 24 Z. 41 bemerkt zu servis auf 
Z. b, daB die Lesung unsicher sei. Der letzte Buchstabe scheint. 
mir auf keinen Fall ein s. 

eod. p. 141 col. 1: Ebd. Z. 19 lese ich hinter tatem noch ein 
deutliches p. 

eod. p. 141 col. 2: Zeumer S. 25 lese ich ungefähr senkrecht 
unter pater auf Z. 2 noch ein unsicheres ts auf Z. 3, ferner ein 
deutliches re auf Z. 4 und ein ebensolches s auf Z. 7. — Z. 9, 
wo Zeumer am Anfang bus vermutet, findet sich ein absolut 
sicheres st, wie es in der Oktavausgabe auch stand. Das erschwert 
Zeumers Vermutung, es sei die-bus abgeteilt, mindestens hätte 
er das für seine Lesung unbequeme t nach diebus mit hinzu- 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit: um die Stammesrechte 729 


setzen müssen. — Z. 11 lese ich unbedingt condicione, nicht 
conditione, wie Zeumer gegen Knust will. 

eod. p. 142 eol. 1: Zeumer, S. 26 Z. 6 sind in morttur die 
ersten beiden Silben einwandfrei zu lesen. 

cod. p. 139 col. 2: Ebd. Z. 24 fehlt bei femina bereits das a 
(richtig Knust). Auf diese Zeile folgen noch weitere sechs, von 
denen Zeumer die beiden letzten anscheinend übersehen hat. 
Die Kolumne umfaßt im ganzen 17 Zeilen und erst 18—23 sind 
dann weggeschnitten. Auf Z. 14 des cod. lese ich kurz nach 
Zeilenbeginn die Silbe r(um) und etwa in der Mitte dieser Zeile 
a(d); ferner auf Z. 17 zu Anfang als zweiten Buchstaben m, auf 
das vielleicht ein allerdings in den letzten drei Buchstaben nur 
höchst unsicher deutbares omn [ino / folgt. Immerhin fühlt man 
sich danach versucht, etwa doch diesem 332. Kapitel des Eurich 
einen der bei Zeumer angedeuteten Parallele aus den LL. Vis. 
IV, 2,9 verwandten Inhalt zu substituieren. Denn setzt man 
den Text dieses Chindasvindschen Gesetzes in den vorhandenen 
Raum der Fragmente ein, so passen die obigen — aber, wie ich 
nochmals betonen móchte, hóchst unsicher zu deutenden — 
Schriftreste ungefáhr zu der durch die Hs. gegebenen Zeilen- 
verteilung. Freilich müßte dann die Euriciana tatsächlich be- 
reits den Grundsatz der spáteren Lex vertreten haben: quod tn 
omnem hereditaiem femina accipi debeat, und das wäre auf so 
schwacher paláographischer Grundlage doch eine sehr gewagte 
Behauptung, zumal da die jüngere Lex mit ihrer pointierten 
Sentenz als Abschluß: Nam tustum omnino est, ut quos propin- 
quitas nature consoctat, hereditarie successionis ordo non dividat, 
durchaus den Eindruck erweckt, als würde damit gegen einen 
abweichenden älteren Rechtszustand polemisiert. Überdies er- 
wüchsen auch aus dem Gesamtgefüge der LL. IV, 2, 9, 10 gegen 
eine Übereinstimmung der Euriciana mit der Chindasvindschen 
Lex erhebliche Bedenken, auf die Zeumer, NA 26, S. 104ff., 
insbesondere S. 106, mit Nachdruck hingewiesen hat. 

cod. p. 140 col. 1: Zeumer S. 27 Z. 6 hat mir die gróBte Mühe 
bereitet. Ich habe, trotz der mehrere Tage hindurch wiederholten 
Versuche zu lesen, von dem Zeumerschen Text sve st nihil de 
nichts außer dem ve entdecken können. Dagegen ist auf der 
nächsten Zeile mit voller Deutlichkeit int tot, getrennt durch 
einen Punkt als Interpunktionszeichen, festzustellen, so daB sich 


730 Walter Stach 


die eckige Klammer bei Zeumer auf dieser Zeile zum Teil er- 
übrigt. —. Ebd. Z. 11 ist nepotibus entschieden ein Versehen für 
[nep Jotibus. — Ebd. Z. 16, der SchluBzeile der Fragmente über- 
haupt, hat Knust gegen Zeumer wahrscheinlich damit recht, 
daß vor dem ersten e noch ein a halbwegs erkennbar ist. 


II. Exkurs. 


Zu Zeumers Ausgabe des Corpus Receessvindianum 
und Ervigianum. 


Um zu verdeutlichen, was ich oben (S. 690) über die kri- 
tische Ausgabe der Westgotengesetze von Zeumer in der 
Quartserie der Leges gesagt habe, will ich zunächst die beiden 
Kapitel der Leges Visigothorum I, 1, 1 Quod sit artificium 
condendarum. legum und II, 1, 9 De non criminando principe nec 
maledicendo illi, deren Überlieferung im wesentlichen auf den 
codd.. R1.2 und E1.2 beruht, an der Hand von Zeumers kri- 
tischem Apparat in extenso vorführen. Daß ich diese Stellen 
ausgewählt habe, ist bloßer Zufall; mir stehen gerade hier 
Photogramme von allen vier Haupthandschriften zur Verfügung. 
Zur Vervollständigung will ich dann noch eine Stichprobe aus 
dem Bereich der Vulgata-Handschriften anfügen, und zwar 
eine Nachprüfung der Lesarten von V3 im Titel der Leges Visi- 
gothorum VI, 1 De accusatiombbus criminum; ich beschränke 
mich dabei auf die Kapitel 3—5 und beginne mit VI, 1, 3 
(Quomodo ⁊udeæ per examen caldarıe causam perquirat, da gerade 
dieses Kapitel ausschlieBlich auf die Vulgata-Überlieferung zu- 
rückgeht. 

Doch zuvor eine kurze Erklärung, was mich eigentlich ver- 
anlaßt hat, die allerseits gerühmte Edition von Zeumer derart 
unter die Lupe zu nehmen. Ich hatte vor Jahren mit Unter- 
suchungen zu Sprache und Stil der westgotischen Leges be- 
gonnen. Darauf war ich ursprünglich durch meine Ausein- 
andersetzung mit der Brunnerschen Euricianushypothese ge- 
bracht worden. Denn ich sah mich im Verfolg dieser Hypothese 
immer wieder vor die folgenschwerste Auswertung sprachlicher 
und stilistischer Imponderabilien gestellt, für deren Abschät- 
zung mir die erforderliche philologische Vorarbeit noch kaum 
geleistet erscheint. Dazu kam, daß ein anerkanntes Desiderat 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 731 


der mittellateinischen Philologie in die gleiche Richtung ver- 
wies. Schon L. Traube hatte bekanntlich gefordert, die regio- 
nalen sprachlichen Unterschiede im frühmittelalterlichen latei- 
nischen Schrifttum herauszuarbeiten und dabei besonders auf 
die Handschriften spanischer Provenienz zu achten9?, Im Ein- 
klang damit wurde sodann von P. Lehmann eigens auf die 
Zeumer-Ausgabe der Westgotengesetze aufmerksam ge- 
macht, die zwar gut ediert, aber als Sprachquelle noch nicht 
erschlossen seien, obwohl gerade hier die Begleitumstände sehr 
günstig lägen, weil „nicht nur der Text selbst, teils Bearbeitung 
bekannten römischen Rechts, teils Neubildung, aus Spanien 
stammt, sondern auch die handschriftliche Überlieferung so gut 
wie ganz auf der Pyrenäenhalbinsel vor sich gegangen, also 
kaum eine nachträglich das Bild wesentlich verändernde Ver- 
mengung spanischer Eigentümlichkeiten des Lateins mit den 
Gewohnheiten irgend welcher französischer oder italienischer 
Abschreiber erfolgt ist“ . So hatte ich seinerzeit diese Arbeit 
in Angriff genommen, in dem Vertrauen, sie auf die varia lectio 
der Zeumerschen Ausgabe stützen zu kónnen. Um mir jedoch 
paläographisch von den wichtigsten Handschriften eine eigene 
Anschauung zu verschaffen, erbat ich im Fortgang meiner 
Studien bei der Bibliothéque Nationale und bei der Biblioteca 
Apostolica Vaticana eine Auswahl von photographischen Hand- 
schriftenproben, die ich dank dem Entgegenkommen der Herren 
H. Omont und G. Mercati in jeder gewünschten Weise erhielt ; 
sie betrafen die beiden Reccessvindiana-Hss.: R1 = (Vat.) Reg. 
lat. 1024; R2 — Paris. lat. 4668 und die beiden Ervigiana-Hss.: 
E1 = Paris lat. 4418; E = Paris lat. 46679!. Auch nach 
Spanien hatte ich mich schlieBlich wegen einiger Vulgata- 
Handschriften gewandt, und durch die gütige Unterstützung 
meiner Bitte, die Fürst Günther v. Schoenburg-Waldenburg an 
Herrn A. Sergio weitergab, erhielt ich auch von dort die ge- 
wünschten Photogramme, darunter solche zu V3 — Tolet. armarii 


5* L. Traube, Einleitung in die lat. Philologie des Mittelalters. Vorlesungen und 
Abhandlungen Bd. 2 (1911) S. 59ff. 
P. Lehmann, Aufgaben und Anregungen der lat. Philologie des Mittelalters. 
SB. Ak. München 1918. 8. Abh., S. 36. 
1 Im Oktober 1926 hatte ich überdies, wie schon oben bemerkt, Gelegenheit, 
die Pariser Hss. zu den Leges Visigothorum an Ort und Stelle einzusehen. 


732 Walter Stach 


43. nr. 5, d. h. zum Codice Toledano gotico der Madrider Aus- 
gabe, den G. Heine 1845 zuletzt kollationiert hat*?. Als Ergebnis 
meiner handschriftlichen Nachvergleichung im weitesten Um- 
fange stellte sich zuletzt heraus, daß ich die Lehmannsche An- 
regung wohl oder übel preisgeben und meine sprachlichen Unter- 
suchungen zu den Leges Visigothorum einstellen mußte; denn 
es wäre ein Unding gewesen, ein Variantenmaterial als Sprach- 
quelle verwerten zu wollen, das sich — wie die nachstehenden 
Proben wohl beweisen — in hohem Maße als unsicher und un- 
zuverlissig erweist. Und etwa umgekehrt, die Sprachunter- 
suchung demzufolge ausschlieBlich auf die handschriftliche Über- 
lieferung der Leges selbst zu gründen, hätte unverhältnismäßige 
Opfer an Zeit und Kosten erfordert. So mag meine verlorene 
Mühe wenigstens dazu dienen, vielleicht andere vor einer allzu 
vertrauensseligen Benutzung des Zeumerschen Apparates zu 
bewahren. 


a) Zu Zeumers LL.Vis. (49) I, 1, 1. 


Zeumer, S. 38 Z. 25: De instrumentis legalibus] inscriptio 
deest omnino R1 erweckt ein falsches Bild. Wohl hat R1 die 
von Zeumer angegebene Überschrift Incipiunt capitulationes . . . 
(allerdings, wie es scheint, auf Rasur), aber im übrigen auch, 
wie E1.2, die Buchüberschrift de instrumentis legalibus liber 
primus, die noch deutlich und vollständig lesbar ist, wovon sich 
W. Holtzmann (Brief vom 22. TII. 1926), als er am PreuBischen 
Historischen Institut in Rom war, auf meine Bitte an der Hand 
des cod. selbst überzeugt hat. — Ebd. Z. 29: Sequstur continuo 
index capitulorum tituli II. RI (vgl. dazu ebd. S. 40 Z. 44: 
Index capitulorum, indici tituli I. subiectus in R1...) ist zum 
mindesten irreführend; vermutlich ist die neue Titelüberschrift 
II. Titulus de lege in R1 übersehen, die das erste Kapitelverzeich- 
nis vom zweiten trennt. — Ebd. Z. 34: trauat R2 ist Druckfehler 
oder verlesen; die Hs. hat truat. — Ebd.: format spatriem RI 
ist wohl wiederum verlesen, statt format 1spatriem. Da in R2 


*3 [ch móchte nicht verfehlen, an dieser Stelle Seiner Durchlaucht und ebenso 
Herrn Minister Antonio Sérgio de Sousa von der Biblioteca Nacional in Lissabon 
für die aufopfernde Mühewaltung bei der schwierigen Beschaffung gerade dieser 
Photographien nochmals zu danken. 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 733 


formet especiem steht, wäre auch in den Text der Ausgabe formet 
«speciem zu setzen. — Ebd. Z. 35f.:'sigillogismorum a. E2 ist 
vielleicht nur Sparsamkeit am falschen Orte; jedenfalls hat E2 
nicht acumine, wie man Zeumers Abkürzung auflösen müßte, 
sondern acmine. — Ebd. wäre noch einzufügen: inprimat] 
imprimat RI, und zwar nach den ausdrücklichen Editions- 
grundsätzen Zeumers (cf.praef.p.XIX 1. 30 sq.): Orthographica 
omnia (sc. codicis R1), quae non in ipso textu retinui, in notis 
exhibeo; cf. ib. p. XXVII I. 18 sq.: Codicis in ordine enumera- 
torum primi cuiusque lectiones omnes, etiam levissime 
discrepantes a textu nostro, notavimus. Danach müBte es 
dem Benützer der Ausgabe möglich sein, mittels des Zeumer- 
schen Textes und Apparates sich zunáchst durchgángig die Hs. 
R1 in allen ihren Eigenheiten wiederherzustellen, und außerdem, 
wo eine Sonderüberlieferung des Corpus Ervigianum vorliegt, 
für diesen Passus auch noch die jeweilige Spitzenhandschrift zu 
rekonstruieren, die Zeumer an der betreffenden Stelle in erster 
Linie zur Bildung des Textes benutzt hat, wie z. B. den cod. E1 
für die Lex „Pragma“ (LL. Vis. II, 1, 1). Aber daran ist in 
Wahrheit gar nicht zu denken; denn immer wieder sind — 
nescio unde — derartige Lesarten sozusagen unter den Tisch 
gefallen, und zwar nicht nur solche „quae a textu levissime 
discrepant“. — Ebd. Z. 36 ist ferner disperation:s RI bei Zeumer 
verdruckt statt diperationis; die Oktavausgabe der Leges Visi- 
gothorum antiquiores hat jedenfalls das Richtige. Aber Lese- 
fehler ist wohl admorationis R2, statt admorutationıs. — Ebd. 
ist weiterhin zu istatuat E2 übersehen: istatuat RI; m. E. hätte 
danach :statuat in den Text gehört und das statuat, das E1 allein 
hat, in die Note, zumal da Zeumer zuvor Z. 15 :stud«:s lediglich 
auf Grund von E2 und gegen das studiis R2.E1 in den Text 
gesetzt hat und nicht in die Note. — Ebd. Z. 37 ist instatuat R2 
falsch gelesen für hssiatuta. — Ebd. fehlt zwischen cumque RI 
und acute R1 auBer dem belanglosen tenet] enet R1, wo viel- 
leicht nur die Tinte abgeschabt oder abgefallen ist, die Variante 
forme] firme RI. — Ebd. Z. 38 durften ebenso folgende drei 
Lesarten nicht übergangen werden: ignotis] ignoris R1 — 
experimento] experimentio RI — species] ispecies RI. Ja, die 
letzte Variante hätte wiederum in den Text gehört; denn der 
cod. R1 (wohl nicht s. VIII, wie Zeumer meinte, sondern s. 


734 Walter Stach 


VII, wenigstens nach dem Urteil von W. M. Lindsay, Notae 
Latinae, Cambridge 1915, S. 482 und E. A. Lowe in den Mis- 
cellanea Fr. Ehrle, IV [1924], S. 54, denen P. Lehmann zu- 
stimmt, wie er die Güte hatte mir mitzuteilen) bietet die zweifel- 
los wertvollste Überlieferung und ist demgemäß der Textge- 
staltung soweit als möglich zugrunde zu legen, zum mindesten 
dem Texte des Corpus Reccessvindianum, wie das ja Zeumer 
im allgemeinen auch tut. — Ebd. S. 39 Z. 27 fehlt speculo] 
ispeculo RI; auch hier würde ich Textwort und Note ver- 
tauschen. — Ebd. Z. 28: ratiocinante R1 ist verlesen; die Hs. 
hat ratiocinatione. 


Das ergibt in summa auf 1 Kapitel mit 17 Zeilen Apparat, 
für den ich von neun der angewandten Hss. nur die vier wich- 
tigsten vorgeführt habe, nicht weniger als 17 und, wie mir 
scheint, nicht immer unerhebliche Beanstandungen, darunter 
auch grobe Lesefehler und wirkliche Lücken. 


b) Zu Zeumer, LL.Vis. II, 1, 9. 


Zeumer, S. 57 Z. 35: Die Wiedergabe der Namenskürzung 
von Reccessvindus aus R1 will ich auf sich beruhen lassen, da 
ich hierüber nach dem bloßen Photogramm nichts entscheiden 
kann. Sicherlich falsch ist aber das folgende F. G. Recces- 
vindus R in R2 statt Heccesvintus. —- Ebd. Z. 37 fehlt zu prin- 
cipem E2 der unerläßliche Hinweis auf die gleiche Lesart in RI, 
wenn man nicht demgemäß dieses principem überhaupt in den 
Text aufnehmen will. — Ebd. Z. 38 ist die Fassung personam] 
tta R. EI ungenau; denn R2 hat sicut personam, statt sicut 
in personam. — Ebd. Z. 39 vermißt man bei prohibemus V die 
Zufügung der Sigle EI. — Ebd. Z. 40 ist die Angabe crimine 
R1 entschieden falsch. Man könnte lesen poner bzw. ponec 
emine oder ponere mine oder pone cemine, aber niemals ponere 
crımıne; vielleicht hat der Schreiber zunächst ponere geschrieben 
und dann das r zu einem c zu korrigieren versucht. — Ebd. 
fehlt autoritas R1.2, oder vielmehr: dieses autoritas hätte statt 
des auctoritas E1.2, in den Text gehórt. — Ebd. ist die Angabe 
obproprium] ita RI. E2; obprobrium EI falsch; es muB heißen: 
obproprium] ita RI. E2; obprobrium R2.E1. — Ebd. Z. 21 ist 
ein Druckfehler im Text: cuntumeliose statt contumeliose. — 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 735 


Ebd. Z. 45 ist de viliosibus humiliosusque RI ungenau gelesen; 
die Hs. hat humiliosiusque. -— Ebd. Z. 47 muß es statt opportuno 
E1 vielmehr oportuno heißen. — Ebd. Z. 28 verstehe ich nicht, 
warum mit incassum der Text entgegen dem sonstigen Grundsatz 
der Ausgabe nach EI gestaltet ist. Zum mindesten hätte dann im 
Apparat Z. 47 vermerkt werden müssen: in casum H1. Aber 
wahrscheinlich hat man diese Lesart, die unbedingt im Text 
stehen müßte, überhaupt übersehen. — Ebd. S. 58 Z. 27 fehlt 
presumtor R1.2, das wiederum auf jeden Fall in den Text gehört 
hätte. Daß Zeumer statt dessen S. 58 auf Z. 3 presumptor schreibt 
und, im seltsamen Widerspruch damit, dicht daneben auf Z. 4 
presumtionis, ist bare Willkür. Denn das presumtionis stammt 
aus der Hs. R2, die in der Schreibung des Wortes ganz konse- 
quent bleibt (RI hat an der zweiten Stelle eine Lücke), während 
in E2 infolge einer größeren Lücke weder das eine Wort steht 
noch das andere und EI neben praesemptionis folgerecht prae- 
sumptor bietet, d. h. eigentlich praesumpto, da das r von einer 
späteren Hand ergänzt ist, von der vielleicht auch das Zahl- 
zeichen L stammt, nachdem möglicherweise quinquaginta (- R1) 
radiert worden war. — Ebd. Z. 28 ist die Angabe oportuna] 
ita R2; opp. EI fehlerhaft; sie müßte lauten: oportuna] :ta 
R2.E1 und ist dann überflüssig, da sich dies der Benützer 
der Ausgabe gemäß den Lücken in R1.E2 selbst sagen 
könnte. — Ebd. Z. 30f. fehlen schließlich die beiden Va- 
rianten: contendere] condere RI und reverentiam] revertenliam 
R1; corr. R2. 

Mit diesen Beispielen will ich mich für die vier Haupthand- 
schriften begnügen. Insbesondere mag es unterbleiben, über 
die erwähnten unfreiwilligen Lücken des kritischen Apparates 
hinaus mit dem Herausgeber wegen der Auswahl der ander- 
weitig absichtlich von ihm unterdrückten bzw. mitgeteilten 
Varianten zu rechten, da ich hier lediglich bezwecke, die Art 
der Edition nach ihren eigenen ausdrücklichen Grundsätzen 
zu beurteilen. Überblickt man in diesem Sinne die vorstehenden 
Addenda et corrigenda, so dürften die Zweifel an der Sauberkeit 
des Apparates, die ich oben vorgebracht habe, doch wohl be- 
rechtigt erscheinen. Ein àhnliches Bild ergibt die Wiedergabe 
der Lesarten von V3, für die sich Zeumer auf die Kollation von 
G. Heine bezieht. 


736 Walter Stach 


c) Zu Zeumers LL.Vis. VI, 1, 3—5. 


Zeumer, S. 250 Z. 31: In multis vidimus querelantes V3 ist 
ungenau; denn in der Handschrift steht A multis vidimus 
querellantes. — Ebd. Z. 88 muB es statt trecentorum solidorum 
V3 vielmehr ter centenorum solidorum heißen. — Ebd. S. 251 
Z. 27 questionarı eos V3 ist falsch; denn die Hs. hat questio- 
nandi eos, wie Zeumer unter V15 anführt. — Ebd. Z. 30: eza- 
minacionem V2.3.10.15. Mad. ist ebenso wenig richtig, da 
V3 exammatione schreibt. — Ebd. Z. 33 hat V3 innocentia und 
nicht innocencia, wie Zeumer angibt. — Ebd. Z. 34 ist sogar 
das im Sperrdruck mitgeteilte patretur V3 irrig; denn in der 
Hs. heißt es patiatur, also genau so wie Zeumer zuvor Z. 33f. 
für die Hss. V10.15 behauptet. Das ergibt im ganzen für die 
Varianten aus V3, die Zeumer diesem Kapitel beifügt, ungeführ 
ebensoviel Treffer wie Nieten, dessen zu geschweigen, daB bei 
weitem nicht alle abweichenden Lesarten dieser Hs. mitgeteilt 
worden sind, obwohl man das nach der Ankündigung S. 250 
2. 23 zu VI, 1, 3 eigentlich erwarten müßte. — Ganz ähnlich 
liegen die Dinge zu Anfang von VI, 1, 4, wo V3 schon in der 
Vorbemerkung S. 251 Z. 39: inscriptio deest. cett. indirekt mit 
erwähnt wird, aber zu Unrecht; denn gerade V3 enthält die 
Überschrift „ANTIQUA“ ebenso wie den Kapitelkopf: Pro 
quibus rebus et qualiter. serbi vel ancille torquendi sunt in capite 
dominorum, so daB auch die weitere Angabe Zeumers, die Be- 
zeichnung „Antiqua“ fände sich in dieser Form nur in R1, bei 
náherem Zusehen sich als Irrtum herausstellt. Die übrigen Zitate 
aus V3 in diesem Kapitel sind aber richtig. — Mangelhaft sind 
dagegen wieder die folgenden Angaben aus V3 in VI, 1, 5: 
S. 253 Z. 27 (rechte Kolumne) muß lauten ita E1.V3; denn V3 
hat nicht tormentis, wie Zeumer Z. 28 ausdrücklich anführt, 
sondern in tormento non abuit. Entsprechend ist Z. 29f. zu 
ändern, da die Hs. his bietet, wie E2, aber nicht «s, wie Zeumer 
im Gegensatz zu E2 vorgibt. — Ebd. Z. 38 ist der Hinweis 
aestimatus V3 falsch; in der Hs. steht extimatus, und sie gehört 
somit in die vorausgehende Zeile zu der Zusammenstellung 
E2 V1.2.6.7. — Ebd. Z. 40 ist accusatore für acusatore ge- 
druckt, und ebd. Z. 45 bietet V3 unde conponere, genau wie 
Zeumers Text, aber nicht conponat, wie der Apparat angibt. — 
Ebd. S. 255 Z. 29 soll nach Zeumer das Wort solidos in V3 


Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 737 


fehlen; die Hs. kürzt in Wahrheit sldos mit einem Strich durch 
das d. Genau so wenig stimmt Z. 31: persolverit V3; vielmehr 
steht deutlich persolbeb« da. Auch lautet das folgende appetit 
nicht assimiliert, wie Zeumer Z. 32 ausführt! sondern adpetit. 
Doch damit genug? 


es Nur möchte ich zum Schluß betonen, daB es mir fern liegt, die auBer- 
ordentlichen Verdienste Zeumers um die erste kritische Ausgabe des Westgoten- 
rechtes mit einer solchen — bequem herzustellenden — Berichtigungsliste nachträg- 
lich herabzusetzen. Zeumer hat der Entzifferung der Eurichfragmente die ohnehin 
geschwüchte Sehkraft seiner Augen geopfert und ebenso für die Herstellung eines 
wissenschaftlich brauchbaren Textes der späteren Leges, für deren dogmatisches und 
historisches Verständnis, wie für die Aufhellung der Geschichte der westgotischen 
Gesetzgebung überhaupt, als einzelner Forscher beinahe mehr getan als die gesamte 
Rechtsgeschichte vorher. Diese überragende Leistung wird von der Unzuverlässig- 
keit seines kritischen Apparates und von der gelegentlichen Revisionsbedürftigkeit 
seiner Textgestaltung nicht berührt, und diese Verdienste schmälern zu wollen kann 
gerade mir am wenigsten beikommen, der ich seit Jahr und Tag mit seiner Ausgabe 
umgehe und gearbeitet habe. ' 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 47 


738 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächsischen 
Grammatikers vorkarolingischer Zeit. 
Von 


Paul Lehmann. 


„Ein ostfränkischer Geistlicher, vielleicht ein Abt, der früher 
zur Umgebung Alchvines gehört oder dessen Unterricht genossen 
hat, richtete wohl in der Frühzeit des 9. Jahrhunderts an einen 
jungen Kleriker Sigebert, der mit grammatischen Studien be- 
schäftigt war, eine Schrift über die acht Redeteile, die er aus 
einer ganzen Reihe von grammatischen Werken exzerpiert 
hatte." Mit diesen Worten leitete Max Manitius! sein Kapitel 
über einen Anonymus de octo partibus orationis ein, von dem 
schon Ch. Thurot? gesprochen, H. Keil? und E. Dümmler* die 
Vorrede herausgegeben hatten. 

Die ostfränkische Herkunft, wie Dümmler die deutsche, er- 
schloß Manitius aus dem Satze des Verfassers me pene de extremis 
Germanie gentibus ignobili stirpe procreatum, der von keinem 
anderen als einem Deutschen, schwerlich von einem Angel- 
sachsen geschrieben sein kónne. Die Abtswürde war ihm wahr- 
scheinlich, da sich der Grammatiker matricularıus nenne, wie 
das die Ábte Alchvine und Hilduin getan hátten, der Zusammen- 
hang mit Alchvine ergäbe sich aus der Ähnlichkeit der wissen- 
schaftlichen Einstellung. Eine gewisse Unsicherheit kam bei 
Manitius selbst schon insofern zutage, als er (S. 460) meinte, 
der ostfränkische Alchvineschüler könne seine Kenntnis zum 


1 Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. I, 459. 

2 Notices et extraits des manuscrits de la bibliothèque impériale et autres 
bibliothéques XXII, 2 (Paris 1868) p. 7 sq. 

* De grammaticis quibusdam Latinis infimae aetatis commentatio, Erlangen 
1868, p. 25 sq. 

* MG. Epp. IV 563 sqq. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 739 


Teil seltener lateinischer Grammatiker kaum irgendwo anders 
als im oberitalienischen Kloster Bobbio erworben haben, dort 
sei er wohl Abt gewesen. 

Öffentliche Kritiken an diesen Meinungen und Behauptungen 
sind mir nicht bekanntgeworden. Ich selbst unterdrückte meine 
Zweifel und Vermutungen jahrelang, begnügte mich 1929 nach- 
zutragen, daß es außer den beiden, bisher ausschließlich heran- 
gezogenen Textzeugen, zwei Pariser Codices, noch den Rest 
einer Handschrift saec. 1X in dem Reichenauer Fragment 126 
der Landesbibliothek Karlsruhe gäbe und daß die Forscher 
gänzlich das letzte Drittel der Dedikationsepistel übersehen 
hätten®. Dieses Stück teilte ich aus den alten Parisini mit, da 
es für den Künsteleien liebenden Autor charakteristisch, für 
das Verständnis des leider noch nicht veröffentlichten gramma- 
tischen Traktates von Wichtigkeit ist und am Schluß merk- 
würdige Rhythmen bietet. Die Fachgenossen spendeten meiner 
Publikation Beifall und einzelne von ihnen wunderten sich über 
die zweisilbigen Reime des Schlußgedichtes, die allem zu wider- 
sprechen schienen, was man von Anwendung des Reimes bei deut- 
schen Dichtern um 800 wüßte. Zu einer Neubehandlung des 
Textes kam es aber nicht. Da stieß ich im Frühsommer 1931 
auf folgende Notiz eines im 16. Jahrhundert zusammenge- 
stellten und fehlerhaft kopierten Bibliothekskataloges der 
Trierer Benediktinerabtei SS. Eucharii et Matthiae®: N. 90. 
Perg. Prisciani minoris libri duo de articulis et constructione; 
idem de barbarismo, scemalibus et tropis; idem de accentibus dicti- 
onum; item modi significandi minores; item tractatus Antholint 
anglorum episcopi ad Sigebertum de octo partibus orationum. 
Der Herausgeber hatte weder die Handschrift wiedergefunden 
noch den Text identifiziert noch den Autor festgestellt. Für 
mich war es von vornherein wahrscheinlich, daß der Verfasser- 
name entstellt war, in der an Sigebert gerichteten Abhandlung 
es Sich um die Grammatik jenes von Manitius ostfränkisch ge- 


5 P. Lehmann, Mitteilungen aus Handschriften, I (München 1929) S. 15 u. 20f. 

* Josef Montebaur, Studien zur Geschichte der Bibliothek der Abtei St. Eucha- 
rius-Matthias zu Trier, Freiburg i. B. 1931, S. 116. Vgl. meinen berichtigenden 
und ergänzenden Aufsatz in dieser Zeitschrift S. 605—610. Auch P. Virgil Redlich, 
O. S. B., wird demnächst in den Studien und Mitteilungen zur Geschichte des 
Benediktinerordens auf Montebaurs Arbeit eingehen. 


4* 


740 Paul Lehmann 


nannten Geistlichen handelte. Überraschend und einleuchtend 
schien die Zuschreibung an einen angelsächsischen Bischof. Erwies 
sie sich als richtig oderzum mindesten glaubwürdig, dann war der 
Stil der Praefatio 'inani sane verborum copia et obscuro dicendi 
genere notabilis’ (Keil) ziemlich leicht erklärlich, die Reimung 
nichts Auffálliges, gewannen die insularen Symptome, die ich 
vor längerem in den Abkürzungen der Überlieferung beobachtet 
hatte, neue, stárkere Bedeutung. Der Name machte mir einige, 
freilich geringe Schwierigkeiten. Zumal nach Durchsicht der 
Listen angelsächsischer Bischöfe? kamen nach meinem Ermessen 
in erster Linie Aethelvinus und Althelmus in Frage, Namen, die 
unschwer zu Antholinus verschrieben oder verlesen sein konnten. 
Ehe ich mich nun für einen von ihnen oder eine unbekannte 
GróBe entschied, prüfte ich die Argumente von Keil, Thu- 
rot, Dümmler, Manitius, die ohne Berücksichtigung der 
sprachlichen Gestalt der Vorrede gegen einen Angelsachsen, für 
einen deutschen, einen ostfränkischen Geistlichen, vielleicht 
einen Bobbieser Abt deutscher Herkunft ins Feld geführt waren. 
Meine Ergebnisse waren folgende: 

1. Der aus den äußersten Grenzstämmen Germaniens her- 
vorgegangene Mann braucht kein Ostfranke (auch nicht im 
weiteren Sinne ein Angehöriger des großen ostfränkischen 
Reiches) gewesen zu sein, angelsächsische Herkunft ist 
durchaus möglich. Denn, wie mir Kollege W. Levison (Bonn) 
—- ohne meine Absichten und Ansichten zu kennen — am 
21. Juni 1931 freundlichst bestätigt hat, war der germanische 
Ursprung der Eroberer Englands auch im 7./8. Jahrhundert 
wohlbekannt. Beda sagt Hist. eccl. g. Anglorum lib. I cap. 15 
(ed. Plummer, I 31): Advenerant autem de tribus Germaniae 
populis fortioribus, id est Saxonibus, Anglis, Jutis, berichtet, daß 
die keltischen Britten deshalb die Angelsachsen Garmanı 
nannten, lib. X cap. 9 (ed. Plummer, I 296): quarum in Ger- 
mania plurimas noverat ( Ecberct) esse nationes, a quibus Angli 
rel Saxones, qui nunc Brittaniam incolunt, genus et originem 
duxisse noscuntur; unde hactenus a vicina gente Brettonum cor- 
rupte Garmani nuncupantur. Bemerkenswert ist vor allem, daß 
schon Aldhelm in Beziehung auf sich und die Angelsachsen das 


7 Vgl. W. G. Searle, Anglo-Saxon bishops, kings and nobles, Cambridge 1899. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 741 


Wort ausspricht (ed. Ehwald p. 202, 5) nemtnem nostrae stirpis 
prosapia genitum et Germanicae gentis cunabulis confotum. 

2. Unter matricularıus braucht nicht ein Abt verstanden 
zu werden. Wenn sich Alchvine sehr häufig matricularius 
schlechthin nennt? oder aber? matricularius s. Martini und Hil- 
duin? domini mei Dionisii praetiost ac sociorum etus matricula- 
rius, so wollen sie sich damit ganz ohne Rücksicht auf ihren 
irdischen Rang demütig als Diener Gottes, der Kirche, des 
Heiligen Martinus bzw. Dionysius bezeichnen, ähnlich so wie 
Alchvine vor und in seiner Abtzeit sich humilis levita! oder 
ultimus sanciae ecclesiae clientellus!? oder humilis ecclesiae Christi 
vernaculus!3, vernaculus sanctae Dei ecclesiae‘* u. dergl. betitelt, 
gelegentlich auch als famulus s. Martini? und humilis Christi 
famulus el serviens s. Martini?! bzw. s. Martino serviens!? erscheint. 
Nur da, wo in der Demutsformel die Schutzpatrone genannt 
sind, kann man aus ihr schlieBen, daB Alchvine und Hilduin 
derzeit Äbte waren, weil jener erst als Abt von Saint-Martin 
de Tours, dieser als Abt von Saint-Denis in den Dienst der 
Heiligen Martinus und Dionysius traten. An und für sich hätten 
sich auch einfache Mónche von Saint-Martin bzw. Saint-Denis 
matricularır oder famuli s. Martini, s. Dionysii nennen können, 
wiewohl die Demutsformeln bei Höhergestellten häufiger im 
Brauch gewesen sind. Man ist versucht, daraus, daB bei unserm 
Anonymus nicht das Ergebenheitsverhältnis zu einem Heiligen, 
sondern zur katholischen Kirche betont ist, zu folgern, er be- 
zeichne sich durch die Worte universalis ecclesiae matricularıus 
geradezu als Bischof. Soweit gehe ich nicht. Diener der Kirche 
konnten sich im Grunde alle Geistlichen jeglichen Ranges 
heißen. Auch Alchvine, der nie Bischof war, tritt zuweilen, wie 


8 MG. Epp. IV, 364, 10; 365, 1, 28; 315, 37; 408, 33; 410, 18; 471, 12. 

9 J. c. 387, 26. 

10 ]. c. 328, 2 sq.; 335, 22 sq. 

11 Beispielsweise l. c. 30, 17; 32, 1; 37, 6; 40, 30; 42, 19; 45, 19; 53, 7f.; 58, 
26; 60, 16f.; 65, 20; 178, 22; 276, 1; 322, 33f. 

13 J. c. 135, 13. 

182 J. c. 216, 12f. 

M J. c. 343, 10. 

15 J. c. 366, 12; 460, 16. 

16 J. c. 340, 14. 

17 J. c. 356, 5. 


742 Paul Lehmann 


wir sahen, als vernaculus sanctae Dei ecclesiae auf. In der Tat 
können wir, von Alchvine zeitlich zurückgehend, derartige De- 
votionsformeln bei verschiedenen anderen angelsächsischen 
Geistlichen verschiedener Würdengrade verfolgen: beim Priester 
Wigberht zwischen 754 und 786 exiguus famılıae Christi famulus!*, 
beim Priester Lul zwischen 747 und 752, ehe er Bischof ward, 
exiremus orthodoxae matris videl. ecclesiae alumnus!®?, beim 
Priester Sigibald zwischen 732 und 745 ultimus famulorum Dei 
famulus o, bei Bischof Daniel von Winchester 718 Dei famulorum 
famulus u, bei Erzbischof Berchtvald von Canterbury zwischen 
709 und 712 famulorum Dei famulus, Beachten wir schließlich 
und insbesondere die Devotionsformeln**, deren sich Aldhelm 
bedient: catholicae vernaculus ecclesiae (Ehwald p. 61, 5), supplex 
ecclesiae bernaculus (a. a. O. 229, 5), bernaculus familiae Chrisli 
(a. a. O. 478, 10), bernaculus supplex in Christo (a. a. O. 479, 2), 
famosae coloniae Christi extremum et vile mancipium (a. a. O. 
498, bf). Auch bei ihm sind die Ausdrücke nicht auf seine 
Abtzeit beschränkt“. 

3. Die höhere monastische Stellung des Verfassers 
geht trotz Manitius daraus, daß der Adressat von ihm fili ca- 
rıssime angeredet wird, nichtunbedingt hervor, nur sein 
höheres Alter. Beispielsweise scheute sich Aldhelm nicht, den 


1# Die Briefe des heil. Bonifatius und Lullus, hersg. von M. Tangl, Berlin 1916, 
S. 277, 3. 

1 2.2.0. 61, sf. 

20 a. a. O. 209, of. 

21 a.a. O. 16, 6. 

*3 a.a. O. 2, 11f. 

23 Wenn sie auch für meine Untersuchung nicht voll ausreichte, möchte ich hier 
doch die wertvolle, aus W. Levisons Schule hervorgegangene Arbeit von Karl Schmitz, 
Ursprung und Geschichte der Devotionsformeln bis zu ihrer Aufnahme in die frän- 
kische Kónigsurkunde, Stuttgart 1913, zitieren, an die mich Kollege R. v. Heckel 
(München) zu erinnern die Freundlichkeit hatte. 

* Auf die Kontroverse über die Geschichte der Bezeichnung matricularius 
(vgl. z. B. A. Hauck in der Realencyklopaedie für protestantische Theologie und 
Kirche, XXI, 441), gehe ich hier nicht ein, da es sich in den von mir erwühnten 
Fällen weder um den Terminus technicus für einen mit niederen Verrichtungen 
beauftragten Kirchendiener noch für einen von der Kirche versorgten Armen han- 
delt. Soviel scheint aber aus dem Gebrauch des Wortes in den Devotionsformeln 
hervorzugehen, daß man im 8. Jahrhundert bereits von einem gewissen Dienstver- 
hältnis der Matricularii zu ihrer Kirche wußte. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 743 


northumbrischen König Alfred (Acircius) reverentissime fili an- 
zureden (ed. Ehwald, p. 61, 7), der Epitomator tractatus Ald- 
helmiani ebenso den Kónig Oswald (ed. Ehwald, p. 206, 2). 
Sigibert kann ein jüngerer Weltpriester, kann ein Mónch ge- 
wesen sein. 

4. Die Entstehung des Werkes in karolingischer 
Zeit ist in keiner Weise hinlänglich begründet, auch 
nicht durch den Hinweis auf die in Alchvines Kreis passende 
Auffassung der Studien. Denn die Anschauung, daB die Kennt- 
nis der antiken römischen Sprachlehre das Verständnis der 
Heiligen Schrift erleichtere und beim Studium der lateinischen 
Grammatik an die Sprache der Bibel und der Kirchenväter 
gedacht werden müsse, ist im christlichen Abendlande lange 
vor Alchvine vertreten worden. Diese Auffassung findet sich 
in vorkarolingischer Zeit z. B. schon, und zwar in besonderem 
MaBe, bei den álteren angelsáchsischen Lehrern Aldhelm, Beda, 
Bonifatius u. a. 

Somit steht nichts mehr im Wege, die Angabe des Trierer 
Katalogs, das Werk über die acht Redeteile stamme von einem 
englischen Bischof, als ernstlich erwägenswert, ja als glaubhaft 
zu betrachten, zumal da auch in der graphischen Überlieferung 
mehrere — von mir seit längerem bemerkte — insulare Symp- 
tome (Gebrauch insularer Abkürzungen in der karolingischen 
Schrift, Mig verstehen insularer Abkürzungen usw.) zu finden sind. 

Den Ausschlag nach der positiven Seite, den Wahrschein- 
lichkeitsbeweis für die Zugehórigkeit des Autors zum angel- 
sächsischen Kulturkreise, gab mir die Betrachtung seiner im 
Widmungsschreiben sehr charakteristisch ausgeprägten Lati- 
nität. Wir können bei den frühmittelalterlichen Angelsachsen 
zwei oft stark voneinander abweichende, sich zuweilen allerdings 
auch kreuzende Stilrichtungen bemerken; die eine móchte ich 
versuchsweise die rómisch-angelsáchsische, die andere die irisch- 
angelsáchsische oder keltisch-angelsáchsische nennen, da in jener 
die Traditionen Italiens und Roms, in dieser die irischen, kel- 
tischen Schulen Irlands wie Südwestbritanniens stark nach- 
wirken. Der beste Reprüsentant der rómisch-angelsáchsischen 
Latinitát ist m. E. der große Beda ( 735), der Führer der 
gallisch-keltisch-irisch beeinflußten Aldhelm, der 709 als Bischof 
von Sherborne starb. Unser Grammatiker gehórt der an zweiter 


744 Paul Lehmann 


Stelle genannten Gruppe, gehört, wenn er nicht Aldhelm selbst 
sein sollte, der sog. Aldhelmschule** an, zu der Männer wie 
Aethilwald, Tatwine, Eusebius, Bonifatius, Lul und einige Kor- 
respondenten der beiden letzteren zu rechnen sind, der Ald- 
helmschule, von deren Einfluß auch Alchvine nicht ganz un- 
berührt geblieben ist. 

Der geschraubte, durch ungewöhnliche Wörter und stark 
rhetorische Wendungen aufgedunsene Stil der Sätze des Gram- 
matikers zeigt die pompa Anglorum, durch die Wilhelm von 
Malmesbury einmal Aldhelms Sprache charakterisiert hat“. 
Fast jedes einzelne Wort der Vorrede begegnet uns in irgend 
einem der bekannten Werke Aldhelms, manches auch bei dessen 
literarischen Nachfolgern und Nachahmern. 

Ich gehe den unten wiederholten Text der Dedikations- 
epistel von Anfang an durch und hebe einen Teil der Wort- 
gleichungen und Wortähnlichkeiten heraus. 


6 obriæi auri materra. Vgl. Aldh. 236, 13 obrizum ruttlantıs 
auri metallum; 254, 12 in obrızum flaventis auri metallum 
u. a. : 

8 spiritalis amicitiae clienti. Vgl. Aldh. 61, 2f. spiritalis 
clientelae catenis conexo; 61, 9 spiritali sodalitatis vinculo; 
489, 7 sodalitatis fraternae cliens; 493, 1 evusdem sodalitatis 
cliente u.a. Bonif. 212,19 spiritalem amicitiam; Lul 
221, 8 spiritalis amicitiae u. a. 

8f. unwersalıs ecclestae. Vgl. Aldh. 64, 15; 70, 16; 72, 21; 
Bonif. 74, 26. 

9 matricularius. Vgl. oben S. 741f. 

11 odtorum faculis. Vgl. Aldh. 300, 24 divinae caritatis fa- 
culis; 308, 5 furibundis vesaniae faculıs. 

12 molarıbus cruentatis. Vgl. Aldh. 240, 2 rabıdıs molartbus; 
Bonif. 5, 19 eruentatis ... dentibus. 

12 subdolum. Vgl. Aldh. 151, 1; 273, 9. 

18 conpellente. Bei Aldh. compellere oft. 

14 ingenioli scintillam. Vgl. Aldh. 75, 6 prima ingentoli rudi- 
menta; Lul 226, 7 ingenioli mei parva scintilla; Leobgytha 
ad Bonif. 53, 17 gracilis ingenioli rudimenta. 


* Vgl. " B. The Cambridge History of English Literature, I, 7? sq. 
36 Gesta pontificum (p. 344): Quem si perfecte legeris, et ex acumine Graecum 
pulabis et ex nitore Romanum iurabis ei ez pompa Anglum intelliges. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 745 


15 


.16 


17f. 


19 


20 


20 


22 


22 f. 


24 f. 


26 
26 


28 


29f. 


30 


(profundioris et penetrabilioris) sagacılatıs. Vgl. Aldh. 
61,8; 231, 1; 241, 17; 258,22; 304,1; 476,8: 479,5; 
481, 16; 493, 12; 495, 8; Lul 79, 15; 223, 9 u. a. 

de propria conscientia. Vgl. Aldh. 492, 6f. propriae ... 
conscientiae. 

tuxta modulum mediocritatıs meae. Vgl. Aldh. 1618, 
modulus; 389, 857 modulum; 74,10 meam mediocritatem ; 
202,6 ante nostram mediocrilalem; 229,8 suae medio- 
crilati; 321, 12 nostrae mediocritatis; 481,17 mea medio- 
critas. Auch Bonifatius und Lul gebrauchen oft die 
Formel mediocritas mea. 

iricattonum molestarum onus. Vgl. Aldh. 320, 19 morosa 
tricatione. Tricatio ist ein sehr seltenes, aus der Zeit vor 
Aldh. in unseren gedruckten Wörterbüchern noch nicht 
belegtes Wort. 

perplexae. Vgl. Aldh. 74, A 76,2; 150,5; 190,5; 
476, 10; 478, 2 

antiquam perplexae silvam densitatis grammaticorum. Vgl. 
Aldh. 78, 4f. in tam densa totius latinitatis silva, 192,2 
densitates; Alchvine (Migne, Patrol. lat. C 1, 854) spıneta 
grammaticae densitatıs. 

variorum odoramenta florum. Vgl. Aldh. 279, 27 odo- 
ramentis .. neclareıs. 

dispersa per saltum grammaticorum. Vgl. Aldh. 78, 4f. 
tn ... nemorosis sillabarum saltibus. 

odoriferam coronam ingeniosae pubertatis. Vgl. Aldh. 7 l. 25 
coronam anni benignitatis (Ps. 64, 12); 263, 5 tllaesae puri- 
tatis coronam; 291, 12 aeternae beatitudinis coronam; 302, 14 
coronam castitatis u. a. Pubertas in der angelsächsischen 
Latinität häufig. 

farciens marsuppium. Vgl. Aldh. 399, 1092 marsuppra farsa. 
coacervata. Vgl. Aldh. 168,15 quae supertus coacer- 
vavimus; 62,12 flosculos coacervans; 203,8 coacervando. 
scrupulosa autem sollicitudine. Vgl. Aldh. 320, 7 scrupulosa 
ecclesiastici regiminis sollicitudo. 

tuae ... sagacılalıs. Vgl. oben zu Z. 15. 

sagacitatis instantia. Vgl. Aldh. 246,2 indefessa cogi- 
tationis instantia; 231, 12 assidua lectionis instantia; 477, 17 
lectionis instantia. 


746 


31 


32 
32 


38 


Paul Lehmann 


gravem plumber laboris sarcinam. Vgl. Aldh. 203,3 diffi- 
cillima sudoris et laboris industria, acsı gravi sarcina op- 
pressus; 320, 18 distentionibus fessae mentis cervicem grat 
fascis sarcina deprimentibus; 322, 21 gravi facinorum el 
flagitiorum. sarcina. 

devotae caritatis. Vgl. Aldh. 62, 1 devotae caritatis. 
spiritalis necessitudinis. Vgl. Aldh. 74,19 spiritalis et 
incircumscripta necessitudo; Bonif. 4, 24f. spiritalis necessi- 
tudinis. 

pernici scrulatu. Vgl. Aldh. 100,35 pernictbus aquilis; 
72,4 pernici . . . impetu; 229, 13 pernicıbus pupillarum 
obtutibus; 230, 4 cursorum plantis pernicıbus,; 230, 20; 255, 
9; 261,7; 271,8: 279,14; 286,13; 299,6; 810,6; 320,5; 
493, 6 perniciter. 


38f. festinando percurri. Vgl. Aldh. 406, 1278 festina surgere; 


39 f. 


40 


45 


47 


47 
47 


48 
49 


52. 


53 


452, 2439 festinat credere; 238, 19f. ad portum festinantes. 
203, 7 «nvestigando percurrere; 502, 9 ratiocinationes 
percurram. 

in dictando. dictare bei Aldh. 81,16; 203, 3; 242, 11; 
319, 29; 320, 5, 6, 9; 492, 8. 

(congregare) curavi. Vgl. Aldh. 229, 10 impendere curavi; 
499, 10 ammonere curavi. 

urbanitas. Vgl. Aldh. 96, 20; 202, 23; 229, 15; 263, 9, 
321, 15; 493, 2. 

in iramile scripturarum. Vgl. Aldh. 461, 2677 scripturae 
tramite; 471,1 sillabarum tramite. 

moderni usus. Vgl. Aldh. 93, 13 modernus usus. 

regulis refragans. Vgl. Aldh. 316, 16 regula refragatur; 
157, 11 legibus non refragantur. 

quo pacto. Vgl. Aldh. 78,8; 88,21; 186, 6. 

dissonas. Vgl. dissonus bei Aldh. 298, 4; 305, 9 regulas 
depromsisse. Vgl. Aldh. 193, 19 regulas . . . depromito. 
Auch in anderen Verbindungen depromere bei Aldh. 
háuflg. 

Romanae urbanttatis facundia. Vgl. Aldh. 321, 15 lepida 
urbanıtatıs facundia. 

disertissimis rethoribus. Vgl. Aldh. 278, 18 disertissimt 
oratores; 321, 18f. rethoricae disertitudinis. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 747 


53f. me pene de exiremis Germaniae gentibus gentibus ignobili 


55 


bb 


56 
58 


63 


64 
64 
64 
81 
88 
89 
94 


94 
101 


stirpe procreatum. Vgl. Aldh. 202,5 neminem nostrae 
stirpis prosapia. genitum et Germanicae. gentis. cunabulis 
confotum; Bonif. 74, 25 de stirpe et prosapia Anglorum 
procreatis. Vgl. auch oben S. 738 und 740f. 

agrestem pastorem. Vgl. Aldh. 133 (no. LXXVIII, 9) agrestis 
cultor. 

de spineto vel arundineto erumpentem. Vgl. Aldh. 266, 2 
de spinetis vulgo nascentibus florens. 

dissona decreta. Vgl. Aldh. 305, 9 dissona sententta. 

ab ecclesiasticis dogmatistis. Vgl. dogmatista bei Aldh. 
88, 24; 230, 14; 272, 16; 277, 11; 300, 3. 

grammaticae artis normulas. Vgl. Aldh. 78, 17 und 174, 18 
discretionis normula; 383, 732 libratae normula vitae; 151, 7 
devisionum  normulam; 176, 26 trochawae legis normula; 
232, 19 ecclesiasticae traditionis normulıs. 

morsu aspidis. Vgl. Aldh. 285, 3 aspidıs morsum; 441, 
2136 aspidis ut morsum. 

genuinis sanguineis. Vgl. Aldh. 240, 2 venenosis genuinis, 
284, 7 ursorum genuinis. 

lacerare bei Aldh. häufig. 

tn scrutinio. Vgl. Aldh. 62, 13; 245, 2. 

ludivaga sermonum serie. Vgl. Aldh. sermonum serie 65, 18; 
168,15; 229, 12; 303, 13; 304,7; Bonif. 157,12f. non 
ludivaga sermonum voce, sed serie. 

socialis adiutorii. Vgl. Aldh. 427, 1786 foedus sociale. 
adiutorium oft bei Bonif. und Lul. 

pedestri remigio. Vgl. Aldh. 320, 21 lacertorum remigio. 
tranent. Bei Aldh. tranare mehrfach. 

intimis precordiorum penetralibus ınplorans obsecro. Vgl. 
Aldh. 490, 5f. ex penetralibus praecordti nequaquam pro- 
mens; Egburg ad Bonif. 20, 28 ex intimis precordiorum 
penetralibus inplorans; Denhard, Lul, Burchard bei Bonif. 
793f. ex intimis praecordiorum iliis suppliciter. flagitamus; 
Bonif. an Ecberth 157f. intimis praecordiorum praecıbus 
— — obsecro; Bonif. an Aldherius 63, 8f. ıniimıs praecor- 
diorum obsecrans precibus; Milret an Lul bei Bonif. 244, 15f. 
intimis obsecro praecordiis et — — humiliter inploro, Bonif. 
74, 31f. intimis obsecramus precibus; Bonif. 81, 6f. intimis 


748 Paul Lehmann 


subnıze flagitamus precibus; Bonif. 131, 5 intimis precibus 
diligenter rogare velim; Bonif. 137, 9 intimis imploramus 
precıbus und ähnlich noch mehrfach im Briefwechsel von 
Bonifatius und Lul. 

102 lata spatiosissimarum scripturarum arva. Vgl. Aldh. 232, 
10 per florulenia scripturarum arva late vagans. 

103 scrutando, lectitando, lustrando. Vgl. Aldh. 232, 18 
sollicita intentione scrutando; 277, 1 lectitando et scrutando, 
479, 13f. legendo scrutandoque. Auch lustrare häufig bei 
Aldhelm. 

105 in sacro eloquio novi vel veteris testamenti. Vgl. Aldh. 500, 
11 eloquii divinu; Bonif. 59, 4 sacrum eloquium. 

108 mentis inconstantia. Vgl. Aldh. 461, 2671 mentis constantia. 

109 praesumas. Vgl. Aldh. 243,5; 320, 15; 469 415. 

122 angelorum cum milibus, diese Zeile genau so in Aethilwalds 
Rhythmus bei Aldh. 531, 9. 


Die Übereinstimmungen sind noch nicht zu Ende. Hinzu- 
zunehmen sind die gewundene Art der Satzbildung, die Satz- 
. klauseln*' und die gereimten Rhythmen deren Formen 
sowohl bei unserm Grammatiker wie bei Aldhelm und in der 
„Aldhelmschule“ begegnen. Z. B. entsprechen die achtsilbigen 
Rhythmen am SchluB (115—124) vollkommen den Carmina 
rhythmica, die Ehwald p. 519, sqq. herausgegeben hat, den 
Briefschlüssen verschiedener Stücke in der Korrespondenz von 
Bonifatius, Lul u. a. (6f., 280, 285, 286f.), auch in der Reimung, 
die sehr hàufig, wiewohl auch nicht immer, zweisilbig ist. 

Erst nachdem ich durch die Vergleichung der Diktion und 
die Erschütterung der von Dümmler und Manitius vorge- 
brachten Argumente zu der festen Überzeugung gekommen war, 
daB der Verfasser der Grammatik in Aldhelms Sphäre, wenn 
nicht in Aldhelms eigener Person zu suchen sei, machte ich den 
Versuch, jener Handschrift habhaft zu werden, die angeblich 
den Autornamen eines englischen Bischofs Antholinus barg. 
Im 16. Jahrhundert befand sie sich noch im Trierer Benedik- 
tinerstift St. Eucharius-Matthias. Nach Josef Montebaurs 
kürzlich erschienenen Studien über den sie verzeichnenden 
Katalog hätte ich ihren Verlust buchen müssen. Trotzdem gab 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 749 


ich in der Erwägung, daß dieser Gelehrte eine beträchtliche Zahl 
erhaltener Codices übersehen hatte, die Hoffnung nicht auf und 
fragte erst einmal bei der Stadtbibliothek Trier an und 
erhielt von deren Direktor Herrn Professor Dr. G. Kentenich 
noch im Juni d. J. den mich begreiflicherweise erregenden 
Bescheid, daß die Handschrift sich unversehrt in der Stadt- 
bibliothek als Ms. 1104 befände. Bereitwilligst und schnellstens 
wurde sie mir auf mein Ersuchen übersandt und nun erlebte ich 
den im stillen erhofften Triumph, Aldhelm selbst als den 
Verfasser angegeben zu finden. Der aus dem 15. Jahr- 
hundert stammende Einband umschließt mehrere in verschiedener 
Zeit (saec. XIV und IX) entstandene Kopien grammatikalischer 
Werke (Priscianus; Tr. de modis significandi von 1329; Alchvine). 
Im vorderen Einbanddeckel steht unter anderem saec. XV der 
Eintrag Tractatus Anthelmi (von alter, vielleicht erster Hand zu 
Althelmi verbessert, trotzdem leicht verlesbar in Anthelini oder 
Antholin:!) Anglorum episcop? ad Sigebertum de ocio partibus 
orationum, Wichtiger noch ist, daß auf fol. 91 R von einem 
westdeutschen Schreiber des frühen 9. Jahrhunderts klar und 
deutlich in Majuskeln die Überschrift gegeben ist 

INCIPIT PREFATIO ALTHELMI ANGLORUM EPI AD 
SIGIBERTUM [DE VIII] DE OCTO PARTIB; ORATIONUM. 
Darauf folgt in karolingischer Minuskel derselben Zeit das Wid- 
mungsschreiben, so daß ich unter Benutzung auch der anderen 
mir bekannten Handschriften unten eine vorläufige Neuausgabe 
der Epistel bieten kann. Der grammatische Traktat selbst 
fehlt dem Trevirensis. Dafür folgt fol. 93Y—132Y Alchvines 
Dialogus Franconis et Saxonis de arte grammation (Migne, 
Patrol. lat. CI, 849—902). 

Man könnte einwenden, bei der Arglosigkeit, mit der im 
Mittelalter die Schreiber oftmals ein anonymes Werk einem be- 
rühınten. Autor zugeschrieben, bewiese die bisher singuläre, 
auch durch keinen Bibliothekskatalog und kein Schriftenver- 
verzeichnis Aldhelms gestützte Aufführung von Althelmus An- 
glorum episcopus als Verfasser noch keineswegs die Richtigkeit 
der Behauptung. Und ich gebe zu, daß man die Möglichkeit 
einer irrigen Benennung nicht ganz außer acht lassen darf. 
Aber man möge beim Für und Wider sich daran erinnern, daß ich 
auf Aldhelm nicht erst durch das äußere Zeugnis gekommen, 


750 Paul Lehmann 


sondern umgekehrt aus der ungewöhnlichen Stilverwandschaft 
die Herkunft von Aldhelm oder einem seiner Schüler erschlossen 
und nachträglich als willkommene Bekräftigung meiner These 
den Namen Aldhelms in der Trierer Überlieferung gefunden 
habe. Was ich von den grammatikalischen Ausführungen des 
— wie gesagt noch nicht publizierten — Textes kenne, entspricht 
Aldhelms Gelehrsamkeit und Sprachbehandlung durchaus. 
Auch die Kenntnis der im Widmungsschreiben zitierten Gram- 
matiker ist ihm wohl zuzutrauen, da sie zu einem Teil in un- 
zweifelhaft echten Werken Aldhelms benutzt und angeführt, 
darunter auch der seltene Audax, zum anderen gerade bei in- 
sularen Schriftstellern saec. VII—IX nachweisbar sind. 

Es bleibt meiner Meinung nach nur ein gewichtiges Bedenken 
gegen Aldhelms Autorschaft, daß nämlich unser Grammatiker 
sich als ignobili stirpe procreatum bezeichnet, Aldhelm seit 
Alters für einen Königssohn oder doch für den Sproß einer 
königlichen Familie gehalten wird?®®. Fürstlichen Geblüts würde 
Aldhelm selbst in gekünstelter Bescheidenheit schwerlich sein 
Geschlecht stirps ignobilis genannt haben. Wenn er an Cellanus 
von Péronne einmal schreibt?? Miror, quod me tantillum homun- 
culum de fumoso et florigero Francorum rure vestrae frunitae frater- 
nitatis industria interpellat Sazonicae prolis prosapia genitum et 
sub arctoo axe teneris confotum cunabulis, erniedrigt er sich nur 
rhetorisch. Aber war er denn wirklich von hoher Abkunft? 
Seit König Alfred dem Großen (T 901) wird es allgemein unter 
Berufung auf ernsthafte Forscher bis auf den heutigen Tag 
behauptet. Trotzdem ist Zweifel erlaubt, da die Tradition, die 
wir fassen kónnen, erst fast zweihundert Jahre nach des schrift- 
stellernden Bischofs Tode einsetzt, Aldhelm selbst in den von 
R. Ehwald veróffentlichten Werken kein Wort über seine Fa- 
milie sagt. Ehwald behauptet allerdings (p. XI) ,,regio genere 
quin episcopus Scireburnensis sit oriundus, dubitari non potest, 
et quod in primo prosae de virginitate capite Justinam, Cuth- 
burgam, Osburgam sibi contribulibus necessitudinum nexibus 
conglutinatas appellat, hoc de Cuthburga quidem optime potest 
demonstrari: nam haec, priusquam Bercingensis sanctimonialis 


3$ Vgl. R. Ehwald, p. X sq. 
20 J. c. 499, 5. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit. 75] 


fieret, Alfredi (Acircii) Northanumbrorum regis non diu coniux, 
ut soror fuit Inae regis ita Adlhelmi fuit consanguinea.“ Die 
Stelle, an der er angeblich von seiner Blutsverwandtschaft mit 
Justina, Cuthburga, Osburga spricht, heißt (p. 228 sq.): Reve- 
rendissimis Christi virginibus omnique devotae germanitatis 
affectu venerandis ei non solum corporalis pudicitiae praeconio 
celebrandis, quod plurimorum, verum etiam spiritalis caslimoniae 
gratia glorificandıs, quod paucorum est, Hildilithae, regularis 
disciplinae et monasticae. conversationis magistrae, simulque 
Justinae ac Cuthburgae necnon Osburgae, contribulibus 
necesstitudinum nexibus conglutinatae, Aldgıthue .... 
Aldhelmus, segnis Christi crucıcola et supplex ecclesiae berna- 
culus, optabilem perpetuae prosperitatis salutem. 

Ehwald denkt sich, wie das p. XI deutlich wird, vor contri- 
bulibus ein sibi oder mihi hinzu, weist indessen keines der beiden 
Wörtchen in seinem sehr ausführlichen, auf reichste Überliefe- 
rung gestützten Apparatus criticus nach, obwohl in einem einzi- 
gen Codex, im Lambethanus saec. X ex., auf der in der Ausgabe 
vorzüglich reproduzierten Seite mt: tatsächlich steht. Hält man 
nun an mihi oder sib: fest, muß man contribulibus adjektivisch 
nehmen, was nach Aldhelms Sprachgebrauch möglich ist (vgl. 
293, 19 coniribulı populo) und mit nexibus verbinden. Dann 
aber paßt entweder die Singularform conglutnatae nicht, da 
Aldhelm ja allen drei Jungfrauen verwandt sein soll, oder er 
betont durch den Singular nur die Blutsverwandtschaft mit 
Osburga, von deren Familie wir nichts wissen, so daB aus der 
fürstlichen Abkunft der vorhergenannten Cuthburga nichts für 
die Aufhellung von Aldhelms Abstammung zu gewinnen ist. 
Mir scheint es methodisch richtig zu sein, die nur von dem 
durchaus nicht führenden Lambethanus gebotene Lesart mihi 
beiseite zu lassen und — wozu auch Kollege J. Stroux (München) 
riet — contribulibus als Substantiv im Dativ aufzufassen. Ald- 
helm sagt von Osburga,sie sei den Stammesgenossinnen (Glau- 
bensgenossinnen wäre auch möglich) Cuthburga und Justina 
durch Verwandtschaftsbande eng verbunden gewesen, nicht 
jedoch Aldhelm selbst! 

Unter Ausschaltung des eben behandelten, jedenfalls höchst 
fragwürdigen Zeugnisses, stelle ich zur Diskussion, ob man 
König Alfred dem Großen, Wilhelm von Malmesbury u.a. bei 


752 Paul Lehmann 


ihrer Behauptung der fürstlichen Abstammung Aldhelms Glau- 
ben zu schenken hat oder nicht. Ich für meine Person sehe in ihr 
eine spätere Ausschmückung und Sage. Nichts spricht gegen, 
vieles dafür, daß der Verfasser des Traktates de octo partibus 
orationis wirklich Aldhelm gewesen ist. Denjenigen aber, die 
mir nicht recht geben zu können meinen, bleibt wohl nur die 
Möglichkeit, in dem Werke die Arbeit eines Mannes aus Ald- 
helms angelsächsischem Schülerkreise zu sehen, eines An- 
hängers, der in der gelehrten Bildung und im Stile vollkommen 
in den Bahnen des großen Meisters wandelte. 


Daß aufs europäische Festland Werke gekommen sind, die 
man frühzeitig zu Recht oder Unrecht mit Aldhelm von Malmes- 
bury in Verbindung gebracht hat und die von den modernen 
Forschern trotz emsigen Suchens nach Aldhelms gelehrtem 
Nachlaß und literarischem Einfluß übersehen worden sind, kann 
ich hier in Kürze noch an einem anderen Überlieferungsreste 
zeigen: 

Der nach A. Holder? zwischen 836 und 848 geschriebene 
Augiensis CLXVII in Karlsruhe enthält auf fol. 2 einen Ciclus 
Aldelmi de cursu lunae per signa. XII secundum Grecos mit 
Tabellen. Was etwa von den darauf folgenden?!, z. T. in Ver- 
wirrung geratenen astronomisch-chronologischen 'Texten (mit 
irischen Glossen) ebenfalls auf Aldhelm zurückgeht, ließe sich 
vielleicht bei näherer Untersuchung feststellen. Wie man unserm 
Aldhelm eine Grammatik zutrauen darf, ebenso paDt eine Be- 
handlung der Gestirne und der Zeitrechnung zu ihm. Denn 
gleich vielen Angelsachsen und Iren des 7.—9. Jahrhunderts 
hat ihn das Problem der Osterfestbestimmung beschäftigt. Das 
bezeugt sein an den König Geruntius von Wales gerichteter 
Brieftraktat (ed. R. Ehwald, p.480 sqq.), den bereits Beda 
zitiert hat und der dann von John Boston of Bury und John 
Bale*? als De pascha contra errorem Britonum gebucht worden ist. 


* * 
* 


30 Die Reichenauer Handschriften I (1906) S. 393. 

31 Kurze Auskunft verdanke ich dem stets hilfsbereiten Prof. Dr. K. Preisen- 
danz (Karlsruhe). 

*3 Index Britanniae scriptorum, ed. R. L. Poole, Oxford 1902, p. 18. 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 753 


INCIPIT PREFATIO ALTHELMI ANGLORUM EPIS- 
COPI AD SIGIBERTUM DE [VIII DE] OCTO PARTIBUS 
ORATIONUM. 


Dilectissimo fratri et ingeniosae radio litteraturae fulgenti 
haud secus quam ut murenulis obrizi auri materia et omnimo- 
dorum generum varietate vermiculatis perspicue micanti Sige- 
bertho, spiritalis amicitiae clienti nostro, indignus universalis 
ecclesiae matricularius in Domino Jesu defecatae caritatis 
salutem. | 

Non ignoro te, fili carissime, non odiorum faculis suffarsum 
nec mordacis vituperationis molaribus cruentatis subdolum, sed 
foco flagrantis caritatis conpellente et confidentia, qua nonnum- 
quam prudentes, ubi in aliis aliquam ingenioli scintillam emicare 
conspiciunt, profundioris et penetrabilioris sagacitatis illos esse 
arbitrantur et non de propria conscientia exaltantur, invitante 
mihi, sicut scis, auctore Deo ad alia properanti et iuxta modulum 
mediocritatis meae sanctae scripturas legis Dei meditanti tale 
tricationum molestarum onus inposuisse, id est ut antiquam 
perplexae silvam densitatis grammaticorum ingrederer ad colli- 
gendum tibi diversorum optima quaeque genera pomorunı et 
variorum odoramenta florum diffusa, quae passim dispersa per 
saltum grammaticorum inveniuntur, ad cotidianum scilicet tui 
diligentis studii pastum et odoriferam coronam ingeniosae 
pubertàtis et ut optima quaeque et necessariora quasi in unum 
cumulando farciens marsuppium coacervata et circumcisa tibi 
obtulerim. 

Scrupulosa autem sollicitudine perlustratis utrisque partibus, 
meae scilicet peritiae penuria et tuae, carissime, perseverantis 
lampabili sagacitatis instantia, fecit caritas, quod facere semper 
solet: relevavit quippe gravem plumbei laboris sarcinam levis 
devotae caritatis et spiritalis necessitudinis funis argenteus et, 
licet viribus inpar materiae, devotione tamen deprecantis 
voluntati conpar, supradictum ingressus sum saltum gramma- 
ticorum et libentissime, venerandi sodalis honestis licet difficilli- 
mis precibus inserviens, elegantissima quaeque fructuum ge- 
nera, in quantum potui, viribus subpeditantibus excerpsi, id est 
plurimorum grammaticorum artes pernici scrutatu festinando 
percurri et per VIII partes orationis utillimas quasque et in 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 48 


10 


15 


20 


25 


30 


45 


55 


65 


70 


75 


754 Paul Lehmann 


dictando necessariores regulas congregare curavi. Quaedam au- 
tem, in quibus umbratiles nanctus sum sensus, quae a paucis 
tantum grammaticorum summo tenus libata sunt stilo, lucu- 
brati explanatione sermonis interserens elicui. Priscorum quippe 
consuetudines, qui multa aliter in eloquentia observasse dino- 
scuntur quam moderna urbanitas canonicum esse adprobat, ex 
latere quodammodo tangebam, ut, quandocumque tale aliquid 
in tramite scripturarum moderni usus regulis refragans nanci- 
scaris, scias, quo pacto percipias vel quo ritu recuses. Quando 
autem auctores grammaticae artis quasdam regulas dissonas 
depromsisse cernebam, quod frequenter eos fecisse non dubi- 
tatur, superfluum esse et inrisione dignum arbitrabar, Donato 
et Prisciano, Romano et Velio Longo dissentientibus, Romanae 
urbanitatis facundia disertissimis rethoribus, me pene de ex- 
tremis Germaniae gentibus ignobili stirpe procreatum, veluti 
agrestem pastorem de spineto vel arundineto erumpentem, inter 
talium dissona decreta virorum ex persona iudicis disputanda 
iudicare. Verum in unaquaque regula illum praeeligens maxime 
sequi visus sum, cuius vestigia ab ecclesiasticis dogmatistis 
frequentissime trita in sacrosanctis tractatibus et cotidianae 
lectionis intentione usitata repperi. 

Praeterea si quis venenosae tetro invidiae fermento infectus 
vel ignorantia, matre omnium errorum, et audatia proprii 
ingenii conpellente inlectus has grammaticae artis normulas 
morsu aspidis et genuinis sanguineis lacerare voluerit, sciat se 
Prisciani vel Donati, Probi vel Audacii, Velii Longi vel Romani, 
Flaviani vel Euticis, Victorini vel Focae, Asporii vel Pompei 
latus laniare et non viventem rusticum infestis iaculis insequi, 
sed pulverem mortuorum rethorum et cinerem sagittare, quia 
nec unius saltim ramus regulae in hoc libello insertus repperitur, 
qui non alicuius horum sit radice fortiter fundatus. Tibi igitur 
non videatur fortuitu factum, quod in quinque declinationibus 
nominum tam multa ad exemplum uniuscuiusque generis vel 
declinationis diversis litteris vel syllabis terminata ad exemplum 
posita repperies. Sed hac de re me coacervatim talia conpo- 
suisse scies, quia singulae terminationes nominum pene singulis 
quibusque generibus congruere videntur. Sicut sunt quaedam 
specie masculina sensu feminina, quaedam e contrario specie 
feminina virtute masculina, quaedam specie neutra intellectu 


Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 755 


feminina et cetera quaquaversum se vertentia, ut hic his omnibus 
perspectis et intellectis eo liquidius potueris sacras perscrutari 
paginas, quia peritia grammaticae artis in sacrosancto scrutinio 
laborantibus ad subtiliorem intellectum, qui frequenter in 
sacris scripturis inseritur, valde utilis esse dinoscitür, eo quod 
lector huius expers artis in multis scripturarum locis usurpare 
sibi illa quae non habet et ignotus sibi ipsi esse conprobatur. 
Interea circulum quadrangulum in fronte huius laboris apposui, 
in medio flguram sanctae crucis continentem Ihs xps et ex- 
primentem, qui ludivaga sermonum serie duobus ambitus versi- 
bus, aliis in transversum currentibus socialis adiutorii utrimque 
sonantes in obviam offert litteras. Hunc autem circulum in 
scemate novi ac veteris instrumenti figurari non nescias. Nam 
prior pars circuli huius usque ad medium crucis quibusdam pen- 
tametris intersertis decurrens pingitur versibus. Qui licet [non] 
pedestri remigio tranent, non tamen heroici nec omnino perfecti, 
decursa esse noscuntur; sic et intra terminos veteris testamenti 
universa quasi semiplena et inperfecta tendebunt ad plenitu- 
dinem legis, id est ad Christum cruciflxum. Post crucem autem 
supradictam in circulo heroici versus et perfecti decurrant. 
Ita et per gratiam Christi accepta remissione peccatorum ad 
integrum omnia renovata et perfecta sunt. Porro hoc est, quod 
per circulum ago intimis precordiorum penetralibus inplorans 
obsecro, ut quicquid per lata spatiossimarum scripturarum arva 
scrutando, lectitando, lustrando inveneris sive in arte gramma- 
tica sive in metrica, in historiis aeternorum vel gentilium sive 
in sacro eloquio novi vel veteris testamenti, semper memor 
sententiae apostoli „Omnia probate; quod bonum est, tenete“ 
ad tutissimum catholicae fidei circulum sensus tui litteris occur- 
rentibus dirigas et extra moenia huius circuli mentis inconstantia 
vagare non praesumas, ne forte vulnerantes te tulerint pallium 
tuum custodes murorum, et singula quaeque veteris ac novi 
testamenti decreta tunc te canonice intellexisse scias, cum in 
meditullio Christum crucifixum destruentem malignae cupidi- 
tatis aediflcium et construentem benignae caritatis templum 
spiritalibus oculis contemplando contueri potueris. 


Vale Christo veraciter, 
ut et vivas perenniter 
Sanctae matris in sinibus, 
48* 


85 


95 


105 


110 


115 


120 


125 


756 P. Lehmann: Ein neuentdecktes Werk e. angelsächs. Grammatikers vorkarol. Zeit 


sacris nitens virtutibus, 
Hierusalem agricula, 

post et mortem caelicula 
et supernis in sedibus 
angelorum cum milibus 
Christum laudes per ethera, 
saeculorum in saecula. 


Finit salubriter. 

1—3 fehlen (A)N P. — 5 ingeniose P und Dümmler. — 6 haut N. — 6 obrizi 
materia] obri ma N. — 7f. Sigeberheto N. — 7 perspicuae T. — 8 nostro] N. P, 
fehlt N. — 9 defecate NP. — 11 carissimi N. — 13 flagrantis PT, fratlantis N, 
fraglantis Dümmler. — 13 confidentiam P. — 1" properante P, properant N. — 
17 modolum N und Dümmler. — 18 meditantur T. — 19 tricationem N. — 20 per- 
plexo N. — 20 ingredirer T. — 20—23 ingredirer — grammaticorum marginal nach- 
getragen T. — 24ingeniose PT Dümmler. — 25 ut fehlt P. — 26 marsupium PT. — 
24 obtulerem PT. — 29 scilicet J solicet N. — 29 periuriae N, penuriae P. — 31 
revelavit P. — 31 sarcina inlevis N. — 32 devote Dümmler. — 33 depraecantis T. 
— 34f. gramaticorum T. — 35 libentissimae Dümmler — 35f. dificillimis T. — 36 
inservens T. — 38 scrutata N. — 40 curari N. — 42f. lucubratio PT, locubratio 
N. — 47 moder ususus N. — 47 refraganis P, refragrans T. — 48 percipias] post. 
c pias N, praecipias T. (in derinsularen Vorlage hatte wohl p'cipias = percipias gestanden, 
p' wurde als p' = post und P = prae mißverstanden). — 48 f. quando — artis] quante 
— artes T. — 49 grammatice Dümmler. — 49 autores T. — 50 depromisisse N PT. 
— 50 eos] se 4. fecise T. — 51 arbitrabor A. — 53 dissertissimis NT. — 54 Ger- 
manie Dümmler. — 55 de spineto] dispineto N, de spineo P. — 57 preeligens T, 
praeelegens N. — 58 visus] risus AT. — 59 cotidiane Dümmler. — 62 matrem N P. 
— 62 audacia A. — 63 inlectus] inlatus N. — 63 grammatice AT. — 64 mursu T. 
— 66 Eutieis] iuticis NP uiticis T. — 66 Foci N. — 66 Asporii NPT, Asperi 
Dümmler. — 67 iaculi T. — 69 regule Dümmler. — 69 repperit P. — 71 declinationes 
T. — 74 hac] haec P, ac I. — 74 talia] taba N. — 76 congruae P. — 76 Sic P. — 77 
e fehlt NP. — 76f. sensu. T* — virtute masculina fehlt N. — 79 femina N. — 79 
vertentia] verentia N. — 80 perspectis] praefectis T. — 80 eo liquidius] eloquidius 
N. — 80 peritia] perecia N. — 80 perscurtari T. — 81 grammatice Dümmler. — 82 
subtiliorem] sunttiliorem T. — 85 probatur P. — 88 sermonum serie] sermo seriae 
T. — 89 in tranis versum P. — 90 autem] haec T. — 91 scemata] samate P. — 
93 pentametris] pentrainetris T. — 93ff. Text wohl nicht in Ordnung. — 94 remegia 
trahent P. — 94 perfecti] prefecti T. — 95 dinoscuntur VI P. — 97 legis] egis P. 
— 98 supradictum P. — 99 remisione T. — 101 penitralibus J, penetrabilibus 
N P. — 104 istoriis P. — 104 aeternorum N, eternorum J, externoium P. — 106 apo- 
stolorum P. — 108 dirigam P. — 108 extra] circa N. — 108 moenia] moaenia T. — 
108 circulis J. — 109 tullerint NP. — 111 canonicae T. — 112f. malignae — con- 
struentem fehlt T. — 115 Vale vale N. — 116 peremiter N. — 117 sancte NP. — 
119 agricula verb. aus agricola T. — 120 caelicaela PT, celicela N. — 122 minibus 
P. — 124 in fehlt NP. 


757 


Die Überlieferung 
von Purchards Gesta Witigowonis. 
Von 


K. Strecker. 


In dem Prachtwerk Die Kultur der Abtei Reichenau, 
Erinnerungsschrift zur zwölfhundertsten Wiederkehr des Grün- 
dungsjahres des Inselklosters 1925 (unten zitiert: Erinnerungs- 
schrift), berichtet K. Beyerle S. 389: „Die Kapelle des hl. Ja- 
nuarius, die Witigowo im ersten Jahre seiner Regierung, d. i. 
985, über der Klosterpforte erbaute“ usw. Ebenda S. 356: 
„Abt Witigowo hat die Verehrung des hl. Januarius mit neuem 
Glanz umgeben. Er erbaute ihm zu Ehren gleich bei Beginn 
seiner Regierung eine eigene Kapelle" usw. Ebenda S. 844 
sagt O. Gruber: ,,DaB für Witigowo das Westquerschiff in An- 
spruch genommen werden kann, beweist auch eine Stelle bei 
Purchard, die erzählt, da8 Witigowo an der linken Seite der 
Marienkirche eine Kapelle für den hl. Januarius stiftet“ usw. 
Diese Darstellung beruht auf Purchards Gesta Witigowonis 
V. 818ff. ed. Pertz, M.G.SS. 4, S. 628: 

313 Ceperat in primo mihi cum dominarier anno, 

314 Est latus aecclesiae levum genitricis ad almae, 

73" 315 Fundans eximium devota mente sacellum, 

316 Quod Januarii voluit sub honore dicari. 


Beyerles und Grubers Darstellung ist richtig, wenn die ab- 
gedruckten Verse in Ordnung sind, aber beide haben offenbar in 
engem Anschluß an den Druck von Pertz berichtet und garnicht 
daran gedacht, daß nach der allgemein geltenden Ansicht, die 
auch in der Erinnerungsschrift, S. 742, Sp. 1 unten f., und von 
dem Verf. selbst vgl. S. 112/19 geteilt wird, zwischen V. 314 und 
315 zwei volle Blätter mit rund 100 Versen verlorengegangen 
sind. Was war in diesem verlorenen Stück erzählt? Wenn 


758 K. Strecker 


V. 313 f. und 315ff. von der Januariuskapelle gehandelt wird, 
so müßte man doch wohl annehmen, daB in den dazwischen ver- 
lorenen hundert Versen ebenfalls andauernd von diesem kleinen 
Bauwerk die Rede war oder daß durch einen merkwürdigen Zu- 
fall der Bericht darüber bald nach V. 313 abbrach und kurz vor 
315 von neuem einsetzte. Beides werden Beyerle und Gruber 
vermutlich, und mit Recht, ablehnen. Es bleibt uns also die 
Wahl: entweder ist die in der Erinnerungsschrift gebotene Dar- 
stellung in diesem Punkte nicht richtig, oder aber die Behaup- 
tung, daß hier hundert Verse fehlen, ist unbegründet. 
Ein anderer Fall: a. a. O. S. 112/21 berichtet K. Beyerle: 
„ . . Der Abt werde nicht müde, aus den Einkünften der reich- 
bestellten Fluren Gottesdienste und Kirchen zu mehren. Bei 
der Herzoginwitwe Hadewig habe er deren vorzeitigen Verzicht 
auf ihren NieBbrauch am Königsfiskus Schleitheim erwirkt, den 
ihr Gemahl dem Kloster vermacht. Witigowo sei unverzüglich 
nach Schleitheim gereist, habe selbst den dortigen Fronhof in- 
standgesetzt und befestigt, die verfallene Kirche neu erbaut, 
Zinsen und Gülten wieder in Lauf gebracht und die Bedürfnisse 
des Gottesdienstes sichergestellt." Diese Darstellung beruht 
ebenfalls auf Purchard. Er erzählt V. 198ff., wie Herzog Pur- 
chard II. stirbt, aber seine Gemahlin ihn lange überlebt und zu- 
náchst den Anspruch auf Schleitheim nicht aufgibt: 
V. 206ff. 
Quae post hunc multis in mundo virerat annis. 
At quando domini, superest qui, tura subiv:, 
Congruit ut, donis promptus servivit in amplis 
matrone lali regal? stirpe fluenti, 
210 Quod gessit studio sperans de foenore tanto, 
Quatınus haec eadem fraglando sic per amorem, 
Hunc sibi continuo sociaret foedere firmo. 
Ei devicta suis per dona monentia votis, 
214 In sua tura locum proprie dedit ante notatum. 
77'215 Plurima quid refero? Confestim venerat illo, 
M enibus et cunctis noviter docteque paratis, 
In partes varias quae solverat ıpsa vetustas, 
Aedibus aecclesiam. gemuit censuque neglectam. 
Die Sachlage ist hier genau wie an der zuerst behandelten 
Stelle, Beyerle berichtet getreu nach den Versen Purchards, hat 


| 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 759 


aber wieder nicht beachtet, daB er glatt über eine Lücke von 
hundert Versen wegerzählt, seine Darstellung ist mit der gelten- 
den Lehre, daß zwischen V. 214 und 215 eine solche Lücke 
klafft, schlechterdings nicht zu vereinigen. 

Wie kommen wir aus der Verlegenheit? DaB diese zwei- 
hundert Verse fehlen, daß wir nur drei Bruchstücke des Gedichtes 
haben, 1—214, 215—314, 315—491 bzw. 552, steht doch wohl 
fest? Wenigstens kann man .es überall lesen, wo von den 
Gesta W. die Rede ist, z. B. Erinnerungsschrift S. 742; M. Ma- 
nitius, Gesch. d. lat. Lit. d. Mittelalt. 2, 511; W. Wattenbach, 
Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalt. 17, 445, 2; A. 
Chroust, Monumenta palaeographica II, XI,3; Hauck, KG. 
3 *, 317,1; J. Hecht (s. unten) S. 92, 102. Allerdings wird 
immer nur die feststehende Tatsache ganz knapp mitgeteilt, es 
ist mir bisher noch nicht gelungen, in den Verhandlungen über 
das Gedicht Beweise dafür zu finden. Vielleicht empfiehlt es 
sich deshalb, der Sache einmal auf den Grund zu gehen, es wird 
sich ergeben, daB diese ganze Theorie, wir hátten Pur- 
chards Gedicht nur als Fragment, in der Luft schwebt 
und daß Pertz bisher der einzige ist, der richtig über 
die Überlieferung der Gesta W. geurteilt hat. 

Die Stelle, auf welche die immer wiederkehrende Behauptung 
zurückgeht, wir hätten Purchards Gedicht unvollständig, findet 
sich bei K. Brandi, Die Chronik des Gallus Öhem, 1893, S. 25 
Anm. zu 12. Ich gebe sie wörtlich wieder: „Breitenbach (NA. 2, 
176ff.) hat die Benutzung dieser Quelle (nämlich der Gesta 
Witigowonis) durch Óhem besonders eingehend untersucht und 
Óhems Wiedergabe für die Kritik der Pertzschen Ausgabe ver- 
wertet; indessen sind seine Untersuchungen und deren Resultate 
vielfach zu berichtigen. Herr Archivrat Schulte hatte die große 
Güte, den Karlsruher Codex zusammen mit Herrn Dr. Holder 
von neuem zu prüfen und mir zu beschreiben; es kann darnach 
kein Zweifel sein, daß Öhem die einzige (jetzt Karlsruher) Hand- 
schrift der Gesta benutzte, denn in dieser.fehlen in der That 
(was Óhem beklagt) mehrere Blátter. Pertz hatte nur bemerkt, 
die Blätter seien verwirrt gewesen, aber von ihm neu- und 
richtig geordnet; Breitenbach glaubte das, und als er nun fand, 
daß Vers 314ff. absolut nicht zu Vers 313 paßte!, nahm er eine 


1 Es muß heißen: ,,315ff. zu 314.“ 


760 K. Strecker 


durch den Abschreiber verschuldete unbedeutende Lücke an. 
Nun schließt aber p. 78? der Handschrift mit Vers 3138, dann 
fehlen 2 Blätter; mit Vers 314* beginnt ein neues Blatt; es sind 
also zwischen 313 und 314 etwa 4x24 oder annähernd 100 
Verse verloren. Ebenso fehlen 2 Blätter hinter p. 82° der Hand- 
schrift?.‘‘ Das ist alles. Für einen Beweis wird man das nicht 
halten wollen, und man muß sich wundern, daß hieraus die 
communis opinio erwachsen ist. Das liegt wohl daran, daß die 
Handschrift in Verwirrung geraten ist und nur auf Grund einer 
direkten Untersuchung derselben ein Urteil gefällt werden kann. 
Brandi hat sie ja nicht gesehen, sondern gab nur wieder, was er 
von Schulte und Holder erfahren hatte®. Inzwischen ist nun 
die Beschreibung der Handschrift in Holders bewunderungs- 
würdigem Katalog der Augienses erschienen. Diesen schlug ich 
natürlich sofort nach, als mir Zweifel kamen, muß aber bekennen, 
daß ich unwillkürlich in ein Gelächter ausbrach, denn Holder 
beruft sich bei der Angabe der beiden Lücken lediglich auf die 
oben abgedruckte Stelle Brandis. Warum zwei Lücken sind, 
wie groß sie sind, wo sie anzusetzen sind — alles bleibt nach 
wie vor dunkel. Ich bin der Karlsruher Bibliothek zu ganz be- 
sonderem Dank verpflichtet, weil sie mir die Handschrift auf 
einige Zeit, die freilich infolge eines Zufalls etwas kurz be- 
messen sein mußte, hierher nach Berlin gesandt hat, sonst wäre 
es mir vielleicht versagt geblieben, die wahre Sachlage festzu- 
stellen. 

Die uns beschäftigende Frage ist deshalb so schwierig, weil 
die Handschrift, um einen Ausdruck Schmellers von den Car- 
mina Burana zu gebrauchen, ‚stark verbunden‘ ist; in den 
beiden Lagen, die das Gedicht enthalten, sind die Blätter 


3 Es muß heißen: „fol. 78V.“ 

3 Es muB heißen: „314.“ 

* Es muß heißen: „315.“ 

5 Es muß heißen: „314 und 315.“ 

* Es muß heißen: „fol. 82 V." 

7 Schon Schönhuth, Chronik des ehemaligen Klosters Reichenau 1836 S. 108 
spricht von dieser Handschrift „soweit sie vorhanden ist", dazu die Anmerkung: 
„Dieses Gedicht hat sich in einer Reichenauer Hs. aufgefunden mit den Lücken, 
wie sie Ohem anführt.“ 

* Brandis Ausführungen hat dann A. Bergmann, Erinnerungsschrift S. 745 arg 
miBverstanden. 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 761 


durcheinander geraten und in dieser neuen, falschen Reihenfolge 
numeriert worden. Der erste Herausgeber Pertz hat das erkannt 
und die richtige Ordnung hergestellt; die Blätter müßten sich 
in dieser Weise folgen: 71, 72, 79, 80, 81, 82, 77, 78, 73, 74, 75, 
76, 83, 84. 83 ist ein hinter 76" eingehefteter Zettel mit 12 
bzw. 13 Versen auf der Seite, 84 mit 21 Versen gehört schon 
zur folgenden Lage. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit nur 
auf die vorhergehenden Blätter 71—82. Es sind 12, also kann 
es ein Quaternio und ein Binio sein®. Es ist aber auch möglich, 
daß zwei Doppelblätter bei der Verwirrung verloren gegangen 
sind, dann hätten wir zwei Quaternionen, und tatsächlich gibt 
Holder im Katalog folgendes Schema: 


reti mn 


Das bedeutet natürlich, wir haben einen vollständigen Quater- 
nio Bl. 71—78 und einen zweiten, von dem die beiden áuBeren 
Doppelblátter verloren gegangen sind, so daB nur ein Binio 
übrig geblieben ist. Das ist ja móglich, wenn dieser Verlust 
irgendwie nachgewiesen werden kann. Nun fügt aber Holder 
zu dem angegebenen Schema noch hinzu: „zu lesen in dieser 
Folge: 
71. 72. 79. 80.181. 82. X X 77. 78; X X 73. 74. 75. 76.“ 


Ich kann nicht leugnen, daß ich das schwer verstehe, und 
anderen wird es nicht anders gehen. Um ein leichteres Ver- 
ständnis zu ermöglichen, führe ich in das Holdersche Schema 
zunächst andere Zeichen ein: das erste zusammenhängende 
Blatt, also das äußere Doppelblatt der zweiten Lage sei X X!, 
das zweite sei Y Y!. Dann sieht Holders Schema so aus: 


71—78; X Y 79. 80.181. 82. Y! X! 


* Zwei Ternionen würen natürlich auch móglich, das kommt hier aber nicht in 


762 K. Strecker 


und das wäre zu lesen in der Folge: 


essan Be er re EEE SE ee EEE Be laaa i 


"^" 


ꝙͤ— U nßj/h rv hos hes hrs be] ish rtis „ rr n 


zwei Quaternionen; von dem zweiten nahm man das äußere 
Doppelblatt XX! und befestigte es so, daB jetzt X u. X! auf- 
einander lagen, hinter dem sechsten Blatt der ersten Lage. 
Dann nahm man das zweite Doppelblatt der zweiten Lage Y Y! 
und befestigte es so, das Y Y! aufeinander lagen, vor dem durch 
diese starke Blutentziehung entstandenen Binio. Und der Erfolg 
dieser sonderbaren Kur war der, daß diese beiden Doppelblätter 
verloren gingen! Nun möchte ich nur eins wissen: waren diese 
unglücklichen Doppelblütter, als an ihnen diese Prozedur vor- 
genommen wurde, schon beschrieben oder nicht? Wenn sie 
noch nicht beschrieben waren, so fragt man sich, warum man 
den zweiten Quaternio in dieser Weise zerstórte und nicht, wie 
sonst, erst den einen und dann den zweiten vollschrieb. Die 
Sache ist ganz unverständlich. Noch größere Schwierigkeiten 
entstehen aber bei der Annahme, daß diese Umstellung statt- 
fand, als beide Lagen schon vollgeschrieben waren; dann hätte 
man also Bl. X und X! der zweiten Lage zusammen hinter 
Bl. 6 der ersten Lage befestigt, und Bl. Y und Y! der zweiten 
Lage hinter Bl. 8 der ersten. Man stelle sich diese wundervolle 
Konfusion vor, und es ist ein wahres Glück, daB diese beiden 
Doppelblätter wieder verschwanden, denn durch ihren Verlust 
wurde wenigstens in der ersten Lage der richtige Text wieder- 
hergestellt, eine Lücke ergab sich dadurch nicht, die Lücken 
wären nach dem ersten Holderschen Schema vielmehr zu An- 
fang und Ende des zweiten Quaternios entstanden. Also diese 
ganze Rekonstruktion ist unverständlich und unmöglich“. Ich 
freute mich, zu sehen, daB Chroust a. a. O. auch versucht hat, 
sich den Hergang vorzustellen; er kommt, wie mir scheint, zu 
ai 

10 Unmöglich auch aus folgendem Grunde: Das Gedicht hat bekanntlich einen 
mehrere Jahre später gedichteten Anhang, der auf der letzten Seite des Binios 


schon beginnt. Daran schließt Bl. 83" unmittelbar; für irgendeine Lücke ist 
hier also kein Platz. 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 763 


demselben Ergebnis wie ich, wenn er erklärt: ,, Nach Holder ist 
die richtige Ordnung Bl. 71. 72. 79. 80. 81. 82. X.X. 77. 78, also 
ein Quaternio mit einem eingeschobenen und jetzt verlorenen 
Doppelblatt) u. Bl. X. X 73. 74. 75. 76 (ein Binio mit vorgesetztem 
und verlorenem Doppelblatt).“ Chroust scheint dies aber für 
móglich zu halten, wenigstens fand ich bei ihm kein Wort des 
Zweifels. 

Wenn die sattsam behandelte These von dem Verlust der 
vier Blätter mit zweihundert Versen auf solche Schwierigkeiten 
stößt, so müssen doch sehr dringende Gründe vorliegen, die zu 
dieser Annahme nötigen. Woher wissen wir von dem Verlust 
dieser Blätter? Warum muß Purchards Text lückenhaft sein ? 
Zu meinem Bedauern kann ich diese Frage nicht beantworten, 
ich kenne keine Gründe dafür; man hat kaltblütig Purchards 
Gedicht für einen Torso erklärt, ohne auch nur den Schatten 
eines Beweises zu erbringen, meist auch ohne sich den Kopf 
darüber zu zerbrechen, was denn nun eigentlich verlorengegangen 
ist. Ich schmeichle mir aber doch, herausgefunden zu haben, 
worauf diese Theorie von den Lücken beruht: die Veranlassung 
dazu, den Text als verstümmelt auszugeben, bot — kleine 
Ursachen, große Wirkungen — ein von Pertz zu Unrecht 
gesetztes Komma, das Breitenbach a. a. O. hinderte, die 
Verse 313ff. zu verstehen! Ich setze sie noch einmal nach 
Pertz her: 


313 Ceperat in primo mihi cum dominarier anno, 
787 314 Est latus aecclesiae levum genitricis ad almae, 
f. 73" 315 Fundans eximium devota mente sacellum, 
316 Quod Januarii voluit sub honore dicar. 


Breitenbach, S. 177, regt sich über dies korrupte und 
sinnlose Stück sehr auf, es gäbe gar keinen Sinn, nach 
anno Sei sicherlich eine Anzahl Verse fortgefallen, das un- 
verständliche Est sei in Et zu ändern. Bei Brandi steht 
dann die weitergehende Behauptung, hier seien gleich zwei 
Blätter in Verlust geraten, nicht nur einige Verse. Begrün- 
dung fehlt. 

Ich denke, wir kónnen auf diese Annahme eines mehr oder 
weniger groDen Verlustes verzichten, wenn wir uns entschlieBen, 
die Verse richtig zu interpretieren: streichen wir das tatsächlich 


764 K. Strecker 


recht störende Komma hinter almae fort!! und verbinden Est 
fundans = fundat, oder hier als historisches Präsens = fundavit 
(die bekannte periphrastische Ausdrucksweise, wie V.515 ac- 
cumulans fut, 449 est precingens), so ist alles in schönster 
Ordnung: ‚im ersten Jahre seiner Regierung gründete er an der 
linken Seite der Marienkirche die Januariuskapelle." Was will 
man Besseres? Beyerle und Gruber sind von ihrem guten Engel 
geleitet worden, als sie zur rechten Zeit vergaßen, daß an der 
von ihnen behandelten Stelle ja eigentlich hundert Verse aus- 
gefallen sein mußten. Leugnet jemand, daß dieser ganz klaren 
Stelle durch die Annahme einer großen Lücke in übler Weise 
Gewalt angetan wird? — Ist diese Stelle in Ordnung, so wird es 
mir bange um die zweite Lücke zwischen 214/215, denn hier 
bin ich nicht einmal imstande, eine Vermutung zu äußern, wie 
man zu der Behauptung gekommen ist, daß auch hier hundert 
Verse fehlen. Ich brauche wohl kaum zu betonen, daß davon 
nach V. 214 gar keine Rede sein kann. Ich bitte nur, die oben 
S. 758 abgedruckten Verse noch einmal anzusehen: es wird 214 
und vorher von der Überweisung von Schleitheim gehandelt: 
215 Plurima quid refero? Confestim venerat illo! illo ist Schleit- 
heim! Was sollte denn in den verlorenen hundert Versen ge- 
standen haben? Wer nicht glauben will, daB illo heißt „nach 
Schleitheim‘‘, der lese wenige Verse weiter V. 224 Est alterque 
pagus noster Fungınya vocatus. 

Die Sache ist ja jetzt wohl klar: wir haben das vollstándige 
Gedicht Purchards, von dem kein Vers verloren ist, nur sind 
die Blätter etwas durcheinander geraten, doch ist die Heilung 
nicht schwer; vertauscht man die beiden inneren Doppelblätter 
des ersten Quaternios mit dem folgenden Binio, so ist nichts 
zu tadeln. So hat Pertz den Text gedruckt, und so muB er 
bleiben. Eines Beweises bedarf es da nicht, es hat ja auch noch 
niemand bezweifelt, daß Pertz die richtige Ordnung hergestellt 
hat; immerhin ist es ganz angenehm, zu sehen, daß das Äußere 
der Handschrift damit übereinstimmt. Das ist sogar in ganz 
überraschender Weise der Fall, denn in dem Quaternio, der 


11 Was Pertz sich dabei gedacht hat, weiß ich nicht. Zu Est macht er die lako- 
nische Anmerkung ,,sc. Witigowo". Nachtrüglich bemerke ich, daB I. v. Schlosser 
bei seinem Abdruck der Stelle im Quellenb. & Kunstgesch. d. abendl. MA. 1896, 
S. 141ff. das Komma fortläßt. 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 765 


durch diese Umstellung wiederhergestellt wird, also f. 71. 72. 
79. 80. 81. 82. 77. 78, hat jede Seite 25 Zeilen, dagegen in dem 
folgenden Binio 73. 74. 75. 76 nur 24. Natürlich muß in dem 
ersten Einbande — von dem wir übrigens insofern noch Spuren 
haben, als die ersten Heftlöcher bei dem jetzigen Einbande un- 
benutzt geblieben sind — die Reihenfolge die richtige gewesen 
sein; es fragt sich, ob wir auch davon noch Spuren finden. Das 
Mittel, mit dem W. Meyer bei den Carmina Burana so erfolgreich 
operiert hat, versagt hier ziemlich, nur eine kleine Beobachtung 
ist ganz interessant: f. 71 ist am inneren Rande in halber Hóhe 
ein ganz kleines Loch im Pergament; dasselbe findet sich f. 72, 
fehlt f. 73— 76, erscheint f. 79, also in dem Blatt, das ursprünglich 
auf 72 folgte. In f. 80 ist etwas Ähnliches, es deckt sich aber 
nicht genau mit f. 79, in 81 ist es verschwunden. Es ist übrigens 
so klein, daß es erst N. Fickermann mit seinen besseren Augen 
entdeckte, der sich an der interessanten Untersuchung der 
Handschrift beteiligte. 

Wenn ich behaupte, das Gedicht ist intakt, so muB ich selbst- 
verständlich auf einen Einwand gefaßt sein: Öhem hat zweifellos 
die uns vorliegende Handschrift benutzt und sagt von ihr, daß 
einige Blätter verloren seien, S. 75, 25: Dieselb geschrifft und 
tractaut hütt des tags in der Ow ist; doch so syen ettliche bletter 
darvon verloren; deshalb ich es alles nit gentzlichen erlernen und 
iransnieren möcht. Will man das wirklich gegen den klaren Tat- 
bestand anführen, daß das Gedicht vollständig erhalten ist? 
Öhem hat die Handschrift doch wohl in dem jetzigen Zustande 
benutzt, er sollte bemerkt haben, was Pertz nicht sah, daß 
Blätter fehlten? Die Sache ist wirklich einfach: die Blätter 
sind, wie gesagt, durcheinander geworfen, und es ist schwer, 
sich in dem Text zurecht zu finden, wenn man sich nicht sehr ` 
eindringlich damit befaBt. Wenn Óhem an eine Stelle kam, wo 
durch Lagenversetzung der Zusammenhang abriß, so wird er 
angenommen haben, das Blatt sei verloren. Weiteres darf man 
aus seiner ÁuBerung nicht schlieBen. — Man hatte wohl schon 
vor Óhem solche Beobachtungen gemacht. Am Schluf von 
f. 72“, also da, wo der fälschlich hierher versetzte Binio 73—76 
beginnt, steht auf dem unteren Rande eine Hieroglyphe 14/16. 
Jahrhunderts, etwa d'ffc', die man bei einigem guten Willen 
als deffectus lesen kónnte. Darunter, ganz unten, ein Kreuz. 


766 K. Strecker 


Soll das bedeuten, daß man hier auf die Verwirrung aufmerksam 
geworden war? Ein solches Kreuz findet sich dann noch einmal 
f. 83" unten, also an der Stelle, wo der eingeheftete Zettel 83 
zu Ende geht und die letzten 21 Verse auf das erste Blatt (847) 
einer neuen Lage geschrieben wurden. 

Da sich die Gelegenheit bietet, móchte ich noch ein Wort 
über eine andere Frage sagen: Wer hat den Codex geschrieben ? 
Pertz sagt S. 621: „est membranaceus in 4t» autographus manu 
saeculi x exaratus." Diese Ansicht ist vermutlich auch sonst im 
allgemeinen verbreitet, doch hat man sich darüber weniger ge- 
äußert. Einen Umschwung muß die Erinnerungsschrift bringen, 
wenn die darin vertretene Ansicht richtig ist: K. Beyerle, S. 212, 
Note 100c, sagt von unserm Gedicht: „Einzige Hs. Cod. Aug. 
CCV... Die stilkritische Würdigung der Miniatur auf f. 72, 
die für Regensburg entscheidet, schließt aus, daB die Hs. vor 
ca. 1030 geschrieben ist.“ Es ist dabei auf S. 743 verwiesen. 
Dort findet man die bekannte Illustration, die Widmung des 
Gedichtes durch den rusticus poaeta an die Patronin von Reiche- 
nau, und dazu die knappe Bemerkung: ,,Die Miniatur wird aus 
stilkritischen Gründen der Regensburger Malerschule zuge- 
schrieben: vgl. Sauerland-Haseloff, Der Codex Egberti 1901 
S. 169.“ Da mich diese Angaben sehr überraschten und befrem- 
deten, bin ich der Frage eifrig nachgegangen. Leider fand ich 
bei Sauerland-Haseloff nicht die erhoffte Belehrung, von einer 
Zugehórigkeit zur Regensburger Malerschule steht dort nicht 
ein Wort. Bei Swarzenski, Die Regensburger Buchmalerei 1901 
fand ich unsern Augiensis überhaupt nicht erwähnt. Ich wandte 
mich an A. Böckler, der ja in der Erinnerungsschrift den Bericht 
über die Reichenauer Miniaturmalerei erstattet hat; er erklärte 
mir zu meiner Beruhigung, er sehe keinerlei Ähnlichkeit mit 
Regensburg und keinen Grund, die Miniatur damit in Verbindung 
zu bringen. Viel eher erinnere der Stil an St. Gallen, sowohl in 
der Zeichnung (vgl. besonders Cod. Perizoni 17 in Leiden, aber 
auch einige der Darstellungen im Folchardpsalter) als in den 
Farben (vgl. den Goldenen Psalter und den Folchardpsalter). 
Die Abhängigkeit der Reichenauer Initialornamentik des 
10. Jahrhunderts (Eburnantgruppe) von St. Gallen ist ja be- 
kannt, so daß eine Beziehung auch im Figürlichen sehr be- 
greiflich wäre. Eine Entstehung der Miniatur nach dem Jahre 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 767 


1000, d. h. in der Blütezeit des die Reichenauer Produktion 
allein beherrschenden Liutharstils ist höchst unwahrscheinlich. 
-- Und woher diese auffallend präzise Datierung ca. 1030? 
Das hängt damit zusammen, daß man in unserem Purchard 
den späteren Abt von St. Emmeram sieht. Zweifellos ragte der 
junge Mönch aus der Schar der Genossen hervor, darum erhielt 
er doch wohl den Auftrag, das Gedicht auf Witigowo zu verfassen 
(vestra coactus iussione). So wird er es auch sein, dem Abt 
Berno den Traktat de consona tonorum diversitate widmete, 
Migne 142, 1155: dilectissimis in Christo filiis Purchardo et 
Kerungo. Wenn im Liber confratr. ein Purchart cantor erscheint 
(Erinnerungsschrift S. 1191), so paßt das zu der Widmung einer 
musiktheoretischen Schrift. Schließlich haben wir die bestimmte 
Nachricht, daB 1030 Burghardus Augensts monacus Ratısponae 
apud S. Emmerammum abbas promovetur (Hermann d. L., Chro- 
nicon Z. J. 1030 SS. 5, S. 121)12, 


Wenn dieser Abt von St. Emmeram mit unserm Dichter 
identifiziert wird, so kann man also auch dieser Annahme zu- 
stimmen, freilich doch mit dem Vorbehalt, daB seit Vollendung 
des Gedichtes mehr als ein Menschenalter ins Land gegangen 
war. Nicht zustimmen kann ich aber, wenn ich dann Erinne- 
rungsschrift S. 115 den Satz finde: „So erklärt sich auch, wie die 
Titelminiatur zu Purchards Carmen de gestis W. von der Kunst- 
geschichte der Regensburger Malerschule zugewiesen werden 
konnte; die Handschrift muB in den Spátjahren Purchards in 
Regensburg entstanden und wohl erst nach dessen Tode an die 
Reichenau gelangt sein." Beyerle drückt sich hier nicht ganz 
klar aus; entstand die vorliegende Handschrift oder das Gedicht 
nach 1030? Das letztere dürfte nicht gemeint sein, es ließe sich 
mit der Vorrede nicht vereinigen; aber welchen Zweck sollte 
es haben, wenn über 30 Jahre nach der tragischen Absetzung 
des Abtes Witigowo, von dem wohl niemand mehr sprach, am 
wenigsten in Regensburg, dies Gedicht erneut abgeschrieben 
und sogar illustriert wurde? Die einzige Erklärung, die einiger- 
maßen befriedigen könnte, wäre die, daß der Dichter selbst 
die Abschrift für sich anfertigen ließ, um sich gelegentlich an 


12 Die Nachrichten über Purchard von S. Emmeram bei Bresslau, Jahrb. d. d. 
R. unter Konrad II, 2, 237, 3. 


768 K. Strecker 


seiner Jugenddichtung zu erfreuen. Aber Abt Purchard — zu- 
gegeben, er sei der Dichter — war ein vornehmer Mann ge- 
worden, der mit dem Kaiser verkehrte wie seinerzeit sein Held 
Witigowo: sollte er irgendein Interesse daran gehabt haben, 
daß jene seiner damaligen Situation entsprechende Vorrede 
(me omnium stolidissimum, qui nec flosculo exarescentis foeni ulla 
rattone possum comparari) jetzt noch wieder aufgewärmt wurde ? 
Natürlich, sie entspricht den Forderungen der christlichen 
Demut und gehórt zum Stil, das ist ja bekannt, aber wozu sollte 
diese seine Selbsterniedrigung hier noch einmal abgeschrieben 
werden, wenn niemand sie lesen würde, auch die Reichenauer 
nicht? Die Behauptung, die Handschrift sei nach 1030 geschrie- 
ben, kann nur aufstellen, wer sie nicht gesehen hat. Das Gedicht 
ist nämlich von zwei Händen geschrieben, von 1—494 und von 
495—552, das entspricht ganz genau der Tatsache, daB es in 
zwei Etappen entstanden ist, 994/95 und 96/97. Wenn 30 Jahre 
spáter eine Abschrift genommen wurde, so wird doch wohl 
niemand auf den Gedanken gekommen sein, die zwei Hände 
des Originals auch hier nachzubilden!*! 

Und noch eins. Es ist immer von der Handschrift des 
Carmen de gestis Witigowonis die Rede, aber die gibt es nicht! 
Das Carmen ist ein Stück eines recht umfangreichen Corpus von 
175 Blättern, von dem es nicht getrennt werden kann. Dieses 
Corpus besteht in der Hauptsache aus zwei Codices, die Grenze 
zwischen beiden bildet unser Carmen; die letzten 21 Verse des 
Gedichtes stehen auf der ersten Seite des zweiten Codex, sie 
gehóren aber ursprünglich nicht zu ihm, wie sich unten ergeben 


18 Erst nachträglich konnte ich ein Buch benutzen, das die Zuweisung der 
Handschrift an Regensburg kritiklos nachspricht. Jos. Hecht, d. romanische Kirchen- 

bau des Bodenseegebietes 1, 1928, 92: ,,nun schrieb Purchard sein Carmen nicht etwa 
im blühenden Enthusiasmus seiner Jugend als Mönch unter Witigowo. Im V. 384 
deutet er selbst an, daß er das Lied erst in späteren Tagen verfaßt hat. Erschmückt 

es zudem mit einer Miniatur, die nach ihrem Stil nicht aus der Reichenau, wohl aber 

aus der Regensburger Malerschule stammt. Das Carmen ist also erst nach 1030 

entstanden.“ - Dies wird dann von dem Rezensenten der DLg 1929, Sp. 1157, wieder- 

holt. — Aber diese Zustimmung ist doch nicht allgemein, ein anderes Buch, das ich 

ebenfalls verspätet in die Hände bekam, I. Prochno, Das Schreiber- u. Dedikations- 

bild in der deutschen Buchmalerei 1, Leipzig 1929, S. 27, lehnt diese Ansicht un- 

bedingt ab: „Der Versuch, die Handschrift nach Regensburg zu lokalisieren und 

40 Jahre später anzusetzen, scheint mir undurchführbar.“ 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 769 


wird. Daß dieser zweite Codex anfänglich ein Band für sich war, 
Bl. 84—175, enthaltend eine Expositio mystica zu den Para- 
bolae Salomonis usw., ersieht man daraus, daß seine Lagen für 
sich gezáhlt sind, I—XIII. Auch hat dieser ganze Codex nur 21 
Linien auf der Seite, während, wie wir uns erinnern, das Carmen 
25 und 24 hat; er ist auch, wie mir scheint, früher geschrieben. 
— Lohnender ist die Beschäftigung mit dem ersten Teil des 
Corpus. Er ist nicht einheitlich wie der zweite, vielmehr ist fest- 
zustellen, daB er aus recht disparaten Stücken besteht. Zuerst 
haben wir f. 1—54 sieben Lagen (6 Quaternionen und 1 Ter- 
nio) die I—VII numeriert sind“, aber in ganz anderer Weise 
. als die Lagen des hinteren Codex, mit dem hat dieser Teil nichts 
zu tun, und es ist reiner Zufall, daB auch hier die Seiten 21 Zeilen 
haben wie dort. Diese 7 Lagen enthalten Alchvine, Quaestiones 
in genesim. Daran schlieBt sich ein anderes Werk, aber ohne 
die Zuweisung an Alchvine, die Propositiones ad acuendos 
iuvenes, zwei Quaternionen f. 55—62 u. f. 63—70. Dies Stück war 
ursprünglich nicht mit Alchvines Quaestiones vereinigt, es war 
vielmehr ganz selbständig, denn die beiden Lagen sind nicht 
numeriert wie die sieben der Quaestiones, was natürlich hóchst 
auffallend wäre, wenn die sämtlichen neun Lagen, 1—7 und 8—9, 
von vornherein zusammengehört hätten; und entscheidend ist, 
daß diese beiden unnumerierten Lagen anders liniiert sind; sie 
haben 22 Zeilen auf der Seite und sind auch von einer anderen 
Hand beschrieben. Man hat also auch hier zwei ursprünglich 
selbständige Handschriften zusammengesetzt, die Fuge ist 
hinter Lage VII, nach Bl. 54. Dagegen scheint nun freilich die 
Tatsache zu sprechen, daß das Kapitelverzeichnis der Proposi- 
tiones noch auf dem letzten Blatt der Quaestiones f. 54“ steht, 
aber genau zugesehen spricht dies gerade dafür, denn dies Ka- 
pitelverzeichnis ist von anderer Hand geschrieben oder, um mich 
vorsichtig auszudrücken, es ist jedenfalls zu anderer Zeit und 
mit anderer Tinte geschrieben als die Propositiones; die Tinte 
ist ganz anders, tiefschwarz, die auf Bl. 55" ziemlich blaß. Daß 
es die Hand wäre, die den letzten Teil der Quaestiones schrieb, 
ist ganz ausgeschlossen. Der Hergang war also der: Man wollte 
die beiden Lagen der Propositiones mit den Quaestiones zu- 


M Die Zahl VI f. 48V ist einer Rasur zum Opfer gefallen. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 49 


770 K. Strecker 


sammenbinden. Da nun aber f. 54' zum größeren Teil und 54" 
ganz leer war, benutzte man den zur Verfügung stehenden 
Raum, um dies Kapitelverzeichnis, das ursprünglich also fehlte, 
hier einzufügen. Die vier freibleibenden Halbzeilen füllte der 
Miniator dannso aus: FINIVNT CAPITVLA SVPTER ANNE- 
XARVM ENIGMATVM®. 

Wir haben also bisher zwei Codices: 1. den am Schluß stehen- 
den, Bl. 84'——175", 2. den durch die Vereinigung der Proposi- 
tiones mit den Quaestiones Alchvines entstandenen, f. 1—70v. 
Dazwischen nun, 71'—84', steht das uns zumeist angehende 
Stück, Purchards Gedicht; war das ursprünglich auch selbständig 
und wurde dann hier mit eingebunden oder ist es später in den 
fertigen Codex eingetragen worden? Seit wann besteht über- 
haupt der Codex, wie er vor uns liegt? Der jetzige Einband ist 
wohl aus dem 15. Jahrhundert. Näheres würde man vielleicht 
sagen können, wenn die beiden deutschen Privaturkunden, mit 
denen die Innenseiten der Deckel beklebt sind, abgelöst und 
zeitlich bestimmt würden. Aber der ganze Codex war schon 
zusammen, ehe der vorliegende Einband gemacht wurde, das 
geht zweifellos daraus hervor, daß sämtliche Lagen dieselben 
Heftlöcher haben, die aber von dem Buchbinder des 15. Jahr- 
hunderts nicht wieder benutzt worden sind. Sie gehen also auf 
den ersten Einband zurück, und der entstand, als Purchards 
Gedicht eingetragen wurde, das scheint mir aus der merkwürdigen 
Raumverteilung, die dabei beliebt wurde, geschlossen werden zu 
müssen. Das Carmen — natürlich in der ursprünglichen An- 
ordnung, wie sie vor der Vertauschung der beiden Binionen 
war — beginnt mit einem Quaternio, f. 71—78, die Seite zu 
25 Zeilen; dann folgt der Binio, die Seite zu 24 Zeilen. Auf der 
letzten Seite, 76°, des Binios, steht nun der Rest des ursprüng- 
lichen Gedichtes, 12 Verse, und der Anfang des Nachtrages, 


15 Auf unserer Handschrift beruht es also, wenn man die Propositiones dem 
Alchvine zuschreibt. Frobenius II, 440, Migne 101, 1143 sagt: „extat vero sub nomine 
Alcuini in perveiusto codice ms. monasterii Augiae divitis, unde descriptum ad nos 
venit.“ Damit kombinierte er die Stelle aus Alchvines Brief an Karl MG. Ep. 4 S. 
285, 8 misi excellentiae vestrae.. aliquas figuras arithmeticae subtili- 
tatis laetitiae causa, und so nahm er das Werk unter die Dubia auf. Nach meinen 
Darlegungen bietet unsere Handschrift jedenfalls nicht die geringste Handhabe für diese 
Zuweisung, und M. Cantor, Die roem. Agrimensoren 1875, 139 fl. hatte nicht Unrecht, 
als er sie stark bezweifelle. | 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 771 


ebenfalls 12 Verse bis: Haud procul hinc domus est. Damit war 
der Binio voll, es blieben noch 46 Verse des Schlusses unterzu- 
bringen. Nun sollten ja in dem Codex, den man zusammenstellte, 
auf unser Gedicht die dreizehn Lagen, Exp. in Parabolas Salo- 
monis usw. folgen, die von Anfang an einen eigenen Codex 
bildeten, wie die durchgehende Linienzahl und die Lagenzáhlung 
zeigt. In diesem Codex nun war die äußere Seite des ersten 
Blattes als Schutzblatt leer gelassen worden. Wenn nun aber 
dieser Codex mit einem anderen zusammengebunden wurde, 
so war diese leere Seite überflüssig, sie stand dem Schreiber zur 
Verfügung und wurde jetzt benutzt, um die letzten Verse des 
Gedichtes einzutragen. Da die Seite, wie alle folgenden, mit 
21 Linien versehen war, mußten es auch 21 Verse sein. So waren 
noch 25 übrig. Für sie hátte ja gerade eine Seite genügt, wie der 
Quaternio 71—78 Seiten zu 25 Linien hat, aber dann wäre eine 
Seite leer geblieben. Um das zu vermeiden, entschloB sich der 
Schreiber, statt eines ganzen Blattes nur einen Zettel, Bl. 83, 
einzuheften, der auf der Vorderseite 12, auf der Rückseite 13 Zei- 
len erhielt. Daher dieses merkwürdige eingeschobene Blatt 83, 
das für unser Gefühl so störend wirkt. Der Mann, der diese An- 
ordnung traf oder wenigstens ausführte, war der Schreiber der 
Schlußverse. Dieser ist wahrscheinlich von dem Schreiber des 
Gedichtes verschieden. Es liegen ja zwei Jahre zwischen den 
beiden Teilen des Gedichtes, aber reichen diese aus, um den 
auffallenden Unterschied der Schrift zu erklären? — Wer war 
nun der Hauptschreiber? Ich komme damit auf die Frage des 
Autographs zurück. 

Chroust sagt a. a. O.: „Die vorliegende Überlieferung des 
Gedichtes mit ihren zahlreichen und sehr umfangreichen Ra- 
suren, die schwerlich allein Schreibversehen, sondern wohl eher 
Verbesserungen des Textes durch den Autor bedeuten, sieht wie 
ein Autograph Purkharts aus." Dem muß ich beistimmen. Die 
Handschrift weist wirklich auffallend viele Korrekturen, zum 
groBen Teil auf Rasur, auf; vielfach sind ganze Zeilen radiert 
und korrigiert, und zwar so gut wie immer von der Hand des 
Schreibers. Man erkennt es auf den ersten Blick, ein besonderer 
Umstand bestätigt es: wenn die ganze Zeile oder die erste Hälfte 
derselben radiert ist, so ist doch die Initiale ausgenommen. 
‘Sämtliche Zeilen beginnen mit einer roten Initiale. Wenn diese 

49* 


772 K. Strecker 


auf unradiertem Grunde steht, während die Zeile selbst radiert 
ist, so ist das ein Beweis, daß diese Rasuren und Korrekturen 
früh vorgenommen wurden, bevor die Miniierung erfolgte, 
Korrektor und Schreiber sind identisch. Und Chroust hat richtig 
gesehen, die Korrekturen bedeuten deutlich Verbesserungen des 
Textes durch den Autor. Nehmen wir V. 447 gemmis ac auro. 
Es scheint mir deutlich, daß da, wo jetzt c auro steht, früher 
gemnus stand, d. h. der Vers ist nach der Niederschrift umgearbei- 
tet worden. Ähnlich ist es mit V. 1: wo jetzt plores steht, muß 
früher dasselbe Wort gestanden haben, man erkennt es noch; 
also hat der Dichter offenbar den Vers umgearbeitet. V. 102 
stand statt tractabam ein Wort, das ein g enthielt. So findet sich 
noch manche Stelle, wo man mehr ahnen als klar erkennen kann, 
dab ein anderes Wort eingesetzt, ein ganzer Vers verändert, ver- 
bessert ist, kurz, daB das vorliegt, was wir Autorenkorrektur zu 
nennen pflegen. — Dazu kommt nocht etwas: die Handschrift 
ist fast fehlerlos geschrieben! Versehen, wie sie doch regelmäßig 
sind, wenn ein Schreiber den Text eines anderen abschreibt, 
sind, wenigstens unkorrigiert, kaum vorhanden, mit Ausnahme 
von humillam statt humillimam, eine wirklich unbedeutende 
Flüchtigkeit. Dazu scheint ein bedenklicherer Fehler zu kommen 
V. 88f. 
Sed non sum vanis mulier clamosa querelis, 
Perfectae fidei volo gui succumbere legi. 

Pertz macht ein Notabene zu dem qu: und läßt es unangetastet; 
es ist aber doch einmal ein Fehler, denn Augia spricht. Ich hatte 
mich für quin entschieden und wurde dann darauf aufmerksam, 
daß über i ein dünner Strich steht; 38—40 sind auf Rasur ge- 
schrieben, und der Schreiber hat V. 38 in su und in 40 in quà 
einen Querstrich des alten Textes benutzt, so scheint es auch bei 
diesem qut zu stehen. — Sehr stark würde es aber gegen die An- 
nahme eines Autographs sprechen, wenn K. Beyerle, Erinnerungs- 
schrift S. 212, 1004 Recht hätte, daB V. 224 pagus noster 
Funginga vocatur ein Fehler wäre und Junginga (im Gebiet des 
Königsfiskus Ulm) zu setzen wäre, ein Dichter, der der Abtei 
Reichenau angehörte, würde sich schwerlich so verschrieben 
haben; doch fällt dies Bedenken fort, Funginga darf nicht ge- 
ändert werden, es ist Pfungen bei Winterthur, wie schon Meyer 
von Knonau erkannte, Anz. f. schweizerische Geschichte, 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 773 


N. F. II, 1874—77, S. 264f., vgl. F. Beyerle, Zs. f. Gesch. d. 
Oberrheins, N. F. 43, 333 fl. — Ein zweiter Irrtum zieht sich 
ferner durch große Teile der Handschrift unseres Gedichtes, auf 
den ich noch eingehen muß, er ist ganz scherzhaft. Das Gedicht 
ist bekanntlich eklogenartig gebaut, ein Zwiegespräch zwischen 
Augia und dem Dichter, und zwar ist immer über das betreffende 
Stück mit roten Majuskeln AUGIA bzw. POETA geschrieben, 
so daß dies Wort eine ganze Linie einnimmt. Zu Anfang, V. 1, 
freilich ist dies unterblieben, wohl weil es hier unnötig erschien. 
Als dann die Augia auf die Anrede des Poeta erwidert, war zu- 
erst am Kopf der Seite, f. 797, der Beginn ihrer Rede, V. 25 und 
V. 26, fast ganz (ohne rote Initialen) eingetragen, doch wurde 
der Fehler sofort bemerkt, die Verse wurden getilgt und eine 
Stufe tiefer gerückt, so daß später AUGIA rot auf die erste 
Zeile gemalt werden konnte. So steht dann richtig V. 29. 33. 48 
AUGIA bzw. POETA auf der Linie über dem Text. Aber zu 52 
hatte der Schreiber vergessen, eine Zeile freizulassen, er schrieb 
fortlaufend von 48—58 und ließ erst dort eine Lücke, und so 
malte der Miniator dann über V.59 sein rotes AUGIA auf die 
freie Zeile, dann 65 POETA; entsprechend auch zu 70. 81. 145, 
bis der Irrtum bemerkt wurde. Um ihn wieder gut zu machen, 
schrieb der Miniator nun am Rande zu V.52 AUGIA und ra- 
dierte und korrigierte an den entsprechenden Stellen, bis AUGIA 
und POETA am richtigen Platz standen. Spricht nun das nicht 
gegen die Annahme, daß Dichter und Schreiber identisch sind ? 
Ich glaube doch nicht, denn es war ja nicht der Schreiber, sondern 
der Miniator, der das Unglück angerichtet hatte, den Schreiber 
trifft nur die Schuld, daß er V.52 vergessen hatte, eine Zeile 
freizulassen, — doch wohl ein Versehen, das auch dem Autor 
widerfahren konnte. So bin ich auch hier der Ansicht, daß Pertz 
richtig gesehen hat, als er Schreiber und Dichter identifizierte. 
Ein schlagender Beweis läßt sich natürlich nicht führen — wie 
immer in solchen Fällen. 

Wer widersprechen will, braucht um Gegengründe nicht ver- 
legen zu sein. Was ich oben vom ersten Teil des Gedichtes sagte, 
daß er fast fehlerfrei geschrieben sei, trifft für die 58 Verse des 
Nachtrags ebenfalls zu, dazu sind Korrekturen hier so gut wie 
gar nicht vorhanden. Ferner könnte man bei dem Gedicht selbst 
zwei Schreiber unterscheiden wollen, f. 755 mit dem Worte 


774 K. Strecker 


ualet scheint eine zweite Hand einzusetzen. Ich glaube, es ist 
dieselbe Hand, aber der Schreiber hat eine andere Feder ge- 
nommen. Ganz ähnlich ist es f. 82“, Zeile 2. Schließlich finden 
sich einige Korrekturen, die den Eindruck machen, daß sie nicht 
von der Hand des Schreibers herrühren, doch habe ich eigentlich 
keine gefunden, bei der ich wirklich überzeugt wäre, daB sie 
nicht vom Schreiber selbst stammen kónne, doch wird zu unter- 
scheiden sein zwischen Korrekturen, die sofort bei der Nieder- 
schrift vorgenommen wurden, und solchen, die bei einer spáteren 
Revision erfolgten, vor allem V. 410. 427, auch 365. 

Zum Schluß noch eine Bemerkung zu Gallus Óhem. Dieser 
hat S. 23, 19 den Planctus Augiae aufgenommen, Augta regalis, 
dives quandoque fuisti, der bei ihm mit 9 Versen, die aus Pur- 
chards Gesta entnommen sind, schließt. Zu diesem Planctus 
sagt K. Beyerle a. a. O. 158: „In einer Anlehnung an Purchards 
Gedicht über die Taten Witigowos aber lie8 der spátere Reim- 
dichter die SchluBgedanken seines Planctus Augiae ausklingen.“ 
Das wäre nicht unwichtig, wenn es richtig wäre. Über die Zeit 
des Dichters dieses Planctus wissen wir nichts Bestimmtes, doch 
setzt ihn Brandi S. 23 f. sicherlich mit Recht ins 13. Jahrhundert. 
Wenn er also Verse aus Purchards Gesta in seinen Planctus auf- 
genommen hätte, so wäre das die älteste Erwähnung dieses Ge- 
dichtes. Es ist aber nicht richtig, wie schon aus Brandis Aus- 
führungen S. 23, Anm. 21, zu ersehen ist, die aus Purchard ent- 
nommenen Verse gehören nicht zum Planctus, und es ist nicht 
zu verteidigen, daß Beyerle S. 158 sie als Bestandteil desselben 
abgedruckt hat. Schon Brandi macht darauf aufmerksam, daß 
die Überlieferung verbietet, die Purchardverse dem Planetus zu- 
zurechnen, sie fehlen ja in den Handschriften A und C; sie 
können gar nicht zu dem Gedicht gehören, da sie ein ganz anderes 
Versmaß aufweisen. Der Planctus besteht aus hexametri colla- 
terales, und der Dichter handhabt das Versmaß nicht ungewandt, 
nur in 19. 20 hapert es mit dem Reim auf Ulma etwas, mir 
scheint sogar, daß hier eine Korruptel vorliegt. An diese Colla- 
terales sollte der Dichter neun entlehnte Leoniner geklebt 
haben? Undenkbar. Und ganz schlagend ist folgendes: Öhem 
hat S. 25, 12—26, 20 einen Auszug von 38 Versen der Gesta W. 
zusammengestellt, zuerst 27 Verse des Anfangs der Gesta, dann 
V. 276, 477, 478, 277—280, 285, 489—491. Die neun erwähnten, 


Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 775 


dem Planctus angehängten Verse kehren sämtlich in diesem 
Auszuge wieder, die beiden ersten etwas verändert, die andern 
unverändert, in der Reihenfolge 22, 276, 477, 478, 13, 14, 15, 16, 
18. Es wird ja wohl niemand glauben wollen, da8 diese Über- 
einstimmung auf Zufall beruht. Wenn Brandi S. 23 sagt: „sie 
gehóren also schwerlich zur ursprünglichen Form des Gedichtes 
(des Planctus)", so kónnen wir das unbesorgt etwas schárfer 
präzisieren und sagen: es ist kein Zweifel, daß auch dieser erste 
Auszug aus den Gesta, der dem Planctus angehört, auf Óhem 
zurückgeht; mit der Benutzung unseres Gedichts im 18. Jahr- 
hundert ist es nichts. Was Öhem veranlaßte, diesen kürzeren 
und lángeren Auszug aus Purchard hintereinander zu stellen, die 
beiden ersten Verse etwas umzuformen, das kónnen wir nicht 
wissen; zu vermuten bleibt nur, daß er eine spätere Schluß- 
redaktion dieser Partie geplant hat, die unterblieb, weil das 
Werk nicht vollendet wurde, vgl. Brandi S. XVII. 


776 


Die Wirsberger. 


Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären 
Apokalyptik im 15. Jahrhundert 
von 


Otto Schiff. 


Es gehórt zum Wesen der kirchlichen Reformbestrebungen 
des Mittelalters, daB sie leicht vom geistlichen auf das weltliche 
Gebiet übergreifen. Denn der Klerus, gegen den sich der Angriff 
richtete, war nicht nur der Träger der Lehre, sondern zugleich 
ein herrschender und besitzender Stand. Wer das Leben dieses 
Standes mit dem urchristlichen Armutsideal in Einklang bringen 
wollte, rüttelte zugleich an der Ordnung der Gesellschaft. Bei 
ihrem unlöslichen Zusammenhange mit religiösen Gedanken 
mußten auch die politischen und sozialen Forderungen aus der 
Bibel, vor allem aus dem Neuen Testament, begründet werden. 
Solange sie friedlich mit der Macht des bloBen Wortes durchzu- 
dringen suchten, durften sie sich auf die Evangelien berufen; 
sobald sie aber den Weg der Gewalt, der Revolution, wáhlten, 
bot sich ihnen innerhalb des Neuen Testaments nur etne Stütze: 
Die Apokalypse. Hier fand man einen Christus, aus dessen 
Munde ein Schwert geht; hier fand man das Bild der ungeheuren 
Umwälzung, die den Antichrist samt seinen Anbetern hinweg- 
rafft und den glückseligen Zustand des tausendjàhrigen Reiches 
anbahnt. 

Unter den Apokalyptikern des Mittelalters hat keiner einen 
tieferen und nachhaltigeren Einfluß geübt als Joachim von Fiore. 
Wohl blieb der prophetische Calabrese immer der gehorsame 
Sohn der Kirche; aber er verbreitete und verschárfte die Über- 
zeugung von ihrer Unvollkommenheit durch seine Lehre, daB 
auch das Neue Testament nicht das Weltalter der Vollendung 
eröffnet habe, sondern einen Zwischenzustand zwischen Gesetz 
und Freiheit, zwischen Buchstabe und Geist. Erst ein drittes 


Die Wirsberger 777 


Weltalter sollte das „geistliche Verständnis“ des Bibelwortes 
und die Reinigung der Kirche bringen. Daß Joachim die ent- 
scheidende Rolle bei dieser Wandlung einem heiligen Orden 
zuwies, war für die Zukunft folgenreich. Denn in dieser Pro- 
phezeiung sahen spiritualistisch gesinnte Franziskaner einen 
Hinweis auf ihren eigenen Orden, der kurz nach Joachims Tode 
aus dem urchristlichen Armutsgedanken erwachsen war, und 
je mehr sie mit der verweltlichten Kurie zerfielen, desto mehr 
benutzten sie den Joachimismus als Waffe; ja, ein ihnen geistes- 
verwandter Predigermönch lehrte schon um die Mitte des 
13. Jahrhunderts, daß der Antichrist, den Joachim erwartet 
hatte, kein anderer sei als der Papst). 

Die apokalyptische Erwartung des Gottesgerichts und des 
Gottesreichs gewann im Abendlande eine weite Verbreitung. 
In Deutschland erhielt sie sich in der Sage vom Messiaskaiser 
der Endzeit und den Weissagungen der Geißler. Ein echter Ver- 
treter der Apokalyptik war beispielsweise um die Mitte des 
14. Jahrhunderts der thüringische Geißlerhäuptling Konrad 
Schmid, der als Kaiser Friedrich und König von Thüringen galt; 
noch etwa ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode lebte in 
seiner Sekte der Glaube, daß ım Klerus der Antichrist, in 
Konrad Schmid der Prophet Henoch, der Vorläufer des jüngsten 
Tages, erschienen sei und daß nicht Christus, sondern er das 
Weltgericht abhalten werde?. 

In vollkommen revolutionärer Prägung erscheint die Apo- 
kalyptik in Böhmen. Die taboritische Bewegung ist in ihrer 
Frühzeit erfüllt von dem feurigen Glauben, daß die Brüder als 
Engel des Gerichts berufen seien, die Feinde des göttlichen 
Gesetzes mit Brandfackel und Schwert zu vertilgen und das 
irdische Paradies — das Reich ohne Kaiser, ohne Steuern und 
ohne Kirchengut — zu verwirklichen?. Freilich hatte das Tabo- 
ritentum keine lange Lebensdauer; mehr und mehr wurde es 
zurückgedrängt durch die Partei der Kelchner, die den Frieden 
mit der Kirche durch weitgehende Zugeständnisse zu erkaufen 


ı E. Winkelmann, Fratris Arnoldi de correctione eeclesiae epistola ... Berolini 
1865. 
3 Vgl. H. Haupt in der Realenzyklopädie für protestant. Theol. 3. Aufl. VI, 
440—441 und die dort genannten Quellen. 
3 Vgl. die 72 Artikel der Taboriten in Fontes rerum Bohemicarum V, 454ff. 


778 Otto Schiff 


suchte, und im Jahre 1452 verlor es durch den neuen Regenten 
Bóhmens, Georg von Podiebrad, sein rechtliches Dasein*. Aber 
wenige Jahre später zeigt sich auf böhmischem Boden, doch 
dicht vor den Toren Oberdeutschlands, eine Bewegung, die das 
heimliche Fortleben der revolutionären Apokalyptik erweist®. 

Die Träger dieser Bewegung waren die Brüder Janko und 
Livin von Wirsberg®. Sie gehörten einem angesehenen und be- 
güterten Adelsgeschlecht fränkischer Herkunft an. Livin saß auf 
Höflas im Egerlande; Janko war nicht ansässig, hielt sich aber 
zeitweise bei seinem Bruder auf. Auch er war Laie und ohne 
gelehrte Bildung, aber er war der Führende. Daß er der Urheber 
der neuen Lehre war, ist unwahrscheinlich; das Gerücht be- 
hauptete, daß ein „auslaufender Mönch“ sie erdichtet habe’. 
In der Tat sprechen nicht nur innere Gründe, sondern auch 
einige äußere Zeugnisse dafür, daß die Wirsberger mit spiri- 
tualistisch gestimmten Franziskanern in Verbindung gestanden 
haben®. Ihre Propaganda begann wohl schon in den 1450er 
Jahren®; nach ihrer späteren Versicherung brachten sie ihre 


* Palacky, Gesch. von Böhmen, Bd. 4, Abt. 1, S. 306ff. 

5 Diese Bewegung beleuchtete zuerst 1881 auf Grund der Akten des Stadt- 
archivs in Eger H. Gradl, Die Irrlehre der Wirsberger (Mittheilungen d. Vereins 
für Geschichte d. Deutschen in Bóhmen. Jahrg. 19, S. 270—279), dann im Jahre 1898 
mit reicher Quellenkenntnis H. Haupt, Art. Wirsberg (Allgem. Dtsch. Biogr. 43, 
618—520). Haupts Arbeit ist grundlegend. — Tatsachen, die ich ohne Quellenbeleg 
anführe, ergeben sich aus den von Gradl auszugsweise mitgeteilten Aktenstücken. 

* Janko — Johannes, Livin — ahd. Liutwin. 

? Über Jankos Stand und Bildung vgl. die Briefe des päpstlichen Legaten vom 
28. VIII. 1466 (Analecta Franciscana. T.2. Quaracchi 1887. S. 425/426) und des 
Kónigl. bóhmischen Geheimschreibers Jobst von Einsiedel vom 17. IX. 1466 (Archiv 
für österreich. Gesch. Bd. 39. 1868. S. 280ff.) Der letztere schreibt: „Und wist, 
als ich in schrifften [las], auch als Lewin sich vorentwort ken dem pischoff, vornym 
ich, das yndert ein betriger und ein auslaufender münche das gemacht und geticht 
hat . .; der Mönch scheine auch Livins Antwort an den Bischof gemacht zu haben, 
„wann Lewin nicht vil lataynisch kan nach [= noch] sein prueder“. — Gradl hielt 
Janko für einen Mónch. 

5 DaB die Ketzerei unter den Observanten in Eger entstand, berichten 
Annales Mellicenses (M G SS IX, 521) und Basler Chroniken V, 439. Weitere 
Hinweise auf die Bettelorden in dem unten wiedergegebenen Brief des Legaten 
vom 11. VI. 1466. 

Livin gibt in einem Briefe von 1466 (Gradl a. a. O. 273) an: „seit 10 Jahren“, 
der 1466 erhobene Bischof Heinrich von Regensburg: „etliche Jahre vor unserer 
bischöflichen Erwählung“ (Fontes rerum Austriacarum Abt. II, Bd. 42, S. 394ff.). 


Die Wirsberger 779 


Lehre nicht unter den Pöbel, sondern nur vor gelehrte Kollegien. 
Zu diesen gehörte das sächsische Provinzialkapitel des konventu- 
alistischen Zweiges der Franziskaner, das unter dem Vorsitz 
des Provinzials Nikolaus Lackmann 1466 auf der Pfingsttagung 
zu Freiberg ihre Lehre als ketzerisch verwarf und mit Ver- 
folgung drohte. Ohne Zweifel suchten und fanden die Wirs- 
berger Anhang in geistlichen wie in weltlichen Kreisen. Die 
ersten Anzeigen gegen sie liefen bei der zuständigen geistlichen 
Behörde in Regensburg noch zur Zeit des Bistumsverwesers 
Ruprecht ein, der am 1. November 1465 starb!?, Aber weder er 
noch sein Nachfolger, Bischof Heinrich, beeilten sich einzu- 
schreiten. Diese auffallende Langmut wird durch das Ansehen 
der Familie von Wirsberg nicht genügend erklärt; der Haupt- 
grund war wohl, daB die geistliche Obrigkeit sich des weltlichen 
Arms nicht sicher fühlte. Der Landesherr, Kónig Georg von 
Bóhmen, war durch seine zweideutige Kirchenpolitik in einen 
schweren Gegensatz zur Kurie geraten. Da er trotz seiner 
eidlichen Zusage Bóhmen nicht zur Einheit mit der Kirche zu- 
rückführen konnte und wollte, schwebte seit dem Juni 1464 in 
Rom ein Rechtsverfahren gegen ihn. Diese Sachlage macht das 
Zógern der bischóflichen Behórde verstándlich. Da kam die 
Werbetätigkeit der Wirsberger dem päpstlichen Legaten Rudolf 
von Rüdesheim, Bischof von Lavant, zu Ohren. In Breslau, wo 
er mit den Katholiken Bóhmens und seiner Nebenlünder den 
Kampf gegen den utraquistischen König vorbereitete, erhielt 
er durch einen Edelmann, den die Wirsberger zu gewinnen ver- 
sucht hatten, Kenntnis von ihrer Lehre. Er forderte daher in 
einem Schreiben vom 11. Juni 1466 den Regensburger Bischof 
zu pflichtmáBigem Einschreiten auf. Er schilderte die Gefähr- 
lichkeit der neuen Sekte, die den ganzen geistlichen Stand mit 
Ausnahme der vier Bettelorden vernichten wolle und zahlreiche 
ketzerische Schriften verbreite. Nach Livins Angabe sei der 
Anhang der Wirsberger in verschiedenen Teilen Deutschlands 
so zahlreich, daß sie vereint einem großen Fürsten widerstehen 
könnten. Darunter seien besonders viele Bettelmönche und ein 
sonst ehrbarer Bürger von Eger, der Tuchhändler Hans Schön- 
bach. Im kommenden Jahr solle ein neuer Messias, der ,,unctus'', 


10 Brief seines Nachfolgers vom 12. V. 1469 bei Gemeiner, Regensburgische 
Chronik, Bd. 3. Regensburg 1821. S. 452. 


780 Otto Schiff 


öffentlich verkündigt werden; sein Vorläufer, der sich „Johannes 
de Oriente' nenne, solle Janko von Wirsberg sein!!. 

Auf das Drängen des Legaten schritt der Bischof ein. Da 
ihn der Legat auf die Erfolge der Bewegung bei den Bettel- 
mónchen aufmerksam gemacht hatte, verhórte er am 20. Juni 
die Vorsteher der Regensburger Bettelordensklóster über 28 Ar- 
tikel, die den Wirsbergern zur Last gelegt wurden!. Die Ordens- 
männer bestritten jede Schuld und lenkten den Verdacht auf 
die Franziskaner von Eger, die im Gegensatz zu ihnen Obser- 
vanten waren. Aber auch diese wuBten sich zu rechtfertigen, 
und das gleiche war bei Hans Schónbach der Fall. Auch die 
gut katholische Stadt Eger wies die gegen ihre Bürger erhobenen 
Verdächtigungen scharf zurück, und die kirchlichen Behörden 
mußten den Rückzug antreten: Der Legat sprach Ende August 
erst die Stadt Eger, dann ihr Franziskanerkloster von jeder 
Schuld frei, und am 5. September gab Bischof Heinrich der 
Stadt eine Ehrenerklärung. Zu einem Verfahren gegen die 
Hauptbeschuldigten, die Brüder von Wirsberg, fand man nicht 
sogleich den Entschluß. In trotzigen Briefen an die Stadt Eger, 
den Bischof von Regensburg, die Fürsten und Städte des 
Reichs, ja die gesamte Christenheit beklagten sie sich über ver- 
leumderische Ausstreuungen; sie forderten eine ordnungsmäßige 
Untersuchung durch die höchsten Stellen. Livin dachte wohl 
an ein Konzil, wenn er vor ,,haubt, glid und gelarte der cristen- 
heit‘‘ gestellt zu werden wünschte. Janko wollte seine Lehren, 
wie er der Stadt Eger am 27. Juli schrieb, vor Fürsten und 
Städten des Reichs mit der hl. Schrift als wahr erweisen. Dies 


11 Der Brief des Legaten vom 11. VI. 1466 ist am vollständigsten in der Chronik 
des Nikolaus Glassberger (Analecta Franciscana II, 422—423) überliefert; andere 
Drucke bei Schelhorn, Acta historico-ecclesiastica I. Ulm 1738. Nr. 10 und bei 
Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters II, Nr. 55 (falsch datiert!).— 
Nach einem spáteren Schreiben des Legaten vom 28. VIII. 1466 (bei Glassberger 
a. a. O. 425—426) rühmten sich die Wirsberger dem Edelmann gegenüber, daß 
auch weltliche Fürsten und Prälaten zu ihren Anhängern zählten. An wen sie dabei 
dachten, schließe ich aus der unten besprochenen Münchner Handschrift Clm 18930 
wo es heißt: „Ubi requiri debet iste unctus, queratur Gurcensis, Maydburgensis, 
Schawinburgensis." Sie glaubten also, daß der Bischof von Gurk, die Grafen von 
Maidburg und Schaunberg — sämtlich österreichische Herren — ihre Anhänger 
seien. 

12 Das Verhör und sein Ergebnis bei Glassberger a. a. O. 423—426. 


Die Wirsberger 781 


Schreiben ist die letzte unmittelbare Kundgebung Jankos; er 
wird noch einige Male erwähnt, zuletzt am 5. Dezember; dann 
verschwindet er, ohne daß man sagen kann, ob er gestorben, 
geflüchtet oder eingekerkert worden ist. Livin trat am 17. August 
in einem inhaltreichen Schreiben an den Rat zu Eger für Janko 
ein, den man mit Unrecht für einen Ketzer, einen „Böhmen“ 
ausgegeben habe. Janko habe von den Dingen, die er lehre, 
nichts erdacht, sondern sei angegangen und ersucht worden, 
die Sache zu einem redlichen Ende zu bringen. Livin will den 
Bruder mit diesen Worten nicht etwa als den Vollstrecker eines 
göttlichen Auftrages, sondern als den Sachwalter eines erleuch- 
teten Menschen hinstellen; denn er unterscheidet ihn deutlich von 
dem Verfasser der durch ihn verbreiteten prophetischen Schrif- 
ten: „der selbig, der ausschreybt, gibt in der heyligen schrift 
mancherley für, wy er solchs von gotes offenbarung hab... .“ 
Dies Zeugnis Livins ist von größter Wichtigkeit; es bestätigt 
das Gerücht, daß nicht das ungelehrte Brüderpaar, sondern ein 
entlaufener Mönch die neue Lehre erdichtet habe“. Er ist der 
heimliche Messias, als dessen Vorläufer Janko sich fühlte. 

In seiner gefährlichen Lage suchte Livin einen Rückhalt bei 
König Georg, dessen Zwist mit der Kurie sich immer hoffnungs- 
loser verschärfte. Der Herrscher ersuchte wirklich am 16. Sep- 
tember die Stadt Eger, seinen Mann und Diener Livin vor 
Gewalt zu schützen, bis er selbst ihn zur Verantwortung ziehe. 
Um den 5. Dezember erging endlich eine Ladung des Regens- 
burger Weihbischofs an die Brüder. König Georg zeigte sich 
so unzuverlässig wie immer. Wohl von der Absicht geleitet, den 
Rat von Eger nicht ins Lager seiner Gegner zu treiben, erließ 
er am 16. Dezember — nur wenige Tage, bevor die Kurie ihn 
verdammte — an Livin den Befehl, die Stadt ihrem Wunsche 
gemäß vorläufig nicht zu betreten. Da der Angeklagte ohne 
Geleit nicht vor dem bischöflichen Gericht erscheinen wollte, 
wurde er Pfingsten 1467 noch einmal nach Regensburg geladen“. 
Da griff ein Mitglied des pfalzgräflichen Hauses ein. Er ließ 
Livin, als dieser in Kemnat oberpfälzisches Gebiet betrat, ‚als 
ungläubigen Böhmen“ verhaften und lieferte ihn dem Bischof 


33 s, oben Anm. 7. 
14 AktenmüBige Belege über die beiden Ladungen bei Gradl a. a. O. 277 bzw. 
bei Gemeiner III, 413, Anm. 781. 


782 Otto Schiff 


aus. Nun war das Verhängnis nicht mehr aufzuhalten. Livin 
suchte es zu mildern, indem er im Regensburger Dome seine 
Lehre öffentlich widerrief. Er entging dem Scheiterhaufen und 
wurde zu ewigem Gefängnis in dem bischöflichen Schlosse 
Hohenburg bei Amberg verurteilt!®. Einen erschütternden Ein- 
blick in seine Seelenkämpfe gibt die Tatsache, daß er aus dem 
Kerker dem Bischof noch einmal ein Bekenntnis zusandte, das 
eine Rückkehr zu der abgeschworenen Überzeugung enthalten 
haben muß. Ende 1468 oder Anfang 1469 ist Livin im Gefängnis 
gestorben. Sein Bruder, der Deutschritter Vinzenz von Wirsberg, 
nahm sich seiner unmündigen Kinder an; sein Vetter Sebastian 
von Wirsberg benutzte Livins Schicksal als Vorwand für eine 
Fehde gegen die Bürger von Regensburg, aber zu der Lehre der 
Brüder wagte sich niemand mehr zu bekennen. 

Diese Lehre ist uns nicht in der eigenen Darstellung der 
Wirsberger, bzw. des hinter ihnen stehenden Mönchs überliefert, 
wohl aber in drei Fassungen, die Anklageschriften oder Verhörs- 
protokollen entstammen. 28 Artikel, über die man in Regensburg 
die Oberen der Bettelorden verhörte, hat der Chronist Nikolaus 
Glassberger, der 1472 zu Amberg in den Minoritenorden trat, 
später nach Nürnberg versetzt wurde und 1508 an seinem Ge- 
schichtswerk arbeitete, aus einem Archiv seines Ordens mit- 
geteilt. 16 „articuli informatoris de heresi circa Egram anno 
1407" hat eine pfälzische Handschrift der vatikanischen Bi- 


15 Hauptquelle über den Prozeß: Brief des Bischofs Heinrich von Regensburg 
vom 12. V. 1469 (Gemeiner III, 452—453). Vgl. auch die Chronisten: Matthias von 
Kemnat (Quellen u. Erórterungen zur bayr. u. deutsch. Gesch. II, 111); Anonymi 
Ratisbonensis farrago historica (Oefele, Rerum Boicarum Scriptores II, 515); 
Hochwart (ebd. I, 223); Staindl (ebd. I, 538); Joh. Lindner von Pirna (Mencken, 
Scriptores rerum Germanicarum II, 1521). Als Tag der Verurteilung nennt der 
chronologisch verworrene, offenbar verderbte Text des Anonymus Ratisbonensis 
den Sonntag nach Epiphania (= 6. Januar); falls der Tag richtig ist, müßte das 
Jahr 1468 sein. In dem ,,Pfalzgrafen", der nach Bischof Heinrich die Verhaftung 
vornahm, sehen Gemeiner und Haupt Otto II. von Mosbach, den Mitbesitzer der 
Oberpfalz; es kónnte auch Kurfürst Friedrich gemeint sein, denn der durch Matthias 
von Kemnat und Joh. Lindner bezeugte Ort der Verhaftung gehórte zum kurfürst- 
lichen Anteil der Oberpfalz, und auf Einmischung des Heidelberger Hofes deutet 
auch eine ältere Äußerung Livins (Gradl a. a. O. 277). 

16 Über die Vorgänge nach Livins Verurteilung vgl. den in der vorigen An- 
merkung erwähnten Brief Bischof Heinrichs (Gemeiner III, 452—453) und den 
Brief des Vinzenz von Wirsberg vom 22. I. 1469 (Gradl a. a. O. 278—279). 


Die Wirsberger 783 


bliothek aufbewahrt. 37 Artikel mit der Überschrift Novel- 
lorum hereticorum figmenta seu errores" überliefert eine aus 
Tegernsee stammende Handschrift der Staatsbibliothek zu 
München; sie beruhen auf der Aufzeichnung eines Karthäuser- 
mönchs, der vieles nur stichwortartig andeutet und 20 weitere 
Artikel nicht der Mitteilung wert findet!?. Alle Fassungen be- 
stätigen und ergänzen einander. Die Wirsberger haben sich 
zwar mehrfach über falsche Anschuldigungen beklagt und ins- 
besondere den Vorwurf des Unglaubens gegenüber Christus und 
Maria bestritten, aber im Grunde behaupten die Artikel auch 
gar nicht, daß die Angeklagten Christus und Maria geleugnet, 
sondern nur, daß sie deren Stellung zugunsten eines neuen, 
gesteigerten Messias geschmälert haben. Auch die übrigen 
Quellen, besonders das Zeugnis des katholischen Geheim- 
schreibers Jobst von Einsiedel, der eine Schrift der Wirsberger 
von einem befreundeten Egerer Patrizier erhalten hatte, be- 
stätigen die Artikel, und wenigstens einige von ihnen kannte 
auch Vinzenz von Wirsberg aus dem Munde seines Bruders Livin. 

Im Mittelpunkt der neuen Lehre steht die Verkündigung 
eines neuen Messias, der das „ dritte und letzte Testament“ er- 
öffnen wird. Er wird meist „ unctus salvatoris" genannt, eine 
widerspruchsvolle, wohl entstellte Benennung, die ihn als Ge- 
salbten, als neuen Christus, und doch zugleich als dem Erlöser 
angehörig, von ihm abhängig bezeichnet. Die ursprüngliche Be- 
zeichnung war wohl „unctus salvator““ 1s. Er ist nicht gelehrt, 
aber von Gott erleuchtet wie nie ein anderer; er hat die essentia 
divina und die heilige Dreifaltigkeit geschaut und erkennt allein 
die Tiefe der heiligen Schrift, deren bisherige Ausleger Blinden 
und Berauschten gleichen!®”. Auf ihn sind die messianischen 


17 Die Glassbergersche Fassung in Analecta Franciscana II, 423—425; die 
vatikanische wurde von Gerhard Ritter gefurden und in der Zeitschrift für Kirchen- 
gesch. Bd. 43 (1924), S. 158—159 veröffentlicht; die Münchner fand ich in Codex 
Latinus Monacensis 18930, f.84. Ich lege die Glassbergersche Fassung als die inhalt- 
reichste meiner Darstellung zugrunde; wesentliche Ergänzungen, die Ritters Text 
bzw. Clm 18930 gibt, sind in den Anmerkungen belegt. 

18 Ann. Mellic. (M G SS IX, 521). Vgl. Clm 18930: ,,Christum non unctum, 
sed illum dicit salvatorem vere unctum.“ 

Die beiden Stellen der Glassbergerschen Fassung, die nicht nur die Auslegungen, 
sondern die Schrift selbst für nichtig erklären, sind verdächtig. Die eine ist sicher 
verderbt. Sie lautet: „Dicunt omnes sacrae scripturae nihil esse." Der Heraus- 


784 Otto Schiff 


Weissagungen der Bibel zu beziehen. Er, nicht Christus, ist der 
Erlóser, der apokalyptische Menschensohn. Aber er nimmt nicht 
nur die Stelle Christi ein; er ist ein gesteigerter, vergeistigter 
Christus. Maria hat Christus fleischlich geboren, ihn aber 
geistlich. Er ist der Adoptivsohn Gottes, d. h. offenbar der 
Gottessohn im höheren, geistigen Sinne“. Ja, er soll nicht nur 
die Menschheit erlósen, sondern selbst die Gottheit. Die Gott- 
heit trägt um unserer Sünden willen seit Anfang der Welt ein 
Leiden, von dem das Leiden Christi nur ein Abbild (figura) 
ist®!; sie ruft den Unctus täglich an, sie von ihren Leiden zu 
befreien. 

Als ein neuer Johannes der Täufer geht Johannes de Oriente 
ihm voran. Er predigt die Artikel, die er von dem Messias 
empfangen hat; dieser wird erst im nächsten Jahr hervortreten 
und predigen. Aber er wird nicht nur lehren, sondern, wie es 
dem 19. Kapitel der Apokalypse entspricht, Gewalt brauchen: 
„Missus a Deo interficiet Antichristum, id est papamt*." Über- 
haupt werden alle, die ihm widersprechen, zugrunde gehen“. 
Er wird die Geistlichkeit zu einer anderen Verfassung, die ganze 
Menschheit zu einem Glauben führen. Dieser gereinigte Chris ten- 
glaube weiß nichts von Ablaß, von Exkommunikation, von 
feierlichen Bräuchen, kurz von äußerem Kirchentum; nicht mit 
dem Munde wird man beten, sondern allein mit dem Herzen. 
Aber die Umwälzung wird nicht nur die Religion erfassen, sondern 
auch Staat und Gesellschaft. Der Unctus wird über die Welt 
regieren „sicut Caesar imperator et Deus". Wenn es anderwärts 
heißt, daB die Zahl der Geretteten der Apokalypse entsprechend 
144000 betragen wird, so ist die Hindeutung auf das tausend- 
jährige Reich unverkennbar. In dem christlichen Zukunftsstaat 
werden die oberen Stände ihre Machtstellung verlieren: Die 


geber ändert: „sacras scripturas." Ich würde nichts ändern, aber hinter „sacrae 
scripturae“ das offenbar ausgefallene ,,glossas'' einschieben. Vgl. Clm 18930: , Re- 
probat glossas doctorum katholicorum super scriptura sacra." 

Ritter Art. 8 u. Clm 18930. — Der Ausdruck „Adoptivsöhne Gottes" ist 
wiclefitisch; Wiclef gebraucht ihn für die Prädestinierten; vgl. R. Seeberg, Lehr- 
buch d. Dogmengeschichte, 2. Aufl. IIT, 547. 

* Ritter Art. 9 u. 10. 

*3 Clm 18930; vgl. Ann. Mellicenses (M G SS IX, 521). 

9 Nur in Clm 18930. 

* Ebenda. 


Die Wirsberger 785 


Geistlichkeit wird kein Eigentum mehr besitzen®; der Adel wird 
in die Städte zurückkehren, d.h. im Bürgertum aufgehen“. 

Der Weg zum Reiche Christi führt durch Aufruhr und Blut. 
Die Rolle der Gottesgeißel gegen weltliche und geistliche Herren 
spielen Söldnerscharen: „Principes et praelati in brevi inter- 
ficientur, dicentes, quod principes conducent milites in bellum, 
quibus postea negabunt stipendia; qui insurgentes invadent 
principes et interficient ...‘‘ Dieser Gedanke knüpft an wirk- 
liche Verhältnisse an. Die Nachbarländer Böhmens waren in 
jenen Zeiten heimgesucht von Landsknechtsrotten, die ihre Sold- 
ansprüche rücksichtslos geltend machten. Als der Erbfolge- 
streit zwischen Kaiser Friedrich III. und seinem Bruder, Erz- 
herzog Albrecht VI., mit dem Tode des letzteren — im De- 
zember 1463 — sein Ende fand und die Truppen entlassen wur- 
den, traten in Österreich geradezu anarchische Zustände ein. 
Die adligen Condottieren, die, wie ihre Mannschaften, zum guten 
Teil aus Böhmen stammten, befehdeten von ihren Burgen an der 
Grenze den Kaiser, bis sie nach ihren Wünschen abgefunden 
wurden. Einer von ihnen, Wenzel Wléek oder Wiltschko, gab 
sich erst im Juni 1465 mit 18000 Gulden zufrieden. Andere 
fielen in Ungarn und Mähren ein. Diese Söldner hießen ,,Brü- 
der", weil sie etwas von der brüderschaftlichen Verfassung der 
Taboritenheere bewahrt hatten, und ihre befestigten Lager führ- 
ten den Namen ,,Tabor". Obwohl nichts von religióser Be- 
geisterung in diesen Banden lebte, konnten sie in ihrer bóh- 
mischen Heimat bei schwármerischen Gemütern, wie den Wirs- 
bergern, wohl den Wahn hervorrufen, daß sie eine ähnliche Rolle 
spielen könnten wie einst die Taboritenheere. Hat doch auch 
Gregor Heimburg, der Berater des Böhmenkönigs, etwas später 
einen aufsässigen österreichischen Vasallen des Kaisers als zwei- 
ten Ziska begrüßt! Der zeitgeschichtliche Hintergrund der 
Wirsbergischen Bewegung ist hier mit Händen zu greifen“. 

35 Ritter Art. 14; vgl. Döllinger a. a. O. II, 626. 

** Cim 18930 u. Brief des Vinzenz von Wirsberg vom 22. I. 1469 (Gradl a. a. O. 278). 

* Über die „Brüder“ oder „Zebraken“ (Bettler) vgl. besonders Palacky, 
Gesch. von Bóhmen, Bd. 4, Abt. 1, S. 516 ff. und Vancsa, Gesch. Nieder- u. Ober- 
österreichs II, 471—477. — Der Brief Heimburgs von 1467 im Archiv für Kunde 
ósterreich. Geschichtsquellen XII, 338. — DaB die Wirsberger mit den ósterreichi- 


schen Verhältnissen vertraut waren, geht auch aus der oben Anm. 11 angeführten 
Stelle des Clm 18930 hervor. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 90, H. 4. 50 


786 Otto Schiff: Die Wirsberger 


Keiner unter den älteren Reformbewegungen verdankt die 
Lehre der Wirsberger so viel wie dem Joachimismus?®. Mit ihm 
predigen sie die Unvollkommenheit des zweiten und den An- 
bruch des dritten Weltalters, die Entdeckung des wahren Sinns 
der heiligen Schrift und den Übergang von einer äußerlichen zu 
einer verinnerlichten, vergeistigten Kirche. Wenn sie in dem 
letzten Punkt auch an die Brüder vom freien Geist erinnern, so 
sind sie doch fern von dem Pantheismus dieser Sekte. Mit den 
Taboriten teilen die Wirsberger zwar nicht die wichtigste theo- 
logische Unterscheidungslehre, die Forderung des Laienkelchs, 
wohl aber den Zug zum gewaltsamen Umsturz der kirchlichen 
und politischen Ordnungen. Zeitlich und órtlich stehen sie in 
der Mitte zwischen dem bóhmischen Taboritentum, das 1452 der 
Auflösung verfiel, und dem Pauker von Niklashausen, der 1476 
in Franken hervortrat — ein bisher zu wenig beachtetes Glied in 
der Kette der Erschütterungen, die im Bauernkrieg und im 
Táuferreich von Münster gipfeln. 


3 Haupt (Zeitschr. für Kirchengesch., VII, 1885, S. 423) bezeichnet die Wirs- 
bergische Bewegung als den „spätesten Versuch einer Sektenbildung auf joachi- 
mitischer Grundlage in Deutschland". Auf die Verwandtschaft mit den Brüdern 
vom freien Geist legt Ritter (a. a. O. 158) Gewicht. Unter den Darstellern der 
mittelalterlichen Kirchengeschichte ist Hermelink (Krügers Handbuch der Kirchen- 
gesch. 2. Aufl., II, 213) der einzige, der die Ketzer von Eger erwähnt. 


787 


Preußens Kampf mit Hannover 
um die Anerkennung des preußisch=französischen 
Handelsvertrags von 1862. 


Von 
Eugen Franz. 


In der weltgeschichtlichen Krisis des Deutschen Bundes, 
welche schließlich die Entscheidung über die Gestaltung Mittel- 
europas brachte, hat Hannover in politischer und wirtschaft- 
licher Hinsicht zwar nicht eine entscheidende, aber doch eine 
wichtige Rolle gespielt. Über die hannoversche Politik ist 
viel geschrieben worden, weniger über die zähen Kämpfe, die 
sich um die große wirtschaftspolitische Aktion Preußens 
in den Jahren 1860—1864 abspielten. Und doch ist gerade sie 
von weittragender Bedeutung: sie bildet die Gleitbahn, auf 
der die deutschen Staaten und Österreich dem Jahre 1866 zu- 
geführt werden. | 

Als Hannover und Oldenburg, von Preußen mit reichen Kon- 
zessionen gewonnen, durch den Vertrag vom 7. September 1851 
ihren Anschluß an den Zollverein ab 1. Januar 1854 erklärten, 
schlug der Welfenstaat in wirtschaftlicher Hinsicht einen Weg 
ein, der seiner Politik nicht parallel lief. Die aus bekannten 
politischen Gründen Hannover gewährten Vorteile aber hatten 
einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen gerade bei jenen 
Staaten, welche ihm in der großdeutschen politischen Ge- 
sinnung am nächsten standen. Hannover kümmerte diese 
Entrüstung der anderen wenig, da die sachlichen Vorteile, über 
welche ich hernach zu sprechen habe, wirklich außerordentliche 
waren. Es hatte den ungewöhnlichen Vorteil, daß sein Interesse 
diesmal aus politischen Gründen durch Preußen vertreten 
wurde. Damals war Hannover für Preußen eine Acquisition 
ersten Ranges. Nun war der starke kleindeutsche Wirtschafts- 


50* 


788 Eugen Franz 


körper mit relativ geringen Ausnahmen zusammengefügt. Daß 
Österreich im Vertrag vom 19. Februar 1853 nicht mehr als die 
Aussicht auf eine zukünftige Aufnahme in den Zollverein er- 
reichen konnte, vervollständigte den preußischen Erfolg, soweit 
er diesmal zu erringen war. Denn ganz ohne Gefahren war der 
Vertrag von 1853 für Preußen doch nicht. Entgegen seinem 
eigenen Interesse hatte es den § 25 des Vertrages anerkennen 
müssen, der Österreich eine gewisse Anwartschaft auf spätere 
Aufnahme in den Zollverein gab. Es war klar, daß, so wie 
diesmal, ja noch schärfer gelegentlich der nächsten Zollvereins- 
erneuerung der Kampf gegen Österreich entbrennen mußte. 

Hannovers Vorteile waren inzwischen, wenn auch grollend, 
von den übrigen Vereinsgenossen anerkannt worden, und die 
Politik kittete den Welfenstaat erneut fester an Österreich und 
seine Freunde. König Georg war Osterreichfreundlich und 
bundesmäßig gesinnt, beides in politischem Gegensatz zu 
Preußen. Der Kampf zwischen Bennigsen und Minister von 
Borries ist symptomatisch auch für die Einstellung der könig- 
lichen Regierung zu Preußen!. Das Jahr 1859 hatte die Sympa- 
thien der hannoverschen Regierung für Österreich vertieft?, das 
Mißtrauen gegen Preußens Pläne verstärkt. Der befreundete 
alte Kaiserstaat war durch den Parvenu auf dem Kaiserthron, 
als der Napoleon am hannoverschen Hof gehaDt wurde, ge- 
demütigt und geschädigt worden, mittelstaatlich-dynastische 
Interessen schienen von Preußen ernstlich bedroht. Damit 
fühlte sich der König persönlich getroffen. 

In dieser Atmosphäre nun spielt sich der Kampf zwischen 
Preußen und Hannover um die Erneuerung des Zollvereins ab. 
Dabei ist, abgesehen von der Machtminderung Österreichs durch 
die Niederlagen und Verluste von 1859, die auf alle Mittelstaaten 
ungünstig zurückwirkte, ein wesentlicher Unterschied zwischen 
1851 und 1860ff. für Hannover im besonderen festzuhalten: 
1851 wurde Hannover von Preußen umworben, um gegen 
Österreich und dessen Klientelstaaten ausgespielt zu werden; 


1 Vgl. H. Oncken, Bennigsen I, 3971. 

2 W. v. Hassell, Geschichte des Königreichs Hannover II. 1, Leipzig 1899, 
S. 396fl. Man wird Hassells Tendenz vom Standpunkt objektiver Geschichts- 
schreibung nicht billigen können; wertvoll bleibt sein Buch auch heute noch infolge 
des reichen Materials aus hannoverschen Archiven und Nachlässen. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 789 


jetzt hatte Preußen einen wesentlich stärkeren Bundesgenossen, 
mindestens für seine wirtschaftspolitischen Ziele, gewonnen: 
Napoleon III. Des Kaisers freihändlerischer Betätigungsdrang 
war der stärkste Aktivposten gegen Österreich in dieser an sich 
für Preußen infolge der inneren Wirren kritischen Zeit. Die 
zu Beginn der 50er Jahre Hannover zugebilligte Vorzugsstellung 
im Zollverein sollte diesmal soweit wie möglich beseitigt werden. 
Der Bundesgenossenschaft der ehedem über die Begünstigungen 
sich ereifernden Staaten, vor allem Süddeutschlands, glaubte 
Preußen sicher zu sein, wenn es Hannovers Vorrechte im Zoll- 
verein für die Zukunft nicht mehr anerkannte. Man nahm 
ferner in Preußen an — ob mit Recht, wird sich zeigen —, daß 
Hannover inzwischen so fest im Zollverein Wurzel gefaßt habe, 
daß eine Trennung von der Wirtschaft nicht mehr geduldet 
würde, selbst wenn die Regierung sie wünschte. 
Verhältnismäßig harmlos schien der Anfang der Aktion. 
Mitte Januar 1861 hatten die offiziellen Besprechungen zwischen 
de Clercq als dem Bevollmächtigten Frankreichs und den 
preußischen Unterhändlern in Berlin begonnen. Am 17. April 
1861 bereits konnte Schleinitz in einer Zirkularnote an seine 
Gesandten bei den Zollvereinsregierungen behaupten: „Die 
Verhandlungen sind... nunmehr auf einen Punkt gelangt, 
in welchem wir uns verpflichtet glaubten, vor weiterem Vorgehen 
in der Sache uns an unsere Vereinsgenossen zu wenden.“ Die 
Regierungen horchten auf, als sie die sehr eingehende politische 
und wirtschaftliche Motivierung der Notwendigkeit des neuen 
Handelsvertrags lasen. — Es war Juni geworden und noch 
immer fehlte die Antwort von einer Reihe größerer Staaten, 
darunter auch jene Hannovers. Als der hannoversche Außen- 
minister Graf Platen am 4. Juni dem preußischen Gesandten, 
Prinzen Gustav Ysenburg, ankündigte, seine Regierung werde 
„frühestens“ in 14 Tagen zu der preußischen Note Stellung 
nehmen können?, da erließ Schleinitz ein kräftiges Monitorium 
an den zurückhaltenden Grafen*: die hannoversche Verzögerung 
komme ihm „völlig unerwartet“. Einige Tätigkeit® hätte ge- 


s Preußisches Geh. Staatsarchiv A A II, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 17, Or. Bericht 
Ysenburgs, Hannover 4. Juni 1861. 

* Schleinitz an Ysenburg, Or. Conz., Berlin, 7. Juni 1861; gl. O. 

5 [m Konzept ursprünglich „guter Wille“. 


7% Eugen Franz 


nügt, „um diese wichtige Sache mit der erforderlichen und 
durch die Umstände gebotenen Beschleunigung zu behandeln“. 
Wenn Preußen dränge, so habe es ‚lediglich das gemeinsame 
Interesse des Zollvereins vor Augen‘‘. Ferner würden Nachteile 
aus dem zwischen Frankreich und Belgien am 1. Mai 1861 ab- 
geschlossenen Handelsvertrage® bei längerem Zögern für die 
Industrie sich geltend machen. Und endlich: „Frankreich 
selbst wünscht dringend den Fortgang der Verhandlung und 
wir können uns dem um so weniger entziehen, als wir die Ver- 
antwortung dafür nicht übernehmen wollen.“ Gerade dieses 
Drángen PreuBens steigert das MiBtrauen der Mittelstaaten. 
Schon láBt die bayerische Regierung in Berlin anmelden, sie 
halte es „für unerläßlich, daß vor dem definitiven Abschlusse 
eine Spezialkonferenz der Vereinsstaaten berufen werde“ 
Gerade das aber wollte Preußen verhüten; es wäre in diesem 
Augenblick der Tod der ganzen Aktion gewesen! Trotz des 
beträchtlich gesteigerten Mißtrauens glaubte Hannover schließ- 
lich nach dem Vorangehen Bayerns und Sachsens nicht zögern 
zu dürfen. Am 17. Juni erteilt Graf Platen die Antwort auf die 
preußische Aprilnote, er schätze sich glücklich, „nach sorg- 
fältiger und eingehender Prüfung der Vorlagen das diesseitige 
Einverständnis mit den dortigen Vorschlägen im allgemeinen 
aussprechen zu können“. Das allgemeine Interesse müsse in 
erster Linie berücksichtigt werden. Die von Preußen aufge- 
stellten allgemeinen Gesichtspunkte erkenne die hannoversche 
Regierung „nicht allein... in allem Maße“ an, sondern be- 
grüße auch mit Freuden den Fortschritt auf der diesseits stets 
angestrebten Bahn der Zollermäßigungen. Worauf es Preußen 
augenblicklich ankam und worauf Preußen schließlich hinaus- 
wollte, war der hannoverschen Regierung noch nicht klar. 
Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß der getreue Gefolgsstaat 
Preußens, Baden, seine Zustimmung erst 3 Tage später als 
Hannover am 20. Juni nach Berlin erteilt. 

Herr de Clereq hatte sich in Paris während der langen Ver- 
handlungspause neue Instruktionen geholt und am 16. Juli 1861 
wurden die Verhandlungen zwischen den bisherigen Unter- 


„Das Staatsarchiv“, hrsg. v. Aegidi u. Klauhold, I (1861), S. 1ff. 
*? Bayer. Note, München, 7. Juni 1861, an Graf Montgelas: Rep. 6, Nr. 3, 
Vol. 17. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 791 


händlern? wieder aufgenommen. In Hannover wartete man ab. 
Der Kampfplatz war Berlin; die augenblicklichen Kämpfer 
waren Preußen und Frankreich allein. 


Da erscholl am 4. September 1861 ein neuer Appell an die 
Vereinsregierungen. Immer, wenn Preußen sie brauchte, 
wendete es sich an diese als Bundesgenossen im Kampfe gegen 
die französischen, übertrieben hohen Forderungen. Und dazu 
konnten sich die deutschen Staaten nicht wohl versagen. Dieser 
Appell zur scheinbaren Negation, die in Wirklichkeit den Mittel- 
staaten zu tiefst in den Knochen saß, hat dann auch die be- 
absichtigte Wirkung nicht verfehlt; Preußen tat, als brauche 
es gewissermaßen die Zusicherung der Vereinsstaaten, daß sie 
ihm keine Vorwürfe machten, wenn die Verhandlungen sich 
zerschlügen. Die großdeutschen Regierungen meinten also, sie 
arbeiteten mit einer Zustimmung zu den preußischen For- 
derungen gegen den Vertrag. In dem gemäßigt gehaltenen 
Warnruf, den der österreichische Außenminister, Graf Rechberg, 
am 8. September 1861 an PreuBen und die übrigen Zollvereins- 
staaten in einer ausführlichen Denkschrift“ richtete, steht unter 
anderem der für die folgenden Ausführungen wichtige Satz, daB 
auch nach österreichischer Ansicht der „gänzlichen Zolleini- 
gung“ zwischen Österreich und den Vereinsstaaten gegenwärtig 
„fast unüberwindliche Hindernisse" im Wege ständen. Rech- 
berg bedauert anderseits, daß der Zollverein, statt das Zoll- 
verhältnis zu Österreich noch intensiver zu gestalten, nunmehr 
mit Frankreich in nahe Beziehungen zu treten gedenke. Preußen 
erkannte von vornherein die Gefahr, welche ihm bei einem 
Abschwenken der Mittelstaaten drohte; dann fehlte ihm jede 
Druckmöglichkeit auf Frankreich. In einer Zirkularnote vom 
25. September nahm es Stellung gegenüber allen Vereins- 
genossen zu der österreichischen Denkschrift. Hannover zögerte: 
als der preußische Gesandte, Prinz Ysenburg, dringender wurde, 
bedeutete man ihm, das königliche Oberzollkollegium habe 
sein Gutachten über die preußische Note vom 25. September 
noch nicht abgegeben®. Über einen Monat überlegte man. 


7 de Clercq, von Pommer-Esche, Philipsborn, Delbrück. 
7a „Das Staatsarchiv“, 1862, Bd. III, S. 210ff. 
* Platen an Ysenburg: Hannover 4. Okt. 1861 in: A A II Rep. 6, Nr. 3, Vol. 19. 


792 | Eugen Franz 


Endlich antwortete der Stellvertreter des Grafen Platen, G. 
v. Witzendorff, am 28. Oktober?, die hannoversche Regierung 
habe „mit aufrichtigem Bedauern“ den Eindruck gewonnen, 
„daß die Lage der Unterhandlung mehr auf den Abbruch der- 
selben als auf das Zustandekommen eines Vertrags hinweist“. 
So sehr sie auch einen Vertrag mit Frankreich aus wirtschaft- 
lichen Gründen begrüßt hätte, so vermöge sie doch nicht den 
Wert eines solchen Vertrages so hoch einzuschätzen, daß ihm 
zuliebe die bisherige Linie, die Preußen eingehalten habe, ver- 
lassen werden dürfe. Man könne Frankreich unter keinen Um- 
ständen weiter nachgeben: „Das von Frankreich eingehaltene 
Verfahren, dessen Ansinnen, die für seine Verhältnisse als 
passend befundenen Zollsätze als den diesseitigen Ver- 
hältnissen entsprechend zu betrachten und anzunehmen, dessen 
Weigerung, irgend wesentliche, den diesseitigen Verhältnissen 
entsprechende Zugeständnisse zu machen, dessen Versuch, die 
von ihm selbst als liberal bezeichneten Maßregeln zur Hebung 
der Industrie und des Verkehrs nur gegen Entschädigung 
anderen Staaten zuzuwenden, obgleich diese Staaten auch 
Frankreich an den Vorteilen ihrer für die Vergangenheit frei- 
sinnigen Zollgesetzgebung ohne Gegenleistung haben teil- 
nehmen lassen — alles dieses einer weiteren Kritik zu unter- 
ziehen, dürfte hier nicht der Platz sein.‘‘ Das waren für Preußen 
herrliche Sätze, welche ergiebige Ausbeute gegen den wider- 
spenstigen Herrn de Clercq und seine Pariser Aufträge boten! 
Für die von Preußen, gleichfalls aus taktischen Gründen an- 
gekündigte innere Reform des Zollvereinstarifs, die sachlich 
dringend nötig war, wenn der Zollverein nicht den Anschluß 
an die Welthandelsentwicklung versäumen wollte, sprach 
sich Hannover dagegen lebhaft aus. Eine Reform auf diesem 
Wege aber wollte Preußen in Wirklichkeit eben vermeiden; 
denn bei dem berüchtigten liberum veto waren bisher fast 
30 Jahre lang keine größeren Reformen ausführbar gewesen. 
Taktisch aber waren auch diese Äußerungen Hannovers für den 
Augenblick wertvoll, um französische Konzessionen zu erwirken. 
Künftig aber vermied es Preußen, noch einmal Verlautbarungen 
über die geheimen Verhandlungen mit Frankreich hinaus- 


* Or. Note Witzendorffs an Ysenburg, gl. O. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 793 


zugeben. Denn für die endlichen Absichten Preußens war das, 
was die Mittelstaaten auf die Septembernote geantwortet hatten, 
höchst bedenklich. ! 

Nach langen Monaten der UngewiBheit kam plótzlich die 
unerwartete Nachricht aus Berlin, daß am 29. März 1862 die 
Verträge zwischen Preußen und Frankreich paraphiert worden 
seien. Das Wichtigste der damals von den Bevollmächtigten 
Preußens und Frankreichs unterzeichneten Abkommen war 
der Zoll- und Handelsvertrag. Zwar wurde auch jetzt nicht 
gleich Hannover einer der Hauptkampfplátze, aber seine Be- 
deutung stieg nun doch beträchtlich für Preußen, für Österreich 
und für die Mittelstaaten. Die hannoversche Regierung hatte 
sich an der identischen Note vom 2. Februar 1862 beteiligt und 
hatte damit unfreiwillig beigetragen zu dem raschen Abschluß 
der Berliner Vertragsverhandlungen mit Frankreich. Nunmehr 
war die bisherige Zurückhaltung des Welfenstaates nicht mehr 
zeitgemäß. Auf vier Mittelstaaten kam es Preußen vor allem 
an: auf Sachsen, welches durch seine starke Industrie und die 
Vorteile, welche ihm der neue Handelsvertrag bot, der gegebene 
Bundesgenosse Preußens sein konnte — und tatsächlich wurde, 
trotz seines Eintretens für Erhaltung des Bundes und trotz 
der sonst starken Berücksichtigung Österreichs, die zur politi- 
schen Gegnerschaft gegen Preußen seit längerem geführt hatte; 
auf Bayern ferner, weil es die mittelstaatliche politische Führer- 
rolle innehatte und außerdem Österreich auch wirtschaftlich 
besonders verbunden war; auf Württemberg, das mit Bayern 
hinsichtlich der schutzzöllnerischen Richtung und der Freund- 
schaft mit Österreich Arm in Arm ging; endlich auf Hannover, 
das infolge seiner Größe und seiner Beziehungen zu Oldenburg, 
Braunschweig und Kurhessen der Eckpfeiler im außerpreußi- 
schen Norddeutschland war. 

Da Preußen alles daran lag, die Mittelstaaten rasch für den 
Vertrag zu gewinnen, bereisten die Ministerialdirektoren Del- 
brück und Philipsborn die Höfe von Dresden, München, Stutt- 
gart und Hannover. Während Delbrück die drei ersteren 
übernahm, ging Philipsborn nach Hannover. Solche Eile war 
der hannoverschen Regierung höchst peinlich. Am 6. April 
übermittelte Prinz Ysenburg telegraphisch die Bitte der hanno- 
verschen Regierung an den Grafen Bernstorff, die Reise Philips- 


794 Eugen Franz 


borns etwas zu verschieben“. Allein Preußen gedachte die Frist 
nicht zu kürzen. „Die dienstlichen Obliegenheiten“, so instruierte 
Bernstorff am 11. April den Prinzen, gestatten für Philipsborns 
Abwesenheit keine andere Zeit. Am 12. April reiste er nach 
Hannover, um am Montag, dem 14. April, die Verhandlungen dort 
aufzunehmen. Den Samstag abend und Sonntag nützte er aus, 
um sich an Ort und Stelle zu informieren. Platen hatte in Berlin 
ersuchen lassen, Philipsborn móge erst dann kommen, wenn die 
hannoversche Regierung sein Eintreffen wünsche. Darauf hätte 
Preußen vermutlich lange warten können! 

Der rasche Erfolg Delbrücks in Dresden erregte in Hannover 
unliebsames Erstaunen!*, Hier jedenfalls gedachte man sich 
nicht so schnell zu entschließen. Die österreichische Gegen- 
aktion hatte bereits mit aller Stärke eingesetzt. Außenminister 
Platen und Finanzminister Kielmannsegge sowie der leitende 
Minister, Graf Borries, gaben Philipsborn und Ysenburg zu ver- 
stehen, man habe kaum anfangen können, die am 3. April 
den Vereinsregierungen zugesandten umfangreichen Akten- 
stücke zu lesen, obgleich reichlich 8 Tage seit dem Eintreffen 
der Note vergangen waren! Man versprach nun ein rascheres 
Tempo: unter dem Vorsitz des Generalzolldirektors Albrecht 
wurde eine Kommission, bestehend aus den Direktoren und 
Referenten der einzelnen Ministerien gebildet. Mit dieser hatte 
sich Philipsborn also zu besprechen. Auf besonderen Wunsch 
Hannovers nahm an den Beratungen auch das oldenburgische 
Mitglied der hannoverschen Oberzolldirektion teil. Philipsborn 
war die hierdurch dokumentierte Interessengemeinschaft Han- 
novers und Oldenburgs unangenehm; doch konnte er dagegen 
nicht protestieren. Am 15. April fand die erste Konferenz statt. 

Platen, der von den wirtschaftlichen Dingen so wenig ver- 
stand, wie die meisten damaligen Außenminister Deutschlands 
und Österreichs, versprach Philipsborn, die politischen Be- 


10 AA II, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 21. Telegramm Ysenburgs vom 6. April 1862. 

11 Konz. von Philipsborn; gleichfalls Vol. 21. 

13 Vgl. dazu u. a. Friesen, Erinnerungen, II, 230/31. Die dortigen Bemerkungen 
sind sehr kurz. Hier und für das Folgende vor allem: Bericht Philipsborns an 
Außenminister Graf Bernstorff, Hannover 16. April 1862, Or. in A A II, Rep. 6, Nr. 3, 
Vol. 21. Weitere Korresp. A. d. Preuß. H. M. Rep. 120 € XIII 11,2, Vol. 1 Acta 
secreta, im Preuß. Geh. St.A. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 795 


denken, welche gegen den Vertrag bestanden, „nach Kräften 
fernhalten zu wollen“. Ob dies tatsächlich der Fall war, werden 
wir alsbald sehen. Philipsborn erschien diese Beteuerung jeden- 
falls sehr wichtig, da die Haupteinwände des Finanzministers 
Kielmannsegge, der von der Materie selbst etwa so viel verstand 
wie Platen!®, dahin lauteten, „daß man Österreich nicht ver- 
gessen dürfe und doch auch wissen müsse, wie die süddeutschen 
Vereinsstaaten dächten‘. Von den Ständen erwartete Graf 
Borries keine ernstlichen Schwierigkeiten. Die erwähnten 
Einwände des Finanzministers schienen Philipsborn ,,unbe- 
greiflich". Das zusammenfassende erste Urteil Philipsborns 
besagt: „Das Zögern hier liegt zunächst... in der hannover- 
schen Natur, es wird begünstigt von dem Osterreichischen Ge- 
sandten“. Denn die Operationslinie von Österreich ist offenbar“ 
— hierin hat Philipsborn auf jeden Fall recht — „jetzt Zeit zu 
gewinnen und dafür zu wirken, daB die Vereinsstaaten womóg- 
lich einer auf den anderen warten." Der französische Gesandte 
hatte den preuBischen Vorschlag vom 3. April sofort im Auftrag 
seiner Regierung lebhaft unterstützt, vermochte aber, wie er 
selbst zugestand, gegen den Einfluß Österreichs nicht aufzu- 
kommen. Die treffsichere Prognose Philipsborns für Hannover 
lautet: „Am Ende wird man sich wohl entschließen zuzustimmen, 
aber man wird das Jawort hinziehen, solange man es mit 
einigem Anstand und ohne sich gerade schämen zu müssen 
kann.“ Am 19.April waren die Besprechungen zwischen 
Philipsborn und den hannoverschen Staatsmännern beendigt. 
Eine Reihe von Bedenken vermochte Philipsborn nicht zu ent- 
kräftigen. Platen kündigte außerdem neue Schwierigkeiten 
an, wenn die Verträge dem König vorgelegt würden; er betonte, 
„daß namentlich der König in Abwägung der politischen Be- 
denken unberechenbar sei“. Er machte endlich darauf auf- 
merksam, „daß Hannover seine Stellung für das Jahr 1866", 
d.h. für Ablauf der jetzigen Zollvereinsperiode, „schon jetzt 
ins Auge fassen und an das Praecipuum denken müsse“. Dieser 
Andeutung gegenüber versicherte Philipsborn, er sei nicht er- 
mächtigt, hierüber zu sprechen, es sei „jetzt dazu nicht die 

18 Über seine mangelnden Kenntnisse u. a., nach seinen eigenen Worten, vgl. 


Hassell II, 1, S. 311f. 
14 Graf Ingelheim. 


796 Eugen Franz 


Zeit". Wolle Hannover dennoch diese Frage jetzt zur Ent- 
scheidung bringen, so werde es ,,alles aufs Spiel setzen". AuBer 
Platen sprach niemand mit Philipsborn vom Praecipuum, und 
auch ersterer, nach Ansicht Philipsborns, ,,nicht in entschiedener 
Weise". Philipsborn besorgte jedoch trotzdem mit Recht, „daß 
Hannover bei Erklärung seiner Zustimmung zu den Verträgen 
mit Frankreich irgendeinen Vorbehalt wegen des Praecipuums 
machen“ und daB vor allem König Georg darauf bestehen 
werde. Damit war eines der Hauptmotive der hannoverschen 
Politik in den náchsten Jahren angeschlagen. Doch hat Philips- 
born, wenn er auch auf die Wichtigkeit dieser wirtschaftlichen 
Vorzugsstellung im Zollverein für die hannoversche Politik hin- 
wies, damals noch nicht vorausgesehen, welch überragende 
Bedeutung dieser Forderung von Hannover künftig beigemessen 
wurde; er konnte auch nicht ahnen, daß die hannoversche 
Politik nicht nur über Wochen und Monate, sondern über Jahre 
hinaus ihm im AuBenministerium noch viel harte Arbeit be- 
reiten sollte. Freilich wäre Hannover niemals solange abseits 
geblieben, wenn nicht der Widerstand Österreichs und der 
Südstaaten seine Konjunktur verbessert hátte; nur durch diesen 
ósterreichisch-süddeutschen Kampf gegen den Handelsvertrag 
konnte auch Hannover solange seinen Beitritt hinausschieben. 
Platen versicherte Ysenburg wenige Tage nach Philipsborns 
Abreise nochmals ausdrücklich, Hannover werde seine Zu- 
stimmung zu den Verträgen mit Frankreich „von der Zu- 
stimmung der süddeutschen Regierungen abhängig machen““. 
Damit war das von Preußen befürchtete Interessenbündnis 
zwischen Hannover und den süddeutschen, schutzzöllnerisch- 
ósterreichisch gesinnten Staaten erwiesen. Der österreichische 
Gesandte hatte sich nicht umsonst alle Mühe gegeben. Platen 
beginnt mit dieser Erklärung sein Doppelspiel, das er künftig 
mit einer gewissen Meisterschaft — um die Wette mit Kur- 
hessen — gegenüber Preußen und den süddeutschen Staaten be- 
treibt. Kein Wunder, daB man diese Stelle des Berichtes von 
Ysenburg in Berlin fünffach und noch mit Rotstift sich anstrich! 
Und ebenso die Äußerung Platens, daß „Hannover nicht in 
einem bloß norddeutschen Zollverband mit Preußen verbleiben 


Hierüber Or. Ber. Ysenburgs an Bernstorff, Hannover 26. April 1862: Nr.3, 
Vol. 21. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 797 


wolle“. Diese Gefahr ergab sich aber bei einer zu frühzeitigen 
Zustimmung! Das ‚gute Beispiel Sachsens“, auf welches 
Ysenburg hinweisen zu sollen glaubte, bezeichnete Platen als 
ein „zur Zeit noch unaufgelöstes Rátsel". Man begriff in Han- 
nover und in den süddeutschen Staaten nicht, daß Beust, be- 
einflußt von seinem Finanzminister von Friesen und den sächsi- 
schen Wirtschaftsführern, trotz seiner sonst im allgemeinen 
großdeutschen Gesinnung wirtschaftlich kleindeutsche Real- 
politik betrieb. 

Am 26. April holt Rechberg! zu einem Vorstoß in München, 
Stuttgart und Darmstadt aus. Die mit seltener Offenheit ge- 
machten Darlegungen paßten aber zunächst nur für die drei 
genannten Kabinette; ‚streng vertraulich‘ werden sie dem 
Grafen Ingelheim mitgeteilt mit dem Auftrag, Platen die Note 
höchstens unter dem Siegel strengster Diskretion vorzulesen; 
Österreich könne „in diesem Augenblick noch keineswegs 
wünschen, in der Öffentlichkeit als Urheber und Beförderer der 
Opposition gegen den unheilvollen Vertrag zu gelten‘‘, zumal 
auch „manche der Zollvereinsstaaten!? vorziehen könnten, als 
vollkommen unabhängig von jedem Einfluß Österreichs handelnd 
zu erscheinen!?", Hannover und Kurhessen bedurften —- das 
hatte Rechberg von Anfang an richtig erkannt — einer Sonder- 
behandlung. Ingelheim aber wagte nicht einmal Platen diese 
Note vom 26. April in vollem Umfang auch nur vorzulesen! 
In München, Stuttgart, Darmstadt durfte Österreich mit Recht 
auf freudige Zustimmung rechnen. Platen aber war nicht der 
Mann so forscher Aktionen, wie Rechberg sie vorschlug; er 
wollte vor allem vorläufig nichts wissen von einer etwaigen 
Auflösung des Zollvereins. Als ihm Ingelheim früher eine An- 
deutung über die bloße Möglichkeit eines süddeutschen Zoll- 
vereins mit Anschluß an Österreich gemacht hatte, sprach er sich 
„besorgt“ aus. Ganz Hannover, so mußte Ingelheim jetzt 


16 Or. Conz. St. A. Wien; die nach München gerichtete Ausfertigung H. M. 
München II B, Fr. 1, Conv. 3. — Adolf Beer, Die österr. Handelspolitik im 19. Jahrh., 
Wien 1891, S. 229f. erwähnt die Note ohne Lagerort und Datum; er unterscheidet 
ferner nicht die sehr beachtenswerte Auswahl der Adressaten, an welche Rechberg 
die Note gehen läßt. 

17 Bes. Bayern ist gemeint, wie sich aus anderem Zusammenhang ergibt. 

18 Instr. Rechbergs an Ingelheim, Conz. St. A. W. 26. April 1862. Die Be- 
ratungen der Wiener Ministerkonferenz gehóren nicht in diesen Rahmen. 


798 Eugen Franz 


feststellen, perhorresziere einen süddeutschen Zollverein, : 
den bisherigen großen Zollbund sprenge, ohne nach der gei 
berechtigten Ansicht Platens die Möglichkeit zu bieten, d 
sich Hannover daran beteilige!®. Die hannoversche Regieru 
wollte also zunächst nicht offen für Österreich optieren ; eben: 
wenig aber für Preußen. Sie war daher, als Oldenburg, das n 
Kurhessen und Braunschweig zusammen in das Interessengebi 
Hannovers gehörte, seine grundsätzliche Bereitwilligkeit 2 
Annahme des Handelsvertrags erklärte“, sehr verstimmt! 
Der Großherzog von Oldenburg hatte kurz vorher bei seint 
Anwesenheit in Hannover versichert, er werde sich jedenfal 
nicht übereilen. So kam dieser rasche Wechsel Hannover seh 
unerwartet. Um so weniger aber war die königliche Regierun 
gewillt, bloßen österreichischen Versprechungen zuliebe Preußen 
ein entschiedenes „Nein“ entgegenzuschleudern. Platen ver 
langte von Ingelheim präzise ‚positive Erklärungen . Die 
Verantwortung, die Österreich den Mittelstaaten zuschieben 
wollte, schob Platen zurück auf Österreich, dem er einen be- 
trächtlichen Teil der „Entscheidung über Annahme oder Ab 
lehnung des preußischen Vertrags“ beimaß. Anderseits sprach 
sich Graf Kielmannsegge in der ersten Kammer, wenn auch 
verdeckt, gegen den Vertrag aus. Ysenburg war erregt darüber. 
daß der Minister eine solche einseitige Stellung nahm, während 
er ihm gegenüber gleichzeitig erklärte, er habe „die Sache noch 
nicht geprüft". Unter diesen Umständen glaubte Bernstorff von 
Ysenburg eine energische Sprache fordern zu sollen: wenn 
Platen erst die süddeutschen Regierungen reden lassen wolle, so 
wäre seiner — Bernstorffs — Ansicht nach gerade der umge- 
kehrte Weg angezeigt; Hannover kónnte am besten den anderen 

Vereinsstaaten in der Fórderung der Sache vorangehen. Aber 
Platen sei es nicht Ernst. Und doch habe gerade Hannover am 
wenigsten Anlaß, auf die österreichischen  Einflüsterungen 


19 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg. Hannover 2. Mai 1862, Nr. 21 E. St. A. W. 

2° Or. Note des Oldenburger AuBenministers an Bernstorff, Oldenb. 25. April 62, 
in AA II, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 21. 

31 Telegramm Ingelheims an Rechberg, Hannover 9. Mai 1862, 1532/1862 
St. A. W. 

22 Platen, Or. Note an Ingelheim, Hannover 6. Mai in Ingelheims Ber. an Rech- 
berg, Hannover 8. Mai 1862, Nr. 23, St. A. W. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-frans. Handelsvertrags 799 


.; einzugehen, „wenn es die wahren Interessen seines Landes 
befragt 


Was wollte nun eigentlich Hannover? In einer Unterredung 
mit Ysenburg vom Anfang Mai deutete Kielmannsegge die 


Ziele Hannovers ziemlich offen an“: ehe nicht Bayern und 
da: Württemberg ihre Ansicht kundgetan hätten, könne auch Hanno- 


ver nicht ja sagen, da seine Regierung vor allem keine Sprengung 
des Zollvereins mit herbeiführen wolle, „F nächstdem auch vor- 
sorglich darauf Bedacht nehmen müsse, daß sie durch eine frei- 
willige Erklärung sich nicht etwa die Chancen auf den Fortbezug 
des Praecipuums allzusehr verderbe ““; man nehme aber auch 
gern Rücksicht auf Osterreich und wünsche nicht, daß die Ver- 
kehrsbeziehungen zu ihm durch die Verträge mit Frankreich 
ernstlich gefährdet würden. Hier haben wir die drei Grundmotive, 
welche Hannovers Haltung bestimmten: 1. keine Sprengung 
des Zollvereins, 2. Erhaltung des Praecipuums für Hannover, 
3. Aufrechterhaltung der bisherigen Beziehungen zu Österreich. 
Daran, daB diese drei Ziele unvereinbar waren, krankt die 
hannoversche Politik der nàchsten zwei Jahre. Die wirtschaft- 
liche Bedeutung des Zollvereins überhaupt und des Praecipuums 
im besonderen wird aus den Berechnungen Kielmannsegges klar, 
wonach der Fiskus durch den Wegfall des Praecipuums ein 
Minus von jährlich 100000 rheinischen Talern erleide. 
Solange daher die Frage des Praecipuums nicht geklärt war, 
ließ sich die hannoversche Regierung, die jetzige, wie die spä- 
tere, von ihrer Schaukelpolitik weder von Preußen noch von 
Österreich abbringen. Preußische und österreichische Denk- 
schriften prallen ab. Wie Platen Preußen gegenüber versichert 
hatte, Hannover werde einem norddeutschen Zollverein nicht 
beitreten, so hebt er gegenüber den Österreichern die Un- 
möglichkeit hervor, einem von Wien angeregten süddeutsch- 
österreichischen Zollbund beizutreten“. Wenn ein solcher zu- 
stande komme, könne Hannover nur entweder zum Steuerverein 
von ehedem zurückkehren — eine ganz unmögliche Idee, nur 


33 Bernstorff-Philipsborn, Or. Conz. an Ysenburg Berlin, 2. Mai 1862, in: 
AA II R, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 21. 

** Or. Ber. Ysenburgs an Bernstorff, Hannover 3. Mai 1862, gl. O. 

35 Hier macht man in Berlin ein großes N.B.! 

æ Ingelheim an Rechberg, Hannover 30. Mai 1862, Nr. 27a, St. A. W. 


800 Eugen Franz 


bestimmt Österreich zu trösten und Preußen zu schrecken! — 
oder sich an einen norddeutschen Zollverein anschließen. 
Platen macht selbst sofort die Einschränkung, der Steuerverein 
scheitere voraussichtlich an der Haltung Oldenburgs und 
Braunschweigs. So könne er nur eines: möglichst lange die Zu- 
stimmung Hannovers hinausschieben. Aber auch das habe seine 
Grenzen. Gegenüber der wirtschaftlichen Lage des Landes, 
welches die Erhaltung des Zollvereins, vor allem mit den nord- 
deutschen Staaten benötigte, vermochten — das glaubte Ingel- 
heim damals schon feststellen zu müssen — die zornigen Worte 
des Königs Georg gegen Preußen und seine Freundschafts- 
beteuerungen für Österreich keine ernstlichen Garantien zu 
bieten. Die österreichische Notenserie vom 7. Mai 1862 mit 
dem scharfen Memorandum?? über Österreichs unveráuBerliche 
Rechte aus dem Vertrag vom 19. Februar 1853 und aus seinem 
Bundesverhältnis hatte in den süddeutschen Staaten ein- 
schließlich Hessen-Darmstadts als Weckruf gewirkt, in Hannover 
löste sie Besorgnis, ja Schrecken aus; das scharfe Vorgehen 
Österreichs drohte ihm mindesten eines, ja vielleicht alle drei 
seiner eben angedeuteten Hauptziele zu zerschlagen. Den nicht 
der süddeutschen, sondern ausschließlich der hannoverschen 
Interessen wegen aufgestellten Grundsatz, nichts zu unter- 
nehmen ohne die süddeutschen Regierungen suchte Ysenburg 
nun mit dem Hinweis auf die von allen Mittelstaaten und gerade 
von König Georg so hoch geschätzte Souveränität zu erschüt- 
tern. Da aber fiel ihm Platen sehr scharf in die Rede mit der 
anzüglichen Bemerkung, „dag der Begriff der Selbständigkeit 
ja nicht in dem souveränen Entschlusse gefunden werden könne, 
sich um die Folgen eines solchen Vertrages nicht zu kümmern, 
sondern mit geschlossenen Augen denselben Sprung zu wagen, 
welchen Preußen mit offenen Augen gemacht habe“ 

Es sind von Hannover damals und bis Mitte 1864 viele sehr 
deutschpatriotische und österreichfreundliche Worte gefallen. 
Demgegenüber ist von großer Wichtigkeit die Feststellung, die 
wir schon Mitte 1862 machen können: für Hannover war der 


Y Note und Memorandum abgedruckt in „Das Staatsarchiv“ IIT, S. 215ff., 
teilweise auch in Schultheß, E. G. K. für 1862, S. 49—51. 

35 Ysenburg an Bernstorff, Or. Ber., Hannover 22. Mai 1862, in AA II, Rep. 6, 
Nr. 3, Vol. 22. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 801 


Beitritt zum Handelsvertrag in allererster Linie ein Geschäft. 
„Wie ich aus guter Quelle vernehme“, berichtet Ysenburg be- 
reits am 6. Juni 1862 an Bernstorff, „so soll sich die hiesige 
Regierung gegenwärtig viel mit dem Gedanken beschäftigen, 
ob die gewünschte Erklärung in betreff eines Beitrittes zu dem 
Handelsvertrag mit Frankreich sich nicht gegen eine von unserem 
allerhöchsten Gouvernement zu gewährende Gegenkonzession 
gewissermaßen abkaufen lassen kónne'. Diese bestehe in dem 
„ungeschmälerten Bezug“ des bisherigen Praecipuums?“ . Von 
diesem Gesichtspunkte aus müssen wir künftig tatsächlich die 
Aktionen Hannovers überblicken. Freilich konnte Hannover, 
wenn überhaupt, so bestimmt nur dann mit einem Weiter- 
bezug des vollen Praecipuums rechnen, wenn der Zollverein 
auch wirklich als Ganzes erhalten blieb. Die zwei Leitsterne 
hannoverscher Politik im Kampf Preußens um den Handels- 
vertrag sind somit künftig: volles Praecipuum und, damit in 
unmittelbarem Zusammenhang stehend, Erhaltung des Zoll- 
vereins. Es soll nicht verkannt werden, daß auch andere 
Motive mitbestimmend wirkten; aber sie alle waren, je nach 
Bedarf, auszuschalten; diese beiden Hauptziele aber blieben 
konstant. 

Hier ergeben sich nun zwei Fragen: Was war vertraglich über 
das Praecipuum bei dessen erster Gewáhrung ausgemacht, und 
wie stand es um die Möglichkeit des Fortbezuges bei der nach 
12 Jahren erfolgenden Erneuerung des Zollvereins? Artikel 11 
des Vertrags zwischen Hannover und Preußen vom 7. September 
18512 hatte bestimmt: „Zur Ausgleichung des bedeutend 
stärkeren Verbrauchs hochbesteuerter Gegenstände, welcher 
in Hannover stattgefunden hat und voraussichtlich auch ferner 
stattfinden wird, sowie des höheren Einkommens, welches 
Hannover aus den Ein-, Aus- und Durchgangsabgaben bisher 
bezogen hat und beim einseitigen Vorschreiten zu den Tarif- 
sätzen des Zollvereins noch wesentlich würde steigern können“, 
soll der Ertrag aus diesen Abgaben sowie der Steuer von in- 
ländischem Rübenzucker nach einem Hannover begünstigenden 
Schlüssel in folgender Weise verteilt werden: Der Anteil aus 


252 Or. Ber., Hannover 6. Juni 1862; gl. O. 
3 Abdruck u. a. in F. Houth- Weber, „Der Zollverein seit seiner Erweiterung 
durch den Steuerverein", Hannover 1861, S. 1ff., hier S. 12/13. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 61 


802 Eugen Franz 


diesen Einnahmen des gesamten Zollvereins werde über das nach 
der Bevölkerungskopfzahl Hannover treffende Maß um ?/, er- 
höht, „jedoch was die Anteile an der Eingangsabgabe nebst 
Rübenzuckersteuer betrifft, um höchstens 20 Silbergroschen 
in einem Jahr für jeden Einwohner“. In gleicher Weise soll bei 
der Verteilung der gemeinschaftlichen Übergangsabgaben ver- 
fahren werden. Der hannoversche Anteil an den gemeinsamen 
Verwaltungskosten dagegen wird nach dem Verhältnis be- 
rechnet, „in welchem die einfache Kopfzahl Hannovers zu der 
Gesamtbevölkerung im Verein steht“ . Dieses ,,Praecipuum"'' 
war das Lockmittel, mit dem Preußen, wie oben angedeutet — 
zum großen Ärger der meisten deutschen Zollvereinsgenossen — 
Hannover für sich gewann. Trotz heftigsten Widerstandes der 
süddeutschen Regierungen mußten die zwischen Preußen einer- 
seits, Hannover und Oldenburg“ anderseits getroffenen Ab- 
machungen im neuen Zollvereinsvertrag vom 4. April 1853 
anerkannt werden?!, Das politische Ziel der Bevorzugung der 
bisherigen Steuervereinsstaaten ging bekanntlich dahin, den 
Süddeutschen die gesamte Ost- und Nordküste sperren zu kön- 
nen, falls diese Staaten ein Bündnis mit Österreich schlossen. 
Auf jeden Fall aber war das politische Schwergewicht des klein- 
deutsch basierten Zollvereins durch die Gewinnung dieser 
wichtigen Verbindungsgebiete zwischen der östlichen und 
westlichen Hälfte Preußens beträchtlich verstärkt. Das wirt- 
schaftliche Ziel Preußens aber war die Stärkung der dem Frei- 
handel günstigen Staatengruppe gegenüber den süddeutschen 
Schutzzöllnern. Mit wirtschaftlichen Opfern mußte der Zoll- 
verein und hier vor allem das größte und wirtschaftlich ertrag- 
reichste Land, Preußen, die politisch für Preußen wichtige 
Gewinnung der beiden Steuervereinsstaaten bezahlen. Alsbald 
aber tauchte überall die Frage auf, ob Preußen nach Ablauf der 
zwölfjährigen Vertragsperiode ein zweitesmal dieses Opfer 
bringen werde. Je näher man dem Termin kam, um so mehr 
konzentrierte sich der wirtschaftspolitische Kampf der hannover- 
schen Regierung auf diesen Punkt. Es war niemand ernstlich 
zweifelhaft, daß die Gründe, welche 1851—1854 für die Ge- 

30 Vgl. hierzu: Vertrag PreuBen-Hannovers mit Oldenburg vom 1. März 1862 


usw.: Houth- Weber S. 23ff. 
531 Houth- Weber S. 62ff. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 803 


währung des Praecipuums von Preußen anerkannt worden 
waren, bestreitbar waren. Je weiter die Entwicklung fort- 
schritt, um so weniger konnte Hannover aus wirtschaft- 
lichen Gründen den Fortbezug des Praecipuums rechtfertigen, 
um so stärker dagegen wurde die wirtschaftspolitische Klammer, 
die Hannover und Oldenburg an den Zollverein fesselte und 
ihnen ein späteres Ausscheiden so gut wie unmöglich machte. 
In Süddeutschland sah man nach wie vor die Begünstigung 
Hannovers und Oldenburgs mit scheelen Augen an. Da glaubte 
Hannover in dem Zwist, der über den Handelsvertrag mit 
Frankreich und die in denselben hineingearbeitete Tarifreform 
mit aller Heftigkeit entbrannt war, den geeigneten Anlaß ge- 
funden zu haben, um sich eine Lage zu schaffen, in welcher 
sein Verbleiben im Zollverein denselben Kaufpreis wert war, 
wie er zu Beginn der 50er Jahre für seinen Eintritt von Preußen 
bezahlt worden war. Die Frage war dabei freilich, wer künftig 
die führende Stellung im deutschen Zollverein einnehmen würde, 
ob es Österreich gelingen werde, mit Hilfe des Februarvertrages 
von 1853 und der deutschen politischen Freunde in den Zoll- 
verein hereinzukommen und dann sofort oder in kürzester 
Frist die Führung an sich zu reißen, oder ob Preußen auch 
weiterhin Österreich fernzuhalten und die Hegemonie im deut- 
schen Zollverein mit Hilfe des französischen Handelsvertrags 
auszubauen und zu befestigen vermochte. Weitaus das Wahr- 
scheinlichste schien auch den hannoverschen Regierungskreisen 
ein Endsieg Preußens. Aus allen genannten Gründen aber 
glaubten sie, solange diese Unsicherheit herrschte, sich zwischen 
den beiden Parteien halten zu müssen und durch das Lavieren 
zwischen den beiden großen Zollgruppen von beiden die Zu- 
billigung des Praecipuums zu erreichen, um diese Zusage dann 
jeweils beim gegnerischen Großstaat und vor allem immer bei 
dem mit jeder Konzession kargenden Preußen drohend geltend 
zu machen. Das Spiel war von Hannover etwas plump ein- 
gefädelt worden; im weiteren Verlauf der diplomatischen Kämpfe 
kann der hannoverschen Politik aber Zähigkeit, Verschlagenheit 
und Erfassung des jeweils richtigen Augenblicks in Durch- 
führung dieses Geschäftes nicht abgesprochen werden, wenn 
auch gelegentliche Irrtümer in der Erfassung der Lage mit 
unterlaufen. 


51* 


804 Eugen Franz 


Mitte Juni 1862 trat auch England als Sekundant Preußens 
in Hannover auf. Als nun der englische Gesandte am 13. Juni 
dem Grafen Platen eine freihändlerische Mahnnote seiner 
Regierung mitteilte, als Lord Russell gar Platen noch ersuchte, 
beim Wiener Kabinett dahin zu wirken, daß Österreich künftig 
sich auch den freihändlerischen Prinzipien anschlieBe, da er- : 
widerte Platen?? bezeichnender Weise, es bestünden für den 
Vertrag „im allgemeinen keine ungünstigen Aussichten“; 
aber die hannoversche Regierung beharre fest dabei, „erst die 
Erklärungen der süddeutschen Regierungen abwarten zu 
Wollen“; sie sei „nebenbei auch noch von dem Gedanken 
práoccupiert, wie sie am besten den Fortbezug des bekannten 
Praecipuums wahren könne“. Übrigens lauteten, bemerkte 
Platen gegenüber dem Englànder, seine Nachrichten über die 
süddeutschen Staaten ganz anders, als die englische Note be- 
haupte; man scheine sich offenbar in Berlin großen Illusionen 
hinzugeben. Platen war über ihre Pläne und die bevorstehende 
Münchner Konferenz gut unterrichtet. Nach Wien aber könne 
er einen Rat zur Annahme um so weniger geben, als erannehmen 
dürfe, das kaiserliche Kabinett sei sowieso bereits dabei, in 
die von der englischen Regierung gewünschte Bahn einzu- 
lenken. Noch hoffte Ysenburg auf die hannoverschen Stände. 
Um so größer war sein „Schrecken“, als er erfuhr, daß die Regie- 
rung die Kammer bis in den November vertagte. Als er Platen 
Vorhalte machte, wie die Regierung vor so wichtigen Ent- 
schlüssen die Kammer vertagen könne, „belächelte‘‘ Platen 
diese Besorgnisse und meinte: Wenn die Regierung sich einmal 
für die Verträge entschlossen habe, so werde sie die Zustimmung 
auch ohne die Stände geben können! 

Die Münchner Konferenz vom 18.—25. Juni 1862 war eine 
Börse mittelstaatlicher wirtschaftspolitischer Aufträge, die aber 
alle nur Briefkurswert hatten. Höchst eigenartig berührt auf 
den ersten Blick, was Platen zu den Münchner Verhandlungen 
zu sagen wußte: Graf Quadt, der bayrische Gesandte in Han- 
nover, war von seinem Außenminister, Baron Schrenk, dahin 
instruiert worden, die Münchner Konferenz habe „keine abso- 
lute Ablehnung (des französischen Handelsvertrags), sondern 


33 Mitteilungen des englischen Gesandten an Ysenburg: vgl. dessen Ber. an 
Bernstorff, Hannover 16. Juni 1862, in: Nr. 3, Vol. 23. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 805 


gewisse Modifikationen vom Standpunkt der süddeutschen In- 
dustrielleninteressen beantragt“ . Platen zeigte sich darüber 
wenig erfreut und meinte zum bayrischen Gesandten, die 
hannoversche Regierung hätte geglaubt, „auf eine absolute Ab- 
lehnung rechnen zu dürfen‘. Er legte zugleich Wert auf ein 
diplomatisches Zusammenarbeiten der Süddeutschen mit Han- 
nover in dieser Frage; die hannoversche Regierung werde „erst 
nach Bekanntgabe der Erwiderung der süddeutschen Staaten 
einen Entschluß fassen“ und Platen sprach die Hoffnung aus, 
Bayern werde auch seinerseits erst nach Rücksprache mit Han- 
nover offizielle Verlautbarungen nach Berlin ergehen lassen““. 
Hannover wünschte also, daß die vereinigten Süddeutschen 
möglichst hitzig gegen Preußen anstürmten; damit wuchs sein 
eigener Wert vielleicht bis zu der gewünschten Höhe. Schrenk 
nahm, in der Hoffnung, daß Hannover den Kampf Schulter an 
Schulter mit den Süddeutschen ernstlich führen wolle, die 
Verbindung gern auf und ließ Platen sagen, seine Annahme, die 
Münchner Konferenz habe nur einige Modifikationen des Ver- 
tragsentwurfs beschlossen, sei völlig irrig. Gerade diese Ver- 
knüpfung hannoverscher und bayrischer Interessen war, wenn 
sie auch in ihren Zielen weit auseinander gingen, Preußen sehr 
unangenehm. 

Der gemeinsame hannoversche und österreichische, vorerst 
noch mehr verdeckte Widerstand wirkte auch auf Hannovers 
frühere Steuervereinsgenossen. Als Ysenburg am 16. Juni z. B. 
in Braunschweig war, sagte ihm der dortige Minister von Liebe, 
wenn er allein zu entscheiden hätte, so hätte die herzogliche 
Regierung schon den Beitritt PreuBen erklárt. ,,Allein die Be- 
einflussungen des Grafen Ingelheim" und die auch sonst noch 
von österreichischer Seite direkt an den Herzog Wilhelm er- 
gangenen Warnungen „ließen für den Augenblick noch alle 
seine (Liebes) auf Annahme des Handelsvertrags gerichteten 
Anstrengungen scheitern‘; er fürchte, es werde ein für Preußen 
günstiges Resultat schwerlich zu erreichen sein, ehe nicht der 
Herzog von seiner Reise nach Wien und Venedig, „woselbst 
man noch gehórig im gegenteiligen Sinn auf ihn zu influieren 
sich bemühen werde, in die Einsamkeit an den Harz zurückge- 


** Graf Quadt, Ber. an Schrenk, Hannover 29. Juni 1862, in: Bayr. H. M. II B, 
Fr. 1, Conv. 3. 


806 Eugen Franz 


kehrt sei“ . Im übrigen herrschte Ruhe vor dem Sturm in allen 
gegen Preußen opponierenden Kabinetten. 

Endlich am 10. Juli 1862 eröffnete die große Zirkularnote 
Rechbergs mit dem Entwurf eines Präliminarvertrags und einer 
besonderen Vereinbarung über die Handelsbeziehungen zwischen 
Österreich und dem deutschen Zollverein den Generalangriff35. 
Preußen antwortete mit der endgültigen Annahme des franzö- 
sischen Vertrags am 2. August. Dadurch war ein fait accompli 
geschaffen. 

Preußen fand wie an den übrigen deutschen Höfen auch in 
Hannover lebhafte diplomatische Unterstützung durch Frank- 
reich. Herr von Montgascon, der Vertreter des beurlaubten 
französischen Gesandten Baron Malaret, hatte am 24. Juli 1862 
bereits einen neuen Vorstoß unternommen bei dem Vertreter 
Platens, Herrn von Witzendorff. Aber es erging ihm wie vorher 
Ysenburg und Philipsborn. Die augenblickliche Unsicherheit 
des Ministeriums Borries stimmte das hannoversche Außen- 
ministerium erst recht zurückhaltend. Außerdem hatte der 
hannoversche Handelstag zu Hildesheim nach längerer Aussprache 
am 19. Juli mit allen gegen nur eine Stimme den eingehend 
begründeten Antrag des Präsidenten Meyerhof angenommen?”?: 
„Der hannoversche Handelstag erblickt in dem Handelsvertrag 
zwischen Preußen und Frankreich ein Ergebnis von über- 
wiegendem Nutzen für den Zollverein und für unser Land insbe- 
sondere und spricht den dringenden Wunsch aus, daß unser 
Königreich demselben baldigst beitreten möchte.“ Die dortigen 
Wirtschaftsführer begrüßten es, daß der Vertrag „Bresche 
schieße in den Tarif des Zollvereins, woraus weitere Reformen 
notwendig folgen dürften“. Eine Tarifeinigung mit Österreich 
würde „bei den dortigen Staats- und Finanzverhältnissen . . ., 
so wünschenswert sie sei, doch noch lange unmöglich bleiben“. 
Gerade Hannover „würde ein Fernbleiben vom Zollverein die 
tiefsten Wunden schlagen“. Nach dieser Reform würden auch 


4 Ysenburg an Bernstorff, Or., Hannover 16. Juni 1862, in Nr. 3, Vol. 23. 

25 Abdruck in: „Das Staatsarchiv“ III, S. 228ff.; vgl. auch SchultheB, E. G. K. 
1862, S. 63ff. 

3° Ber. des Grafen Quadt, Hannover 25. Juli 1862: II B, Fr. 1, Conv. 4. 

3? Für die Beratungen und Ergebnisse der Hildesheimer Tagung vgl. „Neue 
Hannoversche Zeitung“, 22. Juli 1862, Nr. 337, S. 1166. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 807 


die Hansestädte beitreten können. Diese Entschließung des 
Handelstages war für Preußen von hohem Wert. Aber die han- 
noversche Regierung war ja gar nicht anderer Ansicht als der 
Handelstag; ihre Zurückhaltung und scheinbar ablehnende Hal- 
tung war nur Politik. Und diese glaubte sie beibehalten zu 
müssen, wollte sie ihre bekannten Ziele erreichen. Als daher 
Ysenburg Mitteilung machte von dem Abstimmungsergebnis 
der preußischen Kanımern, entgegnete ihm Herr von Witzen- 
dorff® etwas anzüglich, dieser Akt tangiere die hannoversche 
Regierung vorläufig noch nicht weiter, „denn für sie sei in der 
Sache nur maßgebend, welche Erklärung die süddeutschen Re- 
gierungen, und namentlich Bayern, in betreff etwaiger Annahme 
oder Ablehnung der beregten Verträge abgeben würden, und es 
bleibe die hiesige Regierung auch fest dabei, erst noch als der 
letztrückständige Zollverbündete sich erklären zu wollen“. 
Man könne über Österrreichs Vorgehen streiten; die hannoversche 
Regierung gehe von der Ansicht aus, Österreich sei mit seinen 
Forderungen vom 10. Juli „im vollen Rechte“ und sie ,,be- 
dauere deshalb aufs lebhafteste die gegenteilige Ansicht des 
Berliner Kabinetts‘‘®., 

Als König Max II. von Bayern nach langem Zaudern am 
8. August den preußischen Vertrag ablehnte“, sprach Witzen- 
dorff „seine lebhafte Befriedigung über das so erwünschte Vor- 
gehen der Bayrischen Regierung aus““ , lehnte aber eine Zusage 
ab, sich im gleichen Sinn nach Berlin zu erklären. Die von baye- 
rischer Seite geltend gemachten Anregungen für eine gemeinsame 
politische Aktion bei Preußen erweckten in Hannover Bedenken 
und zwar, wie ganz deutlich ausgesprochen wurde, mit Rück- 
sicht auf den Vertrag vom 7. September 1851. Es war eine für 
die Ohren des Bayern wohl peinliche Erinnerung, daß damals 


38 Für das Folgende: Ysenburg, Or. Note an Bernstorff, Hannover 9. Aug. 1862, 
in: Nr. 3, Vol. 24. 

* Ich übergehe hier weitere Stimmen, so etwa die Äußerungen des früheren 
Finanzministers und damaligen Landdrosten Bacmeister; vgl. dessen Unterredung 
mit Ysenburg nach Ber. des letzteren an Bernstorff, Hannover 11. Aug. 1862, in Nr.3, 
Vol. 24. 

4 Abdruck in „Das Staatsarchiv“ III, S. 358—367, teilweise auch in: Schultheß, 


E. G. K. für 1862, S. 73—75. 


41 Quadt, Ber. an Schrenk, Hannover 11. Aug. 1862, H. M. München II B, Fr. 1, 
Conv. 4. 


808 Eugen Franz 


„Hannover und Preußen einseitig verhandelt hatten‘. End- 
lich würde, meinte Witzendorff, in Anspielung auf die identische 
Note vom 2. Februar 1862, ein solches gemeinsames Vorgehen, 
wie Bayern es vorschlage, das „Berliner Kabinett in hohem 
Grade erbittern, ohne daß irgend ein realer Vorteil zu erwarten 
sei. Hannover müßte schon wegen seiner geographischen Lage 
darauf bedacht sein, die gespannten Beziehungen zum Nachbar- 
staat Preußen nicht noch mehr zu steigern". Schließlich müßte 
doch, meint er bei einer späteren Unterredung mit Quadt, ,,la 
force des choses den Ausschlag geben“, Hannover sei der Gefahr 
ausgesetzt, „durch Preußen in die Enge getrieben zu werden auf 
eine Weise, die den materiellen Ruin des hannoverschen Landes 
herbeiführen könnte‘. Daher dieselbe Mahnung an die Süd- 
staaten wie an Preußen früher: man möchte Hannover nicht 
drängen! Quadt mußte sich schließlich im diplomatischen Ge- 
fecht auf die Bemerkung zurückziehen, daß ‚eine Beteiligung 
Hannovers an etwaigen Verhandlungen mit den Südstaaten noch 
keineswegs die Verbindlichkeit des Anschlusses mit sich bringen 
würde“, Preußen aber würde dadurch einstweilen völlig isoliert. 

Dieselbe Schaukelpolitik verfolgte Hannover gegenüber 
Wien; dem dortigen Kabinett versicherte man, Hannover müsse 
„einen etwa nur aus Staaten Norddeutschlands zusammenge- 
setzten Verein als eine Vereinigung ansehen . .., die den Inter- 
essen des Königsreichs Hannover unter normalen [!] Verhält- 
nissen entschieden zuwider laufen müßte?“ — unter „anor- 
malen“ also war man doch bereit dies zu tun! Die Antwort nach 
Berlin“ endlich wälzte die Verantwortung auf die Schultern der 
offenen Gegner Preußens, ließ für Hannover alle Türen offen und 
begnügte sich mit der Erklärung, es liege für Hannover „keine 
Veranlassung vor“, Stellung zu nehmen, da durch die Ablehnung 
Bayerns und voraussichtlich Württembergs und des Groß- 
herzogtums Hessen bei der nötigen Stimmeneinheit eine solche 
keinen Zweck habe. 

Immerhin war diese verkappte Solidarität mit Osterreich und 
und den süddeutschen Staaten für Preußen sehr nachteilig; in 
Wien frohlockte man darüber. Der erste Erfolg dieser Haltung 

“ So Witzendorff zu Quadt nach dessen Ber., Hannover 15. Aug., H. M. 


München II B, Fr. 1, Conv. 5. 
43 Or. Note Witzendorffs an Ysenburg, Nr. 3, Vol. 24. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 809 


war die erhöhte Bereitwilligkeit Rechbergs in der Praecipuum- 
frage den Wünschen Hannovers gerecht zu werden“. Ysenburg 
faßte das Verhalten Hannovers in die treffenden Worte®: 
„Die Zauberformel, um Hannover für die Verträge mit Frank- 
reich zu gewinnen, beruht augenblicklich in der zu eröffnenden 
Aussicht des Fortbezugs des Praecipuums, und wer nun darin 
zuerst und unter den sichersten Garantien bietet, ... dem 
wendet sich Hannover zu.“ Wien hatte zuerst geboten, Berlin 
nichts. Ob das Angebot sicher war, wollte Hannover weiter im 
Auge behalten. Auf jeden Fall schien es ein geeignetes Druck- 
mittel! Die Absicht, den Südstaaten und Österreich nicht 
bis zu den letzten Konsequenzen eines Bruches mit Preußen zu 
folgen, bestand nach wie vor. Um so zwiespältiger und innerlich 
unwahrer mußte die künftige Politik Hannovers werden. Zu- 
nächst vermochten aus den angegebenen Gründen die óster- 
reichischen Gesandten in Hannover und Kassel eine Interessen- 
gemeinschaft zwischen dem König von Hannover und dem Kur- 
fürsten von Hessen anzubahnen, die jedoch nur durch Resenti- 
ments, Furcht und ein in den Zielen sehr geteiltes Eigeninteresse 
zusammengekittet war. König Georg schrieb einen persönlichen 
Brief an den Kurfürsten. Der Vertraute des Königs, der ehe- 
malige Flügeladjutant Oberst Schlicher, ein gebürtiger Kasseler, 
überbrachte ihn und wurde vom Kurfürsten sehr freundlich auf- 
genommen“. Da Preußen nicht einmal die geringste entgegen- 
kommende Geste machte, war Hannover auch bereit, die von 
Bayern im August angeregte Konferenz zu beschicken. Platen 
erwartete angeblich als ihr sicheres Ergebnis, „daß eine Zoll- 
einigung mit Österreich auf Grund der Vorschläge des kaiser- 
lichen Gouvernements ohne erhebliche Gefährdung der kom- 
merziellen Interessen des Zollvereins II] ausführbar“ sei“. 


Instruktion Rechbergs für Ingelheim, Wien 26. Aug. 1862, St. A. W., Pol. 
Arch. Hannover, Weisungen. 

*5 Ysenburg an Bernstorff, Abschrift, Hannover 1. Sept. 1862, AA II, Rep. 6, 
Nr. 3, Vol. 26. 

“ Einzelheiten im Ber. bzw. Telegramm Ingelheims an Rechberg, Hannover 
14. Sept. Nr. 45, bzw. Pirquets aus Kassel, 14. Sept., u. Ber. Karnickis aus Kassel, 
18. Sept., Nr. 53 bzw. 59 a, St. A. W. Trotz des tiefsten Geheimnisses blieb Ysenburg 
die Sendung Schlichers nicht verborgen. 

47 Note Platens an den Gesandten in Wien, Herrn von dem Knesebeck, Hannover 
18. Sept. 1864, Abschr. St. A. W. 


810 Eugen Franz 


Gegenüber Ysenburg aber bemerkte Platen“: man sollte sich 
preußischerseits dazu herbeilassen, „auf die von Österreich be- 
antragten Zollkonferenzen... einzugehen", dann werde sich 
„unzweideutig herausstellen lassen, daß wirklich eine Zoll- 
einigung mit Österreich auf den von demselben vorgeschlagenen 
Grundlagen nicht möglich sei“! Wenn Preußen erst diesen Be- 
weis erbracht habe, was „den betreffenden großen Kapazitäten 
in Berlin nicht schwer fallen würde“, dann sei der Zollverein in 
seinem Bestand gesichert, und würde dann — die nun ständig 
wiederkehrende Formel — der hannoverschen Regierung „auch 
noch einige Garantie wegen der ferneren Gewährung des Prae- 
cipuums gegeben, dessen Fortbezug Hannover nun einmal nicht 
entbehren könne, so werde alsdann die hannoversche Regierung 
sehr bald ihre Prüfung der Verträge mit Frankreich als beendigt 
erklären“ und kaum noch weitere Schwierigkeiten zu erheben 
haben. Sehr logisch war dieses Vorgehen ja wohl nicht. Denn 
Platen gab damit doch selbst zu, daß er Österreichs Vorschläge 
selbst nicht ernst nahm, und Preußen mußte erst recht die 
Schlußfolgerung ziehen: einmal muß Hannover doch beitreten! 

Man hat in Hannover die Entschiedenheit des preußischen 
Willens, die mit dem Ministerium Bismarck noch zunahm, von 
Anfang an unterschätzt. Ende November 1862 meinte Platen 
zu Ingelheim, Preußen werde es bestimmt nicht zur Zollvereins- 
auflösung kommen lassen, es handle sich bei diesem Ringen nur 
darum, ‚welche der beiden Parteien sich zuerst einschüchtern 
lasse “. Er hätte sich doch an die Worte des neuen leitenden 
Ministers in Berlin vom Juli 1861 erinnern müssen: „Ich gehe 
nach Baden-Baden, weil mich der König zum Minister des Aus- 
wärtigen machen will. Ich nehme es an, wenn mein Programm 
angenommen wird; dann sage ich Euch aber, Platen, könnt Ihr 
Kleinstaaten Euch in acht nehmen“.“ 

Bismarck verfolgte Hannover gegenüber eine neue Politik. 
Bernstorff hatte sich bemüht alle Staaten möglichst gleichzeitig 
zu gewinnen. Bismarck zog eine andere Taktik gegenüber den 
Mittelstaaten und im besonderen gegenüber Hannover vor: 


1$ Ysenburgs Ber. an Bernstorff, Hannover 5. Sept. 1862, Nr. 3, Vol. 25. 

4 Ingelheim an Rechberg, Hannover 1. Dez. 1862, Nr. 59; St. A. W. 

50 Hassell IT, 1, S. 453, Mitteilung der Gräfin Julius Platen, der Gattin des 
Bruders des AuBenministers und Gastgeberin bei Bismarcks Aufenthalt. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 811 


zunächst sollte der Versuch unternommen werden, Kurhessen 
zu gewinnen. Nachdem Braunschweig schon grundsätzlich seine 
Zustimmung gegeben hatte, waren dann Oldenburg und Han- 
nover — vom ersteren durfte man, wie oben angedeutet, ge- 
ringeren Widerstand erwarten — gezwungen beizutreten. So 
ließ also Bismarck Hannover, ohne ein Jota von dem, was Bern- 
storff gefordert hatte, nachzugeben, nach einigen vergeblichen 
Bemühungen, links liegen; nur die Tonart wurde gegenüber 
früher etwas verschärft. 

Der Ausgang des deutschen Handelstages vom 14.—18. Ok- 
tober war für alle Regierungspartner Österreichs eine Ent- 
täuschung; Preußens Stellung dagegen festigte sich. Im übrigen 
nimmt die Verschárfung der Ministerkrisis in Hannover vorüber- 
gehend alle dortigen Interessen in Anspruch. Wichtig für den 
weiteren Verlauf wurde es, daß in das am 10. Dezember ernannte 
hannoversche Ministerium Platen als AuBenminister wieder 
eintrat, daß ferner der neue Justizminister Windthorst ein über- 
zeugter Großdeutscher war. Man darf aber nicht übersehen, daß, 
welche Farbe immer das neue Ministerium trug, das materielle 
Interesse Hannovers in dieser Frage die Entscheidung für 
Preußen früher oder später erzwingen mußte. 

Alle großdeutschen Hoffnungen waren künftig auf die für 
1863 einberufene 15. Generalkonferenz des Zollvereins gerichtet. 
Man rechnete damit, wie viele Stimmen dartun, daß bis dahin 
Bismarck vielleicht, ja wahrscheinlich nicht mehr am Ruder sei. 
Man übersah aber, daß seine liberale Gegnerschaft in diesem 
einen Punkt genau dieselben Ansichten und Grundsätze vertrat 
wie der sonst bekämpfte Minister, und daß ein Wechsel im 
preußischen Ministerium ganz bestimmt keinen Wechsel in der 
Zollpolitik zur Folge haben konnte, nachdem die erste und die 
zweite preußische Kammer und die überwältigende Mehrheit der 
preußischen Industrie diese Zollpolitik gefordert hatten und mit 
steigender Heftigkeit gegenüber den widerspenstigen Staaten 
verlangten. 

Viel gefährlicher war es für Bismarck, wenn sein bisheriger 
treuer Bundesgenosse ihn unter dem Einfluß der politischen 
Verstimmungen des beginnenden Jahres 1863 im Stich ließ. 
Nur mit größter Mühe gelingt es dem preußischen Botschafter 
in Paris, dem Grafen von der Goltz, den Leiter des franzö- 


812 Eugen Franz 


sischen Außenministeriums Drouyn de Lhuys mit dem Hinweis 
darauf, daß Preußen sonst überhaupt keine wirtschaftspolitische 
Einflußmöglichkeit auf Kurhessen, Hannover und Darmstadt 
habe, zu bewegen, wenigstens diesen drei Regierungen erneut 
durch eine ernste Note die großen Nachteile eines längeren 
Zögerns vor Augen zu führen und ihnen zu versichern, daß Frank- 
reich nicht in Sonderverhandlungen mit ihnen eintreten werde*!, 
Die nächsten Wochen drohen trotzdem auch den nunmehr von 
Bismarck beabsichtigten Norddeutschen Zollverein infolge 
mangelnder französischer Unterstützung zu verhindern. Es 
war einer der gefährlichsten Momente in der ganzen Krisis. 
Hannover hätte damals Preußen sehr gefährlich werden können, 
wenn es eine intensiv-österreichische Zollpolitik getrieben hätte. 
Das scheinbar Auffallende ist nun aber, daß Platen die bis- 
herige Linie auch diesmal nicht verließ, daß ferner als Vertreter 
Hannovers bei wirtschaftspolitischen Verhandlungen jetzt und 
künftig nicht ein Großdeutscher strammerRichtung, sondern der 
preußenfreundlich gesinnte Zolldirektor Albrecht fungierte. 
Wenn man die Absicht Hannovers bedenkt, wird dieser auf- 
fallende Vorgang verständlich. Graf Rechberg ahnte allmählich 
. das hannoversche Ziel; es klang wie eine höfliche Mahnung, wenn 
er Ingelheim erklárte5": „Nach unseren Beobachtungen bedarf 
es der ganzen seither von Hannover bewiesenen Festigkeit 
und Entschiedenheit, um manche schwankende Regierung von 
dem Übergang in das Lager der Vertragsfreunde abzuhalten. 
Hannovers Einfluß in dieser Beziehung ist groß. Selbst Bayerns 
sind wir, in engem Vertrauen sei es gesagt, nicht etwa in dem 
Grad sicher, daß wir in München nichts Ernstliches von dem 
Eindruck einer größeren Annäherung Hannovers an Preußen 
zu besorgen hätten.“ Rechberg dringt in einer Form auf die 
Unterstützung durch Hannover, welche noch deutlicher als 
alles andere beweist, daß er ernste Befürchtungen hegt: ,,In- 
ständig bitten und beschwören wir den Grafen Platen und den 
hochherzigen Souverän, welchem er dient, diese Verhältnisse 
zu beachten und es nicht zu einem so großen Unglück, zu einer 
so verhängnisvollen Wendung der Dinge kommen zu lassen“, 
5! Or. Ber. von der Goltz an Bismarck, Paris 22. Jan. 1863, in AA II, Rep. 6, 


Nr. 3, Vol. 27. 
512 Weisung Rechbergs, Wien, 7. Februar 1863; St. A. W. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 813 


wie es ein Abschwenken Hannovers in das Lager Preußens 
bedeute. 

Für Bismarck bleibt Hannover inzwischen Nebenschauplatz. 
Kassel war der Hauptangriffspunkt. Dies wußte man in Hanno- 
ver. Eben deshalb hatte König Georg den Kurfürsten wieder- 
holt ermahnt, Hand in Hand mit Hannover in der Ablehnung 
des Vertrags zu beharren. Doch hatte er bisher niemals kon- 
krete Vorschläge gemacht. Mitte Februar 1863 fand Georg 
eine neue praktische Formel, die dem Kurfürsten schmeichelte, 
ihn selbst aber gegenüber Preußen und Österreich entlastete: er 
sei gezwungen, das zu tun, was der Kurfürst beschlieBe5*, Preu- 
Ben hatte also eine Reihe von Gründen, den Hebel zunächst 
bei Kurhessen anzusetzen. In Hannover wollte Bismarck vor- 
erst auch deshalb nicht so kräftig verstoßen wie in Kurhessen, 
da ersteres in den neu einsetzenden schleswig-holsteinischen 
Verwicklungen eine Stellung einnahm, welche ihm Preußens 
Anerkennung eintrug. Der Kampf der nächsten Monate spielt 
sich im wesentlichen zwischen Paris, Berlin und Wien ab. 

Auf der in München am 24. März eröffneten Generalkonferenz 
bleibt Hannover im Hintergrund, treibt aber die Süddeutschen 
vorwärts. Je wichtiger Hannover für die süddeutschen Staaten 
wird, um so anspruchsvoller wird Platen auch ihnen gegenüber. 
Bayern hatte seinem Wunsch entsprechend sich bereit erklärt, 
Hannovers Anspruch auf das Praecipuum zu verteidigen und 
sich im gleichen Sinn bei den übrigen Oppositionsregierungen 
zu verwenden. Platen erklärte sich zwar damit zufrieden, er 
hätte aber gern „diese Zusage dahin ausgedehnt gesehen, daß 
Bayern seine Einwilligung zur Erneuerung des Zollvereins von 
jener Garantie abhängig gemacht hätte®®‘“. Mit anderen Worten: 
Bayern sollte als Vorkämpfer der hannoverschen Interessen 
sich mit Preußen noch stärker verfeinden, ohne dafür eine Zu- 
sicherung der Gegenseitigkeit zu bekommen. Als aber gegen 
Ende der Münchner Tagung der bayrische Antrag auf Be- 
handlung der österreichischen Propositionen vorgebracht wurde, 
sprach Albrecht seiner Instruktion gemäß von Vermittlung 


63 So Minister Abée zu Freiherrn von Pirquet, österreichischem Geschäftsträger, 
vgl. dessen Bericht, Kassel 23. März. St. A. W. 

8 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg, Hannover 3. April 1863, Nr. 19 A und 19 B; 
St. A. W. 


814 Eugen Franz 


zwischen PreuBen und Ósterreich und von der Notwendigkeit, 
daß vor allem der Zollverein in seinem bisherigen Ausmaß er- 
halten bleiben müsse. Platen gedachte sich mit dieser Ver- 
mittlerrolle eine gute Note bei Preußen zu holen. Diese ge- 
heimen Absichten Platens werden besonders klar durch die 
Tatsache, daß Platen sich gekränkt fühlte, als Beust im Mai 
1863 einen Vermittlungsversuch unternahm, da, wie Platen 
sich ausdrückte, ‚vielmehr der hannoverschen Regierung die 
Vermittlerrolle zufallen müßte, indem Hannover durch seine 
geographische Lage und die eingenommene Stellung bezüglich 
des französischen Handelsvertrags in der erforderlichen unab- 
hängigen [!] Lage sei, um mit Wiederholung eines eventuell 
selbständigen Steuervereins die entsprechende Pression in 
Berlin zu bewirken“. Nach München aber ließ Platen — als 
Preußen die Besprechung der neuen Verträge für eine Sonder- 
konferenz in Berlin reklamierte — auf dem Umweg über Wien 
sein Bedauern aussprechen über „die wenige Entschiedenheit, 
mit der das königlich bayrische Kabinett gegen diesen neuen, 
die Verzögerung der Sache allein nur zum Zweck habenden 
Schritt Preußens auftritt". Hannover habe ,,der bayrischen Re- 
gierung die Initiative überlassen59*, Dem preußischen Gesandten, 
Prinzen Ysenburg, endlich sagte Platen, wenn der Süden auf 
den preuDischen scheinbaren Vermittlungsvorschlag eingehe, 
kónne Hannover sich zwar von dieser Konferenz nicht aus- 
schließen, werde aber keine Verbindlichkeit eingehen, ehe ihm 
der Fortbezug des Praecipuums gesichert sei99', Während er so 
Bayern zum Angriff vortrieb, bemühte er sich selbst scheinbar 
ernstlich, wie erwáhnt, den Steuerverein zu erneuern. Um die 
ehemals verbündeten Regierungen zu gewinnen, lieB er von 
Professor Onno Klopp ein wenig geistreiches Promemoria aus- 
arbeiten. Solche Angriffswaffen waren aber zu stumpf, um in 
Berlin zu verwunden. Und in den ehemaligen Steuervereins- 
staaten wurden solche Pläne auch nicht ernst genommen. Der 
Großherzog von Oldenburg hatte kurz vorher Ingelheim wissen 
lassen, er halte eine Einigung zwischen Preußen und Österreich 


%4 Quadt an Schrenk, Hannover 18. Mai 1863; H. M. M. I, Fr. 2, Conv. 3. 

55 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg, Hannover 12. Juni 1863, Nr. 37 C, St. A. W. 

55" So sagt Platen wenigstens zu Ingelheim (vgl. Anm. 55); ein derartiger Be- 
richt Ysenburgs lag mir nicht vor, was jedoch noch kein Gegenbeweis ist. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 815 


für die einzig mögliche Lösung des Konflikts. Erfolge sie nicht, 
so sei es ihm unmöglich, sich von Preußen in dieser Frage zu 
trennen®®. Der Herzog von Braunschweig, der am 5. Mai nach 
Hannover gekommen war, um dort wegen der Zollvereins- 
angelegenheit vorzusprechen, hatte zwar Platen zugesagt sich 
an einem wiedererstehenden Steuerverein zu beteiligen®?”. Sein 
Minister Liebe aber lehnte die hannoverschen Pläne rund- 
weg ab®®. 

Als die Wolken am preußisch-französischen Freundschafts- 
himmel sich zu zerstreuen begannen, schien es Bismarck in 
Anbetracht der erhöhten Aktivität Hannovers doch nötig, 
auch dort erneut französische Hilfe in Anspruch zu nehmen. 
Der französische Gesandte unternahm in der 2. Junihälfte des 
Jahres 1863 eine neue Demarche im Namen seiner Regierung, 
die wiederholt erklären ließ, von den Bestimmungen des fran- 
zösisch-preußischen Handelsvertrags nicht abgehen zu können. 
Man sehe sich in Paris um so mehr veranlaßt an dieser Ent- 
scheidung festzuhalten, als der preußische Botschafter in Paris 
die Versicherung gegeben habe, Preußen würde gegenüber dem 
Zollverein „nicht die Änderung eines Jotas an dem Vertrag 
zugestehen, erwarte aber, daß von französischer Seite mit der- 
selben Bestimmtheit in gleicher Weise verfahren werde59?'*, Mit 
Recht schlieBt Platen aus dieser ÁuBerung, die Opposition werde 
auch bei der von Preußen auf der Münchner Tagung angeregten 
Berliner Spezialkonferenz nichts erreichen. Preußen werde 
„sich dort den Anschein geben..., als liege die Schuld, sich 
nicht verständigen zu können, in den mit Frankreich einge- 
gangenen Verbindlichkeiten®®‘‘. 

Bismarck war es noch gegen Ende der Münchner General- 
konferenz gelungen, die mittelstaatliche Opposition zu er- 
schüttern, indem er Delbrück am 5. Juni mündlich und schrift- 
lich eine Antwort auf die bayerische Zirkulardenkschrift vom 
25. April 1863, die ein Eingehen auf die österreichischen Pro- 
positionen gefordert hatte, geben ließ, welche in der Form, auch 


& Bericht Ingelheims 3. April 1863, Nr. 19 A und 19 B; St. A. W. 

9? Graf Quadt, Immediatbericht, Hannover 7. Mai 1863, I, Fr. 2, C 3. 

55 Dgl. Hannover 18. Mai 1863. 

æ Ingelheims Privatbrief an Rechberg während seiner Urlaubsreise nach Wien, 
d. d. Aschaffenburg, 25. Juni 1863. 


816 Eugen Franz 


gegenüber Österreich, außerordentlich verbindlich klang. Wer 
zwar genauer las, mußte erkennen, daß praktisch Preußen keine 
einzige Konzession gemacht hatte. Der Erfolg der scheinbar 
versöhnlichen Haltung blieb aber nicht aus. Als Bayern am 
18. Juni an die großdeutsch gesinnten Regierungen mit dem 
Vorschlag zu einer vorläufigen Vereinbarung“ herantrat, meinte 
der hannoversche, gleich Albrecht mehr preußenfreundlich ein- 
gestellte Finanzminister von Erxleben, man dürfe Preußen 
nicht so brüskieren, nachdem man in der Erklärung vom 5. Juni 
„ein versöhnliches Entgegenkommen des Berliner Kabinetts 
erblicken“ kónne8!, Regierungsrat Show aber, von welchem 
der die hannoverschen Regierungskreise eifrig im großdeut- 
schen Sinn beeinflussende bayrische Bundestagsgesandte Freiherr 
von der Pfordten treue Gefolgschaft erwartet hatte, gab am 
27. Juni 1863 ein vertrauliches Gutachten ab®?, welches sich im 
rein hannoverschen Interesse aussprach und Sonderbindungen, 
wie sie München auf Wunsch Rechbergs vorgeschlagen hatte, auf 
wirtschaftspolitischem Gebiet ablehnte. Man wußte in Hannover 
sehr gut den politischen und den wirtschaftspolitischen Vorteil 
zu unterscheiden. In Hannovers Interesse lag es vielmehr sich 
mit Kurhessen zu einer passiven Kampfgemeinschaft zusammen- 
zuschließen — die Gründe werden wir noch zu besprechen 
haben — und die Süddeutschen allein kämpfen zu lassen. So 
wird Vizedirektor Witte von Platen nach Kassel geschickt mit 
dem Auftrage, sich vor Beantwortung der bayrischen Vor- 
schläge vom 18. Juni über die kurhessischen Ansichten zu 
orientieren. Das Einvernehmen mit Kurhessen in Gegen- 
wirkung gegen Preußen festzuknüpfen war eine der Haupt- 
aufgaben der hannoverschen Politik der nächsten Monate. 

An dem bayrischen Vorstoß mißbilligte Platen „die Art, 
wie er gemacht wurde“. Ebenso bedauerte er, daß die Punkta- 
tionen in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Für die Spezial- 
konferenz wünschte er einen neutralen Ort, nicht Berlin. 


* Das Wesentlichste abgedruckt in Schultheß, E. G. K. für 1863, S. 41f. 

61 Quadt an Schrenk, Hannover 21. Juni 1863 in I, Fr. 2, C 3. 

62 Nach Hassel II, 2, S. 88. 

Freiherr von Brenner, österreichischer Geschäftsträger in Hannover für den 
beurlaubten Ingelheim, Or. Ber. an Rechberg, Hannover 10. Juli 1863, Nr. 43a, 
St. A. W. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 817 


Früher hatte er immer getadelt, daß Bayern nicht scharf genug 
vorging, jetzt, da Bayern die Initiative ergriffen hatte, sah er 
mit scheelen Blicken auf die energische bayrische Führerrolle. 
Jede Aktion, welche eine präzise Stellungnahme nach der einen 
oder anderen Seite verlangte, war ihm zuwider. Sachlich be- 
greiflich war der Widerstand gegen Punkt 3 der Münchner 
Punktationen, der die Teilung des Zollvereins in zwei Gruppen 
für den Fall des Scheiterns der Verständigung mit Preußen vor- 
schlug. Gerade durch diese Lösung wäre der Verlust des Prae- 
cipuums und die Einverleibung Hannovers in die norddeutsche 
Zollgruppe unvermeidlich gewesen. 

Die Münchner Generalkonferenz wurde am 17. Juli ge- 
schlossen. Die österreichischen Propositionen blieben unbeant- 
wortet. Preußen hatte entschiedenen Widerstand geleistet 
— Hannover hatte. Österreich lässig sekundiert. Eine Be- 
teiligung an der von Bayern vorgeschlagenen und von Öster- 
reich wärmstens empfohlenen Sonderkonferenz lehnte Hannover 
zunächst ab. Noch als Finanzminister von Erxleben auf der 
Rückreise aus seinem in der Schweiz verbrachten Urlaub sich 
gelegentlich eines Aufenthaltes in München mit Baron Schrenk 
besprach, hielt er den Wunsch aufrecht, daß Hannover in 
München nicht vertreten, sondern nur über die Verhandlungen 
unterrichtet werde — ein recht praktischer Modus, keine Ver- 
antwortung tragen zu müssen! Schrenk lehnte diese Bundes- 
genossenschaft dann auch rundweg ab“. Zu Ysenburg aber 
sagte Platen im Juli, es sei gar nicht richtig zu behaupten, 
„die hannoversche Regierung habe die bayrischen Punktationen 
zu einer vorläufigen Vereinbarung über die Zollvereinsverträge 
abgelehnt“, sie habe dieselben „nur nicht angenommen und 
somit, am richtigsten ausgedrückt, nur ausweichend darauf 
geantwortet$9", Im selben Atemzug aber spricht er gegenüber 
Ysenburg den „dringenden“ Wunsch aus, die Einladung zu der 
von Preußen beabsichtigten Spezialkonferenz „recht bald“ 
ergehen zu lassen®. Die Beanstandung Berlins als Tagungsort 
nimmt der preußische Gesandte mit Recht nicht ernst. Da- 


% Zwierzina, österreichischer Geschäftsträger, an Rechberg, München 24. Sep- 
tember 1863, Nr. 94 C, St. A. W. 

es Darüber mündlicher Ber. Ysenburgs in Berlin und vertraulicher Ber., Àb- 
schrift, Hannover 3. Aug. 1863, in: AA II, Rep. 6, Nr. 97, Vol. 20. | 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 52 


818 Eugen Franz 


gegen war ihm der für Berlin in Aussicht genommene Vertreter 
Hannovers, der früher erwähnte Obergerichtsvizepräsident 
Witte, der Präsident des hannoverschen großdeutschen Vereins, 
„der zur Zeit in Zollvereinsangelegenheiten in Wien verweilen 
und... dort Hundehaare dazwischen hacken dürfte", denkbar 
unerwünscht. Daß ihn der König besonders für diese Aufgabe 
ausersehen hatte, empfahl ihn noch weniger. Ysenburg ,,hinter- 
trieb“, wie er selbst rühmend hervorhebt, diese Mission, indem 
er „ganz unumwunden erklärte, daß, sobald Herrn Witte, diesem 
erklärten Feind Preußens, das betreffende Kommissorium erteilt 
werden sollte", er dies als einen unumstößlichen Beweis nach 
Berlin berichten würde, daß die hannoversche Regierung sich 
von vornherein in der Zoll- und Handelsfrage mit Preußen nicht 
zu verständigen wünsche. Die unmittelbare Folge dieser ,,viel- 
leicht etwas scharfen Auslassungen“ — das ist von Ysenburg 
sehr mild ausgedrückt — war, daß Platen im Conseil sich gegen 
die Sendung Wittes aussprach. Erxleben oder Albrecht wurden 
ausersehen. Es blieb schließlich bei letzterem. 

Am 28. September war die Einladung Preußens an alle 
Zollvereinsstaaten nach Berlin erfolgt. Hannover hatte eine 
Konferenz der Finanzminister beantragt; Delbrück, Philipsborn 
und Pommer-Esche hielten dagegen ‚die hergebrachte Art 
der Bevollmächtigung“ auch diesmal für angebracht“. Die 
Einladungsnote wirkte in Hannover wie ein Schlag ins Genick. 
Vom Praecipuum war überhaupt nicht die Rede! Das also 
war die Antwort Bismarcks auf die vielen Schachzüge Platens. 
Erxleben remonstrierte dagegen, daß Preußen erst Annahme 
des Vertrages mit Frankreich vor Verhandlungen mit Öster- 
reich forderte, PreuBen wisse doch, daB die süddeutschen (!) 
Vereinsstaaten den Artikel 31 niemals annehmen würden 
„und daB damit auch Hannover ihm nicht akzedieren werde“; 
er beklagte sich, daß Preußen die Staaten zur Annahme des 
preußisch-französischen Tarifs zwinge; endlich aber: „Am 
schmerzlichsten berühre' es in Hannover, daß sein und Olden- 
burgs Praecipuum in Wegfall komme, „welche Frage doch 
bekanntlich für Hannovers Finanzen geradezu eine Existenz- 


e Preußische Note an Hannover — gleichzeitig mit Einladung — Berlin 
28. Sept. 1863; Nr. 97, Vol. 20. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 819 


frage seif"'. Auch Staatsrat Zimmermann, der die Verhand- 
lungen mit Ysenburg für den, nach dem Fürstentag, in Hol- 
stein auf Urlaub weilenden Grafen Platen führte „schüttete 
[Ysenburg] sein Herz über die preußischen Anträge, ebenfalls 
vertraulich, aus“. Zimmermann suchte die preußischen Staats- 
männer damit zu schrecken, daß er eine Beschickung der 
Berliner Konferenzen nun überhaupt für untunlich erklärte, 
da diese jetzt ja doch keinen Sinn mehr hätten. „Preußens 
Anträge“, so meinte er, „die fließendes Wasser auf die öster- 
reichisch-süddeutschen Mühlen seien", kämen gerade noch zur 
rechten Zeit in Hannover an, um hier den verantwortlichen 
Männern „die Augen zu öffnen“ und sie „in die Münchner 
Zollsonderbundskonferenzen hineinzutreiben, auf daß es dorten, 
wo alle vertreten sein werdenden Zollvereinsregierungen ihm die 
Bezahlung des Praecipuums zugesagt, sein Heil suche und nun- 
mehr bindende Engagements ebenfalls miteingehe, vor welchen 
aus Klugheit und Vorsicht, so lange Preußen nicht offen die 
Initiative zur Wegnahme des Praecipuums ergriffen, es sich 
wohlweislich gehütet haben würdee“ . Von Österreich spricht 
Zimmermann überhaupt nicht, nur vom Praecipuum! Diese 
Klagen Zimmermanns kamen nicht von ungefähr, wir ver- 
spüren die einheitliche Regie. Nachdem Preußen, schließt 
Zimmermann seine Rede, ‚die Brücke zwischen ihm und hier- 
seits in der für Hannover allerempfindlichsten Weise selbst- 
tätig abbreche, nicht einmal die Praecipuumsfrage von einer 
anderen Seite sich bringen lasse, sondern in dem Duell, welches 
es auf dem politischen und nun zunächst handelspolitischen 
Gebiet mit Österreich auskämpfe, auch nebenbei Hannover 
den Fehdehandschuh geradezu ins Gesicht schleudere, da gebe 
es Hannover auch zugleich damit seine ganze Freiheit zu handeln 
wieder". Bisher habe die Regierung, weil die hannoversche 
Ständeversammlung für die Annahme des französischen Handels- 
vertrags mit in die Schranken treten konnte, Vorsicht üben 
müssen. Doch von heute an, da Preußen dem hannoverschen 
Land das Praecipuum nehme, würden Regierung, Stände und 
Volk darin einig sein, daß die hannoversche Regierung sich 
gegenwärtig dahin wenden müsse, wo man sie vor dem Ausfall 


*' Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 1. Okt. 1868, Nr. 97, Vol. 20. 
52* 


820 Ä E Eugen Franz 


des Praecipuums bewahre. PreuDen, dessen Haltung in der 
Bundesreformfrage schon zur Bildung eines politischen Sonder- 
bundes hintreibe, zwinge Hannover nun auch den handels- 
politischen Sonderbündlern beizutreten „und wenn Hannover 
auch wirklich dabei verbluten müsse, so bleibe ihm ja kaum noch 
ein anderer Ausweg“. Erxleben wie Zimmermann taten, als sei 
die Berliner Konferenz mit dieser Haltung Preußens bereits 
gesprengt, ehe sie zusammentrat; das Schwergewicht liege jetzt 
bei der Münchner Sondertagung. Als Platen aus dem Urlaub 
zurückkehrte, äußerte er sich in demselben herben Sinnés. 
Man nahm Hannover auch jetzt in Berlin nicht ganz ernst. 
Aber diese scharfen Tóne machten doch stutzig. Unterstaats- 
sekretär Thile ließ die hannoversche Regierung sofort wissen®®, 
Preußen habe gar nichts für und nichts gegen das Praecipuum 
gesagt, es sei alter Brauch, „daß jeder Vereinsstaat diejenigen 
Gegenstände, welche er zur Beratung gestellt sehen will, an- 
zeige“. Was nicht eigens erwähnt werde, bleibe unverändert — 
also vorerst auch das Praecipuum! Daß dieses „ganz ohne 
weiteres fortdauere'", erwarte aber wohl selbst in Hannover 
niemand ernstlich. Ob und wie weit es fortzusetzen sein werde, 
kónne sich erst bei den Verhandlungen finden — damit wird 
Hannover also nach Berlin geholt und sein gefáhrliches Inter- 
esse von München abgezogen — „und das Maß unserer Bereit- 
willigkeit dahin wird wesentlich bedingt sein durch die Haltung, 
welche Hannover in bezug auf die Verträge mit Frankreich 
einnehmen wird“. Selbst angenommen, Preußen hätte sofort 
eine Quote festsetzen wollen, so gehe das die übrigen Vereins- 
regierungen nichts an, „es sei das vielmehr zunächst zwischen 
Preußen und Hannover [!] auszumachen und eine Beratung 
zwischen beiden Regierungen sei keineswegs ausgeschlossen‘. 
Preußen hatte zwei Gründe, warum es das Praecipuum nicht 
erwähnte bei der Einladung nach Berlin: man wußte dort zur 
Genüge, daß das hannoversche Praecipuum überall verhaßt war 
oder doch ungern gesehen wurde. Und man wollte die übrigen 
Staaten nicht Hannover zuliebe vor den Kopf stoßen. Wenn 


*$ Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, „vertraulich“, Hannover 5. Okt. 1863, 
Nr. 97, Vol. 20. 

*9 Or. Conz., verfaßt von Philipsborn, an Ysenburg, Berlin 3. Okt. 1863. „Auf 
gewohntem, sicherem Wege.“ 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 821 


irgend jemand es ihm im bisherigen Zollverein erhalten konnte, 
wenn auch mit Beschränkungen, so war es Preußen. Nur von 
ihm sollte Hannover abhängig sein; das war das Zweck des 
preußischen Vorgehens. Hatte vorher Hannover seinen Kauf- 
preis genannt, so hatte Preußen nunmehr deutlich die Gegen- 
forderung gestellt. Ysenburg wird auf besonderem Bogen noch 
angewiesen, sehr vorsichtig mit den Eróffnungen zu sein, ,,da- 
mit man [in Hannover] nicht zu ist und zu zeitig auf unsere 
Bereitwilligkeit rechne“. 

Die nunmehrige Teilnahme Hannovers an der Münchner 
Oppositionstagung im Oktober hatte den Hauptzweck, Preußen 
für den Augenblick glauben zu machen, Hannover sei wirklich 
ganz ins großdeutsche Lager eingeschwenkt; weitere Absichten 
waren, sich zu orientieren, wie die Chancen der Münchner 
ständen, und schließlich, bei geeigneter Gelegenheit, den Rück- 
zug von der Opposition gegen das Praecipuum einzuhandeln. 
Wie schon im September vorgesehen, beteiligte sich Hannover 
erst in letzter Minute an der Münchner Tagung. Als aber der 
Geheime Finanzdirektor von Bar, Generalsekretär des könig- 
lichen Hauses, am 7. Oktober abends, also reichlich spät, die 
Abreise nach München antrat, da hatte er dieselbe Instruktion 
in seinem Portefeuille, die schon seit längerer Zeit bereit gelegt 
war; wiederum verband sie die beiden Interessen Hannovers: 
„tunlichstes“ Zusammengehen mit den Süddeutschen, gleich- 
zeitig aber möglichste Vermittlung zwischen diesen und Preußen”. 
Konnte Bismarck unter solchen Umständen durch den Wider- 
stand Hannovers und der Mittelstaaten zu Konzessionen be- 
wogen werden ? 

Ebenso wie Hannover nunmehr Preußen kräftig gewinkt 
hatte, so wurde man auch gegenüber Österreich noch deutlicher. 
Windthorst und Zimmermann wiesen Ingelheim darauf hin, 
daß, wenn Preußen entgegenkomme, die Regierung mit Rück- 
sicht auf die Stimmung im Land in eine immer schwierigere 
Lage komme. Ja, Minister Windthorst gestand Ingelheim 
klipp und klar, ‚es sei allerdings nicht zu leugnen, daß Hannover 


70 Einzelheiten in Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 7. Okt. 1863, Nr. 97, 
Vol.20. Herm von Bar stellt Ysenburg in einem späteren vertraulichen Brief an 
Bismarck das Zeugnis aus: „Ein rechtlicher Mann, eine spezifisch hannoversche 
Größe im Fach der Finanzen und des Handels.“ 


822 Eugen Franz 


in der traurigen Lage sei, sich verkaufen zu müssen — der Süden 
möge dies wohl bedenken“ 1 

In München hatte inzwischen am 6. Oktober bereits die 
erste Sitzung stattgefunden. Bar nahm erst an den drei letzten 
Sitzungen teil Unter seinem Einfluß vor allem wurde die 
anfänglich noch ziemlich entschiedene Haltung der Delegierten 
wesentlich rückenlahmer. Wenn man die erste Formulierung 
der Wünsche der Münchner Opposition mit der schlieBlichen 
Registratur vom 12. Oktober vergleicht, fällt diese Wendung 
besonders in die Augen — wobei nicht übersehen werden soll, 
daB auch andere Bevollmächtigte Angst vor ihrem eigenen 
Mut mittlerweile bekommen hatten. Daran aber, daß dies 
der Fall war, trug eben das Dazutreten des Hannoveraners 
wesentliche Schuld. 

An der Spitze der Münchner Registratur”? wurde wiederum 
das Bekenntnis ausgesprochen, daB die Erhaltung des Zoll- 
vereins „das unverrückbare Ziel der Bestrebungen“ auch der 
oppositionellen Regierungen bleibe. Wenn daneben ,,der Antrag 
auf die sofortige Eröffnung von Verhandlungen mit Österreich 
auf Grundlage seiner Propositionen vom 10. Juli v. J.“ unter- 
stützt und seine Vertretung ‚in möglichst konzilianter Weise, 
aber auch mit aller Bestimmtheit und [allen?] Konsequenzen“ 
vereinbart wurde, so war damit nur eine schöne Phrase gedreht, 
der Bismarck sein höfliches, aber ebenso unerschütterliches 
Nein gegenüberstellte. Die Risse in der mittelstaatlichen Front 
wurden mit der erwähnten Formulierung nicht verdeckt. Trotz- 
dem somit die Münchner Registratur keinen schweren Schlag 
gegen Preußen bedeutete, wurden Bar doch alsbald von seiner 
Regierung Vorwürfe gemacht, er habe seine Instruktion über- 
Schritten, indem er die Registratur mitunterzeichnete. Bar 
war darüber begreiflicher Weise so verärgert, daß er bat, man 
móge ihn ,,mit der Sendung zu den Berliner Zollkonferenzen ... 
verschonen'??, Beachtung verdient übrigens die Tatsache, daß 
Platen noch bei seiner Rückkehr aus Holstein, bevor er nach 
Nürnberg ging, sich günstig über die Münchner Registratur 


71 Ingelheim an Rechberg, 9. Okt. 1863, Nr. 64, St. A. W. 

?* Abdruck SchultheB, E. G. K. für 1863, S. 81/82. 

73 So Ysenburg an Bismarck, Hannover 30. Okt. 1863, „auf sicherem Wege": 
in Nr. 97, Vol. 21. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 823 


ausgesprochen hatte, während er jetzt, nach Rücksprache mit 
Zimmermann und nach den Nürnberger Erfahrungen entdeckte, 
daß sie den hannoverschen „Standpunkt der Vermittlung 
kompromittiere'?*, Hannover ratifizierte zwar die Registratur, 
gab aber Albrecht nach Berlin die üblichen doppelsinnigen 
Verhaltungsmaßregeln mit. Er wurde angewiesen, bei den 
Tarifberatungen in geeigneter Weise Rücksicht auf die öster- 
reichischen Vorschláge zu nehmen. Mehr hatte Ingelheim nicht 
erreichen können“. 

Man wird fragen, woher dieser rasche Stimmungswechsel 
in Hannover? Er erklärt sich aus folgendem: Mit Beginn der 
Berliner Konferenzen wuchs der Wert Hannovers. Eben des- 
halb hatte Bismarck am 11. Oktober erneut durch Ysenburg 
eine wohlwollende Haltung in der Praecipuumsfrage andeuten 
lassen. Hannover aber hatte aus den Münchner Verhandlungen 
nicht die Zuversicht gewonnen, daß der Südblock ernstlich ihm 
Vorteile bringen könnte. Deshalb läßt man jetzt durchfühlen, 
daB man sich Preußen ,,nicht ungern in dieser Frage näheren 
móchte'?*. Neun Tage später, am 25. Oktober richtet Bismarck 
eine von ihm eigenhändig durchkorrigierte Note an Ysenburg, 
welche er gegenüber dem Entwurf Philipsborns wesentlich 
verschärftꝰ“: hier spricht Bismarck das erstemal ganz deutlich 
sein Programm bezüglich Hannovers aus: letzteres kónne von 
Preußen nicht erwarten, daß es „mit einem greifbaren Vor- 
schlag wegen des Praecipuums hervortreten“ werde, solange 
Hannover selbst nichts dagegen biete, der Anschein vielmehr 
dafür spreche, „daß die dortige Regierung nicht etwa, wie 
behauptet wird, eine vermittelnde Stellung einnimmt, sondern 
sich den einseitigen Bestrebungen der Gegner des Handels- 
vertrages mit Frankreich“ anschließt. Ysenburg solle weiterhin 
in seiner abwartenden Stellung gemäß den bisherigen Instruk- 
tionen verharren. Hierauf fährt Bismarck fort: „Dies soll 
mich ja nicht abhalten, Euer Durchlaucht vertraulich und 


% Ingelheim an Rechberg, Hannover 1. Nov. 1863, Nr. 69, St. A. W. 

78 Chiffretelegramm Ingelheims an Rechberg, Hannover 13. Nov. 1863, St. A. W. 

”% Ysenburg an Bismarck, Hannover 16. Okt. 1863, in: Nr. 97, Vol. 21. 

” Or. Conzept, Bismarck-Philipsborn an Ysenburg, Berlin 25. Okt. 1863, ver- 
trauliche Instruktion „auf sicherem Wege“, in Nr. 97, Vol. 21. In den Ges. W. IV. 
nicht abgedruckt. 


824 Eugen Franz 


persönlich mitzuteilen, wie die Sache im Augenblick liegt: 
wir verhandeln natürlich gleichzeitig mit der kurhessischen 
Regierung, um deren Zustimmung zum Handelsvertrag zu er- 
reichen. Gelingt dies, bevor wir uns mit Hannover geeinigt 
haben, so verliert der Beitritt Hannovers erheblich an Be- 
deutung für uns und wir haben dann kein Motiv, um für die 
Fortgewährung des Praecipuums etwas zu tun. In dem Maße 
allerdings, in welchem meine Bestrebungen in Kassel nicht zum 
Ziel führen, erhöht sich für uns das Bedürfnis, auf Hannover 
Rücksicht zu nehmen, und für diesen Fall nehme ich nicht An- 
stand, meine Ansicht dahin auszusprechen, daß, wenn Hannover 
dem Handelsvertrag mit Frankreich beitritt, wir in die Fort- 
dauer des Praecipuums willigen würden". Doch betont Bismarck 
noch einmal, diese Bemerkungen seien „ausschließlich nur“ zu 
Ysenburgs persónlicher Kenntnis. Unter keinen Umstünden 
dürfe er „eine irgend verbindliche Erklärung darüber abgeben“, 
um so mehr, als er den Eindruck habe, man wolle hannoverscher- 
seits mit allen Mitteln Preußen „zu übereilten Konzessionen 
verleiten““s. Und fünf Tage später weist er Ysenburg, nachdem 
dieser gefragt hatte"?, ob er wenigstens rein persönliche, unver- 
bindliche Andeutungen machen dürfe, telegraphisch an, etwaige 
Konzessionen wegen des Praecipuums „auch auf eigene Hand 
und als persönliche Idee nicht zur Sprache zu bringen''9?, — Die 
Note vom 25. Oktober ist insofern höchst bemerkenswert, als 
Bismarck damals von einem Fortbezug des Praecipuums spricht, 
ohne eine Einschränkung anzudeuten — vorausgesetzt, daß 
Kurhessen sich völlig versagen sollte! Das von Hannover so 
sehr angestrebte Zusammengehen mit Kurhessen, seine ständigen 
Aufforderungen an die kurfürstliche Regierung und an den 
Kurfürsten selbst, ja Schulter an Schulter mit Hannover zu 
gehen und nicht nachzugeben, verfolgten ebenso einen Tein 
hannoverschen Vorteil wie das Scheinbündnis mit den Süd- 
deutschen. Dadurch, daß die Regierung die Absichten Bismarcks 
nicht erkannte — Ysenburg durfte ja nicht sprechen — ver- 
säumte sie einen günstigen Augenblick zum Anschluß an Preußen. 


78 Or. Conzept, Bismarck-Philipsborn an Ysenburg, Berlin 25. Okt. 1863, Nr. 97, 
Vol. 21. 

”% Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 27. Okt. 1863, Nr. 97, Vol. 21. 

39 Chiffretelegramm Bismarcks an Ysenburg, Berlin 30. Oktober 1863; gl. O. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuB.-franz. Handelsvertrags 825 


Nicht Herr von Bar, sondern der vertragsfreundliche Albrecht 
wurde anfangs November nach Berlin entsandt. Die Einzel- 
heiten der dortigen Verhandlungen zu verfolgen lohnt sich 
nicht in diesem Rahmen. Was Hannover und was Preußen 
wollten, ist nach dem Gesagten festgestellt. Als sich eine rasche 
Einigung infolge des süddeutschen Widerstandes nicht erzielen 
ließ, kündigte Preußen mit Zirkularnote vom 15. Dezember, 
am Tag der Weihnachtsunterbrechung der Verhandlungen, 
den bisherigen Zollvereinsvertrag. 

Da geriet Platen in die größte Aufregung. Das eben war es, 
was er unter allen Umstánden hatte vermeiden wollen! Eine 
Reihe hoher hannoverscher Beamter hatte ihn bei Ysenburg 
in dem Bemühen unterstützt, diesen Schritt ja zu verhüten?!, 
Wenn erst PreuBen die Kündigungsfrist, d. h. den 1. Januar 
1864 ungenützt verstreichen ließ, dann konnte man gemächlich 
weiter temporisieren, handeln und feilschen. Ysenburg ,,war 
nicht wenig frappiert", Platen durch diese Kündigung ,jin die 
größte Aufregung geraten zu sehen‘‘®®. Alle Begründungen des 
preußischen Vorgehens, die Versicherung, „daß diese formelle 
Kündigung der Zollvereinsverträge ja durchaus notwendig, ge- 
boten gewesen sei", machten keinen Eindruck. Preußen habe, 
so behauptete Platen, im Gegensatz zu den Worten seiner 
Kündigungsnote durchaus nicht im Sinn seiner verbündeten 
Regierungen, vor allem nicht Hannovers, „welches momentan 
wieder ganz auf preußischer Seite gestanden [!]", gehandelt. 
Hannover sehe sich damit gezwungen, sich nun wieder den 
Reihen der Süddeutschen anzuschließen. Die unangenehmsten 
Schritte würden nicht ausbleiben. Diese ärgerlich hingeworfene 
Drohung wiederholte er in der nächsten Zeit in immer neuen 
Wendungenés. 

Delbrück stellte diese Erregung und scheinbare Über- 
raschung Hannovers richtig“: bei dem ersten Besuch, welchen 
er dem hannoverschen Bevollmächtigten im November 1863 ge- 


e Ysenburg an Bismarck, Hannover 1. Nov. 1863, in Nr. 97, Vol. 21. 

53 Del. 16. Dez. 1863, Nr. 97, Vol. 21. 

83 Z. B. Ber. Ysenburgs 17. Dez. 1863, dgl. 18. Dez. 1863, beide in Nr. 97, Vol. 21. 

84 Delbrück, Or. Brief an das Außenministerium, Berlin 17. Dez. 1863, gl. O.; 
dementsprechend dann die Instruktion Bismarcks an Ysenburg, Berlin 19. Dez. 1863, 
gl. O. 


826 Eugen Frans 


macht, hatte er Albrecht auf dessen Frage, ob Preußen, wenn 
vor dem Ablauf des Jahres, wie dies doch wahrscheinlich, eine 
Verständigung zwischen den Zollvereinsgenossen noch nicht 
erfolgt sei, die Verträge kündigen werde, sofort erwidert, daß 
diese Kündigung dann bestimmt erfolgen werde. Delbrück 
glaubte sich zu erinnern, daß Albrecht hierauf bemerkte, er 
habe dies sich selbst schon gesagt“. Platen hatte tatsächlich 
mit der Kündigung gerechnet, sie befürchtet. Sein ärgerliches 
Erstaunen war Manöver. Ingelheim berichtet, man habe die 
Kündigung in Hannover vorausgesehen. Diesen Schritt habe 
Berlin getan, so sagte man in Hannover, um den ,,móglichsten 
Nutzen für Preußens eigensüchtige Tendenzen zu ziehen''85, 
Ja, gegenüber dem Österreicher rechtfertigt die hannoversche 
Regierung geradezu die preußische Kündigungsnote! 

Wohl wurde diese Schmollwinkelpolitik in Berlin unange- 
nehm empfunden. Aber man erwartete mit Recht, daß auch 
dieser Zorn über die unsanfte Störung der hannoverschen Zirkel 
verrauchen werde. Bis zur Wiederaufnahme der Verhandlungen 
zu Berlin am 3. Februar 1864 war dies geschehen: jetzt forderte die 
hannoversche schriftliche Erklärung®: 1. das Praecipuum, 
2. gleichzeitige Regelung der Vertragsverhältnisse zu Frank- 
reich und Österreich — wobei der zweite Punkt offenbar als 
Handelsobjekt zur Erreichung des ersten gedacht war. Doch 
erhob Hannover bei den weiteren Beratungen keine Schwierig- 
keiten. Damals kam auch der bayrische Delegierte, Ministerialrat 
von Meixner zu der betrüblichen Erkenntnis, Hannover habe nur 
ein Ziel: die Erhaltung des Praecipuums durch Sicherung nach 
allen Seitens“! Er formulierte abschließend die Taktik Hannovers 
in den scharfen Satz: Hannover sei nur deshalb teilweise mit 
Bayern gegangen, um das Praecipuum, als Lohn für seinen Abfall 
von Bayern, herauszuschlagen®”. Immerhin blieb das Schein- 
bündnis bestehen, nachdem PreuBen in seiner Erklárung vom 
11. Februar die eben erwáhnten hannoverschen Forderungen 
rundweg abgeschlagen hatte. 

. In der letzten Sitzung dieser zweiten Verhandlungsetappe 
brachte der preuBische Vorsitzende den für Hannover so ver- 

*5 Bericht Ingelheims an Rechberg, 18. Dez. 1863, Nr. 87 A, St. A. W. 


86 In Nr. 97, Vol. 22. 
5" Kommissionsber. Meixners an den König, Berlin 7.Febr.1864, in I, C3, Convol.3. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 827 


drießlichen Antrag seiner Regierung auf Beseitigung des Prae- 
cipuums für den Welfenstaat und Oldenburg anläßlich der 
Erneuerung des Zollvereins zur Sprache. Bisher war darüber 
nicht verhandelt worden und auch jetzt, so sagte Pommer- 
Esche, erlaubte die Zeit nicht näher darauf einzugehen. Bis 
zur Wiederkehr sollten sich die Bevollmächtigten aber mit 
ausreichenden Instruktionen versehen! Der kluge hessen- 
darmstädtische Delegierte, Freiherr von Biegleben, umreißt 
die Lage Hannovers und die Absichten Preußens treffend mit 
den Worten: „Offenbar hat man preußischerseits mit Absicht 
die Verhandlung über diesen Punkt, den man sehr wohl längst 
auf die Tagesordnung hätte bringen können, verschoben, weil 
man ihn in der Schwebe lassen wollte, um ein gewichtiges 
Mittel, auf Hannover zu wirken, nicht aus der Hand zu geben“. 

Als am 2. Mai, nach ergebnislosem Verlauf der Prager Unter- 
handlungen zwischen dem Sektionschef im österreichischen 
Finanzministerium, Freiherrn von Hock und dem preußischen 
Geheimen Rat Hasselbach, von denen man in Hannover fälsch- 
lich eine Einigung zwischen Preußen und Österreich, zumal 
in Anbetracht der damaligen politischen Zusammenarbeit der 
beiden Staaten, erhofft hatte, die dritte Etappe der Verhand- 
lungen in Berlin begann, war Hannover in einem Dilemma. 
Jetzt stand die peinliche Frage bevor! Die bayrische, württem- 
bergische und hessen-darmstädtische Regierung beschickten 
die Konferenz nicht mehr. Das war für Hannover ein Ausweg. 
Platen versicherte Bayern, er werde Albrecht nicht teilnehmen 
lassen, wenn nicht alle Staaten zur Konferenz kämen®®. Ander- 
seits aber brachte er es doch nicht über sich, Albrecht überhaupt 
nicht nach Berlin zu schicken. König Georg faDte die „Auf- 
gabe“, die Albrecht künftig in Berlin hatte, in den humorvollen 
Satz: „Da kann er einstweilen in Berlin spazieren gehen“? 
Albrecht reiste nach Berlin, nahm aber an den Sitzungen nicht 
teil. Der Druck auf Preußen sollte damit erhöht werden, 
Albrecht aber jederzeit bereit und zur Stelle sein, falls Preußen 
nachgeben wollte. Die Praecipuumsfrage wurde nicht ange- 


59 Biegeleben, Or. Ber. an das großherzoglich-hessische Außenministerium, 
Darmstadt 31. Mürz 1864, in hess. Staatsarchiv Darmstadt, Ablief. Staatsm. P, 
Conv. 23, fasz. 1. 

8 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg, Hannover 1. Mai 1864, Nr. 48, St. A. W. 


828 | Eugen Franz 


schnitten, das Damoklesschwert über Hannover blieb in der 
Schwebe. Da die hannoversche Regierung im Kampf um das 
Praecipuum nun auch in der zweiten Kammer lebhafte Unter- 
stützung fand — selbst Miquel konnte der Minister Erxleben 
in der Kammersitzung vom 11. Mai 1864 ohne Widerspruch 
jetzt als Bundesgenossen der hannoverschen Politik in der 
Handelsvertragsfrage ansprechen?“ — war die Stellung des han- 
noverschen Ministeriums zweifellos befestigt. Darum beschloß 
die Regierung nunmehr sich an den neuen, von der bayrischen 
Regierung für Juni ausgeschriebenen Konferenzen der ,,Zoll- 
separatisten‘‘, wie Arnim, der preußische Gesandte in München, 
die Opposition bezeichnete?!, zu beteiligen; Albrecht wurde auch 
dorthin als Delegierter bestimmt. Die Hauptsorge Hannovers 
war jetzt das Durchhalten Kurhessens, das Preußen seit Wochen 
derartig bearbeitete, daB Aufenminister Abée und Finanz- 
minister Dehn-Rotfelser in árgster Bedrángnis waren — und zwar 
um so mehr, als auch sie die hannoverschen Pláne durch- 
schauten. Platen suchte zwar dem Minister Abée klarzumachen, 
„daß Hannover ganz gut auch außerhalb eines nordischen Zoll- 
vereins leben und auch ohne Praecipuum bestehen kónne''9?; 
man möge in Kassel daher nicht glauben, „der Widerstand 
Hannovers kónnte durch einfaches Bewilligen des Praecipuums 
gebrochen werden“ . Der Kasseler Außenminister aber teilte 
diese Eröffnung Hannovers schleunigst dem preußischen Ge- 
sandten mit und „belächelte“ im übrigen „diese eigentümliche 
Behauptung“. 

Dafür, daß man in Hannover gehofft hatte, Albrecht werde 
in Berlin doch nicht nur „spazieren gehen“ müssen, sprechen 
die hannoverschen Klagen, daß die preußischen Staatsmänner 
nicht außerhalb der Konferenzen mit ihm in Fühlung traten. 
Es war der große Schmerz Hannovers jetzt und in der Folge, 
daß Preußen nicht die Initiative ergriff und ihm ein Angebot 
machte. Ysenburg wies diese Klagen mit der scharfen Be- 
merkung zurück, daß dergleichen Mitteilungen, wie Sie Albrecht 


% Ysenburg an Bismarck, 13. Mai 1864, in: Nr. 97, Vol. 23. 

9! Arnim an Bismarck, München 3. Mai 1864, in Nr. 97, Vol. 22. 

n Prinz Reuß, preußischer Gesandter in Kassel, an Bismarck, 26. Mai 1864, 
in Nr. 97, Vol. 23. 

# Wie vorhergehende Anm. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 829 


erwarte, „nur einfach auf den Straßen Berlins Promenierenden 
nicht nachgetragen zu werden pflegten'9?*! Als Ysenburg dann 
aber riet, Hannover möchte nicht den günstigen Zeitpunkt 
zum Anschluß an Preußen übersehen, wurde Platen anzüglich 
und meinte, „Werbeversuche‘‘, wie sie vor kurzem durch den 
braunschweigischen Minister von Liebe und jüngst von olden- 
burgischer Seite bei ihm gemacht worden seien, könnten die 
hannoversche Regierung nur in der Überzeugung bestärken, 
daß Preußen einen sehr hohen Wert auf ihren Beitritt zu dem 
neuen Zollverein lege „und daß sie diesen ihren Beitritt somit 
recht teuer, womöglich noch um den Fortbezug des ganzen 
Praecipuums erkaufen lassen könne“. 

Schon 14 Tage spáter hatte der Wind in Hannover, infolge 
einer falschen Alarmmeldung über Kassel, umgeschlagen. Das 
Gerücht, daß die kurhessische Regierung mit Preußen ins reine 
gekommen sei, hatte das hannoversche Kabinett erschreckt. 
So kam es, daß am gleichen Tage, an welchem die Instruktion 
an Albrecht für München fertig gestellt wurde, Ysenburg auf 
Grund vertraulicher Informationen den Versuch Hannovers, 
sich Preußen zu nähern, erwarten durfte®®. Das Geschäft — Ab- 
kehr von Österreich und Süddeutschland, Einigung mit Preußen 
— sollte Zug um Zug vonstatten gehen Der jetzt vorgesehene 
Abschluß mit Preußen sollte auf der Basis des preußisch- 
sächsischen Übereinkommens vom 11. Mai 1864 vollzogen 
werden. Ysenburg, der eben erst von Besprechungen mit 
Bismarck aus Berlin zurückgekommen war, sieht sich daher 
veranlaßt um telegraphischen Bescheid zu bitten, was er ,,durch- 
blicken lassen“ dürfe’. Er hält den gegenwärtigen Augenblick 
für günstig, um zu einem Arrangement mit Hannover zu ge- 
langen. Wenn er der Regierung etwa die Hälfte oder */,4 oder 
gar / des Praecipuums eröffnen dürfe, so würde seiner Ansicht 
nach rasch ein Abkommen zu treffen sein; bei ?/, sei es „wohl 
schon ganz ohne Zweifel!“ . Bismarck antwortet telegraphisch 
sofort: „Ohne Anfrage sagen Sie nichts! Frägt man Sie, so 
sagen Sie, daß Sie nicht ermächtigt seien, sich über das Prae- 


% Ysenburg an Bismarck, Hannover 29. Mai 1864, gl. O. 

*5 Ysenburg an Bismarck, „ganz vertraulich", Hannover 13. Juni 1864, in Nr. 97, 
Vol. 23. 

% Telegramm Ysenburgs an Bismarck, Hannover 13. Juni, gl. O. 


830 Eugen Franz 


cipuum zu erklären, daß wir darüber verhandelt haben würden, 
wenn der hannoversche Kommissarius darauf mit uns ein- 
gegangen wäre, und daß wir, wie Sie bestimmt wüßten, auch 
jetzt bereit seien, darüber mit dem hannoverschen Kommissarius 
vertraulich hier zu sprechen?”.‘‘ Bismarck will also diese Ver- 
handlungen nicht aus der Hand geben. 

Am 14. Juni erfolgte dann der von Ysenburg erwartete 
Schritt durch Erxleben und Platen. Einen vollen Stellungs- 
wechsel deutete ihre Frage an, ob Preußen das Praecipuum 
auch dann garantieren könne, wenn nur ein norddeutscher 
Zollbund zustande komme®®. Bei der Versicherung, Preußen 
sei auch jetzt noch bereit, mit Hannover zu verhandeln — diese 
Bereitwilligkeit verdankte letzteres nur dem Zögern Kurhessens! 
— fiel Platen „sichtlich ein Stein vom Herzen“. Platen fühlte 
weiter vor: „Daß wir das ganze Praecipuum nicht bekommen, 
das haben Sie uns oft genug gesagt, und ich muß es Ihnen wohl 
glauben, und so dürfen wir mehr wie / auch wohl gar nicht ver- 
langen?®?‘‘ Als Ysenburg darauf den Versuch Preußen fest- 
zulegen mit der scherzhaften Erwiderung ablehnte, seine Re- 
gierung werde vielleicht ½ oder !/,43 des Praecipuums bieten, 
zog Platen sich im gleichen Ton auf die Anfrage zurück: auf die 
Hälfte des Praecipuums werde er doch sicher rechnen dürfen? 
Nun war Hannover also so weit, als man es in Berlin haben 
wollte. Albrecht hatte man schon für München vergeben. Als 
Ysenburg ihn für Berlin in Anspruch nehmen wollte, entgegnete 
Platen, Preußen müsse schon gestatten, „daß die hannoversche 
Regierung einen minder schroffen Bruch mit den Münchner 
zollverbündeten Staaten exekutiere und sich doch auf eine 
etwas ritterlichere Weise aus den dortigen Schlingen [!] ziehe". 
Der hannoversche Plan war auch in dieser Hinsicht schon vor- 
bereitet: Platen schlug als Unterhändler dem oldenburgischen 
Bevollmáchtigten auf der Berliner Zollkonferenz, Oberzollrat 
Meyer vor. Dieses Angebot hatte offensichtlich einen mehr- 
fachen Vorteil: einmal war damit die Interessengemeinschaft 
mit Oldenburg betont und die Unterstützung von seiten des 


*' Chiffretelegrammconzept Bismarcks, von Philipsborns Hand, Berlin 14. Juni 
1864, in Nr. 97, Vol. 23. 

% Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, „ganz vertraulich“, Hannover 15. Juni 1864, 
gl. O. B 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 831 


Preußen bisher gefügigeren und daher in Berlin besser ange- 
schriebenen wichtigen Nachbarstaats gesichert. Sodann aber 
konnte der Oldenburger, wenn die Dinge sich ungünstig an- 
ließen, leichter abgeschüttelt werden. 


Mit der Vorsprache der beiden Minister bei Ysenburg am 
14. Juni war das Gelände ausgekundschaftet. Nun beriet man 
im königlichen Kabinett, was zu tun sei. Nach Rückkehr von 
der königlichen Tafel in Schloß Herrenhausen sprach Platen 
am Abend des 15. Juni den Prinzen auf der Promenade. Es 
schien, als habe er neue Instruktionen’: der König werde schwer- 
lich die Entsendung eines Kommissars zu vertraulichen Be- 
sprechungen nach Berlin genehmigen. Die Regierung habe in 
den letzten Tagen die feste Absicht zum Vertragsabschluß ge- 
habt, wenn man ihr bestimmte Andeutungen gemacht hätte. 
Da nun Ysenburg jede Erklärung über das zu erwartende An- 
gebot verweigert habe, so könne man es der hannoverschen 
Regierung nicht verargen, „wenn sie ihre Fühlhórner nun auch 
wieder zurückzöge“ . Platen faßte dabei Ysenburg scharf ins 
Auge. Als er sah, daß seine Anspielungen keinerlei Eindruck 
auf den Prinzen machten, dieser vielmehr entgegnete, die 
Regierung möge das ganz so halten, wie sie es eines Tages vor 
dem Land vertreten könne, lenkte der Minister ein und meinte, 
er schicke ja an sich gern einen Unterhändler nach Berlin, aber 
die Absendung eines hannoverschen Kommissars nach Berlin 
würde „zu viel Alarm machen und der hiesigen Regierung sowohl 
Österreich wie auch die Münchner Zollkonferenzstaaten auf den 
Hals laden“. Er wollte am 16. Juni noch einmal nach Herren- 
hausen fahren und wiederum Meyer für Berlin vorschlagen. 
Lehne man letzteren von Berlin aus ab, so werde man die Sache 
wohl auf sich beruhen lassen und Hannover müsse zusehen, 
welche Hülfe es in München fände; von dort habe es bereits 
Zusagen. Ysenburg ersparte Platen nichts, forderte ihn vielmehr 
mit sarkastischer Ruhe auf, „sich dann ja nicht abhalten zu 
lassen", das Praecipuum Hannover auf diese Weise recht 
kräftig zu sichern! Darauf lenkte Platen neuerdings ein: er suche 
das Heil Hannovers nicht in München und Wien; er wisse, daß 


Isenburg an Bismarck, „ganz vertraulich“, Hannover 16. Juni 1864, in Nr.97, 
Vol. 23. 


832 i Eugen Franz 


die in Wien vereinbarten Punktationen!'? kaum in München und 
Stuttgart und schon gar nicht in Darmstadt behagten. Da ihm 
nun gar zu Ohren gekommen sei, daß zwischen Preußen und 
Kurhessen schon ein Vertrag paraphiert und dies für Hannover 
von größter Wichtigkeit sei, so wären er und Erxleben eben zu 
Ysenburg gekommen’, 

Der König gab, wie zu erwarten, in einem neuen Minister- 
konseil am 17. Juni seine Genehmigung zur Entsendung Meyers, 
da sich ein anderer geeigneter Ausweg nicht bot!9*, Im gleichen 
Konseil wurde auch die Instruktion für Albrechts Münchner 
Wirksamkeit beraten; sie wurde so abgefaßt, daD sie eine 
sofortige Verständigung mit Preußen nicht behinderte: die 
in Wien vereinbarten Punktationen wurden für Hannover in 
ihrer jetzigen Gestalt als untragbar bezeichnet. Hauptaufgabe 
sei die Erhaltung des Zollvereins und Verständigung mit Preu- 
Den!9*, Mit einer solchen Instruktion konnte Albrecht in München 
nur schaden. Sein Wirken hatte lediglich den Zweck, die 
Brücken nach dem Süden langsam abzubrechen. Das gleiche 
besorgte Platen selbst: Das Entgegenkommen Hannovers habe 
seine Grenze erreicht, erklärte er dem erstaunten Grafen Quadt: 
es sel „unpraktisch II], einen voraussichtlich erfolglosen Wider- 
stand fortzusetzen'!**, Auch die Süddeutschen könnten sich 
auf die Dauer nicht dem Beitritt zum Zollverein entziehen. Ge- 
wiB sei Österreichs Schicksal zu bedauern. Aber man könne 
dem Wiener Kabinett den Vorwurf nicht ersparen, daß es die 
erforderliche Entschiedenheit habe vermissen lassen — ein 
Vorwurf, der durchaus berechtigt und auf die preuBisch-óster- 
reichische politische, wenn auch zeitweilig unterbrochene Ent- 
ente (seit Ende 1863) gemünzt war. Trotzdem wartete man noch 
bis zum 22. Juni, um zu sehen, wie die seit dem 19. in München 


100 Zwischen den bayrischen Ministerialráten Weber und Meixner und dem 
Wiener Leiter des Handelsministeriums, Baron von Kalchberg — Ende Mai bzw. 
1. Juni 1864; vgl. SchultheB, E. G. K. f. 1864, S. 104/105. 

101 Ysenburg an Bismarck, Hannover 16. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 23. 

19 Bismarcks Instruktion, Or. Conz. von Philipsborn, an Ysenburg, Berlin 
18. Juni 1864, gl. O. Meyer reiste am 18. Juni mittags von Berlin nach Hannover, 
um dort seine Vollmachten in Empfang zu nehmen. 

19 Ysenburg an Bismarck, Hannover 17. Juni 1864, gl. O. Ebenso Ingelheim 
an Rechberg, Hannover 17. Juni 1864, Nr. 65 A, St. A. W. 

104 Graf Quadt, Immediatber., Hannover 17. Juni 1864, in I, C 3, Conv. 3. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 833 


tagende Konferenz verlief; ja, um Preußen williger zu machen, 
schlug Platen nun Österreich und den Südstaaten vor, eventuell 
einen süddeutschen Zollverein zu formulieren! Für sich aller- 
dings halte die hannoversche Regierung die Erneuerung und 
Erweiterung des Februarvertrages von 1853 für das einzige 
erreichbare und in ihrem Interesse liegende Ziel. Gleichzeitig 
aber verlangte Platen von Österreich ‚die volle Sicherstellung 
des Fortbezuges des Praecipuums“ 10 

Hannover hatte sich nicht nur bezüglich Kurhessens, sondern 
auch über Oldenburg getäuscht!%; als Platen mit Bestimmtheit 
erfuhr, daß Preußen und Oldenburg noch nicht handelseinig 
seien, verlegte er sich erneut aufs Temporisieren. In Berlin 
durchschaute man diese Winkelzüge. Bismarck ließ daher 
Platen eindringlich warnen, er möchte sich „über die Lage der 
Sache nicht täuschen“. Als Platen und Erxleben noch einen 
Versuch machten, die hannoverschen Forderungen zu steigern 
und meinten, Meyer müsse mit der Forderung des vollen Prae- 
cipuums beginnen, „um dann abhandeln lassen zu können“, 
erwiderte ihnen Ysenburg barsch, sie möchten dann lieber die 
ganze vertrauliche Besprechung mit der preußischen Regierung 
unterlassen!??, 

Am 25. Juni waren Meyer und die preußischen Bevoll- 
mächtigten zur ersten Sitzung zusammengetreten. Hannover 
war bereit zur Fortsetzung des Zollvereins unter folgenden 
drei Voraussetzungen!??: 1. Daß alle zu Gebot stehenden Mittel 
angewendet werden, um die süddeutschen Staaten — denen 
Platen vor wenigen Tagen noch den Rat erteilt hatte, einen 
Sonderbund mit Österreich zu schließen! — zum Verbleiben 
im Verein zu bewegen. 2. Daß Mittel und Wege vereinbart 
werden, um das Verhältnis zu Österreich befriedigend zu regeln. 
3. Daß Hannover das Praecipuum in seiner bisherigen Höhe 
garantiert werde. Die preußischen Unterhändler antworteten, 
Punkt 1 und 2 könne man zwar nicht ohne weiteres an- 
nehmen, doch werde man darüber sich schließlich wohl einigen 


106 Ingelheim an Rechberg, Hannover 17. Juni 1864, Nr. 65a, St. A. W. 

100 Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 22. Juni 1864, Nr. 97, Vol. 23. 

107 Dgl. an dgl. Hannover 19. Juni; gl. O. 

108 Aufzeichnungen von Philipsborns Hand, Berlin 25. Juni 1864, in Nr. 97, 
Vol. 23. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd.26, H.4. 53 


834 Eugen Franz 


können. Hier handelte es sich ja doch mehr oder minder um 
Diplomatenphrasen. Punkt 3 aber bezeichneten sie als un- 
annehmbar. 

Am 28. Juni traf die Zustimmung Kurhessens in Berlin ein!“. 
Diese Nachricht schlug wie eine Bombe in Hannover ein. 
Trotzdem blieb Platen starrköpfig bei seiner Behauptung, er 
könne nichts tun für die Verständigung, da Preußen nur !/, 
oder !/, des Praecipuums Oldenburg und Hannover zugestehen 
wolle. Es werde Berlin nicht leicht gelingen, Oldenburg auf 
seine Seite herüberzuziehen. Beide Staaten müßten mindestens 
die Hälfte des Praecipuums weiter beanspruchen oder einen 
neuen Steuerverein gründen. Eine Punktation bestehe bereits 
zwischen beiden Regierungen!!?, Das war nur ein Schreckschuß. 
Oldenburg war schon nahe daran, selbständig mit Preußen 
abzuschließen. Bismarck war nun sogar der Ansicht, daß man 
Hannover wegen seiner Widerspenstigkeit weniger zubilligen 
solle, als dem willigeren Oldenburg!!!. „Wir können dies“, 
schreibt er Philipsborn „um so eher, als, wenn wir Oldenburg 
neben Braunschweig und Kurhessen haben, Hannover nicht 
mehr in der Lage ist, zurückzubleiben oder große Schwierig- 
keiten zu machen“. Man möge Oldenburg „so weit wie möglich 
entgegenkommen“, aber „an dem hannoverschen Praecipuum 
eine Ersparnis gegen das oldenburgische machen“ 111. 

Die Fachminister, denen Bismarck diese Meinung sagen ließ, 
waren anderer Ansicht. Und auch politisch wäre es doch wohl 
bedenklich gewesen, Hannover auf diese Weise ganz offen- 
sichtlich schwerstens zu kränken. Schwierigkeiten aller Art 
wären unvermeidlich gewesen. Außerdem hatte ja Oldenburg 
noch nicht bestimmt zugesagt; es wartete auf Hannover. Die 
Schicksalsgemeinschaft wurde aufrechterhalten. Am 1. Juli 
fand zu Herrenhausen eine Besprechung zwischen dem Groß- 
herzog und Prinz Ysenburg statt: der Großherzog fand, daß 
die Hälfte des Praecipuums „denn doch zu niedrig“ sei!!?, er 
habe auf ?/,, mindestens aber ?/,, gerechnet. Der oldenburgische 


19 Vgl. Or. Conz. Chiffretelegramm Philipsborns an Bismarck in Karlsbad, 
Berlin 28. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 23. 

110 Ysenburg an Bismarck, Hannover 29. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 24. 

111 Brief Bismarcks an Philipsborn, Karlsbad 30. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 23. 

112 Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 1. Juli 1864, Nr. 97, Vol. 24. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 835 


Finanzminister Zedelius und der von Berlin herbeigerufene 
Oberzollrat Meyer waren gleichfalls nach Herrenhausen befohlen 
worden. Ysenburg widerriet dem Großherzog dringend, sich 
auf ein Handeln mit Berlin einzulassen; !/,, mehr bedeute etwa 
15000 Gulden für Oldenburg. Sei es geraten, deswegen auf 
einen Abbruch hinzutreiben? Auch vom point d'honneur 
aus suchte er den Großherzog zu beeinflussen: wenn Preußen 
einmal vorhabe die Hälfte zu bewilligen und es sollte wirklich 
gelingen einen Bruchteil mehr einzuhandeln, so erscheine ihm, 
Ysenburg, das wie ein Geschenk, das Oldenburg doch gewiß 
von Preußen nicht annehmen wolle! Die eigenartige Frage 
des Großherzogs an den preußischen Gesandten, ob er ihm 
rate, fest abzuschließen, bejahte Ysenburg selbstverständlich. 
Als dieser im Vorzimmer des Großherzogs dann beim Fortgehen 
Minister Zedelius und Meyer traf, sprach er ihnen in aller Eile 
im gleichen Sinne zu. Oldenburg war damit im wesentlichen 
gewonnen und Bismarck beharrte auf seinem Vorschlag, Olden- 
burg besser zu stellen als das noch immer sich versagende 
Hannovers. 

Jetzt war es auch für Hannover höchste Zeit und nunmehr, 
da man ernstlich entschlossen ist, beizutreten, weil man muß, 
geht ein eigener hanno verscher Unterhändler, der Geheime 
Finanzdirektor von Bar, am 6. Juli nach Berlin ab, um dort die 
Schlußverhandlungen am 7. Juli aufzunehmen. Nunmehr war 
das Eis gebrochen!M, 

Nach München und Wien hatte Platen schon Anfang Juli 
das Abschwenken mitgeteilt. Rechberg antwortete sehr kühl 
und reserviert: bei aller Bemühung, Platen gerecht zu werden 
„kann ich“, so schreibt er, ,,doch mein lebhaftes Bedauern dar- 
über nicht unterdrücken, daB die kónigliche Regierung bei 
diesem ganzen Vorgang nicht diejenigen Rücksichten beobachtet 
hat, welche wir und unsere Verbündeten von ihm zu erwarten 
berechtigt waren“ 11s. Damit war dieser schwierige Teilkampf 
Freußens und Österreichs auf hannoverschem Boden beendigt. 


113 Bismarcks Brief an Philipsborn, Karlsbad 4. Juli 1864, Nr. 97, Vol. 24. 

14 Chiffretelegramm des Unterstaatssekretürs Thile an Bismarck, Berlin 8. Juli 
1864, gl. O. 

115 Or. Conz., Rechbergs Weisung an Baron Brenner, Wien 30. Juli 1864, 
St. A. W. : LS 


53* 


836 Eugen Franz 


Am 11. Juli traten Hannover und Oldenburg den Verträgen 
bei, Was waren die Ergebnisse? 

Österreich war verärgert. Rechberg war aber zu vornehm 
und zu klug, um Hannover noch weitere Vorwürfe zu machen. 
Was hätte es auch für einen Zweck gehabt? In politischer 
Hinsicht konnte man Hannover doch gelegentlich wiederum 
gebrauchen. So fand man sich ab. 

Die Münchner Vereinsgenossen waren entrüstet und de- 
primiert. Der norddeutsche Flügel war damit zusammen- 
gebrochen, das süddeutsche Oppositionszentrum war ge- 
schwächt und zermürbt. Auch Albrechts Lage war äußerst 
peinlich: er hatte, wie der preußische Gesandte von Arnim zu 
berichten weiß, „keine Ahnung“? von dem nahen Abschluß 
der Verhandlungen Hannovers mit Preußen gehabt, als er 
von Berlin nach München reiste. Erst vor Beginn der Münchner 
Schlußsitzung erhielt er von Ministerialrat Meixner Mitteilung 
von dem Berliner Abkommen. Albrecht war damit ‚in eine 
schiefe Stellung geraten“: er war daher in der Schlußsitzung 
der Münchner Konferenz am 12. Juli nicht mehr erschienen, 
nachdem, wie er mündlich Herrn von Meixner erklärte, seine 
Regierung inzwischen eben andere Wege eingeschlagen habet. 
Schrenk war empört über den Apostaten Platen und warf ihm 
„einen solchen Mangel an Aufrichtigkeit und Achtung für seine 
Mitverbündeten‘ vor, „dag es wohl bei gelegener Zeit wird 
wiederhervorgehoben und nieht der M überantwortet 
werden müssen''!!9, 

Platen fühlte sich schwer gekränkt durch den Vorwurf der 
„Tergiversation“, den er zurückwies!?, Schrenks Zorn ist 
verständlich. Er war der zäheste Widerpart der preußischen 


Zollvereinspolitik, und Hannovers Trennung — das sah er 
ein — bedeutete den raschen Zerfall der Opposition über- 
haupt. 


116 Abdruck in „Das Staatsarchiv“ VII (1864), S. 273fl. 

117 Or. Ber. Arnims an Bismarck, München 16. Juli 1864 (Karlsbader Nr. 515), 
in Nr. 97, Vol. 24. 

118 Schrenk, Immediatber., München 15. Juli 1864: I. C. 3, Conv. 3. 

110 Bes. Protokoll über das Verhalten Hannovers, gl. O. 

19 Platen an Knesebeck für Schrenk und Hügel, Hannover 22. Juli 1864, 
und Graf Quadt an Schrenk, Hannover 21. Juli 1864, in I. C. 3, C. 3. 


Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 837 


Für Preußen war die Gewinnung Hannovers eine der wich- 
tigsten Acquisitionen im Kampf um den neuen Zollverein. Wohl 
war mit dem Beitritt Kurhessens und mit der grundsätzlichen 
Bereitwilligkeit Oldenburgs die Stellung Hannovers unter- 
höhlt. Aber der hannoversche Staat war doch ein so wichtiger 
Machtfaktor in Norddeutschland, daB das Berliner Kabinett 
es für geraten hielt, nicht in letzter Minute aus der mög- 
lichen Freundschaft eine erbitterte Feindschaft werden zu 
lassen. 

Was waren die Ergebnisse endlich für Hannover selbst? 
Die natürliche wirtschaftliche Interessengemeinschaft mit Preu- 
Ben war gewahrt, das Vertragswerk, das gerade der hannover- 
schen Schiffahrt und seinem Handel nach Übersee Nutzen 
brachte, gesichert, die politische Gegnerschaft gemildert oder 
wenigstens nicht verschärft worden, wie es bei weiterer Hart- 
näckigkeit notwendig der Fall gewesen wäre. Denn wenn Bis- 
marck den süddeutschen Staaten gegenüber eine wenigstens 
‘scheinbare Gleichgültigkeit an den Tag legte: von den nord- 
deutschen durfte kein bisheriges Mitglied fehlen, wollte es nicht 
künftig sich gefáhrlichem, ja wohl kaum ertragbarem Druck aus- 
setzen. Das materielle Ergebnis für Hannover endlich läßt sich 
vielleicht am besten in der Art charakterisieren, wie es Finanz- 
minister von Erxleben auf eine Anfrage Rudolf von Bennigsens 
in der zweiten hannoverschen Kammer am 16. Juli getan hat!?!, 
Bennigsen wollte durch die Antwort des Ministers die. „Be- 
ruhigung der dureh den langen Schwebezustand nachteilig 
beeinflußten Wirtschaft fördern“. Voraussetzung seiner An- 
frage war, daß keine Mitteilungen zu erwarten seien, die nach- 
teilig auf noch schwebende Verhandlungen einwirken Könnten. 
Erxleben gab der Kammer rückhaltslosen Aufschluß: vor- 
behaltlich der etwa noch festzustellenden Modifikationen — das 
war eine rein formelle Rücksichtnahme auf die süddeutschen 
Staaten — hatte Hannover den preußisch-französischen Vertrag 
und den Tarif angenommen. In einem Separatvertrag waren 
die mit Hannover und Oldenburg von Preußen abgemachten 
Spezifica festgestellt: Das Praecipuum, die Branntwein- und 


1! Einzelheiten in „Neue hannoversche Zeitung" Nr. 329 v. 17. Juli 1864, 
S. 1143. 


838 Eugen Franz 


Salzsteuer!?? Dieser Separatvertrag bestimmte, daß der Anteil 
Hannovers vom 1. Januar 1866 an u.a. bestehen sollte: in einem 
Kopfteil von der Rübenzuckersteuer, jedoch in dem Mindest- . 
betrag von 27!/,sgr pro Kopf von Eingangs- und Ausgangs- 
abgaben. Das Ergebnis berechnete man in Hannover dahin, 
daß künftig etwa 10sgr auf den Kopf mehr träfen, als in den 
nicht sonderbegünstigten Staaten. Das war die Hälfte des 
Praecipuums, das bisher 20 sgr pro Kopf aus den Einnahmen 
von den Zöllen und der Rübenzuckersteuer betragen hatte. 
Über die Branntweinsteuer hatte der Septembervertrag von 
1851 bestimmt, daB Preußen und Hannover eine gleich hohe 
Steuer erheben würden. Als Preußen aber später diese Steuer 
erhóhte, vertrat Hannover init Erfolg den Standpunkt, daB es 
diese Erhóhung nicht mitmachen müsse. Jetzt hatte PreuDen 
die Angleichung der Steuer verlangt. Auf die Hälfte der preußi- 
schen Erhöhungen einigte man sich schließlich. Endlich war 
Hannover genötigt, das Salz, das in Preußen staatlich mono- 
polisiert war, wesentlich höher zu besteuern, und zwar mit zwei: 
rheinischen Talern pro Zentner, wobei jedoch Hannover und 
Oldenburg überlassen war, diese Erhöhungen stufenweise vor- 
zunehmen. Sobald der Satz von zwei Talern erreicht war, fielen 
die bisher zum Schutz gegen Einschwärzungen getroffenen 
kostspieligen Maßregeln weg. Sollte der Schmuggel aber sich 
neuerdings häufen, so waren Abwehrmaßregeln dagegen vor- 
gesehen. Doch war dies nicht ernstlich zu befürchten, da bei 
dem Zweitalersatz der Salzpreis Hannovers sich nicht mehr 
wesentlich von jenem Preußens unterschied. 

Die Frage Bennigsens nach der mutmaßlichen Erhöhung der 
Steuern konnte der Minister dahin beantworten, daß die Salz- 
steuer bisher 137000 rheinische Taler eingebracht und künftig 
etwa 390000 rheinische Taler betragen werde; für die Brannt- 
weinsteuer mit bisher 614000 Rth. Ertrag berechnete das 
hannoversche Finanzministerium — unter Berücksichtigung der 
Ausfälle, welche jede Steuererhöhung im Gefolge hat —, ein 
Mehraufkommen von etwa 250000 Rth. Die Gesamtsteuer- 
mehrung wurde auf 640000 Rth. geschätzt, was die Hälfte des 


1 Beim Abdruck der Kammerverhandlungen ist der Hannoverschen Zeitung 
ein Druckfehler unterlaufen, dem eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen 
werden kann: sie spricht von dem ,,Principuum". 


Pr eußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 830 


bisherigen Praecipuums bedeutete. Da Preußen von letzterem 
509, des bisherigen Satzes zugestanden hatte, konnte der 
hannoversche Haushalt somit völlig ausgeglichen werden. So 
war das finanzielle Ergebnis für Hannover verhältnismäßig 
noch recht günstig. Vielleicht wäre allerdings in einem früheren 
Zeitpunkt mehr zu erreichen gewesen. Politisch müßte das 
Nachgeben Hannovers als eine empfindliche Schlappe gewertet 
werden, wenn seine Regierung nicht vou vornherein die Ab- 
sicht gehabt hätte, im Zollverein zu bleiben und ihre Opposition 
nur taktisch zur Erzielung des wirtschaftlichen Vorteils zu 
betreiben. Darüber aber konnte man sich auch in Hannover 
nicht täuschen, daß dieses Nachgeben sein Einverständnis der 
wirtschaftspolitischen Hegemonie Preußens bedeutete. Der 
Sieg Bismarcks auf dem wichtigsten Gebiet nationaler Einigung 
im kleindeutschen Sinne war damit für Norddeutschland und bis 
zum 1. Oktober 1864 auch für Süddeutschland entschieden. 
Der Versuch Hannovers, die bisherige Trennung zwischen Wirt- 
schaftspolitik und Staatspolitik 1866 im Bunde mit den süd- 
deutschen Staaten mit den Waffen zu verteidigen, mußte miß- 
lingen. Am Verhandlungstisch gewann Preußen in den Jahren 
1862—1864 — scheinbar nur wirtschaftspolitisch — die letzten 
großen Vorgefechte. 


840 


Kleine Mitteilungen. 


Zu Dante de monarchia 13. 
Logische Interpretation und Textkritik. 


Et quia potentia ista [1ntellectiua ] per unum hominem seu per aliquam 
particularium comunitatum superius distinctarum tota simul in actum 
reduci non potest, necesse est multitudinem esse 1n humano genere, per 
quam quidem tota potentia hec actuetur, sicut necesse est multitudinem 
rerum generabilium, ut potentia tota materie prime semper sub actu sit; 
aliter esset dare potentiam separatam, quod est impossibile 
(rec. Bertalot p. 14 l. 45 sqq.). 

Die gesperrte Stelle gibt doppelten Anstoß: zunächst logisch. „ . . An- 
ders wäre: die f. als gesondert bestehend setzen, was unmöglich ist.“ 
Im Vorhergehenden ist nicht etwas gesetzt worden; vielmehr wurde die 
wirkliche Vielheit der Menschen und der Dinge aus einem metaphysischen 
Sinn begriffen. Weiter, eine p. „als gesondert bestehend setzen“ ist offen- 
bar nicht unmöglich, indem Dante es ja tut und „anders“ nennt als was er 
zuvor gesagt hat. Zweifellos hat man auch immer die Stelle so verstanden, 
daB das gesonderte Bestehn der f. selbst für unmöglich erklärt sei, indem 
diese, und zwar ganz (tota simul) allein in dem und durch das actual sein 
könne, dessen potentia sie ist; von ihm gesondert vermag sie es nicht, und 
gleichesfalls nicht, wenn dieses nicht voll, sondern lediglich ein Teil seiner 
in der Wirklichkeit ist. Die Anschauung als solche ist hier nicht zu erörtern; 
ein anderer Sinn der Darlegung ist wohl ausgeschlossen, — aber er wäre, 
hátte Dante den Satz so geschrieben, wunderlich schief ausgedrückt. 

Die Begründung der eigenen Behauptung aus der Unmöglichkeit des 
sonst als wirklich Anzunehmenden begegnet in ‚de m.‘ noch öfter in mehr 
oder minder ähnlichem Wortlaut. Sämtliche Stellen stimmen überein gegen 
die erórterte, indem in ihnen nicht das Denken des Gegenteiles, sondern 
dieses selbst als unmóglich bezeichnet wird. Es sind, soviel ich sehe, diese: 
I) aliter esset imperfectum sine proprio perfectiuo; quod est im- 
possibile L101.2; 2) aliter sibi defecisset [natura], q. e. i. II GI. 
418q0.; 3) altter humana ratio. . non sequeretur nature intentionem, 
9. e. i. II 7 I. 13sqq.; 4) .. . effectus superaret causam in bonitate; 
9. e. i. 1161.3sq.; 5) idem . . .esset contrarium sibi ipsi, q. e. i. III 101. 
21 800.; 6) .. . dedisset sibi quod non habebat, q. e. i. III 14 l. 33 sq.; 
7) aliter [res] esset otiosa; quod esse non potest U 51. 123 sq.; 
8) ... aut erit processus in infinitum, q.e. n. p. 1101. 14. 


Zu Dante de monarchia 1 3 841 


Zwei weitere Stellen sind besonders zu betrachten: aliter celum otiose 
moueret [deus], quod dicendum non est III 21. 21 sq.; . . . uide- 
retur deus us us fuisse ordine peruerso ...quod absurdumestdicere 
de deo III 41. 69 sqq. Hier ist wesentlich, daB das Subject des unmöglichen 
Gegenteiles je Gott ist; in diesem Falle überspringt der Nachsatz das im 
Vordersatz, hier wie sonst, einmal vorgestellte faktische Gegenteil selbst 
( moweret, usus fuisse) und negiert das Vorhergehende als non dicendum, 
absurdum dicere — indem es, wo von Gott die Rede ist, als nicht ein- 
mal hypothetisch Auszusprechendes bezeichnet wird. Die rein logische Móglich- 
keit der Gedanken wird auch hier nicht bestritten. 

An zwei weiteren Stellen spricht der Vordersatz zwar, abweichend von 
allen vorigen, vom Denken des Gegenteiles: aliter omnia reducerentur 
ad predicamentum substantie III 121. 29 sq.; . . alterum de altero 
predicaretur III 121. 49; jedoch der Nachsatz — welcher hier lautet 
quod est falsum — schließt wiederum nicht die Möglichkeit solches Denkens 
aus, sondern bezeichnet, was ein anderer so dächte, als falsch. Dem nahe 
steht: sequeretur quod iurisdictio prima posset annichilari, quod est 
irrationabile III 10 l. 638q.; auch hier wird nicht der Gedanke als solcher 
ausgeschlossen, sondern als zu einer „unvernünftigen‘ Vorstellung führend 
abgewiesen. — Die Beispiele für die bisher betrachteten Fälle sind sämtlich 
der Schrift de monarchia entnommen (woraus sie, wollten wir ihre Anzahl 
erhöhen, um nicht dem Wortlaute, doch dem Sinne nach vergleichbare Stellen 
zu vermehren würen). Um jedoch die in den lateinischen Schriften begegnenden 
festen Formen der Begründung eines Satzes aus seinem Gegensatz nach 
Möglichkeit zu erschópfen, ziehen wir auch die Questio de aqua et terra 
heran (in: Le opere di D. A. a cura del Dr. E. Moore, rived. dal Dr. Paget 
Toynbee, 4. ed., Oxford 1924; in den Briefen wiederholt sich lediglich die 
1. Form, de uulgari eloquentia und eclogae bieten, wie zu erwarten, keine 
Beispiele). 

DaB nicht das Denken des Gegenteiles, sondern dieses — dessen Vor- 
stellung an sich móglich ist — selbst als das Realunmógliche zu verstehen 
ist, zeigt eine nun nachzutragende Stelle aus de m.: sequeretur quod una 
essentia pluribus speciebus esset specificata; quod est impossibile 
I 31. 29 sq. (vgl. auch das letzte Beispiel aus de m. III 10 l. 63 sq.) — am 
nachdrücklichsten aber zeigen es die drei anzuschließenden Stellen der Qu.: 
ss aqua essel excentrica, tria impossibilia sequerentur: ...812]. 
4 8q.; quod erat primum 1m possis bile, quod sequi dicebatur $121. 268q.: 
nihilsequitur impossibile apud recte philosophantes 810 l. 8 sq. Hier 
wird das (nach Dantes Vorstellung) Realunmögliche (impossibile) aus- 
drücklich gefolgert, der Gedanke daran also ausgesprochenerweise 
wirklich vollzogen, seine Giltigkeit als Aussage von der Wirklichkeit, nicht 
seine Möglichkeit bestritten; entscheidend über den entsprechenden Sinn : 
des letzten Satzes ist das Wort recte. — | 

In verschiedenen Formen stellen zwei typische Fälle der Begründung 
aus dem Gegensatze sich dar: I. das Gegenteil ist (nach Dantes An- 
schauung) realunmóglich; II. das Denken des Gegenteiles ist (nach 
Dantes Logik) falsch. (Beides kann zugleich der Fall sein, wie in den fol- 


842 Walther Bulst: Zu Dante de monarchia I 3 


genden Beispielen: que omnia non (lantum falsa, sed impossibilia esse 
uidentur I, sichtlich sind“, nicht: „scheinen‘‘] $12 l. 11 sq.; quod non solum 
est impossibile, sed rideret Aristoteles, si audiret 8121. 36 sq. — Einmal 
wird eine Folgerung aus dem Augenschein widerlegt: cuius contrarium ut- 
demus 516 l. 12—15.) Die Stelle, von deren Betrachtung wir ausgingen, 
muB, wie schon durch ihre innere Widersprüchlichkeit, naeh dieser Übersicht 
erst recht befremden. 

Jedoch nicht allein, daß der Sinn und der Sprachgebrauch Dantes die 
Verwendung des Begriffes und Wortes impossibile als hier unmöglich er- 
scheinen ließen — sie würden falsum fordern —: dasselbe gilt von dare. 
Die Bedeutung ,confiteri (concedere) aliquid esse’ ist antik äußerst spär- 
lich belegt!, und bei Dante überhaupt nicht?. Aber dare wäre an 
der betrachteten Stelle im Sinne ‚confiteri, concedere', auch abgesehen von 
allem Erórterten, sinnlos; es handelt sich ja nicht darum, den Satz eines 
Widersachers zu widerlegen, sondern das Wirklich -Bestehende als ne- 
cesse Daseiendes zu verstehen, und zwar aus der Unmóglichkeit, 
daB es nichtbestünde. Jedoch hat es seine Seinsursache nicht in und an 
ihm selbst, sondern es bedarf der Vielheit des Seienden jeder Art von res gene- 
rabiles dazu, ut potentia tota prime materie semper sub actu sit, der frag- 
liche Satz spricht ohne Zweifel aus, was Unmögliches sonst der Fall wäre —: 
für dare bleibt gar kein Sinn übrig, den es hier haben könnte, und der Ge- 
dankengang fordert, daB esset das prägnante Prädikat sei. 

Sämtliche Schwierigkeiten heben sich auf durch eine leichte Emendation: 
‚aliter esset a re potentia separata, 9. e. i. Der Ursprung des Verderbnisses 
ist, hier vielleicht durch romanische Sprech- und Hörgewohnheit begünstigt, 
die bekannte Erscheinung des „inneren Verhörens“ — welche nicht Diktat 
zur Bedingung hat —, so entsprang esset dare; und dies führte zu dem nun 
syntaktisch geforderten potentia separata. 

Göttingen. Walther Bulst. 


1 Thes. ling. lat. V 1682, 77 sqq.; 1690, 47 sqq. 

3 S. Dantıs Alagherii operum latinorum ocncordantiae. Ed. E. K. Rand, 
E. H. Wilkins, A. C. Withe, Oxonii 1912, s. v. Nicht dagegen anzuführen sind: 
quod nemo . . . absque fide saluari potest, dato quod nunquam aliquid de 
Christo audiuerit, De m. 1171. 19 sqq.; quare si ecclesia recipere non poterat, 
dato quod Constantinus hoc facere potuisset de se, actio tamen illa non erat 
possibilis propter patientis indispositionem, III 10 l. 77 sqq. — dato quod 
bedeutet „im Falle, daß“; nicht: wenn wir annehmen, ein Mensch hätte nie 
etwas von Christus gehórt, würde er nicht gerettet, sondern: im Falle, daB er 
nichts gehört hätte; nicht: wenn wir annehmen, C. hätte die Schenkung tun 
dürfen, wäre sie dennoch durch die Natur der Empfängerin kraftlos geworden, 
sondern: im Falle, daB er sie hätte tun dürfen. 


843 


Kritiken. 


Lane Cooper [Professor of the English Language and Literature in Cornell Univer- 
sity]: A Concordance of Boethius. The five Theological Tractates and 
the Consolation of Philosophy. [Published by the Mediaeval Academy of 
America, Publication No. 1]. Cambridge, Massachusetts 1928. XII u. 467 S. 
89. 5,00 Dollar. 

Putnam Fennell Jones [Assistant Professor of English in the University of Pitts- 
burgh]: A Concordance to the Historia Ecclesiastica of Bede. 
[Published for the Concordance Society by the Mediaeval Academy of America, 
No.2.] Cambridge, Massachusetts 1929. IX u. 585 S. 8%. 6,50 Dollar. 

„Ein vollendetes Wörterbuch ist ohne vollendete Ausgaben nicht möglich, aber 
zum Herstellen vollendeter Ausgaben bedarf man vollendeter lexikalischer Hilfs- 
mittel; die eine Partei wird also immer im Nachteil bleiben, entweder die Text- 
bearbeiter oder die Lexikographen. Diesen Zirkel, der im Wesen der wissenschaft- 
lichen Arbeit begründet ist, kann man auch auf anderen Gebieten beobachten; eine 
gute Literaturgeschichte z. B. ist ohne eine Masse einzelner Vorarbeiten nicht denk- 
bar, die Einzelforschung wird aber durch eine zusammenfassende Darstellung, auch 
wenn sie noch so mangelhaft ist, befruchtet und belebt. Fast jedem zusammen- 
fassenden Werke wird von irgend einem Beurteiler entgegengehalten, daß es noch 
verfrüht sei; wenn aber jedermann diesen hyperkritischen Zauderern folgte, so würde 
bald der Mangel orientierender Gesamtdarstellungen auch auf die Einzelforschung 
lähmend zurückwirken.“ 

Diese Worte eines hervorragenden deutschen Gelehrten! anläßlich der Idee eines 
Thesaurus Linguae Graecae haben auch ihre Gültigkeit für die mittellateinische 
Wortforschung. Der Arbeit um einen „neuen Du Cange" wird unter anderem die 
Unzulänglichkeit der vorhandenen Ausgaben mittellateinischer Texte entgegenge- 
halten?, und dennoch unterliegt es keinem Zweifel, daß gerade der Mangel moderner 
lexikalischer Hilfsmittel an dieser Unzulänglichkeit mitschuldig ist. Sicher würde 
ein ernsthafter Versuch, die vielfach versprengten lexikographischen Notizen (in 
Indices, Kommentaren usw.) zu sammeln und untereinander zu vergleichen, fördernd 
auch auf die Herausgabe der wichtigsten Desiderata wirken“. Das Endziel eines 


! K. Krumbacher, Internationale Wochenschrift f. Wissenschaft, Kunst und Technik, 
II (1908) p. 1610 in seinem Artikel: Ein neuer Thesaurus der griechischen Sprache. 

* Z. B. M. Hammarström Gnomon 6 (1930) p. 282 in einer Rezension, die gut über die in 
Italien geleistete Arbeit orientiert. 

* So wurde z. B. die Edition der für das Vulgärlatein wichtigen Mulomedicina Chironis 
durch die Arbeit am Thesaurus Linguae Latinae veranlaßt. So erwies die lexikographische Arbeit 
mit mittellateinischen dänischen Texten die Notwendigkeit eines Diplomatarium Danicum, 
welches denn auch nun auf Grundlage des Erslev'schen Repertorium Diplomaticum Regni 
Danici und mit Stütze des Carlebergfondes verwirklicht werden soll. 


844 Kritiken 


solchen Versuches müßte ein mittellateinisches Wörterbuch sein, kein „neuer Du 
Cange“, der, wenngleich er ein für seine Zeit imposantes und ein weit über seine Zeit 
hinausdauerndes Werk ist, so doch mehr den Charakter eines Reallexikons als den 
eines Wörterbuches hat. Diejenigen Bestrebungen, den mittellateinischen Wortschatz 
zu erfassen, welche seit dem Beschluß der sogenannten internationalen Union 
Académique (1920) in verschiedenen Ländern gemacht worden sind, richten sich denn 
auch auf die Herstellung eines Wörterbuches, das — nach den geplanten Linien zu 
Ende geführt — mit dem Glossarium des Du Cange nur den Namen, nicht die Prin- 
zipien gemeinsam haben wird. 

Man wollte sich nämlich ursprünglich* bei der Exzerpierung sämtlicher mittel- 
lateinischer Texte nicht auf die unantiken, d.h. bei Forcellini nichtangeführten 
Wörter und Bedeutungen beschränken, sondern auch Beispiele klassischer Wörter 
und Bedeutungen sammeln. Bald sah man ein, daß diese tiefschürfende Exzerpierung 
unübersehbare Zeit, Mittel und Kräfte verschlingen würde und begrenzte daher das 
gründliche Verfahren auf die erste Hälfte des Mittelalters bis etwa 1000 (Frankreich 
967, England 1066 usw.) Jedoch auch diese Arbeit schreitet sehr langsam voran“, 
und die Hochblüte des Mittelalters, die Zeit, da die Scholastik der wissenschaftlichen 
Terminologie ihr Gepräge gibt, die Zeit, da der Austausch mit den europäischen 
Volkssprachen erst recht lebendig zutage tritt, wird durch diese Begrenzung außer 
acht gelassen; daher hat sich z. B. in England ein von der Union Académique unab- 
hängiger Ausschuß gebildet, unter dessen Leitung an einem Mediaeval Latin Dictio- 
'nary für die Zeit von 1066—1600 gearbeitet wird*. 

Ursprünglich hatte man auch den Gedanken, aus dem gesammelten Material 
der verschiedenen Länder zuerst ein gemeinsames Wörterbuch herzustellen, danach 
das Material an die einzelnen Lánder zur eventuellen Verarbeitung von Sonderlexika 
zurückzuliefern. Auch von diesem methodisch gänzlich verfehlten Gedanken ist man 
allmählich abgekommen. Unzweifelhaft muß in den einzelnen Ländern, bevor oder 
während man an die zusammenfassende Arbeit geht — es handelt sich ja noch lange 
nicht um die Herstellung eines druckfertigen Manuskriptes — tüchtige Vorarbeit 
geleistet werden. Durch eine solche den mittelalterlichen Verhältnissen entsprechende 
Dezentralisation einerseits würden auch strittige Primatsfragen in ruhigere Zeiten 
verschoben werden, und die einzelnen Länder könnten im wesentlichen an ihren 
Texten mit Eifer die mittellateinische Wortforschung betreiben. Andererseits ist es 
ein Vorteil, wenn es für diese Forschung einige Brennpunkte gibt (Archivum Latini- 
tatis Medii Aevi, Mediaeval Academy of America): es entspricht der Tatsache, daB 
groBe Gebiete des mittellateinischen Wortschatzes supranational sind. Zu ergründen 
was gemeinsam und was regionür ist, hierin liegt eine wichtige Aufgabe der mittel- 

* Archivum Latinitatis Medii Aevi 1924: Instructions techniques destinées aux collabora- 
teurs. Das Archivum wird nun herausgegeben von den Herren J. H. Baxter, C. H. Beeson, F. Lot, 
L. Nicolau d’Olwer,V. Ussanl. Redaktor: F. Lot, 58 rue Boucicaut, Fontenay-aux-Roses (Seine). 

s Hammarström a. O. zeigt nach einer Wahrscheinlichkeitsberechnung, daß die Italiener bei 
der jetzigen Geschwindigkeit 360 Jahre gebrauchen würden, nur um ihre Texte zu verzetteln; 
dann kommt erst die Verarbeitung. Und in Italien und England geht die Arbeit noch rascher 
voran als in Frankreich. 

* The Secretary: Publio Record Office Chancery Lane London W C2. Vgl. P. Lehmann, 
Vom Leben des Lateinischen im Mittelalter. Bayer. Blätter f. d. Gymnasialschulwesen 65 (1029) 
p. 68: Wenn man heutzutage darangeht, außer einem bis 1000 reiohenden neuen Du Cange ein 


Lexikon der seit dem 11. Jahrh. in England gebrauchten Latinität zu schaffen, so ist das keine 
gelehrte Vielgeschäftigkeit ohne Sinn und Wert. 


Kritiken 845 


lateinischen Lexikographie. Jede Arbeit, welche die Lösung dieser Aufgabe näher 
rückt, ist mit Freude zu begrüßen. Die Vorbedingung ist Zurechtlegung des Wort- 
materials für lexikographische Bearbeitung in den Einzelländern. 

Die Zurechtlegung kann durch Konkordanzen (vollständige Verzettelung) oder 
Spezialwörterbücher (Exzerpierung) vorgenommen werden. Die letztere Art läßt 
sich verantworten bei Texten nach dem Jahre 1000, aus denen man nur nichtantikes 
Sprachgut verzeichnen will, während Konkordanzen unumgänglich sind für die Texte, 
bei denen man Vollständigkeit anstrebt (Objektivität in der Herstellung des Materials). 

In diesem Zusammenhang werden die beiden von der Mediaeval Academy 
herausgegebenen Konkordanzen von großem Nutzen sein. Im folgenden sollen sie 
denn, obwohl sie die Arbeiten zweier Nichtlatinisten sind, vom lexikographischen 
Gesichtspunkt aus gewürdigt werden — daher der Versuch, die Werke in den Rahmen 
der mittellateinischen lexikographischen Bestrebungen hineinzustellen und über 
diese Bestrebungen im allgemeinen zu orientieren’. — Es liegt im Wesen einer Kon- 
kordanz, Hilfsmittel zu sein, während Wörterbücher einen Selbstzweck haben: die 
Darstellung des Wortschatzes nach semasiologischen Gesichtspunkten, so daß jeder 
Artikel, nach einer bestimmten Ratio angeordnet, ein Stück Sprach- oder Kultur- 
geschichte wird. Eine Konkordanz ist also ihrem Wesen nach, d. h. als Hilfsmittel 
zu werten; als solches muß sie in erster Linie vollständig und zuverlässig sein. Dies 
trifft restlos zu auf die von Lane Cooper verarbeitete Boethiuskonkordanz, 
welche dem um die Erforschung des Mittelalters hochverdienten J. H. Baxter ge- 
widmet und von ihm angeregt ist. Die Nützlichkeit dieser Arbeit wird nicht nur dem, 
der die Voraussetzungen der scholastischen Terminologie sucht, sondern jedem mittel- 
lateinischen Philologen einleuchten, weiß er doch, welche Bedeutung die Consolatio 
Philosophiae das ganze Mittelalter hindurch von den Zeiten Aldhelms und Bedas, 
über Johannes Scottus und Remigius von Auxerre bis auf Dante und Chaucer gehabt 
hat. Die Konkordanz ist auf den zuverlässigen Text Rands aufgebaut und die Ge- 
wissenhaftigkeit, mit der sie ausgeführt ist, verdient um so mehr unsereBewunderung, 
als der Kompilator auf die Augen anderer angewiesen war. Hingegen läßt die von 
P. F. Jones hergestellte Bedakonkordanz etliches zu wünschen übrig. Gewisse 
Praepositionen, Konjunktionen, Pronomina sowie Formen von Hilfsverba (p. 516: 
„Forms not given below are omitted“) sind ohne ersichtliches Prinzip ausgelassen; 
sämtliche Stellen von ,,iste' sind gebracht, keine einzige von „äille“, für „pro“ und 
„ex“ wird keine, für „sub“ jede Stelle gebucht. Gegen den Einwand, diese kleinen 
Wörtchen seien für das tiefere Verständnis des Textes überflüssig, sei erstens betont, 
daB es sehr wohl Fálle geben kann, da man über die Deixis der Pronomina oder das 
Vorkommen der Praepositionen im klaren sein möchte (wenn ich z. B. „ex“ in der 
Bedeutung „ehemalig“ — Typ: ex monacho — verfolgen will), genau so gut wie es 
für das sachliche Verständnis von Bedeutung sein kann, ob „seu“ = und oder „seu“ 
—oder ist. Zweitens büßt die Konkordanz sehr an Wert ein als Hilfsmittel zur Aus- 
arbeitung eines mittellateinischen Wörterbuches, in dem alle Wörter jedenfalls in 
ihren wichtigsten Funktionen angeführt sein sollen. Bedenklicher aber als das eben 
Erwähnte ist die Errichtung neuer Lemmata wie „ vello“ als Nachschlagewort für 


* Vgl. P. Lehmann, Vom Mittelalter und von der lateinischen Philologie des Mittelalters 
(Quellen und Untersuchungen 3. lat. Philologie des Mittelalters V 1) 1914. Aufgaben und An- 
regungen der lateinischen Philologie des Mittelalters. Sitzungsberr. d. Kgl. Bayerischen Akad. d. 
Wiss. 1918. R. Strecker, Einführung in das Mittellatein. 1929. 


846 Kritiken 


diejenigen Formen von volo, die mit vel- beginnen, oder ,,rebor'* als Nachschlagewort 
für rebantur; unter dem Lemma ,,volo'* sucht man vergebens die ca. 25 Stellen von 
velim, velle, vellem usw., unter „reor“ vergeblich rebaris usw. Gelegentliches Fehlen 
einer Stelle ist mir auch aufgefallen: 1,1 (S. 10,6 Plummer) marini fehlt unter „ ma- 
rinus"! Irreführend ausgeschrieben ist unter ,,cerno'' die Stelle 4,25 (S. 264, 20 Pl.): 
„cuncta“ inquit „haec, quae cernis, aedificia puplica uel priuata, in proximo est.“ 
Entweder müssen die drei letzten Wörter eliminiert werden, oder man muß aus- 
schreiben: in proximo est, ut ignis absumens in cinerem conuertat". Stórend sind 
auch unter „accipio“ die unverständlichen Konjunktive 1, 25 (S. 47, 17 Pl.) et eccle- 
sias fabricandi uel restaurandi licentiam acciperent, statt: donec. ..ecclesias fabri- 
candi uel restaurandi licentiam acciperent, oder unter ,,multa" 4, 21 (S. 249, 15 Pl.) 
sed debita solummodo multa pecuniae regi ultori daretur, statt: ut...debita solum- 
modo multa pecuniae regi ultori daretur, maleus statt malleus, monasteralis statt 
monasterialis als Nachschlagewórter sind wohl Druckfehler, von denen es manche 
gibt. Warum sind exero und expectator anders behandelt und nach anderem Gesichts- 
punkt eingeordnet als exsequor und exspecto? und warum ist,, machinor“ als Lemma 
angesetzt, wenn nur eine aktive Form belegt ist? Während in der Boethiuskonkor- 
danz eine allzu engherzig durchgeführte alphabetische Anordnung herrscht, so daß 
z. B. die verschiedenen Formen von labor (subst. masc.) und labor (verb.) durchein- 
ander angeführt werden, zeigt sich in der Bedakonkordanz deutlich das lobenswerte 
Bestreben, die zusammengehórenden Formen unter ein Lemma zu bringen, wenn- 
gleich dies also nicht immer gelungen ist. Auf handschriftliche Varianten ist in 
beiden Konkordanzen gebührend Rücksicht genommen. — Wenn man eine so treff- 
liche Ausgabe wie die Plummer'sche Bedaausgabe einer Konkordanz zugrunde legt, 
eine Ausgabe, in welcher derjenige Stoff, den Beda wörtlich von seinen Quellen 
übernommen hat, durch kursive Lettern gekennzeichnet ist, hátte man mit Leichtig- 
keit auch in der Konkordanz veranschaulichen kónnen, was für Sprachgut bereits 
von Orosius u. a. herrührt. Wie auch immer das vollständige mittellateinische Wör- 
terbuch einmal aussehen wird, auf die eine oder die andere Art wird man doch das 
spezifisch Mittelalterliche kenntlich machen wollen. 

Trotz meiner auf Stichproben aufgebauten Kritik wird man wohl behaupten 
dürfen, daB man zur Ergründung zweier sehr wichtiger frühmittelalterlicher Autoren 
ein wertvolles Hilfsmittel mehr gewonnen hat; für Boethius trifft das auf jeden Fall 
zu, und auch Beda wird an Hand der Konkordanz besser durchforscht werden können. 
Wenn man aber den Kommentar Plummers und seine bahnbrechende Leistung be- 
trachtet, kann man nicht umhin, zu fragen, warum nicht in diesem Geiste weiter- 
geforscht wird. Für den Historiker sowie für den mittellateinischen Philologen ist es 
von größtem Interesse, den reellen Inhalt der lateinischen Wörter bei Beda zu er- 
fahren. Hier haben wir endlich einen mittellateinischen Autor, der in seine National- 
sprache übersetzt worden ist, so daß wir mit einiger Sicherheit die einheimischen 
Aequivalente der lateinischen Wörter feststellen können (milites-thegnas, principis— 
ealdormannes, multa — wergeld usw.). Also warum schenkt uns die Mediaeval 
Academy nicht Wörterbücher für Konkordanzen? Diese Frage ist an die Mediaeval 
Academy gerichtet, nicht an die Kompilatoren der Konkordanzen, deren Arbeit 
natürlich nach dem Ziel, das sie sich gesteckt haben, beurteilt werden muß. 

Früher oder später muß die interpretierende Arbeit getan werden. Denn unser 
Endziel ist und bleibt: ein sämtliche Schriftgattungen umfassendes Wörterbuch des 


Kritiken 847 


Mittellatein. Man mag diesem Ziel entgegenstreben auf verschiedene Art: entweder 
indem man zuerst für die einzelnen Genera (1. Urkunden, 2. Geschichtschreibung, 
3. Philosophie, 4. Theologie, 5. Hagiographie, 6. Bibelerklärungen, 7. Liturgie usw. — 
die einzelnen Gattungen sind aber nicht alle gleich leicht voneinander abzugrenzen!) 
oder auch für die einzelnen Länder Speziallexika zu schaffen sucht; es ließen sich die 
beiden Methoden dahin vereinigen, daß man für die verschiedenen Gattungen in den 
verschiedenen Ländern Speziallexika schafft, so, wie dies bereits für Schweden und 
Finland versucht worden ist®. In den großen Ländern dürfte diese Zwischenstufe 
empfehlenswert sein, während man in den kleinen eine Zusammenfassung der ver- 
schiedenen Genera wohl verantworten darf. 

Daß die Mediaeval Academy den Boden bereitet für solche lexikographische 
Arbeit, ist dankenswert; deshalb braucht man das Endziel nicht aus dem Auge zu 
lassen. Wie wäre es, wenn man nun Beda und Boethius fertigverzettelte, um darauf 
die übrigen von Manitius in dem ersten Bande seiner lateinischen Literaturgeschichte 
des Mittelalters erwähnten Autoren in Angriff zu nehmen. So erhielte nıan einen 
festen Grund für weitere Arbeit, und die Frage nach der Grenze zwischen Thesaurus 
und ,,Du Cange" wäre, freilich auf rein äußerliche Art, gelöst. Denn zweifelsohne 
müssen diese Autoren, obwohl sie alle für den Thesaurus Linguae Latinae exzerpiert 
sind, ganz anders für ein mittellateinisches Lexikon erschöpft werden, da sie für die 
folgende Zeit grundlegend sind. Geht man schon an die große Arbeit — und die 
Fülle der Zeit ist gekommen, wenn ein Anglist sagen kann „the present renaissance 
of Mediaeval Latin strikes me as the outstanding scholarly movement of our time; 
I have wished to take such part in it as I could“ (Cooper p. X) — möge man bei- 
zeiten auf die phraseologische Seite bedacht sein, die in einem mittellateinischen 
Lexikon noch weniger unberücksichtigt bleiben darf als in einem klassischen, da das 
typisch Mittelalterliche eben oft im Phraseologischen liegt; die richtige Auswahl der 
typisch mittelalterlichen Wortverbindungen trifft nur der, welcher das gesammte 
Material überblickt, nicht der Exzerptor eines einzelnen Textes. Das gesamte Mate- 
rial aber läßt sich nur durch Konkordanzen in Druck oder Zetteln bereitstellen. 

Man wünscht daher der begonnenen Serie weiteres Gedeihen; mógen noch viele 
Bände bester Qualität den bereits erschienenen Publikationen folgen. 

Aarhus (Dänemark). Franz Blatt. 


Gutmann, Felix, Die Wahlanzeigen der Päpste bis zum Ende der avigno- 
nesischen Zeit — Marburger Studien zur älteren deutschen Ge- 
schichte. Hrsg. von Edmund E. Stengel, II. Reihe, 3. Heft; Marburg, 
N. G. Elwert, 1931, XV und 94 S. 80, 6 ZA. 

Die Bearbeitung sachlicher Gruppen aus der großen Masse der päpstlichen 
Korrespondenz nach diplomatischen Gesichtspunkten steht noch ziemlich in den 
Anfängen und verspricht in jedem Falle einigen Ertrag. In dem vorliegenden handelt 
es sich um eine Anzahl von Schreiben, die zudem von erheblicher rechtsgeschicht- 
licher und allgemeinhistorischer Bedeutung sind, denn die Geschichte und das Recht 
der Papstwahlen sind ja seit langer Zeit beliebte und oft erörterte Forschungsgegen- 
stánde. Verf. führt in einem Anhang 96 Wahlanzeigen bis auf Gregor XJ. auf; die 
älteste im Wortlaut erhaltene ist von Jnnocenz I. JK. 285. Verf. gliedert seinen Stoff in 


* M. Hammarstróm, Glossarium till Finlands och Sveriges latinska Medeltidsurkunder, 
Helsingfors 1925. 


848 Kritiken 


drei Abschnitte: bis zur Mitte des 11. Jhs., bis auf Alexander III. einschl. und bis 
zum Ende der avignonesischen Periode, gibt aber selbst zu, daß die Grenze zwischen 
den beiden letzten Perioden ziemlich willkürlich gewählt ist. Rechtliche Bedeutung 
hatten die Wahlanzeigen nur in der älteren Zeit vor der Emanzipation der Kurie von 
Ostrom und während des Höhepunkts des deutschen Einflusses; aus der eigentlich 
deutschen Zeit besitzen wir allerdings keine Anzeige im vollen Wortlaut. Später 
verkünden die Anzeigen meist die vollkommen abgeschlossene Papsterhebung, nicht 
nur die eigentliche Wahlhandlung. Während der Schismen des 12. Jhs. haben sie 
eine stark propagandistische Bedeutung, im 13. Jh. werden die Anzeigen zum alters- 
geheiligten Brauch und verlieren an Quellenwert, da sich ein ziemlich fest befolgter 
Gedankengang eingebürgert hat, der die tatsächlichen Vorgänge mehr verschleiert 
als enthüllt. Die bei jeder Anzeige zu stellenden Fragen nach ihren Verhältnis zum 
jeweils geltenden Wahlrecht und der Glaubwürdigkeit der geschilderten Vorgänge 
werden von dem Verf. nicht weiter verfolgt, doch hätte durch eine gründlichere Be- 
achtung der hierüber vorliegenden Literatur — einiges ist berücksichtigt — auch 
die diplomatische Untersuchung gelegentlich vertieft werden können. Immerhin 
förderte auch die Betrachtung des Formulars und seiner Entwicklung einige inter- 
essanten Ergebnisse zutage, z. B. daß von Innocenz IT. die Wahlanzeige Urbans II. 
(S. 40), von Anaklet II. diejenige Gregors I. benutzt ist und daß die Wahlanzeigen 
Honorius III. bei Buoncompagno dessen freie Erfindungen sind. Beachtenswert ist 
auch die Vermutung (S. 34), daB in dem Brief Urbans II. an Hugo von Cluny JL. 5349 
Eigendiktat des Papstes vorliegt; die Zusammenstellungen S. 76ff. über analoge 
Erscheinungen bei anderen Päpsten müssen vorläufig aber noch höchst problematisch 
bleiben. Im einzelnen ist manches zu beanstanden: in der Liste wäre für die Nrn. 5, 9 
und 39 die neueste Ausgabe von Gundlach M. G. Epistt. III anzuführen gewesen; 
bei der Besprechung von Nr. 39 (S. 34f., Urban II. an die Kirchenprovinz Vienne 
JL. 5350) vermißt man ein Urteil über die Echtheit dieses Schreibens, das nur in 
dem Corpus der Epistolae Viennenses überliefert ist. Otto von Freising und die 
Kölner Königschronik sind nach den veralteten Ausgaben der Folioserie der M. G. 
zitiert. S. 27 ist der Abt Desiderius von Montecassino fälschlich Benedikt genannt, 
ebenso S. 28 Abt Bernhard von St. Viktor in Marseille: Leonhard (dies einem Irrtum 
oder Druckfehler Caspars Reg. Gregors VII. S. 7 N. 5 nachgeschrieben). Die 
Materialsammlung läßt ebenfalls zu wünschen übrig. Zwar mochte es für die Zwecke 
des Verf. genügen, für gleichlautende Ausfertigungen einer Wahlenzyklika nur ein 
Exemplar zu benutzen, doch wäre mindestens in der Liste eine Zusammenstellung 
aller bisher bekannt gewordenen Texte — für das 12. Jh. kommt da fast ausschließ- 
lich die Empfängerüberlieferung in Frage — begrüßenswert gewesen. Zu Urban IT. 
ist zu bemerken, daß schon Scheffer-Boichorst, Die Neuordnung der Papstwahl 
S. 77 N. 1 den Wahlbericht bei Petrus Diaconus Chron. Cas. IV 2 auf eine Wahl- 
anzeige zurückgeführt hat (vgl.dazu auch A. Fliche, L'élection d'Urbain II. im 
Moyen-äge, 2* sér. XIX 84ff.). Zur Enzyklika Alexanders III. vgl. meine Bemerkungen 
im N. Archiv 48, 386 N. 1 und Kehr It. pont. VIa 61 Nr 173 und Gött. Nachr. 1906, 
338 Nr. 12; für Urban III. hätte schon ein Blick in Jaffé-Löwenfelds Regesten zwei 
weitere, in der Liste nicht verzeichnete Ausfertigungen ergeben. Die aus diesen 
mehrfachen Ausfertigungen sich erhebenden Fragen sind etwas allzu knapp behandelt 
(S. 78ff.); mit dem vorliegenden Material (nur Wahlanzeigen) dürften sie übrigens 
kaum zu lösen sein (vgl. dazu jetzt auch G. Tangl, Studien zum Register Innocenz III. 


Kritiken 849 


[1929] S. 63ff.). So bleibt das Ergebnis der Arbeit etwas mager; bei gründlicherem 
Eindringen in die Literatur hätte mehr geboten werden können. 
Halle a. S. Walther Holtzmann. 


Moralisch-satirische Gedichte Walters von Chátillon aus deutschen, englischen, 
franzósischen und italienischen Handschriften herausgegeben von 
Karl Strecker, Heidelberg 1929, Carl Winters Universit&ts-Buchhandlung. 
XX und 179 S. 8, ZÆ 6.—. 

Der Lyrik Walters von Chátillon hat Strecker die Satiren folgen lassen. Eine 
besonders arge Wirrnis, die da zu lichten war! Vorarbeiten fehlten so gut wie ganz. 
Jetzt ist die undurchsichtige Überlieferung klargestellt, Echt und Unecht ge- 
schieden, der Text bis auf Einzelheiten gesichert. Wieviel FleiB, Sorgfalt und 
liebevolle Genauigkeit war dazu nótig, welche Gelehrsamkeit steckt in den An- 
merkungen! 

Den Gedichten selbst vorauf geht eine Aufzählung der benutzten Handschriften; 
bei jeder sind die Gedichte aufgeführt, die sie enthält. Es folgen die Merkmale, die 
für Walters Eigentum entscheiden: handschriftliche Überlieferung und innere 
Gründe müssen zusammentreffen. Denn leider haben wir eine ganz zweifelsfreie 
Überlieferung nicht, wie etwa für den Archipoeta. Die Hs. P z. B., die offenbar eine 
Sammlung Walterscher Gedichte geben will, enthält doch ein sicher nicht zugehóriges, 
die Apokalypse des Golias, und damit verlieren auch ihre sonstigen Zuweisungen be- 
trächtlich an Wert. Doch stehen hier wie sonst immer wieder Stücke ,,nesterweise'* 
zusammen, als deren Verfasser Walter in Handschriften erscheint und die außerdem 
aus jenen „inneren Gründen" sich als ihm zugehörig erweisen. Denn Walter hat 
die Eigenheit, sich in Gedanken und Ausdruck oft zu wiederholen, ja gelegentlich 
sich selbst zu zitieren. Wo nun ein Gedicht mehrfach solche Stellen aufweist und 
zugleich in einem „Neste“ steht, nimmt Strecker es für Walter in Anspruch, auch 
wenn keine Handschrift den Urheber nennt!. So entsteht eine Sammlung von 
18 Gedichten, die sicher oder mit hóchster Wahrscheinlichkeit als Waltersches Werk 
anzusprechen sind. Zweifel habe ich nur bei W 11; darüber unten. Strecker be- 
zeichnet sie als W 1, W 2 usw. im Gegensatz zu O 1, O2 usw., den Gedichten von 
St. Omer, ein praktisches Verfahren, welches das Zitieren erleichtert und sich hoffent- 
lich einbürgert. Geordnet hat Strecker die Satiren nicht zeitlich, weil er den Versuch 
für aussichtslos hielt — nicht ganz mit Recht, wie sich ergeben wird. Den Anfang 
machen die Stücke, die mit Walters Beziehungen zu Papst und Kurie zusammen- 
hängen; es folgen W 4—W 7a, die „wegen Form, Inhalt und Überlieferung gemein- 
` same Behandlung erfordern". Hier hat Strecker es verstanden, die greulich ver- 
worrene Überlieferung durch eine Tabelle so übersichtlich zu machen, daß man 
jede Bearbeitung des.einzelnen Stückes aus dem Wust der Handschriften mit leichter 
Mühe aussondern kann. Was den Wert der beiden von ihm geschiedenen Hand- 
schriftengruppen X und Y angeht, so glaube ich abweichen zu müssen; vgl. unten 
zu W 4. W 8—W 14 sind Satiren und Festlieder, die, außer W 8, Walters Namen 
nicht tragen, sondern ihm nach dem oben angegebenen Grundsatz zugeschrieben 


! Es ergibt sich dabei, daß die Angaben von P richtig sind bis auf die Apokalypse. Woher 
dieser vereinzelte Irrtum? Doch wohl daher, daß die Apokalypse von einem anderen Walter war. 
Sie ist ja sicher englisch ; sollte sie nicht doch von Walter Map sein, den so viele Handschriften als 
Verfasser nennen? Hat er sie etwa zunächst anonym als Werk des Golias ausgehen lassen? 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H.4. 54 


850 Kritiken 


werden. W 14 ist außerdem durch ausdrückliches Selbstzitat gesichert. W 15 und 
W 16 befassen sich mit dem Schisma, W 17 und W 18 stammen aus des Dichters 
letzten Jahren. Ein weiteres Gedicht — ich nenne es fürderhin W 19 — hat Strecker 
nachträglich herausgegeben und Walter zugeschrieben (Atti dell’ Accademia degli 
Arcadi 1930, V—V], S. 3ff.), freilich nur aus inneren Gründen, aber m. E. mit Recht. 
Ich bespreche es mit den übrigen. 

Jedem Text geht eine manchmal sehr eingehende Untersuchung der Fragen 
voraus, die er stellt. Eine reiche und sorgliche Adnotatio verzeichnet die zahllosen 
Lesarten, nicht überflüssiger Weise; denn hie und da gibt es Abweichungen, die 
bedeutungsvoller sind, als man auf den ersten Blick sieht. Zum Schluß folgt jedesmal 
Nachweis der profanen und biblischen Zitate nebst Erklärung schwieriger Stellen. 
Hier wie sonst gelegentlich (z. B. im Druck von W 1 und W 1*) macht sich die 
Ungunst der Zeiten bemerkbar; für manchen Benutzer, der nicht eben Fachmann ist, 
wären noch zahlreiche Erläuterungen erwünscht; aber das Bändchen durfte nicht 
zu dick werden. Niemand bedauert das mehr als Strecker selbst. Ein Namen- 
register, das auch die Gedichte von St.Omer umfaßt, sowie ein Wort- und Sach- 
register zu den Satiren erleichtert die Benutzung. 

Es bleibt nicht aus, daß eine so eindringende Arbeit, so viele Fragen sie beant- 
wortet, auch wieder neue aufwirft. Zu deren Lösung glaube ich einiges beitragen zu 
können, eine Ergänzung zu Streckers grundlegendem Buche, die eben durch dieses 
selbst erst ermöglicht wird. Eine Anzahl Textverbesserungen habe ich bereits in den 
„Studien zur lateinischen Dichtung des Mittelalters, Dresden 1931, 96 angegeben; 
im folgenden wird, wo nichts anderes gesagt ist, diese Textgestalt vorausgesetzt. 


W 4. 


Die Hss. P B D und K enthalten W 4, W 5 und W 7 in der gleichen Abfolge und 
Zahl der Strophen. Auch L enthält W 4 und W 5 in fast derselben Anordnung, an 
einer Stelle besser (9 . 8), an einer anderen weniger gut (17 . 18), hier wie F. Strecker 
legt F zugrunde“, muß aber zu W 4 bemerken: „Der Gedankengang bietet große 
Schwierigkeiten." P dagegen, nach L verbessert, hat klare Gedankenfolge: 

1—2: Einleitung; ,,jedermann will heut Satiren dichten; ich bin ein wirklicher 
Dichter; sollte ich schweigen? Die Laiendichter* brüllen nur nach Futter*; meine 
Dichtung ist fein und mannigfalt". So bilden 1 und 2 ein Strophenpaar ähn 
lichen Sinnes. | 

3—4: Gelegenheit, Thema und Gliederung: l 

a) Reichtum der Schlechten. — b) Sieg des Lasters und Erliegen der Tugenden. 
— c) Päderastie. 

Teil I: Die Prälaten. 


* Daß er sich auf meine Einfälle (S. 62) nioht einläßt, ist nur zu loben. 

* bruti‘ die Laien; vgl. CB 162 (124), 4 (es muß in Wahrheit 5 sein): ‚estimetur autem 
laicus ut brutus' und 138 (101), 3,2: ‚laicorum pectus bestiale. Es handelt sich um die ,lecca- 
tores‘ des Archipoeta (6, 22f.), wobei bemerkenswert ist, daß dieser unter ,leccatores' ganz etwas 
anderes versteht als Walter. Auch W 19, 20,1 und 22,2 steht der ‚histrio’ mit dem ,brutum' 
auf einer Stufe und denkt nur ans Essen. 

* 2,2 hat H in ,velut' das Eohte, weil das sohwerer zu verstehen ist ale ,cibum*' und somit 
sein Ersatz durch ‚cibum‘ sich leichter erklärt als das Umgekehrte. ‚‚Sie brüllen danach, als 
handle es sich ums ewige Leben.“ Die 2. Strophe erinnert an Pindar O. II 156, wo er von sich 
und seinen Nebenbuhlern sagt: ,,Sie krächzen wie Raben gegen den Vogel des Zeus.“ 


Kritiken 851 


5—6: Die Prälaten und ihre Laster. — 7 + 95: Ihre Simonie®. — 8 + 105: Sie 
taugen alle nichts. — 11—12: Wollust beim Einen, Schwelgerei beim Andern, Hab- 
sucht bei Allen. — 13 + 15 (so P B D K mit Recht): Den Armen geht es dabei 
schlecht; kann man für einen Posten nicht zahlen, so bekommt man ihn nicht (vgl. 
W 9, 7—8). — 14 ist deutlicher Abschluß. — 16 fehlt in Y mit Recht; es hat nach 
dem Abschluß hier nichts zu suchen und ist hineingeraten im Anschluß an ‚sacerdos‘ 
in der bereits verstellten Str. 15, 2. 

Den Beginn von Teil II ordnen P K Fl B D mit Recht 18, 17, 19. 18 eróffnet 
mit einer ganz allgemeinen Bemerkung: „Je mehr er hat, je mehr er will.“ Das 
hängt mit dem Vorhergehenden nur sehr locker zusammen, aber Ähnliches findet 
sich bei Walter auch sonst; vgl. unten S.858 zu W 3, 33 und 36, S. 855 zu W 1*, 29*, 
S.854 zuW 7a, S.854 zu W 10,7. — 17 führt den Gedanken fort: „Deshalb wird nur 
der Reiche geachtet.“ 17 und 19 zusammen bilden eine Disposition des Folgenden: 

a) Die Welt urteilt nur nach dem Besitz. — b) Der Reichtum führt zum Laster. 

a wird ausgeführt in 4 Strophen (20—23y': Der Schluß von 23 leitet über auf b, 
aber an ‚puella‘ knüpft sich vorher noch das ‚diverticulum‘ von den reichen Frauen 
(24—25). Dann geht es ausdrücklich zum Thema zurück, zur ‚libido‘, d. h. hier der 
Päderastie (26—28)*. 

29 scheidet Strecker mit Recht aus, 30 zu Unrecht. Ha bietet eine Strophe mit 
gleicher Auktoritas wie 29, die gut von 28 zu 30 überleitet: „Die Unsittlichen (von 
denen eben die Rede war) beschimpfen die Reinen; diese Gegensátze liegen stets im 
Kampfe. Und (30) ein Betrüger magst du sein, man schátzt dich doch, nur den 
sittenstrengen Gelehrten achtet keiner." Damit kehrt die Satire zu ihrem Ausgang, 
dem Sieg der Laster über die Tugenden zurück; das ist der passende und richtige 
Schluß®. Neben der echten Str. 29, die in Ha erhalten ist, hatte jemand die jetzige 
der gleichen Auktoritas wegen als Parallele an den Rand geschrieben, die dann das 
Ursprüngliche verdrängte. Db allein hat die Schlußstrophe bewahrt, wie in W 5 
die Fulmarusstrophen (s. unten S. 852). 

W 4 zerfüllt also in 2 Teile, der zweite nochmals in drei Unterabteilungen. Deren 
letzte (26—28) führt klärlich aus, was in 4, 3, die drittletzte, (20—23), was in 4, 2 
angekündigt war, das Erliegen der ,virtutes' gegenüber den Lastern, indem eben 
die Gelehrten den Reichen gegenüber zu nichts kommen. Demnach muß 5—14 die 
Ausführung von 4, 1 sein: die reichen ,reprobi' sind die prelati avari‘. 

Die Strophen sind meist paarweise zusammengefaßt (1—2, 3—4, 5—6, 7 + 9, 
8 + 10, 11—12, 13 + 15, 24—25, 29—30). Einzeln steht 14, der Abschluß von Teil I, 
zu dritt die Einleitungs- und SchluBstrophen von Teil II (18 + 17 + 19 und 26-08) : 
vgl. dazu S. 855 zu W 1*. 


5 7, 9, 8, 10 ordnet L, und das ist richtig; deutlich ist die Paarung der Strophen. Aber 
cenat“ ist verderbt; es paßt schon nicht zum vorhergehenden Verse. F hat ,nunco'. Etwa 
nummat'? Von ,nummatus' (W 19,4,4) ist bis zu dieser Erfindung kein großer Schritt. Über 
den Wucher von Klausnerinnen Scheffel, Ekkehard 3. Kap. nach Hepidan, vita Wibor. II, 11. 

* 7,2 1: ‚nuno solent’, Gegensatz zu ‚obsoluit‘. Daneben gab es ‚non debent‘, was aber 
weniger gut anschließt. ‚non solent’ ist flaue Kontamination. 

* 21,1: ‚mores' ist unverständlich; I. , tales“, scil. ,mores'. Dies Wort ist eingedrungenes 
Glossem zu, tales“. — Zu 23,2 vgl. noch Gan. et Hel. 42,1. 

* Zu 28,2 vgl. Gan. et Hel. 30,4 und 40. 

* Auch die Form der Apostrophe verwendet Walter gern am Schluß, s. unten S. 861. 


54* 


852 Kritiken 


Dieser klare Bau muß das Ursprüngliche sein. F hat dagegen die falsche Folge 
14 . 16, die unechte Str. 16, läßt 19—21 und 27 aus, die nicht fehlen dürfen. Dafür 
hat es freilich mit S und Db die zweifellos richtige Form der 1. Strophe. Davon 
abgesehen aber dürften für W4-W7P und seine Verwandten Walters eigener 
Sammlung (8. unten S. 858) am nächsten kommen. Die übrigen Handschriften bieten 
zwar háufig in Einzelheiten Besseres, kommen aber für den Aufbau der Gedichte 
nicht in Frage. S bringt für W 4 nur einen schlechten Auszug aus F. Ha will über- 
haupt kein Waltersches Gedicht geben, sondern ein eigenes, das größtenteils ein 
Cento aus W 4, W 6 und W7 ist!®, aber zahlreiche Zusätze enthält und die Walter- 
schen Strophen z. T. stark abándert, um sie dem neuen Zusammenhang anzupassen. 
Dieser ist klar, und die Zusatzstrophen sind nicht schlecht. Dies Gemächte bietet ein 
unmittelbares Bild davon, wie die Nachfahren mit den alten Gedichten umgingen. 

Weniger klar ist der Tatbestand bei H. Hier sind zunächst einmal fast sämtliche 
Einleitungsstrophen von W 6, W 5 und W 4 zusammengestellt (W 6, 1.3.2; W 5, 
1. 4; W 4,8), dann die beiden einander ühnlichen Übergänge W 4,5 und W 5,5. 
Darauf folgen aus diesen Gedichten so ziemlich alle Strophen, die sich gegen die 
Prälaten richten, bunt durcheinander; dabei ist W 6, 4 stark umgeändert, so daß 
es an die vorhergehende Str. W 4, 11 besser anschließt; eingeschoben ist die unechte 
Str. W 4, 16, die vielleicht erst von hier aus in F, S und Db hineingeraten ist, W7, 10 
und das Irrlicht W 9, 6 = W 13, 12. Es folgen W 5, 7—11, die Strophen über Papst 
und Kurie, die man zusammengelassen hat (9 und 10 umgestellt), dann W 5, 14—17, 
unverstándlich durch das Fehlen von W 5, 12—13, die nun erst nach W 4,20. 19 
kommen. Jetzt der Allerweltsvers W 5, 191°, die Hauptmasse von W 6 (6—20) 
und W7 in einer Auswahl, die in Hr und S wiederkehrt. Nun wieder sechs aus 
W 4 W6 W 6 zusammengewürfelte Strophen, dann W 4, 21—25. Mit ‚set a diver- 
ticulo repetatur fabula‘ schließt diese Zusammenstellung, also ganz sinnlos!!. Ich 
kann mir dies nur so erklären, daß man hier eine Art Fundgrube für solche ,,Dichter" 
anlegen wollte, die Centi nach Art von Ha herstellten. 


W 5. 

W b zeigt in Db drei Strophen mehr als in Y, mit dem Db sonst übereinstimmt; 
sie preisen einen Fulmarus wegen seiner Freigebigkeit. Strecker ist geneigt, sie für 
unecht zu halten (S. 72 f.). Indes belehrt uns B, das Gedicht sei ‚Treveris in capi- 
tulo‘ vorgetragen worden, und eben in Trier lebt zu jener Zeit der Archidiakon und 
Propst Folmar oder Volkmar, der von 1183—87 Kaiser und Kurie, Deutschland und 
Frankreich in Atem hielt. Ehrgeizig, gewalttätig, unbeugsam, verfügte er über reich- 
liche Geldmittel, die er für seine Zwecke wohl zu verwenden wußte (Giesebrecht. 
D. K. G. V, 60). Als am 25. Mai 1183 der Erzbischof von Trier starb, wußte Folmar es 
durchzusetzen, daß er alsbald — freilich in tumultuarischer Weise — gewählt wurde, 
obwohl die Vorwahl auf einen anderen gefallen war. Er geriet dadurch in schweren 
Zwist mit dem Kaiser, mußte 1187 Deutschland und bald darauf auch Frankreich 
verlassen, floh nach England und starb dort 1189. In Frankreich genoß er den 
Schutz des Erzbischofs Wilhelm von Reims (a. a. O. 156) und des dortigen Klerus. 
Damit kommen wir in die Gegend Walters von Chatillon, der dem Reimser nahestand, 
und es ist nicht zu bezweifeln, daß die Notiz in B richtig und eben dieser Folmar in 
W 5 gemeint ist. Also gehören jene drei Strophen zu W 6. 


!* Daß er auch W 5,19 enthält, beweist, daß Strecker diese Strophe mit Recht ausacheidet. 
11 Ebenso übrigens Fl. . 


Kritiken 853 


Das ist erfreulich, weil eine einzige Handschrift gegen alle anderen Recht behält 
und wieder einmal bestätigt wird, daß die Zahl der Handschriften nichts beweist. 
Aber warum fehlen die Strophen in den übrigen? Weil man Gedichte nicht aus 
literarischen Gründen abschrieb, sondern um sie wieder zu verwenden. Dabei konnte 
man Aktuelles nicht brauchen. So sind W 10 nach Str. 6 die Verse ausgefallen, die, 
durch Str. 6 vorbereitet, den Freigebigen nannten und priesen, so beim Archipoeta 
6, 21 Vers 3 und 4 mit den Namen der guten Bischöfe; so ist in Str. 4 des Bischofs- 
liedes von Philipp de Greve (Stud. z. lat. Dichtung d. M.-A., Dresden 1931, S. 37ff.) 
der Stadtname fortgelassen, um einen andern einsetzen zu können; vgl. auch S. 857 
zu W 3,9, 5ff. und zu W7. Umgekehrt haben die Scholaren Trinklieder gedichtet, 
in denen von vornherein Platz blieb für den Namen eines ‚hospes largus‘. 

In L hat W 5 noch eine Fortsetzung. Strecker druckt sie als W 7a; ob sie 
Walter gehöre, lasse sich nicht unbedingt entscheiden; ihm sei es nicht wahrschein- 
lich. Aber bereits die äußere Form spricht dafür. W 5 zerfällt fast durchweg in 
Gruppen von 4 Versen: 

1—4 Einleitung. — 5—7 Prälaten und Papst. — 8—11 die Kurie. — 12—15 die 
Mónche!*. — 16—18 + 20 die Kleriker!*. — 21—24 Fulmarus!*, 

Ebenso zerfällt 7a nach einer Einleitung von drei Strophen? in Vierheiten: 

4—7 de ambitione, 9—12 de virtute!®, 13—16 ad auditorem". 

Auch der Inhalt spricht dafür, daß W und W 7a zusammengehören. Wa, 
4— ist eine Warnung vor Ehrgeiz, und zwar vor dem Drang nach einer Rolle im 
öffentlichen Leben (5,2). In keiner der Walterschen Satiren wird dieses Laster 
berührt, nur in W 5,1,2 an sichtbarer Stelle und gewichtig: ‚letalis ambitio. Ent- 
standen ist W 5 nach 1181; denn zu Lebzeiten des ‚Alexander meus‘ wäre Walter 
nicht so gegen den Papst losgefahren, wie in W 5, 7. Und vor Ende Mai 1183, denn 
nach Folmars Wahl hätte Walter ihn ‚electus‘ genannt. Der Gedanke ist nicht 


18 14,1f. besagt: „Die Mönche geben weltlicher Tätigkeit lieber nach als geistlicher.‘ 
1 19 verwirft Strecker mit Recht, 20 zu Unrecht. 20 schließt gut an 18 an: „Man darf tun, 
was Nutzen bringt, ja, den meisten Nutzen bringt es, ein rechter Sohuft zu sein“, eben wie die 
eid- und ehebrüchigen Kleriker in 18,1f. — Zu 18,1 vgl. Cic. de fin. 1V 19,55: ,,ipea veritas 
clamabat.'' 

34 Man könnte angesichts dieser Vierheiten auf den Gedanken kommen, zwischen 5 und 7 
sel eine Strophe ausgefallen. Aber Walter ist in Formdingen ziemlich frei; darin ist er, der Vlame, 
ganz germanisch. 

15 2 oder 3 als Dublette zu betrachten, liegt kein Grund vor. Ähnliches findet man oft, z. B. 
Archip. 6, 4f.; 7,20f.; auch W 0,71. ist zu vergleichen. Gleich Ins große treibt solchen Parallelis- 
mus der Engländer Gauterus in seinem gräßlichen Gedicht ,De palpone‘. Er wiederholt Gedanken 
und Worte nicht nur zwei-, sondern auch dreimal und öfter; besonders vgl. 75—76; 89—90, 
94—95, 110—120, 164—165. Auch die Stilübungen Serlos gehören hierhin, der einen Gedanken 
in drei Hexametern dreimal abwandelt, indem er fast nur die Worte umstellt. — 3,3 ist richtig 
überliefert ; das Adverbium erweckt die Vorstellung desVerbums so stark, daß dieses fehlen kann. 
Dasselbe W 15,12,1, wo Strecker keinen Anstoß nimmt, und 3,23,5f. und 22, wo beide Male keine 
Lücke anzunehmen ist. Die Gleichheit der ungewóhnlichen Konstruktion spricht auch dafür, 
daß 7a von Walter stammt. Hiermit erlecigt sich mein Besserungsvorschlag a. a. O. 

1* 8 ist zu streichen, eine Einleitungsstrophe, die hier den Zusammenhang zerreißt. 9 schließt 
mit igitur‘ an 7 an. Auch ist die Auktoritas von 8 schon W 5,8 verbraucht. — 11,21. ,quas 
enim‘. ‚ciconia® = Spott, vgl. Pers. I, 58 und ‚De palpone‘ (Mapes S. 106ff.) 34,4 „a clan- 
destina cave ciconia''. 

9 13,4 ist nicht als Frage zu verstehen, wie ich Stud. z. lat. Dichtg. d. M. A. 96 behaupte, 
sondern in wunderlicher Umkehrung: „„Die Künste, die dem Herrn nicht nützen, nützen allen 
andern.“ 


854 Kritiken 


abzuweisen, daß der Dichter im 2. Teile seines Vortrags den ehrgeizigen Folmar 
geradezu vor dem Streben nach der Wahl warnt; man lese daraufhin W 7a, 5—6: 
sie werden dann sehr lebendig. Und Walter hat recht behalten: Folmar brachte 
über sich und die Diózese schwerstes Unheil. 

Man mag einwenden, W 7a schließe an die Fulmarusstrophen schlecht an. 
Aber der II. Teil von W 4 hängt mit dem I. kaum besser zusammen; hier wie dort 
leitet ein Gemeinplatz die Fortsetzung ein. Wohl aber finden wir ühnlichen Bau bei 
W 10 (S. 854) und W 14 (S. 866). Auch W 19 läßt sich vergleichen (S. 868f.). 

Walter bezeichnet sich hier als ,vagus'; das ist wesentlich für die Umgrenzung 
dieses Begriffes, mehr für Walters Persönlichkeit. Er ist ein vornehmer Vagant: 
denn er heischt ein Pferd, wie sein Namensvetter von der Vogelweide und der Primas 
von Orleans. Ein Pferd war auch damals kein Pappenstiel. Aber wenn er heischt. 
so scheut er sich doch nicht, seinem Gönner zur gleichen Zeit sehr ernsthaft, ja 
scharf ins Gewissen zu reden, in diesem unabhängigen Freimut wieder dem Vogel- 
weider áhnlich!^; auch an Horaz und Pindar wird man erinnert. Man sieht, eine 
Strophe wie 8,18 ist kein leeres Gerede. Der Vlame war ein Vagant, ja, aber er war 
auch ein Mann. 

W 10. 

W 10 ist ebenso gebaut wie W 5 + 7a. Nach 6 ist eine oder mehrere Strophen 
ausgefallen; von 7—11 ist zweifelhaft, ob sie zugehóren. Daß der Wechsel der Form 
nichts dagegen beweist, betont Strecker mit Recht. Auch das Fehlen eines Zusam- 
menhanges nicht, vgl. S. 851 zu W 4, Teil II. Bedenklicher ist, daB die 5 Strophen 
in À als besonderes Gedicht auftreten. Aber es werden gar nicht selten sogar einzelne 
Strophen weitergegeben, und für eine selbständige Satire sind 5 Strophen doch zu 
wenig. Vor allem spricht für die Zugehórigkeit, daB der Kehrreim von 1 geradezu 
auf den Inhalt von 7—11 hinweist, wie W 5, 1, 2 auf W 7a. Der Zusammenhang war 
wohl wie bei W 5 + 7a in den persönlichen Verhältnissen des Angeredeten gegeben. 
Mir scheint die Zugehörigkeit sicher. 


W 1 und W 1*. 

Neben W 1 ist uns ein Gedicht überliefert (ich nenne es W 1* und zàhle seine 
Strophen 1*, 2*, 3* usw.), das in den meisten Strophen mit W 1 übereinstimmt und 
dennoch, wie Strecker betont, ein durchaus anderes ist. Beide aber rühren, auch 
darin hat Strecker zweifellos recht, von Walter her. W 1 ist das bekannte Bittgedicht 
an den Papst. 

1—2: Einleitung, persónlich. — 3—4: Thema und Bitte um Schutz. — 5: Über- 
gang zu den folgenden Allegorien!*. — 6—7: Die Welt als Wüste mit Dornen und 
Disteln. — 8—9: Die Prälaten und ihre Laster. — 10—11: Der Arme, insbesondere 
der arme Gelehrte, steht zurück. — 12—13: Die ‚palpones‘. — 14—15: Nutzlosigkeit 
der ‚artes‘ im Gegensatz zu einst. — 16—26, das besonders gegliederte Hauptstück: 
im Gegensatz zu einst Nutzlosigkeit der Theologie. — 16: Übergang: Das Einst*!. — 
17—18: „Was nutzt mir (heute) die Theologie?“ Das Strophenpaar wird auch durch 
den Bau (Gegensatz von v. 4—6 zu v. 1—3) zusammengehalten. — 19—24: Beispiele 


18 Walters Freimut hebt auch Schumann zu C. B 41,29 hervor. 

38 Ich würde nach 5.4 Fragezeichen, nach 5,8 Punkt vorziehen. 

% 7,1 würde ich ‚qui‘ vorziehen (so F H Pr); es heißt ja auch vorher ‚qui vernare solet‘ 

21 16,1f. ist zu lesen ‚opulena solebat esse qui aptabat‘. Der Wechsel im Tempus Ist. sinnlos. 
‚solebant‘ Fl, wohl auch schon Konjektur. 


Kritiken 855 


theologischer Gelehrsamkeit. — 25: Abschluß dieses Teiles durch Rückgriff auf das 
Thema (17f.). — 26: Persönliche Folgerung und Übergang zu 27—28, dem Schluß, 
Walters Bitte. 

Die Gedankenfolge ist klar. Strophenpaarung 1—2, 3—4, 6—7, 8—9, 10—11, 
12—13, 14—15, 17—18, 27—28. Zu sechs 19—24. Einzeln die Übergangs- und Ab- 
schlußstrophen 5, 16, 25 und 26. 5—8 und wieder 10—11 hängen noch dadurch 
zusammen, daB der Hauptbegriff vom Ende der einen am Beginn der andern wieder- 
holt wird?*. — Sehr bezeichnend für Walter ist es, wie 14—26 den Gedanken von 
11,4 aufnimmt und ausführt, ferner die Háufung von allegorischen Deutungen 
19—24, wie schon vorher 5—8. Das hat hier entschieden den Zweck, ihn dem Papste 
als Gelehrten zu empfehlen, aber es ist überhaupt seine Liebhaberei. 

WI“, für ein Fest in Troyes verfaßt, ist nur in Db überliefert und steht dort 
durchaus passend zwischen zwei anderen Festgedichten, W 12 und W 13. Wie diese 
enthält es einen Angriff auf die ‚leccatores‘; derlei muß bei gewissen Gelegenheiten 
typisch gewesen sein. 

1*—3*: Einleitung (, der gleichmäßige Bau der drei Strophen ist zu beachten“, 
Strecker S. 16) *. — 4*—5* (= 3—4): Thema und Bitte um Schutz. — 6*—7* 
(= 1 + 5)33*: persönlich mit Übergang zu 8*—17* (= 6— 15). — 18*—20* (= 29* 
— 31* bei Strecker) Schluß: ‚contra leccatores““. 

Der Schluß hat mit dem Übrigen sehr wenig zu tun und ist ganz locker an- 
gehängt, nur durch ein ‚autem‘, das mit „andrerseits — auch“ zu übersetzen wäre 
und auf Str. 10* (8) zurückgreift. Vgl. S. 851 zu W 4, Teil II. Äußerlich ist der Bau 
sehr regelmäßig: 3 Strophen Einleitung, 7 Strophenpaare, 3 Strophen Schluß. 
Ähnlich ist der Bau des II. Teiles von W 4 (oben S. 851), insofern dort ebenfalls 
3 Einleitungs- und 3 Schlußstrophen das Übrige umschließen; auch dort wenden 
sich die 3 Schlußstrophen gegen die ‚leccatores‘. Beide Gedichte sind an denselben 
Mann gerichtet und liegen vermutlich in der Zeit nicht weit auseinander, 

In Str. 5* wird ein ‚comes largitatis‘ angeredet?®. Der Ausdruck ist etwas 
merkwürdig?®, offenbar ein Spiel mit ‚comes‘ = „Graf“ n. In Troyes kann damit 
nur der Graf von Troyes, der Herr der Champagne, gemeint sein. Zu W 4 bemerkt B, 
dessen Zuverlässigkeit bei W 5 sich erwies: ‚Ad comitem Heinricum‘. Zwei Grafen 
Heinrich von Troyes, Vater und Sohn, spielen zu Walters Zeit eine nicht geringe 


33 Das kommt sonst bei Walter nicht vor, häufig aber beim Primas, dem Hr das Gedicht 
zuschreibt (vgl. dazu unten S. 861 f.). Die Verse stammen aus W 1°, einem der früheren Gedichte 
Walters; mag sein, daß dieser, noch tastend im Stil, die Manier des älteren Dichters einmal nach- 
geahmt hat. Vom Primas kann W 1 schon wegen 28,2—3 nicht sein, da er als Kanoniker eine 
Versorgung hatte. 

33 Zu 1°, 1—2 vgl. Alexandreis, Prolog: „moris est . . solere turbam," 

338a Der Kurzvers 7“, 1 ist Walter nicht zuzumuten; I., tanta (tamen) locuturi‘. 

34 Nach 15 schiebt F noch acht Strophen ein, die Strecker mit Recht als unecht ansieht. 
Sie sind nicht schlecht, aber sehr verderbt. Es ist zu lesen: 
17°,2 ‚set‘, F ‚et‘. 20,2 ,demulsato'. 20*,5 ,palliando'. 23*,5 ‚inmanes‘. Statt 219,5 ‚per 
manum‘ habe ich a. a. O. vorgeschlagen .per munus‘. Aber es muß ein Gegensatz zu ,eleoti' 
sein, also ,profani*. — In der SchluBstrophe von F (Ausgabe S. 13, Anm.) 31. ,arat* nach 
Is. 28,24 „, Numquid tota die arabit arans, ut serat ?''* Vgl.auch ,aro non in semine' im Kehr- 
reim von ,Amor habet“ (Studi letterari, Firenze 1911, 140fl.). 

In dem seltsamen ‚homo‘ in A mag eine Erinnerung an ‚comes‘ stecken. 

** Vergleichen läßt sich C. B. 223 (191 Schm.) 1,2 ,sectatores otii‘. 

3? Zu ‚comes largitatis‘ in diesem Sinne vgl. etwa ‚homo sanguinis‘ u. A. 


856 Kritiken 


Rolle. Ich zweifle nicht, daß WI“ wie W 4 an einen von ihnen gerichtet ist. 
Chätillon liegt nicht weit von Troyes. 

Strecker nimmt an, daß W 1* aus W 1 umgearbeitet sei. Aber es ist nicht zu 
verkennen, daß die Bitte um Schutz nur in W 1* wirklich aus der Situation heraus- 
wächst. Wenn ein Vagus den Klerikern der Stadt in ihrem Beisein vor einer großen 
Versammlung?“ so schlimme Dinge vorwarf, wie in 29*ff., so durfte er freilich auf 
unangenehme Folgen gefaßt sein; die Betroffenen waren gewiß zugegen und mußten 
manchen Blick aushalten, der ihre Scham und Wut erregte. Hier hatte Walter allen 
Grund, sich den Schutz des Grafen zu sichern. Die ganz allgemein gehaltenen 
Angriffe in W 1 konnten solche Wirkung nicht haben; die Bitte um Schutz ist dort 
nur Verbrämung des Themas. höchstens soll sie noch Walter als mutigen Kämpen 
für das Gute empfehlen. Auch der im Vergleich zu W 1 regelmäßigere Bau und die 
Vereinzelung von Str. 5% im Gegensatz zu 7* deuten darauf hin, daB WI“ das 
ursprüngliche Gedicht ist. Schließlich ließ sich eine Dichtung nur dann in solcher 
Weise zum zweiten Male verwenden, wenn sie den Hórern unbekannt war. Ein 
Festlied, das ein Vagus in irgendeiner Stadt bei einem der zahlreichen Feste vortrug, 
war nichts besonderes und drang gewiß nicht in weite Kreise. W 1 dagegen ist nach 
B ,coram domino papa in consistorio'*! vorgetragen worden. Allein die Tatsache, 
daB Walter dort angehórt wurde, muBte sich weit herumsprechen und die Leute auf 
sein Gedicht neugierig machen, eine Neugier, die er gewiß gern befriedigte. Dann 
konnte er aber dem Grafen von Troyes hernach nicht mehr mit einer Arbeit kommen, 
die nur ein Bruchstück von längst Verbreitetem war. Kurzum: W 1* ist ülter als W 1 
und für dieses benutzt worden?*. Zur Zeit von W 1 s. unten S. 862; es muß demnach 
der ältere Graf Heinrich gemeint sein, der erst 1181 starb?*??, 


W 8. 

W 3 ist ebenfalls von Walter selbst umgearbeitet worden. Nach Strecker bietet 
Dg die erste, a P die zweite Fassung. Tatsächlich weicht Dg in vielem von a P ab, 
hauptsächlich dadurch, daB es allein das lange Prosastück 23 enthält. Aber es ist 
nicht gesagt, daB dieses in der Vorlage von a P nicht vorhanden war. P läßt hier wie 
bei W 15 alle Prosastücke weg, genau wie Wright in seinem Abdruck aus D. Dg 
wiederum hórt mit 32 auf, obwohl das Gedicht niemals so geschlossen haben kann, 
und D bricht ganz unvermittelt nach 36, 7 ab; es herrscht hier wie auch sonst in der 
Überlieferung arge Willkür, und 23 kann sehr wohl ursprünglich zu jeder Bearbeitung 
gehórt haben. Dagegen ist 14 erst aus der Alexandreis herübergenommen worden; 
denn es weist ihr gegenüber Verbesserungen auf. 14, 5 zeigt in der Al. die gram- 
matische Härte, daß der Indikativ ‚dedit‘ aus den abhängigen Fragesätzen herausfällt; 
W 3 hat ‚legat‘. W 14, 7f bietet bedeutend wohlklingendere Verse als A149f. Auch 
14,2: ,eclipsim' gehórt hierhin: bei der Übernahme setzte Walter das gelehrtere Wort, 
in seinem Sinne sicher eine Verbesserung; nur Dg hat das bewahrt, in a P ist aus 
der Al. ‚defectum‘ wieder eingedrungen. Hieraus erklärt sich auch 8, 4: es ist natürlich 


se Giesebrecht, Gesch. d. D. Kaiserzeit V und VI. 

** Daß diese nur aus Laien bestand (Streoker 8. 4), ist wegen Str. 30* nicht möglich. 

** 2 ist doch nur ein Doppel zu 5, das diese hinter 1 ersetzen soll. 

21 Und zwar in einem Consistorium publicum, wo Laien zugegen sein konnten. 

ss Ähnlich macht es der Archipoeta, wenn er in seine Beichte 6 Strophen aus Nr.6 
hineinarbeitet, und zwar nicht erst nachtrüglich. f 

sa So auch Spanke „ Volkstum und Kultur der Romanen“ IV, 1981, 8. 215. 


Kritiken 857 


die Alexandreis gemeint; es muß ja doch ein Hauptwerk sein, an dem man den 
Dichter sofort erkennt; zu den rhythmischen Dichtungen muß es deshalb nicht 
gehören. Das ganze Stück 7, 4—8, 4 ist erst später eingesetzt, und dann auch 9, 5—8. 
Damit ist der Anstoß beseitigt, den Strecker mit Recht an 7, 4ff. nimmt: „Welches 
Interesse konnte dieser Dichterkatalog, der nur Franzosen enthält, in Bologna 
erwecken?“ Er ist dort gar nicht vorgetragen, sondern erst später in die Buchausgabe 
eingesetzt worden, genau wie das Stück aus der Alexandreis. 

7—11 bestand ursprünglich aus drei Vierzeilern und einem Fünfzeiler, und jede 
Strophe behandelte eine Disziplin. Die vierte Zeile von 7 ist in D noch erhalten; 
die Strophe hieß: 

Inter artes igitur, qui dicuntur trivium, 

fundatrix grammatica vendicat principium, 

que se solam estimat artem esse artium; 

sub hac chorus militat metrice scribentium. 

In 9, 5ff., dem zweiten Zusatz, hat Dg eine Zeile erhalten, die nicht fehlen darf; 
die Strophe hieB: l 

Hanc doctorum variat multiplex opinio; 
set in his deficiunt scrutantes scrutinio 


set cunctos etc. 
Zum Ausfall der Namen vgl. oben S. 853; es waren Gegner Abälards. 

Auch sonst weicht Dg von den übrigen Hss. in mancherlei Lesarten ab. Zum 
Teil sind das nur Verschreibungen; gelegentlich ist eine Randnotiz in den Text 
gerutscht, wie hinter 18, oder hat gar, ohne in den Sinn zu passen, das Echte ver- 
drängt, wie 21, 7f. Aber mehrfach merkt man Absicht, und zwar hat Db, ganz 
wie Strecker annimmt, das Ältere und à P die Änderung, deren Zweck man hie 
und da erkennen kann. So soll sie 1, 15—30 verschieden lange Kola einander an- 
gleichen, z. B. 

set cum sacrorum constituta canonum 

et scientie legalis altitudo 
gegen Dg: 

set cum sacrorum scita canonum 

et scientie legalis 
oder 1,21 a P 

ou nn | Schluß vu—uu—uu mit Reim 
gegen Dg 

ne si — obruar 

et quasi — confodiar, 
wo das erste Kolon viel länger ist und die Schlüsse zwar doppelt reimen, aber sonst 
ungleich sind: 

emulorum obruar S 

detractorum confodiar Uu—uu— uu 


** jaculis et arcu‘ nach der bekannten Horazstelle c. 1 22,2. 


858 Kritiken 


Oder es wird ein Hiat in der Klausel weggeschafft: 
1,26 Dg ‚invidie evitemus': eine Art Velox mit Vorschlag, 
a P ,evitare possimus': eine Art Planus. 
Oder es wird ein Cursus hergestellt: 
1, 30 Dg ,tribus eorum prelegavit‘ 
a P „titulo legati reliquit‘ Planus. 

Gerade vorher hat Dg ,usum fructuarium', was wie ein rhythmischer Vers 
klingt und wohl deshalb in « P geändert ist. 5 formt a P so um, daB der Ausdruck 
glatter und der logische Zusammenhang deutlicher wird. 10, 4 hat Dg wieder Hiat: 
a P beseitigt ihn, nicht gerade zum Vorteil für den Sinn. 

Es handelt sich also um stilistische Verbesserung, womit sich a P als später 
erweist. W3 wurde demnach zunächst in Bologna mit den Lesarten von Dg vor- 
getragen, aber ohne 7, 4—8, 4; 9, 5—8 und 14. Später hat Walter eine Buchausgabe 
mit jenen Zusátzen (Dg) gemacht und sie hernach nochmals überarbeitet (a P). Es 
ist nicht anzunehmen, daB solche Ausgaben nur ein Gedicht enthielten: Walte- 
selbst muß mindestens zweimal eine Sammlung seiner Werke veranstaltet haben. 

W3 ist eine Satire im antiken Sinne, gemischt aus Prosa, metrischen und 
rhythmischen Versen. Ähnliches zeigen W 15, W 12 und W 10, aber in weit geringe- 
rem Maße. Die Einteilung wird dadurch sehr klar, die Übergänge sind betont. 

1: Einleitung und Thema. — 2—3: Nochmalige Einleitung“. — 4—5: Auslegung 
des Themas (allegorisch). 

I, II?5, III Ausführung des Themas. — (IV =) 3335: Der Hymnus. — (V =) 
36: Die ‚generationes‘. — 37: Schluß. 

Áhnlichen Bau zeigt W 2: auch dort wird Thema und Einteilung bis 21 ausgeführt 
und dann noch drei Stücke angehängt, die nicht vorgesehen waren (dea, cautes, portus). 
Beide Gedichte können zeitlich nicht weit auseinander liegen, vgl. unten S. 859f. 

In den rhythmischen Stücken von I und II ist eine Strophenpaarung wie bei 
2—5 nicht zu erkennen. Anders in III: 

24: Einleitung (6 Verse). — 25—26: spiritus et littera. — 27—28, 29—30, 
31—32: Je eine Bibelstelle mit Auslegung. 

Auch in 35 ist Strophenpaarung kenntlich: 

1: Einleitung. — 2—3: Der Grund des Wunders. — 4-5: Die Doppelnatur 
Christi. — 6: AbschluB der Betrachtung. — 7—8: Die Kraft des Wunders. 


W 7. 
Auch W7 hat eine Bearbeitung erfahren, aber erst nach Walters Zeit. 
1—2: Einleitung. — 3—4: Das Schisma. — 5—6: Unsicherheit des eigenen 
Urteils. — 7: Übergang zur ,sponsa'3*. — 8—9: Ihre Klage über die Spaltung. — 


** Auffällig genug; denn auch im Gedanken sind 3 und 1 einander sehr ähnlich. Immerhin 
hat auch W 5 eine Einleitung, von deren vier Strophen mindestens die 3. nur eine Art Wieder- 
holung von 1—2 ist und die 4. ein Anfang für rich sein könnte. Es bleibt jedoch folgendes zu 
bedenken: P erweist sich bei W 4—7 als zuverlässig. Sie bringt W 3 ohne jedes Prosastück, das 
Thema, wie es sich gebührt, hinter 3, und W 15 ohne 1—2, die Versus und die Prosa. Sollte etwa 
der Dichter im Alter die Mischung unangenehm empfunden und noch eine weitere Ausgabe ge- 
macht haben, die wie P aussah (W 3 freilich bis 35 einschl., ohne 34), und für sie erst W 3,3 zu- 
gedichtet haben? Vgl. auch unten S. 866 zu der seltsamen Stellung der Überschrift von W 15 in B. 

ss 23,6 und 21 keine Lücke, vgl. oben S. 853, Anm. 16 zu 7a, 3,3. — 23,24 ,equivoci': Der 
Bischof hieB ,Iodocus'. Aus Folmar macht Walter ,Fulmarus', um dcn Kalauer ,manu tulgens' 
anbringen zu können. So mag er hier sich ein ‚Iudocus‘ denken, woraus sich ‚iuris doctor‘ ergäbe. 

* 7,4: Sollte Walter nicht ‚que‘ geschrieben haben? Auf wen sollte ‚quem‘ gehen? 


— — m —— ii — 


Kritiken 859 


10—11: Desgl. über die Einsetzung durch den Kaiser. — 12—13: Einst und jetzt“. 
— 14-15: Völliger Zusammenbruch. — 16—17: Hilferuf und Hoffnung®. Der 
Abschluß durch eine einzige Zeile wie in W 16, ebenfalls nach direkter Rede. 

Klarer Bau und Gedankengang, keine Allegorie. Strophenpaarung durchgeführt 
bis auf die Übergangsstrophe 7. 

Böhmer und Strecker setzen W 7 mit Recht vor das Konzil zu Tours. 4, 1 wieder 
kann erst nach der Synode von Toulouse geschrieben sein, das Ganze also zwischen 
Oktober 1160 und Mai 1163, wohl näher dem Konzil, wie man mit Strecker aus der 
Schlußstrophe schließen darf. Seltsam, daß nur von Deutschen, Franzosen und 
Italienern die Rede ist, die Engländer aber ganz fehlen, die doch in Toulouse 
Alexander zuerst anerkannten. Der englische Klerus war aber wirklich damals 
stärker gehemmt als der französische, der allezeit ohne Rücksicht auf Ludwig für 
Alexander eintrat, während der englische zum Konzil von Tours erst mit Heinrichs 
Erlaubnis kam. — Bemerkenswert ist Walters Zurückhaltung dem Kaiser gegenüber, 
wenn man W 15 und W 16 vergleicht. Er verwirft zwar dessen Eingreifen, aber in 12 
wird doch um den früheren Beschützer in einem Tone geklagt, der keineswegs feind- 
selig ist, und 15 klingt wie ein Hilferuf eben an den Kaiser. Ich denke, daß Walter 
hier durch die Haltung des Grafen von Troyes bestimmt wird, der immer ein Freund 
Friedrichs 1. blieb. 

Hr und S bringen das Gedicht in starker Verkürzung; alle Strophen fehlen, 
die von Königen und Völkern sprechen oder von Walter selbst; d. h. man hat alles 
Aktuelle gestrichen und ein — übrigens leidlich geschlossenes — Gedicht her- 
gestellt, das sich auf jedes beliebige Schisma anwenden ließ. Es ist dasselbe Verfahren, 
dem in W 5 usw. die Namenstrophen zum Opfer fielen; vgl. oben S. 8521. 


W 2. 

Dies berühmteste von Walters Liedern ist bis in die Reformationszeit hinein 
benutzt und besonders zur Zeit des Konstanzer Konzils stark umgearbeitet worden. 
Aber auch Walter selbst hat an einer Stelle wenigstens einen Zusatz gemacht. 

1—2: Zustand Roms. — 3—5: Einteilung. — 6—21: Ausführung. [6—: 
bithalassus = Franco. 9—10: Scylla = advocati. 11—12: Charibdis = cancel- 
laria. 13—21: cardinales (13—19 = Sirtes vel Sirenes; 20—21 — piratae).] — 
22—23: Bursa dea. — 24—25: cautes = ianitores. — 26—27: unus portus = Petrus 
Papiensis. — [28—29: maior portus — Alexander III.] — 30: SchluB. 

Daß 13 die Antwort auf die Frage ‚qui sunt etc.‘ nicht sofort gegeben wird, 
erklärt Schumann C B. II zu Nr. 41 offenbar richtig damit, daß der Dichter zu 
spannen strebt; er will die Aufmerksamkeit doppelt auf seine besonderen Freunde, 
die Kardinäle, lenken. Es war Pedanterie von mir, daran mich zu stoßen. Und wenn 
4f. die Piraten vor den Sirenen, in der Ausführung nach ihnen kommen, so entspricht 
das lediglich der rhetorischen Figur des Chiasmus®. 

Auch hier Strophenpaarung: 1—2, 9—10, 10—11, 20—21, 22—23, 24—25, 
26—27, 28—29. Zweimal sind je 3 Strophen zusammengefaßt: 3—5, 6—9; s. 1. 
Kardinälen aber widmet Walter 8 + 2 Strophen, die glänzendsten von ihm, die 


3? 12,1 ,hereses': Insbesondere Arnold von Brescia. 

* 16,2: Das sinnlose ,rutheni' ist verlesen aus, tirrhenl“ ‚Italiener‘. Ähnlich frei nennt 
Gottfried von Viterbo (bei Giesebrecht, D. K. G. VI, 522) die Lombarden ,Ligures'. 

* 18,1: ‚ut predixi^ muß sich auf v. 3—6 bezichen, vgl. 5, 3—96. Bei richtigem Vortrag 
kommt das deutlich heraus. 


860 Kritiken 


wir kennen, und nicht nur von ihm. Nicht umsonst hat die Folgezeit das Lied immer 
wieder hervorgeholt. 

Peter von Pavia war Erwühlter von Meaux von Mai 1171 bis in den September 
1176, mindestens seit Oktober 1173 nicht mehr in Rom, sondern in Anagni und 
Frankreich (Revue des questions hist. 25, 1891, S. 18, 21f. und 25ff.); zwischen Mai 
1171 und Oktober 1173 muB das Gedicht verfaBt sein; Walters Besuch in Rom 
lag gewiß nicht allzu lange vor der Abfassung. Um dieselbe Zeit, Lätare 1172 oder 
1173, ist W 3 vorgetragen worden. Während dieser Jahre war Alexander III. 
nicht in Rom (17. Oktober 1170 bis Anfang Januar 1176 in Tusculum, von da an 
in Anagni). 28—29 muB also späterer Zusatz sein, und der Buranus hat die älteste 
Lesart bewahrt“, Str. 26 lautete ursprünglich: 


Quodsi placet verum scribi, 
unus portus tantum ibi, 
una tantum insula, 

&d quam licet applicari 

et iacturam reparari 
confracta navicula. 


Dies letzte: „wenn das Schiff gescheitert ist“ ist besser als das spätere ,con- 
fractae naviculae'; denn nicht das Schiff kann wiederhergestellt werden, sondern 
nur dem Schiffbrüchigen geholfen. — Später hat Walter das Gedicht dem Papste 
dediziert, 28—29 zugefügt und 26 entsprechend umgeformt, aber 27, 5 ,solus' 
vergessen, das sich jetzt sehr seltsam ausnimmt, da doch gleich noch ein zweiter 
Helfer folgt. Es genügte eigentlich schon allein, die Interpolation zu beweisen. 

Bei Abwesenheit des Papstes besorgte die laufenden Gescháfte in Rom ein 
Kardinal, der ‚vicarius urbis‘. Er hatte eine Kurie genau wie der Papst, mit ihm 
untergebenen Kardinälen und dem ganzen sonstigen weltlich-geistlichen Apparat*!. 
1164—1178 war das Johannes, Kardinalpriester von St. Johannes und Paul. Das 
ist der in Cl ‚ex vetusto quodam codice‘ herübergerettete ‚Johannes, qui piratis 
principatur', womit seine Stellung deutlich gekennzeichnet ist*®. ‚Sedere‘ dürfte 
hier wie 20, 1 prägnant zu verstehen sein: ,sedet sicut papa“; 21,3 würde ich 
drucken ,sedens — in insidiis‘. Frankos Name (6—8) braucht nicht erfunden 
zu sein; er war einer der weltlichen Juristen und ist uns deshalb nicht näher bekannt*?*. 

Der ,vicarius urbis‘ hatte hauptsächlich Rechtshündel zu schlichten und war 
zuständig für den ganzen Kirchenstaat. Auch Walter ist wegen eines Rechtshandels 
vor ihm gewesen; das zeigt 9—10. Als Franzose unterstand er ihm nicht, wohl aber 
als Angehöriger der Universität Bologna; W 2 bestätigt also, daß er dort studiert 
hat, wie die Vita berichtet“. Auch Petrus von Pavia war alter Bologneser; daher 
wohl seine bereitwillige Hilfe. Dazu fügt sich die Überschrift von W3 in P, da8 
Walter diesen Lätarevortrag nach seiner Rückkehr aus Rom in Bologna gehalten 
habe. W3 und W 2 müssen also nicht lange nacheinander entstanden sein; daher 


% 8o auch 19,5, wo ,docent tamen“ viel besser ist. Rs ist nun einmal nichts mit der, „Mehr- 
zahl der Hess.“. 

*1 Th. Hirschfeld, Gerichtewesen der Stadt Rom im Archiv f. Urk. Forschg. 1912, 463. Ich 
verdanke diesen Nachweis meinem stets hilfsbereiten Amtsgenossen Kares. 

** Mit Spurius könnte derselbe gemeint sein; das ist ja nur ein Spitzname: , Der Bankert." 

Franco“ hat auch der ‚vetustus codex“, also ist Tremo“ jünger. 

% Auch ‚a magistris suis’ beweist das eigentlich schon (W 8, 1, 13). 


— — 


P e P a 2 


Kritiken 861 


die Ähnlichkeit im Aufbau (oben S. 858). Die Überschriften von W 3 in P und B sind 
also zuverlässig, die in Dg ,Apud Romam in presentia domini pape' dagegen falsche 
Folgerung aus den zugesetzten Strophen 28—29, und Strecker behält mit seiner 
Ablehnung recht. Ebenso falsch ist die wörtlich gleiche von W2 in Di, die ent- 
standen ist durch eine naheliegende Kombination mit W 1. W 2 und W 1 haben 
aber nichts miteinander zu tun. 

Ob Walter W 2 in Bologna vorgetragen hat, solange der fette Johannes in Rom 

ierte ? 
i3 W 6. 

Eine reizvolle Satire nennt Strecker dies Gedicht, und mit Recht. Der Reiz 
liegt darin, daB es durchaus persónlich ist, voll einer Bitterkeit wie kein anderes. 
Am ehesten làBt sich noch W 17 vergleichen, aber dort herrscht Resignation, hier 
Angriffsgeist. So hóhnisch, wie die Auktoritas von 14, deren Sinn geradezu ins 
Gegenteil verkehrt wird, ist keine Stelle mehr bei Walter, und daß damit W 4, 14 
zitiert, vielmehr persifliert wird, macht die Schärfe noch fühlbarer. In Str. 3 sagt 
Walter ja auch ausdrücklich, er spreche frei von der Leber, deutlich und grob; die 
Ausdrücke ‚inconsulta‘ usw. sind nicht nur technisch zu verstehn. Der Dichter muß 
vor diesem Liede eine besonders herbe Enttáuschung erlebt haben. 

Der Bau zeigt nach der Einleitung zwei Teile. 

1—4 Einleitung: „Alles verkauft sich, warum nicht auch ich?“ — 4,2 greift 
auf ,vendere' in 1,2 zurück. 


I. Klage. 
5—8: Nur Geld machen!*5, — 9—12: Weder weltliche noch geistliche Wissen- 
schaft nutzt etwas“. — 12 ist deutlich Abschluß. 


II. Polemik. 

13: Der zu bekämpfende Satz. — 14—18: in jeder der 5 Strophen ein Gegen- 
grund. — 19: Zusammenfassung“. — 20: Abschluß durch Apostrophierung wie 
W 8, 19f.; W 15, 23; vgl. auch W 13, 14; W 7a, 13—15 und W 4, 30. 

In der Einleitung sagt Walter, er werde von jetzt an seinen Unterhalt durch 
Dichten suchen. Das bedeutet Aufgabe des theologischen, aber auch des juristischen 
Studiums. Daß dieses ihm übrigens nicht sehr lag, zeigt W 3, aber zugleich auch — 
wenn man das nicht überall sähe — wie er an der Theologie hing. Daß er dieser nun 
entsagen muß, ist der eigentliche Grund für die Bitterkeit, die aus W 6 spricht. Das 
Gedicht muß nach W 4, W3 und W 1 verfaßt sein. Wenn Walter in W 5 (zw. 1181 
und 1183) sich als Vagus bezeichnet, so hat er seinen EntschluB ausgeführt und 
umgesattelt. Vgl. auch zu W 17, Anm. 74, unten S. 868. Sollte Alexanders III. Tod 
zu der Wendung beigetragen haben? Sollte W 1 an Lucius III. gerichtet sein? Von 
Alexander hat Walter keine Pfründe erhalten (W 2, 29), aber auch keine Ablehnung 
erfahren (W 2, 28). Also hat er ihm W 1 nicht mehr vorgetragen. 


+s ,pecunia' 5,4 und 6,4 sowie ,Homere* 7,4 und 8,4 fassen diese Strophen noch paarweise 
zusammen. — 8,11. ,disputans'; mit ,disputet' würde Walter gerade das Gegenteil von dem 
sagen, was das ganze Gedicht will. 

** In dieser Abfolge ‚artes‘ und ,theologia* auch W 1,14ff. 

*' 10,41. „quid hec vel genesis“; denn nur 10,1 ist aus der Genesis, 10,2—3 aus dem 
Exodus. Es stand da ,quid heo genesis“; jemand schrieb drüber, ur, was als valet“ in den Text 
kam. 

“a Zu 19,1 vgl. Al. 2, 349. 


862 Kritiken 


Dagegen haben wir die verworrene Notiz“: „Dum Primas canonicus esset 
Aurelianensis et idem papa (scil. Lucius) fuisset in Gallia, rogavit eum Primas 
super obtentu unius beneficii . quem cum obaudientem (non) invenisset, invehit 
his versibus contra eum: 

Lucius est piscis rex et tyrannus aquarum, 
& quo discordat Lucius iste parum. 

devorat hic homines, hic piscibus insidiatur 
esurit hic semper — hic aliquando satur. 

amborum vitam si lanx equata levaret, 
plus rationis habet, qui ratione caret.“ 


Und W1 trägt in Hr die pretiöse Überschrift ‚peticio primatis porrecta pape 
pro beneficio obtinendo', aus der offenbar das ,obtentu' der Notiz stammt. 

Aber W 1 ist sicher von Walter und (nach Str. 26, 4f.) in Rom vorgetragen, und 
Lucius III. war nie in Frankreich. Es muß so sein. daß der Primas an Alexander III., 
als dieser in Frankreich war, ein ähnliches Bittgedicht wie W 1 richtete (jene Über- 
schrift ist ganz in seinem Stil) und an Lucius III. Walter sich wandte; die Über- 
lieferung hat die Vorgänge, die Päpste und die Bittsteller vermengt. Dafür, daß W 1 
nicht für Alexander bestimmt war, wenigstens nicht in seiner jetzigen Gestalt, 
spricht auch der auffüllige Umstand, daB Walter darin nirgend sein tapferes Ein- 
treten für ihn erwäbnt, obschon er doch sonst sein Licht nicht unter den Scheffel 
stellt; in W 2 läßt er wenigstens die Kardinäle die freundliche Aufnahme in Frank- 
reich rühmen, und das ,Alexander meus, meus inquam' der Str.28 dürfte eine 
Mahnung sein: weil er sich so krüftig für ihn eingesetzt, deshalb darf er ihn den 
Seinen nennen. 

Ist Obiges richtig, so war Walter zweimal in Rom, und dazu stimmt W 1, 26,5 
Sum reversus‘. Lucius III. blieb nur von September 1181 bis März 1182 dort; 
in diesen sechs Monaten würe demnach W 1 gedichtet oder, vorsichtiger, in seiner 
jetzigen Form vorgetragen. Es möchte immer sein, daß es ursprünglich für 
Alexander III. bestimmt war und noch einige Strophen mehr enthielt. Die Ab- 
lehnung brachte Walter zu dem W 6, 4 ausgesprochenen Entschluß; sie würde es auch 
recht verständlich machen, daß er W 5, 7 so unerhört heftig gegen den Papst losfährt, 
und es hindert uns nichts, ihm auch das Spottgedicht ‚Lucius est piscis‘ zuzuweisen; 
die Spielerei mit dem Namen entspricht ganz seiner Art (W 5,22; W 3, 23, 24; 

W 15,2 und 19ff), und ,devorat hic homines‘ erinnert an W 2,20, 5 und an 
W 13, 11,2. 

Strecker weist darauf hin, daB W6,7—11 stark an WI gemahnt. Ebenso deutet. 
Str. 12 auf W 1, 27 zurück, und Str. 20 wiederholt den Gedanken von W 1,28. Es 
scheint aber noch eine andere Beziehung zu bestehen: W 6, 15, 1 dürfte auf W 11, 
5—8 gehen. | 

W 11. 

W 11 ist nur in B überliefert, wo es vor einem „Nest“ Walterscher Gedichte 
steht. Diesen móchte Strecker es zurechnen. Aber die ersten Strophen lesen sich 
geradezu wie eine Polemik gegen Walters ständige Klagen über die Armut der 

Gelehrten; es wird nicht allgemein die ‚avaritia‘ angegriffen, sondern die der 
philosophi. Wenn es W 1, 15 heißt: ‚antiquitus studere fructus erat“ und vorher 


** Chron. Pipp. 1,47 = Muratori scriptt. IX 268, vgl. W. Meyer, Gött. Nachr. 1907. 


Kritiken 863 


„olim plures provehebat „Arma virum‘“‘, so sagt W 11, 2: ,olim apud veteres 
summa erat cura de mundo disserere und spricht von der ,execrabilis questus 
vanitas‘ (1, 4), wo doch nur der ‚questus‘ der Gelehrten gemeint sein kann. Wenn 
W 4, 20, 4 zitiert: „, In pretio pretium nunc est“, so in betrüblichem Gegensatz zu 
‚florebant antiquitus artium doctores‘; hier wird Ovid bemüht für die tugendhafte 
Sentenz: ‚in sola pretium erat veritate‘. Wenn es W 1, 16 heißt: ,opulens solebat 
esse, qui aptabat virgam Jesse partui virgineo', so wird hier den früheren Gelehrten 
die Einsicht nachgerühmt, ,quod sola pauperies vita sit secura'. Walter fragt 
W 1,17, 6f.: ,Quid hoc scire mihi confert, si sciens esurio'?, W 11, 4, 8 preist die, 
welche ,elegerunt mala mundi pati'. Ich kann mir nicht denken, daß Walter so 
gegen sich selber streite, wenn auch W 11, 10—12 in seine Kerbe schlägt. Auch fehlt 
W 11 der wenn nicht dichterische, so doch rhetorische Schwung des Lillers; wie 
stumpf ist z. B. Str. 11 oder 13. Statt dessen zieht sich durch das Gedicht ein 
schulmeisternder Ton, den man an Walter nicht kennt. In 14, 1 sehe ich einen nicht 
ganz unberechtigten Hieb gegen Walter: er zitiert z. B. von Persius nur Prol. 1 und 
1, 1. 18. 58, aus den andern 5 Satiren nichts, aus Hor. ep. 2 nur aus 2, aus den 
andern sieben nichts, aus Hor. serm. 2 nichts, aus 1 nur dreimal, aus Lucan 1 
siebenmal, sonst nur noch je einmal aus 3, 4 und 6, so daß ein Schulfuchs, dem das 
auffiel, ihm wohl mangelnde Gelehrsamkeit vorwerfen mochte: er habe immer nur 
die Anfünge gründlich gelesen. So mag auch 14, 2 gegen Walters Magisterium sich 
richten. Gegen diese Angriffe wehrt sich Walter in W 6, 13, 1*9. WG, 15, 1 geht 
gegen W 11, 5—8 (mag sein, daB Sokrates [W 6, 15, 2 und 20, 1] in dem verlorenen 
Teile von W 11 vorkam), W 6, 13, 3 gegen W 11, 3, 3f., W 6, 11, 4 und 12, 4 gegen 
W 11, 4, 4, gegen die ganze Tendenz von W 11, 1—8 der 2. Teil von W 6 (13—20). 

Ich halte also W 11 für das Gedicht eines anderen, der Walter angreift und 
von diesem wieder angegriffen wird; vielleicht eben deshalb ist es uns bei Walter- 
schen Stücken erhalten. Die wenigen Anklünge an solche, die Strecker aufzeigt, sind 
Parodie; auch der Bau ist dem der echten Gedichte ühnlich. 

1—4: Das bessere Einst. — 5—8: Diogenes“. — 9— 12: Heute Geldgier und 
Simonie; 13— ?: und oberflächliches Studium. 

Einteilung in Vierheiten; vielleicht fehlen nur 2 ½ Strophen. Scharf ist geteilt: 
8 Strophen schildern das Ideal, die folgenden die trübe Jetztzeit; auch das deutet 
auf ehemals 16 Strophen*!, 

W 8. 

1—2: Einleitung e contrario. — 3—4: Eine Art Einteilung (die drei Punkte 

avaritia, libido, exempla bona‘ kehren hernach wieder. — 5—7: pastores mercennarii?. 


* Eine Parallele zu W 11, 13, wie Strecker will, bietet W 6,13 nicht. Hier Ist die Rede 
von Gelehrten, die mit ihrer Gelehrsamkeit prunken, dort von Studenten, die nur eben so lang 
studieren, bis sie eine Disputation hinter sich haben und dann Schluß machen. Dazu ist auch 
W 6,18 keine Illustration; CB. 6,13 paßt schon besser. 

+ 6,1 ist ,gaudens' richtig, 6,2 aber ‚tu maiorem‘ zu lesen; sonst hängt das tu“ in 6,3 in 
der Luft. 

*'! Bemerkenswert ist, daß W 11 zwar eine antike Geschichte erzählt, aber kein antikes oder 
Bibelzitat enthält. Auch das ist nicht Walters Weise. 

** Zu 5 vgl. Flacius S. 150, Complange 7: ,Qui se obicere deberent et effundere sanguinem 
pro iustitia, tractant de avaritia'. — 6 ist zu ordnen 1, 3, 2, 4, und 4 zu lesen: ,assidoe invalidos 
debiles‘: „Die Hörigen, Schwachen und Gebrechlichen, d. h. das niedere Volk." Das ist besser 
als mein Vorschlag a. a. O. — 7,4 ist im Sinne der Johannesstelle zu lesen ‚agunt super ovibus‘; 
der Vers wiederholt den Vorwurf von 5,3. Auch 20,2 zielt hierauf. 


864 Kritiken 


— 8-9: avaritia. — 10—11: libido. — 12—13: avaritia. — 14—16: bona 
exempla. — 17: avaritia. — 18: Abschließend, persönlich. — 19—20: Schluß durch 
Apostrophierungen (vgl. oben S. 861 zu W 6, 20). 

Die Strophen sind meist gepaart. Rechnet man, wie man eigentlich muß, 
1—4 als Einleitung, so schlieBen danach zwei Dreiheiten drei Paare ein, eine An- 
ordnung, die uns in W 1* (oben S. 854) und W 4, II (oben S. 851) begegnete. Aber 
die Anordnung der Gedanken, die Trennung der Strophen, die von der ‚avaritia‘ 
handeln, ist doch auffällig’. 

Zu 16 bietet eine merkwürdige Parallele Flacius S. 52 Nr. 84: „(qui) pro suis 
ovibus se opponens hostibus mortem non abhorruit." Gemeint ist Thomas Becket; 
die Auffassung dieser Verse lebt bis heute: in Herders Kirchenlexikon unter „Thomas 
Becket“ heißt es: „ . . indem er sein Leben für seine Herde hingab." Danach 
wird man auch unsere Stelle auf den Briten beziehen müssen. Die Dichtersprache 
darf sich ‚presbyter‘ für „ Bischof“ schon erlauben; noch Erzbischof Stephan von 
Rennes (1168—1178) heiBt in einem Tabular von Marmoutier ,presbyter* (Du Cange 
s. v. ‚presbyter‘). Da Thomas 16, 1 bereits heilig genannt wird, fällt W 8 nach dem 
2. Februar 1173. Die in 5—6 erwähnten Kriege werden die von 1173—1174 sein: 
Aufstand der Söhne Heinrichs II. mit Hilfe Ludwigs VII. (diese Kämpfe tobten in 
Frankreich und England und waren besonders wild), Christians von Mainz Feldzug 
in Italien, den Walter vermutlich aus der Nähe sah, und in Palästina die immer 
gefährlicheren Angriffe Saladins; Walters Worte ‚cum conterant totum mundum 
guerre‘ sind nicht übertrieben. Das Gedicht entstand also 1173/7454. 


W 9. 

Eine einzige leidenschaftliche Anklage gegen die Simonie. Ein logischer Aufbau 
des Ganzen ist nicht vorhanden, da hat Strecker recht, aber doch zusammenhüngende 
Strophengruppen. 

1—2: Inhaltsangabe: ‚Die Macht des schismatischen Kaisers breitet sich aus; 
der Klerus wird bedrückt und dazu bestohlen55; der Wahnsinn des Kaisers ist nicht 
zu heilen®®, und die hohe Geistlichkeit fröhnt der Simonie.“ 

3—6: „Der blinde Isaak nahm ein Geschenk, und dadurch kam Esau um sein 
Recht; verblendet sind auch die Prälaten (und so müssen auch heute die Berechtigten 
hinter denen zurückstehen, die Geschenke geben). Die Prälaten fliehen die Vernunft 
und leben ihrer Gier (s. unten Anm. 72), aber Jakobs Lähmung prophezeit Untergang 
den Simonisten, die sogar am Schisma schuld sinds“; so wie seine Ringkunst wird 
ihre Gaunerei zuschanden werden5?; der Herr wird sie zerschmettern.“ Innerhalb 
dieser inhaltlich verbundenen Vierheit sind die Strophen paarweise geordnet; denn 
5—6 geben den Inhalt der ‚prophetia‘. 


+: Doch vgl. W 18 (unten 8. 868). 

% Ob auch das oben zitierte ,Plaude Cantuaria‘ von Walter ist? Außer W 8,16 erinnert 
auch W 16,18 daran, insbesondere an den Schluß: ,Letus sumpeit premium, consummans 
martyrium intra matris gremium‘. 

55 Ich ziehe 1,2 ‚spoliatur‘ vor; die Bedrückung verübt der Kaiser, den Raub die Prälaten. 

% Saul ist kaum anders zu verstehen; vor allem führt 5,2 auf diese Deutung. 

er Sowohl Viktor IV. wie Alexander III. sagte man nach, ihre Wahl beruhe auf Bestechung 
(Reuter, Gesch. Al. III. I, 64 und V, 505). So allgemein konnte Walter nach der Entscheldung 
von Tours nicht mehr sprechen. 

% Zu ,sophisma* muß in der Allegorie 4,3 eine Parallele stehen; außerdem ist „lesus — 
vulneratus‘ sehr hart; l. statt des Letzteren ‚in luctatu‘. 


Kritiken 865 


7-8: „Ein armer Gelehrter kommt nie zu einer Anstellung, weil er nichts 
bezahlen kann“ (vgl. W 4, 18 + 15). 

9—12: „Den Simonisten (9,4 und 11,2) droht das Schicksal der Rotte Kora“ 
(9, 8 und 12, 3f.)**. 

17: „Jeder Prälat bete, solange es Zeit ist; der Tod holt jeden.“ (Vgl. zu der 
Apostrophe an dieser Stelle oben S. 861.) 

18—19: „Darum laßt uns zu Gott und Maria um Hilfe flehen“ . Strophenpaarung 
bis auf die Vierheit 9—12 und die Einzelstrophe 17. Viel Allegorie. Eine Einleitung 
fehlt; vermutlich sind da eine oder zwei Strophen, W 7, 1f. ähnlich, verloren ge- 
gangen. Daß die Mahnung in 17 unmittelbar an die drohende Warnung in 12 an- 
schließt, ist klar. Und ständen 13—16 statt in drei in sieben Handschriften, wie 
W 2, 28—29, sie gehörten doch so wenig dahin, wie diese ursprünglich sind. Die 
Frage ist nicht, was ist überliefert, sondern, was ist einem Dichter wie Walter 
zuzumuten. Jedenfalls nicht, daB er seinen Gedankengang plótzlich mit einer 
neuen Einleitung unterbricht, um in eine von Anfang bis zu Ende im hohen Kanzel- 
tone gehaltene Predigt plötzlich „derbrealistische“ Strophen einzuschieben und 
dann ruhig den unterbrochenen Gedanken im vorigen Stile wieder aufzunehmen. 
Dabei handelt das ganze Gedicht von der Simonie, wie es nach der Ánfangsstrophe 
zu erwarten war, 13—16 aber vom Wohlleben. Es ist nicht anders: 13—16 sind 
der Anfang eines anderen Walterschen Gedichtes, dessen verstümmelte Erhaltung 
man übrigens nur bedauern kann; 15—16 sind beinahe so lebendig und anschaulich 
wie die Kardinalstrophen in W 2. 

W 9 berührt sich mehrfach mit W7, besonders W 9, 5,2 mit W 7, 13, 4. Ja, 
sie ergänzen sich gewissermaßen: W 7, 3 und W 9, 1 redet von Simonie und Schisma; 
W7 führt nur den Punkt „Schisma“ aus, W 9 nur ,,Simonie". Sie werden zeitlich 
nicht weit auseinander liegen (vgl. Anm. 57); W9,1,1 wie 5, 2 verstehen sich 
am leichtesten am Anfang des Schismas. 


W 12. 

Ein Festgedicht, das Strecker wohl etwas zu ernst nimmt. Es ist bis Str. 18, unter 
scherzhaften Allegorien, eine einzige Aufforderung zur ‚largitas‘, wie solche Lieder oft. 

1—2: Einleitung. — 8—10: In vier Strophenpaaren je eine Schriftstelle mit 
Deutung*!. — 11—16: Dasselbe in zwei Dreiheiten®?. — 17—20: Gegen die ‚lecca- 
tores', eine Vierheit. — 21—22: Schluß; das metrische Stück nach den Rhythmen 
erinnert an W 15 und W 3, aber auch an manche Teile der Carmina Burana*?, 

Der Ton ist recht zahm, der Inhalt ärmlich, ein Jugendgedicht. 


W 18. 
Auch dies Festlied fordert zur, largitas“ auf, ist aber viel reicher an Inhalt. 
1—2: Einleitung: Bedrohung der ‚reprobi‘. — 3—4: Gleicher Anfang bei 
gegensätzlichem Inhalt. — 5—6: Sei freigebig, aber nicht gegen die ‚leccatores‘. — 


s» stimulus‘ = Stachel der Gier. 

% Gebet am Schlusse auch W 3, W 14, W 17. 

*! 6,3 ‚singuli‘: 1. ,seduli*. 

*3 12,5f.: ein merkwürdiger Widerspruch zu 6,5f. — 16,1 ‚set id‘: 1. ‚postid‘. 

** 22,8 nach Ov. Her. VII, 168 „Dum tua sit Dido, quidlibet esse feret“. 

** 3,3 kann man ,macello' wohl halten, eine kecke Neubildung: ,macello' — ‚macellum‘ 
wie ,flagello — flagellum‘. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 55 


866 Kritiken 


'1—8: Art der ‚leccatores‘. — 9—12: Habsucht und Simonie der Prálaten. —13— 14: 
Niedergang der Gelehrten. — 15: SchluB. 
Strophenpaarung durchweg bis auf die Vierheit über die Prälaten. 


W 14. 

Wieder ein Festgedicht mit Aufforderung zur ‚largitas‘. 

1—2: Ort und Fest. — 3—4: Die gefeierte Person (1—4 Einleitung). — 5—6: 
Thema und Einteilung. — 7—8: Deutung. — 9—11: Folgerung „Sei freigebig mit 
Weisheit". — 12: Übergang zum 2. Teil. — 13—14: Weisheit = Christus. — 
15—16: Das Rot = Christus. — 17—18: Aufforderung zur ‚largitas‘. — 19: Frommer 
SchluB. 

Also nach der Einleitung 6 + 8 Strophen, beide Male Allegorie mit Deutung 
und Nutzanwendung. Aber 9—11, das Herzstück, schon durch die Länge von 9 
ausgezeichnet, hat eine persönliche Färbung und ist diskretes Heischen. Dadurch 
wird der Bau dreiteilig wie W 5 +- 7a und W 10. 

In 8 ist rosarius, titulum rose sortitus, rose baiulus immer dieselbe Person. 
Die Rose trug beim Umzug in Besancon der Narrenpapst in der Hand. Er kann aber 
nicht gemeint sein, denn er gab nicht, sondern nahm (Hilarius 14). Wer ist es also? 
Zweifellos der in 3 angeredete Peter, ein angesehener Jurist. Nun ist jener Umzug 
eine Kopie des päpstlichen Lätare-Ritts in Rom. Dort verlieh der Papst nach dem 
Ritt die Rose an einen Laien; so wird es in Besancon auch gewesen sein, und von 
dem also Ausgezeichneten erwartete man dann gewiß einen erheblichen Beitrag zum 
Festabend. Walter hat demnach das Gedicht bei der feierlichen Übergabe der Rose 
an Peter vorgetragen. Wenn er zur Einleitung die Szene des Látaresonntags 1163 
in Paris benutzt, so ist das nichts anderes, als wenn man heute zu Karneval auffällige 
Vorkommnisse des Jahres parodiert; er benutzt auch die Pariser Ansprache des 
Papstes. Damit ist das Gedicht auf Lätare 1164 festgelegt; später wäre kein Witz 
mehr dabei gewesen. 

W 15. 

Mischung von Versus, Prosa, Rhythmen wie W 3; viel Allegorie. Die Rhythmen 
gliedern sich: 3—6: ‚archa‘ = ,ecclesia', Noe“ — ‚papa‘. — 7—10: Fluch der 
Zweiteilung*5. — 11—14: Der Begriff ‚maior‘®. — 15—17: Lehre von den beiden 
Schwertern?“ . — 18—19: Alexander. — 20—21: Die Gegenpäpste®. — 22: Con- 
clusio. — 23: Apostrophierung (vgl. oben S. 861). 

B hat vor 3 die Notiz: ‚Controversia habita coram imperatore de scismate®”. 
Wir können sie nicht beiseite schieben, da B sonst zuverlässig ist und da in Str. 23 
anscheinend ein Geistlicher angeredet wird, der, wie Elias zu Ahab, zu Friedrich 1. 
gehen soll, ihn zu bekehren. Hat Walter ihn begleitet und das Gedicht als Auftakt 
zu seiner Rede vorgetragen ? 7, 2ff. richtet er an den Kaiser selbst; in 14 fährt er die 


* 7,31: ‚ex re nomen habes, cesure Cesar origo‘, womit die Anrede 8,2 verständlicher wird. 

% Zu 13 vgl. O 24,2. 

15,21: ‚pontifex et‘; 17,31: ‚quid? cui constat‘. Das Verständnis von 17,3 verdanke 
ich Kares, der mir sofort erklärte: „Dem Kaiser fehlt das elne Schwert, während der Papst 
beide hat. Walter folgt hier Bernhard von Clairvaux ‚De consideratione‘ IV, 3,7: ,Uterque 
ergo ecclesie et spiritualis scilicet et materialis (gladius)'*. Daraus ergeben sich die Änderungen. 
Val. auch O.30,1, 3: ‚Petrus exerit utrumque gladium.‘ 

** 21,4: ,nuper' gehört zum vorhergehenden Verse wie ‚quondam‘ W 7, 12,2. 

** Seltsam, daß sie nicht am Anfang steht. Sie muB aus einer Vorlage wie P stammen. 
wührend B 1—2 aus einer anderen hat. 


0 mes mma Al. ——— 


Kritiken 867 


Gelehrten des Kaisers an, die er in 2, 3f. genannt hat; 23,1 wendet er sich an den 
eigentlichen Sprecher der Päpstlichen. Es wäre eine lebendige Szene. Aber wo soll 
man sie gespielt denken? 

18, 4 ist von drei Siegen Alexanders über Friedrich die Rede. Damit können 
nur die großen MiBerfolge des Kaisers gemeint sein; es kommt kaum anderes in 
Frage als 

1. das Konzil zu Tours, auf das 19, 3f. anspielt. 

2. Die Pest vor Rom, die ja als Gottesurteil galt. 

3. Die mißglückte Belagerung von Alessandria April 1175. Dies letzte Datum 
gäbe den terminus post quem, den ante quem die Verhandlungen von Anagni 
Oktober 1176; damals waren die Töne von W 15 nicht mehr am Platze. Dieser 
Zeitabschnitt stimmt zu Str.21, wo Calixtus III. als amtierender Gegenpapst 
genannt wird. — Auf Alessandria folgten im Sommer 1175 die Verhandlungen in 
Pavia; dort sprach der erste päpstliche Legat, Humbald, Kardinalbischof von Ostia, 
Worte, die z. T. an W 15, 19—20 anklingen: ‚Quod ubi quattuor ille persone 
(Viktor IV., Paschalis III., Arnold von Mainz, Rainald von Dassel), que de corpore 
ecclesie sibi adheserant, de medio per iudicium dei erant sublatae‘ etc. (vita Alex. 
bei Reuter III, 226, 2). Kann man annehmen, daB Walter hier beteiligt war? Bei 
der feierlichen Begrüßung, die Reuter III, 225 beschreibt, wohl kaum. Aber jene 
Zeit liebte die Disputationen außerordentlich. Auch unser Gedicht leitet eine solche 
ein; denn 1, 6 ist von dem Richter die Rede, der (den Argumenten der Päpstlichen) 
sein Ohr vielleicht verschlieBen werde, weil er selbst Schismatiker sei. Da der Vor- 
trag, wie außer der Überschrift auch 7, 3ff. zeigt, vor dem Kaiser gehalten ist, so 
wird dieser der Richter sein*9, 

Walter trat nicht allein auf; am Schlusse fordert er einen Zweiten auf, in den 
Streit einzutreten, und es hat den Anschein, als sei das der Hauptkämpe; er wird 
in einer Weise angeredet, daß man in ihm einen angesehenen Geistlichen vermuten 
muß. Auch als Gegner werden zwei genannt, Girardus und Robert, die sich leider 
sonst nicht auffinden lassen; auch von ihnen wird einer als Dichter, der andere als 
Geistlicher anzusprechen sein. Es sieht ganz so aus, als ließe sich hier mehr heraus- 
bekommen, ‚sed angusti temporis me coartat meta‘. Immerhin — soll man nicht 
annehmen, daß der Kaiser selbst zu seinem, des Hofes und der Gäste Vergnügen 
in den Tagen zäher Verhandlung, die jenem Empfang folgten, einmal diesen Sänger- 
und Rednerstreit veranstaltet habe? Doch sei dem, wie ihm sei — als Zeit von W 15 
glaube ich den Sommer 1175 ansprechen zu dürfen. 


W 16. 
Kirchenpolitisches Gedicht in Form einer Vision. 
1—4: Einleitung (4 Str.)“. — 5—8: Ort und Gestalten der Vision (4 Str.). — 
9: 1. Auftreten des Satans. — 10—13: Seine 1. Rede (4 Str.). — 14: Auftreten der 


70 Auch in W 1* wird der Graf von Troyes als iudex‘ angeredet. Ist das ähnlich zu werten? 
Haben wir bei den Festen, für die so viele dieser Lieder verfaßt sind, an Sängerwettstreit zu 
denken, wie bei den Troubadours ? Etwa an Stegreifdichtung ? Das bedarf der Prüfung. Vom 
Primas jedenfalls hören wir, daß er an Wettdichten teilnahm, einmal sogar vor dem Papete. 
Es ist klar, daB der Reichtum des Lateinischen an Reimen die Stegreifdichtung erleichtern, daß 
diese manche Eigenheiten, wie die häufige Wiederholung von Gedanken und Ausdruck, zwanglos 
erklären würde. 

a Zu 2,4 vgl. Al. Prol. „humanum genus depravatum''. 


55* 


868 Kritiken 


Alecto. — 15—18: Ihre Rede’! (4 Str.). — 19—20: Auftreten der Tisiphone?!* und 
21—25: Ihre Rede (7 Str.). — 26: 2. Auftreten des Satans. — 27—30: Seine 2. Rede 
und Schluß (1 Vers)“ (4 Str.). 

Ein ungewóhnlich straffer Bau, begünstigt durch die dramatische Form. Das 
Hauptstück, Tisiphones Rede mit dem Angriff auf den Kaiser, hat drei Strophen 
mehr. Das Gedicht ist entstanden nach 29. Dezember 1170 und vor 2. Februar 1173. 
dem Tage, an dem Thomas heilig gesprochen wurde; denn in Str. 18 ist davon noch 
keine Rede. Vgl. auch oben S. 864. 


W 17. 

Mehr Lied als Satire, klarer Bau. 

1: Einleitung. Dann Hauptteil, bestehend aus Vorspruch?? (sog. Refrain zu 1). 
2—5: Selbsterfundene Allegorie mit Deutung. Nachspruch?? (sog. Refrain zu 5). — 
6: Schluß“. 

W 18. 

Beichte. 

1. Einleitung: Des Dichters Zustand. — 2—3: Miserere. — 4—5: Gebet. — 
6—7: Betrachtung. — 8—9: Gebet. — 10—11: Betrachtung. — 12—20: Langes 
Gebet. — 21—22: Betrachtung“. — 23—24: Gebet. — 25: Schluß. 

Durch den Wechsel von Gebet und Betrachtung ähnelt der Bau dem von W S 
(oben S. 864). — In W heißt 1,1: ‚Cum Heinricus egrotaret‘, darüber: „oratio 
Heinrici imperatoris‘. Heinrich VI. starb 1192. Hat man ihn das Lied als Beichte 
sprechen lassen? Der Inhalt ist so ganz unpersönlich, daß in 1,1 jeder dreisilbige 
Name eingesetzt werden kann. Immerhin würde sich daraus ergeben, daß W 18 vor 
1192 gedichtet und Walter vermutlich vor 1192 gestorben ist. 


W 19. 
Cum declinent homines‘, Atti dell'Acc. dei Arcadi 1930, 4ff. von Strecker 
veróffentlicht und für Walter in Anspruch genommen. 
1: Einleitung. Dann vier lüngere Teile: 
I = 2—13: avaritia. 


11 16,3: ‚triplici‘ nach Ez. 21,14: „et triplicetur gladius mortis“. 

na Zu 20,3 vgl. AI. I 229f. 

13 28,4: Lia und Rachel bedeuten Leidenschaft und Vernunft (Richard v. St. Viktor, 
s. Protest. Real-Enz.* XVI, 751). Diesen Nachweis verdanke ich wieder Kares. Hieraus erklärt 
sich auch W 9, 4, 2, CB. 39,2 und CB. 6,31f. An letzterer Stelle kommt es freilich nur darauf an, 
daB alles umgekehrt ist. CB 39,2, 5 darf nicht geändert werden; ,ancilla' ist Ablativ: „, sie 
gebiert durch die Magd“ nach Gen. 30,3: ‚ut pariat super genua mea et habeam ex illa filios‘. 
Rachels Magd Bala ist die Einbildungskraft (‚imaginatio‘); durch sie gebiert Rachel, die ‚ratio‘, 
eine zwiefache Spekulation. — ‚Raab‘ in v. 6 ist das Meerungeheuer ps. 89,10; vgl. die Über- 
setzung von Kautzsch: ,,Du hast Rahab zermalmt.' Der Dichter muß den hebräischen Text 
gekannt haben, denn die Vulgata hat den Namen nicht. Zu lesen ist ‚Raab an Cilla'. Stärker 
verderbt ist v. 4. ‚sceleris‘ ist der einzige einsilbige Reim in dem langen Gedicht und ganz un- 
verständlich. Der Vers muß wohl ein Objekt zu ,generat' enthalten, auf das sich das folgende 
‚nam‘ bezieht. 

n Vgl. Neophilol. 1929, 136. 

'* Wenn Walter 1,3ff. sich ‚ductum extra gregem cleri vel electum nennt, so beziche ieh 
das darauf, daB er nach dem MiBerfolg seines Gesuches 1181/2 Lale geworden Ist, wie er es 
W 1,27,3 ankündigt. ,ductum' weil er frelwilllg aussohied, ,eiectum' weil des Papstes Ver- 
halten ihn doch dazu zwang. Es klingt, als sei W 17 nicht allzu lange danach entstanden 

" 21,41: ,fletus placent‘ mit 8; nach ,delectaberis Komma. Erst mit 22,1 beginnt der 
Nachsatz zu ,quoniam', Ich zóge auch , idem“ vor. 


Kritiken 869 


2—5: Übergang, dann Vorteile des Reichtums (4 Str.). — 6—9: Unersättlichkeit 
des Reichtums (4 Str.). — 10—11: Verkappte Bitte. 12—13: Warnung vor Geiz (4 Str.). 

II — 14—19: ambitio. 

14—15: Die Ruhmsüchtigen (2 Str.) — 16—17: Nutzlosigkeit des Ruhms 
(2 Str.). — 18—19: Abmahnung von Ruhmsucht“ (2 Str.). 

III = 20—27: Luxuria. 

20—23: gula (4 Str.). — 24—27: libido (4 Str.). 

IV = 28—31”: Die Simonisten an allem schuld"? (4 Str.). — 32: Zusammen- 
fassender Schluß. 

Die Gruppierung der Strophen zu zweien und vieren ganz in Walters Art. Sehr 
straffer Bau, etwa wie W 16. 


Die Zeiten der Gedichte. 


W 12 Zum Bakelfest. Von der Freigebigkeit; Jugendarbeit 
gegen die ,leccatores' 
W 1* Festgedicht. Die Laster der Prälaten; 
gegen die ‚leccatores‘. An Graf Heinrich 
von Troyes Troyes 
W4 Zum Bakelfest. Laster der Prálaten; Ver- Vor Mai 1163 


armung der Gelehrten; Páderastie 
An Graf Heinrich von Troyes 
w9 Gegen die Simonie 
W7 Klage der Kirche über das Schisma 
W 14 Zur fête des fous. Von der goldenen Rose. 
An einen Juristen Peter 


Okt. 1160/ Mai 1163 
Besancon. Lätare 1164 


O 16 Zur Ermordung des Thomas Becket Anfang 1171 

W 16 Vision des Antichrists 1171/2 

W3 Vom Hause der Wissenschaft. Vor dem Bi- Bologna. Lätare 1172 
schof und den Angehörigen der Universität oder 73 

W2 Die Bestechlichkeit der römischen Kurie Bologna? Mai 1171/Okt. 73 

WS Mietlinge 1173/4 

W 15 Kaiser und Papst. Redestreit vor Fried- Pavia. Sommer 1175 


rich I. 


0 30 Zur Krönung Philipps II. August durch Reims. 1. Nov. 1179 
Erzbischof Wilhelm von Reims 

W1 Bittgesuch. Vor Papst Lucius III. im Rom. Okt. 1181/ März 82 
Konsistorium 

W6 Entschluß umzusatteln. An Graf Hein- Troyes. Wohl bald nach 


rich von Troyes 


W5-+ 7a Laster des Klerus, Warnung vor Ehrgeiz 


W17 
W18 


Vor Probst Volkmar im Trierer Kapitel 
Nahes Weltende 
Beichte 


W 1; vor Wb 
Trier. 1182/25.Mai 1183 


Leprosenheim 


zu Amiens | 1183/92 


10 18,11: ‚car apponiz' (vgl. 19,1); nach 2 Komma, nach 3 Fragezeichen. ,sustinere' ist 
finaler Infinitiv zu ,apponit epiritum‘. Zum Ausdruck vgl. Is. 30,28: ,,spiritus eius velut torrens 
inundans". 19,21: , ultimum' statt ‚plurimum‘. 

" 29,21: ,indicatio': „Angabe des Preises“, statt ‚implicatio‘; weil ein fester Preis ge- 
fordert wird, kann man nicht mehr die „Darzubietenden“. ,praebendae' sagen, sondern nur 
noch „die zu Verkaufenden“, ,vendendae'. 


870 Kritiken 


0 24 Sommerfest Vor W14 
(W)11 Diogenes als Vorbild Vor W6, nach W1und W4 
W 10 Ende der Freigebigkeit; bestechliche Rich- 

ter. An? 


W 13 Zum Bakelfest. Gegen die ‚leccatores‘ und 
die lasterhaften Prälaten; Nutzlosigkeit 
der Wissenschaft 

W 19 Gegen die Laster und die Simonisten 


So óffnet uns Streckers Buch unmittelbar neue Ein- und Ausblicke; es ist eine 
prächtige Ausgabe, mit der sich ausgezeichnet arbeiten läßt, und das ist am Ende 
wohl das Beste, was man von einer Ausgabe sagen kann. Möchten doch Strecker 
und die anderen deutschen Herausgeber, die in den letzten Jahren sich um mittel- 
lateinische Dichtung verdient gemacht haben, durch ihr Beispiel Engländer und 
Franzosen veranlassen, die reichen Schätze ihrer Bibliotheken der Forschung ebenso 
zugänglich zu machen. Und möge Strecker selbst uns noch eine „Schule Walters“ 
bescheren und ihr auch einen Abdruck von Walters vitae beifügen, die jetzt in einem 
60 Jahre alten Zeitschriftenband vergraben sind. 

Essen. E. Herkenrath. 


Asinarius und Rapularius herausgegeben von Karl Langosch. Sammlung 
mittellateinischer Texte, hrsg. von Alfons Hilka, Heft 10. Carl Winter's Uni- 
versitätsbuchhandlung. Heidelberg 1929. XII und 108 Seiten. 

Von diesen beiden mittelalterlichen Verserzählungen, nach denen die Brüder 
Grimm zwei reizvolle Märchen schufen, bestand bisher keine kritische Ausgabe, die 
alle erreichbaren Handschriften benutzte. Es ist zu begrüßen, daß gerade Karl 
Langosch diese Lücke ausfüllt: er ist Schüler Streckers und verwendet das, was er 
vom Meister empfangen, mit einer Sicherheit und Bewußtheit, daß man hier nicht 
das Werk eines Anfangenden, sondern eines Fertigen vor sich zu sehen glaubt. 

Leider waren durch den Ort der Veröffentlichung enge Umfangsgrenzen bedingt. 
Sonst hätte der Verfasser verschiedene wichtige Fragen (z. B. Einordnung der Stücke 
in Geschichte ihres yevos, ihre Verwendung, die Geschichte der benutzten Motive, 
Stilistisches) nicht nur in dem inhaltsreichen Vorwort flüchtig gestreift, sondern in 
Einzelkapiteln ausführlich behandelt; hoffentlich hält L. sein Versprechen, einiges 
davon nachzuholen. Die Stelle aus Hugo von Trimberg ,,Qui leguntur sepius in 
scolis et sunt lecti", die der Verfasser als Beweis für die Beliebtheit der beiden Ge- 
dichte anführt, legt die Frage nahe, ob sie von vornherein den Zweck hatten, in der 
Schule gelesen zu werden; L. spricht (S. VI) von „einem hófischen Publikum", das 
er aus verschiedenen Zügen des Asinarius und des Rapularius I (Urfassung) er- 
schließt. Für beide nimmt er als Entstehungsort Süddeutschland an, wohin die 
meisten Handschriften weisen, wenngleich die álteste (des Asinarius) aus Frankreich 
stammt. Von dem Rübenmärchen besteht eine Bearbeitung, die etwa 100 Jahre 
jünger als das Original ist und von diesem so stark abweicht, daB L. sie als Rapu- 
larius II gesondert ediert. Asinarius und Rapularius I mögen gegen 1200 geschrieben 
sein, mit Sicherheit vor 1280: wo Hugo von Trimberg sie zitiert. 

Benutzt wurden für die Textherstellung des Asinarius 9 Handschriften und zwei 
Fragmente. Da die Hss. — die älteste ist 1343/44 geschrieben — vom Original nach 
Entstehungszeit und -ort recht weit entfernt sind, ist der Variantenbestand, von dem 


Kritiken 871 


Langosch einen vernünftigen Auszug bringt, recht umfangreich. Das Kapitel, in dem 
die Versippung der Hss. beleuchtet wird, ist überzeugend, auch für den, der „gemein- 
same Fehler“ nur in ganz wenigen, schlagenden Fällen als Beweis für gemeinsamen 
Ursprung ansieht. Interessant ist, daß die im Stemma verbildlichten Verhältnisse 
sich teils in der Geographie der Handschriften widerspiegeln. — Der jüngere Rapu- 
larius ist in 3 Codices erhalten, der ältere in sechs, deren Verwandtschaftsverhältuig 
mehrdeutig ist. Trotzdem hat sich der Verfasser bei der Textherstellung nicht ängst- 
lich an eine Quelle angeklammert, sondern einen vernünftigen Eklektizismus walten 
lassen. Kenntnisse und Kunst verlangt diese Methode; das Resultat zeigt, daß 
Langosch beides reichlich besitzt. Gedrängte Übersichten über die Sprache und 
Verskunst der drei Texte bringen keine langweiligen Zusammenstellungen, sondern 
nur das Wichtige und Interessante. 

Einzelnes: Unter denen von Langosch als eigenartig angeführten sprachlichen 
Erscheinungen im Asinarius (S. 12) haben einige im Romanischen Parallelen, z. B. 
peregrinus: als Substantiv (vgl. ‚le pelerin‘), ,satis' und ‚nimis‘ in der Bedeutung 
„sehr“ (vgl. ‚assez‘ und ‚trop‘ in gleicher Bedeutung). Vers 44: Der (S. 39) gegen 
das hs. besser bezeugte ,villicus* geltend gemachte Grund, es fehle der Gegensatz 
zu dem folgenden ‚oppida‘, ‚urbes‘, ist hinfällig, wenn man ,villicus — villanus‘ (Vers- 
not) — Bauer (,vilain*) annimmt. — Die qualitative Überlegenheit der Handschriften 
B und K erkennt L. des öfteren durch Bevorzugung ihrer Lesarten an; er hätte darin 
noch weiter gehen können: z. B. Vers 60 ‚tibi‘ statt, tui“; 104 (allerdings nur B) 
‚cogar‘ statt ,cogor'; 106 ,quam' statt ‚ne‘; 115 ‚ingentisque‘ statt ‚contiguique‘; 
305 ‚domicellus‘ statt ‚hie asellus'; 324 ‚De‘ statt „E'; 289 war eine Konjektur 
nötig: vielleicht sind die falschen Lesarten Verbesserungs(Verlängerungs)versuche für 
‚mediante‘ (vgl. Vers 332); oder sollte der Dichter ‚commediante‘ gewagt haben? — 
157 braucht ‚ingrediatur‘ (s. die Anm.) nicht als Futurum aufgefaßt zu werden. 
— 230 (Anm.) Die Verwechslung von ,de-' und ‚dimittere‘ in einzelnen Hss. 
mag kaum auf den Sprachbrauch des Dichters hindeuten, ebenso wie (S. 11) 
die Ablativform ,veteri', besonders da sonstige Stützen (etwa durch den Reim) 
nicht vorliegen. 


Duisburg. Hans Spanke. 


Hornschuch, Friedrich. Aufbau und Geschichte der interterritorialen 
KeBlerkreise in Deutschland — Beiheft 17 zur Vjschr. f. Soz.- u. Wg. 
Stuttgart 1930. XXVI u. 463 S. 

So umfangreich die zunftgeschichtliche Literatur auch ist, ist sie doch bisher 
über die vorzugsweise Behandlung einiger bestimmter Fragen nicht hinausgekommen. 
Unter dem bis jetzt nachwirkenden EinfluB der Anschauungen der jüngeren Zunft- 
juristenschule und eingeengt durch das von Schónberg eingeführte starre Schema: 
Blüte — Verfall ist sie einer Reihe wichtigster Erscheinungen der Zunftentwicklung 
namentlich der späteren Zeit, nicht gerecht geworden; von gelegentlichen Ansätzen 
bei W. Troeltsch, Eulenburg, Bücher u. Below abgesehen, hat sie sie ent- 
weder gar nicht beachtet oder glaubte sie lediglich als Verfallssymptome ansprechen 
zu sollen. So ist auch die Behandlung der interlokalen und interterritorialen Zunft- 
verbände bisher kaum über Andeutungen hinausgekommen. Soweit man überhaupt 
auf sie einging, behandelte man sie entweder nur als Ausnahmen von der Regel, 
auf die näher einzugehen nicht lohnte, oder faBte sie höchstens als in Gegenbewegung 


872 Kritiken 


gegen die Gesellenkorporationen entstandene Arbeitgeberverbände mit einseitig 
auf Gestaltung der Arbeitsbedingungen gerichteten Interessen auf und ordnete sie 
damit indirekt ebenfalls den , Verfalls erscheinungen zu, da man ja der fast zum 
Dogma erstarrten Ansicht war, daß die Gesellenbünde in Auflösung eines zwischen 
dem zünftigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herrschenden arbeitsfriedlichen 
(„patriarchalischen‘‘) Verhältnisses der Blütezeit als quasi-gewerkschaftliche Kampf- 
verbände entstanden seien. Ausführlichere und weniger einseitige Mitteilungen 
über interterritoriale Zunftverbände besitzen wir nur von Bücher, der wohl als 
erster auch ihre volle Bedeutung erkannt hat, ja sogar zu einer gewissen Über- 
schätzung neigte, indem er annahm, daß sie vielleicht Träger einer eigenen gewerbe- 
geschichtlichen Periode zwischen der Zeit der zünftlerischen Stadtwirtschaft und 
der der territorialen Gewerbepolitik wären. Below verdanken wir dann die Fest- 
stellung, daß diese Verbände keineswegs gleichgeartet sind, sondern daß unter 
ihnen nach Entstehungsgrund, Ausdehung und Bedeutung große Mannigfaltigkeit 
herrscht; er hat dann auch den ersten, freilich in keiner Weise erschöpfenden Ver 
such zu ihrer systematischen Einteilung unternommen. Darüber hinaus gibt es 
aber einstweilen nur eine Reihe gelegentlicher fragmentarischer und zudem sehr 
verstreuter Mitteilungen. Sammlung und Bearbeitung des schon vorliegenden und 
Erschließung des noch in den Archiven schlummernden einschlägigen Quellen- 
materials ist deshalb eine der dringendsten Aufgaben der zunftgeschichtlichen For- 
schung. Bei dieser Sachlage wird man es bedauern müssen, daß die vorliegende, 
bereits vor dem Kriege begonnene, dann nach 44, jähriger Unterbrechung 1920 
zum Abschluß gebrachte Arbeit infolge ungünstiger Umstände erst jetzt zum Druck 
kommen konnte. Behandelt sie doch ein Handwerk, das schon sehr früh einen be- 
sonders eigenartigen überlokalen Verbandstypus ausbildete. Sie beruht auf einer 
nahezu restlosen Ausschöpfung des Schrifttums und einer umfassenden Durchsicht 
der in Frage kommenden Archivbestände. In einem ersten Teil stellt sie nach 
einem Überblick über die Literatur, der vor allem dadurch verdienstvoll ist, daB 
er besonders eingehend die Schriften des 17. u. 18. Jahrhunderts heranzieht (neben- 
bei: Die ältere Zunftliteratur ist zwar einseitig juristisch orientiert und nur auf 
gewisse gewerbepolitische Fragen ihrer Zeit eingestellt, wird aber trotzdem von 
der Forschung meist zu Unrecht vernachlässigt; ganz hat sie wohl nur Gierke 
gekannt), Geschichte und Geschicke der KeBlerkreise im allgemeinen dar und bringt 
eine Zusammenstellung der bisherigen Deutungsversuche. Das Hauptgewicht der 
Arbeit liegt auf ihrem 2. Teil, der den sog. Brandenburgischen Keßlerkreis im be- 
sonderen behandelt. Ausführlich werden Wesen, Aufbau, Entwicklung dieses 
Kreises und sein Verhältnis zu den einzelnen Territorien dargestellt. An Hand der 
Geschichte der einzelnen Kreise unterrichtet uns der Verf. darüber, wie die wohl 
im 12. Jahrhundert im Zusammenhang mit der allgemeinen Zunftentwicklung 
entstandenen KeBlergenossenschaíten sich zu absoluten Gebietskartellen entfalten 
und mit der fortschreitenden politischen Zersplitterung Deutschlands, die ihre 
Wander- und Absatzgebiete mehr und mehr zerreiBt, folgerichtig zu interterritorialen 
Verbänden werden, die sich im Gegenzug gegen die Territorialisierung ihrer Bezirke 
im ausgehenden 13. Jahrhundert zur Sicherung ihrer Rechte das Institut der Schutz- 
herrschaft schaffen. Gegen Eingriffe in ihren Gewerbebetrieb üben sie Selbsthilfe, 
finden aber nótigenfalls einen starken Rückhalt in der Untertstützung durch den 
Schutzherrn, den sie mit Erfolg gelegentlich sogar gegen ihren Landesherrn aus- 


Kritiken 873 


spielen, ohne ihm freilich andererseits so viel Macht gewinnen zu lassen, daß die 
Initiative zu seinem Vorgehen in Keßlerangelegenheiten ganz auf ihn überginge; 
diese bleibt vielmehr immer bei den Keßlern selbst. Ähnlich wie bei den Gläsnern 
(vgl. M. Killing, die Glasmacherkunst in Hessen, 1927) ist die Zugehörigkeit ein- 
zelner Gebiete zu den Kreisen eine wechselnde; es kommt zu Abspaltungen 
und Angliederungen, so daß der Ausdehnungsbereich in einzelnen Zeitpunkten ein 
durchaus verschiedener ist. Wertvoll ist der vom Verf. erbrachte Nachweis, daß 
die Gründe dafür aus dem Wesen des Keßlerverbandes selbst entsprangen und nicht 
in außerhalb desselben wirkenden Kräften zu suchen sind. „Genau so, wie die Ge- 
sellschaft ursprünglich nur wegen der kollidierenden Interessensphären der wan- 
dernden Kehler sich zusammengeschlossen hatte, genau so mußten sich Teilgebiete 
wieder loslósen, wenn diese Gründe nicht mehr bestanden." Der Wechsel in der 
Ausdehung ist also keineswegs dem Eingreifen der erstarkenden Territorialherren 
zuzuschreiben. Diese respektieren vielmehr seinen Bestand so sehr, daB Fülle vor- 
kommen, wo territoriale Gerichte gegen ihre eigenen Untertanen die Interessen 
der einem andern Territorium angehórenden und noch dazu unter fremder Schutz- 
herrschaft stehenden Keßler wahrnehmen. Selbst die Schutzherren nehmen keinen 
Einfluß auf die Abgrenzung der KeBlerkreise; politische Untertanen eines Schutz- 
herrn können daher u. U. auch einem fremden Keßlerkreis angehören, weil ihre 
wirtschaftlichen Interessen dort und nicht im eigenen Territorium liegen. Der 
überterritoriale KeBlerkreis besitzt also die Kraft, politisch Divergierendes zu ver- - 
binden und politisch Zusammengehöriges zu trennen, anerkennt nur natürlich- 
wirtschaftliche, nicht aber territorialstaatliche Grenzen und findet trotzdem zur 
Durchsetzung seiner Interessen die Unterstützung der Territorialgewalten — eine 
Erscheinung, die nicht nur zunftgeschichtlich von höchster Bedeutsamkeit ist. 
Als Beilage bringt der Verf. 35 Urkunden und Briefe zum Abdruck und fügt auch 
noch die nach einer mündlichen Überlieferung festgehaltene ,, Handwerks- Gewohn- 
heit der Kupferschmiedegesellen im Römischen Reich‘ bei. Auch sonst bringt er 
gelegentlich Mitteilungen über Brauchttum; es ist das um so dankenswerter, als 
man in der zunftgeschichtlichen Literatur das handwerkliche Brauchtum gern 
übergeht oder es nur als antiquarische Kuriosität abtun zu können glaubt. Alles 
in allem ist die Arbeit ein wichtiger Baustein für die weitere Erforschung der inter- 
lokalen und interterritorialen Handwerkerverbände und verdient weitestgehende 
Beachtung. 
Dresden. Georg Fischer. 


Ludwig Ziehner, Zur Geschichte des kurpfälzischen Wollgewerbes im 17. 
und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gewerbegeschichte des Merkan- 
tilismus. — Beiheft 22 zur Vjschr. f. Soz.- u. Wg. Stuttgart 1931. XV u. 
326 S. 

Über die besondere Stellung, welche die Kurpfalz in der Geschichte des deut- 
schen Merkantilismus einnimmt, waren wir bisher schon im wesentlichen unterrichtet. 
Ein Gebiet rein agrarischen Charakters mit nur gering entwickeltem, kaum über 
lokale Bedeutung hinausreichendem Gewerbe, wird sie durch die glaubensflüchtigen 
Flamen, Wallonen und Franzosen, vor allem aber durch die großzügige, wenn auch 
im einzelnen oft recht widerspruchsvolle Politik der Wirtschaftsfreiheit Karl Lud- 
wigs aus ihrem stationären Zustand herausgerissen und entwickelt sich trotz viel- 


874 Kritiken 


facher Rückschläge durch kriegerische Verwüstungen und politische Hemmnisse 
nicht nur zu einem Land starker agrarischer Überproduktion, sondern entfaltet 
auch ein überaus intensives gewerbliches und kommerzielles Leben, um dann schließ- 
lich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts, z. T. infolge der inneren Unmöglichkeit und 
der Künstlichkeit dieser Entwicklung, z. T. aber auch infolge einer nur von eng- 
herzigem Fiskalismus geleiteten Wirtschaftspolitik fast völlig wieder in den vorigen 
Zustand zurückzusinken. Daß an dieser Entwicklung das Textilgewerbe einen 
hervorragenden Anteil hatte, war nun zwar ebenfalls bekannt, aber es standen 
doch höchstens die Umrißlinien seiner Beteiligung fest. Eine eingehendere Klar- 
legung seiner Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Pfalz unter dem 
Merkantilismus fehlte und war auch kaum mehr zu erwarten, da nach Mitteilungen 
Gotheins infolge der bewegten Schicksale der pfälzischen Archive mit dem Verlust 
eines großen Teils der einschlägigen Akten, namentlich der sich auf das Mann- 
heimer Textilgewerbe beziehenden, gerechnet werden mußte. Um so erfreulicher ist 
es, daß es dem Verfasser der vorliegenden Arbeit nach ausgedehnten archivalischen 
Nachforschungen namentlich in städtischen Archiven, aber auch in den staatlichen 
Archiven zu Karlsruhe und Speyer gelungen ist, diese Lücke doch noch so gut wie 
restlos zu schlieBen. In der Schule C. Brinkmanns tüchtig ausgebildet, hat er 
die dankbare, wenn auch mühevolle Aufgabe mit Umsicht und Gründlichkeit 
gelöst. Nach einem einleitenden Kapitel über die Geschichte der Kurpfalz und die 
Grundlinien ihrer Wirtschaftspolitik im Zeitalter des Merkantilismus schildert 
er im ersten Teil seiner Arbeit Organisation und Entwicklung des Wollgewerbes, 
um dann im zweiten die wirtschaftspolitischen MaBnahmen zu seiner Fórderung, 
namentlich hinsichtlich Rohstoffbeschaffung und Absatzsicherung darzustellen. 
Ansatzpunkte der Entwicklung des Wollgewerbes werden die kalvinistischen Frem- 
denkolonien in Frankenthal, Schónau, Lambrecht und Otterberg. Ihre Angehórigen 
waren mit Ausnahme von Frankenthal, das eine mannigfachere Berufsgliederung 
zeigte, von Anfang an fast ausnahmslos im Tuch- oder Zeugmacherhandwerk tátig. 
Die Vereinheitlichung des Tuchmacherzunftrechts durch Johann Kasimir wird dann 
die Grundlage einer einheitlichen Gewerbepolitik und schafft gleichzeitig die Mög- 
lichkeit einer gleichmäßigen Produktion, die in den beiden ersten Jahrzehnten des 
17. Jahrhunderts zu einer Blütezeit des noch zünftig organisierten Wollgewerbes, 
aber auch schon zu einer ersten Entfaltung verlagskapitalistischer Unternehmungs- 
formen führt. Da der Inlandsmarkt nur beschränkt aufnahmefähig ist, entstehen 
mit der steigenden Produktion Absatzschwierigkeiten, die man durch Übergang 
zur Erzeugung feinerer Qualitäten und durch Aufsuchen des Auslandsmarktes zu 
beheben sucht — eine Entwicklung, welche zusammen mit Schwierigkeiten in der 
Rohstoffbeschaffung die Ausbildung des Verlagskapitalismus beschleunigt und 
verstärkt, ohne daß es freilich zu einem völligen Verdrängen des zünftigen Klein- 
gewerbes gekommen wäre. Während nun die staatliche Wirtschaftspolitik hinsicht- 
lich der Unternehmungsformen schwankend ist und bald unter populationistischen 
oder fiskalischen Gesichtspunkten das zünftlerische Kleingewerbe, bald, angetrieben 
von einem leidenschaftlichen Industriefanatismus, das Großunternehmertum be- 
vorzugt, ist sie, was die Sicherung des fortwährend von fremder Konkurrenz be- 
drohten Absatzes angeht, durchaus stetig: unter gleichzeitigem Übergang von der 
anfänglichen Politik der Gewerbe- und Handelsfreiheit zu der eines zeitweilig sehr 
schroff gehandhabten Protektionismus tritt der Staat selbst in immer stärkerem 


Kritiken 875 


Maße an die Stelle der fehlenden Kunden. Hof und Heer werden die Hauptab- 
nehmer des Wollgewerbes, wobei sich eine gewisse Arbeitsteilung insofern heraus- 
bildet, als die Deckung des luxuriösen Hofbedarfs der für feinere Qualitäten leistungs- 
fähigeren Industrie, die Aufträge des Heeres an grober Massenware aber dem zünf- 
tigen Kleingewerbe übertragen wurden. Diese einseitige Verlagerung des Absatzes 
führte dann notwendigerweise zu einer bedrohlichen Krise, als es infolge politischer 
Ereignisse zur Verlegung der Hofhaltung nach München und zu gleichzeitiger Ver- 
schiebung von Truppenteilen kam. Vergeblich versuchte man die Schwierigkeiten 
durch Schaffung des „ Kommerzialverbandes“ mit Kurbayern abzuwehren; es 
gelang nicht, den Zusammenbruch zu verhüten, den dann die Revolutionskriege 
vollendeten. 

So etwa ordnet sich, wenn wir aus der in nicht immer klarer Linienführung 
gegebenen und mit manchen Wiederholungen und gelegentlichen Häufungen be- 
lasteten Darstellung des Verfassers den Kern herausschälen, das Entwicklungsbild 
des pfälzischen Wollgewerbes zusammen. Darüber hinaus bietet die Arbeit noch 
mannigfache Anregung und Belehrung. Besonders begrüßen wir die Mitteilungen 
über die Organisation der pfälzischen Kommerzialbehörden, mit denen der Abschnitt 
über die Entwicklung der Wollindustrie eingeleitet wird, und die zahlreichen An- 
gaben über die Schicksale einzelner Unternehmer und Unternehmungen. Nicht in 
allen Punkten geglückt ist dagegen die Darstellung des zünftigen Wollgewerbes; 
der Verf. hat sich dabei von einer ungeprüften Wiederholung in der Literatur aller- 
dings sehr verbreiteter Konventionalismen nicht ganz frei zu machen gewußt. So 
können wir uns mit der geringen Einschätzung, die er der Reichsgewerbegesetz- 
gebung des 16. Jahrhunderts zuteil werden läßt, nicht einverstanden erklären; 
er wird weder ihren Motiven noch ihrer Wirkung gerecht. Um die letztere studieren 
zu können, ist freilich die damals gewerblich noch ganz unentwickelte Pfalz kaum 
geeignet. Daß die Reichsgewerbegesetzgebung aber gerade für das Wollgewerbe 
von größter Bedeutung geworden ist, lehren etwa Sachsen, Brandenburg und das 
der Pfalz benachbarte Kurtrier (vgl. z. B. Arlt, Gesch. d. Trierer Wollindustrie, 
S. 47). Vor allem durch ihre technischen Vorschriften über die Bereitung der Tuche 
hat die Reichsgesetzgebung die Qualität der deutschen Produktion erheblich ge- 
hoben und sie dadurch in ihrem Abwehrkampf gegen die fremde, vor allem eng- 
lische Konkurrenz ganz wesentlich gestárkt. Weiter geht es nicht an, die Reichs- 
städte schlechthin als in gewerbepolitischen Fragen rückständig zu betrachten; es 
gilt das hóchstens von einem Teil von ihnen und auch dann nur für einen Abschnitt 
der Periode. In der Zeit von 1654 bis zum Ausgang des Jahrhunderts sind die 
Reichsstädte, die kleinen ebenso wie die großen, sogar die eigentlichen Träger der 
Gewerbereformversuche, denen sich die Territorien nur zógernd und ohne Energie 
anschließen. Ferner genügt das, was bei Gothein und bei Wissel steht, in keiner 
Weise als Grundlage für eine Beurteilung der Reichshandwerksordnung von 1731. 
Der Verf. hätte zur Korrektur mindestens noch die ihm offenbar entgangenen ein- 
schlägigen Arbeiten von Schmoller und Moritz Meyer heranziehen müssen. 
Daneben aber hätte ihn ein Blick in die Reichstagsakten der Archive zu Karlsruhe 
und Speyer über das Unzutreffende der von ihm übernommenen Anschauungen 
belehren kónnen. DaB das Kaiserliche Commissionsdekret von 1726 ihn zu dem 
Glauben veranlaßt, der Kaiser hätte das Reichsgutachten von 1672 „dekretiert‘, 
zeigt eine geringe Vertrautheit mit dem Reichtstagsstil und eine ungenügende Vor- 


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stellung vom damaligen Reichsverfassungsrecht; man wird freilich dem Verf. 
zugute halten müssen, daß auch andere, und zwar sogar angesehene Autoren sich 
ähnlicher Unkenntnis schuldig gemacht haben. Angemerkt mag noch werden, 
daß 1772 nicht eine bloße Wiederholung, sondern eine wesentliche Erweiterung 
der Reichshandwerksordnung erfolgt ist. Im ganzen legen wir aber die Arbeit mit 
Befriedigung aus der Hand; der Verf. hat mit ihr sich und seinem Lehrer gleiche 
Ehre gemacht. 
Dresden. Georg Fischer. 


Valentin, Veit, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49, 
1.Band, bis zum Zusammentritt des Frankfurter Parlaments. 
Berlin, Ullstein, o. J. (1930), XV und 662 SS. 

In dem vorliegenden stattlichen Bande, der auf 568 Seiten Text nur bis Ende 
April 1848 führt, faßt V. langjährige Studien zusammen. Er hat, wie die Anmerkungen 
beweisen, die archivalischen Quellen reichlich ausgeschöpft, auch mit der Literatur 
über das Jahr 1848 und die damit zusammenhängenden Probleme hat er sich gründ- 
licher auseinandergesetzt, als es der mit den Dingen nicht vertraute Leser der mehr 
auf Schilderung als auf kritische Forschung ausgehenden Darstellung anmerken wird. 

Als Ganzes genommen ist das Buch sicherlich eine anerkennenswerte Leistung. 
Gewiß sind nicht alle Abschnitte gleichmäßig gelungen. Der Stil ist gelegentlich 
etwas salopp und entgleist bei der Charakteristik Friedrich Wilhelms III. von 
Preußen (S. 26) bedenklich. Auch die Zusammenstellung von Steins Freiheits- und 
Rechtsinn, Metternichs Begehrlichkeit und Bismarcks preuBischer Annexionslust 
(S. 239) scheint mir weder glücklich noch richtig zu sein. Manchmal geht die Dar- 
stellung allzusehr in die Breite, so in der Schilderung der Schicksale der Lola Montez 
oder in der Ausmalung der Frankfurter Eigenart ; und die freilich ungemein schwierige 
Beschreibung der Kleinstaaterei lóst sich in locker aneinandergereihte Einzelbilder 
auf. Darauf ist vielleicht auch die Fundierung gerade dieser Abschnitte auf die Ge- 
sandtschaftsberichte von Einfluß gewesen. Es liegt in der Natur der Sache, daß der 
Gesandte in seiner Berichterstattung ans Einzelne anknüpft. Aber es ist nicht allein 
die mehr ästhetische Frage der Geschlossenheit der Darstellung, die mich hier eine 
Schwäche des Buches erblicken läßt. Ich vermisse auch eine Erörterung des metho- 
dischen Problems der Verwertung ausgewählter Gesandtschaftsberichte für eine Zu- 
standschilderung. 

Die ersten fünf Abschnitte sind der Darstellung des Zustandes von 1848, der die 
Revolution verständlich macht, gewidmet. V. beginnt mit Österreich (23 Seiten), 
geht dann zu einer sehr viel breiter ausgesponnenen Behandlung Preußens über 
(77 Seiten), als dritter deutscher Staat folgt Bayern, das damit nicht nur gegenüber 
den als „ Kleinstaaterei“ zusammengefaßten übrigen deutschen Staaten allzusehr 
isoliert wird — auch die Bemerkung S. 140 über ,,Bayerns deutsche Kulturmission" 
scheint mir übertneben — sondern auch mit 40 Seiten gegenüber Üsterreich über 
Gebühr bevorzugt ist. Erst nach dem Kapitel über die Kleinstaaterei folgt ein 
Kapitel über ,,Deutschland", das zunächst die geistige Bewegung, dann die wirt- 
schaftliche Entwicklung behandelt, von hier zum Zollverein übergeht, um erst dann 
den deutschen Bund, sein Versagen gegenüber den Aufgaben der Zeit und die mehr 
oder minder offiziellen Reformpläne Leiningens und Radowitz' zu besprechen; den 
Abschluß bilden europäische Fragen wie das Schicksal des Schweizer Sonderbundes, 


Kritiken 877 


der italienischen Einheitsbewegung, der polnischen und schleswig-holsteinischen 
Angelegenheiten. 

Das sechste Kapitel beschreibt „die Märzrevolution“ oder, wie man korrekter 
sagen müßte, dieMärzrevolutionen. Denn gerade die sehr detaillierte Darstellung zeigt, 
wie jedes deutsche Land oder Ländchen seine eigene Revolution gehabt hat, gewiß über- 
all mit einer nationalen Note, aber doch auch zugleich mit stark partikularistischem 
Einschlag. Nicht ganz glücklich scheint mir die mitten in die Erzählung der einzel- 
staatlichen Revolutionen eingeschaltete Erörterung über die Vorgänge am Bundes- 
tag und über die Aussichten Preußens (S. 374ff.), die V. für die ersten Märztage sehr 
hoch einzuschätzen geneigt ist (vgl. auch S. 452 und 462). Erst danach werden die 

Vorgänge in Bayern, in Österreich und in Preußen erzählt. Bei der Darstellung der 
` Revolution in Preußen weicht V. von der Geschichtschreibung des letzten Menschen- 
alters insofern ab, als er den Schwerpunkt auf die Vorgünge selbst und den im Ver- 
gleich zum übrigen Deutschland ungewóhnlich blutigen Verlauf des StraBenkampfes 
legt, die viel erörterte Frage nach der persönlichen Haltung des Königs aber kurz 
abtut mit dem Satze (S. 486): Von irgendeiner Konsequenz in Friedrich Wilhelms 
politischer Haltung während der Märztage kann nimmermehr die Rede sein. 

Unruhig und sprunghaft ist das letzte Kapitel mit der Überschrift: die April- 
revolution; die Schuld liegt freilich nicht allein an V., sondern auch an der Schwierig- 
keit, die mannigfaltigen Ereignisse dieses Übergangsmonats, den Putsch in Baden, 
die Kämpfe in Schleswig-Holstein, die Entwicklung in Preußen und Österreich und 
die Vorbereitungen des deutschen Parlaments in Frankfurt übersichtlich zu behandeln. 
Aber an manchen Stellen, z. B. bei der ausführlichen Wiedergabe der ergebnislosen 
Verhandlungen des 50er Ausschusses in Frankfurt habe ich doch den Eindruck ge- 
wonnen, daß V.s Gestaltungskraft nachgelassen habe. 

Immerhin bedeutet dieser erste Band einen starken Anlauf zu der dringend not- 
wendigen gründlichen Geschichte der deutschen Revolution, und es ist zu wünschen, 
daß der Verf. Kraft und Lust behalte, sein Werk zu Ende zu führen. 

Berlin. Fritz Hartung. 


Zechlin, Egmont, Bismarck und die Grundlegung der deutschen Groß- 
macht. X.u. 630 S. Stuttgart u. Berlin, 1930. J. G. Cottasche Buchhandlung 
Nacht. 

Zechlin hatte ursprünglich eine Geschichte der Gesamtpolitik Bismarcks in den 
sechziger Jahren schreiben wollen, erst während der Arbeit hat er sich auf das An- 
fangsjahr, auf die Zeit von der Übernahme des Ministeriums bis Ende 1863 beschränkt. 
Diese Entstehungsgeschichte des Buches macht sich in seiner Komposition bemerk- 
bar. Denn der erste Teil, der die objektiven und individuellen Voraussetzungen der 
Bismarckschen Politik untersucht, ist bei allen Anregungen, die er dem Leser gibt, 
doch für das eigentliche Thema zu weitgesponnen und fällt dadurch aus dem Rahmen 
des Werkes heraus. Es zeugt von umfassendem Eindringen in die einschlägige 
Literatur; auch die zeitgenössische Publizistik ist verarbeitet. Daß dabei hin und 
wieder auch Wichtiges übersehen wurde — z. B. diein Schweinitz’ Briefwechsel über- 
lieferte Darstellung Jominis über die russisch-französischen Bündnisverhandlungen 
von 1857/58—, kann die Anerkennung des Geleisteten nicht mindern. Neben dem 
gedruckten Material hat Z. in großem Umfang Archivalien aus Berlin und Wien 
herangezogen. Sie bilden die.Grundlage der Untersuchung und gewähren nach ver- 


878 Kritiken 


schiedenen Richtungen neue Aufschlüsse wertvollster Art. Im Hinblick auf die 
bevorstehende Veröffentlichung der Historischen Reichskommission ist von der 
Beigabe einer Quellensammlung Abstand genommen worden. Nur wenige Akten- 
stücke werden im genauen Wortlaut mitgeteilt, wodurch eine kritische Nachprüfung 
der aus diesen Quellen gewonnenen Auffassung erschwert wird. 

Wie schon der Titel andeutet, kommt es Z. vor allem auf die Herausarbeitung 
der großen Linien an. Dahinter tritt die genaue Klärung wesentlicher oder um- 
strittener Einzelfragen stellenweise zurück. In der ausführlich erórterten Vorge- 
schichte von Bismarcks Berufung, zumal der stürmischen Konseilsitzung am Abend 
des 17. September wird auffallenderweise das hierfür sehr wichtige Tagebuch des 
Kronprinzen nicht verwertet. Daß der König „tatsächlich zur Abdankung ent- 
schlossen“ war (S. 298), läßt sich doch nicht sagen. Kurz darauf bemerkt Z. selbst, 
daß Wilhelm „noch keineswegs den Gedanken aufgegeben hatte, durch Veränderung 
im Ministerium seinen Willen durchzusetzen, womit dann die Abdankung hinfällig 
geworden wäre.“ Der leidenschaftliche Kampf Augustas gegen Bismarcks Ernennung 
wird durch neue Funde klargestellt. Der König würde ihn, wie er der Gemahlin am 
23. September schreibt, schon im Winter gewählt haben, „wenn nicht hauptsächlich 
— Deine Opposition mich stutzig gemacht hätte“. Im Zusammenhang hiermit geht 
Z. auch auf die berühmte Unterredung Augustas mit Bismarck am 23. März 1848 
ein und fügt ihre Aufzeichnung darüber, die im Sommer 1862 niedergeschriebenen 
„Motive“ als Faksimile bei. Sehr gut wird Bismarcks Stimmung während der langen 
Wartezeit geschildert. Die psychischen Hemmungen, die Furcht vor dem eigenen 
Wunsch schwanden, als er nach der — wohl doch zu breit behandelten — Biarritzer 
Reise seiner Nerven wieder sicher war und der Ruf des Königs ihn erreichte. Die 
erste Nachricht erhielt er, wie Z. bereits früher dargelegt hat, nicht durch Roon, 
sondern durch ein Telegramm Bernstorffs vom 16. September. 

Als „aktive Politik“ werden die Anfänge des Bismarckschen Ministeriums und 
der Unterschied zu seinen Vorgängern treffend charakterisiert. Von einer festen 
Führung der europäischen Politik durch den preußischen Staatsmann kann 1862/63 
noch nicht gesprochen werden. Es handelt sich vielmehr, wie neuerdings Erich 
Marcks (Hist. Zeitschr. 144) feinsinnig entwickelt hat, um eine angespannte Tätig- 
keit auf allen Gebieten und nach allen Seiten, um ein ,,geschmeidiges, ausweichendes 
und doch stets handelndes Vor- und Rückwürtsspringen". Das gilt namentlich von 
der hier eingehend untersuchten Alvensleben-Konvention. Mit einleuchtenden Grün- 
den verteidigt Z. sie gegen ihre zahlreichen Kritiker als eine Notwendigkeit für 
PreuBen und leitet Bismarcks entscheidendes Motiv aus einer bisher unbekannten 
Randbemerkung ab: „Die Konvention war eine Niederlage für Gortschakoffs feind- 
liche Politik innerhalb des russischen Kabinetts." Ganz áhnlich hat er sich übrigens 
in den Gedanken und Erinnerungen ausgedrückt. Die Initiative zum Abschluß eines 
Vertrages, schreibt Z., wie ich glaube mit Recht, dem Zaren zu. Bismarcks immer 
wiederkehrende Behauptung, daß er Alvensleben keinen Auftrag dazu mitgegeben 
habe, wird, was Z. nicht vermerkt, auch durch eine auf den Prinzen Reuß zurück- 
gehende Tagebuchnotiz des Kronprinzen bestätigt. Der Vermutung, der General 
habe bei seiner Abreise eine zweite schriftliche Instruktion mitbekommen, vermag ich 
nicht zuzustimmen; sie ist auch durch den Bericht Karolyis nicht hinreichend ge- 
stützt. Noch weniger kann ich der Hypothese beipflichten, Bismarck habe vielleicht 
schon bei der Entsendung Alvensleben den Hintergedanken an eine vierte Teilung 


Kritiken 879 


Polens gehabt. Seine Äußerungen über eine solche Eventualität werden doch in ihrer 
faktischen Bedeutung erheblich überschätzt. Gelungen ist hingegen der Nachweis, 
daB Bismarcks Aktivität in der ganzen Angelegenheit nicht so groß war, wie man 
früher angenommen hat, und daß er durch sein Vorgehen seinen Staat der schweren 
Gefahr einer französischen Offensive ausgesetzt hat. Wie er sie durch eine ebenso kluge 
wie geschickte Diplomatie abgewandt hat, und wie ihm dabei die englische Besorgnis 
vor der Rheinpolitik Napoleons III. zustatten gekommen ist, legt Z. im einzelnen dar. 

Eine eindringende, unser Wissen bereichernde Behandlung erfahren dabei die 
russischen Bündnisangebote in Berlin im Sommer 1863. Zweimal, am 1. Juni und 
am 12. Juli hat sie Alexander II. in eigenhündigen Schreiben seinem Oheim unter- 
breitet. Das erste wird in dem schwer lesbaren Faksimile, das zweite nur inhaltlich 
mitgeteilt. Sie entkráften vollends die alte Auffassung, als ob der Zar ein Angriffs- 
bündnis gegen Österreich vorgeschlagen habe. Ausdrücklich spielt er auf die Allianz 
von 1813 an, zu deren Erneuerung er sich beglückwünschen würde. Aber sein erstes 
und eigentliches Ziel war, wie aus beiden Briefen hervorgeht, ein russisch-preuBischer 
Zusammenschluß mit der Verpflichtung zum gegenseitigen aktiven Beistand. Das 
scheint mir von Z. nicht scharf genug betont zu sein. Wie die kaiserlichen Eröffnungen 
sind auch die von Bismarck aufgesetzten Antworten des Kónigs in den Gedanken 
und Erinnerungen nicht vollständig wiedergegeben. Aus den dort zusammengefaßten 
Erwägungen wurde ein Einzelbündnis mit Rußland abgelehnt, solange ein zur Be- 
freiung Polens geführter Krieg Frankreichs preußisches Gebiet nicht berühre. Mit 
einer Entente à trois war Bismarck einverstanden und erklärte sich sogar zu einer 
befristeten Garantie Venetiens bereit, unter der Bedingung, daB der Zar dasselbe 
tue. Dessen Nein, das ihm sicherlich nicht unerwartet kam, und der ósterreichische 
» Überrumpelungsversuch" mit dem Fürstentag entzogen den Verhandlungen über 
einen Bund der Ostmächte zunächst den Boden. Aber auch dann ließ Bismarck den 
Gedanken an eine Verstándigung mit Habsburg nicht fallen, was nicht nur für seine 
Politik von 1863, sondern auch für seine N Stellung zu dem deutschen Dualis- 
mus sehr lehrreich ist. 

Mit alledem ist der reiche Inhalt des Buches bei weitem nicht erschöpft. Neben 
den außenpolitischen Maßnahmen werden auch die innerpreußischen Gegensätze und 
Kämpfe in den Rahmen der Gesamtsituation einbezogen. Für die Zeit von 1862 
bis 1866, die jetzt wieder in den Vordergrund der historischen Forschung rückt, hat 
Z. einen wichtigen Beitrag geliefert, an dem der Fachmann nicht vorübergehen kann, 
und der durch die Lebendigkeit der Darstellung auch einen größeren Leserkreis 
fesseln wird. Ein wesentliches Ergebnis liegt in dem auch hier wieder erbrachten 
Nachweis, daß das Jahr der Reichsgründung keinen Systemwechsel in der Bis- 
marckschen Außenpolitik heraufgeführt hat, sondern daß sie vor wie nach 1870 von 
derselben Grundanschauung bestimmt ist. 

Frankfurt a. M. Walter Platzhoff. 


Michael, Horst, Bismarck, England und Europa (vorwiegend von 1866—1870). 
Eine Studie zur Geschichte Bismarcks und der Reichsgründung. Forsch. z. 
mittelalterl. u. neuer. Gesch. Fünfter Bd. V. München (Verl. d. Münchn. Druck.) 
1930, XVI u. 441 S. 

Die Zeit vom Prager Frieden bis zu den Julitagen des Jahres 1870 bildete bislang 
die relativ dunkelste Periode in Bismarcks Schaffen. Das unserer rückschauenden 


880 Kritiken 


Betrachtung so selbstverstándliche Ziel der Reichsgründung trügt Schuld, daB wir 
im Anblick seines Glanzes uns der Mannigfaltigkeit der Widerstände nicht bewußt 
wurden, die den geraden Weg versperrten und erst in mühseliger Arbeit beseitigt 
werden mußten. Nur allzusehr war die historische Forschung geneigt, die Ausein- 
andersetzung mit Frankreich als das einzige gefährliche Hindernis der Vereinigung 
des kleineren Deutschland zu betrachten; alle Bewegungen der politischen Dynamik 
jener Epoche schienen Probleme des westlichen Europa, für die der Rhein das äußere 
Symbol bildete. Vollends bestátigt durch das Aktenwerk Hermann Onckens, in dem 
die Problematik der preuBischen Politik auf die Verteidigung gegen die offensive, 
kriegslüsterne ,,Rheinpolitik" Napoleons III. verdichtet und vereinfacht erscheint, 
die in dem Begehren nach dem Luxemburger Lándchen ihre geführlichen Tendenzen 
deutlich genug offenbart hatte. 

Schon ein aufmerksames Studium der dort publizierten Dokumente läßt ein 
zweites Zentrum politischer Energien — im Orient — in Erscheinung treten, dessen 
Existenz wohl gefühlt und berührt, aber noch nicht in der ausschlieBlichen BewuBt- 
heit aufgegriffen und untersucht und in seinen Relationen zu Bismarcks Politik der 
Reichsgründung durchforscht worden ist, wie es die Abhandlung Horst Michaels sich 
zum Ziele gesetzt hat. 

Es ist die doppelpolige Belastung des deutschen Lebensraumes, wie sie in ver- 
ünderter Gestalt nach Bismarcks Abgang das Reich politisch eingepreßt hat, die 
bereits das Werden dieses Reiches mit Vernichtung bedrohte: die offensive franzö- 
sische Politik mit dem alten Ziele, die politische Einigung Deutschlands zu ver- 
hindern — nicht der Rhein war ihr Ziel, er war nur ihre Sehnsucht! — auf der anderen 
Seite die Revanchepolitik des Beustschen Österreich, die auf gefährlichen Umwegen 
Preußen beizukommen suchen mußte, da ihr die direkte Frontstellung durch die 
Rücksicht auf das deutsche Element des Kaiserstaates und die Haltung der nach dem 
Balkan strebenden Ungarn verboten war; selbst im Bunde mit Frankreich, wenn das 
Zusammengehen mit ihm nur durch Opferung deutschen Bodens zu erreichen gewesen 
würe; daher auch die friedliche, fast preuBenfreundliche Haltung Beusts in der 
Luxemburger Spannung, die so weit ging, dem werbenden Napoleon von kriegerischen 
Rüstungen abzuraten und sich aktiv an der Beilegung des Konflikts zu beteiligen; 
m. E. auch in der Absicht, zu dieser Stunde einen preuBisch-franzósischen Krieg zu 
verhindern, an dem das geschlagene, innenpolitisch zerrüttete Österreich aus den 
skizzierten Gründen sich nicht hätte beteiligen können, und durch den es voraus- 
sichtlich auf lange Zeit hinaus die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit Preußen 
verloren hütte, und im besonderen, weil in dieser Frage (Luxemburg) das deutsche 
Element in seiner Gesamtheit gegen ihn gestanden wäre. 

Auf dem Umweg über die Problematik des nahen Orients sollte ein kriegerischer 
Konflikt mit Rußland herbeigeführt und Preußen gezwungen werden, als Helfer des 
Zaren irgendwie den Angreifer zu spielen, während Napoleon ihm am Ende in den 
Rücken fallen sollte. Mit Hilfe des nationalen Gedankens unter den Balkanvólkern, 
die ihre politischen Ideale in dem Einigungskampf Preußen-Deutschlands der voll- 
endeten Realisierung entgegenreifen sahen — wir können in nächster Zeit eine ein- 
gehende Untersuchung darüber erwarten — mit diesem selben Gedanken sollte die 
nationale Einigung Deutschlands verhindert, dem österreichischen Kaiserstaate eine 
neue Machtstellung errungen werden. Es lag viel kluge Berechnung in diesen Plänen: 
Beust hätte es in einem solchen Falle leicht gehabt, das deutsche Element in Öster- 


Kritiken 881 


reich von neuem gegen Preußen zu führen und vor allem — das übersieht Michael — 
wäre er der Billigung und der Unterstützung seiner Politik durch die Ungarn sicher 
gewesen, die für eine solche Entwicklung auch das Bündnis der Monarchie mit Frank- 
reich als politische Notwendigkeit anerkannten. 

Auf dieses Bündnis kam es Beust an. Napoleon, in Gefahr, durch Bismarcks 
Politik die Präponderanz Frankreichs und mit ihr den Thron zu verlieren, von inner- 
politischen und klerikalen Sorgen gepeinigt, kam ihm auf halbem Wege entgegen. Es 
ist nicht ausgemacht, wer von beiden, ob der französische Cäsar oder der ebenso 
gewandte österreichische Staatslenker der aktivere Teil in ihren Bündnisbemühungen 
gewesen ist. 

Ihr Ziel war das gleiche: Verhinderung der deutschen Einheit, Beschränkung 
Preußens auf den deutschen Norden, Ausdehnung der französischen und öster- 
reichischen Machtsphäre. 

Die Gefahr für Preußen war evident: In einen Krieg zur Unterstützung Ruß- 
lands hátte PreuBen ohne überzeugende Devise eintreten müssen und Deutschlands 
volle nationale Kraft nicht zur Verfügung gehabt. Die Neutralitát hátte PreuBen unter 
Umständen die vollständige Isolierung gebracht. 

Diese — nach Michaels Urteil — ungeheure Gefahr hat Bismarck gebannt, 
indem er unter genialer Benutzung der gegebenen Beziehungen der Mächte unter- 
einander den Abschluß des französisch-österreichischen Bündnisses auf der orien- 
talischen Basis verhindert hat: „Das ist die eigentliche große außenpolitische Tat 
Bismarcks zwischen Nikolsburg und Ems.“ 

Diese in großen Zügen skizzierte Entwicklung hat Michael im allgemeinen in 
überzeugender Weise zur Darstellung gebracht. Es ist ein Verdienst dieses Buches, 
die Bismarckische Politik jener Epoche als das Zentrum des politischen Geschehens 
in Europa und das Werk der Reichsgründung im besonderen in seiner Eigenschaft 
als gesamteuropäisches Problem begriffen und entwickelt zu haben. Der Verfasser 
vernachlässigt aber dabei vollständig die Rolle, die den süddeutschen Staaten in 
jenem Zeitraum eignete; er übersieht, daß das Augenmerk der gegnerischen Diplo- 
matie ebensosehr auf das Verhalten der Höfe in München, Stuttgart, Darmstadt 
und Karlsruhe gerichtet war als nach Berlin, und daß Bismarck in peinlicher 
Sorgfalt jeden Schritt, den er tat, auch an der Wirkung auf Süddeutschland abmaß. 
Die süddeutschen Staaten sind im Ablauf der Entwicklung keineswegs nur Objekte 
gewesen. 

Die geniale diplomatische Kunst Bismarcks, sein instinktives Erfassen des 
psychologischen Augenblicks, die erstaunliche Klarheit, mit der er die Situation zu 
jeder Stunde übersah und beurteilte, und die grandiose Elastizität im Gebrauch der 
Mittel zur Erreichung seiner Absichten bestätigen sich in jeder der von Michael unter- 
suchten Fragen von neuem. 

Das Ziel war klar: Isolierung Napoleons, Verhinderung des französisch-öster- 
reichischen Bündnisses und das Bemühen, die Gegnerschaft Frankreichs dauernd 
und ausschließlich auf das Feld der deutschen Einigung zu zwingen; denn hier 
war Beust machtlos und dazu durch Rußland in seiner Aktionsfreiheit gelähmt; die 
gesamte nationale Kraft Deutschlands stand dann zwiespaltlos auf Bismarcks Seite. 

Und die Mittel? Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Besprechung der 
Fülle von Möglichkeiten und Erwägungen, den Feinheiten taktischer Kunst im ein- 
zelnen zu folgen. Es soll genügen, auf zwei Punkte die Aufmerksamkeit des Be- 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 56 


882 Kritiken 


trachters zu lenken: die Problematik des Verhältnisses zu England und Bismarcks 
Bemühungen um die Beilegung der vom Balkan her drohenden Gefahren. In welcher 
Form der Kanzler Englands Macht seinen Zwecken dienstbar zu machen suchte, 
sei hier nicht erörtert. M. meint, Bismarck habe damals kaum feste Vereinbarungen 
im Sinne gehabt; das Inselreich in einem deutsch-französischen Kriege zur Neu- 
tralität zu bestimmen und darin festzuhalten, sei ihm als genügendes Resultat er- 
schienen. Er habe vielmehr „Einsicht und Glauben an die Gemeinschaft der deut- 
schen und der englischen Interessen erwecken und fördern, die Furcht vor der 
Alleinherrschaft Frankreichs befestigen“ wollen. Das ist richtig und gewiß das 
Minimalprogramm seines Verhältnisses zu England gewesen. 

Mit der orientalischen Frage ist die gesamte Entwicklung des deutschen Reichs- 
gedankens verknüpft gewesen. Ursprünglich an der Peripherie des preußischen 
Staatsinteresses gelegen, hat sie sich in wachsendem Maße zum gefährlichen Unruhe- 
herd gesteigert: doppelt gefährlich für Bismarck durch die Versuchung, die für 
Rußland in einem Balkankonflikte lag, auch seinerseits aus seiner nur notdürftig 
nach außen gewahrten Zurückhaltung herauszutreten und die Fesseln des Pariser 
Vertrags zu sprengen — und durch die Gelegenheit, die sie Beust für die Reali- 
sierung seiner Pläne bot. 

Charakteristisch für die Rückwirkung der Orientfragen auf die westliche Krisen- 
zone als in besonderem Maße für Bismarcks politische Konzeptionen ist der in dem 
Erlaß vom 30. Januar 1867 an Goltz in Paris! entwickelte Plan, die orientalische 
Frage als Objekt eines umfassenden europäischen Kompensationsprojektes zu be- 
nutzen, um auch Frankreich zu einem zufriedenen und friedliebenden Gliede der 
europäischen Staatengemeinschaft zu machen und das Orientproblem seines gefähr- 
lichen Charakters zu entkleiden. Eine jener umfassenden, virtuos aufgegriffenen 
Konzeptionen aus Bismarcks politischer Gedankenführung, die eine Weite des Blicks 
und eine Kraft des Entschlusses bei den anderen Mächten vorausgesetzt hätte, 
wie sie nicht zu erwarten war; die zugleich aber Bismarcks frühzeitiges Bemühen 
nach größtmöglicher Ausschaltung des balkanischen Krisenherdes erkennen läßt, 
das späterhin über das Programm des Kissinger Diktats von 1877 immer mehr 
sich auf den Versuch konzentrierte, durch ein weitverzweigtes Vertragssystem 
Rußland und Österreich von einem kriegerischen Austrag ihrer Rivalitäten ab- 
zuhalten und ihnen, freilich vergebens, fest umgrenzte Interessensphären zu- 
zuweisen. 

Mit dem Abschluß der Kretakonferenz (1869) war die Gefahr, die vom Orient 
her drohte, abgewehrt; alle Kräfte des diplomatischen Spieles sammelten sich 
wieder um den Pol der Auseinandersetzung mit dem isolierten Frankreich, die man 
preußischerseits für unvermeidlich hielt, wenn man sie auch nicht eröffnen wollte. 

Auf einige Ungenauigkeiten des Michaelschen Buches sei noch verwiesen: 
Die von dem Verf. als „Katholische Liga" — dieser Begriff findet sich vereinzelt 
in den Akten — bezeichnete Kategorie von Mächten im engeren Rahmen. der rö- 
mischen Frage hat niemals in solidarischer Einigkeit existiert; ihr Gewicht innerhalb 
der europäischen Gesamtlage wird von Michael überschätzt. Auch hält der Verf. 
merkwürdigerweise nicht immer genügend auseinander, daß der ,,Dreibund" zwischen 
Frankreich, Österreich und Italien eine Bismarcks Bewegungsfreiheit in hohem 
Grade belastende, gefahrenschwangere, der Realisierung nahe Möglichkeit gegne- 


! Bismarcks Gesammelte Werke, VI, Nr. 672. 


Kritiken 883 


rischer Kombinationen, zu keiner Stunde aber — trotz der Monarchenbriefe — 
Tatsache gewesen ist. Der Mißklänge unter den genannten Mächten gab es zu 
viele. Die Sehnsucht nach dem Rhein war für Napoleon und sein Volk immer die 
gegebene, dankbarste und überzeugendste Devise; einen Krieg, der um orien- 
talischer Fragen willen entbrannt, hätte auch das französische Volk nur schwer 
verstanden. Zwischen Florenz und Paris stand die ungelöste, schwelende römische 
Frage, zwischen Florenz und Wien der Kampf um Südtirol und Triest. 

Und war es so sicher, daß Rußland zur Zeit des griechisch-türkischen Konflikts 
dem Grafen Beust ohne weiteres den Gefallen getan hätte, sich zum Kriege reizen 
zu lassen? Konnte es auf preußische Hilfe so fest vertrauen, daß es der Gefahr, 
zum zweiten Male der Krimkriegsallianz gegenüberzustehen, in Ruhe entgegen- 
sehen, ja unter Umständen sie zu provozieren sich getrauen durfte? M. betont 
selbst in anderem Zusammenhang die militärische Schwäche des russischen Reiches. 
Andererseits hemmte die Erklärung Napoleons, nur im Falle der Teilnahme Preußens 
zu den Waffen greifen zu wollen, und seine Forderung, daß Österreich zuerst 
und zunächst allein vorgehen sollte, den Flug der österreichischen Politik in 
stärkstem Maße. 

Ich habe den Eindruck, daß M.'s aufschlußreiches Buch — trotz der Verwahrung 
des Verf. in der Einleitung — zu stark unter der Bindung an die „These“ leidet 
und in dem verständlichen Bemühen, sie zur eindrucksvollenAnschauung zu bringen, 
zu sehr „nach einem Leisten gearbeitet‘ ist. Das ändert aber nichts an der Fest- 
stellung, in dieser Untersuchung ein freudiges Bekenntnis zu Bismarcks staats- 
männischer Größe und Leistung zu finden — doppelt erfreulich angesichts der 
nórgelnden Kritik, die Ursachen für Fehler und Katastrophen der Epigonen in 
seinem unbestreitbar genialen Werke suchen zu sollen meint. 

Berlin. Herbert Michaelis. 


Nachrichten und Notizen. 


Jacoby, Felix, Die Fragmente der griechischen Historiker (F Gr Hist). I. Teil, 
Genealogie und Mythographie. X und 536 Seiten, 1923; II. Teil, Zeitgeschichte: 
A. Universalgeschichte und Hellenika. X und 509 Seiten, 1926; B. Spezial- 
geschichten, Autobiographien (und Memoiren), Zeittafeln. 1. Lieferung Theo- 
pompos und die Alexanderhistoriker. 320 Seiten, 1927; BD 2. Lieferung Kom- 
mentar zu Nr. 106—153. 202 Seiten, 1927; B 3. Lieferung Historiker des Helle- 
nismus und der Kaiserzeit. Chronographien. 430 Seiten, 1929. BD 4. Liefe- 
rung Kommentar zur N. 154—261. 344 Seiten, 1930; C. Kommentar zu Nr. 64 
bis 105. 340 Seiten, 1926; gr. 8°, Berlin, Weidmannsche Buchhandlung. 


Ein großer Teil der historischen Literatur der Griechen ist nur in Fragmenten 
erhalten. Daher ist eine allen Ansprüchen der Wissenschaft entsprechende Ausgabe 
dieser Reste für den Althistoriker wie für den Altertumsforscher überhaupt eine 
Lebensfrage. Da war es bis vor kurzem ein unhaltbarer Zustand, daB man sich immer 
noch mit den 1841—51 erschienenen Müllerschen Fragmenta historicorum Graecorum 
behelfen mußte, eines für seine Zeit außerordentlichen, gegenwärtig aber schon längst 
veralteten Werkes. Um so mehr wurde es begrüßt, als Jacoby 1909 (vgl. Klio IX 
S. 80ff.) mit dem Plane hervortrat, die Fragmente neu herauszugeben. Man kannte 

56 * 


884 Nachrichten und Notizen 


diesen Forscher als einen der besten Kenner der griechischen Historiographie, doch 
schienen Zweifel nicht ungerechtfertigt, ob es in den Kräften eines einzelnen liege, 
eine so gewaltige Arbeitsleistung zu vollbringen. Diese Bedenken sind jetzt zerstreut, 
in den letzten Jahren erschien ein Band nach dem anderen, ja, die meisten der wich- 
tigeren Autoren liegen bereits in der Neuausgabe vor. 

Die neue Sammlung ist reich an inhaltlichen Vorzügen, jedoch auch mit for- 
malen Mängeln behaftet. Die Sammlung der Testimonia und Fragmenta ist, soviel 
ich sehe, vollständig (einiges wenige, was man vermißte, so das Simonidesfragment 
bei Plutarch, Lykurg 1,8, findet sich in den Nachtrügen). Hervorragendes ist in 
textkritischer Hinsicht geleistet, so besonders an dem ja so sehr im argen liegenden 
Strabontexte. Die Kommentare sind äußerst sorgfältig gearbeitet und für alle Teile 
der Sammlung gleichermaßen vortrefflich und aufschlußreich. Für den praktischen 
Gebrauch ist warm zu begrüßen, daB die antiken Zeitangaben gleichzeitig auch in 
Umrechnung notiert werden und daB die Zitate allenthalben mit den entsprechenden 
Verweisen versehen sind. Hóchst unglücklich ist dagegen die Anordnung der Autoren. 
Diese sind nach ihrem Hauptarbeitsgebiete in 6 Gruppen geteilt. Jacoby bezeichnet 
diese Anordnung als die wissenschaftlich allein mögliche, ist damit aber nicht völlig 
im Rechte, denn eine solche Zerteilung entspricht nicht der Auffassung der Antike, 
weiter war das Arbeitsgebiet vieler Autoren so gleichmäßig auf mehrere nunmehr 
auseinandergerissene Stoffgebiete verteilt, daß bei Einreihung dieser Schriftsteller 
in eine bestimmte Gruppe Willkür zum einzigen Auswege wird. Vom wissenschaft- 
lichen Standpunkte einwandfrei wäre allein die chronologische Anordnung gewesen, 
doch ist diese in Anbetracht unserer z. T. unzureichenden literarhistorischen Kennt- 
nisse undurchführbar. So bliebe zu Recht nur der Verzicht auf Wissenschaftlichkeit, 
d. h. bier die Wahl der alphabetischen Anordnung. Die verfehlte Anordnung des 
Werkes wird noch durch eine Reihe von Regiefehlern verschärft, welche man gerade 
bei einem Nachschlagewerk störend empfindet und die daher notiert werden müssen. 
Innerhalb der einzelnen Gruppen ordnet Jacoby die Autoren chronologisch, doch 
verfährt er dabei nach zwei verschiedenen Methoden und reiht in den einen Fällen 
die Schriftsteller nach ihrer Lebenszeit, in den anderen nach der zeitlichen Aufein- 
anderfolge der von ihnen behandelten Zeiträume. Der Titel von II B lautet: 
Theopompos und die Alexanderhistoriker. Dessenungeachtet finden wir darin am 
Anfang auch Autoren aus der Zeit vor Alexander, diese aber wieder in nicht ganz 
verstehbarer Auswahl, so Myron (aber nicht Rhianos!!), Stesimbrotos (aber nicht 
Ion). Die einzelnen Bände des II. Teiles werden mit Buchstaben bezeichnet; dabei 
tragen zwei Kommentarbände die Bezeichnung BD, was offenbar nur einem Druck- 
fehler ihre Existenz verdankt. Man sieht, die Benutzung des neuen Werkes wird 
einem — soweit das Auffinden der Autoren in Frage kommt — nicht eben leichtge- 
macht. Der Althistoriker, welcher täglich mit ihm arbeiten muß, wird sich ja schließ- 
lich zurecht finden. Altertumsforscher anderer Teildisziplinen, welche in der Samm- 
lung nur hin und wieder nachschlagen, sind aber darum nicht zu beneiden. — Ab- 
gesehen von den erwähnten Mängeln ist die neue Sammlung ein Denkmal bewunderns- 
werter Arbeitskraft wie umfaßendsten Wissens und Könnens, ein Werk, für das wir 
dem Verfasser nicht genug danken können. Möge es in gleichermaßen rascher Abfolge 
wie bisher fortschreiten und möge es dem hochverdienten Verfasser gegönnt sein, 
es zu einem glücklichen Ende zu bringen! 

Jena. F. Schachermeyr. 


Nachrichten und Notizen 885 


Zum Scarapsus Pirmins. Ein Nachtrag. 

Bei meiner Anzeige des Jeckerschen Buches über „Die Heimat des hl. Pirmin“ 
(HV. 26, S. 640ff.) ist mir entgangen, daß P. Lehmann inzwischen unsere Kenntnis 
der hs. Überlieferung des Scarapsus wesentlich erweitert hat: Dicta Pirminii, 
Studien und Mitteilungen O. S. B. 1929, S. 45—51. Ich verdanke den Hinweis darauf 
einer persónlichen Mitteilung P. Lehmanns und móchte nicht verfehlen, meine 

früheren Ausführungen nach dieser Richtung zu ergänzen. 
“Hatte schon Dom André Wilmart durch Namhaftmachen der beiden Text 
zeugen aus der Pariser Nationalbibliothek (die codd. A und C bei Jecker) die Bahn 
gewiesen, die kritische Herausgabe der Dicta von der seit Mabillon üblichen Be- 
schränkung auf den Einsidlensis 199 zu befreien, so fügt P. Lehmann dieser Ver- 
breiterung der textlichen Grundlagen noch zwei weitere Mss. hinzu, die sowohl 
H. Schenkl in seiner Bibliotheka patrum Latinorum Britannica (unter den Nrn. 630 
und 1182) als auch F. Madan und H. H. E. Craster in ihrem Summary catalogue 
of the western mss. in the Bodleian library at Oxford (II, 1, S. 173 fl.) registriert 
und beschrieben haben, doch ohne deren Bedeutung für die Pirmin-Überlieferung 
bereits zu erkennen. Bei Schenkls Nr. 1182 handelt es sich um ein Homiliar s. IX, 
das die Dicta als ,,homelia s. Augustini“ enthält; Nr. 630 bei Schenkl spricht nach 
der Angabe von Madan-Craster ausdrücklich von einem „sermon by st. Pirminius". 
Danach scheint es durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß auch noch ander- 
weit Pirmins Traktat anonym oder pseudonym (unter dem Namen Augustins oder 
Gregors) in den Hss. schlummert, und es wäre die wichtigste Aufgabe eines künftigen 
Herausgebers, nach solchen versprengten Überlieferungsstücken systematisch zu 
suchen und dann, wie P. Lehmann sagt (S. 49), vorerst zu prüfen, inwieweit Jeckers 
Verfahren richtig war, im wesentlichen den Wortlaut und die Schreibweise des Ein- 
sidlensis beizubehalten und nur gelegentlich und mit einer gewissen Willkür den 
Text durch A, C oder die literarischen Quellen zu verbessern. Ebenso bedarf nach 
Lehmanns wegweisenden Darlegungen das Verhältnis Pirmins zu den Predigten 
des Eligius von Noyon (} 660), das Jecker nur gestreift hat, noch einer näheren 
Untersuchung. 
Leipzig. W. Stach. 


Schiffers, Heinrich Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt. Mit 35 Ab- 
bildungen. Köln, Gildenverlag, 1930. 264 S. 8%. 6.— AA. 


Seit rund 1349 erfolgt von sieben zu sieben Jahren in Aachen von der Höhe des 
Münsters herab die Vorzeigung der berühmten Reliquien aus dem Besitz des Dom- 
stifts, der sog. Großen Heiligtümer (Marienkleid, Windeln und Lendentuch des 
Herrn, Enthauptungstuch Johannes’ d. T.). Zu dieser Reliquienzeigung strömten 
die Wallfahrer von weither — selbst aus Ungarn, Böhmen, Schweden — nach Aachen 
in ungezählten Scharen (1925 etwa eine Million Pilger). Diese Heiligtumsfahrt be- 
dingte als regelmäßig wiederkehrendes Ereignis soviel Einrichtungen und Vor- 
kehrungen und Maßnahmen auf fast allen Gebieten des Lebens, sei es nun der Wirt- 
schaft wie Wege und Verkehrsmittel für die Pilger, deren Unterkunft, Verpflegung 
u. a., sei es der Kunst wie Münsterbau, Kunstgewerbe (Pilgerzeichen, Wallfahrtsan- 
denken, Devotionalien), Dichtung (Heiligtumsspiele und Heiligtumsdramen), Buch- 
druck u. a., sei es des Rechtslebens, der Karitas usw., und allen diesen Dingen ist der 
Verfasser mit einem bewundernswerten Fleiße nachgegangen und hat aus unge- 


886 Nachrichten und Notizen 


druckten und gedruckten Quellen und aus Museumsbeständen ein außerordentlich 
reiches Material zusammengebracht und in eine Darstellung geformt, daß in der Tat 
eine Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt entstanden ist. Nicht ohne 
große Belehrung wird sie vor allem der mittelalterliche Historiker lesen. Für eine 
künftige Auflage des Buches sei bemerkt, daß es S. 193 Z. 18 besser heißt Schrot- 
blätter (statt Schrotbilder); auch ist ein Hinweis wünschenswert auf eine sehr gute 
Wiedergabe des in Abb. 28 gebrachten Schrotblattes in W. L. Schreiber, Formschnitte 
und Einblattdrucke in der Kgl. Bibliothek zu Berlin. 1913, Nr. 25 und auf den dazu- 
gehörigen Text. Zu S. 43 kann ich ergänzen, daß die Wolfenbüttler Bibliothek ein 
Aachener Heiligtumsbüchlein in französischer Sprache bereits vom Jahre 1699 besitzt: 
Próne des S. S. reliques que l'on montre en la ville imperiale et royale d'Aix la 
Chapelle. A Aix la Chapelle. Arnold Metternich 1699. 


Wolfenbüttel. H. Herbst. 


J. Calmette et G.Périnelle, Louis XI et l'Angleterre (1461—1483). Paris, 
Éditions Auguste Picard 1930. XXIV, 424 S. Mémoires et Documents p. p. 
la Société de l'École des Chartes XI. | 


Wer weltgeschichtlichen Zusammenhängen nachspürt, hat längst bemerkt, wie 
undeutlich uns heute noch der politische Aufbau und der Machtwandel des 15. Jahr- 
hunderts sind. Daß es keinesfalls vom Standpunkt der deutschen, durch Ohnmacht 
gekennzeichneten Geschichte verstanden werden kann, wird allgemein zugestanden 
werden. Wo findet man die entscheidenden Wendepunkte ? Ein solcher ist zweifellos 
der romantische Einbruch Karls VIII. in Italien 1494. Aber wie war Frankreich nach 
den furchtbaren Leiden des hundertjährigen Krieges dazu imstande? Eine der Ant- 
worten auf diese wichtige Frage gibt das vorliegende, schr sorgfältige Buch. Der 
eigentliche, durch einschlägige Arbeiten wohlbekannte Verfasser ist Calmette, der 
Vorarbeiten P£rinelles benutzt hat. Es ist ganz richtig, wenn er sagt, daß die fran- 
zösisch-englischen Beziehungen zum Kernstück der abendländischen Geschichte ge- 
worden waren, wobei er hervorhebt, daß sie durch Rücksichten auf den lebhaften 
Handel der beiden Völker stark beeinflußt wurden. Das Ergebnis lautet, daß die 
Politik des so unköniglich gesinnten Königs nicht durch Grundsätze, sondern durch 
die wechselnden Umstände bedingt wurde. Bei seinem Regierungsantritt mußte 
Frankreich eine Fortsetzung des hundertjährigen Krieges fürchten, es wurde wieder 
durch ein englisch-burgundisches Bündnis und auch durch Jakob II. von Aragon 
bedroht. Die hervorragende Leistung Ludwigs liegt in der geradezu unheimlichen 
Geschicklichkeit, mit der er immer wieder aus den Netzen entschlüpfte, in denen ihn 
seine Feinde schon verstrickt wähnten. Alle Mittel waren ihm dazu willkommen, 
aber er war auch einem Eduard IV. oder Karl dem Kühnen als Staatsmann weit 
überlegen. Sein eigentliches Ziel, einen sicheren Frieden mit Calais, hat er allerdings 
nicht erreicht, aber sein Land vor schweren Gefahren bewahrt und damit seinen 
Nachfolgern freie Bahn gemacht. Aus dem in einem Anhang untersuchten Prozeß 
des französischen Gesandten Karl von Martigny, Bischofs von Elne, erkennen wir 
u. a. seine diplomatische Meisterschaft und seine Kunst, Komödie zu spielen, um den 
Gegner zu täuschen. Die ausführliche Darstellung wird durch zahlreiche Belege aus 
englischen, spanischen, französischen und italienischen Archiven gestützt. Unter den 
83 abgedruckten Aktenstücken sind auch einige Briefe Maximilians. Inhaltsver- 


Nachrichten und Notizen 887 


zeichnis und Namensverzeichnis fehlen nicht und steigern den Wert der streng 
wissenschaftlichen Veröffentlichung. 
Jena. A. Cartellieri. 


Rorig, Fritz, „Das Einkaufsbüchlein der Nürnberg-Lübecker Mulich's auf der 
Frankfurter Fastenmesse des Jahres 1495." Breslau (Ferdinand Hirt) 1931 
(Veróffentlichungen der Schleswig- Holsteinischen Universitätsgesellschaft 
Nr. 36). 

In meinem Werk über reichsstädtische Außenpolitik (,, Nürnberg, Kaiser und 
Reich“, München, 1930) hatte ich geschrieben (S. 11): „Was im besonderen Nürn- 
berg angeht, so weisen zwar die Briefbücher Korrespondenzen zwischen Lübeck und 
anderen nordischen Hansestädten vereinzelt auf, auch hat man in späteren Jahr- 
hunderten, als die Hanse lüngst von ihrer Hóhe gestürzt war, hie und da den Ein- 
druck, als bestände doch eine Art von Interessengemeinschaftsinstinkt. In der Nürn- 
berger Außenpolitik aber hat die Hanse nie eine maBgebende Rolle gespielt‘. Ich 
habe ferner gerade für das Ende des 15. Jahrhunderts hingewiesen auf Nürnbergs 
„überragende Stellung als Vermittlerin der Erzeugnisse des fernen Südens und Süd- 
ostens zur Frankfurter Messe“ und habe für das Jahr 1495 die Leistungsfähigkeit 
Nürnbergs nachgewiesen, der damals, wie ich feststellte, nur Lübeck gleichkam 
(S. 73). Die vorliegende Schrift Fritz Rórigs gibt an Hand eines charakteristischen 
Einzelfalls ein treffendes Bild davon, wie diese Beziehungen geknüpft wurden und 
wie sie sich im einzelnen ausgewirkt haben. Rörigs umfangreiche Studien in den 
Archiven von Lübeck, Nürnberg und Augsburg haben das Material geliefert. Um es 
vorwegzunehmen: nicht auf politischer, sondern auf familiärer Zusammenarbeit 
beruht der Nürnberg-Lübecker Handel der Familie Mulich. Man sieht, wie dem 
ersten Pionier die übrigen Familienmitglieder folgen. Der Zweck des Einkaufsbüch- 
leins ist zweifellos die Schaffung einer „Unterlage für die rechnerische Auseinander- 
setzung“ zwischen Paul Mulich, von dem die Aufzeichnungen stammen, und seinem 
Bruder und „ Kommittenten“ — das Rechtsverhältnis kann wohl nicht anders ge- 
deutet werden — Matthias. Die genaue Spezialisierung der Aufzeichnungen über die 
Einkäufe, die Paul Mulich für seinen Bruder Matthias in Frankfurt erledigt, ist von 
besonderem, wirtschaftsgeschichtlichem Wert. Man sieht daraus, was und in wel- 
chen Mengen damals gekauft wurde. Süd- und norddeutscher Handel reichen sich 
die Hand. Mit Recht hebt der Verfasser „die prinzipielle Bedeutung des Büchleins 
als Zeugnis für die enge Verbundenheit oberdeutsch-niederdeutscher Handels- 
beziehungen“ hervor. Man kann aber nicht genug betonen, daß es sich bei den hier 
aufgedeckten außergewöhnlich intensiven Handelsbeziehungen um einen zeitlich 
und persönlich bedingten Vorgang handelt, daß sich ferner die beiden frag- 
lichen Städte als solche, wenigstens in dieser spätmittelalterlichen Epoche, 
zwar nicht feindlich, aber doch neutral, passiv gegenseitig verhielten. Man 
darf die unmittelbaren Beziehungen, soweit solche zwischen Nürnberg und 
Lübeck bestanden, nicht überschätzen. Im allgemeinen werden in Frankfurt 
die Geschäfte zwischen dem Norden und Süden abgeschlossen. Nicht un- 
mittelbare, sondern mittelbare Handelsverbindungen zwischen Süd- und 
Norddeutschland sind die Regel. Unmittelbare Beziehungen, wie sie die reichen und 
geschäftsgewandten Mulichs zwischen Nürnberg und Lübeck sich schufen, sind 
Ausnahmen. Richtig aber ist jedenfalls, daß, wie Rörig sagt, im 15. Jahrhundert 


888 Nachrichten und Notizen 


,der aktiv vordringende Teil auf der Nürnberg-Frankfurter-Lübecker Route... 
zweifellos der oberdeutsche, insbesondere aber der Nürnberger Kaufmann“ war. 
Mit der erlahmenden Kraft des Nürnberger Kaufmannsstaates in der zweiten Hälfte 
des 16. Jahrhunderts, ein Vorgang, den ich in meinem Buche eingehend behandelt 
habe, ist dieser Vormarsch des oberdeutschen Kaufmanns nach dem Norden im 
wesentlichen zu Ende. Mit den betonten Feststellungen móchte ich nicht die im all- 
gemeinen vorsichtig ausgesprochenen Ansichten des Verfassers korrigieren, aber doch 
vor Verallgemeinerungen warnen, welche für den Leser vielleicht naheliegen könn- 
ten, den tatsächlichen Verhältnissen aber, so weit wir sie noch zu erfassen vermögen, 
nicht gerecht würden. Warum das Register in einem ganz ungewóhnlich kleinen, 
schwer leserlichen Druck (daher wohl auch dort einige geringfügige Ungenauigkeiten) 
gesetzt wurde, ist nicht recht ersichtlich; doch hat damit der Verfasser ja wohl 
nichts zu tun. Der Abdruck des Einkaufsbüchleins und der dazu gehörige Anmerkungs- 
apparat dagegen erfüllen alle Wünsche, welche man berechtigterweise stellen kann. 
München. Eugen Franz. 


Weitnauer, Alfred, Venezianischer Handel der Fugger nach der Musterbuch- 
haltung des Matthäus Schwarz (Studien zur Fugger-Geschichte, herausgegeben 
von J. Strieder, Neunter Band). München und Leipzig (Duncker und Humblot) 
1931, XVI und 323 8. 

Der schon aus früheren Veróffentlichungen allgemeiner bekannte Buchhalter 
Jakob und Anton Fuggers Matthäus Schwarz hat im Jahre 1518 eine Lehre von 
der doppelten. Buchführung mit einer Musterbuchführung geschrieben, um den 
deutschen Kaufmann mit dieser — von Schwarz nach Studien in Italien im Hause 
Fugger selbst erlernten — Kunst näher bekanntzumachen. Weitnauer zeichnet hübsch 
das Bild dieses früh von seiner Bedeutung eingenommenen, ebenso eitlen wie treu- 
herzigen Mannes und versteht es ausgezeichnet, die von Schwarz vorgeführte Tech- 
nik der Führung all der Bücher, die in der doppelten Buchführung gebraucht werden, 
zu erläutern; er gibt so über seinen engeren Zweck hinaus eine sehr empfehlenswerte 
Einführung in die Prinzipien der doppelten Buchhaltung überhaupt, wie sie sich in 
der Sprache der Zeit darstellen. Er versteht es dabei auch gut, uns neben reicher 
sachlicher Belehrung den lebensnahen Ton zu vermitteln, mit dem der „vornehme 
Buchhalter“ von seiner Kunst spricht. Aber er zeigt auch, wie diese , Musterbuch- 
haltung‘ nicht nur eine Quelle ersten Ranges für die Geschichte der Buchungstechnik 
ist, sondern wesentliche wirtschaftsgeschichtliche Ausbeute ergibt. Das würde bis 
zu einem gewissen Grade auch dann der Fall sein, wenn Schwarz seine Beispiele frei 
erfunden hätte — auch dann hätte er ja ganz unwillkürlich mit den Verhältnissen 
seiner Umgebung gearbeitet. Aber W. weist nun nach, daB die Musterbuchhaltung 
in noch speziellerem Sinne Quelle ist: denn sie ist nichts anderes als die nach Augs- 
burg eingesandte Abrechnung der venezianischen Faktorei für das Jahr 1516, die 
Schwarz für seinen Zweck abschrieb, und es ist auf diese Weise wenigstens ein Rest 
dieser sonst vóllig verlorenen Abrechnungen der Fuggerschen Faktoreien erhalten. 
Dieser ganz gelungene, fein durchgeführte Nachweis ermöglicht es W., seine Quelle 
für den venezianischen Handel der Fugger überhaupt auszuwerten. Allerdings bleibt 
die Móglichkeit, daB S. doch einzelnes gekürzt hat, und damit die Notwendigkeit, 
bei Rechnungen vorsichtig zu sein. Die um Unwesentliches gekürzte Edition der 
Musterbuchhaltung S. 174—314 ist sorgfältig. 


Nachrichten und Notizen 889 


Das Jahr 1516 — übrigens das Jahr von S. venezianischem Aufenthalt — 
zeigt die Stellung der Fugger in V. im vollsten Glanz; die venezianischen Geschäfte 
sind zwar durch die politische Unruhe Italiens einigermaBen gestórt, doch hatte sich 
anderseits Venedig damals von dem Choc der ersten direkten Indienfahrt noch ein- 
mal erholt. W. bespricht die Beziehungen der v. Faktorei zu dem Stammhaus in 
Augsburg und zu den anderen 11 Faktoreien, besonders zu der in erster Linie für den 
venezianischen Faktor wichtigen rómischen, sowie die Funktionen der Faktorei gegen- 
über Kaiser und Kurie. Am reichsten aber ist die Weitnauersche Darstellung in dem 
(4.) Abschnitt, der die Geschäfte nach sachlichen Gesichtspunkten: Warenhandel und 
seine Organisation, Geldhandel und seine Technik, vorführt. Außer auf die Anlagen: 
Ellenmaße der Zeit (nach Schwarz’ Angaben), venezianischer Kupfer-, Silber- und 
Stoffeumsatz ist besonders hinzuweisen auf das sorgfältig gearbeitete Kapitel über 
die 1516 in der v. Faktorei verwendeten Münzen, Maße und Gewichte. Dieses Kapitel 
wird ebenso wie die Bemerkungen über die Buchhaltung selbst und über die Bank- 
technik auch demjenigen guten Aufschluß geben, der sich allgemein orientieren will. 

Verunglückt ist das Verzeichnis der Quellen und der Literatur. Es dürfte bei 
einem Werk, das in nur drei Hss. überliefert ist, nicht im Quellenverzeichnis eine von 
diesen Hss. fehlen, und auch bei den anderen beiden muß man sich die Einzelangaben 
über Zeit, Bibliotheksnummer usw. an verschiedenen Stellen zusammensuchen. Nach 
welchen Gesichtspunkten im weiteren ,,Gedruckte Quellen“ und „Darstellungen“ 
getrennt sind, ist schlechthin unerfindlich; hier geht alles durcheinander. Davon 
abgesehen: Weitnauers Buch ist eine ausgezeichnete Publikation. 

Freiburg i. B. H. Heimpel. 


Hein, Max, (Dr. phil., Staatsarchivdirektor in Königsberg i. Pr.), Otto von Schwerin. 
Der Oberpräsident des Großen Kurfürsten. Gräfe und Unzer-Verlag, Königs- 

berg i. Pr., 1929, VII, 407 S. Gr. 8%; geh. JA 12.—; Gzlw. A 15.—. 
Das Werk von Hein beruht auf einer vollkommenen Kenntnis der einschlägigen 
gedruckten Quellen und der Literatur sowie auf Archivalien des v. Schwerinschen 
Familienarchivs in Wildenhoff, der Staatsarchive in Berlin und Marburg sowie des 
Reichsarchivs in Stockholm. Es schildert die brandenburgische innere wie áuBere 
Politik der Jahre 1645 bis 1679 unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses 
Ottos v. Schwerin. Die Beschaffenheit des ausgedehnten Quellenmaterials bot keinen 
Anlaß zu einer rein biographischen Behandlung des Themas. Vor allem entbehrt 
die Persónlichkeit Schwerins der bedeutenderen politischen Profilierung; der 
Oberpräsident hat die Entschlüsse des Großen Kurfürsten selten durch selbständige 
politische Gedanken verändert oder ergänzt; er tritt vielmehr vornehmlich als Rat- 
geber und Diener des Landesherrn in Erscheinung. Im Verkehr mit den Ständen 
und in den auswärtigen Affären erscheint der fromme und friedliche Mann als ein 
geschickter Taktiker, als ein Freund der Verständigung und des Maßes. Unvorsich- 
tige Entschlüsse hat er abzubiegen, harte Worte zu mildern verstanden. In ihm war 
kaum eine Spur von der behenden Initiativkraft des Großen Kurfürsten; doch war 
er durch seine überlegene Sachkenntnis vornehmlich in außenpolitischer Hinsicht 
ein unentbehrlicher Helfer, durch Treue und selbstlosen Gehorsam (auch bei 

Meinungsverschiedenheiten) ein unbedingt verläßlicher ,, Vasall“ seines Herrn. 
Heins Darstellung leidet unter einer gewissen Monotonie und hätte durch straffere 
Zusammenziehung gewinnen können. Auch sind bei derartigen (mit Ausnahme des 


890 | Nachrichten und Notizen 


5., 8. und 11. Abschnitts) annalistisch aufgebauten Darstellungen Seitenköpfe, die den 
Inhalt andeuten, oder wenigstens chronologische Verweise schwer vermißte Er- 
leichterungen der Lektüre. Auch ein Personenverzeichnis hätte nicht fehlen dürfen. 
Doch sind diese Ausstellungen bloß Nebenbemerkungen zu einer Anerkennung, die 
der Fülle neuer Einzelheiten und der einsichtigen Verknüpfung bekannter Tatsachen 
froh wird und das Werk als Bereicherung der Literatur zur brandenburgischen Ge- 
schichte des 17. Jahrhunderts betrachten muB und nicht mehr missen möchte. 
Freiburg i. B. Arnold Berney. 


Dahlmann- Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte. 9. Aufl. Hrsg. von 
H. Haering. Verlag K. F. Koehler, Leipzig, 1931. Gr. 8%. XL, 992 S. 

Anfang Dezember ist die — seit langem schmerzlich vermiBte und zuletzt mit 
Ungeduld herbeigewünschte — Neuauflage des Dahlmann- Waitz erschienen, auf 
die unter Vorbehalt einer eingehenden Würdigung in einem der nächsten Hefte hier 
durch eine kurze Vornotiz verwiesen werden soll. Daß trotz einer Zeit würgender 
Not, die auf unserem Vaterland lastet, die Erneuerung dieses wichtigen und für 
jeden an der Forschung interessierten Historiker unentbehrlichen Hilfsmittels er- 
möglicht worden ist, dafür gebührt dem Kuratorium der Jahresberichte für Deutsche 
Geschichte, das den Plan der Neubearbeitung ins Leben gerufen und finanziell 
sichergestellt hat, und vor allem dem Gesamtherausgeber H. Haering, der dem 
Unternehmen über 3 Jahre jede dienstfreie Stunde zum Opfer gebracht hat, nicht 
minderer Dank als dem Stab von 54 Mitarbeitern, der die dornige Bearbeitung der 
einschlägigen Abschnitte auf sich genommen und durchgeführt hat, und dem Ver- 
leger, dessen Opfermut es gewagt hat, angesichts der fragwürdigen Aussichten auf 
entsprechenden Absatz den Verlag des Werkes zu übernehmen und den Band druck- 
technisch und in Papier und Einband vorzüglich ausgestattet herauszubringen. 

Enthielt die 8. Auflage die Literatur bis zum Jahre 1910 vollständig, so bietet 
die Neuauflage nach gleichem Grundsatz die bis zum Ende 1929 erschienenen Ver- 
öffentlichungen durchgängig, dagegen Späteres nur nach Möglichkeit. Dabei haben 
sich die Nummern um rund 3000 vermehrt, wobei zu beachten ist, daß sich die 
Nummern selbst inhaltlich zum Teile stark erweitert haben, so daß sich der Gesamt- 
zuwachs des Umfanges nach Schätzung der Druckerei fast auf ein Drittel des alten 
Bestandes beläuft. 

Ein Registerband wird voraussichtlich Februar 1932 erscheinen und den Be- 
ziehern des Werkes kostenlos nachgeliefert. 


Köpfe, & 
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Digitized by Google 


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