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HISTORISCHE
VIERTELJAHRSCHRIFT
ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT
UND FÜR
LATEINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS
HERAUSGEGEBEN VON
Dr. ERICH BRANDENBURG
O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG
XXVI JAHRGANG
VERLAG UND DRUCK
BUCHDRUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG
DRESDEN 1931
Alle Rechte vorbehalten.
-4
wd Raw Jas A. 2
Hr.
INHALT DES XXVI. BANDES.
Aufsätze.
a) Zur Geschichtswissenschäft. |
Buchheim, Karl, Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke. . = . . .
Fiehn, Karl, Albertus Stadensis. Sein Leben und seine Wer ze
Franz, Eugen, Preußens Kampf mit Hannover um die Anerkennung des
reußisch-französischen Handelsvertrages von 1862 . .. 2.2...
Gackenholz, Hermann, Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866
Hashagen, Justus, Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt
Kayser, Emil, Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren
Lies, Richard, Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige in ihrem Verhältnis
zur Goldenen Bulle. .......................
Meiboom, Siegmund, Bismarck und Bayern am Bundestag
Moeller, Richard, Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutsch-
lands. 1527: ee Oe ee E nue A m
Schiff, Otto, Die Wirsberger. Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionüren
Apokalyptik im 15. Jahrhundert. .................
Schreiber, Albert, Drei Bei zur Geschichte der deutschen Gefangen-
schaft des Königs Richard Lówenherz . . . . . . . . . 20000.
Stach, Walter, Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die
Stammesrechte. I. Teil: Probleme der handschriftlichen Überlieferung
der bayerischen Lex. Mit zwei Exkursen zum Texte der Leges Visigo-
lll. ee cw aa A
Stein, S., Die Naturalwirtschaft. Eine kritisch-theoretische Studie . .
Vossler, Otto, Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution
b) Zur mittellateinischen Philologie.
Fiehn, Karl, Albertus Stadensis. Sein Leben und seine Werke . . . ....
Hofmeister, Adolf, Zur Überlieferung zu Cassiodors Variae. Mit einer Tafel:
entum Koppmannianum. . . . 2.2 2 2 eres
Lehmann, Paul, Ein neuentdecktes Werk eines angelsächsischen Gramma-
tikers vorkarolingischer Zeit
Ottinger, Hans, Zum Latein des Ruodlieb . .............
Schumann, Otto, ,,Bernowini episcopi carmina“. . . . . . . .. . ..
Stach, Walter, Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft . .
Strecker, Karl, Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis . .
ue Hans, Lateinische Verseintráge in einem Vocabular des 15. Jahr-
tt! ⁵ a a aa a a a a
Kleine Mitteilungen.
| a) Zur Geschichtswissenschaft.
Herrmann, Otto, Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich
Lampe, K. H., Helwig von Goldbach, Mars , Landmeister und Land-
komtur des Deutschen Ritterordens . . mne
Laubert, Manfred, Bunsens Beziehungen zur polnischen Emigration in den
Anfängen seiner Londoner Zeit
IV Inhalt
\ b) Zur mittellateinischen Philologie. | Seite
Bulst, Walther, Zu Dante, de monarchia 122383 840
Lehmann, Paul, Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit 605
Strecker, "Karl, Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 178
Wilsing, Niels, Naturgefühl im Mittelalter 349
Bespreehungen.
a) Zur Geschichtswissenschaft.
Aegidius Romanus, De ecclesiastica yos usps ed. R. Scholz (Kim) . . . 398
Ahlhaus, J., Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diózese Hildes-
heim im Mittelalter Uhr 88 423
Analecta 5 Tom. V (Dersch)))))))): 426
Aus genealogischen Zeitschriften (Lampe) 2 99 o6 us u % 435
hes iE ernardino, Le Finanze della Repubblica Fiorentina, Bd. I a
Becker, Willy, Fürst Bülow und England 1897—1909 (Michaelis) . . . . . 654
Beierlein, "i R., Geschichte der Stadt und Burg Elsterberg i. V., Bd. II i
(LADO). 7 4-38 79€ ea EEE 42
Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte. Festschrift für
O. Dobenecker 9 nf Nee Be ee gr 414
Biegeleben, Ludwig Freiherr von, Ein Vorkämpfer des großdeutschen Ge-
dankens (Mommsen) PERRE ⁰ Zn Se ae der uc 434
Borries, Kurt, Preußen im Krimkrieg (Heffter) )) 409
Bonjour, Edgar, Preußen und Österreich im Neuenburger Konflikt 1856—57
Michaelis). %.. ( ⁊ĩͤ ee 435
Braun, Franz, und Ziegfeld, Hillen, Geopolitischer Geschichts-Atlas,
1. Teil (Reuther) / rx "pam 216
Fürst von Bülow, Bernhard, Denkwürdigkeiten, Bd. 1 und 2 (Brandenburg) 209
Butler, Abt Cuthbert, Benediktinisches Mönchtum (Dersch) . . . . .. . 217
Calmette, J. et Périnelle, G., Louis XI et l'Angleterre, 1461—1483 (Cartel- 5
EIn ar Sande ⁵ð b ⁵ ⁵⁵⁵mp̃ ̃ĩðĩꝝtL̃ꝓß]· e RAN ee uude.
Concilium Tridentinum ed. V. Schweitzer (Friedensburg). ). 665
Constant, G., La Réforme en Angleterre, I. Le Schisme Anglican Henri VIII.
(Leube) j dod exo RI e olt e diede Doe dea S ee 429
Corpus Catholicorum, Heft 14: Johannes Eck, Vier deutsche Schriften,
g. von K. Meisen und F. Zoepfl; Heft 16: Tres orationes funebres
in exequiis Ioannis Eckii habitae. Hrsg. von J. Metzler (Wendorf). . 663
Crous, Ernst, und Kirchner, Joachim, Die gotischen Schriftarten (Kirn) . 216
Dahlmann- - Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte. 9. Aufl. Hrsg.
von H. Haering (VOTBOUE)- 2 er e y EURO e 890
Danzer, Beda, Die Benediktiner Regel in der Übersee (Dersch ). 217
Dessau, Hermann, Geschichte der römischen Kaiserzeit, II, 2 (Groag) . 380
Dorn, Arno, Robert Heinrich Graf von der Goltz (Heffter) QR are ar 410
Elze, Walter, Tannenberg (R. Schmitt) . ............... 412
Ders., Der Streit um Tauroggen (W). ......... es 433
Festschrift, Armin Tille zum 60. Geburtstag (Lampe)... . . .. .- 416
Fichte, J. G., Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von H. Schulz
(Erben) „%% N Ze vera onc iod Nur dii Nae cera ue dn. Lad 221
Franke, Richard Walter, Zensur und Presseaufsicht in Leipzig 1880—48
(Wendorf) "——À / R o A A 667
Franziskanische Studien, 16. und 17. Jahrgang (Dersch) 659
Frey, Siegfried, Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in Oberitalien im
12. und 13. Jahrhundert (Fed. Schneider) . ............ 201
Germania Romana. Ein Bilderatlas, hrsg. von der Römisch-germanischen
Kommission. 22. Aufl. (Stach) 639
Götze, Ludwig, Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal (Lampe). 427
Gradmann, Robert, Süddeutschland mie io ——— "nr 418
Gutenberg- Jahrbuch 1930 (Herbst 662
Inhalt
Gutmann, Felix, Die Wahlanzeigen der Päpste bis zum Ende der avig-
. nonesischen Zeit (W. Holtzmann) .................
Guyot, R, Lefebvre, G., et Sagnac, Ph., La Révolution française (H.
Hintze
FF ĩ ð ⁵ T e I9 C ose TROU oce di
Hein, Max, Otto von Schwerin, der Oberpräsident des Großen Kurfürsten
C 454 o Se oU» r oboe ĩðx ĩ a
Hessel, Alfred, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Kónig Albrecht I.
von Habsburg (Schmeidler) . . . .................
Hessische Biographien, hrsg. von H. Haupt (Oppermann)
Hilpisch, Ay Im Geschichte des benediktinischen Mönchtums (Dersch)
Holtzmann, Robert, Der Kaiser als Marschall des Papstes (Schmeidler) . .
Hoppe, Willy, Lenzen. Aus tausend Jahren einer märkischen Stadt 929—1929
International Bibliography of Historical Sciences, 1. Jahrg. (Stach) .
Jaffé, Fritz, Zwischen Deutschland und Frankreich. Zur elsässischen Ent-
wickl (König) , d e O E A
Jecker, ie Heimat des hl. Pirmin, des Apostels der Alamannen (Stach)
—, Dazu ein Nachtrag
Jacoby, Felix, Die Fragmente der griechischen Historiker (Schachermeyr)
Kirchner, Joachim, und Crous, Ernst, Die gotischen Schriftarten (Kirn) .
Konetzke, Richard, Die Politik des Grafen Aranda. Ein Bei zur Ge-
schichte des spanisch-englischen Weltgegensatzes im 18. Jahrhundert
(Hasenclever) .......... 77 A o de RS
Lan i 1 Bismarck und die norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866
e)) ee ee 1e Ld
Lefebvre, b. Guyot, R, et Sagnac, Ph., La Révolution francaise (H.
Hintze
Lemmens, Leonhard, Geschichte der Franziskanermissionen (W. Holtzmann)
Lornsen, Uwe Jens, Briefe an seinen Vater (Bück) . . . . . . . ...
Marx, Karl, Das Kapital. vg dure und eingeleitet von Kautsky ( Wendorf)
M. G. H., Die Urkunden der deutschen Kónige und Kaiser, V,2. Die Ur-
kunden Heinrichs III. (Schmeidler) . . . . ...........
Michael, Horst, Bismarck, land und Europa (Michaelis).
Müller, Karl, Aus der akademischen Arbeit. Vorträge und Aufsätze (Wendorf)
. Nadolny, Rudolf, Germanisierung oder Slavisierung? (Neumann) . . . .
Neubner, Joseph, Die Heiligen Handwerker in der Darstellung der acta sanc-
Pontificum Romanorum diplomata papyracea in tabulariis Germaniae,
Hispaniae, Italiae, BoulbllU suua‘
Preller, Hugo, Salisbury und die türkische Frage im Jahre 1895 (Michaelis)
RA des Mainzer Domkapitels seit 1450. III, 1 (1514—1545)
Quellen zur Frage Schleswig-Haithabu. . Von Otto Scheel (Hoffmann)
Quellen zur Geschichte der Kaiverkrönung Karl des Groben.! Hrsg. von
Dannenbauer (Stach). . . ........ ees
VI Inhalt
Regesten der Erzbischófe von Bremen. . von May (Lübbing) - er
Richer, Histoire de France (888—996), éd. par touche, Tom. I (Manitius)
Bore Fritz, Das Einkaufsbüchlein der Nürnberg-Lübecker Mulichs auf der
ankfurter Fastenmesse des Jahres 1495 ( PP
Rundnagel, Erwin, Die Chronik des Petersberges bei Halle (Herbst)
Sagnac, h., Lefebvre, G., et Guyot, R., Le Rövolution francaise (H. Hintze
Samanek, V., Studien zur Geschichte König Adolfs (Schmeidler . - - - -
Scheel, Otto, Martin Luther, 3. und 4. Aufl. (Wendorff).
—, Dokumente zu Luthers Entwicklung, bis 1519 (Wendorf) . . . - %
Schiffers, Heinrich, Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt (Herbst)
Schmidt, Alfred, Die Kölner Apotheken von der ältesten Zeit bis zum Ende
der reichsstädtischen Verfassung (Englert) .. cc
Seeley, J. R., Die Ausbreitung, Englandi (O. Vossler) » esset
Sello, Georg, Oestringen und Rüstringen (Lübbing) . - - eben Kam.
Sonderveröffentlichungen der Ostfälischen Familienkundlichen Kom-
mission, Nr. tamp) din anan a a dud ed dis PE d
Steck, F. B., The Jolliet- arquette Expedition, 1673 (O. Vossler) . » - -
Strassmann, Paul, Aus der Medizin des Rinascimento (Englert)
Studien und een zur Geschichte des Benediktinerordens und
geiner Zweige. NF. Bd. 16 (Dersch) - » « = + „ a rahe
Sütterlin, Berthold, Die Politik Kaiser Friedrichs II. und die rómischen
Kardinäle in den Jahren 1239—1250 (Fed. Schneider
Tümmler, Hans, Die ‚Geschichte der Grafen von Gleichen (Lampe) . - -
Tschirch, Otto, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der
Havel (Lampe). n" or dem Weltkrieg 1904-190
Uppl . ERR Die englische Flottenpolitik vor dem Weltkrieg 1904—1909
lll sec IMS, Bde
Valentin, Veit, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—1849, Bd. 1
f Hartung). ee ., der Stastskunst Kaiser Friedrichs Il
Vehse, Otto, Die amtliche Propaganda in der Staatskunst Kaiser Friedrichs II.
(Fed. r ICE E QUE S ROCHE:
Wenger, Leopold, Der heutige Stand der römischen Rechtswissenschaft
JJ EIU NIS UE IIT
Zechlin, Egmont, Bismarck und die Grundlegung der deutschen Großmacht
ff ee:
Zedler, Gottfried, Die sogenannte Gutenbergbibel (Herbst)). . :
Ziegfeld, H., und Braun, F., Geopolitischer Geschichts-Atlas, 1. Teil
(Reutber ).. . . ale kirrkgizischen Wollgewerbes im 17. und
Ziehner, LEE: Zur Geschichte des kurpfälzischen Wollgewerbes im 17. und
18. Jahrhundert (Fischer))
b) Zur mittellateinischen Philologie.
Asinarius und Rapularius, hrsg: von K. Langosch (Spanke ))
Cooper, Lane, A Concordance of oethius (Blatt) . g.
J f Putnam Fennell, A Concordance to the Historia Ecclesiastica of Bede
Blatt) t noi der Bibliothek der Abtei St
Montebaur, Josef, Studien zur Geschichte der Bibliothek der Abtei St.
Eucharius-Matthias zu Trier (P. Lehmann). . - : . 1^, von K
Walther von Chätillon, Moralisch-satirische Gedichte, hrsg. von K.
Strecker (Herkenrath). . e 8 naliungen altpbilologischei
Weinberger, Wilhelm, Wegweiser durch die Sammlungen altphilologischer
Handschriften (Schreiber): - ... ; :,* fur Geschichte des Natur
Wührer, K., Romantik im Mittelalter. Beitrag zur Geschichte des Natur-
gefühls, im besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts (Wilsing ).
Nachrichten und Notizen.
Gelehrte Gesellschaften und (Publikations-) Institute 448,
rr 8 448,
Todesfälle: Paul Joachimsen 222. — Hermann Grotefend 672.
671
Mittellateinische Philologie und Geschichts-
wissenschaft.
Von
Walter Stach.
Wenn im folgenden von der lateinischen Philologie des Mittel-
alters und ihrem Verhältnis zur Geschichtswissenschaft die Rede
sein soll, so ist das in keiner Beziehung programmatisch gemeint.
Was es im ganzen mit dieser jüngsten, zur Selbständigkeit
erstarkten Eigenprovinz des philologischen Forschens auf sich
hat, ist aus der klassischen „Einleitung“ L. Traubes sattsam
bekannt!, und ihren nächstliegenden Aufgabenkreis im einzelnen
hat bereits P. Lehmann in einer anregungsreichen Akademie-
abhandlung zur Genüge umschrieben“.
Hier handelt es sich vielmehr darum, daB dank dem Heraus-
geber mit dem vorliegenden Heft der HistorischenVierteljahrschrift
eine mittellateinische Zeitschriftabteilung beginnt. Damit er-
hält die mittellateinische Philologie, die bislang in der deutschen
Zeitschriftenliteratur nur Gastrecht genoß, erstmalig und endlich
auch bei uns, obzwar kein selbständiges Organ, so doch ein
eigenes und periodisches Forum. Daß dies im Rahmen gerade
einer historischen Zeitschrift geschieht, hat einen tieferen Sinn.
Er gründet sich auf die inneren Beziehungen zwischen Philologie
und Geschichtswissenschaft und besteht in der zentralen Be-
! L. Traube, Einleitung in die lat. Philologie des Mittelalters. Vorlesungen
u. Abhandlungen B. 2. München 1911.
2 P. Lehmann, Aufgaben und Anregungen der lat. Philologie des Mittelalters.
SB. Ak. München 1918. Vgl.auch E. Faral, L'orientation actuelle des études relatives
au latin médiéval. Rev. des études lat. 1 (1923), S. 26ff. — Für jüngere Lit. verweise
ich auf K. Strecker, Forschungsberichte über Mittellatein, in den Jahresberichten
für deutsche Geschichte. Jg. 1, Leipzig 1927 ff. — Vorzüglich zur ersten Orientierung
über die Probleme und die wichtigste Lit. ist auch K. Strecker, Einführung in das
Mittellatein. Berlin 1928.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 1
2 Walter Stach
deutung, die die mittellateinischen Studien für die geschichtliche
Erforschung des abendländischen Mittelalters hesitzen. Darüber
seien mir zum Geleit der neuen Abteilung einige Worte ver-
stattet.
Zwischen der mittellateinischen Philologie und der mittel-
alterlichen Geschichtswissenschaft hat sich im Gange der
Forschung eine Wechselbeziehung herausgebildet?, die man
nicht selten als ein hilfswissenschaftliches Verhältnis zu charak-
terisieren versucht“. Das träfe insoweit zu, als man das Neben-
einander der beiden Disziplinen bloß nach der notgedrungenen
Praxis arbeitsteiliger Zerfächerung beurteilen dürfte. In Wahr-
heit aber handelt es sich um eine cooperative Zuordnung, die
in wesentlichen Zügen der organischen Arbeitsgemeinschaft von
klassischer Philologie und alter Geschichte entspricht, und die
nur um deswillen nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit
hingenommen und anerkannt wird, weil sie noch in den ersten
Anfángen ihrer Entwicklung steckt. Denn hier wie dort ist die
fachliche Verschwisterung durch die fundamentale Tatsache
bedingt, daB selbst die Geschichtsüberlieferung dieser Zeiten in
einem spracblichen Zustande vorliegt, der es dem Historiker
verwehrt, sie auch für seine Zwecke anders zu aktualisieren als
auf dem Umwege über eine philologische Interpretation.
Aus dieser Tatsache erwächst für das mittelalterliche Arbeits-
gebiet eine weitgehende Wesensverwandtschaft von historischer
* Man kann mit diesen Beziehungen, wenn man will, bei den Maurinern in
Frankreich beginnen. Wir Deutschen werden uns immer auf die grundlegenden
Arbeiten von L. Traube, W. Meyer und P. v. Winterfeld berufen.
* So z.B. E.Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode S. 87ff. u. 284 fl. —
Man sollte m. E. diesen Behelfsbegriff überhaupt verpónen, der neuerdings her-
halten muß, um jede beliebige r&yvr, ja ßrvausta mit Hilfe wirklicher Wissen-
schaften als &xtornun zu drapieren. — Etwas anders als Bernheim urteilt
auf Grund der inzwischen gewandelten Sachlage W. Bauer, Einführung in das
Studium der Geschichte, Tübingen 1928?, S. 171: „Wenn K. J. Neumann
(Entwicklung u. Aufgaben der Alten Geschichte, Straßburger Rektoratsrede
1910) behauptet: Ohne volle Beherrschung der philologischen Technik wäre alte
Geschichte Dilettantismus, so gilt dies... für alle Teile der Geschichte. Mag...
die Altertumswissenschaft das unerreichte, wenn nicht unerreichbare Vorbild für
unsere Forschungsrichtung sein, angestrebt muß die Verwirklichung des hier vor-
gesteckten Zieles werden. Es sprechen schon alle Anzeichen dafür, daß nun
das Mittelalter an die Reihe kommt, daß auch da Philologie und Geschichte
sich einträchtig in die Hände arbeiten werden."
Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 3
und philologischer Methode, die es jedem mittelalterlichen
Historiker auferlegt, pro rata ein mittellateinischer Philologe
zu sein. Denn mag sich der Eigenbereich historischer Begriffs-
bildung und Anschauung noch so sehr von dem eigentlichen
und letzten Ziele philologischer Betrachtungsweise abheben: ein
philologisch gelegtes Fundament und eine streng philologische
Auslegung bleiben für mittelalterliche Quellen auch unter
geschichtswissenschaftlichem Gesichtspunkt die allgemeinste
und unerläßliche Voraussetzung®. Philologie ist nun einmal
nach ihrem Kern die persönliche Kunst und Virtuosität in der
Behandlung des schriftlich Erhaltenen, und nur im Zusammen-
hang mit dieser Kunst und ihren Ergebnissen kann jede andere
Interpretation von Denkmalen oder geschichtlich überlieferten
Handlungen gedeihenf. Eben darum ist auch das eigentümliche
Ethos der Philologie mit dem der mittelalterlichen Geschichts-
forschung im tiefsten Grunde identisch. Mittelalterliche Ge-
schichte und mittellateinische Philologie sind beide darauf
angewiesen, ihren Aufstieg zu hóheren und allgemeineren Stufen
geschichtlicher Anschauung auf die immer verfeinerte sprachliche
Sicherung und kritische Deutung, auf die immer erneute und
gesteigerte Verlebendigung eines erstorbenen Wortlautes zu
gründen. Beide bedürfen daher auf diesem Quellenboden in
besonderem Maße des intellektuellen Gewissens, zu dem die
Philologie von jeher durch ihre ausdauernde Bescháftigung mit
dem Letzten und Kleinsten in vorbildlicher Weise erzog“.
5$ Vgl. H. Use ner, Philologie und Geschichtswissenschaft. Bonn 1882, S. 29:
Wenn es wahr ist, daß der boden aller geschichtlichen wissenschaft das geschriebene
wort ist, so folgt daB die kunst, welche dasselbe feststellt und deutet mittelst ihres
grammatischen vermógens, die letzte voraussetzung aller geschichtlichen forschung
ist. — Insoweit wird wohl jeder Usener beipflichten müssen, selbst wenn man ihm
im übrigen, wie Bernheim a. a. O., die grundsätzliche Zurückführung der Ge-
schichtsforschung auf die zwei elementaren Operationen der Philologie bestreitet:
auf die recensio als die Feststellung der durch Überlieferung gegebenen Tatsachen
und die interpretatio als deren kritische Durchdringung, ihr Begreifen.
* W.Dilthey, in der Neuausgabe der Gesammelten Schriften, B. 5, S. 319;
dazu ders. in den Zusätzen aus den Handschriften ebd. S.336: Faßt man den
Begriff im weitesten Sinne, so ist Philologie nichts anderes als der Zusammenhang
der Tätigkeiten, durch welche das Geschichtliche zum Verständnis gebracht wird.
7 Vgl. Th. Mommsen, Rektoratsrede (1874) über das Geschichtsstudium
(Reden u. Aufsätze, Berlin 1906; insbes. S. 10ff.), der von dem obigen Gesichts-
punkt her die philologische Bildung neben der Kenntnis des Rechtes als eine dem
1*
4 Walter Stach
Nun liegen die Dinge in praxi so, daß eigentlich nur die
politische Geschichte des Mittelalters und die ehrwürdige, ihr
zugeordnete Gattung der erzählenden Geschichtsschreibung es
im wesentlichen aus eigener Kraft vermocht haben, das gegen-
standsgebotene Ineinander von philologischer und historischer
Methode zu betätigen. Denn. nur auf diesem Mutterboden der
Geschichte ist es der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft
bisher gelungen, in folgerecht zunehmender Philologisierung des
Steinschen Nationalwerkes, der Monumenta Germaniae, sich
das erforderliche Corpus kritischer Quellenausgaben zu schaffen
und — um nur eines noch zu nennen — dazu in der Urkunden-
lehre eine Musterstätte mittellateinischer Spezialforschung zu
begründen, der die Gesamtdisziplin des Mittellatein, die daneben
aus dem Schoße der klassischen Philologie hervorging, eine
erhebliche Förderung ihres Aufbaues verdankt.
Aber über die Erforschung und Darstellung politischer
Wirkungszusammenhänge hinaus: für die Geschichte der Kirche
und ihrer Lehre im Mittelalter, für die Geschichte seines geistigen
Lebens überhaupt, für seine Bildung, Literatur und Welt-
anschauung, kurz für die innere Ausweitung der mittelalterlichen
Geschichte zu einem Gesamtwesen dieser Epoche und dessen
Eingliederung in das Gefüge abendländischer Kultur, da über-
steigt es die Durchschnittskraft des einzelnen, mittelalterlicher
Historiker und mittellateinischer Philologe in einem und ganzem
zu sein®. In dieser Beziehung sind beide Disziplinen durchaus
Historiker unentbehrliche Propädeusis bezeichnet und u.a. ausführt: „Man hört
wohl die Theorie aufstellen, daß das genaue Verständnis der Quellen eine spezifisch
philologische Aufgabe sei und für den Historiker es genüge im allgemeinen sich
durchfinden zu können; und diese Theorie ist der Praxis der Trägheit nur allzu will-
kommen ... Das Übelste hierbei sind nicht die einzelnen Mißverständnisse, die daraus
entstehen, sondern der Mangel an geistiger Durchdringung des Gegenstandes ...
Um nur Rom zu nennen, wer dem Ennius und dem Horaz, dem Petronius und dem
Papinian nicht nachzuempfinden vermag, der wird ewig von Roms Geschicken reden,
wie der Blinde von der Farbe, mag seine.pragmatische Quellenforschung auch noch
so korrekt sein“ (ebd. S. 12). — Vgl. für diese Zusammenhänge und für das Methodo-
logische überhaupt auch Ph. A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodologie der
philologischen Wissenschaften, hrsg. von E. Bratuscheck 1877, in 2. Aufl. von
R. Klufmann, Leipzig 1886.
8 Daß die Gegenwart die Schöpfung eines solchen individualwissenschaftlichen
Gesamtbegriffes „Mittelalter“ tatsächlich heischt, ist unverkennbar. Ich verweise
auf E. Troeltsch (Der Historismus und seine Probleme, S. 765), der dem Mittelalter
Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 5
zu gegenseitiger Fühlungnahme und wechselseitiger Ergänzung
verurteilt; es erhellt aber auch mit einem Schlage die Unent-
behrlichkeit, die der mittellateinischen Philologie für die gegen-
wärtigen oder künftigen Aufgaben der mittelalterlichen Ge-
schichts wissenschaft zukommt'.
Das gilt bereits von der mittellateinischen Überlieferungs-
geschichte, die auf der Handschriftenkunde im paläographischen
Sinne aufruht. Denn bei dieser organischen Verbindung wird
das mittelalterliche Handschriftenmaterial über die praktischen
Zwecke kunstgemäßer Editionen hinaus zu einer Urkunden-
sammlung des geistigen Lebens, auf die auch der Historiker
zurückgreifen muß, wenn er den Geist des Mittelalters in seiner
Unmittelbarkeit reaktivieren will. Sind doch die Texte als
Handschriften Überreste von geistigen Prozessen, die sich in
lebendigen Seelen vollzogen, und spiegeln von dieser Voraus-
setzung her das geistige Schaffen verklungener Zeit in einer
Ursprünglichkeit wider, vor der so manches äußere Zeugnis in
seiner isolierten Zufälligkeit verbla8t!?, Schon daß überhaupt
und wie irgendein Autor abgeschrieben worden ist, stellt eine
kleine bistorische Tatsache dar, und alles, was dann folgende
Schreiber von Eigenem mit Absicht oder unbewußt hinzugetan
haben, ist der geschichtlichen Deutung und Auswertung fähig,
so daß sich bereits die redaktionelle Wandlung der Texte, von
den Randbemerkungen und Verbesserungen der Abschreiber
bis zu ihren Fehlern, in die Geschichte des Geisteslebens der
dem Autor gefolgten Zeiten einfügt. Ja im Zusammenhang mit
dem oft aufschlußreichen äußeren Schicksal der Texte kann
als der vierten Grundgewalt im Aufbau der europäischen Kultur eine der wichtigsten
und wesentlichsten Funktionen zuweist und darum gerade für diese Epoche die
verbreiterte und vertiefte Konzeption seines Gesamtwesens fordert, aber nicht im
Sprunge dialektischer Konstruktionen, sondern auf empirische Forschung gegründet,
als hóchste und schwierigste Leistung historischer Abstraktion.
* Das ist natürlich a potiori der Quellen in lateinischer Sprache gemeint und soll
die Bedeutung der benachbarten Philologien für diesen Aufgabenkreis in keiner
Weise herabsetzen; im Gegenteil hat A. Hofmeister völlig recht, wenn er grund-
sätzlich eine Philologie des Mittelalters überhaupt postuliert (Literarisches Zentral-
blatt 1918, Sp. 503).
1* Vgl. die mustergültige Leistung L. Traubes, Textgeschichte der Regula
S. Benedicti (Abh. Ak. München, B. 25, 19100, an dessen philologiegeschichtliche
Einleitung sich der folgende Satz im Wortlaut teilweise anlehnt.
6 | Walter Stach
daraus die Wiedererkenntnis literarischer Beziehungen und
geistiger Strömungen entspringen, die sich der sonstigen Über-
lieferung entziehen. Nur daß es zu solcher Aufgabe der eigens
ausgebauten Forschung als Stütze bedarf, wie das die mittel-
lateinische Philologie auf Traubes Grundlagen anstrebt: einer
genetisch gedachten und streng historisch gerichteten Geschichte
der Schrift, erweitert um die Erforschung der mittelalterlichen
Schreibschulen und des mittelalterlichen Buch- und Bibliotheks-
wesens.
Gewiß ist ein solches Unternehmen auf weite Strecken
philologisch-rekonstruktiv. Aber daß es zugleich für eine Ge-
schichte der wissenschaftlichen Bestrebungen und des literarischen
Geschmackes im Mittelalter erst die solide Grundlage schafft,
steht außer Frage. Dazu kommt, daß die Textgeschichte nach
der inhaltlichen Seite tief in die Erforschung mittelalterlicher
Geistesart hineingreift. Ich meine die Überlieferung der antiken
und patristischen Autoren, deren Nachleben einem großen Teil
des mittelalterlichen Schrifttums das allgemeine tralatiziscbe
Gepráge verleiht und dabei doch infolge der zeitlich und regional
verschiedenen Stärke und Art der Nachwirkung das Gesicht der
mittleren Jahrhunderte eigentümlich formt und ändert. Wohl
fühlte man sich damals im ganzen als Erbe des Altertums, von
einzelnen Eiferern gegen die artes abgesehen; ja man lebte zum
Teil bewußt in einem beinahe humanistischen Dienste der
Tradition, indem man Autoren von der klassischen Zeit bis zur
christlichen Antike, die bis zu Augustin noch selbst von klassischer
Bildung durchtränkt war, immer wieder nicht nur las, erklärte
und abschrieb, sondern ihr Muster in schulmäßigen Übungen
und in eigenen Werken der Gelehrsamkeit und Dichtung auch
nachzuahmen und nachzubilden bestrebt war. Aber man durch-
lebte dabei auch immer aufs neue die schicksalbafte Antinomie,
daB man im Kampfe für die christliche Weltanschauung, im
Ausbau einer einheitlich-christlichen Bildung auf heidnische
Wissenschaft und ein Schrifttum zurückgriff, dessen heidnischem
Anteil das christliche Gewissen zu widerstreben gebot. In dieser
fortdauernden inneren Auseinandersetzung des Mittelalters mit
dem Altertum ruht bereits selbst ein Problem, das sich bei
einigem Nachdenken, wie L. Traube einmal gesagt hat, zu einem
der wichtigsten unserer ganzen Kultur erweitert, dessen ge-
Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 7
schichtswissenschaftliche Bearbeitung aber nur auf die Ge-
schichte der heidnischen und christlichen Texte im Mittelalter
gegründet werden kann.
Infolge der Einwirkungen nun, die von der fortlebenden
Antike namentlich in Form und Stil auf das mittelalterliche
Schaffen ausgestrahlt sind, berühren sich die einzelnen Schicksale
der antiken Texte zugleich aufs engste mit der Geschichte der
eigenen lateinischen Literatur des Mittelalters, die freilich neben
den Nachahmungen römischer Vorbilder auch die selbständigen
christlich-theologischen Werke und die volkstümlichen Schöp-
fungen umfaßt, in denen sich „die nationale Literatur durch-
ringt, ohne die Anwendung der nationalen Sprachen zu wagen“.
Dieser Literatur im ganzen erst einmal Herr zu werden, ist eine
weitere wichtige, ja die ureigentümliche Aufgabe mittellateinischer
Philologie, die nach dieser Richtung noch eine wahre Pionier-
arbeit für das geschichtliche Verständnis und die ideengeschicht-
liche Durchdringung des Mittelalters zu leisten hat. Denn es
sind Hunderte von irgendwie bedeutenden lateinischen Schrift-
stellern und Schriften noch zum ersten Male zu veröffentlichen,
Hunderte in kritisch befriedigender Form herauszugeben,
Hunderte in ihrer Eigenart zu untersuchen und zu würdigen,
untereinander zu verbinden, in die Geschichte der literarischen
Stoffe, der formalen Gattungen, der Wissenschaften, in die
Geschichte der geistigen Entwicklung einzelner Stätten, Stände,
Völker und Länder einzureihen!!: ein schier unübersehbares
Meer von Aufgaben, an dessen Horizont erst die ideale
Geschichte des mittelalterlichen Geisteslebens auftaucht, so-
wohl als Teil einer Geschichte der abendländischen Kultur, wie
auch als Teil der Geschichte der romanisch-germanischen
Völker!®. Ist doch die gesamte Literatur in der Übergangszeit
vom Altertum zur Neuzeit entweder selbst lateinisch oder durch
H P. Lehmann, Aufgaben und Anregungen, S. 53. — Das Ausmaß der Aufgabe
erhellt für jeden schon aus der bahnbrechenden Vorarbeit von M. Manitius: Ge-
schichte der lat. Literatur des Mittelalters, B. I u. II (III vor dem Abschluß), Mün-
chen 1911 u. 1923.
12 Wer mit vorschnellem Werturteil etwa bezweifelt, daß ein solches Unter-
nehmen die aufzuwendende Mühe verlohnt, wer etwa für die antike Literatur zwar
Usener (a. a. O. S. 28) zugibt, daB aus Archivalien allein, und wären es venezianische
Gesandtschaftsberichte, sich Geschichte nicht schreiben läßt, aber der mittellatei-
8 | Walter Stach
das Latein bedingt und beeinfluBt!*. Dabei ist für die Geschichts-
wissenschaft namentlich die literargeschichtliche Sonderung
und Durcharbeitung der einzelnen Genera mittellateinischer
Literatur von Bedeutung, da nur von diesem Zusammenhang
her die Geschichte der Geschichtsschreibung des Mittelalters
erforscht und dargestellt werden kann, eine Aufgabe, die selbst
wieder eine wesentliche Voraussetzung zu verfeinerter, kritischer
Würdigung der mittelalterlichen Geschichtsquellen ist. Denn
wie die klassische Philologie in der neueren literargeschichtlichen
Forschung die Technik der Erzählung in den Vordergrund ge-
rückt hat und damit die Klassiker der rómischen Historio-
graphie auf Grund des intensiven Studiums ihrer schriftstel-
lerischen Eigenart und ihrer historiographischen Kunst auch als
Geschichtsquellen in vertiefter Weise erschließt !4*, so sind auch
auf mittelalterlichem Felde die Erzählertechnik eines Gregor
von Tours, die weltanschaulich gerichtete Geschichtsbetrach-
tung eines Otto von Freising, der erbauliche Unterhaltungs-
charakter der Heiligenleben, die Stoffverknappung in der Anna-
listik und anderes unter literarhistorischem Gesichtspunkt zu
untersuchen und so die gesamte historiographischeÜ berlieferung im
Sinne literargeschichtlicher Gattungen genauer zu analysieren Mb,
nischen Literatur nicht zutraut, daß auch sie an ihrem Teile die treibenden Kräfte der
Zeit zu künden weiß, den möchte ich auf zwei Aufsätze von P. v. Winterfeld ver-
weisen: Die Dichterschule St. Gallens und der Reichenau unter den Karolingern und
Ottonen, und Hrotsvits literarische Stellung, beide wieder abgedruckt in den Deutschen
Dichtern des lat. Mittelalters, hrsg. von H. Reich, München 1922. — Ganz in
dem obigen Sinne &uBert sich auch W. Bauer, Einführung S. 171f: Erst wenn
auch für diese Zeit (sc. das Mittelalter) die Sprache der Bildung, der Philo-
sophie und eines großen Teils der schönen Literatur, wenn das Latein, das in
diesen Jahrhunderten eine sich weiterbildende, lebende Sprache war, nach allen
Richtungen hin durchforscht und gedanklich wie formal ausgewertet sein wird,
erst dann wird man die geistesgeschichtlichen Grundlagen gewonnen haben, um
zum vollen Verstándnis seiner Kultur zu gelangen.
33 L. Traube, Einleitung S. 137.
14% Vgl. R. Heinze, Die gegenwärtigen Aufgaben der römischen Literatur-
geschichte, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, B. 19, Jg. 1907, S. 170.
14b Vgl. L. Traube im Vorwort zur 7. Aufl. von Wattenbachs Geschichts-
quellen S. XI: Eine Geschichte der Historiographie im Mittelalter kann auf den
verwischten Spuren und den übereinander gehäuften Trümmern der ersten Auf-
lage der ,,Geschichtsquellen" nicht mehr errichtet werden; diese Geschichte, die
uns nottut, ist von Grund auf neu zu schaffen.
Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 9
Neben der literarhistorischen Riesenaufgabe mittellateinischer
Philologie steht eine zweite, die eigentlich alles bisher Gesagte
als die primäre Voraussetzung trägt: die Erforschung des vom
Mittelalter gebrauchten Lateins. Auf diesem sprachgeschicht-
lichen Felde unterlag die Verklammerung von Philologie und
Geschichtswissenschaft wohl nie einem Zweifel, und zum min-
desten hierin ist der Historiker des Mittelalters zu eigener Mit-
arbeit berufen und verpflichtet, wenn er anders nicht Gefahr
laufen soll, zum Mietling im eigenen Hause zu werden!®. Nur
darf man die Dinge nicht so ausschließlich unter den Gesichts-
winkel eines neuen Du Cange oder eines verbesserten Forcellini
rücken, wie das gewöhnlich geschieht und neuerdings durch das
lexikographische Projekt der Union académique internationale
selbst von mittellateinischer Seite nahegelegt scheint. Gewi ist
ein solches Wörterbuch, wie es die vereinigten außerdeutschen
Akademien für die Zeit bis zum Ende des 10. Jahrhunderts
planen, ausgestattet mit einer systematischen Topographie der
Belege und gerichtet auf die Erfassung des kirchlichen und
vulgären Elementes im Mittellatein, ein wirkliches Desiderat und
wäre neben dem Thesaurus linguae latinae, der auch dann noch
die wissenschaftliche Grundlage bleibt, von beträchtlichem
Nutzen. Aber es wäre ein Wahn zu glauben, man könnte die
eigentlichen und wesentlichen Schwierigkeiten mittellateinischer
Texte mit einer lexikographischen Großtat sozusagen aus der
Welt schaffen. Denn das Mittellatein kennt wohl einen reichen
Bedeutungswandel, der jeweils literarhistorisch bedingt ist, aber
keine natürliche Wortgeschichte, wie das Wachstum einer
lebenden Sprache. Und hinter der wechselnden Wortbedeutung,
hinter der sich wandelnden copia verborum stünde noch immer
das Mittellatein im Sinne der grammatischen Fügung und des
stilistischen Ausdruckes, beide wiederum nicht im eigentlichen
1$ In diesem Sinne auch E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode,
S. 284f.: Je mehr der Historiker philologisch gebildet ist, um so tiefer und sicherer
eröffnet sich ihm das Verständnis der Quellen. Während das auf dem Gebiet der
alten Geschichte als selbstverständlich gilt, ist es auf dem der späteren Geschichte
durchaus noch nicht genug anerkannt, obwohl der Mangel an philologischer Kennt-
nis sich da kaum weniger rácht ... Es muB ein Lexikon und eine Grammatik der
mittelalterlichen Latinität auf Grund von Einzeluntersuchungen geschaffen werden,
wie davon nur erst wenige vorliegen. Hier gilt es, Hand anzulegen!
10 Walter Stach
Sinne organisch geworden. Denn das Mittellatein im ganzen ist
eine ausgesprochene Buch- und Hochsprache, fast möchte man
sagen: eine Schreibe und keine Rede, und stellt trotz allem
lebendigen Gesprochenwerden einen künstlichen Synkretismus
zwischen widerstrebenden sprachlichen Kräften dar, der ge-
wissermaßen dauernd im Fluß bleibt. In seinem Grundstock
hält es den sprachlichen und stilistischen Besitzstand des Spät-
lateins aus dem 6. und 7. Jahrhundert fest, bevor die gesprochene
Sprache in den auch später noch zurückwirkenden romanischen
Idiomen eigene Gestalt gewann; daher auch sein analytischer,
rhetorischer und beinahe hyperbolischer Grundzug. Ferner
bleibt es auf die Dauer in hohem Maße literarisch abhängig von
dem eigentümlichen Übersetzungslatein der Bibel, der Sprache
der Liturgie und der kirchlichen Autoren und wird zum dritten
selbst in dieser allmählich gefesteten Synthese immer wieder
durchkreuzt und gebrochen durch den jeweiligen Bildungsstand
und die Erudition dessen, der es gerade schreibt und dabei dem
Einfluß der gelesenen und nachgeahmten älteren, auch klassischen
Schriftsteller untersteht. Infolgedessen kann es einen Passe-
partout zum Mittellatein, wie ihn viele zu wünschen scheinen,
niemals geben, weder im Sinne einer Grammatik der mittel-
alterlichen Latinitát, noch im Sinne eines Thesaurus linguae latinae
medii aevi; sondern für jeden Schriftsteller, für jeden Text des
Mittelalters erwächst eine neue, eigens zu lösende Aufgabe“.
Dieser Aufgabe in concreto gilt es vorzuarbeiten und ihre
Durchführung im einzelnen zu erleichtern durch das Bereit-
stellen von Hilfsmitteln. Dazu gehórt in erster Linie, um nur
einiges anzudeuten, die systematische Durchforstung des Spät-
lateins nach der Seite der historischen Grammatik und der
Geschichte des Stils, sowie die bereits angebahnte Erforschung
des sogenannten Übergangslateins in seiner regionalen Differen-
zierung. Dazu gehören aber auch für das gesamte Mittelalter
semasiologische Spezialuntersuchungen, wie z.B. der Beitrag
A. Hofmeisters über mittellateinische Altersbezeichnungen (in
der Festschrift für Kehr); ferner umfassende Monographien zur
Sprache einzelner wichtiger Autoren, wie die grundlegende Arbeit
18 L. Traube, Einleitung S. 53, der mit Recht hinzufügt: Es gehört ja auch
sonst in der Philologie zum Verstündnis eines Schriftstellers, daB man sich Grammatik
und Lexikon selbst besorgt.
Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft 11
M. Bonnets über das Latein Gregors von Tours oder E. W.Watsons
Studie über Sprache und Stil des Cyprian; dazu gehören neben
Stilanalysen literarischer Gattungen, wie des Kirchenrechtes
und der Sprache der Vulgata, Untersuchungen über die Kunst-
form der mittelalterlichen lateinischeu Prosa im ganzen, wie
W. Meyers bahnbrechende Arbeiten zur mittellateinischeu Rhyth-
mik oder das Buch von Polheim über den Reim in der lateinischen
Prosa. Dazu gehört aber auch der Ausbau von Spezialwörter-
büchern in Form von indices, womöglich pleni, plenissimi!?, für
die wir z. B. in der Ausgabe des Ysengrimus von E. Voigt oder
in den grammatischen und syntaktischen Anhängen einiger
Monumenta-Ausgaben, z. B. des Jordanes und Cassiodor, der
Leges Wisigothorum und der Hrotsvit, teils wertvolle Ansätze,
teils vorzügliche Muster besitzen. Dazu gehört mit einem Wort
das gesamte Arbeitsprogramm der mittellateinischen Philologie
auf sprachgeschichtlichem Gebiet, das wie kein zweites unmittel-
bar in den Dienst der mittelalterlichen Geschichtsforschung
gestellt scheint!®.
Überblicken wir zum Schluf das Gesagte, so ergibt sich aus
der Gemeinsamkeit des Gegenstandes der beiden Disziplinen,
aus ibrer weitgehenden methodologischen Verwandtschaft und
7 L. Traube, Einleitung S. 80.
In welche Gefahren der mit diesen Dingen zu wenig vertraute verstrickt ist, dafür
nur ein einziges Beispiel aus der neueren geschichtlichen Forschung. Man hatte beider
Beurteilung der päpstlich-fränkischen Abmachungen des 8. Jhs. behauptet, in Ponthion
oder in Quierzy habe der Papst sich und die römische Kirche in aller Form rechtens
dem karolingischen König und dem fränkischen Staat kommendiert. Den Beweis dafür
hatte man in mehreren Stellen des Cod. Carolinus zu finden geglaubt, in denen von
commendare, committere, tradere und andererseits von defensio die Rede ist, um die
Beziehungen zwischen Papst Stephan und Pippin zum Ausdruck zu bringen. Diese
Kommendationstheorie und die Aufnahme Stephans in den fränkischen Königs-
schutz — der Vertrag von Ponthion sollte danach ein im Kerne germanischer Schutzver-
trag sein -- fand ein anderer Gelehrter vor allem noch in der Übereinstimmung des
entscheidenden Ausdruckes in manibus commendare mit dem fränkischen terminus der
Kommendation bestätigt, bis schließlich von dritter Seite die ganze Haltlosigkeit
und Unwahrscheinlichkeit dieser Kommendations- und Königsschutztheorie auf
Grund des mittelalterlichen Sprachgebrauches dargetan wurde, und zwar durch den
schlagenden Nachweis, daß die angezogenen Quellenstellen weder im Sinne des ger-
manischen noch des römischen weltlichen Rechtes gedeutet werden dürf.n, sondern
durchaus nur als Ausdruck kirchlicher Denk- und Redeweise und im bildlichen Sinn
zu verstehen sind.
12 Walter Stach: Mittellateinische Philologie und Geschichtswissenschaft
aus ihrem Angewiesensein auf eine wechselseitige Ergänzung,
daß erst über die arbeitsteilige Trennung hinweg, die Mommsen
einmal die widersinnige Scheidelinie der Fakultäten genannt hat,
der Zusammenschluß von mittellateinischer Philologie und
mittelalterlicher Geschichts wissenschaft zu einer Arbeitsgemein-
schaft das ergeben kann, was A. Hofmeister mit Recht als Leit-
gedanken für die Erforschung des Mittelalters gefordert hat:
Philologie in dem weiteren Sinne einer Kultur wissenschaft in
Zusammenarbeit mit der Geschichte.
13
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae.
Von
Adolf Hofmeister.
In meinem Besitz befindet sich aus dem Nachlaß des 1905
verstorbenen hansischen Geschichtsforschers Karl Koppmann
(aus Hamburg, seit 1884 Stadtarchivar in Rostock i. M.)! ein
Pergämentblatt (27 cm breit und 18—19 cm hoch), das auf beiden .
Seiten drei Spalten Schrift des 11. Jahrhunderts zeigt. Es hat
als Überzug eines Buchdeckels gedient. Ob die Hs. oder auch
nur das Werk, zu dessen Einband sie verarbeitet wurde, aus
Norddeutschland stammte, ist nicht ohne weiteres zu sagen“.
Einschlägige Vermerke fehlen. In dem freien Raum zwischen
der zweiten und dritten Spalte der Außenseite steht quer von
einer Hand des 13./14. Jahrhunderts: ‚Domine dominus noster
quam admirabile est nomen tuum‘ (Ps. 8, 2. 10).
Der erhaltene Text jeder Spalte umfaßt 28 Zeilen, von denen
die erste und die letzte mitunter beschnitten sind. Die Linien
sind in den drei Spalten der AuBenseite blind eingedrückt, auf
der Innenseite nicht besonders vorgezeichnet. Nur in der mitt-
leren Spalte jeder Seite sind die Zeilen vollständig erhalten; sie
sind (nur den beschriebenen Raum gerechnet) 9cm lang. Auf
der Außenseite ist in der ersten Spalte immer der Anfang (etwa
/ der Zeile), in der dritten Spalte immer das Ende der Zeilen
(durchschnittlich etwa 4—6 Buchstaben?) weggeschnitten; ent-
! Über Koppmann vgl. W. v. Bippen, Hansische Geschichtsblätter Jahrgang
1904— 1906, S. 9*—23*; A. Wohlwill, Mitteilungen d. Ver. f. Hamburg. Gesch. IX
Heft 1, Nr. 5/6, S. 57—67; E. Dragendorff, Beiträge z. Gesch. der Stadt Rostock
IV, 3. Heft, S. 3—6; F. Frensdorff in den Nachrichten von der Königl. Ges.
d. Wiss. zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen 1905, S. 22—33.
3 Doch würde der paläographische Befund zu norddeutscher Herkunft passen.
S. unten S. 19—22.
Einmal nur ein Buchstabe: „loquimufr) Nam“ S. 232 Z. 26—27 der Momm-
senschen Ausgabe (s. unten S. 40).
14 Adolf Hofmeister
sprechend fehlt auf der Innenseite den Zeilen der ersten Spalte
(= Spalte III der Außenseite) der Anfang (etwa 4-5 Buch-
staben), denen der letzten Spalte (= Spalte I der Außenseite)
der Schluß (etwa ?/, der Zeile). Die Zeilenfragmente von Spalte I
der Außenseite (= Spalte III der Innenseite) sind 5 cm, die von
Spalte III der Außenseite (= Spalte I der Innenseite) 7,5—7,9 cm
lang.
Die Hs., aus der unser Fragment stammt, war zweispaltig
geschrieben. Es enthält Teile zweier zusammenhängender
Blätter, also von 4 Seiten, und zwar so, daß Spalte II und III
der Außenseite zusammen die Recto-Seite, Spalte I und II der
Innenseite die zugehörige Verso-Seite desselben Blattes bildeten.
Spalte I der Außenseite und Spalte III der Innenseite gehörten
dagegen zu dem entsprechenden Blatt in der zweiten Hälfte
derselben Lage, und zwar so, daß Spalte III der Innenseite die
erste Spalte der Recto-Seite, Spalte I der Außenseite die zweite
Spalte der Verso-Seite dieses Blattes bildeten. Die ursprüngliche
Folge war also:
Außenseite Spalte II, III, Innenseite Spalte (T), (II); dann
eine Lücke, über deren Umfang gleich mehr zu sagen ist, und
dann Innenseite Spalte (III), darauf zwei weggeschnittene
Spalten, schlieBlich AuBenseite Spalte I.
27cm
JP il
DOX
I iH III
(II) (ID (I) *) Hier Beginn des
„ erhaltenen Tex
bcm gem 7,5-7,9 in
cm
)
(uo[teZ 82
ulo 61—81
Das Blatt stammt aus einer verlorenen Hs. von Cassiodors
Variae; es ist deren Herausgebern bisher unbekannt geblieben.
Sein Text beginnt (Spalte II der Außenseite) in Buch VIII 1
gegen Ende (in $ 5, S. 232, Zeile 5 der Ausgabe von Theodor
Mommsen, M. G., Auct. ant. XII, Berlin 1894) mit den Worten
„condicionibus concedatis“ und reicht zunächst bis zu den
Worten ,,optinere sine contentio[nibus]" im Anfang von VIII 2
(8 2, S. 232, Zeile 20). Er fährt dann fort (Spalte III der Außen-
seite), nach einer Lücke von nicht ganz 3%, Druckzeilen, in dem
|
|
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 15
Text von VIII2 von „quod de aliis potuit approſbari]“ (83, S. 232,
Zeile 23—24) bis „auctorem videret“ (8 5, S. 233, Zeile 7—8),
darauf (Spalte I der Innenseite), nach einer Lücke von reichlich
4 Druckzeilen, von „Ipraeteritorlum inmemores fuisse“ (8 6,
S. 233, Zeile 12) bis zu dem Schluß von VIII 2 „possit augere“
(8.233, Zeile 26). Es folgt dann (Spalte ILder Innenseite), nach einer
Lücke von fast 41/, Druckzeilen, der größte Teil von VIII 3 von
„gratia commutata“ (S 1, S. 234, Zeile 2) bis „ vos autem civitatis
Romane [so!] (S 4, S. 234, Zeile 16—17). Nun kommt eine
groBeLücke von über 5 Druckseiten ( — fast 153 Druckzeilen); erst
in VIII 10 setzt der Text (Spalte III der Innenseite) mit ,,sui
sine offensione“ (8 3, S. 239, Zeile 25) bis „[aequa]bilia dispone-
bat“ (S. 240, Zeile 11, in 8 5) wieder ein. Darauf folgt nach einer
Lücke von fast 41!/, Druckzeilen schließlich noch (Spalte I der
Außenseite) aus VIII 11 das Stück von „[excilpiendum est“
(S. 241, Zeile 24, in 8 1) bis „quod est felicissiimum]'* (S. 242,
Zeile 7, in 8 4). Es liegen also vor:
VUI 1$5 (ohne Anfang) — VIII 2 $ 2 (ohne Schluß) = fast 15 Druckzeilen;
1. Lücke = fast 3!/, Druckzeilen;
VIII 2 5 3 (ohne Anfang) — 5 (ohne Schluß) = 14!/, Druckzeilen ;
2. Lücke = 4!/, Druckzeilen;
$ 6 (letzte Worte) — 10 (Ende des Schreibens) = fast 14 !/, Druckzeilen ;
3. Lücke = fast 4!/, Druckzeilen;
VII 35 1 (ohne Anfang) — 4 (ohne die letzten Worte) = fast 15 Druckzeilen;
4. Lücke — fast 153 Druckzeilen;
VIII 10 $ 3 (Schlu8) — 5 (Mitte) — 14 Druckzeilen;
6. Lücke = fast 41!/, Druckzeilen;
VIII 11 $ 1 (ohne Anfang) — 4 (ohne Ende) = fast 14!/, Druckzeilen.
Danach läßt sich die ursprüngliche Größe eines vollständigen
Blattes der verlorenen Handschrift genau berechnen. Erhalten
sind von jeder Spalte 28 Zeilen“; sicher unten®, vielleicht auch
oben, sind weitere Zeilen weggeschnitten. Je 2 Zeilen der
Handschrift ergeben durchweg ein wenig mehr als eine Druck-
zeile. Es fehlen also in der 1., 2. und 3. Lücke je 7 Zeilen®.
— —
* Von Spalte I der Innenseite (VIII 2 $ 6—10) nur 27 Zeilen, da durch un-
gerades Beschneiden oben die 1. Zeile fast ganz verloren gegangen ist; dafür bei
den Spalten II der Außen- und der Innenseite noch kleine Reste der 29. Zeile.
& Wie Buchstabenreste zeigen.
* Man hat dabei zu berücksichtigen, daß teilweise auch die erhaltenen Zeilen
am Ende bzw. am Anfang unvollständig sind. S. oben S. 13 f.
16 Adolf Hofmeister
Jede Spalte umfaßte mithin ursprünglich 35 Zeilen. Die 5. Lücke
von fast 4115 Druckzeilen muß 2 volle Spalten (= 70 Zeilen)
und dazu die 7 Ergänzungszeilen, im ganzen also 77 Zeilen der
Handschrift enthalten haben. Die 153 Druckzeilen der großen
4. Lücke (zwischen Spalte II und III der Innenseite) sind 287 Zei-
len der Handschrift, d. h. 8 Spalten = 4 Seiten = 2 Blättern oder
1 Doppelblatt gleichzusetzen. Mit anderen Worten: hier ist
das innerste Doppelblatt einer Lage verloren gegangen, und das
Fragment ist ein Stück des zweitinnersten Doppelblattes (also
des 3. bei einem Quaternio). Wir werden später mit großer
Wahrscheinlichkeit noch genauer feststellen kónnen, um die
wievielte Lage der Handschrift und welche Blätter derselben
es sich handelt.
Die erhaltenen 28 Zeilen jeder Spalte sind 18—19 cm hoch.
Rechnet man dazu die weggeschnittenen 7 Zeilen = gut 4 cm
und einen kleinen Rand oben oder unten, so erhált man eine
ursprüngliche Hóhe von rund 26 cm (eher etwas mehr). Die
Breite ist mindestens auf rund 23 cm (oder etwas mehr) anzu-
setzen, da die beiden in der vollen Zeilenbreite erhaltenen
(Innen-) Spalten, den beiderseitigen Rand eingerechnet je 11 1⁄4 cm
breit sind. Die Handschrift war also beinahe quadratisch, eher
eine Kleinigkeit höher als breit.
Die Schrift des Fragmentum Koppmannianum (Ko), wie
unser Stück genannt sei, zeigt eine gleichmäßige, schlichte, aber
nicht ungefällige Hand des 11. Jahrhunderts. Die Buchstaben
sind klein, Buchstaben mit Oberlànge durchweg etwa 4 mm
groß, Buchstaben mit Unterlänge meist etwas kleiner und mehr
wechselnd, etwa 2 ½ —3 ½ mm, Buchstaben ohne Ober- und Unter-
länge etwa 2 mm groß. Von den Kennzeichen der Schriftentwick-
lung des 12. Jahrhunderts? ist nichts zu sehen. Die Brechungs-
erscheinungen sind in Ko erst in den Anfängen. Von einer
7 Vgl. z. B. B. Bretholz, Lateinische Paläographie (Meisters Grundriß der
Geschichts wissenschaft I 1, 3. Aufl., 1926) S. 94. Eine Fülle von Einzelbeobach-
tungen ist in den Erläuterungen in Chrousts Monumenta Palaeographica nieder-
gelegt. Ein ausführliches Gesamtregister aller darin erwähnten Schriftmerkmale
(Kürzungen, Buchstabenformen, Ligaturen, Interpunktionszeichen und dgl.) ist
dringend erforderlich. — Bei der Untersuchung der Schrift haben mich seinerzeit
schon die Teilnehmer meiner paläographischen Ubungen im Sommer 1914, be-
sonders die Herren Dr. Posner, Herbert Hahn (t) und Bótiger, durch scharfsinnige
Beobachtungen unterstützt.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 17
„Umwandlung der Rundungen in gebrochene Formen“ kann
nicht gesprochen werden, und von der beginnenden „Ausgestal-
tung der Abgrenzungsstriche am Kopfe und am Fuße der Schäfte“
oder einer Gabelung® zeigen sich nur eben schwache Anfänge bei
einigen, nicht allen Oberschäften, am regelmäßigsten beim d
(aber auch nicht immer), viel seltener bei l, b und h, und ganz
vereinzelt bei Unterscháften am p und am q, wo sie bei
Otloh von St. Emmeram (2. Hälfte des 11. Jahrhunderts) schon
auftreten. Das s hat immer, auch am Wortende, die lange Form
(1), die niemals unter die Zeile hinunterreicht. Nur wenn das s
am Wortende, was hin und wieder, aber nur zugleich am Zeilen-
ende vorkommt, hochgestellt ist (z. B. decessore®, etas), treffen
wir die runde Form, die in dieser Anwendung gerade einen
Anhaltspunkt für das 11. Jahrhundert bietet, wáhrend sie im
12. Jahrhundert nicht nur am Wortende auf der Zeile erscheint
(so schon Otloh®), sondern auch in das Wortinnere eindringt.
Für das 11. Jahrhundert sprechen alle Beobachtungen, die sich
hinsichtlich der Buchstabenformen und der Buchstabenverbin-
dung wie hinsichtlich der Rechtschreibung und der Verwendung
von Kürzungen machen lassen. Das o ist ziemlich kreisrund, der
Schaft des a deutlich schräg gestellt (à). Beim m und n hat
der letzte Schaft unten einen kleinen rechts aufwärts weisenden
Abstrich, während der erste, bzw. der erste und der zweite
Schaft meist unten etwas nach links gekrümmt ist und mehr oder
weniger spitz absetzt!!. Die Buchstaben n und u sind deutlich
unterschieden. Von Ligaturen findet sich nur regelmäßig st (f)
und & (= et), dieses sowohl alleinstehend wie, aber ganz ver-
einzelt, als Verbalendung (assol&), niemals aber im Innern eines
* Wie sie übrigens schon viel früher vorkommt, z. B. im Liber aureus von St,
Emmeram (Mitte des 9. Jahrhunderts) bei Chroust, Mon. Pal. I. Serie, Lief. II,
Taf. 5.
® Bretholz S. 92. Die Schrift Otlohs in cod. lat. Monac. 14317 (zwischen
1062 und 1062 oder nach 1066, bei Chroust I. Serie, Lief. IIT, Taf. 7) ist überhaupt,
bei beträchtlichen Abweichungen im einzelnen, im ganzen Ko recht ähnlich; auch
die beiden Schülerhände in cod. lat. Monac. 14673 (Otlohs Liber visionum mit
eigenhändigen Korrekturen, 1062/66—c. 1075), Chroust ebd. Taf. 8b, stehen Ko
nahe, verwenden aber (wie auch Otlohs Glossenschrift in cod. lat. Monac. 14490,
ebd. Taf. 8a) sehr reichlich Kürzungen.
1* So auch bei Otloh.
1 Bei Otloh „geradlinig und gleich stark“.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 2
18 Adolf Hofmeister
Wortes; ferner regelmäßig 9x (= orum, mit Kürzung) und
recht häufig am Wortende $ (= us), was sich z. B. auch in der
Handschrift der Hildesheimer Annalen (jetzt Paris, National-
bibliothek Lat. 6114) findet!?. Neuansetzen der Feder in dem,
wie üblich, in zwei Zügen geschriebenen c tritt in der Regel sehr
deutlich in die Erscheinung. Von den Majuskelbuchstaben mag
das A = A oder A 2? und G = G 13 bemerkt sein; U erscheint
immer in der spitzen Form V, M meist unzial = Q, einmal
= M. Das Q ist fast dreieckig, nach unten breiter werdend, mit
langer Zunge: A, .
Innerhalb der Worte sind die Buchstaben háufig mehr oder
weniger eng aneinander gerückt, so daß der Eindruck fort-
laufender Schrift erweckt wird; ebenso oft aber stehen sie auch
deutlich gesondert nebeneinander. Die Worttrennung ist mit
verschwindenden Ausnahmen (meist in zusammengesetzten
Wörtern wie que uis = quaevis, nihil ominus = nihilominus, quod
ammodo = quodammodo, aber auch qui a = quia und um-
gekehrt nama = nam a) richtig durchgeführt; hin und wieder
ist das Umstandswort nicht für sich geschrieben (wie anobis =
a nobis) oder die nachgestellte Partikel als ein selbständiges
Wort behandelt (wie romanis que = Romanisque, teneri que =
tenerique). Einmal findet sich eine falsche Satztrennung (S. 234,
2 Mommsen: recte nobiscum agi credimus; Si aui ueneranda
iudicia subsequamur).
Die Satzanfánge werden regelmäßig durch Majuskeln hervor-
gehoben. Als Satzzeichen finden sich, * und ;, dreimal, davon
einmal am Schluß eines Briefes, *» für die große Pause (Punkt),
. sowohl für die kleine wie für die groBe Pause (Komma oder
Punkt), 7 für das Fragezeichen. Die Überschriften der einzelnen
Briefe waren abgesetzt und in Majuskeln geschrieben; der Brief
begann mit einer farbigen Initiale!$5,
Die Rechtschreibung ist die im 11. Jahrhundert übliche mit
nur wenigen Besonderheiten, also für das Mittelalter recht gut.
1$ S. Taf. III und IV im Neuen Archiv der Ges. f. ält. deutsche Geschichts-
kunde II.
1 Vgl. in der Handschrift der Hildesheimer Annalen auf Taf. II (Aribo)
und ebenda (Gosleri).
14 Einmal auch für das Komma.
15 Die Farbe ist nicht mehr zu bestimmen.
„„ — — 7
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 19
Findet sich einmal eine so auffällige Fehlschreibung wie , fili-
citer'* statt „feliciter“, so darf man darin vielleicht einen Rest
der alten Vertauschung von e und i in den Jahrhunderten des
Überganges vom Altertum zum Mittelalter erblicken, der aus dem
Archetyp in Ko übergegangen, in den übrigen Handschriften
verbessert worden ist; Cassiodor kónnte übrigens selber recht
gut „filiciter“ geschrieben baben. Doch ist natürlich nicht zu
entscheiden, ob eine solche verwilderte Schreibung in dem
Archetyp des Werkes oder nur in dem Archetyp der Hand-
schriftenklasse IV, zu der Ko gehórt, ihren Ursprung hat. Áhnlich
ist vielleicht „agnosceris“ (so auch B ursprünglich statt „agnos-
ceres") und „optari statt „optare“ (so nur jüngere Hand-
schriften) zu beurteilen!®. Auch „positis“ (statt „ possitis“)
das in B wiederkehrt, ist von Ko wohl aus seiner Vorlage über-
nommen. In den Endungen der 1. Deklination steht noch durch-
weg das geschwänzte e (immer in einer durch den Doppelschwanz
beachtenswerten Form: e), nur ganz vereinzelt einfaches e
(diue memorie und ROQQ€), wie es im 12. Jahrhundert rasch
häufig und von rund 1200 an allein herrschend wird, und niemals
mehrae. Auch sonst kommt wohl einmal oe (coetum, aber prelia),
niemals aber ae vor. Das doppelschwänzige e überwiegt auch
durchaus in dem Relativum que (vereinzelt que, quedam).
Wir haben auch gquabilem, c/ teris, aber einfaches e in etas,
hec, sepe, primeuus, leticię und immer in der stets ausgeschriebe-
nen, nie gekürzten Vorsilbe prae-: precessit, predicta, presenti
usw. Neben obtestacione steht optinere. Bei ti und ci wird
offenbar nach richtiger Scheidung gestrebt (audaciam, condi-
cionibus, suspicio, aber clementiam, commonitio, contentio,
interpositione, potius, sententia, servitio), doch nicht immer mit
Erfolg (iusticiam, leticig, propicio, sedicio); regelmäßig wird in
den Wörtern auf -atio c statt t gesetzt (consideracio, generacio
usw.) Neben einem richtigen nuntii, nuntiata steht einmal
nunctiamus, und statt actione finden wir einmal accione. Diese
Mißschreibung kehrt „häufig, wenn auch nicht regelmäßig‘
wieder in der Handschrift der Hildesheimer Annalen in dem
Abschnitt 1000—1040 (perfeccione, benediccionem, eleccioni,
1€ S. unten S. 33 f., 46. Die Schreibung „ optari“ muB mindestens schon in dem
gemeinsamen Archetyp der Klassen IV und V (aus denen VI erst abgeleitet ist)
gestanden haben.
2*
20 Adolf Hofmeister
defeccione), der nach Breßlaus Urteil im Zusammenhang in der
2. Hälfte des 11. Jahrhunderts geschrieben ist!” und überhaupt
in dem Gesamtcharakter der Schrift (nicht in allen Einzelheiten)
Verwandtschaft mit dem allerdings regelmäßiger geschriebenen
Ko aufweist.
Ebenso unverkennbar, ja, vielleicht noch enger ist die Über-
einstimmung des Gesamtcharakters der Schrift mit der Leipziger
Handschrift von Cassiodors Psalmenerklärung (Expositio in
psalmos), die höchst wahrscheinlich auf Befehl des Bischofs
Imad (Immed) von Paderborn (geweiht 25. Dezember 1051,
gestorben 3. Februar 107618) geschrieben und jedenfalls von
diesem der Domkirche in Paderborn, also jedenfalls vor 1076,
geschenkt wurde“. Im einzelnen und in Kleinigkeiten sind frei-
lich auch in der Leipzig-Paderborner Handschrift die Buchstaben
anders geformt, namentlich die Majuskeln, und von ein und
demselben Schreiber kann nicht die Rede sein. Aber der Ge-
samteindruck ist fast der gleiche. Genau entsprechend ist der
Kürzungsstrich — gebildet, genau gleich die Verbindung &
(= orum). Dazu stimmen beide Handschriften in einer weiteren
Eigentümlichkeit überein, die an sich schon auf ein verhältnis-
mäßig hohes Alter von Ko hindeutet. In der Leipzig-Paderborner
Handschrift sind „Kürzungen viel spárlicher angewandt, als es
17 N. Archiv II (1877), 564 A. 1 und S. 565 A. 2; dazu Taf. II—V (cod. Paris.
lat. 6114). Die hier wiederholt auftretende Ligatur Y) = ni kennt Ko nicht, wo
&uch sonst keine Spur kursiver Bestandteile mehr vorliegt.
18 Hauck, Kirchengesch. Deutschlands im MA. IIP.*, 988.
. 9? Handschrift der Leipziger Stadtbibliothek Rep. II fol. 51; Arndt-Tangl,
Schrifttafeln zur Erlernung der latein. Palüographie II* (1906), Taf. 56. Der von
Pertz, Archiv VI, 214, erwähnte Brief Imads (an Papst Gregor VIL) auf der letzten
Seite der Handschrift ist von B. Schmeidler im N. Archiv XXXVII (1912), 804ff.
veróffentlicht worden. Schmeidler bemerkt (S. 805, A. 2), daB in dem Cassiodor-
Text der Handschrift zwei Schreiber zu unterscheiden sind; bei Arndt-Tangl ist
die Hand des zweiten Schreibers (f. 871—172) wiedergegeben. — Gar keine Ähnlich-
keit zeigt Ko mit der nordfranzósischen Schrift des 11. Jahrhunderts (z. B. bei
Thompson, An Intróduction to Greek and Latin Palaeography, Oxford 1912,
S. 425, Nr. 167 aus St. Bertin 1022—41) oder mit der Originalhandschrift von Sige-
berts Gesta abbatum Gemblacensium, Arndt-Tangl IE, Taf. 56a, die, obwohl
vor 1071 geschrieben, doch entschieden jünger wirkt als Ko; man muß freilich die
vorgeschrittenere Schriftentwicklung im Westen gegenüber dem Osten und Norden
berücksichtigen (denn an dieser altbewährten Anschauung muß m. E. durchaus
festgehalten werden).
pv
**.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 21
der Abfassungszeit der Handschrift entspricht‘‘, und in Ko sind
diese womöglich noch seltener“. Von der sehr eigentümlichen
Schreibung eiam = etiam abgesehen, die ich nirgends sonst
nachzuweisen vermag?!, findet sich nichts, was über die aller-
gewóhnlichsten und dauernd ganz allgemein gebrauchten Kür-
zungen hinausgeht: außer den ständig angewandten Formen von
noster und vester (nri, nro, ura, uros usw.) und der Endung %
= orum aut = autem, dno = domino, ee = esse, glosi = gloriosi,
gra usw. — gratia usw., int = inter, omium, omibus ( — omnium,
omnibus), poplos = populos, -d; = que, qd = quod, getem
= quietem, qm = quoniam, qq; = quoque, und auch dieses
wenige nicht alles in allen Fällen. Niemals kommen die Zeichen
für die Endungen us = 9 und ur = e^ vor. Selbst die Bezeich-
nung des m nach einem Vokal durch den Kürzungsstrich ist zwar
häufig, aber doch nur sehr in der Minderheit der Fälle angewandt,
am häufigsten nach u, öfter auch nach a, ganz vereinzelt nach e
(principe); es findet sich aber auch eni — enim und comune,
comuni, comutata. Ständig findet sich p = per, auch in sem =
semper, und £ = pro (einmal Promissio ausgeschrieben), auch
im Innern des Wortstamms (wie apgpbari), während pre-
immer ausgeschrieben ist*.
= In Ko fehlen z.B. die in Lpz. häufigen Kürzungen e = est, n = non.
n W. M. Lindsay, Notae Latinae. An Account of abbreviation in latin mss.
of the early minuscule period (c. 700—850), Cambridge 1915, kennt sie noch nicht;
er hat nur (S. 771.) et, eti (irisch) = etiam. Auch in der Leipzig-Paderborner Hand-
schrift ist sie bisher nieht bemerkt. Die sich dort findende nicht sehr gewóhnliche
Kürzung qid — quid ist aus Chroust, Mon. Pal., mehrfach zu belegen: aus Köln
(985—999 und vor 1022: qid), aus Echternach (1002/7 oder 1039/43: qid, auch
qis = quis), aus Essen (1036—56: qid); Mon. Pal. II. Serie, Lief. VII, Taf. 9; Lief.
VIIL Taf. 2; Lief. X, Taf. 1; Lief. XXIV, Taf. 10. Diese Handschriften zeigen
keine n&heren Berührungen mit Ko.
23 Sehr nahe stehen Ko auch die Tegernseer Schriften bei Chroust, Mon.
Pal. II. Serie, Lief. I, Taf. 7 (cod. lat. Monac. 18227, Homilien des Heimo, geschrieben
von Ellinger, später 1018—26 und 1032—41 Abt von Tegernsee, } 1056) und be-
sonders Taf. 8b (cod. lat. Monac. 18655a, Cassians Collat. patrum, geschrieben von
Sigipoldus, vielleicht dem Sigipold, der 1031 den Abt Ellinger nach Benediktbeuern
begleitete), die aber entschieden mehr Kürzungen als Ko aufweisen. Ein Zusammen-
hang zwischen den Schreibschulen von Tegernsee und Hildesheim-Paderborn ist
leicht denkbar. Godehard, der 1022 das Bistum Hildesheim übernahm, hatte 1001/2
als Abt die Reform in Tegernsee durchgeführt und die Beziehungen zu diesem Kloster
auch weiter aufrechterhalten (Hauck, Kirchengesch. Deutschlands III.“, 464). —
Nicht un&hnlich ist Ko im allgemeinen die Hand B der Bernwardbibel in Hildee-
22 Adolf Hofmeister
Der Schriftbefund führt also zeitlich in die 2. Hälfte des
11. Jahrhunderts, und zwar eher der Mitte als dem Ausgange zu,
und örtlich vielleicht nach Niedersachsen, wo wir in Hildesheim
und in Paderborn die nächsten Entsprechungen fanden“. Die
Domschule zu Hildesheim, wo auch der spätere Kaiser Hein-
rich II. als ursprünglich zum Geistlichen bestimmt seinen ge-
lehrten Unterricht erhielt, war seit den Zeiten des Scholasters
Thangmar und seines Schülers, des Bischofs Bernward (993 bis
1022), ein berühmter und blühender Hauptsitz der Gelehrsam-
keit im östlichen Sachsen. Bischof Godehards (1022—1038)
zweiter Nachfolger Azelin (1044—1054) berief den Schwaben
Benno, den Schüler Hermanns des Lahmen von Reichenau und
späteren Bischof von Osnabrück, als Domscholaster nach Hildes-
heim, wo dann unter Azelins Nachfolger Hezelo (1054—1079), wie
Godehard aus Bayern, der Kanonist Bernhard, der Lehrer des
Chronisten Bernold von St. Blasien, früher Vorsteher der Kon-
stanzer Domschule, wirkte und nicht nur Theologie, sondern
auch vorzüglich klassische Studien getrieben wurden“. In
Thangmars Schule hat Bischof Meinwerk von Paderborn (1009
bis 1036) gesessen, der, selber freilich weniger gelehrt, doch auch
in seiner Bischofsstadt einen Aufschwung der Schule hervor-
rief. Meinwerks Neffe war der Bischof Imad (1051—1076),
unter dem nach Wattenbachs Urteil die Blüte der Studien in
Paderborn ihren Hóhepunkt erreichte. Hier wirkte als Lehrer
Altmann, der spátere Bischof von Passau (1065—1091), und
hier schrieb unter Imad der Domherr Theoderich, ein Schüler
Lanfranks, der also ebenso wie Hezelo von Hildesheim in Frank-
reich Studien gemacht haben muß. Aus Frankreich könnte so
heim, Chroust, Mon. Pal. II. Serie, Lief. XX, Taf. 1. Keine nähere Verwandtschaft
zeigt das sogen. Evangeliar Bischof Hezilos von Hildesheim (1054—1079), Chroust
ebd. Taf. 3 (sicher nicht lange nach der Mitte des 11. Jahrhunderts geschrieben).
In beiden Fällen sind die Kürzungen spärlich.
* Vgl. oben S. 13, 19 f.
* Vgl. F. A. Specht, Gesch. des Unterrichtswesens in Deutschland bis zur
Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, S. 343ff.; Wattenbach, Deutsch-
lands Geschichtsquellen im MA. I“, 382ff., II“, 24ff., 33.
* Über Meinwerk vgl. jetzt die Ausgabe der Vita Meinwerci von F. Tenck-
hoff, Hannover 1921 (MG. SS. rer. Germ.) und J. Bauermann in Westfälischo
Lebensbilder Hauptreihe I, Heft 1 (1930), S. 18—31.
* Wattenbach, GQu. II“, 36f., Hauck, KGD. III*. 966 f. Besonders
P. Scheffer-Boichorst, Annales Patherbrunnenses, Innsbruck 1870, S. 68ff.,
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 28
z. B. auch der Text der Variae nach Sachsen gekommen sein, der
hier, wie ich annehmen möchte, sei es nun in Hildesheim oder in
Paderborn in Ko abgeschrieben wurde“, wenn er nicht, was ich
eigentlich lieber glauben würde, auf die alte Lorscher Hand-
schrift des 9./10. Jahrhunderts oder eine andere süd- oder mittel-
deutsche Handschrift zurückgeht“ . Nachrichten über eine
sächsische Handschrift der Variae liegen freilich, so viel ich sehe,
nicht vor; in dem normannischen Bec, wo Lanfranc lehrte, hat
man wenigstens im 12. Jahrhundert zwei Handschriften des
Werkes besessen“. Cassiodors Variae, die seit dem 12. und
13. Jahrhundert zu den verbreitetsten Werken gehörten —
Mommsen zählt weit über 100 Handschriften auf —, sind im
Mittelalter nicht ihres Inhalts, sondern ihrer Form wegen als
Stilmuster für die Briefkunst immer wieder abgeschrieben und
zweifellos auch gelesen worden“. Es wäre wunderbar, wenn
sich die Spuren dieser Benutzung nicht auch in der erhaltenen
Brief- oder Briefstellerliteratur des Mittelalters sollten nach-
weisen lassen. Es ist sehr möglich, daß auf diesem Wege auch
für die von uns vermutete sächsische Handschrift, als deren
Rest vielleicht Ko anzusprechen ist, noch greifbarere Gestalt
gewonnen werden kann. Beobachtungen in dieser Richtung, die
besonders für das 11. und 12. Jahrhundert wichtig wären, sind
mir bisher nicht bekannt geworden?!,
&uch über Theoderich und die von Imad gestifteten Hss., nach Jul. Evelt, Zur
Geschichte des Studien- und Unterrichtswesens in der deutschen und franzósischen
Kirche des 11. Jahrhunderts II, S. 22f., Progr. des Paderborner Seminars 1857. —
Die schon von Steindorff, Jahrb. Heinrichs III. Bd. I, 232, A. ö gebührend zurück-
gewiesene Angabe der späten und hier ganz unzuverlüssigen Vita Adalberonis (ep.
Wirzburg.) c. 2 und 4, MG. SS. XII 130, daß Altmann in Paris studiert habe, hätte
Specht S.393 nicht wiederholen sollen. Vgl. auch N. Archiv XXXVII, 128.
T? Vgl. unten über die mutmaßliche Heimat der Hss.-Klasse, zu der Ko ge-
hórt. Natürlich ist aber auch Herkunft aus Italien móglich, woher nach Mommsen
das Hallenser Fragment des 11. Jahrhunderts (D) stammt, unten S. 29 u. 46.
Vgl. unten S. 27, A. 38.
* M. Manitius im N. Archiv XXXII, 652: „epistole Cassiodori" und „liber
variarum Cassiodori".
** Vgl. auch M. Manitius, Gesch. der lateinischen Literatur des Mittelalters I
(München 1911), S. 40f. Im 2. Bande kommt, so viel ich sehe, Manitius auf die
Variae nirgends zu sprechen.
*! Herr Prof. Tenckhoff (t) in Paderborn hat, wie er mir mitteilte, in der Vita Mein-
werci keine Spur der Benutzung der Variae gefunden; auch für die Ann. Patherbrunn,
und den Cosmidromius des Gobelinus Person ist ihm von einer solchen nichts bekannt.
24 Adolf Hofmeister
Diese Auseinandersetzungen waren unumgänglich, weil, wenn
Ko noch aus dem 11. Jahrhundert stammt — und daran ist kein
Zweifel möglich —, es sich um ein Stück handelt, das hohe Be-
achtung verdient. Ko stellt nicht nur die älteste erhaltene Über-
lieferung der Variae dar, sondern auch eine Überlieferung, die
den besten bisher bekannten Textzeugen ebenbürtig zur Seite
tritt, ja, sie noch übertrifft. Nur ein noch weniger umfangreiches
Pergamentblatt aus Halle mit noch nicht zwei Seiten Text (D)
reicht ebenso wie Ko bis ins 11. Jahrhundert zurück. Trotz
seines geringen Umfanges trägt Ko zu einer sicheren Entscheidung
-über die richtige Lesung bei, indem es teils den Text von Momm-
sen bestätigt, teils (sicher in drei, mit allergrößter Wahrschein-
lichkeit auch in einem vierten Falle) ihn als falsch erweist, teilsauch
das Vorhandensein von Fehlern nicht nur im Archetyp der
Klasse IV (in zwei, vielleicht drei Fällen), sondern auch (in einem,
vielleicht in vier Fällen) im gemeinsamen Archetyp aller für
den Anfang des VIII. Buches vorliegenden Klassen (III, IV, V,
VI) bekräftigt. |
Die Überlieferung der Variae ist in Mommsens Ausgabe ge-
sichtet und, soweit damals bekannt und irgend erheblich, für
die Textherstellung verwertet. Neben der gewaltigen Arbeit,
die damit grundlegend geleistet worden ist, tritt das, was etwa
im einzelnen hier oder von anderen in Zukunft zur Textkritik
beigesteuert werden kann, natürlich in den Hintergrund. Die
von Mommsen geschaffene Textgrundlage wird vermutlich, falls
nicht wenig wahrscheinliche Entdeckungen uralter, über den
verlorenen Lorscher Codex des 9./10. Jahrhunderts?? hinauf-
führenden Handschriften“ hinzukommen sollten, nicht erschüttert
33 S. unten S. 27, A. 38.
33 Wie es die Hs. des 12. Jahrhunderts aus Brauweiler in der Stiftsbibliothek zu
Linköping nicht ist, obwohl sie nach EmilHägg, Linköpingshandskriften af Cassio-
dorus’ Variae. Akademisk Afhandling. Göteborg 1911 (vgl. N. Archiv XXXVIII,
327, Nr. 33), nicht geringen Wert hat. Die Schrift von Hägg, dem ich für freund-
liche Unterstützung zu danken habe, zeigt an der Hand einer genauen Kollation, daß
diese neue Hs. A zur Gruppe 1 der II. Klasse gehört (Buch I—VII, 41 enthaltend)
und hier näher zu P D als zu L R tritt. Die Hs. 4 ist die zweitbeste Hs. dieser
Gruppe (nächst L), besser als P, und hat in Zukunft statt P in Zweifelsfällen die Ent-
scheidung zu geben; sie sichert mehrfach bisher nur zweifelnd angenommene Les-
arten und schließt andere bisher aufgenommene Lesarten aus. Die Hs. wurde auf der
Frankfurter Frühjahrsmesse 1699 von dem spätern Erzbischof Erik Benzelius ge-
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 25
werden, und selbst dann würde es sich wohl nur um die Ersetzung
jüngerer und abgeleiteter Zeugen der Überlieferung durch ältere
und ursprünglichere, um eine Vereinfachung des Apparats und
eine größere Sicherung des Wortlautes im einzelnen, nicht um
einen Umsturz handeln. Es geschieht also mit dem Vorbehalt
aller schuldigen Achtung vor der als Ganzes maßgebend bleiben-
den Leistung, wenn hier auch abweichenden Meinungen Raum
gegeben wird.
Die Überlieferung der Variae ist zwar sehr ausgedehnt, aber
durchaus nicht allgemein als gut zu bezeichnen. Mommsen
führt die gesamte Uberlieferung“ der Variae auf einen nicht
eben alten und nicht fehlerfreien Archetyp zurück, der nicht
lange vor dem 11. Jahrhundert geschrieben sei (S. XXXIX ff.).
Er unterscheidet sechs Klassen, die sich aber im Grunde auf vier
zurückführen lassen, da II (B. I—VII 41) und IV (B. VII 42 bis
XII) als die zunächst nur zufällig auseinandergerissenen Teile
ein und desselben Archetyps betrachtet werden kónnen und VI
einen auf I, III und die schlechteren und selbst bereits mit V
kauft, dessen Handschriftensammlung dann durch seinen Sohn Car] Jesper Benzelius,
Bischof von Strengnás, nach Linköping geschenkt wurde. Die Hs. trägt die Bezeich-
nung XXXVI, B. 46, N. XLVI (KF. 46). — Nichts Nüheres bekannt ist mir über die
junge Hs. in Valencia, Universit&tsbibl. Nr. 507, mb. s. 16. (N. A. 45, 1923, S. 144,
Nr. 22), wenn sie nicht etwa mit dem auch nicht näher bestimmten Valentianus Nr. 71
bei Mommsen S. CIX identisch ist, der 11 Bücher enthalten soll (aber als „mem-
branaceus formae quadratae saec. XIV“ bezeichnet wird). Nicht wieder zutage
gekommen sind anscheinend die in der Churer Dombibliothek 1457 und in der Neithart-
schen Familienbibliothek zu Ulm 1465 vorhandenen Hss. (die Ulmer „in pergameno");
P. Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz I.
Die Bistümer Konstanz und Chur (München 1918), S. 369 (Ulm); ders., Ein Bücher-
verzeichnis der Dombibliothek von Chur a. d. J. 1457 (Sb. d. Bayr. Akad. d. Wiss.
Philos. -philol. u. hist. Kl, München 1920, 4. Abh.) S. 6; M. Manitius, N.
Archiv 48 (1929/30), S. 155. Aus alten Bücherverzeichnissen nennt Manitius,
N. A. 36 (1911), S. 758 noch Has. von Arezzo 1338 (Testament des Notars Simon di Ser
Benvenuto della Temha; vgl. Mommsen S. LXXIX über 2 Blätter des 13/14. Jhdts.
in Aretiner Privatbesitz), Lüttich 1460 (Kirche St. Paul, „in pergameno“), Fulda
16. Jhdt. (anscheinend doch nicht Mommsens L, der Leidensis ex libris Vulcanii
n. 46 aus der 2. Hälfte des 12. Jhdts.) und Blois 1518 (sicherlich eine der heutigen
Pariser Hss. der Nationalbibliothek, am ersten wohl etwa der Lat. 2187 aus dem
14. Jhdt , den Mommsen S. XCV Nr. 65 aufführt).
** Einen Vorbehalt, der aber doch in dem ersten Fall vielleicht nicht genügend be-
gründet ist, macht er für das den Klassen III und IV gemeinsame Stück, B. VII, 42 bis
VIII. 10, und außerdem natürlich für den auch inschriftlich überlieferten Satz aus VII, 7.
26 Adolf Hofmeister
kontaminierten Handschriften von IV zurückgehenden Mischtext
darstellt. Vor allen Dingen ist die Überlieferung allgemein ver-
hältnismäßig nicht alt — die große Masse der Handschriften
gehört erst dem 14. und 15. Jahrhundert an, doch gibt es auch
nicht wenige bereits aus dem 12. und 13. Jahrhundert — und
für die verschiedenen Teile des umfangreichen Werkes ver-
schieden. Vollständige Handschriften, die auf eine alte, ur-
sprüngliche Überlieferung zurückgingen, gibt es nicht. Anschei-
nend erst im Laufe des 12. Jahrhunderts hat man wieder be-
gonnen, solche aus den verschiedenen Klassen der Überlieferung
zusammenzustellen®, und auf diesem Wege ist man dann im
13. und namentlich im 14. und 15. Jahrhundert fortgefahren.
So ist die große Klasse VI (E, F aus dem 14. Jahrhundert u. a.)
aus I, III und V sowie der schlechteren, selbst bereits mit V
kontaminierten Nebenform von IV (besonders K) zusammen-
gestellt worden. Ihr Text ist durchweg außerordentlich schlecht
und steht damit auf der gleichen niedrigen Stufe, wie der Text
der fünf letzten Bücher, der in einer sehr großen Anzahl von
Handschriften der I. (wie M, 12. Jahrhundert, für I die beste
Handschrift, und N, 13. Jahrhundert) und II. Klasse (wie K,
13. Jahrhundert, für II unter den minderen die bei weitem
beste) aus an sich schon mehr oder weniger schlechten oder noch
erhaltenen Vertretern von IV hinzugefügt ist““. Diese voll-
ständigen Handschriften, bei weitem die große Mehrzahl aller
vorhandenen, sind für die Textherstellung fast völlig wertlos
und nur deswegen überhaupt heranzuziehen, weil in ihnen eine
vollständigere und bessere Handschrift von III (heute mit der
überhaupt sehr schlechten Handschrift T aus dem 14. Jahr-
hundert in B. VIII, 10, S. 241, 10 „sensum relinquitur" ab-
brechend)?? benutzt ist und weil am Schluß von B. VII außer
3 Daß es ursprünglich vollständige Hss. gab und die ZerreiBung zunächst nur
durch zufüllige Verstümmelung herbeigeführt wurde, zeigen, wie Mommsen mit Recht
hervorhebt, die vollständigen Inhaltsverzeichnisse zu B. IV in Klasse I (mit IV, 39
abbrechend) und zu B. VII in Klasse II (mit VII, 41 abbrechend). -
3° [n andern Hss. sind nur äußerlich 2 an sich verschiedene Stücke zusammen-
gebunden, wie in Z für I eine Abschrift des 12. Jahrhunderts aus M und eine Hs. des
13. Jahrhunderts von IV. Eine Abschrift aus einer so zusammengebundenen Hs.
von I und einer Hs. von III liegt in T, 14. Jahrhundert, vor.
7 Nur in VI ist die Lücke in B. VIII, 13, S. 244, 2 ausgefüllt, und offenbar
richtig, Mommsen S. LXXVII.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 27
ihnen für den ersten Satz von VII 42, S. 223, 5—10 überhaupt
nur die beiden recht schlechten Handschriften von III (T und U,
letztere bereits einige Zeilen spáter, S. 223, 17 ,, Nos enim cum"
abbrechend) und für den Rest von VII, 42 bis zum SchluB (VII,
47) neben T nur die allerdings beste vollstándige Handschrift .
von IV (B) vorliegen.
Die Überlieferung ist gut für die ersten sieben Bücher (ge-
nauer bis VII 41), namentlich für B. I—IV 39, wo neben den
alten, besonders in Deutschland (Fulda, Prüfening, Lorsch u. a.)
heimischen Handschriften der II. Klasse (B. I—VII 41) aus dem
13. Jahrhundert?® auch die schon im 12. Jahrhundert in Frank-
reich verbreitete (nach Mommsens Annahme S. XLVI, die aber
recht zweifelhaft scheint und kaum zutrifft, von Südfrankreich
ausgehende) Klasse I vorliegt (B. I—IV 39), aber auch noch
weiter bis VII 41, solange uns die Klasse II treu bleibt. Von
B. VI an steht ihr die freilich nur sehr schlecht und spát über-
lieferte, aber außerordentlich wichtige III. Klasse zur Seite, die
mit Lücken in U (Cesena Bibl. Malatest. plut. 13,3 dextr., 15. Jahr-
hundert) bis VII 42 (S. 223, 17 „Nos enim cum“) und in T (Bres-
lau Stadtbibl. Nr. 63, früher Rediger. Nr. 14, 14. Jahrhundert)
bis VIII 10 (S. 241, 10 „sensum relinquitur“) reicht. Neben III
Daneben viele jüngere. Die Herkunft des Vatic. Palat. Nr. 273, 12. Jahr-
hundert (P) scheint nach Mommsen nicht festzustehen. Doch erkennt Paul Leh-
mann, Johannes Sichardus und die von ihm benutzten Bibliotheken und Hand-
schriften, München 1911 (Traubes Quellen und Untersuchungen zur lateinischen
Philologie des Mittelalters IV, 1), S. 189 (warum zweifelnd S. 130?) in ihm wohl
richtig die im Anfang des 16. Jahrhunderts von Johann von Dalberg aus Lorsch
nach Ladenburg gebrachte und dort 1627 von Johann Huttich gesehene Hs. Denn
diese wird als „Epistolae‘‘ (oder , Epistolare") „Theodori(ci) regis (Gothorum)"
bezeichnet (S. 126, 134f.) und der Pal. 273, der Cassiodors Namen nicht nennt, be-
ginnt (wie allerdings auch andere Hss.) mit „Incipiunt epistole Theoderici regis"
(Mommsen S. XV). Allerdings befand sich in Lorsch schon im 9. (Mommsen S. CIX:
10.) Jahrhundert ein leider nicht auf uns gekommener „Liber“ (oder offenbar richtiger
libri“) „epistolarum Senatoris diaconi postea presbyteri ad diversos numero XVII
in uno codice", M. Manitius, N. Archiv XXXII, 652. Dieser alte Laures-
hamensis ist vielleicht noch vollstándig gewesen; er kónnte dann der
gemeinsame Archetyp der sich ergänzenden Klassen II und IV (und damit dann
wohl mindestens auch von I und der Auswahlklasse V)gewesensein. Nicht Frank-
reich oder Italien, sondern das karolingische Deutschland ist dann als der letzte er-
reichbare Ausgangspunkt der Überlieferung zu betrachten. Unsicher bleibt nur, ob
auch die III. Klasse damit in Verbindung steht.
28 Adolf Hofmeister
tritt, als II aufhört, mit einer Unterbrechung von wenigen Zeilen
(s. oben S. 26 f.) von B. VII 42 an gewissermaßen als die Fort-
setzung von II die IV. Klasse, zunáchst zwar nur in ihrem besten
vollständigen Vertreter B (Brüssel 10018—10019, früher im
Besitz Papebrochs und der Antwerpener Jesuiten, Ende des
12. Jahrhunderts), von B. VIII 1 an aber auch mit ihren übrigen
Handschriften (Z, N, M, K). Am schlechtesten ist also die Über-
lieferung für B. VII 42—47 (für die beiden ersten Sátze von c. 42
sogar nur III und daraus VI). Sie bessert sich wieder mit dem
Beginn von B. VIII, ist aber noch nicht entfernt so, daß nicht
jeder gute Zuwachs eine sehr erwünschte Bereicherung dar-
stellte. Denn obwohl seit B. VIII 1 auBer Klasse III (in der
sehr schlechten Handschrift T) und IV auch ein recht schlechter
Auswahltext von 100 Briefen (darunter zuerst VIII 1—30) in
der Klasse V (namentlich in England verbreitet, G H, daneben
‚heute in Prag und Wien, IP IV, wohin die Handschriften aus dem
Südwesten des Reichs gekommen sind, für B. VIII 10, S. 240, 7
„studuisse‘‘ — 15, S. 246, 16 ,suavissimum vobis" auch zwei
Blätter in Berlin aus der Sammlung von Sir Philipps, 924, die
älteste Handschrift aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts) zu
Gebote steht, bleibt noch viel zu wünschen übrig, weil nur IV
Vertreter noch aus dem 12. Jahrhundert aufweist und unter
diesen wieder nur B als gut bezeichnet werden kann. Die Auswahl
in V ist nach Mommsen (S. LXVII) aus einer B sehr nahestehen-
den Vorlage geflossen und gehört deshalb mit IV enger zusammen
als mit III oder als III mit IV, so daß die Übereinstimmung von
IV und V gegen III noch keine Sicherheit über die Lesart des
Archetyps geben würde, dagegen die Übereinstimmung von III
und V gegen IV, von III und IV gegen V*? entscheidet. Es ist
daher z. B. B. VIII 1, S. 232, 9 „sensibus vestris“ mit III, V und
VI“ gegen bloß „sensibus“ in IV, B. VIII 10, S. 240, 10 „locum
merito“ mit III, V*' und VI zu schreiben (Mommsen S. LIX f.).
Nur in B. VII 42—47, wo V noch nicht vorliegt, kann IV für
sich, d. h. hier B allein, das Richtige haben. Wenn Lesarten von
39 S. unten 32 f., 39, 44, 45.
4% VI ist, wie bemerkt, nur als Ableitung einer besseren Hs. von III, als uns in T
vorliegt, von Bedeutung.
*1 In V im einzelnen verschiedene, für diesen Punkt aber belanglose Verschrei-
bungen.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 29
V auch in den schlechteren Handschriften von IV, namentlich
in K und M, auch in N, auftreten, so ist das, wie Mommsen aus-
führt, nur durch Kontamination aus V zu erklären, wie denn
auch von bier aus weiter der an sich schon unmittelbar aus III
und V gemischte Text von VI kontaminiert ist.
In der Klasse IV haben wir für ein kleines Stück des 9. Buches
(den Schlußsatz von IX 18 und die erste Hälfte von IX 19, S. 282
15 „‚[cit]o sentiunt“ — S. 283, 29 „iure denega[mus]''** eine noch
ältere und bessere Überlieferung in einem Hallenser Pergament-
blatt (D) aus dem 11. Jahrhundert, das nach Mommsen aus Ita-
lien stammt und von ihm mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
als ein Rest derjenigen Handschrift angesprochen wird, aus der
die übrigen Handschriften von IV, auch die beste B, ferner Z
(Paris lat. 2185 A, 13. Jahrhundert, aus Z abgeschrieben Paris.
lat. 2186 und, aber wohl durch ein Mittelglied und aus V kon-
taminiert, N= Neapel IV B 41, sowie ebenfalls von Z nur durch
neue eigene Fehler unterschieden das Fragment B. VIII 1—21
im Vatic. Ottobon. N. 265 + 418, alle aus dem 13. Jahrhundert)
und die schlechten Mischhandschriften K (13. Jahrhundert) und
M (12. Jahrhundert) mittelbar oder unmittelbar abgeschrieben
sind“.
Auch unser neues Fragment des 11. Jahrhunderts, Ko,
gehört dieser IV. Klasse an. Auch Ko geht aufs engste mit deren
besten Vertretern Z und dem noch besseren B zusammen, ist
@ Mommsen hat S. Cf. die Schriftreste in D nach einer Abschrift von Krusch
abgedruckt. Das Stück diente als Einband der Notae Fulvii Ursini in Ciceronem.
Naeh Mommsen gehörte das Blatt der Universitätsbibliothek in Halle. Dort ist es
auch, nachdem früher vergeblich danach gesucht war, nach gütiger Mitteilung des
Direktors vom 21. Januar 1931, die mich während der Korrektur erreicht und hier
mit gebührendem Dank verwertet wird, noch heute in einer Mappe mit aus alten
Einbänden losgelösten Bruchstücken vorhanden. Die Kolumne von 30 Zeilen ist
danach 25 em hoch und 8 cm breit; der Zwischenraum zwischen den beiden
Kolumnen beträgt rund 2 cm. D sieht also ganz anders als Ko aus; beide können
schon deshalb, ganz abgesehen von der Schrift, nicht zu derselben Hs. gehören.
Völlig wertlos sind die kurzen Auszüge in der Pommersfelder Hs. Nr. 2792:
13. Jahrhundert, die Mommsen als Nr. 88 A zur IV. Klasse stellt. Nach P. Leh-
mann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz II
(München 1928), S. 238 und 417, ist es dieselbe Hs., die in der 2. Hälfte des 15. Jahr-
hunderts im Katalog der Karthause Salvatorberg bei Erfurt unter H 98 be-
schrieben wurde.
30 Adolf Hofmeister
aber nicht nur älter, sondern auch bei unbedeutenden eigenen
Fehlern noch besser als diese, selbst als die von Mommsen als
außerordentlich sorgfältig geschrieben gerühmte Handschrift B,
mit deren Hilfe er an sehr vielen Stellen erst die richtige Lesart
herzustellen vermochte. Es würde von allerhöchstem Werte sein,
wenn uns mehr von Ko erhalten wäre, dem auch so nach dem
Alter und der Güte seines Textes die erste Stelle gebührt. In
Mommsens Aufzählung der Handschriften wäre Ko unter Nr. 84*
neben oder eigentlich vor dem Hallenser Bruchstück (Nr. 84)
einzureihen. Zweifellos würde man leichter alle andern Hand-
schriften von IV entbehren als Ko, wenn dieses vollständig er-
halten wäre, und doch würden jene neben diesem nicht, wie neben
einem vollständigen D, ganz überflüssig werden, weil Ko nicht
wie D als die unmittelbare Vorlage der übrigen Handschriften
von IV, sondern als eine durchaus gleichwertige, in Einzelheiten
sogar bessere Schwesterhandschrift dieser Vorlage anzusprechen
ist. Das zeigt der Textbefund mit aller Deutlichkeit, der auch
eine schon durch die verschiedene äußere Ausstattung (je 2 Spal-
ten von je 30 Zeilen in D, von je 35 Zeilen in Ko)“ so gut wie
ausgeschlossene Zuweisung von D und Ko zu derselben Hand-
schrift widerlegen würde. Während also Ko mit auch nur einer
anderen Handschrift von IV (besonders B oder Z) die Lesart der
Klasse eindeutig bestimmt, gilt dasselbe nicht für BZ (auch
wenn etwa NKM hinzutreten) gegen Ko. Ko kann vielmehr
allein die ursprüngliche Lesart von IV erhalten haben, und
das ist sicher der Fall, wenn Ko gegen BZ (NKM) mit einer
der anderen Klassen (III oder V, bzw. VI) zusammentrifft. In
diesem Fall ist dann der Fehler erst in D eingedrungen; hóch-
stens könnte ein Fehler des Archetyps, den noch Ko bewahrte,
hier durch Konjektur gebessert sein. Wenn B gegen Ko und
andere Handschriften von IV allein steht, ohne durch eine
andere Handschriftenklasse gedeckt zu werden, so kann hier
niemals eine echte Lesart, sondern hóchstens eine willkürliche
Konjektur vorliegen, der nur im áuBersten Notfalle als solcher,
tatsächlich aber niemals ein Platz im Texte gebührt.
Mithin ist z. B. an folgenden Stellen zu lesen
Vermutlich auch verschiedene Größe. Mommsen nennt D nur „formae
maximae". Vgl. oben S. 29 A. 42 u. unten S. 46.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 31
mit Ko gegen B und Mommsen:
(sowie den übrigen Hss.):
S. 934,3 (f. 3˙b, 2)
aui ueneranda iudicia ueneranda iudicia aui
S. 234,8 (f. 3'b, 12/13)
in regnum nostrum suauissimus suauissimus consensus in regnum
consensus nostrum
S. 234,16/17 (f. 3'b, 28) |
einitatisromane habitatio quieta habitatio quieta ciuitatis romanae
Andre Fehler in B, die auch Mommsen als solche behandelte,
sind z. B. folgende:
Ko und die übrigen Hss.: B:
8. 232,5 (f. 3a, 1)
concedatis fehlt
S. 232,7 (f. 3a, 5)
esse suspecta suspecta esse
S. 232,11 (f. 3a 10/11)
Überschrift von VIII 2 fehlt
S. 232,15 (f. 3a, 18)
et ex (em. m. rec., fehlt HGJw)
Ein Fehler in den übrigen Handschriften von IV (also in
dem verlorenen D), den Ko, also auch der Archetyp von IV,
noch nicht hatte, liegt vor
Ko TMEFGHJ 924: BZNK:
S. 240,7 (f. 6a, 20)
bonorum (b...... Ko) honorum
Fehler in Z, die auffallenderweise und nur durch die er-
wáhnte Beeinflussung von VI durch die schlechten, selbst schon
kontaminierten Handschriften von IV erklärlich zum Teil auch
in VI (EF) wiederkehren, liegen vor
Ko und andere: Z:
S. 233,22 (f. 9'a, 20)
creditis postulanda postulanda ereditis (auch NMKEFA)
S. 234,5 (f. 3b, 7)
actione (accione Ko) natione (ZKA, ratione M)
S. 234,9 (f. 3'b, 14)
remanere remare (auch NT, offenbar Zufall)
32 | Adolf Hofmeister
S. 234,11 (f. 3'b, 18)
uideretur esse subtractus esse fehlt (auch KFA)
S. 240,1 (f. 6a, 8)
uerbis didicerat didicerat uerbis (auch NM KEFA)
S. 242,5 (f. 6b, 23)
nunc meorum (auch N)
Ganz ausgeschlossen ist es, daß in einer selbst erst aus Z
stammenden Handschrift wie N gegen die Übereinstimmung
aller andern die Lesart des Archetyps erhalten würe. Wenn
daher wirklich Cassiodor, wie Mommsen S. 488 mit Edward
Schróder annimmt, die sprachlich falsche, aber, wie es a.a. O.
heißt, in der alten Zeit fast ständig angewandte Schreibung
„Hamali“ statt „Amali“ gebraucht haben sollte, so muß es
doch nichts als ein Zufall sein, daß N S. 232, 24 als einzige von
allen Handschriften „hamalis‘‘ (so Mommsen im Text) statt
„amalis“ (so auch Ko) schreibt.“
Eine sehr eigentümliche Erscheinung treffen wir r S. 240, 4
(f. 6a, 13), wo
Ko BZT: NM? (Ma unbestimmt)
KEFHGJ:
cubicula gegen cunabula
stehen. Mommsen schrieb „cunabula‘‘, was freilich dem Sinne
nach leichter zu erklären scheint, ohne daß doch ,,cubicula''
unmöglich wäre. Hier stehen die 3 weitaus besten Vertreter
von IV mit III gegen V und die schlechten aus V kontaminierten
Handschriften der IV. Klasse (von denen N als Ableitung von Z
hier sicher gegen seine Vorlage geändert haben muß, in M die
Ánderung sogar noch vorliegt) und die Mischklasse VI, deren
Text freilich auf eine bessere Handschrift von III zurückgeht,
aber daneben auch stark aus V kontaminiert ist. Es ist also
schr zweifelhaft, ob VI hier als Vertreter von III und nicht
vielmehr von V anzusprechen ist. In das Handschriften-
Stemma, wie es sich uns auf Grund von Mommsens Unter-
suchungen ergibt, fügt sich ohne Schwierigkeit nur die zweite
Vgl. auch M. Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen Personen- und
Vólkernamen. Heidelberg 1911, S. 16 f.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 33
Möglichkeit. Ich möchte deshalb nicht „cunabula“, sondern
„cubicula“ für die Lesart des Archetyps halten, die in diesem
Falle auch in den Text aufgenommen werden muß.
Kaum zweifelhaft könnte die Lesung des Archetyps auch sein
S. 241,31 (f. 6'b, 16)
theodorieum Ko BEFG (the- Theodericum Mo. (also wohl mit
doricum N) ZMKHJ),
also die besten Handschriften von IV mit VI (das hier auch als
Vertreter der in eigener Überlieferung nicht mehr vorliegenden
Klasse III, andernfalls als Ableger von V zu gelten hat) und ein
allerdings sehr schlechter Vertreter von V gegen die schlechtere
Hälfte von IV und die Mehrzahl von V, wenn nicht in solchen
Dingen ebenso leicht völlige Willkür, statt Anlehnung an die
Vorlage angenommen werden müßte. Mommsen hat die in-
schriftlich gesicherte Form mit e hergestellt.
Fehler in Ko liegen, von zweifellos rein Orthographischem
abgesehen, an folgenden Stellen vor:
Ko: Mommsen:
1) S. 232,9 (f. 3a, 7)
sensibus (ganz IV) sensibus vestris (III, V, VI)
2) S. 232,27 (f. 3b, 8)
uobis (TZNEHGJ) nobis (BMKF)
3) 8. 233,1 (f. 3b, 15)
agnosceris (mit B!) agnosceres (die übrigen)
4) S. 239,18 (f. 3'a, 13)
& ceteris (alle Hss.) ohne a
5) (f. 3'a, 14)
nos vos (die übrigen)
6) S. 233,19 (f. 3˙ a, 16)
sigismere (mit ZMKTE) sigismerem (BNFHGJP A, sum Teil
mit Verschreibungen im Stamm; nur
s. J”)
7) S. 240,7 (f. 68, 20)
actum . actuum (alle übrigen)
8) S. 240,10 (f. 6a, 26) l
locus (mit BZ) locum (TNKMEFGHJ 924 A)
9) S. 242,4 (t. 6b, 23)
optari (mit BZMKE!FG 924) optare (NE HJ)
Von diesen 9 Fällen geht der Fehler in Nr. 4 (a ceteris) und
in Nr. 9 (optari, ursprünglich vielleicht nur orthographisch)
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. i. 3
34 Adolf Hofmeister
sicher, so gut wie sicher auch in Nr. 6 (sigismere, wo die Klassen
IV und III mit einer Handschrift von VI gegen V und eine
Handschrift von VI, sowie die hier offenbar durch Konjektur
bessernden Handschriften B und N von IV stehen), vermutlich
auch in Nr. 2 (uobis st. nobis, wo nur B und 2 schlechte Hand-
schriften von IV und eine Handschrift von VI das Richtige
haben) in den Archetyp zurück, und was wir im Text def Momm-
senschen Ausgabe lesen, ist neue oder alte Konjektur. In Nr. 1
(vestris fehlt) und 8 (locus) stand der Fehler sicher bereits in der
Urhandschrift von IV, aus der vielleicht auch Nr. 3 (das in B
alsbald verbesserte agnosceris) stammt. Damit ist für die
meisten und die verhältnismäßig noch am schwersten wiegenden
dieser überhaupt leichten Verderbnisse die eigene Verantwort-
lichkeit von Ko ausgeschlossen. Dieser bleiben mit Sicherheit
nur Nr. 5 (nos st. vos) und Nr. 7 (actum st. actuum) unter-
worfen, also ganz leichte und gewöhnliche Verschreibungen, wie
sie auch die sorgfältigste Feder nicht vermeidet.
Ist so die Zugehörigkeit von Ko zur Klasse IV und seine
führende Stellung innerbalb dieser Klasse neben und vor B
festgelegt, so kann jetzt auch die Erörterung über die Gestalt
der Handschrift, zu der Ko gehörte, und den Platz, den dieses
(Doppel-) Blatt in ihr einnahm, zum Abschluß gebracht werden.
Die Klasse IV begann, wie noch B am Ende des 12. Jahrhunderts
zeigt, ursprünglich in B. VII 42, und das ist deshalb auch für die
. reichlich 100 Jahre oder mehr ältere Handschrift Ko voraus-
zusetzen. Der Text von B.VII 42, S.223,10 bis zum Einsetzen des
Fragments gegen Ende von B. VIII 1 umfaßt 116 Druckzeilen,
die in der Handschrift über 6 Spalten oder über 3 Seiten füllen
würden, da immer 2 Zeilen der Handschrift Ko etwas über eine
. Druckzeile ergeben und jede Spalte 35 Zeilen hatte. Ist nun
einerseits denkbar, daß der Übergang vomVII. zum VIII. Buch
in der Handschrift durch Absetzen vor dem Spalten- oder
Seitenende und durch Beginn einer neuen Seite kenntlich ge-
macht oder daß zu Anfang etwas freier Raum ausgespart war,
ist aber andererseits auch anzunehmen, daß die dem VIII. Buch
(wie den übrigen) vorhergehende Übersicht der 38 Briefe des-
selben in Ko nicht fehlte, das ja auch im Text die Überschriften
brachte, so kommen wir ziemlich gut auf rund 4 Seiten (= 8
Spalten) oder 2 Blätter, die vor unserem Fragment verloren-
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 35
gegangen sind. Mit anderen Worten, die Handschrift Ko be-
stand aus Lagen zu je 4 Doppelblättern (Quaternionen) und,
was uns vorliegt, ist ein Rest des 3. Doppelblattes der ersten
Lage mit dem größten Teil von f. 3 und einem kleineren Teil
(der 2. bzw. 4. Spalte) von f. 6:
(1) (2 3 ($ 6 (7) 8)
Es ist also: fol. 3 = Außenseite Sp. II und III,
„ 9 — Innenseite Sp. I und II,
„ 6 = Innenseite Sp. III,
„ 6 -» Außenseite Sp. I.
Das Ergebnis unserer Erórterung ist also in Kürze folgendes.
Das Koppmannsche Fragment (Ko) ist ein Stück einer Hand-
schrift, die in der 2. Hälfte (wohl bald nach der Mitte) des
11. Jahrhunderts in Niedersachsen, vielleicht in Hildesheim
oder in Paderborn geschrieben sein mag. Die Geschichte der
Überlieferung der Variae ist eng mit den Hóhepunkten der
Wissenschaftsgeschichte und den Fortschritten der geistigen
Bewegung vom Mittelalter zur Neuzeit verknüpft. Sie haben
bereits in der karolingischen „Renaissance Beachtung gefunden,
und eine damals nach Lorsch gekommene Handschrift hat,
wenn auch vielleicht nicht als einziger, so doch möglicherweise
als der Hauptausgangspunkt der erhaltenen Überlieferung ge-
dient. Sie sind in der Folge noch zweimal gewissermaßen neu
entdeckt worden: das zweite Mal am Anfang des 16. Jahr-
hunderts um ihres Inhalts willen von der humanistischen Wissen-
schaft, die nicht zum wenigsten in Deutschland in ihnen die
wichtige Quelle der Erkenntnis würdigte; das erste Mal im
11. und 12. Jahrhundert im Zusammenhang mit jener zweiten,
wesentlich in Frankreich wurzelnden und von Frankreich aus
alle anderen Länder befruchtenden „Renaissance“ vor der
eigentlichen „Wiedergeburt“ zu Ausgang des Mittelalters unter
wesentlich praktischen Gesichtspunkten als Stilmuster, dessen
Einwirkungen im einzelnen nachzuspüren vielleicht nicht un-
8*
86 Adolf Hofmeister
lohnend wäre. Dieser älteren Periode gehört als ältester Zeuge
neben dem Hallenser Fragment Ko an. Ko gehört zur Hand-
schriftenklasse IV, auf der die Überlieferung der 5 letzten Bücher
der Variae in der Hauptsache beruht, und ist dem besten Ver-
treter dieser Klasse, der Brüsseler Handschrift 10018—10019
vom Ende des 12. Jahrhunderts (B) aufs engste verwandt,
aber besser als diese. Wäre mehr von Ko erhalten, so wäre dies
die bei weitem wichtigste Handschrift der letzten 5 Bücher der
Variae, neben der wir der anderen Handschriften der Klasse IV
kaum, und auch der anderen Klassen nur in seltenen Fällen
bedürfen würden.
Als bester und zugleich neben dem derselben Klasse an-
gehörenden, aber noch weniger umfangreichen Hallenser Frag-
ment (D, 11. Jahrbundert) weitaus ältester Zeuge der gesamten
Überlieferung der Variae darf Ko aber auch so sehr erhebliche
Bedeutung beanspruchen. Ich gebe daber zum Schluß einen
diplomatisch getreuen Abdruck der 4 in Ko erhaltenen Seiten,
von denen die beiden ersten zum weitaus größten, die beiden
letzten nur zum kleinsten Teil vorliegen. Abkürzungen sind
in runden Klammern aufgelöst, die Lücken infolge Beschädigung
von Ko kursiv in eckigen Klammern ausgefüllt. Abweichungen
von Mommsens Text (Mo.) und den übrigen Handschriften
der Klasse IV sind vollständig, die von Handschriften anderer
Klassen nur dort, wo bereits eine Variante aus der IV. Klasse
vorlag, angemerkt.
Der Apparat der Mommsenschen Ausgabe ist sehr folge-
richtig in der Ausscheidung alles unnützen Unkrautes von rein
orthographischen Kleinigkeiten und wertlosen Eigentümlich-
keiten später oder aus noch erhaltenen geflossener Handschriften.
Auf denkbar geringstem Raum ist dort die denkbar größte
Menge von Angaben gemacht. Aber dieser Apparat erschließt
sich erst nach langwieriger und mühsamer, immer von neuem
zu beginnender Durcharbeitung dem Benutzer, der den langen
Reihen aneinandergereihter, zum Teil sogar mit zwei- oder
mehrstelligen Zahlen (und diese wieder des öfteren mit einem
Buchstabenindex versehen) untermischter großer Buchstaben
gegenüber immer wieder seine Hilflosigkeit empfindet, bis er
für sich jedesmal aufs neue die Verteilung dieser Chiffren auf
die einzelnen Handschriftenklassen wiederholt, die der Heraus-
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 87
geber natürlich vorher vorgenommen und in der Einleitung be-
gründet hat. Man versteht nicht, daB bei einem so verwickelten
Apparat und der doch geradezu verblüffend glatt durchführ-
baren und in der Einleitung durchgeführten Gruppierung der
Handschriften in bestimmt geordnete feste Klassen sich nicht
jedem ohne weiteres die großen Vorteile aufdrängen, die in der
streng durchgeführten Bezeichnung der einzelnen Handschriften
mit dem betreffenden Klassenbuchstaben und einer ihrer Stel-
lung innerhalb der Klasse entsprechenden Zahl liegen“.
Erst wenn man sich den Apparat in dieser Weise umschreibt,
wird jedesmal sofort auch die verwickeltste Verzweigung der
Überlieferung durchsichtig und auf den ersten Blick ein sicheres
Urteil über Wert oder Unwert der einzelnen Lesart ermöglicht.
Um das zu veranschaulichen, habe ich im folgenden in dem aus-
gewählten Apparat bei jeder Handschrift der Mommsenschen
Buchstaben- oder Zahlen-Chiffre in Klammern kursiv die Be-
zeichnung hinzugefügt, die ihr nach dem anderen Verfahren
zukommen würde. Der Vorzug, der gewöhnlich in erster Linie
für die Buchstabenchiffre geltend gemacht wird, daB sie ganz
anders in innerer Beziehung zu der Handschrift stehe und an-
schaulich an deren wesentlichste Eigenschaft, sei es Herkunft
oder Aufbewahrungsort oder was sonst, erinnere, ist praktisch
nur selten vorhanden. Ich wüBte nicht, wie T, Z, K, H, G, J,
924. E innerlich berechtigtere oder anschaulichere Bezeich-
nungen für Handschriften in Breslau, Paris, Florenz, Oxford,
London, Prag und Wien, Berlin, Florenz sein sollten als C 1,
D2b, D4, E 1, E2, E3, E4, F1. Die eine Art der Benenung ist
so willkürlich wie die zweite, und die zweite bietet dabeiden großen
Vorzug, daß sie sich zu einem genau durchdachten System zusam-
menschließt und deshalb leichter dem Gedächtnis einprägt als die
erste, wo die willkürlichen Chiffren jede einzeln für sich dastehen.
Die Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Klassen
und zwischen den einzelnen Handschriften innerhalb der Klassen
nach Mommsens überzeugenden Ausführungen bestehen, können
Natürlich könnte man auch die Klassen mit Zahlen und die Hss. in ihnen
(fortlaufend) mit Buchstaben bezeichnen. — Anders liegt die Sache natürlich, wenn
@ sich bei den Klassen nur um einzelne Hss., nicht um eine Mehrzahl von solchen
handelt. Dann kann es unter Umständen zweckmäßig erscheinen, die Hss. mit für
sie irgendwie beziehungsvollen Buchstaben zu benennen.
38 Adolf Hofmeister
in folgendem Stemma veranschaulicht werden, von dem sich
der maßgebende Grundsatz der Textkritik in jedem einzelnen
Fall ohne weiteres ablesen läßt. Nicht mehr erhaltene Hand-
schriften sind in eckige Klammern gesetzt
[Lorseh, 9/10. Jb.
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(B iI — In
Es bedeutet:
Mo. = Mommsens Text.
T(C 1)“ = Breslau, Stadtbibl. Nr. 63, 14. J hdt.,
in B. VIII 10 S. 241, 10 „sensum re- | (= Klasse III C7)
' inguitur“ abbrechend.
Ko (D 1) — Fragmentum Koppmannianum
2. HAlfte des 11. Jhdts.
B (D 2a) = Brüssel Nr. 10018—10019,
Ende des 12. Jhdts.
Z (D9b) = Paris," Nationalbibl. Lat. Nr. 2185 A,
13. Jhdt.
(=Klasse IV [D]
davon NM K /D W. 3.4)
N (D 2b') = Neapel, Bibl. pubbl. Nr. IV B 41, aus Klasse V [E]
13. Jhdt. (auf Z zurückgehend) kontaminierte Mischtexte)
M (D3) = Montpellier, Ecole de Médecine
Nr. 294, 12. Jhdt.
K (D4) —
Florenz Laur. Gadd. plut. 89 sup
Nr. 23, 13. Jhdt.
41) Da T hier der einzige unmittelbare Vertreter von Klasse III (C) ist, wird im folgenden
statt C I einfach die Klasscnbezcichnung C gesetzt
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 39
H (B1) = Oxford, Magdalen College Nr. 168,
13. Jhdt.
G (E2) — London reg. 8 B. XIX,
Anfang des 13. Jhdts.
JP (E 3a) = Prag, Univ.-Bibl. VIII
D 1, 14. Jhdt.
J" (E 3b) = Wien, Natbibl. Nr. 407 (= Klasse V [E])
(Philol. 70), 14. Jhdt.
724 (E 4) = Berlin, Staatsbibl. Philipps. Nr. 1794,
2 Blätter des 13./14. Jhdts., enthaltend B. VIII.
10, S. 240, 7 „semper studuisse" — 15, S. 246, 16
„suavissimum vobis" (Mommsen, Additamenta,
S. CLXXXL; von mir selbst eingesehen)
J (E 3) =
(= Klasse VI //, Misch-
E (P 1) — Florens Laur. plut. 16 sin. Nr. 11, text aus III /C] und V [E]
Ende des 14. Jhdts. unter Einwirkung der
F (F 2) = Florenz Laur. plut. 45 Nr. 11, 14. Jhdt. schlechteren Hss. von
IV [D])
Acc. = Ausgabe des Accursius, Augsburg 1533
(Mischtext). |
a — dieJursprüngliche Lesart, die von derselben Hand verbessert ist
b — Verbesserung von derselben Hand
! — die ursprüngliche Lesart. die von anderer Hand geändert ist
2 — Änderung von anderer Hand.
(AuBenseite, IL Spalte =) fol. 3a. B. VIII 1 und 2, S. 232, 5—20.
condicionibus concedatis. quas cum diue
memorie domno auo n(ost)ro inclitos decessores
u(est)ros constat habuisse, Aliquid forsitan &
amplius mereor sinceritatis. cuius nec etas
5 uidetur e(ss)e suspecta. nec generacio iam p(ro)
batur extranea; Quedam uero p(er) suprascrip
tos legatos n(ost)ros serenissimis sensibus uerbo
intimanda commisimus. que clementie
u(est)re more ad effectum facite p(er)uenire**
10 gp. Senat YRBIS-ROME- ATHALA
RICUS RER-
Plenissimu(m) gaudium constat esse patres
1 1 Cee e cacedatis] fehlt B (D3a)
2 memorie] folgt uestrae B! (D2al)
3 forsitan) forsitem Z T (D2b. C)
5 esse suspecta) suspecta esse B (D2a), esse suscepta E (FI)
7 sensibus] folgt uestris T E F H G J (C. F. E), was Mo. mit Recht in den Text setzt; uestris
fehlt auser in Ko (D 1) auch in BZ NMI K Acc. (D2a.b.b'.3'. 4 u. 4oc.), also in der ganzen
Klasse IV und in der Ausgabe des Accursius (1533), aber hier stehen III (= T, und daraus
VI = BEP) und V (= HGJ) gegen IV, wo deshalb ein Fehler vorliegen muß.
10'11 Die Überschrift fehlt, wie immer in B (D 2a), wo aber der Baum dafür freigelassen ist.
12 Plenissimum] P schlichte farbige Initiale, deren Farbe aber völlig verblichen ist Ko (DI)
40 Adolf Hofmeister
eonscripti cognoscere dominantis exortu(m).
ut qui creditur uniuersos poese p(ro)tegere.
15 audiatur ad regni culmina p(er)uenisse *»
Mensura leticie de magnitudine nuntii
uenit. & tanta fit alacritas animi. quanta
fuerit & consideracio rei; Nam si pruden
tes uiros erigunt commoda predicta soda
20 lium. si amicor(um) releuat sospitas nuntiata.
quanta exultacione suscipi debet om(n)ium
rectorem filiciter p(ro)uenisse terraru(m). que(m)
non p(ro)tulit commota sedicio. non bella fer
uentia pepererunt. Non rei publice da(m)
25 na lucrata sunt. sed sic factus est p(er) q(ui)e
tem. quem ammodum uenire decuit ci
uilitatis auctorem 7 Magnu(m) p(ro)fecto feli
eiltlatis genus optinere sine contentio
[nibus prin]cip[atum et in illa re publica]
[adolescentem dominum fieri, ubi multos
constat maturis moribus inveniri . non
enim polest cuilibet elati deesse consilium,
ubi tot parentes publicos constat inventos.
Prelata est ergo spes nostra cunctorum me
vilis et certius fuit de nobis credi quam]
18 dominantis] dominatis M (D 3)
18 et] ex B (em. m. rec.) (D 2a), fehlt HGJW (E 1.2. 3b)
20 releuat] reuelat K? ( 4% tnit T (C)
22 filiciter) nur Ko (D 1), feliciter Mo. Sonstige Orthographica, wie ti statt cj, ae statt e sind
hier nicht angemerkt.
27/28 felicitatis] ciuilitatis N Db), fidelitatis Acc.
28 genus) folgt est N (D25') mit EF J (F. E 3), vorher est K* (D 4*)
(Außenseite, III. Spalte =) fol. 3b. B. VIII 2, S. 232, 23—233, 8.
quod de aliis potuit app(ro)/bari non in | iuria]
q(uonia)m que uis claritas generis amali/s | cedit]
& sicut ex uobis qui nascitur origo s | /enato]
ria nuncupatur. ita qui ex hac famili | /a progre /
b ditur regno dignissimus app(ro)batur /p | roba]
ta sunt presenti facto que loquimu | /r]
Nam cu(m) domni aui n(ost)ri p(ro)beneficior(um) qu | Jantita /
te dulcissima uobis recordatio urg/e | retur]
extremis. magnitudinem dominationi | /s suae]
2 amalils] ] hamalis N (D 2b')
4 hac) illa K (D 4)
7 cum) dum BI (D 2a!)
8 nobis] Ko (DI) mit TZNEH GJ (C. D2b.b. F 1. E), nobis Mo. mit vor allem BM R
(D 3a. 3.4). Da hier Ko (D 1) und andere Handschriften von IV (D) mit III (C) (daraus
B = VI [F] = F]) und V (B) zusammenstehen, ist ein Fehler im Archetyp anzunchmen.
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 41
10 tanta in nos celeritate transfudit. ut | [non iam]
regnum quam uestem crederes e(ss)e mu/f | aiam]
tot p(ro)eeres manu consilioq(ue) gl(ori)osi null | [um mur /
mur ut assol& miscuerunt,: Sed ita c | /um mag]
no gaudio secuti sunt principis sui i | /udicia]
15 ut uoluntatem ibi potius agnosceris | /con]
fluxisse diuinam; Qua p(ro)pter necessa | /rium]
duximus p(ro)picio deo deortu regni n(ost)ri | /vos fa]
cere certiores. quia dilatatu(m) quam | /mula]
tum uidetur imperium. cum transi | /t ad]
20 posteros. nam quod ammodo ipse put | /afur]
uiuere. cuius uobis p(ro)genies cognoscit | [ur im]
perare. Hoc habuerunt u(est)ra uota . hec | filius /
fuit indubitata sententia. ut hered | /em bo]
nor(um) suorum relinqueret qui bene | /ficia]
25 eius in uobis possit augere, Amore | /princi]
pum constat inuentum. ut simulac | /ris ae]
neis fides seruaretur imaginis qua | tens /
uentura p(ro)genies auctorem uideret | /qui sibi]
[rem publicam mullis beneficiis obligas
set. sed quanto verior est qui vivi in
posteris, per quos plerumque et forma cor
poris redditur et vigor animi prolelaiur! Et
ideo nobilitatis vestrae fidem maiore nunc
studio debetis ostendere, quatenus et pri
ora munera meritis videantur esse collata et]
10 transfudit] perfudit Ba (D2a95), transfundit T JW (C. E 3b).
15 agnosceris] Ko (D1) mit B} (D3al), agnosceres Mo. mit den übrigen (cognosceres F
[F3])
19 imperium] imperum B (D 2a)
A cognoscit[ur]) noecitur K (D 4)
?2 uestra uota] uota uestra NM (D'. 3) mit F (F2)
(Innenseite, I. Spalte =) fol. 3'a. B. VIII, 2, S. 233, 11—26.
Ifuluru indubitanter eis prestemus / quo /s /
[preterii | orJu(m) inmemores fuisse minime sen
[serim] | us? Nou/er/itis e(t)i&m diuina p(ro)uidentia
[fuiss | e] dispositu(m) . ut gothor(um) . romanorumq(ue)
[nobis] | generalis consensus accederet . & uo
[luntat] | em suam quam puris pectoribus offere
[bant,] | iuris e(t)iam iurandi religione firmarent;
os
3 Nou[erjitis] noueris K (D 4)
4 gutborum romanorumque) romanorum gothorum que M (D 3), goth. et (ac G [E A) rom.
HG J (E — V)
5 accederet] accedere B! (D 2a!)
7 religione] relligione Mo.
42 Adolf Hofmeister
[Quod] | uos secuturos esse minime dubitamus
[tempo] | re non amore . nama uobis potuit in
10 [choari] | . quod preuenti longinquitate sequi
mini. | Constat enim excellentissimos patres
[tanto] | amplius posse diligere . quanto maiores
[honor] | es a ceteris ordinibus uisi sunt accepisse. Sed
[ut pri] | mordia n(ost)ra & circa nos benignitatis posi
15 [fs ag | njoscere . qui a decet curiam u(est)ram bene
[ficiis $] | ntroire illustrem sigismere comitem
[nostru] | m uobis cum his qui directi sunt feci
[mus sa] | cramenta prestare . quia inuiolabiliter
[servar] | e cupimus . qug publica auctoritate p(ro)
20 [mitti | mJus. Si qua aut(em) anobis creditis postu
[landa,] | que u(est)re securitatis incrementa mul
ſtiplie | ejnt . indubitanter petite commoniti.
[quos a] | d fundendas preces nos e(t)iam uidemur
[hortar] | i. Promissio eni(m) est ista qua(m) commoniti
25 [o: nam] | qui reuerendum senatum supplicare
[precip] | it quod impetrare possit . nihil ominus
[comprom] | isit; Nunc u(est)r(u)m est tale aliquid sperare.
[quod c] | o(m)munem rem publicam possit augere,
J. HT. POPVLO ROMANO ATHALARICVS REX.
S4 vos externus heres imperii suscepisset, du
bitare forsitan poteratis, ne, quos prior di
lexerat, invidendo subsequens non amaret,
quia nescio quo pacto, cum successor amplius
laudari nititur, precedentis fama lenia
tur. nunc vero persona tantum, non est autem. vobis]
13 a ceteris] Ko (D 1) mit allen Handschriften, Mo. läßt das a fort. Die falsche Lesart muB
bereits in dem Archetyp von III, IV, V gestanden haben.
ordinibus] hominibus Na (D3b'a)
nos] nur Ko (D 1). vos Mo. (wohl mit allen anderen Handschriften, also auch mit B /D2a7)
benignitatis) KoBZNTE'F H d JP (D 1.2a.b.b'. C. F1*.2. E1.2.3a), benignitatem M K-
E!JWAcc. (D3.4.F Ii. E b u. Acc.) l
poel[tis] Ko (DI) mit B (D 2a), possitis Mo.
16 sigismere] Ko (D1) mitZMKTE(D2b5.3.4.C.F 1),sigismerem Mo. mit BN JP (D 2a.
d'. E 3a) und in mannigfachen Verschreibungen FH G Acc. (segismerem F [F ), sigismem
H G [E I. 2], sigisinem Acc., s. JW[E3b]). Es steht also III (und ein Teil von VI) mit einem
Teil von IV gegen einen anderen Teil von IV mit V (und einem Teil von VI). Da IV und WV
nach Mo. untereinander enger zusammenzuhängen scheinen, als beide mit III, möchte ich den
Fehler (-re) dem Archetyp zuschreiben und mehrmals unabhängige Verbesserung durch
eine naheliegende Konjektur annehmen.
18 inuiolabiliter] inulolabiter B (D 2a)
19 que] quod MK (D 3. 4) mit F G Acc. (F2. E 2u. Acc.), non M (D4!)
20 creditis postulanda] post. cred. Z NM K E F Acc. (D 2 b. b. 3. 4. F u. Acc.)
24 enim) Ko (DI) mit BZ TH (D 2a. b. C. E 3) und Mo., folgt potius NF GJ (D2b'. F 9.
B J. 3), vorher potius E (F1), bloß potius (ohne enim) M K Acc. (D 8.4 u. Acc.)
commoniti[o]] monitio K (D 4)
27 est] fehlt Ba (Daa)
1
ides
Zur Überlieferung von Cassiodors Variae 43
(Innenseite, IL Spalte =) fol. 3'b. B. VIII 3, S. 234, 2-17.
gr(sti)a co(m)mutata . quando recte /obiscum agi
credimus; Si aui ueneranda iudicia subse
quamur. N(ost)rg siquidem opinionis inter est.
ut quos ille benignissime tuitus est . nos e(t)iam
> statuta copia . & beneficior(um) ubertate pasca
mus; Minus cogitant qui obscuris principibus
& uersatis inmediocri accione succedunt.
Nos talis precessit . ut exquisitis uirtutibus.
eius sequi uestigia debeamus, Qua p(ro)pter q(uo)d
10 auspice deo dietum sit, Gl(ori)osi domni aui n(ost)ri
ita uobis nunctiamus ordinatione dispositum.
ut gothor(um) . romanoru(m)q(ue) in regnu(m) n(ost)r(u)m . suauis
simus consensus accederet . & ne aduersis re
bus aliqua possit remanere suspicio . uota
15 sas saeramentor(um) interpositione firmarunt.
se dominatum n(osty(u)m tanto gaudio subire ta(m)
quam si illis domnus auus noster fatali sorte
non uideretur e(ss)e subtractus . ne solis lingu
is . sed e(t)iam imis pectoribus p(ro)barentur e(ss)e
Al deuoti . Quod si uos ut opinamur libenti
animo similia feceritis. harum portitores sub
obtestacione diuina uobis fecimus pollice
ri . iusticia(m) nos & equabilem clementia(m) que
pop(u)los nutrit iuuante d(omi)no custodire . Et
— —
l commutata] commitata B! (D2a')
roblscum) uobiscum N HFH G J Acc. (D2b'. F 1'. 2. E u. Acc.), nobiscum Mo. (also mit
BZMKT /D 23a. b. 3. 4. C/), auch Ko (D1) kann durchaus das richtige nobiscum gehabt
haben.
2 aul ueneranda iudicia] Ko (D 1) mit allen Handschriften außer B (D 2a), ueneranda iudicia
aul B DA) und so mit Unrecht Mo. im Text.
4 st—tuitus est] fehlt B! (D3a!)
> «tatata copia] Ko (D1) mit BZE T E’ (D2a. b. 4. C. F 1*) und Mo., statuta constantia
NE'FH GJ (D3V. F 1'.2. E), statuta constantia copia M Acc. (D 3 u. Acc.). Der Fehler
constantia ist offenbar in V (=H G J, die 3 Worte später copia statt ubertate schreiben)
entstanden und von da in VI und den schlechteren Handschriften von IV eingedrungen.
7 accione] actione Mo., natione Z K Acc. (D2b. 4 u. Acc.), ratione M (D 8)
1213 in regnum nostrum suauissimus consensus (-sensus auf Rasur Ko)) Ko (D 1) mit allen
Handschriften außer B (D 2a), suauiss.cons.in regnum nostrum B (D 2a) und so mit Un-
recht Mo. im Text. EP N
M remanere) remare TZ N (C. D2b.')
13 sua] folgt ne Ba (Da)
1; domnus) damnus N (D2b’), domibus T (C), dans H (E 1), dominus G (E 2)
sorte) morte Na (Db
l^ non) zweimal N (D 2')
esse) Ko B NTEHGJ (D1. 2a. v'. C. F 1. E), fehlt Z K F Acc. (D 20.4. F 2 u. Acc.)
19 mais) unis K (D4) mit T (C)
d opinamur] opin’ amur B (D 2a)
3 equabilem] equalem N (D 2b’)
3 muante] vorher d Na (D 2 4)
44
Adolf Hofmeister
25 gothis. romanis que apud nos ius e(ss)e commu
ne.nec aliud inter uos e(ss)e diuisum . nisi
quod illi labores bellicos p(ro)co(m)muni utilita
te subeunt . Vos fa /ut(em) ciuitatis romane
[habitatio quieta multiplie at . Ecce ad con-
[dicionem usw.]
28 ciuitatis romane [habitatio quieta]] so offenbar Ko (D 1) mit allen Handschriften außer B
(D 3 a), habitatio quieta ciuitatis romanae B (D 2a) und so mit Unrecht Mo. im Text
(Innenseite, III. Spalte =) fol. 6a. B. VIII 10, S. 239, 25—240, 11.
sui sine offensione trans/m
matibus c[o]llegis semp(er) acc
magne felicitatis uideretu
gr(ati)am meruisse cunctor(um);
5 adolescere teneri que an
gentis audaciam condura
directus est sirmensem . ut
o uiro uerbis didicerat
tate monstraret . egit d
10 triumphum . & emerita(m) l.
gressibus auspicatus neci
toto orbe terribiles, Tal
bicula bellatores . sic p
ubi exercetur animus. n
15 seruitio laboriosos sube
citatione non didicit . u
pleuit. Rediit subito &
egressus primeuus . ut n
sed armis semp(er) studuis
20 rimator ille actum & b
tor inspiciens uigorem
is, carus sum]
"[eptus, ut iam tunc]
[r esse presagium]
[Cuius ui coepi das]
[ni in robustam /
Ir, ad expeditionem]
[quod ab illo Marti /
[, in camporum liber]
[e Hums inler akos]
[audem primis con /
[dedit Bulgares /
[es mittunt nosira cu]
[aratae sunt manus, ]
[utritus in otioso]
[git et quod ezer]
[irtus prona comi]
[d principem veransus /
[on pacatis obseequii]
[se crederetur. hoc /
[morum remunera]
[sll$ regiae domus vir]
1/2 [sum]matibus] sumantibus B (D 2a!), sumatibus B? (D 2a*), summitatibus N’ (D25'*)
5 adolescere] adulescere Mo.
6 gentis] generis N J (D3b’. EA)
7 directus] direptus M (D 3)
est] fehlt M (D 3)
8 uerbis (urbis T) didicerat] Ko BT H GJ [D1. 2a. C. E] (also die besten Handschriften
von IV, dazu III und V), did. uerbis ZNM K EF Acc. /D 2b. b’. 3. 4. F u. Ac. (also
die schlechteren Handschriften von IV, dazu VI und Accursius)
10 emeritam] emeritum B! (D 2a!)
12/13 [cu]bicula) Ko B Z T (D 1. 2a.b. C), cunabula N Mb K EF H G J /D 2b. 35. 4. F. E) (un-
bestimmt Ma D 38/) und Mo. im Text. Aber da hier die weitaus besten Handschriften
von IV mit III gegen V, VI und die schlechteren und contaminierten Handschriften von IV
stehen, wird doch wohl an der Lesung cubicula festzuhalten sein.
18 ut n[on]) non ut M (D 3)
20 actum nur Ko (D 1), actuum Mo.
b(onorum) Ko MT EF H G 92A (D1.3. C. F. E) und Mo. im Text, honorum BZ N X
(D 2a. b. b'. 4)
tutis contemplacione c
ingeniosum bella p(ro)baue
gis consiliis misceretur
tilis . ad implenda robu
tissimus.egit locus me
cum ipso prelia cum ips
bilia disponeba /t et in ta
Zur Uberlieferung von Cassiodors Variae
[usw.]
23 ingeniosum] ingenuosum N?’ (D 2b")
25 ad implenda] ad adimplenda K* (D 4*)
26 locus me[ríto]] Ko B Z (D 1. 2a. b), locum merito (inito H /E 1), inicio J [E 3], mer. locum
EAG /F 18. ES NMKTEb'FH dJ 92À Acc. (D. 3.4. C. F 15. 2. E 1—4. Acc.)
und Mo. im Text. Es entscheiden hier III (mit VI) und V für locum gegen die besten Hand-
schriften von IV. Der Fehler gehört der Urhandschrift IV an und ist in den jüngeren Hand-
schriften von IV aus V oder durch Konjektur verbessert.
[ommisi, ut quem]
[rant, fortissimi ve]
[ad invenienda sub]
[stus, ad celanda cau]
[ro publici secreti: ]
[o negotiorum aequa]
niam se similitudinem]
(AnBenseite, I. Spalte =) fol. 6'b. B. VIII 11, S. 241, 24—242, 7.
10
[ideo alacriter exc
. [sarie fuisset opta
[le est iudicia pri]
[propria, qus gratant]
[ Retinelis me sena]
[sed nunc mazime,]
[re collegium. ass]
[vesiri nobis gratiam du]
[eos esse senlio, a qu]
[fido . accedit etiam /
[simum pignus, quod]
[constat erectus, q]
[in vobis putavit ab]
[c4 honoratum. In ex]
[apud gloriosae memor]
[regum mea vobis]
[quadam presentia ta /
[ad quos me cum gratia]
[dentius enim lud ex]
[beneficia festinatur /
[cios, sepe prefectos]
[vi, vobis inpetrare
2 utifle]] zweimal N (D2b')
9 amari) amaret B?! (D3a!)
15 theodoricum) Ko BB G (D 1. 2a. F. B 2), thedoricum N (D'), Theodericum Mo.
$Jpiendu(m) est. quod neces
n dum; om(n)ibus quidem uti
ncipu(m) sequi . sed ipse facit
er susceperit aliena .
tus semp(er) fouisse coetum .
cum u(est)r(u)m uideor intra
umptio dignitatis ordinis
plicauit . quando me int(er)
ibus me amari posse con
illud animi u(est)ri gratis
patricior(um) genius p(er)nos
uando nemo gentilium
iectu(m) quod inme respi
petendis q(uo)q(ue) honoribus
ie theodoricu(m) principe(m)
sepe uota coniunxi . ut
lia uidear premisisse
decebat intrare . confi
petitur . ubi post collata
„ Sepe consules . sepe patri
habita intercessione p(ro)mo
contendens . quod mihi ar
Jia] praescientia talia MK F H d J 92À Acc. (D3. 4. F2. E u. Acc.), praesentia
talia Mo. im Text (also wohl mit BZ NE /D 2a. b. b. F 1]), er schlägt aber als viellcicht
zm lesen vor praescientia alta, was durch Ko (D 1) nicht gestützt wird (für praescientia Ist
die Lacke kaum groß genug)
22 contendens] contempnens BR (D 2a)
46 Adolf Hofmeister: Zur Überlieferung von Cassiodors Variae
[due potuissem opt | a]ri . Congaudete nunc pa
[tres conscripti meis] | auspiciis qui u(est)ris faui
25 [semper honoribus. Vu] ltis scire qua uos affec
[tione compleciar? in] | sertus stirpe regia . uoca
[bulum vobiscum vol] | ui habere commune. Vi
[vite deo propitio se | curi et qu Jod est fe / lici Jasi
[mum usw.]
28 [optalri] Ko BZ MK E F d 024 (D 1. 30. b. 3. 4. F 1'.2. E 2. 4), optare NEH J (D2b'.
F1*. E 1. 3) und Mo, im Text. Der Archetyp hatte offenbar das (nur orthographisch ?)
falsche optari
OCongaudete] cumgaudete B! (D 2a!)
nunc] meorum ZN (D32 b. d')
27 commune] cummunc B! (D 2a!)
Nachtrag zu S. 29 A. 42 (vgl. S. 24 und 36).
Durch Vermittlung von Herrn Bibliotheksdirektor Wendel habe ich in-
zwischen eine Photographie der 1. Seite des Hallenser Bruchstücks (D) erhalten.
Dieses dürfte danach mindestens rund 50 Jahre <er als Ko sein. Die Schrift ist
wohl nicht jünger als das frühe 11. Jahrhundert und vielleicht etwa um 1000 an-
zusetzen. Herr Direktor Wendel möchte sie sogar noch eher dem 10. als dem
11. Jahrhundert zuweisen. Mit welchem Recht Mommsen auf italienische Her-
kunft von D schloß, ist nicht ersichtlich, zumal der Druckband, aus dem das Blatt
losgelóst wurde, sich auf der Universitütsbibliothek in Halle nicht mehr nach-
weisen läßt.
Tafel ]
istorische Vierteljahrschrift Bd. XXVI, Heft 1
(Zum Aufsatz Hofmeister)
(3310suauuJ) uunueruuvurddow wnyuause 14
» N
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Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige
in ihrem Verhältnis zur Goldenen Bulle.
Von
Richard Lies.
Einleitung.
Die politischen Verhandlungen, deren Ergebnis die Wahl
Wenzels zum Könige war, sind in der historischen Forschung
schon oft behandelt worden. Im ganzen ein Werk der diplo-
matischen Kunst Karls IV., geben sie einen interessanten Ein-
blick in die Mittel und Wege seiner Politik. Karl Hampe hat die
Führung dieser Verhandlungen zum erfolgreichen Ziele als das
schwerste Stück diplomatischer Arbeit bezeichnet, das Karl je
geleistet habe!. Er gibt mit diesem anerkennenden Urteile der
gemeinsamen Ansicht aller Forscher Ausdruck, die das Problem
einmal behandelt haben.
Dieser einheitlichen Beurteilung des Ganzen entsprechen
aber keineswegs die stark auseinandergehenden Ansichten über
die Einzelheiten dieser Verhandlungen. Besonders umstritten
ist die Frage, in welchem Verhältnis die Wahl zu den Bestim-
mungen über die Königswahl in der Goldenen Bulle gestanden
hat. Ein Urteil darüber ist oft schwierig zu fällen. Denn die
erhaltenen Quellen über die Wahlverhandlungen erwähnen die
Goldene Bulle kaum. Dazu kommt, daß die Urteile der ein-
zelnen Forscher nicht einer Gesamtbehandlung des Problems
entstammen. Sie sind verstreut in rechtsgeschichtlichen Be-
trachtungen über die Goldene Bulle oder in Arbeiten, die nur die
politischen Vorgänge bei der Wahl behandeln!.
1 Karl Hampe, Herrschergestalten des deutschen Mittelalters (1927), S. 378.
* Devon ist auszunehmen M. G. Schmidt, Die staatsrechtliche Anwendung
à Goldenen Bulle (Diss. Halle 1894), auf den in der vorliegenden Arbeit ver-
schiedentlich Bezug genommen wird.
48 Richard Lies
Aufgabe dieser Arbeit ist es, durch eine Behandlung der
einzelnen Fragen im Zusammenhange aus dem Widerstreit der
verschiedenen Ansichten heraus der Wahrheit näherzukommen.
Es ist in der historischen Forschung häufig betont worden, daß
ebenso wie die Wahl Wenzels auch die Goldene Bulle ein Werk
der diplomatischen Kunst Karls IV. war. Der geplante Vergleich
verspricht also auch eine Beantwortung der Frage, wie der
Gesetzgeber das selbst geschaffene Gesetz zur Anwendung ge-
bracht hat. Damit muß sich auch ein Einblick in die Persönlich-
keit und in die diplomatische Methode Karls IV. erschließen.
I.
Die politischen Motive des Gesetzgebers für die Künigswahl-
bestimmungen der Goldenen Bulle.
Für die Prüfung des Verhältnisses der Erwählung Wenzels
zur Goldenen Bulle erscheint zunächst ein Überblick über die
Vorschriften, die dieses Gesetz für eine Königswahl darbietet,
notwendig. Denn in der Forschung liegt bisher eine gesonderte
Betrachtung über die Ordnung der Kónigswahl in der Goldenen
Bulle, herausgehoben aus dem Gesamtrahmen des Gesetz-
buches, noch nicht vor. Die verfassungsgeschichtlichen Werke
oder Einzeluntersuchungen, die sich mit der Goldenen Bulle
beschäftigen, betrachten die Wahlbestimmungen in größerem
Rahmen nach ihrem verfassungsgeschichtlichen Ursprung und
ihrer Bedeutung für die Wahlrechtsentwicklung. Bei der Wahl
Wenzels aber wurden die Wahlvorschriften durch den Schöpfer
des Gesetzes selber zur Anwendung gebracht. Daher ist anzu-
. nehmen, daB bei dieser Wahl nicht mehr oder weniger will-
kürliche Deutungs- und Auslegungsmöglichkeiten, sondern in
erster Linie die ursprünglichen politischen Motive für die schrift-
liche Niederlegung der Wahlbestimmungen die Anwendung des
Gesetzes bestimmten. Dieser Gedanke wird in der weiteren
Entwicklung der vorliegenden Arbeit noch Bedeutung gewinnen.
Zunáchst aber gibt er Veranlassung, mit dem Überblick über die
Kónigswahlbestimmungen der Goldenen Bulle die Frage nach
den unmittelbaren Motiven, denen sie ihre Aufnahme in das
Gesetzeswerk verdanken, zu verbinden. |
Schon Zeumer hat betont, daB sich der Inhalt der Goldenen
Bulle aufs genaueste mit dem deckt, was Karl IV. nach den
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 49
überlieferten Quellenstellen und im Proömium als Absicht seiner
Gesetzgebung angab?*. Zur Beratung über Herstellung von Ruhe
und Frieden hatte er den Reichstag berufen “. Und zu diesem
Zwecke, so hatte er sich den Städteboten gegenüber geäußert,
sollte u. a. endgültig die Frage geregelt werden, wer Laien-
kurfürst sei. Dazu sollten Vorschriften erlassen werden, die
bezweckten, daß nach seinem Tode der von der Mehrheit der
Kurfürsten Erwählte von den Herren und Städten auch wirklich
als König anerkannt würde5.
Aus den Beratungen zur Durchführung dieser Absichten
erwuchs die Zusammenstellung und schriftliche Niederlegung
kurfürstlicher Rechte im Gesetzbuche der Goldenen Bulle.
Es vereinte sich in diesem Gesetzeswerke der Wunsch zur Be-
hebung von Mißständen im Reiche, also die Sorge um das Wohl
des Ganzen, mit der Sicherung kurfürstlicher Sonderinteressen.
Das Ganze aber war getragen von dem Gedanken Karls IV.
der Dienstbarmachung kurfürstlicher Macht für die Regierung
des Reiches.
Im Proómium legt der Gesetzgeber noch einmal ausführlich
den Zweck dar, den er mit der Aufzeichnung dieser Gesetze ver-
folgt. Er erinnert an das Unglück, das dem Reiche in den ver-
gangenen Jahrhunderten aus der Zwietracht und den Streitig-
keiten der Kurfürsten erwachsen ist. Daher erläßt er die fol-
genden Gesetze, um die Einigkeit unter den Kurfürsten zu fórdern
und die Möglichkeit einer einmütigen Königswahl für die Zu-
kunft zu geben. Die verabscheuungswürdige Zwietracht und
damit die aus ihr erwachsenden Gefahren sollen für künftige
Zeiten aus dem Kreise der Kurfürsten verbannt bleiben. Durch
diese doppelte Absicht des Gesetzes, die Fórderung der Einigkeit
unter den Kurfürsten und die Begünstigung einer einmütigen
Königswabl, wird der Inhalt aller Bestimmungen der Goldenen
Bulle, also auch der Kónigswahlbestimmungen, begrenzt. So
.* Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karla IV. Weimar 1908. (Weiter
zitiert: Zeumer, Goldene Bulle.) I. S. 185.
4 J. Fr. Bóhmer, Acta Imperii Selecta Nr. 885: Karl IV. fordert Metz sur Be-
sendung des Reichstages in Nürnberg auf: „de tranquillitate et pace communi sic
agatur feliciter."
$ Zeumer, Goldene Bulle II. S. 70. Nr. 12. Berichtschreiben der Ratsboten
an Straßburg.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 4
50 Richard Lies `
sind in den Kapiteln über die Wahl nur solche Anordnungen
getroffen, die Rechte oder Pflichten der Kurfürsten darstellen.
Und in ihnen allen zeigt sich die Absicht, eine einmütige Wahl zu
fördern.
Demgemäß dienen die Bestimmungen des I. Kapitels einem
doppelten Zwecke, Ein Teil von ihnen soll jedem der Kur-
fürsten unbedingt die Móglichkeit geben, an der Wahlhandlung
teilnehmen zu können. Deshalb sind die Vorschriften über
freies Geleit nach dem Wahlorte für jeden einzelnen genau
geregelt. Der Erzbischof von Mainz, dem die Berufungspflicht
zur Wahl obliegt, ist angewiesen in dem Berufungsschreiben
einen Zeitpunkt anzusetzen, zwischen dem und dem Wahltage
noch ein Zeitraum von drei Monaten liegen soll. Diese Bestim-
mung soll jedem Kurfürsten rechtzeitige Kenntnis des Wahl-
termins vermitteln. Tritt die Notwendigkeit der Wahl durch den
Tod des Kónigs ein, so wird dem Mainzer eine bestimmte Frist
gesetzt, innerhalb welcher er die Kurfürsten zur Wahl einberufen
muB. Versáumt er das, so versammeln sich die Wáhler ohne Ein-
berufung. Dadurch wird eine Verschleppung der Wahl seitens
des Mainzer Erzbischofs unmóglich gemacht. Um auch den
Kurfürsten, die verhindert sind, in eigener Person zur Wahl-
handlung zu erscheinen, die Möglichkeit zur Abgabe ihrer
Stimme offenzuhalten, wird die Entsendung eines bevoll-
mächtigten Vertreters gestattet. Die übrigen Bestimmungen des
I. Kapitels sollen jegliche Hinderung der Wahl durch einen
Kurfürsten oder andere Mächte unmöglich machen. Deshalb
wird festgesetzt, daB jeder Kurfürst, der der Wahl fernbleibt,
für das eine Mal sein Stimmrecht verliert. Um zu verhindern,
daB ein gewaltsamer Druck auf die Stimmabgabe ausgeübt
wird, ist jedem nur die Begleitung einer beschränkten Anzahl
von Bewaffneten zum Wahlort gestattet. Der Schutz gegen
eine Behelligung durch andere Máchte wird der Stadt Frankfurt
übertragen®. Ihr droht kaiserliche Acht und der Verlust ihrer
Privilegien, wenn während der Wahl Fremden, die an der Wahl
nicht beteiligt sind, der Zutritt in die Stadt erlaubt wird.
. * Von der Bedeutung dieses Wahlschutzes legen die Quellen sur Wahl Wenzels
ein beredtes Zeugnis ab. In den Frankfurter Stadtrechnungen (RTA.T, Nr. 59, 5, 6, 8 9.)
wird erwähnt, daß alle Tore der Stadt während der Anwesenheit Karls und der
Kurfürsten mit besonderen Wachen belegt waren.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 51
Sollten diese Bestimmungen es also jedem Kurfürsten mög-
lich machen, rechtzeitig und unbehelligt zur Wahl erscheinen
zn können, so folgt im zweiten Kapitel eine Reihe von Bestim-
mungeu über die eigentliche Wahlhandlung. Auch hier sind nur
solche aufgeführt, die dem Zwecke, zu einem eindeutigen Wahl-
resultate zu kommen, am meisten dienlich sind. So ist der die
Wahl einleitende Gottesdienst, bei dem der Wahleid abgelegt
wird, aufgeführt. Er gibt der Wahl religiöse Weihe und soll
die Kurfürsten ermahnen, nur nach ihrem Gewissen und nicht
nach Versprechungen und Verträgen ihre Stimme abzugeben.
Dann beginnt die Wahlhandlung. Es wird den Kurfürsten ge-
boten, Frankfurt nicht eher zu verlassen, ehe nicht ein König
einstimmig oder von der Mehrheit erwählt worden ist. Der von
der Mehrheit Gewählte soll so angesehen werden, als sei er ein-
stimmig erwählt worden. Hier kommt der Grundgedanke des
ganzen Gesetzes, „electionem unanimem inducendam", am
klarsten zum Ausdruck. Für besondere Fälle der Majoritäts-
wahl sollen die letzten Bestimmungen etwaige Mißverständnisse
ausschalten: Verspätet zur Wahl Eintreffende treten mit dem
Zeitpunkt ihrer Ankunft in die Wahlhandlung ein. Wenn drei
Kurfürsten einem vierten aus ihrer Mitte ihre Stimme geben, so
kann er mit seiner eigenen Stimme die Mehrheit für sich berstellen.
Nur eine Bestimmung fällt nicht unter den Grundgedanken,
eine einmütige Wahl zu sichern. Doch stellt sie ein Recht der
Kurfürsten dar. Es ist die Verpflichtung des Königs, sofort nach
vollzogener Wahl den Kurfürsten ihre Privilegien zu bestätigen.
Auf diese Bestimmung wird in einem späteren Teil der Arbeit
zurückzukommen sein.
Aus diesem Uberblick gewinnt man die wichtige Erkenntnis,
daß die Wahlbestimmungen der Goldenen Bulle kein voll-
ständiges. Wahlgesetz im modernen Sinne darstellen. Nicht alle
für die Königswahl wesentlichen Punkte haben hier gesetzliche
Regelung gefunden. Es ist nur eine Reihe von Gesetzes-
bestimmungen, die erlassen sind in der Absicht, die kurfürst-
lichen Rechte zusammenzustellen und eine einstimmige Wahl zu
fördern. Wenn diese Tatsache in der historischen Forschung
bisher keine Beachtung gefunden hat, so mag das begründet sein
in der Tatsache, daß allerdings die für die Königswahl wich-
tigsten Punkte sich unter den Bestimmungen finden.
4*
52 Richard Lies
Die Aufzeichnung ist auch nicht mit dem Anspruch auf Voll-
stándigkeit der Wahlregelung erfolgt. Das ersieht man schon
aus der Tatsache, daB sich einige für die Wahl wesentliche Vor-
Schriften in andern Teilen der Goldenen Bulle finden, die nicht
unmittelbar im Hinblick auf die Wahl aufgezeichnet sind. So
wird die Reibenfolge der Stimmabgabe bei der Wahl erst im
IV. Kapitel unter den kurfürstlichen Ehrenrechten aufgeführt.
Sie sollte eigentlich ihrer Bedeutung für den Wahlgang gemäß”?
im II. Kapitel stehen, das doch über die Wahl handelt. Unter
diesen Ehrenrechten kehrt auch die Berufung zur Wahl durch
den Erzbischof von Mainz als ein Recht wieder, während
sie im I. Kapitel eine Pflicht war, die der rechtzeitigen Benach-
richtigung der Kurfürsten über den Wahltermin diente®. Die
gesetzliche Festlegung des Wahlortes findet sich sogar erst im
XXIX. Kapitel der Goldenen Bulle, zusammen mit der Be-
zeichnung der Orte für die Krönung und den ersten Hoftag des
Königs.
Eine ganze Reihe von Punkten, die für die Königswahl wichtig
sind, fehlen überhaupt. Es wird nichts angeordnet über die Beur-
kundung und Publikation der Wahl. Ebenso wird die Altar-
erhebung und das Königslager vor Frankfurt nicht erwähnt. Die
Person des zu Wählenden wird nur in zwei Fällen in Verbindung
mit kurfürstlichen Rechten — also gemäß dem Thema der Gol-
denen Bulle! — genannt. Im ersten Absatz des II. Kapitels heißt
es, der Heilige Geist möge die Herzen der Kurfürsten erleuchten,
damit sie einen gerechten, guten und nützlichen Menschen er-
wählen. Im zweiten Absatz des II. Kapitels erscheint dann die
schon genannte Verpflichtung des Königs zur Bestätigung der
kurfürstlichen Privilegien.
Es wird auch nirgends entschieden, in welchen Fällen die
Kurfürsten das Recht oder die Pflicht haben, zu einer Wahl zu
schreiten.
? Vgl. Ulrich Stutz, Abstimmungsordnung der Goldenen Bulle. (Z. Sav. R. G.,
Germ. Abt. 56. 1922.) S. 288.
* Dieser Unterschied ist aus dem Text des Gesetzes klar zu ersehen. In Ka-
pitel I, Abs. 15, heißt es: „archiepiscopus Maguntinensis ... electionem ... paten-
tibus debeat litteris intimare....". Dagegen heißt es in Kapitel IV, Abs. 2:
»... Maguntinensis archiepiscopus potestatem habebit. . .'*.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 53
II.
Die Goldene Bulle und die Wahl vivente imperatore.
Es ist in der Goldenen Bulle nichts darüber gesagt, ob die
Wahl eines neuen Königs ,,vivente imperatore“ zulässig ist oder
nicht. Nun haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, daB die
Goldene Bulle auch gar nicht beabsichtigt, eine Entscheidung
über diese Frage zu fällen. Man muß sich daher hüten, das „ar-
gumentum e silentio" anzuwenden und zu behaupten, daB die
Goldene Bulle eine Wahl bei Lebzeiten des Königs deshalb ab-
lehne, weil sie sie nicht erwähnt. Wollte man diesen Schluß ziehen,
so würde man den Kurfürsten das Recht zur Wahl nur bei Er-
ledigung des Thrones durch Todesfall zubilligen. Denn das ist
der einzige Fall, für den die Goldene Bulle genauere Vorschriften
trifft. Diese beziehen sich auf die Berufung der Kurfürsten zur
Wahl. Es ist schon weiter oben gesagt worden, daB sie bezwecken,
den Kurfürsten rechtzeitige Kenntnis des Wahltermins zu ver-
mitteln. Wenn nun dem Erzbischof von Mainz nur für den be-
sonderen Fall, daB das Reich durch den Tod des Kónigs erledigt
wird, eine bestimmte Frist gesetzt wird, innerhalb welcher er
die Aufforderungen zur Wahl abgeschickt haben muß, so geschieht
das aus einem doppelten Grunde. Einmal lag nur für diesen Fall
die Notwendigkeit einer Neuwahl klar auf der Hand. In den
Fällen, wo sie durch Absetzung oder Abdankung des Herrschers
sich ergab, hing sie doch wohl immer von vorhergehenden Ent-
scheidungen des gesamten Kurfürstenkollegiums ab. Vor allenı
aber wollte man wohl vermeiden, auf die heikle Frage der Ab-
setzung näher einzugehen. Jedenfalls ergibt sich der Beweis da-
für, daß die Goldene Bulle eine Neuwahl nicht nur auf den Tod des
jeweiligen Herrschers folgen lassen wollte, schon aus der Tatsache,
daß die Sonderbestimmung für den Todesfall der allgemeinen
Bestimmung über die Berufungspflicht des Mainzers erst folgt.
Die ältere Forschung hat trotzdem allgemein angenommen,
die Goldene Bulle lasse eine Neuwabl vivente imperatore nicht
zu, weil sie sie nicht erwähnt“. Es war einer Arbeit von Schmidt
* Hans Jenkner, Die Wahl Wenzels (Diss. Gött. 1877), S. 24. Nerger, Die
Goldene Bulle (Diss. Halle 1878.) S. 88. Theodor Lindner, Die Wahl Wenzels
(Forsch. z. dt. Gesch. Bd. 14. Gött. 1874.) [Weiter abgekürzt zitiert: Wahl Wenzels.],
8. 253. Theodor Lindner, Geschichte des deutschen Reichs unter König Wenzel
54 Richard Lies
vorbehalten, diese irrige Ansicht richtigzustellen.!? Er wies aus
einer genauen Interpretation des Textes der Goldenen Bulle nach,
daß sie „eben dadurch, daß sie die Thronerledigung überhaupt
nicht erwähnt, alle Fälle vollkommen frei läßt“. Dabei stützte
er sich auf die Stellen des Gesetzes, die die Veranlassung zu einer
Neuwahl erwähnen. (Kapitel I, 1 — quotienscumque et quando-
cumque necessitas sive casus electionis regis Romanorum in im-
peratorem promovendi emerserit —; Kapitel XVIII. — electio-
nem Romanorum regis, que ex racionabilibus causis imminet
facienda —.) Dazu betont er, daB es als ein beispielsweise! an-
geführter konkreter Fall zu betrachten sei, wenn die Berufungs-
pflicht des Mainzer Erzbischofs im AnschluB an den Tod des
Königs geschildert sei.
Diese durchaus einleuchtenden und richtig belegten Aus-
führungen sind aber von der späteren Forschung nicht beachtet
worden . Zeumer hat sogar den Versuch unternommen, sie zu
widerlegen l. Er erkennt zwar die Gründe Schmidt's als stich-
haltig an dafür, daB die Goldene Bulle eine Neuwahl nicht nur
beim Todesfalle des Kónigs gestatte. DaB sie aber auch eine Wahl
vivente imperatore zulasse, widerlegt er folgendermaßen: „Nicht
nur, daB die Goldene Bulle eine Wahl vivente imperatore nicht
erwähnt; sie läßt dafür gar keinen Raum. Eine zwiespältige
Wahl war im Falle einer Designation ja gar nicht denkbar; und
doch wird als der Hauptzweck der Gesetzgebung die Sicherung
der einhelligen Wahl hingestellt. Im Wahleide versprechen die
Wähler dem christlichen Volke ein weltliches Haupt, temporale
(Braunschweig 1875.), I. S. 21. Dort sagt er, daB die Wahl von Rechts wegen un-
möglich sei, weil die Goldene Bulle nur von einer Wahl bei erledigtem Throne spricht.
10 M. G. Schmidt, a. a O., S. 2.
11 Mit der Ansicht, daB der Fall als Beispiel angeführt sei, deckt sich allerdings
die Auffassung der vorliegenden Arbeit nicht ganz, wie die Ausführungen auf S. 50
zeigen.
13 Loserth, Geschichte des späteren Mittelalters, 1903, S. 377. L. von Winter-
feld, Kurrheinische Bündnisse (Diss. Gött. 1912.), S. 80. Lindner, Deutsche Ge-
schichte unter Habsburgern und Luxemburgern (Stuttgart 1893.), IL, S. 86, sagt
allerdings nur noch, daß die Goldene Bulle nur von einer Wahl bei erledigtem
Throne spreche. Er läßt im Gegensatz zu seiner früheren Darstellung die Be-
hauptung (Wahl Wenzels, S. 24), daß die Wahl deshalb von Rechts wegen un-
möglich sei, aus.
18 Zeumer, Goldene Bulle I, S. 187.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige, usw. 55
caput, zu geben, und entsprechend gibt auch Kapitel II, Absatz 3
als Ziel die Wahl eines temporale caput mundi an; das aber kam
nicht in Betracht, wenn die Christenheit schon im Kaiser ein
solches Haupt besaß. ... Ferner versprechen die Wähler eidlich,
daß sie wählen wollen nach freiem Ermessen absque omni pacto,
wodurch bei strenger Interpretation die Wahl eines designierten
Nachfolgers ausgeschlossen war.“
Diese Begründung erscheint wenig überzeugend. Zwar wird
man Zeumers Behauptung!“ nicht bestreiten können, daß Karl IV.
beim Erlaß der Goldenen Bulle keine dynastischen Absichten
verfolgt hat und daher auch an die Möglichkeit einer Wahl seines
Nachfolgers zu seinen Lebzeiten kaum gedacht hat. Das muß
man schon aus dem einfachen Grunde annehmen, weil Karl zu
dieser Zeit noch gar keinen Sohn hatte. Daß die Goldene Bulle
aber keinen Raum für eine Wahl vivente imperatore läßt, ist
weder aus diesem noch aus den oben angeführten Gründen ein-
zusehen.
Auch bei Designation war natürlich eine zwiespältige Wahl
möglich. Wenn aber durch sie Einstimmigkeit gefördert wurde,
80 lag doch nichts mehr im Sinne der Goldenen Bulle, als deren
Hauptzweck Zeumer selber die Sicherung der einhelligen Wahl
bezeichnet. Gegen den weiteren Einwand Zeumers, daß es nur
ein temporale caput mundi geben durfte, braucht man nur die
Beispiele aus der früheren Geschichte anzuführen, wo der Sohn
schon zu Lebzeiten des Vaters erwählt wurde. Außerdem kam
eine Wahl bei Lebzeiten des Königs in ihrer politischen Bedeutung
auch erst nach dem Tode des gegenwärtigen Herrschers zur vollen
Auswirkung, weil der Gewählte erst dann die Regierung des
Reiches antrat 18.
Durch das Versprechen der Kurfürsten ,,absque omni pacto“
zu wählen, war allerdings die Wahl eines designierten Nachfolgers
bei strenger Auslegung scheinbar ausgeschlossen. Aber es war
ja auch gar nicht nötig, daß ein zu Lebzeiten seines Vorgängers
Erwählter designiert sein mußte. Und selbst eine Designation
brauchte nicht unbedingt von Verträgen begleitet sein. Jeden-
falls war die Gefahr, daß die Wahl auf Grund von Verträgen und
14 Zeumer, Goldene Bulle I S. 187.
18 Vgl. S. 80 der vorliegenden Arbeit.
56 Richard Lies
Versprechungen erfolgte, nicht größer, als bei einer Wahl nach
Erledigung des Thrones.
Nun ist allerdings die Wahl Wenzels nur durch solche Verträge
zustandegekommen. Die unverbältnismäßig hohen Zugeständ-
nisse, die Karl IV. den Kurfürsten machen mußte, sind hinläng-
lich bekannt. Mit ihnen hat er zweifellos völlig gegen den Sinn
des von ibm selbst geschaffenen Gesetzes verstoßen. Die Ver-
meidung solcher Bestechungen für die Zukunft war einer der
wesentlichsten Gründe für die schriftliche Niederlegung jener
Wahlbestimmungen gewesen. Die Goldene Bulle sollte den Wahl-
akt aus einer bloßen Formalität in die wirklich entscheidende,
den König schaffende Rechtshandlung verwandeln. Bei der Wahl
Wenzels aber war sie nach den voraufgegangenen Verträgen tat-
sächlich nur eine solche Formalität.
Doch liegt es nun einmal in der Natur der Gesetze, daß sie
einen Spannungszustand zwischen den wirklichen Verhältnissen
und den idealen Erfordernissen überbrücken sollen. Ist diese
Spannung zu groß, so gelingt es selbst den straffsten Gesetzen
nicht, die Mißstände in den wirklichen Verhältnissen zu besei-
tigen!?, Auch ein Nachfolger Karls IV., der erst nach seinem
Tode erwählt worden wäre, hätte nur durch hohe Versprechungen
zum Throne gelangen können. Durch die Bestechungen unter-
schied sich Wenzels Wahl nicht im geringsten von den früheren
und erst recht nicht von späteren Wahlen, die erst bei erledigtem
Throne zustandekamen.
Wie sehr man sich dieses Verstoßes gegen das Gesetz bei der
Wahl Wenzels bewußt war, zeigen die offiziellen Wahlurkunden.
Im Notariatsinstrument von Frankfurt (RTA.I, 45) und in den
Wahlanzeigen der Kurfürsten an den Papst (RTA. I, 79—82)
werden alle voraufgegangenen Verträge und die Verhandlungen
von Nürnberg und Rense peinlichst verschwiegen. Die Initiative
zur Wahl und die rechtlich verbindlichen Vorbereitungen werden
den Kurfürsten zugeschrieben. Man sucht die Wahl so darzu-
stellen, als wäre den Kurfürsten erst in Frankfurt der Gedanke
gekommen, daB Wenzel der geeignete sei “.
1° Vgl. Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter (Historische Zeit-
schrift. Bd. 120. 1919) S. 88.
ı Vgl. S. 78ff. dieser Arbeit.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 57
Haben sich die angeführten Gründe Zeumers als wenig stich-
haltig für die Begründung seiner Ansicht erwiesen, so ist zu be-
merken, daß er ein Argument, das viel stärker für seine Ansicht
sprechen könnte, nicht zur Beweisführung heranzieht. Es ist die
Tatsache, daß dem Erzbischof von Mainz das Berufungsrecht
zur Wahl im IV. Kapitel Absatz 2 nur für den Fall der Erledigung
des Reiches zugesprochen wird. Da nun im I. Kapitel Abs. 15
und 16, wo die Vorschriften über die Bestimmung des Wahltermins
und die Berufung zur Wahl aufgezeichnet sind, nur von einer
Berufung durch den Erzbischof von Mainz gesprochen wird, so
sollte man annehmen, daß die Goldene Bulle eine Wahl, solange
der Thron nicht erledigt war, doch nicht vorgesehen hat. Be-
trachtet man aber die Vorgänge bei der Wahl Wenzels, so findet
man, daß hier die Festsetzung des Wahltermins durch einstim-
migen Beschluß der Kurfürsten auf dem Reichstage zu Nürnberg
erfolgte (RITA. I, 60). Hatte die Berufung durch den Mainzer Erz-
bischof nur den Zweck, den Kurfürsten ein rechtzeitiges Erschei-
nen zur Wahl zu ermóglichen 5, so erübrigt sich in diesem Falle
selbstverstándlich eine besondere schriftliche Einberufung. Denn
jeder Kurfürst ist ja durch den gemeinsamen Beschluß über den
Wahltermin unterricbtet. Die Festsetzung dieses Termins erfolgte
zugleich mit dem Beschluß der Kurfürsten darüber, ob die Not-
wendigkeit für eine Wahl gegeben war. Es ist klar, daß die Ent-
scheidung darüber nicht dem Mainzer Erzbischof allein überlassen
werden konnte, Er erhielt das Berufungsrecht eben nur für den
Fall, wo die Notwendigkeit zur Wahl unbedingt gegeben war,
nämlich bei erledigtem Throne. Und auch dann war er für die
Festlegung des Wahltermins an genaue Vorschriften gebunden.
Daher widersprach der gemeinsame Beschluß der Kurfürsten zur
Wahl keineswegs dem Sinn der Goldenen Bulle.
Die Berechtigung zu solchem Vorgehen gab ihnen eine andere
Bestimmung des Gesetzes. Im XII. Kapitel der Goldenen Bulle,
das über den Plan regelmáBiger Kurfürstentage handelt, wird der
,tractatus communis salutis et pacis“ als ihre Aufgabe bezeichnet.
Mit der Notwendigkeit für das Wohl des Reiches aber begründeten
die Kurfürsten die Wahl Wenzels. Pfalzgraf Ruprecht entschloß
sich in seinem Wahlversprechen (RTA. I, 20) aus folgender Er-
13 Vgl. S. 50 dieser Arbeit.
58 Richard Lies
wägung heraus, Wenzel seine Stimme zu geben: „das han wir für
uns bedechticlich genomen der cristenheyt und des heiligen Reichs
nucze und ere, dorzu wir verbunden sein, und fride des landes
und der lute und ouch eyndrechtikeyt der obgenanten unsrer
mitkurfursten an der kure." In der kürzeren Wahlanzeige der
Kurfürster an den Papst (RTA.I, 79 und 81) lautet die Begrün-
dung: ,,... ut idem sacrum Romanum imperium ... forti poten-
tique presidiatore non careat, pro salubri comodo tocius christiani-
tatis et statu ... Wenzeslaum ... eligimus ...'" Der gleiche
Gedankengang wird in der längeren Wahlanzeige (RTA. I, 80
und 82) ausführlicher verfolgt, beginnend: „ magne deliberationis
studio sacri Romani imperii rempublicam ... una cum aliis prin-
cipibus imperii coelectoribus meis sepe sepius ymmo sepissime
prout expedit accuracius ponderantes ...' Man darf also sagen,
daB die Goldene Bulle eine Wahl vivente imperatore keineswegs
ausschlieBt, sondern im XII. Kapitel den Kurfürsten die Hand-
habe für die Vornahme einer solchen Wahl bietet.
III.
Das Verhültnis des Papstes und der Kurfürsten zur Wahl bei
Lebzeiten des Kaisers.
Zeumer führt weiterhin an, daB die Goldene Bulle auf eine Wahl
vivente imperatore so wenig eingerichtet sei, daB man es begreifen
könne, wenn auf dem Reichs- und Wahltage von 1486 die Ansicht
aufgetaucht sei, sie habe in einem solchen Falle überhaupt keine
Geltung !*.
Diese Feststellung legt die Frage nahe, wie denn bei der Wahl
Wenzels die Beteiligten sich zu der Möglichkeit einer Wahl noch
zu Lebzeiten Karls IV. gestellt haben.
Was die Kurfürsten betrifft, so hatte Karl IV. die bóhmische
und die brandenburgische Stimme selber inne. Der Erzbischof
von Mainz und der Kurfürst von Sachsen waren ihm politisch
so stark verpflichtet, daB man sich nicht wundern darf, wenn bei
ihnen keine Bedenken gegen die Wahl aufgetaucht sind. Beide
versprachen (RTA. I, 2 und RTA. I, 25), wenn sie von Karl
oder von Wenzel dazu ermahnt würden, den letzteren ,,an
1* Zeumer, Goldene Bulle I S. 187.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 59
alles vercziehen und widerrede" zum Römischen Könige zu
wählen “.
Solche Bedenken gegen die Wahl sollte man schon eher bei
den Erzbischöfen von Köln und Trier, deren Bereitwilligkeit
Karl erst durch hohe Zugeständnisse erlangt hat, erwarten. Aber
schon im Jahre 1371, als Karl mit seinem Plan wahrscheinlich
noch nicht offen hervorgetreten war, wurde die Möglichkeit einer
Wahl noch zu Lebzeiten des Kaisers von diesen beiden Kur-
fürsten in Erwägung gezogen. In dem bekannten Vertrage, in
dem sie sich gegenseitig zu gemeinsamem Vorgehen bei der Königs-
wahl verpflichteten (RTA. I, 9), trafen sie Vereinbarungen auch
für den Fall, daß diese Wahl noch zu Lebzeiten Karls stattfinden
würde. Beide schienen also an der Möglichkeit einer Wahl vivente
imperatore schon damals nicht zu zweifeln. Wenn sie allerdings
im selben Vertrage einander versprachen, den daraus etwa er-
wachsenden Nutzen untereinander zu teilen, so zeigt das genugsam
den Grund für ihre Bereitwilligkeit. Ohne etwaige Vorteile hätten
sie ihre Zustimmung sicher versagt. Der Vertrag, der zu einer
Zeit abgeschlossen wurde, wo wahrscheinlich noch keine Ver-
handlungen mit Karl IV. stattgefunden hatten, ist ein Zeichen
für die Frivolitát der Kurfürsten, die mit einer solchen Wahl-
rechtsauffassung den Kaiser zu seinem Vorgehen geradezu ver-
anlaBten.
Allerdings hätten grundsätzliche Einwände gerade der Kur-
fürsten nicht einmal ihrem eigenen Interesse gedient. Die Berech-
tigung, dem Kaiser schon zu seinen Lebzeiten einen Nachfolger er-
wählen zu dürfen, konnte das kurfürstliche Wahlrecht nurerhöhen.
Gerade ein solcher Fall bot ihnen Gelegenheit, persönliche Wün-
sche und Forderungen umsoleichter durchzusetzen. Eine offizielle
Designation Wenzels ist nicht erfolgt, und das freie Wahlrecht
der Kurfürsten ist in keiner Weise angetastet worden. Der Kaiser,
der selbst nur als Kurfürst und nicht in seiner Eigenschaft als
Kónig an der Wahl teilnehmen durfte, muBte den EinfluB, den
æ Weizsäcker druckt die Urkunde des Kurfürsten von Sachsen im Wortlaut
nicht ab; denn das böhmische Kronarchiv, in dem sich das Original befindet, war
ihm seinerzeit nicht zugänglich. Auf meine Bitte erhielt ich jetzt vom Tschecho-
slowakischen Landesarchiv eine Photographie des Originals. Die Urkunde entspricht
— abgesehen von den notwendigen Abweichungen in bezug auf Aussteller und
Datum — wörtlich genau der Verpflichtung des Erzbischofs von Mainz. (RTA. I. 2.)
60 Richard Lies
er auf die Entscheidung seiner Mitkurfürsten zugunsten seines
Sohnes gewann, teuer bezahlen.
Ebenso wie der Trierer und Kölner scheint auch der Pfalzgraf,
so schwer er sich zur Wahl Wenzels entschloß, durchaus nicht an
der grundsätzlichen Möglichkeit dieser Wahl gezweifelt zu haben.
Auch ihn bewogen natürlich nur finanzielle Vorteile, sich der
Wahl Wenzels anzuschließen. Sein Wahlversprechen (RTA. I, 20)
gab er erst, nachdem er die schriftliche Verpflichtung der übrigen
Kurfürsten gesehen batte. Dann aber gelobte er, Wenzel seine
Stimme zu geben, sobald er dazu ermahnt würde, gleichgültig ob
von Karl IV. selber oder nach dessen Tode von Wenzel .
Dieses Zeugnis für Ruprechts grundsätzliche Bereitwilligkeit
zur Wahl muB um so schwerer wiegen, als er damals durchaus noch
nicht mit der unbedingten Verwirklichung der Wahl Wenzels rech-
nete. Am selben 22. Februar schloß er mit Ruprecht dem Jüngeren
und Ruprecht dem Jüngsten einen Vertrag, in dem sie sich gegen-
31 Weizsückers Regest in der Überschrift der Urkunde (RTA. 1, 20) ist un-
genau und gibt den Inhalt in einer Weise wieder, die gerade Ruprechts Stellung
zur Wahl vivente imperatore nicht erkennen läßt. Ruprecht der Ältere verpflichtet
sich nicht etwa „dem Sohne bei der Wahl eines Römischen Königs nach Tod oder
Abdankung des Vaters seine Stimme zu geben". Er sagt vielmehr, es bedünke
ihn, daß Wenzel an Macht und Würdigkeit zum Könige am besten tauge nach dem
Tode oder der Aufgabe des Reiches durch den Kaiser. Deshalb wolle er mit seinen
Mitkurfürsten oder deren Mehrheit ihm seine Stimme geben, sobald er von Karl
oder nach dessen Tode von Wenzel dazu ermahnt würde. Zwar kónnte man aus
dieser Formulierung schlieBen, daB der Pfalzgraf seine Stimme Wenzel nur nach
Tod oder Abdankung Karls geben will. In der naratio der Urkunde wird aber be-
richtet, daB Ruprecht die Wahlversprechen der übrigen Kurfürsten gesehen habe.
Und diese verpflichten sich ja — wie oben gezeigt wurde —, ohne weitere Bedin-
gungen zur Wahl. Daraus ist sicher zu schlieBen, daB der Vertrag zwischen Karl
und Ruprecht sich ebenso wie die übrigen Urkunden auf den Fall einer Wahl vor
Abdankung Karls bezog. Hátte Ruprecht die Abdankung des Kaisers als Bedin-
gung für die Wahl gefordert, so würe eine solche Verpflichtung dazu sicher noch
ausdrücklich in die Urkunde aufgenommen worden.
Auch das folgende Regest, das als Überschrift zu RTA.I, 21 dient, gibt den
Inhalt der Urkunde nicht richtig wieder. Es muß nicht heißen: „Pfalzgraf Rup-
recht II. der Jüngere und Ruprecht III. der Jüngste geloben dem K. Karl IV.
und K. Wenzel'n, daB, falls der Kaiser stürbe, ehe sein Sohn zum römischen König
gewählt wäre, derjenige von ihnen, der dann Kurfürst wäre, dem letzteren seine
Stimme geben werde", sondern „Pfalzgraf Ruprecht II. der Jüngere, und Rup-
recht III. der Jüngste geloben dem K. Karl IV. und König Wenzel, daB, falls
Ruprecht der Ältere stürbe, ehe Wenzel zum Römischen Könige gewählt wäre,
derjenige von ihnen . . usw.
Die Wahl Wenzels sum Römischen Könige usw. 61
seitig verpflichteten: Auch wenn einer von ihnen zum Ró-
mischen Könige erwählt würde, so wollten sie sich doch an ihre
sonstigen Verträge mit Wenzel für gebunden erachten (RTA.I, 21).
Man sieht also: So schwierig es zunächst für Karl war, die
Beteiligten gerade zur Wahl seines Sohnes bereitwillig zu
machen, so wenig Widerstände grundsätzlicher Art gegen eine
Wabl vivente imperatore hatte er zu überwinden.
Auch der Papst äußerte zunächst keine Bedenken gegen die
Gesetzlichkeit einer solchen Wahl. Freilich waren es auch bei .
ihm durchaus politische Motive, die seine Haltung bestimmten.
Als er erst mit der Móglichkeit rechnen muBte, daB Karl sich den
gestellten Bedingungen, von denen die päpstliche Zustimmung
abhängen sollte, zu entziehen gedachte, schrieb er dem Kaiser,
eine Wahl vivente imperatore sei „tamquam insolitum“, daß
er die Zustimmung der Kardinäle kaum dazu hätte erlangen
können (RTA.I,61). Darin lag noch nicht die Behauptung, daß
die Wahl gesetzlich unmöglich sei. Wenn aber die päpstliche Ein-
wiligung von Bedingungen abhängig gemacht wurde, so klang
schon leise die Haltung an, die der Papst nach vollzogener Wahl
eingenommen hat. Eine Betrachtung der Verhandlungen wird
zeigen, wie der päpstliche Standpunkt sich allmählich geändert hat.
Daß eine Wahl vivente imperatore der Kurie keineswegs er-
wünscht sein konnte, ist schon häufig genug betont worden.
Wenn aber Engelmann“ und Lindner? behaupten“, die Be-
stürzung in Avignon sei groB gewesen, als der Kaiser dem Papste
seinen Plan eróffnet habe, so ist das sehr unwahrscheinlich. Schon
deshalb, weil der Kurie genau so wie den Kurfürsten Karls Pläne
schon seit langer Zeit nicht mehr unbekannt sein konnten. Dazu
kam, daß Wenzel der Sohn eines der Kirche treu ergebenen Herr-
schers war. Damit bot er doch eine gewisse Gewähr, daB er einst
als König und Kaiser in dieselben Bahnen der Politik einlenken
werde, wie sein Vater. Im Februar 1376 schrieb Gregor XI. dem
Erzbischof Johann von Prag“, er habe von der schweren Krank-
heit Karls IV. gehórt und fürchte, die Kurfürsten móchten bei
= Engelmann, Anspruch der Päpste auf Konfirmation und Approbation bei
den deutschen Königswahlen. Breslau 1880. S. 110.
m Lindner, Wahl Wenzels, S. 270.
* Die Behauptung wird von beiden nicht quellenmäßig belegt!
= RTA. I. S. 94, Anm. 1.
62 Richard Lies
einem plótzlichen Tode des Kaisers einen andern als Wenzel zum
Könige erwühlen. Daher schicke er den Kardinal Robert von
Genf nach Deutschland, damit er Wenzel bei den Kurfürsten
Gunst verschaffe und die Wahl eines anderen möglichst verhindere.
Aus diesem Schreiben klingt die eindringliche Überredungskunst
Karls IV. wieder. Seine Argumente für die Notwendigkeit, daB
die Wahl Wenzels noch zu seinen Lebzeiten stattflnden müsse,
hatten an der Kurie ihre Wirkung nicht verfehlt. Er trug sie
später noch einmal dem päpstlichen Gesandten Audibert vor:
Wenn man mit der Wahl bis nach seinem Tode warte, so würden
die Kurfürsten bei ihrer kirchenfeindlichen Einstellung sicher
einenderKurie ungünstig gesinnten Herrscher wählen (RTA.1,63,1).
Zwar bestand die Gefahr, daß mit der Wahl des neuen Königs
schon zu Lebzeiten seines Vorgängers wieder der Weg zu einer
Erbmonarchie beschritten wurde. Aber dem stand für diesen
Einzelfall der Vorteil gegenüber, daß ein der Kirche günstig ge-
sinnter Kandidat auf den Thron gelangte. Und gegen die Nach-
teile, die aus einer solchen Wahl vivente imperatore der Kurie
erwachsen konnten, fand man Schutzmaßnahmen. Eine Reihe
von Bedingungen wurde aufgestellt, die die Wiederholung einer
solchen Wahl — wenigstens ohne die ganz ausdrückliche Ge-
nehmigung der Kurie — unmöglich machen sollte. Von ihrer
Erfüllung seitens des Kaisers machte der Papst seine Einwilligung
abhängig.
Aber je näher die Wahl Wenzels rückte, um so mehr steigerte
sich die Befürchtung an der Kurie, daß Karl sich trotz seiner
anfänglichen Geneigtheit der Erfüllung der gestellten Bedingungen
entziehen möchte. Diese Befürchtung war der Grund dafür, daß
der Papst Karl IV. mitteilen ließ, eine Wahl vivente imperatore
sei den Kardinälen ,,valde novum et insolitum“ erschienen, daß
sie ihre Zustimmung nur sehr ungern erteilt hätten (RTA.I, 62, 6).
Der Ausdruck ist mit Sorgfalt gewählt. Der Papst hütete sich
wohl, zu behaupten, daß eine solche Wahl ungesetzlich sei. Denn
dann hätte er seine Zustimmung schlechterdings nicht geben
können. Sein Urteil änderte sich erst, als die Wahl ohne seine
Genehmigung vollzogen war. Allerdings hätten die Bedingungen,
die der Papst an den Kaiser stellte, wären sie erfüllt worden,
genügt, eine Wahl vivente imperatore in Zukunft nur den Wün-
schen der Kurie gemäß zu gestalten.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 63
Für den nächstfolgenden Fall einer Wahl sollten Karl und
Wenzel versprechen, daß sie zu ihren Lebzeiten nie wieder eine
Neuwahl veranlassen und einer von anderer Seite geplanten sich
widersetzen würden. Für die weitere Zukunft verlangte der Papst
dieZustimmung Karls zu einer päpstlichen Konstitution (RTA.I,
63, 5), nach der die Kurfürsten eine Wahl in Zukunft nur bei
Vakanz des Reiches vornehmen dürften; zu Lebzeiten des jewei-
ligen Herrschers aber nur mit besonderer Erlaubnis (licencia et
auctoritas) des Papstes, Ohne solche Erlaubnis sollte die Wahl
„ipso jure irrita atque nulla“ sein. Hier kommt der Standpunkt
des Papstes am klarsten zum Ausdruck. Eine Wahl vivente im-
peratore hält er keineswegs für gesetzlich unmöglich. Sie soll es
aber in Zukunft werden, wenn sie nicht mit seiner ausdrücklichen
Erlaubnis vollzogen wird. Um die Einholung der Wahlerlaubnis
bei der Kurie aller Welt vor Augen zu führen, gedachte man die
Wahl Wenzels zu einem Präzedenzfall auszugestalten. Karl und
Wenzel sollten persönlich nach Avignon kommen und die päpst-
liche Genehmigung zur Wahl einholen.
Diese Forderungen waren geschickt und durchdacht aufgebaut.
Gelang es dem Papste, sie durchzusetzen, so machten sie aller-
dings in Zukunft die Wahl eines Königs vivente imperatore
ohne seine Zustimmung durchaus unmöglich. Er war sich der
Tatsache wohl bewußt, daß sie eine starke Einschränkung des
freien Wahlrechts der Kurfürsten bedeuteten. Er versprach
Karl IV. die Geheimhaltung des Vertrages über die päpstliche
Konstitution nicht etwa nur aus Rücksicht auf den Kaiser. Viel-
mehr fürchtete er selber den Unwillen der Kurfürsten über eine
derartige Beschränkung ihrer Rechte (RTA. I, 63, 5).
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Karl, der erfahrene
Politiker, die staatsrechtliche Bedeutung dieser Forderungen
sofort erkannt und beschlossen hat, sich ihrer Erfüllung zu ent-
ziehen. Aus den Verhandlungen mit dem päpstlichen Gesandten
Audibert ist zu ersehen, daß er mit Bestimmtheit zunächst nur
sein Kommen nach Avignon zugesagt hat. Auf die übrigen
Bedingungen hat er sich anscheinend überhaupt nicht festgelegt.
Sein Verhalten im weiteren Verlaufe der Verhandlungen läßt
das vermuten. Sicher hat er die Bitte um Wahlerlaubnis nicht
zugesagt. Denn sein Brief vom 30. März 1376 an den Papst
(RTA. I, 60) spricht mit so selbstverständlicher Sicherheit vom
64 Richard Lies
Beschluß der Kurfürsten zur Wahl, und die Abweisung der For-
derungen Audiberts (RTA. I, 63, 1) klingt so entrüstet, daB ihnen
auf keinen Fall eine Zusage vorausgegangen sein kann.
Am leichtesten wurde es ihm, der Forderung auf Zustimmung
zu der päpstlichen Konstitution auszuweichen. Es ist bekannt,
daß er ironisch erklärt hat, der Papst möge so viel Konstitutionen
erlassen, wie ihm beliebe. Er würde sie mit Geduld über sich
ergehen lassen und nicht widersprechen. Seiner Zustimmung
bedürfe der Papst ja gar nicht, da auch die früheren Päpste ihre
Konstitutionen erlassen hátten, ohne die Einwilligung seiner
kaiserlichen Vorgänger einzuholen. Im weiteren Verlaufe der
Verhandlungen hat er dann dieses Verlangen stets mit Stillschwei-
gen übergangen, obgleich es vom Papste bis zuletzt hartnäckig
immer wiederholt worden ist (RTA.I, 75; 86, 4)*. Auch der
Forderung, daß er und Wenzel sich verpflichten sollten, nie wieder
die Wahl eines Nachfolgers zu ihren Lebzeiten zu gestatten, ist
er immer wieder ausgewichen. Erst am 23. September 1377, als
der Papst sich immer noch nicht zur Approbation Wenzels ver-
standen hatte, hat er die Bedingung erfüllt (RTA. I, 89). Da je-
doch Wenzel keine entsprechende Urkunde ausstellte, so war
dieser nicht an die Verpflichtung gebunden. Auf das Versprechen
Wenzels schien der Papst immer noch zu warten, als er kurz vor
seinem Tode im Februar 1378 dem Kaiser schrieb, er sei erstaunt,
daß Wenzel die verlangten Briefe immer noch nicht geschickt
habe (RTA. I, 91) “. Und auch an dem Fehlen dieser Verpflichtung
hat es dann gelegen, daB Gregor XI. die Approbation Wenzels
nicht mehr vollzogen hat *.
Wichtiger als diese Forderungen, die die Wiederholung einer
Wahl vivente imperatore ohne Genehmigung des Papstes un-
* Weizsäcker, Urkunden zur Approbation Ruprechts (Abh. d. Berl. Ak. d.
Wiss. 1858.), S. 19. Engelmann, Anspruch der Pápste, S. 115 u. 127.
7 Engelmann, a. a. O. S. 129.
* Das nimmt auch Weizsäcker, Urkunden zur Approbation Ruprechts, S. 21,
an. Nach ihm (Urkunden zur Approbation Ruprechts, S. 18) hat Wenzel dieses
Versprechen am 5. 4. 1379 noch gegeben und darauf die Approbationsbulle des
Papstes erhalten. Diese von Urban VI. ausgestellte Approbationsbulle ist nicht
überliefert. (Vgl. Weizsäcker, Reichstagsakten I S. XCI—XCIIL) Dabei ist zu be-
achten, daB diese Approbation erst nach dem Tode Karls IV. und nicht mehr von
Gregor XI. vollzogen wurde. Sie hat also für die vorliegende Arbeit keine Be
deutung.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 65
möglich machen sollten, war der Kurie zunächst die persönliche
Einholung der Wahlerlaubnis. Gelang es, die Wahl auf diese
Weise zu einem Präzedenzfall zu gestalten, so bedeutete das aller-
dings die Vernichtung des freien Wahlrechts der Kurfürsten —
wenigstens für den Fall einer Wahl vivente imperatore. Es war
eine grundlegende Umgestaltung des Wahlrechts. Der Nach-
folger wurde vom Kaiser vorgeschlagen, vom Papste in bezug
auf seine Idoneität geprüft, und sodann den Kurfürsten vom
Papste die Erlaubnis erteilt, diesen vorgeschlagenen und als ge-
eignet befundenen Kandidaten zu wählen. Damit blieb ihnen
nur ein rein formelles Anerkennungsrecht. -
Es entsprach der Bedeutung dieser Forderung, wenn die Kurie
ihre Verwirklichung mit der größten Hartnäckigkeit durchzu-
setzen versucht hat. Und die Bestürzung in Avignon war groß,
als Karl IV. in dem bekannten Briefe vom 30. März 1376 (RTA. I,
60) schrieb, daß er seiner Gesundheit wegen nicht mit Wenzel
nach Avignon kommen kónne. Damit wurde dem fein ausge-
klügelten Plane der Charakter einer óffentlichen Demonstration
genommen. So hat der Papst nicht aufgehört, bis zum Wahltage
bald flehend, bald drohend mit allen verfügbaren Gründen Karl
doch noch zum Kommen zu veranlassen (RTA. I, 61; 62,4—13;
67,7). Aber Karl hat nicht nachgegeben.
Die Wahl Wenzels wurde am 10. Juni 1376 vollzogen, ohne
daB der Kaiser auch nur eine der genannten Bedingungen erfüllt
hätte. Man wird seiner Politik nicht gerecht, wenn man sich dem
Urteil Vigeners?? anschließt, nach dem es nur die Rücksicht auf
die Kurfürsten gewesen wäre, die den Kaiser veranlaßt hätte,
den päpstlichen Forderungen auszuweichen. Zwar hat Karl die
Ablehnung des päpstlichen Verlangens, nach Avignon zu Kom-
men, mit der feindlichen Haltung der Kurfürsten begründet
(RTA.I,63, 1). Aber es entsprach den Grundsätzen seiner Politik,
wenn er eine klare Darlegung seiner eigenen Stellungnahme ver-
mied und sich bedauernd hinter der ablehnenden Haltung anderer
verbarg. War er denn nicht selber Mitglied des in seinen Rechten
gefäbrdeten Kurfürstenkollegiums? Seine Verhandlungen mit
dem Vertreter der Kurie entbehren auch keineswegs eines vor-
—
* Fritz Vigener, Karl IV. und der Mainzer Bistumsstreit (1373—1378).
Westd. Zeitschrift. Ergh. XIV. Trier 1908. S. 96ff.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 5
66 | Richard Lies
sichtigen Zeugnisses seiner persönlichen Überzeugung. Als
Audibert zum ersten Male die Forderung eines Schreibens stellte,
in dem die päpstliche licencia und gratia zur Vornahme der Wahl
durch die Kurfürsten erbeten werden sollte (RTA.I, 63, 1), erklang
in der Antwort Karls ein Unterton persönlicher Entrüstung:
Der Papst wolle doch wohl nicht, daß er als Kaiser so seine Ehre
zerstöre und sich selbst wegwerfe. Wenn er das täte, so würden
die Kurfürsten sich in Wahrheit von ihm verraten glauben und
sagen, daB er ihre Rechte (jura que habent in eleccione impera-
toris) preisgegeben habe. Aus dieser Antwort tritt uns nicht nur
der Kaiser, sondern auch der Kurfürst Karl entgegen, der nicht
gewillt war, das freie Wahlrecht der Kurfürsten, das er in der
Goldenen Bulle einst selber zum Reichsgesetz erhoben hatte, preis-
zugeben. Dann fáhrt er allerdings fort — und es klingt fast, als
wolle er den Eindruck des bisher Gesagten wieder abschwáchen — :
Er fürchte, da8 er sich die ewige Feindschaft der Kurfürsten
zuziehen würde, wenn er diese Forderung erfüllen würde. Der
Papst kenne die böse Gesinnung gewisser Fürsten nicht. Er sei
Sicher, daB, wenn man nicht vorsichtig sei, die Herrschaft in die
Hände eines Feindes der Kirche fallen würde.
Wenn Karl dann, nachdem die Wahl Wenzels bereits erfolgt
war, sich den immer dringender werdenden Forderungen des
Papstes schließlich nicht mehr entziehen konnte, so hat er es
doch an weiteren Versuchen nicht fehlen lassen, sie wirkungslos
zu machen. Die vordatierte Bulle des Papstes vom 7. Mai 1376
(RTA. I, 74) wurde nicht an den Kaiser übergeben, weil sein Ge-
genschreiben (RTA. I, 73) zwar assensus, gratiae und favores des
Papstes zur Vornahme der Wahl erbat, aber den der Kurie wich-
tigsten Ausdruck beneplacitum durch benevolentia ersetzte.
Auch in der Begründung der Notwendigkeit der Neuwahl
wich Karls Gegenschreiben stark von der päpstlichen Bulle ab.
In der Bulle erklärte der Papst, er erteile seine Zustimmung des-
halb, weil Wenzel der Sohn eines der Kirche treuergebenen Herr-
schers sei und daher der Hoffnung Raum gebe, daß er einst in
die Fußstapfen seines Vaters treten werde (RTA. I, 74). Er gab
** Vgl. Die Aufdeckung der Vordatierung durch Weizsäcker, Reichstagsakten I
S. LXXXVIf f.; weiter Weizsäcker, Urkunden der Approbation Ruprechts, (Abh.
d. Berliner Akad. d. Wiss. 1888.) S.15; Engelmann, Anspruch der Päpste, S. 128ff.
— — 45 —
Die Wahl Wenzels zum Rómischen Kónige usw. 07
damit auch offiziell den Grund an, der ihm wirklich die Nachfolge
Wenzels wünschenswert erscheinen lieB. Das kaiserliche Schrei-
ben — ebenso wie die kurfürstlichen Wahlanzeigen an den Papst
(RTA.I, 79—82) — aber begründete die Notwendigkeit der Wahl
mit dem Alter und der Krankheit des Kaisers, dem eine Hilfe in
der Führung der Reichsgescháfte zur Seite gegeben werden müsse.
Nachdem es aber zum Austausch dieser Urkunden nicht ge-
kommen war, und auch die Krónung Wenzels ohne Einholung
der päpstlichen Approbation vollzogen wurde, hatte sich die
Situation für die Kurie sowohl wie auch für Karl IV. vóllig ge-
ändert. Die bisher wohlwollende Haltung Gregors XI. gegenüber
dem Kaiser wurde immer unfreundlicher. Schon in den geheimen
Zusätzen zu der Anweisung an seine Gesandten (RTA.I, 75), die
noch vor der Krónung in Avignon abgeschickt wurde, bediente
er sich schärferer Ausdrücke: Caveat omnino idem Wenceslaus
Rex. Er móge ja vor der Approbation keine Regierungshand-
lungen ausüben, oder sich krónen lassen. Sonst werde der Papst
die Wahl nie approbieren.
Die nachträgliche Approbation, d. h. die faktische Anerken-
nung Wenzels durch den Papst aber konnte Karl IV. nicht ent-
behren®!. Nicht nur deshalb, weil Wenzel vom Papste später
einmal die Kaiserkrone empfangen sollte. Das Papsttum besaß
immer noch zu große politische Macht und moralischen Einfluß
im Reiche, als daß Wenzel ohne seine Zustimmung sich seiner
königlichen Würde sicher fühlen konnte. Karl hatte sogar
schon vor der Wahl in seinem Briefe an die Stadt Frankfurt
(RAT. I. 44) fälschlich behauptet, die päpstlichen Gesandten
hätten die Einwilligung des Papstes zur Wahl überbracht.
Darin lag doch eine gewisse Befürchtung, daß die Wahl ohne
diese Zustimmung die Billigung Frankfurts nicht finden würde.
Auch der Kurfürsten, obgleich sie zur Zeit der Wahl der Kurie
sehr feindlich gesinnt waren, mochte Karl nicht unbedingt sicher
sein. Der Papst drohte damit, er würde die Wahl für ungültig
erklären. Führte er diese Drohung nach Karls Tode aus, so war
es bei der wankelmütigen Haltung der Kurfürsten durchaus
nicht ausgeschlossen, daß sie dann gegen neue Konzessionen
auch einen neuen König wählen würden. In Ludwig dem Bayern
m Engelmann a. a. O. 3.109.
5*
68 | Richard Lies
stand ihm das Schicksal eines von der Kurie angefeindeten
Herrschers vor Augen.
So hatte Karl denn nach langem Stráuben in den weiteren
Verhandlungen um die Approbation im Jahre 1377 wenigstens
in dieser Frage nachgegeben. Es ist bekanntlich zum Austausch
zweier vordatierter Schreiben gekommen. Diese unterschieden
sich von den obenerwáhnten ihrem Inhalte nach sehr stark.
Die ausführliche Genehmigungsbulle des Papstes (RTA. I, 88), vor-
datiert auf den 4. April 1376, erteilte für dies eine Mal ausnahms-
weise die Genehmigung zur Vornahme der Wahl vivente impera-
tore, obgleich eine solche eigentlich „jure irrita atque nulla“ sei.
Damit hatte sich der grundsátzliche Standpunkt des Papstes
völlig geändert. Hatte er vor der Wahl nur erklärt, eine Wahl
vivente imperatore sei ungewohnt, und versucht, sie durch den
Plan der Konstitution erst für die Zukunft ungesetzlich zu
machen, wenn sie wider seinen Willen vollzogen würde, so hielt
er an diesem Anspruch jetzt auch für die Wahl Wenzels fest.
Man muß die Drohung, die in dieser Formulierung lag, mit in
Betracht ziehen, wenn man verstehen will, warum Karl schlieB-
lich doch noch nachgegeben hat.
Wenn Schmidt?? hervorhebt, daß der Kaiser das päpstliche
Genehmigungsrecht nur auf die spátere Kaiserkrónung bezog,
so ändert das nichts daran, daß er es tatsächlich anerkannte.
Gerade daß er so lange versucht hat, sich der Forderung zu ent-
ziehen, zeigt, wie ungern er nachgegeben hat. Aber die wirk-
liche Anerkennung Wenzels durch die Kurie war ihm nun mehr
wert als die hartnáckige Auírechterhaltung des Gedankens, der
Papst habe auch bei einer Wahl zu Lebzeiten des Vorgángers
kein Genehmigungsrecht zur Wahl. Wußte er doch nicht einmal,
ob dieser Fall so wieder eintreten würde.
Aber eine völlige Niederlage Karls ist es doch nicht ge-
wesen. Als Kónig und Kaiser, nicht aber als Kurfürst, sprach
er die Bitte aus. Und da die Wahl des Kónigs in den Hánden der
Kurfürsten lag, den Kónig aber nichts anging, so konnte diese
Bitte auch unter einem Datum, das vor der Wahl lag, keine
staatsrechtliche Bedeutung haben. Die Kurfürsten, die das freie
Wahlrecht hatten, waren durch Karls Verpflichtung in keiner
33 M. G. Schmidt, Staatsrechtliche Anwendung der Goldenen Bulle, S. 8.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 69
Weise gebunden“. Außerdem erkannte Karl den grundsätz-
lichen Anspruch des Papstes auf Genehmigung zur Wahl nicht
an. Denn er verweigerte ja die Zustimmung zu der päpstlichen
Konstitution “.
So ist festzustellen, daß von seiten der Kurfürsten und zu-
nächst auch von seiten des Papstes keinerlei Bedenken erhoben
worden sind, nach denen eine Wahl vivente imperatore ungesetz-
lich sei. Wenn man auch in Betracht ziehen muß, daß diese
Haltung von politischen Motiven bestimmt wurde, so kann man
doch bei Berücksichtigung der Interpretation der Goldenen
Bulle sagen, daß auch bei der Publikation der Goldenen
Bulle nicht beabsichtigt worden ist, eine Wahl vivente impera-
tore auszuschließen. Wäre es so gewesen, so hätte Karls IV.
staatsmännische Vorsicht sicher nicht versäumt, vor der Wahl
Wenzels ein Abänderungsgesetz zu erlassen, das auch die Wahl
vivente imperatore gestattete, so wie er es auch im Falle des
Wahlortes getan hat.
IV.
Der Streit um den Wahlort.
Karl IV. hat dem Verlangen Kunos von Trier, den Wahlort
von Frankfurt nach Rense zu verlegen, erst nach langen Ver-
handlungen und auch dann nur scheinbar nachgegeben. Denn
die Urkunde vom 11. November 1374 (RTA. I, 5), in der er das
Gesetz über die Ausschließlichkeit Frankfurts als Wahlort 3
33 Das hat schon Lindner, Wahl Wenzels S. 300, hervorgehoben, daß Karl
diese Bitte als Kónig ausgesprochen habe.
*4 Zeumer, Goldene Bulle I, S. 196, zieht aus der Vordatierung der Urkunden
(RTA. I, 87 u. 88) den Schluß, daB den Schreiben zwar keine aktuelle Bedeutung
für die Wahl Wenzels zukam, daß sie aber eine prinzipielle Anerkennung der päpst-
lichen Ansprüche bedeuteten. Karl IV. aber wird seinem Schreiben eine solche Be-
deutung nicht zuerkannt haben. Denn sonst hätte er doch auch den Forderungen
des Papstes auf Zustimmung zu der päpstlichen Konstitution nachgegeben.
Das widerrufene Gesetz ist im 29. Kapitel der Goldenen Bulle enthalten,
wo die Orte für die Wahl, die Krönung und den ersten Hoftag des Königs festgelegt
werden. Weizsäcker, Rense als Wahlort (Abh. d. Akad. Berlin 1890.) [Weiter abgekürzt
xtiert: Weizsäcker, Rense als Wahlort.], S. 26, u. Reichstagsakten I, S. 22, Anm.1,
schreibt, der Wahlort würde im I. Kapitel, Abs. 16, festgesetzt. Dort wird aber,
wie auf S. 50 der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, die Berufung zur Wahl ge-
erdnet und Frankfurt nur genannt, weil es eben nn Wahlort ist, und nicht
erst durch diese Bestimmung werden soll.
70 Richard Lies
aufhob, trägt eine Reihe von Merkmalen, die ihre rechtliche
Gültigkeit stark in Zweifel stellen. Die Begründung ,,auf das die
Wahl frij sijn muge" ist, wenn nicht unzureichend, so doch
mindestens recht vieldeutig. Die Ausfertigung ist nur in deutscher
Sprache erfolgt. Zeugen zur Beurkundung sind nicht heran-
gezogen. Das ist schon sehr bemerkenswert. Denn in unzähligen
Fällen sind die Kurfürsten bei viel weniger wichtigen Urkunden
als Zeugen aufgeführt. Am erstaunlichsten aber ist die Tat-
sache, daB der Kaiser besonders betont, er habe dieses Gesetz,
das er jetzt „von volkommenheit kaiserlicher mechte'' wider-
rufe, einst mit „willen und gehengnisse‘‘ der Kurfürsten erlassen.
Wenn er auch an die Zustimmung der Kurfürsten gesetzlich
nicht gebunden war“, so pflegte er sie doch für wichtige An-
gelegenheiten der Reichsregierung einzuholen. Karl ist der
Gedanke regelmäßiger Kurfürstentage, die im XII. Kapitel der
Goldenen Bulle gesetzlich festgelegt wurden, immer ernst ge-
wesen. Es hat nur an den Kurfürsten gelegen, wenn der Plan
nicht zur völligen Ausführung gekommen ist. Der Kaiser hat sie
häufig zur Beratung um sich versammelt“, und hat viele Re-
gierungshandlungen mit ihrem Rate und Willen vollzogen®,
besonders in Angelegenheiten, die das Kurfürstentum betrafen.
Wenn er nun ein Gesetz, das er einst mit ihrer Zustimmung
erlassen hatte, unter ausdrücklicher Betonung dieser Tatsache
widerrief, obne ihre Einwilligung einzuholen, so muß dafür schon
ein besonderer Grund vorliegen. Schon Schmidt“ hatte die
Móglichkeit erwogen, daB Karl mit dieser unzureichenden Form
der Abfassung beabsichtigt habe, die Gültigkeit dieses Wider-
rufs von vornherein in Zweifel zu stellen“ und damit die An-
s Vgl. Vogt, in Westdeutsche Zeitschrift Nr. 27, 1908, S. 484, und Zeumer,
Goldene Bulle I, S. 187ff.
9 Vgl. Böhmer, Regesta imperii VIII, Nr. 905, 1544a, 1561 a, 1698a, 1806 a,
1807, 2284a, 23668, 2356, 20198, 2555 a, 2555 b, 8621a, 4298, 4591 a, 5042a, 5599 a,
5600 b, 5636 b, 5637, Ergänzungsheft Nr. 6986 u. 72648.
38 Vgl. Böhmer, Regesta imperii VIII, Nr. 711, 957, 1027, 1233, 1681, 1807 b.
2860, 2878, 2380, 2397, 2406, 2590, 3295, 3443, 3552, 8698, 3701, 8840, 5055, 5095,
6644, Ergänzungsheft 6731, 6987.
3 Schmidt, Staatsrechtliche Anwendung der Goldenen Bulle, S. 11.
* Vgl dazu Weizsäcker, Rense als Wahlort S. 48: Als das Wahrscheinliche
kann man jetzt sagen, daß er keinen Augenblick seines Lebens daran gedacht hat,
Die Wahl Wensels zum Römischen Könige usw. 71
wendung bei der Wahl Wenzels unmöglich zu machen. Aber
wenn Karl auch insgeheim den Plan gehegt haben mag, die Wahl
doch in Frankfurt stattfindenzulassen, so durfte er diese Ab-
sicht noch nicht offen durchblicken lassen. Denn er hatte
für seine Person Kuno von Trier zum Zugeständnis dieses
Widerrufs noch das Versprechen geben müssen, nach besten
Kräften dafür zu sorgen, daß die Wahl Wenzels in Rense statt in
Frankfurt gehalten würde. (RTA. I, 3, 18.)
Ende März 1376 war in Nürnberg vom Kurfürstenkollegium
der endgültige BeschluB zur Wahl gefaBt worden. Und in den
letzten Tagen des Mai befand sich Karl mit Wenzel auf dem Wege
nach Rense. Mit klugem Bedacht hatte er es vermieden, in dem
Briefe vom 30. Márz (RTA.I, 60) dem Papste die Verlegung der
Wahl nach Rense mitzuteilen. Der Ausdruck, man wolle zu
Pfingsten der Wahl in Frankfurt ,debitum finem imponere",
war so gewählt, daß der Eindruck erweckt wurde, die Wahl
solle in Frankfurt stattfinden. Er hátte aber auch gepaBt, wenn
gemäß der Abmachung Karls mit Kuno von Trier nur die Altar-
erhebung in Frankfurt erfolgt wäre*!. Mit diesem Briefe wollte
Karl dem Papste zu verstehen geben, daß die Kurfürsten die
Wahl ohne Einmischung der Kurie zu vollziehen gedachten.
Teilte er nun gleichzeitig mit, daß man als Wahlort nicht dem
Herkommen gemäß Frankfurt nehmen wollte, so gab er der Kurie
schon vorher eine erwünschte Handhabe zur Anfechtung der
Wahl. Aus der Formulierung erklingt aber auch der versteckte
Wunsch Karls, die Wahl doch noch nach Frankfurt zu legen. Für
- ihn gab es nur einen Grund, der ihn veranlaßte, Frankfurt gegen-
über Rense den Vorzug zu geben. Der Grund, der maßgebend
war für seine Haltung in allen Verhandlungen und Vorgängen
um die Wahl seines Sohnes. Er wollte diese Wahl so vollzogen
wissen, daß später von keiner Seite irgendein Vorwurf wegen
Verstoßes gegen die gesetzlichen Formalitäten erhoben werden
konnte.
Am 31. Mai traf der Kaiser die Erzbischöfe von Trier und
Köln in Bacharach, um sich mit ihnen am folgenden Pfingsttage
das dem Erzbischof gegebene Versprechen zu erfüllen, nämlich die Wahl seines
Sohnes vornehmen zu lassen in Rense. Was er weiter tut nach diesem Versprechen,
ist alles nur berechnet auf dessen Nichterfüllung.
€ Fritz Vigener, Mainzer Bistumsstreit, S. 99, Anm. 291.
72 Richard Lies
zur Wahl nach Rense zu begeben. Hier haben die entschei-
denden Verhandlungen stattgefunden, die dazu führten, daß in
Rense nur die Nomination erfolgte, und die Wahl erst zehn Tage
später wirklich am rechtmäßigen Wahlorte in Frankfurt voll-
zogen wurde. Pfaffenlap (RTA. I, 53) berichtet zwar, daß diese
Verhandlungen erst am 1. Juni in Rense stattgefunden hätten.
Aber es ist ihm hier ein Irrtum umso leichter zu verzeihen, als
aus der Abfassung seines Berichtes hervorgeht, daB er nuc
Augenzeuge der Frankfurter Feier gewesen ist, an der Tagung
in Rense aber nicht teilgenommen hat““.
Wenn nun Pfaffenlap berichtet, daB der Trierer und Kólner
in Rense mit dem Kaiser etwas „stößig“ geworden seien, so ist
der Zusammenhang klar. Dieser Streit ist nicht erst in Rense,
sondern schon am Tage vorher in Bacharach ausgetragen worden.
Die neuen Konzessionen und das Zugestündnis, daB in Rense
wenigstens eine Nomination Wenzels vollzogen werden sollte,
haben die Erzbischófe von Kóln und Trier wohl bestimmt, nach-
zugeben. So hatte Karl IV. sein Ziel schließlich doch noch er-
reicht. Die Wabl wurde von Rense wieder nach Frankfurt gelegt.
Die Frage ist nur, von wem und in welcher Form ist die
Forderung Frankfurts als Wahlort erhoben worden? Es ist
sehr unwahrscheinlich, daß es der Kaiser selber getan hat. Karl
4 Der Bericht Pfaffenlaps enthält noch einen kleinen Irrtum: Erzbischof
Ludwig von Mainz, der am 28. Mai in Oppenheim zurückgeblieben war, kann nicht,
wie Pfaffenlap berichtet, erst am Pfingsttagmorgen vom Pfalzgrafen nach Rense
geholt worden sein. Der Weg von Oppenheim nach Rense háütte in so kurzer Zeit
unmöglich zurückgelegt werden können. Außerdem ist Ludwig auch schon am
81. Mai als Zeuge in einer Urkunde aufgeführt, die in Bacharach ausgestellt wurde
(RTA. I, 6). An diesem Tage stellte Karl IV. für die Erzbischöfe von Köln und Trier
eine Reihe von Urkunden aus. In ihnen erfolgt zum größten Teil die Verbriefung
der Versprechungen, die er im Jahre 1374 für ihre Wahlverpflichtung gelobt hatte.
Zu diesen alten Versprechungen traten noch neue Konzessionen hinzu. Lindner
(Wahl Wenzels, S. 283) nimmt an, daB es nur das Bestreben Karls gewesen sei,
die Kurfürsten bei guter Stimmung zu erhalten, das ihn zu denerhóhten Konzessionen
veranlaBte. Nun sind aber am 1. Juni in Rense, an welchem nach Pfaffenlap die
Auseinandersetzung der Erzbischófe von Kóln und Trier mit Karl IV. erfolgte,
überhaupt keine Urkunden ausgestellt worden. Und da anzunehmen ist, daB die
beiden Erzbischófe für das Zugestándnis, die Wahl doch in Frankfurt zu vollziehen,
sich neue Konzessionen machen ließen, so möchte ich die Urkunden von Bacharach
als solche erklären. Pfaffenlap muß sich hier wie bei der Schilderung des verspäteten
Erscheinens von Ludwig geirrt haben.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 73
waren ja offiziell die Hände gebunden. Denn er hatte sich dem
Trierer gegenüber verpflichtet, nach Möglichkeit dafür zu
sorgen, daB die Wahl in Rense stattfinden würde. (RTA. I,
3,13.) Er hatte selber in der Urkunde vom 11. November 1374
die Eigenschaft Frankfurts“ als Wahlort aufgehoben (RTA. I, 3).
Diese Urkunde aber trug, wie schon weiter oben angedeutet
wurde, eine Reihe von Mängeln, die sie den Kurfürsten — mit
Ausnahme des Trierers, ihres Urhebers, und des Kólners —
nicht empfehlen konnten. Man sollte annehmen, daß, falls man
sie nun hätte anwenden wollen, eine Neuausfertigung, die die
genannten Mängel behob, erfolgt wäre. Eine solche Neuaus-
fertigung, in der die Zustimmung der Kurfürsten aufgenommen
war, ist aber ebensowenig bekannt wie eine Widerrufung. Dem-
nach bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, daß ihre Gültigkeit
bestritten und die Anwendung auf diese Weise verhindert
worden ist.
So nahe es liegt zu vermuten, daß Karl IV. durch die unzu-
längliche Form des Gesetzes einen Protest der Kurfürsten hatte
veranlassen wollen, so konnte er wegen seiner Verpflichtung dem
Trierer gegenüber diesen Standpunkt doch kaum offen vertreten.
Aus dem Kreise der Kurfürsten muß die Weigerung gekommen
sein, diesen Widerruf anzuerkennen. Friedrich von Köln wird
natürlich ebensoviel Interesse an der Erhebung Renses zum Wahl-
ort gehabt haben“, wie sein Bundesgenosse Kuno von Trier.
Um so weniger aber die übrigen Kurfürsten: Der Pfalzgraf, der
Sachse und der Mainzer. Besonders war es der letztere, in dessen
* Ganz ausgeschlossen scheint mir die Annahme Weizsäckers (Rense als Wahl-
ort S. 28), nach der die Wahl Frankfurts als Wahlort durch Abstimmung der Kur-
fürsten erfolgt sei. Zwar soll nicht bestritten werden, daB die Begründung der Ver-
legung der Wahl von Frankfurt „auf das die wal frij sijn muge“ die Auslegung
zul&Bt, der Wahlort solle nunmehr für jeden einzelnen Fall durch Abstimmung
von der Mehrheit der Kurfürsten festgelegt werden. Aber bei der Wahl Wenzels
hätte eine solche Abstimmung unbedingt zur Wahl Renses führen müssen. Nicht
nur der Erzbischof von Trier und sein Parteigänger, der Erzbischof von Köln, hätten
für Rense gestimmt. Auch Karl, der über die Stimmen von Böhmen und Branden-
burg verfügte, hätte sich ihnen anschließen müssen. Denn dazu hatte er sich ja dem
Trierer gegenüber verpflichtet. Es hätten sich also, selbst wenn man außer acht
läßt, daß der Mainzer und der Sachse von Karl politisch stark abhängig waren,
im Höchstfalle drei Stimmen für Frankfurt ergeben: die des Pfälzers, Mainzers
und Sachsen.
“ Weizsäcker, Rense als Wahlort S. 29.
74 Richard Lies
Diözese Frankfurt, die offizielle Wahlstadt, lag. Nach dorthin
hatte er die Kurfürsten zur Wahl zu berufen. Dort übte er das
Recht der Stimmabfragung aus und durfte die vollzogene Wahl
öffentlich verkündigen. Von ihm mag also am ehesten die For-
derung ausgegangen sein, in Aufrechterhaltung der Goldenen
Bulle an Frankfurt als Wahlort festzuhalten und den Widerruf
nicht anzuerkennen.
Vielleicht hängt damit jene eigentümliche Tatsache zusam-
men, die auf S. 72 schon angedeutet wurde: Am 28. Mai blieb
Ludwig von Mainz in Oppenheim zurück und weigerte sich,
nach Rense zur Wahl mitzukommen. Vigener“ hat dieses
Ereignis im Zusammenhange mit dem Mainzer Bistumsstreit
so erklärt, daß Erzbischof Ludwig seine Beteiligung an der Wahl
in Rense von einer schriftlichen Bestátigung seines Kurrechts
durch die anderen Kurfürsten abhängig machen wollte. Diese
Erklärung ist in ihrer ausführlichen Begründung auBerordent-
lich scharfsinnig und glücklich. Doch soll hier die Frage auf-
geworfen werden, ob dies der einzige Grund gewesen sein kann,
der Ludwig in Oppenheim zu bleiben veranlaBte. Vigener gibt
selber zu, daß des Mainzers Kurrecht von keinem der Beteiligten
angezweifelt wurde“. Weiter betont er, daß Ludwig nur mit
Wissen und Willen des Kaisers zurückgeblieben sein kann.
Welches Interesse aber hatte Karl an dieser schriftlichen Be-
stätigung des Wahlrechts eines Kurfürsten, dem niemand sein
Recht bestritt? Wenn der Mainzer schon mit seiner Einwilligung
in Oppenheim zurückblieb, so muß auch Karl aus diesem Ver-
halten bestimmte Vorteile für sich erhofft haben.
Wenn man die Angelegenheit in Zusammenhang mit dem
Streit um den Wablort bringen will, so besteht die Möglichkeit,
daB Karl sogar Ludwig veranlaßt hat, Einspruch gegen Rense
Frits Vigener, Mainzer Bistumsstreit, S. 98.
Schon in der Wahlverpflichtung vom 12. Februar 1375 (RTA. I. 20) hatte
Pfalzgraf Ruprecht gesagt, daß er das Wahlversprechen Erzbischof Ludwigs von
Mains gesehen habe. Am 20. März 1876 war Ludwig Zeuge in einer Urkunde in seiner
Eigenschaft als Erzbischof von Mains (Böhmer, Regesta imperii VIII Nr. 5641),
und am 31. Mai war er, wie schon weiter oben erwähnt, ebenfalls Zeuge in einer
Urkunde für den Erzbischof von Trier; und auch hier in seiner Eigenschaft als
Erzbischof von Mains. Daraus ist doch zu schließen, daß über die Führung der
Mainzer Stimme durch Ludwig alle Beteiligten unterrichtet waren.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 75
als Wahlort zu erheben. Vielleicht hat der Mainzer sich ge-
weigert, an einer Wahl in Rense teilzunehmen, und sich dabei
auf die Goldene Bulle berufen. Er hat sich dann auch viel-
leicht gestráubt, den Widerruf (RTA. I,5) der Bestimmung der
Goldenen Bulle, die Frankfurt als Wahlort bezeichnete, anzu-
erkennen, mit der Begründung, daß er ohne Zustimmung der
Kurfürsten und in unzureichender Form erlassen sei. Daraufhin
wurden die Erzbischöfe von Köln und Trier zunächst ,,stóBig''.
Aber der geschickten Vermittlungskunst Karls IV. gelang es
durch weitere Zugeständnisse und durch die Bewilligung der
Nomination in Rense, sie zum Aufgeben ihrer Forderung zu
veranlassen. Auf die Seite des Mainzers mag sofort Pfalzgraf
Ruprecht getreten sein. Denn er war es, der Ludwig von Oppen-
heim holte, und damit anscheinend die allgemeine Versöbnung
vermittelte. Derselbe Pfalzgraf Ruprecht machte einige Tage
später die Bürger von Frankfurt darauf aufmerksam, daß
Wenzel noch nicht gewählt sei, als sie ihn schon mit königlichen
Ehren empfangen wollten (RTA.I, 53). Also auch er hatte sich
doch wahrscheinlich gegen eine Wahl in Rense erklärt und war
jetzt bemüht, der stattgehabten Nomination in Rense jegliche
Bedeutung für die Wahl zu nehmen.
Ein völlig sicheres Urteil über diese Verhandlungen, in denen
sich der Streit um den Wahlort mit dem Mainzer Bistumsstreit,
den Ansprüchen des Papstes auf Beeinflussung der Wahl und
dem Jagen der Kurfürsten nach neuen Konzessionen ver-
mischte, wird wegen des unzulänglichen Quellenmaterials wohl
nie möglich sein. Eins aber ist als sicher anzunehmen: Die ge-
heime Initiative Karls für die Beibehaltung Frankfurts als Wahl-
ort. Hätte er den ernsthaften Willen gehegt, sein Widerrufs-
gesetz durchzusetzen, so wäre ihm das mit Hilfe der Erzbischöfe
von Köln und Trier auch gelungen. Aber es kam ihm eben hier
wie immer — so wird die weitere Darstellung zeigen — darauf an,
die Bestimmungen der Goldenen Bulle zu wahren.
Diesem Widerruf vom 11. November 1374 (RTA.I, 5) kommt
noch eine ganz besondere Bedeutung zu. Seltsamerweise ist
die Goldene Bulle während der ganzen Wahlverhandlungen
nicht ein einziges Mal genannt worden. Nun ist es zwar sehr
unwahrscheinlich, daß ein Gesetzgeber die selbst kodifizierten
Rechtssätze nicht zur Anwendung bringen möchte. Da jedoch
76 Richard Lies
die Goldene Bulle bei der Wahl Wenzels einfach nicht genannt
wird, so würde der direkte Beweis fehlen dafür, daß man ihre
Bestimmungen auch beachtet hat. Aber in dieser Aufhebung
Frankfurts als Wahlort zeigt es sich, daß König und Kurfürsten
sich an ihr Gesetzwerk gebunden erachteten und im Falle eines
Abweichens davon einen Widerruf des Gesetzes für notwendig
hielten. Ja, daß man es trotzdem vorzog, im entscheidenden
Augenblicke doch wieder der Goldenen Bulle zu folgen. Eine
Maßnahme, die allerdings bei der unzureichenden Form des
Widerrufs durchaus im Interesse der Kurfürsten lag.
V.
Das Verhältnis der Wahl in Frankfurt zur Goldenen Bulle.
Mit den Konzessionen in Bacharach hatte Karl IV. alle
Versprechungen, die er den Kurfürsten für die Wahl gelobt hatte,
erfüllt. So waren sie nun verpflichtet, Wenzel ohne weitere Ein-
wendungen zu wählen. Voraus ging nur noch die Nomination
Wenzels in Rense. Es war die Hauptkonzession an Kuno von
Trier und Friedrich von Köln, dafür daß sie im Streit um den
Wahlort nachgegeben hatten. Da ihre „stößigkeit‘‘ schon am
Tage vorher besänftigt war“, so ist die Nomination nur mehr
eine Formalitát gewesen. Über die staatsrechtliche Bedeutung
dieser „Nennung“ gehen die Ansichten auseinander. Lindner
hat sie als Vorwahl bezeichnet“. Engelmann im Gegensatz dazu
als förmliches Wahlversprechen 9. Sie war in ihrer Bedeutung
für die Wahl die Einigung auf einen bestimmten Kandidaten mit
dem bindenden Versprechen, ihn zu wáhlen.
Für Karl IV. war die Nomination ein Zugeständnis, das er dem
hartnäckigen Kuno von Trier nur ungern gemacht bat. Für seine
Einstellung mußte es maßgebend sein, daß die Goldene Bulle
eine Nomination an einem anderen Orte als Frankfurt nicht
gestattete. Nach ihren Bestimmungen erfolgte die Berufung der
Kurfürsten zur Wahl unmittelbar nach Frankfurt. Dort ist
zwar durch die lange Fristsetzung von 30 Tagen die Möglichkeit
7 Vgl. die Ausführungen in IV, wo zu zeigen versucht wurde, daß die Un-
einigkeit über den Wahlort schon am 31. Mai in Bacharach beseitigt wurde.
« Lindner, Wahl Wenzels S. 285.
4 Engelmann, Anspruch der Päpste, S. 117 Anm. 5.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 77
zu Verhandlungen über die Person des zu Wählenden geboten.
Am Anfang dieser Wahlversammlung aber erfolgt die feierliche
Ablegung des Wahleides. Und in diesem schwören die Kur-
fürsten „absque omni pacto, stipendio, precio vel promisso"
zu wählen. Mit einer solchen Verpflichtung aber ließen sich die
Vorgànge in Rense nicht in Einklang bringen.
Wollte man den Eindruck erwecken, als sei die Wahl den
Vorschriften der Goldenen Bulle gemäß erfolgt, so mußte man
die Nomination in Rense jetzt für ungültig erklären. Das ist
zwar nicht geschehen. Aber man hat sich bemüht, diesen Wider-
spruch auf andere Weise zu beseitigen. Wer seine Kenntnis über
die Wahl nur aus den offiziellen Urkunden schöpfen würde,
die in Frankfurt ausgestellt wurden, dem würden die e
in Rense in ganz falschem Lichte erscheinen.
Die einzige der offiziellen Wahlurkunden, die die Renser
Vorgänge erwähnt, ist die längere Wahlanzeige der Kurfürsten
an den Papst (RTA. I, 80 und 82). Und diese Schilderung ent-
spricht den wirklichen Geschehnissen in keiner Weise. Nach
diesem Berichte wäre in Rense von den Kurfürsten nur fest-
gestellt worden, daß der Gesundheitszustand Karls IV. und die
Lage des Reiches die Wahl irgendeines Nachfolgers zur Unter-
stützung des alternden Kaisers nötig mache. Daher hätten sie
beschlossen, diese Neuwahl am 10. Juni in Frankfurt vorzu-
nehmen.
Was war der Grund für die falsche Darstellung eines Er-
eignisses, über dessen wirklichen Verlauf der Papst durch seine
Gesandten doch ganz genau unterrichtet war? Prüft man zur
Beantwortung dieser Frage den Unterschied der Darstellung
von dem wahren Ereignis, so fällt zunächst die nachdrückliche
Hervorhebung der Gefahren auf, die dem Reiche aus einer
Vakanz des Thrones erwachsen kónnten. Mit dieser Begründung
der Wahl steht im Zusammenhange die Erwáhnung der angeb-
lichen Unterstützungsbedürftigkeit des Kaisers. Ganz wichtig
aber ist das Verschweigen der Tatsache, daB man sich über die
Person des zu Wáhlenden schon einig war und angab, in Rense
sei nur der Beschluß zur Wahl überhaupt und die Festsetzung
des Wahltermins erfolgt.
Will man in dieser Darstellung eine Spitze gegen den Papst
erblicken, so kann sie in der Betonung des freien Wahlrechtes
78 Richard Lies
der Kurfürsten gegenüber seinem Anspruch auf Genehmigung
zur Wahl liegen. Noch waren die Tage, wo der päpstliche Ge-
sandte diese Forderung täglich dringender wiederholte. Hätte
man diesem Anspruche des Papstes vor der Wahl Wenzels
stattgegeben, so hätte er den Kurfürsten die Erlaubnis zur Wahl
eines ganz bestimmten Kandidaten erteilt, weil ihm gerade dieser
geeignet erschien. In der Wahlanzeige aber wurde betont, daß
die notwendigen Erfordernisse des Reiches und nicht die ge-
eignete Persönlichkeit den Kurfürsten die Anregung zur Wahl
gaben. Die ganze kurfürstliche Wahlrechtsauffassung im Gegen-
satz zu den Ansprüchen der Kurie liegt in dieser Formulierung,
wenn gesagt wird, daß die Kurfürsten den Beschluß zur Wahl
faßten und den Wahltermin festsetzten.
Das Bemerkenswerte an dieser unzutreffenden Darstellung ist,
daß die Verhandlungen von Rense, so wie sie sie schildert,
durchaus nicht mehr im Gegensatz zur Goldenen Bulle stehen“.
Die Nomination, die in Rense stattgefunden hatte, wurde in
dieser Wahlanzeige nach Frankfurt verlegt. Es wird berichtet:
„et ibidem altissimo disponente in certam personam conveni-
mus in Romanorum regem debitis loco et tempore nominandam
ac post hoc ut moris est sollempniter eligendam." Dann beginnt
der Bericht über die Wahl in Frankfurt. Und in den der Ab-
stimmung vorausgehenden ,,tractatibus", die die Erkenntnis
brachten, daß Wenzel der Geeignete sei, kann man die beab-
sichtigte Nomination erblicken.
Betrachtet man die anderen Wahlurkunden, so kehrt überall
dasselbe Streben wieder, abweichend von den wirklichen Ge-
schehnissen, in der Darstellung die Wahl den Vorschriften der
Goldenen Bulle anzupassen. Das Notariatsinstrument über die
Wahl in Frankfurt (RTA. I, 45) und die kürzere Wahlanzeige
an den Papst (RTA. I, 79 u. 81) schildern nur den Teil der Wahl,
der auch in der Goldenen Bulle der entscheidende, den König
schaffende ist: den Gang der Abstimmung. Und zwar in der
Reihenfolge, die im IV. Kapitel, Abs. 2, der Goldenen Bulle
vorgeschrieben ist.
9^ Schon Weizsäcker (Rense als Wahlort S. 40ff.) ist diese Tatsache aufge-
fallen, und er schildert ausführlich, wie man auch aus den anderen offiziellen Wahl-
urkunden den Eindruck gewinnen muß: es lag das Streben vor, das Ganze möglichst
so darzustellen, als wäre man von Anfang an gemäß der Goldenen Bulle verfahren.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 79
Besser als diese beiden Urkunden läßt die Übereinstimmung
mit den Vorschriften der Goldenen Bulle wieder die ausführ-
lichere Darstellung der längeren Wahlanzeige an den Papst
erkennen. Nach dem irreführenden Bericht über die Beratungen
in Rense folgt die Schilderung der Wahl in Frankfurt: Nachdem
dort wiederum verschiedene Verhandlungen stattgefunden hatten,
kamen die Kurfürsten zu der Überzeugung, daß zur Unter-
stützung des Kaisers ein „princeps illustris catholicus juvenis
fortis potens et tam terrarum rerumque diviciis quam eciam
subjectorum hominum ceteros multa virtute precellens et per
quem imperio sacro posset utiliter provideri“ berufen sei. Nach-
dem sie so die Umstände und Verhältnisse vieler Personen
und den Zustand von Reich und Kirche in Erwägung gezogen
hätten aus den schon genannten Gründen ‚et nonnullis aliis
nos ad hoc legittime moventibus“, sei ihnen Wenzel, der älteste
Sohn des Kaisers, am geeignetsten und geschicktesten erschienen,
mit der Bürde und Ehre der Aufgabe betraut zu werden. Und
80 hätten sie Wenzel in der Bartholomäuskirche zu Frankfurt
nach Beendigung der feierlichen Messe einstimmig gewählt.
Nach der Wahl habe Wenzel sich zunächst damit ,,multipli-
citer" entschuldigt, daß er für solche Ehre und Erhabenheit
unwürdig sei, schließlich aber durch Vernunftgründe über-
wunden (ratione victus) den Bitten nachgegeben und die Würde
angenommen.
Der Zweck dieser breiten Darstellung ist klar ersichtlich.
Die Wahlhandlung in Frankfurt war eine bloBe Formalitát ge-
wesen, umgeben von vielem Zeremoniell. Gerade dieses Zere-
moniells aber wird kaum gedacht. Dagegen wird von ausführ-
lichen Verhandlungen geredet, die in Wirklichkeit niemals in
Frankfurt stattgefunden haben. Damit wollte man der rein
formellen Wahlhandlung einen Inhalt geben, der ihr nicht zu-
kam, der aber der Absicht entsprach, aus der heraus einst die
Aufzeichnung der Wahlvorschriften in der Goldenen Bulle er-
folgt war. Es war ein Hauptzweck dieser Gesetze, die Schaffung
der Kónigswürde aus der Wahlhandlung und nur aus der Wahl-
handlung heraus zu gestalten. Darum war es das Bestreben
Karls IV., die Wahl der Öffentlichkeit so mitzuteilen, als sei sie
peinlich genau den Vorschriften der Goldenen Bulle gemäß voll-
zogen. Das ist der Sinn der Wahl Wenzels: die Wahlhandlung
80 Richard Lies
war aufgebaut auf Verträge, die Wahlschilderung aber auf das
Gesetz. |
Es darf die Bedeutung der Tatsache nicht unterschätzt
werden, daß man dieser bloßen Formalität vom 10. Juni nach
außen hin eine so starke inhaltliche Bedeutung zu verleihen
suchte. Es war immerhin die Wahl und nur die Wahl, die dem
Erwählten die königlichen Rechte und Würden verlieh. Pfaffen-
lap setzt an den Schluß seines Wahlberichtes die Worte: „und
det man ime do alles das man einem Künige tun sol“ (RTA.I, 53).
Nicht einmal die Altarsetzung war für die Rechtsgültigkeit der
Wahl notwendig 51.
Unter dem Datum des 12. Juni, also sofort nach der Wahl,
wurden die Urkunden ausgefertigt, in denen die Kurfürsten —
jeder einzeln! — Wenzel gelobten „yn als lange er lebet vor
einen rechten Remischen kunige zukumfftigen keiser nennen
haben halten“ wollen (RTA. I, 49). Es kennzeichnet die Be-
deutung dieses Gelöbnisses, daß es am gleichen Tage noch ein-
mal in lateinischer Sprache ausgefertigt wurde (RTA. I, 50). In
dieser Ausfertigung wird Wenzel „verus et legitimus Roma-
norum rex promovendus in imperatorem" genannt. War es
Absicht, daß in dieser Bezeichnung das Wörtchen ,,electus''
ausgelassen war, das den Namen des nur Gewählten vor der
Krönung von dem vollen königlichen Titel „rex Romanorum
semper augustus“ schied?
Am gleichen Tage gaben die Kurfürsten in anderen Urkunden
die Wahl allgemein bekannt und forderten auf, dem neuen
Könige zu huldigen (RTA. I, 46). Bereits vom 11. Juni ist das
Huldigungsschreiben der Stadt Frankfurt datiert (RTA. I, 55).
Diese bereitwillige Huldigung sofort nach der Wahl schloß
aber keineswegs die Bedingung ein, daß man den Erwählten
schon zu Lebzeiten des Kaisers in die Regierung des Reiches
eintreten lassen wollte. Kuno von Trier, der weitestblickende
und vorsichtigste der Kurfürsten, hatte das gleich in die zahl-
51 Das ergibt sich aus der Urkunde Karls IV. für den Erzbischof von Trier
vom 11. November 1374. Dort heißt es nach dem Versprechen Karls, nach Möglich-
keit dafür zu sorgen, daß Wenzel nicht in Frankfurt, sondern in Rense gewählt
werde: „und darnach sol man den Roemschen kuning furen zu Frankeford uff den
elter, als dass gewenlich ist“ (RTA. I, 3, 13). Der Gewählte wird also schon vor der
Altarsit zung römischer König genannt.
— — — -—
Die Wahl Wenzels sum Römischen Könige usw. 81
reichen Bedingungen, von denen er die Gewährung seiner Wahl-
stimme abhängig machte, mit aufgenommen. Es wurde Wenzel,
falls er noch zu Lebzeiten seines Vaters erwählt werden sollte,
verboten, vor Erledigung des Reiches ohne Wissen und Willen
Karls sich an der Regierung und Verwaltung zu beteiligen.
Außerdem durfte das Reich nicht in zwei Teile zerlegt werden.
Die Motive für diese Bedingung waren rein politischer Natur.
Damit sollte das Reich vor den Gefahren einer Doppelherrschaft
bewahrt bleiben. Auch bei Pfalzgraf Ruprecht kommt der
Standpunkt, daß er Wenzel nicht vor Erledigung des Reiches
in die Regierung eintreten lassen wollte, in seiner Wahlver-
pflichtung (RTA. I, 20) zum Ausdruck. Er begründet seine Be-
reitwilligkeit zur Wahl damit, daß ihn bedünke, Wenzel sei an
Macht und Würdigkeit am besten geeignet nach dem Tode
oder der Abdankung Karls IV.
Dieser Auffassung entsprach es, wenn Frankfurt und die
übrigen Stádte in ihren Huldigungsschreiben zwar gelobten,
Wenzel auf Grund der Wahl für einen römischen König zu
halten, aber die Verpflichtung, ihm als römischen Könige ge-
horsam und verbunden zu sein, erst für den Fall des Todes oder
der Abdankung Karls ablegten (RTA. I, 55). |
Dachten die Kurfürsten in erster Linie an die Regierung
und Verwaltung des Reiches, so stand beim Papste die Über-
nahme des imperium und die Kaiserkrönung im Vordergrunde.
Ihm war es selbstverstándlich, daB diese auch bei Wahl zu
Lebzeiten Karls erst nach dessen Tode erfolgen werde. Audibert
teilte dem Kaiser mit dem bedingten Einverständnis des Papstes
zur Vornahme der Wahl durch die Kurfürsten vivente impera-
tore mit, daB „ipse dominus Wenceslaus rex, postquam electus
fuerit et per Romanam ecclesiam confirmatus debeat et possit,
post mortem domini imperatoris sui patris vel si dominum
imperatorem renunciare contigeret, assumere imperium
Romanorum et se facere coronari juxta morem debitum et
hactenus consuetum“ (RTA. I, 63, 1).
Dieser Auffassung widerspricht die Begründung der Wahl,
daB Wenzel den alternden Kaiser in der Führung der Regierungs-
geschäfte unterstützen solle, aufs schärfste. Bedenkt man nun,
daB Wenzel durch die Wahl grundsätzlich befähigt wurde,
Regierungshandlungen zu vollziehen — gebot ihm doch die Be-
Histor. Vierteljabrschrift. Bd. 26, H. 1. 6
82 Richard Lies
stimmung im II. Kapitel, Abs. 4 der Goldenen Bulle, sofort
nach der Wahl die kurfürstlichen Privilegien zu bestätigen —,
so ist der Zusammenhang klar. Die Verpflichtung an Kuno
von Trier, daß Wenzel erst nach Erledigung des Reiches die
Regierung übernehmen dürfte, entsprang nur politischen Mo-
tiven. Gerade in ihr liegt der Beweis, daß es Wenzel gesetzlich
erlaubt war, sofort Regierungshandlungen vorzunehmen. Denn
sonst hätte es dieses schriftlichen Versprechens an den Trierer
ja gar nicht bedurft.
Die offiziellen Wahlurkunden entstanden in der Kanzlei des
Kaisers. Er bestimmte nach seinen Vereinbarungen mit den
Kurfürsten die Formulierung ihres Inhalts. Daher rührt es,
wenn der Begründung der Wahl eine Form gegeben wurde, die
zwar der wirklichen Veranlassung zur Wahl Wenzels gar nicht
entsprach, die aber mit den Vorschriften der Goldenen Bulle
vereinbar war. Es ist gezeigt worden, wie Karl außerdem Ver-
stöße gegen die Satzungen der Goldenen Bulle zu vermeiden
suchte, oder sie doch wenigstens so darstellen ließ, als sei der
Standpunkt der Goldenen Bulle gewahrt worden. In dieser sich
auch mit dem Unwesentlichen beschäftigenden Sorgfalt liegt
das Bestreben, das Königtum seines Sohnes möglichst auf
keinen auch noch so geringen VerstoD gegen das Gesetz aufzu-
bauen.
VI.
Die Verhandlungen um päpstliche Approbation und die Goldene
Bulle.
Die Bestimmung im II. Kapitel, Abs. 4 der Goldenen Bulle,
daß der Gewählte sofort nach der Wahl den Kurfürsten ihre
Privilegien zu bestätigen habe, steht in schärfstem Gegensatz
zum päpstlichen Approbationsanspruch. Es wird ausdrücklich
vorgeschrieben, daß der König bei dieser ersten Regierungs-
handlung sich seines königlichen Siegels zu bedienen habe.
Damit war er in den vollen Genuß königlicher Rechte getreten,
und seine Stellung als König wurde durch das etwaige Aus-
‘2 Es ist bezeichnend, daB Wenzels erste Regierungshandlung am 8. Juli 137 6
die Bestätigung kurfürstlicher Privilegien ausgerechnet für den Trierer gewesen
ist (RTA. 1, 7).
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 88
bleiben der päpstlichen Approbation in keiner Weise mehr er-
schüttert.
Zeumer®® ist zwar der Ansicht, daß die Approbation ja auch
noch nach dieser ersten Regierungshandlung vor allen anderen
übrigen Regierungshandlungen des Königs stattfinden könne.
Er äußert diese Ansicht im Zusammenhange mit der These,
Karl IV. habe die Goldene Bulle absichtlich gerade so abge-
grenzt, daß ihre Stellung zum päpstlichen Approbationsanspruch
unklar bleiben mußte. Jedoch ist diese Ansicht in der Forschung
allgemein abgelehnt worden “.
Man wird Zeumer nicht bestreiten können, daß die Appro-
bation auch noch nach dieser ersten Regierungshandlung des
Erwählten stattfinden konnte. Aber dann war sie eben keine
wirkliche Approbation, d. h. Bestätigung des Königs, mehr,
sondern nur eine Anerkennung. Die Bestätigung der kurfürst-
lichen Privilegien war — wenigstens in den Augen der Kur-
fürsten — die wichtigste Regierungshandlung vielleicht für die
ganze Regierungszeit des Königs. Wenn die Kurfürsten bei der
Schaffung dieses Gesetzes ein für die Stellung des Königs wesent-
liches päpstliches Approbationsrecht anerkannt hätten, so hätten
sie unbedingt eine Erneuerung dieser Privilegienbestätigung
nach erfolgter Approbation verlangen müssen.
ss Zeumer, Goldene Bulle 1 S. 193.
s Zwar hat Hauck (Deutschland und die päpstliche Weltherrschaft Leipzig 1910.
S. 50) Zeumer soweit beigepflichtet, daß er sagt, eine gegen die Kurie gerichtete Ab-
sicht habe Karl gewiB ferngelegen. Auch Brandi betont in seiner Rezension (Anzeiger
für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 33, 1909), daB die Ablehnung des
Approbationsanspruches keine geflissentliche gewesen sei. Eine solche Beurteilung
wird dem Charakter der Politik Karls IV. gerecht. Es hieße seine staatsmännische
Vorsicht verkennen, wenn man leugnen wollte, daß er alles vermieden hat, was die
Kurie herausfordern konnte. Andererseits aber darf man von ihm unmöglich an-
nehmen, daB er die Tragweite dieser gesetzlichen Bestimmung nicht überblickte.
Im Anschluß an die übrigen Rezensionen (Kentenich, Hist. Vierteljahresschrift
XI. 1908; Vogt, Westdeutsche Zeitschrift 1908; Holtzmann, Theologische Literatur-
zeitung 1909) hat Willy Scheffler (Karl IV. und Innozenz VI. Beiträge zur Geschichte
ihrer Beziehungen 1355—1360, Berlin 1912. S. 99) in ausführlicher Weise dargelegt,
daß die Goldene Bulle im ganzen, und besonders mit dieser Bestimmung über die
j igung das kurfürstliche Wahlrecht zur allein gesetzlichen Grund-
lage des deutschen Königtums gemacht hat. Damit wurden — wenn auch indirekt —
die päpstlichen Ansprüche auf Approbation abgelehnt.
6*
84 Richard Lies
So ließ diese Bestimmung für eine Approbation von staats-
rechtlicher Bedeutung keinen Raum. Doch darf man deswegen
noch nicht behaupten, daß sie aus diesem Grunde in die Goldene
Bulle aufgenommen worden sei. Die sofortige Bestätigung ihrer
Privilegien war ein so wichtiges Recht für die Kurfürsten, daß
sie die Fixierung dieser Bestimmung sicherlich um ihrer selbst
willen veranlaßt haben, Es ist oben hervorgehoben worden,
daß sie ein wenig aus dem Rahmen der übrigen Wahlbestim-
mungen fällt®®, weil sie nicht unmittelbar dem Zwecke einer
einmütigen Königswahl dient. So sucht man nach der Absicht,
der sie die Aufnahme in die Bestimmungen des II. Kapitels
der Goldenen Bulle verdankt.
Man könnte sie für eine Konzession halten, die der Kaiser
den Kurfürsten für andere Zugeständnisse gewährt hat. Dem-
gegenüber aber ist zu bedenken, daß Karl ja selber Kurfürst
gewesen ist. Seinen Nachfolgern kam diese Bestimmung ebenso
zugute, wie allen anderen Kurfürsten. Erst wenn man diese
Tatsache mit in Betracht zieht, wird die Veröffentlichung der
Goldenen Bulle ganz verständlich. Sie ist gewiß nicht als
Ganzes das Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem König
und den Kurfürsten“. Sie ist aber auch nicht, obgleich im
ganzen der Initiative Karls IV. entsprungen, nur aus einem
idealen Streben des Kaisers, dem Wohle des Reiches zu dienen,
entstanden®”. Dem widerspricht schon die Tatsache, daß Bóh-
mens Stellung im Rahmen des Kurfürstenkollegiums durch die
Goldene Bulle der Tradition gegenüber gefestigt und gehoben
wird. Der Hauptzweck der Goldenen Bulle war der Gedanke
eines oligarchischen Reichsregiments der Kurfürsten, der seinen
stärksten Ausdruck findet einmal in der Einrichtung regel-
mäßiger Kurfürstentage nach dem XII. Kapitel, im ganzen
aber in der schriftlichen Niederlegung der kurfürstlichen Rechte
Vgl. S. 51 dieser Arbeit.
% Zeumer, Goldene Bulle I, S. 184.
7 Auch diese Behauptung Zeumers (Goldene Bulle I, S. 184) hat schon Brandi
in seiner Rezension (Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd.
33, 1909) kritisiert, unter Hinweis auf die Privilegien, die Böhmen in der Goldenen
Bulle gesichert werden. Ebenso haben Vogt (Westd. Zeitschrift, 1908), und Holtz-
mann (Theologische Literaturzeitung 1909) die Ansicht abgelehnt, daß Karl nu;
sus einem idealen Streben heraus die Goldene Bulle publiziert habe.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 85
überhaupt. Und diesen Gedanken hat Karl sicher nicht zur
Förderung der Macht des ganzen Kurfürstenkollegiums, sondern
vor allem wegen der Stärkung der Stellung Böhmens im Rahmen
dieses Kollegiums verfolgt. Einerseits sah er in diesem Ge-
danken eine Möglichkeit, die Kurfürsten für das Wohl des
Reiches zu interessieren. Andererseits aber war er wohl sicher,
daß er auf Grund seiner überlegenen politischen Befähigung
und durch seine Doppelstellung als König und als Kurfürst das
einflußreichste Mitglied dieses Kollegiums sein würde. So
fixierte er im Rahmen seines Gesetzesprogrammes gesetzliche
Bestimmungen, die Klarheit darüber gaben, wer den König zu
wählen habe; die den Königswählern die Möglichkeit, zur Wahl
zu schreiten, erleichterten; die Vorsorge trafen, daß innerhalb
dieses Wahlkollegiums eine eindeutige Wahl zustande kam; und
die klar zum Ausdruck brachten, daß die Wahl der Kurfürsten
und nichts anderes den König schuf. Damit diente Karl dem
Wohle des ganzen Reiches. Er diente zugleich aber auch dem
Vorteile des Böhmenkönigs in seiner Eigenschaft als Kurfürst ®.
Es war selbstverständlich, daß die Goldene Bulle die freie Wahl
des Königs durch die Kurfürsten anerkannte. Karl wußte nicht,
ob die Kurfürsten, wenn er einmal einen Sohn bekommen würde,
diesen zum römischen Könige wählen würden. Aber er war
sicher, daß sein Nachfolger als Inhaber der böhmischen Kur-
stimme bei der Wahl des Königs gewichtigen Einfluß geltend
machen konnte.
So ist anzunehmen, daß die Sorge für sein böhmisches In-
teresse verbunden mit den Ideen einer Reichsreform, die Karl IV.
zur Publikation der Goldenen Bulle veranlaßten, ihm den Grund
gaben für die Aufnahme der Privilegienbestätigung in die Goldene
Bulle. Nicht aus der unmittelbaren Absicht heraus, den päpst-
lichen Approbationsanspruch damit abzulehnen, wohl aber in
der bewußten Erkenntnis, daß darin die Nichtanerkennung lag.
Und unter diesem Gesichtspunkte sollte die Bestimmung bei
der Wahl Wenzels Bedeutung gewinnen“.
= Vgl. Ulrich Stutz, Abstimmungsordnung der Goldenen Bulle (Z. Sav. R. G.,
Germ. Abt. 56. 1922.) S. 262.
® Die Approbationsverhandlungen werden in dieser Arbeit mit Vorbedacht
getrennt von dem päpstlichen Anspruch auf Wahlgenehmigung (s. S. 61) behandelt.
Die beiden Ansprüche sind in der bisherigen Forschung nicht immer scharf genug
86 Richard Lies
Das Charakteristische an den Verhandlungen zwischen der
Kurie und Karl IV. ist, daß nicht um Approbation überhaupt
gekämpft wurde. Der Papst war nur zu gern bereit, die Appro-
bation zu erteilen. Was er mit größter Hartnäckigkeit, aber
vergeblich, zu erreichen versucht hat, war, daß Wenzel vor der
Approbation keine Regierungshandlungen ausüben dürfe“ und
nicht gekrönt werden solle.
Schon lange vor der Wahl auf die bloße Mitteilung Karls IV.
hin, daß die Kurfürsten nach der Wahl Wenzels ohne längere
Verzögerung die Krönung zu vollziehen gedächten (RTA. I, 60),
erhielt Audibert den Auftrag, den Kaiser darauf aufmerksam
. zu machen, daß der Erwählte vor der Approbation weder die
Krone empfangen noch Regierungshandlungen ausüben dürfe
(RTA. I, 62,15). Es kennzeichnet die Nervosität der Stimmung
an der Kurie, daß Johann von Pignans, der einige Wochen
später zur Unterstützung Audiberts zum Kaiser gesandt wurde,
unter anderen Aufträgen genau dieselbe Anweisung erhielt
(RTA.I, 67,5). Die Furcht in Avignon, daß Wenzel nicht bis
nach erfolgter Approbation auf seine königlichen Rechte ver-
zichten werde, muß sehr groß gewesen sein. In bezug auf die
Krönung erscheint diese Angst nach dem Briefe Karls IV. ganz er-
klärlich. Aber daß Wenzel auch schon Regierungshandlungen vor-
nehmen würde, war doch zunächst noch nicht behauptet worden ®.
auseinandergehalten worden, obgleich sie sich sowohl ihrer Begründung wie auch
ihrem Inhalte nach stark voneinander unterscheiden. Die päpstlichen Gesandten
waren deshalb auch angewiesen, die Ansprüche unabhängig voneinander vorzu-
tragen (RTA. 1, 62, 14).
% Die große Zahl der Quellenbelege (R.T.A. 61; 62, 15; 64, 2; 66; 67, 5; 68;
16; dazu Vigener, Kampf um den Mainzer Bistumsstreit, S. 96, Anm. 282) bietet
einen lückenlosen Beweis gegen Zeumers Ansicht, daß die Approbation ja noch nach
der Privilegienbestätigung stattfinden könne (Goldene Bulle I S. 194), „caveat
omnino idem Venceslaus rex, ne antequam electio per nos approbetur, in aliquo
administret seu coronam recipiat, nec vos in hoc consensum prestetis, sed, si vellet
facere, contradicatis omnino, quia, si hoc faceret, electionem suam nullo modo
ratam haberemus nec eam approbaremus, et hoc summe cordi nobis est". So
schrieb der Papst kurz nach der Wahl an seine Gesandten (RTA.I, 75). Schärfer
kann es doch nicht zum Ausdruck gebracht werden, daB die Kurie eine Approbation
nach dem Beginn der Regierungshandlungen für wertlos hielt.
*!. Aus diesem Grunde könnte man fast versucht sein zu glauben, daß die päpst-
liche Forderung auf Vermeidung von Regierungshandlungen ihren Grund hat in der
Kenntnis der Privilegienbestimmung im Kapitel II der Goldenen Bulle an der Kurie.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 87
Man war auf Widerstand im Lager des Kaisers gegen diese
päpstlichen Forderungen gefaßt. Aus einer gutachtlichen An-
frage Johanns von Pignans und deren Beantwortung (RTA. I, 68)
geht hervor, daß die päpstlichen Gesandten sorgfältig auf eine
Polemik über den Approbationsanspruch vorbereitet wurden.
Man erwartete, daß Karl IV. sich auf frühere Fälle berufen
würde, wo Herrscher ohne Approbation gekrönt worden seien.
Es ist der geschickteste diplomatische Schachzug Karls IV,
unter all den meisterhaft geführten Verhandlungen um die
Wahl seines Sohnes gewesen, daß er es verstanden hat, dieser
Polemik aus dem Wege zu gehen. Dadurch, daB er den Ent-
rüstungssturm und die lange Erórterung über den Approbations-
anspruch** unter den Kurfürsten hervorrief, hat er es ver-
standen, sich in die Rolle des Vermittlers zwischen Papst und
Kurfürsten zu drängen. Der Kurie war die Möglichkeit zum
erfolgreichen Angriff auf den Kaiser genommen. Denn er schien
ja Jetzt Vertreter ihrer Ansprüche gegenüber den rheinischen
Kurfürsten, deren Feindschaft gegen Avignon in den Tagen
von Frankfurt ihren Höhepunkt erreicht hatte . Sie weigerten
sich, als Zeugen für die Bevollmächtigung, die Wenzel seiner
Gesandtschaft an den Papst mitgab, zu dienen**. Und wahr-
scheinlich haben sie (die Erzbischófe von Köln und Trier, und
der Pfalzgraf) überhaupt keine Wahlanzeigen nach Avignon
geschickt. Denn, sowohl von der kürzeren als auch von der
längeren Wahlanzeige fehlen gerade ihre Ausfertigungen“.
** RTA. 1,64,2 (et super hoc multa fuerunt dicta). Vgl. Engelmann, Anspruch
der Päpste S. 115, u. Lindner, Wahl Wenzels S. 279.
% Vgl. Hauck, Kirchengeschichte (Leipzig 1920. 1. u. 2. Aufl.) V 2, S. 667.
* Nur die Namen Ludwigs von Mainz und Wenzels von Sachsen vertreten
das Kurfürstenkollegium als Zeugen in dieser Urkunde (RTA. I. 78). Dagegen sind
in der unter gleichem Datum ausgefertigten Bestätigung der Goldenen Bulle Sach-
sens (RTA. I, 26) alle Kurfürsten als Zeugen aufgeführt.
*$ [m Vatikanischen Archiv (vgl. RTA. I, 79—82) findet sich von der kürzeren
Wahlanzeige nur die Ausfertigung Ludwigs von Mainz (RTA.I, 79); Abschriften von den
im Original nieht erhaltenen Ausfertigungen von Brandenburg und Böhmen sind in
Paris erhalten. Von der längeren Wahlanzeige befinden sich im Vatikanischen Archiv
als Originale die Ausfertigungen von Mainz, Böhmen und Brandenburg (RTA.1,80 u. S2).
Und da sich eine Abschrift der Urkunde des Kurfürsten von Sachsen in einem Kopial-
buche des Weimarer Archives befindet (RTA. I, 80), so ist anzunehmen, daß auch von
ihm wenigstens die lángere Wahlanzeige nach Avignon geschickt worden ist. Dagegen.
finden sich von Ausfertigungen der drei rheinischen Erzbischöfe keinerlei Spuren.
88 Ä Richard Lies
Schon die Tatsache, daß die beiden Wahlanzeigen nicht von den
Kurfürsten in ihrer Gesamtheit, sondern von jedem einzeln
ausgefertigt wurden, erscheint sonderbar. Zwar waren solche
Einzelausfertigungen auch schon bei der Wahl Karls IV. er-
folgt. Aber wenn sich gerade von den Kurfürsten, die alle
Ansprüche der Kurie aufs schärfste ablehnten, keine Ausferti-
gungen finden lassen, so ist daraus doch zu schließen, daß sie
überhaupt keine Wahlanzeigen nach Avignon geschickt haben.
Lindner®? schließt allerdings aus einem Berichte Audiberts
an die Kurie (RTA.I,64,4), der besagt, daß Karl IV. die Wahl-
schreiben erlangt hätte ‚in ea forma qua potuit et non ut vo-
luit", daß alle Kurfürsten Wahlanzeigen nach Avignon geschickt
hätten. Für diesen Bericht ist aber zu bedenken, daß Audibert
nicht unmittelbarer Zeuge der Verhandlungen zwischen dem Kaiser
und den Kurfürsten gewesen ist. Er schöpfte sein Wissen darüber
sicher nur aus dem Berichte Karls IV. Und dieser hat ihm die Ver-
handlungen so geschildert, wie es in den Rahmen seiner Absichten
der Kurie gegenüber paßte. Er benutzte die Opposition der rhei-
nischen Kurfürsten als Entschuldigung für die Tatsache, daB die
Wahlanzeigen nicht in einer der Kurie erwünschten Form abgefaßt
waren. Daß aber alle Kurfürsten Wahlanzeigen ausgefertigt hätten,
darf man aus Audiberts Bericht doch wohl nicht schließen ®.
Wenn die rheinischen Kurfürsten keine Wahlanzeigen nach
Avignon geschickt haben, dann fällt auch Lindners Annahme®,
„ Vgl. M. G. h. Constt. VIII S. 93ff.
* Wahl Wenzels S. 288. Ihm schlieBen sich Engelmann, Anspruch der Püpste
S. 118 Anm. 3, u. Weizsäcker, Rense als Wahlort S. 40, an.
„ Auch das von Muth (Beurkundung und Publikation der deutschen Königs-
wahlen, Diss. Gótt. 1881. S.42) angeführte Argument, daß daslängere Wahlschreiben am
Schluß den Satz enthält: „cuius vobis similis tenoris contenencie et effectus quilibet
coelectorum meorum principum imperii suas specialiter literas destinare debebit“,
beweist nicht, daB alle Kurfürsten Wahlanzeigen schickten. Der Gedanke drückt
doch nur aus, daß sie es eigentlich sollen, und klingt viel mehr wie eine Entschuldi-
gung dafür, daB sie es nicht alle tun.
* Wahl Wenzels 8. 289. Unhaltbar ist auch die darauf aufbauende Ansicht
Weizsäckers (Rense als Wahlort S. 41), Karl IV. habe die Zustimmung der rheinischen
Kurfürsten zu der längeren Wahlanzeige dadurch erlangt, daß die Vorgängein Rense ge-
nannt wirden (s. RITA. I. 80). Denn nach dem Bericht dieser Wahlanzeige hätte das Kur-
fürstenkollegium in Rense nur den Beschluß zur Wahl überhaupt gefaßt und den Wahl-
termin festgesetzt. Das aber schlug ja dem Wunsche des Trierers und Kö lners, den Vor-
gängen in Rense eine staatsrechtliche Bedeutung zu verleihen, geradezu ins Gesicht!
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 89
daB die doppelte Ausfertigung der Wahlanzeigen tatsächlich
auf den Widerspruch der Fürsten zurückzuführen sei. Die Kur-
fürsten, die Wahlanzeigen ausgefertigt haben, waren von Karl
so abhängig, daB sie kaum Einspruch gegen ihre Formulierung
erheben durften. Wahrscheinlich ist die doppelte Ausfertigung
auf Karl IV. selber zurückzuführen, der seinen Gesandten
beide Ausfertigungen nach Avignon mitgab mit dem Auftrage,
die längere und inhaltlich weitergehende nur dann zu übergeben,
wenn die kürzere nicht als ausreichende Verhandlungsgrundlage
vom päpstlichen Hofe gewertet würde.
Für den Papst mag das Ausbleiben der Wahlanzeigen der
drei Kurfürsten nicht einmal von großer Bedeutung gewesen
sein. Denn mit den Urkunden der vier anderen Kurfürsten
genügte ja die Mehrheit des Kurfürstenkollegiums seinen An-
sprüchen. Karl IV. aber ist in diesem Zusammenhange die
feindliche Haltung der rheinischen Kurfürsten sicher nur an-
genehm gewesen. Er konnte sie der Kurie gegenüber als Ent-
schuldigung anführen dafür, daB die Wahlanzeigen in einer
bestimmten Form abgefaßt wurden (RTA.I, 64,4). Auch in der
längeren Wahlanzeige wurde der Papst nur gebeten, Wenzel
„regem Romanorum nominare eiusque personam ad apicem
tantae dignitatis ydoneam reputare". Die direkte Bitte um
Approbation war vermieden??, Und doch hätte sich die Kurie
vielleicht mit dieser Formulierung begnügt und die Appro-
bation erteilt, wenn ihr in der zu kurz bemessenen Frist noch
die Möglichkeit gegeben gewesen wäre. Johann von Pignans
hatte auf seine gutachtliche Anírage bezüglich eines etwaigen
Approbationsstreites mit dem Kaiser die Antwort erhalten, im
Zweifelsfalle solle genau so verfahren werden, wie einst bei der
7% Engelmann (Anspruch der Päpste S. 120) setzt zwar den Ausdruck nominare
einem approbare gleich. Ihm schließt sich Weizsäcker (die Urkunden zur Appro-
dation Ruprechts 5.23) an. Dagegen wendet aber Scheffler (Karl IV. und Innozenz VI.,
8. 91) ein, daß nominare nur die Anerkennung eines durch die Wahl vorhandenen
Rechtszustandes bedeuten solle, während approbare die zur Schaffung dieses Rechts-
sustandes notwendige Bestätigung sei. Für die Ansicht Schefflers spricht die Tat-
sache, daß derPapst während der Verhandlungen immer nur den Ausdruck approbare
verwandt hat, den der Kaiser und die Kurfürsten peinlichst vermieden. (Der Papst
spricht von approbare in: RTA. I. 61; 62, 16, 16; 64, 2; 66; 67, 5, 7; 68). Engelmann
( Anspruch der Päpste S. 120) gibt auch zu, daß der Ausdruck nominare statt
approbare mit Bedacht gewählt sei.
90 Richard Lies
Wahl Karls IV. (RTA.I, 68). Dieser Wunsch der Kurie wird
der Grund gewesen sein dafür, daß sowohl Wenzels Schreiben
an die Kurie (RTA.I, 78), wie auch die längere Wahlanzeige
der Kurfürsten (RTA.I, 80 und 82) fast wörtlich genau so ab-
gefaßt sind, wie die Urkunden bei der Wahl seines Vaters .
In den Tagen der Wahl wurde es an der Kurie klar, daß man
ein persónliches Erscheinen Wenzels zur Bitte um Approbation
nicht mehr erreichen würde. Nun hieß es schnell handeln, wenn
man wenigstens das Prinzip retten wollte. In der Geheim-
anweisung, die den pápstlichen Gesandten Audibert und Johann
in Aix in Savoyen”? übergeben wurde (RTA. I, 72), kommt die
neue Haltung zum Ausdruck: „Contenti tamen sumus“, so
7 Die starke Ähnlichkeit zwischen dem Wahldekrete bei der Wahl Karls IV.
(Constitutiones VIIl, Nr. 63, S. 94) und dem längeren Wahlschreiben der Kur-
fürsten bei der Wahl Wenzels (RTA.I, 80) ergibt eine Vergleichung des Textes.
Sehr ähnlich und hier nur wichtig sind natürlich nur die Stellen, wo die Bitte um An-
erkennung an den Papst ausgesprochen wird (vgl. aus dem Wahldekret Karls):
. „Quapropter vestre immense clemencie voto unanimi cum dictis principibus,
meis collegis, tam devote quam humiliter supplico in hiis scriptis, quatenus dictum
electum in Romanorum regem in imperatorem promovendum paternis ulnis beni-
gnius amplectentes, ipsum regem Romanorum nominantes et reputantes, eidem
munus consecrationis et dyadema sacri imperii de sacrosanctis manibus vestris
conferendo dignemini loco et tempore oportunis favorabiliter impartiri, ut sciant
et intelligant universi, quod posuerit in lucem gentium vos Dominus, et per vestre
sanctitatis arbitrium orbi terre post nubilum exoptata serenitas eluscescat.
Sehr ähnlich die betreffende Stelle in RTA. I, 80: „quapropter vestre immense
clemencie cum dictis meis collegis coelectoribus principibus supplicamus tam humi-
liter quam devote, quatenus dictum dominum nostrum Wenceslaum in Romanorum
regem concorditer sic electum in imperatorem promovendum paternis affectibus
benignius amplectentes regem Romanorum nominare ejusque personem ad apicem
tante dignitatis ydoneam reputare nec non eidem munus consecrationis ac dyadema
sacri imperii loco et tempore oportunis per vestre beatitudinis sanctas manus con-
ferre dignemini, prout extat ab olim fieri solum et consuetum, ut sciant et intelligant
universi, quod posuerit in lucem gencium vos dominus, et per vestre sanctitatis
arbitrium orbi terre post nubilum optata serenitas elucescat." Beachtlich ist die
Einfügung der Worte ,,prout extat ab olim fieri solum et consuetum" in die Urkunde
zur Wahl Wenzels.
Das Schreiben Wenzels an den Papst (RTA.I, 78) in dem er seine Gesandten
bevollmáchtigt, den Eid der Treue zu leisten, und den Papst um favor et gracia
und spätere Kaiserkrönung zu bitten, stimmt von inhaltlich unwesentlichen Ände;
rungen abgesehen wörtlich mit dem Schreiben Karls IV. an den Papst Clemens
(Constt. VIII, Nr. 95, S. 126) überein.
?*? Vgl. RTA. S. 108, Anm. 2.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 91
schreibt der Papst, ,quod in aliquo honesto colore quesito
(eben die Bitte um Approbation) hoc flat." Wenzel soll
entweder selbst kommen oder Boten mit der nótigen Vollmacht
schicken. Und wenn er inzwischen keine Regierungshandlungen
vornimmt und sich nicht krönen läßt, dann will der Papst die
Approbation ohne Verzógerung erteilen. Aber selbst das sollte
nicht mehr gelingen.
Karl IV. hat es verstanden, das rechtzeitige Eintreffen der
päpstlichen Approbation unmöglich zu machen. Zwar machte
er dem päpstlichen Gesandten das scheinbar sehr wichtige Zu-
geständnis, daB Wenzel vor der Krönung keine Regierungs-
handlungen vornehmen werde. Es bleibt ein Rätsel, wie es dem
Kaiser gelungen ist, den rheinischen Kurfürsten gegenüber
diese Forderung durchzusetzen“. Aber es beweist doch, daß
er in der Lage war, ihnen gegenüber seine Pläne zu verwirk-
lichen. Es ist also nicht die Rücksicht auf die Kurfürsten ge-
wesen, die ihn veranlaßt hat, Wenzel krönen zu lassen, bevor
die päpstliche Approbation eingetroffen war““. Wenn Karl
ernstlich auf das Eintreffen der Approbation hätte warten wollen,
so hätte er auch eine weitere Verschiebung der Krönung von
den Kurfürsten erreichen können. Aber das wünschte er gar
nicht.
Hier kehrt in seiner Haltung der Kurie gegenüber die poli-
tische Methode wieder, die er auch beim Streit um den Wahlort
angewandt hatte. Er gibt zunächst der Forderung des Gegners
bereitwilligst nach. Aber er weiß schon vorher, daB sich der
Erfüllung der Forderung Hindernisse entgegenstellen werden,
die nicht von ihm selber ausgehen. Diese schützt er dann nachher
vor und wahrt somit vor dem Gegner den Schein ehrlicher
Haltung, ohne seine Forderungen erfüllen zu brauchen.
So hat er im Approbationsstreit dem Papste scheinbar sogar
noch die Möglichkeit gegeben, die Approbation zu erteilen.
—
78 Jedenfalls haben die Verhandlungen darüber erst nach der Wahl Wenzels
stattgefunden. Am 3. Juni hatte Karl IV. mit Audibert noch nicht über die Ver-
schiebung der Krönung verhandelt. Denn an diesem Tage schrieb er in einem Briefe
an Frankfurt (RTA. I, 44), die Krönung solle am 24. Juni stattfinden. So wird er mit
Audibert auch über die Verschiebung der Vornahme von R
erst in Frankfurt verhandelt haben.
* S. S. 65 dieser Arbeit. ö
92 Richard Lies
Dann aber behauptete er, in Rücksicht auf die Kurfürsten
könne die Krönung nicht mehr länger verschoben werden
(RTA.I, 64, 3). So wurde die Krönung am 6. Juli in Aachen
vollzogen, ohne daß inzwischen die päpstliche Approbation ein-
getroffen war.
An der Kurie hat man das Spiel des Kaisers wohl durch-
schaut”, Aber da der Kaiser seine formellen Pflichten alle
erfüllt hatte und obendrein sich noch in der Rolle eines päpst-
lichen Sachwalters im Kurfürstenkollegium gefiel, so konnte
man ihm nicht einmal ernstliche Vorwürfe machen.
Nachdem einmal die Krönung vollzogen war und Wenzel
Regierungshandlungen vorgenommen hatte, war die päpstliche
Approbation nur noch eine Anerkennung, nicht aber eine Be-
stätigung seiner königlichen Stellung. Eine Beschränkung des
kurfürstlichen Wahlrechts bedeutete sie nicht mehr. Den Kur-
fürsten konnte es nun ganz gleichgültig sein, ob der Kaiser
darum bat oder nicht. Und der Mißerfolg in Karls Politik nach
der Wahl Wenzels liegt nicht darin, daß er noch um päpstliche
Approbation eingekommen ist, sondern darin, daß der Papst
sie nicht mehr erteilt hat. Wenzels Stellung wurde weiter nicht
dadurch ernstlich gefährdet, daß Gregor XI. die Approbation
verweigerte, sondern dadurch, daß er zugleich mit der Verweige-
rung die Gültigkeit der Wahl anzufechten drohte, weil die
Approbation nicht rechtzeitig erteilt worden war. Es ist weiter
oben gezeigt worden, wie sich die Haltung der Kurie im Laufe
der Verhandlungen verschärft hat. Der Papst hatte mehrfach
erklärt, daß er die Approbation nie erteilen würde, wenn die
Krönung Wenzels vor ihr erfolgen würde (RTA. I, 67, 5, und 75).
Es war seine ungünstige politische Lage, die ihn zwang,
nachher trotzdem wieder auf die Verhandlungen mit Karl IV.
über Wenzels Approbation einzugehen. Und wenn sie sich nun
noch immer weiter verzögerte, ja, Gregor XI. schließlich ge-
storben ist, bevor er sie erteilt hatte, so lag die Schuld bei
Karl IV. Er hat während der Verhandlungen, die sich noch fast
7$ Der Papst wandte ja selber genau dieselbe Methode an, wenn er dem Kaiser
mitteilte, er habe die Zustimmung der Kardinäle zur Wahl Wenzels kaum erlangen
können (RTA.I, 61). Damit stellte er sich doch ebenfalls als Vertreter der kaiser-
lichen Wünsche vor dem Kardinalskollegium hin. Und er ist damals sicher auf-
richtiger um Karls Pläne besorgt gewesen, als dieser jetzt um die päpstlichen. -
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 93
über zwei Jahre ausdehnten, immer wieder versucht, seine
Gegenversprechungen inhaltslos zu machen, oder sich ihrer Er-
füllung zu entziehen “.
Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß es Karls Wunsch ge-
wesen ist, auf jeden Fall eine Approbation von staatsrecht-
licher Bedeutung zu vermeiden. Die Approbation, die er nun
noch erstrebte, war nur eine Anerkennung, nicht aber eine Be-
stätigung des Königtums seines Sohnes.
Schluß.
Die Bedeutung der Goldenen Bulle für die Wahl.
Überblickt man die Ergebnisse unserer Untersuchung, so ist
zu sagen, daß die Bedeutung der Goldenen Bulle für die Wahl
Wenzels nicht überschätzt werden darf. Aus der Eigenart der
Wahl ergab sich die erstaunliche Tatsache, daß fast alle Einzel-
bestimmungen nicht zur Anwendung gekommen sind.
Die Geleitsrechte brauchten von den Kurfürsten nicht in
Anspruch genommen werden, da sie nicht den im I. Kapitel
der Goldenen Bulle mit so groBer Genauigkeit vorgeschriebenen
Weg nach Frankfurt benutzten, sondern sich alle von Rense
aus zur Wahlstadt begaben. Der Erzbischof von Mainz konnte
sein Berufungsrecht zur Wahl nicht ausüben, da der Thron ja
nicht erledigt war. Keiner der Kurfürsten ging seines Wahl-
rechtes verlustig, und keiner ließ sich durch einen Bevollmách-
tigten vertreten. Sie waren alle persónlich zur Wahl anwesend.
Den Wahleid haben zwar alle geschworen. Aber wer von
ihnen konnte es mit reinem Gewissen tun? Sie brauchten nicht
mehr die für die Wahl gestattete Zeit von 30 Tagen in Anspruch
zu nehmen. Denn sie hatten sich ja vorher geeinigt und kamen
schon am ersten Wahltage zur Abstimmung. Auch die wichtige
Bestimmung, daB der von der Majorität Erwählte als ein-
stimmig gewählt angesehen werden solle, kam nicht in Frage.
Ebenso brauchte Wenzel durch seine eigene Stimme nicht die
** Vgl. S. 64 dieser Arbeit, wo gezeigt worden ist, daß Karl IV. seine Zustimmung
su der päpstlichen Konstitution nicht erteilt hat, und daß Wenzel sich nicht ver-
pflichtete, zu seinen Lebzeiten nicht wieder die Wahl eines Nachfolgers vornehmen
m wollen. Vgl. weiter S. 66, wo geschildert wurde, daß Karl IV. versucht hat,
eines seiner Zugeständnisse wirkungslos zu machen.
94 | Richard Lies
Mehrheit für sich herzustellen. (Übrigens führte nicht er, e
Karl IV. selber die böhmische Kurstimme.) |
Die einzige Bestimmung, die unbedingt zur an
kommen mußte, die Bestätigung der kurfürstlichen Privilegien,
erfolgte nicht, wie in der Goldenen Bulle vorgeschrieben, sofort
nach der Wahl, sondern erst nach der Krönung. Allerdings ist
diese Verzögerung, da sie wohl mit Einwilligung aller Beteiligten
eintrat, höchstens nach der formellen Seite als ein Verstoß
gegen das Gesetz zu betrachten, zumal die Privilegienbestäti-
gung ja trotzdem die erste Regierungshandlung Wenzels war.
Auch in der Führung der Wahlstimmen, die mit so ausführlicher
Klarheit als eine der wichtigsten Bestimmungen der Goldenen
Bulle im VII. Kapitel geregelt ist, wurde ein formeller Verstoß
gegen das Gesetz nicht vermieden: Nicht Kurfürst Otto, der
mit dem Verzicht auf Brandenburg entgegen den Vorschriften
der Goldenen Bulle? sich die Kurstimme auf Lebenszeit vor-
behalten hatte, stimmte für Brandenburg, sondern Sigmund,
der Sohn des Kaisers. Und dieser hatte das im VII. Kapitel
der Goldenen Bulle für die Ausübung der kurfürstlichen Rechte
vorgeschriebene Mindestalter von 18 Jahren noch nicht erreicht.
Aber dieser Verstoß war so unwesentlich, daß man ihn überhaupt
nicht beachtet zu haben scheint.
Demgegenüber steht nun die Tatsache, daß es Karl IV. in
schwierigen Verhandlungen schließlich doch noch gelungen ist,
in der Frage des Wahlortes den Standpunkt der Goldenen Bulle
zu wahren. Auch hat die Wahl in Frankfurt mit den Formali-
täten und dem Zeremoniell stattgefunden, das die Goldene Bulle
vorschrieb. Die Wahl wurde eingeleitet mit dem Gottesdienst
in der Bartholomäuskirche, und bei der Abstimmung fragte
Ludwig von Mainz die Stimmen seiner Mitkurfürsten ab, die
sodann alle gemeinsam ihn um seine eigene Stimme befragten.
Außerdem ist gezeigt worden, daß überall da, wo die Gescheh-
nisse um die Wahl mit den Vorschriften der Goldenen Bulle
nicht in Einklang standen, wenigstens die offizielle Verkündigung
sie so geschildert hat, als habe ein Widerspruch zwischen ihnen
und der Goldenen Bulle nicht bestanden.
7 Vgl. Kapitel XX der Goldenen Bulle.
Die Wahl Wenzels zum Römischen Könige usw. 95
Dazu sei noch einmal die gegenüber anderen Ansichten
gemachte Feststellung hervorgehoben, daß die Wahl Wenzels
in ihrem wichtigsten Punkte, nämlich der Vornahme der Wahl
vivente imperatore, durchaus nicht im Gegensatz zur Goldenen
Bulle stand. Aus der Formulierung des ersten Absatzes des
I. Kapitels der Goldenen Bulle“, wo die Veranlassung für eine
Neuwahl erwähnt ist, geht hervor, daß die Wahlbestimmungen
der Goldenen Bulle in jedem möglichen Falle einer Neuwahl
Anwendung finden sollten. Und im XII. Kapitel der Goldenen
Bulle wurde den Kurfürsten durchaus die rechtliche Möglichkeit
gegeben, eine Neuwahl bei zureichender Begründung auch schon
zu Lebzeiten des jeweiligen Herrschers vorzunehmen.
Erinnert man sich endlich daran, daß alle diese Einzel-
bestimmungen dem einen großen Zwecke eines eindeutigen
Wablresultates und der Förderung der Einstimmigkeit dienen,
so treten die formellen Verstöße zurück hinter der bedeutsamen
Tatsache, daß die Wahl Wenzels einstimmig erfolgt ist. Die
Geschichte des Kurfürstenkollegiums hatte seit der Zeit Rudolfs
von Habsburg nur ein einziges Mal, bei der Wahl Albrechts,
solche Einstimmigkeit gesehen. Zwar war es die diplomatische
Kunst und die offene Hand Karls IV. gewesen, und nicht die
Achtung vor dem Gesetz, die diese Einigkeit erzeugte. Aber
das Gesetz diente ja auch nur einem politischen Zwecke. Der
Gedanke, der einst Karl IV. veranlaßt hatte, die Königswahl-
bestimmungen in die Goldene Bulle aufzunehmen, hatte hier
nicht durch formalistische Deutung und Anwendung der Rechts-
sätze seine Verwirklichung gefunden, sondern durch lebendige
politische Tat.
7 . . . quocienscumgue et quandocumque futuris temporibus necessitas sive
easus electionis regis Romanorum in imperatorem promovendi emerserit ....
96
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke.
Publizistische Dokumente aus der Kölnischen Zeitung
1844 bis 1851.
Von
Karl Buchheim.
Daß Heinrich von Sybel als junger Professor unter Um-
ständen bereit gewesen wäre, den Gelehrtenberuf mit dem des
Politikers zu vertauschen, darf als sehr wahrscheinlich gelten.
War doch bereits sein Vater, der Justitiar der Düsseldorfer Re-
gierung, Mitglied des rheinischen Provinziallandtages. Der ältere
wie der jüngere Sybel dürfen den aktiven Mitgliedern der rheini-
schen altliberalen Partei beigezählt werden, die schon gegen
die Mitte der vierziger Jahre als verhältnismäßig geschlossene
politische Gruppe hervortrat. Im Frühjahr 1848 eilten Vater
und Sohn gemeinsam nach Frankfurt zum Vorparlament; und
sicher hätte der Jüngere gern in der Paulskirche selber gesessen,
wenn es ihm nur gelungen wäre, in Kurhessen, wo er sich als
Marburger Professor zunächst betätigen mußte, ein Mandat zu
erobern. Aber der Sohn der rheinischen Bourgeoisie, der sich
nicht enthalten konnte, als Gegner des demokratischen Stimm-
rechts aufzutreten, vermochte in Hessen keine wirkliche Volks-
tümlichkeit zu erlangen. Auch in den Kasseler Landtag gelangte
er nur, weil ihn im Herbst 1848 die Marburger Universität ab-
ordnete. Seine konstitutionellen Freunde, die damals das Land
beherrschten, verhießen ihm für die nächste Session das Präsi-
dium des Landtages; aber in dem Wahlkreis, wo er nunmehr
kandidierte, unterlag er der demokratischen Partei. Ins Erfurter
Unionsparlament von 1850 kam er dadurch, daß ihn seine Partei-
freunde ins Staatenhaus delegierten. Es war ihm nicht vergönnt,
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 97
politisch „hochzusteigen‘‘, wie er sich selber ausgedrückt hat!.
Zunächst hat er das sicher bedauert, doch hinterher begriff er
bald, daß es das Schicksal wohl mit ihm gemeint hatte. Denn
sicherlich wäre langwierige Festungshaft oder ein Flüchtlings-
dasein das Los seiner nächsten Jahre gewesen, wenn er als
Landtagspräsident in Kassel den Kampf gegen Hassenpflug auf
exponiertem Posten hätte führen müssen.
Wenn Sybel sich also auf die gelehrte Tätigkeit zurück-
verwiesen sah, die er sich von Anfang an erwählt hatte, so kann
dennoch das politische Intermezzo seit 1848 bei ihm keineswegs
für etwas nur Zufälliges gehalten werden. Dazu war er als Mann
der Wissenschaft schon von jeher viel zu sehr zugleich ein Mann
der Politik gewesen. Sein Geschichtsstudium in Berlin hatte
er in außergewöhnlichem Umfange mit juristischen Arbeiten
verbunden und in seinen Doktorthesen die politisch-aggressiv
klingende Behauptung aufgestellt, daß man Geschichte „cum
ira et studio“ schreiben müsse. Liest man dann die wissenschaft-
^ lichen Jugendarbeiten Sybels, so kann man bald den Eindruck
gewinnen, einen ausgesprochenen politischen Menschen, der
hauptsächlich aus dem Staatsgedanken heraus lebte und
schrieb, vor sich zu haben. Um des Staatsgedankens willen trat
er in seinem 1844 veröffentlichten Buche über die Entstehung des
deutschen Königtums in Gegensatz zu der damals herrschenden,
überwiegend von der Romantik befruchteten Geschichtsauf-
fassung. Daß deren Anhänger eine rationalisierende Tendenz
bei Sybel feststellen zu können glaubten, traf insofern das
Rechte, als der Staatsgedanke, wenn er sich den romantischen
Ideen des Volkstums oder der Rasse gegenüber befindet, einen
für ihn konstitutiven rationalen Wesenszug nicht verleugnen
kann. Dem moralistischen Rationalismus des Aufklärungs-
zeitalters, den unter den zeitgenössischen Historikern Friedrich
Christoph Schlosser noch vertrat, stand Sybel fern; bei ihm war
der Rationalismus politisch“.
Ganz und gar politisch verwandte Sybel seine Gelehrsamkeit
in dem gleichfalls 1844 herausgekommenen Buche über den
1 Vgl. P. Bailleu in der Allg. Deutschen Biogr. Bd. 54, S. 653.
3 Vgl. C. Varrentrapp, Vorträge und Abhandlungen von Heinrich von Sybel,
1897, S. 30. |
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H 1. 7
98 Karl Buchheim
„Heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen Heiligen Un-
genähten Röcke“, das er zusammen mit dem Orientalisten Gilde-
meister schrieb?. Der Gegenstand war hochaktuell, weil sich
ganz Deutschland für und wider die Trierer Wallfahrten aufgeregt
hatte. Darum machte die Schrift trotz betonter Wissenschaft-
lichkeit Aufsehen in weiten Kreisen. Ihr Vorwort war vom
Allerheiligentage 1844 datiert, und noch im Dezember wurde
bereits eine dritte Auflage nótig. Da die Gegenpartei ihrerseits
auf den Plan trat, verfaßten Sybel und Gildemeister noch drei
weitere Broschüren, in denen sie „die Advokaten des Trierer
Rockes zur Ruhe verwiesen". Daß es Sybel bei diesen Ausein-
andersetzungen nicht nur und auch nicht hauptsáchlich um eine
wissenschaftliche Streitfrage ging, war nicht schwer herauszu-
merken. Aber die Gegner irrten sich, wenn sie als Motiv seines
Auftretens Katholikenfeindschaft im Sinne religióser Gegner-
Schaft annahmen. Es war vielmehr das politische Gewissen
Sybels, das sich mit dem wissenschaftlichen hier verband und
ihn zur Tat antrieb. Er bekámpfte die Macht der Kirche, weil
sie in seinen Augen eine feudale, eine stándische Macht war, vom
Mittelalter her die Teilhaberin an der Herrschaft des Adels und
der Sippen, dem Widerpart jeder eigentlich politischen Ge-
sellschaftsordnung, die immer wieder in Gefahr kommt, von den
ständischen Gewalten überwuchert zu werden. So stellte er
den Sachverhalt selber in einem nachher noch weiter zu erwähnen- .
den Artikel der Kölnischen Zeitung dar“, wo er sagte: „Der
Schreiber dieser Zeilen, der sich um kirchliche Dinge nie be-
kümmert hat und hoffentlich nie bekümmern wird, als wo sie auf
staatliche und wissenschaftliche Fragen einwirken, kann gelassen
zusehen, wenn man ihn als Gegner der katholischen Kirche zu
verrufen sucht; er stellt es den echten Freunden derselben an-
heim, ob sie durch eine Verschmelzung ihrer Sache mit den
ritterbürtigen Interessen sich in Wahrheit gefórdert halten
* Düsseldorf 1844, bei Julius Buddeus. Die im Text weiterhin erwühnten
folgenden Streitschriften sind unter dem gleichen Haupttitel als zweiter Teil: „Die
Advokaten des Trierer Rockes, zur Ruhe verwiesen von Dr. J. Gildemeister und
Dr. H. v. Sybel, Professoren an der Universität zu Bonn“ in drei Heften (sämtlich
Düsseldorf 1845) erschienen.
„Konservative Gesinnung und die Luxemburger Zeitung“ in Nr. 48 vom
17. Februar 1846.
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 99
werden." Das Zitat läßt erkennen, daß es Sybel darauf ankam,
gegen diejenigen zu kämpfen, die der Hegemonie der politischen
Idee zuwider waren.
Der schlimmste feudalistische Fremdkörper im öffentlichen
Leben der Rheinprovinz war die 1836 von Friedrich Wilhelm III.
künstlich erneuerte „Autonomie“ des ritterschaftlichen Adels.
Sie widersprach dem Gedanken der staatsbürgerlichen Gleich-
heit und damit dem rheinischen Recht, in dem die Provinz ihr
Palladium sah. Darum war sie von der öffentlichen Meinung
von vornherein abgelehnt worden. Für Sybel war das .Auto-
nomiestatut geradezu eine Art Sündenfall der berufenen Re-
präsentanten des preußischen Staatsgedankens. Deshalb wurde
ihm der Kampf gegen die Autonomie zum wesentlichsten po-
litischen Anliegen. Er gab ihm Veranlassung, das erste Mal in
der Kölnischen Zeitung das Wort zu nehmen.
Sybel sah sich aus verschiedenen Gründen auf dieses Blatt
hingewiesen. Unter den Dozenten der Bonner Universität, an
der er sich im Herbst 1840 habilitiert hatte, war die Mitarbeit an
der Kölnischen Zeitung nichts Seltenes. Bonn hatte von der
preußischen Staatsregierung trotz mancher Petitionen keine
eigene Zeitungskonzession erhalten und mußte deshalb mit der
Presse der Nachbarstadt zufrieden sein. Sybels besonderer
Gönner, der Ordinarius für Geschichte, Professor Joh. Wilh.
Loebell, gehörte zu den Kollegen, die Beziehungen zur Kölni-
schen Zeitung hatten. Er war um die Jahreswende 1842/43
sogar auf den ausdrücklichen Wunsch der preuBischen Zensur-
bürokratie Mitarbeiter geworden, weil diese damals hoffte, das
weitverbreitete Blatt in gouvernementalem Sinne beeinflussen
zu könnens. Doch war in dieser Beziehung nichts zu erreichen,
weil der Verleger Joseph DuMont gerade im Frühjahr 1843
den Zeitpunkt für günstig erachtete, offen zur politischen Oppo-
sition überzugehen. Er war soeben stellvertretender Landtags-
abgeordneter geworden, und wenn er auch zur Ausübung des
5 Über die Geschichte der Kölnischen Zeitung und ihrer Mitarbeiter
erschien im November 1930 eine ausführliche Darstellung vom Verfasser dieses
Aufsatzes. Sie schließt sich an die 1920 veröffentlichte Geschichte der Anfänge
des groBen rheinischen Blattes von Ernst von der Nahmer an und reicht vorl&ufig
bis zum Jahre 1850. Der hier vorliegende Aufsats ist kein Teil davon, sondern
eine selbständige Spezialuntersuchung.
73
100 Karl Buchheim
Mandats nicht gelangte, so arbeitete er doch mit dem im Sommer
zu Düsseldorf tagenden siebenten rheinischen Landtage, der
einen reaktionären Strafgesetzentwurf der Regierung zurück-
wies, aufs engste zusammen. Seitdem galt die Kölnische Zeitung
als Hauptorgan des rheinischen Liberalismus und wurde so für
Sybel nicht nur zum gegebenen Lokal-, sondern auch zum zu-
ständigen Parteiblatt.
Denn, wie eingangs erwähnt, darf man den jungen Professor —
er bekam diesen Titel im Frühjahr 1844 — von Haus aus zu den
rheinischen Liberalen rechnen. Anderseits muß man sich freilich
hüten, ihn allzusehr mit dieser politischen Gruppe zu identiflzie-
ren. Die Führer des vormärzlichen rheinischen Liberalismus
waren sämtlich Kaufleute oder Industrielle. Sie kamen zur
Politik und zur Staatsgesinnung nicht unmittelbar, sondern
von den Erfahrungen und Bedürfnissen des Wirtschaftslebens her.
Sybel aber stammte zwar ebenfalls aus großbürgerlicher Familie,
aber aus keinem Kaufmannshause; er hatte einen akademischen
Beruf und fühlte sich unmittelbar aus dem Staatsgedanken selber
zur Politik getrieben. Seine Schrift über „Die politischen Par-
teien der Rheinprovinz", die 1847 veröffentlicht, aber schon
vorher entworfen und geschrieben worden ist, zeigt, daß er sich
den rheinischen Liberalen nur insoweit zugehörig fühlte, als er
bei ihnen Widerhall für seine betont politische Denkweise und
Anerkennung des preußischen Staatsgedankens fand. Es
entging ihm keineswegs, daß dieser Staatsgedanke spezifische
Unterschiede gegenüber dem Liberalismus der rheinischen Bour-
geoisie aufwies. Er bezeichnete es (a. a. O. S. 76f.) als eine Frage,
„inwieweit gewisse Eigentümlichkeiten gerade der preußischen
Politik bei ihnen (d. h. den rheinischen Liberalen) auf Pflege und
Beistand rechnen dürften“. Und er fuhr fort: „Die Partei ruht
durchaus auf Kapitalbesitz und Industrie. Daraus hat sie ihren
Ursprung, ihre Farbe und ihre Kraft. Vom preußischen Staate
kónnte kein Mensch das Gleiche behaupten, von jeher hat er
sich nicht durch Erzeugen, sondern durch Sparen, nicht durch
friedliche Fülle, sondern durch militärische Stärke charakterisiert.
Der Widerspruch zwischen beiden Standpunkten ist klar“.
Sybel glaubte nicht befürchten zu müssen, „daß irgendeine
konstitutionelle Kammer etwa die Heeresausgaben als unproduk-
tive Last beseitigen und zur Unterstützung des Gewerbes ver-
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 101
wenden würde‘; dergleichen Gedanken würden in der scharfen
Luft einer reichsständischen Versammlung bald verwehen. Aber
die Möglichkeit, daß der Liberalismus die Staatsmacht „den
Zwecken des Gewerbes dienstbar“ und „das Gemeinwesen voll-
kommen materialistisch‘ machen könne, erwog er doch selber.
Er tröstete sich mit der Hoffnung, daß bei wachsender politischer
Schulung des ganzen Volkes auch das Bürgertum die Forderung
erfüllen werde, , die politische Tätigkeit, als eine höchst geistige,
soviel wie möglich in die Hände derer zu legen, deren Gedanken
nicht ausschließlich mit Geld und Gelderwerb erfüllt sind“ (a.
a. O. S. 78). Mansieht aus diesen Äußerungen, daß die wachsende
Durchdringung des rheinischen Liberalismus mit dem preußischen
Staatsgedanken für Sybel eine Hoffnung war, deren Verwirk-
lichung ihm am Herzen lag. Sein eigener Ausgangspunkt aber
war dabei der Staatsgedanke und nicht die bürgerliche Ideologie.
Der achte rheinische Landtag (1845), von dessen Ergebnissen
Sybel in seiner eben herangezogenen Abhandlung über die poli-
tischen Parteien ausging, war in seinem ganzen Verlaufe Gegen-
stand seines lebhaftesten Interesses. Schon die Wahlhandlungen
für den Landtag verfolgte er aufmerksam; um ihretwillen schrieb
er im November 1844 seinen ersten Artikel für dieKölnische
Zeitung. Der kleine Beitrag hatte, weil der Kölner Zensor,
Regierungsrat Wenzel, Schwierigkeiten machte, sein besonderes
Schicksal: die zweite Hälfte kam nämlich erst sechs Wochen
nach der ersten in die Zeitung. Von der Haltung der Zensur wird
nachher noch weiter die Rede sein. Zunächst ist es aber not-
wendig, den ganzen Artikel, weil er als solcher in der Kölnischen
Zeitung gar nicht auffindbar ist, hierher zu setzen:
* * Vom Rhein, 20. Nov. Die Aufforderungen der Behörden rufen auf den
2. und 6. Dez. in Koblenz und Düsseldorf die Mitglieder der rheinischen Ritter-
schaft zur Wahl mehrerer Stellverteter aus ihrem Stande für den bevorstehenden
Landtag zusammen. Es ist zu wünschen, daß diese Wahl auf Männer der Provinz
fallen möge, die auf das allgemeine Vertrauen einen gerechten Anspruch haben,
deren Name dafür eine Gewährleistung ist, daß sie nicht, durch einseitige korpo-
rative Standesinteressen gebunden, diesen das Gesamtinteresse aller Stände der
Provinz nachsetzen werden. — Die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder der .
rheinischen Ritterschaft hat es wiederholt ausgesprochen, daß sie sich nicht
durch autonome Mitglieder auf dem Landtag vertreten zu sehen wünscht, weil
sie die politischen Prinzipien einer korporativen Absonderung für unverträglich
mit dem wahren Interesse des ganzen Ritterstandes und der Provinz hält. Für
die nichtautonomen Rittergutsbesitzer muß es daher erfreulich sein, am 2. und
109 Karl Buchheim
6. Dezember abermals durch das Ergebnis der Wahlen beweisen zu kónnen, daf
sie ihre politischen Ansichten nicht geändert haben, und daB sie nach wie vor
keiner besonderen Statuten bedürfen, um in gleicher und treuer Liebe zum Könige
mit gleichem und treuem Eifer für ihre Mitbürger die stándischen Pflichten zu
erfüllen.
Die Autorschaft Sybels für diesen Artikel ist aus einem
Briefe des Verlegers DuMont vom 21. November 1844 und aus
dem Erkenntnis des Oberzensurgerichts vom 17. Dezember 1844,
das am 3. Januar 1845 in der Kólnischen Zeitung abgedruckt
wurde, erweislich®. An diesem Tage wurde auch die zweite Hälfte
des Ártikels — vom Gedankenstrich an — in der Zeitung noch
abgedruckt, natürlich zu spát für ihren Zweck, auf die Wahlen
einzuwirken. Die erste Hälfte hatte in Nr. 327 vom 22. Novem-
ber 1844 gestanden.
Der Gegenstand, den der Verfasser behandelte, war nicht
derart, daB er dabei im voraus und mit Sicherheit auf das
Stirnrunzeln der Zensurbürokratie hätte gefaßt sein müssen.
Wenn man auch die Verteidigung der Adelsprivilegien in PreuBen
zu den konservativen Grundsätzen rechnete, so brauchte doch ein
Angriff auf die katholischen Autonomen im Rheinland keines-
wegs hóheren Ortes unbeliebt zu machen. Für die gleichzeitige
Untersuchung über den Trierer Rock hatte Sybel soeben erst
den Beifall einflußreicher Beamter, auch den des Kultusministers
Eichhorn, gefunden’. Der Kölner Zensor war in der Tat seiner
Sache nicht sicher, als er in dem Zeitungsartikel die zweite
Hälfte strich. Er bestárkte den Verleger selber in der Absicht,
* Nicht erweislich aus dem Briefe DuMonts ist, daB Sybel wirklich das erste
Mal einen Beitrag an die Kólnische Zeitung einsandte. Deshalb entsteht die Frage,
ob er sich nicht schon früher an dem Blatte beteiligt haben könnte. Man beobachtet,
daB 2 ½ Jahre später, am 20. Juli 1847 (Nr. 201) der von Sybel stammende Artikel
„Arndts Briefwechsel‘‘ genau wie der kleine Beitrag vom November 1844 die Si-
gnatur ** Vom Rheine trägt. Es läge also nahe, der Vermutung Raum zu geben,
daB von den Artikeln mit der gleichen Bezeichnung, die vor dem November 1844
zu finden sind, der eine oder andere von Sybel stammen kónnte. Der Jahrgang
1844 enthält nur eine beschränkte Anzahl so bezeichneter Beiträge. Keiner von
ihnen zeigt aber einen Inhalt, nach dem man auf Sybel als Verfasser schließen
dürfte. Ja, aus dem Honorarbuch DuMonts läßt sich der Nachweis führen, daB die
meisten dieser Artikel von dem radikalen Literaten Karl Heinzen verfaBt sind.
Alle Umstände sprechen dafür, daß der kleine Beitrag vom November 1844 wirklich
der erste Artikel Sybels in der Kólnischen Zeitung war.
7 Vgl. Varrentrapp a. a. O., S. 38f.
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 103
Beschwerde beim Oberzensurgericht einzulegen, weil ihm daran
gelegen sei, dessen Ansicht über eine solche Materie kennen zu
lernen. Sybel scheint sogar davon überzeugt gewesen zu sein,
daß man den Zensurstrich nicht aufrechterhalten werde. Denn
er schickte bereits unterm 25. November 1844 einen langen
Aufsatz: „E.M.Arndt über die rheinischen ritterbürtigen
Autonomen‘, der die gleiche Tendenz zeigt, und den er trotz-
dem nunmehr mit seinem vollen Namen signierte. Eben hatte
ihm DuMont im Briefe vom 21. November noch versichern zu
sollen geglaubt, daß vor dem Oberzensurgericht sein Name ,,gar
nicht zur Sprache kommen‘ werde. Anscheinend wollte Sybel
gerade deshalb zeigen, daß er sogar gern persönlich für seine
Tendenzen eintreten werde. Der neue Beitrag wurde, wie DuMont
am 29. November mitteilen mußte, „ganz und gar vom Lokal-
zensor gestrichen“, aber man appellierte natürlich diesmal erst
recht an das Oberzensurgericht. Die Entscheidung in dieser
Sache fiel erst am 17. Januar 1845. Die Druckerlaubnis wurde
erteilt „unter Aufhebung der entgegenstehenden Zensurver-
fürung vom 28. November 1844". Am 1. Februar 1846 (Nr. 32)
konnte dieser Sybelsche Aufsatz ebenfalls in der Kölnischen
Zeitung erscheinen.
Der Verfasser benutzte die Autorität Arndts, um mit den
staatverneinenden feudalistischen Theorien der ritterschaftlichen
Autonomen nunmehr gründlicher abzurechnen. Es kam ihm
darauf an festzustellen, daB der Gesetzgeber, der das Autonomie-
statut von 1830 eingeführt, es auch Jederzeit ohne weiteres wieder
aufheben kónne, und daB ein rheinischer Landtag, der etwa die
Vernichtung der Autonomie beantrage, keinesfalls eines Angriffs
auf wohlerworbene Rechte beschuldigt werden dürfe. Unter
Berufung auf die Pandektenvorlesung seines Lehrers Savigny
erklärte Sybel, daß man diesen Begriff nur auf individuelle
Rechtsverhältnisse, also etwa den Besitz eines Rittergutes, nicht
aber auf abstrakte Befugnisse gewisser Stände oder Klassen
anwenden dürfe. Die autonome Partei ließ diese Darlegungen
in der von ihr unterhaltenen Luxemburger Zeitung be-
streiten, u.a. auch mit Hinweis auf das deutsche Bundesrecht,
von dem sie vor der Aufhebung des Autonomiestatuts durch den
preußischen Staat geschützt zu sein behauptete. Sybel konnte
dies Argument entkräften, indem er daran erinnerte, daß die
104 Karl Buchheim
autonomen Familien keine ehemaligen Reichsunmittelbaren
waren. Er tat dies in dem Artikel „Konservative Gesinnung
und die Luxemburger Zeitung‘ (in Nr. 48 der Kölnischen
Zeitung vom 17. Februar 1845), aus dem oben schon ein Zitat
angeführt wurde, und noch einmal unter der Überschrift: „Die
rheinischenAutonomenunddieEinheitdespreußischen
Staates“ (in Nr. 78 vom 14. März).
In allen drei Arbeiten, mit denen er im Frühjahr 1845 in der
Kölnischen Zeitung auftrat, kam es Sybel politisch auf die Ver-
teidigung des Staatsgedankens an. Darum durfte er auch darauf
vertrauen, daß das Oberzensurgericht einer solchen Tendenz
schlechterdings kaum entgegen sein konnte. Da die Luxem-
burger Zeitung z. B. behauptete, daß es einen preußischen Staat
eigentlich gar nicht gäbe, sondern nur ein Konglomerat mehrerer
durch Personal- und Realunion verbundener Territorien, so
konnte er den Anhängern feudalistischer Theorien überhaupt
das Recht bestreiten, sich konservativ zu nennen. Auf diese
Bezeichnung, führte er aus, habe nimmermehr irgendeine abso-
lute und unveränderliche Richtung Anspruch, wie z. B. diejenige,
die für die Immunität des Adels eintrete, sondern nur wer wirk-
lich das politisch Bestehende bewahren wolle. Der Begriff des
Konservatismus könne also einen sehr unterschiedlichen Inhalt
haben, je nach dem Staat, auf den man ihn anwende. In Preußen
sei allein die Fortsetzung der Politik des Großen Kurfürsten
und der ersten Könige, der Schöpfer dieses Staates, wahrhaft
konservativ. Deren unabänderlicher Grundatz aber sei gerade
gewesen, alle ritterliche und provinziale Eigenwilligkeit der
einigen und umfassenden Staatsgewalt zu unterwerfen. So ver-
derblich es also auch sein möge, das Prinzip der Volkssouveräni-
tät zu vertreten und seinetwegen eine gesamtpreußische Volks-
repräsentation zu verlangen, so sei es doch noch viel schlimmer
und absolut unkonservativ, eine solche Volksvertretung auf
Grund feudalistischer Theorien zu verwerfen: „Alle Grundlagen
unserer Monarchie kehrt um, wer mit der Luxemburger Zeitung
gegen Reichsstände deshalb protestiert, weil damit die ,,Selb-
stándigkeit" und ,,Eigentümlichkeit" einer einzelnen Provinz
gefährdet würde, wer mit ihr die Grundsätze der Hallerschen
Schule, die Division des Staates und die Souveränität des Guts-
herrn über die Bruchteile predigt“ (K. Z. 1845 Nr. 48).
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 105
Das Autonomiestatut wollte Sybel vom Staatsgedanken aus
beurteilt wissen: seine Wirkungen müßten unter beständiger
Kontrolle der óffentlichen Meinung gehalten werden, und dem
Staate allein dürfe die Entscheidung darüber zustehen, ob und
wielange es als politisch zweckmäßig bestehen bleiben dürfe.
Sybel war kein grundsátzlicher Gegner des Adels, zumal seine
eigene Familie auf Grund der Verdienste seines Vaters geadelt
worden war. Aber er stellte die Frage, ob speziell der deutsche
Adel nach seinen bisherigen Überlieferungen politisches Ver-
trauen verdiene, und verneinte sie damals schon ebenso ent-
schieden wie in späteren Aufsätzen aus den Jahren 1850 und
18515. Eine Aristokratie, die es als obersten Grundsatz betrachte,
„ebenbürtig‘‘ zu heiraten und ihren Genossen zu verbieten,
Handel und Gewerbe zu treiben, die ihren Stamm lieber ver-
armen und austrocknen lasse, „statt ihn durch die Verbindung
mit mächtiger Industrie oder schönen Erbtöchtern zu erfrischen
und zu bereichern“, eine solche Aristokratie hielt Sybel für un-
heilbar borniert und zu großen politischen Leistungen nach dem
Muster ihrer englischen Standesgenossen gänzlich unfähig.
Während die britische Gentry mit ihrem König um den Besitz
der Staatsgewalt gerungen und dabei die Majestät besiegt habe,
hätten in Deutschland allein die Landesfürsten den Staatsgedan-
ken begriffen; dem Adel aber sei er über seinen Privilegien
gänzlich abhanden gekommen, so daß ihn die Territorialherren .
hätten zwingen müssen, das politische Ganze zu respektieren.
Nach solchen geschichtlichen Erfahrungen könne man Provinzial-
landtagen und ritterlichen Autonomen nur insoweit Existenz-
berechtigung zusprechen, als sie sich als Mitträger des Staats-
gedankens bewáhrten. Sybel beendete seinen am 1. Februar 1845
veröffentlichten Hauptartikel mit dem charakteristischen Satze:
„Denn wenn die Revolution den Alleinbesitz der Krone der
Herrschaft bedroht, so untergrábt die Autonomie die Möglich-
keit jeder Herrschaft von Grund aus." —
3 Vgl. die in dieser Abhandlung weiter unten besprochenen Zeitungsartikel
und den Aufsatz „Die christlich-germanische Staatslehre, ihre Bedeutung
in der Gegenwart, ihr Verhältnis zum geschichtlichen Christen- und Germanentum“
in Biedermanns , Germania“ 1861, S. 1ff., wieder abgedruckt in den Kl. Hist. Schriften
Sybels, im ersten Bande.
/
106 LT Karl Buchheim
Erst nach zwei Jahren, nachdem inzwischen die Schrift über
die politischen Parteien erschienen und der Vereinigte Landtag
in Berlin zusammengetreten war, kam Sybel wieder dazu, in
der Kölnischen Zeitung zu schreiben. Er war unterdessen nach
Marburg berufen worden und hatte sich dort in sein neues Lehr-
amt einleben müssen. Er hatte wieder Gelegenheit, an den
Namen Ernst Moritz Arndts anzuknüpfen, weil er ein neues
zweibändiges Werk von diesem mit dem umständlichen Titel
„Notgedrungener Bericht aus seinem Leben und aus und mit
Urkunden der demagogischen und antidemagogischen Um-
triebe“ zu besprechen hatte. Der Rezensent überging dabei den
ersten Band völlig, weil er ihm in keiner Weise aktuell erschien,
und hielt sich an den zweiten, der mit Briefen angefüllt war, die
Arndt mit dem Freiherrn vom Stein, mit Gneisenau, Schleier-
macher und anderen gewechselt hatte. So kam der anonyme
Artikel: „ Arndts Briefwechsel“ zustande, den die Kölnische
Zeitung in Nr. 201 vom 20. Juli 1847 brachte. Sybel stellte
diesmal eine Honorarforderung an den Verlag, vielleicht ein
Zeichen dafür, daß er ein regelmäßigerer Mitarbeiter zu werden
beabsichtigte. Die Forderung und natürlich auch der Artikel,
auf den sie sich gründete, gingen Mitte Juni in Köln ein, zu
einem Zeitpunkte, wo der Vereinigte Landtag noch versammelt
war. Die Redaktion ließ den Aufsatz über fünf Wochen liegen,
sicherlich weil es an Raum fehlte, solange die Verhandlungs-
berichte aus Berlin allem anderen vorgingen. DuMont selber
hatte gerade einen Erholungsurlaub genommen und war von
Köln abwesend. So kam er erst am 30. Juli dazu, Sybel zwölf
Taler Honorar zu übersenden und ihn gleichzeitig brieflich zu
fernerer Mitarbeit aufzufordern. Im Honorarbuch des Verlegers
wurde damals ein Konto für den Marburger Professor eingerichtet.
Da dieses aber erst für 1850 wieder Beiträge verzeichnet, so
können wir sicher sein, daß wirklich über drei Jahre vergingen,
ehe Sybel dazu kam, jener Aufforderung Folge zu leisten, und
daß man in den Jahrgängen 1847 bis 1849 der Kölnischen Zei-
tung keine weiteren Artikel von ihm zu suchen braucht.
Für den Aufsatz „Arndts Briefwechsel“ konnte schon Varren-
trapp Sybels Verfasserschaft nachweisen und auch aus dem Inhalt
einiges hervorheben“. Der Artikel ist jedoch nicht nur geschrie-
*? A. a. O., S. 47fl.
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 107
ben, „um den hohen Wert der Solidarität zwischen Volk und
Krone anschaulich zu machen“, sondern, um der politisch un-
erzogenen nationalen Romantik, die 1847 noch ebenso gefährlich
werden konnte, wie nach 1813, eine Absage zu erteilen. Sybel
wollte dem weiten Leserkreis der Kölnischen Zeitung die un-
gewohnte Erkenntnis vermitteln, daß der „Liberalismus, wie
er 1817 beschaffen war“, an der nachfolgenden Reaktion selber
mit schuld gewesen sei. Er bezog sich auf einen Brief des Frei-
herrn vom Stein vom 5. Januar 1818, worin sich dieser über die
.Narrheiten" von Jahn und Oken beklagte, und meinte, daß
der Liberalismus von 1847 einsehen lernen müsse, wie seine
Vorläufer nach den Freiheitskriegen „sich zu jeder festen Staa-
tengründung ganz untauglich“ gezeigt hätten. Der Fehler der
Karlsbader Beschlüsse sei nicht gewesen, „daß sie diese Pflanze
dem Volke nicht zur Nahrung dienen lassen wollten, sondern daß
sie dieselbe ausrissen, statt sie zu veredeln“. Und weiter hieß es
in demselben Gedankengang: ,,Die óffentliche Meinung war, ein
großes Ziel im Auge und ein edles Gefühl im Herzen, auf wunder-
liche doktrinäre Abwege geraten. Gerade in einer solchen Lage
erscheint der edelste Beruf einer einsichtigen Regierung der Beruf
nicht der Züchtigung und Bándigung, sondern der Erziehung.
Aber die Karlsbader Versammlung entschloß sich in dem ent-
gegengesetzten Sinne.“
Diese Distanzierung von der nationalen Gefühlspolitik steht in
Parallele zu der Korrektur der romantischen Geschichtsvorstel-
lungen, auf die es Sybel in seinem Buche über die Entstehung des
deutschen Königtums angekommen war. Beides war die Konse-
quenz bewußt politischer Denkweise. Umgekehrt entsprach
seinem Anschluß an den Liberalismus die gleichzeitige MiB-
billigung des Systems der vormärzlichen Regierungen. Mit den
rheinischen Liberalen verwarf er jede ständische Sonderung von
Stadt und Land, von Bürgertum und Güteradel. Deshalb wurden
die konkreten Verfassungsvorschläge des Freiherrn vom Stein,
die eine solche Sonderung vorsahen, von seiner Ablehnung mit
betroffen: Wenn nicht für jene Zeiten, so seien sie mindestens
in der Gegenwart gänzlich unzeitgemäß. Ohne die unterschied-
lichen Berufsinteressen als Gegenstand der staatlichen Volks-
wirtschaftspflege zu verneinen, wollte Sybel in staatsbürgerlicher
Hinsicht überhaupt keine Stände mehr gelten lassen. —
108 Karl Buchheim
Wenn Sybels Mitarbeit an der Kölnischen Zeitung nach dieser
Kundgebung, wie erwähnt, eine Pause von über drei Jahren erlitt,
80 liegt das natürlich daran, daß sich ihm seit 1848 jene politische
Wirksamkeit in Kurhessen eröffnete, die einleitungsweise schon
gestreift wurde. Er schrieb damals eine Reihe von Zeitungs-
artikeln, aber nicht in der Kölnischen, sondern in der Neuen
Hessischen Zeitung, dem Organ der konstitutionellen Partei
im Lande. Erst als dieses Blatt wegen eines von Sybel verfaßten
Aufsatzes in einen, allerdings siegreich durchgefochtenen Prozeß
verwickelt wurde und bald darauf die Hassenpflugschen Sep-
tember-Ordonnanzen von 1850 die Freiheit der Meinungsäußerung
in Kurhessen unterbanden, ergab sich der Anlaß, wieder das große
rheinische Blatt zum Sprachrohr zu nehmen. Demzufolge sind die
Beiträge, die Sybel nunmehr für dieses verfaßte, zunächst Aus-
läuferseinerkurhessischen Politik. Um socharakteristischer ist es,
daß der Autor bald wieder auch in die prinzipiellen Gedanken-
gänge seiner vormärzlichen Artikel einmündete und die Ver-
teidigung des Staatsgedankens gegen feudalistische Reaktion
von neuem in den Mittelpunkt stellte.
Am 21. September 1850 hatte Hassenpflug einen Beschluß
des faktisch wiederhergestellten, von Preußen aber noch nicht
anerkannten Frankfurter Bundestages herbeigeführt, worin dem
kurhessischen Ministerium Bundeshilfe in Aussicht gestellt wurde,
falls es der konstitutionellen Opposition des Landes nicht Herr
werden könnte. Seit Anfang des Monats war der Landtag auf-
gelöst, hatte aber vorher noch einen Steuerverweigerungsbeschluß
gefaßt, der nicht nur von der Öffentlichen Meinung, sondern auch
von den Verwaltungsbehórden und von den Gerichten Kur-
hessens anerkannt wurde. Die am 23. erfolgte Veröffentlichung
des Bundesbeschlusses machte geringen Eindruck, weil man in
weiten Kreisen mit Bestimmtheit erwartete, die preuBische Re-
gierung werde niemals eine Bundesexekution zugunsten Hassen-
pflugs dulden. Dieser Erwartung gab auch die Kólnische
Zeitung im Leitartikel ihrer Sonntagsnummer vom 29. Sep-
tember Ausdruck. Die Redaktion begnügte sich im übrigen mit
einigen verhältnismäßig knappen Bemerkungen, die lediglich
als Rahmen für einen ,,soeben zukommenden Artikel aus Kur-
hessen“ dienten, in der Weise, daB dieser den wesentlichen Inhalt
des Ganzen ausmachte. Der Verfasser der Zuschrift war Sybel,
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 109
und die Redaktion gab deshalb dem ganzen Leitartikel die
Signatur S. Neben dieser stand als Datum: „Köln, 28. Sep-
tember“, obwohl Sybel natürlich in Marburg und einige Tage
früher geschrieben haben muß. Dieses Verfahren entsprach den
Gepflogenheiten der Redaktion: sie übte die Praxis, wenn Auf-
sätze auswärtiger Mitarbeiter als Leitartikel Verwendung fan-
den, regelmäßig die Originaldatierungen zu streichen und den
Vortag der betr. Nummer neben der Ortsbezeichnung Köln ein-
zusetzen, so daß solche Arbeiten von den redaktionellen Leit-
aufsätzen nicht zu unterscheiden waren.
Zehn Tage später traf eine zweite Korrespondenz von Sybel
ein und wurde von der Redaktion genau so behandelt, also
wieder in redaktioneller Umrahmung als Kölner Leitartikel ver-
öffentlicht (Nr. 242 am 9. Oktober). In den einleitenden Sätzen
hieß es, daß Kurhessen zur Zeit neben Schleswig-Holstein der
einzige hellstrahlende Stern am trüben Himmel der deutschen
Politik sei. Bereits in der Sonntagsnummer vom 13. Oktober
(Nr. 246) war Sybel mit einem dritten Leitaufsatz ,, Die Denk-
schrift des Ministeriums Hassenpflug“ vertreten, zum
ersten Male ohne redaktionelle Einführung. Dann folgten einige
nicht an leitender Stelle verwendete Korrespondenzen, meist
mit der Signatur S aus Kurhessen (Nr. 253, 256, 261) und ein
paar Leitartikel, auf die wir noch zu sprechen kommen “.
10 Eine vollständige Übersicht der von Sybel 1850 und 1851 in der Kölnischen
Zeitung veröffentlichten Artikel kann, wie folgt, gegeben werden:
1850 Nr. 284 vom 29. September, Leitartikel „Preußen und Kurhessen“, S Köln,
28. September.
Nr. 249 vom 9. Oktober, Leitartikel „Aus Kurhessen“, S Köln, 8. Oktober.
Nr. 248 vom 10. Oktober. Ein der Angabe in DuMonts Honorarbuch ent-
sprechender Artikel mit erkennbarer Signatur ist nicht auffindbar. Einen
kurhessischen Bericht, wie er für Sybel in Betracht käme, enthält die Berliner
Korrespondenz mit drei Sternen in der 2. Ausgabe der Nummer. Diese
-Korrespondenz besteht aus zwei unzusammenhängenden Teilen, die vielleicht
irrtümlich zusammengeschoben worden sein könnten.
Nr. 246 vom 13. Oktober, Leitartikel „Die Denkschrift des Ministeriums
Hassenpflug", S Köln, 12. Oktober.
Nr. 288 vom 22. Oktober, 2. Ausg., S Aus Kurhessen, 19. Oktober.
Nr. 256 vom 25. Oktober, 2. Ausg., S Aus Kurhessen, 22. Oktober.
Nr. 261 vom 31. Oktober, 2. Ausg., S Aus Kurhessen, 28. Oktober.
Nr. 288 vom 26. November, Leitartikel „Auch eine Parallele“, S Köln,
25. November.
110 | Karl Buchheim
In den hier zunächst hervorgehobenen Aufsätzen vertrat Sybel
den Rechtsstandpunkt auf Grund der kurhessischen Verfassung
und der Verpflichtungen des Staates gegen die preußische Union,
die das Ministerium Hassenpflug beide gröblich gebrochen habe.
Anfangs waren Sybels Ausführungen in einem Tone gehalten,
als handele es sich garnicht um einen politischen Konflikt, sondern
geradezu um einen Kriminalfall. Nicht bloß die in Aussicht ge-
stellte bewaffnete Intervention des Bundestages wurde als ganz
ungesetzlich bezeichnet, sondern auch jeder Gedanke an einen
schiedsrichterlichen Schritt, von welcher Seite er auch komme,
rundweg abgelehnt. Es handele sich nicht, hieB es in dem Artikel
vom 29. September, um rechtmäßige Meinungsverschiedenheiten
zwischen Regierung und Landtag, sondern um das Verbrechen des
Hochverrats an der kurhessischen Verfassung, begangen von dem
leitenden Minister. Dagegen kónne nur das Mittel der Minister-
anklage in Betracht kommen. Ein Schiedsgericht würde schon
als solches eine Verhóhnung aller Rechtsbegriffe bedeuten, geradeso
wie „wenn jemand, der eben den auf frischer Tat ertappten Dieb
zum Kriminalgefängnis bringen läßt, eingeladen würde, seine
‚verwickelte‘ Streitigkeit vor einem Schiedsgericht ‚schlichten‘
zu lassen". Am 9. Oktober wandte sich Sybel gegen die Kreuz-
zeitung und andere konservative Blätter, die selber nicht leugnen
könnten, daß Hassenpflug das Recht gebrochen habe, die sich
aber dann kein Gewissen daraus machten, die Staatsstreichpolitik
zu preisen, da sie sich gegen die,, Feinde“ der deutschen Monarchien
und gegen die Vertreter des „französischen Konstitutionalismus“
richte. Sybel benutzte den Anlaß, um sich wiederum gegen den
Nr. 298 vom 7. Dezember, Leitartikel ‚Österreich und Deutschland", S
Kóln, 6. Dezember.
Nr. 802 vom 18. Dezember, A Aus Kurhessen, 16. Dezember.
1851 Nr. 8 vom 3. Januar Leitartikel „Unsere Zukunft", X Köln, 2. Januar.
Nr. 9 vom 10. Januar, O Kassel und X Aus Kurhessen, 5. Januar.
Nr. 85 vom 9. Februar, X Aus Kurhessen, 6. Februar.
Nr. 59 vom 9. März, 2. Ausg., ( Kassel, 6. März.
Nr. 188 vom 3. Juli, 2. Ausg., * Kassel, 30. Juni.
Nr. 208 vom 24. August, 2. Ausg., * Marburg, 20. August.
Der Wechsel in den Signaturen ist vermutlich vorgenommen worden, um die An-
onymitát umso besser zu bewahren. Sybel hätte seinen Marburger Lehrstuhl sofort
verloren und wäre in Haft genommen worden, wenn er als Verfasser dieser Artikel
bekanntgeworden wäre.
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 111
Grundsatz der Volkssouveränität zu erklären: Hessen kämpfe
nicht für diese Theorie, sondern für seine legitime Verfassung,
die doch eine gute deutsche Verfassung sei. Niemand mache
dem Kurfürsten das Recht der Ministerernennung streitig, und
niemand verlange von Hassenpflug, daß er zurücktrete, bloß weil
er ein Mißtrauensvotum erhalten habe, sondern weil materielle —
was offenbar wieder etwas áhnliches bedeuten soll wie kriminelle —
Gründe zum Mißtrauen vorlägen. Wirkungsvoll stellte Sybel den
kurhessischen Minister gewissermaBen auch als Verbrecher gegen
seinen Fürsten hin, weil ein Verfassungsbruch auch diesem den
Rechtsboden entziehe: Hassenpflug habe den Kurfürsten vom
legitimen Souverän zum revolutionären Gewaltherrscher er-
niedrigt. Umgekehrt verteidigte Sybel am 13. Oktober die
Rechtmäßigkeit der Haltung der kurhessischen Beamten, die
Hassenpflug die Gefolgschaft versagt hatten, und die des Steuer-
verweigerungsbeschlusses der Kammer. Nur krasse Unkenntnis
könne behaupten, daß diese Entschließung die Existenz des
Staates gefährdet habe.
Für Sybel war dieser Kampf für „Recht“ und „Freiheit“
trotz der moralisch-kriminalistischen Wendungen, die er gegen
Hassenpflug gebrauchte, dennoch ein rein politischer Kampf.
Die kurhessische Verfassung war ihm keine moralische, sondern
eine politische Errungenschaft, ein Phánomen der Staatsidee.
Denn eine Verfassung ist eine Art Epiphanie des Staats-
gedankens. Deswegen konnte sich ein politischer Mensch wie
Sybel ebensosehr dafür begeistern, wie der unpolitische Friedrich
Wilhelm IV., der feudalistisch-romantischen Ideen anhing, ob-
wohl er Kónig von PreuBen war, das ,,Blatt Papier' zwischen
König und Volk haBte. Sybels Interesse war an sich ganz über-
wiegend auf den preuBischen Staat gerichtet, an Kurhessen
lag ihm sehr wenig. Aber die Manifestation des Staatsgedankens,
die in einer Verfassung liegt, erschien ihm immer als ein poli-
tisches Gut, das Verteidigung verdiente. So war ihm der Kampf
zum Schutze des „„ Rechtes“ in Kurhessen keine bloße Redens-
art, obwohl er gleich darauf selbst einer gewaltsamen Lösung
des Knotens das Wort redete.
Die Korrespondenz S Aus Kurhessen, die in der Kölnischen
Zeitung vom 31. Oktober 1850 erschien, gehört mit den Leit-
artikeln „Auch eine Parallele“ (S Köln, Nr. 283 vom 26. No-
112 Karl Buchheim
vember), „Österreich und Deutschland“ (S Köln, Nr. 293
vom 7. Dezember) und „Unsere Zukunft“ (X Köln, Nr. 3
vom 3. Januar 1851) zusammen in eine Gruppe. Da im November
1850 ein bewaffneter Konflikt zwischen Preußen und dem auf
Österreich gestützten Bundestag bevorzustehen schien, so war
die Möglichkeit einer gewaltsamen staatlichen Neuordnung
Deutschlands in die Nähe gerückt. Sybel und seine Gesinnungs-
genossen hofften einen Augenblick auf den Sieg einer auf die
preußischen Waffen gestützten Revolution. Daher gab er am
81. Oktober in der Kölnischen Zeitung die bis dahin bewahrte
Haltung der Loyalität gegen den Kurfürsten von Hessen, in
dessen Diensten er als Marburger Professor stand, preis und
griff ihn mit harten Worten an: „Es ist ein trauriges Schauspiel,
dieser Fürst, der, durch Parteileidenschaft und elende Ratgeber
erniedrigt, das ihm anvertraute Land und die eigene Souveränität
in blindem Eifer unter den Fußtritt der Fremden werfen möchte,
auf die Gefahr hin, daß die hier entzündete Flamme Deutschland
und Europa ergreife." Der Wortlaut läßt erkennen, daß Sybel
selbst von Leidenschaft ergriffen war: die „Fremden“, unter
deren „Fußtritt‘‘ der Kurfürst das Land „werfen“ wollte, waren
ja keine Ausländer, sondern die Österreicher und Bayern. Der
Kampf für das konstitutionelle Rechtin Kurhessen warnun vorbei;
Sybel sah für die Zukunft des Landes nur noch eine Alternative:
entweder wurde es eine Beute der demokratischen oder
der preußischen Revolution. Unzweideutig schloß er den
erwähnten Artikel mit folgendem Satze: „Neun Zehntel unseres
Landes wären in ihren heißesten Wünschen dem Radikalismus
überliefert, sobald Preußen die Usurpation duldete oder be-
günstigte, in neun Zehnteln wäre die Demokratie vernichtet,
sobald Preußen sein mächtiges Wort für die Errettung des Rech-
tes einlegte.'' |
Aber Preußen schreckte vor der revolutionären Rolle, die ihm
zugedacht wurde, zurück. Die Hoffnungen begannen zu welken:
die Olmützer Punktationen standen unmittelbar bevor. -Da
wies Sybel am 26. November auf eine geschichtliche Parallele
hin, an der sich die Leser der Kölnischen Zeitung trösten könn-
ten. Es handelte sich um den Einfall, den Kurfürsten von Hessen
mit Jakob Il. aus dem Hause Stuart zu vergleichen. Möglicher-
weise verdankte ihn Sybel selber erst der Lektüre der Kölnischen
- * * A T
& — T ar
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 113
Zeitung. Einige Wochen vorher hatte nämlich der Londoner
Korrespondent Marquardsen einen Aufsatz zur kurhessischen
Frage eingesandt, der ebenfalls als Leitartikel Verwendung ge-
funden hatte (# Köln in Nr. 236). Dieser Autor schrieb öfters
über innerdeutsche Angelegenheiten. Der erwähnte Artikel war
„Schiedsgerichte“ überschrieben und ließ durchblicken, daß
gegen den Wortbruch eines Fürsten, der sein Volk um die ver-
fassungsmäßigen Rechte betrüge, keine Gerichtsbarkeit, sondern
nur eine Revolution helfen könne. In diesem Zusammenhange
hatte Marquardsen zuerst den Kurfürsten von Hessen mit Jakob
Stuart verglichen, an dem die „glorreiche“ Revolution den
„Schiedsspruch des Landes“ vollzog. Sybel spann nun die
Parallele weiter aus. Er zeigte, wie unter den letzten Stuarts
in England der Gegensatz zwischen Herrscher und Parlament
schärfer und schärfer geworden sei, wie König Jakob selber eine
Art Landesverrat getrieben habe, und wie das ganze Volk in
allen seinen Parteien ratlos dagegen gewesen sei. Denn, man
wollte zwar die politische Freiheit nicht verlieren, wünschte aber
nach den trüben Erfahrungen mit dem independentischen Radi-
kalismus auch keine revolutionäre Volkserhebung. Da fand sich
der Befreier in Wilhelm III. von Oranien, der, wie besonders
hervorgehoben wird, mit militärischer Macht nach England kam
und dort den reaktionären Spuk zerblies. Sybel schloß mit einer
ausdrücklichen Aufforderung an König Friedrich Wilhelm IV.,
sich zu entschließen, „der Oranier Preußens und Deutschlands
zu werden“. Um die Parallele zu vervollständigen, wies der
Verfasser noch darauf hin, welches Interesse Frankreich einst
an dem Bestande des Stuartthrones in England genommen
habe. Wilhelm von Oranien habe aber nicht gewollt, „daß
England unter dem Titel eines engen Bündnisses in franzósische
Dienstbarkeit gerate". Das Unausgesprochene war leicht zu
erraten: daß nämlich im Falle Kurhessens Österreich an die
Stelle Frankreichs zu setzen wäre.
Wir sahen bereits, daß Österreich in Sybels Augen nur noch
eine fremde außerdeutsche Macht war. Mit dieser Behauptung
begann er den Leitartikel vom 7. Dezember: ‚Seitdem das Haus
Habsburg an der Spitze des Deutschen Reiches gestanden, hat
über Deutschland ein nichtdeutsches Interesse regiert, ein In-
teresse, welches für die nationalen Bedürfnisse des deutschen
Bistor. Vierteljahrschrift. Bd.?6, H. 1.
114 Karl Buchheim
Volkes kein Bewußtsein hatte, sondern, nach europäischen Ge-
sichtspunkten dynastische Zwecke verfolgte.“ Ein solches Urteil
ist ohne Zweifel ungerecht, und die geschichtlichen Beispiele,
die Sybel anführt, kónnen darum auch nicht überzeugen. Er
wollte selber nicht leugnen, daß Österreich jahrhundertelang
mit Recht „Mehrer des Reiches“ genannt worden sei, aber es
habe nur seine Hausmacht und mit dieser hóchstens indirekt
das Reich verteidigt. Österreichs konsequenten Widerstand
gegen Frankreich in den Revolutionskriegen, der in bemerkens-
wertem Gegensatze zu der frühzeitigen Neutralität Preußens
steht, wollte er nicht hoch bewerten. Daß Friedrich der Große
ein Feind des Reiches gewesen sei, flel nicht ins Gewicht dagegen,
daB er den wahren Anfang eines deutschen Staatswesens be-
deute.— Soweit war der Artikel rein aggressiv gegen Österreich
gehalten. Charakteristisch ist aber nun, daB das Urteil weit
positiver wurde, sowie Sybel auf die eigenstaatliche Leistung
Österreichs zu sprechen kam. Ob die Habsburgermonarchie
als ein deutscher, magyarischer oder slawischer Staat anzusehen
gei, erklárte er für eine müBige Frage; denn sie sei in Wahrheit
einfach ein kaiserlicher Staat, der alle Nationalinteressen dem
gesamtstaatlichen unterordne. Dieser politischen Leistung konnte
ein Publizist wie Sybel seine Anerkennung niemals versagen, und
S0 bekam der Artikel folgende den Kaiserstaat positiv würdigende
SchluBwendung: ,Man macht es niemandem zum Vorwurf,
wenn er weiter existieren will; wir finden es menschlich, begreif-
lich und notwendig, daß das Haus Österreich solange als möglich
auf seiner Politik beharrt, deren Aufgeben eine Verwandlung
seiner selbst wäre. Aber man richte auch gegen uns keine An-
klage, weil wir die vorhandenen Tatsachen aussprechen und
ihnen gegenüber auch für uns das Recht des Daseins in Anspruch
nehmen. Dem übrigen Europa gegenüber gibt es für Deutsch-
land keinen besseren Verbündeten als Österreich und umgekehrt.
Aber jede Einmischung Österreichs in die inneren deutschen An-
gelegenheiten ist Deutschlands nationaler und politischer Tod. —
Mit diesen Sátzen stehen wir am Programm der Herren von Ga-
gern und von Radowitz, und wahrlich, es wird nicht eher Friede
in Mitteleuropa sein, als bis es verwirklicht und Österreich
ebenso damit ausgesóhnt ist, wie es den Verlust Schlesiens,
Belgiens und des deutschen Zollvereins zu ertragen gelernt hat.“
—————————MM——— — —— —
Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke 115
Wenn Sybel so die politische Leistung Österreichs als sölche
anerkannte, so war es die mangelhafte Entwicklung des po-
litischen Bewußtseins, die er an Preußen feststellen und be-
klagen zu müssen glaubte. In Preußen, meinte er am 3. Januar
1851, könne nichts anderes kommen, als was sich in Kurhessen
schon vollendet habe: der Triumph der feudalen und hierarchi-
schen Prinzipien über die Politik! Preußen sei seinem Berufe
nicht nachgekommen und habe Recht und Freiheit in Hessen
nicht geschützt. Mit der hessischen Verfassung war auch das
Staatsdienergesetz zertrümmert worden, und zu den Besiegten
gehórte auch die hessische Bürokratie, die berufsmáBige Trügerin
staatlichen Wesens. Zu Hassenpflug hátten nur die Ritterbürti-
gen und, in stattlicher Zahl, die geistlichen Herren gehalten.
Sie hätten nun in Hessen erreicht, was die Umstände in Preußen
bisher noch nicht zu realisieren erlaubten, was aber nun unver-
meidlich auch dort eintreten müsse: „Was die ‚Neue Preußische
Zeitung‘ so unendlich oft gepredigt: zu brechen sei der Stolz der
eigensinnigen, bürgerlichen und religionslosen Emporkömmlinge,
die vom grünen Tische her Volk und Adel, Königtum und Kirche
in ihr Schlepptau gerissen, — es scheint den hessischen Partei-
genossen auf das vollständigste gelungen." Wie vor Jahren
schon wies Sybel erneut auf das Beispiel des englischen Adels
hin, der sich mit gesetzlichem und öffentlichem, also mit poli-
tischem Geiste erfüllt und dadurch in der Macht erhalten habe.
In vollendetem Gegensatz dazu schien ihm wiederum die un-
endliche Borniertheit der deutschen Feudalen adeligen wie geist-
lichen Standes zu stehen, die sich dem politischen Geiste ab-
sichtlich verschlössen und sogar den Monarchen von ihm ab-
zögen, indem sie vorgäben, die Natur seines Amtes sei es, der
erste Edelmann und der oberste Bischof des Landes zu sein.
Mit der größten Verzweiflung mußte es Sybel erfüllen, daß
der König von Preußen offenkundig die hierarchisch-feudalen
Anschauungen begünstigte und im Gegensatz zu seinen Vor-
fahren kein Verständnis für die politische Aufgabe des
Königtums zeigte. Diese schmerzliche Feststellung enthielt,
durch Sperrdruck hervorgehoben, der Satz: „Wahrlich, ein
größeres Unheil kann Deutschland nicht treffen, als wenn
die Monarchie diese traurige Solidarität weiter auf sich lasten
láBt.'*. ! : | 7 ; | l
8*
116 Karl Buchheim: Heinrich von Sybel und der Staatsgedanke
Als Folge der endgültigen Verwirklichung des „christlich-
germanischen“ Prinzips und der Vernichtung des politischen
Geistes prophezeite Sybel eine vollständige sittliche Zersetzung,
die er im Schlußabschnitt seines letzten Leitaufsatzes des näheren
ausmalte. Den Gewinn werde schließlich einzig und allein der rote
Umsturz einheimsen: „Der Radikalismus wird sich des Schauspiels
freuen, wie konservative Politik gemacht wird, wenn Ehrgefühl,
National- und Rechtssinn im Volke zu Staub zerrieben sind !'*
Auf einige kurhessische Korrespondenzen, die Sybel zwischen
und vor allem auch nach den erwähnten Artikeln noch schrieb,
brauchen wir kaum einzugehen. Sie beschäftigen sich mit
Einzelheiten: Einige bekämpfen z. B. den von Hassenpflug nach
Marburg berufenen Staatsrechtslehrer Leopold Ilse, einen poli-
tisch. schwankenden Charakter, der Sybel persónlich wider-
wärtig war. Ein Kasseler Brief (Nr. 59, 2. Ausgabe vom 9. März
1851, Signatur (2) enthält eine Besprechung des Buches des
ehemaligen Redakteurs der Neuen Hessischen Zeitung, Dr.Pfaff:
„Das Trauerspiel in Kurhessen“ und rekapituliert einiges Prin-
zipielle, das Sybel früher gesagt hatte. Der letzte Beitrag ist
eine ganz kurze Marburger Korrespondenz (mit einem schiefen
Kreuz in der 2. Ausgabe der Nr. 203 vom 24. August 1851),
worin ein Gerücht dementiert wird, daß Sybel einen Ruf nach
Bonn erhalten habe. In der ersten Ausgabe derselben Nummer
hatte die Redaktion eine Erklärung an der Spitze des Blattes
eingerückt, daß sie ihre bisherige Opposition gegen die preußische
Machthaber einstellen wolle, weil sie sonst die Existenz der Zei-
tung aufs Spiel setze. An die auswärtigen Mitarbeiter erging
folgende Anweisung: „Wir ersuchen unsere Herren Korresponden-
ten in Preußen und in Deutschland, sich soviel wie möglich auf
genaue Angaben der Tatsachen zu beschränken und sich alles
Raisonnements, das mißliebig werden könnte, zu enthalten." Für
Sybel verlor damit die Tätigkeit für die Kölnische Zeitung ihren
Sinn, und es ist nur natürlich, wenn DuMonts Honorarbuch keine
weiteren Beiträge von ihm verzeichnet. Er hatte im Dezember 1850
dreißig Taler Honorar ausgezahlt bekommen; zu Neujahr 1852
schickte ihm der Verleger weitere zwanzig für die Korrespondenzen
des letztvergangenen Jahres. Sybel hatte sich unterdessen aus-
schließlich wissenschaftlicher Tätigkeit zugewandt, in erster Linie
bekanntlich den Quellenstudien über die französische Revolution.
— — —— — «LI m — — —
117
Bismarcks Friedenspolitik
und der Machtverfall Deutschlands.
Eine kritische Betrachtung
von
Richard Moeller.
Fortsetzung.)
Will Noack auf Fehler der Bismarckschen Außenpolitik,
also auf eine tragische Schuld, die noch dadurch verstärkt und
unausweichlicher wird, daß die Außenpolitik zuletzt durch die
terung des ganzen Bismarckischen Staates bedingt sein
soll, den deutschen Niedergang und Zusammenbruch zurück-
führen, so wird man, auch wenn man die Ergebnisse der Noack-
schen Betrachtungen und Konstruktionen für von Grund auf
verfehlt ansieht, doch aufs stärkste den tragischen Zug in der
Bismarckschen Außenpolitik betonen müssen!
Die beiden größten von ihm entworfenen außenpolitischen
Konzeptionen sind Bismarck mißlungen! Er hat, trotz jahre-
langer Bemühungen, die bis stark an die Grenze einer für Deutsch-
land noch ehrenvollen Politik gingen, es nicht erreicht, Frankreich
mit dem Zustande nach dem deutsch-französischen Kriege aus-
zusöhnen. Mit einer Großzügigkeit, der so leicht nichts in der
Weltgeschichte an die Seite zu stellen ist, hat er Frankreich auf
dem ganzen Erdenrund Entgegenkommen und Kompensationen
versprochen und verschafft, in der Hoffnung, daß es nun auf-
hören werde, auf seine Ostgrenze, auf die „verlorenen Provinzen‘
zu starren. Frankreich verdankt seine moderne koloniale
Stellung in Afrika, in Asien dieser Bismarckschen Politik der
Ablenkung; aber diese Politik ist restlos gescheitert!
Noch tragischer ist aber das Mißlingen der anderen Aktion,
die in die engsten Kreise der Bismarckschen Außenpolitik ein-
118 Richard Moeller
schneidet; das Mißlingen des Versuches, das freundschaftliche
oder nur auskömmlich-nachbarliche Verhältnis derbeiden anderen
kontinentalen Kaisermächte aufrechtzuerhalten! An dem eigenen
Bundesgenossen, der Kurzsichtigkeit und Hartköpfigkeit, der
Mischung von Fortwurstelei, mißtrauischem Nichtmitspielen-
wollen und trotzdem Überalldabeiseinwollen, an der Intriguen-
sucht althergebrachter österreichischer Staatskunst, die in
Kaiser Franz Joseph ohne Zweifel einen noch bei weitem starreren
Vertreter fand als in Kalnoky, ist Bismarcks Kontinentalpolitik
zuletzt gescheitert, besonders tragisch, da er den rechten Weg
sah und dem Bundesgenossen zu zeigen nicht ermüdete und doch
nicht die Kraft besaß, mit dem ganzen Register von der freund-
lichen Zurede über die beschwörende Warnung bis zum herben
Vorwurf und zum eisigen Wasserstrahl hin Eindruck auf die
Österreicher zu machen!
Irgendwie hat man in Wien immer gewußt, daß man am
längeren Hebel saß, daß Deutschland auch ein noch so verkehrt
auftretendes und handelndes Österreich nicht aufgeben, nicht
fallen lassen könne! Und Bismarck hat das auch selbst gewußt:
daß er Österreich als Großmacht nicht entbehren könne und
daß Österreich das wisse! Von Zeit zu Zeit zerrt er an diesen
Fesseln, denkt darüber nach, ob er sie nicht doch abwerfen,
Österreich seinem selbst heraufbeschworenen Schicksale über-
lassen solle. Waldersee, Noacks Kronzeuge für den gemein-
schaftlichen Krieg gegen Rußland, hat sich bis zu diesem Ge-
danken der Preisgabe Österreichs „durchgerungen“, Bismarck
hat ihn immer wieder verworfen — weil im selben Augenblick
Deutschland isoliert oder auf das hochmütig-tatarische Wohl-
wollen Rußlands angewiesen wäre. Bismarck läuft Österreich
nicht nach; dafür gibt es eine Grenze! Aber er sieht sich ge-
zwungen, auch der verkehrten Richtung Österreichs einen Rück-
halt zu geben, nicht durch Deutschland selbst, aber durch eine
andere Kombination, die wiederum er selbst schaffen muß.
Denn Österreich ist wie ein verzogenes Kind; es stürzt sich
eigensinnig in Gefahren, deren Größe es nicht einmal sieht,
ohne sich im geringsten zu sichern; es tut selbst nichts, sondern
verläßt sich in jeder Beziehung auf seinen mächtigen Beschützer!
Gewiß leidet Bismarcks Größe nicht im geringsten an diesen
Mißerfolgen! Er scheitert — wenn man das überhaupt sagen
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 119
darf; denn er ist ja nicht daran „gescheitert‘‘— an Verhältnissen,
die stärker sind als der stärkste einzelne; aber seine Größe wird
dadurch so tragisch, wie nur seine nächsten und vertrautesten
Mitarbeiter es empfunden haben, wie es aber in der geschicht-
lichen Betrachtung noch kaum zum Ausdruck gekommen ist!
Er wird deswegen noch kein Donquixote einer undurchführ-
baren Politik! Er begnügt sich, da er sieht, daß er das größte
nicht erreichen kann, mit dem möglichen, und leistet darin
vielleicht das Genialste. Er baut sein System von Aushilfen auf,
das im Jahre 1887 in dem Rückversicherungsvertrag auf der
einen, in der Bildung der „Orientgruppe“ auf der anderen Seite
gipfelt ! | Ä
In diesem „System von Aushilfen“ sieht Noack nichts al
die verhängnisvolle Folge der verkehrten Politik, die große Ab-
rechnung mit Rußland nicht zu wollen, Deutschland den Frieden
zu erhalten, der doch nicht erhalten bleiben konnte.
Und da er nun doch nicht einen Bismarck konstruieren kann,
der gänzlich blind gegen die Wirklichkeit ist, zeigt er dafür einen
Bismarck des Schwankens und Zickzackkurses!, einen Bismarck,
der von Zeit zu Zeit lichte Momente hat und dann auch einen
Anlauf nimmt, um aus dem Kreise, in den er sich selbst verstrickt
hat, herauszukommen, aber dann doch wieder zu sehr verblendet
ist, um den Weg zu finden, der so greifbar nahe vor ihm zu
liegen scheint.
Dadurch werten sich alle Werte um. Bismarck wird ein
schwankender Politiker, schwankend zwischen zwei in sich
geschlossenen Ideen, der russischen, die bewußt auf die russische
Durchdringung des Balkan und mittelbar auf die Zertrümmerung
Österreich-Ungarns ausging, und der englisch-österreichischen
der Niederhaltung RuBlands, allerdings mehr von England, vor
allem von Churchill, getragen, als von Kalnoky, der „gegenüber
Bismarck stets nur zuviel Nachgiebigkeit“ zeigte“. „Der Ge-
danke einer Entente zwischen England, Österreich und Italien
war im Grunde doch eine Idee Churchills®.‘‘ Bismarck aber —
man hóre und staune! — ,,vollzog in seinem Friedenssystem eine
Verbindung der Ideen Churchills, wie sie... in der Mittelmeer-
! Vgl. Noack SS. 249, 256, 282, 289, 347 etc. * Noack S. 277. ® Noack S.
2831. |
120 Richard Moeller
entente... zum Ausdruck kamen, mit den Ideen Schuwalows,
wenn man die Meerengenpläne RuBlands so bezeichnen will“.“
Eine kühne Umwertung aller Werte! Die europäischen
Kabinette und Staatsmänner seiner Zeit haben ohne Ausnahme
in dem deutschen Kanzler, der alle Marionetten Europas an
seiner Hand tanzen lieB, den Hexenmeister gesehen, der alles
tun, alles lassen kónne; ja, einer seiner vertrautesten Mitarbeiter
spricht einmal von einer „von einem Vater und zwei Söhnen
ausgeübten Weltherrschaft |5''
Jetzt erfahren wir erst von dem KompromiBler, der sich aus
fremden Ideen mühsam eine schwächliche, noch dazu in ihren Aus-
Wirkungen katastrophale „Friedenspolitik“ zusammenklaubte.
Da ist es denn kein Wunder, daß von diplomatischen Erfolgen
dieser Politik nicht die Rede sein kann, sondern daß sie von
Mißerfolg zu Mißerfolg schreitet und der eigenen Linie überdies
entbehrt, meist in Rußlands Fahrwasser segelt.
Ich habe stark hervorgehoben, daß die Außenpolitik Bismarcks
ihr höchstes Ziel, die Verständigung Rußlands und Österreichs
über den Balkan, nicht erreicht habe, weil der Bundesgenosse
sich versagte, und insofern tragisch geblieben ist. Immer wieder
rollte der Stein herunter, bevor er den Gipfel erreicht hatte.
Aus der Einsicht heraus, daß die Drei-Kaiser-Entente nicht
mehr erhalten bleiben kónne, auch nicht mehr auf dem Papier,
seitdem Kalnoky im November 1886 unter magyarischem Ein-
fluB in den Delegationen seine drohende Rede gegen RuBland
gehalten hatte, hat Bismarck nicht im Ziel, aber im Weg eine
Schwenkung vollzogen; der Sonderabschluß des Vertrages
zwischen Deutschland und Rußland sollte die gleiche Wirkung
haben, als ob die Drei-Kaiser-Entente noch bestünde®.
Auch diese Schwenkung ist also keine Veränderung der
Politik, sondern lediglich der Taktik.
Und so ist selbst der Abschluß des deutsch-österreichischen
Bündnisses im Jahre 1879 keine politische Schwenkung im Sinn
einer Abwendung von Rußland gewesen, sondern — abgesehen
von dem ausgesprochenen Zweck, Österreich gegen ein aggressives
* Noack 8.808. 5 Schweinitz II, S. 282.
* Vgl. Bericht Bismarcks an Kaiser Wilhelm I. v. 28. Juli 87, G. P. Bd. V,
S. 267.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 121
Rußland zu schützen und in seiner Großmachtstellung zu er-
halten — ein taktisches Mittel, um aus dem aggressiven Rußland
wiederum ein friedliches und zum Anschluß an die beiden anderen
Kaisermächte wieder geneigtes Rußland zu machen?! Wie die
nachbismarckische Politik daran gescheitert ist, daß sie die
Friedensliga, den Dreibund als ein isoliert zu handhabendes
Mittel deutscher Politik ansah, ist früher bereits betont worden.
Auch Noack hat den doppelseitigen Charakter des Zweibundes,
seine notwendige Ergänzung, sei es durch ein dreiseitiges Drei-
kaiserverhältnis, sei es durch ein deutsch-russisches Sonder-
verhältnis, gar nicht erkannt. Die Rückversicherung ist ihm
eine „innere Unmöglichkeit‘‘®. Gegen Rußland hätte es für ein
zielbewußtes Deutschland, wenn wir ihm glauben sollen, nur
eine Antwort gegeben: „Festigung des deutsch-österreichischen
Zweibundes und Ausbau des Dreibundes'.“
So sieht Noack Bismarck in den Fesseln des russischen Macht-
willens schon 1881, z.Zt. der Erneuerung des Drei-Kaiser-
Verhältnisses.
Er sieht in diesem Dreikaiserverhältnis einen außerordentlich
geschickten Schachzug Rußlands, um Österreich auf dem Balkan
lahmzulegen. Da man Deutschland nicht von Österreich trennen
konnte, „gedachte man die ganze Kombination zur Festigung
der russischen Stellung auf dem Balkan zu benutzen, indem man
durch Deutschland der österreichischen Politik eine antienglische
Stellungnahme aufzwingen wollte, wodurch es von Englands
Orientpolitik getrennt und in seinen Balkanbestrebungen isoliert
werden konnte. Konnte man Österreich nicht mit Hilfe Deutsch-
lands vernichten, so wollte man es wenigstens durch die Freund-
schaft mit Deutschland lahmlegen!?.''
Es ist wirklich schwer, sich vorzustellen, daß die Tatsachen
noch mehr auf den Kopf gestellt werden könnten!
Die Wiederannäherung Rußlands an Deutschland und Öster-
reich ist der stärkste Erfolg des deutsch-österreichischen Bünd-
nisses, ein Erfolg, auf den Bismarck außerordentlich stolz
gewesen ist. Saburow, der russische Botschafter in Berlin, ist
in den Verhandlungen, die zur Wiederherstellung der Drei-
Von Noack S. 105 richtig erkannt, nur ohne die richtigen Folgerungen daraus.
* Noack S. 290ff. ® Noack S. 297. 1* Noack S. 108.
P4
122 Richard Moeller
kaiserentente führten, kaum etwas anderes wie Bismarcks
„Organ“ Ii gewesen, und Bismarck hatte völlig Recht, die von
ihm angeregten und von Saburow aufgenommenen Verhandlungen
mit Petersburg als „meine diplomatische Kampagne“ : zu be-
zeichnen!
Die Konstruktion Noacks, daß Rußland auf diesem Wege
Österreich von der englischen Orient politik lösen und so auf
dem Balkan isolieren wollte, paßt zu der tatsächlichen Lage
des Herbstes und Winters 1880 überhaupt wie die Faust aufs
Auge. Noack, der ein ganzes Kapitel!“ dazu benutzt, um Eng-
lands heißes Liebeswerben aus dem Jahre 1879 um ein Bündnis
mit Deutschland gegen Rußland darzustellen, berührt den inner-
politischen Umschwung durch die Frühjahrswahlen von 1880 und
die durch sie völlig veränderte außenpolitische Situation Englands
mit keinem Wort. Alles, was nicht in seine Konstruktion paßt,
läßt er unter den Tisch fallen oder trägt es — was fast noch
bedenklicher erscheinen muß — nachträglich!“ und ohne Zu-
sammenhang mit seinen Konstruktionen nach — eine Methode,
die an wichtigsten Stellen immer wieder angewandt wird und
doch fast schon an Quellenverfülschung grenzt! Unter dem
Gladstoneschen Regime ist nun bekanntlich eine auBerordentlich
starke Verstimmung zwischen Österreich und England ein-
getreten, so daß es nicht mehr nötig war, England und Österreich
voneinander zu trennen; geht doch Gladstone vorübergehend
darauf aus, seinerseits mit RuBland zu einer einseitigen Lósung
der türkisch-orientalischen Frage ohne und vielleicht sogar
gegen Österreich sich zu verstündigen!5]
Die Noacksche Konstruktion eines durch die Erneuerung
des Dreikaiserverháltnisses zugunsten Rußlands gefesselten
Österreich ist somit total verkehrt — im Gegenteil: die Wieder-
gewinnung RuBlands für die Mittelmächte bedeutet nicht nur
ein Aufhóren der russischen Bedrohung Österreichs, sondern
auch den Verzicht Rußlands darauf, ohne und gegen Österreich
11 Vgl. G. P. Bd. III, S. 162. !* Vgl. G. P. Bd. III. S. 162.
18 Noack S.80ff. Vgl. jetzt auch Horst Michael, Bismarck, England und Europa,
S. 406ff, wo eine scharfe Ablehnung der Nockschen Theorien erfolgt; ich konnte
dio Darstellung Michaels im übrigen nicht mehr benutzen.
M In diesem Fall S. 112ff.
18 Vgl. Instruktion v. 7. XI. 1880, G. P. Bd. IV, S. 18.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 123
im Einvernehmen mit England die Orientpolitik zu betreiben.
Nicht England und Österreich, sondern England und Rußland
sind durch die Erneuerung der Dreikaiserentente voneinander
gelöst worden!
Gab die Wiederannäherung RuBlands an die Zentralmächte,
der Vertrag, der jede Veränderung im status quo der europäischen
Türkei vor der Übereinstimmung der drei „Höfe“ abhängig
machte, der Österreich seine Stellung in Bosnien und der Herze-
gowina sowie im Sandschak sicherte und als Zugeständnis für
Rußland nur die Vereinigung von Bulgarien und Rumälien,
„si cette question venait à surgir par la force des choses“ !“,
vorsah, dem Bündnisabschluß von 1879 die stärkste Auswirkung,
so sieht freilich Noack in dieser Erneuerung keineswegs einen
Gewinn für Österreich. „Für Österreich war es kein Gewinn,
wenn Rußland versprach, daB keine Veränderung auf dem
Balkan ohne Zustimmung Österreichs sich vollziehen dürfe.
Wichtiger als das Recht, hierbei mitzureden, was sich bei Öster-
reichs Machtstellung von selbst verstand, wäre es für Österreich
gewesen, eine Sicherheit dafür zu bekommen, daB bei solchen
Veränderungen Rußland nicht oder doch möglichst wenig mit-
zureden hätte!?.‘
Noack macht sich die antirussische Politik Andrassys zu
eigen!®, die doch aber darin bestand, die Stellung der Türkei
möglichst zu erhalten. Ist nicht aber der Vertrag, der jede
Veränderung des status quo an die Zustimmung der beiden
deutschen Mächte bindet, gleichbedeutend mit der Möglichkeit,
den Zeitpunkt möglichst weit hinauszuschieben, an dem die
türkische Erbschaft liquidiert werden sollte? Bismarck hat sich
Andrassys Orientpolitik niemals zu eigen gemacht. Ihm liegt
die Lösung näher, die Gegensätze der großen europäischen
Mächte auf Kosten der Türkei und auch auf Kosten der Selb-
ständigkeit der kleinen schon befreiten Balkanvölker zum
Ausgleich — freilich nicht unter Aufhebung der Rivalität —
zu bringen.
Und so ist ihm der Gedanke, Rußlands Einfluß aus der
Balkansphäre gänzlich zurückzudrängen, allerdings niemals
Fekommen: In Wirklichkeit ist ja auch die Konstruktion der
* Die Verträge i in G. P. Bd. III, S. 176fl. 17 Noack S. 112. 18 Noack 8. 110.
124 Richard Moeller
österreichischen Monarchie, die die Mission übernimmt, bis
ans Ägäische Meer heran, vielleicht bis Konstantinopel, ihr
Reich vorzuschieben und alle Südslawen in sich zu vereinigen,
eine reine historische Selbstbefriedigung. In der Tat hat auch
die ausschweifendste österreichische Phantasie sich solche Bilder
nicht zurechtgemacht. Wie hätten sie auch verwirklicht werden
sollen, da Österreich doch schwerlich einen Genossen zu diesem
Ziel hin hätte finden können? Noack stellt die Dinge stets so
dar, als habe der Balkan, die Südslawen, die Türkei, aber auch
Europa sehnsüchtig auf den Augenblick gewartet, an dem die
Südslawen in die habsburgische Monarchie einverleibt werden
konnten; und auch die Magyaren hätten ihren Herrschafts-
anspruch über Kroatien aufgegeben, „sobald der westliche
Balkan österreichisch geworden... Rußland in eine ungefährliche
Ferne gerückt war“ und „Ungarn dann in einem Freihafen in
Saloniki... eine hinreichende Kompensation für ein etwaiges
Aufhören der unmittelbaren Zugehörigkeit Kroatiens zur
Stephanskrone''!? fand.
Andrassy, der imperalistischste und russenfeindlichste unter
den Staatsmännern der Donaumonarchie, traute ihr doch nicht
einmal die Kräfte zu, um die Annexion Bosniens und der Herze-
gowina schon vollziehen zu können, für die es ein europäisches
und ein russisches Plazet gab — ein Versäumnis, das sich ein
Menschenalter später bitter gerächt hat. Wie sollte Österreich-
Ungarn die Kraft haben, gegen jedermann den ganzen Westen
der Balkanhalbinsel bis Saloniki hin sich zu assimilieren?®?
Es paßt Noack in sein System, sich vorzustellen, als würden
die Südslawen selbst diese staatsrechtlichen Veränderungen in
einer Art von Betäubungszustand haben über sich ergehen lassen.
Er übersieht völlig, wie in einer solchen, gegen Rußland durch-
geführten ,,Befreiungs-", richtiger Annexionspolitik Rußland
alle Mittel, Österreich das Leben zu erschweren, in seiner Hand
gehabt hätte, wie es gleichmäßig nationale und religiöse Energien
in allen Balkanländern gegen Österreich hätte mobilmachen
können!
1* Noack S. 110.
3? Also auch gegen England, wo Gladstone gerade damals die Befreiung der
kleinen christlichen Balkanvölker gegen den österreichischen Balkanimperialismus
forderte? Vgl. Noack S. 118ff.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 125
So ist denn auch der Plan, Rußland aus dem Balkan zurück-
zutreiben und ein großes habsburgisches Balkanreich zu be-
gründen, nichts als eine harmlose nachträgliche Geschichts-
klitterung, der Haymerle, Kalnoky, Andrassy und der Kaiser
Franz Joseph ebenso fern stehen wie sonst jemand!
Für Bismarck, der mit Gegebenheiten rechnete, mußte es
darauf ankommen, den wiedergeschlossenen Bund der drei
Kaisermächte auch in Zukunft zu erhalten und, mit einer ge-
wissen Erhaltung der Rivalität, doch einen Ausgleich der russischen
und österreichischen Balkaninteressen zustandezubringen; aus
diesem Bedürfnis der deutschen Politik heraus erklärt sich die
jahrelang fortgesetzte und immer wieder BUgenommene „Demar-
kationspolitik Bismarcks
Es ist selbst verständlich, daß Noack in der Demarkations-
politik, dem Versuch Bismarcks, Bulgarien der russischen,
Serbien der österreichischen Interessensphäre zuzuweisen, eine
Art von fixer Idee sieht, deren Gelingen unweigerlich zum Unheil
für Österreich-Ungarn und Deutschland hätte ausschlagen
müssen. Er ist entsetzt über Haymerle, den,, unseligen“ Haymerle,
der unter dem Druck Bismarcks sogar zugegeben hatte, daß
Rußland freie Hand im Nordosten der Halbinsel haben solle
und „auf eine allmähliche Durchdringung der ganzen Halbinsel
mit österreichischem Einfluß und Übergewicht ohnedies ver-
zichtet hatte?!'',
Wäre er nicht ein „sterbender Greis“ gewesen, „er würde
dem Fürsten Bismarck eher den Zweibundsvertrag vor die
FüBe geworfen haben, als gegen Pflicht und besseres Wissen
seine Zustimmung zu einer ganz ephemeren Scheinverstándigung
zu geben!“. Unsinn vom Anfang bis zum Ende. Weder war
Haymerle ein sterbender Greis, noch das Zugestündnis, daß
Österreich über die Okkupation des Sandschak nicht hinaus-
gehen werde, irgendwie bedenklich für Österreich, das sich doch
sogar unter Andrassy dem Sultan gegenüber verpflichtet hatte,
die Okkupation Bosniens nicht in eine Annexion umzuwandeln.
So fällt aber Noacks ganzer Zorn auf diesen unseligen öster-
reichischen Staatsmann und auf den Abschluß des Vertrages
von 1881, „bei dem man in aller Eile dem Zaren Geschenke
31 Noack S. 125f. 33 Noack S. 128.
126 | Richard Moeller
darbrachte in der Form von Zusagen und Verzichten, als gelte
es noch rasch vor Toresschluß seine Gnade sich zu sichern“.
Nicht Haymerle war unselig, daß er den von seinem Nach-
folger Kalnoky 1884 erneuerten Vertrag schloß, sondern Öster-
reich war es, daß es in maßloser Überschätzung seiner Kräfte
und Möglichkeiten von sich abwies, die Demarkationsvorschläge
Bismarcks anzunehmen.
Es ist selbstverständlich, daß Noack dieser Politik Österreichs
von Herzen seine Zustimmung gibt. Der einzige Vorwurf, den
er ihr macht, ist der, daß sie sich nicht rücksichtslos genug gegen
Bismarck habe durchsetzen können, daß auch Kalnoky viel zu
oft und zu sehr nachgegeben habe.
Das Gegenteil ist richtig! Hätte Österreich, statt eine ziellose
Politik des Sichüberalleinmischens zu treiben, sich entschlossen
darauf beschränkt, seinen Einfluß in Serbien auszudehnen —
was nur in Übereinstimmung mit Rußland geschehen konnte —
dann hätte es wirklich die Möglichkeit gehabt, durch einen
Umbau seines Reiches im föderativen Sinn das ganze Südslawen-
tum an sich heranzuziehen — während Bulgarien doch niemals
russische Provinz hätte werden können!“.
Der ósterreichischen Politik fehlte es sowohl an dem richtigen
Ergreifen des Augenblickes und des Möglichen (Annexion
Bosniens und der Herzegowina, Sicherung der Einflußsphäre
in Serbien durch Ausgleich mit RuBland) als auch an dem
ruhigen Abwarten der sich weiter etwa anbahnenden Ent-
wicklung im Schicksal der Türkei. Ángstliches MiBtrauen und
überhebliches Vordrángen geben die widerwärtigste Mischung,
die im 19. Jahrhundert in der Politik einer groBen Macht über-
haupt zu finden ist. Qui trop embrasse, mal étreint!
Und dabei lag die Situation gerade in den Jahren des Ab-
schlusses der Dreikaiserentente für Österreich außerordentlich
günstig. 1882 hat Bismarck das Bündnis mit Italien zustande-
gebracht, fast möchte man sagen, gegen Österreich selbst, dessen
fahrige Kreuz- und Quersprünge dabei die absonderlichsten
23 Noack S. 130. Bismarcks Urteil über den Vertrag s. G. P. Bd. III, S. 173ff.
. ^ Friedjung, Zeitalter des Imperialismus, Bd. I, S. 106, verteidigt die Politik
Kalnokys gegen Bismarck. Bismarck habe die orientalischen Dinge nicht so über-
sehen können wie ein in österreichischer Tradition aufgewachsener Staatsmann —
eine Auffassung, die durch den Ausgang des Weltkrieges entwurzelt sein dürfte!
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 127
Verzögerungen und Veränderungen hervorgerufen haben“. Wenn
auch in der von Österreich besorgten Formulierung des Bünd-
nisses“ der eigentliche Zweck, den Bismarck ihm geben wollte,
nämlich Rückenfreiheit Österreichs gegen Italien bei einem
russischen Angriff, nicht gedeckt ist — eine diplomatische Un-
zulänglichkeit, von der Bismarck es richtig fand, sich im ganzen
abzuschwören?? — so ist praktisch durch das Bündnis die öster-
reichische Rückenfreiheit doch eingetreten.
Auf der andern Seite ist der russische Minister Giers — sein
Ministerium ist der größte Erfolg der Abkühlungspolitik Bis-
marcks — Anhänger einer vorsichtigen und abwartenden Politik,
die es nicht liebt, „schlafende Hunde zu wecken“.
Bismarck möchte über das Bestehende hinauskommen. Der
Vertrag von 1881 hat nicht eigentlich viel Leben gehabt — man
müßte darüber hinauskommen, wirklich in einer Frage zum
Ausgleich kommen — und so bedient sich Bismarck wieder des
ehrgeizigen Saburow, um die Demarkation auf dem Balkan
anzuregen oder wenigstens vorsichtig darüber zu sondieren.
Aber Kalnoky lehnte solche „halsbrecherischen Pläne“ » mit
Entsetzen ab.
Bismarck läßt jedoch nicht ab, um die Seele des Bundes-
genossen zu werben. In Gastein, wo er gerade mit Bratianu, dem
führenden Staatsmann Rumäniens, über die Einbeziehung
Rumäniens in die deutsche Friedensliga mit Erfolg verhandelt,
entwirft er zugleich das große Programm einer künftigen deutsch-
österreichischen Orientpolitik. Dieser Brief vom 8. September
1883 gehört zu den großartigsten politischen Räsonnements,
die Bismarck jemals entwickelt hat““
Er wirbt um den Bundesgenossen, wie er einst, im Herbst 1879,
vor Abschluß des Bündnisses mit Österreich, um die Seele seines
3$ Die Darstellung Pribrams, Die politischen Geheimverträge Üsterreich-Ungarns,
Bd. I, S. 128ff ist vielfach schief und unzutreffend. Ich behalte mir vor, darauf zurück-
zukommen.
* Noack S. 135 gibt den Inhalt des Bündnisses als „gegenseitige Hülfe im
Falle eines Angriffes von seiten einer vierten Macht“ vollkommen verkehrt wieder,
eine Schludrigkeit, die man eigentlich nicht erwarten sollte!
* Vgl. G. P. Bd. III, S. 247.
39 Vgl. Bericht Schweinitz v. 30. III. 83, 6. P. Bd. III, n 288.
?* Bericht Reuss v. 29. IV. 88, G. P. Bd. III, S. 289.
G. P. Bd. III, S. 294f.
128 Richard Moeller
Königs geworben hat. Er entwirft das großartige Muster einer
österreichischen Politik im nahen Orient, und es wird zugleich
wieder, wie einst das „Kissinger Diktat“, zu einem Tableau der
europäischen Politik und des europäischen Gleichgewichtes.
Saburows Gedanken einer endgültigen Lösung der türkischen
Frage dienen ihm als Grundlage; es sind ja seine eigenen Ge-
danken! Gewiß, sie mögen noch unzeitgemäß sein, abgesehen
davon, daß der russische Außenminister, jeder Bewegung abhold,
sie nicht deckt. Tauchen aber in der europäischen Politik nicht
noch ganz andere, noch unzeitgemäßere Gedanken auf, die eines
Tages nach Verwirklichung drängen und diese Verwirklichung
auch finden? Es ist Bismarcks Überzeugung, daß eines Tages,
er mag früher oder später liegen, die orientalische Frage gelöst
werden muß! Die Erhaltung der europäischen Türkei in ihrem
gegenwärtigen Umfang ist ja nichts als die Folge der europäischen
Verlogenheit und Feigheit, des,, Fortwurstelns"', das den ,,Fragen''
lieber aus dem Wege geht, statt sie zu lósen, das lieber hundert
kleine Verlegenheiten statt einer groBen Notwendigkeit in Kauf
nimmt. So sieht die Bismarcksche Realpolitik nicht aus. Im
luftleeren Raum der Ideen arbeitet sie freilich nicht. Aber das
Brausen der aufgestörten Balkanvölker, der innere und äußere
Verfall der Türkei, der russische Nationalwille, der zu den Meer-
engen hindrängt und dem sich auch ein vorsichtiger Außen-
minister auf die Dauer nicht wird verschlieBen kónnen: das sind
ja Tatsachen!
Unreife Früchte vom Baume zu brechen wäre nicht Bis-
marcksche Art. Solange der Bundesgenosse widerstrebt, läßt
sich der gordische Knoten der orientalischen Frage nicht zer-
hauen — aber hat er nicht selbst ein Interesse? Ist er nicht selbst
lüstern, seine Großmachtstellung auszubauen? Und muß er
nicht einsehen, daß dies nicht im Kampf gegen Rußland, sondern
nur im Zusammenwirken mit Rußland möglich ist?
Von diesen Grundlagen aus entwickelt Bismarck eine „mög-
liche" ósterreichische Balkanpolitik. Die letzten Ziele dürfen
allerdings nur angedeutet, nicht klar ausgesprochen werden.
Kalnoky darf nicht glauben, daß Bismarck die russische statt
der Österreichischen Karte spielen wolle; sonst wird sein ewig
waches MiBtrauen alles verderben. Deshalb muß der Ausgangs-
punkt auch die ósterreichische Stellungnahme sein.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 129
Österreich will die Dreikaiserentente verlängern. Bismarck
auch! Das gute Verhältnis der drei Kaiserhöfe mäßigt die
unberechenbaren Kräfte und Spannungen Rußlands am sichersten.
Aber diese Kräfte und Spannungen sind vorhanden; sie können
eines Tages ausbrechen — und was wäre dann die Aufgabe der
befreundeten und verbündeten deutschen Mächte?
Wenn auch über die Berechtigung der russischen Bestrebungen
nichts zu sagen ist — ein Politiker kann kein Richter sein, am
wenigsten über fremde Völker zu Gericht sitzen — so sind sie
doch da! Sollte es nicht das richtigste sein, ihnen freie Fahrt zu
lassen? Sollten Deutschland und Österreich oder auch einer von
beiden berufen sein, diesen Stoß aufzufangen und dadurch den
ganzen russischen Haß auf sich zu ziehen? Sind nicht andere
Mächte vorhanden, die ein näheres und dringenderes Interesse
daran haben, die russischen Bäume nicht in den Himmel wachsen
zu lassen ?
Freilich würde es diesen, Rumänien, der Pforte, England sehr
recht sein, wenn wir ihre Geschäfte besorgten, ihre Kriege
führten! Sie würden sich gern von uns die Kastanien aus dem
Feuer holen lassen — aber ist das unser Interesse? Rußlands
Vordringen auf oder bis Konstantinopel hin ist für Rumänien
und die Pforte, aber nicht minder für England noch bedenklicher
als für die ósterreichisch-ungarischen Interessen! Wenn wir nur
abwarten, werden sie den Widerstand aufnehmen müssen und
unserer Hilfe bedürftig werden — wie wir der ihren, aber un-
gewissen, wenn wir der Katze die Schelle umgehängt haben!
Es ist schon die zweite Stufe einer echtbismarckschen
„Klimax“, der wir hier begegnen, während die unveränderte
Erneuerung der Dreikaiserentente und die Bewahrung des
status quo die erste Stufe darstellt. Will Rußland einseitig den
status quo verändern, so bricht es seinerseits den Frieden und
muß zurückgedrückt werden — aber nicht von seinen bisherigen
Freunden. Andere Mächte sind dazu berufen. Ihnen gebührt
die Vorderhand im Spiele! Behalten Deutschland und Österreich
ihren klaren Kopf, lassen sie sich nicht nervös machen und aus
der Hinterhand herausmanóvrieren — wozu Österreichs Neigung,
den Polizisten Europas in der Beaufsichtigung Rußlands zu
Spielen, bedenklich tendiert — dann haben sie das Spiel in der
Hand und können sich immer noch für oder gegen, für Rußland
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. i. 9
130 Richard Moeller
oder für England, entscheiden, mit ganz anderem politischen
und strategischem Gewicht. Denn wenn Rußland durch Bulgarien
vorwärtsgegangen ist, liegt es unter der Flankierung der sieben-
bürgischen Position, in die es gar nicht hineingeht, wenn Öster-
reich schon den ersten Stoß pariert.
Aber eben diese strategische Lage läßt sich nicht nur im
Kriege, sie läßt sich auch politisch im Frieden verwerten. Die
dritte Stufe der Klimax erscheint! Zwar ist es möglich, russische
VorstóBe auf den Bosporus und Konstantinopel durch das
natürliche englische Gegengewicht unmöglich zu machen —
wenn man nur England den Vortritt läßt; denn England kann
nicht — trotz Gladstone — Konstantinopel und die Meerengen
in russischen Händen dulden; es kann die Russen aus dieser
Stellung weder vertreiben noch sich ein Äquivalent dafür
sichern. Auch die dauernde Besetzung Ägyptens würde — das
hat Salisbury seinerzeit Bismarck gegenüber ausgesprochen —
kein Äquivalent für die russische Beherrschung Konstantinopels
und der Meerengen sein.
Bedeutet die russische Meerengenstellung aber auch für
Österreich-Ungarn eine Lebensgefahr? In der vorgeschobenen
Position würde Rußland dem Druck Österreich-Ungarns ganz
anders ausgesetzt sein wie ohne sie und würde zu Kompensationen
geneigt sein, die es für Österreich geben könnte, um so mehr,
wenn es sich nicht Österreich allein, sondern Österreich im
dauernden Bunde mit Deutschland gegenübersieht!
Rußland und Österreich können sich auf dem Balkan ver-
ständigen; und diese Verständigung wird um so mehr zu Öster-
reichs Vorteil ausfallen, je mehr Rußland eine vorgeschobene
Stellung einnimmt und je ruhiger Österreich dabei bleibt!
Deutschland würde aber, ohne selbst territoriale Bedürfnisse
und Begehrlichkeiten zu haben, jeder Art von Verständigung
Österreichs und Rußlands als wohlwollender Nachbar beiwohnen
und zustimmen können!
Geht diese Verständigung und Generalbereinigung der
orientalischen Frage ohne Verschwörung gegen den Sultan vor
sich — es wäre ja möglich, daß er freiwillig dem Zaren eine die
Meerengen beherrschende feste Stellung einräumt — um so
besser! Ist sie nur möglich ohne Rücksischt auf die Türkei —
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 131
nun, so wäre die Verständigung der drei Kaisermächte immer
noch nützlicher als irgendeine andere Lösung der Situation.
Kann sich aber Österreich zu einer solchen Verständigung
mit Rußland (dritte Stufe der Klimax) nicht entschließen, so
darf es wenigstens nicht Rußland als erster in den Arm fallen
und muß anderen Mächten den ersten Widerstand überlassen!
Soweit der Inhalt des Schreibens. Auch Noack hat sich mit
diesem Brief „von fundamentaler Bedeutung“ 1 eingehend be-
schäftigt, aber er kommt zum Schluß, es sei in ihm, in der Uber-
bewertung der englischen Orientinteressen, ein fundamentaler
Rechenfehler und verhängnisvoller Irrtum enthalten, abgesehen
von anderen inneren Widersprüchen“, und seine Ratschläge an
Osterreich seien „im Grunde weder eindeutig, noch durch-
sichtig“ “.
Lauter völlig schiefe Fehlurteile!
Noack druckt zwar wie immer erhebliche Stücke des Schreibens
wörtlich ab, aber seinen Aufbau, seine klimaxartige Gliederung
zu erkennen, hat er vielleicht gerade deshalb nicht einmal
versucht. Er stellt „die bestechende Logik dieser Gedanken-
gänge“ auf eine Ebene und will ihren fundamentalen Rechen-
fehler dann sogar darin sehen, daß Englands Orientinteressen
überbewertet seien; denn England habe an der Erhaltung der
türkischen Herrschaft und selbst an Konstantinopel seit Anfang
der 70er Jahre gar nicht mehr das alte traditionelle Interesse
gehabt“.
Das ist ohne Zweifel weit übertrieben% — aber selbst wenn
man es als wahr unterstellte — wie sollte dadurch die Bismarcksche
Politik in einen „verhängnisvollen“ Irrtum verstrickt werden?
Fiel England als das Gegengewicht gegen Rußland aus — was
bekanntlich nicht der Fall war, nicht einmal zur Zeit Gladstones—
um go mehr erhält dann ja die dritte Stufe der Bismarckschen
Vorschläge ihre Bedeutung, Österreich solle Rußland die Meer-
engenstellung einräumen und sich seine Kompensation dafür
sichern — denn allein, ohne England, konnte es den Vorstoß
Rußlands auf Konstantinopel nur unter schwerstem Risiko
aufhalten!
21 Noack S. 147. ** Noack S.148. * Noack S. 150. “ Noack S. 149.
*5 Vgl. auch Noack S. 281.
132 Richard Moeller
Wie kann man aber zur wirklichen Kenntnis und zum Ver-
ständnis der Bismarckschen Politik gelangen, wenn man gar nicht
den Versuch macht, in seine Gedankengänge einzudringen ?
Es war die große Stunde Österreichs! Hätte Kalnoky sich
bis zur Höhe Bismarcks erheben können, so konnte sich Österreich-
Ungarn, von Rußland unangefochten, des deutschen Rückhaltes
sicher, auf dem Balkan seine Großmachtstellung schaffen“; und
es konnte sie innerlich durch die Durchführung des Trialismus
verstärken — ja, es konnte dann ruhig abwarten, ob die kleineren
Nachbarn, Bulgarien, Rumänien und Griechenland, ihre natür-
liche Anlehnung auf die Dauer nicht eher bei Österreich als bei
Rußland suchen mußten und gesucht hätten!
Es ist Österreichs Tragik, daß seine Leitung zu solchen
Konzeptionen weder fähig noch willens war; daß sie sich zu
schwach fühlte, um, auch im Bunde mit Deutschland und im
Ausgleich mit Rußland, sich weiter auf das Gebiet des Balkan
zu wagen — aber stark genug, um Rußland aus dem Balkan zu
verdrängen und so gewissermaßen hintenherum doch noch die
Hegemonie auf der Halbinsel zu gewinnen. An dieser Über-
spannung seiner Kräfte ist Österreich-Ungarn zugrunde ge-
gangen, nicht daran, daß es im Zeitalter des Nationalstaates
ein überlebtes Gebilde war — und weil das nachbismarckische
Deutschland diese Überspannung deckte, ist auch das Bis-
marcksche Reich zerbrochen.
Übrigens hat Kalnoky trotz der angeblichen Unklarheit der
Bismarckschen Vorschläge sie in ihrer siclı steigernden Gestuftheit
durchaus richtig erkannt. Aber ihm ist es — es wird fort-
gewurstelt — das bequemste und sicherste, bei der ersten Stufe,
der einfachen Verlängerung des bisherigen Verhältnisses, stehen
zu bleiben; ja, eigentlich geht ihm schon das zu weit, und er
spielt nicht ungeschickt den gelegentlichen Bismarckschen
Gedanken, auch die Türkei in die Friedensliga einzubeziehen,
gegen Bismarck aus? Nur insoweit geht er auch auf die zweite
Stufe der Bismarckschen Klimax ein, als auch er nicht der Katze
die Schelle umhängen, sondern lieber etwaigen russischen Aus-
brüchen freie Fahrt lassen will, bis sie auf andere Widerstände
3* Vgl. G. u. E. II. S.291, wo die Möglichkeiten Österreichs breit ausgeführt sind.
7 Bericht Reuss v. 12. Sept. 83, G. P. Bd. III, S. 298.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 133
stoßen. Hier kommt die allgemeine Österreichische Lethargie,
mehr noch die des Kaisers als die des Ministers, den Bismarck-
schen Vorschlägen weit entgegen — eine Handlungsweise, die
Noack von seinem ,,Plan'' aus Kalnoky als Schlappheit gegenüber
Bismarck und Untreue an der österreichischen „Mission“ scharf
anrechnet. „Es war eine Halbheit'', meint er, ‚daß man Serbien
durch südöstliche Vergrößerungen von Bosnien und Kroatien
glaubte ablenken zu können, statt danach zu streben, selber das
ganze mazedonische Gebiet in die eigene Hand zu bekommen®®.‘‘
Der Bundesgenosse ist für die große Politik nicht zu gewinnen!
Es ist nicht Bismarcksche Art, gegen die Wand anrennen zu
wollen; er begnügt sich mit der ersten und der zweiten Stufe
der Klimax, wenn das höchste Ziel nicht erreichbar erscheint;
auch hat er seine Ideen so vorsichtig, fast möchte man sagen,
so akademisch formuliert, sie nur als Möglichkeiten durch-
scheinen lassen, als Grundlagen unverbindliche Vorschläge
Saburows, von denen man kaum weiß, ob sie mehr als Privat-
meinungen sind, gewählt, so daß er den diplomatischen Rückzug,
wenn man es überhaupt Rückzug nennen will, ohne jede Schwie-
rigkeit antreten kann?“. Auch er will sich mit der einfachen
Verlängerung der bisherigen Entente begnügen, die Dinge weiter
laufen lassen, wie sie in den letzten Jahren gelaufen sind — weiß
er doch auch, daB weder Alexander III. noch Giers schlafende
Hunde wecken wollen, daß das Ruhebedürfnis des amtlichen
Rußland und des amtlichen Österreich stärker als alles andere
ein plótzliches jähes Aufflammen der Gegensätze verhindern
wird. Freilich weiß er aber auch, daß es nur eine Entente auf
dem Papier bleiben wird, ein durch Paragraphen kaum ge-
mildertes gegenseitiges MiBtrauen Rußlands und Österreichs
gegeneinander, Spannungen und Friktionen an der diplomatischen
Außenfront — denn die politische Aktivität pflegt in Rußland
und in Österreich mit dem Quadrat der Entfernung von der
Zentrale zuzunehmen — und zwischen beiden Mächten Deutsch-
land mit der Aufgabe, beide an der Stange zu halten. Es mag
glücken, solange weder auf russischer noch auf österreichischer
Seite der Wille zur Entscheidung sich zusammenballt, solange
** Noack S. 153. l
® Bismarck an Reuss v. 15. IX. 83, G. P. Bd. III, S. 299f.
134 Richard Moeller
Kalnoky und Franz Joseph auf der einen, Giers und Alexander III.
auf der anderen Seite den maBgebenden EinfluB haben — und
wie er ihnen, den Monarchen, gegenüber das monarchische
Interesse als eigentlichen Grund, Ziel und Wert des Zusammen-
schlusses hervorhebt, das haben wir früher schon verfolgen
kónnen, gegen das MiBverstehen Noacks auch hier.
„Bismarcksche“ Politik ist dies Sichbescheiden freilich nicht,
wenn wir nämlich unter Bismarckscher Politik das Streben zum
Hóchsten begreifen wollen; aber es ist klar, daB es ebensowenig
in der Bismarckschen Politik liegt, das Unmögliche möglich
machen zu wollen.
Ich nannte dies Versagen des Bundesgenossen, die Un-
möglichkeit, ihn für das Höchsterrungene und zuletzt auch
Notwendige zu gewinnen, das tragische Moment in Bismarcks
Außenpolitik! Hätte Noack einen Sinn dafür gehabt, so würde
er nicht in die Mißdeutung dieser Politik, als von „verhängnis-
vollen Irrtümern“, „fundamentalen Rechenfehlern“ und „über-
lebter Staatskunst“ bestimmt, verfallen sein — er hätte dann
gerade im Unausweichlichen das Wesen des Tragischen gefunden,
und zugleich in der Kunst, die Aushilfen zu finden, das tiefst-
geniale der Bismarckschen Außenpolitik, nicht aber , Quadratur
des Zirkels“, „innere Unmöglichkeit“, nicht „Doppelspiel“ und
„Macchiavellismus der Friedenserhaltung“, nicht,, Kleistern und
Flicken". Er hätte sich nicht bis zu dem Satz versteigen können:
„Diesem Streben, das Reich zu erhalten und zu festigen, wohnte
keine gestaltende Kraft inne, welche die politischen Gefahren
jenseits der Reichsgrenzen wirklich bannte, indem sie sie be-
meisterte und gerade aus ihnen Kräfte schópfte zu neuen Ge-
staltungen politischen Lebens“.“
Noch jahrelang hat Bismarck es nicht aufgegeben, den Ge-
danken des Ausgleichs, der Demarkation dem Bundesgenossen
wieder und wieder nahezubringen.
Es ist natürlich, daB Noack diese Politik nicht nur für ver-
lorene Liebesmüh, sondern auch voll und ganz Kalnokys Stand-
punkt, keine Demarkation zu wollen, für den einzig richtigen
und möglichen hält“ 1. Und doch war Kalnokys Politik, über jede
Betätigung des russischen Einflusses in Serbien als über eine
Noack S. 167. 41 Vgl. Noack S. 177f., 180.
———— — . ——— —— py E a EE cu t
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 135
Verletzung heiligster österreichischer Rechte zu schelten, jede
österreichische Intrigue in Bulgarien aber als heiliges öster-
reichisches Recht zu kennzeichnen, in ihrer Auswirkung nicht
nur töricht, kurzsichtig und verderblich, sondern auch illoyal
und perfide; denn schließlich gingen die Grundlagen der Stellung
Rußlands in Bulgarien und Osterreichs in Serbien nicht nur auf
denselben europäischen Vertrag, sondern noch stärker auf die
eigenen, freiwillig abgeschlossenen Vereinbarungen mit Rußland
von 1881 und 1884 zurück!
Noack kommt zu dem Urteil, Bismarck habe überhaupt „ für
die Situation Österreichs auf dem Balkan merkwürdig wenig
Verständnis“ “ gezeigt. Denn Kalnoky habe Recht darin gehabt,
„daß eine dauernde und schrankenlose russische Einflußnahme
in Bulgarien eine Bedrohung des Bestandes der österreichischen
Monarchie war", während Rußland, , wenn Bulgarien unter
österreichischem Einfluß seine Selbständigkeit errang, weder
geographisch noch ethnographisch irgendwie dadurch tangiert''
wurde“. Stimmt das letztere, nämlich, daB Bulgarien, ohne jeden
territorialen Zusammenhang mit Rußland und ohne ethnische
Verwandtschaft mit den Russen, sich gar nicht dazu eignete,
eine russische Provinz, ja, sogar nur dem russischen Einfluß auf
die Dauer zugänglich zu werden — was sich geschichtlich schon
unter Alexander von Battenberg gezeigt hat — so ist natürlich
die Voraussetzung, daB von Bulgarien aus der Bestand der
österreichischen Monarchie bedroht werden könne, haltlos,
gleichgültig, ob damals Österreichische, über die wirklichen
Verhältnisse und Kräfte einsichtslose und über die zukünftige
Entwicklung der Donaumonarchie voraussichtslose Politiker
oder ob heut ein in der historischen Rückschau ebenso ein-
sichtsloser Historiker es behauptet. Wie hätte denn auch ein so
leicht in Schach zu haltender Staat — wenn man Noacks Urteil
darüber Glauben schenken soll — seinerseits eine Großmachts-
politik, die fast die ganze Halbinsel in österreichisches Gebiet
verwandeln sollte, führen können! Wie konnte aber andererseits
ein Rußland, zu dessen endgültiger Schwächung und Zurück-
drängung aus Europa eigentlich nur ein Entschluß zu fassen war,
doch die Kraft und den Willen aufbringen, seinerseits die Donau-
*$ Noack S.178. „ Noack, a. a. O.
136 Richard Moeller
monarchie in ihrem Bestand zu bedrohen? Noacks falsche
Methode, Rußland bald als ein verderbenbringendes Ungeheuer,
bald als einen tönernen Riesen anzusehen, entwertet an sich ja
schon alle seine Schlüsse! Weder war es so gefährlich, wie Noack
es darstellt, noch so ohnmächtig, daß Österreich ungestraft seine
selbstmörderische Politik auf die Dauer betreiben konnte!
Wie sehr von allen guten Geistern die österreichische Politik
verlassen war, zeigt sich darin, daB sie im November 1885 in
den bulgarisch-serbischen Konflikt eingriff und durch Drohungen
die Bulgaren, die sie soeben noch gegen Rußland auszuspielen
versucht hatte, zum Waffenstillstand zwang, eine Torheit, die
nur zu geeignet war, Bulgarien wieder in die Arme Ruslands
zu treiben“ |
Mochte 1884 ein notdürftiges Zusammenspannen Ruflands
und Österreichs erreicht sein“ — daB das Verhältnis ohne einen
wirklichen Ausgleich nicht von Grund aus geheilt werden konnte,
ist Bismarck immer klar gewesen, und so ist es wohl richtig,
daß der Gedanke der „ Demarkation“ zeitweise zur „fixen Idee“
bei ihm wurde; denn die „Krise“ riß nicht mehr ab, seitdem die
Einigung zwischen Bulgarien und Rumelien vollzogen war;
um so mehr wäre ein endlicher Ausgleich nötig gewesen! Tat-
sáchlich hat allerdings die bulgarische Krise der Demarkations-
politik ein Ende gemacht, weil nun die Móglichkeit eines Interessen-
ausgleichs zwischen Österreich und Rußland nicht mehr vor-
handen war; objektiv ist sie vorhanden; RuBland ist wohl für
sie zu gewinnen, Österreich nicht! Die volle Tragik setzt wieder
ein! Zugleich aber auch das geniale System der Aushilfen!
Hatte es bisher ausgereicht, die beiden widerstrebenden
Nachbarn zusammen an der Stange einer Entente zu halten, so
wurde das in Zukunft unmöglich. Sollte das gleiche Ziel weiter
*4 Vgl. Bismarck an Reuss v. 6. XII. 85 G. P. Bd. V, S. 26ff. u. die Antwort
Kalnokys im Bericht Reuss v. 9. XII. 85, G. P. Bd. V, S. 30ff.
Noack S. 182 ist der Meinung, Bismarck habe die augenblickliche Entspannung
im Osten dazu ausgenutzt, um im diplomatischen Kampf gegen England das neue
deutsche Kolonialreich zu gewinnen. Das ist im einzelnen ebenso unrichtig gesehen,
wie im ganzen falsch verstanden. Zur Gewinnung der Kolonien hat Bismarck die
franzósisch-englische Spannung benutzt — ein Zusammenhang mit der Kontinental-
politik besteht nicht! Seine Kolonialpolitik ist reine ,,Gelegenheitspolitik'', freilich
auch ein Vorstoß über die bisherige „Saturiertheit‘“.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 137
verfolgt werden — die kriegerische Auseinandersetzung Öster-
reichs und Rußlands zu verhindern, aus der doch die Konflagration
des europäischen Festlandes mit ziemlicher Sicherheit hervor-
gehen mußte — so waren stärkere Mittel, stärkere Aushilfen
nötig.
Innerlich freilich, für sich, für die deutsche Politik hielt
Bismarck am Gedanken der „Demarkation“ fest. Sie ist die
Richtlinie, die er nicht verläßt, sein „Pivot“. Und es ist nur
um so tragischer, daß er wohl Rußland je länger je mehr —
freilich wohl in dem Maße, wie Rußland tatsächlich in Bulgarien
an Einfluß verliert — von der Richtigkeit seiner Auffassung
überzeugt. Noch im September 1886 berichtet Bernhard
v. Bülow: „Herr v. Giers sprach das Wort Demarkationslinie
nicht aus, aber ich hatte den Eindruck, daß er in der Abgrenzung
der Machtsphären Rußlands und Österreichs auf der Balkan-
halbinsel das einzige ernsthafte und dauernde Mittel sieht, um
einem Zusammenstoß zwischen beiden Reichen vorzubeugen.‘
„Ich auch!“, fügt Bismarck aus voller Überzeugung hinzu. Was
nützt das aber gegenüber dem schwunglosen Eigensinn des
österreichischen Kaisers und dem zähen Mißtrauen Kalnokys
gegenüber allem, was nach Handeln aussieht? Was nützt es
gegen die siegesgewisse Arroganz der magyarischen Politiker,
denen zuliebe Kalnoky von Zeit zu Zeit immer wieder den starken
Mann gegen Rußland spielen muß, als den er sich nicht einmal
fühlt ?
Es ist einfach nicht wahr, was Noack behauptet, daß Kalnoky
„im Banne der Bismarckschen Politik... sich ihre Argumente
und Gedankengänge weitgehend zu eigen machte''*. Das Gegen-
teil ist richtig!
Es ist geradezu, vom deutschen Standpunkt aus, erschütternd
anzusehen, mit welcher gerissenen Taktik der Österreicher jeder
Bismarckschen Anregung begegnet. Zunächst pflegt er völlig
zuzustimmen, ist frappiert, überwältigt, dankbar — um dann
leise mit Bedenken und Zweifeln herauszukommen und zum
Schluß nichts zu tun und in seinen altösterreichischen Schlendrian
zurückzufallen. Gelegentlich läßt Bismarck sich zum Zorn über
dieses System hinreißen: , Wenn Ew.pp. sagen, daB Graf
* G.P. Bd. V, S. 133. 7 Noack S. 228.
188 Richard Moeller
Kalnoky sich immer noch kein rechtes Bild machen kónne, wie
der Gedanke der Teilung der russischen und österreichischen
Interessensphären auszuführen sein würde, so heißt das nichts
anderes, als daB er sie nicht will“, schreibt Bismarck, über die
Erfolglosigkeit seiner Bemühungen für den Bundesgenossen
verärgert, im Dezember 1885 an Reuß“; und solche harten Töne
schallen nun jahrelang, gleich erfolglos, nach Wien hinüber.
Wenn Kalnoky, gegenüber den bauernfängerischen Ver-
suchen Churchills, Österreich für die englischen Orientinteressen
gegen Rußland einzuspannen, ebenfalls in seinem mißtrauischen
Nichtstun verharrt, so gleicht das nur äußerlich dem Rat Bis-
marcks. Es ist vollendete Planlosigkeit, die freilich zuweilen
die Gestalt eines Planes zu zeigen scheint.
Es ist die vollendetste Torheit Österreich-Ungarns, Rußland
nicht den kleinsten Erfolg in Bulgarien zu gönnen, dadurch
Wasser auf die Mühlen der Panslawisten zu treiben, den russischen
Kaiser schwer zu verärgern und Giers’ Stellung zu schwächen —
erklärlich eben nur aus dem Gefühl, gegenüber Deutschland
schließlich doch am längeren Hebel zu sitzen. Zwar, Österreich
ist viel mehr deutscher Hilfe bedürftig, als Deutschland öster-
reichischer Hilfe, aber: das Dasein Österreich-Ungarns ist zuletzt
für Deutschland die größere Notwendigkeit, als umgekehrt das
Dasein Deutschlands für Österreich-Ungarn; aus diesem Gefühl
heraus, eigentlich dem eines faulen Gewissens, erklärt sich fast
die ganze Vorkriegspolitik Osterreich-Ungarns gegenüber Deutsch-
land, und so genießt es, um mit Thomas Mann zu sprechen,
„alle Vorteile der Schande“, der Lebensunfähigkeit und des
Pochens darauf, daß Deutschland im eigensten Interesse helfen
müsse, das sterbende Leben, auch um den Preis des eigenen
Lebens, zu erhalten. Soweit wäre Bismarck niemals gegangen —
aber die nachbismarcksche Politik hat es getan!
Endlich, im November 1886, stellt Noack fest, verzichtete
Bismarck auf den Gedanken der Demarkation. „Alles schien
sich zu vereinigen, um der deutschen Politik eine neue Wendung
zu geben“. Auch das ist in dieser Formulierung weder richtig
noch eindeutig. Solche „Schein“-Sätze, die an entscheidenden
Stellen bei Noack außerordentlich beliebt sind, gehen an dem
—— —— — —
4 G. P. Bd. V, S. 29. ** Noack S. 249.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 139
Wesen der Bismarckschen Politik vorüber, ohne es auch nur zu
streifen.
Bismarck verzichtete auf den Gedanken der Demarkation
nicht; er verzichtete nur darauf, ihn zur Zeit bei den beiden
Nachbarn geltend zu machen; grundsätzlich aber hat sich in
seiner Anschauung nicht das geringste geändert. Am 16. De-
zember 1886 diktiert er seinem Schwiegersohn Rantzau: „Wir
hätten unseren Wunsch einer Demarkationslinie leider weder
in Wien noch in Petersburg zur Annahme bringen können; das
hinderte aber nicht, daß wir unsere Auffassung nach wie vor für
die richtige hielten und unsere Politik danach einrichteten“.“
Und dabei bleibt es“. Und so bleibt auch die Richtung der
deutschen Politik dieselbe wie bisher, es gibt keine Knicke,
Schwenkungen und Schwankungen. Sie geht ohne jede Wendung
nach wie vor dahin, Europa den Frieden zu erhalten, Deutsch-
land den Frieden zu erhalten, den es braucht, und zu dem
Zwecke die Gegensätze zwischen Rußland und Österreich nicht
bis zum kriegerischen Austrag kommen zu lassen.
Es ist selbstverständlich, das die bisherigen Mittel dazu,
die vertragsmáBigen Abmachungen zwischen den drei Kaiser-
mächten, unzulänglich geworden sind — daB die Technik des
Auseinanderhaltens, nachdem die beiden Nachbarn nicht zu-
sammenzuhalten waren, weitaus kompliziertere Aushilfen er-
heischte, Aushilfen freilich, die in ihrer genialen Einfachheit zu
ersinnen und durchzuführen ein Bismarck nötig war. Diese
Kombination nicht aufrechterhalten zu haben, ist die Todsünde
der Caprivi und Marschall geworden; aber es ist nicht richtig,
wenn sie sich damit entschuldigten, das System sei für gewöhnliche
Politiker zu schwierig gewesen; nicht das „Spiel“ war schwierig,
sondern die moralischen Grundlagen, der Mut der Durchführung,
war es, was ihnen fehlte; in der Geschichte ist bei fast allen großen
Entscheidungen nicht Einsichtslosigkeit, sondern Mutlosigkeit
die Wurzel alles Übels!
Kalnoky war freilich naiv genug, obgleich er selbst durch
seine plumpen Angriffe gegen Rußland die Grundlagen der
Dreikaiserentente zerschlagen hatte, bis zum letzten Augenblick
80 G. P. Bd. V, S. 150.
1 Vgl. auch G. P. Bd. V, SS. 146, 186, 196 und passim. .
140 Richard Moeller
an ihre Erneuerung zu denken und selbst darauf zu hoffen®®.
während Bismarck in der Erkenntnis, daß es nicht mehr möglich
sein werde, zu dreien abzuschließen, den Abschluß zu zweien,
den „Rückversicherungsvertrag‘‘, schon seit dem Januar 1887
betrieb.
Die Grundlage auch dieses zweiseitigen Vertrages blieb die
Demarkation, nämlich die Anerkennung durch Deutschland,
daß Rußland einen legalen Einfluß in Bulgarien auszuüben habe
und insoweit Deutschland die österreichische Politik nicht
stützen werde!
Dem Bundesgenossen klarzumachen, daß Deutschland in
der bulgarischen Frage den ,,casus foederis" nicht erblicken
könne noch wolle, ist fast der wesentliche Inhalt der deutsch-
österreichischen Beziehungen in den Jahren 1886 und 1887
gewesen®, was denn freilich das Verhältnis nicht verbesserte
und zuletzt doch nur möglich wurde, weil es dem geheimsten
österreichischen Verlangen, nichts zu tun, weit entgegenkam.
Das Verhältnis zu Rußland praktisch so zu gestalten, „als
ob“ Österreich noch daran beteiligt sei, ist, wie schon früher
ausgeführt, die leitende Idee der Rückversicherung“; ja, sie geht
noch weiter; sie fingiert sogar, „als ob“ Österreich jener obersten
Stufe der Bismarckschen Klimax vom 8. September 1888 (d. h.
der Ermutigung Rußlands in der Richtung auf die Meerengen) .
zugestimmt habe, treibt also in kühnster Weise richtige öster-
reichische Politik ohne Österreichs Beteiligung — ein Verhältnis,
das Noack allerdings nicht sehen kann.
Scheint es doch sogar, als ob Bismarck in dem zweiseitigen
Vertrag eine größere Möglichkeit sieht als in dem bisher drei-
seitigen, den Frieden zu wahren“, einmal, weil Deutschland als
alleiniger Partner gegenüber Jedem der Genossen eine erhóhte
und gegen Durchkreuzung von seiten des Dritten mehr gesicherte
53 Vgl. Berichte Reuss v. 17. I. 87, 18. V. 87, 4. VII. 87, G. P. Bd. V, SS. 217,
236, 261f.
5 Vgl. Schweinitz, Denkwürdigkeiten II, S. 312.
sê Bismarck an Reuss v. 20. VII. 87, G. P. Bd. V, S. 264; Bismarck an Kaiser
Wilhelm I. v. 28. VII. 87, G. P. Bd. V, S. 267.
85 Vgl. G. P. Bd. V, S. 267: „Die beiden Verträge zu zweien .. . bilden einen
Ersatz für den ... Dreikaiservertrag; der Form nach keinen vollständigen, in der
Tat aber einen mindestens ebenso wirksamen ...“.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 141
Wirkungsmöglichkeit besitzt, dann aber auch, weil Österreich
zu erhöhter Vorsicht Rußland gegenüber schon durch das
Nichtmehrbestehn des bisherigen Vertrages gedrängt werden
kann. Aus diesem Grunde ist Bismarck auch die russische
Bedingung, den Vertrag vor Österreich geheimzuhalten, nicht
unangenehm gewesen.
Für Noack aber, der die Auffassung Andrassys teilt, die
Dreikaiserentente sei das Unheil und das einzige Heil bestehe
darin, den Krieg gegen Rußland zu machen, der Bismarcks
scharfe Abwehr einer Verfälschung des Zweibundes, seiner
Umfälschung zu einem Kriegsbündnis gegen Rußland, geradezu
für eine Felonie gegen Österreich-Ungarn hält — ‚es sei denn,
daß man die Gewißheit des österreichischen Unterganges voraus-
bestimmen wollte“ — für Noack, der in Variierung eines Bis-
marck-Wortes der Meinung ist, „die Passivität gegenüber der
langsam aber sicher wirkenden panslawistischen Gefahr“ müsse
„einer Kometenbahn verglichen werden, auf der Österreich wie
Deutschland nach kurzer Sonnennähe auf noch unberechenbare
Zeiträume ins Dunkel geschleudert werden sollten""' — für
Noack ist der Rückversicherungsvertrag denn auch eine innere
Unmöglichkeit. Denn er bedeutet für die Zeit seines Bestehens.
Frieden zwischen Deutschland und Rußland, gerade das, was
nach Noack Rußland braucht, denn: „Der Krieg mit Deutsch-
land und seinen Bundesgenossen bedeutete die Zerstörung aller
russischen Expansionswünsche und die Rettung und künftige
Sicherung Österreichs.‘
Wir stoßen immer wieder auf das „proton pseudos“ des
Noackschen Buches, seine petitio principii, seine Konstruktion
des Krieges gegen Rußland, dem die deutsche Hegemonie
Europas, dem das habsburgische Slawengroßreich folgen muß
wie ein richtiger Schluß auf richtige Prämissen.
Nicht Noack, sondern Bismarck hat Recht: Solange Deutsch-
land auf der einen Seite mit Österreich, auf der anderen mit
Rußland im Vertragsverhältnis steht, solange gibt es „eine starke
Nötigung für die beiden anderen Kaisermächte, untereinander
Frieden zu halten®®.
% Noack S. 262. 57 Noack a. a. O. Vgl. dazu G. P. Bd. V, S. 145fl. 53 Noack
S. 292. ® G. P. Bd. V, S. 268.
142 Richard Moeller
Wir haben in der deutschen Geschichte nicht die Gepflogen-
heit, einzelne Jahre als besonders hervorragende oder ent-
scheidungsreiche mit besonderen Beinamen herauszuheben.
Wenn dem so wäre, dann würde das Jahr 1887 wohl den Namen
des besonders ruhmreichen tragen müssen; jedenfalls ist es das
Jahr der kühnsten Konzeptionen und des groBartigsten Gelingens
in der gesamten Bismarckschen Außenpolitik“
Auf der einen Seite fängt er den versinkenden Dreikaiserbund
durch einen Sonderabschluß mit Rußland auf — auf der anderen
gelingt es ihm, Italien und England an Österreich heranzuziehen
und ihm so die doppelte Sicherung zu geben.
Es ist zuzugeben, daß auch diese Phase der Bismarckschen
Politik tragisch umwittert ist! Je genialer die Aushilfen sich
steigern, um das scheinbar Unmögliche doch noch möglich zu
machen, desto mehr mag dem Nachlebenden schwindeln, der
das System in seiner Abgewogenheit nicht erkennen mag oder
kann — aber von höchster Einfachheit und Wirklichkeitsnähe
ist dies Spiel in jedem Augenblick geblieben!
Seit dem Auseinanderfall der Dreikaiserentente, die seit dem
November 1886 irreparabel erscheint, geht Bismarcks Politik
einen doppelten Weg zum gleichen Ziel, zur Erhaltung des
europäischen Friedens.
Der erste Weg führt zum Abschluß des Rückversicherungs-
vertrages mit Rußland: er hält Rußland vom Abschluß des
Bündnisses mit Frankreich zurück und Deutschland den Rücken
in einem wegen der bulgarischen oder orientalischen Frage
ausbrechenden Kriege frei — auch wenn es deswegen zu einem
russisch-Österreichischen Kriege kommen sollte. Österreich
wird kein Hehl daraus gemacht, daß Deutschland für Bulgarien
und die Türkei nicht fechten könne.
Trotzdem weiß Bismarck, daß Deutschland unter Umständen
doch in einen russisch-ósterreichischen Krieg hineingezerrt
werden könne — nämlich dann, wenn Österreich in ihm ent-
scheidend geschlagen und mit dem Verlust seiner Großmacht-
stellung bedroht werden würde. Das kann Deutschland nicht
zugeben, selbst dann nicht, wenn Österreich durch eigene Schuld
in den Abgrund hineingerissen wird!
“ Zu einem ähnlichen Urteil kommt Meinecke, Gesch. des deutsch-engl. Bünd-
nisproblems, S. 10.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 148
Österreich zu sichern und Deutschland dabei freizuhalten —
das ist der große Gedanke des Jahres 1887, das Korrelat zum
Rückversicherungsvertrag.
Auch in der Bismarckschen Politik des Jahres 1887 sind
mit beinahe lächerlicher Konsequenz wiederum drei Stufen einer
Klimax zu finden!
Die erste und unterste Stufe ist die, daß Deutschland auf
keinen Fall in einen nicht durch einen russischen Angriff provo-
zierten russisch- österreichischen Krieg hineingerissen werden
dürfe — diese Stufe schien durch den Abschluß des Rück-
versicherungsvertrages und durch die offene Warnung an Oster-
reich, sich wegen orientalisch- bulgarischer Verwicklungen nicht
auf deutsche Hilfe zu verlassen, hinlänglich erreicht zu sein.
Wenn aber Osterreich den Krieg trotzdem heraufbeschwört ?
Wenn es geschlagen, gerade durch seine Hilflosigkeit Deutsch-
land doch zum Eingreifen zwingt? Das darf nicht geschehen!
Osterreich, auch im Falle einer verkehrten und gefährlichen
Politik, gegen eine Niederlage zu schützen und doch Deutschland
herauszuhalten, ist die zweite Stufe der Bismarckschen Politik
von 1887; ihr dient der Versuch, Osterreich einen Rückhalt selbst
für seine verkehrte Politik gegen Rußland zu schaffen, dient die
Bildung der englisch-italienisch-ósterreichischen „Gruppe“, die
stark genug ist, um dem russischen Schwert Widerstand leisten
zu können (2. Stufe der Klimax) oder es sogar durch das bloße
Gegengewicht in der Scheide zu halten (3. Stufe der Klimax).
Noack beurteilt auch diese Verhältnisse völlig verkehrt.
„Der Gedanke einer Entente zwischen England, Italien und
Österreich war doch im Grunde eine Idee Churchills“ 1, schreibt
er kühn, hat dabei aber den Akzent wieder völlig verschoben.
Was Churchill wollte, war etwas ganz anderes, aber Noack hat
diesen phantasiereichsten, gleichzeitig aber unzuverlässigsten
der damaligen englischen Staatsmänner tief in sein Herz ge-
schlossen, weil er in ihm „seine“ Idee, die des europäischen
Kreuzzuges gegen Rußland, wiederzufinden hofft. Und doch
war Churchill englisch-offen oder englisch-naiv genug, um aus
seinem Herzen keine Mördergrube zu machen.
1 Noack S. 283.
** Vgl. Noack S. 220ff, für die frühere Zeit auch SS. 85ff., 46ff., 80ff., 138ff.
144 Richard Moeller
Noack sieht den eigentlich entscheidenden Fehler der deut-
schen Politik darin, daß sie in unüberwindlichem Mißtrauen
gegen England dessen seit 1879 mehrfach wiederholtes Liebes-
werben ablehnte. Er verlängert die Streitfrage, ob es ein Fehler
der deutschen Politik um die Jahrhundertwende war, die eng-
lischen Annäherungsversuche abzuweisen, gewissermaßen nach
rückwärts, obgleich das Problem doch zur Bismarckzeit, so-
lange das Einvernehmen Deutschlands mit Rußland bestand
und es ein russisch-französisches Bündnis nicht gab, ganz anders
gelagert war als später. Und jedenfalls ist er England gegenüber
außerordentlich bescheiden, begnügt sich mit einer wohlwollenden
englischen Neutralität auch im Fall eines kontinentalen Doppel-
frontenkrieges.
Und doch hatten Bismarck und Kalnoky das allerdringendste
Interesse, sich diesen englischen Plänen gegenüber auf nichts
einzulassen, zumal, wie schon gesagt, Churchill aus seinem
Herzen keine Mördergrube machte, sondern seine Wähler
öffentlich darüber informierte, wie er sich das Bündnis denke.
Noack hat aus der berühmten Dartforder Rede Randolph Chur-
chills die entscheidenden Sätze sogar abgedruckt: „Da dies so
ist (sc. Österreich ein lebenswichtiges Interesse an der Freiheit
und Unabhängigkeit der Donaufürstentümer und Balkanvölker
habe) kann England sehr wohl, ohne unehrenhaft zu handeln
und ohne seine Sicherheit zu gefährden, mit Genugtuung ansehen,
daß die Macht, deren Interessen am unmittelbarsten und vi-
talsten betroffen sind, auch den Anfang bei dieser großen inter-
nationalen Arbeit übernimmt*?". Das ist die Kastanientheorie
in geradezu klassischer Ausprägung; und da Churchill abermals
offenherzig oder naiv genug war, um auch in diplomatischen
Verhandlungen offen zu betonen, England könne aus innerpoli-
tischen Gründen nicht daran*denken, die Spitze gegen Rußland
zu übernehmen“, ja nicht einmal sich gemeinschaftlich mit
Österreich expektorieren, wenn Deutschland nicht ebenfalls
helfe, und auch der Premierminister Salisbury eine exponierte
Stellungnahme Englands für schwer möglich hielt®, so ist es
doch kein Wunder, daß nicht nur Bismarck die schärfsten
** Noack S. 226. i
*4 Vgl. Berichte Hatzfeldts v. 20. u. 24. IX. 86, G. P. Bd. IV, SS. 270, 272.
:9$ Bericht Hatzfeldts v. 13. VIII. 86, G. P. Bd. IV, S. 266.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 145
Ausdrücke über Churchills Bauernfängertaktik brauchte“, sondern
daß auch Kalnoky insoweit nicht gesonnen war, die Politik der
Nadelstiche gegen Rußland unter Englands Beifall mit der der
Schwertstreiche zu vertauschen und so England den Willen zu
tun, ja, daß er sogar spöttisch und der Wahrheit nicht eben
entsprechend noch im Oktober 1886 den Engländern erklärte,
„die Beziehungen Österreichs zu Rußland seien ... vortreff-
lich“ 7. Zwar wurde daraufhin Churchills Sprache um einige
Grade wärmer, wenn auch vielleicht nicht ehrlicher“; aber
nach wie vor wollte er Österreich, mit stillschweigendem Ein-
verständnis Deutschlands, die erste Last des Krieges gegen
Rußland auferlegen.
Noack, gewöhnt, die Werte zu vertauschen, sieht in dem
Widerstand Bismarcks gegen diese Bauernfängerei, oder, ernst-
haft gesprochen, gegen eine Politik, die Österreich und wahr-
scheinlich auch Deutschland mit dem ganzen Risiko eines
kontinentalen Krieges belasten wollte, während England ohne
jedes Risiko das Ergebnis dieses Krieges hätte abwarten können
— obgleich der Krieg gegen Rußland England ein weit geringeres
Risiko aufgelegt hätte als einer kontinentalen Macht — ein
hartnäckiges und starres Mißtrauen, erscheinend „als ein ver-
räterischer Ausdruck der geheimen eigenen Hintergedanken,
deren verborgene Absicht es ja war, England gegen seine eigenen
Interessen auszunutzen‘‘®.
Auch hier möchte man wiederum sagen, daß nicht nur der
Akzent der Bismarckschen Politik verschoben, sondern daß
Wort für Wort dieser Erläuterung falsch ist! Die Dinge liegen
so: Churchill— und in zweiter Linie auch Salisbury — wünschten
Österreich und Deutschland dazu zu benutzen, um den welt-
politischen Gegensatz zwischen England und Rußland im Kampf
auszutragen. Auf die Bewahrung des europäischen Friedens
kam es ihnen dabei nicht an; auch eine Einbeziehung Frank-
reichs in den Krieg wäre bei den außerordentlich gespannten
englisch-französischen Beziehungen dieser Jahre von ihnen gern
G. P. Bd. IV, SS. 271, 273, 275.
*' G. P. Bd. IV, SS. 264, 278.
* Vgl. G. P. Bd. IV, S. 279.
® Noack S. 231.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 10
146 Richard Moeller
in Kauf genommen worden”. Sie selbst aber behielten England
bei dem zu führenden Kriege eine außerordentlich bescheidene
Rolle, etwa den Schutz der deutschen Küste oder der deutschen
Kolonien gegen französische Angriffe, vor.
Bismarck nahm nicht diese Idee auf, sondern verwandelte
sie in allen entscheidenden Punkten in ihr Gegenteil. Wollte
England Österreich und Deutschland zum Krieg gegen Rußland
gewinnen, so ging nun Bismarck daran, England für Österreich
zu gewinnen, aber nicht zum Krieg, sondern vielmehr zur Er-
haltung des Friedens. Ich habe das die dritte Stufe der Bis-
marckschen Klimax von 1887 genannt. Wie Noack in dieser
Veränderung aller Vorzeichen, der Reihenfolge der Glieder und
der totalen Änderung der Richtung doch „im Grunde eine Idee
Churchills“ “1 erkennen kann, das muß allerdings ein Geheimnis
bleiben.
Und wie die Ziele dieser Politik in das Gegenteil der Chur-
chillschen Ideen umgebogen sind, so scheinen auch die diplo-
matischen Mittel wie aus zwei verschiedenen Welten. Ging
Churchill gradlinig, wie er glauben mochte, plump, wie die zünf-
tigen Diplomaten es ansehen mußten, auf sein Ziel los, so: ist
in der Bildung der neuen Entente durch Bismarck wiederum
der ganze magische Zauber Bismarckscher Diplomatie ent-
halten. Den groben Faden, den Churchill — der sich übrigens
bereits im Januar mit einer sonderbaren Schwenkung aus dem
englischen Kabinett herausmanövrierte — auf die Spindel ge-
zogen hatte, ließ er abreißen. Von einer ganz andern Seite her
wurde das Spiel wieder aufgenommen; zwischen England und
Österreich wurde ein Mittelsmann eingeschoben — Italien!
Das Problem hat Bismarck sich wieder in einem seiner großen
überschauenden Diktate, vom 27. November 1886, entwickelt“.
Worauf kommt es an? Solange Österreich in der bulgarischen
Frage allein bleibt, ist eg Deutschlands Aufgabe, ihm nicht nur
vom direkten Widerstand gegen Rußland abzuraten, sondern es
auch „durch jedes anwendbare Mittel zu entmutigen‘‘, schon
aus dem Grunde, weil aus einem österreichisch-russischen
Kriege, den Österreich ohne Bundesgenossen führen müßte, sich
7 Vgl. Bericht Hatsfeldts v. 21. XII. 86, G. P. Bd. IV, S. 292.
71 Noack S. 283f.
73 G. P. Bd. IV, S. 283ff.
Bismarcks Friedenspoltik und der Machtverfall Deutschlands 147
auch ein deutsch-russischer und ein deutsch-französischer Krieg
entwickeln würde, ein Doppelfrontenkrieg, dessen Last in der
Hauptsache auf Deutschlands Schultern liegen würde. Kann aber
Österreich sich auf die Hilfe Englands verlassen, so würde es
Rußland gar nicht erst zum Angriff kommen lassen — hier er-
scheint gleich die dritte Stufe der Klimax. Von der kriege-
rischen Abwehr russischer Angriffe durch die neue Entente ist
war an andern Stellen, nicht aber hier die Rede; das höchste
Ziel wird gleich gesehen und bezeichnet!
Wie aber zu der englisch-ósterreichischen Entente kommen ?
Churchill ist keinen Augenblick im Zweifel darüber, wie es
möglich sei: „Zwischen England und Österreich werde die Ver-
ständigung jeden Tag und ohne Schwierigkeit zustandekommen,
sobald Eure Durchlaucht sie für wünschenswert hielten und
fördern wollten“, berichtet Hatzfeldt am 5. Dezember 1886 als
Meinung Churchills“. Überaus bezeichnend, diese Meinung, daß
der „Minister Europas“ alle Länder dahin leiten könne, wohin
er wolle (wieweit sind doch diese Staatsmänner von der wahren
Erkenntnis Noacks entfernt!). Aber noch bezeichnender: Bis-
marck notiert zu dem Wort „wünschenswert halten“: „das ist
der Fall und sie liegt doch nicht vor!“ “. Das ‚fördern‘ läßt er
ohne Bemerkung passieren.
Bismarck wünscht die englisch-österreichische Entente;
eine direkte Vermittlung lehnt er ab — ohne Zweifel aus dem
Grande, weil das Bekanntwerden dieser Vermittlungsaktion in
Rußland nicht nur die Dreikaiserentente sprengen würde — an
der ist ohnehin nichts mehr zu retten und zu verderben — son-
dern weil eine Indiskretion es auch Deutschland erschweren
würde, seine Beziehungen zu Rußland aufrechtzuerhalten!
Die Schalen liegen in gleicher Waage. Das kommt wunder-
voll zum Ausdruck in dem Erlaß Bismarcks an den Botschafter
Radowitz vom 17. Februar 18877, den Noack” zwar nicht un-
richtig interpretiert, dessen Akzent er aber wiederum verschiebt,
wenn er in ihm eine Wendung zur Quadrupelallianz sieht, die
aber sofort wieder eingeschränkt sei. Das Bild ist so schlecht
G. P. Bd. IV, S. 286.
A. a. O. S. 287.
78 G. P. Bd. V, S. 118ff.
" Vgl. Noack 8. 282.
10*
148 i Richard Moeller
wie unzutreffend. Wollte man ein Bild anwenden, so könnte
man es vielleicht so sehen, daß an diesem Punkte mit besonderer
Deutlichkeit sichtbar wird, wie Bismarcks Politik jetzt auf zwei
fast parallel zueinander laufenden, sich niemals kreuzenden
Wegen zum gleichen Ziel hinmarschiert. Es weder mit Rußland
noch mit England zu verderben ist die Richtung, den europäischen
Frieden durch eine neue Verteilung der Gewichte und Gegen-
gewichte im Orient zu erhalten, das Ziel.
Die Bemerkung, „daß wir nach wie vor den für unsere Ge-
samtpolitik maßgebenden Wunsch haben, unsere Beziehungen
zu Rußland vor allen andern zu pflegen‘, ist die Einleitung, die
Grundlage des Erlasses an Radowitz; sie steht im Vordergrund
der Politik. Noack läßt sie zunächst unbeachtet, stellt die
Notwendigkeit voran, die Möglichkeit einer Annäherung an
England nicht zu zerstören, und hat damit den Akzent schon
gründlich verschoben; wenn er nach seiner Gewohnheit dann
wieder nachträgt, was er zunächst in den Schatten zu stellen
versucht hat, selbst mit der Hinzufügung, daß es ‚im Anfang des
Erlasses“ stehe, so ist das die Quellenbehandlung, die über das
Maß des wissenschaftlich zu Verantwortenden hinausgeht.
„Gleichgewicht“ ist die Quintessenz dieses Erlasses, „bis auf
weiteres in allen russisch-englischen Streitfragen nicht, wie dies
bisher geschehen ist, die russische Auffassung aktiv zu befür-
worten und noch weniger der englischen entgegenzutreten,
sondern volle Zurückhaltung und Unparteilichkeit zu beobach-
ten". Aber „eine aktive Förderung englischer Wünsche ist
hiermit ... ebensowenig meinerseits anempfohlen, sondern nur
passive Zurückhaltung‘.
Nicht „Neutralität“ ist damit angekündigt, sondern Teil-
haben an beiden Seiten; denn beide Aktionen, die Vorfühlung
mit Rußland, die zur Rückversicherung führen soll, und die
Vorfühlung mit Italien, die zur Mittelmeerentente führen soll,
sind längst im Gange!
Wir müssen einen Augenblick zu den Verhandlungen hin-
überschauen, die vor der Verlängerung des Dreibundes in Wien,
Rom und Berlin geführt sind, auf die Noack kaum eingegangen
ist. Sie sind ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie kläglich
” G. P. Bd. V, S. 1198.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 149
auf der ganzen Linie die Politik Kalnokys versagt, wo sie nicht
von Bismarck gestützt und geleitet ist!
Wie Österreich es schon im Jahre 1882 durch seine Finesserien
verstanden hat, einen Vertrag abzuschließen, durch den es im
wahrscheinlichsten Fall eines russischen Angriffes nicht rücken-
frei wurde, jedenfalls nicht nach dem Wortlaut des Vertrages,
wie es durch diese diplomatische Schludrigkeit Bismarck zwang,
formell die Verantwortung für Form und Inhalt des Vertrages
von sich abzulehnen, haben wir schon früher gesehen; die óster-
reichische Ungeschicklichkeit bei der Erneuerung des Vertrages
ist noch weit größer“.
Hat 1882 Osterreich Italien aktiven Schutz gegen französische
Angriffe versprochen, ohne dafür eine gleichwertige Gegenleistung
zu erhalten, so kommt Kalnoky jetzt auf den Gedanken,
von Italien mehr herauszuholen. Denn auch dieses ist
seinerseits mit dem bisherigen Umfang des Bündnisses nicht
zufrieden, sondern wünscht eine Erweiterung nach Nord-
afrika hin.
Bismarck geht darauf ein, ohne seinerseits Gegenforderungen
zu stellen; kommt Italien wegen nordafrikanischer Reibereien
mit Frankreich in Konflikt, so wird Deutschland es doch halten
müssen, um kein französisch-italienisches Bündnis zustande zu
bringen?“. Deshalb aber auch Italien noch zu mehr Gegenlei-
stungen heranzuziehen, scheint ihm untunlich. Ihm besteht der
eigentliche Wert des Dreibundes immer in der österreichischen
Rückenfreiheit gegen Italien, jedenfalls mehr in ihr als in der
aktiven italienischen Mitwirkung im Kriege.
Anders Osterreich! Kalnoky und sein Kaiser verfallen auf
die Idee, Italiens Hilfe gegen Rußland in Anspruch zu nehmen“,
und zwar auch in einem Kriege, der nicht durch einen Angriff
Rußlands auf Österreich herbeigeführt ist — sie wollen also
den bisher defensiven Sinn des Bündnisses entscheidend er-
weitern. Italien soll in Balkankriegen gegen Rußland mit-
"e Pribrams Darstellung a. a. O. S. 169ff. ist an entscheidenden Stellen irrig.
leh muß mir vorbehalten, das an anderer Stelle im einzelnen nachzuweisen.
1» Vgl. G. P. Bd. IV, S. 199ff.
* Vgl. G. P. Bd. IV, S. 203.
150 Richard Moeller
kämpfen — aber am Mitreden über die orientalischen Fragen
soll es trotzdem nicht beteiligt werden; denn Österreich kann,
außer ganz allgemeinen Zusagen, sich auf nichts einlassen,
„was uns im Orient gegenüber Italien die Hände binden oder
Italien bezüglich irgendwelcher Territorialfragen zu einer be-
sonderen Einflußnahme berechtigen kónnte''?!,
Die übliche habsburgische Hochmutsgeste in Reinkultur!
Ihr Ziel erreicht sie nicht, im Gegenteil; durch die Torheit,
Italien zur aktiven Teilnahme in einem Balkankrieg gegen
Rußland aufzufordern und ihm zugleich den Mund in orienta-
lischen Fragen verbieten zu wollen und ihm Kompensationen im
Fall territorialer Änderungen zu versagen, hat Kalnoky es zu-
letzt dahin gebracht, Italien diese Kompensationen und die
gleiche Stimme in Balkanangelegenheiten zugestehen zu müssen,
ohne daß der casus foederis für Österreich ausgedehnt wurde —
eine schwere selbstverschuldete diplomatische Niederlage, deren
Ergebnis — mit dem Hin und Her der Verhandlungen, die in dem
Buch von Pribram vielfach verkehrt charakterisiert sind, können
wir uns an dieser Stelle nicht beschäftigen — Bismarck durchaus
zufrieden stimmte; denn ihm war es durchaus erwünscht, auf
diese Weise Italien am Balkan zu interessieren, nicht nur Italiens
willen, dessen Kompensationsansprüche er für gerechtfertigt
hielt, sondern das er nun in die neue Entente hineinziehen
konnte!
Im Verfolg der deutschen Vermittlung bei den Verhandlungen
über die Verlängerung des Dreibundes findet Bismarck die
entscheidende Wendung. Er drängt Italien, jetzt seinerseits
nachdrückliche Versuche bei Salisbury zu machen, um eine
enge gemeinschaftliche Front mit England zu bilden, indem
er darauf hinweist, aus einem solchen Bündnis lasse sich
für Italien eine viel stärkere Stellung gegen Frankreich ge-
winnen !5*
In dieser Bismarckschen Initiative aus dem Dezember 1886
liegt die Begründung der späteren „Gruppe“; man kann aber-
mals nur bewundernd feststellen, daB die Bismarcksche Politik,
—
si Bericht Reuss v. 8. XII. 86, G. P. Bd. IV, S. 211.
en Vel. Aufs. St. S. Graf H. Bismarck v. 27. XII. 86, G. P. Bd. IV, S. 224.
s G. P. Bd. IV, S. 225; vgl. auch G. P. Bd. IV, S. 814f. u. Noack S. 295.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 151
wie sie eine direkte Vermittlung zwischen Österreich und
England ablehnte, um nicht Rußlands MiBtrauen zu erregen“,
sondern das Zwischenglied Italien einschob, so auch Italien
gegenüber den Wert der englischen Entente gegenüber Frank-
reich betonte und die Balkanfrage insoweit zunächst aus dem
Spiel ließ, obgleich sie das wahre Ziel der Aktion ist“; auch hier
wird also mit wundervollster Vorsicht dafür gesorgt, daß keinerlei
Indiskretionen Deutschland als Treiber gegen Rußlands Balkan-
politik erscheinen lassen konnten!
In diesem Doppel der Verknüpfung, der Interessierung
Italiens an den Balkanfragen, dem durch Kalnokys Ungeschick-
lichkeit herbeigeführten österreichischen Zugeständnis, in Zu-
kunft Italien als gleichberechtigten Partner in der Orientpolitik
anerkennen zu wollen, auf der einen Seite, dem Zusammenführen
Italiens und Englands — wobei Italien zunächst nur auf die
antifranzösische Seite dieser Entente blicken sollte — auf der
anderen, liegt die spätere englisch-italienisch-ósterreichische
Balkan-,‚Gruppe‘‘ vorgebildet! Man vergleiche die wundervolle
Leichtigkeit dieser Politik, die doch niemandem Unrecht tat,
niemanden zwingen wollte, sich seiner eigenen Interessen zu
entschlagen, niemanden verleiten wollte, für andere Kastanien
aus dem Feuer zu holen, mit dem plumpen Vorgehen Churchills,
Österreich in den Krieg gegen Rußland zu hetzen und Deutsch-
land mindestens diplomatisch dabei mitwirken zu lassen — und
man wird Noacks Hypothese, daB die englisch-italienisch-
österreichische Entente nichts als eine „Idee Churchills" war,
wirklich für nichts als eine verblendete Studierstubenpolitik“
halten! |
Bismarcks Wunsch, Österreich in Italien und England einen
Rückhalt bei seinen Händeln mit Rußland zu geben, in die es
infolge seiner Balkanpolitik verwickelt werden könnte, bei denen
jedoch die deutsche Hilfe im deutschen Interesse versagt bleiben
%4 Vgl. G. P. Bd. IV, S. 322: „Wenn wir Rußland gegen uns mißtrauisch machen
dadurch, daß wir uns an den englisch-italienisch-ósterreichischen Verhandlungen
beteiligen, so ist es kaum zu vermeiden, daB wir in einen russischen Krieg mit-
verwickelt werden
ss Vgl. darüber G. P. Bd. IV, S. 316.
% So A. O. Meyer, Bismarcks Friedenspolitik, „Zeitwende“, Aprilheft 30, S. 295
jetzt auch Sonderdruck. Münchner Universitätsreden, S. 10.
152 Richard Moeller
mußte, liegt schon im Januar 1887 völlig fest. Natürlich ist in
diesem Wunsche wieder eine starke tragische Note nicht zu ver
kennen — denn er ist nur eine Folge davon, daß es ihm nicht
gelingt, den nächsten Bundesgenossen von der Notwendigkeit,
sich um seiner eigenen Interessen und um seiner Zukunft willen!
mit Rußland zu verständigen, zu überzeugen, daß er die öster-
reichische Halsstarrigkeit, die unheilvolle Mischung von Indolenz
und vielgeschäftiger Intriguensucht nicht überwindet — daB er
nicht nur mit ihr rechnen, sondern sie sogar notgedrungen noch
unterstützen muß, um Österreich nicht als Opfer seiner eignen
Unfähigkeit fallenzulassen; denn Österreich selbst hat von
seiner Seite zwar alles, um Rußland zu verstimmen und es selbst
zum Kriege zu reizen, aber nichts, um sich gegen diese Gefahr
zu sichern, getan®, Selbstsüchtig wie es ist, rechnet es damit,
daß der Bundesgenosse es um seiner selbst willen zuletzt doch
nicht im Stich lassen kann und darf.
Bismarck läßt es auch nicht im Stich, aber genial liefert er
ihm die notwendige Hilfe, ohne Deutschland dabei aufs Spiel
zu setzen, und er liefert sie ihm in einer solchen Stärke, daß der
Friede dabei erhalten bleiben kann.
Die Bildung der ‚Gruppe‘, die lediglich den defensiven Zweck
der Erhaltung des status quo verfolgen darf, gelingt nicht gleich
völlig beim ersten Anlauf im Frühjahr 1887.
Zwar kommt es zum Austausch von Noten, durch die auch
Österreich sich dem englisch-italienischen Mittelmeerabkommen
anschließt®; aber doch ist weder Österreich ganz bei der Sache,
da es ihm lieber wäre, Deutschland hinter sich herzuschleppen,
noch auch England; Salisbury ist nach dem Ausscheiden Chur-
chills noch weniger für eine kriegerische Auseinandersetzung, ja
auch nur für eine Spannung mit Rußland zu haben und erwägt
sogar, wenn auch nur ungewiß und von fern, einen Ausgleich mit
Rußland herbeizuführen. Er ist ja schon vor dem Berliner Kon-
greß der Auffassung gewesen, daß die Erhaltung der Türkei einen
europäischen Krieg nicht lohne, und kommt von Zeit zu Zeit
auf diesen Gedanken zurück, besonders mit Rücksicht auf den
8? Vgl. G. P. Bd. IV, S. 228.
*5 Vgl. G. P. Bd. IV, S. 323f.
** Der ganze Notenwechsel bei Pribram, S. 36ff.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 153
"it ; Teil der Liberalen, der seine Regierung stützt" — aber schließ-
ht u lich ist er ein konservativer Politiker, der nicht in Gladstones
hm E Spuren wandeln kann. Es ist geradezu wundervoll zu sehen, wie
pi Bismarck dies schwankende Verhalten Salisburys dazu benutzt,
‚tg um ihn im Gegenteil fester an die Gruppe heranzuziehen, und
lie c wie er dazu abermals Italien, jetzt unter dem unternehmungs-
lun lustigen, ehrgeizigen, von ihm ganz eroberten Crispi, vorschiebt,
p ie um die „, Gruppe“ wirklich zu dem zu machen, was sie sein soll:
id einer Lebensversicherung für Österreich, für das Österreich, das
gegen Rußland nach einer Hegemonie auf dem Balkan strebt,
zugleich aber einer Versicherung gegen den Krieg!
Noack freilich sieht nur ‚den großen Gesichtskreis der
id englischen Weltpolitik“ 1, im Gegensatz zu den bescheidenen
Zielen der deutschen Friedenserhaltung; auch hier liegen seine
^| Akzente falsch wie überall!
Das England Salisburys zeigt in besonders hohem MaBe
į politisch-diplomatische Unfähigkeit und Unbeweglichkeit, was
.&1 die Weltstellung Englands an sich noch nicht vermindert, es
aber unfähig macht, diese Stellung auszunutzen. Weder in
Samoa noch in Sansibar, wo damals kleine englisch-deutsche
J Reibungen zum Austrag kommen, sondern in Europa und an
seiner Peripherie lag damals das Zentrum der Weltpolitik, wie es
| noch zu Anfang des Weltkrieges da gelegen hat — erst durch
seinen Ausgang ist die große säkulare Verschiebung erfolgt
und Europa ein ae Schauplatz zweiten Ranges ge-
worden.
Noack hat gelegentlich den Versuch gemacht, das Bismarck-
sche System bildlich darzustellen: „Der Dreikaiserbund war
der innere Ring des Bismarckschen Friedenssystems, der dessen
innersten Kern, den konservativen Monarchismus, vor allem
schützte; der äußere Ring bestand in dem Bun Verhältnis zu
England. gegenüber Frankreich?? .''
Das heißt die Dinge zu einfach darstellen. Das System ist
ja überhaupt fast zu groB, um es mit Worten darstellen zu kónnen;
eher wáre es graphisch móglich, aber auch das hat seine Schwierig-
keiten.
* Vgl. Bericht Hatzfeldts v. 3. VIII. 87, G. P. Bd. IV, S. 337.
n Noack S. 296. ® Noack S. 302.
154 Richard Moeller
Dann würde nach meiner Meinung die Sache so aussehen:
Vor 1887
Bis zur Auflösung der Dreikaiserentente würde als innerster
Ring das deutsch-ósterreichische Bündnis zu gelten haben, wie
nachher auch noch; als nächster Ring lagert um ihn freilich das
Bestreben, die Freundschaft unter den drei Kaisermächten zu
erhalten. Das ist auch nach 1887, nach der Nichterneuerung
der Entente zu dreien, so geblieben; der Rückversicherungs-
vertrag ist insoweit die logische Fortsetzung der Dreikaiser-
entente und behält deren Platz im System. Nur als äußere Ringe
kónnen dagegen die beiden Dreibünde gelten; denn sie dienen
nur als Auffangorganisationen für den Fall, daß die Politik der
inneren Ringe einmal zerbricht — beide, der Dreibund mit und
der Dreibund ohne Deutschland (das Verhältnis zu Rumänien
ist hier nicht besonders erwáhnt) sind nur Abwehrstellungen
der zweiten Linie; und es ist die entscheidende Wendung der
nachbismarckischen Politik Deutschlands, daB sie aus dem
Dreibund eine Politik des innersten Ringes gemacht hat, eine
Stellung der ersten Linie — dadurch ist das System und dann
auch das Reich Bismarcks zerschlagen“.
Ich kann dies aber hier nicht weiter verfolgen, sondern wende
mich noch einmal der Bildung der „Gruppe“ zu, in dem über
Noack ist nicht so verbohrt, daB er nicht gelegentlich das Großartige in der
„weltumspannenden Friedenspolitik Bismarcks sähe. Vgl. S. 302f, wo das zu
schönem Ausdruck kommt. Aber leider geht diese Einzelerkenntnis in der ver-
fehlten Gesamtkonstruktion des Buches bald wieder zugrunde!
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 155
ihr Zustandekommen entscheidenden zweiten Ansatz zu ihrer
Verwirklichung. .
Mit dem Abschluß des Rückversicherungsvertrages war zwar
eine ziemlich große Sicherheit darüber erreicht, daß für die Zeit
seiner Gültigkeit ein russisch-französisches Bündnis nicht
zustande kommen und daß Rußland im Fall eines deutsch-
französischen Krieges, der im Frühjahr und Sommer 1887 durch
die Treibereien Boulangers bedenklich nahe gerückt schien,
ruhig bleiben werde, aber der Hetze des panslawistischen Ruß-
land gegen Österreich und Deutschland war damit kein Ende
gemacht. Die Fortdauer dieser Hetze, die Möglichkeit, daß auch
das offizielle Rußland eines Tages von ihr angesteckt werde, die
Ohnmacht des Außenministers Giers außerhalb seines eigenen
Ressorts, vor allem seine Einflußlosigkeit auf Presse und óffent-
liche Meinung, die Unsicherheit einer nur auf die beiden Augen
des russischen Kaisers gestellten Politik, die unverhüllte Feind-
seligkeit zwischen Rußland und Österreich, die auch von den
amtlichen Stellen kaum noch bemäntelt wurde — alles das trieb
Bismarck dazu, die Gruppe enger als bisher zu gestalten!
Noack stellt die interessante These auf, daß Salisbury im
Sommer 1887 eine Gegenkonstruktion gegen die Bismarcksche
Außenpolitik versucht habe”; er beabsichtigte danach eine
Verständigung mit Rußland über die europäische Türkei, mit
dem Hintergedanken, dadurch den Druck RuBlands auf Oster-
reich so zu verstärken, daß Deutschland nicht mehr anders
könne, als schließlich in die Front gegen Rußland einzutreten.
Man kann die Dinge gewiß nicht verkehrter ansehen!
Dies hieße England zutrauen, Rußland ohne Kompensation —
denn Ägypten besaß man ja schon — den Siegespreis vorweg-
zugeben, um dann um so sicherer den Kontinentalkrieg gegen
Rußland zu entzünden — mit welchem Ziel? Wahrscheinlich
doch mit dem, Rußland nicht nur aus der europäischen Türkei,
sondern auch aus dem ganzen Balkangebiet wieder zu vertreiben!
Das sind nicht Überlegungen eines Politikers oder eines
Historikers, sondern ist die tollste Phantasie, die je in einer
Studierstube ausgebrütet ist
Tatsächlich gab es für England nur zwei Möglichkeiten:
* Noack S. 314ff.
156 Richard Moeller
1. die, sich im Bunde mit den Mächten, auf deren Hilfe man
zählen konnte — und dazu gehörte in diesem Falle Deutsch-
land nicht — gegen die russische Expansionspolitik an den
Meerengen stark zu machen, also ,, Gruppe“ zu bilden, oder
2. sich mit Rußland über die Meerengen zu verständigen, dann
aber nicht nur zum Schein und mit dem Hintergedanken, das
so vorgelockte Rußland dann unschädlich zu machen, sondern
eine wirkliche Verständigung zu erzielen, die den Spannungen
zwischen England und Rußland auf lange Sicht ein Ende
machen und der sogar ein Bündnis folgen konnte!
Meinecke hat darauf hingewiesen, daß Bismarck schon 1885
„die Möglichkeit einer englisch-russischen Allianz mit unheim-
licher Schärfe ins Auge gefaßt habe“,
Aber er gibt die näheren Umstände dieser Situation von 1885
nicht an.
1885 handelte es sich ja um die Gladstonesche Idee einer
russisch-englichen Verständigung auf Kosten der Türkei und
auf Kosten Österreich-Ungarns, und in solchen Ideen sieht
Bismarck mit vollem Recht eine große Gefahr, weil — ich muß
hier die ganze Stelle aus dem Brief Bismarcks vom 27. Mai 1885
an Kaiser Wilhelm abdrucken“ — ‚weil der darin ausgesprochene
Gedanke eines englisch-russischen Bündnisses von der pan-
slawistischen Partei, welche .die eigentliche Trägerin der Idee
des Krieges gegen Österreich und eventuell gegen Deutschland
ist, gehegt wird und dem Programm Gladstones von Hause aus
angehört. Käme diese englisch-russische Allianz zustande mit
ihrer angeblich christlichen und antitürkischen, in der Tat
panslawistischen und radikalen Richtung, so wäre derselben die
Möglichkeit gegeben, sich jederzeit nach Bedürfnis durch Frank-
reich zu verstärken, wenn die russisch-englische Politik bei
Deutschland Widerstand fände; es wäre die Basis einer Koalition
gegen uns gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht
gegenübertreten kann.“
Hat Bismarck die katastrophale Wendung hier vorausgesehen
— eine Wendung, die allerdings nur durch deutsche Fehler
möglich wurde — und sogleich den einzig möglichen Schluß
Meinecke a. a. O., S. 12f.
% G., P. Bd. IV, S. 125.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 157
daraus gezogen, daß die deutsche Politik nicht durch einen
Druck auf Rußland ein solches englisch-russisches Bündnis
zustandebringen dürfe — so sind 1887 die Voraussetzungen für
ein so gestaltetes englisch-russisches Bündnis nicht gegeben!
Das geht aus den knappen Ausführungen Meineckes nicht hervor.
Salisbury fehlt von Haus aus die feindliche Stimmung gegen Öster-
reich, die zu Gladstones ursprünglichem Programm gehórt — ohne
daß er ihr dann praktisch Folge gegeben hat — Salisbury
denkt an oder vielmehr spricht von einer solchen Verstándigung
zwischen RuBland und England, die ,,nach seiner Überzeugung
auf keinen Fall eine Schädigung Österreichs“ zur Folge haben
dürfe”,
Eine große Klarheit wohnt diesem Programm gewiß nicht
inne, während man der Gladstoneschen Konstruktion mit ihrem
Haß gegen Österreich und die Türkei und ihrer etwas doktrinären
und schwärmerischen Vorliebe für die „Freiheit“ der christlichen
Balkanvölker Unklarheit nicht vorwerfen kann — schließlich
ist es ja auch diese Politik Englands gewesen, der das alte
Österreich erlag.
Von einer Richtung auf die, 1885 von Bismarck einen Augen-
blick befürchtete, französisch-russisch-engliche Koalition kann
1887 nicht die Rede sein. Was Salisbury zu seinem nicht klar
durchdachten Gedanken, den man weder Vorschlag noch Plan
nennen kann, vor allem getrieben hat, war die Besorgnis vor
einem deutsch-französischen Krieg, der es Rußland ermöglichen
könne, auf eigene Faust, eventuell nach Niederwerfung Öster-
reichs, im Orient vorzugehen; ein, wenn auch nur magerer
Vergleich mit Rußland schien ihm vielleicht besser als die
Unsicherheit eines Krieges; denn durch eine Verständigung mit
Rußland würde der sehr fühlbare Druck Frankreichs auf das
Inselreich genommen sein; diesem Erfolge mochte man immerhin
gewisse Zugeständnisse an Rußland im Orient zum Opfer bringen
können.
Es war die Politik eines Mannes, der besorgt die Möglichkeiten
erwägt, die gegen sein Land ausschlagen können, sicher nicht
die Politik eines starken Mannes, ganz gewiß aber noch weniger
die eines Intriganten, der auf diesem Wege zuletzt die An-
* Bericht Hatzfeldts v. 3. VIII. 87, G. P. Bd. IV, S. 336.
158 Richard Moeller
spannung Deutschlands gegen Rußland betrieb und diesem nur
Judasgeschenke geben wollte! l
Kann man diese kaum ernstgemeinte, mit allem Vorbehalt
angestellte Sondierung eine Gegenkonstruktion Salisburys gegen
die Bismarcksche Friedenspolitik nennen? Sollte oder konnte
sie Bismarck unter irgendeinen Druck setzen, der ihn zwang,
seine Bahnen zu verlassen oder auch nur zu ändern.
Wenn Salisbury den Wettbewerb um Rußland mit Deutsch-
land aufnehmen wollte — was nach der ganzen Art seines Vor-
gehens wie nach seiner Veranlagung mehr als unwahrscheinlich
ist — wenn er in Bismarcks Politik hineinfahren wollte (zu
welchem Zweck er aber das Spiel in Petersburg beginnen mußte),
so wäre es ein kühnes Spiel gewesen, Rußland die Türkei auf-
zuopfern, ohne irgendwelche direkte Vorteile dafür zu erlangen,
ein Spiel, für das der Premierminister kaum auf Mitspieler im
Kabinett oder im Parlament hätte rechnen können, von der
Königin ganz zu schweigen. Wenn England die Türkei ein-
schließlich der Meerengen oder doch mindestens des Bosporus
an Rußland preisgab, dann wäre das gleiche verklausulierte
Zugeständnis Deutschlands an Rußland im Zusatzabkommen
des Rückversicherungsvertrages allerdings entwertet gewesen“
Wollte England mit Deutschland um Rußlands Gunst konkur-
rieren, so hatte es größere Mittel zur Verständigung in der Hand
als Deutschland -— aber es mußte eigene Interessen dabei preis-
geben, während Deutschland keine Opfer zu bringen hatte!
Bismarck hat in seine Berechnung vorsichtigerweise auch ein-
gestellt, daß England auch unter Salisbury, trotz dessen gegen-
teiliger Behauptung, es bis zu einer Preisgabe Österreichs an
Rußland kommen lassen wolle. Auch für diesen Fall sieht er
die Situation nicht als bedrohlich an — ja, ihm wäre eine der-
artige Politik Englands nicht einmal unerwünscht; denn sie
könnte dahin führen, daß Österreich, in seiner orientalischen
Politik von Deutschland nicht unterstützt und jetzt auch von
England im Stich gelassen, zwangsläufig den Weg gehen müßte,
den Bismarck ihm als den einzig richtigen so oft empfohlen
98 Insoweit hat Noack S. 318 Recht!
® Für das Folgende vgl. Bismarck an Hatzfeldt v. 8. VIII 87, G. P. Bd. IV,
S. 388fl.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 159
hatte — seinerseits nun, den Wettbewerb mit England auf-
nehmend, sich mit Rußland zu verständigen! Der Erfolg wäre
dann wiederum ein Dreikaiserbündnis gewesen, an dem England
selbst teilnehmen konnte, wenn es wollte.
Ging Bismarck so auf den Gedanken einer russisch-englischen
Verständigung — ohne Richtung gegen Österreich — so bereit-
willig ein, so ist es allerdings fraglich, wieweit sich dahinter nur
Taktik verbirgt, die Besorgnis, vor einer solchen Annäherung
Besorgnis zu zeigen und sie dadurch zu einem Pressionsmittel der
englischen Politik — was Salisbury augenscheinlich fernlag —
zu machen; aber wir haben bereits früher darauf hingewiesen,
daß Bismarck schon im Kissinger Diktat von 1877 es für Deutsch-
land nützlich hielt, „einen Ausgleich zwischen England und Ruß-
land zu fördern, der... gute Beziehungen zwischen beiden... und
demnächst Freundschaft beider mit uns in Aussicht stellt!99.''
Es ist also mehr als Taktik, es ist der alte Wunsch, die Be-
ziehungen zwischen England und Rußland zu einer Entspannung
zu bringen, wenn Bismarck seinen Vertreter in London anwies,
England zur Initiative auf dem von Salisbury angedeuteten
Wege zu ermutigen!
Und doch ist er es, der zugleich wiederum ein wunderbar feines
Gegenspiel beginnt und dadurch Salisbury zu einem überaus
schnellen und kläglichen Rückzug zwingt — einem kläglichen
Rückzug nämlich dann, wenn es Salisbury Ernst war, wirklich
ein Gegenspiel gegen Bismarck in Szene zu setzen! Er láBt dem
englischen Premierminister raten, in die von ihm gewünschte
Politik des Ausgleiches mit RuBland sofort praktisch einzutreten,
und zwar in der Weise, daB er in der Lósung der bulgarischen
Frage vorangehe; gerade darin sei RuBland jetzt — nachdem
durch die Wahl des Koburgers Ferdinand die bulgarische Krise
abermals eine Verknotung erfahren hatte — besonders empfind-
lich und für jede Hilfe außerordentlich dankbar; erreiche Eng-
land durch Eingehen auf die russischen Wünsche, durch ihre
Propagierung in Europa, durch Anregung zu einer demnáchst
in London abzuhaltenden europáischen Konferenz eine Lósung
der bulgarischen Frage im russischen Sinn, so werde das den
Ausgleich zwischen England und RuB8land mehr fórdern als
1 G. P. Bd. II, S. 163.
160 Richard Moeller
irgend etwas anderes, und zugleich dem englischen Minister auf
dem Umwege über außenpolitische Erfolge eine gefestigtere
innenpolitische Stellung geben. Großmütig gibt der deutsche
Kanzler, wie öfters schon, dem englischen Kollegen sein Ge-
heimnis preis, wie man durch starke und erfolgreiche Außen-
politik die innere Politik seines Landes „ ins Schlepptau nehmen“
könne!
Ist dies Mittel darauf berechnet, Salisbury mitfortzureißen
oder zum Stillstehen zu bringen ?
Ich glaube, daß die Transparenz der Bismarckschen Politik
an dieser Stelle wiederum herrlich aufleuchtet!
Bismarcks Politik ist niemals Fläche, stets Körper, stets
dreidimensional. Sie gibt niemals einen, stets verschiedene
Ansatzpunkte für den Verhandlungsgegner; aber, wie er sich
auch einstellen mag, er kann nie anders als Bismarcksche Politik
treiben!
Greift Salisbury zu, wenn es ihm ernst ist mit dem Gedanken
eines russisch-englischen Ausgleichs, so wird das für Deutschland
im doppelten Sinn einen großen Erfolg bedeuten: in der bulga-
rischen Frage wird Deutschland durch Vermittlung Englands
sein Ziel erreichen, seine Auffassung, daß die „Demarkations-
linie“ den Einfluß in Bulgarien Rußland zuweise, von Europa
anerkannt sehen und zugleich Rußland den Erfolg gewähren,
den es braucht, um Radikalismus und Panslawismus zu ent-
kräften und das System Giers zu befestigen! Verschafft Salisbury,
gewissermaßen als Handlanger Bismarcks, Rußland in Bulgarien
die von ihm beanspruchte Vorhand, so können die russisch-
deutschen Beziehungen nur herzlicher werden; denn Europa
wird es sofort erkennen, wer eigentlich hinter der Aktion Eng-
lands steht und sie verursacht hat!
Und zu diesem ersten Erfolg würde sich alsbald der zweite,
nicht minder wichtige, gesellen: was Deutschland nie erreichen
konnte, die Einwilligung des eigenen Bundesgenossen, die
Demarkationslinie anzuerkennen, würde nun durch die englische
Politik Österreich abgezwungen werden; tritt England mit seiner
Auffassung der bulgarischen Frage auf Deutschlands Seite, so
wird es „englischen und deutschen Vorstellungen in Wien
gelingen... auch die Zustimmung Österreichs zu dieser im Sinne
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 161
der ungarischen Politik nicht leichten Konzession zu erlangen!“
und so würde denn auch die Möglichkeit gegeben sein, die
früheren österreichisch-russischen freundschaftlichen Beziehungen
nach Ausräumung des größten Streitpunktes wiederherzustellen.
Mit einem Schlage wären für Deutschland alle Wolken vom
politischen Himmel entfernt, ohne daß es selbst dabei viel
einzusetzen hätte! Und allerdings, wenn man diese Perspektiven
betrachtet, die Bismarck seinen Botschafter beauftragt, wörtlich
dem englischen Premier vorzutragen, so kann man schwerlich
glauben, daß es Bismarck ernst damit gewesen wäre, diese im
deutschen Sinne höchsten Ziele seiner Kontinentalpolitik durch
Anspannen Englands zu erreichen.
Salisbury, mißtrauisch und initiativlos. wie er war, mußte —
und sollte auch wohl — zurückweichen, wenn ihm solche Konse-
quenzen der von ihm selbst nur von fern in Aussicht genommenen
Politik gezeigt wurden; er mußte den Eindruck gewinnen, daß
das deutsche, nicht englische Politik treiben heiße, und gar vor
dem Rezept, die englische Innenpolitik auf dem Wege über die
Außenpolitik umzustürzen, ein echt englisches Grauen empfinden.
Das hieß denn doch revolutionäre, nicht: konservative Politik
betreiben!“
Und so gab er denn seine Vorsätze — wenn es überhaupt
welche gewesen waren — auf und zog sich auf den Boden des
Festhaltens am englisch- italienisch- österreichischen Einverständ-
nis zurück, das allerdings, wie Bismarck nach diesem Rückzug
vertraulich schreibt, von Deutschland „ primo loco“ gewünscht
wurde!?3,
Aber diese Bewegung selbst durfte nicht zum Stillstand
kommen. Es genügte nicht, den Zustand der Gruppe, wie er
bestand, wiederherzustellen-, sie muBte verstárkt werden; und
so benutzt Bismarck die Gelegenheit, um im Nachstoß Salisbury
stärker als bisher gegen Rußland zu verpflichten ; die diplomatische
Aktion Salisburys schloB damit allerdings in einer Weise ab, die
ihrem Ausgangspunkt ganz entgegengesetzt war, mit dem
Stärkerwerden der Gruppe gegen Rußland! Also — wenn schon
101 G. P. Bd. IV, S. 339.
1 Vgl. G. P. Bd. IV, S. 348f.
1€ Vgl. G. P. Bd. IV, S. 343: „Uns ist Hauptsache die Erhaltung der Freund-
schaft zwischen England Osterreich—Italien.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 1. 11
162 Richard Moeller
Salisbury eine diplomatische Aktion gegen Deutschland ein-
leiten wollte, so sah er sich am Schluß dieser Aktion in eine
Richtung mit lauter umgekehrten Vorzeichen gedrängt.
Wie öfter schon benutzte Bismarck seinen Sohn Herbert,
„um einen persönlichen Triumph über den vom Fürsten bereits
besiegten englischen Minister... zu feiern“ ! 4. Der Staatssekretär
durfte Salisbury das Leitseil über den Kopf werfen, und wenn
schon die nackte und brutale Art des Sohnes, dem in seiner
Politik ja alle die Halbtöne fehlen, die den Menschen und Staats-
mann Bismarck so bezaubernd machen, Salisbury im Innersten
gewiß ebenso mißfallen hat wie allen seinen Verhandlungs-
gegnern, so ist der Erfolg dieser Konferenz!?5 doch der Auftrag
an die drei Botschafter der „ Gruppe“ in Konstantinopel, einen
konkreteren Plan für das künftige Zusammengehen im Orient
auszuarbeiten. Das Fundament der „8 Punkte“ ist in diesen
Besprechungen Herbert Bismarcks mit Salisbury gelegt worden,
das Gebäude selbst dann durch die Verständigung Bismarcks
mit Crispi bei dessen Oktoberbesuch in Friedrichsruh entworfen.
Aber es bedarf dann noch der letzten Anstrengung, um dem
ewig zógernden Salisbury den Absprung in die neue ,,Gruppe''
hinein zu ermöglichen.
Der grandiose Privatbrief Bismarcks an Salisbury vom
22. November 18871 ist der Schlußstein des ganzen Gebäudes
geworden.
Es ist schon fast selbstverständlich, daß Noack, wie er den
ganzen Sinn der angeblichen englischen Gegenkonstruktion
verkennt, so auch den Briefwechsel zwischen Bismarck und
Salisbury gröblich mißversteht!
Was wir für den größten Erfolg Bismarcks in diesem span-
nungs- und schicksalreichen Jahr 1887 halten — daß er es erreicht,
mit Rußland zu einem Sonderabkommen zu gelangen, das eine
russisch-französische Entente für die Zeit seiner Dauer ver-
hindert, und zugleich für Österreich in der zunächst lose, dann
fester gestalteten „Gruppe“ einen Wall zu schaffen, der den
Frieden verbürgt, aber auch im schlimmsten Fall, dem eines
kriegerischen ZusammenstoBes zwischen Rußland und der
108 Vgl. Schweinitz II, S. 299.
108 Vgl. den Bericht H. Bismarcks v. 24. VIII. 87, G. P. Bd. IV, S. 8451f.
108 G. P. Bd. IV, S. 376ff.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 163
Gruppe, Österreich einen solchen Rückhalt schafft, daß Deutsch-
land seine Rückenfreiheit behalten kann — das mißversteht
Noack im tiefsten: „Es ist der Geist des Rückversicherungs-
vertrages, der lähmend über den Entschlüssen der deutschen
Politik lastete!9?.''
Wenn denn schon von einer „Gelähmtheit“ die Rede sein
soll, so finden wir diese Lähmung des politischen Willens zwar
damals weit verbreitet, wie fast immer und überall, wie solcher
Zustand der Lethargie zu seinem Unglück auch das Europa von
1914 erfüllt hat; wir finden sie in Rußland, das sich in der
bulgarischen Frage zu einer Initiative nicht entschließen kann,
sondern alles Heil von Bismarck erhofft und- erwartet — wir
finden sie bei Österreich, das in seiner Verblendung eine Hege-
monie auf der Balkanhalbinsel gegen Rußland erstrebt, zu der
ihm alle äußeren und inneren Mittel fehlen, und nicht einmal
von sich aus etwas dazu tut, um eine Koalition gegen Rußland
zusammenzubringen?!°®, das also ein großes Ziel nur mit negativen
Mitteln und der ehrwürdig-habsburgischen Tradition des Fort-
wurstelns zu erreichen versucht —- wir finden sie endlich bei
England, das mit dem Gedanken eines neuen „départ“ zwar
spielt, ohne doch die Kraft und den Entschluß zur Verwirklichung
zu finden — wir finden sie auch bei Frankreich, wo die Lähmung
allerdings mehr aus dem überlegenen Gegenspiel Bismarcks
hervorgeht. Inmitten dieses lethargischen Europa ist es, begleitet
allerdings durch den tatfrohen, von ihm geleiteten Crispi,
Bismarck allein, der Politik treibt, der ‚unterscheidet, wählet
und richtet!“
Wie kann man die Dinge so weit umdrehen, wie Noack es tut,
um einer unhaltbaren These zu dienen ?!
In einer Situation, da alles zu „versumpfen“ droht, dem Zu-
stand, den Bismarck für den gefährlichsten in der Politik hält,
gibt der deutsche Kanzler durch sein Schreiben an Salisbury
den letzten entscheidenden Stoß zum Festwerden der Gruppe —
und das Gleichgewicht Europas ist wiederhergestellt, der Friede
gesichert, Deutschlands Stellung in der Hinterhand, so daß alle
1" Noack S. 336.
188 Noch am 24. August 1887 beklagt sich Salisbury gegen Herbert Bismarck:
„leh werde nicht klug aus Österreich, ich weiß nie, was es will, und habe mit ihm
leider weniger Fühlung als je.“ G. P. Bd. IV, S.846f.
11*
164 Richard Moeller
Mächte seiner bedürftig sind, gewahrt — eine Campagne ab-
geschlossen, mit deren Ergebnis Bismarck zufrieden sein konnte,
deren Verlauf wir aber nur mit Bewunderung nachspüren
können!
Wie die Situation auf beiden Seiten fast in den gleichen Tagen
ihren Höhepunkt erreicht und mit fast den gleichen Argumenten
auf der einen Seite der russische Kaiser bei seinem Berliner
Besuch beruhigt und wiedergewonnen, auf der anderen Salisbury
in die Gruppe hineingezogen wird, das haben wir bereits früher
gesehen. Hier ist nur noch nachzutragen, daß Noack auch den
Briefwechsel zwischen Bismarck und Salisbury gröblich miB-
verstanden hat!
Vorher noch eine grundsätzliche methodologische Bemerkung.
Noack versteht das ganze geschichtliche Leben nicht, wenn
er in Oszillationen schon Anzeichen eines Erdbebens sieht.
Oszillationen gehóren zum Wesen des geschichtlichen Lebens.
Das Gleichgewicht in der Geschichte beruht nicht auf der Leere
. eines statischen Systems, sondern auf der Erfülltheit mit Kräften,
dessen Mehren sich dauernd in leisen Erschütterungen zeigt.
Diese geschichtliche „Unruhe“ hat mit geschichtlichen Krisen,
mit Erdbeben noch nichts zu tun.
Noack betont mit leisem Triumph gegen Bismarck!?*, daB auch
nach dem Abschluß des Rückversicherungsvertrages die Rei-
bungen zwischen Rußland und Deutschland nicht aufhórten —
wobei er es sich wiederum leicht macht, unter „Rußland“ zu
verstehen, was er gerade will. Da aber selbst der Zar in solche
Reibungen verwickelt ist, ausgesprochene Feinde Deutschlands
befördert oder dekoriert, wäre für Noack die „richtige“ Folgerung
aus diesen Friktionen der Entschluß zum Kriege!
Er sieht eben einen Bismarck, oder vielmehr, er braucht
einen Bismarck, der bei der geringsten Veranlassung zur ,,ultima
ratio“ greift! Aber das ist niemals Bismarcks Art gewesen;
das äußerste Mittel ist ihm stets das Äußerste geblieben; und
jetzt braucht er den Krieg nicht, um den wachsenden russischen
Druck auf Ósterreich — nicht auf Deutschland — zu paralysieren ;
es genügt dazu die Festigung der Gruppe. Er würde gewiB vor
einem Krieg auch jetzt nicht zurückschrecken, wenn es einen
109 Vgl. Noack S. 338ff. und passim!
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 165
anderen Ausweg nicht mehr gäbe; aber es bis zum Äußersten
nicht kommen zu lassen, wenn es andere Mittel gibt und wenn
der Gewinn zum Risiko in keinem entsprechenden Verhältnis
stehen kann — das ist doch das Wesen der Größe gerade des
Realpolitikers. Noack „fordert“ statt eines Bismarck einen
Napoleon; und doch hatte dieser die geschlossene Volkskraft
eines seit Jahrhunderten staatlich zusammengeschlossenenV olkes,
einer „unzerreißbaren“ Nation hinter sich, Bismarck nicht!
Noack hat ganz vergessen, daB nach 1870 das deutsche Volk
gleichsam nur auf Probe geschaffen war — er sieht freilich, wie
wir alle, von einem Deutschland aus, dessen Unzerreißbarkeit
auch in der Niederlage für uns die beglückendste Erfahrung in
allen Fehlern, allem Unglück geworden ist!
DaB die Anregung zu den Verhandlungen der drei Botschafter
in Konstantinopel von Bismarck ausgegangen ist, daB Herbert
sie im August 1887 an Salisbury lancierte, haben wir bereits
gesehen. Noack stellt fest, daß Crispi, „dem Rat Bismarcks
zuvorkommend, schon Mitte September in London und Wien
ein besonderes Abkommen über die Orientpolitik angeregt‘
habe!!9. Er wünscht eben stets den Eindruck aufrechtzuerhalten,
daß Bismarck sich von den Dingen und von anderen treiben ließ,
während tatsächlich doch alle Fäden von ihm ausgingen und in
seiner Hand zusammenliefen.
Aber auch die Politik der „8 Punkte“ mißversteht Noack
gründlich. Sie stabilisieren ein System des ,,quieta non movere",
und ,,Maintien'' ist ihr Wesen, schon um das Streben RuBlands
nach Veränderung des status quo — wenn es einsetzen sollte —
illusorisch zu machen.
Noack aber tadelt Kalnoky stark, daB er den günstigen
Moment nicht benutzte, um seinerseits jetzt die Teilung der
Türkei zu betreiben und ihr Haupterbe zu werden!!!, Vielleicht
war Italien, um den Preis schwerwiegender Kompensationen,
dafür zu gewinnen!!? — wie sollte aber der 6. Punkt, der beab-
sichtigte, den Sultan in das Lager der , Gruppe“ hineinzuziehen,
mit solcher Politik zu vereinen sein? Das hätte doch bedeutet,
die Türkei bedingungslos in die Arme Rußlands zu werfen!
110 Noack S. 349.
111 Noack S. 852.
713 Auch das ist sehr fraglich. Vgl. Noack S. 858.
166 Richard Moeller
Endlich die Stellungnahme Englands zu den 8 Punkten!
Auch hier verschiebt Noack die Akzente sofort und gänzlich.
England, das einen Augenblick daran gedacht hatte, den , départ“
nach Rußland zu machen, näher an die Gruppe heranzuziehen
und die Gruppe selbst, wenn auch nur zu defensiven Zwecken,
stärker zu aktivieren, ist der Zweck der ganzen Campagne
Bismarcks. Bei Noack wird es umgekehrt: ,,Salisbury wollte...
Deutschland näher an die von Bismarck selbst geförderte
antirussische Koalition heranziehen“; und „es sollte sich zeigen,
daB nicht Bismarck, sondern Salisbury der Werbende war!!?*'',
Freilich hatte England seine Sorgen wegen der deutschen
Haltung; denn der schlechte Gesundheitszustand des deutschen
Kronprinzen ließ das englische Kabinett für die Zukunft eine
Wendung Deutschlands zu RuBland hin befürchten, und zwar
eine so feste Verständigung, daB daraus „eine aktive Unter-
stützung Rußlands im Orient gegen die Mächte hervorgehen
könnte, deren Verständigung wir heute hier befürworteten!!*.'*
Insofern, als Salisbury eine beruhigende Erklärung über
diesen Punkt von Deutschland zu erhalten wünschte, mag man
ihn als „Werbenden‘‘ um Deutschland ansehen, wenn es auch
nichts zu werben gab; denn Bismarcks ganze Politik beruhte ja
darauf, Deutschland aus der aktiven Beteiligung an der kriege-
rischen Lösung der orientalischen Frage, sei es auf der Seite
RuBlands gegen die Gruppe, sei es auf seiten der Gruppe gegen
RuBland, fernzuhalten.
Und auch Salisbury fordert von vornherein keine aktive
Beteiligung Deutschlands, „keinerlei Verpflichtung zu einer
aktiven Unterstützung der drei Mächte“ 18, sondern nur das
Fernbleiben von einer aktiven Wendung gegen die Gruppe.
Die Antwort Bismarcks ist schon durch diese Fragestellung
Salisburys zwingend festgelegt; daß ihr die Form des Privat-
briefes gegeben wurde, der in diesem Fall fast eine zwingendere
118 Noack S. 364.
114 Bericht Hatzfeldts v. 12. XI. 87, G. P. Bd. IV, S. 369.
ns G. P. Bd. IV, S. 371. Vgl. auch Noack, S. 365ff., der die Berichte Hatzfeldts
eingehend kommentiert, daraus aber wiederum die Folgerung zieht, England habe
einen Beitritt zum deutsch-ósterreichischen Bund propagiert — was er von seiner
These aus für die einzig mögliche Politik Deutschlands hält. Eine weitere Dis-
kussion darüber erübrigt sich!
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 167
Verbindlichkeit haben mußte als ein Staatsdokument und doch
nicht seinen Weg durch die Büros in die internationalen Schleich-
handelswege der Diplomatie finden konnte, gehört zu den
Wundern der Bismarckschen Diplomatie. Es ist hier nicht der
Ort, in eine eingehende Interpretation des grandiosen Briefes
einzutreten — genug, zu sagen, daß er den ihm gesetzten Zweck
völlig erreicht. Er beruhigt Salisbury darin, daß Deutschland
nach den ihm schicksalsmäßig auferlegten politischen Not-
wendigkeiten niemals Rußland militärisch gegen eine der Mächte
der „Gruppe“ unterstützen könne und werde — darin liegt das
Schwergewicht des Briefes, wie in der Feststellung, daß Deutsch-
land in einem Kriege gegen Rußland neutral bleiben müsse,
solange keine deutschen Interessen auf dem Spiele stünden und
die Unabhängigkeit Österreich-Ungarns nicht in Frage gestellt
sei. Grandiose Wahrheit, die den letzten Schleier wegzieht
und doch dem Empfänger die Hoffnung läßt, Deutschland auf
seiner Seite zu finden, wenn die Gruppe einmal den Entschei-
dungskampf gegen Rußland aufzunehmen gezwungen sei, die
ihm aber zugleich zeigt, daß das volle Schwergewicht Deutsch-
lands nicht irgendeinem Krieg, sondern dem Frieden zu dienen
bestimmt seil
Man mag in dem Briefe eine tragische politische Hybris
finden — insoweit er auf die Zwangsläufigkeit politischer Ent-
scheidungen eingestellt ist und von der Voraussetzung ausgeht,
daß der politischen Gegebenheit ein politisches Ergebnis mit
fast mathematischer Sicherheit folgen müsse. Richtige Politik
zu treiben ist Gnade; daB sie ófter versagt als gewährt wird,
weiß das heutige Deutschland. Bismarck aber tut nicht nur so,
sondern scheint auch selbst zu glauben, daß Deutschland auch
in Zukunft richtige Politik treiben werde. Der Sinn jenes Satzes
— in dem man freilich nur tragische Hybris finden kann —
taucht auf, den der Kanzler einmal zu Schweinitz!!9 gesagt hat,
„er habe sich ganz mit dem Staat und dessen Interessen iden-
tifiziert; er sage freilich nicht wie Louis XIV.: L'Etat c'est moi,
sondern: Moi je suis l'Etat".
Und dies Verbundenheitsgefühl, das Bismarck mit dem Reich,
Seine Politik, unter welchem Kaiser es auch sein mag, mit
ue Schweinitz, Denkwürdigkeiten Bd. II, S. 270.
168 Richard Moeller
Bismarckscher Politik identifliziert, wirkt freilich besonders
tragisch in einem Augenblick, wo von der Gegenseite her das
Stichwort: „der junge Prinz" zum erstenmal ausgesprochen ist!
Noack sind alle Zusammenhänge, die zum Bismarck-Salis-
buryschen Briefwechsel führen und sein positives Ergebnis
feststellen, verborgen geblieben: „Aus Bismarcks Brief mußte
ihm (sc. Salisbury) klar sein, daß er mit seinem Bestreben, ein
deutsch-englisch-Osterreichisches Zusammengehen gegen Ruß-
land zu erreichen, nicht durchgedrungen war!!?.'
Wiederum kann man nur sagen: Wort für Wort falsch!
Daß Salisbury ein solches Bestreben, wie Noack es ihm unter-
schiebt, nicht gehabt hat, schon weil er es für aussichtslos halten
mußte, ist bereits festgestellt. Aber Noack ist von seinen Thesen
80 leicht nicht abzubringen. Es muß ihm darauf ankommen, daß
Salisbury tatsächlich den Bismarckschen Brief als nicht weit
genug entgegenkommend abgelehnt habe — und mit Hilfe einer
elementar falschen Interpretation des Salisburyschen Antwort-
schreibens an Bismarck gelingt ihm das auch.
Der Satz, der diese falsche Interpretion ergibt, heiBt auf
englisch! 1s: „We then asked ourselves what ground we had for
assuming that Germany, engaged in a severe struggle with
France, might not take a neutral line, or even a line favourable
to Russia.“
Noack!!? übersetzt diesen Satz: „Das englische Kabinett habe
sich deshalb gefragt, welchen Grund es habe, anzunehmen, daß
Deutschland, wenn es in einen ernsten Kampf mit Frankreich
verwickelt sei, nicht neutral bleiben oder vielleicht sogar eine
russenfreundliche Politik treiben würde.“
Schwertfeger!?? übersetzt folgendermaßen: „Wir müßten uns
dann selbst fragen, welchen Grund wir hätten anzunehmen, daß
Deutschland, in einen ernsten Kampf mit Frankreich verwickelt,
nicht eine neutrale oder wenigstens Rußland günstige Haltung
einnehmen werde." Das letzte ist ohne Zweifel ganz falsch
übersetzt; das zweite Glied des letzten Satzes enthält keine
117 Noack S. 380.
315 Schreiben Salisburys an Bismarck v. 80. XI. 87 G. P. Bd. IV, S. 387.
219 Noack S. 382.
120 Wegweiser Bd. I, S. 293.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfal] Deutschlands 169
Abschwächung, sondern eine Steigerung. Ich übersetze folgender-
maßen:
„Wir fragten uns dann selbst, welchen Grund wir zu der
Annahme hätten, daß Deutschland, in einen schweren Krieg
mit Frankreich verwickelt, nicht neutral bleiben oder sogar
Rußland Hilfe leisten werde.“
Der Sinn dieses Satzes ist trotz der reichlich unbestimmten
Fassung, die ich durch etwas freiere Übersetzung zu verdeutlichen
gesucht habe, völlig klar. Das englische Kabinett befürchtet,
daß Deutschland in einem Kriege der Gruppe gegen Rußland,
um nicht einem Doppelfrontenkrieg ausgesetzt zu sein, nicht
neutral bleiben, ja vielleicht sogar Rußland aktiv unterstützen
werde. Bismarck zerstreut schon in einer Randbemerkung diese
Befürchtung, indem er zu „ neutral“ hinzusetzt ,,yes'!*!, also die
Neutralität verspricht. Noack??? sagt dazu: „Es ist bezeichnend,
wie er zu Salisburys Befürchtung: Deutschland könne
neutral bleiben!?*, ein klares ja setzte und also Salisburys
Behauptung, Bismarck habe diese Besorgnis beseitigt, direkt
viderlegte.''
Das heiBt doch den Sinn der englischen Politik in ihr Gegenteil
verkehren! Salisbury ist befriedigt, Deutschlands Neutralität
in einem Krieg der Gruppe gegen Rußland gesichert zu sehen,
allerdings vielleicht in der stillen Hoffnung, die er aber nirgends
ausgesprochen hat, daB die kriegerischen Ereignisse, wenn sie
eintreten sollten, Deutschland am Ende doch nótigen würden,
eine aktive Stellung auf seiten der „Gruppe“ einzunehmen.
Aber es ist nicht Salisburys Meinung und Absicht, diesen
Krieg zu entfesseln. Auch er sieht die Bedeutung der Gruppe
so wie Bismarck: „Die Staatengruppierung, die das Werk des
letzten Jahres gewesen ist, wird ein wirksames Hindernis gegen-
über jedem möglichen Angriffe Rußlands sein, und deren Schaf-
fung wird nicht zu den geringsten Diensten gehóren, die Eure
Durchlauchtigte Hoheit der Sache des europäischen Friedens
erwiesen haben “.“
m G. P. Bd. IV, S. 388.
1 Noack S. 382.
* Von mir gesperrt.
1^ Schwertfeger, Wegweiser I, a. a. O.
170 Richard Moeller
Und so ist das Ziel, das Bismarck im Jahre 1887 zu erreichen
sich vorgenommen hat, voll erreicht. Österreich hat seinen Wall
gefunden, um russische Angriffe abzuwehren, wenn es sie sich
durch seine Balkanpolitik zuzieht — aber darüber hinaus ist
die dritte Stufe der Klimax erreicht. Schon das Vorhandensein
der Gruppe in ihrer neuen festeren Gestalt wird genügen, um
Rußland von Angriffen abzuhalten und so den Frieden zu sichern;
und Frankreich, ohne Hoffnung auf russische Unterstützung,
muß auch seinerseits den Frieden halten. |
In der scheinbar akuten Kriegsgefahr, die sich kurze Zeit
nach dem Abschluß der Gruppe, im Dezember 1887, zwischen
Rußland und Österreich zu zeigen scheint und in der der deutsche
Generalstab eine etwas undurchsichtige Rolle spielt, weil er
das Prävenire spielen will, sind die politischen Sicherungen des
Friedens nicht durchgebrannt; auch über diese Krise kommt
man hinweg, und wie jede überwundene Krise hat sie eine Ent
spannung von längerer Dauer zur Folge. Nun erst kann sich
die neue Gewichtsverteilung richtig auswirken.
Den Erfolg dieser Politik des Friedens kann auch Noack
nicht ganz verschweigen; so sucht er ihn zu relativieren: „alles
war nur auf den Moment gestellt, die Katastrophe war vertagt,
nichts gemeistert, nichts Festes, nichts Bleibendes wurde ge-
schaffen, keine neuen Dauerformen des europäischen Vólkerlebeas
wurden gestaltet, wie eine Staatskunst sie suchen mußte, die
der aufstrebenden Nation der Mitte gesicherte starke Fundamente
gewinnen wollte 128,‘
Es tut mir leid: aber ich kann in diesem Satz nichts als
Phrasen einer dogmatischen und im tiefsten Sinn unhistorischen
Betrachtungsweise sehen. Dauerformen des Völkerlebens zu
schaffen bleibt dem Staatsmann versagt. Politik wie Krieg
kennen keine festen Systeme, sie kennen nur Aushilfen! „Rück-
versicherung" und „Gruppe“ sind geniale Aushilfen, um eine
Entladung zu verhindern, die Deutschland keinen Nutzen
bringen, sondern es selbst und ganz Europa in schwerste Er-
schütterungen versetzen mußte, ja, in Erschütterungen, die
nun wirklich als eine Art von Dauerzustand Europas für lange
Zeit hätten bestehen können.
155 Noack S. 416.
tr
Tei ta
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 171
Daß die Entladung eines Tages kommen „mußte“, ja, daB
11 die franzósisch-russische Koalition schon damals „zur Gewißheit
le N
J geworden war“ 126, entspricht ebensowenig den Tatsachen wie der
„| Struktur historischer Wirklichkeit.
. Für den Staatsmann kommt es darauf an, den Gefahren des
Augenblicks gewachsen zu sein und die Forderung des Tages zu
erfüllen. Bismarck ist in dieser Hinsicht, obgleich ihm das
höchste Ziel versagt war, dauernd der Herr der Situation ge-
blieben. Es ist keine Geschichtsbetrachtung, wenn man erklärt,
daß eines Tages „trotzdem“ die Situation stärker geworden
wäre als der Staatsmann und er den Ausbruch dann auch nicht
mehr hätte verhindern Können.
Wir sehen etwas stark Tragisches auch insofern in Bismarck,
wie wir es bei der Besprechung des Schreibens an Salisbury
angedeutet haben. Jeder große Staatsmann arbeitet, „als ob“
er unsterblich sei, „als ob“ die Richtung, die er der Politik seines
Landes gegeben hat, über sein Ausscheiden oder seinen Tod
hinaus festgelegt seiwie eine mathematische Wahrheit — während
| der Mensch in der Tat dem Irrtum und dem Wechsel unterworfen
ist und der Gang der Geschichte daher dem Zickzack der Flüsse
entspricht.
So sehen wir fast ein geschichtliches Gesetz darin, daß ein
Verlassen der Bahnen Bismarcks nach seinem Sturz eintreten
mußte! Ihn dafür verantwortlich zu machen, ist so ungeschicht-
lich, wie ein Genie dafür verantwortlich zu machen, daß es keine
ihm ebenbürtigen Kinder hinterläßt — obgleich es unter meta-
physischem Aspekt vielleicht dafür verantwortlich zu machen
wäre.
Es bleibt uns noch übrig, ein einziges Problem, das auch bei
Noack eine Rolle spielt, zu betrachten — nämlich das, inwieweit
Rückversicherungsvertragspolitik und geburtshelfende Tätigkeit
bei der Bildung der „Gruppe“ sich miteinander vertragen.
Für Noack ist es ein Doppelspiel !“, was dabei herauskommt,
wenn auf der einen Seite Bismarck die russische Politik, in dem
Geheimzusatz zum Rückversicherungsvertrag, dazu ermuntert,
eine aktive Meerengenpolitik zu treiben, den Schlüssel seines
136 Noack S. 414.
137 Vgl. Noack S. 310ff.
172 Richard Moeller
Hauses in die eigene Hand zu nehmen, auf der anderen die
Gruppe zustandebringt, deren Hauptaufgabe es ist und sein soll,
den status quo der europäischen Türkei aufrechtzuerhalten und
die Aufsicht über die Meerengen ungeschmälert in ihrer Hand
zu lassen.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß hier die Bismarcksche
Politik den höchsten Grad der Kühnheit erreicht hat und daß
der Gedanke naheliegt, hier sei der Macchiavellismus soweit
getrieben, daß man unbedingt von Hinterhältigkeit und Doppel-
züngigkeit zu sprechen gezwungen sei; denn daB diese Politik
der Bewußtheit nicht entbehrte, geht aus dem Schreiben
Bismarcks vom 9. Mai 1888 an den Kronprinzen Wilhelm deutlich
hervor. Es heißt da:!?® „Die geheimen Verträge, welche wir mit
Rußland haben, sind Ew. Kais. Hoheit bekannt. Ihr Text gibt
die Gewißheit, daß Rußland beabsichtigt, in die Sackgasse
(sc. Meerengen) hineinzugehen, und es würde schon darin sein,
wenn es nicht auf unser Verlangen durch österreichische Oppo-
sition daran gehindert würde. Kommt diese Opposition in
Wegfall, so hört damit auch die russische Zurückhaltung auf.‘
Man kann demgegenüber nicht mit Becker!*? und Meinecke!
ohne weiteres sagen, daß zwischen Rückversicherungsve-trag
und „Gruppenabmachungen“, rechtlich betrachtet, kein Wider-
Spruch bestünde.
Der Artikel 2 des Rückversicherungsvertrages'!spricht davon,
daB beide vertragschließenden Mächte sich verpflichten, keine
Ánderung des status quo auf der Balkanhalbinsel ohne ein
vorhergehendes Einverständnis zwischen ihnen zuzulassen, und
entspricht insoweit dem Punkt 2 des Mittelmeerabkommens!**—
aber damit ist noch keineswegs erwiesen, daB die Bestimmungen
des Geheimvertrages erst dann eintreten sollten, sobald der
status quo der Türkei von dritter Seite verletzt wáüre!??,
Vielmehr wird im Hauptvertrag mit Rußland die Änderung
des status quo ja nur von einem „accord préalable'* der beiden
135 G. P. Bd. VI, S. 306.
1 O. Becker, Bismarcks Bündnispolitik S. 163.
180 Meinecke a. a. O., S. 11.
131 Vgl. G. P. Bd. V, S. 253.
1832 Pribram S. 52fl.
138 So O. Becker a. a. O.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 178
vertragschließenden Mächte abhängig gemacht; und wenn im
Zusatzvertrag Deutschland versprach, seine moralische und
diplomatische Unterstützung zu geben für den Fall, daB der
russische Kaiser sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte,
die Verteidigung des Zugangs zum Schwarzen Meer in seine
eigene Hand zu nehmen, so ist insoweit in Ergánzung des Artikels
des Hauptvertrages — zu dessen Ergänzung und Vervollstän-
digung nach dem Protokoll der Zusatzvertrag hinzugefügt ist —
ein „accord préalable" bereits hergestellt; es bleibt nach dem
klaren Wortlaut des Vertrages dem russischen Kaiser allein
überlassen, den Zeitpunkt zu bestimmen, den er für den richtigen
hält, um den Schlüssel seines Hauses an sich zu nehmen, ohne
daB eine Stórung des status quo von dritter Seite erforderlich
wäre.
Demgemäß ist es eine Tatsache, die durch Becker nicht fort-
interpretiert werden kann, daß Bismarck auf der einen Seite
dem russischen Kaiser carte blanche für eine Politik, die auf die
Gewinnung mindestens des Bosporus hinausläuft, gegeben
hat — übrigens wiederholt schon vor Abschluß des Rück-
versicherungsvertrages!?* — freilich nur moralische und diplo-
matische Unterstützung versprechend, auf der anderen Seite
aber das Zustandekommen einer Entente bewußt herbeiführte,
die diesem Streben Rußlands Widerstand leisten sollte. Un-
bedingt ist dies der Punkt in Bismarcks Außenpolitik, der die
Kennzeichnung „Macchiavellismus“ am meisten rechtfertigen
könnte, besonders im Zusammenhalt mit der obenerwähnten
Stelle des Briefes aus dem Mai 1888 an den damaligen Kron-
prinzen Wilhelm. Trotzdem möchte ich glauben, daß auch dies
gewagteste diplomatische Meisterstück Bismarcks eine Ver-
urteilung, nach rechtlichen Momenten, nicht zu ertragen braucht.
In der Politik ist alles politisch, möchte man sagen; 80 selbst-
verständlich und nichtssagend das klingen kann, soll es hier
heißen: Politische Maßnahmen dürfen allein nach politischen,
licht nach formalrechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden.
Und wenn schon die „Kompatibilität‘‘ des Rückversicherungs-
vertrages mit der Gruppenbildungspolitik unter formalrecht-
lichem Gesichtspunkt schwer zu bejahen wäre, so ist die Verein-
^^ Vgl. G. P. Bd. V, S. 879f., 213, Bd. VI, S. 102 usw.
174 Richard Moeller
barkeit beider Abmachungen unter historisch-politischem Aspekt
durchaus in die Augen springend. Es könnte ein gemeines
und hetzerisches Doppelspiel sein, auf der einen Seite Rußland
gegen die Meerengen vorzutreiben, auf der anderen eine starke
Gegnerschaft dagegen zustandezubringen; es ist in diesem Fall—
unter schärfster Berechnung der Wirklichkeit — kein Doppelspiel
gewesen.
Bismarck konnte damit rechnen und hat darauf gerechnet,
daß Rußland den Weg zu den Meerengen, der sich ihm durch
den geheimen Zusatz zum Rückversicherungsvertrag zu eröffnen
schien, nicht gehen wolle, gewiß nicht in den drei Jahren, auf
die das Abkommen mit Rußland begrenzt war, aber auch darüber
hinaus in absehbarer Zeit nicht. Insoweit stimmt es nicht, was
er im Mai 1888 an den Kronprinzen schrieb, daB nur der Wider-
stand Österreichs Rußland von dem Weg in die Sackgasse
zurückgehalten habe. Selbst die entschlossensten Vorkämpfer
einer „großen“ und starken russischen Außenpolitik, die Brüder
Schuwalow, waren im Jahre 1887 noch der Meinung, die „ferme-
ture des Détroits'' sei „eine Sache, die wir doch erst in mebreren
Jahren erreichen kónnten, wir müssen erst noch unsere Flotte
im Schwarzen Meer wesentlich verstärken.“ Giers aber, der
Außenminister, der trotz mangelnder „Stellung“ bei Hof und
in der Gesellschaft Kaiser Alexander gegenüber in den entschei-
denden Augenblicken seine Politik fast immer durchzusetzen
verstand, auch gegen den „glänzenden“ Paul Schuwalow, wollte
von dem geheimen Zusatz eigentlich gar nichts wissen. „Was
könne es Rußland helfen“, hat er Schweinitz gesagt!?®, „wenn wir
ihm erlaubten, etwas zu tun, wozu ihm die Flotte, das Geld,
die Macht fehlten? Wenn es bekannt würde, daß Kaiser Alexan-
der sich vertragsmäßig die Freiheit ausbedungen habe, die
Meerengen in Besitz zu nehmen, so könne es nicht ausbleiben,
daß Italien und England, wahrscheinlich auch andere Mächte
sich vereinigen; für 20, für 50 Jahre hinaus werde Rußland wohl
kaum imstande sein, derartige Pläne auszuführen, warum also
in ein Abkommen, das nur für 3 Jahre gelten solle, eine solche
Forderung aufnehmen? Graf Schuwalow wolle hierdurch dem
1355 G. P. Bd. V, S. 213.
136 Bericht Schweinitz v. 80. IV. 87, G. P. Bd. V, S. 226f.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 175
Vertrage Glanz verleihen ...'" Wenn Rufland trotzdem, unter
dem EinfluB Schuwalows, auf dem Zusatz bestand, der ja auch
den innersten Wünschen des Kaisers Alexander entsprach!??,
80 war von der Formulierung bis zur Ausführung doch ein weiter
Weg. Giers hat seine Auffassung nie geändert; noch im Juli
1888 hat er in Petersburg Herbert Bismarck gesagt, er hoffe
die Lösung dieser Frage (sc. Meerengen-) nicht zu erleben!?®,
Diese politische Wirklichkeit ist Bismarcks Ausgangspunkt; wie
immer treibt er auch hier ,,Gelegenheits'-Politik. Den brennen-
den Wunsch des Kaisers, einmal die Meerengen zu besitzen,
benutzt er gern!“, um durch die Aufnahme dieses Wunschzieles —
eigentlich nur eines Wunschtraumes — sich den Kaiser Alexan-
der im besonderen MaBe zu verpflichten, in der GewiBheit, daB
er den ,,Brotkorb'' nicht erst „‚hochzuhängen“ brauche, um ihn
für Rußland unerreichbar zu machen; denn die Passivität des
Kaisers war nicht geeignet, die entschiedene Abneigung seines
Außenministers gegen orientalische Abenteuer zu überwinden!
Konnte Bismarck so mit Sicherheit darauf rechnen, daß
Rußland trotz des Geheimzusatzes keine Schritte tun werde,
um das Zusatzabkommen zum Rückversicherungsvertrage von
sich aus zu realisieren, so ist es eben diese schärfste Berechnung
der Wirklichkeit, die ihm ermöglichte, den „Punkten“ der Orient-
entente seine Zustimmung zu geben. Er wußte, daß von russi-
scher Seite ein Vorstoß nicht zu erwarten war und daß also
russische Ansprüche aus dem Zusatzvertrage an Deutschland
nicht herantreten würden; und aus eben diesem Grunde konnte
er politisch ein Abkommen billigen, in dem die Mächte der
„Gruppe“ sich verpflichteten, eine Änderung des status quo der
Türkei und der Meerengen nicht zuzulassen, ja, konnte er es
befördern; denn Österreich mußte in dem Maße sicherer werden
und das Gefühl verlieren, daß es aus Angst vor Regen ins Wasser
springen, aus Furcht vor einem russischen Angriff den Krieg
gegen Rußland herbeiführen müsse, als es sich gegen Rußland
durch das Festerwerden der Gruppe gedeckt sah.
Wenn man versuchen will, in einem Bilde die kühne Bis-
marcksche Politik, die zur Rückversicherung und zur Bildung
W' Vel. dazu G. P. Bd. V, S. 47, Bd. VI, S. 101.
ue Vgl. G. P., Bd. VI, S. 336.
2 Vgl. vor allem G. P. Bd. VI, S. 102.
176 Richard Moeller
der Gruppe geführt hat, zu begreifen, so ist es nicht Noacks
Deutung!“ von den beiden sich kreuzenden Wegen, die zutrifft;
denn es gibt keine Kreuzungsstelle auf diesen beiden Wegen.
Man könnte wohl eher sagen, daß Bismarck durch seine Politik
die beiden Gegenpole so dicht aneinander herangeschoben hat,
daß eine Funkenstrecke sich nicht mehr bilden konnte. Was
tollkühn aussieht, was den Krieg unvermeidlich zu machen
scheint, ist doch in Wirklichkeit so geeignet wie möglich, um
alles in der Schwebe zu halten; bei stärkster Rivalität kann eine
Entladung nicht eintreten. Stirn an Stirn gegeneinander ge-
preßt, halten die beiden Gegner sich die Waage — und wenn es
ein dynamisches, nicht ein statisches Gleichgewicht ist — nun,
so erinnern wir uns, daß alle Politik dem organischen Lebens-
bereich angehört!
Als Macchiavellismus kann man auch dies genialste aller
Bismarckschen Meisterwerke nicht ansehen. Es ist nichts darin,
was gegen die landläufige Moral ginge. Niemand wird getäuscht
oder übervorteilt ; ja, man kann sagen, nicht nur nach dem eigenen
wahren Vorteil der so aneinander geschobenen Máchte, sondern
auch aus ihrem eigenen, von Bismarck aufs schärfste er-
kannten Wesenswillen heraus hat er diese Politik geordnet und
gerichtet.
Es bleibt die Tragik, daß die Nachfolger, Caprivi und Mar-
schall, uneingeweiht und sachfremd, sich für zu unbedeutend
oder für zu ehrlich hielten, um diese Politik hóchster sachlicher
Ehrlichkeit fortzusetzen, und daB sie sie deshalb zertrümmerten.
Aber damit ist zugleich zwischen der Bismarckschen „Friedens-
politik“ und der deutschen Politik, die zum Weltkriege und zum
Zusammenbruch des Bismarckschen Reiches führte, nachdem das
Bismarcksche System längst zusammengebrochen war, der
Kausalzusammenhang zerrissen!
Wir kónnen, wenn nicht schon in unsere politische Gegen-
wart, so doch in unser geschichtliches BewuBtsein das groBe
Bild unzerstórt hinüberretten, das Bild des groBen Staatsmannes,
der, wie man zu dem Wert seiner innerpolitischen Leistungen
stehen mag — ich teile darin Noacks Auffassung zum größten
Teil — in seiner AuBenpolitik das von ihm gegründete und ge-
14 Vgl. Noack S. 356.
Bismarcks Friedenspolitik und der Machtverfall Deutschlands 177
führte Reich der Mitte zum Bollwerk des europäischen Friedens
machte!
Noacks Gebilde eines durch Krieg gegen Rußland erneuerten
und vergrößerten Mitteleuropa ist ein Spuk und ein Schemen.
Noack sieht die eigentliche, verfehlte Aufgabe des Deutschtums
und seines größten Staatsmannes darin, ein neues Großösterreich
bis ans Ägäische Meer und an die Pforten des Bosporus zu schaffen.
Nachbismarckische Politik hat getan, was Noack verlangt. Sie
hat die junge und unverbrauchte Kraft Deutschlands eingesetzt
für das imperialistische Gebilde des Habsburgerreiches, das
nicht die moralische Kraft hatte, neue innerpolitische Voraus-
setzungen für sein Territorium zu schaffen. Wir haben, als wir
Österreich-Ungarn nicht nur in seinem Bestande als Großmacht
schützten, sondern es in den Imperialismus gegen die kleinen
Balkanvölker hineingehen ließen und zuweilen selbst hinein-
trieben, uns an dem Geist der Geschichte versündigt, der über-
nationale Imperien in Europa nicht mehr duldet!
Wenn die Geschichte auf solche Sünden Strafe folgen läßt,
80 ist sie eingetreten, wie uns scheint, über das Maß unserer
Sünden hinaus. Das Habsburger Reich ist nicht mehr — und
Deutschland wird ein Jahrhundert brauchen, um sich aus dem
Zusammenbruch wieder zu erheben; inzwischen aber hat Europa
aufgehört, ein geschichtlicher Schauplatz ersten Ranges zu sein;
es ist in den Schatten des weltgeschichtlichen Geschehens gerückt.
Aber die Taten der großen Staatsmänner verblassen nicht;
sie bleiben nicht nur als Erinnerung an die Vergangenheit, sondern
auch als Vorbild für die Zukunft. Und wie der größte deutsche
Staatsmann auf der Höhe seines Wirkens als „Minister von
Europa! für alle gewirkt hat, so kann auch das heutige Deutsch-
land sein Teil dazu beitragen, das kommende Europa zu ge-
stalten, dem gewiß die Freiheit aller seiner Nationen nicht
fehlen kann, in dem aber die Freiheit des einzelnen in der Ein-
heit, dem Frieden des Ganzen, gekrönt und aufgehoben sein wird!
M1 Vgl. A. O. Meyer, a. a. O., S. 16.
Histor. Vierteljahrschrift. Band 26, H. i. 12
178
Kleine Mitteilungen.
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer!.
Bischof Balderichus von Speyer (970—987) hatte seine Schülerin Ha-
zecha, die später Schatzmeisterin des Klosters Quedlinburg (Harster II,
S.102, ad Hazecham sanctimonialem urbis Quidilinae kimili-
archen) war, beauftragt, das Leben und Leiden des hl. Christophorus zu
besingen, und sie hatte sich dieser Aufgabe inaudita in id genus ver-
suum dulcedine entledigt. Leider hatte der Bibliothekar des Bischofs
das wertvolle Werk verloren?, und nun wandte dieser sich mit demselben
1 Unten werden zitiert: a) Harster I= Walther v. Speier, ein Dichter des
X. Jahrhunderts. Von Dr. W. Harster. Beigabe zum Jahresbericht 1876/77 der
K. Studienanstalt zu Speier. 1877. b) Harster II — Waltheri Spirensis Vita et
Passio Sancti Christophori Martyris von W. Harster. Beigabe zum Jb. 1877/78 d.
K. St. z. Speier, München 1878.
2 Harster I, S. 15, bezweifelt die Richtigkeit dieser Angabe: „Übrigens stimmt
das obige, in dem Briefe Walthers an Hazecha enthaltene Lob sehr wenig zu den
Worten, die derselbe in dem prosaischen Prologe seinen Lehrer an ihn richten läßt:
Hunc (historiarum s. Christophori) libellum, quem quorundam negli-
gentium depravavit incuria scriptorum, tibi emendandum vel potius
iuxta Maronis in versibus disciplinam etc. exarandum iniungam,
und es entsteht die Vermutung, daB es mit der Meldung Walthers an Hazecha von
dem Verluste ihres Werkes nicht so ganz richtig gewesen und vielmehr die Arbeit
von Balderich zu schwach befunden worden sei, der dann Walther beauftragte,
sich an demselben Gegenstande zu versuchen." Ich habe nicht die Aufgabe, Walther
und seinen Bischof gegen den Vorwurf der Lüge zu verteidigen, muß aber doch
bemerken, daß das in den angeführten Worten nicht enthalten ist. Der Libellus, den
der Bischof ihm als Material überreicht, kann doch dieselbe Quelle sein, die schon
Hazecha benutzt hatte, von ihrer Arbeit ist hier mit keinem Wort die Rede. — Auch
K. Richter, Der deutsche St. Christophorus, Diss. Berlin 1895, hält Walthers ÁuBe-
rung für Unwahrheit und hat sogar einen ganzen Roman in Bereitschaft, aus dem
man die Veranlassung zu diesen Schwindeleien ersieht. Bis auf weiteres halte ich
mich an das, was der Dichter sagt. Auch Manitius, Littg. 2, S. 504, wendet sich gegen
Richters Ausführungen.
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 179
Wunsche an seinen jungen Schüler, den Subdiaconus Walther, und zwar
wollte er, daß er eine Vers- und eine Prosabearbeitung des Themas liefere:
Harster II, S. 106, iuxta Maronis in versibus disciplinam sive Cice-
ronis in prosa oder S. 104 gemina scribendi qualitate; das geschah
ja häufig bei solchen Stoffen, ich erinnere nur an Sedulius, Carmen paschale,
Bedas Vita Cuthberthi, Alkuins Vita Willibrordi. Das Werk kam zustande
und wurde Balderich vorgelegt, der es durchkorrigierte und auch Erklärungen
beifügte, vgl. Epist. ad Hazecham, Harster II, 104, ab eo emendatum et,
utrerum series poscebat, diligenter expositum; Epist. ad collegas,
Harster II, 2, examinatione probavit probatumque expositionis
pollice elimavit. Soweit ging aber seine Beteiligung an dem Werke nicht,
daß er es in 6 Bücher geteilt hätte, wie man vielfach annimmt, das wäre
dech auch ein sehr starker Eingriff gewesen und hütte sicherlich teilweise
geradezu eine Umarbeitung erfordert; Harsters Ansicht, I S. 57, der áuBere
Umfang des Werkes und die Einteilung des Stoffes in Hauptabschnitte sei
von Balderich zugleich mit der Stellung der Aufgabe vorgenommen worden,
wird wohl niemand sich aneignen wollen. Diese starke Beteiligung des Bi-
schofs an dem Werke haben Harster, I 57, Pannenborg, GGA., 1879, 635,
Manitius, Littg. 2, S. 504 aus den Worten an Hazecha gefolgert, Harster II,
104, toto nisu perfectum praefati monitoris manibus in sex quo-
dammodo libellos dispersum reportavi, das steht aber nicht darin,
sobald man nur richtig konstruiert, manibus ist nicht Abl. instrumenti
zu dispersum, sondern Dativ, manibus reportavi, „ich habe es in seine
Hände gelegt.“ Walther berichtet dann der Hazecha weiter tuae praesen-
tiae servandum in theca reposui; daB er das Werk — ob es nur das
Gedicht war, nur dieses war ja in 6 Bücher geteilt, oder auch die Prosa,
wird nicht klar — an Hazecha geschickt hütte, wird nicht gesagt.
Was aus diesem für Hazecha aufbewahrten Exemplar wurde, ob sie noch
einmal nach Speyer gekommen ist, oder ob man es ihr später noch zugesandt
hat, wissen wir nicht, wohl aber erfahren wir, daB die Kunde von diesem
Wunderwerk weithin gedrungen sein muß, denn aus dem fernen Salzburg
richteten mehrere Brüder die Bitte an den Autor, es ihnen zu schicken, Epist.
ad. coll., Harster II 1, quem visendigratia vestra postulavit adoptio.
Dieser kam Walther nach, die einzige Handschrift, die uns sein Werk
aufbewahrt hat, zugleich die einzige, die Nachrichten über ihn enthält®,
trägt vorn den Widmungsbrief des Dichters ad collegas Urbis Salinarum.
bxc c MEN .
* elm. 332 u. 13074, die ebenfalls die Prosa enthalten, 18074 auch den Wid-
Mungsbrief an Balderich, gehen auf unsere Hs. zurück.
12*
180 K. Strecker
Sie ist uns freilich nicht in Salzburg erhalten, sondern in St. Emmeram in
Regensburg, von wo sie dann nach München kam und der Kgl. Bibliothek
als Nr. 14798 einverleibt wurde.
Es erhebt sich die Frage, was das für ein Exemplar ist. Ist es dasselbe,
das Walther für Hazecha in der Theca aufbewahrte und das er etwa, nach-
dem sie es gesehen, nach Salzburg geschickt hat? Ist die uns vorliegende
Handschrift die nach Salzburg geschickte, oder ist es eine Abschrift, die man
dort genommen hat und die dann nach Regensburg kam? Von diesen Fragen
kann man nur eine mit Sicherheit beantworten: die Handschrift, von der
er der Hazecha schreibt, ist es nicht, obwohl doch der Brief an sie darin
steht, denn diese war mit Balderichs Erläuterungen versehen, der elm 14708
aber hat keine solchen. Ungewiß ist auch, ob die Prosa darin stand. So
fragt es sich weiter, ob es das Exemplar ist, das Walther nach Salzburg
schickte, oder eine Abschrift desselben. Wenn es wirklich das Dedikations-
exemplar ist, so haben wir immer noch die zwei Möglichkeiten, daß Walther
es entweder selbst geschrieben hat oder durch einen andern hat schreiben
lassen.
Da gehen nun die Ansichten recht weit auseinander. Der Münchener
Katalog, d. h. Wilhelm Meyer aus Speyer, der großes Interesse für seinen
Landsmann hatte, gibt an: „Vitam a. 083—987 conscriptam ex hoc codice
autographo ut videtur edidit Pez“; danach hätten wir das Original, von
Walther selbst geschrieben. Sehr prüzis, dabei aber merkwürdig flüchtig,
sagt Schönbach, Anz. f. d. A. 6, 1880, 156: ,,die einzige Hs. des Gedichtes,
welche genauer ins Jahr 983 zu setzen ist“ usw. Da der Tod des Bischofs
(987) in ihr erwähnt wird, kann sie unmöglich ins Jahr 983 gesetzt werden;
vermutlich liegt ein Versehen vor, Schönbach wollte wohl schreiben ‚welches‘,
denn das Gedicht muß man wirklich ins Jahr 983 setzen nach den Schluß-
versen
Hee ypolgvita Waltherus ab urbe Nemeta
Pro vice Christophori metrica depinxit amussi,
Cum primum regno successit Tercius Otto.
W. Meyers Ansicht gegenüber, die Einrichtung des Ganzen, insbesondere
der Über- und Unterschriften der einzelnen Bücher, kónnten den Gedanken
erwecken, daB wir in der Hs. das Autograph des Dichters selbst besitzen,
weist Harster I, S. 8 auf allerlei Schreibfehler hin, die es doch recht zweifel-
haft machten, ob wirklich der Dichter selbst so geschrieben haben könnte;
viele seien freilich von derselben oder einer gleichzeitigen Hand verbessert
worden, viele aber auch stehen geblieben, z. B. proslamba nomenon, wo
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 181
erst eine spätere Hand einen Verbindungsstrich gezogen hat, und ähnliches
mehr, was man dem Dichter selbst kaum zumuten dürfe. Auch sei der Um-
stand bei einem Original recht auffallend, daß auf den 41/, Seiten leeren
Pergaments, die zwischen der metrischen und der prosaischen Passio stehen,
in ungewöhnlich großen Buchstaben ein Hymnus auf den Erzengel Michael
eingetragen sei. (Warum das bei einem Original auffallend sein soll, ist mir
nicht ganz klar.) Pannenborg sagt kurz ohne Begründung GGA. 1879,
634 „eine Abschrift desjenigen Exemplares, welches der Verfasser nach
987 seinen Salzburger Kollegen schickte“. Ähnlich auch K. Richter. Nicht
ganz deutlich schließlich Manitius Lttg. 2, 503: ,, Jedenfalls vereinigte Walther
später alle die zur Geschichte seines Werkes gehörigen Briefe mit demselben,
und eine solche Abschrift aus St. Emmeram ist als einzige Überlieferung
auf uns gekommen“. — Einen ganz eigenartigen Standpunkt nahm, um auch
das noch zu erwühnen, Nolte in der Besprechung der Harsterschen Ausgabe
Za. f. d. österr. Gymnasien 30, 617ff. ein: „Leider ist der Codex reich an
Corruptionen und, wie Dr. Harster richtig bemerkt, kein Original. Ich bin
der Ansicht, daB er wie die Mehrzahl der vorhandenen Hss. kopiert wurde
aus einem Codex, der durch Alter, Gebrauch, Feuchtigkeit abgenutzt, viel-
leicht hie und da durchlöchert ziemlich unleserlich geworden war. Unter
solchen Umständen ergänzten die Abschreiber das unleserlich Gewordene
oder Verlorengegangene, so gut sie es vermochten“. Eine solche — aller-
dings ganz unbewiesene und unbeweisbare — Sachlage vorausgesetzt, muß
man dann allerdings die Berechtigung in Anspruch nehmen, den korrupten
Text dureh starke Ánderungen wieder in Ordnung zu bringen, und Nolte hat
denn auch von dieser Berechtigung reichlichen Gebrauch gemacht und an
Konjekturen nicht gespart; leider hat er ihnen keine Erklärungen mit auf
den Weg gegeben, deren sie dringend bedürfen, einige wirklich gute Ver-
besserungen ausgenommen, Diese ganze Methode ist recht veraltet, wir
können die Behauptung, daß wir in 14798 die Abschrift einer stark beschä-
digten Vorlage hätten, ohne Schaden beiseite lassen. —
Ist clm 14798 Original oder eine in Salzburg, vielleicht auch in Regens-
burg, wohin ja das Original verliehen werden konnte, gemachte Abschrift?
Will man der Wahrheit näher kommen, so muß man die Hs. genauer be-
trachten als bisher geschehen ist. Harster, ebenfalls ein Landsmann des
Dichters, der ihm sonst so außerordentlich viel Mühe widmete, hat in dieser
Beziehung mancherlei zu tun übriggelassen.
Die Hs. besteht aus zwei nicht zueinander gehörenden Teilen: f. 1—70
enthalten Walthers Passio des Christophorus mit den verschiedenen dazu-
gehörigen Stücken, f. 71—92 bilden einen zweiten für sich stehenden Kodex,
182 K. Strecker
der von einer etwas früheren Hand, 9. bis 10. Jhdts., geschrieben ist; er wurde
später mit dem Christophoruskodex vielleicht deswegen zusammengebunden,
weil er ebenfalls hagiographisch ist; f. 71r—86v steht die Vita Euphrosynae,
Bibl. hagiogr. Nr. 2722, und f. 86v—92v die Passio Felicis et Regulae, Bibl.
hag. 2891.
Uns beschäftigen nur Bl. 1—70. Walthers Werk besteht aus einer ganzen
Reihe von Teilen, die hier kurz in der Reihenfolge der Hs. aufgeführt seien.
Den Anfang macht die Widmungsepistel an die Salzburger (Prosa). Es folgt
der Prologus in Scolasticum (metrisch), die Praefatio ad invitandum
lectorem idonea (metrisch) und der Primuslibellus de studio Poetae,
qui et Scolasticus, darauf die metrische Passio in 5 Büchern und die
prosaische Epistel an Hazecha. Nach 4!/, leeren Seiten, die später beschrie-
ben worden sind, beginnt dann der prosaische Prologus de vita s. Christo
phori, an den die prosaische Passio sich reiht. Diese endet auf f. "Or,
auf f. 70v war eine Balderich gewidmete Miniatur geplant, die von einem
aus vier Hexametern gebildeten Rechteck, fast Quadrat eingerahmt war.
Die Hexameter mit ihrer Widmung an B. sind eingetragen, die Miniatur
selbst ist nicht zur Ausführung gelangt. Man glaubt zwar Spuren von einigen
Vorzeichnungen, Linien und Halbkreisen, zu erkennen, die Ausführung. ist
aber aus irgendeinem Grunde unterblieben.
Sieht man nun f. 1—70 genauer an, so erkennt man mit Überraschung,
daB man es mit zwei, oder eigentlich drei Handschriften zu tun hat, die
später vereinigt worden sind. Die Zusammensetzung ist folgende: die erste
Lage besteht lediglich aus einem Doppelblatt; von diesem ist die erste Hälfte,
das erste Blatt, als Schutzblatt außen leer (im 12. Jh. hat jemand mit
Minium eine Mitra darauf gemalt, die auf dem Kopf steht, im 14. Jh. wurde
Vita sti xpoferi metrice et prosayce darauf geschrieben), während die
ganze Versoseite der in roter Capitalis ausgeführten Widmung Epistola
Waltheri subdiaconi ad collegas Urbis Salinarum directa vorbe-
halten ist. Das Blatt ist nicht numeriert. Auf f. 1r, 1v ist dann der Wid-
mungsbrief selbst eingetragen, Inc. Dominis liutfredo, Expl. placuit
vocari. Dies Doppelblatt war noch nicht mit dem folgenden ersten Qua-
ternio vereinigt, als es beschrieben wurde, das erkennt man deutlich daraus,
daB der letzte Satz der Widmungsepistel Titulum uero — placuit vocari
mit kleineren Buchstaben geschrieben und von dem Worte propter an enger
zusammengepreBt worden ist, der Schreiber muBte eben mit dem zur Ver-
fügung stehenden Raume auskommen. Hätte die Epistola, als sie hier ein-
getragen wurde, schon zum Kodex gehört, also in einer abzuschreibenden
Vorlage gestanden, so würde der Schreiber sich wohl nicht so eingeschränkt,
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 183
sondern auf der folgenden Seite, f. 2r, weitergeschrieben haben. Wie mir
scheint, läßt sich schon hieraus mit einiger Wahrscheinlichkeit der Schluß
ziehen, daB unser Kodex nicht aus dem nach Salzburg geschickten
Exemplar kopiert, sondern mit ihm identisch ist. Warum übrigens
dieser letzte Satz noch unbedingt zugefügt werden mußte, ist nicht klar,
er hinkt merkwürdig nach. Bemerkt sei noch, daß diese Widmungsepistel
wohl von derselben Hand geschrieben ist, wie der übrige Kodex. Freilich,
wenn man die Hs. zum ersten Mal aufschlägt und f. 1v, den Schluß des
Briefes, neben f. 2r, dem Anfang des Prologus, sieht, urteilt man bestimmt
anders, durch längeres und häufiges Vergleichen bin ich zu der Überzeugung
gekommen, daß für beide derselbe Schreiber angenommen werden muß.
Es folgen in der Hs. zunüchst fünf Quaternionen: 1) f. 2—9, die inneren
Blätter 5, 6 hängen nicht zusammen, sondern sind eingeheftete Einzelblätter.
2) f. 10—17. 3) f. 18—25; auch hier sind die inneren Blätter 20, 21 Einzel-
blätter. 4) f. 26—33. 5) f. 34—41. Daran schließt sich ein Ternio, drei zu-
sammenhängende Doppelblütter f. 42—47; doch sind nur die ersten vier
Blätter, 42—45, ganz beschrieben, von f. 46r enthält nur die obere Hälfte,
10 Zeilen, den Schluß der Epistola ad Haz., die also zur metrischen Passio
gehört. Der Rest des Ternios, f. 46r zur Hälfte, 46v, 47r, v, blieb zunächst
leer. An das leere Blatt 47r,v schließen sich zwei Quaternionen, f. 48—554
und 56—63, von denen wieder zwei Blätter nicht zusammenhängen, und
schließlich folgt eine Lage von 7 Blättern; das siebente ist angeheftet, auBer-
dem sind aber auch die Blätter 66, 67 einzeln eingefügt; f. 48—70r enthalten
die Prosa und davor den Prologus de vita s. Christophori; der SchluB steht
auf 70r, auf 70v die obenerwühnten Anfänge einer geplanten aber nicht
ausgeführten Miniatur. Die Texte sind auf f. 48—70r von derselben Hand
geschrieben wie f. 1—46, die Ausstattung ist dieselbe, die Seiten haben eben-
falls 20 Zeilen, trotzdem kann man aber feststellen, daB diese letzten Lagen
mit der Prosa (von 48v an) als eine selbstándige Handschrift gedacht waren,
denn der Text beginnt erst auf S. 48v. Das hat m. E. nur dann Sinn,
wenn diese leere Seite 48r als Schmutzblatt die AuBenseite einer eigenen
Handschrift bilden sollte, nicht aber, wenn diese drei Lagen f. 48—70 von
vornherein dazu bestimmt waren, als Fortsetzung des metrischen Christo-
phorus hinter 47v angebunden zu werden. Sie können um so weniger zu
diesem Zweck geschrieben sein, als der metrische Christophorus ja gar nicht
die letzte Lage der ersten Handschrift füllt, sondern 31/, Seiten leer läßt.
Sollte von Anfang an der prosaische Christophorus auf den metrischen folgen,
—
* In der Hs. sind die Blätter von 50 an nicht mehr numeriert außer 60 r, 70r.
184 K. Strecker
so hätte man auf S. 46r fortgefahren zu schreiben. Man darf überhaupt die
beiden Bearbeitungen des Stoffes, die metrische und prosaische, nicht als
ein Werk ansehen, das gewissermaßen als ein Corpus dem Bischof überreicht
wäre, sondern sie sind zu verschiedenen Zeiten fertiggeworden, und zu ver-
schiedenen Zeiten überreicht worden, das geht für mich daraus hervor, daß
jede eine eigene Widmung an Balderich hat, beide Widmungen aber teil-
weise dieselben Gedanken fast mit denselben Worten aussprechen, was m. E.
kaum möglich wär, wenn sie zu einem Werke vereinigt gewesen wären.
Vgl. Harster II, S. 6, 24 omnibus inversam vitiis obducito pennam,
S. 108 erratis pennam invertas. 6, 25 proice quisquilias. S. 108
superflua reseces. S. 6, 25 hiantes oblinerimas. S. 108 rimas hian-
tium suppleas. S. 6, 26 dictaque commodius in gratum suscipe
munus. S. 108 commode dictis surrideas, Zu dieser Selbstándigkeit
der Prosa stimmt es nun vortrefflich, daB sie in der erhaltenen Hs. ein eigenes
Schmutzblatt hat.
Was folgt aus dem Dargelegten? Daß elm 14798 die genaue Abschrift
des von Walther nach Salzburg geschickten Exemplars ist, scheint so gut
wie ausgeschlossen zu sein, man hätte ohne Zweifel die 41/, Seiten, 46r ff.,
eingespart, hátte von der Lage, die mit der Prosa beginnt, nicht die erste
Seite 48r leer gelassen, hütte schlieBlich den Widmungsbrief nicht auf ein
einzelnes Doppelblatt geschrieben, wobei man sich zum SchluB mit dem
Raum so behelfen mußte. Dazu kommt noch ein merkwürdiger Umstand:
die Hs., wie sie uns jetzt vorliegt, stimmt nicht zu der Widmung an die Salz-
burger. Wenn es dort heißt, Harster II, S. 1: Libellum nostrae modula-
tionis, quem visendi gratia vestra postulavit adoptio, quatenus
opera fidem praebeant dictis, iuxta promissum in promptu habe-
tis, so paßt dieser Ausdruck nur für f. 2—47, Nehmen wir an, daß nur der
metrische Christophorus, der Libellus modulationis, mit dem mannig-
faltigen Beiwerk, Prologus, Praefatio, Epistola ad Hazecham und Widmung
nach Salzburg geschickt werden sollte, so erklärt es sich, daß die letzten
31/, Seiten leer blieben; wenn von Anfang an die Beigabe der Prosa beabsich-
tigt wurde, so ist diese Verschwendung nicht zu begreifen, noch weniger ver-
steht man, weshalb die AuBenseite des ersten Quaternios der Prosa, 48r,
frei blieb. Warum der Autor sich entschloB, die Prosa beizugeben, kónnen
wir nicht wissen. Jedenfalls aber steht bei dem dargelegten Tatbestande für
mich fest, daß 14798 keine Abschrift des Dedikationsexemplars ist,
sondern dieses selbst, wie W. Meyer annahm.
Leider muß zugestanden werden, daß wir auch bei der Annahme, 14798
sei das Geschenk an die Salzburger auf große Schwierigkeiten stoßen. Wa-
Die Handschrift des Christophorus von Waither von Speyer 185
rum ist die Prosa entgegen der zuerst bestehenden Absicht später zugefügt
worden? Und wenn sie ursprünglich nicht für den Geschenkband bestimmt
war, wie kommt es dann, daß sie gerade so geschrieben ist, von derselben
Hand, auf Blättern desselben Formats, 20 Zeilen auf der Seite, die ganze
Ausstattung dieselbe ist? Eine einfache Lösung wäre es, wenn man annehmen
könnte, Walther hätte die ganze Hs. selbst geschrieben, dann hätte es nichts
Auffallendes, wenn er das Exemplar der Prosa, das er etwa Balderich über-
reichte, gerade so ausstattete, wie später die Hs. für die Salzburger, ja, man
könnte sich denken, daB beide Teile unserer Hs., die metrische Behandlung
wie die Prosa, ursprünglich dem Balderich gehört hätten und nach des
Bischofs Tode dem Dichter zurückgegeben wären. Doch ist das kaum möglich,
denn der Brief an Hazecha, der den ersten Teil beschließt, ist ja nach des
Bischofs Tode geschrieben.
Und noch eine Schwierigkeit. Zu der Annahme, daß die Prosa ursprüng-
lich selbständig war, stimmt es nicht, daß die Lagen der Hs. von f. 2 an durch-
numeriert sind! Fol. 9v, 17v, 38v, 41v, 55 v, 63v sind die Kustoden deutlich
lesbar, f. 25 v und 47v sind sie (III und VI) wegradiert; ob auf dem Schluß-
blatt 70 v eine Zahl steht, kann ich nicht erkennen. Diese Durchnumerierung
spricht wohl nicht dagegen, daB die Prosa ursprünglich nicht mit der metrischen
Bearbeitung zusammenhing, sie kann ja erfolgt sein, als der ganze Kodex
zusammengestellt wurde, notwendig war sie, wenn die Hs. nicht sofort ge-
bunden wurde, wie das ja nicht selten war (vgl. Wattenbach, Schriftwesens,
995), wenn man das auch bei einem Geschenkbande nicht gern annehmen
möchte. Daß die Lagen eine Zeitlang lose übereinanderlagen, scheint daraus
hervorzugehen, daß die äußeren Blätter der Lagen vielfach anders, dunkler
gefärbt sind als die inneren; am meisten fällt es bei IL, III., IV., V. auf.
Gegen diese Annahme scheint nun aber eine andere Tatsache zu sprechen:
sämtliche Lagen und auch das Doppelblatt mit der Widmung am Anfang
haben in der halben Hóhe der Seite ein Heftloch, das bei dem jetzigen Ein-
band nicht benutzt ist. Wenn feststánde, daB der jetzige Einband auf den
Binder zurückgeht, der unseren Kodex mit dem obenerwühnten hagio-
graphischen zusammenband, so würde man zu der Vermutung gedrängt, daß
jenes jetzt unbenutzte Heftloch auf den ersten Einband zurückgeht, und
den móchte man doch wohl vor die Übersendung nach Salzburg setzen.
Volle Klarheit darüber zu gewinnen scheint schwer, fast aussichtslos. Sicher
aber ist es mir, daB wir den Geschenkband haben.
Nun aber noch eine Frage: Folgt daraus ohne weiteres, daB wir Walthers
Autograph besitzen? W. Meyer hat die Frage nicht so gestellt, ihm ist das
letztere selbstverständlich, während Harster umgekehrt zu schließen scheint,
186 K. Strecker
wenn die Hs. nicht von Walther geschrieben sei, so könne sie nicht das nach
Salzburg geschickte Original sein. Beides scheint mir nicht ohne weiteres
gewiß zu sein; ist es denn nicht denkbar, daß Walther einen Kodex, den er
verschenken wollte, von einem anderen schreiben ließ, oder einen schon vor-
handenen schickte? Wie schwer es ist, nachzuweisen, daß wir dies und das
Autogramm aus dem MA. haben, ist bekannt, darum lohnt es sich, der Frage
nachzugehen, selbst wenn eine ganz klare Entscheidung sich nicht ergeben
sollte. Jedenfalls lohnt es sich deswegen, weil dabei einiges Licht auf Walthers
Werk fällt, das der Erläuterung noch sehr bedarf.
Einige Beobachtungen scheinen die Annahme zu bestätigen, daß wir
Walthers Autogramm haben. In dem mehrfach erwähnten Widmungsbrief
an die Salzburger folgen auf den Schluß iterum iterumque valete noch
die merkwürdigen Worte Aegritudo et infirmitas infirmavit literas.
Bedeuten die literae die Buchstaben, also die Schrift, oder den Inhalt?
Meiner Ansicht nach kann sich der Ausdruck nicht auf den Inhalt beziehen —
sollte man überhaupt an den Inhalt des Briefes oder des ganzen Werkes
denken? —, sondern nur auf die äußere Form, die Schrift, wenn man auch
nicht recht einsieht, inwiefern es da einer Entschuldigung bedarf, denn sie
unterscheidet sich nicht wesentlich von der auf den andern Blättern. Der
Mann, der in diesem Briefe zu seinen Kollegen spricht, ist Walther. Wenn am
Schluß die Entschuldigung wegen der schlechten Schrift steht, so scheint
sie doch eigentlich nur Sinn zu haben, wenn der Brief von dem Sprechenden
selbst geschrieben ist, nicht von einem namenlosen Schreiber. Ferner: Zu
Anfang in der Anrede des Briefes steht Waltherus quod magnis auf
Rasur wie es scheint von erster Hand. Ist es denkbar, daß ein Schreiber
gleich zu Anfang seiner Tätigkeit den Namen seines Auftraggebers falsch
geschrieben oder ausgelassen hatte, so daß schon hier eine Rasur nötig wurde,
um ihn einzufügen? Man wird zugestehen, daß diese Anstöße sich leichter
erklären, wenn Walther selbst der Schreiber ist. — Auch sonst ist einiges
anzuführen, was dafür sprechen könnte. Die Verse 1, 87—91 sind f. 8T von
derselben Hand, aber wie es mir scheint, spáter eingetragen, die Zeilen stehen
enger aneinander, so daß die Seite 21 Zeilen hat. Von Rasur ist nichts zu
bemerken, so kommt man zu der Vermutung, da8 der Raum leer gelassen
war und dann vom Verfasser, nicht von einem Schreiber ausgefüllt wurde.
Áhnlieh steht es auf der Versoseite mit V. 106—113, die auf Rasur ge-
schrieben sind. Auch f. 51 Z. 5—8 haben wir den Fall, daß man in dem
Schreiber auch den Verfasser zu erkennen glaubt.
Aber es spricht doch gar mancherlei dagegen. Wer W. Meyers Meinung,
wir hätten das Autogramm des Dichters, beitreten will, muß sich unbedingt
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 187
mit dem Einwand abfinden, den Harster I, S. 8 mit vollem Recht gegen
jenen erhoben hat: er verweist auf die zahlreichen Schreibfehler. Es ist
richtig, der Schreiber hat auffallend viel Fehler gemacht, die Hs. ist teil-
weise voller Rasuren und Korrekturen von einer gleichzeitigen Hand. Es
ist schwer zu entscheiden, ob es die erste Hand ist, ich bin geneigt es anzu-
nehmen, obwohl die Tinte zuweilen anders ist, auf alle Fälle ist die Korrektur
bald erfolgt. Aber viele Schreibfehler sind nicht korrigiert: ist es denkbar,
daB der Dichter solche Fehler machte und sie nicht einmal korrigierte?
Hier erhebt sich wieder eine Frage, die Harster sich offenbar gar nicht
gestellt hat, die aber zunächst geklärt werden muß: was ist als Schreibfehler
anzusprechen? Ich muß bitten, hier eine kleine Abschweifung zu entschul-
digen, die Sache ist prinzipiell nicht uninteressant. Wenn man foronte
statt fronte liest, lacorum statt locorum, fronsitan statt forsitan,
so sind das natürlich Schreibfehler, und diese können auch dem Verfasser
selbst in die Feder kommen, auch wohl bei einer Revision übersehen werden.
Wenn solche Fälle sich häufen, wird man freilich bedenklich werden und
lieber den bekannten gedankenlosen Schreiber zur Aushilfe heranziehen.
Doch ist hier dringend Vorsicht geboten. Harster I, S. 8 erklärt Schreib-
weisen wie Passiphen (Pasiphaen), Phoetontis (Phaetontis), Phyta-
gorae (Pythagorae), Agrimnia (Agrypnia) für Schreibfehler und
korrigiert die Wörter einfach nach der klassischen Schreibweise ab. Das ist
methodisch natürlich ganz falsch. Woher weiß der Herausgeber, daß Walther
nicht Passiphen usw. geschrieben hat? Bei solchen orthographischen und
ähnlichen Fragen soll man sich im MA. nicht übereilen, am wenigsten bei
Walther, der uns mit seinem Vokabelschatz allerlei Rätsel aufgibt. Wenn
wir diese vorläufig nicht alle lösen können, so haben wir damit noch nicht
das Recht, so etwas als Schreibfehler zu erklären und munter darauflos zu
korrigieren. Nehmen wir als Beispiel 1,81 Nomius atque Pales hinnidum
plebe secuta. Harster macht aus hinnidum kurzerhand hinnientum
(dreisilbig), die Korruptel sei ja auch nicht schwer zu erklären, in hin nientum
hätten e und t sich zu d verbunden, hinnientes = equi finde sich zweimal
bei Apulejus. Nun, wenn diese Korrektur richtig ist, so ist damit auch die
Frage beantwortet, ob Walther der Schreiber ist, denn daß er selbst hinni-
entum in hinnidum verdorben hätte, ist ja wohl nicht anzunehmen. Aber
nach meinem Urteil ist es ganz unzulássig, so vorzugehen; wenn ich dazu
komme den Walther zu drucken, so wird man bei mir die Form hin nid um
finden, falls sich nicht noch irgendeine andere Lósung findet. Ein Beispiel
dafür, wie sehr man sich solche Ánderungen überlegen muB, will ich etwas
eingehender besprechen. In Buch I handeln V. 182—203 von der Musik,
188 K. Strecker
V. 191 ff. von den fünf Intervallen, und zwar heißt es vom yẽvog sgunlacıor
V. 194 Tripla quater triplices profert asnomia cantes. Harster
korrigiert die unheimliche Stelle mühelos zu profert harmonia cantus.
Begründung: „harmonia glaube ich statt des handschriftlichen asnomia
lesen zu müssen, und zwar braucht hierbei nur eine Verschreibung von r in s,
und eine Umstellung von m und n angenommen zu werden, das h fehlt auch
V. 198 in armonicam.“ Nun, daß „nur“ eine Verschreibung von r und s
angenommen werden muß, klingt fast so, als urteilte Harster nach unserer
gedruckten Antiqua, ebenso wie oben, wo er d aus et entstanden sein läßt,
aber er hatte doch die Hs. selbst gesehen und hätte wissen können, daß r
und s damals gar nicht so ähnlich sind. Und vier Verse später ist dies hier
so grausam verstümmelte Wort richtig geschrieben! Harster hat eins dabei
gar nicht beachtet: das Wort asnomia steht ebenso wie cantes auf Rasur!
Wenn ein Wort wegradiert wird, damit es durch ein neues, richtigeres ersetzt
werde, wird man nicht ohne weiteres glauben dürfen, daß der Korrektor,
ob es nun derselbe Schreiber oder ein anderer war, sich in dem als Korrektur
eingesetzten neuen Worte gleich zweimal verschrieb. Nach meiner Ansicht
dürfen wir asnomia ebensowenig ändern wie das erwähnte hinnidum,
wenn wir auch zugestehen müssen, daß wir das Wort nicht verstehen; hoffent-
lich gelingt es noch einmal, das betreffende Glossar oder den Kommentar
festzustellen, dem Walther es entnahm. Solche Quellen benutzte er zweifel-
los, wie z. B. das Wort clasendix, 6, 184 beweist, und ebenso an unserer
Stelle das Wort cantes. Auch dies steht auf Rasur, auch hier soll sich der
auf Rasur korrigierende Schreiber verschrieben haben. Höchst merkwürdig.
Harster bemerkt zu der Stelle: „desgleichen ist unzweifelhaft cantus mit
Pez statt cantes zu schreiben, ebenso wie 5, 93.“ Wenn das nur so un-
zweifelhaft wäre! V. 1, 194 wurde oben abgedruckt, 5, 93 lautet: Quid
tardas fragiles impellere, psaltria, cantes? Diese doppelte Ver-
schreibung cantes statt cantus ist bei einem so geläufigen Worte doch
sehr wunderbar (1,86, 1,93, 1,186 ist es richtig geschrieben), und dazu
findet sich V. 1,194 dieser angebliche Schreibfehler auch noch auf Rasur
ebenso wie bei as nomia. Und man sehe sich die Verse an: beide Male, 1, 194
und 5,93, wird durch Harsters Ánderung ein korrekter leoninischer Reim
zerstört!
Wie steht es denn mit dem Reim bei Walther? Harster II, S. V hat
gerade für die beiden hier in Betracht kommenden Bücher den Reim
untersucht, ich kann kurz auf seine Ergebnisse verweisen: Buch I hat nach
ihm unter 271 Versen 198 reine Leoniner, unrein sind im ganzen 44, reimlos
29, also etwas mehr als der zehnte Teil. Im fünften Buche ist es nicht
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 189
viel anders, dort sind von 250 Versen gerade 30 reimlos®. Also kann man
sagen, daß ungefähr % der Verse leoninisch sind, der leoninische Reim
ganz offenbar gesucht wird. Und Harster zerstört in beiden Büchern durch
die Anderung cantus je einen leoninischen Vers! Ist das methodisch richtig?
Er weiß sich allerdings zu helfen, II, S. VI, „wenn der Reim als zweites den
Versbau bestimmendes Prinzip in Geltung ist, so brauchen wir uns nicht zu
wundern, daß in der Hs. unseres Gedichtes von dem an den Gleichklang
gewohnten Abschreiber mehrfach Fehler gemacht wurden“ mit Beziehung
auf 1,194, 5, 93. Ganz hübsch ausgeklügelt, aber nicht eben überzeugend,
vor allem nicht, weil es an beiden Stellen sich um dasselbe so bekannte Wort
cantus handelt. Kann man denn nicht an cantes festhalten? Walther
hat so manche merkwürdigen Wörter, daß man sie nicht ohne Prüfung
hinauswerfen sollte. So auch hier. Im Lexikon des Papias, übrigens auch
bei Du Cange zitiert, steht: cantes proprie sunt fistulae, quarum
sonus musicam edidit. Vgl. auch Osbern, A. Mai, Class. auct. 8, 138.
l, 193f. heißt es: diplasii octonas erexerat archia chordas, tripla
quater triplices profert aanomia cantes. Ist diese Parallele von chor-
das und cantes nicht vortrefflich? Und merkwürdig, 1, 93f. haben wir
dieselbe Parallele, hier erst cantes, dann chordas. Das soll Schreibfehler
sen? eantes ist an beiden Stellen beizubehalten. Auch sonst geht Harster
dem Reim schonungslos zu Leibe. 2, 71 wird der reine Reim neci-trilingui
durch seine Änderung necis zerstört, ohne daß dadurch etwas gewonnen
würde. Ebenso mitleidslos geht er 6, 30 mit dem Text um, indem er aus dem
reinen Reim bello-praedo den unreinen bello-praeda macht; auch hier
ist ihm ausdrücklich der reine Reim ein Zeichen der Korruptel! 1, 207 et
primum Boreae gelida defixit ab aure (es handelt sich um den nórd-
liehen Polarkreis). Es ist ein guter Leoniner, freilich ist mit dem Ohr des
Boreas nicht viel anzufangen, darum macht Harster aura daraus. Der
gute Leoniner ist dahin, wenn man ja auch den Reim auf der vierten Hebung
gelida-aura gelten lassen kann. Aber was heißt das? Mir ist es wahrschein-
licher, daB v. Winterfeld arce mit Recht für aure eingesetzt hat, dann
ist Reim und Sinn gerettet.
Noch einen fünften Leoniner muß ich vor Harster schützen. 1, 55 In-
strepuit salibus prae cunctis Alphesiboeus, Euterpe tibiis. Ist
das richtig? salibus hieße doch wohl „mit Witzen'* (Osbern: sales verba
iocose inventa), das paßt doch schlecht zu instrepuit und zu der Pa-
* Meine Zahlen stimmen nicht gans zu denen von Harster, doch kommt es ja
hier nicht auf den einzelnen Fall an.
190 K. Strecker
rallele Euterpe tibiis. Harster hält es für verderbt und ich glaube auch
nicht recht daran. Wie ist zu helfen? Nach Vergil, Ecl. 5, 73 saltantes
satyros imitabitur Alphesiboeus druckt Harster Instrepuit saltu
usw. Der schöne Leoniner ist wieder dahin und für den Sinn nicht viel ge-
wonnen, neben Euterpe tibiis paßt saltu nicht besser als salibus, und
die Änderung wäre doch sehr bedeutend. Aber Alphesiboeus kann nicht nur
tanzen, sondern nach der 8. Ecloge auch singen, darum ist doch sehr zu
erwägen, ob nicht auch hier v. Winterfeld mit seiner Änderung fidibus
für salibus recht hat. Dann ist der Leoniner auch hier gerettet. Die beiden
letzten Stellen zog ich heran, weil sie für den Reim wichtig sind, doch passen
sie insofern nicht hierher, als in ihnen wirklich eine Korruptel vorliegt. —
Noch eine Stelle möchte ich schließlich besprechen, weil Harster I, S. 8 be-
sonderes Gewicht darauf legt. Prosa Kap. 29 heißt es von den Wundern
am Grabe des Heiligen Ubi inter cetera miraculorum genera caecis
visus, surdis auditus, claudis gressus, mente etiam captis prior
reparatus est actus. Also: Die Blinden erhalten das Gesicht wieder,
die Tauben das Gehör, die Lahmen das Schreiten, und die geistig Umnach-
teten, die Irren den prior actus. Was ist das? Wenn der Text so über-
liefert wäre, müßte man in Erwägung ziehen, ob er nicht korrupt ist. Aber
in der Hs. steht gar nicht so, sondern manu etiam captis! Kann etwas
zu dem prior reparatus est actus besser passen? Die an den Beinen
Gelähmten können wieder gehen, die an den Händen Gelähmten wieder
arbeiten!
Nach dieser Digression komme ich zu meinem Thema zurück. Ich habe
gezeigt, daB man den Text Walthers nieht unvorsichtig und unnótig ándern
* Daß Noltes Korrekturen meist recht bedenklich sind, habe ich oben angedeutet.
Da ich eben bescháftigt bin, die Lesarten des Kodex zu verteidigen, so móchte ich
hier die Gelegenheit benutzen, eine Probe von Noltes Textbehandlung zu geben und
eine Stelle gegen ihn zu schützen, weil auch Harster sie nicht verstanden hat,
4,231ff.Membra levamus eo, quonostraduxitorigo(— Christus) Insinuans
nobis arti dextralia callis obliquo laevum spectantia lumine ramum,
per quem mortiferae descendent pignora vitae aeternumsubiturachaos
cum plebe deorum. Harster bemerkt: „dextralia: der Gegensatz laevum —
ramum, welches letztere Wort übrigens in der Bedeutung Seitenweg weder Forcellini
noch Du Cange kennt, zeigt, daB dextralia callis nichts anderes ist als dextrum
callem oder etwa dextri callis mysteria; die Verbindung mit obliquo ...
spectantia lumine bleibt freilich eine ziemlich gewagte.“ Nolte weiß Rat, er
schlägt vor 233 zu schreiben spectantes lumen amoenum! Es bedarf keiner
Ánderung, wenn man sich klar macht, daB hier auf die Littera Pythagorae angespielt
wird, vgl. Pers. 8, 56ff. Beispiele sehr häufig, einiges bei Strecker, Cambr. Lieder,
Nr. 12, 3b. 233 arti callis ist natürlich biblisch (Matth. 7, 14).
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 191
darf. Aber wenn ich auch in einigen Fällen die Lesart der Hs. gerettet zu
haben glaube, so bleiben doch andere, wo man der Ansicht sich zuneigen muß,
daß Walther den Text nicht geschrieben haben kann. Nehmen wir die oben
schon erwähnte Stelle 1, 55 Instrepuit salibus. Ich habe mich für Winter-
feds Emendation fidibus ausgesprochen; aber ist sie paläographisch mög-
lich? Ich glaube doch: s undfsind bekanntlich sehr ähnlich und werden oft ver-
wechselt, al konnte aus id verlesen werden, wenn der Schreiber in seiner
Vorlage ein offenes a, wie es in früheren Zeiten üblich war, zu lesen glaubte.
Wenn dies ganz sicher wäre, so müßte man es als einen zwingenden Beweis
dafür betrachten, daß Walther nicht der Schreiber ist. Andere Stellen weisen
nach derselben Richtung. Mag man noch so vorsichtig mit Änderungen sein,
so ist es doch wirklich kaum zu glauben, daß der Dichter 4,60 von der Venus
Dedalia gesprochen hat, während ihm bei seinem intensiven Studium des
Vergil die Venus Idalia (Aen. 5, 760) geläufig gewesen sein muß, die er
doch kaum mit Daedalus zusammengebracht haben kann. Freilich wer
will das entscheiden, findet sich bei ihm doch manches, was bei seiner guten
Schulbildung sehr stark überrascht, wenn man es auch nicht korrigieren
darf, so wenn er den Regulus gegen die Parther ziehen läßt, Praef. 22, wenn
Phrixus mit Hellas über das Meer reitet, 1,62, wenn Marsyas und Thamyris
verwechselt werden, 1,90, Helike in der Form elix erscheint, 1,210, Aurora
in der Form aura 4,179, 6,167 ? Trotzdem wird es schwer, an eine Venus
Dedalia zu glauben. Und so sind doch manche Stellen, die gegen ein Auto-
graph zu zeugen scheinen, beispielsweise (es handelt sich um die Feldmeß-
kunst) 1,177 Arripiens radium semetretas fecit agrorum. Harster
hat sich zu helfen gesucht, indem er schrieb radium metretam feeit.
Die Lösung ist mir nicht sehr wahrscheinlich, wenn ich auch keine bessere
vorzuschlagen weiß, aber sicher ist es, daß hier ein schlimmer Fehler steckt.
1,119 steht parua uetustas. Prantl hat korrigiert praua, zweifellos besser,
aber nicht ausreichend, auch hier würde ich vorziehen, was ich bei Winter-
feld fand, furva vetustas. 2,8 Samon que caput urbis erat. Samon,
Samos ist die Hauptstadt von Syrien und kann doch nicht caput urbis
genannt werden. 6,13 ist exurgent zu verbessern, 6,19 serpant. Einige
Verse sind unvollständig und nicht zu lesen; daß das bewußte Nachahmung
des Vergil sei, wird niemand Harster glauben. 5,244ff. sind unverständlich,
Harster nahm wohl mit Recht Ausfall eines Verses an. In der, Prosa sind
Stellen wie Harster II, S. 106, 15f., S. 107, 12f. irgendwie nicht in Ordnung,
am Schluß, Harster II, S. 129, 22 ist sogar der Name des Dichters falsch
geschrieben, Vultherus. Dazu kommen die ungewöhnlich zahlreichen Ra-
suren, die beweisen, daß der-Schreiber sich außerordentlich häufig verschrie-
192 K. Strecker
ben hat. So komme ich zu dem Ergebnis, daB wir zwar das nach Salzburg
gewanderte Exemplar haben, aber Walther es nicht selbst geschrieben hat,
sondern ein anderer. Da wäre es ja immer noch möglich, ja, recht nahe-
liegend, daß er wenigstens die Vorrede selbst geschrieben hätte, dann wären
wir doch noch im Besitz seines Autographs, aber wie ich schon betonte,
ich kann trotz allem nicht daran glauben, daß der Brief von einer anderen
Hand geschrieben ist als die übrige Handschrift. Freilich, der Satz aegritudo
et infirmitas usw. behält dann seine Anstößigkeit. Und wer hat die Worte
auf der ersten Rasur Waltherus quod magnis geschrieben ?
Schwierigkeit macht auch die Frage nach den Korrekturen. Vielfach
kann man ohne weiteres sagen, daß der Schreiber selbst einen Fehler berich-
tigt hat. Andere Korrekturen erkennt man auch als alt und ungefähr gleich-
zeitig, aber die Tinte ist zuweilen anders, heller, zuweilen auch dunkler.
Wo Buchstaben auf Rasur verbessert sind, ist nicht selten die Tinte ausge-
laufen und hat so von selbst eine hellere Farbe angenommen. Wenn sonst
die Schattierungen der Tinte anders sind, so kann dies daran liegen, daß
die Korrektur vielleicht einige Zeit später erfolgt ist. Man kann hier m. E.
nicht überall eine klare Entscheidung treffen, ich persönlich bin überzeugt,
daß die meisten dieser Korrekturen von der Hand des Schreibers stammen.
Noch ein kurzes Wort über die 41/, leeren Seiten in der Mitte des Kodex.
Leeres Pergament übte bekanntlich im MA. großen Reiz aus, und so sind
denn diese Seiten bald beschrieben worden; wenn Harster I, 8f., wie oben
bemerkt, sagt, dieser Umstand sei bei einem Original weit weniger begreiflich
als bei einer Abschrift, so kann ich das nicht zugeben, in der Beziehung
empfand man damals anders als wir. Von S. 46r ist, wie gesagt, nur die
obere Hälfte, 10 Zeilen, mit dem Schlusse des Briefes an Hazecha beschrieben,
die untere Hälfte, 9 Zeilen, enthält, nicht viel später geschrieben, einen
arithmetischen Traktat, Inc. Si uis inuestigare qd (= quod, gemeint
natürlich quot) numos. libras. solidos. vncias habeat aliqs. Die
Fortsetzung, ebenfalls 9 Zeilen, steht f. 46v auf radiertem Blatt. Der
Rest der Seite ist radiert, aber leer, von 47r an hat dann eine Hand des
11. Jh. mit klobigen Buchstaben eine Sequenz auf den Erzengel Michael (mit
Neumen) Inc. (A)d celebres rex eglice, A. h. 53 no. 190, eingetragen.
Die Seiten 47r, v, 48r reichten nicht ganz, so stehen die letzten Wörter am
unteren Rande von f. 48v u. 49r. Die Hs. ist dann noch einmal beschnitten
worden, einzelne Wörter des Hymnus sind infolgedessen verstümmelt, z. B.
fehlt 14,8 zweites n in administrantia, 15,5 unt bzw. int in assistunt;
vermutlich geschah dies bei der Gelegenheit, wo sie mit der erwähnten hagio-
graphischen Hs. (fol. 71—92) vereinigt wurde. Man möchte wissen, ob diese
Die Handschrift des Christophorus von Walther von Speyer 193
Sequenz noch in Salzburg oder schon in Regensburg geschrieben ist, doch
läßt sich das bei diesem ungemein verbreiteten Stück kaum feststellen.
Sie ist noch in drei weiteren Regensburger Hss. erhalten, doch liegen keine
Anhaltspunkte vor, nach denen man auf irgendwelche nähere Verwandt-
schaft schließen könnte, im Gegenteil; 6,2 spirituum in elm 14083
md 14322, letzteres nach freundlicher Mitteilung von B. Bischoff nur Auszug
aus 14083, dagegen pneumatum oder vielmehr pnematum in 14798.
91 Theologa in 14798, während die drei Regensburger mit den meisten
Has. Theologica lesen.
Im 12. Jh. war E jedenfalls in Regensburg, denn der clm 13074, 12 Jh.,
der die prosaische Passio und den Prologus aus E abgeschrieben hat, stammt
aus Regensburg. Freilich nicht aus St. Emmeram, sondern aus Prüfening.
Berlin. K. Strecker.
Histor. Vierteljahrschrift. Band %, H 1. 19
194
Kritiken.
Johannes Haller, Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen.
XI. u. 242 S. Stuttgart u. Berlin 1930, J. G. Cottasche Buchhdlg.
Mit diesem aus Vorträgen erwachsenen, fesselnd geschriebenen Buch will der
Verfasser keine gelehrte Forschung bringen, sondern dem Leser und insbesondere
der deutschen Jugend das brennendste Problem der Gegenwart, das deutsch-fran-
zösische Verhältnis in seiner Entwicklung und historischen Einheit vor Augen
führen. Aber wie stets weiß er auch hier altbekannte Tatsachen in eine neue Be-
leuchtung zu rücken, vieler irterten Fragen andere Seiten abzugewinnen und da-
durch auch die Forschung anzuregen und zu befruchten.
Die Keimzellen der Erbfeindschaft der beiden Völker erblickt er in der bei
Nachbarn fast regelmäßigen gegenseitigen Abneigung sowie in den Ansprüchen,
Wünschen und Hoffnungen, die sich in Frankreich an das vermeintliche Erbe Karls
des Großen knüpften, die aber auf die Politik des Staates lange Zeit keinen Einfluß
ausgeübt haben. Erst die Heirat Philipps des Schönen von Österreich mit Maria
von Burgund und die Bildung des habsburgischen Universalreiches drängten die
französische Politik in die Richtung nach Osten. Wie Franz I. und Heinrich IV.
sah sich auch Richelieu in der Defensive. Aber dadurch, daß er vom Bedürfnis
der Sicherheit seines Landes ausgehend, zur Offensive schritt und deutsches Gebiet
eroberte, hat er die in der Nation schlummernde Begehrlichkeit entzündet und die
französische Außenpolitk in die Bahnen gelenkt, in denen sie bis auf unsere Tage
verblieben ist. So läßt Haller „das Drama der deutsch-französischen Beziehungen“
erst mit Richelieu beginnen, das frühere ist ihm Vorspiel. Wird er schon hiermit
nicht in allem Zustimmung finden, so weicht er in der Beurteilung Ludwigs XIV.
erheblich von der herrschenden Anschauung ab. Die namentlich von A. Sorel be-
gründete Meinung, daß der Sonnenkönig Richelieus System verfälscht habe, wird
zurückgewiesen, seine Pläne waren nicht so maßlos, wie man sie hingestellt hat.
„Die wirklich großen Ziele von Ludwigs Ehrgeiz, neben denen seine Bestrebungen
und Kämpfe in Europa zu Begleiterscheinungen herabsinken, lagen auf dem Wasser
und jenseits des Ozeans“; vorwiegend deshalb hat er auch die spanische Krone
für seinen Enkel angenommen. Ich muß gestehen, daß ich das nicht unterschreiben
kann. Auch das Frankreich des 18. Jahrhunderts erscheint mir auf dem Kontinent
nicht so saturiert, wie Haller es schildert.
Das Schwergewicht des Buches liegt auf den letzten hundert Jahren, denen
von den 8 Kapiteln 5 gewidmet sind. Als das eigentliche Schicksal Frankreichs
und Deutschlands bezeichnet es dieeingehend gewürdigte Persönlichkeit Napoleons III.
Von dem Gedanken an die Gegenwart aus, der ihn nach seinem Zeugnis bei
Kritiken 195
der Arbeit nie verlassen hat, untersucht Haller besonders die Frage, weshalb das von
Napoleon gewünschte und auch von Bismarck mehrfach erwogene französisch-
preußische Bündnis nicht zustande gekommen ist. Es ist, wie die jüngst erschlos-
senen Quellen erhärten, nicht an Bismarck gescheitert, sondern an der Volks-
stimmung in Frankreich, gegen die der kaiserliche Usurpator seine eigene Politik
nicht durchsetzen konnte. Der 70er Krieg machte ein Zusammengehen der beiden
Mächte vollends unmöglich. Das hatte Bismarck sofort erkannt und daraus, wie
Haller schon in seiner Schrift über Bismarcks Friedensschlüsse dargetan hat, mit
der Annexion des Elsaß und Lothringens die Konsequenzen gezogen. Deshalb
vermag ich der These, daß seit dem Berliner Kongreß ein Zusammenschluß Deutsch-
lands, Englands und Frankreichs, ergänzt durch das deutsch-österreichische Bündnis,
ein Lieblingsgedanke des Kanzlers gewesen sei, wenigstens in dieser Form, nicht
beizupflichten. Gewiß erstrebte er 1879 eine Einbeziehung der Republik in die
ihm vorschwebende allgemeine Friedensassekuranz gegen die russischen Kriegs-
gelüste. Aber er faßte, wie er dem französischen Botschafter in Varzin ausführte,
nicht eine Koalition ins Auge, sondern das Nebeneinander von zwei Friedensgruppen,
einer deutsch-österreichischen und einer englisch-französischen Gruppe. Denn über
die Aussichtslosigkeit einer deutsch-französischen Allianz konnte er sich keiner
Täuschung hingeben. In erster Linie kam es ihm darauf an, Frankreich und Rußland
auseinander zu halten, was ihm auch, solange er am Steuer des Reiches stand,
gelungen ist. Nachdem die Republik nach seinem Sturz die langersehnte Anlehnung
an das Zarenreich endlich gefunden hatte, hat sie sich den immer wieder erneuerten
Annäherungsversuchen Deutschlands erst recht entzogen. „In ungleicher Weise
verteilt sich die Schuld; hat Deutschland wohl den Willen, aber nicht immer das
nötige Geschick bewiesen, so darf man von Frankreich sagen: es hat nicht gewollt.“
In diesem Satz faßt Haller das Resultat seiner Betrachtungen zusammen. Ganz
offen bekennt er im Vorwort, an eine wirkliche Verständigung zu denken, erscheine
ihm heute und für lange Zeit vermessen. In diesem Pessimismus trifft sich der
deutsche Historiker mit dem Franzosen Ernest Lavisse, der nach dem Weltkriege
die Überzeugung aussprach, zwischen den beiden Völkern gebe es keine Versöhnung
mehr, zum Unglück für sie selbst und für die ganze Welt.
Frankfurt a. M. Walter Platzhoff.
Geschichte des benediktinischen Mönchtuns. In ihren Grundzügen dargestellt von
Dr. Stephanus Hilpisch, Benediktiner der Abtei Maria Laach. Mit17 Bil-
dern auf 10 Tafeln. Freiburg i. Br., Herder u. Co. 1929. X, 483 S., geb. 13.50. RX.
Der Herder-Verlag hat im Jubeljahre von Monte Cassino diese Festgabe be-
schert, deren Verfasser sich bereits als Mitarbeiter an dem Prachtwerk der Abtei
Maria Laach (s. 25 S. 674) und gründlicher Erforscher der Entstehung und Organi-
sation der Doppelklöster (1928) bewährt hat. Dieser grundrißartige Überblick der
benediktinischen Ordensgeschichte ist um so mehr zu begrüßen, als das Buch von
U. Berliöre, L'ordre monastique des origines au XIIe siècle (3. Auflage, Maredsous
1924) nicht weiter gediehen ist. Es wird jedem Ordenshistoriker neben Herib. Holz-
apfels Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens (Freiburg 1909) gute Dienste
listen. Die in den Anmerkungen zusammengebrachten Literaturnachweise zeigen,
wie notwendig eine Zusammenfassung der ausgedehnten Einzelforschungen war.
Die Frauenklöster sind nicht berücksichtigt. Hierfür wird man zu Heimbuchers
16*
196 Kritiken
Werk greilen und H. C. Wendlandt, Die weiblichen Orden und Kongregationen der
katholischen Kirche und ihre Wirksamkeit in Preußen von 1818 bis 1918 (Pader-
born 1924), wo auch die neuere Literatur steht, heranziehen.
Die Einleitung behandelt die Entstehung des Mönchtums, sein Wesen und seine
Ideale: das Einsiedlertum, die Zönobiten Pachomius und Basilius. In der Ein-
samkeit der Wüste führten die Eremiten unter Hingabe des Besitzes und Verzicht
auf die Ehe das Leben der Apostel, wie es das Evangelium vorschrieb, um der Voll-
kommenheit des Heilandes möglichst nahe zu gelangen. Das Eremitentum mußte
zur Gemeinschaft führen. In Ágypten entstand die erste Klosterordnung mit dem
Gehorsamsbegriff, der schließlich zum Inhalt des klósterlichen Lebens werden sollte.
Der erste Teil beschäftigt sich mit dem hl. Benedikt und der Ausbreitung seiner
Regel. Auch im Abendlande gab es Mónchsgemeinschaften, die sich vielfach um die
Bischófe scharten. Orientalische Anschauungen verkórperten sich in dem Bischof
Martinus von Tours und Johannes Kassianus. Caesarius von Arles trat für die
„Stabilität“, die Bindung des Mönchs an den Ort seines Klosters und seiner Gemein-
schaft, ein. Auf dieser Tradition schuf Benedikt seine Regel, deren Weite und Án-
passungsfähigkeit, deren Lebensweisheit und Seelenkunde, verkörpert in der väter-
lichen Autorität des Abtes, bis heute wirksam sind. In Gebet und Arbeit erschöpft
sich das Leben der benediktinischen Klostergemeinschaft. Diese Philosophie der
benediktinischen Lebenshaltung ist jetzt in der Übersetzung von Abt Cuthbert
Butlers Buch, „Benediktinisches Mönchtum“ (Missionsverlag St. Ottilien 1929)
vortrefflich gedeutet. Von England aus, wo das irische Mönchtum (Kolumban) eine
besondere Propaganda entwickelte, erfolgte die Missionierung Deutschlands. Mit
Bonifatius kam die Benediktinerregel zur Alleinherrschaft. Gegen ihre Verwelt-
lichung richtete sich Benedikt von Aniane, über den jetzt eine Sonderschrift von
Jos. Narberhaus (Münster 1930) vorliegt.
Nachhaltiger wurde die Wirksamkeit der Reformklöster Cluny und Citeaux,
welche im zweiten Teil des Buches behandelt wird. In Italien suchten Romuald von
Camaldoli und Petrus Damiani den alten orientalischen Ereinitengedanken aufleben
zu lassen, um ihn auf die Spitze zu treiben (, Athleten der Kasteiung‘‘). In den Klö-
stern der Kluniazenser und Hirsauer kam der Chordienst wieder zu Ansehen. Je
mehr er mechanisch zu werden begann, desto rascher kam der Verfall. In Citeaux
wurde die buchstabengetreue Befolgung der Regel Benedikts verlangt. Die groß-
artige Organisation der Zisterzienserklöster unter der Autorität des Generalkapitels
und die hohe Bewertung der Feldarbeit waren die Stärke dieser Neubildung, welche
den Anstoß dazu gab, daß auch die Benediktineräbte in Provinzialkapiteln zusammen-
kamen. Der Seelsorge und Predigt nahmen sich die Augustinerchorherren und
Prämonstratenser an. Das alte Einsiedlerideal und die ursprüngliche Regel Benedikts
sollten wiederhergestellt werden durchdie Silvestriner, Cölestiner und die Olivetaner.
Die alten Grundsätze der Benediktinerregel waren nicht mehr auf längere
Dauer aufrechtzuerhalten. Der Verfall setzte ein in wirtschaftlicher, wissenschaft-
licher und geistlicher Beziehung. Die Abteien wurden Versorgungsanstalten und er-
strebenswerte Kommenden.
Die Reformen wiederholten sich. Sie werden im dritten Teil bis zur großen
Säkularisation besprochen. Voran geht Subiaco (1364), dann Padua (St. Justina)
und Valladolid. In Deutschland wurden St. Jakob in Lüttich und Kastl (Bayeın)
Ausgangspunkte einer Observanzbewegung. Gelegentlich des Konstanzer Konzils
Kritiken 197
tagten die Ábte der Mainzer Kirchenprovinz 1417 in Petershausen. Der Erfolg der
hier eingeleiteten Reformen war gering, aber die Mainzer Provinzialkapitel fanden
trotz aller Widerstände bis zum Beginn der Reformation statt. Wirksamer war der
ZusammenschluB der ósterreichischen Klóster unter Führung von Melk, das gleiche
Observanz und gegenseitige Unterstützung verlangte, aber keine Generalkapitel
kannte. Erst die Bursfelder Bewegung fand die Form einer Kongregation, auf deren
Jahreskapiteln die Reformen im Geiste der ursprünglichen Regeln angeordnet wurden.
Landesherren und Kirchenfürsten, wie Nikolaus von Cues, förderten das Werk, wel-,
ches an die Traditionen der Kluniazenser und Hirsauer anknüpfte, bis es der Re-
formation des 16. Jahrhunderts zum Opfer fiel. Aber schon die Reformbestimmungen
des Tridentiner Konzils gaben den Anstoß zur Bildung neuer Kongregationen, vor
allem in Belgien und Frankreich, wo die Tätigkeit der Mauriner für die Wissenschaft
Außerordentliches schuf. In Deutschland stieß die Bildung von Kongregationen
lange auf Widerstand. Die Eigenbrötelei der stolzen Reichsabteien und die Ab-
neigung gegen fremde Visitatoren, die päpstlicherseits vorgeschickt wurden, mögen
schuld daran gewesen sein. Die Verhandlungen der Äbte in Regensburg in den Jahren
1630/31 mit dem Ziel: in Anlehnung an die Bursfelder Kongregation, bei Wahrung
aller bischöflichen Ansprüche, eine deutsche Union zu schaffen, scheiterten. Statt
dessen gab es acht Kongregationen. Kunst, Wissenschaft und Unterricht lebten in den
einzelnen Klöstern zur Barockzeit noch einmal auf, bevor der Säkularisations-
gedanke, von Frankreich und Österreich ausgehend, wiederum den Orden nahezu
vernichtete. Mit Recht betont der Verfasser, daß für die beiden der Säkularisation
vorausgehenden Jahrhunderte noch zahlreiche Untersuchungen erwünscht seien.
Der vierte Teil gilt der Zeit der Restauration. Nach der Wiedereröffnung von
Metten (1830), lebte die bayrische Kongregation wieder auf. Aus Metten zog P. Boni-
fas Wimmer 1846 nach Amerika. Die Brüder Maurus und Placidus Wolter wurden
die Begründer der Kongregation des Klosters Beuron, wo Kunst und Liturgie eine
Auferstehung feierten. Die Askese wurde nicht nach dem Buchstaben der Regel be-
trieben, sondern den veränderten Zeitverhältnissen angepaßt. St. Ottilien in Ober-
bayern wurde 1884 als Missionskloster errichtet, und die Kongregationen von Beuron,
England und Subiaco bestimmten 1887 Sant' Anselmo in Rom als allgemeines
Studienkolleg. Dieses wurde Sitz des Primas der von Leo XIII. 1893 begründe-
ten Union aller Benediktiner-Klóster, welche die Selbstándigkeit der einzelnen
Kongregationen nicht aufhob. Auch jedes Kloster bewahrt seine Selbständigkeit,
soweit das Hausgesetz der Regel es zuläßt. „Solange eine Institution sich selber treu
ist, solange wird sie bestehen und wirken“ (S. 389). Heute bestehen 165 Männer-
klöster in 15 Kongregationen, die sich über die ganze Welt verteilen. Sie sind be-
sonders aufgezählt (S. 390ff.). Für Deutschland kommen in Frage die bayrische,
Beuroner (17), Sublazenser (Siegburg, Ilbenstadt, Kornelimünster), österreichische
von der Unbefleckten Empfängnis, österreichische vom hl. Joseph und die Kongre-
gation von St. Ottilien.
Von Bildern sind beigegeben die Klóster Subiaco, Montecassino, Cluny, Hirsau,
St. Justina in Padua, Kastl, Bursfeld, Fulda, Melk, Solesmes und Beuron.
Das Register berücksichtigt außer den Personen- und Ortsnamen auch die Sachen,
kónnte aber in dieser Richtung erschópfender sein. Die Quellen- und Literatur-
angaben im Anhang genügen für die erste Orientierung durchaus.
Breslau. | Wilhelm Dersch.
198 Kritiken
Otto Vehse, Die amtliche Propaganda in der Staatskunst Kaiser
Friedrichs II. München, Münchner Drucke 1929. 247 S. 8, 8.— RA.
Die vorliegende Arbeit, eine Dissertation aus der Schule Brackmanns. stammt
aus dem Jahre 1924, konnte aber durch die Ungunst der Zeiten erst jetzt (als 1. Bd.
der , Berliner Forschungen zur mittleren u. neueren Geschichte") veróffentlicht
werden. Man ist geneigt, zunächst Wolfram von den Steinen, „Das Kaisertum
Friedrichs II. nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe“ (1922) zum Vergleich
heranzuziehen. Aber zwischen diesem für die geistigen Strömungen, die den Kreis
der kaiserlichen Diplomaten beherrschten, so aufschlußreichen Buche und dem vor-
liegenden besteht ein methodischer Unterschied: von den Steinen setzt still-
schweigend voraus, daB die politischen Denkschriften der Regierung Friedrichs IL
dessen persönliche Meinungen wiederspiegeln; im Hintergrunde steht ein mehr
geschautes als begründetes System von Friedrichs II. Staatsmetaphysik. Man weiß,
daß E. Kantorowicz diesen Standpunkt vertreten hat und Kampers von ihm
abgerückt ist. Ich selbst habe vor kurzem darauf hingewiesen, daß man erst die
Persönlichkeit des Petrus de Vinea und die Staatslehre der Capuaner Schule heraus-
arbeiten müsse, ehe man an den Kaiser selbst herankommen werde. So halte ich
bis zur methodischen Klärung des Problems die Arbeit von den Steinens für
einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnis der Geisteswelt jener campanischen Diplo-
maten, nicht des Kaisers selbst. Solange man das Briefbuch des Petrus de Vinea
nicht mit den von Schmeidler so erfolgreich auf das XI. Jahrhundert angewendeten
Methoden der Stilvergleichung untersucht, wird es bei der Skepsis sein Bewenden
haben müssen, bei der Sthamer, Eigenes Diktat in den Briefen der sizilischen
Kanzlei des 13. Jahrhunderts (Festschrift für Alexander Cartellieri, 1927), S. 8
(des Sonderdrucks) endete. Daß Sthamer Recht hatte, sich meiner Auffassung
von dem beherrschenden Einfluß, den Petrus de Vinea auf den Kaiser übte, anzu-
schließen (S. 3), werde ich in den Quellen und Forschungen unseres Instituts, Bd.
XXII, beweisen. Über die diametral verschiedene Beurteilung durch Kantorowicz
vgl. auch Hessel in H.Z. 142, S. 104. Wie ganz anders tritt etwa die persónliche
Note Gregors VII. in den Diktat-Untersuchungen von Blaul hervor! So muB ich
(bei aller Anerkennung der Leistung von den Steinens) der Methode Vehses den
Vorzug geben. Dieser junge Gelehrte tritt an die breiten Massen des Materials ohne
derlei Voraussetzungen heran, die im circulus vitiosus zu Folgerungen werden.
Eine gewisse Nüchternheit wirkt wohltuend gegenüber dem feierlichen, pathetischen
Ton, der in Deutschland (im Gegensatz zu neueren Franzosen) nachgerade Bedürfnis
zu werden scheint, wenn man vom Kaiser spricht. V. schlieBt mit Recht das Problem
des kaiserlichen Stils, seiner Vorbilder und Nachwirkungen aus, solange die Unter-
suchung der Überlieferungsgruppen (Briefbücher) noch keine endgültigen Resultate
über die kaiserliche Publizistik ergeben haben (S. 137 A.). Nur so könnten „die
verschiedenen Verfasser der Manifeste Friedrichs II.“ aufgedeckt werden! Worte,
die zeigen, daß V. meine Überzeugung teilt (vgl. auch S, 38 A.). |
Nicht ein Referat über den Inhalt der Manifeste, wie Gräfe für die letzte und
entscheidende Epoche Friedrichs IL, will V. geben; er wil) die Rolle untersuchen,
die die Publizistik als Mittel der kaiserlichen Politik spielte. Immer wieder kommt
der augenblickliche Anlaß zu grundsätzlichen Verkündungen der kaiserlichen Staats-
auffassung zur Sprache; damit erhalten wir einen Gesichtspunkt, der bei allen früheren
Versuchen, aus den einzelnen verlautbarten Ideen das System zu rekonstruieren,
Kritiken 199
vernachlässigt werden mußte. Nicht als ob ich ablehnen wollte, daß ein solches
System bestand; man muß nur kritisch an das Material herantreten. Wie wenig
ernsthaft 3. B. das gelegentliche Ausspielen der Romidee, etwa im Briefe an die
Römer vom Januar 1238 (S.63f.), gemeint war, hat Burdach, Rienzo S. 356 gefühlt.
Und in diesem Zusammenhang ist noch nicht an Cassiodor erinnert worden. Genau
wie bei diesem nicht vaniloguentia, wie man verständnislos gesagt hat, sondern
das alte Kunstmittel der captatio benevolentiae die anscheinende Phrasenhaftigkeit
erklärt, ist es auch in den Manifesten Friedrichs II. Diesen Gesichtspunkt muß man
im Auge behalten, um nicht zu viel System herauszulesen. Daß mein „Rom und
Romgedanke" stellenweise (S. 63f., 181) hätte erwähnt werden können, hat R.
Holtzmann, D.L.Z. 1929, Sp. 1782 angemerkt. Neben dem Romgedanken werden
so ziemlich alle Zeitanschauungen als Mittel zum jeweiligen Zweck benützt, und zwar
sehr geschickt. Polemisch setzt man eindrucksvollen Theorien des Gegners wohl
ein eignes Svstem entgegen, wenn es ein argumentum ad hominem ist; ich móchte
der Erwägung anheimstellen, ob die „F Staatsmagie mit ihrer Ausschaltung der
hierokratischen Zweischwertertheorie Innocenz’ III., nach der die weltliche Gewalt
nicht unmittelbar von Gott stammt, sondern dem Kaiser nur durch päpstliche
Verleihung zukommt, teilweise antithetisch aus der jeweiligen politischen Lage zu
erklären ist. V. behandelt diese grundsätzlichen Dinge recht summarisch. Er hat
schon recht, daß der Kaiser (d. h. die amtliche Publizistik) an jenem System, das den
Staat aus Naturrecht und göttlicher Weltordnung begründete, festhielt; doch von
dem gefährlichen Gegensatz solcher christlichen, damals aber nicht mehr kirchlichen
Theorien zu dem herrschenden Kirchenbegriff des Corpus mixtum sagt er kein Wort.
Es wäre an dieser Stelle undurchführbar, den 1. Teil (S. 5—136), der die Propa-
ganda im einzelnen chronologisch mustert und mit einem willkommenen Anhang
über die Kriegsberichterstattung schlieBt, genau durchzusprechen. Der Abschnitt
wird von der Forschung dauernd neben den Regesta Imperii heranzuziehen sein;
gelegentliche Ungenauigkeiten fallen nicht ins Gewicht. Der 2. Teil (Form, Ideen-
gestalt und Wirkung, S. 137—237) beginnt mit dem auf fleiBigen Quellenstudien
aufgebauten $ 12 über Stil und Aufbau, der auch die päpstliche Propaganda ver-
gleichend heranzieht. Dann wird über die leitenden Ideen zusammenfassend das
Wichtigste zusammengestellt und als deren Gipfelpunkt das Programm der Kirchen-
reform herausgehoben. Richtig sind die Widersprüche dieses Systems betont; daß
der nationale Gedanke noch nicht beachtet wurde, war der entscheidende Fehler.
Für die Ideen der kaiserlichen Staatskunst hat V. bestimmt nicht das letzte Wort
gesagt, aber der Forschung einen Ausgangspunkt gewiesen. Die politische Wirkung
der Propaganda wird vielleicht zu äußerlich beurteilt; die joachitische Bewegung,
die doch nicht zufällig mit dem Tode des Kaisers einsetzt, würde in den Zusammen-
hang des kirchlichen Reformprogramms zu bringen sein. Die Wirkung auf die Ge-
schichtsschreibung ist für die Quellenkunde von Wert, aber gegenüber den großen
Zeitströmungen sekundär. Zum Schluß wird mit Recht diese von einer weltlichen
Zentralregierung aus geleitete Propaganda als wichtiger Markstein der Entwicklung
der Staatspersönlichkeit gewertet.
Frankfurt a.M. Fedor Schneider.
Erwin Rundnagel, Die Chronik des Petersberges bei Halle (Chronica Montis
Sereni) und ihre Quellen. Halle a. S.: Niemeyer 1929. VII, 199 S. 8°.
200 Kritiken
(= Ausgewählte Hallische Forschungen zur mittleren und neueren Geschichte.
Heft 1.)
Daß ich diese fleiBige Arbeit von E. Rundnagel erst so spät zur Anzeige bringe,
beruht auf einem Versehen meinerseits, das ich zu entschuldigen bitte. Es war
mir das Buch rechtzeitig zur Verfügung gestellt worden. Es sind in der Zwischen-
zeit zahlreiche anerkennende Besprechungen erschienen, auf die bier hinzuweisen
ich nicht unterlassen will (u. a. von GroBkopf in der „Zeitschrift des Vereins für
Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1930“; von Zatschek in den „Mitteilun-
gen des Österreich. Instituts für Geschichte 1930“). Rundnagel behandelt in drei
Hauptteilen die Überlieferung der Chronica Montis Sereni, die Verfasserfrage
und die Frage nach den Quellen.
Die Chronik ist in 5 hss überliefert. Die heute älteste hs (A) gehört dem Thür-
ringisch-Sächsischen Geschichtsverein; sie ist 1492 geschrieben, vielleicht im Leip-
ziger Augustinerchorherrenstift St. Thomas. Auf diese hs gehen zurück der Góttinger
Kodex im Jahre 1506 und der Wolfenbüttler Kodex, um 1600 davon abgeschrieben.
Beide hss sind unwichtig. Vom Anfang des 16. Jahrhunderts stammt die Zerbster hs
(B 1) der Chronica, zu Nienburg entstanden, und aus der Mitte des 16. Jahrhunderts
stammt die Dresdner hs (B 2). Die erschlossene Vorlage x, die allen drei hss zu-
grunde liegt, den beiden bss B 1 und B2 auf dem Umwege über eine erschlossene
hs b, ist 1478 nachweisbar. Sehr weit zurück läßt sich also die Überlieferung der
Chronik nicht verfolgen, und für alle weiteren auftauchenden Fragen ist die Grund-
lage zum Aufbauen sehr schmal. Es liegt z. B. die Frage nahe, cb wir in der jetzigen
Fassung wirklich die Urform vor uns haben. Damit haben sich schon die Gelehrten
des 17. und 18. Jahrhunderts befaBt. Rundnagel hat diese Frage noch einmal ge-
prüft („die neueren Forscher sind diesem Problem ausnahmslos ausgewichen“
S. 22) und kommt zu dem Ergebnis, daß die Frage nach einer verloren gegangenen
Urform der Chronica negativ su beantworten sei. „Kurz, die . . . Theorie einer reich-
haltigeren Fassung der Chronica ist völlig unbeweisbar" (S. 26). M. E. ist hier
doch etwas mehr Vorsicht am Platze angesichts der jungen Überlieferung und
angesichts der Zweifel, die schon von älteren Forschern wie Mader u. a. auage-
sprochen worden sind. Es wäre nicht das erste Mal, daß eine alte Tradition einen
richtigen Kern enthielte. In dieser Hinsicht erscheint mirnicht unwichtig cod. membr.
384 der Universit&tsbibliothek Leipzig, derim Jahre 1300 zu Pegau im St. Jakobskloster
geschrieben ist und auf fol. 182r—189v einen Abschnitt aus der Chronica bringt,
námlich die Vita des Pegauer Abtes Siegfried von Recklin (1185—1224) mit sum
Teil ganz abweichenden Lesarten von den drei obengenannten hss und ansehnlichen
Texterweiterungen (soweit ich nach meinen vor Jahren angefertigten Exzerpten
richtig sehen kann). Liegt hier nicht ein Hinweis vor &uf eine bisher unbekannte
und verloren gegangene Fassung der Chronik?
Nach Rundnagel ist der Verfasser der Chronik ein Kustos Martin vom Kloster
auf dem Lauterberg, der bis 1229 daselbst urkundlich nachweisbar ist. Er hat die
Chronik 1230 bis höchstens 1231 abgefaßt, nachdem er lange Zeit Material gesammelt
hatte. Die Untersuchungen R.s in der Verfasserfrage sind umsichtig und eindringlich
in der Prüfung der <eren Ansicht, daB ein Konrad Verfasser der Chronik war,
wie nicht minder in der Beweisführung, daß Martin der wahre Verfasser sei. Gegen
den Verfasser möchte ich mit Apel und WeiBenborn doch vermuten, daß der Autor
der Chronik zur Zeit ihrer Abfassung nicht mehr auf dem Lauterberg weilte. So
Kritiken 201
scharf gegen seinen Propst zu schreiben, konnte er wohl nur in der Fremde wagen.
Der Autor stammt aus der Gegend von Pegau (S. 68), er hat das Pegauer Kloster-
archiv benutzt (S. 170), er fügt seiner Chronik eine Vita des Pegauer Abtes Sieg-
fred ein, mit dem er in den Reformbestrebungen zusammenging, er weiß zahl-
reiche andere Pegauer Einzelheiten, sollte es nicht möglich sein, daB er im Pegauer
Kloster ein Asyl gefunden hat und hier seine Chronik schrieb? Ich glaube, daß in
dieser Frage noch nicht das letzte Wort gesprochen worden ist.
Am umfangreichsten ist der letzte Hauptteil, der über die Quellen der Chronika
handelt. Als Hauptquellen kommen nach Rundnagel für die Reichsgeschichte
in Frage die Nienburger Annalen bis 1151, für die Zeit danach bis 1166 die Ilsen-
burger Annalen und schließlich die Magdeburger Bischofschronik. Eine weitere
Quelle bildet die sog. Wettiner Genealogie, die, wie Rundnagel darlegt, zwischen
1211 und 1215 auf dem Lauterberg geschrieben worden ist, aber von einem anderen
Verfasser als dem der Chronik.
Die Arbeit von Rundnagel ist gründlich und gewissenhaft, und dem schon von
anderer Stelle gespendeten Lob kann ich vollauf zustimmen. Dringend notwendig
ist eine moderne handliche Ausgabe der Chronik. Rundnagel dürfte der gegebene
Bearbeiter sein.
Wolfenbüttel. H. Herbst.
Siegfried Frey, Das óffentlich-rechtliche Schiedsgericht in Oberitalien
im XIL und XIII. Jahrhundert (Züricher Dissertation). Luzern 1928.
XVIII. 178 S. 89.
Das Vorwort beginnt aktuell genug mit einem Hinweis auf Völkerbund und
Schiedsgerichtsidee. Verf. bekeunt, die Anregung von Max Huber, starke Fórderang
von Karl Meyer empfangen zu haben; und in der Tat ist es ein Verdienst des Zü-
richer Historikers, seine Schüler auf Oberitalien zu weisen, das bisher neben Toscana
und der Romagna ungebührlich zurücktrat. Neben dem gedruckten Material sind
auch die Archivalien von Mailand und Cremona, Modena und Mantua herangezogen.
Neuere wichtige Urkundenpublikationen für Mantua und Piacenza scheinen dem Ver-
fasser entgangen, und daß Muratori seinen Urkundendrucken in den Antiquitates
Italicae keine Quellenangaben beifügt, kann man so allgemein nicht behaupten. Zum
Vergleich hätten außer den Urkundenpublikationen für Florenz (Santini), Siena
(Reg. Sen.), Volterra (Reg. Volat.), Arezzo (Pasqui), Pisa (Dal Borgo, Bonaini).
auch Davidsohn, Geschichte von Florenz, und Hessel, Geschichte von Bologna,
herangezogen werden sollen, ebenso das Werk von Arias über die Florentiner Han-
delsvertráge. F. hat sich zu scharf auf sein Spezialgebiet beschränkt.
Er geht zu stark induktiv vor, indem er, da das Mittelalter transzendental ein-
gestellt sei, den Schiedsgerichtsgedanken aus religiösen Wurzeln ableitet. Es wäre
wichtiger, das Laudum in seiner Bedeutung während der präkommunalen Periode
zu würdigen. Die Schiedsgerichtsbarkeit tritt subsidiär für das in einem natural-
wirtschaftlichen Staat naturnotwendig versagende öffentliche Gerichtswesen ein
und ist eines der wichtigsten Fundamente des sich bildenden comune (vgl. S. 26).
Aber bald erscheint der Schied als öffentlichrechtliches Verfahren zwischen selb-
ständigen Städten: die Voraussetzungen — Solidarität gegenüber dem staufischen
Hofgericht — werden S. 19ff. dargelegt. Andere Faktoren treten hinzu: Lehns-
gericht, kirchliches Schiedsgericht, dem S. 32—72 ein langer Exkurs gewidmet ist.
202 Kritiken
Auch vom Schied in der Zivilgerichtsbarkeit ist die Rede (S. 24—29); daB das Stadt-
gericht aus dem Schiedsgericht hervorgeht, wissen wir übrigens durch Davidsohn,
Gesch. von Florenz I, 661. Die berühmten alten Statuten von Pistoja sind aber
nicht von 1107, wie S. 25 zu lesen ist, sondern von 1177, wie Zdekauer nachwies,
vgl. Davidsohn, Forsch. I, 137. Sehr eingehend handelt dann das 4. Kapite) über
die Voraussetzung des Schieds, das Einverständnis der Parteien oder Kompromiß
(S. 733—101). Die Untersuchung verfährt nicht nur formaljuristisch; quellenkritisch
wird gezeigt (S. 73—85), wie der Schiedscharakter eines Urteils je nachdem, ob
eigentliche Kompromißformulierungen vorliegen oder nicht, erkennbar wird. Leider
sind für die Streitigkeiten Pistoja-Bologna 1212 die Akten im Pistojeser Liber surium
nicht herangezogen (S. 79 u. sonst, vgl. Davidsohn, Gesch. II 1, S. 24f., u. Forsch.
IV 7). Scharf juristisch disponierend, unterscheidet F. das isolierte und institutionelle
(d. h. für den Einzelfall oder dauernd eingesetzte) Schiedsgericht. Das 5. Kapitel
(S. 102—178) untersucht den Prozeß des Schieds: Richter, Verfahren, Urteil.
Im ganzen eine fleißige und scharfsinnige Arbeit, die dem Historiker erwünscht
sein wird, wenn er sich mit Schiedsurkunden zu beschäftigen hat. Nur das Material
ist zu begrenzt, um auf einem Gebiet des Gewohnheitsrechts allgemeingültige Folge-
rungen zu ziehen, und noch begrenzter ist der Blick des Verf., der zu ängstlich ver-
meidet, über die Grenzen seines Gebiets zu schauen. Zum SchluB (S. 178) wird z. B.
richtig bemerkt, zwar sei über Ausführung von Sanktionen bei Bruch des Schieds-
vertrags nichts überliefert, daraus dürfe aber nicht geschlossen werden, daB jeder
Schied auch beobachtet worden sei. In dem reichen gedruckten Material aus Toscana
dürfte schon etwas darüber zu finden sein. Man könnte z. B. den Memor:alis offen-
sorum von Siena ed. Banchi, Arch. Stor. It. ser. III Bd. 22 mit den überlieferten
Schiedsverträgen vergleichen. Aber bei solchen umfassenderen Gesichtspunkten
wäre die Arbeit wahrscheinlich über den Rahmen einer Dissertation hinausgewachsen,
und als solche überragt sie den Durchschnitt.
Frankfurt a.M. Fedor Schneider.
Oldenburgisches Urkundenbuch, im Auftrage des Staates herausgegeben vom Olden-
burger Verein für Altertumskunde und Landesgescbicbte. Band 3 (Olden-
burg 1927) 538 S., Band 4 (ebenda 1928), 589 S., Band 5 (ebenda 1930), 551 S.
Sámtlich herausgegeben von G. Rüthning. Verlag G. Stalling, Oldenburg.
Mit einem bewundernswerten und rüstigen Eifer gibt sich der Nestor der olden-
burgischen Landesgeschichtschreiber, Geh. Studienrat G. Rüthning, der Heraus-
gabe des Oldenburgischen Urkundenbuchs hin. Dieses Werk bedeutet für ihn eine
letzte Krönung seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit, die übrigens am 9. März 1930
auch von der Universität Halle durch Überreichung des „goldenen“ Doktordiploms
anerkannt wurde.
Über grundsätzliche Erwägungen zum Gesamtanlageplan des Werkes und über
Band 2 im besonderen habe ich mich an dieser Stelle bereits (Jahrgang 25, 1929,
S. 212ff.) geäußert und muß die dort erhobenen grundsätzlichen Einwände und Be-
denken auch auf die neuen Bände beziehen. Der Band 3 umfaßt in unmittelbarer
Fortsetzung von Band 2 die Urkunden der Grafschaft Oldenburg von 1482 bis
1550 und erleichtert durch diesen Sprung in die Neuzeit dem Forscher nordwest-
deutscher Territorialgeschicbte seine Arbeit natürlich erheblich. Es versteht sich
von selbst, daB zur Bewültigung des anschwellenden Stoffes immer mehr zur Re-
Kritiken 203
gestenform gegriffen werden mußte. Wenn dadurch zwar dem Rechts- oder Wirt-
schaftahistoriker gewisse für ihn aufschlußreiche Formen verloren gegangen sind, so
ist im ganzen der Ausfall an wirklichen Rechtsaltertümern oder technischen Aus-
drücken doch wohl gering anzuschlagen.
Der Urkundenbestand von Band 3 zählt 827 Nummern, wozu noch kleinere
Regesten in den Anmerkungen und Fußnoten kommen, ein Verfahren, das ich auch
jetzt nicht billigen kann. Von auswärtigen Archiven konnten etwa 150 Urkunden
beigesteuert werden, und gerade diese wie schon früher und in den folgenden Bänden
bedauerlicherweise in kürzester Regestenform. An gedruckten Urkunden wurde
diesmal nur etwa ein Zehntel übernommen, und der weitaus größte Teil entstammt
den Urkundensammlungen des Oldenburger Landes-Archivs. Für die Zeit des
16. Jahrhunderts nehmen dabei Aktenstücke einen breiteren Raum ein, vor allem
aus einem ReichskammergerichtsprozeB zwischen dem Stift Münster und der Graf-
schaft Oldenburg, der um den Besitz von Delmenhorst geführt wurde. Da nun der
Herausgeber zu gewissen anderen Punkten seine eigenen Arbeiten ausgiebig zitiert,
so wäre es doch wohl billig gewesen, bei den vielen Aktenstücken zur Delmenhorster
Frage gelegentlich hinzuweisen auf die Darstellung von K. Sichart im Oldenburger
Jahrbuch 16 (1908). Bei genauem Studium des Quellenmaterials hierselbst hätte
Rüthning übrigens noch andere wichtige Aktenstücke ermitteln kónnen, so eine
Beschwerdeschrift Graf Johanns an Kaiser Karl V. (Sichart a. a. O. 227), u. a. m.
Ebenfalls wäre bezüglich der Briefe aus der Reichskanzlei Kaiser Maximilians und
Karls V. ein Hinweis auf die Arbeit von D. Kohl über das staatsrechtliche Ver-
hältnis der Grafschaft Oldenburg zum Reiche (Oldenburger Jahrbuch 9, 1900) an-
gebracht gewesen. |
Wir berühren damit bereits den Inhalt des Urkundenbuchs. Obschon manche
Urkunde nur lokales oder familiengeschichtliches Interesse erweckt, muß doch auf
eine Reihe von anderen Nummern hingewiesen werden, die den Rechtshistoriker
angehen. Aus dem Stedingerlande an der Hunte und Weser liegen mehrere auf-
schlußreiche Dokumente zum Deich- und Spatenrecht vor. Ferner begegnen wir
einer Reihe wichtiger Stücke hinsichtlich der Entstehung der Landeshoheit bzw.
des Umfangs altbäuerlicher Gerechtigkeiten. Für die große Politik ist naturgemäß
geringere Ausbeute zu erwarten; dagegen finden sich für das niedersächsisch-west-
fälische Gebiet manche wertvollen Notizen (z.B. über die Sächsische Fehde!).
Interessant sind die Verhandlungen von 1515 zwischen dem Grafen Johann und dem
Hof von Burgund, die zum Abschluß eines Dienstvertrages führten und dem Olden-
burger ein Jahrgeld von 1000 fl. zusicherten. Ferner taucht in Nr. 804 von 1548 ein
burgundischer Plan auf, an der Wesermündung festen Fuß zu fassen; ein kluger po-
litischer Gedanke, bei dessen Gelingen Burgund die ganze südliche Nordseeküste
von Westfriesland bis Wurstenland beherrscht hätte. Im einzelnen wird auf das
Register verwiesen, dessen zweiter Teil, das Sachregister, gegenüber dem wertlosen
Versuch eines solchen in Band 2 erheblich erweitert ist. Es möchte dem Laien-
benutzer die Arbeit durch moderne, m. E. aber unangebrachte unwissenschaftliche
Schlagwörter (wie: Palastrevolution, Sipo!) erleichtern und ist auch jetzt für wissen-
schaftliche Zwecke keineswegs erschöpfend genug.
Der 4. Band des Oldenburger Urkundenbuches enthält die Urkunden
derim Bereich der Grafschaft Oldenburg gelegenen ehemaligen Klöster Rastede
(Benediktinerorden), Hude (Zisterzienser), Blankenburg a.d. Hunte (Domini-
204 Kritiken
kanerinnen), der Johannitergüter sowie der Kollegiatstifter St. Lamberti
zu Oldenburg und St. Mariae zu Delmenhorst. Abgesehen von dem nur
11 Nummern umfassenden Urkundenbestand der einst blühenden Johanniterkommen-
den sind die Archivalien der anderen genannten Klöster und Stifter verhältnismäßig
gut durch die Wirrsale der Reformationszeit hinübergerettet und in ziemlich ge-
schlossenen Sammlungen erhalten. Nur ein ganz geringer Prozentsatz der 1370 Num-
mern des 4. Bandes bezieht sich auf gedruckte Quellen. Die Ausbeute an aufschluß-
reichem Material für die allgemeine Ordens- und Kirchengeschichte ist mäßig: ich
erwähne an unbekannten Or.-Papsturkunden solche von Alexander IV., Nikolaus IV.,
Johann XXII., Innozenz VI. Recht interessant sind die Urkunden und Akten aus
der Reformationszeit, aus denen sich ein sehr ungünstiges Bild des Landesfürsten-
tums ergibt. Am meisten Gewinn vermag vielleicht die Wirtschaftsgeschichte aus
allem zu ziehen, handelt doch die Mehrzahl der Urkunden von Kaufgeschäften.
Sozialgeschichtlich bedeutsam ist der Niedergang und die Verarmung des Adels,
der übrigens auch in den anderen Bänden aus den zahlreichen Güterauflassungen an
die Grundherrschaften spricht. Für das Territorium der Grafschaft Oldenburg haben
die Klöster an Grundbesitz den Landesherrn offenbar weit übertroffen. Genauere
wirtschaftsstatistische Arbeiten hierüber fehlen noch, und G. Sellos sonst brauch-
bare Schrift über das Zisterzienserkloster Hude (1895) schweigt gerade über den
Grundbesitz desselben sich vóllig aus. Es ist übrigens nicht einzusehen, weshalb
Rüthning die von Sello bereits mitgeteilten Urkunden nicht als gedruckt erwähnt:
unbegreiflich ist auch, daß die für den Zustand des Klostergebäudes wichtige Lokal-
terminakte von 1560 übergangen ist (Sello S. 125), wofür die N. 602 bei Rüthning
nicht ontfernt einen Ersatz bietet.
Was die Rasteder Urkunden anbelangt, so muß gesagt werden, daß die gedruckte
Urkundenliteratur leider nicht vollzählig durchgearbeitet ist. Aus dem West-
fälischen Urkundenbuch 8, sowie aus Hammerstein, Der Bardengau, ließen sich noch
wichtige Urkunden für die westfälischen und lüneburgischen Besitzungen bzw. Lehen
des Klosters Rastede heranziehen. Ferner befinden sich noch ungedruckte Doku-
mente in den Archivbestánden der hannoverschen Stifter Lüne und Medingen, die
auch für die Vervollständigung der Abtslisten nicht unwichtig sein dürften. Was soll
man dazu sagen, daß im Regest von N. 40 der Abtsname Albert ausgelassen ist?
Wenn derartiges vorkommt, muß man leider fürchten, sich noch öfters auf unsicherem
Boden zu befinden. Eine kritische Neubearbeitung der Rasteder Klosterchronik,
die in den Mon. Germ. SS. XXV und im Friesischen Archiv II (1854) in mangel-
hafter Weise gedruckt ist, wird auf keinen Fall dadurch erleichtert. Ich behalto mir
vor, eine ausführliche Ergänzung zum Rasteder Urkundenmaterial in einer von mir
vorbereiteten Geschichte des Benediktinerklosters Rastede zu veröffentlichen.
In N.140 spricht das Regest von der Entleihung des 6. Bandes der Dekretalien.
Vom Herausgeber eines U-Buches sollte man erwarten dürfen, daß er vom Corpus
iuris canonici mindestens den Titel des Liber sextus kennt.
Der 5. Band des Oldenburger Urkundenbuchs mit 1077 Nummern
enthält die Urkunden Südoldenburgs, welches den größten Teil vom ehe-
maligen Niederstift Münster und das Amt Wildeshausen umschlieBt.
Ein Gebiet also, das im wesentlichen durch den Reichsdeputationshauptschluß 1803
zu der alten Grafschaft Oldenburg kam, in dem aber schon im Mittelalter die Grafen
von Oldenburg bedeutsame Besitzungen gehabt hatten. Etwa 680 Urkunden, von
Kritiken 205
denen über 100 den Osnabrücker Archiven und über 400 dem Oldenburger Landes-
archiv entstammen, waren ungedruckt. Den Hauptanteil hiervon bestreiten die
Bestände des Wildeshauser Alexanderstifts, dessen Pfründen einst begehrt waren, und
der Stadt Wildeshausen, eines im Mittelalter bedeutenden nordwestfälischen Markt-
feckens an der hansisch-flämischen Straße. Seine reichbewegte Geschichte, die ur-
kandlich in die Zeiten Wittekinds des Sachsenherzogs zurückgeht, hat noch keine
ersehöpfende Bearbeitung gefunden. Dankenswerte Übersiehten gaben H. Oncken
in den Oldenburger Bau- und Kunstdenkmälern, Band 1 (1896) und G. Sello in:
Alt-Oldenburg (1903). Die Urkunden des Alexanderstiftes waren auf Grund des
Stiftskopiars z. T. bereits in der Westfälischen Zeitschrift (Band 6, 1843) gedruckt,
und von anderen gedruckten Quellen lieferte das Osnabrücker Urkundenbuch etwa
160 Regesten. Über das innere Leben im Stift und über die Verwaltung der Stifts-
güter erhalten wir sehr wertvolle Aufschlüsse; dazu trägt auch eine Reihe wichtiger
Regesten aus dem Repertorium Germanicum im Geheimen Staatsarchiv Berlin-
Dahlem manches bei. Die reformationsgeschichtlichen Urkunden gruppieren sich
um die Gestalt des Bischofs Franz von Münster und bilden eine wichtige Ergánzung
zu Band 4.
Zu den früheren allgemeinen Bemerkungen jetzt noch mehrere Einzelheiten.
Bei N. 78 ist octavo Id. Jun. als Juni 6 statt 20 aufzulósen. Dann vermisse ich als
erste und älteste Urkunde Südoldenburgs die Immunitätsverleihung Ludwig d. Fr.
für Abt Castus von Visbek aus dem Jahre 819. Hier haben wir einen besonders
krassen Fall dafür, wie unsystematisch der Gesamtanlageplan des Oldenburger
Urkundenbuches ist. In Band 2 ist diese Urkunde zwar erwähnt, obwohl sie streng
genommen nicht einmal dahin gehört, aber sie durfte in Band 5 um so weniger fehlen,
als Rüthning sonst keineswegs davor zurückschreckt, schon im 1. Band gedruckte
Urkunden zu wiederholen; etwa in Band 4 N. 107, wo sogar völlig übersehen ist,
daß sie in Band 1 bereits gedruckt wurde. Bei den Urkunden der Ottonenkaiser in
und für Wildeshausen hätte nach guter Gepflogenheit ein Hinweis auf den Druck
derselben in den M G Abt. DD nicht fehlen sollen; der Druck im Hamburger Ur-
kundenbuch ist diplomatisch doch wohl unzulänglich. Eine Reihe von Urkunden
hätte sich aus dem Urkundenbuche des Hochstifts Hildesheim, dem Westfälischen
Urkundenbuch 5, dem Urkundenbuch des Bistums Lübeck u. &. gewinnen lassen.
Über die Besetzung der Wildeshauser Propstei handeln im Vorbereicht von Scheidts
Bibliotheca historica Goettingensis I (1758) eine Reihe diesbezüglicher wichtiger
Urkunden, die bisher übersehen worden sind. Auch Vogts Monumenta inedita sind
ungenügend benutzt. Schließlich ist nicht einzusehen, weshalb die am Schlusse
unter der Überschrift „Wildeshausen und die Hanse“ zusammengestellten Urkunden
nicht an ihrem chronologischen Platz eingereiht sind. Berechtigung haben sie an
dieser Stelle nicht, vielmehr scheinen sie nach AbschluB der Sammlung bei einer
verspäteten Durchsicht des Hansischen Urkundenbuches entdeckt und nach-
tráglich angehüngt zu sein.
Zusammenfassend kann man über die vorliegenden Bände des Oldenburger Ur-
kundenbuches urteilen, daB wir in ihnen eine dankenswerte Bereicherung nieder-
sächsischer Hilfsmittel zur Geschichtsforschung besitzen, die manche hannoverschen
und westfälischen Forscher mit Nutzen da anwenden werden, wo ihre eigenen Ur-
kundenwerke mit dem späteren Mittelalter abbrechen. Die oldenburgische Landes-
geschichtsforschung betrachtet mit etwas gemischten Gefühlen ihr neues Hand-
206 Kritiken
werkszeug. Mit Freude über das rasche, vielleicht allzu rasche Wachsen der Samm-
lung und über den geringen Preis der Bände; mit Kümmernis dagegen über die
Unvollkommenheit und mangelhafte Organisation des Unternehmens, die jeden
ernsthaften Forscher zwingt, zur größeren Sicherheit nach wie vor alle irgend er-
reichbaren Urkundenbücher der Nachbargebiete heranzuziehen. Wir wollen indes
wünschen, daß die entsagungsvolle Arbeit Rüthnings dennoch ihre Früchte trägt,
und daß die in Aussicht genommenen weiteren Veröffentlichungen von Chroniken
einen höheren Grad von Vollkommenheit erreichen.
Oldenburg in Old. Hermann Lübbing.
Karl Lange, Bismarck und die norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866. Berlin,
Carl Heymann. 1930. VIII und 289 S.
Diese Monographie, die sich aus einer Vorstudie des Verfassers über „ Braun-
schweig im Jahre 1866"! entwickelt hat, stützt sich auf eine gründliche Benutzung
der Akten im Archiv des Auswärtigen Amts zu Berlin und in den wichtigsten klein-
staatlichen Archiven. Jm wesentlichen beschränkt sie sich auf die Monate vom
offenen Beginn des preußisch-österreichischen Konfliktes bis zum Bundesvertrag
vom 18. August 1866, der Grundlage des Norddeutschen Bundes. Immerhin ist sie
eine erwünschte Ergänzung zu Schüßlers Buch „Bismarcks Kampf um Süddeutsch-
Jand 1867". Nur ist die Darstellung zu trocken und aktenmäßig; sie bätte an
Lebendigkeit gewonnen, wenn der Verfasser das farbige Bild der Kleinstaaterei,
das hinter den diplomatischen Verhandlungen in manchen amüsanten Einzelzügen
erscheint, kräftiger ausgemalt hätte.
Die norddeutschen Kleinstaaten haben trotz ihrer machtpolitischen Bedeu-
tungslosigkeit im Sommer 1866 doch eine nicht unwichtige Rolle in der Politik
Bismarcks gespielt. Denn sie waren nach dem Übergang aller Mittelstaaten ins
österreichische Lager die einzigen halbwegs freiwilligen Genossen eines natienalen
Bundesstaats unter preuBischer Führung. Bei der entscheidenden Sitzung des Bun-
destags am 14. Juni, die den Krieg bedeutete, wagten es von ihnen nur Meiningen
und Reußä.L., offen gegen Preußen zu stimmen. Aber der preußischen Aufforderung
zum militärischen und politischen Bündnis fügte sich die Mehrzahl dieser Klein-
staaten nur zögernd und widerstrebend. Partikularistische Besorgnis vor einer
Mediatisierung, großdeutsche Gesinnung und Anhänglichkeit an den alten Bund,
Abneigung gegen den Bruderkrieg und Mißtrauen gegen Bismarcks Politik wirkten
hier zusammen; gerade Herzog Ernst Il. von Koburg-Gotha, der Schutzherr des
Nationalvereins, und Großherzog Karl Alexander von Weimar, der Schwager König
Wilhelms, gehörten ja zu dem Kreise der höfischen Gegner Bismarcks, dem sie als
liberale Fürsten den Verfassungskonflikt, als Anhänger des Augustenburgers seine
schleswig-holsteinische Politik vorwarfen. Der eigentliche Wunsch der Kleinstaaten
war Neutralität; einige hatten kurz zuvor ihre Truppenteile eiligst in die süddeut-
schen Bundesfestungen geschickt, um sie der Teilnahme am Krieg zu entziehen.
Am raschesten vollzogen den Anschluß an Preußen die bereits durch Militärkonven-
tionen eng verbundenen Staaten wie Anhalt — hier zeigte sich sogar eine spontane
Parteinahme der Bevölkerung für Preußen —, Altenburg und Koburg-Gotha.
Ebenso Großherzog Peter von Oldenburg und Großherzog Friedrich Franz Il. von
1 vui. H. V. Bd. XXV, 8. 56ff. u. 266ff.
Kritiken 207
Mecklenburg-Schwerin, ein warmer Anhänger König Wilhelms, seines Oheims,
und auch des vielgehaßten preußischen Ministerpräsidenten, allerdings ganz im
Gegensatz zu seinen adligen Ständen. Der Weimarer Großherzog aber sträubte sich
leidenschaftlich gegen die Annahme der preußischen Forderungen, während der
bewegliche Koburger realpolitisch genug dachte, um trotz seiner Bismarckfeindschaft
rechtzeitig und nun mit aller Entschiedenheit umzuschwenken: er konnte der preu-
Bischen Kriegsführung, als er seine Truppen bei Langensalza den Hannoveranern
in den Weg warf, sogar einen wertvollen Dienst leisten. Braunschweig und erst
recht Mecklenburg-Strelitz verzögerten ihre Mobilmachung absichtlich bis zum
Eintritt des Waffenstillstandes, und unter den Hansestädten wehrte sich Hamburg
lange gegen den Zwang, seine Neutralität aufzugeben. Im Grunde bewahrte nur
der übermächtige Druck, dem die norddeutschen Kleinstaaten innerhalb der preu-
Bischen Machtsphäre unterlagen, die deutsche Politik Bismarcks vor der paradoxen
Ausicht auf einen Bund ohne Bundesgenossen. Dennoch hat Bismarck auch mit
bemerkenswerter Geduld und Vorsicht um sie geworben. Die Behauptungen, daB
er damals an eine Annexion etwa Braunschweigs? oder Hamburgs gedacht habe,
werden durch diese Schrift unzweideutig widerlegt. Gerade dem widerspenstigen
Hamburg gegenüber blieb Bismarck sehr maBvoll, im Unterschied su seinem Ge-
sandten v. Richthofen, der zur militärischen Besetzung der Hansestadt drängte.
Nur das feindliche Reuß A. L. wollte er eigentlich mit dem Verlust der Selbständig-
keit bestrafen, aber hier konnte sich König Wilhelm zur Absetzung des Fürsten-
hauses nicht entschließen, und der Gedanke einer Gebietsabtrennung erledigte
sich durch die „Unmöglichkeit, das Ländchen .. noch zu verkleinern, wenn es
überhaupt bestehen soll* (S. 212). In Meiningen schließlich, dem zweiten Kriegs-
gegner unter den norddeutschen Kleinstaaten, hatte es mit der Abdankung des alten
Herzogs Bernhard Erich Freund sein Bewenden; dem von je preuBenfeindlichen
Nachfolger Georg II. wurde die vom Vater verlangte Kriegsentschädigung und
Gebietsabtretung erlassen. Heinrich Heffter.
Preller, Hugo, Salisbury und die türkische Frage im Jahre 1895. Beiträge
zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges. Heft 9.
Stuttgart 1930. W. Kohlhammer.
Salisburys ,, Teilungsplan" vom Jahre 1895 ist bis heute umstrittenes Gebiet histo-
rischer Forschung. Der Mangel ausreichenden Quellenmaterials verwehrt noch immer
eine klare Einsicht in das rein Tatsáchliche dieser Frage, über die sich zwei Auf-
fassungen entgegengesetzten Charakters herausgebildet haben. Die Vertreter der
einen sehen in dem Projekt des englischen Premiers ein „wohlausgedachtes Pro-
gramm", an das man — sofern es ehrlich gemeint war — deutscherseits die Hoffnung
knüpfen konnte, Bismarcks vergebens gehegten Plan einer Abgrenzung der Interessen-
sphären Österreichs und RuBlands auf dem Balkan zu realisieren, den Hauptgrund
der russischen Verstimmung gegen Deutschland zu beseitigen und damit zugleich
den Wert des französischen Bündnisses für Rußland zu vermindern. Es schien
möglich, den einen Brandherd des politischen Europa in Auswirkung des englischen
Planes bis auf den Boden zu löschen und auch dem zweiten seine Schärfe zu nehmen.
Die Vertreter der anderen Auffassung wollen in Salisburys Vorschlag nur den Ver-
è? 80 Rosendahl, vgl. K. v. Bd. XXV, 8. 547ff.
208 Kritiken
such schen, „die Gegensätze in Europa wieder lebendig zu machen“, die im Wider-
spruch zu den britischen Interessen infolge Rußlands Schwenkung nach dem Fernen
Osten einzuschlafen drohten. Natürlich, daß die ersteren das kühl ablehnende
Verhalten der deutschen amtlichen Stellen gegenüber Salisburys Sondierungen
verurteilen, ihnen zumindest den Vorwurf nicht ersparen, ungeschickt und politisch
unklug gehandelt zu haben. Eine der uns günstigen Chancen im Deutschland-
England-Verhältnis hätte man ungenutzt gelassen, ja auch nur den Versuch zu
ihrer Auswertung nicht unternommen.
Diese kurzen Ausführungen mögen zugleich zeigen, in welch hohem Grade der
vorliegende Problemkreis noch der Sphäre des Politischen angehört und daß er die
Distanz zu leidenschaftslos „objektiver“ Darstellung noch nicht erreicht hat.
Dieser Bedingtheit des Stoffes konnte sich auch der Verfasser der vorliegenden
Untersuchung nicht entziehen, obwohl er ausdrücklich darauf Anspruch erhebt, die
historische Methode, „die lediglich auf eine Ermittelung des Tatsächlichen ausgeht“
eingeschlagen zu haben, im Gegensatz zu der politischen — wie sie nach Prellers
Auffassung in dem von ihm gänzlich verurteilten Buche Friedrich Meineckes: Ge-
schichte des deutsch-englischen Bündnisproblems 1890—1901 verkörpert ist —
die von Wunschbildern aus Stellung nimmt und Urteile fállt. Im Widerspruch zu
dem eben bezeichneten Grundsatz will aber der Verf., darin mit Meinecke einig,
von der englischen Politik aus zu einem Urteil über die deutsche gelangen. Und
wenn er auch versucht, diese wertende politische Linie von der „historischen“ äußer-
lich zu trennen, um erst im SchluBteil der Untersuchung das Urteil über die von
Deutschland befolgte Politik auszusprechen, so drüngt sich dieses und die politische
Auffassung des Verfassers im Gesamtverlauf der Arbeit so stark in den Vordergrund,
daB man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, ein gut Teil politisches Interesse
habe sich mit dem historischen zur Abfassung der Untersuchung vereint.
Die besondere Bedeutung von Prellers Arbeit beruht aber darin, daB sie dem
Widerstreit der Meinungen über die Bewertung des Salisburyschen „Planes“ eine
neue These hinzufügt. Wohl wissen wir bereits, daB sich Salisbury der armenisch-
türkischen Frage innerlich nur mit Widerstreben annahm, auch daß er — trotz
seiner Überzeugung von der drohenden und unvermeidlichen Auflösung der Türkei —
schwerlich die Absicht gehabt haben konnte, die Initiative zu einer Teilung des
ottomanischen Reiches zu ergreifen. Dies wird durch die vorliegende Untersuchung
erneut bestátigt. Die Frage, ob der Premier für den von ihm also nicht gewünschten
Fall der Zerschlagung der Türkei dennoch einen Plan über die Art und Weise der
etwa möglichen Verteilung der türkischen Reichsteile an die Mächte entworfen,
wird verneint. Warum aber hat Salisbury mit fast allen Müchten, wie Preller an
Hand des vorliegenden Materials ausführlicher nachweist, über die Liquidation
der Türkei Fühlung genommen? Auf diese Frage antwortet die Untersuchung mit
dem Hinweis auf die uns gleichfalls nicht unbekannte auBerordentlich weitgehende
innerpolitische Bindung seines Kabinetts. Als ein unbequemes Erbstück des vorauf-
gegangenen liberalen Ministeriums hatte es die armenisch-türkische Frage und den
Gedanken einer Teilung der Türkei übernommen. (Auch auf die mögliche Existenz eines
Teilungsplanes der Königin Viktoria weist Pr. hin!) Im Interesse der Dauer seines
Kabinetts sah sich Salisbury gegenüber der liberalen Opposition und der óffentlichen
Meinung gezwungen, sich dieses Problems anzunehmen und Möglichkeiten seiner
Lósung zu erwügen. Die türkische Frage war der Hebel, mit dem die Liberalen
Kritiken 209
ihre konservativen Gegner aus dem Sattel heben konnten: „Die Gegensätze zwischen
liberal und konservativ in London werden auf dem Rücken und auf Kosten des
türkischen Reiches ausgefochten.“
Unter dieser Perspektive allein wertet Pr. Salisburys Beschäftigung mit der
türkischen Frage. Er sieht an jenem außenpolitischen Phänomen des Teilungs-
gedankens nur die innenpolitische Bedingtheit und nimmt ihm damit die Elastizität
und Komplexität einer staatsmännischen Idee. Der orientalische Problemkreis
erscheint im Rahmen der Politik des englischen Premiers nur als ein notwendiges
Übel, dem er sich nicht entziehen konnte, als eine Frage, die er auf ihre Lösungs-
möglichkeiten prüfen mußte, freilich um an dem Verhalten der übrigen Mächte
bald zu erkennen, daß sie nicht an eine Teilung der Türkei dachten, sich ihr im
Gegenteil widersetzen würden, daß eine ernste Inangriffnahme einer solchen Lösung
unabsehbare Komplikationen heraufbeschwören würde, und der darum froh war,
diesem Problem aus dem Wege gehen zu können, als ihm mühselig erzwungene .
Reformzusagen des Sultans einen den Liberalen und der öffentlichen Meinung
gegenüber notwendigen Erfolg gesichert hatten.
Diese Auffassung läßt zugleich die Methode erklärlicher erscheinen, die der
Premier — soweit wir heute zu sehen vermögen — dabei befolgte: ein unbestimmtes,
unfaßbares, zurückhaltendes Besprechen und Andeuten von Eventualitäten, in
einer Weise, aus der nicht nur der optimistische Hatzfeldt, sondern auch die andern
Mächtevertreter nicht klug zu werden vermochten, die einen guten Nährboden für
Verdächtigungen und Befürchtungen über unheilvolle Pläne der englischen Politik
lieferte und auf deutscher Seite unter dem Einfluß der „Kastanientheorie‘‘ auch
dahin gedeutet wurde. Kann man aber — wie Meinecke — noch von einer Schuld
der deutschen Staatsmänner reden, als sie den Sondierungen Englands aus dem
Wege gingen? Gab nicht Salisburys Verhalten allen Grund dazu? Im ganzen
kommt Pr. über die deutsche Stellungnahme begreiflicherweise zu dem Urteil,
daß „im Rahmen des zur Zeit psychologisch Möglichen“ „gegen den verantwort-
liehen Lenker der deutschen Außenpolitik von 1895 ein Vorwurf kaum zu erheben“
sein wird. Ein recht vorsichtiges Urteil, das sich von der bei Pr. sonst üblichen Art,
Wertungen auszusprechen, auffallend abhebt; es sei nur auf die selbstbewußte,
ja überhebliche Kritik des Meineckeschen Buches hingewiesen.
Dies möge zur Charahterisierung der stoffreichen Arbeit Pr.s genügen. — Ob
es freilich begründet ist, Salisburys Türkenpolitik ausschließlich unter dem Ge-
üchtswinkel innerpolitischer Bindung zu betrachten? Ob ihr nicht doch weiter-
gebende Pläne zugrunde lagen, sich Ansätze entwickeln ließen, die gerade für
Deutschland sich fruchtbar hätten auswirken können, wenn sich Berlin den Son-
dierungen zugänglicher erwiesen hätte? Vielleicht lassen sich doch von der Ver-
öffentlichung der englischen Akten nähere Aufschlüsse erwarten.
Berlin. Herbert Michaelis.
Bernhard, Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1 u. 2. Berlin (Ullstein).
XXIII, 634, XV, 531 S., gr. 8°.
Immer stärker häufen sich die Erinnerungsbücher, in denen die Diplomaten
der Vorkriegszeit ihre Erlebnisse und Bestrebungen der Nachwelt in ihrer eigenen
Beleuchtung darbieten. Ihre Bedeutung ist natürlich sehr verschieden nach der
Stellung und Persónlichkeit ihrer Urheber. Jetzt haben auch Fürst Bülows Memoiren
Histor, Viertel ;ahrschrift, Band 6, H. i. 14
210 Kritiken
zu erscheinen begonnen, und der Historiker hofft natürlich aus den Erinnerungen
eines Mannes, der in entscheidungsvoller Zeit über zehn Jahre lang die auswärtige
Politik Deutschlands geleitet hat, mancherlei neue Aufschlüsse zu gewinnen. Liest
man aber diese Aufzeichnungen, so weicht diese Hoffnung bald einer großen Ent-
täuschung. Bülows Memoiren haben als Geschichtsquelle nur einen sehr bedingten
Wert, obwohl man ihrem Umfang nach berechtigt wäre zu glauben, daß der Autor
recht viel zu erzählen habe. Die beiden ersten Bände, die bisher vorliegen, behandeln
die Jahre, in denen Bülow Staatssekretär des Auswärtigen und Reichskanzler war.
Der dritte Band soll seine Erlebnisse nach seinem Abgang, der vierte Band seine
Jugendzeit schildern.
Das ganze Werk ist im leichten Plauderton geschrieben und bildet eine mühe-
lose Unterhaltungslektüre. Der Fürst hat es von Anfang bis zu Ende diktiert und
dann einer Durchsicht und teilweisen Umarbeitung unterzogen. Er hat dabei offen-
bar eine chronologisch geordnete Sammlung der in seinem Besitz befindlichen Briefe
und Dokumente zur Hand gehabt. Daraus erklärt es sich, daß auch häufig solche
Stücke der Erzählung ganz lose und äußerlich eingefügt sind, weil sie gerade in
die Zeit gehören, von der er spricht, ohne mit den vorher oder nachher berichteten
Dingen einen inneren Zusammenhang zu haben. Überhaupt entbehrt das Buch
als Ganzes jeder Komposition. Bülow erzühlt, was ihm gerade aus irgendeinem
AnlaB einfállt und schweift oft seitenlang ab, um von den Schicksalen einzelner
Menschen, die gerade erwühnt werden, oder auch von ihrer Familie oder Verwandt-
schaft zu reden. Alles dies tut er mit behaglicher Breite, ja man tut ihm nicht un-
recht, wenn man sagt: mit greisenhafter Geschwützigkeit. Das geistige Niveau
ist überhaupt erstaunlich niedrig. Bülow galt immer tür einen hochgebildeten
Mann; er hatte auch tatsächlich sehr viel gelesen und liebte es schon in seinen öffent-
lichen Reden, seine Kenntnis der ülteren und neueren Klassiker durch reichlich
eingestreute Zitate zu zeigen. Dieser Gewohnheit ist er auch in seinen Memoiren
treu geblieben. Fast auf jeder Seite werden bedeutende Dichter und Denker vom
grauesten Altertum bis in die Gegenwart zitiert. Sehr häufig sind diese Zitate aller-
dings an den Haaren herbeigezogen, und ein Leser, der einigen literarischen Ge-
schmack besitzt, wird sich häufig versucht fühlen auszurufen: das durfte jetzt aber
nicht kommen! Aber über diese erhebliche Belesenheit hinaus ist von wirklicher
Bildung, von eigenem Nachdenken über die groBen Probleme der Gegenwart oder
vom Streben nach einer irgendwie tiefer fundierten Weltanschauung nichts su
bemerken. Alles bleibt an der Oberfláche, und man wird vom Strom einer ewig
gleichmäßigen plauderhaften Redseligkeit von Seite zu Seite sanft weiter-
getragen.
Den wesentlichen Inhalt bilden Erzählungen, die sich an die Person der Herr-
scher und Diplomaten anknüpfen. Man kann sich kein vollständigeres Handbuch
des Diplomatenklatsches der letzten Jahrzehnte denken, als dieses Buch, dessen
Verfasser in einem für diese Dinge ausgezeichneten Gedächtnis sorgfältig jedes kleine
Vorkommnis dieser Art aufbewahrt hat. Gewiß befinden sich darunter einige recht
hübsche, amüsante, und, mögen sie nun wahr sein oder nicht, auch bezeichnende
Anekdoten; aber das sind doch nicht eigentlich die Dinge, die man in einem solchen
Werke sucht.
Die Zuverlässigkeit der Berichte gibt zu vielen Zweifeln Anlaß; man muß
bei der Verwertung von Bülows Erzählungen noch vorsichtiger sein, als man es
*
Kritiken 211
überhaupt Memoirenwerken gegenüber gewohnt ist. Er berichtet oft ausführlich
über weit zurückliegende Unterredungen mit wörtlicher Anführung der dabei ge-
fallenen Äußerungen. Nur in ganz seltenen Fällen, die er ausdrücklich hervorzu-
beben pflegt, hat er gleichzeitige Aufzeichnungen darüber vor sich gehabt; sonst
hat er sich offenbar völlig auf sein Gedächtnis verlassen, und es muß mindestens
sehr zweifelhaft erscheinen, ob nicht ein großer Teil nachträgliche Rekonstruktion
unter Hinzufügung starker Ausschmückungen ist.
Alle Memoiren dienen bis zu einem gewissen Grade der Selbstverteidigung,
namentlich wenn der Autor im óffentlichen Leben an hervorragender Stelle ge-
standen hat, und wenn seine Taten Gegenstand heftiger Kritik gewesen sind. Bei
Bülow tritt dies in auBerordentlich starkem MaBe hervor. Er benutzt jede Ge-
legenheit, um giftige Pfeile gegen alle diejenigen zu versenden, die er als seine Gegner
betrachten zu müssen glaubt. Alles was seine Nachfolger getan haben, wird bitter
und gehässig kritisiert, und sehr häufig entspringen seine Äußerungen dem Bedürfnis,
sich an denen zu rächen, die ihn nach seiner Meinung irgendwie gekränkt haben.
Seine Äußerungen über den Kaiser, den Grafen Monts, den Botschafter Hohenlohe,
Gelehrte wie Delbrück, Harnack, Schiemann und viele andere sind nur unter diesem
Gesichtspunkt zu verstehen. Vielen von ihnen macht er den Vorwurf, sie hátten
ihm geschmeichelt, so lange er Macht und Einfluß besaß, und sich nach seinem
Sturze von ihm abgewandt. Er weiB hierfür kein anderes Motiv zu finden als charak-
terloses Strebertum. Es ist aber doch sehr wohl möglich, daß viele dieser Männer
ihn anfangs wirklich für einen bedeutenden Staatsmann gehalten, ja sogar bewundert
haben, später aber an ihm irre geworden sind, als sie die Wirkungen seines Systems
zu durchschauen begannen.
Für uns ist natürlich die weitaus wichtigste Frage, ob man für die großen poli-
tischen Ereignisse und Entscheidungen jener Tage aus diesem Buche etwas Neues
erfährt. Aber in dieser Beziehung ist die Enttäuschung besonders groß. Liest man
3. B. die recht breiten Erörterungen über die deutsch-englischen Bündnisverhand-
lungen von 1898 bis 1900, so sieht man mit Staunen, daß Bülow auf die eigentlichen
Probleme überhaupt nicht eingeht. Er hat sich offenbar nicht die Mühe genommen,
das heute der Öffentlichkeit vorliegende umfangreiche Aktenmaterial noch einmal
anzusehen, sondern begnügt sich mit ganz allgemeinen Bemerkungen. Seine eigene
Stellung dazu ist weder klar noch richtig gekennzeichnet. Über die Verschiedenheit
der Auffassung, die zwischen ihm, dem Kaiser und dem Baron von Holstein über
diese Fragen obwalteten, erfährt man so gut wie gar nichts. Ganz ähnlich
verhält es sich mit seiner Stellung zur Marokkofrage, die doch für die weitere
Entwicklung der Ereignisse so außerordentlich bedeutungsvoll geworden ist.
Er weicht auch hier jeder ernsteren Erörterung über die vorhandenen Möglich-
keiten und über die Gründe seiner eigenen Stellungnahme aus und behauptet
nur immer wieder, daß das, was er getan habe, das einzig mögliche und richtige
gewesen sei.
Ebenso unvollständig und irreführend ist seine Darstellung der Entstehung
des Vertrages von Björkö. Er sagt nichts davon, daß der Text des ganzen Vertrages
dem Kaiser vom Auswärtigen Amt telegraphisch übermittelt worden ist, um das
Übereilte und Unüberlegte in der Handlungsweise des Kaisers recht grell hervor-
treten zu lassen. Auch was er über die Motive für sein damaliges Entlassungsgesuch
sagt, ist nicht. überzeugend. In der Vorgeschichte der Konferenz von Algeciras
14*
212 Kritiken
verschweigt er ganz die Verständigungsangebote Rouviers, die ihm schon damals
sehr unbequem waren und die er ja dem Kaiser völlig vorenthalten hat, wie aus
dessen späteren Randbemerkungen hervorgeht. Obwohl die ganze Konferenz ein
großer Mißerfolg war und zum ersten Mal die verhängnisvolle Isolierung Deutsck-
lands in voller Schärfe hervortreten ließ, sucht Bülow sie hier, genau wie schon
damals in seinen offiziellen und offiziösen Äußerungen, als einen großen Erfolg
seiner Politik hinzustellen. In seiner Darstellung der bosnischen Krise verschweigt
er völlig das auf seinen Befehl an Rußland gerichtete Ultimatum und sucht es
fälschlich so darzustellen, als ob Rußland Deutschlands Eingreifen als Befreiung
aus einer schwierigen Lage dankbar begrüßt habe. In der Schilderung der Daily-
Telegraph-Affaire hält er vollständig an seiner früheren Behauptung fest, daß er den
ihm vom Kaiser übersandten Artikel selbst gar nicht gelesen habe, und sucht die
Verantwortung dafür, daB kein Einspruch gegen die Veröffentlichung erhoben
wurde, auf untergeordnete Beamte des Auswärtigen Amtes und auf den ihn in
Norderney begleitenden Gesandten von Müller abzuwälzen. Ganz abgesehen davon,
daß es eine grobe Pflichtverletzung gewesen wäre, wenn er das Schriftstück nicht
selbst gelesen hätte, kann es wohl nach den letzten Veröffentlichungen über diesen
Punkt als urkundlich gesichert betrachtet werden, daß Bülow den Artikel tatsäch-
lich gelesen, ja sogar den vom Auswärtigen Amt angeregten Änderungen noch neue
Änderungsvorschläge hinzugefügt hat. Der ganze Bericht über diese Angelegenbeit
ist also auf einer handgreiflichen Unwahrheit aufgebaut. Offenbar hat Bülow damals
die Gefährlichkeit der Veröffentlichung gar nicht erkannt, ihre Wirkungen gar nicht
vorausgesehen, und hat erst, als er die Folgen sah, sich in einer ziemlich kläglichen
Weise aus der Affäre zu ziehen versucht. Er hat auch in seinen Memoiren nicht den
Mut getunden, die Wahrheit einzugestehen. Er hätte ja dann auch zugeben müssen,
daB der Kaiser völlig im Recht war, als er von ihm erwartete, daB er die Verant-
wortung mit übernehme.
Doch genug der Einzelheiten, deren Nachprüfung ja doch der Einzelforschung
überlassen bleiben muß. Das Angeführte wird genügen, um zu zeigen, daß die
Glaubwürdigkeit dieser Memoiren da, wo sie nicht durch Dokumente gestützt
wird, sehr gering ist. Solche Dokumente sind der Darstellung zuweilen eingefügt.
Darunter befinden sich manche wichtige und interessante Stücke, Privatbriefe,
die Hatzfeldt und Metternich aus London neben ihren amtlichen Berichten an ihn
geschickt haben, Berichte von Eulenburg aus der Umgebung des Kaisers, der Bericht
des Kardinals Kopp über die Papstwahl von 1903, die Aufzeichnung des Kaisers
über seine Unterredung mit Papst Leo XIII. und manche andere.
Über die leitenden Persónlichkeiten jener Zeit, die Bülow ja alle sehr genau
gekannt hat, findet sich manche charakteristische Mitteilung, ohne jedoch wesentlich
Neues zu bringen. Die größte Rolle spielt natürlich die Persönlichkeit Kaiser Wil-
helms II. Bülow kann sich nicht genug tunin der Heranziehung einzelner Äußerungen
und Handlungen des Kaisers, die seine Hemmungslosigkeit und leichte BeeinfluB-
barkeit, seine Eitelkeit und seine Abhängigkeit von gefühlsmäßigen Stimmungen
recht deutlich illustrieren sollen. Ein großer Teil davon wird richtig sein; aber man
wird den Eindruck nicht los, daß sehr viel absichtliche Gehässigkeit hinter diesen
Erzählungen steckt. Denn obwohl Bülow gelegentlich ein Wort über die sym-
pathischen Seiten in der Persönlichkeit des Kaisers einfließen läßt, und obwohl er
wiederholt betont, daß er selbst der z. B. vom alten Hohenlohe geäußerten An-
Kritiken 213
schauung, der Kaiser sei geisteskrank, immer auf das entschiedenste entgegen-
getreten sei, kann er doch nirgends verbergen, daß der Wunsch nach Rache ihm
auch hier häufig die Feder geführt hat. Er hat es dem Kaiser nie vergeben, daß
dieser ihn 1909 entließ und während des Weltkrieges nicht wieder an die Spitze
stellte. Auch sein eigenes Verhältnis zum Kaiser stellt er völlig unrichtig dar,
wenn er sich selbst beständig in der Rolle des getreuen Eckard auftreten läßt, der
den Herrscher an seine Pflichten mahnt, ihn vor Torheiten bewahrt und ihm im
Gegensatz zu seiner schmeichlerischen übrigen Umgebung immer die Wahrheit
sagt. Wir wissen aus Bülows eigenen Briefen und anderen Quellen nur zu genau,
daß er selbst einer der schlimmsten Schmeichler war, wie ja überhaupt alle Künste
des glatten Hofmannes ihm wohlvertraut waren.
Und damit komme ich auf einen letzten Punkt, den ich hier noch berühren
möchte. Bülow hat immer als ein geschickter Diplomat gegolten, und das ist er
zweifellos auch gewesen. Aber wenn es noch Leute gegeben hat, die ihn für einen
bedeutenden Staatsmann gehalten haben, so hat er sie durch dieses Buch selbst
eines Besseren belehrt. Diese Denkwürdigkeiten zeigen uns einen leitenden Minister
ohne irgend welche größeren leitenden Gesichtspunkte oder feste Ziele, die er mit
innerer Leidenschaft verfolgt hätte. Bei niemandem Anstoß zu erregen, von Moment
zu Moment weiterzulavieren, das ist seine ganze Kunst. Sollte man nicht in diesem
Buche irgendeine Erörterung darüber erwarten, ob das aus Bismarcks Zeiten über-
lieferte Bündnissvstem unter den veränderten Weltverhältnissen noch ausreichend
war, um Deutschland vor den schwersten Gefahren zu sichern? Sollte man nicht
irgendeine Auseinandersetzung mit dem schwierigen österreichischen Problem
darin erwarten? Aber man findet nichts von alledem. Nicht nur in der Zeit als er
Reichskanzler war, sondern auch noch in den letzten Jahren, als er diese Memoiren
schrieb, sind ihm offenbar die schweren Probleme, vor die Deutschland damals
gestellt war, gar nicht deutlich zum Bewußtsein gekommen. Was er über die inneren
Fragen zu sagen hat, ist geradezu kläglich. Daß er kein wirklicher Staatsmann war,
wußte man freilich auch schon vorher und findet es hier nur bestätigt; aber mit
großem Bedauern erkennt man aus diesem Buche auch, daß er kein Gentleman war.
Leipzig. Erich Brandenburg.
Nadolny, Rudolf, Germanisierung oder Slavisierung? Eine Entgegnung auf Masaryks
Buch „Das neue Europa". Otto Stollberg, Berlin 1928, 208 S.
Dieses aus aktuell-politischem Anlaß geschriebene Buch greift doch über diesen
Anlaß weit hinaus. Es ist quellenmäßig so gründlich unterbaut, in ihm ist ein so
ernster Forscherwille spürbar, daß man es als einen bleibend wertvollen Beitrag zu
der Frage der germanisch-slavischen Wechselbeziehungen in der Geschichte füglich
bezeichnen darf. Einer allgemeinen Einführung folgt ein umfängliches Kapitel über
„Pangermanismus und Panslavismus". Klar und einleuchtend werden diese termino-
logisch einander entsprechenden, wesensmäßig jedoch voneinander verschiedenen
Bezeichnungen auf ihren historischen Sinngehalt hin untersucht. Dabei ergibt sich
denn eine Geschichte des deutschen National- und Nationalstaatsgedankens in nuce.
Der Panslavismus als geistesgeschichtliche und politische Bewegung ist in der Syn-
these glücklicher dargestellt als selbst in Fischels dieselbe Bewegung behandelndem
anerkanntem Werk. Nur halten wir es — trotz Nadolnys Einwänden (S. 68f.) —
für zumindest mißverständlich, die Slaven insgesamt als einheitliche ,, Rasse“ (an-
214 Kritiken — Nachrichten und Notizen
Statt vorsichtiger als Völkergruppe) und den Panslavismus als „Rassenbewegung“
zu bezeichnen. Er ist vielmehr eine aus völliger Verkennung geschichtlich gewordener
Gegebenheiten erwachsene, romantische Volkstumsbewegung. Die ideellen Ur-
sprünge des Panslavismus seit Križanić, seine entscheidende Befruchtung durch
Herder werden denn auch in Nadolnys Darstellung durchaus deutlich, ebenso seine
beiden Spielarten, der imperialistisch-expansive Panrussismus (Danilevskij) und der
national-humanitäre Austroslavismus (PalackY), ihre Angleichung und schlieBliche
Einmündung in die „slavische Wechselseitigkeit“, die den slavischen Einzelvölkernihre
nationale Unabhängigkeit belassen will. Der zweite große Abschnitt des Buches,
„Germanen und Slaven“, gibt den geschichtlichen Befund. Der Verf. erklärt es mit
Recht als nicht angängig, die Geschichte der slavisch-germanischen Besitzverhältnisse
im ostelbischen Gebiet erst seit etwa 800 zu datieren (wie Masaryk das tut). Quellen-
kritisch unterbaut, wobei von slavischen Historikern vor allem SafaHk herangezogen
wird, wird die Entwicklung dicser Verhältnisse von den letzten vorchristlichen Jahr-
hunderten bis in die Neuzeit dargelegt ; eine Entwicklung, die derBeweis für den expan-
siven Charakter des Slaventums ist. Der,, Schlußbetrachtung“ des Buches gegenüber wird
man Vorbehalte machen müssen. Nadolny beantwortet nämlich die Frage nach der
künftigen volklichen Gestaltung des gemischtvölkischen Raumes zwischen Elbe
Saale Böhmerwald im Westen und Weichsel — Karpathen im Osten so: nicht Ger-
manisierung, nicht Slavisierung, sondern Verschmelzung zu einem neuen, deutsch-
slavischen Volkstum, dem ostelbischen völkischen Sondertypus. Nun steht es außer
Zweifel, daß die deutsch-slavische Mischzone einer geistesgeschichtlichen und ethno-
logischen Betrachtung manch einheitlichen Zug darbietet — Josef Nadlers Theorie
von der geistigen Sonderart der deutschen „Neustämme“ klingt hier an. Aber,
abgesehen davon, daß es immer miBlich ist, geschichtliche Abläufe vorauszusagen,
ist Nadolnys Lósungsversuch zu glatt: es geht nicht an, den AltpreuBen, den Ober-
sachsen, den Deutsch-Bóhmen und nun gar die um sie oder unter ihnen wohnenden
slavischen Völkerschaften einem einheitlichen „ostelbischen Typus“ zuzurechnen.
Jedenfalls liegt der Wert der Schrift Nadolnys überwiegend in ihren beiden mittleren
Hauptabschnitten.
Leipzig. Friedrich Wilhelm Neumann.
Nachrichten und Notizen.
R. Oldenbourgs Geschichtliches Quellenwerk, herausgegegeben von Erich Chud-
zinski. München und Berlin, Druck und Verlag von R. Oldenbourg. 9 Bde von
je 8—10 Druckbogen Umfang. Preis je 2,20 RA.
Von der im ganzen neun Bände umfassenden Sammlung liegen folgende fünf zur
Besprechung vor: Teil I: Altertum, bearbeitet von Dr. Thomas Lenschau; Teil III:
Vom Mittelalter zur Reformation, bearbeitet von Dr. Hans Gille; Teil V: Absolu-
tismus und Aufklärung (1648—1789), bearbeitet von Dr. Erich Chudzinski;
Teil VII: Vom Wiener Kongreß bis zum Jahre 1861, bearbeitet von Karl Bau-
städt; Teil VIII: Bismarck, bearbeitet von Dr. Walter Seefried.
Der Zweck dieses Quollenwerkes reicht weit über den Rahmen einer gewóhn-
lichen historischen Quellensammlung hinaus. „Es will ein Quellenwerk für jeden
geschichtlichen Unterricht in der Schule sein, also in gleicher Weise für die Profan-
Nachrichten und Notizen 215
geschichte wie für die Kirchengeschichte, für die politische wie für die Verfassungs-,
die Wirtschafts- und die Gesellschaftsgeschichte dienstbar sein. Vor allem sind
auch Philosophie und Kunstgeschichte in dem Umfange berücksichtigt, wie die
Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen es notwendig machen.“ Die
Bände können also nicht nur im eigentlichen Geschichtsunterricht, sondern auch in
jedem anderen Unterricht, der es irgendwie mit geschichtlichen Problemen zu tun
hat, Verwendung finden und auf diese Weise dazu beitragen,, daß die viel geforderten
Querverbindungen zwischen den verschiedenen Fächern ermöglicht werden und
ihre innere Zusammenarbeit sichergestellt wird‘.
Die Gliederung des Stoffes erfolgt in allen Bänden, abgesehen vom ersten, nach
folgenden Gesichtspunkten: a) Staatliche Entwicklung; b) Verfassung; c) wirt-
schaftliche und soziale Verhältnisse; d) Religion und Kirche; e) Geistige Strömungen;
f) Kunst.
Es ist ungemein schwer, ja eigentlich unmöglich, über den Wert eines für den
Unterricht bestimmten Werkes ein gerechtes und zutreffendes Urteil zu fällen, bevor
man es mehrfach und längere Zeit hindurch in der Praxis erprobt hat. Aber das
Zeugnis wird man dem Oldenbourgschen Quellenwerke unbedingt ausstellen dürfen,
daB der Eindruck, den man bei der ersten Durchsicht erhält, sehr günstig ist. Man
merkt, daß überall tüchtige und solide Arbeit geleistet worden ist. Die Auswahl der
Quellen, die ja, dem Zwecke des Werkes entsprechend, den verschiedensten Kultur-
gebieten entstammen, verrät durchweg Umsicht und Sachkenntnis, so daB man
wohl die Erwartung aussprechen darf, daß das Werk dem geschichtlichen Unterricht
im weitesten Sinne des Wortes sehr gute Dienste zu leisten vermag. Aber trotz der
Anerkennung, die man dem Werke gern zollt, wird man einige Bedenken dagegen
nicht unterdrücken können. Die neun Bände kosten zusammen etwa 20 ZA.
Das ist im Verhältnis zu dem Reichtum des Inhalts nicht viel, für den Schüler be-
deutet es doch eine ganz außerordentlich hohe finanzielle Belastung, auch wenn
man berücksichtigt, daß sich die Ausgabe auf drei Jahre verteilt. Denn das Quellen-
werk kann und soll ja doch wohl die eigentlichen Lehrbücher in den einzelnen Fä-
thern, wo es Verwendung finden soll, nicht ersetzen. Und die Beschränkung auf nur
einige von den neun Bänden, die natürlich an sich möglich ist, entspricht kaum dem
ursprünglichen Zweck, der dem ganzen Unterrichtswerk zugrunde liegt. Aber bedarf
es zum Erteilen eines guten und erfolgreichen Geschichtsunterrichtes wirklich un-
bedingt so umfangreicher Lehrbücher? Ich glaube, daB man diese Frage durchaus
verneinen muB. Dazu kommt ein anderes Bedenken, das aber nach derselben Rich-
tung weist. Die Quellenstücke sind — das liegt in der Natur der Sache — teilweise
so gehaltvoll und entsprechend schwierig. daB es einer sehr eingehenden und zeit-
raubenden Bahandlung bedarf, wenn sie dem Schüler einigermaßen zum Ver-
stándnis gebracht werden sollen. Ich halte es deshalb für gánzlich ausgeschlossen, die
Quellenstücke auch nur annäherungsweise in vollem Umfange zu bewältigen. Auch
das zeigt, daB die Fülle des Gebotenen zu reich ist. Endlich noch eine kurze Be-
merkung zum ersten Bande, der Quellenstücke aus dem Altertum enthält. Die Aus-
wahl ist hier fast durchweg unter dem Gesichtspunkte erfolgt, daß der Schüler die
einzelnen geschichtlichen Persónlichkeiten, Tatsachen und Ereignisse, z. B. die Ver-
fassung Drakons, die Schlacht bei Marathon, Tib. Gracchus und seine Reform,
dureh verschiedene, háufig weit voneinander abweichende Berichte kennen lernt.
Sicher ist der Vergleich eines der vorzüglichsten Mittel, den Schüler zu geschichtlichem
216 Nachrichten und Notizen
Denken zu erziehen, aber es erscheint doch fraglich, ob es zweckmäßig ist, diesen
einen Gesichtspunkt in dem Maße in denVordergrund zu stellen, wie es hier geschehen
ist. Es ist auf diese Weise auch viel höchst Unwichtiges mit aufgenommen worden,
an dessen Stelle man lieber Wertvolleres sähe.
Leipzig. Hermann Reuther.
Dr. Franz Braun und A. Hillen Ziegfeld, Geopolitischer Geschichts-Atlas.
I. Teil. Das Altertum. 54 Karten auf 25 Tafeln. Hierzu: 56 Seiten Textbuch.
Dresden 1927, L. Ehlermann.
„In dem Zusammenwirken von Karte und Text geschichtliches Geschehen zu
lebendiger Anschauung zu erheben und räumlich einzuordnen, d. h. mit der Ver-
mittlung grundlegenden Wissens zugleich an raumpolitisches Denken zu gewöhnen“,
ist das Ziel dieses Unterrichtswerkes. Im Vordergrunde soll dabei durchaus die
Karte stehen. Das Bild der in dem Atlas enthaltenen Karten weicht wesentlich
von dem Herkömmlichen ab, vor allem durch die Beschränkung auf die Schwarz-
Weiß-Technik, also gänzlichen Verzicht auf Farbe, und ferner durch Anwendung
verschiedener neuartiger kartographischer Hilfsmittel, die sämtlich dazu dienen,
die Anschaulichkeit und Plastik der Karten aufs höchste zu steigern. Nur als Er-
gänzung tritt zur Karte das Textbuch, das die Aufgabe hat, den geopolitischen
Gehalt der Karten herauszuarbeiten, und einen kurzen Abriß der Geschichte des
Altertums darstellt. Es ist nicht immer ganz leicht, aber überaus klar geschrieben,
und bei aller Knappheit außerordentlich inhaltsreich. Im Zusammenhange mit
diesem Textbuch ist der geopolitische Geschichtsatlas ein in jeder Beziehung her-
vorragend geeignetes Mittel, die Behandlung der alten Geschichte staatsbürgerlicher
Erziehung dienstbar zu machen. Freilich bedarf es, — das soll durchaus kein Vor-
wurf sein — um die in ihm enthaltenen Werte voll auszunutzen und wirksam zu
machen, eines Lehrers, der historisch, geographisch und politisch gleichmäßig ge-
schult ist und über ein sehr hohes Maß von Lehrtalent verfügt. Dabei wird er vor
allem aber auch darauf bedacht sein müssen, eine Gefahr zu vermeiden, die die Be-
nutzung dieses Unterrichtswerkes mit einer gewissen inneren Notwendigkeit in
sich birgt, die Gefahr, durch einseitige Betonung geopolitischer Gesichtspunkte
diejenigen Seiten der antiken Geschichte allzusehr in den Hintergrund treten zu
lassen, die ihrem Wesen nach grundsätzlich der Sphäre geopolitischer Betrachtungs-
weise entrückt sind. Hermann Reuther.
Ernst Crous und Joachim Kirchner, Die gotischen Schriftarten. Leipzig 1928,
Klinkhardt & Biermann. 46 S. u. 64 Tafeln, 4°.
Die vorliegende Veröffentlichung geht von der zutreffenden Beobachtung aus,
daß das Kapitel von der gotischen Buchschrift bis vor kurzem sehr stiefmütterlich
behandelt worden ist. Bahnbrechend für eine gründlichere Bearbeitung war 1923
Alfred Hessel vorangegangen mit einem Aufsatz „Von der Schrift zum Druck“
(Zeitschrift des deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum; auch selbständig
erschienen). Ihm folgend, versuchen die beiden Verfasser, die Terminologie der
gotischen Buchschriften festzulegen und zugleich Vorarbeit zu leisten für ein Auf-
finden zeitlicher und örtlicher Datierungsmerkmale. Sie teilen sich so in den Stoff,
daß Kirchner auf 19 Seiten die gotischen Schriftarten in den Handschriften, Crous
auf 13 Seiten die gotischen Schriftarten im Buchdruck behandelt. Ein vortrefilich
Nachrichten und Notizen 217
ausgewähltes und vortrefflich wiedergegebenes Abbildungsmaterial nimmt mehr
Raum ein und beansprucht gleiche Bedeutung wie der Text.
Kirchner hat sämtliche Beispiele, die er vorführt, und auf die er sich bezieht,
der Handschriftenabteilung der Preußischen Staatsbibliothek entnommen, in der ja
typische Erzeugnisse der verschiedenen deutschen Landschaften, auch genug fran-
sösische und italienische Handschriften sich finden. Einsetzend mit einem Beispiel
aus dem 11. Jahrhundert, das 12. und 13. etwas breiter berücksichtigend, findet er
vom 14. ab die schon von Hessel annáhernd ebenso charakterisierten Typen der in
Italien entstandenen Rotunda, Florentiner Bastarda und Gothicoantiqua ausgeprägt,
während ein anderer, noch einflußreicherer Typus der Bastarda in Nordfrankreich
entstand. Ihnen steht die ihren gotischen Grundcharakter am stürksten bewahrende
Textura gegenüber. Aus den Ursprungslündern gelangen die Schriftarten bald zu den
andern Völkern des Abendlandes. Das 15. Jahrhundert gestaltet sie mannigfaltiger,
in ihm lassen sich in Deutschland z. B. eine oberrheinische, schwübische, bayrisch-
österreichische usw. Bastarda verfolgen. Schriftprovinzen des kolonialen Deutsch-
land werden nicht abgegrenzt; die schwere, aber wichtige Aufgabe einer Schrift-
geschichte dieser Lande kann wohl noch lange nicht und jedenfalls nicht nebenbei
gelöst werden.
Wie der in einem Zeitpunkt so weitgehender Differenzierung und Zersplitterung
einsetzende Buchdruck das Vorgefundene übernimmt und nach manngifachem
Schwanken wieder eine gewisse Einheitlichkeit schafft, wenigstens für Ländergruppen
und Sachgebiete (indem etwa fremdsprachlichen Texten neben der herrschenden
eine besondere Schriftart vorbehalten bleibt), das verfolgt Crous bis ungefähr zum
Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Mit Recht haben die Verfasser auch die kurzlebigen Versuche, neue Typen zu
schaffen, berücksichtigt, mit Recht neben den Einzelformen den Gesamteindruck
der ganzen Buchseite sprechen lassen.
Leicht war es nicht, Schrifttypen, zwischen denen so vielfache Berührungen
vorkommen, klar zu bezeichnen. Sind doch z. B. Rotunda und Gothicoantiqua beide
darin verwandt, daß sie in die gotische Zeit gehören, aber den bekanntlich dem Ita-
liener unsympathischen gotischen Stilcharakter tunlichst zurückdrängen. Im all-
gemeinen folgen die Verfasser der Terminologie, die Hessel in kritisch durchdachtem
Anschluß an die Schreibmeister des 15. und 16. Jahrhunderts eingeführt hat, und
die sich wohl behaupten wird. Nur gegen eine Bezeichnung — die bei Hessel nicht
vorkommt — möchte ich Einspruch erheben: den Ausdruck Gitterschrift für das
Schriftbild, das Tafel 1 aus einer französischen Handschrift des 11. Jahrhunderts
bietet, sollte man vermeiden. Erstens kann ich nicht finden, daß sie an ein Gitter
erinnert, und zweitens ist der Ausdruck Gitterschrift schon lange eingebürgert für die
extrem ausgestaltete verlängerte Schrift der Kaiser- und Papsturkunden.
Leipzig. Paul Kirn.
Abt Cuthbert Butler, Benediktinisches Mönchtum. Studien über benediktinisches
Leben und dio Regel St. Benedikts. Autorisierte deutsche Übersetzung.
Missionsverlag St. Ottilien, Oberbayern, 1929. XVI, 491 S., geb. 14 RA.
Die Benediktinerregel in der Übersee. Kurzer geschichtlicher Überblick über die
Ausbreitung des Benediktinerordens und seiner Zweige in den außereuropä-
ischen Ländern von P. Beda Danzer O. S. B., Mönch der Erzabtei St. Ottilien.
218 Nachrichten und Notizen
Missionsverlag St. Ottilien, Oberbayern, 1929. VIII, 276 S., 23 Kartentafeln,
geb. 8 AM. |
Das 1884 gegründete Mutterhaus der Benediktus-Missionsgesellschaftin St.Ottilien
bringt zur 1400-Jahrfeier des Mutterklosters Monte Cassino, der Wiege des Ordens,
zwei wertvolle Gaben heraus, dienach Inhalt und Ausstattung sehr beachtenswert sind.
Der Abt von St. Stephan in Augsburg, Dr. Placidus Glogger O. S. B. hat ge-
legentlich einer Anzeige des 1919 (2. Auflage 1924) erschienenen Werkes „Benedictine
Monachism, Studies in Benedictine Life and Rule“ des Abtes von Downside, Cuthbert
Butler, auf die Notwendigkeit einer Übersetzung dieses Buches hingewiesen. 1924
erschien eine franzósische von Ch. Grolleau, jetzt eine deutsche, an der in erster Linie
Prof. Dr. Joh. Nep. Hebensperger in Dillingen a. D. und P. Beda Danzer in St. Otti-
lien beteiligt sind. Der Verfasser des Werkes, das man eine Wesensschau des Bene-
diktinertums genannt hat, betont im Vorwort, daB die Benediktinerregel, eine der
beherrschenden Kräfte in der Geschichte des Abendlandes, wohl Kapitel für Kapitel
erklürt, aber noch nie in ihren Grundgedanken und deren praktischen Verwirklichung
planmäßig geschichtlich untersucht worden sei. Der Verfasser hat aber auch „den
Auswirkungen des neuzeitlichen Benediktinertums nach seiner mannigfaltigen Ge-
staltung im ganzen heutigen Europa" Beachtung geschenkt, so daß das Buch nicht
nur geschichtlich-wissenschaftlich, sondern auch praktisch für Predigt, Katechese
und persónliches Innenleben mit Nutzen verwertet werden kann.
In 22 Kapiteln entrollt sich ein eindruckvolles Bild des Lebens und Wirkens,
wie es der Ordensstifter gewollt hat, und der Auswirkungen des benediktinischen
Gedankens im Laufe der Jahrhunderte. Den Grundgedanken formuliert der Ver-
fasser in folgenden Worten: „eine Gemeinde von Mönchen heranzubilden, die ver-
pflichtet sein sollten als eine religiöse Familie im Kloster ihrer Profeß unter einer
Regel bis in den Tod ein Leben völliger. Gemeinschaft zu führen, das ganz dem Dienste
Gottes geweiht war, ohne sich durch übergroße Strenge hervorzutun" (S. 327 fl.
In dieser Schule für den Dienst Gottes spielt die Selbstzucht die Hauptrolle, nicht
im Sinne kórperlicher BuBübung, sondern im Streben nach Vollkommenheit durch
Führung eines geistlichen Lebens. Einige Stichworte mógen den weiteren, reichen
Inhalt des Buches kennzeichnen: Gebet, Mystik, Gelübde, Armut, die Regel Bene-
dikts, die benediktinische Familie, Regierung und Verfassung, das tügliche Leben
im Kloster, die Studien, der Abriß der benediktinischen Geschichte, eine Bene-
diktinerabtei im 20. Jahrhundert. Sehr wertvoll sind die von P. Beda Danzer bei-
gesteuerten Anmerkungen und die erschöpfenden Namen- und Sachregister, die auf
alle Fragen zuverlüssige Auskunft geben.
P. Danzers Buch verfolgt auf Grund eines ausgedehnten Quellenstudiums
die Ausbreitung der Mónche und Nonnen des Benediktinerordens und seiner Zweige,
also auch der Zisterzienser, Trappisten, Silvestriner, Olivetaner, Camaldulenser und
Humiliaten, seit dem 8. Jahrhundert über die ganze Welt in Asien, Afrika, Amerika,
Australien und sogar in Grönland. Es ist daher missionsgeschichtlich von Be-
deutung. Im Anhang hat der Verfasser ein Verzeichnis móglichst aller benedikti-
nischen Niederlassungen in den überseeischen Gebieten, die bestanden haben und
noch blühen, zusammengestellt. Ihre Lage ist mit Hilfe der beigegebenen Karten-
skizzen leicht festzustellen. Jedem einzelnen Abschnitt sind reichhaltige Literatur-
angaben vorangestellt.
Breslau. W. Dersch.
Nachrichten und Notizen 219
Robert Holtzmann, Der Kaiser als Marschall des Papstes. Eine Untersuchung
zur Geschichte der Beziehungen zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter.
(Schriften der Straßburger Wissenschaftlichen Gesellschaft in Heidelberg.
Neue Folge 8. Heft). Berlin und Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1928. 50 S.
Auch der einigermaßen bewanderte mittelalterliche Historiker wird aus dieser
Untersuchung, die zuerst als Vortrag auf dem Grazer Historikertag dargeboten
worden ist, im Druck zahl- und umfangreiche Noten und Belege erhalten hat, viel
Neues lernen: daß Vorgänge der behandelten Art, des Zügelführens (officium stra-
toris) und Bügelhaltens (officium marscalei) bis 1155 (ausschließlich) zwischen
Kaisern (Kónigen) und Päpsten nur viermal vorgekommen sind, 745 (Pippin und
Stephan II.), 858 (Ludwig II. und Nikolaus I.), 1095 (Konrad, der Sohn Heinrichs IV.
und Urban II.) und 1131 (Lothar III. und Innocenz II.); daß das officium stratoris
und officium marscalci zwei verschiedene Dinge sind; daß bis 1095 nur officium
stratoris verlangt und geleistet wurde, beruhend auf der Konstantinischen Schen-
kung; daB 1131 erstmalig das officium marscalci dazu verlangt und geleistet wurde,
mit der unbestreitbaren Absicht auf kirchlicher Seite, den Kaiser dadurch als Be-
amten oder Lehensmann des Papstes erscheinen zu lassen; daß nach 1155 der Dienst
sehr háufig wurde und schnell an innerer Bedeutung verlor. Wenn Holtzmann
(S. 38) schlieBt und vermutet, daB Friedrich I. 1155 eine authentische Interpretation
oder bindende Zusage erlangt habe, daB das Bügelhalten nur eine Ehrenerweisung
in frommer Demut sei und mit einem vassalitischen Brauch nichts zu tun habe,
so scheinen mir diese und die hier folgenden Hypothesen nicht sehr gesichert und not-
wendig zu sein. Den bald hervortretenden Wechsel in der Bedeutung dieser Zeremonien
kann man auch anders erklären als mit solchem durchgesetzten Verlangen des Kaisers,
von dem doch der damaligen Welt nichts bekannt geworden zu sein scheint.
Ein paar Kleinigkeiten: mehrmals muß es heißen Nicolaus de Carbio (Calvi)
statt Curbio. Den etwas sonderbaren und naiven Bericht Helmolds über die Szene
von Sutri möchte ich nicht mit Hauck und Holtzmann als bewußte Ironie Helmolds
erklären, die ich dem Pfarrer von Bosau nicht zutraue, für die ich kein zweites Bei-
spiel in seiner Chronik wüßte. Er empfing diesen wie andere Berichte in diesen
Teilen der Slavenchronik durch mündliche Erzählung seines Bischofs Gerold von
Oldenburg-Lübeck, der Friedrichs Romzug mitgemacht hat (hatte evtl. auch noch
andere Gewährsmänner aus den Kriegern Heinrichs des Löwen), und hat seinen
Bericht durch Mißverständnis und Erinnerungsirrtum bei zirka 12 Jahre späterer
Aufzeichnung entstellt.
Erlangen. B. Schmeidler.
P. N. Leonhard Lemmens O. F. M. Geschichte der Franziskanermissionen.
Missions wissenschaftliche Abhandlungen und Texte herausgegeben von Prof.
Dr. J. Schmidlin, Band 12. Münster i. W., Aschendorff 1929, XX u. 378 S. 89.
Die Heidenmission der Minoriten knüpft an die bekannte Reise des hl. Franz
zum ägyptischen Sultan Melek-el-Kamel an und ist seitdem nie mehr zum Stillstand
gekommen. Noch im 13. Jahrhundert sind es Franziskaner gewesen, welche die
Missionierung der Mongolenreiche, die aus der gewaltigen Ländermasse Dschingis-
khans hervorgegangen waren, in Angriff nahmen; berühmt sind die Berichte eines
Johannes von Piano di Carpine und Wilhelm von Ruysbroeck, die dem Abendlande
zuerst Kenntnisse über die Völker des Fernen Ostens vermittelten. Das vorliegende
990 Nachrichten und Notizen
Werk setzt sich zur Aufgabe, die in neuester Zeit stark angeschwollene Literatur
über den Gegenstand übersichtlich zusammenzufassen und das ältere Hauptwerk
von Marcellinus da Civezza, Storia universale delle missioni francescane I—V III
(1857—95) zu ergánzen und durch eine knappe Darstellung zum Unterricht in den
Ordensschulen zu ersetzen. Man darf feststellen, das dies dem gelehrten Verfasser
wohl gelungen ist; für zahlreiche Einzelheiten, besonders soweit sie die Heiden-
mission im Ordenslande Preußen und in Palästina angehen, konnte er sich auf eigene
Vorarbeiten stützen. Wie umfangreich aber trotzdem noch das zu bearbeitende
Quellenmaterial war, zeigt ein Blick in die 14 Seiten umfassende Literaturübersicht.
Auch ungedrucktes Material aus dem Archiv der Propaganda hat dem Verfasser zur
Verfügung gestanden, ebenso Urkunden aus dem Archiv seines Ordens. Die Schilde-
rung im einzelnen geht geographisch, nach Ländern und Erdteilen, vor; zuerst
werden die Missionen unter den Sarazenen des Mittelmeerbeckens geschildert, wo
die Erfolge der bekannten Haltung des Islam entsprechend, am geringsten waren.
Auch die europäischen Missionen, abgesehen von der Bekämpfung der Sekten
hauptsächlich in den Gebieten des slawischen Ostens, gehören zu den weniger
erfolgreichen. Im heiligen Land beschränkte sich die Tätigkeit der Franziskaner
im Mittelalter auf die Behauptung der aus der Katastrophe der Kreuzfahrerstaaten
geretteten Trümmer; aber Erstaunliches hat schon im Mittelalter die Mission in den
Mongolenreichen des Fernen Ostens geleistet, wenn auch das Erreichte in China im
14. Jahrhundert vor allem wegen des Mangels eines einheimischen Klerus und der
Schwierigkeit, bei den damaligen Verkehrsverhültnissen Krüfte aus dem Abendland
heranzuziehen, wieder zugrunde ging. Um so lebhafter war die Tätigkeit in diesen
Gebieten nach ErschlieBung neuer Reisemóglichkeiten. Das interessanteste Kapitel
aus dieser ostasiatischen Missionsgeschichte ist ja China, das im Anfang des 18. Jahr-
hunderts nahe an der Christianisierung war. Leider ist die Darstellung Lemmens' an
dieser Stelle lückenhaft; einganzer Druckbogen, der den Ritenstreit in China behandelt,
ist nachträglich aus dem Bande entfernt worden infolge eines Verbotes der Propa-
ganda, den Gegenstand zu behandeln. Dieser Ritenstreit war im Grunde ein Gegen-
satz zwischen den Missionsmethoden der Jesuiten, die mit ihrer Weltgewandtheit
die größten Erfolge in China errangen, und der am Armutsideal festhaltenden Bettel-
mönche, die eine intransigentere Auffassung über die zu billigenden Gebräuche im
Kultus vertraten. Man muß diese Lücke, die unsere Kenntnis über den Gegenstand
auf Quellen und Darstellungen aus dem Lager der Jesuiten verweist, um so mehr
bedauern, als der Verfasser sich in den übrigen Partien seines Buches — auch auf
andern Schauplátzen hat es an Reibungen zwischen den Orden nicht gefehlt — von
jeder Polemik fernhält. Waren die Missionen der Franziskaner unter den Negern
Afrikas bis in die neuere Zeit hinein ohne größere Erfolge, so stehen dem die dauernden
Ergebnisse in den spanischen Kolonien Mittel- und Südamerikas und im portugie-
sischen Brasilien gegenüber; die Christianisierung des spanischen Südamerika vor
allem ist, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise, das Werk der Söhne des
hl. Franz.
Berlin-Lichterfelde. Walther Holtzmann.
Otto Tschirch, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel.
Verfaßt im Auftrage der städtischen Behörden. Festschrift zur Tausendjahrfeier
der Stadt. 1928/29. Brandenburg (Havel) 1928. Band I. 284 S. Band II. 4158.
Nachrichten und Notizen 221
Diese Arbeit des bekannten brandenburgischen Historikers geht weit über den
Rahmen dessen hinaus, was leider sonst meistens von Städten als Festschrift heraus-
gegeben wird. Es ist eine tiefgründliche wissenschaftliche Arbeit, ein Muster einer
Stadtgeschichte, wie sie sein soll. Eine jahrzehntelange, oft mühselige Kleinarbeit
hat mit dem vorliegenden Werke ihren Abschluß erreicht. Es wird aber auch mehr
als nur die Geschichte der beiden Städte Brandenburg geboten. Eng ist die ehe-
malige Hauptstadt mit den Geschicken des Landes verbunden, als Haupt der Städte
spielt sie eine führende Rolle, als Sitz des Schöppenstuhles ist sie maßgebend für die
rechtlichen Verhältnisse der Mark, ja als Sitz eines Bischofs wird sie auch in die
religiösen Meinungsverschiedenheiten mit hineingerissen. All das meistert T. vor-
züglich. In klarer lebendiger Weise schildert er von Anbeginn an die äußeren wie die
inneren Verhältnisse der beiden Städte. Daß sich durch ihre enge Verbindung zu
den Markgrafen und ersten Kurfürsten seine Schilderung zu einer Geschichte der
Mark Brandenburg ungefähr bis zur Reformationszeit entwickelt hat, will uns darum
nicht wunder nehmen. Und doch merkt man überall die liebevolle Kleinarbeit, sei
es, daß er bei der Namenserklärung mit schlagenden Gründen den Einfluß des Sla-
wischen zurückweist, sei es bei der Begrenzung des Stadtgebietes. Für besonders
wertvoll halte ich die Abschnitte über die Entwicklung der Stadt (1. Buch 1), über
die Wittelsbacher und Lützelburger (3. Buch, 2—4), über das geistige Leben (5. Buch,
9) und über Kunst und Privatleben (7. Buch, 9). Die neuere Zeit wird etwas summa-
rischer behandelt und zeigt nicht die Abgerundetheit der früheren Abschnitte.
Wenn ich nun einige Bemerkungen anfüge, so sollen diese den Wert des Werkes
nicht herabsetzen. Um 1400 kann man wohl kaum noch die Brandenburger Bürger als
„im Kriegswesen noch wenig geübt“ bezeichnen (S. 115). S. 180f. und S. 243f. wird
der Streit um den entflohenen Priester nicht ganz ebenmäßig erzählt. Ein Hinweis auf
die frühere Schilderung hätte wohl S. 2431. genügt. Überhaupt ist es mir aufgefallen,
daB háufiger Begebenheiten doppelt berichtet werden, wo ein Hinweis genügt hátte.
So wird uns Bd. II, 69 und 76 erzáhlt, daB die Bürgermeister der Altstadt zur Pest-
zeit 1566 die Stadt verlassen und sich in die Weinberge bei Radewege geflüchtet
hätten, damit die Sitzungen des Schöffenstuhles nicht unterbrochen würden. S. 44
wird berichtet, daB sich allgemein die Bürgermeister in Pestzeiten dahin flüchteten,
S. 66, daB die Schóffen dort zu Pestzeiten ihre Sitzungen abhielten. Das ist wohl
des Guten zu viel. Erwühnen móchte ich noch die reichen bildlichen Beigaben,
darunter die beiden ältesten Urkunden der beiden Städte. Die Personen- und Orts-
weiser sind von Else Lesser verfertigt.
Neuruppin. Lampe.
J. G. Fichte, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Ges. u. hrsg. von Hans
Schulz. Nachtrag. H. Haessel, Leipzig 1930 (56 S., 6 ZA).
Zu der 1925 erschienenen zweibändigen Ausgabe, über welche Historische Viertel-
jahrschrift 23, 374ff. eingehend berichtet wurde, ergaben sich zunächst aus den von
Maria Fehling herausgegebenen Briefen an Cotta Ergánzungen, auf welche ich a. a. O.
554 hinwies. Nun hat Schulz selbst eine stattlichere Anzahl von Nachtrügen zu-
stande gebracht, die er als ein inhaltreiches Heft in der bewührten Weise vorlegt,
Drei Briefe werden nach den früher noch nicht benützten Originalen wiederholt.
zu dreien sind wesentliche Erklärungen beigefügt, und 27 früher nicht aufgenommene
Briefe werden in die Reihe neu eingeschaltet. Unter diesen 27 erscheinen fünf hier
222 Nachrichten und Notizen
zum ersten Male im Druck und davon ist der letzte zugleich der, soweit die bisherige
Kenntnis reicht, jüngste Brief von Fichtes Hand, geschrieben am 10. Januar 1814,
eine Woche, nachdem Fichtes Frau Johanna durch ihren aufopfernden Dienst im
Lazarett erkrankt war, eine Woche, bevor auch bei ihm selbst die Ansteckung aus-
brach, die ihn bald dahinraffen sollte. Man ersieht aus diesem Brief, daß an den Sorgen
des Fichteschen Hauses damals die beiden Brüder Hufeland mit ihrem ärztlicheg Rat
Anteil nahmen: Christoph Wilhelm, der berühmte und einflußreiche Leibarzt des
Königs, mit dem Fichte im Spätherbst 1806 gemeinsam die Flucht des Hofes nach
OstpreuBen mitgemacht hatte. sein vertrauter Helfer auch in anderen Dingen, und
dessen seit 1812 in Berlin wirkender, jüngerer Bruder Friedrich. Von geringerer
Bedeutung für Fichtes Lebensgeschichte sind die übrigen vier Neufunde; sie be-
ziehen sich zumeist auf Geschäftliches (über Vorlesungsankündigung an den Jenaer
Prorektor Gruner, Einladung zu Vorträgen an Erman, Abrechnung über die Reden
an die Deutsche Nation an Reimer, nur einer an Tieck handelt von den unerfreu-
lichen Beziehungen zwischen Schelling, den Schlegels und Tieck. Dagegen bringt der
Neudruck des Briefes, womit Fichte am 22. Mai 1799 seinen für die Üffentlichkeit
bestimmten „aktenmäßigen Bericht über die Anklage“ (bei Schulz Nr. 365) an Rein-
hold übersandte, und der jetzt aus dem in Marbach wiederentdeckten Original in
ursprünglicher Gestalt an den Tag kommt (Nr. 364), neue Aufschlüsse über die
peinliche Lage, in die der Philosoph durch seine Entlassung im Frühjahr 1799 ge-
raten war. Es zeigt sich, daB er im Mai über die von dem preuDischen Hof zu er-
wartende Haltung noch die schwürzeste Meinung hegte und ernstlich mit der Not-
wendigkeit rechnete, trotz allen Stráubens nach Frankreich gehen zu müssen. Ein
wenige Wochen vorher nach Bern gerichtetes Anerbieten (Nr. 363b, leider nur im
Auszug), auf dessen Beantwortung Fichte noch im Juli 1799, wie es scheint, dringend
wartete (vgl. Nr. 376), vervollständigt das ergreifende Bild eines zwischen Volks-
empfinden und Freiheitsliebe hin- und hergerissenen Lebens.
Graz. W. Erben.
Paul Joachimsen.
Am 25. Januar 1930 starb in München der Honorarprofessor an der Universität
München Paul Joachimsen, ein Historiker von zielbewußtem Forscherwillen und
hoher Selbstdisziplin, von klarem und scharfem Verstande, von ausgesprochener
pádagogischer Begabung. gleich ausgezeichnet als Gelehrter und Lehrer. Er wurde
geboren am 12. März 1867 in Danzig als Sohn eines Holzgroßhändlers: sein Leben
sollte den Sohn des Ostens ganz in Münchener Boden verwurzeln lassen. Die Disser-
tation über Gregor von Heimburg, mit der er sich hier im Sommer 1889 einführte,
kündigt schon die Wahl seines geistigen Interessengebietes und die Vorzüge seiner
Arbeitsweise an. Sein damaliger Plan einer gelehrten Laufbahn wurde schon zu Beginn
durch ungünstige äußere Umstände gestört. Joachimsen sah sich genötigt, nachdem
er in den Jahren 1894/95 das Staatsexamen bestanden hatte, in den bayerischen
höhern Schuldienst einzutreten. Nach einigen Anfängerjahren in Augsburg und Hof
wurde er 1900 an das Gymnasium in Nürnberg, und dann 1%3 an das Wilhelm-
Gymnasium in München berufen. Hier hat er bis zum Jahre 1925, vor allem als
Geschichtslehrer in den oberen Klassen, eine Wirksamkeit entfalten können, die sich
nach allgemeinem Urteil hoch über das gewöhnliche Maß erhob: dieser mit Liebe
und natürlicher Begabung (von derauch seine „Geschichtswiederholungenin Frage und
s Tap
xU
pesa
Nachrichten und Notizen 223
Antwort, 4. Anfr. 1929 zeugen) ergriffene Tätigkeit hat der charaktervolle Mann einen
großen Teil der Arbeitskraft seines Lebens gewidmet. Daneben vermochte er, nach
seiner Rückkehr nach München und erfolgter Habilitation an der Universität im
Jahre 1908, eine akademische Tätigkeit aufzunehmen, immerhin sehr verspätet
gegenüber seinem ursprünglichen Lebensplan und fortan dauernd in einem doppelten
Geschirr der Pflichten gehend. Seine akademische Tätigkeit war vor allem in seinen
Seminaren von hervorragendem Erfolg begleitet; wenn seiner „Laufbahn“ hier der
äußere sichtbare Erfolg versagt war, so waren eben äußere Umstände dafür ent-
scheidend, und es ist keine Frage, daß das Ganze seines wissenschaftlichen Lebens-
werkes ihn über solche Äußerlichkeiten hinweghebt.
Der Ausgangspunkt und in gewissem Sinn auch der bleibende Mittelpunkt der
Studien Joachimsens war der Humanismus; wo er über dieses Gebiet hinausschritt,
ist er in der Regel von einem humanistischen Interesse weitergeführt worden. Er hatte
schon im Jahre 1893 den Briefwechsel Hermann Schadels herausgegeben und wandte
sich dann einem groBangelegten Unternehmen, einem Werke über „die humanistische
Geschichtschreibung in Deutschland" zu, von der er 1895 einen ersten Band: „Die An-
finge Sigmund Meisterlin“ herausbrachte, der mit sorgfältiger Einzelforschung in
die Welt des scholastischen Humanimus und seiner neuen historiographischen Ziel-
setzungen einführte. Er sollte aber diese ınonographische Behandlungsweise, die ihn
naturgemäß tief in die jeweiligen örtlichen und persönlichen Zusammenhänge seiner
Autoren verflechten mußte, in diesem Stile nicht fortführen. Vielmehr entschloß er
sich, als er nach längerer Pause zu dieser Studie zurückkehrte, zu einem viel weiter
ausholenden Anlauf. In einer Habilitationsarbeit ,,Geschichtsauffassung und Ge-
schichtschreibung unter dem Einfluß des Humanismus (1910) stellte er sich die Auf-
gabe, vor allem die grußen Linien der Entwicklung aufzusuchen und die Summe ihrer
formalen und inhaltlichen Probleme zu ziehen. Die Art, wie dieses Buch in einer Ver-
bindung von gründlicher Sachkenntnis und kritischer Umsicht seine Aufgabe löst, gibt
ihm einen bleibenden Wert; wenn es unvollendet blieb (der zweite Band, der es ab-
schlieBen sollte, ist nie erschienen), so mag das mit dem Dazwischentreten der durch
Burdach, Goetz, Brandi u. a. veranlaBten allgemeinen Renaisancediskussion zu-
nmmenbängen, durch die der Horizont dieser Probleme nicht nur erweitert, sondern
such verschoben wurde. Joachimsen hat in diese Diskussion mit immer neuen Ab-
handlungen fórdernd eingegriffen, er hat sich mit Burdach ablehnend auseinander-
gesetzt und ist tief in den italienischen Humanismus eingedrungen. Vor allem begann
win wissenschaftliches Interesse jetzt vom Humanismus zur Reformation vorzu-
shreiten: so z. B., wenn er die Fortbildung der , Loci communes“ von Agricola und
Eraamus his zu Melanchthon verfolgte und in dem melanchthonischen Wissenschafts-
system die letzte Auseinandersetzung des reifen HumBmismus mit dem deutschen
Geiste erkannte. Dagegen gelangte er nicht dazu, ein abschließendes Gesamtbild des
Humanismus zu entwerfen, wie es ihm ursprünglich vorgeschwebt hatte. Am ehesten
beschreitet diesen Weg sein Salzburger Vortrag von 1929, die reifste und abgeklürteste
Prucht dieser Studien.
Gleichzeitig sollte die Beschäftigung mit dem N und der von ihm
geförderten nationalen Romantik Joachimsen dazu führen, in die Entwicklung des
deutschen Nationalbewußtseins und von hieraus auch des deutschen Staatsgedankens
tiefer einzudringen. Krieg und Nachkriegserlebnisse trugen zu dieser Wendung bei,
und der pädagogische und ethisch-nationale Zug seines Wirkens kam darin zu voller
224 Nachrichten und Notizen
Geltung. Diesem Kreise seiner Arbeiten gehören vor allem an die Bücher „, Vom
Deutschen Volk zum deutschen Staat“ (aus Natur- und Geisteswelt 1916) und „Der
deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Friedrich den Großen“ (1921),
sowie die Abhandlung , Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedan kens“
(1929). Sie alle trugen die Züge der geistigen Wesensart ihres Autors: sie sind ein-
dringend und klar, im Bedürfnis auch Klarheit auch wohl in das Allzubegriffliche
verlaufend, zugleich von verständnisvoller Wärme und tiefen Ethos durchzogen.
So berühren sie sich auch mit dem Unternehmen, das Joachimsen im letzten
Jahrzehnt seines Lebens am innerlichsten erfüllte. Von Haus aus gewöhnt, „sich mit
Rankeschem Geiste zu durchdringen, hatte er sich schon länger mit dem Gedanken
einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Rankes, „des historischen Klassikers,
wie ihn kaum eine andere Nation besitzt“, getragen, und im Dezember 1921 gelang es
ihm, die verstándnisvollen Leiter des Drei-Masken-Verlagesin München für seinen weit-
ausschauenden und gründlich durehdachten Plan zu gewinnen. Schon im Jahre 1925
konnte er die vonihm selber bearbeitete Neuausgabe der sechs Bünde der ,, Deutschen
Geschichte im Zeitalter der Reformation" mit hóchst wertvollen Ergebnissen vor-
legen, und er litt in seinen letzten Jahren darunter, daB die Fortführung des Unter-
nehmens, das ihm „eine allgemeine geistige und zugleich nationalpüdagogische Not-
wendigkeit" dünkte, unter der Ungunst der Zeiten nicht so schnell voranschreiten
durfte, wie er gehofft hatte.
Seine wissenschaftliche Produktivität stieg in diesen letzten Jahren — er hatte
sich im Jahre 1925, um ganz seinen Studien zu leben, aus dem Schuldienst zurück-
gezogen — auf den Höhepunkt. Die Beschäftigung mit Ranke hatte ihn tiefer in
reformationsgeschichtliche Studien geführt, in denen seine wissenschaftliche Persön-
lichkeit und man darf wohl sagen sein Herz zu Hause waren; es war auch sein reli-
giöses Empfinden, dasin Luther eindrang. Im Jahre 1926 zum Mitgliede der Münche-
ner Historischen Kommission gewählt, übernahm er die Oberleitung der neuen mitt-
leren Serie der Reichstagsakten (seit 1485). Und wenn er bis dahin vor allem Forscher
gewesen war, so sollte er jetzt auch die Gelegenheit einer umfassenden Darstellung
ergreifen, indem er den Abschnitt über die Reformationsgeschichte in der Welt-
geschichte des Propyläen-Verlages übernahm. Diese Darstellung, erst nach seinem
Tode erschienen (Bd. 5, 3—216), istinihrem klaren Aufbau, in der begrifflichen Durch-
dringung, in der Abgewogenheit des Urteils ein schönes letztes Monument eines
Lebenswerkes, dem niemand die ideale geistige Einheit absprechen kann.
So erschien Joachimsen, sich spät erst ganz entfaltend, auf der Höhe seiner Ent-
wicklung, als ein plötzlich auftretendes Leiden seinen Tagen ein Ziel setzte und den
Zweiundsechzigjährigen, viel zu früh für das, was von ihm zu erwarten war, aus einem
arbeitsamen und würdig angewandten Leben hinwegnahm.
Berlin. Hermann Oncken.
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1 E D
LER
,Bernowini episcopi carmina."
Albert Brackmann zum 60. Geburtstag,
24. Juni 19311.
Von
Otto Sehumann.
Unter den Mànnern der Umgebung Karls des GroBen hat
neben Alkuin und Einhart der Franke Angilbert dem Herrscher
besonders nahe gestanden. Er hat ihm als Staatsmann gedient
und ist mit wichtigen Ámtern und Sendungen von ihm betraut
worden. Bekannt ist, daB er mit Karls Tochter Berta in freier
Ehe verbunden war, was dann die Sage auf Einhart und seine
Gemahlin Imma übertragen hat. Nithart, der Geschicht-
Schreiber, und Hartnit sind diesem Bunde Angilberts und Bertas
entsprossen.
Auch an den literarischen Bestrebungen Karls hat Angilbert
regen Anteil genommen. Es ist ja besonders bezeichnend für
das geistige Leben an Karls Hofe, daß sich auch die Laien daran
beteiligen, voran der Herrscher selbst, neben ihm Einhart und
eben Angilbert. Dieser tat sich besonders als Dichter hervor und
führte als solcher den „Akademienamen“ Homerus; weshalb
gerade diesen, wissen wir nicht. Denn von seinen Gedichten
sind leider nicht viele erhalten. Dümmler hat unter dem Titel
„Angilberti (Homeri) carmina PAC 1, 355ff. 10 Texte zusam-
mengestellt; nr. I. II sind höfisch-panegyrischen Inhalts, nr. III.
IV und V, I—IV Weihinschriften aus St. Ricquier (Centula),
! Die Abhandlung war bestimmt für die Festschrift, die zu demselben Tage
erscheint. Sie wurde aber dafür su umfangreich, und die Fertigstellung zögerte sich
zu lange hinaus. So erscheint sie denn hier gesondert als Gruß und als Zeichen des
Dankes an den verehrten Lehrer, zu dessen Füßen ich gerade vor 50 Semestern
meine Studien begonnen habe, insbesondere auch die paläographischen Studien,
die mir bei der vorliegenden Arbeit in reichem Maße zugute gekommen sind.
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 15
226 Otto Schumann
dem Kloster, dessen Leitung Angilbert von Karl übertragen
worden war. Nr. VI ist das berühmte epische Fragment, dem
man die Überschrift „Karolus Magnus et Leo papa" gegeben
hat; es ist Angilbert ohne jeden stichhaltigen Grund zugesprochen
worden. Schon die Handhabung des Verses läßt mit großer
Sicherheit darauf schlieBen, daB es nicht von ihm sein kann.
Ganz willkürlich vollends hat Dümmler ein Gedicht über die
Bekehrung der Sachsen als nr. VII hierher gestellt Daß es
Angilbert gehóre, hat meines Wissens noch niemand ernstlich
zu behaupten gewagt.
Dagegen kommen zu den echten Gedichten Angilberts noch
hinzu ein Gruß an Petrus von Pisa (PAC 1, 75 nr. XLII) sowie
Prolog und Epilog zu einer Handschrift von Augustins De doc-
trina christiana (zuletzt gedruckt PAC 4, 915f.). Daß diese
beiden 'etzteren Gedichte nicht, wie Mabillon gemeint hatte,
einem Abt Angilbert von Corbie, sondern Angilbert von St. Ric-
quier gehóren, hat Traube in seiner berühmten Abhandlung
O Roma nobilis nachgewiesen (Abh. der Bayer. Akad., I. Kl.,
XIX 2 [1891] S. 322 fl.). Ein noch größeres Verdienst um den
Dichter Angilbert hatte sich Traube bereits vorher erworben.
In seinen „Karolingischen Dichtungen“ (1888) S. 51ff. hat er
dargelegt, daB noch eine ganze weitere Gruppe von zwar inhalt-
lich mit einer Ausnahme nicht eben bedeutenden, aber formal
groBenteils eigenartigen Gedichten Angilbert zuzuweisen sei.
Der im 9. oder 10. Jahrhundert geschriebene Cod. Vat. Reg. lat.
2078, einst im Besitze Alexander Petaus, enthält auf fol. 117 —149,
mit anderen Bestandteilen (Aldhelm, Symphosius, Eugen von
Toledo u. a.) untermischt, eine Sammlung von Gedichten aus
karolingischer Zeit, die Dümmler PAC 1, 393ff. unter der Über-
schrift „Hibernici exulis et Bernowini carmina'' abgedruckt hat,
nachdem bereits vorher Mabillon, Marténe und Durand, endlich
Angelo Mai Teile davon veröffentlicht hatten. Über die „Hiber-
nici exulis carmina“ hat ebenfalls Traube in ,,O Roma nobilis“
gehandelt (a. a. O., S. 333ff.). Als ,,Bernowini episcopi carmina“
faBt Dümmler (S. 418ff.) die Gedichte zusammen, die in der
Hs. von fol. 1437, Z. 23 ab bis fol. 149' einschließlich stehen;
es sind in seinem Abdruck 32 Nummern. In einem großen Teil
der Texte erscheint ein gewisser Bernowtnus; anderwärts ist ein
ursprünglicher Eigenname durch 1H oder ähnlich ersetzt, die
„Bernowini episcopi carmina" 227
Gedichte sind also dadurch zu Formeln gestempelt; wieder an
anderen Stellen ist ein Eigenname einfach weggelassen. Ein
großer Teil der Gedichte trägt den Schmuck von Akrosticha,
Mesosticha und Telesticha. In diesen Akrosticha usw. kehrt
fast ständig der Name Angilbert wieder. Daß hierunter der
berühmte Abt von St. Ricquier zu verstehen sei, schloB schon
Dümmler daraus, daß nr. XXI5—8 der ,,Bernowingedichte'* mit
der u. a. von Hariulf, dem Chronisten von St. Ricquier, überliefer-
ten Grabschrift Angilberts weitgehend übereinstimmt und daB
ein anderes (VIa, s. unten) bis auf den Namen identisch ist mit
einer gleichfalls bei Hariulf erhaltenen Weihinschrift Angil-
berts für St. Ricquier. Traube hat nun gezeigt, daB wir auch
in den anderen Gedichten für Bernouuinus regelmäßig Angil-
bertus einzusetzen haben. Besonders deutlich wird das in
nr. XXI 1. Der Vers lautet in der Hs.: Rez requiem bernouuino
da pater atque pius rex. Das ist kein Hexameter. Ersetzen wir
aber bernouuino durch angilberto, so ist alles in Ordnung. Weiter
zeigt Traube, daß auch dort, wo die Hs. i# oder Ähnliches hat
oder wo sie einen Eigennamen ausläßt, in den meisten Fällen
der Name Angilberts einzusetzen ist (in den Akrostichagedichten
waren ihm darin schon Bethmann und Dümmler vorangegangen);
dort aber, wo der Name eines Heiligen vermißt wird, der des
Schutzheiligen von Angilberts Kloster, Richarius. Abgesehen
von nr. XXVIII, dem auch Traube eine Sonderstellung zu-
weist, geht die Rechnung überall glatt auf. Es hat also ein
Mann namens Bernowin in die Gedichte statt des Namens Angil-
bert überall, so weit móglich, den seinigen hineingebracht, oder
ein anderer hat es für ihn getan. Er war, wie nr. VIII 5 und
die Überschrift zu nr. XXVIII zeigen (s. unten), ein Bischof.
Traube hält ihn für den Erzbischof Barnoin von Vienne, der
als solcher 887 zuerst erscheint und 899 gestorben ist; ob mit
Recht, ist fraglich. Wir werden noch darauf zurückkommen.
Den gróBeren Teil der von Dümmler unter Bernowins Namen
gestellten Gedichte betrachtet Traube als Eigentum Angilberts.
Das Hauptergebnis der Darlegungen Traubes: daß außer
in nr. XXVIII allenthalben die Namen Angtlbertus und Richa-
rtus einzusetzen sind, bleibt bestehen. Zweifelhaft aber er-
scheint, ob die fraglichen Gedichte wirklich sámtlich von ihm
herrühren. Und auch sonst läßt sich zu seinen Ausführungen
15*
228 Otto Schumann
im einzelnen manches ergänzen und berichtigen; desgleichen zu
Dümmlers Text und varia lectio. Auf diese mußte sich Traube
verlassen; die Hs. hat er erst später kennen gelernt. Ich habe
für die Untersuchungen über den gesamten Komplex der ,, Berno-
wini episcopi carmina", die ich im folgenden vorlege, Photo-
graphien benutzt, die ich mir mit gütiger Erlaubnis des Präfekten
der Vaticana, Monsignore G. Mercati, habe anfertigen lassen.
Mit B I usw. bezeichne ich die „F Bernowingedichte“ nach Dümm-
lers Zählung; P ist der cod. Reg.; D. = Dümmler, Tr. = Traube,
H. = W. Heraeus, dem ich für vielfache Unterstützung, vor
allem auch für eine Reihe schlagender Emendationen des über-
lieferten Textes, zu herzlichem Dank verpflichtet bin. Meine
Ausführungen ergänzen und berichtigen, was ich in Stammlers
Verfasserlexikon des deutschen MA.’s I 83 über diese Gedichte
dargelegt habe.
Den „Bernowingedichten“ gehen in P auf fol. 141° (fol. 141*
war ursprünglich leergelassen und ist dann in einer viel kleineren
Schrift mit Gedichten des Eugenius von Toledo gefüllt worden,
es ist hier also ein Einschnitt in der Hs.) bis fol. 143" voraus die
Texte, die D. als Hibernicus exul XX, I—VIII und XXI druckt.
Auf letzteres Gedicht folgt dann noch der 162eilige Text Ad
Boree partes, Riese Anth. lat. II nr. 679, dann erst BI. Vor
Hib. ex. XX, I—VIII und XXI ist jedesmal eine Zeile für die
Überschrift freigelassen, vor Ad Boree partes dagegen zwei
Zeilen, desgleichen dahinter; die zweite der letzteren füllt die
Überschrift von BI VERSVS DE ADNVNCIACIONE; es
ist die erste, die wirklich eingetragen ist. Durch diese Frei-
lassung von zwei Zeilen davor und dahinter soll der Text Ad
Boree offenbar als ein andersartiger Einschub gekennzeichnet
werden. Die vorhergehenden wie die folgenden Texte sind durch-
weg Inschriften, Ad Boree dagegen eine Übersicht über die
Sternbilder; warum sie hier eingeschoben ist, hat Tr. gezeigt
(Münch. Abh. 19, 2, S. 335): in der vorletzten Zeile von Hib.
ex. XXI ist von astrilogi die Rede. Auch formal unterscheidet
sich Ad Boree partes von den vorhergehenden und den folgenden
Texten: diese bestehen durchweg aus Distichen (mit Ausnahme
von BII), Ad Boree (und B II) aus Hexametern. Äußerlich
fállt dies freilich in der Hs. nicht auf. Pentameter sind ebenso
geschrieben wie Hexameter, die Initialen der Verse stehen in
„Bernowini episcopi carmina" 229
einer Senkrechten untereinander. Anders wird das erst mit
B VIa, dem ersten der Texte, in welchem der Name Bernowtnus
begegnet; Tr. bezeichnet so das zwölfzeilige Gedicht Omni-
potens dominus qui celsa uel ima gubernas, das D. hier weggelassen
hat, weil er es bereits unter Angilberts Gedichten (als nr. V, I,
S. 865) gedruckt hatte. In diesem Text ebenso wie in den folgen-
den, B VI—VIII, sind die Pentameter gegenüber den Hexa-
metern eingerückt. Schon äußerlich bilden so die Texte B VIa.
VI—VIII eine Gruppe für sich.
Auffällig ist allerdings, daB zwischen der letzten Zeile von
B V und der ersten von B VIa keine Zeile für eine Überschrift
leergeblieben ist. Die Hs. bezeichnet sonst auf diesen Seiten,
von fol. 141" ab (und auch schon vorher) bis fol. 147“ 2.8 —
von der schon áuBerlich ganz abweichenden Gruppe B XXVII
bis X X XII sehe ich einstweilen ab —, den Beginn eines neuen
Textes auf dreifache Weise: durch Freilassung einer Zeile,
durch eine groBe Initiale und dadurch, daB die erste Textzeile
in Capitalis rustica (nicht, wie Bethmann und D. angeben, in
Unziale) geschrieben ist. So ist der Textanfang gekennzeichnet
in Hib. ex. XX, I—VIII. XXI. B II. IV. VI. VIII. IX. X. XI.
XIII—XVII. Zwei Zeilen sind oder waren, wie gesagt, leer-
gelassen vor Ad Boree und B I. Von B XVIII an, fol. 145" oben,
bleibt keine Zeile mehr frei. Durch gróBere Initiale und Kapital-
schrift der ersten Zeile sind hervorgehoben B XVIII—XX.
XXIII—XXVI; nur durch Kapitalschrift B XXI v. 5 und
B XXII v. 41; nur durch gróBere Initiale B VIa v. 1 und v. 7.
Es ergibt sich daraus, daß wiederholt in der Hs. Texte als Ein-
heiten erscheinen, die keine sind; u. a. sind B XI und XII so
geschrieben, als bildeten sie einen zusammenhängenden Text.
D.hat die Bestandteile in den meisten, aber, wie wir sehen
werden, nicht in allen Fällen richtig von einander getrennt.
Eingetragen sind die Überschriften nur zu B I. II. IV. Das
hebt die Gruppe B I—V schon äußerlich von den folgenden wie
von den vorhergehenden Texten ab. Von den folgenden weicht
auch ab die Schreibung der Distichen (s. oben). Wichtiger
ist der inhaltliche Unterschied: B I—V sind keine Inschriften
auf kirchliche Gebäude wie B VIa usw., sondern solche auf
bildiche Darstellungen, wohl Gemälde, von Szenen aus dem
Leben Christi. Irgendwelche Beziehung auf Bernowin oder
230 Otto Schumann
Angilbert ist in ihnen nicht enthalten; sie nennen außer bibli-
schen überhaupt keine Eigennamen. Tr. hat sie daher in seiner
Untersuchung beiseite gelassen, weil aus ihnen weder für noch
gegen Angilberts Verfasserschaft etwas zu entnehmen sei.
Ich gehe auch sie im einzelnen durch. Ich berücksichtige
dabei — ebenso wie bei den übrigen Gedichten der Sammlung —
nicht alle Einzelheiten, notiere aber das Orthographische, da D.
darin inkonsequent ist. Wo nichts anderes bemerkt ist, bin ich
mit D.’s Emendationen einverstanden. Die beigebrachten
Parallelen — ich habe mein Augenmerk hauptsächlich auf die
. Hexameter- und Pentameteranfänge (HA), auf Hexameter-
schlüsse (HS) und Pentameterschlüsse (PS) gerichtet — machen
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Immerhin werden sie
einen Eindruck davon geben, wie stark auch diese Texte mit
geprägten Formeln arbeiten. Die schon von D. PAC 2, 693f.
angeführten Parallelen wiederhole ich im allgemeinen nicht.
B I—V sind recht fehlerhaft überliefert. Aus Hexametern
besteht B II, die übrigen aus Distichen. B I, überschrieben
VERSVS DE ADNVNCIACIONE, lautet in D.’s Abdruck so:
Hic Mariam claro Gabrihel sermone salutans
Inquid: „Amica dei, virgo tonantis, ave!"
Hic fert ecce deum Christum veneranda Maria;
Ioseph in obsequio gratus utrique comes.
Et domini reddit mater praecelsa futura: b
„Sie mihi fiat", aiens, „pareo namque libens."
Propitius nobis, petimus, iam parce redemptis,
Pro quibus es factus, rex, homo, iure deus.
Es fällt auf, daß dies Gedicht aus 4, B III—V aus je 3 Disti-
chen bestehen. Prüft man genauer, so erkennt man, daß auch
B I auf diesen Umfang zurückzuführen ist. Denn v. 5f. schließt
sich unmittelbar an v. 2 an. Das dazwischenstehende, gleich
B I—V mit Hic beginnende Distichon, v. 3f., ist der Eingang
eines weiteren titulus (B Ia), der die heilige Familie schilderte
(Flucht nach Ágypten? Der Ausdruck comes scheint darauf zu
weisen); der Rest ist uns verloren. — Der HS parce redempiis
BI5 (7) ist der SchluBzeile des berühmten, dem Paulus
Diaconus zugeschriebenen Hymnus Ut queant laxis resonare fibris,
An. hymn. 50 nr. 96. — In P folgt auf B I 8 als 9. Zeile, als
gehórte er zu B I, v. 1 von B II, dann die Überschr. DE
„Bernowini episcopi carmina“ 231
NATIVITATE, dann in Kapit. und mit großer Init., BII2.
D. hat den Fehler stillschweigend verbessert.
Die 4 Hexameter von B II beschreiben eine bildliche Dar-
Stellung der 4 Himmelsgegenden, auf welcher im Westen abge-
bildet war die Geburt, im Osten das Leiden, im Süden die Auf-
erstehung, im Norden die Himmelfahrt Jesu. Anscheinend
trugen diese Darstellungen außer dem Haupttitulus noch
Einzelbeischriften, von denen uns die drei letzten in B III—V
erhalten sind; denn deren Inhalt entspricht genau den Angaben
in B II. Dagegen ist die erste (B IIa) verloren bis auf die Über-
schrift DE NATIVITATE, die in der Hs. (und bei D.) fälsch-
lich zu dem Haupttitulus gezogen worden ist. Auch B Ia und
B IIa werden aus je 3 Distichen bestanden haben. — Zu dem
HS B II 4 ad ethera vectum vgl. B XXVIS8 super aeth. vesit;
Aen. VII 65 und Damasus 2, 11 trans a. vectae (us).
B III: Die von D. richtig ergänzte Überschrift DE PAS-
SIONE ist in der Hs. verlorengegangen. In dieser folgt
BIII1 auf B II 4 ohne jede besondere Hervorhebung, als
bildeten B II und B III einen zusammenhängenden Text.
Ebenso erscheinen in P B IV und B V als eine Einheit. —
1: HS passio. Chris: Commodian C. apol. 311; Sedul. C.
pasch. V 261; Theodulf XIX 31; XLI, I 39. B III —V erweisen
sich auch dadurch als besonders eng zusammengehörig, daß
in ihnen durchweg die erste Zeile mit Christi endet (passio,
gloria, ascensio Chr.); dasselbe wird in B IIa der Fall gewesen
sein. — 4. 6: Die PS praemia larga Sund crimina cuncta -
begegnen wieder in B VII 8.6.—5: Wegen mors mortis vgl.
die Zusammenstellungen bei Diehl Inscr. christ. I S. 485 oben. —
Zu dem HS ture colenda est vgl. den HS i. colendum Walahfr. I,
XI 33.
BIV: Die Überschrift VERSVS DE ASCENSIONE, die
D. beibehalten hat, ist falsch ; sie gehört zu B V. B IV müßte DE
RESYRRECTIONE überschrieben sein. — 1: HS gloria
Christi: Dam.2, 7; 8,8; 27,3; gl. Christo (-us) Aldh. C. de
virg. 506. 2824; Alcuin LXVIII 25; Angilb. II 40; PAC I 113
hr. IX 3.—3f.: Qui ter discipulis uno sub limine solis Apparuit;
man ist versucht, lumine zu schreiben, denn am Morgen des
Auferstehungstages ist Christus nur den Frauen (oder nur der
Maria Magdalena) erschienen. HS lumine (Ca) solis ist uralt,
232 Otto Schumaan
vgl. u.a. Ihm zu Dam. 9, 4; desgl. limine (-a) s.; sub limine (-a)
und sub lumine (-a) gehen in den Hss. auch sonst durch-
einander; vgl. Norden zu Aen. VI 255 und die v. I. zu Ju-
venc. II 482; III 314; IV 27. Vielleicht liegt an unserer Stelle
kein Schreiberfehler vor, sondern der Dichter selbst hat den
durch häufigen Gebrauch und jene Verwechselung abgeblaBten
Ausdruck uno sub limine solis im Sinne von „im Laufe eines
Tages“ verwendet; daher ist es doch ratsamer, das überlieferte
limine beizubehalten. — 4: PS gaudta magna ~ S: Angilb.
I 2.8; V, I (=B VIa) 10; aber auch sonst, so Sedul. Hymn.
1, 28, 2; auch z. B. bei Alc.
BV: 5: HS mortibus ornet: vgl. Hor. Ep. 2, 1, 2 m. ornes.
Die nun folgenden vier Gedichte B VIa. VI—VIII bilden
in P, wie wir sahen, ebenfalls schon äußerlich eine Gruppe für
sich. Sie bestehen durchweg aus Distichen und sind auch inhalt-
lich gleichartig, denn es sind lauter Kircheninschriften aus
St. Ricquier, wenigstens in ihrer, von Tr. hergestellten, ursprüng-
lichen Fassung.
. B VIa (— Angilbert V, I, PAC 1, 865) ist nach Hariulfs aus-
drücklichem Zeugnis die Inschrift, die Angilbert im Innern des
Westturms der Kirche von St. Ricquier in gyro hatte anbringen
lassen. In P ist Angilbertus v. 8 durch Bernouuinus ersetzt.
Auffällig ist in P außerdem die große Initiale von v. 7, durch die
das Gedicht in zwei gleiche Hälften zerlegt wird. Ähnliches
findet sich in P einige Seiten weiter, nàmlich in B XXVII. XXX.
XXXI. Hier steht jedesmal genau in der Mitte ITEM ALIVM,
in B XXVII und XXX hinter dem letzten Vers der ersten
Hálfte, in B XXXI sogar auf besonderer Zeile zwischen den
beiden Hälften; in diesem Falle wird durch die Überschrift
ein Pentameter von dem zugehórigen Hexameter losgerissen.
Wie ist das zu erklären? B XXVII. XXX. XXXI sind Epi-
taphien. Standen sie auf dem Stein etwa in zwei Kolumnen,
und spiegelt sich das in den Abschriften wider? Und sollte die
Zweiteilung in B VIa nicht ähnlich zu erklären sein? Vielleicht
war dieser Text im Turminnern in zwei Zeilen geschrieben, oder
er war in der Mitte unterbrochen, etwa durch ein Fenster oder
eine Tür. Gibt es andere Beispiele einer derartigen Überlieferung
von Inschriften? — 1: HA Omnipotens Dominus Aldh. C. de
virg. praef. 11, v. I. (=B XXVIII b) 1); Petr. v. Pisa, PAC 1, 73
»Bernowini episeopi carmina" 233
nr. XL 7; u. sonst. — 2: PS semper ubique deus Alc. XLVIII
38; LXXXIX, VIII 4; s. ub. deo Alc. LI, II 4; CXIII 30;
Walahfr. VIII 28; vgl. PAC 1, 118 nr. IX 8. Die Wendung semper
wbique liebt Alc. überhaupt sehr, besonders als HS: XII 1;
XXV u. ö. — 7: Wegen des HS culmina templi vgl. zu
B XXII1. — 8: Angibertus ego: ders. HÀ Angilb. V, II 2;
PAC 1,75 nr. XLII2 (Ang. an Petrus von Pisa); B VII 3;
B VIII 5; als PS Angilb. I 32. — v. 9f. ähnlich B VII 7f. (Tr.)
— 9: HS virtute peregit Sedul. C. pasch. I 293. 296. —
10: Wegen des PS s. zu B IV 4. — 11: Quisquis et hic summas
precibus pulsaverii aures; hic Hariulf D., htnc P; ist nicht hinc
vorzuziehen? — 12: PS semper habere — S auch B XXX 12.
B VI: Zu v. 1 Hec construxit opus, lector, quod cernis, hone-
stum (HONESTV P) vgl. Angilb., PAC 4, 915 v. 3 Haec tibi
mulia doceni, lector, quod quaeris, honeste. Die Anrede lector
honeste auch Hrab. LXXIX, 12; XCII, 13; XCVII 1. Daher ist
auch an unserer Stelle honeste einzusetzen. — 2: Angilbertus
( Bernouuinus P D., Ang. Tr.) ovans ductus amore dei ist fast
= Ang. V, II 2 (Ang. ego); vgl. ferner PAC 2, 672 nr. II 4 An-
seghisus ovans d. am. de; Angilb. ovans als Verseingang auch
Ang. IV 3; ovans an dieser Versstelle wie auch als PS ist
gerade in Inschriften sehr häufig; ductus amore de als
PS Alc. XCIX, XXII 2; als HA Alc. LXVI, II 5; PAC 4, 1015
nr. VI 1; Ähnliches auch sonst; —.. amore dei ist häufig, vgl.
u.a. Jhm zu Damas. 11,2. — 3: Ille (nicht Ill.) P; Richarii
Tr. — 5: sam ammıracula P. — 6: Septus P. — 7: Si uenicł quis-
que P; quisquis Mab. D.; die Ánderung ist ganz unnótig. — 8:
Quod ptt inuenit P; inveniet D. Ist nicht invenii beizubehalten?
Es würde dem folgenden quod cupit, ecce, tenet sehr gut ent-
sprechen, vgl. ferner den Schluß von B VIII Et quam ...
poscel, habet veniam. — 9: Vos fratres veniae (uenie P!) peti-
tores, obsecro vobis druckt D. Aber obsecro c. dat. ist doch sehr
anstößig. Sollte nicht hinter obsecro ein Komma zu setzen und
vobis zu petitores zu ziehen sein? Auch das würde trefflich zu
dem Folgenden passen: Poscite factors dona superna domus: „die
ihr für euch um Vergebung bittet, erbittet (auch) für den Erbauer
dieses Hauses.. Oder ist votis für vobis zu schreiben? (H.).
B VII: 1f.: Haec tibi constitui itt ( Richart Tr.) magne sacer-
dos Quae nitd hic dmi culara domus ohne Lücke P; Hanc und
234 | Otto Schumann
..culara D. Tr. schlägt vor buticulara oder -ata unter Berufung
auf zwei Stellen bei Hariulf, so II 3 turris ergo orientalis cum
cancello et butico sancto Richario dicata est. Buticum erklärt
Tr. mit Mab. als gleichbedeutend mit ciborium „Überbau des
Altars“. Ich dachte etwa an (tam pro)cul ara domus. Alle diese
Besserungsversuche, auch D.'s Hanc für Haec, erledigen sich
durch H.’s glänzende Emendation cul(mina c;lara domus. —
3: Bernouuinus ego PD.; Angtlbertus ego Tr.; vgl. zu B VI a,8. —
4: precipue P. — 5f.: Te rogo subpliciter, pro me prece posce
tonantem, Ut purget venta crimina cuncta mea; dazu vgl. Theod.
carm. XLI, II 47f. (PAC 1, 540) Hane, rogo, mercedem pro me
deposce tonantem, Ut mihi det veniam seu pius addat opem; der
Hex.-Schl. (de)posce tonantem auch PAC 2, 477 nr. IV 5;
8, 811 nr. XXXIV 12; 3, 351 nr. CXL 15; der Versschluß tonan-
tem (-ts usw.) ist überhaupt sehr beliebt, besonders bei Ald-
helm. — 6/8: Vgl. oben zu B III 4/6; PS crimina cuncta ~ x—
auch Alc. XC, XV 8. — 7f.: Vgl. zu B VIa 9f.
B VIII: 1: HS forte v1ator Buecheler Carm. epigraph. 982, 1 ;
Alc. III, XV 1; LXXXIX, VI 3; sicher auch sonst. — 8:
reddiit P. Merkwürdig die Mahnung an den Besucher der Kirche,
die Inschrift, die, wie aus v. 8 hervorgeht, über der Tür ange-
bracht war, erst zu lesen, wenn er wieder herauskomme (cum
re[d ]dut); der Dichter will ihn also nicht aufhalten, er soll erst
drin sein Gebet verrichten. Gibt es Parallelen? — 5: Hier sind
Text und v. I. Ds ganz unzulänglich und irreführend. In P
stand ursprünglich: Bernouuinus ego nam dior humilimus
(so!) eps; das o von Bernouuinus, mu von humtlimus und das e
von eps sind ausradiert, aber auf der Photographie ganz deutlich
zu erkennen. D. hat ipse für ps eingesetzt, Tr. sich damit begnügt,
Bernouuinus in Angilbertus zu verwandeln. Es liegt auf der
Hand, daß ursprünglich der Vers lautete: Angilbertus ego (s. oben
zu B VIa 8) nam dicor humillimus abbas; als humilis abbas be-
zeichnet sich Angilbert Ang. V, II, 1 (S. 365) und PAC 4, 915
v. 21. Für Angilbertus wurde in P (oder bereits in einer Vor-
lage von P?) Bernouuinus, für abbas episcopus eingesetzt, denn B.
war Bischof, nicht Abt. Daß dies zwei Silben zuviel gab,
blieb, sei es dem Schreiber selbst, sei es einem Korrektor, nicht
verborgen, und man suchte zu bessern, vielleicht in wiederholten
Ansätzen, ohne aber etwas Gescheites zustande zu bringen. —
„Bernowini episcopi carmina" 235
6: Culmina que feci carmina que cecini P; C. qui f. carminaque cec,
D; besser wird wohl auch hinter carmina das que durch qui er-
setzt; vgl. auch Alc. carm. XXXIII, II 2 (S. 250) cecini qui
carmina Christo; carmina tunc. cecın? als PS und HE Baudri v.
Bourgueil nr. 206, 15—18 (ed. Ph. Abrahams S. 264). — 7:
Qui uent£ ueniat scelara deposcere flu P; Qui veniet veniam
scelerum. dep. fl. richtig schon Mab., ebenso D. Vgl. dazu Alc.
carm. LXX XIX, XXV 6 (S. 312) Et veniens veniam poscat et
ipse suam; ferner B XXVII 3 inveni(es ven) am, das Wortspiel
ist schon sehr alt, vgl. meine Anm. zu Carm. Bur. ed. Hilka-
Schumann nr. 31, 9, 1/4. — 8: — loca sancta — S: Alc. XLVIII
6.40; LXXXIX, VI 4 (s. oben zu v. 1); Hrab. LXVIII 8;
LXXV, III 2. —9: i P; Richarius Tr. — 10: Ezimtus meritis;
vgl. das Epitaph des Paulus Diac. auf Fortunat, PAC 1, 57
nr. XIX 12 Eximiis meritis (ebenfalls HA); Ähnliches, wie Egre-
gius meritis, begegnet öfters. — piacate P. — Der Pent.-Schl. et
pietate potens auch Alc. XLVI 8, PAC 1, 259; HA Sed p. p.
Theod. LX XV 119. — 11: HA Illic invenies Ov. Ars am. 1, 91;
Sedul. C. pasch. praef. v. 11. — HS (spes) certa salutis Diehl,
Inser. christ. lat. vet. nr. 1784, 8. — 12: Wegen des Präs. habet
ventam vgl. zu B VIS.
Auf diese geschlossene Gruppe folgt in P (fol. 144) B IX. In
der Hs. sieht der Text so aus:
OMNIPOTENS MISERERE REDEMPTOR REX PIVS
adque decus uita salus hominum.
Omnipotens ds tu miserere ipsius esto memor. rex pius adq, mej
Von Omnip. ds bis mej ist alles, eng zusammengedrängt, fast
ohne Worttrennung, in eine Zeile geschrieben. D. hat den Text,
von Bethmann verleitet, in 6 Zeilen gedruckt, mit vielen durch
Punkte ausgefüllten Lücken. Tr. meinte, hier habe der Schreiber
den Wortlaut wegen zu vieler Beziehungen bis auf ein paar Vers-
fragmente ganz unkenntlich gemacht. In der 3. Zeile ergänzte
er Angilberis, durchaus richtig, nur an der falschen Stelle, hinter
tu, weil er durch D.’s verkehrtes dominus für ds irregeführt wurde.
Weitere Herstellungsversuche hat er nicht unternommen. Hátte
er die Hs. oder eihe Photographie vor sich gehabt, so würde er
sicherlich sofort erkannt haben, daB der Text viel weniger ver-
stümmelt ist, als er annahm. Es sind zwei Distichen, deren
236 Otto Schumann
Pentameter vollständig erhalten sind; man braucht nur aus der
1. Zeile REX PIVS an den Anfang der 2. zu setzen. Die Hexa-
meter sind unvollständig. Aber in v. 3 (v. 5 bei D.) ist ganz
deutlich zu sehen, wo die Lücke ist und wie sie ausgefüllt werden
muB: hinter deus ist — — mit vokalischem Anlaut zu
ergänzen, und zwar muß es der Gen. (oder Dat.) eines Eigen-
namens sein, abhängig von miserere; sonst fehlt das Beziehungs-
wort zu ipstus. Setzen wir Angilberti ein, so ist alles in bester
Ordnung. Desgl. v. 1, wenn wir dieselbe Form hinter Omnipotens
einfügen. Über das Verhältnis zwischen den beiden Distichen
wird noch zu handeln sein. — Zu rez ptus (so auch in v. 4 [6],
nicht pie, wie D. druckt) adque decus (met) vgl. den PS Alc. LV,
V 6 rez pius atque pater; zu v. 2 vita salus hominum Alc. I 2
Vita salus hominum; zu v. 3 (5) den HA Omnipotens deus
Walahfr. LX X XIV 8; zu v. 4 (6) Ipsius esto memor PAC 4, 1015
nr. V, VI 4 Illius esto memor.
Nun folgt der Anfang eines Gedichtes ganz anderer Art,
B X. Nur der Anfang; denn seltsamerweise überliefert die Hs.
es in zwei Teilen: auf fol. 144' stehen nur v. 1—3, d.h. die
1. Strophe; dann bricht die Aufzeichnung ab, obwohl noch vier
Zeilen auf der Seite sind, und setzt erst wieder ein auf fol. 147*
unten, unmittelbar und ohne Kennzeichnung, daB hier ein neuer
Text anfängt, hinter B XXVI, dem letzten der Akrosticha-
gedichte auf Angilbert. Und hier sind v. 4—6 = Str. 2 fort-
laufend, als Prosa, geschrieben, wenn auch die Langverse durch
groBe Anfangsbuchstaben voneinander abgehoben sind. Erst
von v. 7 ab steht wieder wie bei v. 1—3 (fol. 144") jeder Lang-
vers für sich auf einer Zeile, mit Initiale, also ganz 80, wie sonst
die Hexameter und Pentameter geschrieben werden.
Inhaltlich ist dieser Text ganz von gleicher Art wie B Vla.
VI—VIII. Aber formal hebt er sich von allen anderen ab; denn
es ist der einzige Rhythmus. Über seine Form handelt kurz W.
Meyer, Ges. Abh. 1, 205. Es sind (was in D's. Druck leider nicht
zum Ausdruck kommt) 5 Strophen zu je dreirhythmischen trochä-
ischen Tetrametern oder Fünfzehnsilbern, mit regelmáBigem Ein-
schnitt hinter der 8. Silbe, meist (in 12 von 15 Zeilen) auch hinter
der 4. „Taktwechsel“ begegnet in der ersten Vershülfte (8 — ~)
viermal, in der zweiten (7 — —) fünfmal, mit daktylischem Wort-
schluß in 7 — — v. 2 et veniam poscere, in 8 — ~ v. 7, wenn
„Bernowini episcopi carmina" 237
gelesen wird Qu: cupit (so schon Mab.; cupiat P D.) ingredi do-
mum (d. ingredi P D.; es ist allerdings auch domum ingredi denk-
bar). Die Strophen sind gereimt aaa; der Reim ist einsilbig und
min. V. 6/7 reimen perfrui: domui, 13/14 mirabilis : ineffabilis;
nirgends aber ist zweisilbiger Reim durch eine Strophe durch-
geführt, und W. Meyer sagt zuviel, wenn er behauptet, der zwei-
silbige Reim finde sich „oft“. Allerdings sind Ansätze dazu vor-
handen: in Str. 3—6 stimmen außer den Vokalen der letzten
auch die der vorletzten überein, desgl. in v. 4/5.
Auch in diesem Gedicht ist wie in dem vorhergehenden Text
zweimal, v. 5 und 11, der Gen. eines Eigennamens einfach weg-
gelassen, ohne daß in der Hs. eine Lücke wäre. D. ergänzt
beide Male Bernowint, Tr. sicher richtig Angtlberti. Das gibt
freilich in v. 5 Hiat (Angtlberti et), den einzigen innerhalb der
Langzeile in diesem ganzen Gedicht; doch werden durch Eigen-
namen (und Zitate) derartige Unregelmäßigkeiten ja sehr oft
in der mlat. Rhythmik entschuldigt. — In v. 1 besteht ebenso-
wenig wie in B VI 7 eine Notwendigkeit, das überlieferte QV IS-
QVE durch quisquis zu ersetzen. — Hinter v. 3 ist Punkt zu
setzen st. Komma, da hier eine Strophe zu Ende ist. — 4: Sic
pro te tuisque cutis redde uota dno P; cunctis Mab. D., wohl richtig.
Allenfalls zu erwägen curis, kaum carts (Marténe). — 6: quifun
dauid (so, nicht fundauid) P, bezeichnend für die Gedanken-
losigkeit des Schreibers. — 10: Das Komma hinter subplez ist
zu tilgen. — 11: Denkbar ist natürlich auch Angilberto (st. -)
miserere.
Hinter der 1. Strophe von B X beginnen, noch auf fol. 144
unten, die Akrostichagedichte. Es sind zusammen 14. Sie
stehen in zwei Gruppen: B XI—XX (fol. 144'—145") und
XXIII—X XVI (fol. 146“—1477). Dazwischen geschoben sind
BXXIf. Jene 14 Gedichte stimmen inhaltlich und auch formal
weitgehend überein. Es sind durchweg Gebete an Gott oder an
Christus um Aufnahme ins Himmelreich. Alle bestehen aus
10 Hexametern, nur das erste, B XI, hat deren 12. Alle haben
Akrostichon und Telestichon. Das letzte, B XXVI, begnügt
sich hiermit; die anderen haben außerdem 1—3 Mesosticha.
Angilberts Name erscheint in den senkrechten Reihen überall
auBer in B XI, XIII, XVIII. Im eigentlichen Text begegnet er
in B XVIII 10 (wo P bernouuino dafür eingesetzt hat); X XIII 1
238 . Otto Schumann
(ILE P; Angilbertum Bethmann D. Tr); XXV 1 (ILLO P;
Angtlberto Bethm. D. Tr.). Sonach vun dieser Name nur in
BXI und XIII.
Diesen Gemeinsamkeiten stehen Verschiedenheiten im ein-
zelnen gegenüber. Es heben sich besonders zwei Gruppen von
den übrigen ab,
a) In B XI. XII. XXIII Setzen sich die Mesosticha lediglich
aus Anfangsbuchstaben von Wörtern zusammen. In BXI und
XXIII, wo wir drei Mesosticha haben, stimmen diese unter sich
und mit Akrost. und Telest. überein (B XI DEVS MISERERE,
B XXIII ANGILBERTO); das ergibt in jedem Hexam. min-
destens vierfache Allitteration. B XII hat nur 1 Mesost., und
die drei Senkrechten sind verschieden (PIVS ADESTO/ANGIL-
BERTO/DEVS ETERNE). In den übrigen Gedichten sind die
Mesosticha nicht an den Wortanfang gebunden.
b) In B XIII. XVIII. XXIV. XXV ist die Zahl der Buch-
staben in den einzelnen Zeilen gleich, die Mesosticha sind symme-
trisch angeordnet und bilden, wenn ein Buchstabe unter den
andern geschrieben wird, gleich Akrostichon und Telestichon
eine genau senkrechte gerade Linie; als Beispiel drucke ich
B XIII in dieser Weise ab:
DONAANIMEMISERENDOMEESEDEMOROQVIETI S8
ETLARGIREPRECORMIHISEMPERMVNERAVITAE
VTMEREARFLORERETVAIVGEIVSTICIAAVCTOR
SISPIVSETCLEMENSMIHISISSPESVNICAVITE
ALMASALVSVENIEPLACIDVMFACADDERELVMEN
DAROGOTRANQVILLOREQVIEMDEDVCEREVVLTV
ETTVAMEPACISSERVETPETODEXTERAREGNANS
SISETERNEPARENSMIHIMITISSEMPERAMATOR
TEMEREARSINEFINEFRVIFACTORPRECORALME
- OMNIPOTENSEXCELSEVENIQVOTEROGOSVPLEX
Jeder Vers hat also 36 Buchstaben; die Mesosticha stehen an
12. und 24. Stelle. Das Akrost. ist = Mesost. II, Mesost. I =
Telest. Ganz genau so ist B XXIV gebaut (zweimal ANGIL-
BERTO/SERVVLO TVO). Ebenso entsprechen einander genau
B XVIII (dreimal DEVS ADESTO) und XXV (dreimal ANGIL-
BERTO): 34 Buchstaben in der Zeile, das einzige Mesost. an
18. Stelle, also in der Mitte. In allen anderen Gedichten auBer
„Bernowini episcopi carmina" 239
in diesen vier ist die Zahl der Buchstaben in den Zeilen überhaupt
verschieden und ebenso die Abstánde zwischen den senkrechten
Buchstabenreihen; schreibt man also diese Texte so, daB ein
Buchstabe unter den anderen steht, so bilden Mesosticha und
Telestichon keine geraden, sondern sehr unregelmäßige Zickzack-
linien. Weder D. noch Tr. haben offenbar diesen Unterschied
bemerkt ; auch ich bin bezeichnenderweise erst auf ihn aufmerk-
sam geworden, als ich anfing, diese Texte aus den Photographien
in Maschinenschrift zu übertragen: Nachträglich habe ich dann
festgestellt, daß auch in der Hs. wenigstens B XIII und XVIII
sich deutlich von den übrigen abheben, indem hier, bes. in
B XIII, die Buchstaben der Mesosticha sauber in einer Reihe
untereinander stehen (bei den Akrosticha ist es natürlich überall
80, auch bei den Telesticha, indem der letzte Buchstabe der Zeile,
gleichviel wie lang diese ist, an den rechten Rand gerückt wird);
sonst (auch in B XXIV und XXV) muß man sich die Mesosticha
mehr oder minder mühselig zusammensuchen, obwohl selten
vergessen ist, die dazu gehörigen Buchstaben groß zu schreiben,
auch davor regelmäßig eine Lücke ist; dagegen sind die Wörter
in diesen Texten in der Regel nicht getrennt.
Daß Tr. den Unterschied nicht erkannt hat, ergibt sich aus
seinen Ausführungen über B XVIII 10 (s. unten); daB auch D.
nicht darauf aufmerksam geworden ist, aus seiner Orthographie.
Denn freilich, die Orthographie der Hs. muß an einer ganzen
Reihe von Stellen geándert werden, wenn gleiche Buchstaben-
zahl und symmetrische Anordnung der Mesosticha in jenen
vier Gedichten hergestellt werden sollen, So ist in B XIII 1
mee für meae P zu schreiben, desgl. in v. 4 utte für -ae, v. 5 uenie
für -ae, v. 8 eterne für aeterne (aber v. 2 ist uitae beizubehalten !).
Fast durchweg kommen wir mit diesem einfachen Ersatz von ae,
das in P überwiegt, durch e aus. Nur an einigen Stellen in
B XXIV und XXV sind etwas tiefere Eingriffe in den über-
lieferten Text notwendig. .
Isoliert steht B X XVI; es hat Akrost. und Telest. (ANGIL-
BERTO / SIT VERA LVX), aber kein Mesost.; die Buchstaben-
zahl der Zeilen ist nicht geregelt.
Dagegen sind die 6 noch übrigen Texte dieser Art in ihrem
Bau aufs náchste miteinander verwandt, B XIV —XVII. XIX.
XX. Alle haben 3 Mesosticha, das mittlere lautet regelmäßig
240 Otto Schumann
ANGILBERTO, das Akrost. wird stets im Telest. wiederholt;
z. B. BXIX SALVS MVNDI/SERUULO TVO/ANGIL-
BERTO/PIVS ADESTO/SALVS MVNDI. Die einzelnen
Wendungen kehren meist in verschiedenen Gedichten wieder;
so steht SERVVLO TVO als 1. Mesost. in BXVII und XIX;
als 3. Mesost. in B XIV; endlich als 1. Mesost. und als Telest.
in B XXIV.
Ich gehe nun diese Akrostichagedichte einzeln in derselben
Weise durch wie die vorhergehenden.
B XI: Das Gedicht ist ebenso wie B XII und XIII benutzt
in B XXVIII; s. zu diesem. — 1: Xps schreibt P, auch sonst in
der Regel; nur B XIV 2 christE. Abkürzungen außer von
Nomina sacra sind selten. — enim als Flickwort in der 1. Zeile
auch in B XII. — HS semine David auch B XIV 1. — 8: AV
schreibt P; desgl. B XII 3 und XXVI 9 (aber B XXIV 4
hies T). — 5: Mitis tu, miserere mei et miserere meorum: vgl.
Fulbert v. Chartres, An. hymn. 50 nr. 214,18 Parce, precor,
miserere mei, mis. meorum. Zufall? — 11: HA Rez regum auch
B XXV 8; Aldh. C. de virg. praef. 28; Hrab. LXXXVII 18.
B XII: 1: David ist Abl., zu natus v. 2 gehórig. — 3: tu ganz
richtig P, nicht to, wie D. angibt. — 4: HS omnta Christus (-1
usw.) häufig, Commod. C. apol. 582; Damas. 37,8; öfters bei
Alc., 2. B. 11580; XX 36; u. sonst. — 9: Wegen ubique deus
vgl. zu B VIa 2.
B XIII: Hier ist mehrfach ae durch e zu ersetzen, s. oben. —
2: HS munera (-e) vitae: Juvenc. II 229. 769 u. ö.; Aldh. C. de
virg. 752. 2688 (munia v. ebd. 700); Theod. LX XV 118; Aedil-
wulf XIV 8. — 4: HA Sit pius et clemens Alc. LII 16; XCIX,
X] 7; ähnl. XV 9. — HS spes unica vitae: Beda, An. hymn. 50
nr. 93, 31; Carm. de convers. Saxonum 58 (PAC 1, 381);
Hrotsv. Gongolf. 281; sicher auch sonst; sp. un. — O oft seit
Sedul. C. pasch. I 60 (von D. angeführt) sp. un. mundi, doch
Schon Juvenc. III 521 vitae sp. un. fatur und ebd. III 536
sp. un. restat. — 5f.: Alma salus, venie placidum fac addere
lumen! Da, rogo, tranquillo requiem deducere vultu! Sind hier
fac addere und da deducere Umschreibungen für adde und deduc,
oder wie soll man die Wendungen sonst erklären ?
B XIV: 1: HS = B XI 1. — 8: reGolis P. — 4: Aplez P. —
10: quo Osindef Ortis P.
»Bernowini episcopi carmina" 241
B XV: 2: incli Ta uotA richtig D.; aber P hat deutlich indi Ta.
— b: parent P, metrisch und dem Sinne nach richtig; pavent D. —
6: dexteraM P. — 9: dommahbVs P.
B XVI: 1: Deus 1nchte DaviD; David ist hier Gen.; vgl. 4.
Reg. 20, 5; Is. 38, 5. — 5: Aderne Danda P. — 7: haec verba
micantia an derselben Stelle des Hexam. bei Angilbert, PAC 4,
916, II 21. — Über den Schluß von v. 10 s. unten zu B XXII 37.
B XVII: 7: Sit famulO mihi, fast ders. Hex.-Eing. B XIX
ebenfalls in v. 7: Ut famulO mihi. — 9: Der Hex.-Schl. gaudia
vilae ist sehr häufig; den von mir zu Carm. Bur. 40 III bei-
gebrachten Beispielen kónnte ich jetzt Dutzende hinzufügen:
Cat. Dist. 4, 17, 2; Bonif. Carm. II 11; Sed. Scott. II 6, 21 und
20, 45 u. a. mehr. — 10: populOs salvans P, nicht populO (wohl
Druckfehler bei D.).
B XVIII: Vgl. den Abdruck weiter unten. — 1: Det PD.;
es ist doch wohl Des zu lesen, zu Det würde ein Subj. fehlen;
denn David kann hier nur Dat. sein. Die Entstellung wohl her-
vorgerufen durch das vorhergehende et. — Zu v. 6 vgl. Alc. carm.
XXXVII 7 (S. 252) dic, dic, dulcissime David; mit diesem HS
vgl. auch B XVIII 1 mitissime David und B XIX 9 certissime
David. Vgl. ferner Othloh, Anal. hymn. 50, 325 nr. 251, 10 Die,
dic ergo pia nobis dulcisgue Marta. — iungere doch wohl „schließ
dich an“, „komm her zu mir". — 8: HA — deus omntpotens
Angilb. II 88 und PAC 4, 916 nr. I 29 u. II 14, doch auch sonst
oft, bes. bei Alc. — 10: O pi£as bernouuino O praecurre (so
richtig P, nicht praecurrere, wie D. in der v. l. angibt) cltentO
PD.; Tr. ersetzt bernouutno richtig durch Angtlberto, will aber das
zweite O dahinter streichen und cl:ento durch clienilo ersetzen.
Das geht nicht, denn die erste Vershälfte hätte dann einen
Buchstaben zu wenig, die zweite einen zu viel, und das O des
Mesostichons würde um eine Stelle nach links verschoben. Es
bleibt also bei dem doppelten O und bei cliento, dessen o durch
das Telestichon gesichert ist. Die Form läßt sich vergleichen mit
vatorum, das in dem 2. Gedicht Angilberts häufig begegnet
(vatorum est gloria David u.a.). — Weiteres über B XVIII s.
unten.
B XIX: 2 Alma fid Eilurcui Netorum rectissuma uittA P;
fid Es und cuNctorum D., letzteres natürlich richtig; aber kann
nicht fidei (ei einsilbig) beibehalten werden? Vgl. z. B. den
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 16
242 Otto Schumann
PS Alc. XC, XXI 4 per pia vota fida. — 4: Uaste P D.;
I. Uasto, zu hiatu. — 6: Magneds Luansuerbum P; saLvans
D., wohl richtig. — 7: Vtfamulo Omihid Esuentam P; famulO D.;
. er faBt also das doppelte o als Verschreibung auf. Dergleichen
begegnet auch sonst: qua Ae für quAe B XV 2; auch das Umge-
kehrte: Spontesu Adeunt B XVI 4 für sua Adeunt. Unbedingt
nótig ist hier die Streichung des einen o aber nicht. Vgl. auch zu
B XVII 7. — HS gloria regni schon Lucr. II 38; Aldh. C. de
virg. 112. 2894; Theod. XXXV 1; u. sonst. Ähnliches (gl. gentis,
gl. plebis usw.) häufig.
B XX:1: AETERNE P. — 4: co Imachina P (vgl. B XVIII 3
comulato). —8: leta E P, nicht letaA, wie D. angibt.
B XXIII: V. 3 f. lauten: Grandis erus. Gabrihel Gerolus Grandis
quoque magoG Inuentor Iuuenis Iuuenum Iuuenilia loet I. Das
ist sehr dunkel. Gabrihel und Grandis Magog sind wohl Gen.
Aber wovon hängen sie ab? Magog z. B. von gerolus oder von
invenlor? Und was heißt gerolus Magog oder M. inventor ?
inv. könnte = creator sein (repertor wird öfters so gebraucht,
2. B. mundi, rerum rep., vgl. Ihm zu Ps.-Dam. 68, 11). Aber was
bedeutet tuvents iuvenum usw. ? Ist loeti der Gen. von letum oder
steht es für laeti? Wer hilft hier weiter? — 6: Bona PD. gibt
keinen Sinn; I. Bone. — 7: Eximus P. — 8: actor, v wohl m, ein-
gefügt.
B XXIV: 1: ASPICAE CELESTI P. — 3: a£ernae P D.;
l. aeterne. —5: Luz v1a vita als HE Alc. XX XVII 5 (das Gedicht
ist an Homerus, d.h. an Angilbert gerichtet); ebenso PAC 1, 844
nr. CXII 14; als Eing. der 2. Pent.-Hälfte Alc. XXXVII 6;
XLVIII 44; XCV 22. — 6: Blandiorocae Limthitusiso Biime-
praesuL P; D. trennt Blandi oro cae Li, es ist doch wohl Blandior,
o, ceLt (bl. im Sinne von oro) mindestens zu erwägen. cel4 ist
auf jeden Fall zu schreiben, sonst hat das erste Versdrittel einen
Buchstaben zu viel. Andererseits fehlt im letzten Drittel ein
Buchstabe. Man wird entweder oBtimae praesuL schreiben müssen
(s. Zu v. 7) oder oBtime praessuL. ss für s finde ich auch sonst in
Figurengedichten, um die gewünschte Symmetrie herzustellen:
Ios. Scott. carm. III, PAC 1, 152f., IESSVS, im Eingang des
von (v)I(vens) v. 1 nach rechts unten gehenden Hexam.; dass.
ebd. carm. IV, S. 154 f., v. 26; ebd. carm. VI, S. 158f. NEGAN-
TISS (in dem Kreuz rechts unten); IESSV auch Alc. VI 1
„Bernowini episcopi carmina" 243
(gleichfalls Fig.-Gedicht); pressul schreibt die Hs. PAC 3, 239
v. 27 (kein Fig.-Gedicht). — 7: Ei me lucifluO miserens bon E
praecluae donO D.; aber P hat praeduae, und das ist sicher bei-
zubehalten. Offenbar ist der Imp. gebildet in Anlehnung an den
alten Konj. dutm, duis usw. Was sollte praecluae heißen? Auch
das schlieBende ae von praeduae muB stehen bleiben, sonst
haben wir wieder einen Buchstaben zu wenig. Entsprechend
kann auch in v. 6 oBitmae für -e der Hs. gesetzt werden, wenn
man nicht den anderen Ausweg vorzieht. — 8: beTi P D; l.
le Ti. — 10: quaeam P; queam richtig D.
B XXV: 2: Zu dem Hex.-Schl. per lumina lumen vgl. Wey-
man, Beitr. z. Gesch. d. christl.-lat. Poesie S. 231 über den Hex.-
Schl. de lumine lumen, der oft begegnet. — 3: cui Grande mole
subito G P D.; es ist wohl zu lesen cut Grandi mole subit OG , dem
der Riese Og erlegen ist“; vgl. Num. 21, 33ff.; Deut. 3, 1ff. (bes.
v. 11) u.a. Bibelstellen. — 4f.: Illius, en, miserere, pius, qui
septa uocat: Laete hic fecit: H. schlägt locari für uocati vor; sonst
müßte vocati wohl = dict: (scil. Angilberti) sein. Was heißt hier
septa? Ist es = cancelli? — 6: Bellum quo fugiat ea Buli dis-
crimine cum io B P D. Die zweite Vershälfte hat 3 Buchstaben zu
viel, auch ist mit discrimine nichts Rechtes anzufangen. Ich
schlage vor za Bli de semine; vgl. Matth. 13, 24ff. und 36ff.; die
Formen diabli, gabli begegnen auch sonst bei karoling. Dichtern:
PAC 4, 83 v. 127 und 287 v. 810. — 7: HS lumina (-e) vitae
schon bei Lucrez, I 221 u. sonst; Juvenc. IV 442. 734. 756;
Aldh. C. de virg. 308; u. sonst, auch B XXIX 7. — 8: Wegen
Rez regum s. zu B XI 11; HS iuris amator Ven. Fort. 6, 2, 79;
Theod. XXVIII 45; Áhnliches (virtutis, pietatis am.) oft.
B XXVI: 1: Vgl. Eug. v. Toledo, An. hymn. 50 nr. 77,11
qui regnans irinus et unus; HS tr. et un. auch sonst. — 2: Vgl.
Aldh. C. de virg. 1684 qui ... dempsisset crimina mundi; Alc.
CXVII, II 2 qui tollit cr. m.; ähnl. Hincmar II 47. — 3: Wegen
des HS vgl. zu B II 4. — 7: preci P. —8: HS ante tribunal: Tu-
venc. IV 590; Sed. C. pasch. V 139; Diehl Inscr. 3482, 9; Alc.
LI, VI 5.
Zwischen die beiden Gruppen von Akrostichagedichten
geschoben sind die Texte, die D. unter den Nummern XXI und
XXII zusammengefaßt hat. Wir betrachten zunächst B XXII.
Tr. erklärt dies Gedicht für die selbstverfaßte Grabschrift Angil-
16*
244 Otto Schumann
berts; doch sei nur der Schluß, nach Hariulfs Zeugnis, „in der
etwas veränderten Form von B XXI 5—8‘ wirklich auf das
Grab gesetzt worden. Tr. widerspricht sich hier selbst; denn er
läßt das Gedicht — und zwar mit Recht — schon mit v. 30
enden; und gerade von dem Schluß, d. h. v. 41 —44 (der übrigens
in P als selbständiges Stück dadurch gekennzeichnet wird, daß
v. 41 in Kapit. geschrieben ist), sagt er nachher, er sei ,,wahr-
scheinlich eine einfältige Spielerei“. V.1—30 druckt er S. 55f.
neu ab. Zu diesem Gedicht ist folgendes zu bemerken.
Daß es der Grabschrift Alkuins (Alc. CX XIII, S. 850) nach-
gebildet ist, hat Tr. festgestellt und durch Beispiele belegt; ich
verzichte darauf, diese zu vervollständigen. — Zu v. 1 Haec gui
sacra pelis venerandi culmina templi vgl. Aldh. carm. eccl. II2
Cui (Mariae) veneranda rudis sacrantur culmina. templi; HS
culmina (-e) templi: 8. Thes. 1. I. 4, 1291, 28ff.; B VIa 7; Aldh.
C. de virg. 562; Alc. 1306; u. ö. — 2: pi Datis ut habent P. —
4: ora P. — Zu v. 6 Principibus multo carus amore puis vgl. die
spätere Grabschrift Angilberts, die ihm gesetzt wurde, als das
Grab von seinem ursprünglichen Platz vor der Kirche von St.
Ricquier in diese hinein verlegt worden war, PAC 3,814 nr. XLV
6 Dogmatibus clarus, principibus socius sowie die Grabschrift
des Megingoz aus St. Alban in Mainz, PAC 4,1038 v. 9 Regibus
hic carus multis (zu beiden Stellen verweisen die Herausgeber auf
B XXII 6). — 7f.: Gloria me rerum magi (mage Mab., magni
D. Tr.) referebat opima, Sed regum solita plures (- is D. Tr.) ami-
cita. Die Emendationen D.’s. sind wohl sicher, gleichwohl bleibt
die Stelle schwierig. „Der persönliche Gebrauch wie magni refert
studium atque voluptas bei Lucrez ist bekannt, aber dann fehlt
die Person, der an etwas liegt, und man erwartet allenfalls einen
Dat., also mi. Wenn aber me richtig überliefert ist, so ist es wohl
aus der Vermischung von refert und referre zu erklären.“ (H.) —
11: Es ist doch wohl ereptum zu schreiben und das Komma hinter
sorte zu tilgen; sonst muß zu dem überlieferten (von D. und Tr.
beibehaltenen) ereptus ein sum ergänzt werden, und das ist miß-
lich. — 13: figurE P. — 14: Totius hoc uitae quo gradiaris steR
P D.; Tutius hinc Tr.; Tutius sicher richtig, hinc unnötig. —
18: (caeca talenta) In barairi mittunt antra sacra suoS P; sacrata
Mab. D.; sopora Tr. Beides sehr bedenklich; secreta? (secretus
mit kurzer erster Silbe Hrotsv. Maria 398. 473; Gesta Ott. 518
„Bernowini episcopi carmina“ 245
u. ö.; sicher auch bei anderen.) Oder serata ? — 20: Vgl. Aen. I 639
arte laboratae vestes; ab arte ist ovidisch. — V. 21f. lauten bei D.
nach P: Nam datur infelix corpus, cui tanta parantur, adfore mox
pulvis, vermibus esca simul. Tr. schreibt paratur und streicht
dahinter das Komma: „dem es bestimmt ist bald ebensoviel
Staub zu sein." Aber pulvis ist Mask.! Es ist doch wohl besser
parantur beizubehalten; tanta bezieht sich auf die in v. 19f.
geschilderten irdischen Genüsse; corpus datur pulvis adfore deute
ich als etwa gleichbedeutend mit fit, ut c. pulvis sıt. Eine Parallele
für ein solches dart mit Nom. c. inf. vermag ich allerdings nicht
beizubringen. — 24: Atque „Angilberti“ (so Tr.; in P, Illius D.)
dic „miserere deus; die zweite Pent.-Hälfte genau so nicht bloß bei
Angilbert PAC 4, 915 v. 20, wo Strecker auf unsere Stelle ver-
weist, sondern auch Alc. LXXX, I8; PAC 1, 115 nr. XI 14;
3,318 nr. XLII 4; 4, 1010 nr. IV 8 u. ö.; als Hex.-Eing. Alc. XX 5;
vgl. auch Alc. CXIII 8. — In v. 28 ist Tr.'s Interpunktion „, Surge
iam tuba nostra iubet vorzuziehen. — Zu v. 29 Vita salus requies
usw. vgl. Riese Anth. lat. nr. 689“ (Versus Silvii de cogno-
mentis Salvatoris) v. 5 und die von Weyman a. a. O. S. 60 dazu
beigebrachten Parallelen. — Zu v. 30 Da ventam famulo tu mihi,
Christe, tuo vgl. den Schluß der Grabschrift des Erzbischofs
Landulph von Mailand (gest. 900), PAC4, 1010 nr. IIS Da
veniam famulo, da, pater alme, tuo.
Der Rest von B XXII zerfállt in 3 selbstándige Stücke:
v.91—86. 37—40. 41—44. Desgleichen besteht B XXI aus
2 Teilen: v. 1—4 und 5—9, was durch die Hs. bestátigt wird
(Kapitalschrift in v. 5!). Diese 5 Texte gehóren zusammen. Sie
sind Variationen der im cod. Vat. Reg. lat. 235 und danach
von Hariulf überlieferten echten Grabschrift Angilberts (MG
SS XV 179):
Rex, requiem Angilberto da, pater atque pius rex.
Lex legum vitam aeternam illi da, quia tu es lex.
Lux, lucem semper concede illi, bona qui es lux.
Pax, pacem illi perpetuam dona, es quoniam pax.
Nach H.'s Bericht war v. 1 zu Häupten, v. 2 links, v. 3 zu Füßen,
v. 4 rechts eingehauen. Man könnte auf den Gedanken kommen,
daß sie in Kreuzform angeordnet waren, von außen nach der
Mitte zu verlaufend, wo sie in dem allen gemeinsamen schließen-
den X (das sich ja gleich bleibt, von welcher Seite man es auch
246 Otto Schumann
sieht) zusammenstießen. Aber der Wortlaut bei H. spricht doch
für rechteckige Anordnung.
Wichtig scheint mir eine weitere Beobachtung. V. 3 und 4
haben je 37 Buchstaben; desgl. v. 2, wenn man eternam für
aet. schreibt. Auch in v. 1 (39 Buchst.) läßt sich dieselbe Buch-
stabenzahl herstellen, wenn man atq; (so P in dem, abgesehen
von bernouutno für Angilberto, völlig gleichlautenden Vers
B XXII, wo allerdings der Raum knapp war) für atque einsetzt.
Wie schon gesagt, gibt B XXI 5ff. die Grabinschrift ziem-
lich wörtlich wieder. Abweichungen: 6: Angtlberto] IET P,
¿lli D. (aber in v. 6 und 7 hat P ili, hier wird besonders deutlich,
daB überall dort, wo P das Pronomen in jener Weise abkürzt,
ein Eigenname getilgt ist). — ADQVE P. — 6: uita aderna
P. — Stärker geändert ist v. 8: Paz, pacem largire pia
(ptam Tr.) uera es quontam paz. — Dann ist ein fünfter Vers
hinzugefügt: Rez lex lux paz nunc miserere. Fügen wir Angilberti
vor nunc ein, so gibt auch das einen vollständigen Hexameter,
der das Vorhergehende zusammenfaßt; vgl. übrigens den HS
B IX 3 (5) Angilberti tu miserere; ferner B XII 7 eia tu nunc
miserere. i
Wenig geändert ist der Vierzeiler auch i in B XXI 1—4. In v. 1
ist bernouutno eingesetzt für Angilberio, v. 4 ist wörtlich = v. 8
(nur piam für pia, piam von Tr. auch in v. 8 eingesetzt, dem
Sinne nach keineswegs unbedingt nötig). Etwas stärker weichen
ab v. 2f.; doch ist auch hier die Übereinstimmung des Ein:
gangs- und Schlußwortes festgehalten.
Dasselbe ist der Fall in B XXII 41—44. Sonst weicht der
Wortlaut ab. In v. 41 ist mit Traube Angilberto für IE P, li D.
einzusetzen und das von Wattenbach interpolierte vitae zu
streichen. Bestätigt wird dies durch die Beobachtung, daB in
diesem. Text anscheinend ebenso wie in der echten Grabschrift
die Zahl der Buchstaben in den einzelnen Versen die gleiche
ist, so daB also, ebenso wie dort, wenn man genau einen Buch-
staben unter den anderen setzt, die vier schlieBenden X in einer
Senkrechten untereinander stehen. V.41 hat 34 Buchstaben,
desgleichen v. 44. V. 42 lautet: Lex pia percipiat uitam (vitae
ändert D. ganz unnötig) per saecula te leX. Streichen wir das 1. a
in saecula, so haben wir auch hier 34 Buchstaben. Schwieriger
ist die Sache in v. 48: Lux tecum uigeat uere qui diceris o luX.
„Bernowini episcopi carmina" 247
Das sind nur 32 Buchstaben. Einen mehr erhalten wir, wenn wir
qui durch quia ersetzen (auch quae wäre zu erwägen); den 34.,
wenn wir hinter tecum noch ein o einfügen. Eine andere Möglich-
keit sehe ich nicht; aber bei dem Zustand, in welchem uns die
Hs. die Texte sonst überliefert, lassen sich die kleinen Änderun-
gen doch wohl vertreten. Doppeltes o in derselben Zeile auch
B XVIII 10. In den anderen Variationen der Grabschrift
scheint Gleichheit der Buchstabenzahl nicht angestrebt zu sein,
wohl aber in der Nachbildung B XXVIIIa), s. unten. Natür-
lich kann sie in den Fällen, in denen wir sie feststellen zu dürfen
glaubten, auch auf Zufall beruhen, zumal ja immerhin einige
Änderungen erforderlich waren; aber es ist doch wenig wahr-
scheinlich. Sind andere Beispiele von Inschriften dieser Art
bekannt? `
B XXII 37—40 behält die Hexameterform und den Beginn
der Verse mit Rex Lex Lux Pax bei, gibt es aber auf, die Verse
mit diesen Wörtern zu schließen. Daher ist in v. 40 schwerlich.
mit Wattenbach am Ende, wo zwei Silben fehlen, tu paz, son-
dern etwa servum zu ergänzen; das Wortspiel serva-servum
wird beabsichtigt sein. V. 37 lautet in P: Rez iH intumulo placi-
dam concede quidem; für 4H (illi D.) ist Angilberto einzusetzen,
dafür entweder placidam oder in tumulo zu tilgen. Es ist der
einzige Fall in diesen Gedichten, wo anscheinend versucht
worden ist, den durch Beseitigung des Eigennamens aus den
Fugen geratenen Vers wieder einzurenken. Denkbar ist freilich
auch, daB der Vers ursprünglich ein. Heptameter war. Dieselbe
Möglichkeit besteht bei B XVI 10 Ezaudi rector servo mihi
iustus semper ubique, wo D. semper getilgt hat (über den HS
semper ubique vgl.zu B VIa 2). Warum soll nicht in diesen
Gedichten auch einmal ein solcher Fehler mit untergelaufen
sein? — HS concede quietem "Theod. XXVI 33. — 39: HS sine
fine — — — ist häufig.
Noch größere Freiheit gegenüber der Vorlage als B XXII
37—40 gestattet sich B XXII 31—36. Die Verseingánge Rez
usw. sind beibehalten, aber die Hexameter sind ersetzt durch
Distichen, und für die 3. Person ist die 1. eingetreten (mihi.
largwe quietem usw.), der Name Angilbert fehlt und ist auch
nirgends zu ergánzen. Unmittelbar liegt augenscheinlich B XXI
6—9 zugrunde, denn wie dort in v. 9 haben wir hier eine Zu-
248 Otto Schumann
sammenfassung: v. 35 Rez et lex et lux et paz usw. Dagegen
fehlen Distichen, die mit Lex und Pax beginnen; die Überliefe-
rung ist wohl unvollständig. — 31: Vgl. den HS noctem largire
quietam PAC 1, 78 nr. XLIX 8. — 32: Der Pent.-Schl. sine
fine quies auch Theod. XL 18; PAC 8, 308 nr. XXVII 22; 3,
814 nr. XLIII 14; sine fine ~ O überaus häufig.
Wer hat nun diese fünf Variationen der Grabschrift Angil-
berts verfaßt? Etwa er selbst? Überhaupt, welche von den
vorstehend betrachteten Gedichten sind als sein Eigentum anzu-
sehen und welche ihm abzusprechen? Es ist eine schwierige
Frage. Mit metrischen und sprachlichen Gründen läßt sie sich
nicht entscheiden. Metrische Verstöße sind besonders in einem
Teile der Akrostichagedichte nicht selten (häufig vor allem
Längung kurzen Vokals, gewöhnlich in der Hebung, so XVII 1
via, X XV 10 rotans), in anderen fehlen sie, aber das Vergleichs-
material ist zu gering — es sind in den Akrostichagedichten ja
jedesmal nur 10, hóchstens 12 Verse —, die Unterschiede kónnen
also sehr wohl auf Zufall beruhen. Sie bestehen auch zwischen
den anderwärts überlieferten echten Gedichten Angilberts.
Stilistisch sind wiederum die Akrostichagedichte besonders
schwierig, die Zwangsjacke der Form nötigt den Dichter oft
zu einer gequälten Ausdrucksweise. Freilich ist das verschieden;
so lassen sich B XVIII und XIX, wenn man richtig interpungiert
(D. hat darauf in diesen Gedichten fast völlig verzichtet), ganz
gut verstehen (B XVIII s. unten); dagegen ist besonders ver-
schroben in seiner Ausdrucksweise z. B. B XXIII. Aber daraus
auf Verschiedenheit des Verfassers zu schlieBen wáre ganz unzu-
lássig; wir kónnen nicht wissen, ob nicht in B XXIII die Schwie-
rigkeiten, die sich aus dem Schema ergaben, besonders groB
gewesen sind. Auch die Orthographie hilft nicht weiter. In B XIII
ist fast durchweg e für ae zu schreiben: 1 anime, mee; 4 utte;
5 uenie; 8 eterne; dagegen hat B XVIII durchweg ae: 4 saecula,
laetus; 6 caeli; 10 praecurre. Aber auch B XIII 2 hat usiael Es
ist also ae oder e jeweils nach Bedarf gesetzt worden, und es ist
sicherlich Zufall, wenn die eine Schreibung hier, die andere
dort vorwiegt oder allein herrscht. Wir sind also, wenn wir
einer Entscheidung jener Frage nach dem Verfasser näher
kommen wollen, auf andere, besonders auf inhaltliche Kriterien
angewiesen.
„Bernowini episcopi carmina“ 249
Beginnen wir mit den Fällen, wo die Sache besonders klar
liegt. Das sind B VIa einerseits, B IX 3 (5) f. andererseits.
Für B VIa bezeugt Hariulf die Verfasserschaft Angilberts. Da-
gegen ist das Distichon B IX 8 (5)f. sicher nicht von ihm. Es
lautet nach richtiger Herstellung (s. oben):
Omnipotens deus, Angilberti tu miserere!
Ipsius esto memor, rex pius, adque mei!
Der Verfasser fügt also der Fürbitte für Ang. eine solche für
sich selbst an, er kann folglich nicht mit ihm identisch sein.
Vergleichen wir nun dieses Distichon mit dem vorangehenden
(B IX If.):
Omnipotens, Angilberti miserere, redemptor,
Rex pius adque decus, vita, salus hominum!
Es ist klar, daß nicht beide Distichen zusammen einen ein-
heitlichen Text bilden, sondern daß eines die Dublette, die Um-
arbeitung des anderen sein muß. Welches das ursprüngliche ist,
läßt sich kaum entscheiden. Stellt v. 3 (5)f. die ursprüngliche
Fassung dar, so ist auch v. 1f. natürlich nicht von Angilbert.
Anderenfalls ist es móglich, aber nicht sicher.
Angilberts Grabschrift ist in der authentischen Form, wie
sie sonst überliefert ist, in P nicht enthalten. Wohl aber haben
wir hier, wie wir sahen, fünf Bearbeitungen derselben, die sich
teils enger an das Original anschlieBen, teils weiter davon ent-
fernen. Ob Ang. die Grabschrift selber gedichtet hat, wissen
wir nicht; Hariulf sagt nichts darüber. Von den Bearbeitungen
ist es schwerlich anzunehmen. Ganz ausgeschlossen erscheint
es ja nicht, daß Ang. in dieser Weise an seiner eigenen Grab-
Schrift herumprobiert hat. Aber viel wahrscheinlicher ist es
doch, daß es poetische Stilübungen sind, die in der Schule von
St. Ricequier im Anschluß an die Grabinschrift des verdienten
und hochverehrten Abtes angefertigt worden sind.
Derartige Stilübungen beruhen ja auf alter Schulüberliefe-
rung. Und gerade aus St. Ricquier haben wir dergleichen auch
sonst. Unter dem Titel „Carmina Centulensia" hat Tr. PAC 3,
265ff. aus zwei ehedem zusammengehórigen, aus Gembloux
stammenden Brüsseler Hss. eine hochinteressante Sammlung
von Gedichten veröffentlicht, die in St. Ricquier entstanden
Bind. Sie ist einige Jahrzehnte jünger als die in P erhaltene.
Es sind zu einem groBen Teile tituli, darunter viele Epi-
250 Otto Schumann
taphien; und auch hier haben wir wiederholt verschiedene
Bearbeitungen desselben Themas: so zwei Epithaphien auf
Ruodulfus, die sich — ganz wie BIX 1f. und 3f. — im einzelnen
wörtlich berühren (nr. CXLI und CXLII, S. 352f.); ähnlich
steht es mit nr. XCVI/XCVII 1. 2/XCVII 1. 3/ (S. 333); nr. IIC
1f./3 f./ö f. IC 1 f./3 f. (ebd.); LVI 1/2/3/4/5 und LVI 6/7/8 (S. 317).
Es herrschte also offenbar gerade in St. Ricquier ein reger
dichterischer Wetteifer; wir dürfen das wohl auf den Einfluß
Angilberts zurückführen. Vieles von dem, was dabei zustande
kam, hat man zusammengeschrieben; und von derartigen
Sammlungen nahmen oder erbaten Auswärtige Abschriften,
um Formeln und Muster zu erhalten (die Eigennamen sind auch
in der Brüsseler Sammlung oft getilgt). Eine solche Abschrift
liegt augenscheinlich auch in P vor.
Versuchen wir weiter, von einander zu sondern, was in dieser
Sammlung Angilbert selbst gehört und was nicht. Auf B VIa
folgen unmittelbar B VI—VIII, formal wie inbaltlich mit B VIa
gleichartig. Es besteht keine Veranlassung, die Verfasserschaft
Angilberts zu bezweifeln, dessen Name nach Tr.s völlig einwand-
freiem Nachweis in allen dreien einzusetzen ist. In B VIII
bezeichnet er sich sogar ausdrücklich als auctor carminis.
B VI—VIII sind auch nicht, wie B XXI1-—4 usw., bloße Be-
arbeitungen einer Vorlage, sondern, trotz gelegentlicher wört-
licher Anklänge an andere, sicher echte Gedichte Angilberts,
durchaus selbständig.
Die Gruppe B I—V (dazu die ganz oder teilweise verlorenen
B Ia und IIa) ist inhaltlich und gróBtenteils auch formal eng
zusammengehörig und stammt sicherlich von einem Verfasser.
Ob dies Angilbert gewesen ist, läßt sich kaum entscheiden.
Wie wir sehen, enthält B III bemerkenswerte wörtliche An-
klänge an B VII, das sicher von ihm ist. Doch kann natürlich
auch ein anderer diese Wendungen aus B VII entlehnt haben.
Soviel läßt sich indes wohl aus ihnen schließen, daß auch diese
Gruppe von Texten zu der Sammlung aus St. Ricquier gehört.
Ob das auch bei der in P vorhergehenden Gruppe von
Gedichten (Hibernicus exul XX, I—VIII und XXI bei D.) der
Fall ist, muß dahingestellt bleiben. Bis jetzt habe ich in ihnen
nichts gefunden, was dafür, und ebensowenig, was dagegen
Sprechen kónnte.
„Bernowini episcopi carmina" 251
Inhaltlich mit B VIa. VI—VIII gleichartig ist B X. Auch
hier ist nach der ganzen Umgebung, in der das Gedicht steht,
kein Zweifel, daB Tr. in v. 5 und 11 mit Recht Angilberts Namen
ergánzt hat. In v. 11 wird dieser ausdrücklich als Dichter be-
zeichnet. Wir werden ihm also B X mit derselben Sicherheit
zuweisen dürfen wie B VI—VIII.
Wie dieser Rhythmus B X, so nehmen die Akrostichagedichte
unter Angilberts Dichtungen eine Sonderstellung ein. Auch hier
zeigt er sich uns von einer Seite, die wir aus den anderwürts von
ihm erhaltenen Gedichten nicht kennen lernen. Denn mindestens
zum Teil werden auch die Akrostichagedichte wirklich von ihm
herrühren. Besonders wahrscheinlich ist mir dies bei B XVIII,
das sich inhaltlich von den anderen stark abhebt. Ich drucke es
hier ab mit den Ánderungen, die mir erforderlich erscheinen,
vor allem mit Interpunktion ; dagegen lasse ich die Hervorhebung
des Mesostichons und des Telestichons weg und verweise dafür
auf D.'s Abdruck.
Da, pietate potens, et des. mitissime, David,
E propria curas qui demere crimina plebe,
Ut tua percipiat comulato gaudia fructu!
Sit vere miti iunctus per saecula laetus
Ac valeat caeli permagna videre patrata! 5
Dic, dic ergo, pius: „ condigne iungere, David,
Et sacris felix cantes modulis sine fine!“
. Sic, deus omnipotens, sic illi cede, beatus
Tu, cuius bonitas iustis tua gaudia donat!
O pietas, Angilberto, o, praecurre cliento! 10
(Für v. 6 ist auch zu erwägen die Interpunktion Dic dic
ergo: „ptus, cond. iung., David“)
V. 1—9 sind ein Gebet um Aufnahme Davids, d. h. Karls des
GroBen, ins Himmelreich. V. 10 aber ist eine Bitte für Angilbert
selbst: „O du Frommer, geh deinem Diener Angilbert voran!“ Ich
fasse hier also O pietas — O pie und als Anrede an David auf.
Ist das richtig, so ist das Gedicht nicht bloB sicher von Angil-
bert, es läßt sich auch sehr genau datieren. Denn es setzt
voraus, daß Karl der Große bereits gestorben war; wie hätte
der Dichter sonst wünschen kónnen, er móge ihm ins Himmel-
Teich vorangehen? Nun ist Karl am 28. Januar 814 gestorben,
Angilbert aber wenige Wochen danach, am 18. Februar. In diesen
252 Otto Schumann
letzten Tagen seines Lebens muß also das Gedicht entstanden
sein, als Abschiedsgruß an den verehrten und geliebten Herrn.
Vielleicht ist es das Letzte, was er überhaupt geschrieben hat.
Völlig sicher erscheint freilich die vorstehende Deutung von
v. 10 nicht. O pietas könnte auch Anrede an Gott sein; prae-
curre Angilberio müßte dann sein = duc Angilberium (scil. ad
tua gaudia oder ähnl.). Ein Wechsel in der Anrede gegenüber
v.1—9 würde dann nicht eintreten. Allein in B XIX 9 (s. unten)
erfolgt der gleiche Wechsel sogar innerhalb desselben Satzes
und Verses. Vor allem aber steht v. 10, wenn er an Gott ge-
richtet ist, ohne rechten Zusammenhang mit dem vorhergehen-
den Gebet für „David“, er erscheint fast als eine dem Schema
zuliebe angeflickte Verlegenheitsphrase, während er bei der
anderen Deutung einen sehr schönen und wirksamen Abschluß
bildet. Daher ist mir doch diese Erklárung die wahrscheinlichere.
Im Gegensatz zu B XVIII ist B XIX ein Gebet für das
Seelenheil Angilberts. Aber der Schluß (v. 9f.) lautet:
Da, domine, ut videam te, mi certissime David,
In solio excelso, felix qui es gloria regni!
Auch hier ist unter David Karl zu verstehen; es braucht aber
nicht angenommen zu werden, daß dieser damals schon tot
war, die Schlußwendung scheint dem sogar eher zu widersprechen.
Mir scheint, daß man diese beiden Gedichte mit ihrem be-
sonderen persönlichen Einschlag Angilbert zuschreiben muß,
ganz einerlei, wie man die letzte Zeile von B XVIII auffassen will.
Dagegen glaube ich, daß von den übrigen in erster Linie B XXV
ihm abzusprechen ist. Hier lautet v. 7: Et mertto habeat prae
magno lumina vitae, und in v. 5 heißt es, er sei vigil et vere sibi
consul gewesen. Ein solches Selbstlob wäre in Gedichten dieser
Art ganz unerhórt, wider alle Etikette. Das kann nur ein anderer
geschrieben haben. Dazu kommt ein weiteres. Akrostichon,
Mesostichon und Telestichon dieses Gedichtes lauten überein-
stimmend Ang:lberto „dem Angilbert‘‘. Sonst heißt es in diesen
Gedichten meist Pius adesto Angilberto, deus eterne; Salus mundi,
da auxilium Angilberto et tuere eum, salus mundi und ähnlich.
Das sind Gebete, und so kann Ang.selbst gesprochen haben.
Aber einfaches Angtlberto ist kein Gebet, sondern eine Widmung;
auch sie weist darauf, daB ein anderer ihm zu Ehren dies Gedicht
verfaBt hat.
„Bernowini episcopi carmina“ 253
Dasselbe gilt nun auch von B XXIII (fünfmal Angtlberto)
und B XXIV (zweimal Angilberto servulo tuo). Alle drei Gedichte,
die in P zusammen die zweite Gruppe der Akrostichagedichte
eröffnen, scheinen formale Nachbildungen von solchen der ersten
Gruppe zu sein: B XXIII von B XI, B XXIV von B XIII,
B XXV von B XVIII. Daß B XVIII sehr wahrscheinlich Angil-
bert gehört, sahen wir schon. Vermuten darf man, daß auch die
beiden anderen Vorbilder, B XI und XIII, von einem Dichter
herrühren, der in diesen Dingen als Autoritát galt; und das kann
kaum ein anderer als wiederum Angilbert gewesen sein.
Über die anderen Akrostichagedichte, die formal vereinzelt
stehenden B XII und XXVI und die fünf, die formal ebenso
gebaut sind wie B XIX (3 Mesosticha), läßt sich keine irgendwie
sichere Entscheidung treffen. Es ist schon darauf hingewiesen
worden, daß die Akrosticha usw. einander großenteils sehr ähn-
lich sind. Man vergleiche z. B. BXIX und XVII:
Salus mundi/servulo tuo/Angilberto/pius adesto/salus mundi
Serenus rex/servulo tuo/Angilberto/pius adesto/serenus rex.
Es erscheint sehr wohl denkbar, daß hier ein anderer sich die
Aufgabe gestellt hatte, oder daß sie ihm in der Schule vom
Lehrer gestellt worden war, in den nur wenig, nur durch die Er-
setzung des gleichlautenden Akrost. und Telest. durch ein anderes
veränderten Rahmen von B XIX einen neuen Text hineinzu-
komponieren. Aber es kann natürlich auch sein, daß Angilbert
Selbst gerade an dieser schwierigen Form solchen Gefallen ge-
funden hatte, daB er sich immer wieder darin versuchte.
Schwierig ist die Entscheidung der Verfasserfrage auch bei
BXXII1—30. Nach Tr.s Meinung ist es die Grabschrift, die
Ang. für sich selbst gedichtet hat, wenn auch nachher auf den
Grabstein ein ganz anderer Text gesetzt worden ist (s. oben).
Daß sich B XXII 1—80 in Gedankengang und Wortlaut eng
an Alkuins Grabschrift anschließt, darf man nicht gegen Angil-
berts Verfasserschaft geltend machen. Darin war man ja da-
mals sehr unbefangen. Auch verhält sich der Dichter doch seinem
Vorbild gegenüber durchaus selbständig. So enthält Alkuins
Grabschrift gegen Schluß den Wunsch, das Grab möge bis zum
Jüngsten Gericht unangetastet bleiben. Das ist in der Nach-
bildung übernommen, mit starken wörtlichen Anklängen, aber
doch mit einer charakteristischen speziellen Wendung an die
254 Otto Schumann
Nachfolger in der Abtswürde: v. 25f. Hunc concede mihi, quis-
quis succedis honore Nostro, deposui cui mea membra, locum;
eine Mahnung, die die Nachfolger, wie wir schon sahen, nicht
beherzigt haben. Und noch charakteristischer ist eine andere
Erweiterung. Alk. sagt (v. 5), er sei famosus 1n orbe gewesen.
Auch diese Wendung wird in B XXII wiederholt; aber der Ge-
danke wird erheblich erweitert (v. 5ff.):
Dives eram quondam, lato famosus in orbe,
Principibus multo carus amore piis.
Gloria me rerum magni referebat opima,
Sed regum solita pluris amicitia.
Propterea populi largo venerabar honore
Muneribus nimiis atque favore precis.
Mit Recht rühmt Tr. das stolze Selbstbewußtsein, das aus diesen
Worten spricht. Man kónnte nun auch hier wieder einwenden,
daB ein derartiger Selbstruhm in jener Zeit, zumal in einer Grab-
schrift, durchaus ungewöhnlich ist; zum guten Tone gehört es
doch vielmehr, sich selbst nach Möglichkeit herabzusetzen, vor
den Menschen wie vor Gott.
Aber hier dient der Ruhm der hohen, angesehenen Stellung,
die der Sprecher in dieser Welt einnahm, ja nur als Folie; oenn es
geht dann weiter (v. 11f.):
Sed subita ereptum tanto de culmine sorte
Angusti requies me tenet ista loci;
und schon vorher heißt es (v. 3f.):
Hoc relegas carmen nostri miserabile casus,
Ultima quem vitae contulit ora mihi.
So läßt sich auch dieser Einwand entkráften. Allein in v. 11
fällt doch sehr auf der Ausdruck subita sorte. Soll man aus dieser
Wendung, die gleichfalls bei Alk. keine Entsprechung hat, ent-
nehmen, daß Ang. durch einen plötzlichen Tod aus seinem
reichen und glänzenden Dasein abberufen worden ist? Be-
richtet ist nichts darüber; eine gewisse Bestátigung kónnte darin
liegen, daB er, wofern wir B XVIII richtig gedeutet haben,
noch kurz vor seinem Tode im Besitz seiner dichterischen Schaf-
fenskraft gewesen ist. Dann kónnte natürlich Angilbert nicht
der Verfasser sein, sondern ein anderer müßte ihm, wohl unter
dem unmittelbaren Eindruck seines Hingangs, diese Worte in
den Mund gelegt haben. Wenn Angilbert sich in v. 28 selbst
„Bernowini episcopi carmina" 255
als den Dichter bezeichnet, so kónnte das einfach aus Alkuins
Grabschrift übernommen sein; die Wendungen stimmen fast
wörtlich überein. Ich wage es nicht zu entscheiden, ob der Aus-
druck subita sorte wörtlich zu nehmen ist oder ob er nur den
scharfen Einschnitt bezeichnen soll, den in allen Fállen der Tod
in das Dasein macht. Mit der Móglichkeit, daB auch dieses Ge-
dicht nicht von Ang. selbst herrührt, muß auf jeden Fall gerech-
net werden, um so mehr, als auf sein Grab ja nicht diese, sondern
eine ganz andere Inschrift gesetzt worden ist.
Schade wäre es freilich, wenn man ihm das Gedicht ab-
sprechen müBte; denn unter allen, die wir von ihm haben oder
für die seine Verfasserschaft in Frage kommt, ist es zweifellos,
trotz der starken Anlehnung an ein Vorbild, das wertvollste.
Und so viel scheint sicher, daß es sich einer großen Wert-
schätzung schon zu seiner Zeit erfreut hat. Die Mainzer Grab-
schrift des Megingoz (PAC 4, 1038) hat die Wendung Regibus
hic carus multis offenbar aus unserem Gedicht übernommen; in
der des Bischofs Adventius von Metz (ebd. S. 1033) scheint die
ausführliche Darstellung der glänzenden irdischen Stellung des
Verstorbenen auf dasselbe Vorbild zurückzugehen; und auch die
fast wörtliche Übereinstimmung des Schlußverses der Grab-
schrift Erzbischof Landulphs von Mailand (PAC 4, 1010, s. oben)
mit dem unseres Gedichtes könnte, so allgemein die Wendung
auch gehalten ist, sehr wohl aus unmittelbarer Benutzung dieser
Vorlage zu erklären sein.
Fassen wir zusammen, so ergibt sich: Ausdrücklich . von
anderer Seite ist nur B VIa als Eigentum Angilbert bezeugt.
Mit großer Sicherheit dürfen wir ihm auch B VI—VIII. X zu-
weisen, mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit B XI.
XIII. XVIII. XIX. Sicher abzusprechen ist ihm B IX 3 (5)f.,
wahrscheinlich auch B XXI 1—4. 5—9. XXII 31—36. 37—40.
41—44. XXIII—XXV. Bezüglich der übrigen: B I—V (+ Ia.
IIa). IX If. XII. XIV—XVII. XX. XXII 1—30. XXVI, müssen
wir es, einstweilen wenigstens, bei einem Non liquet bewenden
lassen; doch gehóren auch diese Gedichte sámtlich in seinen
Kreis.
Anders steht es mit den übrigen Texten, die D. mit B I—
XXVI unter dem Titel „Bernowini episcopi carmina‘‘ vereinigt
hat. Sie heben sich schon äußerlich in der Hs. scharf von den
256 Otto Schumann -
vorhergehenden ab. Auf v. 8—15 von B X, die fol. 147" oben
stehen, folgt zunächst ein EPHYTAPH YV M (eines Priesters
Audax), das den Rest dieser Seite füllt (B X XVII). Geschrieben
ist es mit anderer Tinte, durchweg in Kapitalen und in der Weise,
daB nicht die Worte, sondern die VersfüBe voneinander getrennt
sind. Auf fol. 148' oben steht B XXVIII. Der Rest dieser Seite
ist leer. Auf fol. 148" und in der oberen Hälfte von fol. 149'
folgen dann wieder drei Epitaphien, B XXIX—XXXI, ge
schrieben von derselben Hand und Tinte und in derselben Weise
wie B XXVII. Dann, mit anderer Tinte, wohl auch von anderer
Hand, dazu in Minuskeln (auBer v. 1), mit Trennung der Vers-
füge durch über die Zeile gesetzte Punkte, B XXXII, ebenfalls
ein Epitaph.
Das einzige dieser Gedichte, das deutliche Beziehungen zu
der vorhergehenden Sammlung aus St. Ricquier aufweist, ist
B XXVIII, das wir hier zunächst behandeln wollen. Es sieht
in der Hs. so aus:
VERSVS BERNOVVINI EPI ADCRVCEM
CONDITOR :AETER-NAEQVEM -LAVDO VERSIBVS-ISTI C
REXREQVI-EMBER-VVINIDA- PATER -PIVSREDEMPTOR
VIRTVS-VIRTV-TVMVIC-TORVIC-TORIA- HIES V
XPETVIVSTVSIV.DEXMISEREREMIHIIAMVERVSRE X
OMNIPOTENS DNS MVNDI FORMATOR ETAVCTOR
SISPIVS ETCLEMENS MIHI SIS SPES VNICA VITAE
SVSCIPE HAEC MVNVS ACCIPE SVPPLEX ROGO'
VERSVS INCALICAE ETPATENA'
BERNVVI: NVSHVMI-.LISSVA. REDDIT. VOTATO-NANTTI
HOCCOR: PVSHVMI- LIS PRAESTATVI:. TABEA TA
Man erkennt schon an der Schreibung, daB es drei Texte
sind: in dem mittleren sind keine Versfüße, sondern Wörter
voneinander abgehoben, und die trennenden Punkte fehlen
(die übrigens in B XXVII. XXIX —XX XI nirgends begegnen).
Auch D. hat die 3 Texte richtig voneinander gesondert.
In v. 1—4 hat D. folgendes geändert: 1: aeterne. — 2: Bern-
wini da, pater atque red. — 4: miserere mei rer. Es darf aber
schlechthin gar nichts geändert werden. Der Vierzeiler ist
augenscheinlich gearbeitet nach dem Muster der echten Grab-
schrift Angilberts oder einer der Bearbeitungen einerseits — 4
Hexameter, in v. 2 wörtlicher Anklang —, nach dem der Akro-
„Bernowini episcopi carmina" 257
stichagedichte andererseits, Auf das Vorbild der Grabschrift
oder einer Bearbeitung derselben scheint auch zurückzugehen
die Regelung der Buchstabenzahl in v. 1 und 2. Beide haben
je 88 Buchstaben. Sieht man sich das Schriftbild genauer an,
80 erkennt man, daB sogar versucht ist, zwischen den einzelnen
untereinanderstehenden VersfüBen Gleichheit der Buchstaben-
zahl herzustellen (dadurch werden übrigens die Schreibungen
AETERNAE und BERVVINI als ursprünglich gesichert).
Erst gegen SchluB von v. 2 wird das aufgegeben, und in v. 3f.
ist sogar auf die Gleichheit der Gesamtbuchstabenzahl verzichtet
(in v. 4 läßt sich die Zahl von 38 Buchstaben zur Not herstellen,
indem man die Schreibung X PE beibehält und MEI für MIHI
einsetzt; aber v. 3 hat nur 33 Buchstaben, und ändern läßt
sich nichts). Offenbar hatte der „Dichter“ sich vorgenommen,
eins jener technischen Kunststücke, die seine Zeit so bewun-
derte, nicht bloß nachzubilden, sondern zu übertrumpfen, mußte
aber im Laufe der Arbeit erkennen, daB nicht nur das zweite,
sondern auch das erste seine Kräfte überstieg. Ein echtes
Dilettantenstückchen!
Dilettantisch ist auch die Art, wie das Ganze aus mehr
oder minder wörtlichen Entlehnungen zusammengeleimt ist.
Die 1. Hälfte von v. 3 ist = der 1. Hälfte von B XII 3, die
2.=der2. von B XI 3. B XI ist auch benutzt in v. 2: vgl. B XI
9 rez pius atque redemptor; ferner in v. 4: vgl. B XI 5f. miserere
me... tustus tu iudex. Für v. 2 ist ferner die Grabschrift oder
eine der Bearbeitungen in B XXI herangezogen, wo v. 1 lautet
Rez, requiem Angilberto da, pater atque pius rez. (Tr. hat dies
richtig erkannt, aber falsch ist seine Behauptung, die Verse
stimmten abgesehen von den Eigennamen genau überein; die
anderen Entlehnungen in diesen Versen sind ihm wohl ent-
gangen, jedenfalls führt er nichts dergleichen an, er áuBert nur
die ganz richtige Vermutung „es könnten . .. diese Verse ein
Pasticcio aus Angilbert sein“.) In v. 1 stammt die zweite Hälfte
aus Aldhelm C. de virg. praef. v. 6 Cum sanctis requiem, quos
laudo versibus istic. Der Eingang Conditor aeterne geht wohl
zurück auf den Hymnusanfang Aeterne rerum conditor. — Über
die Metrik von v. 2 und 4 s, unten.
Im Gegensatz zu B XXVIIIa) und c) nennt BXXVIIIb)
keinen Namen. Daß dieser Text dennoch ebenfalls jenem
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 17
258 Otto Schumann
Bernowin gehört, ergibt sich aus der Feststellung, daß auch
diese Verse teils auf Aldhelm, teils auf Angilbert beruhen:
b) 1 ist fast wörtlich = Aldh. C. de virg. praef. v. 11 Omnitenens
(aber v. I. omnipotens /) dominus m. form. et auctor; b) 2 = BXIII 4;
und auch das Ende von v. 3 klingt an den Schluß von B XIII an
(v. 10 te rogo supplex). Marténe hat v. 3 so hergestellt: Suscipe
hoc munus, te supplex accipe rogo; das hat D. übernommen.
Noch viel weiter geht Tr.: Angtlbertus ait: „hoc munus tu accipe
supplex." Er hat dann als Akrost. OSA, als Telestichon REX,
nimmt in der Mitte aus dominus v. 1 und clemens v. 2 je ein N
und aus ait das A heraus und gewinnt so OSANNA REX. Es
Johnt sich nicht, das zu widerlegen; es liegt auf der Hand, daB
Tr. hier, geleitet von dem Wunsch, möglichst viel angilbertisches
Gut in diesen Versen nachzuweisen, die dem Textkritiker ge-
zogenen Grenzen erheblich überschritten hat. Mir scheint, auch
hier darf nichts geándert werden; der Vers ist ein Pentameter:
Súscipe hdec, munùs dcctpe supplex rogó.
In c) 2 ist HV MILIS natürlich falsch, es ist, wie schon D.
vermutet hat, eine Dittographie des darüberstehenden Wortes.
Es wird HOMINI dafür einzusetzen sein. c) 1 ist ein für die
Karolingerzeit tadelloser Hexameter (daB h als Konsonant ge-
wertet wird, begegnet ja sehr häufig); zum HS vgl. Walahfr. V,
III 8 reddis dum vota Tonanti. V. 2 dagegen ist wieder ein
Pentameter von derselben Art wie b)3; wie er zu lesen ist,
zeigt die Hs. D. druckt vitam beatam; aber könnte nicht bei
einem Dichter, der solche Verse baute, der vulgäre Abfall des
auslautenden m ursprünglich sein? Ich würde vita beata stehen
lassen. Tr.’s wieder viel zu weit gehenden Vorschlag zur Emen-
dation dieses Verses übergehe ich.
Tr. meinte, nur c) gehöre wirklich einem Bischof Bernowin
an; a) und b) seien „doch schließlich wohl nur Überarbeitungen
angilbertischer Texte“. An letzterem ist nur so viel richtig, daß
für diese centoartigen Gedichte ganz besonders Angilbert ge-
plündert worden ist. Als Ganzes genommen gehören aber auch
a) und b) durchaus dem Bernowin (oder Bernwin oder Berwini,
wie er hier im Text genannt wird). Schon Tr. wäre ganz sicher
zu diesem Ergebnis gekommen, wenn er den Text selbst vor
Augen gehabt hätte. Gerade dies Beispiel zeigt uns wieder
einmal recht deutlich, wie viel besser wir doch daran sind als die
„Bernowini episcopi carmina" 250
Forscher noch vor einem halben Jahrhundert, weil wir mit
bequem und billig zu beschaffenden Photographien arbeiten
kónnen.
D. und Tr. haben sich bemüht, so gut es ging, die 3 kleinen
Gedichte so zu emendieren, daB sie sich den Regeln der klas-
sischen Metrik fügen. Wie mir scheint, mit Unrecht. Die Verse
a) 2. 4, b) 8 und c) 2 lassen diese Regeln großenteils außer acht.
Aber ich glaube, man darf das nicht auf verderbte Überlieferung
zurückführen. Ebensowenig lassen sich die Verstöße in diesen
Versen einfach als ,,Stümperei'" des Dichters abtun. Vielmehr
haben wir hier Zeilen, die unter bewußter weitgehender Ver-
nachlässigung der Quantität wie auch des Wortakzents gebaut
sind, sogen. „rhythmische“ Hexameter — ich gebrauche diesen
Ausdruck, gegen den sich sehr ernsthafte Einwendungen er-
heben lassen, mit allem Vorbehalt —, wie sie uns zuerst bei
Commodian, dann häufig auf Inschriften begegnen, und eben-
solche Pentameter.
In dieser Meinung bestärkt mich der Umstand, daß sich auch
in den anderen Gedichten dieser Gruppe dergleichen Verse
finden: B XXIX und XXXII bestehen ganz oder fast ganz
daraus. In B XXVII scheint wenigstens ein Dist. dieser Art
eingesprengt. Ich gehe auch diese Gedichte der Reihe nach
durch. Tr. hat sie anscheinend nur flüchtig geprüft; was er über
sie sagt, ist jedenfalls fast durchweg nicht zu halten.
B XXVII: Wegen der merkwürdigen Zweiteilung dieses
Gedichts sowie von B XXX und XXXI in P vgl. oben zu B VIa.
—3: PROTINVS INVENI AMPOR TVMQVESA LVTIS
P; inventes ventam richtig Marténe D. Das Schriftbild zeigt
handgreiflich, wie der Fehler zustandekam. Vermutlich ist schon
die Vorlage in derselben Weise geschrieben gewesen. Wegen des
Wortspiels vgl. zu B VIII 7. — 4: QVERIS P. —5: PV RVS-
AE P. — 7: ira beizubehalten? — Auffällig fervor habendi;
sonst belegt? —9: SEDCON STANSHV MI LISLA R GVSPA
CIENS PIVSSE DVLVS P; pius almus Mart. D., pattensque
piusque Mai, ersteres besser; eher noch an ursprüngliches aptus
für sedulus zu denken. Es findet sich, worauf mich H. hinweist,
in südgallischen Inschriften háufig im VersschluB, und zwar eben-
falls in Kumulation mit anderen Eigenschaften, z. B. Carm.
epigr. 1387, 9 — Diehl Inscr. christ. 1073 mansuetus patiens
17*
260 Otto Schumann
mitis venerabilis aptus; vgl. auch den Thes. 1. 1. 8. v. aptus p. 334
oben. Man wird dann annehmen müssen, daB das Wort aptus
einem Schreiber in solchem Zusammenhang ungewohnt war
oder unpassend erschien und deshalb von ihm durch sedulus
ersetzt wurde. Auch an aequus könnte gedacht werden, doch
wäre es weniger leicht zu erklären, weswegen man an diesem
Wort sollte Anstoß genommen haben. — Schwierig ist das Dist.
v. 15f.:
QVEMAE TERNOSV OSDILI GENSCVS TODITA MORI
ACMERI TISPARI TER REQVIISE QVET SEPTE NIS.
Quem aeterno dominus diligens custodit amore schreibt D. Sollte
nicht der Vers 80, wie er überliefert ist, beizubehalten sein? Der
Sinn ist recht gut. Zu v. 16 (die Vermutungen D.'s und Tr.'s
übergehe ich) bemerkt H.: „In dem Monstrum requüsequet sehe
ich nichts als requiescit in bekannter vulgärer Schreibung. Massen-
hafte Belege bei Diehl nr. 3091ff. für das Simplex, 3115 fl. für
das Kompositum. Kaum ein Wort hat für die Ungebildeten so
viel Schwierigkeiten gemacht. Man findet u.a. (re) guiiscit,
quiscet, quiesquet, (re)quesquet; vgl. auch Corp. Gloss. lat. III
68, 4 quisequente (sol). Das meritis ... septenis wird von dem
ungeschickten Interpolator wohl nicht allgemein = multipk-
cibus gedacht sein, sondern mag die tatsächliche Zahl der Bauten
des Verstorbenen verewigen sollen.“ So gibt das Dist. einen ganz
guten Sinn: „Diesen (den vicus, den er mit Gebäuden geziert
hat) hütet er (Audax), mit ewiger Liebe die Seinen liebend, und
er ruht zugleich aus auf Grund seiner siebenfachen Verdienste."
Wir haben dann auch hier ein „rhythmisches“ Distichon. Daß
es unter sonst korrekt gebauten Versen steht (kleine Ausnahmen
in v. 17. 20, s. zu v. 20), mag daraus zu erklären sein, daß in dem
Gedicht, wie das oft vorkommt, eine ältere Vorlage ,,adaptiert"
worden ist, was Tr. ohne Not für die ganze Gruppe annahm. —
18: VI TE PREMIA PERPETYV E P. — 20: NAMQVEPE
TENSCAE LVM AETERNATE NENS P; N. p. c. regna
beata tenet A. Mai; N. petit c. altaque regna tenet D.; beides geht
natürlich viel zu weit. Es wird vor aeterna ein Verb. fin. zu
ergänzen sein, etwa vivit oder gaudet. Die Vernachlässigung der
Quantität in aeterna muB ebenso in Kauf genommen werden
(dergleichen ist ja häufig) wie die in Series v. 17, wo Tr. ganz
willkürlich annimmt, in der Vorlage habe Septenis gestanden.
„Bernowini episcopi carmina" 261
B XXIX ist das Epitaph eines Vornehmen namens Hebrarius,
der nach der Unterschrift im Alter von 30 Jahren 7 Monaten
starb. Tr. verweist darauf, daB die Wendung oblima queque
v. 5 in B XXXII 4 wiederkehrt. Wie er daraufhin zu dem
Schlusse kommt, in B XXIX ‚leuchte das Original auf eine edle
Frau noch durch“, verstehe ich nicht; beide Male ist opttma
quaeque deutlich Acc. plur., so dunkel sonst auch B XXIX 5
ist. — Das Epitaph besteht ganz aus,, rhythmischen“ Hexametern.
Die Quantität ist weitgehend vernachlässigt, dagegen ent-
sprechen die Versakzente meist dem Wortton, am stärksten in
v.7: QARTO NONASNOVEMBRIS CARVIT LVMINE
VITE. Richtig überliefert scheinen v. 1, 2, 6, 7; dagegen sind
offenbar schwer verderbt v. 3—5:
TEGITVRHOC TVMVLVM ACERVA AETATI'
INPVL SANOBILES HACMORTUUS AETATIINPVLSA:
CVNCTA SIMILES HABVIT OBTIMAQVEQV E INLUSTER
Daß das doppelte aetatt inpulsa nicht ursprünglich ist, liegt auf
der Hand, ebenso daß acerva vulgäre Schreibung ist für acerba,
tumulum für -o (so D.); wohl auch nobiles und similes für -ıs. Aber
wie sonst zu bessern ist, sehe ich bis jetzt nicht. Vulgáre Formen
(wie vtta beata B XXVIII c) 2 für vitam beatam und requiisequet
B XXVII 16, s. oben) sind ferner in v. 1 breve vita (Quisquis
magnorum dolet brepe decidere vita) und in v. 2 commune (1ngemat)
causa, wo D. inkonsequenterweise (denn in v. 1 hat er breve vita
stehen lassen) communem causam schreibt. Übrigens kónnte ja
commune causa auch Abl. sein. (Ganz unnótig Tr.'s casum für
causam.) — Wegen des HS lumine vite (so, nicht -ae P, s. oben)
vgl.zu B XXV 7, ferner zu B XXXII.
B XXX beginnt:
HICCONSTANSALA CERCELE BRIPROBI TATERE FERTVS:
CAELUMCORDEPE TENS MEMBRACA VITVMVLO
CVINO MENPRIS CVMVENI ENSDE STERPEPE LAGRT:
PERTITV LVSMORVM GLORIA CELSADE DIT
Auf Grund von v.1 hat D. das Gedicht überschrieben EPI-
TAPHIUM CONSTANTIS; aber Tr.’s Zweifel, daB der Ver-
storbene Constans geheißen habe, sind sicher berechtigt. Wenn
er freilich meint, es handle sich hier um das Epitaph eines Mannes
mit griechischem Namen, so hat er sich irreführen lassen durch
D.'s Emendation in v. 3 de stirpe Pelasgi. Pelagri wird vielmehr
262 Otto Schumann
entstellt sein aus Pelagi ſi oder Philagri (H.). Im übrigen ver-
stehe ich v. 3 f. nicht, auch wenn ich mit D. titulos für -us einsetze.
In v. 2 schreiben Wattenbach und D. locat tumulo; locarit humo
überzeugend H. Der HS probitate refertus in v. 1 erinnert an den
zuerst bei Lucrez (II 1164), in der Karolingerzeit wiederholt (z.
B. Alc. III, XX XIV 69) begegnenden HS pietate repletus (-um). —
Aus v. 5f. ergibt sich, daß der Verstorbene ein Richter war;
seine Unbestechlichkeit wird gerühmt. — V. 7f. lauten:
Quicquid opum sancto vivendi more locavit,
Aut tribuit natis aut sibi post obitum.
Der Sinn ist klar: der Verstorbene hat einen Teil seines Ver-
mógens nach seinem Tode für sich verwendet, d. h. frommen
Stiftungen vermacht. So faBt es auch Tr. Warum er aber be-
hauptet, in der Vorlage habe tib: statt sibi gestanden, und davor
sei ein Distichon mit dem Namen eines Heiligen unterdrückt
worden, ist mir wieder ganz unverständlich. — V. 9f. lauten:
ETLICET OMNEFRE TVMSE CLIVIA SCASA LVTIS:
GESTO RVMMERI TISEX SVPER ESSEPRO BET
exsuperasse richtig Mart. D. Aber in v. 9 ist nicht mit D. omne
fretum, declivia cuncta sal. zu schreiben, sondern omne fr. secl:
via sancta sal.; der Vers ist tadellos überliefert! fretum saecl:
stammt aus Prud. Cath. 5, 109 (H.). — Schwer verderbt sind die
folgenden Verse, 11—14. In P stehen diese 3 Zeilen:
ETSESA LVTIS PROSPEX ITMENTE SANCTAVI VENDI
CAUSASEM PERHABE RE SVAMCV I SIQVID |
NOXAE CONDAM PV ERILI BVS AN NISCON TRAXITIAM
[SENSVS
(SVS übergeschrieben!) D. beginnt neue Zeilen mit Vivendi,
Cw und Contrazit, er ändert causa in -am. Tr. schlägt für v, 11
vor Et se salvato prospexit mente sagaci, als Ergänzung von v. 14
etwa zam senio pepulit. H. legt dar, daß das Dist. v. 11f. doch
wohl Nachsatz sein muß zu dem vorhergehenden Et licet usw.
„In v.11 scheinen sowohl et als salutis durch v. 9 alteriert zu
sein. V.11f. würen etwa so herzustellen:
Esse satis prospexit sancta mente vivendi
Causa -— =. — semper habere suam.“
Eher ist wohl noch zu erwägen Esse satis pr. s. m. — - Vivendi
causa s. h. s.; vivendi wäre die einzige falsche Quantität in dem
„Bernowini episcopi carmina" 263
Gedicht. Dem Ursprünglichen wird eine derartige Herstellung
näher kommen. Vor oder hinter causa wäre dann ein Fem. zu
ergänzen, wozu suam Attribut sein würde. Aber welches? Der
Gesamtsinn muß einen Gegensatz bilden zu dem Vorhergehenden
wegen licet v. 9. Wer hilft weiter? — In v. 14 móchte ich, in
Anlehnung an Tr., etwa ergänzen (Cut, si quid noxae) Contrazl,
sensus iam (senior pepulit). — 15: precibus pretio: das im Mlat.
sehr beliebte Wortspiel geht zurück auf Hor. Ep. 2, 2, 173 und
Ov. Fast. II 806. — HS praemia Christi: Diehl Inscr. chr.
1090, 7; 1957, 5. — 16: VENIE P.
B XXXI:2: EVA LISTER RIS INVIDI OSEIA CES P;
Heu qualis Bethmann, D. Aber es scheint vielmehr in Evalıs
der sonst vermiBte Name des Verstorbenen zu stecken: Eulah
verm. H.; -is ist terris angeglichen. Eulalius als Männername
öfter bei Diehl Inscr. chr. Zu dem Namen paßt dann die An-
spielung in v. 6 Tu pollens Lat: (so schon Mart. richtig für
POL LIENSLA CI) lingua decoris eras (vgl. Carm. epigr. 1758
Buech. Latiae pollens moderamine linguae). — 7: HS pietate
magistra: Ven. Fort. 4, 1, 21; Diehl Inscr. chr. 990,11; Alc. X XI 7;
Angilb. V, III 7 u. sonst; Ähnliches öfter (arte, bonitate, gravitate
mag.), vgl. C. Caesar, Observ. ad aetatem titulorum latinorum
christianorum deflniendam spectantes, 1896, S. 62 (zuerst Aen.
XII 427 arte mag.). — 9: HS flore iuventae erklärt Tr. als über-
nommen aus einem Epitaph auf den Bischof Pantagathus von
Vienne; es ist der eine der Gründe, die er für seine Annahme bei-
bringt, der Bernowin unserer Sammlung sei identisch mit Barnoin
von Vienne. Aber die Wendung ist ganz gebráuchlich schon in der
klass. Zeit, s. Thes. I. 1. 6, 934, 73ff. — 10: salibus cordis ver-
teidigt Tr. mit Recht gegen D.'s Anzweiflung. — Zu v. 11 Te
conlapsa domus, te mens perculsa requirit verweist H. auf Carm.
epigr. 1382, 7 Buech. Te quaerunt omnes, te saecula nostra re-
qurunt, auch auf Ven. Fort. 4, 9, 5 Qem plebs cuncta .. . requirit.
— 14: QVODLE TVSPATRI AEQVODPIA GESTA DOCE-
BUNT; docent richtig Mart., D.; letus] luctus Mart., D.; fletus
H., inhaltlich gleichwertig, aber graphisch noch einfacher zu
erklären. — Zu v. 16 ne doleare dole verweist H. auf Mart. 2,
80, 2 ne moriare mori, Claud. Cons. Stil. I 341 ne timeare times. —
17: PRES TITVS P.
264 Otto Schumann
BXXXII ist in P so geschrieben:
QVANTVM IVREPOTEST ORNARIFEMINADONIS-
Tantis est ditata dida iamualdebonis-
Felix quidudum mansit cum uiro beato" `
Ardoinus nobilis optima quaequae gua
Quicquid- uiuendi reliquid opes more locauit b
Aut egenis tribuit. aut natis erogauit.
Quidecies ter simul uixisse feliciter annos
Bis quater pariter & mensibus undecim:
Kalendas caruit ille lumine marcias uitae
Ianu decimo migrauit arii dida kalendas 10
In v. 2 setzt D. ditata est ein, in v. 8 quae, in v. 5 viventt,
in v. 7 vixit. Alle diese Änderungen erscheinen unnötig: ést
dilatá ist in diesen Pentametern nicht auffällig (s. unten); qut ist
vulgärlat. für quae; auch vivendt ist zu halten: es ist mit opes zu
verbinden. Das Dist. v. 5f. ist ganz deutlich B XXX 7f. (s.
oben) nachgebildet ; offenbar hat der Nachahmer dort opum ....
vivendi als zusammengehórig betrachtet und diesen Ausdruck
hier (im Sinne von opes ad vivendum necessarias) eingesetzt.
Endlich wird virisse vulgáre Schreibung sein für vizısset. „In
den Carm. epigr. erscheint bei Altersangaben ófter der Conj. Perf.,
z. B. 2193, 5 (= Diehl Inscr. chr. 1515 A) bis undenos orbes
nobenque duxerit mensibus aevum; 1885, 5 (= Diehl 3426) seza-
ginta duos felix bene clausertt annos; 666, 3 (Diehl 78) complens
ter denos quae vitam vixerit annos. Man hat überall den Ind.
Plusqupf. vorgeschlagen, ohne Not. Den Ursprung der Syntax
verraten Fälle wie 1444, 1 (= Diehl 3346) septenis dectes cum
Eustacia vixerit annis; 1985, 4 cum menses seplem et denos ter
vireris annos. Der Abfall des lautschwachen t ist genügend
bezeugt; auch umgekehrte Schreibungen finden sich wie visus
fuit reddidisset u.ä.‘ (H.)
Die Form ist ganz klar: v. 1 ist ein korrekt gebauter Hexa-
meter; man darf vermuten, daß er einfach anderswoher über-
nommen ist. Im übrigen sind v. 1—8 „rhythmische“ Distichen,
v. 9f. ebensolche Hexameter. Hexameter dieser Art gibt es ja
Sehr viele; aber Pentameter, wie wir sie hier, in B XXVII 16
und in B XXVIII b)3 und c) 2 haben, sind äußerst selten.
„Bernowini episcopi carmina" 265
Bisher fand ich sie anderwürts nur in einer spanischen Brücken-
inschrift vom J. 668 (653?), Diehl Inscr. chr. nr. 777. Da be-
gegnen Pentameter wie (2) lápsum ét senid rüptum pendebat
opüs und (10) hóc magis miraculüm pätrare nón destitit. Unsere
Texte sind für die Kenntnis dieser Hexameter und Pentameter
um so wertvoller, als die Hs. uns unwiderleglich zeigt, wie sie
gelesen wurden: ohne jegliche Rücksicht auf die Quantität einer-
seits, auf den Wortakzent andererseits. Das letztere tritt be-
sonders bei den Pentametern in Erscheinung. Denn bei den
„rhythmischen“ Hexametern fallen wenigstens am Versschlusse
fast durchweg Vers- und Wortton zusammen. Das ist ja auch,
infolge der Akzentgesetze der lat. Sprache, bei den regelrecht
quantitierenden Hexametern der Fall, außer wenn der Vers mit
einem einsilbigen Wort schlieBt und diesem einsilbigen ein mehr-
silbiges Wort vorangeht, so Aen. I 65 divom pater atque hominum
rez. Rhythmische Hexameter dieser letzteren Art sind hóchst
selten. Mir sind bis jetzt nur zwei Beispiele bekannt: das eine ist
BXXVIIIa) 4... miserere mihi iam verus rez, das andere PAC 4,
726 nr. CXLI 3 Cuntncpert florentissimus ac robuslissimus rez.
Beim Pentameter ist umgekehrt infolge derselben Akzentgesetze
der lat. Sprache Zusammenfall von Wort- und Versakzent nur
móglich, wenn das letzte Wort einsilbig ist, was sich gar nicht
durchführen ließ. Liegt hier die Ursache, weshalb „rhythmische“
Pentameter so selten sind?
Nun zum Inhalt von B XXXII. Was Tr. darüber sagt, ist
ganz unverstündlich. Er meint, es sei für das Grab einer Frau
mit daktylischem Namen bestimmt gewesen, in seiner jetzigen
Form aber einem 38jährigen Edlen Ardoin gewidmet. Wenn
man abweichend von D. hinter beato v. 3 einen Punkt setzt,
hinter sua v. 4 aber ein Komma, — daß das Distichon dadurch
in der Mitte zerrissen und der Pentameter zu dem folgenden
Dist. gezogen wird, ist natürlich mißlich, aber kaum zu ver-
meiden und in Versen von dieser Mache durchaus annehmbar
— 80 ist der Sinn ganz klar: es ist die Grabschrift eines adligen
Ehepaars, das 38 Jahre und 11 Monate verheiratet gewesen ist.
Die Frau, Dida, starb zuerst, am 23. Dezember, der Ehemann,
Ardoin, am 1. März, wohl des folgenden Jahres. Seine Hinter-
lassenschaft hat er nach dem Brauche teils seinen Kindern, teils
den Armen vermacht. — 4: Wegen optima quaeque s. zu B XXIX
266 Otto Schumann
5. Auch die Wendung caruit lumine vitae v. 9 findet sich in
B XXIX (in v. 7) wieder. — Wegen der Übereinstimmung von
v. bf. mit B XXX 7 f. s. oben. Daß B XXIX, XXX, XXXII
zusammengehóren, wohl an demselben Orte entstanden sind,
sah schon Tr. — 7: HS feliciter annos (is) sehr häufig: Sedul.
C. pasch. II 12; Aldhelm C. de virg. 793; Alc. I 499, 835 u. ö.;
Angilb. PAC 4, 916 nr. 129; II 14; Waltharius 1450; u. sonst.
Zu v. 10 vgl. das auch in P (fol. 140") überlieferte Epitaph Karls
d. Gr., PAC 1, 408 nr. XIX 9 Febro- migravit quinto -arii ex orbe
kalendas. Ist dies in B XXXII benutzt? Es scheint so: mit
B XXXII 7 vgl. v. 7 des Karlepitaphs Qu: dectesque quater per
ser feliciter annos (sceptra tenens). Daß dem Karlepitaph
B XXXII zu Grunde läge, ist kaum anzunehmen. Dann ergibt
sich 814 als terminus a quo für B XXXII.
Kehren wir noch einmal zu den einzigen Versen dieser Gruppe
zurück, die nähere Beziehungen zu den vorher betrachteten aus
St.Ricquier aufweisen, zu B XXVIII. Denn sie bieten noch ein
besonderes Interesse. Jene Gedichte Angilberts und seiner
Schule sind gewiB inhaltlich fast durchweg unbedeutend, formal
nicht fehlerfrei. Aber sie stehen im allgemeinen doch durchaus
auf der Hóhe ihrer Zeit. Die kümmerlichen Centonen des Berno-
win bilden zu ihnen einen scharfen Gegensatz. Aber für die
Literaturgeschichte sind auch diese von nicht geringem Wert.
Dieser Bernowin ist nicht unberührt von der großen literarischen
Bewegung seiner Zeit. Er kennt den Aldhelm, einen ihrer Klas-
siker; er ist, wie es scheint, im Besitz der Abschrift einer Samm-
lung von Gedichten eines der berühmtesten Dichter der neuen Rich-
tung und seiner Schule; und er versucht es, diese Vorbilder nach-
zuahmen. Aber seine Versuche fallen sehr kümmerlich aus. Ganze
Verse und Vershälften übernimmt er einfach, und sowie er sich
irgend weiter von den Vorlagen entfernt, fällt er zurück in eine ältere
Überlieferung und baut „rhythmische“ Hexameter und Penta-
meter. Altes und Neues kreuzt sich wunderlich in seinen Versen.
Und Bernowin war kein homo obscurus, sondern ein Kirchen-
fürst, ein Bischof. Tr. meint sogar, ein Erzbischof. Einen der
Beweise, die er für diese Behauptung anführt, haben wir oben
zu B XXXI 9 als nicht stichhaltig erkannt. Der andere — daß
P die Gedichte des Alcimus Avitus von Vienne in einer für
ihre Klasse besonders echten Überlieferung wiedergibt — wiegt
„Bernowini episcopi carmina" 267
nicht viel schwerer. Auch spricht dagegen, daß die Hs. B. nur
als Bischof, nicht als Erzbischof bezeichnet. Die französischen
Bischofslisten des 9. und 10. Jh.s verzeichnen eine ganze Reihe
von Bischöfen dieses Namens: B. von Clermont-Ferrand, um
811; B. v. Laon, 829; B. von Besançon, t 829; B. von Chartres,
829—836; B. von Viviers 851—874; B. von Vienne; B. von Senlis
937; B. von Verdun 925—939. Nach Tr. müßten die Träger
dieses Namens aus der ersten Hälfte des 9. und die aus dem
10. Jh. auBer Betracht bleiben, die ersteren, weil man die Um-
arbeitung der Gedichte B VIa ff. nicht allzu nahe an Angilberts
Zeit heranrücken dürfe (,, man konnte Poesien, die man in dieser
Weise für eigene Zwecke gebrauchen wollte, doch nur aus der
Rumpelkammer holen“), die anderen, weil er die Hs. im Alter
nicht so weit herabrücken móchte. Beide Gründe erscheinen
mir nicht durchschlagend. Wie wenig man sich im MA scheute,
Gedichte schon ganz kurz nach ihrer Entstehung für eigene
Zwecke umzumodeln, dafür bietet Str. 27 der berühmten Satire
Propter Sion non tacebo, Carm. Bur. nr. 41, ein höchst lehrreiches
Beispiel (s. meinen Komm. zu dieser Strophe). Und Hand-
schriften lassen sich rein nach dem Schriftcharakter doch in der
Regel nur sehr ungefáhr datieren; so auch die unsrige. Es wird
also, einstweilen wenigstens, dahingestellt bleiben müssen, wel-
cher von den aufgeführten franzósischen Bischófen, ja ob über-
haupt jemand von ihnen in Frage kommt. Man kónnte auch
an einen Italiener denken. Gerade die Langobarden liebten ja
jene ,rhythmischen" Hexameter besonders. Die italienischen
Bischofslisten aus jener Zeit weisen zwar den Namen nicht auf;
aber das beweist nichts, denn sie sind überaus lückenhaft.
Auch die Listen der anderen Länder (Spanien, Deutschland usw.)
nennen den Namen nicht.
So viel ist sicher, daß der Verfasser jener Gedichtchen dem
hohen Klerus des frünkischen Reiches angehórte. Und seine
Verse zeigen uns, daB auch in diesen Kreisen die neue Bewegung
sich keineswegs sofort allenthalben durchgesetzt hat. Wohl ist
sie deutlich im Vordringen; aber noch behauptet sich neben
diesem Klassizismus eine ältere, mehrere Jahrhunderte lang
gepflegte, mehr volksmäßige Tradition. Und so liefern uns denn
diese wenigen und an sich wertlosen Verse doch einen lehrreichen
Beitrag zur Geistesgeschichte der karolingischen Zeit.
268
Drei Beiträge zur Geschichte der deutschen
Gefangenschaft des Königs Richard Löwenherz.
Von
Albert Schreiber.
I. Die Vorgeschichte des Bannerstreites von Akkon.
Die Ursachen des bekannten Bannerstreites zwischen Richard
Löwenherz und Leopold von Österreich sind noch nicht
völlig aufgeklärt. Wenn Richard auch so jähzornig war, daß
er von seinem Zeitgenossen Alanus ab insulis mit Ajax verglichen
werden konnte, wenn er weiter aus Eifersucht und Hochmut
die gepriesene Tapferkeit der deutschen Kreuzfahrer anzu-
zweifeln und zu bespötteln pflegte (ann. Colon. max. usw.),
wenn er endlich in Palästina gerade mit Leopold schon vorher
andere Streitigkeiten gehabt haben sollte, so reicht dies alles
doch noch nicht hin, einen derartig maßlosen Wutausbruch
zu rechtfertigen, wie er uns aus Akkon berichtet wird!.
Das haben denn auch schon andere empfunden. Von Kralik
z. B. (Österreichische Geschichte, Wien 1914, XVI u. S. 636,
40, 31), sucht die Verunglimpfung des österreichischen Banners
auf eine staatsrechtliche Streitfrage grundsätzlicher Art zurück-
zuführen. Das Herzogtum Österreich war bekanntlich bei seiner
Begründung i. J. 1156 mit großen Vergünstigungen begabt
und zu einer selbständigen, dem Reichsverbande nur noch
locker eingegliederten Erbmonarchie erhoben worden. Leopold
habe nun offenbar — so meint von Kralik — für seinen verhältnis-
mäßig jungen Staat die politische Gleichberechtigung mit
England und den übrigen christlichen Reichen durchsetzen
wollen und daher im Orient vor dem ganzen fürstlichen Areopag
! Cartellieri, Phil. Aug., II. Bd., 224, Anm. 6: Das Zusammentreffen
englischer, französischer, deutscher und christlich-morgenländischer Quellen spreche
für die Richtigkeit ihrer Mitteilung.
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 269
des christlichen Europas eine weltgeschichtlich bedeutsame
Kundgebung des österreichischen Selbstbewußtseins beabsich-
tigt, als er sein Banner neben dem des Kaiserreiches, Englands
und Frankreichs aufziehen ließ. Richard habe diese Heraus-
forderung als solche empfunden und ihr sofort deutlich und be-
stimmt die Anschauung entgegengesetzt, daß Österreich nur
ein Vasallenstaat sei. Von Kraliks Meinung hat viel für sich,
läßt aber noch nicht alle Wurzeln erkennen, aus denen das
unheilvolle Zerwürfnis erwachsen ist. Durch einige zeitlich
zurückliegende, familienpolitische Ereignisse dürfte sich jenes
Übermaß persönlichen Grolles, oder, wie es in Hugos Cont.
Weingart. M. G. SS. XXI, 479 genannt wird, jenes „latens
odium" angesammelt haben, das bei dem Flaggenstreite und
später bei Richards Gefangennahme so grell zutage trat.
Vor allem ist stets das Verhältnis zu beachten, in dem die
beiden Beteiligten zu Heinrich dem Lówen standen. Dieser
hatte am 1. Februar 1168 Richards Schwester Mathilde heim-
geführt, die 1156 geboren, also nur ein Jahr älter als Richard
war. Welch lebhaften Anteil seitdem die Glieder des Hauses
Plantagenet an den wechselvollen Schicksalen des Welfen-
herzogs genommen haben, ist hinreichend bekannt. Am englisch-
normannischen Hofe fand Heinrich als Verbannter die herz-
lichste Aufnahme, das erste Mal vom 25. Juli 1182 bis zum Herbst
1185, das zweite Mal von Ostern bis Michaelis 1189. Namentlich
Richard fühlte sich seinem Schwager, seiner Schwester und
ihren Kindern so eng verbunden, daß er ihre Angelegenheiten
als die seinigen zu betrachten pflegte. Die älteste zweiteheliche
Tochter Heinrichs des Lówen, die 1172 geborene Mathilde,
vermáhlte Richard im Sommer 1189 mit dem Grafen Galfried
von Perche, dem angesehenen SpróBling eines altberühmten
Geschlechts. Seinen Liebling Otto aber, den um 1180 geborenen
dritten Sohn des Herzogspaares, überhäufte er mit Wohltaten
und Gunstbezeigungen. So lieB er es sich z. B. nicht nehmen,
ihn persónlich zum Ritter zu schlagen. Und als seine Absicht,
ihn mit der reichen Grafschaft York zu begaben, auf unvorher-
gesehene Widerstände stieß, machte er ihn zum Grafen von
Poitou und Herzog von Aquitanien, also zu seinem eigenen
Nachfolger in diesen seinem Herzen besonders nahestehenden
Landschaften. Daß 1198 der noch sehr jugendliche Otto,
270 | Albert Schreiber
obwohl er doch gar kein deutscher Fürst war, als Gegenkónig
gegen Philipp aufgestellt wurde, verdankte er hauptsächlich
dem Einflusse Richards, der seit dem endgültigen Sturze Hein-
richs des Lówen die einfluBreichste Persónlichkeit der ganzen
Welfenpartei geworden war.
Wie grundverschieden hiervon waren die Beziehungen
zwischen Leopold von Österreich und Heinrich dem Löwen!
Gertrud, die Mutter Heinrichs, hatte 1139 ihrem sterbenden
Gatten, dem geächteten Heinrich dem Stolzen, gelobt, die An-
sprüche ihres Sóhnchens auf die Herzogtümer Bayern und
Sachsen kräftig zu vertreten. Aber schon im Jahre 1142, als
sie dem Markgrafen Heinrich Jasomirgott von Österreich ihre
Hand reichte, brach sie ihr Versprechen. Denn sie bewog
ihren erst 13jährigen Sohn zum Verzicht auf Bayern und brachte
dieses Herzogtum ihrem zweiten Gatten zu. Heinrich der Löwe
wurde durch die Neuvermählung seiner Mutter der Stiefsohn Hein-
richs Jasomirgott und der Stiefbruder Leopolds von Österreich.
Die Hoffnungen, die die deutschen Versöhnungspolitiker,
namentlich auch König Konrad III., an diese Annäherung des
welfischen und babenbergischen Hauses geknüpft hatten,
sollten sich aber nicht erfüllen. Denn Gertrud starb bereits 1143.
Und so blieb denn auf welfischer Seite nur die bittere Empfindung
zurück, daß die Heiratslust der erst 26jährigen Witwe von der
Gegenseite geschickt ausgenützt worden sei. Neue Verwick-
lungen folgten. Die Rückgabe des verkleinerten Bayerns an
Heinrich den Löwen (1156) bedeutete nur einen äußerlichen
unter dem Drucke der Verhältnisse abgeschlossenen Frieden
und vermochte nicht die feindselige Stimmung und das MiB-
trauen hinwegzuräumen, die sich nach und nach der Haupt-
beteiligten bemächtigt hatten.
Leopold, der seinem Vater 1177 auf dem österreichischen
Herzogsthrone gefolgt war, schloß sich um so enger an die Staufer
an, je mehr sein Stiefbruder Heinrich sich von ihnen ab-
wendete. Aus welchem Grunde, das sollte bald offenbar werden.
Der unvermählte und unheilbar kranke Herzog Ottokar von
Steiermark, der Letzte aus dem Hause der Traungauer, hatte
nach langen, schon im Jahre 1184 beginnenden Verhandlungen
mit kaiserlichem Vorwissen dem Herzog Leopold, dem Bruder
seiner verstorbenen Braut, am 17. August 1186 seine reichen
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 271
steirischen Allode durch den bekannten Vertrag vom St. Ge-
orgenberge vermacht. Welcher Unwille hierdurch bei den
unberücksichtigten Seitenverwandten Ottokars erregt worden
ist, habe ich anderwärts bereits im einzelnen gezeigt!. Von
einigen wissen wir es, daß sie wegen ihrer Erbansprüche ab-
gefunden werden mußten. Und Ansberts Bemerkung, Leopold
habe das Erbe Ottokars nur „post multos labores' in Besitz
nehmen können, läßt noch weitere Quertreibereien der ent-
täuschten Verwandtschaft ahnen.
Nun war aber auch Heinrich der Löwe mit Ottokar bluts-
verwandt, und zwar nach der im Lehnrecht geltenden römisch-
rechtlichen Zählung sogar um zwei Grade näher, als Leopold
(5 gegen 7).
Allerdings gewährte das strenge Reichslehenrecht in unserem
Falle weder Leopold noch Heinrich einen Erbanspruch auf das
Herzogtum. Aber die Kaiser hatten doch zuweilen nicht nur
männliche, sondern auch weibliche Seitenverwandte und deren
Abkömmlinge in Reichslehen succedieren lassen. Und was
die Allode anlangte, so enthielt das steirische Landesrecht die
durch den Vertrag vom St. Georgenberge ausdrücklich aufrecht-
erhaltene Bestimmung: „Si Stirensis intestatus obierit, jure
succedat heredis qui proximus fuerit sanguinis 2
Unter solchen Umständen mußte nach dem Empfinden der
Zeitgenossen bei der Wiederverleihung des Herzogtumes der
nähere Verwandtschaftsgrad zugunsten Heinrichs und zu-
ungunsten Leopolds schwer in die Waagschale fallen. Weit
mehr noch galt dies bei der Vererbung des sehr reichen traun-
gauischen Allodialbesitzes, ohne den die steirische Herzogs-
würde nur einer tauben Nuß glich?. Wie in Fürstenkreisen die
welfischen Ansprüche gewertet wurden, beweist beispielsweise
die auffallende Tatsache, daB der Kónig Bela III. von Ungarn
1185, während Heinrich noch als Verbannter am englischen
3 Neue Bausteine zu einer Lebensgeschichte Wolframs von Eschenbach,
Deutsche Forschungen, Heft 7, Frankfurt a. M., 1922, S. 93ff. — Vgl. auch Max
Vancsa, Gesch. Nieder- und Oberósterreichs, Bd. VI, 1 der Deutschen Landes-
geschichten. Gotha 1905, 304ff; 365fl.
3 Vancsa, a. a. O. 368: „Bei dem ausgedehnten Grundbesitz des steierischen
Herzogs im Lande und seinen vielen Ministerialen und Untertanen wäre es übrigens
auch schwer möglich gewesen, einen anderen als Herzog durchzusetzen, als den
Erben dieses Besitzes.“
Leopold IL der Schöne Ottokar III. Welt I.
Mkgf. v. Österreich } 1096 Mkgf. v. Steier f 1078 Hzg. v. Bayern } 1101
——— óc puo tnum
Leopold HT. Elisabeth * Ottokar IV. Heinrich der Schwarze
der Heilige Mkgf. v. Steier } 1122 Hzg. v. Bayern t 1126
Mkgf. v. Österreich
+ 1137
En — S ———2ꝑ᷑-kʒ1w.•.ñ3————
Heinrich II. Leopold I. * Sophia Heinrich
Jasomirgott Mkgf. v. Steier der Stolze
3 Hzg. v. Österreich + 1129 Hzg. v. Bayern und
t 1177 Sachsen T 1139
poa — ———— ——
E 5 Ottokar V. Heinrieh der Löwe
v. Österreich Mkgf. v. Steier + 119
pud N + 1164
+ 119 |
Ottokar VI.
seit 1180 Hzg. v. Steier
f als letzter Traungauer 1192
272
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 273
Hofe weilte, um die Hand seiner Tochter Mathilde anhalten
ließ. Heinrichs Macht und Ansehen hatten doch aber seit 1180,
d. h. seit der Aberkennung seiner Reichsämter und Reichslehen,
ganz beträchtlich gelitten. Seine Zukunft war sogar völlig
ungewiß. Auch hatte Bela die erst 13jährige Mathilde über-
haupt noch nicht gesehen. Er muß daher für seine Werbung
einen besonderen Grund gehabt haben. Offenbar sah er in
Heinrich den vermutlichen Erben der an Ungarn angrenzenden
Steiermark und erhoffte von einer Verbindung mit dem Welfen-
hause einen Gebietszuwachs für sein Königreich. War doch,
wie er behauptete, das östliche Steierland zwischen Mur und
Raab den Ungarn ehedem widerechtlich entrissen worden.
Die ,,gravis dissensio de disterminio terrae suae'' (Ansbert), die
zwischen Bela und seinem Schwager Leopold nach dem Be-
kanntwerden des Vertrags vom St. Georgenberge entstand,
ehe noch der Letztere endgültig in Steiermark succediert war,
spricht für die Ernstlichkeit und Hartnäckigkeit der unga-
rischen Ansprüche.
Der Vertrag vom St. Georgenberge war nicht nur unter
freiem Himmel im Beisein vieler österreichischer, bayrischer
und steirischer Edelleute abgeschlossen, sondern auch durch
eigene Ausschreiben feierlich verkündigt worden. (Luschin, die
steirischen Landhandfesten, in den Beitrr. zur Kunde steierm.
G.-Qu. 9. Jahrg., 1872, S. 130.) Wie ein Lauffeuer durcheilte
die Kunde davon das ganze Reich. Der Welfenpartei brachte
sie eine neue, bittere Enttäuschung. Lag doch die Auffassung
nur allzunahe, daß Heinrich der Löwe zum zweiten Male durch
das geschickte Ränkespiel eines Babenbergers empfindlich ge-
schädigt worden sei. Die Aussicht auf einen Wiederaufstieg
seines Hauses rückte für den Gedemütigten in immer weitere
Ferne“. Daß der leicht erregbare Richard an diesem neuen
* Über Sophia, die Vatersschw. Heinrichs des Löwen, und ihre Heirat mit
Mkgr. Leopold I. von Steiermark vgl. Annalista Saxo in MG. SS VI, 744, Zeile
11ff; Leibn. SS Brunsv. III, 662; Orig. Guelf. II, Lib. VI, 393, $ 60 u. 394, $ 61;
Cohn-Voigtel, Stammtaf. 27 u. Berichtigung dazu; Krones, Gesch. Üsterreichs,
Stammtafel der Traungauer im Anhang zu Bd. II; Krüger, Ursprung des Welfen-
hauses, Wolfenbüttel, 1899, Taf. XIII; Muchar, Gesch. der Steiermark, Stamm-
tafel im Anhang zu Bd. II; Anthony v. Siegenfeld, Landeswappen der Steier-
mark, Tafel zu S. 136ff. — Die Benachteiligung der Welfen durch den Vertrag vom
St. Georgenberge ist, soviel ich sehe, seither ganz unbeachtet geblieben.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 18
274 Albert Schreiber
Mißgeschick seines Schwagers den lebhaftesten Anteil ge-
nommen hat, ist ohne weiteres klar. Als er am 3. Februar 1190
vor seiner Abfahrt nach Sizilien mit seinem Neffen Heinrich
dem Langen von Braunschweig zu La Réolle im südlichen
Frankreich noch einmal zusammenkam, um die schwierige
Lage der Welfenpartei zu beraten, da wurde wohl sicherlich
auch Leopolds und des von ihm listigerweise geschlossenen
Erbvertrages in wenig schmeichelhafter Weise gedacht. Jeden-
falls ist nach allem Gesagten die außergewöhnliche Gereiztheit
verständlich, mit der Richard die deutschen Mitkämpfer, und
besonders den Herzog Leopold, auf seinem Kreuzzuge be-
handelt hat.
Wenn er das österreichische Banner nicht nur als das eines
Welfenfeindes, sondern auch als das eines Erbschleichers ansah,
so erklärt sich ohne weiteres, warum er es neben der stolzen
englischen Königsstandarte nicht dulden wollte, sondern
schimpflich herabreißen ließ,
II. Richards Flucht von der Adria bis Wien.
Die abenteuerliche Rückfahrt Richards aus Palästina und
seine Gefangennahme in Wien haben die Phantasie der Zeit-
genossen mächtig angeregt. In unseren Geschichtsquellen tritt
das oft derartig stark zutage, daß Wahrheit und Dichtung nur
sehr schwer auseinanderzuhalten sind. Auch Widersprüche und
Unklarheiten ergeben sich zuweilen aus der poetisch-subjektiven
Färbung der Berichte, Philippson, Heinr. d. Löwe, 2. Aufl., 639,
hält nur zwei Darstellungen für durchweg glaubhaft: erstens die
kurze Nachricht, die Kaiser Heinrich VI. dem König von Frank-
reich sandte, und zweitens die ausführlichere Schilderung
Radulfs v. Coggeshal. Außerdem möchte ich noch den mit den
österreichischen Verhältnissen wohlvertrauten Ansbert, Alberi-
cus Triumfontium und Otto von St. Blasien als brauchbare
Nebenquellen betrachten. Fast alle übrigen Chronisten schreiben
entweder von den Obengenannten ab, oder lassen mehr oder
weniger ihrer Phantasie die Zügel schießen,
Von den beiden Hauptquellen verdient Coggeshals Dar-
Stellung den Vorzug. Sie beruht auf den Mitteilungen eines
namhaft gemachten Begleiters des Königs, nämlich seines
Kaplanes Anselm, der später zum Bischof von Durham ernannt
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 275
worden ist und über Richards Erlebnisse selber ein leider nicht
erhaltenes Werk verfaßt hat (Vgl. Liebermanns Vorr. in M. G.
SS. 27, 81 u. 330). Soweit wir die von Coggeshal überlieferten
Einzelheiten nachprüfen können, erweisen sie sich als zuver-
lässig (vgl. u. 111 Anm. 7). Da Coggeshal auch sonst für einen
der besten englischen Chronisten gilt, darf man wohl in unserem
Falle unbedenklich auf die Richtigkeit seiner ganzen Erzählung
schließen. Der Kaiserbrief dagegen ist zwischen dem 21. und
28. Dezember 1192, also kurz nach der Gefangennahme Richards,
auf dem Wege von Eger nach Regensburg in dem kleinen Flecken
Reinhausen bei Stadtamhof ziemlich eilig niedergeschrieben
worden, ehe noch Heinrich VI. mit Richard selbst zusammen-
getroffen war. Er gibt also bloB die zu allererst eingelaufenen
Nachrichten wieder, die erfahrungsgemäß nicht immer die zu-
verlássigsten zu sein pflegen. Behandelt doch eine solche Eil-
botschaft oftmals nicht nur die hauptsáchlichsten Ereignisse,
sondern daneben auch bloße Gerüchte unterschiedslos als Tat-
sachen (ähnlich Winkelmann, Phil. v, Schwaben, Jahrbb. d.
deutsch. Gesch. I, 536 in seiner Kritik der zeitgenóssischen
Berichte über Philipps Ermordung).
Über den ersten Teil der verhängnisvollen Fahrt herrscht
in den Quellen vóllige Klarheit (vgl. Cartellieri, a. a. O. III, 27ff).
Richard verläßt am 8./9. Oktober 1192 mit seiner Gattin Beren-
garia und seiner Schwester Johanna von Sizilien Akkon. Be-
unruhigende Nachrichten aus der Heimat treiben ihn zur Eile
an. Aber heftige Herbststürme werfen sich seiner Flotte ent-
gegen, so daB er erst nach großen Verlusten an Schiffen und
Mannschaft um die Mitte des Novembers im westlichen Mittel-
meere eintrifft. Nur noch etwa drei Segeltage ist er von Marseille
entfernt, als ihn allerlei Nachrichten über eine Verschwörung
seiner Feinde erreichen. Insbesondere der Kaiser, der König von
Frankreich und der Graf Raimund von Toulouse haben, wie man
ihm meldet, ein richtiges Kesseltreiben gegen ihn eingeleitet.
Da seine zusammengeschmolzenen und kampfesmüden Truppen
ebensowenig, wie seine schwerbeschädigten Schiffe den Angriffen
einer solchen Übermacht gewachsen sind, entschließt sich
Richard, die überall auf ihn lauernden Späher und Häscher zu
täuschen. Seinen Kurs oftmals ändernd, fährt er ‚non regia via,
sed cancrizando’ (Cont. Cremifanensis) zunächst ein beträcht-
x 18*
276 Albert Schreiber
liches Stück wieder ostwärts zurück, sodann nordwärts in das
ionische und adriatische Meer. Um seine Verfolger auf eine
falsche Fährte zu locken, trennt er sich — nach Ansbert in Pola,
nach Coggeshal in Corfu — von seiner Gattin, seiner Schwester
und seinem Hofstaat. Das bis dahin von ihm benutzte Schiff
schickt er mit dem Rest seiner Flotte nach Brundusium, wo es
von englischen Pilgern gesehen wird; er selbst setzt seine
Flucht mit etwa 20 Begleitern fort. Auch wechselt er vor-
sichtshalber seine Kleider und läßt sich Bart und Haupthaar
lang wachsen.
Über den zweiten Teil der Flucht gehen die Nachrichten
öfters auseinander. Toeche, Heinrich VI., 560ff hat sie in der
Hauptsache zusammengestellt. Nach dem Kaiserbriefe wird das
vom Sturmwind beschädigte Schiff Richards ‚versus partes
Istriae‘‘ getrieben, wo es an einem Orte „inter Aquileiam et
Venetias‘ vollends zerbricht. Ansbert erwähnt überhaupt keinen
Schiffbruch, sondern nur eine, durch die Heftigkeit der Stürme
erzwungene Landung in Pola. Von dort aus läßt er Richard
sogleich den Landweg durch Friaul nach Österreich einschlagen.
Coggeshal endlich erzählt, Richard sei von Corfu aus auf gemie-
teten Seeräuberschiffen „in partes Sclavoniae“, und zwar bis
Zara, gelangt. Von dort aus habe er sogleich einen Boten in eine
nahe Burg an den „dominus provinciae illius“ geschickt und ihn
unter Übersendung eines kóstlichen Rubins um freies Geleit
ersucht®. Der Burgherr habe aber das Geschenk abgelehnt und
dabei dem Boten bedeutet, daB es seiner Überzeugung nach von
Richard komme. Nur freien Abzug, nicht aber sicheres Geleit
könne er diesem zugestehen. Als dem König das gemeldet
worden, sei er „de villa praedicta“, also von Zara aus, „com-
paratis equis' mitten in der Nacht aufgebrochen und lüngere
Zeit (diutius) unbehelligt von dannen geritten. Der dominus
terrae aber habe seinen Bruder, durch dessen Gebiet die weitere
Reise der Flüchtlinge ging, von der Sachlage verstándigt, damit
dieser, wenn er wolle, Richard fangen kónne. Sofort habe der
denn auch einen Fahndungsbefehl erlassen und einen seiner
5 J. J. 1197—1198 wendete sich der aus Palästina heimkehrende Bischof Gardolf
von Halberstadt „ad partes Histriae advectus um gastliche Aufnahme und sicheres
Geleit an Meinhard von Górz. Seiner Bitte wurde bereitwilligst entsprochen. Vgl.
Gesta episcoporum Halberstad. In M. G. SS. 23, 112.
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 277
Leute, Roger von Argentan®, mit der Aufspürung und Fest-
nahme Richards beauftragt. Als Normanne habe Roger aber
seinen angestammten Herzog nicht verraten mögen, sondern
ihm sogar ein ausgezeichnetes Pferd verschafft und so zu rascherer
Flucht verholfen.
Die beiden Brüder, von denen hier die Rede ist, waren
Engelbert III. und Meinhard II., Grafen von Görz und Pfalz-
grafen von Kärnten, deren Familie durch eine günstige Heirat
bedeutende Besitzungen auf der Halbinsel Istrien erworben hatte.
Auch auBerhalb ihrer eigentlichen Grafschaft hatten sie als
Schutzvögte des Hochstifts Aquileja auf dem Gebiete der Landes-
verteidigung und Rechtspflege mancherlei wichtige Befugnisse,
durch die sie zu regelmáDigen Rundreisen in Istrien und zu
wiederkehrenden Besuchen der zahlreichen Burgen des Patri-
archates genótigt wurden (v. Czórnig, Górz und Gradisca, Wien
1878, S. 397, 416, 503ff, 613). Die südlichsten dieser castella, wie
z. B. Albona, Fianona, Pola, Rovigno usw. lagen in der-Luftlinie
nur etwa 80—90 km von Zara entfernt, so daß Richard -von
diesem seinem Landungsplatze aus sehr wohl einen Boten zu
Schiffe an Engelbert gesendet haben kann, wie Coggeshal be-
richtet. Daß wirklich Zara und nicht, wie Wilken und Toeche
annehmen, Górz (Goritia) in Frage kommt, bestätigen außer
Coggeshal (,applicuerunt in partes Sclavoniae in quandam
villam nomine Gazaram‘‘) noch Roger von Hoveden (,,Gazere
apud Raguse‘‘) und der Anon. Laudunensis (,revertens per
Dalmatiam Ragusiensem‘‘)”.
Auf welchem Wege gelangte nun aber Richard selber von
Zara aus nach Górz? Da nichts davon gesagt wird, daB er noch
einmal zu Schiffe gegangen sei, vielmehr ausdrücklich Pferde als
* Argentan im Département Orne, Normandie, wo König Heinrich II. und die
aus Deutschland verbannte Familie Heinrichs des Lówen zeitweilig Hof hielten.
Dort wurde um 1182 Heinrichs Sohn Otto, der spátere deutsche Kaiser, geboren.
? Coggeshals Zuverlässigkeit offenbart sich auch in Kleinigkeiten und Neben-
dingen. Er erzählt z. B., der zweite dominus terrae, dessen Gebiet die Flüchtlinge
berührten, d. h. also Meinhard II. v. Görz, habe seinem Vasallen Roger v. Argentan
versprochen: „sese ei medietatem urbis daturum, si Regem intercipere posset."
Nun gehörte aber tatsächlich damals nur die Hälfte von Górz zum gräflichen Be-
sitze, während die andere Hälfte kraft Schenkung Kaiser Ottos III. seit 1001 den
Patriarchen von Aquileja zustand. Erst 1202 wurde den Grafen das ganze Schloß
und Gebiet von Görz überlassen (v. Czórnig a. a. O., 505 f).
278 Albert Schreiber
seine Transportmittel erwähnt werden, bleibt nur die Annahme
übrig, daß er zunächst östlich durch das dalmatinisch-ungarische
Hinterland Zaras, sodann nördlich an der kroatischen Küste
entlang bis nach Istrien, endlich aber durch diese Halbinsel
hindurch nach dem Gebiete von Aquileja und der Grafschaft
Görz gezogen ist. Das war allerdings ein beträchtlicher Umweg.
Doch die Reise von Zara nach Görz dauerte ja auch ,,diutius"',
was völlig zu den sonstigen Zeitangaben der Quellen stimmt.
Mitte November 1192 trifft Richard in Corfu ein, erst einige Tage
vor dem 21. Dezember aber in Erdberg bei Wien“. Daraus
errechnet sich eine fast 40tägige Reisezeit, die zwar um ver-
schiedene kleinere Aufenthalte, z. B. in Zara, Górz und Friesach,
sowie um die Dauer des letzten scharfen Rittes von Górz bis Erd-
berg gekürzt werden muß, aber immerhin noch lang genug ist,
um auch für die Landstrecke Zara—Görz vollkommen aus-
zureichen. (Luftlinie: etwa 240 km). Es kommt hinzu, daB
nicht nur Arnold von Lübeck (M. G. SS. 21, 179) sondern auch
zwei spätere, aber aus zuverlässigen Quellen schópfende Ge-
schichtsschreiber, Albericus Trium fontium (M. G. SS. 23, 869)
und Otto von St. Blasien, der Fortsetzer Ottos von Freising
(M. G. SS. 20, 323), ausdrücklich berichten, daß Richard durch
Ungarn gezogen sei. Auch der zeitgenössische Chronist Radulf
von Diceto meldet uns: „applicuit in Sclavonia; cum autem
transisset Veneciam et Aquilejam“ usw. Applicare und transire
Stehen hier in einem gewissen, durch autem hervorgehobenen
Gegensatz zu einander, so daB das letztere wohl wórtlich gemeint
sein dürfte. Mit Radulf de Diceto stimmt endlich das itinerarium
Ricardi Londonensis fast völlig überein: „transvectus est in
* Die Ortschaft Erdberg ist in dem Wienerischen Stadtteil LandstraBe auf-
gegangen (zwischen der heutigen Schlachthausbahn und dem Donaukanal) Die
ErdbergstraBe zwischen dem Zentralviehmarkt und dem Donaukanal, sowie die
Erdberglände und das Erdberger Mais am rechten Ufer des Donaukanals zwischen
der Rotunden- und Schlachthausbrücke erinnern noch daran.
In der Einfahrt des Hauses Erdbergstr. 41 ist eine Tafel angebracht mit
folgender Inschrift: ‚An dieser Stelle stand das Jägerhaus (Rüdenhaus), in welchem
im Jahre 1192 Richard L, König von England, durch Leopold von Österreich ge-
fangen genommen und von da nach Schloß Dürnstein a. d. Donau gebracht wurde.‘
Das Rüdenhaus diente der Aufzucht und Unterbringung von Hetzrüden; eine Rüden-
gasse befindet sich heute noch in der Nühe. (Gütige Mitteilung des Herrn Dr. Karl
Schneider in Wien, III, Erdbergstr. 35/14.)
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 279
Sclavoniam; inde pertransiens Aquileiam‘‘. Nun führte aber der
Landweg Zara—Görz tatsächlich größtenteils über ungarisches
Gebiet. Selbst das später venetianische Zara befand sich gegen
den Schluß des 12. Jahrhunderts in ungarischem Besitz.
Auch die scheinbar ganz abweichende Darstellung des Kaiser-
briefs steht übrigens vielleicht mit unserer Ansicht im Einklang.
Wenn der Kaiser schreibt, Richards schwerbeschädigtes Schiff
sei „versus partes Istriae in locum, qui est inter Aquileiam et
Venetias" getrieben worden, so spricht das allerdings auf den
ersten Blick für eine Örtlichkeit an der Nordküste des Golfs .
von Venedig. Da nun aber Venetia oder Venetiae nicht nur
die Stadt Venedig, sondern auch den Staat Venetien bezeich-
nete, der Machtbereich des letzteren aber an der Ostküste der
Adria bis hinab nach Ragusa reichte, so lag das ungarische Zara
tatsächlich nicht nur,, in partibus Istriae“, sondern auch ungefähr
in der Mitte zwischen Aquileja und dem dalmatinischen Venetien.
Es folgt nun der dritte, abenteuerlichste Akt der tollen Flucht.
Nachdem Meinhard von Görz noch 8 Ritter weggefangen,
sprengte Richard mit dem Rest seiner Leute eiligst den Alpen
zu. Der treue Normanne Roger, der bereits 20 Jahre im Dienste
Meinhards gestanden hatte und also Land und Leute genau
kannte, dürfte sich kaumdamit begnügt haben, seinem Herzog
und König ein vortreffliches Pferd zu verschaffen. Sicherlich
hat er ihn auch über wichtige Einzelheiten der weiteren Flucht,
z. B. über Wege und Stege, Schlupfwinkel und Verstecke,
Herbergen und Quartiere, nach bestem Wissen beraten. Auch
den die deutsche Sprache beherrschenden Knaben, durch dessen
Ungeschicklichkeit freilich spáter in Erdberg Richard erkannt
wurde, scheint ihm Roger mitgegeben zu haben. Noch einmal,
bei der salzburgischen Veste Friesach, die den Übergang vom
' Gurk- zum Murtale deckte, wird die kleine Schar gestellt. Der
Befehlshaber der dortigen Besatzung, der erzbischófliche Mini-
steriale Friedrich von Pettau, verlegt ihr mit Übermacht den
Weg und nimmt weitere 6 Ritter gefangen. Nur mit dem er-
wähnten Knaben und einem einzigen Ritter, Wilhelm von Etang?,
* Nach V.4457ff. des durch Paul Meyer herausgegebenen altfranzösischen
Gedichts: Histoire de Guillaume le Maréchal comte de Striguil et de
Pembroke (Paris 1891—1901) war Wilh. v. E. unter den 3000 Rittern, die z. Zt.
des Königs Jungheinrich v. England um 1180 an dem großen Turnier zu Leigni
280 Albert Schreiber
gelingt es Richard zu entkommen. In wahnsinniger Hast jagen
die 3 Flüchtlinge weiter bis Erdberg, wo das Verhängnis sie
ereilt.
Welche Wege sie im einzelnen von Görz über Friesach bis
Erdberg gewählt haben, wird wohl niemals ermittelt werden.
Immerhin läßt sich im allgemeinen folgendes sagen: Da nun
einmal Richard durch die Verhältnisse gezwungen worden war,
die Rolle des Löwen, die er in Palästina gespielt, mit derjenigen
des Fuchses zu vertauschen, wird er gewiß belebte Heer- und
Handelsstraßen tunlichst vermieden und wohlbemannte Burgen
und Ortschaften vorsichtig umgangen haben. Aber, mag er
nun von Górz aus am Isonzo oder am Tagliamento hochgezogen
sein, mag er in den Alpen durchweg die bekannteren Pässe, oder
auch teilweise heimliche Saum- und Schleichpfade benutzt ha-
ben — in jedem Falle galt es, auf einer Strecke von rund 500 km
mehrmals starke Steigungen bis zur höchsten Höhe von rund
950 m (Semmering!) zu überwinden. Und dies in der eis- und
schneereichen Winterszeit, in der die Tageslänge einschließlich
der beiden Dämmerungen höchstens 8%, Stunden betrug und
die um so längeren Nächte selbst bei klarem Wetter nur zeit-
weise und mangelhaft durch die schmale Mondsichel erhellt
wurden. (Erstes Viertel am 16.—17. Dezember 1192.) Des
Vergleichs wegen sei darauf hingewiesen, daß sogar ein Schnell-
zug 15—17 Stunden für dieselbe Strecke braucht, die Richard
und seine Begleiter in 3 Tagen und 3 Nächten zurückgelegt
haben sollen! Nach solch einem Gewaltritt bedurften Roß und
Reiter begreiflicherweise der Ruhe. Waren ihnen doch oben-
drein in den letzten Tagen Speisen und Futter vollständig aus-
gegangen.
Welche Umstände und Gründe mögen nun aber Richard
bestimmt haben, den überaus gefährlichen Weg über Wien ein-
zuschlagen? Der Kaiser weiß nichts darüber zu melden, son-
dern spricht nur von einer göttlichen Fügung. Andere, wie Ger-
vasius Cantuarensis, glauben an einen unglücklichen Zufall, ein
triste infortunium. Neuerdings auch so Cartellieri, a.a. O., III,79.
Daß Richard aber „gar keinen Reiseplan gehabt, sondern sich
sur Marne teilnahmen. Auch soll er zu den Gesandten gehört haben, die König
Johann i. J. 1200 als seine Werber um die Tochter des Königs von Portugal ab-
schickte (a. a. O., I, 133f., Anm. 3).
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 281
blindlings dem blinden Schicksal überantwortet habe, wie Pauli
und Wilken annehmen, heißt, bei aller Abenteuerlichkeit des
Königs ihm mehr als menschenmógliches zutrauen“ (Kneller,
des Richard Löwenherz deutsche Gefangenschaft, Freiburg i. Br.
1893, Ergänzungsheft 59 zu den Stimmen aus Maria-Laach).
Das Fehlen zuverlässiger Nachrichten über solch einen Plan
beweist doch nicht sein Nichtvorhandensein, sondern höchstens
seine strenge Geheimhaltung durch den König, wie solche wohl
nicht nur während, sondern auch nach der Flucht aus Gründen
der Sicherheit und aus Rücksichten auf dritte Personen geboten
war. Den meisten Anklang hat eine Vermutung Coggeshals
gefunden. Ihr zufolge soll sich Richard schon während der See-
fahrt entschlossen haben, heimlicherweise durch Deutschland
nach Sachsen zu seinem Schwager Heinrich dem Löwen zu ziehen,
weil ihm der Heimweg durch das westliche Mittelmeer von
Philipp August, Raimund von Toulouse und anderen Feinden
verlegt gewesen sei. Die politische Lage Heinrichs des Löwen
hatte sich allerdings gerade damals wider Erwarten bedeutend
gebessert. Den kombinierten .Angriff der sächsischen Fürsten
hatte er 1191—1192 siegreich abgeschlagen. Sein ältester Sohn
Heinrich war glücklich im August 1191 aus dem kaiserlichen
Lager vor Neapel entkommen und nach Braunschweig zurück-
gekehrt, sein zweiter Sohn Lothar aber als Geisel des Kaisers
schon früher verstorben, so daß sich keines seiner Kinder mehr
in der Gewalt des verhaßten Staufers befand. Eine gefährliche,
auf den Sturz des staufischen Kaisertumes abzielende Fürsten-
verschwörung, die der alte Löwe kräftig schürte, griff in der Stille
mehr und mehr um sich. Aber noch war der Posten des An-
führers zu besetzen. Für ihn mußte Richard, als die glänzendste
Persönlichkeit, ja das eigentliche Haupt der welfischen Partei,
den Verschwörern wie kein zweiter geeignet erscheinen (Philipp-
son, a. a. O., 532). Zu allem kam endlich hinzu, daß Leopold
von Österreich am 24. Mai 1192 zum Nachteil des Welfenhauses
mit der Steiermark belehnt worden war (vgl. o. S. 271). Den
beiden Schwägern Heinrich und Richard dürfte also aus man-
cherlei schwerwiegenden Gründen eine persönliche Aussprache
höchst erwünscht gewesen sein.
Dem Einwand, daß der kürzeste Weg von der Adria nach
Sachsen doch nicht über Wien geführt habe, suchen manche
282 Albert Schreiber
Anhänger Coggeshals durch eine weitere Vermutung zu begeg-
nen: Richard habe zwar nordwärts durch das Salzburgische
ziehen wollen, sei aber an einer Gabelung der Alpenpässe irr-
tümlich ost-, statt westwärts geritten und so wider seinen Willen
nach Wien geraten (Kneller, a. a. O. 28; Cartellieri, a. a. O., III,
27ff.). Weit wahrscheinlicher ist es jedoch, daß Richard mit
voller Absicht nach Wien gezogen ist; nicht etwa, wie Luden
sonderbarerweise gemeint hat, um Leopold wegen des Bänner-
streites um Verzeihung zu bitten, sondern, um auf der Donau
Gran, die damalige Hauptstadt Ungarns, zu erreichen. Von dort
aus hätte er dann gefahrlos und leicht seinen weiteren Reiseweg
nach Sachsen und England in nordwestlicher Richtung durch
Mähren und Böhmen nehmen können, da deren Herzöge mit
dem Kaiser verfeindet waren (Toeche, 240ff).
Seit 1173 regierte in Ungarn König Bela III. Dieser galt
als Freund der Pilger und Kreuzfahrer. Er hatte schon kurz
nach seiner Thronbesteigung Heinrich dem Löwen, der als
Pilger aus Palästina heimwärts zog, freundliche Aufnahme und
sicheres Geleit gewährt. Der Werbung Belas um eine Tochter
Heinrichs wurde bereits gedacht. Für die Fortdauer der freund-
schaftlichen Beziehungen zwischen dem ungarischen und welfi-
schen Hofe spricht die Tatsache, daß 1194/1195 der sterbende
Herzog Leopold von Österreich den Welfenprinzen Wilhelm,
der als Geisel bei ihm weilte, an Bela schickte, damit dieser ihn
zu seinem Vater Heinrich dem Löwen zurückführen lasse. Die
sicherste Verbindung von Wien nach Sachsen führte also auch
nach Leopolds Ansicht damals über Ungarn!®. Richard Löwen-
herz selbst war mit dem ungarischen Königshause durch Familien-
bande verknüpft. Denn Belas zweite Gemahlin Margarete, eine
Halbschwester Philipps II.. August, war in ihrer ersten Ehe mit
Jungheinrich von England, dem 1183 verstorbenen, älteren
Bruder Richards, vermählt gewesen. Als richtige Base (Vaters-
schwesterstochter) des Königs Alfons VIII. von Kastilien war
sie noch auf andere Art mit Richard verschwägert, seitdem
Alfons 1170 die Schwester Richards, Eleonore, geheiratat hatte.
Mit der jungen Gemahlin Richards, Berengaria von Navarra,
10 Die Annales Stadenses lassen, wenn auch fälschlich, Heinrich den Langen 1190
von Neapel aus „per Graeciam, Ungariam et Boemiam" nach Braunschweig heim-
kehren. M. G. SS. XVI, 352.
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 283
war sie sogar blutsverwandt, da deren Mutter Sancia und Mar-
garetes Mutter Constanze als Schwestern dem Hause Kastilien
entstammten. Wenn auch Jungheinrich, Margaretes erster
Gatte, mit seinem Bruder Richard öfters in heftige Fehden ver-
wickelt gewesen war, so hatte man doch englischerseits das
Wittum Margaretes vor ihrer Ubersiedelung nach Ungarn zu
ihrer vollsten Zufriedenheit geordnet.
Schon die angeführten Gründe dürften ausgereicht haben,
um dem englischen König in seiner verzweifelten Lage den ungari-
schen Hof als nächstes und sicherstes Asyl erscheinen zu lassen.
Zu den erwähnten verwandtschaftlich-schwägerschaftlichen Be-
ziehungen gesellten sich aber auch politische, da der Vertrag
vom St. Georgenberge sowohl welfische, als auch ungarische
Ansprüche verletzte. Daß Bela mit seinem Schwager Leopold
wegen steirischer Gebietsstreitigkeiten zerfallen war, wurde
oben S. 273 bereits erwähnt. Durch sie wurde Leopold bestimmt,
sich 1189 dem Heere Kaiser Friedrichs I. nicht anzuschließen,
sondern als Nachzügler ein ganzes Jahr später den Seeweg nach
Palästina zu wählen.
Bundesgenossen gegen Leopold mochten wohl auch unter
den enttäuschten Erben Ottokars (oben S. 270f.), sowie unter
jenem Teile des steirischen Adels zu finden sein, der von dem
Anschlusse an Österreich nichts wissen wollte. Wenn uns auch
bestimmte Nachrichten über eine solche Bewegung fehlen,
so ist doch mancherlei zwischen den Zeilen des Vertrages
vom St. Georgenberge zu lesen. Schon die Tatsache, daß in `
ihm die Rechte der steirischen Ministerialen besonders eingehend
sichergestellt werden, beweist, mit welchem Mißtrauen dieser
einflußreiche Stand an die ganze Sache herangegangen ist.
Vergebens bemüht sich Muchar, auf andere Weise zu erklären,
warum in der Vertragsurkunde „so wenige Edelherren aus
Steiermark, und größtenteils nur aus Bayern und Österreich als
Zeugen unterschrieben worden sind!!!“. Selbst die äußere Form
der Vertragsurkunde bestätigt unsere Ansicht. Denn mitten
in der Zeugenreihe, und zwar in ihrer zweiten Zeile, befinden sich
11 Kleine Berichtigung: Nicht das Weihnachtsfest 1186, wie Muchar will,
sondern das 1185 hat Herzog Ottokar, „umgeben von einem halben Hundert seiner
Ministerialen und Stände des Landes“, zu Admont gefeiert. Es beweist also nichts
für das durch Muchar angenommene Einverständnis der Ministerialen mit dem
St. Georgenberger Vertrage.
284 Albert Schreiber
zwei auffallende, nicht etwa durch Rasur entstandene Lücken.
Hier hätten insgesamt 3 +2 — 5 Namen Platz gehabt. Statt
ihrer erscheint aber nur eine waagrecht verlaufende, wellige Linie,
die durch 6 +6 Strichpaare in der Richtung von rechts oben
nach links unten im Winkel von etwa 45 Grad gekreuzt wird
(vgl. das etwas mangelhafte Faksimile bei Muchar IV, 521;
nach dem Drucke bei Zahn, U. B. von Steiermark I, 651, Nr. 677
reicht umgekehrt die erste Lücke für 2, die zweite aber für 3 Na-
men. Luschin, die steirischen Landhandfesten, in den Beiträgen
zur Kunde steiermärkischer Gesch.- Qu., 9. Jahrg. 1872, S. 170ff.
erwähnt diese Lücken merkwürdigerweise überhaupt nicht.)
Offenbar sollten hier nachträglich die Namen von 5 Edlen ein-
geschrieben werden, auf deren Zeugenschaft man bestimmt
gerechnet hatte, die jedoch entweder bis zum Schlusse der Ver-
handlung überhaupt nicht kamen, oder aber trotz ihrer Anwesen-
heit bei der letzteren schlieBlich ihr Zeugnis verweigerten.
Niedere Adlige kónnen es nicht gewesen sein, da sie ihren Platz
zwischen den Grafen von Pilstein, Morle, Scala, Liebenau und
Plaien erhalten sollten. Wenn dann Graf Friedrich von Pilstein-
Morle, der Sohn Sigfrieds, um 1215 den steirischen Panther
als Anspruchswappen führt, wenn weiter der steirische Land-
marschall Berthold von Treun noch später für die Ungarn-
herrschaft in Steiermark eintritt, so läßt sich auch daraus auf
die „multi labores" schließen, die den Babenbergern nach der
Inbesitznahme des steirischen Erbes erwachsen sind (Ansbert).
Einige der Vertragszeugen vom St. Georgenberge kommen übri-
gens 1191—1192 in Palästina vor, z. B. die Grafen Konrad III.
von Pilstein, Heinrich und Sighard von Scala, Sigfried von Lie-
benau, Liutold und Heinrich von Plaien, Konrad von Dorenberg,
Otto von Chlamm-Velburg, sowie die Edlen Friedrich von Berg,
Albrecht von Weixelberg und Liutold von Gutenberg. Durch
Sie kónnte der Inhalt der Vertragsurkunde im Kreuzritterheere
genauer bekannt geworden sein. DaB im Orient steirische Parti-
kularisten mit dem englischen Kónige Fühlung genommen und
so die Veranlassung zu seinem Zuge durch Steiermark abgegeben
hátten, láBt sich allerdings nicht beweisen. Die Nachricht der
Cont. praedic. Vindobonensium, Richard habe den Weg nach
Wien gewählt, weil er das Land Leopolds kennenlernen wollte,
klingt denn doch zu vag und unbestimmt.
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Lówenherz 285
In jedem Falle wäre aber ein Bündnis der rheinisch-welfisch-
englisch-böhmischen Koalition mit Ungarn und gegebenenfalls
mit Steiermark geeignet gewesen, jene Einkreisung des Kaisers
zu vervollständigen, die, wohl zweifellos im welfischen Interesse,
am 11. November 1190 durch Richards Bündnis mit Tancred so
aussichtsreich eingeleitet worden war (Toeche, 157f. 199).
Daß derartige Gedanken den englischen König auf seiner
Heimfahrt bewegt und zu seinem sonst nur schwer begreiflichen,
tollkühnen Vorstoß nach Osten mitveranlaßt haben, dürfte mehr
als wahrscheinlich sein. Vielleicht erklärt sich hierdurch auch
Richards Landung in Zara. Schon damals hat er möglicher-
weise beabsichtigt, auf dem Landwege in nordóstlicher Richtung
durch Kroatien und Slavonien nach Gran zu gelangen. Aber die
feindselige Haltung der ráuberischen Bewohner jener Küsten-
striche, über die auch anderwärts geklagt wird, mag ihn abge-
schreckt und mit seiner kleinen Schar nordwärts auf den ver-
hàngnisvollen Umweg über Wien gedrängt haben. Wilh. Neu-
burg in M. G. SS. XXVII, S. 240, Zeile 13ff: ‚propriam....
celans personam didicit, regem Anglorum hominibus regionis
illius ob necem Conradi marchionis, quae ipsi imputabatur,
esse invisum nec posse ibidem tutum habere hospitium...''
Fünf Jahre spáter z. B. wurden deutsche Fürsten, die zu Schiffe
von Palästina abgefahren waren und von der Ostküste der Adria
aus den Landweg einschlagen wollten, unterwegs auf griechi-
schem Gebiet schándlich behandelt und vollständig ausgeplün-
dert (Gesta ep. Halberstad. in M. G. SS. XXIII, 112)".
B Kleine Berichtigungen zur seitherigen Literatur. — Car-
tellieri, Philipp II. August, III, 27ff. macht Friesach zum Wohnsitz des treuen
Normannen Roger von Argentan und damit auch zu demjenigen Meinhards von Görz.
Es muß aber Görz heißen. Friesach war salzburgisch. Dort hätte der Graf von Görz
nicht ‚medietatem urbis‘ als Preis auf Richards Kopf setzen können, wie dies Cogge-
shal berichtet (vgl. o. 277). — Wilken, Gesch. der Kreuzz. IV, 597, behauptet irr-
tümlich, Graf Meinhards Bruder habe in Friesach geherrscht. — Toeche, Hein-
rich VL, 258 und 561, Z. IV verwechselt die Rollen, die Meinhard und Engelbert
von Górz nach Coggeshals Darstellung gespielt haben, obwohl er sich auf letzteren
beruft. — Pauli, Gesch. v. England, III, 249, macht gar den salzburgischen Mini-
sterialen Friedrich von Pettau zum Grafen, zum Bruder Meinhards und zum Herren
von Friesach. — F. Liebermann in den M. G. SS. XXVII, S. 348, Anm. 4 und 5,
verwechselt die grüflichen Brüder von Görz, verlegt die Görzer Ereignisse nach
Friesach und erklärt demgemäß an Stelle Meinhards von Górz den Ministerialen
Friedrich von Pettau zum Herren Rogers von Argentan. — Vgl auch Hagen in
der Z. f. d. Phill. 38 (1906), S. 32ff.
286 Albert Schreiber
III. Die geheimnisvolle „promissio“ Richards
vom 29. Juni 1193.
Der Vertrag, den Kaiser Heinrich VI. nach viertägiger Ver-
handlung am 29. Juni 1193 zu Worms mit Richard Löwenherz
über dessen Freilassung abschloß, — mehrfach abgedruckt,
z.B. M. G. LL. II, 196 — enthält u. a. folgende Bestimmungen:
Von dem vereinbarten Lósegeld zu 150000 Mark reinen Silbers
nach Kölner Gewicht! werden sofort 100000 Mark geleistet.
Für die Restschuld zu 50000 Mark hat Richard Geiseln zu
Stellen, und zwar dem Kaiser für 30000 Mark 60 Geiseln, dem
Herzog Leopold von Ósterreich aber für 20000 Mark 7 Geiseln.
Nach der Zahlung von 100000 Mark und nach der Stellung der
Geiseln kann Richard frei heimkehren.
„Si autem dominus rex solverit promissionem, quam
domino imperatori de Henrico quondam duce Saxoniae fecerat,
imperator de quinquaginta millibus marcarum regem liberum
dimittens et absolutum, pro ipso rege solvet duci Austriae
viginti millia marcarum, et rex non tenebitur dare duci Austriae
Septem obsides, nec imperatori sexaginta. Cum igitur rex prae-
dictam promissionem de Henrico quondam duce Saxoniae imple-
verit et centum millia marcarum solverit, libere recedet... si
promissio de Henrico quondam duce Saxoniae completa non
fuerit, quinquaginta millia marcarum, quae residua sunt, sol-
ventur infra septem menses, postquam dominus rex in terram
suam redierit...‘
Ferner werden ausdrücklich alle Abmachungen bestätigt und
aufrechterhalten, die in „literis familiaribus" des Kaisers und
des Kónigs sich vorfinden, sofern die Schriftstücke von beiden
Teilen besiegelt sind. Einschlägige Nebenabreden dieser Art
sind uns nicht überliefert.
Der Gegenstand der promissio wird von den beiden vertrag-
schließenden Parteien offenbar aus politischen Gründen geheim-
gehalten. Als späterer Mitwisser kommt Heinrich der Löwe in
Betracht.
Der Kaiser verzichtet auf 50000 Mark, also auf ein volles
Drittel des vereinbarten Lösegeldes, und zwar im Endergebnis
13 [n dem Würzburger Vertrage zwischen dem Kaiser und Herzog Leopold
von Österreich d. d. 14. Februar 1193 war nur von 100000 Mark Silbers die Rede
gewesen.
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 287
zu Gunsten Heinrichs des Löwen, wogegen der letztere dem
Kaiser etwas nicht näher Bezeichnetes, aber zweifellos Gleich-
wertiges zu leisten hat. Da außerdem nach vollzogener Leistung
die 67 Geiseln nicht mehr gestellt zu werden brauchen, muß es
sich für den Kaiser um eine Angelegenheit von großer politischer
Bedeutung gehandelt haben.
Heinrich der Löwe war zur Zeit des Wormser Vertrages so
macht- und einflußlos, daß er eine entsprechende positive
Leistung (Waffenhilfe, Gebietsabtretung u. dgl.) nicht mehr auf-
zubringen vermochte. Auf seiner Seite kann also nur ein Dulden
oder Unterlassen, insbesondere aber ein Verzichten in Frage
kommen. Dafür spricht auch der Umstand, daß die promissio
noch während der Gefangenschaft Richards erfüllbar war.
Denn ihre Erfüllung sollte diesen ja von der Pflicht entbinden,
zwecks Erlangung seiner Freiheit Geiseln zu stellen.
Richards Aufgabe aber bestand darin, die 50000 Mark, die -
er eigentlich dem Kaiser und dem Herzog Leopold schuldete,
seies durch Barzahlung, sei es durch eine gleichwertige Leistung,
seinem Schwager Heinrich dem Löwen zuzuführen und diesen
so für das zu entschädigen, was er dem Kaiser zugestehen
sollte!“.
Am 20 — 22. Dezember 1193 muß die Zahlung der 100 000 Mark
vollzogen und die Erfüllung der promissio in sicherer Aussicht
gewesen sein. Denn an diesen Tagen teilen der Kaiser sowohl,
wie Richard nach England mit, daß Richard am 17. Januar 1194
in Worms oder Speier freigelassen und am 23. Januar 1194 zum
König des Arelates gekrönt werden solle. Lösegeld und Geiseln
werden überhaupt nicht mehr erwähnt, während doch Richard
früher die englischen Großen „humiliter“ um fleißiges Geld-
sammeln und um vorsorgliche Bereithaltung von Geiseln er-
sucht hatte (Hoveden in M. G. SS. XXVII, 161, Zeile 16 u. 55ff.).
Man hatte eben inzwischen bereits „infinitam pecuniam“ ge-
sammelt und den Boten des Kaisers, die in London erschienen,
„maximam partem redemptionis“ überliefert (Hoveden, a. a. O.
166, Zeile 22 ff.). Schon der Wormser Vertrag scheint die Samm-
lung als beendet, oder doch als fast beendet vorauszusetzen,
^ Die verschiedenen Ansichten, die bisher über den Gegenstand der promissio
geäußert worden sind, finden sich zusammengestellt bei Kneller, a. a. O., S. 73ff.
288 Albert Schreiber
denn er regelt gleich in seinen ersten Worten die Abholung des
Geldes: „Dominus Imperator mittet nuntios suos cum nuntiis
Domini Regis, qui Londonias ibunt et ibi recipient 100 na
marcarum.
Als nun aber die Königin-Mutter Eleonore, der an sie ergan-
genen Einladung folgend, nach dem 6. Januar 1194 mit großem
Gefolge in Worms oder Speier eintrifft, zeigt sich ihr ein völlig
anderes Bild: Der Kaiser hat sich bereits vor dem 2. Januar 1194
nach Würzburg begeben. Eine französische Gesandtschaft hat .
seine früheren Entschließungen durch günstige Anerbietungen
ins Schwanken gebracht, so daß er von dem Wormser Vertrage
ganz und gar zurücktreten möchte. Erst den Vorstellungen eini-
ger deutschen Fürsten gelingt es, ihn davon abzubringen. Um
80 rücksichtsloser verlangt er nun aber die genaueste Erfüllung .
des Wormser Vertrages, insbesondere die Zahlung des Lóse4
geldrestes oder die Stellung der dafür ausbedvngenen Geiseln.
SchlieBlich verschiebt er Richards Haftentlassung vom 17. Ja-
nuar auf den 2. Februar 1194. Die Art und Weise, wie nun die
zahlreichen Geiseln in dieser kurzen Zwischenzeit zusammen-
gebracht werden, bezeugt es deutlich, daB man,englischerseits .
mit der Erfüllung der promissio bestimmt gerechnet hatte und.
deshalb auf einen derartigen Ausgang nicht vorbereitet gewesen
war. Hauptsächlich ‚ex nobilibus, qui ad eum ( — regem) visi-
tandum?!’ accesserant", muß der „exactus obsidum numerus“
entnommen werden. Beispielsweise verpflichten sich der Erz-
bischof Walter von Rouen, specialis Angliae justitiarius, und
der Kanzler Wilhelm von Ely, die als geladene Gáste zur Krónung
erschienen sind, für die zunächst fällige Rate mit ihrer Person
zu haften und bis nach geschehener Zahlung in Deutschland zu
verbleiben. Ihnen schließt sich unter anderen ein Prinz von
Navarra an, also ein Schwager Richards. Auch verschiedene
deutsche Fürsten springen in die Bresche und leisten dem Kaiser
Sicherheiten für die Zahlung des Lósegeldrestes (Dict. of National
Biography, 48, 141, 3p. 1). Heinrich der Löwe stellt dem Herzog
Leopold, seinem St; ‚bruder, seine Söhne Otto und Wilhelm als
Geiseln, obwohl et nach dem Würzburger Vertrage (unten
i
15 Rad. de Diceto in M. G. SS. XXVII, 282: ...fiebant crebri concursus epis-
coporum, abbatum, comitum et baronum, aliorum etiam medie manus hominum,
quos desiderium traheb: , videndi regem...
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 289
Anm. 13) dieser Verpflichtung ausdrücklich enthoben ist. Die
| weitischen Prinzen begleitet als Geisel Balduin von Béthune,
der seinerzeit im Dezember 1192 mit noch sieben anderen Rittern
zu Görz auf der Flucht Richards von dem Grafen Meinhard
gefangen worden ist und alsbald nach seiner Freilassung und
Heimkehr seinen gefangenen König von England aus am Rheine
aufgesucht hat!®. Sogar das erst 4jáhrige Söhnchen eines flandri-
schen Adeligen erscheint unter den Geiseln; von den in Deutsch-
) land weilenden Engländern weigert sich einzig und allein der
. Baron Robert von Nonant, ein Anhänger des Grafen Johann
von Mortaigne, für Richard Geisel zu sein, und wird deshalb
| später in England verhaftet.
à
È Endlich, am 4. Februar 1194, naht für Richard „ post multas
L| anxietates et labores" die Stunde der Befreiung. Von seiner
>+ Krönung zum König des Arelates ist aber nicht mehr die
|. Rede. die
j| Das wichtige Ereignis, das zwischen dem 22. Dezember 1193
di und dem 17. Januar 1194 die Erfüllung der promissio vereitelt
er und die gesamte politische Lage von Grund aus verändert hat,
^ ist nun aber nichts anderes gewesen als die alle Welt hóchlichst
ui überraschende Heirat Heinrichs von Braunschweig, des ältesten
ei Sohnes Heinrichs des Löwen, mit Agnes, der Tochter und Allein-
fe 1* Zur rechten Stunde trifft er in Worms ein, während die Verhandlungen über
fr‘ die Sicherstellung des Lösegeldes noch schweben. Als dann Leopold später in Wien
zl droht, für den Fall unpünktlicher Zahlung der Lósegeldraten Geiseln tóten zu lassen
d (Hoveden, IIT, 275), wird Balduin wiederum nach England geschickt, wo es ihm
= gelingt, die stockende Sammlung der geschuldeten Restsumme wieder in Fluß zu
ii bringen. Wie dankbar Richard nach seiner eigenen Freilassung Balduins Verdienste
na anerkannt hat, ergibt sich aus Guillaume le Maréchal V., 10120ff., wo der König
j (| mch seiner Heimkehr im April 1194 folgendermaßen zu seinen Baronen spricht:
. 1.1 E bien sachent petit e grant que Baudevins que ge vei ci De Betune, mon bon ami,
D. Y'a plus valu en ma prison, tant com ge ai esté en prison, e porchacié ma delivrance,
pi di n'en seiez mie en dotance, Itant vos di a la roünde, Que nul hom qui seit en cest
i^ monde; Kar ja ne fusse de prison Eissu, por veir, se par lui non.‘ Wilh. Marschall
Jer var ein Freund Balduins (a. a. O., V., 5879ff.). Ambr se, estoire de la guerre
Jm ;| inte, V. 6429, 6979, 9991, 11429 erzählt von ihm, er ^ Je sich in den Kümpfen
(ur! egen die Sarazenen ausgezeichnet. Balduin ist unter „nen 3000 Rittern, die an
m großen Turnier zu Leigni sur Marne um 1180 teilnahmen, ebenso Wilh. v.
P Etang, der spáter Kónig Richard auf seiner abenteuerlichen Flucht bis Wien
ai^ Btgleitete. (Vgl.o.279). Im Jahre 1194 gab Richard dem treuen Balduin v. Béthune
die Gräfin v. Albemarle (Aumale) und Holderneß zur Gatin. B. starb i. J. 1211.
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 19
290 Albert Schreiber
erbin des Pfalzgrafen Konrad bei Rhein". Wenn auch die
bekannte ausführliche Darstellung, die Wilhelmus Neubrigensis
von diesem eigenartigen Zwischenfalle gibt, manche anek-
doten- und romanhafte Züge aufweist, so dürfte sich doch aus
der Übereinstimmung deutscher und englischer Quellen das
eine mit Sicherheit ergeben, daB hier bráutliche Liebe und
mütterliche Schlauheit über alle politischen Winkelzüge einen
glänzenden Sieg davongetragen haben.
Schon in kindlichem Alter waren Heinrich und Agnes verlobt
und ihre künftige eheliche Verbindung durch eidliches Ver-
sprechen der beiderseitigen Eltern sichergestellt worden (Ann.
Stederb. in M. G. SS. XVI, 227: „juratum matrimonium“;
Braunschw. Reimchronik, 4216ff: „daz echt,... daz so verre
was gelobet und gesvoren“; Wilh. Neubrig. M. G. SS. XXVII,
241, 21f: „contemplatione juramentj olim ...praestiti"...).
Der heftigste Gegner dieser Verbindung war begreiflicherweise
der Kaiser. Da sein ganzes Sinnen und Trachten zu jener Zeit
darauf gerichtet war, durch einen siegreichen Römerzug die
deutsch-sizilianische Erbmonarchie seines staufischen Hauses
zu begründen!®, brauchte er in Deutschland dringend friedliche
Zustände und eine sichere Rückendeckung. Beides wurde aber
ständig durch die welfische Gefahr in Frage gestellt. Als einziger
der deutschen Fürsten hatte Heinrich der Löwe nach dem Zu-
sammenbruche der großen Verschwörung des Jahres 1193 noch
keinen Frieden mit dem Kaiser geschlossen (Hoveden, M. G.
SS. XXVII, 163, Z. 37). Heinrich VI. fürchtete, wie er noch
1194 selbst schreibt, die „ malitia“ des Herzogs, hielt ihn für
,Suspectus' und glaubte, daB er immer wieder zu seinen alten
und stets geübten Gewohnheiten zurückkehren werde. Auch die
treulose Fahnenflucht des jüngeren Heinrich von Braunschweig
bei der Belagerung von Neapel i. J. 1191 und seine tatkráftige
Beteiligung an der großen Fürstenverschwörung waren noch
17 Abel, 23 und 309, sowie Toeche 293 meinen zwar auch, daB die Heirat Hein-
richs von Braunschweig den Aufschub der Freilassung Richards verschuldet hat.
Sie ziehen aber nicht die weitere, entscheidende Folgerung, daB die Verhinderung
dieser Heirat den Gegenstand der promissio Richards gebildet hat.
18 Chron. Ursperg. in M. G. SS. XXIII, 364, Z. 4ff.: lerem vero 100 milia
marcarum sibi ab eodem (= Richardo) data fecit militibus dard soldum et magnum
adunavit exercitum in Apuliam".... Vgl auch Herm. 8 Kaiser-
wahlen und die Entstehung des Kurfürstentums, Leipzig und Be m, 1911, S. 24.
X
*
4
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 291
zu frisch in aller Gedächtnis. Begreiflicherweise suchte der
Kaiser jede Erweiterung der welfischen Macht mit allen Mitteln
zu verhindern. So erklärt es sich z. B., daß er trotz des Wider-
spruchs Heinrichs des Löwen die schwäbischen und italienischen
Besitzungen des alten Herzogs Welf von Altdorf, die dieser 1169
dem Kaiser Friedrich I. vermacht hatte, nach Welfs Tode 1191
in Besitz nahm, soweit sie nicht schon früher den Staufern über-
geben worden waren. So erklärt es sich weiter, daB das Herzog-
tum Steiermark und die reiche Allodialerbschaft der Traungauer
1192 dem Herzog Leopold von Österreich zugewiesen wurden,
obwohl doch Heinrich der Löwe um 2 Grade näher mit dem
Erblasser Ottokar verwandt war (o. S. 271!°). So erklärt sich
endlich auch die Politik, die der Kaiser bei der Verheiratung
seiner Base Agnes befolgte. Die Pfalzgrafschaft bei Rhein in
ihrer damaligen Gestalt, war recht eigentlich eine Schópfung
Friedrichs des Rotbarts, der sie als kostbaren Teil der stauflschen
Hausmacht seinen Halbbruder Konrad verlieh. Agnes, als
alleinige Erbin eines so schönen und reichen Landes, „a multis
impetebatur, ab imperatore ad hoc destinatis" (Ann. Stederb.
M. G. SS. XVI, 227). Insbesondere bemühte sich der Kaiser
„omnibus modis", eine Heirat zwischen ihr und dem Herzog
Ludwig von Bayern zustande zu bringen (Hug. chron. cont.
Weingart. M. G. SS. XXI, 479). Aber alle derartigen Heirats-
pläne mußten an dem beschworenen Verlóbnis scheitern. Denn
nach der Auffassung des damals in erster Linie maßgebenden
kanonischen Rechtes begründeten sponsalia de futuro nicht ein
bloBes obligatorisches Vertragsverhältnis, sondern ein der Ehe
verwandtes Familienverhältnis zwischen den Verlobten, das
ihrer EheschlieBung mit jeder dritten Person als impedimentum
impediens entgegenstand. In Ermanglung eines von den geist-
lichen Gerichten als triftig anerkannten Grundes konnte es
überhaupt nicht einseitig aufgekündigt, sondern nur durch
gegenseitige Einwilligung der Beteiligten aufgelóst werden. Bei
dieser Rechtslage ließen sich die kaiserlichen Pläne nur mit
Zustimmung Heinrichs des Lówen verwirklichen, der als wel-
1* Da die Steiermark mit ihren verhältnismäßig bequemen Alpenpässen eine
wichtige Brücke zwischen dem Regnum Romanum und dem Konigreich Sizilien
bildete, mußte dem Kaiser viel daran liegen, sie in unbedingt zuverlässigen Händen
zu wissen.
19*
292 Albert Schreiber
fisches Familienhaupt zu den ehemaligen eidlichen sponsores
gehörte.
Für die unerläßlichen Verhandlungen mit ihm war nun der
Kaiser, wie er selbst fühlen mochte, die allerungeeignetste
Persönlichkeit. Er rief deshalb die guten Dienste Richards
an, der die Rolle des Vermittlers, wenn auch anscheinend
erst nach längerem Widerstreben, übernahm und nach besten
Kräften durchzuführen versprach. Außer der ‚‚dissipatio“
der dem Kaiser höchst unerfreulichen Verlobung umfaßte
vielleicht die promissio noch einen weitern Punkt, der für den
Kaiser und den Herzog Leopold von Österreich besonders wichtig
war, nämlich den Verzicht Heinrichs des Löwen auf die steirische
Erbschaft (o. S. 271f.). Wegen der Herzogtümer Bayern und
Sachsen dagegen, an die manche gedacht haben, bedurfte es für
den Kaiser keines Verzichtes mehr, nachdem sie seinerzeit dem
Löwen durch rechtskráftiges Urteil des zuständigen Gerichtes
aberkannt worden waren.
Wie es scheint, haben Richards Bemühungen bei seinem
Schwager Erfolg gehabt. Dafür spricht vor allem die o. S. 287
bereits erwähnte Tatsache, daß englischerseits die Geiselstellung,
wodurch die promissio im Falle ihres Fehlschlagens ersetzt
werden sollte, am 17. Januar 1193, dem ersten Freilassungs-
termin, überhaupt nicht vorbereitet war. Sodann dürfte der
beschwerliche Ritt in winterlicher Zeit, den der 60jährige Pfalz-
graf bald nach der Hochzeit seiner Tochter nach Braunschweig
zu Heinrich dem Löwen unternahm, ein ziemlich sicheres Zeichen
dafür sein, daß der letztere den kecken Streich seines Sohnes
keineswegs guthieß, sondern erst durch den Pfalzgrafen mit den
Neuvermählten und der Pfalzgräfin Irmingard versöhnt werden
mußte. Wäre damals nur eine Ladung Heinrichs vor den Kaiser
zu überbringen gewesen, so hätte man sich wohl eines anderen,
jüngeren Boten bedienen können.
Auch v. Heinemann, Heinr. v. Braunschweig, 38, Anm. 1,
nimmt an, daB Heinrich der Lówe die eigenmáchtige Handlungs-
weise seines Sohnes mißbilligt hat. Vermutlich waren durch sie
gewisse vorteilhafte Abmachungen, die er mit seinem Schwager
Richard über die Erfüllung der promissio getroffen hatte, durch-
kreuzt worden. Endlich ist hier daran zu erinnern, daB Heinrich
seine Söhne Otto und Wilhelm dem Herzog Leopold v. Öster-
Drei Beitrr. z. Gesch. der deutsch. Gefangenschaft des Königs Rich. Löwenherz 293
reich als Geiseln gestellt hat, obwohl er nach dem Würzburger
Vertrage (o. S. 286, Anm. und S. 288) dieser Verpflichtung aus-
drücklich enthoben war. Dieses Entgegenkommen des sonst so
unnachgiebigen Löwen läßt das Vorhandensein ganz besonderer
Beweggründe bei ihm vermuten.
Nach dem Gesagten durfte um die Jahreswende 1193/94
Richards Freilassung in Gemäßheit des Wormser Vertrags
erwartet werden, als plötzlich der König von Frankreich durch
seine Winkelzüge, insbesondere aber durch seine Werbung um
Agnes eine völlige Wendung der Dinge herbeiführte??, Was der
Kaiser aus politischen Rücksichten „gratanter“ begrüßte und
gleich dem Pfalzgrafen als glänzende Verbindung des staufischen
Hauses ansah, das erregte begreiflicherweise im Hinblick auf die
schändliche Behandlung der armen Ingeborg, Philipp Augusts
zweiter Gemahlin, bei dem weiblichen Teile der pfalzgräflichen
Familie den größten Abscheu. Rasch entschlossen stellte die
willensstarke Hennebergerin?! um Neujahr 1194 ,,propter eventus
ancipites'' nicht nur den Pfalzgrafen, ihren Gatten, sondern auch
den Kaiser samt seinem ganzen Fürstenrate und der französi-
schen Gesandtschaft vor eine vollendete Tatsache. Die Erfüllung
der promissio Richards war damit endgültig vereitelt. Wie
heftig der Kaiser deswegen erzürnt gewesen ist, beweist sein
Verhalten gegen alle, die er im Verdacht hatte, an diesem Fehl-
schlage beteiligt gewesen zu sein. Der Pfalzgraf konnte ihn nur
mühsam besänftigen und durch Ablegung eines Eides von seiner
Unschuld überzeugen. Richard Löwenherz und Heinrich der
Löwe aber mußten sich zu Sicherheitsleistungen verstehen, die
noch über den Rahmen des Wormser Vertrages hinausgingen.
Die Geiseln hatten nunmehr nicht nur für die richtige Zahlung
des Lösegeld-Restes?? zu haften, sondern auch ,,de pace servanda
9 Laut Guillaume Maréchal, a. a. O., V. 11518ff. sagte Richard nach seiner
Befreiung zu dem Kardinal Peter v. Capua: „. . tant a fait li reisde France Envers
mei mal et mesprison, E mist conseil en ma prison E en mei tenir longement, E en
mon desheritement A lonc tens tendu e tendra".
*. Philippson, Heinrich der Löwe, 541 und Namenregister dazu S. 645, macht
Irmingard irrtümlich zu einer Gräfin von Hennegau. Sie war aber die Tochter Bertholds
von Henneberg nach v. Bibras Stammtafel im Arch. d. hist. V. für Unterfranken und
Aschaffenburg 1879, 25. Bd., 2. u. 3. Heft.
? Noch vor dem Schlusse des Jahres 1195 war diese Schuld völlig geordnet,
3o daß die Geiseln freigelassen werden konnten. Toeche, 3691.
294 A. Schreiber: Drei Beitrr. z. Gesch. d. dtsch. Gefangensch. d. Königs R. Löwenherz
Imperatori et imperio suo et omni terrae suae dominationis“,
(Hoveden bei Bouquet XVII, 563), „pro reliquis articulis con-
ventionis solvendis‘‘ (Ansbert 121), „sive etiam pro quorundam
fide pactorum" (Wilh. Neubrig. Cap. 40 f.). Die welfischen
Prinzen Otto und Wilhelm kamen in den sicheren Gewahrsam
des Kaisers und Leopolds von Osterreich. Ihr ältester Bruder
aber, der neuvermählte Heinrich, erhielt zwar Ende Januar 1194
die Verzeihung des Kaisers, jedoch nur unter der Bedingung,
daß er sich an dem italienischen Feldzuge des Kaisers beteiligte.
Erst nach solchen Zugeständnissen gelang es Mitte März 1194
auf dem Sühnetage von Tilleda wieder einmal einen kurzen
Frieden zwischen Staufern und Welfen zustandezubringen.
Ergebnisse.
I. Der Bannerstreit von Akkon ist nicht die Ursache, sondern
eine Folge der zwischen Richard Löwenherz und Leopold von
Osterreich schon länger bestehenden Feindschaft gewesen. Als
Grundursache der letzteren sind die bedeutenden Schädigungen
zu betrachten, die Richards Schwager Heinrich der Löwe durch
das babenbergische Haus erlitten hat: der Verlust des Herzog-
tums Bayern i. J. 1142, bzw. eines Teiles desselben i. J. 1156,
sowie der weitere Verlust der Erbschaft Ottokars von Steier-
mark i. J. 1180.
II. Richard ist keineswegs als Abenteurer planlos von der
Adria nordöstlich gezogen und schließlich durch einen Zufall
nach Erdberg bei Wiengeraten. Sein Reiseziel ist der Hof König
Belas von Ungarn zu Gran (Strigonia) gewesen, das von Wien aus
auf der Donau leicht und rasch erreichbar war. Dort durfte er nicht
nur für seine Person Schutz und Sicherheit, sondern auch für
seine welfenfreundliche und stauferfeindliche Politik Verständnis
und Förderung erhoffen. Die Heimreise nach England hätte er
von Ungarn aus durch Mähren, Böhmen und Sachsen bewerk-
stelligen können.
III. Das geheimnisvolle Versprechen, das Richard dem
Kaiser „de Henrico quondam duce Saxoniae“ am 29. Juni 1193
zu Worms gab, hatte vermutlich einen Verzicht des letzteren
zum Gegenstande, und zwar auf den Vollzug des matrimonium
juratum seines áltesten Sohnes Heinrich von Braunschweig mit
Agnes, der Erbtochter des rheinischen Pfalzgrafen Konrad.
295
Lateinische Verseinträge in einem V ocabular
des 15. Jhds.
(cod. Frankfurt a. M., Barthol. 136).
^w
Von
Hans Walther.
Das Vocabular der Hs. 136 der ehemaligen Dombibliothek
zu Frankfurt a. M.! ist in einer ziemlich flüchtigen und groben
Kursive von einer einzigen Hand geschrieben. Es ist eine Papier-
hs. von 409 Bll., 15,5 & 21,5 cm, mod. Blattsignierung mit Blei-
stift, in Holzdeckel mit gepreBtem, dunkelbraunem Lederüber-
zug, dessen Schließen abgerissen sind. Die Perg.-Schutzbll.,
gram. Text, etwa s. XIII. ex. Zur Datierung und Lokalisierung
helfen folgende Eintragungen: f. 23' (v. Schreiber d. Voc.) Annus
jubileus est annus gratie. p. ein genadereich jar. Paulus II. papa
instituit in 25. anno et 1475. f. 4087: Anno domini millesimo
quadringentesimo septuagesimo sexto obiit dominus Michael
Rotel, predicator Cubitensis capellanus fraternitatis, publicus
notarius; orate pro anima ipsius et tandem pro domino Wenzes-
lao Scherfen, plebano in Kungsuurd, quicumque in futuro tem-
pore erit possessor istius libri, propter deum et retributionem
omnium bonorum. Diese Notiz und eine Bemerkung über einen
ungewöhnlichen Schneefall zu Mariae Verkündigung 1477 (f. 409")
rühren von anderer Hand her. Es ist anzunehmen, daß die Hs.
im Jahre 1475 geschrieben wurde und daß die zahlreichen Zusätze
verschiedener Hände in den unmittelbar darauffolgenden Jahren
vorgenommen wurden.
Das Vocabular unterscheidet sich kaum wesentlich von den
zahllosen anderen Glossaren der Zeit. Es beruht — soweit ich
I Pank der Liebenswürdigkeit der Verwaltung der Stadtbibliothek konnte ich
die Hs. Aug. 1930 im Lesesaal der Bibliothek und darauf längere Zeit an der UB.
Göttingen studieren.
296 Hans Walther
feststellen konnte — hauptsächlich auf Papias und Hugucio.
Besonderes Interesse hatte der Sammler für die hebr. Eigennamen
der Bibel und für botanische und medizinische Ausdrücke. Aus
zahlreichen Neubildungen und Bedeutungsentwicklungen scheint
mir bestätigt zu werden, daß die lat. Sprache im MA. in gewissem
Umfange als Umgangssprache diente. Wegen der spezifisch
mittelalterlichen Färbung des enthaltenen Wortschatzes dürfte
auch dieses Glossar, auf das hier nicht näher eingegangen werden
soll, ein gewisses Interesse beanspruchen können; es beginnt,
da f. 1 mit allerlei Versen bedeckt ist, auf f. 2" Aaron magnus
vel fortitudo interpretatur... Vor jedem Artikel ist Wortart
und grammatisches Geschlecht mit Anfangsbuchstaben ange-
geben. Manche Übersetzungen sind seltsam, einige offensichtlich
falsch. Die etymologischen Erklärungen bewegen sich in den-
selben Bahnen, wie man es auch sonst im MA. gewohnt ist; ich
führe als Beispiele an: f. 56" Caribidis* est locus periculosus
in mari et quasi carinas abdens i.e. naves abscondens; f. 336'
Roma interpretatur tonitruum, tristis, merens vel sublimis et
est civitas capitalis, ubi residere dicitur apostolicus, etiam quasi
rodens manus peregrinorum; dazu die Verse: Versus (versa Hs.)
amor mundi caput est sive (sum Hs.) bestia terre. Amor, um-
gekehrt Roma! clm 10751 f. 74" statt sive] et; vgl. Hist. Jb. d.
Gg.47,496. Von a. Hd. sind weitere Roma-Verse zugefügt:
Curia Romana non querit ovem sine lana,
Dantes exaudit, non dantibus hostia claudit.
Über den ziemlich verbreiteten Spruch und ebenso den folgenden
wird der demnáchst erscheinende 2. Bd. der neuen Carm. Bur.-
Ausg. (ed. Hilka-Schumann) unterrichten.
Roma manus rodit; quas rodere non valet, odit.
Und die folg. Casusspielerei:
Accusative si Romam ceperis ire,
Veneris (veris Hs.) in nichilo, si veneris absque dativo.
Gedr. v. Zingerle, WSB. 54, 316 u. Grauert, Magister Heinrich,
der Poet v. W. S. 106, findet sich auch bei Salimbene (MGH.
SS. 32, 227) und cod. Tours 890 (x. XII.) f. 727; vgl. auch Hist.
Jb. d. Gg. 47, 497; eine dreizeil. Fassung im Anzeiger f. Kunde
d. d. Vorz. 20, 101; noch erweitert im elm 107651 f. 577:
* Ich behalte die Schreibung der Hs. bei; durch Sperrung hebe ich das Stich-
wort hervor, unter dem der betr. Vers usw. im Vocabular eingetragen ist.
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 297
Accusativus Rome perit absque dativo,
Aut accusetur aut accusare laboret,
Proficit in neutro nisi subveniente dativo;
Rex et papa favet, favet et patriarcha dativo,
Judex justus erit; „nequeo“ vel ,,nescio'' dicit,
Accusativus si venerit absque dativo.
Bemerkenswert kühn ist die Orthographie des Schreibers; ich
führe nur einige besonders markante Beispiele an, wobei ich die
gewöhnlichen ma. Eigentümlichkeiten übergehe: Acaris- acharis
(non gratiosus), achatemia — academia (villa Platonis, in qua
studuit), agonisare —-izare (häufig!), anichalare = annihilare
(auch sonst auffallend háuflg Konsonantenvereinfachung bzw.
-Verdoppelung und Unsicherheit in den Vokalen der unbetonten
Silben), athramen — atr... nigredo (wdh. th für t), bapharia —
Bavaria (überhaupt oft Wechsel von f, ph und v: fallis — vallis),
bestvalia =Westfalia (b — v öfter, allerdings auch in der Schrei-
bung ähnlich), discregare = disgregare = dispergere (nicht ver-
einzelt), enerchia — energia, fescidudo — fessitudo — lassitudo (das
d wohl nur verschrieben, allerdings wiederholt), kathervarius —
caterv. = princeps in turba, prossus = prorsus, scissitare =
scisc., sciren = Sirene, sevirus=zephyrus; besonders kühn sind
natürlich die Schreibungen der aus dem Griechischen und Hebrä-
ischen stammenden Wórter und Namen. Einen Hinweis ver-
dient die höchst seltsame Kürzung xpa = christa = signum galee.
Indessen nicht dieses Vocabular erweckt so sehr das Interesse,
sondern die zahlreichen Verse, die verschiedene Hände über die
ganze Hs. verstreut?, zu den einzelnen Artikeln des Vocabulars
als Beispiele und zur Einprägung hinzugesetzt haben, z. T. ist
es dieselbe Hand, die auch einzelne Wörter samt den Erklärungen
bzw. Übersetzungen am Rande und zwischen den Zeilen nach-
getragen hat. Die Hauptmasse dieser Verse sind Sprichwörter,
2. T. bekannte, z. T. unbekannte, vorwiegend spätma. Weisheits-
gut; ich habe sie vollständig kopiert und werde später darauf
zurückkommen; es zeigen sich besonders Beziehungen zu den
Sprüchen, die J. Klapper kürzlich veröffentlicht hat (Die Sprich-
wörter der Freidankhss. Breslau, 1927.), ferner zu der öfter
em scharfen Auge Lorenz Dieffenbachs, der die Hs. in dem hs. Katalog
der Hss. der Stadtbibliothek beschrieben hat, ist diese Tatsache entgangen; er sig-
nalisiert nur die Gedichte und Verse, die dem Glossar auf f. 409 u. 410 angehängt sind.
298 Hans Walther
gedruckten Sammlung ,,Sententiae proverbiales de moribus. . .'*,
z. B. Basileae, 8. a. (1568), Oporin, und zu einer von mir kopierten
Spruchsammlung einer Kremsmünsterer Hs.; seltener begegnen
Übereinstimmungen mit den Sprüchen einer Wiener Hs. und
den in Müllenhof-Scherers Denkmälern abgedruckten Sprich-
wórtern. Eine zweite umfängliche Gruppe von Versen sind
medizinische und botanische Merkverse, zum allergeringsten
Teil der — im MA. sonst für diesen Zweck verwendeten —
Schola Salernitana (ed. S. de Renzi, Neapel, 1859) entnommen;
anscheinend liegt für sie eine andere, mir nicht bekannte Quelle
zugrunde. Ebenso zahlreich sind etwa die Verse grammatischen
Inhalts zur Einprägung der Etymologien, der prosodischen
Längen und Kürzen usw.
Nicht auf diese drei Gruppen wollte ich hier die Aufmerksam-
keit lenken, sondern auf eine Reihe von Versen, die mir aus ver-
schiedenen Gründen beachtenswert erscheinen. Auf f. 63" liest
man die folgenden Zeilen:
O, tu pincerna, qui cervisie dominaris,
Quod confundaris,si das, quod conglomeraris (quid gloriaris Hs.)!
Si das ,,Quicumque'', diabolus fundat utrumque!
Ibis (plus Hs.) ad astra poli per das „Me tangere noli“.
Cervisiam (cervisia Hs.) lente, vinum infunde repente!
Zur Deutung: , Quicumque" (Cuicumque?) und ,,Me tangere
noli" dürften scherzhafte Bezeichnungen für Weinsorten sein;
möglicherweise steckt auch eine solche in dem „quid gloriaris“,
da dann das „fundat utrumque“ besseren Sinn ergeben würde;
aber die Hs. hat „confundat“, in welchem Sinne auch das von
mir eingesetzte „fundat“ zu verstehen ist, „utrumque‘ bezieht
sich dann auf den pincerna und die von ihm verschenkte schlechte
Weinsorte „Quicumque‘; die Hs. hat allerdings, wie gesagt
confundat", doch glaube ich, daß dieses versehentlich aus der
vorhergehenden Zeile hineingeraten ist (Kürzung), da sonst die
beiden Verse fehlerhaft wären. Weswegen ich diese Verse aber
hier mitteile, das ist nicht der Inhalt, sondern die Überschrift
„Vagus“. Die mannigfachen Versuche, die in letzter Zeit zur
Bestimmung des Begriffes „Vagantenlyrik“ gemacht worden
sind (ich erwähne nur die Arbeit von B. Jarchow, Die Vorläufer
des Golias, Speculum 3, 1928, 523—79, und die Ausführungen
O. Schumanns in der Einleitung zu der eben erschienenen neuen
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 299
Ausgabe der Carmina Burana (Heidelberg, 1930, S. 82ff.), be-
rücksichtigen m. E. zu wenig die hs. Überschriften, die bestimmte
Erzeugnisse ausdrücklich mit ,,vagus, scolaris, Golias (u. Ab-
wandlungen dieses Sammelnamens)“ u. à. bezeichnen; es wäre
wichtig, solche hs. Zeugnisse einmal zu sammeln, vielleicht
würde sich dann doch ergeben, daß man besser dichtende Uni-
versitätsprofessoren, wie Walter von Chatillon, elegante Hof-
dichter, wie Henry v. Avranches, u.a. überhaupt nicht mit
dieser Literatur in Verbindung bringt. Von Versen der Hs. aus
der Sphäre des Vagantenlebens erwähne ich nur einiges: f. 13":
Dum alauda canit „zirzir“, scolares currunt „pirpir“,
wo ,pirpir'" anscheinend das Fortschwirren lautmalerisch zum
Ausdruck bringen soll. Hierzu gehóren auch die Bettelverse,
von denen unsere Hs. einige Beispiele bietet; f. 61": Qui mihi
dat cenam sine potu, dat mihi penam, ohne Var. auch in clm
10761 f. 11" u. in Wolfenbüttel, Helmst. 529; auch bei J. Werner,
Lat. Sprichw. S. 77. Zu vergleichen ist in unserer Hs. f. 118“:
Qui mihi dat potum cum esca, dat mihi totum, worauf (als
Antwort ?) folgt: Esca datur gratis, mos est, ut potum ematis
(potum ut Hs.).
Die reinen Trinkverse berücksichtige ich hier nicht, nur
soweit um einen Trunk gebettelt wird; f. 394':
Vivat in eternum, qui dat potare valernum(!),
Qui mihi dat villum, deus autem destruat illum!
Der 2. V. begegnet unten f. 399" noch einmal; die beiden Verse
auch in Göttingen, Lüneb. 2 f. 22575, wo v. 1. potare] mihi dulce,
v. 2. Satanas male torqueat i.; vgl. a. Sent. Prov. l. c. S. 171 u.
Medulla facetiarum... Stuttgart, 1863, Nr. 340.
f. 93": Qui dare vult aliis, non debet dicere ,,vultis?''; Hoc
verbum „vultis?“ nocet sepissime multis; dessen 1. V. häufiger
überliöfert, z. B. J. Werner, Sprichw. S. 77.
f. 99": „Do“ plus letificat, quam si quis bis „dabo“ dicat.
(oder: „bis dabo“ ?) Var.:signiflcat, Göttingen, Lüneb. 2 f. 228'*,
u. magnificat, J. Klapper l. c. 148.
f. 100": Audio sic dici: donando simus amici! J. Werner,
l.c. 8.6: dando retinentur a.
f. 146' u.“: Frigora grandia sunt mala gaudia veste carenti;
wörtl. auch cod. Kremsmünster 81 f. 84”.
f. 308": Subvenias, presul, quoniam sum pauper et exul.
300 Hans Walther
f. 365°: Omnia prebentem spernit, qui spernit egentem.
Auch bei Werner, I. c. S. 66 u. J. Klapper, I. c. 419.
f. 402°: Vivere de vento quemquam non posse memento!
Aber nicht nur diese Bettelverse und die mannigfachen
Sprüche über das Poculieren führen zu der Vermutung, daB
Schüler dies Vocabular benutzt haben, sondern auch die Verse
über medizinische Dinge, über Kräuter und Tiere, die gewählten
Beispiele für grammatische Regeln und Wortbedeutungen liegen
in der gleichen Richtung, ja, die getroffene Auswahl der berück-
sichtigten Wórter im Glossar legt die Vermutung nahe, daB es
von einem Scholaren angelegt ist. Denselben Geist zeigt etwa
ein Tintenrezept, f. 402", überschrieben „Incaustum“:
Uncia sit galli, media pars (sit) quoque gummi,
Tercia vitrioli, quantumvis sume valerni!
auch in Göttingen, Jurid. 152 (s. XIV.) f. 1* (m. Var.).
Um auf das ,,Vagantenproblem'' nochmals zurückzukommen:
noch ein anderer Weg zur Aufhellung scheint mir bisher nicht
genügend begangen zu sein. Es müßten die zahlreichen ma.
Glossare unter den in Betracht kommenden Stichwórtern einmal
planmäßig verglichen werden. Ich stelle im folgenden einiges
aus unserer Hs. zusammen, ohne auf die Erklärungen anderer
Glossare einzugehen:
f. 12" agula dicitur leccator, leno vel ioculator vel a gogula
quasi agens gulam. — f. 17 ambrones ...homines divagantes
et leccatores, etiam ab am, i. e. circa cum prosis cibus. — f. 25"
apparitores vel apparatores ...ioculatores... — f. 30“ arde-
lio, -onis ...leccator nequam vel ioculator, quasi ardens in
alienis, scil. lingendo scutellas alienas et habens amorem ad
meretrices. — f. 42" balo, -onis dicitur leccator inutiliter
clamans et balans ante mensas dominorum et cibaria eorum
devorans. — f. 44" beanus dicitur leccator pauco tempore in
studio existens, malos et grossos mores ad modum bestie habens.
— f. 48" bolinus ...leccator multa garrolans(!), ein herolt.—
f. 65° circumcellio ...monachus, qui semper circum cellas
vagatur et spaciatur et potest dici monachus vagus. — f. 87"
degulus ...leccator vel mimus. — f.158' gesticulator
...loculator vel portator. — f.164' guliardus ...leccator
quasi ardens in gula. — f. 168" heroldus ...vagus, ein herolt
(s. O. l). — f. 171” hystrio, i. e. leccator vel ioculator vel sal-
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 301
tator, qui gesta mulierum impudicarum et fabulas exprimit. —
f. 200" istrio ...leccator... ab is et sto, quia solet instare
mensas dominorum. — f. 196" iocista, ioculator, iocularius
...idem significant. — f. 2197 ludius ...histrio, qui semper
ludit. — f. 237 mimus ...est leccator vel ioculator. — Fallitur
ile nimis, qui dat sua munera mimis. Und von a. Hd.: Mimis
dona dare thus est dare demonis are. — f. 249" nebulo, -onis
...leccator gulosus, qui est vanus in verbis, qui potest mul-
tum comedere (Franci nebulones? Völkerspott? ?). — f. 275"
panthominus (), panthonomus ...leno, ioculator. —
f. 27771 parasitus ...histrio vel leccator, para —iuxta, situs =
venter(!). — f. 849" scurra ...serviens vel comes Sa sequor et
curia, quasi sequens curiam vel quasi scutellam radens. scurror
.. irrisor sive leccator, qui aliquem sequitur causa cibi vel potus.
Im folgenden gebe ich noch einige Beispiele aus dem 2. Teile
der Hs., die mir der Welt der „Vaganten‘ zu entstammen schei-
nen:
f.118': Bursa carens ere nequit inter vina sedere. o. Var.
bei Werner, I. c. S. 7, u. ö. —f. 128°: Est monachus fabas, dum
pisces comedit abbas. Auch Erlangen, UB. I, 49 f. 132" (gedr.
Katal.) u. ö. —f. 1427: Fons valet oranti, cervisia grata cubanti,
Vinum studenti, medo quoque basea(!) danti. — f. 143': For-
mosior stella me diligit una puella, Non est in villa, que sit
speciosior illa. Auch (fehlerhaft) f. 318'. — f. 172“: Est hospes
mitis „Vos fratres, unde venitis? Hic bibat, hic comedat, qui
vult, sed postea solvat!“ Auch Vat. Pal. Lat. 719 (s. XV.) f. 23",
wo v. I. vos f. ] recipit vos. — f. 172": Hostia sunt clausa
dominorum non sine causa, Nam timent dentes potantes esu-
rentes, M. Var. bei Werner, l. c. S. 67. — f. 303°: Omnibus
est notum, quia maxime diligo potum ; Si possem, pellem pro
potu ponere vellem. M. Var. cod. Wolfenbüttel, Aug. 2792
(3. XV.) f. 180°, gedr. Sent. prov. l.c. S. 107 u. Medulla fac.
Nr. 194. — f. 309“: Quatuor hii fari bene possunt atque iocari
In mensa: princeps, doctor, ioculator et hospes. — f. 348°:
Quidquid voraris sub paupertate scolaris, Non est delictum,
per Paulum sit tibi dictum. Ist gedacht an Gal. 6, 1ff.? —
[.348': Ignes solares faciunt resilire scolares. — f. 3497:
Scribere qui nescit, nullum putet(!) esse laborem; Tres digiti
scribunt totum corpusque laborat. Ein häufig begegnender
302 Hans Walther
Schreibervers. — f. 400°: Cum duo sunt vina, mihi de meliori
propina! Ebda.: Dumbibo vinum,loquitur mea ligwa latinum,
Dum bibo cervisiam, tunc perdo philosophiam. In umgekehrter
Reihenfolge auch f. 248". Habe ich auch notiert aus Wolfen-
büttel, Helmst. 1140 (s. XV.) f. 4". Man wird erinnert an Archi-
poeta III, 4f. (ed. M. Manitius, 2. Aufl. München, 1929, S. 26f.).
Mógen diese Beispielsverse zugleich einen Eindruck vom
Wesen der hier vorliegenden Sprüche vermittelt haben! Die
zahlreichen Frauenverse (contra feminas), die wenigstens zu
einem guten Teil auch in den Kreisen der Fahrenden heimisch
sind, habe ich hier ebenso übergangen wie die reinen Potatoria,
da ich sie bei Gelegenheit in dem gehórigen Zusammenhange
veróffentlichen werde. Aber in den Kreis dieser Vagantenverse
gehóren auch gewisse Verse des Primas, über dessen Dichtungen
Wilhelm Meyers grundlegende Arbeit zu vergleichen ist: Die
Oxforder Gedd. des Primas, Magister Hugo v. Orleans. Nachr.
d. Gött. Ges. d. W. ph.-h. Kl. 1907, 765—111, 113—765. f. 227
(auch f. 226', wo falsche Reihenfolge) steht in unserer Hs. das
bekannte Gespräch mit seinem Mantel:
O, bone mantelle, sine pilis et sine pelle,
Si potes, expelle frigus rabiemque procelle!
Dixit mantellus: ,,Mihi nec pilus est neque vellus,
Complerem iussum, sed Jacob, non Esau sum“.
Dazu f.50': Prespiterum struma, fex cleri, sordida spuma,
Prebuit in bruma michi mantellum sine plumas.
Die Überschrift „Primas“ trägt f. 159" der folgende Vers:
Me frigus cogit, proprio crescit in agro gith. Ich habe den Vers
sonst nirgends feststellen kónnen, auch bei W. Meyer findet er
Sich nicht, soviel ich sehe. Er steht auch f. 307" in unserer Hs.,
an beiden Stellen zu „gith“ die Glosse „thurt“ (gith wohl von
jeten=Unkraut; die Gl. jedenfalls = lolium). Dagegen trifft
man den Vers (f. 309): „Quid facis hic, Primas?“ „Lego
stramen, obstruo rimas!“ auch unter den von W. Meyer l. c.
S. 118 besprochenen Versen.
* Bei W. Meyer l. c. S. 115f. stehen die Verse in etwas abweichender Fassung;
vgl.auch meinen Nachtrag aus einer Erfurter Hs. (Mittelalterl. Hss. Festgabe f.
Herm. Degering, Leipzig, 1926, S. 313).
5 W. Meyer, I. c. S. 115; Festg. f. Degering, S. 313.
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 303
Im Zusammenhang mit dem Primas scheinen mir auch die
Verse zu stehen, die mit „Petre, quid est...“ beginnen. Hier
steht f. 396' der folgende: „Petre, quid est venter?'' „Pelles
mendica frequenter!“ Sollte es sich dabei um eine Art von
Schülerspiel handeln, bei dem der eine Schüler die erste Hälfte
des Hexameters sagte, der zweite die reimende zweite Hälfte
finden mußte ? Ich habe 6 solcher Verse aus der schon erwähnten
Erfurter Hs. mitgeteilt (Ma. Hss. 1. c. S. 313). Der obige jetzt
auch bei J. Klapper, 1. c. 451. Ich kann heute noch einen wei-
teren aus der mehrfach zitierten Hs. clm 10 751 f. 43" hinzufügen:
Petre, quid est nequam? Qui normam non tenet equam!
Um die Mannigfaltigkeit der Verseintráge der Hs. zu kenn-
zeichnen, teile ich im folgenden noch einiges mit, das vielleicht
im Zusammenhang mit bereits Bekanntem oder auch als Novum
zu interessieren vermöchte. Zunächst drei Reisesegen in Versen:
f. Ir (rhythm. ): Jesus Christus cum Maria
sint nobiscum in hac via,
ut eorum in virtute
transeamus cum salute!
f. 228": Per mundi maria nos perduc, Virgo Maria! —
Ebda.: Dum transis maria, cane sedule „Virgo Maria''!$
Merkwürdige Regeln für die Behandlung von Gastfreunden
geben einige andere Verse, f. 18":
Hospes amice veni, sed tempore non tamen omni;
Semel, bis vel ter tibi do (do tibi Hs.) prandere libenter,
Si velles, frater, tibi continuareque quater,
Frater dilecte, si vis discernere recte,
Porta quid tecum, si vis comedere mecum!
In V. 1 fehlt tamen in der Hs., korrigiert nach J. Werner, I. c.
8. 37, wo nur dieser Vers und als 2. V.: Bis vel ter venias: sic
Satis esse scias. Entstellt in unserer Hs. f. 57", 2 V.:
Amice care veni non tempore omni,
Si venis bis vel ter, dabo prandere libenter".
l. 57“: Cas eus est carus, dixit quidam (mihi?) semper avarus,
Non importetur, nisi festa dies celebretur. Basel. UB. A. XI, 67
— —
' Zu dem ersten der beiden Hexameter vgl. Florilegium Gottingense Nr. 83
(Roman. Forsch. 3, 1878, 2811f).
’ In sehr viel besserer Form (3 Dist.) abgedruckt bei J. Werner, Beiträge...
Aaa, 1905, S. 158.
304 Hans Walther
(die von J. Werner, Sprichw. benutzte Hs., dieser Spruch vonW.
nicht mitgeteilt) f. 1327 hat V. 1 quidam dicebat avarus, V. 2
Non incidatur, nisi festa dies comitatur. Steht auch in Oxford,
Bodl. Laud. Misc. 465 und in den ,, Altniederl. Sprichwörtern.
hrsg. von Hoffmann v. Fallersleben, Hannover, 1854, 448.
Von den zahlreichen Versspielereien und Scherzen mógen
auch einige Beispiele angeführt werden. An Blasphemie grenzen
die folgenden Spielereien, deren Form im MA. sehr beliebt war:
f. 82": Traditor est Cristus Joseph pater eius adulter,
Judas est sanctus justus deus et maledictus.
Während diese Verse mir sonst unbekannt sind, sind die ff. häufig
überliefert, allerdings ohne den V. 3 (vgl, z. B. Werner, I. c.
S. 20); f. 94“: Dilige luxuriam, vicium cole, destrue sanctos,
Virtutem fuge, sperne deum, Sathan venerare! Si tu sic vivis,
nunquam mala morte peribis; in der letzten Zeile die 3 letzten
Wörter gestrichen und ersetzt durch: salvus eris. Eine unglaub-
lich obszöne Blasphemie auf f. 49' übergehe ich. Ein Scherz,
der auch in Bern 211 (s. XV.) f. 127" mit geringen Abweichungen
sich findet, steht f. 208' (dies im Text des Vocab.): Inde dicebat
dyabolus quidam monacho:
Super latrinam non debes dicere primam.
Et monachus:
Purgo meam ventrem, colo deum omnipotentem;
Hoc deo, quod supra, sed hoc tibi, quod cadit infra.
Bern fügt hinzu: Hic et ubique deo possum servire meo. (vel
deum colere p. meum.). f. 897: Demon sedebat, bracam cum
reste suebat; Si non est pulchra, tamen est consutio firma;
o. Var. in clm 10751 f. 18', in erw. Form (7 V.) in Zeitz, Dom-
herrnbibl. LXI (s. XIV.) f. 120. — Einen VergeBlichen scheint
zu verspotten, f. 237': Les sua mi stultus calcaria viscitur obli.
— miles obliviscitur.
Parodie auf die beliebten „Liebesgrüße“ mit „quot —tot“
(vgl. meinen Aufsatz in d. Zeitschr. f. dt. Altert. 65, 1928, 257
bis 89 u. 66, 68; das dort gebotene Material läßt sich verviel-
fachen) liegt wohl ziemlich sicher in dem folg. Verse vor, über
dem ich lange getüftelt habe, das Ergebnis will ich nicht vor-
legen, f. 291“: Alpi pen ca bas tot habet in nas quot habet gras.
Diese Sprüchlein sind also schon lange vor den Dunkelmänner-
briefen verspottet worden.
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 305
Die oft gewagten Konstruktionen der sogen. „Liebesgrüße“
scheinen die ff. Verse zu verspotten; f. 393":
Ignis scintillans, terra lapides, aqua stillans,
Celum virtutes tociens tibi mitto salutes,
Cum mundi mete, tibi tociens mitto valete.
Oder soll man etwa bessern: i. scintillas, terre 1., aque stillas,
celi v.? Wodurch freilich auch nicht viel geholfen wáre. Ich
glaube eher das erstere, zumal wenn man solchen Schülerquatsch
ansieht wie f. 2757: Quid stanter fanter canter panter quid
ovanter! Oder f. 235': Vidi unus homo, qui portabatur equum
bis, Vidi plures canes, quis amabatur ab unus. :
Ein Gruß anderer Art f. 399“:
Dulcis amica, vale! carmen dono tibi tale:
Deprecor, ut villici tibi nunquam fiunt(!) amici.
Von scherzhaften Sprüchen erwáhne ich noch, f. 54*: ,,Salve,
mi socie!“ dixit tortor campaniste; „Tu trahis, ego traho, sic
fune vescimur ambo".
Ziemlich háuflg kleidete man solche Sprüche in kurze Dialoge,
wofür auch unsere Hs. verschiedene Beispiele liefert; f. 103":
„Est mihi sensus ebes, ideo michi parcere debes." ,,Parcere
nolo tibi, quia nequam te fore scivi." Auch in 3 anderen Hss.
f. 301": ,, Quid nobis portas?'* „Fero sportas!“ „Aperi portas!“
An die oben mitgeteilten Scherzverse des Primas erinnern
die folgenden, f. 3997: ,, Quid facis in vico?“ „Mulierem follibus
ico!“ „Est tua vel cuius?“ „Mea non, sed pauperis huius!“
Gelegentlich begegnen wir akrostischen Spielereien, wie
f. 42": Bibens acriter eervisiam, humiliatione audiens nullius
Sapientiam = bachans. Oder f. 917 die Interpretation von
Deus: Dans eternam uitam suis. Und f. 401“ ein Vers über das
Merkwort „saligia‘‘ (auch clm 4409 f. 10): Si tibi sit vita, semper
saligia vita, wo saligia die 7 peccata mortalia oder capitalia
bezeichnet: Superbia, avaritia, luxuria, invidia, gula, ira,
&ccidia. In derselben Linie liegen die Interpretationen und
Silbenspielereien über das Halleluja (7. V.), die sich auf f. 14"
bis 15° finden (im Text):
Alle narrate, lu laudem, ia dominoque.
Alle salvifica, lu me(!) sit, ia tibi, Christe etc.
Es schlieBen sich (a. R.) 3 Prosainterpretationen an, deren
erste: Al i. e. dominus, le i. e. levatur in cruce, lu i. e. lugent
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 20
306 Hans Walther
apostoli, ia i. e. iam surrexit. Eine ähnliche Definition für das
Kyrieeleis auf f. 203” und f. 238" über die Heilswirkung des
Miserere. |
An die obenerwähnten Merkwürdigkeiten und Spielereien
dürfen wir nicht unsern Maßstab anlegen; das MA. war stolz
darauf, man findet immer wieder ähnliches. Es braucht hierbei
nur an die so außerordentlich beliebten Wortspiele erinnert zu
werden, wofür ein Beispiel (für viele) auf f. 2017: Judicis (judex
Hs.) est recti: prece nec precio male flecti. M. Var. bei Werner,
l. c. S. 44. Sent. prov. l. c. S. 76 ist das Wortspiel zerstört: nec
munere nec prece; es findet sich z. B. auch bei Walter v. Chatil-
lon, Moral.-satir. Gedd. ed. K. Strecker, 1929, 69, 26, 3. Die
Vorliebe der mlat. Schriftsteller für Wortspiele geht m. E. zum
guten Teil auf die in der Schule auswendig gelernten Verse über
Homonymen und über Prosodie zurück. Unter den sehr zahl-
reichen Beispielen greife ich beliebig das für pendere und pendere
heraus, f. 288': |
Justus homo pendit, latro pendet uterque pependit.
Pendere tortoris, sed dic pendere doloris.
. Pendere vult justus, sed vult pendere malignus.
Oder f. 174": Si non vis jacere lapidem, dimitte jacere.
Ich wáhlte dies Beispiel, um eine im MA. nicht ganz ungewóhn-
liche Verwendung von „dimittere“ zu zeigen.
Von sprachlich und literarisch bemerkenswerten Sprüchen
seien noch die folgenden mitgeteilt:
f. 204”, unter der Überschr. „Ad vocem":
Instrumenta novem sunt pulmo, ligwa, palatum,
Quatuor et dentes et duo labra simul.
f. 48" ist für die „barbarlexio, barbarlexis“ (commixtio
latini sermonis cum barbaro) als Beispiel gesetzt: Est bona vox
na ly, melior py, optima lypi, was ich nicht zu deuten vermag;
es erinnert an die Verse „Est bona vox Hol wyn... (z. B. Anz. f.
K. d. d. Vorz. 27,139); als weiteres Beispiel: Qui plus vult forcern
quam suum aratrum kan (der) eren, Non est wunder, das her
sepe paciatur hunger’.
e Ähnliche, ebenso fehlerhafte Mischhexameter (sie kommen in sauberer Form
vor!) finden sich in einem Formular, das kürzlich K. Burdach veróffentlicht hat:
Schles-bóhm. Briefmuster a.d. Wende d. 14. Jahrh. Berlin, 1926. S. 107 (, Vom
MA. z. Ref. V.).
. Läteinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 307
Aber auch für sogen. „echte Maccaroneana“, deren Existenz
ich noch vor kurzem für das MA. leugnen mußte (vgl. W. Heraeus
Rhein. Mus. NF. 79, 273), bietet unsre Hs. einen — wenn auch nur
einzeiligen — Beleg auf f. 62”: Non aufert (hoc) Cephäs, quod
contulit o theus ymas, wo cephas —Haupt der Apostel Papst;
vgl. Eberh. Bethun., Graecismus, ed. Wrobel, S. 68, V. 260:
Hoc nomen cephas fertur caput esse Latine, Dicitur et Cephas,
quod caput ecclesiae. - |
Eine echt mittelalterliche Variation des „Et prodesse volunt“
auf f. 286': Metra juvant animos, comprehendunt plurima
paucis, Pristina commemorant, satis sunt hec tria legenti.
Einen mannigíach variierten Gedanken finden wir in dem
Spruch f. 300°: | |
Ars esurit, decreta tument, lex lucra ministrat,
Pontificat Moyses, thalamos medicina subintrat,
worüber zuletzt gehandelt hat: K. Strecker, Quid dant artes
niei luctum! Stud. Mediev. NS. I, 391. cod. Góttingen, Ju-
rid. 152 f. 1', V. 1 vigent.
Eine merkwürdige Einstellung zu den Juden verraten die
folgenden Zeilen f. 201' (in d. Hs. hinter dies eingesch. fides):
Quatuor ex causis judeis parcere debes: Lex patrum, extrema
dies, memoria Christi. (5 Verse in Wolfenbüttel, H. 1042 Hinterd.
gedr. Katal.; stehen auch clm 5173 Vorderd.; zu vgl. Floril.
Gottingens. I. c. Nr. 10).
f. 1” bietet die bekannten Verse über den Sieg der Laster der
der neuen Zeit über die Tugenden der alten; da sie hier einiger-
maßen vollständig sind, teile ich sie mit:
Justitia ist geslagen tot,
Veritas dy leydet grosse not,
Fallacia ist geporn,
Fides hat den streyt vorlorn,
Pacientia ist worden kalt,
Ira, Odium ist manigkfalt,
Caritas ist niedergeslagen,
Luxuria regniret in allen tagen.
Die Verse erinnern mich immer an Walther v. d. Vogelweide:
untriuwe ist in der säze, gewalt vert üf der sträze: fride unde
Teht sint sére wunt. Noch auffälliger ist der Anklang an
20*
308 Hans Walther
Walthers Spruch 20, 31ff. Mir ist verspart der Saelden tor,
f. 297°:
Forte michi stillat, tibi quando deus pluviam dat;
A pluvia dura fit mollis undique terra.-
Allerdings ist das Bild alt: et clementia eius quasi imber
serotinus. Prov. 16, 15. An das Wasser der Tegernseer Mönche,
über das Walther spottet, denkt man bei der Erfahrung, die ein
Vagant in Regensburg gemacht zu haben scheint, f. 328°:
In Ratispona dantur tibi fercula bona:
Pisces parantur, pro nummis hii bene dantur.
Von Spottversen gegen Völker und Städte hat Wattenbach
hier und da etwas publiziert; auch hier gibt es einige Beiträge,
z. B. f. 15”:
Allec assatum Turingis est bene gratum:
De solo capite faciuntur fercula quinque’. ]
f. 46: Westvalus est raptor, fur Friso Saxoque latro. ent-
stellt (par ferro) auch f.346'; 2 V. in Basel A. XI, 71 f. 182',
gedr. Katal. — f. 227: Anglicus a tergo caudam gerit, est canis
ergo. — Ebda.: Anglicus angelus est, cui numquam credere
phas est. Vgl. zu beiden V. Anz. f. K. d.d. Vorz. 24, 340; der
2. V. hat eine reiche Überlieferung. — f. 467: Dünne preye, grob
brot, lange meyle, Sunt in Vestvalia; si non vis credere, tempta.
Steht unter „Bestvalia“ (auch so geschr.!) — f. 487: Est quasi
bos et mus de iure dictus Bohemus: Bos ad potandum, mus
ad furtum faciendum. Melk. 415f. 423': dictus de iure. —
f.278': Parisius locus egregius, mala gens, bona villa, Nam duo
pastilla pro nummo dantur in illa?®. f.306': Nemo sine veste debet
intrare Preneste. Schließlich 2 Verse auf den Sachsen, f. 291°:
In brevi tunica saltat Saxo quasi pica.
Ut pica pirum, comedit Saxo butirum.
Wetterregeln, in den Vulgársprachen so außerordentlich
verbreitet, begegnen lat. seltener. f. 2287:
Dum Mars arescit et mensis (mens Hs.) Aprilis aquescit,
Mayus humescit, frumenti (-ta Hs.) copia crescit”.
° Gedr. Sent. prov. I. c. S. 63; V. 1 scheint eine Parodie auf entsprechende
Verse der Schola Salernitana, ed. Renzi S. 18, wo statt Turingis ] convivis.
10 Wörtl. in Göttingen, Lüneb. 2f. 226va; vgl. Hauréau, Notices et extr. IV, 39
und Notices et extr. 35, I, 210, wo 6 V. abgedruckt sind; eine 4zeilige Fassung in
clm 10751f. 46r.
11 Vgl. Müllenhoff-Scherer, Denkm. XLIX, 12.
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 309
f. 400°: Vincenti festo si sol radit, memor esto:
Prepara tibi vasa, vites dant tibi uvas.
Der zweite Vers wird aus Bern 211 f. 145' korrigiert: Ut facias
cuvas(!), quoniam vitis dabit uvas. (Auch in 3 weiteren Hss.)
Eine Parodie auf solche Wetterprognosen scheint vorzuliegen
f. 134“: In sexta feria cibus mutatur et aura: Aut pluit aut
ningit aut nostra pedissequa mingit; der 2. V. öfter vorkommend.
In den Sprüchen und Sentenzen unserer Sammlung ist er-
klärlicherweise überhaupt viel volkstümliches Gut mit gelehrt-
schulmäßigem vermischt. Ich gebe nur zwei Beispiele; f. 328”,
die Sage vom Mann im Monde: Rusticus in luna, quem (que Hs.)
sarcina detinet una, Monstrat per spinam nulli prodesserapina m.
Und ein bekanntes Volkslied haben wir in lateinischen Versen
im folgenden vor uns, wenn sie auch im Zusammenhang mit den
auBerordentlich zahlreichen Spottversen auf die Bauern zu
betrachten sind, die in gelehrt-hóflschen Kreisen entstanden;
f. 238":
Norma talis datur: quando clericus generatur,
Tres rustibaldi, qui sunt abiles sibi valde,
Secum nascuntur, qui tune pro clero dabuntur;
Primus ad inferna pro clero descendit ad yma,
Sequens per aratrum nutrit clerum quasi thaurum,
Tercius uxorum nutrit, sed valde decorem.
Volkstümliche Elemente enthalten — wenn auch nur zu einem
sehr kleinen Teile — die mlat. Rätsel, die einmal eine zusammen-
hängende Behandlung verdienten; ihre eigentliche Heimat ist
die Schulstube. Ich stelle zusammen, was mir unter den vielen
Rand- und Zwischenversen aufgefallen ist; f. 36":
Est quoddam sine c, quod splendet clarius igne,
Si c addideris, propellitur quilibet hostis. —
Solutio: (c)astrum. Hs..
An die oben angeführten Spielereien erinnert — wie manches
andere im folgenden — f. 46":
Sennahoi suetham sucram sacul tacideneb;
Expone versum! Si nescis, vade retrorsum!
Der erste Vers ist natürlich rückwärts zu lesen, ein häufiger
Scherz, der auch oft von einer ähnlichen Aufforderung gefolgt ist.
l ? Die Auflösungen stehen, wenn nichts besonderes vermerkt ist, nicht in der Hs.
Mit „Est quoddam. .“ fangen des öfteren Rätsel an.
310 Hans Walther
Und ein in der ganzen Weltliteratur geläufiges Rätsel, daß auch
in versch. lat. Formen begegnet, f. 23":
Cuncti narretis animal, quod sepe videtis:
Mane quadrupes, meridie bipes, vespere tripes.
Was die folgende (obszöne ?) Cassusspielerei bedeuten soll,
vermag ich nicht anzugeben; f. 58' (im Text):
Questio solvatur, cum Castor ab hoste fugatur(-tor Hs.):
Cur ablativus dentes gerit in genetivos,
Ut vitam redimat, genitalia dentibus aufert.
Vermutlich enthält V. 3 die Antwort. f. 79": Res volat in nemore
nigro vestitus(-to Hs.) colore, Si caput abstuleris, res erit alba
nimis. — Sol. (cor)nix. (Gedr. I. B. Friedreich, Gesch. d. Rát-
sels. Dresden, 1860, S. 212; ich habe eine englische und eine
Münchner Hs. verzeichnet.)
f. 89“: In densis silvis venor bis quinque catellis,
Quod capio, perdo, quod non capio, mihi servo,
ist das bekannte Láuserátsel (Friedreich, 1. c. S. 181, mir dreimal
hs. vorgekommen). — f. 85': Quinque cibant, bis bina volant,
tria stant, (et) duo pulsant. Sol.(d-a-p)es. (Vgl. Friedreich, I. c.
S. 219; reiche Überlieferung.) — f. 137': Sedif, seps, satirack,
hec tria dulcius quam lac; Hic non introeas, nisi prius solvere
scias. (Vgl. o. Bemerkung zu ,,Sennahoi...'' f. 457.) Sehr ver-
breitet (Friedreich, 1. c. S. 212) das folgende, f. 2457:
Si caput est, currit et sine flne volabit, .
Adde pedes, comede et sine ventre bibe. Sol. muscatum.
Das folgende, f. 250', liest man auch in Bern 211 f. 126°:
Salve, nepos frater! dixit filio(-ia Hs.) sua mater;
Verum dicebat; si quis scit solvere, solvat!
Auch die Erklärung in der Berner Hs. bringt nicht volle Klarheit
in den verwickelten Fall: Nota, quod intellegitur casus iste in
thoro et matrimonio legittimo et de lege posita et quod hoc est
possibile fleri.
Das folgende findet sich auch in cod. Cambridge, Trin. Coll O. 2,
45 f. 12", in der unsrigen f. 262":
Est avis in nemore reliquis avibus nutriens se,
Ablato (all-Hs.) capite multum prandebit avare.
Sol. (ni)sus. (Hs. sus) —
f. 267“, auch in Göttingen, Lüneb. 2f. 221°:
Est animal notum, quod permanet (dicitur Hs. G)utile totum,
Lateinische Verseinträge in einem Vocabular des 15. Jhds. 311
Illi (!) nil peyus, si demitur caput eius, — Sol. (p)orcus.
V. 2 auch in Hs. G fehlerhaft: Nihil hoc peius, si removeris c. e.
f. 2707: Os poterit fari, si demas cornua fronti. Sol. (b)os. —
f. 357“: In silvis cresco, campis graminibus vescor, In domi-
bus canto; dic mihi, quid sum ego? Sol. lutina Hs. (, Laute“),
m. Var. gedr. nach einer Münchn. Hs. Anz. f. K. d. d. Vorz. 26,
100; 2 weitere Hss.
Von den auf das Vocabular in der Hs. folgenden Versen mógen
die satirischen Zeilen auf verschiedene Mónchsorden zum Schluß
hier Aufnahme finden. Sie sind alle von derselben Hand ge-
schrieben und erwecken den Eindruck, als bildeten sie ein zu-
sammenhängendes Stück, was indessen nicht der Fall ist. Sie
stehen auf f. 408°:
Dum videas (vides Hs.) monachum, cruce (te)signare memento!
auch in clm 17 274 inn. Hinterd., wo fehlerhaft videris und richtig
te, es folgen in dieser Münch. Hs. noch 2 holprige Hexameter.
Auf die Benediktiner:
O, monachi nigri, vos estis ad omnia pigri,
Vos mala gens estis, confundat vos mala pestis!
Die beiden Verse führt K. Strecker (Zeitschr. f. d. A. 64, 1997,
106) aus einer Hs. s. XIII. an, wo V. 1 vos] non, omnia] impia,
V. 2 Nigra notat vestis, quales intrinsecus estis; V. 1 (o]vos,
sonst wie Hs. Str.) habe ich auch aus Flor., Laur. 12, 27 f. 64
notiert.
Àuf die Franziskaner:
O, Franciscini(!), qui curritis per mundum trini,
Si estis trini, tercius (est) generis feminini.
Auf die beiden großen Bettelorden:
Fratres Minores, elati Predicatores!
Semper truffatis mundum et (!) infatuatis
Et mendicatis, universa queque rogatis:
Ova, frumentum(-ta Hs.), saginam, caseos quoque centum,
Linum pro panno; hoc fit bene quater in anno.
Jam non est villa, quin monachus fuit (!) in illa.
Oder ist der letzte Vers für sich zu nehmen? Jedenfalls trifft
dies für die beiden Schlußverse zu:
Dum clerius plattam spernit et monachus cappam
Et virgo sertum, hec signant vicia certum!®.
P? In der Hs. hinter hec] tria; eins von beiden überflüssig.
312
Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt.
Von
Justus Hashagen.
Wie immer sicb auch die äußeren Lebens- und Berufs-
verháltnisse Arndts gestalten mögen, immer wieder ist er in
allen seinen verscbiedenen Entwicklungsperioden durch eine
Frage gefesselt worden. An ihrer Beantwortuug hat er alle die
Jahre gearbeitet und um sie gerungen. Es ist die alte und ewig
ungelöste Frage nacb dem Verhältnis von Freiheit uad Not-
wendigkeit. Wenn Arndt sagen soll, was der Mensch ist, so sagt
er immer zuerst und vor allem: der Mensch ist ein freies Wesen.
Aber es bleibt nicht bei diesem Satze. Er fügt sofort die groBe
Einschránkung hinzu. Aber, sagt Arndt, der einzelne Mensch
stebt nicht für sich allein. Sondern andere Mächte, über die der
Mensch im Grunde keine Gewalt. hat, umgeben ihn von allen
Seiten: Mächte der Erde und Mächte des Himmels. Soll er sie
anerkennen, oder soll er ihren Befehlen trotzen ? Darüber sinnt
und schreibt Arndt unablässig. Diese Frage hat er immer wieder
als einer der größten Volksschriftsteller des Jahrhunderts zu
lösen versucht. Derselbe Mann, der alle Schranken hinwegräumen
will, die die freie Entfaltung menschlicher Kraft und mensch-
licher Größe hemmen, derselbe Mann ist ein Prediger der Ge-
bundenheit. Vielleicht am wirksamsten unter allen Volksschrift-
stellern des Jahrbunderts hat er die von ihm gepredigte Freiheit
selbst wieder eingeschränkt oder ihr wenigstens eine bestimmte
Bahn gewiesen. Sein Blick bleibt nicht baften auf dem einzelnen
in der Welt und mit der Welt kämpfenden Menschen. Sondern
er richtet den Blick höher hinauf auf Mächte, die über dem
einzelnen Menschen stehen, auf überindividuelle Mächte. Nur
der auf sich selbst gestellte Mensch kann absolut frei sein. In
der Gemeinschaft mit andern muß er diese Freiheit opfern.
Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 313
Arndt ist nicht der Prediger einer Freiheit schlechthin, sondern
der Prediger der gebundenen Freibeit.
Sehr merkwürdig, wogegen sich bei Arndt zuerst der Frei-
heitsdrang wendet. Er ist auf Rügen unter dem befreienden
Hauche des Meeres aufgewachsen. Das erste, was von poli-
tischen Gedanken in dem Jünglinge bervortritt, ist ein starkes
monarchisches Bewußtsein, zunächst dem Schwedenkönige,
dann aber auch Friedricb dem Großen zugewandt. Aber er
vermißt in dem preußischen Staate eines, was ibm gerade für
seine eigenen Anfänge als das wertvollste erscheint: den Raum
für freie Entfaltung einer freien Persönlichkeit. Arndt wagt es
1802, in seiner Schrift über Germanien und Europa, den fride-
ricianischen Staat zu kritisieren, vom Standpunkte seines
persönlichen Freiheitsbedürfnisses, welches sich gegen den
mechanischen Staatszwang auflehnt. Aus demselben Grunde
bekämpft er aber auch die französische Revolution: als freiheits-
durstiger Mensch. Schon als Primaner hatte er einem Lehrer
widersprochen, als dieser die Revolution kritiklos verherr-
lichte. 1799 war er nach Frankreich gereist. Im Interesse der
Freiheit, der menschlich-individuellen, nun aber auch der
religiös-individuellen Persönlichkeit erhob er Einspruch gegen
die Knechtung der Kirche durch die französische Republik.
Als er im Sommer 1799 durch die von den Franzosen schon seit
fast fünf Jahren beberrschten Rheinlande in die deutsche Heimat
zurückstrebt, da erfrischt er sein durch die französischen Er-
fahrungen empörtes Freiheitsgefühl, indem er sicb unter die
kriegerischen Bauern mischt, die im Spessart und Odenwald
einen neuen Bundschuh gegen die Franzosen erheben. Als Arndt
von seinem Aufenthalte in Frankreich und am Rheine spricht,
sagt er 1800 in seiner Reisebeschreibung: ‚Ich habe in Frank-
reich einige Franzosen verabscheut, die meisten beklagt, viele
geschätzt und einige geliebt. Hier (in Deutschland) lerne ich
sie hassen als Feinde und Verderber meines Volkes ... Und
diese predigen uns das Gesetz der Freiheit und Gleichheit? .
Noch ehe Napoleon seine schwere Hand auf die Deutschen legt,
hat Arndt sich ein von seinen individuellen Bedürfnissen aus-
gehendes Freiheitsideal gebildet.
Nicht minder wesentlich für die Charakteristik seiner Geistes-
art ist die Tatsache, daß er dies sein höchst persönliches Frei-
314 Justus Hashagen
heitsideal keineswegs auf das politische Gebiet beschränkt.
Auch der Grundzug seiner Erziehungslehre (Fragmente über
Menschenbildung, 2 Teile 1805), ist das Trachten nach Freiheit.
Wie Arndt auf politischem Gebiete die Tyrannei des Monarchen
und die Tyrannei des Volkes bekämpft, so als Pädagoge die
Tyrannei des Erziehers. Wie er dort Achtung predigt vor dem
einzelnen Menschen, der Anspruch habe auf die Schätzung
seiner Individualität, in der absoluten Monarchie sowohl wie in
der absoluten Republik, so predigt er jetzt dem Erzieher die
Achtung vor der Individualität des Kindes. Er verlangt deshalb
von seinem Erzieher, er solle ein aufmerksamer Jünger des Zög-
lings werden, sich in seine Individualität vertiefen; denn er habe
nicht das Recht, diese Individualität zu beeinträchtigen. Ganz
im Sinne seiner optimistischen Zeit und Rousseaus kann er nicht
glauben, daß schon im unmündigen Kinde alles Böse vorgebildet
sei. Auch verwirft dieser eifrige Anwalt des Sports und der leib-
lichen Erziehung die Leibesstrafen als etwas die Freiheit Schädi-
gendes. Ja er möchte im Interesse der Freiheit den Unterricht
erst im vierzehnten Lebensjahre beginnen lassen. Auch Arndts
„Versuch über die Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern
und Rügen“ (1803) wird man hier einreihen dürfen, weil er für
die Freiheit des Bauern gegen den Adel eine Lanze bricht.
Vor allem Arndts publizistischer Kampf gegen Napoleon
ist vom Freiheitsgeiste erfüllt. Denn alles, was sich bei Arndt
im Laufe einer vielbewegten Jugendzeit an Freiheitsgedanken
allmählich angesammelt hat, wird von dieser einen überragenden
Gestalt unter die Füße getreten. Was Arndt gegen sie auf dem
Herzen hat, findet man schon im ersten Teile seiner großen,
„Geist der Zeit“ betitelten, im Herbst 1805 begonnenen Pro-
grammschrift. Sieben Jahre später verfaßte er den kurzen
Katechismus für deutsche Soldaten, der die radikalsten Töne
anschlägt: „Es sind viele Laster schändlich zu nennen, doch
das schändlichste von allen ist ein knechtischer Sinn. — Denn
Gott wohnt nur in den stolzen Herzen, und für den niedrigen
Sinn ist der Himmel zu hoch.“ — Und später in seinem Liede:
„Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.“
Nach dem Sturze Napoleons galt es in dem ja nur äußerlich
befreiten Deutschland neue Freiheitsaufgaben zu erfüllen. Die
wichtigsten Zukunftsprobleme wurden von Arndt schon in
-.r
Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 315
einer kurz nach der Leipziger Schlacht erschienenen, besonders
gehaltvollen Flugschrift berührt: „Das preußische Volk und
Heer im Jahre 1813.“ Hier nennt er die beiden Mittel, die Preu-
Ben seit 1808 groß gemacht haben: daB es den Mut hatte, ‚den
Geist frei zu lassen und das Volk kriegsgeübt zu machen“. Die
Schrift ist das Präludium zu dem Freiheitskampfe, den Arndt
unter preußischer Herrschaft gegen die preußische Reaktion
geführt hat. Im Sommer 1818, im vierten und letzten Teile
des großen Werkes über den „Geist der Zeit" erhebt Arndt
flammenden Protest gegen die neuen Feinde, die die Freiheit
von allen Seiten erdrücken. Das mutige Bekenntnis zum Ver-
fassungsstaate gibt dem bedeutenden Buche das entscheidende
Gepräge. Schon 1815 war er auch für die akademische Freiheit
eingetreten. Er nannte sie damals die „lieblichste und köstlichste
Blume des germanischen Geistes“ und feierte die Universität
auch schon als ein Mittel des sozialen Ausgleichs. Es kann nur
noch angedeutet werden, daß Arndt auch nach seiner Ab-
setzung (1820) und nach seiner Wiedereinsetzung (1840) den
alten Freiheitsidealen treu geblieben ist.
* *
»*
Aber das alles ist nicht der ganze Arndt. So stark immer
wieder seine freiheitsdurstige Individualität emporquillt, so
flammende Worte er auf allen Stufen seines Lebens gefunden
hat, um das Recht der freien Persónlichkeit durchzusetzen
gegen Tyrannentrug, in welches lockende Gewand er sich auch
kleiden möge: Arndts Stellung in der deutschen Geistes-
geschichte ist mit dem allem erst zu einem Teile umschrieben.
Denn Arndts Freiheitsbegriff ist nicht mehr der lehrhaft in die
Wolken hinein konstruierte Freiheitsbegriff des achtzehnten
Jahrhunderts. Nach Arndt wird die Freiheit vielmehr erst dann
für das praktische Leben brauchbar, wenn sie auf allen Seiten
von Schranken umgeben wird. Er hat diese Schranken nicht
künstlich ausgeklügelt. Sondern sie sind bei ihm das Ergebnis
einer reichen persónlichen Lebenserfahrung und einer tief ein-
dringenden und systematisch betriebenen Beobachtung der
Völkerentwicklung. Beide Motive werden durch starke parallele
Zeitströmungen mächtig angeregt. Arndt gehört zu den Be-
316 Justus Hashagen
kämpfern der individualistischen Aufklärung. Während diese
den Menschen gerne von allen natürlichen und geschichtlichen
Bedingungen loslöst und als isoliertes, gleichförmiges Individuum
vorstellt, hat sich Arndt zeitlebens bemüht, den Menschen gerade
im Rahmen seiner natürlichen und geschichtlichen Bedingungen
zu verstehen, ihn damit in seiner unerschöpflichen Vielgestaltig-
keit zu vergegenwärtigen und nicht zuletzt die weitreichende
Herrschaft objektiver Mächte zu erforschen, an denen die
Freiheit des Einzelnen ihre Grenze findet. Schon in seiner Jugend
beginnt Arndt ins Herrschaftsgebiet dieser Mächte große geistige
Forschungsreisen, von denen er so reiche Schätze heimgebracht
hat, und die erst ihr Ende finden, als er selbst mit über neunzig
Jahren 1860 die Augen schließt. Auf diesen das ganze Leben
hindurch fortgesetzten Forschungsreisen sind sie ihm der Reihe
nach alle begegnet — diese großen Mächte, menschliche Ge-
nossenschaften und Genossenschaftsvorstellungen: Familie,
Sitte, Sittlichkeit, Kunst, Religion, Recht, Pflicht, Gewissen.
Und was er über sie zu sagen weiD, ist bei allem überstiegenen
Enthusiasmus und aller luftigen Schwärmerei doch durchtränkt
von Sachlichkeit und Erfahrungsweisheit. Es ist für Arndt
charakteristisch, daB er vor diesen Mächten eine um so höhere
Achtung hat, als sich ihr Wirken zu einem groBen Teile nicht
in der nüchternen Tageshelle, sondern im Geheimnis vollzieht.
Ein zeitgemäßer Irrationalismus ergreift schon von dem jungen
Arndt Besitz. n
Schon als Erzieher ist er deshalb darauf aus, der Erziehung
gegenüber dem Unterrichte eine beherrschende Stellung zu
sichern und besonders den unbewußten, mit jenen objektiven
Mächten zusammenhängenden und von ihnen geleiteten Re-
gungen des Menschenherzens gerecht zu werden. Wie er auf der
einen Seite die übertriebene und einseitige Verstandesbildung
der Aufklärung verwirft und auf der anderen Seite die über-
triebene gefühlsmäßige Schöngeisterei, mag sie sich in klassi-
zistisches oder romantisches Gewand hüllen, so richtet er in
der Erziehung seine besondere Aufmerksamkeit auf den ganz
ursprünglichen, nicht durch klare Beweggründe bestimmten,
aber eben deshalb nur um so mächtiger wirkenden Willen.
Gerade als Erzieher hat er besonders heftige Worte gegen das
äußerliche Klugmachen ausgesprochen. Von hier aus bestimmt
— oe
en —— — — . —— co,
2 4 E-—Y— et IV
Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Moritz Arndt 317
sich auch die pietätvolle Haltung, die Arndt zeitlebens dem
Weibe gegenüber angenommen hat: „Von etwas, was ewig ver-
hüllt und geheimnisvoll bleiben soll, von dem Weibe und ihrer
innigsten Natur läßt sich nur in Andeutungen und Gleichnissen
sprechen." Besonders liebevoll würdigt Arndt auch die Natur-
bedingtheit des Menschen in der Erziehung. Das Kind soll
früh seine Naturbedingtheit erkennen. Die Hauptaufgabe der
Eltern gegenüber den Kindern besteht darin, daß sie die Kinder
in die Welt der notwendigen Naturtatsachen langsam, schonend
und doch sicher einführen: in die ,,Festigkeit und Frótnmigkeit
des ewigen Naturgesetzes". Darüber schreibt schon der junge
Arndt: „Es ist doch ein schönes Ding um die Notwendigkeit.
Ihr Gesetz ist oft leichter als alle Wahl, weil es alle Wahl ab-
schneidet und so als das heiligste Gesetz dem Gemüte zur Frei-
heit wird.“ i
Man muß sich doch wohl dieser Würdigung des einzelnen
Menschen bei Arndt erinnern, wenn man die einschneidenden
und zukunftsreichen Reformen und Umwälzungen verstehen
will, die er im Bunde mit anderen und gewiß Bedeutenderen bei
Beurteilung allgemeinerer Größen wie des Staates, der Nation
und der Religion mit hat heraufführen helfen. Von jeher ist
sein Interesse und sein Verständnis für die unübersehbare Fülle
der Tatsachen der vergleichenden Völkerkunde, Völkergeschichte
und Volkskunde ungemein rege und tief. So schreibt er 1814
„über Sitte, Mode und Kleidertracht‘‘. Es ist eins der schönsten
Kapitel, die Arndt je verfaßt hat, wo er von der Gewalt der
Erinnerungen redet, die sogar von den äußeren Gegenständen
auf den Menschen übergehen. In Arndts „Erinnerungen aus
dem äußeren Leben“ waltet derselbe anziehend reizvolle Geist.
Es ist für ihn nicht schwer, zu der Erkenntnis zu gelangen,
daß jedes Volk seinen besonderen Nationalgeist in sich trägt,
und daß sein deutsches Volk davon keine Ausnahme machen
kann. Napoleon ist nicht nur der Freiheitszerstörer, sondern
der Feind des deutschen Nationalgeistes. Auf das sechste
Kapitel, das im Soldatenkatechismus von dem großen Tyrannen
handelt, folgt das siebente von dem fremden Volke. Arndt ist
gegen eine allgemeine Völkerverbrüderung, erst recht gegen die
Universalmonarchie, von der damals so viele träumen. Be-
sonders fruchtbar sind Arndts Gedanken dann, wenn er den
318 Justus Hashagen
Nationalgeist gewissermaßen auf dem Boden projiziert. Das
ist besonders der Fall in seiner berühmten Schrift: „Der Rbein,
Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze“, vom
Herbst 1813. |
Auch die Macht der Religion, für deren Erneuerung in der
Erhebungszeit und nachher er so viel getan hat, ist schon früh
in sein Leben getreten. Ein konfessionelles und ein überkonfessio-
nelles Element gehen in Arndts Religion eine merkwürdige Ver-
bindung ein. In der französischen Reisebeschreibung von 1800
findet sich der Satz: „Im Grunde haben alle Menschen eine
Religion, die für das Höchste und Unendliche ihrer Natur gebaut
ist, und diese Religion wird sie schon in den Hauptpunkten zu-
sammen führen.“ Das ist doch wohl noch mehr als die natürliche
Religion der Aufklärung. Gewiß, Arndt lebt der heiligen Über-
zeugung, daß unter allen Bindungsmächten die Religion die
stärkste ist, daß sie eines leiblichen Gewandes, eines mensch-
lichen, vielleicht allzu menschlichen Gewandes bedarf, um auf
die Menschen zu wirken. Arndt ist stets ein überzeugter Pro-
testant gewesen. Aberdie Religion kanndiesmenschliche Gewand
auch abstreifen, und mit ihrem Haupte ragt sie doch weit über
die Erde empor in alle Himmel. Noch als Arndt 1819 eine
Schrift: „Vom Wort und Kircbenlied'', hinausgehen läßt, ist es
ihm darum zu tun, „ein christlich-teutsches Gesangbuch für die
Christen aller Bekenntnisse herzustellen", Die kräftigsten
Zeugnisse von Arndts religiöser Gesinnung sind jedoch seine
Flugschriften von 1812 und 1813. Der dritte Grund zum Kampfe
gegen Napoleon ist für Arndt wie für viele seiner Zeitgenossen
ein religiöser. Denn für Arndt ist Napoleon nicht nur der Unter-
drücker von Freiheit und Nation, sondern geradezu der Geist
aus dem Abgrund.
* *
*
Erst in der Beugung unter objektive Mächte wird Arndt
der ganze Arndt. Er hat sich ihnen aber nicht erst als alter
Mann, sondern schon als Jüngling gebeugt. Darin liegt seine
geistesgeschichtliche und sittliche Größe. Schon der Jüngling
ist ein Prediger der gebundenen Freiheit. Doppelt erscheint
ihm in dem „Entwurfe einer teutschen Gesellschaft“ von 1814
die Aufgabe des Menschen: ,innerlich unendlich und über-
Freiheit und Gebundenheit bei Ernst Morits Arndt 319
schwenglich“, das führt hinein zu den Freiheitsidealen, ,,áuBer-
lich klar und gemessen‘‘, das führt binaus zu den Bindungs-
mächten, die über dem Menschen walten.
Arndts Gedanken sind nicht die Gedanken eines weltfremden
Stubengelehrten, sondern die Gedanken eines weltoffenen
Wirklichkeitsmenschen, wie er sie schon früh in den Wahl-
spruch zusammengefaßt hat: „Frei mein Bekenntnis und mein
Glaube, gebunden mein Wandel und mein Tun.“
320
Bismarck und Bayern am Bundestag.
(1851—1859.)
Von
Siegmund Meiboom, Rüstringen.
Bismarck wurde nach Frankfurt berufen, als Vorkämpfer
für eine Politik der Freundschaft zwischen Preußen und Öster-
reich. So wollte es der in romantischen Anschauungen befangene
Kónig, so dachte sich die kleine, aber máchtige Partei der Hof-
camarilla sein Wirken in der Hauptstadt des deutschen Bundes.
Als Anhänger des Legitimitätsgedankens, als Freund und Schütz-
ling des reaktionären Generals von Gerlach, als führendes Mit-
glied der Kreuz-Zeitungspartei, kam Bismarck nach Frankfurt.
Die Freundschaft mit Österreich war diesen Politikern ein erstes
Gebot, solange in Deutschland noch revolutionäre Umtriebe
eine Rolle spielten. Ihr Hauptgegner war die Revolution, und
da Osterreich aus innerpolitischen Gründen ein stárkstes Interesse
an der Erhaltung des Absolutismus hatte, schien es auch der
sicherste Bundesgenosse für das vom Liberalismus bedrohte
Deutschland zu sein. Die auswärtige Politik dieser Staats-
männer war völlig von der Innenpolitik abhängig. Bündnis-
fähig war für sie nur der Staat, der den Legitimitätsgedanken
hoch hielt.
Nach der Reaktivierung des Bundestages strebten diese
Politiker mit besonderem Nachdruck darauf hin, auch die
kleinsten Errungenschaften der Revolution wieder abzuschaffen.
Um das zu erreichen, wurde vom Bundestag im August 1851.
ein „Reaktionsausschuß‘‘ eingesetzt. Österreich und Preußen
standen darin einträchtig Seite an Seite. Dieser Ausschuß
wollte unter anderem auch gegen die Hamburger Verfassung
vorgehen. Bismarck fand das durchaus in der Ordnung. Die
konservativen Grundsätze waren gefährdet, der Bund mußte
Bismarck und Bayern am Bundestag 321
deshalb mit allen Mitteln versuchen, die alten Zustände wieder
herzustellen. Er stieß dabei auf scharfen Widerstand des
bayerischen Kabinetts. Der bayerische Minister des Äußeren
von der Pfordten erkannte sofort die Gefahr, die der Selbständig-
keit der Einzelstaaten drohte, wenn der Bund zum Eingreifen
in die inneren Verfassungszustände eines Landes ermächtigt
wurde. General v. Xylander, der bayerische Bundestags-
gesandte, protestierte deshalb im Auftrage von der Pfordtens
zum größten Verdruß Bismarcks, der deshalb Xylander ,,be-
schränkt und ehrlich“ nannte!. Trotz dieser Ehrlichkeit konnte
Bismarck es nicht über sich gewinnen, Xylander Vertrauen zu
schenken?. Er tat ihm damit Unrecht. Xylander war ein offener,
ehrlicher, unbedingt zuverlässiger Charakter, der mit der Offen-
heit des Soldaten dem Diplomaten entgegentrat, einerlei,
welches Land oder welchen Rang er zum Gegner hatte. Aller-
dings war er diplomatisch nicht begabt und durchschaute nur
sehr langsam die politischen Zusammenhänge. Als er aber von
Pfordten die Weisung erhalten hatte, gegen das Vorgehen des
Reaktionsausschusses in der Hamburger Angelegenheit zu
protestieren, da führte er diese Weisung voll rücksichtsloser
Entschiedenheit durch. Bismarck, noch ganz befangen in den
konservativen Anschauungen von der österreichisch-preußBi-
schen Einheitsfront gegen die Revolution, nannte ihn deshalb
„das übelste Element“ in dem Ausschuß?! In wie seltsamem
Kontrast steht das zu der Haltung, die Bismarck einige Monate
später einnahm, als er jeden als willkommenen Streiter an seiner
Seite begrüßte, der mit ihm gegen die Stärkung des Bundestages
kämpfte. Doch im Sommer und Herbst 1851 hielt er noch fest
an den Lehren der Kreuzzeitungspartei. Die Mittelstaaten
spielten in deren außenpolitischem Programm kaum eine Rolle.
Sie hatten sich der österreichisch-preußischen Einigkeit zu
fügen, die es ja so gut mit ihnen meinte.
Bismarcks offene Augen sahen aber schon bald, daß Öster-
reich nicht so gut auf Preußen zu sprechen war wie die Gerlachs
es glaubten, und daß die Mittelstaaten die Angst vor der preußi-
schen Union noch nicht verwunden hatten. Diese Feststellung
1 Bismarck an Gerlach 22. VI. 51. G. W. I, S. 6.
1 Bismarck an Manteuffel 26. V. 51. G. W. I, S. 5.
2 Bismarck an Manteuffel 9. X. 51. G. W. I, S. 71.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 21
322 Siegmund Meiboom
befremdete ihn zunächst. „Das Traurige (!) ist, daß es sich
hier fast nur um Parteistellungen von österreichisch oder preu-
Bisch zu handeln scheint, während eine richtige Teilungslinie
so liegen müßte, daß man entweder ósterreichisch und preuBisch
oder keines von beiden wäre“. Nur die Legitimisten sehnten
diese nur theoretisch richtige Front herbei. Bismarck rechnete
sich zu ihnen. Nur daraus läßt sich sein abfälliges Urteil über
Xylander erklären, als dieser gegen eine Stärkung der Zentral-
gewalt polemisierte. Auch Bismarcks Stellung zur Zentral-
Polizeibehórde, sein langsamer, zógernder Widerspruch gegen
die bayerischen Angriffe, ist nur zu verstehen als die Politik
eines Mannes, der noch an die österreichisch-preußische Freund-
schaft glaubt und mit den Mittelstaaten nichts anzufangen weiß.
Im Winter von 1851 auf 52 wurde der österreichisch-preußi-
sche Gegensatz offenkundig®. Der Streit wurde bis in die Presse
getragen, weder Bismarck noch Thun gaben sich irgendwelche
Mühe, die Gegensätze zu verbergen. Bismarck hatte jetzt klar
erkannt, daß der Bundestag nur eine Plattform war, auf der der
Kampf um die Gleichberechtigung Preußens mit Österreich
ausgekämpft werden mußte. Hie Preußen, hie Österreich, das
waren die Fronten in Frankfurt, nachdem das Trugbild der
Einheitsfront der beiden Großmächte sich aufgelöst hatte.
Die Bedeutung der Mittelstaaten wurde durch diese Verschie-
bung gewaltig gehoben, sowohl Österreich wie Preußen mußten
mit ihnen als den wichtigsten Bundesgenossen rechnen, wenn
sie in Deutschland Erfolge haben wollten. In Bismarcks Be-
richten und Briefen kommen seit dieser Zeit immer wieder
Äußerungen vor, die die politische Bedeutung Bayerns gegen-
über Manteuffel und Gerlach hervorhebenf. Er entwarf im
Frühjahr 1852 ein großes politisches Programm, das die Gewinnung
Bayerns als Bundesgenossen gegen Österreich zum Ziele hatte".
Mit Österreich seien Konflikte gar nicht zu vermeiden, Bayern
dagegen teile mit Preußen „das Bedürfnis, das Gewicht des
Bundeskollegiums im Gegensatz zu den hegemonischen Be-
strebungen des Präsidialhofes zu erhalten und zu verstärken‘.
* Bismarck an Gerlach 22. VI. 51, S. 7.
s Vgl. A. O. Meyer Bismarcks Kampf mit Österreich (1927), S. 59ff.
Bismarck an Gerlach 20. II. 62, S. 28.
7 Bismarck an Manteuffel 8./9. III. 53. G. W. I, S. 307.
Bismarck und Bayern am Bundestag 323
Preußen müsse in Deutschland der „Vertreter der Geltung und
der Interessen aller übrigen Bundesstaaten“ sein. Die wichtigste
Stütze in diesem Kampfe sah er mit Recht in Bayern „als dem
an Bedeutung den übrigen erheblich und schon dem nächst-
folgenden um mehr als das Doppelte überlegenen Bundes-
staate‘‘. Bayern müsse ‚schon vermöge seiner geographischen
Lage' von Österreich alles befürchten, mit Preußen gerate es
dagegen nirgends zusammen. Um diese Gedankengänge in
Berlin durchzusetzen, unternahm Bismarck es, die bayerische
Opposition gegen das preußische Unionsprojekt mit gerechtem
Verständnis für die Schwierigkeit der bayerischen Lage zu
verteidigen. „Es hat der außerordentlichen Ereignisse der letzten
Jahre bedurft, um an Stelle dieser natürlichen Verbindung eine
argwöhnische Gereiztheit bei Bayern und an vielen Stellen auf
preußischer Seite eine geringschätzige Bitterkeit treten zu
lassen." Preußen müsse darauf bedacht sein, sich mit Bayern
trotz dessen Opposition in der Zollvereinskrisis „überhaupt
auf besseren Fuß“ zu setzen; zwar sei Bayern da „der große
Dieb“, aber in diesem Falle sollte man nur die Kleinen hängen,
die Großen aber laufen lassen?. — Außer der Einflußnahme auf
den König und die Minister bemühte Bismarck sich, die preußi-
sche Presse günstiger für Bayern zu stimmen. Auch darin
zeigt sich, mit welchem Ernst er die Versóhnung und engere
Verbindung mit Bayern anstrebte. Er hielt es für falsch, den
Mittelstaaten noch immer Rheinbündelei vorzuwerfen?. „Ich
móchte hier an das Beispiel von Leuten erinnern, welche zu
Dieben geworden sind, weil doch Niemand an ihre Rechtlichkeit
glauben wollte." Er gab also Preußen selbst die Schuld, wenn
Bayern dem Ausland in die Arme getrieben wurde. Auch Wagener
gegenüber betonte er, daB das Bündnis PreuBens mit den
Mittelstaaten gegen Österreich ein selbstverständliches sei.
Das Mißtrauen gegen Preußen stamme aus der Zeit der Unions-
politik. Die preußische Presse müsse alles tun, um es zu über-
winden. „Ich habe bisher nicht den leisesten Verdacht gegen
Bayern; es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß man in München
jetzt schon zur eventuellen Parteinahme für Frankreich ent-
* An Gerlach 16. III. 53, S. 67.
* An Wagener 27. X. 53. Bismarckbriefe S. 165.
21*
324 Siegmund Meiboom
schlossen sei“ !, schrieb er in den ersten Anfängen der orien-
talischen Wirren. Je schärfer der österreichisch-preußische
Gegensatz wurde, desto stärker wurde naturgemäß das Interesse
Bismarcks an den Mittelstaaten. Ein preußischer Diplomat
schrieb damals, daß Österreich jetzt dabei sei, das Werk Fried-
richs des Großen, das es im siebenjährigen Kriege nicht zer-
stören konnte, „auf dem Wege diplomatischer Manöver“ zu-
grunde zu richten! Genau so wird Bismarck gedacht haben,
wenn er als die Aufgabe preußischer Politik bezeichnete, „ge-
rade Bayern zu gewinnen'!*, Sein politischer Gesichtskreis
ging damals noch nicht über den Deutschen Bund hinaus.
„Unsere Politik hat keinen anderen Exerzierplatz als Deutsch-
land." Nur weil er diese Erkenntnis für grundlegend und richtig
hielt, maß er Bayern eine so große Bedeutung zu.
Der Krimkrieg führte zu einem Höhepunkt in der Annähe-
rung der Mittelstaaten an Preußen, als Österreich unter Auf-
bietung aller Mittel danach strebte, den Bund an dem orien-
talischen Kriege aktiv teilnehmen zu lassen. Sowohl Beust wie
von der Pfordten wehrten sich mit allen Kräften gegen diese
Politik. Bei Bismarck fanden sie tatkräftigste Unterstützung.
Den Bamberger Konferenzen, auf denen die Mittelstaaten im
Mai 1854 ein Programm der Neutralität durchsetzen wollten,
versagte er im Gegensatz zu dem übel gelaunten Prokesch seine
Anerkennung nicht. „Ich kann dem staatsmännischen Gebaren
und der Courage mit welcher die Firma Beust, Pfordten und Co.
operiert, meine Anerkennung nicht versagen!?*." Bei Manteuffel,
riet er dringend, „in wohlwollender Form" die Forderungen
der Mittelstaaten zu beantworten. Kabinett und Ministerium
in Berlin waren nicht so entschieden für eine neutrale Politik.
Stets gaben sie den österreichischen Forderungen in unwürdiger
Schwäche nach. Bis ins späte Alter hat Bismarck das nicht
vergessen können. In Frankfurt konnte er sich „einer Be-
schämung und Erbitterung nicht erwehren“ ““, als Preußen jede
selbständige Politik opferte. Er konnte nichts darauf erwidern,
10 An Gerlach 26. XI. 53, S. 106.
u Küpfer an Manteuffel 2. XII. 53. Unter Friedrich Wilh. IV. II, S. 339.
13 An Gerlach 19./20. XII. 53, S. 114/15.
13 An Gerlach 6. VI. 54, S. 155.
14 Gedanken und Erinnerungen (1898) I, S. 96.
Bismarck und Bayern am Bundestag 325
als ein Vertreter der Mittelstaaten Preußen vorwarf, es sei noch
schwarz-gelber als Österreich und falle im österreichischen
Interesse über Deutschland her!®. Die Krimkriegpolitik war eine
sehr wichtige Periode der preußischen Politik, ohne die die miB-
trauische Haltung der Mittelstaaten gar nicht zu begreifen wäre.
Sie fürchteten während des Krimkrieges neben der preußischen
Hegemonie ständig, daß Preußen zu weit gehe in der Verleugnung
seiner eigenen Interessen zugunsten Österreichs. Bismarck
wurde nicht müde, Berlin in seinem Sinne zu beeinflussen. Er
sah in der Wahrung und Stärkung der Bundeshoheit, in der
festen Bindung Österreichs an Frankfurt die günstigste Position
der preußischen Politik, in der es sich mit den Mittelstaaten
zusammenfinden konnte. Ihn empörte das „wahrhaft über-
mütige Zutrauen“ Österreichs auf preußische Nachgiebigkeit!®.
Aus eigenster Anschauung erlebte er immer wieder, wie stark
der Widerwille der Mittelstaaten gegen Buol war, wie sehr sie
sich damals nach einer entschiedenen preußischen Führung
sehnten. Es war ein schweres Verhängnis für die preußische
Politik, daß das Berliner Kabinett es nicht verstand, diese
Lage richtig auszunutzen. Anfang Oktober 1854 schrieb Manteuffel
voll törichter Arroganz an Fürst Hatzfeld: „Die deutschen
Staaten ... erklären sich sämtlich in unserem Sinne E.E.
wissen, daß ich darauf gar nichts gebe“ 7. Diese Haltung mußte
die Annäherung der Mittelstaaten an Preußen verhindern.
Auch Bismarck wußte, daß die Freundschaft der deutschen
Kabinette für Preußen nur durch die Umstände geboten war,
aber er wollte sie doch ausnutzen. „Häuser baue ich auch nicht
auf die Mittelstaaten, aber es ist auch unbillig, daß das MiB-
trauen, welches von 1848-—51 so tiefe Wurzeln geschlagen hat,
jetzt in sechs Monaten verschwinden soll‘‘!®, Er nannte Bayern,
Sachsen, Württemberg usw. „unsere Freunde in Deutsch-
land“ 19.
Der Ausgang des Krimkrieges brachte es mit sich, daß sich
die Mittelstaaten wieder stärker von Preußen abwandten. „Auf
15 An Manteuffel 16./17. VI. 54. G. W. I., S. 456.
10 An Manteuffel 23. VIII. 54. G. W. I, S. 485.
17 Manteuffel an Hatzfeld, Anfang Oktober 54. Preußens Ausw. Politik II, S. 505.
ı8 An Gerlach 6. I. 55, S. 186.
19 An Gerlach 6. II. 55, S. 195.
326 Siegmund Meiboom
unsere bisherigen guten Freunde werden wir jetzt auch weniger
zählen können, denn mit der Entfernung unmittelbarer Kriegs-
gefahr wird sich ihr politischer penchant wohl in gewohnte
Bahnen zurückbegeben9.' Ein weiterer Grund der Entfrem-
dung war die Abberufung Prokeschs aus Frankfurt, dessen
ungezügeltes Temperament und gewissenlose Rücksichtslosig-
keit häufig zu heftigen Zusammenstößen mit den mittelstaat-
lichen Gesandten geführt hatten. Sein Nachfolger, Graf Rech-
berg, schlug eine viel wohlwollendere Tonart an. Rechberg
war Bayer. Mit Schrenk war er aus früher Jugend her befreundet,
sie duzten sich und machten „täglich weite und einsame Pro-
menaden miteinander*'", Bismarck beunruhigte diese Freund-
schaft sehr. Er hätte Prokesch gern zurückgehabt. Die Ent-
fremdung der Bamberger fand ihren sichtbaren Ausdruck auf
einem Diner, das die Königin von Württemberg den Bundes-
gesandten gab, auf welchem sie Bismarck ignorierte?*, Bis-
marcks Mißtrauen auch gegen Bayern wuchs?. Es schwand
jedoch noch einmal wieder, als erim Dezember 1855 in München
mit den maßgebenden Persönlichkeiten zu sprechen Gelegenheit
hatte“. Bei Pfordten fand er ‚größtes Mißtrauen‘‘ gegen
Österreich, weil die „staatsmännische Unfähigkeit“ des Grafen
Buol eine kluge Politik unmöglich machte. Vorsichtig sondierte
er, ob Bayern noch an Bündnisse mit Frankreich denke, doch
von der Pfordten ‚lehnte jeden Verdacht einer an den Rhein-
bund erinnernden Politik mit einer wie mir schien, aufrichtigen
Erregtheit ab, indem er darauf hinwies, daß schon in der Persön-
lichkeit des Königs Max die Unmöglichkeit derartiger Pläne
gegeben sei, selbst wenn ein bayerischer Minister sich gegen-
wärtig bereit finden könnte, zum Verrat an Deutschland die
Hand zu bieten. Ich habe in München den Eindruck gewonnen,
daß diese Äußerung für die Gegenwart in der Wahrheit begründet
ist.“
Damit finden die gerechten Äußerungen Bismarcks über
Bayern ihr Ende. Seit 1856 dachte Bismarck über die Bedeutung
20 Manteuffel an Bismarck 26. IV. 55. Unter Fr. W. IV. III, 38.
21 An Manteuffel 13. IV. 55. G. W. II, S. 41.
12 Unt. Fr. W. IV. II, S. 476. 2. VII. 55.
23 An Gerlach 31. X. 55, S. 257.
3 An Fr. W. IV. 21. XII. 55. G. W. II, S. 84.
Bismarck und Bayern am Bundestag 327
der Mittelstaaten, soweit er ihnen solche überhaupt beimaß,
ganz anders. Es ist ihm plötzlich selbstverständlich, daß sie
sofort mit Frankreich zusammengehen, sobald sie nur eine
Gelegenheit dazu haben. Die Fürsten würden ihre Truppen
gern Frankreich zur Verfügung stellen, wenn sie dadurch vor
den Übergriffen ihrer Parlamente gesichert wären“. „Von den
dirigierenden Ministern von Bayern, Württemberg, Baden,
Darmstadt, Nassau habe ich es im vorigen Jahr zur vollsten
Evidenz erfahren können, daß sie es für ihre ehrliche Pflicht
halten, den Bund aufzugeben, wenn die Interessen oder gar
die Sicherheit des eigenen Fürsten und Landes durch Festhalten
am Bunde gefährdet wäre.“ Die Urteile in diesem abfälligen
Sinne wiederholen sich bis zu seinem Sturze sehr häufig. Wie
ist es zu erklären, daß Bismarck seine gerechte Beurteilung aus
der Zeit vor dem Ausgang des Krimkrieges aufgab ?
Die Durchführung eines so großzügigen Programmes der
Gewinnung der deutschen Kabinette für Preußen hätte nur
dann erfolgreich sein können, wenn die Frankfurter Diplomaten
in ihren Heimatresidenzen von entscheidendem Einfluß gewesen
wären. Davon konnte aber gar keine Rede sein. Oft genug war
Bismarck selbst nur mangelhaft orientiert. „Die Regel ist, daß
niemand etwas weiß.“ Vollends der Freiherr von Schrenk
war völlig ungeeignet für diplomatische Aktionen. Er war bis
zu seiner Berufung nach Frankfurt Regierungspräsident von
Niederbayern gewesen, kam also wie Bismarck als Neuling in
den diplomatischen Dienst. Aber welch’ ein Unterschied! Wäh-
rend Bismarck das neue Handwerk sofort mit dem Geschick
des geborenen Diplomaten ergriff, blieb Schrenk stets ängstlicher
Jurist. Die beiden Männer kamen immer ausgezeichnet mit-
einander aus, aber großzügige politische Zusammenarbeit kam
bei Schrenks Naturell niemals zustande. Für die völlig un-
politische Art Schrenks sei nur folgendes Zeugnis angeführt:
Im Jahre 1870 forderte er die europäische Unabhängigkeit
Bayerns. Das veranlaßte den Kabinettssekretär Eisenhart zu
folgendem, durchaus berechtigtem Urteil: „Der politische Theil
des Briefes des Freiherrn von Schrenk ist mir — im Vertrauen
* An Manteuffel 26. IV. 56. G. W. II, S. 141.
* An Gerlach 27. IV. 55, S. 215.
328 Siegmund Meiboom
gesagt — unfaBlich. Wie kann ein früherer Minister und Bundes-
tagsgesandter und Reichsrath — mit anderen Worten, eine
staatsmännische Capazität — glauben, daß jetzt, wo die nationale
Strömung so stolz und gewaltig, jetzt, wo leidenschaftliches
Parteileben in unserem Lande die Regierungsgewalt so hemmt,
Bayern auf die Dauer isoliert bleiben könnte! Ich halte es für
absolut unmöglich und glaube nicht, in dem Fall der Irrende zu
sein“.“
Der unpolitische Charakter Schrenks war aber nicht der
Hauptgrund für die völlige Abwendung Bismarcks von Bayern
und den Mittelstaaten überhaupt. Dieser lag auf außenpoli-
tischem Gebiet. Um mit einem Bilde Bismarcks zu reden,
kann man ihn so formulieren: Während vor 1856 für Bismarck
Deutschland der Exerzierplatz der preußischen Politik war,
wurde es nach 1856 Europa. Seine großen Reisen nach Paris,
Kopenhagen und an die sämtlichen Kabinette der deutschen
Staaten hatten seinen außenpolitischen Blick geschult. Vor
allem die Pariser Reisen bedeuten Wendepunkte in der poli-
tischen Entwicklung Bismarcks. Der Gedanke des preußisch-
französischen Bündnisses taucht seitdem immer wieder auf.
Deutschland war zu eng gewesen für die Erkämpfung von
Preußens Gleichstellung neben Österreich. Die politischen
Kräfte Europas wollte er für Preußens Kampf mit Österreich
ausnützen. Die Pariser Reisen hatten ihm dieses Europa zum
ersten Male gezeigt. Nach dieser Erkenntnis war die Haupt-
aufgabe, seine neuen Gesichtspunkte in Berlin zur Anerkennung
zu bringen. Die Mittelstaaten, deren Friedensliebe er vorher
so beredt geschildert hatte, wurden plötzlich zu den übelsten
Feinden Preußens, die bei der ersten besten Gelegenheit zu-
Sammen mit Frankreich es zu zerstückeln versuchen würden.
„Sie werden beizeiten in Paris direkte Garantien zu erhalten
suchen, vielleicht sogar Aussicht auf Gewinn ... Die Bamberger
Staaten finden in Frankreich den schlieBlichen Stützpunkt der
unabhängigen und schiedsrichterlichen Stellung, welche sie in
den Rivalitäten der deutschen Großmächte annehmen konn-
ten?9," Er wollte das Berliner Kabinett glauben machen, daß
1 Kabinetts-Sekretär Eisenhart an Staatsrat v. Daxenbeeger. Zitiert nach
Doeberl: Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, S. 310.
38 Denkschrift an Manteuffel Mai 57. G. W. II, S. 217fl.
Bismarck und Bayern am Bundestag 329
die Mittelstaaten nur solange die preußische Freundschaft
suchen würden, als sie Preußen für befreundet mit Frankreich
halten“. Gleichzeitig stellte er mit besonderer Eindringlichkeit
dar, daB Österreich viel mehr Mittel als Preußen besitze, die
mittelstaatlichen Minister sich gefügig zu machen, und er tat
von der Pfordten das bittere Unrecht an, auch ihn zu den von
Österreich „gezähmten“ Ministern zu rechnen“. Von der Pford-
ten hatte bei weitem tapferer als das preuBische Kabinett
während des Krimkrieges Österreichs Anmaßung bekämpft.
Bismarck war jedoch jedes Mittel recht, um die Notwendigkeit
des preuBisch-franzósischen Bündnisses darzulegen. Alle Hoff-
nungen auf den Bundestag hatte er aufgegeben: „Es ist für
Preußen nach menschlicher Voraussicht unmöglich, Österreich
den dominierenden Einfluß zu entreiBen''?!, Die Mittelstaaten
stünden ständig gegen Preußen. Ihre Sympathien seien niemals
zu gewinnen®. Sein Widerwille gegen die Mittelstaaten trieb
ihn im Sommer 58 sogar zu der maßlos übertriebenen Be-
hauptung: Rechberg sei „beschränkt und leidenschaftlich
genug, um nicht zu merken, wie die Mittelstaaten ihn gegen
Preußen mißbrauchen®®.‘‘ Also Österreich kämpfte im Gefolge
der Mittelstaaten gegen Preußen! Eine gröbere Verzeichnung
der Wirklichkeit ist kaum denkbar.
Als natürliche Reaktion begann damals die bayerische
Opposition gegen Bismarck. Schrenk sagte in Wien: „Herr von
Bismarck sei eigentlich die einzige Ursache des ungemüthlichen
Lebens in Frankfurt und nach seiner Entfernung würde alles
in Friede und Einigkeit lebens“. In demselben Sinne wirkte
Graf Bray in Berlin, wie es Graf Montgelas schon vor ihm getan
hatte. Von der Pfordten war empört über Bismarcks „, durch-
aus revolutionäres“ Verhalten, als er wegen geringster Kleinig-
keiten im Februar 1858 mit Österreich einen Streit vom Zaune
brach®®,
Denkschrift an Manteuffel 2. VI. 57. G. W. II, S. 231.
% An Manteuffel 14. III. 58. G. W. II, S. 294.
21 Denkschrift für den Prinzen von Preußen, März 58. G. W. II, S. 311.
33 Ebenda, S. 317.
3 An Bernstorff 7. V. 58. G. W. II, S. 330.
* Graf Arnim an Manteuffel 17. VII. 58. Preußens ausw. Pol. III. S. 468.
% Montgelas an den König 16. III. u. 24. III. 58. M. A. II, S. 218.
% Vgl. A. O. Meyer a. a. O., S. 410ff.
330 Siegmund Meiboom
Der Freiherr von Beust hat sich in seinen Memoiren Bis-
marck gegenüber zum Verteidiger der Mittelstaaten aufgeworfen
und gesagt, der Kenner könne sich „kaum eines willkürlichen
Anfluges von Heiterkeit erwehren, wenn er die Schilderung jener
Macchiavellistischen Umtriebe des Wiener Kabinettes aus einer
Zeit liest, wo die Regierungen der Mittelstaaten ebenso oft und
vielleicht noch öfter in Disharmonie mit Wien als mit Berlin
waren?”.‘‘ Ohne Frage ist das richtig. Bayern stand sowohl in
den Fragen der Bundeskompetenz wie während des ganzen
Krimkrieges und in vielen kleinen Streitigkeiten stärker auf
seiten Preußens als Österreichs; und in der Zollkrisis von 1851/52
hatte Preußen an Sachsen einen starken Rückhalt. Und doch
bleibt Beust mit seiner These der preußisch-mittelstaatlichen
Freundschaft nur an der Oberfläche der Dinge. Zwar war es
Tatsache, daß in Einzelfragen die Mittelstaaten häufiger mit
Preußen als mit Österreich gingen, aber im Grunde waren sie
doch Gegner Preußens in dessen Kampf um die Gleichstellung
mit Österreich. Von der Pfordten sprach das offen aus: „‚Öster-
reich ist und bleibt die erste deutsche Großmacht, und Preußen
muß sich darein ergeben, wie Jedermann in das Maß von Größe
und Mächt, das Gott ihm zugeteilt hat?®.‘‘ Dieses Urteil von
der Pfordtens steht im vollen Einklang mit einer Äußerung des
Prinzregenten Friedrich von Baden: „In Berlin ist die Kon-
fusion größer wie jemals, und es wird dort in gewissen Kreisen
ganz vergessen, daß Preußen nur ein deutscher, noch aber
kein europäischer Groß-Staat ist.‘ Genau so dachte Beust.
Bei dieser antipreußischen Grundhaltung spielte die Zustimmung
in Einzelfragen nur eine untergeordnete Rolle. Bismarck
wollte gerade die Überzeugung von der österreichischen Hege-
monie für immer aus der Welt schaffen. „Preußen kann nicht
auf den Anspruch der Gleichstellung mit Österreich ver-
zichten®.“
Doeberl hat Bismarck als Kronzeugen für die Berechtigung
des bayerischen Partikularismus angerufen“. Mit Unrecht.
37 Beust: Aus dreiviertel Jahrhunderten, S. 150.
38 Geh. Staatsarchiv München M. A. II. 106 v. d. Pf. an Schrenk 27. I. 57.
39 Oncken: Friedrich I., S. 5.
40 Denkschrift f. d. Prinzen v. Preußen G. W. II, S. 316.
41 Doeberl: Bayern u. d. Bismarcksche Reichsgründung, S. 213.
Bismarck und Bayern am Bundestag 331
Die Äußerungen Bismarcks über bayerische Größe haben fast
immer nur taktische Bedeutung. Man könnte ihnen genau so
viele Spottworte Bismarcks über bayerische Politik an die Seite
stellen, in denen er sich über die „bayerischen Großmacht-
gelüste' lustig macht, oder in denen er von dem lüsternen
Bayern spricht, das „nur in der Bocksaison‘ große Politik
mache. Diese Äußerungen fehlen allerdings in der ersten Ver-
öffentlichung seiner Frankfurter Berichte durch Poschinger
(1882—84) und in den 1896 veröffentlichten Briefen an Ger-
lach. Bismarck hatte sie selbst gestrichen, auch dabei be-
wegten ihn taktische Gründe.
In dem berühmten Kapitel über Dynastien und Stämme hat
Bismarck dem bayerischen Nationalgefühl hohe Worte der
Anerkennung gewidmet, die zweifellos seine wirkliche Ansicht
wiedergaben, vielleicht damals auch ihre tiefe Berechtigung .
hatten. Er bekannte sich zu der Anschauung, daß das deutsche
Nationalgefühl nur durch die Dynastien zusammengehalten
sei, ja daß es der Dynastien bedürfe, um lebendig zu werden.
„Wenn man den Zustand fingierte, daß sämtliche deutsche
Dynastien plötzlich beseitigt wären, so wäre nicht wahrschein-
lich, daß das deutsche Nationalgefühl alle Deutschen in den
Frictionen europäischer Politik völkerrechtlich zusammenhalten
würde.“ Sämtliche deutschen Dynastien sind gefallen. Trotz
der Stürme des Weltkrieges und ihrer verheerenden Folgen hat
Deutschland zusammengehalten. Die Geschichte hat gezeigt,
daß diese Anschauung Bismarcks der realen Grundlage ent-
behrte. Hierin hat Bismarck geirrt. Zum Segen Deutschlands.
Das Nationalgefühl der Deutschen quillt — jedenfalls heute —
nicht mehr aus der dynastischen Bindung, sondern aus dem
Bewußtsein des gemeinsamen Schicksals.
“ G. W. I, S. 289. G. W. I, S. 308. G. W. II, S. 17. G. W. II. S. 87. G. W.
II. S. 294.
Gedanken und Erinnerungen I, S. 291.
332
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866.
Ein Beitrag zur Kritik der „Gedanken und Erinnerungen“.
Von
Hermann Gackenholz.
Bismarck erzählt im zweiten Abschnitt des ,,Nikolsburg''
überschriebenen 20. Kapitels seiner ,, Gedanken und Erinnerun-
gen'' den Verlauf eines Kriegsrates, der während des böhmischen
Feldzuges in Czernahora stattgefunden hat. Dort hätte er —
einen von der Auffassung Moltkes abweichenden Vorschlag
machend — in den Gang der militärischen Operationen ein-
gegriffen und die Billigung des Kónigs dafür gefunden.
Der wórtliche Bericht Bismarcks lautet: ,,Am 12. Juli fand
in dem Marschquartier Czernahora Kriegsrat statt ... An jenem
Tage handelte es sich um die Richtung des weiteren Vorgehens
gegen Wien; ich war verspátet zur Besprechung erschienen,
und der König orientierte mich, daß es sich darum handle, die
Befestigungen der Florisdorfer Höhen zu überwältigen, um nach
Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beschaffenheit der Werke
schweres Geschütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müsse,
und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich sei.
Nachdem Bresche gelegt, sollten die Werke gestürmt werden,
wozu ein mutmaflicher Verlust von 2000 Mann veranschlagt
würde. Der Kónig verlangte meine Meinung über die Frage.
Mein erster Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren
durften, ohne die Gefahr mindestens der französischen Ein-
mischung sehr viel näher zu rücken, als sie ohnehin lag (in An-
merkung: Die Situation war áhnlich wie 1870 vor Paris). Ich
machte meine Besorgnisse geltend und sagte: „Vierzehn Tage
abwartender Pause kónnen wir nicht verlieren, ohne das Schwer-
gewicht des französischen Arbitriums gefährlich zu verstärken.“
Ich stellte die Frage, ob wir überhaupt die Florisdorfer Befesti-
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 333
gungen stürmen müßten, ob wir sie nicht umgehen könnten.
Mit einer Viertelschwenkung links könne die Richtung auf
Preßburg genommen werden und die Donau dort mit leichterer
Mühe überschritten werden. Entweder würden die Österreicher
dann den Kampf in ungünstiger Front nach Osten südlich der
Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann
sei Wien ohne Schwertstreich zu nehmen. Der König ließ sich
eine Karte reichen und sprach sich zugunsten dieses Vorschlages
aus; die Ausführung wurde, wie mir schien widerstrebend, in
Angriff genommen, aber sie geschah‘
Bismarck führt dann als Wirkung seines Eingreifens einen
„erst“ unter dem 19. Juli ergangenen Heeresbefehl an und
schließt den Abschnitt nach einer längeren Betrachtung über
die Unnötigkeit eines preußischen Einmarsches in Wien mit
dem Satz: „Die Verstimmung, die mir mein Verhalten in den
militärischen Kreisen eintrug, habe ich als Wirkung einer
militärischen Ressortpolitik betrachtet, der ich den entschei-
denden Einfluß auf die Staatspolitik und deren Zukunft nicht
einräumen konnte.‘
Wenn wir die Darstellung der Vorgänge von Czernahora 80,
wie sie aus der Feder Bismarcks stammt, ohne jeden Vorbehalt
übernehmen, so ergibt sich u. E. eine Reihe sowohl für das
Verhältnis von Bismarck zu Moltke wie auch für das Problem
„Kriegführung und Politik“ höchst bedeutsamer Tatsachen:
1. Bismarck hat seine militärische Ansicht, wo er während
des Feldzuges von 1866 für nötig hielt, nicht nur geäußert,
sondern sogar mit Hilfe der königlichen Autorität durchgesetzt
— mit anderen Worten und für das Problem ,,Kriegführung
und Politik“ gefaßt, die Politik hat hier einmal die Strategie
bis in die Einzelheiten der Operationen beherrschend beeinflußt.
2. Dabei ist ein — wenn auch mehr innerlicher, als äußer-
lich erkennbarer — Konflikt mit Moltke entstanden, der
sich ja der Meinung Bismarcks nur „widerstrebend“ gefügt hat.
3. Der Krieg von 1866 stellt also ein Vorspiel zu dem spáteren
Konflikt zwischen Moltke und Bismarck dar, von dem sich eine
t Bismarck weist auch an einer anderen Stelle, in dem späteren Kapitel „Ver-
sailles“, noch einmal deutlich auf seine Einwirkung auf die Änderung der Richtung
" Vormarsches hin. Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe, Stuttgart 1922,
S. 108.
334 Hermann Gackenholz
„Verstimmung der militärischen Kreise" bis zum Beginn des
Krieges von 1870/71 erhalten hat“.
In der Tat müssen wir bei einer Betrachtung der Literatur,
die sich — meist von jener Streitfrage „Politik und Krieg-
führung“ herkommend — mit dem Kriegsrate von Czernahora
beschäftigt hat, feststellen, daß die Erzählung Bismarcks aus
den „Gedanken und Erinnerungen“ meist vorbehaltlos über-
nommen worden ist, und auch die von uns oben skizzierten
Folgerungen gezogen worden sind. So fällt denn auch die
Beurteilung des Eingrifis Bismarcks in den Lauf des Feldzuges
verschieden aus, je nachdem, ob sich die Betrachter auf Seiten
der militärischen oder der politischen Leitung befinden: Diese
loben Bismarck, ,,daB er seine militärische Ansicht zur Geltung
brachte und durchsetzte, wo er es aus politischen Gesichts-
punkten für nötig hielt“ — jene weisen einen solchen Einfluß
Bismarcks auf die Operationen mehr oder weniger scharf zu-
rück: So vor allem die Offiziere, die sich mit dem Problem
„Kriegführung und Politik“ auseinandersetzen; wir nennen u. a.
W. v. Blume, v. Freytag-Loringhoven und v. Haeften “. Wohl
ráumen alle Bismarck das Recht ein, auf die politischen Gefahren
aufmerksam zu machen — „dem Könige aber bezüglich der
daraus zu ziehenden militärischen Folgerungen Rat zu erteilen,
dazu war er nicht berufen' 5, Denn sie alle sind überzeugt,
daB Bismarck damit nur „seine höhere militärische Einsicht“
zur Geltung bringen wollte, zu der er auch ,,einem Moltke ge-
genüber hohes Vertrauen besaß“ 7.
Während also der Bericht der,, Gedanken und Erinnerungen“
von einer Anzahl der Betrachter des Problems „B Kriegführung
und Politik“ ohne weiteres übernommen und verwertet worden
ist, sind dagegen Versuche zu einer Kritik an der Bismarckschen
* Vgl. Bismarcks Schilderung dieser Stimmung im Zusammenhang der Eisen-
bahn-Episode zu Beginn des Krieges von 1870. Gedanken und Erinnerungen. II.
S. 107f.
Hermann Oncken, Politik und Kriegführung. München 1928, S. 8.
v. Blume, Politik und Strategie, Moltke und Bismarck 1866 und 1870—1871
Preuß. Jahrb. 111, S. 236ff. — v. Freytag-Loringhoven, Politik und Kri
Berlin 1918. — v. Haeften, Bismarck und Moltke. Preuß. Jahrb. 177, S. 84ff.
Blume S. 238.
Haeften S. 85.
7 siehe Note 5.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 335
Erzählung nur ganz vereinzelt gemacht worden, obgleich eine
Reihe von Unklarheiten und Widersprüchen in der Erzählung
geradezu dazu herausfordern. Den ersten Hinweis auf die
Zweifelhaftigkeit des Berichtes besonders hinsichtlich der Zeit-
folge gibt v. Lettow-Vorbeck „Der Krieg von 1866“ in einer
kurzen Randnotes. Hierdurch angeregt beschäftigen sich dann
Max Lenz in seiner „Kritik der Gedanken und Erinnerungen‘“®,
und W. v. Blume in seinem Aufsatze „Politik und Strategie“ 10
mit dem Berichte Bismarcks. Beide geben ausführliche und
fruchtbare Untersuchungen, die eine Reihe von Widersprüchen
und Ungenauigkeiten aufdecken und festlegen und so auch
uns wertvolle Fingerzeige geben. Dennoch sind beide Arbeiten
u. E. kaum als abschließend zu betrachten, da sie darauf ver-
zichten, die gefundenen Widersprüche quellenmäßig zu klären,
ja dem Kernproblem, wie uns scheint, aus dem Wege gehen:
Max Lenz, indem er den Schwerpunkt seiner Kritik auf einen
Teil des Berichtes legt, der u. E. nebensächlich und eigentlich
ohne Zusammenhang mit den Vorgängen von Czernahora ist,
auf die Frage des preußischen Einzuges in Wien!; W. v. Blume,
indem er letzten Endes sogar von seiner eigenen Kritik wieder
abrückt, weil er den Bericht so, wie er aus Bismarcks Feder
stammt, doch am vorteilhaftesten im Rahmen seiner Polemik
über „Politik und Kriegführung“ verwenden zu können glaubt!2.
® v. Lettow-Vorbeck, Der Krieg von 1866. Berlin 1899, II, S. 651. Fußnote.
Lenz, Kritik der Gedanken und Erinnerungen. Berlin 1899, S. 62ff.
? siehe Note 5.
u Lenz stellt in den Mittelpunkt seiner kritischen Erörterungen die Frage eines
preußischen Einmarsches in Wien, dessen Unnötigkeit Bismarck im Anschluß an
die Erzählung der Vorgänge von Czernahora hervorhebt. Lenz bringt die Ausfüh-
rungen Bismarcks in einen logischen Zusammenhang mit dem Rate, die Donau
bei Preßburg zu überschreiten, so, als ob die Vermeidung des Einzuges in Wien für
Bismarck der Grund zu seinem Eingreifen in die Operationen gewesen ist. Ein
solcher Zusammenhang besteht aber zweifellos nicht, wie der Wortlaut der Erzäh-
lung Bismarcks sofort zeigt: „ .. dann sei Wien ohne Schwertstreich zu nehmen...“
(Gedanken und Erinnerungen II, S. 41.) Wir schließen uns vielmehr der Auffassung
Horst Kohls (s. unten) an, der die Kritik Lenz’ zurückweisend darlegt, daß der
Erörterung Bismarcks nur eine rückschauende Betrachtung zugrunde liegt. Gedan-
ken und Erinnerungen II, S.41. Fußnote.
" Blume weist sehr richtig auf die Rolle der Belagerungsartillerie hin. Er
kommt sogar zu dem Schlusse, daß „innere und äußere Gründe für die Annahme
sprechen, daß Bismarcks Erinnerung ungenau war." — Demgegenüber betont er
336 Hermann Gackenholz
Diese Ansätze zu einer kritischen Betrachtung sind nun auch
nicht unwidersprochen geblieben von solchen, die an der Wahr-
heitstreue der Erzählung der „Gedanken und Erinnerungen“
unbedingt festhalten wollen und deshalb wiederum gegen Lenz
und Lettow-Vorbeck Stellung nehmen: so Pahncke in seinen
„Parallelerzählungen“ i, und der Herausgeber der Neuen Aus-
gabe der „Gedanken und Erinnerungen‘, Horst Kohl, in seinen
Randnoten dazu!“.
Die durch die Unvollständigkeit der bisherigen Unter-
suchungen entstandene Lücke in der Kritik auszufüllen und
zugleich die kleine Polemik abzuschließen, soll in dieser
Arbeit versucht werden. Wir halten eine solche kritische
Zergliederung eines Abschnittes aus dem Testament des großen
deutschen Staatsmannes für berechtigt und gewinnbringend,
umso mehr, weil wir hoffen, so Klarheit über die Bedeutung der
Erzählung Bismarcks als historische Quelle und über die Be-
rechtigung ihrer so vielfachen und verschiedenartigen Aus-
beutung zu erlangen.
Über den Verlauf der Besprechung von Czernahora
liegen uns zwei gleichzeitige Quellen vor, nämlich ein Be-
richt Benedettis, der Napoleon über die Erfolge seiner per-
sönlichen Intervention informieren sollte!5, und ein Bericht
von Bismarcks eigener Hand, der dem Kronprinzen durch
dessen in das Hauptquartier gesandten Adjutanten zugestellt
wurdeis. Von beiden ist der letztere der für uns bedeut-
samere, da Bismarck sich dem Kronprinzen gegenüber auch
über die Motive zu den Entschlüssen des Kriegsrates aus-
dann aber am Schlusse seiner Ausführungen — nun wiederum ganz ohne jeden
Zweifel an der Wahrheitstreue Bismarcks —, daß „Bismarck bei dem Militärvortrage
von Czernahora nach seinem eigenen Berichte unternommen hat, in einer rein
militärischen Frage der Kriegführung die Ansicht Moltkes zu berichtigen, und daß
die Art und Weise, wie er davon spricht, erkennen läßt, wie hohes Vertrauen er zu
seiner eigenen militärischen Einsicht auch einem Moltke gegenüber besaB." Blume
schließt dann — der Polemik seines Aufsatzes folgend — mit einer scharfen Zurück-
weisung dieses Eingriffs Bismarcks.
13 Pahncke, Parallelerzählungen Bismarcks. Halle 1910, S. 129f.
^ Horst Kohl, der Herausgeber der Neuen Ausgabe der Gedanken und
Erinnerungen, beteiligt sich mit seinen FuBnoten an der Kontroverse, s. Note 9.
!5 Origines diplomatiques de la guerre de 1870/71. XI, S. 17ff.
16 Abgedruckt bei Lettow-Vorbeck. II, S. 594ff.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 337
spricht, die Benedetti gegenüber streng geheim behandelt
wurden. Aus diesen Quellen geht nun deutlich hervor,
daß der Hauptgegenstand des Kriegsrates, der sofort nach
der um 5 Uhr nachmittags erfolgten Ankunft des Haupt-
quartiers in Czernahora abgehalten wurde, die durch die plötz-
liche Ankunft Benedettis besonders akut gewordene Frage
eines Waffenstillstandsangebotes an Österreich war. Ein solches
den Österreichern zu machen, wurde in der Beratung abgelehnt,
da man dazu — wie Bismarck in seinem Bericht angibt —
„1. die Einwilligung Italiens und 2. einige Sicherheit über die
künftigen Friedensbedingungen“ für notwendig erachtete. Da-
gegen entschloß man sich, gegen genügende militärische Sicher-
heiten eine Waffenruhe — „abstention d'hostilités" — von
drei Tagen anzubieten.
Wie aus Bismarcks Bericht an den Kronprinzen klar ersicht-
lich, ist die Neigung zu einer solchen zeitweiligen Einstellung
der Feindseligkeiten nicht unwesentlich verstärkt worden da-
durch, daß „die Herren vom Militär (Se. Kgl. Hoheit Prinz
Friedrich Karl) erklärt hatten, daß die Armee zwei Ruhetage
unbedingt notwendig hätte zur Herstellung des Schuhzeuges“ 17.
Dieser Hinweis Bismarcks auf die Meinung „der Herren vom
Militär, besonders des Prinzen Friedrich Karl“ erlaubt uns die
Annahme, daß in jenem Kriegsrate auch militärische Dinge
zur Sprache gekommen sein müssen. Wir erkennen nämlich
in der „Meinung des Prinzen Friedrich Karl“ einen Bericht
wieder, den dieser am 11. Juli 6 Uhr nachmittags an das Haupt-
quartier gesandt hatteis. In diesem meldet er neben dem Ein-
marsch seiner Avantgarde in Brünn, daß „die großen Anstren-
gungen beim Überschreiten des Gebirges sowie das dringende
Bedürfnis, der Retablierung des Schuhzeuges bei der Infanterie
sowie des Beschlages bei der Kavallerie für seine Armee eine
zweitägige Ruhe in Brünn in hohem Maße wünschenswert
machen.. Daß dieser Antrag von entscheidender Bedeutung
für die Frage eines Waffenstillstandsangebotes geworden war,
haben wir oben gesehen, es ist aber u. E. mit Bestimmtheit an-
zunehmen, daß auch die folgenden beiden Punkte des Berichtes
" siehe Note 14
* Abgedruckt bei Haeseler, Zehn Jahre im Stabe des Prinzen Friedrich Karl.
Berlin 1915, IIT, S. 183£
Histor. Vierteljahrschrift. Rd. 26, H. 2. 22
—
338 Hermann Gackenholz
des Prinzen den Kriegsrat beschäftigt haben, nämlich seine
Bitte um Zuweisung von Pontonkolonnen und schwerem Be-
lagerungsgeschütz. Es heißt in dem Berichte des Prinzen:
„Durch die Direktion meiner Armee von Brünn auf Wien wird
derselben naturgemäß seinerzeit die Aufgabe des Überschreitens
der Donau zufallen ... Schon vor mehreren Tagen habe ich den
Chef des Generalstabes der Armee, General von Moltke, ersuchen
lassen, die von Torgau nach Turnau herangezogenen Ponton-
kolonnen des II. und III. A.Ks. von letzterem Orte aus der
1. Armee schleunigst folgen zu lassen; ich selbst wäre nicht
imstande, diese Anordnungen zu treffen, da keine Verbindung
mit Turnau bestand. Sofern diese beiden Pontonkolonnen im
Anmarsch zu meiner Armee sind, würde ich an ihnen doch kein
hinreichendes Material zum Überschreiten der Donau an mehreren
Punkten besitzen. Ich bitte deshalb Ew. Majestät allertunter-
tänigst, mir auch noch die sämtlichen bei der 2. Armee be-
findlichen Pontonkolonnen zu diesem Zwecke überweisen zu
wollen.
„Hieran schließt sich aber auch ferner die Bitte um schweres
Geschütz. Ich werde die Donau nicht überschreiten können,
bevor ich nicht im Besitze der Florisdorfer Verschanzungen bin,
und in deren Besitz gelange ich voraussichtlich nur durch
schweres Geschütz. Ew. Majestät wollen daher die Zuteilung
von schwerem Geschütz allergnádigst zu befehlen geruhen''!9,
Als Ergebnis der auch über diese beiden Punkte des Berichtes
des Prinzen Friedrich Karl stattgefundenen Beratung dürfen
wir die entsprechende Antwort Moltkes am nächsten Tage auf-
fassen®:
„Des Königs Majestät bewilligen den Truppen der ersten
Armee nach den bisherigen anstrengenden Märschen eine zwei-
tägige Ruhe.
„Die schon früher nach Turnau dirigierten Pontonkolonnen
wolle das Oberkommando sogleich durch Landmarsch nach
Pardubitz heranziehen, wo dieselben für ihren später etwa an-
zuordnenden Weitertransport durch die Eisenbahn bereit zu
halten sind.
19 siehe Note 18
Moltke, Militärische Korrespondenz 1866. Nr. 176. S. 259.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 339
„Die beantragte Heranziehung von 50 schweren Geschützen
ist einstweilen noch nicht auszuführen; weitere Bestimmung
darüber bleibt diesseits vorbehalten“.
Dieses „einstweilen noch nicht“ des letzten Abschnittes be-
zeichnete eine vorläufige Suspendierung der Heranziehung der
Geschütze bis zu dem Zeitpunkt, wo man im Besitze einer
direkten Eisenbahnverbindung mit Dresden über Prag sein
würde. Am 14. Juli wurde nämlich der Befehlshaber der in
Dresden zusammengezogenen Festungsartillerie, Oberst Mertens,
telegraphisch angewiesen, „daß 50 dorthin dirigierte Geschütze
so bereit zu halten sind, daß sie, sobald es befohlen würde, ohne
Zeitverlust auf der Eisenbahn abgesendet werden können“.
Moltke beabsichtigte also für die Nachführung sowohl der
Pontonkolonnen, die er nach Pardubitz an die Eisenbahnlinie
befohlen hatte, wie auch des Belagerungsgeschützes das rasche
Beförderungsmittel der Eisenbahn zu benutzen®#.
Offenbar ist neben der Frage des Waffenstillstandsangebotes
und den Eingaben des Prinzen Friedrich Karl noch über einen
dritten Punkt gesprochen worden: An dem oben erwähnten eigen-
händigen Bericht Bismarcks an den Kronprinzen findet sich näm-
lich ein Vermerk von der Hand des mit der Beförderung des
Berichtes beauftragten Adjutanten des Kronprinzen. In diesem
Zusatz hat der Adjutantaugenscheinlich mündliche Informationen
fixiert, denn es findet dort u.a. der „Wunsch“ Bismarcks, daß
„unsererseits (d. h. von der zweiten, der kronprinzlichen Armee)
etwas gegen Ungarn unternommen werden sollte, um dort den bald
im Zuge befindlichen Vorbereitungen zu revolutionären Be-
wegungen eine Basis und neuen Anstoß zu geben“ . Hieraus
n siehe Note 20
n Der Feldzug von 1866 in Deutschland. Redigiert vom Großen Generalstab.
Berlin 1867. S. 484.
# Moltke hat von Beginn des Feldzuges an die Bedeutung der Eisenbahnlinie
Dresden—Prag—-Brünn als wichtige Etappenstraße für die in Böhmen operierenden
Truppen erkannt und auch schon am 2. Juli befohlen, diese Linie durch Besetzung
von Theresienstadt und Prag in preußische Hände zu bringen und sofort verwendungs-
fähig zu machen. (Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 150, S. 241.) Nachdem dann
Prag von der Garde-Landwehr-Division besetzt worden war, rechnete Moltke, wie
aus einem Brief von 12. Juli (Ges. Schriften VI, S. 452) hervorgeht, mit einer Inbe-
triebnahme der Eisenbahnlinie für diesen oder für die nächsten Tage.
* Lettow-Vorbeek III, S. 596.
22 *
340 Hermann Gackenholz
glauben wir entnehmen zu können, daß auch die Frage, ob und
wieweit das Schüren revolutionärer Umtriebe in Ungarn als
Kampfmittel gegen Österreich angewendet werden sollte, be-
handelt worden ist. Man scheint zu dem naheliegenden Schlusse
gekommen zu sein, die Antwort Österreichs auf das Waffen-
ruheangebot abzuwarten und dann erst zu diesem neuen Druck-
mittel gegen Österreich zu greifen. So geschah es nämlich in der
Tat: Auf die ablehnende Antwort Österreichs erfolgte am
14. Juli der Befehl zur Gründung einer Ungarischer Legion“.
Daß Bismarck den „F Wunsch nach einer baldigen Unternehmung
gegen Ungarn‘ gerade dem Kronprinzen übermitteln ließ, er-
scheint uns aus dem naheliegenden Grunde erklärlich, daß
nämlich die 2. Armee, den linken Flügel des nach Süden vor-
rückenden Heeres bildend, der ungarischen Grenze und Be-
völkerung am nächsten kommen mußte.
Wenn wir an dieser Stelle uns noch einmal zusammen-
fassend darüber klar werden wollen, was wir — unabhängig
von dem Berichte Bismarcks in den „Gedanken und Erinnerun-
gen“ — aus den anderen uns vorliegenden Quellen als tatsäch-
lichen Gegenstand des Kriegsrates von Czernahora heraus-
geschált haben, so bleiben drei Punkte, von denen wir mit einer
gewissen Sicherheit behaupten kónnen, sie seien verhandelt
worden:
1. Die Waffenstillstandsfrage, deren Ergebnis, nicht zu-
letzt auf Grund der Eingabe des Prinzen Friedrich Karl auf
Ruhezeit, das Angebot einer dreitägigen „abstention d'hosti-
lités“ war;
2. Die weiteren Anträge des Prinzen auf Zuweisung von
Pontonkolonnen und Belagerungsgeschütz, die von Moltke ,,einst-
weilen noch“ zurückgestellt wurden, bis man sich im Besitze
einer geregelten und leistungsfáhigen Bahnverbindung und damit
der Móglichkeit rascher Befórderung befinden würde;
3. Die Frage, ób und wieweit man sich des neuen Druck-
mittels einer Unterstützung der revolutionären Stimmung in
Ungarn bedienen sollte.
Der groBe Unterschied, der zwischen dem von uns heraus-
gearbeiteten Inhalt des Kriegsrates von Czernahora und dem
** Lettow-Vorbeck III, S. 599. — Vgl. auch Roloff, Brünn und Nikolsburg.
H. Z. 136, S. 461f.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 341
Berichte Bismarcks in den „Gedanken und Erinnerungen“
besteht, wird bei einer Gegenüberstellung sofort deutlich.
Wir gewinnen den Eindruck, daß Bismarcks Darstellung zu-
mindest stark irrtümlich, wenn nicht sogar falsch ist. Und
doch lassen sich in seinem Berichte drei Erinnerungsmomente
feststellen, die bei näherem Zusehen den dargestellten Ver-
handlungspunkten ohne Zweifel entsprechend zugehören: Die
Waffenstillstandsfrage als „drohende französische Einmischung“,
die Anträge Friedrich Karls um Pontonkolonnen und Be-
lagerungsgeschütz und die Debatte über deren Heranschaffung als
„Zeitverlust von 14 Tagen Transportzeit‘‘ und endlich die Bil-
dung einer Ungarischen Legion als „Viertelschwenkung links
auf Preßburg“. Die starke Wandlung der tatsächlich besproche-
nen Fragen bis zu den eben schlagwortartig skizzierten Er-
innerungsmomenten, die deutliche Verschiebung ihres ur-
sprünglichen Gewichtes und ihre eigenartige logische Ver-
knüpfung in Bismarcks Darstellung finden eine überraschende
Erklärung in einer Tatsache, zu deren Erkenntnis uns Bis-
marck selbst den Weg gewiesen hat: Durch Zitate aus den von
ihm benutzten Hilfsquellen und durch vor- und rückschauende
Hinweise gibt uns Bismarck die Möglichkeit, seinen Gedanken-
gängen bei der Entstehung dieses Abschnittes der „Gedanken
und Erinnerungen“ nachzuspüren, ihn bei seiner Arbeit sozu-
sagen zu belauschen — ein reizvolles, aber wegen des großen
menschlichen Abstandes nicht gefahrloses Unterfangen.
Bismarck hat, wie aus seiner Darstellung hervorgeht, bei
der Entstehung des den Krieg von 1866 behandelnden Kapitels
der „Gedanken und Erinnerungen‘ verschiedene Werke als
Ergänzung und Hilfe für sein Gedächtnis an diese Zeit, die ja
fast ein Menschenalter hinter ihm lag, herangezogen: vor allem
Sybels Geschichte der Begründung des Deutschen Reiches für
die politische Seite des Krieges und das Generalstabswerk für
die militärische. Bei der Durchsicht dieses letzteren sehr ins
Einzelne gehenden Werkes ist Bismarck — wie die von ihm
selbst gesetzte Fußnote“ zeigt — auf die schon von uns oben
herangezogene Bemerkung gestoßen, daß „am 14. Juli der
Oberst Mertens angewiesen wurde, 50 nach Dresden dirigierte
” Gedanken und Erinnerungen II, S. 40, Fußnote.
342 Hermann Gackenholz
Geschütze so bereit zu halten, daß sie, sobald es befohlen würde,
ohne Zeitverlust auf der Eisenbahn abgesendet werden könn-
ten“ “7. Diese Bemerkung hat nun bei Bismarck eine Erinnerung
an die Debatte über diesen Punkt wachgerufen. In deren Ver-
lauf mag Moltke etwa ausgeführt haben, daß eine der Eingabe
Friedrich Karls entsprechende sofortige Heranführung der
Geschütze nur mit Pferdetransport hätte erfolgen können,
daß dazu bei der Unbeholfenheit des damaligen Belagerungs-
parkes aber „14 Tage Transportzeit‘‘ nötig gewesen wären, und
daß er die Möglichkeit der einfacheren und rascheren Beförde-
rung mit der Eisenbahn abzuwarten beabsichtigtes. Dieser letzte
Entschluß Moltkes ist offenbar in Bismarcks Erinnerung nicht
mehr deutlich geworden, während dagegen die „14 Tage Trans-
portzeit mit Pferden'' ein ihrer Bedeutung gar nicht entsprechen-
des Gewicht bekommen haben. Dadurch ist die Gedankenfolge
Bismarcks in eine eigenartige Richtung gelenkt worden: Er
glaubte eine Übereinstimmung in der Lage vom 12. Juli 1866
und in den ihm deutlicher vor Augen stehenden, weil ihn ja auch
innerlich viel näher berührenden Vorgängen 1870 vor Paris zu
erkennen. Das beweist sowohl die von ihm gesetzte Fußnote:
„Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris‘‘®, wie auch der
Hinweis, mit dem er später bei der Erzählung des Konfliktes
über die Beschießung von Paris an den Kriegsrat von Üzerna-
hora erinnert: „Es fehlte ... an schwerem Belagerungsgeschütz,
wie im Juli 1866 vor den Florisdorfer Linien“ oO. In diesem
Bestreben Bismarcks, eine Parallele zu den Vorgängen von 1870
zu sehen und auch darzustellen, liegt u. E. der Schlüssel zu der
Erkenntnis, wie der Unterschied zwischen der Darstellung
Bismarcks und dem von uns dargelegten Inhalt der Beratung
zu klären ist. Denn folgerichtig in dem unbewußten Streben,
# siehe Note 22
22 Bei dem Transport der Geschütze mit der Eisenbahn kann von 14 Tagen
Transportzeit natürlich nicht die Rede sein. Das ergibt eine einfache Berechnung
der Entfernungen: Die Länge der Eisenbahnlinie von Dresden bis Brünn und weiter
bis zu den südlich davon operierenden Truppen beträgt rund 300 km. Selbst wenn
wir mit vielen Fahrtunterbrechungen und der Zeit zum Ein- und Ausladen rechnen
müssen, ergeben sich doch höchstens drei bis vier Tage als für die Heranschaffung
notwendige Zeit.
? Gedanken und Erinnerungen II, S. 40. Fußnote.
20 Gedanken und Erinnerungen II, S. 127.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 343
die Lage von 1866 mit der von 1870 so übereinstimmend zu
gestalten, tritt in Bismarcks Erinnerung die Waffenstillstands-
frage, die doch — wie wir oben dargelegt haben — den wichtigsten
Punkt der Verhandlung gebildet hat, ganz zurück, und nur ein
schwaches Erinnerungsmoment an die Sendung Benedettis
wird mit der Transportfrage so verknüpft, als ob, wie 1870 vor
Paris, die für die Heranschaffung der Geschütze notwendige
Zeit die Gefahr einer Einmischung hier Frankreichs — dort
des neutralen Auslandes vergrößert hätte.
Zweifellos hat der ip dem plötzlichen Auftauchen Benedettis
im Preußischen Hauptquartier besonders fühlbare Versuch
Napoleons, die Dinge nach seinen Wünschen zu beeinflussen,
eine gewisse Beunruhigung Bismarcks hervorgerufen. Er hat
aber, wie aus allen Quellen deutlich bervorgeht?!, diesen Stö-
rungsversuchen seiner Politik 1866 bedeutend überlegener und
zuversichtlicher gegenüber gestanden als 1870, vor allem hat
er ein militärisches Eingreifen Napoleons am wenigsten ge-
fürchtet. Deshalb erscheint uns die Verbindung der völlig
voneinander unabhängigen Erinnerungsbilder an die Sendung
Benedettis und an die Transportzeit der Geschütze als eine reine
nachträgliche Konstruktion, deren Unlogik überdies bei einem
Vergleich der äußeren Verhältnisse sofort deutlich wird: 1870
hatte die Belagerung von Paris schon eine gewisse Zeit ergebnis-
los gedauert, als der Streit um die Beschießung ausbrach —
damals konnte in der Tat ‚eine Zeit von 14 Tagen abwartender
Pause“ die Gefahr der Einmischung des Auslandes vergrößern.
1866 befand sich die Armee erst mitten im Vormarsch auf die
noch 100 km entfernten Befestigungen — man hätte sie also
erst nach einer Reihe von Tagen erreicht®, so daß die „Zeit
abwartender Pause“ ohnehin von selbst zusammengeschrumpft
wäre.
Nachdem wir so zu der Ansicht gelangt sind, daß die Ver-
knüpfung von Geschütztransport und Einmischung Frankreichs
als eine nachträgliche Konstruktion anzusehen ist — entstanden
eben aus dem mehr oder weniger unbewußten Streben Bis-
*! Vgl. Roloff S. 467.
*! Stosch, Denkwürdigkeiten. Stuttgart 1904. S. 103.
:* Moltke rechnete am 12. Juli mit sieben Tagesmärschen bis Wien. Ges.
Schriften VI, S. 452.
344 Hermann Gackenholz
marcks, die Vorgänge von 1866 mit denen von 1870/71 so über-
einstimmend wie möglich zu gestalten —, fällt für uns die Not-
wendigkeit fort, die darauf begründete Folgerung, das Ein-
greifen Bismarcks in den Gang der militärischen Operationen,
anzuerkennen.
Diese Auffassung erscheint uns umso berechtigter, als
sich in der Tat weder in den unmittelbaren Quellen zu diesen
ganzen Tagen, noch in dem Verlauf der Operationen selbst ein
beherrschender, ja überhaupt ein Einfluß Bismarcks auf die
militärische Leitung finden läßt. Weder in jenem Berichte Bis-
marcksanden Kronprinzen über die in der Konferenz gefaßten Ent-
schlüsse noch aus den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen Bis-
marcks und der anderen Persönlichkeiten des Hauptquartiers
können wir ersehen, daß vom 12. Juli an die Richtung des Vor-
marsches auf Preßburg gelenkt worden ist. Im Gegenteil: Das be-
kannte Telegramm, das Bismarck am 17. Juli 255 Uhr nachmittags
an den Botschafter Goltz in Paris sandte —als Antwort auf dessen
beunruhigende Nachricht, daß Napoleon gegen seinen Willen
doch noch zum Kriege gedrängt werden könnte, wenn nicht
ein deutlicher Erfolg der französischen Vermittlungsaktion
sichtbar würde — bestärkt uns in der Auffassung, den Anspruch
Bismarcks auf die Urheberschaft des Planes einer Richtungs-
änderung auf Preßburg abzulehnen. In diesem Telegramm
teilt Bismarck nämlich mit, daß „er sich mit Moltke dahin ge-
einigt habe, Napoleon zuliebe nicht nach Wien zu gehen, und
daß beide hofften, die Genehmigung des Königs dazu zu er-
langen. Ein Vordringen bis an die Donau ober- oder unterhalb
Wiens, unter Bedrohung dieser Hauptstadt, werde aber un-
entbehrlich sein, um die Neigung Kaiser Franz Josephs zur
Fortführung des Krieges zu überwinden“ l. Welche Fülle von
Widersprüchen entsteht hier zwischen der aus dem Inhalte
des Telegramms hervorgehenden Lage und Bismarcks Dar-
stellung in den „Gedanken und Erinnerungen“: Hier am
17. Juli die „sofortige“ Einigung mit Moltke — dort am 12.
der „widerstrebende, aber doch sich unterordnende“ Leiter
der militärischen Operationen; hier die „Hoffnung beider auf
die Genehmigung des Königs‘ zu ihrem Entschlusse, nicht in
* Brandenburg, Aktenstücke und Untersuchungen zur Geschichte der Reichs-
gründung. Leipzig 1916, S. 617.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 345
Wien einzurücken — dort die königliche Autorität, die den
Ausschlag zugunsten des Vorschlages Bismarcks gegeben hatte;
hier die „Notwendigkeit des weiteren Vordringens gegen die
Donau ober- oder unterhalb Wiens, unter Bedrohung dieser
Hauptstadt“ — dort die „Umgehung“ der so unangenehmen
Florisdorfer Verschanzungen und das „Überschreiten der Donau
mit leichtrer Mühe" und größeren strategischen Aussichten.
Da wir bei dieser Gegenüberstellung dem Telegramm den Vorzug
der größeren Glaubwürdigkeit zugestehen müssen, so kommen wir
zu dem Schluß, daß Bismarcks Anspruch auf entscheidenden
Einfluß auf den Gang der militärischen Operationen nach dem
12. Juli nicht zu halten ist. Um so weniger, als sich auch aus
dem tatsächlichen Verlauf des Vormarsches des preußischen
Heeres ein solcher Einfluß im Sinne der Darstellung Bismarcks
nicht erkennen läßt.
Moltke hat vielmehr — ganz im Sinne des Telegramms an
Goltz — auch in den Tagen nach dem 12. Juli die Armeen
bis vor die Tore Wiens geführt, wie seine Armeebefehle ohne
weiteres zeigen®. Er befand sich in dem festen Glauben, daß
die Österreicher, verstärkt durch die inzwischen eingetroffenen
Teile der siegreichen und völlig intakten Südarmee, von Floris-
dorf her eine Offensive gegen die aufmarschierenden preußischen
Armeen unternehmen würden?. Deshalb befahl er am 19. Juli
— es ist dies der Befehl, den Bismarck in den „Gedanken und
Erinnerungen" abdruckt als die „erst am 19. Juli und nur
widerstrebend'" in Angriff genommene Ausführung seines Vor-
schlages vom 12.(!): „Die Armee soll sich in einer Stellung
hinter dem Rußbach konzentrieren, und zwar die Elb-Armee
bei Wolkersdorf und die 1. Armee bei Deutsch-Wagram (d.h.
beide mit der Front gegen Wien) ... Dort soll die Armee zu-
nächst in der Lage sein, einem Angriff entgegentreten zu können,
den der Feind mit 150000 Mann von Florisdorf aus zu unter-
nehmen vermag; demnächst soll sie aus dieser Stellung ent-
weder die Florisdorfer Schanzen rekognoszieren und angreifen
oder aber unter Zurücklassung eines Observationskorps gegen
Wien möglichst schnell nach Preßburg abmarschieren können...
*5 Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 176—198. S. 259ff.
Moltke überschätzte die in Wien versammelten Kräfte der Österreicher
stark. Vgl. Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 186.
346 Hermann Gackenholz
Gleichzeitig mit dem Vorrücken an den Rußbach soll der Ver-
such gemacht werden, Preßburg durch überraschenden Angriff
in Besitz zu nehmen und den eventuellen Donauübergang
daselbst zu sichern.“ “ Wir ersehen aus diesem Befehl, daß
Moltkes Sorge vor einer ósterreichischen Offensive von Floris-
dorf aus die preußischen Armeen eine Aufnahme- und Angriff-
stellung®® mit der Front nach Südwesten gegen Wien beziehen
ließ, und finden also die Armeen dort, wohin Bismarck sie gerade
nicht geführt haben wollte. Die Operation gegen PreBburg
hat im Rahmen des Befehls nur die Bedeutung einer Neben-
handlung, die nur die günstigen Vorbedingungen für einen
„eventuellen“ Donauübergang dort schaffen sollte“.
Direkt und indirekt glauben wir so den Beweis erbracht zu
haben, daß auch der Anspruch Bismarcks auf entscheidenden
Einfluß auf den Verlauf des Vormarsches gegen Wien als eine
nachträgliche Konstruktion anzusehen ist — ebenso wie
sein Motiv dazu, die Verknüpfung der Frage der Artillerie-
Heranschaffung und der Einmischung Frankreichs. Aller-
dings ist uns hier die Möglichkeit versagt, den Erinnerungs-
gängen und Gedanken Bismarcks nachzugehen. Wir halten
uns nicht für berechtigt, solche Gedankengänge ohne An-
haltspunkte, wie sie uns Bismarck in der Artillerie-
frage und der Einmischungsgefahr selbst gegeben hatte, zu
erfinden oder gar, wie es von den militärischen Betrachtern
wohl gelegentlich geschehen ist, „eine Eitelkeit Bismarcks auf
seine militärischen Fähigkeiten“ als Ursache seines Anspruches
anzunehmen. Wir wollen uns deshalb begnügen, auch in diesem
?' Militärische Korrespondenz 1866, Nr. 195. S. 272ff.
3 Wir sagen ausdrücklich auch „Angriffsstellung“, da nach dem Befehl vom
19. Juli durchaus ein Angriff als die in erster Linie beabsichtigte Operation aus der
Stellung hinter dem Rußbach angesehen werden muß.
3 Haeseler III, S. 210 und mit ihm Buchfink, Graf Haeseler, Berlin 1928, S. 54
machen das ,,Überlassen" des Angriffs auf PreBburg dem Kommando der 1. Armee
zum Gegenstand ihres Tadels, da „der Feldherr dazu neigt, im Angesichte des
Friedens die bisher erworbenen Lorbeeren nicht preiszugeben... Der geschwüchten
Unternehmungslust gegenüber sollte man nicht ‚überlassen‘, sondern befehlen. —
Uns erscheint dieses „ Uberlassen“ dadurch erklärlich, daß die Aufmerksamkeit
Moltkes durch den erwarteten Angriff der Österreicher von Florisdorf her in Anspruch
genommen war, und daß er deshalb die Operation gegen Preßburg nur als zweit-
rangig betrachtete.
Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866 347
Falle als Grundlage der Darstellung Bismarcks nur eine Ver-
schiebung des Gewichtes von Erinnerungsmomenten anzu-
sehen, etwa an die in Czernahora stattgefundene Erörterung
über die Unterstützung der ungarischen Insurgenten, aus der
ja — wie oben dargelegt — der , Wunsch" Bismarcks ent-
standen war, „es sollte von der zweiten Armee gegen Ungarn
unternommen werden“, und, damit vielleicht verbunden und
undeutlich vermengt, an die Besprechung mit Moltke über den
Einzug in Wien vom 16. oder 17. Juli, als deren Ergebnis wir
das oben von uns herangezogene Telegramm an den Botschafter
Goltz betrachten müssen. Daß in dieser letzteren Besprechung
von der Möglichkeit eines Überganges bei Preßburg gesprochen
worden ist, liegt nahe — aber auch hier kann sich nicht etwa
eine Szene im Sinne des Berichtes der „Gedanken und Erinne-
rungen“ abgespielt haben, denn die Einigung gelingt ohne
Schwierigkeit, ohne den Machtspruch der königlichen Autorität,
und auch hier bleibt ja noch die Richtung des ‚weiteren Vor-
gehens gegen die Donau, ober- oder unterhalb der zu bedrohenden
Hauptstadt‘‘, völlig unbestimmt und offen als notwendiger
Spielraum für die strategischen Überlegungen Moltkes, der ja
auch dann diesen folgend, seine Armeen gegen die Florisdorfer
Schanzen führt.
Die Gegenüberstellung der von uns aus den Quellen heraus-
geschälten Tatsachen und dem Berichte Bismarcks in den
„Gedanken und Erinnerungen“ abschließend, können wir nun
feststellen, daß Bismarcks Darstellung uns ein von den tat-
sächlichen Vorgängen völlig abweichendes und deshalb un-
richtiges Bild gibt. Wir haben uns bemüht, den Erinnerungs-
gängen Bismarcks nachzuspüren, wozu er uns selbst den Weg
gewiesen hat, und konnten dabei erkennen, daß die Ursache für
seine irrtümliche Darstellung in dem mehr oder weniger un-
bewußten Streben zu suchen ist, die Ereignisse von 1866 unter
dem Gesichtswinkel ihrer vermeintlichen Ähnlichkeit mit denen
von 1870/71 zu sehen und auch darzustellen. So verknüpft
Bismarck die Erinnerungsbilder an die Heranschaffung der
Belagerungsartillerie mit der Gefahr einer franzósischen Ein-
Mischung — eine Verbindung zweier völlig voneinander un-
abhàngiger Fragen — und schafft sich damit die Berechtigung
für seinen Anspruch auf entscheidenden Einfluß auf die mili-
348 Hermann Gackenholz: Der Kriegsrat von Czernahora vom 12. Juli 1866
tärischen Operationen — auch dieser Anspruch eine nach-
trägliche Konstruktion, da ein solcher EinfluB de facto in der
von Bismarck dargestellten Weise zu keiner Stunde bestanden
hat.
Damit ist das Urteil über den Wert des Berichtes Bismarcks
als historische Quelle u. E. gesprochen. Wir sind nun auch im-
stande, die von uns eingangs aus dem Berichte Bismarcks ge-
zogenen Folgerungen für das Verhältnis von Bismarck zu Moltke
von „ Politik“ zu,, Kriegführung“ während des Krieges von 1866 zu
korrigieren: Bismarck hat während dieses Kriegeszu keiner Stunde
einen durch die Autorität des Königs gestützten, die Strategie
bis in die Einzelheiten beherrschenden Einfluß im Sinne seines
Berichtes in den „Gedanken und Erinnerungen‘ ausgeübt. Der
angeblich „widerstrebende, sich aber doch fügende" Moltke
hat bis zum letzten Augenblick des Feldzuges unbeirrt nur
seine eigenen, den militärischen Notwendigkeiten entsprechenden
Überlegungen die Operationen geleitet. Wir können deshalb
annehmen, daß ein Konflikt zwischen den beiden Männern
darüber niemals ausgebrochen sein kann. Die mühelose Eini-
gung am 16. oder 17. Juli über den Einzug in Wien und andere
bekannte Tatsachen — so die Hilfe, die Moltke in den schweren
Tagen von Nikolsburg Bismarck geleistet hat“ — zeigen viel-
mehr den Feldherrn immer zu vollem Verstándnis für die poli-
tischen Notwendigkeiten und zum sofortigen Zurücksetzen
seiner eigenen Pläne — soweit er es mit seinen strategischen
Ideen vereinbaren zu können glaubte — bereit. Der Krieg von
1866 stellt also nicht ein Vorspiel für die späteren Konflikte
zwischen Bismarck und Moltke dar, sondern beweist vielmehr,
daß auch diese beiden sich des Gewichts ihrer Stellung sehr
wohl bewußten Persönlichkeiten einen Weg zu verständnis-
voller und deshalb reibungsloser Zusammenarbeit gefunden
haben — welt entfernt von schweren, jahrelang nachwirkenden
Konflikten oder gar der Unterwerfung der einen unter den Willen
der anderen.
4% W. Busch, Der Kampf um den Frieden im preußischen Hauptquartier in
Nikolsburg im Juli 1866, H. Z. 92, 1904 und Roloff a. a. O.
m n
349
Kleine Mitteilungen.
Naturgefühl im Mittelalter.
Der Stand des Problems und seine Methode!.
Das zweifellos bedeutsame Problem, in welchem Verhältnis die Menschen
der mittelalterlichen Epoche zur Natur gestanden haben, bzw. welcher Art
die Gefühle waren, die sie der Natur entgegenbrachten und die in ihnen durch
Naturerleben ausgelöst wurden, war von der Forschung des ausgehenden
19. Jahrhunderts großenteils übergangen, wenn nicht geleugnet worden.
Es ist das Verdienst von W. Goetz, die ersten Arbeiten mit dieser Problem-
stellung angeregt und veröffentlicht zu haben. Neuerdings hat nun ein Schüler
von A. Dopsch, K. Wührer, diese Frage erneut stellen und beantworten
zu müssen geglaubt, und die Anzeige dieser Arbeit nehme ich zum Anlaß
einer ausführlichen Besprechung der gesamten Problemlage. — Zur Ein-
führung in die unten genannte bisherige Literatur und zur Kennzeichnung
ihrer gelegentlich etwas eigenartigen Methode seien zunächst noch einige
Vorbemerkungen verstattet:
G. Stockmayer hat sich darauf beschränkt, für das 10. und 11. Jahr-
hundert Quellenmaterial zu sammeln, welches das Vorhandensein von Natur-
gefühl beweisen sollte. Ganzenmüller hat dann 1914 die Untersuchung
auf das ganze Mittelalter ausgedehnt und zugleich die Fragen nach Art und
Herkunft des Naturgefühls behandelt. Derselbe Ganzenmüller hat dann 1916
ein teilweise wörtliches Exzerpt seines Buches aus dem Jahre 1914 im Archiv
für Kulturgeschichte veröffentlicht — ohne dies Buch auch nur einmal zu
erwähnen! Das Neue an diesem Aufsatz bestand darin, daß Ganzenmüller
aus seinem Material die Stellen auswählte, in denen eine „sentimentale“
Einstellung zur Natur, wie sie das endende 18. Jahrhundert gehabt habe,
zum Ausdruck kommen sollte. Wührer endlich zitiert zwar in seiner Ein-
! G. Stockmayer: Über Naturgefühl in Deutschland im 10. und 11. Jahr-
hundert. Beitr. zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, hrsg.
von W, Goetz, Heft 4 (1910).
W. Ganzenmüller: Das Naturgefühl im Mittelalter. Ebda, Heft 18 (1914).
Derselbe: Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter. Archiv für
Kulturgeschichte. 12. Bd., (1916), S. 195ff.
K. Wührer: Romantik im Mittelalter. Beitrag zur Geschichte des Natur-
gefühl, im besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts. Veröffentlichungen des
minars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien, hrsg. von
A. Dopsch, Heft 6 (1930).
350 N. Wilsing
leitung alle drei Vorarbeiten, verweist aber in seiner Darstellung stets nur auf
die beiden ersten von ihnen, obwohl er gerade mit dem zweiten Aufsatz
Ganzenmüllers die Themastellung und die Form der Einführung mit einem
und demselben Schillerzitat gemeinsam hat?. Die Feststellung derartiger
Koinzidenzen der Findigkeit des Lesers zu überlassen ist meines Wissens
nicht wissenschaftliche Gepflogenheit!
Praktisch ergibt sich aus den angedeuteten Affinitäten der einzelnen
Arbeiten, daB die Materialsammlung G. Stock mayers in den darauf folgenden
Veröffentlichungen benutzt ist, daß ferner der zweite Aufsatz Ganzenmüllers
nicht besonders behandelt zu werden braucht, da nur die Perspektive darin
neu ist und diese wiederum von Wührer verwendet ist. Es wird also genügen,
wenn wir zunächst Wührers Arbeit als die jüngste Publikation genauer
betrachten und danach die gemeinsamen methodischen Voraussetzungen aller
übrigen Arbeiten, unter denen die erste Abhandlung Ganzenmüllers die
wichtigste ist, besprechen, um daran den augenblicklichen Stand des Problems
zu bemessen.
Wührer nennt in der Einleitung (S. 1) als Ziel der Arbeit: „Es soll an
Hand der Quellen untersucht werden, ob der Mensch des Mittelalters und im
besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zur Natur
einige von den seelischen Kräften deutlich ausgebildet besaß, die um die
Wende des 18. und 19. Jahrhunderts dem romantischen Menschen eigen
sind." Er fährt dann fort (S. 2): „Und es ist zu beachten, daB nur die Voll-
zähligkeit aller romantischen Züge den Romantiker ausmacht; ob aber diese
Vollzähligkeit für das Mittelalter und im besonderen für das 10. und 11. Jahr-
hundert festgestellt werden kann, wird hier nicht entschieden." Andererseits
ändert die Tatsache, daB diese „romantischen“ Züge sich schon im Natur-
gefühl der Antike und jeder Zeit finden, nichts an der Notwendigkeit, „für
die mittelalterliche Seele diese Seite des Gefühlslebens ausdrücklich hervor-
zuheben". (S.3.) — Es ist schwer, hierin eine logische Ordnung zu finden:
Offensichtlich ist es das Bestreben des Verfassers, das Verhältnis mittelalter-
licher Autoren zur Natur als romantisch zu kennzeichnen und damit von
anderen Naturgefühlen anderer Zeiten abzuheben. Wenn er dabei auf Voll-
zähligkeit verzichtet und damit auf den exakten Nachweis von „Romantik“,
so ist das ein Notbehelf, der allerdings mehr als angebracht ist angesichts der
erstaunlichen Absicht, den geistigen Habitus einer bestimmten Dichter- und
Philosophengeneration um Jahrhunderte zurück projizieren zu wollen. Der
apriorischen Unmöglichkeit seines Themas ist sich der Verfasser aber nur
insoweit bewußt geworden, daß er auf Vollständigkeit keinen Anspruch zu
erheben wagte, — man könnte sonst versucht sein, ihm die Wiederentdeckung
des Humanismus im Altertum anzuraten! Tatsächlich ist der Sachverhalt
eben der, daß Wührer — fast ausschließlich mit dem Material, das ihm seine
Vorgänger geliefert haben, und mit der bereits von Ganzenmüller 1916
angedeuteten Perspektive — die Forschung fördern zu können vermeint hat.
Angesichts dieses grundsätzlichen Mißgriffs genügt es, eine Reihe von Bei-
spielen für Wührers Verfahren im Einzelnen herauszugreifen.
3 Man vergleiche Wührer a. a. O. S. 2ff. und Ganzenmüller 1916, S. 195f.
Naturgefühl im Mittelalter 351
Gemäß seiner Absicht entwickelt er zunächst das Naturgefühl der
Romantik (S. 4—16) und findet als dessen besondere Kennzeichen: pessi-
mistische Sehnsucht nach der Natur, Wandertrieb, Liebe zum Mond, Hang
zur Einsamkeit, Beseelung und Belebung der Natur, Vorliebe für die Nacht,
für Tráume und Visionen und für Naturschilderungen, die ein Gegenbild der
Seelenstimmung sind. — Diese logisch und sachlich heterogenen Begriffe
werden nun kapitelweise bei mittelalterlichen Autoren zu belegen versucht.
Verfasser nimmt sich dabei in den wenigsten Fällen die Mühe, genau über-
einstimmende Vergleichsstellen nachzuweisen, sondern sieht seinen Zweck
erfült, wenn die oben angegebenen Stichworte auch nur entfernt auf den
Text des mittelalterlichen Autors anwendbar scheinen — und reicht der Text
nicht aus, so hilft eine Paraphrase nach!
Im „liber de restauratione monasterii Tornacensis" (MG SS XIV 293),
steht von der Gegend, in der sich das Kloster befand: „ubi sic segnis animus
recreabatur, acsi partem amenitatis paradysi se occupasse gratularetur.''
Nach Wührer (S. 18) heißt das, daß die Seele durch die Natur, geheilt“ werde,
obwohl doch offentsichlich nur gemeint ist, daB die schóne Gegend den Món-
chen schon auf Erden einen Abglanz des Pradieses bietet, denn ,,segnis''
heißt nicht krank, sondern müde und „recreare“ erfrischen. — Das darauf
folgende Zitat aus der „Ecbasis cuiusdam captivi“ (V. 590ff.) besagt, daB der
kranke König Löwe an dem bezeichneten Ort Speise und Trank finden wird,
und es ist bezeichnend für das „Naturerleben“ des Autors, daß er dabei an
Kräuter denkt. Davon, daß der Löwe „angesichts der lieblichen Natur
Linderung der Schmerzen suchen“ soll, wie Wührer paraphrasiert, steht
schlechterdings nichts da. — Von zwei gefangengehaltenen Kindern heißt es
(Lampert v. Hersfeld edd. Holder-Egger S. 275), daß sie ab und zu auf die
Jagd mitgenommen wurden, um ihren bedrückten Sinn durch diese Auf-
forderung zu erheitern (,, ut oppressas merore ac tedio mentes hoc advoca-
mento recrearent‘‘); Wührer fügt in seine Paraphrase ein: „damit sie ihre. ...
Gemüter durch den Aufenthalt in der Natur erfrischten" (von mir
gesperrt). — Wenn Jean Paul das sanfte und stille Leben und Sterben des
vergnügten Schulmeisterleins Wuz mit dem Umlegen einer Lilie vergleicht,
so setzt das Wührer in unmittelbare Parallele mit dem Ausruf: ,, Quis enim
lilii candorem.... absque gemitu videat transire in pallorem?“ (S. 21f.).
Zu dem Abschnitt „Liebe zum Mond" (S. 28ff.) bringt Wührer ganze
fünf Belegstellen. In einer Anmerkung S. 30 erfährt man: „Bei Heranziehung
des gesamten Quellenmaterials liege sich die mittelalterliche Mondliebe und
Schwärmerei bedeutend besser belegen. Die Geschichtsschreiber, die im
Vordergrunde dieser Untersuchung stehen, sind dafür keine gute Quelle“
Ein derartiges Unterfangen, wissenschaftliche Beweise durch Vertröstungen
zu ersetzen, muß denn doch um so entschiedener zurückgewiesen werden,
als nicht erkennbar ist, ob und von welchen sachlichen Gesichtspunkten
Wührer sich bei seiner selbstgewollten Beschränkung hat leiten lassen.
Weitere Trübungen des Textes finden sich z. B. im Kapitel „Einsamkeit“
(S. 32). Der von Eckehart IV. angegebene Grund für den Einsamkeits-
* Ähnlich S. 51, Anm. 3; 62, 2.
352 N. Wilsing
willen des Bischofs Salomon ist rein praktischer Natur: er will mit seinen
Besuchen Abt und „familia“ nicht belästigen. — Von Benno v. Osnabrück
erzählt Norbert v. Iburg (SS rer. Germ. in usum schol. S. 17f.); daß er sich
in einsamer Gegend ein befestigtes Haus baute, nicht, wie Wührer kühnlich
behauptet (S. 32), um allein zu sein mit der Natur, sondern um in Stille seinen
Angelegenheiten nachgehen zu können“ (ähnlich Otto III. S. 35) und Feinden
zu entgehen. Letzteres ist die Hauptsache, wie die darauffolgende Erzählung
deutlich beweist. — S. 33 liegt ein offensichtlicher Übersetzungsfehler vor:
denn ,,monitu angelico atque ductu“, d. h. auf Wink und unter Geleit eines
Engels bringt der Lehrer den hl. Vitus übers Meer — Wührer macht daraus
das „romantische Gemälde“, daB Vitus von einem Engel übers Meer entführt
wird. — S. 42—44 bringt Verfasser ein ausführliches Zitat aus der Vita
Heinrichs IV. (SS rer. Germ. in usum schol. cap. 40): Markgraf Eckbert von
Meißen wird zufällig in einer einsamen Mühle entdeckt von Feinden, die in der
Mittagsglut Erfrischung suchten, und nach hartem Kampf getótet. Verfasser
findet, daB hier von einer anmutigen und lieblichen Natur die Rede sei und
versteigt sich zu der Behauptung, dadurch gerade solle im Leser eine unheim-
liche Stimmung hervorgerufen werden. Man sieht sich auBerstande, der-
artige Vorstellungen zu widerlegen! — Wenn Bruno im ,Sachsenkrieg''
(SS rer. Germ. in usum schol. cap. 11) berichtet, daB Konrad in einen Hinter-
halt fállt und in der Einsamkeit ums Leben gebracht wird, so denkt der Ver-
fasser an den Golo in Tiecks Genoveva (S. 46) — als ob eine hinterhältige
Ermordung coram publico stattfinden kónnte! — Und schließlich noch ein
Beispiel für „echt romantische Analyse des eigenen Seelenlebens": da steht
nämlich bei Walther von Speyer: wer mit der Geliebten vereint ist, den quälen
nicht Sorgen noch Mühsal und Krankheit! Wührer interpretiert (S. 72):
„nur im Liebesgenuß peinigen ihn (scil. den mittelalterlichen Liebenden)
keine Sorgen und bösen Gedanken, doch schwebt ihm der Gedanke daran auch
im Glück stets vor und vergleicht damit Hölderlin: „ . warum schläft denn
nimmer nur mir in der Brust der Stachel?“ Das Umbiegen des durch den
Text gegebenen Sachverhaltes zu der an den Stoff herangebrachten These des
Verfassers kann kaum deutlicher beleuchtet werden!
Diese Beispiele mógen genügen, um zu zeigen, daB ebensowenig wie die
These des Verfassers seine Beweisführung ernst genommen zu werden ver-
dient. Aber abgesehen von der Unmöglichkeit eines „romantischen“ Natur-
gefühls müssen noch sehr erhebliche Einwände gemacht werden sowohl gegen
die Art, wieWührer überhaupt ein Naturgefühl feststellen zu kónnen glaubt,
als auch gegen die geistigen Voraussetzungen, mit denen er arbeitet.
So sind z. B. alle Zitate als verfehlt zu betrachten, in denen es sich ledig-
lich um einen Vergleich mit der Natur handelt. S. 68 begegnet Wührer diesem
Einwand zwar mit der Behauptung: „...auch ein Vergleich mit der Natur
ist niehts anderes als Ausdruck der eigenen Stimmung durch die Natur."
Wührer unterschätzt hier wie auch in anderen Fällen, worin er allerdings nicht
allein steht, die literarische Tradition doch ganz beträchtlich®. Es läßt sich
* ubi et secretius ad quae vellet vacare posset et quandoque etiam turban
declinaret infestam!
Darüber und den Zusammenhang mit der Antike s. u. S. 358ff.
Naturgefühl im Mittelalter 353
gerade an vom Verfasser angeführten Stellen der einwandfreie Nachweis
führen, daß ein unmittelbares Naturerleben, das mit echtem Gefühl eine
anschauliche Vorstellung erzeugt hätte, keineswegs vorhanden ist. Wenn
es im Ruodlieb heißt:
„femina quae lune par est in flore iuvente,
vetule simie fit post etate senecte.“
(Wührer S. 30, Anm. 1), so hat der Dichter zum Mond ein genau so inniges
Verhältnis wie zum Affen, wie gerade die Nebeneinanderstellung deutlich
genug verrät. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Vergleichen um altes
tralatizisches Gut, das zu jeder Zeit anzutreffen ist. — Die Klage im Chronicon
Laureshamense über die Hirschauer Mönche: „ factis silvestres, silvestria corda
gerentes (S. 50) beweist erstens natürlich nichts von Romantik — überhaupt,
wie romantisch müßte Homer sein, wenn Naturgleichnisse auch nur etwas
darüber besagten! — und zweitens ist es in der lateinischen Sprache durchaus
üblich, vom dauernden Aufenthaltsort eine gewisse Lebensart abzuleiten
(cf. „urbanus, rusticus"). Mit einer mehr oder weniger gefühlvollen Vor-
stellung vom Walde hat das nichts zu tun; die Mónche benehmen sich wie
Leute, die die Gewohnheiten des Waldlebens angenommen haben, nàmlich
versteckt und hinterhältig — „simplicium mentes versute decipientes". —
Ebensowenig ist an Beseelung als vielmehr an rhetorische Hyperbel zu denken
bei Ausdrücken wie „regionis serenitas“ (S. 52); vor allen Dingen gilt das von
Hymnen und Gebeten (S. 52ff.), in denen es von jeher zum Stil gehört, die
ganze Natur mitfeiern zu lassen. Gerade die regelmáBig wiederkehrende Voll-
zähligkeit von Blumen, Feld, Bach, Meer, Sonne, Vögeln und sonstigem
Getier sollte doch bedenklich stimmen gegen die Annahme, daß dem jeweilig
ein echtes Naturgefühl zugrunde gelegen habe.
Eine weitere Gruppe von Fehlern ist enthalten in der Verwertung der
Nachrichten über die Lokalität von Klöstern, Eremitagen u. ä. (S. 30ff.).
Die Wahl einer Örtlichkeit von Mönchen ist doch primär von ganz anderen
Gesichtspunkten bestimmt, und die Tatsache, daß man nicht gerade die ödeste
Gegend besiedelte, besagt allein sehr wenig. Wenn dabei das Aufsuchen der
Einsamkeit fast stets als agens genannt wird, so ist damit die ethisch-religiöse
Verpflichtung des Gottesdienstes gemeint; ganz deutlich wird das, wenn
noch, wie bei Johannes von Gorze (MG SS IV 346, Wührer S. 35, Anm. 5)
hingewiesen wird auf das Vorbild der antiken Einsiedler; schon der Vorbild-
gedanke hat moralisch bindende Kraft, und den Eremiten des ausgehenden
Altertums eine Naturfreudigkeit beizulegen hieße denn doch den Ernst wie
die Tendenz ihres Lebens verkennen. Wührer aber sieht in dem angeführten
Zitat eine Gelegenheit, seine Geschichtsauffassung kulminieren zu lassen in
dem Satze: „Es bestand also zwischen den Einsiedlern des Mittelalters und
ihren Vorbildern in frühchristlicher Zeit ein ähnliches Verhältnis wie zwischen
Romantik und Mittelalter." Das ist nun wirklich das Non plus ultra der
Perversion aller Geistesgeschichte.
Schließlich müssen auch ausgeschaltet werden alle Zitate, in denen von
Wunderzeichen u. ä. die Rede ist (Wührer S. 40—42, 47). Vor Kometen hat
man vom Altertum bis zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges Furcht empfunden,
. und auch sonst pflegen zu besonderen Ereignissen Vorzeichen berichtet
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 23
354 N. Wilsing
zu werden, die entweder dem betreffenden Vorgang parallelisiert sind (wie das
Beispiel Wührer S. 40, Thietmar IX 28) oder durch ihre Ungewöhnlichkeit
lediglich die Besonderheit, meist in schrecklichem Sinne, vorbereiten solle...
Wührer ist sich dabei über die Frage, wo denn nun in jedem dieser Fälle das
Naturgefühl einsetzt, nicht recht klar geworden; S. 47 sagt er, daB die Un-
erklárbarkeit der Natur Ursache des mittelalterlichen Grauens sei, und trifft
damit etwas Richtiges, was aber keineswegs auf das Mittelalter beschránkt ist.
Bei den S. 40ff. angeführten Beispielen glaubt er dagegen ein Wohlgefallen
an grausigen Naturbildern konstatieren zu kónnen. Die damit postulierte
gänzlich andere Haltung des Schriftstellers gegenüber seinem Objekt be-
rücksichtigt er nicht, versucht auch nicht, an Hand genauer Interpretation
seine These zu stützen. Tatsächlich sind auch gerade die von ihm angeführten
Stellen dafür denkbar ungeeignet; bei dem Vergleich zwischen Tieck und
Hrotsvit a. a. O. übersieht er z. B. den entscheidenden Unterschied, daB bei
Tieck das Verirren tatsächlich zur Katastrophe führt, bei Hrotsvit dagegen
nicht — ganz abgesehen davon, daß diese im Gleichnis redet (s. o. S. 352 f.).
Ein weiteres Eindringen in Einzelheiten kann unterbleiben, da an dieser
Stelle mehr als eine bloBe Kritik beabsichtigt ist. Für die Frage nach dem
Stand des Problems muß unter diesen Umständen auf die früheren Arbeiten
G. Stockmayers und W. Ganzenmüllers zurückgegriffen werden. Dabei
wird sich eine ins Einzelne gehende Kritik um so entbehrlicher machen, als
wir einige methodologische Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken
müssen, die ebenso auf alle bisherige Literatur zu unserem Thema anwendbar
sind, wie sie auch vielleicht die Ansatzpunkte für die weitere Forschung
anzudeuten vermögen.
Da ist zunächst zu bemerken, daß sich keiner der bisherigen Autoren,
wie es scheint, den Umfang und die geistigen Voraussetzungen des Themas, —
ich meine die der Sache inhärierenden, aus ihr von selbst hervorgehenden
Forderungen — genügend klar gemacht hat. So fehlt z. B. — ohne daß damit
der angedeutete Mangel allein behoben wäre — ein klarer Begriff oder auch
nur eine deutliche Vorstellung von „Naturgefühl‘‘®. Die Folge davon ist,
daß letzten Endes alles, was man — um vulgär zu sprechen — „draußen, im
Freien" wahrnehmen kann, als zur Natur gehörig angesehen wird und alle
darauf irgendwie Bezug nehmenden Textstellen mehr oder minder geschickt
zu einem Katalog des Naturgefühls zusammengestellt werden, der dann
also rein nach den Objekten des Erlebens, nicht nach den Wesenszügen des
Gefühls gegliedert ist. Besonders macht sich das deutlich bei Stockmayer
und Wührer, obwohl letzterer beide Dispositionsmóglichkeiten ad libitum
verwendet, aber auch Ganzenmüller ist diesem, wie ich meine, grund-
legenden Irrtum auf weite Strecken seines Buches erlegen. Freilich ist diese
Betrachtungsweise leicht zu erklären, wollte man doch, wie gerade die Stock-
mayersche Arbeit zeigt, dem kategorischen Leugnen eines Naturgefühls
im Mittelalter einen ebenso entschiedenen Nachweis seiner Existenz gegenüber-
* Die wenigen Ausführungen Ganzenmüllers zu diesem Punkt in seiner Ein-
leitung genügen um so weniger, als er hauptsächlich den Naturbegriff philosophisch
erórtert, um dann diesen Weg als ungangbar zu bezeichnen (S. 2), dagegen über das
Naturgefühl (S.4) nur eine Antizipation seiner Untersuchungsergebnisse bringt.
—ů — — — o
—
— — —
h m e WB. w O h C ë O —e— ee PESO T
— = —
Naturgefühl im Mittelalter 355
stellen. Man verlor dabei erstens die Tatsache außer Acht, daB es hier nicht
auf das „Das“ ankommt, sondern auf das „Was“ und das , Wie“, und zweitens
Wypostasierte man mehr oder minder bewußt die begriffliche Abstraktion des
mittelalterlichen Menschen, dem man gewisse Eigenschaften ebenso sicher
beilegen zu können meinte, wie sie ihm von der älteren Literatur abgesprochen
worden waren; womit vom geistesgeschichtlichen Standpunkt aus das Re-
sultat mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholt, jedoch der Fehler nicht
behoben war. Zwar beschränkten Stockmayer und Wührer sachlich und
chronologisch ihren Stoffkreis, versuchte Ganzenmüller über die Kon-
statierung des Tatbestandes hinaus eine Entwicklung des Naturgefühls
aufzuzeigen und die einzelnen geistigen Strömungen zu verfolgen, die dabei
einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, aber es erhellt wohl ohne
weiteres aus den obigen Darlegungen, daB bei Annahme eines mittelalterlichen
Naturgefühls und gleichzeitiger Beschränkung des Belegmaterials die Frag-
würdigkeit des Ergebnisses nur zunehmen kann. Ganzenmüller befand
sich insofern auf dem richtigen Wege, wenn er das Naturgefühl des Mittel-
alters „von innen heraus, aus seiner geistigen Eigenart“ zu verstehen suchte
(S. 4) und dabei auch den entwicklungsgeschichtlichen Momenten Rechnung
trug. Jedoch unter den damaligen Umständen war dieser Versuch verfrüht,
zumal da auch er einige Stufen des methodischen Gedankenganges über-
springen zu können vermeinte und andererseits von der bereits charakte-
risierten Art der Materialsammlung sich nicht entschieden genug loszulösen
vermochte. Und so ist denn auch die abschließende Beschreibung des mittel-
alterlichen Naturgefühls, auf die er nicht verzichten wollte (S. 290ff.) — ab-
gesehen davon, daß sie durch die polemische Auseinandersetzung mit Lamp-
recht in ihrer originären Unmittelbarkeit beeinträchtigt ist — für die heutige
Forschung unbefriedigend als eine verfrühte Normalisierung. Man darf die
nur scheinbar in sich widerspruchsvolle Tatsache nicht verkennen, daß
Probleme wie dieses nicht quantitativ teilweise bearbeitet werden können,
daß aber andererseits für so komplizierte geistesgeschichtliche Sachverhalte
eine in wenigen Worten etikettartig fixierte Lösung keinesfalls das allein
erstrebte Ziel sein darf, ja daß das formulierbare Ergebnis sogar relativ wenig
bedeutet gegenüber dem Gang der Einzeluntersuchung.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, seien noch einige grundsätzliche
Ausführungen verstattet: Wenn ich an die Spitze einer Untersuchung über
das mittelalterliche Naturgefühl dessen begriffliche Klärung gestellt
wissen wollte, so ist damit nichts weniger gemeint als das leere Gehäuse einer
Formel, in das der Inhalt der Einzeluntersuchung gepreßt werden soll. Gerade
eine derartige Deduktion würde ja zu dem oben abgelehnten Resultat führen.
Ebensowenig gangbar ist aber der induktive Weg, den Ganzenmüller
beschritt, der aus der Summe der Einzelergebnisse das — allein maßgebliche —
Fazit zieht und dabei übersieht, daß dies Ergebnis im Grunde nicht aus der
Untersuchung von selbst hervorgewachsen ist, sondern daß zu seiner gedank-
lichen Unterbauung implicite eine Reihe begrifflicher Voraussetzungen —
wie z. B. die oben erwähnte des mittelalterlichen Menschen — verwendet
wurden und verwendet werden mußten, weil man sich auf rein empirischem
Wege eines geistesgeschichtlichen Sachverhalts schlechterdings nicht be-
23 *
356 N. Wilsing
mächtigen kann. Es bedarf also einer Methode, die ich in gewissem Sinne
als aristotelisch bezeichnen möchte, insofern, als sie das Ganze eher annimmt
als die Teile und doch in den Teilen das Telos „aufgehoben“ sein läßt. Denn
die Inangriffnahme des Themas setzt eine Reihe phänomenologischer Er-
örterungen voraus über die Art der Erkenntnisse, die man zu gewinnen denkt,
also nicht eine „‚petitio principii", wohl aber eine uneriäBliche Selbstsicherung
vor nur zu leicht auftretenden Verfälschungen des Sachverhaltes. Ebenso
unumgänglich ist dann aber, wie wohl nicht weiter ausgeführt zu werden
braucht, bei der Durcharbeitung des Stoffes eine philologische Betrachtungs-
weise, die allein einige konkrete Sicherheit zu gewühren vermag.
Wendet man diese Postulate auf das vorliegende Problem an, so ergibt
sich aus einer einfachen Analyse des Tatbestandes, daB es darauf ankommt,
seelische Erlebnisse zu rekonstruieren, die sich an einer unübersehbaren Zahl
mannigfacher Objekte entzünden, deren Gesamtbegriff der der Natur ist.
Es gilt nun, diejenigen Erlebnisse allein zu untersuchen, die diesen Namen zu
Recht tragen, d. h. deren Echtheit und Unmittelbarkeit unanzweifelbar ist.
Von der Möglichkeit, diese Aktualität des Erlebens festzustellen, wird noch
die Rede sein müssen. Vorerst wenden wir unser Augenmerk den besonderen
Wesenszügen jenes seelischen Aktes zu, den wir als Naturgefühl bezeichnen. Er
stellt sich uns dar auf seiten des Erlebnistrügers als eine seelische Haltung,
in der das Ich der sichtbaren oder unsichtbaren Natur in einer wechselseitigen
Verbundenheit gegenübersteht, die ihn ebenso Subjekt des Erlebnisses sein
läßt, da es eine seelische Bereitschaft durchaus energetischer Art voraussetzt,
wie auch Objekt, da dem Erlebnisgehalt bestimmte formgebende Kräfte
innewohnen. Der Sinn, den das Erlebnis — wie jedes — intendiert, ist letzten
Endes immer die Frage nach dem Sinn des Seins, nach dem Wirken jener
geheimnisvollen Kräfte, denen der Mensch alles körperliche und geistige
Leben unterworfen sieht — eine Frage, die wohlgemerkt in unzähligen Varia-
tionen empfunden und — was damit nicht identisch ist — ausgedrückt werden
kann. Daraus ergeben sich für uns bereits zwei höchst wichtige Differen-
zierungen: Erstens die grundsätzliche Trennung bewuBter und unbewußter
Erlebnisse; denn es erhellt ohne weiteres, daß das Ich bereits eine besondere
Stufe des Erlebens erreicht hat, wenn es sich seiner Innervationen und damit
des intendierten Erlebnissinnes bewußt wird. Da nun die Literatur zwar
nicht das einzige, aber das hier allein diskutierte Mittel der Erkenntnis jener
Erlebnisse ist, werden wir nicht nur in den allermeisten Fällen auf bewuBtes
Naturgefühl beschränkt sein, sondern auch — und damit ist eine weitere
Unterscheidung gewonnen — auf solches, das irgendwie literarisch ausgedrückt
worden ist. Schon dadurch sind der Erkenntnis Schranken gesetzt, die nicht
ungestraft vergessen werden können, muß man sich doch unter diesen Um-
ständen stets bewußt sein, wie eng der Zugang zu dem Problem für uns
zwangsläufig ist.
Die Reziprozität der Spannung, die dem Erlebnis zugrunde liegt, er-
möglicht nun unbeschadet der permanenten Identität des abstrakten Erlebnis-
sinnes eine unendlich variierte Färbung des einzelnen Erlebnisgehaltes von
beiden Polen her. Einmal dergestalt, daB jedes Ich entsprechend seinen
individuellen Möglichkeiten sich die ihm gemäße Perspektive wählt, unter
Naturgefühl im Mittelalter 357
der es zu dem Sinngehalt vordringt, d. h. daß es sozusagen mit Hilfe des
Naturerlebens sein Naturgefühl aufbaut; damit unlöslich verbunden ist
nun aber der komplementäre Vorgang, daß jedes Naturgeschehen eine unge-
fähre Richtung auf den Sinngehalt festlegt, also gewisse konstitutive Momente
des Naturgefühls quasi bereit hält. Untersucht man also ein konkretes
Naturerlebnis, so ermöglicht die Feststellung seiner Struktur, d. h. der Frage,
welche individuelle Tönung der Erlebnisgehalt auf Grund des besonderen
Naturaspektes erhalten hat, dank der gewonnenen spezifischen Charakteri-
stika diesen Akt von anderen abzuheben, die entweder einen anderen Erlebnis-
träger oder einen anderen Erlebnisgrund aufweisen. Die Unterscheidungs-
möglichkeiten sind auf diese Weise so zahlreich, wie es für eine präzise For-
schung nötig ist. Andererseits besteht nicht etwa die Gefahr des Auseinander-
fallens der Untersuchung in beliebig viele nebeneinander stehende Einzel-
fälle, denn die Möglichkeit zur Synthese ist gegeben durch die Betrachtung des
Erlebnissinnes, der, wie wir gesehen haben, unabhängig von den einzelnen
Erlebniskomponenten der gleiche sein kann. Es besteht also theoretisch
wenigstens die Möglichkeit, den Erlebnisgehalt einer oder mehrerer Personen
— und dann schließlich auch generalisierend den einer Epoche des Schrift-
tums — mit einer und derselben Abstraktion zu identifizieren. Selbst-
verständlich wird damit die einmalige Besonderheit des einzelnen Falles
nicht beseitigt, sondern wie bei jedem dialektischen Stufengange „auf-
gehoben'* in der bekannten Dreideutigkeit des Wortes. Das erfordert mithin
eine genügend breite Grundlage des durchgearbeiteten Materials, andererseits
die bereits oben postulierte Besinnung darauf, daß die Analyse der einzelnen
Erlebnisse niemals ersetzt, d. h. überflüssig gemacht werden kann durch die
abschließende abstrakte Formulierung.
Blicken wir an diesem Punkte unserer Betrachtung nochmals auf den
von der bisherigen Literatur antizipierten Begriff des mittelalterlichen Men-
schen bzw. des mittelalterlichen Naturgefühls, so wird auch hier wiederum
gewiss, daß man zu diesen Begriffen vorzustoßen erst berechtigt ist am Ende
einer Untersuchung, die den Anspruch auf wirkliche Vollständigkeit erheben
kann. Die Problemforschung wird sich also bis auf weiteres mit Teillösungen
begnügen müssen, natürlich nicht in quantitativem Sinne, sondern mit der
sukzessiven Bestimmung der konstitutiven Elemente mittelalterlicher Natur-
erlebnisse, die den Weg zu einer letzten umfassenden „Zusammenschau“
anbahnt. |
Nach diesen allgemein-begrifflichen Erwägungen können wir uns nun-
mehr der Frage nach den konkreten Forschungsmóglichkeiten zuwenden.
Die sachimmanenten Bedingungen, die die Literatur als Untersuchungshilfs-
mittel stellt, sind z. T. erschwerender, z. T. erleichternder Art, beides infolge
der Verschiedenartigkeit der literarischen Genera, die einerseits leichte Dis-
positionsmöglichkeiten schafft, andererseits an die differenzierende Inter-
pretation besondere Anforderungen stellt“. Ein lyrisches Gedicht, das un-
mittelbar einem Erlebnis Ausdruck zu verleihen sucht, setzt sich zu diesem
—
Auch die hierdurch bedi Besonderheiten der Methode sind von der
bisherigen Forschung meines Erachtens nicht genügend gewürdigt worden.
358 N. Wilsing
Erlebnis in eine gänzlich andere Beziehung als die Notiz eines Historikers
über das Verhalten dritter Personen der Natur gegenüber. Man muß also
erstens scharf darauf achten, wessen Naturgefühl man eigentlich unter-
sucht; ferner ist es klar, daß von den eben angeführten Beispielen das zweite
nur sehr viel vorsichtigere Rückschlüsse sowohl auf die Aktualität wie auf
die Artung des Gefühls zuläßt, muß man doch gerade in diesem Falle zunächst
die Frage zu klären suchen, inwieweit etwa der mittelalterliche Autor von
sich aus interpretiert und damit seiner Individualität zugehörige Momente
hineingetragen hat. Aber auch abgesehen von dieser besonderen Möglichkeit
bieten die einzelnen Literaturgattungen dank ihrer Stileigengesetzlichkeit
durchaus heterogene Ansatzpunkte. Der Anlaß, der dem Autor eine /
ermöglicht, der wir eine Erkenntnis über sein Naturgefühl entnehmen können,
ist jeweilig verschieden und — deshalb ist dieser Gesichtspunkt so wichtig —
beeinträchtigt mehr oder minder den Wert des Zeugnisses für die von uns an
den Text gerichtete Frage. Und schließlich wird, worauf oben bereits hinge-
wiesen ist, die einzelne schriftstellerische Persönlichkeit weder jedem Erlebnis
einen völlig äquivalenten Ausdruck geben noch von dem Ideal einer „wirklich-
keits“‘-getreuen Wiedergabe immer in gleicher Weise abweichen. Es kann also
ohne eine annähernde Kenntnis der stilistischen Eigentümlichkeiten eines
Autors — Stil hier nicht nur im schriftstellerischen, sondern auch persön-
lichen Sinne gemeint — ein solches Problem kaum mit Sicherheit gefördert
werden. |
Nunmehr sind wir erst in der Lage, unseren Blick mittels einer noch-
maligen Verengerung der Perspektive auf die mittelalterliche Literatur
zu richten. Zwar bin ich mir bewußt, mit zunehmender Konkretisierung den
Charakter der Allgemeingültigkeit, den die rein methodologischen Ausführun-
gen beanspruchen sollen, bis zu einem gewissen Grade preiszugeben. Trotzdem
glaube ich einer erneut einsetzenden Forschung nicht vorzugreifen, da die
hier gegebenen Hinweise das Problem des Naturgefühls nicht unmittelbar
angehen, sondern einer philologischen Betrachtung der mittelalterlichen
Literatur, wie sie auch anderen Problemstellungen zugute kommen könnte,
zum Siege verhelfen will.
Die Tatsache, daß die mittelalterliche Literatur eine abhängige ist,
verlangt unbeschadet des Grades und der Auswirkungen dieser Abhängigkeit
hervorragende Beachtung. Die beiden Kulturmächte, aus deren Streit und
Synthese das Mittelalter hauptsächlich hervorgewachsen ist, — Christentum
und Antike — haben auch die Literatur nachhaltig beeinflußt. Die hier be-
sprochenen Arbeiten haben darüber hinweggehen zu können vermeint mit
Argumenten, die noch beleuchtet werden sollen. Vorerst sei besonders
Ganzenmüller erwähnt, der als einziger neben der Antike auch das Christen-
tum als Richtung gebend für das Naturgefühl ansieht, merkwürdigerweise
aber nicht die literarhistorischen Konsequenzen zieht. Außerdem versucht
er, auch die dritte Komponente der mittelalterlichen Kultur, das Germanen-
tum, in den Kreis seiner Untersuchung zu ziehen, ein zwar durchaus richtiges,
aber meiner im Folgenden dargelegten Meinung nach verfrühtes Unternehmen.
Im übrigen begnügen sich Ganzenmüller wie auch Stockmayer und
Wührer mit Erklärungen, die letzten Endes alle besagen, daß der antiken
Naturgefühl im Mittelalter 359
Literatur höchstens die Formulierung eines Textes entstammen könne,
daB aber ein Zitat doch auch nur gewählt würde, wenn man dadurch
einem eigenen gleichen Gedanken einen vollendeten Ausdruck verleihen
wollte.
Was die Abhängigkeit einer Literatur für tiefgehende Folgen nicht nur
in formaler Beziehung hat, weiß — um nur zwei Beispiele zu nennen, —
jeder Kenner der römischen Literatur und der deutschen im beginnenden
18. Jahrhundert. Für das Mittelalter liegen die Verhältnisse vom Stand-
punkt der Originalität aus noch besonders ungünstig, weil es — anders als
Rom und Deutschland — eigentlich nur Fortsetzerin des beeinflussenden
Schrifttums war und in gewissem Sinne auch sein wollte, was ja schon im
Gebrauch derselben Sprache zum Ausdruck kommt?. Gerade in diesem Falle
darf man zweierlei nicht übersehen: Erstens, daB eine Anlehnung im Wort-
laut mit dem Begriff des Zitats durchaus nicht zusammengebracht werden
darf, schon deshalb nicht, weil die Quelle nie genannt ist und in den meisten
Fällen auch nicht erkannt werden soll. Zweitens aber hat die bewußte
Nachahmung eines anderen Autors meist stilistische Gründe — das liegt an
der jahrhundertelangen Selbsterziehung, die sich die lateinische Literatur
gegeben hat — und läßt infolgedessen inhaltliche Koinzidenzen außer Betracht.
Drittens gehörte die gedächtnismäßige Beherrschung bestimmter Autoren
zum feststehenden Bildungsgut, und man überschätzt, meine ich, in den
meisten Fällen die eigene Gedankentätigkeit eines mittelalterlichen Autors,
wenn man generalisierend behauptet, daß eine klassische Formulierung mehr
als ein Stilornament oder die stichwortartige Bezeichnung eines Sachverhalts
bedeutet. Daß dabei der „Plagiator‘‘ den psychischen Akt nacherzeugt habe,
der zu jenem Ausdruck führte, ist nicht nur in strengstem Sinne unmöglich,
sondern auch schon der hohen Zahl der Fälle wegen höchst unwahrscheinlich.
Und nun vergegenwärtige man sich, daß es sich in unserer Betrachtung um
Empfindungen handelt, die zu den unmittelbarsten gehören, deren der
Mensch fähig ist! Ein Schriftsteller, der zu deren Schilderung nur sein Ge-
dächtnis zu verwenden vermocht hätte, kann wahrlich auf den Echtheits-
glauben der Nachwelt keinen Anspruch erheben.
Zum zweiten unterliegt das mittelalterliche Schrifttum in hohem Aus-
maße bewußter und unbewußter Beeinflussung seitens des Christentums.
Teilweise identifiziert sich diese Abhängigkeit mit der zuerst genannten,
indem die in christlichem Sinne klassische Literatur ebenso oder ähnlich
zum Muster genommen wird wie die klassisch-römische; teilweise verläuft
aber dieser — wenn man sich so ausdrücken darf — christliche Klassizismus
den Intentionen auf die römische Antike parallel, mit anderen Worten:
neben die Vorbilder des alten Rom tritt die Bibel. Es ist klar, daß es sich
dabei nur um eine der vielfältigen Ausstrahlungen christlicher Kultur handelt,
denen die Menschen des Mittelalters ausgesetzt waren, aber es ist auch hier
gefährlich, wie Ganzenmüller tut, den Komplex des Christentums im
* Auf die merkwürdige Vorstellung G. Stockmayers (S. 2) und Wührers (S. 17),
als habe man die lateinische Sprache zwar angewendet, aber nicht genügend be-
herrscht, um sich und seine Gefühle klar auszudrücken, möchte ich nicht verfehlen
hinzuweisen.
360 N. Wilsing
Ganzen als Faktor in das mittelalterliche Naturerleben hineinzubeziehen,
ohne die Frage gestellt zu haben, inwieweit dadurch für dieses Erleben selbst
Trübungen entstehen. Tatsächlich wird man behaupten können, daß Zitate
oder Anlehnungen an die Bibel und andere kanonische, christliche Literatur
vielfach ein religiöses Autoritätszeugnis repräsentieren sollen, das auf eine
Seelenhaltung schließen läßt, die mit einem unmittelbaren Erlebnis nicht
mehr vereinbar ist.
Ohne mich weiter in diese Betrachtungen verlieren zu wollen, glaube ich
bereits aus dem bisher Gesagten ein Axiom ableiten zu können, dem man sich
nicht leicht verschließen kann. Die Geschichte der mittellateinischen Lite-
ratur — und ein in ihren Stoffkreis fallendes Thema stellt auch unser Problem
dar — steht vor einer ähnlichen Aufgabe wie die Geschichte der klassisch-
römischen Literatur, nur in einem früheren Stadium der Lösung. Und so
kónnte ein Blick auf das verwandte Gebiet wohl belehrend wirken: Lange
Zeit hat man sich dort damit abgemüht, die Nachahmung der Griechen durch
die Rómer bis in alle Einzelheiten festzustellen, ja man war in Übertreibung
des Prinzips soweit gekommen, daB man die literarhistorische Forschung für
abgeschlossen hielt, wenn ein Autor unter ein oder mehrere Vorbilder griechi-
schen Schrifttums rubriziert werden konnte. Daß damit schließlich schiefe
und unzulängliche Werturteile über diese Literatur „zweiter Hand“ ent-
standen, ist bekannt. Und keinesfalls zielen meine Hinweise auf die literari-
schen Bindungen der mittelalterlichen Literatur auf eine ähnlich abschätzende
Kritik. Denn so wie die römische Literaturgeschichte seit der Jahrhundert-
wende den neuen Weg beschritt, gerade innerhalb der Abhängigkeit das Eigene,
Ursprüngliche zu suchen, indem man eine im Ganzen bewußt nachgeformte
Stelle mit dem Vorbild auf die Unterschiede verglich, so, glaube ich, kann auch
die mittellateinische Philologie die Geistesgeschichte einen, wenn nicht den
sicheren Weg zur Originalität des mittelalterlichen Schrifttums finden lehren.
Es ist unangängig, bestehende Ubereinstimmungen zu ignorieren, vielmehr
muß die umgekehrte Perspektive angewandt werden, die die Koinzidenzen
aufsucht, weil nur durch sie und in ihnen mit einiger Zuverlässigkeit das
eigentliche Ziel erreicht werden kann. Man kann sich auf diesem noch 80
wenig bearbeiteten Gebiete nicht den Sprung über einige Entwicklungsstadien
erlauben, sich einen ähnlichen Weg, wie ihn die ältere Nachbar wissenschaft
gegangen ist, nicht ersparen. Nicht als ob ich der Forschung zumuten wollte,
sich sehenden Auges einer noch unvollkommenen Methode zu verschreiben,
sondern sie wird aus dem analogen Beispiel ebenso wie aus den abstrakt-
methodologischen Ausführungen ersehen können, daß der Grund der bewußten
und gründlichen Abhängigkeitsforschung gelegt sein muß, ehe man zum Ver-
ständnis und zur Würdigung originaler mittelalterlicher Bewußtseins- und
Erlebniskomplexe schreiten kann. —
So seien denn nunmehr nicht mit dem Anspruch auf vollinhaltlich maß-
gebende Bearbeitung des Problems, sondern nur zur Erläuterung der bis-
herigen kritischen Ausführungen einige Textstellen besprochen:
Ich beginne dabei mit der Behandlung einiger Einzelstellen, wie sie mir
vornehmlich die Wührersche Arbeit an die Hand gegeben hat; zum Schluß
willich an Hand eines Gedichts Wahlafried Strabos versuchen, ein ergiebigeres
Naturgefühl im Mittelalter 361
Objekt für die vorliegende Frage und die dadurch gegebenen Interpretations-
möglichkeiten vorzuführen.
Zur Erläuterung des Zusammenhangs mit der Antike mögen einige Stellen
Walther von Speyers dienen, die ich Wührer entnehme. Besonders
instruktiv ist die doppelte Ausfertigung einer Darstellung in Poesie und Prosa:
Vita et passio S. Christophori II 218 und Vita S. Christophori cap. X (Wührer
S. 22). Sie beweist nur die bereits S. 7 aufgestellte Behauptung, daB vom
antiken Enkomien- und Gebetsstil her die vollständige Aufzählung der
virtutes" bzw. die Zerlegung einer „virtus“ in ihre verschiedenen Erschei-
nungsformen ins Mittelalter gedrungen ist. Für die Prosaausfertigung begnügt
sich Walther von Speyer mit der kürzeren Angabe: „per quem omnia virent
virentiaque producuntur in germen“; die poetische Darstellung dagegen er-
zwingt die konkrete Veranschaulichung dieses abstrakten Satzes auf allen
denkbaren Gebieten. Aber im ganzen beweist doch die Gegenüberstellung
mit unhintertreiblicher Logik, daB Walther von Speyer sich nicht von spon-
tanem Gefühl, sondern von literarischen Notwendigkeiten veranlassen lieB,
daB dies Zeugnis des Naturgefühls nicht gegenständliche Bedeutung besitzt,
weil es ein Schreibtischprodukt ist.
Zwei weitere Stellen desselben Dichters — Vita et passio S. Christophor
VI 193ff. (Wührer S. 29) und Vita S. Christophori cap. 25 (Wührer S. 64),
dazu noch Richer Historiae IV 50 (Wührer S. 48) — kónnen ebenfalls gemein-
sam besprochen werden. Es ist im Epos seit Homer stetes Gesetz, daB der
Dichter Anfang oder Ende eines Tages ausdrücklich hervorhebt; für das eine
dient die Morgenróte, für das andere die Sterne, mit Vorliebe der Abendstern.
Derartiger Verse gibt es infolgedessen schon in klassischer Zeit eine Unzahl;
wenn Walther sie noch vermehrt hat, so sehe ich hier den Zwang der literari-
schen Gattung so deutlich vor Augen, daß ich nicht einmal wage, mittels
scharf logischer Interpretation Besonderheiten seiner Fassung als bewußt
und wesentlich hinzustellen?.
Für die zweite Gruppe von Stellen, die aus der Bibel übernommen sind,
stehen mir ebenfalls zwei Beispiele zur Verfügung: Die Gründungslegende von
Gandersheim, die Hrotsvit (primordia mon. Gand. 185ff.) schildert, ist ja
doch stimmungsmáBig wie auch in der Nachbildung der konkreten Einzel-
heiten eine Wiederholung von Luc. ev. 2, 8ff. — daB der Engel des Evange-
liums durch die unbestimmten Lichter im Walde ersetzt ist, war ein Gebot
der Distanz und des Taktes. Aber für unsre Belange ist es unzweifelhaft,
daß die Parallelerfindung, die dem Ruhme Gandersheims dienen sollte, die
primäre Absicht der Dichterin darstellt, und daB demgegenüber ihr Verhältnis
zur Natur an dieser rein im Zusammenhang christlich-literarischer Tradition
stehenden Stelle nur sehr bedingt erläutert werden kann. Denn die anschau-
liche Vorstellung des selbst geschaffenen Bildes ist beim Evangelisten zu
suchen, nicht bei Hrotsvit. — Ähnlich liegen die Dinge, wo nicht eine Szene,
sondern eine bestimmte Äußerung übernommen worden ist. Ein äußerst lehr-
. Zur Anlehnung auch an antiken Sprachgebrauch: taetra caligo bei Richer
ist eine überaus hä Verbindung, in der erstangeführten Stelle VI 193 zeigt ja
auch die künstliche Verwendung der antiken mythologischen Bezeichnungen die
Einstellung des Dichters.
362 N. Wilsing
reiches Beispiel bietet dafür die von W. Stach aufgedeckte Anlehnung Not-
kers an Augustin bzw. den Psalmisten (Archiv f. Kulturgesch. XVI, S. 39f.).
Hier liegt das unmittelbare Naturerlebnis beim Psalmisten, der den Libanon
besingt; die Anwendung auf die Alpen ist ein rein literarischer Akt, dessen
Zeugniswert für selbständiges Empfinden zumindest unbeweisbar ist. —
So ist auch der von Wührer S. 43 besonders hervorgehobene Ausruf: „Wie
geheimnisvoll, Gott, sind deine Gerichte!" nicht für die Absicht des Ver-
fassers beweisend, eine unheimliche Stimmung zu erzeugen. Vielmehr zitiert
er angesichts des tragischen Todes des Markgrafen von Meißen den Bibelvers
Röm. 11, 33.
Eine größere Zahl solcher Parallelstellen anzuführen versage ich mir;
da ich mit ihnen auch nur paradigmatische Absichten verfolge, glaube ich
mich auf die mitgeteilten beschränken zu können und möchte dafür der Inter-
pretation des „Metrum Sapphicum" von Wahlafried Strabo (MG Poetae
Latini II 412) um so gróBeren Raum geben.
Es ist nicht leicht, dies hóchst komplizierte Gebilde dichterischer Kunst,
persönlichsten Erlebens und religiöser Gebundenheit als Einheit zu erfassen und das
von igfachen anderen Empfindungen und Intentionen umschichtete Natur-
gefühl des Verfassers bloBzulegen. Machen wir uns daher zunächst die Situation
klar, in der das Gedicht entstanden ist: Der junge Mónch ist von Reichenau nach
Fulda gezogen, um dort seine Ausbildung zu vervollständigen (Str.2) Hrabanus
Maurus, sein verehrter Lehrer, dem er dorthin gefolgt war, ist zu jener Zeit abwesend
(Str. 7). Und nun leidet er unter vielfachen Unannehmlichkeiten: die anderen Lehrer
Fuldas enttüuschen ihn, bei aller Freundlichkeit kommen sie ihm innerlich nicht
näher (Str. 2); schlimmer steht es mit den übrigen Klosterinsassen, die den Fremd-
ling aus dem Süden anscheinend nicht gern gesehen und in Abwesenheit seines Pro-
tektors auch nicht gut behandelt haben. (Darauf deuten meines Erachtens: Str. 2:
„et malis tactus variis perosus plango colonus", Str. 7: „credo nil laesisse tui
misellum pectus alumni", wührend P. von Winterfeld, Deutsche Dichter der
lateinischen Mittelalters S. 404 den Streit zwischen Hrabau und Gottschalk als
die Voraussetzung der verzweifelten Stimmung Wahlafrieds ansieht.) So hat man ihm
eine recht primitive Zelle gegeben, deren Ärmlichkeit auf ihn geradezu beschämend
wirkt (Str. 1). Und in diesem traurigen Zufluchtsort sitzt nun der junge Wahlafried
und klagt sich sein Leid, seine Einsamkeit und seine Schmerzen. Denn zu allem
seelischen Kummer kommt auch noch die Wirkung des ungewohnten Klimas: die
FüBe sind erfroren, Tag und Nacht wird er nicht warm, findet keinen Schlaf (Str. 4-5)
— da denkt er in bitterer Sehnsucht des friedlichen Ausruhens, das ihm Reichenau
N hat, und aus dem Grübeln über das Hier und Jetzt wird die schmerzliche
'erlebendigung der geliebten Heimat.
Das aus dieser Stimmung entstehende Gedicht stellt nach Form und Inhalt
dem Interpreten viele Aufgaben, die in unserem Zusamme zwar beachtet
werden müssen, aber keine zentrale Bedeutung erlangen können. Um zunächst die
Beziehung anzudeuten, in die wir das eigentliche Ziel der Betrachtung mit den zu
erörternden Interpretationsfragen rücken, sei folgendes bemerkt: Sowohl in der
Klage über die Trostlosigkeit seines Aufenthalts wie in dem Lobpreis Reichenaus kom-
men Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck, die für das Naturgefühl von
Belang sind. Die Aufgabe besteht darin, aus dem Verständnis des Ganzen heraus
die spezifische Eigenart dieser Außerungen sowie ihre Verbundenheit mit anderen
Bezirken der Seele herauszuanalysieren.
Gehen wir zunächst von der Form aus, so verlangt die Verwendung der sapphi-
schen Strophe Beachtung, da Wahlafried dieses VersmaB sonst. nur für Hymnen
benutzt. Der Schluß ist zwingend, daß in seinen Augen der Lobpreis der Heimat
als Hymnus gilt und daher trotz seines partiellen Umfanges den eigentlichen Inhalt
des Gedichtes ausmacht, zugleich aber, daB der Gefühlsgrund, aus dem das Gedicht
Naturgefühl im Mittelalter 363
entstand, in die Sphäre der Religion hineinragt. Inwieweit die Geschichte des
sapphischen VersmaBes Aufschluß über den Sinn seiner Verwendung bei Wahlafried
geben kónnte, vermag ich nicht anzugeben. Jedenfalls ist an Verst&ndniserleichte-
n von dieser Seite zu denken. Merkwürdig isoliert und als Fremdkórper wirkt
der Ei des Gedichts: der Anruf an die Muse, die der Dichter als seine Schwester
bezeichnet, àltestes Charakteristikum der antiken Poesie seit Homer, von Horaz
erweitert und vertieft zum Prinzip der dialogischen Ode (vgl. Heinze, Hermes 1924)
kann hier nichts anderes bedeuten als die Verwendung einer herkómmlichen Form,
deren inhaltliche Voraussetzungen nicht berücksichtigt werden, denn der Verlauf
des Gedichtes macht den Gedanken an die verkündende Muse unmöglich. So kann
diese Form der Einführung nur gemeint sein als Symbol der Feierlichkeit, als Auf-
ford an den Leser, in dem Gedicht eine gewisse hochgespannte Poetik zu er-
warten. ich unvermittelt und mir weniger erklürbar ist in Str. 14 die Bezeich-
nung „Christus tonans“; das stehende Attribut Jupiters hat zu der Umgebung,
in der es hier steht, keine erkennbare Beziehung. Lenkt man nach dem ersten Ergeb-
nis der Interpretation sein u... auf die Strophen 8—13, so erkennt
man in ihnen, wenn auch in stark verdünnter Form, die Art des antiken Enkomions,
das nicht nur als Redegattung, sondern auch in Biographie und Historiographie
verbreitet, einen bedeutsamen Platz in der klassischen und nachklassischen Literatur
einnahm und gerade im späten Altertum durch die reichhaltige Progymnasmenlitera-
pulär 5 war, vor allem auch zum Lehrstoff der Schule gehörte. Nur
zu kleinem Teile hat der Preis Reichenaus Beziehungen zu der Person des Verfassers
aufzuweisen; gerade die ersten Strophen wollen ganz allgemein aus seiner Geschichte
— wie aus dem Leben eines Menschen — seinen Ruhm ableiten. Natürlich zeigt sich
dabei deutlich die Umbildung der Werte, die gegen frühere Zeiten vorgenommen
worden ist und die das Hauptgewicht auf die religiösen Vorzüge legt.
Zu dieser Schwierigkeit gesellt sich bald eine andere: es ist dem 8 Aa
a aus dem Gedicht eine Komposition herauszuanalysieren, die unter Wahr-
rung des Primats des Mittelstücks die übrigen Teile des Gedichts harmonisch einzu-
ordnen vermöchte. Zwar sind Ubergang vorhanden, aber die Gesamtstruktur
scheint uneinheitlich. Dieser Vorwurf läßt sich nur zum Teil beheben, wenn auch
mit Gesichtspunkten, wie sie für die nachgeahmte antike Form solcher Gedichte
nicht kompetent wären; zum Teil freilich kann er nicht entkräftet werden. Die Ein-
heit des Gedichts beruht auf der Stimmung, der es entstammt, jenem stark religiös
gefärbten Sehnen Wahlafrieds, das sowohl der Grund seiner Reise nach Fulda war
als auch die Ursache seiner en Seelennot. Formal hen lassen sich deshalb
noch nicht alle Partien des ichts durch eine einheitliche Interpretation innerlich
verknüpfen, wohl aber genügt die angedeutete Perspektive für unseren Zweck um so
mehr, als wir in erster Linie die Gefühlswelt Wahlafrieds im Auge haben.
Der Ausdruck, zu dem das religiöse Sehnen gelangt und der vor allem die zu-
nächst besonders Wer Ai erscheinenden Strophengruppen 1—7, 8—13 in nähere
Verbindung bringt, ist der des Wärmebedürfnisses (Str. 2, 3, 6, 8, 15), das nun in
einer merkwürdigen Hell-Dunkelmanier fast gleichzeitig konkret und abstrakt ver-
standen werden will; gerade diese Zweideutigkeit, die die Grenzen von Körper und
Geist in dem Sinne zu verwischen sucht, daß sie die n des einen dem anderen
substituiert, ist meines Erachtens ein wesentliches Merkmal dieses Gedichts und
soll unsrer Interpretation gerade bei der Erfassung des Naturgefühls weiterhelfen.
Diese „Wärme“, die Wahlafried bei seinem Lehrer kennengelernt und in Reichenau
enossen hat, wünscht er sich wieder (Str. 15), freilich nicht für sich, sondern zum
e Christi, dem er dann dank dessen eigenen Geschenkes sein Loblied singen zu
können verhofft. — Mit dieser Gedankenlinie läßt sich auch der durch seine dog-
matische Gebundenheit etwas isolierte Schlußteil dem Ganzen innerlich etwas
angliedern.
Schon hier kann man erkennen: unmittelbar ist das Gefühl des Dichters nicht.
ist — um mich einer Nietzscheschen Perspektive zu bedienen — eine durch das
Christentum gebrochene Seele, die sich uns hier offenbart. So naturalistisch die
Angaben über die Wirkungen des Frostes am eigenen Körper sind — wir werden
gleich noch darauf zu sprechen kommen — so groß die Anlehnungen im Ausdruck
364 N. Wilsing; Naturgefühl im Mittelalter
an Ovids Klagen über den Sarmatenwinter sind: (Dümmler hat nicht alle verzeichnet,
aber weder die angegebenen noch die fehlenden sind in diesem Zusammenhange be-
langvoll, weil Wahlafried eine eigene Dichterpersönlichkeit ist, die sich gerade hier
deutlich ausprágt; der Fall liegt hier also ganz anders als z. B. bei den Vergilparallelen
zum Waltharilied.) Wenn man die Stellen nicht aus dem Zusammenhang reißen
und substantialisieren will, muß man erkennen, daß dieser Mensch nicht mehr
unmittelbar zu empfinden imstande ist, daß er im Gegenteil nicht nur durch Erziehung
und Veranlagung gezwungen, sondern auch aus eigenem Impuls stolz darauf ist,
seine Erlebnisse in der Begegnung mit der Natur umzusetzen in die Sphäre des
Geistes, in der er sich in Wahrheit zu Hause fühlt und in der die Natur nur noch die
Rolle eines Symbols oder einer Anfechtung spielen kann. Eine Seele wie diese benutzt
sozusagen die körperliche Erscheinungswelt — also die „Natur“ im konkreten
Sinne — um an ihr und durch sie geistige zus transparent werden zu lassen. Daher
ist es Wahlafried möglich, seinen Lehrer als Vater, seine Erziehungsstätte nicht nur
als Heimat, sondern sogar als Mutter anzusprechen, und zwar so, daß beide Stellen
in Beziehung gesetzt werden müssen. Seine „natürlichen“ Eltern existieren für ihn
nicht; die Person und die Státte, denen er sein Leben im religiós-christlichen Sinne
verdankt, sind an ihre Stelle getreten. Der geistige Gehalt, mit dem Wahlafried die
konkrete Natur erfüllt, ist nicht etwa der den Dingen selbst innewohnende Geist,
soll es auch nicht sein. Es ist keine 55 er Natur im Sinne einer gerad-
linigen Vertiefung des Konkreten zum Abstrakten, sondern es ist ein eigenwilliges
und willkürliches Umbrechen und Umdenken der äußeren Gegebenheiten nach dem
MaBstabe seines Geistes, wobei, wie die Verwendung des Elternmotivs zeigen
sollte, die „natürlichen“ Dinge und Bezüge nur Mittel der Verdeutlichung darstellen,
die gerade ihrer immanenten Idee entkleidet worden sind. Daß diese geistige
Haltung nichts mit Subjektivismus zu tun hat, sondern es sich vielmehr um die
ne transzendentaler Anschauung handelt, bedarf wohl keiner weiteren
usführung.
Die stark realistische Schilderung (Str. 3—6) steht dazu nur scheinbar in Wider-
spruch. Es ist nicht schwer einzusehen, daß die Seele des Dichters, die ihrem Wesen
nach der Naturerscheinung als solcher unzugünglich ist, an einem Tatbestand nichts
zu veründern oder zu beschónigen vermag, der ihm das Eigenrecht der Natur schmerz-
lich fühlbar macht. Gerade weil er die unmittelbaren Wirkungen des Frostes auf
seinen Kórper nicht in die Spháre des Geistes verflüchtigen kann, weil sie in sein
Weltbild nicht passen, ist er um so eher zum krassen Realismus in ihrer Schilderung
nótigt, weil er ihnen sozusagen hilflos ausgeliefert ist, auch im seelischen Sinne.
braucht nicht betont zu werden, daß mit den Begriffen , Realismus“ und ,, Natura-
lismus" nicht eine Antizipation moderner Kunstrichtungen angedeutet werden soll,
vielmehr scheint es sich mir eher um jene Art im Grunde wirklichkeitsfremden
„Naturalismus“ zu handeln, wie man ihn gelegentlich in mittelalterlichen Skulpturen
antrifft; jedoch kann hier eine Verallgemeinerung nach dieser Richtung nicht unter-
nommen werden.
Das eigentümliche Verhültnis des jungen Dichters zur Natur, soweit es sich
gerade aus diesem Gedicht erschließen läßt, stand im Mittelpunkt der Betrachtung,
und es zum Schluß nur noch einmal hervorgehoben werden, daß nach meiner
Meinung die Möglichkeit einer so weitgreifenden Interpretation bei mittelalterlichen
Autoren durchaus nicht die Regel ist, daß vielmehr jene Fälle in der Mehrzahl sein
dürften, wo man aus Gründen unmittelbarer Anlehnung an die klassische Literatur
der Antike oder des Christentums mangelnder Anschauung und Spontaneität des
Erlebens zu spezifizierten Ergebnissen nicht wird gelangen können.
Leipzig. N. Wilsing.
Otto Herrmann: Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 365
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich.
Worauf beruht es, daß Friedrich dem Großen im Siebenjährigen Kriege
von seinem vertrauensvoll in alle Sorgen und Hoffnungen eingeweihten und
immer wieder zum Nebenfeldherrn ernannten Bruder Heinrich so oft, teils
offen mit Gleichgültigkeit oder ablehnendem Schmollen, teils heimlich mit
Verunglimpfungen und Intrigen gedankt wurde? Th. von Bernhardi! hat den
Grund für dieses unbrüderliche Verhalten auf militärischem Gebiete zu finden
geglaubt, insofern Heinrich als Anhänger einer vorsichtigen Manöverstrategie
im Gegensatz zu der kühnen, eine Entscheidung durch Offensivschlachten
erstrebenden Anschauung Friedrichs gestanden habe. Nun soll ein derartiger
sachlicher Gegensatz zwischen den Brüdern keineswegs geleugnet werden,
aber allein kann er für jenes Verhalten des Prinzen nicht ausschlaggebend
gewesen sein. Denn wie merkwürdig, daß Heinrich nur drei Jahre vor dem
Beginn des Riesenkampfes in einem damals erwarteten Weltkriege Preußen—
Frankreichs gegen Österreich, Rußland und England— Hannover die kühnste
Offensive vorschlug und den Plan zu einer Entscheidungsschlacht (in Han-
nover) entwarf? Und daß er auch in einer gleichzeitigen pseudonymen Denk-
schrift eine Art von Niederwerfungsstrategie vertrat?? Sollte er wirklich in so
kurzer Zeit aus rein sachlichen Motiven seine militärische Anschauung so
grundlegend geändert haben? Wie merkwürdig ferner, daß der König selbst
schon im Jahre 1769 der Meinung ist, daß die meisten Generäle nur deshalb
zu dem „Auskunftsmittel“ der Schlacht greifen, „weil sie sich nicht anders
zu helfen wissen?!" Wie merkwürdig endlich, daß Heinrich im Siebenjährigen
Kriege, wie nachgewiesen®, zwar nicht in Worten, aber in der Tat oft eine
Kühnheit zeigte, die der seines Bruders ähnelte, während dieser zwar über-
kühne Pläne entwarf, beim Handeln aber nüchterner dachte? Die Lösung
des Rätsels scheint mir darin zu liegen, daß weder dieser militärische Gegen-
satz noch der ebenfalls vorhandene politische — Heinrich war gegen das
Bündnis mit England und gegen einen Präventivkrieg — die alleinige Ursache
seiner oppositionellen Haltung waren, sondern daß neben und über diesen
Gegensätzen, sie zum Teil erst hervorrufend, die persönliche Abneigung des
Prinzen gegen seinen Bruder eine entscheidende Rolle spielte.
— .
In seinem Werke: Friedrich der Große als Feldherr, 2 Bände, Berlin 1881.
* Vgl. meinen Aufsatz in den „Forschungen zur brandenburg. u. preuß. Ge-
schichte“ 24, Bd. 2.
* Vgl. die „Betrachtungen über das militärische Talent und den Charakter
Karls XIL, Königs von Schweden“.
* Von R. Schmitt, Prinz Heinrich v. Pr. als Feldherr im Siebenjährigen Kriege,
Greifswald 1897,
366 Otto Herrmann
Ein Beweis für diese persönliche Abneigung ist schon der anmaßende und
gereizte Ton, den der Prinz in der erwähnten Denkschrift und in seinen Me-
moiren über den Ursprung des Siebenjährigen Krieges® anschlägt, desgleichen
die abfälligen Bemerkungen über den König, welche sich in den Schriften der
dem Prinzen ergebenen Offiziersfronde, besonders seines Adjutanten, des
Grafen Henckel von Donnersmark, zahlreich vorfinden. Wie tief und leiden-
schaftlich diese Abneigung aber gerade zur Zeit des großen Krieges war, das
erschloß sich mir erst aus einem Einblick in die vertraulichen Briefe, welche
Heinrich in dieser Zeit an seinem ihm ganz ergebenen Bruder Ferdinand®
richtete. Die Schärfe der in ihnen gebrauchten Ausdrücke über den König ist
eine so überaus große, daß mir von meiner Abschrift des französischen Origi-
nals im Jahre 1918 durch die Verwaltung des damaligen königlichen Haus-
archivs in Charlottenburg, des Ursprungsortes der Briefe, eine ganze Anzahl
Stellen herausgeschnitten wurde, die ich erst jetzt (1930) infolge meines An-
trages bei dem nunmehrigen Brandenburgischen und Preußischen Hausarchiv
zurückerhielt. Wenn ich diese und andere im weitesten Sinne auf den König
bezüglichen Stellen hier mitteile, so geschieht es natürlich nicht aus Sensations-
lust, sondern weil die wissenschaftliche Welt einen berechtigten Anspruch
darauf hat, zu erfahren, wie ein doch militärisch und politisch nicht unbedeu-
tender nächster Verwandter Friedrichs im Grunde seines Herzens über ihn
gedacht hat, und weil nur auf diese Weise meine Vermutung eine kräftige
Stütze erhält. —
Sehr charakteristisch ist es schon, daß Heinrich, wenn er von dem Könige
spricht, ihn nie als seinen Bruder bezeichnet. Hin und wieder sagt er „der
König“, am häufigsten aber begegnet das lieblose „man“. So heißt es in einem
Briefe, den Heinrich am 29. Dezember 1757 an seinen damals bei der Armee
des Königs in Schlesien weilenden Bruder Ferdinand richtete: „Du wirst mich
besonders verpflichten, wenn Du mir mitteilst, ob ‚man‘ viel und in welchem Tone
von mir spricht“; in einem Briefe aus Leipzig vom Januar des folgenden Jahres:
„Erkundige Dich geschickt, aber ohne einen diesbezüglichen Wunsch von mir
zu äußern, ob ich in Sachsen bleiben werde oder ob ‚man‘ mich nach Schlesien
beordern wird. Vielleicht kannst Du es durch Retzow? erfahren. Du tätest
mir einen wirklichen Dienst, wenn Du mich davon benachrichtigtest, jedoch
ohne mich zu nennen, denn ‚man‘ soll von meiner Neugierde in dieser Beziehung
nichts wissen" ; in einem Briefe aus Dresden vom April desselben Jahres: „Di-
* Vgl. A. Naudé in den „Forschungen usw." 1.
* Friedrich (geb.1712) hatte drei Brüder: August Wilhelm en 1722), Heinrich
(geb. 1726) und Ferdinand (geb. 1780).
7 Quartiermeister.
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 367
nierst Du jeden Tag in Grüssau®? Sitzt ‚man‘ lange bei Tisch? Schreibe mir
doch Details darüber! Ich würde alles in der Welt darum geben, wenn, man
dich — woran ich aber sehr stark zweifle — hierher schickte.“
Bald aber wird dieses verhältnismäßig harmlose „man“ von andern Aus-
drücken verdrängt, Ausdrücken, die einen so tiefen Widerwillen, einen so
leidenschaftlichen Haß gegen den König verraten, wie man sie selbst dem
Prinzen Heinrich, dem „allzu heftigen kleinen Mann", wie ihn Carlyle nennt,
nicht zugetraut hätte. Ich zähle sie auf, indem ich allerdings zu bedenken
gebe, daß die Worte des französischen Originals sich für deutsche Ohren viel-
leicht nicht ganz so schlimm anhören als die übersetzten.
Noch einigermaßen glimpflich klingt die Bezeichnung Friedrichs als: Der
Mensch, ein gewisser Mensch, die Person, unser gemeinsamer Feind, oder das
ironische: der gute Sire, der öffentlich zum Dichter gekrönte Held?; voller
Bitterkeit schon: unser Wüterich, der Tyrann, die drückende GeiBel, der raub-
gierige Mensch, der närrische und überspannte Mensch, der Hanswurst, der
boshafte und eingebildete Narr, die Eule, die Fledermaus, der Teufel, der
Allesverderber; und endlich, von blindestem Hasse eingegeben: der Schurke,
der Bluthund, der größte SchmutzfinE und Geizhals, der garstigste und bos-
hafteste Dummkopf, die gemeinste Bestie (la plus vilaine bête), die Europa
hervorgebracht hat.
Prüfen wir, da es aus dieser allgemeinen Schimpfwörterkanonade doch
nicht zur Genüge erhellt, welche Eigenschaften Friedrichs im besonderen seinem
Bruder zuwider sind. Man kann sie in zwei Gruppen teilen: angebliche sitt-
liche und geistige Defekte. Beginnen wir mit den ersteren, so wird der König
zunächst einer tyrannischen Willkür und Ungerechtigkeit bezichtigt. So ist
Heinrich , empört“ darüber, daß den Offizieren des Regiments Ferdinand nach
der Schlacht bei Leuthen die erbetenen Pour le mérites verweigert wurden.
Über die bei Henckel!? ausführlich besprochene Angelegenheit des älteren
Leutnants v. Kalkreuth, Bruder des späteren Feldmarschalls, schreibt er:
„Der ältere Kalkreuth ist kassiert worden. Sage bitte jedem, der mit Dir
darüber. spricht, ich hätte Dir geschrieben, nur ein Hundsfott könne behaupten,
daB er diese Behandlung verdient habe, und erzähle namentlich Mantel}, er
sei kassiert worden, weil er krank ist.“ Auch die ungerechte Behandlung des
— MÀ MÀ ——
* Damals kónigliches Hauptquartier. |
* Anspielung auf die Oeuvres du philosophe de Sanssouci, die, ursprünglich
aur für Vertraute bestimmt, wegen schlechter Nachdrucke auf Befehl des Königs
im Jahre 1760 unter dem Titel Poésies diverses in Holland veröffentlicht wurden.
% Tagebuch von 1757 unter dem 9. April.
u Wohl Leutnant v. Manteuffel, der auf Heinrichs Wunsch in das Regiment
Ferdinand eingetreten war.
368 Otto Herrmann
Generals Fink nach der Katastrophe von Maxen wird natürlich erwähnt, wenn
auch merkwürdigerweise nur in einem Briefe, dem vom 5. Januar 1760, wo
es heißt: „Dumme Schwätzer, die Berliner! Fink soll allein schuldig sein!
Diese Schafsköpfe werden immer das Falsche herausfinden, bis ihnen die Rus-
sen oder Österreicher in Berlin selbst die Augen öffnen. Ach, lieber Ferdinand,
es ist sehr leicht, über Menschen abzusprechen, wenn man nur die Hälfte der
Geschichte kennt.“
Zur Ungerechtigkeit trat nach Heinrich beim Könige die Grausamkeit.
Einen Beweis für diese glaubte er besonders in der harten Behandlung seines
Bruders August Wilhelm nach dessen unglücklichem Rückzuge aus Böhmen
im Jahre 1707 zu sehen, denn er schrieb dieser Behandlung ziemlich direkt
den im folgenden Jahre erfolgten Tod dieses Prinzen zu. Schon PreuB hat in
der akademischen Ausgabe der Werke Friedrichs des GroBen (Bd. 26) darauf
hingewiesen, daB Heinrichs Aversion gegen den König sich besonders seit dem
erwähnten Anlasse gezeigt habe; wie groß diese Aversion aber war, verbunden
mit der Furcht, daß es ihm ebenso gehen könnte, das erkennen wir erst aus
unseren Briefen. Nachdem er schon am 17. April 1758 dieser Besorgnis starken
Ausdruck gegeben, — er hatte eg auch abgelehnt, das Kommando über die
von seinem Bruder geführte Armee zu übernehmen — erklärt er am 20. Juni,
daB sein Herz die Trauer um den am 12. gestorbenen Bruder niemals über-
winden werde. „Seit acht Tagen habe ich den Tod unseres unglücklichen
Bruders erfahren; das bedeutet, daß ich seit dieser Zeit unsäglich gelitten habe.
Ich werde geduldig weiter leiden, aber niemals diesen teuren Bruder und die
schreckliche Ursache seines Todes vergessen." Am 20. Juli hofft er, Ferdinand
werde die Strapazen des Rückmarsches von Olmütz gut überstanden haben.
„Der erlittene Verlust läßt mich zittern für die Verwandten und Freunde, die
ich noch habe." Am 31. Juli klagt er: „Wir sind beide sehr unglücklich daran,
aber deine Standhaftigkeit hat mich entzückt. Deine Antwort war so, wie es
sich gehört; mit Recht hast du den Ankläger gespielt, indem du den Tod
unseres lieben Bruders dem (eben durch den König veranlaßten) Kummer zu-
schriebst. Dieser Grund ist nur zu wahrscheinlich. Ich habe den Dr. Herzog
gesprochen, der während seiner ganzen Krankheit bei ihm war, und den Kam-
merdiener Fraise, den ich übernommen habe. Alle Einzelheiten seiner Krank-
heit sind mir bekannt, und dies Unglück kommt uns von dem,der sein ganzes
Land unglücklich macht." Der Prinz deutet dann noch au, was wir genauer
bei Henckel!“ finden, daß dem Thronfolger im Vorjahre bei dem Durchmarsch
durch Leipzig die von ihm erbetene Zuziehung des Leibarztes Cothenius ver-
sagt worden sei. Heinrich erwähnt schließlich, daß der Verstorbene in seinem
7 Tagebuch von 1757 unter dem 17. Oktober.
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 369
Testament „an uns alle“ gedacht habe, und daB er zum Vollstrecker ernannt
sei. Er wechsele darüber mit dem König Briefe, die Sache ziehe sich aber,
wie es am 8. Dezember heißt, in die Länge, denn ,,man'* wolle zwar das Testa-
ment nicht anfechten, aber „man“ sei — eine neue, übrigens einzig dastehende
Anklage — zu „faul“, um die für die Entsiegelung und Verteilung nötigen
Schriftstücke zu unterzeichnen, und Heinrich müßte sich daher mit Geduld
wappnen, um von der Stimmung des Königs zu profitieren und ihn nicht zu
reizen.
Nicht grade grausam, aber doch lieblos soll sich der König auch gegenüber
dem Prinzen Ferdinand verhalten haben, und demgemäß wird diesem einge-
schärft, überhaupt nicht mehr an ihn zu schreiben, denn solche Korrespondenz
tauge nicht für einen Dreier. „Wenn der Hof nach Magdeburg geht“, heißt ea
am 15. Februar 1760, „dann tue, was Du willst, nur schreibe nicht an den
König! Setze Dich in das richtige Verhältnis mit ihm und frage ihn nicht wie
ein Kind, wo Du Luft schöpfen darfst, denn das wird ihm sehr gleichgültig sein,
wenn Du nur darauf achtest, Dich nicht gefangen nehmen zu lassen." Schon
im Januar 1758 warnt er den eben genesenen Bruder: ,,Geh' nicht zu früh aus,
treibe Deinen Eifer nicht auf die Spitze! Vor zwei Monaten ersuchte ich Dich,
nicht zu quittieren, und jetzt bitte ich Dich, nicht derart verblendet zu sein,
daß Du Dein Leben und die Zuneigung Deiner Freunde für Dich einem ..
opferst.
Unfreundliches und launisches Benehmen ihm selbst gegenüber wurde schon
erwähnt bei Gelegenheit des Briefwechsels, den Heinrich als Testaments-
vollstrecker des Prinzen August Wilhelm mit dem Könige zu führen hatte.
Unfreundlich habe ihm auch der König anläßlich der Niederlage bei Brand 1d
geschrieben, oder wie Heinrich sich ausdrückt, er habe ihn beschimpft! (il
commengait & m’insulter).
Als unnötig hart muß nach dem Briefe vom 4. Januar 1762 die Behandlung
der gefangenen österreichischen Offiziere erscheinen. Sie „sollten wissen, daß
der König ihnen keinen Urlaub bewilligt, ja nicht einmal den Verwundeten
unter ihnen erlaubt, sich in den Bädern zu kurieren." Die braven gefangenen
preußischen Offiziere aber hätten sich nur an ihren König zu halten, wenn es
ihnen in der Gefangenschaft schlecht ginge: „Er hat zu allen den Vorgängen
ermuntert, die das Völkerrecht verletzen und so viele Menschen unglücklich
machen."
Ein Gegenstand, der den Prinzen besonders erregt, sind, neben dem mehr ge-
legentlich erwähnten Plündern und Einüschern von Ortschaften, die ihm wegen
** Am 14. und 15. Oktober 1762. Vgl. den Brief des Königs in der „Politischen
Korrespondenz Friedrichs des Großen“ Bd. 99, S. 281 u. 282.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 36, H. 2. 24
370 Otto Herrmann
der damit verbundenen Grausamkeit äußerst widerwärtigen Beitreibungen
in dem ihm unterstellten Sachsen. Er schreibt darüber im Januar 1762 aus
Hof: „Ich habe Dir, glaube ich, noch nicht erzählt, daB ‚man‘ drei Schufte
zur Ausplünderung Sachsens hergeschickt hat, darunter auch Monsieur An-
halt, Ich habe ihn nach Gebühr empfangen. Ohne ihm etwas zum Essen
oder Trinken anzubieten, habe ich ihn nach Leipzig!5 geschickt." Er führe
deshalb, heißt es im April, mit dem „Sire“ einen sehr scharfen Briefwechsel,
teils wegen seiner, ungeheuren Geldforderungen“, teils wegen der „Kanaillen,
die er deshalb hierher geschickt hat." Wenn Berlin, was leicht möglich sei,
noch einmal in Feindes Hand fiele, so würde er sich an Stelle der Gegner von
dieser Stadt allen Schaden ersetzen lassen. Über das Bombardement von
Dresden im Juli 1760 notiert Heinrich ironisch: „Die Belagerung von Dresden
ist nach Einäscherung der halben Stadt aufgehoben worden; es geht also alles
vortrefflich!“ Geraubte Möbel aus dem Nachlaß eines Freikorpsführers will
er natürlich nicht kaufen, um sein Haus nicht „durch Teilnahme an fremden
Diebstahl" zu schünden.
Eine besondere Abart der Grausamkeit war nach Heinrich bei seinem
Bruder die Lust am BlutvergieBen; die Folge dieses „ Blutdurstes sieht der
Prinz darin, daß der König sich gegen den Abschluß des Friedens, den er,
Heinrich, so sehnlich herbeiwünschte, gesträubt habe. Dieses Thema wird
in den Briefen an Ferdinand wiederholt angeschlagen. Am 5. Dezember 1757
hofft er, daß die Vorsehung „trotz der Absicht dieses Menschen . . weiteres
Blutvergießen verhindern werde." Am 17. April des folgenden Jahres fordert
er seinen Bruder auf, ihm Einzelheiten darüber mitzuteilen, „was unser Wü-
terich sagt und tut. Wird er bald gesättigt sein von Blut? ... Ich danke Gott,
daß ich nicht bei ihm bin und würde alles in der Welt darum geben, wenn ich
Dich und unsere Freunde seinen Krallen entreißen könnte.“ Am Schluß des
Feldzuges werde es ihm sicher wie dem Prinzen Thronfolger ergehen. In dem
schon erwähnten Brief über den Tod dieses Prinzen heißt es: ,, Und diea Unglück
kommt uns von dem, der sein ganzes Land unglücklich macht und Europa
mit Blut überschwemmt“, und weiter: „Wenn wir nur unsere Pflicht tun,
können wir gleichgültig mit ansehen, falls wir am Leben bleiben, wie die Blut-
hunde (les hommes sanguinaires) sich Europa teilen." Am 29. März 1762:
„Der Friede mit Rußland steht vor der Tür, und wir könnten selbst zu einem
allgemeinen kommen, wenn nur der Allesverderber nicht auf seinem Kopfe
besteht und unsere berechtigten Hoffnungen vereitelt. Aber die Tiger lieben
rohes Fleisch, und Menschenblut fließen zu sehen, macht so viel Vergnügen,
I. Flügeladjutant. |
1 Sitz des preußischen Beitreibungskommiseariates,
Friedrich der Große im Spiegel seines Brudeis Heinrich 37 ]
daB der Geier vor Kummer sterben würde, wenn er sich nicht mehr im Blute
seiner Untertanen baden könnte.“ | i
Zu diesen widerwürtigen Charakterzügen kommt — immer nach Heintich
— die Neigung zum Schwindeln und Verleumden. Am 8. Dezember 1758
schreibt er seinem Bruder: „Ich benütze die Abreise Cocoejis 1e, um Dir zu
schreiben. Du wirst.(durch ihn) von den Begebenheiten ausführliche Kunde
erhalten und selbst von dem, was nicht wahr ist und doch dafür gelten sóll.
Dein Seharfsinn wird Dich die Wahrheit über die Schlachten bei Hochkiroh
und Zorndorf sowie über die Mársche, Láger usw. erkennen lassen, wenn diese
Dinge an der Tafel in Breslau besprochen werden." Im Juli 1761 weist er
Ferdinand darauf hin, wie „man“ betrügt und so viele Lügen verbreitet, daB
er keineswegs überrascht sei über das, was „man“ von dem Abmarsch der
Armee Dauns von Sachsen nach Schlesien — der seine Stellung wesentlich
erleichtert hätte — „fabele“. Am 5. Oktober 1762 hofft er, alle Dummköpfe
würden jetzt endlich wissen und davon überzeugt sein, „daß die mir gegen-
überstehende Armee über doppelt so stark ist wie meine, und werden nicht
mehr den Verleumdungen des Schurken Glauben schenken, der behauptet
hat, es ständen mir nur 16000 Mann gegenüber." Und er setzt die haßerfüllten
Worte hinzu: „Bei ‚Schurke: fällt mir ein, unser lieber Bielfeld!? scheint noch
immer von ihm infiziert zu sein. Sage doch diesem guten Freunde in meinem
Namen, er müßte wissen, daß ich niemals großes Aufheben von den Verdiensten
eines gewissen Menschen gemacht hätte, daß er mir aber seit den sechs Jahren,
wo ich ihn näher kennengelernt habe, die größte mit Empörung gesellte Ver-
schtung eingeflößt hätte und daß ich allen Grund hätte, ihn als das bösartigste,
erbärmlichste Geschöpf zu betrachten, daß ich auch kein Geheimnis daraus
machte und die Person das wohl wüßte, daß ich sie durchschaue; dies wäre
auch die Ursache, weshalb ich ihr gegenüber ziemlich von oben herab reden
und einen Ton anschlagen könnte, den unser Freund B. vielleicht nicht für
möglich hielte. Im Frieden allerdings muß ich mich darauf gefaßt machen,
daß die Person mir nachstellt, denn sie ist zu eitel, neidisch und bösartig, um
sich nicht an mir für die Dienste zu rächen, die ich ihr erwiesen habe.“
Hier werden als weitere moralische Mängel die Bosheit, Eitelkeit und
Scheelsucht an den Pranger gestellt. Vom Geiz des Königs war schon unter
den allgemeinen Ausdrücken die Rede: dieser Eigenschaft wegen bezweifelt
Heinrich anfangs auch mißtrauisch die Höhe der ihm wegen seines Freiberger
Sieges ausgesetzten Rente. Endlich wird auf den Eigensinn Friedrichs hin-
1 Adjutant des Marschalls Keith, der bei Hochkirch gefallen war.
” Der bekannte Hamburger Kaufmannssohn und Freund der königlichen
Familie,
24*
372 Otto Herrmann
gedeutet mit der Bemerkung, daß er kurz vor Maxen, obwohl gichtkrank, den
persönlichen Oberbefehl über Heinrichs Armee (und damit zugleich über das
Korps Fink) übernommen habe.
Aber nicht nur die Moral des Königs wird herabgesetzt, sondern auch seine
Intelligenz. Zu Fehlern auf diesem Gebiete rechnet Heinrich zunächst seine
strategische Ungeschigklichkeit, wie sie namentlich bei Maren hervorgetreten
sei; hier verfuhr er, sagt der Prinz ironisch, so „glücklich“, daß er dem
Marschall Daun den Angriff auf Fink sehr erleichterte. Auch den Verlust von
Kolberg im Jahre 1761 führt Heinrich auf falsche Maßnahmen des Königs
zuruck; wenn es nach ihm selbst gegangen wäre, so hätte der Prinz Eugen von
Württemberg im Frühjahr die Stellung bei Kolberg aufgegeben und wäre im
Verein mit dem Korps des Generals Platen den Russen in den Rücken gefallen.
Deswegen handle er, Heinrich, nunmehr auch ganz selbständig. Zur mili-
tärischen Ungeschicklichkeit, meint er, sei auch Unsicherheit hinzugetreten.
„Man hat mir“, bemerkt er im März 1760, „das Kommando in Schlesien übertra-
gen, schreibt mir nun aber wieder anders, sodaß ich auf meiner Hut bin. Der gute
Sire ist etwas wirre, er weiß oft nicht, was er will“; infolgedessen wisse er,
Heinrich, natürlich auch nicht, was er tun, ob er „kämpfen oder sich neutral
verhalten" solle. „Ich habe diesen verdammten Krieg völlig satt und wollte,
der Teufel hätte seinen Urheber an dem Tage geholt, als er die Armee aus-
marschieren ließ.“ Und, mit Bezug auf die Veröffentlichung des,, Philosophen
von Sanssouci“ in Holland!*: „Da haben wir den öffentlich zum Dichter ge-
krönten Helden, der bis jetzt noch nicht weiß, ob er im Norden oder Süden
kommandieren soll. Diese Unwissenheit hat etwas Komisches, und wir beide,
lieber Kese!?, wollen sie nur belachen." Der König, heißt es an einer anderen
Stelle (2. Juli 1761), sei auch ein Phantast gewesen, der sich an Luftschlössern
berauscht habe. „Was nützt es zu wissen, daß man in der und der Provinz
sich vergraben will, welehe Kunst man anwenden wird, um die Oberhand zu
gewinnen und den Feind durch Hunger zu vernichten, wie man verhandelt,
wie man betrügt, wie man Angst hat, wie man sich als Helden aufspielt, um
seine Schwäche zu verstecken! Das sind alles schöne Phantasiebilder, und
ich will froh sein, wenn die Greuel ein Ende haben." Auch der Plan des Königs,
mit oder ohne Hilfe der Türken im Jahre 1762 die sächsische Hauptstadt
Dresden zum Behuf eines besseren Friedensabschlusses zurückzuerobern
(vgl. Politische Korrespondenz Friedrichs d. Gr. Bd. 21 u. 22 passim), sei ein
reines Phantasiegebilde gewesen. Der Prinz schreibt darüber im April 1762:
—— — —À —9À
1* Vgl. oben, S. 6, Anm. 1.
t° Beiname des Prinzen Ferdinand, vielleicht daher entstanden, daß er als
Kind öfter: , Qu'est-ce?" fragte.
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 373
„Es wird so viel gelogen, daß ich mich über die Lüge, wir würden Dresden
belagern, nicht wundere“; im Mai und Oktober fügt er hinzu, nur „Dumm-
köpfe“ könnten an die Eroberung Dresdens glauben, denn die unangreifbaren
Stellungen der österreichischen Armee zwischen Plauen und Dippoldiswalde
lägen als zweite Festung dahinter.
Bei dieser geistigen Verfassung ist es natürlich auch kein Wunder, daß der
König ein schlechter Prophet ist. „Daß die Briefe des Königs sich wider-
sprechen, wundert mich nicht, wohl aber, daß man seinen Vorhersagungen
Glauben schenkt. Wenn England und Frankreich sich vertragen, werden
auch wir Frieden bekommen, aber erst nach Abschluß dieses Feldzuges, also
in vier Monaten wird es sich entscheiden, ob Aussicht dazu vorhanden ist
oder nicht“ (3. September 1761).
So gilt Friedrich seinem Bruder nicht nur als der Urheber des „unge-
rechten" Krieges”, sondern auch als der Schurke (fripon), Allesverderber
(gäte-mönage) und Narr (fou), der die Schuld an allem Unglück trage, das
während des Krieges über die Nationen gekommen sei. Seiner unheilvollen
Persönlichkeit wegen kann sich daher Heinrich auch nicht recht über den Um-
schwung zum Besseren freuen, der durch die Ereignisse m Rußland im Jahre
1762 herbeigeführt wurde, jedenfalls nicht mit Ferdinand der Vorsehung
dafür dankbar sein. Am 26. Juli bedauert er, daß sein Korrespondent umsonst
zur Begrüßung des Zaren nach Stettin gereist sei. „Du wirst den armen Peter
nicht sehen und hast also eine beträchtliche Ausgabe ganz umsonst gemacht.
Das tut mir Deinetwegen und noch mehr des armen Peter wegen leid. Einige
sagen, daß er getötet, andere, daß er infolge seines merkwürdigen Eifers für
S. M. für blödsinnig erklärt worden ist. Den armen Peter habe ich immer für
etwas närrisch, sonst aber für gutmütig gehalten. Ach, wenn die gutmütigen
Narren schon ein solches Schicksal haben, welches wird das der boshaften
sein?“
Am 8. August heißt es: „Der Kaiser ist also erledigt n. Schreibst Du diesen
Mord der Vorsehung oder der menschlichen Schlechtigkeit zu? Du behauptest,
daß es ohne die Vorsehung um uns geschehen war; sage mir doch, was Du mit
dem, um uns geschehen, meinst? Gibt es denn noch eine schlimmere Lage
als die. von einem Tyrannen abhängig zu sein? Wenn die Vorsehung unserem
— — — —
** Von einer Absicht Friedrichs, den Krieg, wie M. Lehmann will, zur Eroberung
von Sachsen und Westpreußen eröffnet zu haben, deutet Heinrich übrigens nichts
an; der Krieg erscheint ihm auch erst dann ungerecht, als er sich wider Erwarten
in die Länge zog.
n Pete: III. war auf Betreiben seiner Gemahlin Katharina entthront und dann
am 17. Juli ermordet worden.
íi. — o e
374 Otto Herrmann
unglücklichem Vaterlande eine Wohltat hätte erweisen wollen, so würde sie
es schon lange von ihm befreit haben, aber so lange diese drückende Geißel
nicht verschwindet, kann man von Wohltaten, welche die Vorsehung unserem
armen Vaterlande erwiesen hätte, nicht reden." Er bedaure zwar das Schicksal
des russischen Kaisers, aber sein verrückter Enthusiasmus für den König habe
ihm ein solches Los bereiten müssen.
. Und Heinrich schließt diese Betrachtungen am 21. August mit den haß-
erfüllten Worten: „Du glaubst, daß Gott die Kaiserin von Rußland“ bestrafen
wird. Bist Du dessen gewiß? Wie viele schlechte Menschen sterben ruhig in
ihrem Bette, und der niederträchtigste Kerl (la plus vilaine böte), den Europa
hervorgebracht hat, befindet sich ausgezeichnet und verübt seit 20 Jahren
alle möglichen Bosheiten! Er läßt zwar nicht gerade köpfen, aber tötet die-
jenigen durch Gram, deren er sich entledigen will. Die Vorsehung tut ihm
nichts, ja sie überhäuft den erbärmlichen Menschen noch mit Glücksfällen!“
Nur der Tod des Königs erscheint dem Prinzen Heinrich also als eine wirk-
hohe Entspannung der Lage. Demgemäß gibt ihm auch die damals erfolgte
Inthronisation seines Bruders Ferdinand als Herrenmeister des Johanniter-
ordens Veranlassung zu bissigen Bemerkungen. Ferdinand solle nicht ver-
gessen, daß er, Heinrich, den „Heiligen Geist", der die Ritter zu seiner Wahl
inspiriere, nie anerkennen und schätzen werde. „Ich hoffe, daß Du ihn nicht
anbeten wirst. Falls er erscheint, wird er jedenfalls als Fledermaus erscheinen.
Von dem echten muß er sich jedenfalls unterscheiden, denn er hat nichts
weniger als die Sanftheit und Lieblichkeit einer Taube." Und er fordert seinen
‚Bruder auf, zu seiner Wahl einen Jäger mit einer Flinte bereit stehen zu lassen;
‚wenn dann die Eule oder Fledermaus erscheine, solle er sie sofort abschieBen.
Seinen eigenen Beruf als preußischer General hält der Prinz unter diesen
Umständen, d. h. unter einem solchen Könige, für den schlimmsten, den es
geben könne. Er möchte, wie er im November 1761 schreibt, ebensogern „eine
Karre durch den Dreck schieben, Rüben mit Salz futtern, Hausierer oder
(3aleerensklave sein" wie preußischer General. Denn das sei ein Mensch, von
dem man das Unmögliche verlange, der kein festes Ziel, keine Belohnungen
vor Augen hátte, den die Zeitungen zehn-, zwanzig- oder fünfzigtausend Mann
befehligen ließen und der nie auch nur den vierten Teil davon hätte. Deshalb
erklàrt Heinrich auch wiederholt seine Absicht, das Kommando niederlegen zu
wollen, jedenfalls aber werde er nicht unter den direkten Befehl des Königs
treten und sich von ihm nichts vorschreiben lassen. Trotzdem sei er so me-
lahcholisch, traurig und niedergeschlagen, daß er es nicht aussprechen kónne,
denn er sehe bei der Geringfügigkeit der preußischen Kräfte und Mittel den
* Katharina IL, 1762— 1796.
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 375
sicheren Untergang des Staates voraus, den kaum ein Wunder retten könne,
Die folgenden Stellen mögen als Beleg für diese Stimmungen dienen. |
Schon im Februar 1768 schreibt der Prinz aus Halberstadt, er habe dort
eine widrige Kommission. „Aber obwohl ich Dich über alles gern wiedersehen
möchte, so mag ich doch nicht nach Schlesien gehen und möchte mich lieber
aufhängen als unter den Augen des Narren dienen. Hier und in Sachsen hänge
ich von niemandem ab und kann selbständig disponieren." Am 27. November
1769: „Ich bin entschlossen, mit diesem Feldzug meine militärische Laufbahn
zu beendigen." Am 20. Dezember desselben Jahres: „Du bist sehr gütig,
mein lieber Ferdinand, da8 Du mir die Rettung des Vaterlandes zutraust,
aber wenn ich auch alle die Fähigkeiten hätte, welche Du mir in Deinem Edel-
mute zuschreibst, sie würden mir absolut nichts nützen, da ich gegen den
Willen, welcher uns lenkt, nichts vermag. Wer unter dem Kónig kommandiert,
büßt an Ehre und Achtung ein, und es ist ein Wunder, daß ich mich bisher
noch so aus der Affäre gezogen habe. Dem will ich mich aber nicht länger aus-
setzen, und zwar um so weniger als ich bei Fortdauer des Krieges ja doch nicht
immer mich entgegenstemmen könnte und weil, selbst wenn ich es könnte, ein
närrischer und überspannter Mensch die von anderen errungenen Vorteile
wieder zunichte machen würde. Der Staat, m. I. F., ist ein Name, dessen man
sich bedient, um dem Publikum Sand in die Augen zu streuen; ein Hanswurst
ist er, der alle Errungenschaften für sich in Anspruch nimmt und dem man
folglich seine Dienste widmet." Am b. Januar 1760: Heinrich wolle sich nioht
falsch beurteilen lassen, nicht gefangen werden wie Fink, sich nicht vor der
Übermacht zurückziehen, sich nicht die Frucht seiner Mühen und Sorgen
entreißen lassen, und daher gedenke er, den Kopf ganz sachte aus der Schlinge
zu ziehen. „Der Mensch ist zu schlecht; ich verliere unfehlbar Ansehn und
Ehre, denn bei dem geringsten MiBerfolg, den ich hátte, würde ich verleumdet
werden, des ist Fink Zeuge!" Am 1. Juli: Tausendmal in einer Viertelstunde
bedaure er, ein Kommando für dieses Jahr übernommen zu haben. Am 20. Juli:
„Ich bin mir selbst verhaßt, daß ich die Dummheit begangen habe, in diesem
Jahre eine Armee zu befehligen, und werde für die Zukunft vor jedem Kom-
mando zurückschreoken." Am 26. Juli: „Ich wünschte, daß man ebensoviel
Mitgefühl für mich hätte als ich für diejenigen, die sich aus diesem grausamen,
verwänschten, ungerechten Kriege zurückziehen durften. Ichhabemehreren von
ihnen dabei geholfen und sie nicht mitschönen Phrasen von Staatswohl, Pflicht-
erfüllung, allgemeinem Nutzen usw. belästigt. Am 11. Dezember: „Der König
weiß, daß er mir nichts vorschreiben kann; wir stehen auf gutem Fuß mit-
einander und werden es hoffentlich auch weiter tun.^ Am 26. Februar 1761:
Wäre man seinem Rate gefolgt, so würde der Krieg vielleicht schon lange zu
376 | Otto Herrmann
Ende sein. „Unsere Landsleute müssen blind sein, wenn sie glauben, von wirk-
lichen Armeen beschützt zu werden; aus österreichischen Gefangenen und
eingeborenen kleinen Kindern wird man vielleicht zwei Heere bilden.“ Am
17. September: Nur wer mitten darin stecke, kenne von Grund auf die Jäm-
merlichkeit unserer Hilfsmittel, den erbärmlichen Zustand unserer Truppen
und die Dummheit derer, die sie befehligen. Am 2. Dezember: „Einen künig-
lichen Befehl erhalte ich niemals, und selbst wenn ‚man‘ wünschte, ich solle
den Feind in seiner festen Stellung bei Freiberg angreifen, so verrät es eine
geringe Kenntnis meiner Person, mich der demütigen Ausführung eines solchen
Befehls für fáhig zu halten.^ Am 21. Dezember: ,, Wenn ich mich der Stadt
indessen bemüchtigen kónnte, würde ich es tun, ohne ihm davon Mitteilung
zu machen, und wenn ich es nicht kann, so wird sein Schreien und Befehlen
mich nieht einen Schritt vorwürtsbringen." Am 4. Januar 1762: „Unser
Land ist sicher zu beklagen, aber das ist es schon seit dem 31. Mai 174085.
Damals begann die unglückliche Epoche, welche die Quelle unseres ganzen
Elendes ist. Hätte es doch Gott gefallen, daß unsere verstorbene Mutter am
24. Januar 1712% eine Fehlgeburt gehabt hätte!“ Am 16. Mai: „Von meinem
Angriffsplan und daß ich die Mulde überschreiten wollte“, hat der König rein
nichts gewußt, wie Du jedermann versichern kannst.“
Die ganze Lauge seines Hohnes gieBt der Prinz daher auch über die öffent-
liche Meinung aus, soweit sie auf Friedrichs Seite steht, sowie über seine
Freunde und Bewunderer, während er die von ihm getadelten Personen heraus-
streicht. Die Berliner, welche dem König zujubeln, sind ihm „dumme
Sohwätzer , oder gelten ihm als „ungebildet, geistlos und langweilig" (ni
instruits, ni spirituels, ni amusants). Von Peter III. und dem Flügeladjutanten
Anhalt war schon die Rede. Fouqué, den Jugendfreund des Künigs, bezeichnet
er als ,,boshaft". Der Marquis d’Argens schreibt „falsch und seicht“; bei Tisch
sei er ja ganz unterhaltend und drollig, aber wenn er sich anmaBe, von Politik
zu sprechen, werde er unlogisch. Sein „teurer Herr* würde ohne ihn, Heinrich,
auch noch das Letzte verlieren (Dez. 1760). Von dem bekannten Prediger
Achard sagt Heinrich (Juni 1762), er finde, daß der gute A. sich durch seine
Lobrede auf den schlimmen König verächtlich gemacht habe, denn er recht-
fertige damit zugleich alle Greuel, die dieser sein Volk erdulden lasse. — Und
andererseits nimmt er Fink und Bevern in Schutz — von seiner Teilnahme für
den Prinzen von Preußen wurde schon gesproehen — rühmt den Erbprinzen
Thronbesteigung Friedrichs.
* Geburtstag Friedrichs. -
® Vor Heinrichs siegreichem Gefecht bei Döbeln am 12. Mai,
œ Vgl. S. 6.
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruder Heinrich 377
von Braunschweig und seinen Neffen, den späteren König Friedrich WilhelmlIl.,
und erkundigt sich wiederholt auf das angelegentlichste nach dem Marschall
Keith und den bei Kunersdorf verwundeten Generälen Seydlitz und Prinz
Eugen von Württemberg. Der Ton dem letzteren gegenüber ist freilich ein
schwankender. Zuerst heißt es, am 28. Oktober 1759: „Du wirst Dich gefreut
haben, den Prinzen von Württemberg wiederzusehen und zu pflegen. Ver-
sichere diesen braven, teuren Prinzen meiner Liebe; ich lasse ihm baldigste
Heilung wünschen.“ Und am 26. Juli 1760 läßt Heinrich dem Prinzen teil-
nahmvoll bestellen, ersolle doch ja seine völlige Genesung abwarten, bevor er sich
wieder zur Armee begebe. Am 15. November 1761 dagegen wird darauf ange-
spielt, daß Heinrich dem Prinzen schon im Mai vergeblich geraten habe, sich
nicht in Kolberg einschließen zu lassen. „Er ist ein guter, tapferer Junge, aber
capitus non habet." Die Erklärung für dieses harte Urteil findet sich bald,
am 2. Dezember: „Der kleine Württemberg hat den Monsieur Anhalt als
Gouverneur bei sich. Sehr ehrenvoll, von solchen Lehrern und Meistern sich
leiten zu lassen! Wenn er nicht alle Ordres buchstäblich befolgt hätte, würde er
viel erfolgreicher operiert haben“, und in den verüchtlichen Worten vom Januar
1762: „Den Prinzen von Württemberg pflegte er (Anhalt) wie eine Marionette
zu leiten und hat ihm auch derartig imponiert, daß der Prinz ihm förmlich
den Hof gemacht hat und ihm noch jetzt regelmäßig rapportiert. Der kleine
W. hat sich schon bei anderen Gelegenheiten ziemlich dumm benommen; es
nützt nicht immer, blos gut, gut, gut und außerordentlich tapfer zu sein.“
Man sieht, wie auch bei dieser Beurteilung der persönliche Haß gegen Anhalt
oder eigentlich gegen Friedrich eine große Rolle spielt.
Nur ganz wenige lichte Stellen finden sich in dem düsteren Bilde, welches
der Prinz von seinem Bruder entwirft. Er will „zugeben“, daß es weise
von ihm gehandelt war, nach dem Oderübergang der Russen und ihrer Ver-
einigung mit Laudon im Jahre 1761 das Lager von Bunzelwitz zu beziehen
und zu behaupten. Auch freut er sich darüber, daß der König ihm im Oktober
1762 seinen früheren Adjutanten, den ihm ganz ergebenen Grafen Henckel,
betreffs mündlicher Regelung der Verstärkungen für die Armee des Prinzen
mit einem „höflichen Briefe“ zugeschickt, desgleichen, daß er bei seiner An-
kunft im Hauptquartier des Prinzen — nach der Schlacht bei Freiberg — sich,
allerdings zu Heinrichs „größter Überraschung", so höflich und entgegen-
kommend wie nie gezeigt habe. „Er war gnädig zu jedermann und bewilligte
alles, worum man ihn bat; er benahm sich ohne Góne und ohne Zwang, kurz,
alles verlief bewunderungswürdig." Aber auch mitten in dieser ganz verein-
zelten Lobeserhebung kann Heinrich nicht umhin, die Höhe der ihm ausge-
— — —
= Vgl. Politische Korrespondens Friedrichs d. Gr. Bd. 22, 8. 266/261. -
378 Otto Herrmann
setzten Rente — nach der „Behauptung“ des Königs 10000 Thaler als Güter-
erträge — miBtrauisch zu bezweifeln. Und nachdem ihm Ferdinand darüber
beruhigt — der Ertrag der beiden Lehnsgüter betrage 5732 und 4561 Thaler —,
scheint er eine gewisse Schadenfreude zu empfinden, als er hört, daß auch der
Fürst von Anhalt-Bernburg Ansprüche auf die Güter erhebe, denn „ich habe
C8 Prozeß mit mir anfangen will, ver-
weise ich ihn an den König.“
Nach obigen Mitteilungen aus ds Briefen des Prinzen Heinrich ist wohi
einleuchtend, daB wir es hier nicht etwa mit einer getreuen Charakteristik,
sondern vielmehr mit einem von blindem Hasse suggerierten Zerrbilde des
preußischen Königs zu tun haben. Nur ein von solchem Hasse vergiftetes
Gemüt konnte sich verschlieBen gegen die so offen zutage liegende GróBe
des Königs, die unermüdliche, aufopferungsvolle Tätigkeit im Dienste
seines schwerbedrohten Staates, jene innere „Erleuchtung“, die Goethe an
Napoleon so bewunderte“ und die bei Friedrich vielleicht noch bewunderns-
werter ist, weil er zum Unterschied von Napoleon auch für die edelsten
Kulturgüter ein lebhaftes Interesse hatte. Nur ein sich aufs tiefste verletzt
fühlender Bruder konnte nicht nur dieses Genie, sondern auch die trotz aller
Bedrängnis hervortretende Güte des Königs“ verkennen, seine mutige An-
griffsbereitschaft zur sadistischen Lust am Massenmord stempeln, seine
militärisch notwendigen ZwangsmaBnahmen, wie Beitreibungen und Re-
pressalien, als Folge kalter Grausamkeit auffassen, seinen Optimismus als
Phantasterei verspotten, kurz nichts an ihm sehen als Irrtümer, Fehler und
Untugenden, diezum Teil, wie Spottlust, Härte, Ungerechtigkeit, Geiz, Eigensinn
und namentlich Herrschsucht, ja immerhin vorhanden waren, denn Friedrich
war kein Engel, in ihrer einseitigen Hervorhebung und Übertreibung aber
natürlich ein grundfalsches Bild ergeben.
Wie dieser Haß des Prinzen, der über den Tod seines Bruders hinaus-
dauerte, zu erklären ist, soll hier nicht näher untersucht werden?! ; der Haupt-
grund dafür liegt m. E. darin, daß Heinrich, eine Führernatur wie Friedrich
und ebenso stolz und ehrgeizig, wenn auch nicht so begabt, dazu in einen
Vgl. oben.
0 Vgl. Eckermanns Gespräche mit Goethe ed. Höfer, S. 628.
*9 Vgl. die Briefe an den Lordmarschall, Frau v. Camas, die Markgräfin Wil-
helmine und seinen Bruder Ferdinand, um dessen Befinden er, im Gegensatz zu
Heinrichs Behauptungen, zártlich besorgt war und den er einmal. nach einem Besuch
bei dem Fieberkranken, mit den Worten lobte: ,,C'est le meilleur enfant qu monder
jusque dans son délire il a les rêves d'un honnête homme.“
31 Vgl. darüber namentlich Preuß in der Einleitung su den Oeuvres Bd. 26
und Krauel, Prinz Heinrich v. Preußen in Paris, Berlin 1901.
Friedrich der Große im Spiegel seines Bruders Heinrich 379
für ungerecht gehaltenen Kriege durch Krankheiten“, Anstrengungen und
Strapazen®® bei zarter Konstitution nervös überreizt, die Unterordnung
unter die Autorität seines Bruders, des Urhebers dieses Krieges und damit
auch seiner eigenen Leiden, während der langjährigen engen Berührung mehr
und mehr als einen geradezu unerträglichen Druck empfand. Welclies aber
auch die Quellen dieses mit Furcht, mit Trotz und mit Verachtung gepaarten
Hasses, den wir im übrigen mehr auf das Konto eines tragischen Schicksals
setzen als dem Prinzen in die Schuhe schieben wollen, da er sich dem Bruder
gegenüber doch ziemlich korrekt benahm — das uns so unsympathische
Spionieren und Intriguieren hatte ja auch dieser als Kronprinz betrieben —,
welches auch die Quellen dieses Hasses gewesen sein mögen, die sachliche
Meinungsverschiedenheit in strategischen Dingen, damit komme ich auf
das in der Einleitung Gesagte zurück, scheint mir am wenigsten dazu zu ge-
hören. Vielmehr glaube ich aus der leidenschaftlichen Heftigkeit dieses in
den Briefen an Ferdinand immer wieder hervortretenden Unlustgefühles
den Schluß ziehen zu müssen, daß eher umgekehrt das strategische Denken
und Handeln des Prinzen im Siebenjührigen Kriege, soweit es irgend mit dem
Könige in Beziehung steht, durch den persönlichen Gegensatz zu ihm mit-
bestimmt wurde, also namentlich sein langjähriger Kampf gegen das „Ba-
taillieren" Friedrichs und der dann plötzlich gefaßte EntschluB zur Ent-
scheidungsschlaeht**, Die historische Forschung würde dieser Hypothese
freilich noch genauer nachzugehen haben. Otto Herrmann
— —
32 Er spricht in unseren Briefen von Fieber infolge der bei Roßbach empfangenen
Wunde, Leibschneiden und neuralgischen Schmerzen, Kolik mit Fieber und Schmer-
sen im ganzen Rücken bis zur Hüfte, Rheumatismus und Gliederschmerzen, Krämpfen
und Kopfschmerzen.
32 Nach dem Brief vom 5. Oktober 1762 hatte der Prinz z. B. einmal drei Tage
und drei Náchte, ohne sich niederzulegen, zu Pferde gesessen.
Schon Schmitt a. a. O. Bd. 2, S. 273/4 weist darauf hin, der Prinz habe nach
Warnery (Campagnes de Frédéric II.) zum Teil auch deshalb vor der Ankunft des
Verstärkungskorps unter General Wied bei Freiberg angegriffen, um sich nicht von
dem bei diesem Korps befindlichen Flügeladjutanten v. Anhalt „den Ruhm rauben
zu lassen". Aber merkwürdiger als der vorzeitige Angriff ist es doch, daß der Prinz
überhaupt angriff! Die Erklärung dafür finde ich in dem Briefe an Ferdinand vom
29. Oktober 1762, wo er sagt, der Kónig habe ihn nach den früheren unglücklichen
Gefechten für „eingeschüchtert“ gehalten (il m'a cru battu de l’oiseau). Doch sicher
such um dem verhaBten Bruder zu zeigen, daß er nicht verängstigt sei, griff er,
die so oft betonte Abneigung gegen Offensivschlachten plötzlich verleugnend, mit
voller Macht an und lieferte so zum freudigen Erstaunen Friedrichs das einzige
größere, und zwar siegreiche Treffen, zu dem es überhaupt in den beiden letzten
Kriegsjahren fonce: ist — die Schlacht bei Freiberg.
380
Kritiken.
Hermann Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit. Zweiter Band,
zweite Abteilung. Die Länder und Völker des Reichs im ersten Jahrhundert
der Kaiserzeit. Berlin, Weidmann, 1930.
Dessau gibt in dem vorliegenden Halbbande seines großangelegten Werkes
keine fortlaufende politische, sondern Landesgeschichte in geographischer An-
ordnung. Der Band entspricht demzufolge, nach der Gliederung des Stoffes und
nach dem Inhalt, soweit die hier behandelte Epoche in Betracht kommt, dem fünften
Bande von Mommsens Römischer Geschichte. Indes, ganz abgesehen davon, daß
das Quellenmaterial in dem Halbjahrhundert seit dem Erscheinen des berühmten
fünften Bandes eine gewaltige Vermehrung erfahren hat, und, zum Teil dadurch
bedingt, viele neuen Kenntnisse gewonnen, neue Gesichtspunkte erschlossen wurden,
ist es an sich von hohem Wert für die historische Erfassung der Kaiserzeit, daß hier
das gleiche Thema von zwei Forschern ersten Ranges behandelt wird: von Mommsen
in seiner bekannten glänzenden, geistvollen, scharf pointierten, literarisch überaus
wirkungsvollen Art, von seinem Schüler Dessau mit der Klarheit und Präzision,
der besonnenen, sorgsam abwägenden Sachlichkeit und Selbständigkeit des Ur-
teils und dem kritischen Scharfblick, die Hauptvorzüge dieses Forschers sind.
Dessau vermeidet jede Wiederholung des bereits von Mommsen Gesagten; die Ab-
weichungen ergeben sich vielfach aus der Darstellung selbst, zuweilen werden die
Thesen seines großen Vorgängers von Dessau ausdrücklich berichtigt. Eine dritte
Darstellung desselben Stoffgebietes, nur mit besonderer Betonung des sozialen und
wirtschaftlichen Momentes, hat vor wenigen Jahren Rostovzeff in seinem hervor-
ragenden Werke The social and economic history of the Roman Empire (Oxford
1926) geboten!; auch mit diesem sehr selbständigen Forscher setzt sich Dessau
in den Anmerkungen wiederholt auseinander.
Dessaus Urteil über die kaiserliche Regierung und ihr Verhältnis zu den Völkern
des Reiches fällt im allgemeinen nicht günstig aus. „InRom hatte man," schreibt er
anläßlich des (aus Besorgnis vor einer mißgünstigen Auslegung aufgegebenen)
Projektes eines Saone-Moselkanals, „für solche nur dem Wohlstand der Unter-
tanen fördernde Unternehmen keinen Sinn, zu keiner Zeit" (S. 506). Und an einer
anderen Stelle spricht er von „der im Laufe der Jahrhunderte zunehmenden Stumpf-
heit der Regierenden" (S. 692). Wie aus gelegentlichen Äußerungen hervorgeht,
scheint er das Regierungssystem der Achaemeniden über jenes der Imperatoren su
stellen. Allerdings war die kaiserlich rómische Innenpolitik durch das überkommene
Erbe schwer belastet und hatte überdies mit unermeBlichen Schwierigkeiten mannig-
facher Art zu kämpfen, die sich allein schon aus der ungeheuren Ausdehnung des
! Eine deutsche (von Lothar Wickert besorgte) Übersetzung des Werkes ist im Erscheinen.
Kritiken 381
Reiches und der verhältnismäßig doch unzureichenden Verkehrstechnik ergaben.
Selbst die wohlmeinendsten unter den Imperatoren waren diesen unabänderlichen
Erscheinungen gegenüber machtlos. Aber es kann andrerseits nicht in Abrede ge-
stellt werden, daB die kaiserliche Regierung vielfach nicht die richtigen Wege ein-
geschlagen hat, um den Symptomen des Niederganges, die den leitenden Männern
wenigstens teilweise nicht entgingen, wirksam zu begegnen. Der Gnomon des Idio-
logen hat Zeugnis davon abgelegt, mit welch hemmungslosem Fiskalismus Rom
regiert hat, und wenn auch die Verhültnisse im Nilland ganz besondere, z. T. von
den früheren Regierungen übernommen gewesen sind, lehren doch die Nachrichten
über Steuerdruck und Steuerrevolten in anderen Provinzen, daß auch dort die
Befriedigung der Ansprüche der Reichsregierung als die Hauptsache galt und daß
diese Anforderungen auf die sehr differenzierten Wirtschaftskräfte der Bevölkerung
nicht die so notwendige Rücksicht nahmen. Auch die Verbindung einer durchaus
plutokratischen Gesellschaftsordnung mit dem unseligen System der Liturgien oder
numera und der (trotz scheinrepublikanischer Formen) unleugbar waltende Ab-
solutismus waren Momente, die den ZersetzungsprozeB in verhängnisvoller Weise
forderten. Die kaiserliche Regierung hat es verabsäumt, dem nominellen Mit-
herrscher, dem Senat, einen ernstlich ins Gewicht fallenden Anteil an der Staats-
gewalt zu gewähren, und auch die Möglichkeit, die Konzilien der Reichsländer zu
Mittelpunkten eines freieren politischen Lebens in engerem Bereich auszugestalten,
ist nicht ausgenützt worden.
Dessau zerstört die Legende, die noch Mommsens Darstellung beherrscht, daß
die „Landtage“ im ganzen Reich „als feste Einrichtung von Augustus ins Leben
gerufen" worden seien, um „die Wünsche der Provinz dem Statthalter oder der
Regierung zur Kenntnis zu bringen und überhaupt als Organ der Provinz zu dienen"
(Mommsen S. 317; S.84 sagt Mommsen darüber: , wie der hellenischen Nation
so verlieh Augustus der gallischen eine organisierte Gesamtvertretung, welche
dort wie hier in der Epoche der Freiheit und der Zerfahrenheit wohl erstrebt, aber
nie erreicht worden war“). Wie Dessau darlegt, kann von einem einmaligen Willens-
akt der Regierung keine Rede sein. Den westlichen Provinzen wurde nach und nach
(zuerst den drei Gallien) die Vergünstigung eines Provinzialkaiserkultes und der
damit verbundenen, von dem jährlich wechselnden Kaiserpriester veranstalteten
Festlichkeiten gewährt; den Notabelnversammlungen, die an diese Einrichtungen
anknüpften, fielen erst „mit der Zeit auch andere Funktionen zu als die, den Kaiser-
priester zu wählen und seine Darbietungen zu genießen“; das „Petitionsrecht des
Landtages“, das sich bekanntlich auch gegen abgehende Statthalter richten konnte,
war jedoch „nimmermehr der Zweck der Einrichtung‘, es ist weder formuliert noch
gewährleistet worden (S. 489ff.).
Im Osten gab es in Achaia überhaupt keinen Provinziallandtag, sondern
nur Tagsatzungen kleinerer Verbände, die „kaum der Befriedigung berechtigter
Lokalinteressen, sondern mehr der kleiner Eitelkeiten“ dienten (S. 545). Nur in der
Provinz Asia bestand bereits in der ausgehenden Republik eine Vereinigung der
Städte, der Augustus durch den Kult der Roma und seiner Person „eine neue Auf-
gabe zuwies, die bald ihre wichtigste wurde und ihr Wesen erheblich veränderte“
(S. 586).
Die Schilderung, die Dessau von den Zuständen des Mutterlandes Italien
gibt, ist im allgemeinen recht günstig, vielleicht allzu günstig. „Man kann wohl
382 Kritiken
sagen," schreibt er (S. 408), „daß Italien zu Beginn der Kaiserzeit, abgesehen viel-
leicht von einigen Teilen des äußersten Ostens, das am besten, nicht gerade am
intensivsten, aber am mannigfaltigsten angebaute Land der weiten Erde war.“
Kein so „erfreulich helles Bild des frühkaiserlichen Italien“ entwirft Rostovzeff
(S. 183ff.), der auf den frühzeitig einsetzenden Niedergang des Handels und der
Industrie des von den Provinzen überflügelten Mutterlandes hinweist. Die landläufige
Meinung, daß die damals in Italien herrschende Form der Bewirtschaftung die
Latifundienwirtschaft gewesen sei, eine Auffassung, die sich auf des älteren Plinius
bekanntes Wort latifundia perdidere Italiam beruft, wird von Dessau abgelehnt:
Die Güter „waren meist von mäßigem Umfang". Plinius spreche von verflossenen
Zeiten; die Latifundien der republikanischen Zeit waren durch die Aufteilungen
im Revolutionszeitalter „der Hauptsache nach verschwunden". In Italien über-
wog das Pachtsystem, die Verpachtung von Grundstücken bescheidenen Umfanges
an „freie“ Kleinpächter, ein System, das freilich im Lauf der Zeiten die bekannte
verhüngnisvolle Entwicklung durchgemacht hat, die mit der Fesselung des Ko-
lonen an die Scholle endete. Neben den Kleinpächtern war (nach Dessau S. 419)
in der Frühzeit des Kaiserreichs auch die selbständige freie Bauernschaft auf italie-
nischem Boden keineswegs ausgestorben.
Die Expropriationen und Truppenansiedlungen der letzten Zeit der Republik
haben, wie Dessau ausführt (S. 420f.), die einheimische Bevölkerung nicht ver-
drängt und den nationalen Charakter Italiens nicht erheblich beeinflußt. „Ethnisch
blieb Italien noch lange das alte, und auch die Verschiedenheiten der einzelnen
Volksstämme haben sich nicht vollständig verwischt, ja Spuren hinterlassen bis
auf späte Zeit in Verschiedenheiten der Aussprache des heutigen Italiens“ (S. 423).
Allerdings denkt Dessau hiebei hauptsächlich an die Zwangsenteignungen, von denen
Italien in der Kaiserzeit verschont blieb. Die starke Beeinflussung der Zusammen-
setzung des Volks durch die Freilassung, die Beimischung des peregrinus ac servilis
sanguis kommt in diesem Bande nicht zur Sprache (einiges darüber Bd. I, S. 69ff.).
Es würde zu weit führen, wenn hier auf die Darstellung jeder einzelnen Provinz
und auf die vielen Details, in denen bisher geltende Anschauungen bekämpft
oder widerlegt werden, eingegangen würde. Aus der großen Anzahl sei nur einiges
hervorgehoben.
Für die Verschiedenartigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse im Reich ist
kennzeichnend, daß Afrika im Gegensatz zu Italien das Land der Riesengüter
war, die sich großenteils im Besitz senatorischer Familien befanden, sie wurden
von Eingeborenen (nicht, wie Mommsen und Rostovzeff meinten, z. T. von aus Italien
herangezogenen Bauern) bewirtschaftet, die den Großpächtern fast vollständig
ausgeliefert waren (S. 474ff.). Noch im ersten Jahrhundert wurden diese Latifundien
größtenteils zu kaiserlichen Domänen. In der Lage der Kolonen wird zunächst
keine wesentliche Anderung eingetreten sein; erst im zweiten Jahrhundert wurden
Versuche einer Verbesserung ihrer Lage in Angriff genommen, die jedoch zu keinem
dauernden Erfolge führten. In den gallischen Provinzen war nach Dessau
(S. 510f.) „die Verteilung des Grundbesitzes weniger ungleichmäßig oder doch
weniger ungerecht, willkürlich als in anderen Landen. Wir hören in Gallien kaum
jemals etwas von Latifundiep, und diejenigen, die es gab, standen nicht wie die
alten italienischen und die neuen afrikanischen im Besitze ortsfremder oder land-
fremder Herren, die in der fernen Hauptstadt oder gar jenseits des Meeres lebten,
Kritiken 383
sondern gehörten einheimischen Großen, die im Lande, vielleicht selbst auf dem
Lande lebten".
Über die tristen ökonomischen Verhältnisse in dem entvölkerten und ver-
armten Altgriechenland (der Provinz Achaia) stimmen die Urteile Mommsens
und Dessaus überein; etwas (aber nicht viel) günstiger urteilt Rostovzeff. Umso
erfreulicher waren die Zustände in dem blühenden, dicht bevölkerten „Lande der
500 Städte“, in Asia. In dem Kapitel, in welchem Dessau diese für das wirtschaft-
liche und kulturelle Leben der Kaiserzeit so wichtige Provinz behandelt, geht er
ausführlicher auf allgemeine Grundsätze der römischen Provinzialverwaltung ein
(S. 594ff.). Er gedenkt ferner der großen Verbreitung des römischen Bürgerrechtes
unter den Notabeln von Asia, fügt jedoch die Bemerkung hinzu (S. 592): „Nirgendwo
wurde die Oberherrschaft Roms so unbedingt und so dankbar anerkannt wie in dem
griechischen Vorderasien; und doch stand man hier dem Reiche fremd gegenüber.
Die Oberherrschaft Roms blieb eine wohltätig empfundene und oft aufrichtig, ja
begeistert gerühmte Fremdherrschaft; und doch ersetzte Rom diesen Griechen
keineswegs das Vaterland.... Das römische Bürgerrecht... blieb eine Deko-
ration.“
Das Aufsteigen der provinzialen Oberschicht in den Reichsbeamtenstand und
schließlich in den Senat wird von Dessau, der über diese Frage eine aufschlußreiche
Arbeit im Hermes (1910 S. 1ff.) veröffentlicht hat, bei allen Provinzen erörtert.
Die geringe Anzahl der gallischen Senatoren glaubt er damit erklären zu können,
daß diese ,, Nordlünder'* zu sehr an ihrer Heimat gehangen hätten (etwas abweichend
hatte er Herm. a. a. O. S. 13 geurteilt; vgl. auch Arthur Stein Röm. Ritterstand
385f.); doch möchte ich eher glauben, daß die Fernhaltung der Gallier von der
senatorischen Laufbahn in der Besorgnis der Caesaren vor dem Unabhängigkeitssinn
der gallischen Edlen und vor ihrem starken Anhang unter den Volksgenossen be-
gründet war — Tatsachen, die den Regierenden in Rom wiederholt Sorge bereitet.
hatten. Diese Politik, die wohl von Vespasian inauguriert worden ist — Claudius
nahm noch, wie seine Rede über das ius honorum beweist, einen anderen Stand-
punkt ein —, war ein Fehler; gerade die Angehörigen dieser Nation, die Dessau mit
Recht als „das lebensfrischeste der großen von Rom unterworfenen Völker“ be-
zeichnet, hätten ein wertvolles Ferment des Senates abgegeben.
Von besonderem Interesse sind die umfangreichen Abschnitte, in denen
Ägypten und Judaea behandelt werden; hier ist auch die Fülle des überlieferten
Stoffes so reich, daß ein in sich geschlossenes Gesamtbild geboten werden kann.
Für Ägypten ist das gewaltige, seit Mommsens Darstellung zugewachsene (nament-
lich papyrologische) Material mit Umsicht und Vorsicht verwertet. Dessau erörtert.
u. a. die Teilung der Bewohner des Niltales in „die vom Gymnasium" und „die
Ägypter, die Ägypter bleiben wollten“ (S. 688f.); er verwirft die Auffassung, daB
die Regierung mit der „künstlichen Aufrechterhaltung' dieser Scheidung „einen
Rest von Trägern hellenischer Bildung oder hellenischer Art“ habe schützen oder
erhalten wollen. Die in Kyrene neugefundenen Edikte des Augustus lassen indes
erkennen, daB Augustus den Griechen mit bewußter Absicht eine bevorrechtete
Stellung im Reiche gewährt und sie über die anderen Untertanenvölker hinaus-
gehoben hat; es wird demnach für die Aufrechterhaltung eines Numerus clausus
in Ägypten doch nicht allein das fiskalische Interesse und das Mißtrauen gegen
die einheimische Bevölkerung das beherrschende Motiv gewesen sein.
384 Kritiken
Das ungünstige Urteil, das Dessau über das ägyptische Volk fällt, ist wohl
zu hart. Weder ist die ägyptische Literatur minderwertig gewesen, noch kann mit
Recht gesagt werden „von den Resten fachwissenschaftlicher Literatur wird besser
nicht geredet" (S. 697): Schriften, wie der nach Edwin Smith benannte medizi-
nische Traktat (auf den Otto, Kulturgesch. d. Altertums 1925, 19f. aufmerksam
macht) oder das Gesprüch des Lebensmüden mit seiner Seele geben uns doch ein
wesentlich günstigeres Bild von den geistigen Leistungen und von der Gedanken-
welt der Ägypter. Bei der Beurteilung des ägyptischen Volkscharakters soll nicht
übersehen werden, daß auf diesem reich begabten und tiefgründigen Volke durch
Jahrtausende das schwere Joch einer drückenden Knechtschaft lastete und daB es
den Regierenden wohl allezeit — vielleicht nur wenige Zeiträume (wie etwa die
Epoche der zwölften Dynastie) ausgenommen — einzig darauf ankam, aus dem
geplagten, hilflosen Volk an Abgaben und Frondiensten soviel herauszupressen,
als nur móglich war.
Ausführlich behandelt Dessau die Zustände in Ägyptens Hauptstadt Alexan-
dria, deren Schilderung bekanntlich einen Glanzpunkt des Mommsenschen Werkes
bildet. Dessau stellt (gegen Mommsen und Wilcken) in Abrede, daB die Alexan-
driner gegen die kaiserliche Regierung in hartnäckiger, gewissermaßen grundsätz-
licher Opposition gestanden seien. Der alexandrinischen Spottlust und ,,Unbot-
mäßigkeit‘‘ legt er keine tiefere Bedeutung bei; die ständigen Aufläufe seien nicht
„zu ernst zu nehmen“. „Mehr noch als andre Städte hat Alexandrien sich in Hul-
digungen an das Kaiserhaus erschöpft“, „die Kaisertreue der Stadt Alexandrien
ist mitunter von der höchsten Stelle anerkannt worden“ (S. 643). Immerhin ge-
nügen die vorhandenen Zeugnisse, um zu erweisen, daß die kaiserliche Regierung
bei den Alexandrinern keineswegs beliebt war; der Grund liegt 3. T. darin, daß die
Caesaren der zweiten Großstadt des Reiches und ersten Handelsstadt der damaligen
Kulturwelt aus übergroßer Vorsicht die volle Selbstverwaltung und verschiedene
sehr begehrte Rechte wie die Aufnahme von Neubürgern und Wahl von Ehren-
bürgern versagt haben (vgl. Dessau S. 655—665).
Eingehend behandelt Dessau (S. 667—676) die zumeist feindseligen Beziehungen
der ,hellenischen" Bürgerschaft Alexandrias zu der großen Judengemeinde der
Stadt, Beziehungen, die durch das von Bell herausgegebene Sendschreiben des
Claudius in neues Licht gerückt worden sind*. Das Schreiben, das nach Dessaus
Urteil von Claudius selbst herrührt und die Eigentümlichkeiten dieses Herrschers
deutlich erkennen läßt, brachte keine Lösung der alexandrinischen Judenfrage, die
den Kaisern des zweiten Jahrhunderts ebenso zu schaffen gab, wie denen des
ersten.
In dem ausführlichen Abschnitt über Judaea und die Juden (S. 706—831)
kommt Dessau auch auf den Ursprung des Christentums zu sprechen, wobei er
mit vollem Recht vermeidet, auf Fragen des Weltanschauung und des Glaubens
einzugehen.
Anders als die meisten anderen Vólker, die in Dessaus Darstellung an uns
vorüberziehen, und nur den Hellenen des Mutterlandes vergleichbar hatten die
Juden eine sehr klare und sehr hohe Vorstellung von ihrer groBen Vergangenheit.
„Die gemeinsame Mneme, die allein eine Gruppe von Sippen oder Stämmen zum
2 vgl. jetzt auch das neue Bruchstück der „heidnischen Märtyrerakten‘ (Uxkull-
Gyllenband Sitz.-Ber. Berlin 1930, 664 fl.).
| .
Kritiken 385
Volke bindet, saß hier tief (S. 707). Mit feinem Empfinden charakterisiert der
Verf. das reiche jüdische Schrifttum, in dem der „Hauch der Freiheit weht, von dem
am Nil und in Mesopotamien nichts zu spüren‘ war (S. 709). Er weist auf die un-
geheure Bedeutung hin, die die Zusammenfassung der heiligen Schriften „ in einer
Bibliothek“ für den Zusammenhalt und die Lebenskraft der jüdischen Diaspora
besaß, die gerade dadurch alle anderen nationalen Landsmannschaften zu über-
dauern vermochte. Doch scheint erst die Vernichtung des religiösen Zentrums des
Judentums diesem Zusammenhalt den rechten Kitt gegeben zu haben. In der Zeit
vor der Zerstörung des Nationalheiligtums begegnen Erscheinungen, die, wenn die
weitere Entwicklung sich in derselben Linie vollzogen hätte, zur Auflockerung des
echten Judentums hätten führen müssen: es sei an Philon von Alexandria erinnert,
dessen geistige und litterarische Eigenart Dessau mit feinfühligem Verständnis
zeichnet (S. 730f.). Wie charakteristisch ist es, daB der Neffe Philons, Tiberius
Julius Alexander, dem Judentum abgesagt hat und als Vertreter der Staatsgewalt
gegen seine Stammesgenossen mit nicht geringerer Härte vorging, als irgendein
italischer Kollege es getan hätte (vgl. S. 650. 675. 733).
Für die politische Geschichte Palästinas in dieser Zeit ist bekanntlich Flavius
Josephus der Führer. Dessau legt den Maßstab strenger Kritik an den Schrift-
steller wie an den Menschen Josephus; er verkennt die unerfreulichen Eigenschaften
des Mannes keineswegs, aber sein sorgsam abwägendes Urteil sucht doch der viel-
geschmähten Persönlichkeit gerecht zu werden und zollt dem Geschichtschreiber
des Jüdischen Krieges hohe Anerkennung (S. 809ff.).
Der Ausbruch der jüdischen Insurrektion findet m. E. auch in Dessaus Dar-
stellung keine vollkommen befriedigende Erklärung. So wenig sich die Juden mit
dem Regiment der Caesaren ausgesöhnt hatten, so sehr ihr starkes und bald er-
regtes Eigenbewußtsein sich durch die Behandlung, die sie von den römischen
Behörden erfuhren, verletzt fühlen mußte, so reichen doch weder der Zwiespalt
in Caesarea noch die Unfähigkeit und Böswilligkeit des Prokurators Gessius Florus
hin, um zu erklären, daß dieses an Leiden und Drangsal gewöhnte Volk plötzlich
den aussichtslosen Krieg gegen die überwältigende Übermacht entfesselte. Es hat
vielmehr den Anschein, als ob der Aufstand der Juden von der rómischen Regierung
geradezu provoziert worden sei und zwar in der Absicht, die überaus starke mili-
tärische Machtstellung des Domitius Corbulo, die Nero und seine Berater gewiß
seit langem als schwere Bedrohung empfanden, durch Entfachung eines „jüdischen
Krieges" und die dadurch notwendig werdende Abkommandierung von Legionen
empfindlich zu schwächen. Vielleicht ergibt sich noch Gelegenheit, diese These
ausführlich zu begründen. —
Den Abschluß des Bandes bilden Noten und Nachträge zu den ersten zwei
Bänden. Dessau kommt hier auch auf die (bereits oben erwähnten) Edikte des
Augustus und auf die Festordnung von Gythion zu sprechen, über die Kornemann
(Abhandl d. schles. Gesellsch. f. vaterl. Kultur I 1929) gehandelt hat. Register
verzeichnen die Personen, Völkerschaften, Örtlichkeiten u. a., sowie die wichtigsten
behandelten Textstellen. Wünschenswert wáre, wenn den folgenden Bünden Karten
beigegeben würden, wenn möglich mit Einzeichnung der Reichsstraßen.
Àn mehreren Stellen des vorliegenden Bandes lesen wir Bemerkungen, die einen
Ausblick auf spätere Zeiten eröffnen und unsere Wißbegierde erregen, wie Dessau
diese Urteile näher begründen wird. Um nur einzelnes zu erwähnen, bemerkt er
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 25
386 Kritiken
(S. 675), daß das Kaisertum im zweiten Jahrhundert der Christenfrage gegenüber
völlig versagt habe; an einer anderen Stelle (S. 725) gedenkt er des Umstandes,
daß das bewegliche Kapital seine Rolle als führender Faktor des Wirtschafts-
lebens ausgespielt habe, und verspricht, die Gründe und die Folgen dieser Erschei-
nung darzulegen; am Schlusse des Bandes lesen wir ein ablehnendes Urteil über
Traians Orientpolitik — kurz, diese und andere Andeutungen lassen uns mit Span-
nung und hohen Erwartungen dem nächsten Band entgegensehen, mit umso größerer
Spannung, als Dessau mit diesem Bande (so seltsam dies klingt) gewissermaßen
wissenschaftliches Neuland betreten wird; denn das universalgeschichtlich so be-
deutungsvolle Zeitalter der Flavier und Antonine hat bisher noch keine zusammen-
fassende, auf der Höhe der Forschung stehende historiographische Darstellung
gefunden.
Die Hoffnung der am Schlusse der obigen Besprechung Ausdruck ge-
geben wurde, — es möge Dessau vergönnt sein, seine Geschichte der Kaiser-
zeit fortzuführen und zunächst das bisher auffällig vernachlässigte Zeitalter
der Flavier und Antonine darzustellen, — wird nicht in Erfüllung gehen.
Der Tod hat dem nimmermüden Forscher die Feder aus der Hand genommen.
Wien. Edmund Groag.
Quellen zur Frage Schleswig-Haithabu im Rahmen der fränkischen, säch-
sischen und nordischen Beziehungen. Herausgeg. von Otto Scheel
und Peter Paulsen. Kiel (W. G. Mühlau) 1930. VII, 167 S.
Schleswig-Haithabu: diese Namen bezeichnen das bedeutendste Problem
nicht allein der schleswig-holsteinischen, sondern in gewissem Umfange der skan-
dinavischen Frühgeschichte überhaupt, ein Problem, das, so heftig es auch um-
stritten ist, so viele Thesen und Antithesen auch aufgestellt worden sind, in irgend-
wie befriedigender Weise noch nicht gelóst worden ist. Und da dies mit Hilfe der
literarischen Überlieferung und der Ergebnisse der bisherigen Ausgrabungen nicht
möglich ist, haben auf Otto Scheels Initiative hin im vorigen Jahre für längere
Zeit geplante, umfangreiche Grabungen begonnen. Hoffentlich vermógen dann die
Schátze, die der alte historische Boden der Oldenburg auf dem der Stadt Schleswig
gegenüberliegenden Ufer der Schlei und ihrer Umgebung birgt, zusammen mit den
Runensteinen und den übrigen Nachrichten der mittelalterlichen Geschichts-
schreibung das Geheimnis um Schleswig-Haithabu zu enthüllen. Als „Auftakt“
zu den Grabungen haben Otto Scheel und Peter Paulsen die literarischen Quellen
bis zum Jahre 1000 etwa, soweit sie diese Frage im Rahmen der fränkischen, säch-
sischen und nordischen Beziehungen behandeln, zusammengestellt, nicht rein
chronologisch, sondern gegliedert nach Quellengattungen: Runentexte, Annalen
und Briefe, Vitae et res gestae, Sagas, geographische und kulturelle Nachrichten.
Die Wiedergabe der Texte erfolgt nach vorhandenen Ausgaben. Wo nötig,
sind bei den einzelnen Texten Angaben über Parallelstellen in anderen Quellen
— allerdings ohne Hinweise auf etwaige Abhängigkeitsverhältnisse — und über
die wichtigste, noch in Betracht kommende Literatur gemacht. Zum Formalen
der Ausgabe, das nicht in allem befriedigen kann, ein paar Bemerkungen. Wenn
die Abhängigkeit der Texte voneinander auch im allgemeinen nicht gekennzeichnet
werden sollte, so mußte dies m. E. aber dennoch wenigstens dort geschehen (durch
Petitdruck oder Randvermerke), wo wörtliche oder nahezu wörtliche Entlehnungen
Kritiken 387
-
vorliegen. Unter n. 138 z. B. wird der Bericht Adams von Bremen über den Erb-
folgekrieg der Sóhne Kónig Góttriks (lib. I cap. XV) wiedergegeben und unter den
Nachweisen der Parallelstellen auch auf die Annales Fuldenses zum Jahre 812
aufmerksam gemacht. In Wirklichkeit ist die betreffende Stelle mit Ausnahme des
\etzten Satzes von Adam den Fuldaer Annalen entnommen, also gar nicht Eigengut
Adams. Solche Fälle kommen natürlich häufig vor. Wo neuere Schulausgaben
der Monumenta vorliegen, hätten die älteren Ausgaben in der Reihe der Scriptores
nicht berücksichtigt zu werden brauchen, wenigstens hätte es vermieden werden
sollen, bald diese, bald jene Ausgabe heranzuziehen. So sind die Annales Vedastini
in n. 64 nach der Schulausgabe, in n. 65 nach SS 2, in n. 66 und 67 wieder nach
der Schulausgabe benutzt. An den letztgenannten Stellen wird sogar unter den
Angaben der Parallelquellen auf die älteren Ausgaben, die natürlich den gleichen
Text — nur nach schlechteren Handschriften — bieten, verwiesen! So wird ferner
Liudprands Antapodosis in n. 117 und 118 nach SS 3 benutzt, wobei in n. 117 (S. 77
Z. 31) das unverständliche ,,nationis" mitübernommen wird. Später, in n. 179,
wird auf die in n. 117 wiedergegebene Stelle verwiesen, hier jedoch unter Zitierung
der neuen Schulausgabe, die nach den besseren Handschriften das sinngemäße
nationibus bietet. Die Annalen Lamberts von Hersfeld werden in n. 133 nach
SS 3 zitiert! Hier ist — nebenbei bemerkt — die Seitenangabe fehlerhaft: statt
S. 27 muB es S. 63 heißen; dasselbe gilt z. B. auch von S. 104 Z. 20, wo die be-
treffende Stelle SS 8 S. 367, nicht 639, steht. Bei n. 60 und 73 vermiBt man Hin-
weise auf die Ausgaben in den Epistolae- bzw. Diplomata-Bánden. Das Schreiben
P. Nicolaus I. an Kónig Horich gehórt nach Epp. 6 S. 293f. ins Jahr 964, vgl. auch
J.-L. 2761. — Auf die Anmerkungen, die textliche und sachliche Erläuterungen
der verschiedensten Art bieten, hütte noch gróBere Sorgfalt verwendet werden
kónnen. Warum z. B. werden nur für einzelne lateinische Ortsnamen die jetzigen
Formen gegeben? Entweder muBte die Wiedergabe in deutscher Form in den
Anmerkungen konsequent durchgeführt werden, oder sie mußte gänzlich unter-
bleiben. Da die Textstellen aus dem Zusammenhang genommen sind, muBte, wo
sie auf Teile, die beim Abdruck wegfielen, Bezug nehmen, dies vermerkt werden;
so ist, um nur ein Beispiel anzuführen, das „sibi“ auf S. 77 Z. 36, das sich auf den
von Liudprand früher genannten Kónig Hugo von Italien bezieht, ohne Anmerkung
unverständlich. Bei den Anmerkungen zu Zeile 8 und 23 auf S. 62 erwartet man
eher Hinweise auf die neueren Untersuchungen der Hamburger Fälschungen von
Schmeidler und Peitz als auf K. Koppmanns 1866 erschienene Dissertation, auch
wenn Waitz sie an der betreffenden Stelle seiner Ausgabe der Vita Anskarii nennt.
— Diese Ausstellungen, die sich leicht vermehren liessen, betreffen im wesentlichen
Äußerlichkeiten, sie können und sollen deshalb das Verdienst nicht mindern, das
sich die Herausgeber mit ihrer wohl erschöpfenden Sammlung der ältesten Quellen
zur Frage Schleswig-Haithabu erworben haben.
Kiel. G. E. Hoffmann.
Die Quellen zur Geschichte der Kaiserkrönung Karls des Großen. Hrsg. von
H. Dannenbauer. Berlin (Walter de Gruyter) 1931. 66 S. (= Kleine Texte für
Vorlesungen und Ubungen, hrsg. von H. Lietzmann. H. 161).
Bei dem Andrang zu den Universitätsseminaren, wie er heutzutage leider die
Regel ist, scheitern nicht selten gerade die ersprießlichsten und ergiebigsten Themata
958
388 Kritiken
an der Schwierigkeit, kritische Textausgaben in genügender Anzahl für die Übungs-
teilnehmer bereitzustellen. Im Hinblick auf diesen Notstand, der dem akademischen
Geschichtsunterricht nur zu leicht eine gewisse Enge und Gleichförmigkeit aufprägt
und vor allem die Auswahl der Übungsprobleme nach pädagogisch-didaktischen
Erwägungen und nach den Bedürfnissen der späteren Berufstätigkeit der Studierenden
nicht wenig erschwert, erscheint mir besonders dankenswert, daß Dannenbauer in
dem vorliegenden Heft der Lietzmannschen Texte eine Quellenlese zur Kaiser-
krönung von 800 zusammengestellt hat und damit einen ebenso vielseitigen wie lehr-
reichen Fragenkomplex aus der Geschichte des frühen Mittelalters für den akademi-
schen Übungsbetrieb eigentlich erst erschließt.
Dannenbauer gibt zu diesem Zweck in der ersten Hälfte des Heftes (bis S. 35)
Quellenbelege für die Ereignisse bis zum 25. Dezember 800, und zwar zunächst
Annalenstellen, dann Stücke aus der Vita Karoli Magni und der Vita Leonis III.,
dazu in dankenswerter Weise die einschlägigen Partien aus Theophanes, während
dessen blofe Ausschreiber mit Recht unterdrückt sind; daran reiht sich der Ab-
druck von zeitgenössischen Briefen, insbesondere Karls und Alchvines, und schließ-
lich der Wortlaut des Reinigungseides Leos III. Im zweiten Teil des Heftes (bis
S. 65) druckt Dannenbauer vor allem spätere Quellen, die die politischen Nach-
wirkungen und die „Umgestaltung der mit dem Kaisertum verbundenen Vor-
stellungen" veranschaulichen sollen. Dazu gehören die beiden Briefe Karls an
Nikephoros und Michael I., ferner die sog. Divisio regnorum v. J. 806 und die
Ordinatio imperii v. Juli 817; dazu das in seiner Echtheit zwar umstrittene, aber
wichtige Rechtfertigungsschreiben Ludwigs II. an Kaiser Basilius v. J. 871; dazu
u. a. der Titel XVII der 'Exloyn tov vouo» naga Alovros xai Kovorarrirov
und einige etwas reichlich bemessene Partien aus der "Ex#eos ths H j,
tafems des Konstantinos Porphyrogennetos, ferner die bekannten zwei Akkla-
mationsformulare aus der Zeit um 800 und schlieBlich der Libellus de imperatoria
potestate in urbe Roma, der nach K. Heldmann (Das Kaisertum Karls des Großen.
Theorien und Wirklichkeit. Weimar 1928) durchaus nicht in jeder Beziehung das
MiBtrauen verdient, das F. Hirsch und andere seiner Glaubwürdigkeit entgegen-
gebracht haben. Diesen Quellenstücken schickt Dannenbauer ein knappes Ver-
zeichnis einschlügiger Literatur voraus und hüngt an den SchluB eine Zeittafel der
oströmischen Kaiser bis 1025.
Mit der Auswahl im ganzen, die in ihrer Fülle auch den weitestgehenden
Ansprüchen Rechnung trägt, wird sich wohl jeder zufrieden erklären; höchstens,
daB man sich um der Vollständigkeit der Quellengattungen willen noch den Abdruck
des Epos Karolus Magnus et Leo papa und eine Probe aus dem Monachus San-
gallensis, etwa 126, hinzuwünschen könnte. Fragt man aber nach der Eignung des
Heftes für seine Verwendung in historischen Übungen, so fühlt man sich im einzel-
nen zu mancherlei Einwänden und Bedenken gedrängt, die im Hinblick auf die
bald zu erwartende Neuauflage und auf etwaige weitere fachhistorische Übungs-
materialien der „Kleinen Texte' nicht unterdrückt werden sollen.
Für einen grundsätzlichen Mangel, der bei der anderweit vorbildlichen Aus-
stattung der Lietzmannschen Hefte mit kritischem Apparat besonders auffällig
ist, halte ich Dannenbauers Verzicht auf eine konsequente Beigabe der varia lectio.
Zwar findet man S. 16, Anm. 1 einen überraschend ausführlichen Hinweis, daß die
Ausgabe der Annales Laureshamenses von Pertz z. J. 800 den Zeilenabsatz der Wiener
Kritiken 389
Hs. nach „et ita fecit" nicht abgedruckt habe. Aber mit dieser Mitteilung ist in
ihrer isolierten Zufälligkeit in einer Übung wohl ebenso wenig etwas Ernsthaftes
anzufangen, wie mit der merkwürdig vagen Art, den Brief Ludwigs II. (S. 41ff.)
plötzlich mit Lesungen und Konjekturen von Pertz auszustatten, die auf derdeutschen
Übersetzung einiger Fußnoten aus der Neuausgabe von Henze, M. G. Epp. VII,
386ff., beruhen. Eine Schulung und Erziehung der Studierenden zu verständnis-
voller Benutzung kritischer Ausgaben ist jedenfalls auf einen derartigen Varianten-
eklektizismus schwerlich zu gründen.
Dazu treten einige Schönheitsfehler: neben vereinzelten Druckversehen in
den griechischen Textproben vor allem der schnurrige Einfall, die Seitenbezifferung
der Textvorlage womöglich mitten im Wortkörper kenntlich zu machen, wie z. B.
8. 43, 2.17: „Aegyptio (S. 387) rum“ oder S. 51, 2.21: „earo — (S.193) — r,
und schließlich der Umstand, daß jede Zeilenzählung am Textrande fehlt. Das
scheint an sich zwar belanglos; aber man fragt sich vergebens, wie man sich so im
Zuge der Übung z. B. über eine Einzelstelle der Vita Leonis, der überdies noch jede
Kapitelbezifferung abgeht, ohne ärgerlichen Zeitverlust verständigen soll.
Schwerer wiegt vielleicht eine gewisse Willkür in der Beigabe von kommen-
tierenden Anmerkungen, vor allem in sprachlicher Hinsicht. Allerdings erklärt
Dannenbauer von vornherein, er habe absichtlich „die Erläuterungen auf das
unbedingt Notwendige beschränkt, keine Daten aufgelöst usw., um dem Studierenden
das eigene Suchen und Nachdenken nicht zu ersparen“. Aber ich halte es trotz-
dem für abwegig, in einer solchen Quellensammlung für akademische Übungszwecke
päpstlicher zu sein als der Papst und dem Anfänger Erleichterungen des Verständ-
nisses künstlich vorzuenthalten, die jede kritische Ausgabe dem Forscher zur be-
quemen und selbstverstándlichen Verfügung stellt. Eine Übung über eines der ver-
vitkeltsten Probleme des frühen Mittelalters hat nach meiner Ansicht andere Ziele,
ak nebenher in die Benützung des Du Cange oder des kleinen ,,Grotefend" einzu-
führen; und falls man das doch will, weshalb dann nicht folgerecht auch in die
Handhabung der Konkordanz, wozu die zahlreichen Bibelzitate, die Dannenbauer
samt und sonders identifiziert, Gelegenheit genug geboten hätten? Mich dünkte
es jedenfalls Zeitvergeudung, wenn man den Studenten veranlassen wollte — wohl
verstanden: in einer Übung über die Kaiserkrönung Karls d. Gr.! — sich etwa über
ein „tu lo iuva'* (S. 55, Z. 2 v. u.) den Kopf zu zerbrechen, während Holder-Egger
m seiner Ausgabe ausdrücklich dazu bemerkt: Litania composita est Romae et
zermone magis Italico quam Latino, praesertim verbis tu lo, los = illum, illos iuva.
Entsprechend hätte ich (S. 9) bei dem Anachronismus der Annales regni Francorum
2. J. 796 einen Hinweis nach Art von Kurzes Anm. 1 oder wenigstens auf Simsons
Jahrbücher II, S. 108 erwartet. Oder soll etwa der Student die Zeitangaben der Annalen
durchgängig mit Hilfe von Mühlbachers Regesten kontrollieren, statt seine bemessene
t vor allem auf die Einarbeitung in die umfängliche Literatur verwenden zu
können ? Mit einem Wort: Solche Florilegien sollten in den ausgewählten Partien
die kritischen Ausgaben tunlichst ersetzen und der genauen Interpretation nicht
Erößere Schwierigkeiten bereiten als die eigentlichen Texte selbst. Denn wenn man,
vie in Dannenbauers Abdruck, den vom Editor oft mühsam erarbeiteten Sprach-
und Sachkommentar fast ganz unterdrückt, so schickt man damit den Studenten
Auf eine umständliche und womöglich erfolglose Suche, die ihn von der Vertiefung
IN das eigentliche Ubungsthema nur abhalten kann.
390 Kritiken
Statt dessen hielte ich es umgekehrt didaktisch für wesentlich, dem Benutzer
nicht Ergebnisse der Quellenkritik, deren Gewinnung m. E. eine Aufgabe der Ubung
ist, in fertiger Formulierung darzubieten, wie das Dannenbauer 3. B. bei der Litania
Karolina (S. 55) und den Laudes (S. 57) getan hat. Denn bei dem ersten dieser beiden
Formulare ergibt sich der terminus a quo ohne weiteres durch die Erwähnung der
Fastrada, die erst seit 783 mit Karl verheiratet ist, und ebenso der terminus ad
quem durch die Nennung Pippins des Buckligen, den man 792 ins Kloster gesteckt
hat. Hier führt also das Nachdenken den Studierenden unmittelbar zum Ziel und
hütte auch paradigmatischen Wert. Bei dem zweiten Formular aber ist die Rand-
bemerkung Dannenbauers sogar bedenklich. Denn wie Heldmann betont hat, ist
diesmal der Name einer Kónigin nicht erwühnt, so daB die Entstehung des Formulars
möglicherweise erst in die Zeit von Karls dritter Witwerschaft nach dem Tode der
Liutgard (4. Juni 800) fällt. Vollends mißlich wird diese Art von Kommentar,
wenn der Wortlaut, wie in der Anm. 1, S. 10 bei Dannenbauer, geradezu falsche
Vorstellungen erweckt. Denn nach Dannenbauers Angabe müßte die Akklamations-
formel in den Annales Maximiniani z. J. 801 genau so lauten,.wie in den Annales
regni Francorum, während es in Wahrheit dort heißt: Karolo Augusto a Deo co-
ronato, magno pacifico imperatori, vita et victoria, also wie in der Vita Leonis III.
ohne den Zusatz Romanorum, aber gegen die rómische Version und wie in den
Annales regni Francorum und qui dicuntur Einhardi auch ohne das piissimo, jedoch
mit Unterdrückung des et zwischen magno und pacifico. GewiB kommt auf eine
solche Kleinigkeit bei der ziemlich einhelligen Überlieferung der Formel nicht allzu
viel an. Aber man sähe statt des verunglückten Zusatzes doch lieber eine Beleg-
stelle mehr abgedruckt, wie etwa den parallelen Passus der Annales Mettenses
priores, die neben den Annales Maximiniani trotz oder gerade wegen ihrer weit-
gehenden Übereinstimmung mit den Annales regni Francorum wenigstens in FuB-
note hätten angeführt werden können, wie ich ebenso auf S. 9 in dem Abdruck aus
den Annales regni Francorum zu dem Tode Hadrians die spätere (z. J. 798) Angabe
zu dem Regierungsantritt der Kaiserin Irene vermisse.
Doch wird über all diese Dinge am besten die Praxis entscheiden und meine
Erwägungsvorschläge sollen der umsichtigen und fleißigen Zusammenstellung
Dannenbauers keinerlei Abbruch tun.
Leipzig. | W. Stach.
Berthold Sütterlin, Die Politik Kaiser Friedrichs II. und die römischen Kardinz le
in den Jahren 1239—1250 (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und
neueren Geschichte Heft 58). Heidelberg, C. Winter, 1929. 142 S.
Die vorliegende saubere und verstándige Untersuchung aus der Schule Hampes
schließt sich an Fehling an, der das gleiche Thema 1901 für die Jahre 1227—1239
behandelt hatte. Mit dem Einsetzen des Endkampfes wird für Friedrich II. das
Kardinalkolleg ein politischer Faktor von hóchster Bedeutung, zu dessen Gewinnung
die kaiserliche Diplomatie auf der Hóhe ihrer Reife gezwungen ist, alle ihre Künste
zu entfalten. Die Probleme dieses Jahrzwölfts hatte Hampe im wesentlichen be-
reinigt: durch seine Forschungen über das Konklave von 1241, auf das dann Wenck
zurückgekommen ist, ferner über die Flugschriften zum Lyoneser Konzil von 1245
und über die sizilische Verschwórung von 1246; auch einige treffliche Arbeiten seiner
Schüler kommen hinzu. Zu S. 28 ist jetzt der Schlußteil von K. Burdach, Rienzo
Kritiken 391
und die geistige Wandlung seiner Zeit, S. 380ff., zu vergleichen. Nicht unbedeutend
hat auch inzwischen O. Vehse in seinem Buche über die amtliche Propaganda
Friedrichs II. das Verständnis gefördert, vgl. auch dessen Anzeige des vorliegenden
Buches, H.Z. 141, S. 634, wo mit Recht straffere Beschränkung auf das Thema
gewünscht und die Menge der Abschweifungen auf die allgemeine Geschichte getadelt
wird. Ob aber die Kernfrage, warum der Kaiser das Kardinalskolleg trotz allen
Entgegenkommens nicht gewonnen hat, überhaupt zu beantworten ist? Es gab
nicht nur einen Korpsgeist des Kollegs, sondern auch einen spezifischen Geist jenes,
wie ich es nennen möchte, jüngeren Baronalpapsttums (1188— 1261), für das neben
den universalen Belangen die Territorialpolitik des Patrimoniums den Ausschlag
gab; und dieses war eben von Friedrich II. in den entscheidenden Jahren bedroht.
Selbst Innocenz IV., der anscheinend jene Reihe von Baronalpäpsten neueren Stils
unterbricht, steht ihrem Geiste nicht so fern: die drei Kardinäle in Rom haben
1246 die kuriale Politik stark beeinflußt (vgl. S. 102).
Nach einer einleitenden Übersicht wird (S. 7—46) die Zeit von Friedrichs II.
zweiter Exkommunikation bis zum Tode Gregors IX. behandelt. Um den Konzils-
vorschlag dreht sich bald der diplomatische Kampf, der Prálatenfang von Monte-
cristo gibt der praktischen Diplomatie für die kommenden Jahre eine harte Aufgabe.
Sehr zeitig enthüllt sich der schwache Punkt in der Stellung des Kaisers. Seine
Vermittlungspolitik (vgl. S. 37 im Briefe an Rainald von Ostia) schob dem Kolleg
eine Selbständigkeit neben dem Papst zu, die kanonistisch gar nicht zu rechtfertigen
war (vgl. S. 12, 20ff., 35). Sie setzte aber auch Einmütigkeit der Kardinäle für den
Kaiser voraus (vgl. S. 181), und diese Voraussetzung war aus persönlichen wie
sachlichen Gründen falsch. Die Untersuchung von S. wäre straffer geworden, wenn
er diese Taktik der kaiserlichen Diplomatie durchgeführt hätte; es ließe sich syste-
matisch begründen, warum sie scheitern mußte. Eine Parallele mit der Politik, die
an das Solidaritätsgefühl aller weltlichen Machthaber appellierte, liegt nahe, Die
Politik des Kaisers wurde auf ihrer Höhe unsicher, weil seine Stellung im Kampf
mit der Kirche schwach war. Genau wie einst die seines Vaters.
Über die Sedisvakanz von 1241—1243 (S. 46—66) haben Hampe und Wenck
Klarheit geschaffen. Wenck hatte geglaubt, der Unbekannte, auf den im zweiten
Wahlgang des Konklaves von 1241 die Stimmen fielen, sei der damalige Dominikaner-
provinzial Humbert von Romans: S. macht in einer Beilage (S. 133—137) kritische
Bedenken geltend. Zu berichtigen ist S. 51, Kardinal Rainald, von dem es einige
Zeilen vorher hieß, daß er nach Coelestins IV. Tode in Rom geblieben sei, wäre nach
Anagni gegangen: S. hat ihn mit Rainer von Viterbo verwechselt. Beachtenswert
ist S. 68f. der Hinweis auf die Szene, die den Haß des Kaisers gegen Kardinal Jakob
Pecorara erklärt: dieser hat damals als Gefangener dem Kaiser persönlich den Bann-
fuch ins Gesicht geschleudert! S. 59. A. 4 ist irrig princeps als neutraler Ausdruck,
wenn man nicht imperator sagen wolle, aufgefaßt: nach dem Sprachgebrauch des
Corpus iuris sagte man damals beides abwechselnd in gleicher Bedeutung.
Über die Parteistellung der einzelnen Kardinäle ist schwer Aufschluß zu er-
reichen, da sie nicht immer gleichblieb. So ist Rainald von Ostia 1241 unter den
Gegnern, Rainer von Viterbo unter den Freunden der Versöhnung, Die Streitfrage,
mit welchem Recht Friedrich II. den genuesischen Kardinal Sinibald Fiesco di La-
vagna für seinen Freund hielt und ihm zur Tiara verhalf, ist deshalb schwer zu lösen.
1241 war er Friedensgegner; daß er dann bei der Spaltung des Kollegs vermutlich
392 Kritiken
mit den Versöhnlichen nach Anagni ging, wie Hampe mit Recht annimmt, mag
die Meinung des Kaisers erklären. Seit der Gang der Friedensverhandlungen
(S. 66—86) durch Rodenbergs vorbildliche Untersuchung aufgeklärt ist, darf man
ja Innocenz IV. nicht mehr beschuldigen, diese Verhandlungen nur zum Schein
und in betrügerischer Absicht geführt zu haben. Nicht aus Prinzip ist der endgültige
Bruch erfolgt, sondern weil die unentrinnbaren Staatsnotwendigkeiten, die in der
lombardischen Frage lagen, eine Verständigung ausschlossen. Hier bietet S. nicht
viel Neues; in der Beurteilung der Rolle, die Rainer von Viterbo beim Bruch spielte,
tolgt er der Auffassung von Elisabeth von Westenholz. Ich habe schon im Literar.
Zentralblatt von 1914, Sp. 813f. auf das Willkürliche in deren psychologischer
Konstruktion hingewiesen, die ein den Tatsachen (Wähler Coelestins IV., dann in
Anagni) widersprechendes Bild gibt, und bin gerade durch Hampes Arbeit über
das Konklave darin bestürkt worden, daß Rainer erst nach der Wahl von 1243
jener fanatische Feind des Kaisers (S. 71) wurde. Die Bemühungen des Kaisers,
die Kardinäle für sich zu gewinnen, erringen ihren höchsten Erfolg, als ihnen Einfluß
auf die Bestimmungen des Gründonnerstagsfriedens von 1244 zugestanden wird
(S. 78). Nachdem die Aussöhnung an den Lombarden gescheitert ist, versucht
Friedrich II. immer noch, diesen durch befreundete Kardinäle entgegenzuwirken.
Da zwingt Innocenz IV. durch die Kreation von 12 neuen Kardinälen zu den 7 vor-
handenen das Kolleg endgültig in den Dienst seiner nun zum Abbruch entschlossenen
Politik.
Die Rolle der Kardinäle beim Lyoneser Konzil von 1245 (S. 86—99) ist wichtig,
doch nicht mehr entscheidend (S. 88). Die drei in Rom zurückgelassenen, den stadt-
römischen Baronalhäusern angehórigen Kardinäle und Rainer, der als Feldherr
der Kirche in Mittelitalien blieb, wagten nicht, dem Ruf des Papstes nach Lyon
zu folgen. Ein Pamphlet Rainers diente dann als Konzept für das Absetzungsdekret.
Im Endkampf von 1245—1250 (S. 95—122) konnte sich keine persönliche
Meinung eines Freundes Friedrichs II. mehr hervorwagen: in Cluni empfingen die
Kardinäle den roten Hut zum Zeichen, daß sie mit dem Papst in den Tod zu gehen
hätten (S. 96). Tatsächlich handelt es sich nur noch um die Rolle der einzelnen
Kardinäle als Werkzeuge des päpstlichen Vernichtungswillens. Doch vielleicht
nicht so ganz. Unschätzbar ist der von Hampe gefundene und ausgewertete Brief,
den Kardinal Richard Annibaldi aus Rom an den Papst geschrieben hat. S. (S. 102)
urteilt, man sehe nicht ganz klar, welchen Anteil die Kardinäle an dem Entwurf
der Verschwórung zur Ermordung Friedrichs II. im Jahre 1246 hatten. Aber auch
schon der Eindruck, daß sie einen Anteil daran hatten, ist wichtig, da man in der
Regel Innocenz IV. als den persönlichen, unbeeinfluBten Träger seiner Kampf-
politik auffaBt. Oben wurde schon darauf hingewiesen, daB er mindestens hier
vom Geist des Baronalpapsttums durch die drei römischen Baronalkardinále beein-
fluBt worden ist. Über das Wirken von Ottaviano Ubaldini, der von Lyon seinen
vier in Italien wirkenden Brüdern zu Hilfe geschickt wurde, erfahren wir allerlei
Neues: im ganzen hat man den Eindruck, daß die Kardinüle im Kampf mit welt-
lichen Waffen gegen den Kaiser versagten, nachdem das grandiose kombinierte
Projekt vom Jahre 1246 fehlgeschlagen war.
Dem Urteil, daß eine förderliche Untersuchung vorliegt, tut die Berichtung
einiger kleinerer Versehen keinen Eintrag, 3. 6 wäre (wie richtig S. 34 u. sonst)
Brescia zu schreiben, nicht Breszia. S. 8 wird Kantorowicz statt der von diesem
BEE 00 Yu PE A Er Yu 0 IR
sn
.
Kritiken 393
benutzten grundlegenden Untersuchungen von Ficker zitiert; K. 's „caesarische
Groß- Signorie“ würde ich mir nun gar nicht zu eigen machen. S. 18 sind die Noten
in Unordnung; die Quellenzitate sind sehr häufig ungenau, selbst sinnstörend.
Der Quellenwert von Matthaeus Paris (so, nicht „von Paris“ I) wird öfter ungerecht
eingeschätzt (S.32, 38, 51 A. 2), richtig S. 43 A.3, — S. 41 A.1: Petrus de Collemedio
war sicher Italiener, Burgruine Colledimezzo im Volskergebirge, Gregorovius V,
59; daher heißt er richtig natione Campanus. S. 53: der Brief Ludwigs IX. konnte
als Stilübung fortbleiben. S. 58 „Prior und Kardinal des Klosters zu Fons Avel-
lana“!! S. 54: das Wortspiel ist im Deutschen unverständlich und bedurfte der
Erklärung: salmo (Lachs)-Salomo. Wer ist S. 43 A. 1 d. Barnensıs ven. cardinalis?
Doch wohl Rainerus (Rain. zu Barn. verlesen)? Es wäre wieder ein Beweis, daß
Rainer ursprünglich zum Frieden neigte. S. 39 wird Gregorius de Romania in Ver-
wechslung mit G. de Montelongo als Legat der Lombardei bezeichnet, wie schon
bei E. von Westenholz S. 51 zu lesen war; er war Legat von Genua. S. 83: Segusia
ist Susa. S. 114 A. 7: Bischof Marcellin war Lehensmann des Kaisers nur in dem
Sinne gewesen, daB er als Bischof von Arezzo Grafenrechte besaB (richtig Westen-
holz) S. 122: Johann Colonna ist 1216, nicht 1212 Kardinal geworden. S. 123
J. Zagarolo statt Zaparolo. S. 130: Rainald von Segni war natürlich nicht „aus
Genua", S. 131: das Kloster „Zu Tres Fontium“ heißt Tre Fontane.
Eine brauchbare Vorarbeit zu der von Wenck geforderten Fortsetzung von
Brixius, Die Mitglieder des Kardinalkollegiums von 1130—1181 ist die erste Bei-
lage: ,,Das Kardinalskollegium im Jahre 1239" (S. 122—133).
Die Beiträge, die ich QF. XVIII, 232—236, und 239—241 aus der Formel-
sammlung des Petrus de Boateriis zur Legation des Kardinals Peter Capocci in den
Marken gab, sind übersehen.
Frankfurt a. M. Fedor Schneider.
Vincenz Samanek, Studien zur Geschichte König Adolfs. Vorarbeiten zu
den Regesta imperii VI 2 (1292—1298). Akademie der Wissenschaften in
Wien, philos. histor. Kl, Sitzungsberichte, 207. Band, 2. Abhandluug.
Wien und Leipzig 1930, Hólder-Pichler-Tempsky A.-G., Kommissionsverlag.
VII, 303 S.
Die Eigenart dieser Studien wird durch den Untertitel gekennzeichnet: es
Sind Vorarbeiten zur Neubearbeitung der Regesta imperii von 1292-1298. Das
Unternehmen ist außerordentlich begrüßenswert. Daß die mittelalterliche Ge-
sthichtswissenschaft in der langen Zeit von ca. 1900 — 1930 fast gar keine Leistungen
zur Fertigstellung der von der Generation der großen Historiker des 19. Jahrhun-
derts begonnenen Unternehmungen aufzuweisen hatte, ist, mit so verschiedenen
Gründen und Einflüssen man es auch erklären kann, doch ein Mangel, ohne dessen
Beseitigung ein gesichertes Fortschreiten eindringlicher Erkenntnis der deutschen
Geschichte des Mittelalters nicht erwartet werden kann. Samanek gibt denn auch
sme Studien ganz im Stile der Einzelforschungen des 19. Jahrhunderts: mil-
verstandene Ausstellungsorte, richtige Datierung von Urkunden und Akten, Her-
Anziehung entlegener Überlieferungen, möglichst vollständige Herbeischaffung des
Quellenmaterials — das gibt einem Teil seiner sorgsamen, auf Kenntnis vieler
Originalurkunden und ihrer Schreiber aufgebauten diplomatisch - historischen
Untersuchungen das Gepräge.
394 Kritiken
Aber sie erstreben doch auch mehr, sie wollen auf dieser gesicherten Tatsachen-
grundlage zugleich einen inneren Zusammenhang in der Geschichte und den Hand-
lungen dieses jedenfalls doch unglücklichen deutschen Königs erkennen lassen.
Ich gebe einen kurzen Überblick über den inneren Gang und Hauptinhalt der 26
Einzeluntersuchungen. Etwa I—IX könnte man zu einer Gruppe zusammenfassen,
die sich mit der Wahl des Königs— unter dem Einfluß des Kölners und (in gewissem
Sinne abschließend und entscheidend) des Mainzers — und mit seinem Verhalten
in seiner ersten Regierungszeit beschäftigen, mit dem Druck, unter dem er von seiten
des Kölners stand und den Maßregeln, durch die er sich davon zu befreien trachtete,
mit ersten Handlungen zum Schutze der Westgrenze des Reiches gegen Frankreich.
Etwa X—XII bieten vorwiegend Einzeluntersuchungen, etwa XIII—XVI Unter-
suchungen zu seinem Verhalten in der Frage der Freigrafschaft Burgund und Meißen-
Thüringen. Nr. XVII—XXV könnte man dann einheitlich zusammenfassen unter
der Überschrift: Die Bestechung Adolfs von Nassau ?, wobei das Wesentliche und
Neue bei Samanek das Fragezeichen ist. Er behauptet an keiner einzigen Stelle
mit ausdrücklichen Worten, daB er diese Bestechung, die zuletzt F. Kern, MIOeG.
30 in einer über jeden Zweifel erhabenen Weise bewiesen zu haben meinte, als nicht
erfolgt widerlegt habe; aber er trägt alles zusammen, was sie als unwahrscheinlich
gelten lassen kann. Bei dem Interesse, das gerade dieser Gegenstand aus der Ge-
schichte Adolfs notwendigerweise erwecken muß, sind ein paar nähere Bemerkungen
darüber unerläßlich.
Nach Samanek kann von Scheinmanövern und Zweideutigkeiten Adolfs in
seiner Politik gegenüber England und Frankreich nicht die Rede sein. Er hat jeder-
zeit aufrichtig und mit allen (schwachen) ihm zur Verfügung stehenden Kráften
den Schutz der Westgrenze des Reiches gegen Frankreich, mit Hilfe Englands,
betrieben. Er ist dabei eifriger gewesen als der englische Kónig, der die Dinge viel
mehr hat gehen lassen und eher den deutschen Kónig im Stich gelassen als dieser
ihn. Der sorgfáltig auf die Tatsachen begründete und richtig verstandene Zu-
sammenhang in Adolfs Handlungen allein schon reinigt ihn von jedem Vorwurf.
Auf Soldverträge, die seiner als deutschen Königs nicht würdig gewesen wären,
hat er sich gar nicht eingelassen (S. 136—139); die in der Denkschrift des Musciatto
Franzesi behauptete angebliche Bestechung ist mit den Tatsachen nicht in Einklang
zu bringen (S. 157), teils hatten die Geldzahlungen „gar nichts Auffallendes an sich“
(S. 204, vgl. 200—204), teils zeigten die Aufzeichnungen den,, König Adolf bei dieser
Sache keineswegs im Vordergrunde“ (S. 204, Anm. 67) und endlich dürfe man die
Behauptung, „daß es Musciatto wirklich gelungen sei, Adolf zu ‚gewinnen‘ nach dem
Gesagten unbedenklich als eine derjenigen Übertreibungen ansehen, mit denen
es die Denkschrift verstanden hat, den Erfolg der Tätigkeit dieses Finanzmannes
recht handgreiflich erscheinen zu lassen“. Vgl. noch die ganze Seite 205 mit Argu-
menten gegen die Annahme einer „Bestechung“ König Adolfs.
Zu einer Widerlegung der These Kerns scheint mir das doch noch nicht auszu-
reichen. Dazu wäre m. E. doch in ganz anderem Umfange eine Hauptuntersuchung
der Denkschrift des Musciatto Franzesi, eine Erschütterung ihrer Glaubwürdigkeit,
in Widerlegung der Argumente, die Kern dafür beigebracht hat, erforderlich.
Und wenn Samanek seine Widerlegung mehr indirekt, durch Aufzeigung einer seiner
Meinung nach sehr klaren und eindeutigen, bis zuletzt folgerichtigen Politik Adolfs
gegen Frankreich, für England, führen will, so ist zu bedenken, daB die Politik des
Kritiken 395
späteren Mittelalters in allen Fällen, die wir neuerdings genauer zu durchschauen ge-
lernt haben, ungeheuer kompliziert und raffiniert, vieldeutig und verschlagen ist,
keineswegs und niemals einfach. Die Probleme und Untersuchungen nehmen es
an Kompliziertheit und Schwierigkeit mit den modernsten zur Vorgeschichte des
Weltkrieges durchaus auf, und dabei ist das Material im 13.—15. Jahrhundert
doch meist noch viel lückenhafter und zufälliger als für unsere Gegenwart. Also
zu eindeutigen Lösungen zu kommen ist da sicher sehr schwer, und auch gegen
Samanek.wird sich in diesen Fragen viel sagen lassen. Ich habe mir zu seinen Aus-
führungen im einzelnen viele Fragezeichen gemacht, die ich allerdings hier nicht
vorführen und begründen kann. Sicher bleibt auch nach seinen Ausführungen, daß
das Königtum Adolfs eine traurige Erscheinung war; er persönlich nach Samanek
nicht würdelos, aber eine tragische Figur. Für die deutsche Geschichte im ganzen
ist damit nicht sehr viel gebessert.
Die letzte, 26. Untersuchung behandelt dann noch Adolfs Absetzung und die
Kurie: zur Kritik der Überlieferung. Die Gesamtheit dieser mit Vorsicht und Umsicht
ausgeführten Untersuchungen ist höchst verdienstlich, ebenso die Abdrucke von 42 oft
nur in schlechtem Text oder genauer bisher gar nicht bekannten Urkunden, denen
Samanek noch wertvolle Vorbemerkungen über Schreiber u. dgl. beigibt. Das
ganze Buch wird für lange Zeit eine Hauptgrundlage für alle weiteren Forschungen
und Darstellungen zur Geschichte Adolf von Nassau sein.
Erlangen. B. Schmeidler.
Jahrbücher des Deutschen Reiches unter König Albrecht I. von Habsburg. Von
Alfred Hessel. Herausgegeben durch die Historische Kommission bei der
Bayer. Akademie der Wissenschaften. München, Duncker & Humblot, 1931.
XXXI, 251 S.
Es ist für den Historiker des deutschen Mittelalters eine Freude, diesen Band
anzeigen zu können. Denn er bedeutet die Wiederaufnahme und Fortführung
eines der groBen Unternehmen zur deutschen Geschichte, die die erste Generation
der hervorragenden deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, Ranke, seine
Schüler und ersten Nachfolger, begonnen hatten, die aber z. T. seit einiger Zeit,
wenigstens die Regesten und Jahrbücher, in unerwünschter Weise liegen geblieben
waren. Die letzten Werke der Jahrbücher der älteren Reihe — ganz abgeschlossen
sind ja auch diese noch nicht — hatten z. T. nur mit etwas gemischten Gefühlen
aufgenommen werden können, sie waren doch in äußerlichen Traditionen halb
erstarrt und nicht mehr recht zum Kerne ihrer Aufgaben vorgedrungen. Der erste
König des späteren Mittelalters, Rudolf von Habsburg, ist von Oswald Redlich,
dem Hessels Band mit Fug und Recht gewidmet ist, in mustergültiger Weise, formell
außerhalb der Jahrbücher, bearbeitet worden, nur ausführlicher als heutige mate-
rielle Mittel es für anschließende Bände gestatten. Nun bietet Hessels Werk einen
frischen Ansatz zum Fortschreiten in der eigentlichen Reihe der Jahrbücher, und
erfreulich ist bei ihm nicht nur die Tatsache des Daseins, sondern in der Haupt-
sache auch die Art der Ausführung.
Nach den Beschlüssen der herausgebenden Kommission (vgl. Hist. Zs. 107
[1911], S. 698), ist von den Quellen nicht mehr der Wortlaut aufgenommen, sie
sind nur ganz kurz zitiert worden, wobei diese Zitate wie der gesamte Anmerkungs-
apparat durch ein dem Bande vorausgeschicktes alphabetisches Literaturverzeichnis
396 Kritiken
entlastet worden ist. Nach den Erörterungen, die sich an eins der letzten Werke
der Jahrbücher angeschlossen haben, das einzig richtige Verfahren! Ferner ist die
tote, seelenlose Zusammenstellung des Materials Jahr für Jahr aufgegeben, es sind
sieben große Kapitel zur Erzielung einer möglichst abgerundeten Darstellung,
zum Herausarbeiten der großen Entwicklungslinien gebildet worden. Auch dies
nur ein äußerst begrüßenswertes Verfahren, das in den besseren Bänden der älteren
Reihe der Jahrbücher zum Teil auch schon befolgt worden ist. Man könnte höchstens
noch wünschen — was man bei vielen Darstellungen solcher Art bemerken kann —,
daß eine möglichst genaue und häufige Anführung der Daten, auch der Jahreszahlen,
im fortlaufenden Text gegeben werden möge, damit der auf genaue Anschauung
bedachte Leser nicht öfter einmal Seiten zurückblättern muß, um das Jahr, in dem
er steht, festzustellen.
Hessels Abschnitte lauten, nach einer Einleitung von zwei Seiten über Albrechts
Stellung in der deutschen Geschichte: 1. Unter König Rudolf; 2. Der Thronstreit
mit Adolf von Nassau; 3. Der Kampf mit den rheinischen Kurfürsten; 4. Papst
Bonifaz VIII.; 5. Der Kampf mit Böhmen; 6. Reichsgut und Hausgut (ein sehr
erwünschtes allgemeines Kapitel zur inneren Regierung und Gesamtgeschichte);
7. Tod und Ausgang. Man wird gerechter Weise nur sagen können, daß das Buch
mit sehr umfassender Sammlung, Durcharbeitung, Bereitstellung des Materials
in den Anmerkungen, mit Darbietung eines Textes, der sich seiner Aufgaben wahrer
historischer Forschung und Darstellung stets bewußt bleibt, eine wesentliche För-
derung für die deutsche Geschichte des späteren Mittelalters bedeutet. — Zur all-
gemeinen Form der Jahrbücher, wie sie hier erstmalig richtunggebend für die
jüngere Reihe vorgelegt worden sind, kann man vielleicht noch die Frage auf-
werfen, ob nicht Einzeluntersuchungen und Exkurse — natürlich nur solche mit
förderlichen Ergebnissen — beigegeben werden könnten. Beispielsweise solche
über die Urkunden und die Kanzlei, wie sie Samanek in seinen Studien zur Ge-
schichte König Adolfs mit großem Nutzen anstellt und verwertet. Man wird das
dem einzelnen Bearbeiter, je nach der Art seiner Arbeit und seines Verhältnisses
zum Stoffe, anheimgeben müssen; es kann außerordentlich förderlich sein, wird
nicht als Forderung oder Bedingung gestellt werden können. Im ganzen kann
man nur sagen: möge die Reihe so fortschreiten, vivant sequentes!
Nach diesen Bemerkungen über die Form und Technik des Bandes soll nicht
unterlassen werden, auch zu der inneren Auffassung des Gegenstandes Stellung
zu nehmen. Was hat Hessel zu der Herrscherpersönlichkeit Albrechts I. zu sagen,
wie weit kann man ihm zustimmen ? Seine Beurteilung des Königs ist einigermaßen
zwiespältig. Er verkennt nicht, daß die deutschen Könige des späteren Mittel-
alters des festen Rückhaltes einer Hausmacht bedurften, daß sie mit dem Kur-
fürstenkolleg, mit Frankreich und der römischen Kurie zu ringen hatten, daß die
deutsche Geschichte des 13. bis 15. Jahrhunderts sich räumlich in der Verlegung
des Machtmittelpunktes vom Westen nach dem Osten vollzieht (S. 1/2). Er billigt
Albrecht in der Einzelausführung seiner Politik hohe staatsmännische Eigenschaften
zu (S. 107), er versagt es sich mit Bewußtsein völlig, bei ihm anläßlich einer De-
mütigung vor dem Papsttum Schwäche oder besondere Ehrfurcht vor der über-
irdischen Institution des Papsttums anzunehmen, da für ihn allein politische Gründe
maßgenbend sein konnten (S. 131). Er beobachtet, wie der König verspricht, ohne
halten zu wollen (S. 139f.), wie er einen durch Glückszufall erlangten Vorteil sich
Kritiken 397
dann nicht durch maBlose Forderungen verdirbt (S. 158). wie er bei jedem Unter-
nehmen die günstige Gelegenheit abzuwarten versteht (S. 162). Er spricht ihm
rastlosen Tatendrang, gepaart mit nie ermattender Spannkraft zu (S. 182), stellt
sein ganz persönliches Regiment fest (S. 207); er verzeichnet sein planmäßiges
Streben nach Wiederherstellung des Herzogtums Schwaben, mit der naheliegenden
Konsequenz: „Wäre es den Habsburgern gelungen, sich die deutsche Thronfolge
zu sichern, sie hätten ohne Zweifel bald Reichs- und Hausgut hier im Südwesten
ganz zur staatlichen Einheit verschmolzen“ (S. 220). Und alle diese Äußerungen
schließt ab S. 223: „Des Maien Anfang 1308 .... als das der Urkundenfälschung“,
in welcher Stelle Hessel die Katastrophe der deutschen Geschichte durch Albrechts
Tod mit der von 1197 durch Heinrichs VI. Tod vergleicht.
Alledem stehen einige andere Äußerungen entgegen, hauptsächlich des Inhalts,
daB Albrecht nur nach Macht und Erhóhung seines Hauses gestrebt und dafür die
Macht und die Ehre des Reiches leichten Herzens dahingegeben habe (S. 132f.,
140, 145, 149, 2371), daß ihm „das lebendige Gefühl für das Prestige, um nicht
zu sagen, der einem deutschen Könige unentbehrliche Ehrbegriff mangelte", daB
ihm auf dem Gebiet der Verwaltung „die eigene große und schöpferische Idee
fehlte", er „überhaupt keine ausgesprochene Neigung zeigt, neue Institutionen zu
schaffen". Was ist von diesen Vorwürfen und Rügen zu halten?
Der letztangeführte Satz Hessels bietet eine positive Beobachtung zur Cha-
rakteristik Albrechts, die einfach hinzunehmen sein wird, der vorletzte enthält
eine Beobachtung gemischt mit Beurteilung, die schon zweifelhaft sein kann. Zu
Albrechts absoluter Nüchternheit und Gleichgültigkeit gegen Prestige kónnte man
manche Äußerung und manches Verhalten Bismarcks als Parallele heranziehen,
es fragt sich, ob der von Hessel geforderte Ehrbegriff, dem dann Heinrich VII.
entsprach, nicht ein stark romantischer, unstaatsmännisch-reaktionärer gewesen ist.
Diese Frage wird dringend bei dem von Hessel wieder und wieder erhobenen Vor-
wurf der reinen Territorialpolitik Albrechts, seiner angeblichen Gleichgültigkeit
gegen die Ehre und die Interessen des Reiches. War nicht rücksichtslose Haus-
machtpolitik das einzige Mittel, um auch dem Reiche wieder auf die Beine zu helfen ?
Hätte nicht die Regierung von Söhnen und Enkeln vollenden können, was Albrecht
nur beginnen konnte? Hessel hat sich solchen Fragen nicht verschlossen. ‚Welche
Entwicklung hätte das deutsche Königtum nehmen können, wäre es dem zweiten
Habsburger möglich gewesen, noch bei Lebzeiten einen seiner Söhne als Nachfolger
im Reiche durchzusetzen ? In anderem Zusammenhange wurde auf die Schwächen
und Nachteile der einseitigen Hausmachtbestrebungen Albrechts hingewiesen.
Demgegenüber muß hier betont werden, daß diese Politik, von seinen Kindern
und Enkeln konsequent fortgesetzt, ganz wohl zu ähnlichen, auch für Deutschland
günstigen Ergebnissen hätte führen können wie hundert Jahre früher für die Herr-
schaft der Kapetinger“ (S. 172). Und S. 227f. die Feststellung der Nachteile seiner
Politik für das Reich, mit der anschließenden Frage: „Doch ist damit über den
Habsburger das letzte Wort schon gesprochen ? Wir wissen, ihm eignete die staats-
männische Fähigkeit des Wartens. Vielleicht harrte er nur des günstigen Augen-
blicks, um die Territorialpolitik bis zur wahren Reichspolitik zu steigern.“ Wenn
man aber dies erwägt, — und die nun folgenden tatsächlichen Ausführungen wider-
legen die Annahme dieser Möglichkeit durchaus nicht —, dann haben die ganzen
Vorwürfe wegen einseitiger Territorialpolitik keinen Sinn und keine Berechtigung
398 Kritiken
mehr. Es ist wahrlich nicht Albrechts Schuld, daß er im Alter von wenig mehr
als fünfzig Jahren, nach knapp zehnjähriger Regierung über das Reich ermordet,
daß ihm die weitere, aussichtsreiche und glänzende Tätigkeit abgeschnitten
worden ist.
Hessel hat 1922 einen Aufsatz über Albrecht I. veröffentlicht (Historische
Blätter Band I, Wien 1921/22, S. 373—396), in dem viele der hier angezogenen
Stellen schon mehr oder weniger wörtlich stehen, der die gleichen Grundzüge der
Auffassung enthält. Aber die beiden hier zuletzt angeführten Stellen von (Buch)
S. 172 und 227f. stehen im Aufsatz nicht oder sind mindestens um die wesentlichen
Sätze hier vermehrt; man sieht deutlich, Hessel ist von früher schárferer Ver-
urteilung Albrechts etwas zurückgekommen, ist bei genauerer Durcharbeitung des
Materials nachdenklicher geworden. Aber er ist immer noch auf halbem Wege
stehen geblieben, nicht zu restlos einheitlicher und anerkennender Auffassung,
die ich für die einzig richtige halte, durchgedrungen. Sein Buch schlieBt mit den
gleichen Versen Dantes wie sein Aufsatz. Dante als Mensch und Dichter in allen
Ehren, aber als Politiker sollte man ihn nicht gegen einen wahren Staatsmann
ersten Ranges wie Albrecht ausspielen, nicht glauben, einen Phantasten und
Reichsverderber wie Heinrich VII. durch Berufung auf ihn schützen und stützen
zu können.
Im einzelnen nur wenige Bemerkungen. Peter Aspelt war nicht einfacher
Leute Kind, ein einfacher Bürgersohn (S. 47, 136), sondern entstammte einem luxem-
burgischen Dienstmannengeschlecht, wie neuestens E. Stengel, Avignon und Rhens
S. 226—228 bewiesen hat. Zu Hessels absprechender Beurteilung Papst Clemens V.
(S. 230) vgl. gleichfalls Stengel S. 10—18—35, doch wohl wesentlich richtiger.
Kann man (Hessel S. 148) wirklich Otto IV. von Brandenburg als den eigentlichen
Vertreter der Reichsgewalt in Norddeutschland bezeichnen? S. 50 wäre eine nähere
Ausführung der umfangreichen Versprechungen an Wenzel II. im Text doch viel-
leicht erwünscht gewesen.
Abweichende Auffassungen im einzelnen, oft auch im ganzen, sind bei jedem
historischen Gegenstand, jeder historischen Untersuchung möglich, vielleicht un-
vermeidlich. Das kann nicht hindern, abschlieBend für Hessels Buch nochmals
stark zu betonen, daB ein aussichtsreicher Weg zur Fortsetzung der „Jahrbücher“
in das spätere Mittelalter in verheißungsvoller Weise hier beschritten ist, daß die
Ausführung dieses ersten vorgelegten Bandes fast restlos billigenswert und erfreulich
ist. Nochmals: Vivant sequentes!
Erlangen. B. Schmeidler.
Aegidius Romanus, De ecclesiastica potestate, hrsg. von Richard Scholz.
Weimar 1929, Hermann Bóhlaus Nachfolger. XIV u. 215 S.
Aegidius Romanus ist eine sehr interessante literarische Erscheinung trots
allen ermüdenden Wiederholungen in seinem großen Traktat De ecclesiastica
potestate, der — wie der Verfasser selbst gesteht — eine compilatio ist und uns wohl
noch mehr als solche erscheinen würde, würen uns seine Vorgünger vollstándiger
bekannt. Die Zahl der Autoren, die er kennt und zitiert, ist groß. Man kann sie
jetzt bequem überblicken dank den von Richard Scholz in seiner Ausgabe gemachten
Zusammenstellungen (S. IX Anm. 5 u. S. 214); am häufigsten kommen Augustin,
Aristoteles und Hugo von St. Viktor vor. Auffallen mag, daß Gregor VII.
Kritiken 399
weder genannt noch angeführt wird. Immerhin kommt Aegidius in Buch III,
Kap. 4 (S. 163) einem Lieblingsgedanken dieses Papstes so nahe auch in der For-
mulierung: „Qui spiritualia iudicat, multo magis potest temporalia et secularia
iudicare" und führt dazu eine auch von jenem zu gleichem Zweck verwandte Bibel-
stelle an, daB man einen wenigstens mittelbaren Zusammenhang annehmen móchte.
(Vgl. Registrum VIII 21 ed. Caspar p. 550 und die dort genannten Parallelstellen
IV 2, IV 23, VII 14a = p. 296, 338, 487).
Der päpstliche Absolutismus ist selten einseitiger vertreten worden als von
Aegidius. Dieser bringt es fertig, dem Papste sogar die Interpretation der welt-
lichen Gesetze zuzuschreiben (S. 187) und an anderer Stelle zu folgern: soweit Ver-
gehen, die sich auf weltliche Dinge beziehen, aus insipiencia hervorgehen, handelt
es sich um geistliche Delikte, die in erster Linie vor das geistliche Gericht gehören
(S. 180). Die einzige Schranke der souveränen Machtausübung des Papstes liegt
darin, daß auch für ihn der Satz gilt: legis positivus debet esse legis observativus
(S. 181 u. 190).
Aegidius ist Theologe, polemisiert mehrfach gegen die Juristen und steht
doch völlig im Bann jener Geisteshaltung, die alle Probleme juristisch sieht. Das
geht so weit, daß er Daniel vom Feuer und von den Löwen an Gott appellieren läßt
(S. 158f.). Sehr der Beachtung wert scheint mir, daB er nicht ius aequum und ius
strictum unterscheidet, wie das seit dem hohen Mittelalter wieder geschah,
sondern eine Dreiteilung in ius mite, ius equum und ius rigidum vornimmt, bei
der das ius aequum natürlich das mit der Norm genau übereinstimmende Recht
ist (S. 143f.). |
Die ganze Gedankenwelt des Aegidius ist auch darum so bemerkenswert,
weil die berühmten Formulierungen der Bulle Unam sanctam mit ihr bekanntlich
in engem Zusammenhange stehen. Endlich sind die auffallenden Standpunkts-
änderungen dieses Schriftstellers ein besonderes Problem. Darüber mag man in
den neueren Büchern von Jean Riviére und Alois Dempf nachlesen, vor allem
aber in dem grundlegenden und noch immer unentbehrlichen Buche von
Richard Scholz selbst über „Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und
Bonifaz VIII“.
Die vorliegende Ausgabe von De potestate ecclesiastica ist eine sehr dankens-
werte Leistung des um die Geschichte dieses Zeitalters schon überaus verdienten
Herausgebers. Sie wird künftig allein zu benutzen sein, nicht mehr ihre verunglückte
Vorgängerin von Boffito und Oxilia (Florenz 1908). Von den 7 Handschriften,
die es gibt, liegen ihr die vier allein in Frage kommenden zugrunde, es sind sogar
von allen diesen Handschriften die Seitenanfänge gewissenhaft vermerkt. Zu
kritischen Ausstellungen besteht kein Anlaß. Nur um die Benutzung zu erleichtern,
merken wir Folgendes an: S. 14 umfaßt das Bibelzitat aus Hebr. 7 nur eine Zeile,
während 3 kursiv gedruckt sind. Umgekehrt müßten S. 72 Zeile 14 v. o. die Worte
von quod masculus bis populo suo kursiv gedruckt sein. S. 84 in dem Zitat im 3. Ab-
satz muB es heißen promptior statt promotior. Dem Sach- und Wortregister könnte
Man noch hinzufügen die vier Stellen, wo der Augustinische Begriff der latrocinia
für Reiche, in denen keine Gerechtigkeit waltet, gebraucht wird: S. 15, 149, 154, 201
und die zwei sonderbaren Adjectiva incensivus (S. 94) und subcensivus (S. 95) für
anspflichtig.
Paul Kirn.
400 Kritiken
Otto Scheel, Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation. 3. und
4. Aufl. Bd. 1, 1921, VIII, 340 S., Bd. II, 1930, XII, 694 S., gr. 8°. Tübing -,
J. C. B. Mohr!.
Derselbe, Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519). Sammlung aus-
gewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften, hsg. ‚on
G. Krüger, N. F. 2., 2. neubearb. Aufl. Tübingen (J. C. B. Mohr) 1929, XII.
364 8.
Die Problematik der Erforschung der Anfünge Luthers liegt darin, daB es so
gut wie ganz an direkten Zeugnissen aus der Zeit bis 1512 fehlt. Erst mit der großen
Psalmenvorlesung von 1513/15 setzt der breite Strom der Überlieferung ein, der
nicht mehr versiegen sollte. Das bedeutet aber, daB wir für die entscheidende Zeit
seines Lebens, in der sich seine Persönlichkeit formte, ohne zuverlässige Nachrichten
sind. Was wir trotzdem von dieser Zeit wissen, ist nicht wenig und geht auf den
Reformator selbst zurück, der in Predigten, Tischgesprüchen, Briefen und Schriften
gern auf die Vergangenheit zu sprechen kam. AuBerdem haben Persónlichkeiten,
die ihm im Leben nahe gestanden haben, allen voran der ihm engst verbundene
Melanchthon, Lebensbeschreibungen irgend welcher Art von ihm hinterlassen,
deren Angaben um so leichter Glauben finden mußten, als sie durch die Persönlich-
keit ihrer Urheber und die Kenntnis von ihrem vertrauten Umgang mit Luther
gestützt wurden. So ist allmáhlich ein Lutherbild entstanden, das schlieBlich inner-
halb des Protestantismus von Generation zu Generation weitergegeben wurde,
ohne jemals einer kritischen Überprüfung unterworfen zu werden.
Grundsätzlich in Frage gestellt wurde es zum ersten Male durch Denifles
„Luther und Luthertum“, der seine neue Auffassung immerhin mit so vielen Gründen
belegte, daB eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion einsetzte, die die wertvollsten
Ergebnisse für die Forschung zeitigte und heute noch keineswegs abgeschlossen ist.
In diesen oft sehr temperamentvollen und scharf polemischen Auseinandersetzungen
wurde manche Nachricht der Biographen, aber auch manche auf Luther selbst
zurückgehende Angabe als nicht zutreffend erwiesen. Aber dabei blieb man doch
meist beim singulären Einzelfall stehen, und ohne grundsätzliche quellenkritische
Untersuchungen auf das Ganze der Überlieferung anzustellen, beschránkte man
sich in der Regel darauf, die einzelnen Angaben mit den erreichbaren, denselben
Vorfall betreffenden Quellenstellen in Zusammenhang zu bringen und auf ihre
innere Wahrscheinlichkeit hin zu prüfen.
Von dieser ganzen Literatur scheiden sich die Untersuchungen Scheels grund-
sätzlich nach Ausgangspunkt und Methode. Nicht mehr die spärlichen Quellen-
nachrichten mit ihrer schwankenden Zuverlässigkeit bilden das Fundament, sondern
in Verbreiterung der Quellenbasis wird die gesamte Umwelt Luthers in die Be-
trachtung einbezogen, vor allem diejenigen überpersönlichen Zusammenhänge
und gesellschaftlichen Bildungen, denen Luther eingegliedert war und die an der
Formung seiner Persónlichkeit beteiligt gewesen sind.
Die Eigentümlichkeit der Methode Scheels zeigt sich gleich zu Beginn der
Untersuchung, die sich der Familie und der háuslichen Umwelt zuwendet; gleich
hier wird einer Legende ein Ende bereitet, die sentimental-andächtiger Luther-
l pa eine Besprechung dieser für die Lutherforschung wichtigen Untersuchungen l
bei Erscheinen der ersten Auflage nicht erfolgen konnte, nehmen wir die Neuauflage des
zweiten Bandes zum Anlaß, das ganze Werk ausführlicher zu würdigen. |
4 Kritiken 401
betrachtung das Relief gegeben hat — der von der großen Armut und Dürftigkeit
de., Lutherschen Elternhauses. Aus Akten und Urkunden der Städte Eisleben und
Mausfeld wird der äußere Rahmen wiederhergestellt, in dem sich das Leben der
Fame, abgespielt hat. GewiB war der Zuschnitt knapp und äußerst einfach, aber
: das’war nicht die Dürftigkeit eines Hausstandes der untersten Volksschichten,
- sendern die weise Selbstbeschränkung eines aufstrebenden Geschlechts, das alle
Kräfte zusammennahm, um vorwärts zu kommen. Schon 1491 war der Vater Luther
. einer der Vierherren, die die Rechte der Bürgerschaft dem Rat gegenüber zu ver-
- treten hatten; 1502 ist er als Eigentümer eines Hauses in der Hauptstraße nachzu-
- weisen; das Studium seines Sohnes Martin in Erfurt konnte er bestreiten, ohne die
. leicht zu erlangenden Benefizien und Stundungen in Anspruch zu nehmen; 1507
- begegnet er als Pächter eines im selben Jahre noch erweiterten Hüttenunternehmens
. von 500 Gulden jährlicher Pachtsumme, daneben war er noch am Abbau von Schäch-
— ten beteiligt, was doch im ganzen das Bild eines vorwürtsstrebenden Unternehmers
ergibt, dessen wirtschaftlicher Lage es wohl entsprach, wenn er mit 20 Pferden zur
- Primiz seines Sohnes kam und dabei das ansehnliche Geschenk von 20 Gulden
. machte. Eine genaue Prüfung der späteren Äußerungen des Reformators ergibt,
daß keine von ihnen diesem aus anderen Quellen gewonnenen Bilde widerspricht,
die Züge der Armut und Dürftigkeit sind ihm erst von der späteren Mythenbildung
- eingefügt worden.
c Die gleiche Methode verfolgt Scheel auch sonst: erst wird aus allgemeinen
Quellen ein deutlich klares Bild des Lebenskreises entworfen, in dem Luther ge-
-* standen hat; dann werden die besonderen Angaben Luthers und seiner Mittels-
.. personen an diesen einwandfrei festgestellten Tatbeständen gemessen und ausge-
geschieden, was an ihnen von vornherein unmöglich ist, weil es mit den tatsächlichen
„Verhältnissen nicht in Einklang zu bringen ist. Zu erklären sind diese Entstellungen
leicht. Sie finden sich in denjenigen Quellen, deren Wortlaut nicht auf Luther
selbst zurückgeht, und sind da besonders groß, wo es sich um Institutionen handelt,
is die durch die Reformation beseitigt oder so stark umgebildet worden sind, dab
xà Zuhörer, Nachschreiber oder Verarbeiter keine rechte Vorstellung mehr von den
1 Dingen und Verhältnissen hatten, von denen Luther sprach, und deshalb das Fehlende
„e aus ihrer Phantasie zu ergänzen gezwungen waren, wobei es ohne starke Verzeich-
„nungen nicht abgehen konnte. So findet sich bei Scheel eine grundsätzliche Prüfung
des Quellenwertes der einzelnen Überlieferungsgruppen; zu bedauern ist, daß sie
-. sich über sein Lutherwerk zerstreut vorfinden, wie es das Fortschreiten der Dar-
;. stellung mit sich bringt, und daher der leichten Zugänglichkeit ermangeln, die man
im Interesse der Forschung gern sähe, etwa in Zusammenfassung zu Kapiteln
‚» quellenkritischer Art oder in besonderer Behandlung überhaupt. Vielleicht hätte
,; bei diesen Untersuchungen die psychologische Bedingtheit der einwandfrei "iber-
„lieferten Äußerungen des alternden Luther noch schärfer herausgehoben werden
können, als es geschehen ist.
Auf diese Weise weitet sich die Lebensgeschichte des jungen Luther zu einer
„ Behandlung aller Institutionen um die Wende des 15./16. Jahrhundert, die be-
5 stimmend auf seinen Entwicklungsgang eingewirkt haben; wir erhalten, dem Zweck
und Gang der Untersuchung entsprechend, eine eingehende Darstellung des ge-
^ samten Bildungswesens jener Zeit: von den Trivial-, den Stadt- und Domschulen,
den Unterrichtseinrichtungen der Brüder vom gemeinsamen Leben bis zur spät-
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 26
E
402 Kritiken
mittelalterlichen Universität in Einrichtung und Lehrplänen. Gerade auf die
letzteren ist besonderes Gewicht gelegt worden, da es ja Ziel der Untersuchung
ist, die Einflüsse aufzuzeigen, unter denen Luthers geistiges Werden gestanden hat.
Es ist im höchsten Grade beachtenswert, wie viel an Erkenntnissen für die Frühzeit
Luthers gewonnen wird durch die Verknüpfung dieses allgemeinen Rahmens des
akademischen Unterrichts mit den Vorlesungen, die er hörte, und den Büchern der
Alten (Aristoteles!), die er lesen und interpretieren lernen mußte, mit den wenigen
sicher überlieferten Zeugnissen jener Jahre.
Mit dem Eintritt Luthers in den geistlichen Stand wachsen die Schwierigkeiten,
wächst aber auch der Reiz der Aufgabe, die Scheel sich gestellt hat. Der weitaus
größere Umfang des zweiten Bandes legt davon Zeugnis ab. Zu dem Aufbau der
mehr äußeren Organisation kommt als Neues hinzu die Bestimmung der eigen-
tümlichen geistigen Atmosphäre, die Luther von nun an umgab, in innerer Ent-
gegensetzung zu der sich sein eigenwüchsiges inneres Leben formte, die die seelischen
Spannungen schuf, die sich dann in einem neuen Typ der Frömmigkeit lösten. Über
die Rekonstruktion der Institutionen und Ordnungen der Augustiner-Eremiten,
über die genaue Feststellung des Lebens und der Schicksale Luthers in die-
ser Gemeinschaft, über die sorgsamste Durchleuchtung des Lehrbetriebes der
theologischen Fakultät hinaus galt es jetzt zu zeigen, in welcher Erscheinungsform
die damals keineswegs so einheitliche Kirche der werdenden religiösen Persönlichkeit
Luthers entgegentrat. Hier wird nun die von Scheel befolgte Methode fruchtbar,
indem sie in genauester Analyse alle die Faktoren untersucht, die die geistige Phy-
siognomie der eng verbundenen Dreiheit: Kloster, Generalstudium und Universität
bestimmten, aufgebaut auf der Grundlage der mehr als 1000jährigen Entwicklung
der Kirche und des Dogmas. |
Weil es nun für diese Zeit an primären Quellen so gut wie ganz fehlt und die
sekundären nur mit größter Vorsicht zu brauchen sind, konnte es nicht ausbleiben,
daß die weltanschaulichen Voraussetzungen von seiten des Autors von größter
Bedeutung für das entworfene Lutherbild wurden, zum mindesten so weit dieses mit
den Zügen des Außerordentlichen ausgestattet wurde. So finden sich von der Hinein-
projizierung der reformatorischen Haltung oder wenigstens des Bewußtseins der
reformatorischen Sendung bis zu dem Zerrbild einer allenfalls durch Anomalitäten
des Geistes und der Veranlagung zu erklärenden abgrundtiefen Bosheit und Ver-
ruchtheit in stufenweisem Übergang alle Möglichkeiten der Deutung, und ganz
„wissenschaftlich“ dünkt man sich zu verfahren, wenn man auf einem so unzu-
länglichem Material das Krankheitsbild eines pathologischen, mit einem krankhaft
. überreizten Nervensystem ausgestatteten Menschen zeichnete.
Alle derartigen Erklärungsversuche lehnt Scheel ab. Sehr mit Recht, denn nichts
in den Quellen, wenn man sie nur mit der nötigen Sorgfalt und Sachkunde inter-
pretiert, gibt Anlaß zu der Annahme, daß sich Luther schon damals grundsätzlich
in seinem geistigen und religiösen Leben von seiner Umgebung abgehoben hätte.
Wollte er aber auf diesem Gebiet, das wie wenig andere die Geister scheidet und die
Leidenschaft und Unduldsamkeit des konfessionellen Kampfes auf den Plan ruft,
nicht neben die schon vorhandenen Anschauungen eine neue setzen, die dieselben
Angriffsflächen bot wie jene, so mußte er von seinem grundsätzlich neuen Standpunkt
aus in den Fragen auf den Grund gehenden Untersuchungen den letzten Gründen
der abwegigen Lutherauffassungen nachspüren, und durch Aufweisung der in ihnen
Kritiken 403
liegenden Fehler ihre Unhaltbarkeit dartun. Ist so auf weite Partien ein polemischer
Zug in das Werk Scheels gekommen, so liegt das also in der gestellten Aufgabe
selbst begründet. Aber das ist keine unfruchtbare, rechthaberische Polemik, es werden
vielmehr in diesen auf einer immensen Gelehrsamkeit beruhenden Auseinander-
setzungen die unanfechtbaren wissenschaftlichen Fundamente errichtet für das
protestantische Lutherbild. Leider hat aber unter diesem Bestreben nach viel-
seitiger Grundlegung und Unterbauung die Lesbarkeit nicht wenig gelitten, und man
möchte wünschen, daß diesem Denkmal gründlichen Gelehrtenfleißes eine kürzere
Darstellung zur Seite träte, die in stärkerer Hervorhebung der Grundlinien die Züge
des Lutherbildes klarer und deutlicher hervortreten ließe.
Eines wird man, so weit nicht Voreingenommenheit von irgend einer Seite den
Blick trübt, Scheel und seinem Werk zuerkennen müssen: alles was bei den Schwierig-
keiten der Quellenüberlieferung überhaupt nachweisbar ist, dürfte hier im wesent-
lichen richtig gesehen und gezeichnet sein. Dahin gehört vor allen Dingen die Ab-
lehnung aller Versuche, die originale religiöse Leistung Luthers möglichst weit
in sein Leben hinaufzudatieren. Was psychologische Besinnung allein schon
wahrscheinlich macht, wird hier unanfechtbar bewiesen: in seinem ganzen Ent-
wicklungsgang vom Eintritt in den Orden, über Profeß, Priesterwürde, akademische
Laufbahn bis zur biblischen Professur fehlt jedes Moment des Außergewöhnlichen,
aus dem Rahmen des Herkömmlichen Herausfallenden. Was ihn von seinen Kloster-
brüdern schied, seine spätere eigenartige Stellung in der Welt des Glaubenslebens
andeutend, war tief in seinem Inneren verschlossen, vollzog sich in einer ganz all-
mählichen inneren Auseinandersetzung mit dem Ziel gerade des völligen Hinein-
wachsens, innerlich und äußerlich, in den Organismus der Kirche. In keiner der er-
haltenen Nachrichten, weder in den Randbemerkungen zu den Sentenzen des Petrus
Lombardus noch in der Betonung des Schriftprinzips, zeigt Luther sich anders als
auf den Wegen der schulgerechten Spätscholastik, weder in der Lehre vom freien
Willen, deren Verwerfung später ein Angelpunkt seiner theologischen Lehrmeinungen
war, noch in der Frage der Buße hat er andere Auffassungen vertreten, als es in
seiner Schule üblich war.
Die Hinwendung zu dem spezifisch Neuen vollzog sich in einer ganz anderen
Ebene des persönlichen Lebens, der rückschauenden verstehenden Deutung stellt
sie sich dar als eine allmählich sich vollziehende Bereitung des seelischen Bodens,
die ihn in der Stille so umschuf, daß in einer Stunde der Begnadung das alles er-
fassende und durchdringende Feuer angefacht werden konnte. Wie dieses ge-
schehen, dieses wichtigste Problem der initia Lutheri findet bei Scheel eine aus-
giebige Behandlung, die zugleich den Schluß des Werkes bildet, denn von nun an
fließen die Quellen für die innere und äußere Geschichte Luthers reichlicher und
bedürfen nicht mehr so fein geschliffener und wohlabgewogener Methoden zu ihrer
sinnvollen Erschließung.
Wenn heute in die Anschauungen über die Entdeckung des Evangeliums eine
größere Übereinstimmung gekommen ist, so ist das nicht zuletzt der 1. Auflage
des Scheelschen Lutherwerkes zu danken, das z. B. für die wichtige Frage des Zeit-
punktes anfängliche Divergenzen in der Ansetzung von nicht weniger als rund
12 Jahren unmöglich gemacht und in der Festlegung des Oktobers 1512 (Doktor-
promotion) als des Terminus a quo und des Sommers 1513 als des Terminus ad
quem die Forschung auf einen engen Zeitraum verwiesen hat. Leider hat sich nun
26 *
404 Kritiken
Scheel in der vorliegenden Auflage durch inzwischen erschienene Arbeiten zu einer
Verwässerung seines Standpunktes bestimmen lassen, die in den Quellen nicht
begründet erscheint. Wenn Scheel die Äußerung Luthers, ihm sei der Heilsweg des
Evangeliums noch unbekannt gewesen, als er Doktor wurde, für die Datierung aus-
scheiden möchte, so dürfte hierin ein Übermaß an kritischer Haltung zum Ausdruck
kommen. Der Ausspruch ist zwar durch den nicht immer zuverlässigen Rörer
überliefert, aber inhaltlich so eindeutig, daß Verwechslung und Irrtum kaum möglich
erscheint, auch ist die Überlieferung derart, daß diese Stelle anzweifeln den Quellen-
wert Rörers überhaupt in Frage stellen hieße. Auch eine Erinnerungstrübung bei
Luther anzunehmen, wie eine Wendung bei Scheel S. 571 nahelegt, liegt kein hin-
reichender Grund vor. Beide Ereignisse, die Übertragung der biblischen Professur
und das Aufgehen seiner neuen Erkenntnis, waren für Luther von so fundamentaler
Bedeutung, daß er wohl für die ganze Zeit seines Lebens eine deutliche Vorstellung
über Gleich- oder Vorzeitigkeit beider bewahrt haben dürfte. So scheint mir keinerlei
Grund zu bestehen, die Predigtäußerung Luthers für die Datierungsfrage zu ent-
werten.
Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus ad quem. Auch hier ist es durchaus
möglich, zu genaueren Bestimmungen vorzudringen. Daß dies in engstem Zu-
sammenhang mit den Problemen der ersten Psalmenvorlesung steht, hat Scheel
sehr mit Recht ausgesprochen. Aber leider hat er sich hier wieder durch neuere
Erscheinungen von der in der 1. Auflage ausgesprochenen Anschauung, daß die
neue Erkenntnis bereits in den Scholien zu Psalm 1 enthalten ist, abbringen lassen.
Gerade die, übrigens von Scheel selbst zitierte Akademieabhandlung Heinrich Böh-
mers über „Luthers erste Vorlesung‘ zeigt doch mit aller Deutlichkeit, daB nur ein
Teil der Scholien zum ersten Psalm der Umarbeitung für den Druck vom Jahre 1516
angehört, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil aber mit Sicherheit bereits 1513 im
Zusammenhang der Vorbereitungen für die Vorlesung entstanden ist, und es ist
mehr als wahrscheinlich, daß gerade in diesen Partien die neue Erkenntnis mit
aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen ist. Bei der Eigenart der Über-
lieferung wird nur eine eindringende Untersuchung, die auf die Handschrift zurück-
geht. in diesem Punkte weitere Klärung geben können.
Immerhin zeigt das Werk Scheels, daB auch bei der fast hoffnungslos zerrütteten
Quellenüberlieferung für die Geschichte des jungen Luther, was mehr die äußeren Daten
seiner Entwicklung angeht, sehr wohl gesicherte Ergebnisse erzielt werden können.
Auch über die dogmatischen Formen, in denen sich seine innere Entwicklung voll-
zogen hat, ist eine Einigung nicht unmöglich, Scheel selbst dürfte Wesentliches zu
ihr beigetragen haben. Aber ist nun durch ihn die Gestalt des werdenden Reformators
so in ihren Grundzügen festgelegt, daB der wissenschaftliche Streit um ihn ver-
stummen müßte, daß nur Übelwollen und Rechthaberei noch an eigener Linien-
führung festhalten kónnten? Dies zu hoffen steht nur dem frei, der so wenig in das
Wesen geistesgeschichtlicher Forschung eingedrungen ist, daB ihm die grundsätzliche
Bedeutung der weltanschaulichen Faktoren für die wissenschaftliche Erkenntnis
verborgen bleiben konnte. Es würde sogar die weitergehende Frage zu verneinen sein,
ob überhaupt eine allgemein gültige Verstándigung über eine Persónlichkeit wie
Luther im Bereich der Möglichkeit liegt; daß z. B. ein gläubiger Katholik selbst bei
vorurteilsfreier Auswertung der Quellen, an der es die katholische Forschung zu
ihrem eigenen Schaden nur zu sehr hat fehlen lassen, infolge der Voraussetzungen,
Kritiken 405
die sich aus dem Standpunkt der Kirche für ihn ergeben, zu Wertungen kommen
muß, die ein wesentlich anderes Gesamtbild zur Folge haben, ist ohne weiteres
deutlich. Aber es gibt ja auch noch andere weltanschauliche Standpunkte, denen
man es nicht verwehren kann, mit der Frage an die Quellen heranzugehen, was denn,
abgesehen von den dogmatischen Formen, in denen Luthers Seelenleben seinen
Ausdruck gefunden hat, an originären psychischen Erfahrungen hinter allen diesen
Formulierungen gestanden hat, Auffassungen, die sich nicht dabei beruhigen können,
die Formen des christlichen Glaubenslebens mit ihrer Gotteserfahrung für schlechthin
letzte Gegebenheiten anzusehen, sondern denen auch die verschiedenen Konfessionen
mit ihren Differenzierungen nur verschiedene Ausdrucksformen eines hinter ihnen
stehenden psychischen Seins sind und für die die schwersten Probleme jetzt erst
anheben. Hiermit soll jedoch nur angedeutet werden, daß bei aller Vortrefflichkeit
des Scheelschen Lutherbuches dieses keineswegs einen Abschluß der Lutherforschung
zu bedeuten braucht, für alle, die auf dem Boden des Protestantismus stehen, dürfte
es allerdings neben der Grundauffassung auch weitaus die meisten Fragen in ab-
schließendem Sinne einer Lösung zugeführt haben.
Alle, denen an der Gewinnung einer vorurteilsfreien, kritisch gegründeten
Lutheranschauung gelegen ist, werden es begrüßen, daß geringe Zeit zuvor die zweite
Auflage der Dokumente erschienen ist. Scheel verwahrt sich zwar dagegen, sie mit
der Lutherbiographie derart in Verbindung zu bringen, als ob sie die Belege für seine
Lutherauffassung enthielten, eine Anschauung, die sich schon durch den Vergleich
des Erscheinungsjahres der ersten Auflagen beider Werke als irrig erweist. Er wird
es aber nicht verhindern können, daß sich jeder, dem nicht die Weimarer Ausgabe,
geschweige denn die an zerstreuter Stelle abgedruckten Stücke, zugänglich sind,
sich freuen wird, hier eine einzig dastehende Sammlung der wichtigsten Quellen-
stellen zur Entwicklung Luthers zu haben. In der Anordnung der mitgeteilten
Quellenstücke ist eine Zweiteilung vorgenommen in Rückblicke und Zeugnisse.
Erstere sind eine Zusammenstellung aller Rückerinnerungen des Reformators an die
Zeit bis 1519, besonders dankenswert ist hierbei die bequeme Zugänglichmachung
der in der Forschung viel erörterten Praefatio der Gesamtausgabe von 1545 und
eine Wiedergabe der verschiedenen Berichte von anderen über Luthers Entwicklung,
wie von Melanchthon, Cochläus, Oldecop, Ratzeberger, Mathesius u.a.m. Die
zweite Abteilung Zeugnisse enthält eine Sammlung aller für Luthers Entwicklung
charakteristischen Partien seiner Werke und Briefe bis 1519, aus der Frühzeit
besonders dankenswert durch den Wiederabdruck der Randbemerkungen zum Petrus
Lombardus aus W.A.IX, ferner Auszüge aus der ersten und zweiten Psalmen-
vorlesung, den Vorlesungen über den Römer- und Galaterbrief, aus Predigten und
Briefen der Jahre 1501—1519 enthaltend. In beiden Teilen ist die Reihenfolge
unter Verzicht auf systematische Ordnung streng chronologisch nach der Ent-
stehungszeit geordnet, an kritischen Bemerkungen sind in der Regel, um dem eigenen
Urteil des Benützers nicht vorzugreifen, nur die der betreffenden Ausgabe angeführt.
Ein Orts- und Namensverzeichnis, sowie ein Sachregister erhöhen die Benützbarkeit
der Sammlung; hervorzuheben wäre noch das beigegebene Literaturverzeichnis,
das zwar auf irgendeine Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, aber doch in
145 Nummern eine Fülle von Literatur zusammenträgt. Zu bedauern bleibt jedoch,
daß die Vorrede zur ersten Auflage, in der der Herausgeber sich über das Grund-
406 Kritiken
sätzliche von Auswahl und Anordnung ausgesprochen hatte, nicht wieder — wohl
wegen der Gespanntheit der wirtschaftlichen Lage — abgedruckt worden ist.
H. Wendorf.
Fritz Jaffé, Zwischen Deutschland und Frankreich. Zur elsássischen Ent-
wicklung. 1931. Cotta. 4138.
Der Verlust Elsaß-Lothringens, die Haltung seiner Menschen drängt die Frage
nach ihrer seelischen Verfassung und ihrer seelischen Entwicklung auf. Daß das
Volkstum in seinen natürlichen Lebensäußerungen deutsch ist, dem kann sich auch
Frankreich — widerwillig — nicht verschließen. Andererseits aber.ist doch auch auf
Grund der alten Ost-Westspannung zwischen Deutschland und Frankreich im Elsaß
eine Bewußtseinswelt entstanden, die das Elsaß sich auch Neudeutschland gegen-
über hat irgendwie verschließen lassen. Wie hat das so werden können, so frägt
der Historiker, der das elsässische Problem meistern will.
Fr. Jaffé sucht die Antwort auf die Frage zu geben. Das Buch ist glänzend
geschrieben und birgt eine Fülle bestechender Formulierungen. Wie so vielen ist
auch Jaffé das Elsaß zum Erlebnis geworden, das ihn nicht losgelassen hat; es hat
ihn gezwungen, sich Rechenschaft sowohl über das französische wie über das deutsche
Kraftfeld zu geben und dabei sich nicht nur über das politische Geschehen, sondern
auch über die kulturellen Ströme und soziologischen Antriebe Klarheit zu ver-
schaffen, die ins Elsaß hineinwirkten.
Hauptstück im Buche ist der Abschnitt von 1648—1870. Den Rahmen bildet
natürlich der äußere Verlauf der Geschichte. Er wird aber nur soweit herangezogen,
als es für die Darstellung derjenigen Momente nötig ist, „deren Kräftespiel jeweils
Einstellung und Veränderung entsprungen sind". Ziel ist Darstellung und Be-
gründung „der Willensrichtung und der seelischen Haltung" (S. 3). Dabei ergibt
sich als Richtlinie, daß während der altmonarchischen Periode die politischen,
während der Umwälzung die sozialen, von dann erst die seelischen Momente
im Vordergrund zu stehen haben. Und in der Tat: Bis 1789 ist es die politische
Herrschaft des Bourbonentums, die den Boden bereitet, sich einnistet, be-
fiehlt und ordnet und sich mächtig neben das Alte setzt, es aushöhlend und sich
selber eindrucksvoll empfehlend, so daß an die Stelle der Ferne zwischen einander
in den Anfangszeiten langsam die Gewöhnung aneinander tritt. Sodann aber ist
es der Prozeß der soziologischen Umwälzung, der den mittelalterlichen
Gesellschaftskörper des Elsasses gleich dem Innerfrankreichs im Revolutionszeit-
alter ergreift und aus den Ruinen die einheitliche société frangaise erstehen läßt,
deren Oberschicht nunmehr die neue, den Prinzipien der französischen Revolution
ergebene, völlig individualisierte Bourgeoisie ist. Aber noch ist die deutsche Seelen-
haftigkeit des Elsass es da, sich an die Landschaft klammernd, sich in Sprache,
Sitte, Haltung äußernd. Hier bleiben die Grenzen bestehen. Die Entfremdung von
der deutschen Welt war Frankreich, so formuliert Jaffé, ‚in erster Linie dem Willen
gegenüber gelungen, dem politischen Willen n&mlich, der sich mit dem Fremdstaat
abgefunden und seine in der Revolution geborenen Grundsätze sich zu eigen gemacht
hatte. Es war in beschränktem Maße auch schon dem Geiste gegenüber gelungen,
setzt man Geist gleich Bildung, insofern als die Bildung im klassenmáBig hóheren
Sinne westlichem Ideal und franzósischer Doktrin hórig wurden. Aber die in den
Tiefen des Volkstums wurzelnde Seele blieb deutsch, beirrt wohl, gedrückt und ge-
Kritiken 407
blendet ... Den Franzosen war der Sieg über das Bewußte gelungen, das neue
Richtung erhielt, das Unbewußte, Unterbewußte, das durch inneres, stilles Gesetz
unabänderlich Bestimmte widerstand ihrer Macht“ (S. 240). Wie sich „, bedrückt“,
„beirrt“, „geblendet‘‘ die deutsche Seele im 19. Jahrhundert behauptet, das wird
in dem eindrucksvollen Abschnitt geschildert, der „Kulturelle Ergebnisse''
überschrieben, die Seiten 243—318 einnimmt. Frankreich umklammert so in diesem
Zeitraum die elsässische Seele immer mehr; das Ergebnis aber, zu dem Jaffé kommt,
ist, daß der Zugriff des modernen Nationalstaates natürliche Anlagen erstickt hat,
ohne aber Neues wecken zu können (S. 246). Und dennoch die Hingabe an Frank-
reich, auf die wir schon 1815, vor allem aber dann 1870 stießen! Die Antwort, die
Jaffé gibt, liegt verführerisch nahe: „Das Franzosentum war wie es war, es war als
Macht einfach anwesend, ohne sich darüber hinaus sonderlich Mühe zu geben,
Herzen zu gewinnen oder psychologische Schwierigkeiten zu beheben: die Tatsache
der Anwesenheit genügte, die Stimmung zu schaffen, auf die wir nach dem Frank-
furter Frieden stießen ..... Wir müssen zugeben, daß es den Franzosen gelungen
war, in einem auf gewaltsame Weise genommenen deutschen Lande durch ihr Wesen
sich Affektionswerte zu schaffen ..... Fremde Herren schmeicheln sich dem Herzen
einer deutschen Landschaft ein, Herren mit weichen Samtpfötchen, die aber immer
bereit sind, wenn es nottut — jedoch eben nur dann, recht tüchtige Krallen zu weisen.
Es ist etwas GroBes um diesen instinkthaften und zugleich durchdachten, diesen
konsequenten und zugleich lautlosen Penetrationswillen, und schlieBlich wirken
hier alle guten Eigenschaften der so widerspruchsvollen und zugleich so einheitlich
klaren Nation zusammen" (S. 315). — Aber Jafíé scheint mir da des Guten zu viel
zu tun. Das Elsässertum hat trotz allem bis zum Schlusse in das Wort „Welsch“
recht wenig Hochachtung hineingelegt. GewiB, Frankreich hat in jenen Zeitläuften
eine große Anziehungskraft besessen, aber die Hinwendung zu ihm, dem zivili-
satorisch und machtpolitisch führenden, ist doch in hohem Maße auch eine An-
gelegenheit des Interesses der betreffenden Persönlichkeiten und Schichten. Ganz
kraß gesagt: Frankreich hatte auf die Dauer einfach mehr zu bieten. Wie hätte
man sich zu dem politisch, national, ökonomisch, sozial unförmigen Deutschland
zurückwünschen sollen ? Man darf den Vorgang nicht zu mystisch erscheinen lassen.
Tatsache ist, daß das Elsaß 1870 willens- und gefühlsmäßig Frankreich zu-
gewandt war. Den Prozeß, der dahin führte, psychologisch zu fassen, ist eine bedeut-
same Aufgabe. Psychologische Deutung ist aber immer ein gefährliches Unterfangen.
Wie leicht drängt sich subjektives Räsonnieren ein, wie leicht entschlägt sich die
subjektive Schau des Beweises. Und das Elsaß schillert in vielen Farben! Immer
ist vieles zugleich im Elsaß. Kein Wunder, daß auch Jaffes Buch in vielen Farben
schillert, ja gelegentlich sogar recht widerspruchsvoll erscheint. Da hätte doch viel-
leicht manches auf einen einheitlicheren Nenner gebracht werden können. Warum
hat der Verfasser übrigens für den Zeitraum vor der französischen Revolution
nicht neben Reuß, Spahn und Stählin auch Rudolf Wackernagels, des Baslers, aus-
gezeichnete Geschichte des Elsasses herangezogen? Aber wie alledem auch sein
mag, aufs ganze gesehen, besteht Jaffés Buch; es zeugt von einem Einfühlungs-
vermögen seltener Art. Vielleicht mußte das Leid des Verlustes kommen, ehe dies
so möglich ward. —
Der neudeutschen Zeit ist nur ein kurzer Abschnitt gewidmet. Der Ver-
fasser erklärt selbst, daß die Zeit zu abschließendem Urteil noch nicht reif sei; er
408 Kritiken
wolle nur einige Gedanken ohne Anspruch auf absolute Gültigkeit aussprechen.
Auch dies ist ein gefährliches Unterfangen. Allzuleicht wird unter dem Eindruck
des äußeren MiBerfolges geurteilt. Allzuleicht spricht man vom Versagen des Reichs.
Allzuleicht spricht man ein Schuldig aus und läuft dabei Gefahr, die stille Arbeit
und die große Leistung, die drauf und dran waren, ihren Lohn zu finden, gering ein-
zuschätzen. Und auch Jaffe kritisiert scharf, aber es ist immerhin ein Versuch zu
positiver Kritik, hervorgewachsen aus einem grundsätzlichen Wandel der volks-
politischen Einstellung. Wie so viele aus der Kriegsgeneration ist Jaffé Großdeutscher,
Volksdeutscher geworden. „Dem Elsaß gegenüber fehlte im neuen Reich die weiche
und doch Gehorsam heischende Stimme des alten Österreich, die Musikalität seiner
Landschaft, die sanft einordnende Routine seiner vornehmen Diplomatie und Be-
amtenschaft." Und in der Tat: Das neue Deutschtum war politisch und gesell-
schaftlich nach anderen Prinzipien geformt wie das alte, zu dem einst auch das Elsaß
gehórt hatte, aber auch wie das ElsaB der nachrevolutionüren Zeit. ,,Vielleicht
liegt im Mißglücken der großdeutschen Bewegung, in der Entwicklung, die nach
Königgrätz führte, die neue deutsche Tragik vorbeschlossen“ (S. 322). Jaffe zeigt
das Unzulängliche der staatsrechtlichen Lösung vom Jahre 1871, wobei wie im
ganzen Buch das deutsche Sprachgebiet Lothringens (die Lorraine allemande) zu
stiefmütterlich behandelt wird, er zeigt den Weg zur Verwirklichung des Autonomie-
gedankens auf, den das Elsaß gegangen ist, und die Hemmungen, die reibungsloser
Entwicklung sowohl von seiten des Reichs und der preuBisch-deutschen Gesell-
schaft als von seiten der Einheimischen entgegentraten. Zwar sei das ElsaB auf dem
besten Wege gewesen, in die deutsche Familie hineinzuwachsen (S. 348), aber ,,man
hat im innersten Sinne nicht verstanden, wo man sich befand" (S. 345). Die These
mag im ganzen richtig sein. Aber es besteht auch bei Jaffe die Gefahr, daB unzu-
lässige Werturteile ausgelöst werden. Es hat keinen Sinn, das PreuBentum zum
Prügelknaben zu machen. Der Preuße war nicht unbeliebter wie die andern ,,Schwoo-
we" auch. Daß das preuBisch-deutsche System vom Staat und Gesellschaft auf
andern Voraussetzungen beruhte, als sie elsässischem Empfinden entsprachen,
das war nun einmal so. Das mußte zu Reibungen führen. Das war nicht zu ändern.
Dazu hütte es der Entstehung einer neuen, gemeinsamen Erlebnisgrundlage be-
durft. Es war letzten Endes nicht Schuld, es war Schicksal, was im ElsaB geschah.
Zum Schlusse wird der Leser im Fluge durch die 12 Jahre der neufranzósischen
Zeit geführt. Auch dies eine nur summarische Betrachtung, die nur die Grundlinien
heraustreten lassen will. „Vor dem Kriege ein Deutscher mit Vorbehalten, wurde
der Elsässer ein Franzose mit Reservaten." Aber es ist heute nicht einfach um-
gekehrt wie nach 1870. „Jetzt werden gegen eine ganz andere Bedrohung ganz
andere Werte verteidigt als damals. Ging es zur deutschen Zeit um einen poli-
tischen Dissens (mit fremdnationalem Einschlag), so geht es heute um einen völ-
kischen (mit politischem Einschlag), ging es einst um langsam sich glättende
Unebenheiten, geht es heute um die Tiefe der Seele“ (S. 387). Im ganzen eine knappe
Darstellung der Voraussetzungen und der Geschichte des Autonomismus unserer Tage,
die an die heutige Problemlage heranführt, ohne den Gegenstand erschöpfen zu
wollen. Wertvoll ist die Erörterung des , Regionalismus und Föderalismus im
heutigen Frankreich", entsprechend dem sehr lehrreichen früheren Abschnitt
über Wesen, Entwicklung und Recht der ständischen Provinzen Frankreichs im
18. Jahrhundert.
Kritiken 409
Das Buch stellt als seelischer Einbruch in das elsässische Zwielicht von reichs-
deutscher Seite eine Leistung nicht geringen Grades dar. Von seinem reichen Inhalt
auf kurzem Raume ein Bild zu geben, ist unmöglich; es birgt eine Fülle wertvollen
Wissens und wertvoller Gesichtspunkte; es ist ein Buch eines innerlich ergriffenen
politischen Menschen von bedeutender Gestaltungskraft, der auf Grund der vor-
handenen Literatur und seiner Erfahrung zur Darstellung eines Gesamtbildes
des Wandels in der Psyche des Elsässertums zu kommen sucht. Mag historische
Analyse auch einzelnes zurechtrücken können, so plastisch und, was die große
Linie angeht, so wahr ist die Geschichte dieses Wandels bisher noch nicht ge-
staltet worden.
Gießen. F. König.
Kurt Borrie, Preußen im Krimkrieg (1853—1856). Stuttgart, W. Kohl-
hammer. 1930. X, 420 S., 12 Bildtafeln.
Zur Geschichte der preußischen Politik während des Krimkrieges sind bereits
eine ganze Reihe wertvoller Teiluntersuchungen geliefert worden. Das Buch des
Tübinger Historikers faßt dies Thema zum ersten Mal in einer vollständigen Mono-
graphie zusammen, die man wohl als abschließend bezeichnen darf. Der Verfasser
hat ein reichhaltiges Aktenmaterial, namentlich aus den Berliner Archiven, ver-
verwerten können. Mit gründlicher und sorgfältiger Forschung verbindet er eine
lebendige und kräftige Darstellung, die ohne Schaden für die Unparteilichkeit
doch auf kühle Zurückhaltung verzichtet.
In vielen Punkten hat Borries nur die bisherigen Forschungsergebnisse zu
bestätigen und zu unterstreichen. Namentlich das ausgezeichnete Werk A. O.
Meyers „Bismarcks Kampf mit Österreich 1851—59“ (1927) kommt auch hier
zu seinem Recht. So tritt der starke Einfluß, den Bismarck von Frankfurt aus
auf die preußische Außenpolitik übte, in Borries' Buch gleichfalls deutlich hervor,
und ebenso wird das ungünstige Urteil A. O. Meyers über die österreichische Politik
wieder aufgenommen, die unter der Leitung Graf Buols, im Gegensatz zur Metter-
nichschen Tradition, Preußen die Gleichberechtigung unter den Großmächten wie
ım Deutschen Bunde verweigerte und doch seine Gefolgschaft erwartete — freilich
besaß Buol mehr den kalten Egoismus als die auch in den letzten Entschlüssen
rücksichtslose Kraft seines Meisters Schwarzenberg.
Den dramatischen Höhepunkt der preußischen Parteigegensätze während des
Krimkrieges bedeutet der Sturz des Grafen Pourtalés, des Londoner Botschafters
Bunsen und des Kriegsministers Bonin im Frühjahr 1854 — als die Partei Beth-
mann-Hollweg, bereits im Begriff, die AuBenpolitik in ihre Bahnen zu lenken, mit
einem Schlage das ganze gewonnene Terrain verliert, als der Kónig selbst einen
offenen ZusammenstoB mit dem Prinzen Wilhelm erlebt. In der Streitfrage der
Entlassung Bunsens widerlegt Borries mit überzeugender Kritik den Versuch der
Schrift Reinhold Müllers „Die Partei Bethmann-Hollweg und die orientalische
Krise 1853—1856‘ (1926), Bunsen vom Vorwurf der eigenmächtigen Überschrei-
tung seiner Instruktionen zu reinigen; er stellt als endgültige Lösung dieser Frage
fest: „Bunsen fiel durch eigene Schuld, seine Entlassung war eine im Interesse
des Staats dringend erforderliche MaBregel."
Auch da, wo das Buch nur Bekanntes wiederholt, bleibt es wertvoll durch
klare Zusammenfassung, durch die plastische Herausstellung der handelnden
410 Kritiken
Persönlichkeiten und durch die Einordnung des Themas in die größeren Zusammen-
hänge. In eindrucksvoller Weise hebt es die damals noch gegensätzliche politische
Haltung Bismarcks und des späteren Königs Wilhelm hervor, richtet es sich am
Schluß auf die zukünftige Reichsgründung aus, zu deren wesentlichen Voraus-
setzungen, wenn auch nur durch negative Entscheidung, die preußische Politik
während des Krimkrieges gehört.
Wenn aber Borries zu Beginn seiner Darstellung das Urteil fällt, Friedrich
Wilhelm IV. habe „die schwerste außenpolitische Krise seiner Regierung“, nämlich
die Gefahren des Krimkrieges, „erfolgreich bestanden‘, wenn er sogar einen Aus-
spruch Treitschkes aufgreift, „die Haltung Preußens während des orientalischen
Krieges sei das Beste gewesen, was dem König Friedrich Wilhelm IV. in der aus-
wärtigen Politik gelungen sei" — so möchte ich dieser Formulierung doch wider-
sprechen. Zweifellos hat die Neutralität Preußens das so wertvolle Ergebnis der rus-
sischen Freundschaft gehabt, allerdings auch nur im Kontrast zu der undankbaren
und feindseligen Haltung Österreichs: das Beste an der preußischen Politik waren
die Fehler Buols! Aber so sehr die Neutralität im Krimkrieg sich durch die Folge-
zeit gerechtfertigt hat, so wenig kann sie dem König als politisches Verdienst an-
gerechnet werden. Eine Neutralitätspolitik, wie sie Bismarck damals in Frankfurt
plante und erstrebte, wäre eine staatsmännische Leistung gewesen — wie sie Frie-
drich Wilhelm IV. trieb, war sie Schwäche und stammte sie aus Schwäche. Er
war als Herrscher unmöglich, zumal für den Militärstaat Preußen, diese am meisten
gefährdete und auf die Zukunft angewiesene Großmacht: das beweist gerade das
Buch Borries’ selbst am eindringlichsten. Das harte Wort Bismarcks, diesem König
könne man „nur mit Hilfe der Religion" gehorchen, ist keineswegs zu hart. Gewiß
war Friedrich Wilhelm IV. eine menschlich sympathische und liebenswürdige Per-
sönlichkeit, aber der politische Historiker hat im politischen Bereich letzten Endes
„ohne Ansehen der Person‘ zu urteilen. Gewiß war der König geistvoll und hoch-
gebildet: die Bedeutung, die er als Mittelpunkt des christlich-germanischen Kreises
der Gerlachs sich in der Ideenwelt der politischen Romantik gesichert hat, ist ja
genugsam bekannt; es wäre dies jedoch nicht der einzige Fall, der vom Standpunkt
der rein politischen Geschichte aus eine ganz andere Einschätzung zu erfahren
hätte als in der rein ideengeschichtlichen Betrachtung. Bei den größten Entschei-
dungen seiner Regierung, im März 1848 und bei der Unionspolitik von 1849/50,
hat Friedrich Wilhelm IV. ganz persönlich versagt, und sein Gottesgnadentum
wirkt in der Praxis lediglich als Anmaßung. Die Tatsache, daß die Neutralität im
Krimkrieg die Interessen Preußens am besten gewahrt hat, bleibt — aber ich ver-
mag in dieser Neutralität kein Verdienst zu sehen, weil sie im Grunde nur das
negative Ergebnis der lähmenden Anarchie in den preußischen Hof- und Regierungs-
kreisen gewesen ist. Heinrich Heffter.
Arno Dorn, Robert Heinrich Graf von der Goltz. Ein hervorragender Diplo-
mat im Zeitalter Bismarcks. Ausgewählte Hallische Forschungen zur mittleren
und neuen Geschichte, Heft 3. Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1929. VII, 278 S.
Diese Schrift kommt einem Wunsch entgegen, den genau zur gleichen Zeit
Schüßler in seinem Buch „Bismarcks Kampf um Süddeutschland 1867“ ausge-
sprochen hat: dem Wunsch nach einer „Würdigung der politischen und mensch-
lichen Persönlichkeit des Grafen Goltz und seines Verhältnisses zu Bismarcks
Kritiken 411
Politik“. Der Verfasser hat den überaus reichen Nachlaß Goltz’ verwerten können;
er hat daraufhin seine Untersuchung, die ursprünglich nur den Beziehungen des
Grafen zu Bismarck gelten sollte, zum Versuch einer Biographie erweitert. Dieser
Versuch ist allerdings nicht als befriedigend zu bezeichnen. Es fehlt an der inneren
Verarbeitung des Stoffs, an darstellerischer Fähigkeit. Immer wieder, namentlich
im Anfang, fallen Urteile auf, die das echte historische Verständnis vermissen lassen.
Es geht doch wirklich nicht an, den interessanten Plan eines kleindeutschen
Bundesstaats, den Goltz in dem wirren Jahr 1848 entworfen hat, mit einer Kritik zu
begleiten, die einfach die Entwicklungsspanne zwischen 1848 und dem heutigen
Standpunkt zu ignorieren scheint. Eine solche Kritik ist vor allem in einer wissen-
schaftlichen Spezialuntersuchung ganz überflüssig; denn die Ideen des jungen Goltz
sind wichtig für uns wohl wegen ihrer Richtung, aber viel weniger wegen ihrer Richtig-
keit. Und was soll am Schluß der seitenlange Bericht über Art und Verlauf von Goltz’
Todeskrankheit, der sich in einer medizinischen Zeitschrift weit besser ausnehmen
würde? Wenn trotz der ungeschickten Darstellung die Persönlichkeit des Grafen Goltz
: dem Leser anschaulich und lebendig wird, so liegt das an der Reichhaltigkeit des
Materials, von der die im Anhang abgedruckten Stücke einen deutlichen Begriff geben.
Bismarck selbst hat noch in den ,,Gedanken und Erinnerungen" den Grafen
Goltz neben Harry Arnim als den befähigsten unter seinen diplomatischen Mit-
arbeitern anerkannt, hat ihm sogar mehr Patriotismus und Charakter zugebilligt
als Arnim. Die groBe Leidenschaft dieses ganz und gar politischen Menschen war
der persónliche Ehrgeiz, der ihn ebenso 1861 zum Anschluf an die Opposition
der Partei Bethmann-Hollweg veranlaßte wie 1854 zur Rückkehr in den Staats-
dienst, als die Oppositionsstellung aussichtslos wurde. Nach einer lángeren Warte-
zeit auf dem Gesandtenposten in Athen und Konstantinopel rückte 1862 die Er-
füllung seines höchsten Zieles, die Ministerpräsidentschaft, in nächste Nähe. Und
gerade jetzt wurde sie ihm durch Bismarck endgültig versperrt. Der Zweite zu
bleiben, wurde sein Schicksal. So folgte er Bismarck als Botschafter erst in Peters-
burg, bald darauf in Paris, dem nunmehr wichtigsten Posten der preußischen Diplo-
matie. Hier brach sofort der Machtkampf mit Bismarck aus. Anfangs wollte Goltz
wohl noch auf dessen Nachfolge warten; wenn der Rivale sich im Verfassungs-
konflikt die Finger verbrannt hätte, dann meinte Goltz aus seiner Reservestellung
in Paris als Retter berufen zu werden. Aber die Reservestellung wurde zur Dauer-
stellung. Hinzu kam, daß Goltz die Bismarcksche Politik von Anfang an verwarf.
Er hatte zwar auch 1848 als einer der konservativen Vorkämpfer gegen die März-
revolution begonnen, hatte sich jedoch bald zum Anhänger der Unionspolitik Rado-
witz’ und zum Mitstreiter der Wochenblattsopposition entwickelt; so hielt er jetzt
die schroffe Durchkämpfung des Verfassungskonflikts gegen den Liberalismus für
unvereinbar mit einer erfolgreichen Außenpolitik. Auch wollte er andere außen-
politische Wege gehen als Bismarck, wünschte z. B. in der schleswig-holsteinischen
Frage Preußen an der Spitze der nationalen Bewegung Deutschlands zu sehen,
selbst unter Verzicht auf die Annexion der Herzogtümer. Seine kampflustige
Natur trieb ihn zur offenen Auflehnung gegen Bismarck, die sich in seinen
Immediatberichten an König Wilhelm am gefährlichsten äußerte. Bismarck nahm
den Kampf gegen den Anwärter auf seine Nachfolge mit aller Schärfe auf, deren er
‚gerade in solchen persönlich zugespitzten Gegensätzen fähig war; die Abberufung
Goltz’ vermochte er freilich beim König nicht zu erreichen. Wenn Goltz wiederholt
412 Kritiken
über seine Weisungen eigenmächtig hinausging, so unterließ es Bismarck absichtlich,
den Botschafter über wichtigste Vorgänge der auswärtigen Politik zu unterrichten,
über seine letzten Ziele aufzuklären. Jedenfalls wurde das Verhältnis der beiden
immer gespannter. Wie es geendet hätte, wenn nicht Goltz’ tödliche Erkrankung
ihn schon 1868 ausgeschaltet hätte? Der Fall Harry Arnim ist eine naheliegende
Parallele. Versucht man ein abschließendes Urteil, so muß Goltz doch gegenüber
Bismarck schlecht abschneiden. Die maßlose Gehässigkeit seiner Kritik an dem
überlegenen Rivalen wirkt äußerst unerquicklich. Goltz überschätzte die eigenen
diplomatischen Erfolge bei weitem und zeigte sich außerstande, Bismarcks Genie
anzuerkennen, ja überhaupt zu erkennen. Wohl erstrebte auch er eine lediglich vom
egoistischen Staatsinteresse bestimmte preußische Großmachtpolitik, aber ihm
fehlte doch der Wagemut und die große politische Linie Bismarcks, und mit Recht
sagen ihm die „Gedanken und Erinnerungen” auch einen Mangel an Diszipliniert-
heit und Nüchternheit nach. In dem wohl wichtigsten Augenblick seiner Pariser
Mission, angesichts der Friedensvermittlung Napoleons III. nach Königgrätz, hat
er im Grunde versagt und durch seine Eigenmächtigkeit schwerwiegende Fehler
begangen; der krampfhafte Ton, mit dem er sich dennoch das alleinige Verdienst
des siegreichen Friedens zuschreiben möchte, ist Verblendung. Es ist übrigens fest-
zustellen, daß der Verfasser hier die Persönlichkeit des Grafen in den wesentlichen
Zügen richtig sieht und zutreffend einschätzt.
Vom Biographischen abgesehen, bringt die Schrift Dorns keine neuen Erkennt-
nisse. In der Geschichte der Partei Bethmann-Hollweg geht sie doch im wesent-
lichen über die Monographien von Walter Schmidt (1910) und Reinhold Müller (1926)
nicht hinaus, noch weniger in der Darstellung der Pariser Botschafterjahre über
Brandenburgs „ Reichsgründung“ und Onckens „Rheinpolitik Napoleons III.“.
Für die letztere Periode sind dem Verfasser ja auch nur die Briefe, nicht die Akten
des Goltzschen Nachlasses freigegeben worden; er behält sich hier eine spätere
Monographie vor. Die Einwände, die er zu der Frage, ob Goltz’ Berichte aus Paris
zum Abschluß des Vertrags von Gastein wesentlich beigetragen haben (S. 197/198),
und zu der weiteren Frage, wie Goltz im Juli 1866 dem französischen Kaiser die
Abtretung Landaus in Aussicht stellen konnte (S. 209/210), gegen Brandenburgs
Auffassung vorbringt, vermögen nicht recht zu überzeugen.
Eine kleine Berichtigung: der auf S.97 erwähnte Stolberg ist nicht, wie im
Namensregister angegeben wird, Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode, der spätere
Vizekanzler Bismarcks, sondern Graf Anton, der Hausminister Friedrich Wilhelms IV.
Heinrich Heffter.
Walter Elze, Tannenberg. Das deutsche Heer von 1914, seine Grundzüge und
deren Auswirkung im Sieg an der Ostfront. Breslau 1928. Verlag von Fer-
dinand Hirt. 370 S. mit 15 Karten. 12 ZA.
Im 25. Jahrgang der Historischen Vierteljahrschrift, S. 690 und 691 habe ich
die Schrift von Walter Elze über den Grafen Schlieffen besprochen. Im selben
Jahre und im gleichen Verlag wie diese kleine Schrift erschien das große Werk des-
selben Verfassers: Tannenberg. Wie schon der Untertitel sagt, beschränkt es sich
nicht auf die Entscheidungsschlacht bei Tannenberg, sondern gibt in einer aus-
führlichen Einleitung einen Überblick über den Zustand des deutschen Heeres von
1914, bringt aber auch Mitteilungen über das russische Heer und das französisch-
russische Bündnis.
Kritiken 413
Natürlich muß der Leser des Buches bald Stellung nehmen zu dem Schlieffen-
schen Plan. Ich wiederhole, was ich in dem oben erwähnten Referat S. 690 und 691
gesagt habe: Der Schlieffensche Plan gab den Osten preis und erfüllte nicht die
berechtigten Wünsche der Österreicher. Wenn sie mit uns ein Bündnis geschlossen,
so taten sie es, um einen Kampfgenossen gegen die Russen zu finden, nicht aber,
um außer ihren Grenzen auch noch die unsrigen decken zu müssen. Mit der Redens-
art, daß Österreichs Schicksal sich nicht am Bug, sondern an der Seine entscheiden
würde, konnte man die Bundesgenossen nicht vertrösten, noch weniger mit der
Behauptung, die Russen würden nicht in Galizien einmarschieren, ehe nicht die
Würfel im Westen gefallen seien. (Elze, S. 34.) Eine bittere Enttäuschung war es
für Conrad von Hötzendorf, daß Moltke ihm im Mai 1914 sagte, es würde nach
Kriegsbeginn etwa sechs Wochen dauern, ehe die Deutschen den Österreichern
wirksame Hilfe leisten könnten.
War der preußische Generalstab entschlossen, im Osten nur eine geringe Heeres-
macht zurückzulassen, so war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß ein Mann an
die Spitze dieser Armee gestellt würde, der seiner schweren Aufgabe gewachsen
war. Das ist leider nicht geschehen.
General-Inspekteur der I. Armee-Inspektion war der Generaloberst von Pritt-
witz. Ihm war der Schutz der Ostgrenze im Kriegsfall anvertraut. Moltke kam
schon Anfang 1914 zu der Ansicht, daB Prittwitz nicht die geeignete Persönlichkeit
war. (Elze S.93.) Er schlug vor, ihn durch einen anderen Feldherrn zu ersetzen.
Aber das Militärkabinett und der damalige Kriegsminister von Falkenhayn unter-
stützten ihn nicht. Die Gründe, die Falkenhayn angab, sind nicht nur für Prittwitz,
sondern auch für den Kaiser beleidigend. Wenn er meinte, daß dann jener diesen
ungünstig beeinflussen könnte, so gab es doch wohl Mittel und Wege, das zu ver-
hindern. Ein ungeeigneter Oberbefehlshaber im Osten war doch eine größere Gefahr,
als ein Ohrenbläser im Hofgefolge. Moltke sorgte nun dafür, daB einer seiner tüch-
tigsten Mitarbeiter, der General Graf Waldersee, Chef des Generalstabes der 8. Armee
wurde. Er hofíte, daB dieser einen guten EinfluB ausüben würde. Die Kriegs-
geschichte kennt Beispiele, daB ein solcher Ausweg zum Ziel geführt hat, sie lehrt
aber andererseits, daß der beste Generalstabschef nichts erreichen kann, wenn der
Oberbefehlshaber sich nicht raten läßt und der Generalstabschef nicht versteht,
sich durchzusetzen.
So kam es, daB Waldersee keinen Erfolg hatte und in den Sturz des General-
obertsen mit hineingerissen wurde.
Wie der Zusammenbruch in Ostpreußen kam, wird uns von Elze eingehend
geschildert. Die Korpskommandeure, die offenbar das Gefühl hatten, klarer die
Sachlage zu erfassen, als ihr Oberbefehlshaber, handelten auf eigene Faust, manchmal
sogar gegen die Befehle, die ihnen erteilt worden waren. So entglitten dem Feld-
herrn die Zügel, er verlor den Überblick und verstand es nicht einmal, die Erfolge
auszunutzen, die General Francois durch eigenmächtiges Vorgehen errungen hatte.
Schließlich faBte er den unglücklichen Entschluß, bis hinter die Weichsel zurück-
zugehen.
Da griff Moltke ein. Elze weist überzeugend nach, daB dieser es war, der es
durchsetzte, daß Hindenburg an die Spitze der 8. Armee gestellt und Ludendorff
ihm als Generalstabschef beigegeben wurde. Wenn das einen Monat früher ge-
schehen wäre, wie viel Elend würde dann Ostpreußen erspart geblieben sein!
414 Kritiken
Mit Geschick hat Elze dargestellt, in welchem Zustande Hindenburg die Armee
vorfand, wie auch er anfangs unter der Unbotmäßigkeit einiger Untergebenen zu
leiden hatte, aber mit Energie durchgriff. Selbst in den schlimmsten Lagen verlor
Hindenburg nicht die klare Umsicht und Ruhe, zielbewußt führte er seinen Plan
durch und erfocht schließlich einen der schönsten Siege des Weltkrieges.
Bekanntlich haben sich später verschiedene Generäle und Generalstabs-
offiziere gerühmt, daß ihnen ein Hauptteil des Erfolges gebühre. Elze weist mit Recht
nach, wie unbegründet derartige Anmaßung ist. Es ist und bleibt Hindenburg,
der in den vielen kritischen Stunden unbeirrt durch ängstliche Meldungen seinen
Siegeswillen durchsetzte und sich nicht mit einem Teilerfolg begnügte, sondern
einen ausschlaggebenden Erfolg errang. Elze weist S.151 mit Recht darauf hin,
daß selbst der vorzüglichste Stand der Ausbildung und die fachliche Befähigung von
Heer und Führer nicht genügen, um den Sieg zu erringen, sondern daß die mensch-
lichen Beharrungskräfte und der sichere Sinn für das augenblicklich Richtige als
unerläßliche Eigenschaften des Oberbefehlshabers hinzukommen müssen, das haben
die Tage von Tannenberg bewiesen.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
Nachrichten und Notizen.
Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte. Festschrift für
Otto Dobenecker zum siebzigsten Geburtstage am 2. April 1929, mit 1 Bildnis
und 6 Tafeln, Jena 1929. Gustav Fischer.
Eine stattliche Anzahl von Gelehrten, Freunden und Schülern hat sich zusammen-
gefunden, um Otto Dobenecker für seine unermüdlichen, erfolgreichen Arbeiten auf
dem Gebiete der thüringischen Geschichte zu seinem 70. Geburtstage durch eine
gediegene Festschrift Dank und Anerkennung auszusprechen. Von der Urzeit bis
in die neueste Zeit hinein sind meist aus dem Forschungsgebiet des Jubilars wertvolle
Veröffentlichungen, Untersuchungen und Schilderungen beigesteuert worden. Bei
der außerordentlichen Reichhaltigkeit der Festschrift ist es ausgeschlossen, auf die
einzelnen Arbeiten näher einzugehen.
Gustav Eichhorn (S. 1—16) spricht über die prähistorischen Forschungen
Klopfleischs auf der Plattform und am Fuße des Jenzig, und Martin Wähler (S. 17
bis 36) untersucht die einstigen slawischen Nebensiedlungen in Thüringen, die heute
durch die Vorsetzung von Windisch-, Wünschen-, Wenigen- und Klein- kenntlich
sind. Ein Verzeichnis führt insgesamt 60 Dörfer auf, von denen 84 mit Klein- und
18 mit Wenigen- beginnen. Über die Grenzen Thüringens hinaus geht eine Studie
von Alexander Cartellieri (S. 87—62), der Leben und Werk Ottos II. würdigt,
dessen kriegerische Natur er hervorhebt, ihm aber große Feldherrngaben ab-
spricht. Ernst Devrient (S. 63—78) stellt in seiner Untersuchung fest, daB nicht
Erzbischof Willigis von Mainz das Kloster Jechaburg bei Sondershausen gegründet
oder eingeweiht hat, sondern erst Adalbert I. (1111—1137). — Armin Tille (S. 79
bis 90) schildert die Anfänge der Stadt Weimar, die erst 1410 ihr Stadtrecht von
Weißensee bekommt. — Woldemar Lippert (S. 931—110) druckt und untersucht das
älteste Urkundenverzeichnis des Thüringisch-Meißnischen Archivs, das 1880 auf-
gestellt sein muß und gibt dazu einen geschichtlichen Überblick der Zeitverbältuisse.
Nachrichten and Notizen 415
— Wilhelm FüBlein (S. 111—138) steuert eine Monographie der Thüringer Grafen-
fehde von 1342—1346 bei unter Verwendung von einigem neuen Urkundenmaterial. —
Die Arbeit von Bernhard Willkomm (S. 139—162), der auf Grund eines Ausgaben-
verzeichnisses vom 3. 5. 1382—10. 10. 1383 das Jenaer Klosterleben am Ende des
14. Jahrhunderts schildert, gibt einen Beitrag zur Geschichte der Dominikaner in
Deutschland. Das Verzeichnis selber hat Devrient schon teilweise im Jenaer Ur-
kundenbuch abgedruckt. — Fritz Körner (S. 163—176) behandelt die Flurgröße
der Wüstungen in den Amtsgerichtsbezirken Apolda, Buttstädt, Großrudestedt,
Vieselbach und Weimar. — Friedrich Schneider (S. 177—182) druckt eine Bulle
von Papst NicolausV. für Heinrich den Älteren Reuf von Plauen ab (1453), in der dieser
dem Vogt die Erlaubnis gibt, einen eigenen Beichtvater zu halten. — Carl Georg
Brandis (S. 178—182) beschreibt den Inhalt eines Bücherverzeichnisses aus Milden-
furth, das vor 1478 in eins der geschenkten Bücher eingetragen ist. — Paul Weber
(S. 205—224) bringt Allgemeines über die spätgothischen Altäre Thüringens und
wendet sich dann der Jenaer Werkstatt Johann Lindes (um 1500) zu. Als mut-
maßlichen Nachfolger Lindes möchte er den Meister Hermann aus Jena ansprechen. —
Von dem „Verfügungsrecht über die Stadtpfarrstellen im ernestinischen Thüringen
und die Reformation“ spricht Rudolf Herrmann (S. 225—242). Er stellt fest, daß
von einer Besetzung durch den Bischof nicht gesprochen werden kann, wohl aber
durch geistliche Korporationen. — Neue Beitrüge zur Kenntnis der Wohnung
Luthers und einiger zeitgenóssischen Humanisten in Erfurt liefert Johann Biereye
(S. 243—266). Herbert Koch (S. 267—276) wertet das Verzeichnis der Jenaer
Türkensteuer von 1542 für die Jenaer städtischen Verhältnisse aus. — Berthold
Schmidt (1) (S. 277—294) spricht über die Gefangennahme Heinrich Reuß des
Alteren von Plauen durch Valten Müller genannt Franck in der Schlacht bei Sievers-
bausen und die Streitigkeiten, die sich daran anschlossen. — Georg Arndt (S. 295
bix 326) würdigt die Tätigkeit von Christian Fischer (1520—1598) als Generalsuper-
intendent und Reformator der Grafschaft Henneberg, als Visitator und Organisator
und beschließt seine Arbeit mit einem Verzeichnis der Schriften F.’s während seiner
Thüringer Tätigkeit und dem Wiederabdruck einer Stammtafel. — Wie eingehend
schon im 16. Jahrhundert in einzelnen Fällen die Echtheit der Urkunden untersucht
wurde, schildert uns Wilhelm Engel (S. 327—342) in einem Streit zwischen der
Abtei Hersfeld und dem Kurfürstentum Sachsen, in dem die Echtheit einer Pfand-
verschreibung von 1407 über Gericht und SchloB Creyenburg bewiesen werden
sollte, — Walter Schmidt-Ewald (S. 343—360) druckt die zwei Fassungen des
Bücherverzeichnisses des thüringischen Gelehrten Marcus Wagner aus Friemar, der
1567 bei der Gothaer Belagerung seine Bücher eingebüßt hatte, mit Bemerkungen
ab. Es sind 119 bzw. 66 Nummern. — Georg Götz (S. 361—370) behandelt den
Streit von Justus Lipsius um das Dekanat in Jena (1773) und seinen Sieg über die
Professoren und Max V ollert (S. 490—504) die gerade hundert Jahre später erfolgte
Berufung Rudolf Euckens nach Jena (1873). — Über die neuen Funde der Landes-
vermessungen Mathias Oedeıs (f 1614) in Thüringen und im Osterland aus den
Hauptstaatsarchiv Dre.den berichtet Hans Beschorner (S. 871—984). — Theodor
Lockemann (S. 885—408) schildert die Anstrengungen und den Kampf des Ma-
gisters und Adjunkten der philosophischen Fakultät in Jena Joh. Ch. Mylius um He-
bung und Sicherung seiner wirtschaftlichen Belange als Bibliothekar. — Georg
Menz (S. 409—426) bringt aus dem literarischen Nachlaß des Grafen Eustachius von
416 Nachrichten und Notizen
Sehlitz, gen. von Görtz, der von 1761—1775 die Erziehung Karl Augusts und seines
Bruders Constantin leitete, interessante Mitteilungen über Leute und Leben in Wei-
mar, besonders seinen Zógling Carl August betreffend. — In das Revolutionsjahr 1848
in Rudolstadt führt uns die Studie Fr. Lundgreens (S. 467—489) über Friedrich
Carl Hönninger, der jedenfalls wohl, weil er in der Beförderung übergangen worden
war, sich der Revolution anschloß, das Schwarzburger Ländchen in Frankfurt ver-
trat, aber 1850 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Als Privatmann und be-
geisterter Republikaner ist er 1874 gestorben. — R Gerhardt (S. 445—466) gibt eine
geschichtliche Entwicklung des Landtagswahlrechts in dem Großherzogtum Sarhsen-
Weimar-Eisenach bis zur Umwälzung des Jahres 1918. — Ernst Anemüller
(S. 490—505), der Herausgeber des Urkundenbuches von Paulinzelle, gibt einen
Überblick über die Paulinzeller Forschungen innerhalb der letzten 50 Jahre. —
Kunz v. Kauffungen (S. 190—204) teilt Rechtssprüche der Schóffenstühle von
Leipzig und Magdeburg mit und Benno v. Hagen (S. 427—444) druckt die
Schilderung der Balearen aus dem Tagebuch eines Rheinbundoffiziers ab.
Neuruppin. Lampe.
Festschrift, Armin Tille zum 60. Geburtstag, Weimar 1930, Hermann Böhlaus
Nachf. G. m. b. H. Preis geh. 19.— RA.
Die zu Ehren des Weimarer Staatsarchivdirektors erschienene Festschrift bringt
eine Anzahl trefflicher Arbeiten aus allen Gebieten des thüringischen Geisteslebens.
Rudolf Kötzschke eröffnet den Reigen der Gratulanten mit einem Überblick
über die Stellung Thüringens innerhalb der deutschen Siedlungsgeschichte
(Thüringen in der deutschen Siedlungsgeschichte, S. 1—16). Die Besonderheit
Thüringens in der Frühzeit und in der Zeit, als es Grenzland gegen den
Osten war, läßt der Sprachgebrauch deutlich hervortreten. Wenn sich auch
einzelne slawische Siedlungen in Thüringen befinden, ist doch der Grundzug der
Besiedlung Thüringens, die am besten mit der Ostfrankens vergleichbar ist,
durchaus deutsch. Der Überblick über die thüringische Siedlungsgeschichte ist ein
Spiegelbild der Gesamtgeschichte. — O. Dobenecker, Ein Kaisertraum des Hauses
Wettin (S. 17—38) schildert die Hoffnungen und Bestrebungen der Wettiner nach
dem Tode Konradins. Friedrich II., der Sohn Margaretas, der Tochter Kaiser Fried-
richs IL. die mit Landgraf Albrecht von Thüringen vermählt war, war für die An-
hänger der staufischen Partei der sehnsüchtig erwartete Kaiser Friedrich III. der
Kyffhäusersage, für den dann später sein Großvater Friedrich II. und zuletzt erst
Friedrich Rotbart eintraten. — Kekulé von Stradonitz bringt aus der Chronik
des böhmischen Humanisten Prokop Lupatsch von Flavatschowa (T 1587) ein zeit-
genössisches Heldengedicht „Von der Schlacht bei Crècy“, 25. August 1346 (S. 39 bis
46) in freier deutscher Übersetzung und schlieBt daran heraldisch-genealogische
Erlüuterungen teilweise unter Zugrundelegung der bóhmischen Geschlechtergruppen
oder Wappensippen. — Zur Geschichte des Finnedistriktes, der im 14. Jahrhundert
einige Zeit selbständig gewesen ist, gibt Hans Beschorner (Beiträge aus dem
Hauptstaatsarchiv Dresden zur Geschichte des Finnedistriktes im Mittelalter, S. 47
bis 69) urkundliches Material unter Beifügung einer Kartenskizze. — Zwoi bisher
ungedruckte Urkunden, die zu den wichtigsten der späteren reußischen Geschichte
gehören, veröffentlicht Friedrich Schneider: (Die Belehnungsyrkunde Kurfürst
Friedrichs IL des Sanftmütigen für die Herren Reußen zu Greiz im Jahre 1449 und
Nachrichten und Notizen 417
der Teilungsvertrag der Gebrüder ReuBen im Jahre 1485, S. 71— 86). — Die Ge-
schichte der Herrschaft und des Fürstentums Querfurt zwischen 1496 (nach dem
Aussterben der Querfurter Dynastien) und 1815 hat Hellmut Kretzschmar nach
Akten des Hauptstaatsarchivs Dresden und des Staatsarchivs Magdeburg bearbeitet
(S. 87—117). Wichtig ist, daß Querfurt beim Übergang an das Erzstift Magdeburg
(1496) seine Selbständigkeit nicht verlor, sondern diese trotz wechselnder Schicksale
erst ganz allmählich bis 1815, beim Übergang an Preußen aufgibt. — Walter Tröge
(Lucas Cranach d. Ä. als genealogisches Phänomen, S. 119—133) hebt bedeutende
Männer hervor (Goethe, Berisch, die Gebrüder Schlegel und Karpow), die Cranach-
blut in den Adern haben. Der von Tröge gewählte Titel ließ nach der Einleitung einen
anderen Gang der Abhandlung vermuten. — Walter Schmidt-Ewald, (Das
älteste ernestinische Urkundenverzeichnis, S. 135—152) würdigt das älteste ernesti-
nische Urkundenverzeichnis, das zwischen August 1486 und spätestens August 1493
abgefaßt ist und sich in zwei Stücken im Weimarer und in einem Stück im Gothaer
Staatsarchiv befindet. — Über die Bedeutung des Vogtlandes als Durchgangsland
für den Handelspricht Erich Wild (S. 153—171), in einer aufschlußreichen Studie. —
Carl Georg Brandis (Ein thüringisches Passional, S. 172—178), beschreibt ein
Passional des 14. Jahrhunderts, aus der Jenaer Universitätsbibliothek, das aus dem
Kloster Mildenfurt stammt. Dasselbe Buch war vollständig in der Bücherei des
Servitenklosters in Erfurt vorhanden. Es vergleicht die Jenaer Handschrift mit
der Legenda aurea des Jacobus a voragine. — Otto Clemens bringt Beiträge über
den Lebensausgang des in Venedig 1531 verstorbenen Gregor Holoander (S. 173 bis
178). — Ernst Brinkmann veröffentlicht neue Forschungen zum Leben der großen
Mühlhäuser Musiker (S. 190—197), Joachimus à Burck, Johannes Eccard, Joh.
Rudolf Ahle, Joh. Georg Ahle und Joh. Sebastian Bach. — In Form eines scherzhait
gehaltenen Briefes an den Jubilar druckt Hans Wahl (S. 198—214) ein Aktenstück
über die 1631 in Dornburg erfolgte Untersuchung und Stäupung des Kroaten Joh.
Faust ab, das sich nur in einer Abschrift in der handschriftlichen Chronik des Joh.
Samuel Schröter, Rektor in Dornburg (1756—1763) erhalten hat. — Theodor Locke-
mann (Die Anfänge des Jenaer akademischen Konzerts, S. 215—233) berichtet
über die Gründung des Akademischen Konzerts 1769, gibt seine Verfassung
(Satzung) und schildert die Reform desselben. — Werner Deetjen (Johann
Matthias Gesner und die Weimarer Bibliothek, S. 234—251) hebt die Verdienste
von Joh. Matthias Gesner um die innere Ausgestaltung und ordnungsgemäße Kata-
logisierung der Weimarer Bibliothek hervor, deren Leiter er ungefähr 5 Jahre war.
Die groBen Kenntnisse G.'s gehen aus einer einem Briefe beigefügten und hier ab-
gedruckten Beilage hervor. G. starb 1761 als Professor der Poesie und Beredsamkeit
in Góttingen, wo er auch eine ausgezeichnete Bibliothek anlegte und organisierte. —
Wolfram Suchier (Rechtskandidat F. W. v. Leysser als Dozent der Botanik in
Halle 1758—65, S. 252—268), gibt einen Überblick über die botanischen Vorlesungen
an der Universität Halle und der Bedeutung L.'s, dessen Leben eingehend gewürdigt
wird. — Herbert Koch (Die Rosenschule in Jena, S. 269—274), schildert die nur
kurze Lebensgeschichte der 1761 von Joachim Georg Darjes begründeten Real-
schule zur Erhaltung und Erziehung armer Kinder. — Max Hecker teilt (S. 275
bis 291) einen Brief der Ottilie v. Goethe an den Kanzler Friedrich von Müller vom
15. August 1840 aus Wien mit und gibt aufschluBreiche Anmerkungen dazu. —
Felix Pischel druckt (292—300) aus den Briefen des Staatsministers Bernhard
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 21
418 Nachrichten und Notizen
von Watzdorf an den Großherzog Carl Alexander einen Brief vom 29. August 1858
zur Erziehung des Erbprinzen Karl August und einen vom 7. März 1859 zur Stellung
Preußens in Deutschland ab und gibt erläuternde Anmerkungen dazu.
Neuruppin. Lampe.
Robert Gradmann, Süddeutschland. 2 Bde. Stuttgart 1931, J. Engelhorns
Nachf. (Bibliothek länderkundlicher Handbücher, herausg. von Albrecht
Penck). 215 u. 553 Seiten, 49 Textabbildungen, 43 Tafeln und Karten.
Nach mehr als 12jähriger Arbeit hat Robert Gradmann, wohl der beste Kenner
der Landeskunde Süddeutschlands, ein Werk vollendet, das in der deutschen
landeskundlichen Literatur eine besondere Stellung einnimmt, sowohl inhaltlich
und methodisch, wie auch in bezug auf die Ausstattung. Gradmann, der von Haus
aus evangelischer Geistlicher, dann Universitätsbibliothekar war, und seit 1909
die Geographie an der Universität Tübingen, seit 1919 an der in Erlangen vertritt,
hat sich besonders verdient gemacht durch seine gediegenen Arbeiten auf dem Ge-
biete der Pflanzen- und Siedlungsgeographie Südwestdeutschlands, besonders
Württembergs. Er hat alle Gaue Süddeutschlands durchwandert und urteilt aus
eigener Beobachtung. Dabei verwertet er zugleich die überaus reichliche ein-
schlägige Literatur, die er wie kein Zweiter beherrscht. Er hat damit die erste aus-
führliche Bearbeitung Süddeutschlands nach den Grundsätzen der wissenschaft-
lichen Länderkunde geschaffen, ein Werk, wie wir es bisher noch für keinen anderen
größeren Teil des Deutschen Reiches besitzen. Unbeirrt durch den in den letzten
Jahren entfachten Streit um die landeskundliche Darstellung hält er fest an der
alten gutbewährten Methode der Länderkunde. Sein Werk soll kein Lehrbuch,
sondern ein wissenschaftliches Handbuch sein. Es will über den Stand der Pro-
bleme berichten und auf neue Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten hin-
weisen. Das Hauptgewicht wird dabei auf eine möglichst scharfe Herausarbeitung
der „natürlichen Landschaften" gelegt. Sie bilden für das ganze Werk die metho-
dischen Einheiten. Angestrebt wurde ferner eine Herausarbeitung der inneren
Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Um diese Zusammenhänge möglichst
klar hervortreten zu lassen, sind bei den einzelnen Landschaften den umfang-
reicheren Abschnitten kurze Übersichten vorausgeschickt und die nur für den
Fachmann bestimmten Quellenangaben und kritischen Auseinandersetzungen in
nachträgliche Ausführungen verwiesen. Unter Süddeutschland, richtiger eigentlich
Südwestdeutschland, versteht der Verfasser den im Süden gelegenen Teil des Deut-
schen Reiches innerhalb der Reichsgrenze, aber einschließlich ElsaB-Lothringen,
wodurch eine Zerreißung der Einheit der Oberrheinebene vermieden wird. Im
Osten reicht also Süddeutschland bis zur Grenze gegen Böhmen, im Südosten und
Süden bis zu der gegen Österreich und die Schweiz, und im Westen bis zur ehe-
maligen deutsch-französischen Reichsgrenze. Auch das Saargebiet und die Pfalz
gehören mit dazu. Als Nordgrenze nimmt Gradmann mit Recht nicht die Main-
linie, die zusammengehörige Gebiete zerschneidet, sondern den Südfuß der Mittel-
deutschen Gebirgsschwelle. Sein Süddeutschland reicht also bis zum Südrand des
Rheinischen Schiefergebirges, des Vogelberges und der Rhön, bis zur Wasser-
scheide zwischen Main und Werra und bis zum Frankenwald und Fichtelgebirge.
Der erste, weniger umfangreiche Band enthält den allgemeinen Teil. Er befaßt
sich mit Begriff, Grenzen, Gliederung und natürlichen Landschaften Süddeutsch-
Nachrichten und Notizen 419
lands, behandelt dann die Landformen, das Klima, die Bodenbeschaffenheit, Pflanzen-
und Tierwelt, geographische Entwicklung der Landesbesiedlung, Volk und Staat
nach ihrer räumlichen Entwicklung, Rasse, Sprache, Volkstum, Landwirtschaft
und ländliches Siedlungswesen, Forstwirtschaft, Jagd, Fischerei, Städte und Märkte,
gewerbliches Leben, Handel und Verkehr, Bevölkerungszahl und Volksdichte,
seelisches und geistiges Leben. Für den Historiker wichtig sind besonders die Ab-
schnitte über die geographische Entwicklung der Landesbesiedlung, über Volk und
Staat nach ihrer räumlichen Entwicklung, Rasse, Sprache und Volkstum, länd-
liches Siedlungswesen, Städte und Märkte. Feinsinnige Betrachtungen enthalten
die Kapitel über den süddeutschen Menschenschlag, Sprache und Mundart, Volks-
tum, Volksbewußtsein und Volkscharakter. Pflanzengeographische Studien haben
Gradmann zu der wichtigen Erkenntnis geführt, daß ein enger Zusammenhang
zwischen der Entwicklung der Vegetation nach der Eiszeit und der ursprünglichen
Besiedlung besteht. Es herrscht eine weitgehende Übereinstimmung der vorge-
schichtlichen und zum größten Teile auch der frühgeschichtlichen Siedlungsflächen
mit den Verbreitungsgebieten der Steppenheide. Erst nach dem Einzuge der ersten
seBhaften Bevölkerung, also frühestens gegen Ende der jüngeren Steinzeit (um
2000 v. Chr.) kann die Steppenheideflora dem Überhandnehmen des reinen Wald-
klimas gewichen sein. Von großer Bedeutung für die alte Besiedlung ist die Ver-
breitung der Lößgebiete als alter Siedlungsflächen.
Der zweite, umfangreichere Band bringt die Darstellung der einzelnen Land-
schaften. Gradmann gliedert Süddeutschland in 13 natürliche Landschaften:
Oberrheinisches Tiefland, Schwarzwald, Odenwald und Spessart, Wasgenwald
und Pfälzer Hardt, Nordpfälzisches Bergland mit Saargebiet, Lothringisch-west-
pfälzisches Hügelland, Neckarland, Mainland mit Oberpfälzer Senke, Schwäbische
Alb und Ries, Fränkische Alb, Böhmer Wald mit Fichtelgebirge, Alpenvorland,
Bayrische Alpen. Auch in diesem Bande sind jeweils bei den einzelnen Landschaften
die Abschnitte über den Gang der Besiedlung, Herkunft und Abstammung der
Bevölkerung, Rodung, Volkstum und politische Geographie, vor- und frühgeschicht-
liche Besiedlung und Städtebildung für den Historiker wichtig. Das Schriften-
verzeichnis am Schluß des 2. Bandes enthält 2285 Nummern, stellt aber nur eine
kleine Auswahl aus der gesamten, fast unübersehbaren Literatur zur süddeutschen
Landeskunde dar. Das Werk ist prächtig ausgestattet mit hervorragend schönen
Abbildungen, darunter vielen Luftbildern, zahlreichen instruktiven Karten und
Kartenskizzen. H. Rudolphi.
Joseph Neubner, Die Heiligen Handwerker in der Darstellung der acta sancto-
rum. Ein Beitrag zur christlichen Sozialgeschichte aus hagiographischen
Quellen. = Münsterische Beiträge zur Theologie. Heft 4. Münster 1929.
Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, XVI u. 272 S. u. 6 Tafeln.
Verfasser will aus den hagiographischen Quellen das soziale Leben und Wirken
der Kirche und die Gebrüuche des christlichen Volkes erschlieBen. Er stellt fest, daB
nur männliche Vertreter bei den Handwerksheiligen in Betracht kommen. Nach
einer eingehenden Würdigung besonders der geschichtlichen Glaubwürdigkeit der
Quellen und einer Zusammenstellung über die Zahl der Handwerksheiligen werden
die heiligen Handwerker des christlichen Altertums und des Mittelalters behandelt.
Der Schlußabschnitt beschäftigt sich mit den Handwerksheiligen vom 16. Jahr-
91*
420 Nachrichten und Notizen
hundert an und ihr Fortleben bis in die Neuzeit. Durch die sehr sorgfältigen An-
merkungen und ein ausführliches Register gewinnt diese ansprechende, flüssige
Zusammenstellung an Wert.
Neuruppin. Lampe.
Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und
seiner Zweige. Herausgegeben von der bayerischen Benediktinerakademie.
N. F. Band 16, der ganzen Reihe Band 47. München, Komm.-Verl. R. Olden-
bourg 1929. 223, 40, XVI S.
Zur Geschichte der Benediktinerregel sei der Aufsatz von Herib. Plenkers,
Neue Ausgaben und Übersetzungen der Benediktinerregel (S. 183—195) hervor-
gehoben, der die Arbeiten von Butler (1927), Vidmar (1927) und Linderbauer (1923)
würdigt. Die „Chronik“ bringt einen Nachruf für P. Benno Linderbauer, dem
feinfühligen Erforscher, Erklárer und Herausgeber der Regel im Stift Metten. Zu
einer Textfrage des 1. Kapitels der Regel äußert sich Th. Michels (196—200).
Rom. Bauerreiß, der verdiente Schriftleiter der Zeitschrift, untersucht sorgsam
die aus dem 14. Jahrhundert stammenden, stark legendären Einträge in dem An-
dechser Missale (52—90), die z. T. schon fehlerhaft in den Monumenta Boica 8
gedruckt sind. Aus Anlaß des Jubiläums von Monte Cassino entwirft W. Fink ein
Bild von St. Benedikt, dem Propheten seines Jahrhunderts, auf Grund der Dialoge
des hl. Gregor (106—112). — Raph. Molitors Aufsatz „Über die Observanz kassi-
nesischer und süddeutscher Benediktinerklóster gegen Ende des 16. Jahrhunderts“
(91—102) ergänzt seine Ausführungen über die Visitation der Benediktinerklóster durch
Petrus Paulus Benallis im Auftrage Klemens’ VIII. im Jahre 1593 im zweiten Bande
seines Buches ,,Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbünde". Es handelt
sich um eine Handschrift im Staatsarchiv Zürich, die Fragen und Antworten über
83 Kapitel der Regel erläutert und für das Leben und die Tätigkeit der Mönche von
größter Wichtigkeit ist. P. Volk, „Ein Säkularisationsplan sämtlicher deutscher
Benediktinerklóster zu Anfang des 17. Jahrhunderts" (146—156) ist bemerkenswert
für die Kritik von Pastors Papstgeschichte und die Lebenskraft der Bursfelder
Kongregation. Einzelforschungen über die bedeutenden Äbte Johann Bernhard
Schenk in Fulda und Leonhard Colchon in Seligenstadt könnten hier noch weiter
helfen. — Für einzelne Persönlichkeiten liegen folgende Untersuchungen vor: P. Le h-
mann, Dicta Pirminii (45—51): L. stimmt im wesentlichen G. Jecker bei, der die
Heimat des Gründers von Murbach und Reichenau in Spanien oder Südfrankreich
sucht. Rud. Creutz, Der Arzt Constantinus Africanus von Monte Cassino (1—44;
um 1010—1087; der Vermittler der arabischen medizinischen Literatur) Rom.
BauerreiB, Abt Alban von Seeon, ein bayerischer Bildhauer des 12. Jahrhunderts
(200—204). L. Hartmann, Der Physiker und Astronom P. Placidus Heinrich von
St. Emmeram in Regensburg 1758—1825 (167—182). Laur. Hanser, Thaddäus
Siber als Ordensmann (204—208; in Scheyern, starb 1854 als Mathematikprofessor
in München). — Im ersten Heft ist die von Bauerreiß bearbeitete Bibliographia Bene-
dictina für 1928 abgedruckt.
Breslau. W. Dersch.
Pontificum romanorum diplomata papyraces in tabulariis Germaniae,
Hispaniae, Italiae Band I: 15 Briefe aus der Zeit von 819 bis 1022 auf
Nachrichten und Notizen 421
43 Tafeln im Formate von 64x88 cm. 1931, in Mappe AA 360.—.
M. Bretschneider, Rom, Via Cassiodoro 19.
Von den fast 4000 bekannten Papstbriefen aus der Zeit vor dem Jahre 1000
sind nur ca. 30 im Original erhalten. Ihre außerordentliche Bedeutung für die Ge-
bräuche und Regeln der päpstlichen Kanzlei, für die Paläographie und Diplomatik
der Papsturkunden ist offensichtlich. Es ist darum auf das lebhafteste zu be-
grüßen, daß sie in möglichst originalgetreuer Wiedergabe der Forschung zugänglich
gemacht werden. Die Durchführung dieser Aufgabe ist der in derartigen Arbeiten
bestens erfahrenen Firma R. Danesi übertragen worden, nachdem die Originale
in der Vatikanischen Werkstatt durch Dr. H. Ibscher, Berlin einer gründlichen
Überholung unterworfen worden sind. Der vorliegende 1. Band enthält 10 in
Spanien, 3 in Italien und 2 in Deutschland liegende Originale, deren ältestes
das Privileg Paschalis’ I. für Ravenna vom Jahre 819, das jüngst: das Privileg
Benedikts VIII. für Hildesheim vom Jahre 1022 fst. Die übrigen Originalurkunden
befinden sich in Frankreich und sollen im 2. Band nach den gleichen Grund-
sätzen vorgelegt werden.
Richer, Histoire de France (888—995), éditée et traduite par Robert Latouche,
tome I°", 888—954. (Les classiques de l'histoire de France au moyen âge,
publiés sous la direction de Louis Halphen, vol. XIL) Paris, H. Champion,
1930. XVII u. 303 S.
In der Sammlung „Les classiques de l'histoire de France au moyen äge«, die
seit 1923 unter der Leitung von L. Halphen erscheint und mit einer Neuausgabe
der „vita Karoli" Einharts von Halphen eingeleitet wurde, veröffentlicht Rob.
Latouche in 2 Bänden eine Ausgabe der „historiae“ des Reimser Mónchs Richer
aus dem 10. Jahrhundert. Dem lateinischen Text ist eine franzósische Übersetzung
gegenübergestellt. 1930 erschien der 1. Band, der die Bücher 1 und 2, den Zeit-
raum von 888 bis 954, umfaBt.
Text und Apparat beruhen auf einer Revision der Ausgaben von Pertz (1839)
und Waitz (1877) in den Mon. Germ. hist., die L. mittels Photographien der einzigen
erhalte: en Hs. (Bamberg. E. III. 3, saec. X; Richers Autograph) nachprüfte.
Wichtigere Abweichungen vom Waitzschen Text und Apparat sind mir, soweit ich
Stichproben machte, nicht aufgefallen. Allerdings ist aus der neuen Ausgabe kein
so genaues Bild der handschriftlichen Verhültnisse zu erlangen wie bei Waitz.
L. weist nicht auf die Foliierung der Hs. hin, er lóst jedes € der Hs. in ae auf (und
schreibt so z. B. praelium u. caedere f. cedere!) und geht an einzelnen Stellen
auch weniger genau auf die Kenntlichmachung der vielen Abkürzungen und späteren
Zusätze in der Hs. ein als Waitz. Aber seiner Ausgabe liegen wohl philologische
Zwecke ferner, und abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist der Text sehr genau
und sauber. — Der Kommentar, der zugleich die Abhüngigkeit Richers von Flo-
doard im einzelnen behandelt, ist ausführlich und kritisch gehalten; er verarbeitet
die neuere franzósische Literatur zur Geschichte des 10. Jahrhunderts, vor allem
die Forschungen Ph. Lauers (,, Louis IV d’Outremer‘‘ und die Ausgabe der Annalen
Flodoards). Leider fehlen Erörterungen über Sprache und Stil Richers fast ganz,
denn auch die Einleitung bringt darüber nur ganz wenig. — Die Übersetzung hält
sich sehr eng an den lateinischen Text, über ihre sprachlichen Qualitäten steht mir
kein Urteil zu. — In der Vorrede stellt L. die wenigen sicheren Daten zusammen,
422 Nachrichten und Notizen
die wir über Richer und sein Buch besitzen. Es folgt ein wohl abgewogenes, kri-
tisches Urteil über Methode, Wert und Wesen von Richers Geschichtsschreibung,
wobei L. dessen Unzuverlässigkeit und Vorliebe für rhetorische Effekte in den
Vordergrund rückt. Eine kurze Beschreibung des Hs., eine Liste der wenigen Aus-
gaben und Übersetzungen des Werkes und eine Literaturübersicht schließen die
Vorrede ab. — Die Anm. 3, p. VIII, enthält die Berichtigung eines Irrtums, der
seit Pertz’ Ausgabe vom Jahre 1839 stets wiederholt wurde: der Eigentumsvermerk
im Paris. 4789 (lex Salica) ist von Pertz falsch gelesen worden und hat mit Richer
nichts zu tun (cf. M. Manitius, Geschichte der latein. Lit. des Mittelalters II [1923]
p. 2178).
Waldenburg i. 5a. K. Manitius.
Willy Hoppe, Lenzen. Aus tausend Jahren einer märkischen Stadt 929— 1929.
Lenzen (Elbe) 1929. Selbstverlag des Magistrats. 180 S. 89.
Nach Brandenburg hat auch die kleine Prignitzstadt Lenzen ihre Tausend-
jahrfeier gehabt, für die W. Hoppe auf Grund eingehender Studien eine sehr
lesenswerte Geschichte geschrieben hat. Bei „Lunkini“, der ,,Bogenburg"', setzt
929 der GegenstoB König Heinrichs I. gegen die Redarier an. Lenzen ist damals
wohl nur ein slawischer Burgwall auf der Kuppe des Hügels gewesen, der jetzt die
Stadt überragt. 1043 unter dem Obotriten Gottschalk ist dort ein Kloster gegründet
worden, dessen Lage unbekannt ist, doch beginnt damit das Deutschtum in der
Gegend festen Fuß zu fassen. Verfasser schildert die mannigfachen Schicksale des
Ortes unter den Askaniern, wo Lenzen als Zollstätte erwähnt wird. 1224, um
welche Zeit Lenzen auch zur Stadt erhoben wird, ist dort König Waldemar von
Dänemark als Gefangener. Nach dem Aussterben der Askanier bis ungefähr 1324
ist die Stadt unter der Lehnshoheit der Havelberger Bischófe. Seitdem ist sie bei
den Markgrafen von Brandenburg, die sie verschiedentlich verpfánden und später
Amtsleute einsetzen. In meisterhafter Weise versteht der treffliche Kenner der
brandenburgischen Geschichte die Entwicklung der Stadt in die Allgemeingeschichte
hineinzusetzen. Doch nicht nur die äußere Entwicklung lernen wir kennen, sondern
wir folgen auch gern dem Verfasser, wenn er uns in die inneren Verhältnisse des
kleinen Landstädtchens einführt, das abseits großer VerkehrsstraBen keinen großen
Aufschwung nehmen konnte. Nicht einmal der Elbzoll gehörte ihm. Im Vergleich
zu der Geschichte Brandenburgs ist diese Geschichte als Vorbild für diejenigen
Orte anzusehen, denen das Geschick nicht vergönnt hatte, sich durch ihre günstige
Lage zu einer bedeutenden Stadt zu entwickeln.
Neuruppin. Lampe.
Hans Tümmler, Die Geschichte der Grafen von Gleichen von ihrem Ursprung
bis zum Verkauf des Eichsfeldes, cr. 1100--1294. Neustadt-Orla 1929,
J. K. G. Wagnersche Buchdruckerei.
Die Arbeit, die ihre Vorgänger ergänzt und übertrifft, ist auf Anregung von
O. Dobenecker entstanden und behandelt in 3 Abschnitten den Aufstieg der Grafen
von Tonna im 12. Jahrhundert, die Grafen von Gleichen auf der Höhe ihrer Macht
in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, und die Grafen von Gleichen im Zeichen
ihres wirtschaftlichen Niederganges. An der Spitze der Stammreihe steht Graf
Erwip I. von Tonna (um 1100), der sich auch Graf von Thüringen nennt wie sein
Sohu, Enkel und Urenkel, die Vögte von Erfurt und des Erfurter Petersklosters
Nachrichten und Notizen 423
sind. Durch ihre engen Beziehungen zum Erzstift Mainz, die sich auch durch die
Belehnung Erwins II. mit der Burg Gleichen (kurz vor 1162) ausdrücken, erringen
sie sich oft als Gegner der Landgrafen von Thüringen eine sehr einflußreiche Stellung.
Aber durch ihre Teilnahme an der Reichspolitik sowie durch ihren Kampf gegen
die Markgrafen von Meißen wird ihr wirtschaftlicher Niedergang angebahnt, der
sich durch den Verkauf zahlreicher Besitzungen kundtut und einen vorläufigen
Abschluß im Verkauf der Herrschaft Gleichenstein im Eichsfeld (1294) durch den
jüngeren Zweig des Hauses findet. Dieser hatte schon längst in Dänemark, wohin
er durch die Orlamünder infolge verwandtschaftlicher Beziehungen zum Königs-
hause gekommen war, eine neue Heimat gefunden. Eine Beilage untersucht, wann
die Grafen von Tonna in den Besitz der Burg Gleichen kamen, und sucht zu erweisen,
daß Erwin II. mit ihr belehnt worden ist. Zeittafeln, Register, Stammtafeln und
ein ausführliches Literaturverzeichnis fehlen nicht. Christina ist eine Tochter
Albrechts III. und nicht seiner Schwester. Vgl.sonst die Besprechung Devrients
in der Zeitschr. f. Thürgua. 29. S. 260ff.
Neuruppin. Lampe.
Joseph Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diózese Hildes-
heim im Mittelalter. Freiburg i. Br. (J. Waibel) 1928, (VIII, 188 S.).
Die vorliegende Abhandlung verdankt noch einer Anregung G. v. Belows ihre
Entstehung und wurde bereits 1913 als Freiburger Dissertation eingereicht. Obwohl
die Drucklegung dem Verfasser erst lange nach dem Weltkriege möglich geworden
ist, lag kein Anlaß zur Umarbeitung vor, indessen ist die neuere Literatur nach-
getragen und verwertet worden. Über die mittelalterliche Pfründenbesetzung be-
kommen wir durch Ahlhaus’ Arbeit erstmalig für Nordwestdeutschland eine wertvolle
Ergänzung zu süddeutschen Studien auf demselben Gebiete. Das Ergebnis ist im
Vergleich mit Oberschwaben, wo nach G. Kallens Untersuchungen etwa 31 v.H.
Laienpatronaten 69 v. H. geistliche Patronate und Inkorporationen gegenüberstanden,
in Norddeutschland für die Laienpatronate günstiger; das Verhältnis ist in Hildes-
heim etwa 36,5:63,5 v.H. EineUntersuchung, die noch weiter nach dem Norden fort-
schritte, dürfte in Friesland ein Überwiegen des Laienpatronats ergeben.
Die Feststellung der Patronate begegnete nicht geringen Schwierigkeiten, da eine
große Masse von Einzelurkunden aus noch ungedruckten Kopiaren heranzuziehen
war; erleichtert wurde sie durch reformatorische Kirchenvisitationsprotokolle.
So kann der Verfasser im 2. Kapitel doch eine ziemlich genaue Patronatsstatistik
darbieten. Interessant ist übrigens das Ergebnis, daB die Archidiakonate mit über-
wiegend geistlichem Patronat sich fast decken mit dem Teil der Diózese, wo der
Bischof zugleich Landesherr ist. Das letzte Kapitel handelt über die Rechtsverhält-
nisse des geistlichen Patronats, die Rechte und Pflichten des Patrons u. à. Der
Terminus „incorporare“ läßt sich im Hildesheimschen zuerst 1288 nachweisen. Zur
Klärung des Rechtsverhältnisses der Inkorporation, das in der kirchenrechtlichen
Literatur bisher weniger als das Patronatrecht beachtet wurde, bringt Ahlhaus
aufschlußreiche Belege. Schon dadurch erweist sich die Arbeit als ein wertvoller
Beitrag zur kirchenrechtlichen Literatur; ein Autoren- und Ortsregister, bei dem
leider die Ortsnamen in den Anmerkungen oft übergangen werden, sind eine will-
kommene Zugabe.
Oldenburg i. Old. Hermann Lübbing.
424 Nachrichten und Notizen
Hävernick, Walter, Der Kölner Pfennig im 12. und 13. Jahrhundert (Beiheft 18
zur Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte), 219 Seiten.
Verlag von W. Kohlhammer in Stuttgart, 1930.
Im Anfang dieser sorgfältigen und ergebnisreichen Studie wendet sich der
Verf. gegen die Hypothese von Eheberg über die Territorialität des Geldes und
seine beschränkte Geltung während der Dauer eines Marktes; er weist aus den Münz-
funden nach, daß der Geldumlauf weder zeitlich noch lokal begrenzt war. Mit der
Überlassung des Münzrechts erlangte aber der Beliehene die volle Selbständigkeit
und Verfügung über das Münzwesen, wodurch die fiskalischen Gesichtspunkte
in den Vordergrund traten; die Verschlechterung des Münzfußes auch an den größeren
Münzstätten war die Folge, aber auch die Verpflichtung des Münzherrn zur Aus-
prägung nach eigenem Schrot und Korn und unter eigenem Bild, die unberechtigten
Nachprägungen vorbeugen sollten. Dadurch, daß der Kölner Denar schwer und
vollwichtig geprägt wurde, schuf er sich ein großes Umlaufsgebiet, das so ziemlich
den ganzen Niederrhein und Mittelrhein umfaßte, so daß er ebenbürtig neben dem
für Baiern und Österreich maßgebenden Regensburger Denar stand. Im Bopparder
Vertrag 1282 gewährte König Rudolf sogar dem Kölner Erzbischof Siegfried die
Gleichberechtigung der von ihm geprägten Münzen im ganzen Reiche. Aber fast
zur gleichen Zeit nahm die Vormachtstellung des Kölner Denars ein Ende. Die
Periode der territorialen Pfennigmünze wurde abgelöst durch das Aufkommen der
Großsilberprägung und das Vordringen der Goldmünzen. Heller sind seit der
Mitte des 13. Jahrhunderts am Mittelrhein nachweisbar, wenig später Turnosen
in Köln selbst. Der Münzfuß der Mark ergibt sich aus einer Urkunde von 1166,
wonach sie auf 144 Pfennige kam; sie war leichter als die um 1170 auftauchende
schwere Mark (magna marca), aus der bei gleichbleibendem Denargewicht 160
Denare geschlagen wurden; denn durch die Münzfunde des 12./13. Jahrhunderts
steht fest, daB das Gewicht der Kölner Denare in dieser Zeit unverändert geblieben
ist, wie schon Lamprecht und Kruse angenommen hatten.
In einer wichtigen Einzeluntersuchung weist der Verf. nach, daß der Kölner
Erzbischof zweierlei Münzstätten gehabt hat, solche, welche in seinem angestammten
Territorium lagen, und solche im Herzogtum Westfalen, insgesamt 13, und an einer
größeren Zahl als Mitbesitzer beteiligt war. Besonders interessant, aber auch mühsam
ist die Feststellung, die der Verf. über das Umlaufsgebiet des Kölner Pfennigs
gemacht und durch Tabellen und kartographisch anschaulich gestaltet hat mit
Abgrenzung gegen die Umlaufsgebiete anderer Denare; sie ist begründet durch
Münzfunde und urkundliche Erwähnungen und daher durchaus zuverlässig, Auf
der Karte zeigt sich das Gebiet als ein langgestreckter mehrfach ausgebauchter
Gürtel, der von den Niederlanden bis an die Nahe und in die Gegend von Frank-
furt reicht.
Köln. Herm. Keussen.
Paul Reinhard Beierlein, Geschichte der Stadt und Burg Elsterberg i. V.
2. Band: Geschichte der Kirche und Schule. Dresden-A. (1929) Selbstverlag
des Verfassers. 8°. VIII u. 292 S. mit 8 Bildbeilagen.
Dieser Band, der die Geschichte der Kirche und der Schule behandelt, will
mir besser gefallen, als der Urkunden- und Regestenband. Weit über die Hälfte
dieses Werkes behandelt die Geschichte der Kirche, deren Bau nach den Aus-
Nachrichten und Notizen 425
führungen des Verfassers nicht vor 1200 anzunehmen ist. Nach der allgemeinen
kirchlichen Entwicklung wird der Kirchensprengel und besonders die Filialkirchen
Steinsdorf und Holmdorf behandelt. Wir erfahren, was über die geistlichen Ge-
bäude zu ermitteln war. Die Kaplane und Prediger vor der Reformation, die Archi-
diakonen und Diakonen nach der Reformation, sowie die Kirchbeamten werden
in ihrem Wirken geschildert. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem Schul-
wesen und bringt wieder erst eine allgemeine Entwicklung des Schulwesens, dann
die der Mädchenschule und der Knabenschule. Auch hier lernen wir die Lehrer-
schaft in ihrem Wirken kennen. Im Text und in den Anmerkungen werden noch
eine ganze Anzahl Urkunden gegeben, die der 1. Band nicht bringt. Am Schluß
lernen wir die Elsterberger kennen, die von 1443—1792 auf den Universitäten
Leipzig, Erfurt, Wittenberg, Jena, StraBburg und Frankfurt a. d. O. studiert haben,
soweit sie aus gedruckten Quellen entnommen werden konnten. Das ausführliche
Register entspricht allen Anforderungen. — S. 11, deutet wohl doch der Ausdruck
„in aller Massen als wie die gehabet und besessen haben“ darauf hin, daß die Kur-
fürsten das Patronatsrecht und nicht nur ein Vorschlagsrecht gehabt haben. Wenn
S. 93 davon gesprochen wird, daß die Bauern bei Ablieferung des Zinsgetreides
vom Pfarrer nach genau vorgeschriebener Weise beköstigt werden mußten, so hätte
ich gern die Beschreibung dieses doch kulturgeschichtlich wichtigen Herkommens
gehabt. Hoffentlich gelingt es dem fleiBigen Verfasser, dieses für die Geschichte
des Vogtlandes so wertvolle Werk durch die Herausgabe des 3. Bandes, der die
Geschichte des Schlosses und der Stadt im engeren Sinn behandeln und wertvolle
Beilagen bringen soll, uns recht bald zu geben.
Neuruppin. Lampe.
Georg Sello, Oestringen und Rüstringen. Studien zur Geschichte von Land und
Volk. Oldenburg i. O. 1928, Littmann. XVI, 406 S. i
Als Georg Sello im Sommer 1926 die so oft geführte und sehr gefürchtete
kritische Feder für immer fortlegte, hinterließ er der Nachwelt ein letztes Ver-
mächtnis seiner friesischen Lieblingsforschungen. Es ist eine unvollendete, von
seinem Sohne Wolfgang Sello gewissenhaft betreute Neuauflage seiner 1898 er-
schienenen „Studien zur Geschichte von Oestringen und Rüstringen“, die damals
wegen mangelnden Interesses in nur 100 Exemplaren gedruckt werden konnten,
inzwischen aber ihren Wert vielfach bewiesen haben. Vor allem waren sie unent-
behrlich geworden durch die am Schluß gedruckten „Kleinen friesischen Chroniken“,
und es ist sehr schmerzlich, daß bei der Neuauflage gerade diese Quellen nicht wieder
mit aufgenommen sind. (Es ist dringend zu wünschen, daß die ostfriesischen,
oldenburgischen und bremischen Landesgeschichts-Forscher und -Vereine endlich
eine Ausgabe derselben und anderer einschlägiger Chroniken, darunter in erster
Linie der kurzen Annalen des Dominikanerklosters in Norden und der Bremischen
Chronik von Renner, bewerkstelligen!)
G. Sello konnte in 25 jähriger archivalischer Tätigkeit ein gewaltiges Material
für einen kleinen Bezirk des Oldenburger Landes ansammeln, so daB die Beherr-
schung des Stoffes ihm erhebliche Schwierigkeiten bieten mußte. In der Tat ist
er nicht immer Herr der Stoffmenge geworden, und man ertrinkt selbst fast in der
Flut der Probleme, der kritischen Erörterungen usw., unter denen sich einzelne
von juristisch-subtilster Art befinden, die man lieber in einem Zeitschriftenaufsatz
426 Nachrichten und Notizen
läse. Im hohen Alter hat Sello es nicht mehr vermocht, wissenschaftliche Anmer-
kungen vom Text zu trennen, so daß die Lektüre oft qualvoll wird.
Nach einer 54 Seiten langen Einleitung werden im zweiten Abschnitt die Terri-
torien des Jeverlandes, Rüstringen, Oestringen, Wangerland, Wangerog mit
ihren Burgen, Häuptlingen usw. besprochen. Kapitel 3 und 4 handeln von Stadt
und Burg Jever, denen sich ein antiquarisches Kapitel über Jeverland und das
Gudrunlied anschließt, worin starke Nachklänge der Normannenzeit in Friesland
nachgewiesen werden, Bedauerlich ist, daß Sello dab i die neuere Literatur nicht
mehr verfolgt hat, so daß man von germanistischer Seite nicht alles übernehmen
wird, ohne nachzuprüfen. Kapitel 6 und 7 handeln über das Dominikaner-
kloster Oestringfelde und dessen unglaublich verstümmelte Chronik, deren
kritische Untersuchung ein Hauptverdienst Sellos bleiben wird. In Kapitel 8
finden wir nützliche Stammtafeln, die einen guten Leitfaden durch die verworrene
Genealogie friesischer Adelsfamilien darstellen. Kapitel 9 endlich ist ein
überarbeiteter Abdruck seiner 1903 erschienenen Monographie über den Jade-
busen, die endlich einmal von den zünftigen Geographen beachtet werden und mit
der irrigen Vorstellung über die Entstehung dieses verhängnisvollen Meerbusens
aufräumen sollte. Die dazugehörigen Karten sind vorsichtig rekonstruiert, dürften
aber einer kritischen geologischen Betrachtung, die von den Bohrungen H. Schüttes
zu erwarten ist, nicht immer standhalten. Beigegeben sind dem Buche außer den
Karten 4 Tafeln friesischer Siegel mit Erläuterungen, ferner zahlreiche ältere und
neuere Abbildungen. Ein sehr sauber gearbeitetes Register erschließt den reich-
haltigen Inhalt der Studien, an denen kein Forscher der friesischen Marschgebiete
vorübergehen kann.
Oldenburg i. O. Hermann Lübbing.
Analecta Praemonstratensia. Tomus V (Tongerloae 1929).
Die Aufsatzreihe von A. Zak, Episcopatus ordinis Praemonstratensis wird
zu Ende geführt (46—56, 132—147, 289—249). Für die Brandenburger Bischöfe
ist jetzt der neue Band der Germania sacra I 1 (1929) heranzuziehen. À. Erens
(Les soeurs dans l'ordre de Prémontré, S. 5—26) behandelt eine bemerkenswerte
Seite des Ordenslebens, über die wir durch St. Hilpischs O.S.B. Buch ,,Die Doppel-
klöster“ (1928) für die Frühzeit gut unterrichtet sind. Zur Geschichte der deutschen
Prämonstratenserstifte ist zunächst die gründliche Arbeit von J. Ramackers:
Adlige Praemonstratenserstifte in Westfalen und am Niederrhein (200—238,
320—343) hervorzuheben. Sie weist nach, daß in den der westfälischen Zirkarie
angehörigen Stiften Kappenberg, Varlar, Klarholz, Hamborn und Scheda seit
etwa 1200 die ritterschaftlichen Geschlechter überwiegen. Eine ähnliche Unter-
suchung für das Kolonialland wäre wünschenswert. Th. Paas veröffentlicht wieder
Beiträge zur Geschichte von Steinfeld (Reliquien des hl. Norbert 1627 und ein
Gelöbnis-Formular von 1436 bei Übertragung eines Beneficiums). Die Aufsätze
von H. Kissel über Knechtsteden (57—66), Arnstein (148—156) und Schussen-
ried (374—382) bringen nichts Neues und nennen für Arnstein die neueste Literatur
nicht. Über belgische Stifte handeln Q. Nols, Les anciennes cures de l’abbaye
du Parc (109—120), J. A. Versteylen, Les chartes de fondation de l'abbaye du
Parc (121—131, Urkunde Friedrichs I. von 1154 mit Faksimile), M. de Meule-
meester, Les soeurs Norbertines de Tusschenbeek (192—199, 306—319), A. Erens,
Nachrichten und Notizen 427
De valsche Stichtingskronijk der Abdij Tongerloo (844—373) und Em. Val-
vekens, Rumoldus Colibrant, eerste Abt van Postel ( 1626), een figuur uit de
Premonstratenzer Reformatie (27—45) und De Admonitiones van prelaat Andries
van Sint-Michiels te Antwerpen 1588 (250—260). Die gute Lówener Dissertation
(1929) des P. Em. Valvekens, des Sekretürs der „Commissio historica ordinis
Praemonstratensis": De Zuid-Nederlandsche Norbertijner Abdijen en de Opstand
tegen Spanje (Maart 1576-1585) wird S. 387—395 ausführlich von Lefèvre be-
sprochen. — E. Becks Aufsätze ,,The appropriated churches of the English White
Canons“ (97—108, 177—191, 289—305) sind für die englischen Praemonstratenser-
stiftungen beachtenswert. — Zwei Anzeigen über denselben Aufsatz (J. Greven,
Die Schrift des Herimannus quondem Judaeus de conversione sua opusculum,
S. 406) hintereinander zu drucken, ist überflüssig. Im Anhang werden fortlaufend
die Urkunden von St. Katharinenthal und die Kapitelsprotokolle der schwäbischen
Zirkarie (1578—1688) veröffentlicht.
Breslau. W. Dersch.
Ludwig Götze, Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal. Neudruck der 1873
erschienen 1. Auflage. Mit einer Ergänzung von Kupka, Stendal 1929. 8".
642 S. Verlag Hermann Geißier, Inh. Karl Dannemann.
Da die 1. Auflage dieser wertvollen Stadtgeschichte seit Jahren völlig vergrifien
war, hat sich der genannte Verlag entschlossen, sie neu aufzulegen und von Kupka
von 1800 bis zur Gegenwart ergänzen zu lassen. Allerdings ist es kein Wiederabdruck
des alten Werkes, da verschiedene Kürzungen und Erweiterungen vorgenommen
sind. Mit dem, was ausgelassen und hinzugefügt ist, kann man völlig einverstanden
sein. Allerdings hätte, da doch nicht der alte Text wiederabgedruckt ist, vielleicht
noch einiges auf Grund neuer Forschungen hinzugefügt werden können. So 2. B.
hätte das Verzeichnis der Ratsmänner ergänzt werden können. Wertvoll ist das,
was Kupka teils als Überarbeitung und Ergänzung der G.'schen Geschichte. teils als
Fortführung der Arbeit bis zur Gegenwart uns bietet, und das allen wissenschaft-
lichen Anforderungen standhält. Auch das Namenregister von Kurt Meyerding
de Ahna ist eine wertvolle Bereicherung. Danach hätte aber auch das zweite alpha-
betische Register, das von Goetze übernommen und ergänzt ist, sorgfältiger durch-
gesehen werden müssen. Ein Orts- und Sachregister hätte genügt. Die Personen-
namen sind hier nur ungenügend angeführt. Aber auch verschiedene Orte fehlen.
Doch sollen diese kleinen Ausstellungen den Wert des Buches durchaus nicht be-
einträchtigen. Mag jede Stadt so liebevolle Bearbeiter für das Werden ihres Gemein-
wesens finden.
Neuruppin. Lampe.
Die Protokolle des Mainzer Domkapitels seit 1450. IIT. Band. 1. Hälfte,
Aus der Zeit des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514—1545, be
arbeitet und herausgegeben von D. Fritz Herrmann. Paderborn, Ferdinand
Schöningh, 1929. 508 S. 49.
Unter den reichen Handschriftenschützen des ehemaligen Mainzer Kurstaates,
die heute im Bayrischen Staatsarchiv Würzburg liegen, nehmen die Protokolle des
Mainzer Domkapitels einen besonderen Platz ein. Lebendiger als jede andere Quelle
lassen sie die Sorgen und Wünsche, die innere und äußere Politik dieser mächtigen,
428 Nachrichten und Notizen
zumeist aus Angehörigen des rheinischen Adels zusammengesetzten Körperschaft
in ihren unmittelbaren Äußerungen erkennen. Die Maßnahmen eines zähen und
mächtigen Gegenspielers des infolge seiner chronischen Geldnöte oft so ohnmächtigen
Erzbischofs treten darin zutage. Überdies zeigen sie den — ähnlich dualistisch wie
im typischen Ständestaat aufgebauten — Verwaltungsapparat eines wichtigen und
eigenartigen deutschen Territoriums und überliefern mit größter Deutlichkeit das
Technische der Beratungen, Wahlen, Beschlüsse und aller möglichen Rechtshand-
lungen. Dazu bieten sie auf Schritt und Tritt wertvolle Nachrichten zur Geschichte
des Kulturlebens, neben wirtschaftlichen Dingen — eine große Rolle spielt die Für-
sorge des Kapitels für Menge und Güte seiner Weine — stehen Angaben über welt-
liches und geistliches Gerichtswesen, aus den Bereichen von Kunst und Religion.
Diese Quellen im Original zu benutzen, ist sehr belehrend und erfreulich. Die
Historische Kommission für Hessen plant schon seit mehr als 20 Jahren ihren Druck
und hat nun die erste Hälfte des 3. Bandes herausgebracht, die die Jahre 1514—1531
umfaßt. Den Text vollständig abzudrucken, war unmöglich; daher werden deutsche
Inhaltsangaben von den anfangs meist lateinisch, später überwiegend deutsch ab-
gefaßten Einträgen geboten. Sie füllen allein für die genannten Jahre 508 große
Quartseiten.
Auf die mühevolle Editionsarbeit des verdienten Archivrates D. Fritz Herr-
mann, der das Vorliegende bearbeitet und erläutert hat, werden wir zurückkommen,
wenn der Band abgeschlossen ist. Der politische und der Kirchenhistoriker wird die
ihn berührenden Zeitabschnitte ganz durcharbeiten müssen; möge für den an einzel-
nen Personen oder Sachgebieten Interessierten ein reichhaltiges Register sorgen, in
dem z. B. der Biograph Karls von Miltitz von den Verhandlungen auf S. 243 an
alles Einschlägige bis zum letzten Urlaub (S. 424) und der Verfügung über die Kurie
des Verstorbenen (S. 426) und der Musikhistoriker die Orgelausbesserung auf S. 14
finden kann.
Leipzig. | Paul Kirn.
Paul Strassmann, Aus der Medizin des Rinascimento. An der Hand des „Leben
von Benvenuto Cellini“ nach der Übersetzung Goethes. Mit 22 Abb. Leipzig,
Georg Thieme Verlag 1930. 49. 56 S.
Paul Strassmann, der vielbeschäftigte Berliner Gynäkologe, beschenkt uns
mit, einer Studie zur Geschichte der Medizin im Zeitalter Cellinis. Die heute viel zu
wenig beachtete Übersetzung des Lebens von Benvenuto Cellini ist auch ihm zu
einem starken Erlebnis geworden. Die zahlreichen medizinischen Berichte, vor
allem die Krankheitsschilderungen, die dieses Werk enthält, reizen den praktischen
Arzt geradezu zu einer Darstellung, und darum wendet sich die Str.'sche Publikation
in erster Linie an die Ärzte. Strassmann hat versucht, in knapper, skizzenhafter
Form Ausblicke auf das gesamte kulturelle Leben im Zeitalter Cellinis zu ent-
wickeln und vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beleuchten. Kritisch
wäre etwa zu bemerken, daß der Einfluß Galens auf das Abendland im Mittelalter
entschieden zu stark überschätzt wird, — nicht anderthalb Jahrtausende, sondern
die Hälfte der Zeit ist er wirksam gewesen — während Strassmann zu Unrecht in
Albertus Magnus zu sehr den einseitigen Nachbeter des Aristoteles erblickt, der wie
die neuere Forschung zeigen konnte, selbständiger Meinungen durchaus nicht ganz
entbehrte. In dem Abschnitt über Astrologie wird vor allem ein Hinweis auf die
Nachrichten und Notizen 429
engen Zusammenhänge mit der Konstitutionslehre vermißt, die in den „Planeten-
kindern“ scharf umrissene Typen geschaffen hat. Der Hinweis darauf, daB sich
in Vesals Anatomie noch teilweise Abbildungen finden, die tierische Verhältnisse
wiedergeben, ist richtig, und darf vielleicht durch den Hinweis ergänzt werden,
daß vor allem an der Darstellung der Leber deutlich die allmähliche Überwindung
des Tierpräparates zu verfolgen ist.
Strassmanns Studie ist in einer sehr hübschen, sorgfältig gedruckten und vor-
bildlich illustrierten Fassung erschienen, die auch den Ansprüchen des verwöhnten
Bücherfreundes entsprechen dürfte.
Leipzig. Ludwig Englert.
G. Constant (Professeur à l'Institut Catholique de Paris), La Réforme en Angle-
terre, I. Le Schisme Anglican Henri VIII. (1509—1547). Paris, Librairie
Académique Perrin et Cie. 1930 (VI, 777 S.).
Der Verfasser ist durch sein zweibündiges Werk Concession à l'Allemagne
de la communion sous les deux espéces 1923 in Deutschland nicht unbekannt.
Nun greift er mit einem neuen umfassend angelegten Werk, dessen 1. Band zur
Besprechung steht, auf die englische Reformationsgeschichte über. Gründlichste
Beschäftigung mit Quellen und Literatur ist vorausgegangen. Das Buch enthält
neben 282 Seiten Darstellung rund 450 Seiten Anmerkungen, in denen C. neben den
Anlagen auch die Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen gibt. Diese Beherr-
schung des Stoffes ist der Arbeit in vieler Hinsicht zugute gekommen: Wertvoll
ist das Einschieben vieler zeitgenössischer Urteile, wichtig die klare Scheidung
der Verhandlungen in den beiden englischen Kammern u. a. Doch das Buch recht-
fertigt durch eine besondere Note sein Erscheinen. Constants Urteil über die eng-
lische Kirche der Zeit lautet: schismatisch, aber orthodox. Daher findet die englische
Mittelpartei, der Gardiner, Bonner, Tunstall, Stokesley angehórten, stürkste Be-
achtung. Auch die dogmatische Entwicklung, die an den einzelnen Bekenntnissen
verfolgt wird, ist unter diesem Gesichtspunkt dargestellt, so daB der Kampf Hein-
richs VIII. gegen Rom nur eine Episode des ewigen Streites zwischen Kirche und
Staat ist. Freilich gerade in diesem Punkte wird die Auseinandersetzung ein-
treten müssen. Denn darf man wirklich die 10 Artikel vom Jahre 1536 als orthodox
im Sinne der rómischen Kirchenlehre hinstellen? C. sieht sogar in ihrer Begründung
der Lehre auf die ganze heilige Schrift einen Gegensatz zu den Protestanten, „qui
rejettent de ce canon divers livres" S. 255. Man wird der Eigenart der englischen
Theologie, die ja auch in den Verhandlungen mit den Schmalkaldenern stark her-
vortritt, nur gerecht, wenn man ihrer inneren Verbindung mit dem Humanismus
nachgeht. Dann bleibt allein die Frage zu beantworten, ob die von den Oxford
Reformers eingeleitete Entwicklung von innen heraus den Bund mit Rom gesprengt
hätte, den diese Männer selbst aus Pietät oder Autoritütsbedürfnis festhielten.
Breslau. Hans Leube.
Johannes Paul, Gustaf Adolf. 2. Bd.: Schwedens Eintritt in den Dreißigjährigen
Krieg. Leipzig, Quelle & Mayer 1930.
Dem ersten Bande seines Gustaf Adolf (vgl. Hist. Vierteljschr. 24, 653, und
Nils Ahnlund in den Hansischen Geschichtsbl. 33, 1929, S. 225—231) hat Paul
in der vorgesehenen Einteilung den zweiten folgen lassen. Inzwischen hat er auf
dem Internationalen Historikertage zu Oslo über „Gustaf Adolf in der deutschen
430 Nachrichten und Notizen
Geschichtsschreibung einen Vortrag halten können, der in dieser Zeitschrift 25,
415ff. abgedruckt ist. Er gibt im wesentlichen das, was er als Vorwort oder Ein-
leitung für sein eigenes Werk hätte sagen können. Auch in der Festschrift für
Erich Brandenburg „Staat und Persónlichkeit" hat er einen hierher gehörigen
Beitrag veröffentlicht: „Die Ziele der Stralsunder Politik im Dreißigjährigen Kriege
Ein Fünftel etwa des neuen Bandes gibt die Grundlage für des Kónigs Eintritt
in die Weltpolitik, zeichnet Schwedens innere Entwicklung unter Gustaf Adolf,
wie sie im Ganzen seiner Regierung bis über seinen Tod hinaus gewesen ist. Diese
Kennzeichnung des Bodens, auf dem er stand, der Mittel und Menschen, deren er
sich bediente, ist bei aller gebotenen Knappheit ausreichend und lebendig, auch
selbständig im Urteil. Dann beginnt mit der Darstellung des Angriffs auf Preußen
im Jahre 1626 die Geschichte von Gustaf Adolfs auswärtiger Politik, die von nun
an den Band beherrscht. Von vornherein wird gezeigt, wie er von hoher Warte aus
alle Kriege in Europa als eine Einheit ansah. Schon in Preußen wird er als der
Löwe von Mitternacht begrüßt. Wie schwierig seine Lage war, wie er diplomatisch
und militärisch kämpfen mußte, das wird auch für die nächsten Jahre im Kampfe
gegen Polen gründlich und schrittweise gezeigt. Betont sei, daß Wallenstein den
Kampf des Kaisers gegen den Schwedenkönig eröffnet hat, wie mit Recht hervor-
gehoben wird. Die habsburgischen Vormachtpläne führen zum Kampfe um Stral-
sund. Es ist sehr gerechtfertigt, daß Paul das diplomatische Spiel gerade hier
ausführlich, aber auch durchsichtig vorführt. Die zwei Jahre bis zum persönlichen
Erscheinen des Schwedenkönigs auf dem Boden des Reichs werden in der ganzen
Breite ihrer politischen Erscheinungen dargelegt, alle Figuren im Schachspiel
geprüft, Lübecker Frieden und Restitutionsedikt gewürdigt und die langen Vor-
bereitungen in Schweden für das Eingreifen in Pommern nach Beweggründen und
Ziel ausgebreitet.
„Der Kampf um den pommerschen Brückenkopf“, „Magdeburg“ und „Von
Magdeburg bis Breitenfeld" sind die folgenden Hauptabschnitte. Schrittweise
in vielfältiger Auseinandersetzung mit G. Droysen und M. Ritter folgt Paul dem
Weg seines Helden in Krieg und Diplomatie bis zum großen Siege in der ersten
Feldschlacht. In großer Spannung entläßt er den Leser.
Leipzig. Hans Schulz.
Richard Konetzke. Die Politik des Grafen Aranda. Ein Beitrag zur Geschichte
des spanisch-englischen Weltgegensatzes im 18. Jahrhundert. |. Historische
Studien, herausgegeben von Dr. E. Ebering, Heft 182.| Berlin, Emil
Ebering, 1929. 217 S.
Konetzkis auf archivalischem Material in Wien, besonders aber in Madrid — die
Berliner Akten scheinen nicht berücksichtigt worden zu sein, obwohl der Verfasser in
Berlinlebt — beruhende Studie über den GrafenAranda willnichteine Biographie dieses
spanischen Diplomaten bieten, sondern sie behandelt im wesentlichen nur die 14 Jahre
von 1773—1787, während deren er Botschafter am Hof von Versailles war, und wenn
Aranda auch vorher schon in der inneren Politik seines Vaterlandes eine wichtige
Rolle gespielt hatte, so stand für ihn die AuBenpolitik doch an erster Stelle, und des-
halb gehören die 14 Jahre seiner Botschaftertätigkeit in Frankreich zu den bedeutend-
sten scines Lebens. Sein Ziel war die Hebung der internationalen Stellung Spaniens
gegenüber Frankreich, an das es durch den Bourbonenvertrag von 1761 gekettet
Nachrichten und Notizen 431
war, gegenüber England, dessen koloniale Begehrlichkeit die sichere Zukunft des
spanischen Kolonialreiches in Amerika zu bedrohen schien. Das Mittel war ihm zu-
nächst die Stärkung seines Heimatlandes im Mittelmeergebiet durch Wiedererlangung
der in englischem Besitz befindlichen festen Stellungen Gibraltar und Minorca,
während er der Behauptung der spanischen Macht in Marokko skeptisch gegen-
überstand, sodann aber besonders die Bekämpfung Englands in Nordamerika.
Aranda ist es gewesen, der mit Feuereifer die Beteiligung Spaniens am Unabhüngig-
keitskrieg der englischen Kolonien an der Seite Frankreichs betrieben hat; im Grunde
genommen eine kurzsichtige Politik, denn wohl wurde England durch den Verlust
seiner amerikanischen Kolonien empfindlich, wenn auch keineswegs vernichtend,
getroffen; für Spanien bestand jedoch nunmehr die Gefahr, daB es, da das englische
Kanada nicht in Betracht kam, fortan neben den Vereinigten Staaten auf dem
amerikanischen Kontinent die einzige europüische Macht war, und ob die Vereinigten
Staaten wirklich, wie Aranda hoffte, sich durch ein Gefühl von Dankbarkeit von einem
Übergreifen auf spanischen Besitz auf die Dauer würden zurückhalten lassen, war
zum mindesten fraglich; gleichwohl hat er den AnschluB betrieben, weil er England
überhaupt schwächen wollte, um seine Absichten auf den gesamten Kolonialbesitz
Spaniens in Amerika auch in der Zukunft zu vereiteln, und unter diesem Gesichts-
winkel betrachtet, hat Arandas Politik doch eine gewisse Berechtigung.
Aranda hat seine politischen Ideale an leitender Stelle zu vertreten niemals Ge-
legenheit gehabt; er hat Ratschläge nach Madrid erteilt, er hat scharfo Kritik geübt.
weil seine Ratschläge vom Standpunkte der gesamt-spanischen Interessen aus nur
zu oft nicht befolgt worden sind; die Frage muß deshalb offen bleiben, ob er an ober-
ster verantwortlicher Stelle seine antienglische Politik, so wie sie ihm während seines
Aufenthaltes in Frankreich vorschwebte, wirklich in die Tat umgesetzt hätte, in die
Tat hätte umsetzen können. Und als er schließlich im Jahre 1792 im Alter von
73 Jahren Staatssekretär des Äußeren wurde, betrachtete er es als seine, wie wir heute
wissen, letzten Endes unlösbare Aufgabe, gegenüber dem revolutionären Frankreich
die politische Lage aufrechtzuerhalten, welche einst, vor drei Jahrzehnten, zum Ab-
schluß des Bourbonenvertrages geführt hatte, weil, wie er wenigstens meinte, die
Gefahr bestand, daß bei einem Zerwürfnis zwischen Frankreich und Spanien England
über die spanischen Kolonien in Amerika herfallen würde; sogar die Hinrichtung
Ludwigs XVI. hat ihn in dieser Neutralitätspolitik nicht wankend zu machen ver-
mocht, freilich, da damals bereits der Friedensfürst Godoy die spanische Außen-
politik leitete, war Aranda der eigentlichen Verantwortung überhoben. Es ist, wie der
Verfasser mit Recht betont, und wie auch der Untertitel seiner gewissenhaften Studie
hervorhebt, der Gegensatz zu England, der vor allem Arandas politisches Denken und
Handeln bestimmt, ein Gegensatz, der nicht kontinental umgrenzt ist, der nicht an
Europa haftet, der vielmehr seine Berechtigung in dem Streben nach der Behauptung
von Spaniens weltpolitischer Stellung findet,
Göttingen. Adolf Hasenclever.
Sonderveröffentlichungen der Ostf&lischen Familienkundlichen
Kommission. Leipzig. Nr. 1. Kinderbuch der Brauer- und Bäcker-Innung
der Altstadt-Magdeburg. Hrsg von Ernst Neubauer. 1928. Nr. 2. Das
Bremer Adreßbuch von 1796. Hrsg. von Hermann Entholt. 1929. Nr. 8. Das
Woltenbütteler Adreßbuch von 1725. Hrsg. von Paul Zimmermann. 1929:
432 Nachrichten und Notizen
Die nun im vierten Jahre bestehende Ostfälische familienkundliche Kommission
hat beschlossen, „Einzelquellen, die ausschließlich oder überwiegend aus Namen
und Zahlen bestehen, in Faksimile zu veröffentlichen“. Das ist an und für sich ein
sehr schöner Gedanke, doch muB man sich fragen, ob sich dabei auch immer die
Kosten lohnen. In der Hauptsache sollten doch wohl nur solche Handschriften 1m
Manulverfahren vervielfältigt werden, die sehr wertvoll sind und vielleicht trotz
aller Konservierungsversuche immer mehr zerfallen. Das trifft wohl für alle drei
Veröffentlichungen nicht zu. Und doch ist die Herausgabe des Kinderbuches
wegen seiner Eigenart in diesem Verfahren willkommen. „Ein Kinderbuch ist ein
Buch, in das die Mitglieder einer Innung ihre Kinder eintragen ließen, um ihnen da-
durch die Mitgliedschaft urkundlich zu sichern, sobald sie erwachsen waren“, sagt
der Herausgeber, der bekannte Magdeburger Stadtarchivar. Das Buch enthält
Eintragungen von 1634 bis 1697. Und das ist der Wert des Buches für Magdeburg.
Die Zerstörung Magdeburgs vom 10./20. Mai 1631 hatte fast restlos alles urkund-
liche Material vernichtet. Nun mußte mit allem von vorn angefangen werden.
Da setzen die Kinderbücher bei den Innungen ein. Die vorliegenden Aufzeichnungen
bringen auch Kinder, die vor dem Brande geboren sind. Sie enthalten ferner, da
ja zur Brauerinnung fast alle wohlhabenden Familien der Stadt gehörten, viel über
diese. Aber gleichzeitig werden dadurch auch die Braugerechtigkeiten wieder fest-
gelegt. Es ist also ein Buch, das über den familiengeschichtlichen Wert hinaus
auch große Bedeutung für die Stadtgeschichte hat. Eine treffliche Einleitung und
ein einwandfreies Register gehen dem Manuldruck voraus.
Weniger kann ich mich von der Notwendigkeit eines Neudruckes der beiden
AdreBbücher überzeugen. Es ist sicher auch kulturhistorisch sehr lehrreich, sich
einmal in diese alten AdreBbücher zu vertiefen, doch das rechtfertigt wohl kaum
einen Neudruck. Auch bezweifele ich, ob sie gerade für die Familienforschung von
so überragender Bedeutung sind, daß sich zumal ein Manuldruck als notwendig
erwiese. Sollte es da nicht auch für die Familiengeschichte wichtigere Quellen geben,
die veróffentlicht werden kónnten? Ich denke da z. B. an Bürgerbücher, Innungs-
rollen und Lehnskopiare. Immerhin wollen wir auch diese Veróffentlichungen
dankbar begrüBen, da nun manch einem die Gelegenheit gegeben wird, sich ein-
gehend in aller Ruhe in diese Schriften zu vertiefen. Hervorheben móchte ich noch
die gediegene Einleitung, die P. Zimmermann dem Wolfenbüttler Adreßbuch voraus-
schickt, in der er auch den ersten Herausgeber, den Kupferstecher Jacob Wilhelm
Heckenauer, würdigt.
Adalbert Scharr, Chronik der Familie Klavehn, Halberstadt 1928. Privatdruck.
Werner Küchenthal, Geschichte des Geschlechtes Küchenthal, Küchendahl,
Kükenthal, Kückenthal, Kückendahl. 182 S. und 5 Stammtafeln. Braun-
schweig 1928. Beiträge zur Deutschen Familiengeschichte. Herausgegeben von
der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte. Band 7.
Leipzig 1927.
Die Familie Klawehn stammt aus dem Kreise Neuhaldensleben und läßt sich
dort seit ungefähr 1600 in ununterbrochener Stammfolge in Süpplingen nachweisen,
von denen ein Zweig nach Althaldensleben übersiedelt und in der 2. Generation (um
1815) zum Handwerk und dann zum Leinenhandel übergeht. Dadurch wurde ein
Grund zum sozialen Aufstieg der Familie gelegt, die heute in Magdeburg eine an-
Nachrichten und Notizen 433
gesehene Stellung einnimmt, gleichzeitig aber auch durch den Erwerb eines Muster-
gutes zur Beschäftigung der Väter zurückgekehrt ist. Scharr hat in lebendiger Dar-
stellung ein Bild von dem Aufstieg der Familie gegeben und gut ausgearbeitete
Stammtafeln beigefügt. Als Zeichen selbstbewußten Bürgertums ist das von Guein-
zius entworfene und gezeichnete Wappen dem Werke vorangestellt, das auch sonst
reichlich mit gutem Bildschmuck versehen ist.
Mit großer Sorgfalt hat Küchenthal alle Nachrichten über seinen Namen ge-
sammelt und legt uns dieses Material vor. Da die Familie zuerst Anfang des 15. Jahr-
hunderts in der Nähe der Wüstung Kuckenthal in der Grafschaft Hohenstein auftritt,
so ist die Namengebung nach diesem Orte als die wahrscheinlichste anzunehmen.
Fast restlos glaubt Verf. alle K. auf einen gemeinsamen Stammvater zurückführen
zu können. — Einige nicht unterzubringende Namensträger werden gleich zu Anfang
genannt. — Allerdings fehlen meist, wie Verf. gesteht, die urkundlichen Beweise.
Beim 2. Hauptstamm (Friedrich) scheint mir der Zusammenhang am fraglichsten
zu sein, da dort die wirtschaftlichen Verhältnisse ganz anders liegen. Aber sonst wird
man im großen und ganzen dem Verf. folgen können. Es werden gesondert 3 Haupt-,
2 Nebenstämme und 3 Linien behandelt. Mit der letzteren Bezeichnung will wohl
Verf. andeuten, daß der Zusammenhang am fraglichsten ist, obwohl mir die Ver-
wandtschaft der Großbodungen-Buhlaer Linie mit den Bleichrödern durch Vor-
namengleichheit sicherer erscheint als die des 2. Hauptstammes. Hierbei sei bemerkt,
daß Hans Scheffer, gen. Küchenthal sicher kein Sohn erster Ehe, sondern ein vor-
eheliches Kind ist. Als Quellen kommen für die vorliegende Arbeit außer den Kirchen-
büchern Urkunden, „Archivalien“ und Leichenpredigten in Betracht. Was sonst
Verf. als „benutzte Quellen" anführt, sind durchweg Bearbeitungen, die auch aus-
giebig von ihm, allerdings nicht kritiklos, verwertet werden. Leider fehlt das wohl
wichtigste Verzeichnis der behandelten K., während Verzeichnisse der angeheirateten
Personen und der vorkommenden Orte vorhanden sind. Aber was am meisten ver-
mißt wird, ist, daß Verf. nicht über eine an sich wertvolle Materialsammlung hinaus-
kommt und eben keine Geschichte, wie der Titel sagt, bietet. An die Geschichte
eines Geschlechtes sind doch höhere Anforderungen zu stellen, aber als Material-
sammlung ist die Arbeit sehr verdienstlich.
Neuruppin. ` Lampe.
Walter Elze, Der Streit um Tauroggen. Breslau (Ferdinand Hirt) 1926. 88 S. 8°,
Gewiß kein weit ausschauendes Problem, das E. in dieser Abhandlung unter-
sucht; die Frage wird an Hand der Quellen einer eingehenden Prüfung unterworfen,
ob Yorck bei der Konvention von Tauroggen aus eigener Verantwortlichkeit ge-
handelt hat oder ob er durch geheime königliche Instruktionen gedeckt war. Zu-
nächst gibt E. eine Übersicht über die Entwicklung der Tauroggenfrage in der
historischen Literatur von Droysen, der als erster die Nachricht von der geheimen
Instruktion durch v. Seydlitz in die Literatur eingeführt hatte, ohne sich aber in
der Annahme der vollen Verantwortlichkeit Yorcks irre machen zu lassen, bis auf
die neuesten Erörterungen der Frage. Dann wird die Überlieferung des Majors
von Seydlitz und des damaligen Majors und persönlichen Adjutanten Friedrich
Wilhelms III., von Wrangel, die beide geheime Instruktionenen für Yorck behaupten,
in nicht immer ganz glücklichen quellenkritischen Darlegungen untersucht mit dem
Ergebnis, daß weder die Seydlitzsche Instruktion, Yorck möge „nach Umständen“
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 2. 28
434 Nachrichten und Notizen
handeln, noch die Wrangelsche Überlieferung königlicher Weisungen über eine
Trennung seines Korps von den Franzosen auf die Konvention von Tauroggen bezogen
werden können, daß also an der vollen Verantwortlichkeit Yorcks für seine politisch
wie militärisch bedeutsame Tat nicht mehr zu zweifeln ist. W.
Ludwig Freiherr von Biegeleben. Ein Vorkämpfer des groBdeutschen Ge-
dankens. Lebensbild, dargestellt von seinem Sohne Rüdiger Freiherr von
Biegeleben. Amalthea-Verlag Zürich-Leipzig-Wien 1929, 393 S.
Die hier durch den Sohn vorgelegte Biographie Biegelebens bedeutet im Grunde
eine schwere Enttäuschung, zum mindesten für den Historiker, denn er findet in
diesem Band sehr wenig Neues. Wir lernen in der Biographie, so sehr man manches
von der Schilderung des Sohnes über den Vater abstreichen muß, einen menschlich
sympathischen und künstlerisch interessierten Menschen kennen, aber die politische
Seite seiner Tätigkeit, und damit die Hauptseite, kommt völlig zu kurz. Das liegt
nur zum Teil daran, daß das vorliegende Buch bereits 1908 abgefaBt ist und die
spätere Literatur nicht mehr berücksichtigt. Auch nicht deshalb, weil, wie
verständlich, der Verfasser einen etwas einseitigen antipreußischen und anti-
bismarckschen Standpunkt einnimmt und sich nicht den Gesichtspunkt zu eigen
macht, den Srbik in seinem schónen, dem Buch vorausgeschickten Vorwort fordert:
»Verstehen des Trennenden deutscher Geschichte ist Vorbedingung deutscher Zu-
kunft." Vor allem deshalb ist das Buch enttäuschend, weil das mitgeteilte Material
aus dem FamiliennachlaB ziemlich nichtssagend ist und auch der Anhang, auBer
zwei Denkschriften von 1848, die sich mit dem Gedanken einer Einteilung Deutsch-
lands in 22 Reichsländer beschäftigen, über die politische Tätigkeit Biegelebens so
gut wie nichts enthält. Die zahlreichen Privatbriefe, vor allem der Briefwechsel
Biegelebens mit seiner Frau, sind politisch fast bedeutungslos, auch in der Zeit,
in der Biegeleben Legationssekretär Hessen-Darmstadts in Wien und dann Unter-
staatssekretär im Ministerium der Frankfurter Nationalversammlung war. Über die
politische Entwicklung bis 1848 erfahren wir so gut wie nichts und auch für die Stim-
mungen in der 48er Zeit sind die Briefe der Frau gelegentlich interessanter als die
meist ganz farblosen des Gatten. Auch seine Mitteilungen über die Verhandlungen,
die zum „Interim“ von 1849 führten, sind über Einzelheiten hinaus recht unbedeutend.
Als Biegeleben dann 1850 nach Wien berufen wurde, und dort im österreichischen
Staatsdienst Referent für die deutsche Politik Österreichs wurde, bricht die Mit-
teilung der Korrespondenz vóllig ab, so daB wir über die eigentlich entscheidende
Tátigkeit Biegelebens überhaupt dokumentarisch nichts erfahren, zumal die Dar-
stellung des Sohnes nie entscheiden läßt, was sein eigenes Räsonnement und was
wirklich Ansicht des Vaters war. Immerhin sei verzeichnet, daß er Olmütz als
Triumph begrüßt und im Grunde darüber hinaus es für einen Fehler hält, daß man
PreuBen damals einen Vergleich gewührte, anstatt ihm eine entscheidende Niederlage
beizubringen (S. 250). Diese Auffassung ist auch insofern nicht uninteressant, als
sie zeigt, daB man Biegeleben doch kaum, wie es im Untertitel heißt, „einen Vor-
kämpfer des groBdeutschen Gedankens“ nennen kann, denn was er als österreichischer
Staatsdiener vertrat, war österreichische und nicht groBdeutsche Politik. So spricht
er selbst in einem Brief bei Übernahme des Amtes von seiner „‚Austriazisierung“
(S. 238).
Marburg/Lahn. Wilhelm Mommsen.
Nachrichten und Notizen 435
Edgar Bonjour, Preußen und Österreich im Neuenburger Konflikt 1856/57.
Bern 1930. 60 S. 89, (Separatdruck aus der „Zeitschrift für Schweizerische
Geschichte“, X. Jhrg., Heft I.)
Die auf Grund bisher unbekannter Quellen aus dem Preußischen Geheimen
Staatsarchiv und dem Brandenburgisch-PreuBischen Hausarchiv gearbeitete
Studie untersucht den Streit zwischen Preußen und der Schweiz um das Neuen-
burger Land vornehmlich nach der ideellen Seite — den politischen Anschauungen
Friedrich Wilhelms IV. entsprechend — als Aus einandersetzung zwischen den
Grundsätzen der althergebrachten monarchischen Ordnung und dem modernen
Prinzip der Revolution. Die, allem politischen Interesse entgegen, von dem preu-
Bischen König sehnsüchtig erstrebte Solidarität der beiden deutschen Großmächte
gegen den politischen Radikalismus der Schweiz läßt der Verfasser durch ihre
Rivalität um die Hegemonie in Deutschland als unmöglich erscheinen; wenngleich
B. mit gutem Recht auch auf Österreichs gefährdete Lage innerhalb der revolutio-
nären und internationalen Spannungen jener Epoche hinweist, die in Wien die
Befürchtung nährte, daß eine kriegerische Lösung des Neuenburger Handels den
schwelenden Brand der Revolution neu entfachen würde. Selbst gegen die Zu-
sicherung preußischer militärischer Hilfe zur Behauptung seines Besitzstandes in
Italien verweigert Österreich eine tatkräftige Unterstützung. Edwin von Man-
teuffel, der Anfang Januar 1857 in Sondermisssion zu Franz Joseph nach Italien
geeilt war, kehrte ohne positive Zusicherungen des Kaisers nach Berlin zurück.
Im Anhang der flüssig geschriebenen Arbeit wird ein Briefwechsel zwischen
Friedrich Wilhelm IV. und Kaiser Franz Joseph erstmalig veröffentlicht. Bedauerlich,
daß der Verfasser — mit Ausnahme der eigenhändigen Instruktion des Königs für
Edwin von Manteuffel — auf die Wiedergabe der wertvollen auf die Mission
Manteuffels bezüglichen Dokumente verzichtet hat.
Berlin. Herbert Michaelis.
Aus genealogischen Zeitschriften.
Das eifrige Arbeiten am Ausbau der genealogischen Zeitschriften hat angehalten.
Neue, meist landschaftliche sind entstanden, die die Quellen ihres besonderen Ge-
bietes aufzuschließen versuchen. Eine große Anzahl von Namensverzeichnissen
wollen die in den Archiven oder im Privatbesitz befindlichen Quellen der Allgemein-
heit zugänglich machen. Dazu dienen auch weiter zahlreiche Aufsätze zur För-
derung der genealogischen Wissenschaft. Als erste nenne ich wieder die Familien-
Blätter‘. Aus Anlaß des 25jàhrigen Bestehens der Zentralstelle in
Leipzig hat das Institut begonnen, Ahnentafeln berühmter Deutscher herauszugeben,
die vorerst in diesen Blättern veröffentlicht werden. Dazu steuert in diesem Ab-
schnitt bei: Peter von Gebhardt die Ahnentafeln von Oswald Spengler (Vorfahren
um 1700 aus der Harzgegend)*, Ernst Moritz Arndt, dessen Urgroßvater erst auf
Rügen nachzuweisen ist“, des Juristen von Savigny, dessen Vorfahren erst seit
der Übersiedlung des Geschlechts nach Deutschland (um 1600) als sicher beglaubigt
gelten können“, Anselm Feuerbach, dessen Vorfahren aus der Wetteraue stammen*.—
1 Hrsg. v. d. Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig.
Monatsschrift für die gesamte deutsche wissenschaftliche Genealogie. 26. Jg. (1928), H.11—12;
27. Jg. (1929); 28. Jg. (1980), H. 1A.
® Ebenda 26, 319—8260. ° Ebenda 27,691. * Ebenda 27,98—98. * Ebenda 27, 207—270.
28*
436 Nachrichten und Notizen
Joachim von Goerzke* gibt die Ahnentafeln des Fürsten Bernhard von Bülow,
die wie die Ahnentafeln Bismarcks und Hindenburgs in glücklicher Weise Adel und
Bürgertum verbinden. Als Ergánzung dazu kann man die Arbeit Paul Th. Hoft-
manns“ ansehen. Die mütterliche Linie des Fürsten (die Hamburger Kaufmanns-
geschlechter Rücker und Jenisch) sind kurz angegeben. — Kurt Berger und Ger-
hard Stephan bringen die Ahnentafel von Gotthold Ephraim Lessing und stellen
soziologische Betrachtungen voran*. — Auch Ansätze zu Sonderheften hat die
Zeitschrift gemacht, von denen eines Oldenburg? gewidmet ist, ein anderes Bismarck!
ein drittes schließlich norddeutsche Familienforschung behandelt!. Im ersten Heft
veröffentlicht Ludwig Koch eine Übersicht über die kirchlichen familienkundlichen
Quellen des Herzogtums Oldenburg!? und beschäftigt sich in einem weiteren Aufsatz“
mit dem Pastorengeschlecht der Armbster, die von 1666—1799 7 Pastoren gestellt
haben. Georg Jansen!* gibt Beiträge zu den heimatlichen Namen im nördlichen
Oldenburg. Im zweiten Hefte führt Herbert Fuhst“ den Nachweis, daB Bismarcks
mütterliche Großmutter tatsächlich aus der ostpreuBischen Wildnisbereiterfamilie
Böckel stammt, und A. Rieber gibt Ergänzungen zu Bismarcks süddeutschen
Ahnen aus Ulm und Memmingen, deren ältester Vorfahre wahrscheinlich der Bürger-
meister Leo zu Giengen 1283 ist!é. Beigefügt ist eine Enkeltafel des Fürsten. Im
dritten spricht Georg Fink” über die reichlichen Hilfsmittel der Lübecker Familien-
geschichtsforschung und Hagedorn!* erläutert die Bedeutung des Hamburger
Staatsarchivs für die Hamburgische Familiengeschichtsforschung. Hans Arnold
Plóhn!* beschäftigt sich mit dem Ursprunge der ständischen Entwicklung Hol-
steins und weist nach, daß nur in der Haseldorfer Marsch Ministerialen gesessen
haben. Nach den einschneidenden Jahren 1223—1227 bildet sich die Ritterschaft,
die im Lehnsverhältnis zum Landesherrn steht, aber sich nicht mehr durchweg aus
einheimischen Familien zusammensetzt. — Aus der Arbeit von Eric von Born*
erfahren wir, daß um 1500 in Schweden die Namen erblich werden und erst später
in den übrigen nordischen Ländern; dies geht auch aus einer Studie von Aj. Björk-
man und Karl Hedman über älteste Kaufmannsgeschlechter in Christinenstadt
hervor. — Sehr wertvoll ist die Arbeit von Freiherrn von Houwald®®, der auf
Grund neuen ermittelten Materials nachweist, daß Caroline von Moggen wohl die
zweite Frau des Vicekolonells Christoph von Müllendorf (Mihlendorf), aber nicht
die Mutter des Christoph Friedrich v. M., des Pflegesohnes des Grafen Ch. Ernst
von Manteuffel gewesen ist, auf dessen Veranlassung er 1742 den Titel Freiherr
von Manteuffel bekommen hat, sondern Friederike von Biehsenroth. Er vermutet,
daß der Kolonell, über dessen Herkunft wir sonst nichts wissen, zur altmärkischen
* Ebenda 28, 1—4.
2. d. Zentralstelle f. niederskchs. FG. 11. Jg. S. 129—131.
* FG. B. 11. 27, 23—28. * Ebenda 27, H. 1. 1 Ebenda 27, H. 4.
" Ebenda 28, H. 3—4. 18 Ebenda 27, 1—14. 1 Ebenda 27, 19—21.
^ Ebenda 27, 18—16.
18 Bismarcks ostpreußisches Blut. 1% Ebenda 27, 117—120.
1” Die Lübeckische Familiengeschichtsforschung und ihre Hilfsmittel. Ebenda 28, 71—78.
18 Ebenda 28, 97—102.
10 Die Ursprünge der ständischen Entwicklung Holsteins. Ebenda 28, 107—114.
** Namen- und Wappenstudien in Nordeuropa. Ebenda 28, 116—118.
m Genealogiska Samfumdets 1 Finland 18, S. 303, 3211.
® Zur Abstammung des preußischen Ministerpräsidenten Otto und des Generalfeld-
marschalls Edwin Freiherren von Manteuffel. FG. B. 11, 27, 137—140.
Nachrichten und Notizen 437
Familie von Müllendorf gehört. — von Ehrenkrook® bespricht die Stammreihe
des Hannöverschen Geschlechts von Rhoden. Er vermutet einen Zusammenhang
der in Südhannover auftretenden Geschlechter dieses Namens, äußert sich aber
leider nicht über die Verwandtschaft mit den Hardenbergs, die von den R.'s behauptet
wird. — O. Hütteroth** weist nach, daß die Familie von Saint George in Freyse
aus dem Geschlecht Tonsor (Scherer) stammt. — Zusammenfassend handelt Fr.
v. Klocke über Wolfram von Eschenbach und sein Geschlecht, wobei er den
Dichter in die urkundlich bezeugten Herren v. E. einzureihen sucht. — Forch
spricht über die Müllergeschlechter der Neumark nebst Grenzgebieten. — Wor-
ringer“ stellt die familiengeschichtlichen Quellen Kurhessens zusammen, und
K. H. Lampe: prüft die Glaubwürdigkeit der sogenannten Feldmannschen Chronik
von Neuruppin. — Mit allgemeinen Fragen beschäftigen sich verschiedene Auf-
sätze. Felix Landois® stellt als Grund für das Erlöschen der Familien im Mannes-
stamm fest: Zölibat, sterile Ehen, absichtliche beschränkte Kinderzahl, gehäufte
Mädchengeburten, Tod im Jünglings- und Unmündigenalter und Kriegsverluste.
Das einzige Mittel, das Aussterben der Familien zu verhindern, scheint ihm Hebung
der Familientradition und des Familiensinnes zu sein. — Gottfried Rößler liefert
Beiträge zur Philosophie des Genealogischen?®, und beschäftigt sich in einem
weiteren Aufsatz mit der Frage der Rassenhygiene und Familienpolitik i. Endlich
möchte ich die Arbeit des Schriftleiters der Zeitschrift, Joh. Hohlfeld“, erwähnen.
Er bescháftigt sich mit der Volksgenealogie und weist nachdrücklich auf das viele
deutsche Blut im Auslande hin, das schnell seine Verbindung mit der Heimat verliert.
Er fordert einen Zentralauswandererkatalog, um die volksmäßige Abstammung er-
fassen zu kónnen, und verspricht sich ein Festhalten der Deutschen an ihrem Volks-
tum, wenn die Familientradition nicht abreißt. — Empfehlend sei auf die Ver-
öffentlichung der Kamenzer Bürgerbücher durch Gerhard Stephan“ hingewiesen.
Für das niedersächsische Gebiet ist die Zeitschrift der Zentralstelle für Nieder-
sächsische Familienforschung in Hamburg durchaus führend. Sie vor allem trägt
durch Veröffentlichungen vieler alter Register dazu bei, daß der tote Punkt, der oft
beim Aufhören der Kirchenbücher eintritt, überwunden wird. Es sind da zu nennen
die Kornregister des St. Johann. Klosters in Hamburg®, das Lüner Schatzregister
um 154096, das Türkensteuerregister für das Amt Lauenburg a. Elbe von 1557 und
die Ahrenbóker Heuer-Register von 1622**, Um die Erschließung der Stadtarchive
1 Niedersächsische Beamtenfamilien. IIL Die Familie von Roden. Ebenda, 27, 277—253.
“ Die ältesten Vorfahren der Familie von Saint George in Treysa. Ebenda 27, 830—846.
* Zur Familiengeschichte Wolframs von Eschenbach und seines Geschlechtes. Ebenda 28,
3—20.
Ebenda 27, 345—352. m Ebenda 28, 21—34.
ss Kritische Bemerkungen zu Bernhard Feldmann, Miscellanea Historica der Stadt Neu-
Ruppin. Ebenda 27, 851—360.
se Das Problem des Erlóschens von Familien im Mannesstamme. Ebenda 27, 209—222.
% Ebenda 27, 257—202. 31 Ebenda 27, 333—340.
** Auslandsdeutschenforschung. Ebenda 27, 161—170.
ss Ebenda 27, 41—48, 91—94, 128—120, 147f., 171—176, 225—228, 361—364, 385—388;
24, 35—40, 119f.
Herausgeber Wilhelm Weidler, 10. Jg. (1928). H. 11—12; 11. Jg. (1929).
ss Von Armin Clasen. Ebenda 11, 1—7.
se Von Ernst Reinstorf. Ebenda 11, 53—57, 65— 71.
*' Von demselben. Ebenda 11, 151—155.
? Von Friedrich Knoop. Ebenda 11, 155—100.
438 Nachrichten und Notizen
für familiengeschichtliche Zwecke machen sich Georg Nahnsen®® und Wilhelm
Weidler“ verdient. — Th. O. Achelis bringt eine Liste der Hadmerslebener
Stadtschreiber von 1569—1850 mit Lebensläufen® und Mecklenburgische Lehrer-
verzeichnisse@ als Fortsetzung früher schon veróffentlichter Verzeichnisse aus
anderen Gegenden. — Über einzelne Familien oder Personen haben wir Aufsätze
von P. v. Gebhardt“ und von Ludwig Volkmann“, der über den Bürgermeister
Dietrich V. (1582—1664), einen Tuchmacher von Beruf, spricht und ein anschau-
liches Bild von seinem Streite mit dem Amtsvogt Balthasar von Bothmer in Falling-
bostel gibt. — Franz Reiche“ schildert Joh. Albert Heinrich Reimarus (1694 bis
1768), den Sohn des Wolfenbütteler Fragmentisten, als Arzt. — Karl Nissen liefert
Beiträge zur Geschichte des alten Pastorengeschlechts Augustiny, das seit 1560
in Schleswig-Holstein ansássig ist. — Georg Nahnsen* gibt einen kulturgeschicht-
lich interessanten Überblick über die ültesten Kaufmannsgeschlechter Hannovers
seit 1241 nach dem ältesten Kopmansbok. — Ernst G. J. Knoop“ druckt seine
bedeutend erweiterte Übersicht über die familiengeschichtliche Quellenkunde
Schleswig-Holsteins ab. — Carl Ludwig Wunderlich“ stellt die Familiengeschichten
und -blätter mecklenburgischer Familien zusammen. — Wilhelm Jensen“ kommt
zu dem Ergebnis, daB innerhalb eines von ihm untersuchten Zeitraums von 200
Jahren (1700—1900) die Beziehungen zwischen den hannóverschen und holsteinschen
Elbmarschen nicht sehr eng gewesen sind. — Westberg#! setzt seine genealogisch-
juristischen Mitteilungen über Entscheidungen der hóchsten Gerichte fort. — Am
interessantesten ist der Vortrag von Georg Nahusen** über mittelalterliche Fa-
milienforschungen. Unter Mittelalter versteht er die Zeit von der Entstehung der
Familiennamen bis zur Einführung der Kirchenbücher, also gleich der 11. bis 20.
Generation. Er gibt Hinweise für Adels-, Kaufmanns-, Rats- und Handwerker-
geschlechter, bei denen es durch die vorhandenen Quellen meist nicht allzuschwer
fallen kann weiterzukommen, auch móglichst die nackte Stammtafel durch lebens-
volle Hinweise zu ergänzen und dadurch hier schon Fragen zu lösen, die die moderne
Genealogie wesentlich bescháftigen. Am schwierigsten wird immer die Erforschung
der Bauerngeschlechter in den früheren Zeiten bleiben. |
Im Deutschen Herold 9) tritt die Behandlung der Wappenfragen mehr hervor.
Gerhard Wernicke“ unterrichtet über die Siegel und Wappen der Stadt Beelitz
Die umfangreiche Arbeit von Macco* bringt fast in jedem Hefte 16 Siegel von
Rhóngeschlechtern, sowie Nachrichten über die betreffenden Familien; die er in
o» Das Stadtarchiv Hannover als Quelle für dle Familienforschung. Ebenda 11, 27—33.
** Die Bedeutung des Altonaer Stadtarchivs für die Familienforschung. Ebenda 11, 120
bis 129. a Ebenda 11, 7f. € Ebenda 11, 97f., 250f.
* Stammliste Wetken. Ebenda 11, 242ff.
Ebenda 11, 17—27. * Ebenda 12, 1—5. ** Ebenda 12, 8—11, 17—23.
" Ebenda 12, 23—27, 41—47. * Ebenda 11, 105—112. * Ebenda 12, 57—66.
* Diefamiliengeschichtlichen Beziehungen zwischen den hannöverschen und holsteinischen
Elbmarschen. Ebenda 11, 131—135.
1 Ebenda 11, 209—218.
Mittelalterliche Familienforschung. Ebenda 11, 178—185.
9 Zeitschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde. Hrsg. v. Verein,, Herold“, Berlin.
Schriftleiter: G. Adolf Cloß. 59. Jg. (1928), H. 11—12; 60. Jg. (1929); 61. Jg. (1930), H. 1—6.
Ebenda 60, 35ff.
* Zur Siegel- und Familienkunde einiger Rhönfamilien. Ebenda 60, 4f., 16, 24ff., 34 fl.,
45ff., 54f., 64 f., 77f., 3 f., 93 f., 1171., 1261; — 61, 4ff., 21ff., S8f.
Nachrichten und Notizen 439
Akten verschiedener Archive gefunden hat. Ottfried Neubecker“ bespricht die
neuen Wappen der preußischen Provinzen, die leider oft nicht den Regeln der
Heraldik entsprechen. Derselbe weist an Hand von Abbildungen und Erläuterungen
nach, welche Rolle die Politik jetzt auch in der modernen Heraldik spielt. — Ebenso
unheraldisch sind die meisten studentischen Wappen, über die eine kleine Abhandlung
von W. Czermak®? unterrichtet. Und schließlich bespricht Kurt Mayer“ das
Wappenwesen der Grafen von Orlamünde. — Freiherr von Houwald® kommt zu
der Feststellung, daß der untitulierte russische Adel in Deutschland nur das Adel-
zeichen führen darf, das ihm in Rußland zustand. Sehr interessant sind die Er-
läuterungen, die Adolf Clo89? über den Buchstaben Q im Figuren-Alphabeth des
Meister E. S. macht. Es handelt sich in dieser Darstellung nicht um den Schweizer-
oder Schwabenkrieg von 1499, sondern der Buchstabe bringt eine Versinnbild-
lichung des Kampfes der Stádte mit dem Adel, unter dem der Bauer zu leiden hatte.
— Ed. de Lorme*! untersucht die álteste Genealogie des Geschlechts von Campe,
genannt von Elze, besonders die Abstammung Johanns III. von C. (um 1500). —
E. Wollesen® stellt in seiner Untersuchung fest, daß der Aland ein Grenzfluß
gewesen ist und daherWendemark und Parishof ihren Namen haben. — H. F. Macco*?
verüffentlicht seine verdienstvollen Forschungen über die Abstammung des amerika-
nischen Präsidenten Hoover aus Ellerstadt bei Dürkheim, wohin die Familie aus
der Schweiz eingewandert ist. Es gelingt ihm sogar, das noch heute bestehende
Stammhaus des Präsidenten nachzuweisen. — Nachdem Sartorius die noch lebende
zahlreiche Nachkommenschaft Luthers zusammengestellt hat, ist es Mode geworden,
die sámtlichen Nachkommen eines berühmten Mannes festzustellen. Diesem Be-
streben zollt Friedrich Graf Lanjus** seinen Tribut, indem er auf die zahlreichen
Nachkommen von Wallensteins Tochter Maria Elisabeth (1626—1662), die mit
dem Grafen Rudolf von Kaunitz verheiratet war, eingeht. — Stefan Kekulé von
Stradonitz** weist als Mutter des berühmten Physikers Franz Neumann die
Gräfin Charlotte Friederike Wilhelmine von Kahlden, separierte Gräfin von Mellin,
nach, die er auf Grund weiteren Materials mit Recht eine Art kleiner Katharina II.
nennt. Schließlich bringt W. v. Schiber-Burkhardsberg** Vorschläge über
Darstellung von Ahnentafeln und Nachfahrenlisten. — In der Vierteljahrschrift**
werden größtenteils die Arbeiten der vorigen Jahrgänge fortgesetzt**. Die Arbeit
von M. B. von Zehmen*? wird abgeschlossen. Die Wrangelsche Regestensammlung
% Ebenda 60f., vgl. Kornberg, Landkreiswappen in FG. B. 11, 27, 220f. — Politik in moder-
ner Staatsheraldik. Heroid 60, 104ff.
" Studentische Heraldik. Ebenda 60, 101f. „Ebenda 60, 1165ff.
# Darf der untitullerte russische Adel cin Adelszeichen führen? Ebenda 60, 16f.
„% Ebenda 60, 56fl. 1 Ebenda 60, 3ff., 14f., 22ff.
* Die von Rindorf auf dem Parishof. Ebenda 60, 43ff., 53f.
* Die angebliche Abstammung des amerikanischen Prüsidenten Hoover aus Baden-Baden.
Ebenda 60, 55f. — Die deutsche Abstammung des Präsidenten der Vereinigten Staaten Herbert
Hoover. Ebenda 61, 12—15, 27—30.
*" Dic Nachkommen Wallensteins. Ebenda 60, 99ff. * Ebenda 60, 109—112.
** Nachfahrentafel und Nachfahrenverlust. Ebenda 61, 35—38.
* Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde. Hrsg. v. , Herold“ in
Berlin. Gel. v. G. Adolf CloB. 54. Jg. (1928), H. 4; 55. Jg. (1929); 56. Jg. (1930), H. 1.
* O. Frhr. von Boilieu-Marconnay, Die von Anno 1315 bei Sachsen-Weimar fortgeführte
Hof-Marschallsfolge. Ebenda 55, 1—12, 33—36, 65.
% Allianzen des Geschlechts von Zehmen. Ebenda 55, 25—32, 51—64, 66—75; 56., 1—3.
440 Nachrichten und Notizen
wird bis zum Jahre 1559 (Nr. 752) weiter geführt“. Neu begonnen wird die Arbeit
von Freiherrn Karl von Bothmer”!, der uns den Aufstieg einer hannoverschen
Organistenfamilie zeigt, die um 1550 auftritt und 1765 den Reichsadel erhält. Es
sollen die unter dem niedersächsischen Adel jetzt noch verbreiteten zahlreichen
Tochterstämme, bei denen Namensverbindungen eingetreten sind, mitbehandelt
werden. — Ein besonderes Heft befaßt sich mit dem Stand der genealogischen
Forschungen in Amerika“.
Der Ekkehard’ hat sich weiter sehr erfreulich als Mitteilungsblatt der genea-
logischen Abende entwickelt. Er bringt viele Namensverzeichnisse aus mittel-
deutschen Quellen und bleibt damit seinem Grundsatz treu, hauptsächlich Material
für Weiterforschung zu liefern. — Franz Herrmann“ gibt die ersten Siedler der
Kolonie Berg-Kienitz am Finowkanal (1440—1467). Da die Herkunft angegeben
ist, können wir feststellen, daB sich Friedrich der Große auch hier Siedler aus dem
ganzen damaligen Deutschland geholt hat. — Erich Wentscher?* behandelt die
Braunschweigisch-Grubenhagenschen Müller im Jahre 1683. — Über die Buchkunst-
schätze der Landesbibliothek Fulda unterrichtet uns J. Theele“. — S. D. G. Frey-
dank“ sucht den Namen Coppenbrücke bei Hameln als Cobbanburg zu erklären. —
B. v. Dungern?? schildert Schloß Dehrn an der Lahn und seine Besitzer. — Aus
einem Stammbuch kann Bernhard Sommerlad?? neue Aufschlüsse über den Histo-
riker Chr. Fr. Ferdinand Haacke geben, u. Friedrich Riem® bringt Beiträge zur
Geschichte der Familie des ReichsauBenministers Curtius. — H. Frey dank? ver-
öffentlicht die Jugenderinnerungen des pommerschen Juristen Carl Wünsch (1832
bis 1884), die uns ein lebensvolles Bild aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts über
die Lebensbedingungen einer pommerschen Bürgerfamilie entstehen lassen. — Und
schließlich will ich noch die Arbeit von Boehr® über die Hugenottenfamilie Ancillon
erwáhnen.
Die Mitteilungen des Dresdener Rolands® bringen eine sehr beachtliche Studie
von Muth“ über den familiengeschichtlichen Quellenwert der Leichenpredigten, in
der er gegen von Arnwald an der Glaubwürdigkeit dieser Quellengattung festhält. —
Über die mütterlichen Ahnen des Dichters Lenau bringt B. Völlick® einige Er-
gánzungen. — R. Fetscher“ untersucht das Geschlechtsverhältnis der Neugebore-
nen in kinderreichen sächsischen Familien und vermutet danach, daB die Knaben-
ziffer mit dem Alter der Mutter steigt, aber unabhängig vom Alter des Vaters ist. —
" Georges Baron von Wrangell, Geschichte der Wrangel zur Dänischen und Ordenszeit.
Ebenda 55, 18—22, 37—50, 76—112; 56., 19—32.
" Die niedersächsische Familie von Schilden (Schild, Schildt). Ebenda 56, 4—18.
" Richard Wilh. Staudt, Genealogie in Amerika.
? Mitteilungsblatt Deutscher Genealogischer Abende. Schriftleiter: F. Herrmann 4. Jg.
(1928), Nr. 5—6. Schriftleiter: H. Freidank 5. Jg. (1929), 6. Jg., Nr. 1—2.
Ebenda 4, 66f. — Vgl. auch Friedrich Werwach, Ehemalige friedericianische Soldaten
als Bürger und Einwohner Potsdams. Ebenda 4, 67f.
Ebenda 5, 19f. 5 Ebenda 5, 54f.
" Was bedeutet der Ortsname Koppenbrücke? Ebenda 5, 103f.
" Ebenda 5, 104f. 1 Ebenda 6, 23ff. ** Ebenda 6, 26.
1 Ebenda 6, 2, 20, 57, 73ff., 105f.; 6, 25ff. "a Ebenda 4, 66, 82; 5, 3, 20f.
13. Jg. (1928); 14. Jg. (1029); 15. Jg. (1930), Nr. 1—4.
„ Ebenda 15, 11—14. Vgl. auch Richard Hrdlička, Von der Verläßlichkeit in den alten
Matriken. In Zeitschrift d. tsch.-slow. stammgesch. Ges. in Prag, 1, 85f.
% Ebenda 13, 51. % Ebenda 14, 10f.
Nachrichten und Notizen | 441
Kunz von Kauffungen“ schildert nach dem Bericht einer Klosterhandschrift
der Dresdener Landesbibliothek die Stellung K. v. K.s beim sächsischen Prinzenraub.
Schließlich möchte ich erwähnen, daß Kurd von Stranz®® viele Ausstellungen am
„Gothaer macht, die von verschiedenen Seiten berichtigt werden.
Der Familienforscher*? bringt auch recht viel erfreuliches Quellenmaterial. Von
den Abhandlungen seien erwähnt die von Hans Arnold Plöhn, in dem einmal die
Verbindungen des Adels mit der Geistlichkeit in den Grafschaften Hoya und Olden-
burg®® gezeigt und zum andern Nachrichten über die Amtsverwalter-Dynastien in
Holstein gebracht werden’. — von Ehrenkroock® setzt die Ahnenlisten-Samm-
lung mit der Ahnenliste Coqui fort®. — Carl Freiherr von Eichendorf steuert
Beiträge zur Stammtafel seiner Familie bei, und Felix Bondi® macht darauf auf-
merksam, daß Schriftstücke den Erben gemeinsam gehören, auch wenn sie mit dem
Erblasser nicht verwandt sind. — H. Krämer® bringt in seiner Arbeit viel be-
völkerungsgeschichtlich interessantes Material. Leider ist Heft 7—8 in ein zweites
Heft 7—12 so hinein gearbeitet, daß die Seitenzahlen nicht übereinstimmen.
Die Braunschweigischen Genealogischen Blätter bringen in dem einzigen er-
schienenen Hefte die Musterrollen vom Jahre 1600 im Stadtarchiv Braunschweig
von Werner Spieß.
Der Erfurter genealogische Abend unter der Leitung von W. Suchier veröffent-
licht in seinem Jahresberichte von 1929 ein Namenregister zum jetztlebenden Erffurt
von 1703%, Sonst hat er schon drei wissenschaftliche Abhandlungen herausgebracht.
In Heft 1 beschäftigt sich Hans Schuchardt mit Willroda und den Nachfahren
Fridangs von Wildenrode (um 1450) und Wilhelm Biereye® schildert die Blüte-
zeit (ca. 1400 —1530) des Erfurter Patriziergeschlechtes von den Sachsen, dessen
wirtschaftlichen Sinn, diplomatisches Geschick und Familiensinn er besonders
hervorhebt. — Im zweiten hat Kurt Nieding!® ein Namenverzeichnis zum Erfurter
Verrechtsbuch zusammengestellt, das nicht nur Namen enthält, sondern auch ver-
wandtschaftliche Beziehungen aufzeigt und durch Angabe der Straßen und des Haus-
besitzes sehr wertvoll ist. — Im dritten Heft unterzieht W. Biereyel?! das Erfurter
Patriziergeschlecht der Ziegler einer eingehenden Behandlung. — Der Göttinger
genealogische Abend bringt zum ersten Male in dem Neuen Göttinger Jahrbuch
einen Bericht über seine Tätigkeit in den Jahren 1926—1928 und druckt seine Satzun-
gen ab1!%,
* Ebenda 15, 1f. % Ebenda 14, 9—12 und 31—34.
Monatsschrift für Familiengeschichte und Wappenkunde, 3. Jg. (1928), H. 7—12.
Schriftleiter: Max Käßbacher. Mannheim.
* Die geistlichen Familien und der Adel in den Grafschaften Hoya und Oldenburg, 3,
207, bzw. 982—980. 1 Ebenda 3, 218—220.
Ebenda 3, 207—212, bzw. 250—254. *! Ebenda 3, 232ff. bzw. 254—257.
* Familienpapiere und Familienbilder im Erbe. Ebenda 3, 228—233.
Auf verwehten Spuren. Einwanderungen nach Baden über drei Jahrhunderte aus dem
Allgäu, Bayern, Böhmen, Elsag, Österreich, Schwaben, Schweiz, Steiermark, Tirol, Ungarn:
Ebenda 3, 208—318.
" Hrsg. vom Braunschweiger Genealogischen Abend. Schriftleitung: Rudolf Borch,
Nr. 6 (November 1928).
—6.
* 8. 1
8 Willroda und die Willröder. Ein Beitrag zur Thüringer Heimat- und Familienforschung.
Ebenda 8. 75—96. 1% Erfurt 1929.
"! Erfurt 1930. 1" B. 1, 1928, S. 86—901.
442 Nachrichten und Notizen
Die Nachrichten der Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck!”
bringen Ergänzungen zu der Arbeit von Karl Knetsch über die Nachfahren der
Margarete von Hessen von Eduard Grimmel!*. Derselbe eifrige Genealoge liefert
zwei Arbeiten aus dem Tagebuche des Superintendenten Hütterodt in Eschwege!® und
stellt die hessischen Pfarrer um 1570 aus dem Superintendenturarchiv in Eschwege
zusammen, wobei er in den Anmerkungen wertvolle Nachrichten über die einzelnen
Persönlichkeiten beifügt!®, Schließlich behandelt er!” die ihn bekanntgewordenen
Mehrlingsgeburten, von denen er 4 Vierlings- und 24 Drillingsgeburten anführt. —
Hans Kurt von Ditfurth!® bringt die 512 Ahnen Wilhelms IV., Landgrafen von
Hessen, der eine zahlreiche nicht zum Fürstenstamme gehörende Nachkommenschaft
hinterlassen hat, um die Wege für diese Nachfahren zu den jetzt beliebten Karolinger-
Abstammungsreihen zu ebnen. Interessant ist auch das Testament des Góttinger
Studenten Johann Daniel Gottschalk von 1747, das Hugo Schünemann abdruckt
und bespricht!®,
Auch in den außerdeutschen Ländern hat die Genealogie einen bedeutenden
Aufschwung genommen. Sehr rührig sind die Deutschen in Bóhmen und Máhren.
Die Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens!“
bringt eine Beilage!!!, die Quellen zur Familienforschung veröffentlicht. In der Zeit-
schrift spricht Imanuel Schwab? über Nicolaus von Melnick!!? und untersucht das
Herkommen dieses Mannes, kommt jedoch zu keinem abschließenden Ergebnis.
Er macht es aber wahrscheinlich, daß der Iglauer Stadtschreiber gleich dem Brünner
Propst Nicolaus Pauli von Austerlitz ist. N. ist sicher ein Brünner Stadtkind.
Die neugegründete Zentralstelle für Sudetendeutsche Familienforschung gibt
eine sehr beachtenswerte Zeitschrift heraus. Wie viele Zeitschriften des deutschen
Auslandes nimmt sie sich gleich der Kirchbuchforschung an. Karl Enz mann“ bringt
die Anfangsjahre der Matriken in den deutschen und gemischtsprachigen Pfarreien
der Prager Erzdiözese, Johann Micko!!3 die der Diözese Budweis, Julius Ródert* be-
handelt die Diózesenmatriken zu Olmütz, Heinrich Ankert!!? die ülteste Matrik zu
St. Thomas in Prag, die Judenmatriken!!* und die ältesten Matrikenduplikate im
Domarchiv zu Leitmeritz!?, Gustav Freixler!9 bringt ein ausführliches Glossar
des Kirchenbuchlateins, das von verschiedenen!?! und besonders von Jul. Röder”
1*5 4, Jg. (1929). Schriftleiter: Werner Paulmann, Kassc! 1929. 4 Hefte mit ausführl.
Inhalts- und Namenverzcichnis.
1% Hessenblut. Ergänzungen und Nachträge. Ebenda S.18—25, 33—43.
19 Verzeichnis aller lebendigen Seelen, Jungk und Alt, Man und Weib, Kinder undt Ge-
sinde, so sich in Guxhagen, Büchenwerda und dem Kloster Breidenau nach fleiBiger Umbfrage
der Vorsteher in den Gemeinden befinden. Ebenda S. 55—58. — Ein Schülerverzeichnis der
Schule zu Rotenburg a. Fulda a. d. J. 1659. Ebenda S. 58f.
10% Ebenda S. 96—112. 107 Ebenda 8. 65—73. 10% Ebenda S. 74—95.
10% Ebenda 8. 59— 63.
110 32. Jg. (1930). Schriftleiter: Paul Strzemcha.
"n! Famitienforschung. H3 S, 113—128.
!? Sudetendeutsche Familienforschung. Hrsg. v. d. Mittelstelle (von Heft 2 ab: Zentral-
stelle) für (Sudetendeutsche) Famillen forschung des Verbandes für Heimat forschung und Heimat-
bildung I. d. tschecho-sl, Republik mlt dem Sitze in Aussig. Geleitet von Anton Dletel und Franz
Josef Umlauft. Jährlich 4 Hefte. 1. Jg. (1928 — 1929); 2. Jg. (1929—1930).
114 Ebenda 1, 18—21. !! Ebenda 1, 62ff. 1 Ebenda 2, 7—12, 122—120, 153—150.
1" Ebenda 2, 58f. 18 Ebenda 1, 174f. us Ebenda 2, 1521.
ue Latein in Kirchenmatriken 1, 25—29, 601.
|! Ebenda 1, 127f., 176. n Ebenda 2, 112ff.
Nachrichten und Notizen 443
aus Eintragungen in der Olmützer Erzdiözese beträchtlich ergänzt wird. Über die
Entstehung der Familiennamen und Geschlechter in Böhmen spricht Karl Gaub e!?*,
Er stellt fest, daß nur noch ein Trümmerfeld der einst so ausgebreiteten deutschen
Familiennamen vorhanden ist. Es ist ein kunterbuntes Gemisch geworden, wie auch
im inneren Deutschland, daß „unser Namengut und damit auch unser Blut tief
hineingreift in das Volkstum des tschechischen Nachbarn“. Über die Rassenverhält-
nisse des Kuhländchens stellt Oswald Cubiena!** fest, daß die nordischen Besiedler
weitaus in der Mehrzahlsind. Die ostisch-mongoloide, slawische Umgebung kommt
kaum in Betracht. Oskar Meister!# behauptet auf Grund einer Liste von 33 Abi-
turienten, die 1905 ihr Examen gemacht haben, daß schon damals ein starker Drang
zum Studium da war und nur sehr wenige den Beruf des Vaters wieder ergriffen
haben. Allerdings müssen umfangreichere derartige Untersuchungen abgewartet
werden. — Acht Ahnentafeln berühmter Sudetendeutscher werden gebracht!“. —
Friedrich Kubasta1# erläutert eine von ihm aufgestellte graphische Ahnentafel. —
Die Wappenbewerber aus der Gegend des böhmischen Mittel- und Erzgebirges!2
und des Iser- und Jeschkengaus?? stellt Anton Ressel!?? zusammen. — Quellen zur
Familiengeschichte weisen Karl Oberdorfer!? für Brüx, Walter König! für den
Jeschken- und Isargau und Joachim Blósl!** allgemein für die mährische Heimat-
und Familienforschung nach. — Für die Forschungen über die Verwandtschaft
der Ratsherrengeschlechter sei auf die Zusammenstellung von Georg Schmidt
aufmerksam gemacht. — Selbstverstándlich fehlen nicht zahlreiche Quellenveróffent-
lichungen, von denen besonders der Wiederabdruck des Egerer Landsteuerbuches
von 1392 erwähnt sei. — Das letzte Heft bringt an allgemeinen Aufsätzen: Franz
J. Wünsch, Warum treibt man Familienforschung? Karl Gaube, Die Familien-
forschung als Volkswissenschaft und Gerhard Eis, Dichtung und Genealogie,
sowie Fritz Günste!?, Vorschläge zur Anlage von Familiengeschichtsregesten,
Wobei zu bemerken ist, daB auch Regesten des gleichen Jahres auf je einen besonderen
"Zettel zu schreiben sind. Albert Stára!5? nennt einige Sudetendeutsche aus dem Mittel-
alter, die in den Klöstern der Mark Meißen lebten.
Die neu gegründete tschecho-slowakische stammesgeschichtliche Gesellschaft in Prag
bringt im ersten Jahrgang ihrer Zeitschrift! neben allgemein einleitenden Auf-
sätzen an Geschlechtsgeschichten die Arbeiten von Karl Chytil!” (Johann Gottfried
m Ebenda 2, 19—33. 14 Ebenda 1, 119—122.
18 Sippe und Beruf. Ebenda 1, 123—126.
1 Heinrich Schicht. Ebenda 1, 40. — Hans Kudlich. Ebenda 1, 81. — Adalbert
Stifter. Ebenda 2, 31, 176ff. — Kar! Kaspar Prokop Reitenberger, Gründer Marien-
bads. Ebenda 1, 1371. — Georg Johann Mendel. Ebenda 1, 186f.; 2, 76—80. — Emil Leh-
mann, bekannter Führer der sudetendeutschen Heimatbewegung. Ebenda 2, 36. — Imanuel
Hegenbarth, akademischer Maler. Ebenda 2, 81. — Alois John, Heimatschriftsteller des
Egerlandes. Ebenda 2, 1751.
im Ebenda 2, 14—17. "* Ebenda 1, 82—86. 1% Ebenda 1, 177ff.; 2, 24ff.
1 Ebenda 1, 110f. 1 Ebenda 2, 4—7, 55—58.
133 Geschichtsquellen der mährischen Heimat- und Familicnforschung. Ebenda 2, 59—62,
121f.
"3 Mieser Ratsherren und Bürgermeister des 17. Jahrhunderts. Ebenda 1, 111—115.
1M Ebenda 2, 100—109. 138 Ebenda 2, 146—151. "* Ebenda 2, 156fl.
1 Sudetendeutsche in Klöstern der mittelalterlichen Mark Meißen. Ebenda 2, 160.
"* (asopis Rodopisné společnosti Československé v. Praze. Schriftleiter: Anton Markus,
B. 1 (1929); 2 (1930), Nr. 1—2.
1 Die Stammesforschung bei Mánes. Ebenda 1, 39—45.
444 Nachrichten und Notizen
Manes wandert 1723 aus Lauingen a. d. Donau nach Zdevatze bei Prag ein und ver-
heiratet sich mit Magdalena Schwichner), Teply!#, Fr. Ignaz Hornftek!“, Karel
Pej3al und Vone s, sowie eine Arbeit von A. P. Slechta!€: Die Rückführung
in die tschechische Vergangenheit der Vanderbilts in Amerika, die mit Gottlieb be-
ginnt, der um 1658 über Holland nach Amerika ausgewandert sein soll und sich dort
Philip oder Philipsen genannt hat. Besonders wird sein Enkel Friedrich Philips
berücksichtigt, der den großen Reichtum der Familie begründete. Leider wird uns
nicht gesagt, wann und wodurch die Namensänderung eingetreten ist, aber besonderer
Wert wird darauf gelegt nachzuweisen, in welche europäischen Adelsgeschlechter die
Familie eingeheiratet hat. — Der Aufsatz von Anna Vavrou&ková!6 gibt nur an,
welcheWerke, Handschriften, Regesten usw.Sedlacek über dieses Thema aus Böhmen
Mähren und Oberschlesien gesammelt hat, enttäuscht also etwas, da man nach dem
Titel mehr erwartete. — Artur BroZek!# spricht über Individualität und Stammes-
forschung. — Genealogische Nachweise aus Archiven und Matriken liefern Oskar
Mitis!*, Franz Roubik!“#, Heinrich Wenzel Bezd&ka!*, Josef Piln&átek!9 und
Zdenko Kolovrati^!, — Das neue Heft des 2. Jahrganges beginnt Karel Galla!
mit einer Besprechung einer Schrift von Franz Weyra (Prag 1927), an die er kritische
Bemerkungen anknüpft. — Bogumil Lifka!" behandelt die Exlibris und Supralibris
in genealogischer Hinsicht. — Franz Tepliy!* gibt einen familiengeschichtlichen
Überblick über die tschechischen Auswanderer in Hof (Bayern) — Beiträge zu
Stammesgeschichten liefern Franz Roubík!5 und Heinrich Wenzel Bezdik#®. —
Namensverzeichnisse aus Matriken bringen J. Bily!59 und Stanislaus Ondrak!P.
Besonders das letzte Verzeichnis (von Cheléic) zeigt, daß die Bevölkerung dieses
Ortes weit überwiegend deutsche Namen hatte. Schließlich sei noch erwähnt, dab
ein Verzeichnis der deutschen genealogischen Zeitschriften“ gegeben wird, sowie
eine Zusammenstellung von hauptsächlich erbbiologischen Arbeiten“.
1% Der Zusammenhang in dem Geschlechte der Malovec von Malovic. Ebenda 1, 78—76
141 Stammesgeschichtliche Chronik (der Hornicek) 1, 988—107.
1 Die stammesgeschichtliche Verbreitung des Geschlechtes Pejäa (ein Färbergeschlecht,
keine Jahreszahl ist in dem kurzen Überblick angegeben). Ebenda 1, 128—132.
1? Der Name Voneš. Ebenda 1, 132f. 14 Ebenda 1, 82—87.
1% Die Zugehörigkeit der Landbevölkerung zur Scholle und ihr Ausdruck in der stammes-
geschichtlichen Forschung. Ebenda 1, 17—28.
ue Ebenda 1, 29—38.
1 Stammesgeschichtliche Bemerkungen aus Österreich. Ebenda 1, 45—49.
1 Stammesgeschichtliche Quellen im Ministerium des Innern in Prag. Ebenda 1, 76—81.
1% Namensübersicht der ältesten Matriken von Pfibram. Ebenda 1, 116—123.
1 Familiengeschichtliche Erinnerungen in dem Familienarchiv der österreichischen
Grafen von Fünfkirchen. Ebenda 1, 124—128.
"^ Dic Agnoszierung der Leichen in den Gräbern des Klosters Maria Schnee in Prag. Ebenda
1, 50—73.
132 Die Vorherrschaft der Intelligenz und der gebildeten Menschen. Ebenda 2, 1—8.
11 Ebenda 2, 9—14. 186 Ebends 2, 15ff.
1% Zur Stammesgeschichte der Chod von Domažlic. Ebenda 2, 18—22.
!* Das Geschlecht der BeEdek. Rund um dle Familienchronik, wie sie entstand, ihr gel-
stiger Inhalt und ihre Ziele. Ebenda 2, 27—34.
1 Aus den ältesten Matriken von Choustnick (1701—1783). Ebenda 2, 23—27.
1% Namensinhalt der Matriken von Cheltic von 1664—1851. Ebenda 2, 36—44.
1% Ebenda 2, 34—36.
1% Bibliographie der familiengeschichtlichen und historischen Schriftstellerei rassen-
hygienischer und verwandter Wissenschaften. Ebenda 2, 45—55.
Nachrichten und Notizen 445
Im neuen Jahrgang vom „T urul 461 verteidigt Ladislaus Kelemann!® seine
Ansicht über das gekaufte Gut und das Töchterviertel. — Auf Grund neuer Urkunden
des 14. bis 16. Jahrhunderts entwirft Koloman Juhatsz!** ein ausführliches Lebens-
bild vom Bischof Desiderius von Csanád aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts,
in dem er ihm sowohl in seiner kirchlichen, wie auch in seiner politischen Wirksam-
keit volles Recht angedeihen läßt. — Anton’Aldäsy! bringt Beiträge zur Geschichte
der Familie Bezeredj, die sich auf das Geschlecht Lörenta (zuerst erwähnt 1236)
zurückführen will, doch läßt sich der Zusammenhang nicht einwandfrei beweisen, ist
aber immerhin auf Grund späteren urkundlichen Materials möglich. Die lückenlose
Stammreihe der B.s beginnt 1343. — Nikolaus Nag yl schildert die Stellung der
altadligen Familie Ghyczy (seit 1244 nachzuweisen) in der Geschichte der ungarischen
Nation, in der sie besonders im Kampf gegen die Türken eine nicht unbedeutende
Rolle gespielt hat. Der bedeutendste unter ihnen in dieser Zeit ist Johann G., der
als Regent von Siebenbürgen (f 1589) Ruhe und Frieden des Landes bewahrte. —
Koloman Haczi! beschäftigt sich mit den Zelchéni und ihrem Besitz; Ladislaus
Toth!* gibt Beitráge zur Geschichte der Bonfini und veróffentlicht ihren Adels-
brief. — Das Siegel der Stadt Miskolo behandelt kurz Ladislaus von Szabo!*$, —
Zoltan Vergha!® beschäftigt sich mit der Familie Pettes (Pethes) de Réthalap, die
mit Beginn des 16. Jahrhunderts auftritt.
In The Genealogist Magazin? setzt W. F. J. Gun"! seine Arbeit über die
Nachfolge in den Baronis fort. Er beginnt mit den Writs of Summons aus dem Ende
des 13. Jahrhunderts und stellt im Verlauf der Entwicklung fest, daB sich Ende des
17. Jahrhunderts die Erbfolge der einzigen Tochter durchgesetzt hat. H. J. J. 7
bringt Beiträge zur Geschichte der Familie Washington und beschäftigt sich be-
sonders mit dem Herkommen von Amphilis Longden. — Cregoe P. G. Nichelson!?*
erläutert an Hand von Beispielen den genealogischen Wert der ersten englischen
Zeitungen, nachdem er einen allgemeinen lehrreichen Uberblick über den Beginn
des englischen Zeitungswesens gegeben hat. — Oswald Greenwaye Knapp!“ be-
schäftigt sich mit den weiblichen Vornamen, besonders zur Zeit der Königin Elisa-
beth. — J. Harvey Bloom?!” untersucht einige Königssiegel des 14. Jahrhunderts,
und Sir Henry L. L. Deny“ berichtet über die Vorfahren des Lordmajors von
London Sir William A. Waterloo.
101 Turul. A Magyar Heraldikai és Genealogiai Társaság Közlönye. Hrsg. von Áldásy
Antal und Tóth László. 34. Jg. (1929). !** Ebenda 34, 83—96.
1 Desiderius, Bischof von Csanád. Ebenda 34, 96—105.
1% Beiträge zur Geschichte der Familie Bezerédj. Ebenda 34, 1—11.
1* Die Familie Ghyczy in der Geschichte der ungarischen Nation. Ebenda 34, 11—37.
1% Die Zelchénl. Ebenda 84, 37—47.
1* Analecta Bonfiniana. Ebenda 34, 48—680. 1% Ebenda 34, 107f.
1% Die Familie Pettes (Pethes) de Réthlap. Ebenda 34, 62ff.
110 The Genealogists Magazine. Official Organ of the Society of Genealogists. Quar-
terly. London. Herausgeber: Sir H. L. L. Denny, T. C. Dale und W. T. J. Gun. Vol. 5 (1929/30).
ın The Succession to Baronies by writ of sommons. Ebenda 5, 2—5.
n Notes concerning the Washington family. Wife of the Rev. Lawrence Washington.
Ebenda 5, off.
1 The genealogical value of tlie carly english newspapers. Ebenda 6, 14—17, 711.
ı Female christian names. Ebenda 5, 19fl.
ne Olavis Regni. Ebenda 5, 67—70.
10 Notes on the ancestry of the Rt. Hon. Sir William A. Waterlow, Lord Mayor of London.
Ebenda 5, 468.
\
446 Nachrichten und Notizen
Viel Freude bereitet mir immer die Durchsicht der Jahresschrift der finnischen
Genealogischen Gesellschaff!*, In vielen größeren Aufsätzen erweitert sie das Material
und vertieft die Kenntnisse über Volk und Land. Mehr einführend in die Erblich-
keitslehre ist der Aufsatz von Gunnar Johnson"?*, — Die Reihe der Veróffentlichun-
gen über Grabinschriften setzt H. Y. S. Södermann!” von dem alten Friedhof
zu Pori (Björneborg) und Gösta Forsskáhl!9? von dem Friedhof zu Porvoo (Borgå)
fort. Hieraus seien die deutschen Grabinschriften von Jacobine Winter (1799.—1834)
und ihrem Sohne Berndt Ed. Winter (1830—1831) erwähnt. — H. J. Björk mann
veröffentlicht die ältesten Hinterlassenschaftsaufnahmen zu Pietarsaari (Jacob-
stadt) von 1706—1800 in Auszügen, aus denen man den großen Wert dieser Quellen-
art ersehen kann. Es wäre zu wünschen, daß in Deutschland mit derartigen Ver-
öffentlichungen begonnen würde. Derselbe!® stellt von Kokkola (Gamlakarleby)
ein Häuserverzeichnis unter Angabe der Besitzer im 18. Jahrhundert zusammen, auf
Grund dessen es ihm dann gelingt, einen Stadtplan zu rekonstruieren. — Einen
weiteren wertvollen Beitrag! liefert er mit Carl Hedmann zusammen über die
ältesten Kaufmannsgeschlechter in Christinestad. Wie schon erwähnt, ersehen wir
aus diesen Stammreihen, daß erst um 1700 der Familienname in Finnland fest wird.
Der rührige Sekretär der Gesellschaft Osmo Durchman!* setzt seine Beiträge zur
Kenntnis der im Ritterhause Finnlands nichtimmatrikulierten Adelsgeschlechter
fremder Herkunft fort mit der Familie Krakau, deren Stammvater in den Kriegen
Karl XII. mitkämpfte. Die polnische Herkunft des Geschlechtes läßt sich nicht
beweisen und ist auch nach der ältesten Namensform und dem Wappen unwahr-
scheinlich.— Mit Christian Swanljung!** zusammen behandelt er das aus Schweden
stammende Geschlecht S., das im Gelehrtenberufe und im Kaufmannsstande be-
sonders in Brahestadt und Varsa vertreten ist. — Carl Hedmann!# gibt Ergänzun-
gen zu dem Geschlecht Rein. — Einen adligen Zweig des Geschlechts von Berg,
das schon in der Arbeit über die Kaufmannsgeschlechter in Christinestad berück-
sichtigt war, behandelt Georg Rein!®. In umfangreicher Arbeit stellt H. J. Bo-
stróm!*? alles zusammen, was er über die Geistlichkeit zu Alatornio und der Stadt
Tornio wührend der schwedischen Herrschaft ermitteln konnte. Auch hier finden
wir häufig Verwandtschaft der einzelnen Pastorenfamilien. Die Geschlechter Kämpe,
das wir auch als Ratsherrengeschlecht in Nykarleby finden, Grape und Brunnius
sind häufiger vertreten. — Osmo Durchmann!®# veröffentlicht ferner die Rech-
1 Suomen Sukututkimusseuran Vuosikirja. Genealogiska Samfundets 1 Finland. Ar»
krift. XII. (1928) und XIII. (1029). Hrsg. Osmo Durchman. Helsingfors 1929 bzw. 1930.
17° Mielisairauksien periytymsestä. Ebenda 13, 4—13.
1 Hautakirjoitukset Porin vanhalla hautausmaalla vuonna 1928. Ebenda 13, 14—48.
16° Inskrifter på gravvårdar från 1800etalet på Borgå begravningsplats (Näsebacken).
Ebenda 13, 49—94.
1^ Ebenda 13, 95—232.
1 Gårdar och gärdsägare i Gamlakarleby på 1700-talet. Ebenda 18, 256—276.
1 Aeldre kópmansslükter 1 Kristinestad. Ebenda 18, 277—371.
1% Ebenda 13, 372—378. 188 Ebenda 13, 386—404.
!* Reini, Reinius, Rein. Kompletteringar till utredningen 1 ,,Sukukirja". Ebenda 18,
233—255.
18t Köyhä aatelisperhe. Ebenda 12, 18—21.
1 Alatornion ja Tornion kaupungin paimenmuisto Ruotsin vallan aikana. Ebenda 12.
22—102.
1% Ebenda 12, 103—275.
Nachrichten und Notizen 447
nungen der Domkirche zu Viborg von 1655—1704, die besonders für die Herkunfts-
fragen baltischer und nordischer Familien wichtig sind. Auf eine eigentümliche
Sitte bei Erteilung der Taufnamen (bestimmtes Rückgreifen auf Vorfahren und
Verwandte), die sich bis ins 18. Jahrhundert gehalten hat, macht Hugo Logstróm!99
aufmerksam. Es würde zu weit führen, näher auf diese Eigentümlichkeit einzugehen,
die wesentlich dazu beiträgt, die Verwandtschaftsverhältnisse festzustellen. — Die
Liste der Bürgermeister und Ratsherren von Nykarleby in den Jahren 1680—1750
veröffentlicht K. V. Åkerblom?” als Fortsetzung seiner früheren Arbeit, auch
diesmal gibt er reiches biographisches und genealogisches Material aus den ver-
schiedensten Quellen über die einzelnen Personen. — W. Backmann??* behandelt
ein Geschlecht seines Namens nebst den Nachkommen der Töchter und Robert Est-
lánder!9 sein in der Kulturgeschichte Finnlands bekanntes und geachtetes Ge-
schlecht, das ursprünglich aus Uleaborg stammte.
In der schwedischen Personengeschichtlichen Zeitschrift l“ gibt uns H. L. von
Dardel!% auf Grund von Briefen des Grafen F. A. von Fersen an den Oberstadt-
halter Freiherrn Carl Sparre aus dem Sparrschen Familienarchiv einen Einblick
in die Verhältnisse des pommerschen Krieges 1757—1762. — Harald J. Heymann!"
spricht über Márten Pedersson Blixencron und seine Zeichnungen für die Almanache,
die in der Universitátsbibliothek zu Upsala liegen. Er führt ein Verzeichnis der
Bilder aus den Almanachen der Jahre 1633, 1643, 1645, 1649, 1651, 1659 auf und
fügt ein Personenregister mit Kommentar bei. — Im südlichen Schweden wollen
viele Familien von polnischen Adelsgeschlechtern abstammen. Eine solche Sage
untersucht H. Södersteen! und stellt fest, daB es sich um Johanna Helena Ros-
nowski (der russische Adel dieses Geschlechtes wurde erst 1848 bestätigt), seit 1775
Gemahlin des Leutnants Carl Sewalt Cameen, handelt und nicht um ein Geschlecht
Rosinofsky; die Abstammung von August dem Starken ist aber Sage. — Über
C. J. L. Almquist spricht Henry Olss ons. — Bengt Hildebrand! würdigt in
einem sehr warm empfundenen Nachruf das Leben und die Verdientse des Grafen
Fredrik Ulrik Wrangel (1853—1929) und fügt eine Bibliographie seiner Schriften
bei. — Gustaf Jacobson? erweitert unsere Kenntnis über den Generalmajor
Gustaf Wilhelm Coyet (1678—1730). — H. J. S. Kleberg? veröffentlicht eine
kurze Stammreihe des Geschlechtes Leschinsky, das um 1700 mit Jacob L. aus den
Üstseeprovinzen nach Finnland und Schweden eingewandert ist. — Auf Grund eines
1e Ebenda 12, 283—286.
a Ebenda 12, 287—307.
n En släkt Backman jämte Attlingar på kvinnolinjen. Ebenda 12, 308—329.
"' Ebenda 12, 830— 375.
'* Personhistorisk Tidskrift utgiven av Personhistoriska Samfundet genom Bengt Hilde-
brand. Jg. 30. (1929) und 31. (1930) H. 1—2.
Brey under Pommerska kriget 1757—1762 från F. A, von Fersen till Carl Sparre.
Ebenda 30, 1—23.
* Ebenda 30, 37—111.
Den polska ,,prinsessan' i Småland. Ebenda 30, 112—116.
1 C. J. L. Almquists levnadsepilog. Met sárskild hänsyn till hans ställning under 1840-
talet. Ebenda 30, 117—139.
* Ebenda 80, 183 —101.
** Karolin och politisk äventyrare. Nägra drag ur generalmajoren Gustaf Wilhelm
Coyets levnadahistoria, Ebenda 30, 192—213.
* Ebenda 30, 214—290.
448 Nachrichten und Notizen
Briefes weist Birger Linden nach, daß die Grafen Erich und Gustav Brahe in
Polen begraben sind. — Sten Engström?® bringt Beiträge zur weiteren Kenntnis
der Brigittaoffenbarung. — Bengt Hildebrand macht Bemerkungen zur schwe-
dischen mittelalterlichen Genealogie im AnschluB an Arbeiten von K. H. Karlsson
u.a. und führt den Ursprung des mittelalterlichen Geschlechtes Brahlstorp nach
Mecklenburg auf Grund von Vornamen und Wappen bis ungefáhr 1300 zurück.
Eme Stammliste ist beigegeben. — Neues zur Lebensgeschichte des 1606 hingerichte-
ten Papisten Petrus Petrosa gibt Folke Lindberg. — Ergänzungen zu schwedi-
schenPfarrerverzeichnissen liefern Gunnar Hellström% und Gerhard Hafström®®,
— Sten Lewenhaupt?® schildert, wie Prinz Louis Napoléon 1848 von London
nach Frankreich als Graf Sten Lewenhaupt reiste, und fügt drei Briefe bei.
AbschlieBend erwühne ich, daB die meisten Zeitschriften kurze Mitteilungen,
Gelegenheitsfunde, Besprechungen und ausführliche Register bringen. Einige gehen
dazu über, reichen Bildschmuck beizufügen, besonders das Jahrbuch der Finnischen
Gesellschaft. Die Zeitschrift für Sudetendeutsche Familienforschung bringt ein
Verzeichnis der für die Familienforschung wichtigen Sudetendeutschen Schriften,
und die Familiengeschichtlichen Blätter veröffentlichen alphabetisch fortlaufend
selbstándige und in Schriften erscheinende genealogische Arbeiten. Lampe.
Wissenschaftliche Gesellschaften und (Publikations-) Institute. Der 18. Deutsche
Historikertag findet vom 6.—9. Oktober in Koblenz und Bonn statt. Das aus
führliche Programm wird noch veröffentlicht. Vorher findet vom 2.—6. Oktober
in Koblenz die Tagung des Verbands Deutscher Geschichtslehrer statt.
Personalien: a) Historiker: Es wurden berufen: Priv.-Doz. Dr. Helmut
Göring in Köln als o. Prof. für Geschichte an die Technische Hochschule in
Stuttgart; Priv.-Doz. Dr. Walter Holtzmann in Berlin als o. Prof. nach
Halle a. S.; Prof. Dr. Fr. Schacher-Meyer in Iunsbruck als o. Prof. für alte
Geschichte nach Jena; o. Prof. Dr. Otto Becker von Halle a. S. nach Kiel
auf den Lehrstuhl von Fr. Wolters; der ao. Prof. der Geschichte u. hist. Hilfsw.
Dr. Ernst Perels in Berlin zum Ordinarius daselbst ernannt.
b) Kirchenhistoriker: Priv.-Doz. Lic. Ernst Wolf in Rostock als o. Prol.
nach Köln; o. Prof. D. Hans Rückert-Leipzig in gleicher Eigenschaft nach
Tübingen berufen.
*" Ett brey om Erik och Gustaf Brahes öden i Polen. Ebenda 30, 221 f.
s Ormungen och hans moder. Till tolkningen av en Brigitta-uppenbarelse. Ebends 3l,
1—6.
% Några anteckningar om svensk medeltidsgenealogl. Ebenda 31, 7—11.
*5 Ebenda 31, 12—24.
% Kring Petrus Petrosa. Nya bidrag. Ebenda 31, 25—54.
% Rättelser och tillagg till Aerkestiftets och Strängnäs stifts herdaminnen hämtade W
Stockholms stads äldre tänkeböcker. Ebenda 31, 5560.
*9 Prästerskapets 1 Kinds och Ydre kontrakt. Ett bidrag till Linköpings stifts berds-
minne. Ebenda 31, 61—68.
% När prins Louis Napoléon reste som svensk greve. Ebenda 31, 69—72.
il
449
Zum Latein des Ruodlieb.
Von
Hans Ottinger.
In seiner Ausgabe der Fragmente des Ruodlieb-Romans
(Halle 1882) versucht Friedrich Seiler unermüdlich, durch
den lateinischen Ausdruck hindureh den zugrunde liegenden
deutschen zu erkennen. Das Kapitel V der Einleitung bietet
ein langes Verzeichnis von „Germanismen“, die nach Wahr-
scheinlichkeit und Schwere in Gruppen geteilt sind. In einem
kleingedruckten Anhang zur Vorrede nimmt er wohl manches
davon zurück, aber Rudolf Koegel, der in seiner Literatur-
geschichte Seiler folgt, hat das übersehen. Er findet! im Ruod-
lieb nicht nur „Germanismen‘ schlechthin, sondern gleich die
Sprache des höfischen Epos. S. 408 heißt es kurz und bündig:
„ . . 68 ist alles ein Germanismus“.
Entschieden gegen Koegels Methode wandte sich zuerst
Paul v. Winterfeld?. Dann trat ein halb ärgerliches, halb be-
lustigendes Ereignis ein: der franzósische Gelehrte M. Wilmotte
reklamierte den Ruodlieb für Frankreich?: für ihn ist alles
ein Romanismus. Karl Strecker hat das in seinem Aufsatz
„Die deutsche Heimat des Ruodlieb““ mit verdienter Schärfe
zurückgewiesen.
Was unser Dichter schreibt, muß doch wohl Latein sein,
wenn auch ein anderes, als das des Waltharius. Eckehard
dichtet in engster Anlehnung an Vergil und Prudentius, seine
Arbeit ist also Nachahmung, Schulleistung, Humanismus.
Gelegentlich aber gleitet er in ein Latein hinein, das dem des
1 ], 2, S. 347.
3 Arch. f. d. Stud. d. neuen Sprachen 114.
* Romania 1916/17, S. 373ff.
Neue Jahrb. 1921, S. 289ff.
5 Vgl. K. Strecker, N. Jb. 3, 641 ff. und Wilh. Meyer aus Speyer, Zs. f. d. A. 48, 114ff.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 29
450 Hans Ottinger
Ruodliebsehr nahe kommt. So findet Koegel' in mortem gustare
(v. 870) das deutsche den tot chiesen. In der Vulgata heiBt es
aber Joh. 8, 52: si quis sermonem meum servaverit, non gustabit
mortem, und im Hebräerbrief 2, 9: ut gratia dei pro omnibus
gustaret mortem. Eckehard ist da offenbar nicht in seine Mutter-
sprache, sondern in das Latein der Bibel hineingeraten, das
ungefähr so, vielleicht mit noch vulgäreren Bestandteilen ver-
mischt, wohl auch in seinem Kloster gesprochen wurde.
Hier sind wir bereits in dem Milieu, in dem der Dichter des
Ruodlieb sein Latein gelernt hat. Die Formel lautet so, wie
sie Karl Strecker in seinem grundlegenden Aufsatze bereits
skizziert hat: Unser Dichter schreibt das ans Spätlatein an-
knüpfende Latein seiner Zeit. Von dem Ehrgeiz, klassische Vor-
bilder erreichen zu wollen, ist er fast ganz frei, man muB in
der Regel zu den der Volkssprache am nächsten stehenden spät-
lateinischen Autoren greifen, um Ähnliches zu finden. Im ganzen
ist der Sprachzustand des Ruodlieb etwa der gleiche, wie er
uns in der volkstümlichen mittellateinischen Mönchs- und
Novellenliteratur entgegentritt, also in dem ungefähr gleich-
zeitigen Liber de miraculis des Johannes Monachus, oder dem
Alexanderroman des Archipresbyters Leo, oder in der etwas
späteren Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi und der von
Hilka entdeckten Historia septem sapientum I”.
Vielleicht hat der Dichter des Ruodlieb in erster Linie
Latein und dann erst Deutsch gekonnt, wie man bei uns früher
zum schriftlichen Ausdruck die französische Sprache wählte,
weil sie geschmeidiger war. Vielleicht haben ihm auch manche
von den Novellen und Schnurren, die er erzählt, schon in latei-
nischer Fassung vorgelegen und sind ihm als etwas recht eigent-
lich Lateinisches erschienen.
Jedenfalls erweist die folgende Untersuchung die Mehrzahl
der Germanismen Seilers als harmlosen spätlateinischen Sprach-
gebrauch. Die Germanismen-Theorie darf also als im Prinzip
widerlegt gelten.
Wie schwer es ist, einen wirklichen Germanismus nachzu-
weisen, will ich an einem Beispiel zeigen, bei dem Seiler auch
* J, 2, S. 812.
? Alle vier Büchlein jetzt bequem zugänglich in der Sammlung mittellateini-
scher Texte von Alfons Hilka.
m -
—
Zum Latein des Ruodlieb 451
nicht an die Möglichkeit eines Zweifels dachte. Ruodl. IV, 226
heißt es: cum sat lorifregi, quae porrexere recepi, und zu lori-
fregi steht am Rande die Glosse zugilprechoto. Nun heißt es
aber im Aesop des Romulus in der 62. Fabel (Thiele S. 203):
(vitulus) calcibus in altum saltus dedit loraque confringens
fugam petiit. Mit lora confringere ist für einen spätlateinischen
Autor, zumal einen Dichter, ohne weiteres auch lora frangere
gegeben. Ist hier wirklich das Deutsche Original? Oder das
Lateinische?
Als ich diese Arbeit begann, zog ich aus, um über die In-
dizien hinaus, die deutsche Namen und Glossen, Fundort und
Zustand der Hs. an die Hand geben, die deutsche Heimat des
Ruodlieb aus der Sprache zu erweisen. Aber ich fand keinen
einzigen völlig einwandfreien Germanismus, wie die nach-
stehende Untersuchung zeigt“.
Präpositionen. Seiler leitet dieses Kapitel S. 114 mit
den Worten ein: „Ihr Gebrauch zeigt zahlreiche Abweichungen
vom klassischen Latein, von denen viele offenbare Germanismen
sind.“ In Abweichungen vom Klassischen fassen wir aber
nicht unseren Dichter, sondern zunächst nur das ans Spätlatein
anknüpfende Latein seiner Zeit. Erst wenn wir Abweichungen
von dem beobachten, was im späten und mittelalterlichen Latein
allgemeine Ubung ist, können wir Eigenheiten unseres Dichters
konst atieren.
Ad: 1) lokal gebraucht: ad mensam = bei Tische I, 104;
ad latum = an der breiten Seite, ad artum = an der schmalen
Seite I, 29.
Über diesen in der Volkssprache wurzelnden Gebrauch
handelt Schmalz, Syntax S. 394. Vgl. auch Ahlquist, Studien
zur spätlateinischen Mulomedicina Chironis, Diss. Uppsala 1909,
und Krebs-Schmalz, Antibarbarus I, 80. Belege bietet jeder
spätlateinische Text, z. B. der Engländer Beda Historia ec-
clesiastica (Holder, Freiberg und Tübingen 1882): S. 106, 5:
Sedentibus iam ad mensam fratribus’. Ad mensam findet sich
_ * Verzeichnis der im folgenden zitierten Ausgaben und Schriften s. am Ende
des Aufsatzes.
* Ad mensam sedere auch p. 106,7; 231,10; 233,7; 130,4: ad dexteram altaris;
251, 30: resederunt circa me, unus ad caput et unus ad pedes. Petronius 46: habebis
ad latus servulum; zahlreiche Beispiele aus Gregor. Turon. bei Bonnet, Le Latin
de Grégoire de Tours.
99*
452 Hans Ottinger
schon bei Plautus inc. frg. 41, Martial 2, 57, 7 und Scaevola,
dig. 2, 14, 47, 1. Über mensa = cena vgl. Antibarbarus s. v.
mensa.
2) Ad temporal gebraucht (Seiler S. 114): ad seram = auf
den Abend X, 15. induciare ad diem = auf einen Tag fest-
setzen V, 392.
Vgl. zu dem ganzen Gebrauch Krebs-Schmalz Anti-
barbarus I, 81, Thesaurus l. l. und Hand Tursellinus vol. I,
p. 99ff. Der Gebrauch begegnet schon bei Cato agr. 162,3
(semen maturum fit ad autumnum), Plautus Men. 965 (ad noctem
saltem intromittar domum) und Pseud. 4, 7, 77; Varro r. r. 2, 2,
11 (ad solis occasum), sogar bei Cicero div. 1, 103 (ea ipsa die
domum ad vesperam rediit) und Verr. 3, 92 (ad horam nonam
praesto est), Horaz ep. 9. 2, 98 (ad lumina prima), Tacitus an.
15, 60 (ad eum diem ex Campania remeaverat) und bei Vitruv I
praef. 3 (ut ad exitum vitae non haberem inopiae timorem).
Sehr háuflg in der Vulgata z. B. Apocal. Joh. 3, 10 (servabo
te ad horam temptationis). Mulomedicina Chironis 162, 19
(ad medium diem da bibere aquam et ad vesperum da herbam).
In der Peregrinatio Aetherie begegnen etwa 40 mal Zeitangaben
wie ad nonam oder ad lucernare. Häufig auch bei Beda hist.
eccl. z. B. p. 106, 5: reversus ad vesperam!!. Vgl. auch Bonnet
S. 583 für Gregor. Turon.
3) Ad final gebraucht (Seiler 114): dare equos ad alendum IV,
104; mensas ad habendum XV, 28; ferner saccus ad fodrum I, 23.
Dieser Gebrauch ist im Spätlatein stark erweitert worden,
wie denn diese Spätlinge oft alle theoretischen Ausdrucksmöglich-
keiten, die sie vorfinden, rücksichtslos ausnützen. Häufig findet
er sich in der Vulgata z. B. Joh. 6, 52 (carnem dare ad mandu-
candum)!, Victor Vitensis (ed. Petschenig) z. B. 38, 10 (hordeum
19 Ebd. 16, 14 (congregare illos in proelium ad diem magnum dei), Ev. Joh. 7, 8
(vos ascendite ad diem festum hunc, ego non ascendam ad diem festum istum).
7,10 (ascendit ad diem festum).
11 Ad vesperam auch p. 150, 16, 28, 29 und p. 151, 4, 7, 84 u. ö. p. 29, 18:
(ecelesia ad diem resurrectionis dominicae frondibus contexta), 125, 31 (servare
se ad tempora meliora).
12 Thim. 4, 3 (quos deus creavit ad percipiendum), 6, 17 (praestat nobis omnia
abunde ad fruendum); 1. Cor. 11, 21 (suam caenam praesumit ad manducandum);
11, 22 (numquid domos non habetis ad manducandum et bibendum); 9, 10 (panem
ad manducandum); Matth. 2, 13 (quaerat puerum ad perdendum eum); 5, 28 (omnis
Zum Latein des Ruodlieb 453
ad vescendum ut iumenta accipiunt), 17, 15 (qui coartaret ad
tradendum ministeria divina), 81, 11 (ad excolendum agros
accipiatis), Historia Apollonii (Riese, Bibl. Teubn.) p. 75,11
(venit ad repetendam filiam suam), háufig bei Beda Hist. eccl.
z. B. 43,28 (eosque aliis mulieribus ad nutriendum tradant)!®?,
Peregrin. Aeth. 37, 3 (manum autem nemo mittit ad tangendum),
Anton. Placent. (Itinera Hierosolymitana ed. Geyer) p. 172, 1
(dominus noster ascendit ad crucifigendum). Vgl. auch Ahlquist
S. 59 und Bonnet S. 584.
Interessanter sind finale Verwendungen von ad folgender
Art: Vulgata 2. Cor.11,8 (alias ecclesias expoliavi accipiens
stipendium ad ministerium vestrum = um euch dienen zu
können). Act. ap. 3, 10 (ad aelemosynam sedebat = er saß um
Almosen); Fulgentius Myth. 1, 27 (maligna ad mariti mortem
(= um ihn töten zu können) suam vitam reputat nihili); Beda
p. 214, 11 (ad peccata vigilant = um zu sündigen), 94, 4 (in eodem
fano et altare haberet ad sacrificium Christi et arulam ad victi-
mas daemoniorum). Weitere Parallelen zu unseres Dichters
„Saccus ad fodrum“ bieten: Anton. Placent. Itin. (G), S. 182, 1
(ad cellarium .legumina vel oleum ad luminaria), Disciplina
clericalis S. 50, 5 (timor domini est clavis ad omne bonum),
Aesop des Rom. (Th) p. 271 (abundabis pulcherrima carne
ad escam). Viele Beispiele bringt Ahlquist S. 59 aus der Mulo-
med. Chiron, z. B. 284, 20: medicamentum ad bovem. Weitere
Beispiele aus der Sprache der Mediziner im Thesaurus l. 1.
4) Seiler S. 114: „Adverbiale Bestimmung: vestire ad
honorem = nach eren IV, 232.“ Auf S. 136 führt Seiler dann
ad honorem als besonders charakteristischen Germanismus an.
Krebs-Schm. Antibarb. I, 81: ,,Richtig, wo ad, zu, soviel ist
als „nach, demgemäß“, z. B. ad voluntatem loqui, nach dem
Willen; ad nutum, nach dem Winke." Vgl. Thes. und Hand.
Tursell. vol. I, 108. Bei Cic. de fin. 1, 9, 30 bieten einige codd.:
qui aut ad naturam aut contra sit, einige secundum naturam.
Ad und secundum sind also synonym gebraucht. Der Gebrauch
qui viderit mulierem ad concupiscendam eam, iam moechatus est); Jacob. 3, 3
(equorum frenos in ora mittimus ad consentiendum nobis).
13 64, 30 (multique ad emendum confluxissent), 127, 2 (intrabant ad pranden-
dum), 138, 3 (persuasus maxime ad percipiendam fidem a filio regis), 139, 11 (hortari
ad intellegendum), 251, 32 (ac mihi librum ad legendum dedit) u. ö.
454 | Hans Ottinger
ist auch in spáterer Zeit lebendig geblieben, z. B. Plinius n. h. 24,
8, 301% und 16, 11, 8015, wörtlich bei Apuleius met. 8,2: ad
honorem splendidae prosapiae inter praecipuos hospites domum
nostram receptus. Beda p. 35, 30 (ad iussionem regis residentes),
180, 27 (ad saeculi huius dignitatem nobilis)!*: Mulomed. Chiron.
p.165, 28 (ad rationem compositionis utere medicamento).
Der Ausdruck hat also nichts Ungewóhnliches, zweifeln kónnte
man hóchstens, ob unser Dichter dieses ad nicht vielmehr in
finalem Sinne verstanden hat, also ad honorem = honoris
causa. In frg. XV, 44 schreibt er nämlich: contra quae agmen
surrexit eis ad honorem. Dieser Gebrauch ist im Spätlatein
überaus háufig: Vulgata Rom. 15, 4 (ad nostram doctrinam
scripta sunt), 1. Cor. 7, 35 (ad utilitatem vestram dico)“,
Beda 62,6 (virtutes sanctorum ad exemplum vivendi posteris
collegit) is, Victor Vitensis p.19,17 (quasi ad maiorem ob-
probrium), Johannes Monachus p. 4, 32 (quae ibi ad laudem
dei fiunt), 33 (ponimus ad laudem animarum). Vgl. Thes. I. l.
5) Seiler S. 114: ,, Adverbiale Bestimmung vasa ad grossum
nucis = in der Größe V, 123."
Grossus = crassus ist im Spätlatein weit verbreitet. Die
Substantivierung des Adjektivs darf nicht befremden, da das
gesamte Spätlatein darin sehr Kühnes leistet. Wir haben offen-
bar einen Akkusativ des Maßes vor uns, wie sie Ahlquist S. 39f.
aus der Mulom. Chiron. zusammenstellt, z.B. p. 205, 20:
tumorem eminentem mollem nucis magnitudinem demonstrat
oder 215, 15: abscidito medium frustum quaternario duplicis
magnitudinem. Gelegentlich tritt nun zu einem solchen Akkusa-
M Foliis cum vino tritis ad virium portionem.
15 Teredines capite ad portionem gravissimo.
16 150, 38: ad legis Mosaicae decreta tempus paschale custodiens, 173, 19:
ad exemplum venerabilium patrum, 219, 21: ad fidem et preces famuli dei, 222, 10:
ad tui oris imperium, 263, 14: ad iussionem praefati regis.
17 10, 11: scripta sunt autem ad correptionem nostram, 14, 26: omnia ad
aedificationem fiant, 15, 34: ad reverentiam vobis loquor, 2. Cor. 1, 20: ad gloriam
nostram, 7,3: non ad condemnationem dico, Philipp. 1, 25: permanebo in omnibus
vobis ad profectum vestrum et gaudium fidei, Tim. 1, 16: ad exemplum eorum
qui, Petr. ad gent. 4, 12: ad temptationem vobis fit, Apocal. Joh. 22, 2: folia
liqui ad santatem gentium.
18 95, 6: ad utilitatem eorum qui, 180, 40: ad utilitatem legentium, 171, 37:
ad indicium virtutis illius, 177, 80: quae et ad memoriam aedificationemque se-
quentium descripta habentur. —
Zum Latein des Ruodlieb 455
tiv des MaBes das bekannte ad, das einen Annäherungswert
ausdrückt. So entstehen Ausdrücke wie Mulom. Chiron. p. 163, 30:
ad magnitudinem fabae; 208, 22: ad magnitudinem nucis.
Andere Beispiele bietet der Thesaurus, z. B. Plin. n. h. 16, 203:
crassitudinis ad trium hominum complexum; 19, 110: ad trium
denariorum pondus; Celsius 4,19 p.145: laser ad piperis
magnitudinem. Ähnliches finde ich noch bei Soran. Gynaec.
p. 20,18: ad magnitudinem ovi, ebenso p. 22,5; Disciplina
clerical. p. 35, 2: caseum ad magnitudinem clipei factum!?.
Per: 1) Seiler S. 114: „Per für abl. causae bei Sachen IV,
241; XVI, 17."
Über per vgl. Schmalz, Synt. S. 405. Der modale Gebrauch
hat sich aus dem instrumentalen entwickelt und im Spätlatein
sehr ausgebreitet. Zur instrumentalen Bedeutung von per
vgl. z. B. Terenz Phorm. 1038: minas triginta ab illo per fal-
laciam abstuli; Hist. Apoll. p. 38, 10: per ceram mandavi,
quae pudorem non habet“. Häufig auch in der Vulgata, z. B.
1. Cor. 15, 2: (evangelium) per quod et salvamini; 2. Cor. 1, 4:
per exhortationem?!,
Von der instrumentalen Bedeutung nicht immer glatt zu
scheiden ist die kausale (vgl. Draeger Hist. Synt. I, 607).
Per bezeichnet wie der abl. causae sowohl den inneren als den
äußeren Grund (Seiler: „bei Sachen“). Zur Bezeichnung des
inneren Grundes dient per etwa: Cic. Tusc. 4,37: per iram;
De or. 3, 3, 11: per invidiam. Ebenso bei Liv. Curt. Tac. Flor.
u.a. Hist. Apoll. p. 107, 8: per impietatem; Beda 40, 25: per
ignorantiam??; Mulom. Chiron. p. 4, 12: si quid enim per
19 Hierher gehören auch Ausdrücke wie Petron. 97: hominis vestigium ad
corporis mei mensuram figuravi; Beda 9,21: singulae earum ad modum humani
femoris grossae; 118, 7: fossam ad mensuram staturae virilis altam.
39 Vgl. die Beispiele aus Tertullian bei Hoppe S. 33, aus Gregor. Turon. bei
Bonnet S. 590, aus der Mulom. Chiron. bei Ahlqu. S. 65, aus Jordanes bei Werner
S. 59 und schließlich die Indices des Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum
und die lange Aufzühlung bei Draeger Hist. Synt. I, 603 und bei Liesenberg S. 14
aus Ammian. Marc.
21 6, 7: per arma iustitiae; Ephes. 3,7: per evangelium factus minister;
Ooloss. 2, 8: videte ne quis vos decipiat per philosophiam et inanem fallaciam;
1. Timoth. 4, 5: sanctificatur enim per verbum dei et orationem; 2. Timoth. 1, 6:
per impositionem manuum mearum; Tit. 3, 5: per lavacrum regenerationis.
33 40, 27: per furorem, per mansuetudinem, per considerationem; 45, 28:
per delectationem; 45, 81: per nequitiam; 180, 7: per ignorantiam vel incuriam.
456 Hans Ottinger
ignorantiam male factum fuerit; 68, 11: vehementer per do-
lorem volutant; Vulgata Matth. 27, 18: sciebat enim quod per
invidiam tradidissent eum*, Zum Ausdruck des äußeren
Grundes: Terenz Andr. 157: ut per falsas nuptias vera obiurgandi
causa sit. Draeger führt unter anderem an: Caes. b. c. 3, 24
(per causam exercendorum remigum); Liv. 2, 32 (per causam
renovati ab Aequis belli; Suet. Nero 36 (quasi per iustam
causam). Ferner findet es sich bei Petron. 112 (quicquid boni
per facultates poterat coemebat), Vitruv. p. 30, 22 (per sacri-
ficium), Cypr. 1, 255, 5 (quod necdum edere posset per aetatem),
Commod. instr. 2, 22, 5 (vino copioso parce, ne per illum aberres),
Vulg. 2. Cor. 8, 5 (per voluntatem dei), Hist. Apoll. p. 41, 17
(per meam iussionem), Peregrin. Aeth. c. 20, 9 (scio per scrip-
turas), Beda p. 194, 22 (per iussionem papae), Ahlqu. bringt
aus der Mulom. Chiron. S. 66 z. B. p. 8, 21 (non facile sitit per
gracilitatem venarum); 46, 25: interiorum dispositio per fati-
gationem nimiam invalida flet?*5. Sehr kühne Verwendungen
des kausalen per finden sich bei Gregor. Turon. (vgl. Bonnet
S. 591) z. B. h. F. 2, 3 p. 64, 5: virtutem dei invidere per pecuniam
und bei Vict. Vit. p. 26, 11: coepit per conversationem operum
bonorum venerabilis haberi; 33,23: alii per aetatum annos
a lumine temporali privati.
2) Seiler S. 114 „Für abl. limitationis: lances per circuitum
cubitales V, 309; per suras suspendi ‚an den Waden' III, 5. —
per girum ambire V, 348; per frusta caedere ,in Stücke schnei-
den‘ II, 40.“
Der Typus per circuitum, per girum ist im Spätlatein, beson-
ders im Kirchenlatein, weit verbreitet, z. B. Peregrin. Aeth.
c. 2,5: mons per giro quidem unus esse videtur; 2, 6: montes qui
per girum sunt?®. Häufig in den Itinera Hierosolymitana (Geyer)
z.B. Adamnan. de loc. sanct. 224, 14: per circuitum, ebenso
p. 246, 12 u. 247, 10, p. 224, 8: per circuitum civitatis. Mulom.
? (salat. 1,15: vocavit per gratiam; 5, 13: per caritatem servite in invicem.
*4 35, 26: per consuetudinem; 47, 1: per caementorum raritatem; 178,7:
per panni raritates.
35 63, 10, 12: per calorem; 154, 12: per negligentiam; 208, 2: per quam causam
ambulare non possunt.
% 3, 1: non eos subis lente et lente per girum; 4, 4: petra ingens est per girum
habens planitiem supra se; 8,1: ingens fuit per girum; 13,3: per girum ipeius
colliculi parent fundamenta; 19, 10: custodirent civitatem per giro clusam.
Zum Latein des Ruodlieb 457
Chiron. p. 290, 22: cum pice liquida per girum linito; 14, 29 u.
71, 12: per circuitum; Vulg. Ex. 16, 13: ros iacuit per circuitum
castrorum u. ó. Ebenso häufig ist in giro, in circuitu. Vergleich-
bar sind ähnliche Wendungen wie Peregrin. Aeth. 5,1: per longum
— der Länge nach, ebenso Mulom. Chir. p. 23, 14. Anton. Pla-
cent. (Itinera) 3, 1: per directum — auf dem graden Wege. Vulg.
Joh. 19, 23: per totum = ganz und gar; Beda p. 92, 23: per
quadrum = quadratisch.
Auch der Ausdruck „per suras suspendi'' ist keine Besonder-
heit unseres Dichters. Vgl. Plautus Asin. 2, 2, 35: nudus vinctus
centum pondo es quando pendes per pedes; Catull 17,9: ire
praecipitem in lutum per caputque pedesque; Mulom. Chir.
p. 78, 1: si per aliam partem tenueris eum; Gregor. Turon. hist.
F. 3, 7 p.114,20: pueros per nervos ad arbores appendentes;
5,38 p. 230, 10: adpraehensam per comam puellam”.
Ausdrücke vom Typus per frusta = frustatim finden sich
allenthalben, z. B. Vict. Vit. p. 96, 7: linteamina per fila con-
sciderunt (in Fetzen); Jordan. Get. 5, 42: per familias divisi;
Soran. Gynaec. 6, 10: per partes dividere; Seneca de ira: per
singulos artus laceravit; Celsius 6, 9, 6: per testas excidet deus;
Lucif. Calar. aus Jos. c. 27: oblati sunt per plebes, obtulit po-
pulum per tribus, per domos, per viros; Irenaeus 2, 28, 4: verbum
nostrum profertur non de semel sed per partes; Soran. Gynaec.
41, 16: per partes paulatim.
Post: Seiler S. 114: „post = ‚hinterher‘ bei Ausdrücken
des Sehens I, 52, 64, bei maerere XVI, 7, gemere IV, 164, flere
X,9. Merkwürdig ist der finale Gebrauch bei den Verben der
Bewegung; hier steht post ganz wie das deutsche ‚nach‘ = um
zu rufen, holen, fangen; so pergere post ursum I, 130, salire post
herilem XIII, 52; deutlich unterscheidet sich namentlich bei den
Verben des Schickens post von dem rein lokalen ad usw.“
Das Spätlatein geht in der präpositionalen Verwendung von
post über die Zurückhaltung der klassischen Normalprosa weit
hinaus: Vulg. Matth. 15, 23: dimitte eam quia clamat post nos;
Joh. Mon. p. 181, 6: tunc sanctus magnus Georgius exclamavit
7 Cels. 3, 21,5: prendere per multas partes cutem et adtrahere; 3, 27, 1A:
per omnia membra; Leo de proel. p. 91, 12 und 116, 5: apprehendere per manum;
Hist. sept. sap. I, p. 11, 11: accepit illum per capillos et barbam; 17, 8: cepit eam
per testiculos.
458 Hans Ottinger
post eos dicens: nolite timere. Auch bei den Verben der Bewe-
gung findet sich post in der Bedeutung „hinterher“, z. B. v...
Luc. 14, 27: qui non baiulat crucem suam et venit post me, no1
potest esse meus discipulus; Matth. 16, 23: vade post me; 1
si quis vult post me venire, abneget semet ipsum; 4, 19: ait illis
venite post me??; Lucif. Calar. p. 211, 14 (aus Deut. 13, 4): post
dominum deum vestrum abibitis et ipsum timebitis; 223, 8 (aus
IV reg. 23): ire post dominum; 5, 22: quia non abierimus post
idololatriam tuam; 16, 22: post illos abibat; Eugipp. p. 84, 7:
curram post vocem hanc et apprehendam te; Anton. Placent.
Itin. p. 163, 10: revertentes post nos; 167,6: Jordanis cum
rugitu redit post se; 198, 28: venientes post nos Iudaei; Beda
h. eccl. p. 51, 31: abeuntibus autem praefatis legatariis misit
post eos litteras (schickte ihnen nach); 166, 20: absolvit eum et
post Theodorum ire permisit (nachreisen); Bonnet S. 592 zitiert
aus Gregor. Turon.: vade post eum und post Gundobadum
abiit; Joh. Mon. p. 59, 23: secutus sum vero post illos, ut vi-
derem ubi sepelirent eum; Hist. sept. sap. I, p. 7, 8: picam post
eam (ihr nach) misit; 10, 16: ivit autem anus in domum puellae,
et canis post eam; 11, 7: ibo post ipsam et cognoscam, ubi me
ducet. Ivitque post eam.
Außer der Richtung bezeichnet die Präposition post dann
allmählich auch den Zweck, eine Entwicklung, die ja auch das
deutsche „nach“ durchgemacht hat. Vgl. Schmalz Synt. S. 397.
Vulg. Joh. 12, 15: misit serpens ex ore suo aquam post mulierem
tamquam flumen; Peregrin. Aeth. c. 7, 4: cum vidissent Egyp-
tios post se venientes (ihnen nachsetzen); 8,5: post aliquem
occupare (nacheilen, nachsetzen). Vgl. Löfstedts Kommentar
S. 192, wo er noch beibringt Liber Jubil. 30, 26: non persecuti
sunt post Iacob, ut nocerent eum; Gregor. Turon. h. F. 4, 2
p. 142, 20: misit post eum cum muneribus; 4, 16 p. 154, 10:
cum exercitu post eos dirigens. Beispiele mit unzweifelhaft
finalem Sinn bringt Zink S. 44 aus Fulgent. Myth. z. B. III, 10:
33 Luc. 19, 14: miserunt legationem postillum (ursprünglich — hinter jemandem
herschicken); 23, 26: portare crucem post eum (ihm nachtragen); Act. Ap. 5, 37:
avertit populum post se (Luther: „und machte viel Volks abfällig ihm nach“);
20, 30: exsurgent viri loquentes perversa, ut abducunt discipulos post se; Petr. 2, 10;
qui post carnem in concupiscentia immunditiae ambulant (nachwandeln); Jud. 7:
abeuntes post carnem alteram; Ps. 62, 8: adhaesit anima mea post te (nachhängen),
—— — — —
Zum Latein des Ruodlieb 459
.post quam (Euridicen) maritus ad inferos descendit (nach ihr =
„sie heraufzuholen). Ferner bringt er einen Beleg aus Luc.
„Ampel. Lib. mem. c.2 p.3,3 (Teubner): canis post aquam anhe-
." min puteum se proiecit. Eine ganz deutliche Parallele zu
unseres Dichters pergere post ursum bietet endlich die Hist. sept.
Sap. I p. 12, 6: videntes cervum in agro cucurrerunt post eum.
Erinnert sei auch an das von Strecker a. a. O. S. 298 Anm. 1
aus einer irischen Vita beigebrachte Beispiel curre post ignem!
Angemerkt sei hier, daß ganz ähnlich auch ante —,,vor
jemandem her‘ im Spätlatein gebraucht wird. Geyer (Itin.)
bringt hierfür mehrere Belege, z.B. Anton. Placent. Itin. p. 184, 7:
fugit ante Jezabel; Theodos. 833: fugiebat ante Saul; Mon.
Germ. Hist. XV, 1 p. 11: ante suos fugere compulsus est hostes.
Vgl. ferner: Vulg. Joh. 10, 4: ante eas vadit; Joh. Mon. p. 49, 31:
ibat ante eum et perduxit usque prope villam; Leo, de proel.
p. 130, 12: pergebat ante currum suum; Hist. sept. sap. I p. 17, 4
vade ante et sequar te.
A, ab. Der Dichter des Ruodlieb gebraucht a statt des abl.
causae II, 33: canis obcecetur ab ipso (pulvere) und statt des
abl. instrum. XVII, 47: factus tristis ab hac re.
Schmalz Synt. S. 407 sagt darüber: „Im allgemeinen ist
festzustellen, daß in der Volkssprache die Präposition ad sehr
häufig und zwar oft im Interesse der Deutlichkeit gebraucht wird,
wo die klassische Sprache sie entbehrlich findet; dienachklassische
Latinität nimmt zumeist die Eigentümlichkeit der Volkssprache
an, die späte Latinität ist geradezu überschwänglich darin“.
Für a zur Unterstützung des abl. causae vgl. Cic. acad. 1, 7,
29: (nihil) a quo intereat; Nep. reg. 3, 3: a morbo periit; Verg.
g. 1, 234: torrida ab igni; Liv. 2, 14, 3: inopi tum urbe ab longin-
qua obsidione; Vitr. 1, 4, 3: ferrum ab ignis vapore percale-
factum; Sen. clem. 1, 20, 1: a duabus causis usw. Häufig in der
Mulom. Chir. (vgl. Ahlqu. S. 73 ff.), 2. B. p. 206, 18: a qua causa
articuli intumescunt, ebenso p. 212, 15; 213, 26; 220, 27; 140, 24.
Besonders die Ursache der Krankheit wird hier durch a aus-
gedrückt, z. B. p. 39, 13: si a lassitudine eius febricitare coe-
perit?. Zahlreiche Beispiele bringt auch Bonnet p. 598 aus
3 66, 12: Si quando ab opere ventrem dolent; 121, 18: vitium incidet in eos
a sicca esca ; 40, 19: ab eo morbo pereat; 59, 21: ab hoc morbo moriuntur; 172, 25:
si aures doluerint ab aqua.
460 Hans Ottinger
Gregor. Turon. Deutlich auch Joh. Mon. p. 74, 20: vidit dolium
quod ante vacuum fuerat plenum et supereffluens in terra a
plenitudine olei. Wohlbekannt auch im Bibellatein: Itala gen.
32, 12 (Lugd) arena maris quae numerari non potest a multi-
tudine; Vulg. Ezech. 43, 2: et terra splendebat a maiestate eius??.
Als Ersatz für den abl. instrum. gestattet sich Cicero den
Gebrauch von a, wenn eine Personification vorliegt, z. B. inv.
1, 24: ab natura datus. Die Augusteischen Dichter bezeichnen
auch das konkrete Werkzeug durch ab (vgl. Draeger Hist. Synt. I
& 230), z. B. Ovid ex P. 4, 7, 9: laesus fallaci piscis ab hamo u. ö.
Häufig wird dieses ab im Spätlatein, z. B. Cels. 7, 55: ne nervus
a telo laedatur; Tertull. Exh. cast. 2: quae vetat non vult, a qui-
bus et offenditur; Cypr. ep. 49 c. 13: ab aqua salutari tantum per-
fusi; Commod. 1, 35, 5: exul factus a verbo; 2, 4, 8: vincetur ab
igne potente; 2, 2, 1: impius occupetur ab igne; Vict. Vit. p. 21, 20:
saturatur ab ubertate domus dei; Hist. Apoll. p. 33, 11: fllia ab
amore incensa; Ánton. Placent. Itin. p. 159, 9: civitas subversa
est a terrae motu; 177, 2: levata a nube; 180, 3: ubi Esaias a
serra necatus est; zahlreiche Beispiele bietet wieder die Mulom.
Chir. (Ahlqu. S. 75)?! und Gregor. Turon. (Bonnet S. 600)“.
Joh. Mon. p. 70, 6: cum esset oppressa ab inopia; Latein. Aesop.
des Rom. p. 263: ab unius consilio multos de periculo liberari;
Vulg. (vgl. Kaulen S. 234) Rom. 12, 21: noli vinci a malo; Eph.
5, 13: omnia autem quae arguuntur a lumine manifestantur?..
Cum: Seiler S. 114: ,,cum steht háufig für den abl. instru-
menti gemäß dem deutschen ‚mit‘ z. B. 2, 38: capram cum
fune secum ducente sodale oder 2, 41: quam super aspergunt
cum pulvere und noch sechs ähnliche Fälle“.
.» Os. 7, 5: furere a vino; Ps. 38,12: defeci a fortitudine manus tuae; Act.
Ap. 28, 3: Vipera a calore cum processisset; Apocal. 18,1: terra inluminata est
a gloria eius.
31 p. 84, 21: calefactionem autem praestare ab igne et fumo; 95,9: ab igne
castrati; 173, 6: ab aqua auriculam extergito diligenter; 217, 22: curato ab axungia;
207, 24: ab ustione sanas facies.
33 H. F. 4, 49, p. 185, 5: multos a lapidibus obrui praecipiens; Mart. 10, 495, 26:
erat a foliis contectum; Mart. 2,33, p. 621, 27: stratas ab arborum foliis vias;
2, 41, p. 624, 15: a fuste percussus.
33 Jac. 2. 9: redarguti a lege; 3, 4: naves cum a ventis validis minentur, circum-
feruntur a modico gubernaculo; Luc. 21,20: circumdari ab exercitu Hierusalem;
Apoc. 9, 18 ab his tribus plagis occisa est (gleich darauf in v. 20 ist derselbe instr.
durch in ersetzt: qui non sunt occisi in plagis).
Zum Latein des Ruodlieb 461
Im Altlatein und in klassischer Zeit taucht cum statt des
abl. instr. allerdings nur sporadisch auf. Immerhin gibt es
eine ganze Anzahl Beispiele, worüber Hand. Turs. II, 145, 3 u.
161, C. F. W. Müller in N. Jb. 1890 S. 717 und der Thes. IV
Sp. 1369 zu vergleichen sind. Häufig wird der Gebrauch im
nachklassischen, besonders im späten Latein: Apul. met. 6, 30:
cum suo Sibi funiculo devinctam; Vitr. 2, 1, 5: subacta cum
paleis terra; 2,8, 4: cum his ansis ferreis et plumbo frontes
vinctae sint; Paul. Fest. p. 93, 1: tibiae cum quibus canitur;
Val: Flacc. 6, 532: frontem cum cornibus auxit; Mart. 9, 90, 16:
cum ture meroque libetur; Firm. err. 12, 5 p. 29, 7: scelus cum
morte domini implere. Zahlreich sind wieder die Belege aus der
Mulom. Chir. (Ahlq. S. 75) z. B. p. 71, 5: deprimes vesicam cum
oleo**. Der Gebrauch des instrumentalen cum ist gerade in der
medizinischen Literatur gang und gábe. So führt z. B. auch aus
der Mulom. des Vegetius C. F. W. Müller a.a. O. zahlreiche
Fälle an, z. B. 1,11, 8: ungere cum vino*5, Theod. Prisc. eup.
faen. 8: loca ante cum aqua calida dulci vaporabis; 45: trociscos
cum aqua resolves; Pseud. Prisc. (Rose) p. 284, 28: salviam cum
digito aut cum penna sibi inliniat; 289, 17: ne cum ferro tangas;
Cass. Fel. 5 p. 13, 5: alopeciam nitro trito cum panno fricabis.
Daß dieses cum auch in der Vulg. nicht selten ist, zeigen die
bei Kaulen S. 203 aufgeführten Belege, z. B. Ecel. 7,33: pro-
purga te cum brachiis ; 34: de negligentia tua purgate cum pannis;
Ps. 15, 11: adimplebis me laetitia cum vultu tuo usw. Auch
sonst ist im Kirchenlatein (vgl. besonders die Indices zu Geyers
Itin. Hieros.) und dem daran anknüpfenden Mittellatein in-
strumentales cum ganz gewóhnlich: Cypr. p. 360, 22: cum vi
doloris ; Petr. Diac. p. 109, 3: sudarium cum quo Christus faciem
suam extersit; 109, 5: arundo cum qua caput eius percussum
est; 109, 6: loracum quibus ligatus est; Anton. Placent. p. 164, 13:
cum paleas incendentes?*. Beda h. eccl. p. 264, 21: cum sub-
scriptione sua corroboravit. Zahlreiche Beispiele bringt auch
*4 95, 29: cum aqua calida delavabis; 150, 26: aspargi cum aqua mulsa; 160, 9:
cum medicamento ungeto; 290, 22: cum pice liquida per girum linito.
35 8, 6, 4: cum pulvere conspersus; 40,1: cum sagitta tangere; 45,3: cum
pannis vinctus pes.
** 174, 13: lapides cum quibus lapidatus est; 177,19: catena cum qua se
laqueavit; 179, 21: cum maxilla asini occidit mille viros.
462 Hans Ottinger
Bonnet S. 603 aus Gregor. Turon. z. B. h. F. 2, 37 p. 101, 7:
brachium cum oleo benedicto contrectans?. Latein. Aesop. des
Rom. p. 271: cervum de loco movit cum sagittis; Joh. Mon.
p. 106, 1: cum spata ista percutiam te; Leo de proel. p. 59, 3:
percussit eum cum baculo®. Hist. sept. sap. I, p. 4, 10: scindens
genas cum ungue. Cum konnte also schon im Altlatein, dann
auch in der klassischen und nachklassischen Zeit zum instru-
mentalis hinzutreten. Im Spätlatein endlich, als der abl. all-
máhlich ein unverstandener Kasus geworden war, wanie es
ganz gewöhnlich.
De: Seiler S. 114: de = von her, von ab. Über de handelt
z. B. Löfstedt Komm. z. Peregrin. Aeth. 103 ff., wo sich auch
Literaturangaben finden. Für de statt ab führt er aus der Pere-
grin. Aeth. an z. B. 1, 2: habebat autem de eo loco ad montem
dei forsitan quattuor milia; 8, 1: de Arabia autem civitate quat-
tuor milia passus sunt Ramessen ; 12, 7: nam de Segor forsitan
sexto miliario ipse locus est (weitere Beispiele in Geyers Index zu
den Itin. Hieros.). Belege für den Gebrauch, der in der Volks-
Sprache wurzelt, finden sich im volkstümlichen Latein aller
Zeiten: Plaut. Asin. 2, 2, 10: De tergo ( — von hinten) ducentas
plagas praegnantis dabo; Iustin. 20, 5, 5: de tergo intentis in
proelium hostibus. Über de zur Bezeichnung der Herkunft vgl.
Kaulen S. 203, z. B. Vulg. Tob. 5, 16: de qua domo, aut de qua
tribu es tu? 1. reg. 1, 1: fuit vir unus de Ramathaimsophim;
Ps. 84, 12: veritas de terra orta est usw. (schon klassisch sagt
man ja z.B. caupo de via Latina u.ä.). Petr. Diac. (Itin.)
p. 116, 5: locus non longe a castro est, i. e. de Clesma, hier also a
und de nebeneinander! 116, 8: venientes naves de India;
Theodos. (Itin.) p. 141, 3: de Calvariae locum usque in Golgatha
passus numero XV ; p. 147, 12: secundo miliario de Hierusalem;
144, 21: de montes Armeniae exeunt flumina; Anton. Placent.
Itin. p. 170, 18: de Gessemani ascendimus ad portam; 183, 5:
venientes de heremo; 183, 15: de petra eduxit aquas. Wie de
in der Mulom. Chir. in lokaler Bedeutung ohne Unterschied mit
7 2, 37, p. 101, 8: cum contis ei latera feriunt; 3, 15, p. 124, 18: ianuas cum
cuneis obseraverat; 8, 15, p. 335, 10: confractum cum malleis.
3 73, 12: ut cum securibus rumperent fundamenta muri; 73, 17: ut percuterent
murum cum verbicibus; 84, 18: preparavit pontem super ipsum fluvium cum tabulis
et catenis; 116, 1: conculcantes honines cum pedibus suis.
Zum Latein des Ruodlieb 463
ab und ex wechselt, zeigt Ahlq. S. 76 f. Für Gregor. Turon. vgl.
Bonnet S. 608. Für de — a beim Passiv habe ich keine Belege
gefunden, kann mich aber nicht entschlieBen, es für einen Ger-
manismus zu halten.
Ex: 1) Seiler S. 115: „e steht für den abl. instr.: vestis velut
ex fuligine tincta 8, 90“.
Das Spätlatein stützt den unverstandenen Kasus mit a, de,
per und in, warum nicht auch mit ex? Vgl. Schmalz Synt.
S. 408: „Der instrumentale Gebrauch gehört dem Spätlatein
an, wo z.B. Commodian instr. 1, 18, 14 sagt: ex eo prodigio
quot perdidit ille propheta".
Hand. Turs. vol. II, 648 zitiert Palat. 11, 17, 1: mustum agi-
tabis ex canna radicata vehementer; Hygin. fab. 24: Medea ex
venenis multa miracula fecit; auBerdem finde ich instrumentales
ex: Aesop. des Rom. p. 284: ex multitudine calculorum aqua
ex urna sursum perfusa est; Anton. Placent. Itin. p. 171, 12:
Petra ornata ex auro et gemmis; 174, 19: ornatam ex gemmis;
175, 17: petra ornata est ex auro et argento. Aus Gregor. Turon.
erwáhnt Bonnet S. 614: z. B. 39 p. 772, 12: scriptum ex atra-
mento. Häufig ist dieser Gebrauch wieder bei den Medizinern,
so zitiert Ahlq. (besonders S. 85 ff.) aus der Mulom. Chir. z. B.
p. 61, 8: ex eo potionare morbidos oportere; 156, 9: ex eo ob-
linies caudam*?, Ebenso zahlreiche Belege finden sich in Ahl-
quists Anmerkungen aus Theod. Prisc., Veget. und Cass. Fel.
2) Seiler S. 115: ,,e steht für den Gen. part.: terna coclearia
ex limpha VIII, 99.“ |
Draeger Hist. Synt. I, 636: ,,ex steht oft und in allen Zeiten
statt eines partitiven Genetivs." Im Spätlatein tritt dieses ex
geradezu massenhaft auf, vgl. die Sammlung aus der Mulom.
Chir. bei Ahlq. S. 80: z. B. p. 68, 22: dabis ex oleo eminam;
60, 17: ex eo medicamento coclearium ; ebenso 73, 2 u. 73, 22 u.
ó. Auch in der Vulg. begegnet ex — gen. part. auf jeder Seite,
z. B. Joh. 16, 17: dixerunt ergo ex discipulis eius ad invicem;
Act. Ap. 21, 16: venerunt autem et ex discipulis nobiscum;
Apoc. 2, 10: ecce missurus est diabolus ex vobis in carcerem.
Natürlich ist das partitive ex auch in der spáteren christlichen
** 226, 7: ex aqua lavato spongia; 282, 14: ex aceto acro ea dilues; 105, 26:
ex quo ordeum aspergis; 71, 27: auriculas ex oleo perunguere; 240, 18: purgabuntur
ex hoc; 60,21: ex hac potione morbidos liberabis.
464 Hans Ottinger
Literatur weit verbreitet, z. B. Beda h. eccl. p. 56, 1: 8i qua ex
his u. ö. Anton. Placent. 161, 9: ex quibus duas; 168, 2: aliqua
ex ipsis u. ö.
3) Ruodl. XI, 19: ex uno pane edere.
Eng mit den eben behandelten zusammen gehören die Fälle,
wo ex auch zu Verben als partitives Objekt tritt. Z. B. Vulg.
Gen. 3, 16: in laboribus comedes ex ea; Joh. 6, 26: quia man-
ducastis ex panibus *?; Beda h. eccl. p. 63, 7 (aus Joh. 31, 16/18):
si comedi bucellam meam solus, et non comedit pupillus ex ea;
Anton. Placent. p. 85, 11: ex quo etiam pro condito bibent;
169, 5: dactalum de libra, ex quibus mecum aduxi. Häufig
wieder bei den Medizinern, vgl. Ahlq. S. 81 aus der Mulom. Chir.
p. 244, 24: ex eo medicamento imponis*' ; Pseud. Prisc. p. 285, 22
simulac ex eo biberit. Im Mittellatein finde ich z. B. bei Joh.
Mon. p. 46, 11: comedere ex his quae secum ferebant“. Sämt-
liche Funktionen von ex, die im Ruodlieb erscheinen, liegen
schon im Spätlatein vor.
Prae: Seiler S. 115: ,,prae = coram IV, 129; Securus prae
‚sicher vor‘ V, 258.“
Über den Gebrauch von prae in guter Zeit vgl. Hand. Turs.
IV, 522 f. Im späteren Latein dehnt prae sein Bereich soweit
aus, daß es schließlich völlig in die Bedeutung von ante eingeht:
Columel. 1, 5, 4: ut a tergo potius quam prae se flumen habeat;
Apul. de mundo p. 69, 22 (Elmh.): limina vero alia prae aliis
erant. Hierher gehórt auch die Wendung prae oculis habere
(Sen. u. Plin.: ante o.), die im Spátlatein háuflg begegnet, z. B.
Beda h. eccl. p. 96, 31 u. 251, 27; Ammian. Marc. 19, 8, 1 u.
30, 4, 18; Beda de loc. sanct. p. 305, 18: prae oculis depingere
ebenso p.311,2. Zu vergleichen ist auch die Wendung prae
manu — ad manus oder in manibus. Tritt prae nun zu einer
Personenbezeichnung, so erhált es geradezu die Bedeutung von
coram, 2. B. Apul. de deo Socrat. p. 51,2 (Oudend.): Sciatis
4 Joh. 6, 51: si quis manducaverit ex hoc pane; 4, 13: omnis qui bibet ex
aqua hac sitiet iterum. qui autem biberit ex aqua quam ego dabo non sitiet in
aeternum; Matth. 26, 27: bibite ex hoc omnes.
41 202, 22: ex eodem ordeo in frumentum bis in die mittito; 65, 20: in auriculas
ex hoc oleo calido suffundere; 133,2: dabis ex hac potione; 168, 11: ex pastillis
qui supra scripti sunt ei dato; 98, 8: ex eodem pulvere in vinum et aquam coquito usw.
43 p. 46, 24: accipe, comede ex sancta communione; 22,21: ut emamus ex
eo; 25: tollemus et nos ex mercibus quas habetis.
Zum Latein des Ruodlieb 465
nihil homini prae istis custodibus nec intra animum nec foris
esse secreti. Floridus interpretiert dieses prae denn auch durch
coram. Von hier aus erklärt sich auch die zweite von Seiler
angemerkte Stelle Ruodl. V, 258: secure miseram dum posses
ducere vitam prae tot tam validis tibi tam diris amicis. Bei Beda
h. eccl. p. 55, 14 findet sich securus ante, und für dieses ante könnte
nach spätlateinischem Sprachgebrauch eben auch prae stehen“.
Zu dem temporalen Gebrauch von prae in Ruodl. 13, 103:
cum quo prae pacificat se vgl. Hist. sept. sap. I p. 27, 27: pre-
mirata est deinde gavisa ait.
Für prae — vorn (im Gegensatz zu post — hinten, Seiler S.116)
ist mir keine Entsprechung begegnet, ich halte das aber für Zufall,
da ja prae und ante im Spätlatein synonym gebraucht werden.
Pro: Seiler S. 115: „Pro ‚wegen, aus‘ = propter; pro
faida patriam deserere I, 88; pro causa vili occidere II, 65; est
breve colloquium pro consensu sapientum IV, 125; bei Aus-
drücken des Affekts: congaudere X, 19; angi XVI, 7; pro matre
lacrimis perfunditur V, 265; als Verstärkung zu causa V, 396“.
Pro = wegen ist für das ganze Spätlatein charakteristisch,
vgl. Loefst. Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 156 u. Schmalz Synt.
S. 410. Kalb „Roms Juristen“ bringt S. 140 einige Beispiele
für pro = propter und meint, daß dieser Gebrauch hauptsäch-
lich dem gallischen Latein angehört. Er kommt aber bei Spät-
lateinern aller Nationalitäten massenhaft vor, kann also höch-
stens zu den Romanismen gehören, die ins Gemein-Spätlatein
eingegangen sind.
Vulg. Luc. 1, 20: pro eo quod non credidisti“; Hist. Apoll.
p. 47, 1: quid respondebo pro te (deinetwegen) patri tuo ?*5;
43 Übrigens kann schon in alter Zeit pro nach securus stehen (Antib. II, 551),
z. B. bei Sen. const. 2, 1: securum pro Catone te esse iussi. Dieser Gebrauch mag
die Einbürgerung von prae erleichtert haben, denn die Funktionen von pro und
prae kreuzen sich im Spátlatein vielfach: Beide bedeuten , wegen" (prae auch in
positivem Sinne!), und diese Bedeutung reicht vielleicht alleine schon hin, die Ver-
wendung bei securus zu erklären.
“ 1. Kor. 10, 30: quid blasphemor pro eo quod gratias ago; 2. Cor. 5, 12:
occasione damus gloriandi pro nobis; 12, 5: pro huiusmodi gloriabor, pro me autem
nihil gloriabor; 7, 4: multa mihi gloriatio pro vobis; 9, 2: pro quo de vobis glorior;
8, 22: confidentia multa in vos sive pro Tito.
*5 63, 9: apud semet ipsam consiliata pro scelere quod excogitaverat; 89, 8:
pro eo quod pecunia ingenti me honorasti; 98, 11: pro quibus usque ad necis veni
perfidiam.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 90
466 Hans Ottinger
Fulg. Myth. 3, 7: pro libidine per talum occiditur; Cassian. Inst.
3, 4, 3: pro causa qua diximus“; Vict. Vit. p. 40, 12: ut die con-
stituta pro disputatione fidei veniatur*'; Commod. c. Apoll. 301:
non ita suademur credere pro tempore clauso, sed propter fu-
turum tempus; 436: qui frustra pro vita (= vivendi causa)
coluntur; Peregrin. Aeth. (Geyer) p. 45,6: qui tamen pro aetate aut
inbecillitate occurrere non poterantí*; Petr. Diac. (Itin.) p. 113,
12: de quo lapide nunc frusta tollunt venientes pro salute sibi**;
Theodos. de situ (Itin.) p. 145, 25: ecclesia super cameras
maiores excelsa fabricata est pro Jordane, quando implet; Anton.
Placent. (Itin.) p. 186, 16: discurrentes cum ipsis per heremum
pro costodia monasteriorum et heremitarum propter insidias;
184, 13: omnes pro devotione barbas et capillos suos tondent;
Beda h. eccl. 48, 4: pro eo quod sacerdos alius in loco deest*9.
Beispiele für pro — causa, ob oder propter aus Gregor. Turon.
führt Bonnet S. 615 an, 2. B. h. F. 3, 13 p. 120, 7: pro ridiculo =
pour faire rire; 2, 37 p. 99, 17: pro reverentia beati Martini”.
Eine bei Caspari gedruckte St. Galler Predigt bietet S. 203, 25:
pro hac ergo causa dominus et salvator noster venit in simili-
4 3, 10: pro hac eadem re; 3, 11: pro ipsius collectae vel communionis dominicae
reverentia; öfters findet sich pro hoc ipso = ob id ipsum und pro eo = quamobrem.
Weitere Stellen in Petschenigs Index zu Cassian.
7 88, 12: sese pro defensione ecclesiarum catholicarum venisse; 95, 7: Vandali
pro hac re ubique fuerant destinati; 109, 10: (quibus frumentum) pro miseratione
dari praecepit.
“ 66, 21: pro memoria illius; 78, 13: ubi luminiaria pro hoc ipsud pendent;
15,28: pro monacontes, qui pedibus vadent, necesse est lenius iri; 77, 16: pro
sollemnitate autem et laetitia ipsius diei infinitae turbae se undique colligent ; 95, 9:
lente et lente itur totum pro populo, ne fatigentur pedibus.
*9 116, 11: portus famosus est pro advenientibus ibi mercatoribus de India;
116, 17: castrum postmodum ibi positum est pro defensione et disciplina pro
incursione Sarazenorum; 118, 29: murmuravit populus pro aqua.
5 83,34: pro vestra redemptione filium suum unigenitum misit; 97,9: tam
pro vestrae caritatis affectu quam pro tantarum provinciarum spatiis; 98, 29: pro
qua etiam re; 154, 5: episcopum pro insita illi prudentia diligebat; 160, 12: minime
valuimus nunc repperire pro longinquitate itineris; 175, 84: decimum capitulum
pro coniugiis; 195, 32: collecta pro hoc in Britannia synodo; 241, 34: ut pro diversa
capillorum specie unus Niger Heuwald, alter Albus Heuwald diceretur; 206, 13:
pro eo quod.
9 1, 24, p. 45, 11: ob suae malitiae scelere, hoc est pro nece quam in dominum
nostrum exercuit; 6, 4, p. 246, 20: pro uno homine committere proelium; Mart. 2, 8,
p. 634, 24: spes nobis erat maxima pro eo quod de te legantur plurima quae feceris.
Zum Latein des Ruodlieb 467
tudinem carnis peccati. Nicht angeführt sind die zahlreichen
Stellen, wo pro c. gerund. = finalem propter (klassisch ad) ist.
Im Mittellatein finde ich z. B. Joh. Mon. p. 123, 26: pro hac
causa; Hist. sept. sap. I p. 6, 19: noli interficere filium tuum
pro verbis uxoris tuae; 20, 18: pro qua causa? u.ä.
Nicht von den bereits angeführten Fállen zu scheiden sind
diejenigen, wo pro bei einem Ausdruck des Affekts steht; z. B.
Lucif. Calar. (Hartel) p. 216, 11: dolere pro te; Commod.
instr. I, 1, 7: doleo pro civica turba; II, 12, 13: ille pro victoria
laetus suscipit ; I, 32, 10: pro eo timebis; Beda h. eccl. p. 74, 27:
post multas preces ac lacrimas ad dominum pro statu ecclesiae
fusas. Übrigens sagt schon Cicero sollicitum esse pro, z. B.
Lael. 45: ne necesse sit unum sollicitum esse pro pluribus. Eine
aus den VIII. 8aec. stammende St. Galler Predigt bietet bei
Caspari S. 212, 7: non dolebit amicus super amicum nec frater
pro fratre nec parentes pro filiis nec servus fidelis pro domino.
Joh. Mon. p. 125, 28: maneo pro te in amaritudine; Leo de proel.
p. 99, 7: plorabant enim Perses non tantum pro morte (Darei),
quantum pro pietate Alexandri; Aesop. des Rom. p. 181: tristis
pro te; Hist. sept. sap. I p. 12, 18: scidit rex vestes suas et tur-
batus est pro filio; Discipl. clerical. p. 42, 5: veniebat de foro
laetus pro lucro. Die in Frage stehenden Verwendungen von pro
sind also im Spätlatein allgemein üblich.
In: Das Kapitel Seilers, das über die Práposition in handelt,
ist eines der germanismenreichsten. Er notiert zunáchst (S. 115):
„In c. acc. drückt das deutsche ‚zu‘ aus in: costam facere in
mulierem XV, 74; reperire in mulierem; in dotem dare
aliquid XVII, 45, 80; adverbial: in mercedem ,zum Lohn'
VII, 85."
Über finales und konsekutives in vgl. Schmalz. Synt. S. 412
u. Draeger Hist. Synt. I, 658. Sen. prov. 6, 2: nati sunt in exem-
plar; Ov. am. 1, 10, 25: sumite in exemplum pecudes ratione
carentes; Plin.n.h. 7,96: in spolium capere; Oros. 7,8,1:
Pisonem sibi in fllium et in regnum adoptavit. Eine genaue
Parallele zu unserem aliquid in dotem dare bei Colum. 4, 3, 6:
(fundi) partem tertiam nubenti maiori filiae dedisse in dotem
und bei Apul. apol. c. 92: quodcunque aliud in dotem acceperis.
Aus der Fülle von Belegen, die Kaulen S. 230 aus der Vulgata
gibt, z. B. Tob. 6, 13: dabit tibi eam in uxorem; 1. reg. 15, 1:
30*
468 Hans Ottinger
ut ungerem te in regem®?. Dieselbe Verwendung von in findet
sich auch sonst allenthalben in der christlichen Literatur. Über
konsekutives und finales in bei Tertull. vgl. Hoppe S. 38, z. B.
homini facto in animam vivam, das öfters vorkommt, oder
Marc. 4, 35: lapis factus est in caput anguli; 5, 4: efficeret tor-
tuosa in viam rectam et aspera in vias lenes®. Lucif. Calar.
p. 87, 19: in regem unctus; 216, 9 ebenso; 295, 9: in ovem,
cum sis lupus, perfrigescis*; Cypr. I, 19, 11 (Hartel): ut in
deum surgat fulminatur; II, 258, 12: unxit Saul in regem;
269, 25: sanctum sanctorum in imaginem hominis unctum;
Hist. Apoll. p. 53, 9: in filiam suam sibi adoptavit (über in
fllium adoptare als typische Wendung des Spätlateins vgl.
Antib. I, 102). Paulin. Nolan. (Hartel) I p.28,19: socrum
sanctam in matrem sortitus; 63, 8: te elegit nobis dare in fra-
trem55; Beda h. eccl. p. 60, 37: (quosdam fratrum) in tutamentum
coepit observantiae regularis habere; 79, 9: accepta in coniugem
filia®®; Gregor. Tur. h. F. 1, 1 p. 85,9: factus est in animam
viventem; Mart. 78 p. 541, 11: ut sis in ridiculo omnibus; Brevi-
arius de Hieros. (Geyer) p. 154, 6: obtulit Abraham Isaak filium
suum in sacrificium; Adamn. (Geyer) p. 272, 18: ea in escam
sumere cupiunt. Das Fortleben der Konstruktion im Ma. zeigen
Joh. Mon. p. 108, 29: voluit eam ducere sibi in uxorem; Hist.
53 Ps. 131, 13: elegit eam in habitationem sibi; Gen. 2, 7: factus est homo
in animam viventem; 2, 24: erunt duo in carne una (abl. statt acc.). Andere Bei-
spiele etwa Ez. 23, 32: eris in derisum et in subsannationem; Rom. 11, 9: fiat mensa
eorum in laqueum; 2. Cor. 6, 18: ero vobis in patrem et vos eritis mihi in filios et
filias; Hebr. 8, 10: ero eis in deum et ipsi erunt mihi in populum; Act. ap. 7, 21:
enutrivit eum sibi in filium; Petr. 2, 7: hic factus est in caput anguli; Apocal. 8, 11:
facta est tertia pars aquarum in absintium.
56 4, 13: legimus positum eum in lapidem offendiculi et in petram scandali
(1. Petr. 2, 8); 5, 2, 11: posui te in lumen nationum; Pro jeiun. 4: vobis erit in escam.
84 41, 12: quem sibi deus in profetam atque regem elegerat; 290,24: quae
cuncta dura mens tua in necem suae gignit salutis; 47, 2: facit in contumeliam
maiestatis eius vitulas; 218, 26: statuit eos sibi in deos.
ss 102, 18: tantam in domum urbem accipere; 214, 28: me totum in dexteram
Christi factum; 234, 13: adsumpsit te in vas electionis suae; 360, 17: positus in
caput populi, electus in virum gregis.
s 79, 13: non esse licitum Christianam virginem pagano in coniugem dari;
113, 19: erat filiam accepturus in coniugem, ipsum sibi accepit in filium; 158, 9:
consecratus ergo in episcopum; 158, 23: ordinandus in archiepiscopum; 159, 27:
dedi te in lucem gentium; ebenso 159, 35; 197, 27: quam habuerat in coniugem.
Zum Latein des Ruodlieb 469
sept. sap. I p. 25, 1: habebat strigam in mulierem suam (zur
Frau); Discipl. clerical. p. 5, 3: eam acciperet in uxorem; 6:
dedit ei puellam nobilem in uxorem; 8: si eam acciperet in uxo-
rem. — Die fragliche Verwendung von in gehört also haupt-
sächlich dem sogenanntem Kirchenlatein an, in das sie vielleicht
durch hebräischen und griechischen Einfluß hineingekommen ist.
Als Parallelen zu unserem in mercedem = „zum Lohne“
mögen folgende Stellen dienen: Suet. Tiber. 49: in gratiam
Quirini; Calig. 15: in memoriam patris; Plin. n. h. 15, 1, 1:
multis fortuna parcit in poenam; Tac. an. 11, 6: quodsi in nul-
lius mercedem negotia agantur; Iustin. 11, 12, 2: Alexander in
pretium captivarum regnum omne, non pecuniam petiit ; 19, 10,
6: ibi in monumenta rerum a se gestarum Barcen condidit; Sen.
ep. 79,2: ut in honorem meum Aetnam quoque adscendas;
Aesop d. Rom. p. 155: in pretium medicinae linxit manum
pastoris; Peregrin. Aeth. c. 8, 2: eo quod filiis Israhel in honore
ipsorum eas posuerint (über in honore(m) als feste Formel der
Zeit vgl. Loefst. Komm. S. 182). Beda h. eccl. p. 80, 34: in
pignus promissionis implendae; 143, 31: (se ei) ornamenta regia
vel donaria in pretium pacis largiturum®”. Etwas anders er-
scheint der Ausdruck gewendet bei Sen. benef. 4, 1: inveniuntur
qui honesta in mercedem colant ( — propter m.), ebenso Liv. 21,
48, 7: in hanc opimam mercedem arma capite.
Seiler S. 115: „tribuere in aliquos = unter jemand verteilen
V, 171“. |
Vgl. Krebs-Schmalz Antib. I, 463 und Draeger Hist. Synt.
I, 657. Plaut. Aul. 1, 2, 30: dividere argenti nummos in viros;
Cic. Verr. 2, 53: discribebat censores binos in singulas civitates;
Liv. 40, 59: divisit in singulos; Tac. an. 2, 8: distributis in le-
giones ac socios navibus; hist. 8, 58: curam dilectus in consules
partitur. — Vulg. Jos. 18, 3: in quinque regulos Philistium divi-
ditur*?; reichliche Beispiele bringt Ahlq. S. 11 u. 93 aus der
9 159, 23: radix lesse qui stat in signum populorum; 186,20: in signum
adoptionis duas illi provincias donavit; 226, 14: (partem de capillis) ostendere in
signum miraculi; 235, 15: quia salutari fonte in remissionem peccatorum essem
ablutus.
50 Luc. 9, 13: emamus in omnem hanc turbam escas, wo offenbar ein Begriff
des Verteilens vorgeschwebt hat; Marc. 8, 19: V panes fregi in V milia; 20: et VII
panes in IV milia.
470 Hans Ottinger
Mulom. Chir. z. B. p. 285, 17: cottidie in singulos boves dato“.
Eine bei Caspari gedruckte Pfingstpredigt aus saec. V bietet
S. 197: divisum esse in apostulos munus divinae gratiae.
DaB unser Dichter tribuere statt distribuere schteiben kann,
erklärt sich daraus, daB tribuere im Spätlatein vielfach synonym
mit dare gebraucht wird (vgl. Hartel, Ind. zu Ennod.), tribuere
in entspricht also dem dare in Chir. Mul. Schließlich bleibt noch
die Móglichkeit, daB in hier nur der Deutlichkeit wegen statt
der unverstandenen Dativendung steht (hierüber vgl. Rónsch,
Itala u. Vulgata S. 426 c).
Seiler S. 115: „caput in pedes ponere — zwischen XIII, 93.“
— Der Ausdruck bedeutet wohl „den Kopf auf die Pfoten
legen", gehórt also zum folgenden Kapitel.
„Ponere in c. acc.“ — Draeger Hist. Synt. I, 658: „Die Regel,
daB hier in c. abl. zu stehen pflegt, gilt zwar für alle Zeiten, aber
daneben findet sich überall in c. acc.“ Vgl. auch Hand. Turs. III,
806, 11. Plaut. Trin. 739: te in crimen ponat atque infamiam;
Ov. rem. am. 719: omnia pone feros quamvis invitus in ignes;
met. 8, 451: in flammam triplices posuere sorrores ; Sen. ira 8, 33,
4: in ignem posuit. Das Verhalten der Volkssprache zeigt uns
Cato, der acc. und abl. unterschiedslos nebeneinander gebraucht.
In spáterer Zeit, als die normierende Schriftsprache aufhórt ihren
Zwang zu üben, kommt die volkstümliche Unsicherheit in der
Beantwortung der Fragen wo? und wohin? wieder zum Vor-
schein: Colum. 3, 10, 19: deputatum est in terram depositum;
Vulg. (vgl. Kaulen S. 207 u. 232): 1. Macc. 14, 3: posuit eum
in custodiam; Matth. 14, 3: posuit in carcerem; Iud. 6, 10: in
medium populi illum statuentes; Comm. instr. 1, 7, 11: in vulnera
positi; Mulom. Chir. p. 118, 22: plenas ungulas in terram ponere;
177, 16: imponito ei in eum locum; Joh. Mon. p. 24, 16: episto-
lam posuit in loculum“. |
„Ardere in aliquem“. — Der Grammatiker Servius sagt zu
Verg. Aen. 12, 71: communis sermo habet ,,ardeo illa re“; sed
figuratius ,,aardes in illam rem“ dicimus.
% 290, 5: in singula capita quartaria singula; 165, 28: si i n breviorem numerum
equorum uti volueris. 288, 5: vini boni sextario per triduum in singulis iumentis
dato.
% 42, 19: reposuit illud in secreciora domus sue; 59, 25: posuerunt eum in
monumentum; 92, 26: deposuerunt me in terram.
Zum Latein des Ruodlieb 471
Für ardere in entnehme ich dem Thesaurus folgende Bei-
spiele: Manil. 4, 220: in bellum ardentis animos; Tac. h. 1, 48:
in caedem eius ardentes; Amm. Marc. 22, 83, 11: in Silvam necem
effrenatius arsisse; Stat. Ach. 1, 473: omnis in absentem belli
manus ardet Achillem. Beispiele für exardere in aliquid bietet
Hand. Turs. III, 322, 34. Auch speziell von der Liebe wird
ardere so gebraucht: Sen. Herc. 369: brevique in illas arsit
Alcides face; Cypr. ad Don. 8: Jovem in terrenos amores arden-
tem (dies zugleich als Parallele zu fervere in amorem alcs.);
Nemesian. 4, 66: quum sic in Meroen totis miser ignibus arsi.
Sonst finde ich noch: Vict. Vit; p. 24, 12: magis erubescens
amplius in illis exarsit, wo Verwechslung von acc. u. abl. vor-
liegt. Vulg. Rom. 1, 27: exarserunt in desideriis suis in invicem ;
Cassian. p. 146, 8: copia earum in abundantiorem fomitem cupi-
ditatis exarsit; Beda h. eccl. p. 184, 24: ecce ignis mihi appro-
pinquat. at ille quod non incendisti, inquit, non ardebit in te;
135, 19: quod incendisti, inquit, hoc arsit in te.
Hier läßt sich die Bemerkung anknüpfen, daß das Spátlatein
überhaupt reich ist an solchen z. T. merkwürdigen Konstruk-
tionen mit in. Vereinzelt findet sich derartiges schon früher, so
setzt Liv. in bei detestari, exsecrari, increpare (Draeger Hist.
Synt. 1, 654). Tac. an. 5, 7 hat: cum in Blaesum multa foedaque
incusavisset. Andere Beispiele führt Rönsch S. 427 an, z. B.
Catull: deditus in adultera — adulterae. Über Ausdrücke wie
Amm. Marc. 19, 8, 12: in montes petimus handelt Loefstedt
Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 192. Solin. 22: nulla illi datur
femina propria, sed per vicissitudines in quamcumque commotus
sit, usurariam sumit. In der Vulg. findet sich z. B. 2. Cor. 5, 2:
in hoc ingemiscimus ; 10, 2: audere in quosdam; 18, 12: salutate
in invicem; Phil. 1, 6: qui coepit in vobis in opus bonum perfi-
ciet; 2, 22: servivit in evangelium; Thess. 4, 18: consolamini
in invicem; 3. ep. Joh. 5: quidquid operaris in fratres et hoc
in peregrinos; Hist. Apoll. p. 54, 4: quantum in amissam coniu-
gem flebam, tantum in servatam mihi filiam consolabor; Luc.
Calar. p. 216, 14: usquequo luges tu in Saul ? Und diese Beispiele
lieBen sich leicht vermehren.
Seiler S. 115: foramen in os für oris VII, 104. Parallelen
wird man am ehesten bei Medizinern suchen. Wirklich bietet
die Mulom. Chir., der wir über manchen Sprachgebrauch des
472 Hans Ottinger
Spátlateins AufschluB verdanken, eine ganze Reihe ähnlicher
Ausdrücke, z. B. p. 21, 8: de incomatio in oculo; 19: de marmore
in genibus; 10, 24: omnes haec venae in pedibus post sanguinis
emissionem fasciola constringuntur®!. Ebenso Soran. Gynae.
p. 15, 5: bono colore in facie sit und wohl auch Beda h. eccl.
p. 172, 5: habente foramen in pariete und Commod. (Dombart)
p. 60, 1: neque dolores in suis corporibus sentiunt vel ulcera
nata.
Schlagende Parallelen zu unserem foramen in os entstehen,
wenn zu diesem freien Gebrauch von in noch die für das ganze
Spätlatein charakteristische Verwechslung von abl. und acc.
hinzukommt. So z. B. Mulom. Chir. p. 162, 1: si vulnus in
ventrem habuerit; 168, 5: humores eius erunt in totum corpus;
105, 2: solves venas in faciem et in pectore.
In c. abl. = „an“. — Seiler S. 115: „Mit dem abl. drückt
in nicht selten das deutsche ,an, in' aus und steht für den abl.
instr. und lim. bei Verben: cernitur in comitatu I, 136; vobis
in re patet ipsa ,an sich selbst' XVI, 45; est sat in hoc ,daran'
VIII, 66.“
Wir wenden uns zunáchst dem Ausdruck cernitur in comitatu
zu. Nach Krebs-Schm. Antib. I, 295 wird cognoscere in der Be-
deutung „einen an etwas erkennen“ von Plaut. mit de, von den
Klassikern seltener mit a, háuflger mit ex, und von den Nach-
klassikern meist mit dem bloßen abl. konstruiert. Eine spätere
Zeit, die den abl. überhaupt nicht mehr verstand, mußte ihn
natürlich verdeutlichen. Zu diesem Zwecke wird in der Vulg.
und auch sonst im Kirchenlatein oft in verwendet, so z. B.
Matth. 26, 35: in hoc cognoscent omnes quia mei discipuli estis,
besonders häufig im 1. Brief Joh.: z.B. 2,3: et in hoc scimus
(daran merken wir) quoniam cognovimus eum si mandata eius
observemus; 2, 5: in hoc scimus quoniam in ipso sumus““; Cypr.
*! 16, 21: si cui iumento in ipso folliculo vernucae natae fuerint vel quoquo
loco in corpore; 47, 15: tumor in cruribus (ebenso 27); 49, 13: (si iumentum) suffu-
sionem in pedibus habuerit; 51, 13: venae in cruribus plenae sanguine sunt; 21, 25:
quodcumque iumentum in capite ossum quoquo loco fregerit; 174, 19: recentia
vulnera in oculis; 161, 30: de vulneribus in ventre et saniem habentibus.
e 3, 16: in hoc cognovimus caritatem; 3, 19: in hoc cognoscimus quoniam ex
veritate sumus; 3, 24: in hoc scimus quoniam manet in nobis de spiritu quem nobis
dedit; 4, 2: in hoc cognoscitur spiritus dei; 4, 9: in hoc apparuit caritas dei in nobis,
quoniam; 4, 13: in hoc intellegimus quoniam in eo manemus; 5, 2: in hoc cognoscimus
Zum Latein des Ruodlieb 473
p. 632, 21: cum magis in hoc indicium divinae pietatis et paternae
lenitatis appareat; Commod. Instr. 1, 18, 15: senties in fatis;
Theodos. p. 139, 3: sanctus Cleopas cognovit Dominum in con-
fractione panis. Eine noch spátere Zeit gebraucht dann statt
dieses limitierenden in das limitierende per, so heißt es in den von
Werner gesammelten Sprichwórtern des Ma. S. 43 unter Nr. 116:
intima cognosces per mores exteriores u. à.
In re patet ipsa. — Die Stelle lautet im Zusammenhang
Ruodl. XVI, 43: quanto maerore mea mater quove labore per-
tulerit multa . . . curando cuncta, vobis in re patet ipsa. Man
kann dieses in ohne weiteres erklären wie das eben behandelte:
vobis patet heißt ja weiter nichts als cognoscitis. Möglich ist
aber auch, daß wir es hier mit einem rein instrumentalen in zu
tun haben. Außer a, de, ex, per dient ja auch „in“ dem Spät-
latein zur Stützung des unverstandenen abl. instr. Aus der Vulg.
bringt Kaulen S. 205 eine kleine Auswahl, mehr bei Rónsch
S. 396. Ganz typisch für die Vulg. sind z. B. Wendungen wie
Jos. 10, 35: percussitque in ore gladii omnes animas ; Iudic. 15, 15:
(maxillam) arripiens interfecit in ea mille viros; Luc. 22, 49:
percutimus in gladio. Für Tertull. sammelt Hoppe S. 32 Belege,
z. B. res. 61: non in pane vivit homo, sed in dei verbo; Pall. 1:
(habitus) circum strictus in fibulae morsu; Beispiele für Cassian
sind in Petschenigs Index zusammengestellt, z. B. Inst. 10, 7,9:
in hoc (dadurch) rebelles eos notat, für Vict. Vit. ebenfalls in
Petschenigs Index, für Commod. in Dombarts Index z. B. II,
68, 20: in dando promeruit inde levari; 24: in dando divitias
vestras ostendite totas. Dieses instrumentale in findet sich bis
ins Mittellatein hinein. So betrachtet würde vobis in re patet
ipsa bedeuten: „Das ist euch durch die Dinge selbst deutlich,
davon kónnt ihr euch durch die Tatsachen, durch den Augen-
Schein überzeugen".
Est sat in hoc. — Die Stelle lautet im Zusammenhang (es
ist die Gerichtsszene): „iudicat haec semet, vos dicite, si sat in
hoc sit.“ Es ist durchaus möglich, daß wir hier ein limitierendes
quoniam diligimus natos dei; 2. Gor. 4, 10: ut et vita Ihesu in corporibus nostris
manifestetur (offenbarwerden an); 4,11: ut et vita Ihesu manifestetur in carne
nostra mortali; 1. Cor. 4, 6: haec autem fratres transfiguravi in me et Apollo propter
vos, ut in nobis (an uns) discatis; Rom. 9, 17: ut ostendam in te (an dir) virtutem
meam.
474 Hans Ottinger
oder instrumentales in vor uns haben. Dann würde die Stelle,
wie Seiler will, heißen: ob es genug daran, damit ist. Erwägens-
wert erscheint mir aber auch die Möglichkeit, dieses in hoc final
zu fassen: si sat in hoc sit würde dann heißen: ob es ausreicht
dazu, für diesen Zweck (d.h. ein so schweres Verbrechen zu
sühnen). Über in hoc und in id = „zu diesem Zweck, dazu“ und
über in quod (quid) = „ zu welchem Zweck, wozu“ unterrichtet
Hand. Turs. III, 320, 31 durch eine lange Reihe von Beispielen
aus Liv. Hor. Ov. Sen. u. a., z. B. Florus 4, 7, 13: speculator in
id missus; Quint. 4, 5, 16: etiamsi ipsa sunt dura, in id tamen
valent, ut ea molliant. Auch in der Vulg. häufig, z. B. Joh.18,37:
ego in hoc natus sum et ad hoc veni in mundum, ut testimonium
perhibeam veritati; Rom. 9, 17: quia in hoc ipsum excitavi te;
14, 9: in hoc enim Christus mortuus est et resurrexit ; 2. Cor. 5, 5:
qui autem effecit nos in hoc ipsum; ad gent. 3, 9: quia in hoc
vocati estis; 2. Tim. 2, 14: noli verbis contendere, in nihil utile
est u. ö. Und noch bei Beda h. eccl. p. 120, 27: lota igitur ossa
intulerunt in thecam quam in hoc praeparaverant; 197,30:
lapidem de quo locellum in hoc facere possent; 220, 15: con-
veniunt in hoc ipsum multi de fratribus.
Mag man dieses in nun limitierend, instrumental oder final
fassen, in jedem Falle ist es überflüssig, deutschen EinfluB an-
zunehmen. |
In bei Adjektiven: Seiler S 115: „bei Adjektiven: in
cursu velox I, 44; similis in V, 271; hispidus in facie VII, 99;
— dulcis in comedendo XIII, 46; alias in pensando leviores
V, 351.“
Hand. Turs. III, 273, 39 sagt därüber: ,,Saepe adiectiva
ita construuntur, praesertim apud posteriores scriptores“.
S. 274 führt er einige Beispiele an: Velleius Paterc. 2, 105, 2:
virum multiplicem in virtutibus; 2, 83, 1: in omnia et in omni-
bus venalis; Quint. 12, 10, 12: M. Tullium... habemus.. in omni-
bus, quae in quoque laudantur, eminentissimum: quem tamen et
suorum homines temporum incessere audebant ut tumidiorem ..
et in repetitionibus nimium et in salibus aliquando frigidum;
9, 4, 138: in narratione pleni atque expressi, in argumentis
citati. Hinzugefügt sei noch Petron. 52: in argento plane stu-
diosus sum. Auch die Vulg. kennt das, z. B. Ephes. 2, 4: deus
autem qui dives est in misericordia; Act. Ap. 7, 22: erat potens
Zum Latein des Ruodlieb 475
in verbis et in operibus suis“. Ebenso auch anderswo im Spät-
latein, z. B. Eutrop. 8, 1: moderatus in; 7,17: in privata vita
mollis; 9, 13: potens in bello; Cassian. p. 386, 4: in eadem mira-
culorum potentia superiorem. Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet
S. 616 ff., z. B. h. F. 4, 11 p. 148, 8: nullum sibi putans in sancti-
tate haberi praestantiorem; 4, 24 p. 160, 1: virum in scapulis
validum, lacertu robustum, in verbis tumidum, in responsis
oportunum, iuris lectione peritum; praef. p. 81, 5: peritus dia-
lectica in arte; 2, 23 p. 86, 6: te in eo scelere fuisse participem ;
2, 40 p. 108, 23: particeps in tribulatione et regno et patientia.
Auch im Mittellatein z. B. bei Joh. Mon. p. 9, 23: eram dives
in auro et argento et in aliis rebus; 6, 2:in religiositate precog-
nitus et in diviciis locupletatus; 69, 22: pavendus est in sen-
tencia et benignus in misericordia; 99, 25: in dignitate et diviciis
praepotens; Discipl. clerical. p. 38, 31: quem antea cognoverat
in saecularibus esse prudentem.
Speziell das Adjektiv similis ist wie bei unserem Dichter mit
in konstruiert z. B. bei Lucif. Cal. p. 172, 9: similem te in omnibus
videmus sive in crudelitate sive in sacrilegio; Eugipp. (Knoell)
p. 75, 18: ne in utroque hominibus similis longe esset a deo aut
in utroque deo similis longe esset ab hominibus; Mulom. Chir.
p. 70, 19: invenies duritiam ingentem cucurbitae rotundae in
longo (longum = die Länge, Größe) similem; Anton. Placent.
Itin. p. 162, 5: provincia similis paradiso, in tritico et in frugis
similis Aegypto, modica quidem, sed praecellit Aegyptum in
vino et oleo et poma; vgl. auch p. 180, 10: ibi est puteus pacis
in latitudine maior. Aus der Zeit unseres Dichters endlich führt
Seiler S. 115 Anm. 2 selbst einige Parallelen an; Froumund 12, 8:
pulcher in facie; 20, 76: doctior in verbis, altior in meritis.
Eine genaue Entsprechung zu dulcis in comedendo bietet
Jul. Val. 1, 36: quod interpretibus haud difficile in enodando
fuit. Eine Parallele zu alias in pensando leviores ist die Wendung
des ungefähr gleichzeitigen Joh. Mon. p. 2, 2: (si) stilum aliquem
dulcem in componendo haberem.
Opes in chrusinis. — Seiler S. 115: „in bei Substantiven:
opes in chrusinis ‚Schätze an‘ XI, 39“.
® 18, 24: potens in scribturis; 1. ep. Joh. 4, 18: non est perfectus in caritate;
Apoc. 1, 9: participes in tribulatione et regno et patientia; Rom. 16, 19: sapientes
esse in bono et simplices in malo.
476 Hans Ottinger
Dieser Gebrauch ist der Vulgata durchaus geläufig. Kaulen
S. 205 (von Seiler selbst im Nachtrag zitiert) sagt über in: „bei
Aufzählungen entspricht es unserem deutschen „an“, indem es
das Bestehen eines Ganzen in seinen Teilen ausdrückt.“ Vulg.
Tob. 10, 10: tradidit ei Saram et dimidiam partem omnis sub-
stantiae suae in pueris, in puellis, in pecudibus, in camelis et
in vaccis et in pecunia multa; Gen. 8,17: cuncta animantia tam
in volatilibus quam in bestiis et universis reptilibus; Iud. 15, 14:
universa dederunt Iudith in auro et argento et vestibus et gemmis.
Ähnlich Beda h. eccl. p. 54, 13: dona in diversis speciebus per-
plura. Eine genaue Entsprechung auch bei Joh. Mon. p. 99, 26:
dimisit divitias ei multas in auro et argento et navibus. Auch die
Wendung p. 28, 32: negotium quod fecerat in stagno et plumbo
gehört wohl hierher.
In beim abl. temp. — Seiler S. 115: „ferner steht es oft für
den abl. temp.: in momento II, s IV, 120; in Maio mense V,
363; in hac nocte VII, 6 usw.'
Auch diesen Germanismus hat Seiler S. IX nachträglich
zurückgenommen. In der Tat gehört in statt des abl. temp., das
wohl zuerst von der Volkssprache der Deutlichkeit halber gesetzt
wurde, zu den für das gesamte Spätlateintypischen Erscheinungen.
Für die Vulg. bringt Kaulen S. 232 einiges z. B. 3. reg. 22, 2: in
anno autem tertio descendit ; 1. Macc. 1, 61: in omni mense “. Dieses
in ist geradezu das Übliche, der bloBe abl. tritt davor zurück.
Dasselbe Bild zeigen die anderen spátlateinischen Texte. Für
Tertull. bringt Hoppe S. 31 eine Anzahl Beispiele, z. B. Res. 34:
in novissima die; Marc. 4, 21: in tempore famis. Vgl. überhaupt
die Indices des Corpus script. eccl. lat. Hist. Apoll. p. 48, 9: in illa
die; 114,6: in illo tempore; Peregrin. Aeth. (Geyer) p. 39, 8: in ea
nocte; 28: in ea die; 63, 18: in ea ergo die et in ea hora usw. Mulom.
Chir. p. 60,18: in primis diebus; 160, 27: in altero die; 174, 29: in
mense Augusto; 114, 21: in novissimo tempore; 286, 20: in primo
vere usw. (vgl. Ahlq. 95 u. Oders Index s. v. dies u. cottidie).
Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet S. 620 (in eo anno, in hora
quinta, in septembre, in octubre, in hieme usw.), für Jordan. Get.
vgl. Werner S. 67. Auch Beda hat dieses in unendlich oft, z. B. h.
* Jos. 11, 21: in illo tempore venit. Außerdem z.B. Luc. 1,26: in mense
autem sexto; 2, 41: in die sollemni paschae; Matth. 10, 19: in illa hora; 24, 37:
in diebus Noe; 1. Cor. 15, 52: in momento; Thess. 5,2 sicut fur in nocte.
Zum Latein des Ruodlieb 477
eccl. p. 44, 23: in eisdem diebus; 109, 27: in die dominica; 150,
18: in ipsa vespera; 176, 7: in mense; 194, 6: in tempore Mar-
tini usw.®
Ovare in. — Seiler S. 115: „ovare in = sich freuen ‚über‘
XIII, 30“.
Die Verba, die „sich freuen, sich rühmen“ bedeuten, werden
in der Vulg. vielfach mit in konstruiert. Das mag damit zu-
sammenhängen, daB in dort — ursprünglich wohl den unver-
standenen abl. causae unterstützend — „wegen, um willen“
bedeuten kann, ein sehr háuflger Gebrauch, für den Kaulen
S. 204 Beispiele bringt wie Matth. 6, 7; putant enim quod in
multiloquio suo exaudiantur u. à.
Aus der Vulg. ist mir bekannt: Rom. 16, 19: gaudeo igitur
in vobis; Luc. 18, 17: omnis populus gaudebat in universis quae
gloriose fiebant ab eo; Phil. 1, 18: et in hoc gaudeo; 2. Cor. 6, 17:
gaudeo autem in praesentia Stefanae; Act. Ap. 7, 41: lae
tabantur in operibus manuum suarum. Auch gratulari in der
Bedeutung „sich freuen über“ wird so konstruiert (vgl. Kaulen
S. 154) z. B. Bar. 4, 31: qui gratulati sunt in tua ruina punientur.
Ebenso auch dolere: Act. Ap. 20, 38: dolentes maxime in verbo
quod dixerat. Sehr háufig gloriari (Kaulen S. 226) z. B. Ps. 51, 3:
quid gloriaris in malitia; Rom. 5, 2: gloriamur in spe gloriae*®.
Auch sonst ist das im Spätlatein nicht selten: Commod. p. 166,
194: gaudet in deo; 140, 386: populus iam in illo laetatur; Vict.
Vit. p.13,13: in domino laetabatur, ebenso 27,25; 89, 6:
gaudentes in domino; 92,16: in domino gloriantur; Beda h.
eccl. p. 53,28: in hoc gaudete, quia nomina vestra scripta
sunt in caelo; 159, 19: quis non exultet et gaudeat in his piis
operibus. Etwa aus der Zeit unseres Dichters: Joh. Mon.
$5 Strecker sagt a. a. O. S.299: „Seiler notiert höchst überflüssigerweise in
Maio mense, Vilmotte ahnt einen Germanismus und fragt vorwurfsvoll, ob er denn
nicht an den franzósischen Gebrauch gedacht habe. Es ist wirklich nicht zu ver-
stehen, daB ein Mann, der über diese Dinge im Tone der Überlegenheit redet, ‚qui
se hasarde dans la philologie medievale', wie er ironisch (S. 388) von Seiler sagt,
so verblendet sein kann, daß er das Nächstliegende nicht sieht, denn er muß ver-
mutlich auch gelegentlich einen lateinischen Text der Zeit aufschlagen, wo der-
gleichen auf jeder Seite begegnet.“
* Rom. 2, 23: qui in lege gloriaris; 1. Cor. 1, 31: in domino glorietur;
3, 21: nemo glorietur in hominibus; 2. Cor. 10, 16: gloriantes in alienis la-
boribus usw.
478 | . Hans Ottinger
p.69,5: gaudere te magis oportet in hoc; 75,2: in omnibus
bonis operibus semper gaudens u. ö.
Die fragliche Konstruktion ist also spätlateinisches Gemein-
gut und als solches im Mittellatein aufgegangen. Somit sind
alle durch Seiler angemerkten Verwendungen von in auf den
Gebrauch des Spätlateins zurückgeführt: unser Dichter schreibt
eben kein traditionsloses, hausgemachtes Latein.
Sub: Seiler S. 115: omni sub honore = mit aller Ehre
VI, 16. |
Schmalz Synt. S. 414: „Den Aug. Dichtern, so z. B. Properz,
dann der nachklass. Latinität seit Celsus ist eigen sub zur
Bezeichnung der Weise oder des Grundes, z. B. Cels. 5, 26, 31:
Sub frigido sudore moriuntur. Dies hat sich ins Spätlatein
herein erhalten, vgl. Apoll. Sidon.: sub ope Christi, sub in-
vidia sorditatorum.' Die folgenden Beispiele zeigen, wie sub
im späteren Latein alle Arten von Modalitäten und begleitenden
Nebenumständen im weitesten Umfange ausdrücken kann.
Vulg. Gen. 43,3: sub attestatione iuris iurandi; Iud. 1, 6:
sub caligine. Für Ammian. Marc. gibt Lisenberg S.17 eine
Reihe von Belegen, z. B. sub uno elogio iubere, sub absolu-
tionis aliqua spe attineri claustris, sub exsecrationibus iurare,
sub consecratione iuris iurandi promittere u.ä. Commod. I,
12, 17: sub ludicro suo honorem illi dedere; c. ap. 859: sub
quorum martyrio decima pars conruit urbis; Vict. Vit. 75,12:
in exilium sub prosecutione idonea mitterentur; 91,22: sub
festinatione. Deutliche Beispiele auch bei Cassian, z.B.
Inst. 2, 5, 5: duodecimum (psalmum) sub alleluiae responsione
consummans; 3, 8, 4: his sub eadem quiete residendi ternas
adiciunt lectiones”; Ennod. z. B. p. 65, 1: amantem vestri sub
omni dignatione relevate; 73, 24: ut sub omni celeritate nuntius
me adtollat; 31, 25: sub hac devotione respondeam; 32,15:
7 12, 11, 1: tantam peccatorum materiem sub unius verbi plena confessione
consumpsit ; Coll. 6, 17, 3: sub illius quaestionis interrogatione cognovimus; 9, 7,3:
sub huius quaestionis indagine a coepto narrationis ordine longius evagantes; 10, 2, 1:
sub una diei huius festivitate concelebrant; 19, 6, 3: sub unius saporis oblectatione;
19, 16, 3: ut sub recordatione sanctarum feminarum vel sub sacrae lectionis historia
noxiae titillationis stimulus excitetur; Contra Nest. 6, 12, 3: illi sub aemulatione
legis (negabant dominum), tu sub professione antistitis. Weitere Beispiele in
Petschenigs Index.
Zum Latein des Ruodlieb 479
sub solida gratulationef*?; Sedul. II, 87: patrandum sub honore
crucis; Hist. Apoll p. 112, 10: sub testificatione confessione
facta. Besonders oft verwendet Theod. Prisc. sub in dieser
Weise (vgl. Roses Index) z. B. Log. 2, 106: simili sub diligentia
visitantur ., aequali sub indignatione tumescunt; 13: freniticis
capitis est vel meningae simili sub extensione vel constrictione
periculum ... letargici vero sub simili incommoditate
molestius deprimuntur; 37: sub dolore nimio; 58: sub civili
aegritudine medicinae iam beneficio repugnamus, ebenso oft
auch bei Celsus. — Peregrin. Aeth.: sub praesentia matris;
Gregor Turon.: sub grandi testificatione, sub dolo factum
(Bonnet S. 621); Jordan. Get. 37,196: proelium sub trepida-
tione committit; 16, 93: sub admiratione (vgl. Werner S. 67);
Beda h. eccl. p. 220, 7: sub praesentia regis, ebenso p. 220, 28;
Leo de proel. p. 54, 3: sub omni diligentia. Dieser Gebrauch
von sub ist also im Spátlatein etwas ganz Gewóhnliches: unser
Dichter verwendet sub so, wie er es bei seinen Vorbildern vorfand.
Super: Seiler S. 115: super c. acc. lokal: super aram est
posita V,9; super equum salire I, 42; c. abl. — auf: super
arbore scandere II, 42; — an: suspendi super arbore VIII, 45.
Beim lokalen super, das sowohl die Bewegung nach einem
Ort als die Ortsruhe ausdrückt, scheint der acc. älter zu sein,
der abl. findet sich nicht vor Lucrez und auch dann immer
selten (Schmalz Synt. S. 414). Im ganzen Spätlatein ist super
eine der beliebtesten und häufigsten Präpositionen. Da diese
späte Zeit abl. und acc. auch sonst durcheinandermengt, kommen
natürlich auch bei super beide Kasus vor, ohne daß es sich ver-
lohnte, sie zu scheiden.
Petron. c. 64: (panem) ponebat super torum; 76: iussit
super dorsum ascendere suum; 108: cultrum tonsorium super
iugulum meum posui; 60: Lares super mensam posuerunt;
17: sedens super torum meum; Apul. met. 6, 31: super aliquod
saxum asinum exponere; 1,11: super eum me recipio; 4, 12:
Super lapidem recidens; 5,23: evomuit stillam ferventis olei
** 59, 16: amica expectatio sub omni credulitatis meae despectione frustratur;
78,8: sub invocatione dei; 91,2: sub ea qua promisistis cura; 174, 23: sub ob-
testatione dei; 183,25: sub loquendi ubertate narrare; 198,17: sub celeritate
= celeriter; 206, 4: sub ea qua ambulare soles velocitate; 218, 8: sub festinatione;
225, 24: sub celeritate; ebenso 241, 8 u. 246, 21; 329, 16: sub quadam verecundia u. &.
480 Hans Ottinger
super humerum dei; 5,26: eam super ripam exposuit; 9, 2:
super constratum lectum abiectus; 9, 10: manu super dorsum
meum iniecta. Ungeheuer häufig antwortet super in der Vulg.
auf die Fragen wohin? und wo?: Matth. 4, 5: statuit eum super
pinnaculum templi; 5, 15: (ponunt lucernam) super candelabrum
10, 29: (passer) cadet super terram; Joh. 12, 15: sedens super
pullum asinae; Matth. 25,31: sedebit super sedem maiestatis
suae®, Mit abl.: Act. Ap. 20,9: sedens super fenestra. Hist.
Apoll. p. 50, 9: speciosum corpus puellae super rogum posui;
34, 4: sedit super torum; 46, 14: iactavit se super corpus eius;
63, 2: posuit super lectulum; Vict. Vit. p. 81, 15: stabat super
montem; Peregrin. Aeth. c. 10, 5: imposuerat enim Moyses manus
suas super eum u. ö. Adamnan. p. 229, 13: super dorsum
iacere; 334, 9: mensa super quam... offerentur; 243, 10: petra
super quam; 270, 12: super quem salvator sedebat. Beispiele
aus der Mulom. Chir. bringt Ahlq. S. 97. Besonders häufig ist
super auch hier bei den verba ponendi, z. B. p. 217, 18: super
lignum solidum caudam ponis; 216, 12: super carbones ponito;
26, 23: (lanam) super oculum eius impones; 46, 7: muscae
multae super tergus insident; 72, 3: super renibus et super
totum tergus sacellationes impones; 80, 9: super carbonibus;
Pseud. Prisc. p. 273, 21: pones super focum u. ö. Für Gregor.
Turon. vgl. Bonnet S. 621 (z. B. super equum quem sedebat,
manum super oculos ponens, super altare posuit, ascendit super
nidum). Beda h. eccl. p. 67, 5: tollite iugum meum super vos;
69, 4: super ripam praefati fluminis posita; 152, 25: super hanc
petram aedificabo ecclesiam meam; Lat. Aesop. d. Rom. p. 28:
ascendens super eius orbem; 88: ascendunt super illud (lignum)
272: super equum ascendens; Leo de proel. p. 57, 5: ascendit
super equum; 111, 22: arbor, quae non habebat fructum neque
folia, et sedebat super avis; Discipl. cler, p. 33, 18: super arborem
sedit; 36,13: super tectum ascendebam; 40,19: priusquam
o 27, 29: (coronam) posuerunt super caput eius; Marc. 16, 18: super egrotos
manus imponent; Act. Ap. 14, 9: surge super pedes tuos rectus; 15, 10: imponere
iugum super cervicem; 17, 26: inhabitare super universam faciem terrae; 26, 16:
exsurge et sta super pedes tuos; Petr. 2, 24: peccata nostra ipse pertulit in corpore
suo super lignum; Apocal. 5, 13: creaturam quae in caelo est et super terram; 7, 1:
quattuor angelos stantes super quattuor angulos terrae; 10, 2: posuit pedem dextrum
super mare, sinistrum autem super terram; 13, 18: stabat super montem; 18, 19:
miserunt pulverem super capita sua; 20, 9: ascenderunt super latitudinem terrae. -
** —
4 7a T.a 7 w 7A
Zum Latein des Ruodlieb 481
veniat aliud ferculum super mensam = bevor ein anderer
Gang ,,auf den Tisch kommt" — welch grober Germanismus!
Eine Parallele zu unseres Dichters suspendi super arbore
bietet die Hist. Apoll. p. 5, 6: caput eius super portae fastigium
suspendebatur. Ähnlich wohl p. 99, 6: invenit Ap. super collum
(am Halse) Tharsiae flentem.
Super edictum = gegen (Seiler S. 115).
Die Präposition super hat ihre Bedeutungssphäre im Spát-
latein so stark erweitert, daß sie schließlich sogar synonym mit
in, contra gebraucht wird. Für Gregor. Turon. konstatiert
dies Bonnet S. 621: h. F. 5, 49 p. 241, 33: non potest persona
inferior super sacerdotem credi. Besonders vom militärischen
Angriff (Bonnet S. 622): venerunt hi barbari super nos; in-
missis super eum percussoribus ; super fratrem iturus; cum omni
exercitu meo super te pergam. Denselben Gebrauch kennt
z. B. Iordan., aus dem Werner S. 67 Beispiele bringt wie
Get. 48, 248: super Vinitharium duxit exercitum. Gleich in
c. acc. scheint super auch in der Vulg. gelegentlich gebraucht
zu sein, 2z. B. Luc. 6, 35: quia ipse benignus est super ingratos
et malos; Ephes. 2, 7: in bonitate super nos; Commod. p. 40, 5:
sit is tu super divitias. Doch lassen sich diese Stellen zur Not
auch unter super = de (s. u.) begreifen. Deutliche Fälle von
super = contra im militärischen Sinne bietet wieder Leo de
proel. z.B. p.105, 13: pergebant pugnaturi super homines;
15: impetum facientes super Indos cum sagittis; 110, 21:
impetum autem facientes super eum u. ö. Diese Verwendung
ist also im Mittellatein durchaus lebendig.
Ob hoc super edictum wirklich hierher gehórt, ist aller-
dings zweifelhaft. Seiler erklärt super als ‚über hinaus = gegen“
und kommt damit dem Richtigen vielleicht sehr nahe. Super
bezeichnet ja seit alter Zeit das Überschreiten einer Grenze,
hoc super edictum heißt also womöglich nur „über die in dem
edictum gezogene Grenze hinaus“.
Super = außer. — Die Präposition findet sich statt praeter
zuerst bei Sallust frgm. inc. 28: casu super (nach Prisc. = praeter
ea quae casu accidebant), dann bei Tac., Dichtern und Juristen,
und schließlich im Spätlatein (vgl. Schmalz Synt. S. 414).
Hor. sat. 2, 6, 3: super his. Oft bei Cels. z. B. 2, 8: super tabem
si mulieri suppressa quoque menstrua fuerunt; 6, 6, 1: super
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 31
482 Hans Ottinger
magnum dolorem; 6, 26: super id; 3,19: super haec. Aus
Tertull. führt Hoppe S. 41 an: Ux. 1, 7: super haec recogites;
praescr. 33 in: adhibeo super haec ipsarum doctrinarum recogni-
tionem; An. 20 (333, 7); Monog. 9: adulteratur ... qui aliam
carnem sibi inmiscet super illam pristinam. Für Ammian.
Marc. vgl. Lisenberg S. 17. Mulom. Chir. p. 92, 28: super
quam (unctionem) similiter sacellionem vaporabis. Super
= außer ist also nichts Auffälliges.
Super — mehr als. — Ruodl. XVII, 83/84: Nunc opus est
aliam, reor ut, mihi poscere sponsam Quae non furtive quem
suescat amare super me. — Seiler S. 115 zieht dieses super me
mit unter das Kapitel super — praeter, vielleicht mit Unrecht.
Super kann nämlich im Spätlatein, besonders in der Vulg. auch
einen Grad bezeichnen, so daß es etwa die Bedeutung von
„mehr als" erhält. Hierüber vgl. Krebs-Schmalz Antib. II, 626.
Plin. epp. 7, 13, 2: es tu super omnes beatus; Sueton. Vitell.
c. 13: super ceteras famosissima; Vulg. Matth. 10, 37: qui amat
patrem et matrem plus quam me non est me dignus. et qui
amat fllium aut filiam super me, non est me dignus: hier steht
super me deutlich parallel zu plus quam me. Ebenso ist wohl
aufzufassen ib. 10,24: non est discipulus super magistrum
neque servus super dominum suum. sufficit discipulo, ut sit
sicut magister eius et servus sicut dominus eius. Philipp. 2, 9:
donavit illi nomen quod est super omnem nomen”. Anton
Placent. Itin. p. 183, 10: quorum odor suavitatis super omnia
aromata. Aus Tertull. führt Hoppe S. 41 einige Beispiele an:
Scorp.14 ex: super deum diligere nec animam licebit; ib. 1:
eloquia domini dulcia super mella et favos”!. Aus Iordan. Get.
zitiert Werner S.67: 50, 262: super ceteros amasse; pr.2:
super omne pondus; 38, 199: super ceteros regulos diligebat.
Ioh. Mon. p. 4, 6: vidit enim in celo signum sancte crucis super
splendorem solis fulgens.
Man könnte vermuten, daß der oben zitierte Passus aus dem
Ev. Matth.: qui amat filium aut filiam super me, non est me
7 Ps. 18, 11: dulciora sunt super mel et favum. Vgl. Kaulen S. 221: Eccli. 23,28:
multo plus lucidiores sunt super solem; Ex. 18, 11: magnus dominus super omnes
deos; Num. 12,3: mitissimus super omnes homines.
71 Pall. 2 ex: amoenus super Alcinoi pometum et Midae rosetum; Pud. 13:
super ethnicum delinquendo — durch seine mehr als heidnische Sünde.
Zum Latein des Ruodlieb 483
dignus bei, unserer Ruodliebstelle Pate gestanden hat. Der
Vers 84 heißt: „die nicht heimlich einen anderen mehr liebt
als mich." Auch der Nachsatz des Matth. „non est me dignus''
klingt ja in den Worten Ruodliebs als Unterton mit.
Super = de. — Ruodl. 8, 85: mentiri super aliquo; I, 14:
super hoc quid agat; XVI, 54: super hac re quid faciatis;
VIII, 68: rogitat super hoc plus; IV, 204: super hac re quid
vereare. Auch bei den Verben des Affekts: IV, 107: queri
super; XI, 78: gaudere super. Seiler glossiert rogitat super
hoc plus durch das deutsche „hierüber“.
Die Verwendung von super — de gehórt der Volkssprache
an. Daher findet sie sich in Ciceros Briefen, die ja der ge-
sprochenen Sprache náher stehen. Daher findet sie sich massen-
haft im Spätlatein, das ja oft wegen der mangelhaften lite-
rarischen Bildung der Autoren einen volkstümlicheren Charakter
trägt. Von der Häufigkeit dieses Gebrauches im Spätlatein
mögen die folgenden Beispiele ein Bild geben:
Apul. met. 7,1: super investigatione facti cuiusmodi con-
silium caperent; 4, 13: famam celebrem super quodam Demo-
chare; 5,21: mira super conservo suo renuntiat; Plat. 1, 10:
nostrae super earum cursibus opiniones; Socr. 4: mirari super;
10: disserere super; 11: gloriari super; Mund. 24: verba facere
super; Flor. 20: sapientis viri super mensam celebre dictum.
Über die Juristen vgl. Kalb „Roms Juristen" S. 105, z.B.
Scaev. d. 18, 7, 10: constitutionem super hoc prolatam ; 32, 37, 5:
iusiurandum dedisse super hoc; 32, 39, 1: super hoc nec dubi-
tandum esse usw. Vulg. Luc. 2,33: mirantes super his quae
dicebantur; 7, 18: misericordia motus super eam; Matth. 7, 28:
ammirabantur turbae super doctrina eius??; Fulgent. Myth. 3, 6:
multa super curiositate puellae increpitans; Tertull. (Hoppe
S. 41) An. 6: plenissime super anima commentatus; Apol. 35:
71 Matth. 18, 13: gaudebit super eam magis quam super 99 quae non erraverunt;
Luc. 19, 41: flevit super illa; 23, 28: nolite flere super me sed super vos ipsas flete
et super filios vestros; 1. Cor. 13, 6:,non gaudet super iniquitatem; Rom. 15,9:
super misericordiam honorare deum; 2. Oor. 9, 15: gratias deo super inenarrabili
bono; 12, 21: non egerunt paenitentiam super inmunditiam; Áct. Ap. 5, 35: super
hominibus istis quid acturi estis; 15,2: statuerunt ut ascenderent ... in Hieru-
salem super hac quaestione; Iacob. 5, 14: orent super eum; Apoc. 1, 7: plangent
se super eo; 18, 11: lugebunt super illam; 18, 20: exulta super eam und sehr oft.
31*
484 Hans Ottinger
perscrutari super Caesaris salute?*; Cassian. coll. 4, 4, 1: super
puritate cordis extollamur; 4,15,2: super successibus puri-
tatis confidere; 17, 22: super huiuscemodi causis inevitabile
esse mendacium; 17, 24, 1: apertum super his indicare menda-
cium; 23, 15, 7: ingemescens super hac lege; Lucif. Calar. 302, 30:
super ista quae iam intulisti tormenta exspectantes sumus;
282,4: quae super illa gesserit; Ammian. Marc. (Lisenberg
S. 17) 15,9, 2: ambigentes super origine Gallorum scriptores;
18, 3, 1: super hoc consulere?*; Peregrin. Aeth. c. 12, 7: fallere
vos super hanc rem non possum; Gregor. Turon. (Bonnet
S. 621) z. B. dolebat super eos; quae super his audivi u. ö.
Beda h. eccl. p. 15, 9: gaudere super mortuum; 53, 7: epistula
super miraculis; 53, 23: nolite gaudere super hoc; Lat. Aesop
d. Rom. p.197: licet muneribus multi super me (um mich)
contendant; Hist. sept. sap. I p. 6, 24: erat celans super eam
(eiferfüchtig auf); 8, 4: mentita es super uxorem meam; 13, 15:
clama ad deum super ipsum.
Super = de ist also im Spätlatein und erst recht im Mittel-
latein gang und gäbe.
Ruodl. VIII, 41: ulcisci me super opto. — Seiler konstatiert
S.116 für dieses super eine neue Bedeutung ,,deshalb, des-
wegen“. Mir scheint vielmehr, daB die uns bekannten Be-
deutungen zur Erklärung der Stelle ausreichen. Ich sehe drei
Möglichkeiten, dem Ausdruck beizukommen: Erstens kann
Ellipse eines selbstverständlichen hoc vorliegen, ähnlich wie
bei Leo de proel. p. 111, 22: arbor. ... et sedebat super avis etwa
ein „ea“ ausgefallen ist. Zweitens besteht die Möglichkeit, me
super zusammenzufassen: „ich will nicht meinetwegen Rache
nehmen'. Drittens lieBe sich mit der schon früher üblichen
Bedeutung von super = „überdies, obendrein“, die ja auch
sonst in unserem Gedicht begegnet, auskommen: die Sünderin
würde dann sagen ,,ich will mich nicht obendrein noch rächen“.
Ohne mich für eine von diesen drei Möglichkeiten entscheiden
73 Paen. 12 ex: super illa tacere. Mit acc.: Cult. f. 1, 1: sententia dei super
istum; Oar. Ohr. 18: dispositio rationis super filium dei ex virgine proferendum;
Praescr. 1 in: mirari super haereses istas.
78 19, 1, 6: super deditione moneri; 14, 10, 2: super praeteritis daumis maerens;
25, 3, 20: super imperatore creando caute reticeo; 21, 4, 5: super quibus nihil fuerat
imperatum u. ö.
Zum Latein des Ruodlieb 485
zu wollen, glaube ich doch, daß wir die Annahme einer neuen
Bedeutung von super entbehren können.
Superducere = überziehen mit Farbe XV, 97. — Der Vers
lautet: datque superductam cocco crusinam migalinam. Seiler
glossiert S. 116 superducere durch das deutsche „überziehen“
und vermutet offenbar einen Germanismus. In Wahrheit finde
ich das nämliche superducere bei Commod. instr. 2, 19, 12:
malam medicatis quodam superducto rubore. Der Heraus-
geber Dombart erläutert dieses superducere im Index S. 244
mit inlinere. Ähnlich ist super inducere gebraucht in der Mulom.
Chir. (Oder) S. 247c. 803: si equus tumorem in oculo habuerit
aut laesum fuerit ... facies ei unctionem super oculum hanc ...
haec omnia in uno commiscito et in lana perducis et super
oculum inducis.
Am Ende von Seilers Kapitel über die Präpositionen an-
gelangt, stellen wir fest: Gerade in den beiden Hauptpunkten,
bei in und post, ließ Seilers Germanismentheorie sich restlos
widerlegen. Ebenso steht es bei den anderen Präpositionen,
übrig geblieben sind nur prae — ,,vorn' und de beim Passiv.
Wahrscheinlich aber liegt dies lediglich an der Unvollständig-
keit meines Materials. — Seiler irrt also, wenn er am Beginn
seiner Behandlung der Präpositionen behauptet, daß viele
der Abweichungen vom klassischen Latein auf deutschem Ein-
fluB beruhen: Unser Dichter setzt im allgemeinen einfach den
Sprachgebrauch des Spätlateins fort. |
Ante aliquem venire — vor jemandem erscheinen, Ruodl.
IV, 189. — Diese Wendung ist im Spát- und Mittellatein sehr
häufig und begegnet hauptsächlich in Ausdrücken vom Typus
ante regem und ante iudices venire, kónnte also aus der offiziellen
Sprache stammen. Genaue Entsprechungen finde ich: Lat.
Aesop. d. Rom. p.18: cum autem ante iudices venissent;
p. 24: cum venissent ante iudicem; Beda h. eccl. p. 229, 9: erat
autem in villa non longe posita quidam adulecsens mutus epi
Scopo notus, nam saepius ante illum percipiendae elymosynae
gratia venire consueverat; 290, 23: parere semper ante faciem
tuam; Hist. sept. sap. I p. 4,24: pergat ante regem; 4, 27:
venit ante regem; ebenso 9, 4; Discipl. cler. p. 5, 27: producitur
ante iudices; 6, 10: ante regem duxerunt; 11, 24: accusatus
quidam ductus est ante regem iudicem; 29,32: me sumentes
486 Hans Ottinger
ante deum ducebant; ebenso p.30,2. Zu vergleichen sind
auch die bei stare (s.u.) aufgezählten Belege für stare ante
aliquem = vor jemanden hintreten, z. B. Joh. Mon. p. 99, 7:
praecepit educere latronem et ante se stare; 115, 13: adduxit
sorrores ante senem; 122,19: veniens ante praesentiam im-
peratoris; 121, 27: deferre ante imperatoris praesentiam. Vulg.
act. ap. 23, 33: statuerunt ante illum et Paulum; Matth. 11, 10:
mitto angelum meum ante faciem tuam; Luc. 11, 6: non habeo
quod ponam ante illum; Peregrin. Aeth. c. 37, 4: sic itur
ante crucem; Leo de proel. p. 83, 23: portavit potionem ante
eum; 85, 28: statuerunt illum ante eum; 114, 15: adducat me
ante te; 99, 32: astiterunt ante eum; 100, 21: adduxerunt eos
ante Alexandrum; 110, 23 (puellam) mittere ante eum; 114,16:
venio ante te; 129,106: fecit introire omnes ante se; Hist.
sept. sap. I p. 3, 6: ibis ante tribunal regis (auch sonst sehr
häufig); 3, 7: venit ante regis presenciam; 4,19: caput eius
ante presenciam suam portari; 5, 18: posuit librum ante regem.
Peritus in, Ruodl. I, 94. — Seiler führt diesen Ausdruck
S. 136 unter den „besonders charakteristischen'* Germanismen
auf. Freilich knüpft er die Bemerkung daran: „Bei letzterer
(Wendung) ist es insofern zweifelhaft, ob sie ein Germanismus
ist, als die ahd. und mhd. Ausdrücke für ‚erfahren‘ antkundi,
wise etc. meistens den gen. regieren; doch kommt, wie Lexer
und das M. H. D. W. erweisen, daneben auch die Präposition
an vor."
Wir haben schon oben die schlagende Parallele aus Gregor.
Turon. kennen gelernt: h. F. praef. p.31: peritus dialectica
in arte, ebenso die Konstruktion von particeps und conscius
mit in statt des gen. Die Konstruktion von peritus stammt
wohl aus den Dichtern, so findet sich schon bei Properz 3, 32, 82:
sive in amore rudis, sive peritus erit. Erklärt sich die Kon-
struktion hier vielleicht aus dem Bau des ganzen Verses, so
ist das nicht mehr der Fall bei Spart. Hadr. 15, 10: in omnibus
artibus peritissimus. Im Mittellatein bietet Leo de proel.
p. 77, 26: periti in omnem artem pugnandi (mit dem acc. als
Universalkasus) und p. 82, 9: in omnibus peritissimus. Schmalz
unterrichtet im Antib. II, 282 wenigstens für die ältere Zeit
über diese Erscheinung und macht darauf aufmerksam, daB
sich das in leicht aus dem ursprünglich verbalen Charakter
Zum Latein des Ruodlieb 487
von peritus erklären läßt. — Daß der Dichter sich eine in seiner
Muttersprache seltene Ausdrucksweise herausgesucht habe,
um in seine lateinische Arbeit einen grammatischen Schnitzer
hineinzubringen, wird niemand annehmen wollen.
Nubere ad, Ruodl. VI, 24. — Seiler S. 137: „nubere ist
mit ad verbunden nach hiraten zuo." — Ich vermute aber,
daB hier eine derjenigen Konstruktionen vorliegt, in denen
ad einfach den stark auBer Kurs gekommenen Dativ ersetzt.
Über das Prinzipielle der Erscheinung sagt Schmalz Synt.
S.395: „Im ganzen mag festgestellt werden, daB die Präpo-
sition ad in der Vulgársprache einen viel ausgedehnteren Ge-
brauch hatte, als in der Urbanitát und daB sie oft in der Sprache
des Volkes gesetzt wurde, wo die urbane Diktion sich mit
dem bloBen Kasus (Dat.) begnügte. So sagt Plautus Capt. 360:
quae ad patrem vis nuntiari, ferner Vitruv. ad solvendum esse
statt solvendo esse, und so macht sich schon frühe das Be-
streben bemerkbar, den Dativ durch den Accusativ mit ad
zu ersetzen (vgl. auch N. Jb. Suppl. 26, 480 Anm. 4). Das-
selbe finden wir spáter allgemein z. B. bei Commodian, welcher
A. 36: cur nos similemus ad illas (= illis) schreibt, bei Hygin
und anderen Vulgärschriftstellern, und im Übergang zum Ro-
manischen verdrängt ad mit Acc. allmählich den Dativ, vgl.
Meyer-Lübke $ 45," Vgl. auch den Thes. und Rónsch S. 426.
Einige Beispiele zur Erläuterung:
Plaut. Truc. 4, 1, 4: ad me magna nuntiavit; Capt. 5, 4, 22:
hunc ad carnificem dabo; Liv. 27, 15: ad Q. Fulvium dediderunt
se; Apul. met 10, 26: enarratis cunctis, ad uxorem mandato,
deposceret; Hieron. ep. 82,8: ad cuius imperium caelum et
terra serviebant; Vulg. act. ap. 3, 12: respondit ad populum;
21,40: adnuit manu ad plebem; 22,1: audite quam ad vos
nunc reddo rationem; 22,15: quia eris testis illius ad omnes
-homines; 26, 6: in spe quae ad patres facta est; Hist. Apoll.
p. 71, 2: quantum dedit ad te iuvenis qui ad te modo intro-
ivit; 73, 10: exponens ad omnes universos casus meos; Vita
Caes. Arel. 23 (MG. SS. r. Merov. III): puellam ad ipsum
demonstrat; Anton. Placent. 30: munera dantes ad servientes;
Hygin. fab. 3: cuius beneficio ad sororem Medeam est commen-
datus; 72: ad pastores demandavit; 184: ad hospitem mandavit;
Paulin. Nol. 14, 113: martyris ad tumulum debes et tu, terra,
488 Hans Ottinger
coronas; Mulom. Chir. p. 146, 3: sic ad eos des manducare;
Gregor. Turon. h. F. 5, 47 p. 239, 3: Gregorius episcopus eam
ad filium Sygiberthi tradere distinat. — Wie die romanischen
Sprachen zeigen, muß dieser Ersatz des Dativs durch ad noch
viel allgemeiner gewesen sein, als er uns heute in den Resten
der spätlateinischen Literatur faßbar ist.
Das Adjektivum. — Seiler sagt S.116: „Der Dichter
braucht gern die Neutra der Adjektiva substantivisch sowohl
im Singular als auch im Plural, besonders in Verbindung mit
Präpositionen .. S. 117 heißt es dann: „Der substantivische
Charakter dieser Neutra springt scharf ins Auge, wenn ein
Genetiv davon abhängt, so in cuius medio usw." Am Ende
des S 5 faBt er zusammen: ‚secretum ‚geheimes Gemach‘
kommt schon im Altertum vor, wie vielleicht noch eine oder
die andere der aufgezählten Wendungen; das ändert an der
entschiedenen Neigung des Dichters nichts. Die Korrektur
V, 565 verrät übrigens doch einen gewissen Zweifel an der Zu-
lässigkeit solcher Wendungen.“
In Wahrheit hat der unbedenkliche Gebrauch substanti-
vierter Adjektiva seit der silbernen Latinität in einem solchen
Umfange zugenommen, daß man wohl von einer Neigung des
gesamten Spätlateins, nicht aber eines einzelnen Spätlings
sprechen kann. Wenn unser Dichter nun trotzdem V, 565 ad
noctis medium in ad noctem mediam verbessert, so beweist
das hóchstens, daB gelegentlich auch ihm eine klassische Re-
miniszenz auftaucht. Man muß diese Erscheinungen eben in
einen größeren Zusammenhang stellen.
Ad modicum. — Vulg. Iac. 4,15: quae enim est vita
vestra? — vapor est ad modicum parens, deinceps extermina-
tur; Cassian. inst. 2, 15, 1: ad modicum subsistere; 4, 16, 2:
si cum aliquo vel ad modicum substiterit vel si ad punctum
temporis uspiam secesserit; ebenso Collat. 1, 10, 2 u. 17, 28,3;
Vict. Vit. 3,27: ad modicum atque temporaliter gloriari;
3, 51: ad modicum gloriare; Pass. 8: temporalia ad modicum
sufferre supplicia; Beda h. eccl. p.91,8: itaque haec vita
hominum ad modicum apparet; Soran. Gynaec. p. 60, 11:
ante modicum datus cibus; Joh. Mon. p. 87, 6: ad modicum
constituit eum in priorem ordinem. Auch der bloBe acc. modicum
findet sich ganz wie im Ruodlieb, z. B. Vulg. Ioh. 16, 16: mo-
Zum Latein des Ruodlieb 489
dicum et iam non videbitis me. et iterum modicum et videbitis;
ebenso 16, 17 u. 19. Cassian. inst. 3, 7, 2: si ultra praestitutam
dilationis horam vel modicum retardarit; 4, 16,1: si decantans
psalmum vel modicum titubaverit; ebenso Collat. 24, 9, 3;
Beda h. eccl. p. 181, 12: modicum silens tertio dixit; 202, 3:
dein modicum requietus levavit se; 228, 14: modicum siluerat;
Ioh. Mon. p. 58, 28: modicum expectate et videbitis eum.
Zu vergleichen sind ähnliche Wendungen wie Vulg. Act. ap. 26,
28: in modico (es fehlt nicht viel, so) suades me Christianum
fieri. et Paulus: opto apud deum et in modico et in magno
(Luther: mag nun viel oder wenig fehlen) non tantum te sed
omnes hodie fieri tales; Luc. 19, 17: quia in modico (im kleinen)
fidelis fuisti; 16, 10: in minimo et in maiori fidelis est, et qui
in modico iniquus est, et in maiori iniquus est; Beda h. eccl.
p. 173, 15: (monasterium) quod nunc grande de modico effectum ;
144, 2: a parvo usque ad magnum delere.
Post modicum. — Soran. Gynaec. p. 38, 1: post modicum;
37, 28: post quantum lavacri ad didam adplicandus est infans?
Vulg. Matth. 26, 73: post pusillum; Act. ap. 27, 14: non post
multum; Cypr. p. 107,9: quod quidem post paulum dicturi
sumus; Lucif. Calar. p. 306, 11: post paululum; Vict. Vit. p. 109,
12: post modicum temporis; 31,3: post paululum; 88, 9: alii
post paululum exalaverunt; ebenso 101,4 u. 111,4; Beda h.
eccl. p. 159, 25: post paululum; 30: post possillum; 209, 2: post
pussillum, ebenso 235, 10; 255, 26: post multa; Ioh. Mon. p. 84,10:
post paululum video Eulogium.
Ad breve, in brevi. — Anton. Placent. Itin. p. 159, 16:
triginta milia ad breve missi hic perierunt. Vulg. Act. ap. 5, 34:
iussit foras ad brebem homines fleri. Auf gleicher Stufe steht
die beliebte Wendung in brevi: Flor. 1, 1, 15: auctis in brevi
viribus; Vellei. Paterc. 2, 61, 2: in brevi in formam iusti
coiere exercitus; Oros. (Zangenmeister) p. 52, 16: quis credat
ita in brevi eorum excidisse memoriae; 481, 7: in brevi iram
dei provocat; 537, 11: ostendente in brevi iudicio dei (quid
possit); Cassian. inst. 12, 33, 1: in brevi nos de hoc saeculo
migraturos; Commod. 1, 21, 10: in brevi laetaris et postmodum
plangis in imis; Vict. Vit. p. 7, 6: in brevi avitas atque
paternas opes tali industria abstulit rapax; 17, 21: in brevi tur-
pissima consumptus est morte; 30, 10: amputatis igitur in brevi
490 Hans Ottinger
omnibus quos timebat; 107,13: in brevi simili morte periit;
Beda h. eccl. p. 22, 25: (pestis) quae in brevi tantam eius multi-
tudinem stravit; 241, 26: multos in brevi ab idolatria ad fidem
converterent. Bloßer abl. p. 26, 14: decursisque brevi spatiis
pelagi. Für Iordan Get. vgl. Werner S. 66.
Per totum, in totum. — Vulg. Joh. 19, 23: tunica incon-
sutilis desuper contexta per totum; Cypr. I p. 216, 10: tunica
eius per totum textilis et cohaerens. Weit häufiger ist jedoch
in totum in der Bedeutung ,,ganz und gar, omnino". Es begegnet
bei Sen. phil., Plin. m., Minuc. Fel.; aus Cels. Quint. und Colum.
bringt Hand. Turs. II, 331 einige Beispiele. Aus Tertull. bringt
Hoppe S. 101 viele Belege, z. B. Praescr. 39: fabulam in totum
aliam; Res. 55: perisse est in totum non esse; Car. Chr. 11:
(animam) in totum invisibilem; Hermog. 16: mala in totum
materia; Marc. 5, 12; (domus) in totum dissoluta usw. Ebenso
háuflg bei Cypr. (Hartel, Index) z. B. I p. 290, 3: hoc est ab
hoste in totum non cavere; 596, 10: qui illi credit in totum ab
ecclesia pereat; 627, 18: ut nec in totum spes communicationis
et pacis lapsis denegaretur; 635, 20: si in totum mortui essent
usw. Cassian. Collat. 13, 14, 2: licet gratia dei non in totum illi
defuisse credenda sit; Commod. 1, 37, 22: in totum erratis, si
deum et fana colatis; 2, 16 inscr.: saecularia in totum fugienda;
2, 38, 6: in totum ne facias sic orationem usw. Mulom. Chir.
(Oder, Index) z. B. p. 19, 22: haec enim causa in totum auferri
non potest; 95, 21: ut os in totum aperire non possit; 140, 5:
in totum non tangat; Soran. Gynaec. p. 32, 16: ad virum suum
in totum non accedat; 42, 1: sic in totum novissime lacte dene-
gare; 47,13: in totum nihil; 49, 4: in totum non purgatur usw.
In omni — in jeder Beziehung, Ruodl. V, 408, 419. — Den
Singular in omni habe ich sonst nicht gefunden. Das scheint
Zufall zu sein, denn andere Singulare, z. B. in nullo, in aliquo
sind häufig. Ich glaube, daB unser Dichter in omni aus metri-
schen Gründen (V, 408 offensichtlich des Reimes wegen) statt
in omnibus gesetzt hat, das ja massenhaft im ganzen Spátlatein
vorkommt. Für unsern Dichter ist mit in omnibus ohne weiteres
auch in omni gegeben. |
In nullo, in aliquo u.a. — Tertull. An. 45: in nullo per-
moveremur; Marc. 3, 12 in: illam (comparationem) in nullo con-
venire; Vulg. 2. Cor. 7,9: in nullo detrimentum patiamini;
Zum Latein des Ruodlieb 491
Philipp. 1, 20: quia in nullo confundar; 20: in nullo terreamini;
Jac. 1, 4: sitis perfecti et integri in nullo deflcientes; 2, 10: qui-
cumque autem totam legem servaverit, offendat autem in uno
(in einem Punkte) factus est omnium reus; Tertull. Cult. f. 2, 5:
Christianus a malo illo adiuvabitur in aliquo; Marc. 2, 28: paeni-
tuit mali in aliquo deum nostrum; 4, 25: si in aliquo deliquissent
(Hoppe S. 99); Beda h. eccl. p. 101, 30: neque in aliquo eis
magis communicare quam paganis; Ioh. Mon. p. 87, 24: num-
quid scandalizavi te in aliquo? 97, 12: in reliquo emenda te
ipsum. |
In omnibus = ‚in jeder Beziehung‘ ist sehr häufig, z. B.
Vulg. 1. Cor. 1, 5: quia in omnibus divites facti estis; 2. Cor. 2,9:
an in omnibus oboedientes sitis; 7, 16: gaudeo quod in omnibus
confido in vobis”®. Ähnlich gebraucht die Vulg. in multis (Luther:
„in vielen Stücken“) z. B. Marc. 15, 3: accusabant eum summi
sacerdotes in multis; 2. Cor. 8, 22: quem probavimus in multis
saepe sollicitum esse; Iac. 3, 2: in multis enim offendimus omnes;
Peregrin. Aeth. c. 5, 12: licet semper deo in omnibus gratia agere
debeam, non dicam in his tantis et talibus; 23, 5: qui mihi di-
gnatus est indignae et non merenti in omnibus desideria complere;
Beda h. eccl. p. 33, 28: in omnibus humiliter oboedite; 34, 19:
(presbyterum) caritati vestrae in omnibus commendamus”.
Auch Beda kennt in multis: p. 67, 22: quia in multis nostrae con-
suetudini.. contraria geritis, et tamen si in tribus his mihi ob-
temperare vultis; 70, 23: vitam ac professionem minus ecclesiasti-
cam in multis esse cognovit. Auch in der Mulom. Chir. findet
sich in omnibus 2. B. p. 63, 2 u. 6.
Per omnia. — Gleichbedeutend mit in omnibus und nicht
minder häufig wird seit Liv. (10, 39, 8) per omnia (mit limi-
tierendem per, vgl. Schmalz Synt. S. 405) gebraucht, z. B. Vulg.
1. Cor. 10, 33:8icut et ego per omnia omnibus placeo; Ephes.4,15:
15 8, 7: in omnibus abundatis fide; 9,8: in omnibus semper sufficientiam
habentes; 11: in omnibus locupletati; 11,6: in omnibus autem manifestus sum
vobis; 11, 9: in omnibus sine onere me vobis servavi; Ephes. b, 24: sicut ecclesia
subiecta est Ohristo, ita et mulieres viris suis in omnibus; 6, 13: in omnibus per-
fecti u. ö. |
76 88, 31: in omnibus se secuturum doctrinam illius; 97, 12: ut in omnibus
devotioni vestrae nostrum concursum praeberemus; 107, 11: libenter in omnibus
auscultans; 152,38: huius cupio in omnibus oboedire statutis; ebenso 160, 2, 10;
177,26; 195, 38; 229, 31; 261, 3; 280, 1.
492 Hans Ottinger
crescamus in illo per omnia; Thess. 5, 23: sanctificet vos per
omnia; Coloss. 1, 10: deo per omnia placentes; 3, 20: oboedite
parentibus per omnia; Act. ap. 17, 22: per omnia quasi super-
stitiosos vos video; Beda h. eccl. p. 67, 38: quod ita per omnia..
patratum est; 94,16: vir per omnia christianissimus; 118, 28:
sanum per omnia; 168, 24: dignus per omnia; 196, 11: viri bene
religiosi ac per omnia egregii; 202, 22: illi per omnia simillimum;
205,3: regulari vita per omnia; ebenso 219, 13; 228, 10; 233,
28; 281, 23.
In sua — in ihr Land, Ruodl. 5, 584. — In, ad sua und das
gleichbedeutende in, ad propria findet sich bei den verschieden-
sten Schriftstellern, ein Germanismus liegt also nicht vor. Vulg.
Act. ap. 21,5: expletis diebus profecti ibamus deducentibus
nos omnibus cum uxoribus et filiis usque foras civitatem.. et
cum vale fecissemus invicem ascendimus in navem, illi autem
redierunt in sua; Ioh. 16, 32: dispargimini unus quisque in pro-
pria; 1, 11: in propria venit et sui eum non receperunt ; Com-
mod. 2, 13, 2: ad sua recurrunt; A. 228: in sua venturum pro-
pria; ähnlich 2, 1, 32: transiit ad nostra; Beda h. eccl. p. 20, 24:
quibus ad sua remeantibus; Peregrin. Aeth. c. 19, 13: necesse
fuit eos statim reverti ad sua, id est in Persida (dieses Beispiel
zeigt zugleich, wie die Funktionen von in und ad durcheinander
gehen); Iordan. Get. 53, 274: ad sua revertens; 10, 65: ad sua
reversi sunt; 54, 279: ad sua pervenerunt; Aesop.d. Rom. 157:
invitat eum redire ad sua. Im Mittellatein Ioh. Mon. p. 16, 11:
abierunt unusquisque in sua (in ihre Häuser).
In altum comburere — in die Tiefe brennen Ruodl. VIII,
82. — Gerade altus gehórt zu den Adjektiven, die zu allen Zeiten
unbedenklich substantiviert worden sind. So begenet denn altum
= die Höhe oder die Tiefe das ganze Spätlatein hindurch in allen
Kasus: Apul. met. 3, 21: mox in altum sublimata forinsecus totis
alis evolat; 4,3: lumbis elevatis in altum ; 5,14: prosiliunt in altum
(in die Tiefe); 5, 24: cum termino sermonis in altum se proripit ;
ähnlich 10, 34: in excelsum prorumpit; Vulg. Luc. 24, 49: quo-
adusque induamini virtutem ex alto; Ephes. 4, 8: ascendens in
altum; Commod. p. 10, 26: in altum; ebenso 16,19; 35, 31;
40, 5; ab alto: p. 14, 4; 34, 15 u. ó. Adamnan. p. 228, 9: in altum
extenditur; 242,2: quorum (puteorum) unus in altum infinita
profunditate productus extenditur; 248, 16: in altum sublimatus;
Zum Latein des Ruodlieb 493
Beda h. eccl. p. 134, 7: cum ergo in altum esset elatus; 119, 20:
volantibus in altum scintillis; 221, 14: elevata in altum voce;
ebenso p. 104, 29; Cels. 5, 23 in: ubi ex alto deciderunt ; 3, 5 in:
si ex alto (aus der Tiefe) calor venit; Mulom. Chir. (Ahlquist
S. 94) p. 34, 1: suspendis in altum; 32, 16: radices eius de alto
eximet. (von Grund auf); 32, 19: si in alto (in der Tiefe) spur-
citia aliqua vulneris remanserit; 31, 26: ossum in alto vexatum;
47,4: sanguis profluet ex alto; Aesop. d. Rom. p. 55: praedam
dimittas ab alto; 203: calcibus in altum saltus dedit; 241: fame
vulpis coacta uvam sursum in alto pendentem viderat ad quam
pervenire volebat saltus in altum dans.
In unum. — Seiler führt diese Wendung unter der Über-
schrift ,, Deutsche Wendungen sind wórtlich in das Lateinische
übertragen worden, wo eine ganz andere Wendung eingesetzt
werden mußte“ auf und sagt S. 139 dazu: ,,convenire in unum
- IV, 33, wo locum zu ergánzen unmóglich ist, unum also neutr.
ist — enein". In dem mehrfach erwáhnten Nachtrag allerdings
wird diese Behauptung zurückgenommen. In der Tat findet sich
in unum — una, simul in jedem spätlateinischen Text.
Petron 50: facta sunt in unum aera miscellania und gleich
darauf: ex omnibus in unum, nec hoc nec illud. Für die Vulg.
vgl. Kaulen S. 140, der darauf aufmerksam macht, wie der Aus-
druck in unum — una hervorgegangen ist aus dem Gebrauch
des ntr. unum — dasselbe, das nàmliche, eins, z. B. Ioh. 17, 21: ut
omnes unum sint sicut tu, pater, et ego unum sint; 22: ut sint
unum sicut nos unum sumus; 23: ut sint consummati in unum;
1. Cor. 3, 8: qui plantat autem et qui rigat unum sunt. Gal. 3, 28:
omnes enim vos unum estis; 29: si autem vos unum estis; 1. Ep.
Ioh. 5, 8: tres unum sunt; 1. Cor. 11,5: unum est enim ac si de-
calvetur. Ebensooft begegnet in unum, z. B. Ex. 28, 7: ut in
unum redeant; Ps. 48, 3: simul in unum dives et pauper; 132, 1:
habitare fratres in unum; Act. ap. 4, 26: principes convenerunt
in unum; Matth. 22, 34: convenerunt in unum; Ioh. 11, 52: (ut
filios dei) congregarent in unum; 1. Cor. 11, 20: convenientibus
ergo vobis in unum; 14, 28: si ergo conveniat universa ecclesia
in unum; Act. ap. 15, 25: placuit nobis collectis in unum; Hist.
Apoll. 42, 9: quando in unum se coniungerent ; 11: in unum con-
veniunt; 3: quibus convocatis in unum pariter rex ait ,,amici,
Scitis quare vos in unum congegraverim ?' 102, 4: quos repen-
494 Hans Ottinger
tina causa coagulavit in unum; Cassian. inst. 2, 15, 2: in unum
fratribus congregatis; 4, 17: in unum consederit; 4, 19, 2: con-
venientibus in unum fratribus; Lucif. Calar. p. 14, 1: facite
pacem et estote in unum; 10, 22: in unum convenire; Vict. Vit.
110, 7: habitantes in unum quia bonum est habitare in unum;
Ammian. Marc. 16, 2, 8: in unum congregatus exercitus, 10, 5:
in unum coacta multitudo; 12, 1: in unum robore collecto ; 17, 10,
2: omnes conspirantes in unum u. ö. (Lisenberg S. 4 f.); Anton.
Placent. Itin. p. 178, 18: omnes in unum requiescunt; 163,8:
fontes in unum iunctae; Beda h. eccl. p. 174, 22: in unum con-
venientes; 154, 38: congregati in unum. Besonders oft natur-
gemäß in der medizinischen Literatur z.B. Mulom. Chir. p. 98, 14:
vino et oleo in unum ungito; 99, 13: omnia in unum miscebis;
116, 29: in unum contusa; 124, 10: picem, ceram et resinam
cabialem et thuris polline aequis ponderibus in unum coquito;
128, 32: contundis in unum; 188, 27: omnibus in unum com-
mixtis u. ó. Soran. Gynaec. p. 44, 11: in uno tritas u. ó. Theod.
Prisc. p. 268, 13: in unum conterito; 269, 8: in unum conteres;
277,30: gallae et bacae lauri pulvere aequali ponderi in unum
commixto; 67, 12: in unum commiscebis u. ö. Ioh. Mon. p. 39,
31: ad summam senectutem pervenerunt simul in unum; 46, 8:
pueri essent in unum; 10: consedentes vero pueri in unum.
„In einer bei Caspari S. 190 ff. gedruckten Pfingstpredigt aus
Saec. V ist uns sogar ein geistlicher Kommentar zu diesem in
unum erhalten (S. 195): ,,et cum complerentur dies pentecostes
erant omnes simul in unum. Pulchra est scriptura divina. Cum
dixisset: erant in unum, non addidit in unum locum, ut intelle-
geremus scilicet, hoc, quod ait in unum, non ad locum tantum
esse referendum. Erant, inquit, omnes in unum, id est in unam
fidem eandemque sententiam, quia nec mereri unum spiritum
potuerunt, nisi fidei unitate placuissent, sicut scriptum est:
„Erat credentium anima et cor in unum“.
In commune. — Es sei mir gestattet, den ebenfalls weit
verbreiteten Gebrauch von in commune = pariter, una (Hand.
Turs. III, 331) zu erwáhnen: Tac. h. 1, 25: in commune omnes
metu terrebantur; 1, 36: quos adhuc singulos exstimulaverat,
accendendos in commune ratus; Sen. ep. 95, 53: habeamus in
commune quod nati sumus; Cypr. I p. 313, 24: et illis et nobis
in commune laetitia est; 512, 22: (de his) in commune tractabi-
Zum Latein des Ruodlieb 495
mus; 605, 4: quae in commune tractanda sunt; 607,1: quod
nobis in commune placuisset u. ö. Cassian. inst. 4, 18: cunctis
in commune reficientibus; 5, 8: hune esse perfectae virtutis in
commune omnibus finem; Beda h. eccl. p. 104, 30: dominum
in commune deprecemur; 174, 25: ut in commune omnes pro
nostra fide tractemus; 175, 2: ut sanctum diem paschae in com-
mune omnes servemus; 175, 26: placuit omnibus in commune;
175, 31: nonum capitulum in commune tractatum est; 176, 1:
his itaque capitulis in commune tractatis. — Es sei noch an
einige andere áhnliche Wendungen erinnert: In incertum, z. B.
Liv. 43, 12, 8; Vulg. 1. Cor. 9, 26: curro non quasi in incertum.
In universum, z. B. Colum. 4, 24, 4: haec in universum, illa
per partes custodienda sunt; 3, 12, 6: nobis in universum prae-
cipere u. ö. ö
In plenum, z. B. Plin. h. n. 16, 40, 79: in plenum dici potest,
utique quae odore praecellant, ea aeternitate praestare; Pere-
grin. Aeth. c. 9, 6: quia ad plenum discere volebam loca; Iordan.
Get. 58, 299: ut in plenum suam progeniem dilataret. Caspari
S. 189: eadem erit ad plenum contemplatio.
In immensum, z. B. Ov. am. 3, 12, 4: exit in immensum fecunda
licentia votum ; Vulg. 2. Cor. 10,13: non in immensum gloriabimur
Apul. met. 10, 14: in immensum procedentem querelam.
In vacuum = frustra, besonders im Kirchenlatein häufig:
Tertull. (Hoppe S. 101) z. B. praescr. 29: non perperam nec in
vacuum; Hermog. 43: in vacuum laborasset; Marc. 4, 2 ex: ne
forte in vacuum cucurrisset; Scorp. 1: in vacuum flagellant u. ö.
Vulg. 2. Cor. 6, 1: ne in vacuum gratia dei recipiatis; Gal. 2, 2:
ne forte in vacuum currerem ; Philipp. 2, 16: quia non in vacuum
cucurri neque in vacuum laboravi; Beda h. eccl. p. 147, 36: in
vacuum currere u. ö.
In vanum in gleicher Bedeutung, z. B. Tertull. Marc. 4, 9:
in vanum descendit. Ebenso Cassian. inst. 5, 18, 1 u. 2; 7, 22 u. ö.
In obliquum, in rectum u.ä. z.B. Plin. h. n. 27, 9, 55: ra-
dices utrique longae in obliquum; 19, 6, 31: cepe et allium non
nisi in rectum radicantur; Mulom. Chir. p. 53, 8: tensis oculis
in obliquum respicit; 110, 19: in obliquo tensis oculis attonite
Tespicit; 46, 1: stans in obliquo; 199, 21: religatum pedem loro
in recto duo tenent; 290, 29: sic in recto facies; 33, 16: cutem
Contra se in directo venae ad duos digitos aperies. Anton. Pla-
496 Hans Ottinger
cent. 160, 13: per directo; Peregrin. Aeth. c. 8, 1: totum ad
directum subis; Soran. Gynaec. p. 58, 12: in rectum iacere.
In longum, in latum u. à. z. B. Mulom. Chir. p. 31, 29: callosi-
tatem totius vulneris in longum et in curtum faciunt ; 33, 11:
contra locum causae aperies in longum dextra sinistra. 70, 18:
invenies duritiam ingentem cucurbitae rotundae in longo simi-
lem; 23, 14: praecides per longum ad diastimam oculi; Vulg.
Ezech. 40, 7: thalamum uno calamo in longum et uno calamo
in latum; Peregrin. Aeth. c. 2, 1: in longo milia passos forsitan
sedecim, in lato autem quattuor milia; 2, 3: placuit ut per me-
diam vallem ipsam, qua iacet in longo, rediremus; 5, 1: per valle
illa media qua tenditur per longum; Iordan. Get. 1,6: in longo
latoque extensam; 50, 264: in longo porrecta; 36, 192: in
longum centum leuvas, in latum septuaginta.
Nachdem wir in obliquum — schief, in rectum = gerade,
in longum = in die Länge, in latum = in die Breite u. a. kennen
gelernt haben, wollen uns Wendungen unseres Dichters wie ad
grossum, ad latum nicht mehr auffällig erscheinen: mit der-
artigen Dingen muß man im Spät- und Mittellatein eben rechnen.
Per siccum, Ruodl. V, 525. — Siccum = „das Trockene“
finde ich bei Petron. 72: qui interventu suo nos trementes extra-
xit in siccum ; Gregor. Turon. h. F. 1, 10, p. 39, 20: illis per sicca
gradientibus in litus illud transgrediuntur; Ioh. Mon. p. 18, 18:
eduxerunt navem vacuam in siccum.
In arto, Ruodl. V, 442. — Über den Gebrauch des substan-
tivierten Neutrums artum — spatium artum unterrichtet der
Thes. s. v. Einige Belege: Liv. 23, 27,7: in artum compulsi;
Apul. met. 11, 14: compressis in artum feminibus. Gerade der
abl. mit in ist sehr häufig: Liv. 26, 39, 18: ita in arto stipatae
erant naves; 34, 15, 8: caeduntur in portis suomet ipsi agmine
in arto haerentes; 28, 33, 9: quod in arto pugna Romano aptior
quam Hispano militi futura videbatur; Sol. 22, 10: aquis in arto
ludentibus; Val. Flac. 6, 346: saeptus in arto leo; Sen. ep. 78, 8:
quicquid aliud in copore exile est, acerrime saevit, cum in arto
vitia concepit; Stat. Theb. 1, 64: trifidaeque in Phocidos arto
implicui regem.
In altis, Ruodl. XI, 62. — Der Plural der Neutra wird im
gleichen Umfang substantiviert wie der Singular, die Aufzählung
dieser Dinge beansprucht bei Roensch, Kaulen, Hoppe u.a.
Zum Latein des Ruodlieb 497
immer mehrere Seiten. Ich raffe einige Beispiele auf: Vulg.
Hebr. 1,3: ad dexteram maiestatis in excelsis; Luc. 2, 14:
gloria in altissimis deo; Commod. 1, 22, 9: sic ipsi complacuit
domino dominorum in altis; Beda h. eccl. p. 178, 22: videntibus
cunctis ad caeli se alta subduxit; 246, 39: modo alta peterent,
modo ima baratri repeterent. Für in altis gebraucht die Vulg.
oft auch das ähnliche in caelestibus: Ephes. 1, 20: suscitans
illum a mortuis et constituens ad dexteram suam in caelestibus;
2, 6: consedere fecit in caelestibus; 3, 10: ut innotiscat in cae-
lestibus ; 6, 12: contra spiritalia nequitia in caelestibus; Tertull.
sagt Hermog. 7: deo in sublimibus habitanti. Die Synonyma:
caelestia, sublimia, alta u. à. gehóren durchaus zur christlichen
Terminologie.
Cordisabimis, Ruodl. V, 449. — Sowohl der Plural als der
Singular von imus erscheinen mehrfach auch anderswo sub-
stantiviert: Beda h. eccl. p. 134, 9: at ille oculos in inferiora de-
flectens vidit quasi vallem tenebrosam subtus se in imo positam;
Adamnan. p. 229: ex quibus quattuor in imo illius lectuli positae;
p. 286, 13: ab imo fundamentorum in tribus consurgens parie-
tibus. Der Plur. bei Beda h. 116, 35: tantae flagrantia suavitatis
ab imis (aus dem Innern) ebullivit; Commod. 2, 4, 7: uritur ab
imis terra montesque liquescunt; 1, 21, 10: in brevi laetaris et
postmodum plangis in imis. In den letzten Stellen bedeutet ima
vielleicht prägnant „die Hölle“. Cassian. coll. 9, 4, 1: ad ima
terrae; 24, 15, 2: ad manuum summa, ad pedum ima. Zu ima
cordis vgl. Beda h. eccl. p. 81, 10: saepe diu solus residens ore
quidem tacito, sed in intimis cordis multa secum conloquens.
Neutra plur. mit gen. — Im Gebrauche substantivierter
Neutra plur. mit abhängigem gen. ist das Spätlatein geradezu
überschwenglich: Liv. 26, 40, 9: infima olivi; 28, 33, 6: media
urbis; Apul. met. 8, 28: per avia montium; 4, 15: ad reliqua
fallaciae pergimus; 4, 24: se ad sectae sueta conferunt; 4, 35:
vehens per devexa rupis; Vulg. (Kaulen S. 219) z. B. Ps. 62, 10:
introibunt in inferiora terrae; 138, 9: in extremis maris; Tob. 1,1:
in superioribus Galilaeae; 1. Cor. 2, 10: profunda dei; 2. Cor. 4, 2:
occulta dedecoris; Hebr. 6,19: in interiora velaminis; 1. Cor.
14, 25: occulta cordis eius manifesta fiunt; Tertull. Res. 62: non
magis sollemnibus carnis obnoxii sub angelico indumento, quam
angeli tunc sollemnibus spiritus sub humano; Päl. 5 in: de
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 32
498 Hans Ottinger
necessariis fidei; Ammian. Marc. 18, 8, 7: editiora collis; 16, 11,
11: ad intima Galiarum; 20, 4, 10: ad orbis terrarum extrema;
Cels. 7, 7, 18: interiora oculi; 7, 29: extrema corporis; 8, 10, 2:
eminentia cubiti; Dictys Cret. 3, 21: cuncta regni; 6, 4: reliqua
praedae; 4, 8: adversa fortunae; 1, 27 u. 23: necessaria cibi u. ö.
Cassian. inst. 5, 21, 2: luxuriae praerupta; 39, 3: victus neces-
saria; 40, 1: in interioribus deserti; 41: prospera mundi; 12, 2:
in posterioribus libelli; Coll. 1, 15, 2: mirabilia mysteriorum;
6, 11, 2: in occultis eonum; 14, 16, 1: arcana sensuum u. ö. (vgl.
Petschenigs Index); Commod. 1, 32, 14: ultima fatorum non
providens; Vict. Vit. 1, 3: praerupta terrarum vel seclusa; 2, 24:
verecunda pudoris; 3, 58: silvarum secreta; Adamnan. p. 233, 7:
cuius in superioribus; Beda h. eccl. p. 121, 37: in cuius interiori-
bus; 171, 9: discussis penetralibus cordis nostri; 222, 19: irrepunt
in interiora corporis mei; 258, 25: in profundis tartari.
In cuius medio, cuius ad extremum, in tiliae summo u. à.
(Seiler S. 117). Derartige Wendungen sind keine Eigenheiten
unseres Dichters, sondern typisch spätlateinisch.
Liv. 27, 48, 17: iam diei medium erat; 1, 57, 9: in medio
aedium ; 35, 13, 4: extremo iam hiemis; 33, 48, 6: in serum noctis;
Vulg. Ps. 67, 23: in profundum maris; Luc. 2, 46:. sedentem
in medio doctorum; Matth. 10, 6: mitto vos sicut oves in medio
luporum; 13, 49: separabunt malos de medio iustorum; 18, 2:
Statuit eum in medio eorum; 18, 20: ibi sum in medio eorum;
Luc. 4, 30: transiens per medium illorum; 21, 21: in medio eius;
1. Cor. 5, 2: tollatur de medio vestrum; 2. Cor. 6, 17: exite de
medio eorum??; Commod. 1,30, 2: in medio populi; Cassian.
coll. 3, 22, 4: medium noctis; Ammian. Marc. 15, 7, 10: noctis
medio, ebenso 19, 5, 5; Vict. Vit. p. 10,17:in medio Vandalorum;
” 14, 6.4: ad tranquilliora vitae discessit; 14, 6, 25: aurigarum equorumque
praecipua vel delicta; 16, 7, 4: eius praecipua; 15, 9, 8: sublimia naturae; 17, 3, 1:
dubia bellorum; 22, 4, 8: per silvarum densa; 31, 9, 2: per montium celsa; 21, 6,4:
per plana camporum usw. (Lisenberg S. 2).
7 Philipp 2, 15: in medio nationis pravae; Thess. 2, 7: in medio vestrum;
Hebr. 2, 12: in medio ecclesiae; Act. ap. 1, 15: in medio fratrum; 2, 22: in medio
vestri; 17, 22: in medio ariopagi; 17, 33: exivit de medio eorum; 23, 10: rapere
eum de medio eorum; 27,21: stans in medio eorum; Apoc. 1,13: in medio VII
candelabrorum, ebenso 2, 1; 4, 6: in medio sedis; 5, 6: in medio throni et in medio
seniorum; 7, 6: in medio quattuor animalium; 7,17: in medio throni; 19, 11:
volabant per medium caeli; 22, 2: in medio plateae.
X u a
= 4
Zum Latein des Ruodlieb 499
18, 16: in medio crepidinis; 29, 18: in medio civitatis; 32, 8: in
medio gregis; Visio Pauli 48 (p. 39, 23): in medio illorum; Anton.
Placent. p. 173, 14: circa medium noctis; Adamnan. p. 230, 6:
in medio eius; 239,13: in medio civitatis; 240, 1: in medio terrae,
ebenso 240, 5; 264, 1: in quorum medio ; Beda de loc. s. p. 310,13:
in cuius medio; 312, 16: in medio ecclesiae; H. eccl. p. 19,4: in
medio sui; 25, 29: usque ad medium itineris; 69, 33: in medio
pene sui?*; Dict. Cret. 4, 21: in medio itineris; 5, 10: medio
campi.
Vulg. Matth. 18, 6: demergatur in profundum maris; Luc.
16, 29: intinguat extremum digiti sui in aqua; 2. Cor. 25: in pro-
fundum maris; Tim. 6, 17: in incerto divitiarum; Act. ap. 1, 8:
usque ad ultimum terrae; 13, 47: usque ad extremum terrae;
Cassian. instr. 4, 37: ad extremum vitae; Ammian. Marc. 19, 2,
10: ad extremum usque diei; 2, 5: usque diei ultimum; 19, 11, 4:
hiemis durissimo; 19, 10, 1: in orientis extimo; 20, 7, 17: in ex-
tremo Mesopotamiae; 16, 8, 6: in abrupto necessitatis; Vict.
Vit. 1, 38: in angusto fugae; Minuc. Fel. 1, 4: profundum tene-
brarum; 9,7: per incertum sortis; 16, 2: incertum propositionis ;
Vis. Pauli 16: audivi voces in excelso celorum; Beda h. eccl.
p. 9, 23: in profundum fluminis; 279, 21: in abdito cordis; 206, 22
ob insigne pietatis et gratiae; Iordan. Get. 1, 9: in ultimo plagae
occidentalis; Mulom. Chir. p. 44, 19: venae quae in extremo
aurium finiuntur; 156, 26: per ipsum extremum folliculi. —
Der Gebrauch mag ursprünglich von Dichtern ausgegangen
sein, weil diese Neutra metrisch bequemer waren als die meist
làngeren Substantiva. Für den Spát- oder Mittellateiner kam
noch der Vorteil dazu, daß er auf diese Weise mit einem kleineren
Wortschatz auskommen konnte; jedenfalls war es ihm grund-
sátzlich erlaubt, Substantiva aus Adjektivis durch Substanti-
vierung der Neutra zu gewinnen.
Adjektivum statt Adverbium. — Seiler S. 117:
„Öfter steht das Adjektivum für das Adverbium, libens VII,
89; VIII, 44, 64; XI, 18; XIV, 55; citus VIII, 126; IX, 42“.
Zu vergleichen sind Schmalz’ Synt. S. 150 und als wichtige
?9 74, 33: oves Christi in medio luporum positas; 92, 21: in cuius medio;
192, 22: contra medium Australium ; 197, 22: in medio suorum; 24: in medio eorum ;
246,16: in medium frigoris; 246, 18: in medium flammarum; 246, 37: in medio
tenebrarum; 256, 33: huius in medio; 257, 28: in cuius medio.
32*
500 Hans Ottinger
Ergänzung dazu Loefstedts Kommentar zur Pereg'n. As -
S. 213 f. Dort heißt es: „Das Adjektiv ist die ältere, persön..-
und plastische Ausdrucksweise und bleibt eben deswegen
der volkstümlichen sowie in der dichterischen Sprache beliebt
deren Tendenzen hier wie in so vielen anderen Fällen zusammen-
treffen; die jüngere abstraktere adverbiale Konstruktionsweise
gehört dagegen naturgemäß der klassischen Normalprosa an.“
Beispiele bei Schmalz, Kühnast (Hauptpunkte der livianischen
Synt. S. 56/7) und Draeger (Synt. d. Tac. $ 8).
Für das Spätlatein diene folgendes:
Apul. met. 6, 8: dotem libens offero; 6, 10: libentes tandem
accedunt; 6, 16: urnulam citata rettulit; 9, 5: inprovisus hospi-
tium repetit; 9, 7: otiosus adsiste; 9, 20: inprovisus maritus
adsistit; 10, 6: foro se festinus inmittit; 11, 6: vives autem
beatus.. gloriosus; Dict. Cret. 2, 49: transversi agebantur; 4, 5:
diversi exercebantur; 2, 43: promptus stetit; 2, 52: libens man-
data efficit u. ö. Tertull. Praescr. 42: humiles et blandi et sum-
missi agunt; Marc. 2, 14 ex: qui legatos eius totiens superbus
excusserat; Cassian. inst. 4, 2: diuturna perduret; 4, 24, 4: ta-
citus senex exploraret; 5, 33: infatigabilis persistit; 12, 28: ta-
citus intra semet volvens; coll. 1, 2, 1: agri glaebas frequenti subigit
vomere; 18, 15, 6: matutinus occurreret; 20, 9, 2: se festinus
abstraxerit u.ä. Ammian. Marc. 17, 12, 11: obtinere sedes im-
pavidi; 19, 11,9: stabant incurvi; 14,3,4: dux tabescebat
immobilis; 29, 6, 9: mansit immobilis (Lisenberg S. 5); Com-
mod. 2, 12, 9: matutinus signa revise; 2,12,10: agonia sume
propinquus; Vict. Vit. 1, 12: abstulit rapax; 1, 14: servi perpetui
remanerent; 1, 29: apud Edessam commanet peregrinus; 1, 47:
callidus praecipiens; 3, 44: pergit festinus; Pass. 4: crudelissimus
imperavit u. à. Hist. Apoll. p. 6, 3: festinus perveni; Beda h.
ecel. p. 30, 26: festinus obtemperat ; 127, 7: festinusque accedens;
133, 7: ministerio sedulus insistere; 169, 19: introivit ille con-
citus; Peregrin. Aeth. 10, 9: nos satis avidi optati sumus re.
Die Komparation. Komparativ statt Positiv. — Seiler
S. 117: „Der Komparativ für zu erwartenden Positiv ist ungemein
häufig bei citius z. B. V. 246... ferner kommt es vor bei pro-
perantius V, 13; VII, 92; bei cautius V, 119. Entwickelt hat
Sich diese Eigenheit aus dem bekannten Komparativ, den man
mit ,ziemlich' zu übersetzen pflegt.''
Zum Latein des Ruodlieb 501
Auch, = lies ist keine Eigenheit unseres Dichters: die Erschei-
"E gchört unter das große Kapitel von der Abschwächung
uad Verwirrung der Komparationsgrade (vgl. z.B. Schmalz
Sint. S. 616 f). Die Volkssprache bevorzugte die entwerteten
Komparativformen wohl einfach deswegen, weil sie voller und
wohlklingender waren.
Ter. Andr. 724: accipe a me hunc ocius; Apul. met. 5, 2:
cunctisque istis ocius tecum relatis ; 8, 5: quin ocius indipiscimur ?
Petron 96: non discedunt ocius nequissimi servi? Vulg. Ioh. 18,
27 sehr deutlich: quod facis, fac citius; Hebr. 13, 23: cum quo,
si celerius venerit, videbo vos. Besonders häufig bei Ammian.
Marc. (Lisenberg S. 5) z. B. 15, 8, 16: vultus excitatius gratus;
16, 5,10: cum artem modulatius incedendi disceret; 18, 7, 5:
inmanius efferascunt; 20, 6, 4: ferocius se proripientes; 22, 9, 9:
acrius exsurgens; 16, 21: colens secretius deos; 2, 4: loquebatur
asperius; 5, 18: voluntas ad altiora propensior; Fulgent. Myth.
p. 610: citius sopiturum; I, 8: citius auferens; II, 3: citius fugi-
tiva; Commod. A. 787: citius recordari debemus; 659: implere
hydrias velocius; Cassian. inst. 4, 24, 1: frequentius iniungebat ;
4, 30, 3: diutius pro foribus perseverans; 7, 8: unde si quoquam
se non celerius asportavit; 10, 2,1: crebrius ingemescit; Coll.
9, 35, 1: illud evangelium praeceptum diligentius observandum
est; 15, 3, 3: qui studiosius confluxerant (Petschenigs Index);
Vict. Vit. 1, 11: dulcedo suavitatis dulcius propinata; 1,27:
voluerunt saepius necare; 1,43: diu ac saepius; ib.: allatis
crebrius fortioribus; 2, 2: vehementius inhiabat ; 3, 38: libentius
forte cantabat (vgl. Petsch. Ind.); Anton. Placent. Itin. p. 173,1:
si non clauditur citius; Adamnan. 285, 10: ite citius; 291, 17: ser-
munculis ocius terminatis; 226, 13: citius eam emendat; Soran.
Gynaec. p. 58,17: aliquando citius ad se redeant; Aesop. des Rom.
p.46: ostium cellarii citius aperuit. . . citius se abscondit ; 163: suc-
curre velocius. leo diutius iacuit in terra; Beda h. eccl. p. 110, 28:
adceleravit ocius egredi; 180, 19: nec dubium remansit, quin
aliquis citius esset moriturus; 182, 17: cum ibidem diutius oraret;
Mulom. Chir. p. 65, 15: si celerius succuratur; 41,1: si citius
succurreris; 64, 1: velocius haec vitia mortem inferunt; 94, 16:
ita sani velocius fiunt u.ä. (Oders Ind. S. 309).
Positiv statt 5 hier liegt die im Spät-
latein übliche Verwechselung der Komparationsgrade vor. Pa-
502 Hans Ottinger
rallelen zu Ruodl. XV, 16 bietet z. B. Vict. Vit. 1, 51: persecu-
tionis quanto sublimiter, tanto crudeliter gestae; 3, 59: quanto
Sibi videbantur superbi, tanto amplius deficiebant; Cassian.
inst. 6,17: quantum sublime est praemium castitatis, tanto
gravioribus insidiis lacessitur; Lucif. Calar. p. 287, 27: quantoque
varie vexamur, tanto firmiter roboremur; Mulom. Chir. p. 70, 21:
quem quanto duriorem inveneris; tanto plurimis diebus dolere
eos scias (hier korrespondieren also Komparativ und Superlativ).
Positiv für Superlativ. — Seiler S. 117: „(der Positiv
Steht) für den Superlativ bei quam, wo das Altertum zwar auch
den Positiv kennt, aber den Superlativ vorzieht: quam bene
IV, 248 usw.“
Ausschlaggebend für uns ist, daB der in Rede stehende Ge-
brauch im ganzen Spätlatein gang und gäbe ist. Schmalz sagt
Antib. II, 440: „Im nachklassischen vielleicht, sicher im Spät-
latein steht dann überhaupt quam mit Positiv = möglichst z. B.
Apul. met. 4, 3: loro quam valido caedendo; man wird darin eine
vielleicht auf Mißverständnis beruhende Wiederauffrischung des
exclamativen quam erblicken.“ Seit Apul. begegnet der Gebrauch
dann allenthalben, z. B. bei Lact., Arnob., Boethius u. a.
Quam mit Komparativ. — Seiler S. 118: ,,quam mit dem
Komparativ dagegen ist durchaus unlateinisch: quam citius
III, 69.“
Schmalz sagt Antib. II, 439: „Nur im Spätlatein, wo die
Komparationsgrade in ihrer Bedeutung sich verschieben, lesen
wir quam plures im Sinne von quam plurimi, häufig bei Mart.
Cap. und sonst, vgl. Wölfflin Komp. S. 70 usw." So finde ich
bei Vict. Vit. 2, 64: quam plura und Mulom. Chir. 183, 20: de
quam pluribus; 136, 6: addito aceti quam acrius sextarium unum.
Besonders die Verbindung quam citius scheint es bis zu einer
gewissen Legitimität gebracht zu haben. Schmalz Synt. S. 726
sagt: ,,Eine merkwürdige, sonst wie es scheint noch nicht be-
obachtete Erscheinung ist quam mit Komparativ. Aus den Mir.
Theclae 7 (172, 23) habe ich notiert: quam citius potuit.. pro-
fectus est." Dieser Gebrauch ist besonders im Mittellatein zu
Hause, ich kenne Discipl. cler. 19, 22: ut quam cicius poteris
huius miserearis; Hist.sept.sap.I p.31,18: dominus quam
cicius potuit turrim ascendit; auch in der Hist. sept. sap. II
kommt quam cicius etliche Male vor.
Zum Latein des Ruodlieb 503
Multum. — Seiler S. 139: ,, Multum für valde ist zwar eben-
falls nicht unlateinisch, aber seine häufige Verwendung hat es
jedenfalls dem deutschen ,vil' zu verdanken.“
Schmalz Synt. S. 613 Anm. 1 sagt: „Während multum bei
Plautus vielfach gebraucht wird, verschmäht es der feinere
Terenz, Horaz hat es überwiegend in den Satiren und Episteln,
sonst findet es sich bei Archaisten und vulgären Autoren, be-
sonders im Spätlatein z. B. Epit. Caes. 1, 22: vini multum ab-
stinens; Cic. hat es agr. 3, 18: vir multum bonus est (,hóhnisch
vulgär‘, wie C. F. W. Müller acc. 60 meint) und fam. 6, 6, 9:
vir acutus est et multum providens.“
Plaut. Aulul. 2, 1, 5: multum loquaces; Hor. sat. 2, 3, 147:
medicus multum celer. Für die Vulg. vgl. Kaulen S. 139, z. B.
2. Par. 18, 1: inclytus multum; Ps. 102, 8: multum misericors;
Pred.7,17: iustus multum; Ps.119,6: multum incola fuit
anima mea; Beda h. eccl. p. 6, 1: fluviis multum piscosis; 89, 1:
multum solicitus; 89, 19: cum exercitu multum impari; 102, 1:
multum honorifice; 107, 12: multum diligenter; 126, 32 multum
misericors; 127, 12: multum illi esse placatum; 135, 34: multum
veracem et religiosum; 181, 7: gratus multum; 196, 31: multum
diu; 201, 10: multum amabilis; 230, 32: multum insipienter et
indocte; 259, 36: multum eruditus; Anton. Plac. p. 166, 14: non
multum longe ad Segor; 168, 7: non multum longe, ubi; 176, 21:
non multum longe ab; Aesop. des Rom. p. 197: meretrix quae
erat perfida multum multis. Sehr oft bei Soran. Gynaec. z. B.
praef. p. 3: quibusdam vero capitulis multum breviter dictis;
16, 1: multum fortiter; 29, 15: multum mollis; 32, 6: multum
grandes; 35, 22: cibos multum solidos; 39, 20: multum calidus;
48, 21: multum pingues, ebenso 49, 22 u. ó. Joh. Mon. p. 60,21:
multum sum peccator; 64,24: lapidem preciosum multum;
99, 22: multum misericors.
Damit schlieBen wir das Kapitel über die Komparation
ab. Zwar sehen wir gerade hier deutlich, daß das Volks-
tümliche und das schlechthin Fehlerhafte selten glatt zu
Scheiden sind; aber jene Zeit, wo die eine oder die andere
dieser Erscheinungen vielleicht wirklich ein ,,Fehler" war,
liegt weit zurück: für die Zeit unseres Dichters sind diese Er-
scheinungen längst durch die Vulgata geheiligt, sind sie eben
Latein. i
504 Hans Ottinger
Der Infinitiv. Der Infinitiv nach Verben der sinnlichen
Wahrnehmung. — Seiler S. 123 811: „Nach Verben der sinn-
lichen Wahrnehmung steht statt des Participiums nach deutscher
Weise der Inflnitiv: prospicit socios emergere X, 86; dominas
stare videbo XVII, 8.“
Die Regel ist auch in klassischer Zeit niemals ganz streng
gewesen, man hat videre, prospicere usw. zu allen Zeiten auch
mit dem a. c. i. konstruieren können. Feinheiten wie sie Stilisten
von der Qualität Ciceros gelegentlich durch das Participium
ausgedrückt haben, dürfen wir vom volkstümlichen Spätlatein
nicht erwarten. Vgl. zur ganzen Frage Draeger Hist. Synt. II, 381.
Der finale Infinitiv. — Seiler S. 124: „Der Infinitiv des
Zweckes kommt öfter vor: citat hanc intrudere V, 600; surgens
dicere grates V, 43 usw.“.
Der finale Infinitiv kommt, besonders bei verbis movendi,
Schon im Altlatein vor, dann bei Dichtern und in Prosa seit Val.
Max., vgl. darüber Schmalz Synt. S. 420. Im Spätlatein, be-
sonders im Kirchenlatein, gehórt der Infinitiv des Zweckes zu
den alltáglichsten Erscheinungen.
Apul. met. 4, 3: cunctanter accedo decerpere. Massenhaft
in der Vulg. z. B. Matth. 2, 2: venimus adorare eum; Ioh. 1,33:
misit me bapticare; Luc. 4,16: surrexit legere; 18: misit me
praedicare; Matth. 5,17: nolite putare quoniam veni solvere
legem.. non veni solvere sed adimplere; 10, 34: non veni pacem
mittere; Luc. 8, 46: circumspiciebat videre eam; 14, 23: ascen-
dit in monte solus orare®; Tertull. (Hoppe S. 42) z. B. Pud. 21
in: qui pati venerat; Virg. vel. 1: venturum iudicare; Val. 7:
accedunt monere eum; Marc. 4, 22 ex: discessit oculus percutere;
1,17: erumpunt dicere; 4,30: cum surrexerit comminuere;
Val. 14: prosiluit.. inquirere; Apol. 39: provocatur deo canere
u. ö. Commod. 1, 41, 8: veniet prius signare; 2, 1, 14: nec ruent
% Joh. 4, 7: venit haurire aquam; Matth. 24, 16: non descendat tollere aliquid;
25, 10: irent emere; Luc. 19, 12: abiit accipere sibi regnum et reverti; Matth. 26, 55:
existis comprehendere me; 28, 8: currentes nuntiare; Rom. 15, 12: exsurget regere
gentes; 15, 25: proficiscar ministrare sanctis; 1. Cor. 1,17: misit me bapticare;
10, 7: sedit populus manducare et bibere et surrexerunt ludere; 16, 3: hos mittam
perferre gratiam; Gallat. 2, 4: subintroierunt explorare; Tim. 1, 15: venit peccatores
salvos facere; Act. ap. 1, 24: quem elegeris accipere locum; 14, 11: ascendi adorare;
26, 17: mitto te aperire oculos eorum; Apoc. 3, 10: ventura est temptare; 16, 14:
procedet congregare illos; 22, 6: misit angelum ostendere.
Zum Latein des Ruodlieb 505
ad manus pacem aliquando tenere; 2, 9, 15: occurrit tradere sese;
2, 17, 8: surrexerunt ludere; 2, 35, 3: venisti fundere preces u. ö.
(Dom barts Ind.); Vict. Vit. 2, 65: venturus est iudicare; 2, 90:
venturus est arguere; Hist. Apoll. p. 70, 11: insidiabatur exitus
rerum videre; 85, 10: eum provoces ad lucem exire; 89, 5: pro-
voca eum exire; Peregrin. Aeth. c. 30, 3: festinat manducare;
87, 1: vadent in Syon orare; 43, 4: revertitur resumere se; Anton.
Placent. p. 169, 14: ascendit videre; 172, 4: ibat Isaac offerre;
Beda h. eccl. p. 14, 22: festinavit ei occurrere; 32, 27: misit
servum dei praedicare; 106, 12: admotaque manu requirere quid
esset; 116, 24: egressi dignoscere, quid esset; 140, 5: misit prae-
dicare; 170, 7: vocare venerunt ; 202, 20: venit quaerere; 228, 5:
exierat videre; Gregor. Turon. (Bonnet S. 647): Mart. 87 p. 546,
36: cum omnes in Iordane descenderent abluere vulnera ; Iul. 45
p. 581, 28: egrediens dare responsum; Andr. 1 p. 827, 22: prae-
dicare verbum dispersi; h. F. 4, 84 p. 169, 19: ut annonas ad
Solem siccare ponerent.
Dersubstantivierte Infinitiv. — Seiler S. 124: „Im R.
Stehen so die Verba velle, posse, vivere, vigilare, famulari, und
zwar in allen Kasus mit Ausnahme des Dativs.“
Über Anfänge und Entwicklung des Gebrauchs unterrichtet
die bekannte Abhandlung Wölfflins Arch. III, 70 ff. Die Blüte
dieser Verwendung des Infinitivs fällt ins Spät- und Mittellatein.
Eine Hauptrolle spielen von Anfang an die Verba velle, posse,
vivere. Schon bei Tertull. kommt der substantivierte Infinitiv
in allen Kasus vor, worüber Hoppe S. 42 zu vergleichen ist. Vgl.
auch Schmalz Synt. S. 419 Anm. 2.
Mart. 5, 82,2: velle tuum nolo; Pers. 1,9: nostrum istud
vivere triste aspexi; 5, 53: velle suum cuique est; Macrob.
8at. 8, 1, 4: contra suum velle; Mar. Vict.: supra esse et supra
vivere et supra intelligere deus est; ante omnium vivere; ultra
suum velle (Arch. III, 79); Tertull. Res. 7: totum vivere animae
carnis est; ib.: ipsum mori carnis est, cuius et vivere; Exh.
Cast. 10: rape occasionem.. non habere (Gen!); Bapt. 4: spiri-
talem (materiam) et penetrare et insidere (Dat.) facilem ; Marc. 2,
4: bonus et dicere et facere (acc. graec.); Cypr. I p. 3, 10: ne
loqui nostrum arbiter profanus impediat; p. 300, 6: Christum
videre gaudere est u. ö. (Hartels Ind.); Cassian. coll. 13, 12, 1:
bonum nec velle nec posse concessit; 16, 3, 4: in quibus unum
506 Hans Ottinger
velle ac nolle consistit; Nest. 5, 8, 3: esse nec initium nec ter-
minum habet; 7, 2, 4: posse promptum fuit; 7,5,6: ad totum
velle suffecit u.ö. (Petschenigs Ind.); Commod. 1,28, 7: aut
ferro parantur supplicia aut longo carcerere flere; A. 34: hoc est
beluarum adesse; Hilar. Trin. 10, 1: ad velle id quod verum est;
Venant. Fort. I, 5, 24: quantum posse valet, plus mihi velle
placet; IV, 5, 184: sed quod velle prius, postea nolle fuit; X,
1, 36: bonum velle non habet; 3, 8: qui et velle tribuit et posse
complevit; XI, 26, 18: posse utinam sic sit quam mihi velle
placet; V. M. 3, 72: est mihi velle loqui; 2, 220: cui minus in
posse est; 1,119: unum velle trium; Carm. V, 14, 16: posse
vetante (abl); Hist. sept. sap. I p. 18, 22: cognoscens velle
mulieris; 26, 28: vis facere meum velle? 30, 1: feci velle Sindi-
baris; Discipl. cler. p. 24, 21: secundum posse suum, ebenso
24, 41. Schmalz Synt. S. 419 Anm. 2 heißt es: „Im mittelalter-
lichen Latein, z. B. bei Conrad Hirsaugiensis, kommt z. B. oft
vor: pro posse nostro = entsprechend unserem Können.“
Der Dichter stimmt also bis in die Bevorzugung der
Verba velle, posse, vivere mit dem Spát- und Mittellatein zu-
sammen.
Die Modi. — Seiler S. 123: ,, Grammatisch nicht zu recht-
fertigen ist dagegen der Konj. in rex alter doma revisat V, 152
(Reim), in Sátzen mit quicumque, quisquis etc. V, 187; XIII, 54;
XV, 79; mit sive — sive VIII, 106; XVII, 128; ep. VI, 3; in
beiden Fállen werden wir Einwirkung des deutschen Sprach-
gefühls annehmen dürfen.“
Ruodl. Vers V, 152 lautet bei Seiler: Rex ait: „id flat." —
Rex alter doma revisat. Ich halte es für zwecklos, sich über
revisat den Kopf zu zerbrechen. Einmal kann Seilers Inter-
punktion falsch sein und revisat auf gleicher Hóhe mit flat
stehen: „der andere König möge nach Hause zurückkehren.“
Sodann könnte revisat erste Konjugation sein: Konjugations-
austausch und -unsicherheit gehört ja zu den typischen Er-
scheinungen des Spätlateins. Schließlich kann der Dichter auch
geglaubt haben, unter Reimzwang den Konjunktiv setzen zu
dürfen.
Quicumque, quisquis c. coni. — Schon im Altlatein
dringt der Konjunktiv wie in die übrigen, so auch in die ver-
allgemeinernden Relativsátze gelegentlich ein. In der guten
Zum Latein des Ruodlieb 507
Zeit allerdings behält der Indikativ die Oberhand, und in der
klassischen Latinität ist er Regel. Über die Folgezeit sagt
Schmalz Synt. S. 532: ,, Anders verhält es sich in nachklassischer
Zeit und besonders im Spätlatein, denn hier findet sich gerade
wie bei quamquam der Konjunktiv, der mit Liv. und Plin. m.,
Suet, Gell. sein Gebiet erweitert und im Spätlatein, besonders
bei den Eccl. ganz gewöhnlich wird, z. B. Plin. h. n. 27, 109:
purgat cicatrices et nubeculas et quicquid obstet. Hieron. ep.
119, 1: haec qualiacumque sint dictare compellor; Fulg. 1, 2:
omne tempus quodcumque gignat consumit." Ich gebe noch
einige Beispiele: Vulg. 1 reg. 2, 13: quicumque immolasset
victimam; Iud. 2, 15: sed quocumque pergere voluissent ; Tertull.
Scop. 2 ex: quoscumque eduxerit; Praescr. 29 in: quoquo modo
sit erratum; Marc. 5, 13: quaecunque substantia sit; Cassian.
Nest. 2, 7, 38: quaecumque audieris; 4, 1, 1: quidquid necessarium
non esset defensioni; 1, 1, 1: quidquid ferrum secantis abscideret ;
2, 4, 8: quidquid sumpseris; Gregor. Turon. mart. 7, 6 p. 294, 4:
quisque (= quicumque) urbem ingrederetur; patr. 8, 9 p. 699,13:
quisque vidisset subscriptionem; Iordan. Get. 11, 69: quidquid
precepisset; 30,157: quodcumque homo disposuerit; 36, 187:
quidquid commiserit; 55, 280: quidquid vehiculi fuerit (Werner
S. 96).
Sive-sive. — Schmalz Synt. S. 590: ,,Seit der Zeit Ciceros
kommt sive-sive in allgemeinen Gebrauch. Der Modus ist der
Indicativ; allein schon bei Cic. und Caes. vereinzelt, mehr bei
Liv., Plin. m. und Tac., besonders häufig im Spätlatein liest
man auch den Konjunktiv, z.B. bei Lact. Oros. Claud. Mam.
Apoll. Sidon. u.a. Dieser Konjunktiv kann irreal sein, wie Cic.
Tull. 33, oder iterativ wie Tac. an. 4, 60, oder Konjunktiv der
fremden Meinung wie ib. 4, 56, oder konzessiv wie Tac. dial. 25;
im Spätlatein ist oft ein Grund für den Konjunktiv nicht er-
sichtlich.“
Aus Draeger entnehme ich z. B. Suet. Iul. 57: seu sol seu
imber esset; Lamprid. Al. Leo. 47: sive convaluissent illi seu
perissent; Val. Max. 6, 9 prf.: sive nostros status sive proxi-
morum ingenia contemplemur; ib. ex. 2: sive patrem aspiciam
sive matrem; Plin. n. h. 20, 132: sive in potu detur sive in cibo;
23, 150: sive edantur sive bibantur usw. Für das Spätlatein sei
hinzugefügt: August. civ. dei 2, 11: sive tribuantur sive distri-
508 Hans Ottinger
buantur; 2, 25: seu vivant seu moriantur; Vulg. Thess. 5, 10:
sive vigilemus sive dormiamus; Cassian. Nest. pr. $4: sive par
sim sive non sim; 4, 13, 2: sive ex gentibus sit sive ex Iudaeis;
5, 9, 5: sive in eum credat, sive non credat; ebenso Coll. 21, 10, 2;
Commod. instr. 1, 21, 6: seu regant seu minuant; Lucif. Calar.
248, 21: sive quod eum in carcerem coniecerit; sive quod inter-
fecerit; Tyrann. Rufin. p.29,19: sive id malitia sive etiam
inperitia faciat. Beide Modi p. 95, 13: sive hos intellectuales
spiritus appellemus sive ignem incorporeum seu quolibet alio
nomine nuncupandi sunt ; Beda h. eccl. p. 1, 9: sive enim historia
de bonis bona referat seu mala commemoret de pravis.
Auch das Kapitel über die Modi schlieBt also mit dem Ergeb-
nis, daß von einer Einwirkung deutschen Sprachgefühls nicht
die Rede sein kann.
Gerundium und Gerundivum. — War das Kapitel über
die Präpositionen der erste Grundpfeiler der Germanismen-
theorie, so ist das vom Gerundivum der zweite. Die Germanis-
mentheorie in diesem Punkte widerlegen heißt ihre Grundlagen
umstoßen.
Filia est tibilucranda XVIII, 12. — Seiler S. 124: „Das
Gerundium bezeichnet auch die Móglichkeit nach dem bekannten
Germanismus, der noch heutigen Tages auf den Lateinschulen
grassiert, z. B. filia est tibi lucranda ‚du kannst gewinnen
XVIII, 12.“
Wir sehen uns den Zusammenhang an: Der Zwerg verkündet
Ruodlieb: „Zwei Könige werden mit dir kämpfen (preliaturi)
und von deiner Hand fallen (per te perimentur)“. Also Prophe-
zeiungen, Futura! Und nun folgt: ,, Aber die Erbin ihrer Schätze
est tibi lucranda sed non sine sanguine magno." Das muß doch
heißen: „Aber ihre Tochter wird von dir gewonnen werden,
allerdings nicht ohne Blutvergießen.“ Ebenso will Ruodliebs
Antwort non occidendus es a me doch offenbar sagen: „Du
wirst nicht getótet werden." Das Gerundivum bezeichnet hier
also gar nicht die Möglichkeit, sondern es vertritt das Futurum
Passivi. Daß die Stellen so richtig gedeutet sind, wird sich im
folgenden erweisen:
Schmalz sagt über diesen Gebrauch Synt. S. 463: „Im
Spätlatein entspricht tradendus est dem griechischen weis:
coceò t oo aber wie victurus sum = vivam, so wird auch
Zum Latein des Ruodlieb 509
tradendus est = tradetur, vgl. Vict. Vit. 2, 34: exhibendus est =
exhibebitur neben sepulturi sunt = sepelient, ja es vollzieht
sich hier der gleiche Prozeß wie bei der aktiven Coniugatio peri-
phrastica; wie victurus erit — vivet, wird salvandus erit = sal-
vabitur. So bekommt denn z. B. agendum esse seit Tertull.
geradezu die Bedeutung eines Inf. Fut. Pass. und tritt an die
Stelle von actum iri... und der Grammatiker Diomedes erkennt
agendum esse förmlich als Inf. Fut. Pass. an.“ Sowohl Draeger
Hist. Synt. II, 820 als Rónsch S. 433 und Kaulen S. 195 wissen
von dem Gebrauche zu berichten.
Aus Rónsch entnehme ich z. B. Vulg. Matth. 17, 22: filius
hominis tradendus est — tradetur; Gen. 18, 18: cum benedicen-
dae sint in illo omnes nationes terrae; Eccl. 1, 9: quod faciendum
est; 2. Macc. 7,14: iterum ab ipso suscitandos. Hinzufügen
lassen sich: Act. ap. 28, 6: existimabant eum in timorem conver-
tendum et subito casurum; 1. Petr. 5, 1: quae in futuro reve-
landa est = revelabitur; Apoc. 6, 11: qui interficiendi sunt.
Besonders oft auch bei den script. hist. Aug., bei Ammian. Marc.,
Symmachus, Sidonius (vgl. Neue-Wagner III, 180 ff.). Sulpic.
Sev. Hist. 1, 40, 3: templum illud solo aequandum = aequatum
iri; 48, 5: polliceretur nec hydriam farre nec vas oleo esse minu-
endum — minutum iri; 48,3: videbat dominum poenitentia
populi placandum = placatum iri; Hieron. vit. Hilar.: se ad
dominum migraturum et liberandum = liberatum iri; Tertull.
(Hoppe S.54) z. B. Hermog.16 in: in praestructione huius
articuli et alibi forsitan retractandi — der nochmals behandelt
werden wird; Praescr. 11: sero aliud esse inveniendum; Com-
mod. A. 285: profetae canunt invisibilem esse videndum. Für
Ennod. vgl. Hartels Ind.; Hist. Apoll. p. 114, 8: occidendum se
putabat; Gregor. Turon. (Bonnet S. 654) z. B. patr. 13, 2 p. 716,
8: scito me post triduum liberandum; stell. 12 p. 861, 19: qualiter
homo sit resuscitandus; 23 p. 866, 2: quod esset erigenda u. à.
Über Iordan. Get. vgl. Werner S.92 Anm. 10, z. B. 32,165:
rem publicam occupandam existimantes; 39, 202: eum credidit
confirmandum = confirmatum iri. Eine deutliche Vorstellung
von der außerordentlichen Häufigkeit dieses Gebrauches gibt
die seitenlange Beispielsammlung bei Neue-Wagner.
Consilio inveniendo opus est. — Seiler S. 125: ,,opus
est hat den abl. partic. fut. pass.: consilio inveniendo IV, 1.“
510 Hans Ottinger
Man kann sich diese Konstruktion einfach als Kontami-
nationserscheinung erklären, sodaß consilio inveniendo opus est
entstanden wäre durch Ineinanderschiebung von einerseits:
consilium inveniendum est und andererseits: consilio opus est.
Gefördert könnte diese Kontamination sein durch den auch im
Spätlatein noch lebendigen Gebrauch von opus est c. abl. partic.
perf., z. B. Lact. 1, 580: dicto non opus est.
Wahrscheinlicher aber ist mir, daß diese Erscheinung zu den
vielen Versuchen des Spätlateins gehört, den Infin. Praes. durch
Gerund. und Gerundiv. zu ersetzen. Schmalz sagt Synt. S. 447
$180 Anm.: „Spätlateinisch ist das Gerundium im Acc. ohne
Präpos. anstelle des Infin. Praes. Act., z. B. bei Fredegar I, 123:
incipiens scribendum; es entspricht dieser Gebrauch dem des
Abl. gerund. für den Infin., z. B. defatigabor manendo statt
manere." Und weiter unten: ,,Ferner entspricht dem dignus
exspectari im Spätlatein dignus exspectandum; so steht bei
Venant. Fortun. dignus, oportunus und necessarius mit acc.
ger." In gleicher Weise wird das Gerundiv. für den Infin. Praes.
Pass. gebraucht, z. B. bei Vict. Vit. 1, 29: episcopos interdiceret
ordinandos; 2, 1: statuit requirendos hereticos; 3, 10: hoc ob-
servandum praeceperant; 3,13: hoc praecepit observandum;
vgl. Schmalz Synt. S. 448 $8171, 2. Am nächsten kommt dem,
was wir suchen, wohl das Material bei Rónsch S. 434: „ Gerundiv.
= Infin. Praes. Pass.: Gromat. vett. p. 312, 30: signa requirenda
oportet; 313, 10; 317,8. 322, 23: limites requirendos oportet;
817, 31: terminos excogimus requirendos ; 365, 29: requirendum
oportet." Vgl. auch Koffmane „Gesch. d. Kirchenlateins‘‘. S. 128
und 2. B. Lucif. Calar. p. 283, 5: deo oportuerat an Christo
placendum. Nach derselben ratio wie hier oportet, scheint
unser Dichter sein opus est konstruiert zu haben: consilium in-
veniendum oportet wird eben, sobald man opus est einsetzt, zu
consilio inveniendo opus est.
Finaler Gebrauch des acc. gerundii. — Seiler S. 125:
„Ein höchst eigentümlicher Gebrauch des acc. gerundii und
gerundivi hat sich aus dem deutschen gerundium (ze c. dat.
inf.) entwickelt. Da nämlich in den meisten Fällen das deutsche
gerundium beim Ubersetzen ins Lateinische einfach durch den
nom. oder acc. (bei do, trado, mando etc.) ohne Präposition
wiedergegeben wird, so hat sich dieses präpositionslose gerundi-
. Tun ~y - *
Zum Latein des Ruodlieb 511
um auch da eingedrängt, wo nach lat. Sprachgebrauch die
Präposition ad nicht fehlen dürfte. I. Vornehmlich tritt dies
hervor bei den Verben der Bewegung: intromittuntur regi
consilium tribuendum IV, 122; misit praecones satrapas
vocandos IV, 247; donec accurram hanc rapiendam VII, 78;
requiescendum meemus VII, 128; it se discaligendum XIII,
113. — II. Auch bei anderen Verben erscheint dieser eigen-
tümliche acc. gerund. des Zweckes: vinum sit dulce (ad) biben-
dum V, 113; sol monet (ad) hospitium petendum VI, 9; si
praesentare mihi vis cuiusque farinae vel modium vel dimidium
panes faciendum VI, 81; parare sat edendum VII, 106“.
Dieser Gebrauch ist unter demselben Gesichtspunkt zu
betrachten wie der eben behandelte, auch er findet seine Er-
klärung durch die Neigung des Spätlateins, den Infin. durch
Gerund. und Gerundiv. zu ersetzen. Und zwar ist es hier der
Infinitiv des Zweckes, der in dieser Weise ersetzt wird. Zuerst
behandelt ist der flnale Gebrauch des acc. gerund. und gerundiv.,
soweit ich sehe, von Einar Loefstedt „Spätlatein. Studien‘
S. 86f. Er bringt folgende Belege bei: CIL. X, 5348: quod
opera thermarum estivalium vetustate corrupta s. p. restituit
exornavitque, porticos etiam circumcingentes colimbum a
solo constituit, statuam amplificandam memoriam eius ponendam
censuerunt. Lucif. Calar. p. 7, 14: iste homo dei, qui a deo
obiurgandum Hieroboam regem fuerat missus; Eugipp. V.
8.5,3: perlato sibi quod turba latrocinantium babarorum
aliquos captivasset ex Rugis, virum dei misit protinus con-
sulendum, Ven. Fort. carm. 5, 1,1: quem dominus revisendum
post meridiem pergeret; 2,9,46: advolat ante alios mysteria
Sacra requirens undique quisque suo templa petenda loco;
Paulin. Mediolan. V. A. 37: cum ad praetorium Macedonii, tunc
magistri officiorum, pro quodam intercedendum perrexisset ;
Mulom. Chir. p. 42, 15: alio die ambulandum ducere (sc. iumen-
tum) et dare herbam mollem zoelotum ; Ven. Fort. v. M. 2, 219:
explicuit votum, si non valet ire iuvandum. Entgangen ist
ihm wohl: Lucif. Calar. p. 168, 13: cum te urgueremus
sectam damnandam Arii. Zu vergleichen ist auch Knoells
Ind. zu Eugipp. S. 92. Nach Loefstedts Vorgange kon-
statiert dann auch Schmalz diesen Gebrauch iind S. 447,
$ 180 Anm.
512 Hans Ottinger
Dare ad c. gerund. — Seiler S. 125: „Umgekehrt steht
bei dare statt des acc. gerundivi ad c. gerundii.: ad manducandum
sibi sat da sive bibendum V, 112; sibi nil dedit ad comedendum
VI, 61 usw.“
Man hat bei den Verben des Übergebens und Übernehmens
zu allen Zeiten auch ad c. gerund. gebraucht, worüber z. B.
Draeger Hist. Synt. II, 128 unterrichtet. Das Spätlatein ge-
braucht ad c. gerund. ganz unbedenklich. Einige Belege sind
schon oben beim finalen ad angeführt. Ioh. Mon. p. 2,8: ad
scribendum librariis tradebat; 125,12: dare ad devorandum,
ebenso p. 125, 27; 120, 1, 30, 41.
Conveniendus. — Seiler 8.125,3: „Merkwürdig ge-
braucht wird das gerundivum von venire. Conveniendus ist
eigentlich ‚einer, mit dem man zusammenkommen muß‘,
daraus entwickelt sich, wenn der Betreffende jemand ist, dem
man zu gebieten das Recht hat, die Bedeutung ‚einer, der
herbeikommen soll‘. So steht es in: convocat suos summates
conveniendos V, 153; rufus pastorem vocat unum convenien-
dum VI, 10; quare nunc ad vos misi me conveniendos
XV, 50.“
Eine schlagende Parallele scheint mir Commod. instr. 2, 1, 46:
(quos) in variis poenis cruciabat sibi credendos. Dombart
erklärt sibi credendos als ut sibi crederent und verweist auf
Koffmane S. 127: „Eine Reihe intransitiver Verba formieren
ein Partizip. Futuri nicht mit der aktiven, sondern mit der
passiven Endung. So permanenda elementa statt permansura:
Philastr. 80. Derselbe c. 80 dreimal pereunda elementa und
pereunda semina; c. 134 pereundam vitam usw." Ob Dombart
sibi credendos richtig erklärt, steht dahin. Sicher aber ist,
daB unser ad vos misi me conveniendos genau ebenso kon-
struiert ist und auch bedeutet: ut conveniretis. Nur will mir
scheinen, daB der oben nachgewiesene Gebrauch des finalen
Gerundivums auch zur Erklärung dieser Stelle ausreicht. —
Nur Vers V, 153 làBt vielleicht noch eine andere Deutung zu.
Convenire aliquem wird ja im Kirchenlatein auch — admonere
aliquem gebraucht. Auf diesen Bedeutungswandel achten die
Indices des Wiener Corp. script. eccl. lat.
Was die Verwendungen des abl. gerundii angeht, so wären
Seilers Ausführungen S. 126 höchstens dahin zu berichtigen,
Zum Latein des Ruodlieb 513.
daß alle diese Erscheinungen bereits im Spätlatein vorliegen,
worüber u.a. besonders Koffmane S.126fl. zu vergleichen
ist. — Abschließend dürfen wir feststellen, daß unser Gedicht
im Gebrauche des Gerundiums und Gerundivums keine Ger-
rnanismen aufweist.
Consilium transgredi I, 115. — Die Wendung wird
von Seiler S. 139 als „geradezu unlateinische Übersetzung“
gebucht und durch das deutsche gebot, rat übergan glossiert.
Schon der Georges belehrt darüber, daß transgressio = „Über-
schreitung eines Gesetzes“ bei Augustin und Ambros., und
transgressor = „der Ubertreter“ bei den Eccl vorkommen.
Vulg. Matth. 15,2: quare discipuli tui transgrediuntur tradi-
tionem seniorum? 15,3: quare et vos transgredimini manda-
tum dei propter traditionem vestram ? Commod. Instr. 2, 17, 19:
transgrederis legem; Lucif. Calar. p. 218, 29: transgressus est
testamentum meum; 214, 11: quia transgressus est testamentum
domini. Das Substantiv transgressor begegnet z.B. Vulg.
Ies. 53, 12: pro transgressoribus rogavit; Iac. 2, 11: factus es
transgressor legis; 2,9: redarguti a lege quasi transgressores.
Ebenso Cypr. I p. 404, 27; Cassian. Poll. 17,30, 1 u. 21, 6.
Das Substantiv transgressio steht z. B. Vulg. Gal. 3, 19: lex
propter transgressiones posita est. Sehr oft bei Tertull. (Hoppe
S. 125). Cypr. I p. 409, 16; 551,21; Oros. Apoll. p. 646, 18;
Ennod. p. 313,16; 481,13; 494,7; Cassian. Coll. 6, 11, 11;
8, 22; 11,8, 5; 17,10; Beda h. eccl. p. 115, 17.
Subire = descendere I,57. — Auch dies nach Seiler
eine „geradezu unlateinische Übersetzung". Doch habe ich
den Gebrauch wenigstens einmal gefunden bei Beda h. eccl.
p. 247, 16ff.: Trahentes autem eos maligni spiritus descenderunt
in medium baratri illius ardentis; factumque est ut cum
longius subeuntibus eis fletum hominum et risum daemoniorum
clare discernere nequirem, sonum tamen adhuc promiscuum
in auribus haberem. Interea ascenderunt quidam spirituum
obscurorum. ... Diese Bedeutung scheint selten zu sein, kann
Sich aber aus der Grundbedeutung des Wortes ,,dicht an etwas
heran-, daruntergehen“ ebenso leicht entwickeln, wie die um-
gekehrte und üblichere „heraufsteigen“ . — Wahrscheinlicher
aber ist mir, daB subire hier, wie auch sonst bei unserem Dichter,
einfach etwa im Sinne von adire gebraucht ist.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 33
514 Hans Ottinger
In cras induciare. — Häufiger ist zwar in crastinum, aber
wie andere Adverbia im Spätlatein mit Präpositionen ver-
bunden werden, so auch die Zeitadverbia hodie, cras, sero,
mane, nunc, tunc usw. Reiches Material findet sich bei Kaulen
S. 289 und Rónsch S. 231. Für cras ist noch der Thes. zu ver-
gleichen.
In cras findet sich Symm. ep. 3, 13, 1: in cras es mihi attra-
hendus. Ähnlich sagt Mart. 2, 37, 1: cras te, Caeciliane, non
vocavi, wozu der Thes. mit Recht bemerkt, daB cras hier — in
cras steht. Ungleich häufiger finde ich den Gebrauch bei hodie,
z. B. Peregrin. Aeth. c. 2, 2: qui locus usque in hodie ostenditur;
4, 2: spelunca in hodie ibi ostenditur; 4, 6: qui rubus usque in
hodie vivet; 5, 3: nam in eo loco fixus est usque in hodie lapis
grandis; Ebenso 5, 5; 8, 1; 10, 4; 12, 2, 5; 15, 3; 16, 1, 6; 19, 1, 12;
21, 1. Hist. Apoll. p. 102, 7: quam ad nos expoliandos usque
hodie depressit. Sehr häufig ist usque hodie in der Kirchen-
geschichte Bedas, 2z. B. p. 7, 38; 8, 3 usw., ich habe es über
dreißig Mal gezählt. Oft auch bei Gregor. Turon. Vgl. die ganz
ähnlichen Wendungen Peregrin. Aeth. c. 37, 8: usque ad sero;
27, 4: usque ad mane; 27, 7: usque in mane u. ó. Vulg. Luc. 22,
69: ex nunc; Gen. 2, 23: hoc nunc = abl. = „diesmal“; Ps. 112,
2: ex hoc nunc; Ies. 48, 3, 5, 6, 7, 8: ex tunc; Matth. 26, 16: ex
tunc quaerebat opportunitatem; Ps. 92, 2: parata sedes tua ex
tunc; Beda h. eccl. p. 224, 26: qui nunc usque superest. Wie
mane als indeklinables Neutrum gebraucht wird (Hor. sat. 1,3,18:
ad ipsum mane; Vulg. ex. 18, 13: a mane usque ad vesperam;
4. reg. 3, 20: factum est igitur mane u. ó. vgl. Kaulen S. 35),
so auch sero (z. B. Vulg. Matth. 27, 57 cum sero autem factum
esset), und auch eras wird so behandelt.
Über den substantivischen Gebrauch von cras besitzen wir
zwei antike Grammatikerzeugnisse: Prisc. gramm. II, 552, 9:
adverbium loco nominis ut mane novum et sponte sua et euge
tuum et cras alterum. Und Pomp. gramm. V, 136, 3: adverbia
ponis pro nominibus.. si dicas cras mane item quo modo dicit
Persius (5, 66 ff.) aliud cras. aliud cras, si habet genus, sine
dubio nomen est. Martial hat 5,85 viermal cras istud. Vulg.
Tob. 8, 4: deprecemur hodie et cras et secundum cras; Prud.
psych. 617: nonne vides, ut nulla avium cras cogitet? Aug.
serm. 61, 2: transibit hodie transit et cras et aliud cras addes ad
Zum Latein des Ruodlieb 515
crastinum; 22, 5, 5: ab hodierno die te muta, cras te alterum
inveniet.
Sine fraude. — Seiler S. 138: ‚sine fraude käme schwerlich
so oft vor (V, 39; VI, 101; XVI, 86), wäre nicht ane falsch so
gewóhnlich gewesen." Die Wendung findet sich auch bei Com-
mod. instr. 2, 23, 18: sine fraude vivendo, während 2, 15, 7 das
positive fraudibus vivere vorkommt. Ennod. p. 454, 15: cui
proprium sine fraude servivit ingenium; Carm. II, 45, 16: hoc
satis est nobis quod sine fraude libet. — Die Wendung ist also
nicht unlateinisch und kommt im Kirchenlatein, das im übrigen
unseres Dichters Vorbild ist, wiederholt vor. Wo es aber nicht
unbedingt nötig ist, einen Germanismus anzunehmen, da halte
ich es für falsch. |
Ieiunia frangere. — Von Seiler S. 139 durch das deutsche
„die vaste brechen“ glossiert. Nun sagt aber Cic. Rosc. com. 16:
fidem frangere — sein Wort brechen. Und Scaur. 42 sowie Pis. 28
hat er foedus frangere — die Abmachung brechen. Hor. hat
nach Georg.: mandata frangere, und derartiges ist auch im Spät-
latein nicht selten: beide Sprachen bedienen sich zufällig des-
selben Bildes. Für unseren Dichter ist mit fidem, foedus frangere
ohne weiteres auch ein ieiunium frangere gegeben. Ähnlich ist
z. B. im Aesop. d. Rom. rumpere gebraucht; p. 177: rupit spon-
sionem; 208: pacem rupere; 237: rupit iuramentum.
Cremare,incendere. — Seiler S. 139: ,,cremare und incen-
dere mit persónlichem Objekt bedeutet IV, 97 und VI, 6 meto-
nymisch jemandes Haus verbrennen, im Lat. kommt ähnlich
nur ardere vor.. während „einen brennen, verbrennen“ nicht
gerade selten ist in der Bedeutung „durch Brand schädigen“.
Die Verba cremare und incendere haben im Spätlatein ihre
Bedeutung stark erweitert. Incendere aliquem heißt allmählich
überhaupt „jemanden grausam martern, quälen“, eine Be-
deutungserweiterung, die auch von cremare und concremare
angenommen wird. Vict. Vit. 2, 24: cremantes gravi suspendio
atque ingentia pondera pedibus conligantes lamminasque ferri
dorso, ventri, mamillis et lateribus adponebant. quibus inter
supplicia dicebatur... Das cremare meint also hier die supplicia,
das Aufhängen usw. Ebenso 3, 26: dum in conspectu vulgi con-
tinuato suspendio cremaretur. Petschenig erläutert denn dieses
cremare im Index auch richtig durch cruciare. Ebenso deutlich
33*
516 | Hans Ottinger
3, 21: addidit itaque bestia illa, sanguinem sitiens innocentum,
episcopis.. tortores crudelissimos destinare, ut nulla remansisset
domus et locus, ubi non fuisset eiulatus et luctus, ut nulli etati,
nullo parceretur sexui.. Hos fustibus, illos suspendio, alios
ignibus concremabant: also tortores besorgen das concremare
mit Knute, Strick oder Feuerbränden. Ähnlich gebraucht Victor
auch incendere — ignibus cruciare (Petschenig Ind.), z. B. 1, 10;
2, 1; 2, 14; 2, 15: uxorem cum alia... in medio civitatis incendit.
Quarum corpora per vicus et plateas trahi mandavit, quae to-
ta die iacentia.. vix vespere sepeliri concessit. Die Frauen sind
also nicht verbrannt, sondern sie sind gemartert worden. Eben-
so 2, 16.
Wenn also der Rote Ruodl. VI, 6 den Bauern, die ihn ver-
prügelt haben, das incendere androht, so meint er offenbar: „Ich
will euch bei lebendigem Leibe braten, das Fell über die Ohren
ziehen!“ Und wenn IV, 97 die Feinde ihre Gefangenen incendunt
so will das offenbar heißen, daß sie dieselben gemißhandelt haben.
Übrigens hat incendere schon frühe auch eine etwas anders
gefärbte allgemeine Bedeutung angenommen, die Georges durch
„verderben, zugrunderichten‘ umschreibt. So z.B. Plaut.
Trin. 675: si istuc, ut conare, facis, indigne tuum incendes genus;
Sall. Cat. 52, 24: coniuravere nobilissimi cives patriam incendere;
Stat. Theb. 1, 631: campos incendere — brandschatzen, ebenso
Vulg. 4. reg. 8, 12: dixit inimicus incendere fines meos.
Stare. — Seiler S. 139: „Zahlreicher sind die geradezu un-
lateinischen Übersetzungen: stare a) stehen: os stat patulum
VII, 13; ähnlich V, 357; sua res stet = sin dinc stat X, 2; omnia
stant X, 62, 63; ira stat durabilis V, 453; in fine brevis stat,
epistula V, 250." Weitere Angaben finden sich im Glossar. —
Das Kapitel stare ist der dritte Grundpfeiler der Germanimen-
theorie. |
Hátte Seiler alle vorkommenden Verwendungen von stare
. vorgelegt, so würde der Leser leicht erkennen, daB es hier mit
der Annahme von Fehlern und Germanismen nicht getan ist,
sondern daß eine ganz andere ratio zugrunde liegt: Die poetische
wie die volkstümliche Sprache — beide in dem Bestreben nach
lebendiger, sinnfälliger Ausdrucksweise — verwenden das Ver-
bum stare oft statt irgend eines blasseren Ausdrucks (vgl. Loefst.
Glotta III, 182). Das ist schon in sehr alter Zeit der Fall, z. B.
Zum Latein des Ruodlieb 517
bei Lucr. II, 181: tanta stat praedita culpa; Prop. 3, 19, 20:
infamis stupro stat Pelopea domus; 3, 22, 22: nam quantum
ferro, tantum pietate potentes stamus. Besonders beliebt aber
ist das malerische stare im Spátlatein, wo es meist geradezu für
esse steht (vgl. Rónsch S. 388). Dieser Tatbestand hat ja bekannt-
lich in den Stammformen von être seinen klaren Ausdruck
gefunden. Auch Seiler erklärt im Glossar, wenn er keinen ent-
sprechenden deutschen Ausdruck zur Hand hat, stare — esse.
Das lateinische stare und das deutsche stehen haben eben eine
gleiche Entwicklung durchgemacht: beide werden gern statt
des farblosen „sein“ verwendet, Eine Reihe von Beispielen zur
Erläuterung: :
Apul. met. 11, 27: nec diu res in ambiguo stetit; 2, 4: colum-
nis per singulos angulos stantibus; 3, 11: ut in aere stet imago
tua; Vulg. Matth. 18, 16: ut in ore duorum testium vel trium
stet omne verbum; 24, 36: stare (bestehen) ante fllium hominis.
Ioh. 8, 43: in veritate non stetit; Rom. 5, 2: gratia in quastamus;
14, 9: stabimus ante tribunal dei; 1. Cor. 16, 13: state in flde;
2. Cor. 1, 24: fide enim statis; Ephes. 6, 11: stare adversus in-
sidias diaboli; 13: in omnibus perfecti stare. 14: state ergo in
veritate*!; Cypr. p. 225, 23: stat mundus non illis viribus quibus
prius steterat; 217, 2: stare et vivere; 762, 6: stant omnia (von
Hartel erklärt = omnia rata sunt, also eine genaue Parallele
zum stant omnia unseres Dichters!); 300, 14: stare in sermonibus
suis ; 230, 4: in fide stare; 538, 20: in eodem consilio stare; 444, 5:
stare contra Christum u. ó. Ennod. carm. 2, 27, 1: stante domo
(naeh Hartel — dum sui vivunt; vgl. Ruodl. sua res stat usw.).
Cassian. coll. 4, 10, 3: secundum illud stare non posse; 5, 24, 2:
quae figura in nobis quoque stare cognoscitur; 13, 12,1: quo-
modo stabit domini sententia; 23, 15, 1: in illorum persona hoc
penitus stare non posse; 16, 5: quod perpetua amicitia nisi inter
perfectos stare non possit. 16, 11, 2: in alterius magis quam suo
credat stare iudicio; Nest. 6, 17, 2: nec stare potest ratio resur-
rectionis, nisi.. Lucif. Calar. p. 138, 27: illa circa te stare peri-
cula; 301, 27: stat semper gladii acies parata (, steht bereit“ vgl.
*! Philipp. 1, 27: statis in uno spiritu; 4, 1: state in domino. 1. Tess. 3, 8:
statis in domino; 2. Tess. 2, 15: state et tenete traditiones; 2. Tim. 2, 19: firmum
fundamentum dei stetit; 1. Petr. ö, 12: in qua (gratia) state; Apoc. 6,17: quis
poterit stare; 12, 4: dracho stetit ante mulierem.
518 Hans Ottinger
Ruodl. os stat patulum usw.!); Commod. A. 925: stat tempus
in finem fumante Roma maturum = steht reif; Instr. 2, 14, 1:
de semine lolii qui stant in ecclesia mixti = das Unkraut „steht“;
Peregrin. Aeth. c. 2, 2: lapis grandis ibi fixus stat in ipso loco;
12, 7: ubi stetit columna illa; Petr. Diac. p. 109, 14: in eadem
vero valle stetit palma; Anton. Placent. Itin. p. 167,6: stat
aqua; 168, 3: mittitur illuc alia infantula, ut numerus stet;
170,1:stat in ipso statu in quo fuit (stareund esse nebeneinander);
170, 21: ficulnea cuius talea stat munita petris; 168, 14: domus
Raab stat; 171,2: cuius liminare et tabulatio stat; 172, 20: stella
stat super ea = der Stern, „steht“; Adamnan. p. 232, 6: altare
ante ostium stans; 233, 11: lignea crux infixa stetit; 239, 13:
columna in medio civitatis stans; 239, 21: solis claritas in aestivo
solstitio meridianis horis stantis = die Sonne „Steht“; 246, 12:
ubi grandis ecclesia stat; 264,16: ubi sacerdotum steterunt
pedes; 266,7: ecclesia stat super aquas; Ven. Fort. 5, 5, 153:
qui tuus, ipse meus stat conditor; 9, 2, 84: stat modo pressus
humo; 10, 8, 26: stes placitura deo; 11, 2, 6: te celante mihi stat
sine sole dies; 7, 12, 192: longa stante die; Veget. epit. rei mil.
p.51,1: revertebantur ad suos et post eos stabant; 150,15:
apud Misenum singulae legiones stabant; 151, 3: Liburnis autem
quae in Campania stabant praeerat; 15, 19: acies stabat inmota;
51,6: gravis armatura tamquam murus ferreus stabat — stand
wie eine Mauer; 98,4: stando pugnandoque repellere; 60,8:
ante quarum impetum nec equites possunt hostium stare; 108, 7:
qui contra ipsum stat — gegenübersteht; 116, 14: procugnacu-
lum quod tribus radiis stat ; 23, 18: qui priores steterant — vorne
stehen; Avienus 2, 206: sidus stat; 1512: calida stat luppiter
aethra; 3, 1173: stat disclusa palus; 4, 453: brevisque iuxta
' Strongile stat insula; 495: hinc Minervae stat sacra; 3, 106:
scopuli stant ardui utrimque; 200: vicina sibi stant litora; 4, 341:
stant columnae; 555: qua pinifertae stant Pyrenae vertices ; 581:
tres stant insulae; 2, 881: hominem quadrupes sustollit equino
ventre super stantem (vom Kentauren); 4, 513: oppidum quon-
dam stetit — eine Stadt „stand“; 438: in isto litore stetere
crebrae civitates antea; 447: urbes hic stetere plurimae u. 0.
(vgl. Holders Ind.) Beda h. eccl. p. 95, 4: parietes hactenus stare
videntur; 120, 21: columna lucis a carro illo ad caelum usque
porrecta stabat; 229, 15: tantum in circuitu horridi crines stare
Zum Latein des Ruodlieb 519
videbantur =rundherum standen Haare; 275, 37: luna stetit
in ordine suo (vgl. Habac. 3, 11: sol et luna steterunt in habita-
culo suo); 257, 19: cuius pars minor ante ostium stat; Boetius
p. 130, 11: altrinsecus duo tetragoni stant — auf dem Papier
„stehen“; 374, 14: recta linea super rectam lineam stans ; ebenso
17 ; Ioh. Mon. 34, 4: Cyborium autem quod stat super mensam —
auf dem Tische „stehen“; 76, 27: ubi lapis steterat; Hist. sept.
sap. I p. 20, 1: videns eum stantem in arbore; 22, 6: stans in
ipso ardore — in Glut stehen.
Stare —treten. — Ruodl. XVII, 23 ad fenestellam stare
glossiert Seiler S. 139 durch zuo dem venster stan. Im Glossar
führt er weitere Belege für stare — treten an, z. B. VIII, 21:
qui dum venerunt coram rectore steterunt; 15,6: quae cum
venisset hanc hi circumque stetissent usw. und fügt in Klammern
hinzu „oft Germanismus"'.
Ob stare wirklich eine Bewegung ausdrückt, läßt sich oft
nicht mit Sicherheit entscheiden. Wenn es XVII, 22 heißt: ab
eo properando recedit adque fenestellam stans solvit pixeden
illam, so kann das natürlich auch heißen: „sie verließ ihn und,
am Fenster stehend, löste sie das Päckchen.“ Ebenso steht es
mit den anderen Beispielen. Ich würde also die Bedeutung
Stare — treten überhaupt anzweifeln, wenn mir nicht neben
vielen zweifelhaften auch einige sichere Belege aus dem Spät-
latein bekannt wáren, die es nun ihrerseits wahrscheinlich
machen, daB auch im Ruodl. stare tatsächlich gelegentlich
„treten“ bedeutet.
Gesichert erscheint die Bedeutung „treten“ in Zusammen-
hängen wie Vulg. Luc. 6, 8: surge et sta in medium, et surgens
stetit; Aesop. d. Rom. p. 266: iubet omnes simios adstare ante
se.. taliter ante se eos stare fecit; 282: vulpes autem veniens
ante speluncam stetit et salutavit eum; 286: puer in silva..
Stetit super quendam lapidem; Ioh. Mon. p. 99, 7: praecepit
educere latronem et ante se stare; Leo de proel. p. 69, 25: movit
se inde cum toto exercitu. ex adversa parte stetit ante Alexan-
drum et coepit acriter pugnare; 71, 6: (venit ad fluvium) stetit
ante eum homo et dixit; 85, 24: abiit occidere Alexandrum;
mixtus militibus suis stetit post tergum Alexandri; 93, 11: tunc
ascendit Alexander equum.. et occurrit et stetit in medio ante
omnes; 105, 22: stetit solus ante hostem et locutus est Poro regi;
520 Hans Ottinger
127, 23: surrexerunt a mensa et quamvis forinsecus steterunt,
ut viderent finem; Hist. sept. sap. I p. 23, 1: extrahe arma et
sta iuxta portam. Ähnlich adstare = herantreten, z. B. Beda
h. eccl. p. 231, 9: adstans dixit orationem super illam; 213, 35:
vidi adstantem mihi subito quendam. — Ja, adstare kann sogar
ganz wie das deutsche ,,beistehen'' eine Hilfeleistung ausdrücken,
z. B. Ioh. Mon. p. 89, 4: deus, qui astas mihi in hac hora.
Wahrscheinlich drückt stare die Bewegung nach einem Ort
aus. Vulg. Ioh. 20. 19: venit Iesus et stetit in medio discipulorum ;
20, 26: venit Ihesus ianuis clausis et stetit in medio. Marc. 11,25:
cum stabitis ad orandum, dimittite si quid habetis adversus
aliquem (, etwas gegen jemanden haben“); Act. ap. 25, 10: ad
tribunal Caesaris sto. Ibi me oportet iudicari; Apoc. 8, 3: venit
et stetit ante altare; Ammian. Marc. 30, 3, 4: ad ipsam margi-
nem Rheni stetit (auch von Lisenberg S. 8 so aufgefaßt); Ioh.
Mon. p. 75,13: venientes ad quendam lapidem magnum et
planum super illud posuerunt panem.. Et steterunt ante illud.
Dagegen bedeutet stare oft „stehen“ trotz eines folgenden ad,
das-eben auch die Ortsruhe bezeichnet, so z. B. Vulg. Ioh. 18, 18:
stabant autem servi et ministri ad prunas quia frigus erat, worauf
es eindeutig: erat autem cum eis et Petrus stans heißt; 18, 16:
Petrus autem stabat ad ostium foris; 20, 11: (Maria) stabat ad
monumentum foris plorans. Interessant, weil wörtlich mit
Ruodl. XVII, 23 übereinstimmend und doch nicht „treten“
bedeutend: Discipl. cler. p. 20, 19: mulier sua.. ascendit fe-
nestram et euntes et regredientes intente aspexit. Haec una die
cum ad fenestram staret (= „stand“, weil es sich um das erhöhte
Fenster des Erdgeschosses handelt, zu dem man erst ascendere
muß, um auf dem Sims „stehen“ zu können), vidit quendam
iuvenem... R
Auch das Kapitel stare, das dritte Haupt- und Kernstück
Seilers, bringt uns die Erkenntnis, daB die Germanismenhypo-
these verfehlt ist.
Constare. — Anschließend muB noch ein Germanismus
aus der Welt geschafft werden, mit dem Laistner (Anz. f. d. A. 9)
das Register Seilers bereichert hat. Ruodl. IV, 201: Sed timeo,
domine, quod mox irasceris in me, Si fortuna iuvet, mihi quod
victoria constet. Seiler konstatiert im Glossar einfach: constare
— zuteilwerden. Laistner aber vermutet hinter constare das
Zum Latein des Ruodlieb 521
deutsche einem gestan. Wie aber stare von der Sprache der
Dichter und des Volkes &ern statt eines blasseren Ausdrucks
gebraucht wird, so auch exstare und constare, vgl. auch hierzu
Loefstedt Glotta III, 182: Auch dieser Gebrauch ist schon sehr
alt, z. B. Lucr. 1, 245: inter se quia nexus principiorum dissi-
miles constant aeternaque materies est. Besonders häufig aber
im Spätlatein, z. B. Eugipp. V. S. p. 27, 9: dum adhuc Norici
ripensis oppida superiora constarent ; 38, 14: per id temporis quo
Romanum constabat imperium. Oft bei Ennod. (vgl. Hartels
Ind.) z. B. p. 377, 16: quibus inmanior apud suos poterat constare
calamitas, hier auch etwa = zuteilwerden ; 233, 16: dubitationem
de rebus constantibus non haberes; Carm. 2, 5, 5: viduata tibi
sic constitit aetas; 1, 5, 24: viduamque domum constante (=
vivo) marito reddebant; Ven. Fort. 9, 1, 99: cui simul arma
favent et littera constat amore; 11, 16, 16: alterius facinu$ ne
mihi constet onus; Ioh. Mon. p. 49, 10: in vico quodam qui octo
milibus constat a nostra civitate. Dies ist (neben dem unpersón-
lichen constat) die häufigste Verwendung von constare im Spät-
latein. Zu vergleichen ist auch Aesop. d. Rom. p. 174: cessabant
quadrupedes et stetit victoria avium. Ganz ähnlich Eugipp.
p. 64, 13: ex qua parte stet victoria, wórtlich ebenso Zeile 14. —
Victoria mihi constat heißt nach spätlateinischem Sprach-
gebrauch etwa: „der Sieg gehört mir, wird mir zuteil.“ Möglich
bleibt allerdings auch, daß eine Analogie zu sibi constare =
„Sich treu bleiben“ vorliegt und victoria mihi constat also be-
deutet „der Sieg bleibt mir treu, bleibt mir fest“.
Propria ancilla V, 476. — Seiler sieht S. 139 in dem Aus-
druck eine „geradezu unlateinische Übersetzung“ und vergleicht
das deutsche „eigen diu“. Vgl. XI, 81: servus proprius.
Die erste Stelle lautet im Zusammenhang: Ancillam pro-
priam quamvis nimium speciosam non velut uxorem facias tibi
consocialem, ne contemnat te tibi respondendo superbe. Seiler
faßt diese Lehre offenbar so: „Heirate keine leibeigene Dirne
(denn die taugen alle nichts).“ Dem Zusammenhange nach kann
man die Lehre aber auch so auffassen: „Laß dich mit deiner
eigenen Magd nicht in Verhältnisse ein (velut uxorem), denn das
untergräbt die Autorität.“ Oder aber, wenn man dem velut
keine besondere Bedeutung zumessen will: „Heirate niemals
deine eigene Magd, denn das steigt ihr zu Kopfe.“ Propriam
522 Hans Ottinger
ancillam wäre also =tuam ancillam. Und damit kommen wir
auf den Kern der Frage. Es gehört nämlich zu den Eigentüm-
lichkeiten des Spätlateins, betontes suus oder tuus durch pro-
prius zu ersetzen. Und natürlich ist die Entwicklung hierbei
nicht stehen geblieben, sondern man hat proprius auch bald
statt eines beliebigen unbetonten suus oder tuus gebraucht.
Daß auch unser Dichter diesem Gebrauch folgt, zeigen III, 17;
V, 222; V, 540; X, 11. Aus der Fülle von Beispielen:
Eugipp. V. S. p. 2,17: imperitiam propriam accusando; 10,6:
reverti ad propria; 14, 10: salute propria desperantes; 22,4:
remisit ad propria; 27, 24: propria manu; 32, 13: propriis mani-
bus; 44, b: sedes proprias relinquentes; 45, 21: propria manu,
ebenso 55, 18; 56, 13: aliena quasi propria errata deflens; 59, 15:
remeavit ad propria; 63, 10: ad propria revertisse u. 0. Avien.
2, 85: ponderis et proprii (Eigengewicht) tradit incliniatio cae-
lum; 431; 1031; 1349; 1709; Veget. epit. rei mil. p. 59, 19: pro
salute propria et libertate communi; 66, 5: magis propria multi-
tudine quam hostium virtutes; 45,7; 152,9, 87,15; 46,3:
ceteros ad imitationem proprio cohortarentur exemplo u. ö.
Vict. Vit. p. 75, 12: de proprio ablati in exilium mitterentur;
Anton. Placent. p. 201, 27: manu propria seminavit; Adamnan.
p.229,8: propria mensus est manu, ebenso 234,22; 235,8;
235, 21: propriis conspexit obtutibus, ebenso 257,6; 296, 11;
262, 6: propriis conspexit oculis — mit eigenen Augen; ebenso
241, 3; 288, 11; 295, 15; 295, 2: proprii stercus ventris; 296, 13:
proprii aurium audivit auditibus; Ioh. Mon. p. 6, 7: ad pro-
priam domum reverti; 41, 10: cum non haberes propriam uxorem,
62, 2: propriam matrem non iniuratus es; 67, 14: propriis mani-
bus, ebenso 67, 29; 82, 7: veniens ad propriam cellulam; 91, 6:
propriam uxorem; 92, 8; 98, 12: mulier non habet proprii cor
poris potestatem. Aus Iordan. Get. bringt Werner S. 129 eine
größere Anzahl Beispiele. Boet. 8, 3: in propria semper vi (se
custodiunt) — durch eigene Kraft.
Induere se V, 575. — Seiler sagt S. 139: „induere se abso-
lut —sich anlegen Nib. 516,1. Nith. 37, 7 (vgl. auch sich
kleiden)." — Der absolute Gebrauch von induere und exuere
kommt im späten Latein wiederholt vor. Eine genaue Parallele
bietet schon Petron. 62: ille exuit se et omnia vestimenta secun-
dum viam posuit. Ähnlich Vict. Vit. III, 35: priusquam exuere-
Zum Latein des Ruodlieb 523
tur = bevor er entkleidet wurde. Es liegt eben Ellipse des
psychologisch selbstverständlichen vestem vor. Auch induere
aliquem ohne vestem = jemanden ankleiden kommt vor: Ioh.
Mon. p. 62, 34: tu autem reindue me sicut me invenisti. cum
vero induissem eam, statim reclinavit se. 89, 21: cum autem
induisset eum frater; ib. 32: cum enim induerem eum; 39, 5:
nudos induis; 109, 25: exuens eum.
In toto mundo VI, 68; XV,80; nach Seiler S. 139 eine
„geradezu unlateinische Übersetzung". — Vulg. Matth. 26, 17:
evangelium in toto mundo dicetur; Ioh. Mon. p. 3, 10: in toto
mundo praedicantes; Leo de proel. p. 119, 10: in toto mundo;
Discipl. cler. p. 32, 40: in toto mundi ambitu. Vulg. Rom. 1, 8:
in omni mundo; Coloss. 1, 6: in universo mundo.
Via vadit per villam V, 612; Seiler vergleicht ,,der. wec
gat“. — Das volkstümliche Spätlatein verbindet via gern mit
einem konkreten bildlichen Ausdruck des Gehens oder Steigens:
Anton. Placent. Itin. p. 179, 10: via quae vadit in Gaza; 175, 5:
platea quae discurrit ad Silvam fontem; 181, 1: caput heremi
qui vadit ad Sina; 176, 18: ad viam, quae respicit ad occidentem,
quae descendit ad Ioppe; Vulg. Act. ap. 8, 26: viam quae des-
cendit ab Hierusalem in Gazam; Peregrin. Aeth. c. 14, 3: via
quam videtis transire inter fluvium Iordanem et vicum istum;
Sedul. (Huemer) S. 229, 14: semitam.. quae.. subit arduam
latenter ad portam.
Mox ut VIII, 107. Seiler vergleicht S. 140 „also schiere.“
Über mox = simulac und andere als Konjunktionen verwendete
Adverbia vgl. Loefstedt Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 289; über
mox ut, iam ut usw. vgl. Schmalz Synt. S. 572 Anm. 1.
Paulin. Nolan. 26, 314: mox ut sustulerat; Oros p. 71, 13:
mox ut adolevit; 89, 3; 345, 14; 391, 14; 394, 14; 401, 1;
481, 9; Ennod. p. 345, 22: mox tamen ut portas ingressus est;
377, 13; Lucif. Calar. p. 37, 20: mox ut inimicum suum videt;
38, 13: mox ut ascendit; 52, 9; 158, 19; 170, 25; 207,6; 162, 19;
Vulg. Philipp. 2, 23: mox ut videro; Hist. Apoll. p. 60, 13: mox
cum de schola venerit; 98, 2: statim ut; Peregrin. Aeth. c. 3, 6:
iam ut exiremus; 35, 2: statim ut manducaverint; Anton. Pla-
cent. p. 185, 29: mox luna introierit; Beda h. eccl. p. 4, 7: mox
ut consummare potui; 8, 11; 65, 23; 69, 27; 91, 39; 92, 18; 122, 6;
202, 15; 213, 30; 243, 19; 252, 19; 94,18: mox ubi, ebenso
524 Hans Ottinger
106, 15; 165, 20: statim ut. Häufig auch bei Gregor. Turon. vgl.
Bonnet S. 320. Hist. sept. sap. I p. 20, 32: mox ubi vidit.
Plenissime dicere XVII, 62. Seiler S. 140 vergleicht
„volsagen“ . — Pleniter, plenius und plenissime sind in der-
artiger Verwendung im Spätlatein durchaus üblich. — Hist.
Apoll. p. 23, 3: ut plenius misericordiae suae satisfaceret;
102,8: plenius gratias referat; Cypr. I p.373, 13: plenius
consulatur; 537, 3: plenius cognovi; 489, 2: plenissime instruerer;
616,11: machinas plenissime instrueret; 570,7: tractaturi
plenissime de omnibus; Oros. p. 42, 6: haec plenius proferantur,
ebenso 45,11; 154,7; 369,11: historiam plenissime explicuit ;
Ennod. p. 139, 6: exorare pleniter; Lucif. Calar p. 84, 4: ut
plene videre possis; 191,2: plenissime examinari; Commod.
A. 482: plenius ostendere; 655: plenius demonstraret; Veget.
epit. rei mil. p. 33, 1: plenissime clementiam vestram peri-
tissimeque retinere; 75,11: itineraria omnium regionum ple-
nissime debet habere perscripta; Beda h. eccl. p. 106, 26:
non plene secundum scientiam; 107,17: linguam iam plene
didicerat; 133,39: plenius scire; Ioh. Mon. p. 38, 6: pleniter
scriptum est.
Omni sine tegmine VIII, 80. — In der Umgangssprache
gebrauchte man schon in frühester Zeit nach sine auch omnis,
worüber Krebs-Schmalz Antib. II, 211 und Brix zu Plaut.
Trin. 338 unterrichten. Plaut. Trin. 338: quia sine omni mali-
tiast; 621: sine omni cura dormias; Aulul. 215: sine mala
omni malitia; Ter. Andr. 391: sine omni periclo. Aus dem Spät-
latein habe ich mir notiert: Vict. Vit. p. 55, 16: sine omni in-
firmitate; Ioh. Mon. p. 128, 35: sine omnibus bonis; Discipl.
cler. p. 28, 37: absque omni incommodo.
Vinum de quo bibit VII, 20. — Schon im Altlatein kann
statt des Genetivs de eintreten, z. B. Cato agr. I, 158: addito
de perna frustum. Im Spätlatein breitet de sich so aus, daß
der partitive Genetiv schließlich ganz verschwindet, vgl. Schmalz
Synt. S. 407, Loefstedt Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 106,
Hoppe S.38. Die Beispiele sind Legion: Vulg. 2. Tim. 2, 6:
de fructibus accipere; Act. ap. 2,17: effundam de spiritu meo
ebenso 2,18; 1.ep. Ioh. 3,24: manet in nobis de spiritu;
4,13: de spiritu suo dedit; Apoc. 21, 6: sitienti dabo de fonte;
Peregrin. Aeth. c. 3, 6: dederunt nobis eulogias, id est de pomis;
Zum Latein des Ruodlieb 525
5, 7: ubi de spiritu Moysi acceperunt; Beda h. eccl. p. 119, 11:
tulit itaque de pulvere terrae illius secum; 124, 27: habeo de
ligno; 128, 19: misit de oleo; 140, 40: de cibis illius acciperent;
232, 13: miserat de aqua benedicta. — Petron 66: de scriblita
quidem non minimum edi, de melle me usque tetigi und weiter
unten: de quo cum gustasset; Apul. met. 10, 26: de potione
gustavit ampliter; Vulg. Matth. 15, 27; edunt de micis; 1. Cor.
9, 7: de fructu eius non edet? de lacte gregis non manducat?
11, 28: de pane illo edat et de calice bibat; Apoc. 2, 7: dabo ei
edere de ligno vitae; 18, 3: de ira fornicationis eius biberunt;
14, 10: biberit de vino irae; 1. Cor. 10, 3: bibebant de spiritali
petra; bibere de finde ich noch bei Adamnan. p. 270, 17; 272,3;
273, 8; 235, 4; Anton. Placent. p. 163, 1; Peregrin. Aeth. c. 5, 7;
Aesop des Rom. p. 184; Hist. sept. sap. I, 13, 20; 18, 23; 14, 6.
Ut für qualis, I, 116: Namque meas causas, ut sunt, tu
coniciebas. Der Dichter wollte sagen: coniciebas meas causas,
quales sint, dazwischengeschoben hat sich aber der Gedanke:
ut sunt = „wie sie tatsächlich sind“. Genaue Entsprechungen
finde ich bei Apul. met. 10, 9: ergo, ut res est, de me cognoscite;
Ioh. Mon. p. 90, 14: recitavit mihi adminutum, ut fuerat causa.
Quam für ut, IV, 106. — Vgl. Loefst. Beitr. S. 20 u. Spätl.
Studien S. 15 u. Schmalz Synt. S. 546. Außer den bei Loefst.
zitierten Stellen vgl. Phaedr. III epit. 33: quondam legi quam
puer sententiam; Venant. Fort. carm. 11, 26, 18: posse utinam
sic sit, quam mihi velle placet.
Ut fürquam. — Mit einer Vertauschung von ut und quam
muß man im Spätlatein immer rechnen: Gregor. Turon. (Bonnet
S. 320) h. F. 2, 27 p. 89, 10: nullus tam inculta ut tu detulit
arma u.ó. Mulom. Chir. p. 18, 18: si quod iumentum camba
laxaverit, non alias curabis sicut superius est; 45, 9: ne minus
ut semihora; Gregor. Turon. h. F.5,19 p.216,21: adhuc
abundantius ut consueverat. Also selbst unseres Dichters
flere magis ut puer ist kein Germanismus! Leo de proel. p. 110, 1:
volabant ibi et vespertiliones tam magni ut columbae.
Quam für quomodo, XVII, 88. — Der Gebrauch erklärt
sich bequem aus der exklamativen Bedeutung von quam, die
ja auch im Spátlatein noch lebendig ist, z. B. Lucif. Calar.
p.308,10: quam melius est ...! quam est optimum ...!
Ennod. 11,9: quam voluissem ...! Wenn ein solcher Satz
526 Hans Ottinger
abhängig wird, so entsteht eben ein Gebilde wie Ruodl. XVII, 88:
revelat, quam velit glorificare, z. B. Lucif. Calar. p. 195, 12:
quam inimicus noster extiteris, potest conici; Ennod. p. 232, 22:
ostende, quam valeas. Schon Cic. Sull. 33: attende, quam ego
defugiam auctoritatem consulatus mei.
Aut und ve für an, Ruodl. II, 20; III, 47. — Nach Schmalz
Synt. S. 471 nur spátlateinisch: Cassian. Nest. 3, 6, 2: credis
apostulo aut non credis? Paulin. Nolan. XVIII, 274: (lucem
tenebris dedisti?) aut ullis profugos curasti prodere signis ?
Oft bei Oros. (vgl. Zangemeisters Ind.), oft bei Ennod. z. B.
p. 197, 25: aut forte putas, quod ...? ebenso p.211, 23;
249, 24; 252, 7; 255, 3. Oft auch bei Ludif. Calar. z. B. 161, 15:
aut temptabis negare? ebenso 187, 17; 236, 31. Auch bei
Cassian., Commod. u.a. Über aut-aut statt utrum- an bei
Tertull. vgl. Hoppe S. 74. Constantin-Roman p. 22, 21: si
mortuus sit aut vivat deus scit. Ioh. Mon. p. 1, 20: cum nescirem,
utrum tibi obedirem aut ignorantiam meam silencio tegerem.
DaB unser Dichter auch ve so verwendet, ist prinzipiell dasselbe.
Seu für an, Ruodl. 1V, 89. — Schmalz Synt. S. 521 bringt
Belege für vulgäres utrum-seu, utrumne-an-seu, si-necne und
si-seu. Außerdem finde ich z.B. Tyrann. Rufin. p. 12, 8:
quod sive rusticitatis sive libertatis meae fuerit, vos probate;
Lucif. Calar. p. 217, 28: cur haec audire a deo meruerit? quia
perpecerit dei inimicis? an quia ...? seu quia ...? Venant.
Fort. 7, 4 steht sive und seu mehrmals hintereinander zwischen
an und aut, ebenso Vita Martini 4, 503ff.
An statt seu-seu, Ruodl. V, 216. — Es handelt sich wohl
um zweifelnde Fragen, bei denen der Begriff incertum est als
psychologisch selbstverstándlich fehlen kann: Tac. an. XII, 67:
nec vim medicaminis statim intellectam, socordiane an Claudii
vinolentia; XIII, 12: fato quodam, an quia praevalent inlicita;
XIII, 19: nemo adire praeter paucas feminas, amore an odio
incertas.
Ipse idem, Ruodl. V, 31. — Vgl. Loefst. Komm. z. Per-
egrin. Aeth. S. 65, Hoppe S. 104, Koffmane S. 137. Der Ge-
brauch kommt im Spätlatein massenhaft vor, z.B. Vulg.
Hebr. 13,8: heri et hodie ipse et in saecula; Iacob. 3, 10: ex
ipso ore procedit benedictio et maledictio, ebenso Rom. 15, 5;
1. Cor. 1, 10; Philipp. 2, 2; 2,18; 4,2; Arnob. p. 158, 23fl.
Zum Latein des Ruodlieb 527
Cypr. I p. 810, 7: ipsa atque eadem domus; Paulin. Nolan.
XXI,196; Ennod. p.197,13: per ipsum callem vindictam,
per quem venerat error; 259,6; Lucif. Calar. p. 18, 9: ipsum
sibi et patrem esse et filium; 329, 28.
Adhuc. — Seiler S. 138: „adhuc von der Vergangenheit
IV, 127 u. beim comparativus für etiam (noch) VIII, 63.“ —
Adhuc bei der Vergangenheit ist schon sehr frühe üblich:
Petron 47: nec adhuc sciebamus, ebenso 57; 61; 63; Tertull.
Virg. vel. 5: statim mulier est cognominata, adhuc felix, adhuc
digna paradiso, adhuc virgo; ib. 8; Cult. f. I, 2; An. 19; Orat. 22;
Scorp. 10; Vulg. Matth. 26,47: adhuc ipso loquente venit;
27, 63; Ioh. 20, 1; Luc. 24, 6; 25, 44; Rom. 5,6; 5, 8; 2. Thess.
2, 5 u. ö. Beda h. eccl p. 36, 25: dum adhuc Romani Brit-
taniam incolerent ; 40, 18; 88, 40; 93, 1; 99, 16; 123, 27; 132, 28;
153, 25; 172,15. Wie unser deutsches „noch“ wird adhuc
seit Quintil. oft auch von der Zukunft gebraucht. Auch beim
Komparativ ist es seit Sen. phil. sehr häufig, z.B. Quintil
1,5, 12: adhuc difficilior; 2, 15, 18: adhuc concitatior; Sen.
ep. 85, 34; Tac. Germ. 19; Curt. 9, 6, 23; Tertull. Car. Chr. 21;
22; Marc. 1,27; 4,7; Pud. 18; An. 27; vgl. Hoppe S. 110;
Vulg. Ps. 91,15: adhuc multiplicabuntur; 1. Cor. 12, 31;
Hebr. 7,15; Hist. Apoll. p. 99, 11; Cypr. p. 284, 14; 232, 13;
751, 19; 289, 4; Peregrin. Aeth. c. 18, 2; Gregor. Turon. h. F.
5, 19 p. 216, 21.
Unus als unbestimmter Artikel. — Vgl. Schmalz
Synt. S. 623. Beispiele bietet jeder spätlateinische Text,
2. B. Vulg. Ioh. 6, 9: est puer unus hic qui habet; Matth. 26, 69:
accessit ad eum una ancilla; Marc. 12, 42; venisset autem una
vidua; Vict. Vit. 1, 41: lector unus canebat; 2, 21: venit unus
asinus; 2, 30; Anton. Plac. Itin. p. 164, 17; 181, 12: habentes
unum asellum; 177, 18: in uno angulo; Peregrin. Aeth. c. 4, 4:
dietus unus psalmus aptus loco. Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet
S. 258.
Si = ob. — Über die Anfänge des offenbar volkstümlichen
Gebrauches vgl. Loefst. Komm. z. Peregrin. Aeth. S. 327.
Über die weitere Entwicklung Schmalz Synt. S.519. Schon
Vitruv kennt num gar nicht mehr, für ihn ist si die Regel.
Jeder spätlateinische Text bietet Beispiele: Petron. 71: vide
diligenter, si haec satis idonea tibi videtur. Für Tertull. vgl.
528 Hans Ottinger
Hoppe S. 73, für die Vulg. vgl. Kaulen S. 211, Rónsch S. 403,
z. B. Luc. 14, 81: cogitat, si possit; 6, 7: observabant, si curaret;
6, 9; interrogo vos, si licet; Matth. 19, 3; Ioh 9, 25; Marc. 15,
44; Act. ap. 5,8; 17,11; 19,2; u. ö. Hist. Apoll. 74, 2: nescio,
si tu possis virgo permanere; Beda h. eccl. p.39, 24: Inter-
rogatio Augustini, si debeant ... accipere; 42,14; 174,31;
202,21; 211,12; 235,5; Ioh. Mon. p.53, 24: interrogavit,
si ita gestum esset; 74, 10; 104, 22; 109, 25; 112, 31; 53, 31. —
Auch ni = nisi quod ist kein Germanismus, da nisi = nii
quod auch in der Vulg. vorkommt, vgl. Kaulen S. 211
Iubere ut. — Vgl. Schmalz Synt. S. 576. Iubere ut schon
bei Plaut. Liv. Hor. Tac., bei Cic. im offiziellen Stile. Im Spät-
latein allgemein üblich: Tertull. Marc. IV, 29: iubet ut parati
simus; V, 12; Cypr. II p. 191, 27; Vulg. (Kaulen S. 249,
Rönsch S. 427) z. B. Gen. 42, 25: iussit ministris ut implerent;
Dan. 13, 32; Aug. civ. dei 2, 24: iussit ut vesceretur; 5, 18;
3, 21: iussisse ne fieret; Hist. Apoll. p. 82, 6: iussit quod crura
ei frangantur; 114, 9: iubet ut eum comprehenderent; Lucif.
Calar. p. 32, 14; 199, 29; Beda h. eccl. p. 149, 15; 223, 15;
261, 40; Ioh. Mon. p. 30, 35: iussit ei ut bapticaret; 42,12;
45, 27; 86, 24; 91,26; 101,6. Auch mit dem Infinitiv wird
iubere verbunden, z. B. Vulg. 1. Macc. 1, 54 u. Tob. 6, 7. Oft
steht auch parataktisch der Konjunktiv, z. B. Lucif. Calar.
p.111,13. Und da quo statt ut gebraucht wurde, konnte
gelegentlich auch quo zu iubere treten.
Velle ut. — Im Spätlatein sehr beliebt: Liv. 1, 16, 7:
caelestes ista velle, ut mea Roma caput orbis terrarum sit;
Vulg. Luc. 6,31; vultis ut faciant; 14,29: quid volo nisi ut
ascendatur; Matth. 20, 32; Ioh. 17,24; 1.Cor. 16,12; Hist.
Apoll. p. 55, 1: volo ut flliam meam nutriat; Mulom. Chir.
p. 233, 2: quare ex equo primum ut imponas volo? Ioh. Mon.
p. 97, 4: vis ut loquar? Leo de proel. p. 50, 2: vis ut credam
tibi? 87, 21; Hist. sept. sap. I p. 29, 4: volo ut clam portes; 2, 28.
Videtur ut. — Vgl. Cypr. I p. 537,11: quamvis mihi
videatur, ut debeant pacem accipere.
Decet ut. — Vgl. Venant. Fort. 3,9,67: non decet ut
humili tumulo tua membra tegantur; 5, 5, 2; V. M. 2, 342.
Non dubitare c. a. c. i. — Im silbernen Latein und bei den
Kirchenschriftstellern wechselt nach non dubitare und non
Zum Latein des Ruodlieb 529
dubium est der AcI mit quin, bei den script. hist. Aug. findet
er sich sogar ausschließlich, vgl. Schmalz Synt. S. 428. Nach
Kühnast S. 249 ist der AcI bei Liv. häufiger als quin. Für
Tertull. vgl. Hoppe S. 50. Beda h. eccl. p. 37, 30: quam te
bene nosse dubium non est; 52,29; 124,9: nec dubito me
rapiendum; 151, 23; 192, 15. In der Vulg. wird non dubitare
sogar mit quod konstruiert, z. B. Tob. 7, 13.
Triduo V, 564. — Über Herkunft und Entwicklung des Ge-
brauchs in durativen Zeitbestimmungen unterrichtet die knappe
Darstellung in Loefstedts Komm. z. Peregrin. Aeth. S.51.
lm Spätlatein ist der abl. tempor. für die Zeitdauer gang und
gàbe: Oros. 4, 12, 7: quamdiu? anno uno; Bell. hispan. 3, 1:
aliquot mensibus ibi detinebatur; Petron. 86: aliquot horis
spatiatus; 139; Apul. met. 9, 8: pauculis ibi diebus commorati;
für Tertull. vgl. Hoppe S.31, für die Vulg. Kaulen S. 232,
z. B. Matth. 15, 32: triduo iam perseverant mecum; Ioh. 11, 6;
Matth. 26, 40; Act. ap. 9, 9; 28, 7; 28, 19: mansimus ibi triduo;
Hist. Apoll. p. 58, 13; 113, 8; Peregrin. AetK. c. 6, 1: biduo im-
morari; 9, 1; Beda h. eccl. p.13,3; 114,3; 165,3; 218,11.
Die Mulom. Chir. umschreibt diu ófters durch multo, longo,
plurimo tempore, quamdiu durch quanto tempore usw. Da
der allmählich immer seltener werdende acc. tempor. außer
durch den abl. auch durch per c. acc. ersetzt wird, so ent-
Stehen gelegentlich Mischgebilde wie Peregrin. Aeth. c. 25, 11:
per triduo ergo haec celebratur oder per quatriduo, per triduo
usw., die sich in der Mulom. Chir. finden.
Ovare alicuius rei. — Die Verba des Freuens werden
schon spátlateinisch mit dem Gen. verbunden, z.B. Apul.
met. 1, 24: voti gaudeo; Tertull. Apol. 1 ex: cuius reus gaudet.
Die Konstruktion mag aus dem Griechischen stammen.
Dominari alicuius, IV, 98. — Im Spätlatein sehr häufig:
Apul. Ascl. 27: terrae dominantur; Min. Fel 12,5: vestri
dominantur; Tertull. Apol. 26; Cult. f. 1, 1; Marc. 3, 6; u. ö.
Vulg. (vgl. Kaulen S. 225, Rónsch S. 438) z.B. Gen. 4,7:
dominaberis illius; Rom. 6,9; Matth. 20, 25; 2. Cor. 1, 24.
Auch regnare wird mit dem Gen. verbunden, z. B. Vulg. Sap.
3, 8; 1. Macc. 13, 39. Dominari wird auch mit dem Dativ
(Cassian, Vict. Vit.) mit in c. acc. oder abl. (Vulg. kon-
struiert.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 34
530 Hans Ottinger
Fraudare c. gen.? — Fraudare heißt in der Vulg. meist
„unterschlagen, schmälern“, z.B. Act. ap. 5,2: fraudavit
de pretio oder Lucif. Calar. p. 160, 21: quod fraudaverint de
pretio. Auch das promissorum Ruodl. IV, 183 läßt sich als
gen. part. auffassen.
Replere c. gen. — Bei complere und implere steht der
Gen. schon bei Plaut. Amph. 1016; Cato; Lucr.; Verg.; Cic.
Verr. 5,57,147. Bei Liv. ist nach Kühnast S. 77 bei implere
der Gen. häufiger als der Abl. Beide Kasus bei Apul. met. 3, 2:
magistratibus eorumque ministris et turbae miscellaneae cuncta
completa. Oft in der Vulg. z. B. Ezech. 35, 8: implebo montes
eius occisorum; 2. Tim. 1, 4; Matth. 22,10: impletae sunt
nuptiae discumbentium, wo der Cod. Cantabr. repletae bietet.
Einmal hat auch schon Liv. replere so: 6, 25, 9.
Vacuare c. gen. — "Tertull. Pall. 2: vacans hominum;
Idol. 8: alterius vacat; Venant. Fort. 4, 26, 70: mercedis non
vacuatur; Eugen. ep. III, 1 (Mon. Germ. Hist. XIV) p. 286, 22:
quamvis sit sapientiae privata.
Saturare c. gen. — Plaut. Stich. 18; Ter. Heaut. 4, 8, 28.
Aus dem Spätlatein kenne ich nur Avien. 2, 1094: satur luminis
omnis, doch liegt die Analogie von plenus und den Verben des
Anfüllens sehr nahe.
Promptus c. gen. — Für Iustin. vgl. Georges; Vulg.
2. Cor. 8, 11: quemadmodum promptus est animus voluntatis,
ita sit et perficiendi.
Longus c. gen. I, 28. — Colum: 5, 6, 18: longus sex pedum;
Var. r. r. 2, 4, 14: hara trium pedum alta. Offenbar liegt Kon-
tamination vor: die Gedanken sex pedes longus und sex pedum
ergeben durcheinandergeschoben eben longus sex pedum.
Vgl. Iord. Get. p. 87, 8: virtutis et nobilitatis eximius; 118, 9:
seniorem prudentiaeque maturum.
Sollicitus c. gen. — Sen. ad. Marc. 19, 5: sollicitus futuri,
Coripp. Ioh. VII, 200: sollicitus rerum patriaeque suaeque salutis.
Von der Beliebtheit der bequemen Genetivkonstruktion bei Ad-
jektiven gibt Hartels Index zu Paulin Nolan. oder Ennod. ein Bild.
Par c. gen. XV, 60. — Der im Altlatein übliche Gebrauch,
taucht im Spätlatein wieder auf, besonders oft bei Tertull.,
vgl. Hoppe S. 23. Cassian. inst. 5, 22, 29: parem virtutis u. ö.
(Petschenigs Ind.); Ennod. p. 3,9; Ven. Fort. 9, 1, 108.
Zum Latein des Ruodlieb 531
Deficere c. dat. — Für die Vulg. vgl. Kaulen S. 225.
Cypr. II p. 46,3: cum arantibus sementa defecerit; Tyrann.
Rufin. p. 255, 20; Aesop. d. Rom. p. 214; Discipl. cler. p. 29, 18.
Misereri c. dat. ist die im Kirchenlatein übliche Kon-
struktion, vgl. Kaulen S. 227 u. Rónsch S. 413.
Libet me. — Vict. Vit. p. 37,17: nos libebat pergere;
Coripp. praef. 3: scribere me libuit; V, 175; Ven. Fort. 10, 9, 11.
Intromittere se. — Aesop. d. Rom. p. 65: nemo se intro-
mittat de sibi incongruis operibus; Leo d. proel. p.55, 20:
quare voluisti te intermittere de caelestibus elementis? Discipl.
cler. p. 12,3: si quemlibet videris malis operibus pregravari,
ne te intromittas.
Exire c. acc. haben schon Ter. Hec. 378 u. die Dichter,
in Prosa Tac., Hieron. ep. 22, 25 u. Apul. met. 9, 19. Vulg.
Matth. 26,71: exeunte autem illo ianuam; Cypr. vita c. 18:
cum exire praetorii fores; Paulin. Nolan. c. 15, 254. Ungleich
hàufiger ist der acc. bei egredi und evadere.
Requirere aliquem = jmd. fragen. — Ven. Fort. 7, 20, 2:
saepe requiro viros (quae tibi salus); Ioh. Mon. p. 10, 18: re-
quisivit eum, ubi esset dominus.
Nostri hospes, IV, 13 (Seiler S. 118). — Der Gebrauch
findet sich zuerst bei Dichtern, dann in nachklassischer Prosa,
endlich im Spätlatein. Für Tertull. vgl. Hoppe S.18 (z.B.
Marc. 4, 25: magnitudinem sui absconderat), für Cypr. vgl.
Hartels Ind. (z. B. I p. 239, 27: mei membra; 352,16: origo
sui; 485, 3: praesentia nostri u. ö.), für die Vulg. vgl. Kaulen
S.142 u. Rónsch S. 418. Aufschluß über die Verbreitung des
Gebrauchs geben z. B. die Indices des Corp. script. eccl. lat.
Anakoluthe beim partic. coniunct. Seiler S. 124. —
Solche Anakoluthe gehóren zum charakteristischen Gesamt-
bilde des späten Lateins. Vulg. Matth. 10,1: convocatis dis-
cipulis suis dedit illis potestatem; Luc. 19, 33: solventibus autem
ilis dixerunt domini eius ad illos; Ioh. 15, 2: omnen palmitem
in me non ferentem fructum tollet eum; Peregrin. Aeth. c.
2,2: ubi sanctus Moyses cum pasceret pecora, iterum locutus
est ei deus. |
Abl. abs. statt part. coni. bietet jeder spátlateinische
Text. Für die Vulg. vgl. Rónsch S. 450. Hist. Apoll. p. 98, 8:
me namque in cunabulis posita Stranguillioni sum tradita;
34*
532 Hans Ottinger
Peregrin. Aeth. c. 24, 2: exeunte episcopo omnes ad manum
ei accedunt ; Beda h. eccl. p. 189, 39: cunctis convenientibus ...
fratribus communicent omnes. Für Gregor. Turon. vgl. Bonnet
S. 559, für die Mulom. Chir. vgl. Ahlquist S. 50. Anton. Plac.
Itin. p. 177, 14: revertentibus nobis.... venimus. Ebenso
177,20; 179,9; 183,1. Leo de proel. p. 92, 20: sedente vere
Dario vidit signum; 97, 12; 104, 10.
Herilis = Fräulein. — Apul. met. 4, 27: bono animo
esto, mi erilis, ebenso p. 9, 6.
Laudare = vovere. — Bei Eugipp. (Knoells Ind.) be-
deutet laus auch sacrificium, bei Commod. (Dombarts Ind.)
auch meritum. Laudgre bedeutet z. B. in der Discipl. cler.
p. 19, 21 „raten“: laudo tibi, ut quam cicius poteris huius
miserearis. Bei Leo de proel. p. 76, 12 bedeutet laudare tat-
sächlich „versprechen“: laudasti et prophetizasti illi bene.
Rumor = nuntius? Seiler S. 138. — Rumor scheint
im Ruodl. etwa „Neuigkeit“ auszudrücken, rumoris cupidi IV,
191 mag heißen: „auf Neuigkeiten gespannt" (vgl. Tac. an.
13, 6: in urbe sermonum avida). Ein ähnliches Mittelding
zwischen Nachricht und Neuigkeit bezeichnet rumor etwa in
der Discipl. cler. p. 42, 6: quem cum videret dominus, timuit
ne aliquos rumores. ... diceret et dixit: cave ne dicas mihi
rumores malos! Servus: non dicam rumores malos, sed canis no-
stra parvula mortua est. Ebenso p. 38, 365.
Reconsiliari = widerraten. — Das Wort wäre gebildet
wie repugnare, rebellare, reboare u.ä. Möglicherweise aber
steht hier — mit der Vorliebe der Volkssprache und des Spät-
lateins für die tönenderen Komposita — reconsiliari = con-
siliari. So gebraucht z.B. Tertull.: respondere = spondere
(Hoppe S. 138), Commod.: redarguere = arguere, referre
= ferre, reportare = portare; Cassian.: reputare = putare
(Petschenigs Ind.), Eugipp.: recognoscere = cognoscere, re-
putare — putare, requirere — quaerere, retractare — tractare
(Knoells Ind.).
Licentia = urloub. — Leo de proel. p. 115, 8: Eamus
ad Alexandrum et postula me ab illo et ego venio tecum ...
Accepta licentia abiit cum eo. Hist. sept. sap. II p. 11, 19:
licentia repatriandi a Cesare impetrata; 42,29: ex licentia
regis in secretum secedunt locum; 43,10: ut sibi ad propria
Zum Latein des Ruodlieb 533
remeandi daretur licentia; Aesop d. Rom. p. 219: abire si quo
est animus, est licentia? Discipl. cler. p. 38, 18: querentibus
licitum repatriandi.
Prosapia generosa progenitus, I, 1: Koegel: „der von
adele was geborn". — Vgl. Sedul. p. 219, 7: quos nec generosa
prosapies ortu terrenae nobilitatis inflaret ; Discipl. cler. p. 9, 12:
nobili ortus prosapia; Paulin. Nolan. XXI, 212: nobilem pro-
sapia; Ennod. p. 460, 19: cuius prosapiem splendidam tempus
postulat scientiae te radiis adornare; 330, 5: vultis vos numerari
inter splendidas prosapias.
Moribus ingenitam decorabat nobilitatem. Koegel
vergleicht „von gebare und von gelaze gezieret uz der maze“. —
Ein Hinweis auf die eben zitierte Wendung des Ennod. p. 460, 19
scheint mir zu genügen, um gegen Koegels Methode miBtrauisch
zu machen. Vgl. auch die von Ott in Fleckeis. Jb. 1874, S. 842
beigebrachte Stelle aus Capitolin.: ut nobilitatem generis
splendore virtutis illuxerit.
Post mensam, V. 565. — Bekannt sind die Redensarten:
de mensa mittere alicui, secunda mensa = Nachtisch, summa
mensa = Hauptgericht (Mart. X, 37, 9). Mensa und cena
werden also geradezu synonym gebraucht (vgl. Antibarb. II, 73).
Petron. 94: mensa = Freitisch. Apul. met. 9,24: mensam
nobiscum participat; 9, 26: mensam potius postulabat = er
verlangte lieber zu essen; flor. XX: sapientis viri super mensam
— über das Trinken) celebre dictum est: prima creterra ad
sitim pertinet, secunda ad hilaritatem ... Colum. 11, 1, 19:
mensae aliquem adhibere — ad cenam vocare. Der Rómer sagt
wie der Deutsche „bei Tische“ oder „zu Tische laden“. Aesop
d. Rom. p. 64: asinus quotidie videbat catellum blandiri do-
minum et de mensa saturari. Ven. Fort. X, 11 praescr.: in
mensa = in convivio; 31: quos invitavit Martini mensa beati.
Apul. met. 4, 22: mensa decedere; Leo de proel. p. 127, 23:
surrexerunt a mensa. Apul. met. 8, 29 wird erzählt, wie die
wunderlichen Heiligen paucisque admodum praegustatis olusculis
ante ipsam mensam ihre Lüste an dem Esel stillen. Ante ipsam
mensam fasse ich als „noch vor Tische", das wäre denn eine
Parallele zu unserem post mensam.
Vestro amore, III,15; IV,167; V,30; IV, 90. Amor
bedeutet in unserem Gedicht etwa „freundliche, leutselige,
534 Hans Ottinger
menschliche Gesinnung“. Amor auf das Gebiet menschlicher
und gesellschaftlicher Bildung übertragen, findet sich z. B.
auch bei Venant. Fort. X, 11, 23: quos sibi Martinus collegit
amore benignus; 31: quos invitavit Martini mensa beati, sumite
gaudentes quod dat amore dies. Hist. sept. sap. I p. 31, 7:
quedam domicella a me quam plurimum dilecta heri de partibus
meis ad me venit, cum qua oportet me post triduum repatriare:
rogo ut amore ipsius (etwa = ihr zu Ehren) hodie mecum
prandeatis.
Sedeo für sido. — Diese beiden Wortgruppen, besonders
die Komposita, lassen sich überhaupt nur in wenigen Formen
unterscheiden: Vermengung ist also von vornherein zu er-
warten, zumal die jeweilige Bedeutung sich ja aus der Situation
ergibt. Bei stare haben wir eine derartige Entwicklung bereits
festgestellt. Aesop d. Rom. p.176: in nidum lusciniae cum
sederet acceptor (vgl. Thieles Komm. S. 179); 302: aquila cum
tristis sederet in arborem; rec. vet. p. 271: hoc dicto venator
super equum sedens cervum de loco movit, wo die rec. gal.
p.272 super equum ascendens aufweist.
Alius statt alter. V,144. — Nach Schmalz Synt. S. 629
hat die Volkssprache nie scharf geschieden zwischen alius
und alter, im Spátlatein gehen beide allgemein durcheinander.
Cypr. I p. 197, 9: quis non ... fugiat quod alii fuerit exitio?
quis id adpetat ... quod ad necem alterius pro gladio fuerit?
226, 7; 540, 3 u.ö. Peregrin. Aeth.: alia die statt altera die
c. 6,1; 38,1; 45,2 und in der Mulom. Chir. z.B. p. 43,5;
87, 4. Vulg. Luc. 7, 41: duo debitores ... unus debebat denarios
quingentos, alius quinquaginta; Apoc. 17,10; Hist. Apoll.
p. 116, 4: unum volumen Diane in templo ... aliud in biblio-
theca; Beda h. eccl. p.91,4: per unum ostium ingrediens
mox per aliud exierit; Aesop d. Rom. p. 172: nulla pars alii
cedebat (vgl. Thieles Komm.).
Zitierte Ausgaben und Schriften.
1. Aus dem Wiener Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum:
Cassianus ed. Petschenig vol. XVII.
Cyprianus ed. Hartel vol. III, 1,2.
Commodianus ed. Dombart vol. XV.
Ennodius ed. Hartel vol. VI.
Eugippius ed. Knoell vol. IX.
Zum Latein des Ruodlieb 535
Itinera Hierosolymitana ed. Geyer vol. XXXIX.
Lucifer Calaritanus ed. Hartel vol. XIV.
Orosius ed. Zangemeister vol. V.
Victor Vitensis ed. Petschenig vol. VII.
. Mulomedicina Chironis ed. Oder, Bibl. Teubn.
Historia Apollonii ed. Riese, Bibl. Teubn.
Baedae Historia ecclesiastica ed. A. Holder, Freiburg u. Tübingen 1882.
Silviae (Aetheriae) peregrinatio ad loca sancta ed. W. Heraeus, Heidelberg 1908.
Der lat. Äsop des Romulus und die Prosafassungen des Phädrus ed. G. Thiele,
Heidelberg 1910. |
. Einar Loefstedt: Philologischer Kommentar zur Peregrinatio Aetheriae, Uppsala-
Leipzig 1911. — Spátlatein. Studien, Uppsala 1908.
Herm. Rónsch: Itala u. Vulgata, Marburg u. Leipzig 1869.
Fr. Kaulen: Handbuch zur Vulgata, Mainz 1870.
H. Hoppe: Syntax u. Stil des Tertullian, Leipzig 1903.
Fritz Werner: Die Latinität der Getica des Iordanes, Diss. Halle 1908.
Helge Ahlquist: Studien zur spütlat. Mulomedicina Chironis. Diss. Uppsala 1909.
Max Bonnet: Le Latin de Grégoire de Tours. Paris 1890.
. Aus der Sammlung mittellateinischer Texte von Alfons Hilka. Band 1: Dis-
ciplina clericalis des Petrus Alfonsi. 4 u. b: Historia septem sapientum I u. II.
6: Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo. 7: Iohannes Monachus.
536
Albertus Stadensis.
Von
Kari Fiehn.
1. Sein Leben.
Über das Leben Alberts von Stade wissen wir wenig, nur das,
was uns seine eigenen Werke, wie die Weltchronik (über den
Titel s. unten) und das Gedicht Troilus, oder einige urkundliche
Überlieferungen mitteilen.
Sein Geburtsjahr und seinen Geburtsort freilich erfahren
wir auch da nicht genau. Nur vermutungsweise können wir
sagen, daß Albert in den beiden letzten Jahrzehnten des 12.Jahr-
hunderts geboren ist (weiteres siehe S.537f.) und seine Heimat
Niederdeutschland sein mag. Sein ganzes Leben hat sich nach
den uns vorliegenden Zeugnissen in den Elblanden abgespielt,
nirgends erscheint er als zugewandert, und Lappenberg weist
SSXVI, p. 271 auf die in norddeutschen Formen wieder-
gegebenen Eigennamen in Alberts Chronik hin (siehe zum Jahre
1019, 1020, 1023 u. a.).
Nicht genügend gestützt dürfte die Annahme tappet
(S S XVI, 271) sein, daß Albert niederer Herkunft gewesen sei,
wenn auch Merzdorf (Troilus praef. VI) und Wachter, die Chronik
des Albert von Stade (Einl. V) dem zugestimmt haben. Lappen-
berg beruft sich auf zwei Stellen der Chronik. Zum Jahre 1255
nümlich berichtet Albert davon, daB die Bestrebungen eines
Mainzer Bürgers Waltbodo (Walpode), der Wegelagerei ein Ende
zu machen und Frieden zu schaffen, von Fürsten, Rittern und
Räubern abgelehnt worden seien: es wäre unanständig, daß
Kaufleute über ehrbare Männer und Edle herrschen wollten.
Zum Jahre 1256 werden in der Chronik Ritter von Bederekesa
„berühmte Räuber“ genannt. Im Hinblick auf diese Notizen
meinte Lappenberg, man habe es hier mit Urteilen zu tun, wie
Albertus Stadensis 537
sie nur der Niedriggeborene gegen den Edelmann in die Dar-
stellung einfiechten könne. Freilich liegt es nahe, da, wo Zeit-
genössisches erzählt wird, auch besonders persönliche Stellung-
nahme des Erzählers zu vermuten; aber man muß sich ebenso
hüten, ohne sicheren Anhalt das persönliche Urteil des Chro-
nisten vorauszusetzen, wo doch auch eine zeitgenössische Quelle
herangezogen sein kann. Im übrigen widerlegt zweierlei geradezu
die Auffassung Lappenbergs. In dem Abschnitt der Chronik
zum Jahre 1112 findet sich die Bemerkung (S S XVI,
S. 321, 2.22ff), daB der Graf Friedrich für seine Sache mit
plebeischen Zeugen aufgetreten sei, die er zu jedem Eide bringen
konnte (cum testibus, plebeis videlicet, quos ad quidlibet
iurandum compellere poterat), und daß sein Gegner sich diesem
leichtfertigen Zeugnisse (levi testimonio) nicht aussetzen wollte.
Hätte Albert, wenn er an den andern Stellen bewußt für die
Niedriggeborenen hátte Partei nehmen wollen, hier in dieser
Weise erzáhlt? Das ist sehr unwahrscheinlich, auch wenn man
bedenkt, daß er nicht von seiner eigenen Zeit spricht und von
den Quellen beeinfluBt ist. Aber noch etwas anderes macht
Lappenbergs Ansicht zweifelhaft. Wir werden unten (S. 549)
sehen, daß Albert garnicht allein an der Chronik gearbeitet hat,
sondern Helfer hatte. Allerdings gilt das zunáchst wohl nur bis
zum Jahre 1240; aber es hindert auch nichts, über 1240 hinaus
mit der gleichen Arbeitsmethode zu rechnen. So glaube ich,
mindestens schlieBen zu müssen, daB Lappenbergs Behauptungen
nicht zwingend sind. Es muß ungewiß bleiben, welcher Volks-
Schicht Albertus angehórte.
Aus der Troilushandschrift wissen wir, daB Albert magister
war; aber keine Nachricht besagt, wo und wann er diesen Grad
erworben habe. Wenn Lappenberg a. a. O. aus einer Urkunde
des Jahres 1224 (Hamb. U. B. I, S. 418) den dort erwáhnten
magister Albertus, canonicus Bremensis, richtig mit dem unsern
identifiziert, dann sehen wir ihn zu dieser Zeit also als Dom-
herrn zu Bremen. Mit dem gleichen Titel und ohne ihn nennen
einen Albertus de Rameslo eine Urkunde des Jahres 1217 (Hamb.
U. B. I, S. 359) und eine solche des Jahres 1206 (a. a. O. S.
313f.), sicherlich denselben, der als praepositus de Ramesloh in
einer Urkunde des Jahres 1232 (Vogt, Monument. ined. II, 19)
erscheint. Folgen wir weiterhin Lappenberg, der auch in diesen
+
*
538 Karl Fiehn
Urkunden Albert von Stade angeführt sieht, dann hätte Albert
1206—1232 dem Kloster Rameslo(h) angehört, zuletzt sogar als
Propst (Prior), und sei außerdem auch als canonicus Bremensis
1217 und 1224 bezeugt. Bei dieser Gleichsetzung bereitet nur
Schwierigkeiten, daß Albertus im Jahre 1232 als praepositus
de Ramesloh hervortritt und noch im gleichen Jahr in gleicher
Würde in das Marienkloster von Stade übergegangen sein muß,
wo er im August 1232 sogleich zum Abt aufsteigt. Denn in
Alberts Weltchronik zum Jahre 1232 heißt es, daß Albertus
damals in Stade Abt geworden sei, einst Prior derselben Kirche.
Zwar ist ein solches Geschehen nicht unmöglich, aber zum min-
desten eigenartig und daher nicht ohne Vorbehalt anzunehmen.
Manitius freilich schreibt ohne weiteres im Lit. Zentralblatt 1875
Sp.1249 von, Albertus de Rameslo“ unter völliger Gleichstellung
mit Albertus Stadensis (vgl. auch Merzdorf, Troilus praef. V).
Albert, der nach seiner Chronik zum Jahre 1232 dem Christo-
phorus als Abt im Stader Marienkloster folgte, war nach dem
Stader Äbtekatalog der vierte in der Reihe der Äbte (Lappen-
berg, Geschichtsquellen des Erzstiftes und der Stadt Bremen,
S. 190). An derselben Stelle heißt es auch, daß er „ab Aldewino,
legato Livoniae", geweiht worden sei. Lappenberg hat wohl
richtig vermutet, daB hier mit Aldewinus Balduin von Aulne
(Zisterzienserkloster) gemeint ist, der im Januar 1232 vom Papst
zum Bischof von Livonien geweiht und gleichzeitig zum päpst-
lichen Legaten bevollmächtigt ward. Da die Reise nach Livonien
Balduin auch nach dem Erzbistum Bremen, das ja mit dem
Schicksal Livoniens aufs engste verbunden war, führen mochte.
weihte er bei dieser Gelegenheit den im August 1232 gewählten
Abt Albertus. Es soll dahin gestellt bleiben, ob man daraus auf
einen Gegensatz Alberts zum Erzbischof von Bremen, der sonst
die Äbte von Stade weihte, schließen darf, und ob sich hierin
schon die strengere Richtung Alberts, seine Neigung zu den
Zisterziensern, verrät. „Albertus abbas Stadensis“ erscheint
vielfach in Urkunden der Jahre 1235, 1236, 1238, 1240, (Vogt,
Monum. ined. II, S. 28, Hamb. U. B. I, S. 434 und 438, West-
phalen, Monument. ined. IV Nr. 3495); im Troil. VI, 677ff. spielt
Albertus selbst auf seine Würde an. Diese Verse mógen hier im
Wortlaut folgen; denn sie sprechen auch von dem Kloster, in dem
Albert als Abt regierte.
Albertus Stadensis 539
677. Ecclesiam scis in Stadio, quam protegit alis,
Nam caput est eius, virgo beata suis.
Qui scribens ,in principio verbum caro factum"
680. Intonat, illius ad latus ille! volat.
Prodiit ex rutilo roseus locus iste? roseto?
Ingenua matrem nobilitate sequens.
Sic florendo vigent, ut odore, colore, sapore
Nuncquam degenerent; his tribus ambo placent.
685. Splendescit virtute color doctrinaque pascens
Est sapor et fame balsama spargit odor.
Abbatem nosti Tirricum, cui dedit olim
Ecclesie dicte virgo patrocinium.
Cui virtus animam decorat, facundia linguam,
690. Dapsilitate nitet, utilitate viret.
Ille“, suos quondam non ultimus inter amicos,
Ante virum talem qui tulit eius honus,
Edidit hunc ............... libellum. ......
Also: das Kloster (die ecclesia) in Stade war der Jungfrau Maria
sowie dem Apostel und Evangelisten Johannes geweiht. Es
wurde gegründet (prodiit) von dem Kloster Hersevelde und
suchte dem Ruhm des Mutterklosters nachzueifern, wie die
Verse 681f. und die hinzugefügten Scholien besagen.
Der Dichter verwandte statt der nüchternen Ortsnamen ein-
mal ,,Rosenplatz'' (roseus locus) und dann „aus der rotleuchten-
den Rosenhecke“ (ex rutilo roseto). Das konnte er in Anknüpfung
an den zweiten sehr gebráuchlichen Namen für Hersevelde
(Harsefelde, auch Hassefelde) ,,Rosenfelde'', der, wie es scheint,
vor allem dem Kloster im Gegensatz zu der Ortschaft Herse-
velde beigelegt wurde; auch die Gründungsbulle von 1104 redet
von ,monasterium, quod in loco situm est, qui Rosenfeldt
dicitur". Dehio (Gesch. des Erzbistums Hamb.-Bremen II, 13)
meint, daß ,,geschmacklose Mönchssentimentalität“ den Namen
geschaffen habe; eigentlich heißt es Rossefeld, ein Name, der
auch vielfach begegnet (vgl. Jaffé, Monum. Corbeiens., Wibalds
Briefe epist. 219: Rosvelde, und Helmoldus, Cron. Slav. 69:
Rossevelde). Schon Joh. Vogt (Monum. ined. 1741, I, 2, 106f.)
hat sich in der Vorbemerkung zum Chronicon Monasterii Rosen-
feldensis seu Hassefeldensis mit der Doppelnamigkeit beschäftigt
1 Schol: Johannes.
* Schol: Stadis.
3 Schol: Hersevelde.
* Schol: Albertus abbas Stadensis.
540 Karl Fiehn
und u.a. die Meinung Joh. Daniel Grubers mitgeteilt, daß der
ursprüngliche Name ,,Rossefeld" von den Sachsen mit Um-
stellung der Buchstaben zu Horsefeld (vgl. engl. horse) gewandelt
worden sei; Horsefeld (somit auch Harsefeld und Hersefeld) sei
dasselbe wie Rossefeld. „Rosenfeld“ ist demnach eine falsche
Weiterbildung, die aber den Mónchen geflel, weil sie ihnen zum
Ausdruck ihrer frommen Schwármerei für ihr Kloster dienen
konnte. Vgl. Annal. Stad. zum Jahre 1001 (Lappenberg SS
XVI): Eodem tempore venerabilis comes Heinricus in Rosa-
feldan, quod nunc Hersevelde vel urbanius Rosenvelde dicitur.
Auch der Abt Albertus redet daher von Hersevelde im Sinne
eines Rosenfelds oder einer roten Rosenhecke und läßt von hier
aus Stade als zweiten Rosenplatz entstehen. In Durchführung
des Bildes sagt er dann von beiden 683ff.: Sic florendo vigent,
ut odore, colore, sapore Nuncquam degenerent ; his tribus ambo
placent ... Soviel mag hier über die beiden Klóster gesagt sein;
ich gedenke eingehender ihre Geschichte in einem anderen Auf-
satz zu behandeln. Jetzt ist noch hinzuzufügen, daB die Verse
auch den Nachfolger Alberts, den Abt Tirricus (Theodoricus
im Äbtekatalog), wegen seiner hervorragenden Eigenschaften
und als Freund Alberts rühmen.
Neben die Verse Alberts über Stade und Harsefelde— Rosen-
felde müssen jene gestellt werden, die sich ganz allein mit Rosen-
felde beschäftigen. Sie finden sich in dem schon genannten
Chron. Monast. Rosenf. S. 136 und stammen nach der Be-
merkung des Verfassers der Chronik ‚ex metrico libro, qui
dicitur Quadriga“. (Vgl. darüber S. 552fl.) Die Verse, Hexa-
meter, sind außerdem noch abgedruckt in Georgius Roth, Res
Stadenses, Hamburg 1714, S.26f. und in der Praefatio zu
Merzdorfs Troilusausgabe S. VI. Sie lauten:
Est locus, a roseo qui traxit nomina nomen?,
In spacio speciosus et in specie spaciosus®,
Quem situs ipse loci, quem rerum copia monstrat,
Quem comitum prelarga manus, quem culmen honorat,
5. Quem pietas procerum, quem vestit gloria regum.
Est locus ipse rosae (Merzdorf falsch: ipsa rosa) rosa, campi gloria; nescit
Haec rosa spinetum neque pungit spina rosetum.
5 Vgl. Troil. VI, 681.
* Vgl. Troil. III, 642: speciosa polis et spaciosa.
Albertus Stadensis 541
Est locus ipse rosae (so Res Stad.! Vogt: ipsa rosa), non haec rosa mane
Gydippe,
Vespere lucis erit, modo florens, protinus arens,
10. Nunc rubra, mox pallens, mox invida, livida statim,
Nunc oriens simul et moriens, arescere nunquam
Haec solet aeterni foecunda propagine veris,
Non aestas, non audet hyems, non Aeolus istam
Derosulare rosam”. Mos est pallere rosarum
15. Solis ad intuitum?; trahit haec a sole ruborem.
Quicquid habet natura boni, locus iste locorum
Continet, omne mali fermentum longius arcet
Regia (Merzdorf falsch!) solis ibi (Merzdorf falsch!) sublimibus alta columnis“.
Diese Verse schópfen die Móglichkeiten des Vergleichs mit der
Rose nach jeder Richtung aus. Besonders fällt das dreimalige
Est locus ... auf. An zweiter Stelle heißt der Platz ‚‚rosae rosa,
campi gloria"; Vogt interpunktiert freilich .... rosae, rosa.
An dritter Stelle scheinen die Res Stadenses mit „ipse rosae“
das Richtige zu bieten; durch die Lesart ipsa rosa (so die
Chronik) wäre kein neuer Vergleich gegeben. So aber bekommen
wir den Gedanken: Es gehórt der Platz ganz der Rose ....
Für ,,mane Cydippe“ erwägt G. Roth (Res Stad. S. 27) „mala
Cydippes“ = Äpfel oder Wange der Cydippe zu schreiben, weil
er das Wortspiel des Dichters offenbar außer Acht läßt. Aber
„mane Cydippe“ paßt gerade sehr gut, wenn man Cydippe als
metaphorisches Gegenstück zu „arens“ nimmt: Cydippe steht
für das Eigenschaftswort ‚rot‘ (vgl. Ov. epist. 19,5 fg.). V. 8f.
heißen demnach so: „Nicht wird diese Rose morgens wie Cydippe
rot sein, am Abend des Tages aber, eben noch blühend, sogleich
verdorrt.''
Sowohl der Inhalt der Verse wie die Ausdrucksweise (Wort-
schatz, Bilder, Wortspiele), auch der Versbau legen durchaus mit
Recht die Annahme nahe, daß der Dichter derselbe sei wie der
des Troilus, was noch wahrscheinlicher wird durch unmittelbar
nachweisbare Parallelen, wie sie oben am Rande verzeichnet
sind. Das letzte Wort jedoch kann darüber erst gesprochen
werden, wenn noch andere wichtige Erwägungen angestellt
sind. (Siehe S. 552ff.)
? Vgl. Troil. IV, 224 (Walter v. Chat., Lieder von St. Omer 24, 3, 6 (Strecker).
* Vgl. Troil. I, 587 und III, 152.
* Vgl. Troil. I, 131 (Ov. met. II, 1).
542 Karl Fiehn
Albertus hat offenbar während seiner Abtregierung viel
kämpfen müssen. Zwar spricht er im Troil. (VI, 683ff.) mit be-
sonderer Anerkennung von dem Geist, der in Stade wie in Rosen-
felde geherrscht habe; aber diese Worte dürften nur als dichte-
rische, rhetorische Wendungen zu gelten haben. Denn in der
Weltchronik (S S XVI) erzáhlt er uns zum Jahre 1240, daB
er damals wegen des Sittenverfalls im Kloster seine Abtwürde
niedergelegt habe und in den Minoritenorden übergetreten sei.
Schon lange habe er mit Besorgnis die Lockerung der Mónchs-
zucht, die der hl. Benedikt jedem auferlegte, beobachtet und der
Stelle in der Regel (c. 58) gedacht, wo gesagt wird, daB derjenige,
welcher dieselbe zu befolgen gehalten ist und sie nicht befolgt
hat, wissen solle, er sei von Gott verdammt, welchen er ver-
spottet. Bei einem Besuch in Rom 1236 suchte er vom Papst
Gregor IX. zu erwirken, daB das Kloster unter die strengere
Zisterzienser-Regel gestellt würde, ,,damit so die dort lebenden
Brüder unter der Beobachtung der heil. Regel den jüngsten Tag
und die Ankunft des gestrengen Richters ohne die schwerste
Gefahr für das Heil ihrer Seelen erwarten könnten‘. Der Papst
erlieB daraufhin ein Schreiben an den Erzbischof von Bremen
Gebhard II., in dem er kundtat, „daß wir ..... auf Bitten des
Abtes desselben Klosters (nàmlich der hl. Maria in Stadium)
heilsam Abhilfe zu treffen wünschen‘, und anordnete, falls das
Kloster sich durch seine eigene Regel nicht reformieren lasse,
eine Umwandlung in ein Zisterzienserkloster ins Auge zu fassen;
dabei sollten die Mónche, die sich etwa weigerten, eine derartize
Reform mitzumachen, in andere Benediktinerniederlassungen
geschickt werden, und solche, die zuchtlos seien, der kirch-
lichen Disziplin unterworfen werden. In Ausführung des Papst-
schreibens berief der Erzbischof am Tage der Maria Magdalena
(22. Juli) den Abt und den ganzen Konvent nach seiner Kapelle
in Stade; er scheint sich jedoch nach Verlesung des päpstlichen
Briefes mit der Mahnung begnügt zu haben, man solle mit der
alten Ordensregel selbst zu reformieren suchen, sonst müsse er
dem päpstlichen Befehl folgen. Aber wie an vielen Stellen
Deutschlands, so fand auch in Stade der Zisterzienserorden fast
einhellige Ablehnung (vgl. Hauck, Kirchengeschichte IV?, S.
347f.); die alten Benediktinerorden wollten sich Eingriffe in ihr
Leben nicht gefallen lassen. Dabei muß zugegeben werden, daß
Albertus Stadensis 543
vielfach schwere Verstöße gegen die Vorschriften des hl. Benedikt
vorlagen. Drei Jahre, so heißt es, wartete Albert, daß durch-
greifende Maßnahmen ausgeführt wurden; aber auch der Erz-
bischof und das ganze Domkapitel in Bremen schienen die Sache
nicht ernst zu nehmen, obwohl der Abt es nicht an mahnenden
Vorstellungen fehlen ließ. Daher gab Albert schließlich sein
Bemühen auf und legte 1240 sein Amt nieder.
Ein Zeugnis für den Ernst seiner Bestrebungen und für die
Anerkennung, die diese auch gefunden haben mögen, haben wir
in den Annal. Hamburg. (SS XVI, S. 383) zum Jahre 1238
erhalten in den Versen:
Tres, ubi crescit olus, nec erant tunc sydera, solus
Abbas Albertus posuit radiantia quercus.
Diese Worte sind, wie mir scheint, bisher falsch gedeutet worden.
Lappenberg (Arch. f. ältere deutsche Gesch., Bd. VI, 328) nennt
sie „rätselhaft“ und meint, sie „sollten uns vielleicht die Nach-
richt aufbewahren, daß er (Albert) damals in den Kohlgarten
des hernach Sternberg benannten Dorfes (im Kirchspiele St. Wille-
hadi vor Stade) drei Eichen gepflanzt habe“. Und Weiland
(Forsch. z. deutsch. Gesch., Bd. XIII, 169, Anm. 5) kann diese
Worte nicht rätselhaft finden; er sieht in ,,ubi crescit olus“ eine
Zeitbestimmung, „im Frühsommer“, und bezieht „radiantia“
zu „sydera“. Darnach übersetzt Weiland die Verse so: Als der
Kohl ausschlug und der Himmel mit Wolken bedeckt war, hat
der Abt Albert drei Eichen gepflanzt. In welchem Zusammen-
hang Weiland sich das gesagt denkt, verschweigt er. — Es ist
wohl außer Zweifel, daß die Verse anders verstanden werden
müssen. Das Jahr 1238, unter dem sie in den Annal. Hamb. an-
geführt werden, gehórt in die Kampfzeit Alberts um Besserung
des Lebens in seinem Kloster. Auf diese Krise spielen ganz
offenbar die Verse an, und zwar in einem Bilde: ,, Wo Kohl (ge-
deiht) gedieh und keine Sterne damals schienen, dort war es der
Abt Albert allein, der drei Eichen als Leuchten (nämlich kraft-
vollen Glaubens) aufrichtete.“ Für die übertragene Bedeutung
von „Olus“ im Sinne des Minderwertigen ist auf zwei Parallelen
zu verweisen. Troil. II, 128 besagt es „allerlei“, das aber dem
„minderwertig‘‘ nahesteht; Sedul. carm. Pasch. I, 15f., wahr-
scheinlich Alberts Vorbild an dieser Stelle, gebraucht „olus“
ausdrücklich im Gegensatz zum Wertvollen: doch wir pflückten
544 Karl Fiehn
aus ärmlichem Garten nur Geringes, was der irdene Krug als
Kohl zur Mahlzeit liefert (oder mit anderer Zeichensetzung:
wir pflückten nur geringen Kohl, den der ird. Krug z. M. liefert)
(vgl. S. 562). Keine Sterne scheinen, völlige Finsternis herrscht,
wo der Teufel sein Reich errichtet hat oder wo eben das Minder-
wertige gedeiht. Da haben wir die Anspielung auf die schlechten
Zustände im Stader Marienkloster, unter denen Albert so litt,
wie er es in seiner Chronik zum Jahre 1240 äußert. Eichen
galten nach mehreren Bibelstellen als Sinnbilder der Glaubens-
kraft; drei Eichen mußte wohl Albert pflanzen nach Maßgabe
der Heiligkeit dieser Zahl, die ja den dreieinigen und doch
einen Gott darstellte. Bei dieser Deutung der Verse wird man
auch dem „Tres“ am Anfang des ersten Verses gegenüber dem
„Solus“ am Schluß gerecht: der Abt Albert stand ja schließlich
allein" mit seinen Erneuerungsbestrebungen; ebenso kommt
jetzt „radiantia“ an seinen rechten Platz, es kann nämlich nur
Prädikatsnomen zu „tres quercus“ und Gegenstück zu ,,nec ...
sydera" sein. Nach alledem darf man wohl annehmen, daB die
Verse uns ein lobendes Urteil über Alberts Reformbemühungen
in seinem Kloster bieten.
Aber noch aus anderen Gründen sind die besprochenen
Verse hier zu betrachten. Es geht ihnen nämlich in dem Ab-
schnitt zu 1238 in den Annal. Hamb. der Satz voran: ,,Comes
Adolfus cum uxore sua Heilewiga Livoniam ivit." Unter den
Teilnehmern an diesem hier erwähnten Zuge Adolfs von Hol-
stein nach Livonien (Livland) suchte man bisher stets auch
Albert von Stade, weil man die Verse „Tres, ubi crescit ...."
glaubte mit der Nachricht von der Fahrt Adolfs verbinden zu
müssen. Schon die Lübecker Chronisten Detmarus und Rufus
scheinen daher ihr Wissen zu schópfen, wenn sie schreiben:
se hadden mit en den abbet Alberte van Staden (Chron. deutsch.
Städte 19, S. 318). Aber, wie Vergleiche mit anderen Ab-
schnitten solcher Annalen und Chroniken zeigen, sind oft ver-
schiedene Nachrichten zu den einzelnen Jahren ohne inneren
Zusammenhang aneinander gereiht. So auch hier. Nach der
obigen Erklärung der Verse beziehen sich diese auf Vorgänge
in der Heimat und enthalten nichts, was zu. dem Unternehmen
Adolfs von Holstein passen kónnte. Albert war gar nicht mit
in Livonien. Andernfalls hätte er auch in der Weltchronik
Albertus Stadensis 545
nicht völlig davon geschwiegen (vgl. vielmehr seine Bemerkung
zum Jahre 1238, die fast der in den Annal. Hamb. gleicht).
Dazu kommt, daß eine Urkunde vom Oktober 1238 (siehe
oben S. 538), die zu Stade ausgestellt ist, seine Unterschrift
trägt, ein unwiderleglicher Beweis, daß er zu der Zeit in der
Heimat war. So kann man mit Bestimmtheit sagen, daß Albert
von Stade nicht mit Adolf von Holstein nach Livland ge-
zogen ist.
Der Übertritt Alberts zu den Minoriten und sein Verzicht
auf die Abtwürde im Stader Marienkloster erfolgten im Jahre
1240, wenn wir der Chronik glauben dürfen (SS XVIS. 366).
Nach deren Rechnung wurde Albert 1232 Abt und weilte 1236
(Merzdorf falsch: 1234) in Rom; daraufhin äußerte sich der
Papst noch im selben Jahre am 6. Mai an den Erzbischof von
Bremen, wie oben dargelegt. Am 21. Juli fühlte sich der Erz-
bischof veranlaBt, eine Versammlung des Konventes abzuhalten
und an der Hand des Papstschreibens Alberts Reformgedanken
dringend zu empfehlen. „Mehr als drei Jahre“ wartete Albert
auf die Erfüllung seiner Forderungen, ehe er sich zum Rück-
tritt vom Amte des Abtes entschloß. Demnach kommt man
leicht in das Jahr 1240, in dem sich Albert am 20. August, an
einem Montage, unter die Minderbrüder begab und zum Nach-
folger den Abt Thiderich (Tirricus oder Theodoricus, siehe oben
S. 540), Mönch von Rarstede (Rastede im Herzogtum Olden-
burg), erhielt. Wir könnten uns mit diesen Feststellungen be-
gnügen, wenn nicht der Äbtekatalog von Stade abweichende
Zahlen brächte. Dort heißt es: (Albertus) rexit annis X et
resignavit; dazu war sein Amtsantritt für 1233, wie nach Lap-
penbergs Anmerkung ursprünglich geschrieben war, angesetzt.
Demnach hätte Albertus 10 Jahre das hohe Amt innegehabt,
also 1233—1242, und entsprechend beginnt auch im Äbte-
katalog der Nachfolger Alberts mit dem Jahre 1242. Nach der
Chronik wirkte Albert als Abt 1232—1240. Bei der Erwägung,
welche Rechnung vor der anderen mehr Vertrauen verdient,
wird man sich zu der Überlieferung, die Alberts Weltchronik
gibt, neigen. Denn es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie
gerade in diesem wichtigen Punkte von Alberts Leben ungenau
sein sollte; ferner wird die Zeitordnung der Weltchronik dadurch
gestützt, daß die Weihe Alberts mit der Sendung Balduins im
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 35
546 Karl Fiehn
Jahre 1232 zusammenstimmt. Es erscheint ausgeschlossen,
daß Balduin den Albertus, wenn er erst 1233 Abt geworden
wäre, hätte weihen können; denn Balduin hätte nach seiner
Abordnung und Weihe im Jahre 1232 nicht ein ganzes Jahr
vergehen lassen, ehe er seine wichtige Mission durchführte,
Es wird wohl ein Fehler im Äbtekatalog vorliegen.
Noch ein Wort darüber, daß Albertus seinen Nachfolger
Thiderich „monachus von Rarstede“ nennt (SS XVI S. 366).
Ist dieser Mónch erst als Abt nach Stade gekommen und ge-
hórte er etwa zu der scharfen Richtung, die Albert vertrat?
Letzteres liegt umso näher, als Albertus im Troil. VI 689ff. den
Thidrich besonders feiert und hervorhebt, er selbst sei „non
ultimus inter amicos" dieses Mannes gewesen. Außerdem fällt
auf, daß Albertus zum Jahre 1240 erzählt, an der vom Erz-
bischof Gebhard II. berufenen Versammlung der Mónche des
Marienklosters habe neben zwei Minoriten auch ein Mónch von
Rarstede, namens Johannes, ebenfalls später Minorit, teil-
genommen. So könnte man glauben, daß Alberts Drängen auf
größere Strenge doch wenigstens den Erfolg gehabt hat, daß
man einen Abt aus einem Kloster mit straffer Zucht an seiner
Statt wählte.
Über das Wirken Alberts als Minorit wissen wir nichts.
In einer Urkunde des Jahres 1250 (Hamb. U. B. IS. 467) wird
er als „frater Albertus, quondam abbas beate Marie in Stadio“
erwähnt. Auch in der Handschrift des Troilus heißt es am
Anfang: „Incipit .... qui postea factus est frater minor.“
Übrigens steht tatsächlich „minor“, nicht „minorum“ da, wie
Peiper (Jen. Literaturzeit. 1875 S. 547) Merzdorf gegenüber be-
hauptete; ein Kompendiumzeichen bei „minor“ ist nicht vor-
handen. —
Das Todesjahr Alberts kónnen wir ebenso wie das Geburts-
jahr nur vermutungsweise angeben. Der Äbtekatalog verzeichnet
allein den Todestag, den 9. Februar. Einen terminus post quem
erhalten wir durch die Chronik Alberts, aber freilich auch einen
schwankenden. Wenn die Eintragungen des Todesjahres
Alexanders IV. und der Regierungszeit Urbans IV. 1961—1264
von Albert zweifellos stammten, dann wäre er nach 1264 ge-
storben (vgl. S. 549). Da aber der Papstkatalog in der Chronik
sehr wohl durch andere in dieser Weise ergänzt sein kann, ist
LT F2.
ao — Pr — . sy P — — PA Ey "2 — -5.
Albertus Stadensis l 547
es auch möglich, Alberts Tod schon ins Jahr 1256, in dem die
letzte Bearbeitung der Chronik nachweislich (vgl. zum Jahre
532) stattgefunden hat, zu setzen.
2. Die Werke Alberts.
Im Katalog des Augustinerchorherrnstifts Bordesholm-
Neumünster (Kieler Universitätsbibliothek MS. Bord. 1, a b
fol), der, wie am Schluß bemerkt im Jahre 1488 zusammen-
gestellt ist, sind unter Afol. 1" folgende Werke Alberts ver-
zeichnet: ; °
Alberti abbatis Stadensis Troilus G XVIII. (in gleichem Titel noch einmal
unter T fol. 797 und im Standortsregister fol. 90Y ).
Auriga Alberti abbatis in Stadis continens concordantias ewangeliorum F XV
(in fast gleichem Titel noch einmal unter A fol. 6” (bei Auriga), nur daß
hier ewangelistarum zu lesen ist, und im Standortsregister fol. 907 Auriga
Alberti abbatis Stadensis).
Alberti abbatis Stadensis cronica usque ad annos MOOXL G VIII. (fol. 18 7
unter C: Cronica & principio creationis mundi usque ad annum 1240. und
fol. 90% im Standortaregister: Cronica Alberti abbatis Stadensis a principio
mundi usque ad annum domini MCOLVI III).
Alberti abbatis Stadensis Raymundus metricus N XXVI (in gleichem Titel
noch einmal fol. 63" unter R und dann noch einmal im Standortsregister
fol. 957 mit vollständigerem Titel Summa Raymundi metrica Alberti
Stadensis abbatis).
Am bekanntesten von diesen Werken Alberts waren stets
die Cronica, deren Titel freilich umstritten ist. Lappenberg
hat seiner Edition dieser in den SS XVI S. 271ff. den Titel
vorangestellt „Annales Stadenses auctore Alberto“, und nach
der Praefatio dem eigentlichen Geschichtswerk die Überschrift
gegeben „Annales Alberti abbatis Stadensis.“ Wie Lappenberg
zu diesen Bezeichnungen kommt, sagt er a. a. O. S. 280, wo er
sich auf die Worte von Alb. Crantzius, Metropolis VIII, 2 be-
ruft: Albertus Stadensis abbas quem sequimur authorem in
antiquitatibus huius regionis, scripsit enim temporum annales.
Hier sei, so meint Lappenberg, ganz deutlich Alberts Geschichts-
werk mit „Annales“ bezeichnet; man habe daraus zu lernen,
daß das der richtige Titel sei für das uns vorliegende Buch,
und nicht etwa eine verlorene Schrift Alberts, die so benannt
gewesen sei, anzunehmen. Scheint es auch zweifellos, daB
Crantzius auf das uns bekannte Geschichtswerk Alberts an-
spielt, so ist es doch keinesfalls erwiesen, daB er den genauen
35*
548 Karl Fiehn
Titel und nicht nur eine allgemein charakterisierende Bezeich-
nung des Werkes mit ‚temporum annales“ geben will, wie ja
auch hinter dem ,,authorem in antiquitatibus huius regionis"
kein bestimmter Titel eines Werkes vermutet wird. Dazu kommt,
daB, selbst wenn wir von Crantzius den Titel „Annales“ über-
nehmen wollten, wir für den Zusatz „Stadenses‘‘ doch keinerlei
Stütze fánden. Schon Wattenbach beanstandet in der Ein-
leitung zu der deutschen Ausgabe „Die Chronik des Albert
von Stade" in der Sammlung ,,Geschichtsschreiber der deut-
schen Vorzeit“ Bd. 72 2. Ausgabe S. VIII, daß Lappenberg die
Überschrift „Annales Stadenses“ gewählt hat. Er meint, es
seien „keine Annalen von Stade, sondern die Absicht war, eine
Weltchronik zu schreiben, wenn auch, wie in der Regel die
Chroniken, nach Jahren geordnet, und am Schluß mit gleich-
zeitigen Aufzeichnungen fortgeführt“.
Wir sehen, für den Titel „Annales Stadenses“ ist eigentlich
keine stichhaltige Begründung vorhanden. Dagegen haben wir
eine gute Überlieferung, die für „Cronica“ spricht. Lappenberg
wußte offenbar nichts davon, daß im Bordesholmer Katalog
auch die „Cronica“ Alberts unter seinen Werken angeführt
werden; denn sonst hätte er das gewiß beachtet und auch darauf
Bezug genommen, als er S. 271 Anm. 1 mitteilte, daß in dem
cod. Guelferbitanus, den er für seine Ausgabe benützte, „a manu
satis recenti“ geschrieben sei: „Chronica Alberti abbatis Sta-
densis cum supplementis." Zu diesen Zeugnissen kommt noch
des Reineccius Ausgabe 1587, auf die auch Lappenberg a. a. O.
S. 283 verweist; diese war auf Grund des jetzt verlorenen
cod. Ranzovianus (einstmals im Besitz des holsteinischen
Ritters Rantzau) entstanden. Reineccius bemerkt in der Ein-
leitung, daB der Titel des Werkes nicht feststehe, aber in einem
alten Register (wohl der Bordesholmer Katalog gemeint) heiBe
es „Chronica Alberti Stadensis"; er entscheide sich daher für
„Chronicon Alberti Stadensis“, denn damit sei der Inhalt des
Buches am vollständigsten angedeutet. Nach alledem halte
ich es für richtiger, von den Chronica Alberts zu sprechen.
Merkwürdigerweise gibt Steffenhagen (Die Klosterbibliothek
zu Bordesholm S. 4) an, daß die im Katalog von B. geführte
Chronik des Albertus Stadensis verloren sei wie der Auriga
desselben Verfassers. Dazu wird auf SS XVIS. 280 verwiesen,
Albertus Stadensis 549
wo aber, wie schon gesagt, Lappenberg die Annales (= Chro-
nica) gerade für das einzige Geschichtswerk Alberts erklärt und
den Verlust eines zweiten bestreitet.
Über die Entstehung der Chronik bietet Reineccius wieder
aus dem cod. Ranzovianus eine sonst nicht überlieferte Notiz:
Librum hunc conscribi fecit Albertus, abbas S. Mariae virginis
in Stadio, postea Minor frater ibidem, perducens narrationem
rerum usque ad annum Domini MCCXL, scilicet usque ad
annum Gregorii Papae IX decimum quartum, Frederici II vi-
gesimum etc. Aus dem ersten Teil dieser Worte ist zu erkennen,
daß Albertus, wohl in seiner Abtzeit 1232—1240, die Mönche
zur Ausarbeitung dieser Jahresbücher veranlaßt habe; er mag
sich die letzte Hand an dem Ganzen vorbehalten haben, aber
die zeitraubende und anstrengende Sammelarbeit war demnach
auf mehrere Kräfte verteilt. Mit dem Austritt Alberts aus dem
Stader Marienkloster im Jahre 1240 fand das Werk fürs erste
seinen Abschluß und erhielt auch damals die Vorrede (SS XVI,
S. 283), die vom Standpunkt des Jahres 1240 aus geschrieben
ist; in diesem Jahre ist auch gewiß eine letzte Durchsicht er-
folgt, wie z. B. Bemerkungen zum Jahre 1202 zeigen: Senior
vocabatur Redwinus, iunior Ethelerus, ambo adhuc super-
stites, scilicet anno Domini 1240. Schwerlich aber ist aus der
Vorrede zu schließen, daß das ganze Werk erst im Jahre 1240
entstanden sei. „Dies setzt“, wie Weiland (Forsch. z. deutsch.
Gesch. XIII 164) sagt, „bei dem jetzigen Umfang des Werkes
eine fast übermenschliche Arbeitskraft voraus“; Weiland sieht
freilich in Albert den alleinigen Verfasser der Chronik. Aber
selbst wenn man mehrere sich in die Arbeit an dem umfassenden
Werk teilen läßt, wäre sie kaum in weniger als einem Jahr zu
schaffen, da die Mönche nur eine begrenzte Zeit für diese Tätig-
keit zur Verfügung hatten, und ihr Abt durch seine Reform-
bestrebungen, gerade im Jahre 1240, zweifellos stark bean-
sprucht und beunruhigt war. Als Minorit, der großen Pflichten
eines Abtes ledig, mag sich Albert wieder seine Chronik vor-
genommen und sie sicherlich überarbeitet sowie bis zum Jahre
1256 erweitert haben; Weiland a. a. O. rechnet sogar mit einer
wahrscheinlich von Albert stammenden Fortsetzung bis zum
Jahre 1265, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Neben
Weiland hat das alles Lappenberg a. a. O. S. 274ff. ausführlich
550 Karl Fiehn
behandelt. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß im Bordes-
holmer Katalog zweimal als Abschlußjahr der Chronik 1240
begegnet, und einmal, im Standortsregister, also am Ende des
Katalogs, 1256. Daß es sich nicht um verschiedene Ausgaben
handeln kann, geht daraus hervor, daß alle drei Eintragungen
mit derselben Standnummer versehen sind. Die Kloster-
bibliothek von Bordesholm hatte ganz offenbar die auch uns
vorliegende Fassung der Chronik bis zum Jahre 1256 in ihrem
Bestand. Aber der Katalogverfasser hat die ersten beiden
Notizen nach dem Blatt der Vorrede gemacht, in der als Zeit
des Werkes 1240 genannt wird; als er dann jedoch das Stand-
ortsregister machte, ist ihm die spätere Weiterführung bis 1256
zum Bewußtsein gekommen und nun auch verzeichnet worden.
Wir wenden uns jetzt dem Werk Alberts zu, das im Bordes-
holmer Katalog an zweiter Stelle unter „Albertus“ erscheint,
dem ,Auriga". Weder Merzdorf noch Lappenberg haben ge-
nügend den erklärenden Zusatz beachtet, mit dem der Katalog-
verfasser den „Auriga“ versehen hat: continens concordantias
ewangeliorum (bzw. ewangelistarum). Merzdorf (Bibliotheka-
rische Unterhaltungen, Neue Sammlung 1850, S. 12) notiert
dafür einfach: Auriga (super IV evangelia) und Lappenberg
übernimmt dies. Der Zusatz in dem Katalog ist deshalb so
wichtig, weil wir uns aus ihm allein ein Bild von dem Inhalt des
„Auriga“ machen müssen. Denn das Werk selbst ist verloren.
wenigstens bisher nirgends aufgefunden. Es ist weder in der
Kieler Universitätsbibliothek noch in den Kónigl. Bibliotheken
Kopenhagens oder Soroes (Seeland), wohin über die Gottorfer
Bibliothek im wesentlichen die einst geretteten Schätze der
Bordesholmer Stiftsbibliothek gelangt sind. (Merzdorf a. a. O.
S. 76. Steffenhagen-Wetzel, Die Klosterbibliothek zu Bordes-
holm S. 81 Anm. 103.) Ebensowenig ist der „Auriga“ in dem
Zisterzienserstift Neukloster in Wiener-Neustadt, wohin einiges
aus Bordesholm gekommen ist (Anz. für Kunde der deutsch.
Vorzeit 1854, 5ff. und 27ff.), nachzuweisen. Nur eine Möglich-
keit, auf den „Auriga“ einmal zu stoßen, gibt es noch. In Rom
nämlich wird auch Bordesholmer Gut bewahrt, wie aus Joh.
Carl Dreyers Notitiae librorum manuscr. hist. Cimbr. 1759,
S. 86/87 zu ersehen: Reformationis aevo Monachi occupatissini
fuerunt cimelia quaevis, diplomata et chartularia vel ad lares
Albertus Stadensis 551
domesticos papales vel ad montem Cassini Romamque
transmittere, adhibito omni modo possibilitatis et imposturae.
Ipse ex ore b. Reinbothii percepi praecipuum quendam Purpu-
ratum retulisse ipsi et aliis, quod Romae olim viderit ingens
„volumen rerum Bordisholmensium‘ et in transcursu
brevi annotationes de relictis Bordisholmiae thesauris et redi-
tibus reconditis. So wäre es nicht ausgeschlossen, daB eines
Tages der bisher vermißte Auriga in Rom ans Licht käme.
Aber es ist auch gewiD, daB viel aus den Schátzen Bordesholms,
namentlich im 17. Jahrhundert, dem Untergang verfiel (Merz-
dorf a.a. O. S. 10. Ratjen, Zur Geschichte der Kieler Universi-
tátsbibliothek 1862 S. 6f.), und es muB damit gerechnet werden,
daß damals auch der „Auriga“ vernichtet wurde.
Was mag nun sein Inhalt gewesen sein? Wir wissen zunächst
nicht, ob das Buch eine Dichtung oder ein Prosawerk war; der
Katalogschreiber hat leider nur hinzugesetzt: continens concor-
dantias ewangeliorum (bzw. ewangelistarum). Sehr wahr-
scheinlich folgte er darin nicht einer entsprechenden náheren
Bestimmung durch Albert selbst, sondern gab nur seinen Ein-
druck wieder. Albert konnte damals kaum von einer Concordanz
sprechen; denn der hl. Antonius von Padua (1195—1231) soll
zum erstenmal ein derartiges wissenschaftliches Hilfsmittel
verfaßt haben, und zwar in Gestalt einer Realconcordanz;
diese ist „ein Verzeichnis von Predigtstoffen mit Angabe der
entsprechenden Bibelstellen“ (Buchberger, Kirchl. Handlex. I,
625). Verbalconcordanzen, d. h. Zusammenstellungen von Bibel-
versen nach bestimmten Stichworten, gab es erst später.
Hátte Albert schon sein Buch eine Concordanz genannt, und
wäre es in vollem Sinne eine solche gewesen, so wäre nicht zu
verstehen, warum er nicht neben Antonius von Padua als früher
Verfasser von Concordanzen erwáhnt wird. Aber sein Werk
wird nur eingeschränkt diesen Titel verdient haben. Es war
vielleicht nach Art einer Realconcordanz angelegt, indem
Predigtstoffe nicht nur verzeichnet, sondern auch gleich be-
handelt waren; ferner berücksichtigte er nicht die ganze Bibel,
sondern nur die vier Evangelien. Und was die Form anbetrifft,
so kann er sich der metrischen Rede bedient haben. Das alles
mag veranlaBt haben, daB er nicht als Mitbegründer der eigent-
lichen Concordanzen galt.
C,
552 Karl Fiehn
Der Titel „Auriga“ scheint auf den ersten Blick recht gut
zu einem Werk zu passen, das einer Realconcordanz ähnelt.
Diese will ja ein „Führer“, ein „Lenker“ anderer durch die
vier Evangelien sein. Und wenn man dem Bilde weiter nach-
geht, so gehört zu dem ,,auriga" auch eine „quadriga“, ein
Wagen, der die Belehrung suchenden Menschen trägt. In dem
Gedichte Alberts, Troilus, stoßen wir II, 123f. auf eine für uns
sehr wichtige Stelle:
Sudavit nostris per te Raymundus in armis;
Scit tibi bis binis ire quadriga rotis.
Die Verse stehen in einer Rede, die der Dichter das erzürnte
Metrum halten läßt, für den Fall, daß er etwa Fehler gegen die
Versgesetze beginge. Dann würde ihm manches andere Werk,
das er in Unterwerfung unter die Versgesetze geschaffen, vor-
gehalten werden, so der „Raymundus“ (siehe unten), und dann
würde es heiBen: ,,scit tibi bis binis ire quadriga rotis", ,,Dein
Wagen fährt doch gut auf seinen vier Rädern dahin", das be-
treffende Gedicht also ist in seinen Versen einwandsfrei. Welches
Gedicht ist hier gemeint? Am nächsten liegt, daß es , quadri: a“
geheiBen habe. M
In der Tat wird uns ja ein solcher Gedichtstitel überliefert
und auch mit Albert von Stade in Verbindung gebracht. Im
Chronicon des Klosters Harsefelde oder Rosenfelde (Joh. Vogt,
Monum. ined. rer. Germ. 1741, I, 136) wird nämlich erzählt, daB
ein ,,quidam" das Kloster Harsefeld ‚in quodam metrico libro
qui dicitur quadriga (continet enim quatuor Evangelia)" ge-
rühmt habe; darauf folgen als Beispiel einige Verse aus dem
Gedicht, die oben (S. 540) besprochen worden sind. Es fällt
hier sogleich auf, daß der Inhalt des metricus liber die vier
Evangelien seien. Das läßt uns ohne Zwang an den ,,Auriga"
denken. Dieses Werk hatten wir oben als eine Realconcordanz
bezeichnet, von der man nicht eigentlich sagen kann, daß sie
die vier Evangelien enthalte; vielmehr handelt es sich um Er-
klárungen zu den Evangelien, um Ausführungen über ihren
Inhalt. Wenn man genau der Angabe der Chronik von Harse-
feld folgt, dann bestand die „ Quadriga“ genannte Schrift aus
den vier Evangelien. Ganz offenbar wird „quatuor evangelia“
ausdrücklich mit ,,quadriga", als Viergespann gedacht, in Ver-
bindung gebracht, ein Bild, das man z. B. auch gern gebrauchte
Albertus Stadensis 553
für die vir Tugenden u. à. (vgl. Du Cange). Man müßte dem-
nach in dem Buch eine Zusammenstellung der vier Evangelien
vermuten, etwa mit Einleitungen, einzelnen Erklärungen,
Bildern usw. Wie paßt das aber dazu, daß „Quadriga“ ein
„metricus liber' ist, und zwar in Hexametern, wie die daraus
angeführten Verse beweisen? In einem solchen Gedicht kónnten
doch die vier Evangelien nur zusammengefaßt vorkommen,
etwa in der Art einer Messiade; aber eine quadriga wäre das
dann nicht. Ein solcher Buchtitel hat nur Sinn, wenn auch eine
Vierheit in dem so benannten Werk zur Geltung kommt. An-
gesichts dieser Sachlage erhebt sich die Frage, ob vielleicht die
Inhaltsandeutung für die ,,Quadriga" ungenau und nicht
treffend genug gegeben ist, ob man nicht an ein Werk zu denken
habe, wie es der ,,Auriga" gewesen sein muß.
Tatsächlich legt ja die innere Beziehung der beiden Titel
eine solche Frage nahe. Lappenberg hat daher folgenden Weg
beschritten (S S XVI 272). Ausgehend von der Beobachtung,
daB die aus der sog. „Quadriga“ wiedergegebenen Verse im
Inhalt und in der Form den Versen Alberts von Stade im
Troilus VI, 670ff. ähneln (siehe oben S. 540), erklärt er, daß
der als ,quidam'' bezeichnete Dichter kein anderer als Albert
Seiu könne und wir nunmehr den richtigen Namen seines Ge-
dichtes, nämlich „ Quadriga“, vor uns hätten; „Auriga“ erweise
sich deutlich als eine Verschreibung im Bordesholmer Katalog.
Merzdorf hat dann in seiner Troilusausgabe, Praef. 6, Lappen-
berg zugestimmt und noch bekráftigend hinzugefügt, daB im
Bordesholmer Katalog die Verschreibung von ,,Quadriga" zu
„Auriga“ ganz erklärlich sei. Der Schreiber habe nämlich vorher
„Auroga Petri de Riga" und „Aurora Petri de Riga“ gesehen
und, mit diesen Titeln im Sinne, „Auriga“ hingeschrieben statt
„Quadriga“. Dieser Hinweis Merzdorfs ist hinfällig. Denn im
Standortsregister fol. 901 des Katalogs, worauf sich Merzdorf
allein bezieht, könnte allenfalls eine solche Erklärung gelten.
Aber der „Auriga“ erscheint noch außerdem an zwei anderen
Stellen im Katalog, wo ein Verschreiben nicht moglich ist:
unter „Albertus“ fol. 1Y in der Aufzählung von Alberts Werken
und unter Au— in der Reihenfolge des Buchstabens A fol. 67,
wo der Titel ,, Auriga" Alberti usw. auf der letzten Zeile steht
und am Anfang oben von fol. 6“ „Auroga Petri de Riga“ folgt.
554 Karl Fiehn
Also „Auriga“ ist wohl damit als unantastbar anzusehen; mit
einer Verschreibung oder Verwechslung kann nicht gerechnet
werden, wenn dreimal einwandsfrei der gleiche Titel im Bordes-
holmer Katalog geführt wird. Ebensowenig ist Albert als Ver-
fasser des „Auriga“ anzuzweifeln. Dagegen fällt es sehr auf,
daß unter den Schriften Alberts im Bordesholmer Katalog kein
Gedicht „ Quadriga“ aufgeführt wird.
Demnach werden wir umgekehrt als Lappenberg verfahren
müssen. Der ‚„quidam‘, der die „Quadriga‘‘ gedichtet hat, ist
nicht ein „monachus Rosenveldensis", wie Lappenberg unbe-
gründeterweise annimmt; dann kónnte er ja auch auf keinen
Fall Albert von Stade sein, der dem Kloster Rosenfeld nie
nachweisbar angehört hat. Zu diesem paßt es jedoch, daß der
Dichter als ,tam honestatem quam eiusdem loci religionem
diligens et admirans' bezeichnet wird, und zwar noch mehr,
wenn diese honestas und religio wurzeln, wie der Chronist S. 136
schildert, in der Zisterzienserbewegung, die durch die Mónche
von Hilsineborch (Ilsenburg) von Halberstadt her nach Harse-
feld kam. Zudem wissen wir aus Troil. VI, 670ff., wie hoch das
Mutterkloster des Marienklosters von Stade in Alberts Liebe
steht. Endlich haben wir oben die Übereinstimmung der Vers-
technik und des dichterischen Ausdrucks zwischen der Troilus-
stelle und den Quadrigaversen gesehen. So ist es gewiB nicht
gewagt zu schließen, daß der vom Rosenfelder Chronisten
nicht genannte Dichter des metricus liber Albertus Stadensis ist.
Wir kehren nun zu der Frage zurück, was in der,, Quadriga
gestanden haben mag. Die vier Evangelien konnten es nicht
sein, wie wir gezeigt zu haben glauben, vielmehr muß es ein
metrisches Werk über diese gewesen sein. Dann würde aber
die „Quadriga“ inhaltlich dem „Auriga“ ähnlich sein, ja die
Identitàt beider offensichtlich. Darin wird man Lappenberg
recht geben, nur daB wir jetzt sagen, der echte Titel des Werkes
ist ,, Auriga", der mehrfach gestützt ist. Und weiterhin: der
„Auriga“ ist somit auch ein Gedicht Alberts in Hexametern,
von denen uns eine Probe in der Rosenfelder Chronik vorliegt,
dort freilich angeblich der,, Cuadriga“ entnommen. „Quadriga“
wird eine zweite Bezeichnung sein, unter der der ,, Auriga" be-
kannt war. Sie entstammte vielleicht einem ausführlicheren
Titel, der das Bild vom ,,Auriga" etwa in dem Sinne vervoll-
Albertus Stadensis 555
ständigen sollte: Auriga (qui quadriga evangeliorum studiosos
vehit). Jedenfalls nimmt der Dichter, wenn wir Troil. II, 123f.
richtig deuten, auf sein Gedicht mit dem Wort „quadriga“
Bezug, indem er eben mit dem „auriga“ die „quadriga‘‘ ver-
bindet, die nicht nur im verstechnischen Sinne eingeführt wird,
sondern gewiß auch als der Wagen gelten soll, auf dem die
Gláubigen in die Evangelien getragen werden. Der Name
„Quadriga“ hat sich vielleicht besonders leicht eingebürgert,
weil man ihn, unter Umstànden ohne Willen des Dichters, mit
der Vierzahl der Evangelien in Zusammenhang brachte.
Bisher nirgends beachtet worden ist das Werk Alberts, das
im Bordesholmer Katalog fol. 1 unter „Albertus“ an letzter
Stelle steht, der , Raymundus metricus" oder Summa Ray-
mundi metrica, wie fol. 95" im Standortsregister gesagt ist.
Von dieser Katalognotiz fállt erst ein wunderbares Licht auf die
schon erwähnten Verse Troil. II, 123f., die bis dahin unklar
bleiben muBten. Was sollte es heiBen: ,,Raymundus hat durch
dich in unseren Waffen geschwitzt“? Es ist deutlich: das
redende Metrum weist den Dichter darauf hin, daB er dem Ray-
mundus seine (des Metrums) Waffen aufgezwungen hat, d. h.
daß sein Raymundus-Gedicht keine Anstöße im Versbau zeigt.
Albertus Stadensis hat somit die Summa des berühmten
Raymundus von Pennaforte metrisch bearbeitet, wie das im
Laufe des Mittelalters viel getan worden ist; gewóhnlich trugen
diese Bearbeitungen den Namen Summulae, da sie nur ver-
kürzte Kompendien der großen Summa Raymunds waren,
in Prosa oder Versen verfaßt. Alberts Arbeit verdient vielleicht
deswegen besondere Beachtung, weil er wahrscheinlich eine der
ersten Zusammenfassungen von Raymunds berühmtem Werk
geschaffen hat, ja unter Umstánden die erste überhaupt. Denn
der Dominikaner Raymundus von Pennaforte war sein Zeit-
genosse. Er lebte zirka 1175—1275 und verfaßte zwischen 1234
und 1244 ein berühmtes moralistisch-kasuistisches Handbuch,
die Summa de poenitentia et matrimonio, die wohl aus seiner
reichen Erfahrung als Poenitentiarius Gregors IX hervorge-
gangen sein mag. Albertus dürfte sich gerade mit diesem Werk
recht gründlich beschäftigt haben, da er, selbst sehr streng ge-
sonnen, 1236 wegen einer Klosterreform nach Rom ging und
dort jedenfalls über diese Angelegenheit mit Raymundus ver-
556 Karl Fiehn
handelt haben wird. Vielleicht trafen sich beide Männer in
ihren Ansichten vom Ernst der Klostergelübde, der Dominikaner
und der spätere Franziskaner, und vielleicht war es auch Ray-
mund, der das für Albert eintretende päpstliche Schreiben an den
Erzbischof von Bremen veranlaßte und wesentlich beeinflußte
(vgl. S S. XVI, S. 366). |
Alberts Dichtung ist wie der „Auriga“ verloren gegangen;
auch hier können wir nur noch hoffen, daß er in Rom verborgen
ist (siehe S. 550). Um uns die Art des ,,Raymundus metricus“
zu vergegenwártigen, müssen wir die einleitenden Verse einer
andern, oft genannten Summula heranziehen, nämlich die des
Adamus, der nach Schulte (Gesch. der Quellen und Literat. des
canon. Rechts II, 427f.) um die Mitte des 14. Jahrhunderts
lebte. Auf Grund einer Berliner Handschrift aus dem Jahre 1415
und einer Druckausgabe, Straßburg 1504, ergibt sich folgender
Textil:
Summula de summa Raymundi prodiit ista;
Non ex subtili, sed vili scribimus ista
Eloquio; placet hec sociis: quia magna studendi
Cura sibi non est, modus his valet ergo loquendi.
5. Inter doctores hunc nolumus ire libellum,
Parvis et rudibus quem tradimus esse legendum!!,
Invenient in eo quid, quod iuvat, utilitatis! .
De sacramentis primo tractatur et indel?*
Hic de baptismo, de coniugio, symonia,
10. Furtis et spoliis usuris atque rapinis,
Sortilegis vitiis carnis tractatus habetur!?,
Hinc sequitur finis confessorum simul actus.
Quedam longavi non inscius et breviavi
Ut melius metro sensus tibi luceat isto.
Áhnlich wie in vorstehenden Versen wird die Herausgabe der
Summula in einer Glosse zur Ausgabe Adams 1504 begründet:
Raymundus (man sah als Verfasser der Summulae den Domi-
nikaner selbst an) ...., qui videns imperitorum clericorum
paupertatem in tantum, quod non poterant eis libros emere
10 Es werden nur die Varianten des Berl. cod., die Sinn geben, hier angeführt.
11 Berl. cod.: Pronis .... traximus .... loquendi.
12 Berl. cod.: Inveniunt .... quidquid manet ........
138 Berl. cod.: Fehlt im Berl. cod.
13 Berl. cod.: Sacrilegis viciis ............
M Fehlt im Berl. cod.
Albertus Stadensis 557
in iure canonico, in quo studere poterant, hanc summulam
compilavit, in qua sub brevibus continentur plura omnibus
sacerdotibus scire necessaria .... Man sieht, die Geistes-
richtung Alberts, die wir kennen gelernt haben, paßt zu seiner
eingehenden Beschäftigung mit dem Werke des berühmten
Ravmundus von Pennaforte.
Endlich möge hier die Dichtung Troilus etwas näher be-
trachtet werden, die im Bordesholmer Katalog unter den
Werken Alberts an erster Stelle steht. Sie ist gut erhalten, in
einer einzigen Handschrift, die jetzt in der Wolfenbüttler
Herzog August-Bibliothek unter Gud. Lat. 378 aufbewahrt wird.
Sie ist zusammengebunden mit kurzen Fragmenten aus Lactanz
und Cornelius Nepos sowie mit einem großen Teil von Ciceros
Philippischen Reden. Der ganze Band umfaßt 162 Blätter;
81—160 enthalten den Troilus. Dieser Teil ist in einer Schrift
des 13. bis 14. Jahrhunderts geschrieben. Am oberen Rande
von Blatt 81, dem ersten also des Troilus, findet sich von einer
Hand des 14. Jahrhunderts „liber sce marie in novo monas-
terio" und nochmals 160Y von derselben Hand ,,l. sce m. vir-
ginis in n.". Darnach ist die Handschrift in Neumünster ent-
standen und von dort bei der Übersiedelung des Konvents
unter dem Propst Heinrich Swineborg nach Bordesholm im
Jahre 1832 mitgekommen; in dessen Bibliothekskatalog ist der
Troilus daher auch aufgeführt, und zwar unter G XVIII. 1606
wurde die Bordesholmer Bibliothek aufgelöst und gab den größten
Teil ihrer Schátze an die Gottorfer. Aus dieser erwarb die
Troilushandschrift Marquard Gude, der berühmte Bibliophile
und Gelehrte des 17. Jahrhunderts, 1671—1678 Bibliothekar
der Gottorfer Bibliothek, für seine Sammlung. Als dann 1710
der wertvolle Nachlaß Gudes in Hamburg versteigert wurde,
kaufte u. a. auch den Troilusband der Herzog Anton Ulrich
von Braunschweig und brachte ihn so in die Wolfenbüttler Bi-
bliothek, wo er sich noch heute befindet (Merzdorf, Bibliothekar.
Unterhalt., Neue Sammlung 1850, S. 4, 78f., und Troilus
praef. VIII und XVII. Steffenhagen-Wetzel, Die Kloster-
bibliothek zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek S. 79ff.,
von Heinemann, Die Handschriften der Herzogl. Bibliothek zu
Wolfenbüttel IV. Abt. Die Gudischen Handschriften 1913,
S. 227f.).
558 Karl Fiehn
Die editio princeps des Troilus machte auf Grund der er-
wähnten Handschrift 1875 Theod. Merzdorf in der Bibliotheca
scriptorum medii aevi Teubneriana und erfuhr eine geradezu
vernichtende Kritik durch R. Peiper in der Jenaer Literatur-
zeitung 1875 S. 547ff. „Es ist aber das Unglück der mittel-
alterlichen Autoren lateinischer Zunge, daß man mit einigen
Reminiscenzen aus der Schulgrammatik und Schullektüre zu
ihrem Verständnis, wohl gar zu ihrer Bearbeitung sich wohl aus-
gerüstet meint‘‘, so schrieb damals Peiper und fügte nach Auf-
zeigung einer Menge von Fehlern am Ende seiner Besprechung
hinzu: „Correxit pigritans“ kann man als Endurteil dem
Dichter VI 695 entlehnen; „labor hic quam scribere maior‘ mag
der ausrufen, der berufen ist, das Werk des Albertus, wie es
vorliegt, von all den tausend Fehlern zu sáubern." Auch Mani-
tius fällte ein ähnlich mißbilligendes Urteil im Lit. Zentral-
blatt 1875 Sp. 1294f. Ein Jahr später hat dann H. Dunger in
Fleckeisens Jahrbüchern Bd. 113 (1876) noch einmal im gleichen
Sinne kritisiert: die Ausgabe des Troilus genüge „selbst geringen
Anforderungen nicht“; auch Dunger hat mehrere Fehler noch
nachgewiesen und zu bessern gesucht.
Trotz dieser starken Ablehnung, die die Erstausgabe des
Troilus erfuhr, sind nun bald 60 Jahre vergangen, ohne daß
man sie durch eine neue ersetzt hätte. Die Folge ist, daß Albertus
Stadensis ein kaum beachtetes Dasein fristet und nur wenige
Arbeiten ihm gewidmet sind. Vor Erscheinen der Ausgabe be-
schäftigte sich mit ihm Dunger in der Programmschrift Dresden
1869: „Die Sage vom trojan. Kriege in den Bearbeitungen des
Mittelalters und ihre antiken Quellen." Nach 1875 gab Chris-
tensen in seinem Buch: „Das Alexanderlied Walters von Cha-
tillon“ einige Parallelstellen, dasselbe tat E. Voigt, ,,Ysen-
grimus“ p. XV für drei Stellen, und endlich notierte M. Mani-
tius in Roman. Forsch. IV 423ff. mehrere Entlehnungen Alberts
aus anderen Dichtern, namentlich aus Galfredus de Vinosalvo,
Poetria Nova im 4. Buch des Troilus.
Nachdem ich die Wolfenbütteler Handschrift selbst ge-
lesen und mit der Ausgabe Merzdorfs verglichen habe, möchte
ich hier einige Fragen zum Text und Inhalt des Troilus
behandeln und damit, wie ich hoffe, eine Neuausgabe vor-
bereiten.
Albertus Stadensis 559
Troil. VI 737f. heißt es: Bis denis adde ter centum milia
quinque, Hoc numero textus texitur historie. Demnach soll
die Dichtung 5320 Verse umfassen, wie am Rand bemerkt ist,
excepto prohemio et capitulis. Wenn man aber die Verszahlen,
die Merzdorf unrichtig angibt, genau feststellt, dann hat B. I
800 Verse (nicht 801; Merzdorf setzt V. 545 falsch); B. II 844
Verse (nicht 850; Merzdorf macht Fehler bei V. 355 und 695);
B. III 878 Verse; B. IV 884 Verse; B. V 1020 Verse; B. VI
880 Verse und 8 Verse des Epilogs (die von Merzdorf als 881f.
gezählten Verse sind in der Handschrift non sunt de texto ge-
kennzeichnet und passen in der Form ja auch tatsächlich nicht
hierher). So ergeben sich nur 5314 Verse.
Wie ist diese Unstimmigkeit zu erklären? Einmal vird
man mit Recht sagen, daß bei Zahlenüberlieferungen leicht
Fehler vorkommen, zumal wenn diese in metrischer Form ge-
geben werden. Auch VI, 715f. paßt die Gesamtzahl der Ge-
fallenen nicht zu den vorher einzeln aufgeführten Zahlen:
Millesies mille permixtim quinque trecenta Et decies (Dunger
hatte schon richtig vermutet, was die Handschrift hat) octo
milia cesa puta. Das wären also 1385000 Gefallene auf beiden
Seiten, während vorher 886000 Tote (VI, 707) bei den Griechen
und 949000 bei den Trojanern (VI, 713f.: Peiper hat schon
richtig nongenta eingesetzt) genannt wurden, also hátten es
zusammen 1835000 sein müssen. Offensichtlich hat der Dichter
durch Verstellung der Ziffer 8 irrtümlich die falsche Gesamtzahl
in den Vers gesetzt. Das ist ein Beweis dafür, wie bald sich in
die gesehene oder vorgestellte Zahl schon bei dem Dichter
selbst ein Fehler einschleichen konnte. Die andere Möglichkeit,
den Widerspruch zwischen der Angabe des Dichters und dem
tatsáchlichen Befund etwa aus dem Verlust von 6 Versen zu
erklären, findet in der Handschrift keinerlei Anhalt; freilich
kónnten diese 6 Verse ja schon in der Vorlage unserer Hand-
Schrift gefehlt haben.
Die Zahlangabe des Entstehungsjahres des Gedichts scheint
einwandsfrei; sie steht auch bei Merzdorf ohne Fehler VI, 671 f.
Darnach ist der Troilus im Jahre 1249 gedichtet.
Das Metrum zeigt nichts Auffallendes im Vergleich zu
anderen mittelalterlichen lateinischen Dichtern. Wir haben im
Prooemium und in den Capitula durchgehend Hexameter, im
560 Karl Fiehn
eigentlichen Gedicht Distichen. Elision ist durchgängig ver-
mieden, nur einzelne Verschleifungen sind zu beobachten wie
z. B. in II, 644 (utrique est); III, 21 (certe est); III, 24 (tua est);
III, 99 (adeo est); IV, 123 (ferendum est); VI, 487 (relicta est);
VI, 722 (sibi est). Hiat vereinzelt, nur da, wo er auch bei den
Klassikern ohne AnstoB war, z. B. O, ait, Antenor .... I, 158.
An einer Stelle, nàmlich I, 541f., findet sich das Zusammentreffen
von m mit folgendem Vokal, wenn die Handschrift richtig gelesen
ist. Merzdorfs Text ist hier falsch. Mir hat sich dieses ergeben:
Nondum oontigerant Ohiteram, sic insula dicta
Est, et nomen idem, o Chitarea, tenes.
In der Handschrift steht hinter nomen: ib (das „b“ nicht
sicher, leicht auch als „d“ zu lesen), o Chiaterea (am Rand
Chitarea), woraus Merzdorf „ab o, o Cytherea" macht und
dabei noch „tenes“ in „tenet“ ändert. Die Aufeinanderfolge
idem, o.... hat Parallelen in Guiard. 435: Despiciens stadium
ignara scientia verum (Roman. Forsch. XXVI, S. 443) und
Ysengr. V, 415: quidem his dictis. Ernst Voigt, Ysengr. XX XI,
freilich hält diese von allen Handschriften gegebene Lesart für
falsch und will umstellen, weil ihm quidem his nicht moglich
erscheint. Wird man aber nicht doch, wenn auch vereinzelt,
mit solchen Fállen rechnen müssen, die ja dadurch erheblich
gemildert sind, daß sie in der Caesur stehen?
In einem gewissen Humor zeigt der Dichter II, 116ff., wie
ernst er es mit den Gesetzen des Metrums nimmt. In der Auf-
zählung der Griechen, die gegen Troia ziehen, hat er zuletzt den
Meriones genannt und ihm verschiedene Beiwörter gegeben,
als letztes „mente tenax“, in Vermeidung von „pertinax“, das
Dares XIII gebraucht. Darnach fährt er fort:
Dicere cum volui, quia (so Hs.!) pertinax esset, oriri
Me contra cepit protinus ira metri.
„Me duce qui tocies", inquid, ,,mea signa tulisti,
Quis modo persuasit illa negare tibi!
Exitus acta probat; finis, non pugna coronat,
120. Laudamus tandem sole cadente diem.
Nostra probabiliter huc usque secutus es arma;
Nunc quasi deficiens ylia ducis iners.
Sudavit nostris per (so Hs.!) te Raymundus in armis!5;
Scit tibi bis binis ire quadriga rotis.
15 Vgl. Galfredus de Vinos. 493: In cruce sudavit Dominus ....
Albertus Stadensis 561
125. Occupat extremum scabies, quia ducis in aulam
Proscriptos nostram rem recitando ream.
Est tibi gramatice nimis artus fertilis hortus,
Qui, quibus et quabus, omne ministrat olus?
An non pro verbo didicisti sumere verbum,
130. Ut teneant proprium singula queque locum?
Territus his iaculis cessavi ponere „perti —
Nax“, ponens eius nomine „mente tenax".
Crudelem si dico virum, si dico virilem,
Vel si virosum, sustinet illa metrum. |
Im allgemeinen wäre hier zunächst an einen ähnlichen Scherz
des Ovid in Pont. IV, 12 zu erinnern, wo von der Schwierigkeit
die Rede ist, den Namen Tuticanus in den Vers zu bringen:
7. Nam pudet in geminos ita nomen findere versus“,
Desinat ut prior hoc incipiatque minor.
Et pudeat, si te, qua syllaba parte moratur,
10. Artius appellem Tuticanumque vocem ....!?
15. His ego si vitiis ausim corrumpere nomen,
Ridear et merito pectus habere neger!®, T
Zu vergleichen ist auch Hor. serm. I, 5, 87: Mansuri oppidulo,
quod versu dicere non est. Áhnlich beginnt Galfredus de Vino-
salvo seine Poetria Nova (ed. Faral, Les Arts poétiques du XIIe
et du XIII? siecle):
Papa stupor mundi, si dixero Papa Nocenti,
Acephalum (Faral: Acephatum) nomen tribuam; sed si caput addam,
Hostis erit metri....
Über Merzdorf hinaus sind dann noch folgende Entlehnungen
Alberts festzustellen: (Vgl. auch Manitius, Roman. Forsch. IV,
423). V. 117: Ov. rem. 4: Tradita qui toties te duce signa tuli.
V. 119: Für den ersten Teil gibt schon Merzdorf Ov. her. II, 85;
der ganze Vers aber erscheint auch in Guiard. 807f. (Roman.
Forsch. XXVI, 455): Hoc sapiens dicit: f., non p. coronat / Et
sic alter ait: exitus a. p. Zu dieser Stelle noch weitere Parallelen
à. a. O. und in der neuen Ausgabe der Carm. Bur. von Hilka-
Schumann zu XV, 4,1f. V. 122 Hor. epist. I, 1,9: (ne) ....
et ilia ducat. Zu Vers 123f. ist schon oben S. 555 das Notwendige
gesagt worden. Zu V. 125 führt bereits Merzdorf richtig Horaz
epist. II 3, 417 als Vorbild an; im zweiten Teil ist wohl Guiard.
37 im Ausdruck zu vergleichen: Iste suos ducit eterni regis
in aulam. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Dichter auch,
16 Vgl. Troil. II, 1317. 17 Vgl. Troil. II, 116f. — !* Vgl. Troil. II, 116.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 8. 96
562 Karl Fiehn
wenn er die falsch gebauten Verse „proscriptos“ nennt, einem
bestimmten Vorbild folgt. Für V.127f. muß Albert Sedul.
carm. Pasch. I, 16f. vorgeschwebt haben: At nos exiguum de
paupere carpsimus horto, / Rubra quod appositum testa
ministratolus. Dem „ paupere“ entspricht im Troilus „ artus“,
das, wie ich glaube, Dunger mit Recht halten will; auch das
offenbar beabsichtigte Wortspiel artus ... hortus ist dabei nicht
zu übersehen; Peiper und Manitius wollen ,,artis" ändern und
damit gramatice als adjektivischen Genitiv verbinden. Vgl.
auch Verg. ecl. VII, 34: Custos es pauperis horti .... und
Galfr. de Vinos. 1226f. .... discerpat in agro / Rhetoricae flores
eius, woraus sich eine Parallele zu gramatice .... hortus ergibt.
Dunger hat recht, wenn er die Verse als ersten Teil einer Frage
ansieht, deren zweiter mit „an“ weitergeführt wird: „Ist Dir
der fruchtbare Garten der Grammatik zu eng, der allen mög-
lichen Leuten (quibus et quabus = aliquibus et aliquabus)
jeglichen Kohl liefert?“ In Migne 19, 552 ist ministrat, olus
geschrieben, also ministrat und olus nicht mit einander ver-
bunden, sondern ... exiguum ... carpsimus ..... olus; in der
Troilusstelle ist freilich keine andere Auffassung móglich. —
V.129 erinnert an Hor. epist. II, 3, 133: nec verbo verbum
curabis reddere fidus und V. 130 an Hor. epist. II, 3, 92: Singula
quaeque locum teneant sortita decenter.
Der Name für die Dichtung ist Troilus. Der Grammatiker,
der einen ,,accessus in Troilum“ geschrieben hat, bemerkt
(Merzdorf S. 6), daß der Name gewählt sei ,,propter quandam
similitudinem nominis materiae (Merzdorf falsch: modo) compe-
tentem, ut Troilus quasi (nicht mit Merzdorf quod) Troicus,
cum etiam (nicht et) ipse Troicus fuerit et Troiani regis, scilicet
(nicht seu) Priami, filius et fortia facta in eodem bello gesserit,
vel ideo quia (nicht quod) idem Troilus fratrum suorum minimus
erat et ultimus, strennuus tamen, et hic liber, quia de eadem
materia est extremus, utilis tamen, tali est nomine non incongrue
appellatus teste Horatio:
.... licuit semperque licebit
Signatum presente nota producere nomen. (Epist. II, 3, 58).
Hier werden also zwei Gesichtspunkte angeführt, die für die
Betitelung des Gedichtes maßgebend gewesen seien: 1. die
Ähnlichkeit von Troilus mit Troicus hätte gut auf den Stoff
Albertus Stadensis 563
hingewiesen; 2. Troilus sei der jüngste Sohn des Priamus ge-
wesen, aber doch tapfer, und dies Buch, zwar das letzte über
diesen Stoff, doch nützlich. Diese Deutung des Grammatikers,
die in ihrem zweiten Teil wohl recht gesucht ist, gibt im ersten
Teil offenbar nur die beiden Schlußverse des Prooemiums zum
Troilus wieder:
„Troilus“ est Troilus Troiano principe natus,
Et liber est „Troilus“ ob Troica bella vocatus.
Merzdorf hat diese Verse eingeklammert, weil er gegen ihre
Echtheit vorgebrachte Bedenken andeuten wollte. Heusinger
war nämlich der Ansicht, daB die Verse niemals Alberts Eigen-
tum sein kónnten, da der Grammatiker in der Einleitung (dem
Accessus) sie völlig übergehe und sie außerdem am Schluß der
Handschrift wiederholt würde (Heusinger, Fl. Mallii Theodori
de metris liber Lugd. Bat. 1766 S. 114ff.). Merzdorf aber will
die Verse doch Albert zusprechen, da sie seine Freude an Wort-
spielen verrieten. Im übrigen schließen sie auch gut das Prooe-
mium, in dem an keiner Stelle vorher von dem Titel des Gedichts
die Rede war. Ferner beachtet der Grammatiker sehr wohl die
Verse, wenn er bemerkt, Troilus weise auf Troicus und sei des
jüngsten Priamussohnes Name. DaB die Verse am SchluB der
Handschrift nach dem „Explicit“ wiederkehren, ist auf einen
Einfall des Schreibers zurückzuführen und beeinträchtigt die
Frage nach der Echtheit nicht im geringsten.
Die Hauptrolle spielt freilich Troilus in dem nach ihm be-
nannten Gedicht nicht, es wird nicht etwa, wie früher vermutet
worden ist, die Geschichte von. Troilus und Chryseis in den
Mittelpunkt gestellt. Troilus tritt nur verschiedentlich unter den
kámpfenden Troern hervor, aber nicht mehr als Hektor, Aeneas
u.a. Als jüngster Sohn des Priamus begegnet er uns I, 119f.
im Kreise seiner Eltern und Geschwister; die Verse müssen
gegen Merzdorf so heiDen:
Hector, Alexander primi sunt, Deiphebusque
Tertius est, Helenus quartus et hinc Troilus
Filius; Andromacha, Cassandra, Polixena nate.
Darnach wird er unter den Anführern mit seinen Brüdern ge-
nannt und beschrieben (II, 41f.). Mit Hektor und Aeneas zu-
sammen sehen wir ihn im Kampf II, 726ff. (Merzdorf fälschlich
= T01ff), ebenso auch III, 311ff. III, 330 liest Merzdorf falsch
Troilus statt Troibus. Es heißt dort 329 mit Aen. II, 553: Iecit
36*
564 Karl Fiehn
et in ventre capulo tenus abdidit ensem (Subjekt Achilles) und
dann im folgenden Vers mit demselben Subjekt weiter: Nec dedit
horrorem Troibus inde levem. III, 377ff. soll Troilus mit Paris
und Helenus dafür sorgen, daß Hektor nicht in den Kampf
zieht. IV, 45 fl. schlägt Troilus die Griechen ins Lager zurück
und führt am nächsten Tag die Seinen zur Schlacht. Zu seinem
besonderen Ruhme lesen wir hier Verse wie 53f.:
Fulminat (nicht culminat!) e bello Troilus, contaminat ensem
Sanguine nunc plebes nunc feriendo duces.
Im Rat der Griechen wird er von Diomedes dem Hektor gleich-
gestellt (IV, 159f.). In neuer Schlacht verwundet Troilus den
Menelaus (IV, 179) und ordnet die Troer zum Kampf. Diomedes
wird jetzt von ihm getroffen, und ebenso Agamemnon (IV,
183 ff.). Wiederum ist er in vorderster Linie (IV, 257) und er-
muntert am nächsten Morgen die Troianer (IV, 265ff.); er kämpft
so heftig, daß der Dichter von ihm sagt:
Plectit eos Troilus, sicut persepe rotundum
Suevit corrigia pellere stricta trocum. (IV, 281f.)
In der zwanzigsten Schlacht, die sechs Tage dauert, et prodit
Troilus mente manuque ferus (IV, 298); gegen den wild drein-
schlagenden Troilus erhebt sich nun wiederAchilles, der sich aber
bald, von dem Helden verwundet, wieder ins Lager zurückziehen
muß (IV, 301ff.). Jetzt, am siebenten Tage, ruft Achilles die
Myrmidonen auf, alle Kräfte gegen Troilus zu wenden; Troilus,
timendum Troie presidium, ferreus oder murus patrie, protectio
Troie et rosa milicie genannt, tritt auf den Plan, wie immer,
fällt aber unter dem wohlgezielten Streich des Achilles, als er
sich nach dem Sturz seines Pferdes wieder aufrichten will.
Memnon verhindert, daß die Leiche in die Hände des Achilles
und der Griechen kommt (IV, 311—345). Der Tod des Troilus
wird dadurch noch besonders bedeutsam, daß Hekuba nun alles
darauf anlegt, ihn wie Hektor an Achilles zu rächen (IV, 368fl.).
Diese Verse lauten:
368. Irrigat ingenuas lacrima mesta genas!®,
Pulmonis rigidas agitant suspiria cellas®,
970. Afficit interior arida corda dolor.
Frendit in Eacidem calcata sevius idra®!
Diri rancoris mente venena gerens;
Et quia vi superare virum disfidere (so Hs.!) visa
19 Ov. am. I, 7, 50. ®% Alex. V, 334. u Vgl. Alex. II, 34; Ov. met. X, f
Albertus Stadensis 565
374. Est, cacabo cordis decoquit illa dolum?*.
Fraudis ad incudem defertur malleus ire?
Vindicte (nicht vindice) fabricans igne doloris acum.
Femineam fraudem nemo cognovit ad unguem:*
Scit magis instabilem prendere (schon von Peiper geándert!) nullus avem.
Evocat hec Paridem: ,,Nosti, Paris", (nicht patris!) inquit, „Achillem
380. Hectoris et Troili membra dedisse neci.
Aus der weiteren Rede Hekubas und dem anschlieBenden Ab-
schnitte hebe ich dann folgende Verse hervor:
384. Inclita milicia predita (nicht perdita!) vita dedit“.
386. In stadio mundi** non habuere pares.
389. Articulata preit“ vox, prodit inarticulatim??
Et singultatis subicit illa sonis:“
„Nunc primum flore renitebant ambo iuvente?®,
392. Hach (nicht Vae!) toti patrie, quam (nicht quum!) cecidere male!
Von den folgenden Versen fallen 407f. wegen des hier gebrauch-
ten Bildes auf:
Ut vulpes vulpe capiatur, raro videtur;
Assa tamen vivam decoriare potest.
Der Text ist ganz in Ordnung; es soll klar gemacht werden, daß
bei einem schlauen, vorsichtigen Gegner besondere Vorsicht und
List am Platze sei. Der Fuchs sieht sich vor seinesgleichen vor,
es gelingt aber sicher, ihn mit seinem eigenen Fleisch zu über-
listen und ihm das Fell zu nehmen, wenn ihm sein Fleisch nicht
gleich erkennbar ist, nämlich wenn es gesotten und gekocht ist.
So empfiehlt auch Hekuba, ganz besondere Schlauheit anzu-
wenden, um Achilles in die gewünschte Falle zu locken: V.411ff.
411. Mitte virum qui dicat ei: Quam diligis (nicht diligas!), optat
Federe coniugii rex sociare tibi?!,
421. Et moveant (nämlich brachia s. V. 420) socii, nec cesset (nicht cessent!) dextera
(erg. manus), donec ....
426. Ammoneo, veniat ne quis ad ista loquax**.
Schon aus dieser kurzen Übersicht wird deutlich, daß es sich im
Troilus um eine ausführliche Erzáhlung des trojanischen Krieges,
33 Vgl. Alan. Anticl. I, 8, 2f.: .. . . quae sic rationis in igne decoquitur. —
Galfr. 723: decoctum pectoris igne.
33 Vgl. Galfr. 724: Transfer ad incudem studii. — Galfr. 725: Malleus ingenii.
* Vel. Hor. serm. I, 5, 32f.
3 Milicia Ablativ! zu predita; Objekt zu dedit im vorhergehenden Vers: laudes
eximias. æ Vgl. Alex. VII, 37; auch ebd. IX, 572: in theatro mundi.
# Nicht perit! Am Rande von zweiter Hand verbessert.
38 Nicht inarticulata! — * Ov. tr. III, 5, 16. * Vgl. Alex. V, 501.
*! Achilles liebte nämlich Polyxena. * Ov. a. a. II, 608.
566 Karl Fiehn
wie sie damals sehr beliebt war, handelt, in der zwar Troilus als
Sohn des Priamus und besonders tapferer Held verherrlicht
wird, aber nur neben anderen Helden und daß er keinesfalls irgend-
wie im Mittelpunkt steht.
Welcher Zweck Albertus mit diesem Troja-Gedicht vor-
schwebte, sagt er uns in VI, 3651ff. und 867ff. Letztere lauten so:
867. Ite (Hs. Ite ergo) per exemplum, genus o mortale, reorum,
Ad finem duxit quos mala vita malum.
Cum feriant (Hs. fuerint; verb. nach Ovid) unum, non unum fulmina terrent? ;
Verbera non nostra nostra putare salus!
In foveam cuncta cadit extollencia pena“
Gloria; planicies omne cacumen habet (planicies Acc. plur.).
Jetzt sollen einige Beispiele folgen, die zeigen, wie unser
Text durch Nebeneinanderstellen von Handschrift und Dares
(mit Varianten, namentlich der St. Galler Handschrift G) in
Ordnung zu bringen ist. DaB Albert sich inhaltlich in erster
Linie auf Dares stützt, bekennt er ja Troil. II, 17ff., III, 2391.
und VI, 697ff. Wie wenig Merzdorf diese Zusammenhänge aus-
genutzt hat, betont schon Peiper a. a. O. S. 549: „Zunächst ist
der Apparat der neuen Ausgaben jener Schriftsteller (Dares und
Dictys) ganz und gar nicht, wie doch nötig war, benutzt; es
würde sich daraus ergeben haben, daB die Namen, die der Codex
des Albertus gibt, auf handschriftlicher Tradition beruhen und
also beizubehalten sind; daB ferner so mancher unerklärliche
Name, dem wir begegnen, auf Grund einer Corruptel bei jenen,
vielleicht auch in Folge flüchtiger Lektüre vom Dichter neu
geschaffen ist. Ähnlich hat dann auch Manitius a. a. O. Sp. 1249
die Übergehung der Lesarten von der St. Galler Handschrift
G getadelt.
Eine irrtümliche Benutzung des Dares durch Albert hat schon
Merzdorf zu Troil. II, 17ff. aufgedeckt. Im Anfang des zweiten
Buches erzählt nämlich Albert, daß nur die „fabula stultorum"
Castor und Pollux nach ihrem Tode unter die Sterne versetzte;
Dares, „qui Troica prelia scripsit“, wisse nichts von deren Tode
zu berichten, wohl aber davon, daß er sie beim Friedensschluß
gesehen habe. Außerdem hätten auch Trojaner das Brüderpaar
öfter getroffen. Hier hat Merzdorf richtig erkannt, daß Albertus
u Ov. Pont. III. 2, 9.
* So die Hs.; nicht excellentia. Vgl. Matth. 15, 14. — Hauréau, Notices et
extraits IV, 289: In foveam ductor primus cadet, inde secutor.
Albertus Stadensis 567
Dares XI Schluß und XII Anfang falsch verstanden hat. In
dem Satze: ,,Dares Phrygius .... ait se militasse .... hos se
vidisse ....'' ist ,,hos'' nicht auf Castor und Pollux zu beziehen,
sondern auf die nachher aufgezáhlten Helden. Sonst hátte der
letzte Teil des Satzes nicht lauten können: A Dardanis autem
audisse (scil. se — Daretem), qua facie et natura fuissent Castor
et Pollux. Warum die Anführung der Namen, wenn sie vorher
mit hos gemeint gewesen wären? Warum mußte ferner Dares
erst von den Dardanern etwas über Gestalt und Wesen der
göttlichen Brüder erfahren, wenn er sie selbst gesehen hat, wie
doch aus ,,hos se vidisse" hervorgehen müßte, falls unter ,,hos''
Castor und Pollux zu verstehen wáren? Es ist ganz klar, Dares
XI Schluß ist der Auszug der Brüder, ihre Schwester zu suchen,
und ihr Verschwinden in der Gegend von Lesbos erzáhlt, und
Albert ist dem gefolgt, fügte dann aber in irriger Auslegung von
Dares XII Anfang die Verse II, 13ff. hinzu. Übrigens seien hier
noch die Fehler in Merzdorfs Lesung von II, 3f. beseitigt; es
muß heißen: | |
In Paridem rapta Oastor Polluxque sorore
Aspera vindicte mittere tela student.
Troil. I, 353 steht völlig sinnlos „mirificum‘‘, die Handschrift
hat „Mercurium“, ein Vergleich mit Dares X überzeugt davon,
daB die Handschrift das Richtige bietet. — I, 581 setzt Merzdorf
„Paean oppidulo mare lux stabat Apollo“; hierzu fügt er eine
FuBnote, in der er seine Ratlosigkeit der Stelle gegenüber an-
deutet: Sic! Sensus? Apud oppidum erat mare, lux Paean
Apollo? Dagegen versucht Merzdorf in der Praefatio XVI, zwar
mit allem Vorbehalt, eine Konjektur, da ihm die gewaltsamen
Längungen in ,,mare'' untragbar scheinen; er will hier schreiben:
„Paean oppidulo mane lucebat Apollo." Er glaubt sich berech-
tigt, „mane“ in der zweiten Silbe lang zu messen, da es in der
Arsis stehe, und fernerhin „lucebat“ für „stabat“ einzusetzen,
allerdings mit dem Bedenken, daß der nächste Vers vielleicht
gerade das „stabat“ des vorangegangenen Schlusses wiederholen
solle. Es bedarf keines Wortes weiter, daB die ganze Stelle so
unmöglich ist. In der Handschrift lesen wir aber „Lean
oppidulo mare lux stabat Apollo", und Dares X bestätigt, daß
in dieser Überlieferung tatsächlich von einer Stadt „Helaea“
die Rede ist. Albertus hat mit der Freiheit, mit der man im
568 Karl Fiehn
Mittelalter die antiken Namen gestaltete, seinem Verse ent-
sprechend ,,Lean'' gebildet, wohl aus ‚Lea in“ zusammengezogen.
Aber auch so fehlt dem Vers immer noch mindestens eine lange
Silbe vor „stabat“ und außerdem ist die rechte Verknüpfung mit
dem Satzganzen für „mare“ nicht gegeben; Dares X heißt es
„ad mare“. Da nun lux in keinerlei Weise, auch nicht im Ver-
gleich zu Dares, paßt, dürfte wohl hier der Fehler liegen und statt
„Jux“ „iuxta“ zu schreiben sein. „stabat Apollo“ ist völlig
gesichert durch die ganz offenbar beabsichtigte Wiederholung im
folgenden Verse. Somit lauten I, 581f.:
Lean oppidulo mare iuxta stabat Apollo,
Stabat fatidico iuncta Dyana deo.
In dem Abschnitt II, 153—206 ist besonders viel nach der ge-
nannten Methode zu bessern. 159f. hat die Handschrift:
Lercius atque Dimas, Prothenor et Archesilaus
Expense (schon Peiper richtig!) socii suntque laboris ei.
Dares XIV werden nur Archesilaus (auch Arcesilaus) und
Prothoenor (auch Protenor) genannt, aber, wie Peiper schon
hervorhebt, heißt es Dictys Cret. I, 18: Peneleus insecutus ...
dein Prothoenor et Leitus. Dazu stimmt Il. Lat. 167f.:
Peneleus princeps et bello Leitus (andere Hss.: Lercius und Lertius) acer
Arcesilaus (andere: Archesilaus) atrox Prothoenorque (andere: Protenor)
Oloniusque.
In der Ilias Latina also steht der homerischen Überlieferung
gemáB ein vierter Held neben Peneleus, namens Clonius. Im
Troilus sind beide Überlieferungen zusammengefaßt, was noch
deutlicher wird, wenn man II, 157f. hinzunimmt: Peneleus
princeps quem prompta Boecia mittit, Quinquaginta rates, ut
fabricentur, agit. (Vgl. Il. Lat. 167.) Darnach hat im Troilus
Peneleus die fünfzig Schiffe der Boeoter gestellt, nicht, wie nach
Dares, Archesilaus und Prothoenor; diese sind hier aber die
Gefährten des princeps Peneleus. Zu diesen gehören weiterhin
Lercius atque Dimas, wie nach Il. Lat. Leitus (Lercius) und
Clonius. Die Frage ist nun, wie Albert auf den Namen Dimas,
der sonst nirgends begegnet, verfallen ist. Wahrscheinlich ist er
eine Variante von Clonius, erklärlich aus den ll. Lat. 168 an-
geführten Varianten: Didoniusque und Cremus que.
Vers 168 wird man unbedenklich mit der Handschrift lesen:
Aschepius fortis et Epistrophus ex Policemo, da ja Dares XIV
Albertus Stadensis 569
die Lesart G Phodicenno das „Policemo“ unserer Stelle stützt;
dagegen ist Merzdorfs „Polixeno“ wenig einleuchtend (vgl.
Peiper).
Vers 172 heißt: Dat semel Etholicus et quater octo Thoas.
Thoas leistet also mit vierzig Schiffen (8 + 32) Hilfe und kommt
aus Etholien (Aetolien). Der Scholiast aber merkt am Rande
an: Etholicus octo, Thoas X XXII; er nimmt also irrtümlich zwei
Personen an. Dares XIV steht klar und deutlich: Thoas ex
Aetolia (Etholia G) cum navibus numero XL.
Zu Vers 175 erklárt Merzdorf über Venerius: Quis sit, nes-
cimus, quum de Venereo quodam altum silentium, wáhrend
Peiper auf die zu „Nireus“ (Dares XIV) gegebene G-Variante:
„Venerius“ verweist.
Wenig hilft der Vergleich mit Dares im Vers 180, der von
Merzdorf vóllig willkürlich gebildet ist. Die Handschrift ist hier
nicht zweifelsfrei zu lesen; ich glaube aber, daß in 179f. folgendes
dasteht: Octoginta vehit ex Creta Meriones, si Prestetur socius
Ydomeneus ei. (Vgl. III, 443: Ydomeneum und II, 614: Mne-
steus). Die auch sonst bei Homer übliche Vereinigung von
Idomeneus und Meriones hat ebenfalls Dares XIV.
Vers 182 übernimmt Merzdorf aus dem Darestext Meisters
„o Eumele“, während in unserer Handschrift ,,0 Emelee“ er-
Scheint, was gut zu Dares-G: „Emeleus ex Pirgis“ paßt, zumal
Albert auch seinen Helden „ex Pirgis“ kommen läßt (Dares-
Meister: ex Pheris).
Nach Vers 183 stellen dreißig Schiffe ,,Polidarius atque
Machaon“, bei Dares (XIV) nur Podalirius oder Prodalirius
allein; dieselbe Namensform Dares XIII (Meister S. 17), wo die
Heerführer beschrieben werden, hier nur die G-Variante: Po-
lachrium. Il. Lat. 218 findet sich wie Troil. II, 183: „.... Poda-
lirius (andere Polidarius) atque Machaon.“ Daneben gibt es im
Troilus noch einen Helden Polidorus (II, 109f.), der dem Poda-
lirius des Dares XIII in der Beschreibung gleicht. So haben wir
also noch eine Wandlung des homerischen Podaleirios.
Jedoch ist der Vers 109 aus einem anderen Grunde besonders
bemerkenswert, weil in seinem zweiten Teil die Lesung Bedenken
macht. Merzdorf druckt, und zwar diesmal in Übereinstimmung
mit der Handschrift: At crassus Polidorus erat, Neoclecicus
audax (Neoclericus und Neocleticus auch móglich!); dem ent-
570 Karl Fiehn
spricht am Rand von der Hand des Scholiasten, der alle Helden-
namen dort noch einmal herausstellt: Polidorus et Neocleticus.
Es handelt sich also um einen zweiten Helden, der im Vers 109
neben Polidorus angeführt wird ?
Polidorus bekäme demnach lediglich die ‚„Helden‘-Eigen-
schaft der Dicke zugesprochen, dem Neoclecicus aber würde
allein das,, audax“, ‚‚tristis‘‘, „prevalidus‘‘ (so!), „mente timente
tacens" gelten, womit Dares XIII Podalirius (= Polidorus)
charakterisiert. Macht diese Beobachtung schon die Annahme
eines „Neoclecicus“ unwahrscheinlich, so noch mehr, daß in der
übrigen Aufzáhlung der Helden und ihren Schilderungen stets
nur ein Held in zwei, verschiedentlich sogar in vier Versen be-
trachtet wird, außer dem Brüderpaar Helenus und Deiphebus
(II, 37 ff.), die in einer Verszeile genannt und weiterhin zusammen
betrachtet werden; das hat aber seinen guten Grund darin, dab
auch Dares beide miteinander zusammenstellt. Sonst behandelt
Albertus jeden Helden für sich, warum sollte er II, 109, ab-
gewichen sein, zumal ihn sein Vorbild Dares dazu garnicht an-
regte? Dieser kennt vielmehr, und das ist der dritte Einwand,
weder einen Neoclecicus noch einen Neocleticus, ebenso wenig
wie Albertus sonst in seiner Dichtung. Im übrigen darf man
wohl Dunger (Fleckeis. Jahrb. 1876, S. 650) recht geben, der
von einer Scheu des Dichters spricht, neue Namen aus seiner
Erfindung heraus da einzuführen, wo die Quellen keine bieten;
welcher Anlaß hätte zudem bestanden, hier einen selbst erdich-
teten Namen einzufügen? Viertens könnten sich manche auf den
Scholiasten berufen und dessen in seiner Randnotiz hervor-
tretende Auffassung. Es sei aber daran erinnert, daß sich der
Scholiast nachweislich in seiner Notiz zu II, 172 geirrt hat, wo
er auch ,,Etholicus et Thoas' als Bezeichnung für zwei Helden
auffasste; da konnte man freilich den Fehler durch Vergleich mit
Dares und Il. Lat. leicht aufdecken. Nach diesen Feststellungen
erscheint es mir unzweifelhaft, daß der Vers II, 109 in der
Form, die Merzdorf nach der Handschrift gibt, nicht haltbar
ist. Neoclecicus bzw. Neocleticus muß eine Korruptel sein.
aber nicht eines anderen Namens, sondern vielmehr eines Aus-
drucks, der einen Gegensatz zu „crassus“ enthält. Denn es ist
nicht recht denkbar, daß der für einen Helden eigenartigen
Eigenschaft der Dicke nicht etwas Ausgleichendes entgegen
Albertus Stadensis 571
gestellt wird. Aus „neoclecicus‘ ergibt sich da, wie ich glaube,
ohne große paläographische Schwierigkeiten: „nec secius“, was
sich aufs beste dem Sinn eingliedern läßt: Doch Polidorus war
dick, aber nicht weniger kühn ....
In Übergehung anderer Namenverschreibungen will ich noch
auf eine Mißdeutung kommen, die II, 253 durch Merzdorf er-
fahren hat. Er gibt den Vers zunächst richtig: „Calchas divinus
et Nestore natus eodem....'', knüpft aber daran die Frage:
Quis Troianorum est Nestore natus? Peiper hat schon die
falsche Auffassung, die hier zu Grunde liegt, hervorgehoben und
aus Varianten des Dares- und Dictystextes gezeigt, daB Calchas
öfter als Sohn des Nestor bezeichnet wird (vgl. Dares XX).
Merkwürdigerweise fügt Peiper aber hinzu, der Dichter habe .
zwei Personen durch das „et“ eingeführt. Wenn Calchas Sohn
des Nestor ist, kónnen doch von Albert nicht zwei Personen ge-
meint sein. Dann sind divinus et Nestore natus zwei Attribute,
die eben zu Calchas gehóren: Calchas der góttliche und Sohn
des Nestor. Die Verbindung zweier Attribute durch „et“ ist
im Lateinischen ganz geläufig; im Deutschen setzen wir einfach:
der göttliche Sohn des Nestor. So ist auch Dungers Änderung
von et zu de unnótig. Im übrigen ist nur daran zu erinnern,
daß das Prädikat singularisch ist und daß nachher allein von
Calchas die Rede ist. Aber es wäre zu überlegen, ob nicht für
„Nestore“ „Testore“ zu schreiben ist, da IV, 165 Calchas
„Testorides“ genannt wird. Sollte demnach nicht „nestore“ in
unserer Handschrift fälschlich für „testore“ stehen?
Es mógen nun noch einige Beispiele folgen, die zeigen sollen,
daB Merzdorf nur die Handschrift richtig wiederzugeben brauchte,
um einen lesbaren Text zu liefern:
I, 135ff.: Urbe reformata, nisi rex et tota reformet?5
Regni presidia, litus arasse putat?®.
Pergama milicie non solum flore coronat,
Immo replet, patria milite tota viget. ....
143. Segnicies causam dederat quia perdicioni
Hesyone decoris, Laomedontis, opum.
Tota recognorat hoc curia, desidiosi
Quod pridem tanti causa fuere mali“.
*5 Reformat Manitius.
35 Vgl. Ov. her. V, 116. trist. V, 4, 48. — Verg. Aen. VII, 798.
® Vgl. Verg. Aen. VI, 93.
572 Karl Fiehn: Albertus Stadensis
I, 375 ist in Ordnung, wenn ‚‚ulturo‘‘ statt des sinnlosen ,,ultori'',
das Merzdorf noch mühevoll zu erklären versucht, eingesetzt
wird; „dedecus‘“ ist Objekt zu „ulturo“. I, 458 muß heißen:
Quam (sc. Troia) modo terra tremit, pascua bubus erit (Vgl.
Verg. georg. I, 330; Ov. a. a. III, 2) Ohne Anstoß ist I, 564 f.,
wenn wir lesen:
Splendeat ut limbus lateque refulgeat aurum,
Ornat se vestis ambicione Paris®.
1,707 ff. erhält rechten Sinn, wenn man die Handschrift heranzieht :
Deveniunt Thenedon, membra quiete fovent“.
Ex siccis oculis tergit Medea madorem “,
Nullis flet lacrimis emula veste nivis.*!
„Medea“ ist m. E. gegen Dunger, der „Ledea“ ändern will,
beizubehalten. Denn Helena, die ja hier gemeint ist, soll gerade
als Medea, als der Typus von Grausamkeit und Falschheit er-
wiesen werden; ferner ist die Alliteration ,,Medea madorem"' zu
berücksichtigen. „emula“ habe ich statt des handschriftlichen,
sinnlosen ‚‚ollea‘‘ eingesetzt; Merzdorfs ,,oblita'' ist keine Lösung.
„Ollea“ scheint mir Korruptel von el’a = emula, das sich auch
in I, 580 und IV, 678 in Verbindung mit nivis findet; „veste“
ist dann Ablat. limitat. zu ,,emula nivis". So wäre zu über-
setzen: „Sie weint ohne Tränen, in schneeweißem Gewande“,
ein wirksamer Gegensatz: innerlich falsch — äußerlich schön
anzusehen. —- Zum Schluß noch einen besonders schlagenden
Beweis, wie die Handschrift, richtig gelesen, Klarheit schafft.
An II, 145 hat sich Peiper schon versucht, ohne vollen Erfolg
zu haben; die Handschrift besagt: „Insolitam patitur pinus
secura securim" (Vgl. Alexandr. III, 105).
Es lieBen sich noch sehr viele Beispiele für die Màngel der
Merzdorfschen Troilusausgabe und für die Moglichkeit ihrer
Beseitigung anführen. Das würde aber den Rahmen dieses Auf-
satzes überschreiten. Eine Neuausgabe müßte auch mancherlei
sachliche Erklärungen, die bisher völlig fehlen, bringen, z. B. im
4. Buch zur Beschreibung des Schmuckes der Penthesilea
(765 ff.), im 5. Buch zur Schilderung der kostbaren Vorhänge
und Teppiche im Palaste des Priamus (20ff.—184), Partien, in
denen viel mittelalterliches Gut bewahrt ist.
8 Vgl. Ov. met. IT, 734: Collocat, ut limbus totumque appareat aurum.
Maxim. I. 40. Vgl. Luc. Phars. IX, 1038. 4 Vgl. I. 580; Alexandr. V, 190.
573
Die Ursprünge
der Amerikanischen Revolution von 1776.
Von
Otto Vossler.
Wenn man fragt, wie es gekommen ist, daß die englischen
Kolonien, aus denen später die Vereinigten Staaten von Amerika
entstanden sind, mit ihrem Mutterland in Streit geraten sind und
schließlich sich von ihm losgesagt haben, so liegt es nahe, zuerst
einmal die Amerikaner selbst zu hören, die damals die Trennung
vollzogen haben. Sie melden sich selbst zum Wort; in ihrer
Unabhängigkeitserklärung von 1776, dem nämlichen entschei-
denden Dokumente, in dem sie ihre Selbständigkeit verkünden,
nennen sie aus „gebührender Achtung vor der Meinung der Welt“
die Gründe, die sie zum Abfall gezwungen haben. Und da zählen
sie in einer langen, eindrucksvollen Liste unter nicht weniger als
18 Abschnitten alle Rechtsverletzungen, Gewalttaten, Grausam-
keiten der englischen Regierung auf, von der bekannten Stempel-
steuer und den neuen Zöllen, den Straf- und Zwangsmaßnahmen
bis zu den Greueln des Krieges. Diese Dinge, diese Tatsachen,
wie es heißt, sollen der Welt beweisen, daß die Engländer die
Kolonien unter eine despotische Herrschaft zwingen wollen, so
daß den Amerikanern schließlich nichts anderes übrig bleibe als
sich vom Mutterlande zu trennen, um ihre Freiheit zu wahren.
Nach dieser Auffassung wäre es also das tyrannische Verhalten
des Mutterlandes, das den Konflikt und die Katastrophe der
Amerikanischen Revolution hervorgerufen hat, dafür die Ver-
antwortung trägt und die Schuld!.
1 Vgl. etwa die „klassische“ Darstellung von G. Bancroft, A History of the
U. S., Boston 1883—85. Der Weltkrieg hat Versuche zur Verständigung gebracht;
vgl. Claude H. Van Tyne, England and America, Kap. I., N. Y. 1927. Anderer-
574 Otto Vossler
Der amerikanischen Darstellung, die heute noch in den Ver-
einigten Staaten die geläufigste ist, steht freilich die englische
gegenüber. Und da wird von der Gegenseite, auch mit eindrucks-
vollen Belegen erwiesen, daß es die Kolonien gewesen sind, die
durch ihr gesetzwidriges Verhalten, durch Rebellion und un-
erträgliche Terrorakte den Frieden gestört haben, daß die Kolo-
nisten die Verantwortung für den Revolutionskrieg treffe.
Beide Erklärungen sind selbstverständlich parteiisch und ein-
seitig tendenziös, sie sind im Streit selbst entstanden, im Geist
des Patrioten, des Politikers und Anwalts verfaßt, nicht im Geist
des Historikers und können nicht ungeprüft angenommen werden.
Aber selbst wenn man nun versucht, die widerstreitenden
Darstellungen von ihrer parteiischen Einseitigkeit zu befreien, sie
einander anzunähern oder gar zum Ausgleich zu bringen, um
dadurch zu erfahren, wie nun in Wirklichkeit die Revolution ent-
standen ist, man kommt damit nicht zum Ziele. Man wird dabei
zwar manches zurechtrücken, klären und lernen, aber den Ur-
sprung der Amerikanischen Revolution wird man und kann man
auf diese Weise nicht ergründen. Denn die beiden Auffassungen,
die man zu korrigieren unternimmt, behandeln in Wirklichkeit
gar nicht, wie sie es vorgeben, die historische und theoretische
Frage nach dem Ursprung der Revolution, sondern etwas grund-
sätzlich anderes, nämlich die moralische und eminent praktische
und politische Frage nach der Schuld an der Revolution. Die
Schuldthese mit ihrer moralischen Einstellung will werben und
wirken, handeln und kämpfen, nicht erklären; sie ist Politik,
nicht Geschichte, sie ist politischer Wille und kann nicht durch
noch so gut gemeinte objektive, vermittelnde Korrekturen in
historische Erkenntnis umgewandelt werden. Mit anderen Wor-
ten: die englisch-amerikanische Schuldthese erklärt nicht den
englisch-amerikanischen Konflikt, sie ist dieser Konflikt. Denn
sobald sich das Mutterland und die Kolonien gegenseitig für
schuldig halten, ist der Streit schon da und es gilt jetzt erst die
eigentlichen Gründe des Streites aufzufinden, der sich unter
anderem eben als Schuldthese äußert.
seits jedoch ist unter dem Bürgermeister von Chicago wegen „vaterlandsloser“
Darstellung des Konfliktes von 1776 ein Streit um Geschichtsunterricht und Schul-
bücher entstanden; mächtige patriotisch-historische Gesellschaften beteiligen sich
wacker an diesem Kampf gegen die Erforschung der Am. Geschichte.
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 575
Diese eigentlichen, tieferen Gründe, die mit Schuld und Un-
schuld nichts mehr zu tun haben, glaubt man vor allem in der
Wirtschaft gefunden zu haben, in ökonomischen Interessen, óko-
nomischen Kräften und Gesetzen. Zuerst sind es die englischen
Freihändler des vorigen Jahrhunderts gewesen, die die Auffas-
sung vertreten haben, daß die grundsätzlich verfehlte schutz-
zöllnerische, merkantilistische Handelspolitik des Britischen Im-
periums die Amerikanische Revolution verursacht habe. Mit
seiner irritierenden Bevormundung, Regulierung, Einschnürung
und gar Unterdrückung des kolonialen Handels, vor allem aber
durch die unerträgliche einseitige wirtschaftliche Unterordnung,
einseitige wirtschaftliche Ausnutzung der Kolonien zugunsten des
Mutterlandes habe der Merkantilismus Amerika zum Abfall ge-
zwungen, da es nur durch die Trennung die notwendige ókono-
mische Freiheit und Gleichberechtigung erlangen konnte. Agi-
tatorisch zugespitzt drückt diesen Gedanken Richard Cobden in
der Behauptung aus: einem Drei-Pence-Zoll auf Tee verdanke
England den Verlust Amerikas.
Neuerdings dagegen hat man es vor allem in den Vereinigten
Staaten unternommen, die etwas summarische Auffassung der
englischen Freihändler mit exakter, vorwiegend sozialökono-
mischer Methode, am liebsten mit Zahlen und Statistiken zu ver-
feinern und zu erhärten. Man weist z. B. darauf hin, daß nicht
der Teezoll an sich drückend gewesen sei — er war ja niedriger
als in England selbst — vielmehr habe das gleichzeitige Monopol
der East India Company im Teegeschäft die kolonialen Händler
wirtschaftlich bedroht. Auf Grund von Geschäftsbüchern ist
ganz genau ausgerechnet worden, welchen Schaden die Molasse-
Zölle für die neuenglischen Kaufleute bedeutete. Bei der Stem-
pelsteuer betont man, daß sie in verhängnisvoller Weise gerade
die Kaufmannschaft, die Rechtsanwälte und die Presse, also
gerade die führenden und einflußreichsten Kreise des öffentlichen
Lebens betroffen und aufgebracht habe. Für die südlichen, über-
wiegend agrarischen Kolonien haben diese Gründe zwar weniger
Geltung. Dafür aber war dort die mächtige Pflanzeraristokratie
an die Geldgeber in England schwer verschuldet. Und zudem
wurde eine der Haupteinnahmequellen dieser Pflanzer, dieBoden-
spekulation, ganz empfindlich beeinträchtigt, als die englische
Regierung den lockenden Landerwerb im Indianerterritorium
576 Otto Vossler
kurzerhand verbot. Weitere Untersuchungen auf anderen, geld-
wirtschaftlichen, währungspolitischen, konjunkturellen Gebieten
usw. haben noch eine ganze Reihe übriger ökonomischer Gründe
für den Abfall nachgewiesen, so daß schließlich die amerikanische
Unabhängigkeitsbewegung, die für die hohen Ideale von Recht
und Freiheit und Menschenwürde zu streiten behauptete, nach
dieser neuen, exakten Auffassung geradezu als ein bloßes Rechen-
exempel erscheint, als eine einfache Gegenüberstellung von Soll
und Haben‘.
Es ist nutzlos sich gegen diese prosaische „materialistische“
Erklärung nur mit frommer Entrüstung zu sträuben. Die ameri-
kanischen Freiheitskämpfer waren auch keine unmenschlichen
Idealisten, sie hatten und kannten ihre wirtschaftlichen Inter-
essen und wahrten sie, so lang es ging. Nur dachten sie gerade
umgekehrt über die Posten des Rechenexempels. Denn zu einem
Zeitpunkt, als sie die politische Oberherrschaft des englischen
Parlaments schon grundsätzlich abgelehnt haben, fordern sie
nicht etwa Aufhebung des Wirtschaftszwangs, sondern im Gegen-
teil, sie erklären sich ausdrücklich bereit die merkantilistische
Handelsgesetzgebung des Parlaments freiwillig auch weiterhin
anzuerkennen. Das war durchaus wirtschaftlich gedacht. Es
verhielt sich nämlich keineswegs so, wie später die Freihändler
voreilig annahmen, daß der imperiale Merkantilismus die Inter-
essen der Kolonien einseitig dem Mutterlande aufopferte, sondern
das ganze Imperium sollte gefördert werden und wurde auch ge-
fördert, das Mutterland und die Kolonien. Welcher der beiden
Partner dabei das bessere Geschäft gemacht hat, wird sich heute
schwerlich ausrechnen lassen. Wenn das System seine nur ungern
ertragenen Härten und Nachteile für die Amerikaner hatte, so
hatte es sie für die Engländer genau so. Soviel aber ist klar und
sicher, auch ohne Zahlen und Statistiken, daß im ganzen ge-
nommen das Ausscheiden aus dem englischen Imperium, aus dem
reichsten, gewaltigsten, blühendsten Wirtschaftssystem der Welt,
für die Amerikaner damals ein ziemlich schlechtes Geschäft ge-
wesen ist.
3 A. M. Schlesinger, The colonial Merchants and the Am. Revolution,
1763—1776. . N. Y. 1918; Cl. H. Van Tyne, England and America; ders. The
Founding of the Am. Republic, Vol. I. The Causes of the War of Independence,
London 1925.
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 577
Die wirtschaftliche Überlegung im ganzen sprach also gegen
die Trennung. Aber es bestanden doch eine Reihe einzelner óko-
nomischer Interessen — der Teehändler, Zuckerhändler, ver-
schuldeten Bodenspekulanten usw. — die für die Trennung arbei-
teten. Sie waren in der Minderheit, aber sie standen nicht allein.
Zu den ökonomischen Gründen traten noch andere hinzu. Man
hat beobachtet, daß in den Nordkolonien im großen ganzen die
soziale Unterschicht gegen, die Oberschicht für England Stellung
nahm. Auch ist — wiederum statistisch genau — festgestellt,
daß im Norden die Dissenter, die Puritaner, vorwiegend revo-
lutionär waren, während die Anhänger der anglikanischen Staats-
kirche meist loyal blieben®. Es hätten demnach bei der Spaltung
des britischen Imperiums auch soziale und religiöse. Momente
mitgespielt; und mit ihnen noch andere. Im Siebenjährigen
Krieg ist es zu häufigen Reibungen und Mißhelligkeiten gekom-
men zwischen den englischen Berufssoldaten in Amerika und den
kolonialen Miliztruppen. Die Stimmung nach dem Siege, als
hüben und drüben das Kraftgefühl, das Selbstbewußtsein ge-
waltig gestiegen war, war gewiß nicht geeignet eine versöhnliche
und nachgiebige Behandlung vorhandener Gegensätze zu fördern.
Die Verständigung war ja ohnedies nicht leicht zwischen der
stolzen, traditionsbewußten, aristokratischen Regierung des Mut-
terlandes, mit ihrer konservativen, autoritären, oft langsamen
Mentalität und den anderseits vorwiegend kleinbürgerlich-farme-
rischen Kolonisten, die gewohnt waren mit unbeschwerter, rück-
sichtslos vorwärtsdrängender Zuversicht ohne viel Umstände sich
selbst zu helfen*. Solche seelische Schwierigkeiten der Verständi-
gung wurden noch weiter erschwert durch das geographische
Moment der großen Entfernung. Nicht nur, daß der persönliche
Verkehr, die persönliche Bekanntschaft und die verwandtschaft-
lichen Beziehungen über den Ozean sehr gering waren, auch die
englische Kolonialverwaltung litt ganz empfindlich unter der
Entfernung von der Zentralregierung. Dauerte es doch ein Vier-
teljahr und meistens länger, ehe auf eine Anfrage Antwort von
3 Van Tyne, Causes etc., ders. England and America; J. Franklin Jameson,
The Amer. Revolution considered as a social Movement, Princeton 1926.
* Ch. McLean Andrews, The Amer. Revolution, An Interpretation, in Am.
Hist. Rev. XXXI. Jan. 1926; L. B. Namier, England in the Age of the Amer.
Revolution, London 1930.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 37
578 Otto Vossler
jenseits des Meeres eintreffen konnte. Das war nicht der einzige
und gar nicht der größte Mangel der englischen Kolonialverwal-
tung; man kennt ihrer eine ganze Menge; Fälle von Protektion
und Bestechung, Stellenverkauf und -vertretung, Organisations-
fehler und persönliche Unfähigkeit und Schlamperei waren durch-
aus keine Seltenheit und werden als weitere Gründe für den
Abfall angeführt.
Alle diese Dinge, von den wirtschaftlichen und sozialen Kräf-
ten bis herab zu Einzelmotiven lokaler oder nur persönlicher Art
sind von der jüngsten Geschichtsschreibung sehr eingehend und
umständlich klargestellt. Man kennt heute die Amerikanische
Revolution in allen ihren Einzelheiten so genau wie nur wenige
Abschnitte der europäischen Geschichte, und man verdankt die-
sen Untersuchungen der modernen — vor allem natürlich ameri-
kanischen — Geschichtswissenschaft ein neues, ungleich reiche-
res und richtigeres, feineres und volleres Bild von der Unab-
hängigkeitsbewegung als man es früher hatte. Wo man ehedem
in patriotischem Vollgefühl nur einen groben Gegensatz von Frei-
heit und Tyrannei, Recht und Rebellion, kurz von Gut und Böse
sehen wollte, erkennt man heute frei von Leidenschaft mit wis-
senschaftlicher Kühle ein viel komplexeres, viel komplizierteres
Geschehen, das von den verschiedensten Kräften und Motiven
aus den mannigfaltigsten Gebieten mit Notwendigkeit hervor-
gebracht wird.
Aber so bestechend, so überlegen auch diese neue, exakte Auf-
fassung gegenüber der alten Schuldthese ist, es verbleibt doch
ein Rest von Unbehagen, es schleichen sich doch wieder Zweifel
ein. Genügen diese Gründe? Kommen sie auf gegen die sehr
vielen und sehr gewichtigen — aber weniger erforschten —
Gegengründe, die gegen die Trennung sprechen? Können sie
überhaupt wirklich die Revolution erklären? Denn, drückende
neue Steuern, wirtschaftliche Interessen im Gegensatz zur be-
stehenden politischen Ordnung, soziale, religiöse, psychische, geo-
graphische, organisatorische Schwierigkeiten, Gegensätze, Span-
nungen, das alles gibt es doch immer wieder, gibt es fast in
sämtlichen Staaten, ohne daß diese davon gesprengt werden,
ohne daß diese Gründe immer gerade dieselben Folgen haben
müßten, die man ihnen in Amerika zuschreibt. Man mag jeden
einzelnen Grund noch so genau nachweisen, seine Wirkung bleibt
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 579
doch immer unsicher, man mag daher auch noch soviele neue und
immer wieder neue Gründe herbeischaffen und zusammenaddie-
ren, ihre Summe bleibt erst recht von unbestimmter Wirkung,
sie vermag niemals zwingend zu zeigen, daß die Katastrophe
nicht auch hätte ausbleiben können. Mit diesem Einwand soll
nicht etwa gesagt sein, daß alle diese Dinge, die die amerikanische
Forschung ans Licht gebracht hat, nun gar nichts erklären oder
gar, daß sie mit der Unabhängigkeitsbewegung überhaupt nichts
zu tun haben. Gewig nicht. Aber alle die nachgewiesenen Gründe
sind nicht — wie diese Geschichtsforschung gern glaubt — um
endlich ganz deutlich zu sprechen, die Ursachen, die die Revo-
lution bewirken, die Ursachen, aus denen sich ihre Notwendigkeit
errechnen und beweisen ließe. Sie spielen eine bescheidenere
Rolle. Sie sind nur die Bedingungen, nur die Umstände, die Ge-
gebenheiten, unter denen sich die Revolution abspielt; oder, wie
einer der führenden Freiheitskámpfer bei der Melasseakte hübsch
gesagt hat: „Die Melasse war ein wichtiges Ingredienz bei der
Zubereitung der amerikanischen Freiheit." Ingredienz, aber
nicht Ursache!
So lassen sich die Ursprünge der Amerikanischen Revolution
ebensowenig kausal beweisen als moralisch rechtfertigen; aber
was mehr ist, sie lassen sich historisch verstehen. Dazu freilich
ist es notwendig, die etwas vernachlässigte Vorfrage nach der
Bedeutung, dem Sinn des Umsturzes kurz zu klären. Der ist nun
nicht einfach, wie es bisher scheinen konnte, ein bloßer Gegensatz
England—Amerika und läßt sich daher nicht vom englisch-ameri-
kanischen Gesichtspunkt aus verstehen. Vielmehr gilt es sich
auf einen dritten, umfassenden, vereinenden Gesichtspunkt zu
stellen, auf den des britischen Imperiums. Und man darf das
Geschehen nicht einfach als einen Streit zwischen England und
Amerika erklären — das ist schon die Revolution — sondern als
Krise und Katastrophe in der Entwicklung des britischen Im-
periums. Es handelt sich ja nicht um einen Konflikt zwischen
zwei Staaten, die zwei Staaten sind erst hinterher da, sie sind das
Ergebnis des Konflikts. Vor dem Konflikt aber haben wir nur
einen Staat, das britische Weltreich. Und das Problem, das zum
Konflikt führt, das in ihm zum Ausdruck gelangt, aber nicht zur
Lösung, heißt nicht Recht gegen Unrecht, Freiheit gegen Ty-
rannei, wirtschaftlicher Gewinn gegen Verlust, Oberschicht gegen
37*
580 Otto Vossler
Unterschicht, Dissenter gegen Anglikaner, Interesse gegen Inter-
esse usw.; das alles sind nur die einzelnen besonderen Umstände,
unter denen sich das umfassendere, grundlegende Problem ab-
spielt, das Problem der imperialen Einheit. Es ist also
eine Frage von allererster Bedeutung, um die es sich in der
Amerikanischen Revolution handelt, es ist die Lebensfrage
des Imperiums, die heute noch die britischen Staatsmänner
beschäftigt: Wie sind die verschiedenen Teile des Weltreichs
in ein Ganzes, zum Zusammenleben in einer Einheit einzu-
ordnen? Um die Ursprünge der Revolution zu erkennen, gilt
es daher das Wesen und Werden der imperialen Einheit, des
britischen Reichsgedankens zu verfolgen bis zu dem Punkte
seiner Entwicklung, an dem er versagt, zur Krise gelangt und
Katastrophe5. |
Wie steht es nun mit dieser Einheit des Weltreichs? Um
gleich von einer Grundtatsache auszugehen: Das britische Im-
perium ist schon von seinen Anfángen an in erster Linie eine
Wirtschaftseinheit, ein Handelsreich. Eine politische, eine staat-
liche Einheit ist es nur in zweiter Linie, die politische Einordnung
der Kolonien in das Reichsganze ist gewissermaßen nur sub-
sidiär, sie geht in der Hauptsache nur so weit als das notwendig
scheint, um die einheitliche Handelspolitik zu gewährleisten, den
Handel nach innen und aufen zu schützen. Zum Unterschied zu
dem überseeischen Ausgreifen der anderen Nationen, der Portu-
giesen, Spanier, Franzosen, ist es bei den Engländern schon bei
der Gründung nicht die politische Instanz, nicht der Staat, nicht
die Regierung, die die Initiative und Ausführung der Kolonisation
übernimmt. Es fehlen in den Anfángen des britischen Reichs die
Vertreter der heimischen Staatsmacht, die großen Gouverneure,
Conquistadores und Missionare, die für Gott und Kónig ausziehen
Reiche zu erobern. Der Träger der englischen Kolonisation ist
statt des Staats und der mit ihm verbündeten Kirche einfach der
5 G. L. Beer, The commercial Policy of England toward the Am. Colonies,
N. Y. 1893; ders. British Colonial Policy 1754 — 65, N. Y. 1907; E. B. Greene,
Provincial America 1690—1740, N. Y. London 1905; ders. The provincial Governor
in the English Golonies of North America, N. Y. 1898; O. M. Dickerson, Amer.
Colonial Government 1690—1765, Cleveland 1912; Ch. M. Andrews, The Colonial
Period, N. Y. London 1912; A. B. Hart; Formation of the Union 1750—1829, '
N. Y. 1925.
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 581
private Unternehmer. Die Regierung gibt wohl ihren Segen zu -
deren Gründungen, nimmt sie auch unter ihre Oberherrschaft,
aber sich selbst aktiv beteiligen, vor allem zahlen, will sie nicht.
Die Siedlungen müssen sich finanziell rentieren und selbst erhal-
ten, andernfalls sollen sie eben eingehen.
Dagegen kümmert sich die Regierung in London sehr an-
gelegentlich um den Handel der Kolonien, denn nicht unmittel-
bar, sondern auf dem Umweg über ihren Handel sind sie politisch
äußerst wertvoll; der imperiale Handel erzeugt Reichtum und
Schiffahrt und das bedeutet politische und militärische Macht,
ja der Handel wird bekanntlich zur eigentlichen Grundlage der
britischen Machtstellung. Daher die sorgfältige Handelspolitik
der Reichsregierung nach den damals unwidersprochenen Lehren
des Merkantilismus; daher der Gedanke der Navigationsakte, daß
der Handel innerhalb des Imperiums nur englische und koloniale
Schiffe benutzen soll; daher der Gedanke, daß die wichtigsten
Erzeugnisse der Kolonien nur nach England exportiert werden
dürfen, wofür dann anderseits die Engländer Kolonialprodukte
nur aus den eigenen, nicht aus fremden Kolonien beziehen dürfen.
Das Geld soll im Reich bleiben, und deshalb auch sollen die Kolo-
nisten Manufakturerzeugnisse möglichst in England kaufen.
Solche Leitsätze sind in einer langen Reihe von Gesetzen und
Verordnungen bis ins einzelnste ausgearbeitet und mit Hilfe von
Zóllen und Verboten, aber auch von Prámien und Vergünsti-
gungen wird den verschiedenen Teilen ihre besondere, angemes-
sene Rolle innerhalb des groBen Wirtschaftssystems des Reichs
zugewiesen. Diese wohlausgebaute, systematische Handelsgesetz-
gebung der Zentralregierung bildet die eigentliche Grundlage der
imperialen Organisation.
Die politische Einordnung der Kolonien in das Reichsganze
bleibt dagegen, wie schon gesagt, viel unsystematischer, lockerer
und schwächer. Alle englischen Kolonien genießen die Rechte
und Freiheiten der Engländer, genießen Selbstverwaltung, was
ihre eigenen Angelegenheiten angeht, sind sie in der Hauptsache
sich selbst überlassen. Das unterscheidet sie grundsätzlich von
den Kolonien anderer Nationen. Die Selbständigkeit ist dem
Grade nach besonders in der Frühzeit von Fall zu Fall verschieden,
und es hat auch nicht an Versuchen der Reichsregierung
gefehlt, sie zur strafferen Zusammenfassung des Imperiums zu
582 | Otto Vossler
beschränken und zu vereinheitlichen. Solche Bemühungen haben
indes nur zum geringen Teil Erfolg gehabt; sei es, daß die Lon-
doner Regierung im 17. und 18. Jahrhundert von den großen
inneren Umwälzungen und dann von den großen auswärtigen
Kriegen zu sehr in Anspruch genommen war, und ferner ergreift
das englische Parlament selber für die Freiheiten der Kolonien
Partei, weil es in ihnen einen Verbündeten sieht in seinem Kampf
gegen die Krone. Immerhin ist schließlich eine gewisse Einheit-
lichkeit erreicht worden, so daß in der Mehrzahl der Fälle die
Eigenregierung einer Kolonie nach englischem Muster aus Unter-
haus, Oberhaus und Gouverneur besteht. Das Unterhaus wird
von den Kolonisten selbst gewählt, der Gouverneur von der
Zentralregierung ernannt, und er ernennt seinerseits die Mit-
glieder des Oberhauses. Die innerpolitische Entwicklung in den
Kolonien geht jedoch, ähnlich wie im Mutterlande dahin, daß
das Unterhaus an Macht gewinnt, während Oberhaus und Gou-
verneur an Bedeutung verlieren. Das hängt selbstverständlich
auch zusammen mit dem außerordentlich schnellen Wachsen der
Bevölkerung und des Reichtums der überseeischen Siedlungen.
Diese „demokratische“ Entwicklung in den Kolonien hat aber
eine bedenkliche Folge für das Reich. Der Gouverneur vertritt
-die gemeinsame imperiale Oberleitung, das Unterhaus die Sonder-
interessen der: Kolonie. Es ist ganz klar, je schwächer die
Stellung des Gouverneurs wird, desto schwächer wird zugleich
die gemeinsame Oberleitung, der politische Zusammenhalt des
Imperiums. Die Portugiesen, Spanier, Franzosen kennen solche
Schwierigkeiten nicht; ihre Kolonien werden zentralistisch und
autoritär von Lissabon, Madrid und Paris aus regiert. Bei den
englischen Kolonien dagegen rückt der Schwerpunkt der Macht
und der Schwerpunkt der Regierung mehr und mehr von London
weg hinüber nach Boston, New York, Philadelphia, Williams-
burg usw. Und trotzdem sollen die Kolonien weiter einheitlich
geführt werden. Das ist eine ernste Schwierigkeit, und schon ehe
sie ihre Unabhängigkeit offiziell erklären, sind die Kolonien tat-
sächlich schon so gut wie selbständige Staaten geworden. Wirk-
lich gefährlich aber für die Einheit des Reichs kann das solange
nicht werden, als die Franzosen in Canada und im Mississippi-
becken stehen, in einem gewaltigen Bogen die englischen Sied-
lungen drohend im Rücken umfassen und sie durch diesen außen-
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 583
politischen Druck gewissermaßen von hinten an das Mutterland
anpressen.
Aber die Mängel, die Schwäche der Reichsorganisation, die
die wirtschaftliche Einordnung der Kolonien in den Vordergrund
stellt, aber die politische Einordnung vernachlässigt, die zeigt
sich schon deutlich im Siebenjährigen Krieg. Da sollen sich die
Amerikaner gegen die Canadier verteidigen, die unter einer
äußerst straffen, schlagfertigen, einheitlichen Führung stehen,
und es ist notwendig, daß die 13 englischen Kolonien einem
solchen Feind gegenüber nun auch geeint auftreten. Deshalb
macht die Reichsregierung — deren normale Mittel für eine
solche Aufgabe nicht ausreichen — als der Krieg drüben schon
ausgebrochen ist, den Vorschlag, es sollten Abgeordnete der
Kolonien einen Plan für eine gesamtamerikanische Oberleitung
ausarbeiten. Das Ergebnis ist ein merkwürdiger Verfassungs-
entwurf von Benjamin Franklin. Er fordert die Bildung eines
amerikanischen Kongresses, in dem Vertreter der Kolonien unter.
einem englischen Gouverneur vereint sind. Dieser Kongre$ soll
das Recht haben gewisse Steuern zu erheben, Truppen auszu-
heben, soll die Leitung des Krieges haben und die indianischen
Angelegenheiten regeln, kurz er soll die auswártige Politik gegen
den Westen übernehmen. Das Problem der Einheit, die Not-
wendigkeit, das Verhältnis der Reichsteile zueinander neu und
zwar enger zu gestalten, tritt da unter der äußeren Gefahr schon
ganz deutlich auf, und Franklins Plan zeichnet zwei Lósungen,
die später für dieses Problem gefunden worden sind, voraus. Er
ist ein Vorláufer der Verfassung der Vereinigten Staaten von
Amerika und auch der Zusammenschlüsse, durch die aus Grup-
pen englischer Kolonien die großen, selbstándigeren Dominions
entstanden sind. Damals freilich wird Franklins Plan abgelehnt
und die einheitliche Oberleitung bleibt einfach bei der Reichs-
regierung in London. Man kann wirklich nicht sagen, daß es ihr
mit Hilfe ihrer Gouverneure gelungen sei, die Kolonisten zu dem
notwendigen geschlossenen und kräftigen Vorgehen gegen den
nationalen Feind zu bewegen. Vielmehr muß nach einer höchst
zersplitterten, lahmen, halbherzigen und wenig ruhmvollen
Kriegführung durch die Amerikaner schließlich England selbst
für das Reich einspringen und mit seinem Geld und seinen Trup-
pen den Sieg in Amerika erringen. Kurz, im Siebenjährigen
584 Otto Vossler
Krieg zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß die imperiale Orga-
nisation, der vorhandene politische Apparat der Reichsleitung in
den Kolonien — der im wesentlichen zur Sicherung der Handels-
politik geschaffen war — für die Durchführung einer außen-
politisch-militärischen Aufgabe gegen den Westen völlig unzu-
reichend ist.
Man könnte nun meinen, daß diese Aufgabe ohnedies durch
den siegreichen Ausgang des Krieges erledigt sei, so daB das alte
Kolonialsystem bleiben konnte. Das Gegenteil ist richtig: Gerade
der Friede von 1763 verschärft die äußere Aufgabe gegen den
Westen und bringt damit das imperiale Einheitsproblem zur ver-
hängnisvollen Krise. Damals verliert Frankreich ganz Canada
und das halbe Mississippibecken an das Britische Reich. Das
bedeutet einerseits, was die amerikanischen Kolonien im Beson-
deren angeht, das Aufhören des außenpolitischen französischen
Druckes von hinten, sie haben den Rücken frei, fühlen sich sicher,
brauchen den Schutz des Mutterlandes nicht mehr, kurz sie sind
wieder um ein Bedeutendes selbständiger geworden. Jetzt erst
ist überhaupt die Vorbedingung, die Möglichkeit einer Unab-
hängigkeitsbewegung geschaffen.
Andererseits aber, was das Imperium betrifft, stellt das neu-
erworbene, gewaltige Gebiet die Reichsleitung vor neue Auf-
gaben, ja das Reich ändert überhaupt seinen Charakter. Bis
dahin ist es ein Handelsreich gewesen, hat es nur Kolonien ge-
habt, die sich wirtschaftlich selbst erhalten, und die sich selbst
verwalten können. Jetzt ist das anders geworden. Das große
Gebiet im Westen ist auf lange Zeit hinaus wirtschaftlich passiv,
es rentiert sich nicht, es kostet; es ist von Indianern bewohnt und
kann sich nicht selbst verwalten. Aber wenn es überhaupt wert-
voll, das heißt kolonisiert werden soll, und wenn die Indianer
nicht zu einer dauernden Gefahr für die weißen Siedlungen werden
sollen, so muß das Gebiet in Ruhe und Ordnung gehalten und
der Besiedlung friedlich eröffnet werden. Früher haben die Fran-
zosen das Territorium verwaltet. Wer soll das jetzt tun? Die
13 Kolonien sind dazu völlig ungeeignet, das zeigt sich schon
sehr bald, sie richten sofort Verwirrung und Unheil an, es kommt
zu Zusammenstößen und schließlich zu einem sehr gefährlichen
ausgedehnten Indianeraufstand. Es ist daher unbedingt not-
wendig, daß die einheitliche Oberleitung die westlichen, india-
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 585
nischen Angelegenheiten den Kolonien entzieht und selber in
ihre Hand nimmt und die Politik der Kolonien gegen Westen
koordiniert.
So ist die nur vorübergehende auswärtige Aufgabe des Sieben-
jährigen Krieges durch den Frieden zu einer dauernden geworden
und die Reichsregierung in London. muß zu der alten Aufgabe der
wirtschaftlichen Einordnung die neue übernehmen, ihre ameri-
kanischen Kolonien gegen Westen auch politisch einzuordnen.
Im selben Augenblick also, in dem durch den Abzug der Fran-
zosen der Zusammenhalt des Imperiums gelockert ist, ist die
Zentralregierung gezwungen die Einheit straffer anzuspannen.
Jetzt da die Kolonien sich mächtiger fühlen und fast schon selb-
ständige Staaten geworden sind, muß die Zentrale ihre Oberherr-
schaft stärker durchsetzen, um ihrer neuen Verantwortung zu
genügen. Sie plant drei Maßnahmen, um der Situation an der
amerikanischen Westgrenze zu begegnen. Um Zusammenstöße
zwischen Indianern und Kolonisten zu verhüten, soll eine pro-
visorische Scheidelinie zwischen beiden gezogen werden. Das
geschieht. Ferner soll ein kleines Heer den Schutz der Grenze
gegen die Eingeborenen übernehmen. Dazu kommt es gar nicht
mehr. Und schließlich sollen die Kolonisten wenigstens einen
Teil der Kosten für diese ihre eigene Verteidigung selber tragen.
Als aber in Ausführung dieses letzten Programmpunktes das
englische Parlament die Stempelsteuer in Amerika einführt,
leisten die Kolonisten Widerstand; die Stempelakte kann nicht
in Kraft treten. Jetzt ist der Konflikt da.
An dieser Stelle rückt endlich das Einheitsproblem in ein
grundsátzlich neues und kritisches, letztes Stadium. Der Versuch,
die imperiale Einheit zu stärken, stößt nicht bloß auf das
Streben der Kolonien, ihre Selbständigkeit ungeschmälert zu
wahren, sondern er gerät mit einem neuen und weit gefährlicheren
und unversöhnlicheren Gegner in Konflikt, mit dem Geist der
englischen Freiheit und Verfassung®. Die Kolonisten lehnen die
Steuer nicht als zu hoch ab, sondern grundsätzlich, als verfas-
sungswidrig, als eine Verletzung ihrer ererbten und verbrieften
* Moses Coit Tyler, The Literary History of the Amer. Revolution, N. Y. 1897;
Ch. A. MeIlwain, The Amer. Revolution, A constitutional Interpretation, N. Y.
1925; R. Greenfield Adams, Political Ideas of the Amer. Revolution, Durham 1922;
C. L. Becker, The Spirit of 76, Washington 1927.
586 Otto Vossler -
englischen Rechte und Freiheiten. Damit wird der Streit gleich
bei seinem Ausbruch vom praktischen auf das verfassungsrecht-
liche, prinzipielle Gebiet verlegt und außerordentlich verschärft.
Außerdem aber konımt es jetzt erst zum Vorschein und zum Be-
wußtsein der Kolonisten, daß nach anderthalb Jahrhunderten
der Trennung, unter verschiedenen Lebensbedingungen, Erfah-
rungen und Umständen die Vorstellungen von englischen Rech-
ten, englischen Freiheiten und englischer Verfassung diesseits und
jenseits des Ozeans sich auseinanderentwickelt haben, nicht mehr
die gleichen sind. |
Die Amerikaner berufen sich da gegen die Stempelsteuer auf
den bekannten englischen Grundsatz 'no taxation without repre-
sentation'. Sie sind in der Reichsregierung nicht vertreten, also
kónnen sie von ihr nicht besteuert werden. Das kann die Reichs-
regierung keinesfalls zugeben. Sind doch die weitaus meisten
Engländer selbst, und ganze große Städte nicht im Parlament
vertreten und werden doch zu Recht von ihm besteuert. Die
Reichsregierung hat auch immer schon unwidersprochen Zölle
in den Kolonien erhoben, das ist auch eine Besteuerung, und die
ganze imperiale Handelsgesetzgebung wäre in Frage gestellt,
wenn der Satz nicht mehr die in England anerkannte, selbstver-
stándliche Bedeutung haben soll: Keine Besteuerung ohne das
Parlament. Die Amerikaner denken anders; bei ihnen ist — ganz
anders als im Mutterland — das Wahlrecht gleichmäßig verteilt,
das Gros der Steuerzahler ist tatsáchlich wahlberechtigt, für sie
kann daher der Satz nur die wórtliche Bedeutung haben: Keine
Besteuerung ohne Wahlrecht. Dasselbe englische Prinzip, das-
selbe Wort, representation, hat auf den beiden Ufern des Meeres
nicht mehr dieselbe Bedeutung, Engländer und Engländer ver-
Stehen sich nicht mehr.
Das Hauptargument der Kolonisten gegen die Reichsregie-
rung ist die Berufung auf ihre verbrieften englischen Rechte und
Freiheiten; diese, ihr teuerstes Erbgut, seien unantastbar, un-
verletzlich, denn jede rechtmáBige Regierung sei beschränkt und
gebunden durch die Verfassung, die Staatsgewalt stehe unter
dem Recht, sonst sei sie Despotismus. Bei den Amerikanern
trifft das zu, ihre kleinen kolonialen Regierungen sind tatsächlich
an das Recht, an geschriebene Verfassungen, die Charter und an
das Common Law gebunden; wenn sie diese verletzten und ihre
Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776 587
Befugnisse überschreiten, werden ihre Gesetze annulliert. Als
einziges Volk im ganzen Abendlande haben die Kolonisten das
Wirken und die Notwendigkeit einer unumschränkten, absoluten
Staatsgewalt nie erlebt. In England hatte man früher auch so
gedacht, gerade zur Zeit als die Kolonisten ausgewandert waren.
Seither aber ist das Parlament längst zur höchsten, souveränen,
unumschränkten Gewalt aufgestiegen, es steht über, nicht unter
dem Recht, sein Wille ist Gesetz, die alten englischen Rechte und
Freiheiten sind nur eine freiwillige Selbstbeschränkung, die es
sich selbst auferlegt hat und die es daher auch wieder aufheben
kann. Die Autorität des Parlaments ist nach englischem Recht,
damals wie heute, absolut, sie leugnen heißt Aufruhr. Die Reichs-
regierung würde jaabdanken wenn die Kolonisten die englischen
Rechte selber auslegen und ihr vorschreiben wollen, was sie tun
darf und was nicht, das hieße ihnen erlauben, nach Belieben den
Gehorsam zu verweigern.
Man sieht an den zwei Beispielen, wie die verfassungsgeschicht-
liche Entwicklung und damit auch das verfassungsrechtliche
Denken in England und Amerika auseinandergegangen ist und
eine Verständigung unmöglich macht. Von hier aus erscheint die
Schuldthese, die wir zu Anfang kennen gelernt haben, als eine
historische Notwendigkeit. Nach ihren besonderen amerika-
nischen Erfahrungen und Vorstellungen müssen die Kolonisten
den Anspruch der Reichsregierung auf Besteuerung ohne Wahl-
recht, auf unumschränkte Souveränität als unerhörte, boshafte
Neuerung, als reine Tyrannei und als das sichere Ende ihrer
teuersten Rechte und Freiheiten betrachten. Anderseits muß die
Reichsregierung nach ihrer englischen Vergangenheit in dem An-
spruch der Kolonisten auf Vertretung, auf Unantastbarkeit ihrer
Rechte Unaufrichtigkeit und Rebellion sehen, das Ende ihrer
Oberherrschaft im Reich, das Ende der Einheit des Reichs. Beide
haben recht, beide müßten ihre Vergangenheit, ihre historische
Mission, ja sich selbst verleugnen, wollten sie nachgeben. Und
die Gegensätze, die sie vertreten, sind unvereinbar, ein Ausweg,
eine Verbindung und Versöhnung von imperialer Oberherrschaft
und amerikanischer Freiheit ist im damaligen Reiche unmöglich.
Die Vertretung der Kolonien in der Zentralregierung scheitert ja
schon an geographischen Gründen, und die Sicherung der Grund-
rechte nach amerikanischen Vorstellungen, durch eine geschrie-
588 Otto Vossler: Die Ursprünge der Amerikanischen Revolution von 1776
bene Verfassung und ein Gericht, das sie auslegt, ist beim eng-
lischen Parlament undenkbar.
An dieser Unmöglichkeit aber, eine Reichsverfassung zu fin-
den, in der die notwendige Macht und Überordnung der Zentral-
regierung mit der ebenso notwendigen Wahrung der englisch-
amerikanischen Rechte und Freiheiten in Einklang gebracht ist,
geht schließlich das Britische Imperium zugrunde. Jahrelang
kämpfen beide Teile mit einer rechthaberisch, kleinlich, ja schi-
kanös anmutenden Verbissenheit um ihr Prinzip, bis nur noch
das Schwert entscheiden kann. Die Reichsregierung kommt zum
Schluß, daß sie entweder abdanken muß, oder sich mit Gewalt
durchsetzen. Sie versucht das letztere. Gleichzeitig gewinnen
die Kolonisten die Überzeugung, daß ihre Ideale von Recht, Frei-
heit und Verfassung, so wie sie sie verstehen, ererbt und erprobt
haben, die sie als ihr höchstes Gut geschätzt und immer für den
Stolz, den Ruhm, das eigentliche Kennzeichen des Engländers
gehalten haben, daß die von der Reichsregierung verleugnet und
bedroht sind. Wenn diese freie Verfassung sich nicht auf das
Reich übertragen läßt — und sie läßt sich damals nicht über-
tragen — um so schlimmer für das Reich. Sie wollen die Freiheit
ihrer Väter verteidigen, dann eben gegen das Reich.
589
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren
(September und Dezember 1831).
Von
Emil Kayser.
Eines der eigentümlichsten staatsrechtlichen Gebilde, welche
die Geschichte Europas kennt, ist das Fürstentum Neuenburg,
das einerseits in den Königen von Preußen die 1707 von den
Ständen anerkannten Inhaber der monarchischen Gewalt besaß
und anderseits im Laufe der Zeit der Republik der Schweize-
rischen Eidgenossenschaft als vollberechtigtes Glied (Kanton) an-
geschlossen war. Es ist begreiflich, daß diese Doppelnatur, trotz-
dem sie in ihren Ursprüngen und in ihrem Fortbestand auf dem
freien Entschluß der verfassungsmäßigen Vertretung des Landes
beruhte, mit der Zeit als eine Abnormität empfunden wurde, und
daß die geschichtliche Entwicklung schließlich zur Lösung des
Bandes führte, welches das kleine Land französischer Zunge am
Jura mit dem fernen Königshause in der Mark Brandenburg ver-
band. Der Revolution vom 1. März 1848, welche die tatsächliche
Beendigung der Hohenzollernherrschaft in Neuenburg bewirkte,
verlieh der am 26. Mai 1857 zu Paris zwischen den fünf Groß-
mächten und der Schweiz abgeschlossene Vertrag, in welchen
der Preußische König auf die ihm zustehenden Souveränitäts-
rechte über das Fürstentum Neuenburg und die Grafschaft Va-
langin verzichtete, das völkerrechtliche Siegel.
Wie die Pariser Februarrevolution vom Jahre 1848 der gei-
stige Ausgangspunkt der Neuenburger Umwälzung wurde, so
war auch der Sturz der französischen Bourbonen im Jahre 1830
wie für andere Kantone der Schweiz so für das Fürstentum
Neuenburg zu einem Signal demokratischer Erhebung geworden.
Wie matt aber noch die Stoßkraft demagogischer Schlagwörter
in Neuenburg war, läßt schon der Umstand ersehen, daß erst am
590 Emil Kayser
Ende des Jahres 1831 die gegen die monarchisch-aristokratische
Verfassung des Fürstentums gerichtete Bewegung zur Aktion
kam. Im Jahre 1931 sind 100 Jahre vergangen, seitdem der erste
Versuch unternommen wurde, den Kanton Neuenburg seines
monarchischen Charakters zu entkleiden und ihn als unabhängige
Republik den anderen Kantonen der Schweiz gleichzustellen.
Wenn Ernst Gagliardi in seiner vortrefflichen Geschichte der
Schweiz (Bd. I, S. 107) sagt: „Die Schweiz ist aus den mittel-
alterlichen Bauern- und Stadtstaaten erwachsen, und die Demo-
kratie erscheint deßhalb für sie als ein die ganze Existenzform
durchdringendes inneres Leben“, so muß das Fürstentum Neuen-
burg von dieser Charakterisierung ausgenommen werden.
Als Friedrich Wilhelm III. nach der Herrschaft des Mar-
schalls Berthier (1806—1814) wieder die durch Entscheidung der
drei Stände des Fürstentums Neuenburg vom 3. November 1707
dem Hause Hohenzollern übertragene Souveränität über Neuen-
burg und Valangin übernahm, bestätigte er in der Charte vom
18. Juni 1814 die von seinen Vorfahren übernommene Verpflich-
tung, die alten Freiheiten und Rechte zu achten.
Sehen wir uns diese alten Freiheiten und Rechte (libertes et
franchises, wie es in der Charte heißt) etwas näher an.
Die Regierungsgewalt lag in den Händen des Staatsrats,
dessen Vorsitz der vom Fürsten ernannte Gouverneur innehatte.
Ohne daß eine gesetzliche Bestimmung das Amt eines Mitglieds
des Staatsrats von adliger Geburt abhängig gemacht hätte, hatte
sich die Tradition ausgebildet, daß ausschließlich Edelleute Mit-
glieder dieser obersten Behörde sein konnten. Auch in bezug auf
die übrigen höheren Ämter (chátelains, chefs de jurisdiction) be-
stand ein tatsächliches Vorrecht des Adels. Verwaltung und
Justiz waren nicht getrennt. Während der Staatsrat neben der
obersten Leitung der Landesverwaltung als solcher auch richter-
liche Befugnisse besaß, übte er außerdem in den beiden höchsten
Gerichtshöfen der drei Stände von Neuenburg und Valangin
einen entscheidenden Einfluß dadurch aus, daß in der Regel zwei
Drittel der Mitglieder zugleich dem Staatsrat angehörten.
Bei aller Bedeutung, die hiernach dem Adel zukam, fand das
demokratische Element in den vier „bourgeoisies‘‘ von Neuen-
burg, Valangin, Boudry und Landeron eine entscheidende Gel-
tung. Insbesondere erscheint die Bourgeoisie von Valangin
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 591
gleichsam wie eine Landsgemeinde der Urschweiz. Alle drei Jahre
versammelten sich die Bürger der 27 Gemeinden, welche die
Grafschaft bildeten, mit ihren Fahnen auf einer Festwiese, um
ihre Behörden zu wählen und über ihre partikularen Angelegen-
heiten, auch wohl die des ganzen Fürstentums zu beraten.
Der Gedanke der Volksvertretung war alt im Fürstentum.
Zwar waren die Landstände (audiences générales) seit 1618 nicht
mehr einberufen worden, aber die „Vereinigung der Körper-
schaften und Gemeinden‘ hatte die Aufgabe übernommen, den
Wünschen der Gesamtbevölkerung gegenüber der Regierungs-
gewalt berufenen Ausdruck zu verleihen. Das Edikt vom 26. De-
zember 1814 knüpfte an die Einrichtung des 17. Jahrhunderts
wieder an und bestimmte hinsichtlich der Zusammensetzung der
wiedererrichteten audiences générales, daß die zehn ältesten
Staatsräte ihnen kraft eigenen Rechts angehörten, daß der .
Fürst 14 Notabele, darunter 4 Geistliche, als Mitglieder zu er-
nennen befugt sei, daB 21 Bezirksvorsteher (chátelains) durch
den Staatsrat zu berufen seien und 30 Mitglieder als Abgeordnete
der Bezirke zu wählen seien. Das Bureau bestand abgesehen vom
Gouverneur aus dem Kanzler, dem Generalprokurator und dem
Staatssekretär, welche drei letztere Mitglieder des Staatsrats
waren und somit neben den zehn ältesten Staatsräten als Ver-
treter des Staatsrats in den audiences générales in Betracht
kamen.
Die durch die franzósische Revolution von 1830 in Neuenburg
hervorgerufene Erregung bescháftigte sich hauptsáchlich mit der
Zusammensetzung der Volksvertretung; ihr Ziel war eine gesetz-
gebende Versammlung, die auf direkten Wahlen beruhte: ein
corps législatif sollte an die Stelle der audiences générales treten.
Die Initiative ergriff klugerweise der Staatsrat selbst, indem
er die Bourgeoisien veranlaßte, Vorschläge zu machen und den
Postdirektor Louis Jeanrenaud beauftragte, die von den Bour-
geoisien gefaßten Beschlüsse der Krone zu unterbreiten. Es han-
delte sich dabei nicht allein um Vorschläge der vier Bourgeoisien
selbst, sondern auch um Vorschläge, die von den einzelnen Ge-
meinden beschlossen wurden. Während die Bourgeoisien als
solche eine Vertretung verlangten, fand dieser Sonderanspruch
in den meisten Einzelgemeinden Ablehnung. Auch über die
Frage, ob der Krone die Befugnis einzuráumen sei, Vertreter zu
592 Emil Kayser
ernennen, gingen die Beschlüsse auseinander; immerhin sprach
sich die Mehrzahl der Gemeinden in Übereinstimmung mit sämt-
lichen vier Bourgeoisien grundsätzlich zugunsten der „Königs-
deputierten“ aus. Einstimmigkeit bestand bezüglich des Wahl-
verfahrens: Die Wahl sollte geheim und direkt vollzogen werden.
Von der Auflösung des Bandes zwischen dem Lande und dem
brandenburgischen Fürstenhause war nicht die Rede.
Der daraufhin von Friedrich Wilhelm III. mit unbeschränkter
Vollmacht ausgestattete Generalmajor von Pfuel erließ, nachdem
er das Land bereist und dabei die Wünsche der Bevölkerung —
auch diese hatten in keinem Falle die Beseitigung der Monarchie
zum Gegenstand — entgegengenommen hatte, am 22. Juni 1831
eine Ordonnanz, welche die angestrebte Änderung wenigstens
insoweit brachte, als der durch sie ins Leben gerufene gesetz-
gebende Körper — außer zehn vom König berufenen Mitgliedern
aus 78 vom Volk — den 22jährigen Bürgern — in geheimer und
direkter Wahl gewählten Mitgliedern bestehen sollte.
Die Mitte Juli eröffnete Sitzung des gesetzgebenden Körpers
spielte sich in vollkommener Ruhe ab und endigte mit einer
Kundgebung, die dem König für sein Wohlwollen dankte!.
Man hätte nach alledem meinen sollen, eine volle Beruhigung
der Gemüter sei nunmehr eingetreten. Aber bald straften die
Ereignisse solchen Optimismus Lügen.
Der radikalen, auf Beseitigung jeder Verbindung mit dem
preußischen Königshause in geheimer Verschwörerarbeit tätigen
Gruppe war nicht Genüge geschehen. Wie eng dieselbe mit
französischen Einflüssen verknüpft war, erhellt schon aus der
Tatsache, daß ihre politischen Gedanken von einem aus Frank-
reich zugewanderten Journalisten, Armand, in dem Wochenblatt
„Messager de Neuchátel' vertreten wurden. Wenn auch schließ-
lich einheimische Elemente die Führung in die Hand nahmen, so
verdient in diesem Zusammenhange doch der Umstand Beach-
! Die im Allgemeinen mit ausgesprochner Tendenz gegen die monarchisch-
aristokratische Verfassung von Neuenburg gerichtete , Geschichte des Schweizer-
volkes von Otto Henne am Rhyn kann nicht umhin, die Öffentlichkeit der Ver-
handlungen, Preßfreiheit als Ergebnis der Sittung zu buchen. „Durch diese Ver-
fassungsrevision war bezüglich der Repräsentation ein weiterer Fortschritt ge-
schehen, als z. B. in Zürich, Luzern und Solothurn, wo die Hauptstadt mehr Vor-
rechte für sich behalten hatte, als in Neuenburg der König.“ (III, 295.)
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 593
tung, daß der Geist der Unruhe und der Änderung hauptsächlich
im Val de Travers seinen Sitz hatte, in dem die Uhrenindustrie
verbreitet war und ihre Anziehungskraft über die Landesgrenzen
hinaus ausgeübt hatte. So war es auch im Val de Travers, in
Couvet und Rochefort, wo unter der Leitung von Dr. Petitpierre
aus Travers, Dr. Roessinger aus Mötiers, H.C. Dubois aus Buttes,
Alfons Bourquin aus Corcelles und dem Advokaten Humbert-
Droz aus La Chaux-de-Fonds die vorbereitenden Versammlungen
stattfanden.
Am 12.September gelangten die Pläne zur Ausführung,
welche das ausgesprochene Ziel verfolgten, die Herrschaft des
Kónigs von PreuBen zu stürzen und dem Staatsrat die Rene:
rungsgewalt zu entreißen.
Eine Abteilung, die sich überwiegend aus Einwohnern des
Val de Travers zusammensetzte, bemáchtigte sich, ohne Wider-
stand zu finden, unter dem Kommando von Alfons Bourquin in
einer Stárke von etwa 250 Mann des Neuenburger Schlosses. Eine
andere Abteilung, deren Mannschaften aus den Gemeinden des
Rebgelündes stammte, besetzte das Rathaus in Neuenburg und
vereinigte sich alsdann mit der Truppe Bourquin.
An die Spitze der alsbald von den Aufständischen eingesetzten
Regierung wurde der Vertreter von Fleurier im Corps législatif,
Jonas Berthoud, berufen. Der gesetzlich als oberste Regierungs-
stelle wirkende Staatsrat hatte zwar vor den Aufstándischen das
Feld auf dem SchloB geráumt, sich aber nach fehlgeschlagenen
Versuchen, die Gescháfte von Valangin oder von Le Lócle aus
wahrzunehmen, furcht- und harmlos in der Hauptstadt selbst
niedergelassen. Wie wenig er sich durch die Ereignisse hatte ein-
schüchtern lassen, bewies er des weiteren dadurch, daß er sofort
den gesetzgebenden Kórper einberief, den Generalprokurator de
Chambrier nach Luzern entsandte, um die eidgenóssische Unter-
stützung zu erbitten und bei den Kantonen Freiburg, Waadt und
Bern militárischen Beistand zu beantragen.
Während der von Seiten der Aufständischen ebenfalls nach
Luzern geschickte Fritz Courvoisier vom Landammann Am Rhyn
mit der freundlichen Aufforderung abgespeist wurde, immer
guter Schweizer zu sein und Blutvergießen zu vermeiden, er-
schienen am 21. September die eidgenóssischen Beauftragten
v. Tillier (Bern) und Sprecher v. Bernegg (Graubünden) in
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 38
594 Emil Kayser
Neuenburg, um den Streit in friedlicher Weise zu schlichten.
Eine an den folgenden Tagen einrückende Abteilung, bestehend
aus 2 Batterien, einer Kompagnie Karabiniers und 3 Bataillonen
Infanterie, sollte ihren Vorschlägen und Maßnahmen den allen-
falls notwendigen Nachdruck verleihen.
Nach eintägigen Verhandlungen kam am 27. September eine
Verständigung unter folgenden Bedingungen zustande:
.1. Durch die Vergangenheit wird beiderseits ein Strich ge-
macht ;
2. Alle Bewaffneten werden an demselben Tage in die Heimat
entlassen;
3. Das Schloß und das dem Kanton gehörige Kriegsmaterial
wird den eidgenóssischen Truppen übergeben.
Die eidgenössischen Kommissare übernahmen die Gewähr für
die Ausführung dieser Bedingungen, und der Staatsrat erklärte,
daß er der Einberufung der Urwählerversammlungen zur Be-
ratung über die Frage: „Monarchie oder Republik“ kein Hinder-
nis in den Weg legen werde.
Nachdem der Staatsrat als gesetzmäßige Regierung unter
dem Schutz der eidgenössischen Truppen wieder das Schloß be-
zogen hatte, versammelte sich der gesetzgebende Körper, um
über die Einberufung der Urwähler Beschluß zu fassen. Er ver-
warf indessen mit 47 gegen 31 Stimmen die Einberufung und
sprach sich für die Aufrechterhaltung der Monarchie ohne Be-
fragung der Urwähler aus.
Damit schien die Frage, deren Lösung das letzte Ziel der auf-
ständischen Bewegung gewesen war, vom Standpunkt sowohl der
zu Recht bestehenden Verfassung als auch weitgehender Rück-
sicht auf divergierende Volksmeinungen aus dem Bereich der
Gegenwartssorgen ausgeschieden. Die Führer der Bewegung
waren jedoch nicht dieser Meinung. Es war' ihnen gelungen, sich
nach Yverdon im Kanton Waadt zu flüchten, wo sie alsbald ein
neues Unternehmen vorbereiteten. Während sie unter ihren An-
hàngern im Neuenburger Lande verbreiten ließen, daß sie mit
einer Heeresmacht von einigen tausend Mann aus den Kantonen
Waadt, Freiburg und Genf anrücken würden, und daß ihnen
sogar Geschütze zur Verfügung ständen, beschränkte sich ihre
Kerntruppe in Wahrheit auf 200 Arbeiter aus Genf, die zudem
bei ihrer Landung in Morges durch waadtländische Truppen ent-
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 595
waffnet wurden. Nachdem die Genfer wieder mit Waffen ver-
sehen worden waren, gingen sie in zwei Abteilungen in der Rich-
tung des Val de Travers vor, wo am ehesten politische Ge-
sinnungsgemeinschaft und militärischer Beistand zu erwar-
ten war.
Die eine dieser Abteilungen stieB in Bevaix am 17. Dezember
auf den General v. Pfuel mit einem Milizbataillon und der Neuen-
burger Stadtgarde, dem es ein Leichtes war, die Aufständischen
zurückzuwerfen und zu zerstreuen; einer der Führer, Dr. Roes-
singer, geriet dabei in Gefangenschaft. Gleich am folgenden Tage
wurde Pfuel bei Travers auch mit der anderen Abteilung fertig;
nur die Aufständischen hatten dabei einen Toten zu beklagen.
Louis Grandpierre, der an diesen Kämpfen auf der Seite der Auf-
ständischen beteiligt war, und dessen ,,mémoires politiques“ wir
bei der Darstellung der Begebenheiten gefolgt sind, zieht das
Facit des Aufstandes mit den Worten (S. 231):
„Le parti libéral était désormais vaincu et sans res-
sources, les chefs dispersés, quelques centaines de citoyens
emprisonnés, un nombre plus considérable encore répandu
sur la frontiére des cantons voisins et de la France.
Grandpierre widmet ein ganzes Kapitel seiner Erinnerungen
den Vergeltungsmaßregeln, die von den Inhabern der gesetz-
mäßigen Gewalt nach Niederwerfung des Aufstandes getroffen
worden seien. Wenn er seine Erórterungen mit einer allgemeinen
Betrachtung über den Charakter der aristokratischen und der
der demokratischen Parteien mit Rücksicht auf ihr Verhalten
nach gewonnenem Sieg eróffnet und den Unterschied darin sieht,
daB die Demokratie für gleiches Recht und das Gemeinwohl
kämpft, während die Aristokratie sich ihre Sonderrechte an-
gelegen sein lasse, so dürfte dieses Bild im Lichte der Geschichte
doch weniger objektiven Wahrheitswert besitzen als die Ab-
hängigkeit menschlicher Urteile vom Parteistandpunkte kenn-
zeichnen. Daß Grandpierres Zeichnung auf die Neuenburger
Dinge nicht paBt, hat Frédéric de Chambrier in seinen ,,men-
songes historiques sur Neuchátel'" in geradezu klassischer Weise
nachgewiesen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit überschrei-
ten, wenn die Einzelheiten des dem Aufstand folgenden gericht-
lichen und polizeilichen Nachspiels hier eingehender behandelt
würden. Es mag nur erwähnt werden, daß im Laufe der fraglichen
38*
596 Emil Kayser
Bewegungen dreimal eine Amnestie verkündet und jedesmal mit
einer neuen revolutionären Handlung der Demokraten beant-
wortet wurde, daß von den politischen Gefangenen gleich in den
ersten Tagen eine große Zahl — de Chambrier glaubt 135 an-
nehmen zu dürfen — wieder entlassen wurde, und daß Dr. Roes-
singer sich nicht zu beklagen hatte, wenn er die im Gnadenwege
an Stelle der Todesstrafe getretene Festungshaft in preußischen
Festungen (Ehrenbreitstein und Wesel) verbüßen durfte, wo ihm
alle mit der Lage der Dinge zu vereinbarenden Erleichterungen
gewährt wurden.
Nun spricht auch Ernst Gagliardi (a. a. O. S. 367) von einer
„drakonischen Niederwerfung des Aufstandes durch den Ge-
neral v. Pfuel". Wenn wir in dieser Frage in erster Linie eben-
falls dem republikanischen Gewährsmann das Wort erteilen, 80
muß hervorgehoben werden, daß der Name des Generals bei
Grandpierre im Kapitel der „Vengeances‘‘ nur einmal genannt
wird und zwar im Zusammenhange mit der Entlassung Roes-
singers aus der Festungshaft, die Pfuel erwirkt habe, als er sich
bei einem Besuch Roessingers von dem gedrückten Gemüts-
zustand desselben überzeugte. Und die allgemeine Charakter-
schilderung, die Grandpierre von Pfuel gibt, bezeichnet ihn als
einen Mann von liberaler und hoher Gesinnung. Er spricht sogar
die Überzeugung aus, daß Pfuel selbst die Unabhängigkeit des
Landes von der preußischen Krone erlangt hätte, wenn das Land
sie verlangt haben würde.
Dagegen erwähnt Frédéric de Chambrier drei Verordnungen,
die durch den Aufstand veranlaßt waren und die Unterschrift
des Generals von Pfuel tragen.
1. Die Verordnung vom 22. November 1831 legt den Aus-
ländern (also auch den Angehörigen anderer Schweizer Kantone),
welche an dem Zuge gegen das Neunburger Schloß teilgenommen
haben, die Verpflichtung auf, sich den Gesetzen des Fürstentums
durch eine entsprechende Erklärung zu unterwerfen, und bedroht
diejenigen Ausländer, welche diese Erklärung verweigern oder
einer neuen Gesetzesverletzung durch gerichtliches Urteil für
schuldig erkannt werden, mit der Ausweisung;
2. Die Verordnung vom 26. Dezember 1831 weist die Ge-
meinden auf die Berechtigung hin, nicht allein die nicht im Be-
sitz der Neuenburger Staatsangehörigkeit befindlichen Personen,
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 597
sondern auch die Bürger anderer Neuenburger Gemeinden aus-
zuweisen, wenn ihr Betragen Anstoß errege;
3. Die Verordnung vom 27. Januar 1832 hebt angesichts der
wiederholten Strafhandlungen von Ausländern die bisher geübte
Duldung derselben im Fürstentum auf und spricht, wie de Cham-
brier offenbar mit Recht meint, bei vorliegen solcher Hand-
lungen, die Ausweisung derselben aus.
Grandpierre selbst, der Lobredner und Vorkämpfer der repu-
blikanischen Staatsidee, erkennt ausdrücklich (S. 208) an, daß
jeder, der sich in einem fremden Lande niederlasse, sich dadurch
den Gesetzen und der Verfassung (regime) des Landes unter-
werfe. ;
Es geht aber auch vom Standpunkt des gesunden Menschen-
verstandes nicht wohl an, die Ausübung des Hausrechts, die in
diesen drei Verordnungen zum Ausdruck kommt, zu beanstanden,
und sie lassen sich ebensowenig wie das sonstige Verhalten des
Generals von Pfuel bei der Niederwerfung des Aufstandes unter
die Rubrik ,,drakonische Strenge“ bringen.
Nein: der Freund Heinrichs von Kleist, der 1815 nach der
Einnahme von Paris durch die Verbündeten als Kommandant
dieser Stadt mit einer besonders delikaten Aufgabe betraut war,
und dessen ,,menschenfreundlichen und schonenden Weisungen“
es nach Bulle (Geschichte der neuesten Zeit IV, 12) zum großen
Teil zu danken war, wenn es am 15. März 1848 noch ,,ohne das
Aergste ablief‘‘, der am 31. Oktober 1848 als Ministerpräsident und
Kriegsminister mit den Liberalen für den Antrag Rodbertus
stimmte und die Reichsregierung zum Schutz der Wiener Freiheit
anrief, war seiner ganzen Natur nach kein Mann ,,drakonischer
Strenge“.
Wenn wir Pfuels Gesamthaltung gegenüber der Unruhe, die
im Fürstentum Platz gegriffen hatte, gerecht und ohne Vor-
urteil betrachten, so müssen wir im Gegensatz zu Gagliardi das
volle Verständnis für die politischen Gegebenheiten und das auf-
richtige Bemühen, die ihm gestellte Aufgabe mit der weitest-
gehenden Rücksicht auf die in Mitleidenschaft gezogenen Men-
schenschicksale zu lösen, anerkennen. Klugheit, Wohlwollen und
Milde waren die Leitgedanken seines Handelns. |
Pfuels MaBhaltung verdient um so mehr Anerkennung als die
aufständische Bewegung des Jahres 1831 in keiner Weise den
598 Emil Kayser
Anspruch erheben konnte, der natürliche Ausdruck einer in der
Mehrheit der Bevölkerung lebendig gewordenen Überzeugung
und eines von der Mehrheit getragenen zielbewußten Verlangens
nach einer Beseitigung des monarchisch-aristokratischen Systems
zu sein.
Grandpierre, dem wir zur Bekräftigung dieses Urteils über
die innere Berechtigung des Aufstandes das Wort geben wollen,
findet, daß die Stärke der beiden Parteien nicht schwer zu be-
rechnen gewesen sei, und fügt (a. a. O. S. 187) freimütig hinzu:
„il était évident que nous étions de beaucoup les moins nom-
breux.“
Wie stand es denn ferner mit der zahlenmäßigen Kampfkraft
der Aufständischen? Grandpierre gibt für das erste Unternehmen
vom September die Zahl der Aufständischen insgesamt mit 350
an, von denen 250 auf die durch das Gebirge gegen das Schloß
vorrückende und 100 auf die die Seestraße benutzende Abteilung
entfielen, diesich des Neuenburger Rathauses bemächtigen sollte.
Wahrlich, eine einleuchtendere Veranschaulichung des geringen
Anhanges, den die Revolutionsidee 1831 im Lande fand, kann
man sich nicht denken, und Grandpierre fühlt dies auch:
„A part un petit nombre de localites du Vignoble et du Val-
de-Travers, le sentiment n'était nullepart à la revolution.‘
Bei der zweiten Aktion im Dezember bildeten gar die 200
Genfer Arbeiter den Hauptbestandteil der Revolütionsarmee,
und wir hóren nur von Leuten aus dem Val-de-Travers, die am
18. mit den Genfern zusammen vom General v. Pfuel geworfen
wurden. Die Zahl der im Dezember militärisch beteiligten Neuen-
burger Landeskinder muf auBerordentlich gering gewesen sein,
da die Gesamtstárke der bei Travers ins Gefecht getretenen Ab-
teilung von Grandpierre nur auf 200 Mann angegeben wird.
Die Beweiskraft dieser Zahlen für die geringe Bedeutung der
republikanischen Bewegung wird noch verstärkt durch Urteile
unseres radikalen Gewährsmannes Grandpierre über das ge-
sinnungsmäßige Verhältnis des Neuenburger Volkes zu seinen
Hohenzollernfürsten. Er weist darauf hin (a. a. O. S. 519), daß
die Liebe zu ihnen wie die Anhänglichkeit an das monarchische
System während der ersten Regierungsperiode des preußischen
Königshauses (1707—1806) zur Entstehung gelangt sei, daß diese
Gefühle im Gegensatz zur Herrschaft des Marschalls Berthier
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 599
(1806—1814) zur Begeisterung sich gesteigert hätten“, und daB
in dem der Revolution unmittelbar vorangegangenen Zeitab-
schnitt von 1814—1830 sich nichts ereignet habe, was die Zu-
neigung der Neuenburger zu den Königen von Preußen hätte zer-
stören können (a. a. O. S. 520).
Wenn wir uns hiernach ein zusammenfassendes Bild des Lan-
des, des Volkes und der. waltenden politischen Triebkräfte vor
Augen stellen, so gewinnen wir doch wohl den Eindruck, daß die
Neuenburger Revolution von 1831 einen frivolen Charakter trug.
Bestätigt nicht auch Grandpierre diese Auffassung, indem er von
den fünf Mitgliedern des Revolutionsausschusses von Yverdon,
welche die Betreiber des Dezember-Aufstandes waren, sagt, daß
sie das ganze Land in Gefahr gebracht hätten, um durch ein Vor-
gehen mit bewaffneter Hand die Möglichkeit der Heimkehr zu
erzwingen, nachdem die Regierung ihre Stellung wiederbefestigt
hatte und ihnen dadurch die Hoffnung genommen war, auf
* Weise den Boden des Landes wiederzubetreten (a. a. O.
S. 233)?
Und doch bewiesen die öiäbendssischen Kommissare Sprecher
v. Bernegg und Monod (der an die Stelle von Tillier getreten war)
politischen Scharfblick, wenn sie in ihrem Bericht an die Tag-
satzung erklärten:
„Es scheint uns, daß angesichts der Lage von Neuenburg
zwischen Frankreich und den demokratisierten Cantonen der
Schweiz die hohe Regierung dieses Staates — vorausgesetzt, daß
ihr nicht außerordentliche Umstände zu Hilfe kommen — sehr
viele Schwierigkeiten zu bewältigen haben wird, um auf die
Dauer die monarchische Verfassung aufrechtzuerhalten, und daß
sie daher gut tun würde, allen billigen Wünschen des Volkes zu-
vorzukommen, damit sie, im Falle die Entwicklung schließlich
zu unvermeidlichen Bewegungen führen wird, im Stande sein
werde, sie selbst zum Wohle des Landes zu leiten.“
Einstweilen hatten die monarchischen Strömungen im Neuen-
burger Volke bis zu dem Grade die Oberhand gewonnen, daß
nach dem Vorgang der Bourgeoisie von Valangin fast alle Ge-
meinden eine Adresse an den General v. Pfuel richteten, in der er
3 „Im Fürstentum Neuenburg ging der allgemeine Volkswunsch auf Rückkehr
zu Preußen und zur Schweiz zugleich" (Oechsli, Gesch. der Schweiz im 19. Jahrhdt.,
Bd. II, S. 153).
600 Emil Kayser
um seine Vermittlung beim König zur Herbeiführung der Tren-
nung von der Schweiz? gebeten wurde, und daß die gesetzgebende
Versammlung eine Adresse an den König beschloß, in der um
Einleitung von Verhandlungen im gleichen Sinne gebeten wurde.
Die Monarchie schien auch weiterhin auf festen Füßen zu stehen,
und als im September 1842 König Friedrich Wilhelm IV. und
Königin Elisabeth dem Lande einen mehrtägigen Besuch ab-
statteten, da bekundete die überwältigende Mehrheit der Be-
völkerung noch einmal ihre Anhänglichkeit an das angestammte
Fürstenhaus. Wir besitzen über die Einzelheiten einen, wie ich
glaube, vom Kanzler Favarger abgefaßten Bericht*. Trotz hófi-
scher Überschwenglichkeiten verdient diese Darstellung in Be-
such auf seinen tatsächlichen Inhalt vollkommene Glaubwürdig-
keit; er verschweigt auch die Vorkommnisse — die ostentative
Abwesenheit einiger Einwohner von Mótiers (im Val de Travers),
der mit „Vive le Roi“ verbundene Ruf „Vive la Suisse“ in
einem einzelnen Falle, die Überreichung einer auf die grund-
legende Änderung der monarchischen Verfassung hinzielenden
Petition in La-Chaux-de-Fonds — nicht, die dem sonst so glänzen-
den Bilde von der Loyalitát der Neuenburger einige Schatten
verleihen. Nach diesem Bericht wurde das Kónigspaar überall,
wo es sich zeigte, mit heller und, wie man aus den angegebenen
Tatsachen schließen darf, aufrichtiger Begeisterung begrüßt. Ja,
selbst an Straßen, auf denen man es von Anfang an nicht er-
warten konnte, waren Triumphbogen errichtet. „Die ungeheure
Mehrheit der Bevölkerung“, schrieb die Baseler Zeitung, ‚‚hat ihre
Loyalität laut bekundet; nicht allein die Reichen, sondern auch
der Handwerker und der Árme liefen von allen Seiten hinzu.
Die persónlichen Eigenschaften des Kónigs, die Bekundung einer
volkliebenden Gesinnung, deren Zeugen sie waren, haben auf die
Vertreter der Schweiz, v. Muralt und Ruchet, den günstigsten
Eindruck gemacht." (de Chambrier a. a. O. S. 153.)
Nicht ganze sechs Jahre vergingen nach dem Königsbesuch,
da wurde am 1. Márz 1848 die monarchische Regierung gestürzt
* Sowohl Grandpierre (a. a. O. S. 124) wie Oechsli, Gesch. der Schweiz im
19. Jahrhdt., Bd. 1I, S. 805 weisen darauf hin, daß ein Teil der Bevölkerung schon
vor 1831 die engere Verbindung mit der Schweiz gern rückgängig gemacht hätte.
* Relation du séjour de L. L. M. M. Le Roi et La Reine de Prusse dans leur
principauté de Neuchátel et Valangin (Neuchátel, Attinger).
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 601
und nach wiederum sechs Jahren wurde die monarchische Gegen-
bewegung, die unter der Führung der Oberstleutnants von Meu-
ron und von Pourtales im September 1856 die Herrschaft der
Hohenzollern wieder herstellen wollte, im Handumdrehen von
kantonalen Truppen niedergeschlagen. Sechs Jahre hatten genügt,
um den anscheinend festbegründeten Fürstenthron so zu unter-
graben, daß er unter dem von der Pariser Februarrevolution an-
gefachten Sturm zusammenbrach. Die führenden Royalisten,
aber auch die ihnen nahestehenden Berliner Kreise°, erlebten
eine grausame Enttäuschung, als dieser letzte Versuch, das
Fürstentum Neuenburg und Valangin in seiner alten Gestalt
wieder aufzurichten, so vollständig mißlang.
Noch einmal wurde Neuenburg wie im Jahre 1707, als sich
15 Bewerber um die Souveränität im Fürstentum stritten und
die brandenburgisch-preußischen Ansprüche® ungeachtet der
5 Albert von Ruville sagt in seinem Aufsatz „Die Lösung der Neuenburger
Frage im Winter 1856/57“ (Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Geburtstag, S. 336),
„daß der König und die maßgebenden Personen das Unternehmen nicht bloß billigten,
sondern auch in jeder möglichen Weise zu unterstützen geneigt waren. Friedrich
Wilhelm war Feuer und Flamme dafür. Wenn dem Grafen (nämlich Friedrich
Pourtalés), wie er versicherte, sein Gewissen verbot, ohne Einwilligung des Königs
zu handeln, so genügte das, was er erfuhr, vollständig, um solche Bedenken zu
zerstreuen.
Dieser Auffassung gegenüber darf ein an den Grafen Pourtalès unter dem
23. März 1857 nach vorhergegangenem Besuch in Berlin und einer „sehr vertrau-
lichen" Aussprache mit dem Prinzen Wilhelm über die Ereignisse von 1856 gerich-
tetes Schreiben des Neuenburger Pfarrers Frédéric Godet, des Erziehers des Kaisers
Friedrich, Anspruch auf besondere Beachtung erheben. Es heißt darin: „Je crois
à la parfaite loyanté du roi et du prince de Prusse. S'il y a des apparences contraires,
je les envisage comme le résultat d'un malentendu. Ce serait un grand bonheur
pour moi d'avoir une fois l'occasion de m'expliquer avec vous sur ma conviction
et de vous prouver qu'elle n'a rien d'offensant pour vous et en aucun sens quel-
conque. Si j'ai parlé de malentendu, ne pensez pas, Monsieur le Comte, que ce
soit au hasard. Je ne crois pas seulement qu'il y a eu malentendu; je crois com-
prendre quel il a été et je suis prét à vous donner de bouche toutes les explications
que vous pouvez désirer." (Phil. Godet u. Fréd. Godet, S. 303). Ob die von
Godet vorgeschlagene Unterhaltung stattgefunden hat, und welche Aufklürung
er über das von ihm behauptete ,,MiBverstándnis" geben konnte, ist mir nicht
bekannt.
* Leibniz hat in der oranischen Erbschaftssache zwei Gutachten für den preuBi-
schen Hof gegeben, die sich im Berliner Staatsarchiv befinden:
1. Représentation des raisons qui regardent le droit sur la succession de Guil-
laume (IIT), Roy de la Grande Bretagne, entre Frédéric, Roy de Prusse, et Jean
602 Emil Kayser
Drohungen Ludwig XIV. durchdrangen, zu dem Mittelpunkt der
europäischen Politik, und es fehlte nicht viel daran, daß der
Gegensatz zwischen der historischen Rechtsauffassung* und dem
von der Mehrheit getragenen Volkswillen zum kriegerischen
Austrag gekommen wäre. Es ist menschlich zu verstehen, wenn
Friedrich Wilhelm nicht leichten Herzens auf sein ‚liebes Länd-
chen am Jura'' Verzicht? leisten konnte, dessen Bevölkerung ihn
1842 so begeistert zugejubelt hatte. Aber das Spiel hätte wahr-
lich den Einsatz nicht gelohnt, und Theodor Fontane hat den
Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er am 13. Januar 1897 an
Wilhelm und Henriette von Merkel schrieb:
„Es ist nicht unwichtig, daB der Ehren-, Rechts- und Prin-
zipien-Standpunkt aufrechterhalten wird. Glückt uns das aber,
so könnten wir nicht froh genug sein, den ganzen Quark Neu-
chätel schließlich noch mit Manier los geworden zu sein. Die
Haltung, die wir während des Konfliktes beobachtet haben, wird
uns trotz aller Spötteleien Palmerston’scher Blätter zur Ehre
gereichen.“
Die Zeiten hatten sich geändert. Die demokratischen Ge-
danken hatten, und zwar in besonderem Maße in der Schweiz,
Herrschaft über die Geister gewonnen, für die Schweizer Ver-
hältnisse kam hinzu, daß sie mit der zentralistischen Tendenz,
Guillaume Frison, Prince de Nassau, touchant les biens venus de l'ayeul des deux
Roys.
2. Bedenken in der Oranischen Sache.
Es ist wohl unzweifelhaft, daß nicht diese Gutachten, sondern politische und
konfessionelle Gesichtspunkte (das Land war bis auf zwei Gemeinden — Landeron
und Cressier — reformiert) den Ausschlag zu Gunsten Friedrich I. gegeben haben.
7 Oskar Jäger sagt in seiner Weltgeschichte (Bd. IV, S. 533/534): „Das Recht
des Königs und das Unrecht der Schweiz war klar genug, und dennoch konnte
jeder Versuch, jenes Recht geltend zu machen, der Natur der Sache, d. h. der Wider-
natürlichkeit des Verhältnisses nach, die noch klarer war als Recht oder Unrecht
im juristischen Sinn, nur mit seiner Beseitigung in Glimpf oder Unglimpf endigen.“
Ernst Gagliardi, der in seiner Polemik mit Sybels „Gründung des Deutschen Reichs“
(Bausteine) Jäger lobt, weil er Licht und Schatten gleichmäßig verteile, nennt ihn
einen anderen preußischen Geschichtsschreiber, wohl weil Jäger Direktor des
Kgl. Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Köln war. Jäger war aber Schwabe und,
so viel ich weiß, ein Neffe des Dichters Gustav Schwab.
® Nach v. Srbik (Metternich, II, 493) erteilte Metternich auf Bitte Friedrich
Wilhelms dem König seinen Rat zur Regelung der Neuenburger Streitsache. Er
empfahl raschen Ausgleich mit der Schweiz.
Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (September und Dezember 1831) 603
mit der sich die verfassungsrechtliche Sonderart von Neuenburg
nicht vertrug, Hand in Hand gingen und in dem Schweizerischen
Nationalgefühl, das auch das Neuenburger Land immer mehr
durchdrang, einen kräftigen Nährboden erhielten. Die eidge-
nössische Zentralgewalt, die im Jahre 1830 gegenüber den An-
griffen auf die verfassungsmäßige Regierung dieser ohne Zaudern
volle Vertragstreue bewiesen hatte, war seit dem Aufstand von
1848 die Beschützerin der Republik geworden. Aber noch im
Jahre 1856 wurden in der Neuenburger Volksvertretung und
im Kreise der übrigen Kantone Stimmen laut, die von der allge-
meinen Haltung abwichen.
Am 7. September 1856 teilte der Neuenburger Staatsrat dem
eidgenössischen Bundesrat und den in der Eidgenossenschaft
verbundenen Staaten den Erfolg der republikanischen Sache mit,
aber unter den darauf eingegangenen Glückwünschen fehlten
diejenigen von Basel-Stadt, das sich des Beistandes des monar-
chischen Neuenburg in seinem Streit mit der Landschaft erinnerte,
sowie Schwyz, Uri und Nidwalden, bei denen die Haltung Neuen-
burgs in der Kloster- und in der Jesuiten-Frage wie auch gegen-
über dem Sonderbund nicht vergessen war. Und selbst in dem
gesetzgebenden Körper des Kantons Neuenburg stimmten 16 Ab-
geordnete gegen die mit 72 Stimmen angenommene Dank-
Adresse an die Bundesversammlung für die dem Kanton Neuen-
burgaus Anlaß derroyalistischen Erhebung bewiesene Sympathie.
Wir dürfen im Rückblick auf den gesamten Ablauf der Be-
gebenheiten und Verhältnisse von 1707—1857 wohl sagen, daß
das Ende einer der ältesten Monarchien Europas sich nicht als
die Folge einer die Entwicklung hemmenden und die Bevölkerung
bedrückenden Mißwirtschaft® sondern als Ergebnis einer poli-
tischen Zwitterstellung sowie als Auswirkung des Zeitgeistes dar-
stellt, der nun einmal der Beständigkeit abhold ist. Und schließ-
lich fühlte sich die Eidgenossenschaft stark genug, das Jurator
* Im Februar 1848, also unmittelbar vor dem republikanischen Handstreich
vom 1. Mürz sprach der Prüsident der Berner Regierung gegenüber dem Neuen-
burger Abgeordneten zur eidgenössischen Tagsatzung, Calame, seine Anerkennung
der Neuenburger Zustünde aus: ,,Das Neuenburger Land ist das glücklichste, das
ich kenne. Volle Gewerbefreiheit, eine ausgezeichnete Verwaltung, alle Voraus-
setzungen das Gedeihens. Ihr seid freier wie die Berner." (de Chambrier,
a. a. O. S. 176.)
604 E.Kayser: Die Neuenburger Revolution vor 100 Jahren (Sept. u. Dez. 1831)
zu bewachen, dessen Schutz die weitblickenden Berner vor
150 Jahren in den Händen der weit entfernten protestantischen
Macht gesichert glaubten!®. Eine geopolitische Notwendigkeit
für die Grenzbildung der Schweiz hatte im Wechsel der Zeiten
veränderte staatspolitische Voraussetzungen erfahren.
Als ich im Jahre 1926 Valangin besuchte und mir den Festsaal
des Schlosses zeigen ließ, da war das Erste, daß die junge Füh-
rerin auf das die Mitte der Hauptwand einnehmende Bild Fried-
rich des Großen mit den Worten hinwies: ,, Voilá Frederic II, roi
de Prusse, prince de Neuchâtel et Valangin.“ Sie kannte wahr-
scheinlich den Brief des großen Königs an Voltaire nicht, in dem
er darüber klagt, daß man Rousseau trotz des Schutzes, den er
ihm habe angedeihen lassen, aus dem Lande (Neuenburg) ver-
trieben habe, daß er auch die Verfolgung des die ewige Verdamm-
nis leugnenden Pfarrers Petitpierre durch die orthodoxe calvi-
nische Geistlichkeit nicht habe verhindern können, und in dem
er mit den denkwürdigen Worten seine Regierungsgrundsätze für
Neuenburg bekundet:
„Ich habe in diesem Lande meine Zuflucht nicht zu
dem Mittel genommen, dessen sich der französische Hof
bedient, um die Parlamente seinem Willen gefügig zu
machen; ich achte die Verträge, auf welche dieses Volk
seine Freiheit und seine Rechte gründet, und ich übe die
Staatsgewalt in den Grenzen aus, die sie selbst bestimmt
haben, als sie sich meinem Volke hingaben.“
Aber die Erinnerung an die Verbindung von Neuenburg mit
der „maison de Brandebourg“ und der Stolz auf eine Vergangen-
heit, über welche die Gestalt des großen Preußenkönigs strahlte,
war trotz allem Wandel der Zeiten in dieser Neuenburgerin
lebendig geblieben.
10 3. Oechsli, Gesch. der Schweiz im 19. Jahrhdt., Bd. I, S. 69—72.
605
Kleine Mitteilungen.
Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit.
Als Ludwig Traube die bibliotheksgeschichtlichen Studien in den Rahmen
der lateinischen Philologie des Mittelalters aufnahm und insbesondere mich,
den er in den vier letzten Jahren seines Lebens nahe an sich heranzog, unter
anderem zur Erforschung alter Büchersammlungen ermunterte, da wollte er
keineswegs nur die hilfswissenschaftlichen Aufgaben seiner schwerbepackten
Disziplin vermehren. Schrift, Buch, Bibliothek waren ihm wichtiger Ausdruck
des antiken und mittelalterlichen Geisteslebens. Auch nach Fritz Milkau
kommt es für den Betrachter der Bibliotheksbestünde und Bibliotheksschick-
sale zumal auf die innere Geschichte an, auf den Geist, der die Bibliothek
beseelte, die Wirkung, die von ihr ausging, den EinfluB, den die Gestaltung
des wissenschaftlichen Betriebes auf sie ausübte, die Anregung, die sie aus
ihrer Arbeit heraus zur Förderung des gesamten Bibliothekswesens beisteuerte.
Diese Gedanken und Forderungen hat Josef Montebaur Leitsterne seiner
Studien zur Geschichte der Bibliothek der Abtei St. Eucharius—
Matthias zu Trier, Freiburg i. B. (Verlag Herder u. Co.) 1931 (26. Supple-
mentheft zur Rómischen Quartalschrift für christliche Altertumskunde und für
Kirchengeschichte) sein lassen und sich bemüht, nicht im Detail zu ersticken.
Anerkennenswerterweise befleiBigt er sich überall in der Darstellung, zwischen
den Schicksalen der Bücher und der Bibliothek, dem Inhalt und Außeren der
Codices einerseits, den geistigen Strömungen und Erscheinungen der Zeiten
andererseits Verbindungslinien zu ziehen oder doch die Beziehungen anzu-
deuten. Das hätte jedoch nicht zu bewirken brauchen, daB die „subtilen
Einzelforschungen“ nur allzuoft unbefriedigend ausgeführt wurden. Ich
stelle mir nicht gern vor, daß die Philosophische Fakultät der Universität
Berlin, die 1926 Montebaurs Arbeit als Dissertation annahm, die recht erheb-
lichen Unvollkommenheiten in vollem Maße übersehen hat, möchte lieber
annehmen, daß mancher Fehler erst nachträglich eingedrungen ist. Auf die
zahlreichen Druck- und Schreibversehen Montebaurs will ich gar nicht ein-
gehen. Viele wird ja der Leser selbst leicht beheben können, andere, z. B. die
Verwechselung von Juvencus und Juvenalis S. 16, Anm.2, werden nicht
sofort gemerkt und sind doch recht peinlich. Wenn mir die Arbeit rechtzeitig
vorgelegen hätte, würde ich beispielsweise den Satz (S. 51) „dagegen ist der
Bestand an mittellateinischer Literatur dürftig" nicht haben durchgehen
lassen. Denn: Sind nicht auch die vielen Exemplare von Werken mittelalter-
licher Exegese, Dogmatik, Philosophie, Homiletik, Asketik, Hagiographie,
Geschichtsschreibung, Musikkunde, Lexikographie, Grammatik, Medizin
606 P. Lehmann
und Jurisprudenz, die im Kloster vorhanden waren, mittellateinisch? Und
selbst von der mittellateinischen Dichtung, die Montebaur anscheinend vor-
züglich ins Auge gefaßt hat, war mehr da, als der Verfasser uns S. 51 ff. glauben
macht. Z. B. verzeichnet er nicht die carmina super lamentacionem J heremie
secundum sensum historicum, allegoricum et moralem (no. 18), die massa
computi metrice composita (no. 604), die versus Fortunati episcopi laudes
s. Agricii continentes (no. 555), die egloga Hucbaldi de calvis (no. 625), den
primarius (lies penitenciarius) metrice (no. 427), die vita s. Benedicti ab-
batis metrice (no. 506) u. a.
Ein unbestreitbares Verdienst des Autors ist es, daB er einen ausführ-
lichen Katalog des 16. Jahrhunderts insoweit veröffentlicht hat, als darin
Handschriften beschrieben sind. „Die Untersuchung des Kataloges brachte
folgendes Ergebnis: Um das Jahr 1530 umfaBte die eigentliche Klosterbiblio-
thek der Abtei St. Matthias 1677 Werke, von denen 639 Handschriften waren.
Von diesen konnten vorläufig 222 als erhalten nachgewiesen werden.“ (S. 53.)
Eine praktische Übersicht über das Erhaltene, das nebenbei gesagt bestimmt
die Zahl von 222 Bünden überschreitet, vermisse ich. Über die philologischen
Codices aus St. Matthias hätte sich Montebaur übrigens aus dem alten Wytten-
bachschen Kataloge orientieren kónnen, der im Original in Trier, in Abschrift
zu Bonn in der Universitätsbibliothek, zu Berlin in der Staatsbibliothek
zugänglich ist. Gewiß hat Montebaur beim Katalogdruck jeweils zu der alten
Beschreibung eines Manuskriptes in Klammern die moderne Signatur eines
geretteten Bandes beigefügt. Das Seltsame ist nur, daB er zwar von 222
erhaltenen Handschriften spricht, trotzdem aber bloß 189 bzw. 190 Codices
im Einzelnen nennt. Warum das geschah, ist mir einstweilen unerfindlich,
zumal da Montebaur bei der Rekonstruktion schon vor Jahren durch P. Virgil
Redlich unterstützt wurde und auch ich meine Sammlungen zur Verfügung
gestellt hatte. Unerklärlich ist mir, daß nicht nur die von mir gegebenen Hin-
weise auf die alte Evangelienhandschrift Edinburgh Univ. Western Mediaeval
Ms. 12, auf Nürnberg Germ. Museum 3738 (im Katalog F.85), Berlin lat. oct.
162 (K. 64) und die Handschriften London Brit. Mus. Add. Ms. 11035 (K. 63),
München Antiquariat Jacques Rosenthal (vgl. Bibliotheca medii aevi manu-
scripta I no 22 mit Tafel; F. 35) fehlen, sondern sogar in der Verzeichnung
der noch heute in Trier (Seminarbibliothek, Dom- und Stadtbibliothek) selbst
aufbewahrten und zumeist durch gedruckte Kataloge übersehbaren Codices
beträchtliche Lücken sind. Ich beschränke mich hier — ohne damit
alles erschópft zu haben — auf folgende Ergánzungen: B. 73 — Stadt
120; B. 101 = Sem. 94; C. 43 = Stadt 1060; D. 104 = Sem. 87; E.1 =
Sem. 72; E. 55 — Stadt 1055; E. 56 = Stadt 1053; E. 99 — Stadt 138;
E. 100 — Stadt 139; E. 173 — Sem. 113; F. 12 — Sem. 77; F. 34 — Sem. 148;
F. 60 = Stadt 95; F. 89 — Stadt 137; F. 182 jetzt im Besitz des wieder-
gegründeten Klosters St. Matthias, das auch noch einige andere Codices
besitzt, wie mir P. Virgil Redlich vor Jahren mitgeteilt hat; F. 185 — Sem.
107; F. 197 = Stadt 193; F. 230 = Sem. 110; F. 254 — Stadt 1056; F. 255 =
Trier Hist. 508 (1250); F. 265 — Stadt 213; F. 269 — Stadt 558; F. 270 —
Stadt 1041; F. 283 — Stadt 567; F. 301 = Stadt 353; F. 317 zum Teil er-
halten in Trier Hist. 507 (1249); F. 320 = Sem. 135; J. 11 = Sem. 42; J. 64
Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit 607
= Dom 93a (vgl. MG. SS. rer. Merov. VII, 689; J. 82 — Sem. 141 (?); J.87 =
Sem. 79; K. 41 = Stadt 1989; K. 62 — Stadt 1036; L. 42 — Stadt 1893;
M. 1 — Stadt 1086; M. 63 — Sem. 44; N. 73 — Stadt 639; N. 90 — Stadt 1104
laut Nachweis von Prof. Dr. G. Kentenich (Trier); N. 91 — Stadt 1092; vgl.
Ernst Klug, De florilegiis cod. Monac. 6292 et cod. Trevir. 1092, Greifswald
1913; O. 25 = Stadt 811; O. 32 — Stadt 813. Ob Montebaur außerdem nicht
verschiedene Handschriften, die im alten Katalog verzeichnet sind, ver-
sehentlich ganz ausgelassen hat, kann ich zur Zeit nicht nachprüfen. Die
starken Fehler und Verlesungen, deren sich der Abschreiber des 16. Jahr-
hunderts schuldig gemacht, sind von Montebaur nur in wenigen Fällen be-
seitigt worden. Häufigere Eingriffe hätten nicht geschadet, namentlich da
sehr oft aus den Titeln der erhaltenen Codices die richtigen Lesarten hätten
festgestellt werden können. Schon die falsche Trennung von Priscianus
ex Dionisio translatus und de situ orbis durch ein Semikolon bei L. 59, die
fehlende Ergänzung in der Vergilhandschrift M.1 egloga esusdem Ro...
nascentibus statt Rosss nascentibus zeigte mir, daß der Herausgeber nicht
immer genügend Bescheid wußte über die Büchertitel. In geradezu er-
schreckender Weise haben mir aber die S. 17ff. gebotene „Zusammenstellung
der Werke, die nachweislich am Ende des 14. Jahrhunderts in der Bibliothek
vorhanden waren" und dann das Schriftsteller- und Schriftenverzeichnis
S. 118—159 gezeigt, wie wenig noch Montebaur von den alten Texten kennt
oder kannte, bzw. wie flüchtig er gearbeitet und den Druck überwacht hat.
Meiner guten persönlichen Beziehungen wegen bedaure ich diese öffentlichen
Feststellungen machen zu müssen. Unterdrücken kann ich meine Kritik
nicht, da ich hoffe, daB sie mit dem Buch zusammen der Wissenschaft dient.
S. 17 wird unter den Werken, die um 1400 vorhanden gewesen sein sollen,
Jacobus de Straelen, Expositio in apoc. zitiert. Tatsächlich hat dieser Autor,
laut einer Bemerkung von Johannes Trithemius, noch 1496 gelebt, also sicher
nicht schon Ende des 14. Jahrhunderts ein Kommentar verfaßt gehabt. Auf
derselben Seite werden Sermones praepositivi verzeichnet, im Register fehlen
sie beim Buchstaben P; denn Montebaur weiB offenbar nicht, daB Praeposi-
tinus von Cremona, Kanzler von Nótre Dame Paris, ein berühmter Scho-
lastiker des 13. Jahrhunderts gemeint ist. S. 18 werden Schriften De offi-
ciis divinis, Liber officiorum, Exposito canonis missae teils unter den
Ascetica, teils unter den Canonistica erwühnt. Das kühne und tiefsinnige philo-
sophische Werk De divisione naturae des Johannes Scottus saec. IX figuriert
S. 19, weil es im Katalog den Titel PAysiologia führt, unter den Medicinalia!
In derselben Rubrik finden wir zu unserer Überraschung auch Julius Solinus
de situ orbis terrarum, Raimundi Lulli ars inventiva, Conradi Argentor.
computus, einen algorismus und fraesagta tonitruum. Zu den Gramma-
tikern wird Minutius Felix de nuptiis philologie gerechnet. Als gelehrter
Geistlicher hátte Montebaur wirklich nicht Marcianus Capella und Minucius
Felix, den Verfasser des Dialogs Octavius, der vielleicht ältesten auf uns
gekommenen christlichen Schrift in lateinischer Sprache, verwechseln dürfen.
Geradezu komisch wirkt (S. 19) in einer von einem „Mittellateiner“ verfaBten
Dissertation Hucbaldus als Autor der Fabulae a Fulgentio ad Catum. Als
ich Herrn Montebaur brieflich für die Übersendung seiner mir sehr will-
608 P. Lehmann
kommenen Arbeit dankte, hatte ich die Prüfung der, wie mir schien, ziemlich
überflüssigen, aber leicht zu erarbeitenden Listen (S.17—19) unterlassen
und das Register noch kaum angesehen. Meine Enttäuschung wurde größer
und größer, sobald ich, durch einige Fehler stutzig gemacht, die Untersuchung
nachholte. Eine Blütenlese aus dem von mir Bemerkten und Berichtigten
möge meine Verwunderung begreiflich machen:
Unter Albinus' vermißte ich S. 119 die disputatio Pippini cum Albino,
fand sie S. 149 unter ‘Pippinus’, als ob dieser Sohn Karls des Großen und
nicht der Angelsachse Alchvine der Verfasser gewesen. S. 119 steht ohne
Fragezeichen A manus imperfectus wie im Katalog, die Verbesserung Avianus
lag nahe genug. Anverus presb. Anglicus mag., opus de practica artis
musicae S. 120, erhalten in Trier Sem. 44 mit dem Incipit „Licet mihi" ist
wohl Alfredus Anglicus de musica, wofür John Bale dasselbe Initium bezeugt.
Bei Bartholomeus Faccius ( ?) trialogus ad Alfonswm de vite felicitate steht
S. 124 das Fragezeichen zu Unrecht, denn Bartolomeo Fazio ist ein bekannter
italienischer Humanist des 15. Jahrhunderts aus dem Kreise des Aragonier-
königs Alfonso von Neapel. Mit Boldensten Guslhelmus, de terra sancta
usw. S. 128 ist der westfälische Palüstinafahrer saec. XIV Wilhelm von
Boldensele gemeint. Für Calbinicus ist S.129 ruhig auf Terentius verwiesen,
wo man auch keine Aufklärung erhält. Offensichtlich hat Montebaur nicht
verstanden, daß es sich in dem verschollenen Codex N. 6 bei der questio
oria inter Terentium et Calbinicum quam auctores postea sedaverunt
um einen Textzeugen für Virgilius Maro Grammaticus handelt, der einmal
über den vierzehntügigen Streit der Grammatiker Galbungus (das ist jener
Calbinicus) und Terrentius um den Vocativ von „ego“ berichtet. S. 129
lesen wir, wie schon S. 116 bei der Handschrift N. 91, Cato dans castigamina
mato. Durch die Verbesserung von mato zu nato wäre der Titel in Ordnung
gekommen; Die Dicta Catonis ad filium suum sind gemeint. S. 130 hätte
bei dem Tract. Circa Instans auf den Verfasser, den Mediziner Platearius
aufmerksam gemacht werden sollen. S. 131 ist Conradus Zabraensis super
firmiter dem weitverbreiteten Conradus de Soltau (Zoltaensis) super sim-
bolum „Firmiter credimus" gleichzusetzen. Hier wie in anderen Fällen
hätte der Verfasser aus meinen ja von ihm zum Vorbild genommenen Re-
gistern zu den beiden ersten Bänden der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge
Deutschlands und der Schweiz schnell Belehrung schöpfen können. S. 131
wie S. 115 steht unverbessert Crescentius v. cl. qu(intus), c(onsul), Ars de
nomine et verbo da. Wir haben kein Werk von einem Grammatiker dieses
Namens. Sicher haben wir es mit Consentius zu tun, dessen Bezeichnung
v. C. = vir clarissimus auch anderwärts, z. B. in Bern Manuskript 432, dazu
geführt hat ihn zu einem V. (quintus) consul zu stempeln. Der Daniel de
Racharo, Verfasser einer vita S. Johannis Climaci S.131, ist der Sinaimónch
Daniel von Raithu. S. 133 stößt man auf einen Eucheriades als Verfasser
der scolsca de musica. Es handelt sich um eine Musica enchiriadis, ein Hand-
buch der Musik des Hoger von Werden, vgl. M. Manitius, Geschichte der
lateinischen Literatur des Mittelalters. I. 449f. Unter Franco ist S. 134
Franco de Meschede (vgl. Analecta hymnica. XXIX, 183ff. und E. Schröder
in den Nachrichten der Ges. d. Wiss. zu Göttingen. 1927, S. 119ff.) zu ver-
Bemerkungen zu einer bibliotheksgeschichtlichen Arbeit 609
stehen; der Katalog hat unter F. 247 Franconis scholastici meschren ( ?).
S. 137 ist die Ordnung des Alphabets gestört, so daß Gualtherus zwischen
Guigo und Guilelmus steht. S. 138 lies bei Hermannus de Schildis de cavendis
statt de canendis. Johannes Pethau de Pethano, Verfasser einer Perspec-
tiva, ist natürlich John Pecham, o. f. m., Erzbischof von Canterbury (} 1292).
S. 142 und 109 Johannes Fralecis de arte memorate ist unverständlich.
Hätte der Herausgeber die gedruckten Trierer Kataloge sorgfältig studiert,
hátte er die betreffende Handschrift in der Stadtbibliothek unter no. 1036
wiedergefunden und gesehen, daß ein Johannes Frowerss mit seiner Schrift
de arte memorie gemeint ist. S. 143 Lacryma ecclesiae ist, was auch aus der
in Trier erhaltenen Handschrift hervorgeht, ein Werk des Konrad von Megen-
berg. S. 144 lies Leontius Neapolitanus (Cypri) statt Leontius Neopolatius
Macrobius fehlt im Register, S. 144, ganz, da der Herausgeber S. 109 die
Zusammengehörigkeit des von ihm durch Semikolon getrennten Somnium
Scipionis und des Excerptum ex libro de re publica Ciceronis verkannt
hatte. S. 145 schreibe man Martinus Dumiensis statt Martinus Dienensis,
ferner versiculi funebres statt v. funebri! DaB Maurus Honoratus einen
Sermo de natura syllabarum verfaßt habe, wie S. 145 und 116 zu lesen ist,
wirkt recht sonderbar: für sermo ist Servii zu lesen. S. 146 ist Nicolaus
Magnus de Jalbor gleich Nicolaus Magni de Jawor d. h. Jauer. S. 147
kommt ein Nitadus abbas mit einer Vita s. Lutwini vor. Thiofrid von
Echternach dürfte gemeint sein. S. 147 muB es bei Odo Cameracensis 194*
statt 149 heißen; Fehler in den Zahlen sind leider nicht selten, jedoch will
ich sie nicht alle anmerken. S. 148 De ortu et obitu prophetarum gehört
unter Isidorus Hispalensis, Johannes Persant, in Aristot. super perspectiva
communi unter Johannes Pecham. S. 149 fehlt Praepositinus. Der pri-
marius metrice auf derselben Seite ist ein Penitenciarius. S. 150 fehlt Proclus
574; der Herausgeber hatte S. 109 den liber tertius summe Udalrici de
Argentina durch kein Satzzeichen vom Iiber rarus proculi getrennt und
durch Kleinschreiben von proculi bewiesen, daß er nicht an den Neuplatoniker
Proclus gedacht hatte. S. 151 lies Ropertus Lincolniensies statt R. Lin-
corniensis. S. 152 Seneca Hulvillogus epistola gehören nicht zusammen:
nach den Senecabriefen wird in der Handschrift der spätmittelalterliche
Vocabularius Hubrilugus gestanden haben, vgl. über ihn H. Schreiber, Die
Bibliothek der ehemaligen Mainzer Kartause, Leipzig 1927, S. 111. Aus dem
antiken Dichter der Thebais und Achilleis sind S. 154 zwei Autoren geworden:
Statius Papirius Surculus und Statius Neapolitanus. In der Liste derVitae
sanctorum S. 156ff. lies Caloceri et Parthenii statt Colocerii et Parthemii,
Fusciani statt Fustiani, Getulii statt Getunlii, Eliphii statt Elphii, Urs-
mari Veronensis statt Usma oder Usmarensis. S. 158 ist die Entstellung
von Walafridus zu Walusfridus unbeanstandet gelassen, ebenso wie S. 59,
62, 159 Zacharius Crispolitanus und dergleichen für Chrysopolitanus ge-
schrieben steht.
Der Lücken, Mißverständnisse und Nachlässigkeiten sind zu viele, als
daB sie mit wohlwollendem Stillschweigen übergangen werden könnten.
Gerade weil ich möchte, daß Josef Montebaur, der nun in der Vaticana tätig
ist, seine Erforschung von Trierer und anderen Bibliotheken und Hand-
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H.3. 39
610 Lampe
schriften des deutschen Mittelalters fortsetzt, wobei ihm meine Hilfe gewiß
ist, mußte ich ihm und anderen einmal zeigen, daß zu solchen Studien eine
größere Genauigkeit und eine gute Kenntnis alter Literatur gehören, Ent-
sagung und Wissen nicht geringen Maßes, nicht zuletzt auch Scharfsinn und
Kombinationsgabe. Im nächsten Heft hoffe ich von dem von Montebaur
mitgeteilten Titel der Grammatik eines Antholinus ausgehend darlegen
zu können, daß und wie mit Hilfe des Trierer Katalogs ein mehrfach be-
sprochenes, angeblich karolingisches Literaturwerk völlig anders als bisher
datiert und beurteilt werden kann.
München. P. Lehmann.
Helwig von Goldbach, Marschall, Landmeister und Landkomtur
des Deutschen Ritterordens.
Helwig von Goldbach stammt jedenfalls aus dem Geschlechte der
Marschälle von Eckartsberga und Sondershausen. Sein Vater Helwig ist
als Marschall der Landgrafen von Thüringen 1240—1275 nachweisbar!, und
war mit einer Beatrix verheiratet, deren Geschlechtsname bis jetzt unbekannt
ist. Wir wissen nur, daß sie 1292 noch lebt und in diesem Jahre zusammen
mit ihrer Tochter Adelheid dem Deutschordenshause in Nägelstedt einige
Besitzungen übertragen läßt?. In dieser Urkunde wird der jüngere Helwig
Stellvertreter des Meisters des Deutschen Ordens genannt. Kurz darauf
treffen wir ihn als Landkomtur von Thüringens. Er war damals keine un-
bekannte Persönlichkeit mehr, sondern hatte schon hohe Ehrenstellen im
Orden bekleidet. Da wir ihm zuerst im Ordenslande Preußen begegnen, so
ist er jedenfalls dort vielleicht im Jahre 1272 dem Orden beigetreten. Vermut-
lich ist er mit Markgraf Dietrich von Landsberg, der in diesem Jahre einen
Kreuzzug nach Preußen unternommen hatte, ins Ordensland gekommen 32,
Vom nächsten Jahre an bis 1276 erscheint er b mal als Zeuge“, und zwar immer
an letzter Stelle, aber bemerkenswerterweise auch immer als einziger, der
kein bestimmtes Amt unter den Zeugen hat. Wir müssen daraus schließen,
daß er irgendwie durch seine Fähigkeiten sich dort schon ausgezeichnet
hatte. Im Jahre 1277 wird er dann Komtur in Christburg? als Nachfolger
des tapferen Hermann von Schónenberg, der an die Spitze des Kulmer Landes
gestellt wirds. Als er gegen die aufstándigen Pogesanen mit ins Feld zieht,
wird er vielleicht durch einen plótzlichen Überfall zusammen mit dem Kom-
tur von Elbing gefangen genommen und entrinnt mit knapper Not durch
Hilfe eines dem Deutschen Orden wohlgesinnten Pogesaniers durch Flucht
dem Tode’. Zweifellos hat er sich wohl wieder an den Kämpfen der nächsten
1 Posse, Siegel des Wettiner Adels II, S. 100 ff.
2 Demnächst Thüringische Geschichtsquellen 10, I, 530.
3 Publikationen a. d. kel. Preuß. Staatsarchiven, 3, 551.
*» Dusburg, Chronicon Prussiae, S. 225. — Lucas David 4, S. 122. — Voigt,
Geschichte Preußens III, S. 314ff.
* Preuß. Urkundenbuch (Pol.-Abt.) I, 2, Nr. 314, 329, 343, 347, 350.
5 Ebendas. 354, 359.
* Voigt, Geschichte Preußens III, 351.
? Dusburg, Chronicon Prussiae III, c. 184. — Voigt a. a. O. S. 348 f.
H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 611
Jahre beteiligt, aber wir wissen nichts über ihn, bis er uns im Jahre 1280 als
Komtur in Balga wieder begegnet®. In dieser Stellung ist er jedenfalls bis
zum Jahre 1284 geblieben, wenn wir auch weiter keine Nachricht darüber
haben. In diesem Jahre aber erscheint er als Vogt von Natangen. Beide
Ämter wurden bald nach seiner Tätigkeit zusammengelegt, doch Helwig
hat sowohl in Balga wie auch in Natangen, das er bis 1285 verwaltet, noch
einen Nachfolger!®. Daß Helwig sich großen kriegerischen Ruhm erworben
haben muß, geht aus seiner Ernennung zum Marschall von Preußen hervor.
Er wird in diesem Amte Nachfolger von Konrad von Thierberg dem Jüngeren,
der seit 1283 neben dem Marschallamt auch das eines Landmeisters in Preußen
verwaltet hatte!?. Die Gründe zu dem ziemlich plötzlichen Wechsel in der
Amtsführung sind nicht klar erkennbar. Konrad von Thierberg hatte die
Litauer geschlagen, so daB nun ziemliche Ruhe in Preußen herrschte. Er
widmete sich eifrig der inneren Landesverwaltung und der Befestigung der
Grenzen. Wir müssen demnach annehmen, daß ihn diese Verwaltungs-
tätigkeit in Preußen festhielt, so daB er für die Kämpfe in Livland als Mar-
schall nicht abkómmlich war und deswegen Helwig zwischen dem 16. April
und 30. April 1285 mit dem Marschallamt betraut wurde!3, In dieser Stellung
bleibt er bis zur Ankunft des Hochmeisters Burchard von Schwanden, An-
fang Februar 1288, in Preußen!®. Der Orden hatte in Livland Ende des
Jahres 1284 eine große Niederlage gegen die Semgallen und die ihnen ver-
bündeten Samaiten und Litauer bei Riga erlitten®. Die Kunde davon
erreichte den Hochmeister in Deutschland. Sofort zog er mit einer großen
Schar Ritterbrüder aus Franken und Schwaben nach Preußen, wo er Anfang
Februar 1288 eintraf und den Orden zu einem Kapitel in Elbing versammelte.
Dort fand sich auch der Ordensmarschall Helwig von Goldbach nebst vielen
anderen ein. Warum der Hochmeister sofort eine Umbesetzung in den Stellen
vornahm, wissen wir nicht. Es scheint doch aber so, als ob sich Helwig in
seinem Amte nicht bewährt hat; denn wieder wird der jüngere Konrad von
Thierberg Marschall, während die Landmeisterstelle der tüchtige Meinhard
von Querfurt erhält. Helwig wird, aber nur vorübergehend, Komtur von
Christburg!$, wo er schon einmal gewesen war. Wenn Voigt!" im Namens-
kodex angibt, daB Helwig dies Amt bis zum 29. Juni 1289 verwaltet hat,
so kann das nicht stimmen. Er urkundet zuletzt am 5. Februar 128918, Am
12. Juni ist aber schon Konrad Sack sein Nachfolger!®, während in der-
s Preuß. UB. a. a. O. 380.
* Ebendas. 435, 464.
10 Voigt, Namen-Codex, S. 19 u. 72.
11 Preuß. UB. a. a. O. 483, 499.
12 Voigt, Namen-Oodex, S. 4 f.
13 Am 18. April urkundet er noch als Vogt von Natangen (Preuß. UB. a. a. O. 464)
und am 30. April zum ersten Mal als Marschall (Voigt, Cod. dipl. Pruss. 1, 173).
14 Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 29 f.
18 Ebendas. S. 27 f.
16 Preuß. UB. a. a. O. 525, 552.
17 Voigt, Namen-Codex S. 25.
18 Voigt, Cod. dipl. Pruss. II, 19.
1 Preuß. UB. a. a. O. 539.
39*
612 Lampe
selben Urkunde nach diesem ein Bruder Helwig als Zeuge genannt wird, den
ich für Helwig von Goldbach halte.
Seine Tätigkeit im Ordenslande ist damit vorläufig beendet. Jedenfalls
holt ihn der neue Hochmeister Konrad von Feuchtwangen nach Deutsch-
land, wo wir ihn im September 1290 zusanımen mit Barthold von Gepzen-
stein, dem Landkomtur von Franken, als Zeugen in einer Urkunde des
Grafen Albrecht von Hohenberg finden, durch die dieser seine Burg WeiBeneck
und andere Güter an den Böhmenkönig Wenzeslaus verkauft und von ihm als
Lehen wiedererhàlt9. Im nächsten Jahre hält er sich jedenfalls noch ohne
ein Amt vielleicht im thüringischen Deutschordenshause zu Nägelstedt
auf. Über die persönlichen Verhältnisse selbst hervorragender Mitglieder
des Ordens erfahren wir ja meist nichts. Es ist deswegen schwer zu sagen,
warum Helwig während dieser Jahre in Deutschland weilte. Nach allem
möchte ich annehmen, daß er im steten Kampfe gegen die Feinde des Ordens
seine Kräfte verbraucht hatte und nun in Deutschland wieder gesunden
sollte; denn daß seine Rolle im Orden noch nicht ausgespielt war, beweisen
die folgenden Jahre. Der Landkomtur von Thüringen, Heinrich von Hoch-
heim, hatte sich in seiner Stellung nicht bewährt. Es war ihm nicht gelungen,
einen alten Streit zwischen den Grafen von Gleichen und dem Deutsch-
ordenshause in Nägelstedt über Mühlenregale zu schlichten. Deswegen er-
hält nun Helwig, der, wie wir gesehen haben, in dieser Zeit in seiner Heimat
weilte, vom Hochmeister den Auftrag, diesen Streit endlich zu endigen.
Dies glückt ihm auch. Kurz vorher treffen wir ihn erst wieder in einer
Urkunde des Landgrafen Albrecht dat. Eisenach, 1292 Sept. 29, durch die
„brüder Helwig von Goltbach und sineme orden" nach dem Tode seiner
Mutter Beatrix und seiner Schwester Adelheid das Gut Mosbach mit allen
Zubehorungen zugeeignet wird?!. Bald darauf schenken beide dem Deutsch-
ordenshaus zu Nägelstedt. In dieser Urkunde wird Helwig von Goldbach aus-
drücklich als Stellvertreter des Meisters bezeichnet“. Da Heinrich von Hoch-
heim noch am 30. September als Landkomtur urkundet®, Helwig uns aber am
15. November schon in dieser Stellung begegnet?*, so muß die Ausstellung der
genannten Urkunde in der Zwischenzeit erfolgt sein. Wir sehen gleichzeitig
daraus, daB sich hier der Wechselim Landkomturamt ziemlich plötzlich vollzieht
und müssen also annehmen, daB Helwig auf direkten Befehl des Hochmeisters
eingesetzt ist, während Heinrich von Hochheim als Komtur nach Halle ver-
setzt wird“, Anfang des Jahres 1293 treffen wir den neuen Landkomtur
in Mergentheim, wo er mit dem dortigen Komtur einen Streit zwischen dem
Kloster Gerlachstein und Reinhard von Hartheim schlichtet®. Wir gehen
wohl nicht fehl in der Annahme, daß Helwig hier an einem Kapitel der
deutschen Balleien teilgenommen hat und seine Bestätigung als Land-
T " Emler Reg. Boh. et Mor. II, 1512. — Ludewig, Reliquiae VI, 29 (m. Dat.
390).
21 Demnächst Thüringische Geschichtsquellen a. a. O. 528.
22 s. Anm. 2.
33 Demnächst Thüringische Geschichtsquellen a. a. O. 529.
*i s. Anm. 3.
“a Fbendas.
235 Württembergisch Franken 5 (1859) S. 108.
H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 613
komtur erhielt. Seine Stellung bekleidet er bis in den Januar 129552. Dann
entschwindet er wieder für die nächsten Jahre unseren Blicken. Vielleicht
ist er aber noch bis Anfang 1296 in diesem Amte, da sein Nachfolger
Gottfried v. Körner, vorher Komtur in Griefstedt, am 9. Juni 1296 zum
ersten Male als Landkomtur der Ballei Thüringen urkundet?. Dann ist
er sicher wieder nach Preußen zurückgekehrt; denn ich halte den am
21. Dezember 1298 in Rehden als Zeugen genannten Deutschordensbruder
Heinrich von Goldbach für unseren Helwig??, da sonst in der Familie der
Name Heinrich nicht vorkommt und es sich bei den beiden Urkunden
um Abschriften in einem Handfestenbuch handelt, ein Verschreiben also
möglich ist. Die Stellung in der Zeugenreihe weist auch darauf hin, daB der
„Heinrich“ v. G. schon länger dem Deutschen Orden angehört.
Am schwierigsten sind die nächsten beiden Urkunden, in denen Helwig
vorkommt. Am 26. Juni 1299 erscheint er in einer in Elbing ausgestellten
Urkunde als Komtur in Cella Regis? und am 3. August desselben Jahres
wird er in Wien in einer Hochmeisterurkunde Komtur in Rothenberg ge-
nannte. Wo liegen die beiden Orte? Seraphim übersetzt in der Anmerkung
Cella Regis mit Königshofen, läßt aber die Frage offen, ob seine Übersetzung
richtig ist. Ein Deutschordenshaus Königshofen gibt es nicht. Es ist völlig
unklar, welcher Ort gemeint sein soll. Da aber in Wien sein Amt nach Rothen-
berg verlegt wird, so ist vielleicht anzunehmen, daß es sich hier um die
gleiche Komturei handelt. Aber ein Deutschordenshaus Rothenberg gibt
es ebensowenig. Dagegen bestand die Komturei Rothenburg o. T. seit einigen
Jahren?!, Es ist wohl zweifellos, daß es sich hier um diese Komturei handelt;
denn ein Verschreiben zwischen -berg und -burg kommt häufiger vor. Ein Ort
Rothenburg i. Thür. in der Nähe von Kelbra, an den Wegele®!a denkt, kommt
nicht in Frage. Die Grafschaft Rothenburg befand sich seit Mitte des 13. Jahr-
hunderts im Besitz der Grafen von Beichlingen, die gerade in den Jahrzehnten
vor 1300 dem Deutschen Orden zahlreiche Zuwendungen machten. Aber von
Zuwendungen bei der Burg Rothenburg — einen Ort dieses Namens hat es
jedenfalls nie gegeben — oder überhaupt in der Grafschaft wissen wir nichts,
so daß eine Komturei Rothenburg i. Thür. nicht bestanden haben kann.
Wenn wir annehmen, daB Cella Regis wirklich mit Kónigshofen übersetzt
werden kann, und ich sehe keine andere Möglichkeit der Übersetzung, so sind
wir vielleicht auch berechtigt, anzunehmen, daB dem Schreiber der Ur-
kunde die Lage der neuen Komturei noch nicht bekannt war, und daß er
Königshofen gesetzt hat. Allerdings sind bis jetzt keine Besitzungen in
Königshofen nachgewiesen. Seraphim hat bei der ersten Urkunde, bei der die
Jahresangabe fehlt, nachzuweisen versucht, daß es sich nur um das Jahr
36 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 3, 437 (Landgraf Albrecht von Thü-
ringen schenkt (6. Jan.) dem Deutschordenshause in Mühlhausen das Dorf Runderode).
*?' Ebendas. 455.
3 Preuß. UB. a. a. O. 702, 703.
2 Ebendas. 713.
20 Ebendas. 725.
„ Die Deutschordenskomturei Rothenburg o. Tauber im Mittelalter,
S.
7»: F, X. Wegele, Friedrich der Freidige S. 274, Anm. 1.
614 zZ Lampe
1299 handeln kann, und ich schließe mich vollkommen seinen Darlegungen
ans. Aber vorläufig scheint sich mir dieser ganze Fragenkomplex doch noch
nicht ganz einwandfrei zu lösen; denn wenn Helwig von Goldbach tatsäch-
lich 1299 Komtur in Königshofen oder Rothenburg war, so ist es doch merk-
würdig, daß er sich dann in Preußen befindet. Sollte Cella Regis vielleicht
doch eine kleine Komturei in Preußen sein ? Als Helwig zusammen mit Konrad
Stange, dem Komtur von Thorn und Vizelandmeister von Preußen, als Ab-
gesandter an den Hochmeister Gottfried von Hohenlohe geschickt wird?
mit der Bitte, ihre Wünsche für die Erhaltung des christlichen Glaubens in
Preußen, die sie schon einmal vorgetragen hatten, doch nicht unberücksichtigt
zu lassen, treffen sie ihn jedenfalls in Wien. Und dort finden wir dann am
3. August desselben Jahres unseren Helwig als Zeugen in der Urkunde des
Hochmeisters Gottfried von Hohenlohe, in der er eine Schenkung der Witwe
des Burggrafen von Meißen Bernhard von Hartenstein an den Deutschen
Orden bestätigt. Die Zeugenreihe lautet: frater Chunradus de Baben-
berch preceptor Pruscie, frater Ditoldus provincialis Bohemie, frater Hel-
wicus de Goltpach commendator de Rotenberg, frater Reinhardus de Sunt-
housen tesaurarius in Veneciis, frater Sifridus de Feuchtwanch commen-
dator in Wienna. Wir sehen aus der Stellung in der Zeugenreihe, daB sich
Helwig trotz seines augenblicklich bescheidenen Amtes ein gewisses Ansehen
im Orden erfreute. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß ihm die
neugegründete Komturei Rothenburg, die von Würzburg sich gelöst hatte,
übertragen wurde. Er hatte ja schon in Thüringen bewiesen, daß er ein
Geschick hatte, schwieriger Verhältnisse Herr zu werden; denn ganz einfach
lagen die Verhältnisse für den Orden im Taubertal auch nicht®.
Aber auch hier sollte der unermüdlich tätige Bruder noch keine Ruhe
finden. Als der Landmeister in Preußen, Ludwig von Schippen, gestorben
war, wurde auf dem Generalkapitel zu Frankfurt im Frühjahr des Jahres
1300 der schon vielfach bewährte Helwig von Goldbach zu seinem Nach-
folger in Preußen gewählt. Seine fast 30jährige Wirksamkeit im Orden,
seine verschiedensten Stellungen und Aufträge schienen ihn als ganz besonders
geeignet für dieses Amt zu empfehlen. Er kommt im Vorsommer desselben
Jahres in Preußen an und verwaltet es als Landmeister 2 Jahre lang. Aus
dem Jahre 1300 sind uns keine Amtshandlungen erhalten. Am 26. März 1301
überträgt er dem Heinrich von Rehden, dem Schulzen von Blumenau,
40 Hufen zur Lokation. Die Urkunde selber ist in Marienwerder ausgestellt“.
Am gleichen Tage erhält auch ein gewisser Wilune und seine Erben zwei
Hufen und 4% Joch in dem bei der Burg Roggenhausen gelegenen Dorfe“.
Am 9. April weilt der Landmeister in Graudenz und erlaubt den Bewohnern
22 Preuß. UB. a. a. O. 713 Anm. 3 (ist aber Anm. 2).
33 Jedenfalls, wie aus der untenstehenden Zeugenreihe hervorgeht, ist der Land:
meister Konrad von Babenberg selbst bei der Gesandtsch: aft.
3 Preuß. UB. a. a. O. 725.
35 Weigel, a. a. O.
3$ Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 160.
3 Preuß. UB. a. a. O. 758.
35 Ehendas. 759.
H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 615
in Pribenz, die für ihre Güter schädlichen Gewässer durch einen Graben
auf das Deutschordensgut in Stolno abzuleiten. Am 29. Mai befindet sich
Helwig in Danzig, das er für den Orden in Stellvertretung des Königs von
Bohmen und Polen in Besitz genommen hat, nachdem Swenzo, der Palatin
von Pommern, und Bogussa, der Richter in Danzig, und die Danziger selber
dem zugestimmt haben. Er verpflichtet sich, die Stadt wieder auszuliefern,
wenn der Kónig mit der Übergabe nicht einverstanden sei oder sich weigere,
die stádtischen Privilegien zu bestátigen. Im Namen des Ordens verpflichtet
er sich, seinerseits die Privilegien der Stadt zu achten, solange er sie besitze,
auch in dem Falle, daß ihm der König die Stadt mit ihrem Gebiet zum Eigen-
tum übergeben würde. Die Urkunde besiegeln Günther von Schwarzburg,
der Kulmer Landmeister, und Conrad Sack, der Komtur in Thorn, mit“.
Beide sind ebenfalls Thüringer und spielen neben unserem Helwig eine be-
deutende Rolle in Preußen. Am 17. August weilt Helwig in Germau und
verleiht zwei Haken im dortigen Gebiet dem Kämmerer Leykaute und
seinen Erben, und am 20. August gibt er bei Pobethen im Samlande dem
Swentike und dem Kerse ein Stück im Poweikenfeld, das nórdlich des Ortes
lag, wie es ihnen von Bruder Ortlof, dem Vogt des Samlandes, gezeigt worden
ist“. Zum letzten Male begegnet uns Helwig im März 1302 als Landmeister.
Am 26. März verleiht er dem Johann, dem Sohne Berthold, gen. von Okenicz,
im Dorfe Schönwalde 70 Hufen zur Lokation unter den üblichen Be-
dingungen“ und am 28. März vergleicht er sich in Elbing mit dem Dom-
kapitel in Marienwerder, dem er den Mariensee überläßt, wofür er den See
Schinewiten erhält“. Bald darauf wird er wohl sein Amt niedergelegt haben.
Seine Amtszeit war voll von Kämpfen. Die verheerenden Kriegszüge
der Litauer dauerten an. Besonders Ermland hatte schwer darunter zu
leiden. Doch gelingt es Helwig überall die Ruhe herzustellen, so daß er im
großen Maße für das Wohl des Landes sorgen konnte. Ja sogar mit dem
Erzbischof in Riga wird durch einen Vergleich für einige Jahre ein erträg-
licher Zustand geschaffen. Voigt“ schildert eingehend die Verwaltungs-
tätigkeit des Landmeisters, dessen Mildtätigkeit ihm den ehrenden Bei-
namen, Vater der Armen, erwarb. Es mag aber sein mildes Wesen in die
rauhen Verhältnisse im Ordenslande nicht gepaßt haben. Da dem Hoch-
meister verschiedene Klagen über die schlechten Sitten mancher Ordens-
brüder zu Ohren gekommen waren, hatte er rücksichtslos die Ordens-
gesetze verschürft und sich dadurch unbeliebt gemacht. Aus diesem
Grunde entschlieBt sich Gottfried von Hohenlohe sein Hochmeisteramt
niederzulegenfé. Inzwischen aber war Helwig schon von seinem Posten als
Landmeister zurückgetreten. Simon Grunau“ behauptet, daß er seines
33 Ebendas. 760.
19 Ebendas. 762.
41 Ebendas. 760.
4 Ebendas. 767.
43 Ebendas. 771.
“ Ebendas. 772.
Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 161 ff.
“ Ebendas. 171 ff.
47 Preußische Chronik I, S. 446.
616 Lampe
Amtes entsetzt worden sei. Das stimmt aber nieht. Sein Verzicht ist ein
freiwilliger*®. Voigt“ meint, daß er das Amt bis Ende des Jahres 1302 ge-
führt hat, doch finden wir schon im September Conrad Sack als seinen Nach-
folger®. Demnach stimmt es auch nicht, daß Helwig sein Amt niedergelegt
hat, weil Gottfried von Hohenlohe auf die Hochmeisterwürde verzichtet hat,
sondern meiner Meinung nach hat Helwig bald nach dem Eintreffen des
Hochmeisters diesem im Sommer sein Amt zur Verfügung gestellt. Ganz
zu verwerfen ist die Angabe Simon Grunauss? über die Gründe, durch die
Gottfried v. Hohenlohe zum Verzicht auf sein Hochmeisteramt veranlaßt
sein soll: wan ausz ubermiettigen worten desc lanthmeister von Preussen,
bruder Helwici von Goltbach er entsatzt were. Übereinstimmend berichten
die Chroniken, daß er sich dann wieder nach Deutschland zurückbegeben
hat. Wo er aber in den nächsten Jahren weilt, wissen wir nicht. Jedenfalls
stimmt es aber nicht, wie bis jetzt jedenfalls auf Grund der kurzen Nachricht
bei Dusburg angenommen wurde, daß er bald darauf gestorben ist; denn
am 22. April 1305 begegnet er uns als Komtur in Rochberge in einer Urkunde
des Markgrafen Friedrich von Meißen für das Kloster Ichtershausen als
erster Zeuge. Er wird dort genannt, der ehrbare Mann Bruder Helwie
von Goltbach, Komtur des Teutschen Hauses in Rocheberge. Auch hier
wieder die Frage, welches Deutsche Haus ist damit gemeint? Rocheberg
ist unbekannt. Auch im Deutschordenszentralarchiv in Wien war nichts
über dieses Deutschordenshaus zu finden. Es ist wieder die einzige Möglich-
keit, daB wie schon einmal Rothenburg o. T. damit gemeint ist, und daß
Helwig nach seiner Rückkehr aus PreuBen wieder die Verwaltung dieses
Hauses bekommen hat. Nachdem uns durch Weigel® bekannt gemachten
Material über diese Komturei ist die Möglichkeit durchaus zuzugeben. Daß
wir ihn nun hier beim Kloster Ichtershausen“ treffen, ist weiter nicht ver-
wunderlich, denn in der Nähe liegt das Dorf Goldbach, das im Besitze seiner
Familie war. Wir müssen also annehmen, daß Helwig zur Regelung irgend
welcher familiären Angelegenheiten in seiner Heimat weilte. Und über ein
Jahr später (1306, Juli 9.) wird er noch einmal in gleicher Stellung erwähnt.
Landgraf Albrecht von Thüringen verspricht auf dem Fürstentage zu Fulda
dem Könige Albrecht, innerhalb von acht Tagen seine Burg Wartburg mit
den Türmen religiosis viris Ber[tholdo] de Gepzenstein commendatori do-
morum in Spira et in Wizzenburg, nec non Helwico de Goltbach commen-
48 Dusburg, a. a. O. III, 267: Resignato officio reversus fuit Almanniam. ibique
mortuus et sepultus.
Voigt, Geschichte Preußens IV, S. 173. — Die Darstell von Lucas David,
Preußische Chronik V, 139, wonach Helwig schon 1300 oder zu Anfang 1301 gestorben
sei, stimmt nicht, steht auch im Widerspruch zu dem, was er S. 135 von der Wahl
Helwigs zum Landmeister erzählt.
50 Preuß. UB. a. a. O. 777.
5! Dusburg, a. a. O. III, c. 267 f.
52 g. a. O. S. 447. — David a. a. O. V, 144.
53 S. Anm. 48.
5* Reitzenstein, Reg. d. Grafen v. Orlamünde S. 120.
55 Weigel, a. a. O. s. besonders S. 114.
56 bei Gotha.
H. v. Goldbach, Marschall, Landmeister u. Landkomtur d. Dtsch. Ritterordens 617
datori in Rodemberg fratribus ordinis de domo Theutonica, quorum puri-
tatis fidem, cireumspectionis providenciam preelegimus, zu übergeben, damit
das Reich, an das Thüringen nach seinem Tode fallen werde, dies Gebiet
ungehindert in Besitz nehmen könne”. Treuhänder des Reiches werden
diese beiden Männer, die schon einmal eine wichtige Urkunde mitbezeugt
hatten. Auch diese letzte Erwähnung des Deutschordensritters läßt uns er-
kennen, daß sein Ansehen nicht nur im Orden groß war. Wer beide zu diesem
verantwortungsvollen Posten vorgeschlagen hatte, lasse ich dahingestellt.
Jedenfalls sind beide sowohl dem Könige als auch dem Landgrafen genehm
gewesen. Wie aus dem Chronicon Sampetrinum Erfurt. hervorgeht, wurden
die Deutschordens-Komture gleichsam als königliche Verwalter der Land-
grafschaft eingesetzt. Denn Albrecht mußte dem Könige geloben, daß er
sich nicht den Maßnahmen widersetzen würde, die die beiden Verwalter in
den den König und ihn betreffenden Dingen anordnen würden. Ihnen ver-
sprach er auch jede Burg oder Stadt seiner Landgrafschaft auszuliefern, die
zurückerobert würde58. So schließt die Laufbahn dieses Ordensritters
glänzend ab. Nachdem er Jahrzehnte hindurch dem Orden wertvolle Dienste
geleistet hatte, sollte es ihm nun noch vergönnt sein, auch seinem durch
Familienzwistigkeiten so sehr zerrütteten Heimatlande Ruhe und Frieden
zu bringen. Doch leider kam er nicht zur Verwirklichung dieser hohen Auf-
gabe. Landgraf Albrecht entzog sich wieder seinen Verpflichtungen und
lieferte die Burg nicht aus. Der Kampf ging weiter?. Leider erfahren wir
nichts über die Stellung Helwigs in diesen Streitigkeiten. Versuchte er zu
vermitteln? Vertrat er als Sachwalter des Königs dessen Ansprüche?
Über den Rest seines Lebens sind wir völlig in Unkenntnis. Wir wissen
nicht, wann und wo er gestorben ist. Wir können nur annehmen, daß der
Hauskomtur Helwig in Elbing, der dort am 12. März 1308 als Zeuge in einer
Urkunde steht“®, mit unserm Helwig von Goldbach identisch ist. Denn einmal
kommt der Name Helwig in der damaligen Zeit sonst nicht im Deutschen
Orden vor und gehört überhaupt zu den selten gebrauchten Vornamen.
Andererseits pflegte aber der Orden alten verdienten Mitgliedern für ihren
Lebensabend eine ruhige Stelle zu geben. Es mochte wohl auch der Wunsch
des Hochmeisters mitsprechen, diesen verdienten Mann, der durch sein
ruhiges, mildes und überlegenes Wesen so viel Gutes für den Orden gewirkt
hatte, in dem immer noch unruhigen Preußen zu wissen. Konnte er doch
hier durch seine reiche Erfahrung nur fördernd eingreifen. Aber leider
bleibt auch dies nur Annahme.
Ich habe im Vorhergehenden versucht, ein kurzes Bild über die Wirk-
samkeit dieses hervorragenden Deutschordensritters zu geben. Leider
konnten nicht alle Fragen restlos gelöst werden. Vielleicht wird es später
noch einmal gelingen, wenn sich in den tausenden noch unbearbeiteter
Deutschordensurkunden weitere Nachrichten über ihn finden sollten.
Lampe.
57 Jul. Ficker, Die Überreste des Deutschen Reichs-Archives zu Pisa S. 56, Nr. 32.
5 Wegele a. a. O. S. 273f.
* Wegele a. a. O. S. 277ff.
*9 Preuß. UB. a. a. O. 887.
618 Manfred Laubert
Bunsens Beziehungen zur polnischen Emigration in den Anfängen
seiner Londoner Zeit!.
Wenige diplomatische Aktenstücke haben in der Geschichte der preu-
Bischen Polenpolitik so gewaltiges Aufsehen erregt wie die Denkschrift, die
der Gesandte in London, Christian Carl Josias Frhr. v. Bunsen am 1. März 1854
dem Minister Frhrn. v. Manteuffel einreichte. Er forderte darin den Eintritt
Preußens in den Krimkrieg an der Seite der Westmächte und in Aufwärmung
der Frhr. v. Arnimschen Märzpolitik von 1848? die Wiederherstellung Polens
als Sturmbock gegen Rußland. Diesem neu geschaffenen Polen sollten
Galizien und unter Umständen Ostposen zugeteilt werden?.
Wenn derartige Gedankengänge auch durchaus in der Richtung der
liberalen Ideologie jener Tage lagen und es weiter vollkommen dem dilet-
tantenhaften Charakter der Bunsenschen Politik entsprach, daß er überall
Hoffnungen zu erwecken versuchte, die sich aus Mangel an jedem realen
Hintergrund nachher niemals verwirklichtenf, so ist eine derartig scharfe
Ausprägung eines Preußens Zerstückelung vorschlagenden Projektes durch
den Inhaber der beinahe vornehmsten Stelle der Diplomatie seines Landes
ganz auf eigene Faust immerhin schwer verständlich, sofern man sie als
eine Improvisade des damaligen Augenblicks allein betrachten müßte.
In Wirklichkeit liegt der Schlüssel zu Bunsens Auffassung vermutlich darin,
daß er bereits seit langem in ähnlicher Richtung beeinflußt und deshalb in
verwandte Ideen hineingewachsen war. Ä
Schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt hatte er Beziehungen zu
einem Vorkämpfer des polnischen Protestantismus, Valerian Grafen
Krasinski, angeknüpft, dem er später einen schmeichelhaften Brief Friedrich
Wilhelms IV. und das von Krasinski abgelehnte Angebot eines Lehrstuhls
an der Berliner Universität verschaffte®. Des Grafen 1848 in seinem Buch:
1 Nicht registr. Oberpräsidialakten Nr. 84, bzw. Rep. 77, 379, 5. Bd. II u. 508.
1. Bd. III in den Staatsarchiven zu Posen u. Berlin.
3 Jetzt ausführlich bei Hallgarten: Studien über d. deutsche Polenfreundschaft.
München u. Berlin 1928. Über Bunsens Denkschrift S. 113.
3 Diese im Sinn der dem Thronfolger nicht fern stehenden Bethmann-Hollweg-
schen Wochenblattpartei gehaltenen Gedanken riefen natürlich den schärfsten
Widerspruch Bismarcks hervor (vgl. „Gedanken u. Erinnerungen. Volksausg. I.
S.133). Vgl. H. Wendt: Bismarck u. d. poln. Frage. Halle a. S. 1922, S.8. Die
Denkschrift wurde in F. Nippolds dt. Ausgabe seiner Bunsenbiographie von dessen
Witwe ohne Andeutung alolrter Kürzungen, aber unter ME renard der gravie-
rendsten Stellen veröffentlicht (Bd. III, Lpz. 1871, S. 337 ff.) und deshalb v. Bogislaw
(Lothar Bucher) in d. „Deutschen Revue“ 1882 (S. 155ff.) nochmals vollständig
abgedruckt, weil ein damals zutage gekommener Brief des falsch unterrichteten
Prinzen Albert Bunsens Entfernung von seinem Posten als russische Intrigue hin-
stellte, während in Wahrheit das ominöse Machwerk seine Abberufung erfordert
hatte.
4 Aufzeichnungen v. Anna Gräfin v. Bernstorff, Gemahlin von Bunsens Nach-
folger Albrecht Grafen v. B.: „Im Kampf für Preußens Ehre“, hrsg. v. Ringhoffer. .
Berlin 1906, S. 256. Über Bunsens Londoner Tätigkeit vgl. Treitschke: Deutsche
Gesch. 4. A. V., S. 126ff. u. die Denkwürdigkeiten des mit B. befreundeten Frhrn.
Christian Friedr. v. Stockmar. Braunschweig 1872, S. 384ff.
5 Leo Rogalski: Gesch. d. poln. Literatur. Warschau 1871 (poln.), S. 496.
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 619
Panslavismus und Germanismus®, endgiltig formuliertes Glaubensbekenntnis
lief ebenfalls auf Gründung eines polnischen Pufferstaates zwischen dem
Westen und Rußland hinaus, da die Polen sonst zur Anlehnung an letzteres
gezwungen sein würden. Überhaupt propagierte er die Wichtigkeit des
Slaventums und dessen verheißungsvolle Zukunft. Schon vorher wirkte er
durch zahlreiche Aufsátze in demselben Sinn und bemühte sich insbesondere,
dem englischen Publikum Verständnis für die Mission seines Vaterlandes
beizubringen.
Bunsens Freundschaft benutzte er, um ihm zu Beginn des Jahres 1843
drei Denkschriften zur Weitergabe an das preußische Ministerium des
Auswärtigen zu übermitteln, von wo sie an den Kultusminister Eichhorn,
und am 31. Januar an den Minister des Inneren Grafen Arnim geschickt
wurden. Der Minister des Äußeren, Graf Bülow, hatte erläuternd am
11. Januar bemerkt, der Verfasser nenne sich einen „protestantischen Slaven“.
Dem Aufstand von 1831 stand er fern und war seinen Bestrebungen abhold,
übernahm aber trotzdem im Auftrag des Warschauer Senats eine Sendung
nach Berlin, um dort den Hof milder für die Sache der Polen zu stimmen,
doch wurden ihm die Pässe verweigert. Russischerseits nahm man davon
so wenig Notiz, daß man ihn weiterhin als gentilhomme de la chambre
de Sa Majesté führte und zur Rückkehr auf seinen Posten in St. Peters-
burg aufforderte. Krasinski zog es indessen vor, den Rest seines Lebens im
Interesse Polens und der protestantischen Kirche der Wissenschaft zu widmen,
wozu ihm auf sein Gesuch die Entlassung in Gnaden erteilt wurde. Seitdem
lebte er in England, schrieb besonders für den Morning Herald und be-
mühte sich, dadurch eine materiell unabhüngige Existenz zu gewinnen.
Bunsen rühmte ihn als wirklich edelen, rechtschaffenen Mann, dessen Artikel
eine lobenswerte Tendenz hatten.
Auch Eichhorn hob die Mäßigung der Denkschriften hervor, aus denen
sich manche Fingerzeige mit Vorsicht gebrauchen ließen, und hielt unter
Umständen sogar einen Bericht an den König für angezeigt. Hingegen
stand Arnim trotz lobender Verbrámung der Sache skeptischer gegenüber
und wollte ein näheres Eingehen auf die Vorschläge vermeiden. Schon
Eichhorn hatte bemerkt, daß eine prinzipielle Förderung und Entwickelung
der slavischen Elemente bedenklich sei, weil sich damit leicht politische
Bestrebungen und Sympathien verbinden würden, deren Begründung nichts
weniger als erwünscht sein konnte. Diese Ansicht unterstrich der Graf voll-
kommen. Die Ereignisse und Wahrnehmungen der letzten Zeit waren ganz
dazu geeignet, die Tendenz, aus der man von mehreren Seiten die Befestigung
und Verbreitung der polnischen Sprache und Nationalität gefördert hatte,
der genauesten Beobachtung, nicht aber der Begünstigung wert erscheinen
zu lassen. Die Idee der künftigen Wiedervereinigung ihres Vaterlandes
hatten die Polen nie aufgegeben. Sie wurde, wenngleich nur dunkel umrissen,
auch bei Krasinski sichtbar. Der polnische Adel würde sich nach Arnims
Kenntnis von ihm nicht leicht davon trennen und gegenwärtig am aller-
Aus d. Englischen v. Lindau. Dresden u. Lpz. 1849. Später auch französisch
erschienen. Vgl. W. Feldmann: Gesch. d. politischen Ideen in Polen usw. München
u. Berlin 1917, S. 158.
620 Manfred Laubert
wenigsten. Diese Idee durfte aber von Preußen keine Nahrung erhalten,
weil sie an und für sich gegen seine Integrität gerichtet war. Die längere
Trennung der preußisch-polnischen Landesteile von den russischen und
österreichischen, die Fortdauer der bestehenden Normen in Justiz, Verwaltung
und Militärwesen, Offenheit und Gerechtigkeit bei Behandlung der Provinz
Posen und diejenige Annäherung an deutsche Sprache, Sitte und Verhält-
nisse, die durch kráftig befórderte Chaussee- und bevorstehende Eisenbahn-
bauten notwendig herbeigeführt werden mußte, schienen ihm einfachere
und sichere Garantie dafür zu bieten, daß das noch vorhandene fremde
Element mit den deutschen Teilen des Staates allmählich assimiliert würde.
Weit gefährlicher war der vorgeschlagene Ausweg, das Slaventum durch
unmittelbare Einwirkung der Regierung weiter auszubilden, um dadurch
einen — bei dem Gemisch von Zähigkeit und Unzuverlässigkeit, das den
Grundtyp des slavischen Charakters darstellte, sehr wenig verbürgten —
Gegensatz zwischen den diesseitigen Polen und ihren Stammesgenossen
jenseits der Grenze hervorzurufen?. Teils unausführbar, teils unrätlich
waren auch die Mittel, durch die Krasinski sein Ziel für erreichbar hielt.
Die Literaten, die für ein Zeitungsunternehmen, wie solches übrigens in
Posen schon bestand, gewonnen werden konnten, waren selbst von einer
politischen Gesinnung, die den Prinzipien der Regierung nicht entsprach,
oder von Persönlichkeiten abhängig, die, den junghegelschen Theorien er-
geben, darauf hinzielten, die verschiedenen Fraktionen der Polen unter-
einander und mit den Deutschen im GroBherzogtum zu einer kompakten
Masse zu vereinigen, um neben Erlangung gewisser Zugestándnisse für die
polnische Sprache und Nationalität für die Durschsetzung ,,destruktiver
Tendenzen, insbesondere konstitutioneller Regierungsformen, Bahn zu
brechen". Dieses Bestreben machte sich schon durch zwei Aufsätze der
deutschen Posener Zeitung (Nr. 49 u. 54) bemerkbar, die mutmaßlich von
Karl Libelt? herrührten, einem entschiedenen Junghegelianer und „fanatischen
Verfechter ultrademokratischer Staatsformen“. Auf solchen Mann konnte
unmöglich von seiten des Staates in der von Krasinski gewünschten Weise
zurückgegriffen oder gebaut werden. Sein Einfluß und der seiner Genossen,
zu denen leider deutsche Beamte in Posen gehörten, war bedeutend genug,
um andere Kapazitäten wie etwa Lukaszewicz® am Einschlagen des ent-
7 Ein solcher Gegensatz hat sich bei der Kulturförderung durch die preußische
ierung tatsächlich später herausgebildet und wirkt heut noch nach, ohne die
politischen Ziele des Polentums in seiner Gesamtheit irgendwie zu verrücken. Viel-
mehr hat gerade die Schulung der preußischen Polen wesentlich zur Schaffung des
neuen Staates beigetragen und ihm über die Anfangskrisen hinweggeholfen, z. B.
militärisch und finanziell.
8 Über L., der später die Posener Zeitschrift Rok (Das Jahr) herausgab, und
einer der am schwersten belasteten Verschwörer von 1846 war, vgl. Laubert in
Dt. Wissenschaftl. Zs. für Polen H. 6 u. Studien z. Gesch. d. Prov. Posen I. Posen
1908. Das berührte Zusammengehen der Polen mit den deutschen Konstitutionellen
hatte sich auf dem Provinziallandtag v. 1843 entwickelt; vgl. Laubert in Hist.
Vierteljahrschr. 1920.
® Der Historiker Joseph L. war Bibliothekar der Raczynskischen Bücherei in
Posen, Lehrer des Polnischen am dortigen Gymnasium und Mitherausgeber mehrerer
poln. Zeitschriften der Provinz; vgl. Laubert: Studien.
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 621
gegengesetzten Weges zu hindern. Die Erweiterung der polnischen Zeitung,
die die Regierung schon deshalb nicht in der Hand behalten durfte, um dem
Organ nicht in der öffentlichen Meinung zu schaden, konnte unter diesen
Umständen nur eine Opposition großziehen, die umso gefährlicher werden
mußte, weil sie sich auf dem doppelten Boden der Politik und Nationalität
bewegen würde. Unter diesem Gesichtspunkt war es auch keineswegs ratsam,
durch Sonderbevorzugung polnische Kräfte in weiterem Umfang, als es frei-
willig geschah, zum Eintritt in den Staatsdienst zu veranlassen. Ebenso
erschien die Errichtung einer Akademie, nicht zweckmäßig“. Man begründete
damit nur ein neues Moment für die Partikularisierung einer Provinz, deren
Aufgehen in der Gesamtmonarchie notwendig war. Der Protestantismus
endlich hatte sich erfahrungsgemäß ,,als ein sehr wesentliches Vehikel für die
Vereinigung der noch vorhandenen polnischen Elemente mit den deutschen
bewährt“. Es lief nach des Ministers Ansicht deshalb dem wahren Vorteil
Preußens im höchsten Grade zuwider, dieses Vehikel durch Erneuerung des
polnischen Gottesdienstes in der protestantischen Kirche und durch Schaffung
einer polnisch-protestantischen Literatur gewaltsam der entgegengesetzten
Tendenz dienstbar zu machen.
Arnim konnte sich hiernach des Gedankens nicht erwehren, daß Kra-
sinski vielleicht die Absicht hatte, seiner Nationalität dadurch einen Dienst
zu erweisen, daß er den Wünschen für ihre Erhaltung und Emporhebung
die Wendung gab, als liege ihre Erfüllung im Interesse des Staats, der
die Hand zu ihrer Verwirklichung bieten sollte. Wenigstens für jetzt konnte
der Graf darum sich mit einem Eingehen auf besagte Wünsche nicht be-
freunden und stellte anheim, sie auf sich beruhen zu lassen.
Wenngleich eine direkte Verbindung zwischen den Denkschriften und
der preußischen Verwaltungspraxis der folgenden Jahre nicht nachweisbar
ist, so lief diese doch in manchen Punkten durchaus in der darin vorgezeich-
neten Richtung, nur gaben die Ereignisse von 1846/48 den Besorgnissen des
ehemals als Oberpräsident in Posen tätigen Arnim vollauf Recht. Bleibenden
Eindruck mögen Krasinskis Ausführungen hingegen auf Bunsen gemacht
haben, der den Verkehr mit dem Autor eifrig weiter pflegte. Allerdings
wurde ihm noch von anderer Seite eine ähnliche Auffassung des polnischen
Problems nahe gebracht!“.
Bunsen war nàmlich seit Jahresfrist mit einem von ihm immer nur Dr. X.
genannten deutschen Gelehrten und ehemaligem ,,Umtriebler" aus
Baden in Berührung gekommen, der sich zuerst bei ihm mit Mitteilungen
10 Von einem in London lebenden Posener Polen war der Gesandte schon im
Frühjahr 1842 heimgesucht worden, wobei ihm eine Liste von 14 angeblich demnächst
mit falschen Pässen nach Posen und Polen aufbrechenden Agenten der Brüsseler
und Versailler Polenkomités eingehändigt wurde. Dieses Mal hatte Bunsen vor-
sichtigerweise eine Belohnung des Denunzianten von dem Wert seiner Angaben
abhängig gemacht. Ein allgemeines Stelldichein der Emissäre sollte bei Graf Bninski
im Brombergschen geplant sein und die Pässe wollten 4 Agenten in Frankfurt,
Dresden, Leipzig und Breslau besorgen. Die allen Landräten anbefohlenen Nach-
forschungen zeitigten jedoch nach den Akten keinerlei Ergebnis.
11 X, erschien Bunsen als ein gegenüber Franzosen und Polen gut deutsch
gesinnter Mann, so da8 er ihm tiefste Verschwiegenheit zusicherte. Krasinski be-
622 Manfred Laubert
über die Machenschaften österreichischer Agenten gemeldet hatte, die sich
zum Teil als zutreffend erwiesen. Unter anderem hatten sie deutsche Flücht-
linge für Schmähartikel gegen Preußen und die Hohenzollern in der Zeit-
schrift: British & Foreign Quarterly Review, gewonnen und bezahlt.
Am 23. Februar 1844 meldete Bunsen nach Berlin, daß X. ihm
Aufklärung über die Anzettelung neuer Unruhen in Posen gegeben
hatte. Als freisinniger Katholik genoB X. das Vertrauen der beiden unter den
Polen in England bestehenden Parteien, der jesuitischen und demokratischen.
Sie hatten sich jetzt entzweit und jede forderte von ihm Rat und literarische
Hilfe. Auf diese Weise hatte er erfahren, daB vier Verbannte, davon drei aus
Paris, entsandt seien, um Posen zum Schauplatz einer Schilderhebung zu
machen. Die Katholiken wollten ein groBes katholisches Bündnis zustande
bringen, wozu Louis Philippe die Hand bieten sollte, der zu diesem Zweck
die Pyren&enhalbinsel bearbeitete und sich Üsterreich genähert hatte. Die
Demokraten gingen aus auf eine Revolution zugunsten von Polen und Italien
und rechneten ebenfalls auf den Bürgerkónig. Auch eine Heranziehung der
oberschlesischen Bevölkerung war in Aussicht genommen. Diese Angaben
waren X. bestätigt worden durch die gewissermaßen unparteiischen, aber
nach beiden Seiten Verbindung haltenden Polen Worcel2 und Stolzman'®.
Beide Fraktionen, die Jesuiten unter dem Geistlichen Vincent Zienkiewicz!*,
ihre Gegner unter Ostrowski®, stimmten darin überein, daß ein deut-
sches Reich mit Ausschluß der ehemals polnischen Landesteile
und der Rheinprovinz gebildet werden mußte. Nach Ostrowski war
die Agentenabsendung durch die Anhänger Ledochowskis!6 und Dwernickis!?
eingeleitet worden, während Rybinskis!® Gesinnungsgenossen der Sache in
Polen entgegenwirkten. Sie waren aus Haß gegen ihre Rivalen bereit ihre
urteilte ihn ebenfalls als einen durch jugendliche politische Torheiten und langes
‚Elend oft an die Grenze des Wahnsinns getriebenen, dem Trunk ergebenen, aber
ehrlich patriotischen Menschen von großen schriftstellerischem Talent. Deswegen
schätzte und unterstützte ihn auch Carlyle. Er befand sich in großer Not und es
war wünschenswert, ihn durch Ermöglichung der Heimkehr aus Trunk und Armut
zu reißen. X. war auch zu den notwendigen Schritten bei seiner Landesregierung
entschlossen, hatte aber wenig Hofinung auf Erfolg. In London war er ständiger
Korrespondent: der Augsburger Allgem. Zeitung und hatte früher die Vorrede zur
deutschen Ausgabe von Emile de Girardins gemeinnützigem Journal geschrieben.
Bunsen versprach ihm bei gutem Ausfall einer verheiBenen Denkschrift eine Geld-
unterstützung und wollte Bülows Hilfe zwecks Erlangung einer Amnestie in Baden
in Aussicht stellen.
12 Der ehemalige Reichstagsabgeordnete Stanisl. W. Vgl. über die folgenden
Namen Gadon: Emigracya Polska. Krakau. 3 Bde. 1901/2 u. z. T. noch Bar-
zykowski: Powstania Listopadowego (D. Novemberaufstand). Posen. 5 Bde. 1883/4.
13 Artilleriehaupt mann Karl S.
14 Bei Gadon flüchtig III, S. 98 als in England lebend erwähnt.
15 Jos. Boleslaw O., bekannter Publizist, während der Warschauer Revolution
Sekretär d. Justizministers u. Herausgeber d. Nowa Polska, die er später in Paris
aufleben ließ, aber von London aus redigierte.
16 D. ehemalige Abgeordnete Johann Graf L.
17 D. bekannte General Jos. D.
18 General Matthäus R., gleich Dwernicki einer der bekanntesten Aufstands-
führer.
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 623
Gegner zu opfern. Auf Bunsens Einwand, der Plan eines Aufstandes in Posen
oder Polen sei zu einfältig, um ihm Glauben beizumessen, hielt X. an seinen
Nachrichten fest. Einige im Posenschen wieder seBhaft gewordene Flücht-
linge!® wollten ihre Freunde aus dem Zarenreich als vermeintliche Überläufer
nach der Provinz schaffen. Krasinski erklärte gleichfalls vertraulich, von
London aus sei nichts unternommen, aber die Pariser Tollköpfe seien zu allem
fähig. So wurde auch Bunsen überzeugt.
Die Entsendung der Emissäre wurde der Ausgangspunkt zu seinen fast
täglichen Besprechungen mit X. und Krasinski. Ersterer reichte ihm drei
Berichte über alle ihm bekannten Intriguen der Emigranten im Zusammen-
hang mit den Posener Unruhen ein. X. hatte Ostro wski1839 als entschiedenen
Gegner Czartoryskis und Lord Dudley Stuarts? kennen gelernt. Seine drei-
bändige polnische Geschichte in englischer Sprache war bei allem Fleiß doch
nur eine Zusammenstellung von Tatsachen ohne leitende Idee auBer katho-
lischen Tendenzen, Deutschenhaß und Panslavismus. 1843 war er Geschäfts-
träger des in Paris lebenden Rybinski, der nach polnischer Fiktion als letzter
Prásident vor dem Fall Warschaus noch der gesetzmüBige Leiter und offizielle
Vertreter der polnischen Emigrantion überhaupt war. Ostrowski vertrat
dessen Richtung mit einer bis zum Republikanismus gesteigerten Demokratie.
Auch Zienkiewicz, einer der ersten Ankómmlinge in England, war Gegner
des Hotel Lambert und repräsentierte die katholische Strömung mit an-
scheinend wichtigen Verbindungen in kirchlichen Kreisen. Er schrieb für
das Dublin Rewiew, erwähnte den geplanten Putsch mit Unbehagen und
sprach von der demokratischen Partei höchst mißbilligend. Das gleiche tat
Ostrowski. Beide hielten sie für unbedeutend, mittel- und einflußlos. Sie
war 1832 von Adam Gurowski?! in Paris gegründet und hatte in London 1838
nur 17 Anhänger, einst im ganzen aber über 1000. Sie verlor stark durch
ihr Manifest von 1836, weil sie darin den Katholizismus für antisozial erklärte
und geradezu den Atheismus predigte. Auch trieb sie adelsfeindliche Politik.
In Paris war sie der Spielball aller Gesandtschaften, die sich mit den Polen
befassen wollten, und darum der Tummelplatz mehrseitiger, sich durch-
kreuzender Intriguen. Stolzman und Worcell, beide ohne Talent, gehórten
zu dem enge Beziehungen mit Mazzini?? aufrecht erhaltenden, 87 Kópfe
1* Unter Friedrich Wilhelm IV. wurde zahlreichen Emigranten die Rückkehr
nach Posen gestattet. Auch wurde die Kartellkonvention mit RuBland wegen
gegenseitiger Auslieferung von Verbrechern und Fahnenflüchtigen nicht erneuert,
so daB einige tausend Überläufer sich in den Ostprovinzen aufhielten; vgl. Laubert
in Dt. Rundschau Sept. 1924.
39 Lord Dudley Ooutts St., englischer Parlamentarier und Vorkämpfer für die
Wiederherstellung Polens, da er glaubte, nur durch sie den russischen Imperialismus
eindämmen zu können. Unermüdlich forderte er von Parlament Hilfe für die poln.
Emigration, zu deren Gunsten er groBe Wohltätigkeitsfeste veranstaltete.
21 Graf G., später als russophiler Renegat von polnischer Seite gebrandmarkt,
spielte eine bedeutende Rolle im Aufstand und anfänglich in der Emigration.
33 In den unregistrierten Posener Oberprásidialakten Nr. 44 befindet sich über
M., der sich nach seiner Wegweisung vom franzósischen Boden in Süddeutschland
eingeschlichen haben sollte, eine Verfügung des Ministers d. Inneren, Frhrn. v. Brenn,
an alle Oberpräsidenten v. 31. Mai 1883. wonach die Polizeibehörden auf dieses
„sehr gefährliche Subjekt“ fahnden sollten auf Grund folgenden Signalements:
624 Manfred Laubert
starken „Jungen Polen", dessen Chef Lelewel® zur Zeit des Frankfurter
Putsches gewesen war. Dwernicki schien in der Emigration stark an Ansehen
eingebüßt zu haben, während sein Name in der Heimat noch guten Klang
hatte. Ledochowski galt für hinterhältig und besaß nach seiner galizischen
Heimat österreichische Manieren. Er verfügte über eine stattliche Rente aus
dem Vermögen seiner Frau, war aber jetzt viel reicher, denn die in Paris
verstorbene Gräfin Malachowska hatte ihm acht Millionen Gulden und Dwer-
nicki 150 000 frs vermacht. Die Polen hielten das Testament für erschlichen,
da die Gräfin Geschwister in Polen besaß. Von Rybinski und Czartoryski
abgewiesen, wandtesich der Graf in Ermangelung von etwas Besserem an die
demokratische Partei, die er jetzt leitete.
Den Aufstandsplan schrieb Zienkiewicz diplomatischen Intriguen zu,
ließ aber ungewiß, ob er von österreichischer, russischer oder von beiden
Seiten herrührte. Die geringe Agentenzahl verstärkte die Überzeugung, daß
er gemacht, d. h. weniger eine Konspiration als eine Zettelung war. Geringe
Aussicht bestand, die Namen der Sendboten zu erfahren. X. wußte aus
eigener Praxis, daß Lelewel, mit dem er in Paris sehr gut stand, ohne sein
Vorwissen Leute nach Deutschland schickte. Als X. selbst dorthin reiste,
wurde ihm nicht ein Wort von dem Frankfurter Attentat verraten, obwohl
bereits Polen zur Hilfeleistung unterwegs waren. Nach der in ihrer Heimat
durchlaufenen Schule waren die Polen in solchen Dingen sehr vorsichtig
geworden. Die Leitung ging gewöhnlich von einem Mann aus, der allgemeines
Vertrauen genoß und über das Geld ohne Rechnungslegung verfügte. Gerade
bei dem Frankfurter Wachensturm hatte X das wohl vorbildliche System
Lelewels studieren können. Lelewel stand mit dem Vaterlandsverein in Ver-
bindung, hauptsächlich durch den in London verstorbenen Expriester
Pula(w)ski**. Andere Fäden waren während des Durchzugs der Polen durch
Deutschland angesponnen worden. Hauptagent für Deutschland war ein
Walewski, jetzt vermutlich Weinhändler in Südfrankreich, einst in genauer
Fühlung mit dem 1834 in Paris gestorbenen Handelskommis Wolfrum, einem
sehr tätigen Mitglied des deutschen Pressevereins. Durch Vermittelung von
X. hatte dieser eine Stelle bei Girardin zur Vertreibung von dessen Journal
erhalten, ging dieses Postens aber verlustig, weil er über seiner politischen
Propaganda die Zwecke seines Brotherrn vergaß. X. selbst erhielt dann die
Namen von Vertrauensleuten, die er mit Garnier-Pagés als Leiter der frei-
lich nicht mehr öffentlich bestehenden Societé aide-Toi in Beziehung
bringen sollte. Er wußte deshalb, daß die fraglichen Organisationen wenige,
aber einflußreiche Männer umfaßten, der Vaterlandsverein auch Rotteck.
Ebenso gehörten ihm einige Mitglieder des älteren Männerbundes der Follen-
schen Richtung an, der auch nie viel über 40 Köpfe gezählt hatte, darunter
25 années, avocat, taille moyenne, complexion niaigre, teint olivátre, visage plutót
oblong, cheveux trés noirs, veux noirs et brillants, front trés beau, petites moustaches
noires, voix belle et sonore, grande volubilité de langue, port noble et énergique
dans toute ses actions.
23 Joachim L., Führer des linken (roten) Flügels der Emigration im Gegensatz
zu der von Czartoryski beherrschten Partei der Weißen im Hotel Lambert.
* Kasimir Alex. P.
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 625
den im Gefängnis zu Darmstadt geendeten Dr. Weidig®. X. wurde unmittel-
bar nach dem Frankfurter Putsch verhaftet. Aber er sah bei Rotteck einen
polnischen Mitkämpfer aus der Mainstadt, der gestand, daß er und seine durch
die Schweiz ziehenden Landsleute von Lelewel ausgeschickt waren. Daraus
schloß X., daß bei den analogen Vorgängen in Polen die Emissäre nicht zu
den eigentlichen Verschwörern, sondern zu einflußreichen Leuten von un-
bedingter Verschwiegenheit sich durchschlichen, um sich zu orientieren.
Sie summierten dann ihre Beobachtungen und hinterbrachten jedem Auf-
traggeber, aber auch jedem Korrespondenten angenehme Nachrichten, so
daß sich das falsche Bild ergab, es sei in Preußisch-Polen, Galizien und
Rußland alles zum Aufstand bereit und es fehle nur an 50—60 ent-
schlossenen Männern, um irgendwo anzufangen, damit das ganze Land in
Flammen stehe.
Einen Aufstand anzufachen war schon deshalb leicht, weil die Konspira-
tion permanent war, d. h. alle Polen die Wiederherstellung ihres Vaterlandes
wünschten. Im Inneren waren sie bei der scharfen Überwachung auf einen
engen Kreis beschránkt, doch alle lokalen Verbindungen fanden ein gemein-
schaftliches Zentrum im Ausland, wo die Fáden zusammenliefen. Daher
wuBte man in Paris über den Gesamtzustand der polnischen Provinzen mehr
als in diesen selbst. Vom Ausland konnte mithin am leichtesten das Signal
zum Losbruch gegeben werden. Um an einem Punkt Unruhen zu stiften,
brauchte man nur wenige Emissáre mit geringen Geldmitteln dorthin zu
senden. Es war dabei gleichgiltig, ob hinter der demokratischen Partei diplo-
matische Intriguen verborgen waren oder ob sie das Geld von anderer Seite
erhielt, was in Paris, wo die Geheimverbindungen fast ganz Europas ihre
Spitze hatten, unschwer möglich war“. Bei dieser Sachlage konnte eine anti-
russisch gerichtete Regierung durch eine Lappalie zu einem entgegengesetzten
System genötigt werden.
Auch Preußen hatte aus dieser Erkenntnis seinen Kurs geändert. Die
Erlaubnis, die man Flüchtlingen und Deserteurs zur Ansiedlung dicht an der
Grenze gegeben hatte, war einem befreundeten Staat gegenüber doch zu
gewagt; dadurch, daß es neuerdings diese Erlaubnis im Einklang mit der
völkerrechtlichen Gewohnheit eingeschränkt hatte, wurde Rußland jeder
Grund zur Beschwerde genommen, jedoch ohne daß man sich in Berlin die
Hände für die Zukunft band. Auch lag es wohl kaum im Interesse Preußens,
die Fäden des Komplotts vollständig zu verfolgen, selbst wenn die Möglich-
keit dazu vorhanden war. Die Zahl der Schuldigen und das Odium waren zu
groß. Jedoch mußte heilsamer Schrecken verbreitet werden. Dies war aber
bereits durch die verhängten Maßnahmen gegen das Flüchtlingswesen ge-
schehen. Zur Verteidigung in den Zeitungen erschien eg zweckmäßig, die
Gefahr aufzubauschen, die Bewegung als eine von Paris aus eingeleitete
Handlung aller polnischen Parteien hinzustellen und eine durchlaufende
235 Gemeint ist der Rektor Friedr. Ludw. W. in Butzbach, der 1837 durch Selbst-
mord im Gefängnis verschied.
Die Richtigkeit dieser Schilderung wird z. B. durch den unsinnigen Kalischer
Aufstandsversuch von 1833 belegt, aber ähnlich verhielt es sich auch mit der In-
surrektion von 1846, vor allem für Russisch-Polen.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 3. 40
626 Manfred Laubert
Verschwörung in allen polnischen Provinzen vorzutäuschen. Dabei konnte
die Undankbarkeit der Bewohner von Preußisch-Polen betont werden, die
die milden Absichten der Regierung mißbraucht hatten. Durch die Presse
konnte man das Schwert über allen schwingen, ohne Haß zu erwecken. Die
Behörden durften gar nicht zugeben, daß die Veranlassung zu ihren sonst
lächerlich erscheinenden Abwehrmaßnahmen unbedeutend war.
Aus dem Gebiet der revolutionären Taktik auf das der allgemeinen
Politik führt ein Artikel Ostrowskis vom 28. Februar, den X. für die
Presse zustutzen sollte. Hiernach bewiesen die neuerlichen Verfolgungen,
Rußlands und Preußens strenge Maßregeln gegen die Emigranten, daß die
Vernichtung der polnischen Nationalität noch unvollendet war. Dieses Volks-
tum hatte die Berechnungen der ingenieusesten Tyrannei enttäuscht und
war lebendiger und drohender denn je. Rußland hatte durch die Verfolgungen
und dadurch, daß es Preußen zwang, ebenfalls gegen die Flüchtlinge zu wüten,
das Geheimnis seiner Schwäche verraten und offenbart, „par où elle périra
infailliblement“ . Friedrich Wilhelm IV. schien nach seiner Thron-
besteigung durch den Friedensschluß mit der katholischen Kirche und die
feierliche Ankündigung einer Aufrechterhaltung der polnischen Nationalität
Preußens demütigende Rolle im Schlepptau Rußlands verändern zu wollen,
das, anscheinend sein hochherziger Bundesgenosse, in Wahrheit sa protec-
trice intéressée, sa dominatrite war. Es war ein tiefer, glücklicher Ge-
danke, Preußen eine wirkliche politische Unabhängigkeit zu sichern und
es von Wieser gefährlichen Freundschaft, diesem Protektorat zu erlösen, das
eines Tages mit einer tatsächlichen Beherrschung, mit der Zergliederung und
Vernichtung der Monarchie endigen konnte wie 1806. Die russische Politik
war unter dem Schein größter Selbstlosigkeit treulos und macchiavellistisch
gewesen. Der Zar trug 1815 viel zum Wiedererstarken Preußens bei, aber
nur, um sich gegen Österreich einen dankbaren Verbündeten zu sichern und
sich Einfluß in Deutschland zu verschaffen. Preußen täuschte sich gröblich
in der Voraussetzung, Rußland wünsche seine Vergrößerung und werde es
bei Kriegen und Verhandlungen unterstützen, um eine deutsche Vormacht
erstehen zu lassen. Es bediente sich seiner nur, das war der eigentliche Sinn
der beiderseitigen Allianz. Niemals konnte der Zar gestatten, daß Preußen
stark genug wurde, um der russischen Hegemonie entgegenzutreten und seine
Unabhängigkeit auf dauerhafte Grundlage zu stellen.
Durch Begünstigung des Polentums hatte Friedrich Wilhelm IV. das
unfehlbare Mittel gefunden, um seinen Staat eine wahrhafte Freiheit zu
verschaffen und das russische Protektorat abzuschütteln, das sehr schlecht
das Vasallentum verbarg. Polens Wiederherstellung mußte Preußen
seine Unabhängigkeit zurückgeben und seine Tendenz befördern,
eine wahrhaft deutsche Großmacht zu werden. Polen, weit entfernt,
sich dieser Neigung entgegenzustemmen, hatte viele Gründe, um die Einigung
der deutschen Staaten unter Preußens Führung herbeizusehnen, schon, um
jeden fremden Einfluß, namentlich von russischer Seite, auszuschalten.
Durch Preußen desorganisierte und beherrschte das Ausland die deutschen
Fragen, denn desorganisieren hieß die Vernichtung, die Demembrierung
vorbereiten.
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 627
Die Wiederverfolgung der polnischen Emigranten deutete aber darauf
hin, daß der Monarch sich unter Aufgabe seines glücklichen Gedankens aber-
mals den Forderungen seines Alliierten beugen wollte. Das war ein ungeheurer,
für Preußen der verhängnisvollste (funeste) Fehler. Nach der edelen An-
wandlung (velleité) der Unabhängigkeit mußte die Knechtschaft doppelt
drückend sein. Es war den Polen unverständlich, welche Motive Preußen
für den Verzicht auf seine einsichtsvolle Politik und die Sympathie der Sar-
maten haben konnte. Bei gegenseitiger Anlehnung hätte es die russische
Schutzherrschaft abgewälzt und wieder Handlungsfreiheit gewonnen. Die
polnische Insurrektion war nur für Rußland gefährlich und kein Polen war
unklug genug, gegen Preußen feindselige Absichten zu hegen, sobald es auf-
hörte, seine Nationalität und Kirche zu unterdrücken und sobald es den
Willen ankündigte, sich von der Freundschaft oder vielmehr Herrschaft
(domination) der Moskowiter zu befreien.
Unleugbar bereitete sich in ganz Polen ein Aufstand vor, aber dieser war
bestimmt nur gegen Rußland gerichtet. Preußens Nutzen entsprach es nicht,
durch Ausrottung des Polentums dessen Vormacht zu fördern. Die Polen
hegten den lebhaften Verdacht, daB das Attentat auf Nikolaus" und der
daraus gefolgerte Plan einer Erhebung in PreuBen ein Werk der Petersburger
Regierung war. Rußland drängte einige ahnunglose Polen, die nicht wuBten,
daB sie die Todfeinde ihres Vaterlandes wurden, durch seine Agenten vorwärts,
. wollte aber nur Preußen erschrecken und seine Unabhängigkeit ersticken,
vor allem die Erneuerung des Auslieferungskartells erlangen. In Preußen
gab es 50 000 Flüchtlinge, die nur Waffen und günstige Umstände zur Rück-
kehr erwarteten, um in Polen eine gegen den Zaren allein gerichtete Insur-
rektion zu entflammen. Dieses Druckmittel durfte man in Berlin nicht aus-
liefern.
Als Beweis dafür, daB die in PreuBen beabsichtigte Erhebung wahr-
scheinlich eine von RuBland provozierte Erfindung war, genügte die Kenntnis
der Tendenzen und Hoffnungen der Emigration. Sie besaB in ihrem Vaterland
tiefe Wurzeln und Verzweigungen. Darum mußte Preußen zur Unterbindung
ihrer Experimente hauptsächlich versuchen, auf sie einzuwirken. Ihre drei
Parteien unter Czartoryski, Rybinski und Dwernicki wichen in ihren Mitteln
ab, waren aber einig im Ziel der Unabhängigkeit Polens. Die von dem
verfehmten Gurowski gegründete, wegen der moralischen Defekte ihrer
Vertreter in MiBkredit gekommene demokratische Partei hatte weder in
der Emigration noch in Polen eine Superiorität, war aber allein unklug
genug, um dort Bewegungen zu versuchen. Sie entsandte ihre Provoka-
teure , massqués par un patriotisme, par un dévouement les plus ardents“.
Czartoryski hatte seine Rolle ausgespielt und amüsierte sich mit dem Arrange-
ment üppiger Bälle in seinem herrlichen Palais. Verachtet von der Emigration,
verabscheut im Vaterland, fürchtete er eine Insurrektion mehr als der Zar.
„ Über das nie aufgeklärte Attentat in Posen am 19. Sept. 1843 vgl. Laubert
in Forsch. z. Brandenb. u. Preuß. Gesch. 1922, S. 131ff.
3$ Die Zahl ist innig. In d. Prov. Posen befanden sich nie wesentlich mehr
als 3000 Überläufer, zumeist harmlose, dem Militärdienst entschlüpfte Elemente.
40*
628 Manfred Laubert
Er erwartete Polens Wiederherstellung nach der traditionellen Politik seiner
Familie nur von der Vorsehung und der Hochherzigkeit der europäischen
Monarchen, ohne selbst die Mitwirkung des Kaisers von Rußland abzulehnen.
Er wollte Polen retten, indem er es dem Zaren unterwarf und mußte darum
jedem Aufstand fernbleiben. Rybinski, eine der ersten strategischen Kapazi-
täten Europas (?), würde nie eine insurrektionelle Bewegung ohne die Ge-
wißheit entscheidender Ergebnisse organisieren. Gegenwärtig würde sie aber
zur unvermeidlichen Katastrophe führen und Rußland dienen, Preußen in
dessen Arme treiben und in Polen die Kräfte brechen, die bloß in günstigen
Augenblicken hervortreten durften. Unzweifelhaft war die jetzige Ver-
schwórung von RuBland erfunden und von einigen aufrichtigen, aber unklaren
Polen unterstützt.
Europas Lage komplizierte sich mehr und mehr und allenthalben glaubte
man aus dieser Verfahrenheit nur durch einen allgemeinen Krieg herausfinden
zu können. Ihn mußten die Polen näher glauben als man dachte. Wenn sie
aber verfrühte Teilvorstöße organisierten, die Mächte verschnupften, die
nur den Augenblick abwarteten, um der russischen Vormacht ein Ende zu
bereiten, schadeten sie sieh selbst und wurden das Werkzeug ihrer eigenen
Zerstórung. Wenn PreuBen in seiner neuen Stellung beharrte, die polnischen
Sympathien sammelte (ralliant) und innerhalb der gegebenen Umstände
Polens Erneuerung begünstigte, konnte es das russische Joch zerbrechen
und seine konforme VergróBerung fórdern, die es nicht durch Mithilfe bei der
Zerstückelung Polens fand. Es würde Veranlassung zu lebhaftem Bedauern
haben, wenn es seine Position aufgab, die am meisten zur Festigung seiner
Unabhängigkeit beitrug und am gefährlichsten für Rußland war. Das Inter-
esse Preußens und Deutschlands widerstrebte dessen Ziel, die Unterjochung
der Polen zu vollenden und dadurch für die Deutschen wieder furchtbarer
zu werden denn je. Allerdings verlangte auch die Unabhängigkeit Preußens
heroische Anstrengungen, damit das Zarentum geschwächt wurde durch die
Befreiung der polnischen Nationalität. — So weit Ostrowski, dessen Gedanken-
gänge 1848 ein Arnim vollauf teilte.
Um Einzelheiten über die Aussendung der Emissäre und vor allem ihre
Namen zu erfahren, stellte X. seinem Gewährsmann eindringlich die unseligen
Folgen eines solchen Tuns vor Augen, das viele Leute ihres Asyls in Preußen
berauben und die Regierung wahrscheinlich wieder zu einer entgegengesetzten
Politik nötigen würde. Das einzige Mittel, um die unentschuldbar heraus-
geforderten Berliner Regierungsstellen zu besänftigen und von dem guten
Willen der meisten Emigranten zu überzeugen, erblickte er in der Benennung
der Schuldigen, die keine Schonung verdienten und von allen Parteien wie
Seeräuber behandelt werden mußten. Nach anfänglichem Schwanken lehnte
Ostrowski trotzdem jede weitere Auslassung ab, denn auch seine Partei hatte
Verbindungen in Polen, durch deren Verrat sich die Demokraten rächen
konnten. Aber während letztere sich durch ihr törichtes Beginnen ruinierten,
war jener redlich und diskret, so daß man sich auf ihn verlassen konnte. Er
hatte sich überzeugen lassen, daß Polen seine Wiederherstellung am ehesten
von Preußen erwarten durfte und urteilte selbst: Wir können uns am leich-
testen mit Preußen verständigen, denn von ihm brauchen wir bloß eine Million
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 629
Menschen zu verlangen; für alles übrige genügt ein liberaler Handelsvertrag.
Von Österreich müssen wir viel mehr fordern. — Er betrachtete als offenbar
nur Posen, nicht Westpreußen als polnisches Gebiet und hielt mit Wilson an-
statt des Korridors eine Sicherung freier Durchfuhr für ausreichend.
Immerhin war die Verschwörung nicht so harmlos wie Ostrowski sie
hinstellte. Ledochowski schonte sein Geld nicht, denn er war ein Verschwender.
Alles in allem handelte es sich vielmehr um eine einzige revolutionäre Be-
wegung durch ganz Europa. Die polnischen Parteien waren überhaupt nicht
streng geschieden, und neben ihnen gab es noch militárische Abenteurer,
denen jedes Unternehmen einleuchtete, wenn der Reiz des Geldes am Anfang
lockte.
Gurowski stand angeblich im Sold der französischen Regierung, obwohl
sie wußte oder vermutete, daß er auch von Rußland bezahlt wurde, damit
er ihr günstige Berichte nach der Newa schicken sollte. Doch noch andere
Personen wurden von Frankreich bestochen (X. an Bunsen 1. März).
X. zog aus diesen Unterlagen die allgemeine Folgerung, daß bei den
Unruhen in Posen mit der demokratischen Partei als Ausgangspunkt un-
mittelbar die ganze polnische Angelegenheit in Mitleidenschaft gezogen wurde,
denn die Verschwörertätigkeit war allgemein. Als man 1834 Czartoryski in
Paris für einen Verräter erklärte, wurden in Posen 800 begreiflicher Weise
unveröffentlichte Unterschriften gesammelt. Rybinski war von den jetzigen
Vorgängen genau unterrichtet. Seine Anhänger befolgten einesteils den
Fiescoschen Grundsatz, nicht nachzugehen, wo andere anfingen, übten andern-
teils aber Konnivenz in der stillen Hoffnung, es könne doch etwas erreicht
werden, was sich zu einem allgemeinen Aufstand benutzen ließ. Deshalb
mußte eine rücksichtslose Verfolgung zu einem für Preußen peinlichen Mon-
streprozeB gegen den polnischen Patriotismus schlechthin führen. Vorteil-
hafter erschien das Verlangen nach Garantien von polnischer Seite für eine
Nichtwiederholung der eben für die gewährte Nachsicht bewiesenen Undank-
barkeit.
Die bisherige Politik der Güte reichte indessen nicht aus. Die Gegner
sahen darin eine Falle zur Fusion der preußischen Polen mit den Deutschen
und wirkten ihr deshalb nach allen Regeln ihrer Parteitaktik entgegen. Den
anderen genügte die ihnen gewordenen Duldung nicht und sie wurde nur
benutzt, um die Erneuerung Polens vorzubereiten. Es war also fraglich, ob
man sich in Unterhandlungen mit Rybinski einlassen sollte nach dem Beispiel
der vorangegangenen französischen Regierung. Selbst die Kammer nahm
in Paris Verbindung mit ihm auf. Sie adressierte ihre Antworten an den
Généralisme Prés. du Gouvernement polonais. Hieran hing auch die Frage
der preußischen Politik Frankreich gegenüber, das zur Wiederherstellung
Polens mit Österreich gegen Rußland gehen mußte. Man versicherte bestimmt,
daß Louis Philippe einen solchen Antrag gestellt hatte, ohne aus leicht be-
greiflichen Gründen Eingang zu finden. Aber selbst die katholische Fraktion
begann zu fühlen, daß wenn Preußen mit Frankreich zu einer Einigung kam,
es England mit sich ziehen würde und Österreich dann folgen müsse.
Krasinski hatte erklärt (Brief an B. 4. März), je mehr er an die Ereig-
nisse in Posen denke, umso trauriger werde er wegen ihrer unglücklichen
630 Manfred Laubert
Folgen. Mehrere dort geduldete Emigranten hatten beim Verlassen von
England und Frankreich auf die ihnen hier von der Regierung gewährte
Unterstützung verzichtet. Sie besaßen einige Mittel, um in Posen zu leben,
aber bei ihrer Rückverweisung waren sie ganz entblöst. An Bällen und Mee-
tings für sie würde es nicht fehlen, aber welche Kommentare würde es darüber
in den Zeitungen, besonders den Times geben! Obendrein litten viele für die
Torheit anderer ohne Anteil daran. Darum wäre es gut, wenn Preußen denen
eine Unterstützung bewilligte, die mittellos von Posen sich in das Innere des
Landes zurückziehen mußten. Die Ausgabe war nicht groß und ohne Zweifel
nur provisorisch, wenn sich ihre Schuldlosigkeit herausstellte. Auf diese
Weise vermied man eine Vergiftung der Gemüter und milderte wahrhafte
Leiden der Unschuldigen. Eine Zeitungserklärung konnte parallel laufen.
Selbst die russische Regierung, deren System ganz auf der materiellen Kraft
basierte, verachtete solche Wege nicht. Das polnische Journal in Petersburg
war sehr gut redigiert und machte manchmal starken Eindruck, sogar auf die
Emigranten. Viel mehr ließ sich ausrichten mit einem Organ in Preußen,
dessen System auf der moralischen Gewalt beruhte. Auch einige Broschüren
über die position r&ciproque zwischen Regierung und Polentum konnten
von wesentlichem Nutzen sein. Selbst die Gemäßigten fanden die Verord-
nungen gegen die in Posen ansässigen Polen „sehr hart" und unpolitisch.
Es mußte durchaus etwas geschehen, um die Meinung des Polentums in
Preußen zu leiten, denn es war völlig ziellos (dérouté) und es war in dieser
Hinsicht tatsächlich nichts unternommen. Es war aber viel zu erreichen, um
die Geister zu beruhigen und selbst zu versóhnen, indem man die Frage
gerecht darstellte sous un véritable jour.
Bunsen sandte geschäftseifrig alle diese Schriftstücke am 7. März
an Bülow. Man konnte danach in X. den Mann von Talent zur Beobachtung
und Darstellung nicht verkennen, dessen Angaben in der Hauptsache von
Krasinski bestátigt wurden. Auch war er, wie Carlyle und alle seine Bekannten
versicherten, kein feiler Spion; Bunsen hatte ihm 20 Pfund gegeben, wofür
er einen Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung versprach. Bunsen
besaß zu viele Unterpfänder gegen ihn als daB er es nicht für vorteilhaft
erachten sollte, treue Dienste zu leisten. Die russische Regierung benutzte
einen verunglückten österreichischen Philosophen und Naturforscher Lhotzky,
den Bunsen abgewiesen hatte.
Bülow hielt nunmehr dem König Vortrag, der die Skripturen Arnim
mitzuteilen befahl. Sofern dieser darin neue Tatsachen oder Anhaltspunkte
für das Ermittelungsverfahren über die Posener Unruhen fand, erwartete
der Monarch Anzeige. Die Gesandtschaften in Paris und anderwärts hatten
die Materialien erbeten, um sich ihrer mit Vorsicht zur Beseitigung des Ein-
drucks zu bedienen, den preußenfeindliche Artikel der Auslandspresse über
die Posener Vorgänge hervorgerufen hatten.
Arnim sah aber von einem Immediatvortrag ab. Er beurteilte die
Dinge sehr gelassen. Bunsens Bemühungen waren dankenswert, hatten
aber keine neuen Tatsachen zutage gefördert. Allerdings lieferten die Be-
richte ein unerfreuliches Bild von dem Gebahren der polnischen Flücht-
linge (an Bülow 28. März).
Bunsens Beziehungen z. poln. Emigration in d. Anfängen seiner Londoner Zeit 631
Am gleichen Tage schickte der Graf die Stücke dem Posener Ober-
präsidenten v. Beurmann zur umgehenden Äußerung darüber, ob und
welche Fakta für die Ermittelungen von preußischer Seite darin zu finden
waren. Die Absendung der 4 Emissäre stimmte mit den Anzeigen des Pariser
Vertreters überein, so daß Beurmann sicherlich bereits die nötigen Anord-
nungen getroffen hatte, um ihnen auf die Spur zu kommen. Nützlich er-
schien auch eine Beobachtung der von Bunsen namhaft gemachten Personen,
die sich in neuerer Zeit mit Londoner Pässen nach dem Posenschen begeben
hatten. Endlich wurde Beurmann anheimgestellt, sich nach Krasinskis Rat
der Presse zu bedienen, um durch geeignete, nicht amtliche Artikel Einfluß
auf die Stimmung in der Provinz zu gewinnen.
Beurmann antwortete am 4. April verbindlich, die Mitteilungen seien
interessant. Wegen der erwarteten Emissäre war der Polizeidirektor Frhr.
v. Minutoli instruiert worden. Unter den mit Gesandtschaftspässen ver-
sehenen Personen verdienten Graf Bninski und Student Wladyslaw v. Lacki,
Sohn Antons v. L. auf Posodowo (Kr. Buk) und Neffe Emilie v. Sczanieckas??,
Aufmerksamkeit. Diese hatte nach Frau v. Lackas Tod die Kinder erzogen
und wenn sich ihr Einfluß auch hauptsächlich auf die Töchter erstreckt
hatte, so war sie doch wohl nicht ohne Eindruck auf die Söhne geblieben.
Bninski-Samostrzel stand im Verdacht, Frl. v. Sezanieckas Korrespondenz
mit der Emigration zu befördern, was durch die fast gleichzeitige Paßerteilung
für ihn und Lacki noch wahrscheinlicher gemacht wurde. Bei dieser Ge-
legenheit erbat Beurmann eine Anweisung an die Gesandtschaften in London
und Paris, jede Paßausstellung für die Provinz möglichst schnell nach Posen
anzuzeigen, da jetzt solche Mitteilungen in der Regel zu spät eintrafen.
Entsprechend waren beide Regierungen beauftragt worden, den Ober-
prásidenten von jeder PaBgenehmigung nach England und Frankreich in
Kenntnis zu setzen. Bei Durchführung beider MaDnahmen lieB sich ME
ersprieBliche Kontrolle hoffen.
Von bleibendem Wert sind bei diesen Diskussionen die Gedanken, die
auf Neubelebung Polens zur Einschnürung RuBlands abzielten. Stockmar
hat sie in einem Memorandum vom März 1854 angedeutet: Preußen — ein
unglückliches Land! Der König steht unter russischer Botmäßigkeit, teils
aus Furcht vor Rußland, teils aus vernunftwidriger Sentimentalität für
seinen Kaiser, den Repräsentanten der Heiligen Allianz. ... Die Hofpartei
ist teils aus Gewohnheit, teils aus Interesse Rußland servil ergeben, betet
den Kaiser an als Schutzherrn der Reaktion, sieht in seiner Schwächung
den eigenen Untergang.
Noch weit deutlicher ist das Echo in Bunsens Schrift. Hier wird als
Zweck des bevorstehenden Kampfes die Zurückdrängung Rußlands auf
seine natürlichen Grenzen gepredigt, denn „Rußland verhehlte nicht, daß
es eine seit einem Jahrhundert beanspruchte und angebahnte Schutzmacht-
stellung nur staatsrechtlich anerkannt wissen wollte“. Nun aber „handelte
* Bekannte polnische Patriotin, die 1831 selbst nach Polen eilte zur Mithilfe
am Aufstand. W. v. Lacki wurde 1846 verhaftet, aber merkwürdigerweise trotz
schwerer Belastung freigesprochen. Dagegen erhielt sein Schwager Konstantin
v. Sezaniecki, 8 Jahre Festung neben Verlust von Adel und Nationalkokarde.
632 Manfred Laubert: Bunsens Beziehungen zur poln. Emigration usw.
es sich darum, das zu tun, was Friedrich der Große, Pitt, ja, selbst Napoleon
nicht hatten tun könenn, Rußlands Übermacht zu brechen“. „Alle Prinzipien,
auf welchen die moralische Macht Preußens ruht, werden von Rußland mit
Notwendigkeit erdrückt oder gelähmt. Rußland kann nur eine Scheinfreiheit
in Deutschland dulden und muß den Protestantismus zurückdrängen, wo
er . . eine Weltstellung sich zu erwerben im Begriff steht. Dies trifft Preußen
im innersten Kern seiner Macht". „Aber im Hintergrund steht als politische
Möglichkeit die Sünde des 18., die Pestbeule des 19. Jahrhunderts — Polen.
Ist es möglich, Polen wiederherzustellen, so muß es in einem so erhabenen
Augenblicke der Weltgeschichte geschehen.‘
Diese Sentenzen zeigen, wie stark Bunsen für Krasinskis Programm
gewonnen worden war und wie bereitwillig er auf die Sirenenklänge der
Emigration lauschte, nicht als preußischer Staatsmann, sondern als liberaler
Doktrinär: Nur mit polnischer Hilfe kann sich Preußen aus der Knecht-
schaft der Moskowiter befreien. Durch Wiederherstellung Polens muß es
die öffentliche Meinung Deutschlands für dessen Einigung unter preußischer
Spitze gewinnen, das ist der Kernpunkt des Problems, um den sich der
uralte Gedanke an den polnischen Pufferstaat gruppiert.
Dabei wird völlig übersehen, daß Polen niemals ein Schutzwall gegen
eben jenes Moskowitertum war und daB seine Bundesgenossenschaft nur
erlangt werden konnte durch Aufgabe der Ostmark, womöglich bis an die
Oder, um den Preis der Schaffung einer Lage, wie die Gegenwart sie bietet,
gesteigert bis zu dem Dmowskischen Programm des österreichischen An-
schlusses gegen Preisgabe OstpreuBens. Deshalb sollte Preußen vorerst
den Polen die Kastanien aus dem Feuer holen, wie es mit feinem politischem
Instinkt die Emigranten von 1831 schon vorausgeahnt haben, wenn sie die
Erneuerung ihres Vaterlandes am ehesten von deutscher Seite erwarteten.
Auch das hat PreuBen-Deutschland im Weltkrieg getan und dabei erfahren,
wie unsinnig Bunsens Kombinationen waren und wie recht Bismarck mit
ihrer Ablehnung hatte.
Manfred Laubert.
Kritiken 633
Kritiken.
International Bibliography o! Historical Sciences. First Year: 1926. Ed.by the
International Committee of Historical Sciences. Berlin (Walter de
Gruyter) 1930. GroB-Oktav. LXVII, 366 S. RÆ 12,60.
Die internationale Bibliographie der Geschichtswissenschaft, deren erster Jahr-
gang (zur Literatur von 1926) hier angezeigt wird, bildet eine wichtige und im Hin-
blick auf das Gesamtgebiet der Weltgeschichte unerläßliche Ergänzung zu den für
jeden Geschichtsbeflissenen unentbehrlichen Jahresberichten für deutscheGeschichte,
die A. Brackmann und F. Hartung seit 1927 (K. F. Koehler, Leipzig) herausgeben
(1. Jg. = Berichtsjahr 1925), da in diesem neuen deutschen Unternehmen im Gegen-
satz zu den alten Jastrowschen Jahresberichten auf eine Einbeziehung auch der
Literatur zur Geschichte des Auslandes von vornherein verzichtet worden ist.
Der Plan zu dem vorliegenden Annuaire international de Bibliographie historique
wurde 1926 auf der ersten Tagung des Comité international zu Genf gefaßt und durch
eine Spende der Rockefeller-Memorial-Stiftung für die ersten drei Bände finanziell
gesichert. Über den Gang der umfänglichen Vorbereitungen und über die Richtlinien
für den Ausbau des Ganzen berichtet zusammenfassend die Vorrede von R. Holtz-
mann, der als Nachfolger H. Reincke-Blochs (}199) zum Vorsitzenden der
Bibliographischen Kommission bestellt worden ist. Über die Einzelheiten in den
Verhandlungen informiert der I. Bd. des Bulletin du Comité, von dem zur Zeit
bereits der III. Bd. im Erscheinen ist.
Schwierigkeiten bereitete vor allem die Einteilung des Stoffes, bei der man sich
schließlich für eine sachliche Gliederung statt einer geographischen Gruppierung
entschied, und die Abgrenzung des Materials gegen die sog. nationalen Bibliographien,
wie z. B. gegen die oben zitierten Jahresberichte für deutsche Geschichte. Man hat
sich auf den einleuchtenden, aber in praxi wohl nicht immer leicht durchzuführenden
Grundsatz geeinigt, im allgemeinen nur solche Schriften zu verzeichnen, die für
mehrere Lánder von Bedeutung sind, und daneben den Ausbau der nationalen
Bibliographien in allen Ländern tunlichst zu fördern (vgl. Bulletin I, 217ff.; 457ff.).
Infolgedessen bleiben — exceptis excipiendis — grundsätzlich solche Schriften aus-
geschlossen, die nur ein einzelnes Land oder gar nur Provinzen und einzelne Städte
betreffen, selbst wenn es sich um Darstellungen von hohem wisssenschaftlichen
Werte handelt. Was in das Internationale Jahrbuch aufgenommen wird, sollen viel-
mehr ausschließlich Arbeiten sein, die auf die Beziehungen der Staaten und Völker
untereinander Bezug haben und überdies einen wirklichen Fortschritt in der ge-
schichtlichen Erkenntnis bedeuten. Auch aus den weiten Gebieten der Kirchen-,
Literatur-, Rechts-, Wirtschafts- oder Kunstgeschichte soll nur dasjenige ausgewählt
werden, was für die allgemeine Kulturentwicklung der Völker einfluBreich und ent-
634 Kritiken
scheidend war, wie andrerseits aus naheliegenden Gründen in der neuesten Zeit auch
die rein politischen Veröffentlichungen ausgeschlossen bleiben.
Die nach diesen Grundsätzen bearbeitete Titelbibliographie ist nach folgenden
Abteilungen gegliedert: Hilfswissenschaften (S. 1ff.), Handbücher, Allgemeine Werke
(18fl.); Vor- und Frühgeschichte (67ff.); Die Völker des alten Orients (76ff.);
Griechische Geschichte (89ff.); Römische Geschichte (98ff.); Geschichte der alten
Kirche bis auf Gregor d. Gr. (110ff.); Byzantinische Geschichte seit Justinian (116ff.) ;
Geschichte des Mittelalters (120ff.); Neuzeit: Allgemeine Werke (163ff.), deren
Religionsgeschichte (179ff.), deren Bildungsgeschichte (191ff.), deren Wirtschafts-
und Sozialgeschichte (217ff.), deren Rechts- und Verfassungsgeschichte (234ff.);
Geschichte der Beziehungen zwischen den modernen Staaten (244ff.); Asien (288ff.) ;
Afrika von der Urzeit bis zur Kolonisation (294ff.); Amerika desgleichen (296ff.).
Besondere Vorzüge sind dabei die reiche Beigabe von Besprechungsnachweisen zu
den meisten der aufgeführten 4908 Nummern und die beiden angehüngten Register,
ein Autoren- und Personenregister und ein geographisches. Voraus geht ein 37 Seiten
umspannendes Verzeichnis der exzerpierten Zeitschriften, das das RiesenmaB der
geleisteten Arbeiten am besten verdeutlichen kann.
Überblickt man diese Inhaltsangabe, so erübrigt sich jedes Wort des Lobes für
diesen Markstein internationalen Gelehrtenfleißes. Gerade wer selbst einmal mit
Hand angelegt hat an der unsäglich mühevollen, vielfach tief verachteten und doch
im Großbetriebe moderner Wissenschaft für eine technische Materialbeherrschung
ungeheuer wichtigen bibliographischen Sammelarbeit, sei es in den Jahresberichten
für deutsche Geschichte, sei es bei der Erneuerung unseres Dahlmann- Waitz, der
wird ein Werk, wie diesen Band des Internationalen Jahrbuches, nur mit Bewunde-
rung für den Riesenaufwand intellektueller Energie und mit Dank für die entsagungs-
volle Arbeitsleistung seiner Mitarbeiter begrüßen und benützen. Wenn ich daher
einige Kleinigkeiten nicht unerwähnt lassen will, die wie ein Tadel klingen könnten,
so sind es in Wahrheit nur positiv gemeinte Worte einer Kritik, um die der Heraus-
geber ausdrücklich gebeten hat.
Auf einen grundsätzlichen Mangel hat die Redaktion bereits selber den Finger
gelegt, wenn sie beklagt, daß ‚eine völlige Einheitlichkeit bei den Abkürzungen der
Zeitschriftentitel" in diesem ersten Band der Bibliographie noch nicht zu erreichen
war, und statt dessen auf eine bevorstehende internationale Übereinkunft über die
Abkürzungen vertróstet. Jedes Zaudern in diesem Punkte bedeutet m. E. eine
bedauerliche Erhöhung der Druckkosten, für die der Redaktion natürlich kein Vor-
wurf gemacht werden kann, die aber doch der AuDenstehende nur schwer begreift.
Denn wenn überhaupt eine Instanz, so schiene gerade das neutrale Comité inter-
national des Sciences historiques am ehesten in der Lage zu sein, in diesem schon seit
Jahrzehnten beklagten Durcheinander endlich einmal Wandel zu schaffen: eine
Abhilfe, die in vielem (Dahlmann- Waitz!) schon jetzt zu spät kommt. Ein weiterer
drucktechnischer Wunsch, dessen Erfüllung vielleicht ein rascheres Überfliegen der
Kolumnen ermóglicht und damit die Benutzung nicht unwesentlich erleichtern
könnte, wäre die Verwendung von Fettdruck und Petitsatz, jenen statt der Groß-
buchstaben in der Wiedergabe der Autorennamen zu Ánfang der einzelnen Nummern,
diesen zur besseren Abhebung der beigefügten Rezensionen von den unmittelbaren
bibliographischen Angaben. Ferner wáre in dem Verzeichnis der Zeitschriften
gelegentlich eine Vervollstándigung der Untertitel zu begrüBen, so etwa p. XLX bei
Kritiken 635
der Historischen Vierteljahrschrift oder p. LXI beim Speculum. Dazu käme höch-
stens noch die Erwähnung einiger Druckfehler: p. XIII Bibliotek in dem Lemma
„Deutschland‘‘, p. XIX Paläolitik und Mesolitik, p. XXI Epigraphie. Im übrigen
verdienen der sorgfältige Druck und noch mehr seine gewissenhafte Überwachung die
höchste Anerkennung.
Leipzig. W. Stach.
Wilhelm Weinberger, Wegweiser durch die Sammlungen altphilologischer
Handschriften. Wien u. Leipzig 1930. 136 S. (— Akad. d. Wissensch. in
Wien, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 209, Abh. 4.)
Weinbergers bibliographische Arbeiten auf dem Gebiet der Handschriftenkunde
sind zu bekannt und geschätzt, als daB man nicht eine neue dieser Art unbesehen
mit Freuden begrüßte, wenn nur der Titel verspricht, daB man ein wertvolles Hilfs-
mittel zu erwarten hat. Wer würde dies nicht bei einer Arbeit tun, welche die Samm-
lungen altphilologischer Handschriften mit bibliographischen Nachweisen verzeichnen
will? Überzeugt doch ein kurzer Blick in das stattliche Heft, daB gewesene und be-
stehende, öffentliche und private Bibliotheken des In- und Auslandes in gleicher
Weise berücksichtigt sind! Seit dem Erscheinen des Catalogus Catalogorum, den
Weinberger im Jahr 1902 im Auftrag der Wiener Akademie als Hilfsmittel für ihre
Kirchenvüterausgaben bearbeitet hat, sind beinahe 30 Jahre vergangen; dies Men-
schenalter bringt notwendig vielerlei Bereicherung, sei es durch Erscheinen neuer
Inventare, sei es durch neue Kenntnisse des mit dem Fortschritt der Fachwissenschaft
stets mit der Materie vertrauter gewordenen Verfassers. Und deshalb wáre diese
neue Arbeit nötig, selbst wenn nicht inzwischen seine Beiträge zur Handschriften-
kunde (1908 und 1909 in den Wiener Sitzungsberichten), seine Berichte in den
Jahresberichten über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft ge-
kommen wären, ja selbst wenn sich die neueste Bibliographie nicht auf ein anderes
Gebiet spezialisierte, als die erste. Denn es ist doch, wie sich in der weitgehenden
Gleichheit der behandelten Bibliotheken und ihrer Literatur zeigt, kein groBer Unter-
schied zwischen den Bibliotheken, die uns Handschriften der Kirchenschriftsteller,
und solchen, die uns Klassikerhandschriften überliefert haben. Man bedauert deshalb
beim Erscheinen einer solchen Teilarbeit, daß noch niemand den Mut gefunden hat
(und warum sollte nicht Weinberger der Mann dazu sein ?) die Literatur der Samm-
lungen mittelalterlicher Handschriften überhaupt in der Weise wie hier diese Sonder-
gebiete (nämlich mit alphabetischen Nachweisen der Provenienzen) zu behandeln.
Man kann noch einen Schritt weitergehen und den Wunsch aussprechen, es möge
jemand mit dem durch Weinbergers und vieler anderer weitgehenden Vorarbeiten
bereitgestellten Material wenigstens einmal den Versuch machen, Stammbäume und
Ahnentafeln der Handschriftenwanderung aus den alten, bzw. der Wanderung in
die neuen Bibliotheken aufzustellen zum Nutzen aller Forscher, denen auch die
Geschichte der Handschriften etwas zu sagen hat. Weitgehende Ansätze dazu hat
Weinbergers neue Arbeit durch dıe Verweisungen auf die in bestehende Bibliotheken
übernommenen Handschriftenbestände, bzw. auf die Orte. nach denen die alten
Bibliotheken zerstreut worden sind. Aber diese Hinweise sind weder einheitlich noch
vollständig. Und vor allem ist es für den nicht nur auf altphilologische Handschriften
ausgehenden Gelehrten nicht stets leicht, zu entscheiden, ob die Hinweise Wein-
bergers nur für solche Handschriften gelten, ob er weiteres für andere Gebiete ver-
222: mA KEEN CUI ⅛ mum ß 8 il ar u ̃ nn, EE O N
636 Kritiken
schweigt, kurz, wie er die Auswahl der genannten Bibliotheksorte trifft. Wenn z. B.
für die Universitätsbibliothek Leipzig der Sinai als Herkunftsort angegeben ist, so
kann es sich kaum um andere als Tischendorfsche Handschriften handeln (vorzüglich
den Codex Sinaiticus und andere nicht philologische Texte!); Tischendorf selbst ist
nicht unter den Vorbesitzern genannt; man findet ihn dagegen im Alphabet der
Bibliotheken, und zwar lediglich mit dem Hinweis auf die Septuaginta-Handschrift.
Auch anderes nimmt bei den Leipziger Provenienz-Angaben Wunder: Pithou,
de Rosny sind einer einzigen Haenelhandschrift wegen für Leipzig erwähnt; das
Collegium Claromontanum, das mehrere Handschriften geliefert hat, nicht, auch
nicht beim Nachweis des Verbleibs der Claromontani (wo auch der Hinweis auf
Meermann fehlt, während er für Leipzig wiederum angegeben ist). Erfurt (Kartause
und Benediktiner), Pirna, drei Leipziger Klöster, Petersberg bei Halle, Eichstätt,
Jena, Salza, Eisenach konnten mit gleichem Recht wie Chemnitz, Pegau u.a. als
Leipziger Provenienzen angegeben werden, wenn auch, wie in vielen anderen Fällen,
gedruckte Kataloge noch nicht restlos darüber Auskunft geben, ob altphilologische
Handschriften dabei mitbetroffen sind. Grünhain jedoch, das bei Leipzig genannt ist,
wäre besser bei Jena erwähnt worden; entsprechend ist auch der Hinweis zu ändern.
Es wäre natürlich zuviel verlangt, wollte man auch nur alle wichtigeren Provenienzen
hier verzeichnet finden — auch das wäre eine der notwendigen großen Vorarbeiten
für die Handschriftenkunde der Zukunft —; aber es überrascht, wenn man keine
rechte Einheitlichkeit, auch im Äußern, findet. Nicht nur ist die Regel, nicht mehr
bestehende Bibliotheken durch kursiven Druck anzudeuten, nicht völlig durch-
geführt, auch von der regulären Verweisung von der vergangenen auf die bestehende
Bibliothek gibt es Ausnahmen. Selten ist bei den Klosterbibliotheken der Orden
angegeben; eine Ausnahme ist die Kartause Buchsheim, meist bekannt als Buxheim
(und in dieser Form mit einem abweichenden Artikel bedacht); die erstere Form ist
in Sperr-, die zweite in Kursivdruck; unfehlbar ist aber die gleiche Bibliothek .
gemeint, deren nicht sehr seltenen Katalog (er steht z. B. in München im Hand-
schriftensaal) Weinberger nicht gesehen hat (Graf Waldbett-Bassenheim auf 5.43 ist
jedoch nur Druckfehler für Waldbott, wie S. 129 lehrt); denn der Hinweis auf Gustav
von Emichs 1906 in Wien versteigerte Sammlung (wo Buchsbaum offenbar für
Buchsheim steht) läßt schließen, daß es sich um die heute noch für den bibliophilen
Markt so ergiebige Buxheimer Bibliothek wirklich handelt, deren weite Zerstreuung
mit den Angaben der heutigen Heimatbibliotheken S. 43 nur schwach angedeutet
ist. Doch kann, wie gesagt, nicht verlangt werden, daB man alle durch die bisherige
Literatur bekannten Handschriftenwanderungen in dieser Übersicht beachtet findet ;
zudem muß sich der Erforscher von Handschriften mittelalterlicher Schriftsteller
stets vor Augen halten, daB die Handschriften der klassischen Autoren wenn nicht
allein berücksichtigt, so doch Hauptgegenstand dieser Zusammenstellung sind, die
außerdem ganz offensichtlich das Bestreben hat, so kurz als möglich zu sein. Man
kennt vor allem aus den „Beiträgen zur Handschriftenkunde" Weinbergers raffi-
nierte Kürzungsmethoden, die nahe an eine wissenschaftliche Geheimsprache heran-
reichen. Bedenkt man aber, wie vielen Wissenszweigen derartige bibliographische
Nachweisungen von Wert sind, so versteht man die Forderung, daß keine Wissen-
schaft so sehr auf leichte Verständlichkeit ihrer Kürzungen achten muß, als gerade
die bibliographische. Die geringe Raum- und Schreibersparnis muß oft mit lang-
wierigem Suchen durch den Leser und mancherlei Zeitaufwand des Bibliothekars
Kritiken 637
bezahlt werden. Ist solche Arbeit rationell? So ist z. B. die Kürzung der Jamesschen
Kataloge für die Cambridger Colleges wenig glücklich; die Aufzählung des Berliner
Handschriftenkatalogs (Nr. 318) ist in ihrer Ungleichmäßigkeit nicht voll verständlich
(auch in der auffallend ausführlichen Anmerkung). Husungs, von Weinberger nicht
gesehene, „Bucheinbände aus der preußischen Staatsbibliothek‘ sind wohl in einer
derartig eng begrenzten Bibliographie falsch am Platz. Wo jeder Doppelpunkt,
jeder Stern seine Bedeutung hat, vermutet man auch in den eckigen Klammern einen
besonderen Sinn; es hat aber nichts zu bedeuten. Typographische Unregelmäßig-
keiten stören an manchen Stellen, wenn Klammern falsch stehen, Artikel falsch ins
Alphabet gereiht sind (Matthaei), Absätze nicht richtig eingehalten sind (Fabri
de Peiresc); ja schon die kleinen Abkürzungsauflösungen im allgemeinen Teil sind
leicht zu übersehen und wären glücklicher für sich gestellt. Gercken heißt S. 30
Gercke, Sondheim S. 38 Sandheim. Die Forderung bibliographischer Genauigkeit
wäre noch weiter auszudehnen; solange bibliographische Hilfswerke die Regeln der
Bibliographie nicht beachten, wird das Unwesen der Zitiertitel nicht aufhören. Man
hätte doch erwarten dürfen, daß das Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde richtig zitiert wird, wenn es schon nach anderen Regeln gekürzt
wird, als denen, die sich jetzt international durchzusetzen beginnen. Weniger dem
Verfasser als der Not der Bibliotheken und der Wissenschaft muß es zur Last gelegt
werden, daß viele wichtige Werke, die er zitiert, von ihm nicht eingesehen werden
konnten. Ganz ungenau ist er bei einigen Auktionskatalogen, deren bibliographisch
wichtigster Bestandteil allerdings der Besitzername ist; aber es genügt nicht, nur
Katalog der Sammlung Lempertz zu schreiben, wenn deren einige Dutzend erschienen
sind. Weinberger ist mit den Schicksalen auch der kleineren und privaten Biblio-
theken vertraut wie nicht leicht jemand, er kennt trotz der vielen Veränderungen
den heutigen Stand auch in entlegeneren Ländern, ja ist mit seinem Wissen der Ent-
wicklung voraus (z. B. wenn von Prag, Lobkowitz berichtet wird, „jüngst der Uni-
versitätsbibliothek einverleibt“). Deshalb kann es für den zukünftigen Forscher, der
mitaltphilologischen Handschriften zu tun hat, keinen wichtigeren Führer geben, für
den Handschriftenforscher überhaupt keine anregendere Übersicht, als diese Arbeit
Weinbergers, mit der er den Kreis seiner in den „Beiträgen“ eröffneten Forschungen
schließt, den Hütern der Handschriftenschätze aller Bibliotheken ein Ansporn, mit
allen Kräften die einheitliche Erschließung der Bestände in Katalogen zu fördern.
Leipzig. Heinrich Schreiber.
Leopold Wenger, Der heutige Stand der römischen Rechtswissenschaft.
Erreichtes und Erstrebtes. München (C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung)
1927. X, 113 S. Geh. 5,80 RM.
Durch leidige Zufälligkeiten erheblich verspätet, soll hier die Anzeige des 11. Heftes
der „Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechts-
geschichte" (hrsg. von L. Wenger u. W. Otto) nachgeholt werden, in deren Reihe
als 9. Heft die bahnbrechende Untersuchung von E. Fr. Bruck über „Totenteil und
Seelgerät im griechischen Recht" (ebd. 1926) und als 10. Heft die Studie von
A. Stein: „Der römische Ritterstand" (ebd. 1927) vorangegangen waren: jene um
der Fülle der beigebrachten Parallelen willen auch für den Deutschrechtler und
Germanisten aufschluBreich, diese vor allem für den sozialgeschichtlich interes-
sierten Historiker des Rómischen Reiches unentbehrlich.
638 Kritiken
Bei der Veröffentlichung Wengers. die von den drei genannten Heften die
allgemeinste Beachtung beanspruchen darf, handelt es sich um den stofflich er-
weiterten und durch eine reichhaltige Literaturübersicht vermehrten Abdruck der
Wiener Antrittsvorlesung eines der anerkannten Führer auf dem Gebiete der roma-
nistischen Rechtswissenschaft. Man kann den Inhalt vielleicht am besten als einen
-Forschungsbericht von programmatischem Zuschnitt charakterisieren, der in der
souveränen Stoffbeherrschung und in der Weite des Blickfeldes an die im gleichen
Verlag erschienene (1925) , Kulturgeschichte des Altertums" von Walter Otto
gemahnt. Dabei macht der Verf. trotz seiner straff gezügelten methodischen Haltung
nirgends an den äußeren Grenzen der eigenen Fachwissenschaft Halt, sondern sucht
auch das speziellste Problem in seinen Bezügen auf die allgemein-geschichtliche Er-
forschung des abendländischen Kulturkreises zu packen: m. E. ein heutzutage
dringend gebotener Weg, die Nachteile und Schäden der geisteswissenschaftlichen
Arbeitsteilung allmählich zu überwinden, die uns als die Erben eines positivistischen
Zeitalters noch immer nur zu sehr belasten und hemmen.
Der Fülle von Anregungen und Forschungsimpulsen, die der Verf. von dieser
hohen Warte aus gibt, im einzelnen gerecht zu werden, scheint mir in dem engen
Rahmen einer kurzen Besprechung unmöglich. Nur einige seiner Gesichtspunkte
will ich herausgreifen.
Ausgehend von dem Postulat einer Erweiterung der römischen Rechtsge-
schichte zur antiken überhaupt, worunter er eine „vom Standpunkt des Juristen aus
gesehene, Staat und Recht in den Mittelpunkt stellende Kulturgeschichte des
Altertums‘‘ verstanden haben will (S. 5), erörtert W. zunächst den Unterschied
von rechtsdogmatischer und rechtsgeschichtlicher Betrachtungsweise und
würdigt dabei das spezifisch Geschichtswissenschaftliche an Methode und Ziel ge-
schichtlichen Forschens mit soviel Wärme und Verständnis, wie man das von juri-
stischer Seite kaum gewöhnt ist, da man anderweit eher geneigt scheint, den Gegen-
satz von historischer und juristischer Methode zuungunsten jener soviel als möglich
zu verschroffen. Jedenfalls wird man W.s Werben für eine ersprießliche Zusammen-
arbeit von Rechts- und Geschichtswissenschaft auf philologischer Grundlage, auf
deren Ineinandergreifen der Grundton des ganzen Buches abgestimmt ist, vom
Standpunkt des Historikers aus nur beipflichten können und sich der Perspektiven
freuen, die ein solches Programm für die künftige Forschung eröffnet.
Nachdem W. sodann seinen Plan einer antiken Rechtsgeschichte zeitlich und
örtlich noch des Näheren umgrenzt hat, verbreitet er sich ausführlich über den gegen-
wärtigen Stand dieser Disziplin. Dabei entspricht es durchaus der Grundtendenz
des Ganzen, wenn er sich nicht begnügt, das ihm bedeutsam Scheinende für die
engsten Fachgenossen zu umreißen, sondern sich mit Bedacht bemüht, auch dem
Fernerstehenden an Einzelheiten zu verdeutlichen, was die „römische Rechtswissen-
schaft bei ihrer Arbeit schon erreicht hat, wo wenigstens der Anfang gemacht ist,
und was einstweilen noch der Zukunft überlassen bleiben muß.“ So verbreitet er sich
u. a. über Quellen und lexikographische Hilfsmittel der römischen Rechtsgeschichte,
über Digestenkritik und dabei auch über die methodologische Bedeutung der antiken
Satzschlußtechnik, über Papyrologie, Epigraphik und sonstige Grenzgebiete, über
frühhistorische Rechtsforschung und über Recht und Religion, über Universalrechts-
geschichte und Rechtsphilosophie, über den Übergang der Antike zum Mittelalter
namentlich in rechts- und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht und faßt schließlich
Kritiken 639
(S. 104) seinen Rundblick dahin zusammen, daB die, römische“ Rechtswissenschaft
von heute charakterisiert sei: örtlich durch die Ausweitung der römischen zur
antiken Rechtsgeschichte infolge der Einbeziehung der ganzen mittelländisch-vorder-
asiatischen Kulturkreise; zeitlich durch den Versuch, einerseits zu den Anfängen
einer früh- und vorgeschichtlichen Rechtskultur vorzudringen und andererseits in
das untere Grenzgebiet mehr vom „Mittelalter“ miteinzubeziehen, inhaltlich durch
die steigende Berücksichtigung des öffentlichen Rechts und der Wirtschaft und das
Nachlassen rein privatrechtsgeschichtlicher Forschungen; methodisch durch die
möglichsteNutzbarmachung der alten neben der Erschließung neuer Quellen und durch
die enzyklopädische Zusammenfassung und Verarbeitung des gegenwärtigen Wissens-
stoffes; alles dies unter immer stärkerer Besinnung auf die Rechtsphilosophie.
]ch hoffe, daß diese Andeutungen einer schier überstrómenden Gedankenfülle,
die W. in seinem Buche entfesselt, zur Genüge dargetan haben, wie anregend und
befriedigend seine Lektüre für jedermann sein muß, der an der Antike und am
Mittelalter geschichtlich interessiert ist.
Leipzig. W. Stach.
Germania Romana. Ein Bilderatlas. Hrsg. von der Rómisch-germanischen Kom-
mission des Deutschen archäologischen Instituts. 2. erw. Aufl. Bamberg
(C. C. Buchners Verlag) 1924—1930. 5 Lfgn. mit 293 S. Text u. 229 Tafeln.
89, Text u. Tfln. getrennt in 2 Bd. 16,— RA.
Der vorliegende Bilderatlas ist eines der vielen unter den groBen Verdiensten
der Frankfurter Kommission des Deutschen archäologischen Instituts, das dank
seiner zielbewußten und opferbereiten Tätigkeit längst über den Aufgabenbereich
des grandiosen Limeswerkes hinaus zu einer zentralen Musterpflegstätte Germanischer
Altertumskunde in römischer Zeit erwachsen ist. Aber obschon die Kommission
— zumal organisatorisch — heute bereits die gesamte Spatenforschung im Süden
und Westen des alten Germaniens lenkt und fördert, kann man füglich bezweifeln,
daß die Bedeutung ihrer Aufgaben auch allerseits die rechte Würdigung fände,
von einer ausreichenden Weiterverwertung der bisherigen Erfolge und Resultate
durch die Nachbardisziplinen ganz zu schweigen. Denn der Philologe und der
Historiker des frühen Mittelalters, die beide die Ergänzung und Kontrolle der
spärlichen schriftlichen Quellen durch das unmittelbare Zeugnis der Überreste
bewillkommnen müßten, schrecken nur zu leicht vor der Überfülle von zersplitterten
Fundberichten und sonstiger Kleinliteratur der archäologischen Forschung zurück,
ohne so recht zu bemerken, was ihnen damit entgeht. Und die geschichtlich inter-
essierte Welt der Gebildeten scheint zwar heutzutage von einem fast fieberhaften
Anteil an Dingen und Problemen der germanischen Vor- und Frühgeschichte erregt,
erbaut sich aber zumeist lieber an pseudohistorischen Wunschbildern einer kultur-
politisch gerichteten Germanomanie, als daB sie ein wirkliches und lebendiges
Verständnis besäße für die Ziele und Wege einer wissenschaftlichen und darum
streng sachgebundenen Altertumsforschung. Zur Verdeutlichung dessen dürfte ge-
nügen, wenn ich auf den Notschrei verweise, zu dem sich S. Loeschcke veranlaBt sah,
um die gefáhrdeten Ausgrabungen des groBen Tempelbezirkes im Altbachtale bei
Trier zu retten. Jedenfalls mag es mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt werden,
wenn ich Anlaß nehme, eine Buchanzeige mit einer Empfehlung zu begleiten, deren
gerade das vorliegende Werk nach Inhalt und Ausstattung an sich am wenigsten
640 Kritiken
bedarf. Vor allem möchte ich auch die höhere Schule hinweisen, sich dieser überaus
billigen und bequemen Möglichkeit zu bedienen, den Geschichtsunterricht und die
Schriftstellerlektüre mit einem bildlichen Anschauungsmaterial zu beleben, zu
dessen wissenschaftlich einwandfreier Erklärung dem Lehrer die besten Fachleute
Deutschlands die Hand bieten, ohne daß unter dieser Eignung die Verwendung
des Atlasses zu einem rein fachlichen Studium irgendwie litte. Im Gegenteil: Ich
kann mir auch für Studenten und Historiker zur ersten und raschen Einführung
in die Probleme der römisch-germanischen Forschung kein besseres Hilfsmittel
denken.
Enthielt die erste Auflage von 1922 in Folioformat bereits etwa 800 Abbil-
dungen mit weit über tausend dargestellten Einzelobjekten, aber nur 24 Seiten
erklärenden Text, so hat man diesmal auf den ursprünglichen Plan zurückgegriffen,
der sich in der damaligen Notzeit nicht verwirklichen ließ, und die zweite Auflage
in folgenden Doppelhelften durchgeführt, die außer einem noch erheblich vermehrten
Abbildungsmaterial vor allem ausführliche Erläuterungen bieten, die allenthalben
zugleich auf die einschlägige Fachliteratur verweisen: I. DieBauten desrömischen
Heeres, mit einem Textteil (52 S.) von Fr. Koepp. II. Die bürgerlichen Siede- -
lungen, mit einem Textteil (34 S.) von Fr. Drexel. III. Die Grabdenkmäler,
mit einem Textteil (56 S.) von Fr. Koepp. IV. Die Weihedenkmäler, mit
einem Textteil (66 S.) von Fr. Koepp. V. Kunstgewerbe und Handwerk, mit
einem Textteil (31 S.) nach der 1. Aufl. von Fr. Drexel, bearbeitet von Maria Bersu.
Im I. Teil bietet Koepp in zusammenhängender Darstellung alles Erforderliche
zum Verständnis der römischen Lagertechnik, erörtert die Ausgrabungsergebnisse
von Haltern, Novaesium und Vetera und gibt eine vorzügliche Zusammenfassung
der Limesforschung. Im II. Teil erláutert Drexel die bürgerlichen Bauten von Trier
und spricht über Städte und Märkte, über Landhäuser und Gutshöfe, über Rómer-
straßen, Wasserleitungen, Tópfereien und Ziegelöfen, über Gräber, Friedhöfe und
Heiligtümer. Im III. Teil schickt Koepp seinen Erläuterungen zu den Grabdenk-
mälern eine ausgezeichnete Einführung in die provinzialrómische Bildkunst voraus,
die in den keltischen und germanischen Grenzlanden am Rhein und an der Donau
zutage tritt; wie er ähnlich im IV. Teil der Erklärung der Kultdenkmäler eine
religionsgeschichtliche Betrachtung zur Interpretatio Romana, zum Mithrasdienst
und zur Matronenverehrung zur Seite stellt, die mir als die gelungenste Partie des
ganzen Werkes erscheint und einen instruktiven Einblick in den eigentümlichen
Synkretismus der Nordprovinzen des Römischen Reiches gewährt. Im V. Teile,
der den Abschluß bildet, beleuchtet Bersu die Fülle der Kleindenkmäler; sie gibt
erklärende Bemerkungen zu Terrakotten, Bronze- und Eisengeräten, Münzen und
Schnitzereien, zu Gläsern und Tongefäßen und schließt mit einem Abschnitt über
Militärisches, über Kleininschriften und Funde aus frühchristlicher Zeit.
Leipzig. W. Stach.
Gall Jecker O. S. B., Die Heimat des hl. Pirmin, des Apostels der Alaman-
nen. Beiträge zur Geschichte des alten Mónchtums und des Benediktiner-
ordens, hrsg. von Ildefons Herwegen. Heft 13. Münster i. W. (Verlag der
Aschendorfischen Verlagsbuchhandlung) 1927. XVI, 192 S.
Man war in der neueren Forschung schon seit langem mehr und mehr geneigt.
die Heimat Pirmins, des viel berufenen Wanderbischofs und Organisators der nach-
Kritiken 641
maligen Benediktinerklöster Reichenau, Murbach und Hornbach, in Spanien zu
suchen. Seit vollends Pérez die dahin zielenden paláographischen Beobachtungen
Traubes und die sprachlichen Indizien Morins durch eine Reihe von quellenana-
lytischen Hinweisen gestützt und verstárkt hatte (vgl. Levisons sorgsam abgewogenen
Literaturbericht: NA 45, 1924, S. 385 n. 247), widersprach bis zuletzt mit einer ge-
wissen Hartnäckigkeit eigentlich nur noch Flaskamp, indem er in den Bahnen von
de Smedt die irische Herkunft Pirmins verfocht (vgl. dessen Forschungsbericht :
ZKG 44, 1925, S. 199ff.). Durch das Buch von Jecker scheint mir die Streitfrage
zugunsten des westgotischen Stammlandes entschieden, mag auch die náhere
Lokalisierung — nach J. kam Pirmin aus der Umgegend von Narbonne — vielleicht
für immer zweifelhaft bleiben.
In seiner Einleitung (S. 1—17) gibt der Verf. einen Überblick über die Quellen
und den seitherigen Gang der Pirminforschung, die er in die Frage ausmünden läßt,
warum Pirmin , peregrinus genannt wurde, ohne Schotte zu sein, und allenthalben
die Benediktinerregel einführte, ohne mit den Angelsachsen in Verbindung zu stehen.
An die Lósung der Frage — sie bildet das Leitziel der Untersuchungen — arbeitet
sich J. durch eine erschópfende Textanalyse des Scarapsus heran, füs dessen Quellen-
kritik schon Caspari den Grund gelegt hatte, und deren systematischer AbschluB von
Pérez besonders nahegelegt war. Die Basis dafür verschafft sich J. durch eine
Neuedition (S. 18—73), indem er die Gestaltung des Textes im allgemeinen zwar
auch auf die einzige vor ihm verwertete Hs. gründet: auf die Überlieferung in dem
bekannten Einsiedler Homiliar (bei J. — E), aber daneben noch zwei weitere Text-
zeugen beibringt: die zuerst durch Wilmart namhaft gemachten Abschriften des
Scarapsus in den codd. Paris. Bibl. Nat. 1603 (bei J. — A) und 13408 (bei J. = C).
Sie sollen einen selbständigen Seitenzweig der Überlieferung darstellen, der neben
dem direkten Abkómmlinge E über ein oder zwei verlorene Zwischenglieder bis auf
die Urschrift zurückgreift, die Pirmin aus seiner westgotischen Heimat nach Rei-
chenau und an die Grenze von Rátien mitgebracht hätte. Diese Neuedition J.s,
die auBer dem kritischen Apparat auch einen reichen Sachkommentar bietet, ist in
pal&ographischer Hinsicht mit besonderer Sorgfalt durchgeführt und verleiht dem
Buche über die Klärung der schwebenden Kontroverse hinaus einen bleibenden
Wert, zumal da die verdienstliche áltere Ausgabe von Caspari in den Kirchen-
historischen Anecdota I (Christiania 1883) nicht jedem zugänglich ist. Nur entbehrt
man gerade bei einem vulgärlateinisch so interessanten Denkmal, wie dem Scarapsus,
sehr schmerzlich die Beigabe eines index verborum und vermißt in der an sich aus-
führlich gehaltenen Beschreibung der Hss. eine zusammenfassende Charakteristik
ihrer Eigenheiten in Orthographie und Formenlehre, wie überhaupt die sprachlichen
Dinge, die J. gelegentlich streift, zu sehr am Rande der Untersuchung verbleiben,
obwohl der Verf. ausdrücklich (S. 81 Anm. 22) auf ihre Bedeutung für seine Frag-
stellung verweist. Jedenfalls lehrt bereits eine flüchtige Musterung der beigegebenen
varia lectio, daB die gróBere Glátte der Formen auf Seiten des sicherlich karolingisch
beeinfluBten C ist (vgl. z. B. S. 36 Z. 18 der Ausgabe von J. operaberis C; operaveris
A; operaviris E; ebd. Z. 22 concupisces C; concupiscere A; concupiscis E), wie um-
gekehrt die massenhaften Vulgarismen von E seinen unbedingten Vorzug vor À und C
und eben dadurch die beste Überlieferung verraten (vgl. z. B. die bei Caspari nicht
genügend erkenntliche Vertauschung von i und e und u und o, zugunsten zumeist von
i und u, und anderes).
Histor. Vierteljahrschriit Bd. 26, H. 3. 41
642 Kritiken
Anschließend an seine Ausgabe erörtert J. sodann in Kürze die Fragen nach
Inhalt, Verfasser, Zweck und Entstehung des Scarapsus (S. 74-88). Er stellt ihn
neben die Bauernpredigt Martins von Braga (de correctione rusticorum) und Augu-
stins größere katechetische Musterrede (de catechizandis rudibus) und zeigt, daß der
Text in einen geschichtlich-belehrenden, dogmatischen Teil (eine erzählende Dar-
legung der Heilsgeschichte und der Glaubenswahrheiten in den capp. 2—11) und in
einen praktischen, ethischen Teil (eine Ermahnung zur Erfüllung der Christen-
pflichten in den capp. 13—27) zerfällt, der sich in zwei weitere Abschnitte gliedert,
das Böse zu meiden (capp. 13—26) und das Gute zu tun (cap. 27). Die bekannte
Schwierigkeit des Titels im Einsiedler Homiliar (E): Incipit dicta abbates Priminii
de singulis libris cannonnicis scarapsus, behebt J. durch die m. E. einleuchtende
Annahme, daB hier offenbar eine doppelte Überschrift ineinandergeschoben erscheint,
námlich die ursprüngliche des Verfassers: Incipit de singulis libris cannonnicis
scarapsus, und die spütere eines Schülers oder Benützers: Dicta abbates Priminii,
so daB Pirmin selbst seinen Traktat, den er für seine und seiner Jünger Missions-
tütigkeit zusammenstellte, als einen Auszug aus der Bibel und anerkannten kirch-
lichen Schriftstellern bezeichnet hätte.
Nach Erledigung dieser Vorfragen wendet sich J. schließlich seinem Haupt-
thema zu: dem Nachweis der Vorlagen, aus denen die Disposition und der Text des
Scarapsus kompiliert worden sind (S. 89—158). J.s Ergebnisse, deren kritisch be-
sonnene Ableitung im allgemeinen durchaus überzeugt, liefern im wesentlichen eine
erwünschte Bestätigung und Vervollständigung dessen, was nach den Arbeiten von
Caspari und Pérez nach dieser Richtung zu erwarten war. Benutzt sind neben den
genannten Schriften Martins von Braga und Augustins, an die sich — wie J. erst-
malig dartut — auch der Aufbau des Ganzen und die Stoffverteilung auf die Unter-
abschnitte anlehnt, vor allem Predigten des Caesarius von Arles und andere Homilien
verwandter Provenienz, wie namentlich die von J. neu herangezogene fast vollständig
in den Scarapsus aufgenommene Homilia sacra (gedruckt von Elmenhorst, Hamburg
1614) und die bekannte schon bei Caspari zitierte pseudocaesarianische Homilia 17
(Migne 67, 1079 CD). Auf spanisch-westgotische Kreise verweisen auch die zahl-
reichen Zitate aus Isidor von Sevilla (Et. in capp. 12 u. 16; Sent. in 14, 18 u. 20;
Norma vivendi in 18; Syn. in 18 u. 27), die Darstellung der Hóllenfahrt Jesu mit
Anklängen an Ildefons und Julian von Toledo (Exp. fidei ex cod. Aug. XVIII), die
Art des Symbolums und vieles andere mehr. Etwas fragwürdig dünken mich dagegen
die ziemlich lockeren Berührungen mit der Mönchsregel Benedikts, obschon der
Verf. in Aussicht stellt, daß Pérez den Nachweis erbringt, die Benediktinerregel sei
nicht nur in Septimanien, sondern auch in Spanien schon unter westgotischer Herr-
schaft verbreitet gewesen. Doch selbst wenn der Verf. hier (und vielleicht auch sonst
da und dort) im suggestiven Zuge seiner Beweisführung der Verlockung erlegen sein
: sollte, geringfügige Anklünge zu überschützen: der Eindruck dominierend west-
gotischer Vorlagen im ganzen würde von solchen vereinzelten Abstrichen kaum
beeintráchtigt werden, und besonders die Ausführungen J.s zur homiletischen Lite-
ratur dieser Zeit, die sich wiederholt zu eigenhaltigen Forschungsexkursen erweitern,
wie über die Oktoade der Hauptsünden und über Pönitentialien, blieben auch dann
noch von Wert und Bedeutung, zumal da sich J. gerade in diesen Partien der per-
sónlichen Beratung Morins erfreute, des kompetentesten Kenners frühmittelalter-
licher Predigtliteratur überhaupt. So kann man im ganzen nur lebhaft bedauern,
Kritiken 643
daß der Verf. von vornherein absieht, den Nachweis seiner These allseitig abzuschlie-
Ben und auch die zahlreichen Bibelzitate des Scarapsus nach ihrer Sonderart genauer
zu bestimmen: eine noch immer notwendige und sicherlich lohnende Aufgabe, zu der
Levison schon 1924 nachdrücklich angeregt hatte (NA 45, 386).
Immerhin rundet J. im letzten Teil des Buches, nachdem er zuvor (S. 159—164)
zur Sicherung seiner Ergebnisse den Scarapsus mit einigen andern verwandten
Texten vergleicht, seine Beweisführung insofern ab, als er noch anderweitige An-
zeichen der westgotischen Heimat Pirmins kurz zusammenstellt, die sich aus seinem
Namen, seinem Wirken und seinen Stiftungen ergeben (S. 165ff.). Was zunáchst
den seltsamen oder wenigstens sehr seltenen Namen anlangt, so folgert J. im An-
schluß an Traube und Morin mit Recht, daß der Name, wie man ihn auch schreiben
mag, nur aus dem Romanischen stammen kann und sich keinesfalls mit germanischen,
irischen oder angelsächsischen Namen in Verbindung bringen läßt: ein Indiz, das
freilich für sich allein nicht viel besagt. Beweiskräftiger sind auf jeden Fall die
Spuren, die J. den im Scarapsus vorgetragenen Anschauungen entnimmt. Ich greife
aus der Fülle der beigebrachten Gesichtspunkte nur einige Einzelmomente heraus,
um den Gedankengang J.s zu illustrieren. Wenn z. B. Pirmin die Frage erörtert, ob
Christus in der Vorhölle nur die Seelen der Gerechten oder auch die der Sünder befreit
habe, so paßt es aufs beste dazu, daß diese Frage damals gerade in Nordspanien mit
besonderem Eifer behandelt worden ist. Oder wenn Pirmin zur Osterfeier bemerkt:
tercia die quodomnesChristiani celibrant pascha, so würde auch das zu den weste
gotischen Konfessionsverhältnissen stimmen, vorausgesetzt, daß man aus dem
„omnes wirklich einen Hinweis auf Christen verschiedenen Bekenntnisses entnehmen
darf. Für wichtiger halte ich dagegen die bei J. betonten Beziehungen zwischen
Scarapsus und westgotischem Recht. Es ist das einerseits die Tatsache, daß Pirmin
bei der Zählung der Verwandtschaftsgrade der römisch-rechtlichen Komputation
folgt, die damals nur im Westgotenreiche gebräuchlich war, und andrerseits der
Gegensatz Pirmins zu der Novelle Chindasvinds in den Leges Visigothorum III, 6, 2
(ed. Zeumer; vgl. dens., NA 26, 619f.): nullus virorum excepta manifesta forni-
cationis causa uxorem suam relinquat, was sich als Abwehr der kirchlichen Praxis
begreifen läßt, die schon die bloße suspicio fornicationis als Scheidungsgrund gelten
lieB, wie auch Pirmin, der hierin wohl Hieronymus folgt (Comm. ad c. 19 Matth.).
Dazu kommt, daß selbst die eigentümliche Organisation der Stiftungen Pirmins mit
dem congregationsartigen ZusammenschluB der nordspanischen Klóster aus jener
Zeit übereinzustimmen scheint, wie sich ja auch die politischen Ereignisse im West-
gotenreich nach 711 und deren Folgen für Narbonne i. J. 720 mit der Flucht Pirmins
nach dem Norden ohne weiteres in Einklang bringen lassen.
| Leipzig. | W. Stach.
Monumenta Germaniae historiea, Die Urkunden der deutschen Könige und
Kaiser, 5. Band, 2. Teil. Die Urkunden Heinrichs IIT. 1047—1056. Nach den
von H. Bresslau (T) und H. Wibel (1) hinterlassenen Abschriften und Vorarbeiten
herausgegeben von P. Kehr. (Mit dem Titel für den ganzen Band: Die Ur-
kunden Heinrichs III. Herausgegeben von H. Bresslau (T) und P. Kehr).
Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1931. S. I — LX XVII und 269 — 705.
In meiner Anzeige des ersten Teils dieses Bandes in dieser Zeitschrift Bd. 24,
S. 625 ff. sprach ich die Hoffnung aus, daß sich eine geeignete Persönlichkeit zur Be-
41*
644 Kritiken
treuung der salischen Diplome bis 1125 finden möge, als Ersatz für Bresslau könne
nur eine höchstgeeignete, in jeder Beziehung vollwertige Kraft in Frage kommen.
Diese Hoffnung ist, jedenfalls für den Rest der DD. H. III., in einer über Erwarten
glücklichen ‘Weise erfüllt worden; Paul Kehr selber, der Vorsitzende der Zentral-
direktion und wohl erfahrenste Archivkenner nicht nur in Deutschland, sondern
ganz Europa, seit langem auch mit dem Stoff der Kaiserurkunden höchst vertraut,
hat sich der verwaisten Aufgabe mit der ihm eigenen, unvergleichlichen Energie
angenommen und legt bereits jetzt den Rest der DD. H. III mit einer umfang-
reichen, eindringlichen und fórderlichen Einleitung vor. Wenn ich in meiner ersten
Anzeige aus eigener Arbeit an dem ersten Halbband einige Beobachtungen beibrachte,
so kann ich mich jetzt in der Hauptsache darauf beschränken, über die vom Heraus-
geber erarbeiteten und in der Einleitung formulierten Erkenntnisse zu berichten
und sie allenfalls mit einigen Bemerkungen zu begleiten.
In der Vorrede gibt Kehr ausführlich Auskunft über die stets schwierige und
peinliche Aufgabe, vor der er mit der Herausgabe eines fremden, recht trümmer-
haften und unvollstándigen Nachlasses stand, und über die intensive Arbeit, die
er in die Fertigmachung des Materials gesteckt hat. Er hat sein Werk mit seiner
ganzen unnachahmlichen und erfreulichen Frische und Vorurteilslosigkeit angefa Bt
und sich von dem manchmal etwas starren Stil der MG. DD. freizuhalten gewußt,
auch manche sehr begrüßens werte Neuerung eingeführt, anderes für künftig angeregt.
Auf S. XX begründet er als erstmalig, in Abweichung von allen bisherigen Diplo-
matabänden eingeführte Neuerung, daß er „besonders jetzt, da die Untersuchung
der Diktate eine neue Bedeutung für die mittelalterliche Forschung gewinnt und
noch mehr zu gewinnen verspricht“, „wenigstens die besonders charakteristischen
Elemente in den individuellen Diktaten angeführt“ hat (vgl. die Ausführung davon
in der Einleitung S. XLIX—LVII). Daß ich nach der Art meiner eigenen Arbeiten
und Auffassungen diese Neuerung für hocherwünscht halte und freudig begrüße,
brauche ich wohl kaum zu sagen. Von den von Bresslau beabsichtigten und z. T.
angekündigten Sonderuntersuchungen hat sich im Nachlaß leider für Granfelden
und St. Ursitz sowie für Brauweiler nichts gefunden, für Benediktbeuern und die
deutsch-burgundischen Beziehungen nur Anfänge und Bruchstücke, die nicht
vollendet und nicht druckfertig sind (S. IXf.), Für die Texte des ersten Halb-
bandes dagegen stellt Kehr nach genauer Nachprüfung fest, daB sie so genau sind,
wie menschliches Kónnen sie überhaupt herzustellen vermag, und daB auch die
Schriftbestimmungen in jeder Hinsicht gesichert sind; auf S. XXIX, N. 5, XXXIII,
N. 6 und XLV, Z. 5 ff., und im zweiten Abschnitt bringt er freilich allerhand Be-
richtigungen zu <eren Schriftbestimmungen Bresslaus, wohl in Übereinstimmung
mit dessen letzter Meinung. S. XVII, N.1 schlägt er zur Ergänzung der Lücken
der bisherigen DD.-Bände, der Karolingerurkunden und der DD. des 10. und
11. Jahrhunderts einen Ergänzungsband am Schluß der beiden Serien vor, S. XX,
N. 1 ein Ergánzungsheft zu den bisherigen elf Lieferungen der Kaiserurkunden in
Abbildungen, beides überaus begrüBenswerte Vorschlüge.
In der Einleitung auf S. XXIII. findet sich eine Übersicht über die Zahl und
Art der Urkunden nach Originalen, Kopien, Fälschungen (von No. 383—409,
37 Stücke), eigentlichen Diplomen und andersartigen Texten, Entwürfen usw.
Es ergibt sich, daB die Überlieferung der deutschen Urkunden an Originalen viel
besser ist als die der italienischen, wie in der ganzen deutschen Kaiserzeit. Kehr
Kritiken 645
schließt daran (S. XXV—XXXVII—XLIX) die übliche Übersicht über das Kanzlei-
personal, Mitteilungen über Einzelheiten der äußeren Ausstattung der Urkunden
(das Beizeichen und Rekognitionszeichen) und die ganze Art der Organisation der
Kanzlei mit mancherlei fórderlichen und Neues bringenden Erórterungen, über die
z. T. nachher noch zu berichten ist. Im ganzen ergibt sich, daB die Verhältnisse
in der Kanzlei, wie ich auch bereits aus dem Material des ersten Halbbandes er-
schloß, recht ruhig und geregelt waren. Dann folgt die bereits erwähnte Charak-
teristik der einzelnen Kanzleinotare nach Schrift und Diktat (S. XLIX—LVII),
weitere diplomatische Mitteilungen (LVII—LXII) und Datierungsfragen (LXII
bis LXXV), endlich Mitteilungen über die Siegel (LXXV—LXXVIT).
Kehr nimmt dabei zu mancherlei schwebenden wissenschaftlichen Fragen
Stellung, soweit die DD. H. III. dazu Veranlassung geben. Die sehr gleichmäßige
Ausstattung und Schrift der kóniglichen und kaiserlichen Diplome des 11. Jahr-
hunderts erklärt er (S. XLVIIIff.) hypothetisch mit einer Schreibschule am Hofe,
vielleicht in Verbindung mit der kóniglichen Kapelle, die er vermutungsweise erst
in Speyer, mit größerer Bestimmtheit später in Goslar annehmen zu können meint.
Mit Hirsch und Zatschek an Bamberger Einfluß zu denken geben die DD. H. III.
keine Veranlassung. Auf S. LXIVf. beschäftigt sich Kehr mit der „jüngst ernsthaft
von Ed. Sthamer aufgestellten These (SBA. 1927), daB in den Urkunden des Mittel-
alters Nachtragung von Tag und Ort die Regel gewesen sei“, allerdings nur um sie
einzuschränken und die Erscheinung, soweit sie auftritt, für sein Material wesentlich
anders zu erklären, wozu dann noch ausführliche Erórterungen über Datierungs-
fragen bis S. LXXV folgen. Im Einzelnen beurteilt Kehr nur das von Bresslau
als „phantastische Fälschung“ bezeichnete D. 111 anders, wie er in den Nach-
trägen und Berichtigungen S. 696 ausführlich begründet.
In den Registern lehnt Kehr das von Bresslau und R. Holtzmann ausgebaute
System der administrativen Bestimmung der Ortsnamen nach Provinz, Regierungs-
bezirk, Kreis usw. ab, da die MG. „doch keine postalische Behörde“ seien. Man
kann, in leichtem Unterschied von meinen Ausführungen in meiner ersten Be-
sprechung, zugeben, daD die tatsüchliche Leistung einer móglichst genauen Be-
stimmung der Ortsnamen, der auch Kehr mit aller Kraft nachgestrebt hat, die
Hauptsache ist und daB daneben das „wie“ der Ausführung weniger wichtig ist.
Ich glaube allerdings, daß auch das „wie“ der Bresslau-Holtzmannschen Methode
trotz Kehrs Einwänden (S. XVII) mancherlei für sich hat und in vielen Fällen
guten Nutzen gewährt. Immerhin, die Hauptsache ist das „was“, und wie auch
hier alle wünschenswerte Sorgfalt angewendet worden ist, legt Kehr S. XITf. dar.
Kehrs gesamte Ausführungen sind ebenso sehr getragen von autoritativer
Kenntnis und Verantwortungsbewußtsein wie im einzelnen durchsetzt von Äuße-
rungen frischer Lebendigkeit der Auffassung. Eberhard A. ist ihm „der typische
Kanzleirat, eine durchaus subalterne Figur"; er spricht von „den nüchternen
Kanzleiráten der deutschen Kanzlei“; „in der Bürokratie macht man nicht so
schnelle Karriere" wie die durchaus politisch zu nehmenden Kanzler in Deutsch-
land. Alles bei ihm zeigt das Bestreben, die Urkunden und ihre gesamte Entstehung
etwas lebendiger und unmittelbarer auszuwerten als nur nach dem etwas starren
Schematismus der reinen Urkundenlehre und der bisherigen Bánde der Diplomata.
Auf S. X kündigt er seine Absicht an, zu den Karolingerurkunden, deren Bear-
beitung ihm vor allem am Herzen liegt, überzugehen — und schon sind, wie man
646 Kritiken
hört, einige Bogen der DD. Ludwigs des Deutschen gedruckt —, also zunächst
nicht zu den Urkunden Heinrichs IV. und Heinrichs V. Aber man wird von der
starken und frischen Arbeitskraft des Mannes, der kürzlich seinen 70. Geburtstag
gefeiert hat, noch viele und große Leistungen für die Monumenta erwarten dürfen.
Erlangen. B. Schmeidler.
Bernardino Barkadore, Le Finanze della Repubblica Fiorentina. Bd. 1. (Im-
posta diretta e debito pubblico fino all' istituzione del Monte.) Firenze 1929.
Herrscht in den letzten Zeiten auf dem Gebiet der Erforschung der Wirtschafts-
geschichte Italiens eine höchst erfreuliche, vom deutschen Standpunkt aus gesehen
fast beneidenswerte Lebendigkeit, scheinen dort für wirtschaftsgeschichtliche Quel-
lenpublikationen geradezu fürstliche Mittel zur Verfügung zu stehen, so gilt. das
insbesondere von den Untersuchungen zur Finanzgeschichte der großen italienischen
Kommunen des Mittelalters. Zu den bekannten Werken Sievekings — um von
älteren, wie denen Pagninis, Canestrinis, Banchis zu schweigen — über Genua, zu
dem groBen Unternehmen der Veróffentlichung der Venetianer Finanzrechnungen
und den sich daran anschlieBenden Forschungen von Luzzatto, Besta, Cessi u. a.
gesellt sich nun für Florenz ein ebenfalls im größten Stil angelegtes, auf eine größere
Zahl von Bánden berechnetes Werk, das die Finanzgeschichte der Arnostadt wührend
ihrer groBen Zeit, d. h. vor allem von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Beginn
des Prinzipats, nach allen Richtungen hin zu klären sich zur Aufgabe gesetzt hat, und
von dem der erste Band uns jetzt vorliegt. Aus den unerschópflichen Beständen des
Florentiner Staatsarchivs schópfend legt Barbadoro in breiter, hie und da wohl etwas
allzubreit geratener Erzählung zunächst die Geschichte der direkten Steuern und
der damit in engstem inneren Zusammenhang stehenden Staatsanleihen bis zu der
entscheidenden Wendung dar, die in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts die
Zusammenfassung und Konsolidierung aller Staatsanleihen im sogenannten „Monte
commune“ brachte und damit in der Tat die gesamte Finanzgebarung der Republik
auf eine neue Basis stellte. Das Verweilen bei an sich nebensächlichen Kleinigkeiten,
die breite Auseinanderfaltung des Verlaufs von Ratssitzungen, die nicht immer
grundsätzlich oder historisch Bedeutsames enthalten, scheint mir in der gewählten
Ausführlichkeit in einem Werke von solchen Ausmaßen unnötig und daher störend,
weil sie geeignet ist, das historisch Relevante unter der Fülle der Einzelheiten nicht
gebührend hervortreten zu lassen.
Im übrigen gewinnt man aus Barbadoros Werk eine Fülle neuer Erkenntnisse
und eine Belehrung, die, wie fast stets, wo es sich um die groBe Florentiner Zeit
handelt, weit über das Gebiet der Lokalgeschichte hinausreicht. Wer von den un-
endlich viel einfacheren Verhältnissen deutscher Kommunen des Mittelalters an
diese Dinge herantritt, der wird zunächst verblüfft durch das dauernde Auf und Ab,
den ewigen Wechsel von Versuchen, des drängenden außerordentlichen Staats-
bedarfs — denn nur ihn zu decken sind direkte Steuern und Anleihen da — mit den
verschiedensten, oft verzweifelt ausgeklügelten finanziellen Mitteln Herr zu werden.
Direkte Steuern der verschiedensten Art, Zwangsanleihen, die z. T. die gesamte
bürgerliche Bevölkerung umfassen und dann oft als antizipierte Steuern auftreten,
z. T. nur einzelnen Kreisen auferlegt sind, verzinslich und unverzinslich; endlich
freiwillige Anleihen bei den großen Bankhäusern wechseln in einer auf den ersten
Blick scheinbar regellosen Folge. Es ist, als ob die gleiche unerhört rege, alle Wirk-
Kritiken 647
lichkeiten und Möglichkeiten umkreisende und abtastende Phantasie der Floren-
tiner, wie wir sie in allen Zonen des kulturellen Lebens als schicksalshafte Gabe
in jenen Zeiten tätig finden, jene Phantasie, die ihren größten Sohn durch Hölle
und Himmel wandern hieß, die hinter ihrer Freude an jeglichem Experimentieren
waltete, auch auf diesem Gebiete rastlos tätig war und zum Teil schon Wege andeu-
tete, die erst weit spätere Zeiten ungefährdet zu gehen imstande waren. — In der
scheinbaren Wirrnis lassen sich aber, von Barbadoro klar und scharfsinnig nach-
gezogen, gewisse Richtlinien erkennen, die vor allem den engen Zusammenhang
zwischen der innerpolitischen Entwicklung im allgemeinen, deren wechselnden Aspek-
ten, den Kämpfen der einzelnen sozialen Mächte im Staate um die politische Macht
und den Hauptrichtungen der Steuerpolitik zu klären imstande sind. Jede Herrschaft
der großkaufmännisch-kapitalistischen Kreise im Staate ist durch das Überwiegen der
Anleihewirtschaft gekennzeichnet (vor allem die Periode von 1315—1327); jede
Reaktion gegen das plutokratische Regiment von unten her, von seiten des werk-
tätigen Mittelstands und später auch des industriellen Proletariats, wie von oben her
während der kurzen Episoden tyrannischer Einzelherrschaft durch ein Vorherrschen
der direkten, womóglich progressiv gestaffelten Klassensteuern. 1378 im Ciompi-
aufstand war es eine der ersten Maßregeln der sieghaften Arbeiter, nicht nur die
Zinsen der laufenden Anleihen erheblich zu kürzen, sondern auch einen Plan für
ihre Amortisation zu entwerfen und eine direkte progressive Steuer an ihre Stelle
zu setzen. R
Sehr bedeutsame und interessante Aufschlüsse verdanken wir Barbadoro über
das Wesen des „Estimo“, wie er sich, ausgehend von der Besteuerung der Geistlichen,
in Florenz, entwickelt und im Laufe der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts feste
Gestalt bekommen hatte: ein eigentümliches Mittelding zwischen der Schätzung der
Substanz und der des Ertrags, das nur eine ideale, d.h. nicht durch irgendeine
konkrete Gestaltung verwirklichte Basis für die jeweilig nach besonderer Verfügung
zu erhebende „Libra“ darstellt, deren Höhe, durch die des jeweiligen Staatsbedarís
bedingt, in einer prozentualen Quote des Estimo ausgedrückt wurde; durch die
Klarlegung dieses komplizierten, schwer zu deutenden, weil weit von unseren moder-
nen Anschauungen abliegenden, Sachverhalts werden die bis dahin herrschenden
Ansichten Canestrinis an einem, an dem entscheidenden Punkte berichtigt. Auch
die „Libra“ selbst erhält neues und schärferes Licht: eine Steuer, die zwar ihrem Wesen
nach als auBerordentliche Abgabe, nach Bedarf in unregelmáBiger Hóhe und unregel-
mäßigen Abständen zu erheben, betrachtet wird, in praxi sich dann allerdings zeit-
weise zu einer beschränkten Regelmäßigkeit durchgebildet hat. Immerhin ist es
bemerkenswert, daß zu einer Zeit, da in dem steuertechnisch so unendlich rückstän-
digen Deutschland doch schon beachtliche Ansätze zur Ausbildung ordentlicher
direkter Steuern zu erkennen sind, in Florenz davon — sehen wir von der ganz rohen
» Herdsteuer'' (focatico) der Frühzeit ab — kaum etwas zu finden ist; denn auch die
auf dem berühmten Kataster von 1427 beruhende Besteuerungsform trägt noch ganz
das Gepräge der auBerordentlichen Steuer. Noch dominiert in dem ganzen Steuer-
system der Gedanke, daß der ordentliche Staatsbedarf, d. h. im wesentlichen der der
inneren Verwaltung hauptsächlich durch indirekte Steuern, Zölle und Gebühren zu
decken sei, wie diese im Dienste der Brutalität frühkapitalistischer Wirtschafts-
gesinnung letzten Endes auch der Verzinsung und Amortisation der Anleihen zu
dienen hatten; daß auf alle Fälle direkte Steuern und jede Form der Anleihe für die
648 Kritiken
wechselnden außenpolitischen Konjunkturen des Staats und seine Nöte, für alle die
Zufälligkeiten kriegerischer Stürme und Gewitter bereitzustellen seien.
Liegen so der allgemeine Gang der Staatswirtschaft und die ihn leitenden Ge-
danken in dem geschilderten Zeitraum auf den hier behandelten Gebieten klar zutage,
so tauchen in diesem Raum einzelne Systeme vorübergehend auf, die in Florenz, weil
gleichsam anorganisch eingesprenkelt, nur Episode geblieben sind, wührend sie in
andern italienischen Stádten schon damals grundlegende Bedeutung gewonnen
haben. So bleibt in Florenz die „gabella delle possessioni", eine katasteráhnliche
Aufnahme des Grundbesitzes als objektive Basis für eine klassenmáBig abgestufte
Grundsteuer, einmal flüchtig auf, während eine ähnliche Institution z. B. in Siena
längst Wirklichkeit geworden war, und Florenz im Kataster von 1427 dies Prinzip,
nun über das gesamte nutzbare Vermögen verbreitert und ganz auf die Selbstein-
schätzung der Besteuerten gestellt, ältere Erfahrungen nutzend und weiterbildend
sich zu eigen macht und damit das Zeitalter wesentlich subjektiver Einschätzung
durch Sachverständigenkommissionen überwindet.
Was die Anleihen angeht, so sind sie auch ihrer inneren Struktur nach durchweg
Geburten des Augenblicks, der momentanen Nöte, nur auf deren Hebung, d. h. auf
kurze Sicht berechnet; auch wenn sie Zinsen trugen, was bei den Zwangsanleihen
nicht durchweg der Fall, als schwebende Schulden gedacht und auf baldige Rück-
zahlung angelegt. Eben dadurch aber entsteht allmählich das Chaos sich kreuzender
und eben damit sich wechselseitig hemmender Verpflichtungen des Staats, entsteht in
wachsendem Maße aber auch das Bedürfnis nach Konsolidation, von seiten des Staates
nach Vereinheitlichung und Verbilligung des Staatskredits, von seiten der kapitalkräf-
tigen Kreise der Bevölkerung aber das Streben, für brachliegendes Kapital eine einiger-
maßen sichere Daueranlage zu gewinnen und durch billigen Aufkauf der zirkulieren-
den Staatsschuldverschreibungen sich auch dann eine angemessene Verzinsung zu
verschaffen, als der Staat selbst durch die große Konsolidierungs- und Konvertie-
rungsaktion der Jahre 1343/47 den Zins auf 5%, herabgedrückt hatte. So sichern
sich als Staatsgläubiger diese kapitalistisch-plutokratischen Kreise noch einen nicht
unbedeutenden Nebeneinfluß auf die Geschicke des Staates in einer Periode, die im
übrigen durch die Teilnahme des bürgerlichen Mittelstands am Staatsregiment
politisch und sozial gekennzeichnet ist. —
Nur weniges, was mir von allgemein-wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung schien,
sollte hier aus der Fülle der Ergebnisse des Buches herausgehoben sein. Daß es für
die Lokalgeschichte der Florentiner Republik viele wertvolle neue Einsichten beschert,
kann hier nur kurz erwähnt werden. Wenigstens auf das eine sei noch hingewiesen,
daß die beiden Episoden tyrannischen Regiments, die die Florentiner Geschichte
vor dem Zeitalter der Medici aufzuweisen hat, die des Fürsten von Calabrien 1327
und die des Herzogs von Athen 1342/43, beide von den gleichzeitigen, der bürger-
lichen Oberschicht angehörenden Historikern so gebrandmarkt, daß auch die neueren
Darstellungen in die gleichen Wege geleitet wurden, hier als erste Vertretungen jenes
monarchischen Herrscherwillens erscheinen, der später gerade auf dem Gebiete der
Finanzpolitik auch den unteren Klassen einer einseitig plutokratischen Interessen-
wirtschaft gegenüber gerecht zu werden bemüht ist.
Den weiteren Bänden des großen Unternehmens Barbadoros sehen wir nach
dieser ersten Probe mit großem Interesse entgegen. Alfred Doren.
Kritiken 649
Ludwig Freiherr von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des
Mittelalters. Bd. 13. Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen
Restauration und des 30jährigen Krieges Gregor XV. und Urban VIII.
- (1621—1644). Teil 1 und 2, 1.—7. Aufl. Freiburg, Herder 1928 und 1929.
XVI, 1057 S. 16.— RA (geb. 20 u. 23) und 14.— RA (geb. 18 u. 21).
Referent muß den Eingang seiner Anzeige der Bände XI und XII des Pastor-
schen Werkes in dieser Zeitschrift (Bd. 25, Heft 1, S. 128ff.) dahin einschränken,
daB auch noch der kurz nach dem Tode des Verfassers (1 1928) erschienene 13. Band
von diesem selbst druckfertig gemacht und in den Druck gegeben worden ist. In
zwei Teile geteilt führt der Band die Geschichte der Päpste um ein ereignisreiches
Vierteljahrhundert fort, das von den Regierungen zweier Püpste ausgefüllt wird:
Gregors XV. (Ludovisi), der drei Jahre, und Urbans VIII. (Barberini), der 22 Jahre
lang die Tiara trug. Dieser in seiner Art letzte Band erweist noch die unverminderte
Arbeitskraft des Verfassers, er teilt die Vorzüge der vorangegangenen Bände, aber
auch ihre Mängel und Schwächen, vor allem die konfessionelle Befangenheit
v. Pastors, wie ich sie in der angezogenen Besprechung der Bände XI und XII zu
cbarakterisieren versucht habe. v. Pastor steht nicht über seinem Stoffe, seine Dar-
legungen sind Plaidoyers eines Anwalts für die Sache des Katholizismus. Dabei
versteht er es, aus der überreichen Masse seines in langen Jahrzehnten zusammen-
getragenen Stoffes jeweils eine oder die andere Quellenstelle oder die ÁuBerung eines
(und zwar mit Vorliebe eines protestantischen) Forschers heranzuholen, die dem
Anschein nach die von ihm vorgetragene Auffassung belegt und stützt. Sieht man
freilich näher zu, so erweist sich die Sache meist weniger schlüssig, als sie der Verfasser
angesehen haben móchte. Ein wahres Zerrbild wird z. B. von Gustav Adolf ent-
worfen; v. Pastor will bei dessen Eingreifen in Deutschland die religióse Triebfeder
zwar nicht gänzlich ausschalten, aber das eigentlich Bewegende ist ein „titanischer‘
Ehrgeiz. Dafür wird eine lange nach Gustavs Tode getane Äußerung Oxenstiernas
herbeigeholt, derzufolge der Kónig danach gestrebt habe ,, Kaiser von Skandinavien"
zu werden. Abgesehen davon, daß eine derartige allgemeine und gelegentliche späte
Äußerung wohl keine sonderlich hohe Beweiskraft haben kann, ist doch von selbst
klar, daB sich Gustav so umfassende Ziele, wenn überhaupt, erst auf Grund der
gewaltigen Erfolge gesetzt haben kann, die er in Deutschland errang; für die Beweg-
gründe seines Eingreifens dort durfte sie daher unter keinen Umständen verwertet
werden (XIII, 1, S. 421). Den Kurfürsten Johann Georg von Sachsen bezeichnet
v. Pastor S. 409 schlechthin als „kaisertreu“; daB der nämliche Fürst sich dann dem
Schwedenkönig nur zógernd anschloß, erscheint dem Verfasser gleichwohl als ein
Anzeichen dafür, daß die deutschen Protestanten selbst nicht an die religiösen
Antriebe bei jenem glaubten. Eine sehr üble Note erhält bei v. Pastor Kardinal
Richelieu; jener bringt kein Verständnis dafür auf, daß Richelieu als leitender
französischer Staatsmann die Belange Frankreichs vorangestellt und nicht seine
höchste Pflicht darin gesehen hat, sich als gehorsamer Diener des Pontifex in Rom
zu bezeigen !
Das Hauptgewicht bei der Darstellung der Politik Urbans VIII. legt v. Pastor
darauf, die Auffassung Rankes und Gregorovius’ zu widerlegen, wonach der genannte
Papst ein Parteigänger Frankreichs und Feind Spanien-Österreichs gewesen sei.
Schon verschiedene Forscher, zuletzt Aug. Leman, Urban VIII et la rivalité de la
France et de la maison d’Autriche de 1631 à 1635 (1920) haben auf Grund eines reich-
650 Kritiken
haltigeren und authentischeren Quellenmaterials als es Ranke zur Verfügung stand,
jene Auffassung erschüttert und Pastor tut nun ein übriges, um ihr den Garaus zu
machen. Gleichwohl wird man nicht sagen wollen, daß die ältere Auffassung (wie
sie Ranke besonders aus den Venetianischen Relationen entgegentrat) völlig aus
der Luft gegriffen sei. In Urbans Politik liegt seine grundlegende französische Ein-
stellung im Kampf mit dem Streben des katholischen Oberhauptes nach Neutralität
zwischen den beiden katholischen Großmächten und Versöhnung ihrer widerstreiten-
den Belange; den Papst kurzweg als französisch und antihabsburgisch gesinnt zu
bezeichnen geht freilich nicht mehr an.
Der Stoff ist auf die beiden Abteilungen des Bandes so verteilt, daß in der ersten
der Pontifikat Gregors XV. (Errichtung der Congregatio de propaganda fide) ab-
gehandelt und die Stellung seines Nachfolgers inmitten der Weltereignisse heraus-
gearbeitet wird, wogegen der zweiten Abteilung die im engeren Sinne kirchlichen
Dinge (Glaubenssachen, Missionen, ferner Kardinalsernennungen usw.) unter Urban,
die Beziehungen dieses zu den italienischen Staaten (Venedig) und das Walten des
Papstes als Herr des Kirchenstaates und der Stadt Rom (Bauleidenschaft Urbans;
Rom als Barockstadt) vorbehalten bleiben. Das Fehlurteil gegen Galilei gibt v. Pastor
notgedrungen zu, spitzfindig bemüht, es mit der von Christus dem Heiligen Stuhle
verliehenen Unfehlbarkeit (!!) in Einklang zu bringen. Ausführlich behandelt Ver-
fasser Jansenius und den Jansenismus, der als Gegner des von ihm über alles ge-
schätzten Jesuitenordens natürlich sehr schlecht wegkommt. Eingehend wird auch
die Lage der Katholiken in den protestantischen Staaten besprochen. Es ist ein auf
allen Gebieten ebenso ereignisreicher wie bedeutsamer Zeitraum, den v. Pastor hier
behandelt und zu dessen allseitiger Erläuterung er ungedruckten Quellenstoff in
Fülle heranzieht, von dem er auch im Anhang, wie üblich, einige Proben mitteilt.
Wernigerode a. H. Friedensburg.
La Révolution française par Georges Lefebvre, Raymond Guyot et Philippe
Sagnac. Peuples et Civilisations, Histoire générale publiée sous la direction
de Louis Halphen et Philippe Sagnac Bd. XIII. 583 S. Paris, Librairie
Félix Alcan 1930.
„Nicht nur unter dem Gesichtspunkt Frankreichs, sondern unter dem Ge-
sichtspunkt der Universalgeschichte erscheint die franzósische Revolution als das
Hauptereignis am Ende des XVIII. Jahrhunderts" — diese Einleitungsworte kenn-
zeichnen sehr glücklich den Charakter der neuen Revolutionsgeschichte, die aus der
gemeinsamen Arbeit von drei rühmlich bekannten Historikern: Georges Lefebvre,
Raymond Guyot und Philippe Sagnac hervorgegangen ist.
Das große Geschehen, das eine neue Epoche eröffnet, wird — vor allem in
seinem Ursprungsland — immer wieder unter wechselnden Gesichtspunkten durch-
forscht und dargestellt, aber ganz vorwiegend vom franzósischen Standpunkt aus.
Das berühmte Buch Albert Sorels „L' Europe et la Révolution francaise“, das eine
wichtige Ausnahme darstellt, liegt schon ziemlich weit zurück; es war fast voll-
stándig erschienen (1885—1903), ehe die Arbeiten Aulards den Revolutionsstudien
eine entscheidende Wendung gaben; Aulard selbst hat sich in seinem Hauptwerk
ausdrücklich auf die innerpolitischen — wir würden in deutscher Sprache am besten
Kritiken 651
sagen: die verfassungsgeschichtlichen — Zusammenhänge beschränkt. Jaurés,
dessen „Sozialistische Geschichte der französischen Revolution“ die genialste
Leistung der letzten 50 Jahre auf diesem Gebiet bedeutet, brachte die unschätzbare
Ergänzung des ökonomisch-sozialen Unterbaus hinzu, freilich nicht ohne den Aus-
strahlungen der Revolution auf Europa liebevolle Beachtung zu schenken; Albert
Mathiez, der Hüter und Vermittler des historischen Erbguts von Jean Jaurés,
hat in seinen zahlreichen, ebenfalls stark die ökonomisch-sozialen Zusammenhänge
berücksichtigenden Arbeiten wieder fast ausschließlich den französischen Blick-
punkt gewahrt.
Es bedeutet also eine — in französischen Fachkreisen auch viel beachtete —
Neuerung, daß in dem vorliegenden Buch die Revolution von vornherein in die
großen europäischen Zusammenhänge hineingestellt wird; das Wagnis war deshalb
besonders kühn, weil das Werk sich einer allgemeinen Geschichte in Einzeldarstel-
lungen einfügen mußte und nur ein verhältnismäßig beschränkter Raum zur Ver-
fügung stand. Durch die gerade auf dem Gebiet der Revolutionsgeschichte viel
geübte Arbeitsteilung ist es gelungen, den ungeheuren Stoff in dem gegebenen
Rahmen zu meistern. Neben gedrängten, aber bedeutsamen Einleitungsworten
hat der Straßburger Professor Lefebvre ein großzügiges Bild des „Abendlands im
Jahre 1789“ gezeichnet: eine Übersicht, die neben den Vereinigten Staaten auch
Latein-Amerika berücksichtigt, er hat ferner die beiden ersten Bücher geschrieben:
„Die revolutionäre Expansion bis zur Bildung der großen Koalition" (Mai 1789
bis Januar 1793), „Die Koalition und die Revolution bis zu den Verträgen von 1795“.
Das dritte Buch: ,,Die franzósische Revolution und die Eroberung Europas (1795
bis 1799)“ stammt aus der Feder des Pariser Professors Guyot. Sagnac, der Nach-
folger Aulards auf dem Lehrstuhl für Revolutionsgeschichte an der Sorbonne, hat
das vierte vorwiegend geistesgeschichtlich orientierte Buch geschrieben: ,,Die
französische Revolution und die europäische Civilisation“; er hat ferner die wichtige
SchluBbetrachtung beigesteuert, die in den Worten gipfelt: „Den Widerständen
der Vergangenheit zum Trotz, inmitten der größten Völkerkonflikte, die Europa
je gesehen hat und die noch etwa fünfzehn Jahre dauern sollen, wird allmählich
eine neue Welt geschmiedet; die Seelen gestalten sich um; die Revolution hat den
Geist selbst verwandelt.‘
Das Werk ist sehr reich und übersichtlich in Kapitel und kurze Unterabtei-
lungen gegliedert; es gewinnt für den Fachhistoriker noch dadurch an Bedeutung,
daß eine erstaunlich ausgebreitete, im weitesten Sinne internationaleLiteratur
zugrunde gelegt und in bibliographischen Notizen verarbeitet ist, die den einzelnen
kleinen Abschnitten beigefügt sind: im besten Sinne „haute vulgarisation“, auf der
Höhe moderner Forschung stehend ist es somit ein sehr willkommener Führer
durch das unübersehbare Feld der Revolutionsgeschichte.
Berlin. Hedwig Hintze.
Uwe Jens Lornsens Briefe an seinen Vater (1811—1837), in Verbindung mit
G. E. Hoffmann herausgegeben von Wilhelm Jessen. Breslau: Ferd. Hirt, 1930,
VI. 197 S., gr. 8° (= Veróffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Uni-
versitätsgesellschaft Nr. 29).
Für die Erkenntnis von U. J. Lornsens Wesen und Wirken waren wir bisher
vor allem auf das Werk von Karl Jansen (U. J. Lornsen, Kiel 1872) angewiesen, eine
652 Kritiken
gründlich gelehrte Arbeit, die vielleicht nur den Fehler hat, daß ihr Verfasser allzu-
sehr durch die Brille des augustenburgischen Parteimannes sah. Jansen hatte eine
große Anzahl Lornsenscher Briefe zur Verfügung gestanden, freilich fast nur aus der
Zeit nach 1830. Von diesen Briefen wurden etwa 40 an Lornsens Vater gerichtete,
terner die Briefe an Lornsens Kieler Freund Frz. H. Hegewisch im Jahrgang 1903
der Itzehoer Nachrichten, z. T. freilich durch Lese- und Druckfehler arg entstellt,
im Zusammenhang veröffentlicht. Die Briefe an Hegewisch wurden aus ihrem Ver-
steck in der Tageszeitung 1925 von V. Pauls hervorgeholt und in Buchform heraus-
gegeben; es wurde damit eine wertvolle Quelle der Allgemeinheit zugänglich gemacht.
Nimmt man das Buch des Dänen Graae (U. J. Lornsen, 1891) und etwa noch die
neuerliche Arbeit von P. Richter hinzu (Zeitschr. der Gesellsch. für Schlesw.-Holst.
Geschichte, Bd. 58, 1929), die mittelbar auch manches Neue für die Lornsensche Be-
wegung, zumal für ihre Vorgeschichte, bringt, so hat man damit, von Einzelfunden
abgesehen, das Material nahezu beisammen. Die Hoffnung, weiteres unmittelbares
Material für die Lebens- und Entwicklungsgeschichte des großen schleswig-holstei-
nischen Freiheitskämpfers zu finden, war gering. Da wurden wir vor einigen Jahren
mit der Kunde überrascht, daß sich auf Sylt, der Heimatinsel Lornsens, eine Menge
Briefe, großen Teils unbekannte, gefunden hätten, fast alle an den Vater gerichtet,
der den Sohn um 5 Jahre überlebte, und von der Familie aufbewahrt; sie um-
fassen die Jahre von 1811 bis 1837, also von des Briefschreibers 18. Lebensjahre bis
kurz vor seinen freiwilligen Tod.
Diese Briefe, etwa 160 an der Zahl, werden in dem vorliegenden Bande von dem
Entdecker, Konrektor W. Jessen, in Verbindung mit dem Kieler Archivrat G. E. Hoff-
mann veröffentlicht. Wegen der zahlreichen rein familiären Angelegenheiten eigneten
sich nicht alle Briefe und nicht alles in den Briefen für die Wiedergabe. Manches
ist ausgelassen, anderes nur in kurzem Regest gegeben. Von den bereits 1903 in den
Itzehoer Nachrichten bekanntgemachten Briefen sind die inhaltreichsten wieder
aufgenommen worden, was nur zu begrüßen ist; das Verhältnis stellt sich so, daß
etwa drei Viertel der Briefe bisher günzlich unbekannt waren. Mit Recht betont
Jessen im Vorwort: „Über den jungen Lornsen...haben seine Biographen wenig
berichten kónnen. Die Hauptbedeutung der vorliegenden Veróffentlichung dürfte
daher für alle, die nicht nur das Werk, sondern auch das Werden Lornsens inter-
essiert, in der Mitteilung der bisher unbekannten Briefe aus den Jahren 1811 bis 1826
liegen." Auch insofern ergánzt diese Sammlung sehr glücklich das Briefcorpus an
Hegewisch, das die Jahre 1831—1838 umfaßt.
Lornsen war schon fast ein Zwanzigjühriger, als er 1818 in die Sekunda der
Schleswiger Domschule eintrat, und stand im 23. Lebensjahr, als er sich in Kiel
immatrikulieren ließ. Dieser späte Zugang zu den gelehrten Studien ist aber bei
Lornsen durchaus nicht durch eine späte Entwicklung bedingt. Daß er, wie sich aus
den Briefen ergibt, 1817 an der Waterloofeier teilnahm, ist bezeichnend für ihn und
war für einen Kieler Studenten damals noch durchaus nichts Selbstverständliches;
hatte doch der Landesvater, der dänische König, 1813 in Napoleons Lager gestanden.
Welch tiefes Erlebnis für Lornsen sein einjähriger Studienaufenthalt in Jena
(1818/1819) bedeutete, wird erst aus diesen Briefen recht klar. Das eine Jahr in
Jena schuf die unverrückten Grundlagen für die spätere geistige Entwicklung
Lornsens; er spricht selbst davon (Brief v. 2. Dez. 1818), „welchen glücklichen Ein-
fluß der Entschluß, nach Jena zu gehen, auf mich gehabt hat, und daß mein Leben
Kritiken 653
dadurch eine ganz andere und höhere Tendenz bekommen hat." Wir sehen auch
deutlich, welcher Natur diese Tendenz war. „Eine Idee — schreibt er am 16. März
1819 — insbesondere ist es, die bey mir sich hier zu einer solchen Lebendigkeit und
Klarheit ausgebildet hat, daß ich deren Realisierung mein ganzes Leben und Streben
widmen werde; eine Idee, die, so natürlich sie dem Menschen an sich auch ist, ganz
aus unserm Leben verdrängt ist. Es ist die Freyheit in ihrem vollen Umfang, ohne
welche nichts Wahres, Großes und Schönes im Leben entstehen und bestehen kann.“
Es sind zur Hauptsache die Ideen der deutschen Burschenschaft, die Lornsen den
Antrieb gaben. Noch als er Jena schon wieder verlassen hat, klingt die Stimmung
nach — 10. Mai 1819 — „ . ich tappte und rang nach etwas Höherem. . . was ich
denn auch in Jena gefunden habe. Ohne diesen Fund hätte ich mich, wie ein Schiff
ohne Steuer und Segel, jämmerlich im Leben herumgetrieben." Die Zustände in der
Heimat wollten ihm nicht behagen, alles Interesse am öffentlichen Leben bestände
dort in Kannegießerei, bekennt er mit Schmerz. Er denkt im Ernst daran, am grie-
chischen Freiheitskampfe teilzunehmen, und nur die Rücksicht auf den alternden
Vater hält ihn zurück und gibt ihm den Gedanken ein, die Laufbahn des Beamten
— in der schleswig-holsteinischen Kanzlei in Kopenhagen — einzuschlagen (1821).
Wie er hier bald vom Volontär zu der angesehenen Stellung des Kontorchefs aufrückte,
ist bekannt. Doch bringen die Briefe auch für diese Jahre viel Neues, so über seine
rätselhafte Krankheit, die ihm die besten Stunden raubte. Freilich hören wir recht
wenig über seine politische Entwicklung, gern würden wir im einzelnen erfahren, wie
der kühne Plan sich in ihm vorbereitete, den er im November 1830 scheinbar so un-
vermittelt verwirklichte, als er mit seiner Broschüre über das Verfassungswerk in
Schleswig-Holstein der Kopenhagener Regierung den Fehdehandschuh hinwarf. Man
darf aber nicht vergessen, wer der Empfänger dieser Briefe war, nämlich der Vater,
dem gegenüber doch manche Zurückhaltung geboten war. Wie sehr viel freier er sich
zu Freunden aussprach, das lehrt ein Vergleich der Briefe aus den dreißiger Jahren,
wo Briefe an den Vater und an Hegewisch zugleich zur Verfügung stehen. — Im
Oktober 1833 trat Lornsen jene große Reise nach Rio de Janeiro an, wo er dreieinhalb
Jahre verweilte, eifrig mit der Abfassung seines Werkes über die Unionsverfassung
der Herzogtümer beschäftigt und stets voll reger Teilnahme für die öffentlichen
Verhältnisse der Heimat. Da für diese Zeit auch andere Quellen zu Gebote stehen,
ist die Ausbeute, die die Briefe hier gewähren, nicht so reichhaltig wie für die früheren
Jahre. Doch auch hieraus tritt uns der kühne, hochstrebende Mann entgegen, dessen
ganzes Leben unverrückt auf das Rechte gerichtet war, dem Kleinliches fremd war,
der für seine Tat einstand und die Folgen ohne Klagen auf sich nahm. Nach dem
Antritt seiner großen Reise hat Lornsen die Heimat nicht wiedergesehen. Auf
der Rückfahrt begriffen, fand er im März 1838 in den Fluten des Genfer Sees
sein Ende, gebrochen, aber nicht gebeugt, nach einem Leben voll schwerer Schick-
sale, gegen die er vergeblich ankämpfte, wie seine Worte im letzten Briefe an den
Vater lauten.
Den Herausgebern gebührt Dank für die Besorgung der Sammlung. Durch ver-
ständige Weglassung des nicht allgemein Interessierenden, durch kurze Überleitungen
und Anmerkungen — diese meistens von Hoffmann herrührend —, sorgsame Er-
gänzung mancher durch äußere Schäden entstandener Lücken, durch Stammtafeln
und Register ist der Wert dieser Briefe noch merklich erhöht worden. |
Kiel. Rudolf Bülck.
654 Kritiken
Becker, Willy, Fürst Bülow und England 1897—1909. Greifswald 1929. Verlag
Ratsbuchhandlung L. Bamberg. VII, 410 S.
Beckers Buch stellt sich die Aufgabe, die Politik des Fürsten Bülow in ihrem
Verhältnis zu England umfassend zu untersuchen und damit die entscheidende
Periode in den deutsch-englischen Beziehungen ursächlich zu klären. In bunter
Fülle und nicht immer zugunsten der Geschlossenheit seines Werkes breitet der
Verfasser das Gewirr der diplomatischen Wechselbeziehungen zwischen Berlin und
London von neuem aus und ordnet es, dem konstruktiven Charakter seiner Auffas-
sung entsprechend (ohne Einbeziehung der Marokkokrise) zu einer Trilogie poli-
tischer Disharmonien. Ein Teil, der erste, behandelt Deutschlands Orientpolitik, als
deren Exponent die Bagdadbahn erscheint. Die Bündnisverhandlungen, die größte
Nähe beider Mächte, erfahren in Verbindung mit der Südseepolitik eine ausnehmend
breite Darstellung in einem zweiten, während im dritten Teil die Frage der Flotten-
rivalit&t erórtert wird.
Der zweifellos folgenreichste Irrtum der deutschen politischen Führung unter
Bülow war der unerschütterliche Glaube an die unwandelbare Existenz des Gegen-
satzes zwischen dem Zweibunde und England, auf dessen Hintergrund sich die
unselige These von der arbiter mundi-Stellung des Deutschen Reiches und die
Politik der „Zwei Eisen im Feuer“ konstruieren ließ, und aus der die ungreifbare,
verschwommene Weltmachtsideologie erwachsen konnte. Zwei Flügel setzte sie der
europazentrischen Politik Bismarcks an: einen kontinentalen, die Orientpolitik ;
einen maritimen, die Flottenpolitik.
Becker ist entschiedener Vertreter der deutschen Orientprojekte. „Es wird das
Verdienst der kaiserlichen Regierung bleiben, sich in dem groBen Plan nicht haben
beirren zu lassen“ (S. 53). Ja, die Orientpolitik allein hätte ‚in zielbewuBter Durch-
führung die dauernde Sicherheit unserer mitteleuropäischen Stellung uns zu geben
vermocht". Ihre MiBerfolge seien nicht im Ziel, sondern in der Methode zu suchen.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die Orientpolitik so weit gesteckte Erwartungen
jemals hätte erfüllen können. Von anderer Seite wird dies m. E. mit gutem Recht
bestritten. Die Mittel aber, die der Verfasser für eine erfolgreiche Durchführung des
kontinentalen Programnıs angibt, scheinen mir zu wenig an der politischen Wirk-
lichkeit orientiert zu sein. Becker entwirft. ein großzügiges, aber im einzelnen unklares
Reformprojekt, mit dessen Hilfe die Länderbrücke zum Goldenen Horn hätte ge-
festigt werden können: Die Auflösung des österreichischen Kaiserstaates sei in keiner
Weise „schicksalsnotwendig‘' gewesen; ihr hätte seitens Deutschlands entgegen-
gewirkt werden können und müssen. Becker empfiehlt die Überführung des habs-
burgischen Familienstaates in einen Nationalitätenstaat, in einen neuen Donaustaat
auf bundesstaatlicher Grundlage, gibt aber in anderem Zusammenhang selbst zu,
daß scharfe Grenzlinien als Ausdruck einer Staatenbildung auf nationaler Grundlage
nicht gezogen werden konnten; weiterhin plädiert er für AbstoBung der Minder-
heiten in den Grenzráumen, wo die benachbarten Nationalstaaten den natürlichen
Anziehungsherd bildeten. Die Wirtschaftsgemeinschaft einer deutsch-österreichi-
schen Orientpolitik würde dann nach Beckers Meinung das wirksamste Einheitsband
des neuen Staates dargestellt haben. Gewiß, Österreichs innerpolitische Methoden
und seine Behandlung der Balkanvölker sind selten glücklich gewesen. Welcher
Staatsmann des Deutschen Reiches aber wäre imstande gewesen, dem verbündeten
Donaustaate zu einer derartigen reformatio in capite ac membris anregend und
Kritiken 655
leitend die Hand zu bieten? Wir brauchen nur an unsere Elsaß-Lothringen- und
Polenpolitik zu denken, um die Problematik des ósterreichischen Staatswesens
einigermaßen zu ermessen. Und die von Becker geforderten Umbildungen hätten
eine Freiheit und Energie des Entschlusses zur Voraussetzung gehabt, wie sie von
Wien kaum jemals erwartet werden konnte. Deutschlands Gewicht im Bündnis
mit Österreich-Ungarn ist stets eine Funktion seiner Stellung innerhalb des allge-
meinen Máchtesystems gewesen, und es ist nicht zu übersehen, daB man in der
WilhelmstraBe die innere Zersetzung der Donaumonarchie gar nicht für so weit
vorgeschritten gehalten zu haben scheint und sich offenbar auch aus diesem Grunde
— neben der Rücksicht, die man dem letzten Bundesgenossen schuldig zu sein
glaubte — einer Einflußnahme auf seine inneren Verhältnisse enthielt.
Becker betont von vornherein und mit Recht die Unüberbrückbarkeit des Gegen-
satzes zu RuBland, dessen Druck auf Deutschlands mitteleuropüische Stellung und
seine Politik in Vorderasien nur durch Verständigung mit England hätte paralysiert
werden können. Von der Erreichbarkeit eines Bündnisses mit England ist der Ver-
fasser überzeugt und steht daher in seiner Darstellung der Verhandlungen um die
Jahrhundertwende der deutschen Haltung durchaus kritisch gegenüber, während
er m. E. die Großzügigkeit und die Weite des politischen Blicks allzu freigebig dem
Engländer zollt und die Stellung Chamberlains in Kabinett und öffentlicher Meinung
überschätzt. Im deutschen Lager sei von Bülow der stärkste Widerstand gegen eine
Verstándigung mit England ausgegangen. Die Flottenpolitik sei das entscheidende
Motiv für seine ablehnende Haltung gewesen. Diese Feststellung des Verfassers
erschüttert die bisher fast allgemein vertretene Ansicht, daB der Flottengedanke auf
die Bündnisverhandlungen keinen maßgebenden Einfluß ausgeübt habe. Nur unter-
legt der Verfasser auch hier der Neigung, einen Faktor aus der Gesamtheit der
politischen Kräfte zu lösen und seine einzigartige Bedeutung zu erweisen, ohne seine
organische Verknüpftheit mit den gleichzeitig wirkenden Faktoren gebührend zu
berücksichtigen. Mit dieser einseitigen Überschätzung geht Becker gewiß an manchen
Nuancen von Bülows Englandverhältnis vorüber.
In Deutschlands Flottenpolitik sieht der Verfasser auch den Hauptgrund für
die wachsende Entfremdung zwischen beiden Mächten, während seine Erörterungen
das nur noch vereinzelt vertretene Argument der Handelsrivalität auszuschalten
bemüht sind. Dieser Nachweis ist dem Verfasser überzeugend gelungen, und es ist
zu wünschen, daß mit dieser von den Vertretern der Flottenpläne unermüdlich ins
Feld geführten These endlich aufgeräumt werde.
Fürst Bülow hatte die schwere Aufgabe übernommen, die Kaiser-Tirpitz-Pläne
zu realisieren und in der Zeit des Übergangs das deutsche Staatsschiff durch die
Wogen der für Deutschland immer bedrohlicher werdenden Umlagerungen innerhalb
des europäischen Mächtesystems zu bugsieren. Frühzeitig, schon im Jahre 1904,
stiegen ihm Zweifel an der Durchführbarkeit der Flottenpläne auf, von der Erkenntnis
diktiert, daß die Rüstungen eines Staates stets eine Funktion der Rüstungslage des
andern sind, eine Erkenntnis, von der die Flottenfanatiker bekanntlich nicht be-
schwert waren. Wohl neigte er am Ende einer Verständigung mit England und einer
Einschränkung des Flottenbautempos zu, aber er betrieb beides nicht mit der nötigen
Energie und Kraft des Entschlusses. ,,Es war sein großer Fehler, trotz dieser richtigen
Krkenntnis den Endkampf gegen die Widersacher nicht zu wagen. Letzten Endes
656 Kritiken
fehlte ihm auch in diesem Falle der leidenschaftliche Tatwille des aufrechten und
starken Staatsmannes."
Beckers Charakteristik der staatsmännischen Persönlichkeit Bülows hält sich
vollständig in den bisher vertretenen und durch die Memoiren des Fürsten bestätigten
Auffassungen. Nur hätte man gewünscht, daß die politische Struktur des Kanzlers
und sein Verhältnis zu England in einem mit scharfem Griffel gezeichneten Kapitel
zusammenfassend dargestellt worden wäre; einen Ersatz dafür kann die Schluß-
betrachtung des Buches nicht bieten.
Alle diese Erörterungen vermögen aber das Verdienst des Verfassers nicht zu
berühren, die Problematik des deutsch-englischen Gegensatzes, in der alle Betrach-
tung der diplomatischen Vorgeschichte des Weltkrieges kulminiert, in einem respek-
tablen Erstlingswerk zum ersten Male umfassend untersucht und damit einen wert-
vollen Beitrag zur Vorgeschichte des Weltkrieges geliefert zu haben.
Berlin. Herbert Michaelis.
Nachrichten und Notizen.
Karl Müller, Aus der akademischen Arbeit. Vorträge und Aufsätze. Tübingen,
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1930, IV, 356 S. 89.
Man mag zu den jetzt in Aufnahme gekommenen Wissenschaften in Selbst-
darstellungen stehen, wie man will, wenn eine wissenschaftliche Persónlichkeit
sich dem 80. Jahre nähert, ihr Leben und Arbeiten dem Abschlusse nahe fühlt und
nun rückschauend von ihrem inneren und äußeren Werden erzählt, so wird man mit
Ehrerbietung nahen, und wenn es mit einer solchen Schlichtheit geschieht, wie
Karl Müller in der diesem Bande vorausgeschickten, ursprünglich für die , Reli-
gionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen“ bestimmten Lebens-
skizze, so wird man diese Blätter nicht ohne ein Gefühl der Verehrung aus der Hand
legen. Wenige, denen seine Kirchengeschichte ein geschätztes Lehr- und Nach-
schlagebuch geworden ist, werden die Tragik geahnt haben, die dieses Werk für das
Leben ihres Verfassers bedeutet hat. Auf Anregung des Verlegers übernommen,
weil er von der Notwendigkeit eines derartigen Handbuchs überzeugt war, wurde
es zu einer lähmenden Kette, zu einer dauernden schweren Belastung für ihn. Der
Zwang einer gleichmäßigen Behandlung aller Zeiträume nótigte zu breiterer Be-
schäftigung auch mit den Stoffen, die keine größeren Probleme boten, und hielt
ihn eben hierdurch von der Vertiefung in die Zeiten ab, deren gründlichste Durch-
forschung ihm Herzensbedürfnis war. Von dem Reichtum seines Geistes zeugt,
daß es Karl Müller trotzdem möglich geworden ist, der kirchenhistorischen For-
schung eine so große Zahl von Spezialuntersuchungen zu widmen, daß das beige-
gebene Schriftenverzeichnis nicht weniger als 47 Arbeiten zu den verschiedensten
Zeiten und Problemen aufweist. Von ihnen sind fünfzehn Vortráge und Aufsátze
in dem vorliegenden Bande vereinigt, die mit Ausnahme eines Vortrages den Wieder-
abdruck an entlegener Stelle erschienener oder längst vergriffener Arbeiten dar-
stellen. Die verschiedenen Bereiche seiner Gelehrtentätigkeit sind vertreten, das
Gebiet der alten Kirche mit den Abhandlungen „Das Reich Gottes und die Dä-
monen in der alten Kirche", „Konstantin der Große und die christliche Kirche“
Nachrichten und Notizen 657
und „Die Kirchenverfassung im christlichen Altertum". Merkwürdigerweise findet
sich kein Beitrag aus dem Gebiet des Mittelalters, von dem, insbesondere von der
Zeit Ludwigs des Bayern, Müller seinen Ausgang genommen hat. Dagegen aus
seinen reformationsgeschichtlichen Forschungen die 6 Arbeiten: „Die großen
Gedanken der Reformation und die Gegenwart", „Wesen und Bedeutung der
Kirche für den einzelnen Gläubigen nach Luther‘, „Die Anfänge der Konsistorial-
verfassung im lutherischen Deutschland“, „Calvin und die Anfänge der französischen
Hugenottenkirche", „Die Bartholomüusnacht" und „Aus den Aufzeichnungen
flüchtiger Hugenotten“. Die württembergische Kirchengeschichte, der Müller durch
seine Herkunft innerlich verbunden war und deren Erforschung er sich nach seiner
Berufung nach Tübingen im Jahre 1903 angelegen sein ließ, ist durch die drei Auf-
sätze vertreten: „Die künftigen Aufgaben der württembergischen kirchengeschicht-
lichen Forschung“, „Zur Geschichte der katholischen Professuren an der Universität
Tübingen" und „Die religiöse Erweckung in Württemberg am Anfang des 19. Jahr-
hunderts." Den Beschluß der Sammlung bildet die Behandlung zweier allgemeiner
Fragen: „Gefahr und Segen der Theologie für die Religiosität“ und „ Wissenschaft
und Erbauung." So sind in diesem Bande eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen,
die schwer zu erreichen waren, wieder zugänglich gemacht, zugleich aber ein Beweis
gegeben von den weiten Ausmaßen des Lebenswerkes von Karl Müller. Für beides
sind wir zu Dank verpflichtet. Wendorf.
Hessische Biographien, in Verbindung mit Karl Esselborn und Georg Lehnert,
herausgegeben von Herman Haupt. Bd. I Lieferung 2—4 S. 129—520; Bd. II
Lieferung 1—6 (Lieferung 5—9 der ganzen Folge) 502 Seiten; Bd. III Lieferung
1—3 (Lieferung 10—12 der ganzen Folge) S. 1—288. Darmstadt, (GroBherzoe-
lich) Hessischer Staatsverlag. 1913— 1931.
Die erste Lieferung der Hessischen Biographien, die im Jahre 1912 erschienen ist,
wurde im 18. Bande der Historischen Vierteljahrschrift (1918) 421 von mir angezeigt.
Seither ist das Unternehmen mit 11 weiteren Lieferungen rüstig fortgeschritten.
In dem ersten Bande, dessen drei weitere Lieferungen 1913—1918 heraus-
gekommen sind, wird u.a. Karl Theodor Welcker von Wentzcke behandelt, Georg
Büchner von Collin, der Mainzer Domkapitular Moufang von Forschner, Rudolf
Oeser, der unter dem Namen O. Glaubrecht bekannte Volksschriftsteller, von
Roeschen, Otto Roquette von Knispel, Gervin us von O. Harnack, Wilhelm Schulz
von Nabholz. Collin bat den geistigen EinfluB der Apostel Saint-Simons, den Büchner
in Straßburg erfuhr, und der entscheidend für seine politische Betätigung in Hessen
wurde, gut aufgezeigt; noch K. E. Franzos hatte in seiner sonst vortrefflichen Ein-
leitung zu Büchners Sämtlichen Werken (1879) zwischen der Straßburger und der
GieBener Zeit keinerlei Beziehungen herzustellen vermocht. Moufang ist seither in
Vigeners Ketteler-Biographie in etwas schärferen Linien gezeichnet worden, als es
hier durch Forschner geschehen ist. Harnacks Gervinus ist etwas mager ausgefallen.
In der Biographie von Wilhelm Schulz hätte man nähere Mitteilungen über seine seit
1831 veröffentlichten Vorschläge zur Errichtung einer deutschen Nationalvertretung
gewünscht, die für dieGeschichte dieser Einrichtung von erheblicher Bedeutung sind.
Im zweiten Band (erschienen 1920—1927) wird man u.a. unterrichtet von
K. v. Gareis über Michael Birnbaum, der, als 21. Kind eines fürstbischöflichen Hof-
bedienten 1792 zu Bamberg geboren, Professor der Rechte in Lüttich, Freiburg,
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.26, H.3. 42
658 Nachrichten und Notizen
Utrecht, Gießen war, von Lauckhard über die Dichterin Luise von Ploennies, von
R. Schäfer über den liberalen Politiker Ernst Emil Hoffmann, Vorkämpfer des Deut-
schen Zollvereins und Schöpfer des Hessischen Volksblattes, der ersten freien poli-
tischen Zeitung im Lande, von W. Wolkenhauer über Ernst Dieffenbach, der, wegen
Beteiligung an der Burschenschaft landflüchtig, in England heimisch und der erste
wissenschaftliche Erforscher Neuseelands wurde, von Alexander Schnütgen über den
Mainzer Domkapitular Bruno Liebermann. A. v. Grolmans Lebensabriß des Dichters
und Architekten Fritz Hessemer ist ein Auszug aus v. Grolmans Buch über Hessemer,
das 1920 als Nr. 1 der Frankfurter Lebensbilder erschienen ist. Ein Artikel über den
niederländischen Staatsmann Thorbecke von Blok ist mit Rücksicht auf Thorbeckes
kurze Tätigkeit als Privatdozent für Geschichte und Philosophie in Gießen 1822/23
aufgenommen.
Die drei ersten Lieferungen des 3. Bandes enthalten u. a. Biographien des Dich-
ters Eduard Duller (R. Newald), des namentlich durch seine Beziehungen zu Freilig-
rath bekannten Schriftstellers Karl Buchner (K, Hensing), Alexanders v. Battenberg,
Fürsten v. Bulgarien (L. Kattrein) und des Ministers Frhn. du Bos du Thil
(H. Ulmann).
Von den drei Herausgebern, deren Mitarbeit sich über alle Bünde verteilt, hat
H. Haupt seine liebevolle Aufmerksamkeit vor allem den politischen Mürtyrern,
Flüchtlingen und Auswanderern zugewandt, deren Schicksale der hessischen Ge-
schichte ihr besonderes Geprüge geben; wir nennen Friedrich Walloth, der sich der
Untersuchung wegen burschenschaftlicher Umtriebe durch die Flucht entzog, am
badischen Aufstand teilnahm, in Asturien im Dienste einer englischen Holzhandels-
gesellschaft ein Vermógen erwarb und schlieBlich in Genf als Hausgenosse von Karl
Vogt lebte, Karl Seebold, der in der christlich-teutschen Burschenschaft in Gießen
dem Radikalismus Karl Follens entgegentrat und dann, mit J. Fr. Fries eng be-
freundet, als Dozent der Philosophie in Gießen und Basel, als Lehrer in England und
in Mannheim tätig war, Gustav Schleicher, der in Texas zu führender Stellung auf-
stieg, Ferdinand von Loehr, der seine Landsleute zur Teilnahme am badischen Auf-
stand fortzureißen suchte und dann in San Franzisko als Arzt und Politiker wirkte,
die Brüder Friedrich und Georg Münch, die dem Kreise der Gießener Schwarzen an-
gehórten und dann als Führer einer deutschen Niederlassung in Missouri durch
unermüdliche und erfolgreiche Tätigkeit zu höchstem Ansehen gelangten, J. Ph.
Doerschheimer, Gastwirt in Buffalo, der als Wortführer der Republikaner deutschen
Stammes 1856 bei der Aufstellung Fremonts für die Präsidentschaftswahl in ent-
scheidender Weise mitwirkte, Karl Minnigerode, als Gießener Student Mitglied der
von Georg Büchner gestifteten Gesellschaft der Menschenrechte und später gefeierter
Kanzelredner und führender Geistlicher zu Richmond in Virginien, Emil Glauprecht,
Schriftsteller und Vorkämpfer des Deutschtums in Cincinnati, den Chemiker Fried-
rich Wilhelm Bopp, den ein Nervenfieber dahinraffte, während er seiner Verurteilung
wegen Teilnahme am badischen Aufstand entgegensah, den glänzend begabten
Karl Ohly, der kurz vor seinem Eintritt in den Pfarrdienst gemeinsam mit F. v. Loehr
an die Spitze der hessischen Aufstandsbewegung trat, später ein karges Brot als
Mitarbeiter der Allgemeinen Zeitung in England fand und in geistiger Umnachtung
endete. Esselborn hat sich u.a. des Theologen Wilhelm Baur, des Schriftstellers
Johannes Weitzel und des Dichters Ernst Niebergall angenommen, über den er 1922
eine ausführliche Biographie veröffentlicht und von dessen Werken er eine neue Ge-
Nachrichten und Notizen 659
samtausgabe besorgt hat. Die Beiträge von Lehnert sind vorzugsweise klassischen
Philologen (Georg Rettig, Ludwig Lange, Ferdinand Dümmler, Eduard Lübbert,
Engelbert Schneider, Heinrich Rumpf, Andreas Weidner) gewidmet.
Durchgängig sind die bibliographischen Angaben mit besonderer Sorgfalt be-
handelt. Wir wünschen dem verdienstlichen Unternehmen, das bei aller Mannig-
faltigkeit des Inhalts die Eigenart des hessischen Volksstammes eindrucksvoll zur
Erscheinung bringt, weiteren gedeihlichen Fortgang.
Utrecht. O. Oppermann.
Regesten der Erzbischöfe von Bremen von Otto Heinrich May. (Ver-
öffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg,
Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen, Heft XI.) Bremen, Kom-
missionsverlag G. Winter, 1928 (97 S.).
Bei der Bedeutung, die das Erzbistum Bremen mit seinen Bischöfen vom
Range eines Ansgar, Adalbert, Johann Rode in der mittelalterlichen Geschichte ein-
nimmt, ist es verwunderlich, daß seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also seit
den Editionen Lappenbergs und v. Hodenbergs, für die Quellenherausgabe der
Bremer Erzdiözese so wenig geschehen ist, B. Schmeidlers würdige Ausgabe des
Adam von Bremen natürlich ausgenommen. Und da die Hauptmasse des alten erz-
bischöflichen Archivs, einst in Stade verwahrt, unter dem Titel ,,Erzstift Bremen“
in Hannover ruht, hätte man von hier aus schon längst eine Bearbeitung des Materials
erwarten dürfen. Die Historische Kommission für Niedersachsen, wie sie kurz
genannt wird, erkannte schon bald nach ihrer Gründung, daß die Herausgabe der
Regesten der Erzbischöfe von Bremen eine ihrer dringendsten Aufgaben sei. Endlich
betraute sie O. H. May, der schon mit seiner Dissertation, den „Untersuchungen über
das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Bremen im 13. Jahrhundert“ (Arch. f.
Urk.-Forschung 4, 1922) wertvolle Vorarbeiten geleistet hatte, mit der umfassenden
Aufgabe. Im Niedersächs. Jb. 1 (1924) legte er einen vorläufigen Bericht über seine
Vorarbeiten und Unternehmungen nieder.
Endlich ist der von vielen Seiten sehnlichst erwartete 1. Band mit einer Lieferung
erschienen, die die Zeit des Erzb. Willehad von 787 bis zum Tode des Erzb. Liemar
(1101) umfaßt. Die nächste Lieferung soll bis zum Tode Erzb. Giselberts (1306)
führen und den ersten Band abschließen. Da das Vorwort mit den Grundsätzen der
Herausgabe, sowie ein Literaturverzeichnis, eine Liste der Siglen und ein Register
ebenfalls dann erst zu erwarten sind, so behalte ich mir vor, alsdann auf das ganze
Werk zurückzukommen. Schon jetzt läßt sich sagen, daß May für den ersten Teil
seines Buches eine sehr sorgfältige, gewissenhafte Arbeit geleistet hat, wofür ihm der
Dank mindestens aller Forscher im Bereich des alten Erzstifts Bremen sicher sein
wird. Darüber hinaus aber darf man erwarten, daß auch im übrigen Deutschland bei
den vielfachen Berührungen, die die bremische Stiftsgeschichte mit anderen Provin-
zen verbinden, Mays Regestenwerk volle Anerkennung finden wird.
Oldenburg i. Old. Hermann Lübbing.
Franziskanische Studien. 16. u. 17. Jg. Münster i. W. 1929 u. 1930.
Ordensgeschichte: Dem. Doelle, Zur Geschichte der Betrachtung im Franzis-
kanerorden (16, 229—235): Seit 1452 wird auf den Kapiteln die Verpflichtung zur
täglichen Betrachtung (meditatio oder oratio mentalis) gefordert. G. Haselbeck,
42*
660 Nachrichten und Notizen
Ein neuer Typ der Statuta Julii II. (17, 356—360): Ein Druck aus Herzogenbusch
in Fulda (1509), der für die Martinianische Reform wichtig ist. Fid. v. d. Borne,
Ursprung und erste Entwicklung des franziskanischen Dritten Ordens (16, 177 bis
192): Fortsetzung von des Vf. „Anfänge des Dritten Ordens“ im 8. Beiheft der
Fr. Stud. (1925). Eine Weiterführung dieser ideengeschichtlich wichtigen Studien
durch das Mittelalter ist erwünscht. Die Hauptlinien hat H. in der Linzer Quartal-
schrift 1919, S. 32ff. gezogen. Will. Lampen, Quaracchi. Leo XIII. und die Fran-
ziskanerschule (17, 241—252), betr. die Lehre des hl. Thomas. — Ordensangehörige:
Ludg. Meier, St. Bonaventura als Meister der Sprache (16, 15—28). Fid. Schwen-
dinger, Die Erkenntnis in den ewigen Ideen nach der Lehre des hl. Bonaventura
(16, 29—64, 3. Teil). F. Imle, Die Gemeinschaftsidee in der Theologie des hl. B.
(17, 325—341). L. Meier, Bonaventuras Selbstzeugnis über seinen Augustinismus
(17, 342—355). Jos. Klein, Die Überlegenheit der Charitaslehre des Johannes
Duns Skotus (16, 141—155). P. Fleig, Um die Echtheit von Duns Scotus' De
anima (16, 236—242). Frz. Pelster, Eine Münchener Handschrift des beg. 14. Jahr-
hunderts mit einem Verzeichnis von Quaestionen des Duns Scotus und Herveus
Natalis (17, 273—291). W. Lampen, Alexander v. Hales u. der Antisemitismus
(16, 1—14). B. Geyer, Die Frage nach der Echtheit der Summa des Al. Halensis
(16, 171—176). W. Pohl, Ein bedeutsames Werk der Franziskanerscholastik des
13. Jahrhunderts. Bemerkungen zu Jansens [1922—1926] Olivisusgabe (16, 65—71).
Kol. Juhász, Der erste Franziskanerbischof in Südosteuropa, Antonius, Bischof
von Tschanad (16, 156—170): Zuerst 1298 genannt. Der Verf. hat auch 1927 in
Heft 8/9 der von Gg. Schreiber hsggb. Sammlung ,,Deutschtum und Ausland" die
»Stifte der Tschanader Diózese im Mittelalter" behandelt. L. Meier, Der Sentenz-
kommentar des Matthias Doering (17, 83—89): Ergänzung zu Alberts Arbeit
(1892) über D., ,scharfkantig zwar und voll sprühender Kampfbereitschaft, aber
frei von der nominalistischen Gelehrtenhybris". Joh. Kist, Der hl. Johannes
Kapistran und die Reichsstadt Nürnberg (16, 193—215): mit wertvollen Briefen
K.'s aus den Jahren 1451/52. Ger. Hesse, Augustin von Alfeld, Verteidiger des
Apostolischen Stuhles (17, 160—178): zwei Schriften des Leipziger Lektors aus dem
Jahre 1520. Herm. Bücker, Dr. Konrad Klinge, der Führer der Erfurter Katho-
liken z. Zt. der Glaubensspaltung (17, 273—297): neuer Beitrag zu Kl., über den der
Vf. schon F. St. 10, 177ff. und 15, 252ff. Aufsätze veröffentlicht hat. Bei den Be-
ziehungen zu Georg Witzel u. a. ist auf Gr. Richters Arbeiten, namenflich Bd. 10
der Veróffentlichungen des Fuldaer Geschichtsvereins (1913) hinzuweisen. H. Dau-
send, Franz Xaver Lohbauer (17, 298—306): Verfasser eines Rituale (T 1885 in
München). — Misstonsgeschichte: Cajus Oth mer über den sel. Thomas v. Tolentino
(1321) in Indien (16, 72—80) und Liberat Weiß (1705—12) in Äthiopien (16, 243 bis
267). O.Maas gibt eine Übersicht über Missionsliteratur des Jahres 1929 (17,
383—400). — Provinzen und einzelne Konvente: K. Kantak, Die Entstehung der
polnischen Konvente der böhmisch-polnischen Fr.-Provinz (16, 81 —119):Kustodien
Krakau, Gnesen, Lemberg, Wilna. Patr. Schlager, Zur Geschichte der Franziska-
nerinnen zu Goch (16, 216—219): Nekrolog des Klosters bis 1801. Nachruf für den
am 17. Februar 1930 verstorbenen Vf.: 17, 401. Hil. Rieck, Zur Geschichte des
Wallfahrtsortes Marienthal [Westerwald] (16, 120—132). Ambr. Gótzelmann,
Das Studium der Philosophie und Theologie im Franziskanerkloster Miltenberg
a. Main 1743—1807 (16, 268—274): Der Lektor P. Ildephons Kobel ist der Neffe
Nachrichten und Notizen 661
des letzten Direktors des Hammelburger Gymnasiums P. Odorikus Kobel, vgl.
Ed. Kreß, Das höhere Bildungswesen in Hammelburg seit der Reformation (1925),
29f. Götzelmann, Zum 300jährigen Jubiläum des Fr.-Kl. Miltenberg (17,
361—382). W. Felten, Zur Geschichte des Minoritenklosters Seligenthal an der
Sieg (16, 275—302). — Heft 1 und 2 des 17. Jahrgangs ist der Sächsischen Provinz
zur Feier ihres 700jáhrigen Bestehens gewidmet. Der Herausgeber Ferd. Doelle gibt
als Einleitung eine knappe, klare Entwicklungsgeschichte der Provinz in Leid und
Arbeit (17, 1—11) und stellt die Provinzialvikare der Observantenprovinz seit 1669
auf Grund sorgfältiger Quellenstudien zusammen (17, 58—82). Weiter sind zu
nennen: Mich. Bihl, Franziskanerwunder in Deutschland im 13. und 14. Jahr-
hundert (17, 26—57). Engelb. Büscher, Die Franziskaner und das Theater (17,
106—119): Schuldramen, deren Stoffe dem Alten und Neuen Testament, den Heili-
genleben und der Geschichte entnommen wurden. Manfr. Loddenkótter, P. Gregor
Janknechts Verdienste um die süchsische Provinz (17, 211—227): langjühriger Pro-
vinzial und Organisator (} 1896 Paderborn) in Amerika und Brasilien. O. Maas,
Die Missionstätigkeit der Provinz (17, 120—139). Einhard Oberthür, Das Fran-
ziskanergymnasium der sächsischen Provinz im 17. und 18. Jahrhundert (17, 179
bis 198): in Dorsten, Vechta, Rheine, Warendorf, Vreden, Geseke, Wipperfürth,
Recklinghausen, Rietberg, Meppen, Osnabrück und Coesfeld. Ziel der Erziehung war
die vera pietas und die vera eruditio. — Zur Geschichte der einzelnen Konvente
sind zu nennen: Ang. Heddergott, Das Franziskanerkloster zu Dingelstädt im
Kulturkampf (17, 199—210). Hans Mertens, Die alte Franziskanerbibliothek in
Hannover (17, 97—105). Jak. Wallenborn, Luther und die Franziskaner von
Jüterbog (17, 140—159): in den 1519 abgefaßten und hier abgedruckten „ Articuli“
des P. Bernhard Dappen wird zum ersten Male der Name „Lutheraner gebraucht.
Th. Noll, Das Totenbuch der Mühlhäuser Franziskaner (17, 12—25): die Ver-
öffentlichung des gesamten Textes wäre wünschenswert. Beda Kleinschmidt,
Zur Ikonographie des hl. Franziskus (17, 229—232): ein Barockgemälde aus dem
Franziskanerkloster Paderborn. Jos. Schmidt, Die Bibliothek des Franziskaner-
klosters Weida (17, 90—96): Katalog aus dem Weimarer Staatsarchiv (1525).
O. Clemen, Ein ausgetretener Zwickauer Franziskaner (16, 306—308): Johann
Günter, 1533 Pfarrer in Bockwa bei Zwickau. O. Clemen, Reste der Bibliothek des
Franziskanerklosters in Zwickau (17, 228). |
Breslau (Januar 31). Wilhelm Dersch.
Dr. Alfred Schmidt, Die Kölner Apotheken von der ältesten Zeit bis zum Ende
der Reichsstädtischen Verfassung. Veröffentlichungen des Kölner Geschichts-
vereins E. V. Bd. 6. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Köln 1931.
Verlag des Kölnischen Geschichtsvereins E. V. In Kommission bei Creutzen
& Co., Köln, Schildergasse 82. X, 164 S., 27 Tafeln. 4°.
Dem verdienten Erforscher der Drogen- und Apothekengeschichte, der uns
leider heur im März viel zu früh entrissen wurde, Alfred Schmidt, war es vergönnt
eben noch die zweite Auflage seiner historischen Studie über die Kölner Apotheken
erscheinen zu sehen. Wenn er in seiner übergroßen Bescheidenheit noch eine Ent-
schuldigung dafür geben zu müssen glaubte, daß er, der Erwerbstätige, sich un-
zünftig auf das Gebiet der Wissenschaft gewagt habe, so beweist uns seine Arbeit,
daß dieses Wagnis ein sehr glückliches gewesen ist. Alfred Schmidt verarbeitete
662 Nachrichten und Notizen
das Material, das Friedrich Ballingrodt im Kölner Stadtarchiv gesammelt hatte,
und an dessen Veröffentlichung ihn ein frühzeitiger Tod verhindert hatte. Das
ganze Material wäre jahrzehntelang liegen geblieben, wenn sich Schmidt nicht
seiner im Jahre 1904 angenommen, es durch weitere Nachforschungen erheblich
vermehrt und in eine glücklich gestaltete Form gebracht hätte. Die aus den Stadt-
akten publizierten Schriftstücke bereichern unsere Kenntnisse von der Entwicklung
des Apothekerwesens auf das reichste und das ganze Buch beleuchtet paradigmatisch
die Beziehungen zwischen den Apotheken und einer Stadt mit ihren Ständen.
Ähnliche Arbeiten über die Entwicklung der Apotheken in anderen Städten wären
vom pharmakologiegeschichtlichen und soziologischen Standpunkte aus sehr wün-
schenswert. Die neue Auflage bringt zwei neue Tafeln und ein gutes Namen- und
Sachregister. Ludwig Englert.
Gutenberg-Jahrbuch 1930. Herausgegeben von A. Ruppel. Mainz: Verlag der
Gutenberg-Gesellschaft. 1930. 359 S. 4°.
Gottfried Zedler, Die sogenannte Gutenbergbibel sowie die mit der 42zeiligen
Bibeltype ausgeführten kleineren Drucke. Mainz: Verlag der Gutenberg-
Gesellschaft. 1929. XVI, 125 S., 52 Tafeln. 49. ( Veröffentlichungen der
Gutenberg-Gesellschaft 20.)
Eine ausführliche Besprechung und Würdigung der beiden vorliegenden Werke
soll in dieser Anzeige nicht gegeben werden. Sie beabsichtigt vielmehr nur, auf
diese Schriften die Aufmerksamkeit der Historiker zu lenken, denen vielleicht nicht
allen die Veróffentlichungen der Mainzer Gutenberg-Gesellschaft bekannt sind.
Vom Gutenberg-Jahrbuch liegt nunmehr der fünfte Jahrgang dieser internationalen
Zeitschrift für die Wissenschaft vom Buche im weitesten Sinne vor. Der sehr rührige
Herausgeber A. Ruppel, Direktor des Mainzer Gutenbergmuseums, hat es auch
diesmal verstanden, ausgezeichnete Gelehrte aus den verschiedensten Ländern der
Erde als Mitarbeiter zu gewinnen. Im einzelnen kann nicht auf die dreißig unter-
einander ganz verschiedenartigen Aufsätze eingegangen werden. Der Inhalt ist
äußerst vielseitig, wie ja die Wissenschaft vom Buche umfangreich ist: Geschichte
des Buchdrucks, Geschichte einzelner Drucker, Notendruck, Exlibris, Buchschmuck
(Holzschnitt, Kupferstich), einzelne Buchkünstler u.a. Es ist mir aufgefallen, daß
der Bucheinband nicht mehr mit Untersuchungen vertreten ist wie in den ersten
Jahrgängen (Arbeiten von Husung, Theele u.a.). Das ist sehr zu bedauern und
kann auch damit nicht begründet werden, daß für die Finbandforschung jetzt ein
eigenes Organ (Jahrbuch der Einbandkunst) existiert. Das trifft doch auch für an-
dere Gebiete der Buchwissenschaft zu, ohne daß im Gutenberg-Jahrbuch dies
Beachtung fände. Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß in den folgenden Bänden
das Gutenberg-Jahrbuch auch der Einbandforschung wieder seine Pforten öffnet.
Mit dem zweiten der oben angekündigten Werke beginnt Gottfried Zedler
eine Reihe von Veröffentlichungen zur Geschichte des frühen Buchdrucks. In dem
ganzen Komplex der hiermit verknüpften Fragen und Probleme bedeutet der
Name des Verfassers bereits ein Programm. In dem hin und her gehenden Streite
um die Erfindung der Buchdruckerkunst sieht Zedler — seine Ansicht ist am deut-
lichsten ausgesprochen und am besten nachzulesen in seinem Buche ‚Von Coster
zu Gutenberg! — in dem holländischen Frühdrucker Laurentius Coster den Er-
finder der beweglichen Typen und des Sandgußverfahrens, während Gutenberg das
Nachrichten und Notizen 663
Verdienst dar Erfindung des verstellbaren GieBinstruments zukommt. In dem
allgemein üblichen Sinn ist also Gutenberg nicht mehr der Erfinder der Buch-
druckerkunst. Der Titel des neuen Werkes zeigt bereits, in welcher Richtung Zedler
seine Untersuchungen weiterführt. Das berühmteste Druck-Erzeugnis, die Guten-
bergbibel, ist ihm nur noch die sogenannte Gutenbergbibel. „Gutenberg kommt
als Bibeldrucker hinfort nicht mehr in Frage." Er hat von vornherein nicht an
einen Bibeldruck gedacht, sondern den Druck eines Missale für die Mainzer Diözese
geplant. Der Herstellung des hierfür notwendigen Druckapparates (u. a. fünf ver-
schiedene Typen) diente die Geschäftsverbindung mit Fust. Die für Gutenberg
unglückliche Auflösung dieser Gesellschaft beraubte ihn seines Materials, mit dem
nun Fust und Schöffer nicht den Druck eines Missale, sondern. den der 42zeiligen
Bibel, der von Zedler jetzt sog. Gutenbergbibel unternahmen. Die Ergebnisse
dieser Untersuchungen — ein langes Leben ist an ihre Herausarbeitung gesetzt
worden — sind gewiß umstürzlerisch und beseitigen alte, eingewurzelte Vorstel-
lungen; sie sind aber m. E. überzeugend und beweiskräftig vorgetragen. Es folgt
noch eine Untersuchung der sonstigen mit der 42zeiligen Bibeltype hergestellten
Drucke. Es sind nur wenige und ziemlich bedeutungslose Druckwerke bekannt
geworden: a) ein liturgischer Psalter, von dem nur 1 Blatt erhalten ist, b) mehrere
Donate und c) schließlich einige Fälle einer gelegentlichen Verwendung als Aus-
hilfstype.
Wolfenbüttel. i H. Herbst.
Corpus Catholicorum, Werke katholischer Schriftsteller im Zeitalter der Glau-
bensspaltung. Münster i. Westf. Aschendorfsche Verlagsbuchhandlung.
Heft 14: Johannes Eck, Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther,
den Bürgermeister von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sam. Nach
den Originaldrucken, mit bibliographischer und sprachwissenschaftlicher Ein-
leitung, Anmerkungen und einem Glossar hsg. von Karl Meisen und
Friedrich Zoepfl. CXI, 82 S. gr. 80.
Heft 16: Tres orationes funebres in exequiis Ioannis Eckii
habitae. Accesserunt aliquot epitaphia in Eckii obitum scripta et catalogus
lucubrationum eiusdem (1543). Nach den Originaldrucken mit bio-biblio-
graphischer Einleitung, einer Untersuchung der Berichte über Ecks Tod und
einem Verzeichnis seiner Schriften hsg. von Joh. Metzler S. J. CXXXVI,
103 S. gr. 8° mit 4 Tafeln.
Mit diesen beiden Veröffentlichungen wird die kritische Ausgabe der Werke
des bedeutendsten altgläubigen Gegners Luthers fortgesetzt (die übrigen vgl. Heft
1. 2, 6, 13 Corp. Cath.). Heft 14 bringt vier seiner wichtigsten deutschen Schriften
aus den Jahren 1520—1527. An erster Stelle eine Auseinandersetzung mit Luther
unter dem Titel „Des heilgen concilii tzu Costentz, der heylgen Christenheit und
hohlöblichen keyBers Sigmunds und auch des teutzschen adels entschüldigung,
das in bruder Martin Luder mit unwarheit auffgelegt, sie haben Joannem Hub
und Hieronymum von Prag wider babstlich, christlich, keyserlich geleidt und
eydt vorbrandt“; sie ist eine Entgegnung gegen die Angriffe Luthers auf das Kon-
stanzer Konzil in der Zeit der Leipziger Disputation, bleibt jedoch nicht bei diesem
Gegenstand stehen, sondern geht auf die gesamte Lehre Luthers ein, ist aber trotzdem
weniger bedeutsam in wissenschaftlich-dogmatischer Hinsicht als wichtig für die
664 Nachrichten und Notizen
Kenntnis und Beurteilung der Persönlichkeit Ecks selber, durch die jp ihr enthal-
tenen Mitteilungen über die Leipziger Disputation, Ecks Aufenthalt in Rom und die
Zustände an der Kurie. Es ist dies die Schrift Ecks, die die Entgegnung Luthers
„Von den newen Eckischen Bullen und lugen“ hervorgerufen hat. Sodann sind
aufgenommen zwei Schriften aus den literarischen Kämpfen um die Einführung
der Reformation in Konstanz. Als 1526 eine Reihe führender katholischer Gelehrter
(Eck, Faber u. a.) auf dem Wege zur Disputation in Baden die Stadt Konstanz
berührten, suchte der Rat eine Disputation mit den evangelischen Prädikanten
herbeizuführen. Die Unterhandlungen zerschlugen sich jedoch. In dem literarischen
Streit, der sich nunmehr erhob, und in dem die Parteien sich gegenseitig die Schuld
an dem Scheitern .zuschoben, nahm Eck in diesen beiden Schriften zweimal das
Wort, in der „Ableinung der verantwurtung burgermeistera und rats der stadt
Costentz und der „Antwurt uff das ketzerisch büchlin Ambrosi Biarers". Die letzte
Schrift der Edition „Wider den gotzlesterer unnd ketzer Cunraten Som“ ist eine
Herausforderung zu einer óffentlichen Disputation über das Sakrament des Abend-
mahls an den Ulmer Reformator Konrad Sam. Neben der bei Editionen üblichen
textkritischen Einleitung, die wie die Ausgabe selbst von Zoepfl herrührt, hat
Meisen eine umfangreiche sprachliche Untersuchung vorausgeschickt, in der er den
Sprachgebrauch Ecks in diesen vier Schriften in Vokalismus, Konsonantismus,
Formenlehre und Syntax untersucht und wahrscheinlich macht, daB die verschie-
denen Sprachtypen und linguistischen Eigentümlichkeiten der Drucke auf Eck
selbst zurückgehen, der sich auf diese Weise seinem Leserkreis verstándlicher zu
machen suchte, wenn auch in diesen Fragen letzte Klárung nur das lángst verloren
gegangene Manuskript Ecks selbst geben könnte. Ein ausführliches Glossar rundet
die sprachlichen Untersuchungen ab und macht die Sprache Ecks für die Entwick-
lungsgeschichte der deutschen Schriftsprache nutzbar.
Die Kenntnis der Persönlichkeit Ecks wird weiter gefördert durch die im
16. Heft des CC. erfolgte Herausgabe der drei bei den Hauptgedächtnisgottesdiensten
auf Joh. Eck gehaltenen Trauerreden, sowie der Trauergedichte, die dem Verstor-
benen von Freunden und Schülern gewidmet wurden. Dieser Sammlung schickt
der Herausgeber J. Metzler S. J. eine sehr gelehrte, doch nicht immer glückliche
Einleitung voraus, die wertvolle Nachrichten über die einzelnen Verfasser zusammen-
trägt, aber mit viel zu großem Ernst allen entstellenden Nachrichten und Gerüchten
über Ecks Tod nach Entstehung und Verbreitung nachgeht, obwohl doch derartige
Geschichten durchaus zeitgebunden sind, sich bei so gut wie allen hervorragenden
Persönlichkeiten sämtlicher Religionsparteien finden und von keinem ernsthaften
Forscher für bare Münze genommen werden. Wertvoll ist ein Verzeichnis von 107
von Metzler nachgewiesenen verschiedenen Schriften Ecks unter genauer Bezeich-
nung der verschiedenen Ausgaben und unter Angabe der Bibliotheken, in denen
sie sich vorfinden. Doch gibt gerade das Fundortsverzeichnis zu einigen Bean-
standungen Anlaß. So wäre es besser gewesen, positiv auszusprechen, daß die Zu-
sammenstellung auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, anstatt nur zu sagen,
daß durch Aufführung Vorhandensein auf einer anderen Bibliothek nicht ausge-
schlossen sei. Es ist z. B. nicht recht einzusehen, warum wohl die Stadtbibliothek
Leipzig mit ihren 9 Eck-Drucken aufgenommen ist, dagegen die Universitäts-
bibliothek, die über 30 Eck-Schriften, darunter einige in mehreren Drucken, besitzt,
nicht berücksichtigt worden ist. Befremden muß auch, daB für Zürich noch die
Nachrichten und Notizen 665
Stadt-, Kantonalbibliothek usw. genannt werden, obwohl alle diese Institute seit 1916
zur Zentralbibliothek zusammengeschlossen sind, ferner, daB nach den Angaben.
in Hamburg auf Bestehen einer Stadt, Staats- und Universitätsbibliothek geschlossen
werden müßte, während es sich in allen Fällen um dasselbe Institut am Speersort
handelt. Diese Ungenauigkeiten der Benennung sind um so verwunderlicher, als
sie durch Heranziehung eines der neueren Bände des Jahrbuchs der Bibliotheken
oder der Minerva hätten vermieden werden können, doch sind sie verschwindend
gegenüber den großen Vorzügen, die die Ausgabe bietet. Wendorf.
Concilium Tridentinum... nova collectio ed. Societas Goerresiana Tomus XII,
Tractatuum pars prior. complectens tractatus a Leonis X temporibus usque ad
translationem concilii conscriptos. Coll., ed., illustr. Vincentius Schweitzer.
Frib. Brisgoviae 1930. Herder & Co. LX X X, 884 S. 4°. 60,— AM geb. 78.-- AM.
Von der großen Veröffentlichung der Görres-Gesellschaft über das Konzil von
Trient ist nach den Abteilungen Diaria, Acta und Epistolae nun auch die letzte Ab-
teilung, die der Traktate, durch einen stattlichen Band eróffnet worden. Die Vor-
arbeiten hat noch St. Ehses (t 1926) begonnen, Herausgeber ist Vincenz Schweitzer.
Den Traktaten sind im ganzen 2 Bánde zugewiesen worden; der erste, jetzt vorlie-
gende, reicht vom Auftreten Luthers und dessen Ruf nach einem Konzil bis zum
Ende des Pontifikats Pauls III., ein SchluBband soll die Zeit von der Erhebung
Julius' III. bis zum AbschluB des Konzils behandeln. Ausführlich wird über die
handschriftlichen Quellen berichtet, aus denen der Stoff geschópft worden ist (Einl.
S. XVI—XLVT); letzterer findet sich ganz überwiegend in Italien, und zwar in erster
Linie im Archiv und der Bibliothek des Vatikans; unter den übrigen Fundstätten in
Italien erwies sich die Ambrosiana in Mailand am ergiebigsten. Fast auffällig gering
war der Befund in den übrigen Ländern: Deutschland, Österreich, Spanien, Frank-
reich, der Schweiz. |
Nicht alles, was der Band bringt, war bisher ungedruckt; Herausgeber nimmt.
grundsätzlich auch solche Stücke auf, die schlecht oder an seltenen, nicht jedermann
zugänglichen Orten gedruckt sind. Ebensowenig beschränkt sich Herausgeber auf
Denkschriften, die sich unmittelbar auf die Konzilsfrage beziehen; wir finden viel-
mehr auch zahlreiche Traktate, die ganz oder vorwiegend die kirchliche Reform zum
Gegenstand haben. In der Tat gehen die Reformfrage und die Frage der Abhaltung
eines Konzils nebeneinander her und berühren sich so eng und so vielfältig, daß eine
strenge Scheidung auf Grund dieses Gesichtspunkts kaum durchführbar wäre; be-
kanntlich hat ja das Konzil auch schon in seiner ersten Tagungsperiode die dogma-
tische und die Reformsache nebeneinander behandelt. Andererseits war unter der
Gesamtmasse der aufgefundenen Schriften natürlich eine Auswahl für die Herausgabe
zu treffen, für den verantwortlichen Herausgeber keine leichte Sache es jedem recht
zu machen; doch empfängt man den Eindruck, daß jener sich dabei nur von sachlichen
Gesichtspunkten hat leiten lassen.
Der Band zerfällt in drei Abteilungen: 1. Traktate der Zeit Leos X., Adrians VI.
und Klemens VIJ.; 2. der Zeit Pauls III. bis zur Eröffnung des Konzils (Dezember
1545); 3. von der Eröffnung bis einschließlich der 7. Session, d. h. also bis zur Ver-
legung der Versammlung nach Bologna; die Traktate der Bologneser Periode finden
sich bier nicht, sie sollen beim dritten Teil der Acta, den Sebastian Merkle bearbeitet,
Verwendung finden. Im übrigen sind die einzelnen Stücke streng nach der Zeitfolge
666 Nachrichten und Notizen
geordnet; soweit sie ohne Datum überliefert sind, hat Herausgeber sich bemüht sie
zu bestimmen; oft galt es auch, den Verfasser ausfindig zu machen.
Im ganzen bringt der Band 126 Stücke, von denen 57 vor, 69 nach der Eröffnung
des Konails fallen. Von den ältesten Stücken betrifft die Mehrzahl die Reformsache,
die durch Adrian VI., aber auch durch die aus Deutschland herübertönenden Be-
schwerden sozusagen aktuell wurde. Auch unter Paul III. wechseln sich Schriften
zur Konzilsfrage im engeren Sinn mit solchen über mehr oder minder weitgehende
Reformen ab, letztere überwiegend von Kurialen — wie Contarini, Tommaso Cam-
pegi, Guidiceione. Aleander — herrührend. An die erste Verkündigung des Konzils
in Deutschland durch den Nuntius Vergerio schließt sich ein Gutachten Johann
Haners pro felici successu concilii an. Von andern deutschen Gelehrten treffen wir
Friedrich Nausea mit den sehr weitschichtigen Miscellanearum libri VIII. und Cochlaeus
mit Patrocinium parvulorum an. Von der Gegenseite wird die englische Absage an
das Konzil von 1537 nach dem einzig aufgefundenen Exemplar des gleichzeitigen
Druckes in lateinischer Fassung nebst zwei Gegenschriften, von Antonio Massa und
Albert Pighius, mitgeteilt.
Die letzte Abteilung bringt meist kürzere Stücke, zumal Äußerungen einer
größeren Anzahl von Konzilsteilnehmern über die einzelnen jeweils behandelten
Fragen dogmatischer und reformatorischer Art. Hervorzuheben sind die ausführ-
lichen Abhandlungen des Hieronymus Seripando über die Bücher der Heiligen
Schrift, die Tradition, über die Erbsünde und die Rechtfertigungslehre, aus dem auf
der Bibliothek von Neapel verwahrten NachlaB des Seripando. Über letzteren
Gegenstand erhalten wir neben anderen auch eine Äußerung des Jesuiten Alfonso
Salmeron. Einen besonderen Charakter weist eine Schrift des Wieners Wolfgang
Lazius auf: de sessione aut jure sedendi Romani regis (nämlich im Konzil), die den
Vorrang des römischen vor dem französischen König zu erhärten sucht.
So stellt der vorliegende Band eine wichtige Ergänzung zu den übrigen Teilen
des Gesamtwerkes dar, in erster Linie zum ersten Bande der Acta concilii, für die
wir dem Herausgeber um so dankbarer sein müssen, als er große Sorgfalt darauf ver-
wandt hat, die Texte auch durch gehaltvolle Anmerkungen sowie durch Beigabe eines
Namen- und Sachregisters und eines Verzeichnisses der Bibelzitate zu erláutern und
zu erkláren.
Wernigerode a. H. Friedensburg.
John Robert Seeley, Die Ausbreitung Englands, herausgegeben und eingeführt von
Karl Alexander von Müller, Übersetzung von Dora Schöll. XLIII u. 221 S. Stutt-
gart- Berlin-Leipzig (Deutsche Verlagsanstalt) 1928. 10.— &, Lw. 12.— AR.
Seelevs „Ausbreitung“ gehört zu den eigenartigsten, anregendsten und einfluß-
reichsten Werken der neueren Geschichtschreibung. Daß sie jetzt in deutscher Über-
setzung vorliegt ist gewiß besonders zu begrüßen, und man möchte nur bedauern, daß
das nicht schon längst der Fall gewesen ist. Wenige Schriften sind so geeignet von
der Insularität zu befreien, die keineswegs eine ausschließlich englische Eigenschaft
ist, und der glänzende politische Erzieher seiner englischen Nation kann auch für
unser politisches Denken sehr nützliche Lehren geben. Es ist überflüssig weiteres
über 5. zu sagen; Adolf Rein hat eine ausgezeichnete Studie über den Historiker
verfaBt und K. A. v. Müller schickt der Übersetzung in dankenswerter Weise eine
feinfühlige, treffliche Einführung voraus. Otto Vossler.
Nachrichten und Notizen 667
Francis Borgia Steck, O. F. M., Ph. D. The Jolliet-Marquette Expedition, 1673,
Quincy, III. U. S. A. 1928, XIV u. 334 S.
Das Buch ist die vollstándigste und gründlichste, aber auch umstündlichste
Untersuchung über die bedeutsame Expedition von 1673. Diese hat von Canada aus-
gehend den Hauptteil des Mississippi erforscht und, ehe Lasalle den Strom ganz bis
zum Meer hinabgefahren ist, festgestellt, daB er sich in den Golf von Mexiko ergießt
und nicht in den Pazifischen Ozean, wie man auf der Suche nach-der nordwestlichen
Durchfahrt gehofft hatte. Steck zeichnet den historischen Rahmen des Unternehmens
und unternimmt dann in etwas ermüdender und ófters polemisierender Gelehrsam-
keit einen dreifachen Nachweis: Einmal, daB es sich 1673 um die Erforschung und
nicht Entdeckung des großen Stromes gehandelt hat — was eine vorwiegend philo-
logische Frage betrifft; ferner, daß der Führer der Expedition nicht der Vertreter der
Kirche, der Jesuit Marquette war, dem zu Unrecht der gróBere oder gar alleinige
Ruhm zuteil geworden ist, sondern Tolliet, der Laie und Vertreter der Regierung.
Drittens endlich setzt er auseinander, daB der erhaltene Bericht über die Expedition
nicht von Marquette verfaßt sein kann, wie man bisher geglaubt hat. St. neigt dazu,
den Bericht als eine nachträgliche jesuitische Kompilation zu betrachten. Ihr hätten
u. &. die verlorenen Aufzeichnungen von Jolliet zugrunde gelegen, aber sie habe in
tendenzióser Weise die führende Rolle Jolliets zugunsten des Jesuiten Marquette
vertuscht, um für die Gesellschaft Jesu das Verdienst der Erforschung jener west-
lichen Gebiete in Anspruch zu nebmen. Otto Vossler.
Rich. Walter Franke, Zensur und Prefaufsicht in Leipzig 1830—1848. Archiv
für Geschichte des deutschen Buchhandels Bd. XXI (zugleich Leipziger Disser-
tation). Leipzig (Verlag des Börsenvereins) 1930, 194 S. 89.
Infolge der einzigartigen Stellung, die Leipzig infolge der Konzentration des
deutschen Buchhandels seit dem 18. Jahrhundert für das geistige Leben Deutsch-
lands im 19. Jahrhundert einnahm, erhielt die Handhabung der Zensur eine weit über
die Grenzen des Landes Sachsen hinausgehende Bedeutung. Sie für dieZeit zwischen
den beiden Revolutionen von 1831 und 1848 behandelt zu haben, ist das Verdienst
dieser fleißig und sorgfältig gearbeiteten Erstlingsschrift. Die Verhältnisse der Zensur
werden von allen Seiten beleuchtet, ihre rechtliche Grundlage in der Gesetzgebung
des deutschen Bundes und des Königreichs Sachsen wie ihre Organisation in Zusam-
mensetzung der Behörde in allen Veränderungen während des angegebenen Zeit-
raumes, die Verteilung der Geschäfte, der Vorgang der Zensur, ihre Strafmittel und
die Reichweite ihrer Wirksamkeit. Die Kgl. Sächsische Regierung war ja in ihrer
Zensurpolitik nicht freier Herr ihrer Entschlüsse, sie war in zweifacher Hinsicht
gehemmt, durch den Deutschen Bund und durch die politischen Einwirkungen der
beiden deutschen Großmächte. So ist denn die sächsische Zensurpolitik in dem
behandelten Zeitabschnitt die Resultante zwischen eigenem politischen Wollen und
den von außen wirkenden Kräften. Dies ist deutlich daran zu sehen, daß in den Zeiten
einer liberalen Richtung unter dem Ministerium Lindenau die Behandlung der inneren
Angelegenheiten des Landes fast völlig freigegeben wird, während bei Schriften von
allgemeiner Bedeutung den Wünschen sowohl des Bundes, noch mehr aber der beiden
Großmächte Rechnung getragen werden muß. Wendorf.
668 Nachrichten und Notizen
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Im Zusammenhang aus-
gewählt und eingeleitet von Benedikt Kautsky. 2 Bde. Króners Taschen-
ausgabe Bd. 64 u. 65. Leipzig, Alfred Króner Verlag, XLV, 398; IX, 356 S. 8°.
In einer Zeit wie der gegenwärtigen Krise, die, von vielen vorhergesagt, den
einen als die schwerste der bisherigen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft, den
anderen als die Krisis des Kapitalismus erscheint, in der sich das herrschende Wirt-
schaftssystem ad absurdum führt, sich überstürzt, um einer neuen Form des Wirt-
schaftens Platz zu machen, in einer solchen Zeit wächst das Bedürfnis nach Erfassung
und gedanklicher Durchdringung der wirtschaftlichen Zusammenhänge, die in Gestalt
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unsere gesellschaftliche Existenz bedingen.
Da begegnet denn unter diesen Umständen der Versuch von Karl Marx einem ge-
steigerten Interesse, der es in der Zeit des in der Entfaltung begriffenen Hochkapi-
talismus in dem umfassendsten Werk seines Schaffens unternommen hat, diese Wirt-
schaftsform in ihrem strukturellen Aufbau auseinanderzulegen, um aus ihrer genauen
Erkenntnis Mittel und Wege zu ihrer Überwindung begründen zu können.
Aber der Zugang zu Marx’ Hauptwerk ist nicht leicht. Der erste, von ihm selbst
herausgegebene Band war wohl in der Kautskyschen Volksausgabe bei Dietz in
Stuttgart zugänglich, aber er war doch nur ein Torso, für die beiden anderen Bände
war man auf die selten gewordene Ausgabe von Friedrich Engels angewiesen. Hier
Abhilfe geschaffen zu haben ist zweifellos ein Verdienst des Krönerschen Verlags,
einmal durch einen Neudruck des gesamten Werkes, nicht minder aber durch Auf-
nahme der vorliegenden beiden Bändchen in die Taschenausgabe. Marx hat ja dem
Verständnis seines Werkes selbst die größten Schwierigkeiten aufgetürmt. Er hat
es zur Überwindung und Kritik der von ihm vorgefundenen nationalökonomischen
Lehrmeinungen so mit Gelehrsamkeit belastet, daß die Systematik der Gedanken-
führung vielfach überwuchert ist und sich nur mit Mühe abhebt. Der Nichtfachmann
wird es darum begrüßen, daB ihm hier eine Ausgabe vorgelegt wird, die unter Weg-
lassung des in den zahlreichen Anmerkungen niedergelegten Materials von nur
dogmengeschichtlicher Bedeutung, unter Auslassung der als Beleg gedachten breiten
Zustandsschilderung englischer industrieller Verhältnisse u. a. m. die systematische
Linienführung des,, Kapitals“ deutlich und klar hervortreten läßt. BenediktKautsky
hat diese Aufgabe mit Umsicht und Sachkenntnis durchgeführt. Er hat seiner Aus-
gabe eine Einleitung vorausgeschickt, die zunüchst das Wichtigste aus Marx' Lebens-
gang gibt, dann aber in die eigentümliche Problematik seines Hauptwerkes einzu-
führen sucht, wobei man wieder einmal die alte Beobachtung machen kann, daß
der Jünger nicht immer der geeignetste Interpret ist, weil ihm infolge der ihm not-
wendig eigenen Problemblindheit die Blickrichtung auf manche Gelenke und Ver-
strebungen des Systems und dadurch auf manche brüchige und schadhafte Stelle
verbaut ist. Um auch dem Ungelehrten den Zugang zu erschließen, ist im Text alles
Fremdsprachliche mit Übersetzung versehen und außerdem jedem Band ein Fremd-
wörterverzeichnis beigefügt, das in durchaus richtiger Einstellung den Sinn der
einzelnen Wórter so wiedergibt, wie sie Marx angewandt hat. Ein am Ende des
2. Bändchens gegebenes Verzeichnis der ausgelassenen Kapitel gibt die Möglichkeit
der vergleichenden Orientierung an der groBen wissenschaftlichen Ausgabe und
vollendet den Charakter der beiden Bändchen als einer sinnvollen Einführung in ein
Werk, das sonst nur dem engeren Kreise der nationalókonomisch geschulten Fach-
leute zugänglich war. Wendorf.
Nachrichten und Notizen 669
Fritz Uplegger, Die englische Flottenpolitik vor dem Weltkrieg 1904—1909.
Beiträge zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges.
Heft 8. Stuttgart (W. Kohlhammer) 1930. 128 S. 6.— RA.
Der Verfasser gibt eine gründliche Untersuchung der englischen Flottenpolitik
bis zur Dreadnoughtpanik des Jahres 1909, die das englische Wettrüsten mit Deutsch -
land, wie der Verfasser nachweist, einleitete, und will damit indirekt auf die Be-
urteilung der deutschen Marinepolitik neues Licht werfen.
In einer exakten, leider mitunter nur skizzenhaften Darstellung präzisiert U.
die Rolle, die Englands lebenswichtigstes Machtinstrument im Rahmen der all-
gemeinen Politik und im besonderen in dem Verhältnis zu Deutschland spielte.
Von der stolzen Höhe englischer Seemacht um die Jahrhundertwende — im Jahre
1904 — hatte Englands Flotte in der Tonnage der Schlachtschiffe, wie auch in den
Kosten einen Three-Power-Standard erreicht! —, über das erste Bewußtwerden
der wachsenden Gefährlichkeit der entstehenden deutschen Flotte seit dem Kieler
Besuch 1904, das den deutschen Flottenbau alsbald zum Gegenstand ernsthafter
politischer Debatten machte, und die Reorganisation und Umgruppierung der
englischen Kriegsmarine unter dem Admiral Fisher, dem eifrigen Verfechter des
Präventivkrieggedankens gegen Deutschland, führt uns U. zu der entscheidenden
Wendung in Englands Flottenpolitik: dem Dreadnoughtbau, mit dem das Insel-
reich seine Übermacht zur See auf lange Zeit hinaus zu sichern gedachte, in Wirk-
lichkeit aber bald einsehen mußte, daß es mit der Einführung des dazu technisch
verfehlten Typs seine alte unerreichbare Überlegenheit aus der Hand gegeben hatte.
Der Verfasser entwickelt ausführlich und betont mit gesteigertem Nachdruck die
entscheidende Bedeutung der innerpolitischen Verhältnisse Englands, aus denen
heraus die Flottensparpolitik der liberalen Regierung, der damit im Zusammen-
hang stehende Abrüstungsvorschlag auf der zweiten Haager Konferenz und die
erfolglosen Besprechungen mit Deutschland im Sommer 1908 allein zu verstehen
und zu bewerten sind.
Unter den für das Verhältnis Englands zum deutschen Flottenbau wertvollen
Ergebnissen von U.s Arbeit will ich nur das auffallende Fehlen ‚einer den deutschen
Flottenbau mildernden oder hemmenden diplomatischen Einflußnahme“ Londons
noch nach dem Scheitern seines Abrüstungsvorschlages auf der Haager Konferenz
hervorheben. England war um diese Zeit noch in dem Gedanken verstrickt, mit
dem Dreadnoughtbau seine maritime Vormachtstellung „verewigt“ zu haben.
Ja, diese Haltung ging so weit, daß die englische Regierung den Übergang Deutsch-
lands zum Bautempo von jährlich vier Schiffen nicht mit entsprechenden Gegen-
rüstungen erwiderte, sondern trotz einer gegen den deutschen Flottenplan laut-
werdenden Erregung in der öffentlichen Meinung in ihrem fast vier Monate nach
Veróffentlichung der deutschen Novelle eingebrachten Marineetat für 1908 die
Bauserie von zwei Schlachtschiffen beibehielt. Interessant sind weiterhin die Mit-
teilungen über die Machenschaften der englischen Rüstungsindustrie, die zur Ent-
stehung und Belebung der Dreadnoughtpanik von 1909 in beträchtlichem Maße
beitrug, in der der Hinweis auf angebliche deutsche Baubeschleunigung in bewußt
verzerrter Aufmachung den wirksamsten Agitationsstoff lieferte. —
Dem Verfasser dieser gründlichen und dankenswerten Untersuchung, zu der
englisches Material reichlich Verwendung gefunden hat, wünschte man nur eine
670 Nachrichten und Notizen
schärfere Einsicht in die Universalität des politischen Geschehens, der dem Ganzen
erst die nötige Geschlossenheit verliehen hätte. Herbert Michaelis.
- Wissensehaftliche Gesellschaften und (Publikations-) Institute: Einem Bericht der
Historischen Kommission jür Hessen und Waldeck ist zu entnehmen, daB im
April d. J. der 2. Band der von Archivdirektor Dr. Küch bearbeiteten „Quellen
zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg‘ erschienen ist. Eine größere Zahl von
Publikationen sind druckfertig bzw. bereits im Druck: Gundlach, „Hessische Zen-
tralbehórden'* Bd. 1; Korn, Klosterarchive Bd. 3 (Oberhessische Klöster und Stifter);
Eckhardt, „Quellen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte der Werrastädte“;
„Quellen zur Kurmainzischen Verwaltungsgeschichte in Hessen“; Bruchmann,
»Territorialgeschichte des Kreises Eschwege“, ferner die entsprechenden Arbeiten
von Brauer über Ziegenhain, Eisenträger über Ahna-Beuna-Gudensberg, Schröder-
Petersen über Wolfhagen-Schartenberg-Zierenberg, Lotzenius über Battenberg-
Wetter und Sponheimer über die Niedergrafschaft Katzenellenbogen. Möchte es
der rührigen Kommission vergünnt sein, von diesen in besseren Zeiten durchgeführten
Untersuchungen und Publikationen die bereits im Druck befindlichen noch jetzt
herauszubringen, die übrigen werden wohl auf unbestimmte Zeit zurückgestellt
werden müssen.
Die Preußische Staatsbibliothek in Berlin hat die Vorarbeiten für den Druck
des Gesamtkatalogs der preußischen Bibliotheken abgeschlossen. Das Unternehmen
ist auf etwa 150 Bände von je ca. 90 Bogen veranschlagt und soll im Preise so niedrig
gehalten werden, daß auch kleinere Bibliotheken es sich anschaffen können. Für
privaten Besitz dürfte es trotz seiner bibliographischen Bedeutsamkeit schon wegen
des Umfanges kaum in Frage kommen.
Über das Oldenburgische Urkunden buch}, herausgegeben vom Oldenburger
Verein für Altertumskunde und Landesgeschichte [Band I Stadt Oldenburg von Dietrich
Kohl, die übrigen Bände, TI Grafschaft Oldenburg bis 1482, III Grafschaft Oldenburg
1482—1550, IV Grafschaft Oldenburg, Klöster und Kollegiatkirchen bis 1550, V Süd-
oldenburg (Wildeshausen und das Oldenburgische Münsterland) bis 1550, VI Jever-
land (mit Kniphausen) in Arbeit, von Gustav Rüthning] glaubt, da das Werk sich
dem Abschluß nähert, der unterzeichnete Vorsitzende des Vereins der Öffentlichkeit
eine Rechenschaft über den Aufbau, die Arbeitsleistung und die Beschaffung der
Mittel schuldig zu sein; seine Vorschläge hat der Vorstand gebilligt, Träger des
Unternehmens ist der Verein. Vorbilder für den Aufbau in synchronistischer Folge
hätten das Bremische, Ostfriesische und das Osnabrückische Urkundenbuch sein
können. Dagegen trat aber vor allem das Bedenken hervor, daß bei uns am Ende
des Mittelalters drei abgeschlossene Hoheitsgebiete vorhanden waren: die Graf-
schaft Oldenburg-Delmenhorst mit den Wesermarschen Stadland und Butja-
dingen in der Hand der Grafen, das Oldenburgische Münsterland mit Wildeshausen
unter dem Bistum Münster und Jeverland mit Kniphausen unter Häuptlingen
zweier Familien. Die Urkunden dieser Gebiete aus dem Oldenburger Landes-
archiv, dem Archiv der Stadt Oldenburg, den Staatsarchiven zu Bremen, Aurich,
Hannover, Münster, Osnabrück und dem Domarchiv und dem Generalvikariats-
archiv zu Osnabrück zu bearbeiten, mit der Auswertung einiger Privatarchive der
! Vgl. diese Zeitschrift Bd. XXV, S. 122ff., Bd. XXVI, S. 2021.
Nachrichten und Notizen 671
Grafen Merfeldt auf Füchtel bei Vechta, der Fürsten Knyphausen auf Lütetsburg
bei Norden und einiger anderen zu verbinden und die vorhandenen fremden Urkunden-
bücher zu Rate zu ziehen: das war im ganzen das Arbeitsfeld. Die Urkunden unserer
Hoheitsgebiete gleichmäßig in genauer Datumfolge, alles durcheinander, nach und
nach in sechs Bänden herauszugeben, erschien aus verschiedenen Gründen nicht
angebracht. Wer die noch jetzt vorwaltende Verschiedenheit der Gebiete unseres
Landesteils beachtet, wird zugeben, daß die Trennung nach Hoheitsgebieten für den
Gebrauch unseres Leserkreises unbedingt den Vorzug verdiente, zumal da die
Archivverwaltung in Oldenburg großen Wert darauf legte, daß im ganzen die Ab-
teilungen des Oldenburger Landesarchivs im Urkundenwerke der bequemen Be-
nutzung zugänglich gemacht würden. Dabei war von vornherein unser Ziel, jeden
Block des Urkundenbuches bis an die Aktengrenze 1550 oder etwas darüber hinaus
zu Ende zu bringen. Da für Band II bis VI kein Mitarbeiter zu finden war, so lag
die ganze Arbeitslast in meiner Hand allein. Daher ist von Jahr zu Jahr immer ein
Band zu seinem Ziele gebracht und fertiggestellt, auf Mitarbeiterleistungen brauchte
nicht gewartet zu werden. Wären wir in der Einrichtung des Oldenburgischen
Urkundenbuches dem Vorbilde der Nachbargebiete gefolgt, so würen wir in der
Gefahr gewesen, wie sie vor der Vollendung stecken zu bleiben: das Bremische
Urkundenbuch (Ehmck und von Bippen) kam nur etwas über 1430 hinaus, das
Osnabrückische (Philippi und Bär) bis 1300, das Ostfriesische (Friedländer) bis 1500.
Und damit hängt nun die wichtige Frage der Finanzierung zusammen. Um an
die Staatsbehörden herantreten zu können, wurden 1914 die Barmittel des Ver-
eins, mit einem Zuschuß von 400 von der Stadt Oldenburg, dazu verwendet,
um das Urkundenbuch Band I herauszugeben, die Arbeit brachte Herrn Prof.
Dr. Kohl die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft vom GroBherzog ein.
So hatten wir den Anfang gemacht. DaB dann nach dem Weltkriege von 1926 an
die anderen Bände folgen konnten, verdanken wir dem Entgegenkommen des Staats-
ministeriums und des Landtages, Herr Finanzminister Dr. juris Willers insbesondere
ist mit regem Interesse auf unsere Wünsche eingegangen und hat Jahr für Jahr die
gesamten Kosten der Drucklegung, die durch die Firma Gerhard Stalling in Olden-
burg in vorbildlicher Weise erfolgte, in den Voranschlag aufgenommen. Jahr für
Jahr muBte daher dem Staatsministerium und dem Landtage ein abgeschlossener
Teil vorgelegt werden. Wäre dies nicht geschehen, wäre das Urkundenbuch einmal
aus dem Voranschlag herausgekommen, so hätte es sehr schwer gehalten, es in dieser
bösen Zeit wieder hinein zu bringen. Zur Vollendung gelangten auch die Register,
die von Band zu Band bei zunehmender Erfahrung besser wurden, Personen und
Örtlichkeiten blieben beieinander, weil die Namen einander allzu oft überschneiden.
Auch die Sachregister sind nach und nach erheblich ausgebaut worden. Dadurch,
daB bei der Arbeit von jeder Urkunde sofort die Angaben in den Registerzettel-
kasten aufgenommen wurden, ist eine lästige Fehlerquelle verstopft worden, und
beim Fortgang des Studiums war man immer gleich im Bilde. Wenn Band VI,
Jeverland, hoffentlich noch vor Weihnachten ausgegeben ist, so bleiben für einen
uns schon in Aussicht gestellten Nachtragsband vor allem noch die Parochial-
kirchen von Nord-Oldenburg (für Süd-Oldenburg haben wir Karl Willoh, Ge-
schichte der katholischen Pfarreien), ferner die Kapitulation des Bischofs Franz
von Waldeck vor dem Domkapitel in Osnabrück nacb dem Generalvikariatsarchiv,
die in unserem Band V nur im Auszug zu finden ist, die Urkunde Kaiser Ludwigs
672 Nachrichten und Notizen
von 819, vielleicht nach einer Bearbeitung des Herrn Geh. Oberregierungsrats
Kehr, und die Erfüllung einiger Wünsche aus dem Leserkreise und den Bespre-
chungen. Dr. Rüthning.
Personalien. Ernennungen, Belörderungen. a) Historiker: Es habilitierte sich
in Kiel Dr. Otto Graf zu Stollberg-Wernigerode für neuere Geschichte.
Archivrat Dr. Harry Gerber in Frankfurt erhielt einen Lehrauftrag für
Handschriftenwesen und Urkundenlehre an der Universität daselbst.
Der ao. Professor der alten Geschichte, Dr. Felix Stähelin in Basel, wurde
zum ord. Professor daselbst ernannt, der Priv.-Doz. Dr. Hermann Heimpel in
München als ord. Professor der mittelalterlichen Geschichte nach Freiburg i. Br.
berufen (Nachfolger von E. Caspar).
b) Kunsthistoriker: Es habilitierte sich in Tübingen Dr. H. H. Mahn für neuere
Kunstgeschichte.
Die Privatdozenten Dr. Alfred Stange an der Universität München und
Dr. Eberhard Hempel in Graz wurden zu ao. Professoren ernannt.
Der o. Professor Dr. Hans Jantzen wurde zu gleicher Stellung nach Frank-
furt a. M., der ord. Professor Dr. Alb. Er. Brinkmann von Köln an die Universität
Berlin berufen.
Todesfälle: Ende Mai starb der em. Direktor des Staatsarchivs in Schwerin
Dr. Hermann Grotefend im 87. Lebensjahre. In Hannover am 18. Januar 1845
geboren, trat er nach Abschluß seiner Studien in den Archivdienst, war von 1881
bis 1887 am Stadtarchiv in Frankfurt a. M. tätig und gab hier heraus die ‚Quellen
zur Frankfurter Geschichte‘, 2 Bände 1884—1888. Im Jahre 1887 Staatsarchiv-
direktor in Schwerin geworden, widmete er sich mehr der mecklenburgischen Ge-
schichte und gab Band 15—21 des „Mecklenburgischen Urkundenbuchs‘ heraus,
ebenso die „Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte“ von ihrem
53.—84. Jahrgang (1888—1920). Sein Hauptarbeitsgebiet war jedoch die historische
Chronologie. Schon 1872 veröffentlichte er das „Handbuch der historischen Chrono-
logie des Mittelalters“, in 2 Bänden neubearbeitet als „Zeitrechnung des deutschen
Mittelalters und der Neuzeit" (1891 und 1898 erschienen). Daneben hat sich die
kürzere handliche Bearbeitung der Chronologie als „Taschenbuch der Zeitrechnung“
die Wertschätzung aller Archivbenutzer erworben, die bereits 1922 in 5. Auflage
erscheinen konnte. Auch die übrigen Hilfswissenschaften hat er gefördert, so schrieb
er.1869 (2. Aufl. 1875) ein Werk „Über Sphragistik“ und „Stammtafeln der schle-
sischen Fürsten bis zum Jahre 1740“, 1876, in 2. Auflage 1889 erschienen. Seine
stete Sorge galt aber der Chronologie, für die er im „Korrespondenzblatt des Gesamt-
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine" unter der Überschrift
„Chronologisches“ eine Sammelstelle für kleinere Mitteilungen aus dem Gebiete der
Zeitrechnung geschaffen hatte, immer bemüht, dieses unentbehrliche Hilfsmittel auf
der Höhe der neuesten Forschungen zu halten.
673
Die Naturalwirtschaft.
Eine kritisch-theoretische Studie
von
S. Stein.
Das neue Buch von A. Dopsch (Naturalwirtschaft und Geld -
wirtschaft in der Weltgeschichte, 1930) ist wie alles, was aus
der Feder dieses ausgezeichneten Gelehrten kommt, interessant
und anregend. Mit Hilfe eines erdrückenden historischen’
Materials behandelt er das Thema, das bis zuletzt hauptsáchlich
von Nationalókonomen behandelt worden ist. Er kommt zu dem
Schlusse, daß die Natural- und Geldwirtschaft keine Antithese
ist, daB im Gegenteil die beiden Wirtschaftsformen friedlich
nebeneinander bestehen können und daß es zweckmäßiger wäre,
diese Begriffe zu vermeiden.
Das ganze Buch bezweckt die Vernichtung des Schemas
Naturalwirtschaft — Geldwirtschaft, und da es dieses durch kein
ebenbürtiges ersetzt, sondern vorwiegend kritischer Natur ist,
bleibt es fraglich, ob das Buch seinen Zweck erfüllen wird.
Gegen diese Theorie sind schon manche Argumente angeführt
worden. Sie ging aus der Schlacht immer siegreich hervor, weil
bis jetzt keine andere den Platz behaupten konnte. Ihre An-
hänger gaben manchmal offen ihre Mängel zu und verschanzten
sich hinter der Behauptung, daß das Schema notwendigerweise
das historische Leben vereinfachen müsse und nur das Wichtige,
das Charakteristische hervorzuheben habe. Freilich hat niemand
das Geheimnis der Scheidung des Wichtigen und Charakte-
ristischen verraten. Nichtsdestoweniger ist im Augenblicke die
Theorie — wie auch übrigens jede Theorie — mit bloßen Tat-
sachen nicht zu widerlegen.
Diese Erwägungen geben mir den Mut, das Schema Natural-
wirtschaft — Geldwirtschaft einer erneuten, Prüfung zu unter-
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 43
674 S. Stein
ziehen, wobei ich mich hauptsächlich auf die theoretische Seite
des Problems beschränken werde.
* *
*
Vom theoretischen Standpunkte aus ist es von großer Wichtig-
keit, den Begriff der Naturalwirtschaft genau zu präzisieren.
Dieser wird gewöhnlich in zwei Bedeutungen gebraucht: erstens
zur Charakterisierung der geldlosen, der sogenannten Natural-
tauschwirtschaft, und zweitens der tauschlosen. Von einem all-
gemeineren Standpunkte aus können diese beiden Bedeutungen
ohne weiteres als zwei Stufen einer Entwicklungsreihe aufgefaßt
werden, und zwar der Reihe: Naturalwirtschaft, Naturaltausch-
wirtschaft, Geldwirtschaft. Die beiden letzten Glieder der Reihe
würde man zweckmäßigerweise unter den Begriff der Tausch-
wirtschaft subsummieren, da der Unterschied zwischen den beiden
. nur in der Art und dem Mittel, welcher man sich bei dem Tausche
bedient, besteht. Vom welthistorischen Standpunkte aus ist der
Gegensatz zwischen der tauschlosen und der Tauschwirtschaft
weitaus der wichtigste. Im Folgenden wird der Begriff Natural-
wirtschaft nur indem Sinne der tauschlosen Wirtschaft gebraucht.
* *
*
Als Vertreter der herrschenden wirtschaftsgeschichtlichen
Lehrmeinungen kann wohl Karl Bücher gelten. Er ist nicht der
alleinige Urheber der unter seinem Namen bekannt gewordenen
Theorie, hat ihr aber zweifelsohne die práziseste Form und den
besten Ausdruck gegeben. Und seine Theorie kann, trotz der
wichtigen und manchmal sogar entscheidenden Widersprüche,
auf die sie gestoBen ist, noch heute als die anerkannteste be-
trachtet werden. Darum erscheint die Auseinandersetzung an
erster Stelle mit K. Bücher als geboten.
K. Bücher ist vielmals als ein ausgezeichneter Historiker und
nicht minder hervorragender Theoretiker gerühmt worden. Das
sind die beiden Eigenschaften, die zur Schaffung eines historischen
Schemas unentbehrlich sind. Versuchen wir von diesen beiden
Standpunkten aus K. Büchers Werk zu würdigen.
Es sind viele Standpunkte, von welchen aus man einen
Historiker würdigen kann, entscheidend aber ist dieser: er be-
steht in der Betrachtung der Art und Weise, wie ein Historiker
ihm zur Verfügung stehende Quellen behandelt. Das ist der
Die Naturalwirtschaft 675
wichtigste Prüfstein. Hat man genau das Maß der Gewalttätig-
keit festgestellt, das der Historiker bei der Interpretation der
Quellen anwendet, so hat man schon das Hauptcharakteristikon
in der Hand. Manchmal ist diese Aufgabe sehr schwer. Bei
K. Bücher ist das aber einfach. Er gehórt als Historiker zu den
gewalttätigsten. Und seine Art, die Quellen zu behandeln, kann
recht anschaulich an zwei Beispielen dargelegt werden.
Zum Beweise, daB das Altertum keine Verkehrswirtschaft ge-
kannt hat, führt K. Bücher! u.a. ein Zitat aus Plinius dem
Älteren an: „Der Landwirt taugt nichts, der das kauft, was
eigene Wirtschaft ihm gewähren kann." Wie wird nun dieser
Satz interpretiert? Es ist ganz klar, daB, wenn wir aus diesem
Satz die tatsáchlichen Verháltnisse ergründen wollten, wir eher auf
das Vorhandensein der ,,nichtstaugenden Landwirte“ schließen
müßten, nicht aber auf das Nichtvorhandensein von Kaufge-
schäften. Denn diese praktische Maxime kann, wenn schon
einen, so doch nur den Sinn einer Belehrung und Bekehrung
haben. Lassen wir das jedoch beiseite. Nehmen wir das Zitat,
wie es Bücher verstanden haben will: Der rómische Bauer hat
eine Abneigung gegen die Verkehrswirtschaft; er kauft nur im
Notfalle. Damit wäre nur ein ziemlich konstanter Zug der
Bauern aller Zeiten und Vólker hervorgehoben. Das Interessan-
teste ist nun, daB derselbe Bücher wenige Seiten vor dem Zitat
behauptet: „die bei unseren Landwirten fortdauernde Eigen-
produktion’ tue keinen Eintrag „der Herrschaft der Tausch-
wirtschaft'?, Sollte man nicht dem römischen Bauer zubilligen,
was man dem modernen einräumt?
Ein anderes Beispiel. Das Paradestück der Bücher’schen Be-
weisführung ist ein Zitat aus dem „Satyrikon“ von Petronius?:
„Du darfst nicht glauben, — sagt einer der Gäste über den
reichen Emporkómmling, — daB er etwas kauft, alles wird bei
ihm erzeugt’.
Es muß ohne weiteres zugegeben werden, daß der erste Ein-
druck von dem Zitat ein ganz überzeugender ist; doch schlägt
dieser bald ins Gegenteil um.
1 K. Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft, 1. Aufl., 1893, S. 38, 11.Aufl.,
1919, S. 111. .
2 Ebenda, 1. Aufl., S. 21; 11. Aufl., S. 97.
3 Ebenda, 1. Aufl., S. 24; 11. Aufl., S. 100.
43*
676 S. Stein
Zuerst muß der Umstand festgestellt werden, daß Bücher den
Satz nicht bis zu Ende zitiert hat. Er brach bei dem Doppel-
punkt ab. Und nach dem Doppelpunkte folgenziemlich interessante
Worte:....... „alles wird bei ihm erzeugt: Wolle, Pomeran-
zen, Pfeffer, ja, wenn man Hühnermilch sucht, wird man sie da
finden““. Dieser Nachsatz ändert bedeutend den Sinn des ganzen
Satzes, indem er ihm den Charakter der Übertriebenheit ver-
leiht. Oder sollte Bücher wirklich meinen, daß Hühnermilch
zu den Produkten einer geschlossenen Hauswirtschaft gehört?
Noch schlimmer wird es, wenn man sich nicht mit einem
Zitat begnügt, sondern das ganze Werk zu Rate zieht. Dann er-
fährt man seltsame Sachen. In einer geschlossenen Hauswirt-
schaft werden nach dem Berichte des Verwalters an einem Tage
„zehn Millionen Sesterzen, was nicht angelegt werden konnte,
in die Kasse abgeführt“ . Das ganze Werk wimmelt von Geld-
geschäften und Spekulationen. Nehmen wir nun die Erzählung,
wie es der Emporkömmling zu seinem Reichtum gebracht hat:
„Ich bekam Lust Geschäfte zu machen ... Ich kaufte fünf
Schiffe, und Wein — und damals war er Gold wert — und schickte
sie nach Rom. . . Alle Schiffe litten Schiffbruch . . . An einem
Tage schluckte der alte Neptun dreiBig Millionen. Glaubt ihr,
daB ich die Courage verlor? . . . Als wenn nichts geschehen wäre,
baute ich andere, größere, bessere und glücklichere . . . Damals
bewies Fortunata ihre Anhänglichkeit: denn all ihren Gold-
schmuck, all ihre Kleider verkaufte sie und gab mir hundert
Goldstücke in die Hand...“ Man könnte das Zitieren beliebig
fortsetzen. Es scheint aber genug zu sein. Ich gehe wohl mit
der Behauptung nicht fehl, daß man kaum ein unglücklicheres
Beispiel wählen könnte, als das von Bücher angeführte.
Damit ist aber die Sache noch nicht erledigt. Wir kónnen
die bisher angeführten Argumente beiseite lassen und das Zitat
so nehmen, wie es Bücher genommen haben wollte: auf einem
Zechgelage wird der Reichtum des Gastgebers von einem Zecher
mit den Worten charakterisiert: er ist so reich, daB er nichts
zu kaufen braucht. Kann man diese Worte als einen Beweis für
eine Vorherrschaft der abgeschlossenen Hauswirtschaftsform be-
* Petronii Cena Trimalchionis, übers. v. L. Friedländer, 2. Aufl., S. 103.
Ebenda, S. 141.
6 Ebenda, S. 208.
Die Naturalwirtschaft 677
trachten? Durchaus nicht. Denn Bücher hat die tiefste Pointe
des Satzes nicht bemerkt. Die von einem der Zecher aufgestellte
Behauptung soll nämlich nicht die Bewunderung Büchers und
seiner Leser erregen, sondern die des Mitzechers. Und man kann
unmöglich den Satz in dem Sinne interpretieren, als ob der
Gastgeber eine allgemein typische Form der Wirtschaft verkör-
pert, sondern nur in dem Sinne, daß er eine Ausnahme bildet.
„Denk dir mal, der Raffke ist so reich, daB er nichts mehr zu
kaufen braucht“.
* x
*
Bei der Interpretation von Plinius verfährt Bücher wie ein
Fremder, der aus einem Öffentlichen Anschlag: „Rauchen ver-
boten“ den Schluß zóge, daB in der Stadt überhaupt nicht ge-
raucht werde.
Bei Petronius macht Bücher aus einem gerissenen Spekulan-
ten einen Vertreter der patriarchalischen Naturalwirtschaft.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß man nur dann 80
gewalttätig interpretieren und die evidentesten Dinge entstellen
kann, wenn man im Banne einer Theorie steht. Man kann der
Wirklichkeit blind gegenüberstehen, wenn man a priori weiB,
wie die Wirklichkeit aussehen muB.
Betrachten wir nun die rein theoretischen Grundlagen von
Büchers Stufenleiter.
Der erste Eindruck ist ein ungemein bestechender. Der Ge-
danke, die einzelnen Stufen an der Länge des Weges zu messen,
den die Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten zurück-
legen, scheint ganz überzeugend zu sein. Dazu scheint auch der
Maßstab ungemein glücklich gewählt zu sein. Er ist einfach und
kann — scheinbar — die verwickeltsten Zusammenhänge auf-
‚lösen. In seiner Einfachheit erinnert der Maßstab an das Atom-
gewicht in dem System der chemischen Elemente. Es nimmt
einen nur Wunder, warum Bücher bloB drei Stufen konstruiert:
die erste Stufe, wo das Gut in einer Wirtschaft konsumiert wird,
in der es produziert worden ist; die zweite, wo das Gut aus
der Wirtschaft des Produzenten in diejenige des Konsumenten
unmittelbar übergeht, und die dritte, wo das Gut eine Reihe
von Zwischenstellen durchláuft, bevor es in die Wirtschaft des
Konsumenten gelangt. Es scheint, daB er damit der Mannig-
678 S. Stein
faltigkeit der Anwendungsmöglichkeiten seines Maßstabes Ein-
trag tut. Sieht man genauer zu, so ist es nicht schwer festzu-
stellen, daß das eigentlich kein Zufall ist. Denkt man sich nämlich
die Wirtschaftsordnungen, wodas Gutzwei, dreiusw. Wirtschaften
passiert, so wird einem klar, daB man keine neuen „chemischen
Elemente‘‘, keine greifbaren Konturen bekommt. Mit anderen
Worten: das zahlenmäßige an dem Maßstab von Bücher ist nur
ein trügerischer Schein.
Führt man die Analyse weiter, so wird es bald klar, daß bei
Bücher nicht drei, sondern nur zwei theoretisch selbständige
Stufen da sind: die erste und die dritte. Die zweite Stufe —
die der Stadtwirtschaft — ist eigentlich eine Zusammenfassung
theoretisch grundverschiedener Wirtschaften: derjenigen der
Bauern, die noch die typische Form der ersten Stufe aufweist,
und derjenigen der Städter, denen schon die typische Form der
dritten Stufe eigen ist. Mit anderen Worten: die zweite Stufe ist
eine typische Übergangsstufe, und Bücher wendet seinen
theoretischen Maßstab garnicht an, sondern begnügt sich nur mit
dessen zwei Werten, dem niedrigsten, dem Nullwerte, und dem
höchsten. Das heißt, rein theoretisch betrachtet, daß sein Schema
mit dem Schema Naturalwirtschaft — Tauschwirtschaft identisch
ist, wobei er für die einzelnen Abstufungen der Tauschwirt-
schaft gar kein Kriterium übrig hat.
* *
*
Die Theorie Büchers ist weder Theorie noch Geschichte. Es
bleibt nur noch zu erklären, wie diese Theorie so lange das
Feld behaupten konnte. Die einzig mögliche Erklärung be-
steht wohl darin, daß sie als eine Ausgestaltung der land-
läufigen Meinungen einer bestimmten historischen Weltan-
schauung entspricht.
Das ist auch der Fall. Denn das der Theorie von Bücher zu
Grunde liegende Schema: Naturalwirtschaft — Tauschwirtschaft
scheint über alle Zweifel erhaben. Daß die moderne Tausch-
wirtschaft aus der Naturalwirtschaft entstanden ist, das scheint
zu dem eisernen Bestand der wirtschaftshistorischen Doktrin
zu gehören. Woraus konnte sonst die Tauschwirtschaft entstehen?
Und diese Überzeugung ist stärker als alle Tatsachen, als alle
historischen Quellen, denn das ist eben eine theoretische Über-
Die Naturalwirtschaft 679
zeugung, die aller Tatsachen uud aller Quellen spottet. Wenn
die Quellen dem nicht entsprechen, umso schlimmer für die
Quellen. Erfolgreich bekämpfen kann man deshalb diese Theorie
nur mit rein theoretischen Argumenten.
Zunächst muB zugegeben werden, daß die Entwicklung der
verkehrswirtschaftlichen Erscheinungen zu den charakteri-
stischen Merkmalen der Entwicklung unserer modernen Wirt-
schaft gehört. Das ist gewißrichtig. Irrig ist dagegen der Glaube,
daß die Naturalwirtschaft die Urform der modernen Wirt-
schaft darstellt und mit ihr durch eine gerade Linie verbunden
sein soll.
Die historische Entwicklung kann überhaupt nicht durch eine
gerade Linie wiedergegeben werden, höchstens durch eine wellen-
artige, denn das geschichtliche Leben, wie das Leben überhaupt,
ist immer ein Auf und Nieder.
Wir können zu demselben Schluß von einer anderen
Seite kommen.
Die Behauptung, daß die Tauschwirtschaft aus Naturalwirt-
schaft entstanden ist, ist eine Antwort auf die Frage: woraus
ist die Tauschwirtschaft entstanden ?
Dieser Frage aber kann eine andere beigesellt werden: Wie
ist die Naturalwirtschaft entstanden. Und eine mögliche Antwort
auf diese Frage wird lauten: aus der Tauschwirtschaft.
Die Tauschwirtschaft ist durch die Entwicklung des Tausches
entstanden. Ausseinem Absterben entsteht die Naturalwirtschaft.
Das ist keine Wortspielerei. Denn sehen wir genauer zu, so
beziehen sich fast alle Beispiele der „Naturalwirtschaft‘‘ auf die
Fälle, wo der Hausherr sich den Unbequemlichkeiten der Tausch-
wirtschaft entziehen will. Die vollendete Naturalwirtschaft ist
ein Programm und keine Tatsache. ,,Entziehe dich dem Handel,
wenn du es kannst“ sagt Plinius der Ältere. Und der Empor-
kömmling von Petronius kann sich die besten Leckerbissen zu
Hause herstellen lassen, ohne auf die unzuverlässigen Händler
angewiesen zu sein. Jeder, der den Weltkrieg durchgemacht hat,
kann eine Reihe weiterer Beispiele für die Entstehung der Natu-
ralwirtschaft anführen.
Wenn wir nun die beiden Fragestellungen miteinander ver-
binden, so bekommen wir eine Reihe, in welcher die Natural-
wirtschaft und die Tauschwirtschaft einander ablösen.
680 S. Stein
Diese Linie ist grundsätzlich unendlich. Sie kommt aus einer
Unendlichkeit und geht in eine Unendlichkeit hin. Und das ist
gut so. Denn die Frage, wie die Urwirtschaft ausgesehen hat,
ist im Grunde genommen keine historische. Wie weit wir auch
in der Geschichte zurückgehen mögen, auf ganz primitive Wirt-
schaft stoßen wir nie. Und die Ergründung dieser urersten pri-
mitiven Wirtschaft müßte eigentlich aus der Wissenschaft ver-
bannt werden.
Die Frage nach der Entstehung des Staates ist schon aus
der Wissenschaft verbannt. Warum zögert man, dasselbe mit
der Naturalwirtschaft als Urwirtschaft zu tun? Es kommt wohl
heute keinemVerfassungshistoriker in den Sinn, sich den Urzustand
so vorzustellen, als ob die einzelnen in den Urwäldern umher
irrenden Menschen plötzlich den Plan gefaßt hätten, den Contrat
social zu schließen. Warum glauben die Wirtschaftshistoriker
immer noch an den Naturzustand, an die Naturalwirtschaft, bei
der die einzelnen Wirtschaften durch keine Beziehungen mit-
einander verbunden waren.
Noch tief stecken in uns die Ideen der Aufklärung, und es
fällt uns schwer, uns von ihnen loszumachen. Die Kultur aber
ist nicht aus der Natur entstanden und man muß sich an den
Gedanken gewöhnen, daß die Geschichte auch ewige The-
mata kennt.
Zu diesen Themata gehört nebst dem Staate — auch die
Volkswirtschaft. Es ist nicht nur geschichtswidrig, sondern auch
wirklichkeitswidrig, sich die Volkswirtschaft irgend einer Ge-
schichtsperiode als eine Zusammensetzung von einander unab-
hängigen und gleichartigen Wirtschaften vorzustellen. Denn die
Wirklichkeit war nie und kann nicht homogen sein. Sie war
immer ein Ganzes, in dem sich die einzelnen Teile ergänzten.
Andererseits kann der Verkehr zwischen einzelnen Elementen
und deren gegenseitiges Wechselwirken — es mag minimal ent-
wickelt sein — niemals als etwas Untergeordnetes weggedacht
werden, denn eben der Verkehr und die Wechselwirkung machen
auseinem technischen und physiologischen Thema — ein soziales.
Es wäre doch absurd, wenn ein Biologe die Theorie der ,,natu-
ralen Selbständigkeit“ einzelner Organe bei den niedrigsten
Lebensformen aufstellte, warum tut das unbekümmert der So-
zialtheoretiker, ohne zu bemerken, daß er dabei nicht nur die
Die Naturalwirtschaft 681
wirklichen Verhältnisse entstellt,sondern auch an seinemeigensten
Thema vorbeigeht ?
* *
*
Kehren wir zu unserer Wellenlinie zurück. Daß die Tausch-
wirtschaft durch die Hochpunkte und die Naturalwirtschaft
durch die Tiefpunkte wiedergegeben werden, bedarf wohl keines
Beweises, wenn wir nicht die grundlegensten Wahrheiten der
Nationalökonomie in Zweifel ziehen wollen. Und es bleibt uns
noch ein Schritt zu tun und das Schema zu präzisieren. Es ist
von vornherein klar, daß die beiden Begriffe — Naturalwirt-
schaft und Tauschwirtschaft — nicht absolut zu denken sind,
denn die Höhe des Absteigens und die Tiefe des Absinkens sind
nicht a priori bestimmbar. Das gibt uns den Wink, diese ab-
soluten Begriffe durch Richtungsbegriffe zu ersetzen. Die volks-
wirtschaftliche Entwicklungslinie ist somit am besten durch eine
wellenartige darzustellen, wo die Naturalisierungs- und In-
dustrialisierungstendenzen einander ablösen.
Diese Linie stellt das oberste Prinzip der Entwicklung dar,
und als solche ist sie ziemlich inhaltsarm und muß so sein.
Nichtsdestoweniger ist an dieser Linie als dem obersten Thema
besonders für jeden Wirtschaftshistoriker festzuhalten, denn sonst
wird jede Wirtschaftsgeschichte zugleich sinnlos und unmöglich.
Sinnlos, weil sie zu einem Haufen disparater Tatsachen wird,
unmöglich, weil jedem Historiker nur ein Teil der Tatsachen zu-
gänglich ist, den er nie verwenden kann ohne' die Annahme,
daB dieser Teil nicht nur sich selbst darstellt, sondern auch das
Ganze ahnen läßt.
So wird die Naturalwirtschaft zu ihrem Gegenteil. Aus einem
absoluten Begriffe, der eine natürliche Wirtschaftsordnung be-
zeichnen soll, wird sie zu dem Grenzbegriffe einer Entwicklungs-
tendenz, die die Auflösung und den Tod bedeutet. Und es ist
richtig so, denn die „Naturalisierungen“, soweit wir sie geschicht-
lich belegen können, gehen Hand in Hand mit einem katastro-
phalen Sinken des wirtschaftlichen Niveaus.
Es wäre vielleicht an der Zeit, sich von der schlechten Roman-
tik zu befreien und die Naturalwirtschaft sich nicht als einen
paradiesischen Zustand der noch unschuldigen Menschheit vor-
zustellen.
682
Geschictswissenschaft und Rechtsgeschichte
im Streit um die Stammesrechte.
Ein Literaturbericht!
von
Walter Stach.
I. Probleme der handschriftlichen Überlieferung
der bayerischen Lex.
Mit 2 Exkursen zum Texte der Leges Visigothorum.
Im Jahre 1924, als noch das geschichtswissenschaftliche
Leben in Deutschland unter den Wirkungen der Nachkriegszeit
fast wie gelähmt schien, veröffentlichte B. Krusch im Verlag
1 Der Literaturbericht, dessen nachstehender Teil Probleme der handschrift-
lichen Überlieferung zur Lex Bajuvariorum behandelt und dessen Abschluß im
nüchsten Heft Sprachliches, Quellenanalytisches und Fragen der Entstehung
auch der anderen oberdeutschen Leges erórtern soll, beabsichtigt nicht, mit neuen
Thesen in den Streit der Meinungen einzugreifen; sondern ich will damit in erster
Linie meiner schon vor Jahren übernommenen Pflicht als Rezensent genügen und
versuchen, für Leser der Zeitschrift, die dem Austrag der Kontroverse ferner stehen,
eine kritische Übersicht über den Gang der Legesforschung, über die wichtigste
neuere Literatur und über den gegenwürtigen Stand der Probleme zu bieten. Eine
solche Würdigung der jüngeren rechtsgeschichtlichen Forschung auch von historischer
Seite dürfte bei der hervorragenden Bedeutung des Fragenkomplexes für die ältere
deutsche Verfassungsgeschichte schon im Sinne eines „Audiatur et altera pars" ge-
rechtfertigt sein, nachdem sich bisher eigentlich nur die deutschrechtliche Fach-
wissenschaft ausgiebig zum Worte gemeldet hat; sie scheint mir aber auch durch die
Tradition der Historischen Vierteljahrschrift nahegelegt, in der zu G. Seeligers Zeit
gerade rechtgeschichtliche Fragen der germanischen und fränkischen Periode mit
größter Aufmerksamkeit verfolgt und diskutiert worden sind. Daß dies im vor-
liegenden Falle statt durch eine Folge von Einzelanzeigen in Form einer rückblicken-
den Sammelbesprechung geschieht — nur der verspätete Zeitpunkt fällt mir per-
sónlich zur Last — war von der Schriftleitung von jeher beabsichtigt, und eine Reihe
von Verlegern hatte dazu seit langem in dankenswerter Weise Besprechungsstücke
zur Verfügung gestellt. Es sind das folgende Werke:
BRUNO KRUSCH, Die Lex Bajuvariorum. Textgeschichte, Handschrif-
tenkritik und Entstehung. Mit zwei Anhüngen: Lex Alamannorum und Lex Ri-
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 683
der Wr *imannschen Buchhandlung ein umfängliches Werk über
die 1 ‚juvariorum. Krusch übte in diesem Buche eine ver-
nichte Kritik an der seit Jahrzehnten geplanten und schon
seit 181. im Druck befindlichen Ausgabe des -bayerischen
Stammesrechtes von E. v. Schwind, die erst zwei Jahre später
in der Öffentlichkeit erschien. Darüber hinaus trat Krusch auf
breitester Front und in schärfster Form der unter H. Brunners
Ägide unbestrittenen germanistischen Schulmeinung über die
Entstehung der bayerischen, alamannischen und ribuarischen
Volksrechte entgegen. Es war ein wahrhaft revolutionäres
Buch und dabei keineswegs aus der Feder irgend eines jugend-
lichen Heißspornes, sondern verfaßt von dem ältesten Mit-
gliede der Zentraldirektion, dessen gewaltige Arbeitskraft und
überragende editorische Fähigkeit neben die Auctores anti-
quissimi Mommsens die Reihe der Scriptores rerum Mero-
vingicarum gestellt hatte und der in unsere auf weite Strecken
aphilologisch gewordene W issenschaftsperiode hineinragt, wie eine
lebendige Verkörperung der Traditionen von Pertz und Waitz?.
buaria. Berlin (Weidmannsche Buchhandlung) 1924, Gr. 8°. (II), 347 S. (künftig zit.
Krusch, Lex).
KONRAD BEYERLE, Lex Baiuvariorum. Lichtdruckwiedergabe der
Ingolstädter Handschrift des bayerischen Volksrechts mit Transkription, Textnoten,
Übersetzung, Einführung, Literaturübersicht und Glossar. Zur Jahrhundertfeier der
Übersiedelung der Universität von Landshut nach München im Auftrage der Juristi-
schen Fakultät und der Universitätsbibliothek München... herausgegeben und
bearbeitet. München (Max Hueber, Verlag) 1926. Lex. 8%. XCIV, 214 S. (zit. K.
Beyerle).
LEGES BAIWARIORUM. Edidit Ernestus Liber Baro de Schwind.
MGH. Legum sectio I. Legum nationum Germanicarum tomi V. pars II. Hannover
(Hahnsche Buchhandlung) 1926. 49. VII, 314 S. (zit. als Ausgabe v. Schwinds).
BRUNO KRUSCH, Neue Forschungen über die drei oberdeutschen
Leges: Bajuvariorum, Alamannorum, Ribuariorum. Mit 8 Schrifttafeln.
Abhandlungen d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Philol.-hist. Klasse, N. F. Bd. XX, 1.
Berlin ( Weidmannsche Buchhandlung). 1927. Gr. 8°. (II), 208 S. (zit. Krusch, Neue
Forschungen).
KARL AUGUST ECKHARDT, Die Lex Bajuvariorum. Eine text-
kritische Studie. Untersuchungen z. deutschen Staats- u. Rechtsgeschichte, hrsg.
v. J. v. Gierke. 138. Heft. Breslau (Verlag von M. & H. Marcus) 1927. Gr. 89. 71 S.
(zit. Eckhardt).
2 So P. Kehr beim Hinweis auf die geplante Neuausgabe der Frankengeschichte
Gregors von Tours durch Krusch; vgl. den jüngsten „Bericht über die Herausgabe
der Monumenta Germaniae Historica". SB. Ak. Berlin XX (1931), S. 4.
684 Walter Stach
Wie war es zu diesem merkwürdigen Buche gekommen ?
H. Brunner hatte schon in den siebziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts ein weitschauendes Programm aufgestellt, das
die Herausgabe der Rechtsquellen in den MG. betraf, und dabei
mit dezidierter Kritik an den damaligen Plänen von G. Waitz
nicht gekargt?. Ein Jahr nach dem Tode von Waitz war er
selbst durch die Preußische Akademie in die Zentraldirektion
gewählt worden und hatte die Leitung der nach seiner Über-
zeugung hóchst revisionsbedürftigen Legesabteilung mit der
Möglichkeit übernommen, sie nunmehr in seinem Sinne auszu-
bauen und umzugestalten. Dabei war Brunners besonderes
Augenmerk schon 1875 auch auf die Folio-Serie der germa-
nischen Stammesrechte gerichtet gewesen: er hatte eine Quart-
reihe und dafür u. a. die energische Inangriffnahme der Lex
Salica gefordert, die er am liebsten in den Händen von R. Sohm
gewußt hätte; umgekehrt hatte er die bereits 1863 erschienene
Folio-Ausgabe der alamannischen und der bayerischen Leges
von J. Merkel (MG. LL. III) auf schwerste getadelt, so daB
man diese fortan namentlich von rechtshistorischer Seite für
mehr oder minder verfehlt hielt*.
Noch eindringlicher waren diese Ansichten Brunners in dem
Kapitel,, Rechtsquellen“ in der „Deutschen Rechtsgeschichte“
zutage getreten, einem Werk, dessen erster Band schon im Jahre
des Eintrittes von Brunner in die MG. erschien und das noch
heute als die schlechterdings klassische Darstellung der ger-
manischen und fränkischen Rechtsperiode unbestritten aner-
kannt wird ö. In diesem Kapitel wiederholte Brunner mit Nach-
* Vgl. H. Brunner, Die Umgestaltung der Monumenta Germaniae. Preuß.
Jbb. 35 (1875), S. 535ff. — G. Waitz, Die Abteilung der Leges der Mon. Germ. hist.
Ebd., S. 656ff.
* Brunner a. a. O., S. 539; 538; 540. Die Auswirkung des Brunnerschen Ver-
dikts über Merkel in der herrschenden Meinung spiegelt sich deutlich in den Rechts-
geschichten von Schröder und v. Amira.
* Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. I (1887), I* (1906); II (1892), II? (be-
arbeitet von Cl. v. Schwerin 1928). War dieses darstellende Werk nach Form,
Sprache und Aufbau von einer in der Rechtsgeschichte bis dahin unerhörten Voll-
endung, so hatte doch Brunner seine wissenschaftliche Autorität schon längst zuvor
durch ein Meisterwerk der Forschung begründet: durch seine 1872 erschienene Mono-
graphie über die Entstehung der Schwurgerichte. Vgl. zur Würdigung seiner wissen-
schaftlichen Bedeutung die Nachrufe von U. Stutz, ZSav RG. 36 (1915); E. v.
Schwind, MJÖG. 37 (1917) u. K. v. Amira, Jb. Ak. München 1915.
+4
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 685
druck seine Kritik an Merkel. So führte er zur Lex Alaman-
norum des Näheren aus, daß sich Merkels Annahme von drei
verschiedenen Redaktionen, die Unterscheidung einer Lex
Hlothariana (aus der Zeit Chlotars II. bis zu der Zeit zwischen
Dagobert und Lantfrid I.), einer Lex Lantfridana (aus den
Jahren 724—730) und einer jüngeren Lex Karolina, bei ein-
gehender Untersuchung der überlieferten Textformen nicht auf-
recht erhalten ließe; vielmehr liege — außer dem ältesten,
wahrscheinlich noch unter Dagobert I. entstandenen Pactus
Alamannorum — nur eine einzige Redaktion der Lex unter
Herzog Lantfrid vermutlich aus den Jahren 717—719 vor,
und die Verschiedenheiten der von Merkel nur konstruierten
drei Texte beruhten zum Teil auf einer unrichtigen Verteilung
der Lesarten, zum Teil seien sie auf Rechnung der handschrift-
lichen Fortbildung der Lex zu setzen®.
Ganz ähnlich lautete auch seine Kritik an Merkels Bayern-
gesetz’. Auch hier wandte sich Brunner gegen die ZerreiBung
der Lex in drei oder mehrere Satzungen verschiedener Ent-
stehungszeit. Roth und Merkel, die Hauptvertreter einer
solchen Zerlegungstheorie, hätten ihre Schlußfolgerungen nur
aus dem Inhalte der Lex gezogen; in der handschriftlichen
Überlieferung fände ihre Lehre keine Stütze. Insbesondere
habe Merkel in seiner Ausgabe ohne ersichtlichen Grund
drei getrennte Formen des Textes gedruckt: einen Textus
primus in 22 Titeln, einen Textus secundus in 54 Titeln und
einen Textus tertius in 21 Titeln. Aber seine gesamte Text-
analyse sei zu verwerfen. Wenn den dritten Text die jüngere
Sprache und die Umstellung einzelner Titel charakterisieren
sollten, so sei dem entgegenzuhalten, daß Texteinteilung und
Titelrubriken erst nachträglich von den Schreibern der Hand-
schriften in verschiedener Weise zugefügt worden seien und
somit nichts zu beweisen vermöchten. Wenn Merkel ferner aus
dem ersten Text fünf Appendices ausscheiden wolle, so sei in
Wahrheit höchstens der zweite Anhang ein jüngerer Zusatz,
während die übrigen vier zum ursprünglichen Text gehörten.
Außerdem böte der zweite Text an einzelnen Stellen sogar
* Brunner, DRG. I!, S. 308—312.
7 Ebd. 8.318ff.— Zu Brunners späterem Urteil über die Merkelsche Appendix II
vgl. jedoch Anm. 33.
686 Walter Stach
bessere Lesarten als I und III, so in den Bußzahlen von V,7
und VI,6. Jedenfalls zeichne sich das bayerische Stammesrecht
gerade durch seinen einheitlichen Charakter vor den übrigen
Leges aus; es sei das Ergebnis einer einzigen Satzung und seine
Abfassung lasse sich mit ziemlicher Bestimmtheit in die Jahre
743—748 verlegen, in die Zeit, da der Bayernherzog Odilo nach
seiner Aussöhnung mit den Franken, aber unter Abhängigkeit
von der fränkischen Staatsgewalt wieder in sein Amt eingesetzt
worden war. Dem fügte Brunner später noch die folgenreiche
Vermutung hinzu, daß dem I. und II. Titel der bayerischen
Lex — und damit auch der eben genannten Appendix II —
ein wahrscheinlich unter Dagobert I. 629—634 entstandenes
merovingisches Königsgesetz kirchen- und staatsrechtlichen In-
halts zugrunde läge, das ursprünglich für eine Mehrheit fränki-
scher Herzogtümer bestimmt gewesen und auch bei der Ab-
fassung der Lex Alamannorum benutzt worden seis.
Bei der Erschließung dieser verschollenen Quelle war eine
weitere Hypothese Brunners von ausschlaggebender Bedeutung,
die überhaupt seine quellenkritischen Ansichten über die Ent-
stehung der meisten Stammesrechte in steigendem Maße be-
einfluBt hat: die bekannte „Zeumer-Brunner-Krammersche“
Euricianushypothese?. Ihr Ausgangspunkt lag in einer ur-
sprünglich ganz beiläufigen Anmerkung des I. Bandes der
„Deutschen Rechtsgeschichte'' über textliche Anklänge zwischen
der Lex Salica einerseits und der Lex Burgundionum und den
Leges Visigothorum andererseits!®, worin Brunner schon damals
die Spuren einer westgotisch vermittelten Seitenverwandt-
schaft unter den genannten Leges zu erkennen glaubte 1. Denn
5 Brunner, Über ein verschollenes merovingisches Kónigsgesetz des 7. Jahr-
hunderts. SB. Ak. Berlin 39 (1901), S. 932ff.
* So hat sie v. Schwind (NA. 33, S. 616; 618) mit Recht genannt, der im
übrigen — ohne Brunners Theorie damit antasten zu wollen — wiederholt vor der
,Pandorabüchse" des Euricianus warnte und hin und wieder die Annahme grad-
liniger Abhàngigkeit zwischen den Leges einer eurizianisch vermittelten Seitenver-
wandtschaft vorzog, , wenigstens daneben", wie er sich gelegentlich ausdrückt.
10 Brunner, DRG. I!, 5. 300, Anm. 44.
11 Überdiese „schwer zu verfolgenden Auseinandersetzungen“ — so v. Schwerin,
Einführung in das Studium der germanischen Rechtsgeschichte (1922), S. 99 Anm. 2
— habe ich bereits unter Anführung der Fachliteratur in der Einleitung meines Auf-
satzes berichtet: W. Stach, Lex Salica und Codex Euricianus. Eine textkritische
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 687
er nahm zur Erklärung dieser Übereinstimmungen an, die beiden
ostgermanischen Leges hätten textlich eine gemeinsame Vorlage
in der Kodifikation König Eurichs gehabt, die andererseits auch
bei der grundlegenden Redaktion der Lex Salica wenigstens für
die Fragstellung ihrer Rechtssätze als Muster benutzt worden
sei. Ausdrücklich aber hatte er seinen Beispielen hinzugefügt,
der ganze Problemkomplex erfordere noch eingehende Unter-
suchung; so namentlich das stellenweise Übergreifen der Pa-
rallelen auch auf andere Leges, wie auf die bayerischen und auf
den Edictus Rothari, auf den Brunner durch Zeumer aufmerk-
sam gemacht worden war. Doch dieser Vorbehalt einer weiteren
Verifizierung der damals noch sehr vorsichtig formulierten Ver-
mutung blieb unter dem suggestiven Eindruck von Brunners
überragender Stellung in der germanistischen Rechtswissen-
schaft für den Fortgang der Forschung ohne die richtige Wir-
kung. Zumal da ja die westgotisch-bayerischen Textbezie-
hungen völlig evident waren 13, nahm man von anderer Seite,
gestützt auf Brunners Autorität, statt einer behutsamen Nach-
prüfung sofort die Brunnersche Versuchshypothese für eine
erwiesene Theorie, auf der sich unbesehen weiterbauen ließ.
So veröffentlichte G. Tamassia bereits 1889 eine Spezial-
analyse zum langobardischen Edikt, die er 1897 unter Aus-
dehnung auf die späteren Leges Langobardorum mit dem Er-
gebnis abschloß, daß sich die Annahme westgotischer Ein-
flüsse auch auf diesem Quellenboden in weitestem Umfange
Studie zur Abhängigkeitsfrage des salischen Rechtes. HV. 21 (1922/23), S. 385—393,
worauf ich im folgenden teilweise zurückgreife.
12 Etwa die Hälfte der Textparallelen zwischen den westgotischen und baye-
rischen Stammesgesetzen ließ sich unmittelbar aus der ältesten Überlieferung der
westgotischen. Leges, den sog. Pariser Fragmenten (cod. Paris. lat. 12161, meist
Euricianus genannt), belegen, und bei den übrigen trugen die meisten westgotischen
Leges die Überschrift „Antiqua“. Danach waren Eurichs Konstitutionen von den
bayerischen Redaktoren in reichem Maße verwertet worden: eine Beziehung, die
— ühnlich, wie bei den Leges Burgundionum — der rechtsgeschichtlichen Forschung
von jeher aufgefallen war, aber ohne daß man früher diesen Beobachtungen besonders
nachgegangen würe; vgl. z. B. O. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen.
I. Bd. (1860), S. 159f.; 90. Völlig neu war an Brunners Ausführungen (s. o. Anm. 10)
eigentlich nur, daB er auch die Lex Salica in derartige Abhüngigkeitserwügungen ein-
bezog, obwohl er miBverstándlich von Übereinstimmungen sprach, die bis dahin
„allgemein übersehen“ worden wären.
688 Walter Stach
bewahrheite??, So stellte fernerhin K. Zeumer 1894 für die
Wiedergewinnung nicht erhaltener Euricianischer Leges den
Grundsatz auf, man dürfe diejenigen westgotischen ,,Anti-
quae", die in die Gesetzessammlungen der Bayern, Burgunden
und Franken übernommen oder von diesen benutzt worden
seien, ohne weiteres als ehemalige Eurich- Satzungen an-
sprechen“. Damit war der Hypothese Brunners unter Be-
rufung auf ihn eine Bahn gewiesen, die schlieBlich dahin
geführt hat, daB man überhaupt bei textlichen Zusammen-
klängen der älteren Stammesrechte mit Vorliebe an eine ge-
meinsame Euricianus-Grundlage dachte, und ganz in diesem
Sinne verfuhr Brunner schließlich selbst, wenn er sich bei der
Entdeckung seines verlorenen fränkischen Königsgesetzes dar-
auf berief, eine vorsichtige Konjekturalkritik vermöge die
trümmerhafte Eurichüberlieferung einigermaßen zu ergänzen,
da feststünde, daß die Leges Eurici nicht nur bayerisch,
burgundisch und langobardisch, sondern auch in der Lex
Salica und in salischen Kapitularien, ja sogar an einigen
Stellen der Lex Alamannorum verwertet worden seien l.
Nach alledem hatte sich das Bild der germanischen Stammes-
gesetzgebung unter Brunners maßgebendem Einfluß in wesent-
lichen Punkten gewandelt, und es lag nahe, daß man bei der Bear-
beitung der Texte für die neue Leges-Serie derMG. aus dem verän-
derten Stande der Forschung die praktischen Folgerungen zog!$.
13 G. Tamassia, Le fonti dell’ editto di Rotari, Pisa 1889; ders., Römisches
und westgotisches Recht in Grimowalds und Liutprands Gesetzgebung. ZSavRG.G
18 (1897), S. 148ff. — Wie blindlings Tamassia der Anregung Brunners gefolgt war,
zeigen selbst Zeumers Rezensionen NA. 15, S. 217 und ebd. 23, S. 588.
14 Leges Visigothorum antiquiores (vgl. Anm. 19), praef. p. XIV: Certe eas
leges „antiquas“ Eurico attribuere debemus, quae in Leges Baiuvariorum, Burgun-
dionum, Francorum receptae vel ibi adhibitae sunt.
15$ Vgl. Brunner a. a. O. (Anm. 8), S. 937f. u. 949ff. — Bei der Einbeziehung
auch der alamannischen Leges in den Kreis der Euricianussprößlinge handelt es sich
um den Titel XLII, 2 u. 1 (zwei Stellen, an denen Zeumer bis zuletzt die alamannische
Abhängigkeit von den bayerischen Leges verfocht) und Titel X X XIX, dessen nahezu
wörtliches Korrelat in der L. Bai. VII, 1--3 Zeumer als Euricianum bestimmt hatte.
DaB diese beiden Novellen der Lex Alamannorum gleichwohl mit Eurich nichts zu
tun haben, sondern vielmehr auf das rómische Recht der Westgoten zurückgehen,
hat inzwischen Krusch, Neue Forschungen S. 100ff., wohl unwiderleglich dargetan.
16 Methodisch wäre freilich der umgekehrte Weg, wie ihn auch Zeumer bei seiner
Geschichte der westgotischen Gesetzgebung gegangen ist, besser gewesen.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 689
Dort waren bereits 1888 die Leges Alamannorum von K.
Lehmann (Legum Sectio I. Legum nationum Germanicarum
tomi V. pars I) erschienen, wobei sich der Herausgeber in seiner
Selbstanzeige!“ wegen der textlichen Umgestaltung ausdrück-
lich auf die oberste Verantwortung Brunners und auf die ent-
scheidende Mitwirkung Zeumers berief. Dort hatte ferner 1892
R. v. Salis die Leges Burgundionum (ib. tomi II. pars I) neu
ediert: eine Ausgabe, die freilich schon wenige Jahre danach
der kritischen Sonde Zeumers wieder zum Opfer flel 18s. Dort
wurden weiterhin 1902 die Leges Visigothorum in Zeumers
Quartausgabe (ib. tomus I) veróffentlicht, nachdem bereits
1894 eine Ausgabe in Oktav vorangegangen war!?; beide Aus-
gaben bedeuteten in der Tat, im Verein mit den begleitenden
Aufsätzen Zeumers, einen epochalen Fortschritt in der Er-
17 ZSavRG.G 10 (1889), S. 248ff. Insbesondere führt Lehmann S. 248 aus, daB
die Ausgabe statutengemäß vor der Drucklegung unter die Kontrolle Brunners und
Zeumers getreten sei, und zwar dergestalt, daB Zeumer bei jedem Druckbogen Text
und Noten zunächst vom Standpunkt der äußerlichen, dann aber auch vom Stand-
punkt der hóheren Kritik revidierte, daB bei Meinungsverschiedenheit die Stimme
Brunneis als des ständigen Leiters der Abteilung den Ausschlag gab und daß der
Leiter das Ganze schließlich in letzter Lesung genehmigte.
15 Zeumer, Zur Textkritik und Geschichte der Lex Burgundionum. NA. 25
(1900), S. 257ff. Zeumer legte mit durchschlagenden Gründen dar, daB die Hss.-
Klassifizierung bei v. Salis durchaus verkehrt und wissenschaftlich nicht zu recht-
fertigen ist. Es sind zwei selbstándige Überlieferungszweige der Leges Burgun-
dionum zu scheiden: die Hss. B9 und B10 im Gegensatz zu den übrigen. Wührend
diese sich aus einem Archetypus mit gewissen Auslassungen und Entstellungen her-
leiten, sind B 9 und B10 aus einem Exemplar hervorgegangen, das diese Verderbnisse
noch nicht enthielt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daB man sich als Benutzer
der Salisschen Ausgabe nótigenfalls den Text nach folgender kritischer Regel erst
selbst herstellen muss: Was B9 oder B10 mit auch nur einer der übrigen Hss. ge-
meinsam hat, gehórt dem ültesten Text an, den wir auf Grund des hs. Materials über-
haupt herstellen können. Für die verbleibenden Fälle ist Zeumers Aufsatz zu Rate
zu ziehen, der mit den Mitteln der inneren Kritik zwischen den verschiedenen Les-
arten so entschieden hat, daß in keinem Falle zu Zweifeln Raum bleibt. Allerdings
ist die Anwendung der obigen Regel auf den älteren Teil der Leges Burgundionum
bis einschlieBlich Titel LX XXV beschrünkt.
19 Die Oktavausgabe der Legum codicis Euriciani fragmenta und der Lex
Visigothorum Reccessvindiana mit den von Gaudenzi entdeckten Fragmenten führt
den Titel: Leges Visigothorum antiquiores. — Von den Aufsätzen Zeumers
ist am wichtigsten seine Geschichte der westgothischen Gesetzgebung:
NA. 23 (1898), S. 419ff.: eb. 24 (1898); S. 39ff.; eb. 24 (1899), S. 571ff.; eb. 26 (1900),
S. 91ff.
Histor. Vierteljahrschriit. Bd. 96, H. 4. 44
6% Walter Stach
forschung der Frühgeschichte des germanischen Rechtes“, ob-
zwar die Zuverlässigkeit des kritischen Apparates gerade in der
größeren Ausgabe manches zu wünschen übrig läßt, wenn man
Zeumers varia lectio mit den handschriftlichen Grundlagen
genauer vergleicht?!, Dort sollte schließlich auch die kritische
Ausgabe der Lex Salica erscheinen, deren Vorbereitung in den
Händen von M. Krammer lag.
Dieser hatte unter Zeumers Anleitung und Billigung in den
Mittelpunkt seiner Voruntersuchungen die vielberufenen Leges
Eurici geschoben, und zwar zunächst mit der Behauptung,
die Einflüsse Eurichs wären vom Titel VI der Lex Salica ab
in allen salischen Handschriften zu finden; doch hätte die so-
genannte II. Textfamilie die Abdrücke der westgotischen Vor-
lage zumeist weit besser bewahrt; mithin wäre auch mit ihrer
Hilfe der salische Grundtext vorwiegend zu rekonstruieren 22.
Das fand auch Brunners ungeteilten Beifall. Obwohl er sich das
endgültige Urteil bis nach Fertigstellung der neuen Ausgabe
vorbehielt, gab er in der Neuauflage des I. Bandes der ,,Deut-
schen Rechtsgeschichte" zunächst allgemein seiner Genug-
tuung Ausdruck, wie durch Zeumer, Tamassia und Krammer
die Euricianushypothese bekräftigt worden sei, und er er-
kannte weiterhin an, daß Krammers Beginn ,,einer systema-
tischen Vergleichung der Lex Salica mit dem Euricianus und
dessen Sprößlingen‘‘ den von Pardessus und Waitz aufgestellten
Stammbaum der salischen Handschriften ins Wanken bráchte;
nur müsse man dann auf eine verlorene ältere Vorlage der
codd. 6,5 zurückschlieBen, da unmóglich selbst christianisierte
Stellen der II. Textklasse von den codd. 1—4 nachträglich
wieder ausgestoßen sein könnten. Ja, es widersprach sogar
niemand, als Krammer diese neuen Ansichten über die salische
Textkritik kurzerhand wieder im Stiche lieB und darzulegen
versuchte, daB in Wahrheit weder die seitherige I., noch die
2 Vgl. dazu die Würdigung der Oktavausgabe durch A. B. Schmidt,ZSavRG.G
16 (1895), S. 231#f.
31 Vgl. den unten angehängten Exkurs II (S. 730ff.) über Zeumers Ausgabe des
Corpus Reccessvindianum und Ervigianum. Zu Zeumers Ausgabe der Fragmenta
legum codicis Euriciani vgl. auch den I. Exkurs (S. 722ff.).
33 M. Krammer, Kritische Untersuchungen zur Lex Salica. I. (Ein II. Teil
ist nie erschienen). NA. 30 (1905), S. 261ff.
33 Brunner, DRG. I:, S. 438f.; 430f.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 691
eben von ihm selber an die Spitze gerückte Textklasse II den
Grundstock der salischen Überlieferung bildeten, sondern viel-
mehr die codd. 7—9, die bis dahin allgemein für die III. und
jüngste Handschriftenfamilie gegolten hatten. Im Gegenteil:
Trotz B. Hilligers eindringlichem Protest“ wurde von dieser
seltsamen textkritischen Voraussetzung her zuletzt der Druck
der neuen Ausgabe begonnen, mit dem bekannten Endresultat,
daß 1916 — ein Jahr nach Brunners Tod — die ausgedruckten
Bogen auf Grund zahlreicher Gutachten von führenden Ju-
risten, Historikern und Philologen wieder eingestampft wurden,
nachdem B. Krusch den Widersinn der Krammerschen Theo-
rien und die Unmöglichkeit seiner editorischen Grundsätze in
zwingender Beweisführung dargetan hatte“.
Inzwischen war nach 25 jähriger Vorarbeit endlich auch die
Schwindsche Ausgabe der bayerischen Lex bis zur Veröffent-
lichung gediehen. Aber leider gab auch sie zu gewichtigen
Bedenken Anlaß. Nach langwierigen internen Auseinander-
setzungen, die seit dem Krammerschen Unglück nicht wieder
zur Ruhe gekommen waren “, wurde darum 1920 von der Zen-
traldirektion beschlossen, auch diese Edition noch vor dem
Erscheinen fachmännisch überprüfen zu lassen. In die damit
betraute Kommission wurde außer Seckel, Heymann und Tangl
erneut B. Krusch gewählt, und er unterzog sich auch der wei-
24 B. Hilliger, Lex Salica. Epilog und Hunderttiteltext. HV. 14 (1911),
S. 153ff. — Für weitere Angaben muß ich auf meinen in Anm. 11 zitierten Aufsatz,
S. 389 ff. verweisen. Nur einige Literatur sei noch genannt: M. Krammer, Zur
Entstehung der Lex Salica. Sonderdruck 1910 aus der Festschrift für Brunner.
— S. Rietschel, Die Münzrechnung der Lex Salica, Exkurs. Vjschr. Soz. WG. 9
(1911), S. 78ff. — M. Krammer, Forschungen zur Lex Salica NA. 39 (1914),
S. 599ff.
3$ B. Krusch, Der Umsturz der kritischen Grundlagen der Lex Salica. NA. 40
(1916) S. 497ff. — Ders., Der neu entdeckte Urtext der Lex Salica. Nachr. d. Ges.
d. Wiss. Göttingen, philol.-hist. Klasse 1916, S. 683ff. — Für die Gutachten, die
Stellungnahme Heymanns und für Krammers Erwiderung vgl. NA. 41 (1919); für
das Urteil v. Schwerins über Krammers Ausgabe: Zur Textgeschichte der Lex Salica.
NA. 40 (1916), S. 581ff.
Vgl. dazu Krusch, Neue Forschungen S. 6ff.; Kehr, NA. 46 (1925), 160ff.,
der in seinem Nachruf auf Seckel betont von der Polemik Kruschs gegen Brunner
als Abteilungsleiter abrückt und Brunner sowohl wie Zeumer von jeder Mitverant-
wortung an den Legesausgaben entlastet; Heymann, SB. Ak. Berlin 1922, S. 39 und
dessen Sondervorwort zur Schwindschen Ausgabe.
44*
692 Walter Stach
teren Aufgabe, sein Urteil in einer besonderen Abhandlung ein-
gehend zu begründen, mit der ihm eigenen Energie und Gründ-
lichkeit. Eben diese Abhandlung ist das eingangs genannte
Buch, in dem der Verfasser die gesamte Arbeit, wie sie eigentlich
einem Neubearbeiter der Merkelschen Ausgabe zugekommen
wäre, ab ovo noch einmal geleistet hat?”.
Was nun Krusch bei diesem unfreiwilligen Einbruch in die
Domäne der Juristen in kürzester Frist geschaffen hat, ist nach
meiner Überzeugung das methodisch reifste und inhaltlich
gediegenste Werk, das die deutsche Forschung zur Textkritik
der Leges besitzt. Unter den Lebenden wäre wohl kein zweiter
imstande gewesen, das außerordentlich komplizierte Über-
lieferungsproblem gerade dieses Stammesrechtes, dessen Schwie-
rigkeiten sich am ehesten mit der Rekonstruktion des Urtextes
der Lex Salica vergleichen lassen, bis zu dem Grade der Voll-
endung zu lösen, und angesichts dieser überragenden Leistung
hat man nur den einen Wunsch, es möchte der älteren deutschen
Rechtsgeschichte vergönnt sein, von dem souveränen Beherr-
scher merovingischer Textfragen auch noch die grundlegende
kritische Ausgabe der Lex Salica geschenkt zu erhalten.
Freilich, von dem Inhalte des Büches eine zulängliche Vor-
stellung zu geben, ist außerordentlich schwer. Denn in An-
betracht des methodologischen Grundsatzes, daß ja nur auf der
Tatsachengrundlage der handschriftlichen Überlieferung alle
geschichtlichen Rückschlüsse hinsichtlich der Entstehung der
Lex aufgebaut werden können, ist genau genommen beinahe
jede Seite des Buches und beinahe jeder Variantenexkurs gleich
wichtig und wertvoll, ganz zu geschweigen des kunstvollen In-
einandergreifens aller Einzelbeobachtungen, auf deren bis ins
Kleinste durchdachtem Gefüge das eigentlich Zwingende der
subtilen Beweisführung beruht.
Die Einleitung des Buches beginnt mit dem jüngsten Ab-
schnitt der Textgeschichte: mit einem Rückblick auf die frü-
heren Ausgaben der bayerischen Lex, angefangen von der
T E. v. Schwind, Kritische Studien zur Lex Bajuvariorum. I. Teil: NA. 31
(1906), S. 398ff.; II. Teil: Eb. 33 (1908), S. 605ff.; III. Teil: Eb. 37 (1912), S. 413ff.
— Seine textkritische Haltung in diesen Studien ist widerspruchsvoll und schwan-
kend; mit den Hss. befaBt er sich eingehend erst ganz zuletzt, und gegen diesen
III. Teil ist Kruschs Kritik in erster Linie gerichtet. Vgl. Krusch, Lex S. 5, Anm. 1.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 693
Editio princeps Sichards aus dem Jahre 1530, bis zur ersten
Monumenta-Edition. Man ersieht, daß die Lesarten der älteren
Drucke, die hin und wieder selbst in der jüngeren Forschung
noch eine Rolle gespielt haben, in Wahrheit keinerlei Hand-
schriftenwert besitzen, so daß sich die Merkelschen Siglen E 12
(Sichard), E 8 (Tilius) und E11 (Herold, und nicht etwa die
Varianten eines verlorenen Fuldensis, wie noch Merkel gemeint
hatte) in Zukunft erübrigen. Ferner erkennt man, daß Merkel
eigentlich nur einen Vorläufer gehabt hat: Mederer, der mit
seinem wohlbedachten Abdruck des alten Ingolstädter Codex
(B 1) den bis dahin von der Forschung gänzlich vernachlässigten
Antiquatext des bayerischen Stammesrechtes zum ersten Male
ans Licht zog. Man ermiBt aber auch mit Bewunderung den
ungeheuren Fortschritt in der kritischen Herausgabe germa-
nischer Rechtsquellen, den seinerzeit die Merkelsche Bear-
beitung des Textes sozusagen mit einem Schlage bewirkt hat.
Denn wie Krusch im Gegensatz zu der landláuflgen Anzweife-
lung Merkels schon eingangs darlegt, hat dieser in zehnjähriger
Anstrengung als erster das umfangreiche und auBerordentlich
verworrene Material zur Überlieferung der Lex vollstándig durch-
gearbeitet und gesichtet, seine Ausgabe mit einem lichtvollen
kritischen Apparat versehen, die Quellen fleiBig notiert und
durch Heranziehung anderer Rechtsdenkmäler und Urkunden,
auch der späteren volkstümlichen Gesetzgebung, für das Ver-
ständnis des Textes und die Kenntnis der Entwicklung des
Bayernrechtes so viel geleistet, daB seine Arbeit zu den besten
gezählt werden darf, die in der Leges-Serie der MG. erschienen
sind. Selbst die Handschriften-Filiation, die Merkel seiner Aus-
gabe zugrunde gelegt hat, erweist sich im großen und ganzen als
wohl begründet und bedeutet als Pionierarbeit auf einem da-
mals noch unerschlossenen Quellenboden eine hervorragende
Leistung. Daher hätte es die Rechtswissenschaft Merkel
danken sollen, statt seine Lebensarbeit zu verfemen, daß er in
seinem Textus primus aus seinen Handschriftenklassen A und B
den alten barbarischen Wortlaut der Lex zum erstenmal auf
breiter wissenschaftlicher Grundlage herzustellen versucht hat,
mag auch sein Textus secundus einen handschriftlichen Zwitter
bilden, der in seiner disparaten Zusammensetzung eine auch nur
äußerliche Sonderstellung auf keinen Fall verdient, obschon
694 Walter Stach
Brunner gerade hierin Lesarten finden wollte, die besser wären
als die von I und III. Ebenso zutreffend war es, daß Merkel
seinem ersten Text A B eine jüngere, sprachlich korrektere und
in fester Ordnung angelegte Sammlung gegenüberstellte, wie
sie in den Handschriften E und den Vulgär-Ausgaben vorliegt.
Daß er diesen Emendatà-Text als III. auch räumlich von der
Antiqua trennte, bildet lediglich eine Frage der formalen Aus-
gabetechnik und sollte mit der Merkelschen Annahme ver-
schiedener Legislationen nichts zu tun haben, wie das aus dem
Kleindruck der Nebentexte auch deutlich hervorgeht. Selbst
von dem inneren Verhältnis seines ersten Textes zum dritten,
von der Stellung von AB zu E, der Antiqua zur Emendata,
hatte sich Merkel ein im wesentlichen richtiges Bild gemacht.
So fallen ihm eigentlich nur seine Gutgläubigkeit gegenüber
dem Prolog und seine Anhängerschaft an Roths Ansichten über
die sukzessive Abfassung einzelner Teile der Lex zur Last:
Punkte, in denen schon Waitz und ebenso Brunner mit ihrer
Kritik unbedingt im Rechte waren, mit der man aber gleich-
wohl nur den Forscher und nicht den Herausgeber Merkel zu
treffen vermag.
Im Anschluß an diese Ehrenrettung setzt Krusch noch kurz
auseinander, wie nun umgekehrt E. v. Schwind alle die müh-
samen Errungenschaften seines Vorgängers wieder zunichte
macht, indem er sich für die Konstituierung des bayerischen
Grundtextes nach mehrfachem Schwanken erneut an die Hand-
schriften mit der „reineren“ Latinität anlehnt und damit von
der Antiqua-Ausgabe Mederers und Merkels zu einer Art mo-
dernisierter Emendata-Edition umschwenkt und so den ge-
schichtlichen Gang der Handschriftenentwicklung geradezu auf
den Kopf stellt. Dabei war dieser Umsturz letzten Endes
— ganz ähnlich wie bei.der Lex Salica — um einiger vorgefaßter
Theorien willen erfolgt. Denn abgesehen von der sachlich un-
haltbaren Auffassung v. Schwinds, daß es eine Edition nicht
nötig habe, die Geschichte des betreffenden Textes auch nach
der sprachlichen Seite mit philologischer Genauigkeit widerzu-
spiegeln, ist es nach den Ausführungen Kruschs mit Händen
38 Vgl. v. Schwind, NA. 31, S. 401f. und ebd. 37, S. 436. Dort äußert v. Schwind
schon bei Übernahme der Aufgabe Bedenken, ob die Mühe einer Umformung der
Folioausgabe ins Quartformat mit Herübernahme des ganzen Variantenapparates
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 695
zu greifen, daß sich der neue Herausgeber den Weg zu einer
ungetrübten quellenkritischen Einsicht vor allem durch seine
grundsätzliche Anhängerschaft an die Vorstellungen Brunners
von den Textverhältnissen der bayerischen Lex verbaut oder
zum mindesten erschwert hat, trotz des vorläufigen und proble-
matischen Charakters der Brunnerschen Thesen, die zwar auf
einer äußerst scharfsinnigen Kritik edierter Wortlaute, aber
beinahe nirgends auf einer Autopsie der handschriftlichen
Überlieferung beruhten. So wird man es auch solcher Befangen-
heit zuschreiben müssen, daß v. Schwind, selbst angesichts der
erfolgreichen Anbahnung der richtigen Lösung durch Merkel,
sogar vor der Hauptaufgabe eines Herausgebers, die Filiation
der Handschriften klarzustellen, vollständig kapitulierte und so
eine Ausgabe zustande gebracht hat, die als kritische Gesamt-
edition durchweg verfehlt ist und deren Apparat und Sach-
kommentar wichtiger und wertvoller sind als der Text®.
überhaupt im rechten Verhältnis stehe zu dem wissenschaftlichen Gewinn, oder ob
nicht gerade die bayerische Lex vielmehr den Gedanken nahelege, das „heutige
System der Edition der Verewigung so vieler nichtssagender Versehen und Schreib-
fehler jedes Schreibers“ als eine Übertriebenheit aufzugeben. — Hier führt v. Schwind
am Ende seiner Arbeit aus, daß für den Text das Schwergewicht ja doch auf der
sachlichen Wiedergabe, nicht auf den Vulgarismen liege und daß es daher gerecht-
fertigt sei, den Hss. zu folgen, die inhaltlich i. a. als die zuverlässigeren erscheinen,
ganz gleich, ob man an sich diese Vulgärformen für älter und ursprünglicher hielte
oder nicht. Verloren gingen diese Formen ja auch dann nicht, wenn man sie aus dem
Text in die Anmerkungen verbannt. — Als ob sich der paläographischhe, sprachliche
und der überlieferungsgeschichtliche Maßstab in der textkritischen Bewertung des
Inhaltes überhaupt in dieser Weise trennen ließen! Jedenfalls fühlt man sich ange-
sichts solcher Grundsätze einigermaßen an den — allerdings in anderem Zusammen-
hang stehenden — Ausspruch Brunners erinnert (Preuß. Jbb. 35, S. 540): „Der
Jurist handhabt seine Quellen anders wie der Historiker und will vor allem eine
^ handbare Ausgabe."
? Dabei fehlt es der editorischen Arbeit v. Schwinds durchaus nicht an offen-
kundigen Vorzügen, die auch Krusch betont hat. Sie beruhen vor allem auf der müh-
samen quellenanalytischen Vorarbeit v. Schwinds, die bei dem kompilatorischen Ge-
. práge der Lex doppelt ins Gewicht fällt. Denn nicht nur, daß v. Schwind dabei u. a.
die Abhängigkeit der bayerischen Redaktion auch von der Lex Salica entdeckte,
sondern er hat solche Lehnstellen in seinem Text durch kleineren Druck gekenn-
zeichnet und überdies sämtliche Parallelen aus den übrigen Leges unter dem Text
in extenso mit aufgenommen. Man kann es daher nur dankbar unterschreiben, wenn
er von sich selber sagt: , Wenn ich diesen Fragen besondere Aufmerksamkeit ge-
widmet habe und dabei dem Beispiele gefolgt bin, das mein Lehrer der Diplomatik
Th. v. Sickel in der Ausgabe der Ottonendiplome gegeben hat, solche Entlehnungen
696 Walter Stach
Den Beweis für die Unhaltbarkeit des Schwindschen Ver-
fahrens liefert Krusch vom dritten Kapitel seines Buches an
(Lex, S. 38ff.) auf Grund einer Analyse der wichtigsten Hand-
schriften, in denen das bayerische Gesetz erhalten ist®. Er
beginnt mit einer durchgängig aus eigener Anschauung er-
wachsenen Übersicht über das Material und gibt zunächst eine
eingehende Handschriftenbeschreibung, die Merkels Studien?!
in wesentlichen Punkten ergánzt und verbessert. Indem er
dabei die Merkelschen Gruppen A (der reinste Text), B (der
älteste bayerische Text), C (Merkels II. Text), D (der ältere
bayerische Mischtext), E (die Emendata; Merkels III. Text),
F (die norditalienische Rezension des Lupus) und G (der jüngere
bayerische Mischtext) Schritt vor Schritt verfolgt, kommt er
neben aufschlußreichen neuen Einzelerkenntnissen, z. B. daß
die Hss. A 1 und A 4 von bestimmten Stellen ab in einen E-Text
hinüberwechseln??, zu einer ersten grundlegenden Sichtung
auch graphisch in augenfälliger Weise im Druck zu kennzeichnen, so glaube ich, daß
die darauf angewendete Mühe vielleicht das beste brachte, das ich bei dem ganzen
Editionswerke zu leisten vermochte“ (NA. 37, S. 450).
* Es fehlen in Kruschs Kollationen nur noch die Pariser Hss. E4. 6a. 10,
Modena (F1) und eine Anzahl Hss. des Prologes und einzelner Fragmente, Merkels
Klassen H und J; wie man sieht: samt und sonders nur unwichtige Stücke, die das
Gesamtergebnis der Untersuchungen Kruschs nicht beeinträchtigen können, sondern
höchstens für eine weitere Differenzierung der E-Klasse in Betracht kämen.
*! Archiv d. Ges. f. ält. dt. Geschichtskunde 11 (1858), S. 535ff. und MG. LL.
III, p. 184ff.
32 Wegen der Wichtigkeit dieser Beobachtungen für die Textkritik sei noch des
Náheren daraus mitgeteilt (vgl. Krusch, Lex S. 40ff.; 49; 130):
À1— Paris n. 4633 s. IX / X, bringt die L. Bai. auf fol. 18—44 Y; doch ist «lie
Rückseite von fol. 35 freigelassen, ohne daB etwas fehlt. Diese Freilassung markiert
einen bedeutsamen Einschnitt. Gegen Pertz hat nàmlich der Augenschein gelehrt,
daB die Fortsetzung auf fol. 36, die mit L. Bai. XII, 8 beginnt, nicht nur von einem
anderen Schreiber, sondern auch von einer anderen Vorlage herrührt. Der erste
Schreiber (Ala), den Krusch in das Ende des 9. Jh. setzt, folgte einem A-Text,
während der zweite Schreiber, vielleicht aus dem Anfang des 10. Jh., für seine Er-
günzung eine E-Vorlage benutzt hat, so daB von fol. 36 an der Text einen ganz
anderen Charakter bekommt. Die roten Kapitelüberschriften des ersten Teiles hóren
auf, und während vorher in der A-Vorlage weder Kapitel noch Titel numeriert waren,
ist. die Vervollständigung aus einem Exemplar der E-Familie erfolgt, das eine durch-
gehende Kapitelzählung aufwies. —
A4= Ivrea, Archiv des Domkapitels n. 33 s. X, bietet die L. Bai. mit Prolog
und Kapitelverzeichnis, das in A1—3 fehlt. Dieses hat aber die E Form (LL. III.
358ff.), bringt auch die Zusätze dieser Rezension und stellt entsprechend die Appen-
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 697
des Gesamtmaterials, die völlig frei von allen Theorien unmittel-
bar aus dem paláographischen Befunde abgelesen ist. Danach
muB sich in einer künftigen Ausgabe an die beiden ersten
Klassen A B die karolingische Bearbeitung E anschlieBen; auf
diese würde am natürlichsten die ihr am náchsten stehende,
noch recht alte Rezension F folgen, wáhrend die nachkarolin-
gischen Mischtexte C D G, aus deren Varianten man in der seit-
herigen Forschung bisweilen gewichtige Schlüsse gezogen hat,
als späte und nebensächliche Schößlinge ganz an den Schluß
treten.
Auf Grund dieses allgemeinsten Resultates ist die Textfrage
zugleich dahin vereinfacht, daß sich die Entscheidung über den
Überlieferungsvorrang der einzelnen Zweige im wesentlichen auf
das Verhältnis der Antiqua- und Emendata-Handschriften
(A B zu E) beschränken läßt. Mit diesem Problem befaßt sich
Krusch in Zusammenhang mit der weiteren Frage nach dem
Archetypus der Handschriftengruppen im vierten Kapitel
seines Buches (Lex, S. 125ff.). Als Ansatzpunkt zur Lösung
wählt er mit sicherem Griff den bekannten Einschub nach
II, 8 (= Merkels Appendix II: St quis autem duæ de provincia
illa, quem rex ordinaverit .. .), der in sämtlichen E-Hss. auf-
tritt und den Vorteil einer festen Datierungsmóglichkeit bietet.
Diese Textschwellung in E behandelt bekanntlich den Fall eines
rebellischen Bayernherzogs und bedroht die Rebellion auBer mit
der Aberkennung des Herzogtums auch mit dem Verlust des
Seelenheiles und bedient sich dabei der typischen Formeln des
Anathems. Sie läßt sich, wie insbesondere schon Riezler ver-
mutet hat, am ehesten als eine Novelle begreifen, die auf dem
MajestátsprozeB gegen Tassilo fuBt, und zwar wahrscheinlich
auf dem Ungehorsamsverfahren v. J. 787, wofür die Antiqua
noch keine Bestimmung besaß (vgl. Krusch, Neue Forschungen,
S. 47ff.), während für das Delikt des Hochverrats v. J. 788 die
Lex Bai. IL1 von alters eine Handhabe geboten hätte.
dices I und III, wie E, hinter VII (VI), 3 und IV, 31 (111,32), während sie im Text,
wie in B, hinter 1,13 und IX, 4 stehen. Dabei bricht die Appendix III schon bei
„repraesentet“ unvollständig ab, eine Stelle (X,5), wo nach Kruschs Entdeckung
auch dieser A-Text wie Al in einen E-Text hinüberwechselt. Die Appendix IV steht
daher wie in E am Schlusse von XVIII (XVIT) und die Appendix V fehlt ganz, da
sie E schon hinter IV (III), 25 eingereiht hatte.
698 Walter Stach
Allerdings hatte Brunner gemeint, die Satzung II, 8a hätte be-
reits zu seinem verschollenen Kónigsgesetz aus Dagoberts I.
Zeiten gehórt und wáre umgekehrt in den bayerischen Hand-
schriften nur weggeblieben®. Aber diese merovingische lex
perdita Brunners führt schon an und für sich in einen wahren
Strudel unbeweisbarer Behauptungen hinein, in dem jede
Wahrscheinlichkeit ertrinkt, wie später noch dargelegt werden
soll. Und vollends im vorliegenden Falle wird man — wenig-
stens bei vorurteilsfreier Würdigung der Quellenlage — un-
bedingt mit Krusch die durch Überlieferungstatsachen beglau-
bigte und bei dem Ineinandergreifen von Satzung und Straf-
taten Tassilos geradezu erdrückende Schlußfolgerung vor-
ziehen, daß in der Merkelschen Appendix II in der Tat eine
lex Tassilonis vorliegt und daß danach die gesamten E-Hss.
von einer frühesten 787/788 entstandenen fränkischen Text-
vorlage herrühren müssen.
Überdies leitet Krusch aus diesem Zusammenhang noch eine
wichtige Feststellung für die Hs. A 1 ab, da sie als einzige in
der Gruppe A B gleichfalls die Tassilo - Interpolation enthált.
Dadurch nämlich bekundet A1 selbst in dem älteren Teile
A 1a (vgl. Anm. 32) eine deutliche Beziehung zu E, die sich auch
sonst in einigenyVarianten verrät. Mithin muß sie an diesen
Stellen als reiner Vertreter der Gruppe ausscheiden und tritt
im Gegensatz zu Merkels Anordnung hinter ihre Zwillings-
schwester A 2 zurück, die zwar dem gleichen Exemplar al
entsprossen, aber in früher Zeit nach Aquitanien verschlagen
und von der übrigen Textentwicklung getrennt, den ursprüng-
33 Dies in schroffem Gegensatz zu Brunners früherer Ansicht; vgl. DRG. II,
S. 319 Anm. 22 und oben S. 686 mit der (in meiner Anm. 8 zitierten) Abh., S. 935. —
Es erscheint geradezu unbegreiflich, wie man sich auf juristischer Seite dem mathe-
matisch-schlüssigen Beweise Kruschs, den er in den „Neuen Forschungen" auf brei-
tester Grundlage wiederholt, immer wieder zu entziehen versucht. Selbst Eckhardt
(S. 48ff.) rückt von diesem „einhelligen Widerspruch aller Rechtshistoriker, die
sich zu dieser Frage geäußert haben“, entschlossen ab und meint, wenn man die
Emendata ins Jahr 187 statt 788 setzte, entfielen alle die geltend gemachten rechts-
historischen Bedenken, und insofern behielte auch Brunner gegen Krusch Recht.
Gegenüber einem solchen gutgemeinten Vermittlungsversuche (vgl. Eckhardt S. 8)
muB doch festgestellt werden, daß sich einerseits Krusch niemals auf das Jahr 788
in dieser Weise versteift hat und daß andererseits Brunner später niemals auch nur
im entferntesten an das J. 787 gedacht hat.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 699
lichen Charakter der gemeinsamen Vorlage weit besser bewahrt
hat. Entsprechend liegen nach Kruschs Beobachtungen die
Dinge in der A 1 analog gearteten (wenn auch zu einem andern
Stammvater a3 gehörigen) Hs. A 4, so daß Merkel recht tat,
wenn er die Lesarten von A1 und A4 wohl mit einem ge-
wissen Fingerspitzengefühl für die Entwicklung der Texte
zumeist in den Apparat versetzt hat.
Im Gegensatz zu A 2.1, den eben genannten romanischen
Absenkern von «, der Stammutter von A, (zu deren Tochter-
gruppe al über die weiteren verlorenen Zwischenstufen 7
und 9 hinweg auch die entfernteren Sippen C und D gehören),
neigt das auf deutschem Boden erwachsene A 3, dessen späterer
Korrektor sich selbst durch die Ánderung der Lex vestra in
XVI, 2 zur nostra als Bayern bezeichnet, eher zu B hinüber
und rührt auf jeden Fall von einer anderen Abschrift a 2 her,
auf die neben B 6 (und vielleicht A 5. 6) in entfernterem Grade
auch G (= B6 + B3 und E D) zurückweist. Im ganzen stellt
sich danach heraus, daB die diplomatische Grundlage für die
Wiedergewinnung des ältesten Textzustandes leider sehr dünn
und schmal ist. Weder A 5, das Bruchstück einer mit A 3 und
A 1 verwandten Hs.s. IX/X im kleinsten Sedezformat, noch die
ähnlichen Fragmente der Hs. A 6 s. IX, noch auch die beiden
A-Hss., die Merkel irrig in die B-Familie eingereiht hatte:
B 6 und das unvollständige B 7, können über die Spärlichkeit
der ältesten Überlieferungsschicht hinweghelfen, obgleich ihre
Verwandtschaft mit A völlig klar ist; denn wie sich B6 an A 3
anschließt, so B 7 an A 4, wobei diese letzten beiden noch eine
dritte gemeinsame Vorlage voraussetzen, das oben genannte
a 3, das daneben gewisse verwandtschaftliche Beziehungen auch
zu A3 nicht verleugnet.
Noch heller werden diese verwickelten Beziehungen dadurch
beleuchtet, daB Krusch den Nachweis führt, wie die Hand-
schriften A 2. 3. B6 in XIV, 17 und XV,9 an zwei auDer-
ordentlich wichtigen Stellen die dem Archetyp am nächsten
stehenden Lesarten erhalten haben, die in A 1 und B (E) als
obsolet gewordene Ausdrücke in verschiedener Weise emendiert
worden sind. An der ersten Stelle haben nämlich A 2.3 B 6
sivis oder (B 6) si quis, an der zweiten übereinstimmend swe,
während dafür in A 1.4 EB meist quamvıs steht. Die in ihrer
700 Walter Stach
barbaries ehrwürdige und sonst nicht belegbare Konjunktion
stets kehrt nun auch in der Lex Alamannorum, der Quelle des
bayerischen Gesetzes, noch zweimal wieder und wird dort von
späteren Schreibern mit Vorliebe durch quamvis, einmal aber
(und, wie Krusch meint, wohl richtiger) durch ut ettam „gesetzt
auch den Fall, daß“ gebessert. Daraus ergibt sich, daß A 2.3
und mit Einschränkungen auch B 6 an den obigen Stellen den
ursprünglichen Wortlaut aufweisen; ein wichtiger Fingerzeig,
daB uns der Urtext nicht immer in vólliger Reinheit vorliegt,
sondern daB auch die beste Überlieferung hin und wieder, wie
Krusch sich ausdrückt, einer leichten Besserung unter Heran-
ziehung von Parallelen bedarf.
Hat sich bisher gezeigt, daß die Hss. A 1—4 und B6.7
durch ihre Vorlagen a 1.2.3 auf eine gemeinsame Quelle «
zurückgehen, deren einzelne Ableitungen, wie besonders À 1
und A 4, durch mehr oder minder fremde Zutaten verunreinigt
sind, so tritt neben diesen in seinem besten Vertreter A 2
auf Aquitanien hinweisenden Überlieferungsstamm « in den
Hss. B1—3 ein bayerischer Stamm, der bei der relativen
Schwäche des ersten für die Rückgewinnung des Archetypus
unter gewissen Kautelen von großem Werte ist. Auch für diese
Hss. gelingt es Krusch, wie bei E, den terminus a quo ihrer Ab-
zweigung fest zu datieren. Denn die B-Überlieferung hat
allenthalben in XI,5—7 die Kapitel 12. 11. 13 des Neuchinger
Konzils von 722 mit aufgenommen, die demgemäß auch nur
locker mit dem Inhalt ihrer Umgebung verflochten erscheinen,
und hinter jedem ist mit Nachdruck bemerkt: Hoc est decre-
tum. Darin sieht Krusch, wie schon Mederer, mit Recht die
Bekundung eines aktuellen Interesses an der Durchführung der
Neuchinger Beschlüsse und folgert daraus für B eine gemein-
same Vorlage 3 von ca. 722. Dieser Rückschluß wird durch
die Tagesordnung jenes Konzils in erwünschter Weise be-
státigt**. Zudem ist es aus paläographischen Gründen sicher,
** [n der Notitia (MG. Conc. IT, p. 104) heißt es ausdrücklich von den Aufgaben
dieser Synode: ut ibidem tam regularem moderaret in sancto habito cenobio virorum
et puellarum quam episcopales moderaretur obsequias, insuper gentis suae
institutiones legum per primatos inperitos universa consentiente multitudine
quae repperit diuturna vitiata et videbantur abstrahenda evelleret et quae decretis
placuit conponenda instituerentur.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 701
daß der älteste Vertreter von B nicht viel später, vielleicht noch
Ende des 8. Jh., geschrieben sein muß: B 1, die bekannte
Münchener Prachthandschrift in schöner Minuskel, die — wie
oben erwähnt — schon Mederer abgedruckt, übersetzt und
kommentiert hat und deren wundervolles Faksimile wir neuer-
dings K. Beyerle verdanken (s. Anm. 1). Was sonst das Ver-
hältnis der B-Hss. zueinander anlangt, so ist B 1 wegen seiner
eigenwüchsigen Einschaltungen und Lücken ein selbständiger
Absenker von ; dagegen müssen B 2—4 nach den Darlegungen
Kruschs aus einer besonderen Zwischenvorlage b stammen,
einer Schwester-Hs. von B 1, wobei B 3 entweder mittelbar auf
B 2 zurückgeht oder aus einer B 2 náchstverwandten Vorlage
c herrührt, während B4 eine bloße Abschrift von B3 ist.
Allerdings ist die These Kruschs, daß im Hinblick darauf B 4
besser B 3* hieBe, von Eckhardt (S. 19) als falsch hingestellt
worden; man müsse dieses B 4 vielmehr aus einer besonderen
Vorlage d herleiten, einer verlorenen Schwester von B 3, die
Eckhardt eigens zu diesem Zwecke konstruiert und auch in
seinen Berichtigungsvorschlag des Krusch-Stemmas eingetragen
hat (S. 24). Als Begründung für die Unterstellung eines solchen
immerhin groben Versehens weiß Eckhardt freilich nicht mehr
als eine einzige Lesart beizubringen: B 3 läse in VIII,9 „nur
coꝛtum“, B 4 aber „die sinnlose Lesartenháufung cottum ictum“,
so daB jene nicht die Vorlage von dieser sein kónnte. Man kann
sich das zunächst nicht enträtseln, da umgekehrt Krusch (Lex
S. 217) mit Nachdruck zweimal versichert, B 3 überliefere zu-
sammen mit B 1. 2 an der betreffenden Stelle beides, das ver-
derbte coitus neben dem sinngemäßen ictus; ja, aus dieser Über-
einstimmung hatte er sogar gefolgert, daß demgemäß jenes
¿ctus schon im Archetypus der B-Klasse übergeschrieben ge-
wesen sein müsse. Geht man dem Widerspruch auf den Grund,
so hat in Wahrheit die Ironie des Schicksals Eckhardt einen bösen
Streich gespielt. Denn er hat sich bei seiner „nebenbei be-
merkten!“ Bemängelung Kruschs offenbar unbesehen auf den
Apparat der Schwindschen Ausgabe verlassen, die allerdings
zu einem derartigen Irrtum geradezu zwingt, während ihn
— wenn er schon Krusch nicht trauen wollte — die alte ,,ver-
fehlte" Ausgabe Merkels ohne weiteres darüber belehrt hátte,
daB in B 3 eben doch das erforderliche coitum ictu steht. Immer-
702 | Walter Stach
hin hat dieser Lapsus vielleicht das Gute, daß nunmehr auch
die Befürworter der Schwindschen „Emendata“ einsehen
müssen, wie unbrauchbar und gefährlich diese Edition in der
Hand selbst eines sachkundigen Forschers sein kann““.
Wenden wir uns schließlich der E-Klasse zu, so scheint mir
die von Krusch geschaffene Grundlage durch den gehäuften
Widerspruch, den gerade diese Aufstellungen von rechtshisto-
rischer Seite gefunden haben, nachgerade beinah verdunkelt,
so daß es wohl angebracht ist, hier etwas ausführlicher zu be-
richten.
Im Vordergrunde von E steht nach Krusch E1?5. Der Vor-
zug dieser Handschrift beruht auf ihrem hohen Alter und auf
der Güte ihrer — freilich nicht immer getreu bewahrten — Vor-
lage. Sie bestätigt als einzige Hs. der E-Klasse richtige Schrei-
bungen von AB, wie palpebrem, labiam, sie hat allein mit A 2
idiomatische Wortformen bewahrt, wie genelogiam, nequtevertt,
imbolaverit (vgl. L. Sal. ed. Hessels Sp. 625) und dazu allein
in E das Überbleibsel einer alten Konstruktion: aliis vero dentes.
Am nächsten kommt ihr E 2, und sie bildet mit dieser zusammen
und mit E 2a. F, d. h. mit der Merkel noch unbekannten Klitsch-
dorfer Hs. und der Rezension des Lupus (von ca. 830)°7, eine
Sonderversippung auf Grund einer gemeinsamen Vorlage e, um
deren Voraussetzung man im Hinblick auf gewisse eigentümliche
Fehlergemeinschaften nicht herumkommt und deren innere Be-
ziehung zu A, und zwar im besonderen zu A 2, nach den zahl-
reichen Belegen bei Krusch vóllig evident ist. Der deutlichste
35 In gegenteiligem Sinne hat sich vor allem E. Hey mann geäußert, indem
er zugunsten der Schwindschen Ausgabe ins Feld führte, daß sie als Emendata-
Edition „wenigstens von sachkundiger Hand sehr wohl verwertet werden" könnte.
Vgl. dens., Zur Textkritik der Lex Bajuwariorum, in der Festschrift für P. Kehr:
Papsttum und Kaisertum, S. 134. à
3 St. Paul, Benediktinerstift in Kärnten, jetzt XXV, 4. 8. Die Hs., die aus
Norditalien stammt und eine altertümelnde Schrift von halbunzialem Gepräge zeigt,
ist von Krusch, Lex S. 80ff., eingehend beschrieben, und die „Neuen Forschungen“
bringen daraus im Anhang sechs ausgezeichnete Reproduktionen.
37 Vgl. Krusch, Lex, S. 117: Wie die durch die beiden Hss. F1. 2 (Modena und
Gotha) überlieferte Rezension F auf die Rechts-Hs. des Grafen Everard von Friaul
zurückgeht, so verleugnet sie auch textlich nicht den norditalienischen Ursprung.
Die von Lupus benutzte Vorlage war auf das engste verwandt mit der norditalieni-
schen Hs. E1 und mit der vermutlich ebenfalls aus einem italienischen Exemplat
abgeschriebenen Hs. E2.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 703
Beweis für die engere Zusammengehörigkeit dieser Hss. ist neben
den unwiderleglichen Rückschlüssen Kruschs aus der gleich-
artigen Stellung der Novellen eine merkwürdige Umstellung im
Text, die Krusch zuerst beobachtet hat. Statt des Schlußsatzes
der lex Tassilonis (nach II, 8) überliefern nämlich E2. F1.2
(E 2a hat dort eine Lücke) die sonderbare Bestimmung, daß nach
der Verurteilung des aufsässigen Herzogs seine Töchter (in F:
seine Söhne) die Erbschaft besitzen sollen. Das aber gehört nach
Kruschs Entdeckung an den Schluß von II, 7 und ist an seinem
ursprünglichen Ort in diesen Hss. durch ein Homoioteleuton
ausgefallen, desgleichen aber auch in E 1. Daraus erhellt zur
Genüge, daß schon in der gemeinsamen Vorlage e von E 1. 2. F
am Ende von II, 7 ein Satz übersprungen war, der — vielleicht
am unteren Rande der Seite nachgetragen — von E 1 am Anfang
von II, 9, von E 2. F aber am Ende des vorausgehenden Kapitels
wieder eingefügt worden ist. Die verschiedene Art der Ein-
reihung bekundet zugleich, daß neben der ältesten Hs. E 1 eine
Schwester-Hs. f gestanden hat, aus der außer E 2 und (nach
anderweitigem Ausweis auch) E 2a die Mutter-Hs. g für die
beiden Zwillinge F 1 und F 2 entsprossen ist. Für die gelegent-
liche Güte der Überlieferung aber in e und damit für dessen
Archetypusnähe, die sich um eine Stufe größer erweist als die
der sonstigen E-Klasse, liefert Krusch ein schlagendes Beispiel
aus I, 7. Dort lesen die Hss. E 3—7. 10 ein responsum dare, das
in den Sachzusammenhang in keiner Weise hineinpaBt und das
entsprechend der Überlieferung in AB nur die Entstellung eines
ursprünglichen repraesentare sein kann®®. Nun steht in E 1 dafür
pdicare, ein Flüchtigkeitsfehler beim Diktat, in E 2 aber und
ebenso in F 2 res pdare, aus dem sich die allmáhliche Verschlech-
terung des Textes vorzüglich erklärt. Denn die letzte Variante
steht dem echten repsentare noch sehr nahe, und man be-
greift, wie leicht aus einer solchen Kontraktion in E 3—7. 10
die falsche Suspension resp dare — responsum dare entstehen
konnte.
38 Merkel bevorzugt in 1,7 verkehrterweise A3. 4. B7 B1—4 vor A1.2. B6.
Wie Krusch darlegt, erfordert der Sinn des Bestimmung: si presbiter repraesentare
ausus non fuerit. So überliefern A 1. 2. B6, während E und B und daran anschließend
auch A3. 4 den Konditionalsatz unter Weglassung der Negation zum Folgenden
ziehen und bereits damit den ursprünglichen Gedanken verbiegen.
704 Walter Stach
Damit heben sich von E1.2.2a.F die übrigen Hss. von
E: 3—7. 10. 13 aufs deutlichste als codices deteriores ab, und es
dürfte sich kaum verlohnen, deren Beziehungen untereinander
bis ins einzelne nachzugehen“, obschon sich darunter die Vati-
cana E3 befindet, die bei der Schwindschen Textgestaltung
eine maßgebliche Rolle gespielt hat und der auch Heymann
(s. Anm. 35) das Wort redet.
Doch bevor wir uns damit auseinandersetzen, gilt es, die für
das gesamte Textproblem grundlegende Frage zu klären, wie
sich nun eigentlich E zu AB genauer verhält. Diese schwierige
Frage hat Krusch (Lex, S. 146ff.) an Hand der Merkelschen
Appendices mit unüberbietbarer methodischer Feinheit geradezu
glänzend gelöst. Gegen Brunners Behauptung, diese Zusätze
seien in Wahrheit Stücke des genuinen Bestandes, führt Krusch
zunächst eine genaue Übersicht vor, die die wechselnde Ein-
gliederung der App. I, III—V in AB klar vor Augen stellt.
Danach bleibt bei unbefangener Betrachtung nur für die eine
Erklärung Raum, daß diese Partien unbedingt im Archetypus
noch gefehlt haben. ,,Sie stehen mit Ausnahme der App. V in
allen Hss., sind also in einem älteren Stadium der Entwicklung
hinzugekommen als die App. II“; sie waren schon vorhanden,
als sich die Familien A und B zu trennen begannen, hatten aber
noch keinen festen Standort innerhalb des Textes, so daß sie die
Stammväter von A und B, die Redaktoren von « und f, je nach
Nur eine Betrachtung von allgemeiner Bedeutung, die Krusch (Lex, S. 145f.)
an E6 anknüpft, sei noch mitgeteilt: Der Zweck der Rezension E als einer sprach-
lich-inhaltlichen Revision der barbarischen Antiqua ließ sich nur so verwirklichen,
daß man eine A-Hs. zugrunde legte (wie Krusch beweist, muß diese vom Typus des
erhaltenen A2 gewesen sein), diese dann durchemendierte und von dieser korrigierten
Vorlage sofort eine größere Zahl von Abschriften für die bayerischen iudices herstellen
ließ. Angesichts dieser Sachlage ist von vornherein zu erwarten, daß bereits die erste
Vervielfältigung des durchkorrigierten A-Exemplares je nach der Zuverlässigkeit der
betreffenden Abschreiber mehr oder minder kräftige Versehen aufwies. Das bezeugen
auch die z. T. recht altertümlich anmutenden Fehler der vorhandenen E-Hss. Wenn
nun überdies die Lesarten der einzelnen E-Hss. großenteils ihre eigenen Wege gehen,
so daß man fast von jeder dieser Hss. den Eindruck einer sondertümlichen Ab-
stammung bekommt, von der sonst nichts erhalten scheint, so drängt sich dazu noch
die weitere Vermutung auf, daß womöglich einzelne dieser Ábschreiber da und dort
den ursprünglichen A-Text statt der Korrekturen kopiert haben.
“ Vgl. o. S. 697f., wo die nur in E überlieferte App. II bereits als lex Tassilonis
erörtert worden ist.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 705
ihrem subjektiven Geschmacke in einen verschiedenen Zusam-
menhang bringen konnten.“ Dabei geht B 6 völlig mit A 1. 2. 3
und auch B 7 hält mit gewissen Einschränkungen zu A. Diesem
A und nicht etwa B folgt aber auch das gesamte E, so daB der
im Auftrage Karls d. Gr. um 788 schreibende Redaktor der
Emendata, wie wir schon sahen, für seine Bearbeitung der baye-
rischen Antiqua eine A-Hs. benutzt haben muß.
Dieser áuBere Befund wird von Krusch mit durchschlagenden
inneren Gründen gestützt und bestátigt. So zeigt er, daB die
App. I mit ihren grausamen Strafen für die Nichteinhaltung der
bis zum absoluten Reiseverbot verschärften kirchlichen Sonn-
tagsruhe in die Regierungszeit Tassilos nach dem Aschheimer
Konzil (756), das von diesen drakonischen Vorschriften noch
nichts weiß, und vor die Synode von Dingolfing (770) gehört, die
bereits auf unsere Novelle Bezug nimmt, woraus sich die wichtige
Erkenntnis ergibt, daß der Archetypus unserer Hss. in die Zeit
von 757—770 fällt. Dazu kommt, daB sich diese Satzung auch
durch ihre Einreihung in eine sachfremde Umgebung als unver-
kennbarer Einschub erweist. Ihr zelotischer Eifer, der ebenso
das Konzil von 770 beherrscht, bedroht den Sonntagsreisenden
bei Rückfall mit einem Drittel Vermógensverlust und mit Ver-
knechtung. Nun gliedern aber AE diese Bestimmung ausgerech-
net vor VII, 4 dem Titel über die unerlaubten Ehen ein, wo sie
am allerwenigsten hinpaßt, da das folgende Kapitel, dem älteren
Rechtszustande gemäß, noch verbot, einen Freien ohne ein todes-
würdiges Verbrechen überhaupt zu versklaven. Und wenn sie
andrerseits in B und ebenso in A 4. B7 am Schlusse des ersten
Titels steht, so spricht auch diese Tatsache nicht minder für eine
spätere Zufügung, da ja hier der freie Raum zu Nachträgen
geradezu einlud. Aus dem gleichen Grunde findet sich die
App. III in den reineren Hss. A 1. 2. 3. B 6 hinter IV, 31; nur
daB diesmal die andere Gruppe diese bequemste Gelegenheit zur
Unterbringung gewählt hat*!, Ähnlich verrät sich die App. IV
als solche „fliegende Satzung“; sie ist in dieser Eigenart nach
Kruschs interessanter Beobachtung im besonderen dadurch
kenntlich, daB sie — wie auch sonst derartige Nachtráge in der
*! [m übrigen macht Krusch darauf aufmerksam, daB bei der ungewóhnlichen
Hárte der Strafen in den App. I und III wohl beide derselben Zeit und derselben
Feder entstammen dürften.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 45
706 Walter Stach
alamannischen und bayerischen Lex — den ersten Textsatz
zugleich als Überschrift formuliert und benutzt hat. Und
vollends durchsichtig sind die Verhältnisse bei der App. V, die,
wie Krusch sich ausdrückt, das Scheumachen der Schweineherde
eines Freien „durch Freudengebrüll und anderen Spektakel“
behandelt. Dieses schon an sich etwas wunderliche Delikt wird
von A1.2.3.B6.E in IV unter die Gewalttaten gegen Freie
eingereiht, in eine Umgebung, in der sich wildgemachte Schweine
noch erstaunlicher ausnehmen. In B aber bildet es am Schluß
von XXII das letzte Stück der ganzen Lex. Indem nun die Hss.
im Register Cap. I hinzufügen, also zu einer Kapitelsummierung
(wie bei den vorausgehenden Titeln) ausholen, sieht man im
vorliegenden Falle einen neuen Titel (XXIII: De porcıs) ge-
wissermaßen in statu nascendi, dem schließlich in B2.3 noch
ein weiterer (X XIV: De servo fiscalino) mit zwei Kapiteln ange-
hängt wird, während in A 4 und B 7 die App. V überhaupt fehlt.
Danach erweisen sich diese fünf Partien (Merkels App. I—V),
und zwar besonders deutlich hier am Ende der Lex, als unver-
kennbare Wachstumssymptome des ursprünglichen Inhaltes. Sie
zeigen, wie sich auf dem ältesten Textbestande immer neue
Schichten abgelagert haben“, sei es, daß solche Zutaten viel-
leicht ursprünglich als „fliegende Satzungen“ auf einem Sonder-
blatt zum Einheften in die Gesetzes-Hss. gestanden haben; sei
es, daß sie zunächst auf dem freien Pergament am Ende der Lex
oder auch ihrer Titel nachgetragen worden sind, um schließlich
von dort nach dem Belieben spáterer Abschreiber auch in das
Innere des Textes verpflanzt zu werden.
Für die inneren Beziehungen der einzelnen Textgruppen zu-
einander ergibt sich auf Grund der Analyse von Krusch, daB
die Vorlage von E mit A noch eine Weile zusammengegangen ist,
als sich B, ja als sich a 3 schon getrennt hatte, d. h. daB also E
aus A entsprossen sein muß, und zwar aus einer a 1 ähnlichen
Hs. e, der danach der Rang zwischen a 1 und a 2 oder, unter den
42 Krusch verweist hier auf seinen von mir oben (Anm. 25) genannten Aufsatz
im NA. 40, S. 547 und bemerkt, daB der cod. 1 der L. Sal. (ed. Hessels) als einzige
salische Hs. die dortige Novellenreihe noch durchweg adkapituliert, wührend die
übrigen codd. die wichtigsten Nachträge bereits in den Text einschieben; dabei muß
eine dem cod. 1 ähnliche Hs. noch von der salischen Em. 11 (es ist das die wichtige
Hs. A2 in der L. Bai.) für die Anhänge benutzt worden sein.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 707
erhaltenen A-Hss., dicht hinter A 2. 1 gebührt. Gliedert doch B
die vier älteren Novellen dem Textbestande an anderen und wohl
auch passenderen Stellen ein als A, dem E in der Stellung dieser
Zusätze folgt. Doch springt in die Augen, daß dem Redaktor
von E gleichwohl die Textklasse B nicht fremd geblieben sein
kann. Wie man nun solche zunächst widerspruchsvoll scheinende
Berührungspunkte zwischen E und dem älteren B zu beurteilen
hat, erläutert Krusch paradigmatisch an dem Zusatz der B-Hss.
in IV, 29, wo sich eine derartige textliche Beziehung gleichsam
vor unseren Augen erst bildet: Nach dem Vorgange der ala-
mannischen Lex (LIX, 2) sollten auch bayerisch Unbilden gegen
Frauen ursprünglich doppelt gebüßt werden, weil sich, wie die
bayerische Lex in A von sich aus hinzusetzt, die Frau nicht mit
der Waffe verteidigen kann. Das beschränken dann die B-Hss,
durch die Beigabe des „echtbayerischen‘‘ Ausnahmefalles: St
autem pugnare voluerii per audatiam cordis sui, sicut vir, non erit
duplex compositio eius. Das greifen auch die E-Hss.“ auf, aber
unter der weiteren ins Positive gewendeten Vervollständigung:
sed sicut fraires eius, tta et ipsa recipiat. Aus dieser allmählichen
Entfaltung des Textes ersieht man, daB E mit seiner Abrundung
des Zusatzes von 3 im Vergleich zu diesem eine jüngere Über-
lieferung bildet und daß eine textliche Einwirkung, die zwischen
E und B spielt (für die noch anderweitige, wenn auch spárliche
Zeugnisse vorliegen)“, nur in der Weise gedacht werden kann,
43 Mit der etwas rätselhaften Ausnahme von E6; vgl. dazu Krusch, Lex S. 145.
** Es handelt sich namentlich um sprachlich-stilistische Anstöße in A, die E
mit Hilfe von B beheben konnte, wie etwa das oben erwähnte ,quamvis' für ‚sivis‘.
Krusch präzisiert seine Auffassung solcher Berührungspunkte (Lex, S. 159f.) dahin:
Schrieb E zunächst einen A-Text ab und korrigierte ihn dann aus seinem eigenen
Wissen und mit seinen anderen Hilfsmitteln, so konnten einzelne Abschreiber offen-
bare Fehler seiner A2-ähnlichen Vorlage übernehmen, die in EI. 2 und auch in ande-
ren E-Hss. noch erscheinen, andere wieder die Korrektur wählen. Es ist auch ohne
weiteres klar, daß mit dem höheren Bildungsstande der Abschreiber der Bestand an
bloßen Schreibfehlern sich verringern mußte, die jeder lateinkundige Mann sofort
bemerkte und zu verbessern vermochte. Um so dankbarer müssen wir den Schreibern
von E1. 2 sein, daß sie uns trotzdem Erinnerungen an den Fehlerbestand von A2
erhalten haben, wie 1,6 ,more'] ,morte' A1. E1; ,mortem' A2 — ‚et pellem non
fregit] = L. Al. LVII, 35; fehlen A1. 2. E1—X,2 ,pessulis ‘],pessalis‘ A2; ,pesalis'
E1; , pesculis“ F— XII, ,ubi'] ‚abi‘ A2; ‚ab‘ E1. 2. F. Am wichtigsten ist der letzte
Beleg, wo ‚ab‘ für ,ubi' nur aus ‚abi‘ A2 zu erklären ist und wo man erkennt, daß in
dem Archetypus von A2. E 1.2 das ,u' eine dem ‚a‘ ähnliche Form gehabt haben muß.
45*
708 Walter Stach
daß E die B-Interpolation, die A noch nicht hatte, nachgetragen
und weitergeführt hat. |
Für das Verhältnis der B-Hss. aber (bzw. ihres Archetypus g)
zu den einzelnen Sippen von A ergibt sich aus der Novellenana-
lyse, daß das Exemplar a 3, aus dem A 4 und B 7 entstammen,
untrügliche Anzeichen einer Verwandtschaft mit B aufweist, die
auch sonst von spezifischen Fehlergemeinsamkeiten zwischen
A 4 und B 7 bestätigt wird (so z. B. IV, 26 nihil amplius [fecerit
vel Zus. A4. B7 mit B1.2.3, nicht A 1. 2. 3. B 6. E] commi-
serit). Dadurch gewinnt die an sich ziemlich mangelhafte Über-
lieferung von a 3 an Bedeutung und die Hss. A 4. B 7 bilden ein
wichtiges Mittelglied zwischen « und f, da sie nach beiden Seiten
Beziehungen aufweisen (z. B. die Hs. A 4 zu A 3). Zugleich aber
erkennt man, da8 man sich auf Übereinstimmungen von a 3 mit
B nicht verlassen kann, sondern daß a 1. 2 den Vorrang ver-
dienen. Ebenso entbehren die nicht in AB enthaltenen Varianten
der E-Rezension der Beglaubigung, und gleiche Lesarten in E
und B ergeben keineswegs immer den Archetypus, da eben E nur
den Wert hat, der ihm als Ableitung aus der A-Hs. « zukommt.
So liegen die Voraussetzungen für die Rekonstruktion des
Textes, auf dem der Bestand aller erhaltenen Hss. beruht, reich-
lich kompliziert. Daher ist es m. E. ein für die Methodologie der
Textkritik geradezu grundlegendes Verdienst von Krusch, daß
er in bewußt durchgeführter Rangordnung der Maßstäbe als
weiteres Kriterium der textlichen Differenzierung neben dem
Kapitelverzeichnis den Sprachgebrauch in A und E heranzieht,
nachdem der MaBstab erster Ordnung: die Erkenntnis der Hss.-
Filiation aus paläographischen und innertextlichen Merkmalen,
erschöpft ist, ohne daß sich bereits eine eindeutige und um-
fassende textkritische Regel für die unmittelbare Erschließung
des Grundtextes hätte aufstellen lassen.
Doch bevor ich das Problem in der Fortsetzung meines Be-
richtes auch nach dieser Seite verfolge, dürftesich als vorläufiger
Abschluß ein Eingehen auf Eckhardt“ empfehlen, der bei aller
1$ Vgl. Anm. 1. — Hatte Krusch seine obigen Aufstellungen in die Zeichnung
eines Hss.-Stammbaumes ausmünden lassen (Lex, S.162 und desgl. Neue For-
schungen, 5. 72), so glaubt sich Eckhardt zunächst genötigt, eine verbesserte Zeich-
nung zu entwerfen (S. 10), weil die eigene von Krusch dessen Ansichten „keineswegs
einwandfrei‘ wiedergübe. Das ist wohl zuviel behauptet, und Eckhardt hätte nur
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 709
sonstigen Anerkennung der Verdienste Kruschs gegen wichtige
Thesen gerade des vorigen Kapitels entschiedenen Einspruch er-
hebt“. Diese Einwände richten sich zunächst gegen die Ein-
schätzung der E-Hss. und dehnen sich im Zusammenhange damit
schließlich bis auf Kruschs Auffassung der B-Klasse aus. Es dreht
sich dabei im Grunde genommen um die Frage, inwieweit einige
wenige und durchaus vereinzelte“ Lesarten aus E, weil sie
besser zum Wortlaut gewisser bayerischerseits benutzter Vor-
lagen stimmen, dazu ausreichen, um die von Krusch nach ander-
sagen dürfen: „keineswegs erschöpfend“. Aber dann wäre der ganze Streitfall mäßig
gewesen. Denn eine solche graphische Wiedergabe der Filiationen ist m. E. ein
bloBes Veranschaulichungsmittel, das eben für diesen Zweck nur das Elementarste
und Wichtigste ausdrücken kann; je übersichtlicher, desto besser. Der Fall liegt
ganz ühnlich wie etwa bei dem Stemma Mommsens zu seiner Ausgabe des Jordanes:
MG. auct. ant. V,1 praef. p. LXXII, wo die Zeichnung auch nur bei Zuziehung der
beigefügten Erläuterungen „, einwandfrei“ ist. — Und umgekehrt: Wie sollte man
aus Eckhardts Schema ohne weiteres die Hauptsache ablesen kónnen, daB die
Rekonstruktion des Árchetypus aus den Absenkern von « und g erfolgen muß, also
in praxi neben A2 die Hs. B1 als führende Hs. der B-Klasse tritt? Das sind Dinge,
die in der Zeichnung von Krusch auf den ersten Blick hervortreten, während Eck-
hardts Verbesserung nach meinem Dafürhalten das Primäre (die Rangordnung der
Hss.) den sekundáren Einzelheiten (ihrer teilweisen Überarbeitung) aufopfert.
Eckhardt bezieht sich dabei zugleich auf den oben (Anm. 35) genannten Auf-
satz von E. Heymann in der Festschrift für Kehr und auf die Besprechung von
Krusch durch Herbert Meyer in den GGA. 1927, S. 241ff., deren Standpunkt er
wieder aufgreift und ausdrücklich mit vertritt. Dazu kommt die Sammelrezension
von W. Merk in der HZ. 138 (1928), S. 866ff., der behauptet, Eckhardt habe an
der Hand von schlagenden Belegen seine Einwünde gegen Krusch bis zur Ge-
wißheit gesichert.
7 Daß es sich nur „um einige wenige Fälle“ handelt, geben sowohl Heymann
als auch Eckhardt ohne weiteres zu; nur nehmen sie beide an dieser für ihre Polemik
bedenklichen Tatsache keinerlei Anstoß. Heymann (S. 132) beruft sich darauf, daB
der weitere Ausbau der positiven Aufstellungen von Krusch sehr wohl noch Beweise
dafür erbringen könnte, daß die E-Hss. in manchen Einzelfällen noch bessere Über-
lieferungen mit sich führen, als wir nach dem derzeitigen Stande der Dinge annehmen
müssen, und pflichtet im übrigen Franz Beyerle bei, der in seiner Rezension des
Buches von Krusch (vgl. ZSavRG. d 45, S. 415ff.) dem unzeitgemäßen Kult von
Stammbäumen (d.i. Krusch) die sonderbare Frage entgegengestellt hatte, warum
denn die Emendata neben dem Archetypus unserer A-Hss. nicht auch andere ver-
lorene Codices mit gelegentlich besserer Lesart benutzt haben sollte. Eckhardt da-
gegen (S.16) hilft sich über die quantitative Schwäche seiner Beweisunterlagen
mit der Bemerkung hinweg: Wieviele (sc. solcher Fälle, die heute gegen Krusch
sprächen) mögen erst bei der Umschreibung in reineres Latein verloren ge-
gangen sein!
710 Walter Stach
weitigen Kriterien aufgestellte Genesis der bayerischen Gesamt-
überlieferung in wichtigen Punkten zu erschüttern.
Seinen Ausgang nahm dieser Streit von Heymanns Versuch,
die Schwindsche Ausgabe wenigstens als eine Art unfreiwilliger
Emendata-Publikation im Nachhinein dadurch zu rechtfertigen,
daß die Hss.-Gruppe der Vaticana (d. h. im wesentlichen die bei
v. Schwind öfters bevorzugte Hs. E 3) an mindestens zwei Stellen
(XII, 4 und IX, 17)“ die Diktion der Vorlagen besser bewahrt
hätte und somit auf einen älteren Archetypus zurückgeführt
werden müsse, wie ihn etwa der relativ gute Text eines Antiqua-
Exemplares aus der karolingischen Königskanzlei geboten haben
könnte. Auf diese mit vorsichtiger Zurückhaltung geführte Ver-
teidigung v. Schwinds hatte Krusch in den ,, Neuen Forschungen“
eingehend erwidert (S. 14ff.). Entgegen dem Heymannschen Be-
streben, die Entscheidung tunlichst in der Schwebe zu lassen,
legte Krusch im AnschluB an seine früheren Forschungen (Lex,
S. 243ff.) zunächst nochmalig dar, daB die neue Ausgabe auch
als bloße Separatedition einer Lex Batuvartorum Carolıno tem-
pore emendata weder gelten dürfe, noch gebraucht werden könne,
da ja v. Schwind ein textliches mixtum compositum darbietet,
in dem nicht nur die wertvollere E-Überlieferung (E 1. 2) grund-
sätzlich hinter der minderen (E 3) zurücktritt, sondern überdies
Lesarten aus der Antiqua und sogar aus späten codices mixti den
Emendata-Text derart durchsetzen, daß selbst unter dem ver-
änderten Gesichtspunkt einer Parallelpublikation der baye-
rischen E-Rezension in Quart und der baldigst nachzuholenden
Antiqua-Ausgabe in Oktav die Schwindiana den ihr nachträglich
zugedachten Textcharakter auch nur verunechtet und verfälscht
wiederzugeben vermöchte. Im übrigen aber wies Krusch —außer
einer Zurückweisung im einzelnen — darauf hin, daß es doch wohl
nicht angängig wäre, statt einer Widerlegung seiner text- und
sprachgeschichtlichen Beweise die darauf gegründeten Ergeb-
48 Heymann (S. 129) resümiert selbst über die von ihm vorgetragenen Fälle:
Faßt man dies alles zusammen, so bleibt für v. Schwinds These, nämlich daß sich die
reinere Latinität der Vaticana aus der reineren Latinität der Vorlage (Eurich) erkläre,
allerdings kein durchschlagender Beweis übrig. Abgesehen von der im Grunde un-
verwendbaren Stelle XII,1 (vicenos) bleibt nur, daB in X11,4 (antiquitus, decoreas,
probantur und ev. reformandum) und in IX, 17 (inquirat) die Vaticana und ihre
Gruppe eine offenbare stärkere Anlehnung an die Vorlage hat; schon in VIIL19
(coitu-ictu) und in 1,12 ist das Bild nicht mehr sicher.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 711
nisse mit dem Hinweis auf ein halbes Dutzend scheinbar wider-
streitender Varianten aus minderwertigen Vertretern von E an-
zuzweifeln: Varianten, die bei der unangefochtenen Gültigkeit
unserer textkritischen Methode eben nur als Zufallskoinzidenzien
erklärt werden dürfen, zu denen spätere emendierende und kon-
jizierende Abschreiber ganz von selber geführt worden sind.
In der Tat gibt es ja bei der handschriftlichen Tradition
unserer Texte auch anderweit Beispiele genug für diese Art von
blendendem Anschein vorzüglicher Lesarten in jüngeren Hss.
minderen Ranges, und es wäre nicht auszudenken, wohin wir
kämen, wenn man zu deren Erklärung — aller sonstigen Einsicht
in die Versippung des erhaltenen Materiales zuwider — zu der
unbeweisbaren Möglichkeit griffe, es handle sich da um späte
Reflexe verschollener älterer, hochwertiger Vorlagen, so schwierig
es auch meistenteils ist (und namentlich dort, wo man mit un-
kontrollierbaren Interpolationen zu rechnen hat), das Blendwerk
im Einzelfalle durch die Motivierung des wahren Zusammen-
hanges zu beheben. Ich erinnere nur an zwei landläufige Bei-
spiele aus der klassischen Philologie: an die verblüffenden
Varianten der Seneca-Hs. E und an die byzantinische Über-
lieferung der griechischen Tragiker und des Aristophanes, zu der
A. Gercke bemerkt, daß sich heutzutage wohl niemand mehr
versucht fühlt, diese Texte den älteren als gleichwertig an die
Seite zu stellen oder gar diese verdrängen zu lassen, obwohl der
Schein zunächst für ihre Güte spricht, solange man nur ober-
flächlich zusieht. Dazu kommt im vorliegenden Falle, daß wir
dank Krusch die Scheidung der älteren bayerischen Gesetzes-
Überlieferung in Klassen und Gruppen aufs deutlichste über-
sehen und mit dem Charakter der verdächtigen E-Hss. aufs beste
vertraut sind, daß wir ferner die eigentümliche Technik der
karolingischen Überarbeitung von älteren,, barbarischen“ Texten
genau kennen und wissen, daß diesem Bestreben aus der Gelehr-
samkeit späterer mittelalterlicher Schreiber geradezu eine „Kon-
kurrenz'' erwuchs, die sich nach der gleichen Richtung ausgewirkt
hat. Da begreift man schwer, wie man sich trotzdem auf rechts-
historischer Seite immer von neuem gegen die Anerkennung einer
Handvoll nachträglicher Schreiberkonjekturen stráubt und lieber
in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten von verlorenen
Texten flüchtet.
712 Walter Stach
Denn was es in Wahrheit mit dem besser bewahrten Wortlaut
der Vorbilder an den umstrittenen Stellen auf sich hat, darüber
entscheidet m. E. ein für allemal der in seinem Zusammentreffen
beweiskräftiger Nebenumstände geradezu ideale Fall“, wo sich
ein offenkundiges Schreiberversehen der Eurich-Überlieferung
(c. 280) in die bayerische Entlehnung des betreffenden Passus
fortgeerbt hat. Es handelt sich um den Wortlaut in XV, 4:
furem sua investigatione perqutrat] B; suam A 2. 3: suum E mit
A1.4.B6. Die unsinnige Wortfügung furem suam stand zwei-
felsohne schon im Euricianus; das beweisen die Pariser Frag-
mente, das beweist auch die jüngere westgotische Hs. R2 zur
Reccessvindiana mit ihrer Schlimmbesserung suam investigatio-
nem. Der Unsinn ist bayerischerseits getreulich kopiert in
A 2. 8 und stand demgemäß im Archetypus. Er wurde aber von
E (mit dem A 1 und 4 in diesem Teile der Lex konform gehen) in
seinem oberflächlichen Bereinigungseifer zu furem suum verball-
hornt, so daB man alles Wünschenswerte für die Beurteilung der
Überlieferungsqualitäten beisammen hat: die barbarische Indo-
lenz von A mit dem versteinerungsmäßig genauen Abdruck der
rezipierten Stelle und die skrupellose Emendationsweise von E,
dem es weniger um den ursprünglichen Sinn des Textes als um
die „karolingische“ Korrektheit der Sprache nach den Vor-
schriften der Grammatik zu tun ist“. Nimmt man vollends
hinzu, daß Krusch u. a. gegen Heymanns Erwägungen ausführt
(Neue Forschungen, S. 24ff.), wie in XII, 4 ein probantur der
westgotischen Antiqua X, 3, 3 auf der bayerischen Seite zu-
nächst als vulgarisiertes probant erscheint (nämlich mit Aus-
tausch des genus verbi, wie auch sonst im Merovingerlatein), das
** Über den sich übrigens die Gegner Kruschs auffällig ausschweigen.
% Ganz ähnlich sind die Dinge in XIL,6 gelagert, worauf Krusch gleichfalls
schon Lex, S. 213f. aufmerksam gemacht hatte: ,Damnum pervasionis“] E mit
Al. 4; aber ,damnum persuasiones A2. B6 — ,damnum persuasionis' A3. B1. 2.3.
Zweifellos ist ,pervasionis' von E die sinngemäße Lesart, und ,damnum pervasoris'
liest auch der Euricianus (c. 276). Aber die Übereinstimmung von A2. 3. B6 mit der
B-Klasse macht es trotzdem fast zur Gewißheit, daß im Archetyp die fehlerhafte
Lesart ,persuasionis' stand, wie in der Tat die beste Hs. R1 der Reccessvindiana
X, 3, 5 noch schreibt, mit der übereinstimmend auch das folgende bayerische Kapitel
X11,7, admiserit‘ hat und nicht ,dimiserit', wie Eurich. Danach ist es auch hier mehr
als wahrscheinlich, daB die korrekte und scheinbar dem Euricianus näherstehende
Lesart in E. A1. 4 nichts weiter darstellt als eine spontane spátere Korrektur.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 713
von E natürlich wieder eingerenkt wird, und wie schließlich ein
Korrektor von C 2 dieselbe Verbesserung sozusagen vor unseren
Augen vollzieht, so hätte man glauben sollen, die Sachlage wäre
geklärt.
Aber Eckhardt steht auf dem entgegengesetzten Standpunkt,
indem er Heymann bedeutet, er sei in der Auswertung solcher
Fälle noch viel zu zaghaft gewesen. Denn diese Stellen, in denen
der Wortlaut der Westgotengesetze getreuer in E bewahrt sei,
reichten vollkommen aus, um den Stammbaum von Krusch zum
Teil zu Falle zu bringen. Die A-Vorlage von E müsse einen Text
enthalten haben, der in gewissen Fällen korrekter gewesen sei als
die gesamte sonstige Überlieferung, und die E-Klasse stelle
danach eine selbständige, wenn auch A keineswegs ebenbürtige
Ableitung aus dem bayerischen Archetypus dar (Eckhardt, S.16).
Auch lasse sich nachweisen, daß nicht E, sondern B eine Kom-
pilation sei (ebd. S. 17) und daß der Redaktor von f zu diesem
Zweck neben seiner zur A-Klasse gehörigen, mit A 4. B 7 nächst-
verwandten Hauptvorlage die Textform der Antiqua benutzt
habe, aus der später die Emendata hervorgegangen wäre (ebd.
S. 23).
Zum Beweise dessen greift Eckhardt zunächst auf den Passus
in XVI, 5 zurück, wo die E-Hss. probaverit lesen, wie der Euri-
cianus auch, während in A dafür haberet steht, und er lobt die
Entschiedenheit, mit der H. Meyer betont habe, daß entspre-
chend auch probaverit dem bayerischen Archetypus entstamme,
da es unmöglich in E eine bloße Abschreiberkorrektur sein
könnte, die rein zufällig zum Euricianus zurückgeführt habe 51.
91 Das klingt sehr plausibel und beleuchtet doch blitzartig m. E. den latenten
Widerstreit zwischen der historisch-philologischen Behandlung der Überlieferung und
ihrer Würdigung von juristisch-rechtsgeschichtlicher Seite. Mir will es scheinen, als
sei man auf diesem Standort der Gefahr ausgesetzt, an einer konkreten Quellen-
situation, wie der obigen, in logizistischer Subsumierung des Besonderen unter all-
gemeinste Wahrscheinlichkeitsmomente vorbeizuurteilen. Zum mindesten habe ich
den Eindruck, als vergäße man über der konsequenten Handhabung eines text-
kritischen Prinzips bisweilen die übergeordnete Einsicht, daB unsere quellenanalyti-
schen Regeln doch keine mathematischen Axiome darstellen, sondern nichts weiter
sind als eine im Laufe von Generationen erworbene und bis zur Bewußtheit in der
Anwendung gesteigerte Empirie im Umgang mit Quellen, so daB der Beweiswert der
historischen Methode nicht auf ihrem logischen Gehalt, sondern auf ihrer Tatbewüh-
rung beruht. Daher bedarf sie auch der dauernden Anpassung an die jeweilige Lage-
rung des Objektes, einer Modifizierung im besonderen Fall, die allem Anschein nach
714 Walter Stach
Dabei war gerade zu dieser Stelle, deren besonderer Lockung
schon v. Schwind erlegen war, inzwischen von Krusch alles Er-
forderliche zur Klarstellung des Sachverhaltes gesagt (Lex,
S. 232 f. und Neue Forschungen, S. 28f.). Krusch hatte gezeigt,
daß zunächst bei Eurich der Tatbestand des Deliktes ein völlig
anderer ist als bayerischerseits. Dort läßt sich jemand als
Sklaven verkaufen und legt hinterher die Beweise vor (liber-
tatem probaverit: Euricianus c. 290 und A 1. 4. E), daß er ein
Freier ist, so daß den Verkäufer keinerlei Schuld trifft. Hier
wird ein Freier gegen seinen Willen verkauft, obwohl seine Frei-
heit notorisch ist (libertatem haberet: AB), und der Verkäufer ist
der Schuldige, der bestraft wird. Krusch hatte ferner gezeigt,
wie das haberet der bayerischen Antiqua noch durch die nach-
folgende Eigenbemerkung der bayerischen Bestimmung: sicut
prius habuit, nochmals deutlich aufgenommen und in seiner
Ursprünglichkeit gesichert wird. Und er hatte schließlich betont,
daB E ja bloß an einen Fall von streitiger Freiheit zu denken
brauchte, um auf seine für den bayerischen Sinnzusammenhang
abwegige Konjektur zu verfallen, da nun einmal bewetsen latei-
nisch probare heißt. Ich wüßte nicht, was ich diesen durchschla-
genden Gründen noch hinzufügen sollte, es sei denn die Gegen-
frage an die Anhänger v. Schwinds, wie sie sich wohl umgekehrt
die lectio difficilior haberet in AB entstanden denken, wenn sie
nicht aus dem Archetypus der Überlieferung hergeleitet werden
soll.
Zur Ergänzung Heymanns holt Eckhardt sodann seine eige-
nen Argumente aus einer Betrachtung von alamannischen
Lehnstellen in der bayerischen Lex9*, Zuerst vergleicht er zu
diesem Zweck die alamannische Wundbussennorm LVII, 34: S:
autem ferrum calidum intraverit ad stagnandum sanguinem...
mit der bayerischen in IV, 4. Hier lautet die ältere Überlieferung
in AB: Si in eum vena percusserit, ut sine igne stagnare non possit
dem juristischen Bedürfnis nach Konsequenz im Formalen zuwiderläuft. Etwas zu-
gespitzt könnte ich sagen: Die Nichtverwendbarkeit eines textkritischen Kriteriums
erhellt aus den unbrauchbaren Resultaten; nicht aber verbürgt seine logische Evidenz
schon die Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall.
5* Gerade von diesem Lehngut hatte Krusch (Lex, S. 201) versichert: Diese
Vorlage geben besonders die Hss. A 1. 2 einzeln oder zusammen in ihrem barbarischen
Gewande getreulich wieder, und E bietet statt dessen einen überall nach der Gramma-
tik korrigierten Text.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 715
[rena in eum Al; vena A2; in eum venam B 6; in eo venam
B 2—5. 7], während es in E heißt: St in eo venam percusserit, ut
sine igne sanguinem stagnare non possit [veniam corr. venam E 2;
veniam E 6]. Daraus folgert nun Eckhardt (S. 13), nur E habe
das für den Sinn kaum entbehrliche sanguinem erhalten, das
durch die Vorlage (L. Al.) als ursprünglich gesichert sei; man
könne sich kaum vorstellen, daß die bayerischen Redaktoren das
sachlich wichtige Wort übergangen haben sollten, und anzu-
nehmen, es sei erst von E durch Konjektur eingefügt worden,
bedeute eine unnótige Komplizierung der handschriftlichen Be-
ziehungen. Dem gegenüber muß ich zunächst hervorkehren, daß
die alamannisch-bayerische Textbeziehung gerade im vorliegen-
den Falle bei weitem nicht so eng ist, wie Eckhardt voraussetzt
und wie die Schwindsche Ausgabe durch den Kleindruck des
sanguinem stagna(re) vorgibt. Von einer Sicherung des san-
guinem der bayerischen E-Klasse durch das alamannische Vor-
bild kann jedenfalls keine Rede sein, sondern höchstens von der
Möglichkeit einer Entlehnung. Gewiß ist auf beiden Seiten
von einer qualifizierten Blutwunde die Rede, die zu ihrer Heilung
gebrannt werden muß. Im übrigen aber spricht die alamannische
Lex von dem Sonderfall einer Schwerverletzung infolge Durch-
bohrung der Hand, und zwar im Gegensatz zur einfachen blu-
tenden Handwunde; dagegen die bayerische Lex von einer
Schlagaderverletzung ganz im allgemeinen. Zudem wird dort
die das Bußmaß erhöhende Folge beschrieben (ferrum calıdum
intrare), während hier der ursächliche Tatbestand formuliert ist
(venam percutere). Infolgedessen ist alamannisch die Zufügung
von sanguis tatsächlich ein integrierendes Stück des Gedankens;
denn von einer angeschlagenen Ader war vorher nichts erwähnt.
Dagegen wäre in den bayerischen Hss. A B dieser Zusatz nicht
nur unnötig, sondern paßt in die Konstruktion des Satzes über-
haupt nicht hinein: Wenn er ihm eine Ader angeschlagen hat, so
daß sie ohne Brand nicht gestillt werden kann. Denn daß stagnare
hier passiv verstanden sein will (und nicht etwa als aktiver
Infinitiv eines transitiven Verbs), steht außer Frage und bezeugt
genau so wie die vorausgehende Kasusvertauschung in A 1. 2 (in
eum vena für in eo venam) gerade den Sprachzustand, den man
von der ungelenken Latinität der älteren Zeit zu erwarten hat.
Hätte sich der Redaktor von E um den von A gemeinten Sinn
716 Walter Stach
ernstlich bemüht, so hätte er mit der kleinen Änderung von
stagnare zu siagnarı die erwünschte sprachliche Glätte erzielt,
ohne erst aus der angeschlagenen Ader, die nicht zum Stehen
gebracht werden kann, den Verletzten zu machen, der das aus
der Wunde fließende Blut nicht zu stillen vermag. So aber ist
er in seiner Flüchtigkeit über das mit e vertauschte i bzw. über
den Genusaustausch in A gestolpert (wie anscheinend auch
Eckhardt, der offenbar vom klassischen Sprachgebrauch her
meint, aktives stagnare lasse sich eben nicht absolut gebrauchen).
Die Folge ist das schiefe in den ursprünglichen A-Satz hinein-
geflickte sangutnem, das mit dem alamannischen sangutnem
weder logisch noch sachlich das geringste gemein hat. Man kann
geradezu sagen, stünde nicht an sich bereits fest, daB dieses
sanguinem in E eine karolingische Einschwellung ist: man müßte
es auch dann aus dem Texte wieder hinauswerfen, wenn man
ohne die Kenntnis der álteren Überlieferung, allein von E aus,
eine vorkarolingische Textstufe zu rekonstruieren versuchte.
Daraus erhellt wohl zur Genüge, daB das erste von Eckhardt
angezogene Beispiel bei näherem Zusehen gerade das Gegenteil
von dem beweist, was es soll.
Um den zweiten Beleg — und mehr bringt Eckhardt nicht
bei — ist es m. E. nicht besser bestellt. Es handelt sich um den
bereits bei v. Schwind verwerteten und dann von Krusch (Lex,
S. 203ff.) eindringlich behandelten Brandstiftungspassus in X, 1,
der bayerisch in dreifacher Fassung überliefert ist:
I. Si quis per [super A 1. 4. E] aliquem in nocte [in(n)ocentem
A 4. E 1. 10. F] ignem inposuerit et incenderit .. . A. E;
II. Si quis per aliquam invidiam vel odtum [B 2. 3; domum B 1]
in nocte etc. B 1. 2. 3;
III. Si quis aliquem per invidiam vel dolum in nocte etc. B 6.
Dazu treten folgende Bestimmungen, die bei der Redaktion
dieser Satzung zur Vorlage gedient haben kónnen:
a) L. Al. LXXVI, 1: Si quis aliquem foco in nocte miserit,
ut domus incendat, seu et sala sua...;
b) L. Sal. XVI (XIX), 1: Si quis casa quamlibet super homi-
nem dormientem incenderit...;
c) L. Bai. I, 6: Si quis res ecclesiae igne cremaverit per
invidiam more furtivo in nocte. .
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 717
Zunächst erscheint es schon äußerst befremdlich, wenn man
das Bemängelungsverfahren gegen die Gesamtergebnisse Kruschs
ausgerechnet auf eine Stelle zu gründen versucht, an der die
Überlieferung offensichtlich bis in die älteren Handschriften
hinein (B 1) getrübt ist und wo möglicherweise bereits im Arche-
typus unserer Texte eine Störung vorlag, mit der sich die ein-
zelnen Schreiber auf ganz verschiedene Weise abgefunden haben.
Denn klar und ohne jeden inhaltlichen Anstoß ist allein die ala-
mannische Bestimmung (a), in der aliquem für alicu:, d. h. der
acc. als vulgárer obliquus universalis für den dat. fungiert; sie
nennt den Täter und den Geschädigten, den dominus, auf den
auch der Ausdruck sala sua verweist. Dagegen spricht das baye-
rische Gesetz in der ältesten Fassung vom Urheber und von dem
Beihelfer (per aliquem), den er zur Brandlegung anstiftet. Das
letztere scheint zwar rechtlich nicht vonnóten, ist aber kaum ein
unhaltbarer Unsinn, wie Eckhardt behauptet, da ja náchtliche
Brandstiftungen in der Regel nicht ohne Mittelsperson durch-
geführt worden sein dürften. Jedenfalls bildet dieser — wenn
man will: merkwürdige — Wortlaut den áltesten Text der baye-
rischen Überlieferung, bis zu dem wir vorzudringen vermógen.
Denn daß sich das per aliquem nicht durch die Motivangaben in B
(per invidiam etc.) aus der Welt schaffen läßt, gibt auch Eckhardt
zu. Nicht nur, daß das alamannische Vorbild für eine derartige
Textaufschwellung keinerlei Anhalt bot, sondern offensichtlich
ist es das per aliquem selber gewesen, von dem die Interpolationen
in II und III ausgehen. Das bezeugt vor allem, wie Krusch
betont, das erstarrte Masculinum altquem in III, an das der
Motivzusatz noch ohne grammatische Beziehung angehängt ist.
Dafür spricht aber auch, daß in der bayerischen Satzung über die
Kirchenbrandstiftung (c) schon in ganz ähnlicher Weise von der
invidia als Triebfeder der Brandstiftung die Rede war, so daß
selbst nach der inhaltlichen Seite der Quellpunkt für diese nach-
träglichen Einschübe in II und III aufgedeckt ist. Aber ebenso
sicher ist es, daB man andrerseits dieses per alıquem nicht aus
dem super aliquem der E-Hss. herleiten darf, obgleich sich
Eckhardt mit Leidenschaft dafür einsetzt und Krusch mit ziem-
licher Entrüstung vorwirft, er wolle nur seinem Stammbaum
zuliebe den Text durch Abschreiberunsinn entstellen, und an-
deutet, Krusch schiene aus bloßer Verranntheit zu bestreiten, daß
718 Walter Stach
eine Verschreibung von super zu per überhaupt denkbar sei.
Aber um die paläographische Möglichkeit oder Unmöglichkeit
eines solchen Schreiberversehens, auf das Eckhardt das ganze
Problem zuspitzt, handelt es sich wirklich nicht, sondern um den
anerkannten Grundsatz der lectio difficilior, den man psycho-
logisch einmal sehr richtig als das ,, Gesetz der steigenden Platt-
heit" definiert hat. Das will im vorliegenden Falle besagen:
Es ist a limine unwahrscheinlich, daB man sich angesichts eines
ursprünglichen super aliquem veranlaßt gesehen hätte, aus einer
derartig geschmeidigen Angabe einerseits in A einen unnötigen
Gehilfen bei der Brandstiftung zu machen oder andererseits in B
überflüssige Motivumschreibungen dafür einzusetzen, wührend
der umgekehrte Vorgang, die Entwicklung eines ursprünglichen
per aliquem zu super aliquem ohne weiteres einleuchtet. Denn ob
man hierbei annimmt, daß gerade zu dieser Präposition die
Anregung der Salica-Stelle (b) geführt hat, wie v. Schwind und
Krusch vermuten, oder ob man den Anteil der Vorlage b be-
streitet, wie Eckhardt das tut, ist für den Hergang ziemlich
belanglos. Die dadurch bewirkte textliche Gláttung paBt auf
jeden Fall vortrefflich zu dem Gesamtcharakter von E und findet
sich bezeichnenderweise ebenso als Korrektur für das ,,barba-
rische‘‘ aliquem in der karolingischen Überarbeitung des ala-
mannischen Textes, wo von einem per überhaupt keine Rede
ist 9. Oder soll dieses super aliquem der alamannischen Karolina
etwa auch entgegen dem Zeugnis der besten Hss. die ursprüng-
liche Fassung abgeben? Freilich möchte nun Eckhardt gern
wissen, wie dann das per in den „Urtext“ der bayerischen Lex
hineingeraten wáre, wenn es nicht aus super verschrieben sein
soll. Aber das ist eine Frage quid juris, deren Beantwortung, wie
bei so mancher crux philologica, die Grenzen des tatsáchlich
Feststellbaren überschreitet. Denn ausmitteln läßt sich nur,
daß jenes per aliquem im Archetypus unserer hs. Überlieferung
de facto gestanden hat. Das beweist die Einmütigkeit aller Text-
zeugen, da wir — ganz abgesehen von der Beweiskraft des
Stammbaumes, von der Eckhardt nicht viel wissen will — eben
nirgends eine Variante ohne das per bzw. ohne die daraus ent-
standenen Entartungen vorfinden. Aber daß nun per aliquem
63 „Ein solcher Parallelismus spricht Bände“, möchte man mit Eckhardt aus-
rufen, nur daß dieser verkennt, wofür der Parallelismus spricht.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 719
deswegen auch schon zum Urtext gehórt hátte, ist von niemand
behauptet worden; sondern für dessen hypothetischen Ansatz
scheint mir durchaus unbenommen, etwa zu konjizieren, daß
dort móglicherweise die reine Fassung a stand, d. h. wie in der
L. Al. ein nacktes aliquem im Sinne von alicut, so daß vielleicht
eine für uns nicht mehr greifbare Störung im „Urtext“ zu dem
inhaltlich unbehaglichen per aliguem des Archetypus geführt hat.
Jedoch mit dem Problem der Hss.-Versippung hätte eine Ver-
mutung nach dieser Richtung ja nichts mehr zu tun.
Damit dünkt mich die These von der überragend guten
Antiquavorlage aller E-Hss. und von deren sondertümlichen Ab-
zweigung aus dem Archetypus der L. Bai. — trotz der weiteren
Unterbauung durch Eckardt — abermals widerlegt, und es fragt
sich, wie es um die anschließende Behauptung Eckhardts steht,
daB nicht E aus B, sondern B aus E interpoliert sei (Eckhardt,
S. 17ff.). Daß derartige kompilatorische Beziehungen zwischen
diesen beiden Familien vorhanden sind, ist bereits oben (S. 707 f.
und Anm. 44) im Anschluß an Krusch dargelegt worden, und aus
dem instruktiven Beispiel des B-Zusatzes zu IV, 29 hatte sich
ergeben, daß solche Gelegenheitseinwirkungen in der Richtung
von B nach E verlaufen. Das lehrte die allmähliche und orga-
nische Entfaltung dieses Einschubes, zusammen mit dem höheren
Alter von B. Um nun den Weg für eine gegenläufige Deutung
überhaupt frei zu bekommen, muß Eckhardt entgegen der Sinn-
fälligkeit dieses Beispieles zu der konstruierten Ausflucht greifen,
daß nicht die eine Rezension aus der anderen unmittelbar inter-
poliert worden sei, sondern daß B zum Zwecke der Kompilation e,
die mutmaßliche Antiquavorlage von E, benutzt hätte, und
daß der Redaktor von B den E-Zusatz in IV, 29 entweder
ignoriert oder in & noch gar nicht vorgefunden hätte. Das
scheint mir ein bedenklicher und waghalsiger Ausweg: waghalsig,
weil es wohl kaum angängig ist, aus den an sich recht spärlichen
Textbeziehungen zwischen E und B (vgl. Anm. 44) so weit-
gehende Schlüsse zu ziehen, und bedenklich, weil man zum
mindesten hätte erwarten dürfen, daß die Berechtigung dazu auf
Grund einer Kollation der von Krusch noch nicht eingesehenen
Pariser Hss. E 4. 6a. 10 angestrebt worden wäre. Statt dessen
beruft sich Eckhardt ausschließlich auf einige wenige Fälle von
Variantenhäufungen in B und sieht deren Beweiskraft vor allem
720 Walter Stach
darin, daß in E dergleichen völlig fehle. Das halte ich für ein
sehr brüchiges argumentum e silentio. Wohl steht es außer
Frage, daB auffállige Textdubletten auf den Mischcharakter einer
. Hs. hindeuten kónnen. Aber niemals vermag deren Fehlen die
anderweitig erhürtete Tatsache der Interpolation aus einer
zweiten Hs. wirksam zu widerlegen. Vor allem im vorliegenden
Falle nicht. Denn es widerspráche vóllig dem (auBer vielleicht
in E 1) deutlich erkennbaren Bestreben von E, einen möglichst
lesbaren Text herzustellen, wenn man nicht bei der Redaktion
zugleich solche sinnstórende Additionen sachlich identischer Les-
arten auf alle Fälle zu vermeiden gesucht hätte. Dazu kommt,
daB die von Eckhardt vorgeführten Belege für solche Lesarten-
häufungen in B durchweg eine andere Erklärung geradezu ver-
langen oder wenigstens offen lassen. Das liegt in der Verschieden-
heit der Ursachen begründet, die zu solcher Variantenabundanz
geführt haben kónnen. Wirklich eindeutig wáren daher über-
haupt nur Beispiele von folgendem Typus: E 3 verbessert in VII
(VI), 1 die verkehrte Lesung familiam fratris zu filtram fratris und
E 4. 6. 6a schreiben danach filiam familiam fratris. Aber von
diesem Schlage ist m. E. kein einziges der Eckhardtschen Zeug-
nisse aus B.
So trágt er (S. 22) beispielsweise folgendes vor: Wir lesen in
E I, 10: tbi sit firmata usque in perpetuum und dafür in A: bt
sint firma tunc usque etc. Die Entstehung dieser Form sei leicht
zu erklären; der Schreiber habe firmata zu firma tc verlesen und
danach korrekt zu tunc aufgelóst, ohne sich viel um die Richtig-
keit dieser Wiedergabe zu kümmern. Während nun die Haupt-
vorlage von B mit A zusammen firma tunc las, habe der Schreiber
der Stamm-Hs. von B aus einer anderen Hs. — und dies kónne
eben nur die Ántiquavorlage der Emendata gewesen
sein — die Silbe ta über der Zeile nachgetragen, und eben diese
Fassung fänden wir auch in B 1; dagegen hätten die übrigen
B-Hss. die „wohl undeutlich geschriebene Interpolation ver-
kannt“ und überlieferten infolgedessen firma ex tunc. — Das
heißt doch wahrhaftig das erwünschte « an den Haaren herbei-
zerren und dafür das Nächstliegende — man möchte fast sagen:
um jeden Preis — übersehen! Im Ingolstadtensis (B 1), bei
K. Beyerle S. 40 für jeden zu lesen, ist vom Korrektor der Hs.,
wie natürlich auch Eckhardt weiß, über firma tunc die Silbe ta
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 721
hinzugefügt: eine spontane, aus dem Gedankenzusammenhang
getroffene Konjektur, genau wie das abwegige ex tunc der anderen
B-Hss. auch. Und diese zwei Buchstaben soll sich die zweite
Hand von B1 aus einem besonders guten Exemplar der frän-
kischen Kanzlei erst haben herbeischaffen müssen, und aus-
gerechnet aus demselben Exemplar, aus dem später die Emen-
data hervorging? Selbst wenn es aller Wahrscheinlichkeit zu-
wider so gewesen wäre, dürfte man dann weiterhin um dieses
winzigen Falles willen die B-Hss. bereits Kompilationen nennen,
codices mixti, die durch Emendationen nach einer zweiten Vor-
lage entstanden wären ? Ich glaube wohl kaum.
Auch die weiteren Beispiele Eckhardts können mich keines
besseren belehren. Denn wenn z. B. B1 in XIV, 17 siquamvıs
schreibt, so ist das nach meiner Überzeugung nun und nimmer
eine Variantenaddition aus dem swis der „Hauptvorlage‘“ und
einem quamvis, das „der Schreiber aus einer zweiten Hs.“ (also
e und wiederum nur c?) „interpoliert hatte“, wie Eckhardt will;
sondern eine ganz gewöhnliche und natürliche Kontamination
aus dem überlieferten und obsolet gewordenen swis und der
einem späteren Schreiber geläufigen Konjunktion quamvis.
Wollte man in analogen Fällen mittelalterlicher Texte jedesmal
nach der zweiten Vorlage suchen, so dürfte das mit Leichtigkeit
zu den absonderlichsten Filiationen führen. Wenn irgendwo,
gilt eben hier der methodische Grundsatz: simplex sigillum veri!
Die einfachste Erklärung, die der wenigsten Hilfskonstruktionen
bedarf, hat im Zweifelsfalle die Wahrscheinlichkeit für sich“.
So kann ich selbst den restlichen Ausführungen Eckhardts
(S. 24—29), die eine immanente Kritik an Krusch und seiner
Auffassung der Textverwandtschaft zwischen A 2. 1 und El,
nebst dessen Untersippe, versuchen, beim besten Willen nicht
mehr entnehmen, als daB zwischen den codices deteriores von E
(E 3—7. 10. 13) und f, der Stammutter von E 2. 2a. F, vielleicht
textliche Beziehungen spielen, die sich bei weiterem Verfolg
54 Das trifft auch für die weiteren Beispiele Eckhardts zu: VIII (VII), 19
‚coitu-ietu‘ (vgl. Krusch, Lex S. 217ff. u. Neue Forschungen S. 28); XII,4 ‚antiqui
tunc — antiquitus' (vgl. Krusch, Lex, S. 227 u. Neue Forschungen, S. 25), über die
mir bei Krusch alles Erforderliche gesagt scheint. Und ebensowenig vermag ich
mit Eckhardts Belegen II, 17 ,perperam — per pecuniam' und IV, 16 (E) ‚unum-
quemque' etwas anzufangen.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 46
722 Walter Stach
solcher Berührungspunkte noch deutlicher klären dürften. Aber
die Filiation der Haupt-Hss. (über den Gruppengegensatz von
E 3—7. 10. 13 gegenüber E 1. 2. 2a. F) bis in alle Verästelungen
nach unten weiter fortzusetzen, hatte ja Krusch (Lex, S. 143)
ausdrücklich abgelehnt, da diese Untersuchung für die Kon-
stituierung des Grundtextes kein erhebliches Interesse besitzt.
Doch bleibt es selbstverständlich möglich und erwünscht,
die Forschungen Kruschs nach dieser Richtung noch zu er-
gänzen und zu vervollständigen.
* *
*
I. Exkurs.
Zu Zeumers Ausgabe (4?) der Fragmenta legum codieis Eurieiani.
Im Zusammenhang mit Untersuchungen zu Sprache und
Stil der Westgotengesetze, worüber ich unten (S. 730f.) noch
einiges andeuten werde, war ich im Oktober 1926 in Paris, um
neben jüngeren Handschriften dieser Leges vor allem den cod.
Parisinus lat. 12161, den sog. Euricianus, nochmals an Ort und
Stelle vollständig nachzuvergleichen®. Ich habe unsägliche
55 Der Aufenthalt wurde mir durch eine Beihilfe der Notgemeinschaft und der
Vereinigung von Fórderern und Freunden der Universitát Leipzig ermóglicht, wofür
ich beiden zu gróBtem Dank verpflichtet bin. In Paris selbst wurden mir von H.Omont,
an den ich durch B. Krusch persönlich empfohlen war, bei der Benutzung des
Lat. 12161 alle nur denkbaren Erleichterungen gewährt. So durfte ich z. B. um des
günstigeren Lichtes willen am Platze der Photographen arbeiten. Was den eigent-
lichen Zweck meiner Nachvergleichung des Eurich angeht, so hatte ich insbesondere
gehofft, im e. 320 der Fragmente (de successionibus), an einer, wie Zeumer sagt
(NA. 26, S. 99), für die Erforschung des germanischen Erbrechtes geradezu grund-
legenden Stelle mit bloBem Auge mehr zu lesen, als meinen Vorgängern gelungen
war. Vergebens! Eine weitere Hoffnung hatte ich auf die phototechnische Behand-
lung der Handschriftenblütter (photochromatische Aufnahmen unter Verwendung
geeigneter Farbfilter und Anwendung einer Analvsenquarzlampe) an Ort und Stelle
gesetzt. Aber die vorhandenen Hilfsmittel erwiesen sich dafür als unzulänglich.
SchlieBlich trug ich H. Omont die Bitte vor, die kostbare Handschrift dem Photo-
chemischen Institut in Karlsruhe anzuvertrauen, um die entscheidenden Stellen von
Kögel selbst nach seinem neuen Palimpsestverfahren photographieren zu lassen, und
zwar unter Einbeziehung auch der Seiten 81; 82; 87—90; 95; 96; d. h. von Stücken
der Hs., die schon die Mauriner als Palimpsestblätter angesprochen haben, auf denen
man aber mit bloBem Auge keinerlei Spuren einer Primärschrift mehr zu erkennen
vermag. H. Omont gab auch nach anfänglichem Bedenken persönlich seine Zustim-
mung und erklärte, einen diesbezüglichen Antrag Kögels aufs wärmste befürworten
Gescbichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 723
Zeit und Mühe mit diesem erneuten Entzifferungsversuch ver-
braucht, und wenn ich jetzt eine Gelegenheit benütze, um das
magere Ergebnis meiner Anstrengungen in Gestalt einiger Text-
bemerkungen zu Zeumers Euriciana-Ausgabe zu veróffentlichen,
so schöpfe ich den Mut dazu aus einer Äußerung von Anschütz,
der in gleicher Lage der Hoffnung Ausdruck gab, es würde auf
diesem schwierigen Felde auch der kleinste Beitrag willkommen
seins,
Zeumers Absicht bei seiner letzten Ausgabe der Fragmente
war es, auf Grund unermüdlich wiederholter Kollation der
Hs.5 einen diplomatisch möglichst getreuen Abdruck des
Textes herzustellen, indem er eigene Ergänzungen in eckige
Klammern und Ergänzungen von Flüchtigkeitslücken, die auf
den Schreiber der Hs. zurückgehen, in Winkelklammern setzen
und ferner unsicher Gelesenes kursiv, unsicher Ergänztes aber
kursiv in Klammern drucken ließ®®. Diese Absicht des Heraus-
gebers ist für mich maßgebend gewesen, wenn ich im folgenden
hin und wieder auch Stellen erwähne, wo an der Richtigkeit
des Zeumerschen Textes kein Zweifel besteht, sondern nur am
Grade der Lesbarkeit des Originals, die damals besser gewesen
sein könnte als heute und sich vielleicht durch die an-
dauernde Nachwirkung der angewandten Reagenzien noch
weiterhin verschlechtern wird. Jedenfalls würde ein Text-
zu wollen. Aber trotz der weiteren empfehlenden Physikergutachten von Langevin
in Paris und Einstein in Berlin, an die ich mich persönlich gewandt hatte, und trotz
des offiziellen Gesuches von Kögel an das zuständige französische Ministerium ist
die Erlaubnis zuletzt doch noch versagt worden. Und so war auch meine letzte Hoff-
nung, zu einer inhaltlichen Erweiterung des Fragmententextes vorzudringen, ge-
scheitert, vermutlich am Widerstand des damaligen Conservateur de la Bibliothéque
Nationale Roland Marcel. Umso dankbarer bin ich den übrigen genannten Herren
für die Fórderung und Unterstützung meines Vorhabens, auf das zu gelegenerer Zeit
zurückzukommen ich mir vorbehalten muß.
š Vgl. A. Anschütz, Archiv d. Ges. f. ält. dt. Geschichtskunde 11 (1858),
S. 21öff.
V' Vgl. Zeumers praef. der Quartausgabe, p. XVII: et ipsum codicem iterum
iterumque ipse perscrutatus sum et exemplaria singularum paginarum arte photo-
eraphica...facta adhibui.
88 Praef. ib.: Quae non lecta, sed suppleta sunt, uncis quadratis inclusimus,
haud certo lecta extra, haud certo supplenda intra uncos cursivis litteris expressa
sunt. Quae in codice non scripta, sed per negligentiam ps omissa sunt, inter
haec signa 0 supplevimus.
46*
724 Walter Stach
abdruck auf Grund meiner Kollation von 1926 überraschend
mehr an unsicher Gelesenem und unsicher Ergänztem aufweisen,
als Zeumers Ausgabe jemals hätte vermuten lassen. Dieses Ge-
samtergebnis kommt in der folgenden Zusammenstellung nur
beispielsweise zum Ausdruck, bei der ich den Seiten des Codex
in der Ordnung folge, daß ich mich zugleich nach Seite und
Zeile auf den fortlaufenden Text in Zeumers Quartausgabe be-
ziehen kann.
eod. p. 93: Zeumer, S. 5 Z. 7 sind von der Kapitelzahl
CCLXXVII, die völlig in einem dunkelbraunen Farbflecken
liegt und die Zeumer trotzdem noch sicher zu lesen vermocht
hat, kaum einige Spuren vorhanden. — Ebd. ist am Zeilenende
bei tertias weder ein s (Zeumer) noch ein m als Wortschluß er-
kennbar. — Ebd. Z. 12 steht in revocare das oc auf Rasur. —
Ebd. Z. 15 sind die Schriftreste eines m am Zeilenende nur aus
dem Zusammenhang zu deuten.
eod. p. 94: Ebd. Z. 26 ist das letzte Wort sed, das Zeumer
gelesen haben will, eine bloße Konjektur. Auch sa, wie Knust
gesehen hat, ist unsicher. Allenfalls sind Andeutungen eines s
vorhanden; aber daB diesem noch zwei Buchstaben folgen,
bezweifle ich sehr. — Ebd. S. 6 Z. 1 ist Zeumers cum Deo
eine glänzende Vermutung, aber als Lesung trotzdem völlig
unsicher. Nach cum ist Raum für drei Buchstaben, von denen
der mittlere vielleicht als e angesprochen werden darf; mehr
läßt sich nicht behaupten. — Ebd. Z. 4 ist für emiss ſum / in
den Text emissa zu setzen. Das auslautende a steht außer allein
Zweifel; blickt man schräg von links auf das Pergament, so ist
es deutlich lesbar. Daraus folgt dann zwingend auch die Auf-
lösung der Buchstabenreste des zugehörigen quae, wo als letzter
Buchstabe für das Auge an sich d, s oder e möglich erscheint.
Auch das vorausgehende ut ist noch völlig erkennbar, wie das
noch in Zeumers Oktavausgabe zum Ausdruck kam, so daß die
vollständige Zeile lauten müßte: [ri] ut qua(e) cum lege vi(d)e-
remus emassa. T
eod. p. 105 col. 2: Ebd. Z. 15 ist das requiratu[v], wofür
Zeumer in der Oktavausgabe creditor accı[piat] lesen wollte,
durch die mit Sicherheit festzustellende Buchstabenfolge
. tra.... völlig gedeckt, so daß Zeumers ausdrückliche Be-
rufung (Z. 43f.) auf den Text der westgotisch bayerischen Pa-
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 725
rallele nicht vonnöten ist. — Ebd. S. 7 Z. 2 ist statt cogatu / v
eæsol / zu drucken cogatur [exsol]. — Ebd. Z. 5f. habe ich
cavallum statt cuballum und weiterhin idem und praestitus mit
solcher Bestimmtheit gelesen, daß sich Zeumers Anm. Z. 42
völlig erübrigt. |
eod. p. 106 col. 1: Ebd. Z. 17 ergibt /[arder]e non statt
[ardere] non. — Ebd. S. 8 Z. 1 ist unbedingt aput für Zeumers
apud zu lesen. — Z. 6 steckt in dem Wort investigatione noch
ein Buchstabe zwischen a und t, den man als s deuten kónnte.
cod. p. 103 eol. 2: Hier gibt Zeumers Text zu Bemerkungen
keinen AnlaB. In der Mitte (Z. 7/8 des cod. — Z. 20/21 bei
Zeumer) ist ein Riß im Pergament, so daB man an dieser Stelle
überhaupt nichts mehr festzustellen vermag. |
cod. p. 104 eol. 1: desgl.; die sicheren Lesungen Zeumers,
S. 9 Z. 19—21, wo wiederum in der Hs. überklebt worden ist,
beruhen in der Mitte des Pergamentes mehrfach nur auf der
wörtlichen Parallele in den LL. Vis. V, 5, 5.
cod. p. 85: Die Seite ist gänzlich dunkelbraun und dunkel-
, blau, und stellenweise hat man derart mit Reagenzien gearbeitet,
daB das Pergament teils gequollen, teils schon angefressen ist.
Soweit ich zu lesen vermochte, hat sich Zeumers Text durchaus
bestátigt. Nur S. 11 Z. 8 ist bei cau[tae] der Rest des t vóllig
deutlich und das vorausgehende vero vom Schreiber vielleicht
aus verschriebenem vel korrigiert.
cod. p. 86: Trotz der dunklen Tónung ist die Schrift bis auf
die Zeilen 5f., 9f. gut zu erkennen. Zeumer, Z. 16 móchte ich
für /aut m etu mortis lieber mit Bluhme ſper m etum mortis
lesen, wie Zeumer selbst in der Oktavausgabe ergänzt hatte.
Seine spátere Grundlage ist ausschlieBlich der Wortlaut der
L. Bai. XVI, 2. Die Unsicherheit der Lesung geht aber wahr-
scheinlich auf eine heute nicht mehr durchsichtige Korrektur
des Schreibers zurück, so daB die frühere Anmerkung Zeumers
in den Leges Visigothorum antiquiores S. 8: incertum, utrum
[m]etu an [m]etum scriptum sit, dem Hs.-Befund zweifellos am
besten entspricht. — Quartausgabe S. 12 Z. 8 ist mir Zeumers
crimen quod sibi obiecerat unverständlich geblieben. Von einem
sibi ist m. E. nichts zu sehen, und obwohl die Buchstabenfolge
en quo nicht ganz sicher scheint, geht der vorhandene Raum
genau auf für en quod obice, so daß für sib: an sich schon der
726 Walter Stach
Platz fehlt. — Ebd. Z. 10 begreife ich ebensowenig, warum
Zeumer quoties statt quotiens gegen die Übereinstimmung der
LL. Vis. V, 4, 8 mit der L. Bai. XVI, 4 konjiziert hat. Für
3 Buchstaben ist an der Stelle ausreichend Platz, und außerdem
kann man durch die Lupe auch Spuren eines ns finden.
eod. pp. 91; 92; 104 col. 2; 103 eol. 1: Geben zu Textbemer-
kungen keinen Anlaß.
eod. p. 106 eol. 2: Zeumer, S. 16 Z. 32 ist statt «nig[uum]
zu drucken iniqu ſum /. — Ebd. S. 17 Z. 3 ist aecclestae nur mit
einem c geschrieben. — Z. 4 ist mum non esse sicher zu lesen. —
Z. 9 steht auf alle Fälle nur cent:a am Zeilenanfang; das / fi /
gehört an den Schluß der vorigen Zeile. Dann folgt ein deutlich
lesbares aeclıstae und nicht aeclestae. — Z. 11 ist aus den Buch-
stabenresten, die über den unteren gezackten Rand der Kolumne
hinausragen, m. E. rebus ziemlich sicher herzustellen.
eod. p. 105 eol. 1: Ebd. Z. 16 kann nach testes nichts mehr
gelesen werden, so daß Zeumers ingenut eine bloße Vermutung
bleibt, die sich lediglich auf LL. Vis. V, 2, 7 zu stützen vermag.
— Z. 19 ist Zeumers unsichere Lesung durch deutliches non
fue(rint) praesen völlig zu erhárten. — Z. 23 ist zu drucken
potest. Et similis de uxoris. Für potest ohne et wäre schon der
Raum merkwürdig groD; ferner sind die Buchstabenreste zwi-
schen potest und simalıs mit leidlicher Bestimmtheit als ei zu
deuten, das überdies die Parallele in den LL. V, 2, 7 auch hat,
obschon mit anderer Stellung. — Z. 24 ist zweifelsfrei que für
Zeumers quae zu lesen, das ja auch in der angeführten Stelle
der späteren Leges wiederkehrt. Außerdem wäre für 3 Buch-
staben an dieser Stelle kein Raum. — Ebd. S. 18 Z. 4 beginnt
nicht mit st, sondern mit tur; überdies schließt die Zeile mit
einem Buchstabenrest, hinter dem Bluhme ganz richtig ein m
vermutet hatte. Danach ist bei Zeumer zu schreiben: /larg: Jtur,
ul post eius mortem.
eod. p. 83: Ebd. Z. 11 steht in der Hs. weder donactoris noch
donoatoris, sondern m. E. donotoris. — Z. 18 ist heredib mit
einem diakritischen Häkchen im oberen Bogen des B gekürzt,
wie schon Bluhme bemerkt hatte, was aber Zeumer in keiner der
beiden Ausgaben erwähnt. — Z. 15 speraverat habe ich nicht
mehr lesen können. — Z. 24 reicht der Wortkörper bis potesta[te],
desgl. S. 19 Z. 5 bis et s[i]. — Übrigens finden sich auf dieser
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 727
relativ gut erhaltenen Seite des cod. mehrfach Punkte in mitt-
lerer Höhe der Buchstaben, die als Interpunktionszeichen
dienen, so Z. 3 des cod. nach keredib., Z. 13 nach mendare, Z. 14
nach prohiberi, Z. 17 nach servetur, Z. 20 nach quendos, Z. 21
nach donata sunt.
cod. p. 84: Eine der wenigen Seiten der Fragmente, die
fast restlos noch mit größter Sicherheit zu lesen ist; auch hier
finden sich die eben erwähnten Interpunktionszeichen, so Z. 4
des cod. nach iubemus, Z. 6 nach sociare, Z. 16 nach repetenda.
— Zeumer Z. 18 muß es statt /Ar/ma heißen /[Arm]/a. —
Ebd. Z. 22 ist das quae am Zeilenende völlig unsicher; ich würde
que vorziehen. — Z. 24 ist Bluhmes /occupa /ndam richtig, nicht
Zeumers /occup]andam. Zeumer behandelt Zeilenanfang und
-ende gerade in diesem Punkte sehr widersprechend. Ein deut-
liches Beispiel bietet auf S. 20 der Ausgabe der Beginn von 2.3
und 4. Dort hätte gedruckt werden sollen /recıpia /t und hier
gerade umgekehrt /tione] pulsetur, wenn anders das Verfahren,
Anfang und Ende des erhaltenen Textes in der Edition graphisch
kenntlich zu machen, seinen Sinn behalten soll.
eod. p. 144: Zeumer Z. 16 ist in der Stelle de res sibi a marito
donatis der Buchstabenrest nach re nicht zu deuten; es kann
ebenso b wie s sein; darum hätte ich Bluhmes reb. vorgezogen,
das möglicherweise auf korrigiertem res steht. — Ebd. Z. 19
kann ich mich mit Zeumers Wortlaut, der im wesentlichen auf
einer wörtlichen Herübernahme der LL. Vis. V, 2, 5 fußt, nicht
recht zufrieden geben; m. E. ist am Ende der Zeile als vorletztes
Wort ein cu: ziemlich sicher erkennbar, so daB ich im ganzen
ergänzen möchte: Sin autem p[er adul]terium seu inhonesta
coniunctione, cur [se mi]scursse convincitur, quidquid etc.
eod. p. 143: Bietet zusammen mit den letzten 5 Zeilen der
vorigen Seite den bedeutsamen Eingang des inhaltlich wichtigen
Titels De successtonibus, bei dem auch meine Bemühungen, mit
bloBem Auge zu einer Erweiterung des Textes zu kommen,
leider gescheitert sind. Zeumers Wunsch, die Verwaltung der
Pariser Nationalbibliothek möchte an diesen entscheidenden
Quellenstellen nochmals die Anwendung chemischer Mittel ge-
statten, kann ich nur wiederholen, zugleich mit der Bitte,
andernfalls doch wenigstens eine Aufnahme nach der Methode
von Kögel im Interesse der Forschung möglich zu machen. —
728 Walter Stach
Zeumer, S. 21 Z. 4 ist zu Beginn zu drucken /quale /m. ebenso
ist das d in quod völlig deutlich. — Ebd. Z. 14 ergab /vo Jluerit,
und am Ende der Zeile wäre anzumerken gewesen, daB der
. Schreiber der Hs. in sanctimonia wohl die Silbe mo zu mu bzw.
mi verschrieben hat. — Z. 17 lautet der Anfang [Quod sji, und
am Ende der Zeile halte ich nulla für höchst unwahrscheinlich;
denn ich lese dort allenfalls nullu /m /. Da nun auf der nächsten
Zeile (18) zwischen testament... und puella m. E. nichts mehr
gelesen werden kann, erscheint mir Zeumers ratıo als bloBe Kon-
jektur, so daß man auch ergänzen könnte: ut nullum fuerit
testamentum factum. — Z. 19 ist am Ende portio noch deutlich
vorhanden, und Zeumers po/rtio] muß ein Irrtum sein. — Z. 22
beginnt /[vero s]uum; das s ist völlig weggeschnitten.
eod. p. 140 eol. 2: Zeumer Z. 33 auf 34 ist abzuteilen percipi-
at. — Z. 35 lese ich cum vero statt cum autem. Vergleicht man
4 Zeilen tiefer den Platz für auiem mit dem Abstand zwischen
cum und filius hier, so scheint Zeumers Lesung schon ráumlich
sehr fraglich. AuBerdem glaube ich an der Stelle ein v und eino
zu erkennen. Das gábe vero, wie auch in der Parallele LL. Vis.
]V, 2, 18 steht.
cod. p. 139 col. 1: Diese Seite ist typisch für die eigentüm-
lichen Schwierigkeiten, den Text der Euriciana zu rekonstru-
ieren. Nur die Parallele mit den LL. Vis. V, 2 (18) 14 macht
es móglich, manche Buchstabenreste überhaupt zu identiflzieren
und daraus Wörter und einen inhaltlichen Zusammenhang
herzustellen. Im übrigen ist zu textlichen Bemerkungen kein
Anlaß.
eod. p. 142 eol. 2: Zeumer S. 24 Z. 41 bemerkt zu servis auf
Z. b, daB die Lesung unsicher sei. Der letzte Buchstabe scheint.
mir auf keinen Fall ein s.
eod. p. 141 col. 1: Ebd. Z. 19 lese ich hinter tatem noch ein
deutliches p.
eod. p. 141 col. 2: Zeumer S. 25 lese ich ungefähr senkrecht
unter pater auf Z. 2 noch ein unsicheres ts auf Z. 3, ferner ein
deutliches re auf Z. 4 und ein ebensolches s auf Z. 7. — Z. 9,
wo Zeumer am Anfang bus vermutet, findet sich ein absolut
sicheres st, wie es in der Oktavausgabe auch stand. Das erschwert
Zeumers Vermutung, es sei die-bus abgeteilt, mindestens hätte
er das für seine Lesung unbequeme t nach diebus mit hinzu-
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit: um die Stammesrechte 729
setzen müssen. — Z. 11 lese ich unbedingt condicione, nicht
conditione, wie Zeumer gegen Knust will.
eod. p. 142 eol. 1: Zeumer, S. 26 Z. 6 sind in morttur die
ersten beiden Silben einwandfrei zu lesen.
cod. p. 139 col. 2: Ebd. Z. 24 fehlt bei femina bereits das a
(richtig Knust). Auf diese Zeile folgen noch weitere sechs, von
denen Zeumer die beiden letzten anscheinend übersehen hat.
Die Kolumne umfaßt im ganzen 17 Zeilen und erst 18—23 sind
dann weggeschnitten. Auf Z. 14 des cod. lese ich kurz nach
Zeilenbeginn die Silbe r(um) und etwa in der Mitte dieser Zeile
a(d); ferner auf Z. 17 zu Anfang als zweiten Buchstaben m, auf
das vielleicht ein allerdings in den letzten drei Buchstaben nur
höchst unsicher deutbares omn [ino / folgt. Immerhin fühlt man
sich danach versucht, etwa doch diesem 332. Kapitel des Eurich
einen der bei Zeumer angedeuteten Parallele aus den LL. Vis.
IV, 2,9 verwandten Inhalt zu substituieren. Denn setzt man
den Text dieses Chindasvindschen Gesetzes in den vorhandenen
Raum der Fragmente ein, so passen die obigen — aber, wie ich
nochmals betonen móchte, hóchst unsicher zu deutenden —
Schriftreste ungefáhr zu der durch die Hs. gegebenen Zeilen-
verteilung. Freilich müßte dann die Euriciana tatsächlich be-
reits den Grundsatz der spáteren Lex vertreten haben: quod tn
omnem hereditaiem femina accipi debeat, und das wäre auf so
schwacher paláographischer Grundlage doch eine sehr gewagte
Behauptung, zumal da die jüngere Lex mit ihrer pointierten
Sentenz als Abschluß: Nam tustum omnino est, ut quos propin-
quitas nature consoctat, hereditarie successionis ordo non dividat,
durchaus den Eindruck erweckt, als würde damit gegen einen
abweichenden älteren Rechtszustand polemisiert. Überdies er-
wüchsen auch aus dem Gesamtgefüge der LL. IV, 2, 9, 10 gegen
eine Übereinstimmung der Euriciana mit der Chindasvindschen
Lex erhebliche Bedenken, auf die Zeumer, NA 26, S. 104ff.,
insbesondere S. 106, mit Nachdruck hingewiesen hat.
cod. p. 140 col. 1: Zeumer S. 27 Z. 6 hat mir die gróBte Mühe
bereitet. Ich habe, trotz der mehrere Tage hindurch wiederholten
Versuche zu lesen, von dem Zeumerschen Text sve st nihil de
nichts außer dem ve entdecken können. Dagegen ist auf der
nächsten Zeile mit voller Deutlichkeit int tot, getrennt durch
einen Punkt als Interpunktionszeichen, festzustellen, so daB sich
730 Walter Stach
die eckige Klammer bei Zeumer auf dieser Zeile zum Teil er-
übrigt. —. Ebd. Z. 11 ist nepotibus entschieden ein Versehen für
[nep Jotibus. — Ebd. Z. 16, der SchluBzeile der Fragmente über-
haupt, hat Knust gegen Zeumer wahrscheinlich damit recht,
daß vor dem ersten e noch ein a halbwegs erkennbar ist.
II. Exkurs.
Zu Zeumers Ausgabe des Corpus Receessvindianum
und Ervigianum.
Um zu verdeutlichen, was ich oben (S. 690) über die kri-
tische Ausgabe der Westgotengesetze von Zeumer in der
Quartserie der Leges gesagt habe, will ich zunächst die beiden
Kapitel der Leges Visigothorum I, 1, 1 Quod sit artificium
condendarum. legum und II, 1, 9 De non criminando principe nec
maledicendo illi, deren Überlieferung im wesentlichen auf den
codd.. R1.2 und E1.2 beruht, an der Hand von Zeumers kri-
tischem Apparat in extenso vorführen. Daß ich diese Stellen
ausgewählt habe, ist bloßer Zufall; mir stehen gerade hier
Photogramme von allen vier Haupthandschriften zur Verfügung.
Zur Vervollständigung will ich dann noch eine Stichprobe aus
dem Bereich der Vulgata-Handschriften anfügen, und zwar
eine Nachprüfung der Lesarten von V3 im Titel der Leges Visi-
gothorum VI, 1 De accusatiombbus criminum; ich beschränke
mich dabei auf die Kapitel 3—5 und beginne mit VI, 1, 3
(Quomodo ⁊udeæ per examen caldarıe causam perquirat, da gerade
dieses Kapitel ausschlieBlich auf die Vulgata-Überlieferung zu-
rückgeht.
Doch zuvor eine kurze Erklärung, was mich eigentlich ver-
anlaßt hat, die allerseits gerühmte Edition von Zeumer derart
unter die Lupe zu nehmen. Ich hatte vor Jahren mit Unter-
suchungen zu Sprache und Stil der westgotischen Leges be-
gonnen. Darauf war ich ursprünglich durch meine Ausein-
andersetzung mit der Brunnerschen Euricianushypothese ge-
bracht worden. Denn ich sah mich im Verfolg dieser Hypothese
immer wieder vor die folgenschwerste Auswertung sprachlicher
und stilistischer Imponderabilien gestellt, für deren Abschät-
zung mir die erforderliche philologische Vorarbeit noch kaum
geleistet erscheint. Dazu kam, daß ein anerkanntes Desiderat
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 731
der mittellateinischen Philologie in die gleiche Richtung ver-
wies. Schon L. Traube hatte bekanntlich gefordert, die regio-
nalen sprachlichen Unterschiede im frühmittelalterlichen latei-
nischen Schrifttum herauszuarbeiten und dabei besonders auf
die Handschriften spanischer Provenienz zu achten9?, Im Ein-
klang damit wurde sodann von P. Lehmann eigens auf die
Zeumer-Ausgabe der Westgotengesetze aufmerksam ge-
macht, die zwar gut ediert, aber als Sprachquelle noch nicht
erschlossen seien, obwohl gerade hier die Begleitumstände sehr
günstig lägen, weil „nicht nur der Text selbst, teils Bearbeitung
bekannten römischen Rechts, teils Neubildung, aus Spanien
stammt, sondern auch die handschriftliche Überlieferung so gut
wie ganz auf der Pyrenäenhalbinsel vor sich gegangen, also
kaum eine nachträglich das Bild wesentlich verändernde Ver-
mengung spanischer Eigentümlichkeiten des Lateins mit den
Gewohnheiten irgend welcher französischer oder italienischer
Abschreiber erfolgt ist“ . So hatte ich seinerzeit diese Arbeit
in Angriff genommen, in dem Vertrauen, sie auf die varia lectio
der Zeumerschen Ausgabe stützen zu kónnen. Um mir jedoch
paläographisch von den wichtigsten Handschriften eine eigene
Anschauung zu verschaffen, erbat ich im Fortgang meiner
Studien bei der Bibliothéque Nationale und bei der Biblioteca
Apostolica Vaticana eine Auswahl von photographischen Hand-
schriftenproben, die ich dank dem Entgegenkommen der Herren
H. Omont und G. Mercati in jeder gewünschten Weise erhielt ;
sie betrafen die beiden Reccessvindiana-Hss.: R1 = (Vat.) Reg.
lat. 1024; R2 — Paris. lat. 4668 und die beiden Ervigiana-Hss.:
E1 = Paris lat. 4418; E = Paris lat. 46679!. Auch nach
Spanien hatte ich mich schlieBlich wegen einiger Vulgata-
Handschriften gewandt, und durch die gütige Unterstützung
meiner Bitte, die Fürst Günther v. Schoenburg-Waldenburg an
Herrn A. Sergio weitergab, erhielt ich auch von dort die ge-
wünschten Photogramme, darunter solche zu V3 — Tolet. armarii
5* L. Traube, Einleitung in die lat. Philologie des Mittelalters. Vorlesungen und
Abhandlungen Bd. 2 (1911) S. 59ff.
P. Lehmann, Aufgaben und Anregungen der lat. Philologie des Mittelalters.
SB. Ak. München 1918. 8. Abh., S. 36.
1 Im Oktober 1926 hatte ich überdies, wie schon oben bemerkt, Gelegenheit,
die Pariser Hss. zu den Leges Visigothorum an Ort und Stelle einzusehen.
732 Walter Stach
43. nr. 5, d. h. zum Codice Toledano gotico der Madrider Aus-
gabe, den G. Heine 1845 zuletzt kollationiert hat*?. Als Ergebnis
meiner handschriftlichen Nachvergleichung im weitesten Um-
fange stellte sich zuletzt heraus, daß ich die Lehmannsche An-
regung wohl oder übel preisgeben und meine sprachlichen Unter-
suchungen zu den Leges Visigothorum einstellen mußte; denn
es wäre ein Unding gewesen, ein Variantenmaterial als Sprach-
quelle verwerten zu wollen, das sich — wie die nachstehenden
Proben wohl beweisen — in hohem Maße als unsicher und un-
zuverlissig erweist. Und etwa umgekehrt, die Sprachunter-
suchung demzufolge ausschlieBlich auf die handschriftliche Über-
lieferung der Leges selbst zu gründen, hätte unverhältnismäßige
Opfer an Zeit und Kosten erfordert. So mag meine verlorene
Mühe wenigstens dazu dienen, vielleicht andere vor einer allzu
vertrauensseligen Benutzung des Zeumerschen Apparates zu
bewahren.
a) Zu Zeumers LL.Vis. (49) I, 1, 1.
Zeumer, S. 38 Z. 25: De instrumentis legalibus] inscriptio
deest omnino R1 erweckt ein falsches Bild. Wohl hat R1 die
von Zeumer angegebene Überschrift Incipiunt capitulationes . . .
(allerdings, wie es scheint, auf Rasur), aber im übrigen auch,
wie E1.2, die Buchüberschrift de instrumentis legalibus liber
primus, die noch deutlich und vollständig lesbar ist, wovon sich
W. Holtzmann (Brief vom 22. TII. 1926), als er am PreuBischen
Historischen Institut in Rom war, auf meine Bitte an der Hand
des cod. selbst überzeugt hat. — Ebd. Z. 29: Sequstur continuo
index capitulorum tituli II. RI (vgl. dazu ebd. S. 40 Z. 44:
Index capitulorum, indici tituli I. subiectus in R1...) ist zum
mindesten irreführend; vermutlich ist die neue Titelüberschrift
II. Titulus de lege in R1 übersehen, die das erste Kapitelverzeich-
nis vom zweiten trennt. — Ebd. Z. 34: trauat R2 ist Druckfehler
oder verlesen; die Hs. hat truat. — Ebd.: format spatriem RI
ist wohl wiederum verlesen, statt format 1spatriem. Da in R2
*3 [ch móchte nicht verfehlen, an dieser Stelle Seiner Durchlaucht und ebenso
Herrn Minister Antonio Sérgio de Sousa von der Biblioteca Nacional in Lissabon
für die aufopfernde Mühewaltung bei der schwierigen Beschaffung gerade dieser
Photographien nochmals zu danken.
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 733
formet especiem steht, wäre auch in den Text der Ausgabe formet
«speciem zu setzen. — Ebd. Z. 35f.:'sigillogismorum a. E2 ist
vielleicht nur Sparsamkeit am falschen Orte; jedenfalls hat E2
nicht acumine, wie man Zeumers Abkürzung auflösen müßte,
sondern acmine. — Ebd. wäre noch einzufügen: inprimat]
imprimat RI, und zwar nach den ausdrücklichen Editions-
grundsätzen Zeumers (cf.praef.p.XIX 1. 30 sq.): Orthographica
omnia (sc. codicis R1), quae non in ipso textu retinui, in notis
exhibeo; cf. ib. p. XXVII I. 18 sq.: Codicis in ordine enumera-
torum primi cuiusque lectiones omnes, etiam levissime
discrepantes a textu nostro, notavimus. Danach müBte es
dem Benützer der Ausgabe möglich sein, mittels des Zeumer-
schen Textes und Apparates sich zunáchst durchgángig die Hs.
R1 in allen ihren Eigenheiten wiederherzustellen, und außerdem,
wo eine Sonderüberlieferung des Corpus Ervigianum vorliegt,
für diesen Passus auch noch die jeweilige Spitzenhandschrift zu
rekonstruieren, die Zeumer an der betreffenden Stelle in erster
Linie zur Bildung des Textes benutzt hat, wie z. B. den cod. E1
für die Lex „Pragma“ (LL. Vis. II, 1, 1). Aber daran ist in
Wahrheit gar nicht zu denken; denn immer wieder sind —
nescio unde — derartige Lesarten sozusagen unter den Tisch
gefallen, und zwar nicht nur solche „quae a textu levissime
discrepant“. — Ebd. Z. 36 ist ferner disperation:s RI bei Zeumer
verdruckt statt diperationis; die Oktavausgabe der Leges Visi-
gothorum antiquiores hat jedenfalls das Richtige. Aber Lese-
fehler ist wohl admorationis R2, statt admorutationıs. — Ebd.
ist weiterhin zu istatuat E2 übersehen: istatuat RI; m. E. hätte
danach :statuat in den Text gehört und das statuat, das E1 allein
hat, in die Note, zumal da Zeumer zuvor Z. 15 :stud«:s lediglich
auf Grund von E2 und gegen das studiis R2.E1 in den Text
gesetzt hat und nicht in die Note. — Ebd. Z. 37 ist instatuat R2
falsch gelesen für hssiatuta. — Ebd. fehlt zwischen cumque RI
und acute R1 auBer dem belanglosen tenet] enet R1, wo viel-
leicht nur die Tinte abgeschabt oder abgefallen ist, die Variante
forme] firme RI. — Ebd. Z. 38 durften ebenso folgende drei
Lesarten nicht übergangen werden: ignotis] ignoris R1 —
experimento] experimentio RI — species] ispecies RI. Ja, die
letzte Variante hätte wiederum in den Text gehört; denn der
cod. R1 (wohl nicht s. VIII, wie Zeumer meinte, sondern s.
734 Walter Stach
VII, wenigstens nach dem Urteil von W. M. Lindsay, Notae
Latinae, Cambridge 1915, S. 482 und E. A. Lowe in den Mis-
cellanea Fr. Ehrle, IV [1924], S. 54, denen P. Lehmann zu-
stimmt, wie er die Güte hatte mir mitzuteilen) bietet die zweifel-
los wertvollste Überlieferung und ist demgemäß der Textge-
staltung soweit als möglich zugrunde zu legen, zum mindesten
dem Texte des Corpus Reccessvindianum, wie das ja Zeumer
im allgemeinen auch tut. — Ebd. S. 39 Z. 27 fehlt speculo]
ispeculo RI; auch hier würde ich Textwort und Note ver-
tauschen. — Ebd. Z. 28: ratiocinante R1 ist verlesen; die Hs.
hat ratiocinatione.
Das ergibt in summa auf 1 Kapitel mit 17 Zeilen Apparat,
für den ich von neun der angewandten Hss. nur die vier wich-
tigsten vorgeführt habe, nicht weniger als 17 und, wie mir
scheint, nicht immer unerhebliche Beanstandungen, darunter
auch grobe Lesefehler und wirkliche Lücken.
b) Zu Zeumer, LL.Vis. II, 1, 9.
Zeumer, S. 57 Z. 35: Die Wiedergabe der Namenskürzung
von Reccessvindus aus R1 will ich auf sich beruhen lassen, da
ich hierüber nach dem bloßen Photogramm nichts entscheiden
kann. Sicherlich falsch ist aber das folgende F. G. Recces-
vindus R in R2 statt Heccesvintus. —- Ebd. Z. 37 fehlt zu prin-
cipem E2 der unerläßliche Hinweis auf die gleiche Lesart in RI,
wenn man nicht demgemäß dieses principem überhaupt in den
Text aufnehmen will. — Ebd. Z. 38 ist die Fassung personam]
tta R. EI ungenau; denn R2 hat sicut personam, statt sicut
in personam. — Ebd. Z. 39 vermißt man bei prohibemus V die
Zufügung der Sigle EI. — Ebd. Z. 40 ist die Angabe crimine
R1 entschieden falsch. Man könnte lesen poner bzw. ponec
emine oder ponere mine oder pone cemine, aber niemals ponere
crımıne; vielleicht hat der Schreiber zunächst ponere geschrieben
und dann das r zu einem c zu korrigieren versucht. — Ebd.
fehlt autoritas R1.2, oder vielmehr: dieses autoritas hätte statt
des auctoritas E1.2, in den Text gehórt. — Ebd. ist die Angabe
obproprium] ita RI. E2; obprobrium EI falsch; es muB heißen:
obproprium] ita RI. E2; obprobrium R2.E1. — Ebd. Z. 21 ist
ein Druckfehler im Text: cuntumeliose statt contumeliose. —
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 735
Ebd. Z. 45 ist de viliosibus humiliosusque RI ungenau gelesen;
die Hs. hat humiliosiusque. -— Ebd. Z. 47 muß es statt opportuno
E1 vielmehr oportuno heißen. — Ebd. Z. 28 verstehe ich nicht,
warum mit incassum der Text entgegen dem sonstigen Grundsatz
der Ausgabe nach EI gestaltet ist. Zum mindesten hätte dann im
Apparat Z. 47 vermerkt werden müssen: in casum H1. Aber
wahrscheinlich hat man diese Lesart, die unbedingt im Text
stehen müßte, überhaupt übersehen. — Ebd. S. 58 Z. 27 fehlt
presumtor R1.2, das wiederum auf jeden Fall in den Text gehört
hätte. Daß Zeumer statt dessen S. 58 auf Z. 3 presumptor schreibt
und, im seltsamen Widerspruch damit, dicht daneben auf Z. 4
presumtionis, ist bare Willkür. Denn das presumtionis stammt
aus der Hs. R2, die in der Schreibung des Wortes ganz konse-
quent bleibt (RI hat an der zweiten Stelle eine Lücke), während
in E2 infolge einer größeren Lücke weder das eine Wort steht
noch das andere und EI neben praesemptionis folgerecht prae-
sumptor bietet, d. h. eigentlich praesumpto, da das r von einer
späteren Hand ergänzt ist, von der vielleicht auch das Zahl-
zeichen L stammt, nachdem möglicherweise quinquaginta (- R1)
radiert worden war. — Ebd. Z. 28 ist die Angabe oportuna]
ita R2; opp. EI fehlerhaft; sie müßte lauten: oportuna] :ta
R2.E1 und ist dann überflüssig, da sich dies der Benützer
der Ausgabe gemäß den Lücken in R1.E2 selbst sagen
könnte. — Ebd. Z. 30f. fehlen schließlich die beiden Va-
rianten: contendere] condere RI und reverentiam] revertenliam
R1; corr. R2.
Mit diesen Beispielen will ich mich für die vier Haupthand-
schriften begnügen. Insbesondere mag es unterbleiben, über
die erwähnten unfreiwilligen Lücken des kritischen Apparates
hinaus mit dem Herausgeber wegen der Auswahl der ander-
weitig absichtlich von ihm unterdrückten bzw. mitgeteilten
Varianten zu rechten, da ich hier lediglich bezwecke, die Art
der Edition nach ihren eigenen ausdrücklichen Grundsätzen
zu beurteilen. Überblickt man in diesem Sinne die vorstehenden
Addenda et corrigenda, so dürften die Zweifel an der Sauberkeit
des Apparates, die ich oben vorgebracht habe, doch wohl be-
rechtigt erscheinen. Ein àhnliches Bild ergibt die Wiedergabe
der Lesarten von V3, für die sich Zeumer auf die Kollation von
G. Heine bezieht.
736 Walter Stach
c) Zu Zeumers LL.Vis. VI, 1, 3—5.
Zeumer, S. 250 Z. 31: In multis vidimus querelantes V3 ist
ungenau; denn in der Handschrift steht A multis vidimus
querellantes. — Ebd. Z. 88 muB es statt trecentorum solidorum
V3 vielmehr ter centenorum solidorum heißen. — Ebd. S. 251
Z. 27 questionarı eos V3 ist falsch; denn die Hs. hat questio-
nandi eos, wie Zeumer unter V15 anführt. — Ebd. Z. 30: eza-
minacionem V2.3.10.15. Mad. ist ebenso wenig richtig, da
V3 exammatione schreibt. — Ebd. Z. 33 hat V3 innocentia und
nicht innocencia, wie Zeumer angibt. — Ebd. Z. 34 ist sogar
das im Sperrdruck mitgeteilte patretur V3 irrig; denn in der
Hs. heißt es patiatur, also genau so wie Zeumer zuvor Z. 33f.
für die Hss. V10.15 behauptet. Das ergibt im ganzen für die
Varianten aus V3, die Zeumer diesem Kapitel beifügt, ungeführ
ebensoviel Treffer wie Nieten, dessen zu geschweigen, daB bei
weitem nicht alle abweichenden Lesarten dieser Hs. mitgeteilt
worden sind, obwohl man das nach der Ankündigung S. 250
2. 23 zu VI, 1, 3 eigentlich erwarten müßte. — Ganz ähnlich
liegen die Dinge zu Anfang von VI, 1, 4, wo V3 schon in der
Vorbemerkung S. 251 Z. 39: inscriptio deest. cett. indirekt mit
erwähnt wird, aber zu Unrecht; denn gerade V3 enthält die
Überschrift „ANTIQUA“ ebenso wie den Kapitelkopf: Pro
quibus rebus et qualiter. serbi vel ancille torquendi sunt in capite
dominorum, so daB auch die weitere Angabe Zeumers, die Be-
zeichnung „Antiqua“ fände sich in dieser Form nur in R1, bei
náherem Zusehen sich als Irrtum herausstellt. Die übrigen Zitate
aus V3 in diesem Kapitel sind aber richtig. — Mangelhaft sind
dagegen wieder die folgenden Angaben aus V3 in VI, 1, 5:
S. 253 Z. 27 (rechte Kolumne) muß lauten ita E1.V3; denn V3
hat nicht tormentis, wie Zeumer Z. 28 ausdrücklich anführt,
sondern in tormento non abuit. Entsprechend ist Z. 29f. zu
ändern, da die Hs. his bietet, wie E2, aber nicht «s, wie Zeumer
im Gegensatz zu E2 vorgibt. — Ebd. Z. 38 ist der Hinweis
aestimatus V3 falsch; in der Hs. steht extimatus, und sie gehört
somit in die vorausgehende Zeile zu der Zusammenstellung
E2 V1.2.6.7. — Ebd. Z. 40 ist accusatore für acusatore ge-
druckt, und ebd. Z. 45 bietet V3 unde conponere, genau wie
Zeumers Text, aber nicht conponat, wie der Apparat angibt. —
Ebd. S. 255 Z. 29 soll nach Zeumer das Wort solidos in V3
Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im Streit um die Stammesrechte 737
fehlen; die Hs. kürzt in Wahrheit sldos mit einem Strich durch
das d. Genau so wenig stimmt Z. 31: persolverit V3; vielmehr
steht deutlich persolbeb« da. Auch lautet das folgende appetit
nicht assimiliert, wie Zeumer Z. 32 ausführt! sondern adpetit.
Doch damit genug?
es Nur möchte ich zum Schluß betonen, daB es mir fern liegt, die auBer-
ordentlichen Verdienste Zeumers um die erste kritische Ausgabe des Westgoten-
rechtes mit einer solchen — bequem herzustellenden — Berichtigungsliste nachträg-
lich herabzusetzen. Zeumer hat der Entzifferung der Eurichfragmente die ohnehin
geschwüchte Sehkraft seiner Augen geopfert und ebenso für die Herstellung eines
wissenschaftlich brauchbaren Textes der späteren Leges, für deren dogmatisches und
historisches Verständnis, wie für die Aufhellung der Geschichte der westgotischen
Gesetzgebung überhaupt, als einzelner Forscher beinahe mehr getan als die gesamte
Rechtsgeschichte vorher. Diese überragende Leistung wird von der Unzuverlässig-
keit seines kritischen Apparates und von der gelegentlichen Revisionsbedürftigkeit
seiner Textgestaltung nicht berührt, und diese Verdienste schmälern zu wollen kann
gerade mir am wenigsten beikommen, der ich seit Jahr und Tag mit seiner Ausgabe
umgehe und gearbeitet habe. '
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 47
738
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächsischen
Grammatikers vorkarolingischer Zeit.
Von
Paul Lehmann.
„Ein ostfränkischer Geistlicher, vielleicht ein Abt, der früher
zur Umgebung Alchvines gehört oder dessen Unterricht genossen
hat, richtete wohl in der Frühzeit des 9. Jahrhunderts an einen
jungen Kleriker Sigebert, der mit grammatischen Studien be-
schäftigt war, eine Schrift über die acht Redeteile, die er aus
einer ganzen Reihe von grammatischen Werken exzerpiert
hatte." Mit diesen Worten leitete Max Manitius! sein Kapitel
über einen Anonymus de octo partibus orationis ein, von dem
schon Ch. Thurot? gesprochen, H. Keil? und E. Dümmler* die
Vorrede herausgegeben hatten.
Die ostfränkische Herkunft, wie Dümmler die deutsche, er-
schloß Manitius aus dem Satze des Verfassers me pene de extremis
Germanie gentibus ignobili stirpe procreatum, der von keinem
anderen als einem Deutschen, schwerlich von einem Angel-
sachsen geschrieben sein kónne. Die Abtswürde war ihm wahr-
scheinlich, da sich der Grammatiker matricularıus nenne, wie
das die Ábte Alchvine und Hilduin getan hátten, der Zusammen-
hang mit Alchvine ergäbe sich aus der Ähnlichkeit der wissen-
schaftlichen Einstellung. Eine gewisse Unsicherheit kam bei
Manitius selbst schon insofern zutage, als er (S. 460) meinte,
der ostfränkische Alchvineschüler könne seine Kenntnis zum
1 Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. I, 459.
2 Notices et extraits des manuscrits de la bibliothèque impériale et autres
bibliothéques XXII, 2 (Paris 1868) p. 7 sq.
* De grammaticis quibusdam Latinis infimae aetatis commentatio, Erlangen
1868, p. 25 sq.
* MG. Epp. IV 563 sqq.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 739
Teil seltener lateinischer Grammatiker kaum irgendwo anders
als im oberitalienischen Kloster Bobbio erworben haben, dort
sei er wohl Abt gewesen.
Öffentliche Kritiken an diesen Meinungen und Behauptungen
sind mir nicht bekanntgeworden. Ich selbst unterdrückte meine
Zweifel und Vermutungen jahrelang, begnügte mich 1929 nach-
zutragen, daß es außer den beiden, bisher ausschließlich heran-
gezogenen Textzeugen, zwei Pariser Codices, noch den Rest
einer Handschrift saec. 1X in dem Reichenauer Fragment 126
der Landesbibliothek Karlsruhe gäbe und daß die Forscher
gänzlich das letzte Drittel der Dedikationsepistel übersehen
hätten®. Dieses Stück teilte ich aus den alten Parisini mit, da
es für den Künsteleien liebenden Autor charakteristisch, für
das Verständnis des leider noch nicht veröffentlichten gramma-
tischen Traktates von Wichtigkeit ist und am Schluß merk-
würdige Rhythmen bietet. Die Fachgenossen spendeten meiner
Publikation Beifall und einzelne von ihnen wunderten sich über
die zweisilbigen Reime des Schlußgedichtes, die allem zu wider-
sprechen schienen, was man von Anwendung des Reimes bei deut-
schen Dichtern um 800 wüßte. Zu einer Neubehandlung des
Textes kam es aber nicht. Da stieß ich im Frühsommer 1931
auf folgende Notiz eines im 16. Jahrhundert zusammenge-
stellten und fehlerhaft kopierten Bibliothekskataloges der
Trierer Benediktinerabtei SS. Eucharii et Matthiae®: N. 90.
Perg. Prisciani minoris libri duo de articulis et constructione;
idem de barbarismo, scemalibus et tropis; idem de accentibus dicti-
onum; item modi significandi minores; item tractatus Antholint
anglorum episcopi ad Sigebertum de octo partibus orationum.
Der Herausgeber hatte weder die Handschrift wiedergefunden
noch den Text identifiziert noch den Autor festgestellt. Für
mich war es von vornherein wahrscheinlich, daß der Verfasser-
name entstellt war, in der an Sigebert gerichteten Abhandlung
es Sich um die Grammatik jenes von Manitius ostfränkisch ge-
5 P. Lehmann, Mitteilungen aus Handschriften, I (München 1929) S. 15 u. 20f.
* Josef Montebaur, Studien zur Geschichte der Bibliothek der Abtei St. Eucha-
rius-Matthias zu Trier, Freiburg i. B. 1931, S. 116. Vgl. meinen berichtigenden
und ergänzenden Aufsatz in dieser Zeitschrift S. 605—610. Auch P. Virgil Redlich,
O. S. B., wird demnächst in den Studien und Mitteilungen zur Geschichte des
Benediktinerordens auf Montebaurs Arbeit eingehen.
4*
740 Paul Lehmann
nannten Geistlichen handelte. Überraschend und einleuchtend
schien die Zuschreibung an einen angelsächsischen Bischof. Erwies
sie sich als richtig oderzum mindesten glaubwürdig, dann war der
Stil der Praefatio 'inani sane verborum copia et obscuro dicendi
genere notabilis’ (Keil) ziemlich leicht erklärlich, die Reimung
nichts Auffálliges, gewannen die insularen Symptome, die ich
vor längerem in den Abkürzungen der Überlieferung beobachtet
hatte, neue, stárkere Bedeutung. Der Name machte mir einige,
freilich geringe Schwierigkeiten. Zumal nach Durchsicht der
Listen angelsächsischer Bischöfe? kamen nach meinem Ermessen
in erster Linie Aethelvinus und Althelmus in Frage, Namen, die
unschwer zu Antholinus verschrieben oder verlesen sein konnten.
Ehe ich mich nun für einen von ihnen oder eine unbekannte
GróBe entschied, prüfte ich die Argumente von Keil, Thu-
rot, Dümmler, Manitius, die ohne Berücksichtigung der
sprachlichen Gestalt der Vorrede gegen einen Angelsachsen, für
einen deutschen, einen ostfränkischen Geistlichen, vielleicht
einen Bobbieser Abt deutscher Herkunft ins Feld geführt waren.
Meine Ergebnisse waren folgende:
1. Der aus den äußersten Grenzstämmen Germaniens her-
vorgegangene Mann braucht kein Ostfranke (auch nicht im
weiteren Sinne ein Angehöriger des großen ostfränkischen
Reiches) gewesen zu sein, angelsächsische Herkunft ist
durchaus möglich. Denn, wie mir Kollege W. Levison (Bonn)
—- ohne meine Absichten und Ansichten zu kennen — am
21. Juni 1931 freundlichst bestätigt hat, war der germanische
Ursprung der Eroberer Englands auch im 7./8. Jahrhundert
wohlbekannt. Beda sagt Hist. eccl. g. Anglorum lib. I cap. 15
(ed. Plummer, I 31): Advenerant autem de tribus Germaniae
populis fortioribus, id est Saxonibus, Anglis, Jutis, berichtet, daß
die keltischen Britten deshalb die Angelsachsen Garmanı
nannten, lib. X cap. 9 (ed. Plummer, I 296): quarum in Ger-
mania plurimas noverat ( Ecberct) esse nationes, a quibus Angli
rel Saxones, qui nunc Brittaniam incolunt, genus et originem
duxisse noscuntur; unde hactenus a vicina gente Brettonum cor-
rupte Garmani nuncupantur. Bemerkenswert ist vor allem, daß
schon Aldhelm in Beziehung auf sich und die Angelsachsen das
7 Vgl. W. G. Searle, Anglo-Saxon bishops, kings and nobles, Cambridge 1899.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 741
Wort ausspricht (ed. Ehwald p. 202, 5) nemtnem nostrae stirpis
prosapia genitum et Germanicae gentis cunabulis confotum.
2. Unter matricularıus braucht nicht ein Abt verstanden
zu werden. Wenn sich Alchvine sehr häufig matricularius
schlechthin nennt? oder aber? matricularius s. Martini und Hil-
duin? domini mei Dionisii praetiost ac sociorum etus matricula-
rius, so wollen sie sich damit ganz ohne Rücksicht auf ihren
irdischen Rang demütig als Diener Gottes, der Kirche, des
Heiligen Martinus bzw. Dionysius bezeichnen, ähnlich so wie
Alchvine vor und in seiner Abtzeit sich humilis levita! oder
ultimus sanciae ecclesiae clientellus!? oder humilis ecclesiae Christi
vernaculus!3, vernaculus sanctae Dei ecclesiae‘* u. dergl. betitelt,
gelegentlich auch als famulus s. Martini? und humilis Christi
famulus el serviens s. Martini?! bzw. s. Martino serviens!? erscheint.
Nur da, wo in der Demutsformel die Schutzpatrone genannt
sind, kann man aus ihr schlieBen, daB Alchvine und Hilduin
derzeit Äbte waren, weil jener erst als Abt von Saint-Martin
de Tours, dieser als Abt von Saint-Denis in den Dienst der
Heiligen Martinus und Dionysius traten. An und für sich hätten
sich auch einfache Mónche von Saint-Martin bzw. Saint-Denis
matricularır oder famuli s. Martini, s. Dionysii nennen können,
wiewohl die Demutsformeln bei Höhergestellten häufiger im
Brauch gewesen sind. Man ist versucht, daraus, daB bei unserm
Anonymus nicht das Ergebenheitsverhältnis zu einem Heiligen,
sondern zur katholischen Kirche betont ist, zu folgern, er be-
zeichne sich durch die Worte universalis ecclesiae matricularıus
geradezu als Bischof. Soweit gehe ich nicht. Diener der Kirche
konnten sich im Grunde alle Geistlichen jeglichen Ranges
heißen. Auch Alchvine, der nie Bischof war, tritt zuweilen, wie
8 MG. Epp. IV, 364, 10; 365, 1, 28; 315, 37; 408, 33; 410, 18; 471, 12.
9 J. c. 387, 26.
10 ]. c. 328, 2 sq.; 335, 22 sq.
11 Beispielsweise l. c. 30, 17; 32, 1; 37, 6; 40, 30; 42, 19; 45, 19; 53, 7f.; 58,
26; 60, 16f.; 65, 20; 178, 22; 276, 1; 322, 33f.
13 J. c. 135, 13.
182 J. c. 216, 12f.
M J. c. 343, 10.
15 J. c. 366, 12; 460, 16.
16 J. c. 340, 14.
17 J. c. 356, 5.
742 Paul Lehmann
wir sahen, als vernaculus sanctae Dei ecclesiae auf. In der Tat
können wir, von Alchvine zeitlich zurückgehend, derartige De-
votionsformeln bei verschiedenen anderen angelsächsischen
Geistlichen verschiedener Würdengrade verfolgen: beim Priester
Wigberht zwischen 754 und 786 exiguus famılıae Christi famulus!*,
beim Priester Lul zwischen 747 und 752, ehe er Bischof ward,
exiremus orthodoxae matris videl. ecclesiae alumnus!®?, beim
Priester Sigibald zwischen 732 und 745 ultimus famulorum Dei
famulus o, bei Bischof Daniel von Winchester 718 Dei famulorum
famulus u, bei Erzbischof Berchtvald von Canterbury zwischen
709 und 712 famulorum Dei famulus, Beachten wir schließlich
und insbesondere die Devotionsformeln**, deren sich Aldhelm
bedient: catholicae vernaculus ecclesiae (Ehwald p. 61, 5), supplex
ecclesiae bernaculus (a. a. O. 229, 5), bernaculus familiae Chrisli
(a. a. O. 478, 10), bernaculus supplex in Christo (a. a. O. 479, 2),
famosae coloniae Christi extremum et vile mancipium (a. a. O.
498, bf). Auch bei ihm sind die Ausdrücke nicht auf seine
Abtzeit beschränkt“.
3. Die höhere monastische Stellung des Verfassers
geht trotz Manitius daraus, daß der Adressat von ihm fili ca-
rıssime angeredet wird, nichtunbedingt hervor, nur sein
höheres Alter. Beispielsweise scheute sich Aldhelm nicht, den
1# Die Briefe des heil. Bonifatius und Lullus, hersg. von M. Tangl, Berlin 1916,
S. 277, 3.
1 2.2.0. 61, sf.
20 a. a. O. 209, of.
21 a.a. O. 16, 6.
*3 a.a. O. 2, 11f.
23 Wenn sie auch für meine Untersuchung nicht voll ausreichte, möchte ich hier
doch die wertvolle, aus W. Levisons Schule hervorgegangene Arbeit von Karl Schmitz,
Ursprung und Geschichte der Devotionsformeln bis zu ihrer Aufnahme in die frän-
kische Kónigsurkunde, Stuttgart 1913, zitieren, an die mich Kollege R. v. Heckel
(München) zu erinnern die Freundlichkeit hatte.
* Auf die Kontroverse über die Geschichte der Bezeichnung matricularius
(vgl. z. B. A. Hauck in der Realencyklopaedie für protestantische Theologie und
Kirche, XXI, 441), gehe ich hier nicht ein, da es sich in den von mir erwühnten
Fällen weder um den Terminus technicus für einen mit niederen Verrichtungen
beauftragten Kirchendiener noch für einen von der Kirche versorgten Armen han-
delt. Soviel scheint aber aus dem Gebrauch des Wortes in den Devotionsformeln
hervorzugehen, daß man im 8. Jahrhundert bereits von einem gewissen Dienstver-
hältnis der Matricularii zu ihrer Kirche wußte.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 743
northumbrischen König Alfred (Acircius) reverentissime fili an-
zureden (ed. Ehwald, p. 61, 7), der Epitomator tractatus Ald-
helmiani ebenso den Kónig Oswald (ed. Ehwald, p. 206, 2).
Sigibert kann ein jüngerer Weltpriester, kann ein Mónch ge-
wesen sein.
4. Die Entstehung des Werkes in karolingischer
Zeit ist in keiner Weise hinlänglich begründet, auch
nicht durch den Hinweis auf die in Alchvines Kreis passende
Auffassung der Studien. Denn die Anschauung, daB die Kennt-
nis der antiken römischen Sprachlehre das Verständnis der
Heiligen Schrift erleichtere und beim Studium der lateinischen
Grammatik an die Sprache der Bibel und der Kirchenväter
gedacht werden müsse, ist im christlichen Abendlande lange
vor Alchvine vertreten worden. Diese Auffassung findet sich
in vorkarolingischer Zeit z. B. schon, und zwar in besonderem
MaBe, bei den álteren angelsáchsischen Lehrern Aldhelm, Beda,
Bonifatius u. a.
Somit steht nichts mehr im Wege, die Angabe des Trierer
Katalogs, das Werk über die acht Redeteile stamme von einem
englischen Bischof, als ernstlich erwägenswert, ja als glaubhaft
zu betrachten, zumal da auch in der graphischen Überlieferung
mehrere — von mir seit längerem bemerkte — insulare Symp-
tome (Gebrauch insularer Abkürzungen in der karolingischen
Schrift, Mig verstehen insularer Abkürzungen usw.) zu finden sind.
Den Ausschlag nach der positiven Seite, den Wahrschein-
lichkeitsbeweis für die Zugehórigkeit des Autors zum angel-
sächsischen Kulturkreise, gab mir die Betrachtung seiner im
Widmungsschreiben sehr charakteristisch ausgeprägten Lati-
nität. Wir können bei den frühmittelalterlichen Angelsachsen
zwei oft stark voneinander abweichende, sich zuweilen allerdings
auch kreuzende Stilrichtungen bemerken; die eine móchte ich
versuchsweise die rómisch-angelsáchsische, die andere die irisch-
angelsáchsische oder keltisch-angelsáchsische nennen, da in jener
die Traditionen Italiens und Roms, in dieser die irischen, kel-
tischen Schulen Irlands wie Südwestbritanniens stark nach-
wirken. Der beste Reprüsentant der rómisch-angelsáchsischen
Latinitát ist m. E. der große Beda ( 735), der Führer der
gallisch-keltisch-irisch beeinflußten Aldhelm, der 709 als Bischof
von Sherborne starb. Unser Grammatiker gehórt der an zweiter
744 Paul Lehmann
Stelle genannten Gruppe, gehört, wenn er nicht Aldhelm selbst
sein sollte, der sog. Aldhelmschule** an, zu der Männer wie
Aethilwald, Tatwine, Eusebius, Bonifatius, Lul und einige Kor-
respondenten der beiden letzteren zu rechnen sind, der Ald-
helmschule, von deren Einfluß auch Alchvine nicht ganz un-
berührt geblieben ist.
Der geschraubte, durch ungewöhnliche Wörter und stark
rhetorische Wendungen aufgedunsene Stil der Sätze des Gram-
matikers zeigt die pompa Anglorum, durch die Wilhelm von
Malmesbury einmal Aldhelms Sprache charakterisiert hat“.
Fast jedes einzelne Wort der Vorrede begegnet uns in irgend
einem der bekannten Werke Aldhelms, manches auch bei dessen
literarischen Nachfolgern und Nachahmern.
Ich gehe den unten wiederholten Text der Dedikations-
epistel von Anfang an durch und hebe einen Teil der Wort-
gleichungen und Wortähnlichkeiten heraus.
6 obriæi auri materra. Vgl. Aldh. 236, 13 obrizum ruttlantıs
auri metallum; 254, 12 in obrızum flaventis auri metallum
u. a. :
8 spiritalis amicitiae clienti. Vgl. Aldh. 61, 2f. spiritalis
clientelae catenis conexo; 61, 9 spiritali sodalitatis vinculo;
489, 7 sodalitatis fraternae cliens; 493, 1 evusdem sodalitatis
cliente u.a. Bonif. 212,19 spiritalem amicitiam; Lul
221, 8 spiritalis amicitiae u. a.
8f. unwersalıs ecclestae. Vgl. Aldh. 64, 15; 70, 16; 72, 21;
Bonif. 74, 26.
9 matricularius. Vgl. oben S. 741f.
11 odtorum faculis. Vgl. Aldh. 300, 24 divinae caritatis fa-
culis; 308, 5 furibundis vesaniae faculıs.
12 molarıbus cruentatis. Vgl. Aldh. 240, 2 rabıdıs molartbus;
Bonif. 5, 19 eruentatis ... dentibus.
12 subdolum. Vgl. Aldh. 151, 1; 273, 9.
18 conpellente. Bei Aldh. compellere oft.
14 ingenioli scintillam. Vgl. Aldh. 75, 6 prima ingentoli rudi-
menta; Lul 226, 7 ingenioli mei parva scintilla; Leobgytha
ad Bonif. 53, 17 gracilis ingenioli rudimenta.
* Vgl. " B. The Cambridge History of English Literature, I, 7? sq.
36 Gesta pontificum (p. 344): Quem si perfecte legeris, et ex acumine Graecum
pulabis et ex nitore Romanum iurabis ei ez pompa Anglum intelliges.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 745
15
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26
26
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30
(profundioris et penetrabilioris) sagacılatıs. Vgl. Aldh.
61,8; 231, 1; 241, 17; 258,22; 304,1; 476,8: 479,5;
481, 16; 493, 12; 495, 8; Lul 79, 15; 223, 9 u. a.
de propria conscientia. Vgl. Aldh. 492, 6f. propriae ...
conscientiae.
tuxta modulum mediocritatıs meae. Vgl. Aldh. 1618,
modulus; 389, 857 modulum; 74,10 meam mediocritatem ;
202,6 ante nostram mediocrilalem; 229,8 suae medio-
crilati; 321, 12 nostrae mediocritatis; 481,17 mea medio-
critas. Auch Bonifatius und Lul gebrauchen oft die
Formel mediocritas mea.
iricattonum molestarum onus. Vgl. Aldh. 320, 19 morosa
tricatione. Tricatio ist ein sehr seltenes, aus der Zeit vor
Aldh. in unseren gedruckten Wörterbüchern noch nicht
belegtes Wort.
perplexae. Vgl. Aldh. 74, A 76,2; 150,5; 190,5;
476, 10; 478, 2
antiquam perplexae silvam densitatis grammaticorum. Vgl.
Aldh. 78, 4f. in tam densa totius latinitatis silva, 192,2
densitates; Alchvine (Migne, Patrol. lat. C 1, 854) spıneta
grammaticae densitatıs.
variorum odoramenta florum. Vgl. Aldh. 279, 27 odo-
ramentis .. neclareıs.
dispersa per saltum grammaticorum. Vgl. Aldh. 78, 4f.
tn ... nemorosis sillabarum saltibus.
odoriferam coronam ingeniosae pubertatis. Vgl. Aldh. 7 l. 25
coronam anni benignitatis (Ps. 64, 12); 263, 5 tllaesae puri-
tatis coronam; 291, 12 aeternae beatitudinis coronam; 302, 14
coronam castitatis u. a. Pubertas in der angelsächsischen
Latinität häufig.
farciens marsuppium. Vgl. Aldh. 399, 1092 marsuppra farsa.
coacervata. Vgl. Aldh. 168,15 quae supertus coacer-
vavimus; 62,12 flosculos coacervans; 203,8 coacervando.
scrupulosa autem sollicitudine. Vgl. Aldh. 320, 7 scrupulosa
ecclesiastici regiminis sollicitudo.
tuae ... sagacılalıs. Vgl. oben zu Z. 15.
sagacitatis instantia. Vgl. Aldh. 246,2 indefessa cogi-
tationis instantia; 231, 12 assidua lectionis instantia; 477, 17
lectionis instantia.
746
31
32
32
38
Paul Lehmann
gravem plumber laboris sarcinam. Vgl. Aldh. 203,3 diffi-
cillima sudoris et laboris industria, acsı gravi sarcina op-
pressus; 320, 18 distentionibus fessae mentis cervicem grat
fascis sarcina deprimentibus; 322, 21 gravi facinorum el
flagitiorum. sarcina.
devotae caritatis. Vgl. Aldh. 62, 1 devotae caritatis.
spiritalis necessitudinis. Vgl. Aldh. 74,19 spiritalis et
incircumscripta necessitudo; Bonif. 4, 24f. spiritalis necessi-
tudinis.
pernici scrulatu. Vgl. Aldh. 100,35 pernictbus aquilis;
72,4 pernici . . . impetu; 229, 13 pernicıbus pupillarum
obtutibus; 230, 4 cursorum plantis pernicıbus,; 230, 20; 255,
9; 261,7; 271,8: 279,14; 286,13; 299,6; 810,6; 320,5;
493, 6 perniciter.
38f. festinando percurri. Vgl. Aldh. 406, 1278 festina surgere;
39 f.
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52.
53
452, 2439 festinat credere; 238, 19f. ad portum festinantes.
203, 7 «nvestigando percurrere; 502, 9 ratiocinationes
percurram.
in dictando. dictare bei Aldh. 81,16; 203, 3; 242, 11;
319, 29; 320, 5, 6, 9; 492, 8.
(congregare) curavi. Vgl. Aldh. 229, 10 impendere curavi;
499, 10 ammonere curavi.
urbanitas. Vgl. Aldh. 96, 20; 202, 23; 229, 15; 263, 9,
321, 15; 493, 2.
in iramile scripturarum. Vgl. Aldh. 461, 2677 scripturae
tramite; 471,1 sillabarum tramite.
moderni usus. Vgl. Aldh. 93, 13 modernus usus.
regulis refragans. Vgl. Aldh. 316, 16 regula refragatur;
157, 11 legibus non refragantur.
quo pacto. Vgl. Aldh. 78,8; 88,21; 186, 6.
dissonas. Vgl. dissonus bei Aldh. 298, 4; 305, 9 regulas
depromsisse. Vgl. Aldh. 193, 19 regulas . . . depromito.
Auch in anderen Verbindungen depromere bei Aldh.
háuflg.
Romanae urbanttatis facundia. Vgl. Aldh. 321, 15 lepida
urbanıtatıs facundia.
disertissimis rethoribus. Vgl. Aldh. 278, 18 disertissimt
oratores; 321, 18f. rethoricae disertitudinis.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 747
53f. me pene de exiremis Germaniae gentibus gentibus ignobili
55
bb
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64
64
64
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101
stirpe procreatum. Vgl. Aldh. 202,5 neminem nostrae
stirpis prosapia. genitum et Germanicae. gentis. cunabulis
confotum; Bonif. 74, 25 de stirpe et prosapia Anglorum
procreatis. Vgl. auch oben S. 738 und 740f.
agrestem pastorem. Vgl. Aldh. 133 (no. LXXVIII, 9) agrestis
cultor.
de spineto vel arundineto erumpentem. Vgl. Aldh. 266, 2
de spinetis vulgo nascentibus florens.
dissona decreta. Vgl. Aldh. 305, 9 dissona sententta.
ab ecclesiasticis dogmatistis. Vgl. dogmatista bei Aldh.
88, 24; 230, 14; 272, 16; 277, 11; 300, 3.
grammaticae artis normulas. Vgl. Aldh. 78, 17 und 174, 18
discretionis normula; 383, 732 libratae normula vitae; 151, 7
devisionum normulam; 176, 26 trochawae legis normula;
232, 19 ecclesiasticae traditionis normulıs.
morsu aspidis. Vgl. Aldh. 285, 3 aspidıs morsum; 441,
2136 aspidis ut morsum.
genuinis sanguineis. Vgl. Aldh. 240, 2 venenosis genuinis,
284, 7 ursorum genuinis.
lacerare bei Aldh. häufig.
tn scrutinio. Vgl. Aldh. 62, 13; 245, 2.
ludivaga sermonum serie. Vgl. Aldh. sermonum serie 65, 18;
168,15; 229, 12; 303, 13; 304,7; Bonif. 157,12f. non
ludivaga sermonum voce, sed serie.
socialis adiutorii. Vgl. Aldh. 427, 1786 foedus sociale.
adiutorium oft bei Bonif. und Lul.
pedestri remigio. Vgl. Aldh. 320, 21 lacertorum remigio.
tranent. Bei Aldh. tranare mehrfach.
intimis precordiorum penetralibus ınplorans obsecro. Vgl.
Aldh. 490, 5f. ex penetralibus praecordti nequaquam pro-
mens; Egburg ad Bonif. 20, 28 ex intimis precordiorum
penetralibus inplorans; Denhard, Lul, Burchard bei Bonif.
793f. ex intimis praecordiorum iliis suppliciter. flagitamus;
Bonif. an Ecberth 157f. intimis praecordiorum praecıbus
— — obsecro; Bonif. an Aldherius 63, 8f. ıniimıs praecor-
diorum obsecrans precibus; Milret an Lul bei Bonif. 244, 15f.
intimis obsecro praecordiis et — — humiliter inploro, Bonif.
74, 31f. intimis obsecramus precibus; Bonif. 81, 6f. intimis
748 Paul Lehmann
subnıze flagitamus precibus; Bonif. 131, 5 intimis precibus
diligenter rogare velim; Bonif. 137, 9 intimis imploramus
precıbus und ähnlich noch mehrfach im Briefwechsel von
Bonifatius und Lul.
102 lata spatiosissimarum scripturarum arva. Vgl. Aldh. 232,
10 per florulenia scripturarum arva late vagans.
103 scrutando, lectitando, lustrando. Vgl. Aldh. 232, 18
sollicita intentione scrutando; 277, 1 lectitando et scrutando,
479, 13f. legendo scrutandoque. Auch lustrare häufig bei
Aldhelm.
105 in sacro eloquio novi vel veteris testamenti. Vgl. Aldh. 500,
11 eloquii divinu; Bonif. 59, 4 sacrum eloquium.
108 mentis inconstantia. Vgl. Aldh. 461, 2671 mentis constantia.
109 praesumas. Vgl. Aldh. 243,5; 320, 15; 469 415.
122 angelorum cum milibus, diese Zeile genau so in Aethilwalds
Rhythmus bei Aldh. 531, 9.
Die Übereinstimmungen sind noch nicht zu Ende. Hinzu-
zunehmen sind die gewundene Art der Satzbildung, die Satz-
. klauseln*' und die gereimten Rhythmen deren Formen
sowohl bei unserm Grammatiker wie bei Aldhelm und in der
„Aldhelmschule“ begegnen. Z. B. entsprechen die achtsilbigen
Rhythmen am SchluB (115—124) vollkommen den Carmina
rhythmica, die Ehwald p. 519, sqq. herausgegeben hat, den
Briefschlüssen verschiedener Stücke in der Korrespondenz von
Bonifatius, Lul u. a. (6f., 280, 285, 286f.), auch in der Reimung,
die sehr hàufig, wiewohl auch nicht immer, zweisilbig ist.
Erst nachdem ich durch die Vergleichung der Diktion und
die Erschütterung der von Dümmler und Manitius vorge-
brachten Argumente zu der festen Überzeugung gekommen war,
daB der Verfasser der Grammatik in Aldhelms Sphäre, wenn
nicht in Aldhelms eigener Person zu suchen sei, machte ich den
Versuch, jener Handschrift habhaft zu werden, die angeblich
den Autornamen eines englischen Bischofs Antholinus barg.
Im 16. Jahrhundert befand sie sich noch im Trierer Benedik-
tinerstift St. Eucharius-Matthias. Nach Josef Montebaurs
kürzlich erschienenen Studien über den sie verzeichnenden
Katalog hätte ich ihren Verlust buchen müssen. Trotzdem gab
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 749
ich in der Erwägung, daß dieser Gelehrte eine beträchtliche Zahl
erhaltener Codices übersehen hatte, die Hoffnung nicht auf und
fragte erst einmal bei der Stadtbibliothek Trier an und
erhielt von deren Direktor Herrn Professor Dr. G. Kentenich
noch im Juni d. J. den mich begreiflicherweise erregenden
Bescheid, daß die Handschrift sich unversehrt in der Stadt-
bibliothek als Ms. 1104 befände. Bereitwilligst und schnellstens
wurde sie mir auf mein Ersuchen übersandt und nun erlebte ich
den im stillen erhofften Triumph, Aldhelm selbst als den
Verfasser angegeben zu finden. Der aus dem 15. Jahr-
hundert stammende Einband umschließt mehrere in verschiedener
Zeit (saec. XIV und IX) entstandene Kopien grammatikalischer
Werke (Priscianus; Tr. de modis significandi von 1329; Alchvine).
Im vorderen Einbanddeckel steht unter anderem saec. XV der
Eintrag Tractatus Anthelmi (von alter, vielleicht erster Hand zu
Althelmi verbessert, trotzdem leicht verlesbar in Anthelini oder
Antholin:!) Anglorum episcop? ad Sigebertum de ocio partibus
orationum, Wichtiger noch ist, daß auf fol. 91 R von einem
westdeutschen Schreiber des frühen 9. Jahrhunderts klar und
deutlich in Majuskeln die Überschrift gegeben ist
INCIPIT PREFATIO ALTHELMI ANGLORUM EPI AD
SIGIBERTUM [DE VIII] DE OCTO PARTIB; ORATIONUM.
Darauf folgt in karolingischer Minuskel derselben Zeit das Wid-
mungsschreiben, so daß ich unter Benutzung auch der anderen
mir bekannten Handschriften unten eine vorläufige Neuausgabe
der Epistel bieten kann. Der grammatische Traktat selbst
fehlt dem Trevirensis. Dafür folgt fol. 93Y—132Y Alchvines
Dialogus Franconis et Saxonis de arte grammation (Migne,
Patrol. lat. CI, 849—902).
Man könnte einwenden, bei der Arglosigkeit, mit der im
Mittelalter die Schreiber oftmals ein anonymes Werk einem be-
rühınten. Autor zugeschrieben, bewiese die bisher singuläre,
auch durch keinen Bibliothekskatalog und kein Schriftenver-
verzeichnis Aldhelms gestützte Aufführung von Althelmus An-
glorum episcopus als Verfasser noch keineswegs die Richtigkeit
der Behauptung. Und ich gebe zu, daß man die Möglichkeit
einer irrigen Benennung nicht ganz außer acht lassen darf.
Aber man möge beim Für und Wider sich daran erinnern, daß ich
auf Aldhelm nicht erst durch das äußere Zeugnis gekommen,
750 Paul Lehmann
sondern umgekehrt aus der ungewöhnlichen Stilverwandschaft
die Herkunft von Aldhelm oder einem seiner Schüler erschlossen
und nachträglich als willkommene Bekräftigung meiner These
den Namen Aldhelms in der Trierer Überlieferung gefunden
habe. Was ich von den grammatikalischen Ausführungen des
— wie gesagt noch nicht publizierten — Textes kenne, entspricht
Aldhelms Gelehrsamkeit und Sprachbehandlung durchaus.
Auch die Kenntnis der im Widmungsschreiben zitierten Gram-
matiker ist ihm wohl zuzutrauen, da sie zu einem Teil in un-
zweifelhaft echten Werken Aldhelms benutzt und angeführt,
darunter auch der seltene Audax, zum anderen gerade bei in-
sularen Schriftstellern saec. VII—IX nachweisbar sind.
Es bleibt meiner Meinung nach nur ein gewichtiges Bedenken
gegen Aldhelms Autorschaft, daß nämlich unser Grammatiker
sich als ignobili stirpe procreatum bezeichnet, Aldhelm seit
Alters für einen Königssohn oder doch für den Sproß einer
königlichen Familie gehalten wird?®®. Fürstlichen Geblüts würde
Aldhelm selbst in gekünstelter Bescheidenheit schwerlich sein
Geschlecht stirps ignobilis genannt haben. Wenn er an Cellanus
von Péronne einmal schreibt?? Miror, quod me tantillum homun-
culum de fumoso et florigero Francorum rure vestrae frunitae frater-
nitatis industria interpellat Sazonicae prolis prosapia genitum et
sub arctoo axe teneris confotum cunabulis, erniedrigt er sich nur
rhetorisch. Aber war er denn wirklich von hoher Abkunft?
Seit König Alfred dem Großen (T 901) wird es allgemein unter
Berufung auf ernsthafte Forscher bis auf den heutigen Tag
behauptet. Trotzdem ist Zweifel erlaubt, da die Tradition, die
wir fassen kónnen, erst fast zweihundert Jahre nach des schrift-
stellernden Bischofs Tode einsetzt, Aldhelm selbst in den von
R. Ehwald veróffentlichten Werken kein Wort über seine Fa-
milie sagt. Ehwald behauptet allerdings (p. XI) ,,regio genere
quin episcopus Scireburnensis sit oriundus, dubitari non potest,
et quod in primo prosae de virginitate capite Justinam, Cuth-
burgam, Osburgam sibi contribulibus necessitudinum nexibus
conglutinatas appellat, hoc de Cuthburga quidem optime potest
demonstrari: nam haec, priusquam Bercingensis sanctimonialis
3$ Vgl. R. Ehwald, p. X sq.
20 J. c. 499, 5.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit. 75]
fieret, Alfredi (Acircii) Northanumbrorum regis non diu coniux,
ut soror fuit Inae regis ita Adlhelmi fuit consanguinea.“ Die
Stelle, an der er angeblich von seiner Blutsverwandtschaft mit
Justina, Cuthburga, Osburga spricht, heißt (p. 228 sq.): Reve-
rendissimis Christi virginibus omnique devotae germanitatis
affectu venerandis ei non solum corporalis pudicitiae praeconio
celebrandis, quod plurimorum, verum etiam spiritalis caslimoniae
gratia glorificandıs, quod paucorum est, Hildilithae, regularis
disciplinae et monasticae. conversationis magistrae, simulque
Justinae ac Cuthburgae necnon Osburgae, contribulibus
necesstitudinum nexibus conglutinatae, Aldgıthue ....
Aldhelmus, segnis Christi crucıcola et supplex ecclesiae berna-
culus, optabilem perpetuae prosperitatis salutem.
Ehwald denkt sich, wie das p. XI deutlich wird, vor contri-
bulibus ein sibi oder mihi hinzu, weist indessen keines der beiden
Wörtchen in seinem sehr ausführlichen, auf reichste Überliefe-
rung gestützten Apparatus criticus nach, obwohl in einem einzi-
gen Codex, im Lambethanus saec. X ex., auf der in der Ausgabe
vorzüglich reproduzierten Seite mt: tatsächlich steht. Hält man
nun an mihi oder sib: fest, muß man contribulibus adjektivisch
nehmen, was nach Aldhelms Sprachgebrauch möglich ist (vgl.
293, 19 coniribulı populo) und mit nexibus verbinden. Dann
aber paßt entweder die Singularform conglutnatae nicht, da
Aldhelm ja allen drei Jungfrauen verwandt sein soll, oder er
betont durch den Singular nur die Blutsverwandtschaft mit
Osburga, von deren Familie wir nichts wissen, so daB aus der
fürstlichen Abkunft der vorhergenannten Cuthburga nichts für
die Aufhellung von Aldhelms Abstammung zu gewinnen ist.
Mir scheint es methodisch richtig zu sein, die nur von dem
durchaus nicht führenden Lambethanus gebotene Lesart mihi
beiseite zu lassen und — wozu auch Kollege J. Stroux (München)
riet — contribulibus als Substantiv im Dativ aufzufassen. Ald-
helm sagt von Osburga,sie sei den Stammesgenossinnen (Glau-
bensgenossinnen wäre auch möglich) Cuthburga und Justina
durch Verwandtschaftsbande eng verbunden gewesen, nicht
jedoch Aldhelm selbst!
Unter Ausschaltung des eben behandelten, jedenfalls höchst
fragwürdigen Zeugnisses, stelle ich zur Diskussion, ob man
König Alfred dem Großen, Wilhelm von Malmesbury u.a. bei
752 Paul Lehmann
ihrer Behauptung der fürstlichen Abstammung Aldhelms Glau-
ben zu schenken hat oder nicht. Ich für meine Person sehe in ihr
eine spätere Ausschmückung und Sage. Nichts spricht gegen,
vieles dafür, daß der Verfasser des Traktates de octo partibus
orationis wirklich Aldhelm gewesen ist. Denjenigen aber, die
mir nicht recht geben zu können meinen, bleibt wohl nur die
Möglichkeit, in dem Werke die Arbeit eines Mannes aus Ald-
helms angelsächsischem Schülerkreise zu sehen, eines An-
hängers, der in der gelehrten Bildung und im Stile vollkommen
in den Bahnen des großen Meisters wandelte.
Daß aufs europäische Festland Werke gekommen sind, die
man frühzeitig zu Recht oder Unrecht mit Aldhelm von Malmes-
bury in Verbindung gebracht hat und die von den modernen
Forschern trotz emsigen Suchens nach Aldhelms gelehrtem
Nachlaß und literarischem Einfluß übersehen worden sind, kann
ich hier in Kürze noch an einem anderen Überlieferungsreste
zeigen:
Der nach A. Holder? zwischen 836 und 848 geschriebene
Augiensis CLXVII in Karlsruhe enthält auf fol. 2 einen Ciclus
Aldelmi de cursu lunae per signa. XII secundum Grecos mit
Tabellen. Was etwa von den darauf folgenden?!, z. T. in Ver-
wirrung geratenen astronomisch-chronologischen 'Texten (mit
irischen Glossen) ebenfalls auf Aldhelm zurückgeht, ließe sich
vielleicht bei näherer Untersuchung feststellen. Wie man unserm
Aldhelm eine Grammatik zutrauen darf, ebenso paDt eine Be-
handlung der Gestirne und der Zeitrechnung zu ihm. Denn
gleich vielen Angelsachsen und Iren des 7.—9. Jahrhunderts
hat ihn das Problem der Osterfestbestimmung beschäftigt. Das
bezeugt sein an den König Geruntius von Wales gerichteter
Brieftraktat (ed. R. Ehwald, p.480 sqq.), den bereits Beda
zitiert hat und der dann von John Boston of Bury und John
Bale*? als De pascha contra errorem Britonum gebucht worden ist.
* *
*
30 Die Reichenauer Handschriften I (1906) S. 393.
31 Kurze Auskunft verdanke ich dem stets hilfsbereiten Prof. Dr. K. Preisen-
danz (Karlsruhe).
*3 Index Britanniae scriptorum, ed. R. L. Poole, Oxford 1902, p. 18.
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 753
INCIPIT PREFATIO ALTHELMI ANGLORUM EPIS-
COPI AD SIGIBERTUM DE [VIII DE] OCTO PARTIBUS
ORATIONUM.
Dilectissimo fratri et ingeniosae radio litteraturae fulgenti
haud secus quam ut murenulis obrizi auri materia et omnimo-
dorum generum varietate vermiculatis perspicue micanti Sige-
bertho, spiritalis amicitiae clienti nostro, indignus universalis
ecclesiae matricularius in Domino Jesu defecatae caritatis
salutem. |
Non ignoro te, fili carissime, non odiorum faculis suffarsum
nec mordacis vituperationis molaribus cruentatis subdolum, sed
foco flagrantis caritatis conpellente et confidentia, qua nonnum-
quam prudentes, ubi in aliis aliquam ingenioli scintillam emicare
conspiciunt, profundioris et penetrabilioris sagacitatis illos esse
arbitrantur et non de propria conscientia exaltantur, invitante
mihi, sicut scis, auctore Deo ad alia properanti et iuxta modulum
mediocritatis meae sanctae scripturas legis Dei meditanti tale
tricationum molestarum onus inposuisse, id est ut antiquam
perplexae silvam densitatis grammaticorum ingrederer ad colli-
gendum tibi diversorum optima quaeque genera pomorunı et
variorum odoramenta florum diffusa, quae passim dispersa per
saltum grammaticorum inveniuntur, ad cotidianum scilicet tui
diligentis studii pastum et odoriferam coronam ingeniosae
pubertàtis et ut optima quaeque et necessariora quasi in unum
cumulando farciens marsuppium coacervata et circumcisa tibi
obtulerim.
Scrupulosa autem sollicitudine perlustratis utrisque partibus,
meae scilicet peritiae penuria et tuae, carissime, perseverantis
lampabili sagacitatis instantia, fecit caritas, quod facere semper
solet: relevavit quippe gravem plumbei laboris sarcinam levis
devotae caritatis et spiritalis necessitudinis funis argenteus et,
licet viribus inpar materiae, devotione tamen deprecantis
voluntati conpar, supradictum ingressus sum saltum gramma-
ticorum et libentissime, venerandi sodalis honestis licet difficilli-
mis precibus inserviens, elegantissima quaeque fructuum ge-
nera, in quantum potui, viribus subpeditantibus excerpsi, id est
plurimorum grammaticorum artes pernici scrutatu festinando
percurri et per VIII partes orationis utillimas quasque et in
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 48
10
15
20
25
30
45
55
65
70
75
754 Paul Lehmann
dictando necessariores regulas congregare curavi. Quaedam au-
tem, in quibus umbratiles nanctus sum sensus, quae a paucis
tantum grammaticorum summo tenus libata sunt stilo, lucu-
brati explanatione sermonis interserens elicui. Priscorum quippe
consuetudines, qui multa aliter in eloquentia observasse dino-
scuntur quam moderna urbanitas canonicum esse adprobat, ex
latere quodammodo tangebam, ut, quandocumque tale aliquid
in tramite scripturarum moderni usus regulis refragans nanci-
scaris, scias, quo pacto percipias vel quo ritu recuses. Quando
autem auctores grammaticae artis quasdam regulas dissonas
depromsisse cernebam, quod frequenter eos fecisse non dubi-
tatur, superfluum esse et inrisione dignum arbitrabar, Donato
et Prisciano, Romano et Velio Longo dissentientibus, Romanae
urbanitatis facundia disertissimis rethoribus, me pene de ex-
tremis Germaniae gentibus ignobili stirpe procreatum, veluti
agrestem pastorem de spineto vel arundineto erumpentem, inter
talium dissona decreta virorum ex persona iudicis disputanda
iudicare. Verum in unaquaque regula illum praeeligens maxime
sequi visus sum, cuius vestigia ab ecclesiasticis dogmatistis
frequentissime trita in sacrosanctis tractatibus et cotidianae
lectionis intentione usitata repperi.
Praeterea si quis venenosae tetro invidiae fermento infectus
vel ignorantia, matre omnium errorum, et audatia proprii
ingenii conpellente inlectus has grammaticae artis normulas
morsu aspidis et genuinis sanguineis lacerare voluerit, sciat se
Prisciani vel Donati, Probi vel Audacii, Velii Longi vel Romani,
Flaviani vel Euticis, Victorini vel Focae, Asporii vel Pompei
latus laniare et non viventem rusticum infestis iaculis insequi,
sed pulverem mortuorum rethorum et cinerem sagittare, quia
nec unius saltim ramus regulae in hoc libello insertus repperitur,
qui non alicuius horum sit radice fortiter fundatus. Tibi igitur
non videatur fortuitu factum, quod in quinque declinationibus
nominum tam multa ad exemplum uniuscuiusque generis vel
declinationis diversis litteris vel syllabis terminata ad exemplum
posita repperies. Sed hac de re me coacervatim talia conpo-
suisse scies, quia singulae terminationes nominum pene singulis
quibusque generibus congruere videntur. Sicut sunt quaedam
specie masculina sensu feminina, quaedam e contrario specie
feminina virtute masculina, quaedam specie neutra intellectu
Ein neuentdecktes Werk eines angelsächs. Grammatikers vorkarolingischer Zeit 755
feminina et cetera quaquaversum se vertentia, ut hic his omnibus
perspectis et intellectis eo liquidius potueris sacras perscrutari
paginas, quia peritia grammaticae artis in sacrosancto scrutinio
laborantibus ad subtiliorem intellectum, qui frequenter in
sacris scripturis inseritur, valde utilis esse dinoscitür, eo quod
lector huius expers artis in multis scripturarum locis usurpare
sibi illa quae non habet et ignotus sibi ipsi esse conprobatur.
Interea circulum quadrangulum in fronte huius laboris apposui,
in medio flguram sanctae crucis continentem Ihs xps et ex-
primentem, qui ludivaga sermonum serie duobus ambitus versi-
bus, aliis in transversum currentibus socialis adiutorii utrimque
sonantes in obviam offert litteras. Hunc autem circulum in
scemate novi ac veteris instrumenti figurari non nescias. Nam
prior pars circuli huius usque ad medium crucis quibusdam pen-
tametris intersertis decurrens pingitur versibus. Qui licet [non]
pedestri remigio tranent, non tamen heroici nec omnino perfecti,
decursa esse noscuntur; sic et intra terminos veteris testamenti
universa quasi semiplena et inperfecta tendebunt ad plenitu-
dinem legis, id est ad Christum cruciflxum. Post crucem autem
supradictam in circulo heroici versus et perfecti decurrant.
Ita et per gratiam Christi accepta remissione peccatorum ad
integrum omnia renovata et perfecta sunt. Porro hoc est, quod
per circulum ago intimis precordiorum penetralibus inplorans
obsecro, ut quicquid per lata spatiossimarum scripturarum arva
scrutando, lectitando, lustrando inveneris sive in arte gramma-
tica sive in metrica, in historiis aeternorum vel gentilium sive
in sacro eloquio novi vel veteris testamenti, semper memor
sententiae apostoli „Omnia probate; quod bonum est, tenete“
ad tutissimum catholicae fidei circulum sensus tui litteris occur-
rentibus dirigas et extra moenia huius circuli mentis inconstantia
vagare non praesumas, ne forte vulnerantes te tulerint pallium
tuum custodes murorum, et singula quaeque veteris ac novi
testamenti decreta tunc te canonice intellexisse scias, cum in
meditullio Christum crucifixum destruentem malignae cupidi-
tatis aediflcium et construentem benignae caritatis templum
spiritalibus oculis contemplando contueri potueris.
Vale Christo veraciter,
ut et vivas perenniter
Sanctae matris in sinibus,
48*
85
95
105
110
115
120
125
756 P. Lehmann: Ein neuentdecktes Werk e. angelsächs. Grammatikers vorkarol. Zeit
sacris nitens virtutibus,
Hierusalem agricula,
post et mortem caelicula
et supernis in sedibus
angelorum cum milibus
Christum laudes per ethera,
saeculorum in saecula.
Finit salubriter.
1—3 fehlen (A)N P. — 5 ingeniose P und Dümmler. — 6 haut N. — 6 obrizi
materia] obri ma N. — 7f. Sigeberheto N. — 7 perspicuae T. — 8 nostro] N. P,
fehlt N. — 9 defecate NP. — 11 carissimi N. — 13 flagrantis PT, fratlantis N,
fraglantis Dümmler. — 13 confidentiam P. — 1" properante P, properant N. —
17 modolum N und Dümmler. — 18 meditantur T. — 19 tricationem N. — 20 per-
plexo N. — 20 ingredirer T. — 20—23 ingredirer — grammaticorum marginal nach-
getragen T. — 24ingeniose PT Dümmler. — 25 ut fehlt P. — 26 marsupium PT. —
24 obtulerem PT. — 29 scilicet J solicet N. — 29 periuriae N, penuriae P. — 31
revelavit P. — 31 sarcina inlevis N. — 32 devote Dümmler. — 33 depraecantis T.
— 34f. gramaticorum T. — 35 libentissimae Dümmler — 35f. dificillimis T. — 36
inservens T. — 38 scrutata N. — 40 curari N. — 42f. lucubratio PT, locubratio
N. — 47 moder ususus N. — 47 refraganis P, refragrans T. — 48 percipias] post.
c pias N, praecipias T. (in derinsularen Vorlage hatte wohl p'cipias = percipias gestanden,
p' wurde als p' = post und P = prae mißverstanden). — 48 f. quando — artis] quante
— artes T. — 49 grammatice Dümmler. — 49 autores T. — 50 depromisisse N PT.
— 50 eos] se 4. fecise T. — 51 arbitrabor A. — 53 dissertissimis NT. — 54 Ger-
manie Dümmler. — 55 de spineto] dispineto N, de spineo P. — 57 preeligens T,
praeelegens N. — 58 visus] risus AT. — 59 cotidiane Dümmler. — 62 matrem N P.
— 62 audacia A. — 63 inlectus] inlatus N. — 63 grammatice AT. — 64 mursu T.
— 66 Eutieis] iuticis NP uiticis T. — 66 Foci N. — 66 Asporii NPT, Asperi
Dümmler. — 67 iaculi T. — 69 regule Dümmler. — 69 repperit P. — 71 declinationes
T. — 74 hac] haec P, ac I. — 74 talia] taba N. — 76 congruae P. — 76 Sic P. — 77
e fehlt NP. — 76f. sensu. T* — virtute masculina fehlt N. — 79 femina N. — 79
vertentia] verentia N. — 80 perspectis] praefectis T. — 80 eo liquidius] eloquidius
N. — 80 peritia] perecia N. — 80 perscurtari T. — 81 grammatice Dümmler. — 82
subtiliorem] sunttiliorem T. — 85 probatur P. — 88 sermonum serie] sermo seriae
T. — 89 in tranis versum P. — 90 autem] haec T. — 91 scemata] samate P. —
93 pentametris] pentrainetris T. — 93ff. Text wohl nicht in Ordnung. — 94 remegia
trahent P. — 94 perfecti] prefecti T. — 95 dinoscuntur VI P. — 97 legis] egis P.
— 98 supradictum P. — 99 remisione T. — 101 penitralibus J, penetrabilibus
N P. — 104 istoriis P. — 104 aeternorum N, eternorum J, externoium P. — 106 apo-
stolorum P. — 108 dirigam P. — 108 extra] circa N. — 108 moenia] moaenia T. —
108 circulis J. — 109 tullerint NP. — 111 canonicae T. — 112f. malignae — con-
struentem fehlt T. — 115 Vale vale N. — 116 peremiter N. — 117 sancte NP. —
119 agricula verb. aus agricola T. — 120 caelicaela PT, celicela N. — 122 minibus
P. — 124 in fehlt NP.
757
Die Überlieferung
von Purchards Gesta Witigowonis.
Von
K. Strecker.
In dem Prachtwerk Die Kultur der Abtei Reichenau,
Erinnerungsschrift zur zwölfhundertsten Wiederkehr des Grün-
dungsjahres des Inselklosters 1925 (unten zitiert: Erinnerungs-
schrift), berichtet K. Beyerle S. 389: „Die Kapelle des hl. Ja-
nuarius, die Witigowo im ersten Jahre seiner Regierung, d. i.
985, über der Klosterpforte erbaute“ usw. Ebenda S. 356:
„Abt Witigowo hat die Verehrung des hl. Januarius mit neuem
Glanz umgeben. Er erbaute ihm zu Ehren gleich bei Beginn
seiner Regierung eine eigene Kapelle" usw. Ebenda S. 844
sagt O. Gruber: ,,DaB für Witigowo das Westquerschiff in An-
spruch genommen werden kann, beweist auch eine Stelle bei
Purchard, die erzählt, da8 Witigowo an der linken Seite der
Marienkirche eine Kapelle für den hl. Januarius stiftet“ usw.
Diese Darstellung beruht auf Purchards Gesta Witigowonis
V. 818ff. ed. Pertz, M.G.SS. 4, S. 628:
313 Ceperat in primo mihi cum dominarier anno,
314 Est latus aecclesiae levum genitricis ad almae,
73" 315 Fundans eximium devota mente sacellum,
316 Quod Januarii voluit sub honore dicari.
Beyerles und Grubers Darstellung ist richtig, wenn die ab-
gedruckten Verse in Ordnung sind, aber beide haben offenbar in
engem Anschluß an den Druck von Pertz berichtet und garnicht
daran gedacht, daß nach der allgemein geltenden Ansicht, die
auch in der Erinnerungsschrift, S. 742, Sp. 1 unten f., und von
dem Verf. selbst vgl. S. 112/19 geteilt wird, zwischen V. 314 und
315 zwei volle Blätter mit rund 100 Versen verlorengegangen
sind. Was war in diesem verlorenen Stück erzählt? Wenn
758 K. Strecker
V. 313 f. und 315ff. von der Januariuskapelle gehandelt wird,
so müßte man doch wohl annehmen, daB in den dazwischen ver-
lorenen hundert Versen ebenfalls andauernd von diesem kleinen
Bauwerk die Rede war oder daß durch einen merkwürdigen Zu-
fall der Bericht darüber bald nach V. 313 abbrach und kurz vor
315 von neuem einsetzte. Beides werden Beyerle und Gruber
vermutlich, und mit Recht, ablehnen. Es bleibt uns also die
Wahl: entweder ist die in der Erinnerungsschrift gebotene Dar-
stellung in diesem Punkte nicht richtig, oder aber die Behaup-
tung, daß hier hundert Verse fehlen, ist unbegründet.
Ein anderer Fall: a. a. O. S. 112/21 berichtet K. Beyerle:
„ . . Der Abt werde nicht müde, aus den Einkünften der reich-
bestellten Fluren Gottesdienste und Kirchen zu mehren. Bei
der Herzoginwitwe Hadewig habe er deren vorzeitigen Verzicht
auf ihren NieBbrauch am Königsfiskus Schleitheim erwirkt, den
ihr Gemahl dem Kloster vermacht. Witigowo sei unverzüglich
nach Schleitheim gereist, habe selbst den dortigen Fronhof in-
standgesetzt und befestigt, die verfallene Kirche neu erbaut,
Zinsen und Gülten wieder in Lauf gebracht und die Bedürfnisse
des Gottesdienstes sichergestellt." Diese Darstellung beruht
ebenfalls auf Purchard. Er erzählt V. 198ff., wie Herzog Pur-
chard II. stirbt, aber seine Gemahlin ihn lange überlebt und zu-
náchst den Anspruch auf Schleitheim nicht aufgibt:
V. 206ff.
Quae post hunc multis in mundo virerat annis.
At quando domini, superest qui, tura subiv:,
Congruit ut, donis promptus servivit in amplis
matrone lali regal? stirpe fluenti,
210 Quod gessit studio sperans de foenore tanto,
Quatınus haec eadem fraglando sic per amorem,
Hunc sibi continuo sociaret foedere firmo.
Ei devicta suis per dona monentia votis,
214 In sua tura locum proprie dedit ante notatum.
77'215 Plurima quid refero? Confestim venerat illo,
M enibus et cunctis noviter docteque paratis,
In partes varias quae solverat ıpsa vetustas,
Aedibus aecclesiam. gemuit censuque neglectam.
Die Sachlage ist hier genau wie an der zuerst behandelten
Stelle, Beyerle berichtet getreu nach den Versen Purchards, hat
|
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 759
aber wieder nicht beachtet, daB er glatt über eine Lücke von
hundert Versen wegerzählt, seine Darstellung ist mit der gelten-
den Lehre, daß zwischen V. 214 und 215 eine solche Lücke
klafft, schlechterdings nicht zu vereinigen.
Wie kommen wir aus der Verlegenheit? DaB diese zwei-
hundert Verse fehlen, daß wir nur drei Bruchstücke des Gedichtes
haben, 1—214, 215—314, 315—491 bzw. 552, steht doch wohl
fest? Wenigstens kann man .es überall lesen, wo von den
Gesta W. die Rede ist, z. B. Erinnerungsschrift S. 742; M. Ma-
nitius, Gesch. d. lat. Lit. d. Mittelalt. 2, 511; W. Wattenbach,
Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalt. 17, 445, 2; A.
Chroust, Monumenta palaeographica II, XI,3; Hauck, KG.
3 *, 317,1; J. Hecht (s. unten) S. 92, 102. Allerdings wird
immer nur die feststehende Tatsache ganz knapp mitgeteilt, es
ist mir bisher noch nicht gelungen, in den Verhandlungen über
das Gedicht Beweise dafür zu finden. Vielleicht empfiehlt es
sich deshalb, der Sache einmal auf den Grund zu gehen, es wird
sich ergeben, daB diese ganze Theorie, wir hátten Pur-
chards Gedicht nur als Fragment, in der Luft schwebt
und daß Pertz bisher der einzige ist, der richtig über
die Überlieferung der Gesta W. geurteilt hat.
Die Stelle, auf welche die immer wiederkehrende Behauptung
zurückgeht, wir hätten Purchards Gedicht unvollständig, findet
sich bei K. Brandi, Die Chronik des Gallus Öhem, 1893, S. 25
Anm. zu 12. Ich gebe sie wörtlich wieder: „Breitenbach (NA. 2,
176ff.) hat die Benutzung dieser Quelle (nämlich der Gesta
Witigowonis) durch Óhem besonders eingehend untersucht und
Óhems Wiedergabe für die Kritik der Pertzschen Ausgabe ver-
wertet; indessen sind seine Untersuchungen und deren Resultate
vielfach zu berichtigen. Herr Archivrat Schulte hatte die große
Güte, den Karlsruher Codex zusammen mit Herrn Dr. Holder
von neuem zu prüfen und mir zu beschreiben; es kann darnach
kein Zweifel sein, daß Öhem die einzige (jetzt Karlsruher) Hand-
schrift der Gesta benutzte, denn in dieser.fehlen in der That
(was Óhem beklagt) mehrere Blátter. Pertz hatte nur bemerkt,
die Blätter seien verwirrt gewesen, aber von ihm neu- und
richtig geordnet; Breitenbach glaubte das, und als er nun fand,
daß Vers 314ff. absolut nicht zu Vers 313 paßte!, nahm er eine
1 Es muß heißen: ,,315ff. zu 314.“
760 K. Strecker
durch den Abschreiber verschuldete unbedeutende Lücke an.
Nun schließt aber p. 78? der Handschrift mit Vers 3138, dann
fehlen 2 Blätter; mit Vers 314* beginnt ein neues Blatt; es sind
also zwischen 313 und 314 etwa 4x24 oder annähernd 100
Verse verloren. Ebenso fehlen 2 Blätter hinter p. 82° der Hand-
schrift?.‘‘ Das ist alles. Für einen Beweis wird man das nicht
halten wollen, und man muß sich wundern, daß hieraus die
communis opinio erwachsen ist. Das liegt wohl daran, daß die
Handschrift in Verwirrung geraten ist und nur auf Grund einer
direkten Untersuchung derselben ein Urteil gefällt werden kann.
Brandi hat sie ja nicht gesehen, sondern gab nur wieder, was er
von Schulte und Holder erfahren hatte®. Inzwischen ist nun
die Beschreibung der Handschrift in Holders bewunderungs-
würdigem Katalog der Augienses erschienen. Diesen schlug ich
natürlich sofort nach, als mir Zweifel kamen, muß aber bekennen,
daß ich unwillkürlich in ein Gelächter ausbrach, denn Holder
beruft sich bei der Angabe der beiden Lücken lediglich auf die
oben abgedruckte Stelle Brandis. Warum zwei Lücken sind,
wie groß sie sind, wo sie anzusetzen sind — alles bleibt nach
wie vor dunkel. Ich bin der Karlsruher Bibliothek zu ganz be-
sonderem Dank verpflichtet, weil sie mir die Handschrift auf
einige Zeit, die freilich infolge eines Zufalls etwas kurz be-
messen sein mußte, hierher nach Berlin gesandt hat, sonst wäre
es mir vielleicht versagt geblieben, die wahre Sachlage festzu-
stellen.
Die uns beschäftigende Frage ist deshalb so schwierig, weil
die Handschrift, um einen Ausdruck Schmellers von den Car-
mina Burana zu gebrauchen, ‚stark verbunden‘ ist; in den
beiden Lagen, die das Gedicht enthalten, sind die Blätter
3 Es muß heißen: „fol. 78V.“
3 Es muB heißen: „314.“
* Es muß heißen: „315.“
5 Es muß heißen: „314 und 315.“
* Es muß heißen: „fol. 82 V."
7 Schon Schönhuth, Chronik des ehemaligen Klosters Reichenau 1836 S. 108
spricht von dieser Handschrift „soweit sie vorhanden ist", dazu die Anmerkung:
„Dieses Gedicht hat sich in einer Reichenauer Hs. aufgefunden mit den Lücken,
wie sie Ohem anführt.“
* Brandis Ausführungen hat dann A. Bergmann, Erinnerungsschrift S. 745 arg
miBverstanden.
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 761
durcheinander geraten und in dieser neuen, falschen Reihenfolge
numeriert worden. Der erste Herausgeber Pertz hat das erkannt
und die richtige Ordnung hergestellt; die Blätter müßten sich
in dieser Weise folgen: 71, 72, 79, 80, 81, 82, 77, 78, 73, 74, 75,
76, 83, 84. 83 ist ein hinter 76" eingehefteter Zettel mit 12
bzw. 13 Versen auf der Seite, 84 mit 21 Versen gehört schon
zur folgenden Lage. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit nur
auf die vorhergehenden Blätter 71—82. Es sind 12, also kann
es ein Quaternio und ein Binio sein®. Es ist aber auch möglich,
daß zwei Doppelblätter bei der Verwirrung verloren gegangen
sind, dann hätten wir zwei Quaternionen, und tatsächlich gibt
Holder im Katalog folgendes Schema:
reti mn
Das bedeutet natürlich, wir haben einen vollständigen Quater-
nio Bl. 71—78 und einen zweiten, von dem die beiden áuBeren
Doppelblátter verloren gegangen sind, so daB nur ein Binio
übrig geblieben ist. Das ist ja móglich, wenn dieser Verlust
irgendwie nachgewiesen werden kann. Nun fügt aber Holder
zu dem angegebenen Schema noch hinzu: „zu lesen in dieser
Folge:
71. 72. 79. 80.181. 82. X X 77. 78; X X 73. 74. 75. 76.“
Ich kann nicht leugnen, daß ich das schwer verstehe, und
anderen wird es nicht anders gehen. Um ein leichteres Ver-
ständnis zu ermöglichen, führe ich in das Holdersche Schema
zunächst andere Zeichen ein: das erste zusammenhängende
Blatt, also das äußere Doppelblatt der zweiten Lage sei X X!,
das zweite sei Y Y!. Dann sieht Holders Schema so aus:
71—78; X Y 79. 80.181. 82. Y! X!
* Zwei Ternionen würen natürlich auch móglich, das kommt hier aber nicht in
762 K. Strecker
und das wäre zu lesen in der Folge:
essan Be er re EEE SE ee EEE Be laaa i
"^"
ꝙͤ— U nßj/h rv hos hes hrs be] ish rtis „ rr n
zwei Quaternionen; von dem zweiten nahm man das äußere
Doppelblatt XX! und befestigte es so, daB jetzt X u. X! auf-
einander lagen, hinter dem sechsten Blatt der ersten Lage.
Dann nahm man das zweite Doppelblatt der zweiten Lage Y Y!
und befestigte es so, das Y Y! aufeinander lagen, vor dem durch
diese starke Blutentziehung entstandenen Binio. Und der Erfolg
dieser sonderbaren Kur war der, daß diese beiden Doppelblätter
verloren gingen! Nun möchte ich nur eins wissen: waren diese
unglücklichen Doppelblütter, als an ihnen diese Prozedur vor-
genommen wurde, schon beschrieben oder nicht? Wenn sie
noch nicht beschrieben waren, so fragt man sich, warum man
den zweiten Quaternio in dieser Weise zerstórte und nicht, wie
sonst, erst den einen und dann den zweiten vollschrieb. Die
Sache ist ganz unverständlich. Noch größere Schwierigkeiten
entstehen aber bei der Annahme, daß diese Umstellung statt-
fand, als beide Lagen schon vollgeschrieben waren; dann hätte
man also Bl. X und X! der zweiten Lage zusammen hinter
Bl. 6 der ersten Lage befestigt, und Bl. Y und Y! der zweiten
Lage hinter Bl. 8 der ersten. Man stelle sich diese wundervolle
Konfusion vor, und es ist ein wahres Glück, daB diese beiden
Doppelblätter wieder verschwanden, denn durch ihren Verlust
wurde wenigstens in der ersten Lage der richtige Text wieder-
hergestellt, eine Lücke ergab sich dadurch nicht, die Lücken
wären nach dem ersten Holderschen Schema vielmehr zu An-
fang und Ende des zweiten Quaternios entstanden. Also diese
ganze Rekonstruktion ist unverständlich und unmöglich“. Ich
freute mich, zu sehen, daB Chroust a. a. O. auch versucht hat,
sich den Hergang vorzustellen; er kommt, wie mir scheint, zu
ai
10 Unmöglich auch aus folgendem Grunde: Das Gedicht hat bekanntlich einen
mehrere Jahre später gedichteten Anhang, der auf der letzten Seite des Binios
schon beginnt. Daran schließt Bl. 83" unmittelbar; für irgendeine Lücke ist
hier also kein Platz.
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 763
demselben Ergebnis wie ich, wenn er erklärt: ,, Nach Holder ist
die richtige Ordnung Bl. 71. 72. 79. 80. 81. 82. X.X. 77. 78, also
ein Quaternio mit einem eingeschobenen und jetzt verlorenen
Doppelblatt) u. Bl. X. X 73. 74. 75. 76 (ein Binio mit vorgesetztem
und verlorenem Doppelblatt).“ Chroust scheint dies aber für
móglich zu halten, wenigstens fand ich bei ihm kein Wort des
Zweifels.
Wenn die sattsam behandelte These von dem Verlust der
vier Blätter mit zweihundert Versen auf solche Schwierigkeiten
stößt, so müssen doch sehr dringende Gründe vorliegen, die zu
dieser Annahme nötigen. Woher wissen wir von dem Verlust
dieser Blätter? Warum muß Purchards Text lückenhaft sein ?
Zu meinem Bedauern kann ich diese Frage nicht beantworten,
ich kenne keine Gründe dafür; man hat kaltblütig Purchards
Gedicht für einen Torso erklärt, ohne auch nur den Schatten
eines Beweises zu erbringen, meist auch ohne sich den Kopf
darüber zu zerbrechen, was denn nun eigentlich verlorengegangen
ist. Ich schmeichle mir aber doch, herausgefunden zu haben,
worauf diese Theorie von den Lücken beruht: die Veranlassung
dazu, den Text als verstümmelt auszugeben, bot — kleine
Ursachen, große Wirkungen — ein von Pertz zu Unrecht
gesetztes Komma, das Breitenbach a. a. O. hinderte, die
Verse 313ff. zu verstehen! Ich setze sie noch einmal nach
Pertz her:
313 Ceperat in primo mihi cum dominarier anno,
787 314 Est latus aecclesiae levum genitricis ad almae,
f. 73" 315 Fundans eximium devota mente sacellum,
316 Quod Januarii voluit sub honore dicar.
Breitenbach, S. 177, regt sich über dies korrupte und
sinnlose Stück sehr auf, es gäbe gar keinen Sinn, nach
anno Sei sicherlich eine Anzahl Verse fortgefallen, das un-
verständliche Est sei in Et zu ändern. Bei Brandi steht
dann die weitergehende Behauptung, hier seien gleich zwei
Blätter in Verlust geraten, nicht nur einige Verse. Begrün-
dung fehlt.
Ich denke, wir kónnen auf diese Annahme eines mehr oder
weniger groDen Verlustes verzichten, wenn wir uns entschlieBen,
die Verse richtig zu interpretieren: streichen wir das tatsächlich
764 K. Strecker
recht störende Komma hinter almae fort!! und verbinden Est
fundans = fundat, oder hier als historisches Präsens = fundavit
(die bekannte periphrastische Ausdrucksweise, wie V.515 ac-
cumulans fut, 449 est precingens), so ist alles in schönster
Ordnung: ‚im ersten Jahre seiner Regierung gründete er an der
linken Seite der Marienkirche die Januariuskapelle." Was will
man Besseres? Beyerle und Gruber sind von ihrem guten Engel
geleitet worden, als sie zur rechten Zeit vergaßen, daß an der
von ihnen behandelten Stelle ja eigentlich hundert Verse aus-
gefallen sein mußten. Leugnet jemand, daß dieser ganz klaren
Stelle durch die Annahme einer großen Lücke in übler Weise
Gewalt angetan wird? — Ist diese Stelle in Ordnung, so wird es
mir bange um die zweite Lücke zwischen 214/215, denn hier
bin ich nicht einmal imstande, eine Vermutung zu äußern, wie
man zu der Behauptung gekommen ist, daß auch hier hundert
Verse fehlen. Ich brauche wohl kaum zu betonen, daß davon
nach V. 214 gar keine Rede sein kann. Ich bitte nur, die oben
S. 758 abgedruckten Verse noch einmal anzusehen: es wird 214
und vorher von der Überweisung von Schleitheim gehandelt:
215 Plurima quid refero? Confestim venerat illo! illo ist Schleit-
heim! Was sollte denn in den verlorenen hundert Versen ge-
standen haben? Wer nicht glauben will, daB illo heißt „nach
Schleitheim‘‘, der lese wenige Verse weiter V. 224 Est alterque
pagus noster Fungınya vocatus.
Die Sache ist ja jetzt wohl klar: wir haben das vollstándige
Gedicht Purchards, von dem kein Vers verloren ist, nur sind
die Blätter etwas durcheinander geraten, doch ist die Heilung
nicht schwer; vertauscht man die beiden inneren Doppelblätter
des ersten Quaternios mit dem folgenden Binio, so ist nichts
zu tadeln. So hat Pertz den Text gedruckt, und so muB er
bleiben. Eines Beweises bedarf es da nicht, es hat ja auch noch
niemand bezweifelt, daß Pertz die richtige Ordnung hergestellt
hat; immerhin ist es ganz angenehm, zu sehen, daß das Äußere
der Handschrift damit übereinstimmt. Das ist sogar in ganz
überraschender Weise der Fall, denn in dem Quaternio, der
11 Was Pertz sich dabei gedacht hat, weiß ich nicht. Zu Est macht er die lako-
nische Anmerkung ,,sc. Witigowo". Nachtrüglich bemerke ich, daB I. v. Schlosser
bei seinem Abdruck der Stelle im Quellenb. & Kunstgesch. d. abendl. MA. 1896,
S. 141ff. das Komma fortläßt.
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 765
durch diese Umstellung wiederhergestellt wird, also f. 71. 72.
79. 80. 81. 82. 77. 78, hat jede Seite 25 Zeilen, dagegen in dem
folgenden Binio 73. 74. 75. 76 nur 24. Natürlich muß in dem
ersten Einbande — von dem wir übrigens insofern noch Spuren
haben, als die ersten Heftlöcher bei dem jetzigen Einbande un-
benutzt geblieben sind — die Reihenfolge die richtige gewesen
sein; es fragt sich, ob wir auch davon noch Spuren finden. Das
Mittel, mit dem W. Meyer bei den Carmina Burana so erfolgreich
operiert hat, versagt hier ziemlich, nur eine kleine Beobachtung
ist ganz interessant: f. 71 ist am inneren Rande in halber Hóhe
ein ganz kleines Loch im Pergament; dasselbe findet sich f. 72,
fehlt f. 73— 76, erscheint f. 79, also in dem Blatt, das ursprünglich
auf 72 folgte. In f. 80 ist etwas Ähnliches, es deckt sich aber
nicht genau mit f. 79, in 81 ist es verschwunden. Es ist übrigens
so klein, daß es erst N. Fickermann mit seinen besseren Augen
entdeckte, der sich an der interessanten Untersuchung der
Handschrift beteiligte.
Wenn ich behaupte, das Gedicht ist intakt, so muB ich selbst-
verständlich auf einen Einwand gefaßt sein: Öhem hat zweifellos
die uns vorliegende Handschrift benutzt und sagt von ihr, daß
einige Blätter verloren seien, S. 75, 25: Dieselb geschrifft und
tractaut hütt des tags in der Ow ist; doch so syen ettliche bletter
darvon verloren; deshalb ich es alles nit gentzlichen erlernen und
iransnieren möcht. Will man das wirklich gegen den klaren Tat-
bestand anführen, daß das Gedicht vollständig erhalten ist?
Öhem hat die Handschrift doch wohl in dem jetzigen Zustande
benutzt, er sollte bemerkt haben, was Pertz nicht sah, daß
Blätter fehlten? Die Sache ist wirklich einfach: die Blätter
sind, wie gesagt, durcheinander geworfen, und es ist schwer,
sich in dem Text zurecht zu finden, wenn man sich nicht sehr `
eindringlich damit befaBt. Wenn Óhem an eine Stelle kam, wo
durch Lagenversetzung der Zusammenhang abriß, so wird er
angenommen haben, das Blatt sei verloren. Weiteres darf man
aus seiner ÁuBerung nicht schlieBen. — Man hatte wohl schon
vor Óhem solche Beobachtungen gemacht. Am Schluf von
f. 72“, also da, wo der fälschlich hierher versetzte Binio 73—76
beginnt, steht auf dem unteren Rande eine Hieroglyphe 14/16.
Jahrhunderts, etwa d'ffc', die man bei einigem guten Willen
als deffectus lesen kónnte. Darunter, ganz unten, ein Kreuz.
766 K. Strecker
Soll das bedeuten, daß man hier auf die Verwirrung aufmerksam
geworden war? Ein solches Kreuz findet sich dann noch einmal
f. 83" unten, also an der Stelle, wo der eingeheftete Zettel 83
zu Ende geht und die letzten 21 Verse auf das erste Blatt (847)
einer neuen Lage geschrieben wurden.
Da sich die Gelegenheit bietet, móchte ich noch ein Wort
über eine andere Frage sagen: Wer hat den Codex geschrieben ?
Pertz sagt S. 621: „est membranaceus in 4t» autographus manu
saeculi x exaratus." Diese Ansicht ist vermutlich auch sonst im
allgemeinen verbreitet, doch hat man sich darüber weniger ge-
äußert. Einen Umschwung muß die Erinnerungsschrift bringen,
wenn die darin vertretene Ansicht richtig ist: K. Beyerle, S. 212,
Note 100c, sagt von unserm Gedicht: „Einzige Hs. Cod. Aug.
CCV... Die stilkritische Würdigung der Miniatur auf f. 72,
die für Regensburg entscheidet, schließt aus, daB die Hs. vor
ca. 1030 geschrieben ist.“ Es ist dabei auf S. 743 verwiesen.
Dort findet man die bekannte Illustration, die Widmung des
Gedichtes durch den rusticus poaeta an die Patronin von Reiche-
nau, und dazu die knappe Bemerkung: ,,Die Miniatur wird aus
stilkritischen Gründen der Regensburger Malerschule zuge-
schrieben: vgl. Sauerland-Haseloff, Der Codex Egberti 1901
S. 169.“ Da mich diese Angaben sehr überraschten und befrem-
deten, bin ich der Frage eifrig nachgegangen. Leider fand ich
bei Sauerland-Haseloff nicht die erhoffte Belehrung, von einer
Zugehórigkeit zur Regensburger Malerschule steht dort nicht
ein Wort. Bei Swarzenski, Die Regensburger Buchmalerei 1901
fand ich unsern Augiensis überhaupt nicht erwähnt. Ich wandte
mich an A. Böckler, der ja in der Erinnerungsschrift den Bericht
über die Reichenauer Miniaturmalerei erstattet hat; er erklärte
mir zu meiner Beruhigung, er sehe keinerlei Ähnlichkeit mit
Regensburg und keinen Grund, die Miniatur damit in Verbindung
zu bringen. Viel eher erinnere der Stil an St. Gallen, sowohl in
der Zeichnung (vgl. besonders Cod. Perizoni 17 in Leiden, aber
auch einige der Darstellungen im Folchardpsalter) als in den
Farben (vgl. den Goldenen Psalter und den Folchardpsalter).
Die Abhängigkeit der Reichenauer Initialornamentik des
10. Jahrhunderts (Eburnantgruppe) von St. Gallen ist ja be-
kannt, so daß eine Beziehung auch im Figürlichen sehr be-
greiflich wäre. Eine Entstehung der Miniatur nach dem Jahre
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 767
1000, d. h. in der Blütezeit des die Reichenauer Produktion
allein beherrschenden Liutharstils ist höchst unwahrscheinlich.
-- Und woher diese auffallend präzise Datierung ca. 1030?
Das hängt damit zusammen, daß man in unserem Purchard
den späteren Abt von St. Emmeram sieht. Zweifellos ragte der
junge Mönch aus der Schar der Genossen hervor, darum erhielt
er doch wohl den Auftrag, das Gedicht auf Witigowo zu verfassen
(vestra coactus iussione). So wird er es auch sein, dem Abt
Berno den Traktat de consona tonorum diversitate widmete,
Migne 142, 1155: dilectissimis in Christo filiis Purchardo et
Kerungo. Wenn im Liber confratr. ein Purchart cantor erscheint
(Erinnerungsschrift S. 1191), so paßt das zu der Widmung einer
musiktheoretischen Schrift. Schließlich haben wir die bestimmte
Nachricht, daB 1030 Burghardus Augensts monacus Ratısponae
apud S. Emmerammum abbas promovetur (Hermann d. L., Chro-
nicon Z. J. 1030 SS. 5, S. 121)12,
Wenn dieser Abt von St. Emmeram mit unserm Dichter
identifiziert wird, so kann man also auch dieser Annahme zu-
stimmen, freilich doch mit dem Vorbehalt, daB seit Vollendung
des Gedichtes mehr als ein Menschenalter ins Land gegangen
war. Nicht zustimmen kann ich aber, wenn ich dann Erinne-
rungsschrift S. 115 den Satz finde: „So erklärt sich auch, wie die
Titelminiatur zu Purchards Carmen de gestis W. von der Kunst-
geschichte der Regensburger Malerschule zugewiesen werden
konnte; die Handschrift muB in den Spátjahren Purchards in
Regensburg entstanden und wohl erst nach dessen Tode an die
Reichenau gelangt sein." Beyerle drückt sich hier nicht ganz
klar aus; entstand die vorliegende Handschrift oder das Gedicht
nach 1030? Das letztere dürfte nicht gemeint sein, es ließe sich
mit der Vorrede nicht vereinigen; aber welchen Zweck sollte
es haben, wenn über 30 Jahre nach der tragischen Absetzung
des Abtes Witigowo, von dem wohl niemand mehr sprach, am
wenigsten in Regensburg, dies Gedicht erneut abgeschrieben
und sogar illustriert wurde? Die einzige Erklärung, die einiger-
maßen befriedigen könnte, wäre die, daß der Dichter selbst
die Abschrift für sich anfertigen ließ, um sich gelegentlich an
12 Die Nachrichten über Purchard von S. Emmeram bei Bresslau, Jahrb. d. d.
R. unter Konrad II, 2, 237, 3.
768 K. Strecker
seiner Jugenddichtung zu erfreuen. Aber Abt Purchard — zu-
gegeben, er sei der Dichter — war ein vornehmer Mann ge-
worden, der mit dem Kaiser verkehrte wie seinerzeit sein Held
Witigowo: sollte er irgendein Interesse daran gehabt haben,
daß jene seiner damaligen Situation entsprechende Vorrede
(me omnium stolidissimum, qui nec flosculo exarescentis foeni ulla
rattone possum comparari) jetzt noch wieder aufgewärmt wurde ?
Natürlich, sie entspricht den Forderungen der christlichen
Demut und gehórt zum Stil, das ist ja bekannt, aber wozu sollte
diese seine Selbsterniedrigung hier noch einmal abgeschrieben
werden, wenn niemand sie lesen würde, auch die Reichenauer
nicht? Die Behauptung, die Handschrift sei nach 1030 geschrie-
ben, kann nur aufstellen, wer sie nicht gesehen hat. Das Gedicht
ist nämlich von zwei Händen geschrieben, von 1—494 und von
495—552, das entspricht ganz genau der Tatsache, daB es in
zwei Etappen entstanden ist, 994/95 und 96/97. Wenn 30 Jahre
spáter eine Abschrift genommen wurde, so wird doch wohl
niemand auf den Gedanken gekommen sein, die zwei Hände
des Originals auch hier nachzubilden!*!
Und noch eins. Es ist immer von der Handschrift des
Carmen de gestis Witigowonis die Rede, aber die gibt es nicht!
Das Carmen ist ein Stück eines recht umfangreichen Corpus von
175 Blättern, von dem es nicht getrennt werden kann. Dieses
Corpus besteht in der Hauptsache aus zwei Codices, die Grenze
zwischen beiden bildet unser Carmen; die letzten 21 Verse des
Gedichtes stehen auf der ersten Seite des zweiten Codex, sie
gehóren aber ursprünglich nicht zu ihm, wie sich unten ergeben
18 Erst nachträglich konnte ich ein Buch benutzen, das die Zuweisung der
Handschrift an Regensburg kritiklos nachspricht. Jos. Hecht, d. romanische Kirchen-
bau des Bodenseegebietes 1, 1928, 92: ,,nun schrieb Purchard sein Carmen nicht etwa
im blühenden Enthusiasmus seiner Jugend als Mönch unter Witigowo. Im V. 384
deutet er selbst an, daß er das Lied erst in späteren Tagen verfaßt hat. Erschmückt
es zudem mit einer Miniatur, die nach ihrem Stil nicht aus der Reichenau, wohl aber
aus der Regensburger Malerschule stammt. Das Carmen ist also erst nach 1030
entstanden.“ - Dies wird dann von dem Rezensenten der DLg 1929, Sp. 1157, wieder-
holt. — Aber diese Zustimmung ist doch nicht allgemein, ein anderes Buch, das ich
ebenfalls verspätet in die Hände bekam, I. Prochno, Das Schreiber- u. Dedikations-
bild in der deutschen Buchmalerei 1, Leipzig 1929, S. 27, lehnt diese Ansicht un-
bedingt ab: „Der Versuch, die Handschrift nach Regensburg zu lokalisieren und
40 Jahre später anzusetzen, scheint mir undurchführbar.“
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 769
wird. Daß dieser zweite Codex anfänglich ein Band für sich war,
Bl. 84—175, enthaltend eine Expositio mystica zu den Para-
bolae Salomonis usw., ersieht man daraus, daß seine Lagen für
sich gezáhlt sind, I—XIII. Auch hat dieser ganze Codex nur 21
Linien auf der Seite, während, wie wir uns erinnern, das Carmen
25 und 24 hat; er ist auch, wie mir scheint, früher geschrieben.
— Lohnender ist die Beschäftigung mit dem ersten Teil des
Corpus. Er ist nicht einheitlich wie der zweite, vielmehr ist fest-
zustellen, daB er aus recht disparaten Stücken besteht. Zuerst
haben wir f. 1—54 sieben Lagen (6 Quaternionen und 1 Ter-
nio) die I—VII numeriert sind“, aber in ganz anderer Weise
. als die Lagen des hinteren Codex, mit dem hat dieser Teil nichts
zu tun, und es ist reiner Zufall, daB auch hier die Seiten 21 Zeilen
haben wie dort. Diese 7 Lagen enthalten Alchvine, Quaestiones
in genesim. Daran schlieBt sich ein anderes Werk, aber ohne
die Zuweisung an Alchvine, die Propositiones ad acuendos
iuvenes, zwei Quaternionen f. 55—62 u. f. 63—70. Dies Stück war
ursprünglich nicht mit Alchvines Quaestiones vereinigt, es war
vielmehr ganz selbständig, denn die beiden Lagen sind nicht
numeriert wie die sieben der Quaestiones, was natürlich hóchst
auffallend wäre, wenn die sämtlichen neun Lagen, 1—7 und 8—9,
von vornherein zusammengehört hätten; und entscheidend ist,
daß diese beiden unnumerierten Lagen anders liniiert sind; sie
haben 22 Zeilen auf der Seite und sind auch von einer anderen
Hand beschrieben. Man hat also auch hier zwei ursprünglich
selbständige Handschriften zusammengesetzt, die Fuge ist
hinter Lage VII, nach Bl. 54. Dagegen scheint nun freilich die
Tatsache zu sprechen, daß das Kapitelverzeichnis der Proposi-
tiones noch auf dem letzten Blatt der Quaestiones f. 54“ steht,
aber genau zugesehen spricht dies gerade dafür, denn dies Ka-
pitelverzeichnis ist von anderer Hand geschrieben oder, um mich
vorsichtig auszudrücken, es ist jedenfalls zu anderer Zeit und
mit anderer Tinte geschrieben als die Propositiones; die Tinte
ist ganz anders, tiefschwarz, die auf Bl. 55" ziemlich blaß. Daß
es die Hand wäre, die den letzten Teil der Quaestiones schrieb,
ist ganz ausgeschlossen. Der Hergang war also der: Man wollte
die beiden Lagen der Propositiones mit den Quaestiones zu-
M Die Zahl VI f. 48V ist einer Rasur zum Opfer gefallen.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 49
770 K. Strecker
sammenbinden. Da nun aber f. 54' zum größeren Teil und 54"
ganz leer war, benutzte man den zur Verfügung stehenden
Raum, um dies Kapitelverzeichnis, das ursprünglich also fehlte,
hier einzufügen. Die vier freibleibenden Halbzeilen füllte der
Miniator dannso aus: FINIVNT CAPITVLA SVPTER ANNE-
XARVM ENIGMATVM®.
Wir haben also bisher zwei Codices: 1. den am Schluß stehen-
den, Bl. 84'——175", 2. den durch die Vereinigung der Proposi-
tiones mit den Quaestiones Alchvines entstandenen, f. 1—70v.
Dazwischen nun, 71'—84', steht das uns zumeist angehende
Stück, Purchards Gedicht; war das ursprünglich auch selbständig
und wurde dann hier mit eingebunden oder ist es später in den
fertigen Codex eingetragen worden? Seit wann besteht über-
haupt der Codex, wie er vor uns liegt? Der jetzige Einband ist
wohl aus dem 15. Jahrhundert. Näheres würde man vielleicht
sagen können, wenn die beiden deutschen Privaturkunden, mit
denen die Innenseiten der Deckel beklebt sind, abgelöst und
zeitlich bestimmt würden. Aber der ganze Codex war schon
zusammen, ehe der vorliegende Einband gemacht wurde, das
geht zweifellos daraus hervor, daß sämtliche Lagen dieselben
Heftlöcher haben, die aber von dem Buchbinder des 15. Jahr-
hunderts nicht wieder benutzt worden sind. Sie gehen also auf
den ersten Einband zurück, und der entstand, als Purchards
Gedicht eingetragen wurde, das scheint mir aus der merkwürdigen
Raumverteilung, die dabei beliebt wurde, geschlossen werden zu
müssen. Das Carmen — natürlich in der ursprünglichen An-
ordnung, wie sie vor der Vertauschung der beiden Binionen
war — beginnt mit einem Quaternio, f. 71—78, die Seite zu
25 Zeilen; dann folgt der Binio, die Seite zu 24 Zeilen. Auf der
letzten Seite, 76°, des Binios, steht nun der Rest des ursprüng-
lichen Gedichtes, 12 Verse, und der Anfang des Nachtrages,
15 Auf unserer Handschrift beruht es also, wenn man die Propositiones dem
Alchvine zuschreibt. Frobenius II, 440, Migne 101, 1143 sagt: „extat vero sub nomine
Alcuini in perveiusto codice ms. monasterii Augiae divitis, unde descriptum ad nos
venit.“ Damit kombinierte er die Stelle aus Alchvines Brief an Karl MG. Ep. 4 S.
285, 8 misi excellentiae vestrae.. aliquas figuras arithmeticae subtili-
tatis laetitiae causa, und so nahm er das Werk unter die Dubia auf. Nach meinen
Darlegungen bietet unsere Handschrift jedenfalls nicht die geringste Handhabe für diese
Zuweisung, und M. Cantor, Die roem. Agrimensoren 1875, 139 fl. hatte nicht Unrecht,
als er sie stark bezweifelle. |
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 771
ebenfalls 12 Verse bis: Haud procul hinc domus est. Damit war
der Binio voll, es blieben noch 46 Verse des Schlusses unterzu-
bringen. Nun sollten ja in dem Codex, den man zusammenstellte,
auf unser Gedicht die dreizehn Lagen, Exp. in Parabolas Salo-
monis usw. folgen, die von Anfang an einen eigenen Codex
bildeten, wie die durchgehende Linienzahl und die Lagenzáhlung
zeigt. In diesem Codex nun war die äußere Seite des ersten
Blattes als Schutzblatt leer gelassen worden. Wenn nun aber
dieser Codex mit einem anderen zusammengebunden wurde,
so war diese leere Seite überflüssig, sie stand dem Schreiber zur
Verfügung und wurde jetzt benutzt, um die letzten Verse des
Gedichtes einzutragen. Da die Seite, wie alle folgenden, mit
21 Linien versehen war, mußten es auch 21 Verse sein. So waren
noch 25 übrig. Für sie hátte ja gerade eine Seite genügt, wie der
Quaternio 71—78 Seiten zu 25 Linien hat, aber dann wäre eine
Seite leer geblieben. Um das zu vermeiden, entschloB sich der
Schreiber, statt eines ganzen Blattes nur einen Zettel, Bl. 83,
einzuheften, der auf der Vorderseite 12, auf der Rückseite 13 Zei-
len erhielt. Daher dieses merkwürdige eingeschobene Blatt 83,
das für unser Gefühl so störend wirkt. Der Mann, der diese An-
ordnung traf oder wenigstens ausführte, war der Schreiber der
Schlußverse. Dieser ist wahrscheinlich von dem Schreiber des
Gedichtes verschieden. Es liegen ja zwei Jahre zwischen den
beiden Teilen des Gedichtes, aber reichen diese aus, um den
auffallenden Unterschied der Schrift zu erklären? — Wer war
nun der Hauptschreiber? Ich komme damit auf die Frage des
Autographs zurück.
Chroust sagt a. a. O.: „Die vorliegende Überlieferung des
Gedichtes mit ihren zahlreichen und sehr umfangreichen Ra-
suren, die schwerlich allein Schreibversehen, sondern wohl eher
Verbesserungen des Textes durch den Autor bedeuten, sieht wie
ein Autograph Purkharts aus." Dem muß ich beistimmen. Die
Handschrift weist wirklich auffallend viele Korrekturen, zum
groBen Teil auf Rasur, auf; vielfach sind ganze Zeilen radiert
und korrigiert, und zwar so gut wie immer von der Hand des
Schreibers. Man erkennt es auf den ersten Blick, ein besonderer
Umstand bestätigt es: wenn die ganze Zeile oder die erste Hälfte
derselben radiert ist, so ist doch die Initiale ausgenommen.
‘Sämtliche Zeilen beginnen mit einer roten Initiale. Wenn diese
49*
772 K. Strecker
auf unradiertem Grunde steht, während die Zeile selbst radiert
ist, so ist das ein Beweis, daß diese Rasuren und Korrekturen
früh vorgenommen wurden, bevor die Miniierung erfolgte,
Korrektor und Schreiber sind identisch. Und Chroust hat richtig
gesehen, die Korrekturen bedeuten deutlich Verbesserungen des
Textes durch den Autor. Nehmen wir V. 447 gemmis ac auro.
Es scheint mir deutlich, daß da, wo jetzt c auro steht, früher
gemnus stand, d. h. der Vers ist nach der Niederschrift umgearbei-
tet worden. Ähnlich ist es mit V. 1: wo jetzt plores steht, muß
früher dasselbe Wort gestanden haben, man erkennt es noch;
also hat der Dichter offenbar den Vers umgearbeitet. V. 102
stand statt tractabam ein Wort, das ein g enthielt. So findet sich
noch manche Stelle, wo man mehr ahnen als klar erkennen kann,
dab ein anderes Wort eingesetzt, ein ganzer Vers verändert, ver-
bessert ist, kurz, daB das vorliegt, was wir Autorenkorrektur zu
nennen pflegen. — Dazu kommt nocht etwas: die Handschrift
ist fast fehlerlos geschrieben! Versehen, wie sie doch regelmäßig
sind, wenn ein Schreiber den Text eines anderen abschreibt,
sind, wenigstens unkorrigiert, kaum vorhanden, mit Ausnahme
von humillam statt humillimam, eine wirklich unbedeutende
Flüchtigkeit. Dazu scheint ein bedenklicherer Fehler zu kommen
V. 88f.
Sed non sum vanis mulier clamosa querelis,
Perfectae fidei volo gui succumbere legi.
Pertz macht ein Notabene zu dem qu: und läßt es unangetastet;
es ist aber doch einmal ein Fehler, denn Augia spricht. Ich hatte
mich für quin entschieden und wurde dann darauf aufmerksam,
daß über i ein dünner Strich steht; 38—40 sind auf Rasur ge-
schrieben, und der Schreiber hat V. 38 in su und in 40 in quà
einen Querstrich des alten Textes benutzt, so scheint es auch bei
diesem qut zu stehen. — Sehr stark würde es aber gegen die An-
nahme eines Autographs sprechen, wenn K. Beyerle, Erinnerungs-
schrift S. 212, 1004 Recht hätte, daB V. 224 pagus noster
Funginga vocatur ein Fehler wäre und Junginga (im Gebiet des
Königsfiskus Ulm) zu setzen wäre, ein Dichter, der der Abtei
Reichenau angehörte, würde sich schwerlich so verschrieben
haben; doch fällt dies Bedenken fort, Funginga darf nicht ge-
ändert werden, es ist Pfungen bei Winterthur, wie schon Meyer
von Knonau erkannte, Anz. f. schweizerische Geschichte,
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 773
N. F. II, 1874—77, S. 264f., vgl. F. Beyerle, Zs. f. Gesch. d.
Oberrheins, N. F. 43, 333 fl. — Ein zweiter Irrtum zieht sich
ferner durch große Teile der Handschrift unseres Gedichtes, auf
den ich noch eingehen muß, er ist ganz scherzhaft. Das Gedicht
ist bekanntlich eklogenartig gebaut, ein Zwiegespräch zwischen
Augia und dem Dichter, und zwar ist immer über das betreffende
Stück mit roten Majuskeln AUGIA bzw. POETA geschrieben,
so daß dies Wort eine ganze Linie einnimmt. Zu Anfang, V. 1,
freilich ist dies unterblieben, wohl weil es hier unnötig erschien.
Als dann die Augia auf die Anrede des Poeta erwidert, war zu-
erst am Kopf der Seite, f. 797, der Beginn ihrer Rede, V. 25 und
V. 26, fast ganz (ohne rote Initialen) eingetragen, doch wurde
der Fehler sofort bemerkt, die Verse wurden getilgt und eine
Stufe tiefer gerückt, so daß später AUGIA rot auf die erste
Zeile gemalt werden konnte. So steht dann richtig V. 29. 33. 48
AUGIA bzw. POETA auf der Linie über dem Text. Aber zu 52
hatte der Schreiber vergessen, eine Zeile freizulassen, er schrieb
fortlaufend von 48—58 und ließ erst dort eine Lücke, und so
malte der Miniator dann über V.59 sein rotes AUGIA auf die
freie Zeile, dann 65 POETA; entsprechend auch zu 70. 81. 145,
bis der Irrtum bemerkt wurde. Um ihn wieder gut zu machen,
schrieb der Miniator nun am Rande zu V.52 AUGIA und ra-
dierte und korrigierte an den entsprechenden Stellen, bis AUGIA
und POETA am richtigen Platz standen. Spricht nun das nicht
gegen die Annahme, daß Dichter und Schreiber identisch sind ?
Ich glaube doch nicht, denn es war ja nicht der Schreiber, sondern
der Miniator, der das Unglück angerichtet hatte, den Schreiber
trifft nur die Schuld, daß er V.52 vergessen hatte, eine Zeile
freizulassen, — doch wohl ein Versehen, das auch dem Autor
widerfahren konnte. So bin ich auch hier der Ansicht, daß Pertz
richtig gesehen hat, als er Schreiber und Dichter identifizierte.
Ein schlagender Beweis läßt sich natürlich nicht führen — wie
immer in solchen Fällen.
Wer widersprechen will, braucht um Gegengründe nicht ver-
legen zu sein. Was ich oben vom ersten Teil des Gedichtes sagte,
daß er fast fehlerfrei geschrieben sei, trifft für die 58 Verse des
Nachtrags ebenfalls zu, dazu sind Korrekturen hier so gut wie
gar nicht vorhanden. Ferner könnte man bei dem Gedicht selbst
zwei Schreiber unterscheiden wollen, f. 755 mit dem Worte
774 K. Strecker
ualet scheint eine zweite Hand einzusetzen. Ich glaube, es ist
dieselbe Hand, aber der Schreiber hat eine andere Feder ge-
nommen. Ganz ähnlich ist es f. 82“, Zeile 2. Schließlich finden
sich einige Korrekturen, die den Eindruck machen, daß sie nicht
von der Hand des Schreibers herrühren, doch habe ich eigentlich
keine gefunden, bei der ich wirklich überzeugt wäre, daB sie
nicht vom Schreiber selbst stammen kónne, doch wird zu unter-
scheiden sein zwischen Korrekturen, die sofort bei der Nieder-
schrift vorgenommen wurden, und solchen, die bei einer spáteren
Revision erfolgten, vor allem V. 410. 427, auch 365.
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu Gallus Óhem. Dieser
hat S. 23, 19 den Planctus Augiae aufgenommen, Augta regalis,
dives quandoque fuisti, der bei ihm mit 9 Versen, die aus Pur-
chards Gesta entnommen sind, schließt. Zu diesem Planctus
sagt K. Beyerle a. a. O. 158: „In einer Anlehnung an Purchards
Gedicht über die Taten Witigowos aber lie8 der spátere Reim-
dichter die SchluBgedanken seines Planctus Augiae ausklingen.“
Das wäre nicht unwichtig, wenn es richtig wäre. Über die Zeit
des Dichters dieses Planctus wissen wir nichts Bestimmtes, doch
setzt ihn Brandi S. 23 f. sicherlich mit Recht ins 13. Jahrhundert.
Wenn er also Verse aus Purchards Gesta in seinen Planctus auf-
genommen hätte, so wäre das die älteste Erwähnung dieses Ge-
dichtes. Es ist aber nicht richtig, wie schon aus Brandis Aus-
führungen S. 23, Anm. 21, zu ersehen ist, die aus Purchard ent-
nommenen Verse gehören nicht zum Planctus, und es ist nicht
zu verteidigen, daß Beyerle S. 158 sie als Bestandteil desselben
abgedruckt hat. Schon Brandi macht darauf aufmerksam, daß
die Überlieferung verbietet, die Purchardverse dem Planetus zu-
zurechnen, sie fehlen ja in den Handschriften A und C; sie
können gar nicht zu dem Gedicht gehören, da sie ein ganz anderes
Versmaß aufweisen. Der Planctus besteht aus hexametri colla-
terales, und der Dichter handhabt das Versmaß nicht ungewandt,
nur in 19. 20 hapert es mit dem Reim auf Ulma etwas, mir
scheint sogar, daß hier eine Korruptel vorliegt. An diese Colla-
terales sollte der Dichter neun entlehnte Leoniner geklebt
haben? Undenkbar. Und ganz schlagend ist folgendes: Öhem
hat S. 25, 12—26, 20 einen Auszug von 38 Versen der Gesta W.
zusammengestellt, zuerst 27 Verse des Anfangs der Gesta, dann
V. 276, 477, 478, 277—280, 285, 489—491. Die neun erwähnten,
Die Überlieferung von Purchards Gesta Witigowonis 775
dem Planctus angehängten Verse kehren sämtlich in diesem
Auszuge wieder, die beiden ersten etwas verändert, die andern
unverändert, in der Reihenfolge 22, 276, 477, 478, 13, 14, 15, 16,
18. Es wird ja wohl niemand glauben wollen, da8 diese Über-
einstimmung auf Zufall beruht. Wenn Brandi S. 23 sagt: „sie
gehóren also schwerlich zur ursprünglichen Form des Gedichtes
(des Planctus)", so kónnen wir das unbesorgt etwas schárfer
präzisieren und sagen: es ist kein Zweifel, daß auch dieser erste
Auszug aus den Gesta, der dem Planctus angehört, auf Óhem
zurückgeht; mit der Benutzung unseres Gedichts im 18. Jahr-
hundert ist es nichts. Was Öhem veranlaßte, diesen kürzeren
und lángeren Auszug aus Purchard hintereinander zu stellen, die
beiden ersten Verse etwas umzuformen, das kónnen wir nicht
wissen; zu vermuten bleibt nur, daß er eine spätere Schluß-
redaktion dieser Partie geplant hat, die unterblieb, weil das
Werk nicht vollendet wurde, vgl. Brandi S. XVII.
776
Die Wirsberger.
Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären
Apokalyptik im 15. Jahrhundert
von
Otto Schiff.
Es gehórt zum Wesen der kirchlichen Reformbestrebungen
des Mittelalters, daB sie leicht vom geistlichen auf das weltliche
Gebiet übergreifen. Denn der Klerus, gegen den sich der Angriff
richtete, war nicht nur der Träger der Lehre, sondern zugleich
ein herrschender und besitzender Stand. Wer das Leben dieses
Standes mit dem urchristlichen Armutsideal in Einklang bringen
wollte, rüttelte zugleich an der Ordnung der Gesellschaft. Bei
ihrem unlöslichen Zusammenhange mit religiösen Gedanken
mußten auch die politischen und sozialen Forderungen aus der
Bibel, vor allem aus dem Neuen Testament, begründet werden.
Solange sie friedlich mit der Macht des bloBen Wortes durchzu-
dringen suchten, durften sie sich auf die Evangelien berufen;
sobald sie aber den Weg der Gewalt, der Revolution, wáhlten,
bot sich ihnen innerhalb des Neuen Testaments nur etne Stütze:
Die Apokalypse. Hier fand man einen Christus, aus dessen
Munde ein Schwert geht; hier fand man das Bild der ungeheuren
Umwälzung, die den Antichrist samt seinen Anbetern hinweg-
rafft und den glückseligen Zustand des tausendjàhrigen Reiches
anbahnt.
Unter den Apokalyptikern des Mittelalters hat keiner einen
tieferen und nachhaltigeren Einfluß geübt als Joachim von Fiore.
Wohl blieb der prophetische Calabrese immer der gehorsame
Sohn der Kirche; aber er verbreitete und verschárfte die Über-
zeugung von ihrer Unvollkommenheit durch seine Lehre, daB
auch das Neue Testament nicht das Weltalter der Vollendung
eröffnet habe, sondern einen Zwischenzustand zwischen Gesetz
und Freiheit, zwischen Buchstabe und Geist. Erst ein drittes
Die Wirsberger 777
Weltalter sollte das „geistliche Verständnis“ des Bibelwortes
und die Reinigung der Kirche bringen. Daß Joachim die ent-
scheidende Rolle bei dieser Wandlung einem heiligen Orden
zuwies, war für die Zukunft folgenreich. Denn in dieser Pro-
phezeiung sahen spiritualistisch gesinnte Franziskaner einen
Hinweis auf ihren eigenen Orden, der kurz nach Joachims Tode
aus dem urchristlichen Armutsgedanken erwachsen war, und
je mehr sie mit der verweltlichten Kurie zerfielen, desto mehr
benutzten sie den Joachimismus als Waffe; ja, ein ihnen geistes-
verwandter Predigermönch lehrte schon um die Mitte des
13. Jahrhunderts, daß der Antichrist, den Joachim erwartet
hatte, kein anderer sei als der Papst).
Die apokalyptische Erwartung des Gottesgerichts und des
Gottesreichs gewann im Abendlande eine weite Verbreitung.
In Deutschland erhielt sie sich in der Sage vom Messiaskaiser
der Endzeit und den Weissagungen der Geißler. Ein echter Ver-
treter der Apokalyptik war beispielsweise um die Mitte des
14. Jahrhunderts der thüringische Geißlerhäuptling Konrad
Schmid, der als Kaiser Friedrich und König von Thüringen galt;
noch etwa ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode lebte in
seiner Sekte der Glaube, daß ım Klerus der Antichrist, in
Konrad Schmid der Prophet Henoch, der Vorläufer des jüngsten
Tages, erschienen sei und daß nicht Christus, sondern er das
Weltgericht abhalten werde?.
In vollkommen revolutionärer Prägung erscheint die Apo-
kalyptik in Böhmen. Die taboritische Bewegung ist in ihrer
Frühzeit erfüllt von dem feurigen Glauben, daß die Brüder als
Engel des Gerichts berufen seien, die Feinde des göttlichen
Gesetzes mit Brandfackel und Schwert zu vertilgen und das
irdische Paradies — das Reich ohne Kaiser, ohne Steuern und
ohne Kirchengut — zu verwirklichen?. Freilich hatte das Tabo-
ritentum keine lange Lebensdauer; mehr und mehr wurde es
zurückgedrängt durch die Partei der Kelchner, die den Frieden
mit der Kirche durch weitgehende Zugeständnisse zu erkaufen
ı E. Winkelmann, Fratris Arnoldi de correctione eeclesiae epistola ... Berolini
1865.
3 Vgl. H. Haupt in der Realenzyklopädie für protestant. Theol. 3. Aufl. VI,
440—441 und die dort genannten Quellen.
3 Vgl. die 72 Artikel der Taboriten in Fontes rerum Bohemicarum V, 454ff.
778 Otto Schiff
suchte, und im Jahre 1452 verlor es durch den neuen Regenten
Bóhmens, Georg von Podiebrad, sein rechtliches Dasein*. Aber
wenige Jahre später zeigt sich auf böhmischem Boden, doch
dicht vor den Toren Oberdeutschlands, eine Bewegung, die das
heimliche Fortleben der revolutionären Apokalyptik erweist®.
Die Träger dieser Bewegung waren die Brüder Janko und
Livin von Wirsberg®. Sie gehörten einem angesehenen und be-
güterten Adelsgeschlecht fränkischer Herkunft an. Livin saß auf
Höflas im Egerlande; Janko war nicht ansässig, hielt sich aber
zeitweise bei seinem Bruder auf. Auch er war Laie und ohne
gelehrte Bildung, aber er war der Führende. Daß er der Urheber
der neuen Lehre war, ist unwahrscheinlich; das Gerücht be-
hauptete, daß ein „auslaufender Mönch“ sie erdichtet habe’.
In der Tat sprechen nicht nur innere Gründe, sondern auch
einige äußere Zeugnisse dafür, daß die Wirsberger mit spiri-
tualistisch gestimmten Franziskanern in Verbindung gestanden
haben®. Ihre Propaganda begann wohl schon in den 1450er
Jahren®; nach ihrer späteren Versicherung brachten sie ihre
* Palacky, Gesch. von Böhmen, Bd. 4, Abt. 1, S. 306ff.
5 Diese Bewegung beleuchtete zuerst 1881 auf Grund der Akten des Stadt-
archivs in Eger H. Gradl, Die Irrlehre der Wirsberger (Mittheilungen d. Vereins
für Geschichte d. Deutschen in Bóhmen. Jahrg. 19, S. 270—279), dann im Jahre 1898
mit reicher Quellenkenntnis H. Haupt, Art. Wirsberg (Allgem. Dtsch. Biogr. 43,
618—520). Haupts Arbeit ist grundlegend. — Tatsachen, die ich ohne Quellenbeleg
anführe, ergeben sich aus den von Gradl auszugsweise mitgeteilten Aktenstücken.
* Janko — Johannes, Livin — ahd. Liutwin.
? Über Jankos Stand und Bildung vgl. die Briefe des päpstlichen Legaten vom
28. VIII. 1466 (Analecta Franciscana. T.2. Quaracchi 1887. S. 425/426) und des
Kónigl. bóhmischen Geheimschreibers Jobst von Einsiedel vom 17. IX. 1466 (Archiv
für österreich. Gesch. Bd. 39. 1868. S. 280ff.) Der letztere schreibt: „Und wist,
als ich in schrifften [las], auch als Lewin sich vorentwort ken dem pischoff, vornym
ich, das yndert ein betriger und ein auslaufender münche das gemacht und geticht
hat . .; der Mönch scheine auch Livins Antwort an den Bischof gemacht zu haben,
„wann Lewin nicht vil lataynisch kan nach [= noch] sein prueder“. — Gradl hielt
Janko für einen Mónch.
5 DaB die Ketzerei unter den Observanten in Eger entstand, berichten
Annales Mellicenses (M G SS IX, 521) und Basler Chroniken V, 439. Weitere
Hinweise auf die Bettelorden in dem unten wiedergegebenen Brief des Legaten
vom 11. VI. 1466.
Livin gibt in einem Briefe von 1466 (Gradl a. a. O. 273) an: „seit 10 Jahren“,
der 1466 erhobene Bischof Heinrich von Regensburg: „etliche Jahre vor unserer
bischöflichen Erwählung“ (Fontes rerum Austriacarum Abt. II, Bd. 42, S. 394ff.).
Die Wirsberger 779
Lehre nicht unter den Pöbel, sondern nur vor gelehrte Kollegien.
Zu diesen gehörte das sächsische Provinzialkapitel des konventu-
alistischen Zweiges der Franziskaner, das unter dem Vorsitz
des Provinzials Nikolaus Lackmann 1466 auf der Pfingsttagung
zu Freiberg ihre Lehre als ketzerisch verwarf und mit Ver-
folgung drohte. Ohne Zweifel suchten und fanden die Wirs-
berger Anhang in geistlichen wie in weltlichen Kreisen. Die
ersten Anzeigen gegen sie liefen bei der zuständigen geistlichen
Behörde in Regensburg noch zur Zeit des Bistumsverwesers
Ruprecht ein, der am 1. November 1465 starb!?, Aber weder er
noch sein Nachfolger, Bischof Heinrich, beeilten sich einzu-
schreiten. Diese auffallende Langmut wird durch das Ansehen
der Familie von Wirsberg nicht genügend erklärt; der Haupt-
grund war wohl, daB die geistliche Obrigkeit sich des weltlichen
Arms nicht sicher fühlte. Der Landesherr, Kónig Georg von
Bóhmen, war durch seine zweideutige Kirchenpolitik in einen
schweren Gegensatz zur Kurie geraten. Da er trotz seiner
eidlichen Zusage Bóhmen nicht zur Einheit mit der Kirche zu-
rückführen konnte und wollte, schwebte seit dem Juni 1464 in
Rom ein Rechtsverfahren gegen ihn. Diese Sachlage macht das
Zógern der bischóflichen Behórde verstándlich. Da kam die
Werbetätigkeit der Wirsberger dem päpstlichen Legaten Rudolf
von Rüdesheim, Bischof von Lavant, zu Ohren. In Breslau, wo
er mit den Katholiken Bóhmens und seiner Nebenlünder den
Kampf gegen den utraquistischen König vorbereitete, erhielt
er durch einen Edelmann, den die Wirsberger zu gewinnen ver-
sucht hatten, Kenntnis von ihrer Lehre. Er forderte daher in
einem Schreiben vom 11. Juni 1466 den Regensburger Bischof
zu pflichtmáBigem Einschreiten auf. Er schilderte die Gefähr-
lichkeit der neuen Sekte, die den ganzen geistlichen Stand mit
Ausnahme der vier Bettelorden vernichten wolle und zahlreiche
ketzerische Schriften verbreite. Nach Livins Angabe sei der
Anhang der Wirsberger in verschiedenen Teilen Deutschlands
so zahlreich, daß sie vereint einem großen Fürsten widerstehen
könnten. Darunter seien besonders viele Bettelmönche und ein
sonst ehrbarer Bürger von Eger, der Tuchhändler Hans Schön-
bach. Im kommenden Jahr solle ein neuer Messias, der ,,unctus'',
10 Brief seines Nachfolgers vom 12. V. 1469 bei Gemeiner, Regensburgische
Chronik, Bd. 3. Regensburg 1821. S. 452.
780 Otto Schiff
öffentlich verkündigt werden; sein Vorläufer, der sich „Johannes
de Oriente' nenne, solle Janko von Wirsberg sein!!.
Auf das Drängen des Legaten schritt der Bischof ein. Da
ihn der Legat auf die Erfolge der Bewegung bei den Bettel-
mónchen aufmerksam gemacht hatte, verhórte er am 20. Juni
die Vorsteher der Regensburger Bettelordensklóster über 28 Ar-
tikel, die den Wirsbergern zur Last gelegt wurden!. Die Ordens-
männer bestritten jede Schuld und lenkten den Verdacht auf
die Franziskaner von Eger, die im Gegensatz zu ihnen Obser-
vanten waren. Aber auch diese wuBten sich zu rechtfertigen,
und das gleiche war bei Hans Schónbach der Fall. Auch die
gut katholische Stadt Eger wies die gegen ihre Bürger erhobenen
Verdächtigungen scharf zurück, und die kirchlichen Behörden
mußten den Rückzug antreten: Der Legat sprach Ende August
erst die Stadt Eger, dann ihr Franziskanerkloster von jeder
Schuld frei, und am 5. September gab Bischof Heinrich der
Stadt eine Ehrenerklärung. Zu einem Verfahren gegen die
Hauptbeschuldigten, die Brüder von Wirsberg, fand man nicht
sogleich den Entschluß. In trotzigen Briefen an die Stadt Eger,
den Bischof von Regensburg, die Fürsten und Städte des
Reichs, ja die gesamte Christenheit beklagten sie sich über ver-
leumderische Ausstreuungen; sie forderten eine ordnungsmäßige
Untersuchung durch die höchsten Stellen. Livin dachte wohl
an ein Konzil, wenn er vor ,,haubt, glid und gelarte der cristen-
heit‘‘ gestellt zu werden wünschte. Janko wollte seine Lehren,
wie er der Stadt Eger am 27. Juli schrieb, vor Fürsten und
Städten des Reichs mit der hl. Schrift als wahr erweisen. Dies
11 Der Brief des Legaten vom 11. VI. 1466 ist am vollständigsten in der Chronik
des Nikolaus Glassberger (Analecta Franciscana II, 422—423) überliefert; andere
Drucke bei Schelhorn, Acta historico-ecclesiastica I. Ulm 1738. Nr. 10 und bei
Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters II, Nr. 55 (falsch datiert!).—
Nach einem spáteren Schreiben des Legaten vom 28. VIII. 1466 (bei Glassberger
a. a. O. 425—426) rühmten sich die Wirsberger dem Edelmann gegenüber, daß
auch weltliche Fürsten und Prälaten zu ihren Anhängern zählten. An wen sie dabei
dachten, schließe ich aus der unten besprochenen Münchner Handschrift Clm 18930
wo es heißt: „Ubi requiri debet iste unctus, queratur Gurcensis, Maydburgensis,
Schawinburgensis." Sie glaubten also, daß der Bischof von Gurk, die Grafen von
Maidburg und Schaunberg — sämtlich österreichische Herren — ihre Anhänger
seien.
12 Das Verhör und sein Ergebnis bei Glassberger a. a. O. 423—426.
Die Wirsberger 781
Schreiben ist die letzte unmittelbare Kundgebung Jankos; er
wird noch einige Male erwähnt, zuletzt am 5. Dezember; dann
verschwindet er, ohne daß man sagen kann, ob er gestorben,
geflüchtet oder eingekerkert worden ist. Livin trat am 17. August
in einem inhaltreichen Schreiben an den Rat zu Eger für Janko
ein, den man mit Unrecht für einen Ketzer, einen „Böhmen“
ausgegeben habe. Janko habe von den Dingen, die er lehre,
nichts erdacht, sondern sei angegangen und ersucht worden,
die Sache zu einem redlichen Ende zu bringen. Livin will den
Bruder mit diesen Worten nicht etwa als den Vollstrecker eines
göttlichen Auftrages, sondern als den Sachwalter eines erleuch-
teten Menschen hinstellen; denn er unterscheidet ihn deutlich von
dem Verfasser der durch ihn verbreiteten prophetischen Schrif-
ten: „der selbig, der ausschreybt, gibt in der heyligen schrift
mancherley für, wy er solchs von gotes offenbarung hab... .“
Dies Zeugnis Livins ist von größter Wichtigkeit; es bestätigt
das Gerücht, daß nicht das ungelehrte Brüderpaar, sondern ein
entlaufener Mönch die neue Lehre erdichtet habe“. Er ist der
heimliche Messias, als dessen Vorläufer Janko sich fühlte.
In seiner gefährlichen Lage suchte Livin einen Rückhalt bei
König Georg, dessen Zwist mit der Kurie sich immer hoffnungs-
loser verschärfte. Der Herrscher ersuchte wirklich am 16. Sep-
tember die Stadt Eger, seinen Mann und Diener Livin vor
Gewalt zu schützen, bis er selbst ihn zur Verantwortung ziehe.
Um den 5. Dezember erging endlich eine Ladung des Regens-
burger Weihbischofs an die Brüder. König Georg zeigte sich
so unzuverlässig wie immer. Wohl von der Absicht geleitet, den
Rat von Eger nicht ins Lager seiner Gegner zu treiben, erließ
er am 16. Dezember — nur wenige Tage, bevor die Kurie ihn
verdammte — an Livin den Befehl, die Stadt ihrem Wunsche
gemäß vorläufig nicht zu betreten. Da der Angeklagte ohne
Geleit nicht vor dem bischöflichen Gericht erscheinen wollte,
wurde er Pfingsten 1467 noch einmal nach Regensburg geladen“.
Da griff ein Mitglied des pfalzgräflichen Hauses ein. Er ließ
Livin, als dieser in Kemnat oberpfälzisches Gebiet betrat, ‚als
ungläubigen Böhmen“ verhaften und lieferte ihn dem Bischof
33 s, oben Anm. 7.
14 AktenmüBige Belege über die beiden Ladungen bei Gradl a. a. O. 277 bzw.
bei Gemeiner III, 413, Anm. 781.
782 Otto Schiff
aus. Nun war das Verhängnis nicht mehr aufzuhalten. Livin
suchte es zu mildern, indem er im Regensburger Dome seine
Lehre öffentlich widerrief. Er entging dem Scheiterhaufen und
wurde zu ewigem Gefängnis in dem bischöflichen Schlosse
Hohenburg bei Amberg verurteilt!®. Einen erschütternden Ein-
blick in seine Seelenkämpfe gibt die Tatsache, daß er aus dem
Kerker dem Bischof noch einmal ein Bekenntnis zusandte, das
eine Rückkehr zu der abgeschworenen Überzeugung enthalten
haben muß. Ende 1468 oder Anfang 1469 ist Livin im Gefängnis
gestorben. Sein Bruder, der Deutschritter Vinzenz von Wirsberg,
nahm sich seiner unmündigen Kinder an; sein Vetter Sebastian
von Wirsberg benutzte Livins Schicksal als Vorwand für eine
Fehde gegen die Bürger von Regensburg, aber zu der Lehre der
Brüder wagte sich niemand mehr zu bekennen.
Diese Lehre ist uns nicht in der eigenen Darstellung der
Wirsberger, bzw. des hinter ihnen stehenden Mönchs überliefert,
wohl aber in drei Fassungen, die Anklageschriften oder Verhörs-
protokollen entstammen. 28 Artikel, über die man in Regensburg
die Oberen der Bettelorden verhörte, hat der Chronist Nikolaus
Glassberger, der 1472 zu Amberg in den Minoritenorden trat,
später nach Nürnberg versetzt wurde und 1508 an seinem Ge-
schichtswerk arbeitete, aus einem Archiv seines Ordens mit-
geteilt. 16 „articuli informatoris de heresi circa Egram anno
1407" hat eine pfälzische Handschrift der vatikanischen Bi-
15 Hauptquelle über den Prozeß: Brief des Bischofs Heinrich von Regensburg
vom 12. V. 1469 (Gemeiner III, 452—453). Vgl. auch die Chronisten: Matthias von
Kemnat (Quellen u. Erórterungen zur bayr. u. deutsch. Gesch. II, 111); Anonymi
Ratisbonensis farrago historica (Oefele, Rerum Boicarum Scriptores II, 515);
Hochwart (ebd. I, 223); Staindl (ebd. I, 538); Joh. Lindner von Pirna (Mencken,
Scriptores rerum Germanicarum II, 1521). Als Tag der Verurteilung nennt der
chronologisch verworrene, offenbar verderbte Text des Anonymus Ratisbonensis
den Sonntag nach Epiphania (= 6. Januar); falls der Tag richtig ist, müßte das
Jahr 1468 sein. In dem ,,Pfalzgrafen", der nach Bischof Heinrich die Verhaftung
vornahm, sehen Gemeiner und Haupt Otto II. von Mosbach, den Mitbesitzer der
Oberpfalz; es kónnte auch Kurfürst Friedrich gemeint sein, denn der durch Matthias
von Kemnat und Joh. Lindner bezeugte Ort der Verhaftung gehórte zum kurfürst-
lichen Anteil der Oberpfalz, und auf Einmischung des Heidelberger Hofes deutet
auch eine ältere Äußerung Livins (Gradl a. a. O. 277).
16 Über die Vorgänge nach Livins Verurteilung vgl. den in der vorigen An-
merkung erwähnten Brief Bischof Heinrichs (Gemeiner III, 452—453) und den
Brief des Vinzenz von Wirsberg vom 22. I. 1469 (Gradl a. a. O. 278—279).
Die Wirsberger 783
bliothek aufbewahrt. 37 Artikel mit der Überschrift Novel-
lorum hereticorum figmenta seu errores" überliefert eine aus
Tegernsee stammende Handschrift der Staatsbibliothek zu
München; sie beruhen auf der Aufzeichnung eines Karthäuser-
mönchs, der vieles nur stichwortartig andeutet und 20 weitere
Artikel nicht der Mitteilung wert findet!?. Alle Fassungen be-
stätigen und ergänzen einander. Die Wirsberger haben sich
zwar mehrfach über falsche Anschuldigungen beklagt und ins-
besondere den Vorwurf des Unglaubens gegenüber Christus und
Maria bestritten, aber im Grunde behaupten die Artikel auch
gar nicht, daß die Angeklagten Christus und Maria geleugnet,
sondern nur, daß sie deren Stellung zugunsten eines neuen,
gesteigerten Messias geschmälert haben. Auch die übrigen
Quellen, besonders das Zeugnis des katholischen Geheim-
schreibers Jobst von Einsiedel, der eine Schrift der Wirsberger
von einem befreundeten Egerer Patrizier erhalten hatte, be-
stätigen die Artikel, und wenigstens einige von ihnen kannte
auch Vinzenz von Wirsberg aus dem Munde seines Bruders Livin.
Im Mittelpunkt der neuen Lehre steht die Verkündigung
eines neuen Messias, der das „ dritte und letzte Testament“ er-
öffnen wird. Er wird meist „ unctus salvatoris" genannt, eine
widerspruchsvolle, wohl entstellte Benennung, die ihn als Ge-
salbten, als neuen Christus, und doch zugleich als dem Erlöser
angehörig, von ihm abhängig bezeichnet. Die ursprüngliche Be-
zeichnung war wohl „unctus salvator““ 1s. Er ist nicht gelehrt,
aber von Gott erleuchtet wie nie ein anderer; er hat die essentia
divina und die heilige Dreifaltigkeit geschaut und erkennt allein
die Tiefe der heiligen Schrift, deren bisherige Ausleger Blinden
und Berauschten gleichen!®”. Auf ihn sind die messianischen
17 Die Glassbergersche Fassung in Analecta Franciscana II, 423—425; die
vatikanische wurde von Gerhard Ritter gefurden und in der Zeitschrift für Kirchen-
gesch. Bd. 43 (1924), S. 158—159 veröffentlicht; die Münchner fand ich in Codex
Latinus Monacensis 18930, f.84. Ich lege die Glassbergersche Fassung als die inhalt-
reichste meiner Darstellung zugrunde; wesentliche Ergänzungen, die Ritters Text
bzw. Clm 18930 gibt, sind in den Anmerkungen belegt.
18 Ann. Mellic. (M G SS IX, 521). Vgl. Clm 18930: ,,Christum non unctum,
sed illum dicit salvatorem vere unctum.“
Die beiden Stellen der Glassbergerschen Fassung, die nicht nur die Auslegungen,
sondern die Schrift selbst für nichtig erklären, sind verdächtig. Die eine ist sicher
verderbt. Sie lautet: „Dicunt omnes sacrae scripturae nihil esse." Der Heraus-
784 Otto Schiff
Weissagungen der Bibel zu beziehen. Er, nicht Christus, ist der
Erlóser, der apokalyptische Menschensohn. Aber er nimmt nicht
nur die Stelle Christi ein; er ist ein gesteigerter, vergeistigter
Christus. Maria hat Christus fleischlich geboren, ihn aber
geistlich. Er ist der Adoptivsohn Gottes, d. h. offenbar der
Gottessohn im höheren, geistigen Sinne“. Ja, er soll nicht nur
die Menschheit erlósen, sondern selbst die Gottheit. Die Gott-
heit trägt um unserer Sünden willen seit Anfang der Welt ein
Leiden, von dem das Leiden Christi nur ein Abbild (figura)
ist®!; sie ruft den Unctus täglich an, sie von ihren Leiden zu
befreien.
Als ein neuer Johannes der Täufer geht Johannes de Oriente
ihm voran. Er predigt die Artikel, die er von dem Messias
empfangen hat; dieser wird erst im nächsten Jahr hervortreten
und predigen. Aber er wird nicht nur lehren, sondern, wie es
dem 19. Kapitel der Apokalypse entspricht, Gewalt brauchen:
„Missus a Deo interficiet Antichristum, id est papamt*." Über-
haupt werden alle, die ihm widersprechen, zugrunde gehen“.
Er wird die Geistlichkeit zu einer anderen Verfassung, die ganze
Menschheit zu einem Glauben führen. Dieser gereinigte Chris ten-
glaube weiß nichts von Ablaß, von Exkommunikation, von
feierlichen Bräuchen, kurz von äußerem Kirchentum; nicht mit
dem Munde wird man beten, sondern allein mit dem Herzen.
Aber die Umwälzung wird nicht nur die Religion erfassen, sondern
auch Staat und Gesellschaft. Der Unctus wird über die Welt
regieren „sicut Caesar imperator et Deus". Wenn es anderwärts
heißt, daB die Zahl der Geretteten der Apokalypse entsprechend
144000 betragen wird, so ist die Hindeutung auf das tausend-
jährige Reich unverkennbar. In dem christlichen Zukunftsstaat
werden die oberen Stände ihre Machtstellung verlieren: Die
geber ändert: „sacras scripturas." Ich würde nichts ändern, aber hinter „sacrae
scripturae“ das offenbar ausgefallene ,,glossas'' einschieben. Vgl. Clm 18930: , Re-
probat glossas doctorum katholicorum super scriptura sacra."
Ritter Art. 8 u. Clm 18930. — Der Ausdruck „Adoptivsöhne Gottes" ist
wiclefitisch; Wiclef gebraucht ihn für die Prädestinierten; vgl. R. Seeberg, Lehr-
buch d. Dogmengeschichte, 2. Aufl. IIT, 547.
* Ritter Art. 9 u. 10.
*3 Clm 18930; vgl. Ann. Mellicenses (M G SS IX, 521).
9 Nur in Clm 18930.
* Ebenda.
Die Wirsberger 785
Geistlichkeit wird kein Eigentum mehr besitzen®; der Adel wird
in die Städte zurückkehren, d.h. im Bürgertum aufgehen“.
Der Weg zum Reiche Christi führt durch Aufruhr und Blut.
Die Rolle der Gottesgeißel gegen weltliche und geistliche Herren
spielen Söldnerscharen: „Principes et praelati in brevi inter-
ficientur, dicentes, quod principes conducent milites in bellum,
quibus postea negabunt stipendia; qui insurgentes invadent
principes et interficient ...‘‘ Dieser Gedanke knüpft an wirk-
liche Verhältnisse an. Die Nachbarländer Böhmens waren in
jenen Zeiten heimgesucht von Landsknechtsrotten, die ihre Sold-
ansprüche rücksichtslos geltend machten. Als der Erbfolge-
streit zwischen Kaiser Friedrich III. und seinem Bruder, Erz-
herzog Albrecht VI., mit dem Tode des letzteren — im De-
zember 1463 — sein Ende fand und die Truppen entlassen wur-
den, traten in Österreich geradezu anarchische Zustände ein.
Die adligen Condottieren, die, wie ihre Mannschaften, zum guten
Teil aus Böhmen stammten, befehdeten von ihren Burgen an der
Grenze den Kaiser, bis sie nach ihren Wünschen abgefunden
wurden. Einer von ihnen, Wenzel Wléek oder Wiltschko, gab
sich erst im Juni 1465 mit 18000 Gulden zufrieden. Andere
fielen in Ungarn und Mähren ein. Diese Söldner hießen ,,Brü-
der", weil sie etwas von der brüderschaftlichen Verfassung der
Taboritenheere bewahrt hatten, und ihre befestigten Lager führ-
ten den Namen ,,Tabor". Obwohl nichts von religióser Be-
geisterung in diesen Banden lebte, konnten sie in ihrer bóh-
mischen Heimat bei schwármerischen Gemütern, wie den Wirs-
bergern, wohl den Wahn hervorrufen, daß sie eine ähnliche Rolle
spielen könnten wie einst die Taboritenheere. Hat doch auch
Gregor Heimburg, der Berater des Böhmenkönigs, etwas später
einen aufsässigen österreichischen Vasallen des Kaisers als zwei-
ten Ziska begrüßt! Der zeitgeschichtliche Hintergrund der
Wirsbergischen Bewegung ist hier mit Händen zu greifen“.
35 Ritter Art. 14; vgl. Döllinger a. a. O. II, 626.
** Cim 18930 u. Brief des Vinzenz von Wirsberg vom 22. I. 1469 (Gradl a. a. O. 278).
* Über die „Brüder“ oder „Zebraken“ (Bettler) vgl. besonders Palacky,
Gesch. von Bóhmen, Bd. 4, Abt. 1, S. 516 ff. und Vancsa, Gesch. Nieder- u. Ober-
österreichs II, 471—477. — Der Brief Heimburgs von 1467 im Archiv für Kunde
ósterreich. Geschichtsquellen XII, 338. — DaB die Wirsberger mit den ósterreichi-
schen Verhältnissen vertraut waren, geht auch aus der oben Anm. 11 angeführten
Stelle des Clm 18930 hervor.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 90, H. 4. 50
786 Otto Schiff: Die Wirsberger
Keiner unter den älteren Reformbewegungen verdankt die
Lehre der Wirsberger so viel wie dem Joachimismus?®. Mit ihm
predigen sie die Unvollkommenheit des zweiten und den An-
bruch des dritten Weltalters, die Entdeckung des wahren Sinns
der heiligen Schrift und den Übergang von einer äußerlichen zu
einer verinnerlichten, vergeistigten Kirche. Wenn sie in dem
letzten Punkt auch an die Brüder vom freien Geist erinnern, so
sind sie doch fern von dem Pantheismus dieser Sekte. Mit den
Taboriten teilen die Wirsberger zwar nicht die wichtigste theo-
logische Unterscheidungslehre, die Forderung des Laienkelchs,
wohl aber den Zug zum gewaltsamen Umsturz der kirchlichen
und politischen Ordnungen. Zeitlich und órtlich stehen sie in
der Mitte zwischen dem bóhmischen Taboritentum, das 1452 der
Auflösung verfiel, und dem Pauker von Niklashausen, der 1476
in Franken hervortrat — ein bisher zu wenig beachtetes Glied in
der Kette der Erschütterungen, die im Bauernkrieg und im
Táuferreich von Münster gipfeln.
3 Haupt (Zeitschr. für Kirchengesch., VII, 1885, S. 423) bezeichnet die Wirs-
bergische Bewegung als den „spätesten Versuch einer Sektenbildung auf joachi-
mitischer Grundlage in Deutschland". Auf die Verwandtschaft mit den Brüdern
vom freien Geist legt Ritter (a. a. O. 158) Gewicht. Unter den Darstellern der
mittelalterlichen Kirchengeschichte ist Hermelink (Krügers Handbuch der Kirchen-
gesch. 2. Aufl., II, 213) der einzige, der die Ketzer von Eger erwähnt.
787
Preußens Kampf mit Hannover
um die Anerkennung des preußisch=französischen
Handelsvertrags von 1862.
Von
Eugen Franz.
In der weltgeschichtlichen Krisis des Deutschen Bundes,
welche schließlich die Entscheidung über die Gestaltung Mittel-
europas brachte, hat Hannover in politischer und wirtschaft-
licher Hinsicht zwar nicht eine entscheidende, aber doch eine
wichtige Rolle gespielt. Über die hannoversche Politik ist
viel geschrieben worden, weniger über die zähen Kämpfe, die
sich um die große wirtschaftspolitische Aktion Preußens
in den Jahren 1860—1864 abspielten. Und doch ist gerade sie
von weittragender Bedeutung: sie bildet die Gleitbahn, auf
der die deutschen Staaten und Österreich dem Jahre 1866 zu-
geführt werden. |
Als Hannover und Oldenburg, von Preußen mit reichen Kon-
zessionen gewonnen, durch den Vertrag vom 7. September 1851
ihren Anschluß an den Zollverein ab 1. Januar 1854 erklärten,
schlug der Welfenstaat in wirtschaftlicher Hinsicht einen Weg
ein, der seiner Politik nicht parallel lief. Die aus bekannten
politischen Gründen Hannover gewährten Vorteile aber hatten
einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen gerade bei jenen
Staaten, welche ihm in der großdeutschen politischen Ge-
sinnung am nächsten standen. Hannover kümmerte diese
Entrüstung der anderen wenig, da die sachlichen Vorteile, über
welche ich hernach zu sprechen habe, wirklich außerordentliche
waren. Es hatte den ungewöhnlichen Vorteil, daß sein Interesse
diesmal aus politischen Gründen durch Preußen vertreten
wurde. Damals war Hannover für Preußen eine Acquisition
ersten Ranges. Nun war der starke kleindeutsche Wirtschafts-
50*
788 Eugen Franz
körper mit relativ geringen Ausnahmen zusammengefügt. Daß
Österreich im Vertrag vom 19. Februar 1853 nicht mehr als die
Aussicht auf eine zukünftige Aufnahme in den Zollverein er-
reichen konnte, vervollständigte den preußischen Erfolg, soweit
er diesmal zu erringen war. Denn ganz ohne Gefahren war der
Vertrag von 1853 für Preußen doch nicht. Entgegen seinem
eigenen Interesse hatte es den § 25 des Vertrages anerkennen
müssen, der Österreich eine gewisse Anwartschaft auf spätere
Aufnahme in den Zollverein gab. Es war klar, daß, so wie
diesmal, ja noch schärfer gelegentlich der nächsten Zollvereins-
erneuerung der Kampf gegen Österreich entbrennen mußte.
Hannovers Vorteile waren inzwischen, wenn auch grollend,
von den übrigen Vereinsgenossen anerkannt worden, und die
Politik kittete den Welfenstaat erneut fester an Österreich und
seine Freunde. König Georg war Osterreichfreundlich und
bundesmäßig gesinnt, beides in politischem Gegensatz zu
Preußen. Der Kampf zwischen Bennigsen und Minister von
Borries ist symptomatisch auch für die Einstellung der könig-
lichen Regierung zu Preußen!. Das Jahr 1859 hatte die Sympa-
thien der hannoverschen Regierung für Österreich vertieft?, das
Mißtrauen gegen Preußens Pläne verstärkt. Der befreundete
alte Kaiserstaat war durch den Parvenu auf dem Kaiserthron,
als der Napoleon am hannoverschen Hof gehaDt wurde, ge-
demütigt und geschädigt worden, mittelstaatlich-dynastische
Interessen schienen von Preußen ernstlich bedroht. Damit
fühlte sich der König persönlich getroffen.
In dieser Atmosphäre nun spielt sich der Kampf zwischen
Preußen und Hannover um die Erneuerung des Zollvereins ab.
Dabei ist, abgesehen von der Machtminderung Österreichs durch
die Niederlagen und Verluste von 1859, die auf alle Mittelstaaten
ungünstig zurückwirkte, ein wesentlicher Unterschied zwischen
1851 und 1860ff. für Hannover im besonderen festzuhalten:
1851 wurde Hannover von Preußen umworben, um gegen
Österreich und dessen Klientelstaaten ausgespielt zu werden;
1 Vgl. H. Oncken, Bennigsen I, 3971.
2 W. v. Hassell, Geschichte des Königreichs Hannover II. 1, Leipzig 1899,
S. 396fl. Man wird Hassells Tendenz vom Standpunkt objektiver Geschichts-
schreibung nicht billigen können; wertvoll bleibt sein Buch auch heute noch infolge
des reichen Materials aus hannoverschen Archiven und Nachlässen.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 789
jetzt hatte Preußen einen wesentlich stärkeren Bundesgenossen,
mindestens für seine wirtschaftspolitischen Ziele, gewonnen:
Napoleon III. Des Kaisers freihändlerischer Betätigungsdrang
war der stärkste Aktivposten gegen Österreich in dieser an sich
für Preußen infolge der inneren Wirren kritischen Zeit. Die
zu Beginn der 50er Jahre Hannover zugebilligte Vorzugsstellung
im Zollverein sollte diesmal soweit wie möglich beseitigt werden.
Der Bundesgenossenschaft der ehedem über die Begünstigungen
sich ereifernden Staaten, vor allem Süddeutschlands, glaubte
Preußen sicher zu sein, wenn es Hannovers Vorrechte im Zoll-
verein für die Zukunft nicht mehr anerkannte. Man nahm
ferner in Preußen an — ob mit Recht, wird sich zeigen —, daß
Hannover inzwischen so fest im Zollverein Wurzel gefaßt habe,
daß eine Trennung von der Wirtschaft nicht mehr geduldet
würde, selbst wenn die Regierung sie wünschte.
Verhältnismäßig harmlos schien der Anfang der Aktion.
Mitte Januar 1861 hatten die offiziellen Besprechungen zwischen
de Clercq als dem Bevollmächtigten Frankreichs und den
preußischen Unterhändlern in Berlin begonnen. Am 17. April
1861 bereits konnte Schleinitz in einer Zirkularnote an seine
Gesandten bei den Zollvereinsregierungen behaupten: „Die
Verhandlungen sind... nunmehr auf einen Punkt gelangt,
in welchem wir uns verpflichtet glaubten, vor weiterem Vorgehen
in der Sache uns an unsere Vereinsgenossen zu wenden.“ Die
Regierungen horchten auf, als sie die sehr eingehende politische
und wirtschaftliche Motivierung der Notwendigkeit des neuen
Handelsvertrags lasen. — Es war Juni geworden und noch
immer fehlte die Antwort von einer Reihe größerer Staaten,
darunter auch jene Hannovers. Als der hannoversche Außen-
minister Graf Platen am 4. Juni dem preußischen Gesandten,
Prinzen Gustav Ysenburg, ankündigte, seine Regierung werde
„frühestens“ in 14 Tagen zu der preußischen Note Stellung
nehmen können?, da erließ Schleinitz ein kräftiges Monitorium
an den zurückhaltenden Grafen*: die hannoversche Verzögerung
komme ihm „völlig unerwartet“. Einige Tätigkeit® hätte ge-
s Preußisches Geh. Staatsarchiv A A II, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 17, Or. Bericht
Ysenburgs, Hannover 4. Juni 1861.
* Schleinitz an Ysenburg, Or. Conz., Berlin, 7. Juni 1861; gl. O.
5 [m Konzept ursprünglich „guter Wille“.
7% Eugen Franz
nügt, „um diese wichtige Sache mit der erforderlichen und
durch die Umstände gebotenen Beschleunigung zu behandeln“.
Wenn Preußen dränge, so habe es ‚lediglich das gemeinsame
Interesse des Zollvereins vor Augen‘‘. Ferner würden Nachteile
aus dem zwischen Frankreich und Belgien am 1. Mai 1861 ab-
geschlossenen Handelsvertrage® bei längerem Zögern für die
Industrie sich geltend machen. Und endlich: „Frankreich
selbst wünscht dringend den Fortgang der Verhandlung und
wir können uns dem um so weniger entziehen, als wir die Ver-
antwortung dafür nicht übernehmen wollen.“ Gerade dieses
Drángen PreuBens steigert das MiBtrauen der Mittelstaaten.
Schon láBt die bayerische Regierung in Berlin anmelden, sie
halte es „für unerläßlich, daß vor dem definitiven Abschlusse
eine Spezialkonferenz der Vereinsstaaten berufen werde“
Gerade das aber wollte Preußen verhüten; es wäre in diesem
Augenblick der Tod der ganzen Aktion gewesen! Trotz des
beträchtlich gesteigerten Mißtrauens glaubte Hannover schließ-
lich nach dem Vorangehen Bayerns und Sachsens nicht zögern
zu dürfen. Am 17. Juni erteilt Graf Platen die Antwort auf die
preußische Aprilnote, er schätze sich glücklich, „nach sorg-
fältiger und eingehender Prüfung der Vorlagen das diesseitige
Einverständnis mit den dortigen Vorschlägen im allgemeinen
aussprechen zu können“. Das allgemeine Interesse müsse in
erster Linie berücksichtigt werden. Die von Preußen aufge-
stellten allgemeinen Gesichtspunkte erkenne die hannoversche
Regierung „nicht allein... in allem Maße“ an, sondern be-
grüße auch mit Freuden den Fortschritt auf der diesseits stets
angestrebten Bahn der Zollermäßigungen. Worauf es Preußen
augenblicklich ankam und worauf Preußen schließlich hinaus-
wollte, war der hannoverschen Regierung noch nicht klar.
Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß der getreue Gefolgsstaat
Preußens, Baden, seine Zustimmung erst 3 Tage später als
Hannover am 20. Juni nach Berlin erteilt.
Herr de Clereq hatte sich in Paris während der langen Ver-
handlungspause neue Instruktionen geholt und am 16. Juli 1861
wurden die Verhandlungen zwischen den bisherigen Unter-
„Das Staatsarchiv“, hrsg. v. Aegidi u. Klauhold, I (1861), S. 1ff.
*? Bayer. Note, München, 7. Juni 1861, an Graf Montgelas: Rep. 6, Nr. 3,
Vol. 17.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 791
händlern? wieder aufgenommen. In Hannover wartete man ab.
Der Kampfplatz war Berlin; die augenblicklichen Kämpfer
waren Preußen und Frankreich allein.
Da erscholl am 4. September 1861 ein neuer Appell an die
Vereinsregierungen. Immer, wenn Preußen sie brauchte,
wendete es sich an diese als Bundesgenossen im Kampfe gegen
die französischen, übertrieben hohen Forderungen. Und dazu
konnten sich die deutschen Staaten nicht wohl versagen. Dieser
Appell zur scheinbaren Negation, die in Wirklichkeit den Mittel-
staaten zu tiefst in den Knochen saß, hat dann auch die be-
absichtigte Wirkung nicht verfehlt; Preußen tat, als brauche
es gewissermaßen die Zusicherung der Vereinsstaaten, daß sie
ihm keine Vorwürfe machten, wenn die Verhandlungen sich
zerschlügen. Die großdeutschen Regierungen meinten also, sie
arbeiteten mit einer Zustimmung zu den preußischen For-
derungen gegen den Vertrag. In dem gemäßigt gehaltenen
Warnruf, den der österreichische Außenminister, Graf Rechberg,
am 8. September 1861 an PreuBen und die übrigen Zollvereins-
staaten in einer ausführlichen Denkschrift“ richtete, steht unter
anderem der für die folgenden Ausführungen wichtige Satz, daB
auch nach österreichischer Ansicht der „gänzlichen Zolleini-
gung“ zwischen Österreich und den Vereinsstaaten gegenwärtig
„fast unüberwindliche Hindernisse" im Wege ständen. Rech-
berg bedauert anderseits, daß der Zollverein, statt das Zoll-
verhältnis zu Österreich noch intensiver zu gestalten, nunmehr
mit Frankreich in nahe Beziehungen zu treten gedenke. Preußen
erkannte von vornherein die Gefahr, welche ihm bei einem
Abschwenken der Mittelstaaten drohte; dann fehlte ihm jede
Druckmöglichkeit auf Frankreich. In einer Zirkularnote vom
25. September nahm es Stellung gegenüber allen Vereins-
genossen zu der österreichischen Denkschrift. Hannover zögerte:
als der preußische Gesandte, Prinz Ysenburg, dringender wurde,
bedeutete man ihm, das königliche Oberzollkollegium habe
sein Gutachten über die preußische Note vom 25. September
noch nicht abgegeben®. Über einen Monat überlegte man.
7 de Clercq, von Pommer-Esche, Philipsborn, Delbrück.
7a „Das Staatsarchiv“, 1862, Bd. III, S. 210ff.
* Platen an Ysenburg: Hannover 4. Okt. 1861 in: A A II Rep. 6, Nr. 3, Vol. 19.
792 | Eugen Franz
Endlich antwortete der Stellvertreter des Grafen Platen, G.
v. Witzendorff, am 28. Oktober?, die hannoversche Regierung
habe „mit aufrichtigem Bedauern“ den Eindruck gewonnen,
„daß die Lage der Unterhandlung mehr auf den Abbruch der-
selben als auf das Zustandekommen eines Vertrags hinweist“.
So sehr sie auch einen Vertrag mit Frankreich aus wirtschaft-
lichen Gründen begrüßt hätte, so vermöge sie doch nicht den
Wert eines solchen Vertrages so hoch einzuschätzen, daß ihm
zuliebe die bisherige Linie, die Preußen eingehalten habe, ver-
lassen werden dürfe. Man könne Frankreich unter keinen Um-
ständen weiter nachgeben: „Das von Frankreich eingehaltene
Verfahren, dessen Ansinnen, die für seine Verhältnisse als
passend befundenen Zollsätze als den diesseitigen Ver-
hältnissen entsprechend zu betrachten und anzunehmen, dessen
Weigerung, irgend wesentliche, den diesseitigen Verhältnissen
entsprechende Zugeständnisse zu machen, dessen Versuch, die
von ihm selbst als liberal bezeichneten Maßregeln zur Hebung
der Industrie und des Verkehrs nur gegen Entschädigung
anderen Staaten zuzuwenden, obgleich diese Staaten auch
Frankreich an den Vorteilen ihrer für die Vergangenheit frei-
sinnigen Zollgesetzgebung ohne Gegenleistung haben teil-
nehmen lassen — alles dieses einer weiteren Kritik zu unter-
ziehen, dürfte hier nicht der Platz sein.‘‘ Das waren für Preußen
herrliche Sätze, welche ergiebige Ausbeute gegen den wider-
spenstigen Herrn de Clercq und seine Pariser Aufträge boten!
Für die von Preußen, gleichfalls aus taktischen Gründen an-
gekündigte innere Reform des Zollvereinstarifs, die sachlich
dringend nötig war, wenn der Zollverein nicht den Anschluß
an die Welthandelsentwicklung versäumen wollte, sprach
sich Hannover dagegen lebhaft aus. Eine Reform auf diesem
Wege aber wollte Preußen in Wirklichkeit eben vermeiden;
denn bei dem berüchtigten liberum veto waren bisher fast
30 Jahre lang keine größeren Reformen ausführbar gewesen.
Taktisch aber waren auch diese Äußerungen Hannovers für den
Augenblick wertvoll, um französische Konzessionen zu erwirken.
Künftig aber vermied es Preußen, noch einmal Verlautbarungen
über die geheimen Verhandlungen mit Frankreich hinaus-
* Or. Note Witzendorffs an Ysenburg, gl. O.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 793
zugeben. Denn für die endlichen Absichten Preußens war das,
was die Mittelstaaten auf die Septembernote geantwortet hatten,
höchst bedenklich. !
Nach langen Monaten der UngewiBheit kam plótzlich die
unerwartete Nachricht aus Berlin, daß am 29. März 1862 die
Verträge zwischen Preußen und Frankreich paraphiert worden
seien. Das Wichtigste der damals von den Bevollmächtigten
Preußens und Frankreichs unterzeichneten Abkommen war
der Zoll- und Handelsvertrag. Zwar wurde auch jetzt nicht
gleich Hannover einer der Hauptkampfplátze, aber seine Be-
deutung stieg nun doch beträchtlich für Preußen, für Österreich
und für die Mittelstaaten. Die hannoversche Regierung hatte
sich an der identischen Note vom 2. Februar 1862 beteiligt und
hatte damit unfreiwillig beigetragen zu dem raschen Abschluß
der Berliner Vertragsverhandlungen mit Frankreich. Nunmehr
war die bisherige Zurückhaltung des Welfenstaates nicht mehr
zeitgemäß. Auf vier Mittelstaaten kam es Preußen vor allem
an: auf Sachsen, welches durch seine starke Industrie und die
Vorteile, welche ihm der neue Handelsvertrag bot, der gegebene
Bundesgenosse Preußens sein konnte — und tatsächlich wurde,
trotz seines Eintretens für Erhaltung des Bundes und trotz
der sonst starken Berücksichtigung Österreichs, die zur politi-
schen Gegnerschaft gegen Preußen seit längerem geführt hatte;
auf Bayern ferner, weil es die mittelstaatliche politische Führer-
rolle innehatte und außerdem Österreich auch wirtschaftlich
besonders verbunden war; auf Württemberg, das mit Bayern
hinsichtlich der schutzzöllnerischen Richtung und der Freund-
schaft mit Österreich Arm in Arm ging; endlich auf Hannover,
das infolge seiner Größe und seiner Beziehungen zu Oldenburg,
Braunschweig und Kurhessen der Eckpfeiler im außerpreußi-
schen Norddeutschland war.
Da Preußen alles daran lag, die Mittelstaaten rasch für den
Vertrag zu gewinnen, bereisten die Ministerialdirektoren Del-
brück und Philipsborn die Höfe von Dresden, München, Stutt-
gart und Hannover. Während Delbrück die drei ersteren
übernahm, ging Philipsborn nach Hannover. Solche Eile war
der hannoverschen Regierung höchst peinlich. Am 6. April
übermittelte Prinz Ysenburg telegraphisch die Bitte der hanno-
verschen Regierung an den Grafen Bernstorff, die Reise Philips-
794 Eugen Franz
borns etwas zu verschieben“. Allein Preußen gedachte die Frist
nicht zu kürzen. „Die dienstlichen Obliegenheiten“, so instruierte
Bernstorff am 11. April den Prinzen, gestatten für Philipsborns
Abwesenheit keine andere Zeit. Am 12. April reiste er nach
Hannover, um am Montag, dem 14. April, die Verhandlungen dort
aufzunehmen. Den Samstag abend und Sonntag nützte er aus,
um sich an Ort und Stelle zu informieren. Platen hatte in Berlin
ersuchen lassen, Philipsborn móge erst dann kommen, wenn die
hannoversche Regierung sein Eintreffen wünsche. Darauf hätte
Preußen vermutlich lange warten können!
Der rasche Erfolg Delbrücks in Dresden erregte in Hannover
unliebsames Erstaunen!*, Hier jedenfalls gedachte man sich
nicht so schnell zu entschließen. Die österreichische Gegen-
aktion hatte bereits mit aller Stärke eingesetzt. Außenminister
Platen und Finanzminister Kielmannsegge sowie der leitende
Minister, Graf Borries, gaben Philipsborn und Ysenburg zu ver-
stehen, man habe kaum anfangen können, die am 3. April
den Vereinsregierungen zugesandten umfangreichen Akten-
stücke zu lesen, obgleich reichlich 8 Tage seit dem Eintreffen
der Note vergangen waren! Man versprach nun ein rascheres
Tempo: unter dem Vorsitz des Generalzolldirektors Albrecht
wurde eine Kommission, bestehend aus den Direktoren und
Referenten der einzelnen Ministerien gebildet. Mit dieser hatte
sich Philipsborn also zu besprechen. Auf besonderen Wunsch
Hannovers nahm an den Beratungen auch das oldenburgische
Mitglied der hannoverschen Oberzolldirektion teil. Philipsborn
war die hierdurch dokumentierte Interessengemeinschaft Han-
novers und Oldenburgs unangenehm; doch konnte er dagegen
nicht protestieren. Am 15. April fand die erste Konferenz statt.
Platen, der von den wirtschaftlichen Dingen so wenig ver-
stand, wie die meisten damaligen Außenminister Deutschlands
und Österreichs, versprach Philipsborn, die politischen Be-
10 AA II, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 21. Telegramm Ysenburgs vom 6. April 1862.
11 Konz. von Philipsborn; gleichfalls Vol. 21.
13 Vgl. dazu u. a. Friesen, Erinnerungen, II, 230/31. Die dortigen Bemerkungen
sind sehr kurz. Hier und für das Folgende vor allem: Bericht Philipsborns an
Außenminister Graf Bernstorff, Hannover 16. April 1862, Or. in A A II, Rep. 6, Nr. 3,
Vol. 21. Weitere Korresp. A. d. Preuß. H. M. Rep. 120 € XIII 11,2, Vol. 1 Acta
secreta, im Preuß. Geh. St.A.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 795
denken, welche gegen den Vertrag bestanden, „nach Kräften
fernhalten zu wollen“. Ob dies tatsächlich der Fall war, werden
wir alsbald sehen. Philipsborn erschien diese Beteuerung jeden-
falls sehr wichtig, da die Haupteinwände des Finanzministers
Kielmannsegge, der von der Materie selbst etwa so viel verstand
wie Platen!®, dahin lauteten, „daß man Österreich nicht ver-
gessen dürfe und doch auch wissen müsse, wie die süddeutschen
Vereinsstaaten dächten‘. Von den Ständen erwartete Graf
Borries keine ernstlichen Schwierigkeiten. Die erwähnten
Einwände des Finanzministers schienen Philipsborn ,,unbe-
greiflich". Das zusammenfassende erste Urteil Philipsborns
besagt: „Das Zögern hier liegt zunächst... in der hannover-
schen Natur, es wird begünstigt von dem Osterreichischen Ge-
sandten“. Denn die Operationslinie von Österreich ist offenbar“
— hierin hat Philipsborn auf jeden Fall recht — „jetzt Zeit zu
gewinnen und dafür zu wirken, daB die Vereinsstaaten womóg-
lich einer auf den anderen warten." Der französische Gesandte
hatte den preuBischen Vorschlag vom 3. April sofort im Auftrag
seiner Regierung lebhaft unterstützt, vermochte aber, wie er
selbst zugestand, gegen den Einfluß Österreichs nicht aufzu-
kommen. Die treffsichere Prognose Philipsborns für Hannover
lautet: „Am Ende wird man sich wohl entschließen zuzustimmen,
aber man wird das Jawort hinziehen, solange man es mit
einigem Anstand und ohne sich gerade schämen zu müssen
kann.“ Am 19.April waren die Besprechungen zwischen
Philipsborn und den hannoverschen Staatsmännern beendigt.
Eine Reihe von Bedenken vermochte Philipsborn nicht zu ent-
kräftigen. Platen kündigte außerdem neue Schwierigkeiten
an, wenn die Verträge dem König vorgelegt würden; er betonte,
„daß namentlich der König in Abwägung der politischen Be-
denken unberechenbar sei“. Er machte endlich darauf auf-
merksam, „daß Hannover seine Stellung für das Jahr 1866",
d.h. für Ablauf der jetzigen Zollvereinsperiode, „schon jetzt
ins Auge fassen und an das Praecipuum denken müsse“. Dieser
Andeutung gegenüber versicherte Philipsborn, er sei nicht er-
mächtigt, hierüber zu sprechen, es sei „jetzt dazu nicht die
18 Über seine mangelnden Kenntnisse u. a., nach seinen eigenen Worten, vgl.
Hassell II, 1, S. 311f.
14 Graf Ingelheim.
796 Eugen Franz
Zeit". Wolle Hannover dennoch diese Frage jetzt zur Ent-
scheidung bringen, so werde es ,,alles aufs Spiel setzen". AuBer
Platen sprach niemand mit Philipsborn vom Praecipuum, und
auch ersterer, nach Ansicht Philipsborns, ,,nicht in entschiedener
Weise". Philipsborn besorgte jedoch trotzdem mit Recht, „daß
Hannover bei Erklärung seiner Zustimmung zu den Verträgen
mit Frankreich irgendeinen Vorbehalt wegen des Praecipuums
machen“ und daB vor allem König Georg darauf bestehen
werde. Damit war eines der Hauptmotive der hannoverschen
Politik in den náchsten Jahren angeschlagen. Doch hat Philips-
born, wenn er auch auf die Wichtigkeit dieser wirtschaftlichen
Vorzugsstellung im Zollverein für die hannoversche Politik hin-
wies, damals noch nicht vorausgesehen, welch überragende
Bedeutung dieser Forderung von Hannover künftig beigemessen
wurde; er konnte auch nicht ahnen, daß die hannoversche
Politik nicht nur über Wochen und Monate, sondern über Jahre
hinaus ihm im AuBenministerium noch viel harte Arbeit be-
reiten sollte. Freilich wäre Hannover niemals solange abseits
geblieben, wenn nicht der Widerstand Österreichs und der
Südstaaten seine Konjunktur verbessert hátte; nur durch diesen
ósterreichisch-süddeutschen Kampf gegen den Handelsvertrag
konnte auch Hannover solange seinen Beitritt hinausschieben.
Platen versicherte Ysenburg wenige Tage nach Philipsborns
Abreise nochmals ausdrücklich, Hannover werde seine Zu-
stimmung zu den Verträgen mit Frankreich „von der Zu-
stimmung der süddeutschen Regierungen abhängig machen““.
Damit war das von Preußen befürchtete Interessenbündnis
zwischen Hannover und den süddeutschen, schutzzöllnerisch-
ósterreichisch gesinnten Staaten erwiesen. Der österreichische
Gesandte hatte sich nicht umsonst alle Mühe gegeben. Platen
beginnt mit dieser Erklärung sein Doppelspiel, das er künftig
mit einer gewissen Meisterschaft — um die Wette mit Kur-
hessen — gegenüber Preußen und den süddeutschen Staaten be-
treibt. Kein Wunder, daB man diese Stelle des Berichtes von
Ysenburg in Berlin fünffach und noch mit Rotstift sich anstrich!
Und ebenso die Äußerung Platens, daß „Hannover nicht in
einem bloß norddeutschen Zollverband mit Preußen verbleiben
Hierüber Or. Ber. Ysenburgs an Bernstorff, Hannover 26. April 1862: Nr.3,
Vol. 21.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 797
wolle“. Diese Gefahr ergab sich aber bei einer zu frühzeitigen
Zustimmung! Das ‚gute Beispiel Sachsens“, auf welches
Ysenburg hinweisen zu sollen glaubte, bezeichnete Platen als
ein „zur Zeit noch unaufgelöstes Rátsel". Man begriff in Han-
nover und in den süddeutschen Staaten nicht, daß Beust, be-
einflußt von seinem Finanzminister von Friesen und den sächsi-
schen Wirtschaftsführern, trotz seiner sonst im allgemeinen
großdeutschen Gesinnung wirtschaftlich kleindeutsche Real-
politik betrieb.
Am 26. April holt Rechberg! zu einem Vorstoß in München,
Stuttgart und Darmstadt aus. Die mit seltener Offenheit ge-
machten Darlegungen paßten aber zunächst nur für die drei
genannten Kabinette; ‚streng vertraulich‘ werden sie dem
Grafen Ingelheim mitgeteilt mit dem Auftrag, Platen die Note
höchstens unter dem Siegel strengster Diskretion vorzulesen;
Österreich könne „in diesem Augenblick noch keineswegs
wünschen, in der Öffentlichkeit als Urheber und Beförderer der
Opposition gegen den unheilvollen Vertrag zu gelten‘‘, zumal
auch „manche der Zollvereinsstaaten!? vorziehen könnten, als
vollkommen unabhängig von jedem Einfluß Österreichs handelnd
zu erscheinen!?", Hannover und Kurhessen bedurften —- das
hatte Rechberg von Anfang an richtig erkannt — einer Sonder-
behandlung. Ingelheim aber wagte nicht einmal Platen diese
Note vom 26. April in vollem Umfang auch nur vorzulesen!
In München, Stuttgart, Darmstadt durfte Österreich mit Recht
auf freudige Zustimmung rechnen. Platen aber war nicht der
Mann so forscher Aktionen, wie Rechberg sie vorschlug; er
wollte vor allem vorläufig nichts wissen von einer etwaigen
Auflösung des Zollvereins. Als ihm Ingelheim früher eine An-
deutung über die bloße Möglichkeit eines süddeutschen Zoll-
vereins mit Anschluß an Österreich gemacht hatte, sprach er sich
„besorgt“ aus. Ganz Hannover, so mußte Ingelheim jetzt
16 Or. Conz. St. A. Wien; die nach München gerichtete Ausfertigung H. M.
München II B, Fr. 1, Conv. 3. — Adolf Beer, Die österr. Handelspolitik im 19. Jahrh.,
Wien 1891, S. 229f. erwähnt die Note ohne Lagerort und Datum; er unterscheidet
ferner nicht die sehr beachtenswerte Auswahl der Adressaten, an welche Rechberg
die Note gehen läßt.
17 Bes. Bayern ist gemeint, wie sich aus anderem Zusammenhang ergibt.
18 Instr. Rechbergs an Ingelheim, Conz. St. A. W. 26. April 1862. Die Be-
ratungen der Wiener Ministerkonferenz gehóren nicht in diesen Rahmen.
798 Eugen Franz
feststellen, perhorresziere einen süddeutschen Zollverein, :
den bisherigen großen Zollbund sprenge, ohne nach der gei
berechtigten Ansicht Platens die Möglichkeit zu bieten, d
sich Hannover daran beteilige!®. Die hannoversche Regieru
wollte also zunächst nicht offen für Österreich optieren ; eben:
wenig aber für Preußen. Sie war daher, als Oldenburg, das n
Kurhessen und Braunschweig zusammen in das Interessengebi
Hannovers gehörte, seine grundsätzliche Bereitwilligkeit 2
Annahme des Handelsvertrags erklärte“, sehr verstimmt!
Der Großherzog von Oldenburg hatte kurz vorher bei seint
Anwesenheit in Hannover versichert, er werde sich jedenfal
nicht übereilen. So kam dieser rasche Wechsel Hannover seh
unerwartet. Um so weniger aber war die königliche Regierun
gewillt, bloßen österreichischen Versprechungen zuliebe Preußen
ein entschiedenes „Nein“ entgegenzuschleudern. Platen ver
langte von Ingelheim präzise ‚positive Erklärungen . Die
Verantwortung, die Österreich den Mittelstaaten zuschieben
wollte, schob Platen zurück auf Österreich, dem er einen be-
trächtlichen Teil der „Entscheidung über Annahme oder Ab
lehnung des preußischen Vertrags“ beimaß. Anderseits sprach
sich Graf Kielmannsegge in der ersten Kammer, wenn auch
verdeckt, gegen den Vertrag aus. Ysenburg war erregt darüber.
daß der Minister eine solche einseitige Stellung nahm, während
er ihm gegenüber gleichzeitig erklärte, er habe „die Sache noch
nicht geprüft". Unter diesen Umständen glaubte Bernstorff von
Ysenburg eine energische Sprache fordern zu sollen: wenn
Platen erst die süddeutschen Regierungen reden lassen wolle, so
wäre seiner — Bernstorffs — Ansicht nach gerade der umge-
kehrte Weg angezeigt; Hannover kónnte am besten den anderen
Vereinsstaaten in der Fórderung der Sache vorangehen. Aber
Platen sei es nicht Ernst. Und doch habe gerade Hannover am
wenigsten Anlaß, auf die österreichischen Einflüsterungen
19 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg. Hannover 2. Mai 1862, Nr. 21 E. St. A. W.
2° Or. Note des Oldenburger AuBenministers an Bernstorff, Oldenb. 25. April 62,
in AA II, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 21.
31 Telegramm Ingelheims an Rechberg, Hannover 9. Mai 1862, 1532/1862
St. A. W.
22 Platen, Or. Note an Ingelheim, Hannover 6. Mai in Ingelheims Ber. an Rech-
berg, Hannover 8. Mai 1862, Nr. 23, St. A. W.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-frans. Handelsvertrags 799
.; einzugehen, „wenn es die wahren Interessen seines Landes
befragt
Was wollte nun eigentlich Hannover? In einer Unterredung
mit Ysenburg vom Anfang Mai deutete Kielmannsegge die
Ziele Hannovers ziemlich offen an“: ehe nicht Bayern und
da: Württemberg ihre Ansicht kundgetan hätten, könne auch Hanno-
ver nicht ja sagen, da seine Regierung vor allem keine Sprengung
des Zollvereins mit herbeiführen wolle, „F nächstdem auch vor-
sorglich darauf Bedacht nehmen müsse, daß sie durch eine frei-
willige Erklärung sich nicht etwa die Chancen auf den Fortbezug
des Praecipuums allzusehr verderbe ““; man nehme aber auch
gern Rücksicht auf Osterreich und wünsche nicht, daß die Ver-
kehrsbeziehungen zu ihm durch die Verträge mit Frankreich
ernstlich gefährdet würden. Hier haben wir die drei Grundmotive,
welche Hannovers Haltung bestimmten: 1. keine Sprengung
des Zollvereins, 2. Erhaltung des Praecipuums für Hannover,
3. Aufrechterhaltung der bisherigen Beziehungen zu Österreich.
Daran, daB diese drei Ziele unvereinbar waren, krankt die
hannoversche Politik der nàchsten zwei Jahre. Die wirtschaft-
liche Bedeutung des Zollvereins überhaupt und des Praecipuums
im besonderen wird aus den Berechnungen Kielmannsegges klar,
wonach der Fiskus durch den Wegfall des Praecipuums ein
Minus von jährlich 100000 rheinischen Talern erleide.
Solange daher die Frage des Praecipuums nicht geklärt war,
ließ sich die hannoversche Regierung, die jetzige, wie die spä-
tere, von ihrer Schaukelpolitik weder von Preußen noch von
Österreich abbringen. Preußische und österreichische Denk-
schriften prallen ab. Wie Platen Preußen gegenüber versichert
hatte, Hannover werde einem norddeutschen Zollverein nicht
beitreten, so hebt er gegenüber den Österreichern die Un-
möglichkeit hervor, einem von Wien angeregten süddeutsch-
österreichischen Zollbund beizutreten“. Wenn ein solcher zu-
stande komme, könne Hannover nur entweder zum Steuerverein
von ehedem zurückkehren — eine ganz unmögliche Idee, nur
33 Bernstorff-Philipsborn, Or. Conz. an Ysenburg Berlin, 2. Mai 1862, in:
AA II R, Rep. 6, Nr. 3, Vol. 21.
** Or. Ber. Ysenburgs an Bernstorff, Hannover 3. Mai 1862, gl. O.
35 Hier macht man in Berlin ein großes N.B.!
æ Ingelheim an Rechberg, Hannover 30. Mai 1862, Nr. 27a, St. A. W.
800 Eugen Franz
bestimmt Österreich zu trösten und Preußen zu schrecken! —
oder sich an einen norddeutschen Zollverein anschließen.
Platen macht selbst sofort die Einschränkung, der Steuerverein
scheitere voraussichtlich an der Haltung Oldenburgs und
Braunschweigs. So könne er nur eines: möglichst lange die Zu-
stimmung Hannovers hinausschieben. Aber auch das habe seine
Grenzen. Gegenüber der wirtschaftlichen Lage des Landes,
welches die Erhaltung des Zollvereins, vor allem mit den nord-
deutschen Staaten benötigte, vermochten — das glaubte Ingel-
heim damals schon feststellen zu müssen — die zornigen Worte
des Königs Georg gegen Preußen und seine Freundschafts-
beteuerungen für Österreich keine ernstlichen Garantien zu
bieten. Die österreichische Notenserie vom 7. Mai 1862 mit
dem scharfen Memorandum?? über Österreichs unveráuBerliche
Rechte aus dem Vertrag vom 19. Februar 1853 und aus seinem
Bundesverhältnis hatte in den süddeutschen Staaten ein-
schließlich Hessen-Darmstadts als Weckruf gewirkt, in Hannover
löste sie Besorgnis, ja Schrecken aus; das scharfe Vorgehen
Österreichs drohte ihm mindesten eines, ja vielleicht alle drei
seiner eben angedeuteten Hauptziele zu zerschlagen. Den nicht
der süddeutschen, sondern ausschließlich der hannoverschen
Interessen wegen aufgestellten Grundsatz, nichts zu unter-
nehmen ohne die süddeutschen Regierungen suchte Ysenburg
nun mit dem Hinweis auf die von allen Mittelstaaten und gerade
von König Georg so hoch geschätzte Souveränität zu erschüt-
tern. Da aber fiel ihm Platen sehr scharf in die Rede mit der
anzüglichen Bemerkung, „dag der Begriff der Selbständigkeit
ja nicht in dem souveränen Entschlusse gefunden werden könne,
sich um die Folgen eines solchen Vertrages nicht zu kümmern,
sondern mit geschlossenen Augen denselben Sprung zu wagen,
welchen Preußen mit offenen Augen gemacht habe“
Es sind von Hannover damals und bis Mitte 1864 viele sehr
deutschpatriotische und österreichfreundliche Worte gefallen.
Demgegenüber ist von großer Wichtigkeit die Feststellung, die
wir schon Mitte 1862 machen können: für Hannover war der
Y Note und Memorandum abgedruckt in „Das Staatsarchiv“ IIT, S. 215ff.,
teilweise auch in Schultheß, E. G. K. für 1862, S. 49—51.
35 Ysenburg an Bernstorff, Or. Ber., Hannover 22. Mai 1862, in AA II, Rep. 6,
Nr. 3, Vol. 22.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 801
Beitritt zum Handelsvertrag in allererster Linie ein Geschäft.
„Wie ich aus guter Quelle vernehme“, berichtet Ysenburg be-
reits am 6. Juni 1862 an Bernstorff, „so soll sich die hiesige
Regierung gegenwärtig viel mit dem Gedanken beschäftigen,
ob die gewünschte Erklärung in betreff eines Beitrittes zu dem
Handelsvertrag mit Frankreich sich nicht gegen eine von unserem
allerhöchsten Gouvernement zu gewährende Gegenkonzession
gewissermaßen abkaufen lassen kónne'. Diese bestehe in dem
„ungeschmälerten Bezug“ des bisherigen Praecipuums?“ . Von
diesem Gesichtspunkte aus müssen wir künftig tatsächlich die
Aktionen Hannovers überblicken. Freilich konnte Hannover,
wenn überhaupt, so bestimmt nur dann mit einem Weiter-
bezug des vollen Praecipuums rechnen, wenn der Zollverein
auch wirklich als Ganzes erhalten blieb. Die zwei Leitsterne
hannoverscher Politik im Kampf Preußens um den Handels-
vertrag sind somit künftig: volles Praecipuum und, damit in
unmittelbarem Zusammenhang stehend, Erhaltung des Zoll-
vereins. Es soll nicht verkannt werden, daß auch andere
Motive mitbestimmend wirkten; aber sie alle waren, je nach
Bedarf, auszuschalten; diese beiden Hauptziele aber blieben
konstant.
Hier ergeben sich nun zwei Fragen: Was war vertraglich über
das Praecipuum bei dessen erster Gewáhrung ausgemacht, und
wie stand es um die Möglichkeit des Fortbezuges bei der nach
12 Jahren erfolgenden Erneuerung des Zollvereins? Artikel 11
des Vertrags zwischen Hannover und Preußen vom 7. September
18512 hatte bestimmt: „Zur Ausgleichung des bedeutend
stärkeren Verbrauchs hochbesteuerter Gegenstände, welcher
in Hannover stattgefunden hat und voraussichtlich auch ferner
stattfinden wird, sowie des höheren Einkommens, welches
Hannover aus den Ein-, Aus- und Durchgangsabgaben bisher
bezogen hat und beim einseitigen Vorschreiten zu den Tarif-
sätzen des Zollvereins noch wesentlich würde steigern können“,
soll der Ertrag aus diesen Abgaben sowie der Steuer von in-
ländischem Rübenzucker nach einem Hannover begünstigenden
Schlüssel in folgender Weise verteilt werden: Der Anteil aus
252 Or. Ber., Hannover 6. Juni 1862; gl. O.
3 Abdruck u. a. in F. Houth- Weber, „Der Zollverein seit seiner Erweiterung
durch den Steuerverein", Hannover 1861, S. 1ff., hier S. 12/13.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 61
802 Eugen Franz
diesen Einnahmen des gesamten Zollvereins werde über das nach
der Bevölkerungskopfzahl Hannover treffende Maß um ?/, er-
höht, „jedoch was die Anteile an der Eingangsabgabe nebst
Rübenzuckersteuer betrifft, um höchstens 20 Silbergroschen
in einem Jahr für jeden Einwohner“. In gleicher Weise soll bei
der Verteilung der gemeinschaftlichen Übergangsabgaben ver-
fahren werden. Der hannoversche Anteil an den gemeinsamen
Verwaltungskosten dagegen wird nach dem Verhältnis be-
rechnet, „in welchem die einfache Kopfzahl Hannovers zu der
Gesamtbevölkerung im Verein steht“ . Dieses ,,Praecipuum"''
war das Lockmittel, mit dem Preußen, wie oben angedeutet —
zum großen Ärger der meisten deutschen Zollvereinsgenossen —
Hannover für sich gewann. Trotz heftigsten Widerstandes der
süddeutschen Regierungen mußten die zwischen Preußen einer-
seits, Hannover und Oldenburg“ anderseits getroffenen Ab-
machungen im neuen Zollvereinsvertrag vom 4. April 1853
anerkannt werden?!, Das politische Ziel der Bevorzugung der
bisherigen Steuervereinsstaaten ging bekanntlich dahin, den
Süddeutschen die gesamte Ost- und Nordküste sperren zu kön-
nen, falls diese Staaten ein Bündnis mit Österreich schlossen.
Auf jeden Fall aber war das politische Schwergewicht des klein-
deutsch basierten Zollvereins durch die Gewinnung dieser
wichtigen Verbindungsgebiete zwischen der östlichen und
westlichen Hälfte Preußens beträchtlich verstärkt. Das wirt-
schaftliche Ziel Preußens aber war die Stärkung der dem Frei-
handel günstigen Staatengruppe gegenüber den süddeutschen
Schutzzöllnern. Mit wirtschaftlichen Opfern mußte der Zoll-
verein und hier vor allem das größte und wirtschaftlich ertrag-
reichste Land, Preußen, die politisch für Preußen wichtige
Gewinnung der beiden Steuervereinsstaaten bezahlen. Alsbald
aber tauchte überall die Frage auf, ob Preußen nach Ablauf der
zwölfjährigen Vertragsperiode ein zweitesmal dieses Opfer
bringen werde. Je näher man dem Termin kam, um so mehr
konzentrierte sich der wirtschaftspolitische Kampf der hannover-
schen Regierung auf diesen Punkt. Es war niemand ernstlich
zweifelhaft, daß die Gründe, welche 1851—1854 für die Ge-
30 Vgl. hierzu: Vertrag PreuBen-Hannovers mit Oldenburg vom 1. März 1862
usw.: Houth- Weber S. 23ff.
531 Houth- Weber S. 62ff.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 803
währung des Praecipuums von Preußen anerkannt worden
waren, bestreitbar waren. Je weiter die Entwicklung fort-
schritt, um so weniger konnte Hannover aus wirtschaft-
lichen Gründen den Fortbezug des Praecipuums rechtfertigen,
um so stärker dagegen wurde die wirtschaftspolitische Klammer,
die Hannover und Oldenburg an den Zollverein fesselte und
ihnen ein späteres Ausscheiden so gut wie unmöglich machte.
In Süddeutschland sah man nach wie vor die Begünstigung
Hannovers und Oldenburgs mit scheelen Augen an. Da glaubte
Hannover in dem Zwist, der über den Handelsvertrag mit
Frankreich und die in denselben hineingearbeitete Tarifreform
mit aller Heftigkeit entbrannt war, den geeigneten Anlaß ge-
funden zu haben, um sich eine Lage zu schaffen, in welcher
sein Verbleiben im Zollverein denselben Kaufpreis wert war,
wie er zu Beginn der 50er Jahre für seinen Eintritt von Preußen
bezahlt worden war. Die Frage war dabei freilich, wer künftig
die führende Stellung im deutschen Zollverein einnehmen würde,
ob es Österreich gelingen werde, mit Hilfe des Februarvertrages
von 1853 und der deutschen politischen Freunde in den Zoll-
verein hereinzukommen und dann sofort oder in kürzester
Frist die Führung an sich zu reißen, oder ob Preußen auch
weiterhin Österreich fernzuhalten und die Hegemonie im deut-
schen Zollverein mit Hilfe des französischen Handelsvertrags
auszubauen und zu befestigen vermochte. Weitaus das Wahr-
scheinlichste schien auch den hannoverschen Regierungskreisen
ein Endsieg Preußens. Aus allen genannten Gründen aber
glaubten sie, solange diese Unsicherheit herrschte, sich zwischen
den beiden Parteien halten zu müssen und durch das Lavieren
zwischen den beiden großen Zollgruppen von beiden die Zu-
billigung des Praecipuums zu erreichen, um diese Zusage dann
jeweils beim gegnerischen Großstaat und vor allem immer bei
dem mit jeder Konzession kargenden Preußen drohend geltend
zu machen. Das Spiel war von Hannover etwas plump ein-
gefädelt worden; im weiteren Verlauf der diplomatischen Kämpfe
kann der hannoverschen Politik aber Zähigkeit, Verschlagenheit
und Erfassung des jeweils richtigen Augenblicks in Durch-
führung dieses Geschäftes nicht abgesprochen werden, wenn
auch gelegentliche Irrtümer in der Erfassung der Lage mit
unterlaufen.
51*
804 Eugen Franz
Mitte Juni 1862 trat auch England als Sekundant Preußens
in Hannover auf. Als nun der englische Gesandte am 13. Juni
dem Grafen Platen eine freihändlerische Mahnnote seiner
Regierung mitteilte, als Lord Russell gar Platen noch ersuchte,
beim Wiener Kabinett dahin zu wirken, daß Österreich künftig
sich auch den freihändlerischen Prinzipien anschlieBe, da er- :
widerte Platen?? bezeichnender Weise, es bestünden für den
Vertrag „im allgemeinen keine ungünstigen Aussichten“;
aber die hannoversche Regierung beharre fest dabei, „erst die
Erklärungen der süddeutschen Regierungen abwarten zu
Wollen“; sie sei „nebenbei auch noch von dem Gedanken
práoccupiert, wie sie am besten den Fortbezug des bekannten
Praecipuums wahren könne“. Übrigens lauteten, bemerkte
Platen gegenüber dem Englànder, seine Nachrichten über die
süddeutschen Staaten ganz anders, als die englische Note be-
haupte; man scheine sich offenbar in Berlin großen Illusionen
hinzugeben. Platen war über ihre Pläne und die bevorstehende
Münchner Konferenz gut unterrichtet. Nach Wien aber könne
er einen Rat zur Annahme um so weniger geben, als erannehmen
dürfe, das kaiserliche Kabinett sei sowieso bereits dabei, in
die von der englischen Regierung gewünschte Bahn einzu-
lenken. Noch hoffte Ysenburg auf die hannoverschen Stände.
Um so größer war sein „Schrecken“, als er erfuhr, daß die Regie-
rung die Kammer bis in den November vertagte. Als er Platen
Vorhalte machte, wie die Regierung vor so wichtigen Ent-
schlüssen die Kammer vertagen könne, „belächelte‘‘ Platen
diese Besorgnisse und meinte: Wenn die Regierung sich einmal
für die Verträge entschlossen habe, so werde sie die Zustimmung
auch ohne die Stände geben können!
Die Münchner Konferenz vom 18.—25. Juni 1862 war eine
Börse mittelstaatlicher wirtschaftspolitischer Aufträge, die aber
alle nur Briefkurswert hatten. Höchst eigenartig berührt auf
den ersten Blick, was Platen zu den Münchner Verhandlungen
zu sagen wußte: Graf Quadt, der bayrische Gesandte in Han-
nover, war von seinem Außenminister, Baron Schrenk, dahin
instruiert worden, die Münchner Konferenz habe „keine abso-
lute Ablehnung (des französischen Handelsvertrags), sondern
33 Mitteilungen des englischen Gesandten an Ysenburg: vgl. dessen Ber. an
Bernstorff, Hannover 16. Juni 1862, in: Nr. 3, Vol. 23.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 805
gewisse Modifikationen vom Standpunkt der süddeutschen In-
dustrielleninteressen beantragt“ . Platen zeigte sich darüber
wenig erfreut und meinte zum bayrischen Gesandten, die
hannoversche Regierung hätte geglaubt, „auf eine absolute Ab-
lehnung rechnen zu dürfen‘. Er legte zugleich Wert auf ein
diplomatisches Zusammenarbeiten der Süddeutschen mit Han-
nover in dieser Frage; die hannoversche Regierung werde „erst
nach Bekanntgabe der Erwiderung der süddeutschen Staaten
einen Entschluß fassen“ und Platen sprach die Hoffnung aus,
Bayern werde auch seinerseits erst nach Rücksprache mit Han-
nover offizielle Verlautbarungen nach Berlin ergehen lassen““.
Hannover wünschte also, daß die vereinigten Süddeutschen
möglichst hitzig gegen Preußen anstürmten; damit wuchs sein
eigener Wert vielleicht bis zu der gewünschten Höhe. Schrenk
nahm, in der Hoffnung, daß Hannover den Kampf Schulter an
Schulter mit den Süddeutschen ernstlich führen wolle, die
Verbindung gern auf und ließ Platen sagen, seine Annahme, die
Münchner Konferenz habe nur einige Modifikationen des Ver-
tragsentwurfs beschlossen, sei völlig irrig. Gerade diese Ver-
knüpfung hannoverscher und bayrischer Interessen war, wenn
sie auch in ihren Zielen weit auseinander gingen, Preußen sehr
unangenehm.
Der gemeinsame hannoversche und österreichische, vorerst
noch mehr verdeckte Widerstand wirkte auch auf Hannovers
frühere Steuervereinsgenossen. Als Ysenburg am 16. Juni z. B.
in Braunschweig war, sagte ihm der dortige Minister von Liebe,
wenn er allein zu entscheiden hätte, so hätte die herzogliche
Regierung schon den Beitritt PreuBen erklárt. ,,Allein die Be-
einflussungen des Grafen Ingelheim" und die auch sonst noch
von österreichischer Seite direkt an den Herzog Wilhelm er-
gangenen Warnungen „ließen für den Augenblick noch alle
seine (Liebes) auf Annahme des Handelsvertrags gerichteten
Anstrengungen scheitern‘; er fürchte, es werde ein für Preußen
günstiges Resultat schwerlich zu erreichen sein, ehe nicht der
Herzog von seiner Reise nach Wien und Venedig, „woselbst
man noch gehórig im gegenteiligen Sinn auf ihn zu influieren
sich bemühen werde, in die Einsamkeit an den Harz zurückge-
** Graf Quadt, Ber. an Schrenk, Hannover 29. Juni 1862, in: Bayr. H. M. II B,
Fr. 1, Conv. 3.
806 Eugen Franz
kehrt sei“ . Im übrigen herrschte Ruhe vor dem Sturm in allen
gegen Preußen opponierenden Kabinetten.
Endlich am 10. Juli 1862 eröffnete die große Zirkularnote
Rechbergs mit dem Entwurf eines Präliminarvertrags und einer
besonderen Vereinbarung über die Handelsbeziehungen zwischen
Österreich und dem deutschen Zollverein den Generalangriff35.
Preußen antwortete mit der endgültigen Annahme des franzö-
sischen Vertrags am 2. August. Dadurch war ein fait accompli
geschaffen.
Preußen fand wie an den übrigen deutschen Höfen auch in
Hannover lebhafte diplomatische Unterstützung durch Frank-
reich. Herr von Montgascon, der Vertreter des beurlaubten
französischen Gesandten Baron Malaret, hatte am 24. Juli 1862
bereits einen neuen Vorstoß unternommen bei dem Vertreter
Platens, Herrn von Witzendorff. Aber es erging ihm wie vorher
Ysenburg und Philipsborn. Die augenblickliche Unsicherheit
des Ministeriums Borries stimmte das hannoversche Außen-
ministerium erst recht zurückhaltend. Außerdem hatte der
hannoversche Handelstag zu Hildesheim nach längerer Aussprache
am 19. Juli mit allen gegen nur eine Stimme den eingehend
begründeten Antrag des Präsidenten Meyerhof angenommen?”?:
„Der hannoversche Handelstag erblickt in dem Handelsvertrag
zwischen Preußen und Frankreich ein Ergebnis von über-
wiegendem Nutzen für den Zollverein und für unser Land insbe-
sondere und spricht den dringenden Wunsch aus, daß unser
Königreich demselben baldigst beitreten möchte.“ Die dortigen
Wirtschaftsführer begrüßten es, daß der Vertrag „Bresche
schieße in den Tarif des Zollvereins, woraus weitere Reformen
notwendig folgen dürften“. Eine Tarifeinigung mit Österreich
würde „bei den dortigen Staats- und Finanzverhältnissen . . .,
so wünschenswert sie sei, doch noch lange unmöglich bleiben“.
Gerade Hannover „würde ein Fernbleiben vom Zollverein die
tiefsten Wunden schlagen“. Nach dieser Reform würden auch
4 Ysenburg an Bernstorff, Or., Hannover 16. Juni 1862, in Nr. 3, Vol. 23.
25 Abdruck in: „Das Staatsarchiv“ III, S. 228ff.; vgl. auch SchultheB, E. G. K.
1862, S. 63ff.
3° Ber. des Grafen Quadt, Hannover 25. Juli 1862: II B, Fr. 1, Conv. 4.
3? Für die Beratungen und Ergebnisse der Hildesheimer Tagung vgl. „Neue
Hannoversche Zeitung“, 22. Juli 1862, Nr. 337, S. 1166.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 807
die Hansestädte beitreten können. Diese Entschließung des
Handelstages war für Preußen von hohem Wert. Aber die han-
noversche Regierung war ja gar nicht anderer Ansicht als der
Handelstag; ihre Zurückhaltung und scheinbar ablehnende Hal-
tung war nur Politik. Und diese glaubte sie beibehalten zu
müssen, wollte sie ihre bekannten Ziele erreichen. Als daher
Ysenburg Mitteilung machte von dem Abstimmungsergebnis
der preußischen Kanımern, entgegnete ihm Herr von Witzen-
dorff® etwas anzüglich, dieser Akt tangiere die hannoversche
Regierung vorläufig noch nicht weiter, „denn für sie sei in der
Sache nur maßgebend, welche Erklärung die süddeutschen Re-
gierungen, und namentlich Bayern, in betreff etwaiger Annahme
oder Ablehnung der beregten Verträge abgeben würden, und es
bleibe die hiesige Regierung auch fest dabei, erst noch als der
letztrückständige Zollverbündete sich erklären zu wollen“.
Man könne über Österrreichs Vorgehen streiten; die hannoversche
Regierung gehe von der Ansicht aus, Österreich sei mit seinen
Forderungen vom 10. Juli „im vollen Rechte“ und sie ,,be-
dauere deshalb aufs lebhafteste die gegenteilige Ansicht des
Berliner Kabinetts‘‘®.,
Als König Max II. von Bayern nach langem Zaudern am
8. August den preußischen Vertrag ablehnte“, sprach Witzen-
dorff „seine lebhafte Befriedigung über das so erwünschte Vor-
gehen der Bayrischen Regierung aus““ , lehnte aber eine Zusage
ab, sich im gleichen Sinn nach Berlin zu erklären. Die von baye-
rischer Seite geltend gemachten Anregungen für eine gemeinsame
politische Aktion bei Preußen erweckten in Hannover Bedenken
und zwar, wie ganz deutlich ausgesprochen wurde, mit Rück-
sicht auf den Vertrag vom 7. September 1851. Es war eine für
die Ohren des Bayern wohl peinliche Erinnerung, daß damals
38 Für das Folgende: Ysenburg, Or. Note an Bernstorff, Hannover 9. Aug. 1862,
in: Nr. 3, Vol. 24.
* Ich übergehe hier weitere Stimmen, so etwa die Äußerungen des früheren
Finanzministers und damaligen Landdrosten Bacmeister; vgl. dessen Unterredung
mit Ysenburg nach Ber. des letzteren an Bernstorff, Hannover 11. Aug. 1862, in Nr.3,
Vol. 24.
4 Abdruck in „Das Staatsarchiv“ III, S. 358—367, teilweise auch in: Schultheß,
E. G. K. für 1862, S. 73—75.
41 Quadt, Ber. an Schrenk, Hannover 11. Aug. 1862, H. M. München II B, Fr. 1,
Conv. 4.
808 Eugen Franz
„Hannover und Preußen einseitig verhandelt hatten‘. End-
lich würde, meinte Witzendorff, in Anspielung auf die identische
Note vom 2. Februar 1862, ein solches gemeinsames Vorgehen,
wie Bayern es vorschlage, das „Berliner Kabinett in hohem
Grade erbittern, ohne daß irgend ein realer Vorteil zu erwarten
sei. Hannover müßte schon wegen seiner geographischen Lage
darauf bedacht sein, die gespannten Beziehungen zum Nachbar-
staat Preußen nicht noch mehr zu steigern". Schließlich müßte
doch, meint er bei einer späteren Unterredung mit Quadt, ,,la
force des choses den Ausschlag geben“, Hannover sei der Gefahr
ausgesetzt, „durch Preußen in die Enge getrieben zu werden auf
eine Weise, die den materiellen Ruin des hannoverschen Landes
herbeiführen könnte‘. Daher dieselbe Mahnung an die Süd-
staaten wie an Preußen früher: man möchte Hannover nicht
drängen! Quadt mußte sich schließlich im diplomatischen Ge-
fecht auf die Bemerkung zurückziehen, daß ‚eine Beteiligung
Hannovers an etwaigen Verhandlungen mit den Südstaaten noch
keineswegs die Verbindlichkeit des Anschlusses mit sich bringen
würde“, Preußen aber würde dadurch einstweilen völlig isoliert.
Dieselbe Schaukelpolitik verfolgte Hannover gegenüber
Wien; dem dortigen Kabinett versicherte man, Hannover müsse
„einen etwa nur aus Staaten Norddeutschlands zusammenge-
setzten Verein als eine Vereinigung ansehen . .., die den Inter-
essen des Königsreichs Hannover unter normalen [!] Verhält-
nissen entschieden zuwider laufen müßte?“ — unter „anor-
malen“ also war man doch bereit dies zu tun! Die Antwort nach
Berlin“ endlich wälzte die Verantwortung auf die Schultern der
offenen Gegner Preußens, ließ für Hannover alle Türen offen und
begnügte sich mit der Erklärung, es liege für Hannover „keine
Veranlassung vor“, Stellung zu nehmen, da durch die Ablehnung
Bayerns und voraussichtlich Württembergs und des Groß-
herzogtums Hessen bei der nötigen Stimmeneinheit eine solche
keinen Zweck habe.
Immerhin war diese verkappte Solidarität mit Osterreich und
und den süddeutschen Staaten für Preußen sehr nachteilig; in
Wien frohlockte man darüber. Der erste Erfolg dieser Haltung
“ So Witzendorff zu Quadt nach dessen Ber., Hannover 15. Aug., H. M.
München II B, Fr. 1, Conv. 5.
43 Or. Note Witzendorffs an Ysenburg, Nr. 3, Vol. 24.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 809
war die erhöhte Bereitwilligkeit Rechbergs in der Praecipuum-
frage den Wünschen Hannovers gerecht zu werden“. Ysenburg
faßte das Verhalten Hannovers in die treffenden Worte®:
„Die Zauberformel, um Hannover für die Verträge mit Frank-
reich zu gewinnen, beruht augenblicklich in der zu eröffnenden
Aussicht des Fortbezugs des Praecipuums, und wer nun darin
zuerst und unter den sichersten Garantien bietet, ... dem
wendet sich Hannover zu.“ Wien hatte zuerst geboten, Berlin
nichts. Ob das Angebot sicher war, wollte Hannover weiter im
Auge behalten. Auf jeden Fall schien es ein geeignetes Druck-
mittel! Die Absicht, den Südstaaten und Österreich nicht
bis zu den letzten Konsequenzen eines Bruches mit Preußen zu
folgen, bestand nach wie vor. Um so zwiespältiger und innerlich
unwahrer mußte die künftige Politik Hannovers werden. Zu-
nächst vermochten aus den angegebenen Gründen die óster-
reichischen Gesandten in Hannover und Kassel eine Interessen-
gemeinschaft zwischen dem König von Hannover und dem Kur-
fürsten von Hessen anzubahnen, die jedoch nur durch Resenti-
ments, Furcht und ein in den Zielen sehr geteiltes Eigeninteresse
zusammengekittet war. König Georg schrieb einen persönlichen
Brief an den Kurfürsten. Der Vertraute des Königs, der ehe-
malige Flügeladjutant Oberst Schlicher, ein gebürtiger Kasseler,
überbrachte ihn und wurde vom Kurfürsten sehr freundlich auf-
genommen“. Da Preußen nicht einmal die geringste entgegen-
kommende Geste machte, war Hannover auch bereit, die von
Bayern im August angeregte Konferenz zu beschicken. Platen
erwartete angeblich als ihr sicheres Ergebnis, „daß eine Zoll-
einigung mit Österreich auf Grund der Vorschläge des kaiser-
lichen Gouvernements ohne erhebliche Gefährdung der kom-
merziellen Interessen des Zollvereins II] ausführbar“ sei“.
Instruktion Rechbergs für Ingelheim, Wien 26. Aug. 1862, St. A. W., Pol.
Arch. Hannover, Weisungen.
*5 Ysenburg an Bernstorff, Abschrift, Hannover 1. Sept. 1862, AA II, Rep. 6,
Nr. 3, Vol. 26.
“ Einzelheiten im Ber. bzw. Telegramm Ingelheims an Rechberg, Hannover
14. Sept. Nr. 45, bzw. Pirquets aus Kassel, 14. Sept., u. Ber. Karnickis aus Kassel,
18. Sept., Nr. 53 bzw. 59 a, St. A. W. Trotz des tiefsten Geheimnisses blieb Ysenburg
die Sendung Schlichers nicht verborgen.
47 Note Platens an den Gesandten in Wien, Herrn von dem Knesebeck, Hannover
18. Sept. 1864, Abschr. St. A. W.
810 Eugen Franz
Gegenüber Ysenburg aber bemerkte Platen“: man sollte sich
preußischerseits dazu herbeilassen, „auf die von Österreich be-
antragten Zollkonferenzen... einzugehen", dann werde sich
„unzweideutig herausstellen lassen, daß wirklich eine Zoll-
einigung mit Österreich auf den von demselben vorgeschlagenen
Grundlagen nicht möglich sei“! Wenn Preußen erst diesen Be-
weis erbracht habe, was „den betreffenden großen Kapazitäten
in Berlin nicht schwer fallen würde“, dann sei der Zollverein in
seinem Bestand gesichert, und würde dann — die nun ständig
wiederkehrende Formel — der hannoverschen Regierung „auch
noch einige Garantie wegen der ferneren Gewährung des Prae-
cipuums gegeben, dessen Fortbezug Hannover nun einmal nicht
entbehren könne, so werde alsdann die hannoversche Regierung
sehr bald ihre Prüfung der Verträge mit Frankreich als beendigt
erklären“ und kaum noch weitere Schwierigkeiten zu erheben
haben. Sehr logisch war dieses Vorgehen ja wohl nicht. Denn
Platen gab damit doch selbst zu, daß er Österreichs Vorschläge
selbst nicht ernst nahm, und Preußen mußte erst recht die
Schlußfolgerung ziehen: einmal muß Hannover doch beitreten!
Man hat in Hannover die Entschiedenheit des preußischen
Willens, die mit dem Ministerium Bismarck noch zunahm, von
Anfang an unterschätzt. Ende November 1862 meinte Platen
zu Ingelheim, Preußen werde es bestimmt nicht zur Zollvereins-
auflösung kommen lassen, es handle sich bei diesem Ringen nur
darum, ‚welche der beiden Parteien sich zuerst einschüchtern
lasse “. Er hätte sich doch an die Worte des neuen leitenden
Ministers in Berlin vom Juli 1861 erinnern müssen: „Ich gehe
nach Baden-Baden, weil mich der König zum Minister des Aus-
wärtigen machen will. Ich nehme es an, wenn mein Programm
angenommen wird; dann sage ich Euch aber, Platen, könnt Ihr
Kleinstaaten Euch in acht nehmen“.“
Bismarck verfolgte Hannover gegenüber eine neue Politik.
Bernstorff hatte sich bemüht alle Staaten möglichst gleichzeitig
zu gewinnen. Bismarck zog eine andere Taktik gegenüber den
Mittelstaaten und im besonderen gegenüber Hannover vor:
1$ Ysenburgs Ber. an Bernstorff, Hannover 5. Sept. 1862, Nr. 3, Vol. 25.
4 Ingelheim an Rechberg, Hannover 1. Dez. 1862, Nr. 59; St. A. W.
50 Hassell IT, 1, S. 453, Mitteilung der Gräfin Julius Platen, der Gattin des
Bruders des AuBenministers und Gastgeberin bei Bismarcks Aufenthalt.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 811
zunächst sollte der Versuch unternommen werden, Kurhessen
zu gewinnen. Nachdem Braunschweig schon grundsätzlich seine
Zustimmung gegeben hatte, waren dann Oldenburg und Han-
nover — vom ersteren durfte man, wie oben angedeutet, ge-
ringeren Widerstand erwarten — gezwungen beizutreten. So
ließ also Bismarck Hannover, ohne ein Jota von dem, was Bern-
storff gefordert hatte, nachzugeben, nach einigen vergeblichen
Bemühungen, links liegen; nur die Tonart wurde gegenüber
früher etwas verschärft.
Der Ausgang des deutschen Handelstages vom 14.—18. Ok-
tober war für alle Regierungspartner Österreichs eine Ent-
täuschung; Preußens Stellung dagegen festigte sich. Im übrigen
nimmt die Verschárfung der Ministerkrisis in Hannover vorüber-
gehend alle dortigen Interessen in Anspruch. Wichtig für den
weiteren Verlauf wurde es, daß in das am 10. Dezember ernannte
hannoversche Ministerium Platen als AuBenminister wieder
eintrat, daß ferner der neue Justizminister Windthorst ein über-
zeugter Großdeutscher war. Man darf aber nicht übersehen, daß,
welche Farbe immer das neue Ministerium trug, das materielle
Interesse Hannovers in dieser Frage die Entscheidung für
Preußen früher oder später erzwingen mußte.
Alle großdeutschen Hoffnungen waren künftig auf die für
1863 einberufene 15. Generalkonferenz des Zollvereins gerichtet.
Man rechnete damit, wie viele Stimmen dartun, daß bis dahin
Bismarck vielleicht, ja wahrscheinlich nicht mehr am Ruder sei.
Man übersah aber, daß seine liberale Gegnerschaft in diesem
einen Punkt genau dieselben Ansichten und Grundsätze vertrat
wie der sonst bekämpfte Minister, und daß ein Wechsel im
preußischen Ministerium ganz bestimmt keinen Wechsel in der
Zollpolitik zur Folge haben konnte, nachdem die erste und die
zweite preußische Kammer und die überwältigende Mehrheit der
preußischen Industrie diese Zollpolitik gefordert hatten und mit
steigender Heftigkeit gegenüber den widerspenstigen Staaten
verlangten.
Viel gefährlicher war es für Bismarck, wenn sein bisheriger
treuer Bundesgenosse ihn unter dem Einfluß der politischen
Verstimmungen des beginnenden Jahres 1863 im Stich ließ.
Nur mit größter Mühe gelingt es dem preußischen Botschafter
in Paris, dem Grafen von der Goltz, den Leiter des franzö-
812 Eugen Franz
sischen Außenministeriums Drouyn de Lhuys mit dem Hinweis
darauf, daß Preußen sonst überhaupt keine wirtschaftspolitische
Einflußmöglichkeit auf Kurhessen, Hannover und Darmstadt
habe, zu bewegen, wenigstens diesen drei Regierungen erneut
durch eine ernste Note die großen Nachteile eines längeren
Zögerns vor Augen zu führen und ihnen zu versichern, daß Frank-
reich nicht in Sonderverhandlungen mit ihnen eintreten werde*!,
Die nächsten Wochen drohen trotzdem auch den nunmehr von
Bismarck beabsichtigten Norddeutschen Zollverein infolge
mangelnder französischer Unterstützung zu verhindern. Es
war einer der gefährlichsten Momente in der ganzen Krisis.
Hannover hätte damals Preußen sehr gefährlich werden können,
wenn es eine intensiv-österreichische Zollpolitik getrieben hätte.
Das scheinbar Auffallende ist nun aber, daß Platen die bis-
herige Linie auch diesmal nicht verließ, daß ferner als Vertreter
Hannovers bei wirtschaftspolitischen Verhandlungen jetzt und
künftig nicht ein Großdeutscher strammerRichtung, sondern der
preußenfreundlich gesinnte Zolldirektor Albrecht fungierte.
Wenn man die Absicht Hannovers bedenkt, wird dieser auf-
fallende Vorgang verständlich. Graf Rechberg ahnte allmählich
. das hannoversche Ziel; es klang wie eine höfliche Mahnung, wenn
er Ingelheim erklárte5": „Nach unseren Beobachtungen bedarf
es der ganzen seither von Hannover bewiesenen Festigkeit
und Entschiedenheit, um manche schwankende Regierung von
dem Übergang in das Lager der Vertragsfreunde abzuhalten.
Hannovers Einfluß in dieser Beziehung ist groß. Selbst Bayerns
sind wir, in engem Vertrauen sei es gesagt, nicht etwa in dem
Grad sicher, daß wir in München nichts Ernstliches von dem
Eindruck einer größeren Annäherung Hannovers an Preußen
zu besorgen hätten.“ Rechberg dringt in einer Form auf die
Unterstützung durch Hannover, welche noch deutlicher als
alles andere beweist, daß er ernste Befürchtungen hegt: ,,In-
ständig bitten und beschwören wir den Grafen Platen und den
hochherzigen Souverän, welchem er dient, diese Verhältnisse
zu beachten und es nicht zu einem so großen Unglück, zu einer
so verhängnisvollen Wendung der Dinge kommen zu lassen“,
5! Or. Ber. von der Goltz an Bismarck, Paris 22. Jan. 1863, in AA II, Rep. 6,
Nr. 3, Vol. 27.
512 Weisung Rechbergs, Wien, 7. Februar 1863; St. A. W.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 813
wie es ein Abschwenken Hannovers in das Lager Preußens
bedeute.
Für Bismarck bleibt Hannover inzwischen Nebenschauplatz.
Kassel war der Hauptangriffspunkt. Dies wußte man in Hanno-
ver. Eben deshalb hatte König Georg den Kurfürsten wieder-
holt ermahnt, Hand in Hand mit Hannover in der Ablehnung
des Vertrags zu beharren. Doch hatte er bisher niemals kon-
krete Vorschläge gemacht. Mitte Februar 1863 fand Georg
eine neue praktische Formel, die dem Kurfürsten schmeichelte,
ihn selbst aber gegenüber Preußen und Österreich entlastete: er
sei gezwungen, das zu tun, was der Kurfürst beschlieBe5*, Preu-
Ben hatte also eine Reihe von Gründen, den Hebel zunächst
bei Kurhessen anzusetzen. In Hannover wollte Bismarck vor-
erst auch deshalb nicht so kräftig verstoßen wie in Kurhessen,
da ersteres in den neu einsetzenden schleswig-holsteinischen
Verwicklungen eine Stellung einnahm, welche ihm Preußens
Anerkennung eintrug. Der Kampf der nächsten Monate spielt
sich im wesentlichen zwischen Paris, Berlin und Wien ab.
Auf der in München am 24. März eröffneten Generalkonferenz
bleibt Hannover im Hintergrund, treibt aber die Süddeutschen
vorwärts. Je wichtiger Hannover für die süddeutschen Staaten
wird, um so anspruchsvoller wird Platen auch ihnen gegenüber.
Bayern hatte seinem Wunsch entsprechend sich bereit erklärt,
Hannovers Anspruch auf das Praecipuum zu verteidigen und
sich im gleichen Sinn bei den übrigen Oppositionsregierungen
zu verwenden. Platen erklärte sich zwar damit zufrieden, er
hätte aber gern „diese Zusage dahin ausgedehnt gesehen, daß
Bayern seine Einwilligung zur Erneuerung des Zollvereins von
jener Garantie abhängig gemacht hätte®®‘“. Mit anderen Worten:
Bayern sollte als Vorkämpfer der hannoverschen Interessen
sich mit Preußen noch stärker verfeinden, ohne dafür eine Zu-
sicherung der Gegenseitigkeit zu bekommen. Als aber gegen
Ende der Münchner Tagung der bayrische Antrag auf Be-
handlung der österreichischen Propositionen vorgebracht wurde,
sprach Albrecht seiner Instruktion gemäß von Vermittlung
63 So Minister Abée zu Freiherrn von Pirquet, österreichischem Geschäftsträger,
vgl. dessen Bericht, Kassel 23. März. St. A. W.
8 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg, Hannover 3. April 1863, Nr. 19 A und 19 B;
St. A. W.
814 Eugen Franz
zwischen PreuBen und Ósterreich und von der Notwendigkeit,
daß vor allem der Zollverein in seinem bisherigen Ausmaß er-
halten bleiben müsse. Platen gedachte sich mit dieser Ver-
mittlerrolle eine gute Note bei Preußen zu holen. Diese ge-
heimen Absichten Platens werden besonders klar durch die
Tatsache, daß Platen sich gekränkt fühlte, als Beust im Mai
1863 einen Vermittlungsversuch unternahm, da, wie Platen
sich ausdrückte, ‚vielmehr der hannoverschen Regierung die
Vermittlerrolle zufallen müßte, indem Hannover durch seine
geographische Lage und die eingenommene Stellung bezüglich
des französischen Handelsvertrags in der erforderlichen unab-
hängigen [!] Lage sei, um mit Wiederholung eines eventuell
selbständigen Steuervereins die entsprechende Pression in
Berlin zu bewirken“. Nach München aber ließ Platen — als
Preußen die Besprechung der neuen Verträge für eine Sonder-
konferenz in Berlin reklamierte — auf dem Umweg über Wien
sein Bedauern aussprechen über „die wenige Entschiedenheit,
mit der das königlich bayrische Kabinett gegen diesen neuen,
die Verzögerung der Sache allein nur zum Zweck habenden
Schritt Preußens auftritt". Hannover habe ,,der bayrischen Re-
gierung die Initiative überlassen59*, Dem preußischen Gesandten,
Prinzen Ysenburg, endlich sagte Platen, wenn der Süden auf
den preuDischen scheinbaren Vermittlungsvorschlag eingehe,
kónne Hannover sich zwar von dieser Konferenz nicht aus-
schließen, werde aber keine Verbindlichkeit eingehen, ehe ihm
der Fortbezug des Praecipuums gesichert sei99', Während er so
Bayern zum Angriff vortrieb, bemühte er sich selbst scheinbar
ernstlich, wie erwáhnt, den Steuerverein zu erneuern. Um die
ehemals verbündeten Regierungen zu gewinnen, lieB er von
Professor Onno Klopp ein wenig geistreiches Promemoria aus-
arbeiten. Solche Angriffswaffen waren aber zu stumpf, um in
Berlin zu verwunden. Und in den ehemaligen Steuervereins-
staaten wurden solche Pläne auch nicht ernst genommen. Der
Großherzog von Oldenburg hatte kurz vorher Ingelheim wissen
lassen, er halte eine Einigung zwischen Preußen und Österreich
%4 Quadt an Schrenk, Hannover 18. Mai 1863; H. M. M. I, Fr. 2, Conv. 3.
55 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg, Hannover 12. Juni 1863, Nr. 37 C, St. A. W.
55" So sagt Platen wenigstens zu Ingelheim (vgl. Anm. 55); ein derartiger Be-
richt Ysenburgs lag mir nicht vor, was jedoch noch kein Gegenbeweis ist.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 815
für die einzig mögliche Lösung des Konflikts. Erfolge sie nicht,
so sei es ihm unmöglich, sich von Preußen in dieser Frage zu
trennen®®. Der Herzog von Braunschweig, der am 5. Mai nach
Hannover gekommen war, um dort wegen der Zollvereins-
angelegenheit vorzusprechen, hatte zwar Platen zugesagt sich
an einem wiedererstehenden Steuerverein zu beteiligen®?”. Sein
Minister Liebe aber lehnte die hannoverschen Pläne rund-
weg ab®®.
Als die Wolken am preußisch-französischen Freundschafts-
himmel sich zu zerstreuen begannen, schien es Bismarck in
Anbetracht der erhöhten Aktivität Hannovers doch nötig,
auch dort erneut französische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Der französische Gesandte unternahm in der 2. Junihälfte des
Jahres 1863 eine neue Demarche im Namen seiner Regierung,
die wiederholt erklären ließ, von den Bestimmungen des fran-
zösisch-preußischen Handelsvertrags nicht abgehen zu können.
Man sehe sich in Paris um so mehr veranlaßt an dieser Ent-
scheidung festzuhalten, als der preußische Botschafter in Paris
die Versicherung gegeben habe, Preußen würde gegenüber dem
Zollverein „nicht die Änderung eines Jotas an dem Vertrag
zugestehen, erwarte aber, daß von französischer Seite mit der-
selben Bestimmtheit in gleicher Weise verfahren werde59?'*, Mit
Recht schlieBt Platen aus dieser ÁuBerung, die Opposition werde
auch bei der von Preußen auf der Münchner Tagung angeregten
Berliner Spezialkonferenz nichts erreichen. Preußen werde
„sich dort den Anschein geben..., als liege die Schuld, sich
nicht verständigen zu können, in den mit Frankreich einge-
gangenen Verbindlichkeiten®®‘‘.
Bismarck war es noch gegen Ende der Münchner General-
konferenz gelungen, die mittelstaatliche Opposition zu er-
schüttern, indem er Delbrück am 5. Juni mündlich und schrift-
lich eine Antwort auf die bayerische Zirkulardenkschrift vom
25. April 1863, die ein Eingehen auf die österreichischen Pro-
positionen gefordert hatte, geben ließ, welche in der Form, auch
& Bericht Ingelheims 3. April 1863, Nr. 19 A und 19 B; St. A. W.
9? Graf Quadt, Immediatbericht, Hannover 7. Mai 1863, I, Fr. 2, C 3.
55 Dgl. Hannover 18. Mai 1863.
æ Ingelheims Privatbrief an Rechberg während seiner Urlaubsreise nach Wien,
d. d. Aschaffenburg, 25. Juni 1863.
816 Eugen Franz
gegenüber Österreich, außerordentlich verbindlich klang. Wer
zwar genauer las, mußte erkennen, daß praktisch Preußen keine
einzige Konzession gemacht hatte. Der Erfolg der scheinbar
versöhnlichen Haltung blieb aber nicht aus. Als Bayern am
18. Juni an die großdeutsch gesinnten Regierungen mit dem
Vorschlag zu einer vorläufigen Vereinbarung“ herantrat, meinte
der hannoversche, gleich Albrecht mehr preußenfreundlich ein-
gestellte Finanzminister von Erxleben, man dürfe Preußen
nicht so brüskieren, nachdem man in der Erklärung vom 5. Juni
„ein versöhnliches Entgegenkommen des Berliner Kabinetts
erblicken“ kónne8!, Regierungsrat Show aber, von welchem
der die hannoverschen Regierungskreise eifrig im großdeut-
schen Sinn beeinflussende bayrische Bundestagsgesandte Freiherr
von der Pfordten treue Gefolgschaft erwartet hatte, gab am
27. Juni 1863 ein vertrauliches Gutachten ab®?, welches sich im
rein hannoverschen Interesse aussprach und Sonderbindungen,
wie sie München auf Wunsch Rechbergs vorgeschlagen hatte, auf
wirtschaftspolitischem Gebiet ablehnte. Man wußte in Hannover
sehr gut den politischen und den wirtschaftspolitischen Vorteil
zu unterscheiden. In Hannovers Interesse lag es vielmehr sich
mit Kurhessen zu einer passiven Kampfgemeinschaft zusammen-
zuschließen — die Gründe werden wir noch zu besprechen
haben — und die Süddeutschen allein kämpfen zu lassen. So
wird Vizedirektor Witte von Platen nach Kassel geschickt mit
dem Auftrage, sich vor Beantwortung der bayrischen Vor-
schläge vom 18. Juni über die kurhessischen Ansichten zu
orientieren. Das Einvernehmen mit Kurhessen in Gegen-
wirkung gegen Preußen festzuknüpfen war eine der Haupt-
aufgaben der hannoverschen Politik der nächsten Monate.
An dem bayrischen Vorstoß mißbilligte Platen „die Art,
wie er gemacht wurde“. Ebenso bedauerte er, daß die Punkta-
tionen in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Für die Spezial-
konferenz wünschte er einen neutralen Ort, nicht Berlin.
* Das Wesentlichste abgedruckt in Schultheß, E. G. K. für 1863, S. 41f.
61 Quadt an Schrenk, Hannover 21. Juni 1863 in I, Fr. 2, C 3.
62 Nach Hassel II, 2, S. 88.
Freiherr von Brenner, österreichischer Geschäftsträger in Hannover für den
beurlaubten Ingelheim, Or. Ber. an Rechberg, Hannover 10. Juli 1863, Nr. 43a,
St. A. W.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 817
Früher hatte er immer getadelt, daß Bayern nicht scharf genug
vorging, jetzt, da Bayern die Initiative ergriffen hatte, sah er
mit scheelen Blicken auf die energische bayrische Führerrolle.
Jede Aktion, welche eine präzise Stellungnahme nach der einen
oder anderen Seite verlangte, war ihm zuwider. Sachlich be-
greiflich war der Widerstand gegen Punkt 3 der Münchner
Punktationen, der die Teilung des Zollvereins in zwei Gruppen
für den Fall des Scheiterns der Verständigung mit Preußen vor-
schlug. Gerade durch diese Lösung wäre der Verlust des Prae-
cipuums und die Einverleibung Hannovers in die norddeutsche
Zollgruppe unvermeidlich gewesen.
Die Münchner Generalkonferenz wurde am 17. Juli ge-
schlossen. Die österreichischen Propositionen blieben unbeant-
wortet. Preußen hatte entschiedenen Widerstand geleistet
— Hannover hatte. Österreich lässig sekundiert. Eine Be-
teiligung an der von Bayern vorgeschlagenen und von Öster-
reich wärmstens empfohlenen Sonderkonferenz lehnte Hannover
zunächst ab. Noch als Finanzminister von Erxleben auf der
Rückreise aus seinem in der Schweiz verbrachten Urlaub sich
gelegentlich eines Aufenthaltes in München mit Baron Schrenk
besprach, hielt er den Wunsch aufrecht, daß Hannover in
München nicht vertreten, sondern nur über die Verhandlungen
unterrichtet werde — ein recht praktischer Modus, keine Ver-
antwortung tragen zu müssen! Schrenk lehnte diese Bundes-
genossenschaft dann auch rundweg ab“. Zu Ysenburg aber
sagte Platen im Juli, es sei gar nicht richtig zu behaupten,
„die hannoversche Regierung habe die bayrischen Punktationen
zu einer vorläufigen Vereinbarung über die Zollvereinsverträge
abgelehnt“, sie habe dieselben „nur nicht angenommen und
somit, am richtigsten ausgedrückt, nur ausweichend darauf
geantwortet$9", Im selben Atemzug aber spricht er gegenüber
Ysenburg den „dringenden“ Wunsch aus, die Einladung zu der
von Preußen beabsichtigten Spezialkonferenz „recht bald“
ergehen zu lassen®. Die Beanstandung Berlins als Tagungsort
nimmt der preußische Gesandte mit Recht nicht ernst. Da-
% Zwierzina, österreichischer Geschäftsträger, an Rechberg, München 24. Sep-
tember 1863, Nr. 94 C, St. A. W.
es Darüber mündlicher Ber. Ysenburgs in Berlin und vertraulicher Ber., Àb-
schrift, Hannover 3. Aug. 1863, in: AA II, Rep. 6, Nr. 97, Vol. 20. |
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 52
818 Eugen Franz
gegen war ihm der für Berlin in Aussicht genommene Vertreter
Hannovers, der früher erwähnte Obergerichtsvizepräsident
Witte, der Präsident des hannoverschen großdeutschen Vereins,
„der zur Zeit in Zollvereinsangelegenheiten in Wien verweilen
und... dort Hundehaare dazwischen hacken dürfte", denkbar
unerwünscht. Daß ihn der König besonders für diese Aufgabe
ausersehen hatte, empfahl ihn noch weniger. Ysenburg ,,hinter-
trieb“, wie er selbst rühmend hervorhebt, diese Mission, indem
er „ganz unumwunden erklärte, daß, sobald Herrn Witte, diesem
erklärten Feind Preußens, das betreffende Kommissorium erteilt
werden sollte", er dies als einen unumstößlichen Beweis nach
Berlin berichten würde, daß die hannoversche Regierung sich
von vornherein in der Zoll- und Handelsfrage mit Preußen nicht
zu verständigen wünsche. Die unmittelbare Folge dieser ,,viel-
leicht etwas scharfen Auslassungen“ — das ist von Ysenburg
sehr mild ausgedrückt — war, daß Platen im Conseil sich gegen
die Sendung Wittes aussprach. Erxleben oder Albrecht wurden
ausersehen. Es blieb schließlich bei letzterem.
Am 28. September war die Einladung Preußens an alle
Zollvereinsstaaten nach Berlin erfolgt. Hannover hatte eine
Konferenz der Finanzminister beantragt; Delbrück, Philipsborn
und Pommer-Esche hielten dagegen ‚die hergebrachte Art
der Bevollmächtigung“ auch diesmal für angebracht“. Die
Einladungsnote wirkte in Hannover wie ein Schlag ins Genick.
Vom Praecipuum war überhaupt nicht die Rede! Das also
war die Antwort Bismarcks auf die vielen Schachzüge Platens.
Erxleben remonstrierte dagegen, daß Preußen erst Annahme
des Vertrages mit Frankreich vor Verhandlungen mit Öster-
reich forderte, PreuBen wisse doch, daB die süddeutschen (!)
Vereinsstaaten den Artikel 31 niemals annehmen würden
„und daB damit auch Hannover ihm nicht akzedieren werde“;
er beklagte sich, daß Preußen die Staaten zur Annahme des
preußisch-französischen Tarifs zwinge; endlich aber: „Am
schmerzlichsten berühre' es in Hannover, daß sein und Olden-
burgs Praecipuum in Wegfall komme, „welche Frage doch
bekanntlich für Hannovers Finanzen geradezu eine Existenz-
e Preußische Note an Hannover — gleichzeitig mit Einladung — Berlin
28. Sept. 1863; Nr. 97, Vol. 20.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 819
frage seif"'. Auch Staatsrat Zimmermann, der die Verhand-
lungen mit Ysenburg für den, nach dem Fürstentag, in Hol-
stein auf Urlaub weilenden Grafen Platen führte „schüttete
[Ysenburg] sein Herz über die preußischen Anträge, ebenfalls
vertraulich, aus“. Zimmermann suchte die preußischen Staats-
männer damit zu schrecken, daß er eine Beschickung der
Berliner Konferenzen nun überhaupt für untunlich erklärte,
da diese jetzt ja doch keinen Sinn mehr hätten. „Preußens
Anträge“, so meinte er, „die fließendes Wasser auf die öster-
reichisch-süddeutschen Mühlen seien", kämen gerade noch zur
rechten Zeit in Hannover an, um hier den verantwortlichen
Männern „die Augen zu öffnen“ und sie „in die Münchner
Zollsonderbundskonferenzen hineinzutreiben, auf daß es dorten,
wo alle vertreten sein werdenden Zollvereinsregierungen ihm die
Bezahlung des Praecipuums zugesagt, sein Heil suche und nun-
mehr bindende Engagements ebenfalls miteingehe, vor welchen
aus Klugheit und Vorsicht, so lange Preußen nicht offen die
Initiative zur Wegnahme des Praecipuums ergriffen, es sich
wohlweislich gehütet haben würdee“ . Von Österreich spricht
Zimmermann überhaupt nicht, nur vom Praecipuum! Diese
Klagen Zimmermanns kamen nicht von ungefähr, wir ver-
spüren die einheitliche Regie. Nachdem Preußen, schließt
Zimmermann seine Rede, ‚die Brücke zwischen ihm und hier-
seits in der für Hannover allerempfindlichsten Weise selbst-
tätig abbreche, nicht einmal die Praecipuumsfrage von einer
anderen Seite sich bringen lasse, sondern in dem Duell, welches
es auf dem politischen und nun zunächst handelspolitischen
Gebiet mit Österreich auskämpfe, auch nebenbei Hannover
den Fehdehandschuh geradezu ins Gesicht schleudere, da gebe
es Hannover auch zugleich damit seine ganze Freiheit zu handeln
wieder". Bisher habe die Regierung, weil die hannoversche
Ständeversammlung für die Annahme des französischen Handels-
vertrags mit in die Schranken treten konnte, Vorsicht üben
müssen. Doch von heute an, da Preußen dem hannoverschen
Land das Praecipuum nehme, würden Regierung, Stände und
Volk darin einig sein, daß die hannoversche Regierung sich
gegenwärtig dahin wenden müsse, wo man sie vor dem Ausfall
*' Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 1. Okt. 1868, Nr. 97, Vol. 20.
52*
820 Ä E Eugen Franz
des Praecipuums bewahre. PreuDen, dessen Haltung in der
Bundesreformfrage schon zur Bildung eines politischen Sonder-
bundes hintreibe, zwinge Hannover nun auch den handels-
politischen Sonderbündlern beizutreten „und wenn Hannover
auch wirklich dabei verbluten müsse, so bleibe ihm ja kaum noch
ein anderer Ausweg“. Erxleben wie Zimmermann taten, als sei
die Berliner Konferenz mit dieser Haltung Preußens bereits
gesprengt, ehe sie zusammentrat; das Schwergewicht liege jetzt
bei der Münchner Sondertagung. Als Platen aus dem Urlaub
zurückkehrte, äußerte er sich in demselben herben Sinnés.
Man nahm Hannover auch jetzt in Berlin nicht ganz ernst.
Aber diese scharfen Tóne machten doch stutzig. Unterstaats-
sekretär Thile ließ die hannoversche Regierung sofort wissen®®,
Preußen habe gar nichts für und nichts gegen das Praecipuum
gesagt, es sei alter Brauch, „daß jeder Vereinsstaat diejenigen
Gegenstände, welche er zur Beratung gestellt sehen will, an-
zeige“. Was nicht eigens erwähnt werde, bleibe unverändert —
also vorerst auch das Praecipuum! Daß dieses „ganz ohne
weiteres fortdauere'", erwarte aber wohl selbst in Hannover
niemand ernstlich. Ob und wie weit es fortzusetzen sein werde,
kónne sich erst bei den Verhandlungen finden — damit wird
Hannover also nach Berlin geholt und sein gefáhrliches Inter-
esse von München abgezogen — „und das Maß unserer Bereit-
willigkeit dahin wird wesentlich bedingt sein durch die Haltung,
welche Hannover in bezug auf die Verträge mit Frankreich
einnehmen wird“. Selbst angenommen, Preußen hätte sofort
eine Quote festsetzen wollen, so gehe das die übrigen Vereins-
regierungen nichts an, „es sei das vielmehr zunächst zwischen
Preußen und Hannover [!] auszumachen und eine Beratung
zwischen beiden Regierungen sei keineswegs ausgeschlossen‘.
Preußen hatte zwei Gründe, warum es das Praecipuum nicht
erwähnte bei der Einladung nach Berlin: man wußte dort zur
Genüge, daß das hannoversche Praecipuum überall verhaßt war
oder doch ungern gesehen wurde. Und man wollte die übrigen
Staaten nicht Hannover zuliebe vor den Kopf stoßen. Wenn
*$ Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, „vertraulich“, Hannover 5. Okt. 1863,
Nr. 97, Vol. 20.
*9 Or. Conz., verfaßt von Philipsborn, an Ysenburg, Berlin 3. Okt. 1863. „Auf
gewohntem, sicherem Wege.“
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 821
irgend jemand es ihm im bisherigen Zollverein erhalten konnte,
wenn auch mit Beschränkungen, so war es Preußen. Nur von
ihm sollte Hannover abhängig sein; das war das Zweck des
preußischen Vorgehens. Hatte vorher Hannover seinen Kauf-
preis genannt, so hatte Preußen nunmehr deutlich die Gegen-
forderung gestellt. Ysenburg wird auf besonderem Bogen noch
angewiesen, sehr vorsichtig mit den Eróffnungen zu sein, ,,da-
mit man [in Hannover] nicht zu ist und zu zeitig auf unsere
Bereitwilligkeit rechne“.
Die nunmehrige Teilnahme Hannovers an der Münchner
Oppositionstagung im Oktober hatte den Hauptzweck, Preußen
für den Augenblick glauben zu machen, Hannover sei wirklich
ganz ins großdeutsche Lager eingeschwenkt; weitere Absichten
waren, sich zu orientieren, wie die Chancen der Münchner
ständen, und schließlich, bei geeigneter Gelegenheit, den Rück-
zug von der Opposition gegen das Praecipuum einzuhandeln.
Wie schon im September vorgesehen, beteiligte sich Hannover
erst in letzter Minute an der Münchner Tagung. Als aber der
Geheime Finanzdirektor von Bar, Generalsekretär des könig-
lichen Hauses, am 7. Oktober abends, also reichlich spät, die
Abreise nach München antrat, da hatte er dieselbe Instruktion
in seinem Portefeuille, die schon seit längerer Zeit bereit gelegt
war; wiederum verband sie die beiden Interessen Hannovers:
„tunlichstes“ Zusammengehen mit den Süddeutschen, gleich-
zeitig aber möglichste Vermittlung zwischen diesen und Preußen”.
Konnte Bismarck unter solchen Umständen durch den Wider-
stand Hannovers und der Mittelstaaten zu Konzessionen be-
wogen werden ?
Ebenso wie Hannover nunmehr Preußen kräftig gewinkt
hatte, so wurde man auch gegenüber Österreich noch deutlicher.
Windthorst und Zimmermann wiesen Ingelheim darauf hin,
daß, wenn Preußen entgegenkomme, die Regierung mit Rück-
sicht auf die Stimmung im Land in eine immer schwierigere
Lage komme. Ja, Minister Windthorst gestand Ingelheim
klipp und klar, ‚es sei allerdings nicht zu leugnen, daß Hannover
70 Einzelheiten in Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 7. Okt. 1863, Nr. 97,
Vol.20. Herm von Bar stellt Ysenburg in einem späteren vertraulichen Brief an
Bismarck das Zeugnis aus: „Ein rechtlicher Mann, eine spezifisch hannoversche
Größe im Fach der Finanzen und des Handels.“
822 Eugen Franz
in der traurigen Lage sei, sich verkaufen zu müssen — der Süden
möge dies wohl bedenken“ 1
In München hatte inzwischen am 6. Oktober bereits die
erste Sitzung stattgefunden. Bar nahm erst an den drei letzten
Sitzungen teil Unter seinem Einfluß vor allem wurde die
anfänglich noch ziemlich entschiedene Haltung der Delegierten
wesentlich rückenlahmer. Wenn man die erste Formulierung
der Wünsche der Münchner Opposition mit der schlieBlichen
Registratur vom 12. Oktober vergleicht, fällt diese Wendung
besonders in die Augen — wobei nicht übersehen werden soll,
daB auch andere Bevollmächtigte Angst vor ihrem eigenen
Mut mittlerweile bekommen hatten. Daran aber, daß dies
der Fall war, trug eben das Dazutreten des Hannoveraners
wesentliche Schuld.
An der Spitze der Münchner Registratur”? wurde wiederum
das Bekenntnis ausgesprochen, daB die Erhaltung des Zoll-
vereins „das unverrückbare Ziel der Bestrebungen“ auch der
oppositionellen Regierungen bleibe. Wenn daneben ,,der Antrag
auf die sofortige Eröffnung von Verhandlungen mit Österreich
auf Grundlage seiner Propositionen vom 10. Juli v. J.“ unter-
stützt und seine Vertretung ‚in möglichst konzilianter Weise,
aber auch mit aller Bestimmtheit und [allen?] Konsequenzen“
vereinbart wurde, so war damit nur eine schöne Phrase gedreht,
der Bismarck sein höfliches, aber ebenso unerschütterliches
Nein gegenüberstellte. Die Risse in der mittelstaatlichen Front
wurden mit der erwähnten Formulierung nicht verdeckt. Trotz-
dem somit die Münchner Registratur keinen schweren Schlag
gegen Preußen bedeutete, wurden Bar doch alsbald von seiner
Regierung Vorwürfe gemacht, er habe seine Instruktion über-
Schritten, indem er die Registratur mitunterzeichnete. Bar
war darüber begreiflicher Weise so verärgert, daß er bat, man
móge ihn ,,mit der Sendung zu den Berliner Zollkonferenzen ...
verschonen'??, Beachtung verdient übrigens die Tatsache, daß
Platen noch bei seiner Rückkehr aus Holstein, bevor er nach
Nürnberg ging, sich günstig über die Münchner Registratur
71 Ingelheim an Rechberg, 9. Okt. 1863, Nr. 64, St. A. W.
?* Abdruck SchultheB, E. G. K. für 1863, S. 81/82.
73 So Ysenburg an Bismarck, Hannover 30. Okt. 1863, „auf sicherem Wege":
in Nr. 97, Vol. 21.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 823
ausgesprochen hatte, während er jetzt, nach Rücksprache mit
Zimmermann und nach den Nürnberger Erfahrungen entdeckte,
daß sie den hannoverschen „Standpunkt der Vermittlung
kompromittiere'?*, Hannover ratifizierte zwar die Registratur,
gab aber Albrecht nach Berlin die üblichen doppelsinnigen
Verhaltungsmaßregeln mit. Er wurde angewiesen, bei den
Tarifberatungen in geeigneter Weise Rücksicht auf die öster-
reichischen Vorschláge zu nehmen. Mehr hatte Ingelheim nicht
erreichen können“.
Man wird fragen, woher dieser rasche Stimmungswechsel
in Hannover? Er erklärt sich aus folgendem: Mit Beginn der
Berliner Konferenzen wuchs der Wert Hannovers. Eben des-
halb hatte Bismarck am 11. Oktober erneut durch Ysenburg
eine wohlwollende Haltung in der Praecipuumsfrage andeuten
lassen. Hannover aber hatte aus den Münchner Verhandlungen
nicht die Zuversicht gewonnen, daß der Südblock ernstlich ihm
Vorteile bringen könnte. Deshalb läßt man jetzt durchfühlen,
daB man sich Preußen ,,nicht ungern in dieser Frage näheren
móchte'?*. Neun Tage später, am 25. Oktober richtet Bismarck
eine von ihm eigenhändig durchkorrigierte Note an Ysenburg,
welche er gegenüber dem Entwurf Philipsborns wesentlich
verschärftꝰ“: hier spricht Bismarck das erstemal ganz deutlich
sein Programm bezüglich Hannovers aus: letzteres kónne von
Preußen nicht erwarten, daß es „mit einem greifbaren Vor-
schlag wegen des Praecipuums hervortreten“ werde, solange
Hannover selbst nichts dagegen biete, der Anschein vielmehr
dafür spreche, „daß die dortige Regierung nicht etwa, wie
behauptet wird, eine vermittelnde Stellung einnimmt, sondern
sich den einseitigen Bestrebungen der Gegner des Handels-
vertrages mit Frankreich“ anschließt. Ysenburg solle weiterhin
in seiner abwartenden Stellung gemäß den bisherigen Instruk-
tionen verharren. Hierauf fährt Bismarck fort: „Dies soll
mich ja nicht abhalten, Euer Durchlaucht vertraulich und
% Ingelheim an Rechberg, Hannover 1. Nov. 1863, Nr. 69, St. A. W.
78 Chiffretelegramm Ingelheims an Rechberg, Hannover 13. Nov. 1863, St. A. W.
”% Ysenburg an Bismarck, Hannover 16. Okt. 1863, in: Nr. 97, Vol. 21.
” Or. Conzept, Bismarck-Philipsborn an Ysenburg, Berlin 25. Okt. 1863, ver-
trauliche Instruktion „auf sicherem Wege“, in Nr. 97, Vol. 21. In den Ges. W. IV.
nicht abgedruckt.
824 Eugen Franz
persönlich mitzuteilen, wie die Sache im Augenblick liegt:
wir verhandeln natürlich gleichzeitig mit der kurhessischen
Regierung, um deren Zustimmung zum Handelsvertrag zu er-
reichen. Gelingt dies, bevor wir uns mit Hannover geeinigt
haben, so verliert der Beitritt Hannovers erheblich an Be-
deutung für uns und wir haben dann kein Motiv, um für die
Fortgewährung des Praecipuums etwas zu tun. In dem Maße
allerdings, in welchem meine Bestrebungen in Kassel nicht zum
Ziel führen, erhöht sich für uns das Bedürfnis, auf Hannover
Rücksicht zu nehmen, und für diesen Fall nehme ich nicht An-
stand, meine Ansicht dahin auszusprechen, daß, wenn Hannover
dem Handelsvertrag mit Frankreich beitritt, wir in die Fort-
dauer des Praecipuums willigen würden". Doch betont Bismarck
noch einmal, diese Bemerkungen seien „ausschließlich nur“ zu
Ysenburgs persónlicher Kenntnis. Unter keinen Umstünden
dürfe er „eine irgend verbindliche Erklärung darüber abgeben“,
um so mehr, als er den Eindruck habe, man wolle hannoverscher-
seits mit allen Mitteln Preußen „zu übereilten Konzessionen
verleiten““s. Und fünf Tage später weist er Ysenburg, nachdem
dieser gefragt hatte"?, ob er wenigstens rein persönliche, unver-
bindliche Andeutungen machen dürfe, telegraphisch an, etwaige
Konzessionen wegen des Praecipuums „auch auf eigene Hand
und als persönliche Idee nicht zur Sprache zu bringen''9?, — Die
Note vom 25. Oktober ist insofern höchst bemerkenswert, als
Bismarck damals von einem Fortbezug des Praecipuums spricht,
ohne eine Einschränkung anzudeuten — vorausgesetzt, daß
Kurhessen sich völlig versagen sollte! Das von Hannover so
sehr angestrebte Zusammengehen mit Kurhessen, seine ständigen
Aufforderungen an die kurfürstliche Regierung und an den
Kurfürsten selbst, ja Schulter an Schulter mit Hannover zu
gehen und nicht nachzugeben, verfolgten ebenso einen Tein
hannoverschen Vorteil wie das Scheinbündnis mit den Süd-
deutschen. Dadurch, daß die Regierung die Absichten Bismarcks
nicht erkannte — Ysenburg durfte ja nicht sprechen — ver-
säumte sie einen günstigen Augenblick zum Anschluß an Preußen.
78 Or. Conzept, Bismarck-Philipsborn an Ysenburg, Berlin 25. Okt. 1863, Nr. 97,
Vol. 21.
”% Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 27. Okt. 1863, Nr. 97, Vol. 21.
39 Chiffretelegramm Bismarcks an Ysenburg, Berlin 30. Oktober 1863; gl. O.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuB.-franz. Handelsvertrags 825
Nicht Herr von Bar, sondern der vertragsfreundliche Albrecht
wurde anfangs November nach Berlin entsandt. Die Einzel-
heiten der dortigen Verhandlungen zu verfolgen lohnt sich
nicht in diesem Rahmen. Was Hannover und was Preußen
wollten, ist nach dem Gesagten festgestellt. Als sich eine rasche
Einigung infolge des süddeutschen Widerstandes nicht erzielen
ließ, kündigte Preußen mit Zirkularnote vom 15. Dezember,
am Tag der Weihnachtsunterbrechung der Verhandlungen,
den bisherigen Zollvereinsvertrag.
Da geriet Platen in die größte Aufregung. Das eben war es,
was er unter allen Umstánden hatte vermeiden wollen! Eine
Reihe hoher hannoverscher Beamter hatte ihn bei Ysenburg
in dem Bemühen unterstützt, diesen Schritt ja zu verhüten?!,
Wenn erst PreuBen die Kündigungsfrist, d. h. den 1. Januar
1864 ungenützt verstreichen ließ, dann konnte man gemächlich
weiter temporisieren, handeln und feilschen. Ysenburg ,,war
nicht wenig frappiert", Platen durch diese Kündigung ,jin die
größte Aufregung geraten zu sehen‘‘®®. Alle Begründungen des
preußischen Vorgehens, die Versicherung, „daß diese formelle
Kündigung der Zollvereinsverträge ja durchaus notwendig, ge-
boten gewesen sei", machten keinen Eindruck. Preußen habe,
so behauptete Platen, im Gegensatz zu den Worten seiner
Kündigungsnote durchaus nicht im Sinn seiner verbündeten
Regierungen, vor allem nicht Hannovers, „welches momentan
wieder ganz auf preußischer Seite gestanden [!]", gehandelt.
Hannover sehe sich damit gezwungen, sich nun wieder den
Reihen der Süddeutschen anzuschließen. Die unangenehmsten
Schritte würden nicht ausbleiben. Diese ärgerlich hingeworfene
Drohung wiederholte er in der nächsten Zeit in immer neuen
Wendungenés.
Delbrück stellte diese Erregung und scheinbare Über-
raschung Hannovers richtig“: bei dem ersten Besuch, welchen
er dem hannoverschen Bevollmächtigten im November 1863 ge-
e Ysenburg an Bismarck, Hannover 1. Nov. 1863, in Nr. 97, Vol. 21.
53 Del. 16. Dez. 1863, Nr. 97, Vol. 21.
83 Z. B. Ber. Ysenburgs 17. Dez. 1863, dgl. 18. Dez. 1863, beide in Nr. 97, Vol. 21.
84 Delbrück, Or. Brief an das Außenministerium, Berlin 17. Dez. 1863, gl. O.;
dementsprechend dann die Instruktion Bismarcks an Ysenburg, Berlin 19. Dez. 1863,
gl. O.
826 Eugen Frans
macht, hatte er Albrecht auf dessen Frage, ob Preußen, wenn
vor dem Ablauf des Jahres, wie dies doch wahrscheinlich, eine
Verständigung zwischen den Zollvereinsgenossen noch nicht
erfolgt sei, die Verträge kündigen werde, sofort erwidert, daß
diese Kündigung dann bestimmt erfolgen werde. Delbrück
glaubte sich zu erinnern, daß Albrecht hierauf bemerkte, er
habe dies sich selbst schon gesagt“. Platen hatte tatsächlich
mit der Kündigung gerechnet, sie befürchtet. Sein ärgerliches
Erstaunen war Manöver. Ingelheim berichtet, man habe die
Kündigung in Hannover vorausgesehen. Diesen Schritt habe
Berlin getan, so sagte man in Hannover, um den ,,móglichsten
Nutzen für Preußens eigensüchtige Tendenzen zu ziehen''85,
Ja, gegenüber dem Österreicher rechtfertigt die hannoversche
Regierung geradezu die preußische Kündigungsnote!
Wohl wurde diese Schmollwinkelpolitik in Berlin unange-
nehm empfunden. Aber man erwartete mit Recht, daß auch
dieser Zorn über die unsanfte Störung der hannoverschen Zirkel
verrauchen werde. Bis zur Wiederaufnahme der Verhandlungen
zu Berlin am 3. Februar 1864 war dies geschehen: jetzt forderte die
hannoversche schriftliche Erklärung®: 1. das Praecipuum,
2. gleichzeitige Regelung der Vertragsverhältnisse zu Frank-
reich und Österreich — wobei der zweite Punkt offenbar als
Handelsobjekt zur Erreichung des ersten gedacht war. Doch
erhob Hannover bei den weiteren Beratungen keine Schwierig-
keiten. Damals kam auch der bayrische Delegierte, Ministerialrat
von Meixner zu der betrüblichen Erkenntnis, Hannover habe nur
ein Ziel: die Erhaltung des Praecipuums durch Sicherung nach
allen Seitens“! Er formulierte abschließend die Taktik Hannovers
in den scharfen Satz: Hannover sei nur deshalb teilweise mit
Bayern gegangen, um das Praecipuum, als Lohn für seinen Abfall
von Bayern, herauszuschlagen®”. Immerhin blieb das Schein-
bündnis bestehen, nachdem PreuBen in seiner Erklárung vom
11. Februar die eben erwáhnten hannoverschen Forderungen
rundweg abgeschlagen hatte.
. In der letzten Sitzung dieser zweiten Verhandlungsetappe
brachte der preuBische Vorsitzende den für Hannover so ver-
*5 Bericht Ingelheims an Rechberg, 18. Dez. 1863, Nr. 87 A, St. A. W.
86 In Nr. 97, Vol. 22.
5" Kommissionsber. Meixners an den König, Berlin 7.Febr.1864, in I, C3, Convol.3.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 827
drießlichen Antrag seiner Regierung auf Beseitigung des Prae-
cipuums für den Welfenstaat und Oldenburg anläßlich der
Erneuerung des Zollvereins zur Sprache. Bisher war darüber
nicht verhandelt worden und auch jetzt, so sagte Pommer-
Esche, erlaubte die Zeit nicht näher darauf einzugehen. Bis
zur Wiederkehr sollten sich die Bevollmächtigten aber mit
ausreichenden Instruktionen versehen! Der kluge hessen-
darmstädtische Delegierte, Freiherr von Biegleben, umreißt
die Lage Hannovers und die Absichten Preußens treffend mit
den Worten: „Offenbar hat man preußischerseits mit Absicht
die Verhandlung über diesen Punkt, den man sehr wohl längst
auf die Tagesordnung hätte bringen können, verschoben, weil
man ihn in der Schwebe lassen wollte, um ein gewichtiges
Mittel, auf Hannover zu wirken, nicht aus der Hand zu geben“.
Als am 2. Mai, nach ergebnislosem Verlauf der Prager Unter-
handlungen zwischen dem Sektionschef im österreichischen
Finanzministerium, Freiherrn von Hock und dem preußischen
Geheimen Rat Hasselbach, von denen man in Hannover fälsch-
lich eine Einigung zwischen Preußen und Österreich, zumal
in Anbetracht der damaligen politischen Zusammenarbeit der
beiden Staaten, erhofft hatte, die dritte Etappe der Verhand-
lungen in Berlin begann, war Hannover in einem Dilemma.
Jetzt stand die peinliche Frage bevor! Die bayrische, württem-
bergische und hessen-darmstädtische Regierung beschickten
die Konferenz nicht mehr. Das war für Hannover ein Ausweg.
Platen versicherte Bayern, er werde Albrecht nicht teilnehmen
lassen, wenn nicht alle Staaten zur Konferenz kämen®®. Ander-
seits aber brachte er es doch nicht über sich, Albrecht überhaupt
nicht nach Berlin zu schicken. König Georg faDte die „Auf-
gabe“, die Albrecht künftig in Berlin hatte, in den humorvollen
Satz: „Da kann er einstweilen in Berlin spazieren gehen“?
Albrecht reiste nach Berlin, nahm aber an den Sitzungen nicht
teil. Der Druck auf Preußen sollte damit erhöht werden,
Albrecht aber jederzeit bereit und zur Stelle sein, falls Preußen
nachgeben wollte. Die Praecipuumsfrage wurde nicht ange-
59 Biegeleben, Or. Ber. an das großherzoglich-hessische Außenministerium,
Darmstadt 31. Mürz 1864, in hess. Staatsarchiv Darmstadt, Ablief. Staatsm. P,
Conv. 23, fasz. 1.
8 Or. Ber. Ingelheims an Rechberg, Hannover 1. Mai 1864, Nr. 48, St. A. W.
828 | Eugen Franz
schnitten, das Damoklesschwert über Hannover blieb in der
Schwebe. Da die hannoversche Regierung im Kampf um das
Praecipuum nun auch in der zweiten Kammer lebhafte Unter-
stützung fand — selbst Miquel konnte der Minister Erxleben
in der Kammersitzung vom 11. Mai 1864 ohne Widerspruch
jetzt als Bundesgenossen der hannoverschen Politik in der
Handelsvertragsfrage ansprechen?“ — war die Stellung des han-
noverschen Ministeriums zweifellos befestigt. Darum beschloß
die Regierung nunmehr sich an den neuen, von der bayrischen
Regierung für Juni ausgeschriebenen Konferenzen der ,,Zoll-
separatisten‘‘, wie Arnim, der preußische Gesandte in München,
die Opposition bezeichnete?!, zu beteiligen; Albrecht wurde auch
dorthin als Delegierter bestimmt. Die Hauptsorge Hannovers
war jetzt das Durchhalten Kurhessens, das Preußen seit Wochen
derartig bearbeitete, daB Aufenminister Abée und Finanz-
minister Dehn-Rotfelser in árgster Bedrángnis waren — und zwar
um so mehr, als auch sie die hannoverschen Pláne durch-
schauten. Platen suchte zwar dem Minister Abée klarzumachen,
„daß Hannover ganz gut auch außerhalb eines nordischen Zoll-
vereins leben und auch ohne Praecipuum bestehen kónne''9?;
man möge in Kassel daher nicht glauben, „der Widerstand
Hannovers kónnte durch einfaches Bewilligen des Praecipuums
gebrochen werden“ . Der Kasseler Außenminister aber teilte
diese Eröffnung Hannovers schleunigst dem preußischen Ge-
sandten mit und „belächelte“ im übrigen „diese eigentümliche
Behauptung“.
Dafür, daß man in Hannover gehofft hatte, Albrecht werde
in Berlin doch nicht nur „spazieren gehen“ müssen, sprechen
die hannoverschen Klagen, daß die preußischen Staatsmänner
nicht außerhalb der Konferenzen mit ihm in Fühlung traten.
Es war der große Schmerz Hannovers jetzt und in der Folge,
daß Preußen nicht die Initiative ergriff und ihm ein Angebot
machte. Ysenburg wies diese Klagen mit der scharfen Be-
merkung zurück, daß dergleichen Mitteilungen, wie Sie Albrecht
% Ysenburg an Bismarck, 13. Mai 1864, in: Nr. 97, Vol. 23.
9! Arnim an Bismarck, München 3. Mai 1864, in Nr. 97, Vol. 22.
n Prinz Reuß, preußischer Gesandter in Kassel, an Bismarck, 26. Mai 1864,
in Nr. 97, Vol. 23.
# Wie vorhergehende Anm.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 829
erwarte, „nur einfach auf den Straßen Berlins Promenierenden
nicht nachgetragen zu werden pflegten'9?*! Als Ysenburg dann
aber riet, Hannover möchte nicht den günstigen Zeitpunkt
zum Anschluß an Preußen übersehen, wurde Platen anzüglich
und meinte, „Werbeversuche‘‘, wie sie vor kurzem durch den
braunschweigischen Minister von Liebe und jüngst von olden-
burgischer Seite bei ihm gemacht worden seien, könnten die
hannoversche Regierung nur in der Überzeugung bestärken,
daß Preußen einen sehr hohen Wert auf ihren Beitritt zu dem
neuen Zollverein lege „und daß sie diesen ihren Beitritt somit
recht teuer, womöglich noch um den Fortbezug des ganzen
Praecipuums erkaufen lassen könne“.
Schon 14 Tage spáter hatte der Wind in Hannover, infolge
einer falschen Alarmmeldung über Kassel, umgeschlagen. Das
Gerücht, daß die kurhessische Regierung mit Preußen ins reine
gekommen sei, hatte das hannoversche Kabinett erschreckt.
So kam es, daß am gleichen Tage, an welchem die Instruktion
an Albrecht für München fertig gestellt wurde, Ysenburg auf
Grund vertraulicher Informationen den Versuch Hannovers,
sich Preußen zu nähern, erwarten durfte®®. Das Geschäft — Ab-
kehr von Österreich und Süddeutschland, Einigung mit Preußen
— sollte Zug um Zug vonstatten gehen Der jetzt vorgesehene
Abschluß mit Preußen sollte auf der Basis des preußisch-
sächsischen Übereinkommens vom 11. Mai 1864 vollzogen
werden. Ysenburg, der eben erst von Besprechungen mit
Bismarck aus Berlin zurückgekommen war, sieht sich daher
veranlaßt um telegraphischen Bescheid zu bitten, was er ,,durch-
blicken lassen“ dürfe’. Er hält den gegenwärtigen Augenblick
für günstig, um zu einem Arrangement mit Hannover zu ge-
langen. Wenn er der Regierung etwa die Hälfte oder */,4 oder
gar / des Praecipuums eröffnen dürfe, so würde seiner Ansicht
nach rasch ein Abkommen zu treffen sein; bei ?/, sei es „wohl
schon ganz ohne Zweifel!“ . Bismarck antwortet telegraphisch
sofort: „Ohne Anfrage sagen Sie nichts! Frägt man Sie, so
sagen Sie, daß Sie nicht ermächtigt seien, sich über das Prae-
% Ysenburg an Bismarck, Hannover 29. Mai 1864, gl. O.
*5 Ysenburg an Bismarck, „ganz vertraulich", Hannover 13. Juni 1864, in Nr. 97,
Vol. 23.
% Telegramm Ysenburgs an Bismarck, Hannover 13. Juni, gl. O.
830 Eugen Franz
cipuum zu erklären, daß wir darüber verhandelt haben würden,
wenn der hannoversche Kommissarius darauf mit uns ein-
gegangen wäre, und daß wir, wie Sie bestimmt wüßten, auch
jetzt bereit seien, darüber mit dem hannoverschen Kommissarius
vertraulich hier zu sprechen?”.‘‘ Bismarck will also diese Ver-
handlungen nicht aus der Hand geben.
Am 14. Juni erfolgte dann der von Ysenburg erwartete
Schritt durch Erxleben und Platen. Einen vollen Stellungs-
wechsel deutete ihre Frage an, ob Preußen das Praecipuum
auch dann garantieren könne, wenn nur ein norddeutscher
Zollbund zustande komme®®. Bei der Versicherung, Preußen
sei auch jetzt noch bereit, mit Hannover zu verhandeln — diese
Bereitwilligkeit verdankte letzteres nur dem Zögern Kurhessens!
— fiel Platen „sichtlich ein Stein vom Herzen“. Platen fühlte
weiter vor: „Daß wir das ganze Praecipuum nicht bekommen,
das haben Sie uns oft genug gesagt, und ich muß es Ihnen wohl
glauben, und so dürfen wir mehr wie / auch wohl gar nicht ver-
langen?®?‘‘ Als Ysenburg darauf den Versuch Preußen fest-
zulegen mit der scherzhaften Erwiderung ablehnte, seine Re-
gierung werde vielleicht ½ oder !/,43 des Praecipuums bieten,
zog Platen sich im gleichen Ton auf die Anfrage zurück: auf die
Hälfte des Praecipuums werde er doch sicher rechnen dürfen?
Nun war Hannover also so weit, als man es in Berlin haben
wollte. Albrecht hatte man schon für München vergeben. Als
Ysenburg ihn für Berlin in Anspruch nehmen wollte, entgegnete
Platen, Preußen müsse schon gestatten, „daß die hannoversche
Regierung einen minder schroffen Bruch mit den Münchner
zollverbündeten Staaten exekutiere und sich doch auf eine
etwas ritterlichere Weise aus den dortigen Schlingen [!] ziehe".
Der hannoversche Plan war auch in dieser Hinsicht schon vor-
bereitet: Platen schlug als Unterhändler dem oldenburgischen
Bevollmáchtigten auf der Berliner Zollkonferenz, Oberzollrat
Meyer vor. Dieses Angebot hatte offensichtlich einen mehr-
fachen Vorteil: einmal war damit die Interessengemeinschaft
mit Oldenburg betont und die Unterstützung von seiten des
*' Chiffretelegrammconzept Bismarcks, von Philipsborns Hand, Berlin 14. Juni
1864, in Nr. 97, Vol. 23.
% Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, „ganz vertraulich“, Hannover 15. Juni 1864,
gl. O. B
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 831
Preußen bisher gefügigeren und daher in Berlin besser ange-
schriebenen wichtigen Nachbarstaats gesichert. Sodann aber
konnte der Oldenburger, wenn die Dinge sich ungünstig an-
ließen, leichter abgeschüttelt werden.
Mit der Vorsprache der beiden Minister bei Ysenburg am
14. Juni war das Gelände ausgekundschaftet. Nun beriet man
im königlichen Kabinett, was zu tun sei. Nach Rückkehr von
der königlichen Tafel in Schloß Herrenhausen sprach Platen
am Abend des 15. Juni den Prinzen auf der Promenade. Es
schien, als habe er neue Instruktionen’: der König werde schwer-
lich die Entsendung eines Kommissars zu vertraulichen Be-
sprechungen nach Berlin genehmigen. Die Regierung habe in
den letzten Tagen die feste Absicht zum Vertragsabschluß ge-
habt, wenn man ihr bestimmte Andeutungen gemacht hätte.
Da nun Ysenburg jede Erklärung über das zu erwartende An-
gebot verweigert habe, so könne man es der hannoverschen
Regierung nicht verargen, „wenn sie ihre Fühlhórner nun auch
wieder zurückzöge“ . Platen faßte dabei Ysenburg scharf ins
Auge. Als er sah, daß seine Anspielungen keinerlei Eindruck
auf den Prinzen machten, dieser vielmehr entgegnete, die
Regierung möge das ganz so halten, wie sie es eines Tages vor
dem Land vertreten könne, lenkte der Minister ein und meinte,
er schicke ja an sich gern einen Unterhändler nach Berlin, aber
die Absendung eines hannoverschen Kommissars nach Berlin
würde „zu viel Alarm machen und der hiesigen Regierung sowohl
Österreich wie auch die Münchner Zollkonferenzstaaten auf den
Hals laden“. Er wollte am 16. Juni noch einmal nach Herren-
hausen fahren und wiederum Meyer für Berlin vorschlagen.
Lehne man letzteren von Berlin aus ab, so werde man die Sache
wohl auf sich beruhen lassen und Hannover müsse zusehen,
welche Hülfe es in München fände; von dort habe es bereits
Zusagen. Ysenburg ersparte Platen nichts, forderte ihn vielmehr
mit sarkastischer Ruhe auf, „sich dann ja nicht abhalten zu
lassen", das Praecipuum Hannover auf diese Weise recht
kräftig zu sichern! Darauf lenkte Platen neuerdings ein: er suche
das Heil Hannovers nicht in München und Wien; er wisse, daß
Isenburg an Bismarck, „ganz vertraulich“, Hannover 16. Juni 1864, in Nr.97,
Vol. 23.
832 i Eugen Franz
die in Wien vereinbarten Punktationen!'? kaum in München und
Stuttgart und schon gar nicht in Darmstadt behagten. Da ihm
nun gar zu Ohren gekommen sei, daß zwischen Preußen und
Kurhessen schon ein Vertrag paraphiert und dies für Hannover
von größter Wichtigkeit sei, so wären er und Erxleben eben zu
Ysenburg gekommen’,
Der König gab, wie zu erwarten, in einem neuen Minister-
konseil am 17. Juni seine Genehmigung zur Entsendung Meyers,
da sich ein anderer geeigneter Ausweg nicht bot!9*, Im gleichen
Konseil wurde auch die Instruktion für Albrechts Münchner
Wirksamkeit beraten; sie wurde so abgefaßt, daD sie eine
sofortige Verständigung mit Preußen nicht behinderte: die
in Wien vereinbarten Punktationen wurden für Hannover in
ihrer jetzigen Gestalt als untragbar bezeichnet. Hauptaufgabe
sei die Erhaltung des Zollvereins und Verständigung mit Preu-
Den!9*, Mit einer solchen Instruktion konnte Albrecht in München
nur schaden. Sein Wirken hatte lediglich den Zweck, die
Brücken nach dem Süden langsam abzubrechen. Das gleiche
besorgte Platen selbst: Das Entgegenkommen Hannovers habe
seine Grenze erreicht, erklärte er dem erstaunten Grafen Quadt:
es sel „unpraktisch II], einen voraussichtlich erfolglosen Wider-
stand fortzusetzen'!**, Auch die Süddeutschen könnten sich
auf die Dauer nicht dem Beitritt zum Zollverein entziehen. Ge-
wiB sei Österreichs Schicksal zu bedauern. Aber man könne
dem Wiener Kabinett den Vorwurf nicht ersparen, daß es die
erforderliche Entschiedenheit habe vermissen lassen — ein
Vorwurf, der durchaus berechtigt und auf die preuBisch-óster-
reichische politische, wenn auch zeitweilig unterbrochene Ent-
ente (seit Ende 1863) gemünzt war. Trotzdem wartete man noch
bis zum 22. Juni, um zu sehen, wie die seit dem 19. in München
100 Zwischen den bayrischen Ministerialráten Weber und Meixner und dem
Wiener Leiter des Handelsministeriums, Baron von Kalchberg — Ende Mai bzw.
1. Juni 1864; vgl. SchultheB, E. G. K. f. 1864, S. 104/105.
101 Ysenburg an Bismarck, Hannover 16. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 23.
19 Bismarcks Instruktion, Or. Conz. von Philipsborn, an Ysenburg, Berlin
18. Juni 1864, gl. O. Meyer reiste am 18. Juni mittags von Berlin nach Hannover,
um dort seine Vollmachten in Empfang zu nehmen.
19 Ysenburg an Bismarck, Hannover 17. Juni 1864, gl. O. Ebenso Ingelheim
an Rechberg, Hannover 17. Juni 1864, Nr. 65 A, St. A. W.
104 Graf Quadt, Immediatber., Hannover 17. Juni 1864, in I, C 3, Conv. 3.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 833
tagende Konferenz verlief; ja, um Preußen williger zu machen,
schlug Platen nun Österreich und den Südstaaten vor, eventuell
einen süddeutschen Zollverein zu formulieren! Für sich aller-
dings halte die hannoversche Regierung die Erneuerung und
Erweiterung des Februarvertrages von 1853 für das einzige
erreichbare und in ihrem Interesse liegende Ziel. Gleichzeitig
aber verlangte Platen von Österreich ‚die volle Sicherstellung
des Fortbezuges des Praecipuums“ 10
Hannover hatte sich nicht nur bezüglich Kurhessens, sondern
auch über Oldenburg getäuscht!%; als Platen mit Bestimmtheit
erfuhr, daß Preußen und Oldenburg noch nicht handelseinig
seien, verlegte er sich erneut aufs Temporisieren. In Berlin
durchschaute man diese Winkelzüge. Bismarck ließ daher
Platen eindringlich warnen, er möchte sich „über die Lage der
Sache nicht täuschen“. Als Platen und Erxleben noch einen
Versuch machten, die hannoverschen Forderungen zu steigern
und meinten, Meyer müsse mit der Forderung des vollen Prae-
cipuums beginnen, „um dann abhandeln lassen zu können“,
erwiderte ihnen Ysenburg barsch, sie möchten dann lieber die
ganze vertrauliche Besprechung mit der preußischen Regierung
unterlassen!??,
Am 25. Juni waren Meyer und die preußischen Bevoll-
mächtigten zur ersten Sitzung zusammengetreten. Hannover
war bereit zur Fortsetzung des Zollvereins unter folgenden
drei Voraussetzungen!??: 1. Daß alle zu Gebot stehenden Mittel
angewendet werden, um die süddeutschen Staaten — denen
Platen vor wenigen Tagen noch den Rat erteilt hatte, einen
Sonderbund mit Österreich zu schließen! — zum Verbleiben
im Verein zu bewegen. 2. Daß Mittel und Wege vereinbart
werden, um das Verhältnis zu Österreich befriedigend zu regeln.
3. Daß Hannover das Praecipuum in seiner bisherigen Höhe
garantiert werde. Die preußischen Unterhändler antworteten,
Punkt 1 und 2 könne man zwar nicht ohne weiteres an-
nehmen, doch werde man darüber sich schließlich wohl einigen
106 Ingelheim an Rechberg, Hannover 17. Juni 1864, Nr. 65a, St. A. W.
100 Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 22. Juni 1864, Nr. 97, Vol. 23.
107 Dgl. an dgl. Hannover 19. Juni; gl. O.
108 Aufzeichnungen von Philipsborns Hand, Berlin 25. Juni 1864, in Nr. 97,
Vol. 23.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.26, H.4. 53
834 Eugen Franz
können. Hier handelte es sich ja doch mehr oder minder um
Diplomatenphrasen. Punkt 3 aber bezeichneten sie als un-
annehmbar.
Am 28. Juni traf die Zustimmung Kurhessens in Berlin ein!“.
Diese Nachricht schlug wie eine Bombe in Hannover ein.
Trotzdem blieb Platen starrköpfig bei seiner Behauptung, er
könne nichts tun für die Verständigung, da Preußen nur !/,
oder !/, des Praecipuums Oldenburg und Hannover zugestehen
wolle. Es werde Berlin nicht leicht gelingen, Oldenburg auf
seine Seite herüberzuziehen. Beide Staaten müßten mindestens
die Hälfte des Praecipuums weiter beanspruchen oder einen
neuen Steuerverein gründen. Eine Punktation bestehe bereits
zwischen beiden Regierungen!!?, Das war nur ein Schreckschuß.
Oldenburg war schon nahe daran, selbständig mit Preußen
abzuschließen. Bismarck war nun sogar der Ansicht, daß man
Hannover wegen seiner Widerspenstigkeit weniger zubilligen
solle, als dem willigeren Oldenburg!!!. „Wir können dies“,
schreibt er Philipsborn „um so eher, als, wenn wir Oldenburg
neben Braunschweig und Kurhessen haben, Hannover nicht
mehr in der Lage ist, zurückzubleiben oder große Schwierig-
keiten zu machen“. Man möge Oldenburg „so weit wie möglich
entgegenkommen“, aber „an dem hannoverschen Praecipuum
eine Ersparnis gegen das oldenburgische machen“ 111.
Die Fachminister, denen Bismarck diese Meinung sagen ließ,
waren anderer Ansicht. Und auch politisch wäre es doch wohl
bedenklich gewesen, Hannover auf diese Weise ganz offen-
sichtlich schwerstens zu kränken. Schwierigkeiten aller Art
wären unvermeidlich gewesen. Außerdem hatte ja Oldenburg
noch nicht bestimmt zugesagt; es wartete auf Hannover. Die
Schicksalsgemeinschaft wurde aufrechterhalten. Am 1. Juli
fand zu Herrenhausen eine Besprechung zwischen dem Groß-
herzog und Prinz Ysenburg statt: der Großherzog fand, daß
die Hälfte des Praecipuums „denn doch zu niedrig“ sei!!?, er
habe auf ?/,, mindestens aber ?/,, gerechnet. Der oldenburgische
19 Vgl. Or. Conz. Chiffretelegramm Philipsborns an Bismarck in Karlsbad,
Berlin 28. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 23.
110 Ysenburg an Bismarck, Hannover 29. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 24.
111 Brief Bismarcks an Philipsborn, Karlsbad 30. Juni 1864, in Nr. 97, Vol. 23.
112 Or. Ber. Ysenburgs an Bismarck, Hannover 1. Juli 1864, Nr. 97, Vol. 24.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 835
Finanzminister Zedelius und der von Berlin herbeigerufene
Oberzollrat Meyer waren gleichfalls nach Herrenhausen befohlen
worden. Ysenburg widerriet dem Großherzog dringend, sich
auf ein Handeln mit Berlin einzulassen; !/,, mehr bedeute etwa
15000 Gulden für Oldenburg. Sei es geraten, deswegen auf
einen Abbruch hinzutreiben? Auch vom point d'honneur
aus suchte er den Großherzog zu beeinflussen: wenn Preußen
einmal vorhabe die Hälfte zu bewilligen und es sollte wirklich
gelingen einen Bruchteil mehr einzuhandeln, so erscheine ihm,
Ysenburg, das wie ein Geschenk, das Oldenburg doch gewiß
von Preußen nicht annehmen wolle! Die eigenartige Frage
des Großherzogs an den preußischen Gesandten, ob er ihm
rate, fest abzuschließen, bejahte Ysenburg selbstverständlich.
Als dieser im Vorzimmer des Großherzogs dann beim Fortgehen
Minister Zedelius und Meyer traf, sprach er ihnen in aller Eile
im gleichen Sinne zu. Oldenburg war damit im wesentlichen
gewonnen und Bismarck beharrte auf seinem Vorschlag, Olden-
burg besser zu stellen als das noch immer sich versagende
Hannovers.
Jetzt war es auch für Hannover höchste Zeit und nunmehr,
da man ernstlich entschlossen ist, beizutreten, weil man muß,
geht ein eigener hanno verscher Unterhändler, der Geheime
Finanzdirektor von Bar, am 6. Juli nach Berlin ab, um dort die
Schlußverhandlungen am 7. Juli aufzunehmen. Nunmehr war
das Eis gebrochen!M,
Nach München und Wien hatte Platen schon Anfang Juli
das Abschwenken mitgeteilt. Rechberg antwortete sehr kühl
und reserviert: bei aller Bemühung, Platen gerecht zu werden
„kann ich“, so schreibt er, ,,doch mein lebhaftes Bedauern dar-
über nicht unterdrücken, daB die kónigliche Regierung bei
diesem ganzen Vorgang nicht diejenigen Rücksichten beobachtet
hat, welche wir und unsere Verbündeten von ihm zu erwarten
berechtigt waren“ 11s. Damit war dieser schwierige Teilkampf
Freußens und Österreichs auf hannoverschem Boden beendigt.
113 Bismarcks Brief an Philipsborn, Karlsbad 4. Juli 1864, Nr. 97, Vol. 24.
14 Chiffretelegramm des Unterstaatssekretürs Thile an Bismarck, Berlin 8. Juli
1864, gl. O.
115 Or. Conz., Rechbergs Weisung an Baron Brenner, Wien 30. Juli 1864,
St. A. W. : LS
53*
836 Eugen Franz
Am 11. Juli traten Hannover und Oldenburg den Verträgen
bei, Was waren die Ergebnisse?
Österreich war verärgert. Rechberg war aber zu vornehm
und zu klug, um Hannover noch weitere Vorwürfe zu machen.
Was hätte es auch für einen Zweck gehabt? In politischer
Hinsicht konnte man Hannover doch gelegentlich wiederum
gebrauchen. So fand man sich ab.
Die Münchner Vereinsgenossen waren entrüstet und de-
primiert. Der norddeutsche Flügel war damit zusammen-
gebrochen, das süddeutsche Oppositionszentrum war ge-
schwächt und zermürbt. Auch Albrechts Lage war äußerst
peinlich: er hatte, wie der preußische Gesandte von Arnim zu
berichten weiß, „keine Ahnung“? von dem nahen Abschluß
der Verhandlungen Hannovers mit Preußen gehabt, als er
von Berlin nach München reiste. Erst vor Beginn der Münchner
Schlußsitzung erhielt er von Ministerialrat Meixner Mitteilung
von dem Berliner Abkommen. Albrecht war damit ‚in eine
schiefe Stellung geraten“: er war daher in der Schlußsitzung
der Münchner Konferenz am 12. Juli nicht mehr erschienen,
nachdem, wie er mündlich Herrn von Meixner erklärte, seine
Regierung inzwischen eben andere Wege eingeschlagen habet.
Schrenk war empört über den Apostaten Platen und warf ihm
„einen solchen Mangel an Aufrichtigkeit und Achtung für seine
Mitverbündeten‘ vor, „dag es wohl bei gelegener Zeit wird
wiederhervorgehoben und nieht der M überantwortet
werden müssen''!!9,
Platen fühlte sich schwer gekränkt durch den Vorwurf der
„Tergiversation“, den er zurückwies!?, Schrenks Zorn ist
verständlich. Er war der zäheste Widerpart der preußischen
Zollvereinspolitik, und Hannovers Trennung — das sah er
ein — bedeutete den raschen Zerfall der Opposition über-
haupt.
116 Abdruck in „Das Staatsarchiv“ VII (1864), S. 273fl.
117 Or. Ber. Arnims an Bismarck, München 16. Juli 1864 (Karlsbader Nr. 515),
in Nr. 97, Vol. 24.
118 Schrenk, Immediatber., München 15. Juli 1864: I. C. 3, Conv. 3.
110 Bes. Protokoll über das Verhalten Hannovers, gl. O.
19 Platen an Knesebeck für Schrenk und Hügel, Hannover 22. Juli 1864,
und Graf Quadt an Schrenk, Hannover 21. Juli 1864, in I. C. 3, C. 3.
Preußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 837
Für Preußen war die Gewinnung Hannovers eine der wich-
tigsten Acquisitionen im Kampf um den neuen Zollverein. Wohl
war mit dem Beitritt Kurhessens und mit der grundsätzlichen
Bereitwilligkeit Oldenburgs die Stellung Hannovers unter-
höhlt. Aber der hannoversche Staat war doch ein so wichtiger
Machtfaktor in Norddeutschland, daB das Berliner Kabinett
es für geraten hielt, nicht in letzter Minute aus der mög-
lichen Freundschaft eine erbitterte Feindschaft werden zu
lassen.
Was waren die Ergebnisse endlich für Hannover selbst?
Die natürliche wirtschaftliche Interessengemeinschaft mit Preu-
Ben war gewahrt, das Vertragswerk, das gerade der hannover-
schen Schiffahrt und seinem Handel nach Übersee Nutzen
brachte, gesichert, die politische Gegnerschaft gemildert oder
wenigstens nicht verschärft worden, wie es bei weiterer Hart-
näckigkeit notwendig der Fall gewesen wäre. Denn wenn Bis-
marck den süddeutschen Staaten gegenüber eine wenigstens
‘scheinbare Gleichgültigkeit an den Tag legte: von den nord-
deutschen durfte kein bisheriges Mitglied fehlen, wollte es nicht
künftig sich gefáhrlichem, ja wohl kaum ertragbarem Druck aus-
setzen. Das materielle Ergebnis für Hannover endlich läßt sich
vielleicht am besten in der Art charakterisieren, wie es Finanz-
minister von Erxleben auf eine Anfrage Rudolf von Bennigsens
in der zweiten hannoverschen Kammer am 16. Juli getan hat!?!,
Bennigsen wollte durch die Antwort des Ministers die. „Be-
ruhigung der dureh den langen Schwebezustand nachteilig
beeinflußten Wirtschaft fördern“. Voraussetzung seiner An-
frage war, daß keine Mitteilungen zu erwarten seien, die nach-
teilig auf noch schwebende Verhandlungen einwirken Könnten.
Erxleben gab der Kammer rückhaltslosen Aufschluß: vor-
behaltlich der etwa noch festzustellenden Modifikationen — das
war eine rein formelle Rücksichtnahme auf die süddeutschen
Staaten — hatte Hannover den preußisch-französischen Vertrag
und den Tarif angenommen. In einem Separatvertrag waren
die mit Hannover und Oldenburg von Preußen abgemachten
Spezifica festgestellt: Das Praecipuum, die Branntwein- und
1! Einzelheiten in „Neue hannoversche Zeitung" Nr. 329 v. 17. Juli 1864,
S. 1143.
838 Eugen Franz
Salzsteuer!?? Dieser Separatvertrag bestimmte, daß der Anteil
Hannovers vom 1. Januar 1866 an u.a. bestehen sollte: in einem
Kopfteil von der Rübenzuckersteuer, jedoch in dem Mindest- .
betrag von 27!/,sgr pro Kopf von Eingangs- und Ausgangs-
abgaben. Das Ergebnis berechnete man in Hannover dahin,
daß künftig etwa 10sgr auf den Kopf mehr träfen, als in den
nicht sonderbegünstigten Staaten. Das war die Hälfte des
Praecipuums, das bisher 20 sgr pro Kopf aus den Einnahmen
von den Zöllen und der Rübenzuckersteuer betragen hatte.
Über die Branntweinsteuer hatte der Septembervertrag von
1851 bestimmt, daB Preußen und Hannover eine gleich hohe
Steuer erheben würden. Als Preußen aber später diese Steuer
erhóhte, vertrat Hannover init Erfolg den Standpunkt, daB es
diese Erhóhung nicht mitmachen müsse. Jetzt hatte PreuDen
die Angleichung der Steuer verlangt. Auf die Hälfte der preußi-
schen Erhöhungen einigte man sich schließlich. Endlich war
Hannover genötigt, das Salz, das in Preußen staatlich mono-
polisiert war, wesentlich höher zu besteuern, und zwar mit zwei:
rheinischen Talern pro Zentner, wobei jedoch Hannover und
Oldenburg überlassen war, diese Erhöhungen stufenweise vor-
zunehmen. Sobald der Satz von zwei Talern erreicht war, fielen
die bisher zum Schutz gegen Einschwärzungen getroffenen
kostspieligen Maßregeln weg. Sollte der Schmuggel aber sich
neuerdings häufen, so waren Abwehrmaßregeln dagegen vor-
gesehen. Doch war dies nicht ernstlich zu befürchten, da bei
dem Zweitalersatz der Salzpreis Hannovers sich nicht mehr
wesentlich von jenem Preußens unterschied.
Die Frage Bennigsens nach der mutmaßlichen Erhöhung der
Steuern konnte der Minister dahin beantworten, daß die Salz-
steuer bisher 137000 rheinische Taler eingebracht und künftig
etwa 390000 rheinische Taler betragen werde; für die Brannt-
weinsteuer mit bisher 614000 Rth. Ertrag berechnete das
hannoversche Finanzministerium — unter Berücksichtigung der
Ausfälle, welche jede Steuererhöhung im Gefolge hat —, ein
Mehraufkommen von etwa 250000 Rth. Die Gesamtsteuer-
mehrung wurde auf 640000 Rth. geschätzt, was die Hälfte des
1 Beim Abdruck der Kammerverhandlungen ist der Hannoverschen Zeitung
ein Druckfehler unterlaufen, dem eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen
werden kann: sie spricht von dem ,,Principuum".
Pr eußens Kampf m. Hannover um d. Anerkenn. d. preuß.-franz. Handelsvertrags 830
bisherigen Praecipuums bedeutete. Da Preußen von letzterem
509, des bisherigen Satzes zugestanden hatte, konnte der
hannoversche Haushalt somit völlig ausgeglichen werden. So
war das finanzielle Ergebnis für Hannover verhältnismäßig
noch recht günstig. Vielleicht wäre allerdings in einem früheren
Zeitpunkt mehr zu erreichen gewesen. Politisch müßte das
Nachgeben Hannovers als eine empfindliche Schlappe gewertet
werden, wenn seine Regierung nicht vou vornherein die Ab-
sicht gehabt hätte, im Zollverein zu bleiben und ihre Opposition
nur taktisch zur Erzielung des wirtschaftlichen Vorteils zu
betreiben. Darüber aber konnte man sich auch in Hannover
nicht täuschen, daß dieses Nachgeben sein Einverständnis der
wirtschaftspolitischen Hegemonie Preußens bedeutete. Der
Sieg Bismarcks auf dem wichtigsten Gebiet nationaler Einigung
im kleindeutschen Sinne war damit für Norddeutschland und bis
zum 1. Oktober 1864 auch für Süddeutschland entschieden.
Der Versuch Hannovers, die bisherige Trennung zwischen Wirt-
schaftspolitik und Staatspolitik 1866 im Bunde mit den süd-
deutschen Staaten mit den Waffen zu verteidigen, mußte miß-
lingen. Am Verhandlungstisch gewann Preußen in den Jahren
1862—1864 — scheinbar nur wirtschaftspolitisch — die letzten
großen Vorgefechte.
840
Kleine Mitteilungen.
Zu Dante de monarchia 13.
Logische Interpretation und Textkritik.
Et quia potentia ista [1ntellectiua ] per unum hominem seu per aliquam
particularium comunitatum superius distinctarum tota simul in actum
reduci non potest, necesse est multitudinem esse 1n humano genere, per
quam quidem tota potentia hec actuetur, sicut necesse est multitudinem
rerum generabilium, ut potentia tota materie prime semper sub actu sit;
aliter esset dare potentiam separatam, quod est impossibile
(rec. Bertalot p. 14 l. 45 sqq.).
Die gesperrte Stelle gibt doppelten Anstoß: zunächst logisch. „ . . An-
ders wäre: die f. als gesondert bestehend setzen, was unmöglich ist.“
Im Vorhergehenden ist nicht etwas gesetzt worden; vielmehr wurde die
wirkliche Vielheit der Menschen und der Dinge aus einem metaphysischen
Sinn begriffen. Weiter, eine p. „als gesondert bestehend setzen“ ist offen-
bar nicht unmöglich, indem Dante es ja tut und „anders“ nennt als was er
zuvor gesagt hat. Zweifellos hat man auch immer die Stelle so verstanden,
daB das gesonderte Bestehn der f. selbst für unmöglich erklärt sei, indem
diese, und zwar ganz (tota simul) allein in dem und durch das actual sein
könne, dessen potentia sie ist; von ihm gesondert vermag sie es nicht, und
gleichesfalls nicht, wenn dieses nicht voll, sondern lediglich ein Teil seiner
in der Wirklichkeit ist. Die Anschauung als solche ist hier nicht zu erörtern;
ein anderer Sinn der Darlegung ist wohl ausgeschlossen, — aber er wäre,
hátte Dante den Satz so geschrieben, wunderlich schief ausgedrückt.
Die Begründung der eigenen Behauptung aus der Unmöglichkeit des
sonst als wirklich Anzunehmenden begegnet in ‚de m.‘ noch öfter in mehr
oder minder ähnlichem Wortlaut. Sämtliche Stellen stimmen überein gegen
die erórterte, indem in ihnen nicht das Denken des Gegenteiles, sondern
dieses selbst als unmóglich bezeichnet wird. Es sind, soviel ich sehe, diese:
I) aliter esset imperfectum sine proprio perfectiuo; quod est im-
possibile L101.2; 2) aliter sibi defecisset [natura], q. e. i. II GI.
418q0.; 3) altter humana ratio. . non sequeretur nature intentionem,
9. e. i. II 7 I. 13sqq.; 4) .. . effectus superaret causam in bonitate;
9. e. i. 1161.3sq.; 5) idem . . .esset contrarium sibi ipsi, q. e. i. III 101.
21 800.; 6) .. . dedisset sibi quod non habebat, q. e. i. III 14 l. 33 sq.;
7) aliter [res] esset otiosa; quod esse non potest U 51. 123 sq.;
8) ... aut erit processus in infinitum, q.e. n. p. 1101. 14.
Zu Dante de monarchia 1 3 841
Zwei weitere Stellen sind besonders zu betrachten: aliter celum otiose
moueret [deus], quod dicendum non est III 21. 21 sq.; . . . uide-
retur deus us us fuisse ordine peruerso ...quod absurdumestdicere
de deo III 41. 69 sqq. Hier ist wesentlich, daB das Subject des unmöglichen
Gegenteiles je Gott ist; in diesem Falle überspringt der Nachsatz das im
Vordersatz, hier wie sonst, einmal vorgestellte faktische Gegenteil selbst
( moweret, usus fuisse) und negiert das Vorhergehende als non dicendum,
absurdum dicere — indem es, wo von Gott die Rede ist, als nicht ein-
mal hypothetisch Auszusprechendes bezeichnet wird. Die rein logische Móglich-
keit der Gedanken wird auch hier nicht bestritten.
An zwei weiteren Stellen spricht der Vordersatz zwar, abweichend von
allen vorigen, vom Denken des Gegenteiles: aliter omnia reducerentur
ad predicamentum substantie III 121. 29 sq.; . . alterum de altero
predicaretur III 121. 49; jedoch der Nachsatz — welcher hier lautet
quod est falsum — schließt wiederum nicht die Möglichkeit solches Denkens
aus, sondern bezeichnet, was ein anderer so dächte, als falsch. Dem nahe
steht: sequeretur quod iurisdictio prima posset annichilari, quod est
irrationabile III 10 l. 638q.; auch hier wird nicht der Gedanke als solcher
ausgeschlossen, sondern als zu einer „unvernünftigen‘ Vorstellung führend
abgewiesen. — Die Beispiele für die bisher betrachteten Fälle sind sämtlich
der Schrift de monarchia entnommen (woraus sie, wollten wir ihre Anzahl
erhöhen, um nicht dem Wortlaute, doch dem Sinne nach vergleichbare Stellen
zu vermehren würen). Um jedoch die in den lateinischen Schriften begegnenden
festen Formen der Begründung eines Satzes aus seinem Gegensatz nach
Möglichkeit zu erschópfen, ziehen wir auch die Questio de aqua et terra
heran (in: Le opere di D. A. a cura del Dr. E. Moore, rived. dal Dr. Paget
Toynbee, 4. ed., Oxford 1924; in den Briefen wiederholt sich lediglich die
1. Form, de uulgari eloquentia und eclogae bieten, wie zu erwarten, keine
Beispiele).
DaB nicht das Denken des Gegenteiles, sondern dieses — dessen Vor-
stellung an sich móglich ist — selbst als das Realunmógliche zu verstehen
ist, zeigt eine nun nachzutragende Stelle aus de m.: sequeretur quod una
essentia pluribus speciebus esset specificata; quod est impossibile
I 31. 29 sq. (vgl. auch das letzte Beispiel aus de m. III 10 l. 63 sq.) — am
nachdrücklichsten aber zeigen es die drei anzuschließenden Stellen der Qu.:
ss aqua essel excentrica, tria impossibilia sequerentur: ...812].
4 8q.; quod erat primum 1m possis bile, quod sequi dicebatur $121. 268q.:
nihilsequitur impossibile apud recte philosophantes 810 l. 8 sq. Hier
wird das (nach Dantes Vorstellung) Realunmögliche (impossibile) aus-
drücklich gefolgert, der Gedanke daran also ausgesprochenerweise
wirklich vollzogen, seine Giltigkeit als Aussage von der Wirklichkeit, nicht
seine Möglichkeit bestritten; entscheidend über den entsprechenden Sinn :
des letzten Satzes ist das Wort recte. — |
In verschiedenen Formen stellen zwei typische Fälle der Begründung
aus dem Gegensatze sich dar: I. das Gegenteil ist (nach Dantes An-
schauung) realunmóglich; II. das Denken des Gegenteiles ist (nach
Dantes Logik) falsch. (Beides kann zugleich der Fall sein, wie in den fol-
842 Walther Bulst: Zu Dante de monarchia I 3
genden Beispielen: que omnia non (lantum falsa, sed impossibilia esse
uidentur I, sichtlich sind“, nicht: „scheinen‘‘] $12 l. 11 sq.; quod non solum
est impossibile, sed rideret Aristoteles, si audiret 8121. 36 sq. — Einmal
wird eine Folgerung aus dem Augenschein widerlegt: cuius contrarium ut-
demus 516 l. 12—15.) Die Stelle, von deren Betrachtung wir ausgingen,
muB, wie schon durch ihre innere Widersprüchlichkeit, naeh dieser Übersicht
erst recht befremden.
Jedoch nicht allein, daß der Sinn und der Sprachgebrauch Dantes die
Verwendung des Begriffes und Wortes impossibile als hier unmöglich er-
scheinen ließen — sie würden falsum fordern —: dasselbe gilt von dare.
Die Bedeutung ,confiteri (concedere) aliquid esse’ ist antik äußerst spär-
lich belegt!, und bei Dante überhaupt nicht?. Aber dare wäre an
der betrachteten Stelle im Sinne ‚confiteri, concedere', auch abgesehen von
allem Erórterten, sinnlos; es handelt sich ja nicht darum, den Satz eines
Widersachers zu widerlegen, sondern das Wirklich -Bestehende als ne-
cesse Daseiendes zu verstehen, und zwar aus der Unmóglichkeit,
daB es nichtbestünde. Jedoch hat es seine Seinsursache nicht in und an
ihm selbst, sondern es bedarf der Vielheit des Seienden jeder Art von res gene-
rabiles dazu, ut potentia tota prime materie semper sub actu sit, der frag-
liche Satz spricht ohne Zweifel aus, was Unmögliches sonst der Fall wäre —:
für dare bleibt gar kein Sinn übrig, den es hier haben könnte, und der Ge-
dankengang fordert, daB esset das prägnante Prädikat sei.
Sämtliche Schwierigkeiten heben sich auf durch eine leichte Emendation:
‚aliter esset a re potentia separata, 9. e. i. Der Ursprung des Verderbnisses
ist, hier vielleicht durch romanische Sprech- und Hörgewohnheit begünstigt,
die bekannte Erscheinung des „inneren Verhörens“ — welche nicht Diktat
zur Bedingung hat —, so entsprang esset dare; und dies führte zu dem nun
syntaktisch geforderten potentia separata.
Göttingen. Walther Bulst.
1 Thes. ling. lat. V 1682, 77 sqq.; 1690, 47 sqq.
3 S. Dantıs Alagherii operum latinorum ocncordantiae. Ed. E. K. Rand,
E. H. Wilkins, A. C. Withe, Oxonii 1912, s. v. Nicht dagegen anzuführen sind:
quod nemo . . . absque fide saluari potest, dato quod nunquam aliquid de
Christo audiuerit, De m. 1171. 19 sqq.; quare si ecclesia recipere non poterat,
dato quod Constantinus hoc facere potuisset de se, actio tamen illa non erat
possibilis propter patientis indispositionem, III 10 l. 77 sqq. — dato quod
bedeutet „im Falle, daß“; nicht: wenn wir annehmen, ein Mensch hätte nie
etwas von Christus gehórt, würde er nicht gerettet, sondern: im Falle, daB er
nichts gehört hätte; nicht: wenn wir annehmen, C. hätte die Schenkung tun
dürfen, wäre sie dennoch durch die Natur der Empfängerin kraftlos geworden,
sondern: im Falle, daB er sie hätte tun dürfen.
843
Kritiken.
Lane Cooper [Professor of the English Language and Literature in Cornell Univer-
sity]: A Concordance of Boethius. The five Theological Tractates and
the Consolation of Philosophy. [Published by the Mediaeval Academy of
America, Publication No. 1]. Cambridge, Massachusetts 1928. XII u. 467 S.
89. 5,00 Dollar.
Putnam Fennell Jones [Assistant Professor of English in the University of Pitts-
burgh]: A Concordance to the Historia Ecclesiastica of Bede.
[Published for the Concordance Society by the Mediaeval Academy of America,
No.2.] Cambridge, Massachusetts 1929. IX u. 585 S. 8%. 6,50 Dollar.
„Ein vollendetes Wörterbuch ist ohne vollendete Ausgaben nicht möglich, aber
zum Herstellen vollendeter Ausgaben bedarf man vollendeter lexikalischer Hilfs-
mittel; die eine Partei wird also immer im Nachteil bleiben, entweder die Text-
bearbeiter oder die Lexikographen. Diesen Zirkel, der im Wesen der wissenschaft-
lichen Arbeit begründet ist, kann man auch auf anderen Gebieten beobachten; eine
gute Literaturgeschichte z. B. ist ohne eine Masse einzelner Vorarbeiten nicht denk-
bar, die Einzelforschung wird aber durch eine zusammenfassende Darstellung, auch
wenn sie noch so mangelhaft ist, befruchtet und belebt. Fast jedem zusammen-
fassenden Werke wird von irgend einem Beurteiler entgegengehalten, daß es noch
verfrüht sei; wenn aber jedermann diesen hyperkritischen Zauderern folgte, so würde
bald der Mangel orientierender Gesamtdarstellungen auch auf die Einzelforschung
lähmend zurückwirken.“
Diese Worte eines hervorragenden deutschen Gelehrten! anläßlich der Idee eines
Thesaurus Linguae Graecae haben auch ihre Gültigkeit für die mittellateinische
Wortforschung. Der Arbeit um einen „neuen Du Cange" wird unter anderem die
Unzulänglichkeit der vorhandenen Ausgaben mittellateinischer Texte entgegenge-
halten?, und dennoch unterliegt es keinem Zweifel, daß gerade der Mangel moderner
lexikalischer Hilfsmittel an dieser Unzulänglichkeit mitschuldig ist. Sicher würde
ein ernsthafter Versuch, die vielfach versprengten lexikographischen Notizen (in
Indices, Kommentaren usw.) zu sammeln und untereinander zu vergleichen, fördernd
auch auf die Herausgabe der wichtigsten Desiderata wirken“. Das Endziel eines
! K. Krumbacher, Internationale Wochenschrift f. Wissenschaft, Kunst und Technik,
II (1908) p. 1610 in seinem Artikel: Ein neuer Thesaurus der griechischen Sprache.
* Z. B. M. Hammarström Gnomon 6 (1930) p. 282 in einer Rezension, die gut über die in
Italien geleistete Arbeit orientiert.
* So wurde z. B. die Edition der für das Vulgärlatein wichtigen Mulomedicina Chironis
durch die Arbeit am Thesaurus Linguae Latinae veranlaßt. So erwies die lexikographische Arbeit
mit mittellateinischen dänischen Texten die Notwendigkeit eines Diplomatarium Danicum,
welches denn auch nun auf Grundlage des Erslev'schen Repertorium Diplomaticum Regni
Danici und mit Stütze des Carlebergfondes verwirklicht werden soll.
844 Kritiken
solchen Versuches müßte ein mittellateinisches Wörterbuch sein, kein „neuer Du
Cange“, der, wenngleich er ein für seine Zeit imposantes und ein weit über seine Zeit
hinausdauerndes Werk ist, so doch mehr den Charakter eines Reallexikons als den
eines Wörterbuches hat. Diejenigen Bestrebungen, den mittellateinischen Wortschatz
zu erfassen, welche seit dem Beschluß der sogenannten internationalen Union
Académique (1920) in verschiedenen Ländern gemacht worden sind, richten sich denn
auch auf die Herstellung eines Wörterbuches, das — nach den geplanten Linien zu
Ende geführt — mit dem Glossarium des Du Cange nur den Namen, nicht die Prin-
zipien gemeinsam haben wird.
Man wollte sich nämlich ursprünglich* bei der Exzerpierung sämtlicher mittel-
lateinischer Texte nicht auf die unantiken, d.h. bei Forcellini nichtangeführten
Wörter und Bedeutungen beschränken, sondern auch Beispiele klassischer Wörter
und Bedeutungen sammeln. Bald sah man ein, daß diese tiefschürfende Exzerpierung
unübersehbare Zeit, Mittel und Kräfte verschlingen würde und begrenzte daher das
gründliche Verfahren auf die erste Hälfte des Mittelalters bis etwa 1000 (Frankreich
967, England 1066 usw.) Jedoch auch diese Arbeit schreitet sehr langsam voran“,
und die Hochblüte des Mittelalters, die Zeit, da die Scholastik der wissenschaftlichen
Terminologie ihr Gepräge gibt, die Zeit, da der Austausch mit den europäischen
Volkssprachen erst recht lebendig zutage tritt, wird durch diese Begrenzung außer
acht gelassen; daher hat sich z. B. in England ein von der Union Académique unab-
hängiger Ausschuß gebildet, unter dessen Leitung an einem Mediaeval Latin Dictio-
'nary für die Zeit von 1066—1600 gearbeitet wird*.
Ursprünglich hatte man auch den Gedanken, aus dem gesammelten Material
der verschiedenen Länder zuerst ein gemeinsames Wörterbuch herzustellen, danach
das Material an die einzelnen Lánder zur eventuellen Verarbeitung von Sonderlexika
zurückzuliefern. Auch von diesem methodisch gänzlich verfehlten Gedanken ist man
allmählich abgekommen. Unzweifelhaft muß in den einzelnen Ländern, bevor oder
während man an die zusammenfassende Arbeit geht — es handelt sich ja noch lange
nicht um die Herstellung eines druckfertigen Manuskriptes — tüchtige Vorarbeit
geleistet werden. Durch eine solche den mittelalterlichen Verhältnissen entsprechende
Dezentralisation einerseits würden auch strittige Primatsfragen in ruhigere Zeiten
verschoben werden, und die einzelnen Länder könnten im wesentlichen an ihren
Texten mit Eifer die mittellateinische Wortforschung betreiben. Andererseits ist es
ein Vorteil, wenn es für diese Forschung einige Brennpunkte gibt (Archivum Latini-
tatis Medii Aevi, Mediaeval Academy of America): es entspricht der Tatsache, daB
groBe Gebiete des mittellateinischen Wortschatzes supranational sind. Zu ergründen
was gemeinsam und was regionür ist, hierin liegt eine wichtige Aufgabe der mittel-
* Archivum Latinitatis Medii Aevi 1924: Instructions techniques destinées aux collabora-
teurs. Das Archivum wird nun herausgegeben von den Herren J. H. Baxter, C. H. Beeson, F. Lot,
L. Nicolau d’Olwer,V. Ussanl. Redaktor: F. Lot, 58 rue Boucicaut, Fontenay-aux-Roses (Seine).
s Hammarström a. O. zeigt nach einer Wahrscheinlichkeitsberechnung, daß die Italiener bei
der jetzigen Geschwindigkeit 360 Jahre gebrauchen würden, nur um ihre Texte zu verzetteln;
dann kommt erst die Verarbeitung. Und in Italien und England geht die Arbeit noch rascher
voran als in Frankreich.
* The Secretary: Publio Record Office Chancery Lane London W C2. Vgl. P. Lehmann,
Vom Leben des Lateinischen im Mittelalter. Bayer. Blätter f. d. Gymnasialschulwesen 65 (1029)
p. 68: Wenn man heutzutage darangeht, außer einem bis 1000 reiohenden neuen Du Cange ein
Lexikon der seit dem 11. Jahrh. in England gebrauchten Latinität zu schaffen, so ist das keine
gelehrte Vielgeschäftigkeit ohne Sinn und Wert.
Kritiken 845
lateinischen Lexikographie. Jede Arbeit, welche die Lösung dieser Aufgabe näher
rückt, ist mit Freude zu begrüßen. Die Vorbedingung ist Zurechtlegung des Wort-
materials für lexikographische Bearbeitung in den Einzelländern.
Die Zurechtlegung kann durch Konkordanzen (vollständige Verzettelung) oder
Spezialwörterbücher (Exzerpierung) vorgenommen werden. Die letztere Art läßt
sich verantworten bei Texten nach dem Jahre 1000, aus denen man nur nichtantikes
Sprachgut verzeichnen will, während Konkordanzen unumgänglich sind für die Texte,
bei denen man Vollständigkeit anstrebt (Objektivität in der Herstellung des Materials).
In diesem Zusammenhang werden die beiden von der Mediaeval Academy
herausgegebenen Konkordanzen von großem Nutzen sein. Im folgenden sollen sie
denn, obwohl sie die Arbeiten zweier Nichtlatinisten sind, vom lexikographischen
Gesichtspunkt aus gewürdigt werden — daher der Versuch, die Werke in den Rahmen
der mittellateinischen lexikographischen Bestrebungen hineinzustellen und über
diese Bestrebungen im allgemeinen zu orientieren’. — Es liegt im Wesen einer Kon-
kordanz, Hilfsmittel zu sein, während Wörterbücher einen Selbstzweck haben: die
Darstellung des Wortschatzes nach semasiologischen Gesichtspunkten, so daß jeder
Artikel, nach einer bestimmten Ratio angeordnet, ein Stück Sprach- oder Kultur-
geschichte wird. Eine Konkordanz ist also ihrem Wesen nach, d. h. als Hilfsmittel
zu werten; als solches muß sie in erster Linie vollständig und zuverlässig sein. Dies
trifft restlos zu auf die von Lane Cooper verarbeitete Boethiuskonkordanz,
welche dem um die Erforschung des Mittelalters hochverdienten J. H. Baxter ge-
widmet und von ihm angeregt ist. Die Nützlichkeit dieser Arbeit wird nicht nur dem,
der die Voraussetzungen der scholastischen Terminologie sucht, sondern jedem mittel-
lateinischen Philologen einleuchten, weiß er doch, welche Bedeutung die Consolatio
Philosophiae das ganze Mittelalter hindurch von den Zeiten Aldhelms und Bedas,
über Johannes Scottus und Remigius von Auxerre bis auf Dante und Chaucer gehabt
hat. Die Konkordanz ist auf den zuverlässigen Text Rands aufgebaut und die Ge-
wissenhaftigkeit, mit der sie ausgeführt ist, verdient um so mehr unsereBewunderung,
als der Kompilator auf die Augen anderer angewiesen war. Hingegen läßt die von
P. F. Jones hergestellte Bedakonkordanz etliches zu wünschen übrig. Gewisse
Praepositionen, Konjunktionen, Pronomina sowie Formen von Hilfsverba (p. 516:
„Forms not given below are omitted“) sind ohne ersichtliches Prinzip ausgelassen;
sämtliche Stellen von ,,iste' sind gebracht, keine einzige von „äille“, für „pro“ und
„ex“ wird keine, für „sub“ jede Stelle gebucht. Gegen den Einwand, diese kleinen
Wörtchen seien für das tiefere Verständnis des Textes überflüssig, sei erstens betont,
daB es sehr wohl Fálle geben kann, da man über die Deixis der Pronomina oder das
Vorkommen der Praepositionen im klaren sein möchte (wenn ich z. B. „ex“ in der
Bedeutung „ehemalig“ — Typ: ex monacho — verfolgen will), genau so gut wie es
für das sachliche Verständnis von Bedeutung sein kann, ob „seu“ = und oder „seu“
—oder ist. Zweitens büßt die Konkordanz sehr an Wert ein als Hilfsmittel zur Aus-
arbeitung eines mittellateinischen Wörterbuches, in dem alle Wörter jedenfalls in
ihren wichtigsten Funktionen angeführt sein sollen. Bedenklicher aber als das eben
Erwähnte ist die Errichtung neuer Lemmata wie „ vello“ als Nachschlagewort für
* Vgl. P. Lehmann, Vom Mittelalter und von der lateinischen Philologie des Mittelalters
(Quellen und Untersuchungen 3. lat. Philologie des Mittelalters V 1) 1914. Aufgaben und An-
regungen der lateinischen Philologie des Mittelalters. Sitzungsberr. d. Kgl. Bayerischen Akad. d.
Wiss. 1918. R. Strecker, Einführung in das Mittellatein. 1929.
846 Kritiken
diejenigen Formen von volo, die mit vel- beginnen, oder ,,rebor'* als Nachschlagewort
für rebantur; unter dem Lemma ,,volo'* sucht man vergebens die ca. 25 Stellen von
velim, velle, vellem usw., unter „reor“ vergeblich rebaris usw. Gelegentliches Fehlen
einer Stelle ist mir auch aufgefallen: 1,1 (S. 10,6 Plummer) marini fehlt unter „ ma-
rinus"! Irreführend ausgeschrieben ist unter ,,cerno'' die Stelle 4,25 (S. 264, 20 Pl.):
„cuncta“ inquit „haec, quae cernis, aedificia puplica uel priuata, in proximo est.“
Entweder müssen die drei letzten Wörter eliminiert werden, oder man muß aus-
schreiben: in proximo est, ut ignis absumens in cinerem conuertat". Stórend sind
auch unter „accipio“ die unverständlichen Konjunktive 1, 25 (S. 47, 17 Pl.) et eccle-
sias fabricandi uel restaurandi licentiam acciperent, statt: donec. ..ecclesias fabri-
candi uel restaurandi licentiam acciperent, oder unter ,,multa" 4, 21 (S. 249, 15 Pl.)
sed debita solummodo multa pecuniae regi ultori daretur, statt: ut...debita solum-
modo multa pecuniae regi ultori daretur, maleus statt malleus, monasteralis statt
monasterialis als Nachschlagewórter sind wohl Druckfehler, von denen es manche
gibt. Warum sind exero und expectator anders behandelt und nach anderem Gesichts-
punkt eingeordnet als exsequor und exspecto? und warum ist,, machinor“ als Lemma
angesetzt, wenn nur eine aktive Form belegt ist? Während in der Boethiuskonkor-
danz eine allzu engherzig durchgeführte alphabetische Anordnung herrscht, so daß
z. B. die verschiedenen Formen von labor (subst. masc.) und labor (verb.) durchein-
ander angeführt werden, zeigt sich in der Bedakonkordanz deutlich das lobenswerte
Bestreben, die zusammengehórenden Formen unter ein Lemma zu bringen, wenn-
gleich dies also nicht immer gelungen ist. Auf handschriftliche Varianten ist in
beiden Konkordanzen gebührend Rücksicht genommen. — Wenn man eine so treff-
liche Ausgabe wie die Plummer'sche Bedaausgabe einer Konkordanz zugrunde legt,
eine Ausgabe, in welcher derjenige Stoff, den Beda wörtlich von seinen Quellen
übernommen hat, durch kursive Lettern gekennzeichnet ist, hátte man mit Leichtig-
keit auch in der Konkordanz veranschaulichen kónnen, was für Sprachgut bereits
von Orosius u. a. herrührt. Wie auch immer das vollständige mittellateinische Wör-
terbuch einmal aussehen wird, auf die eine oder die andere Art wird man doch das
spezifisch Mittelalterliche kenntlich machen wollen.
Trotz meiner auf Stichproben aufgebauten Kritik wird man wohl behaupten
dürfen, daB man zur Ergründung zweier sehr wichtiger frühmittelalterlicher Autoren
ein wertvolles Hilfsmittel mehr gewonnen hat; für Boethius trifft das auf jeden Fall
zu, und auch Beda wird an Hand der Konkordanz besser durchforscht werden können.
Wenn man aber den Kommentar Plummers und seine bahnbrechende Leistung be-
trachtet, kann man nicht umhin, zu fragen, warum nicht in diesem Geiste weiter-
geforscht wird. Für den Historiker sowie für den mittellateinischen Philologen ist es
von größtem Interesse, den reellen Inhalt der lateinischen Wörter bei Beda zu er-
fahren. Hier haben wir endlich einen mittellateinischen Autor, der in seine National-
sprache übersetzt worden ist, so daß wir mit einiger Sicherheit die einheimischen
Aequivalente der lateinischen Wörter feststellen können (milites-thegnas, principis—
ealdormannes, multa — wergeld usw.). Also warum schenkt uns die Mediaeval
Academy nicht Wörterbücher für Konkordanzen? Diese Frage ist an die Mediaeval
Academy gerichtet, nicht an die Kompilatoren der Konkordanzen, deren Arbeit
natürlich nach dem Ziel, das sie sich gesteckt haben, beurteilt werden muß.
Früher oder später muß die interpretierende Arbeit getan werden. Denn unser
Endziel ist und bleibt: ein sämtliche Schriftgattungen umfassendes Wörterbuch des
Kritiken 847
Mittellatein. Man mag diesem Ziel entgegenstreben auf verschiedene Art: entweder
indem man zuerst für die einzelnen Genera (1. Urkunden, 2. Geschichtschreibung,
3. Philosophie, 4. Theologie, 5. Hagiographie, 6. Bibelerklärungen, 7. Liturgie usw. —
die einzelnen Gattungen sind aber nicht alle gleich leicht voneinander abzugrenzen!)
oder auch für die einzelnen Länder Speziallexika zu schaffen sucht; es ließen sich die
beiden Methoden dahin vereinigen, daß man für die verschiedenen Gattungen in den
verschiedenen Ländern Speziallexika schafft, so, wie dies bereits für Schweden und
Finland versucht worden ist®. In den großen Ländern dürfte diese Zwischenstufe
empfehlenswert sein, während man in den kleinen eine Zusammenfassung der ver-
schiedenen Genera wohl verantworten darf.
Daß die Mediaeval Academy den Boden bereitet für solche lexikographische
Arbeit, ist dankenswert; deshalb braucht man das Endziel nicht aus dem Auge zu
lassen. Wie wäre es, wenn man nun Beda und Boethius fertigverzettelte, um darauf
die übrigen von Manitius in dem ersten Bande seiner lateinischen Literaturgeschichte
des Mittelalters erwähnten Autoren in Angriff zu nehmen. So erhielte nıan einen
festen Grund für weitere Arbeit, und die Frage nach der Grenze zwischen Thesaurus
und ,,Du Cange" wäre, freilich auf rein äußerliche Art, gelöst. Denn zweifelsohne
müssen diese Autoren, obwohl sie alle für den Thesaurus Linguae Latinae exzerpiert
sind, ganz anders für ein mittellateinisches Lexikon erschöpft werden, da sie für die
folgende Zeit grundlegend sind. Geht man schon an die große Arbeit — und die
Fülle der Zeit ist gekommen, wenn ein Anglist sagen kann „the present renaissance
of Mediaeval Latin strikes me as the outstanding scholarly movement of our time;
I have wished to take such part in it as I could“ (Cooper p. X) — möge man bei-
zeiten auf die phraseologische Seite bedacht sein, die in einem mittellateinischen
Lexikon noch weniger unberücksichtigt bleiben darf als in einem klassischen, da das
typisch Mittelalterliche eben oft im Phraseologischen liegt; die richtige Auswahl der
typisch mittelalterlichen Wortverbindungen trifft nur der, welcher das gesammte
Material überblickt, nicht der Exzerptor eines einzelnen Textes. Das gesamte Mate-
rial aber läßt sich nur durch Konkordanzen in Druck oder Zetteln bereitstellen.
Man wünscht daher der begonnenen Serie weiteres Gedeihen; mógen noch viele
Bände bester Qualität den bereits erschienenen Publikationen folgen.
Aarhus (Dänemark). Franz Blatt.
Gutmann, Felix, Die Wahlanzeigen der Päpste bis zum Ende der avigno-
nesischen Zeit — Marburger Studien zur älteren deutschen Ge-
schichte. Hrsg. von Edmund E. Stengel, II. Reihe, 3. Heft; Marburg,
N. G. Elwert, 1931, XV und 94 S. 80, 6 ZA.
Die Bearbeitung sachlicher Gruppen aus der großen Masse der päpstlichen
Korrespondenz nach diplomatischen Gesichtspunkten steht noch ziemlich in den
Anfängen und verspricht in jedem Falle einigen Ertrag. In dem vorliegenden handelt
es sich um eine Anzahl von Schreiben, die zudem von erheblicher rechtsgeschicht-
licher und allgemeinhistorischer Bedeutung sind, denn die Geschichte und das Recht
der Papstwahlen sind ja seit langer Zeit beliebte und oft erörterte Forschungsgegen-
stánde. Verf. führt in einem Anhang 96 Wahlanzeigen bis auf Gregor XJ. auf; die
älteste im Wortlaut erhaltene ist von Jnnocenz I. JK. 285. Verf. gliedert seinen Stoff in
* M. Hammarstróm, Glossarium till Finlands och Sveriges latinska Medeltidsurkunder,
Helsingfors 1925.
848 Kritiken
drei Abschnitte: bis zur Mitte des 11. Jhs., bis auf Alexander III. einschl. und bis
zum Ende der avignonesischen Periode, gibt aber selbst zu, daß die Grenze zwischen
den beiden letzten Perioden ziemlich willkürlich gewählt ist. Rechtliche Bedeutung
hatten die Wahlanzeigen nur in der älteren Zeit vor der Emanzipation der Kurie von
Ostrom und während des Höhepunkts des deutschen Einflusses; aus der eigentlich
deutschen Zeit besitzen wir allerdings keine Anzeige im vollen Wortlaut. Später
verkünden die Anzeigen meist die vollkommen abgeschlossene Papsterhebung, nicht
nur die eigentliche Wahlhandlung. Während der Schismen des 12. Jhs. haben sie
eine stark propagandistische Bedeutung, im 13. Jh. werden die Anzeigen zum alters-
geheiligten Brauch und verlieren an Quellenwert, da sich ein ziemlich fest befolgter
Gedankengang eingebürgert hat, der die tatsächlichen Vorgänge mehr verschleiert
als enthüllt. Die bei jeder Anzeige zu stellenden Fragen nach ihren Verhältnis zum
jeweils geltenden Wahlrecht und der Glaubwürdigkeit der geschilderten Vorgänge
werden von dem Verf. nicht weiter verfolgt, doch hätte durch eine gründlichere Be-
achtung der hierüber vorliegenden Literatur — einiges ist berücksichtigt — auch
die diplomatische Untersuchung gelegentlich vertieft werden können. Immerhin
förderte auch die Betrachtung des Formulars und seiner Entwicklung einige inter-
essanten Ergebnisse zutage, z. B. daß von Innocenz IT. die Wahlanzeige Urbans II.
(S. 40), von Anaklet II. diejenige Gregors I. benutzt ist und daß die Wahlanzeigen
Honorius III. bei Buoncompagno dessen freie Erfindungen sind. Beachtenswert ist
auch die Vermutung (S. 34), daB in dem Brief Urbans II. an Hugo von Cluny JL. 5349
Eigendiktat des Papstes vorliegt; die Zusammenstellungen S. 76ff. über analoge
Erscheinungen bei anderen Päpsten müssen vorläufig aber noch höchst problematisch
bleiben. Im einzelnen ist manches zu beanstanden: in der Liste wäre für die Nrn. 5, 9
und 39 die neueste Ausgabe von Gundlach M. G. Epistt. III anzuführen gewesen;
bei der Besprechung von Nr. 39 (S. 34f., Urban II. an die Kirchenprovinz Vienne
JL. 5350) vermißt man ein Urteil über die Echtheit dieses Schreibens, das nur in
dem Corpus der Epistolae Viennenses überliefert ist. Otto von Freising und die
Kölner Königschronik sind nach den veralteten Ausgaben der Folioserie der M. G.
zitiert. S. 27 ist der Abt Desiderius von Montecassino fälschlich Benedikt genannt,
ebenso S. 28 Abt Bernhard von St. Viktor in Marseille: Leonhard (dies einem Irrtum
oder Druckfehler Caspars Reg. Gregors VII. S. 7 N. 5 nachgeschrieben). Die
Materialsammlung läßt ebenfalls zu wünschen übrig. Zwar mochte es für die Zwecke
des Verf. genügen, für gleichlautende Ausfertigungen einer Wahlenzyklika nur ein
Exemplar zu benutzen, doch wäre mindestens in der Liste eine Zusammenstellung
aller bisher bekannt gewordenen Texte — für das 12. Jh. kommt da fast ausschließ-
lich die Empfängerüberlieferung in Frage — begrüßenswert gewesen. Zu Urban IT.
ist zu bemerken, daß schon Scheffer-Boichorst, Die Neuordnung der Papstwahl
S. 77 N. 1 den Wahlbericht bei Petrus Diaconus Chron. Cas. IV 2 auf eine Wahl-
anzeige zurückgeführt hat (vgl.dazu auch A. Fliche, L'élection d'Urbain II. im
Moyen-äge, 2* sér. XIX 84ff.). Zur Enzyklika Alexanders III. vgl. meine Bemerkungen
im N. Archiv 48, 386 N. 1 und Kehr It. pont. VIa 61 Nr 173 und Gött. Nachr. 1906,
338 Nr. 12; für Urban III. hätte schon ein Blick in Jaffé-Löwenfelds Regesten zwei
weitere, in der Liste nicht verzeichnete Ausfertigungen ergeben. Die aus diesen
mehrfachen Ausfertigungen sich erhebenden Fragen sind etwas allzu knapp behandelt
(S. 78ff.); mit dem vorliegenden Material (nur Wahlanzeigen) dürften sie übrigens
kaum zu lösen sein (vgl. dazu jetzt auch G. Tangl, Studien zum Register Innocenz III.
Kritiken 849
[1929] S. 63ff.). So bleibt das Ergebnis der Arbeit etwas mager; bei gründlicherem
Eindringen in die Literatur hätte mehr geboten werden können.
Halle a. S. Walther Holtzmann.
Moralisch-satirische Gedichte Walters von Chátillon aus deutschen, englischen,
franzósischen und italienischen Handschriften herausgegeben von
Karl Strecker, Heidelberg 1929, Carl Winters Universit&ts-Buchhandlung.
XX und 179 S. 8, ZÆ 6.—.
Der Lyrik Walters von Chátillon hat Strecker die Satiren folgen lassen. Eine
besonders arge Wirrnis, die da zu lichten war! Vorarbeiten fehlten so gut wie ganz.
Jetzt ist die undurchsichtige Überlieferung klargestellt, Echt und Unecht ge-
schieden, der Text bis auf Einzelheiten gesichert. Wieviel FleiB, Sorgfalt und
liebevolle Genauigkeit war dazu nótig, welche Gelehrsamkeit steckt in den An-
merkungen!
Den Gedichten selbst vorauf geht eine Aufzählung der benutzten Handschriften;
bei jeder sind die Gedichte aufgeführt, die sie enthält. Es folgen die Merkmale, die
für Walters Eigentum entscheiden: handschriftliche Überlieferung und innere
Gründe müssen zusammentreffen. Denn leider haben wir eine ganz zweifelsfreie
Überlieferung nicht, wie etwa für den Archipoeta. Die Hs. P z. B., die offenbar eine
Sammlung Walterscher Gedichte geben will, enthält doch ein sicher nicht zugehóriges,
die Apokalypse des Golias, und damit verlieren auch ihre sonstigen Zuweisungen be-
trächtlich an Wert. Doch stehen hier wie sonst immer wieder Stücke ,,nesterweise'*
zusammen, als deren Verfasser Walter in Handschriften erscheint und die außerdem
aus jenen „inneren Gründen" sich als ihm zugehörig erweisen. Denn Walter hat
die Eigenheit, sich in Gedanken und Ausdruck oft zu wiederholen, ja gelegentlich
sich selbst zu zitieren. Wo nun ein Gedicht mehrfach solche Stellen aufweist und
zugleich in einem „Neste“ steht, nimmt Strecker es für Walter in Anspruch, auch
wenn keine Handschrift den Urheber nennt!. So entsteht eine Sammlung von
18 Gedichten, die sicher oder mit hóchster Wahrscheinlichkeit als Waltersches Werk
anzusprechen sind. Zweifel habe ich nur bei W 11; darüber unten. Strecker be-
zeichnet sie als W 1, W 2 usw. im Gegensatz zu O 1, O2 usw., den Gedichten von
St. Omer, ein praktisches Verfahren, welches das Zitieren erleichtert und sich hoffent-
lich einbürgert. Geordnet hat Strecker die Satiren nicht zeitlich, weil er den Versuch
für aussichtslos hielt — nicht ganz mit Recht, wie sich ergeben wird. Den Anfang
machen die Stücke, die mit Walters Beziehungen zu Papst und Kurie zusammen-
hängen; es folgen W 4—W 7a, die „wegen Form, Inhalt und Überlieferung gemein-
` same Behandlung erfordern". Hier hat Strecker es verstanden, die greulich ver-
worrene Überlieferung durch eine Tabelle so übersichtlich zu machen, daß man
jede Bearbeitung des.einzelnen Stückes aus dem Wust der Handschriften mit leichter
Mühe aussondern kann. Was den Wert der beiden von ihm geschiedenen Hand-
schriftengruppen X und Y angeht, so glaube ich abweichen zu müssen; vgl. unten
zu W 4. W 8—W 14 sind Satiren und Festlieder, die, außer W 8, Walters Namen
nicht tragen, sondern ihm nach dem oben angegebenen Grundsatz zugeschrieben
! Es ergibt sich dabei, daß die Angaben von P richtig sind bis auf die Apokalypse. Woher
dieser vereinzelte Irrtum? Doch wohl daher, daß die Apokalypse von einem anderen Walter war.
Sie ist ja sicher englisch ; sollte sie nicht doch von Walter Map sein, den so viele Handschriften als
Verfasser nennen? Hat er sie etwa zunächst anonym als Werk des Golias ausgehen lassen?
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H.4. 54
850 Kritiken
werden. W 14 ist außerdem durch ausdrückliches Selbstzitat gesichert. W 15 und
W 16 befassen sich mit dem Schisma, W 17 und W 18 stammen aus des Dichters
letzten Jahren. Ein weiteres Gedicht — ich nenne es fürderhin W 19 — hat Strecker
nachträglich herausgegeben und Walter zugeschrieben (Atti dell’ Accademia degli
Arcadi 1930, V—V], S. 3ff.), freilich nur aus inneren Gründen, aber m. E. mit Recht.
Ich bespreche es mit den übrigen.
Jedem Text geht eine manchmal sehr eingehende Untersuchung der Fragen
voraus, die er stellt. Eine reiche und sorgliche Adnotatio verzeichnet die zahllosen
Lesarten, nicht überflüssiger Weise; denn hie und da gibt es Abweichungen, die
bedeutungsvoller sind, als man auf den ersten Blick sieht. Zum Schluß folgt jedesmal
Nachweis der profanen und biblischen Zitate nebst Erklärung schwieriger Stellen.
Hier wie sonst gelegentlich (z. B. im Druck von W 1 und W 1*) macht sich die
Ungunst der Zeiten bemerkbar; für manchen Benutzer, der nicht eben Fachmann ist,
wären noch zahlreiche Erläuterungen erwünscht; aber das Bändchen durfte nicht
zu dick werden. Niemand bedauert das mehr als Strecker selbst. Ein Namen-
register, das auch die Gedichte von St.Omer umfaßt, sowie ein Wort- und Sach-
register zu den Satiren erleichtert die Benutzung.
Es bleibt nicht aus, daß eine so eindringende Arbeit, so viele Fragen sie beant-
wortet, auch wieder neue aufwirft. Zu deren Lösung glaube ich einiges beitragen zu
können, eine Ergänzung zu Streckers grundlegendem Buche, die eben durch dieses
selbst erst ermöglicht wird. Eine Anzahl Textverbesserungen habe ich bereits in den
„Studien zur lateinischen Dichtung des Mittelalters, Dresden 1931, 96 angegeben;
im folgenden wird, wo nichts anderes gesagt ist, diese Textgestalt vorausgesetzt.
W 4.
Die Hss. P B D und K enthalten W 4, W 5 und W 7 in der gleichen Abfolge und
Zahl der Strophen. Auch L enthält W 4 und W 5 in fast derselben Anordnung, an
einer Stelle besser (9 . 8), an einer anderen weniger gut (17 . 18), hier wie F. Strecker
legt F zugrunde“, muß aber zu W 4 bemerken: „Der Gedankengang bietet große
Schwierigkeiten." P dagegen, nach L verbessert, hat klare Gedankenfolge:
1—2: Einleitung; ,,jedermann will heut Satiren dichten; ich bin ein wirklicher
Dichter; sollte ich schweigen? Die Laiendichter* brüllen nur nach Futter*; meine
Dichtung ist fein und mannigfalt". So bilden 1 und 2 ein Strophenpaar ähn
lichen Sinnes. |
3—4: Gelegenheit, Thema und Gliederung: l
a) Reichtum der Schlechten. — b) Sieg des Lasters und Erliegen der Tugenden.
— c) Päderastie.
Teil I: Die Prälaten.
* Daß er sich auf meine Einfälle (S. 62) nioht einläßt, ist nur zu loben.
* bruti‘ die Laien; vgl. CB 162 (124), 4 (es muß in Wahrheit 5 sein): ‚estimetur autem
laicus ut brutus' und 138 (101), 3,2: ‚laicorum pectus bestiale. Es handelt sich um die ,lecca-
tores‘ des Archipoeta (6, 22f.), wobei bemerkenswert ist, daß dieser unter ,leccatores' ganz etwas
anderes versteht als Walter. Auch W 19, 20,1 und 22,2 steht der ‚histrio’ mit dem ,brutum'
auf einer Stufe und denkt nur ans Essen.
* 2,2 hat H in ,velut' das Eohte, weil das sohwerer zu verstehen ist ale ,cibum*' und somit
sein Ersatz durch ‚cibum‘ sich leichter erklärt als das Umgekehrte. ‚‚Sie brüllen danach, als
handle es sich ums ewige Leben.“ Die 2. Strophe erinnert an Pindar O. II 156, wo er von sich
und seinen Nebenbuhlern sagt: ,,Sie krächzen wie Raben gegen den Vogel des Zeus.“
Kritiken 851
5—6: Die Prälaten und ihre Laster. — 7 + 95: Ihre Simonie®. — 8 + 105: Sie
taugen alle nichts. — 11—12: Wollust beim Einen, Schwelgerei beim Andern, Hab-
sucht bei Allen. — 13 + 15 (so P B D K mit Recht): Den Armen geht es dabei
schlecht; kann man für einen Posten nicht zahlen, so bekommt man ihn nicht (vgl.
W 9, 7—8). — 14 ist deutlicher Abschluß. — 16 fehlt in Y mit Recht; es hat nach
dem Abschluß hier nichts zu suchen und ist hineingeraten im Anschluß an ‚sacerdos‘
in der bereits verstellten Str. 15, 2.
Den Beginn von Teil II ordnen P K Fl B D mit Recht 18, 17, 19. 18 eróffnet
mit einer ganz allgemeinen Bemerkung: „Je mehr er hat, je mehr er will.“ Das
hängt mit dem Vorhergehenden nur sehr locker zusammen, aber Ähnliches findet
sich bei Walter auch sonst; vgl. unten S.858 zu W 3, 33 und 36, S. 855 zu W 1*, 29*,
S.854 zuW 7a, S.854 zu W 10,7. — 17 führt den Gedanken fort: „Deshalb wird nur
der Reiche geachtet.“ 17 und 19 zusammen bilden eine Disposition des Folgenden:
a) Die Welt urteilt nur nach dem Besitz. — b) Der Reichtum führt zum Laster.
a wird ausgeführt in 4 Strophen (20—23y': Der Schluß von 23 leitet über auf b,
aber an ‚puella‘ knüpft sich vorher noch das ‚diverticulum‘ von den reichen Frauen
(24—25). Dann geht es ausdrücklich zum Thema zurück, zur ‚libido‘, d. h. hier der
Päderastie (26—28)*.
29 scheidet Strecker mit Recht aus, 30 zu Unrecht. Ha bietet eine Strophe mit
gleicher Auktoritas wie 29, die gut von 28 zu 30 überleitet: „Die Unsittlichen (von
denen eben die Rede war) beschimpfen die Reinen; diese Gegensátze liegen stets im
Kampfe. Und (30) ein Betrüger magst du sein, man schátzt dich doch, nur den
sittenstrengen Gelehrten achtet keiner." Damit kehrt die Satire zu ihrem Ausgang,
dem Sieg der Laster über die Tugenden zurück; das ist der passende und richtige
Schluß®. Neben der echten Str. 29, die in Ha erhalten ist, hatte jemand die jetzige
der gleichen Auktoritas wegen als Parallele an den Rand geschrieben, die dann das
Ursprüngliche verdrängte. Db allein hat die Schlußstrophe bewahrt, wie in W 5
die Fulmarusstrophen (s. unten S. 852).
W 4 zerfüllt also in 2 Teile, der zweite nochmals in drei Unterabteilungen. Deren
letzte (26—28) führt klärlich aus, was in 4, 3, die drittletzte, (20—23), was in 4, 2
angekündigt war, das Erliegen der ,virtutes' gegenüber den Lastern, indem eben
die Gelehrten den Reichen gegenüber zu nichts kommen. Demnach muß 5—14 die
Ausführung von 4, 1 sein: die reichen ,reprobi' sind die prelati avari‘.
Die Strophen sind meist paarweise zusammengefaßt (1—2, 3—4, 5—6, 7 + 9,
8 + 10, 11—12, 13 + 15, 24—25, 29—30). Einzeln steht 14, der Abschluß von Teil I,
zu dritt die Einleitungs- und SchluBstrophen von Teil II (18 + 17 + 19 und 26-08) :
vgl. dazu S. 855 zu W 1*.
5 7, 9, 8, 10 ordnet L, und das ist richtig; deutlich ist die Paarung der Strophen. Aber
cenat“ ist verderbt; es paßt schon nicht zum vorhergehenden Verse. F hat ,nunco'. Etwa
nummat'? Von ,nummatus' (W 19,4,4) ist bis zu dieser Erfindung kein großer Schritt. Über
den Wucher von Klausnerinnen Scheffel, Ekkehard 3. Kap. nach Hepidan, vita Wibor. II, 11.
* 7,2 1: ‚nuno solent’, Gegensatz zu ‚obsoluit‘. Daneben gab es ‚non debent‘, was aber
weniger gut anschließt. ‚non solent’ ist flaue Kontamination.
* 21,1: ‚mores' ist unverständlich; I. , tales“, scil. ,mores'. Dies Wort ist eingedrungenes
Glossem zu, tales“. — Zu 23,2 vgl. noch Gan. et Hel. 42,1.
* Zu 28,2 vgl. Gan. et Hel. 30,4 und 40.
* Auch die Form der Apostrophe verwendet Walter gern am Schluß, s. unten S. 861.
54*
852 Kritiken
Dieser klare Bau muß das Ursprüngliche sein. F hat dagegen die falsche Folge
14 . 16, die unechte Str. 16, läßt 19—21 und 27 aus, die nicht fehlen dürfen. Dafür
hat es freilich mit S und Db die zweifellos richtige Form der 1. Strophe. Davon
abgesehen aber dürften für W4-W7P und seine Verwandten Walters eigener
Sammlung (8. unten S. 858) am nächsten kommen. Die übrigen Handschriften bieten
zwar háufig in Einzelheiten Besseres, kommen aber für den Aufbau der Gedichte
nicht in Frage. S bringt für W 4 nur einen schlechten Auszug aus F. Ha will über-
haupt kein Waltersches Gedicht geben, sondern ein eigenes, das größtenteils ein
Cento aus W 4, W 6 und W7 ist!®, aber zahlreiche Zusätze enthält und die Walter-
schen Strophen z. T. stark abándert, um sie dem neuen Zusammenhang anzupassen.
Dieser ist klar, und die Zusatzstrophen sind nicht schlecht. Dies Gemächte bietet ein
unmittelbares Bild davon, wie die Nachfahren mit den alten Gedichten umgingen.
Weniger klar ist der Tatbestand bei H. Hier sind zunächst einmal fast sämtliche
Einleitungsstrophen von W 6, W 5 und W 4 zusammengestellt (W 6, 1.3.2; W 5,
1. 4; W 4,8), dann die beiden einander ühnlichen Übergänge W 4,5 und W 5,5.
Darauf folgen aus diesen Gedichten so ziemlich alle Strophen, die sich gegen die
Prälaten richten, bunt durcheinander; dabei ist W 6, 4 stark umgeändert, so daß
es an die vorhergehende Str. W 4, 11 besser anschließt; eingeschoben ist die unechte
Str. W 4, 16, die vielleicht erst von hier aus in F, S und Db hineingeraten ist, W7, 10
und das Irrlicht W 9, 6 = W 13, 12. Es folgen W 5, 7—11, die Strophen über Papst
und Kurie, die man zusammengelassen hat (9 und 10 umgestellt), dann W 5, 14—17,
unverstándlich durch das Fehlen von W 5, 12—13, die nun erst nach W 4,20. 19
kommen. Jetzt der Allerweltsvers W 5, 191°, die Hauptmasse von W 6 (6—20)
und W7 in einer Auswahl, die in Hr und S wiederkehrt. Nun wieder sechs aus
W 4 W6 W 6 zusammengewürfelte Strophen, dann W 4, 21—25. Mit ‚set a diver-
ticulo repetatur fabula‘ schließt diese Zusammenstellung, also ganz sinnlos!!. Ich
kann mir dies nur so erklären, daß man hier eine Art Fundgrube für solche ,,Dichter"
anlegen wollte, die Centi nach Art von Ha herstellten.
W 5.
W b zeigt in Db drei Strophen mehr als in Y, mit dem Db sonst übereinstimmt;
sie preisen einen Fulmarus wegen seiner Freigebigkeit. Strecker ist geneigt, sie für
unecht zu halten (S. 72 f.). Indes belehrt uns B, das Gedicht sei ‚Treveris in capi-
tulo‘ vorgetragen worden, und eben in Trier lebt zu jener Zeit der Archidiakon und
Propst Folmar oder Volkmar, der von 1183—87 Kaiser und Kurie, Deutschland und
Frankreich in Atem hielt. Ehrgeizig, gewalttätig, unbeugsam, verfügte er über reich-
liche Geldmittel, die er für seine Zwecke wohl zu verwenden wußte (Giesebrecht.
D. K. G. V, 60). Als am 25. Mai 1183 der Erzbischof von Trier starb, wußte Folmar es
durchzusetzen, daß er alsbald — freilich in tumultuarischer Weise — gewählt wurde,
obwohl die Vorwahl auf einen anderen gefallen war. Er geriet dadurch in schweren
Zwist mit dem Kaiser, mußte 1187 Deutschland und bald darauf auch Frankreich
verlassen, floh nach England und starb dort 1189. In Frankreich genoß er den
Schutz des Erzbischofs Wilhelm von Reims (a. a. O. 156) und des dortigen Klerus.
Damit kommen wir in die Gegend Walters von Chatillon, der dem Reimser nahestand,
und es ist nicht zu bezweifeln, daß die Notiz in B richtig und eben dieser Folmar in
W 5 gemeint ist. Also gehören jene drei Strophen zu W 6.
!* Daß er auch W 5,19 enthält, beweist, daß Strecker diese Strophe mit Recht ausacheidet.
11 Ebenso übrigens Fl. .
Kritiken 853
Das ist erfreulich, weil eine einzige Handschrift gegen alle anderen Recht behält
und wieder einmal bestätigt wird, daß die Zahl der Handschriften nichts beweist.
Aber warum fehlen die Strophen in den übrigen? Weil man Gedichte nicht aus
literarischen Gründen abschrieb, sondern um sie wieder zu verwenden. Dabei konnte
man Aktuelles nicht brauchen. So sind W 10 nach Str. 6 die Verse ausgefallen, die,
durch Str. 6 vorbereitet, den Freigebigen nannten und priesen, so beim Archipoeta
6, 21 Vers 3 und 4 mit den Namen der guten Bischöfe; so ist in Str. 4 des Bischofs-
liedes von Philipp de Greve (Stud. z. lat. Dichtung d. M.-A., Dresden 1931, S. 37ff.)
der Stadtname fortgelassen, um einen andern einsetzen zu können; vgl. auch S. 857
zu W 3,9, 5ff. und zu W7. Umgekehrt haben die Scholaren Trinklieder gedichtet,
in denen von vornherein Platz blieb für den Namen eines ‚hospes largus‘.
In L hat W 5 noch eine Fortsetzung. Strecker druckt sie als W 7a; ob sie
Walter gehöre, lasse sich nicht unbedingt entscheiden; ihm sei es nicht wahrschein-
lich. Aber bereits die äußere Form spricht dafür. W 5 zerfällt fast durchweg in
Gruppen von 4 Versen:
1—4 Einleitung. — 5—7 Prälaten und Papst. — 8—11 die Kurie. — 12—15 die
Mónche!*. — 16—18 + 20 die Kleriker!*. — 21—24 Fulmarus!*,
Ebenso zerfällt 7a nach einer Einleitung von drei Strophen? in Vierheiten:
4—7 de ambitione, 9—12 de virtute!®, 13—16 ad auditorem".
Auch der Inhalt spricht dafür, daß W und W 7a zusammengehören. Wa,
4— ist eine Warnung vor Ehrgeiz, und zwar vor dem Drang nach einer Rolle im
öffentlichen Leben (5,2). In keiner der Walterschen Satiren wird dieses Laster
berührt, nur in W 5,1,2 an sichtbarer Stelle und gewichtig: ‚letalis ambitio. Ent-
standen ist W 5 nach 1181; denn zu Lebzeiten des ‚Alexander meus‘ wäre Walter
nicht so gegen den Papst losgefahren, wie in W 5, 7. Und vor Ende Mai 1183, denn
nach Folmars Wahl hätte Walter ihn ‚electus‘ genannt. Der Gedanke ist nicht
18 14,1f. besagt: „Die Mönche geben weltlicher Tätigkeit lieber nach als geistlicher.‘
1 19 verwirft Strecker mit Recht, 20 zu Unrecht. 20 schließt gut an 18 an: „Man darf tun,
was Nutzen bringt, ja, den meisten Nutzen bringt es, ein rechter Sohuft zu sein“, eben wie die
eid- und ehebrüchigen Kleriker in 18,1f. — Zu 18,1 vgl. Cic. de fin. 1V 19,55: ,,ipea veritas
clamabat.''
34 Man könnte angesichts dieser Vierheiten auf den Gedanken kommen, zwischen 5 und 7
sel eine Strophe ausgefallen. Aber Walter ist in Formdingen ziemlich frei; darin ist er, der Vlame,
ganz germanisch.
15 2 oder 3 als Dublette zu betrachten, liegt kein Grund vor. Ähnliches findet man oft, z. B.
Archip. 6, 4f.; 7,20f.; auch W 0,71. ist zu vergleichen. Gleich Ins große treibt solchen Parallelis-
mus der Engländer Gauterus in seinem gräßlichen Gedicht ,De palpone‘. Er wiederholt Gedanken
und Worte nicht nur zwei-, sondern auch dreimal und öfter; besonders vgl. 75—76; 89—90,
94—95, 110—120, 164—165. Auch die Stilübungen Serlos gehören hierhin, der einen Gedanken
in drei Hexametern dreimal abwandelt, indem er fast nur die Worte umstellt. — 3,3 ist richtig
überliefert ; das Adverbium erweckt die Vorstellung desVerbums so stark, daß dieses fehlen kann.
Dasselbe W 15,12,1, wo Strecker keinen Anstoß nimmt, und 3,23,5f. und 22, wo beide Male keine
Lücke anzunehmen ist. Die Gleichheit der ungewóhnlichen Konstruktion spricht auch dafür,
daß 7a von Walter stammt. Hiermit erlecigt sich mein Besserungsvorschlag a. a. O.
1* 8 ist zu streichen, eine Einleitungsstrophe, die hier den Zusammenhang zerreißt. 9 schließt
mit igitur‘ an 7 an. Auch ist die Auktoritas von 8 schon W 5,8 verbraucht. — 11,21. ,quas
enim‘. ‚ciconia® = Spott, vgl. Pers. I, 58 und ‚De palpone‘ (Mapes S. 106ff.) 34,4 „a clan-
destina cave ciconia''.
9 13,4 ist nicht als Frage zu verstehen, wie ich Stud. z. lat. Dichtg. d. M. A. 96 behaupte,
sondern in wunderlicher Umkehrung: „„Die Künste, die dem Herrn nicht nützen, nützen allen
andern.“
854 Kritiken
abzuweisen, daß der Dichter im 2. Teile seines Vortrags den ehrgeizigen Folmar
geradezu vor dem Streben nach der Wahl warnt; man lese daraufhin W 7a, 5—6:
sie werden dann sehr lebendig. Und Walter hat recht behalten: Folmar brachte
über sich und die Diózese schwerstes Unheil.
Man mag einwenden, W 7a schließe an die Fulmarusstrophen schlecht an.
Aber der II. Teil von W 4 hängt mit dem I. kaum besser zusammen; hier wie dort
leitet ein Gemeinplatz die Fortsetzung ein. Wohl aber finden wir ühnlichen Bau bei
W 10 (S. 854) und W 14 (S. 866). Auch W 19 läßt sich vergleichen (S. 868f.).
Walter bezeichnet sich hier als ,vagus'; das ist wesentlich für die Umgrenzung
dieses Begriffes, mehr für Walters Persönlichkeit. Er ist ein vornehmer Vagant:
denn er heischt ein Pferd, wie sein Namensvetter von der Vogelweide und der Primas
von Orleans. Ein Pferd war auch damals kein Pappenstiel. Aber wenn er heischt.
so scheut er sich doch nicht, seinem Gönner zur gleichen Zeit sehr ernsthaft, ja
scharf ins Gewissen zu reden, in diesem unabhängigen Freimut wieder dem Vogel-
weider áhnlich!^; auch an Horaz und Pindar wird man erinnert. Man sieht, eine
Strophe wie 8,18 ist kein leeres Gerede. Der Vlame war ein Vagant, ja, aber er war
auch ein Mann.
W 10.
W 10 ist ebenso gebaut wie W 5 + 7a. Nach 6 ist eine oder mehrere Strophen
ausgefallen; von 7—11 ist zweifelhaft, ob sie zugehóren. Daß der Wechsel der Form
nichts dagegen beweist, betont Strecker mit Recht. Auch das Fehlen eines Zusam-
menhanges nicht, vgl. S. 851 zu W 4, Teil II. Bedenklicher ist, daB die 5 Strophen
in À als besonderes Gedicht auftreten. Aber es werden gar nicht selten sogar einzelne
Strophen weitergegeben, und für eine selbständige Satire sind 5 Strophen doch zu
wenig. Vor allem spricht für die Zugehórigkeit, daB der Kehrreim von 1 geradezu
auf den Inhalt von 7—11 hinweist, wie W 5, 1, 2 auf W 7a. Der Zusammenhang war
wohl wie bei W 5 + 7a in den persönlichen Verhältnissen des Angeredeten gegeben.
Mir scheint die Zugehörigkeit sicher.
W 1 und W 1*.
Neben W 1 ist uns ein Gedicht überliefert (ich nenne es W 1* und zàhle seine
Strophen 1*, 2*, 3* usw.), das in den meisten Strophen mit W 1 übereinstimmt und
dennoch, wie Strecker betont, ein durchaus anderes ist. Beide aber rühren, auch
darin hat Strecker zweifellos recht, von Walter her. W 1 ist das bekannte Bittgedicht
an den Papst.
1—2: Einleitung, persónlich. — 3—4: Thema und Bitte um Schutz. — 5: Über-
gang zu den folgenden Allegorien!*. — 6—7: Die Welt als Wüste mit Dornen und
Disteln. — 8—9: Die Prälaten und ihre Laster. — 10—11: Der Arme, insbesondere
der arme Gelehrte, steht zurück. — 12—13: Die ‚palpones‘. — 14—15: Nutzlosigkeit
der ‚artes‘ im Gegensatz zu einst. — 16—26, das besonders gegliederte Hauptstück:
im Gegensatz zu einst Nutzlosigkeit der Theologie. — 16: Übergang: Das Einst*!. —
17—18: „Was nutzt mir (heute) die Theologie?“ Das Strophenpaar wird auch durch
den Bau (Gegensatz von v. 4—6 zu v. 1—3) zusammengehalten. — 19—24: Beispiele
18 Walters Freimut hebt auch Schumann zu C. B 41,29 hervor.
38 Ich würde nach 5.4 Fragezeichen, nach 5,8 Punkt vorziehen.
% 7,1 würde ich ‚qui‘ vorziehen (so F H Pr); es heißt ja auch vorher ‚qui vernare solet‘
21 16,1f. ist zu lesen ‚opulena solebat esse qui aptabat‘. Der Wechsel im Tempus Ist. sinnlos.
‚solebant‘ Fl, wohl auch schon Konjektur.
Kritiken 855
theologischer Gelehrsamkeit. — 25: Abschluß dieses Teiles durch Rückgriff auf das
Thema (17f.). — 26: Persönliche Folgerung und Übergang zu 27—28, dem Schluß,
Walters Bitte.
Die Gedankenfolge ist klar. Strophenpaarung 1—2, 3—4, 6—7, 8—9, 10—11,
12—13, 14—15, 17—18, 27—28. Zu sechs 19—24. Einzeln die Übergangs- und Ab-
schlußstrophen 5, 16, 25 und 26. 5—8 und wieder 10—11 hängen noch dadurch
zusammen, daB der Hauptbegriff vom Ende der einen am Beginn der andern wieder-
holt wird?*. — Sehr bezeichnend für Walter ist es, wie 14—26 den Gedanken von
11,4 aufnimmt und ausführt, ferner die Háufung von allegorischen Deutungen
19—24, wie schon vorher 5—8. Das hat hier entschieden den Zweck, ihn dem Papste
als Gelehrten zu empfehlen, aber es ist überhaupt seine Liebhaberei.
WI“, für ein Fest in Troyes verfaßt, ist nur in Db überliefert und steht dort
durchaus passend zwischen zwei anderen Festgedichten, W 12 und W 13. Wie diese
enthält es einen Angriff auf die ‚leccatores‘; derlei muß bei gewissen Gelegenheiten
typisch gewesen sein.
1*—3*: Einleitung (, der gleichmäßige Bau der drei Strophen ist zu beachten“,
Strecker S. 16) *. — 4*—5* (= 3—4): Thema und Bitte um Schutz. — 6*—7*
(= 1 + 5)33*: persönlich mit Übergang zu 8*—17* (= 6— 15). — 18*—20* (= 29*
— 31* bei Strecker) Schluß: ‚contra leccatores““.
Der Schluß hat mit dem Übrigen sehr wenig zu tun und ist ganz locker an-
gehängt, nur durch ein ‚autem‘, das mit „andrerseits — auch“ zu übersetzen wäre
und auf Str. 10* (8) zurückgreift. Vgl. S. 851 zu W 4, Teil II. Äußerlich ist der Bau
sehr regelmäßig: 3 Strophen Einleitung, 7 Strophenpaare, 3 Strophen Schluß.
Ähnlich ist der Bau des II. Teiles von W 4 (oben S. 851), insofern dort ebenfalls
3 Einleitungs- und 3 Schlußstrophen das Übrige umschließen; auch dort wenden
sich die 3 Schlußstrophen gegen die ‚leccatores‘. Beide Gedichte sind an denselben
Mann gerichtet und liegen vermutlich in der Zeit nicht weit auseinander,
In Str. 5* wird ein ‚comes largitatis‘ angeredet?®. Der Ausdruck ist etwas
merkwürdig?®, offenbar ein Spiel mit ‚comes‘ = „Graf“ n. In Troyes kann damit
nur der Graf von Troyes, der Herr der Champagne, gemeint sein. Zu W 4 bemerkt B,
dessen Zuverlässigkeit bei W 5 sich erwies: ‚Ad comitem Heinricum‘. Zwei Grafen
Heinrich von Troyes, Vater und Sohn, spielen zu Walters Zeit eine nicht geringe
33 Das kommt sonst bei Walter nicht vor, häufig aber beim Primas, dem Hr das Gedicht
zuschreibt (vgl. dazu unten S. 861 f.). Die Verse stammen aus W 1°, einem der früheren Gedichte
Walters; mag sein, daß dieser, noch tastend im Stil, die Manier des älteren Dichters einmal nach-
geahmt hat. Vom Primas kann W 1 schon wegen 28,2—3 nicht sein, da er als Kanoniker eine
Versorgung hatte.
33 Zu 1°, 1—2 vgl. Alexandreis, Prolog: „moris est . . solere turbam,"
338a Der Kurzvers 7“, 1 ist Walter nicht zuzumuten; I., tanta (tamen) locuturi‘.
34 Nach 15 schiebt F noch acht Strophen ein, die Strecker mit Recht als unecht ansieht.
Sie sind nicht schlecht, aber sehr verderbt. Es ist zu lesen:
17°,2 ‚set‘, F ‚et‘. 20,2 ,demulsato'. 20*,5 ,palliando'. 23*,5 ‚inmanes‘. Statt 219,5 ‚per
manum‘ habe ich a. a. O. vorgeschlagen .per munus‘. Aber es muß ein Gegensatz zu ,eleoti'
sein, also ,profani*. — In der SchluBstrophe von F (Ausgabe S. 13, Anm.) 31. ,arat* nach
Is. 28,24 „, Numquid tota die arabit arans, ut serat ?''* Vgl.auch ,aro non in semine' im Kehr-
reim von ,Amor habet“ (Studi letterari, Firenze 1911, 140fl.).
In dem seltsamen ‚homo‘ in A mag eine Erinnerung an ‚comes‘ stecken.
** Vergleichen läßt sich C. B. 223 (191 Schm.) 1,2 ,sectatores otii‘.
3? Zu ‚comes largitatis‘ in diesem Sinne vgl. etwa ‚homo sanguinis‘ u. A.
856 Kritiken
Rolle. Ich zweifle nicht, daß WI“ wie W 4 an einen von ihnen gerichtet ist.
Chätillon liegt nicht weit von Troyes.
Strecker nimmt an, daß W 1* aus W 1 umgearbeitet sei. Aber es ist nicht zu
verkennen, daß die Bitte um Schutz nur in W 1* wirklich aus der Situation heraus-
wächst. Wenn ein Vagus den Klerikern der Stadt in ihrem Beisein vor einer großen
Versammlung?“ so schlimme Dinge vorwarf, wie in 29*ff., so durfte er freilich auf
unangenehme Folgen gefaßt sein; die Betroffenen waren gewiß zugegen und mußten
manchen Blick aushalten, der ihre Scham und Wut erregte. Hier hatte Walter allen
Grund, sich den Schutz des Grafen zu sichern. Die ganz allgemein gehaltenen
Angriffe in W 1 konnten solche Wirkung nicht haben; die Bitte um Schutz ist dort
nur Verbrämung des Themas. höchstens soll sie noch Walter als mutigen Kämpen
für das Gute empfehlen. Auch der im Vergleich zu W 1 regelmäßigere Bau und die
Vereinzelung von Str. 5% im Gegensatz zu 7* deuten darauf hin, daB WI“ das
ursprüngliche Gedicht ist. Schließlich ließ sich eine Dichtung nur dann in solcher
Weise zum zweiten Male verwenden, wenn sie den Hórern unbekannt war. Ein
Festlied, das ein Vagus in irgendeiner Stadt bei einem der zahlreichen Feste vortrug,
war nichts besonderes und drang gewiß nicht in weite Kreise. W 1 dagegen ist nach
B ,coram domino papa in consistorio'*! vorgetragen worden. Allein die Tatsache,
daB Walter dort angehórt wurde, muBte sich weit herumsprechen und die Leute auf
sein Gedicht neugierig machen, eine Neugier, die er gewiß gern befriedigte. Dann
konnte er aber dem Grafen von Troyes hernach nicht mehr mit einer Arbeit kommen,
die nur ein Bruchstück von längst Verbreitetem war. Kurzum: W 1* ist ülter als W 1
und für dieses benutzt worden?*. Zur Zeit von W 1 s. unten S. 862; es muß demnach
der ältere Graf Heinrich gemeint sein, der erst 1181 starb?*??,
W 8.
W 3 ist ebenfalls von Walter selbst umgearbeitet worden. Nach Strecker bietet
Dg die erste, a P die zweite Fassung. Tatsächlich weicht Dg in vielem von a P ab,
hauptsächlich dadurch, daB es allein das lange Prosastück 23 enthält. Aber es ist
nicht gesagt, daB dieses in der Vorlage von a P nicht vorhanden war. P läßt hier wie
bei W 15 alle Prosastücke weg, genau wie Wright in seinem Abdruck aus D. Dg
wiederum hórt mit 32 auf, obwohl das Gedicht niemals so geschlossen haben kann,
und D bricht ganz unvermittelt nach 36, 7 ab; es herrscht hier wie auch sonst in der
Überlieferung arge Willkür, und 23 kann sehr wohl ursprünglich zu jeder Bearbeitung
gehórt haben. Dagegen ist 14 erst aus der Alexandreis herübergenommen worden;
denn es weist ihr gegenüber Verbesserungen auf. 14, 5 zeigt in der Al. die gram-
matische Härte, daß der Indikativ ‚dedit‘ aus den abhängigen Fragesätzen herausfällt;
W 3 hat ‚legat‘. W 14, 7f bietet bedeutend wohlklingendere Verse als A149f. Auch
14,2: ,eclipsim' gehórt hierhin: bei der Übernahme setzte Walter das gelehrtere Wort,
in seinem Sinne sicher eine Verbesserung; nur Dg hat das bewahrt, in a P ist aus
der Al. ‚defectum‘ wieder eingedrungen. Hieraus erklärt sich auch 8, 4: es ist natürlich
se Giesebrecht, Gesch. d. D. Kaiserzeit V und VI.
** Daß diese nur aus Laien bestand (Streoker 8. 4), ist wegen Str. 30* nicht möglich.
** 2 ist doch nur ein Doppel zu 5, das diese hinter 1 ersetzen soll.
21 Und zwar in einem Consistorium publicum, wo Laien zugegen sein konnten.
ss Ähnlich macht es der Archipoeta, wenn er in seine Beichte 6 Strophen aus Nr.6
hineinarbeitet, und zwar nicht erst nachtrüglich. f
sa So auch Spanke „ Volkstum und Kultur der Romanen“ IV, 1981, 8. 215.
Kritiken 857
die Alexandreis gemeint; es muß ja doch ein Hauptwerk sein, an dem man den
Dichter sofort erkennt; zu den rhythmischen Dichtungen muß es deshalb nicht
gehören. Das ganze Stück 7, 4—8, 4 ist erst später eingesetzt, und dann auch 9, 5—8.
Damit ist der Anstoß beseitigt, den Strecker mit Recht an 7, 4ff. nimmt: „Welches
Interesse konnte dieser Dichterkatalog, der nur Franzosen enthält, in Bologna
erwecken?“ Er ist dort gar nicht vorgetragen, sondern erst später in die Buchausgabe
eingesetzt worden, genau wie das Stück aus der Alexandreis.
7—11 bestand ursprünglich aus drei Vierzeilern und einem Fünfzeiler, und jede
Strophe behandelte eine Disziplin. Die vierte Zeile von 7 ist in D noch erhalten;
die Strophe hieß:
Inter artes igitur, qui dicuntur trivium,
fundatrix grammatica vendicat principium,
que se solam estimat artem esse artium;
sub hac chorus militat metrice scribentium.
In 9, 5ff., dem zweiten Zusatz, hat Dg eine Zeile erhalten, die nicht fehlen darf;
die Strophe hieB: l
Hanc doctorum variat multiplex opinio;
set in his deficiunt scrutantes scrutinio
set cunctos etc.
Zum Ausfall der Namen vgl. oben S. 853; es waren Gegner Abälards.
Auch sonst weicht Dg von den übrigen Hss. in mancherlei Lesarten ab. Zum
Teil sind das nur Verschreibungen; gelegentlich ist eine Randnotiz in den Text
gerutscht, wie hinter 18, oder hat gar, ohne in den Sinn zu passen, das Echte ver-
drängt, wie 21, 7f. Aber mehrfach merkt man Absicht, und zwar hat Db, ganz
wie Strecker annimmt, das Ältere und à P die Änderung, deren Zweck man hie
und da erkennen kann. So soll sie 1, 15—30 verschieden lange Kola einander an-
gleichen, z. B.
set cum sacrorum constituta canonum
et scientie legalis altitudo
gegen Dg:
set cum sacrorum scita canonum
et scientie legalis
oder 1,21 a P
ou nn | Schluß vu—uu—uu mit Reim
gegen Dg
ne si — obruar
et quasi — confodiar,
wo das erste Kolon viel länger ist und die Schlüsse zwar doppelt reimen, aber sonst
ungleich sind:
emulorum obruar S
detractorum confodiar Uu—uu— uu
** jaculis et arcu‘ nach der bekannten Horazstelle c. 1 22,2.
858 Kritiken
Oder es wird ein Hiat in der Klausel weggeschafft:
1,26 Dg ‚invidie evitemus': eine Art Velox mit Vorschlag,
a P ,evitare possimus': eine Art Planus.
Oder es wird ein Cursus hergestellt:
1, 30 Dg ,tribus eorum prelegavit‘
a P „titulo legati reliquit‘ Planus.
Gerade vorher hat Dg ,usum fructuarium', was wie ein rhythmischer Vers
klingt und wohl deshalb in « P geändert ist. 5 formt a P so um, daB der Ausdruck
glatter und der logische Zusammenhang deutlicher wird. 10, 4 hat Dg wieder Hiat:
a P beseitigt ihn, nicht gerade zum Vorteil für den Sinn.
Es handelt sich also um stilistische Verbesserung, womit sich a P als später
erweist. W3 wurde demnach zunächst in Bologna mit den Lesarten von Dg vor-
getragen, aber ohne 7, 4—8, 4; 9, 5—8 und 14. Später hat Walter eine Buchausgabe
mit jenen Zusátzen (Dg) gemacht und sie hernach nochmals überarbeitet (a P). Es
ist nicht anzunehmen, daB solche Ausgaben nur ein Gedicht enthielten: Walte-
selbst muß mindestens zweimal eine Sammlung seiner Werke veranstaltet haben.
W3 ist eine Satire im antiken Sinne, gemischt aus Prosa, metrischen und
rhythmischen Versen. Ähnliches zeigen W 15, W 12 und W 10, aber in weit geringe-
rem Maße. Die Einteilung wird dadurch sehr klar, die Übergänge sind betont.
1: Einleitung und Thema. — 2—3: Nochmalige Einleitung“. — 4—5: Auslegung
des Themas (allegorisch).
I, II?5, III Ausführung des Themas. — (IV =) 3335: Der Hymnus. — (V =)
36: Die ‚generationes‘. — 37: Schluß.
Áhnlichen Bau zeigt W 2: auch dort wird Thema und Einteilung bis 21 ausgeführt
und dann noch drei Stücke angehängt, die nicht vorgesehen waren (dea, cautes, portus).
Beide Gedichte können zeitlich nicht weit auseinander liegen, vgl. unten S. 859f.
In den rhythmischen Stücken von I und II ist eine Strophenpaarung wie bei
2—5 nicht zu erkennen. Anders in III:
24: Einleitung (6 Verse). — 25—26: spiritus et littera. — 27—28, 29—30,
31—32: Je eine Bibelstelle mit Auslegung.
Auch in 35 ist Strophenpaarung kenntlich:
1: Einleitung. — 2—3: Der Grund des Wunders. — 4-5: Die Doppelnatur
Christi. — 6: AbschluB der Betrachtung. — 7—8: Die Kraft des Wunders.
W 7.
Auch W7 hat eine Bearbeitung erfahren, aber erst nach Walters Zeit.
1—2: Einleitung. — 3—4: Das Schisma. — 5—6: Unsicherheit des eigenen
Urteils. — 7: Übergang zur ,sponsa'3*. — 8—9: Ihre Klage über die Spaltung. —
** Auffällig genug; denn auch im Gedanken sind 3 und 1 einander sehr ähnlich. Immerhin
hat auch W 5 eine Einleitung, von deren vier Strophen mindestens die 3. nur eine Art Wieder-
holung von 1—2 ist und die 4. ein Anfang für rich sein könnte. Es bleibt jedoch folgendes zu
bedenken: P erweist sich bei W 4—7 als zuverlässig. Sie bringt W 3 ohne jedes Prosastück, das
Thema, wie es sich gebührt, hinter 3, und W 15 ohne 1—2, die Versus und die Prosa. Sollte etwa
der Dichter im Alter die Mischung unangenehm empfunden und noch eine weitere Ausgabe ge-
macht haben, die wie P aussah (W 3 freilich bis 35 einschl., ohne 34), und für sie erst W 3,3 zu-
gedichtet haben? Vgl. auch unten S. 866 zu der seltsamen Stellung der Überschrift von W 15 in B.
ss 23,6 und 21 keine Lücke, vgl. oben S. 853, Anm. 16 zu 7a, 3,3. — 23,24 ,equivoci': Der
Bischof hieB ,Iodocus'. Aus Folmar macht Walter ,Fulmarus', um dcn Kalauer ,manu tulgens'
anbringen zu können. So mag er hier sich ein ‚Iudocus‘ denken, woraus sich ‚iuris doctor‘ ergäbe.
* 7,4: Sollte Walter nicht ‚que‘ geschrieben haben? Auf wen sollte ‚quem‘ gehen?
— — m —— ii —
Kritiken 859
10—11: Desgl. über die Einsetzung durch den Kaiser. — 12—13: Einst und jetzt“.
— 14-15: Völliger Zusammenbruch. — 16—17: Hilferuf und Hoffnung®. Der
Abschluß durch eine einzige Zeile wie in W 16, ebenfalls nach direkter Rede.
Klarer Bau und Gedankengang, keine Allegorie. Strophenpaarung durchgeführt
bis auf die Übergangsstrophe 7.
Böhmer und Strecker setzen W 7 mit Recht vor das Konzil zu Tours. 4, 1 wieder
kann erst nach der Synode von Toulouse geschrieben sein, das Ganze also zwischen
Oktober 1160 und Mai 1163, wohl näher dem Konzil, wie man mit Strecker aus der
Schlußstrophe schließen darf. Seltsam, daß nur von Deutschen, Franzosen und
Italienern die Rede ist, die Engländer aber ganz fehlen, die doch in Toulouse
Alexander zuerst anerkannten. Der englische Klerus war aber wirklich damals
stärker gehemmt als der französische, der allezeit ohne Rücksicht auf Ludwig für
Alexander eintrat, während der englische zum Konzil von Tours erst mit Heinrichs
Erlaubnis kam. — Bemerkenswert ist Walters Zurückhaltung dem Kaiser gegenüber,
wenn man W 15 und W 16 vergleicht. Er verwirft zwar dessen Eingreifen, aber in 12
wird doch um den früheren Beschützer in einem Tone geklagt, der keineswegs feind-
selig ist, und 15 klingt wie ein Hilferuf eben an den Kaiser. Ich denke, daß Walter
hier durch die Haltung des Grafen von Troyes bestimmt wird, der immer ein Freund
Friedrichs 1. blieb.
Hr und S bringen das Gedicht in starker Verkürzung; alle Strophen fehlen,
die von Königen und Völkern sprechen oder von Walter selbst; d. h. man hat alles
Aktuelle gestrichen und ein — übrigens leidlich geschlossenes — Gedicht her-
gestellt, das sich auf jedes beliebige Schisma anwenden ließ. Es ist dasselbe Verfahren,
dem in W 5 usw. die Namenstrophen zum Opfer fielen; vgl. oben S. 8521.
W 2.
Dies berühmteste von Walters Liedern ist bis in die Reformationszeit hinein
benutzt und besonders zur Zeit des Konstanzer Konzils stark umgearbeitet worden.
Aber auch Walter selbst hat an einer Stelle wenigstens einen Zusatz gemacht.
1—2: Zustand Roms. — 3—5: Einteilung. — 6—21: Ausführung. [6—:
bithalassus = Franco. 9—10: Scylla = advocati. 11—12: Charibdis = cancel-
laria. 13—21: cardinales (13—19 = Sirtes vel Sirenes; 20—21 — piratae).] —
22—23: Bursa dea. — 24—25: cautes = ianitores. — 26—27: unus portus = Petrus
Papiensis. — [28—29: maior portus — Alexander III.] — 30: SchluB.
Daß 13 die Antwort auf die Frage ‚qui sunt etc.‘ nicht sofort gegeben wird,
erklärt Schumann C B. II zu Nr. 41 offenbar richtig damit, daß der Dichter zu
spannen strebt; er will die Aufmerksamkeit doppelt auf seine besonderen Freunde,
die Kardinäle, lenken. Es war Pedanterie von mir, daran mich zu stoßen. Und wenn
4f. die Piraten vor den Sirenen, in der Ausführung nach ihnen kommen, so entspricht
das lediglich der rhetorischen Figur des Chiasmus®.
Auch hier Strophenpaarung: 1—2, 9—10, 10—11, 20—21, 22—23, 24—25,
26—27, 28—29. Zweimal sind je 3 Strophen zusammengefaßt: 3—5, 6—9; s. 1.
Kardinälen aber widmet Walter 8 + 2 Strophen, die glänzendsten von ihm, die
3? 12,1 ,hereses': Insbesondere Arnold von Brescia.
* 16,2: Das sinnlose ,rutheni' ist verlesen aus, tirrhenl“ ‚Italiener‘. Ähnlich frei nennt
Gottfried von Viterbo (bei Giesebrecht, D. K. G. VI, 522) die Lombarden ,Ligures'.
* 18,1: ‚ut predixi^ muß sich auf v. 3—6 bezichen, vgl. 5, 3—96. Bei richtigem Vortrag
kommt das deutlich heraus.
860 Kritiken
wir kennen, und nicht nur von ihm. Nicht umsonst hat die Folgezeit das Lied immer
wieder hervorgeholt.
Peter von Pavia war Erwühlter von Meaux von Mai 1171 bis in den September
1176, mindestens seit Oktober 1173 nicht mehr in Rom, sondern in Anagni und
Frankreich (Revue des questions hist. 25, 1891, S. 18, 21f. und 25ff.); zwischen Mai
1171 und Oktober 1173 muB das Gedicht verfaBt sein; Walters Besuch in Rom
lag gewiß nicht allzu lange vor der Abfassung. Um dieselbe Zeit, Lätare 1172 oder
1173, ist W 3 vorgetragen worden. Während dieser Jahre war Alexander III.
nicht in Rom (17. Oktober 1170 bis Anfang Januar 1176 in Tusculum, von da an
in Anagni). 28—29 muB also späterer Zusatz sein, und der Buranus hat die älteste
Lesart bewahrt“, Str. 26 lautete ursprünglich:
Quodsi placet verum scribi,
unus portus tantum ibi,
una tantum insula,
&d quam licet applicari
et iacturam reparari
confracta navicula.
Dies letzte: „wenn das Schiff gescheitert ist“ ist besser als das spätere ,con-
fractae naviculae'; denn nicht das Schiff kann wiederhergestellt werden, sondern
nur dem Schiffbrüchigen geholfen. — Später hat Walter das Gedicht dem Papste
dediziert, 28—29 zugefügt und 26 entsprechend umgeformt, aber 27, 5 ,solus'
vergessen, das sich jetzt sehr seltsam ausnimmt, da doch gleich noch ein zweiter
Helfer folgt. Es genügte eigentlich schon allein, die Interpolation zu beweisen.
Bei Abwesenheit des Papstes besorgte die laufenden Gescháfte in Rom ein
Kardinal, der ‚vicarius urbis‘. Er hatte eine Kurie genau wie der Papst, mit ihm
untergebenen Kardinälen und dem ganzen sonstigen weltlich-geistlichen Apparat*!.
1164—1178 war das Johannes, Kardinalpriester von St. Johannes und Paul. Das
ist der in Cl ‚ex vetusto quodam codice‘ herübergerettete ‚Johannes, qui piratis
principatur', womit seine Stellung deutlich gekennzeichnet ist*®. ‚Sedere‘ dürfte
hier wie 20, 1 prägnant zu verstehen sein: ,sedet sicut papa“; 21,3 würde ich
drucken ,sedens — in insidiis‘. Frankos Name (6—8) braucht nicht erfunden
zu sein; er war einer der weltlichen Juristen und ist uns deshalb nicht näher bekannt*?*.
Der ,vicarius urbis‘ hatte hauptsächlich Rechtshündel zu schlichten und war
zuständig für den ganzen Kirchenstaat. Auch Walter ist wegen eines Rechtshandels
vor ihm gewesen; das zeigt 9—10. Als Franzose unterstand er ihm nicht, wohl aber
als Angehöriger der Universität Bologna; W 2 bestätigt also, daß er dort studiert
hat, wie die Vita berichtet“. Auch Petrus von Pavia war alter Bologneser; daher
wohl seine bereitwillige Hilfe. Dazu fügt sich die Überschrift von W3 in P, da8
Walter diesen Lätarevortrag nach seiner Rückkehr aus Rom in Bologna gehalten
habe. W3 und W 2 müssen also nicht lange nacheinander entstanden sein; daher
% 8o auch 19,5, wo ,docent tamen“ viel besser ist. Rs ist nun einmal nichts mit der, „Mehr-
zahl der Hess.“.
*1 Th. Hirschfeld, Gerichtewesen der Stadt Rom im Archiv f. Urk. Forschg. 1912, 463. Ich
verdanke diesen Nachweis meinem stets hilfsbereiten Amtsgenossen Kares.
** Mit Spurius könnte derselbe gemeint sein; das ist ja nur ein Spitzname: , Der Bankert."
Franco“ hat auch der ‚vetustus codex“, also ist Tremo“ jünger.
% Auch ‚a magistris suis’ beweist das eigentlich schon (W 8, 1, 13).
— —
P e P a 2
Kritiken 861
die Ähnlichkeit im Aufbau (oben S. 858). Die Überschriften von W 3 in P und B sind
also zuverlässig, die in Dg ,Apud Romam in presentia domini pape' dagegen falsche
Folgerung aus den zugesetzten Strophen 28—29, und Strecker behält mit seiner
Ablehnung recht. Ebenso falsch ist die wörtlich gleiche von W2 in Di, die ent-
standen ist durch eine naheliegende Kombination mit W 1. W 2 und W 1 haben
aber nichts miteinander zu tun.
Ob Walter W 2 in Bologna vorgetragen hat, solange der fette Johannes in Rom
ierte ?
i3 W 6.
Eine reizvolle Satire nennt Strecker dies Gedicht, und mit Recht. Der Reiz
liegt darin, daB es durchaus persónlich ist, voll einer Bitterkeit wie kein anderes.
Am ehesten làBt sich noch W 17 vergleichen, aber dort herrscht Resignation, hier
Angriffsgeist. So hóhnisch, wie die Auktoritas von 14, deren Sinn geradezu ins
Gegenteil verkehrt wird, ist keine Stelle mehr bei Walter, und daß damit W 4, 14
zitiert, vielmehr persifliert wird, macht die Schärfe noch fühlbarer. In Str. 3 sagt
Walter ja auch ausdrücklich, er spreche frei von der Leber, deutlich und grob; die
Ausdrücke ‚inconsulta‘ usw. sind nicht nur technisch zu verstehn. Der Dichter muß
vor diesem Liede eine besonders herbe Enttáuschung erlebt haben.
Der Bau zeigt nach der Einleitung zwei Teile.
1—4 Einleitung: „Alles verkauft sich, warum nicht auch ich?“ — 4,2 greift
auf ,vendere' in 1,2 zurück.
I. Klage.
5—8: Nur Geld machen!*5, — 9—12: Weder weltliche noch geistliche Wissen-
schaft nutzt etwas“. — 12 ist deutlich Abschluß.
II. Polemik.
13: Der zu bekämpfende Satz. — 14—18: in jeder der 5 Strophen ein Gegen-
grund. — 19: Zusammenfassung“. — 20: Abschluß durch Apostrophierung wie
W 8, 19f.; W 15, 23; vgl. auch W 13, 14; W 7a, 13—15 und W 4, 30.
In der Einleitung sagt Walter, er werde von jetzt an seinen Unterhalt durch
Dichten suchen. Das bedeutet Aufgabe des theologischen, aber auch des juristischen
Studiums. Daß dieses ihm übrigens nicht sehr lag, zeigt W 3, aber zugleich auch —
wenn man das nicht überall sähe — wie er an der Theologie hing. Daß er dieser nun
entsagen muß, ist der eigentliche Grund für die Bitterkeit, die aus W 6 spricht. Das
Gedicht muß nach W 4, W3 und W 1 verfaßt sein. Wenn Walter in W 5 (zw. 1181
und 1183) sich als Vagus bezeichnet, so hat er seinen EntschluB ausgeführt und
umgesattelt. Vgl. auch zu W 17, Anm. 74, unten S. 868. Sollte Alexanders III. Tod
zu der Wendung beigetragen haben? Sollte W 1 an Lucius III. gerichtet sein? Von
Alexander hat Walter keine Pfründe erhalten (W 2, 29), aber auch keine Ablehnung
erfahren (W 2, 28). Also hat er ihm W 1 nicht mehr vorgetragen.
+s ,pecunia' 5,4 und 6,4 sowie ,Homere* 7,4 und 8,4 fassen diese Strophen noch paarweise
zusammen. — 8,11. ,disputans'; mit ,disputet' würde Walter gerade das Gegenteil von dem
sagen, was das ganze Gedicht will.
** In dieser Abfolge ‚artes‘ und ,theologia* auch W 1,14ff.
*' 10,41. „quid hec vel genesis“; denn nur 10,1 ist aus der Genesis, 10,2—3 aus dem
Exodus. Es stand da ,quid heo genesis“; jemand schrieb drüber, ur, was als valet“ in den Text
kam.
“a Zu 19,1 vgl. Al. 2, 349.
862 Kritiken
Dagegen haben wir die verworrene Notiz“: „Dum Primas canonicus esset
Aurelianensis et idem papa (scil. Lucius) fuisset in Gallia, rogavit eum Primas
super obtentu unius beneficii . quem cum obaudientem (non) invenisset, invehit
his versibus contra eum:
Lucius est piscis rex et tyrannus aquarum,
& quo discordat Lucius iste parum.
devorat hic homines, hic piscibus insidiatur
esurit hic semper — hic aliquando satur.
amborum vitam si lanx equata levaret,
plus rationis habet, qui ratione caret.“
Und W1 trägt in Hr die pretiöse Überschrift ‚peticio primatis porrecta pape
pro beneficio obtinendo', aus der offenbar das ,obtentu' der Notiz stammt.
Aber W 1 ist sicher von Walter und (nach Str. 26, 4f.) in Rom vorgetragen, und
Lucius III. war nie in Frankreich. Es muß so sein. daß der Primas an Alexander III.,
als dieser in Frankreich war, ein ähnliches Bittgedicht wie W 1 richtete (jene Über-
schrift ist ganz in seinem Stil) und an Lucius III. Walter sich wandte; die Über-
lieferung hat die Vorgänge, die Päpste und die Bittsteller vermengt. Dafür, daß W 1
nicht für Alexander bestimmt war, wenigstens nicht in seiner jetzigen Gestalt,
spricht auch der auffüllige Umstand, daB Walter darin nirgend sein tapferes Ein-
treten für ihn erwäbnt, obschon er doch sonst sein Licht nicht unter den Scheffel
stellt; in W 2 läßt er wenigstens die Kardinäle die freundliche Aufnahme in Frank-
reich rühmen, und das ,Alexander meus, meus inquam' der Str.28 dürfte eine
Mahnung sein: weil er sich so krüftig für ihn eingesetzt, deshalb darf er ihn den
Seinen nennen.
Ist Obiges richtig, so war Walter zweimal in Rom, und dazu stimmt W 1, 26,5
Sum reversus‘. Lucius III. blieb nur von September 1181 bis März 1182 dort;
in diesen sechs Monaten würe demnach W 1 gedichtet oder, vorsichtiger, in seiner
jetzigen Form vorgetragen. Es möchte immer sein, daß es ursprünglich für
Alexander III. bestimmt war und noch einige Strophen mehr enthielt. Die Ab-
lehnung brachte Walter zu dem W 6, 4 ausgesprochenen Entschluß; sie würde es auch
recht verständlich machen, daß er W 5, 7 so unerhört heftig gegen den Papst losfährt,
und es hindert uns nichts, ihm auch das Spottgedicht ‚Lucius est piscis‘ zuzuweisen;
die Spielerei mit dem Namen entspricht ganz seiner Art (W 5,22; W 3, 23, 24;
W 15,2 und 19ff), und ,devorat hic homines‘ erinnert an W 2,20, 5 und an
W 13, 11,2.
Strecker weist darauf hin, daB W6,7—11 stark an WI gemahnt. Ebenso deutet.
Str. 12 auf W 1, 27 zurück, und Str. 20 wiederholt den Gedanken von W 1,28. Es
scheint aber noch eine andere Beziehung zu bestehen: W 6, 15, 1 dürfte auf W 11,
5—8 gehen. |
W 11.
W 11 ist nur in B überliefert, wo es vor einem „Nest“ Walterscher Gedichte
steht. Diesen móchte Strecker es zurechnen. Aber die ersten Strophen lesen sich
geradezu wie eine Polemik gegen Walters ständige Klagen über die Armut der
Gelehrten; es wird nicht allgemein die ‚avaritia‘ angegriffen, sondern die der
philosophi. Wenn es W 1, 15 heißt: ‚antiquitus studere fructus erat“ und vorher
** Chron. Pipp. 1,47 = Muratori scriptt. IX 268, vgl. W. Meyer, Gött. Nachr. 1907.
Kritiken 863
„olim plures provehebat „Arma virum‘“‘, so sagt W 11, 2: ,olim apud veteres
summa erat cura de mundo disserere und spricht von der ,execrabilis questus
vanitas‘ (1, 4), wo doch nur der ‚questus‘ der Gelehrten gemeint sein kann. Wenn
W 4, 20, 4 zitiert: „, In pretio pretium nunc est“, so in betrüblichem Gegensatz zu
‚florebant antiquitus artium doctores‘; hier wird Ovid bemüht für die tugendhafte
Sentenz: ‚in sola pretium erat veritate‘. Wenn es W 1, 16 heißt: ,opulens solebat
esse, qui aptabat virgam Jesse partui virgineo', so wird hier den früheren Gelehrten
die Einsicht nachgerühmt, ,quod sola pauperies vita sit secura'. Walter fragt
W 1,17, 6f.: ,Quid hoc scire mihi confert, si sciens esurio'?, W 11, 4, 8 preist die,
welche ,elegerunt mala mundi pati'. Ich kann mir nicht denken, daß Walter so
gegen sich selber streite, wenn auch W 11, 10—12 in seine Kerbe schlägt. Auch fehlt
W 11 der wenn nicht dichterische, so doch rhetorische Schwung des Lillers; wie
stumpf ist z. B. Str. 11 oder 13. Statt dessen zieht sich durch das Gedicht ein
schulmeisternder Ton, den man an Walter nicht kennt. In 14, 1 sehe ich einen nicht
ganz unberechtigten Hieb gegen Walter: er zitiert z. B. von Persius nur Prol. 1 und
1, 1. 18. 58, aus den andern 5 Satiren nichts, aus Hor. ep. 2 nur aus 2, aus den
andern sieben nichts, aus Hor. serm. 2 nichts, aus 1 nur dreimal, aus Lucan 1
siebenmal, sonst nur noch je einmal aus 3, 4 und 6, so daß ein Schulfuchs, dem das
auffiel, ihm wohl mangelnde Gelehrsamkeit vorwerfen mochte: er habe immer nur
die Anfünge gründlich gelesen. So mag auch 14, 2 gegen Walters Magisterium sich
richten. Gegen diese Angriffe wehrt sich Walter in W 6, 13, 1*9. WG, 15, 1 geht
gegen W 11, 5—8 (mag sein, daB Sokrates [W 6, 15, 2 und 20, 1] in dem verlorenen
Teile von W 11 vorkam), W 6, 13, 3 gegen W 11, 3, 3f., W 6, 11, 4 und 12, 4 gegen
W 11, 4, 4, gegen die ganze Tendenz von W 11, 1—8 der 2. Teil von W 6 (13—20).
Ich halte also W 11 für das Gedicht eines anderen, der Walter angreift und
von diesem wieder angegriffen wird; vielleicht eben deshalb ist es uns bei Walter-
schen Stücken erhalten. Die wenigen Anklünge an solche, die Strecker aufzeigt, sind
Parodie; auch der Bau ist dem der echten Gedichte ühnlich.
1—4: Das bessere Einst. — 5—8: Diogenes“. — 9— 12: Heute Geldgier und
Simonie; 13— ?: und oberflächliches Studium.
Einteilung in Vierheiten; vielleicht fehlen nur 2 ½ Strophen. Scharf ist geteilt:
8 Strophen schildern das Ideal, die folgenden die trübe Jetztzeit; auch das deutet
auf ehemals 16 Strophen*!,
W 8.
1—2: Einleitung e contrario. — 3—4: Eine Art Einteilung (die drei Punkte
avaritia, libido, exempla bona‘ kehren hernach wieder. — 5—7: pastores mercennarii?.
* Eine Parallele zu W 11, 13, wie Strecker will, bietet W 6,13 nicht. Hier Ist die Rede
von Gelehrten, die mit ihrer Gelehrsamkeit prunken, dort von Studenten, die nur eben so lang
studieren, bis sie eine Disputation hinter sich haben und dann Schluß machen. Dazu ist auch
W 6,18 keine Illustration; CB. 6,13 paßt schon besser.
+ 6,1 ist ,gaudens' richtig, 6,2 aber ‚tu maiorem‘ zu lesen; sonst hängt das tu“ in 6,3 in
der Luft.
*'! Bemerkenswert ist, daß W 11 zwar eine antike Geschichte erzählt, aber kein antikes oder
Bibelzitat enthält. Auch das ist nicht Walters Weise.
** Zu 5 vgl. Flacius S. 150, Complange 7: ,Qui se obicere deberent et effundere sanguinem
pro iustitia, tractant de avaritia'. — 6 ist zu ordnen 1, 3, 2, 4, und 4 zu lesen: ,assidoe invalidos
debiles‘: „Die Hörigen, Schwachen und Gebrechlichen, d. h. das niedere Volk." Das ist besser
als mein Vorschlag a. a. O. — 7,4 ist im Sinne der Johannesstelle zu lesen ‚agunt super ovibus‘;
der Vers wiederholt den Vorwurf von 5,3. Auch 20,2 zielt hierauf.
864 Kritiken
— 8-9: avaritia. — 10—11: libido. — 12—13: avaritia. — 14—16: bona
exempla. — 17: avaritia. — 18: Abschließend, persönlich. — 19—20: Schluß durch
Apostrophierungen (vgl. oben S. 861 zu W 6, 20).
Die Strophen sind meist gepaart. Rechnet man, wie man eigentlich muß,
1—4 als Einleitung, so schlieBen danach zwei Dreiheiten drei Paare ein, eine An-
ordnung, die uns in W 1* (oben S. 854) und W 4, II (oben S. 851) begegnete. Aber
die Anordnung der Gedanken, die Trennung der Strophen, die von der ‚avaritia‘
handeln, ist doch auffällig’.
Zu 16 bietet eine merkwürdige Parallele Flacius S. 52 Nr. 84: „(qui) pro suis
ovibus se opponens hostibus mortem non abhorruit." Gemeint ist Thomas Becket;
die Auffassung dieser Verse lebt bis heute: in Herders Kirchenlexikon unter „Thomas
Becket“ heißt es: „ . . indem er sein Leben für seine Herde hingab." Danach
wird man auch unsere Stelle auf den Briten beziehen müssen. Die Dichtersprache
darf sich ‚presbyter‘ für „ Bischof“ schon erlauben; noch Erzbischof Stephan von
Rennes (1168—1178) heiBt in einem Tabular von Marmoutier ,presbyter* (Du Cange
s. v. ‚presbyter‘). Da Thomas 16, 1 bereits heilig genannt wird, fällt W 8 nach dem
2. Februar 1173. Die in 5—6 erwähnten Kriege werden die von 1173—1174 sein:
Aufstand der Söhne Heinrichs II. mit Hilfe Ludwigs VII. (diese Kämpfe tobten in
Frankreich und England und waren besonders wild), Christians von Mainz Feldzug
in Italien, den Walter vermutlich aus der Nähe sah, und in Palästina die immer
gefährlicheren Angriffe Saladins; Walters Worte ‚cum conterant totum mundum
guerre‘ sind nicht übertrieben. Das Gedicht entstand also 1173/7454.
W 9.
Eine einzige leidenschaftliche Anklage gegen die Simonie. Ein logischer Aufbau
des Ganzen ist nicht vorhanden, da hat Strecker recht, aber doch zusammenhüngende
Strophengruppen.
1—2: Inhaltsangabe: ‚Die Macht des schismatischen Kaisers breitet sich aus;
der Klerus wird bedrückt und dazu bestohlen55; der Wahnsinn des Kaisers ist nicht
zu heilen®®, und die hohe Geistlichkeit fröhnt der Simonie.“
3—6: „Der blinde Isaak nahm ein Geschenk, und dadurch kam Esau um sein
Recht; verblendet sind auch die Prälaten (und so müssen auch heute die Berechtigten
hinter denen zurückstehen, die Geschenke geben). Die Prälaten fliehen die Vernunft
und leben ihrer Gier (s. unten Anm. 72), aber Jakobs Lähmung prophezeit Untergang
den Simonisten, die sogar am Schisma schuld sinds“; so wie seine Ringkunst wird
ihre Gaunerei zuschanden werden5?; der Herr wird sie zerschmettern.“ Innerhalb
dieser inhaltlich verbundenen Vierheit sind die Strophen paarweise geordnet; denn
5—6 geben den Inhalt der ‚prophetia‘.
+: Doch vgl. W 18 (unten 8. 868).
% Ob auch das oben zitierte ,Plaude Cantuaria‘ von Walter ist? Außer W 8,16 erinnert
auch W 16,18 daran, insbesondere an den Schluß: ,Letus sumpeit premium, consummans
martyrium intra matris gremium‘.
55 Ich ziehe 1,2 ‚spoliatur‘ vor; die Bedrückung verübt der Kaiser, den Raub die Prälaten.
% Saul ist kaum anders zu verstehen; vor allem führt 5,2 auf diese Deutung.
er Sowohl Viktor IV. wie Alexander III. sagte man nach, ihre Wahl beruhe auf Bestechung
(Reuter, Gesch. Al. III. I, 64 und V, 505). So allgemein konnte Walter nach der Entscheldung
von Tours nicht mehr sprechen.
% Zu ,sophisma* muß in der Allegorie 4,3 eine Parallele stehen; außerdem ist „lesus —
vulneratus‘ sehr hart; l. statt des Letzteren ‚in luctatu‘.
Kritiken 865
7-8: „Ein armer Gelehrter kommt nie zu einer Anstellung, weil er nichts
bezahlen kann“ (vgl. W 4, 18 + 15).
9—12: „Den Simonisten (9,4 und 11,2) droht das Schicksal der Rotte Kora“
(9, 8 und 12, 3f.)**.
17: „Jeder Prälat bete, solange es Zeit ist; der Tod holt jeden.“ (Vgl. zu der
Apostrophe an dieser Stelle oben S. 861.)
18—19: „Darum laßt uns zu Gott und Maria um Hilfe flehen“ . Strophenpaarung
bis auf die Vierheit 9—12 und die Einzelstrophe 17. Viel Allegorie. Eine Einleitung
fehlt; vermutlich sind da eine oder zwei Strophen, W 7, 1f. ähnlich, verloren ge-
gangen. Daß die Mahnung in 17 unmittelbar an die drohende Warnung in 12 an-
schließt, ist klar. Und ständen 13—16 statt in drei in sieben Handschriften, wie
W 2, 28—29, sie gehörten doch so wenig dahin, wie diese ursprünglich sind. Die
Frage ist nicht, was ist überliefert, sondern, was ist einem Dichter wie Walter
zuzumuten. Jedenfalls nicht, daB er seinen Gedankengang plótzlich mit einer
neuen Einleitung unterbricht, um in eine von Anfang bis zu Ende im hohen Kanzel-
tone gehaltene Predigt plötzlich „derbrealistische“ Strophen einzuschieben und
dann ruhig den unterbrochenen Gedanken im vorigen Stile wieder aufzunehmen.
Dabei handelt das ganze Gedicht von der Simonie, wie es nach der Ánfangsstrophe
zu erwarten war, 13—16 aber vom Wohlleben. Es ist nicht anders: 13—16 sind
der Anfang eines anderen Walterschen Gedichtes, dessen verstümmelte Erhaltung
man übrigens nur bedauern kann; 15—16 sind beinahe so lebendig und anschaulich
wie die Kardinalstrophen in W 2.
W 9 berührt sich mehrfach mit W7, besonders W 9, 5,2 mit W 7, 13, 4. Ja,
sie ergänzen sich gewissermaßen: W 7, 3 und W 9, 1 redet von Simonie und Schisma;
W7 führt nur den Punkt „Schisma“ aus, W 9 nur ,,Simonie". Sie werden zeitlich
nicht weit auseinander liegen (vgl. Anm. 57); W9,1,1 wie 5, 2 verstehen sich
am leichtesten am Anfang des Schismas.
W 12.
Ein Festgedicht, das Strecker wohl etwas zu ernst nimmt. Es ist bis Str. 18, unter
scherzhaften Allegorien, eine einzige Aufforderung zur ‚largitas‘, wie solche Lieder oft.
1—2: Einleitung. — 8—10: In vier Strophenpaaren je eine Schriftstelle mit
Deutung*!. — 11—16: Dasselbe in zwei Dreiheiten®?. — 17—20: Gegen die ‚lecca-
tores', eine Vierheit. — 21—22: Schluß; das metrische Stück nach den Rhythmen
erinnert an W 15 und W 3, aber auch an manche Teile der Carmina Burana*?,
Der Ton ist recht zahm, der Inhalt ärmlich, ein Jugendgedicht.
W 18.
Auch dies Festlied fordert zur, largitas“ auf, ist aber viel reicher an Inhalt.
1—2: Einleitung: Bedrohung der ‚reprobi‘. — 3—4: Gleicher Anfang bei
gegensätzlichem Inhalt. — 5—6: Sei freigebig, aber nicht gegen die ‚leccatores‘. —
s» stimulus‘ = Stachel der Gier.
% Gebet am Schlusse auch W 3, W 14, W 17.
*! 6,3 ‚singuli‘: 1. ,seduli*.
*3 12,5f.: ein merkwürdiger Widerspruch zu 6,5f. — 16,1 ‚set id‘: 1. ‚postid‘.
** 22,8 nach Ov. Her. VII, 168 „Dum tua sit Dido, quidlibet esse feret“.
** 3,3 kann man ,macello' wohl halten, eine kecke Neubildung: ,macello' — ‚macellum‘
wie ,flagello — flagellum‘.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 55
866 Kritiken
'1—8: Art der ‚leccatores‘. — 9—12: Habsucht und Simonie der Prálaten. —13— 14:
Niedergang der Gelehrten. — 15: SchluB.
Strophenpaarung durchweg bis auf die Vierheit über die Prälaten.
W 14.
Wieder ein Festgedicht mit Aufforderung zur ‚largitas‘.
1—2: Ort und Fest. — 3—4: Die gefeierte Person (1—4 Einleitung). — 5—6:
Thema und Einteilung. — 7—8: Deutung. — 9—11: Folgerung „Sei freigebig mit
Weisheit". — 12: Übergang zum 2. Teil. — 13—14: Weisheit = Christus. —
15—16: Das Rot = Christus. — 17—18: Aufforderung zur ‚largitas‘. — 19: Frommer
SchluB.
Also nach der Einleitung 6 + 8 Strophen, beide Male Allegorie mit Deutung
und Nutzanwendung. Aber 9—11, das Herzstück, schon durch die Länge von 9
ausgezeichnet, hat eine persönliche Färbung und ist diskretes Heischen. Dadurch
wird der Bau dreiteilig wie W 5 +- 7a und W 10.
In 8 ist rosarius, titulum rose sortitus, rose baiulus immer dieselbe Person.
Die Rose trug beim Umzug in Besancon der Narrenpapst in der Hand. Er kann aber
nicht gemeint sein, denn er gab nicht, sondern nahm (Hilarius 14). Wer ist es also?
Zweifellos der in 3 angeredete Peter, ein angesehener Jurist. Nun ist jener Umzug
eine Kopie des päpstlichen Lätare-Ritts in Rom. Dort verlieh der Papst nach dem
Ritt die Rose an einen Laien; so wird es in Besancon auch gewesen sein, und von
dem also Ausgezeichneten erwartete man dann gewiß einen erheblichen Beitrag zum
Festabend. Walter hat demnach das Gedicht bei der feierlichen Übergabe der Rose
an Peter vorgetragen. Wenn er zur Einleitung die Szene des Látaresonntags 1163
in Paris benutzt, so ist das nichts anderes, als wenn man heute zu Karneval auffällige
Vorkommnisse des Jahres parodiert; er benutzt auch die Pariser Ansprache des
Papstes. Damit ist das Gedicht auf Lätare 1164 festgelegt; später wäre kein Witz
mehr dabei gewesen.
W 15.
Mischung von Versus, Prosa, Rhythmen wie W 3; viel Allegorie. Die Rhythmen
gliedern sich: 3—6: ‚archa‘ = ,ecclesia', Noe“ — ‚papa‘. — 7—10: Fluch der
Zweiteilung*5. — 11—14: Der Begriff ‚maior‘®. — 15—17: Lehre von den beiden
Schwertern?“ . — 18—19: Alexander. — 20—21: Die Gegenpäpste®. — 22: Con-
clusio. — 23: Apostrophierung (vgl. oben S. 861).
B hat vor 3 die Notiz: ‚Controversia habita coram imperatore de scismate®”.
Wir können sie nicht beiseite schieben, da B sonst zuverlässig ist und da in Str. 23
anscheinend ein Geistlicher angeredet wird, der, wie Elias zu Ahab, zu Friedrich 1.
gehen soll, ihn zu bekehren. Hat Walter ihn begleitet und das Gedicht als Auftakt
zu seiner Rede vorgetragen ? 7, 2ff. richtet er an den Kaiser selbst; in 14 fährt er die
* 7,31: ‚ex re nomen habes, cesure Cesar origo‘, womit die Anrede 8,2 verständlicher wird.
% Zu 13 vgl. O 24,2.
15,21: ‚pontifex et‘; 17,31: ‚quid? cui constat‘. Das Verständnis von 17,3 verdanke
ich Kares, der mir sofort erklärte: „Dem Kaiser fehlt das elne Schwert, während der Papst
beide hat. Walter folgt hier Bernhard von Clairvaux ‚De consideratione‘ IV, 3,7: ,Uterque
ergo ecclesie et spiritualis scilicet et materialis (gladius)'*. Daraus ergeben sich die Änderungen.
Val. auch O.30,1, 3: ‚Petrus exerit utrumque gladium.‘
** 21,4: ,nuper' gehört zum vorhergehenden Verse wie ‚quondam‘ W 7, 12,2.
** Seltsam, daß sie nicht am Anfang steht. Sie muB aus einer Vorlage wie P stammen.
wührend B 1—2 aus einer anderen hat.
0 mes mma Al. ———
Kritiken 867
Gelehrten des Kaisers an, die er in 2, 3f. genannt hat; 23,1 wendet er sich an den
eigentlichen Sprecher der Päpstlichen. Es wäre eine lebendige Szene. Aber wo soll
man sie gespielt denken?
18, 4 ist von drei Siegen Alexanders über Friedrich die Rede. Damit können
nur die großen MiBerfolge des Kaisers gemeint sein; es kommt kaum anderes in
Frage als
1. das Konzil zu Tours, auf das 19, 3f. anspielt.
2. Die Pest vor Rom, die ja als Gottesurteil galt.
3. Die mißglückte Belagerung von Alessandria April 1175. Dies letzte Datum
gäbe den terminus post quem, den ante quem die Verhandlungen von Anagni
Oktober 1176; damals waren die Töne von W 15 nicht mehr am Platze. Dieser
Zeitabschnitt stimmt zu Str.21, wo Calixtus III. als amtierender Gegenpapst
genannt wird. — Auf Alessandria folgten im Sommer 1175 die Verhandlungen in
Pavia; dort sprach der erste päpstliche Legat, Humbald, Kardinalbischof von Ostia,
Worte, die z. T. an W 15, 19—20 anklingen: ‚Quod ubi quattuor ille persone
(Viktor IV., Paschalis III., Arnold von Mainz, Rainald von Dassel), que de corpore
ecclesie sibi adheserant, de medio per iudicium dei erant sublatae‘ etc. (vita Alex.
bei Reuter III, 226, 2). Kann man annehmen, daB Walter hier beteiligt war? Bei
der feierlichen Begrüßung, die Reuter III, 225 beschreibt, wohl kaum. Aber jene
Zeit liebte die Disputationen außerordentlich. Auch unser Gedicht leitet eine solche
ein; denn 1, 6 ist von dem Richter die Rede, der (den Argumenten der Päpstlichen)
sein Ohr vielleicht verschlieBen werde, weil er selbst Schismatiker sei. Da der Vor-
trag, wie außer der Überschrift auch 7, 3ff. zeigt, vor dem Kaiser gehalten ist, so
wird dieser der Richter sein*9,
Walter trat nicht allein auf; am Schlusse fordert er einen Zweiten auf, in den
Streit einzutreten, und es hat den Anschein, als sei das der Hauptkämpe; er wird
in einer Weise angeredet, daß man in ihm einen angesehenen Geistlichen vermuten
muß. Auch als Gegner werden zwei genannt, Girardus und Robert, die sich leider
sonst nicht auffinden lassen; auch von ihnen wird einer als Dichter, der andere als
Geistlicher anzusprechen sein. Es sieht ganz so aus, als ließe sich hier mehr heraus-
bekommen, ‚sed angusti temporis me coartat meta‘. Immerhin — soll man nicht
annehmen, daß der Kaiser selbst zu seinem, des Hofes und der Gäste Vergnügen
in den Tagen zäher Verhandlung, die jenem Empfang folgten, einmal diesen Sänger-
und Rednerstreit veranstaltet habe? Doch sei dem, wie ihm sei — als Zeit von W 15
glaube ich den Sommer 1175 ansprechen zu dürfen.
W 16.
Kirchenpolitisches Gedicht in Form einer Vision.
1—4: Einleitung (4 Str.)“. — 5—8: Ort und Gestalten der Vision (4 Str.). —
9: 1. Auftreten des Satans. — 10—13: Seine 1. Rede (4 Str.). — 14: Auftreten der
70 Auch in W 1* wird der Graf von Troyes als iudex‘ angeredet. Ist das ähnlich zu werten?
Haben wir bei den Festen, für die so viele dieser Lieder verfaßt sind, an Sängerwettstreit zu
denken, wie bei den Troubadours ? Etwa an Stegreifdichtung ? Das bedarf der Prüfung. Vom
Primas jedenfalls hören wir, daß er an Wettdichten teilnahm, einmal sogar vor dem Papete.
Es ist klar, daB der Reichtum des Lateinischen an Reimen die Stegreifdichtung erleichtern, daß
diese manche Eigenheiten, wie die häufige Wiederholung von Gedanken und Ausdruck, zwanglos
erklären würde.
a Zu 2,4 vgl. Al. Prol. „humanum genus depravatum''.
55*
868 Kritiken
Alecto. — 15—18: Ihre Rede’! (4 Str.). — 19—20: Auftreten der Tisiphone?!* und
21—25: Ihre Rede (7 Str.). — 26: 2. Auftreten des Satans. — 27—30: Seine 2. Rede
und Schluß (1 Vers)“ (4 Str.).
Ein ungewóhnlich straffer Bau, begünstigt durch die dramatische Form. Das
Hauptstück, Tisiphones Rede mit dem Angriff auf den Kaiser, hat drei Strophen
mehr. Das Gedicht ist entstanden nach 29. Dezember 1170 und vor 2. Februar 1173.
dem Tage, an dem Thomas heilig gesprochen wurde; denn in Str. 18 ist davon noch
keine Rede. Vgl. auch oben S. 864.
W 17.
Mehr Lied als Satire, klarer Bau.
1: Einleitung. Dann Hauptteil, bestehend aus Vorspruch?? (sog. Refrain zu 1).
2—5: Selbsterfundene Allegorie mit Deutung. Nachspruch?? (sog. Refrain zu 5). —
6: Schluß“.
W 18.
Beichte.
1. Einleitung: Des Dichters Zustand. — 2—3: Miserere. — 4—5: Gebet. —
6—7: Betrachtung. — 8—9: Gebet. — 10—11: Betrachtung. — 12—20: Langes
Gebet. — 21—22: Betrachtung“. — 23—24: Gebet. — 25: Schluß.
Durch den Wechsel von Gebet und Betrachtung ähnelt der Bau dem von W S
(oben S. 864). — In W heißt 1,1: ‚Cum Heinricus egrotaret‘, darüber: „oratio
Heinrici imperatoris‘. Heinrich VI. starb 1192. Hat man ihn das Lied als Beichte
sprechen lassen? Der Inhalt ist so ganz unpersönlich, daß in 1,1 jeder dreisilbige
Name eingesetzt werden kann. Immerhin würde sich daraus ergeben, daß W 18 vor
1192 gedichtet und Walter vermutlich vor 1192 gestorben ist.
W 19.
Cum declinent homines‘, Atti dell'Acc. dei Arcadi 1930, 4ff. von Strecker
veróffentlicht und für Walter in Anspruch genommen.
1: Einleitung. Dann vier lüngere Teile:
I = 2—13: avaritia.
11 16,3: ‚triplici‘ nach Ez. 21,14: „et triplicetur gladius mortis“.
na Zu 20,3 vgl. AI. I 229f.
13 28,4: Lia und Rachel bedeuten Leidenschaft und Vernunft (Richard v. St. Viktor,
s. Protest. Real-Enz.* XVI, 751). Diesen Nachweis verdanke ich wieder Kares. Hieraus erklärt
sich auch W 9, 4, 2, CB. 39,2 und CB. 6,31f. An letzterer Stelle kommt es freilich nur darauf an,
daB alles umgekehrt ist. CB 39,2, 5 darf nicht geändert werden; ,ancilla' ist Ablativ: „, sie
gebiert durch die Magd“ nach Gen. 30,3: ‚ut pariat super genua mea et habeam ex illa filios‘.
Rachels Magd Bala ist die Einbildungskraft (‚imaginatio‘); durch sie gebiert Rachel, die ‚ratio‘,
eine zwiefache Spekulation. — ‚Raab‘ in v. 6 ist das Meerungeheuer ps. 89,10; vgl. die Über-
setzung von Kautzsch: ,,Du hast Rahab zermalmt.' Der Dichter muß den hebräischen Text
gekannt haben, denn die Vulgata hat den Namen nicht. Zu lesen ist ‚Raab an Cilla'. Stärker
verderbt ist v. 4. ‚sceleris‘ ist der einzige einsilbige Reim in dem langen Gedicht und ganz un-
verständlich. Der Vers muß wohl ein Objekt zu ,generat' enthalten, auf das sich das folgende
‚nam‘ bezieht.
n Vgl. Neophilol. 1929, 136.
'* Wenn Walter 1,3ff. sich ‚ductum extra gregem cleri vel electum nennt, so beziche ieh
das darauf, daB er nach dem MiBerfolg seines Gesuches 1181/2 Lale geworden Ist, wie er es
W 1,27,3 ankündigt. ,ductum' weil er frelwilllg aussohied, ,eiectum' weil des Papstes Ver-
halten ihn doch dazu zwang. Es klingt, als sei W 17 nicht allzu lange danach entstanden
" 21,41: ,fletus placent‘ mit 8; nach ,delectaberis Komma. Erst mit 22,1 beginnt der
Nachsatz zu ,quoniam', Ich zóge auch , idem“ vor.
Kritiken 869
2—5: Übergang, dann Vorteile des Reichtums (4 Str.). — 6—9: Unersättlichkeit
des Reichtums (4 Str.). — 10—11: Verkappte Bitte. 12—13: Warnung vor Geiz (4 Str.).
II — 14—19: ambitio.
14—15: Die Ruhmsüchtigen (2 Str.) — 16—17: Nutzlosigkeit des Ruhms
(2 Str.). — 18—19: Abmahnung von Ruhmsucht“ (2 Str.).
III = 20—27: Luxuria.
20—23: gula (4 Str.). — 24—27: libido (4 Str.).
IV = 28—31”: Die Simonisten an allem schuld"? (4 Str.). — 32: Zusammen-
fassender Schluß.
Die Gruppierung der Strophen zu zweien und vieren ganz in Walters Art. Sehr
straffer Bau, etwa wie W 16.
Die Zeiten der Gedichte.
W 12 Zum Bakelfest. Von der Freigebigkeit; Jugendarbeit
gegen die ,leccatores'
W 1* Festgedicht. Die Laster der Prälaten;
gegen die ‚leccatores‘. An Graf Heinrich
von Troyes Troyes
W4 Zum Bakelfest. Laster der Prálaten; Ver- Vor Mai 1163
armung der Gelehrten; Páderastie
An Graf Heinrich von Troyes
w9 Gegen die Simonie
W7 Klage der Kirche über das Schisma
W 14 Zur fête des fous. Von der goldenen Rose.
An einen Juristen Peter
Okt. 1160/ Mai 1163
Besancon. Lätare 1164
O 16 Zur Ermordung des Thomas Becket Anfang 1171
W 16 Vision des Antichrists 1171/2
W3 Vom Hause der Wissenschaft. Vor dem Bi- Bologna. Lätare 1172
schof und den Angehörigen der Universität oder 73
W2 Die Bestechlichkeit der römischen Kurie Bologna? Mai 1171/Okt. 73
WS Mietlinge 1173/4
W 15 Kaiser und Papst. Redestreit vor Fried- Pavia. Sommer 1175
rich I.
0 30 Zur Krönung Philipps II. August durch Reims. 1. Nov. 1179
Erzbischof Wilhelm von Reims
W1 Bittgesuch. Vor Papst Lucius III. im Rom. Okt. 1181/ März 82
Konsistorium
W6 Entschluß umzusatteln. An Graf Hein- Troyes. Wohl bald nach
rich von Troyes
W5-+ 7a Laster des Klerus, Warnung vor Ehrgeiz
W17
W18
Vor Probst Volkmar im Trierer Kapitel
Nahes Weltende
Beichte
W 1; vor Wb
Trier. 1182/25.Mai 1183
Leprosenheim
zu Amiens | 1183/92
10 18,11: ‚car apponiz' (vgl. 19,1); nach 2 Komma, nach 3 Fragezeichen. ,sustinere' ist
finaler Infinitiv zu ,apponit epiritum‘. Zum Ausdruck vgl. Is. 30,28: ,,spiritus eius velut torrens
inundans". 19,21: , ultimum' statt ‚plurimum‘.
" 29,21: ,indicatio': „Angabe des Preises“, statt ‚implicatio‘; weil ein fester Preis ge-
fordert wird, kann man nicht mehr die „Darzubietenden“. ,praebendae' sagen, sondern nur
noch „die zu Verkaufenden“, ,vendendae'.
870 Kritiken
0 24 Sommerfest Vor W14
(W)11 Diogenes als Vorbild Vor W6, nach W1und W4
W 10 Ende der Freigebigkeit; bestechliche Rich-
ter. An?
W 13 Zum Bakelfest. Gegen die ‚leccatores‘ und
die lasterhaften Prälaten; Nutzlosigkeit
der Wissenschaft
W 19 Gegen die Laster und die Simonisten
So óffnet uns Streckers Buch unmittelbar neue Ein- und Ausblicke; es ist eine
prächtige Ausgabe, mit der sich ausgezeichnet arbeiten läßt, und das ist am Ende
wohl das Beste, was man von einer Ausgabe sagen kann. Möchten doch Strecker
und die anderen deutschen Herausgeber, die in den letzten Jahren sich um mittel-
lateinische Dichtung verdient gemacht haben, durch ihr Beispiel Engländer und
Franzosen veranlassen, die reichen Schätze ihrer Bibliotheken der Forschung ebenso
zugänglich zu machen. Und möge Strecker selbst uns noch eine „Schule Walters“
bescheren und ihr auch einen Abdruck von Walters vitae beifügen, die jetzt in einem
60 Jahre alten Zeitschriftenband vergraben sind.
Essen. E. Herkenrath.
Asinarius und Rapularius herausgegeben von Karl Langosch. Sammlung
mittellateinischer Texte, hrsg. von Alfons Hilka, Heft 10. Carl Winter's Uni-
versitätsbuchhandlung. Heidelberg 1929. XII und 108 Seiten.
Von diesen beiden mittelalterlichen Verserzählungen, nach denen die Brüder
Grimm zwei reizvolle Märchen schufen, bestand bisher keine kritische Ausgabe, die
alle erreichbaren Handschriften benutzte. Es ist zu begrüßen, daß gerade Karl
Langosch diese Lücke ausfüllt: er ist Schüler Streckers und verwendet das, was er
vom Meister empfangen, mit einer Sicherheit und Bewußtheit, daß man hier nicht
das Werk eines Anfangenden, sondern eines Fertigen vor sich zu sehen glaubt.
Leider waren durch den Ort der Veröffentlichung enge Umfangsgrenzen bedingt.
Sonst hätte der Verfasser verschiedene wichtige Fragen (z. B. Einordnung der Stücke
in Geschichte ihres yevos, ihre Verwendung, die Geschichte der benutzten Motive,
Stilistisches) nicht nur in dem inhaltsreichen Vorwort flüchtig gestreift, sondern in
Einzelkapiteln ausführlich behandelt; hoffentlich hält L. sein Versprechen, einiges
davon nachzuholen. Die Stelle aus Hugo von Trimberg ,,Qui leguntur sepius in
scolis et sunt lecti", die der Verfasser als Beweis für die Beliebtheit der beiden Ge-
dichte anführt, legt die Frage nahe, ob sie von vornherein den Zweck hatten, in der
Schule gelesen zu werden; L. spricht (S. VI) von „einem hófischen Publikum", das
er aus verschiedenen Zügen des Asinarius und des Rapularius I (Urfassung) er-
schließt. Für beide nimmt er als Entstehungsort Süddeutschland an, wohin die
meisten Handschriften weisen, wenngleich die álteste (des Asinarius) aus Frankreich
stammt. Von dem Rübenmärchen besteht eine Bearbeitung, die etwa 100 Jahre
jünger als das Original ist und von diesem so stark abweicht, daB L. sie als Rapu-
larius II gesondert ediert. Asinarius und Rapularius I mögen gegen 1200 geschrieben
sein, mit Sicherheit vor 1280: wo Hugo von Trimberg sie zitiert.
Benutzt wurden für die Textherstellung des Asinarius 9 Handschriften und zwei
Fragmente. Da die Hss. — die älteste ist 1343/44 geschrieben — vom Original nach
Entstehungszeit und -ort recht weit entfernt sind, ist der Variantenbestand, von dem
Kritiken 871
Langosch einen vernünftigen Auszug bringt, recht umfangreich. Das Kapitel, in dem
die Versippung der Hss. beleuchtet wird, ist überzeugend, auch für den, der „gemein-
same Fehler“ nur in ganz wenigen, schlagenden Fällen als Beweis für gemeinsamen
Ursprung ansieht. Interessant ist, daß die im Stemma verbildlichten Verhältnisse
sich teils in der Geographie der Handschriften widerspiegeln. — Der jüngere Rapu-
larius ist in 3 Codices erhalten, der ältere in sechs, deren Verwandtschaftsverhältuig
mehrdeutig ist. Trotzdem hat sich der Verfasser bei der Textherstellung nicht ängst-
lich an eine Quelle angeklammert, sondern einen vernünftigen Eklektizismus walten
lassen. Kenntnisse und Kunst verlangt diese Methode; das Resultat zeigt, daß
Langosch beides reichlich besitzt. Gedrängte Übersichten über die Sprache und
Verskunst der drei Texte bringen keine langweiligen Zusammenstellungen, sondern
nur das Wichtige und Interessante.
Einzelnes: Unter denen von Langosch als eigenartig angeführten sprachlichen
Erscheinungen im Asinarius (S. 12) haben einige im Romanischen Parallelen, z. B.
peregrinus: als Substantiv (vgl. ‚le pelerin‘), ,satis' und ‚nimis‘ in der Bedeutung
„sehr“ (vgl. ‚assez‘ und ‚trop‘ in gleicher Bedeutung). Vers 44: Der (S. 39) gegen
das hs. besser bezeugte ,villicus* geltend gemachte Grund, es fehle der Gegensatz
zu dem folgenden ‚oppida‘, ‚urbes‘, ist hinfällig, wenn man ,villicus — villanus‘ (Vers-
not) — Bauer (,vilain*) annimmt. — Die qualitative Überlegenheit der Handschriften
B und K erkennt L. des öfteren durch Bevorzugung ihrer Lesarten an; er hätte darin
noch weiter gehen können: z. B. Vers 60 ‚tibi‘ statt, tui“; 104 (allerdings nur B)
‚cogar‘ statt ,cogor'; 106 ,quam' statt ‚ne‘; 115 ‚ingentisque‘ statt ‚contiguique‘;
305 ‚domicellus‘ statt ‚hie asellus'; 324 ‚De‘ statt „E'; 289 war eine Konjektur
nötig: vielleicht sind die falschen Lesarten Verbesserungs(Verlängerungs)versuche für
‚mediante‘ (vgl. Vers 332); oder sollte der Dichter ‚commediante‘ gewagt haben? —
157 braucht ‚ingrediatur‘ (s. die Anm.) nicht als Futurum aufgefaßt zu werden.
— 230 (Anm.) Die Verwechslung von ,de-' und ‚dimittere‘ in einzelnen Hss.
mag kaum auf den Sprachbrauch des Dichters hindeuten, ebenso wie (S. 11)
die Ablativform ,veteri', besonders da sonstige Stützen (etwa durch den Reim)
nicht vorliegen.
Duisburg. Hans Spanke.
Hornschuch, Friedrich. Aufbau und Geschichte der interterritorialen
KeBlerkreise in Deutschland — Beiheft 17 zur Vjschr. f. Soz.- u. Wg.
Stuttgart 1930. XXVI u. 463 S.
So umfangreich die zunftgeschichtliche Literatur auch ist, ist sie doch bisher
über die vorzugsweise Behandlung einiger bestimmter Fragen nicht hinausgekommen.
Unter dem bis jetzt nachwirkenden EinfluB der Anschauungen der jüngeren Zunft-
juristenschule und eingeengt durch das von Schónberg eingeführte starre Schema:
Blüte — Verfall ist sie einer Reihe wichtigster Erscheinungen der Zunftentwicklung
namentlich der späteren Zeit, nicht gerecht geworden; von gelegentlichen Ansätzen
bei W. Troeltsch, Eulenburg, Bücher u. Below abgesehen, hat sie sie ent-
weder gar nicht beachtet oder glaubte sie lediglich als Verfallssymptome ansprechen
zu sollen. So ist auch die Behandlung der interlokalen und interterritorialen Zunft-
verbände bisher kaum über Andeutungen hinausgekommen. Soweit man überhaupt
auf sie einging, behandelte man sie entweder nur als Ausnahmen von der Regel,
auf die näher einzugehen nicht lohnte, oder faBte sie höchstens als in Gegenbewegung
872 Kritiken
gegen die Gesellenkorporationen entstandene Arbeitgeberverbände mit einseitig
auf Gestaltung der Arbeitsbedingungen gerichteten Interessen auf und ordnete sie
damit indirekt ebenfalls den , Verfalls erscheinungen zu, da man ja der fast zum
Dogma erstarrten Ansicht war, daß die Gesellenbünde in Auflösung eines zwischen
dem zünftigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herrschenden arbeitsfriedlichen
(„patriarchalischen‘‘) Verhältnisses der Blütezeit als quasi-gewerkschaftliche Kampf-
verbände entstanden seien. Ausführlichere und weniger einseitige Mitteilungen
über interterritoriale Zunftverbände besitzen wir nur von Bücher, der wohl als
erster auch ihre volle Bedeutung erkannt hat, ja sogar zu einer gewissen Über-
schätzung neigte, indem er annahm, daß sie vielleicht Träger einer eigenen gewerbe-
geschichtlichen Periode zwischen der Zeit der zünftlerischen Stadtwirtschaft und
der der territorialen Gewerbepolitik wären. Below verdanken wir dann die Fest-
stellung, daß diese Verbände keineswegs gleichgeartet sind, sondern daß unter
ihnen nach Entstehungsgrund, Ausdehung und Bedeutung große Mannigfaltigkeit
herrscht; er hat dann auch den ersten, freilich in keiner Weise erschöpfenden Ver
such zu ihrer systematischen Einteilung unternommen. Darüber hinaus gibt es
aber einstweilen nur eine Reihe gelegentlicher fragmentarischer und zudem sehr
verstreuter Mitteilungen. Sammlung und Bearbeitung des schon vorliegenden und
Erschließung des noch in den Archiven schlummernden einschlägigen Quellen-
materials ist deshalb eine der dringendsten Aufgaben der zunftgeschichtlichen For-
schung. Bei dieser Sachlage wird man es bedauern müssen, daß die vorliegende,
bereits vor dem Kriege begonnene, dann nach 44, jähriger Unterbrechung 1920
zum Abschluß gebrachte Arbeit infolge ungünstiger Umstände erst jetzt zum Druck
kommen konnte. Behandelt sie doch ein Handwerk, das schon sehr früh einen be-
sonders eigenartigen überlokalen Verbandstypus ausbildete. Sie beruht auf einer
nahezu restlosen Ausschöpfung des Schrifttums und einer umfassenden Durchsicht
der in Frage kommenden Archivbestände. In einem ersten Teil stellt sie nach
einem Überblick über die Literatur, der vor allem dadurch verdienstvoll ist, daB
er besonders eingehend die Schriften des 17. u. 18. Jahrhunderts heranzieht (neben-
bei: Die ältere Zunftliteratur ist zwar einseitig juristisch orientiert und nur auf
gewisse gewerbepolitische Fragen ihrer Zeit eingestellt, wird aber trotzdem von
der Forschung meist zu Unrecht vernachlässigt; ganz hat sie wohl nur Gierke
gekannt), Geschichte und Geschicke der KeBlerkreise im allgemeinen dar und bringt
eine Zusammenstellung der bisherigen Deutungsversuche. Das Hauptgewicht der
Arbeit liegt auf ihrem 2. Teil, der den sog. Brandenburgischen Keßlerkreis im be-
sonderen behandelt. Ausführlich werden Wesen, Aufbau, Entwicklung dieses
Kreises und sein Verhältnis zu den einzelnen Territorien dargestellt. An Hand der
Geschichte der einzelnen Kreise unterrichtet uns der Verf. darüber, wie die wohl
im 12. Jahrhundert im Zusammenhang mit der allgemeinen Zunftentwicklung
entstandenen KeBlergenossenschaíten sich zu absoluten Gebietskartellen entfalten
und mit der fortschreitenden politischen Zersplitterung Deutschlands, die ihre
Wander- und Absatzgebiete mehr und mehr zerreiBt, folgerichtig zu interterritorialen
Verbänden werden, die sich im Gegenzug gegen die Territorialisierung ihrer Bezirke
im ausgehenden 13. Jahrhundert zur Sicherung ihrer Rechte das Institut der Schutz-
herrschaft schaffen. Gegen Eingriffe in ihren Gewerbebetrieb üben sie Selbsthilfe,
finden aber nótigenfalls einen starken Rückhalt in der Untertstützung durch den
Schutzherrn, den sie mit Erfolg gelegentlich sogar gegen ihren Landesherrn aus-
Kritiken 873
spielen, ohne ihm freilich andererseits so viel Macht gewinnen zu lassen, daß die
Initiative zu seinem Vorgehen in Keßlerangelegenheiten ganz auf ihn überginge;
diese bleibt vielmehr immer bei den Keßlern selbst. Ähnlich wie bei den Gläsnern
(vgl. M. Killing, die Glasmacherkunst in Hessen, 1927) ist die Zugehörigkeit ein-
zelner Gebiete zu den Kreisen eine wechselnde; es kommt zu Abspaltungen
und Angliederungen, so daß der Ausdehnungsbereich in einzelnen Zeitpunkten ein
durchaus verschiedener ist. Wertvoll ist der vom Verf. erbrachte Nachweis, daß
die Gründe dafür aus dem Wesen des Keßlerverbandes selbst entsprangen und nicht
in außerhalb desselben wirkenden Kräften zu suchen sind. „Genau so, wie die Ge-
sellschaft ursprünglich nur wegen der kollidierenden Interessensphären der wan-
dernden Kehler sich zusammengeschlossen hatte, genau so mußten sich Teilgebiete
wieder loslósen, wenn diese Gründe nicht mehr bestanden." Der Wechsel in der
Ausdehung ist also keineswegs dem Eingreifen der erstarkenden Territorialherren
zuzuschreiben. Diese respektieren vielmehr seinen Bestand so sehr, daB Fülle vor-
kommen, wo territoriale Gerichte gegen ihre eigenen Untertanen die Interessen
der einem andern Territorium angehórenden und noch dazu unter fremder Schutz-
herrschaft stehenden Keßler wahrnehmen. Selbst die Schutzherren nehmen keinen
Einfluß auf die Abgrenzung der KeBlerkreise; politische Untertanen eines Schutz-
herrn können daher u. U. auch einem fremden Keßlerkreis angehören, weil ihre
wirtschaftlichen Interessen dort und nicht im eigenen Territorium liegen. Der
überterritoriale KeBlerkreis besitzt also die Kraft, politisch Divergierendes zu ver- -
binden und politisch Zusammengehöriges zu trennen, anerkennt nur natürlich-
wirtschaftliche, nicht aber territorialstaatliche Grenzen und findet trotzdem zur
Durchsetzung seiner Interessen die Unterstützung der Territorialgewalten — eine
Erscheinung, die nicht nur zunftgeschichtlich von höchster Bedeutsamkeit ist.
Als Beilage bringt der Verf. 35 Urkunden und Briefe zum Abdruck und fügt auch
noch die nach einer mündlichen Überlieferung festgehaltene ,, Handwerks- Gewohn-
heit der Kupferschmiedegesellen im Römischen Reich‘ bei. Auch sonst bringt er
gelegentlich Mitteilungen über Brauchttum; es ist das um so dankenswerter, als
man in der zunftgeschichtlichen Literatur das handwerkliche Brauchtum gern
übergeht oder es nur als antiquarische Kuriosität abtun zu können glaubt. Alles
in allem ist die Arbeit ein wichtiger Baustein für die weitere Erforschung der inter-
lokalen und interterritorialen Handwerkerverbände und verdient weitestgehende
Beachtung.
Dresden. Georg Fischer.
Ludwig Ziehner, Zur Geschichte des kurpfälzischen Wollgewerbes im 17.
und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gewerbegeschichte des Merkan-
tilismus. — Beiheft 22 zur Vjschr. f. Soz.- u. Wg. Stuttgart 1931. XV u.
326 S.
Über die besondere Stellung, welche die Kurpfalz in der Geschichte des deut-
schen Merkantilismus einnimmt, waren wir bisher schon im wesentlichen unterrichtet.
Ein Gebiet rein agrarischen Charakters mit nur gering entwickeltem, kaum über
lokale Bedeutung hinausreichendem Gewerbe, wird sie durch die glaubensflüchtigen
Flamen, Wallonen und Franzosen, vor allem aber durch die großzügige, wenn auch
im einzelnen oft recht widerspruchsvolle Politik der Wirtschaftsfreiheit Karl Lud-
wigs aus ihrem stationären Zustand herausgerissen und entwickelt sich trotz viel-
874 Kritiken
facher Rückschläge durch kriegerische Verwüstungen und politische Hemmnisse
nicht nur zu einem Land starker agrarischer Überproduktion, sondern entfaltet
auch ein überaus intensives gewerbliches und kommerzielles Leben, um dann schließ-
lich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts, z. T. infolge der inneren Unmöglichkeit und
der Künstlichkeit dieser Entwicklung, z. T. aber auch infolge einer nur von eng-
herzigem Fiskalismus geleiteten Wirtschaftspolitik fast völlig wieder in den vorigen
Zustand zurückzusinken. Daß an dieser Entwicklung das Textilgewerbe einen
hervorragenden Anteil hatte, war nun zwar ebenfalls bekannt, aber es standen
doch höchstens die Umrißlinien seiner Beteiligung fest. Eine eingehendere Klar-
legung seiner Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Pfalz unter dem
Merkantilismus fehlte und war auch kaum mehr zu erwarten, da nach Mitteilungen
Gotheins infolge der bewegten Schicksale der pfälzischen Archive mit dem Verlust
eines großen Teils der einschlägigen Akten, namentlich der sich auf das Mann-
heimer Textilgewerbe beziehenden, gerechnet werden mußte. Um so erfreulicher ist
es, daß es dem Verfasser der vorliegenden Arbeit nach ausgedehnten archivalischen
Nachforschungen namentlich in städtischen Archiven, aber auch in den staatlichen
Archiven zu Karlsruhe und Speyer gelungen ist, diese Lücke doch noch so gut wie
restlos zu schlieBen. In der Schule C. Brinkmanns tüchtig ausgebildet, hat er
die dankbare, wenn auch mühevolle Aufgabe mit Umsicht und Gründlichkeit
gelöst. Nach einem einleitenden Kapitel über die Geschichte der Kurpfalz und die
Grundlinien ihrer Wirtschaftspolitik im Zeitalter des Merkantilismus schildert
er im ersten Teil seiner Arbeit Organisation und Entwicklung des Wollgewerbes,
um dann im zweiten die wirtschaftspolitischen MaBnahmen zu seiner Fórderung,
namentlich hinsichtlich Rohstoffbeschaffung und Absatzsicherung darzustellen.
Ansatzpunkte der Entwicklung des Wollgewerbes werden die kalvinistischen Frem-
denkolonien in Frankenthal, Schónau, Lambrecht und Otterberg. Ihre Angehórigen
waren mit Ausnahme von Frankenthal, das eine mannigfachere Berufsgliederung
zeigte, von Anfang an fast ausnahmslos im Tuch- oder Zeugmacherhandwerk tátig.
Die Vereinheitlichung des Tuchmacherzunftrechts durch Johann Kasimir wird dann
die Grundlage einer einheitlichen Gewerbepolitik und schafft gleichzeitig die Mög-
lichkeit einer gleichmäßigen Produktion, die in den beiden ersten Jahrzehnten des
17. Jahrhunderts zu einer Blütezeit des noch zünftig organisierten Wollgewerbes,
aber auch schon zu einer ersten Entfaltung verlagskapitalistischer Unternehmungs-
formen führt. Da der Inlandsmarkt nur beschränkt aufnahmefähig ist, entstehen
mit der steigenden Produktion Absatzschwierigkeiten, die man durch Übergang
zur Erzeugung feinerer Qualitäten und durch Aufsuchen des Auslandsmarktes zu
beheben sucht — eine Entwicklung, welche zusammen mit Schwierigkeiten in der
Rohstoffbeschaffung die Ausbildung des Verlagskapitalismus beschleunigt und
verstärkt, ohne daß es freilich zu einem völligen Verdrängen des zünftigen Klein-
gewerbes gekommen wäre. Während nun die staatliche Wirtschaftspolitik hinsicht-
lich der Unternehmungsformen schwankend ist und bald unter populationistischen
oder fiskalischen Gesichtspunkten das zünftlerische Kleingewerbe, bald, angetrieben
von einem leidenschaftlichen Industriefanatismus, das Großunternehmertum be-
vorzugt, ist sie, was die Sicherung des fortwährend von fremder Konkurrenz be-
drohten Absatzes angeht, durchaus stetig: unter gleichzeitigem Übergang von der
anfänglichen Politik der Gewerbe- und Handelsfreiheit zu der eines zeitweilig sehr
schroff gehandhabten Protektionismus tritt der Staat selbst in immer stärkerem
Kritiken 875
Maße an die Stelle der fehlenden Kunden. Hof und Heer werden die Hauptab-
nehmer des Wollgewerbes, wobei sich eine gewisse Arbeitsteilung insofern heraus-
bildet, als die Deckung des luxuriösen Hofbedarfs der für feinere Qualitäten leistungs-
fähigeren Industrie, die Aufträge des Heeres an grober Massenware aber dem zünf-
tigen Kleingewerbe übertragen wurden. Diese einseitige Verlagerung des Absatzes
führte dann notwendigerweise zu einer bedrohlichen Krise, als es infolge politischer
Ereignisse zur Verlegung der Hofhaltung nach München und zu gleichzeitiger Ver-
schiebung von Truppenteilen kam. Vergeblich versuchte man die Schwierigkeiten
durch Schaffung des „ Kommerzialverbandes“ mit Kurbayern abzuwehren; es
gelang nicht, den Zusammenbruch zu verhüten, den dann die Revolutionskriege
vollendeten.
So etwa ordnet sich, wenn wir aus der in nicht immer klarer Linienführung
gegebenen und mit manchen Wiederholungen und gelegentlichen Häufungen be-
lasteten Darstellung des Verfassers den Kern herausschälen, das Entwicklungsbild
des pfälzischen Wollgewerbes zusammen. Darüber hinaus bietet die Arbeit noch
mannigfache Anregung und Belehrung. Besonders begrüßen wir die Mitteilungen
über die Organisation der pfälzischen Kommerzialbehörden, mit denen der Abschnitt
über die Entwicklung der Wollindustrie eingeleitet wird, und die zahlreichen An-
gaben über die Schicksale einzelner Unternehmer und Unternehmungen. Nicht in
allen Punkten geglückt ist dagegen die Darstellung des zünftigen Wollgewerbes;
der Verf. hat sich dabei von einer ungeprüften Wiederholung in der Literatur aller-
dings sehr verbreiteter Konventionalismen nicht ganz frei zu machen gewußt. So
können wir uns mit der geringen Einschätzung, die er der Reichsgewerbegesetz-
gebung des 16. Jahrhunderts zuteil werden läßt, nicht einverstanden erklären;
er wird weder ihren Motiven noch ihrer Wirkung gerecht. Um die letztere studieren
zu können, ist freilich die damals gewerblich noch ganz unentwickelte Pfalz kaum
geeignet. Daß die Reichsgewerbegesetzgebung aber gerade für das Wollgewerbe
von größter Bedeutung geworden ist, lehren etwa Sachsen, Brandenburg und das
der Pfalz benachbarte Kurtrier (vgl. z. B. Arlt, Gesch. d. Trierer Wollindustrie,
S. 47). Vor allem durch ihre technischen Vorschriften über die Bereitung der Tuche
hat die Reichsgesetzgebung die Qualität der deutschen Produktion erheblich ge-
hoben und sie dadurch in ihrem Abwehrkampf gegen die fremde, vor allem eng-
lische Konkurrenz ganz wesentlich gestárkt. Weiter geht es nicht an, die Reichs-
städte schlechthin als in gewerbepolitischen Fragen rückständig zu betrachten; es
gilt das hóchstens von einem Teil von ihnen und auch dann nur für einen Abschnitt
der Periode. In der Zeit von 1654 bis zum Ausgang des Jahrhunderts sind die
Reichsstädte, die kleinen ebenso wie die großen, sogar die eigentlichen Träger der
Gewerbereformversuche, denen sich die Territorien nur zógernd und ohne Energie
anschließen. Ferner genügt das, was bei Gothein und bei Wissel steht, in keiner
Weise als Grundlage für eine Beurteilung der Reichshandwerksordnung von 1731.
Der Verf. hätte zur Korrektur mindestens noch die ihm offenbar entgangenen ein-
schlägigen Arbeiten von Schmoller und Moritz Meyer heranziehen müssen.
Daneben aber hätte ihn ein Blick in die Reichstagsakten der Archive zu Karlsruhe
und Speyer über das Unzutreffende der von ihm übernommenen Anschauungen
belehren kónnen. DaB das Kaiserliche Commissionsdekret von 1726 ihn zu dem
Glauben veranlaßt, der Kaiser hätte das Reichsgutachten von 1672 „dekretiert‘,
zeigt eine geringe Vertrautheit mit dem Reichtstagsstil und eine ungenügende Vor-
876 Kritiken
stellung vom damaligen Reichsverfassungsrecht; man wird freilich dem Verf.
zugute halten müssen, daß auch andere, und zwar sogar angesehene Autoren sich
ähnlicher Unkenntnis schuldig gemacht haben. Angemerkt mag noch werden,
daß 1772 nicht eine bloße Wiederholung, sondern eine wesentliche Erweiterung
der Reichshandwerksordnung erfolgt ist. Im ganzen legen wir aber die Arbeit mit
Befriedigung aus der Hand; der Verf. hat mit ihr sich und seinem Lehrer gleiche
Ehre gemacht.
Dresden. Georg Fischer.
Valentin, Veit, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49,
1.Band, bis zum Zusammentritt des Frankfurter Parlaments.
Berlin, Ullstein, o. J. (1930), XV und 662 SS.
In dem vorliegenden stattlichen Bande, der auf 568 Seiten Text nur bis Ende
April 1848 führt, faßt V. langjährige Studien zusammen. Er hat, wie die Anmerkungen
beweisen, die archivalischen Quellen reichlich ausgeschöpft, auch mit der Literatur
über das Jahr 1848 und die damit zusammenhängenden Probleme hat er sich gründ-
licher auseinandergesetzt, als es der mit den Dingen nicht vertraute Leser der mehr
auf Schilderung als auf kritische Forschung ausgehenden Darstellung anmerken wird.
Als Ganzes genommen ist das Buch sicherlich eine anerkennenswerte Leistung.
Gewiß sind nicht alle Abschnitte gleichmäßig gelungen. Der Stil ist gelegentlich
etwas salopp und entgleist bei der Charakteristik Friedrich Wilhelms III. von
Preußen (S. 26) bedenklich. Auch die Zusammenstellung von Steins Freiheits- und
Rechtsinn, Metternichs Begehrlichkeit und Bismarcks preuBischer Annexionslust
(S. 239) scheint mir weder glücklich noch richtig zu sein. Manchmal geht die Dar-
stellung allzusehr in die Breite, so in der Schilderung der Schicksale der Lola Montez
oder in der Ausmalung der Frankfurter Eigenart ; und die freilich ungemein schwierige
Beschreibung der Kleinstaaterei lóst sich in locker aneinandergereihte Einzelbilder
auf. Darauf ist vielleicht auch die Fundierung gerade dieser Abschnitte auf die Ge-
sandtschaftsberichte von Einfluß gewesen. Es liegt in der Natur der Sache, daß der
Gesandte in seiner Berichterstattung ans Einzelne anknüpft. Aber es ist nicht allein
die mehr ästhetische Frage der Geschlossenheit der Darstellung, die mich hier eine
Schwäche des Buches erblicken läßt. Ich vermisse auch eine Erörterung des metho-
dischen Problems der Verwertung ausgewählter Gesandtschaftsberichte für eine Zu-
standschilderung.
Die ersten fünf Abschnitte sind der Darstellung des Zustandes von 1848, der die
Revolution verständlich macht, gewidmet. V. beginnt mit Österreich (23 Seiten),
geht dann zu einer sehr viel breiter ausgesponnenen Behandlung Preußens über
(77 Seiten), als dritter deutscher Staat folgt Bayern, das damit nicht nur gegenüber
den als „ Kleinstaaterei“ zusammengefaßten übrigen deutschen Staaten allzusehr
isoliert wird — auch die Bemerkung S. 140 über ,,Bayerns deutsche Kulturmission"
scheint mir übertneben — sondern auch mit 40 Seiten gegenüber Üsterreich über
Gebühr bevorzugt ist. Erst nach dem Kapitel über die Kleinstaaterei folgt ein
Kapitel über ,,Deutschland", das zunächst die geistige Bewegung, dann die wirt-
schaftliche Entwicklung behandelt, von hier zum Zollverein übergeht, um erst dann
den deutschen Bund, sein Versagen gegenüber den Aufgaben der Zeit und die mehr
oder minder offiziellen Reformpläne Leiningens und Radowitz' zu besprechen; den
Abschluß bilden europäische Fragen wie das Schicksal des Schweizer Sonderbundes,
Kritiken 877
der italienischen Einheitsbewegung, der polnischen und schleswig-holsteinischen
Angelegenheiten.
Das sechste Kapitel beschreibt „die Märzrevolution“ oder, wie man korrekter
sagen müßte, dieMärzrevolutionen. Denn gerade die sehr detaillierte Darstellung zeigt,
wie jedes deutsche Land oder Ländchen seine eigene Revolution gehabt hat, gewiß über-
all mit einer nationalen Note, aber doch auch zugleich mit stark partikularistischem
Einschlag. Nicht ganz glücklich scheint mir die mitten in die Erzählung der einzel-
staatlichen Revolutionen eingeschaltete Erörterung über die Vorgänge am Bundes-
tag und über die Aussichten Preußens (S. 374ff.), die V. für die ersten Märztage sehr
hoch einzuschätzen geneigt ist (vgl. auch S. 452 und 462). Erst danach werden die
Vorgänge in Bayern, in Österreich und in Preußen erzählt. Bei der Darstellung der
` Revolution in Preußen weicht V. von der Geschichtschreibung des letzten Menschen-
alters insofern ab, als er den Schwerpunkt auf die Vorgünge selbst und den im Ver-
gleich zum übrigen Deutschland ungewóhnlich blutigen Verlauf des StraBenkampfes
legt, die viel erörterte Frage nach der persönlichen Haltung des Königs aber kurz
abtut mit dem Satze (S. 486): Von irgendeiner Konsequenz in Friedrich Wilhelms
politischer Haltung während der Märztage kann nimmermehr die Rede sein.
Unruhig und sprunghaft ist das letzte Kapitel mit der Überschrift: die April-
revolution; die Schuld liegt freilich nicht allein an V., sondern auch an der Schwierig-
keit, die mannigfaltigen Ereignisse dieses Übergangsmonats, den Putsch in Baden,
die Kämpfe in Schleswig-Holstein, die Entwicklung in Preußen und Österreich und
die Vorbereitungen des deutschen Parlaments in Frankfurt übersichtlich zu behandeln.
Aber an manchen Stellen, z. B. bei der ausführlichen Wiedergabe der ergebnislosen
Verhandlungen des 50er Ausschusses in Frankfurt habe ich doch den Eindruck ge-
wonnen, daß V.s Gestaltungskraft nachgelassen habe.
Immerhin bedeutet dieser erste Band einen starken Anlauf zu der dringend not-
wendigen gründlichen Geschichte der deutschen Revolution, und es ist zu wünschen,
daß der Verf. Kraft und Lust behalte, sein Werk zu Ende zu führen.
Berlin. Fritz Hartung.
Zechlin, Egmont, Bismarck und die Grundlegung der deutschen Groß-
macht. X.u. 630 S. Stuttgart u. Berlin, 1930. J. G. Cottasche Buchhandlung
Nacht.
Zechlin hatte ursprünglich eine Geschichte der Gesamtpolitik Bismarcks in den
sechziger Jahren schreiben wollen, erst während der Arbeit hat er sich auf das An-
fangsjahr, auf die Zeit von der Übernahme des Ministeriums bis Ende 1863 beschränkt.
Diese Entstehungsgeschichte des Buches macht sich in seiner Komposition bemerk-
bar. Denn der erste Teil, der die objektiven und individuellen Voraussetzungen der
Bismarckschen Politik untersucht, ist bei allen Anregungen, die er dem Leser gibt,
doch für das eigentliche Thema zu weitgesponnen und fällt dadurch aus dem Rahmen
des Werkes heraus. Es zeugt von umfassendem Eindringen in die einschlägige
Literatur; auch die zeitgenössische Publizistik ist verarbeitet. Daß dabei hin und
wieder auch Wichtiges übersehen wurde — z. B. diein Schweinitz’ Briefwechsel über-
lieferte Darstellung Jominis über die russisch-französischen Bündnisverhandlungen
von 1857/58—, kann die Anerkennung des Geleisteten nicht mindern. Neben dem
gedruckten Material hat Z. in großem Umfang Archivalien aus Berlin und Wien
herangezogen. Sie bilden die.Grundlage der Untersuchung und gewähren nach ver-
878 Kritiken
schiedenen Richtungen neue Aufschlüsse wertvollster Art. Im Hinblick auf die
bevorstehende Veröffentlichung der Historischen Reichskommission ist von der
Beigabe einer Quellensammlung Abstand genommen worden. Nur wenige Akten-
stücke werden im genauen Wortlaut mitgeteilt, wodurch eine kritische Nachprüfung
der aus diesen Quellen gewonnenen Auffassung erschwert wird.
Wie schon der Titel andeutet, kommt es Z. vor allem auf die Herausarbeitung
der großen Linien an. Dahinter tritt die genaue Klärung wesentlicher oder um-
strittener Einzelfragen stellenweise zurück. In der ausführlich erórterten Vorge-
schichte von Bismarcks Berufung, zumal der stürmischen Konseilsitzung am Abend
des 17. September wird auffallenderweise das hierfür sehr wichtige Tagebuch des
Kronprinzen nicht verwertet. Daß der König „tatsächlich zur Abdankung ent-
schlossen“ war (S. 298), läßt sich doch nicht sagen. Kurz darauf bemerkt Z. selbst,
daß Wilhelm „noch keineswegs den Gedanken aufgegeben hatte, durch Veränderung
im Ministerium seinen Willen durchzusetzen, womit dann die Abdankung hinfällig
geworden wäre.“ Der leidenschaftliche Kampf Augustas gegen Bismarcks Ernennung
wird durch neue Funde klargestellt. Der König würde ihn, wie er der Gemahlin am
23. September schreibt, schon im Winter gewählt haben, „wenn nicht hauptsächlich
— Deine Opposition mich stutzig gemacht hätte“. Im Zusammenhang hiermit geht
Z. auch auf die berühmte Unterredung Augustas mit Bismarck am 23. März 1848
ein und fügt ihre Aufzeichnung darüber, die im Sommer 1862 niedergeschriebenen
„Motive“ als Faksimile bei. Sehr gut wird Bismarcks Stimmung während der langen
Wartezeit geschildert. Die psychischen Hemmungen, die Furcht vor dem eigenen
Wunsch schwanden, als er nach der — wohl doch zu breit behandelten — Biarritzer
Reise seiner Nerven wieder sicher war und der Ruf des Königs ihn erreichte. Die
erste Nachricht erhielt er, wie Z. bereits früher dargelegt hat, nicht durch Roon,
sondern durch ein Telegramm Bernstorffs vom 16. September.
Als „aktive Politik“ werden die Anfänge des Bismarckschen Ministeriums und
der Unterschied zu seinen Vorgängern treffend charakterisiert. Von einer festen
Führung der europäischen Politik durch den preußischen Staatsmann kann 1862/63
noch nicht gesprochen werden. Es handelt sich vielmehr, wie neuerdings Erich
Marcks (Hist. Zeitschr. 144) feinsinnig entwickelt hat, um eine angespannte Tätig-
keit auf allen Gebieten und nach allen Seiten, um ein ,,geschmeidiges, ausweichendes
und doch stets handelndes Vor- und Rückwürtsspringen". Das gilt namentlich von
der hier eingehend untersuchten Alvensleben-Konvention. Mit einleuchtenden Grün-
den verteidigt Z. sie gegen ihre zahlreichen Kritiker als eine Notwendigkeit für
PreuBen und leitet Bismarcks entscheidendes Motiv aus einer bisher unbekannten
Randbemerkung ab: „Die Konvention war eine Niederlage für Gortschakoffs feind-
liche Politik innerhalb des russischen Kabinetts." Ganz áhnlich hat er sich übrigens
in den Gedanken und Erinnerungen ausgedrückt. Die Initiative zum Abschluß eines
Vertrages, schreibt Z., wie ich glaube mit Recht, dem Zaren zu. Bismarcks immer
wiederkehrende Behauptung, daß er Alvensleben keinen Auftrag dazu mitgegeben
habe, wird, was Z. nicht vermerkt, auch durch eine auf den Prinzen Reuß zurück-
gehende Tagebuchnotiz des Kronprinzen bestätigt. Der Vermutung, der General
habe bei seiner Abreise eine zweite schriftliche Instruktion mitbekommen, vermag ich
nicht zuzustimmen; sie ist auch durch den Bericht Karolyis nicht hinreichend ge-
stützt. Noch weniger kann ich der Hypothese beipflichten, Bismarck habe vielleicht
schon bei der Entsendung Alvensleben den Hintergedanken an eine vierte Teilung
Kritiken 879
Polens gehabt. Seine Äußerungen über eine solche Eventualität werden doch in ihrer
faktischen Bedeutung erheblich überschätzt. Gelungen ist hingegen der Nachweis,
daB Bismarcks Aktivität in der ganzen Angelegenheit nicht so groß war, wie man
früher angenommen hat, und daß er durch sein Vorgehen seinen Staat der schweren
Gefahr einer französischen Offensive ausgesetzt hat. Wie er sie durch eine ebenso kluge
wie geschickte Diplomatie abgewandt hat, und wie ihm dabei die englische Besorgnis
vor der Rheinpolitik Napoleons III. zustatten gekommen ist, legt Z. im einzelnen dar.
Eine eindringende, unser Wissen bereichernde Behandlung erfahren dabei die
russischen Bündnisangebote in Berlin im Sommer 1863. Zweimal, am 1. Juni und
am 12. Juli hat sie Alexander II. in eigenhündigen Schreiben seinem Oheim unter-
breitet. Das erste wird in dem schwer lesbaren Faksimile, das zweite nur inhaltlich
mitgeteilt. Sie entkráften vollends die alte Auffassung, als ob der Zar ein Angriffs-
bündnis gegen Österreich vorgeschlagen habe. Ausdrücklich spielt er auf die Allianz
von 1813 an, zu deren Erneuerung er sich beglückwünschen würde. Aber sein erstes
und eigentliches Ziel war, wie aus beiden Briefen hervorgeht, ein russisch-preuBischer
Zusammenschluß mit der Verpflichtung zum gegenseitigen aktiven Beistand. Das
scheint mir von Z. nicht scharf genug betont zu sein. Wie die kaiserlichen Eröffnungen
sind auch die von Bismarck aufgesetzten Antworten des Kónigs in den Gedanken
und Erinnerungen nicht vollständig wiedergegeben. Aus den dort zusammengefaßten
Erwägungen wurde ein Einzelbündnis mit Rußland abgelehnt, solange ein zur Be-
freiung Polens geführter Krieg Frankreichs preußisches Gebiet nicht berühre. Mit
einer Entente à trois war Bismarck einverstanden und erklärte sich sogar zu einer
befristeten Garantie Venetiens bereit, unter der Bedingung, daB der Zar dasselbe
tue. Dessen Nein, das ihm sicherlich nicht unerwartet kam, und der ósterreichische
» Überrumpelungsversuch" mit dem Fürstentag entzogen den Verhandlungen über
einen Bund der Ostmächte zunächst den Boden. Aber auch dann ließ Bismarck den
Gedanken an eine Verstándigung mit Habsburg nicht fallen, was nicht nur für seine
Politik von 1863, sondern auch für seine N Stellung zu dem deutschen Dualis-
mus sehr lehrreich ist.
Mit alledem ist der reiche Inhalt des Buches bei weitem nicht erschöpft. Neben
den außenpolitischen Maßnahmen werden auch die innerpreußischen Gegensätze und
Kämpfe in den Rahmen der Gesamtsituation einbezogen. Für die Zeit von 1862
bis 1866, die jetzt wieder in den Vordergrund der historischen Forschung rückt, hat
Z. einen wichtigen Beitrag geliefert, an dem der Fachmann nicht vorübergehen kann,
und der durch die Lebendigkeit der Darstellung auch einen größeren Leserkreis
fesseln wird. Ein wesentliches Ergebnis liegt in dem auch hier wieder erbrachten
Nachweis, daß das Jahr der Reichsgründung keinen Systemwechsel in der Bis-
marckschen Außenpolitik heraufgeführt hat, sondern daß sie vor wie nach 1870 von
derselben Grundanschauung bestimmt ist.
Frankfurt a. M. Walter Platzhoff.
Michael, Horst, Bismarck, England und Europa (vorwiegend von 1866—1870).
Eine Studie zur Geschichte Bismarcks und der Reichsgründung. Forsch. z.
mittelalterl. u. neuer. Gesch. Fünfter Bd. V. München (Verl. d. Münchn. Druck.)
1930, XVI u. 441 S.
Die Zeit vom Prager Frieden bis zu den Julitagen des Jahres 1870 bildete bislang
die relativ dunkelste Periode in Bismarcks Schaffen. Das unserer rückschauenden
880 Kritiken
Betrachtung so selbstverstándliche Ziel der Reichsgründung trügt Schuld, daB wir
im Anblick seines Glanzes uns der Mannigfaltigkeit der Widerstände nicht bewußt
wurden, die den geraden Weg versperrten und erst in mühseliger Arbeit beseitigt
werden mußten. Nur allzusehr war die historische Forschung geneigt, die Ausein-
andersetzung mit Frankreich als das einzige gefährliche Hindernis der Vereinigung
des kleineren Deutschland zu betrachten; alle Bewegungen der politischen Dynamik
jener Epoche schienen Probleme des westlichen Europa, für die der Rhein das äußere
Symbol bildete. Vollends bestátigt durch das Aktenwerk Hermann Onckens, in dem
die Problematik der preuBischen Politik auf die Verteidigung gegen die offensive,
kriegslüsterne ,,Rheinpolitik" Napoleons III. verdichtet und vereinfacht erscheint,
die in dem Begehren nach dem Luxemburger Lándchen ihre geführlichen Tendenzen
deutlich genug offenbart hatte.
Schon ein aufmerksames Studium der dort publizierten Dokumente läßt ein
zweites Zentrum politischer Energien — im Orient — in Erscheinung treten, dessen
Existenz wohl gefühlt und berührt, aber noch nicht in der ausschlieBlichen BewuBt-
heit aufgegriffen und untersucht und in seinen Relationen zu Bismarcks Politik der
Reichsgründung durchforscht worden ist, wie es die Abhandlung Horst Michaels sich
zum Ziele gesetzt hat.
Es ist die doppelpolige Belastung des deutschen Lebensraumes, wie sie in ver-
ünderter Gestalt nach Bismarcks Abgang das Reich politisch eingepreßt hat, die
bereits das Werden dieses Reiches mit Vernichtung bedrohte: die offensive franzö-
sische Politik mit dem alten Ziele, die politische Einigung Deutschlands zu ver-
hindern — nicht der Rhein war ihr Ziel, er war nur ihre Sehnsucht! — auf der anderen
Seite die Revanchepolitik des Beustschen Österreich, die auf gefährlichen Umwegen
Preußen beizukommen suchen mußte, da ihr die direkte Frontstellung durch die
Rücksicht auf das deutsche Element des Kaiserstaates und die Haltung der nach dem
Balkan strebenden Ungarn verboten war; selbst im Bunde mit Frankreich, wenn das
Zusammengehen mit ihm nur durch Opferung deutschen Bodens zu erreichen gewesen
würe; daher auch die friedliche, fast preuBenfreundliche Haltung Beusts in der
Luxemburger Spannung, die so weit ging, dem werbenden Napoleon von kriegerischen
Rüstungen abzuraten und sich aktiv an der Beilegung des Konflikts zu beteiligen;
m. E. auch in der Absicht, zu dieser Stunde einen preuBisch-franzósischen Krieg zu
verhindern, an dem das geschlagene, innenpolitisch zerrüttete Österreich aus den
skizzierten Gründen sich nicht hätte beteiligen können, und durch den es voraus-
sichtlich auf lange Zeit hinaus die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit Preußen
verloren hütte, und im besonderen, weil in dieser Frage (Luxemburg) das deutsche
Element in seiner Gesamtheit gegen ihn gestanden wäre.
Auf dem Umweg über die Problematik des nahen Orients sollte ein kriegerischer
Konflikt mit Rußland herbeigeführt und Preußen gezwungen werden, als Helfer des
Zaren irgendwie den Angreifer zu spielen, während Napoleon ihm am Ende in den
Rücken fallen sollte. Mit Hilfe des nationalen Gedankens unter den Balkanvólkern,
die ihre politischen Ideale in dem Einigungskampf Preußen-Deutschlands der voll-
endeten Realisierung entgegenreifen sahen — wir können in nächster Zeit eine ein-
gehende Untersuchung darüber erwarten — mit diesem selben Gedanken sollte die
nationale Einigung Deutschlands verhindert, dem österreichischen Kaiserstaate eine
neue Machtstellung errungen werden. Es lag viel kluge Berechnung in diesen Plänen:
Beust hätte es in einem solchen Falle leicht gehabt, das deutsche Element in Öster-
Kritiken 881
reich von neuem gegen Preußen zu führen und vor allem — das übersieht Michael —
wäre er der Billigung und der Unterstützung seiner Politik durch die Ungarn sicher
gewesen, die für eine solche Entwicklung auch das Bündnis der Monarchie mit Frank-
reich als politische Notwendigkeit anerkannten.
Auf dieses Bündnis kam es Beust an. Napoleon, in Gefahr, durch Bismarcks
Politik die Präponderanz Frankreichs und mit ihr den Thron zu verlieren, von inner-
politischen und klerikalen Sorgen gepeinigt, kam ihm auf halbem Wege entgegen. Es
ist nicht ausgemacht, wer von beiden, ob der französische Cäsar oder der ebenso
gewandte österreichische Staatslenker der aktivere Teil in ihren Bündnisbemühungen
gewesen ist.
Ihr Ziel war das gleiche: Verhinderung der deutschen Einheit, Beschränkung
Preußens auf den deutschen Norden, Ausdehnung der französischen und öster-
reichischen Machtsphäre.
Die Gefahr für Preußen war evident: In einen Krieg zur Unterstützung Ruß-
lands hátte PreuBen ohne überzeugende Devise eintreten müssen und Deutschlands
volle nationale Kraft nicht zur Verfügung gehabt. Die Neutralitát hátte PreuBen unter
Umständen die vollständige Isolierung gebracht.
Diese — nach Michaels Urteil — ungeheure Gefahr hat Bismarck gebannt,
indem er unter genialer Benutzung der gegebenen Beziehungen der Mächte unter-
einander den Abschluß des französisch-österreichischen Bündnisses auf der orien-
talischen Basis verhindert hat: „Das ist die eigentliche große außenpolitische Tat
Bismarcks zwischen Nikolsburg und Ems.“
Diese in großen Zügen skizzierte Entwicklung hat Michael im allgemeinen in
überzeugender Weise zur Darstellung gebracht. Es ist ein Verdienst dieses Buches,
die Bismarckische Politik jener Epoche als das Zentrum des politischen Geschehens
in Europa und das Werk der Reichsgründung im besonderen in seiner Eigenschaft
als gesamteuropäisches Problem begriffen und entwickelt zu haben. Der Verfasser
vernachlässigt aber dabei vollständig die Rolle, die den süddeutschen Staaten in
jenem Zeitraum eignete; er übersieht, daß das Augenmerk der gegnerischen Diplo-
matie ebensosehr auf das Verhalten der Höfe in München, Stuttgart, Darmstadt
und Karlsruhe gerichtet war als nach Berlin, und daß Bismarck in peinlicher
Sorgfalt jeden Schritt, den er tat, auch an der Wirkung auf Süddeutschland abmaß.
Die süddeutschen Staaten sind im Ablauf der Entwicklung keineswegs nur Objekte
gewesen.
Die geniale diplomatische Kunst Bismarcks, sein instinktives Erfassen des
psychologischen Augenblicks, die erstaunliche Klarheit, mit der er die Situation zu
jeder Stunde übersah und beurteilte, und die grandiose Elastizität im Gebrauch der
Mittel zur Erreichung seiner Absichten bestätigen sich in jeder der von Michael unter-
suchten Fragen von neuem.
Das Ziel war klar: Isolierung Napoleons, Verhinderung des französisch-öster-
reichischen Bündnisses und das Bemühen, die Gegnerschaft Frankreichs dauernd
und ausschließlich auf das Feld der deutschen Einigung zu zwingen; denn hier
war Beust machtlos und dazu durch Rußland in seiner Aktionsfreiheit gelähmt; die
gesamte nationale Kraft Deutschlands stand dann zwiespaltlos auf Bismarcks Seite.
Und die Mittel? Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Besprechung der
Fülle von Möglichkeiten und Erwägungen, den Feinheiten taktischer Kunst im ein-
zelnen zu folgen. Es soll genügen, auf zwei Punkte die Aufmerksamkeit des Be-
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 26, H. 4. 56
882 Kritiken
trachters zu lenken: die Problematik des Verhältnisses zu England und Bismarcks
Bemühungen um die Beilegung der vom Balkan her drohenden Gefahren. In welcher
Form der Kanzler Englands Macht seinen Zwecken dienstbar zu machen suchte,
sei hier nicht erörtert. M. meint, Bismarck habe damals kaum feste Vereinbarungen
im Sinne gehabt; das Inselreich in einem deutsch-französischen Kriege zur Neu-
tralität zu bestimmen und darin festzuhalten, sei ihm als genügendes Resultat er-
schienen. Er habe vielmehr „Einsicht und Glauben an die Gemeinschaft der deut-
schen und der englischen Interessen erwecken und fördern, die Furcht vor der
Alleinherrschaft Frankreichs befestigen“ wollen. Das ist richtig und gewiß das
Minimalprogramm seines Verhältnisses zu England gewesen.
Mit der orientalischen Frage ist die gesamte Entwicklung des deutschen Reichs-
gedankens verknüpft gewesen. Ursprünglich an der Peripherie des preußischen
Staatsinteresses gelegen, hat sie sich in wachsendem Maße zum gefährlichen Unruhe-
herd gesteigert: doppelt gefährlich für Bismarck durch die Versuchung, die für
Rußland in einem Balkankonflikte lag, auch seinerseits aus seiner nur notdürftig
nach außen gewahrten Zurückhaltung herauszutreten und die Fesseln des Pariser
Vertrags zu sprengen — und durch die Gelegenheit, die sie Beust für die Reali-
sierung seiner Pläne bot.
Charakteristisch für die Rückwirkung der Orientfragen auf die westliche Krisen-
zone als in besonderem Maße für Bismarcks politische Konzeptionen ist der in dem
Erlaß vom 30. Januar 1867 an Goltz in Paris! entwickelte Plan, die orientalische
Frage als Objekt eines umfassenden europäischen Kompensationsprojektes zu be-
nutzen, um auch Frankreich zu einem zufriedenen und friedliebenden Gliede der
europäischen Staatengemeinschaft zu machen und das Orientproblem seines gefähr-
lichen Charakters zu entkleiden. Eine jener umfassenden, virtuos aufgegriffenen
Konzeptionen aus Bismarcks politischer Gedankenführung, die eine Weite des Blicks
und eine Kraft des Entschlusses bei den anderen Mächten vorausgesetzt hätte,
wie sie nicht zu erwarten war; die zugleich aber Bismarcks frühzeitiges Bemühen
nach größtmöglicher Ausschaltung des balkanischen Krisenherdes erkennen läßt,
das späterhin über das Programm des Kissinger Diktats von 1877 immer mehr
sich auf den Versuch konzentrierte, durch ein weitverzweigtes Vertragssystem
Rußland und Österreich von einem kriegerischen Austrag ihrer Rivalitäten ab-
zuhalten und ihnen, freilich vergebens, fest umgrenzte Interessensphären zu-
zuweisen.
Mit dem Abschluß der Kretakonferenz (1869) war die Gefahr, die vom Orient
her drohte, abgewehrt; alle Kräfte des diplomatischen Spieles sammelten sich
wieder um den Pol der Auseinandersetzung mit dem isolierten Frankreich, die man
preußischerseits für unvermeidlich hielt, wenn man sie auch nicht eröffnen wollte.
Auf einige Ungenauigkeiten des Michaelschen Buches sei noch verwiesen:
Die von dem Verf. als „Katholische Liga" — dieser Begriff findet sich vereinzelt
in den Akten — bezeichnete Kategorie von Mächten im engeren Rahmen. der rö-
mischen Frage hat niemals in solidarischer Einigkeit existiert; ihr Gewicht innerhalb
der europäischen Gesamtlage wird von Michael überschätzt. Auch hält der Verf.
merkwürdigerweise nicht immer genügend auseinander, daß der ,,Dreibund" zwischen
Frankreich, Österreich und Italien eine Bismarcks Bewegungsfreiheit in hohem
Grade belastende, gefahrenschwangere, der Realisierung nahe Möglichkeit gegne-
! Bismarcks Gesammelte Werke, VI, Nr. 672.
Kritiken 883
rischer Kombinationen, zu keiner Stunde aber — trotz der Monarchenbriefe —
Tatsache gewesen ist. Der Mißklänge unter den genannten Mächten gab es zu
viele. Die Sehnsucht nach dem Rhein war für Napoleon und sein Volk immer die
gegebene, dankbarste und überzeugendste Devise; einen Krieg, der um orien-
talischer Fragen willen entbrannt, hätte auch das französische Volk nur schwer
verstanden. Zwischen Florenz und Paris stand die ungelöste, schwelende römische
Frage, zwischen Florenz und Wien der Kampf um Südtirol und Triest.
Und war es so sicher, daß Rußland zur Zeit des griechisch-türkischen Konflikts
dem Grafen Beust ohne weiteres den Gefallen getan hätte, sich zum Kriege reizen
zu lassen? Konnte es auf preußische Hilfe so fest vertrauen, daß es der Gefahr,
zum zweiten Male der Krimkriegsallianz gegenüberzustehen, in Ruhe entgegen-
sehen, ja unter Umständen sie zu provozieren sich getrauen durfte? M. betont
selbst in anderem Zusammenhang die militärische Schwäche des russischen Reiches.
Andererseits hemmte die Erklärung Napoleons, nur im Falle der Teilnahme Preußens
zu den Waffen greifen zu wollen, und seine Forderung, daß Österreich zuerst
und zunächst allein vorgehen sollte, den Flug der österreichischen Politik in
stärkstem Maße.
Ich habe den Eindruck, daß M.'s aufschlußreiches Buch — trotz der Verwahrung
des Verf. in der Einleitung — zu stark unter der Bindung an die „These“ leidet
und in dem verständlichen Bemühen, sie zur eindrucksvollenAnschauung zu bringen,
zu sehr „nach einem Leisten gearbeitet‘ ist. Das ändert aber nichts an der Fest-
stellung, in dieser Untersuchung ein freudiges Bekenntnis zu Bismarcks staats-
männischer Größe und Leistung zu finden — doppelt erfreulich angesichts der
nórgelnden Kritik, die Ursachen für Fehler und Katastrophen der Epigonen in
seinem unbestreitbar genialen Werke suchen zu sollen meint.
Berlin. Herbert Michaelis.
Nachrichten und Notizen.
Jacoby, Felix, Die Fragmente der griechischen Historiker (F Gr Hist). I. Teil,
Genealogie und Mythographie. X und 536 Seiten, 1923; II. Teil, Zeitgeschichte:
A. Universalgeschichte und Hellenika. X und 509 Seiten, 1926; B. Spezial-
geschichten, Autobiographien (und Memoiren), Zeittafeln. 1. Lieferung Theo-
pompos und die Alexanderhistoriker. 320 Seiten, 1927; BD 2. Lieferung Kom-
mentar zu Nr. 106—153. 202 Seiten, 1927; B 3. Lieferung Historiker des Helle-
nismus und der Kaiserzeit. Chronographien. 430 Seiten, 1929. BD 4. Liefe-
rung Kommentar zur N. 154—261. 344 Seiten, 1930; C. Kommentar zu Nr. 64
bis 105. 340 Seiten, 1926; gr. 8°, Berlin, Weidmannsche Buchhandlung.
Ein großer Teil der historischen Literatur der Griechen ist nur in Fragmenten
erhalten. Daher ist eine allen Ansprüchen der Wissenschaft entsprechende Ausgabe
dieser Reste für den Althistoriker wie für den Altertumsforscher überhaupt eine
Lebensfrage. Da war es bis vor kurzem ein unhaltbarer Zustand, daB man sich immer
noch mit den 1841—51 erschienenen Müllerschen Fragmenta historicorum Graecorum
behelfen mußte, eines für seine Zeit außerordentlichen, gegenwärtig aber schon längst
veralteten Werkes. Um so mehr wurde es begrüßt, als Jacoby 1909 (vgl. Klio IX
S. 80ff.) mit dem Plane hervortrat, die Fragmente neu herauszugeben. Man kannte
56 *
884 Nachrichten und Notizen
diesen Forscher als einen der besten Kenner der griechischen Historiographie, doch
schienen Zweifel nicht ungerechtfertigt, ob es in den Kräften eines einzelnen liege,
eine so gewaltige Arbeitsleistung zu vollbringen. Diese Bedenken sind jetzt zerstreut,
in den letzten Jahren erschien ein Band nach dem anderen, ja, die meisten der wich-
tigeren Autoren liegen bereits in der Neuausgabe vor.
Die neue Sammlung ist reich an inhaltlichen Vorzügen, jedoch auch mit for-
malen Mängeln behaftet. Die Sammlung der Testimonia und Fragmenta ist, soviel
ich sehe, vollständig (einiges wenige, was man vermißte, so das Simonidesfragment
bei Plutarch, Lykurg 1,8, findet sich in den Nachtrügen). Hervorragendes ist in
textkritischer Hinsicht geleistet, so besonders an dem ja so sehr im argen liegenden
Strabontexte. Die Kommentare sind äußerst sorgfältig gearbeitet und für alle Teile
der Sammlung gleichermaßen vortrefflich und aufschlußreich. Für den praktischen
Gebrauch ist warm zu begrüßen, daB die antiken Zeitangaben gleichzeitig auch in
Umrechnung notiert werden und daB die Zitate allenthalben mit den entsprechenden
Verweisen versehen sind. Hóchst unglücklich ist dagegen die Anordnung der Autoren.
Diese sind nach ihrem Hauptarbeitsgebiete in 6 Gruppen geteilt. Jacoby bezeichnet
diese Anordnung als die wissenschaftlich allein mögliche, ist damit aber nicht völlig
im Rechte, denn eine solche Zerteilung entspricht nicht der Auffassung der Antike,
weiter war das Arbeitsgebiet vieler Autoren so gleichmäßig auf mehrere nunmehr
auseinandergerissene Stoffgebiete verteilt, daß bei Einreihung dieser Schriftsteller
in eine bestimmte Gruppe Willkür zum einzigen Auswege wird. Vom wissenschaft-
lichen Standpunkte einwandfrei wäre allein die chronologische Anordnung gewesen,
doch ist diese in Anbetracht unserer z. T. unzureichenden literarhistorischen Kennt-
nisse undurchführbar. So bliebe zu Recht nur der Verzicht auf Wissenschaftlichkeit,
d. h. bier die Wahl der alphabetischen Anordnung. Die verfehlte Anordnung des
Werkes wird noch durch eine Reihe von Regiefehlern verschärft, welche man gerade
bei einem Nachschlagewerk störend empfindet und die daher notiert werden müssen.
Innerhalb der einzelnen Gruppen ordnet Jacoby die Autoren chronologisch, doch
verfährt er dabei nach zwei verschiedenen Methoden und reiht in den einen Fällen
die Schriftsteller nach ihrer Lebenszeit, in den anderen nach der zeitlichen Aufein-
anderfolge der von ihnen behandelten Zeiträume. Der Titel von II B lautet:
Theopompos und die Alexanderhistoriker. Dessenungeachtet finden wir darin am
Anfang auch Autoren aus der Zeit vor Alexander, diese aber wieder in nicht ganz
verstehbarer Auswahl, so Myron (aber nicht Rhianos!!), Stesimbrotos (aber nicht
Ion). Die einzelnen Bände des II. Teiles werden mit Buchstaben bezeichnet; dabei
tragen zwei Kommentarbände die Bezeichnung BD, was offenbar nur einem Druck-
fehler ihre Existenz verdankt. Man sieht, die Benutzung des neuen Werkes wird
einem — soweit das Auffinden der Autoren in Frage kommt — nicht eben leichtge-
macht. Der Althistoriker, welcher täglich mit ihm arbeiten muß, wird sich ja schließ-
lich zurecht finden. Altertumsforscher anderer Teildisziplinen, welche in der Samm-
lung nur hin und wieder nachschlagen, sind aber darum nicht zu beneiden. — Ab-
gesehen von den erwähnten Mängeln ist die neue Sammlung ein Denkmal bewunderns-
werter Arbeitskraft wie umfaßendsten Wissens und Könnens, ein Werk, für das wir
dem Verfasser nicht genug danken können. Möge es in gleichermaßen rascher Abfolge
wie bisher fortschreiten und möge es dem hochverdienten Verfasser gegönnt sein,
es zu einem glücklichen Ende zu bringen!
Jena. F. Schachermeyr.
Nachrichten und Notizen 885
Zum Scarapsus Pirmins. Ein Nachtrag.
Bei meiner Anzeige des Jeckerschen Buches über „Die Heimat des hl. Pirmin“
(HV. 26, S. 640ff.) ist mir entgangen, daß P. Lehmann inzwischen unsere Kenntnis
der hs. Überlieferung des Scarapsus wesentlich erweitert hat: Dicta Pirminii,
Studien und Mitteilungen O. S. B. 1929, S. 45—51. Ich verdanke den Hinweis darauf
einer persónlichen Mitteilung P. Lehmanns und móchte nicht verfehlen, meine
früheren Ausführungen nach dieser Richtung zu ergänzen.
“Hatte schon Dom André Wilmart durch Namhaftmachen der beiden Text
zeugen aus der Pariser Nationalbibliothek (die codd. A und C bei Jecker) die Bahn
gewiesen, die kritische Herausgabe der Dicta von der seit Mabillon üblichen Be-
schränkung auf den Einsidlensis 199 zu befreien, so fügt P. Lehmann dieser Ver-
breiterung der textlichen Grundlagen noch zwei weitere Mss. hinzu, die sowohl
H. Schenkl in seiner Bibliotheka patrum Latinorum Britannica (unter den Nrn. 630
und 1182) als auch F. Madan und H. H. E. Craster in ihrem Summary catalogue
of the western mss. in the Bodleian library at Oxford (II, 1, S. 173 fl.) registriert
und beschrieben haben, doch ohne deren Bedeutung für die Pirmin-Überlieferung
bereits zu erkennen. Bei Schenkls Nr. 1182 handelt es sich um ein Homiliar s. IX,
das die Dicta als ,,homelia s. Augustini“ enthält; Nr. 630 bei Schenkl spricht nach
der Angabe von Madan-Craster ausdrücklich von einem „sermon by st. Pirminius".
Danach scheint es durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß auch noch ander-
weit Pirmins Traktat anonym oder pseudonym (unter dem Namen Augustins oder
Gregors) in den Hss. schlummert, und es wäre die wichtigste Aufgabe eines künftigen
Herausgebers, nach solchen versprengten Überlieferungsstücken systematisch zu
suchen und dann, wie P. Lehmann sagt (S. 49), vorerst zu prüfen, inwieweit Jeckers
Verfahren richtig war, im wesentlichen den Wortlaut und die Schreibweise des Ein-
sidlensis beizubehalten und nur gelegentlich und mit einer gewissen Willkür den
Text durch A, C oder die literarischen Quellen zu verbessern. Ebenso bedarf nach
Lehmanns wegweisenden Darlegungen das Verhältnis Pirmins zu den Predigten
des Eligius von Noyon (} 660), das Jecker nur gestreift hat, noch einer näheren
Untersuchung.
Leipzig. W. Stach.
Schiffers, Heinrich Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt. Mit 35 Ab-
bildungen. Köln, Gildenverlag, 1930. 264 S. 8%. 6.— AA.
Seit rund 1349 erfolgt von sieben zu sieben Jahren in Aachen von der Höhe des
Münsters herab die Vorzeigung der berühmten Reliquien aus dem Besitz des Dom-
stifts, der sog. Großen Heiligtümer (Marienkleid, Windeln und Lendentuch des
Herrn, Enthauptungstuch Johannes’ d. T.). Zu dieser Reliquienzeigung strömten
die Wallfahrer von weither — selbst aus Ungarn, Böhmen, Schweden — nach Aachen
in ungezählten Scharen (1925 etwa eine Million Pilger). Diese Heiligtumsfahrt be-
dingte als regelmäßig wiederkehrendes Ereignis soviel Einrichtungen und Vor-
kehrungen und Maßnahmen auf fast allen Gebieten des Lebens, sei es nun der Wirt-
schaft wie Wege und Verkehrsmittel für die Pilger, deren Unterkunft, Verpflegung
u. a., sei es der Kunst wie Münsterbau, Kunstgewerbe (Pilgerzeichen, Wallfahrtsan-
denken, Devotionalien), Dichtung (Heiligtumsspiele und Heiligtumsdramen), Buch-
druck u. a., sei es des Rechtslebens, der Karitas usw., und allen diesen Dingen ist der
Verfasser mit einem bewundernswerten Fleiße nachgegangen und hat aus unge-
886 Nachrichten und Notizen
druckten und gedruckten Quellen und aus Museumsbeständen ein außerordentlich
reiches Material zusammengebracht und in eine Darstellung geformt, daß in der Tat
eine Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt entstanden ist. Nicht ohne
große Belehrung wird sie vor allem der mittelalterliche Historiker lesen. Für eine
künftige Auflage des Buches sei bemerkt, daß es S. 193 Z. 18 besser heißt Schrot-
blätter (statt Schrotbilder); auch ist ein Hinweis wünschenswert auf eine sehr gute
Wiedergabe des in Abb. 28 gebrachten Schrotblattes in W. L. Schreiber, Formschnitte
und Einblattdrucke in der Kgl. Bibliothek zu Berlin. 1913, Nr. 25 und auf den dazu-
gehörigen Text. Zu S. 43 kann ich ergänzen, daß die Wolfenbüttler Bibliothek ein
Aachener Heiligtumsbüchlein in französischer Sprache bereits vom Jahre 1699 besitzt:
Próne des S. S. reliques que l'on montre en la ville imperiale et royale d'Aix la
Chapelle. A Aix la Chapelle. Arnold Metternich 1699.
Wolfenbüttel. H. Herbst.
J. Calmette et G.Périnelle, Louis XI et l'Angleterre (1461—1483). Paris,
Éditions Auguste Picard 1930. XXIV, 424 S. Mémoires et Documents p. p.
la Société de l'École des Chartes XI. |
Wer weltgeschichtlichen Zusammenhängen nachspürt, hat längst bemerkt, wie
undeutlich uns heute noch der politische Aufbau und der Machtwandel des 15. Jahr-
hunderts sind. Daß es keinesfalls vom Standpunkt der deutschen, durch Ohnmacht
gekennzeichneten Geschichte verstanden werden kann, wird allgemein zugestanden
werden. Wo findet man die entscheidenden Wendepunkte ? Ein solcher ist zweifellos
der romantische Einbruch Karls VIII. in Italien 1494. Aber wie war Frankreich nach
den furchtbaren Leiden des hundertjährigen Krieges dazu imstande? Eine der Ant-
worten auf diese wichtige Frage gibt das vorliegende, schr sorgfältige Buch. Der
eigentliche, durch einschlägige Arbeiten wohlbekannte Verfasser ist Calmette, der
Vorarbeiten P£rinelles benutzt hat. Es ist ganz richtig, wenn er sagt, daß die fran-
zösisch-englischen Beziehungen zum Kernstück der abendländischen Geschichte ge-
worden waren, wobei er hervorhebt, daß sie durch Rücksichten auf den lebhaften
Handel der beiden Völker stark beeinflußt wurden. Das Ergebnis lautet, daß die
Politik des so unköniglich gesinnten Königs nicht durch Grundsätze, sondern durch
die wechselnden Umstände bedingt wurde. Bei seinem Regierungsantritt mußte
Frankreich eine Fortsetzung des hundertjährigen Krieges fürchten, es wurde wieder
durch ein englisch-burgundisches Bündnis und auch durch Jakob II. von Aragon
bedroht. Die hervorragende Leistung Ludwigs liegt in der geradezu unheimlichen
Geschicklichkeit, mit der er immer wieder aus den Netzen entschlüpfte, in denen ihn
seine Feinde schon verstrickt wähnten. Alle Mittel waren ihm dazu willkommen,
aber er war auch einem Eduard IV. oder Karl dem Kühnen als Staatsmann weit
überlegen. Sein eigentliches Ziel, einen sicheren Frieden mit Calais, hat er allerdings
nicht erreicht, aber sein Land vor schweren Gefahren bewahrt und damit seinen
Nachfolgern freie Bahn gemacht. Aus dem in einem Anhang untersuchten Prozeß
des französischen Gesandten Karl von Martigny, Bischofs von Elne, erkennen wir
u. a. seine diplomatische Meisterschaft und seine Kunst, Komödie zu spielen, um den
Gegner zu täuschen. Die ausführliche Darstellung wird durch zahlreiche Belege aus
englischen, spanischen, französischen und italienischen Archiven gestützt. Unter den
83 abgedruckten Aktenstücken sind auch einige Briefe Maximilians. Inhaltsver-
Nachrichten und Notizen 887
zeichnis und Namensverzeichnis fehlen nicht und steigern den Wert der streng
wissenschaftlichen Veröffentlichung.
Jena. A. Cartellieri.
Rorig, Fritz, „Das Einkaufsbüchlein der Nürnberg-Lübecker Mulich's auf der
Frankfurter Fastenmesse des Jahres 1495." Breslau (Ferdinand Hirt) 1931
(Veróffentlichungen der Schleswig- Holsteinischen Universitätsgesellschaft
Nr. 36).
In meinem Werk über reichsstädtische Außenpolitik (,, Nürnberg, Kaiser und
Reich“, München, 1930) hatte ich geschrieben (S. 11): „Was im besonderen Nürn-
berg angeht, so weisen zwar die Briefbücher Korrespondenzen zwischen Lübeck und
anderen nordischen Hansestädten vereinzelt auf, auch hat man in späteren Jahr-
hunderten, als die Hanse lüngst von ihrer Hóhe gestürzt war, hie und da den Ein-
druck, als bestände doch eine Art von Interessengemeinschaftsinstinkt. In der Nürn-
berger Außenpolitik aber hat die Hanse nie eine maBgebende Rolle gespielt‘. Ich
habe ferner gerade für das Ende des 15. Jahrhunderts hingewiesen auf Nürnbergs
„überragende Stellung als Vermittlerin der Erzeugnisse des fernen Südens und Süd-
ostens zur Frankfurter Messe“ und habe für das Jahr 1495 die Leistungsfähigkeit
Nürnbergs nachgewiesen, der damals, wie ich feststellte, nur Lübeck gleichkam
(S. 73). Die vorliegende Schrift Fritz Rórigs gibt an Hand eines charakteristischen
Einzelfalls ein treffendes Bild davon, wie diese Beziehungen geknüpft wurden und
wie sie sich im einzelnen ausgewirkt haben. Rörigs umfangreiche Studien in den
Archiven von Lübeck, Nürnberg und Augsburg haben das Material geliefert. Um es
vorwegzunehmen: nicht auf politischer, sondern auf familiärer Zusammenarbeit
beruht der Nürnberg-Lübecker Handel der Familie Mulich. Man sieht, wie dem
ersten Pionier die übrigen Familienmitglieder folgen. Der Zweck des Einkaufsbüch-
leins ist zweifellos die Schaffung einer „Unterlage für die rechnerische Auseinander-
setzung“ zwischen Paul Mulich, von dem die Aufzeichnungen stammen, und seinem
Bruder und „ Kommittenten“ — das Rechtsverhältnis kann wohl nicht anders ge-
deutet werden — Matthias. Die genaue Spezialisierung der Aufzeichnungen über die
Einkäufe, die Paul Mulich für seinen Bruder Matthias in Frankfurt erledigt, ist von
besonderem, wirtschaftsgeschichtlichem Wert. Man sieht daraus, was und in wel-
chen Mengen damals gekauft wurde. Süd- und norddeutscher Handel reichen sich
die Hand. Mit Recht hebt der Verfasser „die prinzipielle Bedeutung des Büchleins
als Zeugnis für die enge Verbundenheit oberdeutsch-niederdeutscher Handels-
beziehungen“ hervor. Man kann aber nicht genug betonen, daß es sich bei den hier
aufgedeckten außergewöhnlich intensiven Handelsbeziehungen um einen zeitlich
und persönlich bedingten Vorgang handelt, daß sich ferner die beiden frag-
lichen Städte als solche, wenigstens in dieser spätmittelalterlichen Epoche,
zwar nicht feindlich, aber doch neutral, passiv gegenseitig verhielten. Man
darf die unmittelbaren Beziehungen, soweit solche zwischen Nürnberg und
Lübeck bestanden, nicht überschätzen. Im allgemeinen werden in Frankfurt
die Geschäfte zwischen dem Norden und Süden abgeschlossen. Nicht un-
mittelbare, sondern mittelbare Handelsverbindungen zwischen Süd- und
Norddeutschland sind die Regel. Unmittelbare Beziehungen, wie sie die reichen und
geschäftsgewandten Mulichs zwischen Nürnberg und Lübeck sich schufen, sind
Ausnahmen. Richtig aber ist jedenfalls, daß, wie Rörig sagt, im 15. Jahrhundert
888 Nachrichten und Notizen
,der aktiv vordringende Teil auf der Nürnberg-Frankfurter-Lübecker Route...
zweifellos der oberdeutsche, insbesondere aber der Nürnberger Kaufmann“ war.
Mit der erlahmenden Kraft des Nürnberger Kaufmannsstaates in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts, ein Vorgang, den ich in meinem Buche eingehend behandelt
habe, ist dieser Vormarsch des oberdeutschen Kaufmanns nach dem Norden im
wesentlichen zu Ende. Mit den betonten Feststellungen móchte ich nicht die im all-
gemeinen vorsichtig ausgesprochenen Ansichten des Verfassers korrigieren, aber doch
vor Verallgemeinerungen warnen, welche für den Leser vielleicht naheliegen könn-
ten, den tatsächlichen Verhältnissen aber, so weit wir sie noch zu erfassen vermögen,
nicht gerecht würden. Warum das Register in einem ganz ungewóhnlich kleinen,
schwer leserlichen Druck (daher wohl auch dort einige geringfügige Ungenauigkeiten)
gesetzt wurde, ist nicht recht ersichtlich; doch hat damit der Verfasser ja wohl
nichts zu tun. Der Abdruck des Einkaufsbüchleins und der dazu gehörige Anmerkungs-
apparat dagegen erfüllen alle Wünsche, welche man berechtigterweise stellen kann.
München. Eugen Franz.
Weitnauer, Alfred, Venezianischer Handel der Fugger nach der Musterbuch-
haltung des Matthäus Schwarz (Studien zur Fugger-Geschichte, herausgegeben
von J. Strieder, Neunter Band). München und Leipzig (Duncker und Humblot)
1931, XVI und 323 8.
Der schon aus früheren Veróffentlichungen allgemeiner bekannte Buchhalter
Jakob und Anton Fuggers Matthäus Schwarz hat im Jahre 1518 eine Lehre von
der doppelten. Buchführung mit einer Musterbuchführung geschrieben, um den
deutschen Kaufmann mit dieser — von Schwarz nach Studien in Italien im Hause
Fugger selbst erlernten — Kunst näher bekanntzumachen. Weitnauer zeichnet hübsch
das Bild dieses früh von seiner Bedeutung eingenommenen, ebenso eitlen wie treu-
herzigen Mannes und versteht es ausgezeichnet, die von Schwarz vorgeführte Tech-
nik der Führung all der Bücher, die in der doppelten Buchführung gebraucht werden,
zu erläutern; er gibt so über seinen engeren Zweck hinaus eine sehr empfehlenswerte
Einführung in die Prinzipien der doppelten Buchhaltung überhaupt, wie sie sich in
der Sprache der Zeit darstellen. Er versteht es dabei auch gut, uns neben reicher
sachlicher Belehrung den lebensnahen Ton zu vermitteln, mit dem der „vornehme
Buchhalter“ von seiner Kunst spricht. Aber er zeigt auch, wie diese , Musterbuch-
haltung‘ nicht nur eine Quelle ersten Ranges für die Geschichte der Buchungstechnik
ist, sondern wesentliche wirtschaftsgeschichtliche Ausbeute ergibt. Das würde bis
zu einem gewissen Grade auch dann der Fall sein, wenn Schwarz seine Beispiele frei
erfunden hätte — auch dann hätte er ja ganz unwillkürlich mit den Verhältnissen
seiner Umgebung gearbeitet. Aber W. weist nun nach, daB die Musterbuchhaltung
in noch speziellerem Sinne Quelle ist: denn sie ist nichts anderes als die nach Augs-
burg eingesandte Abrechnung der venezianischen Faktorei für das Jahr 1516, die
Schwarz für seinen Zweck abschrieb, und es ist auf diese Weise wenigstens ein Rest
dieser sonst vóllig verlorenen Abrechnungen der Fuggerschen Faktoreien erhalten.
Dieser ganz gelungene, fein durchgeführte Nachweis ermöglicht es W., seine Quelle
für den venezianischen Handel der Fugger überhaupt auszuwerten. Allerdings bleibt
die Móglichkeit, daB S. doch einzelnes gekürzt hat, und damit die Notwendigkeit,
bei Rechnungen vorsichtig zu sein. Die um Unwesentliches gekürzte Edition der
Musterbuchhaltung S. 174—314 ist sorgfältig.
Nachrichten und Notizen 889
Das Jahr 1516 — übrigens das Jahr von S. venezianischem Aufenthalt —
zeigt die Stellung der Fugger in V. im vollsten Glanz; die venezianischen Geschäfte
sind zwar durch die politische Unruhe Italiens einigermaBen gestórt, doch hatte sich
anderseits Venedig damals von dem Choc der ersten direkten Indienfahrt noch ein-
mal erholt. W. bespricht die Beziehungen der v. Faktorei zu dem Stammhaus in
Augsburg und zu den anderen 11 Faktoreien, besonders zu der in erster Linie für den
venezianischen Faktor wichtigen rómischen, sowie die Funktionen der Faktorei gegen-
über Kaiser und Kurie. Am reichsten aber ist die Weitnauersche Darstellung in dem
(4.) Abschnitt, der die Geschäfte nach sachlichen Gesichtspunkten: Warenhandel und
seine Organisation, Geldhandel und seine Technik, vorführt. Außer auf die Anlagen:
Ellenmaße der Zeit (nach Schwarz’ Angaben), venezianischer Kupfer-, Silber- und
Stoffeumsatz ist besonders hinzuweisen auf das sorgfältig gearbeitete Kapitel über
die 1516 in der v. Faktorei verwendeten Münzen, Maße und Gewichte. Dieses Kapitel
wird ebenso wie die Bemerkungen über die Buchhaltung selbst und über die Bank-
technik auch demjenigen guten Aufschluß geben, der sich allgemein orientieren will.
Verunglückt ist das Verzeichnis der Quellen und der Literatur. Es dürfte bei
einem Werk, das in nur drei Hss. überliefert ist, nicht im Quellenverzeichnis eine von
diesen Hss. fehlen, und auch bei den anderen beiden muß man sich die Einzelangaben
über Zeit, Bibliotheksnummer usw. an verschiedenen Stellen zusammensuchen. Nach
welchen Gesichtspunkten im weiteren ,,Gedruckte Quellen“ und „Darstellungen“
getrennt sind, ist schlechthin unerfindlich; hier geht alles durcheinander. Davon
abgesehen: Weitnauers Buch ist eine ausgezeichnete Publikation.
Freiburg i. B. H. Heimpel.
Hein, Max, (Dr. phil., Staatsarchivdirektor in Königsberg i. Pr.), Otto von Schwerin.
Der Oberpräsident des Großen Kurfürsten. Gräfe und Unzer-Verlag, Königs-
berg i. Pr., 1929, VII, 407 S. Gr. 8%; geh. JA 12.—; Gzlw. A 15.—.
Das Werk von Hein beruht auf einer vollkommenen Kenntnis der einschlägigen
gedruckten Quellen und der Literatur sowie auf Archivalien des v. Schwerinschen
Familienarchivs in Wildenhoff, der Staatsarchive in Berlin und Marburg sowie des
Reichsarchivs in Stockholm. Es schildert die brandenburgische innere wie áuBere
Politik der Jahre 1645 bis 1679 unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses
Ottos v. Schwerin. Die Beschaffenheit des ausgedehnten Quellenmaterials bot keinen
Anlaß zu einer rein biographischen Behandlung des Themas. Vor allem entbehrt
die Persónlichkeit Schwerins der bedeutenderen politischen Profilierung; der
Oberpräsident hat die Entschlüsse des Großen Kurfürsten selten durch selbständige
politische Gedanken verändert oder ergänzt; er tritt vielmehr vornehmlich als Rat-
geber und Diener des Landesherrn in Erscheinung. Im Verkehr mit den Ständen
und in den auswärtigen Affären erscheint der fromme und friedliche Mann als ein
geschickter Taktiker, als ein Freund der Verständigung und des Maßes. Unvorsich-
tige Entschlüsse hat er abzubiegen, harte Worte zu mildern verstanden. In ihm war
kaum eine Spur von der behenden Initiativkraft des Großen Kurfürsten; doch war
er durch seine überlegene Sachkenntnis vornehmlich in außenpolitischer Hinsicht
ein unentbehrlicher Helfer, durch Treue und selbstlosen Gehorsam (auch bei
Meinungsverschiedenheiten) ein unbedingt verläßlicher ,, Vasall“ seines Herrn.
Heins Darstellung leidet unter einer gewissen Monotonie und hätte durch straffere
Zusammenziehung gewinnen können. Auch sind bei derartigen (mit Ausnahme des
890 | Nachrichten und Notizen
5., 8. und 11. Abschnitts) annalistisch aufgebauten Darstellungen Seitenköpfe, die den
Inhalt andeuten, oder wenigstens chronologische Verweise schwer vermißte Er-
leichterungen der Lektüre. Auch ein Personenverzeichnis hätte nicht fehlen dürfen.
Doch sind diese Ausstellungen bloß Nebenbemerkungen zu einer Anerkennung, die
der Fülle neuer Einzelheiten und der einsichtigen Verknüpfung bekannter Tatsachen
froh wird und das Werk als Bereicherung der Literatur zur brandenburgischen Ge-
schichte des 17. Jahrhunderts betrachten muB und nicht mehr missen möchte.
Freiburg i. B. Arnold Berney.
Dahlmann- Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte. 9. Aufl. Hrsg. von
H. Haering. Verlag K. F. Koehler, Leipzig, 1931. Gr. 8%. XL, 992 S.
Anfang Dezember ist die — seit langem schmerzlich vermiBte und zuletzt mit
Ungeduld herbeigewünschte — Neuauflage des Dahlmann- Waitz erschienen, auf
die unter Vorbehalt einer eingehenden Würdigung in einem der nächsten Hefte hier
durch eine kurze Vornotiz verwiesen werden soll. Daß trotz einer Zeit würgender
Not, die auf unserem Vaterland lastet, die Erneuerung dieses wichtigen und für
jeden an der Forschung interessierten Historiker unentbehrlichen Hilfsmittels er-
möglicht worden ist, dafür gebührt dem Kuratorium der Jahresberichte für Deutsche
Geschichte, das den Plan der Neubearbeitung ins Leben gerufen und finanziell
sichergestellt hat, und vor allem dem Gesamtherausgeber H. Haering, der dem
Unternehmen über 3 Jahre jede dienstfreie Stunde zum Opfer gebracht hat, nicht
minderer Dank als dem Stab von 54 Mitarbeitern, der die dornige Bearbeitung der
einschlägigen Abschnitte auf sich genommen und durchgeführt hat, und dem Ver-
leger, dessen Opfermut es gewagt hat, angesichts der fragwürdigen Aussichten auf
entsprechenden Absatz den Verlag des Werkes zu übernehmen und den Band druck-
technisch und in Papier und Einband vorzüglich ausgestattet herauszubringen.
Enthielt die 8. Auflage die Literatur bis zum Jahre 1910 vollständig, so bietet
die Neuauflage nach gleichem Grundsatz die bis zum Ende 1929 erschienenen Ver-
öffentlichungen durchgängig, dagegen Späteres nur nach Möglichkeit. Dabei haben
sich die Nummern um rund 3000 vermehrt, wobei zu beachten ist, daß sich die
Nummern selbst inhaltlich zum Teile stark erweitert haben, so daß sich der Gesamt-
zuwachs des Umfanges nach Schätzung der Druckerei fast auf ein Drittel des alten
Bestandes beläuft.
Ein Registerband wird voraussichtlich Februar 1932 erscheinen und den Be-
ziehern des Werkes kostenlos nachgeliefert.
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