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HISTORISCHE
VIERTELJAHRSCHRIFT
ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT
UND FÜR
LATEINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS
HERAUSGEGEBEN VON
.
oo ”
D. Dr. ERICH BRANDENBURG -
O. PROPBSSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG
XXVIII. JAHRGANG
VERLAG UND DRUCK
BUCHDRUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG
DRESDEN 1934
Alle Rechte vorbehalten.
Max:
IN *
INHALT DES XXVIII. BANDES.
Aufsätze.
a) Zur Geschichiswissenschaft. Seite
Aubin, Hermann, Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 225
Hellmann, S., Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 273
Hilliger, Benno, Die Reichssteuerliste von 1242ũ2w22n᷑ĩ3• 2.222220. 88
Hintze, Hedwig, Fichte und Frankreich . ............... 635
Kienast, Walther, Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen
„ aa ee ie ee Ru erh 673
Krusch, Bruno, Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum
Gregors von Tours. II. Tei 1
Preller, Hugo, Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis im
Gebiet der neuesten Zeit. . . ................. 812
Spanke, Hans, Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters . . . . 737
Spiegel, Käthe, Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 119
Stolz, Otto, Die Landstandschaft der Bauern in Tirol! 699
Wald, Annmarie, Die Bauernbefreiung und die Ablösung des Obereigentums —
eine Befreiung der Herten? . ............... l.l. 195
Weigel, Helmut, Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-
karolingische Reich ........................ 449
Wendorf, Hermann, Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand ....... 335
b) Zur mitiellateinischen Philologie.
Blatt, Franz, Sprachwandel im Latein des Mittelalters . ........ 22
Bulst, Walther, Studia Burna 612
Dahinten, Kurt, Zum Problem der literarhistorischen Stellung des ‚Ruodlieb‘‘ 503
Hellmann, S., Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 273
Kamlah, Wilhelm, Der Ludus de Antichristo . ............ 53
Krusch, Bruno, Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum
Gregors von Tours. II. Teil 1
Spanke, Hans, Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters . . . 737
Strecker, Karl, Kritisches zu mittellateinischen Texten . . . . . . . .. 767
Studien zur mittellateinischen Dichtung . ............... 503
Walther, Hans, Eine unbekannte mittellateinische Satire gegen die Geistlich-
/ a ee 45 38 re A ei ae 522
IV Inhalt
Kleine Mitteilungen.
a) Zur Geschichiswissenschaft. Beite
Bóhm, Wilhelm, Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen, 6./16. No-
vembéer 1 ] ] 156
Eckert, Helmut, Ein unveröffentlichter Brief Friedrichs des Groben. . 834
Escherich, Mela, Das Ideal einer europäischen Republik 567
Hübner, Fritz, Die Grabschrift Ottos I. im Magdeburger Don. 154
Krusch, Bruno, Nochmals die Taute Chlodowechs in Tours (507/8) und die
Legende Gregors von Tours (Reims 496/97) 560
Reinhard, Ewald, Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von
Salis-Soglio, Kais. Königl. Kämmerer 571
b) Zur mittellateinischen Philologie.
Holtzmann, Robert, Kann frater „Schwager“ bedeuten? sz: 832
Krusch, Bruno, Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours (507/8) und die
Legende Gregors von Tours (Reims 496/97) . . . . ........ 560
Manitius, Max, Zu den Prudentiusglossen . . ............. 142
Mayer, Anton L., S. Afrae vita metrica . ............. 5
Besprechungen.
a) Zur Geschichiswissenschaft.
Adelheim, Georg, Revaler Ahnentafeln (Lampe) . .......... 445
Aders, Günter, Das Testamentsrecht der Stadt Kóln im Mittelalter (Holtermann) 651
Ammon, Hans, Johannes Schele, Bischof von Lübeck, auf dem Basler Konzil
. ² ˙ ˙ U)ie ĩ ;- EE Te e ee 425
Analecta Praemonstratensia. Tom. VI u. VII (Dersch)))h) 878
Andreas, Willy, Deutschland vor der Reformation (Kirn) 202
Archivum historicum Societatis Iesu. Anni I fasc. I u. II (Dersch) . . 881
Bibliographie, Familiengeschichtliche. Hrsg. durch die Zentralstelle
für Deutsche Personen- und Familiengeschichte, E.V. Jg. 1927—30 (Lampe) 216
Bibliography, International — of Historical Sciences. Second Year 171
Bibliothekskataloge, Mittelalterliche — Deutschlands und der
Schweiz (Schreiber) .................. ccr rr 616
Bonjour, Edgar, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848—56 (Kayser) 866
Bopp, O. F. M., P. Hartwig, Die Entwicklung des deutschen Handwerks-
gesellentums im 19. Jh. unter dem Einfluß der Zeitströmungen (Ammon) 884
Bornhardt, W., Geschichte des Rammelsberger Bergbaues von seiner Auf-
nahme bis zur Neuzeit (Steinberg) . . .............. 415
Bürgerbuch, Das älteste — der Stadt Hannover und gleichzeitige Quel-
len. Bearb. von K. Fr. Leonhardt (Lampe) . . .... 2222 2.0. 661
Cambridge, The — Medieval History. Vol. VI u. VII (Schmeidler) . . . 420
Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung (Wendorf) . . . . . .. 631
Chroust, Anton, Das GroBherzogtum Würzburg (1806—14) (Weigel) . . . 429
Cohn, Willy, Hermann von Salza im Urteil der Nachwelt (Lampe). . . . 852
Concilium Tridentinum (Friedensburg). . . ............. 883
Dahlmann- Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte. 9. Aufl. Hrsg.
von HHan a a doux, 2 2 a Saar ¶⁰ðyy ER ern 171
Inhalt V
Belte
Doelle, Ferd., Der Klostersturm von Torgau im Jahre 1525 (Dersch). . . . 880
Ebert, Max, Reallexikon der Vorgeschichte (Jacob-Friesen) . . . . . . . 641
Ernstberger, Phil. Anton, Österreich und Preußen von Basel bis Campo-
formio 1795—1797 (Heydemann) . . . . . .. ........... 653
Ficken, Emil, Johann von Böhmen (Bock) t 424
Fink, Wilh., Entwicklungsgeschichte der Abtei Metten (Dersch) ) 876
Flach, Willy, Die Urkundenfälschungen der Deutschordensballei Thüringen
im 15. Jh. ,, 3 a er A 850
Fremerey, Gustav, Guicciardinis finanzpolitische Anschauungen (Hofmann) 199
Friedensburg, Walter, Kaiser Karl V. und Papst Paul III. (1534—1549)
„ a ya re ne Be ee ih 652
Goldschmidt, Hans, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung
(Michaels) P a e a ea a a a a a a ea 437
Grieser, Rudolf, Das älteste Register der Hochmeisterkanzlei des Deutschen
Ordens “eee ar ern 849
— Lischke und Stadt (Lampeꝛꝛꝛꝛꝛꝛ 850
Halphen, Louis, L'essor de l'Europe (XIe et XIIIe siècles) (Cartellieri) . . 193
Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Bd. I,
Liefg. 1 (Wendoi) 4; % rer k s 99 ow ww Bi een 648
Hassinger, Hugo, Geographische Grundlagen der Geschichte (Rudolphi) . . 839
Hearnshaw, F. J. C., The social and political ideas of some representative
Thinkers of the Revolutionary Era (Hintze 884
Heidenreich, Karl, Der deutsche Orden in Neumark (Lampe). . . . .. 851
Hein, Max, Die Ordenskanzleien in Preußen 1310—24 (Lampe) . . . .. . 844
Hennig, Richard, Geopolitik. Die Lehre vom Staat als Lebewesen. 2. Aufl.
(Rudolphi). e 2 Se u 28 Oe deve acce ET FRAUEN 604
Herold, Victor, Die Brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und
-Register des XVI. u. XVII. Jhs. 1. Bd. (Lampe) . . ........ 220
Hild, Joachim, August Hennings, ein schleswig-holsteinischer Publizist um die
Wende des 18. Jhs. (Hoffmann 865
Holl, Karl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther. 6. Aufl.
An MMC EP 220
Hotzelt, Wilhelm, Familiengeschichte der Freiherren von Würtzburg (Lampe) 444
Jaffé, Fritz, Elsássische Studenten an deutschen Hochschulen (1648—1870)
mit besonderer Berücksichtigung des 18. Jhs. (König)... . . . .. 629
Jahrbuch, Bremisches —, Bd. 33. Hrsg. von der historischen Gesellschaft
des Künstlervereins (Lübbing) . )))) 441
Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Öster-
reich Hen 4 3 Een $E ee add 885
Jahresberichte für deutsche Geschichte. 1.—6. Jahrgang (= 1925—1930) 171
Jaspers, Karl, Die geistige Situation der Zeit (Reble777) . 643
Kallmerten, Paul, Lübische Bündnispolitik von der Schlacht bei Bornhóved
bis zur dänischen Invasion unter Erich Menved (1227—1307) (Büscher) 882
Kaspar, Adelhard, Die Quellen zur Geschichte der Abtei Münsterschwarzach
am Mam (Dersch) .... - 2 2.00 0.28 * 877
Kaup, Julian, Die theologische Tugend der Liebe nach der Lehre des hl. Bona-
ventura (Dersch)): 22... POTITI 880
VI Inhalt
Seite
Kehr, Eckart, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894—1901 (Schmitt) . 210
Kisch, Guido, Die Kulmer Handfeste (Lampe) . . . .... 2 222.0. 847
— Das Fischereirecht im Deutschordensgebiet (Ders.:) 847
Kittel, Rud., Gestalten und Gedanken in Israel, Geschichte eines Volkes in
Charakterbildern. 2. Aufl. (v. Rad .............. 441
Kluke, Paul, Heeresaufbau und Heerespolitik Englands vom Burenkrieg bis
zum Weltkrieg (Brinkmann) . . .................. 658
Krollmann,Chr., PolitischeGeschichte d. Deutschen Ordens in PreuBen (Lampe) 846
Krueger, Gustav, Das Papsttum. Seine Idee und ihre Träger. 2. Aufl. (Hennig) 650
Kuypers, K., Theorie des Geschiedenis (Kaegiuin g 440
Lacour-Gayet, G., Talleyrand (1754—1838) (Wendorf) . . . . . . . . 204
Ledermayer, O. T., P. Kanisius, Der Deutsche Orden einst und jetzt (Lampe) 852
Lehmann, Heinz, Zur Geschichte des Deutschtums in Kanada. Bd. I (Spiegel) 655
Lehmann, Paul, Mitteilungen aus Handschriften (Schreiber) . rr 413
Leipzig um 1832. Aus Zeit und Umwelt des Gustav-Adolf-Vereins in seinen An-
fängen. Hrsg. von O. Lerche (Hennig). )).. 887
Leisegang, Hans, Lessings Weltanschauung (Wendorf) ......... 631
Lerner, Franz, Kardinal Hugo Candidus (Hennig) )) 444
Lindnersche Stamm- und Ahnentafelsammlung (Lampe) 884
Ludwig, Martin, Religion und Sittlichkeit bei Luther bis zum „Sermon von
den guten Werken" 1520 (Hennig) . . . . ............. 446
Mansuy, Abel, Jérôme Napoléon et la Pologne en 1812 (Laubert) . . . . . 432
von Martin, Alfred, Soziologie der Renaissance (Kaegi) . . . . . . . ... 626
Mayr, Josef Karl, Die Emigration der Salzburger Protestanten von 1731—32
(Henne): «cc 200 4 d kno ↄ VVT 445
Mexmontan, N., Ur frihetskrigets förhistoria (Paul)). 660
Meyen, Fritz, „Riksmälsforbundet‘ und sein Kampf gegen Landsmäl (Büscher) 888
Mitterer, Sigisbert, Die bischöflichen Eigenklöster in den vom hl. Bonifazius
139 gegründeten bayerischen Diözesen (Dersch h) 876
Monteilhet, I., Les institutions militaires dela France (1814—1932) (Schmitt) 634
Monumenta Historiae Warmiensis. 32—34 Liefg. (Lampe)... .'. . 845
Nordmann, V. A., Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer
Oszwald, R. P., Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg (Schmitt). 872
Papirer, Efterladte — fra den Reventlowske Familiekreds i tids-
rummet 1770—1827 (Schulz) ................... 222
von Pastor, Ludwig, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters.
Bd. XVI. 1. Abt. Benedikt XIV. und Klemens XIII. — 2. Abt. Klemens
XIV. — 3. Abt. Pius VI. (Friedensburg) .......... . . 426, 860
Pfeilschifter, Georg, Korrespondenz des Fürstenabtes Martin II. Gerbert
von St. Blasien (Hennig) ................. . . . 446
Pfitzner, Josef, Bakuninstudien (Thier 657
Ponteil, Félix, L'opposition politique à Strassburg sous la monarchie de
une Fs, ]ĩ⅛?7 ] ͥ ͥ T 637
Protokolle, Die — des Mainzer Domkapitels. 3. Bd. Die Protokolle aus
der Zeit des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514—45. Bearb. u.
hrsg. von Fritz Herrmann (Kirn 628
Inhalt VII
Seite
Renz, Gustav Adolf, Wolfgang Schutzbar genannt Milchling (Lampe) . . . 852
Rietschel, E., Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther
F/ 22 25.2 28 228 SE A 853
Rolland, Paul, Les origines de la commune de Tournai (Oppermann) . . . 621
Ronneberger, Werner, Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz
bei Saalburg a. d. Saale (Herbst) . ................ 219
Roshop, Ulrich, Die Entstehung des ländlichen Siedlungs- und Flurbildes in
der Grafschaft Diepholz (Uhlemann) . )) 619
Salloch, Siegfried, Hermann von Metz (Rassow) . . . ......... 443
Sapori, Armando, Una Compagnia di Calimala ai primi del Trecento (Doren) 197
Sattler, Placidus, Die Wiederherstellung des Benediktiner-Ordens durch
Konig Ludwig I. von Bayern (Dersch) . . ............. 878
Sauer, Josef, Finanzgeschäfte der Landgrafen von Hessen-Kassel (Ebel }) . 863
Saxonis Gesta Danorum. Edd. I. Olrik et H. Raeder. Tom. I (Walther). . 841
Schaefer, Hans, Staatsform und Politik (Schehl) . . . ......... 607
Schaudinn, Heinrich, Das Baltische Deutschtum und Bismarcks Reichs-
gründung (Michaels) . .................. o 658
Schieß, Traugott, Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz
C/ u. as nee 0..ö. a er nde 2898 874
Schirmer, Erica, Die Persönlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der deut-
schen Geschichtschreibung (Schmeidler) . jj 317
Schlicht, Oscar, Das Ordensland Preußen. I. Der Ordensstaat (Lampe) . . . 847
Schneider, Hans, Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates 1848—1918.
1. Halbbd. (Welle)), ein XC 434
Schnettler, Otto, Westfalen und der Deutsche Ritterorden (Lampe) . . . . 852
Schramm, Albert, Die Reform der Nationalschriften (Schreiber) . . . . - 216
Schroeder, Barnabas, Die Aufhebung des Benediktiner-Reichsstiftes St. Ul-
rich und Afra in Augsburg (Dersch) . ............. a‘ť 877
Schultz-Trinius, A., Die sächsische Armee in Krieg und Frieden (Schmitt) 447
Schumacher, Bruno, 700 Jahre Preußenland im Rahmen der deutschen und
der europäischen Geschichte (Lampe77ꝛꝛꝛꝛꝛ aaa‘ 219
Sommerlad, Bernhard, Der Deutsche Orden in Thüringen (Lampe) . . . . 850
Spellmeyer, Hans, Deutsche Kolonialpolitik im Reichstag (Michaelis) . . . 223
Sproemberg, Heinrich, Beiträge zur Franzósisch-Flandrischen Geschichte,
Bd. 1 (Oppermann 218
Stasiewski, Bernh., Der heilige Bernardin von Siena (Dersch) . . . . . . 880
Steg mann, Ildefons, Anselm Desing, Abt von Ensdorf (Dersch) . . . . . 877
vom Stein, Freiherr, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen. Bearb.
von E. Botzenhart (Wendorf) . . ................. 656
Straus, R., Die Judengemeinde in Regensburg im ausgehenden Mittel-
alter (Heimpes o olo o9 Ro RR Ro Ros 882
Studien, Franziskanische. 19. Jg., Beihefte 12. 13. 14 (Dersch). . . . 879
Thimme, Hans, Weltkrieg ohne Waffen (Schmitt) . . .......... 641
Uhlhorn, Friedrich, Geschichte der Grafen von Solms im Mittelalter (Ebel) 622
Urkundenbuch, PreuBisches. 2. Bd. 1. Liefg. (Lampe) . . . . . . .. 844
Veröffentlichungen des Braunschweiger Genealogischen Abends
zum Goethe-Lessing- Jahr 1929 (Lampe) ............ 222
VIII Inhalt
Seite
Vitzthum, Anne-Lore Gräfin, Julius Wilhelm von Oppel, ein sächsischer Staats-
mann aus der Zeit der Befreiungskriege (Rich. Kótzschke) . . .... 654
Voges, H., Der Handstreich der Preußen gegen die Festung Bitsch (Schmitt) 886
Vogt, Joseph, Römische Geschichte. 1. Hälfte. Die römische Republik (Groag) 611
Wahlen, Die deutschen — (Wendorf) . . ............... 223
Walcher, Bernhard, Beitráze zur Geschichte der bayerischen Abtswahlen
mit besonderer Berücksichtigung der Benediktinerklöster (Dersch) . . 877
Wehmer, Carl, Studien über die mittelalterlichen Buchschriften (Schreiber) 625
Weigel, Helmut, Franken, Kurpfalz und der Bóhmische Aufstand 1618— 1620.
1. Teil. (Franz) 2:2 ou 2 ee ar EI do owe de 866
Widukind, Sächsische Geschichte. Auf Grund des Textes der Seriptores
rerum Germanicarum und nach der Übersetzung von B. Schottin neu
übertr. u. bearb. von Paul Hirsch (Bulst) . . ........... 185
Wießner, Wolfgang, Die Beziehungen Kaiser Ludwigs des Bayern zu Süd-,
West- und Norddeutschland (Bock) . j 623
Wittrock, Georg, Gustav II. Adolf (Büscher) . . . .. 2.222220. 221
— Gustav oll e,, ‘o 221
Wolf, Julius, Römische Geschichte. 2. Hälfte. Die römische Kaiserzeit (Groag) 611
Württembergische Vergangenheit (Ernst) ............. 873
Zimmermann, Wilhelm, Die Entstehung der provinziellen Selbstverwaltung
in Preußen 1848—1875 (Frahm) . . )))) 446
b) Zur millellateinischen Philologie.
Bibliothekskataloge, Mittelalterliche — Deutschlands und der
Schweiz. Hrsg. v. d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften in Mün-
chen. Bd. 3, Tl. 1: Bistum Augsburg. Bearb. von P. Ruf (Schreiber) . . 616
Boéthius, Anicius Manilius Severinus, De consolatione Philosophiae libri
quinque Bu ð]i 412
Campbell, James Marshall, Vergl. Deferrarrtt iii 176
Deferrari, Roy Joseph und Campbell, James Marshall, A Concordance of
Prudentius Meyer; 2 176
Leh mann, Paul, Mitteilungen aus Handschriften (Schreiber) 413
Luhde, Gustav, Der Archipoeta. Seine Persönlichkeit und seine Gedichte (Bulst) 418
Saxonis Gesta Danorum. Edd. J. Olrik et H. Raeder. Tom. I. (Walther) 841
Schramm, A., Die Reform der Nationalschriften (Schreiber) . . . . . .. 216
Wehmer, Carl, Studien über die mittelalterlichen Buchschriften (Schreiber) 625
Widukind, Sächsische Geschichte. Auf Grund des Textes der Scriptores rerum
Germanicarum und nach der Übersetzung von R. Schottin neu übertr.
u. bearb. von Paul Hirsch (Bust). ................ 185
Nachrichten und Notizen.
Aus genealogischen Zeitschriften (Lampe) . . . ... ....... 660
Wissenschaftliche Gesellschaften und (Publikations-) Institute . 669
EIKIATUNGEN 5c ns... al 441
EntregnühEg.: 2.2: ERBE FR TEEN 670
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HISTORISCHE VIERTELJAHRSCHRIFT
Herausgegeben von Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig.
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden A 1.
Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen zu je
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang HA 30.— und für
das Heft . 7.50.
Die Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters haben die
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig ge-
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philologischen
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die aktuellen
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fórdern und zu festigen.
Die Abteilung , Nachrichten und Notizen“ bringt Angaben über neue
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf dem
persónlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens.
Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgescháfte wird von
Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von Herrn
Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und für den mittel-
lateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Universität, Borneria-
num I) unterstützt wird.
Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität,
Bornerianum I) zu richten.
Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift-
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne-
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographischer
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, auch
kleinereWerke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeitschriften-
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch machen,
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia
Francorum Gregors von Tours.“
Von
Bruno Krusch.
1. Die Handschrift von Namur C 2 und ihre Verwandten (C 2*,
8, 3*, 4).
C 2 (C7 bei Arndt), der Codex n. 11, der Stadtbibliothek in
Namur, im Depositum der Société archéologique daselbst
und in der Verwaltung des dortigen Staatsarchives, ist ein
Schatz von großer historischer Bedeutung. Er stammt aus dem
Ardennenkloster St. Hubert und ist schon áuBerlich an dem
braunen Ledereinband mit der Inschrift "Monasterii S. Huberti
in Arduenna Catalogo inscriptus' und dem eingepreBten Hirsche
mit Wappen als Besitz des Klosters erkennbar.
Er vereinigt die englische Kirchengeschichte Bedas mit der
fränkischen Gregors, der schöne Beda und Gregor hatte schon
die Aufmerksamkeit Bethmanns erregt‘, dem einst die Be-
arbeitung der Gregor-Ausgabe zugefallen war, die sich ur-
sprünglich Pertz selbst vorbehalten hatte. Es ist ein Band in
größtem Folio-Format, geschrieben von mehreren Schreibern,
bis Fol. 67“ in zwei Kolumnen. Vorangeht Fol. 1—59‘, Beda
Historia ecclesiastica. Dahinter steht eine Augustinus-Stelle:
Aug. Deus semper idem — in me sedeat et in te.’
Auf dem freien Raum der Seite hat dann eine Hand s. XII
Traditionen für das Kloster: ‘Huic ecclesiae! eingetragen.
Fol. 60—192“ / folgt eine andere Hs.,
Fol. 192/—221 Liber X,
der Gregor von Tours. Vorangehen die Kapitelverzeichnisse
für alle Bücher mit Einschluß Fredegars und der Fortsetzungen,
und zwar reichen die Kapitelzahlen bis CVIIII, wie in den
Fortsetzung und Schluß zu dem gleichnamigen Aufsatz HV. 27, S. 673ff.
! Archiv VIII, 476.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 1
2 Bruno Krusch
Fredegar-Hss. 5?. Fol. 221' war ursprünglich freigelassen und ent-
hält nur Federproben. Fol.222, das letzte Blatt der Hs., war auch
zuerst frei. Eine Hand saec. XI setzte spáter eine Berechnung
der Weltjahre bis zum 14. Jahre des Heraclius darauf: 'Ab initio
mundi secundum. Ebraicam veritatem Jeronimi usque ad XIIII.
Eraclii imperatoris, Daran schloß sie einen fränkischen Königs-
katalog: 'Clodoveus regnavit annis XXX, der spätere Zusätze
enthält über die Kinder der Könige und ihre Schicksale, zum
Teil unter Benutzung von Gregors Frankengeschichte. Er reicht
bis 'Pippinus regnavit annis XII’ [postea scilicet quo a Bone-
facio*]. ‘Karolus deinde regnat vel imperat annis XLVI’, also
bis zum Tode Karls des Großen 814, aber als späterer Nachtrag
für die Altersbestimmung der Hs. nicht verwendbar.
Die Hs. hat textkritisch bisher nur in der englischen Lite-
ratur Beachtung gefunden, namentlich bei dem Geschichts-
forscher Plummer wegen des Beda.
Der deutsche Herausgeber Alfred Holder rühmt sich zwar,
Bedas Originaltext hergestellt zu haben, hat es aber fertig-
gebracht, ohne jedes Hss.-Material eine Beda-Ausgabe zu
veróffentlichen. Seinen flüchtig hingeworfenen Ausgaben gab
er statt der Vorrede ein Nachwort mit auf den Weg, für das
er sich seine eigene Orthographie zurechtgemacht hatte. Über
seinen Bedatext schreibt er, er wolle die alte Hs. von Cam-
bridge wiedergeben, die er nie gesehen, leider sei sie nicht in
Bedas eigener Orthographie geschrieben, und so vermaß er
sich, unter Berufung auf Bedas liber de orthographia, „soweit
die dortigen Beispiele ausreichten“, wie er in der Vorrede
schreibt, die eigene Orthographie Bedas selbst herzustellen.
Man faBt sich an den Kopf! Gleichwohl schrieb ein deutscher
Kritiker*, daß das Verfahren jedenfalls Billigung verdiene.
Zu seiner Ehre nehme ich an, daß er die kleine Schrift Bedas
niemals* in der Hand gehabt hat. Sie enthält zumeist Er-
3 Vgl. SS. rer. Merov. II, 122.
* Ergünze: unctus est.
* Peters in Anglia, Zeitschrift für englische Philologie, herausgegeben von
Wülker, 1883, VI, S. 50.
Von dem tiefsinnigen Inhalt hier eine Probe: B propinqua est litterae p,
qua saepe mutatur, ut litterae supponit, opponit (Beda, de orthographia liber)
Migne, P. L. 90 col. 123.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 3
klärungen einiger zufällig zusammengelesener Ausdrücke, eigent-
lich ein kleines Glossar und nur für Bedas Naivität charakte-
ristisch. Mit Orthographie hat sie, wie schon Manitius® be-
merkte, nichts zu tun. Sie trágt ihren Titel mit Unrecht, und
Holders Berufung auf sie ist eine Täuschung der Leser, die der
deutschen Wissenschaft nicht zur Ehre gereicht. Erst der
Engländer Plummer hat sein Verfahren aufgedeckt, daB er nur
frühere Ausgaben benutzte. Plummer hat in seiner Ausgabe"
zum ersten Male auch die Hs. von Namur benutzt. Holder
rühmt sich in seinem Nachwort seiner Verbesserungen der Hs.
von Cambridge und stellt ein Verzeichnis derselben auf. Zum
Teil hátte er sie in der Hs. von Namur finden kónnen.
Plummer hatte eine sachkundige Beschreibung der Hs.
schon 1892 auf Veranlassung der Société archéologique in
Namur in deren Annales XIX, 3 (S. 393ff.) veröffentlicht, in der
nur zu berichtigen ist, daB die Schrift nicht aus dem 8. Jahr-
hundert, sondern erst aus dem 10. Jahrhundert stammt, wie
sie Bethmann richtig taxiert hat.
Mit dem Gregor Fol. 60 beginnt ein neuer quaternio und
eine neue Hand. Die Verschreibungen von r—s und n—u, l für
i, in für hi zeigen, daß die Vorlage in Kursivschrift und wohl
in insularer geschrieben war.
C 2* (C 5 bei Arndt), die Handschrift der Nationalbibliothek
in Paris lat. 5922, früher 1618, dann 1462, s. XII, in außer-
ordentlich groBen Buchstaben geschrieben, stammt nach der
Notiz s. XIV auf S.1: 'Liber sce Marie virginis in Otterburg,
Magunt. dioc. aus dem Zisterzienserkloster Otterberg, Bez.
Amt Kaiserslautern, später in Privatbesitz, nach einer Eintra-
gung 8. XVI: Ex Bibliotheca Jo. Huralti de Boistaillé, kam
mit dessen Bibliothek 1622? in die kónigliche Bibliothek, trágt
auch das Kónigswappen eingepreßt auf dem Ledereinbande.
* Manitius, Gesch. der lat. Literatur des Mittelalters 1911, S. 75ff. Vgl.
Mommsen, AA 13, 244.
? Venerabilis Bedae historiam ecclesiasticam ed. K. Plummer, I. Oxonii,
1896, S. LX XXII.
* Lindsay, Notae latinae, Cambridge 1915, S. 469, setzt sie in das 9. Jahr-
hundert, ebenso in seiner Palaeographia V. St. Andrews University Publications
XXIII Oxford, University Press. 1927, S. 41, aber nur auf Grund einiger Abkür-
en.
* Nach Omont in seiner Ausgabe S. XVI.
1*
2 Bruno Krusch
Fredegar-Hss. 5*. Fol. 221' war ursprünglich freigelassen und ent-
hält nur Federproben. Fol. 222, das letzte Blatt der Hs., war auch
zuerst frei. Eine Hand saec. XI setzte später eine Berechnung
der Weltjahre bis zum 14. Jahre des Heraclius darauf: Ab initio
mundi secundum. Ebraicam veritatem Jeronimi usque ad XIIII.
Eraclii imperatoris.’ Daran schloß sie einen fränkischen Königs-
katalog: 'Clodoveus regnavit annis XXX, der spätere Zusätze
enthält über die Kinder der Könige und ihre Schicksale, zum
Teil unter Benutzung von Gregors Frankengeschichte. Er reicht
bis 'Pippinus regnavit annis XII’ [postea scilicet quo a Bone-
facio*]. ‘Karolus deinde regnat vel imperat annis XLVTI', also
bis zum Tode Karls des GroBen 814, aber als spáterer Nachtrag
für die Altersbestimmung der Hs. nicht verwendbar.
Die Hs. hat textkritisch bisher nur in der englischen Lite-
ratur Beachtung gefunden, namentlich bei dem Geschichts-
forscher Plummer wegen des Beda.
Der deutsche Herausgeber Alfred Holder rühmt sich zwar,
Bedas Originaltext hergestellt zu haben, hat es aber fertig-
gebracht, ohne jedes Hss.-Material eine Beda-Ausgabe zu
veröffentlichen. Seinen flüchtig hingeworfenen Ausgaben gab
er statt der Vorrede ein Nachwort mit auf den Weg, für das
er sich seine eigene Orthographie zurechtgemacht hatte. Über
seinen Bedatext schreibt er, er wolle die alte Hs. von Cam-
bridge wiedergeben, die er nie gesehen, leider sei sie nicht in
Bedas eigener Orthographie geschrieben, und so vermaß er
sich, unter Berufung auf Bedas liber de orthographia, ‚soweit
die dortigen Beispiele ausreichten“, wie er in der Vorrede
schreibt, die eigene Orthographie Bedas selbst herzustellen.
Man faßt sich an den Kopf! Gleichwohl schrieb ein deutscher
Kritiker“, daß das Verfahren jedenfalls Billigung verdiene.
Zu seiner Ehre nehme ich an, daB er die kleine Schrift Bedas
niemals® in der Hand gehabt hat. Sie enthält zumeist Er-
* Vgl. SS. rer. Merov. II, 122.
Ergänze: unctus est.
* Peters in Anglia, Zeitschrift für englische Philologie, herausgegeben von
Wülker, 1883, VI, S. 50.
5 Von dem tiefsinnigen Inhalt hier eine Probe: B propinqua est litterae p,
qua saepe mutatur, ut litterae supponit, opponit (Beda, de orthographia liber)
Migne, P. L. 90 col. 123.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 3
klàrungen einiger zufállig zusammengelesener Ausdrücke, eigent-
lich ein kleines Glossar und nur für Bedas Naivität charakte-
ristisch. Mit Orthographie hat sie, wie schon Manitius® be-
merkte, nichts zu tun. Sie trágt ihren Titel mit Unrecht, und
Holders Berufung auf sie ist eine Táuschung der Leser, die der
deutschen Wissenschaft nicht zur Ehre gereicht. Erst der
Engländer Plummer hat sein Verfahren aufgedeckt, daB er nur
frühere Ausgaben benutzte. Plummer hat in seiner Ausgabe"
zum ersten Male auch die Hs. von Namur benutzt. Holder
rühmt sich in seinem Nachwort seiner Verbesserungen der Hs.
von Cambridge und stellt ein Verzeichnis derselben auf. Zum
Teil hátte er sie in der Hs. von Namur finden kónnen.
Plummer hatte eine sachkundige Beschreibung der Hs.
schon 1892 auf Veranlassung der Société archéologique in
Namur in deren Annales XIX, 3 (S. 393ff.) veróffentlicht, in der
nur zu berichtigen ist, daB die Schrift nicht aus dem 8. Jahr-
hunderts, sondern erst aus dem 10. Jahrhundert stammt, wie
sie Bethmann richtig taxiert hat.
Mit dem Gregor Fol. 60 beginnt ein neuer quaternio und
eine neue Hand. Die Verschreibungen von r—s und n—u, I für
i, in für hi zeigen, daB die Vorlage in Kursivschrift und wohl
in insularer geschrieben war.
C 2* (C 5 bei Arndt), die Handschrift der Nationalbibliothek
in Paris lat. 5922, früher 1618, dann 1462, s. XII, in auDer-
ordentlich groBen Buchstaben geschrieben, stammt nach der
Notiz s. XIV auf S. 1: Liber sce Marie virginis in Otterburg,
Magunt. dioc. aus dem Zisterzienserkloster Otterberg, Bez.
Amt Kaiserslautern, spáter in Privatbesitz, nach einer Eintra-
gung s. XVI: Ex Bibliotheca Jo. Huralti de Boistaillé, kam
mit dessen Bibliothek 1622? in die königliche Bibliothek, trägt
auch das Kónigswappen eingepreßt auf dem Ledereinbande.
* Manitius, Gesch. der lat. Literatur des Mittelalters 1911, S. 75ff. Vgl.
Mommsen, AA 13, 244.
7 Venerabilis Bedae historiam ecclesiasticam ed. K. Plummer, I. Oxonii,
1896, S. LXX XII. |
Lindsay, Notae latinae, Cambridge 1915, S. 469, setzt sie in das 9. Jahr-
hundert, ebenso in seiner Palaeographia V. St. Andrews University Publications
XXIII Oxford, University Press. 1927, S. 41, aber nur auf Grund einiger Abkür-
zungen.
* Nach Omont in seiner Ausgabe S. XVI.
1*
4 Bruno Krusch
Die Hs. enthält fol. 1'—104' den Gregor, zuerst die Vorrede:
Decidente ohne Überschrift, reicht aber nur bis IV, 16, 'effu-
gient'. Die Hs. hat S. 34, 32, 93—94, 5 dieselben Lücken wie
C 2, ist also Abschrift daraus.
Es folgt fol. 104°. Incipit prefatio operis sequentis. An-
fang: Excellentissimi ingenii, die Chronik Reginos. Im Gregor
fehlt Kap. I, 48, das in C 2 vorhanden ist.
C3. Die Handschrift der Nationalbibliothek in Paris
lat. 9765, früher Suppl. lat. 808, dann 1538, in Fol.saec. X,
fol. 110, enthält zuerst fol. 1—100, den Gregor bis X, 28 und
dann als 10. Buch Fredegar mit der Fortsetzung bis c. 24
(bb bei mir). Sie jst von mehreren Schreibern sehr ungleich-
mäßig geschrieben und auch durch Einlegung von Blättern in
der Art von C1 vervollständigt. Der erste Schreiber schrieb
fol. 1—8 (S. 1—49, 5) ‘aedificandi’, den ersten Quaternio,
der folgende fol. 9—15, den zweiten bis S. 70, 2 ‘pavore und
ließ dann fol. 15’ etwa !/, Seite leer. Fol. 16—31 scheint der
erste Schreiber fortzufahren auf den Quaternionen III und
IIII bis 'cura' S. 112, 1. Die ersten beiden Blätter vom 5. Qua-
ternio, fol. 32, 33 bis 'patuisse' (S. 116, 16) sind später ein-
gelegt, und fol. 33° ist ?/, Seite leergelassen. Dieser Schreiber
war ohnedies schon zuweit vorgerückt, denn fol. 34, mit der
Schrift des ersten Schreibers beginnt schon S. 116, 10 calli-
dus’, so daß Z. 10—16 doppelt vorhanden sind. Die Lesarten
stammen auch aus zwei verschiedenen Exemplaren!®, Fol. 37
schließt der alte Text mit adhibebis' S. 123, 24. Der Rest der
Zeile ist freigelassen, und das Ende der Seite, etwa 2 Zeilen,
sind abgeschnitten. Auf fol. 37° folgt von anderer Hand der
anschließende Text mit 'adsumptis'. Der 5. Quaternio schließt
fol. 38. Aber auch dieses Blatt ist später eingelegt, und daB
der alte Text ursprünglich fol. 37 mit ‘adhibebis’ schloß, und
alles Folgende bis fol. 46 später interpoliert ist, dafür liefert
C 3* den unumstößlichen Beweis, wo mitten in der Zeile der
Text von ‘adhibebis’ (123. 24) zu ‘condignam’ (S. 163, 19)
überspringt. Tatsächlich beginnt in C 3 fol. 47 mit dem 7. Qua-
10 Im Text I fehlt 116, 10 erat'. Er liest ferner Hermenfridum precepit
venire = C 1 quodam muris (= C 1) de inde tunc Theuderici. Im II. Text steht:
Herminfredum v. praec. (= C2) a quo, muri, exinde, tamen, Theoderici. Der
erste Text gleicht also C 1, der zweite C2.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 5
ternio (condignam) wieder die alte Hand. Es sind also dort
die ganzen vorhergehenden Blátter von fol. 38 an spáter ein-
gelegt, und die Abschrift C 3* wurde genommen, als die Er-
gänzung noch nicht erfolgt war.
Die ganze Hs. zählt 15 signierte Lagen; die späteren Er-
gänzungen sind eingereiht, so daß heute das Ganze äußerlich
den Eindruck einer einheitlichen Hs. macht und nur ein scharfer
Blick Altes und Neues zu scheiden vermag.
C 3* (C2 bei Arndt, 5a im Fredegar), Paris, 5921 (Colb.
701, Regius 3804), saec. XI, fol. 149, ebenfalls von mehreren
Händen geschrieben, stammt, wie eine Hand saec. XI bemerkte,
aus S. Arnulf in Metz: Liber sci Arnulf M L.. , wiederholt
auch fol. 118“ von einer Hand s. XVII: S. Arnulfi, später in
der Bibliothek 'P. Pithoei', ist, wie eben gezeigt wurde, Ab-
schrift aus C 3, beginnt aber unvollständig fol. 1. At illi cum’
II, 7 (S. 69, 9). Zu der großen Lücke S. 123, 24 'adhibebis'
ist am Rande von nicht viel spáterer Hand bemerkt: 'Hic deest
multum usque ad flnem huius tertii libri et initiium quarti.'
Auch in dieser Hs. finden sich Ergänzungen auf eingelegten
Blättern von späterer Hand. Das Kapitelverzeichnis vom
4. Buche fehlt. Das 10. Buch mit dem Fredegar steht Fol. 118’
bis 149.
C4. Die Hs. der Stadtbibliothek in St. Omer n. 706.
saec. X, in Folio, fol. 223 bis fol. 144, in 2 Kolumnen geschrie-
ben, nach der Eintragung s. XV. auf fol. 1. 'De libraria sancti
Bertini’, alte Signatur 268, enthält Fol. 1'—118' den Gregor
in neun Büchern und als 10. Buch Fol. 118'—144' Fredegar
mit Fortsetzung bis c. 21 (5c bei mir).
Die erste Vorrede fehlt, und da der Anfang der 1. Kolumne
für die Initiale freigelassen war, beginnt der alte Text: Mar-
tyrum cum paganis (S. 33, 8). Die Kapitelverzeichnisse zum
3. und 4.Buche sind umgeschrieben und erweitert. Vom
5. Buche an fehlen sie ganz. Fol. 105 sind in der 2. Kolumne
oben zwei Zeilen ausgeschnitten, so daB IX, 9 (S. 366, 19) der
Text von misit' an ausgefallen ist und erst mit vitam' wieder
beginnt. Die entsprechende Lücke findet sich auf der Rück-
n Die Quaternionen-Z&hlung beginnt mit f. Ursprünglich bildete n. 697
(Eutropius, Marcellini chronicon, Notitia provinciarum) mit unserer Nummer eine
Hs., vgl. Archiv 8, 414.
6 Bruno Krusch
seite nach ,concederet' (S. 367, 6), indem der Text erst 'bilis
iudicatur’ wiederkehrt.
Die Interpolationen des Gregortextes aus dem L. h. Fr.
sind HV. 27, S. 710f., zusammengestellt.
Fol. 118' hinter dem ‘Incipit’ des 10. Buches steht die älteste
Erwähnung des Namens Fredegar!* vor Transactis namque’
(S. 123, 22), der gekürzten Vorrede.
Fol. 129° schließt 'cognomento Wi/’ S.144, 16 im Fredegar
IV, 48. Der Rest der Seite bis IV, 54 ist ausradiert. Fol. 130
fáhrt der alte Text fort mit Fredegar IV, 55. |
An die Fredegar-Fortsetzung (c. 21) schließen sich fol. 146
bis 223 an die Annales Bertiniani?: Partiuncula. Incipit
de Gestis regum Francorum' bis zum Jahre 815: 'imperatori
mandavit' (nicht nuntiavit', wie bei Kurze, Ann. regni Franc.
S.143). Fol. 162 setzt eine andere Hand mit dem Jahre 816:
"Hieme transacto' (sic) ein, die einen etwas jüngeren Eindruck
macht. | |
Die Kopierung der Hs. war unter mehrere Schreiber nach
Quaternionen verteilt, wodurch sich auch die Rasur auf fol. 129
im Fredegar erklärt. Das Bruchstück wurde entfernt, um den
Übergang zur folgenden Lage ertrüglicher zu machen. Die
erste Quaternionenzählung reicht bis X auf fol. 129“, und eine
zweite beginnt fol. 134“ mit a. Sehr deutlich sieht man, wie
die Schreiber Mühe hatten, die Intervalle auszufüllen, an den
auseinandergezogenen Schriftzügen auf fol. 177“, wo der Qua-
ternio schloß. Um die Seite zu füllen, ist hier an beiden Seiten,
nach unten hin zunehmend, Raum freigelassen, so daB am
Ende der Seite die Schrift in einen spitzen Winkel ausläuft.
Fol. 223“, die letzte Seite, war ursprünglich freigelassen.
Eine Hand des 11. Jahrhunderts trug spáter eine Notiz über
die Bestrafung Karl Martells für die Verschenkung der Zehnten
an seine Ritter ein, unter Bezugnahme auf die bekannte Vision
des Hl. Eucherius, Bischofs von Orléans:
Karolus Martellus, pater Pippini, genitoris Karoli Magni,
primus decimas ab altaribus divisit et militibus tradidit
unde et eternam damnationen incurrit. Quem sanctus Euche-
12 Vgl. meinen Aufsatz in den Göttinger gelehrten Nachr. 1926, S. 243.
13 Vgl. die Ausgabe von Waitz 1883, S. IX.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 7
rius Aurelianensis episcopus, qui in monasterio sancti Tru-
donis requiescit, in contemplatione positus, in inferno inferiori
torqueri conspexit propter hoc maxime scelus, quod decimas,
Deo sacratas contra ius usibus laicorum concedere presumpsit.
Ipse namque sanctus Eucherius ilico beatum Bonefacium et
Fulradum abbatem monasterii sancti Donisii ...
Die Stelle ist nicht vollständig. Eine andere Hand hat eine
Ergänzung schnell hineingeschmiert, die kaum zu lesen ist.
Der Sinn läßt sich aber aus der interpolierten V. Eucherii, bei
Levison, SS. rer. Mer. VII, 51,26 mit ad se vocavit’ usw.
leicht erkennen. |
Die V. Eucherii spricht in der Interpolation von einer all-
gemeinen Säkularisation der Kirchengüter durch Karl Mar-
tell: 'res abstulit et divisit laicis personis et comitibus', und
die obige Stelle ist dadurch interessant, daB sie die Einziehung
auf die Zehnten beschränkt und als Beschenkte ‘milites’ nennt,
wie auch Hugo Flavin, SS. VIII, 342.
C 4*. Die Hs. Brüssel n. 6439—6451, saec. XI, sehr sauber
geschrieben, in Groß-Folio, früher Coll. Societatis’ Jesu Brugis
N. 2? (Notiz saec. XVII, fol. 1), ist Abschrift aus C 4 und wurde
kopiert, als dort die beiden Lücken durch Ausschneiden von
zwei Zeilen bereits entstanden waren. In C 4* hat der Schreiber
an beiden Stellen je zwei Zeilen freigelassen. Der Gregor steht
fol. 17—59' hinter der Chronik des Marcellinus, fol. 11—16“,
die von C 4 jetzt abgetrennt ist. Durch Ausfall von Bláttern
fehlt im Gregor der Text von 219, 43—238, 30, den C 4 hat.
Die Abschrift hat dieselben Interpolationen aus dem Lib. h. Fr.
wie C 4 und Fehler natürlich noch mehr als die Vorlage.
Konkordanz unserer Hss.-Bezeichnungen mit denen Arndts.
Krusch. Arndt.
A 3 C
A4 a
B3 B4
B 4 B3
C 1a C 6
C2 C 7
C 2* C 5
^ Vgl. die sorgfältige Beschreibung von Pertz SS. II, 192.
8 Bruno Krusch
Krusch. Arndt.
C 3* C 2
C 3** C 8
D1 D11
Dia D8
D1b D9
Dic D 13
D2 D 5
D 3a D1
D4 D6
D 5a D14
D 5b D 4
D 6a D7
D 6b D12
D7 D10
Ela p
E 2a l
E2b g
F1 B ?
F2 51
Arndt bezeichnet mit D 2 den Kodex, aus dem die Editio
princeps geflossen sein soll. Auf dem Titelblatt stehen als
Verkáufer der Drucker Jodocus Badius und Joannes Parvus
und unter dem Titel: B. Gregorii Turonésis episcopi Histo-
riarum praecipue Gallicarum lib. X, in Vitas patrum fere sui
temporis lib. I, De gloria confessorum praecipue Gallorum lib. I.
Adonis Viennensis episcopi sex aetatum mundi breves seu
commentarii vsque ad Carolum Simplicem Francorum regem
ist das Wappen des Johan Petit gedruckt. In einigen Exem-
plaren wird nach Potthast I, 542 (1896) ein dritter Name hinzu-
gefügt: et Joanne Confluentino. Das Widmungsschreiben von
Jodocus Badius Ascensus (geb. in Assche bei Brüssel 1462) an
W. Parvus am Anfang des Bandes trägt das Datum 1512,
12. Kal. Dec. Eine Bemerkung am Schlusse des Bandes besagt
dagegen, daß der Druck erfolgt sei 'auspicio et iussu' des Ma-
gister Guilelmus Parvus ord. Praed., Prof. der Theologie und
Beichtvater des Königs, in aedibus Ascensianis im Jahre 1522.
Id. Nov. Die Jahreszahl ist, wie schon Árndt gesehen hat, ver-
druckt, und in 1512 zu verbessern. Ein Certifikat über das
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 9
Druckprivileg des Kónigs auf der Rückseite des Blattes für den
geschworenen Pariser Universitätsbuchhändler Josse Badius
auf drei Jahre ist ausgestellt in Bloys am 12. März 1511.
Die Lesarten der Ed. pr. im Arndtschen Apparat D 2,
stimmen meistens mit der früher in Blois befindlichen Hs.,
jetzt Vat. reg. Christ. 556 (bei Arndt D 5, bei mir D 2) überein,
und besonders stimmt auch die Kapitelzählung. Der Text ist
aber teilweise ganz willkürlich überarbeitet!5 und die Kapitel-
verzeichnisse haben die Herausgeber selbst verfaßt. Die in
D 2 fehlenden Kapitel, z. B. S. 166, 1 und 178, 12, sind D 11,
meinem D 1, entnommen, wie besonders die Stelle:
IV, 42, S.175, 20: devia] divortia ed. pr. und D 1 beweist ;
vgl. HV. 27, S. 697. Die Ausgabe zählt (fol. X X X^) IV, 40 als IV,
32, gerade wie D 1 und schiebt am Schlusse vor IV, 40, hinter
"petierunt" (S. 174, 17) die folgende Bemerkung ein: ‘Desunt
hoc loco octo capitula, quae non potuerunt reperiri etiam in
antiquis exemplaribus, forte quod in aliis eius operibus reperiun-
tur. Sunt enim haec': Es folgen die acht Rubriken IV, 34—41
des Kapitelverzeichnisses, die letzte aber in abweichender
Fassung: 'De Alboino cum Longobardis Italiam occupante.'
Das Kapitel IV, 41 folgt aber mit der richtigen Überschrift,
und die Notiz greift mit den acht Kapiteln zu weit aus. Die
Lücke aller Hss. außer A 1 reicht nur bis IV, 37. IV, 38, läßt
allerdings D 2 noch aus, aber D 1 hat es und ebenso die beiden
Kapitel 40, 41. Tatsáchlich gehen auch im Texte der Ed. pr.
die Kapitel IV, 38, 40, 41 voraus, was der Herausgeber nicht
bemerkt hatte!®, wie seine Anmerkung beweist.
Der Text der Ed. pr. beruht also auf den Arndtschen Hss.
D 5 und D 11 (bei mir D 2 und D 1), wozu noch eine gute Por-
tion eigene Arbeit und nicht wenige Willkürlichkeiten der
Herausgeber kommen, die damals ihre Pflichten noch anders
auffaßten, als es heute erlaubt ist.
Die Hs. D 2 in der Arndtschen Liste ist also zu streichen,
und zum Glück kann in die Stelle sofort Arndts D 5 einrücken.
15 Vgl. die starke Kürzung IX, 21 (S. 379, 31).
1 Die verschiedene Kapitelzählung in den Hss. und Ausgaben macht dem
Gregor-Forscher große Schwierigkeiten. Die Schreiber änderten die Zahlen infolge
der weggelassenen Kapitel oder ließen sie wohl ganz fort. Erst Arndts Ausgabe
bat die richtige Zählung hergestellt.
10 Bruno Krusch
Der zweite Herausgeber Morelius hat 1561 seine Ausgabe
dem Erzbischof von Tours, Simeon de Maillé, gewidmet, der
ihm mit anderen Hss. der dortigen Dombibliothek auch den
Gregor-Kodex nach Paris geliehen hatte. Es ist wohl von vorn-
herein anzunehmen, daß diese Hs. aus der Kirche Gregors,
deren Bischófen sein Autograph anvertraut war, einen guten
Text enthalten hat.
Diese Hs. von Tours, die Arndt D 8 genannt hat, war nun
ganz ähnlich der von Clermont-Ferrand, meinem D 1, und muß
also D 1a genannt werden.
Am Schlusse des Bandes hat der Herausgeber Varianten
unter den Bezeichnungen ‘ex veteri libro’, 'antiqua lectio’ oder
'manu scripto’ notiert, die meistens die Fehler der Ed. pr. ver-
bessern, also die richtigen Lesarten sind. Wie sehr diese Hs.
D 1 glich, zeigt folgender gemeinsamer Fehler:
54, 12, dotem] dare = D 1.
Am Schlusse der Vorrede zum 1. Buche S. 34, 26, nach
den Worten Victorius cum ordine' fehlten in vetusto codice
einige Blätter bis zur Mitte von Kapitel I, 4. Die Hs. von
Tours war also mit D 1 nicht identisch, das hier keine Lücke hat.
Die Kapitelverzeichnisse für die 10 Bücher stehen wie in
der Ed. pr. zusammen am Anfang und ihr willkürlicher Text
darf nicht etwa auf die Hs. von Tours zurückgeführt werden.
Morelius hat ihn aus der Ed. pr. übernommen, und wie diese
hat auch er die Chronik Ados folgen lassen, die auch in D 4
mit Gregor verbunden ist.
Wie die Hs. von Tours ist auch die dritte Hs. dieser Familie
verschollen, der von Ruinart benutzte Beccensis = Dib
(bei Arndt D 9) aus dem Kloster Bec (dép. Eure) in der Nor-
mandie. Er war geschrieben nach Ruinarts Vorrede 8123 vor
700 Jahren, also im 11. Jahrhundert oder nach den Maurinern
im 12. Jahrhundert!” in der damals gegründeten Abtei. Die
Hs. war ganz vollständig, außer daß die erste Vorrede fehlte.
Sie las wie D1 und Morelius 344, 23, VIII, 30:
"Post dies vero quattuor coniunctis episcopis'] Postea vero
(fehlt D 1 und bei Morelius) quattuor convocatis episcopis. In
17 Ins 12. Jahrhundert setzen die Verfasser des Nouveau Traité de Diploma-
tique II, 61 (1755) die Hs. Vgl. das Faksimile am Schlusse des 1. Artikels.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 11
einem Kataloge aus dem 12. Jahrhundert wird die Hs. be-
schrieben: In uno volumine historia Gregorii Turonensis de
gestis Francorum libri X. Sie enthielt auBer Gregor: historia
Baldrici Dolensis archiepiscopi, quomodo Ierusalem capta sit
a christianis libri IIIIIS. Dieselbe Schrift findet sich in Ver-
bindung mit Gregor in einigen schlechten D-Hss.
Zu dieser Überlieferung gehört noch das Bruchstück Dic
(D 13 bei Arndt). Rom, Reg. Christ. n. 630, saec. XIII, in
8°, fol. 1—65. Es beginnt mit der Vorrede: ‘Scripturus’ ohne
Überschrift und reicht bis I, 47 (S. 54, 2) expetiit. Mehr als
die Hälfte der Seite ist freigelassen. Die Hs. liest mit D 1:
S. 83, 16 apud Deum] apud pium dominum.
Zu dem unvollständigen D-Text der Editio pr. hatte Flacius
Illyricus 1568 und Marquard Freher 1613 aus der Lor-
scher-Hs. dem Palatinus C1 wertvolle Ergänzungen geliefert.
Freher schob vor den Kapitelverzeichnissen der Ed. pr.
die Vorrede Gregors: 'Decedente' ein, die in den D-Hss. fehlt,
und fügte als Appendix sive liber XI, wie er schreibt, den
Fredegar-Anhang aus derselben Hs. am Schlusse hinzu. Dieser
ist auch in die Ausgabe: Ex. Bibliotheca Laur. Bochelli, Paris
1610, übergegangen. Hinter dem alphabetischen Register stehen
hier auf 17 nichtnumerierten Seiten: Variae lectiones ex ms.
Cod. Ant. Oiselii I. C. partim ex membranis Laurentii Bochelli
excerptae.
Die Varianten stammen aus dem Kodex von Antoine Loisel
(geb. in Beauvais 1536, T 1617), dessen Enkel Claude Joly ihn
1756 der Bibliothek des Königs schenkte!?, Es ist der Bello-
vacensis, bei Arndt B3 (bei mir B 4), und diese Varianten
reichen bis V, 20. Aus den Kapiteln, die in B fehlen, sind keine
Lesarten notiert. Die Hs. B 3 ist am Anfang beschädigt“.
Die angeblich ex membranis’ des Bochellus stammenden
Lesarten sind nur dem letzten Kapitel X, 31 entnommen, und
außer B3 ist also auf den 17 Seiten mit Varianten nur noch
eine Hs. des letzten Kapitels benutzt, die einen ziemlich ver-
dorbenen Text lieferte; eine der von mir benutzten Hss. war
1* Vgl. Omont S. XVIII.
1 Vgl. Omont.
9 Vgl. II, 3 S. 64, 39.
12 Bruno Krusch
es nicht. Was es mit diesen Varianten auf sich hat, zeigt am
besten die folgende Probe:
X, 31, S. 448, 27, basilicae sanctae parietes] Basilicas sancti
Perpetui Bochellus im Text, 'Basilicae etiam quae a sancto Per-
petuo constructae fuerant’ Variante.
Die Variante ist also nur eine willkürliche Umschreibung
des Bochellus, ein wertloser Einfall des Herausgebers, und es
würde vergebliche Arbeit sein, für solche ‘Lesarten’ nach hand-
schriftlichen Unterlagen zu suchen. Die 17 Seiten Lesarten,
von denen in der Literatur viel Aufhebens gemacht wird, sind
kaum die Druckerschwärze wert, und eigentlich ist vor ihrem
Gebrauch zu warnen.
Man sieht, wie ich schon bemerkte, daß die ganze Kunst
der älteren Herausgeber darin bestand, daß sie einzelne Va-
rianten aus Hss. notierten, die ihnen der Zufall in die Hände
gespielt hatte, und im übrigen die früheren Ausgaben mit ein-
ander verglichen und abdruckten. Eine Ausnahme macht allein
Ruinart, ein fleiBiger Mann, der Hss. aller Klassen benutzte
(1699). Selbst über A 1 in Monte Cassino hatte er sich Auskunft
verschafft?!, so daß er einen vollständigen Text geben konnte.
Aber die wenigen Varianten, die er mitteilt, zeigen doch auch,
daB er keinen Einblick in das Hss.-Verháltnis hatte, daB er
den Stoff nicht beherrschte, der ihm zu Gebote stand. So ist
es kein Wunder, daß seine Ausgabe noch stark von der Ed. pr.
beeinflußt ist, die nur ein Zerrbild des echten Gregortextes
liefert. Bouquet (1739) hat sich darauf beschränkt, Ruinarts
Ausgabe abzudrucken, und sonst nichts weiter getan, als Les-
arten der Hs. Dubois (B 2) und des Cluniacensis (D 3a bei
mir) in den Apparat einzurücken.
Mit Recht schrieb G. H. Pertz im Archiv V (1824), S. 51,
man könne sich nicht verhehlen, daß Ruinart und Bou-
quet mehr durch das, was sie besaßen, als von einer klaren
Ansicht des inneren Verhältnisses aller Hss. geleitet wurden.
In diesem Zustande befand sich der Text Gregors vor der
Arndtschen Ausgabe. Man muß sich das klarmachen, um
21 Durch Stefanozzi. Dessen Varianten enthält der Cod. Ottobon. lat.
3163 in Klein-Folio: Gregorii Turonensis lib. X historiarum Francorum Variae
lectiones editionis Lugdunensis anno 1677 (XI, 703) collatae cum codice Biblio-
thecae Casinensis signato numero 275. Vgl. Archiv XII, 393.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 13
die Bedeutung von Arndts Ausgabe für die Wissenschaft
richtig zu würdigen.
Eine ungedruckte Ausgabe des hochgelehrten Jesuiten-
paters Gilles Bouchier (Aegidius Bucherius), des Heraus-
gebers des Paschale des Victorius, nach deren Verbleib ich
Nachforschungen anstellte, hat meine Erwartungen nicht er-
füllt. Ein sehr interessanter Artikel H. Omonts in der Biblio-
théque de l'école des Chartes V (1894) hatte auf die damals
in Cheltenham (n. 11917) befindliche Hs. aufmerksam gemacht.
Aber die unzähligen Zusätze und Verbesserungen, die der
Herausgeber (T 1665 in Tournay) in ein Exemplar des Freher-
schen Corpus eingetragen hatte, haben hauptsächlich chrono-
logischen Inhalt: Stammtafeln der Merovinger- und Burgunder-
könige, auch von Gregors eigener Familie, Auszüge aus Quellen,
Konzilien, also Material für einen Kommentar. Aber an irgend-
welche Berücksichtigung von Hss., an die Verbesserung des
Freherschen Textes scheint der eee gar nicht gedacht
zu haben.
Die Hs. befindet sich jetzt in der Nat ionalbibliothek in
Paris und führt dort die Signatur Nouv. Acq. 2063. H. Omonts
Gefälligkeit hat sie mir in Hannover zugänglich gemacht. Wie
das auf dem Deckel eingeklebte Wappen besagt, stammt sie
aus der Bibliothek C. von Baviere's, Sekretárs der Juristen-
Fakultät der Brüsseler Akademie, und gehörte 1613 dem Je-
suitenkolleg in Tournay. Die letzten Reste der berühmten
Bibliothek des Sir Thomas Phillipps hat der Erbe, Herr T. Fitz
Roy Henwith in Tirlestaine House, Cheltenham, 1913 in London
versteigern lassen, wie er mir freundlichst mitteilte, und diese
Spur führte mich weiter.
In einem von Omont abgedruckten Briefe eines Ordens-
bruders an Bouchier von 1642 nennt er Laurent Bochel 'un
de nos sycophantes et calomniateurs'.
Ruinart hatte bei seinen Zeitgenossen Verstándnis für
die schwere Arbeit gefunden und das ermutigte ihn, 'prae
laboris multitudine' (S 2) nicht zurückzuschrecken. Die An-
forderungen sind inzwischen nicht geringer geworden, und die
Notwendigkeit einer neuen Ausgabe liegt heute ebenso vor, wie
damals. Zu der Bewältigung dieser Riesenaufgabe gehört aber
nicht bloß Mut, sondern auch eine gewisse Erfahrung.
14 Bruno Krusch
Als ich vor einem halben Jahrhundert am 1. April 1879 als
Mitarbeiter der M.G., Abteilung Scriptores, eintrat, gab
mir mein Lehrer Arndt, dessen Erbschaft ich antrat, den
Leitsatz mit auf den Weg, mich streng an die beste Hs. zu
halten, und im Kolleg hatten wir von ihm gehört, wie sich
G. H. Pertz mit den vielen Hss. abgeplagt und sein Mitarbeiter
Jaffe durch Beschränkung auf die besten Hss. in kürzerer
Zeit sehr viel Besseres zustandegebracht habe. Der Vorzug der
neuen Lehre lag auf der Hand, und auch Waitz huldigte ihr
bis zu einem gewissen Grade. Als ich ihm das Verzeichnis der
Hss. für die hagiographischen Schriften Gregors vorlegte, an
deren Aufnahme Pertz nicht gedacht hatte, erklärte er sofort,
er habe nicht die Absicht, alle diese Hss. heranzuziehen. Pertz
hatte mit ganz erstaunlichem Fleiß und umfassender Sach-
kenntnis die Vorarbeiten für die Frankengeschichte betrieben,
aber mit genialem Blick erkannt, daß er mit dieser schwierigen
Arbeit das große Werk nicht beginnen könne. Er hatte sich
daher zuerst den Karolingern zugewandt, wo die Sache viel
einfacher lag. Auch für Einhards V. Karoli hatte er eine statt-
liche Hss.-Reihe benutzt, wie es bis dahin kaum für stark ge-
lesene klassische Autoren geschehen war. Zum erstenmal
war einem mittelalterlichen Autor eine so eingehende Behand-
lung zuteil geworden.
Sein Mitarbeiter Jaffé hat wohl eine Anzahl Mängel der
Pertzschen Ausgabe aufgedeckt — daran fehlte es auch in
seiner eigenen Ausgabe nicht — aber die erste kritisch brauch-
bare Ausgabe der kleinen Schrift hat nicht er gemacht, sondern
G. Waitz.
Zweifellos war Jaffés Urteil über die Pertzsche Ausgabe
— acerbe nennt es Waitz in der 5. Auflage der V. Karoli —
durch das gespannte persönliche Verhältnis zu dem ehemaligen
Leiter des Unternehmens beeinflußt, unter dessen Schroffheit
auch andere Mitarbeiter zu leiden gehabt hatten. Waitz
Schrieb einmal??, es sei von Pertz nicht weise gewesen,
sich das Verhältnis zu den Mitarbeitern in dieser Weise zu
verderben.
33 Holder-Egger schreibt in der 6. Auflage der V. Karoli (1911) P XXV von
Waitzens Ausgabe: 'primam arte critica, qua oportuit institutam.'
* NA. II, S. 468.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 15
Das Jaffesche Prinzip war bei den M. G. durchgedrungen
als ich eintrat, und auch Arndt hatte seiner Gregor-Ausgabe
die älteste Hs. B 1 zugrunde gelegt. Waitz war zu vorsichtig,
als daB er sich so ganz auf eine Hs. verlassen hátte und auf
seine Weisung mußte ich Arndts Ms. auf der Grundlage von
B1 und B2 umarbeiten.
Pertz gebührt das große Verdienst, für die mittelalterlichen
Quellen als erster eine erschöpfende Hss.-Benutzung ein-
geleitet zu haben.
Für Gregors groBes Werk habe ich zum erstenmal eine
vollständige Untersuchung aller Hss. unternommen, und selbst
die Splitter-Hss. mit einzelnen Kapiteln haben Ausbeute ge-
liefert, wie dieser Aufsatz zeigt.
Es ist die zweite Untersuchung über die Gregor-Hss. von
seiten der M.G. Die erste im alten Archiv V stammte von
unserem ausgezeichneten Altmeister. Ein Vergleich zwischen
beiden wird für die Geschichte der M.G. nicht ohne Nutzen
sein. Daß eine so mißachtete Hs. wie C 2 (bei Arndt C 7) zu
der in vielen Beziehungen wichtigsten aufrücken konnte, hätte
sich gewiß niemand träumen lassen.
2. Fredegarius — Oudarius.
Mein vor fast einem halben Jahrhundert erschienener Auf-
satz über die Chronicae des sog. Fredegar, N.A.7, 247ff.,
421 ff., führte eine völlige Umwälzung in der Kritik dieser
nach Gregor wichtigsten Quelle zur fränkischen Geschichte
herbei und fand allgemeine Zustimmung. Mein Ergebnis setzte
an die Stelle des einen Chronisten deren drei, die nachein-
ander an dem Werke gearbeitet, es fortgesetzt und erweitert
hatten. Die letzte Hand hatte ein austrasischer Bearbeiter
daran gelegt, und zwar in Metz, der Hauptstadt Austrasiens.
Ich wies darauf hin, daß die in der Kompilation benutzten alten
Chroniken in einem früher Sirmond gehörigen Kodex des Je-
suiten-Kollegs in Paris auf uns gekommen sind, daß dies nach
Sirmonds eigenem Zeugnis eine Metzer Hs. war, daß der älteste
Fredegar-Codex, Paris lat. 109, 10, der Archetypus unserer
gesamten Überlieferung, ebenfalls Sirmond und dem Pariser
Jesuiten-Kolleg gehört und die einzige direkte Benutzung dieser
alten allein ganz vollständigen Hs. in Metz im dortigen Ar-
14 Bruno Krusch
Als ich vor einem halben Jahrhundert am —
Mitarbeiter der M. G., Abteilung Script“
mir mein Lehrer Arndt, dessen Erbschaf: ea Sic
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bis zu einem gewissen Grade. Als ich ihm
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deren Aufnahme Pertz nicht gedacht hatte,
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hatte mit ganz erstaunlichem Fleiß und u
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» „ von Auguste Longnon herausgegeben.
* geirrt und mit ihm Molinier und Longnon,
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Abtes Hilduin nicht um die Abtei St. Denis,
eine Dependenz von ihr, um Salonne, ein Priorat
zen, Dép. Meurthe. Frohlockend fragt Levillain:
ı a-t-il si mal lu la source? Gewiß ‘si mal’, wie Mo-
d Longnon, ausgezeichnete franzósische Gelehrte,
wohl besser hätten wissen können.
e Moyen Age 88, 1928, S. 1298.
rteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 2
16 | Bruno Krusch
nulfskloster erfolgt ist, in einer von dort stammenden Ex-
zerpten-Hs.
Bei meinem Gregor-Studium stieß ich nun auf eine Notiz,
die mein höchstes Interesse erregte.
Aus dem Nachlaß eines ‘Abbe de Lorraine’ verkauften
die Erben kostbare Kodizes einem Buchbinder pour servir à
l'usage de ses reliures. Diese Hss. hat der Wissenschaft gerettet
der ausgezeichnete P. Sirmond, der sich damals gerade in
Lothringen aufhielt. Er begab sich sofort — als er davon
hórte — zu jenem Buchbinder, kaufte die Kodizes für 50 Taler
und ließ sie nach Paris in das Jesuiten-Kolleg bringen. So
berichtet Jacob, Traicté des plus belles bibliothéques S. 525.
Im Album Paléographique, Paris 1887 n.14, ist an diese
Nachricht die Vermutung geknüpft, daB sich unter diesen von
Sirmond gekauften Hss. auch der alte Fredegar-Codex be-
funden habe.
Das wäre dann der Schlußstein für meine Ausführungen.
Als lothringische Hs. würde der Kodex dieselbe Heimat
haben, wie die Sirmondsche Chroniken-Hs., die Quelle Frede-
gars, die aus Metz stammte.
Die Nachricht kam noch zur rechten Stunde. Eben ist man
fleiBig daran, alles niederzureiBen, was ich einst aufgebaut
habe. Die alte Ansicht, daB nur ein Chronist anzunehmen sei,
hat nach den langen Jahren vor kurzem F. Lot wieder auf-
gewärmt. Er ist zu der ganz oberflächlichen Reisetheorie zurück-
gekehrt, die vor meinem Eintritt in die merowingische Ge-
schichtsforschung die Herrschaft hatte. Der burgundische
Chronist soll nach ihm in austrasische Dienste getreten und nun
plötzlich ein schwärmerischer Anhänger des karolingischen
Herrscherhauses und des Hausmeiers Grimoald geworden
sein. Meine Entgegnung Fredegarius Scholasticus — Ou-
darius'?* brachte das älteste handschriftliche Zeugnis für den
rätselhaften Namen an das Tageslicht und zugleich den ältesten,
bisher ganz unbekannten Namen für den Chronisten: Oudarius.
Über meinen Aufsatz sind gleich zwei französische Kritiker
hergefallen, Levillain®®, der meine Kritik seiner Corbier Ur-
% Nachrichten der Ges. d. Wissensch., Göttingen 1926, S. 257.
35 Bibliothèque de l'école des chartes, 39, 1928, S. 89ff.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 17
kunden nicht verschmerzen konnte, und Marcel Baudot“.
Beide hatten ihre Aufsätze vor dem Druck gegenseitig aus-
getauscht, der eine zitiert den andern. Beide sind überzeugte An-
hänger Lots, und alles, was ich geschrieben habe, ist nichts wert.
Daß gewisse Stellen in der burgundischen Chronik austra-
sische Zusätze sind, hatte freilich sogar Lot zugegeben. Le-
villain (S. 94) bemüht sich, dieses für seine Einheitstheorie ge-
fährliche Zugeständnis schleunigst aus der Welt zu schaffen.
Es sind, behauptet er, keine 'interpolations certaines’, wie Lot
schrieb, sondern Zeichen der Arbeitsmethode, und vermutlich
hat er seine eigene Arbeitsmethode im Auge, die allerdings
recht eigenartig ist. An Selbstbewußtsein fehlt es ihm so wenig
wie seinem Kompagnon. Die älteste Eintragung des Namens
Fredegarius, die ich auffand, steht in einer C-Hs. Gregors, die
bis zur Erkrankung Karl Martells bei Paris reicht. Einen Frede-
garius sacerdos fand ich nun im ältesten Obituarium der Abtei
Saint Germain-des-Prés, aus der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts.
Der Name ist, wie Förstemanns Namen-Wörterbuch ausweist,
nicht häufig, war aber gerade in der Pariser Gegend gebräuchlich.
Zu streichen ist von meinen Belegen das Zeugnis des Reiche-
nauer Verbrüderungsbuches, wo unter dem Abt Hilduin von
St. Denis eine Liste von Mönchen einer Cella S. Dionysii mit
einem Fredegarius eingetragen ist. Der Herausgeber Piper hat die
Liste auf St. Denis bezogen, und sehr gelehrte Franzosen haben
ihm das nachgeschrieben. A. Molinier hat sogar diese Liste
mit dem Namen Fredegarius unter der Überschrift: ‘Abbaye de
Saint Denis’ in seiner Ausgabe der Obituaires de la province de
Sens (Recueil des historiens de la France 1902, I, 2, S. 1021
aus Piper nachgedruckt mit allen Zutaten. Dieser Band wurde
unter der Leitung von Auguste Longnon herausgegeben.
Piper hatte geirrt und mit ihm Molinier und Longnon,
überhaupt alle, die sich auf ihn verlassen haben. Es handelt
sich trotz des Abtes Hilduin nicht um die Abtei St. Denis,
sondern um eine Dependenz von ihr, um Salonne, ein Priorat
in Lothringen, Dép. Meurthe. Frohlockend fragt Levillain:
M. Krusch a-t-il si mal lu la source? Gewiß si mal’, wie Mo-
linier und Longnon, ausgezeichnete franzósische Gelehrte,
die es wohl besser hátten wissen kónnen.
* Le Moyen Age 38, 1928, S. 129ff.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 2
18 Bruno Krusch
Da der Irrtum durch die Ausgabe in den M. G. weite Ver-
breitung gefunden hat, nicht zum wenigsten auch in Frank-
reich, erscheint es zweckmäßig, näher auf ihn einzugehen.
Salona war eine Gründung des Abtes Fulrad von St. Denis,
die dieser 777 in seinem Testament“ der Abtei vermachte.
In der Kirche ruhten, wie er schreibt, der H. Privatus und
sanctus Ilarus confessor, der auch in dem Reichenauer Ver-
brüderungsbuch erwähnt wird. Karl d. Gr. hat Fulrad 777
seine Besitzungen in Salona bestätigt“. In einer späteren
Fälschung“ war die kleine klösterliche Anlage, die von der
Abtei St. Denis dependierte, ebenfalls Cella genannt, wie in
dem Reichenauer Verbrüderungsbuch. Diese Ausführungen gebe
ich um so lieber, als meine Kritiker nur eben den Namen der
lothringischen Cella zu kennen scheinen. Sie wird übrigens fast
niemals so wie hier einfach nach dem H. Dionysius genannt“.
Der Wegfall des lothringischen Fredegarius ist übrigens
schnell ersetzt. In derselben Publikation Moliniers, in der er
die lothringische Liste von Salona irrig als solche von St. Denis
abdruckte, und so schlecht las wie ich, steht unter den Pariser
Mönchen von St. Germain-des-Prés außer dem von mir schon
erwähnten Fredegarius Sacerdos auch noch I, 1, 1902, S. 251,
saec. X, ein geistlicher Namensvetter aus dem Pariser Stift
Fredegarii monachi et levite S. Germani'.
Setzen wir nun an die Stelle des Reichenauer Verbrüderungs-
buches einfach das Polyptychum Irminonis abbatis, des Abtes
von St. Germain-des-Prés, so finden wir sogar noch zwei Bauern
des Namens Fredegarius bei derselben Abtei: Fredegarius co-
lonus et uxor eius colona nomine Adelgundis?! und Frede-
garius et uxor eius colona nomine Adelindis. Diese Zeugnisse
— denke ich — werden genügen.
Meine Ausführungen waren nur ein bescheidener Versuch,
den Gedankengang zu erkláren, der den Erfinder auf den
Namen Fredegarius gebracht hat. Die Auffindung der ältesten
3 Vgl. die Ausgabe Tangls, NA. 32, 209.
233 MG. Dipl. Karol. I, S. 163.
39 Ebenda S. 321, 1.
% Vgl. H. Lepage, Dictionnaire topographique du Dép. de la Meurthe, Paris
1862, S. 123. |
*31 Ed. Guérard, S. 41.
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 19
handschriftlichen Aufzeichnung vor der Fredegar-Fortsetzung
mußte wohl zu einem solchen Versuche anregen. Es war zu-
gleich der erste Erklárungs-Versuch, der überhaupt gemacht
ist. Viel leichter ist es natürlich, alles abzustreiten, ohne selbst
eine positive Ansicht zu äußern.
Die beiden Bauern von St. Germain neben den Geistlichen
von St. Germain beweisen, daß der Name Fredegarius sogar in
die tieferen Volksschichten von Paris gedrungen war.
Marcel Baudot weiß aber alles viel besser und findet hier die
Gelegenheit, auch seine germanistischen Kenntnisse leuchten
zu lassen. Fredegarius, entgegnet er, ist ein deutscher Name,
für den es zahlreiche Beispiele gibt, und, fährt er fort, der
Herausgeber Freher trägt précisément einen Namen dérivé de
Fredegarius. Précisément! Mit der ihm eigenen Keckheit wirft
er da eine Behauptung hin, ohne eine Ahnung von der Sache
zu haben. Frehers Familie nennt sich ursprünglich Froér, und
der Name hat mit Fredegarius gar nichts zu tun.
Noch ein glänzendes Beispiel seiner Leistungsfähigkeit gibt
Marcel Baudot durch die Auslegung des Fredegar-Kapitels IV,
61, S. 145, wo er sämtliche Kritiker von Pertz*? an auf einem
groben Mißverständnis ertappt zu haben glaubt. Und doch
ist der Text ganz klar, er läßt gar keinen Zweifel zu! Dagobert
hatte seine Residenz nach Neustrien verlegt (Fredegar IV,
60) und begann dort einen hóchst árgerlichen Lebenswandel zu
führen, wollte von Pippins guten Ratschlägen nichts mehr
wissen. Als Pippin die Unzufriedenheit der Leudes sah, begab
er sich zu ihm, also nach Neustrien. Wegen seiner Gerechtig-
keitsliebe wurde er von allen geliebt und benahm sich auch hier
wieder hóchst vorsichtig in jeder Beziehung. Seine Erlebnisse
schildert der Satz: Zelus Austrasiorum adversus eodem
vehementer surgebat, ut etiam ipsum conarint cum Dago-
bertum facere odiosum, ut pocius interficeretur, doch seine
Gerechtigkeitsliebe rettete ihm das Leben. Das bezieht sich
natürlich alles auf Pippin, und bisher hat noch kein verstän-
diger Mensch daran gezweifelt, daB von Pippin die Rede ist.
Marcel Baudot ist anderer Meinung. Er findet hier das grobe
Mißverständnis seiner Vorgänger. 'Eodem', schreibt er, be-
zeichnet den König und ipsum' Pippin. Er sieht nicht, daß
* G. H. Pertz, Gesch. der merovingischen Hausmeier, 1819, S. 70.
9*
i
!
|
20 PpBruno Krusch
‘Dagobertum’ erst eine Zeile tiefer erscheint, er weiß nicht,
was 'eodem' heißt, er sieht nicht die Steigerung: 'etiam ip-
sum’, die auf eodem' geht, Pippin sollte getötet werden, gegen
den sich das Ha8 der Neustrasier gerichtet hatte, und nicht
der Austrasier, seiner Landsleute. Sein Sohn Grimoald ist ja
später vor Chlodovus II., den König von Neustrien, geführt
und hingerichtet worden. Marcel Baudot hat den Satz nicht
übersetzen kónnen. Und dieser ausgezeichnete Lateiner wollte
Pertz meistern, wagte sich an mir zu reiben.
Übersehen hatte er, daß vorher IV, 60 ausdrücklieh 're-
vertens in. Neptreco' steht, wo Dagobert das liederliche Leben
mit den Weibern begann, meine handschriftliche Verbesserung
aber hat. Marcel Baudot in leichtfertigster Weise beiseite ge-
schoben, die. Korrektur von Austrasiorum' in 'Neustrasiorum',
welche die: Konjektur Pertzens und anderer deutscher For-
scher glänzend bestätigt.
Ich fand Neustrasiorum' im Register zum p
gehenden Kapitel IV, 60, wohin es durch eine Umstellung ge-
kommen ist, und wies in meinem Aufsatz S. 262 nach, daß der
Registerschreiber.noch den richtigen Text vor sich gehabt
hatte und nicht den Schreibfehler Austrasiorum der ältesten Hs.
Hier gerát nun Marcel Baudot in einige Verlegenheit. Er
muß die Wahrheit dieser urkundlichen Bestätigung der bis-
herigen Auslegungen anerkennen, aber er behauptet, um-
gekehrt, der Registerschreiber habe fälschlich Neustrasio-
rum geschrieben! Er dreht also die Sache einfach um, und dreht
Sogar den ganzen historischen Sachverhalt um. Er vermutet,
Dagobert habe sich entschlossen, Austrasien zu verlassen auf die
schlechten Pläne der Neustrier hin. Umdrehen läßt sich eben alles.
Das Meisterstück des ausgezeichneten Forschers, mit dem
er sich in die Merowinger-Geschichte eingeführt hat, ist die
Entdeckung der Persönlichkeit, die wir heute Fredegarius
zu nennen pflegen. Jahrhundertelang hatten sich die gelehr-
testen Männer die Köpfe zerbrochen, und nun hat der Neuling
sofort den Autor entdeckt! Es war der Graf Bertharius.
Précisément ein Graf! Damit hat sich Marcel Baudot
selbst übertroffen. Und seine Schlauheit reicht noch weiter!
Noch ein Bertharius wird vom Fredegar erwähnt, eine etwas
anrüchige Persönlichkeit, jedenfalls kein Graf. Homo Scar-
Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 21
poninsis' nennt ihn Fredegar IV, 52, S. 46, 25. Weshalb?
Auch das weiß Marcel Baudot! Fredegarius, also der Graf
Bertharius, nennt ihn so, damit er nicht später mit ihm ver-
wechselt würde. Durch eine regretable confusion. In der
Tat war es hóchste Zeit, daB ein Baudot der bósen Verwechs-
lung des homo Scarponensis mit dem Grafen vorbeugte.
Im Vergleich zu solchen Leistungen konnte diese Kritik
meine Arbeiten natürlich als d'un intérêt fort cécondaire
(S. 89) bezeichnen.
Auch nach Levillain (S. 95) w war der Verf. eine hervorragende
Persönlichkeit, ein Laie, aber was für ein Laie: qui avait fré-
quenté ses cours. Also ein studierter, ein akademisch gebildeter
fränkischer Regierungsbeamter. Seine tiefsinnige Forschung
bricht Levillain leider vorschnell ab. Seine Besprechung,
schreibt er, sei ja schon zu lang geworden. Er hat auch recht.
Das Gedruckte genügt vollkommen. Der arme Fredegar! Hat
er das alles wirklich verdient? Als einziges Ergebnis enthält
der Aufsatz die Nachricht, daß es von Fauchets Antiquitez
(1599) noch eine ältere Ausgabe von 1571 gibt, von der zwei
Exemplare in der Nationalbibliothek vorhanden sind. Das
war bisher allen Forschern unbekannt, selbst Monod.
Wie Pippins Sohn, der Hausmeier Grimoald, hingerichtet
wurde, erzählt uns nur der neustrische L. h. Fr.c. 43. Durch
den Fehlschlag wurde die Stellung der mächtigen austra-
sischen Hausmeierfamilie natürlich eine ganz andere. War sie
vorher bei den Austrasiern beliebt gewesen, wurde sie jetzt
verhaßt und man darf sich nicht wundern, wenn sich auch
Spuren dieses Hasses bei Fredegar finden.
Wir haben das ausdrückliche Zeugnis der V. Geretrudis
c.6, daß auch Grimoalds Tochter die Abtissin Vulfetrudis von
Nivelles unter diesem Hasse zu leiden hatte: ex odio paterno““.
Aus der schlichten Schilderung dieses Heiligenlebens ist zu
ersehen, welchen schweren Verfolgungen auch die weiblichen
Angehörigen Grimoalds nach der Unterdrückung der Revo-
lution ausgesetzt waren“.
ss SS. rer. Merov. II, 460, 11. |
% Die Ergebnisse der beiden französischen Kritiker lehnt auch W. Levison
in seiner Besprechung, Jahresbericht der deutschen Geschichte, 1928, S. 174, als
unbewiesen und unwahrscheinlich ab.
22
Sprachwandel im Latein des Mittelalters.
Von
Franz Blatt.
Wer dem Schicksal der lateinischen Sprache im Mittelalter
nachgehen will, kann seine Aufmerksamkeit dem äußeren oder
dem inneren Sprachleben zukehren. Die Frage nach der lokalen
und sozialen Verbreitung des Mittellateinischen, nach den
Trägern der Sprache, kurzum nach ihrem äußeren Leben, ist
in letzter Zeit mehrfach unter prinzipiellen Gesichtspunkten er-
örtert worden!. Im folgenden sollen einige Richtlinien für die
. Ergründung ihres inneren Lebens gegeben werden. Es handelt
sich vor allem darum, die mannigfachen Wandlungen, denen
das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums unterlag, die
Eigentümlichkeiten, wodurch sich das Mittellatein vom klas-
sischen und spätantiken Latein abhebt, zu beschreiben, zu lo-
kalisieren, zu erklären und, wenn irgendwie möglich, die Einheit
in der Vielheit zu finden. Nachdem die Kenntnis des spätantiken
Lateins im letzten Menschenalter so nachhaltig gefördert worden
ist, dürften die Voraussetzungen für eine solche schärfere Ab-
grenzung des typisch Mittelalterlichen einigermaßen vorhanden
sein.
1 Z. B. L. Traube, Vorlesungen und Abhandlungen II (1911) p. 44. Paul Leh-
mann, Vom Leben des Lateinischen im Mittelalter (Bayer. Blätter f. das Gymnasial-
schulwesen LXV (1929) p. 65ff. Max Manitius, Geschichte der römischen Literatur
des Mittelalters I p. 7ff. Ferdinand Lot, A quelle &poque a-t-on cessó de parler
Latin? (Archivum Latinitatis Medii Aevi 6 [1931] 97ff.). Strecker, Einführung in
das Mittellatein 2 (1929) p. 13. C. H. Haskins, The Renaissance of the twelfth
Century (Cambridge Harvard University Press 1927) p. 127 ff. F. Ermini, Athe-
naeum (Studi periodici di letteratura e storia) Pavia 4 (1926). — Ältere Literatur
gut zusammengestellt bei H. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre ? (1912) II
325ff. (Die Urkundensprache) Als Ergänzung unentbehrlich A. Giry, Manuel de
Diplomatique ? (1925) p. 933ff.: De la langue des documents diplomatiques.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 23
Das typisch Mittelalterliche läßt sich im wesentlichen auf
drei Elemente zurückführen: neu ist einmal der sich verschie-
dentlich auswirkende Einfluß der Nätionalsprachen; aber nicht
nur die neuen Landessprachen, sondern auch die neuen Verhält-
nisse, vor allem die Umbildung der Gesellschaft, kommen im
Mittellateinischen zum Ausdruck; schließlich müssen wir mit
der Ausbildung einer machtvollen wissenschaftlichen Sonder-
sprache rechnen, deren Einwirkung sich über das rein wissen-
schaftliche Schrifttum hinaus geltend macht.
I.
Was nun den ersten Faktor betrifft, so gewähren am ehesten
die einzelnen Länder selbst die Möglichkeit, die jeweils spezifisch
nationalen Züge zu gewahren; demgemäß wird hier das Latein
besonders der nordischen Länder berücksichtigt werden. Die Auf-
gabe ist eine doppelte: genaue Bestimmung der regionalen Spezi-
fika und des Gemein-Mittellateinischen einerseits, andererseits
Herausarbeitung derjenigen gemeinsamen Gebiete, auf denen sich
die verschiedenen lokalen Eigentümlichkeiten vorwiegend äußern.
Am handgreiflichsten ist der Einfluß der Nationalsprachen
in den Fällen, in denen das Lateinische direkte Entlehnungen
aus diesen aufweist. Gelegentliche Entlehnungen aus dem Ger-
manischen und Keltischen kommen bereits im Altertum vor,
scheinen aber im Gegensatz zu den Anleihen aus dem Griechi-
schen zerstreut und ohne ersichtliche Einwirkung auf die Struk-
tur der Sprache geblieben zu sein*. Das Mittellateinische da-
gegen, wie wir es aus Urkunden, Gesetzen und aus der schónen
Literatur kennen, ist von neuen Lehnwörtern völlig durchsetzt.
In mittellateinischen Texten nordgermanischer Herkunft findet
sich z. B. das Wort scotacio (scoto, rescoto), welches von An-
dreas Sunesen in seiner lateinischen Paraphrase des alten Land-
schaftsgesetzes für Schonen? erklärt wird: terre modicum emp-
2 Ich verweise auf die in methodischer Hinsicht wichtige Arbeit Josef Brüchs:
Der Einfluß der germanischen Sprachen auf das Vulgärlatein (Sammlung Roma-
nischer Elementar- und Handbücher herausg. v. W. Meyer-Lübke, Heidelberg 1913).
* Johs. Brendum- Nielsen, Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene
I p. 516, 22 (cap. 38 quid sit scotacio). Das dem lateinischen scoto, scotacio zu-
grunde liegende Wort ist spezifisch nordisch, indem das mittelniederdeutsche
schóten, schöte nordische Lehnwörter sind; vgl. Falk und Torp, Norwegisch-Dä-
nisches etymolog. Wörterbuch.
toris pallio ... apponit venditor ... hec... sollemnitas ex
vulgari nostro producto vocabulo competenter satis potest sco-
tacio nominari (Lex Scaniae 4,13); aber daneben finden sich
sämtliche Formen von dem roh übernommenen sceting bis
scotatio*. Schwerlich dürfte man außerhalb skandinavischer
Quellen die selbständigen Bauern als bondones* antreffen
(= rustici; Substrat das nordische Bonde'). Oft ist aber noch
eine genauere Abgrenzung möglich: das latinisierte forta® als
Bezeichnung des zu einer Siedlung gehörenden gemeinsamen
(Weide)areals dürfte außerhalb des ostnordischen oder vom
Ostnordischen beeinflußten Sprachgebietes kaum vorkommen.
Und so hat jedes Land der lateinischen Sprache des Mittelalters
seine Merkmale aufgedrückt; in Texten deutscher Provenienz
treffen wir beispielsweise scario (Scherge)“, knapo (Knapp)®,
auf franzósischem Territorium muf das auch in Nordeuropa vor-
kommende prisonium® in das Mittellateinische eingedrungen
sein. Im Chronicon Salernitanum läßt sich erabamus (eravamo )!?
* 0. Nordberg, Fornsvenskan i våra latinska originaldiplom före 1300, Diss.
Uppsala 1926.
Siehe Scriptores Minores Historiae Danicae ed. M. Cl. Gertz I 166 u. öfters.
* Z. B. in dänischen Urkunden: Repertorium Diplomaticum Regni Danici
Medisvalis v. Kr. Erslev — im folgenden als Rep. Dan. zitiert — Nr. 98 (Diploma-
tarium Vibergense ed. O. Heise Nr. 3 [a.1219]) diffinivimus, ut quicquid iam edi-
ficio basilice vel usu aratri monachi occupaverant, sic de cetero sibi habeant, pars
vero reliqua tam canonicorum quam monachorum communis sit forta. Rep. Dan. 99
(a. 1221) pars eius reliqua com[mun]is [fjorta sit perpetuo. Vgl. Apenrader Stadt-
recht (a. 1335) 38 unser weyde edder forta.
? Monachi Sangallensis Gesta Karoli 1, 18 (MG. SS. II 738) dixit ... ad ho-
stiarium vel scarionem suum, cuius dignitatis aut ministerii viri apud antiquos
Romanos ediliciorum nomine censebantur.
* Continuatio Vindobonensis Kalendarii Zwetlensis (MG. SS. IX 714, 15).
* Rep. Dan. 387 Privilegia civitatis Ripensis (a. 1269) 60 advocatus et consules
liberam habeant potestatem ipsum in prisonio ... detinendi.
10 Chron. Salern. 117 (MG. SS. III 631, 42) rex omnium rerum propter nos
in hunc per uterum virginis venit mundum, ut qui erabamus sub nodo peccati ab-
solvere. Ähnlich in einem anderen Text italienischer Provenienz: Acta Andr. et
Matth. (Beih. z. Zeitschr. f. d. neut. Wissenschaft XII) p. 134, 20 qui corde simpli-
ces erabamus, das dadurch gesichert wird. Ein anonymer Rezensent versucht meine
Ausgabe dieses Textes durch folgendes Gedankenexperiment herabzusetzen: Suppo-
sons, par exemple, que cette version des actes de S. André soit l'oeuvre d'un Italo-
grec peu familier avec le latin: les fantaisies extravagantes de son dictionnaire et
de sa syntaxe perdent à peu prés toute valeur comme témoins de la latinité usuelle.
Ce sont des faits linguistiques du möme ordre que les fautes d'ignorance et d'inatten-
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 25
als Imperfektum zu sum, gradiebatur in der Bedeutung pla-
cebat!! (gradisce) nachweisen. England hat das wichtige Wort
baco!? beigesteuert, während zabellus und zibellinus (zebellinus
u. à.)!? letzten Endes auf slawischen Einfluß zurückgehen. Sogar
in Ungarn, das sich im Mittelalter einer recht reinen Latinität
erfreut!* und bis in die neuesten Zeiten ein Hort der lateinischen
Sprache geblieben ist, kommt das nationale Element gelegent-
lich zum Vorschein: die Hofleute heißen ud(v)ornici, ein Richter
birous (aus biró)!5. Endlich seien noch die vielen mittelalter-
lichen Entlehnungen aus dem Griechischen erwähnt, die dem
antiken und spätantiken Latein fremd sind: dulia, emologo,
elenchus, elenchice, epiikia, latria, homonimus, soma, taflum,
tion dont un professeur expurgerait les copies de ses mauvais élèves (Analecta
Bollandiana 49 [1931] p. 132ff.); völlig wertlos wäre es doch wohl nicht, eine solche
schlechte Schülerarbeit jener Zeit zu besitzen. Es handelt sich eben darum fest-
zustellen, inwiefern die „Extravaganzen‘‘ okkasioneller oder usueller Natur sind.
H Chron. Salern. (MG. SS. III p. 506, 26) ut talia Amalfitanus populus com-
perit, valde gavisus est, atque ut id fieret omnimodis gradiebatur.
13 Vita Meinwerci episcopi 44 (MG. SS. XI 121, 15) ei .... episcopus omnibus
annis de episcopali substantia 20 maldros frumenti et 60 modios brasii et 3 bacones
... dari constituit. Galbertus Brugensis, Passio Caroli Comitis 76 (MG. SS. XII
601, 40) Gervasius Castellanus milites suos armatos intus posuit qui tumultuantes
et ascendere volentes deinceps prohiberent; et obtinuit vinum traditorum optimum,
etiam coctum vinum quod consulis erat, bacones, caseorum pisas 22, legumina etc.
Chronicon episcoporum Merseburgensium 37 (MG. SS. X 208, 40) pelli-
parium quidam ... accersiri fecit; quanti schubam (i. vestem) de mardir aut zabello
exhiberet qualiterve sive pro quanta pecunia comparari posset, sciscitabatur. Vita
Meinwerci episcopi 123 (MG. SS. XI 131, 25) unum martherinum pelliceum pro
6 talentis, unam zebelinam tunicam pro aliis 6 talentis ... acceperunt.
14 Es hängt dieses mit der dem Lateinischen ganz fremden Struktur der ein-
heimischen Sprache zusammen; bekanntlich wirkt die Ähnlichkeit des eigenen
Idiomes mit dem Lateinischen nicht fördernd auf die Reinheit der Latinitát; vgl.
Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 338: „Bei deutschen Schreibern, die
zumeist nicht einmal romanisch verstanden, fiel dieser zersetzende Einfluf weg;
das allein muBte ausreichen, um die Urkundensprache korrekter zu gestalten, um
den geistlichen Urkundenschreibern die Gewóhnung an die grammatisch richtigen
Formen des Lateins, die sie in biblischen und theologischen Schriften oder in ihren
MeBbüchern fanden, zu ermöglichen.‘
Monumenta Hungariae Historica, Diplomataria 6, 28 p. 61 (a. 1151) post
aliquot ... dies udornici ... eam ab ecclesia distrahere laborabant (i. aulici a
voce Hungarica udvar; auf jeden Fall liegt eine ungarische Form der lateinischen
zugrunde). Brutus, Hist. XII 314, 12 iam nostri Albam advenerant et de totius
belli gerendi ratione consultabant Albae magistratu praesente quem Ungari biroum
vocant.
26 Frans Blatt
tafus usw.!®. Auch hybride Bildungen aus lateinischen und ein-
heimischen Bestandteilen treten allerorten auf: burgiloquium
findet sich neben civiloquium als Wiedergabe des mittelnieder-
deutschen bürsprake, campimarchia für Veldmarke!”.
Die den Nationalsprachen entlehnten Gebilde wandern in-
nerhalb des Mittellateins von Land zu Land: griseus (grau),
juppa (Rock) s u. à. lassen sich auch in skandinavischen Ur-
kunden belegen, obwohl sie außerhalb dieses Gebietes in die
lateinische Sprache aufgenommen sein müssen. Das wohl auf
germanischem Boden vom Mittellateinischen rezipierte stuba!?
und medo” ist auch in nicht-germanischen Ländern anzutreffen?!,
in der Magna Charta Englands haben die Normannen auch
sprachlich ihre Spuren hinterlassen, denn es heißt c. 39: nullus
liber homo capiatur vel imprisonetur aut dissaisiatur aut ut-
lagetur aut exuletur. Califus und zucara® sind nicht etwa auf
die pyrenäische Halbinsel begrenzt, die Form guerra nicht
auf die Romania. Daraus folgt einmal, daß das Vorkommen
solcher nationalen Wörter in mittellateinischen Texten nicht
ohne weiteres einen RückschluB auf den Abfassungsort oder
auf die Herkunft des Autors erlaubt. Welche Lehnwórter auf
gewisse Landschaften beschränkt, welche Gemeingut sind,
darüber ließe sich gewiß noch manche dankbare Untersuchung
anstellen. Insbesondere würde die Erforschung derjenigen Be-
griffsphären, an welche die Lehnwörter vorzugsweise anknüpfen,
von kulturgeschichtlicher Bedeutung sein. Es würde sich zeigen,
% Vgl. u. a. das Thomas-Lexikon von Ludwig Schütz, Paderborn 1895.
1? Vgl. Schiller-Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch I s. v. bürsprake.
15 Erslev, Testamenter fra Danmarks Middelalder (im folgenden Erslev, Test.)
(a. 1201) p. b sect. 4 grisei monachi p. 1 sect. 3.
1% Herbordi, Vita Ottonis 2, 15 (MG. SS. XII 783, 15) in stupis calefactis et
in aqua calida ... baptismi confecit sacramenta. Annales Stadenses (a. 1112)
Olricum sedere in stupa et Ethiopum eum pectere illo pectine; vgl. Brüch, J., Der
Einfluß der germanischen Sprachen auf das Vulgärlatein p. 5.
* Vita Norberti Archiepiscopi Magdeburgensis 20 (MG. SS. XII 699, 45)
singuli denarietam vini vel medonis biberent.
n Monumenta Hungariae Historica, Diplomataria 6, 8 p. 35 (a. 1086) cale-
faciunt stubam. ib. 4 p. 27 (a. 1067) per annum isti simul dant unum bovem, centum
panes, tres cubulos medonis.
22 Thomae Tusci, Gesta Imperatorum et Pontificum (MG. SS. XXII 507, 4)
Saladinus ... caliphum occidit ac pro eo regnavit. Diplomatarium Suecanum 2660
(a. 1328) quatuor libre zucare.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 27
daB in der Verwaltung im weitesten Sinne des Wortes das Ein-
heimische sich am záhesten hält; die bekanntesten Lehnwörter
fallen gerade auf dieses Gebiet (bannus, feudum, hundaria,
hereth [Dänisch]*; vasallus, marcgravius, marchio, gravio
etc.); besonders aufdringlich ist der nationale Einschlag in der
Rechtssprache (scariones, fasto, gerewen, næffningi [Skan-
din.])** und der Bezeichnung verschiedener Steuerabgaben: inna,
studh, lething, scot, qu&rs&t usw. aus dänischen Quellen“.
Ferner lassen sich nationale Produkte als ein charak-
teristisches Gebiet ausscheiden: die einheimischen Pflanzen und
Tiere sind in ihrem nationalen Gewand anzutreffen; so finden
sich humuli (Hopfen?®), daraus humlipotus?” in dänischen
Quellen, broccus (Dachs, nach ir. brocc) kommt in irischen
Heiligenleben vor“; in nördlichen und östlichen Gegenden
spielen die verschiedenen Pelztiere, martur (mardrinus, marda-
linus, mardelinus), hermelinus, zabellus und die aus ihnen ge-
wonnenen Pelze (martelinae, zebellinae pelles) eine große
* Avia Ripensis ed. O. Nielsen, Hauniae 1869 Nr. 43 p. 26, 17 (a. 1282 — die
berühmte Handfeste des Kónigs Erik V. —) victualia ... plaustrare non debent
ultra limites sui hæræth.
% Vgl. für diese Kategorie das Verzeichnis juristische Ausdrücke in den von
Pirson herausgegebenen merowingischen und karolingischen Formularen (Sammlung
vulgärlateinischer Texte ed. Heraeus u. Morf, Heft 5) p. 54 (1913): frodannus (ver-
urteilt), mundeburdum (Schutz), sonia, sunnia (Entschuldigung) usw. Rep. Dan.
1491 (a. 1327) quatuor veredicos et duos neffningos habere decetero debeant. Auch
der Name des Verbrechens háufig in nationaler Form, Rep. Dan. 1519 (a. 1328)
pro excessibus suis omnibus, videlicet furto, homicidio, volneribus, friithkeep,
baken, strandworth, garthmwite et causis aliis iuris regii. Namentlich in den
nordgermanischen Ländern läßt sich das Vorwiegen des nationalen Einschlages in
der Rechtssprache beobachten (Lehnwórter, Lehnübersetzungen); dem entspricht
die ablehnende Haltung gerade dieser Länder gegenüber dem Einfluß fremder Rechts-
normen (Kanonisches Recht), wie dies aus den Kämpfen zwischen König und Kirche
im 13. Jahrhundert hervorgeht. Siehe Ácta processus litium ed. Krarup-Norvin und
Norvin in der Zeitschrift Scandia 5 (1932) 251fl.
* Rep. Dan. 1519 (a. 1328) innae stuth lethingh. Avia Ripensis p. 28, 10 scot
querszt.
= Im alten Flensburger Stadtrecht (1284) 63: hospes nec humulos vendere
minori modio... nec linum... praesumet, sowie die entsprechenden Stellen ver-
wandter Stadtrechte.
** Rep. Dan. 1534 (a. 1328) quatuor lagenas humlipotus.
35 Vitae Sanctorum Hyberniae ed. C. Plummer I 219 animalia... ad sanctum
Kyaranum venerunt id est vulpis et broccus et lupus et cerva.
28 | Franz Blatt
Rolle. Die Bekleidung des mittelalterlichen Menschen vom
Kopf bis zum FuB setzt sich aus nicht antiken Elementen zu-
sammen: almucium®®, birretus®!, tabardum??, surcotium?*, roba*4,
hzmzth?®, hosi?®, sotulares®. Daneben aber pilleus, tunica,
calceamentum, crepidae usw. — Die üblichen Kleiderstoffe
heißen burellus®, vadmale*? (Skand.); das letzte Wort tritt in
den verschiedensten Formen an der Ostseeküste auff. Medo*!
ist als deutsches Erzeugnis — man denke an das in dánischen
Urkunden auftretende potus teuthonicus“ —, trafnisia* als Ex-
portartikel Norddeutschlands auch in sprachlichem Sinne be-
kannt; dieser Gruppe gehört das obenerwähnte baco an; po-
tagium findet sich in den Satzungen schwedischer Studenten
zu Paris“.
= Erslev, Test. p. 6 sect. 3 (a. 1201 im Testament Absalons) cappa forrata de
pellibus marturum. ib. p. 158, 5—6 de panno rubeo gallicano cum sufforatura de
pellibus hermelinis.
æ Avia Ripensis p. 89, 25 deposito almucio inclinet capud ad maius altare.
31 Dipl. Hafn. IV p. 382, 8 (31. 7. 1520).
* Dipl. Suec. 1605 (a. 1309) ad hec omnia solvenda deputo vestimenta mea
infrascripta, videlicet unum tabardum blavium (blau) forratum (gefüttert) pellibus
mardelinis.
*3 Dipl. Suec. 155 (a. 1215) vestes meas meliores quas habeo: sorcocium tunicam
et mantellum. ib. 3532 (a. 1340). Vgl. Hjalmar Falk, Altwestnordische Kleider-
kunde in „Skrifter utg. av Vid.-Selsk. i Kristiania 1918 Nr. 3 (hist.-fil. Kl.)“.
% Dipl. Suec. 3532 (a. 1340) Michaeli scolari meo robam meam integram relinquo.
% Erslev, Test. p. 26 sect. 5 unum hæmæth melius. Daneben das in die Antike
zurückreichende gallische oder germanische Lehnwort camisia.
*? Fundatio monasteri Werthinensis App. (MG. SS. XV 168, 10).
7 Erslev, Test. p.209 sect. 7 10 par sotularium. Gertz, Scriptores minores
Historiae Danicae I 267,25 (im sogenannten Compendium Saxonis, vgl. unten
Anm. 107) forman sotularium... fecit = Saxo, 5, 3, 12 crepidas creat. Vgl. Falk.
38 Grober wollener Stoff, vgl. Dipl. Suec. 2829 (a. 1331) villico meo... triginta
ulnas burelli lego. ;
39 Dipl. Suec. 1077 (a. 1292) centum decem marcas wadmalie recepi.
4 Heinrici Chronicon Lyvoniae 1, 11 (MG. SS. XXIII 242, 20) quo precio sal
aut watmal in Gothlandia comparetur inquirunt.
4 Rep. Dan. 387 Privilegia Civitatis Ripensis (a. 1269) 21 si quis cum falsa
mensura... medonis... deprehensus fuerit.
* Codex Esromensis ed. O. Nielsen, Hauniae 1880 Nr. 93 (a. 1337) p. 102.
9 Necrologium Hafniense 8/7 saec. XIV (gedruckt im Werke: Københavns
Diplomatarium v. O. Nielsen) lagenam trafnisie (Trawe-bier) cum refectione.
Dipl. Suec. 1045 (a. 1291) qui una cum hospicio lignis potagio lectisterniis et
utensilibus domus ultra duodecim denariorum subvencionem septimanatim receperat,
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 29
Münz- und Maßbezeichnungen bilden wieder eine
Gruppe für sich: francus, marka usw.; auf nordischem Gebiet
außer marc(h)a noch ortuga, ora; lesta mit der Variante lasta
bezeichnet im Norden, acra in England, rasera in Frankreich
ein Raummaß*. Auf dänischen Boden beschränkt ist ‘ol’ im
Kopenhagener Stadtrecht von 1254“: § 3 qui retibus utuntur
ad capiendum allec, decimare debent episcopo ol unum pro
piscatione hyemali (einen Wall Heringe). Nobulus* ist eine
Latinisierung der englischen Münzbezeichnung noble, die wie-
derum auf dem lateinischen nobilis fußt; vergleichbar wäre se-
peliarius“, vom irischen seipel, welches auf capella zurückgeht;
als Rückentlehnungen ließen sich noch anführen braza aus
braz*? (lateinisch bractea), costuma aus costume“ (lateinisch
consuetudo).
Mit den alten lateinischen e wußte ı man
nicht viel anzufangen; caeruleus wird daher durch blaveus,
blavius ersetzt, bruneus und griseus werden neugebildet, ebenso
wie das aus dem Dänischen übertragene blaccatus (blakket
gelbbraun)®!. Die blonden Haare der Germanen heißen nun
nicht mehr flavi, sondern blondi capilli. Erwähnenswert sind
die Fälle, da das Lateinische nur mittels einer Umschreibung
ein prázises Wort der Nationalsprache wiederzugeben ver-
Rep. Dan. 2037 dabit undecim lestas ordei boni. Erslev, Test. p. 107, 6 di-
midiam lestam annone (p. 83, 1 lastam). — Zu acra, siehe Plummer, Archiv. lat.
medii aevi 2 (1925) p. 16. Zu ortuga', s. Hammarström, Glossarium till Finlands och
Sveriges Medeltidsurkunder s. v. Zu ‘rasera’ Annales Elnonenses Maiores (a. 1196.
MG. SS. V 16): rasera frumenti venundatur 50 solidis.
“ Gedruckt bei O. Nielsen, Kebenhavns Diplomatarium.
€ s. Hammarström a. O.
4 s, Plummer a. O. p. 26.
* Dipl. Suec. 1583 m (a. 1308) Katherine... unam brazam auream sc. lego.
s Sveriges Traktater med främmande makter utg. af O. S. Rydberg (Stockholm
1877 i.) 148. |
st Dipl. Suec. 2829 (a. 1331) ancille mee Cristine unam tunicam blaviam lego.
Erslev Test. p. 120 sect. 3 und passim. — bruneus, bruneticus ebenda p. 178 sect. 2
unum par vestium brunei coloris. — blaccatus ebenda p. 5 sect. 6. — Zu griseus
s. oben.
#2 Acerbi Morenae Continuatio (MG. SS. XVIII 640, 35) Conradus frater
imperatoris... erat spissus corpore, mediocris stature, capillis blondis, virtuosus,
multum modestus, non multum loquens.
30 Franz Blatt
mochte: svagerus®® entspricht dem lateinischen frater uxoris
oder frater mariti je nach den Verhältnissen; das in einer dä-
nischen Urkunde (Rep. Dan. 3333 a. 1381) vorkommende:
‘Notum facio quod domino Fikkoni Moltike ... curiam Lokkes-
holm ... cum molendino et aliis adiacentibus ... cum jaa et
bona voluntate mea ... scoto’ erinnert unwillkürlich an die
Schwierigkeiten, die das germanische ‘Ja’ bei lateinischen Stil-
übungen bereitet. Die Frequenz der Lehnwörter ist abhängig
von der literarischen Höhenlage der Texte: je volkstümlicher
der Text, desto häufiger und hemmungsloser der Gebrauch von
Lehnwörtern. Innerhalb der Urkundensprache fallen nament-
lich die Privaturkunden durch starken Einfluß der National-
sprachen auf; es gilt hier natürlich nicht, Singularitäten zu
sammeln und auszustellen, sondern typische Erscheinungen zu
erfassen und ihre Ursachen darzulegen. Der als Künstler be-
deutendste, obwohl als historische Quelle natürlich nicht einwand-
freie Autor der mittellateinischen skandinavischen Literatur, man
darf wohl sagen: einer der hervorragendsten mittellateinischen
Schriftsteller überhaupt, Saxo Grammaticus, drückt mit dem
lateinisch klingenden census aestivus®* korrekt diejenige Ab-
gabe aus, welche — weil sie jáhrlich am 24. Juni zu errichten
war — im Dänischen mithsumzrsgjald genannt wird, ein Wort,
das in den Urkunden selten übersetzt wird. Ein Mittelding
zwischen der hochliterarischen Lehnübersetzung census aestivus
und dem vulgären ‘de mitsumergelt meo’°® ist der Typus 'cen-
sus qui vulgariter (vulgo, lingua vernacula, lingua nostra) di-
citur mithsumzrgyald'56,
Mit den Lehnübersetzungen betreten wir ein zweites großes
Gebiet, auf dem der nationale Boden durch das Lateinische
durchschimmert. Der Ausdruck lux egreditur’ (das Licht geht
5* Erslev Test. p. 194 sect. 3 dilecto swagero meo . . . unum cochlear argenteum.
Rep. Dan. 5808 (Dipl. Hafn. 1, 111 p. 148, 25 a. 1419) me et heredes meos suagero
meo dilecto ... teneri et esse veraciter obligatum.
5 Saxonis Gesta Danorum 11, 12, 8 p. 322, 16 Reder-Olrik.
55 Codex Esromensis Nr. 84 p. 91 (ca. 1140). In die Konstruktion ohne weiteres
eingehend auch noch im Kopenhagener Stadtrecht (a. 1296) Dipl. Hafn. 133 p. 44,22.
(Kopenhagener Stadtrecht a. 1254) Dipl. Hafn. I 16 p. 18, 34 solvere ...
censum qui vulgariter dicitur mithsumęœrgyald.
9 Miracula S. Verenae 16 (1005—1032) (MG. SS. IV 459) cumque divinae
laudis tempus advenerit, officio candelarum rite peracto, accensisque omnibus, ad
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 31
aus) wáre für eine romanische Zunge undenkbar, und man be-
greift den Rat eines deutsch-lateinischen Dichters gerade dieser
Zeit: Teutonicos mores caveas. Ähnlich lesen wir bei Thietmar
von einer Stadt, die 'presidiis et imposicionibus (Anlagen) be-
festigt wird's. Namentlich in den deutsch-lateinischen Urkunden
finden sich zahlreiche solche Lehnübersetzungen9?. Doch ist die
Erscheinung an und für sich keineswegs auf Deutschland be-
schränkt; ganz analog ist es, wenn wir in einem irischen Heiligen-
leben den folgenden unlateinischen Satz antreffen: cum enim
ipse senex sapiens et benedictus ac summus pontifex esset,
dignatus est discere sub genu alterius propter humilitatem et
amorem sapientie®, oder wenn oculus unter Einfluß des walli-
sischen llygat, welches sowohl Auge als Quelle bedeutet, in der
Verbindung a dorso montis ... usque ad oculum Dingurach'
vorkommt 1. Auch Lehnübersetzungen, welche zu Neubil-
dungen führen, sind vertreten: milleartifex (Tausendkünstler)
ist ein Beispiel für diesen Typus, dem das auf dánischem
Boden entstandene 'puerpueri' (Bernebern) an die Seite zu
stellen ist. Ganze Wortverbindungen werden oft erst ver-
aecclesiae ianuam venimus, singuli singulas candelas in manibus portantes; sed
tamen nulla ardens pre valitudine venti egrediebatur.
58 Thietmar, Chron. lib. 1, 9 (MG. SS. III 739) quam urbem presidiis et imposi-
cionibus munit.
s Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 339 terram proservire, Land ver-
dienen. Nicht alle dort angeführten Beispiele lassen sich als Germanismen und zur
Lokalisation der Urkundenschreiber verwerten, z. B. ad nullum hominem nullum
concambium faciant. Dazu bemerkt B. „deutsche Häufung der Negation“! Vgl.
aber Handbuch der Altertumswissenschaft herausg. w. W. Otto II 2 p. 832 ff.
(Lateinische Grammatik v. Leumann-Hofmann) p. 832ff.; es handelt sich um
eine allerorts spontan auftretende Erscheinung. Der ganze Abschnitt ,Die Ur-
kundensprache' (Vulgärlatein und Schriftlatein — lokale Verschiedenheiten des
Vulgärlateins — Latinität der älteren deutschen Urkunden usw.) zeigt trotz vielen
guten Beobachtungen, daß die Diplomatiker von den Sprachforschern noch einiges
lernen können.
* Plummer, Vitae Sanctorum Hiberniae I 232. Plummer vergleicht dazu das
irische glün-dalta ‘kneefosterling, i. e. one fostered at another's knee’,
“a Plummer, Archiv. lat. medii aevi 2 (1925) p. 22.
en Vitae S. Heinrici Additamentum 3 (MG. SS. IV 819) cum ... arte nichil
proficeret ille milleartifex. Die spätmittelalterliche lateinische Übersetzung
(Ende des XV. Jahrh.) des jütländischen Landschaftsgesetzes, die überhaupt
viel Derartiges bietet: Peder Kofod Ancher, En Dansk Lov-Historie I (1749)
p. 180.
32 Frans Blatt
ständlich, wenn man sie als Lehnübersetzungen faßt; an das
obige census aestivus läßt sich denarius aratralis (Plov-
penning, Pflugsteuer)?, homines dominorum (Herremznd, no-
biles)**, malleus securis (Oksehammer, ein aus Axt und Hammer
bestehendes Werkzeug)*^, amicus anime (Beichtvater, nach
ir. anmchara) reihen. Wie die Lehnwörter gehören auch
die Lehnübersetzungen vorzugsweise bestimmten Kategorien
an: Administration (centena, centenarius®, quinta pars
gibt in Irland das einheimische coiced*? wieder), navigium
entspricht in dánischen Rechtsquellen dem einheimischen 'ski-
pæn’ und bezeichnet ein Gebiet, dessen Besitzer oder Be-
wohner im Kriegsfall ein Schiff auszurüsten hatten usw.;
Rechtssprache (duodecimum iuramentum*? 'Tylftered' in
dänischen Quellen); Steuern (expensa canum so viel wie
huntzstewr)'; nationale Produkte (panes siliginis" Roggen-
brot); Münz- und MaBbestimmungen (ora terrarum, ager?*).
Ortsnamen werden háufig auf diese Art behandelt: glacialis
insula (Island), viridis terra (Grenland), ovium insulae (Fer-
ger) 7s, portus mercatorum (Kebenhavn)", fundus aquilonaris
© Avia Ripensis p. 6, 27 (a. 1252) dicto domino ... de nostris denariis ara-
tralibus ... conferimus quinquaginta marchas.
„ Kopenhagener Stadtrecht 1254 (Dipl. Hafn. 1, 16 p. 20, 21) fundum suum ...
alienare principi aut militi vel homini dominorum.
% Andr. Sun. Lex Scaniae cap. 66 (vgl. Anm. 3) fustis .. appellacio virgam et
baculum, hastam, securis malleum, clavam et vaginatum gladium comprehendit.
Vitae Sanctorum Hiberniae ed. Plummer II 147 quis in Hybernia erit amicus
anime mee (syn. pater confessionis mee).
7 Archiv. Lat. Medii Aevi 5 (1930) 167ff. Sur le sens du mot „Centena“.
** Vitae Sanctorum Hiberniae I 8 de gente Ultorum ortus est quae est quinta
pars Hiberniae.
s Altestes Schleswiger Stadtrecht 4 duodecimo juramento convivarum (die
lateinische Form, nur in einer Handschrift bewahrt vom Anfang des 14. Jahrhunderts,
zeigt das Gesetz, wie es in der dünischen Stadt Horsens galt).
70 Annales Matseenses (a. 1373 MG. SS. IX 836, 1) pro expensis canum que
vulgariter nominabatur huntzstewr.
71 Erslev, Test. p. 210 sect. 1.
?3 jb. p. 80 sect. 2. Avia Ripensis p. 51, 36. 52, 6. 7.
73 Historia Norwegiae; die Beispiele erwähnt von E. Skard in seiner Abhandlung
Mälet i Historia Norwegiae 1930 Oslo p. 12/13 (vgl. diese Zeitschrift Bd. 27
[1930] p. 844).
74 Saxonis Gesta Danorum 14, 34, 6 ad vicum qui mercatorum portus nomi-
natur deproperant.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 33
(Norrbotten) usw.“, wenn nicht bereits vorhandene lateinische
Eigennamen für den augenblicklichen Zweck umgedeutet wer-
den. Die Einwohner Kurlands heißen bei Saxo Curetes?9, die
Einwohner Norwegens Norici" usw. Obwohl es mit der Um-
deutung bei Saxo eine besondere Bewandtnis haben mag”®, darf
man den eben erwáhnten Beispielen vielleicht die spátere Ver-
wendung des bekannten Eigennamens Velleius in umgedeutetem
Sinn (= Bewohner der dänischen Stadt Vejle) oder Soranus
(— Bewohner der Stadt Sore) an die Seite stellen, da dieselbe
psychologische Disposition sämtlichen Fällen zugrunde liegt
(„Nostrification‘‘). — Etwas ganz anderes ist dann wieder die
willkürliche Latinisierung einheimischer Ortsnamen (Legum >
locum dei, Tvis > Tutavallis usw.).
Bisweilen ist der ganze Satzbau germanisch, so z. B., wenn
im Chronicon Lethrense die Gründung der Stadt Roskilde fol-
gendermaBen beschrieben wird: huic civitati nomen imposuit
post se et fontem“ (dänisch: denne stad gav han navn efter
sig og kilden), ebenda lesen wir: ut ... hanc plagam ... darent
ad sedem regni“. Im irischen Latein finden wir apud wie ir.
a' instrumental verwendet?! In Urkunden begegnet man Phra-
sen des Typus: pono, habeo in pignore (pignere)?*, occupo in
possessiones? (nehme in Besitz) sowie unlateinischen — und un-
romanischen — Gebilden des Typus: prata in Lese, abbas de
Esrom, prepositus in Sallingholm neben den mehr idiomatischen
‘prata in Lese sita’, ‘canonicus Esromensis'. Ebenfalls aus
*$ Finlands Medeltidsurkunder II (Nr. 1752).
76 Gesta Danorum 8, 10, 6 p. 232, 30 Sembonum, Curetum compluriumque
Orientis gentium cladem exercuit.
n ib. 8, 4, 6 p. 218, 15 cogitare debere Sueones Noricos que quantum Germanos
ac Sclavos Septentrionalis semper turba praestiterit.
78 Vgl. unten Seite 39 Zeile 8ff.
? Scriptores Minores Historiae Danicae ed. Gertz I 46, 14.
9 ib. p. 44, 3.
*! Vitae Sanct. Hiberniae ed. Plummer II p. 19 rex Fiachna regnum in Hybernia
forte tenuit, apud quem reliquie multorum Hyberniae sanctorum elevate sunt et
recondite honorifice.
** Necrologium Hafniense 11/2 saec. XIV quam ipse habuit in pignere.
* Rep. Dan. 97 (Dipl. Vib. 2 p. 2, 26 [1219]) medietas (pratorum) ... in
possessione a monachis occupatorum.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.1. 3
34 Frans Blatt
dänischem Gebiet stammt 'vendideram pro centum marcas'“.
Den letzten Beispielen gemeinsam ist die Präposition als Kern
der Lehnübersetzung; ‘placitum tenere'985 (at holde ting, dem
klassischen conventum agere einigermaßen entsprechend), mis-
sam tenere’®, ‘mensam tenere'?? (Tafel halten, in einem Text
deutscher Herkunft), ‘curiam tenere’® (Hof halten) sind vom
humoristischen „sume te in octo“ nicht gerade wesentlich ver-
schieden. Wenn es unumgängliche Regel wird, drei oder mehrere
Glieder so miteinander zu verbinden, daß nur zwischen die zwei
letzten Glieder eine Konjunktion gestellt wird, darf man in der
regelmäßigen Durchführung dieser — im Gegensatz zur antiken
entweder asyndetischen oder polysyndetischen — Verbindungs-
weise wohl Einfluß der Nationalsprachen unterstellen, obgleich
wir auch im antiken Latein den Typus ABCD finden. Dem
Genius der lateinischen Sprache gänzlich widersprechend ist
das Satzgefüge in folgender historischer Notiz: relaxatum
fuit interdictum in Dacia, in concilio, habito in Nyburgh®®.
Danach macht sich der nationale Einflu8 nicht nur in quanti-
tativer Weise (Lehnwörter, einzelne Lehnübersetzungen), son-
dern auch in tiefgehender qualitativer Beziehung (strukturell)
geltend.
Endlich blickt die nationale Unterschicht in den orthogra-
phischen Eigentümlichkeiten der Texte durch. Ein mittelalter-
licher Beobachter bemerkt: D et T confundunt sonos suos adin-
vicem, ut pro D ponatur T et e converso, quod faciunt barbari
% Erslev, Test. 3 p. 8 sect. 1. Gerade diese Phrase ist natürlich keineswegs auf
Dänemark begrenzt. l
8 v. Hammarström a. O.
es Avia Ripensis p. 84, 7 deputavit ad missam perpetuam ... tenendam bona
infrascripta. Dazu vgl. Rep. Dan. 12 68 (Hardsyssels Diplomatarium Nr. 2 [1319]
pro sustentacione unius misse in remedium anime sue cotidie in easdem ecclesia in
perpetuum tenenda, wo tenenda für tenende verschrieben sein muß.
8” Ekkehardi IV Casus S. Galli 1 (MG. SS. II 84) misit ... ad Salamonem, ne
sibi superveniret, sed uterque pro altero mensas teneret.
. %8 Áltestes Schleswiger Stadtrecht 32 pellifices ... regi, cum tenuerit curiam
in civitate, tenentur mille pelles.
59 Necrologium Hafniense 4/4.
s Über diese Scheidung sowie über die Bedingungen für den Eintritt des quali-
tativen Einflusses, vgl. Josef Brüch, Der EinfluB der germanischen Sprachen auf
das Vulgärlatein. |
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 35
et maxime Theotonici pro deus' dicentes 'teus'?!; und so finden
wir denn in allemannischen Diplomen: in bresente, bresbiter,
baco, bumiferis, etefflcies für in presente, presbyter, pago, pomi-
feris, edificiis. Deutschen Ursprung bekundet ferner die durch
die deutsche Aussprache veranlaBte Schreibung visco statt fisco.
Das lateinische auslautende s und t ist im Italienischen im Ge-
gensatz zu anderen romanischen Sprachen früh geschwunden:
in Texten italienischer Herkunft steht daher: ad causas audienda,
ad fideiussores tollendo usw. Die Entwicklung rotundus œ ro-
tondo, mundus > mondo spiegelt sich gleichfalls in italienischen
Urkunden wider?. Wo y als i ausgesprochen wurde, findet
sich dissipatus (= ðıcúzærog)®, martirium u. à. In mittel-
lateinischen Texten, die in Irland oder von Iren geschrieben
sind, stimmt horalogium für horologium mit der lautlichen Ent-
wicklung, die das lateinische monachus zu irischem manach hat
werden lassen; ebenso verrät die Schreibung ceallarius** irisches
Substrat. In einer dänisch-lateinischen Urkunde lesen wir von
einem gewissen Peter Magnussen, daB er seinen ganzen Hof und
seine ganze Habe 'in parochia Ludrwp scita' ',cum duobus an-
ceribus' hinterläßt®; dies ist ein Reflex der Tatsache, daB das
lateinische c im skandinavischen Mittellatein durchweg als s
ausgesprochen wurde, wie dies denn auch aus ‘Seddel’ (scedula),
verglichen mit deu. 'Zettel hervorgeht; eine derartige Schreib-
weise wäre m. E. undenkbar in einem italienischen Dokument:
die Aussprache des c im nordischen Mittellatein ist eben auch
von der französischen abhängig, ein kleines, aber untrügliches
Zeugnis der damaligen kulturellen Beziehung zwischen dem
Norden und Frankreich.
So leicht es ist, nachdem man über den Abfassungsort einer
Urkunde unterrichtet ist, Spuren der lautlichen Eigentümlich-
keiten desjenigen Landes zu entdecken, dem der Verfasser oder
i Siehe Thurot, Ch., Notices et extraits de divers manuscrits Latins pour servir
à l'histoire des doctrines grammaticales au moyen äge p. 144 (Notices et Extraits des
Manuscrits de la Bibliothéque Impériale tom. XXII 2).
a Vgl. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 339.
Vgl. diese Zeitschrift XXVII (1932) p. 245.
Vitae Sanctorum Hiberniae II 245 Ceallarius (dispensator varia lectio) ...
dixit sancto Ruadhano. Traube, Poetae aevi Carolini III 795.
** Dueholms Diplomatarium ed. O. Nielsen, Hauniae 1872 79 p. 48.
3*
36 | Franz Blatt
Abschreiber angehört, so sehr muß man sich davor hüten, auf
Grundlage ungenügender orthographischer Kriterien die Heimat
eines anderweitig nicht bestimmbaren Textes voreilig festlegen
zu wollen. Wenn es gilt, orthographische Eigentümlichkeiten
als Spezifika auszuwerten, kann man nicht vorsichtig genug
sein. Ältere Zusammenstellungen solcher nationalen Kriterien
sind irreführend; so werden z. B. die Formen coltis, incoltis,
terrola, rivolus usw. als eine Eigentümlichkeit für italienische
Urkunden angeführt®, obgleich derartiges nicht auf italie-
nisches Sprachgebiet oder gar auf die italienische Urkunden-
sprache? des IX., X., XI. Jahrhunderts begrenzt ist. Die Form
incolomis findet sich wiederholt in mittellateinischen dánischen
Texten??, und cortis für curtis kann man bei Adam von Bremen®
lesen. Ferner wird nicht nur das Fehlen der Aspiration, sondern
auch Konsonantenverdoppelung als charakteristisch für ita-
lienische Urkunden angeführt, als ob legittimus, capittulum usw.
nicht auch anderswo vorkämen!®, Wenn der Wechsel von i
und e als etwas spezifisch Italienisches hingestellt wird und als
Beispiele für diesen Wechsel ‘molestari, pignerari, calumniari'
dienen sollen!, so liegt hier ein doppelter Irrtum vor; einmal
handelt es sich nicht um eine phonetische Erscheinung, sondern
um das allbekannte Schwanken der genera verbi, welches die
ganze Latinität hindurch und namentlich im Spätlatein zutage
tritt und im Mittellatein aller Länder anzutreffen ist!19?, Wenn
man in einer bahnbrechenden Darstellung des schwedischen
*€ Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 346.
9 Ich kann mir nicht denken, daß es gerade günstig sein soll, die Sprache, be-
sonders die Orthographica der Urkunden isoliert zu betrachten; sämtliche hier
angeführten Erscheinungen kommen auch in italienischen Handschriften des IX.
und X. Jahrhunderts vor; vgl. neuerdings Compositiones ad tingenda musiva ed.
Hjalmar Hedfors, Uppsala 1932 (cod. saec. IX) p. 70ff. sowie die p. 3 A. 1 erwähnten
Texte (saec. X. XI).
os Dueholms Diplomatarium 15 p. 9. 79 p. 48.
*? Bresslau, II 346. Adam Bremensis 2, 80 p. 138, 18 Schmeidler und passim.
Auch in sogenannten Originalurkunden, siehe MG. DD. III, Indices.
19 Dueholms Diplomatarium 20 p. 12. 57 p. 35.
101 Bresslau II p. 346.
102 Es ist nicht empfehlenswert, die angeführten Beispiele (molestari, pignerari
calumniari) für den Vokalwechsel heranzuziehen, wenn man in derselben Anmerkung
von der Verwendung des Activ für Passiv spricht. Vgl. Ch. Beeson A Primer of
Medieval Latin, Introduction $ 64. Karl Strecker, Einführung in das Mittellatein ?*
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 37
Mittellateins erfáhrt, daB in schwedischen Urkunden mit dem
Wechsel zwischen e und i zu rechnen sei!®, ließe sich binzu-
fügen, daB dieser Wechsel keineswegs auf die skandinavische
Halbinsel beschränkt ist. Fehlender Überblick führt immer
wieder dazu, daß dem gesamten Mittellatein geläufige Ortho-
graphica für eine einzige Nation beansprucht werden, anstatt
daB man dem Ursprung dieser supranationalen Erscheinungen
nachginge, die entweder ihre Wurzeln im Spätlatein haben, also
älter sind als man annimmt, oder von einem Land zum anderen
entlehnt sind. So lassen sich die als charakteristisch mittel-
lateinisch angesehenen Erscheinungen: Wegfall der Aspiration,
q statt qu, y statt i, ch statt h (michi, nichil), ph statt f (pro-
phanus), d statt t im Auslaut mitsamt den dazu gehórigen um-
gekehrten Schreibungen bereits in spátantiken Inschriften nach-
weisen; hingegen ist weder die Schreibung mpn — mn (co-
lumpna, dampnum, sollempnis usw.) noch die Konsonanten-
verdoppelung (legittimus, capittulum) inschriftlich zu belegen!9*,
Berlin 1929 p. 24. Für dän. und deutsches Sprachgebiet verweise ich nur auf die
Indices bei Gertz, Scriptores Minores Historiae Danicae, nnd auf die Indices Schmeid-
lers zur Ausgabe Adams von Bremen.
1*9 Hammarström a. O. p. 23: I Urkunder från Sverige kan man räkna med
vàxling mellan e och i.
1* mpn - findet sich meines Wissens weder in italienischen Handschriften
des VII. noch des VIII. Jahrhunderts (negatives Resultat ergibt s. B. die älteste
handschriftliche Überlieferung der Hieronymusbriefe, des lateinischen Josephus,
sowie der merowingischen Urkunden — vgl. J. Vielliard, Le Latin des Diplómes
Royaux et Chartes privées de l'époque mérovingienne 1927 Bibliothéque de l'école
des hautes études no. 251). Erst in nachkarolingischer Zeit erscheint diese Schreib-
weise öfters. Im Cod. Vat. 3833 (geschrieben zwischen 1099—1118) findet sich
bereits dampnatus, und es findet sich gewiB schon früher, vgl. die Überlieferung zu
Hieron. ep. 107, 9, 2 (cod. B saec. IX—X: sollempnes). Alles deutet darauf hin,
daB die Schreibung im IX. Jahrhundert entstanden oder jedenfalls verallgemeinert
worden ist. Die richtige Erklärung hat m. E. Otto Jespersen getroffen in einer Ab-
handlung im Arkiv f. nord. Filologi 29, Ny Följd 25 (1913) p. 22; nachdem er den
Tatbestand festgestellt hat — „vom 13. bis 16./17. Jahrhundert häufig in West-
europa, sowohl in lateinischen, französischen, provenzalischen, katalanischen, eng-
lischen Handschriften" — spricht er die Vermutung aus, daß verschiedene Faktoren
die Schreibung veranlaßt haben können; einmal war man an sumpsi, sumptus, con-
tempsi, contemptus gewohnt, daher sich contempno leicht einstellen mußte;
außerdem trug die Schreibweise zur graphischen Deutlichkeit bei: mn ließ sich sonst
leicht als inn, nm, nni usw. lesen. Die Erscheinung ist von phonetischer Seite aus
öfter behandelt: G. Millardet, Linguistique et Dialectologie romanes (1923) p. 290ff.
Pierre Fouché, Études de phonétique générale (1927) 108fl.
38 Franz Blatt
II.
Das zweite Element, welches der lateinischen Sprache des
Mittelalters ihr Gepráge gibt, besteht in den Neuerungen, welche
von der Umbildung der Gesellschaft herrühren. Lange
bevor Kaiser Gratian die Würde des Pontifex Maximus ablegte,
wird pontifex vom christlichen Bischof gebraucht!95, Curia als
Bezeichnung der päpstlichen Kurie, consistorium für das Kar-
dinalkollegium, templum für den christlichen Kirchenbau —
die Kirche als Geistesmacht muß natürlich ecclesia heißen —
eine solche Umwertung ist in einer Zeit, da populus Romanus
nicht das rómische Volk, sondern die rómische Kirche, die
christliche Gemeinde, bedeutet, mutatis mutandis eine Fort-
setzung der interpretatio Romana im weitesten Sinne, d. h. der-
jenigen Mentalität, welche auf Grund teilweiser Ähnlichkeit
zwischen fremden und bodenständigen Erscheinungen nicht nur
göttlicher Art auf völlige Identität schließt!®. Die Kirche als
Erbe des Imperium Romanum würde auch für das Studium
der lateinischen Sprache ein fruchtbarer Gesichtspunkt sein.
Hier gilt allen Ernstes das Wort: Emittis spiritum tuum et re-
novabis faciem terrae! — Daneben erscheinen dann die sprach-
lichen Wirkungen des Gedankenkomplexes der translatio im-
perii überhaupt.
Wer daher die Vorstellung hegt, daB die sogenannte Pagani-
sierung des Kirchenlateins, oder wenn man will, ,,die Christia-
nisierung des heidnischen Lateins‘‘ ausschließlich auf die Re-
naissance beschränkt sei, wird diese Auffassung einer Revision
19$ Cod. Theod. 9, 17, 2, 1 (a. 349) hoc in posterum observando, ut in provinciis
locorum indices, in urbe Roma cum pontificibus tua celsitudo inspiciat, si per sarturas
succurrendum sit alicui monumento, ut ita demum data licentia tempus etiam
consummando operi statuatur. (Scholia Vaticana: libellis episcopo datis). Die
Gleichsetzung geht bis auf Tertullian zurück, vgl. de pudicitia 1, 6 (ed. Labriolle
Paris 1906) pontifex scilicet maximus, quod est episcopus episcoporum, edicit: Ego
et moechiae et fornicationis delicta poenitentia functis dimitto. Die berühmte, viel-
umstrittene Stelle wird nun im allgemeinen auf Callistus (217/8 bis 222/3) bezogen. —
Daß Gratian die Würde des pontifex maximus ablegte, berichtet Zosimus 4, 36, 5
ro ob nortigixmy xata TÒ 0Urndes zQocayayOrtov l'oatiavo r hr orolyv ane-
0eidato ri altyaıy, aPtuıtov eivai ypıotıayın TO Oyzua vonicaz, Dem Hieronymus
ist dieser Sprachgebrauch ganz geläufig, epist. 60, 10, 2 avunculum pontificem
deserere non audebat. de vir. ill. 54 (a. 392) Fabianus, Romanae ecclesiae episcopus
... et Alexander et Babylas, Hierosolymorum et Antiochenae ecclesiae pontifices.
19 vgl. Tacitus Germania 43.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 39
unterziehen müssen, da die bekannte Erscheinung ihre Wurzeln
bereits im Mittelalter hat: Sabbadini führt in seiner Storia del
Ciceronianismo an, daB Kardinal Bembo für 'excommunicare'
das klassische aqua et igni interdicere', für morituro peccata
remittere' das antikisierende deos superos manesque illi placare'
setzt, und daB er den heiligen Geist 'divinae mentis aura', die
Kirche ‘respublica’, die kirchlichen Würdenträger ‘magistratus’
nennt; in derselben Ebene liegt es aber, wenn Saxo in seinen
Gesta Danorum das mittelalterliche 'introitum misse cantare'
mit 'inchoamentum psallendi facere et primam concentus partem
dare'??, horas legere’ mit ‘sacras preces decurrere’1% wieder-
gibt, oder wenn bei ihm ‘papa’ dem ‘antistes’!®, ‘clericus’ dem
‘scriba’? gewichen ist.
Ganz analoge Erscheinungen bei Einhart hat Manitius be-
handelt!!, Auch Widukind von Korvei antikisiert auf diese
Art: pontifex maximus ist bei ihm der Erzbischof von Mainz,
ecclesia und templum werden nebeneinander vom Kirchenbau
gebraucht, satrapae und quaesturae finden sich bei ihm sowohl wie
bei Saxo Grammaticus. Man wird scheiden müssen zwischen den
durch kontinuierliche Entwicklung zustande gekommenen neuen
Bedeutungen gewisser für das Mittellatein charakteristischer
Wörter (comes, dux, miles, tribunus, beneficium usw.) und den
künstlichen, archaisierenden Bestrebungen einzelner Autoren
(quaestores und satrapae als Bezeichnung kóniglicher Beamten
W Gesta Danorum 11, 7, 17 — Compendium Saxonis ed. Gertz, Script. min. I
375,17. Das Compendium Saxonis soll das große Werk Saxos weiteren Kreisen
zugänglich machen; daher muß es erstens kürzen, zweitens für das antikisierende
Latein Saxos echt mittellateinische Ausdrücke wählen.
108 Gesta Danorum 14, 28, 1 — Comp. Sax. 423, 21.
19 Gesta Danorum 14,3, 5 — Comp. Sax. 409, 12.
110 Gesta Danorum 14, 28, 1 — Comp. Sax. 423, 17.
11 Neues Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde 7 (1882) 552 „Wie in der
Vita Karoli, so werden auch in den Annalen antike Bezeichnungen für deutsche
Verhältnisse gebraucht, oft in ganz sinnentstellender Weise, z. B. Ann. Einh. 763
‘dimisso in hiberna exercitu’, als ob der deutsche Heerbann stehende Winterquartiere
gehabt, wie sie die römischen Legionen unter Caesar und den Kaisern in den Pro-
vinzen hatten ... Von den Sachsen heißt es zu 777 echt rómisch 'senatus ac po-
pulus' ... überall treten *primores' und ‘proceres’ hervor, Laur. 819 und 821 ‘prae-
toriani' 821 sogar ‘milites’ und ‘cives’ ... Vita c. 17 ‘pontifices ac patres’ usw. Vgl.
Anm.144. Zu Widukind vgl. Manitius, Geschichte der rómischen Literatur des
Mittelalters I 717, ferner die Ausgabe von K. A. Kehr.
40 Frans Blatt
bei unserem Saxo!!?*). Auch hier muß national Begrenztes und
Gemeinsames auseinandergehalten werden: wáhrend advocatus,
exactor, exactio, placitum usw. in speziell mittelalterlichen Be-
deutungen großen Teilen des Abendlandes gemeinsam sind, ent-
stammt z.B. veredici (= Wahrsagen, Santmanne)!P einem engen
Bezirk, nämlich der mittelalterlichen Rechtssprache Dänemarks
oder besser der Rechtssprache Jütlands. Eine Folge der Um-
bildung der Gesellschaft ist ferner die Umdeutung der gesamten
antiken Beamtenterminologie auf mittelalterliche Verhältnisse:
senatus (Stadtrat), consul (Mitglied des Rates, vgl. consulo),
proconsul (Bürgermeister), praetor urbanus (Stadvoghet) usw.
III.
Der dritte Hauptfaktor zur Fortbildung der lateinischen
Sprache im Mittelalter ist die damalige Wissenschaft, die
Scholastik. Wie man die Schmiegsamkeit des Mittellateinischen
erreicht hat, erhellt aus einer Äußerung des französischen Philo-
sophen dela Ramée. In der Einleitung zu den Scholae Gram-
maticae behauptet Ramus, es habe an der Pariser Universität
Lehrer gegeben, die — incredibile dictu — hartnäckig an dem
Standpunkt festhielten, daß Ego amat ebenso gutes Latein sei
wie Ego amo, und daß es notwendig gewesen sei, öffentlich gegen
einen solchen Starrsinn einzuschreiten"*, Ramus hat insofern
Recht, als man sich wirklich so ausgedrückt hat, wie er sagt;
er verschweigt aber, warum man sich so ausgedrückt hat, und
daB man mit Ego amat (das 'Ich' liebt) dasselbe hat sagen
wollen, was man mit Hilfe des griechischen oder arabischen
Artikels hätte zum Ausdruck bringen können!!®, Auch sonst
13 Gesta Danorum 15, 4, 1 p. 524, 8 plebem a primoribus dissidentem adversum
regios quaestores publicae consternationis impetum destrinxisse.
113 [as alte Flensburger Stadtrecht (1284) 2: si negaverit, octo veridiei accedant
legaliter et iuramento suo decernant veritatem. — Auf Jütland begrenzt ist auch
provincia in der Bedeutung ,Syssel" (administrative Einheit zwischen terra und
hereth). |
14 Ramus, Scholae Grammaticae 1559 p. 23 incredibile prope dictu est, sed
tamen verum et editis libris proditum in hac eruditissima Academia doctores exti-
tisse, qui mordicus tuerentur ac defenderent ‘Ego amat’ tam Latinam orationem
esse quam Ego amo’ ad eamque pertinaciam comprimendam consilio publico opus
fuisse.
ns Thom. Aqu. Summa theol. I quaestio 38 (ed. Romana) et sic ly per quan-
doque non est appropriatum, sed proprium filii. Es gibt eine andere Theorie, nach
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 41
wurde die lateinische Grammatik nach dem Vorbild der grie-
chischen gedehnt, so daß z. B. esse endlich das Partizipium er-
hielt, welches bereits Caesar nach der Analogie potest-potens
verlangt hatte!!®. Im Spätlateinischen hatte man sich mit den
Formen 'constitutus', ‘positus’, ‘existens’? behelfen müssen, die
man zwar auch in mittellateinischen Texten flndet, die aber
nicht spezifisch mittelalterlich sind. Auch sonst werden die
fehlenden Formen der Verba defectiva nun einfach nachgeholt:
während mal(l)ens zu malo noch antik ist, wird zu volo ein
passives Perfektpartizipium gebildet 'volitum', um das Gewollte
auszudrücken”.
Die Neuerungen fallen sowohl auf das formelle als auf das
semasiologische Gebiet. Abstrakte Substantiva werden mittels
alter Suffixe neugebildet; das Neue besteht in der Menge und
namentlich in der Art der Bildungen: -tas wird nicht nur, wie
es sich gehört, an Substantiva und Adjektiva gehängt!!®, sondern
auch an Verba (velleitas)!!?, Pronomina (talitas als Komplement
des alten qualitas!?9; haecceitas, quidditas!*!), sowie an pro-
nominale und andere Verbindungen (ipseitas, asseitas, perseitas
— perseitas boni bei Duns Scotus — pervietas, deiformitas).
Dieses Suffix ist bei weitem das fruchtbarste. Verbalabstrakta
werden wie von alters her auf -tio gebildet (contumeliatio,
der ‘ly’ dem alt-italienischen Artikel gleich kommt, aber dieser wird m. W. nicht
mit y geschrieben. Wahrscheinlicher ist die Annahme, ly beruhe auf irrtümlicher
Lesung des arabischen Artikels ül oder yl.
1% Thom. Aqu. Summa theol. I quaestio 44 a. 1 necesse est dicere, omne ens
quod quocumque modo est, a deo esse.
117 jb. quaest. 19 volitum movet volentem sicut appetibile appetitum.
118 alietas, actualitas, appetibilitas, bestialitas, causalitas, cognoscibilitas,
communicabilitas, corporeitas, difformitas, entitas, exemplaritas, fontalitas, forma-
litas, individualitas, indivisibilitas, infallibilitas, intellegibilitas, innascibilitas,
irrascibilitas, irregularitas, materialitas, partialitas, personalitas, poenalitas, potenti-
alitas, prioritas, realitas, servilitas, spiritualitas, studiositas, superioritas, unibilitas.
H9 Thom. Aqu. Summa theol. I quaest 19, 6 ad 1 potest dici quod iudex iustus
simpliciter vult homicidam suspendi, sed secundum quid vellet eum vivere, scilicet
inquantum est homo. unde magis potest dici velleitas quam absoluta voluntas.
12 Vgl. Seite 49 Zeile 17 *noluntas' zu ‘voluntas’.
ıt Was die Form betrifft, so erklärt sich die Konsonantenverdoppelung bei
haecceitas wohl aus dem Bestreben, der entstellenden Aussprache [haesitas, haet-
sitas] vorzubeugen; die Konsonantenverdoppelung bei quidditas ist dann vielleicht
als Analogie zu werten. Der Form haecceitas wären die verwandten Bildungen
ipseitas, asseitas, perseitas an die Seite zu stellen.
42 Frans Blatt
ideatio, organizatio, reproductio, sensatio, sophisticatio, speci-
ficatio, sublimatio.
Bei der Bildung von Adjektiven erfreut sich besonders das
Suffix -ivus großer Beliebtheit; in der Regel an den Stamm des
Perfektpartizips gefügt, schafft es das aktive Komplement der
sogenannten Verbaladjektiva der passiven Möglichkeit: con-
summativus-consummabilis, disputativus-disputabilis, divi-
sivus-divisibilis, factivus-factibilis (selbst neu gebildet), forma-
tivus-formabilis, gubernativus-gubernabilis usw. Häufig dienen
diese Adjektiva zur Wiedergabe griechischer Adjektiva auf
-g 122. Seltener, wenngleich bedeutsam, sind die Neubildungen
auf -alis (-aris) von beliebigen Wörtern, sogar von Substantiven
des Typus certitudo (certitudinalis, dazu certitudinaliter; habi-
tudinalis!9) und auf -orius (aedificatorius, campsorius, comple-
torius, contradictorius, demeritorius!'M, Bemerkenswert ist die
bereits früher begonnene, durch das Griechische bedingte Sub-
stantivierung der Praesens-Partizipia (accidens, agens, ante-
cedens, continens, distans usw.) nebst den dazugehórigen Ab-
leitungen (continentia, distantia usw.). Nur wenig neue Verba
und Nomina agentia entstehen in dieser Hochsprache, was wohl
kein Zufall ist: denn nicht von der kontemplativen scholasti-
schen Sprache sind die mittellateinischen Neuerungen auf dem
Gebiete des Handelns zu erwarten.
Viele Neuerungen der oberen Sprachschicht sind den Prae-
fixen zu verdanken (in, con, dis, prae, sub, super usw.): com-
municabilis erhält als Komplement incommunicabilis, com-
possibilis incompossibilis, generabilis ingenerabilis usw. Wo
nicht schon beide Gegensätze vorhanden sind, werden sie neu-
gebildet: auch die Sprache dieser Denker drängt nach Ab-
rundung. Natürlich sind solche Bildungen keineswegs auf die
Hochsprache beschränkt, noch auf Adjektiva; man findet
immaterialitas, indeterminatio, injustiflcatio, inius?5 — das
122 Siehe Seite 46 Zeile 10ff.
* Thom. Aqu. Summa theol I quaestio 23,8 c praedestinationis effectus
certitudinaliter impletur. t. II 40 p. 2 ad 3 lapis certitudinaliter tendit deorsum. Das
Wort findet sich in allen Sprachschichten: Dipl. Suec. 3108.
1*4 In der Bedeutung: verbrecherisch, zur Umdeutung vgl. Seite 44f. unten.
1 Annales Corbeienses a. 1147 (MG. SS. III 17) si quid correctione condignum
iniusque foret.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 43
Praefix wirkt durchaus negierend, so daB wir gelegentlich in-
numeri in der Bedeutung 'wenig'!?* antreffen. Wie durch Hinzu-
fügung der Praefixe neue Begriffe entstehen, so auch durch
Subtraktion: finitas, Begrenztheit entsteht neben infinitas!*",
consignificantia, concomitantia, contrapassio, discontinuatio
sind leicht zu vermehrende Beispiele anderer Praefixbildungen!?s.
Manche der neuen Bildungen waren notwendig, um neue Be-
griffe auszudrücken, andere hátte man wohl vermeiden kónnen.
Dieser Gesichtspunkt wurde, wenngleich recht einseitig, bereits
vor zweihundert Jahren von Walch in seiner Historia critica
Latinae linguae, einem übrigens recht unkritischen Werk, vor-
getragen. Das Mittelalter bedeutet ihm wie den meisten seiner
Zeitgenossen die ferrea aetas!*??. gegen das scholastische Philo-
sophenlatein polemisiert er mit folgenden Worten: latinitatem
philosophicam, quae hodieque[!] a scholasticis praecipue ad
nostram aetatem propagata in usu est, cum Tulliana conten-
damus, ut ... eorum ... persuasio, qui philosophiam haud
elegantiam latinam admittere putant, confutetur. sic pro homo
‘Tationalis’ Cicero dicit de off. 1, 2, 4 homo qui particeps ra-
tionis’, pro hypothesis, principium, praesuppositum’ 1, 9, 7
'eas res ante constituimus', pro ‘irrationalis’ 1, 16, 5 'rationis
expers’, pro 'effectiva potestas’ 1, 21, 15 'efflciendi facultas’,
pro 'abstractum, abstractio', 1, 17, 12 'cogitatione magis quam
re potest separari', pro 'genus et species’ 1, 27, 14 ‘generale et
alterum huic subiectum', 'inde proveniunt malae consequen-
tiae' 1 39, 9 'multum mali in exemplo est', pro 'caussa efflciens'
11,5,8 'ex quo quid gignitur, pro 'disputat pro et contra'
3, 28, 1 ‘in utramque partem disputat' usw.
In semasiologischer Hinsicht führt die Hochsprache zu einer
folgenschweren philosophischen Durchdringung des gesamten
Wortschatzes; von den vielen Wörtern, die früher für philo-
13 'Thietmari Chron. lib. 3, 2 (MG. SS. III 759, 23) ut post innumeros dies
vitam hanc fragilem vita mutaret aeterna.
19 Thom. Aqu. Summa de veritate catholicae fidei contra gentiles II 26 omnem
finitatem effectuum transcendit.
* Vgl. Schütz, Thomaslexicon: concanonicus, concapitularis usw. gehören
einer anderen Schicht an.
19 Er gehört zu denen, die über Leyser und dessen „De ficta medii aevi bar-
barie“ herfallen: sentit non solum contra omnium opinionem, verum etiam contra
veritatem, sagt er im ersten Kapitel De origine et fatis Latinae linguae.
44 Franz Blatt
sophische Zwecke nicht verwendet wurden, seien nur abstraho,
approximatio (= concubitus), praemitto angeführt; hingegen
findet sich efficio in der Bedeutung concludo anscheinend nicht
mehr. Aber nicht nur die retrospektive Seite dieser Sonder-
sprache, sondern auch die uns zugekehrte beansprucht Interesse:
wie es allmählich kam, daß philosophische Termini einen dem
ursprünglichen diametral entgegengesetzten Sinn erhielten
(a priori, obiectivus usw.), wie man dafür die uns geläufigen
Kategorien herausbrachte (obiektiv — subjektiv hieß: in ipsa
rerum natura — in nostra contemplatione!*9),
IV.
Mit den drei erwähnten, nie versiegenden Quellen, aus denen
der mittellateinischen Sprache neue Kraft zuflieBt, lassen sich
jedoch nicht alle Neuerungen erfassen. Etliche der in der Hoch-
sprache zutage tretenden Phänomene haben ihre Vorläufer be-
reits im späten Altertum; die Weiterentwicklung der schon in
der Spätantike vorkommenden Erscheinungen ist ein sämtlichen
Schichten des Mittellateinischen gemeinsamer Zug. Wenn
Thomas v. Aquin morositas in der Bedeutung 'Andauern'
(mora)?! verwendet, oder wenn sonst im Mittellatein iterare
unter Einfluß des Wortes iter die Bedeutung ‘reisen’ erhált!??,
vectigal für vehiculum (vehor) vorkommt??3, oder wenn matri-
monialis durch naheliegende Analogie die Bedeutung 'zum
mütterlichen Erbe gehörig’ erhält!®, oder wenn eine Festung
municipium (von munire abgeleitet) heißt!35, so ist dies prin-
zipiell den Umdeutungen irritare = irritum facere9 (schon im
Codex Theodosianus), delibero = libero"? (schon in antiken
180 Scotus Erigena de div. nat. 493d; 528a.
13 Summa theol. II 88,5 ob. 2 morositas est quaedam circumstantia. Vgl.
E. Löfstedt, Arnobiana (Lunds Universitets Arsskrift. N. F. Aud. 1. Bd. 12.
Nr. b) 58. 84.
132 Thietmar, Chron. 8, 12 (MG. SS. III 868) post ... eundem secum iterantem.
183 Historia Norwegiae, 84,8 ed. Storm, Monumenta Historica Norwegiae.
14 Rep. Dan. 2588 (a. 1360) bona sua patrimonialia et matrimonialia (dem-
entsprechend 'materna' Rep. Dan. 2641 (a. 1361); keineswegs singulür, vgl. 2837
(a. 1367).
185 A. Giry, Manuel de diplomatique p. 422.
1* Rep. Dan. 465 (a. 1280) que geruntur in tempore, ne tempore elapso iyritentur.
187 Rep. Dan. 1281 (a. 1320) bona archiepiscopi ... deliberet aut deliberata
restituet.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 45
Italaübersetzungen) an die Seite zu stellen. Bereits im aus-
gehenden Altertum besitzt. diese Tendenz eine charakteristisch
gelehrte Färbung; es ist daher zu erwarten, daß sie in einer ge-
lehrten Zeit guten Nährboden findet. Derartige gelehrte oder
besser halbgelehrte Umdeutungen sind nicht auf das Lateinische
beschránkt!33, Auch die unter dem Namen 'Rekomposition'
bekannte Erscheinung (indampnis statt indemnis!*?) ist dem
Mittelalter nicht fremd. Die Verbindung der Negation mit Sub-
stantiven oder substantivierten Adjektiven oder Partizipien
z. B. non-ens (nicht-seiendes) hat sogar einst Cicero in
seinen philosophischen Schriften gewagt“.
Die für das Mittellatein so bedeutsamen Suffixe spielen
bereits im Spätlatein eine vorherrschende Rolle. In Urkunden
und historischen Texten dominieren zwar andere Suffixe als
in den theologisch-philosophischen Traktaten; aber auch die
Bildungen auf -issa, -fex, -arius, -orius sind dem Spátlateinischen
geläufig. Oft ist es schwierig, den Inhalt der neugebildeten
Wörter genau zu ermitteln; da hilft eben nur die philologische
Methode, wie dies aus folgendem Beispiel nordischer Herkunft
erhellen mag: die Ermordung des dänischen Königs Erik V.
(1286) wird in einer späten Quelle!*! geschildert mit den Worten:
intraverunt cum parva laternula septem viri armati quorum
unus regis caput cum manu supposita grosso trusorio per-
foravit. 'Trusorio' ist nicht ohne weiteres verständlich, so daß
man es bald einem Abstraktum (Durchbohrung), bald einem
Konkretum (Stoßwaffe) gleichgesetzt hat. Aus einem Testament
(7. Mai 1394)1 geht hervor, daß es sich um ein Konkretum
handeln muB (item domini Iohanni Iul presbitero balteum
meum cotidianum argento reparatum cum trusorio). Daß
andrerseits nicht von einem Schwert noch von einer Waffe im
allgemeinen die Rede ist, zeigt ein Vergleich mit dem Kopen-
hagener Stadtrecht aus dem Jahre 1294 (Dipl. Hafn. I 33 p. 52,5)
128 yg]. das französische: Cette nouvelle a été à la fin heureusement controuvée
(= dementiert, man dachte an ‘contre’), und andere Beispiele, die André Thérive
in seinem Buch, Le francais langue morte p. 112 anführt.
12 Rep. Dan. 2987 (a. 1372).
M6 Tusc. 1, 7 ut verear, ne homini nihil sit non-malum aliud certius, nihil bonum
aliud potius.
M1 Ericus Olai, Scriptores rerum Suecicarum II 67.
M3 Erslev, Test. p. 162 sect. 3.
46 Franz Blatt
quicumque alium vulneraverit cum gladio, trusorio seu alterius
generis armis, dem in plattdeutscher Übersetzung das Wort
'Steckmest? (Stechmesser) gleich kommt. In älteren Quellen
heiBt die zur Ermordung des Kónigs verwendete Waffe 'pugio',
so auch in der Vorlage unserer Stelle, den Annales 826—14151€:
ingressi sunt septem viri ... quorum unus regis caput ....
gravi pugione ... perfodit. Die spätere Quelle gibt hier, wie
auch sonst, in unverfülschtem Mittellatein die etwas antiki-
sierende Vorlage wieder!“.
Wenn wir in der Hochsprache die Bildungen appetitivus,
consiliativus, intellectivus, operativus, speculativus antreffen, die
den aristotelischen Begriffen opexrexog, B'ovAevrexoc, (0«x)vonrexos,
RORKTIXROS, Fewontıxos entsprechen, und wenn man die in allen
mittelalterlichen Schichten verbreitete Häufigkeit der -ivus-
Ableitungen bedenkt (relativus und ähnliche für die wissen-
schaftliche Terminologie unentbehrliche Bildungen), wird man
nicht umhin können, die Schmiegsamkeit des Mittellatei-
nischen großenteils auf die Einwirkung griechischer Vor-
lagen zurückzuführen. Die Bedeutung der spätantiken und früh-
mittelalterlichen Übersetzungsliteratur für die lateinische
148 Annales Danici Medii Aevi ed. Ellen Jørgensen p. 141.
14 Man vergleiche die Annalen und den Bericht des schwedischen Geschichts-
schreibers. Ann.: 1286 interfectus est Ericus, rex Dacie, dictus Klipping, filius
Christofori regis et pater alterius Christofori, patris Waldemari dicti ... Sore
sepulti. In nocte vero sancte Cecilie ruri agens venationis gratia in diocesi Wibergensi
villa Findetorp cum graviter soporatus dormiret in horreo quodam, dormientibus
etiam omnibus, qui cum illo erant, ingressi sunt clam septem viri, previa laternula,
de industria armati, quorum unus regis caput manui innixum gravi pugione per-
fodit. ceteri autem invadentes regium cadaver iam exanime intulerunt illi septua-
ginta vulnera in ultionem, ut ferebatur, nefande libidinis, qua corruperat et ex-
pugnaverat multarum etiam nobilium matronarum pudorem, inter quas fuerat
etiam stuprata uxor domini Stigoti, marscalci regni. Ericus Olai: Ericus rex
Daciae filius Christofori, in nocte S. Cecilie cum causa venationis in Iutia demoratus
apud quoddam oppidum quievisset, cum nimium soporatus in horreo quodam aperto
ostio dormivisset, cunctis qui secum erant dormientibus, intraverunt cum parva
laternula septem viri armati quorum unus regis caput cum manu supposita grosso
trusorio perforavit. Deinde alii subsecuti septuaginta vulnera et inferentes et
eius viscera extrahentes crudeliter occiderunt. Kurz nachher steht 'rotatus', dem
in der Vorlage 'rota percussus' entspricht. Konsequent antikisierend ist die Vorlage
nicht, überhaupt läßt sich für die ganze mittelalterliche Geschichtsschreibung eine
strenge Linie zwischen den „Klassizisten‘‘ und den „Modernen“ nicht ziehen. Alle
móglichen Zwischenstufen sind vertreten.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 47
Schriftsprache kann daher schwerlich hoch genug eingeschátzt
werden. Manche der als genuin mittelalterlich angesehenen
Erscheinungen sind nämlich älteren Datums, als man ge-
meinhin denkt. Die Art, wortwörtlich zu übersetzen, hat be-
reits im späten Altertum den andauernden Klagen über die
egestas linguae Latinae ein Ende bereitet; dies gilt beispiels-
weise auf dem Gebiete der zusammengesetzten Wörter: schon
im VI. Jahrhundert versucht man in den nunmehr der For-
schung in vorbildlicher Weise erschlossenen spätlateinischen
Übersetzungen der Konzilakten!“ die Zusammensetzungen mit
-xocexmoc durch ein Wort wiederzugeben; wir finden nicht nur
das zahme ‘divinitus’ für S eon οõ,j,mug 1, sondern auch das be-
deutend kühnere 'deodecibiliter!* ^ (deo decibilis); hominicola
für ævõownzolgroæ!; mortuicola für vexooAeroce 1; lactatio!59
(neben lactis nutrimenti) für yeA«xrorgoq/íc, deiflcat!9! (neben
deifice loquitur, secundum deum ratiocinatur) für JeoAoyez usw.
zeigen in ihrer Verwendungsweise — denn die Vokabeln als
solche kommen zum Teil bereits früher vor — das Bestreben
der Übersetzer, eine neue Terminologie zu schaffen. Die Über-
setzungen der Konzilakten zeigen ferner, wie man um das Neue
hat ringen müssen; denn teils besitzen wir oft mehrere Über-
setzungen desselben Textes!9*, teils eine vom Presbyter Rusticus
durchkorrigierte ältere Übersetzung gewisser Akten!#; so
finden wir denn nebeneinander breviloquium—brevis sermonis,
multiloquium—longi sermonis, hominicolae—hominum cultores,
deicolae—dei cultores usw. Viele der besonders mittelalterlich
145 Acta Conciliorum Oecumenicorum ed. Eduardus Schwartz.
148 tom. 1 vol. 5, 296, 16.
M? tom. 1 vol. 5, 263, 6.
48 tom. 1 vol. 3, 113, 17.
19 tom. 1 vol. 3, 78, 20.
1 tom. 1 vol. 2, 43, 10 cf. vol. 3, 25, 31 sowie die Übersetzung des Marius
Mercator.
151 tom. 1 vol. 2, 43, 17 cf. ib. 60, 18. vol. 5, 49, 11.
“3 So haben wir 2. B. einen Brief Cyrills an Nestorius in der Version des sky-
thischen Mónches Dionysius Exiguus, in der Versio Turonensis (von Rusticus durch-
korrigiert) und in der Versio Veronensis; Schwartz gibt unter jedem Stück genau
an, ob es andere Übersetzungen gibt, und in welchen Handschriftensammlungen
(Collectio Veronensis, Turonensis usw.) diese sich finden.
188 tom. 1 vol. 3: collectionis Casinensis sive Synodici a Rustico Diacono com-
positi pars prior (1929).
48 Franz Blatt
anmutenden verba sesquipedalia: impassibilitas, humanatio,
appropriatio (in theologischem Sinn), incorruptibilitas, incon-
vertibilis begegnen bereits in jenen alten Übersetzungen.
Während man zu Ciceros Zeiten die zusammengesetzten Wörter
schwerfällig umschreiben mußte, werden nun rücksichtslose
Neubildungen gewagt (Heooeß&orarov heißt bei Cicero: quod
est ad cultum deorum aptissimum!9**; dem entspricht nun dei-
colentissimus). — In drei Parallelübersetzungen desselben grie-
chischen Textes finden wir 'praeter ex deo verbum’ — prae-
ter illud ex deo verbum’ — ‘praeter dei verbum"!55, Daneben
hat man den Artikel durch relative Kurzsátze wiederzugeben
versucht, 'qui ex sancta virgine', 'omnia facta sunt quae in
caelo et quae in terra'!55, oder durch ganze Relativsátze. Die
Form mit dem demonstrativen Pronomen setzte sich durch; es
hängt dies wohl damit zusammen, daß das demonstrative Pro-
nomen bereits in àlterem Latein nach Art des griechischen
Artikels verwendet wurde, nämlich in Fällen, wo ‘hoc, id, illud
einen folgenden Begriff oder Gedanken vorbereitet’!%. Die
Komposita und die Geschichte des Artikels sind nur ein will-
kürlich herausgegriffenes Kapitel, geeignet, um den Einfluß der
Übersetzungsliteratur auf die lateinische Sprache zu veran-
schaulichen!®®. Lehrreich für die Sprachentwicklung sind Ver-
gleiche zwischen alten und neuen Übersetzungen desselben
Textes, sowie zwischen lateinischem Original und lateinischer
Rückübersetzung auf Grundlage des Griechischen!®. Was für
das Altertum ein Vergleich zwischen der von Cicero und der
von Chalcidius vorgenommenen Übersetzung des Timaios wäre,
wird in einiger Zeit die von Thery vorgenommene Untersuchung
der verschiedenen Dionysios Areopagites-Übersetzungen für das
Mittellateinische sein!“.
154 Vgl. Pierre de Labriolle. Histoire de la littérature Latine chrétienne. Paris 1920.
155 Act. Conc. Oec. t. 1 vol. 3, 34, 6.
155 jb. t. 1 vol. 3, 6, 8. 12, 34.
1? Kühner-Stegmann, Latein. Grammatik II p. 625 Anf. Dazu p. 633 A. 22.
158 Ich beabsichtige in größerem Zusammenhang die Bedeutung der spát-
lateinischen Übersetzungslitteratur für die Entwicklung der lateinischen Schrift-
sprache darzulegen.
15 Cyprians de eleemosynis, Anfang, Acta Conciliorum Oecumenicorum tom. 1
vol. 3, 70, 28ff.
1600 Vgl. Arch. Lat. Medii Aevi 7 (1931) 185ff.
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 49
Während dominicida, deicida noch dem Spätlatein ange-
hören, sind z. B. episcopicida und uxoricida mittellateinisch ;
neben die Gleichung pugna— pugnare läßt sich liga—ligare,
emenda—emendare, commenda—commendare, collecta—col-
lectare, resta—restare usw. stellen, über univira ist quadrivira
geformt usw., alles Beispiele, die uns daran gemahnen, daB
die lateinische Schriftsprache als eine Einheit zu betrachten
ist, und daB der scharfe Einschnitt zwischen Altertum und Mit-
telalter wie auf anderem so auch auf sprachlichem Gebiet für
die Forschung ein Hindernis bildet.
Bezeichnend für die mittelalterliche Latinität ist die durch
das einheimische Substrat veranlaßte Unsicherheit in der Ana-
logiebildung, die gelegentlich zu Entgleisungen führt; so wird
z. B. neben den soeben angeführten Komposita auf -cida auch
ein pannicida gebildet!®; wichtig sind die allen Kompositions-
regeln spottenden Bildungen wie etwa promocundus bei Paulus
Diaconus!9*, pistrebant!®, cessodium!**, noluntas!®, nolun-
tarius!® u. a. Fänden wir nicht solche Neubildungen gegen alle
Analogie, so dürfte man von einem Leben des Mittellateinischen
wohl kaum reden. In allen lebendigen Sprachen gibt es Bil-
dungen, die der Analogie und ‘organischen’ Entwicklung nicht
folgen; daher gibt es sie auch in der lateinischen Sprache des
Mittelalters, namentlich in der Hochsprache der Intellektuellen:
wem das liberum arbitrium des Menschen ein Dogma ist, darf
auch mit der Sprache schalten und walten, wie es ihm gut dünkt.
Das innere Leben der lateinischen Sprache wird bezeugt vom
Mittelalter selbst, indem man Äußerungen begegnet, aus denen
hervorgeht, daß man nicht beabsichtigte, die klassische Norm
zu befolgen. So ist es eine allgemeine, obwohl keineswegs nur
im Mittelalter vorkommende Erscheinung, daß die Genera verbi
verwechselt werden. Davon sagt der italienische Lexikograph
Papias (ca. 1050): auguror commune antiquitus, pro quo modo
141 Rep. Dan. 3465 (a. 1385) tabernam pannicidarum cum fundo ... inpignero.
183 carm, II 93 cur promoconde times stillam praebere lechiti? (i. qui promit et
condit).
16 Diarium Vadzstenense, Scriptores rerum Suecicarum I 99ff.
1*4 Dipl. Suec. 4423.
1 Thom. Aqu. Summa Theol. t. II 8, 1 ad 1 fuga . . mali ... dicitur noluntas.
1 Diplomatarium civitatis Malmogiensis ed. L. Weibull 2, 27 p. 11, 25 qui-
cumque ... se reddiderit noluntarium et rebellem.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 4
50 | Franz Blatt
dicitur auguro. Bei Alexander de Villadei lesen wir: Accentus
normas legitur posuisse vetustos/Non tamen has credo ser-
vandas tempore nostro!®. Ähnliche Äußerungen hat Thurot
aus mittellateinischen Grammatikerhandschriften der Pariser
Nationalbibliothek gesammelt!®. Es wäre interessant zu er-
fahren, ob es aus dem Mittelgriechischen solche Ausdrücke der
Selbstbehauptung gibt. Das im spáteren Mittelalter neben dem
Doctrinale Alexanders am meisten benutzte lateinische Lehr-
buch, der sogenannte Gräzismus des Evrard de Béthune enthält
in seinen Regeln manche mittellateinische Wörter und Be-
deutungen; ich führe beispielsweise an:
Praesentat dapifer epulas, cocus excoquit illas
estque senescallus cuius sit sub duce iussus.
prebitor est qui dat prebendas: suscipiens has
prebendarius est; sicut legista docet nos.
parricida patrem transfigit sive parentem
est patricida suam qui violat patriam.
curia planicies in terris: curia regum
sed curtis proprie dicatur canonicorum.
In jeder Beziehung wandelt sich das Lateinische im Laufe des
Mittelalters, von der nach den Einzelländern abgestimmten
Phonetik bis zur Syntax und Wortwahl, obgleich die Verände-
rungen zum Teil von dem Konservatismus der Schriftsprache
überdeckt sind; aber müssen wir nicht bereits die ganze späte
Kaiserzeit hindurch mit einer Schriftsprache rechnen, die der
gesprochenen gerade so wenig Rechnung trägt wie die des Mittel-
alters!99 ?
Auch über das áuBere Leben der lateinischen Sprache des
Mittelalters dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.
Erst wird man mühsam die Stellen zusammentragen müssen,
die von der Kenntnis oder Unkenntnis des Lateinischen Kunde
geben; recht große regionäre Unterschiede werden da zum Vor-
19? Doctrinale 2330ff. Das Papiaszitat s. v.
168 Notices et extraits des Manuscrits de la Bibliothéque impériale tom. XXII, 2
p. 113ff.
19 Ferdinand Lot, A quelle époque a-t-on cessé de parler Latin? (Arch. Lat.
Medii Aevi 6 [1931] 133.)
Sprachwandel im Latein des Mittelalters 51
schein kommen: im Norden gab es noch in der Mitte des XI.Jahr-
hunderts Geistliche, die des Lateinischen nicht máchtig waren, ob-
wohl dies anscheinend schon damals eine Ausnahme war!“.
Als Muttersprache lernte man das Lateinische freilich nicht,
weder im Norden noch im Süden Europas, und vom Volke
wurde es nicht gesprochen!”!. Da sei denn an das Wort eines
verdienten Philologen erinnert!??, der in diesem Zusammenhang
sagt: danach müßte das Hochdeutsch eine tote Sprache sein,
es wird vom Volke nicht gesprochen. Mag man auch nicht un-
umwunden diesem Vergleich beistimmen, so wird man trotzdem
zugeben müssen, daß es sich in beiden Fällen um mehr oder
weniger künstliche Schriftsprachen handelt, die von größeren
oder kleineren Kreisen, früher oder später angeeignet werden.
Höchstens wird man von Gradunterschieden reden dürfen. Was
in dem vor wenigen Jahren erschienenen Werk des begabten
französischen Autors André Thérive „Le francais langue morte''
170 Saxo, Gesta Danorum 11, 7, 7 p. 310, 19ff. Es ist die lustige Geschichte von
einem aus Norwegen stammenden Geistlichen (Sueno Noricus) welcher — des
Lateinischen unkundig, aber in anderer Beziehung ein vortrefflicher Mensch —
hoch in seines Königs Gunst stand; um ihn aus dieser zu verdrängen, ersannen seine
Feinde eine List: als er einmal in Anwesenheit des Königs die Messe lesen sollte,
radierten sie im Meßbuch die ersten zwei Buchstaben des Wortes famulus aus, damit
er im Gebet für den König pro mulo tuo’ statt pro famulo tuo’ hersagen und dadurch
dessen Ärger erregen sollte. Sueno fiel nun richtig auf diese List herein (cum salutem
regi votis libello expressis sollemni verborum precatione debuisset exposcere, ipsum
famuli nomine designaturus, vitiata ab aemulis pagina, muli appellatione foedavit).
Der Kónig aber zürnte ihm nicht, sondern sorgte bloB dafür, daB Sueno Latein
lernte, indem er selber die Kosten des Unterrichts übernahm; bald wurde Sueno
sehr tüchtig — peregrinae scholae erudiendum se dedit — und machte seine Rivalen
zuschanden. — Leider verliert die von Saxo überlieferte Geschichte an histo-
rischem Wert angesichts einer ähnlichen Anekdote in der Vita Meinwerci epis-
copi cp. 186 (MG. SS. XI 150), wo es ebenfalls heißt, daß man durch ab-
sichtliche Tilgung des ‘fa’ in 'famulis et famulabus' den die Messe Zelebrie-
renden hineingelegt habe.
171 Der französische Grammatiker Henri de Crissey (Ende des XIV. Jahr-
hunderts, Thurot p.131) sagt: Latinorum populorum quidam laici dicuntur et
quidam clerici ... laici vero dicuntur habere ydiomata vocum impositarum ad
placitum, que ydiomata docentur pueri (a) matribus et a parentibus et ita ydiomata
multiplicia sunt apud Latinos, quia aliud est apud Gallos aliud apud Lombardos seu
Ytalicos. Clerici vero Latinis dicuntur habere ydioma idem apud omnes eos, et
istud docentur pueri in scolis a grammaticis usw.
17? Zielinski, Th., Cicero im Wandel der Jahrhunderte. 1912 p. 188.
4*
52 Franz Blatt
von der konventionellen franzósischen Schriftsprache gesagt
wird — und sie ist in der Tat in Anbetracht der geringen Ver-
ánderung, welche sie die letzten Jahrhunderte durchgemacht
hat!??, gewissermaßen eine tote Sprache — das gilt cum grano
Salis auch von der lateinischen Sprache des Mittelalters: C'est
une morte qui se porte gaillardement!
178 Marouzeau, Le Latin, Dix Causeries p. 166ff. „Le francais a assez peu
varié de Racine jusqu'à nos jours." p.215f.
Der Ludus de Antichristo.
Von
Wilhelm Kamlah.
I.
Welchen Ort hat der Ludus de Antichristo! in der Früh-
geschichte des geistlichen Spiels?
Zur Geburt des liturgischen Spieles? war es gekommen, als
der Oster-Tropus ‚Quem quaeritis" vom Introitus der Messe
herübertrat in die Reihe der Kreuzzeremonien (adoratio, depo-
sitio, elevatio) als deren AbschluB (visitatio), als so eine eigen-
tümliche Kombination gebráuchlicher liturgischer Formen ent-
stand: 1. Wechselgesang, 2. biblischer Dialog (dieses beides
schon im Tropus verbunden), 3. similitudo-Gebärde (aus dem
Zusammenhang der Kreuzzeremonien), und als dann allmáhlich
an den Tag kam, daß diese Kombination sich tragen ließ von
einem neuen, dem Kultus bis dahin fremden Verhalten: der
imitatio im Schauspielen, als imitatio biblischer Handlung.
Der ZusammenschluB alter Formen machte es also dem Schau-
! Der folgenden Untersuchung ist die Ausgabe von W. Meyer zugrundegelegt
(Sitz.-Ber. d. Münch. Ak. 1882, 1 = Ges. Abh. 1(1905), S. 136ff.). Hier soll der
Versuch gemacht werden, durch eine ins einzelne gehende Interpretation vieles, was
über den Ludus de A. mehr oder weniger summarisch schon manchesmal gesagt
worden ist, schärfer zu fassen und zu ergänzen, weiterhin die zunächst isolierten
Blickpunkte der Beobachtung so zu einander in Beziehung zu setzen, daß der Ludus
im ganzen durchschaubar wird. Die Ergebnisse der Erforschung von Text, Vor-
lage, Entstehungszeit u. dgl. können als bekannt vorausgesetzt werden. — Zahlen
mit Bogen weisen auf die Einteilung durch die Spielanweisungen, einfache Zahlen
auf die Verse des Ludus.
2 Vgl. J. Schwietering, Über den liturgischen Ursprung des mittelalterlichen
geistlichen Spiels Z. f. d. A. 62 (1925), S. 1 ff. und H. Brinkmann, Zum Ursprung des litur-
gischen Spieles, Xenia Bonnensia (1929), S. 106ff. Die von Schw. u. Br. gegebenen
„Deutungen“ treffen bei aller Tiefe des Eindringens doch wohl nicht ganz den Kern
der Sache.
54 Wilhelm Kamlah
spielen möglich, sich einzuschleichen und bindende Einheit einer
neuen Form zu werden, für deren Eigenstàndigkeit sich alsbald
ein eigener Titel fand (ludus)?, und für deren Entwicklung der
Weg schon vorgezeichnet war: von der similitudo zur imitatio®,
vom Bedeuten zum Darstellen, vom „Symbolismus“ des
frühen kultischen Spieles zum „Realismus“ der spátmittelalter-
lichen Mysterien. Das Spiel hatte als schauspielende imitatio
von vornherein die Móglichkeit, sich zu emanzipieren von der
Liturgie, wenngleich es zunáchst und noch auf lange eingebettet
blieb in die Formen seines Ursprungs. So allein läßt sich ver-
stehen, daB es zu außerliturgischen Spielen kam.
In die Reihe der frühesten außerliturgischen Spiele gehört
der Ludus de Antichristo, allerdings als eine in ihren Eigentüm-
lichkeiten einsame Schöpfung. Wenn sogar liturgische ludi,
wie etwa größere, die Einzelszenen zusammenfassende Weih-
nachtsspiele, den Kirchenraum damals zuweilen schon ver-
lassen®, so versteht sich diese Neuerung für den Ludus de Anti-
christo von selbst. Ganze Heere werden auf das Spielfeld ge-
bracht und in Schlachtszenen gegeneinander geführte. Das
übertrifft den ungewöhnlichen Pomp der beiden französischen
Daniel-Spiele noch weit. In seinem Versbau ist der Verfasser,
wie W. Meyer gezeigt hat, durchaus originell. Er verwendet
ferner, soweit sich das heute mit Gewißheit sagen läßt, als
Erster Personiflkationen?. Auseinandersetzungen zwischen
Synagoga und Ecclesia sind dann im späteren volkstümlichen
* [m Antichrist-Spiel (die Handschrift hat keinen Titel) kommt „ludus“ bei-
läufig in der Spielanweisung 3) vor. Über termini technici des geistlichen Spiels (neben
ludus" z. B. „repraesentatio“) vgl. E. K. Chambers, The Mediaeval Stage (Ox-
ford 1903), Vol. II, p. 103ff.
* similitudo ist das Stichwort für die allegorische Bedeutung von Bibel und Kul-
tus. imitatio findet sich bezeichnend gebraucht in der Osterfeier der Regularis Con-
cordia: „Aguntur enim hec ad imitationem angeli sedentis in monumento atque
mulierum cum aromatibus uenientium ...** (Logeman, Anglia XIII, S. 427). (Wenn
es kurz vorher heißt: „... ad similitudinem querentium quid .. ., so hat dieser
farblose Gebrauch von similitudo mit dem spezifischen Begriff der Allegorese natür-
lich nichts zu tun.)
5 W. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas I (2. Aufl. 1911), S. 60.
* Solch ein Bühnenheer konnte allerdings durch vier Mann dargestellt werden,
vgl. die erste Spielanweisung im Daniel-Spiel des Hilarius, ed. I. I. Champollion-
Figeac (Paris 1838), S. 43.
? Creizenach, a. a. O. S. 74.
Der Ludus de Antichristo 55
Spiel ein sehr beliebter Gegenstand geworden?. Die wesent-
lichste Neuerung aber, die der Ludus bringt, ist doch noch
etwas anderes: hier erscheint zum erstenmal die Politik auf
der mittelalterlichen Bühne. Das heißt allerdings nicht, daß
nun etwa neben den biblischen Stoff als etwas Zweites der
politische trete, denn das Politische ist in der kirchlichen apo-
kalyptischen Tradition schon enthalten. Die politische Seite
dieser Tradition ist jedoch im Ludus ganz eigentümlich hervor-
gekehrt, und wie wenig selbstverständlich das ist, zeigen die
anderen epischen und dramatischen Weltgerichtsdichtungen der
gleichen und der folgenden Zeit, die auf das Politische durchaus
verzichten. Nimmt man die Weltgerichtsdramen des Mittel-
alters für sich allein, so tritt die Einzigartigkeit des Tegernseer
Ludus noch klarer ans Licht. Er ist nicht allein das erste Anti-
christ-Spiel, das wir kennen, sondern auf lange Zeit hinaus auch
das einzige. Erst aus dem 14. Jahrhundert sind in Deutschland
wieder Antichrist-Dramen überliefert?.
Wenn sich der Ludus als außerliturgisches Spiel weder aus
dem Oster- noch aus dem Weihnachtszyklus, noch überhaupt
aus einem liturgischen Ursprungsort unmittelbar herleiten läßt,
so wäre nun doch die Annahme, das Stück sei für eine beliebige
Zeit des Jahres geschrieben und zu beliebiger Zeit aufgeführt
worden, ganz untunlich. Der Ludus, der seine Herkunft aus
der liturgischen Formen welt übrigens nicht verleugnet!®, bietet
* Eine Übersicht gibt P. Weber, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst
in ihrem Verhältnis erläutert an einer Ikonographie der Kirche und Synagoge
(1894), S. 71ff.
* K. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der
Reformationszeit (Teutonia IV, 1906).
ı Für die Aufzugs- und Schlußgesänge bestimmt der Autor liturgische Stücke
und setzt die Kenntnis von Text und Melodie bei den Spielern als selbstverstándlich
voraus [7), 35), 104), es werden immer nur die Anfangsworte zitiert; vgl. ferner 9).
36) der liturgische Terminus: , finito responsorio“ J. Jedes Wort wird gesungen
wie in der Liturgie (neumiert ist nur 35) ,,Judea et Jerusalem"). Der liturgische
Wechselgesang tritt in seiner eigentlich liturgischen Verwendungsweise in Gesángen
auf, die der dialogischen Wechselrede entbehren, nämlich in den Aufzugs-
liedern der Spielergruppen (s. unten S. 63). Neben den Einzelnen singen Chöre (Ein-
zugschöre, der Chor der Gesandten, der Heuchler, der christlichen Reiche). Besonders
notwendig wird das Verständnis von der Liturgie her bei einer oft bemángelten oder
entschuldigten formalen Eigentümlichkeit des Ludus, nämlich bei den häufigen
Textwiederholungen. Sie dienen einmal zur formalen Gliederung, wenn z. B. die
56 Wilhelm Kamlah
Hinweise genug, zwar nicht auf einen liturgischen Entstehungs-
ort, wohl aber auf die Stelle, an der er sich einfügt in die Ord-
nung des Kirchenjahres:
Die biblische Grundlage der verarbeiteten Tradition ist
2. Thess. 2. Auch Adso, die unmittelbare Vorlage des Ludus, ent-
wickelt seine Darstellung im Anschluß an dieses Kapitel. Es
wurde durch die herkómmliche Exegese im Sinne der Antichrist-
Tradition interpretiert. Für die Augen des mittelalterlichen
Lesers enthált es die ganze im Ludus dargestellte apokalyptische
Geschichte. Das Kapitel hat seinen Platz in der Ordnung des
Kirchenjahres als Epistel am Quatembersamstag des Advent.
Heute wird leicht vergessen, daß die Bedeutung des adventus
in der Liturgie eine doppelte war. Man dachte an das Kommen
des Herrn zu seiner Geburt, und man dachte an sein einstiges
endgültiges Kommen zum Gericht!!. Von dem Kinde, dessen
Geburt bevorsteht, ist in der Adventsliturgie kaum die Rede,
um so mehr von dem Rex und Dominus, der sein Königtum bald
herrlich antreten wird. Die Erwartung des adventus Christi
mußte aber zugleich eine Erwartung des adventus Antichristi
sein. So kam das Antichrist-Kapitel in die Adventsliturgie.
Nur die Adventszeit konnte zur dramatischen Gestaltung dieses
Kapitels anregen. Einige im Ludus gebrauchte liturgische
Stücke weisen ebenfalls in diese Zeit: 35) soll der Chorus die
Antiphon „Iudea et Ierusalem“ 12 singen, die der Liturgie der
Weihnachtsvigil angehórt. Die merkwürdige Parodie des Anti-
Einzugsgesünge des Anfangs vor dem Auftreten des Antichrist noch einmal gesungen
werden. Solche Wiederholung im Sinne der formalen Rundung ist der Liturgie
geläufig. Auffallender ist es, wenn im Ludus bei der Wiederholung einer bestimmten
Handlung, in der die beteiligten Personen wechseln, dieselben Worte gebraucht
werden unter Einsetzung der neuen Namen. Aber auch so etwas kennt die Liturgie,
z. B. in der Apologie (confiteor).
1 Vom bevorstehenden Endgericht redet auch die Epistel des dem Quatember-
samstag folgenden 4. Adventsonntages 1. Kor. 4, 1—5. Das Evangelium des 1. Ad-
ventsonntages ist die Lucas-Apokalypse.
33 Auf den engen Zusammenhang des geistlichen Spiels gerade mit den Anti-
phonen macht W. Meyer aufmerksam: „In allen geistlichen Spielen werden sehr oft
Antiphonen gesungen, die als allbekannt, wie in den liturgischen Büchern, nur mit
den Anfangsworten zitiert werden" (Fragmenta Burana, 1901, S.38). Es muB
übrigens gegen Meyers Ánderung das Judea der Handschr. stehen bleiben, wie die
Neumen zeigen. (Deren Kenntnis verdanke ich einer Abschrift durch Herrn Dr.
W. Lipphardt.)
I
l
— — — — — ——À
Der Ludus de Antichristo 57
christ 177 auf das Marienwort von Luc. 1, 34 erklürt sich gut,
wenn man beachtet, daB dieser Text als Advents-Antiphon
mehrfach vorkommt!?, Es ergibt sich: Der Tegernseer Ludus
ist ein auBerliturgisches Adventsspiel“.
II.
Welches sind die Aufführungsformen des Ludus, und wie
geht die apokalyptische Geschichte in diese Formen ein?
Die Osterfeier hált sich zunáchst an die liturgischen Geráte
und Gewänder in ihrem similitudo-Charakter (Altar als Grab,
Rauchfässer als Salben usw.), allmählich aber geht das Spiel
dazu über, sich ein eigenes Spielgerät zu schaffen im Sinne der
imitatio (,, Kostüme“, der Thron des Herodes u. dgl.). Da dem
Schauspielen eigene Weisen des Bedeutens von Schauspiel-
gerät zugehören, da die imitatio des Gerätes nicht ,,realistisch''
sein muß, sondern sich auf das „Andeuten“ von „Kostümen“
und „Dekorationen“ zu beschränken vermag, so konnte der
Übergang vom Kult- zum Spielgerät allmählich erfolgen, ohne
Revolution. Als das Spiel den Kirchenraum verließ, bedurfte
es der Vollendung des neuen Spielgerätes, das nun allein den
13 S. Gregorii M. liber responsalis, Migne S. L. 78, 730, 733. Ich setze noch
einige Stücke aus der Adventsliturgie hierher, die das Gesagte beleuchten (nach
der eben genannten Quelle; auf die Angabe der zugehörigen Tage verzichte ich,
weil sich diese Zuordnungen im Mittelalter noch mannigfach verschoben haben).
Die Erwartung der letzten Dinge kommt zum Ausdruck etwa in folgender Antiphon:
„Dies Domini sicut fur ita in nocte veniet, et vos estote parati, quia qua hora non
putatis, filius hominis veniet". Als Parallelen zu den Szenen 32) bis 36) cf etwa
folgende Stücke: Antiphon „Sion, renovaberis et videbis iustum tuum, qui venturus
est in te“. Resp. „Egredietur Dominus et praeliabitur contra gentes et stabunt
pedes eius supra montes olivarum ad orientem." Die schon genannte Antiphon der
Weihnachtsvigil heißt vollständig: „Judea et Jerusalem nolite timere; cras egre-
diemini, et Dominus erit vobiscum, alleluja." Ein Resp. zu dem gleichen Tage
lautet: „Constantes estote (cf Ludus 141), videbitis auxilium Domini super vos
(cf Ludus 144). Judea et Jerusalem... Parallelen zu den Szenen 83) bis 84):
Ant. „Elevare, elevare, consurge, Jerusalem; solve vincula colli tui, captiva filia
Sion“ (cf Ludus 317/18). Ant. „Ecce venit Rex, occurramus obviam Salvatori
mostro" (cf Ludus 321).
14 Daß die eschatologischen Spiele in die Adventszeit gehören, ist oft behauptet
und von P. E. Kretzmann (The liturgical element in the earliest forms of the me-
dieval Drama, in: The University of Minnesota. Studies in language and literature,
Nr. 4, 1916) nachgewiesen worden. Es fehlte für den Ludus de A. noch der spezielle
Nachweis aus seinem eigenen Text.
58 Wilhelm Kamlah
Spielraum zu bestimmen und zu begrenzen hatte. So kam es
durch die Aneinanderreihung von Gerüsten zu der für das mittel-
alterliche Spiel so eigentümlichen Mansionenbühne, wie sie sich
auch im Ludus de Antichristo findet. „Septem sedes regales“
stehen vor uns, außerdem der „Tempel des Herrn“. Vor diesen
sedes und im Halbkreisfelde zwischen ihnen verláuft das Spiel.
Sedes ist gleichbedeutend mit dem franzósischen étage, nicht
„Thron“, sondern eher,, Burg“, wie das Spielgerüst im Deutschen
später gelegentlich heißt!®. Die Spieler sind in Gruppen zu-
sammengefaßt und auf solche Gerüste verteilt. Damit ist von
Anfang an der ganze Raum für alle Handlungen des Stückes
sichtbar. Die moderne Bühne zeigt einen Ausschnitt von
Raum, der Zuschauer spürt das andere Leben, das diesen Aus-
schnitt umgibt, immer mit, es gibt da ein „hinter der Szene“,
das ständige Hin und Her der Schauspieler im Auf- und Ab-
treten und der Szenenwechsel hält dieses „hinter der Szene"
lebendig. Ganz anders die mittelalterliche Bühne. Ein „hinter
der Szene“ kennt sie nicht, daher gibt es auch keinen Szenen-
wechsel und kein eigentliches Neuauftreten oder Verschwinden
von Schauspielern. Die einzelnen Gruppen — im Antichristspiel
die Heiden, die Juden, die Ecclesia mit Kaiser und Papst usw.
— ziehen zu Anfang der Reihe nach ein, jede mit einem Auf-
zugsgesang, dem conductus!®. Erst wenn alles versammelt ist,
heiBt es 10): ,,Tunc Imperator ..... „, die Handlung beginnt.
Obwohl wir nun keinen „Szenenwechsel“ im modernen
Sinne haben, so wechselt die „Szene“ doch fortgesetzt. Es ist,
als sei immer nur ein Stück des Spielfeldes von einem Schein-
werfer beleuchtet, und als bewege sich der Lichtkegel hin und
her, während alles Umgebende im Schatten bleibt. Man könnte
hier von einer wandernden Szene reden. Der Zusammenhang
der Handlung, der im modernen Drama an den Raum selbst,
die feststehende Szene, gebunden ist, haftet hier an den Per-
15 Beschreibung einer Dortmunder Antichristspiel-Aufführung aus dem Jahre
1513 (Chroniken deutscher Städte Bd. XX, S.398, abgedruckt bei Reuschel,
a. a. O. S. 54). Jede sedes (Burg) des Ludus sollte eine ganze Schar von Menschen
aufnehmen. Die Unkenntnis dieser Burgentechnik hat in der Zählung der „Throne“
zuweilen große Verwirrung angerichtet.
16 Daß die Kürzung in 7) so aufgelöst werden muß, hat W. Meyer in einer zu-
gesetzten Anmerkung 1905, S. 152 nachgetragen, „wie im Weihnachtsspiel (Bur)
Nr. 44 und ófter im Daniel von Beauvais".
Der Ludus de Antichristo 59
sonen. Die Szene wandert von einer sedes zu einer andern,
z. B. mit einer Gesandtschaft. Dieses Fortschreiten wird jedoch
häufig unterbrochen, die Handlung schließt an einer Stelle ab,
um an einer anderen neu einzusetzen". Eine solche Technik
macht es möglich, zwei Szenen nebeneinander herzuführen,
deren eine sich natürlich nur im stummen Spiel vollziehen
kann. Durch ein , interim“ zeigt die Spielanweisung so etwas an,
2. B. 48), eine neue stumme Szene setzt schon ein, während die
gerade laufende Redeszene noch nicht zum AbschluB gekommen
ist. Noch auffallender 39), es ist erstaunlich, was die ypocritae
hier während der Gesänge der Ecclesia usw. an stummem Spiel
nach der Vorschrift des Dichters zu leisten haben!“.
Hier zeigt sich also, daB die wortvertretende oder wort-
begleitende Gebärde, die als similitudo- Gebárde vor den An-
fangen des liturgischen Spieles steht, ganz und gar nicht ver-
schwunden ist. Sie war dem Mittelalter ja auch auBerhalb des
Kultus, vor allem im Rechtsleben, so geläufig, daß sie im Spiel
auch da beherrschend hervortreten kann, wo der unmittelbare
Zusammenhang mit dem Kultus schon aufgegeben ist. Un-
zählige Male vollzieht sich im Ludus die Belehnungszeremonie,
zuweilen setzt das Wort für eine lange Weile völlig aus, um
ganz dem Gebärdenspiel zu weichen, z. B. bei den ersten Wun-
dertaten des Antichrist [69)], wo der deutsche Kónig nicht ein-
ma] sein 'hesitare in fide' mit Worten ausdrücken darf. Ebenso
wortlos vollziehen sich die Schlachtszenen, das ‘cum honore
dimittere’ [17) u. ö.] und das ‘honeste suscipere’ [20) u. ö.].
Zum großen Teil sind die Gebärden des Ludus ähnlich denen
der Liturgie durch bestimmte Formen gebunden, tragen also
zeremonielle Gemessenheit an sich. Im Zusammenhang mit
dieser rituell gebundenen Bewegung wirkt die zunáchst ver-
1? Solche Sprünge der Handlung werden nur klar, wenn man sich den Ablauf
des Spiels auf der Bühne deutlich vorstellt. Sie finden sich vor 18), vor 24), vor 35)
usw. Das Neuansetzen ist hier immer nur szenischer Árt, wührend die Handlung
inbaltlich glatt weitergeht. Anders ist es allein nach 194. Hier reiBt wirklich einmal
der Faden einer Handlung ab und wird erst 235 wieder aufgenommen.
15 Ein weiteres ,interim'-Spiel 34). — Solche Doppelszenen kommen auch
anderswo im geistlichen Drama vor, vgl. Creizenach, a. a. O. S. 88.
1* Stummes Spiel ferner 37) (adorare), 42), 46), 48), 53) usw., bes. eigentümlich
noch 104): Die „Rückkehr zum Glauben" kommt dadurch zur Anschauung, daB
man vor die sedes der Ecclesia zieht.
60 Wilhelm Kamlah
wunderliche starre Bewegungslosigkeit, in der die Spieler zu-
meist verharren, nicht mehr sinnlos oder ungeschickt, wie auch
die Sprache des Gregorianischen Rezitationstons zu dem un-
realistischen Schweigen der untätigen Spieler in einem wohl-
begreiflichen Verháltnis steht — daran werden die Grenzen
deutlich, in denen sich die imitatio noch immer hält, noch
immer, d. h. nicht etwa durch ästhetisch motivierte ,,Stili-
sierung“, die dem extremen Realismus ja erst nachfolgt.
Das Wort hat hier — im Gegensatz zum antiken Rededrama
— ganz und gar nicht die Alleinherrschaft, es soll vielmehr das
dramatische Geschehen zur vollen Anschauung gebracht werden,
der „Zuschauer“ ist hier wirklich im Zuschauen und nicht allein
im Zuhören beschäftigt. Creizenach hat sehr fein bemerkt, das
mittelalterliche Drama wolle die Handlung in aller Vollständig-
keit zeigen und bedürfe nicht der Auskunft des antiken Dramas,
wo die Ereignisse hinter der Szene durch Boten gemeldet wer-
den“. Das steht aber im Zusammenhang mit jener Eigentüm-
lichkeit der mittelalterlichen Bühne, von der wir ausgingen.
Das Wort-Drama muß sich auf einer Bühne vollziehen, die nur
einen engen Ausschnitt des Raumes zeigt, da das Anschaubare
hinter der Szene geschieht und nur in Rede transformiert auf
die Bühne kommt, das mittelalterliche Drama dagegen stellt
Gebärde und sichtbare Handlung auf die Bühne neben das Wort,
da es hinter der Bühne nichts mehr zu verbergen hat.
Alle diese Beobachtungen am Ludus zeigen seine Formen
in weitgehender Übereinstimmung mit denen des mittelalter-
lichen Spieles überhaupt, d. h.: sie zeigen die Formen, die der
Dichter vorfindet. Es ist nun lehrreich, zu sehen, wie er sie
anwendet auf seinen eigentümlichen Stoff.
Die Bühne zeigt den ganzen Erdkreis. Wieso aber den
ganzen ? Etwa die Erde in perspektivischer Zusammendrängung,
wie Michaelis?! meinte? Dieser Raum, in dem sich die Handlung
bewegt, ist kein empirischer Raum, sondern ein dogmatischer.
Die Erde kommt als Erde, sofern sie nur hier vorfindlich und
geographisch erforschbar ist, gar nicht in Betracht, sondern
allein als eingeordnet in den Bau von Gottes Weltordnung. Nur
andeutungsweise wird die Erdkarte berücksichtigt, Jerusalem
20 A. a. O. S. 80.
& Z. f. d. A. 54 (1913), S. 61ff.
Der Ludus de Antichristo 61
wird in den Osten verlegt und gegenüber in den Westen das
imperium mit Frankreich und Deutschland.
DaB die Bühne den Erdkreis darstellt, ist durch den Stoff
gefordert: es soll ja das letzte Weltgeschehen zur Darstellung
kommen. Doch ist nun sehr bemerkenswert, wie die Bühne in
ihrer oben beschriebenen Eigenart dieser Aufgabe entgegen-
kommt. Der totus mundus ist ja der umfassende Raum, hinter
dem es nichts mehr gibt. Diese Eigenart des darzustellenden
Raumes fällt also im Ludus zusammen mit der Eigenart der
mittelalterlichen Bühne, die kein „hinter der Szene“ kennt.
Eine derartige Bühne ist allein imstande, den totus mundus dar-
zustellen. Die Eigenart der neuzeitlichen Bühne würde sich
gegen die Aufnahme eines solchen Gegenstandes sträuben.
In Gottes Weltordnung sind bestimmte Größen der Erde
dogmatisch ausgezeichnet, indem sie nämlich die Ordnung von
Gott zur Welt vermitteln. Damit ist die Auswahl der auftreten-
den Personen gegeben. Als vermittelnde GróBen erscheinen die
Kirche, der Papst, der Kaiser. Unter den regna werden die-
jenigen ausgewáhlt, die zum imperium in einer wesentlichen
Beziehung stehen, durch einen gegenwärtigen oder verjährten
Anspruch auf seinen Besitz — so der deutsche Kónig, die Kónige
der Franzosen und der Griechen — oder durch den Gegensatz
— so der Rex Babylonis; parallel zu diesem Gegensatz stehen
sich Ecclesia und Gentilitas gegenüber. Zu diesen beiden tritt
die Synagoga, so daB die dogmatische Dreiheit: Heidentum,
alter und neuer Bund hergestellt ist“. Die genannten Personen
sind dem Dichter nur zum Teil durch die apokalyptische Tra-
dition gegeben, die übrigen fügt er gemäß dem ihm vertrauten
22 Honorius Augustodunensis sagt in seinem Hoheliedkommentar: ,,Haec (die
Eccl. als sponsa) in duo quasi in duas personas dividitur, scil. in Synagogam et
Gentilitatem. Ad istam prophetae fuerunt internuntii. Ad illam vero apostoli sunt
missj. Sed de his duabus una sponsa, videlicet catholica Ecclesia, Christo per inter-
nuntios est adducta . . (Migne S. L. 172, 359). Für die exegetische Herkunft der
Ecclesia als Frauengestalt, vor allem als mater, ist neben dem Hohen Lied aus-
schlaggebend Apok. 12. (Die mariologische Deutung des Weibes auf dem Monde
ist spät und sekundär.) Eccl, Syn., Gent. sind also nicht allein ,,Personifikatio-
nen“, sie sind zugleich allegorisch gedeutete Frauen der Bibel. Man sieht, wie hier
die Begriffspersonifikation antiker Herkunft und die Allegorese der kirchlichen
exegetischen Tradition ineinander spielen. Über Eccl. und Syn. handelt ausführ-
lich P. Weber in der schon genannten Monographie.
62 Wilhelm Kamlah
Bilde des mundus hinzu. Der Kónig von Jerusalem hat keine
direkte Beziehung zum imperium, er wird eingeführt entsprechend
der Rolle seiner Stadt in der Tradition und entsprechend seiner
Bedeutung in der Gegenwart des Dichters®. Damit ist die Schar der
am Anfang des Spieles auftretenden Personen vollzáhlig. Es kommt
dem Dichter also nicht allein darauf an, alle spáterhin agierenden
Spieler am Anfang auf die Bühne zu bringen, diesem technischen
Interesse ordnet sich ein anderes über: er will den Raum, in dem
die kommenden Ereignisse geschehen sollen, vollständig abstecken
und darstellen. Dabei ist es gleichgültig, ob sich die Bedeutung ein-
zelner Figuren auf der Bühne in dieser Darstellung erschópft, so daB
sje nie etwas zu sagen oder zu tun bekommen, wie etwa der Papst.
Daß im Verlauf der nun folgenden Handlung noch weitere
Personen auftreten, widerspricht dem oben über die Technik
der Bühne Gesagten nur scheinbar. Die Handlung bringt ja das
apokalyptische Endgeschehen zur Darstellung. Neu treten nur
die Personen auf, die auch in diesem Weltgeschehen einmal neu
auftreten werden. Dagegen bezeichnen die am Anfang einziehen-
den Spieler die Welt, wie sie jetzt schon ist. Das „Auftreten‘‘
des Engels, des Antichrist mit seinen Helfern und der Propheten
bezieht sich also nicht auf die Bühne, sondern auf die Welt, sie
kommen nicht von „hinter der Szene“, sondern gewissermaßen
von „über der Szene“. Man könnte ja die durch die Bühne dar-
gestellte terra auch so bestimmen: sie ist die Erde, der das
coelum gegenübersteht. So bleibt dem Zuschauer des Ludus
im Gegensatz und doch in formaler Parallele zum Zuschauer
des modernen Dramas immer das „über der Szene“ bewußt, der
Himmel als der Raum, von dem aus ein überraschendes Ein-
greifen in die Handlung in jedem Augenblick zu erwarten ist,
„angelus domini subito apparens“ 34), der Engel des Herrn ist
plótzlich da, er singt nicht etwa erst einen conductus wie die
andern, und ebenso treten die Propheten 87) vom Himmel her
auf, wo sie seit ihrer aus dem Alten Testament bekannten
Himmelfahrt gelebt haben. Und von „über der Szene“ kommt
dann auch die entscheidende Wendung am Schluß: ,,Statim fit
sonitus super caput Antichristi" 103). Aber woher kommt denn
der Antichrist selbst? Natürlich nicht aus dem Himmel. Er
ist auch nicht, wie die Menschen sonst, am Anfang schon da,
$3 g. u. S. 69.
Der Ludus de Antichristo 63
sein Auftreten ist ja gerade entscheidendes Ereignis der End-
geschichte. Da die vom Dichter gehandhabte dramatische
Technik einen solchen Fall nicht vorsieht, hilft er sich durch.
ein KompromiB: er läßt den Antichrist einerseits erst im Laufe
der Handlung auftreten, anderseits gibt er ihm einen conductus,
wie ihn auch die anfangs einziehenden Gruppen zu singen haben.
Um das formal noch deutlicher zu machen, läßt er sehr geschickt
die drei ersten Gruppen 39) ihre Aufzugsgesánge wiederholen,
so daB sich der conductus des Antichrist 151—170 als vierter
anschließt“. Eine solche Lösung war durch die Tradition
* Der conductus des Antichrist ist bisher als solcher nicht erkannt worden.
Daß wir es bei den Versen 151—170 mit dieser besonderen Form des „Aufzugsliedes‘“
zu tun haben, zeigen folgende Beobachtungen: das Spiel verläuft durchweg im 13-
silbigen Dialogvers mit paarigem Reim. Ausnahmen: die 11-Silber-Verse der Pro-
pheten (die damit formal als die Boten aus einer anderen Welt gekennzeichnet sind),
die 14-Silber-Verse der Synagoge 365—368, 399—402 (damit ist die Synagoge als
Bekehrte und Märtyrerin gekennzeichnet. 399—402 sind zwei 14-silbige Zeilen,
das hat Meyer selbst 1906 richtiggestellt!). Alle diese Verse gehören aber durch die.
ungegliedert durchlaufende Versfolge noch mit dem 13-Silber-Vers zusammen. Da-
gegen fallen ganz heraus die strophisch gebauten Stücke (4-zeilige Strophen):
1) 1—32, 2) 33—44, 3) 45—48, 4) 151—170 (nicht durch die Reimstellung — die
teilweise auch paarig ist —, sondern durch den Wechsel der Zeilenformen sind diese:
Stücke als strophisch ausgezeichnet). Diese vier Stücke gehóren formal zusammen,
stehen als undramatische Liedformen den dramatischen, ungegliedert
durchlaufenden Versen der Handlung klar gegenüber. Das ist bewußte
Absicht des Dichters und zeigt wieder seinen guten Formensinn. (Hier bedarf also
Meyers Urteil a. a. O. S. 189 (S. 338), dem wir im übrigen allen Aufschluß über diese Dinge
verdanken, einer kleinen Korrektur. Es bandelt sich nicht um „unentwickelten“
Strophenbau, sondern um bewußte Vermeidung der Strophen überhaupt innerhalb
der Handlung. Hätte Meyer nicht die letzten Verse der Synagoge von 365 an fälsch-
lich für Strophen gehalten — 1882 wahrscheinlich verfübrt durch den offenbar
zufälligen Reim der Halbverse in den letzten beiden Zeilen — so würde ihm das
nicht entgangen sein.) Daß die Verse 151—170 mit der folgenden Handlung in
einem durchaus widerspruchsvollen Verhältnis stehen, hat Scherer schon gezeigt
(Z. f. d. A. 24, S. 451). Nur seine Folgerung, es müsse sich um eine Interpolation
handeln, ist zu voreilig. Bewiesen hat er ja nur, daß dieses Stück aus der durch-
laufenden Handlung klar herausgeschnitten ist, wie die anderen Aufzugslieder
auch (was durch ihre Wiederholung 39) besonders deutlich wird). Als conductus
verstanden fügt sich das Stück jedoch glatt in den Ablauf des Ganzen ein. Eine
Parallele zum conductus der Ecclesia zeigt nicht allein die Form des „Liedes“,
sondern auch die Form des „Aufzugs“: beide, Ecclesia und Antichrist, werden zur
Rechten und zur Linken von Personifikationen geleitet. Während die Ypocrisis
in der Handlung nachher durch die ypocritae vertreten wird, ist es nun ganz folge-
richtig, wenn der Antichrist gemäß 180 die Funktion der Heresis selber übernimmt.
64 Wilhelm Kamlah
durchaus nahegelegt: der Antichrist ist ja ein Mensch, der schon
vor seinem Auftreten in Bethsaida und Corozaim?* aufgewachsen
ist und von da nach Jerusalem zieht. So ist es nicht zu verwun-
dern, daß diese Kompromißfigur als halb natürlich, halb über-
natürlich, halb Mensch, halb Teufel, sich auch auf der Bühne
in Kompromißformen zeigt.
In der dramatischen Durchführung des darzustellenden
Stoffes fällt die schematische Behandlung zweier umfangreicher
Abschnitte auf, der Szenen nämlich, in denen zuerst der Kaiser
und dann in deutlicher Parallele der Antichrist sich die Welt
unterwerfen. Es liegt auf der Hand, daß mit dieser schematischen
Durchführung auf „Individualisierung“ sowohl der Personen
wie der Ereignisse verzichtet wird. Wenn sich die Unterwer-
fungsszenen des Königs der Griechen und des Königs von
Jerusalem gegenüber dem Kaiser in genau übereinstimmenden
Worten und Handlungen vollziehen, indem allein die Namen
wechseln, so ist deutlich, daß der Autor an ‚individueller Cha-
rakteristik" nicht das mindeste Interesse hat.
Nun zeigen sich aber in diesen Szenen an einigen Stellen Ab-
weichungen vom Schema. Gerade weil die Handlung normaler-
weise schematisch verläuft, müssen es ganz besondere Gründe
sein, die den Dichter zu solchen Abweichungen veranlassen, und
diese Gründe lassen sich denn auch in jedem einzelnen Fall un-
schwer erkennen. 57 müßte es nach dem Schema heißen: „Hoc
igitur edictum Francis indicate“ [cf 109], statt dessen heißt es:
„Sed quod in militia valet gens Francorum“; der Dichter gibt
also selbst in einem Kausalsatz den Grund der Abweichung an;
weil die Franzosen so tüchtige Ritter sind, erfahren sie eine be-
vorzugte Behandlung. Die Verse der Gesandten 11) entsprechen
dann wieder dem Schema, mit einer durch den besonderen Be-
fehl des Kaisers gebotenen Änderung am Schluß. Die nächste
Spielanweisung müßte nach dem Schema von einem "honeste
suscipere’ reden [cf 20), 26)], statt dessen heißt es bloß — und
das klingt nun im Vergleich zum Schema kurz und schroff —
„Quibus ille:“, der Franzosenkönig ist unhöflich, er hat im
folgenden etwas ganz Besonderes zu sagen. Diese Untersuchung
der einzelnen Abweichungen ließe sich nun weiter durchführen,
3$ Adso (E. Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen (1898), S. 107).
Der Ludus de Antichristo 65
hier, wo es nur darauf ankommt, die Arbeitsweise des Verfassers
in der dramatischen Gestaltung des Stoffes zu zeigen, genügen
diese Beispiele schon, um Folgendes erkennen zu lassen: wenn
der Dichter die schematische Behandlung der Personen und Er-
eignisse durchbricht, so will er auch hier nicht ,,individuali-
sieren", sondern ganz bestimmte Dinge zeigen, ganz be-
stimmte klar umgrenzte Aussagen machen, die man beinahe
an den Fingern aufzáhlen kann. Was hier vorliegt, ist Umsetzung
von Beschreibung in die dramatische Form. Der Dichter zeigt
die regna nicht anders, als sie auch ein Chronist seiner Tage in
aneinandergereihten Urteilen beschreiben würde.
Die einzelnen reges reden nur als Vertreter ihrer regna, auf
die sich jene Urteile allein beziehen. Und so wenig wie die
Könige „Individualitäten“ sind, so wenig ist es irgendeine
andere Figur im Drama. Zeichen der „Individualität“ ist uns
der Name. Mit Namen genannt werden nur die beiden Pro-
pheten Elias und Henoch, alle anderen sind namenlos. Aber
auch bei den Propheten wird auf die Móglichkeit, jeden einzelnen
von ihnen als einzelnen zu zeichnen, nicht der geringste Wert
gelegt. Nicht einmal die Charakterisierung dieser Propheten,
die sich in der Bibel finden ließe, wird aufgegriffen. Der Dichter
verzichtet auf das alles schon dadurch, daB er sie einfach zu-
sammen singen láBt. Nur ein kleines Stück singt Elias allein,
um sagen zu können „iste Enoch et ego sum Helias" 353 —
denn wenn sie beide auf einmal reden, kónnen sie sich nicht
vorstellen. Ebensowenig will der Dichter einzelne ypocritae
oder legati zeigen, auch sie läßt er in Chören singen. Ja, auch
dem Imperator und natürlich dem Antichrist fehlt jeder „ indi-
viduelle“ Zug. (Eigentümlich behandelt sind dagegen die Per-
sonifikationen. Die Gentilitas erscheint als Vertreterin philo-
sophischer ratio“, die Synagoga ist mit alttestamentlicher Rede-
= Der lehrhafte conductus der Gentilitas ist eine logische Schlußkette in
Versen. Die behauptete These steht am Anfang 1—4, es folgt die Zurückweisung
der Gegenthese 5—8, weiterhin der Beweis 9—20, und derselbe Beweis wiederholt
21—32. Der Verfasser muß in der Schullogik zu Haus sein. Die Gentilitas tritt bei
ihrem späteren kurzen Eingreifen in die Handlung 77) wieder mit einem Lehrstück
auf. Neben den logischen Argumenten für den Polytheismus schiebt ihr der Dichter
die Verteidigung des „ritus antiquitatis" zu. Dieses ihr Stichwort [7, 295] führt
auch der König von Babel 119 ins Feld. Eigene Züge trägt der Heidenkónig nicht,
er verkörpert nur die aggressive Seite der Gentilitas. — In dem „Rithmus de Fide
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 5
66 Wilhelm Kamlah
weise ausgestattet, die Ecclesia redet dié Sprache der aucto-
ritas.) Zum AbschluB sei noch hingewiesen auf einen Fall, in
dem der Verfasser einmal die Affekte der handelnden Personen
benennt, um etwas Bestimmtes damit zu sagen: die ypocritae
reden 253 von ihrer eigenen ,,confusio'', und vorher 62) heißt es
confusi". Hier soll die Wirkung der zornigen Rede des deut-
schen Kónigs zur Geltung gebracht werden. Es zeigt sich also
die besondere Absicht, diesen rex Teotonicorum so imponierend
wie nur móglich auftreten zu lassen.
Wie der Dichter bei der Aufgabe, seinen Stoff in die vorge-
fundenen Formen der Bühne zu fassen, vorgeht, ist nun soweit
deutlich geworden, daB eine Antwort auf die Frage versucht
werden kann: welchen Sinn hat denn hier die dramatische Ge-
staltung überhaupt? Das typische moderne Drama will, was
es auch immer im besonderen zu sagen hat, „das Leben“ zeigen,
indem es irgendwelches Leben auf die Bühne bringt. Und den
Zuschauer betrifft das insofern, als „das Leben“ auch sein
Leben ist. Dabei kommt es.an auf das Leben, ‚wie es
ist", in der Kontingenz seiner mannigfaltigen Besonderheiten,
seiner „individuellen‘‘ Menschen, Geschehnisse usw. Wenn der
Dichter des Ludus dagegen die apokalyptische Geschichte dar-
stellt, so ist sie ihm keineswegs, trotz aller Schlachtenszenen
und Gesandtschaften, ein Geschehen aus dem ,,Leben'', sondern
aus der geoffenbarten Heilsgeschichte. Und den Zuschauer be-
trifft das insofern, als diese Heilsgeschichte Geschichte seines
Heiles ist. Der Antichrist ist sein Feind als der Widersacher
Christi und nicht eine beliebige Figur mit einem interessanten
Schicksal. Es kommt hier nicht an auf die Kontingenz des
Mannigfaltigen, auf „individuelle“ Menschen und Geschehnisse,
sondern immer nur auf die Heilsgeschichte in ihrer geoffenbarten
Bestimmtheit. Diese Heilsgeschichte läßt sich darstellen in
umgrenzten Aussagen, und diese wiederum lassen sich dra-
EDEN formen. Nun geht der Verfasser des Ludus MS
et Ratione invicem disceptantibus“ (abgedr. von F. Wilhelm, Münchner Museum II,
S. 234ff.) heißt es: „Fides verecundior et minus arguta obmissis subtilibus non
querit acuta. Syllogizat Ratio argumentis tuta." Damit sind Fides und Ratio genau
so beschrieben, wie sie im Ludus als Ecclesia und Gentilitas auftreten. Auf die Áhn-
lichkeit dieses M mit der pda des Ludus macht Wilhelm ebda.
(S. 230) aufmerksam. |
Der Ludus de Antichristo 67
in solchen ,, Aussagen" über das Heilsgeschichtliche nach einer
gewissen Seite — námlich der politischen — hinaus, er legt ja
gerade Wert auf bestimmte Züge am deutschen Kónig, auf die
Rittertüchtigkeit der Franzosen usw. Daran enthüllt sich in
der Tat ein eigenartiges Problem dieser Dichtung, von dem
unten noch gehandelt werden soll. Formal bleibt es auch hier
dabei, daB nicht ,,das Leben'', sondern ein umgrenztes Aussag-
bares dramatisch gezeigt wird.
Zur Kontingenz des „Lebens“, auf das es dem modernen
Drama ankommt, gehórt es, daB man nicht von vornherein
übersieht, „wie es weitergeht“, daß alles mögliche geschehen,
begegnen, aus der umgebenden Welt — d. h. auf der Bühne:
von „hinter der Szene“ — „auftreten“ kann. Darum entspricht
diesem Drama die Ausschnittbühne. Die Heilsgeschichte da-
gegen ist nicht den Zufällen und Überraschungen menschlichen
Lebens ausgeliefert, sie ist von Gott geleitet, von Ewigkeit her
bestimmt, längst offenbar gemacht; jeder kennt sie schon und
soll sie kennen. Wenn daher im Ludus wie in anderen frühen
Spielen des Mittelalters Heilsgeschichte zur Darstellung kommt,
so erscheint sie mit Recht in einem fest umrissenen abgeschlos-
senen Bühnenraum, der von vornherein die Schauplätze der
Handlung enthüllt, „hinter“ dem nichts mehr ist, von wo Über-
raschendes auftreten könnte, der allein offen steht dem subito
apparere himmlischer oder höllischer Gewalten.
Kennt man aber die Heilsgeschichte schon und kann gar
nichts „Neues“ mehr erfahren als Zuschauer eines Oster- oder
Weltgerichtsspiels, welchen Sinn hat es dann, das Bekannte
dramatisch darzustellen, oder gar das gleiche Spiel alljährlich
zu wiederholen? Die Heilsgeschichte muß immer aufs neue
vergegenwärtigt werden, sie geschieht alljährlich im Kir-
chenjahr, alltäglich im Meßopfer; in solcher kultischen Ver-
gegenwärtigung steht auch das geistliche Spiel, und nicht allein
das liturgische. Hätte der Kultus nicht schon immer Heils-
geschichte vergegenwärtigt, so hätte es niemals zu der beson-
deren Weise solcher Vergegenwártigung in der „representatio“
des Schauspielens kommen kónnen.
Der begründende Sinn des frühen heilsgeschichtlichen Spiels
ist damit angedeutet. Dieser Grund kann noch manches andere
tragen, der Dichter des Ludus mit seiner Hervorkehrung des
p*
68 Wilhelm Kamlah
Politischen ist von besonderen Motiven geleitet, in das Osterspiel
dringen Szenen ein, die das heilsgeschichtliche Geschehen aus-
malen, die mehr der delectatio als der aedificatio dienen. Doch
das alles gehórt in die allgemeine Geschichte des geistlichen
Spiels und führt über den Rahmen einer Spezialuntersuchung
hinaus.
III.
Wenn der Verfasser des Ludus Heilsgeschichte darstellen
will, so muß er sich an eine autoritative Vorlage anschließen.
Der Libellus de Antichristo des Adso ist ihm nicht ein anregender
Vorwurf, sondern der Zugang zu dem in der Offenbarung be-
gründeten, in der Bibel und den Vätern niedergelegten echten
Wissen um die Zukunft. Er kann sich auf diesen Zugang ver-
lassen, denn Adso verwahrt sich am Eingang seines Traktates
heftig gegen den Verdacht, seine Aussagen kónnten Erzeugnisse
seiner Phantasie, seines ‘fingere’? sein, er versichert mit Nach-
druck, nur die Angaben der Kirchenväter wiederzugeben“. Die
Absicht des 'fingere', die für den Begriff des Dichtens allmáhlich
konstitutiv geworden ist, fehlt auch dem Dichter des Ludus
durchaus. Wo heute die Phantasie ihre Stelle hat, steht hier
die Autorität. Nun bringt aber die Tatsache, daB es sich nicht
um schon gewesene und in der Bibel eindeutig beschriebene,
sondern um noch bevorstehende Fakten der Heilsgeschichte
handelt, ein Moment der Unsicherheit mit sich und damit die
Móglichkeit zu freierer Gestaltung — zumal die geltende apoka-
lyptische Überlieferung nicht ganz einhellig war. Die Freiheit in
der Ausführung des Ludus ist denn auch — gemessen an Oster-
und Weihnachtsspielen — sehr erheblich. Sie betátigt sich vor
allem da, wo die Tradition noch Raum gelassen hat: in den
Unterwerfungshandlungen, den kaiserlichen und den antichrist-
lichen, hat der Dichter allgemein gehaltene Bemerkungen seiner
Vorlage nach seinen Vorstellungen ins Einzelne ausgeführt“. Im
übrigen hat er den bei Adso gegebenen kompilierten Stoff straff
zusammengefaßt, alles für seine Zwecke Unbrauchbare wegge-
* E. Sackur, a. a. O. S. 106.
38 Adso sagt vom Antichrist nur: ,, Reges autem et principes primum ad se
convertet .. (Sackur, S. 108), vom Kaiser: „unus ex regibus Francorum Roma-
num imperium ex integro tenebit" (S. 110).
Der Ludus de Antichristo 69
lassen: die unpolitischen Schicksale des Antichrist sind im
Ludus gestrichen.
Da erhebt sich die Frage: hat der Verfasser diese seine poli-
tische Dichtung nicht geschrieben aus der politischen Situation
seiner Tage? Muß sich im Ludus nicht die Geschichte seiner
Zeit erkennen lassen? Gerade nach dieser Seite haben sich
mannigfache Interpretationen am Ludus versucht (im beson-
deren mit der Absicht, das Spiel zu datieren), ohne einhellige
Ergebnisse zu gewinnen. Eine gewisse Spiegelung der Zeit-
ereignisse des 12. Jahrhunderts ist zunáchst nicht zu bezweifeln:
Der letzte Zug des Kaisers nach Jerusalem und sein Kampf
mit den Heiden [29)—37)] gewinnt für die Augen dieses Jahr-
hunderts das Ansehen eines Kreuzzugs, wie umgekehrt die
Kreuzfahrer apokalyptische Prophezeiungen auf sich bezogen
haben“. Hilfesuchende Boten der bedrohten Kreuzzugsstaaten
kamen häufig ins Abendland, das entspricht der Szene 30). Dann
heißt es 133/134 „Locum, in quo sancti eius pedes steterunt,
ritu spurcissimo contaminare querunt"', das ist die Sprache der
Kreuzzugsagitation, wie sie auch der heilige Bernhard geführt
hatte“. Daß der Dichter den König von Jerusalem der Kreuz-
zugsgeschichte entnimmt, gehórt in diesen Zusammenhang.
Unter den Heiden 29) dachte er sich wahrscheinlich die Sara-
zenen. Dagegen hat sich die Suche nach einer bestimmten Be-
lagerung Jerusalems, die ihm 30) vorschweben kónnte, als un-
fruchtbar erwiesen. Man hat nicht beachtet, wie einfach sich
diese Szene aus Apok. 20, 8 erklárt, wo es von den Vólkern Gog
und Magog heißt: „circuierunt castra sanctorum et civitatem
dilectam", Gog und Magog sind überall, auch bei Adso, die
zuletzt sich empórenden Heiden?!,
* Unter diesem Aspekt steht z. B. die Schilderung des ersten Kreuzzugs bei
Frutolf, MG. SS. VI, S. 212.
® S. Bernhard, Migne S. L. 182, 564ff., epist. 363: es fehlt nicht viel, daß die
Feinde des Kreuzes „in ipsam Dei viventis irruant civitatem, ut officinas nostrae
redemptionis evertant, ut polluant sancta loca ... patrum gladiis eliminata est
spurcitia paganorum". Auf diese Parallele macht Michaelis in anderem Zusammen-
hang a. a. O. S. 84 aufmerksam.
n Eine Verwendung von Schriftweissagungen, deren Angabe bei Adso fehlt,
findet sich mehrfach im Ludus. In 90) wird der Synagoge das velum abgenommen.
Daß sie dadurch nicht nur den Antichrist erkennt, sondern sich auch zu Christus
bekehrt, ist allein verständlich aus Prophezeiung des Paulus 2. Kor. 3, 15/16: „Sed
70 ." Wilhelm Kamlah : '
Der Antichrist des Ludus ist nur die apokalyptische Figur,
an eine polemische Gleichsetzung mit irgendeiner Größe der
politischen Geschichte ist jedenfalls nicht gedacht. Ebenso
verhält es sich mit seinen Helfern, den ypocritae. Die
Menge und Verschiedenartigkeit der Vermutungen, mit denen
man gerade diese Figuren hat deuten wollen — auf die
Waldenser, die Hospitaliter, die Templer, auf die neuen Orden,
die neuen Rechtslehrer usw. — zeigt zur Genüge, daß für solche
Deutung eine andere Handhabe als die Phantasie nicht zur Ver-
fügung steht?*,
usque in hodiernum diem, cum legitur Moyses, velamem positum est super cor eorum
(der Juden); cum autem conversus fuerit ad Dominum, auferetur velamem."
Michaelis, &. a. O. S. 71, macht darauf aufmerksam, daB die Katastrophe des Anti-
christ auf das Stichwort „pax et securitas" nach 1. Thess. 5, 8 zu verstehen ist.
Übrigens findet sich diese Thess.-Stelle in gleicher Anwendung bei Otto v. Freising,
Chronica VIII, 8 (Hofmeister, S. 401).
33 Was die ypocritae für den Dichter abgesehen von solchen Vermutungen sind, wie
sich also diese Figuren der apokalyptischen Tradition bei ihm darstellen, ist so viel
mifverstanden worden, daß es einer ausführlichen Klärung dieser Frage bedarf.
Bei Adso heißt es: „Hic itaque Antichristus multos habet suae malignitatis mini-
stros, ex quibus iam multi in mundo precesserunt, qualis fuit Antiochus, Nero, Domi-
tianus. Nunc quoque nostro tempore multos Antichristos novimus esse. Quicumque
enim sive laicus sive canonicus sive monachus contra iustitiam vivit et ordinis sui
regulam inpugnat et quod bonum est blasphemat, Antichristus est et minister
sathane‘‘ (Sackur, S. 105f.). Hier werden unter dem Begriff ,,Antichristen" der
„eigentliche“ letzte Antichrist und seine „Diener“ zusammengefaßt, jeder von
ihnen ist ein ,,minister sathane“, sie gehören also alle auf die Seite der civitas
diaboli. Es liegt nun kein Grund vor, bei dem Verfasser des ludus eine andere
Auffassung der ypocritae als die ihm durch Adso überlieferte anzunehmen. Die Be-
zeichnung ,,ypocritae'" für die Vorläufer des Antichrist findet sich auch sonst, z. B.
bei Otto v. Freising, Chron. VIII (Hofmeister, S. 393). In der Darstellung des
ersten Kreuzzugs redet Frutolf von pseudoprophetae, die der Teufel erweckt und
die sub specie religionis auftreten. , Sicque per aliorum hypocrisin atque mendacia
. .. Christi greges adeo turpabantur, ut iuxta boni pastoris vaticinium etiam electi
in errorem ducerentur." So werden diese Teufelsdiener auch „seductores“ genannt
(MG. SS. VI, S. 214f.). Das entspricht ganz den Szenen 61)—72) im Ludus, in denen
der deutsche König verführt wird. Die ypocritae treten auf „sub silentio et specie
humilitatis" (d. h. in Wahrheit dienen sie der antichristlichen superbia). Nur der
deutsche König durchschaut sie 61) und sieht, ,,quod forma mentiatur‘‘ 238. Sie
sind allerdings Menschen (der Antichrist ist ja auch ein Mensch), aber nicht ,,nur
verblendete (Meyer, a. a. O., S. & S. 142); im Zusammenhang seiner Argumentation gegen
Scherer hat er die Beziehung zwischen ypocrisis und ypocritae verkannt. Man kann
auch nicht sagen, die Ypocrisis und Heresis seien ,, Geister". Sie sind vielmehr Perso-
nifikationen wie Iustitia und Misericordia) Die seductores sind im Ludus so gut
Der Ludus de Antichristo 71
Hat der Verfasser aber nicht ganz gewiß bei seinem Imperator
an Friedrich I. gedacht? Man hat das vielfach als undiskutierbare
Selbstverständlichkeit angenommen. Auf den ersten Blick muß
es scheinen, als sei Friedrich I. im Kaiser des Ludus geradezu
porträtiert. Woher hätte ein Dichter des 12. Jahrhunderts
denn sonst das Bild eines mächtigen, überall siegreichen Kaisers
nehmen sollen? Jedoch: es ist ja kein „historisches Drama“,
was wir vor uns haben, der Dichter zeichnet nicht die Wirklich-
keit ab, sondern gestaltet die ihm vorliegende Tradition. In
dieser Tradition tritt ein mächtiger Endkaiser auf, der alle
Reiche der Erde sich unterwirft und schließlich in Jerusalem
seine Krone an Christus übergibt. Der Imperator des Ludus
zeigt nicht einen einzigen Zug, der nicht aus der Tradition
seine volle Erklärung fände, von einer konkreteren Gestaltung
wie in der ganzen Tradition von den „seducti‘' 361 unterschieden; da sie die fides
nie gehabt haben (im Gegenteil: „Per vos corrupta est fides christianorum" 239)
gehóren sie nicht zu den omnes ad fidem redeuntes 104) — das sind vielmehr die
seducti, die im Dienste des Antichrist „pro fide" zu kämpfen glaubten 270, die
christlichen reges — sondern sie sind die omnes sui 103), die nach der Katastrophe
des Antichrist die Flucht ergreifen. Wie die Y pocrisis (159ff., 167/68) wissen auch
sie, daB sie dem Feinde Christi dienen. Sie reden von ihm aber, wie er selber auch,
den Christen und Juden gegenüber so, daB diese ihn für Christus (den Messias)
halten müssen 201 ff., 301ff., 305ff., und gerade darin besteht ihre ypocrisis. Wenn
sie unter sich sind und mit dem Antichrist reden, „heucheln“ sie natürlich nicht,
sie halten sich auch selbst nicht für ypocritae, sondern sind empórt, als man sie so
nennt (374. Das ist von Michaelis a. a. O. S. 75 völlig mibverstanden). Die Be-
zeichnungen ypocritae und Antichrist sind als christliche, verurteilende im Ludus
(391 klingt „Antichristus“ geradezu wie ein Schimpfwort) noch klar unterschieden
von den Selbstbezeichnungen dieser Teufelsdiener. In ihrem Lager ist der Anti-
christ „caput totius mundi“ 245, er nennt sich weder selbst, noch nennen ihn die
ypocritae jemals „Antichrist“ (dieser Umstand hat wohl gerade die Unterscheidung
der seductores von den seducti so oft verdunkelt) Das spätere deutsche Antichrist-
Spiel verfährt nicht mehr so konsequent, im Zusammenhang mit der aufkommenden
Volksetymologie nennt sich der Antichrist hier selber „Endchrist“. In unserem
Ludus dagegen erklärt er sich , magnae muros consummans Babylonis" 358 (d. h.
die Ursünde der superbia auf die Spitze treibend) für den „deus deorum“ (408,
vgl. weiter 218, 260, 263, 278, 369, 380, 394 usw., überall bizarr gesteigerte Gött-
liehkeitsprádikate). Um sich als solcher durchzusetzen, spielt er Christus. — Die
ypocritae tragen übrigens die feststehenden Züge der dogmatischen Gestalt des
„Ketzers“, vgl. H. Grundmann, Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher An-
schauung, Kultur- und Universalgescbichte (1927), S. 91ff. Daß Heresis und Ypo-
crisis miteinander dem Antichrist dienen (so im Ludus), ist ein altes Bestandsstück
der Tradition.
72 Wilhelm Kamlah
dieser Figur über das in der Überlieferung Gegebene hinaus
findet sich bei genauem Zusehen keine Spur, und daran wáre
doch allein erkennbar, daß der Dichter Friedrich I. im Auge
hatte. Mag er also Barbarossa für den geweissagten Endkaiser
gehalten haben: in der Ausführung der Imperator - Gestalt
hat er davon jedenfalls nichts gesagt. Wenn die Frage
überhaupt noch entschieden werden soll, wird man sich nach
anderen Anhaltspunkten umsehen müssen.
Was würde es denn bedeuten, wenn man nun wirklich im
Imperator des Ludus den Staufenkaiser zu erkennen hätte?
Damit würde das, was im Drama gesagt ist, offenbar ungeheuer
aktuell. Es hieBe dann nicht allein: was ihr hier seht, wird sich
alles einmal so ereignen, sondern darüber hinaus: das Erscheinen
des Antichrist steht schon jetzt vor der Tür, der Endkaiser ist
schon da, wir stehen vor dem Ende der Welt. Es wäre nicht
das erstemal, daß man eine solche Verkündigung ausgesprochen
hätte. Und wenn auch am Imperator des Ludus selbst das
Bild Barbarossas nicht sichtbar wird, so ist dieser Imperator
doch identisch mit dem deutschen Kónig im zweiten Teil des
Spieles, dieser deutsche König aber ist gestaltet aus einem
stolzen nationalen SelbstbewuBtsein, wie es eben in den Tagen
Barbarossas sich lebendig regte, und es ist — die Datierung
auf c. 1160 hat sich ja als die beste behauptet — ganz un-
móglich, daB der Dichter bei diesen Szenen nicht an den
deutschen Kónig dieser Jahre, den Führer dieses neuen natio-
nalen Deutschtums gedacht haben sollte. Der Kaiser, der am
Ende der Tage die Welt erobert, wird ein deutscher König sein,
ein Mann wie der Kaiser Friedrich, das ist zum mindesten der
Gedanke, der im Verfasser lebendig gewesen sein muB. Ob er
aber darüber hinaus schon Barbarossa selbst für diesen letzten
rómischen Kaiser gehalten hat, wird auch mit dieser Árgumen-
tation noch nicht entschieden. Manches spricht jedoch dagegen.
Für die Schöpfung eines solchen ,,Spieles' mit seinen kunst-
voll gebauten Versen und seiner ästhetisch geformten ausge-
glichenen Klarheit erscheint eine gespannte eschatologische Er-
regung als ein recht ungeeigneter Boden, so etwas gedeiht doch
wohl nur unter Menschen, die nicht schon den nahe bevor-
stehenden Abbruch aller irdischen Schönheit erwarten. Sollte
gar der Ludus selbst die aufpeitschende Botschaft ver-
-
Der Ludus de Antichristo 73
künden: Barbarossa ist der Endkaiser, der Antichrist ist nahe,
warum hat der Verfasser dann nicht deutlich gesagt, was er
sagen wollte? Wir kennen ja aus dem 13. Jahrhundert Schriften
politischer Apokalyptik genug, die mit der Deutung von Weis-
sagungen auf Personen ihrer Gegenwart ganz und gar nicht
hinter dem Berge halten, und die álteren Sibyllensprüche deuten
die Herrschernamen doch wenigstens mit den Anfangsbuch-
staben an!
Die Untersuchung muß hier, um zu einer wirklichen Klärung
zu kommen, noch einmal einhalten zu einer Besinnung auf schär-
feres Fragen. Spuren der Zeitgeschichte finden sich im Ludus
zweifellos im Sinne einer ziemlich unbestimmten Spiegelung von
Situationen des 12. Jahrhunderts (Kónig von Jerusalem, Kreuz-
zugspredigt, deutsches Nationalgefühl der ersten Barbarossa-
zeit usw.). Im besonderen suchen wir solche Spuren nun da,
wo der Dichter die Tradition neu gestaltet. Diese Tradition ist
eine apokalyptische, d. h.: jede „zeitgeschichtliche“ Bestimmung
von Personen und Geschehnissen der Tradition wäre Deutung
geoffenbarter Weissagungen auf die Gegenwart des Verfassers
und damit eine aktuell apokalyptische Auslegung dieser Gegen-
wart als der Endzeit der Weltgeschichte. Wir sind solche Deu-
tung biblischer Weissagungen noch heute gewohnt und finden
sie im Mittelalter allenthalben. Wie aber wäre es, wenn einmal
jemand auf diese Auslegungsweise bewuBt verzichtet? Kónnte
es für solchen Verzicht nicht gute Gründe geben?
Bisher hat man übersehen, daB die Deutung apokalytischer
Weissagungen erst im spáten Mittelalter allgemein verbreitet
ist (seit dem franziskanischen Joachimitentum), daB sie jedoch
im frühen Mittelalter und noch im 12. Jahrhundert allein bei
den simplices geläufig, in der hohen Theologie dagegen verpónt
und verboten war®. Die Kirche schützte sich so vor dem Ge-
fahrenherd apokalyptischer Erregungen, der ihr spáter so viel
zu schaffen machen sollte. Von hier aus ist die nach dem bisher
Gewonnenen schon offenkundige Zurückhaltung des Ludus-
Dichters in apokalyptischer Deutung nun voll verstándlich: er
hält sie nicht allein zurück, sondern er vermeidet sie überhaupt.
DaB er nicht zu den simplices gehórte, sondern über eine gute
Diese These ist das Ergebnis einer Untersuchung des Verf. über „die Apo-
kalypsenkommentierung des 12. Jahrhunderts" (erscheint demnáchst im Druck).
74 Wilhelm Kamlah
theologische Bildung verfügte, ist ja gewiß nicht zu bezweifeln.
Wer der Endkaiser, wer der.Antichrist, wer die ypocritae seien,
das hat er nicht gewuDt und nicht wissen wollen, weil er es nicht
wissen durfte“. Wohl mag er dieses und jenes vermutet, er-
wogen, geahnt haben, wohl mógen Leute, die seinem Spiele zu-
schauten, sehr sichere Vermutungen gewagt haben, greifbar ist
uns das nicht, und es kann uns nicht greifbar sein. Das Wissen,
vor dem Ende zu stehen, hat wohl in jeder Generation des
Mittelalters gelebt. Für dietheologisch Unterrichteten des frühen
Mittelalters aber ist gerade diese schwebende Unsicherheit be-
zeichnend: das Ende kann nicht mehr lange auf sich warten
lassen, vielleicht ist gar der Kaiser schon der geweissagte Welt-
herrscher, aber: „Es gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder
Stunde“ (Act. 1,7)*55. Und was man damals nicht wußte, wird
auch der Historiker von heute in der Interpretation des Ludus
nicht besser wissen kónnen.
IV.
Wir begeben uns, um nun die Position des Autors
gegenüber Reich und Kirche aufzuspüren, wieder unter
die Zuschauer. Nachdem Gentilitas und Synagoga eingezogen
sind, erscheint die Ecclesia mit großem Gefolge. Ihren Aufzug
muß man sich deutlich vor Augen führen:
clerus
„ Misericordia — Apostolicus
-«— Ecclesia
tie e e o tin
Romanus
Angesichts der Bedeutung, die das Mittelalter der zeremoniellen
Ordnung einer Prozession zuschrieb, als dem sichtbaren Bilde
des Aufbaues politischer Würden, hat man in diesem Bühnen-
aufzug ein Bild der Ordnung zu erkennen, die für den Verfasser
** Die oben (S. 69) zur Erklärung angezogene Weissagung Apok. 20,8 könnte ja
immer noch — im Sinne älterer Interpretations versuche — auf eine bestimmte Be-
lagerung gedeutet sein, aber das ist gerade vermieden. Von hier aus wird auch
Michaelis’ (a. a. O. S. 81) scheinbar so einleuchtende ,F Deutung“ von Babylon auf
den gleichnamigen ägyptischen Platz der Araber gans unwahrscheinlich. Babylon
ist in der biblischen Apokalyptik der Gegensatz zu Jerusalem, im Sinne des Mittel-
alters die civitas diaboli, und das und weiter nichts ist auch das Babylon des Ludus.
35 [n diesem Sinne häufig zitiert, z. B. von Augustin unter den abschließenden
Sützen von De civitate Dei.
Der Ludus de Antichristo 75
des Ludus die Mächte dieser Welt bestimmt. Papst und Kaiser
Stehen in gleicher Hóhe nebeneinander, beide aber sind der
Ecclesia untergeordnet. Das Papsttum hat nicht etwa die Stelle
der Ecclesia inne, sondern ist von ihr unterschieden, aber auch
das Kaisertum ist nicht die Spitze des Systems, es steht eben-
falls unter der Ecclesia. Suchen wir nach einer zeitgenóssischen
Interpretation für diesen eigentümlichen Bau, so finden wir sie
bei Otto von Freising: ,, Nemo autem .... nos Christianum im-
perium ab ecclesia separare putet, cum duae in ecclesia Dei
personae, sacerdotalis et regalis, esse noscantur“, und
weiter sagt er, er habe in seiner Darstellung ‚non iam de
duabus civitatibus, immo de una pene, id est ecclesia, sed per-
mixta'' geredet“. Was also hier zugrunde liegt, bei Otto sowohl
wie im Ludus, ist das Schema:
. ecclesia
regnum sacerdotium
Christus ist beides, sacerdos und rex, die ecclesia umschlieDt
als die übergeordnete Einheit in sich regnum und sacerdotium?”.
Das Papsttum ist der Vertreter des sacerdotium. Bemerkens-
wert ist im Ludus die Einschaltung der Personifikationen in
den Bühnenaufzug. Misericordia und Justitia sind eschato-
logische Figuren, sie treten entscheidend hervor im jüngsten
Gericht.
Kurz nach den eben zitierten Sätzen fährt Otto von Freising
fort: ,,Porro ecclesiam ecclesiasticas personas, id est sacerdotes
Christi eorumque sectatores, tam ex usu locutionis quam consi-
deratione potioris partis diximus ....'. Der Gebrauch des Be-
griffs ecclesia in der besprochenen Spielanweisung des Ludus
wie auch in den vorausgehenden Sátzen Ottos ist also der
theologisch-gelehrten Sprache vorbehalten, der usus locutio-
nis dagegen meint mit ecclesia einfach die sacerdotische
** Chronica VII, Prolog (Hofmeister, S. 309).
V Dieses Schema ist mittelalterlich und keineswegs augustinisch.
Erst die mittelalt. Augustin-interpretation hat es in Augustin hinein-
gelesen und neuerdings E. Bernheim (Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem
Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung I, 1918, S. 110ff.).
76 Wilhelm Kamlah
Kirche. Und dieser Sprachgebrauch hat in Ottos Augen auch
unter der theologischen Perspektive ein gewisses Recht, denn
das sacerdotium ist ja die potior pars, regnum und sacerdotium
halten sich nicht die Wage, das sacerdotium hat vielmehr das
Übergewicht. Schon Gelasius I. hat das ganz unmißverständlich
ausgesprochen®. Um das Mehr oder Weniger dieses Über-
gewichtes, um seinen Sinn und um die symbolischen und recht-
lichen Formen, in denen es sich darstellt, ist das ganze Mittel-
alter hindurch gestritten worden. Was für eine Position nimmt
der Ludus-Dichter ein in diesem Streit? Daß dem Papst die
höhere Würde zukommt, erkennt er an: er läßt ihn rechts gehen.
Aber das ist auch alles und entspricht althergebrachter Norm.
Daß es wirklich alles ist, läßt sich natürlich nicht mehr an
diesem Aufzug, sondern nur an dem ganzen Verlauf des Ludus
sehen. Dabei kommt es vor allem auf die Klärung der Rolle
des Papstes an. Von seiner „Rolle“ ist eigentlich gar nicht zu
reden, denn er fungiert nur als stumme Person. Darin darf man
allerdings nicht — wie es vielfach geschehen ist — schon eine
absichtliche Mißachtung des Papsttums sehen. Denn in der zu-
grunde liegenden apokalyptischen Tradition, vor allem auch
bei Adso, kommt der Papst nicht vor. Der Dichter setzt ihn
ein, um das geschlossene Bild des mundus zu zeigen“. 0 Bei
der sorgfáltigen Beobachtung der Tradition, deren er sich be-
fleiBigt, hátten also ganz besondere Gründe vorliegen müssen,
wenn er den Papst in die Handlung hätte einführen sollen.
Solche Gründe hat es für den Dichter nicht gegeben. Daß
39 ep. 12 an Kaiser Anastasius, 494 (C. Mirbt, Quellen, 4. Aufl., S. 85).
3 S. o. S. 61.
% A. Brackmann sagt in seinem Aufsatz: „Die Wandlung der Staatsanschau-
ungen im Zeitalter Kaiser Friedrichs I.“, H. Z. 145, S. 1ff. (der erst nach Abschluß
der vorliegenden Untersuchung erschien) über den Dichter des Ludus: ,,.... von
diesen Gewalten, die beide ihr Recht aus Gott ableiten, interessiert den Dichter als
Glied des Rainaldschen Kreises nur die kaiserliche, und der Papst spielt eine Neben-
rolle“ (S. 16). Der Ausdruck „ Nebenrolle“ ist geeignet, Mißverständnisse hervor-
zurufen, und die in diesem Zusammenhang vermutete Zugehörigkeit des Dichters
zum Rainaldschen Kreis (Br. stellt ihn schon vorher S. 15 und S. 13, A.2 mit dem
Erzpoeten zusammen) geht wohl einen Schritt zu weit (s. u.). So unmittelbar wie
der Archipoeta spricht der Verfasser des Ludus eben gar nicht von Friedrich L,
wenn er „imperator“ sagt (s. o. Abschn. III.). Macht man diese Einschränkungen,
so läßt sich der Ludus sehr wohl als Zeuge aufrufen für die von Br. beschriebene
»Wandlung der Staatsanschauungen" unter Friedrich I.
Der Ludus de Antichristo 77
diese Einführung an sich möglich gewesen wäre, beweist die
Rolle der Ecclesia, die ja auch in der Tradition nicht vorkommt
und vom Verfasser erdacht worden ist, weil er nicht allein im
Bühnenaufbau, sondern auch in der Handlung die Weltordnung
erkennen lassen will. Soviel also kann man sagen: ein ent-
schlossen päpstlich gesinnter Verfasser hätte wohl, ohne der
Tradition etwas abzubrechen, eine Rolle für den Papst gefunden,
die ihn zwischen Verführung zum Unglauben und antichrist-
lichen Schlägen [48)!] ehrenvoll hindurchgeführt hättet.
Das Übergewicht des sacerdotium gegenüber dem regnum,
dessen Sinn in der geistlichen Disziplinargewalt des Priesters
über den Laien unbestritten bleiben mußte“, bekam durch
Gregor VII. zuerst einen politischen Sinn als Oberlehnsherr-
schaft des heiligen Petrus über die regna der Welt. Seitdem ist
diese Politisierung des päpstlichen Primates der Gegenstand
heißer Kämpfe, gerade auch in den ersten Regierungsjahren
Barbarossas. Die Auseinandersetzungen um das bekannte
Bild Lothars im Lateran und noch mehr der Streit von Besancon
zeigten mit aller Deutlichkeit, wie wenig man bei der Kurie die
Gregorianischen Ansprüche aufgegeben hatte, wie entschlossen
man anderseits auf kaiserlicher Seite daran festhielt, auch nicht
den Schatten einer päpstlichen Lehnshoheit aufkommen zu
lassen. Auf dem Hintergrunde dieser Kämpfe gewinnt die
Ausschaltung des Papsttums aus der politischen Handlung des
Ludus die Bedeutung einer klaren Entscheidung gegen jene
kurialistischen Bemühungen.
Die gregorianischen Pläne mußten ja, wie Gregors VII.
Politik und ebenso wieder die Innozenz’ III. zur Genüge zeigt,
zu einer Auflösung der christlichen Welt in einzelne regna
führen, deren jedes eine selbständige Lehnsbeziehung zum
Papsttum eingeht. Demgegenüber bringt die staufische Politik
€ Natürlich darf man in der Tatsache, daB der Papst überhaupt ohne Grund-
lage in der Tradition auf die Bühne gebracht wird, nun auch nicht umgekehrt schon
Sympathien für die Kurie erkennen wollen — dieser von Michaelis (a. a. O. S. 82)
gezogene SchluB ist genau so voreilig wie der vorher abgewehrte entgegengesetzte —,
denn aucb der radikalste Imperialist jener Tage konnte, wenn er schon den Bau
der Weltordnung darstellen wollte, niemals darauf verfallen, das Papsttum dabei
einfach wegzulassen.
* Und deshalb geht der Papst im Ludus rechts vom Kaiser.
78 Wilhelm Kamlah .
den Anspruch auf Überordnung des Kaisertums über alle regna
schon in den ersten Jahren Barbarossas wieder nachdrücklich
zur Geltung. .Wenn Reinald vom Dassel die außerdeutschen
Könige reges provinciales“ nennt, so ist das zwar in Anbetracht
der realen Machtverhältnisse eine Überspannung, im Sinne des
imperialen Gedankens jedoch durchaus konsequent“. Daß auch
den fremden Königen selbst solche Vorstellungen begreiflich
waren, zeigt jener Brief des Kónigs Heinrich II. an Barbarossa
aus dem Jahre 1157, in dem Heinrich die Überlegenheit des
imperium gegenüber seinem regnum durchaus anerkennt“.
„Reges ergo singuli prius instituta nunc Romano solvant inperio
tributa", so heißt es im Ludus 55/56, das ist ganz im Sinne des
staufischen Reichsgedankens gesprochen. Allerdings ist die
Unterwerfung aller Reiche der Welt durch den Endkaiser schon
in der sibyllinischen Überlieferung vorgezeichnet und insofern
natürlich nichts spezifisch ,,Staufisches'. Aber daß diese Prophe-
zeiungen hier überhaupt aufgegriffen werden, ist schon hoch be-
deutsam. Bernheim beachtet mit Recht, daß „Autoren, die sich
besonders lebhaft auf die Sibyllinen berufen, wie Liutprand
von Cremona, Benzo von Alba, Gottfried von Viterbo, ausge-
sprochenste Parteigänger des Kaisertums sind““ . Die Ver-
mutung, daß auch der Dichter des Ludus im Zusammenhang
jener neuen staufisch-imperialistischen Bewegung steht, ist
damit nahegelegt.
Der universale Herrschaftsanspruch des imperium ist ge-
gründet in der Universalität der ecclesia. Dieser Unterbau ist
auch im Ludus der eigentlich tragende und wird als solcher
immer wieder sichtbar. Die Ecclesia nimmt zusammen mit
Papst und Kaiser den gleichen Standort auf der Bühne ein 8).
Dieser Standort wird zuweilen einfach als ‚imperium‘‘ bezeichnet
130) und 31)). Der König von Jerusalem schickt seine Boten
„ad imperium“, sie sollen der Ecclesia von ihrem Unglück
J. Ficker, Reinald von Dassel (1850), S. 48.
* Vgl. A. Brackmann, a. a. O. S. 14f. Über „reguli provinciarum“ bei Benzo
v. Alba vgl. P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio I (1929), S. 271.
4 H. Simonsfeld, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Friedrich I., Bd. I
(1908), S. 563. Von der Frage, wieweit diese Unterwürfigkeit ehrlich und wieweit
sie diplomatisches Entgegenkommen ist, kann in diesem Zusammenhang abgesehen
werden. | E
Bernheim, a. a. O. S. 153.
Der Ludus de Antichristo 79
melden 126 und reden dann den Imperator an 129; dieser
unbeabsichtigte Wechsel der Ausdrücke zeigt deutlich genug,
daB sich der Herrschaftsumfang des imperium mit dem der
ecclesia deckt. Daher kann in einer eigentümlichen Redeweise
auch dieser Umfang selbst als ,,tota ecclesia" bezeichnet werden
29), im Sinne des späteren Sprachgebrauchs von „Christenheit“
für die Gesamtheit der christlichen Völker. Da es hier heißt,
die tota ecclesia ist dem imperium Romanum unterworfen, ist
die Unterscheidung dieses Begriffes ecclesia von dem sonst im
Ludus gebrauchten ganz deutlich. Der Herrschaftsanspruch
des imperium und der ecclesia ist aber nicht auf die ,,Christen-
heit“ beschränkt, sondern erstreckt sich über den totus mundus.
Daher müssen zu seiner vollen Erfüllung auch noch die Heiden
unterworfen werden. Für diese ist solcher Anspruch super-
stitio 117, als Heiden kónnen sie nicht sehen, was die ecclesia
ist, daB ihr nach Gottes Willen die ganze Welt gehórt, sie
sehen nur eine „secta“ 118, 124. Das Ineinanderliegen des
Anspruchs von ecclesia und imperium wird gerade im Gegen-
satz gegen die Heiden besonders deutlich, der übliche Ehren-
name des Kaisers ,,defensor ecclesiae" 129 kommt nicht
zufällig an dieser Stelle vor. Hinter der ecclesia steht ihr
Herrscher Christus, Gott, die Heiden sind „inimici Domini“
130, , nostrum auxilium" (136 vom Kaiser gesagt) ist in sich
ohne weiteres „auxilium dei“ 144, die zum Ausharren auf-
rufende Rede der Gesandten kann vom „angelus domini" 34)
einfach aufgegriffen und fortgesetzt werden. Es ist beachtens-
wert, daB die Ecclesia nach der Abdankung des Kaisers im
Tempel bleibt, nämlich bei den Insignien des Kaisertums, bei
dem imperium*. Damit soll die Zusammengehörigkeit von
ecclesia und imperium sichtbar gemacht werden, die Auseinan-
© Der alte Standort des Kaisers heißt nachher nicht mehr ‚„imperium‘“‘, sondern
— und das ist nun in diesem Zusammenhang eine Art Notbehelf — , sedes apostolici“
48). Michaelis (a. a. O. S. 82) ging völlig in die Irre, wenn er aus dieser Stelle auf
eine besonders bevorzugte Stellung des Papstes schlieBen wollte, weil die Kirche
bei ihm Zuflucht finde. Es steht nicht da „refugiet“, sondern nur „ redibit", da die
Ecclesia aus dem Tempel herausgeworfen ist und nicht mitten im Spielfeld stehen-
bleiben kann, geht sie auf ihren alten Standort zurück. An irgendwelchen Schutz
von seiten des Papstes ist dabei nicht gedacht. Der Papst ist auch nicht, wie Mi-
chaelis meinte, der einzige, der dem Antichrist widersteht, der Antichrist kümmert
sich ja gar nicht um ihn.
80 Wilhelm Kamlah
derreißung erfolgt erst durch das gewalttätige Eingreifen des
Antichrist 48). Durch den Fall des Antichrist wird die Eccle-
sia in ihre eigentliche Herrschaftsstellung wieder eingesetzt,
nimmt die Wiederbekehrten auf 104) und bekundet sich im
Anstimmen des abschließenden Lobgesanges noch einmal als
die letzte entscheidende Größe, der gegenüber auch dem im-
perium nicht mehr als zeitliche Vorläufigkeit zukommt.
Ist also die Universalität des imperium im ganzen Ludus
immer wieder sichtbar als in der Universalität der ecclesia ge-
gründet, so scheint es merkwürdig, wenn der Kaiser selbst in
seiner Einleitungsrede 49ff., die doch gerade die Gültigkeit seines
universalen Anspruches erweisen soll, von der ecclesia gar nicht
redet und auch nicht von Gott oder Christus. Für den Herr-
schaftsanspruch des imperium gegenüber dem totus mundus 50
wird hier vielmehr das überkommene Recht ins Feld geführt,
die „scripta historiographorum“ 49 werden als Beweisgrundlage
herangezogen, der Kaiser tritt auf als Erbe des alten Rómer-
reichs, das durch die „desidia posterorum'' in Verfall geraten
ist und nun wiederhergestellt werden soll im Sinne eines 're-
petere 54%. Gerade diese Erwartung einer Erneuerung des
Rómerreiches ist von jeher der Nerv sibyllinischer Prophezei-
ungen und wird auch bei Adso deutlich ausgesprochen®. Fried-
rich I. hat solche Gedanken, nachdem sie schon durch alle
vorangehenden Jahrhunderte in wechselnder Gestalt lebendig
gewesen waren, mit neuer Betonung aufgegriffen und sich durch-
aus als Rechtsnachfolger der rómischen Cásaren gefühlt. Es
liegt also wieder die Vermutung nahe, daB der Ludus im Zu-
sammenhang mit dem neuen Erwachen des renovatio- Gedankens
unter Friedrich I. zu sehen ist““.
** 101ff. kehren die Verse 49ff. wieder, mit der Änderung von „fiscus fuerat"
zu „fiscus est“. Gerade die Tatsache, daB es gleichgültig ist, ob man „est“ oder
fuerat" sagt, zeigt die Selbstverstándlichkeit, mit der man „die Römer“ von heute
für die Rechtsnachfolger der Rómer von einst ansah.
1* S. oben S. 68, Anm. 28.
9 Dagegen finden sich im Ludus von der neuen Anknüpfung an das römische
Recht, die von Bologna ausgehend auf dem roncalischen Reichstag zum ersten Male
wirksam wird, noch keine Spuren. „Ius Romanum" heißt 64 nicht „römisches
Recht" im besonderen Sinne, sondern allgemein etwa soviel wie „das Recht der
römischen Herrschaft‘, das geht deutlich aus 77 hervor, wo imperii ius offenbar im
gleichen Sinne gebraucht ist.
Der Ludus de Antichristo 81
Beide Begründungen des universalen imperium, die aus der
ecclesia und die aus der Rechtsnachfolge der römischen Kaiser,
stehen im Ludus nebeneinander, wie im Mittelalter auch sonst.
An den Versuch, das alte Rómerreich in der christlichen Welt-
ordnung, nàmlich in der Schópfungsordnung zu begründen und
etwa dadurch die Eigenstándigkeit des Imperium gegenüber der
erst von Christus gestifteten sacerdotischen Kirche zu sichern
— diese Argumentation sollte unter Friedrich II. in den Kampf
geworfen werden — ist im Ludus noch nicht gedacht, der Ver-
fasser bleibt in der Bestimmung des Verhältnisses von Kaisertum
und Papsttum vielmehr allein bei jener anderen Möglichkeit:
er zerschlägt die gewöhnliche Ineinssetzung von Kirche und
römischer Kirche, unterscheidet beide Größen deutlich von-
einander, rückt das Papsttum in parallele Stellung zum Kaiser-
tum und ordnet den theologischen papstfreien Begriff von eccle-
siaum so nachdrücklicher dem Ganzen über. Das alte vor-gregoria-
nische System gab ihm dazu die Handbabe, das Papsttum hatte
ja erst das Verhältnis von sacerdotium und regnum immer mehr
zu ungunsten des letzteren verschoben, und diese Theologen
aus dem kaiserlichen Lager — als solchen hat die Untersuchung
den Ludus-Dichter nun erkennen lassen? — mußten sich für
die konservativen Bewahrer der alten Lehre halten. Eine revo-
lutionär „weltliche“ Begründung des regnum lag ihnen gänzlich
fern. Niemand hätte ja auch das Papsttum als Trägerin der
Kirche anerkennen und dann noch erfolgreich angreifen kónnen.
9! Der Verfasser gehört gewiß nicht in die von Gerhoh vertretene asketische
Richtung. Er wird ja durch Gerhohs Kritik am geistlichen Spiel indirekt geradezu
angegriffen. Sollte er Kanoniker gewesen sein, so hat er jedenfalls nicht einem re-
gulierten Stifte angehórt. Denn in den nach der Regel Augustins lebenden Stiftern
Oberdeutschlands herrschte zweifellos der Geist Gerhohs (zu Gerhohs Kampf für
die Regulierung vgl. W. Ribbeck, Gerhoh von Reichersberg ... (Forsch. z. dt.
Gesch. 24, 1883), S. 8, 11). Nach alledem sind die Verse 171—174 als ein bóser
Scherz zu verstehen, die Schlagworte der Reformer sind offenbar mit Absicht gerade
den ypocritae in den Mund gelegt. (Nur darf man daraus noch nicht schlieBen,
daß der Autor die Reformer für die besonderen endzeitlichen Antichristdiener ge-
halten hat.) Ähnlich äußert sich Creizenach (a. a. O. S. 75f.) und weist mit Recht
auf den Archipoeta hin; es liegt in der Tat nahe, den Verfasser des Ludus in irgend-
einem Zusammenhang mit jenen Dichtern in der Umgebung des kaiserlichen Hofes
zu suchen. Man wird ihn aber, wenn man an diesem Hofe die Gemäßigten (Otto
von Freising) und die Radikalen (Reinald von Dassel) unterscheidet, wohl eher zu
der ersten als zu der zweiten Gruppe rechnen müssen.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 6
Je papstfeindlicher man sein wollte, um so weniger durfte man
kirchenfeindlich sein, das zeigt nicht nur dieses Spiel als die
Schópfung eines theologisch denkenden Kopfes, die kaiserliche
Politik hat das — natürlich ohne derartige Reflexionen — genau
so gut gewußt®?.
V. |
Der Ludus verdankt seine allgemeine Hochschátzung nun
aber weniger den Dingen, von denen bisher die Rede war, als
vor allem dem deutschen Nationalgefühl, das in seinen Versen
spürbar wird. Es ist ein Nationalgefühl des Schwertes, bestimmt
durch den Waffenstolz jener Blütezeit des Rittertums: „Ex-
cellens est in armis vis Teotonicorum“ 227, „est cum Teotonicis
incautum preliari“ 230. Innerhalb der Szenen, in denen der
Antichrist sich die Welt unterwirft, verläuft die Handlung
zwischen Antichrist und deutschem König ganz und gar gegen
das Schema, demzufolge es 235 heißen müßte: „Libenter ex-
hibeo ....‘ [wie 51) und 57)]. Statt dessen fährt der König
die ypocritae an, sie flüchten ‚confusi‘‘'® zurück zum Antichrist.
Die höchste Ehre aber erweist der Dichter dem deutschen
König, indem er ihn nun das ganze antichristliche Heer über
den Haufen werfen läßt. Und später besiegen die Deutschen
im antichristlichen Dienst den König von Babel, überall, wo
sie Schlachten schlagen, bleiben sie Sieger“.
sanguine patriae honor est retinendus,
virtute patriae est hostis expellendus.
Ius dolo perditum est sanguine venale.
Sic retinebimus decus imperiale“ [271— 274].
53 In der berühmten Encyclica nach dem erregten Auftritt von Besançon
z. B. (Otto v. Fr. Gesta Friderici, Forts. v. Rahewin, 11I, 11, v. Simson, S. 178f.)
herrscht zwar durchaus der Begriff der ecclesia des „usus locutionis" (für unitas
zwischen regnum und sacerdotium Z. 10 kann auch gesagt werden „unitas aecclesiae
et imperii" Z. 26, der Papst wird sogar als „caput sanctae aecclesiae“ bezeichnet
Z. 5) und doch wird gerade die vom Papste drohende Gefahr „totum corpus aecclesiae
commaculari" Z. 9 genannt. „Pax aecclesiarum imperialibus armis conservanda"
Z. 3, das sieht der Kaiser als seine ihm von Gott gesetzte Aufgabe auch und gerade
im Kampfe gegen einen Papst.
53 S. o. S. 66.
5 DaB sich der deutsche Ritter dem Fremden im Schwertkampf überlegen
fühlte, schildert auch Fr. G. SchultheiB, Geschichte des deutschen Nationalgefühls I
(1893), S. 213f. Die Meinung der Zeit entsprach diesem Stolz, — bis zum Umschwung
durch die Schlacht bei Bouvines.
Der Ludus de Antichristo 83
An dieser einzigen Stelle des Ludus findet sich das Wort patria,
hier wird auch der eigentliche Gegenstand des deutschen nati-
onalen Stolzes jener Tage genannt: „decus imperiale“ 8. Sofern
das nicht mehr der Imperator sagt, sondern der deutsche Kónig,
nachdem er auf das imperium verzichtet hat, zeigt sich hier
unmiBverstándlich eine nationale Seite jenes stauflschen Im-
perialismus. Er war getragen von der nationalen Energie des
deutschen Volkes, vor allem des deutschen Rittertums, die
Deutschen sahen ihren Stolz (honor 271) in jenem ,,Kaiserglanz''
— wie man decus imperiale geradezu übersetzen kann. Ihm
zuliebe wagt der Autor einmal sogar eine Abweichung von der
Tradition, oder er benutzt doch eine von seiner Quelle offen-
gelassene Möglichkeit in auffällig eigenwilliger Weise. Nach
Pseudo-Methodius stirbt der Kaiser, sobald er in Jerusalem die
Krone abgelegt hat““. Adsos Meinung ist das zweifellos auch,
es ist nicht durchsichtig, warum er das weitere Schicksal des
Kaisers nach dem Thronverzicht nicht ausdrücklich erwähnt.
Das macht sich der Verfasser des Ludus seiner Absicht gemäß
zunutze: er läßt den Kaiser am Leben 38), ja, er läßt ihn als
deutschen König nun noch eine ganz hervorragende Rolle spielen.
Damit will er sagen: „Der Kaiser ist der deutsche König, das im-
perium gehört den Deutschen.“ Und noch in anderer Weise gerät
er durch solche Gedanken in ein merkwürdiges Mißverhältnis zur
Tradition. In der Meinung der apokalyptischen Weissagungen be-
steht der Zusammenhang zwischen dem Thronverzicht des Kaisers
und dem Auftreten des Antichrist in Gottes Weltplan, eines muß
dem andern folgen im Sinne des eschatologischen ,,oportet im-
pleri‘‘5”. Darum tritt der Antichrist im Ludus auf mit den Worten:
„mei regni venit hora“ 151. Das bedeutet nicht etwa: „Jetzt ist
eine günstige Gelegenheit für mein Erscheinen“, sondern es heißt:
„Der geweissagte Augenblick ist jetzt da“ s. Nun sagt aber später
der Kónig von Jerusalem zum deutschen Kónig:
9 274 ist zu verstehen im Gegensatz zu 215.
Bei Sackur S. 94.
V Luc. 22, 37, 1. Kor. 15, 53.
Weil diese Stunde schon lange da war — nämlich im Weltplan Gottes —
kann gesagt werden, sie „ist gekommen“. Damit schließt sich der Dichter an den
Sprachgebrauch der Bibel an, vgl. z. B. Mark. 14, 41 ,,venit hora“, diese Wendung
vor allem im Johannesevangelium sehr häufig. Vgl. auch Adso „ .. ea hora se-
culum iudicabit, qua ante secula iudicandum esse prefixit" (Sackur, S. 113).
6*
84 Wilhelm Kamlah
„Romani culminis dum esses advocatus,
sub honore viguit ecclesiae status.
Nunc tuae patens est malum discessionis“ [191—193].
Das heißt also: „Solange der deutsche König Kaiser war, stand
alles gut in der Kirche, und die Folge seines Kronverzichts ist
nun das größte Unheil“. Hier wird von Gottes Weltplan völlig
abgesehen, dagegen wird ein kausaler Zusammenhang zwischen
jenem Rücktritt des Kaisers und dem antichristlichen Verderben
hergestellt, eine Betrachtungsweise, die mit der eschatologischen
sich nicht vereinigen läßt; was der Kaiser nach der Tradition
tun muß als eine heilige Tat, erscheint hier in ganz anderer Per-
spektive als etwas, was er eigentlich hätte unterlassen sollen.
Der Verfasser will also sagen: auch die Kirche ist darauf ange-
wiesen, daB die Deutschen das imperium haben.
Imperium und regnum sind streng geschieden, der König
kehrt nach seiner Abdankung nicht auf das ,imperium" zu-
rück, sondern er besteigt einen Kónigsthron, der ja eigens zu
diesem Zweck von Anfang an aufgestellt ist. Der Standort
des Kaisers ist also „imperium“ nicht etwa dadurch, daß
der Imperator darauf thront — denn dann brauchte er ja
nach seiner discessio nicht auf den andern Thron zu gehen.
Auch wenn es keinen imperator mehr gibt, gibt es immer noch
ein imperium. Was ist dann aber dieses imperium? Jedenfalls
nicht die reale Herrschaft eines imperator, sondern jene GróBe
der göttlichen Weltordnung, die ihre Universalität schon in sich
selber hat durch ihre Bezogenheit auf Gott und auf die Welt.
So sehr also eine nationale Bewegung nach diesem imperium
als hóchstem Ziele greifen kann, so ist doch in der Begründung
des imperium-Gedankens selbst für nationale Motive durchaus
kein Raum, diese Begründung ist vielmehr schon vorher fertig
und kann nur akzeptiert werden. Das imperium war schon da,
als es die Deutschen noch nicht hatten, und es ist auch noch da,
wenn die Deutschen darauf verzichten. Dieser Imperialismus
ist nicht entfaltet aus einem nationalen Keim, wie der alte
rómische, sondern er ist von vornherein universal. Allein weil
der alte national-rómische Imperialismus in der Spátantike ent-
nationalisiert und durch das griechisch-christliche Denken philo-
sophisch-theologisch interpretiert worden war, konnte er über-
haupt eine translatio vertragen. Nur so konnte das imperium
Der Ludus de Antichristo 85
als Erbgut an die Deutschen kommen, so daB ihr Imperialismus
immer eine renovatio, ein repetere [54] sein mußte. Anderseits
aber fehlte jede innere Möglichkeit, das imperium in seiner schon
gegebenen universalen Struktur an neue nationale Kráfte an-
zuschlieBen. Darum konnte dieses Reich seine alte Signatur als
„römisches“ ungehindert beibehalten, darum verfällt der Ludus-
Dichter so wenig wie irgendein anderer Deutscher des Mittel-
alters darauf, von einem „deutschen“ imperium zu reden. So-
lange aber der nationale Imperialismus sich nicht aus einem na-
tionalen Gedanken zu begründen vermag, sondern das uni-
versale Imperium übernimmt, muß er immer wieder den
Boden unter den Füßen verlieren und zum universalen Im-
perialismus umschlagen. Diese Tragik des mittelalterlich-deut-
schen Nationalgefühls zeigt auch der Ludus: der deutsche Kaiser
wird als Deutscher überhaupt erst erkennbar, als er aufhórt,
Kaiser zu sein. Der universale Gedanke hatte immer wieder die
Kraft, den nationalen zu überbieten und schließlich in den
Schatten zu stellen. So geht die Entwicklung von Otto I. zu
Otto IIT. und wieder von Friedrich I. zu seinem Sohn und
Enkel. Und somit erklärt der Ludus auch in sich selbst, warum
er als Zeugnis eines deutschen Nationalgefühls so einzig dasteht,
warum es Ähnliches so selten in der deutschen Dichtung des
Mittelalters gibt.
Dieser nationaldeutsche Imperialismus setzt sich im Ludus
auseinander mit den widersprechenden Ansprüchen der Fran-
zosen. Der französische Mönch Adso läßt einen „rex Francorum“
als Endkaiser die Welt unterwerfen. Dagegen empört sich der
Dichter, er will Adso richtig stellen und den wahren römischen
Kaiser zeigen. Die Reden des Frankenkönigs und der kaiserlichen
Gesandten 69— 80 sind eigentlich eine Auseinandersetzung
des Dichters mit seiner Vorlage. In dieser Antithese ist er ge-
zwungen, den ungewöhnlichen Titel „rex Teotonicorum‘‘5® zu
% Darüber Fr. Vigener, Bezeichnungen für Volk und Land der Deutschen vom
10. bis zum 13. Jahrhundert (1901, S. 230 und 67). Otto v. Freisings Neigung, die
Deutschen noch im Zusammenhang der Franken zu sehen (Vigener, S.13f.) ist dem
Ludus fremd. Die Deutschen und „ Franzosen“ nennt er mit den (außerhalb des
deutschen Königstitels) üblichen einfachen Namen Teotonici und Franci. Das
deutsche Land bezeichnet er nicht mit Hilfe von Teutonicus, sondern mit „ Ger-
mania" |267]. So steht 251 das Land „ Germania“ für „die Deutschen“.
86 Wilhelm Kamlah
gebrauchen, denn der übliche „rex Romanorum“ bringt eben
gerade nicht zum Ausdruck, daB es sich um den deutschen
Kónig handelt. Wenn er sich damit gegen Adso wendet —
während spätere deutsche Antichristdichtungen Adso einfach
folgen? — so bekämpft er nicht eine vor Jahrhunderten einmal
aufgestellte literarische These, sondern die franzósischen Macht-
ansprüche seiner eigenen Zeit. Jenen Brief, der damals in Frank-
reich umging und der von Ludwig VII. als von dem geweis-
sagten Endkaiser und Eroberer des Ostens redetf!, wird er ja,
wenn er ihn vorher noch nicht kannte, durch Otto von Freising
kennengelernt haben, der ihn im Vorwort zu den Gesta Friderici
zitiert.
Die regna des griechischen Kónigs und des Kónigs von Je-
rusalem werden in den Unterwerfungsszenen beide Male sche-
matisch gezeichnet, durchbrochen wird das Schema nur zu-
gunsten bestimmter Aussagen über das regnum der Franken und
das der Deutschen. Der nationale Gegensatz gegen die Fran-
zosen hindert den Dichter nicht an ritterlicher Achtung vor
ihrem valor in militia 57, bei dem Frankenkönig als einzigem
heißt es 17) „cum honore dimissus" *?, Der Theologe im Autor
hält dagegen die subtilitas 223 der Franzosen für eine gefähr-
liche Wegbereitung des Antichrist. Ob der nur beim franzó-
sischen König erwähnte Lehnkuß auch eine besondere Beziehung
der Franzosen zum Antichrist zeigen soll, ist schwer zu sagen.
Der deutsche König empfängt ‚die noch höhere, eigentlich
königliche Auszeichnung der Schwertreichung“ “. Wie die drei
geweissagten Verführungsmethoden des Antichrist (terror, mu-
nera, miracula) auf die Griechen, Franzosen und Deutschen ver-
teilt werden, ist oft beobachtet worden“. Der deutsche König
erscheint so als electus und übertrifft auch ohne Kaisertum den
* Vgl. Fr. Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage (1896),
S. 55 und 59ff.
*! Vgl. dens. S. 63f. und Fr. Kern, Die Anfänge der französischen Ausdeh-
nungspolitik (1910), S. 13.
. . * Der Begriff „honor“ hat überhaupt eine hervorragende Stelle im Ludus,
vgl. 91/92, 93 [217], 95—98, 20), 21), 213, 271, 372,
€ Michaelis, a. a. O. S. 85.
* Michaelis (ibid.) hat diese Verteilung richtig so erklärt, daß damit den Fran
zosen nicht im besonderen Bestechlichkeit angehängt werden soll.
Der Ludus de Antichristo 87
Franzosenkónig noch weit. Immerhin àufert sich die nationale
Gegnerschaft gegen Frankreich im ganzen maßvoll, von der
scharfen Gespanntheit nationaler Gegensätze, wie sie spätere
Jahrhunderte brachten, sind wir hier noch weit entfernt.
Während die Meinung des Verfassers über Papsttum und
Kaisertum sich greifen läßt, ohne eigentlich hervorzutreten als
etwas, was er ausdrücklich aussprechen will, könnte ihm die
Absicht, gegen die französischen Ansprüche das Imperium als
rechtmäßiges Besitztum der Deutschen zu erweisen, wohl die
konkrete Veranlassung für die Ausarbeitung des Ludus gewesen
sein. Jedenfalls ist ihm die nationalpolitische Seite seiner Auf-
gabe offenkundig so aktuell, daß es schon von hier aus — wenn
wir andere Argumente nicht hätten — abwegig scheinen müßte,
sein leitendes Interesse in apokalyptischer Weissagungsdeutung
zu suchen. Natürlich ändert das nichts an dem tragenden Sinn
des Spieles: es stellt die Heilsgeschichte der Endzeit dar. Diese
Sinngebung ist ja nicht Sache des Verfassers. Es ist sehr wohl
möglich und geschieht allenthalben, daß einer eine Sache unter-
nimmt, die ihren Sinn in sich selber hat, und daß er sie doch
unternimmt mit nebenherlaufenden oder gar veranlassenden
„persönlichen“, d. h. an seine konkrete Situation gebundenen
Motiven. Diese Motive sind im Verfasser des Ludus so mächtig,
daß sie ihn den traditionellen Stoff in einer eigentümlichen
Richtung neu entwerfen lassen, daß sie ihn zu Eigenmächtig-
keiten gegenüber der Tradition ermutigen, daß sie ihn bestimmte
„dramatische Aussagen' machen lassen, die in der Bahn der
heilsgeschichtlichen Bestimmtheiten gar nicht vorgezeichnet
sind. Das Politische ist in der Tradition schon angelegt, im
Ludus aber ist es nicht allein hervorgekehrt, sondern — so kann
das eingangs Gesagte nun schärfer gefaßt werden — es greift
noch über den Rahmen der Tradition hinaus und damit über
die tragende heilsgeschichtliche Sinngebung des Spiels. Zwar
ist der Ludus nicht einfach eine „politische Dichtung“, aber
die Bestimmung: „Der Ludus ist ein außerliturgisches escha-
tologisches Adventsspiel‘‘ sagt auch nicht genug. Es ist in dem
Spiel eine Unruhe, die sich nicht ganz einfügt in seinen heils-
geschichtlichen Sinn, und doch ist dieser Sinn nicht etwa bloß
die hohle Form für eine „Tendenz“, sondern lebendig ergriffen
und getragen. |
Die Reichssteuerliste von 1242.
Von
Benno Hilliger.
Die Reichssteuerliste, von der hier gehandelt werden soll,
ist ein letztes versprengtes Stück aus dem zugrunde gegangenen
Reichsarchiv der Hohenstaufenzeit. Sie ist erst vor wenig
Jahrzehnten durch einen Zufall ans Licht gekommen. Jakob
Schwalm fand sie mit anderen Stücken aus der Zeit Kónig
Rudolfs und Albrechts im bayerischen Reichsarchiv in München,
und vermochte auch ihre Herkunft aus dem sog. Schatzarchiv
in Innsbruck festzustellen. Er veróffentlichte das Stück zuerst
im Neuen Archiv Bd. 23 (1899), und dann in den Constitutiones
Bd. III der Monumenta Germaniae. Ich halte mich hier an die
letzte Ausgabe, die in mancher Hinsicht berichtigt ist. Beiden
Ausgaben ist ein vorzügliches Faksimile beigegeben, ohne
welches sich eine Untersuchung, wie wir sie hier vorhaben, gar
nicht machen ließe.
Zunächst ein Wort über das Äußere dieser Liste. Es handelt
sich um ein schmales Pergamentblatt 36 cm hoch und 16 cm
breit, einseitig beschrieben mit 52 Zeilen Text von einer Hand
um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Rückseite ist leer, und
trägt nur oben, außer einem Archivvermerk des 16. Jahrhunderts
noch drei kurze Zeilen Text, eine Summenziehung und drei
Schuldposten. Das Stück ist vollstándig, denn es beginnt mit
einer Überschrift: , Hic incipiunt precarie civitatum et villarum",
und läßt unten etwa ein Achtel der Seite frei. Trotzdem umfaßt
es nur die westliche Hälfte des Reiches; der Norden und Osten,
Sachsen und Bayern sowie die Marken fehlen. Die Überschrift
läßt keinen Zweifel: es ist ein Steuer- oder Bedeverzeichnis der
Reichsstádte (civitates) und Reichsfronhófe oder Verwaltungs-
|
1
r
———
Die Reichssteuerliste von 1242 89
' bezirke (villae). Es beginnt mit Frankfurt, wendet sich dann
zu den Städten der Wetterau: Gelnhausen, Wetzlar, Friedberg,
Wiesbaden, Seligenstadt, und dann vom Mittel- zum Nieder-
rhein fortschreitend nennt es zuerst: Oppenheim, Nierstein,
Ingelheim, Oberwesel und Boppard, macht darauf einen Sprung
. zu Sinzig, Düren, Aachen und einen zweiten bis Kaiserswert,
Duisburg, Nimwegen und Dortmund, wo es abschließt. Dann
. geht es linksrheinisch, mit Kaiserslautern beginnend, über
| Weißenburg, Hagenau, Trifels usw. den Elsaß hinauf bis Kol-
mar, Mühlhausen, Basel, Rheinfelden, dann rechts den Rhein
wieder hinunter bis Haslach und Offenburg, und endlich zurück-
kehrend durch das nördliche Schwaben zum Bodensee und
darüber hinaus bis Zürich und Bern. Im Gegensatz zu den
wenigen am Niederrhein, ist dieses schwäbische Land mit
Reichsstädten geradezu übersät.
Es ist gewiß kein Zufall, daß unsere Liste gerade mit Frank-
furt und den Städten der Wetterau beginnt. Denn hier war der
Sitz der Reichskammerverwaltung, die zuletzt erblich in die
Hände der Herren von Minzenberg und ihrer Nachfolger, der
Herren von Falkenstein, gelangt war. Bekannt sind ja die
Wetterauer Brakteaten, die wunderschönen Silberblechpfennige,
welche zu dem Entzückendsten gehören, was die mittelalterliche
Münzkunst geschaffen hat. Man streitet heute, ob die Stücke
des 12. Jahrhunderts, welche im Brustbild nebeneinander Kaiser
Friedrich I. mit seiner Gemahlin Beatrix zeigen, in Frank-
furt oder in Gelnhausen beheimatet sind. Das ist eigentlich
unerheblich, denn die Städte der Wetterau bilden, wie uns
gerade unsere Liste an der Zusammenfassung der Judensteuer
aus ihnen zeigt, eine Verwaltungseinheit. Solche Münzen hat
gleichzeitig auch Kuno von Minzenberg, der Erbauer jener
Burg, nach der er sich nannte, und der das Kämmereramt unter
den staufischen Herrschern bis zu seinem Tode 1212 verwaltet
hat, geschlagen. Sie tragen seinen Namen, sein Bild und das
Bild seiner Burg mit dem Minzenstengel, seinem Wappen,
zwischen ihren beiden Türmen. Auch äußerlich ein machtvoller
Vertreter der Reichsministerialität, des Beamtentums, auf
welches die Hohenstaufen ihre Verwaltung und ihre Königs-
macht gegründet haben. Ja einer seiner Pfennige zeigt ihn
uns, die Krone in der Hand haltend, in seiner Würde als
90 ! Benno Hilliger
Kämmerer des Reiches, zu dessen a LEINEN es gehörte,
die Reichskleinodien zu wahren!.
Wir haben schon hervorgehoben, daß die Zahl der steuernden
Orte am Mittel- und Niederrhein verhältnismäßig gering ist und
groDe Lücken aufweist. Wir vermissen in der Liste vor allem
die großen rheinischen Bischofsstädte Mainz, Trier, Köln, aber
sie nicht allein, sondern mit samt ihren ganzen Landstädten.
Es kommt hierin der Begriff der Landeshoheit zum Ausdruck,
diese Herren sind König auf ihrem eigenen Gebiet. Ähnlich ist
es am Oberrhein, wo die Bischofsstádte Worms, Speier, Straß-
burg selbst keine Steuer der Bürgerschaft aufweisen, wohl aber
die Juden als steuerpflichtig erkennen lassen. In Basel und
Konstanz endlich und ebenso in Ulm und Augsburg wird die
Steuer von beiden Teilen erhoben. Beachtung verdient dabei
vielleicht noch der Umstand, daß die Judensteuer anscheinend
getrennt von der Bürgerschaftssteuer verwaltet und erhoben
worden ist, wir erkennen dies daran, daß die Steuern beider
Teile, wenigstens in Schwaben und am Oberrhein, mit nur ge-
ringen Ausnahmen in der Liste nach Gruppen gesondert auf-
geführt werden. Anders am Niederrhein, wo sie HEDPHEIDAD OE
erfallen.
Was nun die Entstehungszeit unserer Liste betrifft, so hat
sie der Herausgeber Schwalm mit guten Gründen in die Zeit
Kónig Konrads gerückt. Wenn er sich freilich dabei auf das
Jahr 1241 festlegen móchte, so erscheinen mir seine Gründe
nicht ganz stichhaltig, und wenn das, was ich auszuführen habe,
zutreffen sollte, müßten wir sie unbedingt noch um ein un
hinausschieben.
Was hat uns nun die Liste sonst noch zu sagen? Eigentlich
recht wenig. Sie besteht wie jedes Register dieser Art aus einer
wortkargen Aufzählung von Ortsnamen und nackten Zahlen
der beigesetzten Beträge, die zu entrichten waren, kaum je ein
1 Nach eiuer Mitteilung von Herrn Dr. Julius Cahn in Frankfurt sind voh
diesem seltenen Brakteaten drei Stück bekannt, eines in dem Berliner Kabinett,
ein zweites in den stádtischen Sammlungen in Frankfurt und ein drittes im Besitz
des Herrn Ernst Lejeune in Frankfurt. Letzteres, aus der Sammlung Lóbbecke
stammend, in guter Abbildung bei Riechmann u. Co., Auktionskatalog XXXI (Halle
1925) Nr. 962. Vgl. auch P. Joseph und E. Fellner, Die Münzen von Franktart
a. M. Bd. 1 (1896) S. 90 Nr. 60.
Die Reichssteuerliste von 1242 91
Vermerk über erlassene Zahlung oder besondere Verwendung
derselben. Das spiegelt sich auch in der Literatur über sie, die
kurz nach ihrer Veröffentlichung entstanden ist, in den Unter-
suchungen von Schwalm selbst, Zeumer und Aloys Schulte".
Man begnügt sich darin, die Scheidung der Landschaften her-
vorzuheben, die Scheidung der Einkünfte aus städtischen und
ländlichen Bezirken zu erörtern, die Höhe der Judensteuer im
Vergleich zu der der Bürgerschaft festzustellen. Und auch
sonst, wo man diese Quelle in späterer Forschung benutzt, so
in den Untersuchungen Nieses über das Reichsgut oder denen
Rübels über die Reichsstadt Dortmund, ist man nicht viel weiter
gekommen, sondern in den Anfängen, bisweilen sogar in Irr-
tümern steckengeblieben.
Natürlich hat man sich auch mit der Hauptfrage beschäftigt,
deren Beantwortung wir in erster Linie uns von dieser Liste
versprechen durften: wie hoch sich eigentlich die Einnahmen
des Reiches aus dieser Quelle damals beliefen. Denn das allein
könnte uns eine wirkliche Vorstellung von den wirtschaftlichen
Grundlagen geben, auf denen sich die Macht des Reiches in der
Hohenstaufenzeit aufgebaut hat. Aber hier ist man über die
ersten Anfänge noch weniger hinausgekommen, denn gerade hier
hüllt sich unsere Quelle in undurchdringliches Schweigen, sie
verrät uns mit keiner Silbe, welches die Währung, die Münz-
sorte ist, nach der sie rechnet, sie spricht lediglich von der
Mark. Aber der Begriff der Mark ist im 13. Jahrhundert der
dehnbarste, den man sich denken kann. Man verstand damals
unter ihm entweder ein bloßes Gewicht — hier natürlich von
Silber — oder gemünztes Geld von 10, 12 und mehr Schillingen
jeder beliebigen Währung. So sind auch die Berechnungen
Karl Zeumers nach der heutigen Kölnischen Mark und dem
Graumannschen 14 Talerfuß Friedrichs des Großen, die ihn auf
einen Betrag von 105000 Talern oder 315000 Mark früherer
Währung geführt haben, völlig aus der Luft gegriffen. Es wird
nun unsere Aufgabe sein, die Reichssteuerliste nach dieser Hin-
1 J. Schwalm, Ein unbekanntes Eingangsverzeichnis von Steuern der kónig-
lichen Städte aus der Zeit Kaiser Friedrichs II. Neues Archiv, Bd. 23 (1898),
$.517-53. — K. Zeumer, Reichssteuern im frühen Mittelalter. Hist. Zeit-
schrift, Bd. 81 (1898). — A. Schulte, Zu dem neugefundenen Verzeichnis des
Reichsgutes. Ztschr. für die Geschichte des Oberrheins. N. F. 13 (1898).
92 Benno Hilliger
sicht auszuforschen und ihr ein Geständnis abzuringen, nach
welcher Münze sie eigentlich rechnet.
Unsere Untersuchung hat auszugehen von der Summen-
ziehung auf der Rückseite, die man schon immer im Verdacht
gehabt hat, daB sie in irgendeiner Beziehung zur Vorderseite
stünde: ,,Sunt in denariis Coloniensibus MCCCCLX XXVIII mr.“
Nur wollte es niemals gelingen diese Beziehung nachzuweisen,
denn den 1488 mr der Rückseite standen etwa 7000 mr der
Vorderseite gegenüber. Man dachte deshalb schon an einen
Teilbetrag, aber es wollte sich kein Abschnitt flnden, wo sich
die Zahlen begegneten. Sogar die Summe bestimmter Ein-
nahmen, wie die der Judensteuer, zog man fragend in Erórterung,
um es aber gleich wieder fallen zu lassen. Immerhin werden wir
nicht an der Tatsache vorübergehen dürfen, daB die sámtlichen
Eintragungen der Rückseite, Summenziehung wie Schuldposten,
kráftig mit Tinte wieder gestrichen sind. Was bedeutet das?
Daß sie nicht mehr gelten sollen, aber — einmal gegolten haben.
Die Rückseite also gedenkt an einer einzigen Stelle bei der
Zusammenrechnung einer bestimmten Münze, der denarii Colo-
nienses. Nun werfen wir die Frage auf, ob denn nicht auch die
Hauptliste wenigstens ausnahmsweise einmal einer bestimmten
Münzsorte gedenkt? Gewiß, sogar an drei Stellen! Zunächst
für die schwäbischen Orte Heidelsheim (8 57) und Weil (S 59)
der Hellermünze, und dann für Dortmund (820) wieder der
Kólnischen Mark. Dabei ist beachtenswert, daB die Heller-
münze, wie auch sonst bei ihr üblich, nach der libra, dem Pfund,
die Kólner Münze aber auch hier gewohnheitsmáBig nach der
Mark gerechnet wird, was ihr eine große Ähnlichkeit mit der
Rechenweise der Hauptliste verleiht. Aber vergessen wir nicht,
diese Erwähnung der Kölner Mark in der Hauptliste erfolgt in
der Form einer Korrektur. Man hat den schlichten Eintrag für
Dortmund: „Item in Dritmunden . CCC . mr.“ verändert, in-
dem man die Zahl 300 durch Streichung tilgte und darüber
zwischen den üblichen zwei Punkten ein einfaches C, d. h. 100,
setzte. Dahinter fügte man dann etwas mühsam über dem ur-
sprünglichen marcas die Buchstaben COL, d. h. Colonienses, ein.
Danach unterliegt es wohl keinem Zweifel mehr, daß die
Kölnische Mark für die Rechnungsweise der Hauptliste selbst
nicht in Frage kommt, sonst hätte man ihrer allenthalben oder
Die Reichssteuerliste von 1242 93
wenigstens anfangs gedenken müssen. Welchen Zweck aber
verfolgte man mit dieser Korrektur? Es gibt nur zwei Móglich-
keiten, entweder man verfolgte die Absicht, den Steuerbetrag
für Dortmund abzuändern, ihn zu erhöhen oder zu mindern,
oder man wünschte den Betrag selbst unverändert zu lassen
und wollte nur die abweichende Münzsorte vermerken, in der
er schließlich gezahlt worden war. Im ersteren Falle könnte
uns die Änderung nichts Neues lehren, im anderen aber wäre
sie der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Liste. Denn wenn
man hier die ursprüngliche Zahl von 300 mr in 100 mr Kölnisch
umgerechnet hätte, betrüge die Mark der Reichssteuerliste ganz
allgemein nicht mehr als den dritten Teil einer Kölnischen Mark.
Ob das richtig ist, vermag nur der Versuch zu lehren.
Wir hätten also die Zahlen der Rücksumme von 1488 mr.
Kölnisch einfach zu verdreifachen, um mit 4464 mr. den Ver-
gleichungspunkt auf der Vorderseite zu suchen. Da es sich dort
aber um einen Gesamtbetrag von etwa 7000 Mark handelt,
hätten wir diesen Vergleichungspunkt etwa in der Höhe des
zweiten Drittels zu vermuten. Und in der Tat findet sich hier
ein solcher Absatz in der Form einer unausgeschriebenen Zeile
und einer unterbrochenen und wieder gestrichenen Eintragung:
„Item de Schongawe“, der Steueransatz fehlt, und die ganze
Eintragung ist erst 5 Zeilen tiefer wieder aufgenommen worden:
„Item de Schongov XXX mr.“ Trotzdem ist das Ergebnis für
uns kein befriedigendes, denn die Zusammenzählung ergibt
einen Betrag von 5192 mr. und 200 Ib. hall, und das macht
schon für die Markzahl 728 zu viel.
Nun wäre allerdings zu beachten, daß hierunter eine ganze
Reihe von Beträgen sind, die entschieden niemals ihren Weg
durch die Kasse der königlichen Kammerverwaltung genommen
haben. Dazu gehören zunächst die Beträge, die den Städten
„ad edificia eorum“ zum Wiederaufbau überlassen werden“,
zusammen 400 mr. und 200 Ib. hall. Dazu gehören weiter —
und das möchte ich betonen — alle Leistungen an den Kaiser b,
die den ausdrücklichen Vermerk tragen: „cedet imperatori“,
32 Vgl. Friedberg (5 4), Wiesbaden (5), Seligenstadt (6), Ingelheim (10), Düren
(14), Offenburg (45), Eberbach (51), Neckar-Gemünd (52), Heidelsheim (57), Weil
(69).
2b Vgl. Friedberg ($ 4), Düren (14), Offenburg (45).
94 Benno Hilliger
während sonst nur vom König die Rede ist, drei Fälle mit zu-
sammen 110 mr. Drittens endlich einige kleinere Überweisun-
gen?° an den Herrn von Schmiedelfeld, den Vogt in Schefflenz,
und den Abt von Odenheim mit zusammen 12 mr. Das alles zu-
sammengerechnet ergibt aber nur eine Summe von 522 mr. und
200 lb. hall., so daß immer noch ein Überschuß von 206 mr.
verbleibt. Werfen wir jetzt einen Blick auf das Faksimile, so
beobachten wir — was auch dem Herausgeber nicht entgangen
ist —, daß die Zahlen bei zwei Einträgen für die Juden in Worms
(8 21) und in Speier (S 22) in der Hóhe von 130 und 80 mr. mit
feinerer Schrift erst nachträglich eingefügt worden sind. Wir
náhern uns der gesuchten Zahl sichtbarlich, nur schade, daB sich
durch diese 210 Mark der anfängliche Überschuß von 206 Mark
jetzt in einen Fehlbetrag von 4 Mark verwandelt hat. Behalten
wir diese Zahl von 4 Mark kurz im Gedächtnis.
Aber werfen wir noch einen Blick auf das Faksimile, diesmal
auf die Rückseite, so erkennen wir, daß die SchluBziffer „eins“
in der Summierungszahl von MCCCCLXXXVIII mr. Kólnisch
nicht ganz deutlich in die Erscheinung tritt, sondern daB an
dieser Stelle entweder — wie sich der Herausgeber entscheidet
— das Pergament etwas abgerieben ist, oder daB direkt eine
Rasur vorliegt. Wir werden uns für das letztere entscheiden
dürfen und die Zahl nicht als 1488 wie in der Ausgabe, sondern
als 1487 mr. Kólnisch lesen müssen. Damit schrumpft auch der
Unterschied der beiden Berechnungen auf eine einzige Mark
der Steuerliste zusammen, um welche sich diese höher stellt,
als die Umrechnung der Rückseite. Über den Verbleib dieser
einzigen und letzten Mark schweigt die Geschichte. Doch
brauchen wir nicht gleich das Schlimmste zu denken. Wir
stellen fest, unsere Vermutung hat sich bestätigt, daß die Mark
der Reichssteuerliste, viel kleiner als man gedacht, nur das
Drittel einer Kölnischen beträgt*). Dieses Ergebnis ist so wichtig,
daß wir gern noch eine Bestätigung von anderer Seite hätten.
Wenn wir uns umsehen unter den Quellen dieser Zeit, dann
fällt unser Blick auf ein fast ebenso merkwürdiges Stück wie die
3* Vgl. Sinzig ($ 4), Schefflenz (53), Odenheim (54).
*) Auf diesen Sachverhalt habe ich schon in den Blättern für Münzfreunde
1923 S. 411ff. hingewiesen.
Die Reichssteuerliste von 1242 95
Reichssteuerliste, das ist die Jahresabrechnung?, welche am
2. Mai 1242 der königliche Amtmann Gerhard von Sinzig vor
Konig Konrad persónlich abgelegt hat. Darin werden die Ein-
gänge mit 227 1, die Ausgaben aber mit 306 mr. Kölnisch ge-
bucht, so daB der König mit 78 ½ mr. Kölnisch in der Schuld
seines Amtmanns verbleibt. Wenn sich die hier vermerkten
Bedezahlen von 50 und 18 mr. Kölnisch in keiner Weise mit
denen von 70 und 25 mr. der Steuerliste decken, so darf das
uns nicht befremden, denn wie wir noch sehen werden, dürfen
diese Zahlen gar nicht stimmen. Hier beschäftigt uns nur die
Schlußsumme von 78% mr. Kölnisch, welche der König seinem
Amtmanne schuldig ist. Das wären nach der Rechnungsweise
der Steuerliste verdreifacht 235 ½ mr. gewesen. Nun finden
sich, wie schon erwähnt, auf der Rückseite unserer Liste unter
der Summierungszeile noch 3 Schuldposten vermerkt: „Pin-
cerne adhuc dande sunt 234 mr. et dim., et dapifero 150 mr.
et W. notario 7 mr. et dim." Von diesen Zahlen nähert sich die
vorderste wieder bis auf den Fehlbetrag von 1 mr. der Schuld-
forderung des Amtmanns in Sinzig.
Nun eine Personenfrage, wer sind die beiden Leute, der
pincerna und der dapifer, Schenk und Truchseß? Nach den
Untersuchungen Schwalms erscheinen damals nebeneinander
Konrad von Winterstetten und Konrad von Schmiedelfeld unter
den Räten am königlichen Hofe, ersterer als Schenk, letzterer
als Truchseß. Nun finden wir im letzten, erst nachträglich ge-
schriebenen Drittel unserer Liste einen Steuererlaß für Zürich
($ 97) mit folgender Begründung: ,,quia nuper dederunt CL mr,
quas assignaverunt domino pincerne ex mandato regis", weil
sie erst neulich 150 Mark gezahlt haben, die sie dem Schenken
überwiesen gemäß Befehl des Königs. Das ist m. E. der zweite
Schuldposten der Rückseite, der aber dort irrtümlich dem an-
deren Konrad, dem dapifer und nicht dem pincerna zuge-
schrieben erscheint. Dann müßte umgekehrt der erste Schuld-
posten von 234 ½ mr., welcher aus den Rückständen für den
Fronhof in Sinzig herrührt, dem dapifer, d. h. Konrad von
Schmiedelfeld, zugestanden haben. DaB aber dieser mit dem
Fronhof in Sinzig zu tun hatte, verrát uns die Steuerliste selber
* MG. Const. II, S. 446f.
96 | Benno Hilliger
mit dem Vermerk, daß die dortigen Juden aus ihrem Bedeanteil
von 25 mr. „solvent quatuor marcas pro expensa domini de
Smidevelt". Danach móchten wir annehmen, daB der Herr
von Schmiedelfeld für die Schulden des Kónigs in Sinzig aufge-
kommen ist, und dafür eine Anweisung auf die Kasse der
Kammerverwaltung erhalten hat. Ist er nun wirklich zu seinem
Gelde gekommen? Sein Name erscheint in der Liste nicht
weiter, wohl aber stoßen wir im Schlußteil auf zwei gleich-
lautende Eintragungen: „et solvent pro expensis regis", für
die Städte EBlingen (878) und Überlingen (890) mit einem
Betrag der einen von 152, und der anderen von 82 ½ mr., was
zusammen wieder wie oben auf die Schuldsumme von 234145 mr.
führt. — Wie man den notarius W., vermutlich den Schreiber
unserer Liste, mit seiner Forderung von 7 ½ mr. schadlos ge-
halten hat, vermag ich freilich nicht zu sagen. Geschehen aber
muB es sein, denn auch dieser Posten ist wieder gestrichen.
Wir sehen also, auch die Einbeziehung der Sinziger Abrechnung
in die Untersuchung bestátigt unsere ursprüngliche Annahme,
daB die Mark der Reichssteuerliste nur das Drittel einer Köl-
nischen betragen habe.
Nun aber die eine noch fehlende Mark — wo ist sie geblieben ?
Das ist vielleicht nicht so unwichtig, denn es wáre ein Prüfstein
für die Richtigkeit der hier geáuBerten Ansicht. Und da móchte
ich, selbst auf die Gefahr hin, übertrieben spitzfindig zu er-
scheinen, doch noch einen Erklärungsversuch wagen. Ich kann
mir nicht denken, daB ein Mann, wie der Herr von Schmiedel-
feld, der sich doch offenbar auf Geldgeschäfte verstand, ein so
schlechter Rechner gewesen wäre, daß er nicht gemerkt hätte,
wenn man ihn hier in seiner Forderung willkürlich um 1 mr.
gekürzt hätte. Nun haben wir schon beobachtet, daß bei der
Summenziehung der Rückseite von ursprünglich 1488 mr.
Kölnisch eine mr. wieder durch Rasur getilgt worden ist. Das
wären 3 mr. der Reichssteuerliste gewesen. Rechnen wir dazu
noch die 1 mr., die man dem Herrn von Schmiedelfeld vorent-
halten hatte, so wären dies zusammen 4 mr. gewesen, also
genau so viel, wie der vorhin von uns bemerkte Überschuß der
Vorderseite gegen die Rückseite. Nun erfolgte die Korrektur
der Rückseite. — Warum? Weil diese 4 mr. bereits beglichen
worden waren auf der Vorderseite durch die Anweisung auf die
Die Reichssteuerliste von 1242 97
Judensteuer in Sinzig an — den Herrn von Schmiedelfeld:
„Solvent quatuor marcas pro expensa domini de Smidevelt“.
Man beachte dabei die Übereinstimmung im Ausdruck: „sol-
vent“ pro expensa mit EBlingen und Überlingen, welche für
den Rest der Summe aufkamen. Anscheinend hat der Herr
von Schmiedelfeld noch eine weitere Ausgabe von 3 mr. pro
expensis suis —, vielleicht Verpflegungskosten gehabt, die mit
der fehlenden anderen ihm aus dem Bedeertrag von Sinzig er-
fallen sollten. So würde die Rechnung der Steuerliste bis auf
den letzten Heller und Pfennig stimmen.
Nun dràngt sich aber die Frage auf, welche Münze sollte das
gewesen sein, die, womöglich noch bekannter als der Kölner
Pfennig und so verbreitet war, daB man danach alle Steuer-
eingänge wenigstens der Westhälfte des Reiches erfassen und
verrechnen konnte? Wir kennen damals nur eine Währung,
welche zu der Kölnischen in dem geforderten Verhältnis von
1:3 gestanden hat. Das ist die bald nach dem Jahre 1200 auf-
tretende Hellermünze, welche ihren Namen von der Stadt
Schwäbisch Hall empfangen hat, wo man sie zuerst geprägt
hatte. Wie aber kam gerade diese verhältnismäßig junge Münze
einer von der großen Verkehrsstraße des Rheins abgelegenen,
nicht sehr bedeutenden Landstadt dazu, im 13. Jahrhundert
die Rechnungsgrundlage der gesamten Reichsverwaltung zu
werden? Warum wählte man nicht eine schon bekannte Münze
aus einer der großen Bischofsstädte, etwa Straßburg, Speier,
Mainz, Köln?
In der Beantwortung dieser Frage liegt ein Stück Münz-
geschichte und Münzpolitik der Hohenstaüfenzeit. Der Köl-
nische Pfennig verdankte seine überragende Bedeutung im
Wirtschaftsleben jener Zeit dem Umstande, daß er seit Jahr-
hunderten anerkannte Reichsmünze gewesen und geblieben war.
Allerdings war er mit der Zeit, zur Hälfte wenigstens, in die
Hände des Erzbischofs geraten, der zuletzt das auschließliche
Recht der Münzprägung in Köln und einigen anderen Orten
seiner Diözese für sich in Anspruch nahm. Aber ganz hatte er
die Münze doch nicht in seine Gewalt bekommen, denn in
einigen anderen Städten seines Sprengels übte noch der Kaiser
die volle Münzhoheit aus und schlug eigene Pfennige. Da lag
es in der Natur der Sache, daß schließlich der Machtkampf
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.1. 7
98 Benno Hilliger
entbrannte um den Besitz der ganzen Münze. Dieser war schon
unter Friedrich Barbarossa ausgebrochen, der durch seine Zoll-
und Münzpolitik alles daran setzte, die wirtschaftliche Macht-
stellung Kólns zu erschüttern. Er tat dies durch Zollbehin-
derungen in Kaiserswert, und vor allem durch Errichtung neuer
Märkte in Duisburg und Aachen. Bei Gelegenheit der Heilig-
sprechung Karls des Großen 1166, verlieh er der Stadt Aachen
besondere Freiheiten“. Er gestattete ihr, obwohl sie nicht in
derselben Diözese lag, Hälblinge auf Kölner Fuß zu schlagen,
wie es auch Rainald von Dassel damals tat. Es geschah dies
offenbar in der Absicht, die Kaufleute aus den Niederlanden,
wo man sich der levis moneta bediente, anzulocken. Wichtiger
aber war die Verfügung, daß diese Aachener Münze, um sie von
der lästigen Fessel des Verrufes, mit seiner den Handel schä-
digenden Wirkung, zu befreien, immer in Schrot und Korn un-
unverändert bleiben solle. Dazu kam endlich noch die Be-
stimmung, daß auch die lex iniqua, die unsinnige Verfügung,
wonach es in Aachen verboten sei, andere Münze zu nehmen,
falle, und daß es der ausdrückliche Wille des Kaisers sei, daß
hier jede fremde Münze zu dem ihr entsprechenden Werte ge-
nommen werden dürfe. Gewiß hatten dabei die Wünsche der
Aachener Bürger Berücksichtigung gefunden, aber es war doch
noch mehr, es waren die leitenden Gesichtspunkte der kaiser-
lichen Verwaltung in wirtschaftlichen Dingen überhaupt. Denn
nicht umsonst beruft sich der Kaiser darauf, daß es „ex consilio
curie nostre", auf Beschluß unseres Rates geschehen sei, und
wir werden bei anderer Gelegenheit diesen Gedankengángen
erneut begegnen. Nun ging aber der Kaiser schon 7 Jahre spáter
noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur zwei neue Márkte
in Aachen und Duisburg errichtete, sondern auch für die Münze
beider Stádte die Verfügung traf, daB sié aus einer um 1 Pfennig-
gewicht schwereren Mark als der Kólnischen geschlagen werden
solle®. Dazu hatte er mit dem Grafen von Flandern vereinbart,
* Lacomblet, Urkundenbuch zur Geschichte des Niederrheins I, S. 283f.,
nr. 412. — Vgl. J. Menadier, Urkunden und Akten zur Aachener Münzgeschichte.
Ztschr. f. Numismatik, Bd. 31 (Berlin 1914), S. 274ff. — Wilhelm Jesse, Quellen-
buch zur Münz- u. Geldgeschichte des Mittelalters. Halle 1924, nr. 106.
5 Hóhlbaum, Hansisches Urkundenbuch I, nr. 23. — Vgl. Menadier a. a.
O., S. 276. Jesse nr. 107.
Die Reichssteuerliste von 1242 99
daB diese neue Münze, Pfennige wie Hälblinge, auch in dessen
Landen Umlauf haben sollten. Das war vielleicht der empfind-
lichste Schlag, welcher der erzbischóflichen Münze in Köln bei-
gebracht werden konnte. Der Kaiser erweiterte das Umlaufs-
gebiet seiner eigenen Prägungen und schádigte gleichzeitig durch
die Wertsteigerung seiner Pfennige das hergebrachte Ansehen
der erzbischóflichen Münze in Köln.
Das MiBvergnügen, welches man in Köhn über diese Münz-
politik empfunden hat, kommt in dem Vertrag® zum Ausdruck,
den Erzbischof Philipp (von Heinsberg), die Abwesenheit des
Kaisers im Heiligen Lande benutzend, schon am 25. März 1190
mit König Heinrich VI. abgeschlossen hat. Dieser Vertrag be-
deutet einen völligen Umschwung. König Heinrich verzichtet
auf die Münzpolitik seines Vaters und gibt dem Erzbischof freie
Hand. Er versprach sich in der Kölner Diözese mit zwei Münz-
stätten zu begnügen: Duisburg und Dortmund, auch verstand
er sich dazu, hier nur ,secundum antiquam consuetudinem"',
d.h. nach altem Kölner Schlag prägen zu lassen. Er verzichtete
also für Duisburg auf das Vorrecht der schwereren Prägung.
Weiter aber versprach er, daB auch sonst niemand weder in
noch auBer der Diózese Kóln nach diesem Kólner FuBe münzen
dürfe. Er begab sich also des Rechtes, etwa einem anderen
Fürsten dort ein solches Münzprivileg auszustellen. Nur sich
selber behielt der Kónig das Recht, oder besser die Móglichkeit
vor, auch außerhalb der Diözese nach diesem Fuße zu prägen.
Aber freilich mit dem Zugeständnis, daß, wenn er dies täte, der
Erzbischof das Recht haben solle, diese Münze des Königs
vom Umlauf in seinem Herrschaftsgebiet auszuschließen. So
beschämend dieser Vertrag für König und Staatsgewalt im
ersten Augenblick erscheint, er hatte Hörner und Zähne auch
für die Gegenseite, denn der König hatte seinem letzten Zu-
geständnis eine gefährliche Klausel angefügt: er werde es dem
Erzbischof nicht verargen, wenn er solche Münze in seinem
Lande verbiete, aber auch dieser werde es ebenso gleichmütig
und ohne Kränkung hinnehmen, wenn er selber in den Städten
und Ortschaften des Reiches die Annahme Kölnischer Münze
verbiete: „et si nos preceperimus, ne Coloniensis moneta reci-
* Lacomblet I, nr. 524.
7
100 Benno Hilliger
piatur in civitatibus et oppidis nostris, Coloniensis archiepis-
copus id equo animo et sine rancore tolerabit." Dieser letzte
Satz ist so. geschickt gefaßt, daß er gelten konnte, selbst wenn
der Erzbischof nicht den ersten Schritt tat. Es handelte sich
letzten Endes darum, ob die Kölner Münze ihren Charakter
als Reichsmünze im Handelsverkehr mit den Städten behalten
solle oder nicht. Es scheint, als ob man sich beiderseits gescheut
hätte, die letzten Folgerungen aus diesem Vertrag zu ziehen.
Der eigentliche Sieger war wohl der König, er hatte sich lediglich
des Rechtes begeben, nach schwererem Münzfuß zu prägen.
Wie aber stand es um Aachen? Es gehörte nicht zu Köln, son-
dern zu Lüttich, fiel es also aus dem Vertrag heraus und konnte
weiter münzen, dann aber nach welchem Fuß? Seine Münz-
tätigkeit erscheint damals nicht groß’, es wäre denkbar, daß
Heinrich VI. hier zunächst eine gewisse Zurückhaltung übte,
selbst wenn der Vertrag, wie es den Anschein hat, nur für die
Lebenszeit des Erzbischofs, der schon am 13. August 1191 starb,
Geltung haben sollte. Dann aber unter König Philipp und
Otto IV. erscheint sie wieder in voller Tätigkeit und wurde nun
vom Erzbischof als eine schwere Beeinträchtigung empfunden.
Damals trat der Erzbischof Adolf (von Altena) bei Otto IV. mit
bestimmter Forderung hervor, und die Königsgewalt war schon
so schwach, daß sie sich trotz besserer Einsicht den Wünschen
ihrer Parteigänger unterwerfen mußte. Nach langem, erbittertem
Sträuben mußte sich im September 1202 König Otto IV. doch
endlich dazu verstehen®, auch die Münze in Aachen, welche sich
damals im Pfandbesitz Walrams IV. von Limburg befand, aus-
zulösen und stillzulegen. Der päpstliche Legat, welcher diesen
Handel vermittelte, verkündete dazu unter Bannfluch, daß nie-
mals wieder weder in Aachen noch sonstwo, außer in der
Stadt Köln, Münze nach diesem Fuß geschlagen werden dürfe
und versprach, nach Rom zu schreiben, damit der Papst
selber es bestätige. Dieser Erfolg freilich der Kölnischen Münz-
politik ist nicht von Dauer gewesen, er wurde vereitelt durch den
Sieg der Staufer, und die Aachener Reichsmünze war damit
gerettet.
? Menadier, Münzprägung und Münzumlauf Aachens in ihrer geschichtlichen
Entwicklung. Ebd. Bd. 31 S. 229.
* Vgl. (Böhmer-Ficker), Regesta Imperii V, 1 (1881), nr. 226b.
Die Reichssteuerliste von 1242 101
In diese Zusammenhänge hinein gehört offenbar die Errich-
tung der neuen Münze in Schwábisch-Hall?*. Ihr Ursprung liegt
noch im Dunkeln, sie begegnet uns erstmalig um das Jahr 1200,
aber wohl noch als bescheidene Landesmünze. Von gróferer
Bedeutung ist sie erst unter Friedrich II. geworden, wo einzelne
Stücke auBer der Ortsbezeichnung HALLE auch den Namen
des Kaisers zeigen: FRISA, d. h. Fridericus Romanorum Im-
perator Semper Augustus. Ihr Gepräge ist Hand und Kreuz.
Die Stadt Schwábisch-Hall war ursprünglich staufischer Haus-
besitz, seit 1231 erscheint sie aber in den Urkunden als kónig-
liche Stadt®®. Es wäre denkbar, daB mit dieser Veränderung
ihrer Stellung auch die Umwandlung ihrer Münze in eine Reichs-
münze sich vollzogen hätte. Denn daß sie dieses war, bezeugt
uns ausdrücklich der Bamberger Schulmeister Hugo von Trim-
berg? um das Jahr 1300, wo er in seinem Lehrgedicht dem
Renner ihre Verfälschung beklagt und sie dabei des ,,riches
münze'* nennt. Von maßgebender Bedeutung erscheint sie aber
bereits im Jahre 1288, wo der Erzbischof von Speier seine
Münze nach Maßgabe der Hellermünze ordnet!!. Damit be-
ginnt ihr Siegeslauf nicht nur in ganz Süddeutschland, sondern
auch nach dem Mittel- und Niederrhein zu, nur an den Gren-
zen des Kölner Gebietes scheint sie vorläufig haltzumachen.
Sie hat die Lebensspanne des staufischen Geschlechtes über-
dauert, im 14. und 15. Jahrhundert überschattet sie jede andere
Münze in diesen Gebieten, und ihr Name ist ja bis zum heutigen
Tage lebendig geblieben. Was gab ihr diese Überlegenheit?
Zunächst die Kleinheit ihres Münzwertes gegenüber der schwe-
reren Denarmünze. Es scheint überhaupt der Gedanke der
Staufer gewesen zu sein, schon seit den Tagen Barbarossas, wie
im Westen des Reiches zu einer leichteren Prägung überzu-
gehen. In Aachen hatte man es mit Hälblingen versucht, hier
in Schwäbisch-Hall setzte man dafür das Drittel. Der andere
** Über die Hellermünze vgl. Dürr, Zur Geschichte der Haller Münzstätte.
Ztschr. d. hist. Ver. f. Unterfranken. N. F. 13 (1922), S. 28. — W. Hävernick,
Der Heller am Niederrhein. Blätter f. Münzfreunde 1930, S. 27ff. und 33ff. —
F. v. Schrótter, Wörterbuch der Münzkunde (Berlin, Leipzig 1930): Heller.
*^ Vgl. Schwalm, S. 539.
10 Vers 18618, vgl. Jesse, nr. 394.
u Remling, Speier. Urkundenbuch. Ält. Urkk. nr. 219, S. 217. — Jesse,
nr. 122.
102 Benno Hilliger
Grund ihrer Überlegenheit aber war, daB die Staufer ihrer
neuen Reichsmünze, wie seinerzeit schon in Aachen, das An-
gebinde mit in die Wiege gelegt hatten, von jedem Münzverruf
befreit zu sein. So konnte sie es als ewiger Pfennig mit jeder
Landesmünze aufnehmen.
Nur auf ganz verschlungenen Wegen ist es moglich, das
Feingewicht der Kólnischen und der Hellermünze, das uns die
Quellen hartnáckig verschweigen, zu ermitteln. Es ist dies selt-
samerweise nur für das Jahr 1242 und mit Hilfe unserer beiden
Urkunden móglich, so daB wir gerade für die Steuerliste ein zu-
verlássiges Ergebnis gewinnen. Wir finden nàmlich in der Sin-
ziger Abrechnung unter den Ausgaben der Fronhofsverwaltung
von insgesamt 306 Mark einen einzigen Posten, der nicht auf
Kólnische, sondern auf Trierische Münze lautet. Gerhard von
Sinzig berechnet nämlich die Kosten seines Trierer Aufenthaltes
auf 8 Pfund dortiger Pfennige: „in expensa nostra apud Tre-
verim 8 libras Trever.‘‘ Da nun die Summe sämtlicher übrigen
Posten sich auf 299 mr. 11 sol. 2 den. beläuft, so muß man hier
die 8 Pfund Trierisch gleich 6 Mark 10 Pfennig Kölnisch ge-
rechnet haben. Es wären mit anderen Worten 1920 Trierer
gleich 874 Kölner Pfennigen gewesen, und 1 Kölner hätte einen
Wert von 2,197 Trierer gehabt. Wie genau diese Rechnung ist,
zeigen uns aber zwei Urkunden !!*, die wir über die Trierer Münze
besitzen. In der einen von 1207 wird uns der Preis für die Mark
Feinsilber (marca puri argenti) zu „27 sol. et 4 den. Trev. mo-
nete“ angegeben, während die andere von 1221 den Pächtern
der Münze vorschreibt, sie sollten sie in der Güte erhalten, daß
von der feinen Mark nicht mehr als 11 Pfennige im Gewicht zu-
rückbehalten würden: ,,conservabunt ... dictam monetam cum
tali honore, quod a puritate marce non nisi 11 cadent denarii.''
Demnach wurden in Trier aus der Mark feinen Silbers 328
Pfennige geschlagen, die aber zusammen nur 317 Pfennig-
gewichte Feinsilber enthielten. Nach der Umrechnung Gerhards
von Sinzig aber hätten auch in geprägter Münze 316½½ Trierer
Pfennige den Wert einer Kölnischen Rechnungsmark von 144
dortigen Pfennigen gehabt.
Nun aber stehen wir wieder vor dem fraglichen Begriff der
Mark, über den uns die Quellen für Köln im unklaren lassen.
lla Beyer, Mittelrheinisches Urkundenbuch Bd. II Nr. 232, III Nr. 176.
Die Reichssteuerliste von 1242 103
LàBt er sich etwa für Trier ermitteln? Im Forstweistum der
Trierer Kirche, welches seinem Inhalt nach wohl noch aus dem
12. Jahrhundert stammt, aber erst im Beginn des 13. Jahr-
hunderts aufgezeichnet sein dürfte, ist der große Bann des Erz-
bischofs mit 3 Pfund angesetzt, das sind die 60 Schillinge des
ursprünglichen Kónigsbannes: ,,tres libras et obolum archiepis-
copo." Dazu hat man bei erstmaliger Erwähnung erläuternd hin-
zugefügt: „ad pondus Karoli“, d. h. nach Karls Lot, was man
endlich weiter zu verdeutlichen suchte durch die Worte: „sci-
licet 6 marcas." Die Mark der Trierer Prügung war also die
Hälfte einer libra ad pondus Karoli. Das Karlspfund!? aber
des 12. und 13. Jahrhunderts war nichts anderes als das alte
römische Zwólfunzenpfund, welches wir aus gewissen Gründen
hier etwas hóher als herkómmlich (327,45 g) mit 328,79 g an-
setzen wollen. Dieses Zwölfunzenpfund war seit den Tagen
Karls des GroBen oder Ludwigs des Frommen in Deutschland
das „pondus publicum" geworden, nach dem man den Fein-
gehalt der Silbermünze zu regeln pflegte. Seine Hälfte von
164,396 g war die „, marca puri argenti", nach welcher man noch
im 13. Jahrhundert in Trier prägte. Freilich kamen von diesem
vollen Feingehalt immer noch 11 Pfennige in Abzug, welche
die Münzer, áhnlich wie in Kóln, als Gewinn und Kostendeckung
für sich einbehalten durften. Als der 328. Teil einer solchen
Mark stellte sich das Pfenniggewicht fast genau auf ein halbes
Gramm (0,5012), so daß bei 11 solchen noch 5,513 g in Abzug
zu bringen waren, was auf bloBe 158,88 g Feinsilber führt. Aus
dieser Gewichtsmenge fein sollten nun 328 Trierer Pfennige
geschlagen werden!, was für den einzelnen Pfennig ein Fein-
gewicht von 0,4844 g ergibt. Daraus berechnen wir den Kólner
Pfennig auf Grund obiger Gleichungen mit 2,197 oder 2,2014
Trierer Pfennigen zu 1,0642 bis 1,0663 g Feingewicht. Das er-
gibt für die Mark -Kölnisch, die ,,marca denariorum Colonien-
12 Hilliger, Pondus Karoli. Blätter für Münzfreunde 1930, S. 170 oder Gold-
und Silbergewicht im Mittelalter (Halle, Riechmann) 1932, S. 13ff. — Das Trierer
Forstweistum, vgl. Beyer, Mittelrheinisches Urkundenbuch II, S. 242.
13 Das entspricht dem Verfahren bei der Sterlingsprägung, wo von 160 Ge-
wichtsdenaren Feinsilber 4 in Abzug kamen, so daB auf die Rechnungsmark ,,magna
marca in computatione" immer noch 13!/, Schilling oder 160 Denare in beschicktem
Silber entfielen.
104 Benno Hilliger
sium" zu 12 Schilling oder 144 Pfennigen, nach der auch die
Reichssteuerliste auf ihrer Rückseite rechnet, eine Feinsilber-
menge von 153,247 bis 153,555 g.
Man hat bisher das Feingewicht der Kólner Pfennige all-
gemein als viel hóher angenommen, weil man die Bestimmungen
des Kólner Schieds von 1252 und des Bopparder Vertrages von
1282, wonach 160 Pfennige aus der Mark geschlagen werden
sollten, irrtümlich auf die heutige Kólnische Mark von 233,8 g,
d.h. die Sterlingsmark bezogen hatte“. Da aber den Haus-
genossen dabei nur ein Abzug von 4 Pfennigen am Feingewicht
verstattet war, hätte sich die Münze auf 975 Tausendstel fein
oder wegen den Mängeln der damaligen Schmelzkunst noch
etwas geringer stellen dürfen. Das wäre die vorschriftsmäßige
Sterlingsfeinheit gewesen. Nun haben aber Schmelzproben!®
der jüngsten Zeit wiederholt bewiesen, daß ein so hoher Fein-
heitsgrad wenigstens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts
der Kólnischen Münze nicht mehr zu eigen ist. Nur ausnahms-
weise wird dieser Grad erreicht, wenn man wirklich ,,Sterlinge''
zu prägen beabsichtigte. Sonst aber sinkt der Feingehalt nicht
unerheblich unter 800 auf 790, 785 ja 755 Tausendstel herab,
und auch das Rauhgewicht der Pfennige bleibt manchmal er-
heblich im Durchschnitt hinter dem geforderten von 1,46 g
zurück. Dabei wissen wir, daß man in Köln nicht immer gleich-
mäßig nach ein- und demselben Fuße geprägt hat, am wenigsten
unter Konrad von Hostaden. Denn im großen Schied!® von
1258 beklagt sich der Erzbischof, daß die Bürgerschaft, ihm zu
Unrecht, 12 alte Kölnische Pfennige gleich 10 neuen zu rechnen
liebte.
Wenn wir nun oben den Feingehalt des gesetzlichen Köl-
nischen Pfennigs zu ungefáhr 1,064 und dementsprechend die
zugehörige Zwölfschillingsmark zu 153,947 g berechnet haben,
so läßt sich die Probe auf die Richtigkeit nach zwei Seiten hin
14 E. Kruse, Kölnische Geldgeschichte bis 1386. Westdeutsche Zeitschrift,
Ergh. 4 (1888). — W. Hávernick, Der Kölner Pfennig im 12. und 13. Jahrhundert.
Periode der territorialen Pfennigmünze. Vjs. f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,
Beiheft 18 (1930), S. 49ff.
15 Suhle in der Besprechung des Werkes von Hávernick. Ztschr. f. Numis-
matik 41 (1931), S. 141, Anm.
1* Ennen und Eckertz, Quellen zur Geschichte der Stadt Köln II, S. 880ff.
Die Reichssteuerliste von 1242 105
machen. Einmal, wie der Kólnische Pfennig unmittelbar da-
nach in der zweiten Hálfte des 13. Jahrhunderts amtlich be-
wertet wurde und zweitens, wie man in derselben Zeit in Süd-
deutschland die Hellermünze im Verhältnis zur Gewichtsmark
einschátzte. Da haben wir zunächst eine Urkunde von 1273,
wonach Graf Heinrich von Kessel dem Erzbischof Engelbert II.
von Köln das Schloß Grevenbroich für 2000 Mark Kölnischer
Pfennige verpfándet!" und dabei die Sterlingsmark zu 18 Schil-
ling Kölnisch rechnet: „pro duobus milibus marcarum Colo-
niensium denariorum, marca sterlingorum pro 18 solidis Colo-
niensibus computanda." Damit vergleiche man eine Urkunde
von 1275, wonach Kuno von Müllenark dem Kölner Dom-
kapitel seinen Hof bei Oidweiler für 430 Mark Aachener Münze
verkauft!5, sich aber die Zahlung in Englischen Pfennigen aus-
bedingt, die Mark Englisch zu 18 Schilling Aachener gerechnet:
„pro 430 mr. monete Aquensis, que pecunia solvetur in denariis
Angliensibus, semper marca Angliensis pro 18 solidis Aquen-
sibus." Wir sehen hier die vóllige Gleichstellung der Aachener
Reichsmünze mit dem Kölnischen Denar. Diese wird uns be-
stätigt in Urkunden schon von 1254, 57, 75 aus der Mitte und
selbst noch 1285 und 90 vom Ausgange des 13. Jahrhunderts,
wo man unterschiedslos Zahlungen nach der Formel von „de-
narii Aquenses sive Colonienses legales et boni“ fordert!?.
Dem treten endlich andere Urkunden an die Seite, z. B. 1288,
wo der Aachener Pfennig ganz wie der Kölnische zu 3 Hellern
gerechnet wird. Unter der Sterlingsmark haben wir die Lon-
doner Towermark zu verstehen, welche sich mit der heutigen
Kólnischen Mark von 233,8 g im Gewichte deckt. Sie wurde
zu 160 Pfennigen ausgeprágt, aber bei 4 Pfennigen fein, d. h.
es wurden von der feinen Gewichtsmark noch 4 Pfennig-
gewichte oder 5,84 g einbehalten, so daB sich ihr eigentlicher
Feingehalt auf ungefáhr 228 g verminderte. Diese Feingewichts-
menge von 228 g hätte also einer Summe von 18 Schilling oder
216 Pfennigen gesetzlicher Reichsprägung von Köln und Aachen
gleichgestanden. Das ergibt für den Pfennig einen Feingehalt
17 Lacomblet, Urkundenbuch II, nr. 632.
18 Lacomblet, a.a. O. II, nr. 673.
19 H& vernick, S. 144. — Menadier, S. 292ff.
106 Benno Hilliger
von 1,055 und für die Mark von 151,92 g. Das ist nur wenig
unter den von uns oben errechneten Zahlen.
Die zweite Probe, die wir nach der Hellerseite hin machen
dürfen, gründet sich auf die Tatsache, daB in süddeutschen
Urkunden? für Schwaben und Franken in den Jahren 12465,
55, 65 und 80 eine Wertgleichung von 660 Hellern mit 1 Mark
feinen Silbers zu bestehen scheint. Das aber würde einer Summe
von 220 und nicht von 216 Kólnischen Pfennigen entsprochen
haben und deutet auf ein erhóhtes Markgewicht von etwa 235 g,
wie es im Mainzer Sprengel üblich war, oder man hatte hier
den Feingehalt voll für die ganze Mark zugrunde gelegt. Aber
auch in diesem Falle würde der Feingehalt des Kólner Pfennigs
nicht unter 1,041 oder über 1,068 g betragen haben.
Hiernach stellt sich die Mark der Reichssteuerliste auf nur
wenig über 51 g Feinsilber, wog also ungefáhr so viel wie zwei
heutige Fünfmarkstücke, die aber kaum den halben Feingehalt
davon haben. Nun wird man einwerfen, wie ist es denkbar,
daB die Reichskammerverwaltung ihre Hellermünze ganz ab-
weichend vom sonstigen Gebrauch nicht nach dem Pfund von
240, sondern nach der Mark von 144 Hellern rechnet, während
sie doch selbst für Heidelsheim und Weil bei den dort zurück-
behaltenen Baugeldern die andere Rechnungsweise gelten läßt.
Dafür scheinen zwei besondere Gründe maßgebend gewesen
zu sein, die uns wieder einen Einblick in die Ziele der staufischen
Verwaltungspolitik tun lassen. Zunáchst war es die bequeme
Umrechnungsweise von der Haller in die Kólner Reichsmünze,
denn man brauchte die Rechenzahlen der Betráge nur zu dritteln
oder zu verdreifachen. Dann aber kam ein viel weiterreichender
Gesichtspunkt hinzu, die Rücksicht auf die gesamte Reichs-
verwaltung, welche auch Italien mit einschloß. Es ist offenbar
das Bestreben der Staufer gewesen, die ganze Reichsmünze
in eine bestimmte Ordnung zu bringen. So hatte schon Fried-
= H. Grote, Münzstudien, Bd. 6 (1865), S. 69f., 102f. — Grote denkt dabei an
die fránkisch-nürnbergische Mark von 238,5 g und berechnet daraus für den Heller
0,338 g fein, während es nach Schmelzprobe nur 0,274 g fein waren. — Suhle in
Schrótters Wörterbuch der Münzkunde spricht von 0,371 g Fein- und 0, 55 g Rauh-
gewicht. — Die Heller des Ergersheimerr Fundes (13000 Stück), unter denen sich
auch eine Kölner Denarmünze Konıads von Hostaden fand, waren leichter, sie wogen
ungereinigt im Durchschnitt 0,475 bis 0,500 g. Vgl. H. Buchenau, Blätter f. Münz-
freunde 41 (1906), S. 3583.
Die Reichssteuerliste von 1242 107
rich Barbarossa in Mailand und Oberitalien einen einheitlichen
Münzfuß des Denarius imperialis geschaffen. In Zusammenhang
damit steht die Einführung Kólnischen Gewichtes in Ober- und
Unteritalien, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, daB der
Erzbischof von Kóln zugleich Kanzler des Reichs für Italien
war. Da tritt unversehens die Frage an uns heran, warum man
grade auf ein so wunderliches Gewicht wie die Haller Mark
verfallen konnte. Handelte es sich hier um eine willkürliche
neue oder um eine alte überkommene Gewichtsbildung? Ich
glaube, wir werden das letztere mit aller Bestimmtheit an-
nehmen dürfen. Denn mit ihren 51!/, g Feinsilber ist die Haller
Mark nichts anderes als der Silberwert für cinen merowingischen
Goldmankusen, wie man ihn nach dem Aufhóren der Goldprä-
gung im 9. und 10. Jahrhundert rechnerisch festgelegt hatte“.
Als nun Kaiser Friedrich II. sich im Jahre 1231 entschloß,
wieder zu einer Goldprägung zurückzukehren, tat er das unter
einem veränderten Wertverhältnis, welches sich dem von 11:1
näherte. Seine prächtige Augustalenmünze®?, welche nach rö-
mischem Vorbild auf der Vorderseite ihn im Kaiserschmuck
zeigt, während die Rückseite den Adler des Reiches trägt, ist
in Unteritalien, in Brindisi und Messina geprägt worden. Bei
einem Rauhgewicht von 5 ½ g hat sie einen Feingehalt von un-
gefähr 4,5 g Goldes, während die Haller Mark von 51!/, g Fein-
silber bei einem glatten Wertverhältnis von 11:1 auf eine Fein-
goldmenge von 4,65 g geführt hätte. Daraus ergibt sich, dab
die neue Goldmünze Friedrichs II. von 1231 in Unteritalien
nichts anderes sein sollte, als ein Gegenwert zur Haller Silber-
mark, welche die Rechnungseinheit der Reichssteuerliste bildet.
Mit anderen Worten, jeder Silbermark der Reichssteuerliste
entsprach rechnerisch ein Goldaugustale Friedrichs II. in seinem
unteritalischen Erbreiche. Erinnern wir uns dabei auch des
Umstandes — es mag ja ein Zufall sein —, daß uns im gleichen
n Hilliger, Ursprung der Mark. Numismatische Ztschr., N. F. 22 (Wien 1929),
S. 20.
B E. Winkelmann, Die Goldprägungen Kaiser Friedrichs II. für Italien.
Mitteilungen d. Inst. f. Österr. Geschichte 15 (1894). — A. Schaube, Der Wert
des Augustalis Kaiser Friedrichs II. Ebd. 16 (1895). — Hilliger, Augustalis,
Florenus, Ducatus und das Grundgewicht der mittelalterlichen Goldprägung.
Blätter für Münzfreunde 1931 oder Ders., Gold- und Silbergewicht im Mittelalter,
S. 18fl.
108 Benno Hilliger
Jahre 1231 erstmalig auch Schwäbisch-Hall als königliche
Stadt begegnet. Dabei erkennen wir als eines der großen Ziele
der staufischen Reichsverwaltung, vom Niederrhein her, über
Schwaben hinweg bis an den äußersten Küstensaum des sizi-
lischen Kónigsreichs eine einheitliche Ordnung für das Münz-
wesen zu schaffen, welche die Verschiedenheiten der Landes-
münzen in sich eingliederte.
Kehren wir jetzt zu unserer Hauptaufgabe zurück. Es steht
nun nichts mehr im Wege, den wirklichen Geldbetrag der Reichs-
Steuerliste zu berechnen. Die gesamten Einkünfte stellten sich
auf 7730 (%% ) Mark Haller Währung, 6833 (54) von der Bürger-
schaft und 897 von den Juden. Davon aber waren nach Ab-
rechnung aller Vorausgaben und Erlasse am Schluß nur noch
6102 Mark barer Kassenbestand. Der Gesamtertrag von
7730 Mark hätte sich also ziemlich genau auf 395 (*/,9) kg Fein-
silber oder 35 kg (34,890) Feingold gestellt. Das wären, ein
Kilogramm Gold zu 2790 Goldmark gerechnet, 97348 RM
heutigen Geldes gewesen.
Nun die Frage nach der Kaufkraft. Was hätte man da-
mals für diese Summe in der Verwaltung leisten kónnen?
Dafür haben wir einige schwache Anhaltepunkte in der Sinziger
Abrechnung, weil sie uns einige Preisangaben für Getreide,
Rosse und Kriegslóhne bietet. Leider läßt sich hierbei gerade
für die Getreidepreise kein klares Bild gewinnen, weil die Frucht-
sorten nicht geschieden werden und wir über das Sinziger Hof-
maß im unklaren sind. Da kommt uns aber eine Angabe der
großen Kölner Kónigschronik?* zu Hilfe, welche zum Jahre
1246 vermerkt, daß man in Köln den Marktpreis für den Roggen
auf 3 Schilling fürs Malter festgesetzt habe, was aber zur Folge
gehabt hätte, daß die Getreidezufuhr in Köln ausblieb, weil die
Bauern auf dem Lande mehr dafür bekamen. Das Kölnische
Stadtmalter stellte sich aber damals schon auf etwa 143 Liter ab,
so daß man bei gleichem Preisansatz für den Ertrag der Steuer-
liste eine Roggenmenge von 14740 Hektolitern oder 10500 Dop-
aa Vgl. K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter II (1885),
S. 556.
33b Vgl. Hilliger, Der Rauminhalt der Kölner HohlmaBe des Mittelalters
nach dem Merkspruch von St. Severin. Siehe: Festgabe, Gerhard Seeliger zum
60. Geburtstage dargebracht (Leipzig 1920) S. 9- -28.
Die Reichssteuerliste von 1242 109
pelzentnern hátte ankaufen kónnen, für die man im Januar
des Jahres 1981 etwa 200000 RAM gezahlt hätte. Es hätte
also, am Getreide gemessen, das Geld damals mindestens die
doppelte Kaufkraft von heute gehabt. Zu einem áhnlichen Er-
gebnis könnte man vielleicht bei den Pferdepreisen“ gelangen,
doch ist das bedeutend unsicherer. Überhaupt sind Berech-
nungen dieser Art irreführend, weil sie das Wichtigste un-
berücksichtigt lassen, die viel geringere Dichte der damaligen
Bevölkerung, die dem Geld eine ganz andere Macht gab, weil
sie erlaubte, mit weit kleineren Mitteln viel Größeres zu leisten.
Das werden wir gleich noch deutlicher sehen.
Zum Schluß noch ein Wort über die Abfassungszeit und den
Gang der Begebenheiten, in den unsere Liste hineingehört. Ich
habe schon gesagt, daß wir trotz der Gegengründe um 1 Jahr über
den Ansatz Schwalms hinausgehen müssen. Denn wenn unsere
Auffassung von der Münzrechnungsweise der Liste begründet
ist, erscheint sie mit der Sinziger Abrechnung vom 2. Mai 1242
dermaßen verbunden, daß sie erst nach diesem Zeitpunkt, aber
unmittelbar danach, noch im Sommer dieses Jahres abgefaßt
sein müßte. Denn die Schuldforderung aus dem Fronhof in
Sinzig lag schon vor, als man noch kaum einen Überblick über
die ersten zwei Drittel der Bedeeingänge unserer Liste besaß.
Sie wurde aber noch vor Abschluß derselben durch Anweisungen
auf Eingänge aus dem letzten Drittel gedeckt. Wir haben es
also mit der Frühjahrsbede von 1242 zu tun, die auf Johanni
** Die Pferdepreise erscheinen in der Abrechnung Gerhards dreifach gestaffelt,
zu 5, 8 und 20 Mark Kölnisch, das wären 15, 24 oder 60 Mark Haller Währung. Das
erste sind Ackergäule, wie sie beim Brand des Hofes in Ahrweiler umgekommen
waren, das zweite sind Reitpferde, mit denen die Knappen ihre Herren ins Feld
und in die Schlacht begleiteten, das dritte endlich sind die dextrarii, die schweren
Streitrosse der gepanzerten Ritterschaft. Die Preise für die letzteren sind nicht zu
hoch, sie entsprechen dem, was wir gelegentlich auch aus anderen Quellen erfahren,
vgl. Lamprecht, Wirtschaftsleben II, S. 544f. Allerdings muß es sich hier schon
um Pferde von besonderer Güte gehandelt haben, denn dem Marschall von Alt-
mannshofen sind nach der Reichssteuerliste nur 50 Mark ‚pro palefrido et dextrariis
emptis apud ipsum" gezahlt worden. Doch das kónnte eine Restzahlung sein. Wir
könnten am ehesten noch die Knappenpferde mit den gewöhnlichen Pferden unserer
Reiterregimenter vergleichen, für welche der Durchschnittspreis vor dem Kriege
etwa 450 bis 600 ÆA betragen haben dürfte. Die Preise beiderseits auf Gold um-
gerechnet, würden ergeben, daß man für 1 kg Gold im Mittelalter 9 bis 10, heutzu-
tage 5 bis 6 solcher Pferde beschaffen konnte.
110 Benno Hilliger
fällig war. Dem widerspricht auch nicht, wenn nach der Liste
Konstanz ,ad unum annum propter incendium" von der
Steuer befreit erscheint, und es sich um den Brand von 1240
handelt, denn es kann dabei das letzte Jahr einer noch laufenden
Steuerbefreiung gemeint sein. Auch die Verpfändung Dürens,
das noch in unserer Liste erscheint, an den Grafen von Jülich,
angeblich im März 1242, was nach Schwalm eine Ansetzung
der Liste ins Jahr 1242 verbieten müßte, ist nach der Beschaffen-
heit der Quellen höchst zweifelhaft. Es handelt sich um eine
der Urkunden Friedrichs II. vom Herbst 1241, die an einem
Orte ausgestellt sind, wo er damals sicher nicht geweilt hat,
und mit einer Zeugenreihe von Personen, die schwerlich um
ihn waren, sondern aus der Umgebung Konrads stammen. Nur
aus Verlegenheit und um ihre Glaubwürdigkeit zu retten, hat
Julius Ficker** versucht, sie als eine Urkunde Konrads in den
März 1242 zu setzen. Aber selbst Schwalm muß zugeben, daß
diese Verpfändung nicht von Dauer gewesen sein könnte und
erst 1246 wirklich erfolgt ist. Vielleicht ist es ein blofer Ent-
wurf zu einer solchen Urkunde gewesen, mit der man den Grafen
von Jülich gewonnen hatte, deren Ausstellung dann aber
unterblieb, als der Graf sich weigerte, dem Kónig den Erz-
bischof auszuantworten.
Wir stehen mitten in dem letzten Entscheidungskampfe
zwischen der Kurie und dem staufischen Kónigtum, der mit
der Bannung Kaiser Friedrichs II. 1239 begonnen hatte. Der
Mongolensturm des Jahres 1240 hatte eine kurze Kampfes-
pause gebracht, weil er die Fürsten nótigte, einig mit dem Kónig-
tum der Gefahr entgegenzutreten. Deshalb hatten sie sich
noch im Sommer 1241 bemüht, den Papst zur Zurücknahme
des Bannes zu bewegen. Die Verteidigungskräfte waren zum
1. Juli zur Sammlung nach Nürnberg entboten worden, als
die Mongolen unvermutet wieder zurückwichen. Kaum zwei
Monate spáter stand Deutschland wieder in Verrat und lodern-
der Empórung gegen den Kaiser. Die beiden Erzbischófe Sig-
frid von Mainz und Konrad von Köln waren die Rádelsführer.
Am 11. September war ihr Bündnis zum Abschluß gekommen
und sie brachen noch im Laufe dieses Monats mit Heeresmacht
in die Wetterau ein, um dieses reiche Land bis zum Main herauf
Wiener Sitzungsberichte, Bd. 69 (1871), S. 285.
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Die Reichssteuerliste von 1242 111
zu verwüsten. Sie verunglimpften óffentlich die Person des
Kaisers, der wegen seiner Schandtaten gebannt worden sei
und jetzt die Wahl eines neuen Papstes hindere. Da mußte
Kónig Konrad alle Macht aufbieten, um sich diesem gefáhr-
lichen Ansturm gegenüber zu behaupten, und er fand Bundes-
genossen in den westlichen Teilen des Reiches hauptsáchlich
an den Herzógen von Brabant, Limburg und dem Grafen von
Jülich.
In diese Wirren führt uns die Abrechnungsurkunde des
Gerhard von Sinzig unmittelbar hinein, eines Mannes, der
wohl unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir kónnen seinen
Lebensgang® in etwas verfolgen, wie er sich aufgeschwungen
hat vom Lehnsgánger des Herzogs von Limburg und Dienst-
mann des Erzbischofs von Trier, endlich zum Reichsministeria-
len, Amtmann des Königs in Sinzig und schließlich Burggrafen
von Landskron. Er scheint einer der treuesten und verläßlich-
sten Diener des staufischen Könighauses in diesen Gegenden ge-
wesen zu sein und wurde immer mit Auszeichnung behandelt.
Schon König Heinrich hatte ihm verbrieft, daß er ihm allein
Rechenschaft zu legen schuldig sei. Er war auch einmal beim
Kaiser in Italien gewesen und kehrte, wie sein Geleitbrief zeigt,
erst zu Beginn des Jahres 1238 nach Deutschland zurück. Er
war wohl nicht bloß ein erfahrener Kriegsmann, sondern auch
in Staatsgeschäften ein gewandter und geschickter Verhand-
lungsführer. In seiner Abrechnung erscheinen Verpflegungs-
kosten für seinen Aufenthalt in Trier und Aachen, aber auch
in Köln und Mainz, und da wäre es nicht undenkbar, daß er
seine guten Beziehungen zum Erzbischof von Trier und zum
Herzog von Limburg benutzt hätte, diese bei der Sache des
Kaisers zu halten. Vielleicht war er auch an den Verhandlungen
mit dem Grafen von Jülich beteiligt, die ja in Aachen zum
Abschluß gebracht wurden. Sein Verwaltungsbezirk war groß
und beschränkte sich nicht bloß auf Sinzig. Schon im Jahre
1216 überträgt Friedrich II. einem Gerhard von Sinzig — es
könnte der Vater sein — die gesamte Verwaltung über Mann-
schaft und Einkünfte von der Mosel rheinabwärts. König
Heinrich hat ihm Vollmacht gegeben, das verlorene Reichs-
* Über Gerhard von Sinzig vgl. die Urkunden bei Beyer, Mittelrheinisches
Urkundenbuch, Bd. III Register.
112 Benno Hilliger
gut wieder einzufordern. Wir haben ja schon gesehen, Sinzig
lag mit Düren und Aachen wie ein vorgeschobener Posten in
Feindesland, zwischen der Macht von Kóln und Mainz. Ger-
hard stand also dem mächtigsten Feinde des Kaisers, dem Erz-
bischof Conrad, mit nur geringer Seitendeckung gegenüber
und hatte die ganze Gewalt des Kampfes aufzufangen. Er war
besonders bedroht, da der Erzbischof Remagen zu befestigen
versuchte. Deshalb ergingen schon Mitte September die ersten
Weisungen des Kónigs an den Herzog von Limburg und den
Burggrafen von Hammerstein, dem Gerhard von Sinzig auf
sein Ansuchen Hilfe zu leisten. Der Feldzug dauerte über
Winter bis in das erste Frühjahr hinein. Gerhard von Sinzig
hatte — natürlich außer dem Lehnsaufgebot — ein kleines Sold-
heer von 50 Berittenen in Dienst genommen, mit dem er für
den König 16 Wochen im Felde lag. Auch eine Mannschaft von
6 Armbrustschützen hatte er geworben. Wir erzählen dies,
um zu zeigen, mit wie kleinen Mitteln damals die großen Ent-
scheidungen der Weltgeschichte gesucht wurden. Wie der Krieg
in seinem Lande gehaust hat, zeigt uns wieder seine Abrech-
nungsurkunde. Der Hof in Ahrweiler war in Flammen auf-
gegangen, in Sinzig hatte man ihm die eigene Behausung zer-
stört, den Wein und alle Vorräte geraubt und alle seine Besitzun-
gen niedergebrannt. Aber er hatte sich tapfer gewehrt, er hatte
eine Anzahl von Gefangenen heimgebracht, an denen er sich
für seine Verluste mit 400 Mark Kölnisch Lösegeld hätte schad-
los halten können. Da gebot ihm der König, all seine Gefange-
nen ohne Lösegeld wieder auf freien Fuß zu setzen. Es war dies
politische Notwendigkeit, denn der König trachtete wohl, sich
mit seinen kleineren Feinden zu vertragen, um sich der größeren
zu versichern. Gerhard mußte sich mit einem halben Troste
zufrieden geben, daß ihm der König noch in die Urkunde
schrieb: „Super his expectat gratiam imperatoris et nostram“,
daB er dies der Huld des Kaisers und des Kónigs anheimstelle.
Jetzt verstehen wir wohl, warum der Truchseß hier einspringen
mußte, um dem Amtmann wenigstens die Rückstände, die
expensa regis, zu decken.
In der Zwischenzeit aber war der groDe Schlag gefallen, der
das Schicksal dieses Feldzuges entschied. Dem Grafen von
Jülich war es geglückt, in der Schlacht von Lechenich seinen
Die Reichssteuerliste von 1242 113
eigenen Lehnsherrn, den Erzbischof von Kóln, zu schlagen und
schwer verwundet gefangen zu nehmen. Das war wohl auch
die Veranlassung, welche in diesen Monaten den Kónig nach
Sinzig, Trier und Kóln an den Niederrhein führte. Er wollte
sich offenbar der Person seines gefáhrlichsten Feindes, des Erz-
bischofs, leiblich versichern. Aber es ist bezeichnend für die
Machtstellung der Gewalten, daß es ihm nicht gelang, den Gra-
fen von Jülich zu bewegen, ihm den Gefangenen auszuantworten.
Es wäre möglich, daß damals erst der Gedanke einer Verpfän-
dung Dürens für 10000 mr. erwogen worden wáre, um denr Gra-
fen von Jülich eine Sicherheit zu bieten. Aber der Graf wollte
nicht, und der Urkundenentwurf, wenn es ein solcher war,
wäre unausgeführt geblieben. Nur so viel wurde erreicht, daß
der Graf dem König versprechen mußte, den Erzbischof als
Gefangenen des Reiches in Gewahrsam zu halten. Aber der
Graf mochte seine eigenen Gedanken dabei haben, jedenfalls
war ihm die Gnade seines Lehensherrn wertvoller, als die
Gunst und alle Versprechungen des Königs. Schon am 2. No-
vember entschloß er sich, den Erzbischof gegen Gewährung
voller Verzeihung und ein gutes Stück Geld wieder freizugeben.
Auch dieser Vertrag?” ist ein Kunstwerk staatsmännischer
Überlegung, wie der Erzbischof den Grafen vom Banne löst
und von dem unerlaubten Eidschwur, den er dem König und
seinen Räten geleistet, ihn als Gefangenen des Reiches zu halten,
und wie er dem Grafen verspricht, auf dessen Ersuchen auch
mit dem Reich, Kaiser und König seinen Frieden machen zu
wollen, falls nicht sein Leben, seine erzbischöfliche Würde,
sein Gehorsam gegen Rom und die Unversehrtheit der Köl-
nischen Kirche dadurch gefährdet würde.
Mitten in diese Vorgänge hinein in den Sommer des Jahres
1242, als der Aufstand am Niederrhein durch die Gefangen-
nahme des Erzbischofs niedergeschlagen schien, fällt also die
Aufstellung der Reichssteuerliste. Erst jetzt, da wir dieses
wissen, wird sie gesprächig und erzählt uns wie ein altes An-
nalenwerk von den Vorgängen dieser Tage. Wenn die Städte
Friedberg, Wiesbaden, Seligenstadt, Ingelheim, aber auch Dü-
ren und Offenburg u.a. „ad edificia eorum" von der Steuer
** Lacomblet, a. a. O. II, nr. 270.
Histor. Vierteljahrschrift, Bd. 28, H. 1. 8
114 Benno Hilliger
befreit erscheinen, so deutet dies eben auf die Kriegsscháden
des vergangenen Herbstes besonders in der Wetterau.
Ich habe schon erwähnt, daß wir den Ertrag unserer Liste
unterschátzen, wenn wir allein die doppelte Kaufkraft des
Geldes für sie in Anschlag bringen wollen. Viel wichtiger ist
die Summe militárischer Macht, welche man mit ihr damals in
die Waagschale des Kampfes werfen konnte. Und wir haben
in den Wormser Annalen® gerade für diese Jahre und die uns
hier bescháftigenden Ereignisse eine vorzügliche Quelle für die
Kosten eines Heereszuges. Als die dem Kónig getreue Stadt
Worms im August 1242, dem Rufe Konrads folgend, Kriegs-
schiffe rüstete und mit 200 Bewaffneten zu seinem Heere stieß,
um dem Erzbischof von Mainz die Pfalz zu verwüsten, stellten
sich die Kosten dieses sechswóchentlichen Feldzuges auf über
300 Mark Kölnisch. Und: als 1243 der König die Bergstraße ent-
lang zog und sich vor Starkenburg legte, kamen ihm die Worm-
ser „cum medietate civium“, mit der halben Stadt zu Hilfe und
lagen bei 2000 Mann stark 8 Tage mit ihm zu Felde, und man
schlug die Kosten dieses Heerzuges für die Stadt auf 200 Mark
an. Und ebenso, als sie ihm 1250 in gleicher Stärke mit
2000 Mann und 100 Armbrustschützen nach Flonheim folgten
und 3 Wochen ausblieben, kostete es der Stadt über 700 Mark.
Wir können daraus entnehmen, daß der Wochenlohn für einen
armatus im Durchschnitt etwa 14 bis 15 Silberpfennige Kölnisch
betragen habe, was wir in Hinblick auf die Nebenkosten für
besonderes Heeresgerát wohl auf 1 Schilling, d. h. 12 Pfennige
Kölnisch herabsetzen dürfen. Der Sold für geschulte Armbrust-
schützen stellte sich natürlich entsprechend hóher. Gerhard von
Sinzig berechnet für sie je einen Monatslohn von 1 mr. Köl-
nisch. Sie erhielten also das Dreifache eines gewóhnlichen Be-
waffneten.
Man hätte also mit den Eingängen der Reichssteuerliste,
trotz aller Abzüge, immer noch ein Heer von 6000 Bewaffneten
aufstellen und einen Monat lang im Felde halten können. Diese
Einnahmen des Reiches fielen also noch ins Gewicht und muß-
ten sich mit der Zeit steigern, je größer und reicher die Städte
wurden. Dabei gilt es auch noch zu bedenken, daß wir ja hier
3$ MG. SS. XVII, 48.
— ——— — — D — — — "D — — — à !—
— ———— ——— —X — —
Die Reichssteuerliste von 1242 115
nur die Steuern der Westhälfte des Reiches vor uns haben, die
freilich die steuerkráftigste gewesen sein dürfte. Weiter aber
kommt in Betracht, daB diese Bede nicht einmal, sondern, wie
es scheint, zweimal im Jahr erhoben worden ist, zu Johanni und
Weihnacht. Es würde sich also damit der von uns errechnete
Betrag verdoppeln. Dazu aber kamen im Falle der Not noch
außerordentliche Beden. So z. B. wenn Gerhard von Sinzig
schon im Januar 1243 vom Kónig angewiesen wurde, geschwind
von den Juden 500 mr. einzufordern, nótigenfalls auch mit
Gewalt. Um eine solche auBerordentliche Steuer oder eine
Hofbede mag es sich auch in seiner Abrechnung bei der precaria
von 50 mr. für Sinzig und 15 für die Juden daselbst gehandelt
haben“. Damit waren aber die Einkünfte von König und Reich
noch lange nicht erschöpft. Es sei nur an Zoll, Geleit, Gerichts-
gefälle und sonstige regalia erinnert. Dazu kamen — nicht an
letzter Stelle — die Hofeseinkünfte. Stellten sie sich doch in
Sinzig allein auf 22715 mr. Kölnisch, wenn sie auch in dem lau-
fenden Kriegsjahr mehr als aufgebraucht worden waren. Dieses
Kónigsgut aber war gefáhrdet worden in der langen Zeit der
Bürgerkriege nach dem Tode Heinrichs VI. und wurde es noch
mehr in der Zeit des eigentlichen Zwischenreiches.
Hier aber führt eine gerade Linie von unserer Reichssteuer-
liste hinüber zu dem großen Rheinischen Städtebund, der
unter König Wilhelm von Holland 1254 zu Worms einen star-
ken Landfrieden aufgerichtet hat. Zwei Jahre später, nach dem
tödlichen Abgange dieses Königs, sind diese Städte es gewesen,
die vor die Reichsfürsten traten und die Wahl eines neuen
Königs verlangten, nicht demütig bittend, sondern in dem trotzi-
gen Bewußtsein des Rechtes und der streitbaren Macht ihrer
Mauern und Türme, in deren Schutz sie lagen, und der 150Kriegs-
schiffe, die sie von Basel bis zum Niederrhein auf dem Strome
liegen hatten. Es waren dieselben Namen der Rheinischen
Städte, wie wir sie schon in unserer Liste gefunden haben,
Frankfurt, Boppard, Aachen und andere, die hier an die Spitze
traten, aber ihre Reihen erscheinen verstärkt jetzt auch durch
Diese Bedebeträge dürfen mit denen der Steuerliste von 70 und 25 mr aus
dem Grunde nicht stimmen, weil sie nur unter den Einnahmen, nicht aber auch
unter den Ausgaben des Fronhofs gebucht erscheinen. Denn anderen Falles wären
sie zweimal in Rechnung gestellt worden.
8*
116 Benno Hilliger
die Namen der großen Bischofsstädte Mainz, Köln, Straßburg
und andere. Sie alle waren einig geworden in dem Begehren
nach einer starken Staatsgewalt, und im Sinne des Mittelalters
sprachen sie es auch aus, daß der König gleichmäßig den Nutz
von arm und reich zu wahren habe. Und da nach dem Tode
Wilhelms niemand mehr da war, dieses Amtes zu warten, so
vermaßen sie sich selbst, die Schützer des Reichs zu sein, bis
wieder ein König wäre: „Da nun das Reich verwaist ist und
wir des Herrn und Königs entbehren, so wollen wir alle Güter
des Reichs in unseren Schutz nehmen und mit aller Kraft ver-
teidigen, als wenn es die unsrigen wáren." Den Fürsten aber
drohten sie, wenn die Wahl des neuen Königs zwiespältig aus-
falle, jedem der von ihnen Erwählten die Tore zu sperren.
So hoch war also schon das Selbstgefühl und die Macht der
Städte gestiegen, und wir erkennen, daß hinter den Namen der
Steuerliste mehr steht, als die paar hundert Mark jährlichen
Bedezinses, es war die ganze gewappnete Kraft eines neu heran-
gewachsenen Standes, die man in den Kämpfen der Wormser
an der Seite König Konrads bereits zu spüren bekommen hatte.
Wir alle wissen, der Bund der Städte hat bei den Aufgaben,
die er sich in den Wirren dieser Tage gestellt hatte, kläglich
versagt, er erlag inneren Spaltungen und der Übermacht der
Fürsten. Ohne die schützende Macht des Königtums war er
ein Schatten. Die Doppelwahl des Jahres 1257 war wie ein
Hohn auf die Forderungen der Städte. Diese deutschen Für-
sten, deren Streben nur dahin ging, die Macht des Königtums
auszuhöhlen, um sich an ihr zu bereichern, waren die natür-
lichen Gegenspieler der Städte, deren wachsenden Reichtum
sie mit Furcht und Mißtrauen betrachteten. Hatten sie doch
schon Friedrich II. das Statutum in favorem principum ab-
gerungen, das sie niederhalten sollte. An ihrer Spitze aber stand
der Erzbischof von Köln, Konrad von Hostaden?®, den die
Hauptschuld trifft an dem Untergang der Staufer und der Ver-
nichtung der deutschen Königsgewalt. In den Augen der Welt
ein Mann, der vor nichts zurückschreckte und dem man nach-
sagte, er habe seinem eigenen Schützer und Schutzbefohlenen
König Wilhelm von Holland, als er bei ihm zu Gaste war, in der
3 Über ihn vgl. Hermann Cardauns, Konrad von Hostaden, Köln 1880.
Die Reichssteuerliste von 1242 117
Nacht in Neuß den Brand ans Haus legen lassen, damit er darin
mit samt dem päpstlichen Legaten umkomme. Ein Mann, der
nach dem Hóchsten und Ungeheuersten strebte, der nach dem
Tode seines Verbündeten, Sigfrid von Mainz, die Hand selbst
nach diesem zweiten Erzbistum ausstreckte, bis es der Papst
ihm wehrte. Es mochte ihm der Gedanke eines geistlichen
Königreichs am Niederrhein vorgeschwebt haben, dessen äußeres
sichtbares Zeichen der Wunderbau des Kölner Domes werden
sollte, zu dem er in einem für mittelalterliche Zeit schier un-
erhörten Ausmaße mitten in den Kriegswirren dieser Tage
am 15. März 1248 durch Meister Gerhard?! den Grundstein
legen ließ. Dieser Mann war es, der wenige Monate nach der
Doppelwahl seine eigene Stadt Köln mit Krieg überzog, sie
belagerte, beschoß und die davor liegende Flotte mit griechi-
schem Feuer vernichten wollte. Als ihm das nicht gelang, schloß
er Friede und fügte sich im großen Schied von 1258 den Be-
dingungen des Albertus Magnus, um gleich darauf im nächsten
Jahre zu seinem großen Schlag gegen die Geschlechter im Rat
und der Münzerhausgenossenschaft auszuholen. Vergessen wir
nicht, daß der Bund der Rheinischen Städte auf der Herrschaft
der Geschlechter in denselben ruhte, und wenn der Erzbischof
in Köln den Haß der Zünfte gegen die Geschlechter aufstachelte,
traf er letzten Endes doch den Städtebund. Er ist es auch
gewesen, der die Wahlgeschäfte des Jahres 1257 für König
u Auf die Dauer wird man Gerhard von Riel schwerlich den Ruhm streitig
machen können, der erste Dombaumeister gewesen zu sein, d. h. der Mann, dessen
Haupte der erste Entwurf zu diesem Riesenbau entsprungen ist. Das hat noch
Cardauns in seinem oben genannten Werke, S. 149, getan. GewiB besagt die Be-
zeichnung als rector fabrice in der Urkunde von 1257 (Ennen und Eckertz, Quellen
II, 372), wo ihm das Domkapitel zum Dank für seine Verdienste ein Grundstück
beim Dom überläßt, nicht allzuviel. Wichtiger aber ist, daB er im Totenbuche von
St. Pantaleon, wo er mit samt seiner ganzen Familie eingetragen ist, unterm 24. April
als seinem Todestage als magister Gerardus initiator nove fabrice maioris ecclesie
bezeichnet wird. Urbare von St. Pantaleon S. 27 (Publikationen der Gesellschaft
für Rheinische Geschichtskunde XX, 1). Man kann diese Worte dem Sinne nach
schwerlich anders als „der erste Dombaumeister“ übersetzen. Über den Begriff
des Wortes initiator vgl. Ducange unter initiator und initiatrix, wo auch die gei-
stige Urheberschaft klar zum Ausdruck kommt. Bezeichnend ist auch, daß wir den
genauen Bericht über den Anfang des Baues, die Niederlegung des Ostchores und den
dabei entstandenen Brand des alten Doms der Überlieferung des Klosters St. Pan-
taleon verdanken.
118 Benno Hilliger
Richard geführt hat, die das Schamloseste eines Stimmen-
kaufes darstellten, was man bisher in Deutschland erlebt hatte.
Der Englànder, sagte man, habe den deutschen Fürsten sein
gutes Geld wie Wasser vor die Füße geschüttet. Der Erzbischof
von Köln erhielt, wie urkundlich feststeht“, für seine Bemü-
hungen und Unkosten 8000 Mark Sterling. Das wáre nach
unserer Berechnung das Vier- oder Fünffache unserer Steuer-
liste, also der Steuerertrag des ganzen Reiches für 2 oder 3 Jahre.
Der Erzbischof von Mainz erhielt die gleiche Summe und der
Bayernfürst soll sogar 12000 Mark genommen haben, doch
mußte er die Nachrede leiden, er habe sich von beiden Seiten
die Hand salben lassen. Der Erzbischof von Kóln aber bedang
sich noch des weiteren aus, daB der Kónig ihm gleich nach der
Wahl óffentlich in Urkunde bestátigen werde, er werde im ganzen
Land von der Mosel bis Aachen und Dortmund keinen Amtmann
und keinen Richter ernennen, und keinen Edelherren, Ritter
oder Bürger in Dienst nehmen, er habe sich denn zuvor mit dem
Erzbischof verstàndigt.
Das Kónigtum war am Ende seiner Kraft. Von ihnen aus-
geplündert, lohnte es sich für die Fürsten nicht mehr, die Krone
zu tragen und man schenkte sie 1273 dem Grafen von Habs-
burg, der sich nun vor die Aufgabe gestellt sah, durch die
Gründung einer Hausmacht, von außen her, dem deutschen
Kónigtum einen neuen Rückhalt zu schaffen.
33 Lacomblet II, S. 232, nr. 429.
119
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte.
Von
Käthe Spiegel.
Der Historiker kann nach längerem Aufenthalt im fremden
Lande der Versuchung, die an jeden Reisenden herantritt,
Werden und Sein der Fremde mit der Heimat zu vergleichen,
nur schwer widerstehen. Die Gefahr liegt aber nahe, daß das
fremde Land, das fremde Geschehen an den Maßen der Heimat
gemessen, daß die Heimat sozusagen zum Normaltypus gemacht,
daß also in unserem Falle Amerika europamorph betrachtet
wird. In der Richtung, die charakteristischen Merkmale der
amerikanischen Geschichte aufzuzeigen, möchte die vorliegende
Studie, wenn auch nur in skizzenhafter Darstellung, Anregung
und Versuch bedeuten.
Welche Charakterzüge sind es nun, die der amerikanischen
Geschichte, der Geschichte der Vereinigten Staaten ihr eigen-
tümliches individuelles, von der Geschichte europäischer Länder
verschiedenes Gepräge geben!? Wie tritt der amerikanische
! Zum allgemeinen Vergleich seien genannt:
S. E. Morison: The Oxford History of the United Staates 1783—1917, Ox-
ford—London (1929), 2 Bde.; R. G. Gettell: History of American Political Thought,
New-York—London (1928), (mit reichen Literaturangaben); Ch. u. M. Beard:
The Rise of American Civilization, New-York (1927), 2 Bde.; F. Luckwaldt:
Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin Leipzig (1920), 2 Bde.;
C. Brinkmann: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Handb. d. engl.
am. Kultur, Leipzig— Berlin (1924).
Zum Amerikanertum: F. Schónemann: Die Vereinigten Staaten von
Amerika, Stuttgart (1932), 2 Bde. (Wertvolle Bibliographie); W. Fischer: Haupt-
fragen der Amerikakunde, Neuphil. Handbibl, Bd.3, Bielefeld — Leipzig (1928);
Handbuch der Amerikakunde, Handb. der Auslandskunde, Bd. 6, Frankfurt a. M.
(1931); E. Voegelin: Über die Form des Amerikanischen Geistes, Tübingen (1928).
Zur Kolonialzeit im besonderen: K. Spiegel: Kulturgeschichtliche Grund-
lagen der amerikanischen Revolution, Beih. 21 d. Hist. Zeitschr. München— Ber-
lin (1931).
120 | Käthe Spiegel
Mensch aus dem Hintergrunde seiner Geschichtstradition hervor
und wieweit verursacht sie seine Andersartigkeit im Vergleiche
zu seinem europäischen Zeitgenossen ?
* 4 *
Der amerikanische Historiker Farrand betrachtet als die
größte geschichtliche Tat Amerikas die Einwanderung‘.
Und tatsächlich erscheint auch dem vergleichenden Blick des
europäischen Historikers die Immigration in ihren Ursachen
und Folgen als der bestimmendste Faktor des amerikanischen
Geschichtsverlaufs. Ein Faktor, der in annähernd gleicher
Stärke das geschichtliche Leben der europäischen Länder in
jüngerer Vergangenheit niemals beeinflußt hat und noch viel
weniger beeinflussen wird.
Das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten ist von einer
Bevölkerung bewohnt, die aus fremden, zumeist europäischen
Vaterländern eingewandert ist. Da sich die weißen Einwanderer
mit den Eingeborenen fast nicht mischten, haben wir es, mehr
als in den benachbarten Gebieten Kanada und Mexiko, mit
einer rein erhaltenen Einwandererbevölkerung zu tun. Mögen
auch die Ursachen, warum die einzelnen Einwanderer ihre hei-
matliche Scholle verlassen hatten, voneinander verschieden ge-
wesen sein, so ist es dennoch möglich, die Einwandernden zu
typisieren. Wir unterscheiden politisch oder wirtschaftlich Un-
befriedigte, Abenteurer usw., die alle zusammen zur Gruppe
der freiwillig Eingewanderten gehören, von der Gruppe der
zwangsweise nach der neuen Heimat Deportierten. Fragt man
aber, wie groß der Bevölkerungsanteil der Nachkommen der
unfreiwillig Eingewanderten am heutigen Gesellschaftsaufbau
sein kann, so muß er doch als äußerst gering betrachtet werden.
Die Deportationen konnten ja überhaupt nur solange erfolgen,
als das Band zwischen Kolonie und Mutterland noch Bestand
hatte, und auch während dieser Zeit stießen sie bereits auf den
* M. Farrand: Immigration in the light of history in New-Republic, IX
(1916), S. 116. Der Ausdruck , Einwanderung! wird hier im Sinne des amerika-
nischen Wortes „, Immigration“ gebraucht, schließt also die ganze Weite des Begriffs
mit allen soziologischen Bedingtheiten und Folgerungen ein. Zur Einwanderungsfrage
reiche Literatur bei A. M. Schlesinger: New Viewpoints in American History,
New-York (1925).
|
| Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 121
herr: Widerstand der einzelnen Kolonien. Es läßt sich also sagen,
lei: daß die Bevölkerung der Vereinigten Staaten, soweit sie nicht
durch natürliche Vermehrung wuchs, durch freiwillige Ein-
wanderung ergänzt wurde. Dabei muß als freiwillige Ein-
wanderung auch jene betrachtet werden, die den Anschein der
; di Unífreiwilligkeit hat, wie etwa politische Landesverweisung,
ing. Flucht nach begangenem Verbrechen u. dgl.
- ds Aus der Feststellung, daß das amerikanische Volk seiner
che: überwiegenden Mehrzahl nach sich durch freiwillige Einwan-
|: derung, die in früherer oder späterer Zeit erfolgte, auf neuem
cher. Lande zusammenfand, ergibt sich die Antwort auf die oft auf-
'j geworfene Frage, ob es eine Eigenschaft gäbe, die allen diesen
vie! durch Völkermischung größten Stils verbundenen und nunmehr
in einem gemeinsamen Staatsverband lebenden Menschen ur-
pr sprünglich gemeinsam sei, oder ob lediglich durch Angleichung
jp, und Verschmelzung im „Melting Pot“ eine gewisse Eigenartig-
«r keit bewußt oder unbewußt erworben wird. Wir kommen zu
j| dem Schlusse, daB als die einzige gemeinsame Eigenschaft,
it | gleichsam die Erbeigenschaft des amerikanischen Volks, seine
a | Wanderungsbereitschaft angesehen werden muß. Sie war
es, die in jedem einzelnen Falle die Auswanderer von der Masse
i ihrer Landsleute geschieden hatte, im Kräftespiel der Motive
1 bildete sie die stärkste Komponente. Dabei ist es gleichgültig,
ob uns Wanderungsbereitschaft oder Seßhaftigkeit als ethisch
wertvoller erscheinen.
Diese Wanderungsbereitschaft konnte aber mit der Ankunft
am ersten Bestimmungsorte nicht ihr Ende finden. In der
Wanderung der Pioniere nach dem Westen wirkt sie fort und
wird, gleichsam durch Zuchtwahl, von Generation zu Generation
gesteigert®. Die Bindung an die Scholle wird nie wieder so fest,
wie bei den in der ursprünglichen Heimat Verbliebenen. Es
mag dabei allerdings sein, daß die Wanderungsbereitschaft der
einzelnen Nationen dem Grade nach verschieden ist*. Für die
Wertung des Frontiertums, der Westwärtswanderung der
Pioniere, hat dasselbe zu gelten, wie für die Auswanderung
—
- ———— —ä— £
3 Zur Bedeutung der Wanderung für die Geschichte Amerikas vgl. F. J. Tur-
ner: The Frontier in American History, New-York (1921).
* VgL R. Heberle: Über die Mobilität der Bevölkerung in den Vereinigten
Staaten, Jena (1929), S. 82f.
122 Käthe Spiegel
überhaupt. Man mag sie als Ausdruck der Rastlosigkeit, der
Schwáche, der Gesetzlosigkeit deuten, man mag in ihr Willens-
stärke, Lebensbejahung, Verantwortungsfreudigkeit erblicken!
— Die Wanderungsbereitschaft des Amerikaners tritt aber auch
heute noch, nachdem die Frontierwanderung mit dem Ende des
vorigen Jahrhunderts bereits ihren AbschluB gefunden hat,
deutlich erkennbar in Erscheinung, sie hat dem Bau der ameri-
kanischen Gesellschaft ihr Gepräge gegeben®.
Vom Beginn der Geschichte der Kolonien angefangen, hat
die Frage, wer zur weiteren Ansiedlung im neuen
Lande zugelassen werden sollte, eine Rolle gespielt.
Waren die Kolonien auch vom Mutterlande abhängig gewesen,
so suchten sie sich dennoch, soweit es ging, dagegen zu wehren,
daß ihnen Bevölkerungselemente zugeführt würden, die ihnen
nicht genehm erschienen. Hatte doch jede Kolonie, soweit
nicht allgemeine Verfügungen des Mutterlandes maßgebend
waren, das anerkannte Recht, selbst die jeweiligen Bedingungen
für Zuwanderung, Ansiedlung und Einbürgerung festzusetzen.
Es bedeutet darum nur die Fortführung einer bereits begonnenen
Linie der amerikanischen Geschichte, wenn nach der Gründung
der Vereinigten Staaten, ja bis zur allerneuesten Gegenwart,
die Frage der Immigration von höchster Bedeutung blieb®. Der
Kampf der Parteien ging stets mit darum, ob eine stárkere oder
schwáchere Einwanderung gewünscht werde. Auch die Frage,
welcher Art die einwandernden Elemente sein sollten, war schon
von Jefferson aufgeworfen worden, der wünschte, daB die Immi-
gration auf Volksstämme beschränkt bleiben möge, die leicht
assimiliert werden könnten’. Die Frage der Einwanderung war
immer aufs innigste mit den wirtschaftlichen Interessen einzelner
Bevölkerungskreise verknüpft. Wünschten die Unternehmer
des Ostens eine starke Einwanderung in dem Bestreben, billige
Arbeitskräfte als Ersatz für die stets nach Westen abwandernden
Pioniere zu sichern, so mußten die Lohnarbeiter in den stets
zuströmenden Fremden mit ihrem verhältnismäßig niedrigen
Lebensstandard unwillkommene Konkurrenten am Arbeits-
5 Vgl. Heberle a. a. O., Teil II.
* Über die Bevölkerungselemente der U. S.A., vgl. Fischer a. a. O., Kap. I.,
Schónemann a. a. O. I. Teil III.
? Vgl. Gettell a. a. O., S. 200, 264.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 123
markte erblicken. In neuester Zeit sind es die Gewerkschaften,
die die Einwanderung nach Móglichkeit drosseln und die Ein-
gliederung der Einwanderer in die amerikanische Gesellschaft
erschweren?.
Die Immigrationspolitik mußte aber nicht nur über die
Stärke der Einwanderung, sondern jeweils auch über deren
religióse, nationale und rassische Zusammensetzung entscheiden.
Galt es doch, der künftigen Entwicklung des Gemeinwesens,
der Kolonie, des Staats dadurch die Bahn zu weisen. Massa-
chusetts gestaltete in kolonialer Zeit seine Einwanderung so,
daB es die Hochburg des Dissentertums bleiben konnte, wáhrend
gleichzeitig Virginia fast ausschließliche Domäne des Angli-
kanertums war. Damit Pennsylvania nicht zu einer vollkommen
deutschen Kolonie werde, drosselte die Assembly um die Mitte
des 18. Jahrhunderts den stets stärker werdenden Zustrom der
Deutschen?. Die Angst vor einer zu starken Einwanderung der
gelben Rasse führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
zu Einwanderungsbeschränkungen und schließlich zum Ein-
wanderungsverbot von 1924. Immer fühlten sich die bereits
länger im Lande lebenden Einwohner berechtigt, in der Art
eines gesellschaftlichen Klubs über die Aufnahme neuer Mit-
glieder nach ihrem Gutdünken zu entscheiden. Es ist dabei
selbstverständlich, daß die jeweiligen staatstheoretischen An-
sichten nicht ohne Einfluß bleiben konnten. So macht sich etwa
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine gewissermaßen national-
staatliche Tendenz bemerkbar, deren Wurzeln wohl auch in
deutschen Einflüssen zu suchen sind». Sie wirkt sich darin aus,
* Vel. dazu H.Pollak: Die Gewerkschaftsbewegung in den Vereinigten
Staaten, Jena (1927) und Ch. Lütkens: Staat und Gesellschaft in Amerika,
Tübingen (1929).
* Vel. Spiegel a. &. O., S. 46ff.
10 W. R. Burgess, der Begründer der Fakultät für „Political Science" an
der Columbia Universität in New-York (die erste ihrer Art an einer amerikanischen
Hochschule), hatte 1871—1873 in Deutschland studiert, und zwar in Berlin, Leip-
zig und Góttingen. Seine Lehrer waren vor allem: Curtius, Mommsen, Ranke,
Droysen, Treitschke, Zeller, Lotze, Helmholtz, Roscher, Waitz und -Gneist. (Vgl.
H. W.Odum: American Masters of Social Science, New-York (1927), S. 23ff.
und Gettell a.a. O., S. 401ff.); George Bancroft, der dem amerikanischen Volk
seine Nationalgeschichte schrieb, hatte als Schüler Heerens 1820 das Doktorat der
Universität Göttingen erworben und verbrachte das nächste Jahr in Berlin. Nach-
124 Käthe Spiegel
daß der Einwanderungsanteil (Quote) schwer assimilierbarer
Nationalitäten wie Italiener, Slawen, Ostjuden, verhältnis-
mäßig eingeschränkt wird.
Folge der nationalstaatlichen Tendenz sind aber auch alle
jene Erscheinungen, die der Europäer, meist überlegen lächelnd,
als Amerikanisierungsbestrebungen kennzeichnet. Sie zielen
dahin, die Einwanderer nicht nur praktisch und wirtschaftlich,
sondern auch kulturell dem Volksganzen einzugliedern, sie zu
„amerikanisieren‘‘, zu „assimilieren“. Genau besehen, sind die
Amerikanisierungstendenzen nur dem Grade nach verschieden
von europäischen Maßnahmen ähnlicher Art. Daß sie aber als
neue Wendung im geschichtlichen Leben Amerikas betrachtet
werden müssen, hat seinen Grund darin, daß bis zu ihrem Be-
ginne davon abgesehen worden war, zu versuchen, aus den
Kindern aller Herren Länder ein einheitliches, nationales,
amerikanisches Staatsvolk zu schaffen!. Allerdings hat es nach
jeder Periode verstärkter Einwanderung eine Abwehrbewegung
mit dem Ziele gegeben, das wahre, echte, reine „Amerikaner-
tum“ vor fremden Einflüssen zu schützen und zu bewahren.
Man denke an die Alien and Sedition Acts von 1798, an die
Know-nothing-Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts usw.
dem er als amerikanischer Gesandter 1867—1874 in Berlin gelebt hatte, hatte er
so sehr die deutsche Junkerart angenommen, daß von ihm gesagt werden konnte:
„That is an old German, named Bancroft.“ (Vgl. J. S. Bassett: The middle Group of
American Historians. New-York (1917), S. 138ff.)
H Die Einwanderungsgesetzgebung knüpft hier aber auch an geschichtliche
Wertungen an: 1921 sollte die proportionale Aufteilung der Gesamtsumme der zu-
gelassenen Einwanderer auf die einzelnen europäischen Länder entsprechend der
Bevölkerungszusammensetzung des Jahres 1910 bestimmt werden, 1924 wurde das
Jahr 1890 als Normaljahr festgesetzt. (Vgl. MacDonald: Documentary Source Book
of American History 1606 —1926, New-York (1928) S. 696ff.); 1929 aber das Jahr 17901
(vgl. The Literary Digest 23, März 1929, S. 15; Industrial and Labour Information:
Intern. Labour Office, Table of contents XXX, S. 127, XXXI, S. 129, Genf 1929).
Damit ist auf jenes Jahr zurückgegriffen, in welchem die jungen Vereinigten Staaten
ihre ersten statistischen Aufnahmen (Zensus) vornahmen.
13 Ein kleines Handbüchlein für Einwanderer, als Einführung in ihre „Amerika-
nisierung" wird von der Vereinigung der ,,Daughters of the American Revolution"
in allen Immigrantensprachen herausgegeben: Manual of the United States. For the
Information of Immigrants and Foreigners. 4. ed. comp. E. C. B. Buel, Washington,
D. C. 1926. Der Inhalt läßt sich charakteristisieren als: Wirtschaftliche Winke
und bürgerkundliche Einführung.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 125
Für die geschichtliche Entwicklung Amerikas von besonderer
Bedeutung muß die Frage sein, wie sich die Einwanderung
im politischen Leben auswirkt. Seit kolonialen Zeiten ist
es nun so, daß die jeweilig jüngste Einwanderergruppe die
politische Entwicklung in radikalere Bahnen weist. Die Be-
fürchtungen der Gegner einer liberalen Einwanderungspolitik
waren darum von ihrem Standpunkt aus immer berechtigt.
Katastrophale Erschütterungen erfolgten stets nach einem be-
sonders starken Anschwellen der ImmigrationP. Nicht nur, daB
der Einwanderer von vornherein, vielleicht auch bereits im
Heimatlande, radikal eingestellt, wirtschaftlich und politisch
13 Für die Immigration vor der amerikanischen Revolution vgl. Spiegel,
a. a. O., S. 44f. Für die Zeit vor dem Bürgerkriege ergibt sich ein ganz ähnliches
Bild: bis 1845 blieb mit Ausnahme von 1842 die Einwandererzahl unter 100000;
1847 stieg sie bereits über 200000; 1850 über 300000; 1854 über 400000; seit 1865
fiel die Zahl der Einwanderer rapid. Erst nach dem Ende des Bürgerkrieges, nach
1866 betrug sie wieder über 300000, erreichte 1878 den Hóhepunkt mit 459803
und fiel dann wieder ab. Der nächste Höhepunkt ist 1882 mit 788992 Einwanderern.
Diese Zahl wird nach einem Auf und Ab der Einwanderungsziffern erst 1903 mit
857000 übertroffen, 1906 zum ersten Male in der amerikanischen Einwanderungs-
geschichte die Millionengrenze überschritten, 1907 eine Einwanderung von 1285349
erreicht. Bis zum Weltkrieg beträgt die Einwanderung etwas über eine Million:
1910, 1913, 1914. Seither ist im Jahre 1921 die Hóchstzahl der Einwanderung mit
805228 erreicht worden. (Vgl. World-Almanach für 1929, Bd. 44, New York S. 256.)
Man vergleiche diese Angaben mit dem politischen Geschehen! Nach der groBen
Einwanderungswelle der Jahrhundertmitte der Bürgerkrieg. Gegen Ende des
Jahrhunderts der Beginn radikaler Tendenzen und Reformen und des außerkonti-
nentalen Imperialismus. Neuregelung der Immigration. — Es scheint sich zu zeigen,
daß sich jedes Anschwellen der Einwanderung politisch nach etwa 10—20 Jahren
auswirkt. Die Einwanderung bleibt also für die Politik und geschichtliche Ent-
wicklung nicht bedeutungslos, wie leicht (z. B. nach Lütkens) geschlossen werden
könnte, sondern wirkt im öffentlichen Leben erst nach Ablauf einer gewissen Frist.
Von einer Gesamtbevölkerung von 105710620 Einwohnern im Jahre 1920
(vgl. World-Alm. a. a. O., S. 284) sind 1820—1920: 33200103 Personen eingewan-
dert, also etwa ein Drittel (vgl. ebenda, S. 256). Der gesamte Bevölkerungszuwachs
1820—1920 betrug 96072167 (vgl. ebenda, S.284). Die natürliche Vermehrung
der einmal eingewanderten Personen betrug also 62872064. Die Proportion der
natürlichen Vermehrung zur Zahl der persónlich Einwandernden würe danach 2:1.
Es muß aber berücksichtigt werden, daB die Einwanderung ständig fließt, also
immer neue Quellen natürlicher Vermehrung schafft. Es ergibt sich also, daß für
den Charakter der Bevölkerungsvermehrung in U.S.A. in dem behandelten Zeit-
abschnitt die Einwanderung eine viel größere Bedeutung bat als die natürliche
Vermehrung der Altangesessenen (aus der Zeit vor 1820!). Zu dem gleichen Er-
gebnis gelangt auch Schönemann a. a. O. I. S. 203.
126 Käthe Spiegel
reformatorischen Ideen aufgeschlossen ist, so kann wohl be-
hauptet werden, daB die Stellung, die ihm innerhalb der bereits
in sich verfestigten Gesellschaft eingeräumt wird, danach an-
getan ist, Wünsche nach Verbesserung zu zeitigen. Wohlstand
und Tradition der älter Angesessenen schaffen eine soziale Kluft
gegenüber dem Einwanderer, der oft einer ganz anderen gesell-
schaftlichen und kulturellen Spháre entstammend, nur an der
äußersten Linken der Gesellschaft Anschluß findet. Der gleiche
Gegensatz, der während der Pionierzeit die älter besiedelten
Gebiete des Ostens vom jüngeren Westen schied, zeigt sich
jeweils ebenso in den Beziehungen der älter angesiedelten Be-
völkerung der gesamten Union, des Ostens und des Westens, zu
den Einwanderermassen.
Von der äußersten Linken beginnt also auch meist die poli-
tische Eingliederung der Immigration. Jene politische Gruppe,
die dem Einwanderer Aussicht auf leichten Bodenerwerb,
günstige Arbeitsgelegenheit, soziale Verbesserung bietet, kann
auf seine Gefolgschaft zählen. Erst in einem späteren Zeitpunkt
des Aufenthaltes im Lande trennen Farmer und Lohnarbeiter
ihre politischen Wege. Ansässigkeitsbedingungen hindern Ein-
wanderer oft, ihren politischen Willen unmittelbar durch
Stimmabgabe auszudrücken. Wenn aber nachgewiesen wird,
daß gerade die Jüngeren Einwanderergruppen ein verhältnis-
mäßig seBhafteres Bevölkerungselement bilden!4, könnte daraus
auf eine verhältnismäßig gesteigerte politische Mitbestimmung
dieser Gruppen geschlossen werden.
Die Stärke des politischen Einflusses der Einwanderer wird
dann wachsen, wenn schon ihre Auswanderung aus der Heimat
durch die politische (oder politisch-religiöse) Überzeugung ver-
anlaßt worden war. Sie bringen dann meist den bewußt ge-
formten festen Willen mit, am Öffentlichen Leben des neuen
Landes teilzunehmen und es nach Möglichkeit so zu gestalten,
daß die in der Heimat unbefriedigt gebliebenen Wünsche und
Theorien Erfüllung finden mögen. Die Einstellung der Immi-
gration zu den jeweiligen politischen Zeitfragen aber, denen
selbstverständlich auch die religiösen Bewegungen zuzuzählen
sind, war stets von größter Bedeutung, mag es sich beim Neu-
14 Heberle a. a. O., S. 77f.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 127
aufbau einer Kolonie um deren staatstheoretische Grundlagen,
bei der Sklavereifrage um deren ethische oder wirtschaftliche
Berechtigung und Wertung gehandelt haben.
Bei der Behandlung der amerikanischen Geschichte und
ihrer einzelnen Ereignisse und Probleme muß als besonders
charakteristischem Merkmal der Einwanderung stets die ihrer
Bedeutung entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet werden, es
müssen die Wechselbeziehungen zwischen Immigration und poli-
tischem und wirtschaftlichem Geschehen im Auge behalten, und
die jeweilige Zusammensetzung der Bevólkerung querschnitt-
weise untersucht werden. In keinem Zeitpunkte seiner Ge-
schichte besteht das amerikanische Volk aus einer im wesent-
lichen homogenen Bevólkerungsmasse, wie sie die Einwohner
europäischer Länder bilden, sondern es setzt sich seinem Cha-
rakter nach aus einer Überlagerung von Bevölkerungsschichten
zusammen, die selbst oder deren Vorfahren zu verschiedenen
Zeiten unter verschiedenen Bedingungen durch verschiedene
Motive veranlaßt, eingewandert sind. Wie flüssig der Begriff
„Amerikanisches Volk“ ist, zeigt die Fragestellung Siegfrieds
nach der Art der künftigen Bevölkerungsentwicklung in den
Vereinigten Staaten?®.
Auch für die Zukunft wird die Immigration ihre Bedeutung
für die Geschichte des Landes nicht einbüßen, mag auch der
Zustrom der Einwandernden zeitweilig stark gedrosselt oder
vielleicht auch ganz unterbunden werden. Die Tatsache, daß
die Frage der Einwanderungspolitik als solche bestehen bleiben
wird, ist das Entscheidende. Je nach der Einstellung werden
sich die Geister scheiden, bis zu dem Zeitpunkt etwa, da die Be-
siedlungsdichte der Vereinigten Staaten jener der europäischen
gleich sein wird. Die Eingewanderten selbst, die jüngste Schicht
der Immigranten, werden stets versuchen, die Gestalt des neuen
Heimatlandes in ihrem Sinne umzubilden.
* *
*
Die Art der Besiedlung des Staatsgebiets mußte in seiner
charakteristischen Eigenartigkeit die geschichtliche Entwicklung
18 A. Siegfried: America comes of Age, New-York (1927), S. 1: „Will America
remain protestant and anglo-saxon?“ — dazu auch Schönemann a. a. O. I, 8.
90f., 197fl.
128 Käthe Spiegel
des Landes ebenso beeinflussen, wie die sich stets wandelnde
Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Siedlungen des Weißen
Mannes sind stoßweise vom Küstengebiet des Ostens nach
Westen vorgeschoben worden. Engländer, Franzosen, Hol-
länder, Schweden, Spanier haben am Kolonisationswerke teil-
genommen. Das Kriegsglück entschied, daß schließlich England
allein Herr des gesamten Küstenstreifens von Kanada bis Florida
wurde. Als sich die 13 englischen Kolonien zu einem selbstän-
digen Staatswesen zusammenschlossen, war es eine der ersten
Fragen, wie die weitere Besiedlung des westlichen Neulands
geregelt werden sollte. Und um dieses westliche Neuland
ging während der ganzen Zeit der Geschichte bis zum Ende des
19. Jahrhunderts, als der Kontinent seiner ganzen Breite nach
aufgeteilt und das Frontier bis zum pazifischen Ozean vorge-
schoben war, der Streit der Meinungen. Bis heute sind im Auf-
bau des amerikanischen Staates und seiner Gesellschaft Spuren
der Besiedlungsweise erkennbar.
Das jeweils vollbesiedelte Muttergebiet des Ostens schied
aus seiner Mitte die wanderungsbereiten Bevölkerungselemente:
Jugendliche, Eigenbrötler, Abenteurer, Verbrecher usw. aus,
die im Westen neue Siedlung suchten!®. Diese Pioniere, die im
„Frontier“, d.h. jenem Grenzgebiete, das die vollbesiedelten Ge-
biete des Ostens von den Jagdgründen der Indianer schied,
wohnten, wurden die eigentlichen Träger des amerikanischen
Volkscharakters, wie er sich uns heute noch zeigt. Lebens-
bejahung, Tatkraft, Optimismus, Liebe zum Kampf mit wid-
rigen Umständen und vor allem Freude an ständigem Neu-
aufbau. In kolonialer Zeit hatte zunächst jede Kolonie innerhalb
ihres eigenen Gebiets ihr besonderes westliches Hinterland.
Doch noch vor der LosreiBung vom Mutterland hat das Frontier
am Ende der Kolonialzeit einen besonderen interkolonialen
Charakter angenommen. Im politischen Leben hatte der Westen
1 Während die Einwanderungskurve, wie wir oben sahen, eine Wellenlinie
darstellt, Wellenberge und Wellentäler zeigt, gelegentlich auch sprunghaft wird,
steigt die Bevölkerungsdichte seit 1810, also seit der Zeit nach dem Ankaufe Loui-
sianas (1803), bis 1840, und dann nach einem Abfall im Jahre 1850, von 1850 bis
1920 in im wesentlichen stetiger Proportion. Die Einwanderungswellen haben
also keine wesentlichen Schwankungen im Wachstum der Bevólkerungsdichte
verursacht. Die einzige Ausnahme bildet die Zeit vor dem mex. Krieg! (Vgl. World-
Alm. a. a. O., S. 286.)
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 129
auch schon zur Kolonialzeit, und lángst, ehe die einzelnen Kolo-
nien ihre Gebietsansprüche auf westliches Land an den Bund
abtraten, seine besondere eigenartige Stellung, und dies blieb so
im wesentlichen unverändert, bis zur Gegenwart. Allerdings
wechselte im Laufe der Zeit der Begriff,, Westen“, je nachdem,
wie weit jeweils der, Osten“, d. h. die vollbesiedelte, beziehungs-
weise durch ihren Kulturcharakter als Dauersiedlungsgebiet
gekennzeichnete Zone reichte". Nunmehr ist zwar seit mehr
als vier Jahrzehnten das Frontier verschwunden und dennoch
verschiebt sich innerhalb der Union das Zentrum des amerika-
nischen Lebenspulses ständig westwärts. Die soziologischen
Folgen dieser stándigen Umschmelzung, die mit der Schwer-
punktverlagerung einer Nation zusammenhängen, verursachen
großenteils den dynamischen Charakter der amerikanischen
Gesellschaftsstruktur, besonders in beruflicher Hinsicht!$.
Die Art der Besiedlung zeitigte eine besondere Weite des
Heimatgefühls!9*, die jedem Europäer auffallen muß. Da die
Einwanderung, von asiatischer, mexikanischer oder kanadischer
Seite abgesehen, vom Atlantischen Ozean erfolgte, ist der Weg
vom Osten nach dem Punkte des westlichsten Wohnsitzes zum
mindesten einmal in der Geschichte jeder Familie, ob im Ochsen-
wagen oder Pullmann-Car, zurückgelegt worden. Das durch-
querte Gebiet wurde zum Heimaterlebnis des Einwanderers
selbst oder seiner Nachkommen. Für die Einstellung zu Heimat,
Umwelt und Welt ist dies recht bedeutungsvoll. Während dem
Europäer im allgemeinen die „Heimat“ in konzentrischen
Kreisen vom engsten Winkel des Geburtshauses über Gemeinde
und Bezirk zum Vaterland erwächst, beginnt sie beim Ameri-
kaner eigentlich mit dem äußersten Kreise des Gesamtstaats
und wird erst langsam durch Hinzufügung individueller Merk-
17 Die wissenschaftliche Terminologie (Turner a. a. O.) unterscheidet: Old
West, Middle West und den fernen Westen der Pazifischen Küste. Eine Geschichte
des Frontier: F. L. Paxson: History of the American Frontier 1763—1893, Boston—
New-York (1924).
15 J. F. Jameson: The American Revolution considered as a social move-
ment. Princeton (1926), S. 70f., Schönemann a. a. O. II, S. 454 A. 19.
13a Anders charakterisiert das amerikanische Heimatgefühl Schönemann
&. &. O. II, S. 299ff. Zur Erklärung mancher Überschneidungen der vorliegenden
Studie und des Schönemannschen Werks sei angeführt, daB es erst während der
Durchsicht der Korrekturfahnen vorlag!
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 9
130 Käthe Spiegel
male zum engeren Heimatbezirk. Ja, meist greift das Heimat-
gefühl noch weiter aus und umfaßt die Wohnstätten der Ahnen:
Europa, die Welt. Wir finden hier die Wurzel der überaus
großen, jedem Europäer auffallenden Mobilität der amerika-
nischen Bevölkerung, die mit der größeren Entfernung vom
Atlantischen Ozean ständig zunimmt. Eigene Wanderungen
oder Wanderungen der Ahnen lassen den Wunsch nach Wieder-
holung wach bleiben.
Schließlich muß noch der Willkürlichkeit der Besiedlung ge-
dacht werden, die ganz besonders dort augenfällig wird, wo die
siedlungsschaffende Kraft der Technik in Erscheinung tritt.
Fast im ganzen Inneren des Kontinents, von wenigen Aus-
nahmen, wie alten Verteidigungssiedlungen, Pelzhandelssta-
tionen abgesehen, folgte die Besiedlung den Wegen der Land-
straßen und Eisenbahnen. Ihre Bedeutung für die amerikanische
Geschichte muß darum eine ganz andere sein, als für die euro-
päische. Hier im wesentlichen belanglose Verbesserungen der Ver-
kehrsmöglichkeiten, dort siedlungsgründende, erschließende Tat.
Behandelt der Historiker amerikanische Fragen des 17., 18.
und 19. Jahrhunderts, dann wird er, will er nicht vollkommene
Unklarheit darüber lassen, was während der von ihm behandelten
Epoche unter dem Gebiete der „Vereinigten Staaten“ zu ver-
stehen sei, bestrebt sein müssen, jeweils die Weite des vollbe-
siedelten Gebiets des Ostens, später auch der des äußersten
Westens, eventuell auch des spanischen Südens und französisch-
kanadischen Nordens zu umreißen, die Lage und Ausdehnung
des Frontiers festzustellen und danach das noch unbesiedelte,
den Indianern vorbehaltene Land zu bestimmen. Erst seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts können wir mit einem dauernd ge-
gebenen Staatsgebiet im Sinne europäischer Länder arbeiten.
Der Charakterzug der Veränderlichkeit des Gebiets verschwindet
damit für die Geschichte der neuesten Zeit, der Gegenwart und
Zukunft.
* *
*
Die politische und damit historische Bedeutung des
Westens ist eine doppelte. Einmal ergibt sich die Frage nach
seiner eigenen Stellung im Leben des Staatsganzen, zum zweiten
nach der Einstellung des Ostens im Verhältnis zum Westen.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 131
Wie jedes Kolonialgebiet, so war auch der amerikanische
Westen seinem Muttergebiete, dem Osten verschuldet. Er
mußte darum naturgemäß alle Maßnahmen stützen, die eine
Erleichterung seiner wirtschaftlichen Lage zu versprechen
schienen. Geldverbilligung, Dezentralisierung des Bankwesens,
weitgehendste Selbstbestiimmung mußte er zu seinem Programm
erheben. Da der Westen im Gegensatz zum Osten das eigentliche
Agrarland war und ist, wird der Gegensatz von Ost und West
zum Gegensatze zwischen Industrie und Landwirtschaft, wie er
in ähnlicher Weise eigentlich in jedem Staatswesen zu finden ist.
In Amerika sind infolge seines eigenartigen Siedlungscharakters
aber Industrie und Landwirtschaft in zwei im wesentlichen aus-
einanderfallende Gebiete räumlich voneinander geschieden. In-
teressengegensätze, die sich in Europa im allgemeinen innerhalb
jeder Siedlungsgemeinschaft, die Stadt und Land, Industrie
und Landwirtschaft umfaßt, abspielen, sind hier territorial ge-
bunden. Wir sehen, daß wir unter dem amerikanischen ,,Sectio-
nalism'* etwas anderes zu verstehen haben, als in Europa unter
„Autonomiebestrebungen“.
Im Zusammenhange damit steht das Verhältnis von
Bund und Einzelstaat in seiner historischen Entwicklung.
Wir sind so sehr gewöhnt, in Amerika einen Bund von Staaten
zu sehen, daß wir geneigt sind, zu übersehen, daß eigentlich erst
der Gesamtstaat, die Summe der zum Bunde zusammenge-
schlossenen Einzelstaaten, den europäischen Einzelstaaten ent-
spricht. Der amerikanische Einzelstaat ist seinem Wesen nach
nicht mehr als ein Glied des Ganzen und war es auch, mit Aus-
nahme der 13 Urstaaten und etwa Texas in seiner geschicht-
lichen Vergangenheit, nie gewesen. Das ganze Gebiet des
Westens war zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten ein
Nichts, dann unbesiedeltes Land im Eigen des Bundes. Unter
der Patronanz des Bundesstaates wurde es besiedelt, wurde
jeder einzelne der heutigen Staaten zum Territorium und dann
zum Bundesstaat. Die jeweils bereits im Bunde zusammenge-
schlossenen Einzelstaaten haben von Fall zu Fall ein neues
Glied, einen neuen Genossen als ebenbürtig in ihre Reihen auf-
genommen. Der Bund war es, der seit dem Ende des 18. Jahr-
hunderts stets seine schützende Hand über die wachsenden
Einzelstaaten gehalten hat, sie sind als sein Kolonialland heran-
9*
132 Käthe Spiegel
gewachsen und wurden mit ihrer Aufnahme in den Bund für
großjährig erklärt. Die einzelnen Staaten, die Kinder der
Union, sind aber Geschwister verschiedenen Alters und darum
in ihrer Einstellung voneinander verschieden, in ihrer Gesamt-
heit aber auch verschieden von dem Elterngebiet des alten
Ostens, das sich durch seinen freien Entschluß zum Bunde zu-
sammengeschlossen hatte. Die Bundesverfassung aber ist ein
Geisteskind der konservativsten Elemente dieses alten Ostens.
Was Wunder, wenn sie den Anschauungen der neueren und
neuen westlichen Staaten nicht entspricht! Wir haben damit
die Wurzeln vieler Verfassungskämpfe zwischen Bund und Einzel-
staaten kennen gelernt, die sich aus der Gegensätzlichkeit der
einzelstaatlichen Gesetzgebung und den Entscheidungen des
bundesstaatlich-konservativ orientierten Supreme Court er-
geben!“. Aber auch die Verfassungen der westlichen Einzel-
staaten sind voneinander nach Art und Umfang je nach der Zeit
ihrer Entstehung verschieden“.
Wenn wir es heute auf dem Gebiete der Vereinigten Staaten
von Amerika mit 48 Einzelstaaten zu tun haben, dürfen wir
niemals übersehen, daß ein Vergleich mit etwaigen Vereinigten
Staaten von Europa nicht gezogen werden kann, da die ge-
schichtlichen Voraussetzungen durchaus und grundsätzlich ver-
schiedene sind. Zwar wird mit Recht betont, daß die 13 Ur-
Staaten sich freiwillig zum Bunde zusammengeschlossen haben.
Ist es aber auch formell richtig, so war doch die vollsouveräne
Zeit dieser Urstaaten von der Erklärung ihrer Unabhängigkeit bis
zur Geltung der Konföderationsartikel, oder wenn man will,
sogar bis zur Geltung der Bundesverfassung eine so kurze,
außerordentliche, daß sie mit der alteingewurzelten, gepflegten,
in geschichtlicher und irrationaler Tradition verankerten, durch
dynastische Fragen verwickelten, durch nationale Gegeben-
heiten gebundenen Selbständigkeit und Souveränität euro-
päischer Staaten überhaupt nicht verglichen werden kann.
Es ist hier nicht der Ort, das Für und Wider paneuropäischer
19 Vgl. H. Rommen: Grundrechte, Gesetz und Richter in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika; Deutschtum und Ausland, 42, Münster (1931).
* J. A. Smith: The Growth and Decadence of Constitutional Government,
London (1930); Z. Peška: Přímé zakonodaiství. K novéjiímu ústavnímu vývoji
spojených států amerických. Bratislava 1929.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 133
Ideen und Durchführungsmóglichkeiten zu erórtern, in der an-
gedeuteten Art geschichtlich unterbauen lassen sie sich aber
gewiß nicht?!! Betrachten wir aber die 35 Staaten, die seit seiner
Gründung dem Bunde angeschlossen worden sind, so haben sie
nicht nur numerisch das Übergewicht, sondern sind territorial
und wirtschaftlich und darum auch politisch von ausschlag-
gebender Bedeutung. Nicht einmal rein theoretisch läßt sich
ein freiwilliger verfassungsrechtlicher Anschluß dieser Gebiete
an die Urgebiete konstruieren! Aber auch nicht zwangsweise,
im Sinne der dynastischen Länderpolitik europäischer Haus-
machtinteressen etwa (Tu, felix Austria, nube!), nicht durch
Erbvertráge und in den meisten Fällen auch nicht durch Beute-
kriege sind die westlichen Gebiete dem Osten angegliedert
worden. Die vielumstrittenen „State Rights“ sind daher im all-
gemeinen nicht Forderungen nach Wiederherstellung früherer
verlorener Vollsouveränität, sondern das, was wir „Autonomie-
bestrebungen' nennen würden. Mögen sie auch gelegentlich
zu Sezessionsbewegungen geführt haben!
Die Verschiedenwertigkeit der einzelnen Staaten der Union
in bezug auf Alter und verfassungsrechtliche, wie wirtschafts-
politische Einstellung bringt es mit sich, daB der Beobachter
der Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte ihr Rechnung tragen
muß. Er darf die ‚Vereinigten Staaten“ nicht als unveränderliche
Konstante betrachten, sondern hat auch ihr organisches Wach-
sen und Werden zu berücksichtigen. In den „State Rights“ der
Jungen westlichen Staaten aber wird er das Streben fortschritt-
licher oder radikaler Elemente erkennen müssen, die in Europa
zu politischen Parteien oder Kulturorganisationen innerhalb der
einzelnen Staaten zusammengeschlossen sein würden, um ihre
Interessen am besten zu vertreten und weiteste Lokalautonomie
zu sichern. |
Auf die amerikanische Staatsidee konnte die Erweite-
rung des Siedlungsgebietes nach dem Westen nicht ohne Einfluß
bleiben. Der Bundesstaat trat im Heimatgefühl, wie wir bereits
sahen, immer mehr in den Vordergrund, die Gemütsbeziehung
zum Bunde wurde gefestigt. Auch in óffentlich-rechtlicher Be-
ziehung trat die Staatsbürgerschaft des Gesamtstaats vor die
z Vgl. dagegen J. Lambert: Histoire Constitutionnelle de l'Union Américaine.
I. Paris/Sirey (1930), S. 25ff., 130ff. und Morison a. a. O. I., S. 11.
134 Käthe Spiegel
des Einzelstaats. Nur in den östlichen Urstaaten wird die Zu-
gehörigkeit zum Einzelstaat noch sentimental gewertet. Im
übrigen mußte es die familiengeschichtliche Tradition, die sehr
stark gepflegt wird, mit sich bringen, daß die Wanderungen von
einem Staat in den andern, die vor allem von Ost nach West,
aber auch oft von Nord nach Süd und kreuz und quer führten,
in den Pionieren nicht das Bewußtsein aufkommen ließen, damit
irgendeine Veränderlichkeit in ihrer staatsbürgerlichen Zuge-
hörigkeit vorgenommen zu haben. Wo sie auch ihre Hütten
bauen mochten, ob in Iowa oder Arizona, die „Vereinigten
Staaten“ waren es, die überall das Vaterland bedeuteten. Par-
tikularistische Tendenzen im europäischen Sinne, verwurzelt in
selbständiger einzelstaatlicher Tradition galt es hier nicht erst
zu überwinden.
Für den jeweiligen Osten der einzelnen Perioden bedeutete
die Frage des Westens weit mehr als lediglich die Erschließung
und Besiedlung von Neuland. Es handelte sich vielmehr darum,
welchen Charakter dieses Neuland erhalten, welcher Stempel
ihm aufgedrückt werden sollte. Jede politische, jede wirtschaft-
liche Gruppe des Ostens, der Norden und der Süden wünschte
den neuen Westen unter ihren Einfluß zu bringen, ihrem System
nutzbringend und entsprechend einzugliedern. Damit mußte
auch die Frage der Sklaverei zum Kampfe um den neuen Westen
erweitert werden. Keinerlei Kompromiß konnte eine dauernde
Lösung dafür bieten, ob und inwieweit der Westen der Sklaverei
geöffnet werden sollte. Der Bürgerkrieg muß darum der Haupt-
sache nach als ein Kampf um den Westen, als Entscheidungs-
kampf zweier diametral verschiedener Wirtschaftsysteme gelten.
In jedem Zeitpunkte der amerikanischen Geschichte wird
der jeweiligen Bedeutung, die der Westen für den Osten hatte,
gedacht werden müssen. Er war es, der großenteils östliche
und gesamtstaatliche Entscheidungen und auch Katastrophen
auslóste. Gegenwärtig, etwa seit dem Ende des 19. Jahrhun-
derts, bewirkt die langsame industrielle Durchdringung des
Westens eine gewisse Angleichung westlicher und östlicher In-
teressen und Interessengegensátze??, Aber auch jetzt noch
n Vgl. J. A. Smith a. a. O. und meine Besprechung in Vjschr. f. Sozial- u.
Wirtschaftsgesch. XXV (1932), S. 182ff.; A. Rein: Demokratie und Partei in den
Vereinigten Staaten von Amerika; Demokratie u. Partei, H. 2, Wien (1932), S. 21ff.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 135
macht sich westlicher Einfluß, z. B. in außenpolitischer Hinsicht,
deutlich bemerkbar”. |
Die „Manifest Destiny“ “ hat „God's own country“ sein
Gebiet von Küste zu Küste ausdehnen und in wohlgezogener
Grenze gegen Nord und Süd, gegen Kanada und Mexiko be-
sonders günstig und einheitlich gestalten lassen. Als die Ver-
einigten Staaten ihr politisches Eigenleben 1783 begannen, da
war zunächst im Frieden von Paris nur von einer westlichen
Ausdehnung bis zum Mississippi die Rede, aber auch óstlich vom
Mississippi blieben Florida und ein gutes Stück des heutigen
Louisiana auBerhalb ihres Hoheitsgebietes. Erst nach und nach
wurde durch Käufe, diplomatische Verhandlungen und auch
gelegentlich durch kriegerische Eroberungen das heutige neun
Millionen Quadratmeilen umfassende Gebiet am Kontinente er-
worben und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch Kolonial-
gebiete außerhalb des Festlands ergänzt“.
Damit sind wir zu einem besonders eigenartigen Charakter-
zug der amerikanischen Geschichte vorgedrungen: Der Ge-
staltung der Außenpolitik. Die Vereinigten Staaten haben
stets nur reinen Nützlichkeitsinteressen folgend, ihre außen-
politischen Entscheidungen gefällt. Frei von dynastischen Bin-
dungen aller Art, wie sie noch bis in die jüngste Vergangenheit
die Geschichte der europäischen Länder beeinflußt haben, ging
die amerikanische Tradition seit Washington bereits dahin, sich
auch von belastenden Bündnissen freizuhalten. Die Interessen-
politik aber betrachtete es als ihre vornehmste Aufgabe, dem
5 Vgl. Lütkens a. a. O., S. 26 f., 97 f. und M. Löffler: Vereinigte Staaten
von Amerika, Versailler Vertrag und Völkerbund. Ein Beitrag zur Europa-Politik
der U.S.A., Berlin-Grunewald, Polit. Wissenschaft, H. 11 (1932), S. 137.
* „M. D." ist eine seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gebrauchte Wendung,
die dartun soll, daB offensichtlich Gottes Vorsehung das amerikanische Volk zum
Herrn über den amerikanischen Kontinent, also auch über das damals noch nicht
im Besitze der Union befindliche Gebiet Nordamerikas von Ozean zu Ozean bestimmt
habe. (Vgl. J. F. Jameson: Dictionary of United States History 1492—1895,
Boston (1894), S. 395).
5 Die Amerikaner betrachten sich in puritanischer Tradition gern als das aus-
erwählte Volk Gottes und benennen danach ihr Vaterland.
* Vgl. World-Almanach a. a. O., S. 421f. In der Zeit von 1790—1920 ist das
Areal der U.S.A. von 892135 auf 3738371 Quadratmeilen gestiegen. Davon sind
3026789 zusammenhángendes Gebiet am Kontinent und nur 711582 außerhalb
desselben.
136 Käthe Spiegel
Wunsche nach Expansion den notwendigen Raum zu ver-
schaffen, das Gebiet der Vereinigten Staaten móglichst zu er-
weitern. MuBte dazu aber Krieg geführt werden? Gebietser-
werbungen konnten, ohne daß Krieg geführt wurde, durch Ver-
trag, durch Kauf erfolgen. Nach dem Grundsatze: Folgst du
nicht willig, so brauch ich Gewalt, sah die amerikanische AuBen-
politik den Kriegsfall dann gegeben, wenn es aussichtslos er-
schien, auf andere Weise zum Ziele zu gelangen". So begegnen
wir denn gleichzeitig imperialistischen und pazifistischen Ten-
denzen®, finden aber auch, daß der Imperialismus als solcher
nicht eigentlich kriegerischer Art ist (Dollardiplomatie!)99.
T? Von 1790—1890 hatten die Vereinigten Staaten am nordamerikanischen
Kontinent einen Gebietszuwachs von 2 725538 Quadratmeilen (Alaska mit eingerech-
net) Davon sind durch reine Kaufverträge erworben: 1448541 Quadratmeilen
(1803 Louisiana von Frankreich um 15 Mill. $, 1853 das Gebiet des Gadsden An-
kaufs von Spanien um 10 Mill. $, 1867 Alaska von Rußland um 7200000 $). Durch
Annexion 1845 (Texas) 389166 Quadratmeilen, durch Vertrag mit Spanien 1819
(Florida und anderes spanisches Gebiet) 72101 Quadratmeilen, durch Vertrag mit
England 1846 (Oregon) 286541 Quadratmeilen. Also auf friedlichem Wege erwor-
ben: 2196349 Quadratmeilen. — Um mexikanisches Gebiet, dessen Verkauf von
Mexiko abgelehnt worden war, wurde 1½ Jahre, Mai 1846 bis Februar 1848, Krieg
geführt. Nach errungenem Siege haben die U.S.A. das gewünschte Gebiet von
629189 Quadratmeilen um 15 Mill. $ angekauft. Es war der Krieg also nicht eigent-
lich um eine Beute, sondern um einen Ankauf geführt worden! — Die gleiche Ver-
flechtung von Krieg und Ankauf beobachten wir bei den insularen Gebietserwerbun-
gen nach dem spanisch-amerikanischen Krieg 1899. Vertrag und Ankauf haben seit-
her die Einflußsphäre der U.S.A. noch erweitert. Zuletzt wurden 1917 westindische
Inseln von Dänemark gekauft. (Vgl. World-Almanach a. a. O., S. 421f.)
H. Oncken: Amerika und die Großen Mächte. Eine Studie über die Epochen
des amerikanischen Imperialismus in Hist.-Pol. Aufsätze, München— Berlin (1914),
Bd. 1; E. Brandenburg: Die Vereinigten Staaten und Europa in Deutsche
Rundschau 172—1917; F. Luckwaldt: Die Vereinigten Staaten und Europa
in Festgabe F. von Bezold, Bonn und Leipzig 1921.
Die Ausführungen von Lütkens a. a. O. 97ff. zu Außenpolitik und Im-
perialismus sind vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, der historisch-
soziologische Hintergrund ist für die Plastik des Bildes wohl erforderlich! Vgl. auch
Schönemann a. a. O. I, S.79ff. — M. Silberschmidt: Großbritannien und die Ver-
einigten Staaten, Leipzig—Berlin (1932), betont mit Recht die Andersartigkeit der
Feindschaftsverhültnisse unter den amerikanischen Daseinsbedingumgen (S. 75); da
sich seine Arbeit aber mit den anglo-amerikanischen Beziehungen befaBt, scheint er
geneigt, den Faktor englisch-amerikanischer Freundschaft bei friedlich schiedlichen
Regelungen zu überschützen. Wir sahen oben, daß die U.S.A. auch in ihren Be-
ziehungen zu anderen Staaten der gleichen Linie ihrer AuBenpolitik folgen.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 137
Wir müssen uns aber auch bewußt werden, daß der Begriff
des Krieges in der amerikanischen Geschichtstradition seiner
ideologischen Bedeutung nach von dem der europäischen grund-
sätzlich verschieden ist. Krieg wurde dann geführt, wenn es
galt, reine Interessenpolitik zu verfechten, um territorialer oder
wirtschaftlicher Interessen willen: man denke an den Krieg von
18129, an den mexikanischen Krieg 1846/48, an den spanisch-
amerikanischen Krieg 1898. Oder aber sollte durch den Krieg
irgendeiner Idee zum Siege verholfen werden. Als Träger einer
weltgeschichtlichen Mission fühlt sich Amerika dann, wenn es
sich der jeweils bedrückten oder bedrückt erscheinenden Vólker
annimmt. So bestand nach der Bezwingung der ungarischen
48er Revolution unter den Vertretern des amerikanischen
Westens Stimmung, die diplomatischen Beziehungen zum re-
aktionären Österreich abzubrechen?! In den Weltkrieg griff es
ein, um der Welt das Geschenk der Demokratie zu bringen und
verteidigte auf der Friedenskonferenz die Ansprüche der kleinen
Nationen. Der Völkerbund, dem es dann selbst nicht beitrat,
sollte die Krönung des weltbeglückenden Werkes bedeuten“.
Wir sehen, Materialismus und Idealismus kónnen reinlich
geschieden oder unlóslich einander durchdringend, wie etwa
beim Eintritt in den Weltkrieg, für Amerika zur Kriegsursache
werden. Niemals aber, auch in kolonialer Zeit nicht, ist in
Amerika das Schwert gezogen worden für Interessen, die durch
Jahrhunderte in der europäischen Geschichte zur causa belli
geworden sind. Die Rechtfertigung dynastischer Hausmacht- und
Lànderpolitik durch Ehe- und Erbrecht, sowie durch „ge-
heiligte“ Verträge und Ansprüche blieb der amerikanischen Ge-
schichte fremd. Darum bedeutete ihr der Sieg auch nicht mehr
als die Erreichung eines erstrebten Zieles, er wurde nicht als
Entscheidung für das hóhere Recht, in der Art eines Gottes-
urteils betrachtet. Diese verschiedene Geschichtstradition be-
wirkt selbstverstándlich auch eine verschiedene Einstellung zu
** Wir können darum Silberschmidt, a. a. O., S. 73ff., nicht zustimmen, der
englisch-amerikanische Verwicklungen aus dem Gebiete der Interessenpolitik in
eine ideelle Sphäre verschieben will. In der Oregonfrage, die ja vertraglich geregelt
worden ist (s. o.), war man in Amerika jedenfalls bereit, einen Beutekrieg gegen
England zu führen. Man beachte doch das Schlagwort: Fifty — four — forty or fight!
Vgl auch Schönemann a. a. O. I, S. 70.
m Morison a. a. O. II, S. 108. s2 Vgl. Löffler a. a. O.
138 Käthe Spiegel
Krieg und Frieden in der Seele des Amerikaners und des Europäers.
Dem Europäer liegt die Gefolgschaftspflicht im Blute, der Ameri-
kaner ist dem Kriege grundsätzlich abgeneigt, doch kämpft er ge-
gebenenfalls für seine Interessen, mógen sie ideeller oder materieller
Art sein. Der Europäer sucht nach einer Verschmelzung seiner An-
sichten über Krieg und Frieden zu einer einheitlichen Auffassung
vom Ganzen, mag sie auch darin bestehen, daß er die ethische Ver-
antwortung einem Führer (Monarchen) überläßt, und selbst seine
ethische Pflicht lediglich im Gehorsam sieht. In der Seele des Ameri-
kaners liegen — entsprechend seiner außenpolitischen Haltung —
Pazifismus und Militarismus recht unverbunden nebeneinander.
* *
*
In der Geschichte Amerikas hat von jeher die Macht der
Idee eine groBe Bedeutung gehabt. Weltverbesserungsplàne,
die auf Umgestaltung des Staates, der Beziehungen des Staates
zum Bürger, zur Religion, zur Wirtschaft abzielten, die sich auf
die Art der Lebensführung des Einzelnen bezogen, sie alle
konnten und sind auch mindestens einmal im amerikanischen
Neulande auf ihre praktische Durchführbarkeit erprobt worden.
In Europa mußten es sich Denker und Träumer daran genügen
lassen, Staats-, Erziehungs- und Zukunftsromane zu entwerfen,
oder aber waren es revolutionäre Bewegungen, die neuen Rich-
tungen zum Leben verhalfen. Der freie Raum, die traditionslose
Luft Amerikas gestattete von allem Anfang an Experimente
des gesellschaftlichen Lebens. Es ist stets der gleiche Geist ver-
suchenden Willens, der uns entgegenweht, ob es sich um die
Abschließung des ersten Staatsvertrags auf der Mayflower, um
den Aufbau des Gottesstaats in Massachusetts, um den religions-
losen Staat des Roger Williams, ob es sich um die Bewegung
der Mormonen, um pädagogische Experimente oder um die
Prohibition handelt. In jedem Falle galt es einer bestimmten,
vorhergefaßten Idee zum Siege zu verhelfen, eine Theorie zu
verwirklichen, oder aber eine als schädlich erkannte Idee,
Theorie zu bekämpfen, zu besiegen, zu vernichten. Und trotz-
dem ist der Amerikaner nichts weniger als ein Theoretiker.
Seine Devise ist: Probieren geht über studieren!
In das Reich der Theorie, der Macht der Idee gehórt auch
gegenwärtig die Auffassung des Amerikaners von seinem Staat.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 139
Er fühlt sich als Herr im Hause: l'état c'est moi. Er glaubt, die
Möglichkeit zu haben, bestimmend einzugreifen. Die Möglich-
keit der Verfassungsánderung (Durchführung von Amendments)
steht ja offen! Wie wenig bewußt ist man sich, daß gerade nichts
schwieriger ist, als an der scheinbar so biegsamen Verfassung
Anderungen vorzunehmen®. Reformfreudige amerikanische
Staatswissenschaftler bemühen sich seit etwa drei Jahrzehnten
in schonungsloser Kritik die tatsächlichen Verhältnisse, die so
sehr den theoretischen Vorstellungen widersprechen, dem Volke
vor Augen zu führen“. Ebenso ist es die Macht der Idee, die
im Wirtschaftsleben die Proletarier an der Theorie der gleichen
Chance festhalten läßt und verursacht, daß sie sich nicht klassen-
mäßig zusammenschließen®®.
Augenblicklich ist unter dem Einfluß der Kritik wieder der
entgegengesetzte Ausschlag des Pendels zu beobachten. Die
öffentliche Meinung der intellektuellen Schichten ist heute viel-
leicht allzusehr geneigt, die Schattenseiten der amerikanischen
Verhältnisse zu unterstreichen und unter dem Zwange be-
stimmter Ideen Erlösung und Abhilfe zu suchen. Das Bewußt-
sein von der willkürlichen Veränderbarkeit alles Bestehenden
bleibt dem daneben leicht fatalistisch erscheinenden Europäer
stets von neuem erstaunlich. Es ist aber in der amerikanischen
Geschichtstradition verankert.
Der Mensch mit seiner Idee stand noch in nicht zu ferner Ver-
gangenheit am Anfange jeglicher amerikanischen Entwicklung:
bei der Kolonisation, bei der Besiedlung des Landes, bei der
Erweiterung des Gebiets. Niemals galt es, Gewordenes zu über-
nehmen, sondern stets Neues zu schaffen. Dieser Geist des
Experiments lebt und wirkt sich im privaten und Öffentlichen
Leben aus. Politisch wird oft eine Richtung unterstützt, die
eigentlich nicht den Anschauungen der sie unterstützenden
3 Von 2177 Vorschlägen für Amendments, die 1789—1913 eingebracht worden
sind, sind nur 17 durchgekommen und von diesen 10 bereits 1790, so daB für einen
Zeitraum von etwa 120 Jahren 7 Änderungen der Bundesverfassung zu verzeichnen
sind! (Vgl. Rommen a. a. O., S. 35, A. 3.) 1913—20 sind 4 Amendierungen erfolgt.
Seither keine. — Die Texte von Verfassung und Amendments abgedruckt in
World - Almanach a. a. O., S. 243ff.
* Vgl. J. A. Smith a. a. O. und meine Besprechung a. a. O.
= Vgl. dazu vortrefflich Lütkens a. a. O. S. 80ff., 91 und W. Sombart:
Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? "Tübingen (1906).
140 Käthe Spiegel
Kreise entspricht, um ihr eine Gelegenheit zu geben, ihre Theo-
rien in die Tat umzusetzen. Die Devise: „We will see what
comes out of it“ ist dann die Begründung für Versuche, die dem
Europáer fast leichtfertig erscheinen, die oft mit tiefen Ein-
griffen in das private und óffentliche Leben verbunden sind.
Als Gegenstück dazu beobachten wir aber das Festhalten
an der Theorie der Heiligkeit der Gesetze. Der Idee nach ist
das Gesetz in Amerika nicht das, was es bis in die jüngste Zeit
uns Europáern war: ein obrigkeitlicher Eingriff, dem gehorcht
werden muB oder soll, sondern dem Amerikaner ist das Gesetz
eine Árt Spielregel, die er sich selbst setzt und die zu befolgen
Ehrensache ist. In weiten Kreisen wird die Maßnahme einer
eventuellen Aufhebung der Prohibition nur mit dem Hinweis
darauf gebilligt, daB ihr Weiterbestehen die traditionelle Achtung
vor dem Gesetze gefáhrde. Ein Blick auf die Geschichte zeigt
allerdings, daß seit kolonialen Zeiten der Schmuggel eine nicht
unwesentliche Rolle im amerikanischen Wirtschaftsleben und
auch in seiner politischen Entwicklung gespielt hat.
Die Idee bedeutet in Amerika weit mehr unmittelbar prak-
tisch formendes Element als in Europa, und muß darum auch
dort Anspruch auf die Aufmerksamkeit des Historikers erheben,
wo es sich ihm nicht um ideen- oder geistesgeschichtliche Studien
handelt.
* *
*
Wir haben an einer ganzen Reihe uns besonders charakte-
ristisch erscheinenden Merkmalen“ die eigenartige Bedingtheit
des amerikanischen Geschichtsverlaufs dem europäischen gegen-
überzustellen versucht. Werfen wir nun zum Schlusse die Frage
nach der gemeinsamen Wurzel aller dieser Erscheinungen auf,
so müssen wir sie wohl in der Kombination der Neube-
siedlung eines Kontinents mit der ununterbrochen re-
publikanischen Staatsform erkennen. Dabei spielt es keine
Rolle, daß die Kolonien vor ihrer Losreißung vom Mutterlande
3 Es sei hier ausdrücklich erklärt, daß uns die Negerfrage nicht als Cha-
rakterzug der amerikanischen Geschichte erscheint. Sie ist so sehr in wirt-
schaftliche, soziale und auch weltanschauliche Probleme eingebettet, daB deren
Lósung — wenigstens bisher — für sie mitbestimmend ist. Sie ist jeweils Objekt
und nicht Subjekt des Geschichtsverlaufs.
Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 141
einem monarchischen Staatswesen eingegliedert waren. Ent-
fernung vom Mutterlande und koloniale Verfassungsformen
lieBen die Zugehórigkeit zu einem Kónigreich, dessen Herrscher
während der ganzen Zeit der Geschichte nicht einmal amerika-
nischen Boden betraten, leicht vergessen. Die Landesvertei-
digung erfolgte allem Anschein nach zum Selbstschutz. Der
republikanische Gedanke aber hat seine Ursprünge in der Theo-
kratie von Massachusetts, in den Glaubenssätzen des Dissenter-
tums. Mochten auch die jungen Vereinigten Staaten zeitweilig
an die Errichtung einer Monarchie gedacht haben““, der Gang
ihrer Geschichte hat bewiesen, daß die Republik die ihnen
gemäße Staatsform ist. Seit der Annahme der Bundesver-
fassung gab es zum Unterschiede von europäischen republi-
kanischen Staatsumwälzungen, in England und Frankreich
etwa, oder von lateinamerikanischen Staatsentwicklungen keinen
Versuch, eine Diktatur oder eine Erbmonarchie zu errichten.
** Morison a. a. O., I, S. 81.
142
Kleine Mitteilungen.
Zu den Prudentiusglossen.
Die meisten Handschriften des Prudentius besitzen mehr oder minder
zahlreiche Glossen oder ausführlichere Scholien oder beides. Sie sind in den
Ausgaben von Weitz (Hanau 1613), Arevalo (Rom 1788f.) und Dressel
(Leipzig 1860) zum nicht geringen Teile abgedruckt. Ihre Provenienz ist
freilich noch sehr unsicher, denn das Postulat eines Isokommentars, das seit
Weitz immer wieder aufgestellt wurde, steht doch auf recht schwachen FüBen
und der von Burnam (Paris 1910) gedruckte Kommentar!, den ich für Re-
migius oder dessen Umgebung in Anspruch nehme, wird von E. K. Rand
dem Heirie zuerteilt. Auch die Scholien, die Burnam (Cincinnati 1905)
unter dem Titel Glossemata de Prudentio aus Vat. Pal. 237 und Paris. 13953
abdruckte, kónnen vor der Hand einem bestimmten Verfasser nicht bei-
gelegt werden!. Nicht geringe Unklarheit über die verschiedenen Verfasser
entsteht aber für uns dadurch, daB in den verschiedenen Scholienarten
oft dieselben Glossen und Scholien wiederkehren, so daB an vielen Stellen
unbedingt an Abhängigkeit zu glauben ist. Bis zu welchem Grade sie sich
rein oder kontaminiert bewahrt haben und wie unsre heutige Überlieferung
interpoliert ist, wissen wir allerdings noch nicht, zumal da die neue Ausgabe
von J. Bergman? auf Scholien (und Testimonien) leider grundsätzlich ver-
zichtet. So sind wir zunächst auf die alten Ausgaben angewiesen, von denen
die von Dressel (Lipsiae 1860) nur wenige Notizen bringt (aus Vatic. reg. 321
und Vatic. 3859), die nach Dressel p. XLVII mit den Glossen des Iso über-
einstimmen“.
Wer ist Iso? Wir kennen ihn als Lehrer Notkers in St. Gallen aus Ekke-
harti Casus s. Galli 30 (Meyer v. Knonau, Mitteil. zur vaterländ. Gesch. 15,
116) und aus Conradi de Fabaria Cas. s. Galli (MG. SS. 2, 166, 7 und bei
Dümmler, Mitteil. d. antiqu. Gesellsch. in Zürich 12, 224), sowie als Ver-
fasser eines Indiculum zur Passio Desiderii Viennensis des Ado (Canisius,
Lectiones antiquae 6, 452). Im Jahre 871 ist er gestorben, er reicht also
mit seiner Kindheit in die Zeit Karls des GroBen hinein. Auf ihn führen
zwei Handschriften des Prudentius ihre Glossen zurück, nämlich der Bon-
1 Commentaire anonyme sur Prudence aus Valentian. 413.
3 Die von Burnam postulierte Abfassung des Kommentars zwischen 650 und
750 erscheint mir reichlich zu früh. Ich nenne diese Scholien B I und die aus Valent.
413 gedruckten B II.
Aur. Prudentii Clementis carmina (CSEL vol. LXI) 1926.
* Nach Dressel p. XXIV haben alle älteren Hss. des Prudentius Glossen.
Zu den Prudentiusglossen 143
garsianus (Bern. 264 s. IX) und der Widmannianus, und nach ihnen sind diese
zahlreichen Glossen in der Ausgabe von Weitz (2, 771—901, Hanau 1613)
abgedruckt, ohne daß ihre Herkunft von Iso deutlich zum Ausdruck käme.
Und da in St. Gallen selbst jeder Hinweis auf diese Herkunft zu fehlen
scheint, so dürfte sie immerhin zweifelhaft sein.
Sehr viele Isoscholien zeigen nun aber enge Verwandtschaft mit B I
undnoch mehr mit B II. Da nun B II, von einem Niederdeutschen in angel-
shsischer Schrift saec. X geschrieben, vielfache Übereinstimmungen mit
Remigiuskommentaren besitzt, so hatte ich B II dem Remigius zugeschrieben
(Gesch. d. lat. Lit. des Mittelalters 2, 808). Man könnte das freilich mit
gleichem Rechte mit dem Isokommentar tun, da hier ein ähnliches Verhältnis
watet. Und so hat E. K. Rand vielleicht etwas vorsichtiger an Heiric als
Verfasser gedacht und damit der Remigiusforschung neue Wege eröffnet.
Denn sollte die häufige Kongruenz dieser drei Glossenwerke mit Remigius-
Stücken nicht auf die Vermutung führen, daB man es in letzter Linie mit
einer Vorlage zu tun hat, auf die Iso, B I und II und R5 in vielen einzelnen
Stücken zurückgehen? Man müßte dann auch annehmen, daß auch R
Glossen zu Prudentius verfaßt hat, oder daß er, wenn Heiric wirklich der
Verfasser von B II ist, dieses Werk seines Lehrers in starkem Maße benutzt
hat. Daß I (Iso) und B II von R zeitlich nicht sehr abweichen können,
bezeugt der Ausdruck dicebat in den beiden aus Johannes Scottus genommenen
Stellen (Neues Archiv 49, 183), die aus Vorträgen des Meisters entlehnt zu
sein scheinen und vielleicht von R notiert wurden. Natürlich brauchen
diese beiden Stellen nicht die einzigen aus Johannes entlehnten zu sein, da
man ja das Plagiat für durchaus erlaubt hielt und man die Vorlage nur selten
anführte.
Es wird sehr genauer Untersuchung der in Betracht kommenden Hand-
schriften bedürfen, bis die Fragen nach Ort, Zeit und Verfasser der einzelnen
Scholienmassen nur etwas geklärt sind. Es wird zu prüfen sein, ob die Pru-
dentiuserklàrung nicht schon im 8. Jahrhundert einsetzt, ob nicht schon
Lupus, der Lehrer Heirics, einen Kommentar verfaßte und ob die Erklärung
von diesem über Heiric und Johannes Scottus zu Remigius führt. Es ist
nämlich bei der großen Zahl griechischer Wörter und mythologischer Stellen
bei Prudentius durchaus wahrscheinlich, daß sich Johannes mit Prudentius
beschäftigte und außerdem liefern I und B II den strikten Beweis dafür,
daß er über den berühmten christlichen Dichter Vorträge gehalten hat.
Spätere Zeiten haben die karolingischen Kommentare als Fundgruben be-
nutzt, aber keine neuen Arbeiten geliefert.
Es soll nun im folgenden der Versuch gemacht werden, die wichtigeren
Stücke aus I, B I und B II auf ihre Quellen zu prüfen oder zur Prüfung
vorzulegen, und die mit Kommentaren von R ähnlichen oder gleichen Stücke
zusammenzustellen, sowie auf das Vorhandensein und die Gleichheit einzelner
Stücke auch in anderen Scholienmassen aufmerksam zu machen’.
* So mag der Name des Remigius fortan gekürzt werden.
* Dies geschieht dadurch, daB die Siglen den einzelnen betreffenden Stücken
Dachgesetzt werden.
144 M. Manitius
I. Iso.
Prud. Praef. 8 ferula proprie qua grammatici utuntur qua manus dis-
cipulorum feriunt’. Unde Juvenalis dicit (1, 15): Et nos manum ferulae
subduximus. Ferulae dictae eo quod fervere et tremere faciant discipulos.
Est autem proprie genus arboris cuius succus thapsica vocatur*. B II.
Cath. 2, 8 nitentis, splendentis. Secundum physicos loquitur qui dicunt
omnia colorata in nocte perdere colorem, sole redeunte redire colorem.
Vgl. B II.
71 ebenum est genus nigri ligni vel ebenum genus est arboris quod post-
quam incisum fuerit et proicitur in aquas ibidem quadam coagulatione
durescit et efficitur lapis niger* unde postea fiunt utilia instrumenta ad
discretionem bonorum et malorum munerum. B I. II. (Exzerpt?).
9, 30 Architrielinus enim princeps lectorum. Cline graece lectus. An-
tiqui enim tres lectos habebant, unum domino, secundum dominae; tertium
hospiti.
10, 1 Ignee quem Graeci vocant pyr noeron, ignem sensualem!*.
Apoth. Praef. 25 sycophantas autem hac de causa appellatos dicunt,
quod quondam iuvenes soliti erant in hortos prorumpere ficosque inde
furari. Quam ob causam lege est constitutum ut qui id fecisset capite
truncaretur; quam poenam qui persequeretur ob parvula detrimenta syco-
phanta est appellatus, B I.
Apoth. 196 Anubem deum Aegypti i. e. simiam caput canis habentem.
Mercurius lingua Aegyptiaca vocatur Anubis, qui deus eloquentiae fertur.
Unde cum capite canino depingitur, quia in animalibus nihil cane sagacius
habetur!*?. (Der letzte Satz auch in B II zu Sym. 2, 354 mit dem Zusatz:
Mercurius internuntius deorum dicitur cuius simulacrum Romani ab Aegypto
Romam deduxerunt.) Latrare autem dicitur propter copiam sermonis unde
et oratores rabulatores dicuntur. B II.
200 Plato dicitur a latitudine humerorum; qui primum athleta invictus
postea ad philosophiam conversus omnes philosophos superavit. B II.
203 laborinthus erat domus subterranea centum habens ostia, quam
Daedalus fecit ad Minotaurum etc. Dicitur autem laborinthus quia labor
intus». B II.
430 Geloni gentes Scythiae stigmata sibi ut Sergius dicit more Scottorum
inurentes*, B I.
845 bombum sonitum cornu vel tibiae, et Ennius sonitum pedum appellat
bombum!®,
7 Vgl. Isid. Et. 17,9, 105.
* Plin. nat. hist. 13, 124. Die vorhergehende Etymologie ist durchaus im Stile
des Remigius.
* Vgl. Isid. Et. 17, 7, 36,
19 Geht wohl auf Johannes Scottus zurück.
11 Aus Pauli ep. Festi ed. Lindsay 392, 5—9.
12 Mythogr. Vat. 2, 42 ed. Bode, SS. rer. mythicarum 1, 89, 24ff.
18 Ähnlich bei R. in Sedulium ed. Huemer p. 322, 20—27.
M Vgl. Serv. Georg. 2, 115, Isid. 9, 2, 89.
15 Augustin Dial. 6.
Zu den Prudentiusglossen 145
Ham. 234 rhododaphne herba venenosissima!* foliis similis lauro, nam
daphnis Graece laurus dicitur. arcilaurum genus herbae i. e. arcilauros i.
foliis similis lauro.
270 Baccas gemmas rotundas qui uniones vocantur!", eo quod in capite
ostrearum aperto cerebro semel reperiantur in anno et unus tantum quos et
perulos vocant. B I. II.
Psych. Praef. 33 sed et teretes gemmae bacae dicuntur ut illud: neretque
bacis colla rubri litoris’; nam et oleae fructus sive lauri bacas vocamus.
Baga ferrum dicitur, quo captiva saepe mancipia strictis collis et manibus
aguntur.
Psych. 25 non enim in sapientia verbi syllogismos Aristotelis sive contorta
Chrysippi sancti praedicatores iaculati sunt.
109 Ecce tres partes esse humanae animae asserunt videlicet rationalem
irascibilem concupiscibilem!*,
370 Toreumata caelatura vel tornatilia®.
Sym. 1, 7 veternus morbus est qui et intercusn.
56 Saturnus concubuit cum Philyra nympha quibus Opis supervenit,
qui ne deprehenderetur convertit se in equum?t, ideo dicitur Tuscis adhinisse
puellis. B II.
60 Lacaena civitas est Graeciae ex qua fuit Leda. Jovis versus in cygnum
vitiavit Ledam matrem Helenae quae ovum peperit unde nati sunt Castor
et Pollux. B I (62). |
61 Jovis voluit concumbere cum Europa convertit se in bovem pulchrum
et sic vitiavit eam“. B I.
71 indignabatur Juno soror Jovis Heben sororem suam de ministerio
depositam et Ganymedem loco eius successisse®, B I.
87 Maia et Electra sorores fuerunt filiae Atlantis: ex Maia Graeci venerunt,
ex Electra Troiani.
101 quia pennas in pedibus habere dicitur, quae petasi nomine vocantur;
petasum est volatile, nam peto volo dicitur. B I.
118 Colchida, nam Nemea filia regis Colchorum quam ille Herculi dedit.
Hercules cum Pallantea Evandri filia concubuit sub pelle leonis qui in Nemea
silva captus est.
120 Salii dicuntur qui tripudiantes aram circumeunt Herculis, require
fabulam in Virgilio, dicti ab exsiliendo. B I. Pinarius et Potitius sacerdotes
Herculis fuerunt®. B II.
1* Vgl. Plin. 16, 79.
Y Vgl. Isid. Et. 16, 10, 1.
18 Woher?
19 Isid. diff. spirit. 2, 26 (p. 298 I H ed Breul).
Vgl. R in Prisc. partit. 490, 22 (Münch. Mus. 2, 94).
n R in Sedul. p. 347, 26f.
2 Myth. Vat. 2, 42 (Bode 1, 96, 2ff).
2 Myth. Vat. 2, 132 (Bode 1, 119, 42ff).
* Myth. Vat. 2, 76 (Bode 1, 100, 24ff.).
Myth. Vat. 2, 198 (Bode 1, 139, 30ff.).
9 Vgl Serv. Aen. 8, 270 (Thilo 2, 233).
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 10
146 M. Manitius
121 mons dictus ab adventu avium nam ex Tiberi fluvio emergentes
excelsa ipsius montis petunt". B II.
131 Bromius minister fuit Liberi (B II); Bromius i. e. Bacchus a bromo
i. e. cellario, vel a bruma in qua multum comeditur, cui etiam caper immo-
latur, quia vineis valde nocet.
142 Ariadnem natam Minois regis Cretae Liber pater in coningium accepit,
propter cuius honorem inter astra locata est vel uxor Liberi fuit; quam cum
accepisset attulit Vulcanus coronam in qua erant septem lapides, quam
Liber ob amorem Ariadnae in coelo collocavit, quam modo coronam dicunt“.
B I. II (zum Teil).
261 Fescennina nuptialia carmina dicta ab urbe Fescenna (B I) sive quia
fascinum pellunt, item Fescenninus deus nuptiarum dicitur“.
308 Aeoliae octo insulae sunt Siciliae Vulcano propter ignis emissionem
deputatae .
2, 699 mastruga quasi monstruosa?! vestis de pellibus facta; vocamus etiam
mastrugas renones quae rustice crotina vocantur. B I. II.
Perist. 10, 146 vernaculus ut dicit Isidorus dictus est quasi bonus here-
ditarius natus’? qui et domigena dicitur i. e. domi natus.
155 proceres proprie mutuli trabium eminentes e maceriis, inde proceres
dicuntur eminentiores in populis**.
1131 Regestum vocatur liber continens memorias aliorum librorum et
epistolarum in unum collectas et dictum regestum quasi iterum gestum.
Joannes Scotus registron dicebat“.
14, 4 Quirites dicebantur Romani a Quirino i. e. Romulo, qui semper
hasta utebatur, nam quiris lingua Sabinorum hasta“. B I zu Sym. 1, 358.
II. Burnam I.
Cath. 1, 89 frivolum quasi fere obolum scilicet valens?*, ponitur pro omni
re vili. B II.
2, 42 Classicum sonus tubarum quia sono tubarum incitantur milites
ad bellum, et classes aliquando naves”.
2, 45 Fenoris id est auctae pecuniae tractum a manipulis quia fenum
manipulis augetur ita fenus id est pecunia augmentatur®. B II.
V Vgl. Serv. Aen. 7, 657.
Myth. Vatic. 2, 124 (Bode 1, 117, 6ff.).
29 Pauli ep. Festi p. 76, 6ff.
% Vgl. Isid. Et. 14, 6, 32.
s Vgl. Isid. Et. 19, 23, 6.
#2 Martyrius K. 7, 176f. — Remig. in Phocam p. 412, 27. Didaskaleion 2, 77.
* Remig. in Phocam 428, 7 (Didaskaleion 2, 87) und in Sedul. p. 331, 26ff.
# Vgl. Neues Archiv 49, 183 und Nachtrag. |
3 Pauli ep. Festi p. 43, 1ff. s. v. Curis.
** Ob aus Remigius?
# Ob aus Remigius?
38 Remig. in Prisc. part. p. 493, 28 (Münchner Museum 2, 96).
Zu den Prudentiusglossen 147
3, 23 brosis cibus**, inde Ambrosius proprie cibus deorum. (Gl. Vatic.
3859, Dressel = a. B IL)
3, 42 maculae internodia id est aperturae retis. a. B II.
3, 52 astra ab Astraeo astrologo“.
3, 72 payeiv graece comedere, fauces quia comedunt “.
3, 185 Plato graece formo vel fingo, hinc plasma figmentum.
4, 28 Nausea tractum a navi, vcbg graece navis, hinc nausea aqua xn
4, 80 dentes quasi dementes®.
5, 56 dracones pingebantur in Romanorum aquilis. |
5, 119 folius genus unguenti cuius si folium capiti imponis vomitionem
patieris totum quod in corpore est, item si sub pede digestionem.
6, 72 Aula ab auleis id est cortinis**.
7, 69 Locusta avis digitalis acri volatu sed cito deciduo (B II) cum oleo
coquitur, pauperes eo utuntur.
11, 64 Veternus morbus qui et intercutaneus dicitur*. B II (Veternus
est morbus qui et intercus et intercutaneus.i.idrops).
Apoth. 206 Clinicus curvus, xA»; graece lectus, inde clinicus proprie
nomen dei vel ipse infirmus.
400 Energia furias vel pigritia vel inertia. čoyov graece apns dicitur;
vel energima id est imaginatio vel fantasma. Unde qui fantásias omne
nomen daemonum patiuntur inergumini dicuntur.
558 sollertia peritia multarum artium, graece sollon multum, hinc sollertia
multarum artium peritia. Inde sollemnitas multorum conventus, unde res
sollemniter facta dicitur, quae in praesentia multorum est acta.
785 ima poli Canopum dicit quem antipodes nostri vident, ubi infernum
aliqui dicunt esse. B II.
Hamart. 125 fren est quae tegit cerebrum, inde freneticus qui non habet
sanum cerebrum“ in quo pontificium est sensus.
271 Caleulos vocamus lapillos quibus antea numerabant antiqui ante
Iepertum numerum.
289 Scutulatam vestem appellat orbiculatam quam rustici elintinnan“
vocant et pro omni opere veste varie interserta ponetur. B II.
367 funem de scenobatis dicit id est funambulis, ayorvoc graece funis,
batin gradus. mcAÀc graece inde palaestrae luctationes. B II.
445 hostica hostilia. Hostire est aequare“, hinc hostis quod aequare
inhiat proelium. Hostorium lignum quo aequatur modius“. Hosticus et
hostilis dicitur. B II.
* R. in Sedul p. 820, 26.
Remigius in Sedul. 326, 30f.
a Remig. in Sedul. p. 327, 211. 332, 20f.
** Remigius in Phocam p. 411, 33 (Didaskaleion 2, 76).
43 Remig. in Sedul. p. 343, 27f.
t Remig. in Sedul. p. 347, 27.
*$ Remig. in Martian. praef. (Didaskaleion 2,63).
* glitinne B II.
* Pauli ep. Festi p. 271.
43 Priscian 6, 24.
10*
148 M. Manitius
852 postlimmium est de captivitate reversio quando longo tempore quis
limen domus suae dimissum repetit. B II.
868 palla est vestis qua sacrificabatur Palladi, sed ponitur pro omni
veste, sed hic pro pellicula quae tegit. pupillam.
873 Sectas vocat cilios quos proprie tautones nominamus. B II.
923 Volucla vel volucra dicimus involutiones vestimentorum, sed in hoc
loco involutionem mortui corporis in sepulcro involucra vocat. B II.
Psych. Praef. 46 mappalia et magalia idem sunt id est casae pastorum
quae et tuguria. B II.
Psych. 191 Lupata sunt frena eo quod in similitudine lupinorum dentium
sunt facta.id est inaequalia. B II.
208 Titulus est memoria a Titane dictus quia sicut Titan illuminat
omnia, ita titulus illuminat opus®. B II.
873 hastae venditionis captivorum. Nam apud antiquos illos quos bello
capiebant eum multos interficerent, illos quos vendere volebant sub hasta
transire faciebant vel coronam imponebant i. e. ramum vel signum aliquod.
Sym..1, 90 Virgae id est caduceo quod cadere facit homines id est mori.
Sym. 1, 171 Corone ... uxor fuit Apollinis, quae viro suo rivalem induxit;
quod cum. nuntiatum fuisset Apollini per corvum, qui antea albus erat,
fecit illum nigrum et illam affixit sagittis. Qua mortua ab ea abstractus est
Aesculapius et factus est peritissimus omnium medicorum. B II.
205 Fortuna fertur habere cornu in dextra quod nymphae omnibus bonis
repleverunt. B II.
395 Taurica regio est in qua peregrini immolabantur Junoni, quod Ro-
mani reprehendebant, quod tunc ipsi novissimi fecerunt.
555 abolla duplex vestis est qua iste induebatur in qua palma erat depicta.
2, 204 Scythica regio est in qua filii patres suos de collibus vel de pontibus
altis praecipitabant in mari, praevenientes mortem illorum, putantes pietatem
esse, vel etiam comedebant praestando eis tam pia sepulchra*» B II.
2, 653 Iovem dicit qui pelle Amaltheae caprae induebatur, qua fertur
Iovem nutrisse et quando pluit hane dicitur concutere Iovis. Et pro Iove
ponitur sicut hic.: B II.
199 Hannibal cum veniret Romam occurrit ei multitudo apud Cannas
vicum Apuliae et Hannibal superavit eos et interfecit omnem multitudinem
Romanorum ut sex modia anulorum Africam mitteret. Tune Romam voluit
venire sed. nimia imminente pluvia non potuit ibique moratus est atque
sole aestuante luxui deditus, unde ipse dixit: Roma invicta erit quia quando
ego volo ire deus non vult; quando ille vult, ego nolo*t, B II.
Epilog. 18 Parabsis dicitur vel paribus absidis®® vel parabsis a partitis
in eo obsoniis id est prandiis*.
% Remig. in Phocam p. 410, 18 (Didaskaleion 2, 75).
5 Vgl. Solin. 52, 22.
5t Sowohl B I wie B II haben hier aus reicher Überlieferung geschöpft, und zwar
wie es sscheint, aus Lokaltradition von Baiae, die B II wohl getreuer Yisdergins
Der Stil beider Scholien schließt Anlehnung an Remigius aus.
9 Isid. Et. 20, 4, 10.
5* Wohl Veränderung der aus B II bekannten Fassung des Johannes Scottus.
Zu den Prudentiusglossen 149
Burnam II.
Cath. 3, 29 Strophium eingulum, ita dictum — arenibus - anteriora
convertitur, nam strophe graece conversio latine. — -
5, 53 Cuneus dicitur exercitus procedens prima ironte acuminata simili-
tudine cunei**.
b, 117 Balsama, xilobalsamum lignum balsami nam xilon graece lignum.
opobalsamum cortex, opos enim graece caverna; et cortex. ipsius arboris
flebotomo inciditur et sic de caverna eius balsami gutta stillat. Carbobalsa-
mum fructus quia xcomog graece fructus*,
6, 41 sensa i.e. sensus. Sensa pluraliter tantum reperitur pro "um
hinc Tullius Caro laesa ledit sensa.
6, 86 anceps dicitur quas ambiceps i. e. duo capita habens utrimque
acutas.
7, 13 Lepos i. e. fecundia, tractum est a leporinis carnibus SS ad
vescendum nulla caro suavior habetur “.
8, 34 bonus dicitur a graeco quod est boo“, malus vero a | graeco quod
est melan nigrum.
9, 56 fren est membranula quae dividit superiora et Aero ventris;
qui illam vitiatam habet frenesin patitur “.
11, 64 Veternus est morbus qui et intercus et intercutaneus i. idrops V. I.
12, 145 Caveo caves confirmo inde cantum et cautio est firmatio et facit
praeteritum cavi®!. Cevo vero cevi indicativo modo est crisso i. e. clunes
agito vel moveo®, 5
Apoth. Praef. 26 versipellis dicitur qui se in diversas formas vertit,
tractum a bestia quae camaeleon dicitur, nam cuiuscunque rei adheserit,
illius colorem trahit et ideo a venatoribus difficile capitur. Est autem sine
pilis *, a hoc autem, ut ait Solinus “, non est admirandum, parando qui est
bos Indicus habens setas, hoc idem naturaliter habet.
Apoth. 20 glauco i. subalbo quoniam qui subalbam papillam habet, non
clare vidit, unde glaucoma infirmitas oculorum.
141 hic tribus causis accenditur fornax, pice nacta et malleolis. Malleoli
sunt sarmenta novarum vitium, nactae ossa olivarum, cremium vero fasciculi.
846 Faunus cum iter ageret invenit hominem prae nimio frigore congela-
tum, quem miseratus ad suam deportando speluncam vidit eum flatu calido
manus caleficiendo animare, cumque iam in spelunca positum ad ignem
^ Isid. Et. 19, 33, 4.
* Vgl. Serv. Aen. 12, 457.
* Isid. Et. 17, 8, 14. Corp. gloss. 5, 157, 127. 3, 537, 38.
9 Remig. in Phocam 409, 14 (Didaskaleion 2, 83). |
9 Remig. in Sedul. p. 353, 34.
9 Remig. in Martian. Praef. (Didaskaleion, 2, 63).
„ Remig. in Sedul. p. 347, 27.
*! Remig. in Sedul. p. 337, 20.
Juvenal 2, 21.
“ Solin 40, 23 (und 30, 26).
” ar wohl den auch sonst. verwendeten Solininterpolationen an (etwa 52,
150 M. Manitius
collocasset, attulit ei vinum calidum quo eius viscera vivificaret. At ille prae
nimia caliditate illud bibere non valens anhelitu refrixit. Faunus itaque
videns admiratus est et interrogavit quomodo ille vinum halitu posset
refrigerare, cum antea in via manus eodem halitu calefecisset. Tum ille
respondit: In via propter frigus calidum, nunc vero propter vini calorem
frigidum emisi halitum. Tum ille: Perge, inquit, nolo hominem tam diver-
sum duo qui simul ora gerat. Haec. contra bilingues “.
Hamart. 230 Eseforium est parva tunica quae vulgo guursebalt dicitur.
234 Rododaphnis autem dicitur croceus flos. hinc et in Homero legitur
rhodadactilon i. e. crocei digiti. rodos graece rosa inde rododaphnen i. e.
Niphtun quae in rosam conversa est. unde Homerus rododactilon appellat
Auroram i. e. aureos digitos habentem “.
852 Postliminium dicitur reversio ex captivitate; quando quis in exilium
ire cogitur et iterum relegatus post multos dies revertit, ipse reditus post-
liminium dicitur post captivitatem, quando quis limen domus suae diu
dimissum revisit, vel postliminium in scripturis vocant auctores ad alia tran-
seuntes intermittunt aliquo spatio et iterum ad incepta revertuntur. I.
853 Cana fides ideo dicitur eo quod in canis id est in senibus habeatur
seu quia sacrificantes fidei manum albo panno velabant, per hoc ostendentes
fidem absconsam fieri debere*'.
881 Tile ultima est omnium insularum ultra Britanniam ultra Orcades,
in qua, ut Solinus dicit®, homines tempore hicmali herbis una cum suis
pecoribus vivunt, estiva autem caseo et lacte, panem omnino nesciunt.
Psych. Praef. 46 Magalia i. e. habitacula. Mapalia dicuntur lingua Afro-
rum parvae casulae pastorum, idem est et magalia, magal enim lingua eorum
casa dicitur. sed magalia longum habet ma, mapalia vero brevem .
Psych. 208 Titulus est memoria dictus a Titane i. e. sole”®,
621 Pluto deus inferni graece dicitur et latine interpretatur dis vel dives,
quia inferno nil ditius, ad quem pene omnia vadunt. Unde Horatius: Debe-
mur morti nos nostraque (A. P. 63) et idem dicit ditissima Tartara".
632 Parapsis est quadrilaterum dictum a paribus absidibus i. e. lateribus,
licet absidae non sunt circuli. Iohannes autem Scotus dicebat parobsis (cf.
Dressel app. crit. p. 195) a parandis obsoniis i. e. discus ubi obsonia para-
bantur. Obsonia namque omnes cibi generaliter dicuntur.
620 Passeres sunt omnes minores aves vocatae ita a parvitate corporis“;
sed revera sunt tria genera passerum, unum quod in foraminibus maceriarum
et parietum nidificat, alterum quod lascivo et petulco volatu per plana et
roscida rura fertur, tertium quod ad montes et squalentia loca transit.
*5 Eine sonst unbekannte Prosaauflósung der Fabel Avian 29 mit teilweise
wörtlicher Anführung von Vs. 21f.
5 % Remig. in Martianum p. 52, 25 (Neues Archiv 49, 176). Hier wie dort Nennung
omers.
*' Remig. in Martian. 2, 21 (Neues Archiv 49, 175).
** Exzerpt aus der Interpolation von LGSAP zu Solin 22, 17.
Serv. Aen. 4, 259. Isid. Et. 15. 12, 4.
70 Remig. in Phocam. p. 418, 18 (Didaskaleion 2, 75).
* E in Martian. p. 28, 8 (zu Pluto).
72 Isid. Et. 12, 7, 68.
Zu den Prudentiusglossen 151
Psych. 636 Cornicularius qui in cornicibus augurium captat. Nam a cor-
nice cornicula fit diminutivum unde cornicularius. Tubae silent. et gladii
reconduntur in vaginis.
689 sica est gladii genus heltes.
869 crystalli] Isid. Et. 16, 3, 1 und Solin 15, 31.
Sym. 1, 30 Esset] Boeth. cons. phil. 1, 4, 16ff.
1, 203 vaticanus (vagiticanus).”
1, 251 Livia] längere Erzählung über Livia und Tiberius.
1, 364f. luna] Martianus Capella p. 373, 7ff. D.
1, 381 längere Erzählung über M. Curtius nach Liv. 7, 6, 3ff.
1, 395 längerer Bericht über Iphigenie, nicht nach Fulgentius.
1, 404 Vesontium civitas tres portas habebat, in quibus literis maximis in
similitudine funditonnae factis hoc scribtum habebatur: Iulia Iulii filia hoc
diis manibus obtulit“ i. e. diis infernalibus.
1, 423 Inter larvas et lemures hoc distat: larvae sunt quae homines in
amentiam vertunt, lemures vero innoxiae sunt, et dictae lemures quasi lares
manentes. Sunt enim animae mortuorum diu manentes in corporibus.
1, 525 Numida] lange Erzählung über Jugurtha mit allerhand sagenhaften
Bestandteilen.
1, 626 Fabel von Vulkan und Venus.
1, 627 Fabel von Saturn und dem Stein abaddir.
1, 629 Isis] Fabel von Io (mit Isis verwechselt).
Sym. 2, 46 Apelles et Milio in fingendis statuis doctissimi fuerunt, unde
eum Alexandro mundum subiuganti in singulis civitatibus statuae ad adoran-
dum constituerentur, edicto praecepit ut nemo statuas eius pingeret nisi
Apelles et metallis conflaret nisi Milio”®.
2, 54 pudicum] breite Erzählung der Geschichte von Hippolytos und
Phaedra (nach Ovids Metamorphosen).
2, 186 animi imperio corporis servitio magis utimur”®.
2, 234 naturis] Dionisius Areopagita de naturis angelorum multa deo
inspirante scripsit", caeterum vero de illorum natura nullus scit.
2, 354 capitis canini scil. Mercurii qui cum capite canino depingitur
propter prudentiam sermonis, quia cane nihil est sagatius in animalibus et
ipse Mercurius internuntius deorum dieitur, cuius simulacrum Romani ab
Aegypto Romam deduxerunt”. I,
2, 528 Fluctibus Actiacis] die Geschichte der Schlacht von Aktium und
der Kleopatra.
2, 544 Diomedis] Der Diebstahl des Palladiums aus Servius.
2, 558 Fabricios] Geschichte aus Serv. Aen. 8, 656; Fabricius mit Curius
Dentatus verwechselt.
* Remig. in Sedul. p. 334, 7.
^ Lokaltradition aus Besancon. Ob dies auf den Ort deutet, wo oder in dessen
Nähe die Scholien entstanden?
* Vgl. Plin. 7, 125.
78 Sall Cat. 1, 2.
T Ist das in karolingischer Zeit übersetzte und kommentierte Werk De cae-
lesti hierarchia.
78 Myth. Vatic. 2, 42 (ed. Bode 1, 89, 24ff.).
152 M. Manitius
2, 703 pervigil anser] Serv. Aen. 8, 652. 655.
2, 713 Dracones i.e. signa Romana similitudinem serpentium habentia
ex linteis fiebant, quae a vento inflata serpentis similitudinem preferebant,
quorumque capita aurea depingebantur.
2, 741 Baia est vicus Apuliae ubi Hannibal Romam pluviarum nimiaetate
adire non valens cum suo exercitu luxurians resedit. Nam cum adire cọnare-
tur cito pluviis inundantibus suo in loco prohibitus morabatur, quando
vero serenitas adesset, luxuria dissolvebatur. Cum ergo a quodam suorum
increparetur, quare Romam non pergeret, respondisse fertur: Quando ego
volo deus non vult, et quando deus vult ego nolo; et ideo scio Romam esse
insuperabilem. B I.
2, 755 Argentum diu servatum quandam caliginem trahit, aurum vero
si bene coctum fuerit licet interpositum numquam colorem perdit.
Während diese Scholienmassen I, B I und B II unleugbar viele Zusammen-
hänge zeigen, besitzt Vatic. 3559 (Dressel a) Erklärungen, die meist nur Ver-
wandtschaft mit B II besitzen, allerdings auch zuweilen mit Remigius-
scholien zusammenhängen. Sie werden von Dressel in seinem, dem Texte
unterstellten Kommentar abgedruckt und es dürfte sich lohnen, einige wesent-
liche Stücke aus dieser Erklärung hier vorzulegen. Daß sie noch der karo-
lingischen Zeit angehört, bezeugt das Scholion zu Perist, 10, 557, da das Wort
charaxare im 10. Jahrhundert außer Gebrauch kommt.
Cath. 1, 43 situs est proprie lanugo quaedam in locis soli inaccessis nas-
cens poniturque [pro] vetustate. Vgl. zu Per. 10, 518 (etwas reichhaltiger) so.
B II.
1, 54 praeco est proprie vocimissarius qui adventum principis nuntiat
allegorice autem per quinque aetates ... B I. II.
3, 23 brosis graece, cibus latine?!, hinc ambrosia dicitur cibus deorum
(B I), sicut nectar potus (B II). ponitur autem nectar pro omni dulcedine.
Tod praef. 26 versipellis = B II ohne die Fortsetzung haec autem —
et.
9, 42 maculae sunt internodia retis quae plagae dicuntur. B II.
1, 50 sudum dicimus aerem post pluviam quasi subudum, tunc enim melius
splendescit. B II.
9, 79 ferrugo est purpura Hispanica nigri coloris. B I. II.
11, 68 nardus est frutex aromatica gravi et fragili radice, quamvis pingui
situ, redolenti cupressum, cuius cacumina in aristas se spargunt, spicas
enim facit unde et nardum spicatum dicitur.
Apoth. 209 Philosophi licet diversis numinibus litarent, tamen unum
deum esse dicebant sine aliquo sexu; sed in maioribus operibus quasi mas-
culum, in minoribus vero quasi feminam asserebant. Unde Soranus: Iuppiter
70 Charaxare dicimus scribere unde character.
*9 Hiermit stimmt fast 20 26 in Sedul. p. 325, 2f.
1 Remig. in Sedul. p. 320
Zu den Prudentiusglossen 153
omnipotens rerum regumque** repertor Progenitor genitrixque deum, deus
unus et omnis. B II.
296 bardus quidam stultus, crudelis et paganissimus fuit, a quo omnes
bardici vocantur, unde hic stultum significat. B II.
539 Pompeius cum exercitu suo Hierusolimam, antequam a Tito devas-
taretur, intravit et templi maximam destruens partem statuam suam in
eo constituit; forsan et propter hoc a Iulio superatus est. B II.
Perist. 2, 321 coneinnum est genus potionis ex diversis mixturis confectum,
hine concinnare dicitur componere. B II.
2, 028 Claudia familia quaedam erat, quae Vestam deam colebat. B II.
2, 556 civica est proprie corona quercea, qua ille donabatur qui cives
liberasset®. B II.
3, 21 sucinum est electrum arboris id est resina, quam solent mulieres
confricare manibus et ea faciem superducere ad provocandum cutis cando-
rem. B II.
4, 3 Caesaraugusta civitas est Hispaniae quam condidit Octavianus.
Ipse enim dictus est Caesar Augustus, et Caesar quidem a Iulio Caesare
avunculo suo, Augustus ab augendo rem publicam. Cum enim idem mortuo
Iulio suscepisset imperium, populus Romanus in tres partes divisus est et
singulae partes singulis eum nominibus vocaverunt: alii Octavianum, alii
Caesarem, alii Augustum quod tamen ei permansit.
5, 446 murices sunt summitates altissimae petrae (B. II), aliter murex
ponitur pro purpura.
10, 147 idem pullos pascebant ut in illorum comestione augurium caperent:
sicuti legitur de quodam consule, qui imminentibus hostibus proiecit annonam
ante pullos ut in corum comestione augurium caperet. Cumque nihil gustas-
sent, proiecit eos in mare dicens: at bibite. Illi autem necati sunt. Sic con-
tigit ut ipse fugiens hostes naufragium pateretur.
10, 415 Romulus cum aliquando fugeret hostes invocavit Iovem et
stetit exercitus illius fugiens, unde Stator dictus est. B II.
10, 449 rimari est proprie porcorum qui in rimis id est in venis terrae
cibos inquirunt. B II.
10, 518 situs est proprie lanugo quaedam in locis neglectis et soli inac-
cessis: hinc pro negligentia ponitur, sed hic pro vetustate“. B II.
10, 654 Omnis ars aliud tegit et aliud ostendit, verbi gratia sic pictura
maceriae aliud ostendit et aliud tegit, nam lapidibus intus obductis pictura
80la videtur.
10, 719 Tus apud antiquos cum aspiratione scribebatur habens graecam
etymologiam 'ezxo roù O's(/)ov id est a re divina. Apud modernos autem
[sine] aspiratione scribitur et venit a verbo tundo®.
11, 151 metor est eligo, hinc castra metari dicimus locum eligere, ubi
castra figantur. B II.
Niederlößnitz. M. Manitius.
Sedul. p 2
** Remig. in Phocam p. 412, 5 (Didaskaleion 2, 76) und in Priscian. p. 493, 23.
154 Fritz Hübner
Die Grabschrift Ottos I. im Magdeburger Dom.
Daß die Verse:
Tres luctus cause sunt hoc sub marmore clause,
Rex, decus ecclesie, summus honor patrie
vor 1501 auf einem die Marmorplatte des Grabes Ottos I. umlaufenden Gold-
blech gestanden haben, geht aus der Dombeschreibung des Sebastian Wey-
mann in seinem Libellus de sanctis reliquiis aus dem Jahre 1501 mit Sicher-
heit hervor!.
Dieselben Verse werden als Ottos Grabschrift erwühnt in Gesta archi-
episcoporum Magdeburgensium MG. SS. 14, 384 und in Annales Magdebur-
genses MG. SS. 16, 153, schließlich finden sie sich in der poetischen Vita
Mahumeti des Embrico von Mainz V. 421f. (Verszählung nach dem Cod.
Phillippicus 1694 Berolinensis?)
E. Kessel, Die Magdeburgische Geschichtsschreibung bis zum Ausgang
des 12. Jahrhunderts“, hat glaubwürdig nachgewiesen, daß die in den Gesten
und den Annalen zitierte Grabschrift aus der beiden gemeinsamen Quelle
stammt, nàmlich der um 1025 entstandenen, jedoch nicht erhaltenen Chronik
des Erzbistums Magdeburg (S. 120). Er schreibt dann S. 121, Anm. 60:
„ . . dazu kommen die Verse in der Vita Mahumete eines Embrico aus der
ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vor (Migne PL 171, 1352) ... Soll man
annehmen, daB jener Embrico die Grabschrift Ottos des GroBen kannte
und für sein Gedicht verwandte? So unwahrscheinlich und unbefriedigend
diese Erklàrung ist, angesichts der Tatsache, daB die Grabschrift für die
alte Chronik durch M und die MA bezeugt ist, bleibt kaum etwas anderes
übrig..
Die Vita Mahumeti gehört jedoch ins 11. Jahrhundert. Denn besagter
Embrico ist für August 1056 als Propst und unter dem 27. August 1057 als
Erzpropst von S. Martin in Mainz urkundlich bezeugt (Guden, Cod. diplom.
Mog. I, S. 370, Nr. 136; Böhmer, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erz-
bischófe, 1877, S. 179, XXI, 16 und 19; vgl. auch Guden a. a. O. I, Nr. 30,
S. 76—78). Er wurde 1064 Bischof von Augsburg (Lambert, Ann. Aug. MG.
SS. 3, 127, Berthold, Ann. MG. SS. 5, 272; ders. Chron. MG. SS. 5, 428)
und starb 1077 (Jaffé, Mon. Mog. 722). Seine Vita Mahumeti hat er einem
darin nicht näher bezeichneten Godobaldus gewidmet (V. 72—83), von dem
der Verfasser in hóchst ehrerbietigem und gehorsamem Tone spricht. Zweifel-
los handelt es sich hier um den am 6. Oktober 1056 verstorbenen Diaconus
und Propst von S. Martin, Godobaldus (Jaffé, Mon. Mog. 727; Böhmer,
Fontes rer. Germ. III, 141), einen derzeitigen Kollegen und, wie der Ton der
Widmung erweist, ehemaligen Vorgesetzten des Embrico, als dieser noch an
der Domschule in Mainz tátig war, was aus der im Cod. Phill. Berol. und im
1 G. Sello, Geschichtsbl. für Stadt u. Land, Magdeburg 1891, Bd. 26, Heft 2,
S. 123 ff., bes. S. 130.
* Migne a. a. O. druckt die Ausgabe von Beaugendre ab. Diese ist aber höchst
unzuverlässig, da sie lediglich auf dem Pariser Cod. fußt (Nat. Bibl. Lat. 5129).
* Sachsen u. Anhalt, Jahrb. der Histor. Kommission für d. Prov. Sachsen u.
für Anhalt, Bd. 7, Magdeburg 1931, S. 109ff. — K. Strecker, u. d. W. „Embrico“
in W. Stammlers Verfasserlexikon des dt. MA., Sp. 563ff.
Die Grabschrift Ottos I. im Magdeburger Dom 155
Cod. Remensis 1073, 743 erhaltenen Vita auctoris zu schließen ist*. Somit
ist die Vita Mahumeti wohl um 1040 anzusetzen.
Wenn Kessel a. a. O., S. 121, Anm. 60, behauptet, daB die Verse ‚hier
wie dort (d. h. in den Gesten und Annalen sowie auch bei Embrico) sehr gut
in den Zusammenhang passen“, so trifft das für Embrico nicht zu, wenn man
die Verse im weiteren Zusammenhang betrachtet. Es handelt sich nämlich
in seinem Gedicht um einen vom Dichter erfundenen König von Libyen,
der die christliche Kirche dort zu hoher Blüte gebracht hat und nun gestorben
ist; der Tote wird von allen, besonders von der Geistlichkeit, tief betrauert
(V. 413ff.):
Et quisquis coluit rite Deum, doluit, -
: Nam tutela boni fuit huius vita patroni,
45 | Quo moriente pia corruit ecclesia.
Sie lacrimis usque tristes casus utriusque,
Regis et ecclesie, flentur ubique pie.
Ergo nimis multo cum luctu rege* sepulto
Signant in tumulo scripta sub hoc titulo:
420 Tres luctus cause sunt hoc sub marmore clause,
Rex, decus ecclesie, summus honor patrie.
Embrico betont ausdrücklich, daB man in dem Verstorbenen den schmerz-
lichen Verlust zweier Dinge, den des Kónigs und des Schützers der Kirche,
beweinte. Diese Auswahl entspricht auch ganz dem Zweck, den der Dichter
in bewuBtem Gegensatze zu dem auf diesen König folgenden Betrüger
Mammutius im Auge hatte; denn dieser sollte zwar auch ein Kónig, aber
zugleich ein Verderber der Kirche werden. Embrico hatte weder Grund
noch auch die Absicht, in seinem Kónig einen Mehrer des Reiches zu preisen.
Dieser Vorzug konnte aber bei Otto I. unmöglich außer acht gelassen werden;
sah man doch in ihm neben der Größe und Ehre der Nation auch die der Kirche
verkörpert. Der Zwiespalt zwischen V. 416f. und 420f. ist nur verständlich,
wenn Embrico die zweifellos manchem gebildeten Laien und Kleriker be-
kannten Verse nicht selbst erfunden, sondern übernommen hat und dort
einfürte, wo sie zum groBen Teil gut in den Zusammenhang passen.
Ist es nun aus stilistischen Gründen zulässig, das Epitaph in das letzte
Viertel des 10. Jahrhunderts zu verweisen? Für einen so frühen Gebrauch
des zweisilbig gereimten leoninischen Verses gibt es nicht viel Beispiele.
Zwar begegnet uns diese Art bereits in der Grabschrift Ludwigs des Frommen
in S. Arnulf zu Metz vom Jahre 840 gleich in sieben aufeinanderfolgenden
Versen (F. X. Kraus, Die christlichen Inschriften der Rheinlande II, 1892,
S. 102, Nr. 288):
Imperii fulmen Francorum nobile culmen
Erutus a seculo conditur hoc tumulo etc.,
doch ist das eine stilistische Entwicklungsstufe, die für die Mitte des 9. Jahr-
hunderts unerhört ist, so daß ich die Echtheit des Epitaphs in der uns im
* Wattenbach, Sb. d. Berl. Ak. 1891, S. 113; Val. Rose, Handschr. der Kgl.
Bibl. zu Berlin, Bd. XII, 1893, S. 402.
5 patre, Cod. Vindob. 303 (XIV saec.) u. cod. Erlang. 320 (XII. saec. ex.)
156 Wilhelm Bóhm
Mettensis 64 (G 76) überlieferten Form stark in Zweifel ziehe. Beweiskräftig
für unsere Frage aber ist die Grabschrift des im Jahre 954 verstorbenen Erz-
bischofs Friedrich von Mainz zu S. Alban (Kraus, a. a. O., S. 102, Nr. 288;
Jaffe, Mon. Mog. 718; Böhmer, Regesten S. 107, XIII, 34):
Cum constet vere, nihil ortum fine carere,
Semper homo timeas ultima, ne pereas etc.
Hier können wir ein offensichtliches und bisweilen gut gelungenes Streben
nach zweisilbigem Reim feststellen, wenn auch von einer ausgebildeten Tech-
nik noch keine Rede ist*. Es sind hier von 12 Versen schon 6 vorschrifts-
mäßig leoninisch gereimt, während die übrigen wenigstens zweisilbigen Vokal-
reim aufweisen.
Es liegt daher weder ein formales Bedenken vor gegen die Ursprünglich-
keit der Ottonischen Grabschrift, noch ein zeitliches und sachliches gegen die
Übernahme durch Embrico. Das Epitaph ist also unmittelbar oder bald
nach 973 anzusetzen.
Tegel. Fritz Hübner.
* Vgl. dagegen die Willigisinschrift, Kraus, a. a. O., S. 121, Nr. 261.
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen,
6./16. November 1632.
Über die Schlachtordnung der Schweden bei Lützen sind wir dank meh-
rerer guter Pläne und genauer Quellennachrichten bis ins einzelne unter-
richtet. Für die kaiserliche Aufstellung läßt sich dies leider nicht behaupten.
Die ausnahmslos auf schwedischer Seite gestochenen Schlachtplüne! geben
die kaiserliche Schlachtordnung niemals richtig wieder und die Quellen be-
gnügen sich mit allgemeinen Angaben, welche wohl die taktische Form der
friedlándischen Kampffront genügend deutlich erkennen lassen, — besonders
seit der Auffindung von Holks Relation im geheimen Archiv in Kopenhagen.
Über die Stellung der einzelnen Regimenter aber, die wir auf schwedischer
Seite genau kennen, ist wenig beigebracht.
Die ältere Literatur, der der Holkbericht unbekannt war, die daher die
diesbezüglichen Angaben Diodatis und Gonzagas nicht nach ihrem wahren
Werte einschätzen konnte, tappt völlig im Dunkeln. Einige Klarheit hat erst
die Dissertation Karl Deutickes: „Die Schlacht bei Lützen“ gebracht, die
für den Verlauf der Schlacht wohl einen Abschluß bedeutet.
Über Einzelheiten der kaiserlichen Schlachtordnung hat dann Heinrich
v. Srbik („Zur Schlacht bei Lützen und Gustav Adolfs Tod" Mitt. des In-
stituts, Bd. 41) einiges festgestellt. Etwas mehr zu gewinnen, soll diese
Arbeit versuchen.
Die Quellen über die kaiserliche Schlachtordnung.
An erster Stelle steht der Bericht Holks, von Hallwich in „Briefe und
Akten zur Geschichte Wallensteins“ (Fontes rerum Austriacarum, Bd. 65,
ii 1 Der kaiserliche Entwurf im Kriegsarchiv (s. U.) ist erst von Förster veröffent-
icht. |
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 157
S. 500—501) veröffentlicht. Holk als Feldmarschalleutnant hat in der Nacht
vom 15. auf den 16. November die Aufstellung selbst geleitet und ist daher
besonders zuverlüssig. Seine Angaben, die in allem den Eindruck voller
Wahrhaftigkeit machen, lauten:
„Des Herzogs Bataille war eine dreifache: 5000 zu Fuß in 5 Brigaden,
inmitten* 2 Brigaden zu 1000 und 6 Kompagnien Reiter, 2 und 2 gemischt,
zuletzt standen 5 Fahnen à* 500 Mann zu Fuß und 2 Eskadronen von (je)
12 Kompagnien commandierten Volks zu Pferde. Nach Lützen in das Schloß
und in das Dorf waren 400 Mann gelegt, obgleich man wohl 1000 vonnóten
gehabt hätte; ebenso viele hätten billigerweise im Walde* zur linken Hand
sein müssen, wenn man sie gehabt hätte. Auf jedem Flügel standen vor der
Reiterei 150 Musketiere, auf dem rechten Flügel 36 Kornette und auf dem
linken 36. Diese wurden vom rechten Flügel gleich mit 5 Kornetten sekun-
diert, weil hier die Furie ihren Anfang nahm. Der Herzog kommandierte
und führte selbst den rechten Flügel gegen (Bernhard von) Weimar; Holke
der an Stelle eines Feldmarschalls kommandierte, den linken.“
Soweit Holk. Die Kaiserlichen standen also in drei Treffen: in erster
Linie 3 Infanteriebrigaden zu 1000 Mann, dahinter 2 ebensolche, die offenbar
hinter zwei grüBeren Intervallen des ersten Treffens standen, um sofort in
die Front treten zu kónnen und drei kleine Reiterabteilungen zu 2 Kom-
pagnien zur Unterstützung der Infanterie, wahrscheinlich einzelne Arkebusier-
kompagnien. Das dritte Treffen bildeten zwei Reiterschwadronen zu je 12
von ihren Regimentern detachierten (, commandierten“) Kompagnien,
wohl gegen die Flügel zu gestellt, und die Infanteriereserve. Die Angabe:
„5 Fahnen à 500 Mann“ ist dabei, wie schon Srbik in dem erwähnten Beitrag
hervorhebt, sicher durch einen Abschreibfehler verdorben. „Fahne“ be-
deutet Kompagnie und eine Infanteriekompagnie in voller Sollstärke zählte
nur 300 Mann, — ein Stand, der im Jahre 1632 sicher nie mehr auch nur
annähernd erreicht wurde. Es muß also heißen: „5 Fahnen mit 500 Mann.“
Die Reiterflügel der Schlachtordnung waren je 36 Kornette stark, zwi-
schen und vor denen nach schwedischem Muster Musketiertrupps verteilt
waren. Die am äußersten linken Flügel haltenden Kroaten hat Holk dabei
als Irreguläre nicht eingerechnet. Außerdem bildeten 400 Musketiere die
Besatzung von Lützen.
Diodati, die zweite Quelle ersten Ranges auf kaiserlicher Seite äußert
sich nach der Übersetzung bei Förster (Wallensteins Briefe II, Nr. 375,
S. 295) wie folgt:
„Bei der ersten Morgendämmerung hörte man, daß der König gegen uns
in’s Treffen rücke und S. Durchlaucht gab seiner Seits folgende Anordnung:
Rechts blieben in geringer Entfernung vom rechten Flügel drei Windmühlen,
Lützen lag in der Fronte“, der linke Flügel breitete sich in das Feld aus.
Die Artillerie war in der Fronte verteilt, welche 5 Abteilungen Infanterie
2 d.h. im zweiten Treffen.
* Abschreibfehler für „ mit“, s. U.
* Das Schkölziger Holz.
5 Dieser schwer deutbare Ausdruck bedeutet wohl, daB Lützen in die Schlacht-
front einbezogen war, — keinesfalls „Zentrum‘‘, wie Droysen meint.
158 ! Wilhelm Bóhm
hatte, von zwei andern Abteilungen und einer in Reserve unterstützt.
Gleicher Weise war die Kavallerie auf dem rechten und linken Flügel in
Abteilungen aufgestellt, damit sie die eine und die andere Flanke der Armee
bestens decken, nach Bedürfnis vorrücken und vereinigt mit der Infanterie
den Feind angreifen könnte. Die ganze Armee überstieg die Zahl von
12000 Mann nicht."
Diodati bestátigt also in allen wesentlichen Punkten die Angaben seines
Kameraden Holk. Er ist nur weniger ausführlich als dieser.
Der dritte kaiserliche Bericht, den wir besitzen, ist eine Aufzeichnung
über die Schlachtordnung allein. Wir haben es hier mit jenem Relations-
auszug zu tun, der sich im Nachlaß des Grafen Montecuculi fand, wahr-
scheinlich der an den König von Spanien erstatteten Relation des Marschese
Gonzaga entnommen. Das Schriftstück liegt bei den Feldakten des Wiener
Kriegsarchivs unter 1632 Fasc. 70 11/129 und wurde von Förster (Wallen-
steins Briefe II, S. 300, Anm.) veröffentlicht. Khevenhüller hat den Auszug
gekannt und im XII. Bande seiner Annales Ferdinandei, Sp. 194, wörtlich
abgedruckt. Gonzaga bespricht zuerst die schwedische Schlachtordnung
und fährt dann fort:
„Friedländische Schlachtordnung.
Der Herzog von Friedland hat des Königs in folgender Schlachtordnung
(ob er gleich im Anfang nur m/12 Mann gehabt) erwartet. Der rechte Flügel
stunde bey drei Windmühlen und der linke auf dem Felde, das Städtlein
Lützen vor sich habend®. Die Artigleria wurde in Fronte ausgetheilet, welche
in 5 Squadronen zu Fuß bestanden und von 2 und 1 risegno sustentiret.
Die Reiterei wurde gleich auf dem recht- und linken Flügel dergestalt aus-
geteilt, daB sie die ein und andern Squadronen der Armada bedecken und
sich, wo es von nóten, avancieren und die Schwedischen zugleich mit dem
Fußvolk angreifen können.“
Der Vergleich mit Diodati ergibt, daß Gonzaga völlig von dem Berichte
des Generalquartiermeisters abhängt und selbst seinen Stil mit geringen
Veränderungen übernimmt.
Damit sind die kaiserlichen Berichte, die sich unmittelbar mit unserem
Gegenstande befassen, erschöpft. Die schwedischen aber befinden sich
über die Schlachtordnung ihrer Gegner in ziemlicher Unkenntnis, — ebenso
übrigens die Kaiserlichen über die schwedische „Bataille“. Die meisten
schwedischen Schlachtberichte erwähnen von der kaiserlichen Aufstellung
überhaupt nichts oder geben nur einige Andeutungen. Allein die in den
Graben der Straße Lützen—Ranstädt gelegten kaiserlichen Musketiere,
welche die eigenen Berichte nicht erwähnen, sind den Schweden aufgefallen.
Die fast gleichzeitige Frankfurter MeBrelation des Jacobus Frank von der
Herbstmesse 1632 teilt zuerst Genaueres darüber mit. Von andern Berichten
reden folgende über die kaiserliche Schlachtordnung:
Bericht von Berlepsch an Johann Georg von Sachsen, zitiert nach Droysen:
„Die Schlacht bei Lützen“, Forschungen zur Deutschen Geschichte V. S. 116.
* So die Handschrift. Gonzaga hat seinen Gewährsmann offenbar mif verstan-
den, denn Lützen deckte in Wahrheit die äußerste rechte Flanke Wallensteins.
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 159
„Als Ihre Maytten nahe bey Lützen kommen, ist von den Mauern etwass
auss Mussqueten gespielett worden; an der Seiten der Stadt haben sich
4 Troppen Reuter sehen lassen, welche gantz stille gehalten. Über derselbigen
ist eine Fronte von Reutern und Fußvolk bey den Windmühlen an der
Stadt gestanden, worauff man dess Feindess Spiell von mehr ahn marchieren-
den Volck klehrlich vernehmen können.“
Vor allem erfahren wir aus diesem Bericht, daß Wallenstein, gemäß der
Anmarschrichtung des von Süden anrückenden Königs, der darauf genötigt
werden sollte, in groBer Schwenkung Front gegen West-Nord-West zu machen,
seine Armee vom rechten Flügel her aufbaute. Bis über die Windmühlen
hinaus war die Aufstellung beendet, der linke Flügel befand sich, im Auf-
marsch wie das klingende Spiel, das Berlepsch hörte, erkennen läßt. Ber-
lepsch hat seine Beobachtung offenbar während des Aufschwenkens gemacht,
zu dem die Schweden gezwungen waren, da der vorliegende Ort Lützen sie
hinderte, dem Feinde auf die rechte Flanke zu fallen. Die „4 Troppen Reu-
ter" stellen offenbar den rechten kaiserlichen Kavallerieflügel dar. Daß er
aus 4 Schwadronen bestand, ist eine der wenigen brauchbaren Angaben auf
schwedischer Seite.
Die betreffende Stelle im Schlachtbericht des Swedish Intelligencer
(IIL, S. 129—130), der aus den Berichten einiger bei den Kaiserlichen als
Kriegsgefangene weilenden schottischer Offiziere schópft, ist nur eine er-
weiterte Legende des beigegebenen Schlachtplanes, wird also besser bei
dessen Besprechung erörtert. Er gibt Holk richtig das Komniando des linken
Reiterflügels, irrt jedoch, wenn er Colloredo die Reiter des rechten Flügels
führen läßt. Diese Stelle versah Wallenstein (den der Swedish Intelligencer
in die Mitte stellt) anfangs selbst, wührend Colloredo erst nach dem Aus-
scheiden Bertholds von Waldstein das Kommando des rechten Infanterie-
zentrums übernahm. Fleetwood endlich, ein schottischer Oberst, der an
seinen Vater einen leider nur in schlechter Abschrift erhaltenen, sehr guten
Bericht sandte — er focht wahrscheinlich bei seinen Landsleuten in der
Grünen Brigade —, sagt (Camden Miscellany, Bd. I, Nr. 5, S. 6) einfach,
ohne Näheres feststellen zu wollen:
„Ihe enemies army was ordered like ours, the Crabats haveing the lefte
wynge.
Soweit die geschriebenen oder gedruckten Quellen, die sich überhaupt
näher mit der Kaiserlichen Schlachtordnung befassen. Ein noch größerer
Unstern waltet über den erhaltenen
Schlachtplänen.
Alle, die wir kennen, bis auf einen einzigen, sind protestantisch-schwedi-
schen Ursprungs. Auf kaiserlicher Seite ist nur einer vorhanden: derjenige,
welcher im Original im Heeresmuseum, in zwei Kopien und einer Photo-
kopie im Kriegsarchiv sich vorfindet. Zuerst veröffentlicht ist er von Förster
als Anhang zum 2. Band seiner Briefe Wallensteins.
In der Ablehnung dieses Planes ist, wie mir scheint, die neuere Literatur
zu weit gegangen. Sicher ist er nicht von Wallensteins Hand, wie Förster
behauptet. Wer die breit ausladenden Schriftzüge des Friedlünders gesehen
160 Wilhelm Bóhm
hat, kann nicht auf den Gedanken kommen, daB diese kleine, enge Schrift
von ihm sein könne. Daß der Plan aber mit der Schlacht bei Lützen nichts
zu tun habe, glaube ich nicht. Er zeigt in dem taktischen Aufbau der
Schlachtfront eine so deutliche Verwandtschaft mit den Angaben Holks,
daß schon daraus auf Beziehungen zu dem Treffen am 16. November ge-
schlossen werden muß. Ferner stimmen die Namen der aufgeführten Regi-
menter zu der Epoche der Schlacht, und eine Tatsache löst den Zweifel fast
völlig. Am rechten Flügel zeigt der Plan das Fußregiment Chisa (Chiesa).
Laut Brief Wallensteins an Gallas, Schönfeld, 8. November 1632 (Fontes
rerum Austriacarum, Bd. 65, Nr. 1544) starb Oberst Chiesa Anfang No-
vember und erhielt in der Person des Oberstleutnants Kehraus einen Nach-
folger. In den Dispositionen Holks für die vor der Schlacht geplante Ver-
teilung der Truppen in die Winterquartiere“ führt das Regiment noch ge-
wohnheitsmäßig den alten Namen, in den nach dem 16. November entstande-
nen Akten jedoch stets den neuen (Kehraus). Der Plan kann also jedenfalls
sich auf kein Ereignis beziehen, das nach der Schlacht bei Lützen stattfand.
Dazu kommt die Tatsache, daß der Plan wahrscheinlich aus dem Besitze
Pappenheims stammt. Er ist zweimal gefaltet aufbewahrt worden und an
drei Stellen, die sich infolge Durchschlagens der Flüssigkeit auf fünf ver-
mehrten, mit Blut befleckt. Diese Blutflecke lassen sich in Beziehung setzen
mit den Blutflecken auf der bekannten Order Wallensteins an Pappenheim
vom 15. November.
Die Aufstellung zeigt zwei stark zurückgezogene Reiterflügel, und zwar
am linken Flügel von außen nach innen: 6 Schwadronen: 1. Kroaten; 2. Drost;
3. Lüdela (— Leutersheim?); 4. Lamboi; 5. Benighauss undt Spar; 6. Gótz.
Den rechten Flügel bilden ebenfalls 6 Schwadronen: von auBen nach innen:
1. Kroaten; 2. Loh; 3. Hagen; 4. Defour; 5. Terscha Picolhuomini; 6. Holk.
Das Zentrum steht in vier Treffen. Im ersten stehen 6 Infanteriebrigaden,
und zwar von links nach rechts: 1. Regiment Comargo; 2. Reinach; 3. Ge-
neral-Zeugmeister (Breuner); 4. Grana, Contreras; 5. Chisa, Colloredo;
6. Wallenstein Altester (Berthold).
Unmittelbar dahinter stehen 4 kleine Kavalleriekörper, links zwei vom
Arkebusierregimente Loyers, rechts zwei ebensolche vom Regimente Breda
(Bredow).
Im zweiten Treffen stehen im Zentrum 4 Infanteriebrigaden: von links
nach rechts: 1. Moriana (Pallant — Moriamez; 2. Jung-Breuner; 3. Palant.
L. H. Breuner, Sehwis (De Suys), Marchstal (Mansfeld). Dahinter, zwischen
Moriana und Jung-Breuner steht das Fußregiment Goltz, zwischen Jung-
Breuner und Palant Gil de Has. Im 4. Treffen endlich halten 2 Reiter-
schwadronen, links Gustitz (Goschütz), rechts Westrum und Westfahlen.
Der Plan zeigt also dieselben taktischen Grundsätze, wie Holks Relation
und sämtliche Regimenter Pappenheims. Von den Friedländischen fehlen
die Infanterieregimenter Thun, Tréka, Baden, Alt-Sachsen und Diodati
und Tontinellos Arkebusiere.
? Kriegsarchiv Feldakten (F. A.) 1632, Fasc. 70, 11 ad 127a, b; Fontes rerum
Austriacarum, Bd. 65, Nr. 1578.
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 161
Noch sei erwähnt, daB, vom Regiment Bredow abgesehen, die Pappen-
heimische Kavallerie auf dem linken Flügel steht, wo sie tatsüchlich ein-
gegriffen hat. Wahrscheinlich hat Pappenheim den Plan vor seinem Ab-
marsch nach Halle erhalten, um für den Fall einer Schlacht über die Stellung
unterrichtet zu sein, die seine Truppen einnehmen sollten. Daraus erklärt
es sich wohl auch, daß nicht alle Regimenter angegeben sind.
Da Pappenheim mit der Kavallerie eine Stunde nach Kampfbeginn ein-
traf, seine Infanterie aber überhaupt zu spät kam, so konnte der Plan nicht
durchgeführt werden. Was er uns gibt, ist die zurückgezogene Stellung der
Reiterflügel, die ja auch den Aufgaben der von Wallenstein beabsichtigten
Defensivschlacht, in der sie vor allem als Flankenschutz zu wirken hatten,
am besten entsprach.
Bei den schwedischen Schlachtplünen lassen sich drei Traditionsgruppen
unterscheiden. Die zweifellos ülteste wird vertreten durch eine Skizze im
Stockholmer Kriegsarchiv, von dem das Wiener eine Photokopie besitzt.
Sie macht den Eindruck als sei sie von einem deutschen Kampfteilnehmer
(die Legende ist deutsch) kurz nach der Schlacht aus dem Gedächtnisse an-
gefertigt worden.
Wir haben es hier mit einer Bleistiftskizze zu tun, die allem Anscheine
nach auf einem rechteckigen groben Papier angefertigt wurde und nach der
Längsseite verläuft. Die einzelnen Truppenabteilungen sind etwa nach Art
von Akkorden der Notenschrift durch Kombination mehrfach querver-
bundener Kreise und Striche bezeichnet, und zwar bei beiden Parteien ohne
Treffeneinteilung. Bei den Schweden ist der Standort einzelner Heerführer,
so des Königs, Bernhards von Weimar, Brandensteins, beiläufig angegeben,
im übrigen ist der Maßstab der Zeichnung für die Schrift zu klein, weshalb
die Beischriften nur teilweise stimmen. Das Ganze ist sehr flüchtig entworfen
und hat nur für die Artilleriestellungen einen gewissen Quellenwert.
Die zweite Traditionsgruppe ist die größte. Sie umfaßt den Plan von
Hulsius, den der Frankfurter Meßrelationen, des Theatrum Europaeum,
und seltsamerweise auch der Annales Ferdinandei. Auch der von Harte
(„Das Leben Gustav Adolfs des Großen, Bd. II.) mitgeteilte Dankaerzerische
Plan weicht nur unwesentlich von den anderen Vertretern dieser Gruppe ab.
Die schwedische Schlachtordnung ist auf diesen Plänen im allgemeinen
richtig angegeben. Bei den Kaiserlichen sind zwei Reiterflügel dargestellt,
jeder zu 4 Schwadronen, zwischen die Dankaerzer auf dem rechten Flügel
Musketiere stellt. Im Zentrum stehen vier Infanterieterzios, wie sie noch
bei Breitenfeld von Tilly formiert worden waren. Die Pläne wurden nach
einem hergebrachten Schema gestochen und gehen wahrscheinlich auf die
verlorene Karte Gablers zurück. (Deuticke, Schluß der Einleitung.)
Die dritte Gruppe hat wieder nur einen Vertreter, den Plan im Swedish
Intelligencer.
Auch auf ihm ist die schwedische Schlachtordnung richtig dargestellt.
Die Kaiserlichen stehen ohne Treffeneinteilung in einer Linie. Ihr rechter
Flügel besteht aus 3 Kroatenschwadronen am äußersten Ende, weiter 3 Kü-
rassierregimenter, vor denen die Windmühlenbatterie steht. Daran schließen
sich 4 Fußregimenter, das Kürassierregiment Piccolomini, das ganz in der
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 11
162 Wilhelm Bóhm
Mitte steht, abermals 4 Fußregimenter, mit Reitern gemischt, 2 Reiter-
regimenter mit Musketieren, 3 Kürassieregimenter und endlich am äußersten
linken Flügel 1 Kroatenschwadron. An Geschützen stehen 2 etwas links
von der Windmühlenbatterie, wo Reiter und Infanterie aneinanderstoBen
und 6 vor dem Zentrum, gleich links von Piccolomini.
Deuticke vermutet, daB dieser Plan auf Oberst Fleetwood zurückgehe,
doch kann ich mich dieser Vermutung nicht anschlieBen. Hátte der schot-
tische Oberst von der kaiserlichen Schlachtordnung eine derartige Vorstellung
gehabt, so hätte er unmöglich schreiben können, daß die Kaiserlichen ähn-
lich wie die Schweden aufgestellt waren. Auf dem Plan ist ihre Ordnung
der schwedischen so unähnlich, wie möglich. Wahrscheinlicher ist es, daß
jene schottischen Offiziere, die der Schlacht als Kriegsgefangene im kaiser-
lichen Lager beiwohnten, einige Angaben machten. Sie berichteten wohl,
daB im Ganzen 8 Infanterieabteilungen (7 Frontbrigaden und 1 Reserve)
formiert worden seien, daß Kroaten am .äußsrsten linken Flügel standen
und daß unter die Reiter nach schwedischem Vorbild Musketiere gemischt
worden seien. Die „2 Infanterieregimenter mit Reitern“ sind wahrschein-
lich ein Niederschlag der bei Holk angegebenen Tatsache, daB 6 Reiter-
kompagnien knapp hinter der Infanterie standen. Die seltsame Stellung des
Regiments Piccolomini im Zentrum kónnte zwei Gründe haben. Es war
offenbar bei den Schweden bekannt, daß Wallenstein einmal an der Spitze
dieses Regiments focht. DaB dies bei der Abwehr des groBen schwedischen
Flankenangriffs gegen den linken kaiserlichen Flügel geschah, mußte in
der gegnerischen Überlieferung um so eher verblassen, als ja die Angriffs-
bewegung selbst in den Quellen nicht deutlich zum Ausdruck kommt und
von Deuticke erst mühsam kombiniert werden mußte. Und da man sich
den Feldherrn gern im Zentrum denkt, so wurde das Regiment, dessen Zu-
sammenhang mit Wallenstein bekannt war, vom Verfasser des Planes ohne
weiteres dorthin gestellt. Überhaupt hat dieser die ihm zugekommenen
Nachrichten ganz kritiklos verwertet. Besser ist der Stich in bezug auf
die Stellung der Artillerie. Die Batterie bei den Windmühlen ist richtig zu
9 Stück angegeben. Auch die Batterie vor dem Zentrum steht am richtigen
Ort, ist aber zu schwach angenommen. Wallenstein besaß im ganzen 21 Ge-
schütze, nicht 17 wie auf dem Plan.
Heeresstárke und beteiligte Truppenkórper.
Diodati gibt den Kaiserlichen am Beginne der Schlacht 12000 Mann im
Ganzen, der Reiterei allein 4000 Mann. Holks Relation ergibt nach Korrek-
tur des erwähnten Abschreibfehlers an Infanterie 7500 Mann, was eine
Spannung von 500 Mann gegenüber dem Ansatze Diodatis bedeuten würde.
Rechnet man jedoch die 400 Musketiere in Lützen gesondert, so sind nur mehr
100 Mann unterzubringen. Sie fielen offenbar beim Abrunden der Einzelziffern
fort. Man kann also die Stárke der Kaiserlichen vor Pappenheims Ankunft
auf 8000 Mann Infanterie und 4000 Reiter mit 21 Geschützen veranschlagen.
Holks Relation gibt die Anzahl der regulären Reiterkompagnien mit
2.36+2.12+6 = 102 an. Dazu kommen 3 Kroatenregimenter (Isolani,
Corpes, Beygott). Ersteres hatte am 5. Dezember“ 14—16 Kompagnien,
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 163
die beiden andern kónnen zu 10 Kompagnien angenommen werden. Es
fochten bei Lützen also 34—36 Kroatenkompagnien und 136—138 Reiter-
kompagnien im Ganzen. Eine Kompagnie war damals nicht stürker als
30 Mann, wie etwa einen Monat vor der Schlacht der Kurfürst von Bayern
angibt, der seine 42 Reiterkompagnien auf 1200 Mann schätzt. Bei Zu-
grundelegung dieser Kompagniestürke ergeben sich für die 136—138 Kom-
pagnien tatsächlich 4080—4140 Mann.
Über die an der Schlacht beteiligten Regimenter ist ebenfalls Holk die
Hauptquelle. In seinen schon erwähnten „Dispositionen zum 14. Novem-
ber'* (s. S. 160 Anm.) gibt er einen genauen Plan für die Winterquartiere der
einzelnen Regimenter. An der Spitze steht unter dem Titel „Pappenheimisch
Zugordnung" das nach Halle bestimmte Korps dieses Generals, die Infan-
terieregimenter Pallant, Pallant-Moriamez, Freiherr von der Goltz, Reinach,
Gil de Haes und den Rest von Würzburg unter Hauptmann Willy umfassend.
Da, wie unten noch zu erörtern sein wird, ein Infanterieregiment damals
nieht stárker als 500 Mann war, so führte Pappenheim etwa 2700 Mann In-
fanterie. Seine Reiterei zählte 2 Arkebusierregimenter (Lamboy und Bönnig-
hausen) 2 Kürassierregimenter (Sparr und Bredow), 2 Kroatenregimenter
(Orossy und Batthyani) mit zusammen 24 Kompagnien, ferner 4 Kompagnien
Polen, 3 Kompagnien Pappenheimdragoner (,,Pappenheimisch Rennfahn‘‘) und
4 Kompagnien Merodedragoner (,, Merodes Obwacht'*). Regiment Lamboy hatte
nach einem Bericht des schwedischen Generalleutnants Grafen Baudissin an
Gustav Adolf vom 19. Juli, dem eine Truppenübersicht des damals noch in
Westfalen operierenden Korps Pappenheims beiliegt (Arkiv till uplysning om
Svenska krigens och krigsindraettningers historia Bd. II, S. 549) 6 Kompagnien,
die andern regulären Regimenter werden den Normalstand von 10 Kompagnien
gehabt haben. Im ganzen zählte die Pappenheimische Kavallerie also
71 Kompagnien oder etwa 2100 Mann. Dazu kamen nach dem „Extrakt
Schreiben aus Berlin" vom 14./24. November (Arkiv, Bd. II) 6 Geschütze.
Auf die „Pappenheimisch Zugordnung" folgen in Holks Dispositionen
einige in Westfalen zurückgebliebene Truppen, Werbungsvoranschläge,
endlich die Übersicht über die als Winterquartiere in Aussicht genommenen
Orte in Sachsen und die einzulegenden Regimenter. Demnach nahmen an
der Schlacht folgende reguläre Reiterregimenter teil:
Arkebusiere:
1. Leutersheim 6 Komp. nach Baudissin (s. o.).
2. Tontinello 5 ,„ ^ 3:
3. Westfalen 6 „ R -
4. Landdrost v. Dringenberg 10 „, » 5
5. Loyers 0. „ ?
6. Goschütz 5 „ ?
7. Hatzfeld 6 „ 2
8. Hagen 11 „ laut Brief Wallensteins an Holk,
F. A. 19/29.
55 Arkebusierkompagnien.
* Holks Dislokationsübersicht an Wallenstein, F. A., 12/ad 213.
11*
t
164 Wilhelm Bóhm
Kürassiere:
1. Piccolomini 14 Komp. Silvio Piccolominis Brief erwähnt
9, Holk, Diodati und Gallas
5 Kompagnien. Außerdem 2
beim Korps Dow in Schlesien
nach F. A. 11/ad 126.
9. Des Fours 7 „ 3 Komp. bei Dow.
3. Gótz 5 » 9 » 57 » .
4. Lohe 4 g Z
5. Holk 5 „ 7
38 Kürassierkompagnien.
Dragoner:
Tréka 4 Komp. 90 Mann = 3 Komp. bei Ilow.
Die Dragonerregimenter pflegte
man zu höchstens 7 Komp. zu
formieren.
Dazu kommt das Regiment Westrum, das sich sonst nirgends, auch nicht
in Wredes „Geschichte der k. u. k. Wehrmacht" nachweisen läßt, jedoch im
Schlachtplan des Heeresmuseums erscheint. Ferner findet sich in dem Ver-
zeichnis gefallener und verwundeter Offiziere des „Gründlicher und ausführ-
licher Bericht, wie und was Gestalt die ... Schlacht ... bei Lützen
den 16. Novembris dises 1632. Jahres abgelaufen. Getruckt zu München
im Jahr MDOXXXII" (zitiert nach: Gedruckte Relationen zur Schlacht
bei Lützen), ein Oberst Westrum unter den Toten. Gibt man seinem Regi-
ment — wahrscheinlich Kürassiere — 5 Kompagnien, so ergibt sich die
Summe von 102 Kompagnien.
An Infanterie waren folgende Regimenter beteiligt: Zeugmeister Breuner,
Alt-Breuner, Jung-Breuner, Rudolf Colloredo, Marchese di Grana, Markgraf
von Baden (von diesem Regiment standen 2 Kompagnien bei den Besatzungs-
truppen am Oberrhein), Kehraus (Chiesa), Alt-Sachsen, Comargo, Berthold
von Waldstein, de Suys, Contreras und der in Altenburg stationierte Teil
von Tréka. Dazu tritt das Regiment des Generalquartiermeisters Giulio
Diodati, das Wrede erst seit 1633 kennt, auch Holk nennt es nicht, da es
offenbar in Lützen selbst liegenbleiben sollte. Es erhielt aber laut Fontes
rerum Austriacarum, Bd. 65, Nr. 1668, 6094 Gulden Belohnung. Vielleicht
wurde es erst 1633 gemustert. Von dem zum Pappenheimschen Korps ge-
hörigen Regimente Reinach waren 150 Musketiere zurückgeblieben und
bildeten am 15. November zusammen mit ebensovielen von Comargo die
Besatzung des Schlosses Weißenfels. Beim Anmarsch des Königs von Rudolf
Colloredo herausgezogen, war diese Truppe am Schlachttage wahrscheinlich
bei der Verteidigung der Stadt Lützen tätig®.
Die Sollstärke eines Infanterieregiments betrug 3000 Mann. Die Division
der Gesamtstärke der Infanterie (3000 Mann) durch die Zahl der Regimenter
* Die Angabe Holks: „Weißenfels von Comargo und Reinach 300 Mann“,
verdient wegen der amtlichen Stellung des Gewährsmannes den Vorzug gegenüber
Diodatis „100 Musketieren“.
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 165
(1332) ergibt jedoch die Durchschnittsstärke von 592 Mann. Wahrschein-
lich sind sogar nur 500 Mann auf ein Regiment zu rechnen, bis auf Zeug-
meister Breuner, das bei der hohen Belohnung, die es erhielt (12316 Gulden)
stárker gewesen sein muB. Das Regiment Diodati, das, wie erwühnt, 6094 Gul-
den Belohnung erhielt, verlor von einer Gesamtstärke von 10 Offizieren
588 Mann 3 Offiziere 96 Mann an Verwundeten, wozu nach dem gewóhnlichen
Verháltnis noch etwa 30 Tote zuzuschlagen sind. Das Regiment Zeugmeister
Breuner hat also seine Belohnung von 12316 Gulden mit einem Verlust von
etwa 250 Mann erkauft, was nur ein starkes Regiment ertragen kann, ohne
„reformiert“ zu werden. Zeugmeister Breuner wird also etwa 1000 Mann
stark gewesen sein — so stark, wie Tréka, dessen eine Hälfte wahrscheinlich
die 500 Mann Infanteriereserve stellte, während die andere zusammen mit
7 Kompagnien von Thun (3 Kompagnien dieses Regiments standen beim
Korps Gallas in Ostsachsen) und dem Regimente Mansfeld in Eilenburg lag.
Diese Truppen, zusammen etwa 1500 Mann stark, trafen nach 2 Uhr auf dem
Schlachtfelde ein und wurden im Kampf um die Windmühlenbatterie ein-
gesetzt. Von Fleetwood wurde die Truppe für Pappenheims Infanterie
gehalten, — er vermutet daher auch Merode als Kommandanten. Die Regi-
menter aus Halle trafen aber erst am Ende der Schlacht ein, weshalb nur
die Eilenburger Regimenter in Frage kommen.
Stellung einzelner Regimenter.
I. Infanterie.
Da, wie wir gesehen haben, die Quellen über die Einzelheiten der kaiser-
lichen Schlachtordnung schweigen, so ist es nötig, ihre sonstigen Angaben
zu kombinieren, um zu genaueren Ergebnissen zu gelangen. Als Plattform
dazu kann die ja genau bekannte schwedische Schlachtordnung dienen.
Ist nachzuweisen, daß ein bestimmtes kaiserliches Regiment gegen ein ge-
nanntes schwedisches focht, so ist die Stellung des ersteren damit festgelegt.
Es sei daher die schwedische Schlachtordnung kurz geschildert.
Die Schweden, etwa 16500 Mann (davon über 5000 Reiter) und 60 Ge-
schütze stark, standen in zwei Treffen, jedes mit einem Infanteriezentrum
und zwei Reiterflügeln. Herzog Bernhard von Weimar kommandierte den
linken, der Kónig den rechten Flügel, Generalleutnant Kniphausen das
zweite Treffen. Im ersten Treffen standen von links nach rechts die Reiter-
regimenter Courville, Livlánder, Kurlánder, Karberg und die zwei Regimenter
Bernhards von Weimar; die grüne, die blaue, die gelbe und die schwedische
Infanteriebrigade mit der Infanteriereserve unter Oberst Hinderson mitten
hinter sich; das smálándische, ostgotische, upländische, ingermanländische,
westgotische und finnische Kavallerieregiment. Zwischen die Reiterregimenter
waren Musketiertrupps eingeschoben. Der König befand sich bei den smä-
lándischen Kürassieren des Obersten Stenbock.
Das zweite Treffen bildeten, wieder von links nach rechts, die Kavallerie-
regimenter Stechnitz, Steinbach, Brandenstein, Lówenstein, Ernst von An-
halt und Hoffkirch, die Infanteriebrigaden Mitzlaff, Thurn, Wilhelm von
Weimar und Kniphausen, das hessische Reiterregiment Uslar, die hessische
Kavallerieschwadron, die Kavallerieregimenter Beckermann, Bulach, Gold-
166 Wilhelm Bóhm
stein und Herzog Wilhelm. Genau in der Mitte, zwischen den Brigaden Thurn
und Wilhelm von Weimar stand die Kavalleriereserve unter Oberst Oehme.
Eine weitere Unterstützung bedeuten die Belohnungsanweisungen
Wallensteins, besonders für die Infanterie. In diesen Anweisungen!® erscheinen
von den 13 ½ Infanterieregimentern 11: die 3 Breunerischen, Comargo,
Diodati, Alt-Sachsen, Baden, Kehraus, Colloredo, Berthold von Waldstein
und Marchese di Grana. 9 Regimenter kommen für die 5 Brigaden des ersten
Treffens in Betracht, die sicher sámtlich ausgezeichnet wurden. Zeugmeister
Breuner bildete für sich eine Brigade, die andern 4 Brigaden bestanden aus
je 2 Regimentern.
Zwei der belohnten 11 Regimenter bildeten zusammen mit den 2 unbelohnt
gebliebenen (De Suys und Contreras) die beiden Brigaden des zweiten Treffens.
Das Halbregiment Tréka stand wahrscheinlich in Reserve.
Untersucht man die Belohnungen genauer, so gelangt man zu einer recht
auffallenden Entdeckung. Mehrmals erhalten zwei Regimenter nahezu die
gleiche Belohnung: Alt-Breuner 7100 Gulden, Jung-Breuner 6982 Gulden;
Comargo und Kehraus je 10000 Gulden; Berthold von Waldstein 8868,
Colloredo 9278 Gulden; endlich in etwas weiterem Abstande: Alt-Sachsen
8508 Gulden, Baden 8064 Gulden. Aus dem Rahmen fallen nur 3 Regimenter.
Zeugmeister Breuner erhielt 12316 Gulden, Diodati 6094 Gulden, Marchese
di Grana nur 4094 Gulden.
Diese Übereinstimmungen sind deshalb von Bedeutung, weil die Beloh-
nung einen Schluß auf die Verlustziffer und damit auf die Tätigkeit des
betreffenden Regiments zuläßt. Regimenter, die annähernd die gleiche Summe
erhielten, werden beisammen gestanden sein, zusammen eine Brigade ge-
bildet haben. Diejenigen, die am wenigsten erhielten, standen im zweiten
Treffen. Dies sind Diodati und Marchese di Grana. Für das erste Treffen
verbleiben also die 3 Breunerschen Regimenter, Alt-Sachsen, Baden, Kehr-
aus, Comargo, Waldstein und Colloredo.
Srbik hat überzeugend nachgewiesen, daß der Musketier, welcher den
Arm Gustav Adolfs mit seiner Kugel zerschmetterte, einem der Breuner-
schen Regimenter angehört hat. Dieses Regiment muB also dem smälän-
dischen Kürassierregimente Stenbock gegenüber, dort gestanden sein, wo
das kaiserliche Infanteriezentrum an den linken Reiterflügel schloB. Dieser
Teil der Schlachtlinie besaB keine eigene Artillerie, Zeugmeister Breuner
ist dort also nicht anzunehmen. Alt- und Jung-Breuner aber standen, wie
oben erklärt, in einer Brigade, die demnach als die am weitesten links stehende
zu betrachten ist. Das ältere Regiment stand wahrscheinlich innen, Jung
Breuner erhielt die Anlehnung an die Kavallerie.
Auf diese oberösterreichisch-steirische Brigade folgte ein Intervall, hinter
dem eine gleichstarke Brigade im zweiten Treffen stand. Aus welchen Regi-
mentern bestand sie?
Diodati spricht gegen das Ende seines Berichtes von der tapferen Haltung
Bertholds von Waldstein bei den Windmühlen. Aus dieser Darstellung geht
19 F. A. 11/ad 187, 12/220, ad 220, Fontes rerum Austriacarum, Bd. 65, Nr.1616,
1665, 1667, 1668, 1642.
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 167
hervor, daß Waldstein das Kommando über die rechte Hälfte des Infanterie-
zentrums führte. Dann fährt er fort: „Dasselbe tat auf seiner Seite (Or.:
dalla sua parte) der Marchese di Grana." Dieses „dalla sua parte“ wird wohl
taktisch zu verstehen sein, d. h. der Marchese kommandierte das linke
Zentrum, wie Berthold von Waldstein das rechte. Da das Regiment Grana
wegen seiner geringen Belohnung ins zweite Treffen zu verweisen ist, so
kann es nur zu der Nachbarbrigade von Alt- und Jung-Breuner gehört haben,
Das zweite Regiment dieser Brigade ist schwerer zu bestimmen. Diodati
stand, das geht aus der ganzen Art seines Berichtes hervor, gewiß auf der
rechten Seite der Schlachtfront. Der Kampf um die Windmühlen steht
ihm im Vordergrunde. So bleiben für das zweite Treffen des linken Zentrums
de Suys und Contreras zur Wahl. Da es aber offenbar das Bestreben der
kaiserlichen Heeresleitung war, national einheitliche Brigaden zu bilden,
so wird der Marchese di Grana seinen Landsmann, den Grafen Contreras
neben sich gehabt haben.
Südlich des Intervalls stand der dritte kaiserliche Infanteriekörper,
mitten im Zentrum. Hier, an der Stelle der stärksten Ansammlung von
Artillerie ist Zeugmeister Breuner anzunehmen. Das Regiment war schon
auf dem Pappenheim mitgebenen Plan für diesen Platz in Aussicht genommen,
seine Stellung ist mithin die einzige, bei welcher die ursprünglichen Ab-
sichten verwirklicht wurden.
Die 4. Brigade stand der schwedischen blauen gegenüber. Nach dem
Berichte des Grafen Gallas an König Ferdinand von Ungarn (Förster, Wallen-
steins Prozeß, S. 94—96, Anm.) hatte an der Vernichtung dieser Brigade das
Regiment Comargo den Hauptanteil. Mit ihm focht, wie die gleiche Belohnung
wahrscheinlich macht, Kehraus (Chiesa). Die 5. Brigade muß vorerst außer
Betracht bleiben. Die 6., wieder im zweiten Treffen, muß aus den Regi-
mentern Diodati und De Suys bestanden haben (s. o.). Die 7. und letzte
Brigade umfaßte das Regiment Bertholds von Waldstein, der, wie erwähnt,
an dieser Stelle das Infanteriekommando innehatte. Der Swedish Intelli-
gencer aber nennt Rudolf Colloredo, der im schwedischen Heere großes
Ansehen genoß, wiederholt als Kommandant des rechten Flügels. Wahr-
scheinlich hat er Waldstein nach dessen Verwundung vertreten und sicher-
lich stand sein Regiment in derselben Brigade, wie das des Neffen des Feld-
herrn.
So bleiben für die 5. rechts an Comargo-Kehraus anschließende Brigade
nur die zwei auf Rechnung deutscher Reichsfürsten geworbenen Regimenter,
Alt-Sachsen und Markgraf von Baden.
An der äußersten rechten Flanke der Kaiserlichen, noch jenseits des
Kavallerieflügels lag der Ort Lützen. Seine Besatzung bildeten 400 Mus-
ketiere, je 150 von Comargo und Reinach, 100 von einem dritten Regiment,
wahrscheinlich Berthold von Waldstein.
Kavallerie.
Bei der Kavallerie ist unsere Aufgabe besonders schwierig, da es mir leider
nicht gelang, die Druckschrift, welche die begründeten Urteile Wallensteins
über die flüchtig gewordenen Reiteroffiziere (,,Des durchleuchtigsten Fürsten
168 Wilhelm Bóhm
Ferdinandi des Andern, sowie des Herzogs von Mecklenburg-Friedland ...
vrtheilen ...) enthält, aus Berlin zu erhalten. Glücklicherweise gehören von
den bestraften Regimentern zwei (Bónnighausen und Sparr) zum Korps
Pappenheims, nur das dritte (Hagen) war schon bei Beginn der Schlacht
anwesend. Über die Tütigkeit des rechten Reiterflügels schweigen die Quellen
fast ganz. Belohnungen erhielten von den am Anfang der Schlacht anwesen-
den Regimentern Piccolomini (4650 Gulden), Holk (2850 Gulden), Götz
(2690 Gulden), Trékadragoner (2660 Gulden), Des Fours (2570 Gulden),
Loyers (1300 Gulden), Goschütz (750 Gulden).
Wenn wir mit der Zusammensetzung der Reiterflügel beginnen, so ist zu-
nächst zu wiederholen, daß sie je 36 Kompagnien in 4 Schwadronen stark waren.
Links kam als 5. Schwadron die gesamte Masse der Kroaten, etwa 34—36 Kom-
pagnien, hinzu. Jede der regulären Schwadronen war also 9 Kompagnien stark.
Über den linken Flügel, vor dessen Front der Schwedenkönig fiel, sind
wir am ehesten in der Lage, Genaueres feststellen zu können.
Srbik hat es sehr wahrscheinlich gemacht, daß im unmittelbaren Anschluß
an das Breunersche Infanterieregiment, von dem der erste Schuß auf den
König abgegeben wurde, das Kürassierregiment Des Fours stand, da Graf
Des Fours eine verlorengegangene, aber wahrscheinlich durch Khevenhüllers
Erzählung auf uns gekommene Relation über das Ende des Königs erstattete.
Mit ihm in der gleichen Schwadron stand das Regiment Götz, dessen Oberst-
leutnant Falkenberg auf den König schoß und gleich darauf selbst fiel. Die
2. Schwadron bestand aus Holks Kürassieren — denn ein Holkischer Trom-
peter beteiligte sich nach dem eigenen Zeugnis seines Obersten an der Plün-
derung der Leiche Gustav Adolfs — und wahrscheinlich den Dragonern
Trekas, die Holk in engem Zusammenhange mit seinem eigenen Regiment
nennt. Über die dritte Schwadron läßt sich nichts Sicheres feststellen. Am
ehesten kommt Lohe dafür in Betracht, dessen Oberst sich unter den Toten
findet. Die 4. Schwadron aber läßt sich genau feststellen. Sie war die Nach-
barschwadron der Kroaten, die die rechte schwedische Flanke umritten, über
den feindlichen Troß herfielen und nach heftigem Kampfe geworfen wurden.
Dabei rissen sie nach Angabe der ,,vrtheilen" (zitiert nach Deuticke) das
Regiment Hagen, das wegen dieses Verhaltens dezimiert und aufgelöst
wurde, mit sich fort. 9 von den 11 Kompagnien dieses Regiments bildeten
also die äußerste reguläre Schwadron des linken Flügels.
Dieselbe Stellung auf dem rechten Flügel, also Lützen zunächst, müssen
9 Kompagnien von Piccolomini gehabt haben. Denn sie können noch nicht
im Gefechte gewesen sein, als der schwedische Flankenangriff auf den linken
Flügel erfolgte und sie dahin zu Hilfe gerufen wurden. Denn das Verschieben
bereits engagierter Truppenteile ist ja unmöglich. Die 5 übrigen Kompagnien
dieses Regiments aber müssen zu der rechter Hand stehenden der beiden
,auskommandierten" Schwadronen hinter dem Zentrum gehört haben.
Anders wäre die Angabe Diodatis, daß Piccolomini an der Vernichtung der
blauen Brigade beteiligt gewesen sei, nicht zu erklären. Eine Bestätigung
findet sich übrigens bei Gallas, der diesen Kampf vom Regiment Comargo
und 5 Kompagnien Reitern durchführen läßt. Diese wurden dann ebenfalls
dem bedrohten linken Flügel zu Hilfe geschickt.
Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 169
Unmittelbar neben und vor den obenerwähnten 9 Kompagnien Picco-
lomini scheint das Arkebusierregiment Goschütz gestanden zu haben. Denn
bei diesem Regimente auf dem „linken“ (sicher Verwechslung für rechten“)
Flügel, kam das ausgerissene Regiment Hagen zum Stehen. Es muB also,
da die Reiterflügel sicherlich, wie auf dem Plan im Heeresmuseum, etwas
zurückgezogen waren, hinter der Front entlang galoppiert sein, bis es auf
Goschütz traf. Schwadronsnachbar dieses Regiments war wahrscheinlich
Loyers, mit dem zusammen es in den Dispositionen Holks und bei den Be-
lohnungen genannt wird.
Die beiden inneren Schwadronen des rechten Flügels. In Betracht
kommen die Arkebusierregimenter Westfalen, Landdrost von Dringenberg
(im folgenden kurz Drost), Leutersheim, Tontinello und Hatzfeld, endlich
das nicht näher bestimmbare Regiment Westrum. Nach den Dispositionen
lag Tontinello zusammen mit Goschütz und Loyers vor der Schlacht
in Merseburg, also westlich Lützen und auf der Seite des rechten Flügels,
Hatzfeld und Leutersheim, die aber vielleicht gar nicht mehr zum Abmarsch
kamen, in Eilenburg, von wo die Straße ebenfalls hinter den rechten Flügel
der Kaiserlichen führte, Westrum wahrscheinlich in Lützen selbst. Drost
und Westfalen dagegen hatten ihr Winterquartier in Leipzig. Es liegt daher
nahe anzunehmen, daB Leutersheim mit Tontinello und Hatzfeld (zusammen
wahrscheinlich 17 Kompagnien) und 1 Kompagnie von Goschütz oder
Loyers die beiden inneren Schwadronen des rechten Flügels bildeten, wäh-
rend Westfalen, Drost und Westrum, von deren Tätigkeit so wenig verlautet,
für die Dauer der Schlacht aufgelöst und zur Bildung des ,,Kommandierten
Volks" verwendet wurden.
Am wahrscheinlichsten ist daher folgendes Bild von der Aufstellung der
kaiserlichen Kavallerie:
Rechter Flügel von rechts nach links:
1. Sehwadron: Piccolomini, 9 Kompagnien
2. i Goschütz, 4 5
Loyers, b P
3. vs Leutersheim, 5 M
Tontinello, 4 "
4. s Hatzfeld, 6 5
Leutersheim, 1 7
Tontinello, 1 iz
Goschütz od.
Loyers, 1 3:
Sehwadron von 12 Kompagnien hinter dem rechten Zentrum:
Je 5 Kompagnien Piccolomini und Westrum.
Je 1 Kompagnie von Des Fours oder Gótz und Goschütz oder Loyers.
Sehwadron von 12 Kompagnien hinter dem linken Zentrum:
Je 6 Kompagnien von Drost und Westfalen.
3 Abteilungen à 2 Kompagnien hinter der Infanterie:
2 Kompagnien Hagen, 4 Kompagnien Drost.
170 Wilhelm Bóhm: Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen
Linker Flügel von links nach rechts:
ÁuBerste Schwadron: Kroatenregimenter Isolani, Beygott, Corpes.
2. Sehwadron: Hagen, 9 Kompagnien
3. = Lohe,
>
|.
e
F
w O O Hm.
Wir sind am Ende unserer Erörterung angelangt, Ich schließe sie mit
dem Bewußtsein, daß manches unsicher, manches Vermutung bleibt. Doch
ist ein Fortschritt gegenüber unserer bisherigen Unkenntnis sicherlich er-
zielt worden.
Wien. Wilhelm Böhm.
171
Kritiken.
Jahresberichte für deutsche Geschichte. Unter redaktioneller Mitarbeit von Victor
Loewe, hrsg. von A.Brackmann und F. Hartung. [Hrsg. im Auftr. d.
Kuratoriums d. Ges. Jberr. f. dt. Gesch.] Leipzig (Verlag von K. F. Koehler)
1927ff. 8, — Erschienen sind bisher: 1. Jahrgang (ebd. 1927) = 1925. XIV,
752 S. Hlw. geb. 35 RA. — 2. Jahrgang (ebd. 1928) = 1926. XIV, 806 8.
46 RM. — 3. Jahrgang (ebd. 1929) = 1927. XIV, 800 S. 46 . — 4. Jahr-
gang (ebd. 1930) = 1928. XIV, 700 S. 42 &. — 5. Jahrgang (ebd. 1931) =
1929. XIV, 773 S. 40 RA. — 6. Jahrgang unter redakt. Mitarbeit von Victor
Loewe und Paul Sattler (ebd. 1932) = 1930. XIV, 610 S. 33 RA.
Dehimana-Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte. 9. Aufl. Unter
Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen hrsg. von H. Haering. (Hrsg. im Auftr.
d. Kuratoriums d. Ges. Jberr. f. dt. Gesch.] Leipzig (Verlag K. F. Koehler)
1931—32. XL, 992 S.; Registerband S. 993—1292. 89. 52 RA; Lw. geb.
60 RM.
International Bibliography of Historical Seienees. Second Year. (Ed. by the Inter-
national Committee of Historical Sciences. Washington.] Paris, Berlin (Walter
de Gruyter) Rom, London, New York 1932. LXXX, 4318. 8. 21 ZA.
Nur wenige Wissenschaften dürften von der allgemeinen Massenhaftigkeit mo-
derner Produktion in so starkem Maße bedrüngt sein, wie die Geschichte. Nicht nur,
daß sich in ihrem Bereich zugleich ein Dilettantismus betätigt, den zahllose Über-
gänge näher mit der Forschung verbinden als anderswo; sondern auch die Fach-
literatur gleicht einem Strom von fast unübersehbarer Breite. Diese Flut von Ver-
öffentlichungen ist zum guten Teil aus der Weiträumigkeit des geschichtlichen Stoffes
und seiner komplexen Natur zu erklären. Sie wird aber noch gesteigert durch eine
positivistische Neigung der Fachwissenschaften, mit der man gerade geschichts-
wissenschaftlich aus der Not des Stofflichen methodologisch eine Tugend gemacht hat.
Denn während weltanschaulich der Positivismus längst überwunden scheint, zeigt
die ihm zugehörige Wissenschaftsorganisation eine erstaunliche Kraft der Beharrung.
Es ist das moderne Spezialistentum, das sich von diesem Geist des Positivismus nährt,
der nachgerade die Geschichtswissenschaft von ihrem eigentlichen Ziele, Geschichts-
schreibung zu sein, immer mehr abdrängt. Denn schon ist ein Zustand erreicht, dem-
zufolge sich der Fortschritt des Faches immer mehr auf die Einzeluntersuchung
, und dem entspricht der vorherrschende Typus einer nach Spezial-
disziplinen differenzierten Kleinliteratur, in der sich die Menge der Veröffentlichungen
und die Verengerung der Themen wechselseitig verstärken.
Nun wäre es zwar utopisch, die verfeinerte Forschungsweise, die durch eine solche
Vielgliedrigkeit der Arbeitsteilung einmal erreicht ist, wieder rückgängig machen zu
172 Kritiken
wollen. Denn es steht außer Frage, daB sie an sich der Mannigfaltigkeit der geschichts-
wissenschaftlichen Aufgaben und der Verschiedenheit ihrer Lósungsmethoden noch
am ehesten gerecht wird, wie sehr sie auch dazu geführt hat, die Einzelprobleme zu
verabsolutieren. Wohl aber erwächst aus dieser Lage die Aufgabe, dem Forscher die
Beherrschung des Literaturmaterials, an dessen wachsender Ausdehnung die eigene
Empirie notwendig scheitert, durch eine besondere Technik zu gewährleisten: eine
Aufgabe, der die geschichtswissenschaftliche Bibliographie ihre Notwendigkeit und
ihre Bedeutung verdankt. Hatte sie ursprünglich den Zweck einer einführenden Weg-
weisung, eines bloßen Nachschlagewerkes, so ist aus diesem bedarfsmäßigen Behelf
inzwischen die Pflicht zu einem Rechenschaftsbericht entstanden, den die Fachwissen-
schaft vor sich selber ablegt und der sich heute als unentbehrliches Glied dem fach-
lichen ProduktionsprozeB unmittelbar einfügt, wie die Edition von Quellen auch.
Daraus erhellt zur Genüge, welcher Wert dem eingangs genannten bibliographischen
Instrumentarium zukommt, das zum Rüstzeug eines jeden gehórt, der ernstlich an
dem Gedeihen der geschichtswissenschaftlichen Studien interessiert ist.
Es war eine Tat, daB man sich trotz der Not der Zeit kurz nacheinander ent-
schloß, sowohl die Jahresberichte als auch die Quellenkunde der deutschen Ge-
schichte zu neuem Leben zu erwecken. Handelte es sich dort um die Wiederaufnahme
der alten Jastrowschen Jahresberichte, die 1913 mit dem 36. Bande ihr Erscheinen
eingestellt hatten und die nach dem Kriege der dankenswerte Versuch von Loewe und
Stimming (,, Jahresberichte der deutschen Geschichte“, Jg. 1—7, 1918—1924,
Breslau 1920ff.) nur notdürftig zu ersetzen vermochte, so war von noch größerer
Tragweite eine Verjüngung des Dahlmann-Waitz, der seit nunmehr einem Jahr-
hundert immer wieder wie ein Phónix aus seiner Asche emporsteigt und den zuletzt
(1912) die Tatkraft und das organisatorische Geschick Herres neu aufgelegt hatten.
Ebenso erfreulich ist daneben der Beweis eines wiedererstarkten Willens zu inter-
nationaler Zusammenarbeit, wenn sich diesen beiden deutschen Standardwerken das
derzeit von R. Holtzmann als Vorsitzendem geleitete Unternehmen des Internatio-
nalen Kommitees der Geschichtswissenschaften anreiht, um die sog. nationalen Bi-
bliographien und damit auch die deutschen Jahresberichte nach der Seite der Staats-
und Vólkerbeziehungen zu ergünzen. Dieses Internationale Jahrbuch liegt zur
Zeit im zweiten Bande vor, der sich dem ersten an Umsicht, Sorgfalt und Gediegenheit
würdig zur Seite stellt. Über die mühsame Vorarbeit zu dieser internationalen Biblio-
graphie und über ihre Bedeutung ist in dieser Zeitschrift schon ausführlich gehandelt
worden (HV. 26, 1931, S. 633ff.), so daß sich jetzt eine weitere Empfehlung erübrigt,
zumal, da wesentliche Änderungen in der Anlage des Ganzen erst für den nächsten
Jahrgang vorgesehen sind.
Welche Schwierigkeiten den beiden deutschen Plänen zunächst im Wege
standen und wieviel Instanzen neben der Notgemeinschaft der deutschen Wissen-
schaft das Verdienst gebührt, daß schließlich doch das Werk gelungen ist, davon
kónnen das Vorwort der Herausgeber Brackmann und Hartung zum ersten Bande
der Jahresberichte (Jg. 1927) und die Einleitung Haerings zum Inhalts- und Register-
teile des Dahlmann- Waitz einen hinreichenden Eindruck vermitteln. Hier muß es
genügen, neben dem Verlag den Herausgebern und ihrem Stabe von Mitarbeitern im
allgemeinen zu danken: jenem, daB er das Risiko der Drucklegung auf sich genommen
und der Ausstattung der Bánde alle erdenkliche Mühe geschenkt hat, und diesen für
die entsagungsvolle Hingabe, mit der sie Zeit und Kraft in den Dienst der Allgemein-
Kritiken 173
heit gestellt haben. In besonderem Grade gilt das für den Gesamtredaktor der Quellen-
kunde, dessen Freude am Werk sich sichtlich an dem Übermaß von Hemmnissen
verzehrt hat, die sich der Verwirklichung seiner ursprünglichen Idee einer moderni-
sierten „bibliographie raisonnée“ (Haering, Die Zukunft des Dahlmann- Waitz,
HZ. 136, 1927, S. 266ff.) entgegentürmten und von dessen persönlichem Anteil
an dem Abschluß des Ganzen man zu sagen versucht ist: inexsuperabilibus vim
attulit.
Was nun die Jahresberichte für deutsche Geschichte im einzelnen an-
geht, die mit der Literatur von 1925 eingesetzt haben und damit den AnschluB an
das Provisorium von Loewe-Stimming wahren (der jüngste sechste Band umfaßt
bereits die Literatur von 1930), so seien zu ihrer Charakteristik noch einige allgemeine
Bemerkungen verstattet. Während sich das alte Unternehmen das niemals erreichbare
Ziel gesteckt hatte, das Gesamtgebiet der Weltgeschichte zu umschließen, verzichtet
die neue Reihe von vornherein darauf, die Literatur zur Geschichte des Auslandes
einzubeziehen. In diesem Punkte greifen, wie schon gesagt, die deutschen Jahres-
berichte und die International Bibliography of Historical Sciences organisch inein-
ander. So beschränkt man sich deutscherseits grundsätzlich auf die deutsche Ge-
schichte, natürlich unter Einbeziehung auch der nicht in deutscher Sprache verfaBten
Publikationen. Freilich enthält das Internationale Jahrbuch nur eine Titelbiblio-
graphie und läßt sich insofern mit dem deutschen Verfahren nicht recht vergleichen.
Denn dessen einzigartiger Vorzug beruht auf der Vereinigung von Titelregistrande
und kritischem Literaturbericht, und zwar ist — im Gegensatz zu Jastrow und sehr
zum Vorteil handlicher Benutzung — der Referatteil von den bibliographischen An-
gaben räumlich getrennt worden, neuerdings (mit dem 6. Jg.) sogar soweit, daB die
Bibliographie auch zeitlich früher erscheint. Auf diese Weise bleibt den Referenten
ein größerer zeitlicher Spielraum, dessen sie bei den heutigen Schwierigkeiten der
Literaturbeschaffung unbedingt bedürfen, während für die bloßen Literaturangaben
die Spanne zwischen Berichts- und Erscheinungsjahr nach Möglichkeit verkürzt wird.
Der Textteil nun, dessen Ausdehnung zum Umfang der Bibliographie etwa im Ver-
hältnis 5:1 steht, bildet eine fortlaufende Darstellung zur jeweiligen Jahresliteratur,
gegliedert nach stofflichen Einheiten, und stellt so im ganzen ein Magazin der deutschen
Geschichte dar, das der Forschung dazu verhilft, trotz der Fülle der Spezialunter-
suchungen die Orientierung im großen zu bewahren und dessen Anschaffung auch dem
einzelnen Besitzer reichlich lohnt. Das Vorbild dafür hatte neben dem Jastrowschen
Muster die „Mittelalterliche Geschichte“ von Hampe gegeben, ein kritisches Sammel-
referat über die in den Jahren 1914—1920 erschienene Literatur des In- und Aus-
landes zu diesem Thema (= Wissenschaftliche Forschungsberichte, hrsg. von Hönn.
VII. Bd. Gotha 1922). Die Beiträge selbst stammen aus der Feder von weit über
siebzig berufenen Kennern der betreffenden Spezialgebiete und ersetzen in ihrer Ver-
einigung, wenn man so will, eine vollständige wissenschaftliche Bibliothek von
höchster Zuverlässigkeit und Kompression. Im Hinblick darauf kann man besonders
auch den Geschichtslehrern, denen an der Fühlung mit den Fortschritten ihres Fach-
gebietes gelegen ist, und den Fachbibliotheken an den höheren Schulen den Bezug
aufs wärmste empfehlen, zumal in der heutigen Zeit, wo der Kauf von Einzelver-
öffentlichungen und vollends von größeren Werken immer schwieriger wird und wo
der Ausbau einer eigenen ausreichenden Büchersammlung für die meisten zu den
frommen Wünschen gehört. |
174 Kritiken
Um eine Vorstellung von dem inhaltlichen Reichtum der Forschungsberichte zu
geben, sei noch kurz die Anlage des letzten 6. Bandes nach dieser Seite gestreift. Ein
allgemeiner Teil (S. 95—145) befaBt sich mit der neueren deutschen Geschicht-
schreibung und den historischen Hilfswissenschaften, unter denen dankenswerter-
weise auch die mittellateinische Philologie mit einer selbstándigen Sparte vertreten
ist. Daran schließen sich, nach Epochen gegliedert, Referate über allgemeine deutsche
Geschichte in chronologischer Abfolge (S. 146—258), die mit der Vorzeit und Früh-
geschichte beginnen und bis 1919 führen. Darauf folgen die Berichte zu den einzelnen
Zweigen des geschichtlichen Lebens (S. 259—497), und zwar unter den Gesichts-
punkten: Rechts- und Verfassungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Kirchen- und
Kirchenverfassungsgeschichte, sowie allgemeine Geistesgeschichte und Staats-
anschauungen. Dazwischen schieben sich außer der Territorialgeschichte (S. 336 bis
497), die einen eigenen Abschnitt bildet, noch zwei besondere Gruppen von Beiträgen,
die der deutschen Geschichte in slavischen und südosteuropäischen Sprachen (S. 498
bis 520) und dem Auslandsdeutschtum (S. 521—610) gewidmet sind, dessen Ge-
schichte mit Recht eine besonders pflegliche Berücksichtigung findet. Leider hat es
den Anschein, als kónnten wirtschaftliche Nóte die Fortführung des Werkes in dieser
jetzigen Form gefährden, und es wäre im Interesse der Forschung dringend zu
wünschen daB sich dennoch Mittel und Wege finden, ein Unternehmen aufrecht-
zuerhalten, das ebenso fachlich unentbehrlich ist, wie es sachlich zum Ansehen der
deutschen Wissenschaft im Auslande beiträgt.
Was zum andern die Neuauflage des Dahlmann-Waitz anlangt, auf den in dieser
Zeitschrift (HV. 26, 1931, S. 890) bereits mit einer empfehlenden Vornotiz verwiesen
worden ist, so hat die beste Kritik des Werkes der Herausgeber Haering in den ein-
leitenden Bemerkungen (S. V—X) vorweggenommen. Es wäre müßig, Mängel hier
nochmals zu erwähnen oder zu unterstreichen, auf die das eigene Vorwort, gestützt
zum Teil auf recht bittere Erfahrungen und in Vorsorge einer künftigen Neubearbei-
tung, bereits nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, und zwar mit einem über-
legenen Freimut, der alles Besserwissen von vornherein entkräftet. Und wenn der
Herausgeber seine Ausführungen mit dem Ausdrucke der Hoffnung schließt, man
möchte seinem und seiner 54 Mitarbeiter Versuch, den alten Dahlmann-Waitz durch
strenge Wirtschaftlichkeit und mutiges Zugreifen in heutiger Notzeit wieder flott zu
machen, die Anerkennung ehrlichen Strebens nicht versagen, so ist das sicherlich der
mindeste Dank, den jeder diesem Denkmal deutschen Gelehrtenfleißes abstatten wird.
Vor allem darf eine gerechte Würdigung die finanziellen und die technischen Schwierig-
keiten nicht aus dem Auge verlieren, die eine völlig befriedigende Vollendung des
Werkes von vornherein in Frage stellten. Jene zwangen die Mitarbeiter dazu, die
Literatur von dreißig Jahren nachzutragen, ohne dabei den äußeren Umfang der
alten Auflage wesentlich überschreiten zu dürfen. Diese lagen in dem Mangel aus-
reichender bibliographischer Vorarbeiten und in den heutigen Hemmmnissen der
Materialbeschaffung begründet:-erschwerende Umstände, die wohl niemals dermaßen
gehäuft und so unüberwindbar gewesen sind, wie bei diesem ersten Versuch, die
Literatur der Kriegs- und Nachkriegsjahre systematisch zu erschlieBen. Wer die
Wunden kennt, die die jahrelange Abschnürung Deutschlands vom Ausland und die
fortschreitende Verknappung der öffentlichen Mittel für wissenschaftliche Zwecke
den deutschen Bibliotheken geschlagen haben, begreift ohne weiteres, daß diesmal
auch der redlichste Wille zu Vollständigkeit und Genauigkeit gelegentlich scheitern
Kritiken | 175
mußte. Doch fehlt es nicht an Lücken, die man gleichwohl mit einiger Verwunderung
feststellt. Um für die Zukunft solchen wirklichen Desideranda vorzubeugen, wäre es
angebracht, wenn sich die einzelnen Benützer beim Gebrauch der neuen Auflage ent-
schlössen, entsprechende Notizen aufzuspeichern und für die nächste Bearbeitung
bereitzustellen. Ja, es wäre vielleicht zu erwägen, ob man nicht überhaupt eine
offizielle Sammelstelle für Nachträge, Ergänzungen und Reformvorschläge zur
Quellenkunde einrichten sollte, gewissermaßen ein Archiv des Dahlmann-Waitz, für
das die Erfahrungen Haerings und seiner Mitarbeiter einen wertvollen Grundstock
abgeben könnten. Das böte am ehesten die rechte Grundlage für die künftige Dis-
kussion sowohl der Anlage des Ganzen, als auch der Ausgestaltung der einzelnen
Teile und ihres Verhältnisses zueinander.
Daß eine solche grundsätzliche Revision vonnöten ist, zeigt die innere Unaus-
geglichenheit der jetzigen Auflage und mag noch in einem Einzelfalle näher dargetan
werden, der schon um deswillen erhöhte Aufmerksamkeit verdient, weil er vielleicht
zugleich einen Ausweg aus der Inhaltsüberlastung aufzeigt, die schon in der vorigen
Auflage bestand.
Es gibt da einen Abschnitt (VIII) im Allgemeinen Teil, der die Geschichte der
Erziehung, des Schulwesens und der Wissenschaften behandelt und dessen Auf-
schwellung mit heterogenen und peripheren Titeln wohl kein Historiker ohne ein
leises Kopfschütteln betrachten wird. Da findet man auf nicht weniger als 12 Seiten
all und jedes zur Geschichte der Pädagogik und der unterrichtlichen Praxis, ohne daB
man die notwendige Beziehung auf die deutsche Geschichte noch begriffe. Da steht
1. B. der Skeptizismus in der Philosophie von Richter (3630) oder Willmanns Didaktik
als Bildungslehre (3546) im Großdruck neben der geschichtlich weit ergiebigeren
Schrift von Specht über das mittelalterliche Unterrichtswesen, die noch dazu im
Kleindruck untergeht (3549). Da wird u.a. eir Quellenbuch zur Geschichte des
Lyzeums in Löbau (3518) eigens genannt; da finden sich Handbücher für den latei-
nischen Unterricht (3560) und für das höhere Mädchenschulwesen (3553), ja sogar
für Heilpädagogik (3489), und selbst Hinweise auf die Konversationslexika von
Brockhaus, Meyer und Herder fehlen nicht. Ähnlich ist es um den Abschnitt XI über
Musikgeschichte bestellt. Denn man darf wohl füglich zweifeln, ob ein Reallexikon
der Musikinstrumente (3994) oder Aufsätze zum deutschen Männergesang (4012) oder
selbst die Briefe Max Regers (4113) in einer Quellenkunde der deutschen, Geschichte
unentbehrlich seien, wenn man nicht konsequenterweise aus dem Dahlmann- Waitz
eine Titelenzyklopädie von mehreren Bänden in der Stärke des jetzigen herstellen
will, in denen dann auch die Anglistik und Romanistik neben der mittellateinischen
Philologie die Beachtung finden müßten, die ohnehin der größeren allgemeingeschicht-
lichen Sachnähe gerade der philologisch-literarhistorischen Disziplinen weit besser
entspräche, als ihre aufs äußerste beschränkte, gelegentliche und räumlich zer-
splitterte Berücksichtigung in der jetzigen Gestalt des Werkes. Wenn man daher
überhaupt an eine Umfangsverringerung denkt, so wären wohl Seitentriebe in der
Art der Kapitel VIII und XI in erster Linie zu beschneiden, deren Inhalt und Aus-
dehnung sich mühelos durch wenige Hinweise auf anderweitige Orientierungsmóglich-
keiten über die wichtigste Literatur der betreffenden Fächer erheblich einschränken
lieBen. Das soll kein Tadel an den Bearbeitern der jüngsten Auflage, geschweige denn
ein Vorwurf gegen den Herausgeber sein. Zu solchen einschneidenden Reformen war
diesmal ohne Zweifel weder Zeit noch Móglichkeit gegeben. Aber vielleicht liegt in
176 Kritiken
den obigen Feststellungen die berechtigte Mahnung, doch einmal grundsätzlich zu
erwägen, ob das mehr oder minder zufällig bedingte Wachstum, das das Werk in dem
Jahrhundert seines Bestehens genommen hat, nicht die Gefahr einer Hypertrophie
der Randgebiete heraufbeschwórt, die der Architektonik des Ganzen und der eigent-
lichen Bestimmung des Werkes abträglich ist. Gewiß sind Zutaten von Entbehrlichem
oder minder Wichtigem an sich noch nicht schádlich, aber sie kónnen es werden, wenn
dadurch die Aufnahme von Unentbehrlichem oder vergleichsweise Wichtigerem be-
einträchtigt wird. Dieses Mißverhältnis dürfte in der jetzigen Auflage und eigentlich
schon in der vorigen in ziemlich erheblichem Maße vorliegen. Es ist in dieser Hinsicht
eine Menge Eventualliteratur mitgeschleppt worden, die sich mit der deutschen Ge-
schichte nur sehr entfernt berührt und die unnötig Platz wegnimmt, da sie in praxi
kaum jemand gerade im Dahlmann- Waitz suchen wird.
Roy Joseph Deferrari und James Marshall Campbell: A Concordance of Pru-
dentius. [Published by the Mediaeval Academy of America, Publication
Nr. 9.] Cambridge, Massachusetts 1932. VIII u. 833 S. 89. 12,50 $.
Eine Konkordanz! zu Pr., die jedem, der sich um das Verständnis des schwierigen
Dichters bemüht, eine rasche und sichere Hilfe für alle sprachlichen Fragen gibt,
ist unbedingt willkommen. Denn die eigenartige Ausdrucksweise des Pr. wird durch
den kurzen ‘Index verborum et elocutionum', den Bergman seiner Ausgabe an-
gefügt hat, nicht genügend erschlossen. Und da Pr. einen einmal formulierten Ge-
danken gern an anderer Stelle wiederholt oder variiert und überhaupt eine zu einem
bestimmten Zwecke geprägte Wendung oder Verbindung? in ähnlichem Zusammen-
hange auf dieselbe oder doch ähnliche Weise wieder anzubringen pflegt, so kann eine
Konkordanz, die uns einen Überblick über das gesamte Sprachmaterial des Dichters
verschafft, sowohl für die Einzelinterpretation wie für textkritische Probleme und
darüber hinaus für ein wirkliches Verständnis der Diktion und somit des Dichters
selbst von größtem Nutzen sein.
Die „Mediaeval Academy of America‘ hat nun auch für Pr. gesorgt. Sie hat als
Nr. 9 ihrer Publikationen durch Deferrari-Campbell ein umfangreiches Werk von
über 800 Seiten erscheinen lassen, das analog der Boethiuskonkordanz (Nr. 1 der-
selben Reihe) den gesamten Sprachschatz des Dichters in streng alphabetischer
1 Ich verwende folgende Abkürzungen: C. = Cathemerinon, A. = Apotheosis, H. =
Hamartigenia, Ps. = Psychomachia, c. S. = contra Symmachum, P. = Peristephanon, D. =
Dittochaeon. Außerdem prf. = praefatio.
* Z. B. immanis: an den 7 St. wird es dreimal (c. S. 1 prf. 4; 1, 469; 2, 291) von populi,
zweimal vom lupus (Ps. 705; P. 5, 412), also in festen Verbindungen, gebraucht. lavari be-
gegnet nur zweimal in der stehenden Wendung ‘de fonte lavari' (A. 687; D. 132) als Hexam.
Schluß. progenies ist fünfmal verwendet; davon viermal als acc. sg. im Anfang eines Hexam.
(A.998; H. 574.599. 636). plenus hat von den 4 abl., mit denen es vorkommt, dreimal ‘deo’
bei sich (daneben A. 831 gen. del). loquar steht an drei von den 5 St. in der Wendung quid
loquar’ (H. 230; P. 1, 112; 2, 74). Die 24 Fälle von ‘male’ zeigen eine auffallende Vorliebe für
male als Negation vor Adi. (elfmal!), davon nach klass. Mustern: male pertinax prf. 14 (Hor.
carm. 1, 9, 21; fehlt im Ind. Imitationum bei Bergman); male sanus H. 93; Ps. 203 nach Verg.
Aen. 4, 8 (Hor. epist. 1, 19, 3; Ov. met. 3, 474; schon Cic. Att. 9, 15, 5); male pinguis H. 217
nach Verg. georg. 1, 105 (fehlt bei B.). Vgl. über diesen Typus Wackernagel, Syntax II 255;
J. B. Hofmann, Umgangsspr. 145; ders. Syntax 643. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren;
für die Beurteilung prudentianischer Diktion sind sie wichtig.
Kritiken 177
Reihenfolge darbietet. Die Bearbeiter haben sich bemüht, durch grundsätzliches
Ausschreiben der Zitate zugleich eine Art „Lexikon-Ersatz“ zu geben, da sich der
Benutzer im ausgeschriebenen Zitat ja leicht eine Vorstellung von der Bedeutung
und Verwendungsart des betr. Wortes machen kann. Die bloßen Ziffern? werden
lediglich da geboten, wo es sich um allzuhäufige „Allerwelts wörter“ wie Copula,
Praepp., Partikeln, Konjunktionen, Pronom. u. dgl. handelt (ebenso die Formen
von esse). Man wird das Bestreben der möglichst vollen Zitierung nur begrüßen,
vorausgesetzt, daß die Sache im Einzelnen auch sinngemäß und zuverlässig ge-
macht ist.
Gleich ein paar Worte zur Anordnung: Die Alphabetisierung ist, wie etwa
bei der Boethiuskonkordanz, übertrieben äußerlich. Jedes Wort ist nach seiner
rein zufälligen, geschriebenen — oder besser: nach der bei Bergman „gedruckten“
Form eingeordnet. Schon dies macht das Auffinden eines Lemmas unnötig kom-
pliziert. So findet man z. B. für 'ire' zunächst auf S. 208 eam (nicht acc. sg. f. von ist),
eat; dann folgen S. 216 eundum, -do, eunt, euntem, -tis; weiter unter I S. 309 i,
ibant, ibat, ibimus, ibit, ibitis, ibo. Diese Reihe wird unliebsam unterbrochen durch
‘ibi’ adv. und noch mehr dadurch, daß zwischen ibimus und ibit ausgerechnet ibis
= „Vogel Ibis‘‘ erscheint, das wegen des lautlichen Zusammenfalls mit ibis „du
wirst gehen" die Abfolge der ire-Formen empfindlich stört. Weiter steht S. 315
ganz versteckt hinter der ima-imum-Reihe ein imus, das man auf den ersten Blick
für nom. sg. m. imus halten wird, das sich aber bei n&herem Zusehen als 1. pl. praes.
„wir gehen" entpuppt; S. 349 kommen endlich die ir-Formen (ire, iret) und S. 851
ito, itur, ivit. Man muB also rund 150 Seiten wälzen, bis man nur alle Formen des
Wortes ire, das zufällig über sehr verschiedene lautliche Formen verfügt, gefunden
hat. DaB eine solche Anordnung dem Benutzer die Arbeit unnótig schwer macht
und viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als es eine praktische Konkordanz tun
würde, dürfte einleuchten.
Aber damit nicht genug! Die Bearbeiter sind in der äußerlich-mechanischen
Alphabetisierung noch weitergegangen — sehr zum Nachteil des MIETEN wie man
sofort erkennen wird.
* Vgl. Vorwort 8. VIII. Konsequent sind die Herausgeber allerdings nicht verfahren:
so sind z. B. ‘ob’ und pro' ausgeschrieben; ab, ad, ex, in u. a. nicht. Von *hic' ist der gen. pl.
horum in vollen Zitaten gegeben, während die übrigen Formen durch Ziffern ausgedrückt sind.
Von den qui-Formen ist quem durchweg mit Zusammenhang zitiert, ebenso quas; nicht aber
quod oder quos, obwohl letzteres seltener ist als quem! ‘hinc’ mit seinen wenigen Stellen ist
durch Zahlen, ‘inde’ trots seiner Häufigkeit durch volle Zitate aufgeführt. nos, vos sind in beiden
gleichlautenden Casus im Zusammenhang gegeben, ego-me, tu-te dagegen nur mit Ziffern, trotz-
dem etwa 'ego' weit seltener ist als 'noe'.
* Wie ängstlich die Herausgg. am Bergman'schen Text hängen, mögen u. a. auch folgende
Fälle zeigen: Überall, wo im Text eine notwendige Interpunktion oder sonst ein Druckzeichen
steht, haben es die Bearbeiter der Konkordans aufgenommen, auch dann, wenn es im Zitat ab-
solut keinen Sinn hat und nur störend wirkt. So etwa 8.21 agnosce: Da das Zitat P. 10, 546
eine Rede abschließt, so hat es im Text natürlich ein ,,Schlu8-Gánsefü&chen". Die Herausgg.
drucken es mit ab und setzen: ‘agnosce, qui sis, vince mundum et saeculum!“ So was lat oft
anzutreffen. 8.191 doctores: weil im Gesamtzusammenhange der Vers als Parenthese fungiert,
also zwischen „ Gedankenstriche'' gesetzt ist, so findet man auch bei D.-C.: '— nam totidem
doctores misit in orbem — (A. 1006), was doch keinen Sinn hat. Wenn ein best. Lemma im
Text bei B. zufällig einen neuen Abschnitt einleitet, also mit „, großem“ Anfangsbuchstaben
gedruckt ist, dann setzen die Herausgg. das Lemma ebenfalls ,,gro8'', als ob es sich um ein
Nom. propr. handelte; so s. B. 8. 68 Bratteolas', 8. 76 ‘Caligo’ u. o.
Histor. Vierteljahrsebrift. Bd. 28, H. 1. 12
178 Kritiken
Erstens haben sie sich so eng an den Text von Bergman gehalten, daB sie
auch jede orthographische Kleinigkeit des letzten Editors für verbindlich er-
achtet und daher jedes Wort in der von B. gebotenen Schreibform aufgenommen
haben. Und zwar so schematisch, daB sie an sich gleichlautende Formen immer dann
suis locis ansetzen, wenn sie in B.s Text verschieden geschrieben sind. Das ver-
ursacht ein nochmaliges ZerreiBen zusammengehöriger Wörter und macht das
Ganze noch einmal so kompliziert, als es infolge der rein mechanischen Anordnung
schon geworden ist. Man muB also nicht nur dem Alphabete nach die einzelnen
Formen eines best. Lemmas zusammensuchen, man hat jetzt vielmehr noch die
Aufgabe, auch alle eventuellen Schreibformen nachzuschlagen, da bei B. ja oft ein
und dieselbe Wortform verschiedene Orthographie hat. Wie schwerfüllig dadurch
das Werk geworden ist, mögen folgende Fälle dartun:
Es finden sich: adtigerat, adtigit: attigerat, attigit; adtrita, -is: attrita, -am ;
aruspice: aber haruspex; commisit, -ssa: conmiserat, -misit; despuit: aber dispuat,
-enda, -ite; destruendis, -it: aber distructa bis distruet; efybo, -os, -us (je einmal):
aber ephebum (einmal), ephybi (zweimal) ephybis und ephybum (je einmal);
eremi: heremi; eri, erile, -li: aber herilem; Eva: Evva; exp-: exsp-; exst-: ext- (also
z. B. exstat: aber extet; exstincto: aber sonst alles unter extinct-, exting-); Farii,
Farios: aber Pharon! frivola (zweimal): gleich darauf einmal frivula. gluten bis
glutino (darunter auch abl. sg. glutine): aber einmal gluttine; 21mal haud (Ziffern;
ebenso sechsmal haudquaquam): doch einmal haut (mit Zitat); imb-: inb-; imm-:
inm-; locustis (einmal): lucustis (einmal); paelicem: aber pelice! Pafiam: aber
Paphiae! palfebra, -ae: aber palphebralibus (nie palpeb-); religio: rellig-; reliquiae:
relliq-; robora, -e, -is: aber robure! secius: setius! sepulchr-: sepuler-; sofia, sofistae,
sofistas (je einmal): aber ebenso je einmal sophiae, sophistas, sophistica! Je einmal
Stefanus und Stephanus. subc-: succ-; subf-: suff-; subm-: summ-; subpeditare,
subpeditat, subpetat: aber suppeditant! taetra bis taetrum (öfter): aber je einmal
teter, teterrima, teterrimi. Zweimal Thybris, einmal Tybris: aber Tiberina (zweimal)
und Tyberina (einmal)! transiliam, transilit, transiliunt: aber transsiliunt (einmal);
triumf-: triumph-; tropaea bis tropaeum: unmittelbar darauf tropea, eis, eum;
vaesana-, -i, vaesania, vaesano, us: aber vesaniam! u. a. m.
Hier ist die Alphabetisierung ad absurdum geführt. Denn, selbst wenn die
Herausgeber der Bergmanschen Edition so vertrauensvoll gegenüberstanden, daB
sie sich für berechtigt hielten, alles Textliche bis ins Kleinste hinein getreu zu über-
nehmen, so durften sie die ÁuBerlichkeiten doch nicht derart auf die Spitze treiben.
Selbst in diesem Falle hátten sie die gleichlautenden Wortformen unbedingt zu-
sammennehmen müssen. Hätte man dieselben unter einem Lemma vereinigt
(natürlich stets unter dem Lemma mit , normaler“ Orthographie), dann würde man
es nicht weiter als stórend empfinden, auch wenn unter den einzelnen Zitaten schlieB-
lich die betr. Wörter verschiedene Schreibungen nach Maßgabe der Edition von B.
aufwiesen. So aber, wie es D.-C. nun mit der alphabetgemäßen Ordnung gehalten
haben, ist es beinahe ein Ding der Unmóglichkeit, das Vorkommen eines Lemmas
sicher und bestimmt festzustellen. Wer kann denn vermuten, daB er etwa für
palpebra nicht unter palp-, sondern unter palf- und erst noch unter palph- nach-
suchen muB usw.? Eine Konkordanz hat in erster Linie praktisch zu sein.
Dies hier aber ist nicht nur unpraktisch, es ist auch geführlich, weil so die Sicherheit
des Auffindens nicht mehr garantiert ist.
Kritiken 179
Zweitens haben es D.-C. unternommen, die gleichlautenden Formen auch
noch grammatisch zu scheiden. Das hat wiederum eine unliebsame Vermehrung
der Lemmata und eine starke Unübersichtlichkeit zur Folge. Die einzelnen Wort-
formen werden dann abgeteilt, wenn sie äußerlich zwar gleich sind, aber verschiedene
grammatische Geltung haben. So wird z. B. 'caelesti' als Lemma dreimal angesetzt:
als abl.sg. m., dann ebenso f. und endlich n. Käme zufällig bei Pr. der gleich-
lautende dat. sg. vor, so ergäben sich unter Umständen wiederum drei Kategorien
und wenn ein adi. dann schließlich noch substantivisch verwendet wird (pl. n. z. B.),
dann wird wiederum in gleicher Weise verfahren. Den sachlichen Nutzen, der in
keinem Verhältnis zur Kompliziertheit dieser Methode steht, kann man nicht recht
einsehen. So bekommt das Adi. 'geminus' für die 22 St. nicht weniger als 13 Lem-
mata: nämlich gemina, -as, zweimal -i (gen. sg. m., nom. pl. m.), viermal -is (dat.
pl. m., abl. pl. m., dat. pl. f., abl. pl. f.), zweimal -o (abl. sg. m., ebenso n.), Os,
zum, us. Sogar die indeklinablen Zahlwórter werden derart abgetrennt, je nach
Casus und Genus der beigesetzten Subst. (z. B. sex 4 Lemmata; ‘septem’ gar 8
für die 9 Fälle seines Vorkommens usw.). Ja, selbst solche Wörter, die lediglich mit
Ziffern angeführt sind, erhalten mehrere Lemmata. Da aber in solchen Fällen
kein Wortzitat gegeben ist, so muß der Benutzer erst nachschlagen, bevor er über-
haupt eine Ahnung hat, worum es sich handelt. Als Beispiel für diese Gruppe
möge ‘se’ dienen: es hat 10 Lemmata! Nämlich: 1) acc. sg. m., 2) abl. sg. m., 3) acc.
pl. m., 5) acc. sg. f., 6) abl. sg. f., 7) acc. pl. f., 8) acc. sg. n., 9) abl. sg. n., 10) acc.
pl. n. Das mag noch angehen, allein als 4. Gruppe findet sich folgendes: H. 359'.
Schlägt man die Stelle (es ist die einzige) nach, dann liest man numquid equus,
ferrum, taurus, leo, funis, olivum in se vim sceleris... habebant'; d. h., da hier
sowohl Masculina wie Neutra als Subi. fungieren, konnte das Beispiel weder zu der
ersten (masc.) noch zur dritten (neutr.) Gruppe genommen werden und es blieb
nichts anderes übrig, als es in einer eigenen Kategorie unterzubringen. Man mag aus
der Art, wie ‘se’ behandelt ist, sich für alles weitere einen Begriff bilden. (Beiläufig:
Warum hat man die Praep. 'in' nicht nach acc. und abl. getrennt? Diese Zwei-
teilung ist doch sachlich durchaus gerechtfertigt.)
Doch wir würden uns schlieBlich auch noch mit diesen gewaltsamen ZerreiBungen
von Wortgruppen abfinden, wenn sie nicht hauptsüchlich dazu geführt hátten, daB
über das ganze Buch hin eine zahllose Menge von zum Teil peinlichen Fehlern
verstreut sind. Es ist nötig, wenigstens die wichtigsten Versehen namhaft zu machen.
Zuerst solche Fehler, deren Ursprung in der Nichtbeachtung der Prosodie
liegt: S. 13 advenit (2 St.): A. 601 perf.-vönit; P.1, 10 dagegen kurzes e-. Es
sind also zwei Lemmata nötig. S. 86 cärö „Fleisch“: H. 592; P. 10,845 lauten
cáró, wir haben es folglich mit dem adi. cärus zu tun! S. 158 decoris: Ps. 148 kurzes
-0-, von decus; P. 2, 226 aber lang, also decor! S. 256 fodit: A. prf. 14 ist perf.
(-0-); P. 10, 484 dagegen - (praes.). S. 270 fugit: c. S. 2, 511 langes -u-, also
perf. Übel ist S. 369 latere (2 St.): die erste, C. 2, 20 ist inf. praes. latöre, die
zweite (Ps. 673) aber abl. sg. von latus (latére)! S. 372 lavit: die 4 Stellen teilen
sich zu gleichen Teilen in praes. (lávit) P. 3, 190; 5, 230 und pert. (lävit) C. 7, 73;
Ps. 61. S. 376 levi (2 St.): P. 10, 986 kurzes -e- („leicht“); doch P. 11, 185 „glatt“,
weil levil S. 457 nitere (2 St.): C. 2, 63 inf. praes. nitére; aber P. 10, 741 imperat.
von niti (exemplum ad istud nitéré, o fortis puer)! S. 478/9 oblita-oblitum. Unter den
Formen von obliviscor (-itus) sind auch drei von oblino (oblitus) vereinigt, nämlich
12*
180 Kritiken
A. 822; P. 2, 378; 13, 57. S. 541 pläga (3): C. 12, 115 mit langem -a-; gehört folglich
als „Schlag“, „Wunde“ zu pläga (2). S.601 quiete: P.2, 63 'blande et quiete
efflagito' zeigt, daB es sich um adv. quiété (nicht abl. sg. von quies) handelt. Ebda.
ist unter quiétis (gen. sg. von quies) P. 5, 487 fälschlich aufgenommen; ‘quiötis
lapsibus' ist abl. pl. von quietus! S. 614 reduci (2 St.): C. 5, 104 kurzes -u-, also
von redux; aber P. 10, 914 inf. pass. redüci! Selbst so klare Verba wie röfert und
réfert sind verwechselt: von den 21 St., die unter refert gebracht sind (S. 614f.),
müssen 6 zum unpersónl. Verbum ré- zusammengenommen werden (A. prf. 55;
c. S. 2, 823 nec r.“; H. 641 nil r. wie Ps.550; P.7, 16 und endlich P. 10,119 ‘magni...r.').
S. 664 sedes (4 St.): P. 10, 223 ‘spectator horum pontifex summus sódés' zeigt, daB
wir nicht sēdēs „Sitz“, sondern die 2. sg. praes. von södeo vor uns haben! S. 739
teneri (5 St.): c. S. 2, 980 'seminis aut tenéri' usw., also gen.sg. von tener! Die
andern Formen inf. pass. tenéri! (stets Hex. ende: A. 811; Ps. 343. 662; c. S. 2, 70).
S. 793 vere (3 St.): c. S. 2, 977 *véré tepenti’ im Hex.-Schluß läßt doch wohl keinen
Zweifel übrig, daB wir es hier mit dem abl.sg. von ver (nicht adv. véré) zu tun
haben! S. 794 vertere (5 St.): Ps. 631; P. 10, 963 vertére, 3. pl. perf. (P. 10, 963
"timor ... et ira pectus in caliginem/vertöre’; wäre so auszuschreiben, nicht erst
von ‘ira’ ab, da der plur. des Verbs sonst nicht klar ist. Ähnl. s. u. S. 181 f.). S. 807
vincitur (3 St.): P. 9, 43 'vincitur post terga manus’; also von vincire! u. a. m.
Besonders zahlreich sind die Fülle, wo ein Zitat unter den falschen Casus
(falsche Verbalform u. ähnl.) geraten ist. Dafür ein paar Beispiele: S. 5 acies (3,
acc. pl.): P. b, 319 nom. sg. (,., Sehschärfe“ = ,,Auge"), also zu 1. S. 24 aliqua (1,
nom. sg.): Ps. 549; c. S. 2, 76 abl. sg. f.; es bedarf also eines neuen Lemmas. S. 50
artus: P. 5, 499 nom. pl., wieder neues Lemma nötig. S. 134 corpus (1, nom.): P. 10,
703 ist acc., somit zu 2. S. 158 decus (2, acc.): P. 14, 109 gehört als nom. zu 1. S. 246
figura (1, nom.): P. 12, 18 ist abl., zu 2. S. 323 induit: C. 7, 148 sicher praes. (146
placet, 147 spernitur, 150 spargit); es wäre somit eigens abzusetzen. S. 396 magi
(1, soll gen. sein): das Lemma ist zu tilgen, weil ‘magi’ hier ebenso nom. pl. ist, wie
in den sub 2 gebrachten Beispielen (C. 12, 28 cernunt periti interpretes regale vexil-
lum magi). S. 382 lingua (2, abl.): P. 10, 22 '*mé& lingu&' im Versanfang, kann
also nicht lang? sein; gehört zu 1 (dasselbe Zitat falsch z. B. bei mea, S. 409). S. 410
media (3, acc. pl. n.): c. S. 1, 463 'colla tyrannorum mediä calcemus in urbe'; medi&
als abl. zu 2 (nicht zu colla, was der Vers verbietet). S. 523 pedibus (2, abl.): D. 142
‘pedibus ... advolvitur Iesu’ ist dat. (man vgl. A. 456 ‘plantis Herculis advolvi',
was S. 541 richtig unter dat. steht, advolvi ebenso mit dat.: ‘aris’ H. 405; ‘tumulo’
* Der Fall ist typisch für die Art, wie die einzelnen Zitate oft ausgeschrieben werden
(s. u. 8. 181f.). D.-C. geben nur regale vexillum magi’, was irreführend Ist.
* ‘sum mutus ipse, sed potens facundiae mea lingua Christus luculente disseret’: gemeint
ist nicht „Christus wird mit meiner Z.. . erörtern“ (abl. instr.), sondern appositiv „Christus,
meine Zunge. Der Sinn Ist also: „ich selbst bin zwar stumm, aber Chr. ist meine Zunge;
er wird für mich deutlich reden." Daß dies richtig ist, beweist das Metrum: wäre mea lingua
abl. instr., dann würde erstens der II. Fuss spondeisch (lingu-|a* Christ|-us), was gegen die Jamben-
technik des Dichters verstößt (vgl. Philologus 87, 1932, 8. 252ff.) und man müßte zweitens
mea als Monosyllabon (durch gewaltsame Synizese) behandeln, damit man überhaupt einen
skandierbaren Trimeteranfang bekäme. Die Interpretation „mlt meiner Z.“ verbietet sich
folglich schon aus metrischen Gründen. Die Stelle ist übrigens bereits von Arevalo richtig
verstanden worden, der sie im Sinne von ‘Christus est mea lingua’ gegen frühere Verbesserungs-
versuche (z. B. mea signa) mit Recht verteidigt. Vgl. auch das unmittelbar folgende ipse ex-
plicabit' etc.
Kritiken 181
P. 9,5, was S. 46 u. 768 sub vocibus ebenfalls richtig eingeordnet ist. Vgl. Th. L.
L. II 897, 2. 9ff.). Das dürfte genügen.
Andere Fehler: S. 7 addere: P. 5, 288 ist imperat. pass. (neben exsurge), muß
somit ein eigenes Lemma haben (der gleiche Lapsus S. 103 cingere: C. 3, 27 ‘cingere
tempora' neben sperne, liga; S. 106 claudere: Ps. 92 neben occide, pete). Schlimmer
ist, daB S. 206 unter egerit (ago) auch P. 5, 204 spumas . .. frendens egerit’ steht.
Natürlich praes. é-gero! S. 213 esse: die einzige Form des inf. von edere „essen“
hätte doch abgetrennt werden dürfen (A. 353 'azymon esse’). S. 417 mercatus:
von den 3 Beispielen ist A. 710 subst. (acc. pl.); Ps. 534 und D. 17 sind part. perf.,
also müßte abgetrennt werden. S. 486 ollis liest man: angelus hanc hospes legem
praescripserat ollis' H. 730 (sc. Loth cum suis); darunter steht 'si numen ollis, numen
et porris inest’ P. 10, 265. Es sind also dat. pl. des Pron (,jillis") und der gleiche
Casus von olla , Topf“ verwechselt worden!
S. 547 pone: unter den 4 St. ist P. 5, 301 auffallend, weil pone hier = ,,depone",
also imperat. ist; die übrigen 3 Beispiele jedoch haben pone adv. „hinten“! Nicht
schön ist, daB S. 736 unter 'tempora' (1 und 2) auch die Fälle verzeichnet sind, wo
es sich um das andere Wort tempora — „Schläfen, Wangen“ (z. B. C. 3, 27; Ps.
30; c. S. 2, 1106) handelt. Und unter versus (S. 794) sind in einem einzigen Lemma
drei verschiedene Wörter vereinigt: 1) A. 1002 'sursum versus agit', folglich adv.
2) P. 9, 79 *emendes ... inspectos ... versüs' zeigt, daß hier acc. pl. des Subst.
versus gebraucht ist. 3) P. 12, 17 und D. 96 endlich sind part. perf. pass. von 'ver-
tere’. Selbst bei einem weit weniger abteilenden Verfahren hätten für versus drei
Lemmata gegeben werden müssen. Schließlich sei auf S. 827 ‘voluit’ verwiesen,
wo unter das perf. von ‘velle’ auch Formen von ‘volvere’ mit aufgenommen sind
(c. S. 1, 290; P. 5, 327; 14, 97); das kommt daher, daß u und v wie bei B. gleich
gedruckt werden (u). Und bei quacumque (S. 589) fehlt Ps. 447, da dieses Bei-
spiel auf S. 147 unter ‘cumque’ geraten ist. Es handelt sich um eine sog., Tmesis“:
qua se cumque fugax trepidis fert cursibus agmen', so daß infolge übertriebener
ÁuBerlichkeit die Stelle sinnwidrig verschoben wurde.
Was wir bis jetzt gesehen haben, nümlich eine viel zu mechanische Arbeitsweise,
das zeigt sich ebenso im Ausschreiben der Zitate. Wir haben schon oben S. 177
bemerkt, daß gegen das Bestreben, ein Zitat möglichst im Wortlaut anzuführen,
nichts einzuwenden ist. Der Wortlaut muß aber so gewählt sein, daß er sowohl die
grammat. Beziehung des Lemmas wie dessen Bedeutung klar hervortreten läßt und
den Benutzer der Mühe enthebt, jedesmal noch an den Text selber heranzugehen.
Ein sinngemäßes Ausschreiben kann ja schon gewissermaßen die „ersten lexi-
kalischen‘‘ Dienste tun.
Die Herausgeber achten aber offenbar mehr darauf, daß sie tunlichst ganze
Verse (oft noch längere Stücke) bieten, als daß sie das ausschreiben, was gram-
matische Funktion und Sinn verlangen. Ein weniger starres Festhalten an diesem
„Versprinzip“ hätte sowohl die Konkordanz wesentlich kürzer gemacht, als auch
die Beurteilung der einzelnen Gebrauchsweisen bedeutend erleichtert.
Einige Beispiele: S. 59 ausa (2): ausa sacerdotes domini, qui proelia forte
ductores primam ante aciem pro laude gerebant virtutum' Ps. 498. Wer verstehen
will, was in diesem Satze 'ausa' eigentlich zu tun hat, der muB den Text selber
heranholen. Denn jeder sieht sofort, daß alles, was auf ‘domini’ folgt, ein Rel.-Satz
zu sacerdotes ist und nichts für ausa aussagt. Die letzten 11 Worte sind überflüssig.
182 Kritiken
Schreibt man dagegen: (Avaritia, v. 481) ipsos temptare manu (v. 497) ... ausa
sacerdotes domini’, dann ist der Wortlaut einwandfrei gegeben; statt 14 Wörtern
kommt man mit 7 aus und erreicht erst noch, daB der Benutzer das Zitat ohne
Text versteht“. S. 42 ara (2, abl): mira loci pietas et prompta precantibus ara’
P. 11, 175. Jeder, der diese Stelle liest, wird konstruieren *prompta ara precantibus
(est) und sich wundern, warum dann ara unter dem abl. steht. Der Text befiehlt
folgende Ausschreibung: 'prompta precantibus ará spes hominum ... iuvat'; d. h.
„denen, die am Altar beten“. Zu verbinden ist folglich prompta . . . spes. Statt der
Worte mira loci pietas, die für ara belanglos sind, hátte spes gesetzt werden müssen.
S. 76 calculanda: nam calculanda primitus' P. 2, 131. Man fragt mit Recht „wer?“,
nämlich summula. Das Zitat wäre kurz und bündig calculanda ... summula; auf
nam und primitus kann man verzichten. S. 160 defluit: ‘vestis ad usque pedes
descendens defluit imos temperat' Ps. 634. temperat kann wegfallen; bringt man es
schon, dann muB man auch das Obi. (gressum ebda. 635) zusetzen; doch natürlich
hat es mit defluit nichts zu schaffen (derartige Fälle sind sehr häufig). S. 244 fida
(2, voc.): 'fida parens, habitus! equidem praedivite cultu inlustrata cluis' c. 8.
1,416. Die auf 'fida parens' folgenden Worte sind nicht nur ganz überflüssig, sie
sind auch unverständlich. Gemeint ist 'exue tristes ... habitus!’ Gerade dieses
Beispiel zeigt, wie mechanisch das meiste gemacht ist. S. 266 freni: 'Vix haec ille,
duo cogunt animalia freni' P. 11, 89. Da der Hexameter zu Ende ist, hört auch das
Zitat auf, obwohl freni in der Luft hüngt und 'vix haec ille' mit dem Lemma gar
nichts zu tun hat. Schriebe man: ‘duo ... animalia freni ignara’, dann wüßte jeder
Bescheid. S.544 plumigeram: 'vimina plumigeram seriem' C.3,44. Entweder
Plumigeram seriem' oder dann 'vimina pl.s.impediunt'! S. 754 trahi: 'Aegypti
per plana trahi glaebasque rigentes’ c. S. 2, 933. Man denkt, 'glaebas' hänge wie
‘plana’ von ‘per’ ab und man vermiBt das Subi. Zu schreiben wäre für 'trahi':
ne ... arida possint/Aegypti per plana t.' (glaebas ist Obi. zu *mollire' v. 934). Diese
paar Beispiele dürften hinreichend sein, um von der áuBerlichen Zitiermethode
eine Vorstellung zu geben?.
Sachlich nicht weiter zu beanstanden, dagegen sehr unpraktisch und raumver-
schwendend ist ferner die Tatsache, da8 die Herausgeber überall da, wo in einem
Zitat dieselbe Wortform zweimal begegnet, grundsätzlich das Zitat wiederholen.
So etwa S. 25 alius: non alius segetes et spicea farra subpeditat deus' c. S.2, 217;
unmittelbar darauf: non alius segetes (so, nicht segestes) ... subpeditat deus aut
alius dat musta racemis' c. S. 2, 218. S. 68 bonus: 'atqui nec bonus est nec con-
Warum übrigens dieses ausa als extra Lemma abgesetzt ist, weiß ich nicht; C. 6, 110
(füge sc. Charybdis’ = ‘Antichristus’ hinzu) und P. 6, 106 sind genau gleich und stehen zu
Unrecht unter ausa (1) allein. Die Auslassung der Subi. sowie der zu Adi. gehörigen Subst.
sind für die ganze Zitierweise charakteristisch: Meist, wenn das Subi. oder das Subst. aus dem
Vorhergehenden zu entnehmen ist, fehlt der für das Verständnis unbedingt nötige Zusats.
Ähnlich verhält es sich z. B. in entsprechenden Fällen mit den von Verben abhängigen Er-
gänzungen (Obi., Inf. u. dgl.).
* Vgl. vor allem noch 8. 381 inmanes: ‘inmanes placido dogmate seminans' c. 8. 1, prf. 4.
Niemand kann das konstruieren; das Zitat müßte, wollte man den Wortlaut von D.-C. be-
wahren, so lauten: (Paulus) Christum per populos ritibus asperis inmanes placido dogmate
seminans’. Man hätte also zwei ganze Verse und erst noch das Subi. aus v. 1 nötig. Tatsächlich
jedoch ist für inmanes nur per populos ritibus asperis Ii.“ wichtig; den abl. causae ‘ritibus a.’
darf man aber nicht weglassen. Vgl. auch o. 8. 180.
Kritiken 183
laudabilis ille, qui non sponte bonus’ H. 692; es folgt wörtliche Wiederholung mit
„H. 693“. S. 627 respicit: ‘non respicit ultra Loth noster’ H. 765 und non respicit
ultra Loth noster, fragilis sed coniunx respicit' H. 766. Diese Fälle sind unendlich
oft anzutreffenꝰ.
Nach diesen inhaltlichen und sachlichen Bemerkungen noch ein paar Worte
zum äußeren Bild: Sehr anerkennenswert ist die für eine Konkordanz unerläßliche
Totalität. Die Herausgeber scheinen hier, soweit meine Stichproben!® ein Urteil
gestatten, bis auf eine allerdings merkwürdige Ausnahme die Vollstündigkeit
erreicht zu haben. Bei dem oben charakterisierten Verfahren muB man diese
Tatsache gebührend würdigen; denn die Gefahr, daB infolge der gewaltsamen Zer-
reiBung zusammengehórender Wortformen die eine oder andere Stelle verlorenging,
war immerhin groß. Man darf also (unter der Einschränkung, daß unser Urteil
auf Stichproben basiert und unter Berücksichtigung dessen, was gleich über das
Fehlen eines ganzen Verses gesagt wird) die Konkordanz im Sinne der Vollstándigkeit
benutzen und bei einem bestimmten Worte der Überzeugung sein, daB man alle
Stellen aus Pr. vor sich hat.
Um so auffallender ist aber, daß der Vers Ps. 728/9 'sensibus in tuta valli
statione locatis’ nicht aufgenommen ist; unter keinem der 6 Kennwörter ist er mit
verzeichnet. Da D.-C. sonst nirgends auch nur den leisesten Versuch gemacht
haben, bei textlich problematischen Versen anzugeben, daß es die und die ver-
schiedene Lesart gibt!!, sondern einfach sklavisch ohne eine diesbezügliche Notiz
den Text von B. abdrucken, so ist nicht ersichtlich, aus welchem Grunde sie diesen
von B. zusammengezogenen Vers überhaupt weggelassen haben.
Ein weiterer technischer Vorteil ist ferner, daB die Stellenziffern mit ver-
schwindenden Ausnahmen genau sind. Ebenso ist der Druck im Ganzen zuver-
lässig. Daß in einem so umfangreichen Werke Druckfehler nicht zu vermeiden waren,
ist selbstverständlich. Ich stelle hierbei nur einige von denjenigen richtig, die ein
falsches Lemma verursacht haben und also das Nachschlagen erschweren:
S. 69 cacere (gleich das erste Wort von C): lies carcere (richtig im Zitat); gehört
nach S. 83 sub 'carcere'. S. 74 caenosa: lies caenoso, danach zu verschieben. S. 80
capias: lies copias, kommt nach S. 129 zwischen copia und copiis. Ebenda capillas:
lies capillos (in den Zitaten richtig), also nach capillo einzureihen. S. 87 castarum:
lies costarum (richtig Zitat); nach S. 136. S. 96 charis: lies choris (so Zitat), gehört
weiter nach unten. S. 108 cocata: lies coacta (so Zitat), kommt an 3. Stelle derselben
* Nicht weniger unpraktisch sind diejenigen Zitate, in denen zwei verschiedene Formen
ein und desselben Wortes vorkommen. So etwa 8. 71 caecorum: sed lumine cassis caecorum,;
caecos loquor, atra socordia quorum’ A. 126. Daran schließt das Lemma caecos, das mit genau
den gleichen Worten belegt ist. Für caecorum hätte (oculis) .. . lumine cassis caecorum’ genügt
(ohne ‘oculis’ undurchsichtig); unter caecos wäre ‘caecos loquor’ hinreichend gewesen. Beidemal
ist der halbe Rel.-satz, der kein Verb hat, überflüssig. Weiter etwa S. 191 docui/docuisse u. oft.
Konsequent wird allerdings auch hierin nicht verfahren; s. z. B. unter dic (S. 176), wo C. 9,83
und A. 348 je zweimal der Imperat. im gleichen Verse vorkommt und trotzdem das Zitat nur
je einmal aufgeführt wird.
30 Ich habe folgende Verse Wort für Wort nachgeprüft (durch eigene Verzettelung): C. 3
gans (205 V., katal. dakt. Tetram.); A. 321—350 (Hexam.); H. 952—906 (den Schluß d. hexa-
metr. Ged.); c. S. 2, 1—22 (Hexam.); P. 5, 1—40 (akatal. iamb. Dim.). Diese etwas mehr als
300 Verse aus versch.Gedichtarten dürften doch ein gewisses Urteil hinsichtlich Totalität erlauben.
' Das ist ein bedauerlicher Fehler; es hätte der Konkordanz nur genützt, wenn sie auch
wenigstens die wichtigsten Varianten aufwiese.
184 Kritiken
Seite. S. 216 fehlt nach eundem' das Lemma eundum' (P. 12, 26). S. 217 exanima:
lies examina. S. 235 fehlt nach fecerit' das Lemma fecero (P. 10, 140). S. 263
fragendum: kommt als frangendum (so Zitat) auf S. 264. S. 341 insouitum: lies
insolitum. S. 366 lannugine: lanugine. S. 407 masci: lies nasci (richtig Zitat), das
Lemma zu tilgen und die St. sub ‘nasci‘ S. 445 zu bringen. S. 410 medicata: lies
medicato. S. 565 primituum (auch im Zitat): lies *primitivum', gehört vor primitus.
S. 573 prodigio: lies prodigia (richtig Zitat), zwischen prodigam und prodigialia.
S. 613 lies statt redimere: redimire (so Zitat), nach 'redimicula'. S. 698 sperenda:
lies ‘spernenda‘ (richtig Zitat), hinter ‘sperne‘ einzureihen. S. 703 spuris: lies (wie
Zitat) 'spurcis'; kommt S. 702 vor 'spurcissima'. S. 710 suadere: Lemma zu tilgen,
gehórt S. 716 'sudare' (das Zitat richtig). S. 778 uridi: lies viridi (auch Zitat falsch);
kommt nach S. 813 zwischen ‘virides, viridi. S. 806 uigo: lies iugo, nach S. 357
(Zitat richtig). S. 832 lies vulpes statt vulpas!*. Endlich ist unter ‘supra‘ (S. 724)
die Zahl ,,P. 3, 60“ zu tilgen und als ‘super‘ auf S. 721 aufzunehmen: Überall, wo
das Zitat erscheint, liest man supra (bei astra, pararet, iter). Es handelt sich aber
um einen reinen Druckfehler bei B., den die Herausgeber nicht h&tten aufzunehmen
brauchen; ‘supra astra‘ konnte Pr. nicht schreiben (Hiat!) und er hat denn auch
sonst immer ‘super astra‘ (A. 197; c. S. 1,590; 2, 66. 868). Vgl. auch die früheren
Ausgaben.
Störend ist schließlich der Umstand, daß auf S. 417 nach mereri“ plötzlich die
alphabetische Ordnung unterbrochen ist: es folgen die Lemmata ‘mille‘ bis mira
(S. 420), dann kommen *meretricis* bis *militum' (S. 424) und hier schließen endlich
die auf mira folgenden Wörter an (‘mirabere‘ usw.). S. 420—424 müssen somit ent-
sprechend umgestellt werden.
Unsere Ausführungen zeigen, was man an der in Rede stehenden Pr. Konkordanz
hauptsächlich vermißt: eine sinngemäße Durcharbeitung des umfangreichen Sprach-
materials. Statt bloßer äußerlicher Registrierung des Stoffes hätte eine mehr geistige
Durchdringung, ein auch nur in den allerersten Bahnen sich bewegendes Interpre-
tieren das Werk zu einem weit besseren Hilfsmittel für jede Pr.-Forschung gemacht,
als es jetzt ist. Was wir jetzt besitzen, ist eine rein mechanische Aneinanderreihung
von Wortformen, die selber wegen der oben erörterten Umständlichkeit nicht einmal
rasch zu finden sind. Hätte man aber z. B. wenigstens nur jeweils die gleichlautenden
Verbindungen zusammengenommen, anstatt an dem starren Schema, innerhalb
eines jeden Wortes streng in der Reihenfolge der Schriften zu zitieren, festzuhalten,
so wäre sofort etwas für den Dichter besonders Charakteristisches (s. o. S.176, Anm.2)
herausgekommen und das Werk wäre so zu einem wichtigen Ratgeber prudentiani-
scher Diktion geworden. Dazu natürlich viel kürzer und praktischer.
!* Merkwürdig ist, daß sich manche innerhalb der Zitate auftretende Druckfehler öfter
an andern Stellen, wo die gleichen Beispiele unter anderm Lemma gebracht werden mußten,
wieder finden, aber nicht überall im betr. Zitat. So liest man z. B. 8. 416 unter mentes für
P. 1, 09 'stragulant' mentes usw.; der Fehler wiederholt sich 8. 425 bei miscent und bedaner-
licherweise auch 8. 708 im Lemma (es folgen: stragulant, stramenta, stramine und richtiges
strangulant) wie im dortigen Zitat; nicht aber 8. 663 unter sensibus. 8.271 fulcro (c. 8.1,
275) steht recumbantem'; dasselbe findet sich unter Iove (8. 354), aber nicht unter porgere,
medio und dem Lemma recubaptem selbst. 8. 337 inpube: P. 9, 26 ‘monuerant’ statt mouerant
= moverant; ebenso unter ira (8. 349) und vulgus (S. 830), nicht aber als Lemma (8. 437) und
unter metu (S. 422). Die drei Beispiele für viele. S. 25 ist übrigens unter 'alium' zweimal 'aliud'
(c. 8. 2, 847; P. 11, 215) geraten.
Kritiken 185
Wenn man also, um ein konkretes Beispiel zu bringen, in der angedeuteten
Weise verfahren wäre, dann würde das o. S. 184 zitierte ‘super astra‘ so aussehen:
nemo Cloacinae aut Eponae super astra deabus dat solium' A. 197 (c. S. 1, 590;
2, 66. 868; P. 3, 60); für jedermann wäre das Zitat verständlich, wenn es auf diese
Weise unter dem Stichwort ,astra' angeführt würe. Entsprechend würe dann unter
dem Lemma ‘super‘ das Wort astra“ zu sperren, woraus hervorginge, daß in allen
innerhalb der Klammer genannten Fällen ‘super‘ mit 'astra' verbunden ist usw.
Daß dieses Verfahren außerdem noch den Überblick erleichtert, ist klar.
Und würde endlich statt der Formenalphabetisierung nach der „Grundform“
gearbeitet, also statt der 13 Lemmata gemina-geminus (was als Typus gelten mag)
nur ‚geminus‘ angesetzt und unter diesem Stichwort nach Art des super-Beispieles
das ganze Material angeordnet, dann wäre ohne große Erschwerung der Ausarbeitung
ein Hilfsmittel entstanden, das ungefáhr die Mitte einnáhme zwischen der jetzt
vorliegenden Konkordanz und einem wirklichen Lexicon Prudentianum.
Vielleicht berücksichtigt die,, Mediaeval Academy of America“ diese grundsätz-
lichen Ausstellungen und verwertet sie in einer ihrer nächsten Publikationen. Sie
würde damit sicher den Dank aller ernten, die sich aus irgendeinem Grunde mit einem
der von ihr bearbeiteten Autoren abgeben. Aber auch so werden wir dankbar an-
erkennen, daß die Lücke, die mangels eines Pr.-Lexikons besteht, doch einigermaßen
ausgefüllt ist und daß wir in dieser Konkordanz ein Werk vor uns haben, das uns trotz
mancher Mängel in der Gesamtanlage wie im Einzelnen gestattet, den sprachlichen
Problemen des Dichters bequemer und sicherer nachzugehen, als es bis heute mög-
lich war.
München. Gustav Meyer.
Mankind, Sächsische Geschichten. Auf Grund des Textes der Scriptores
rerum Germanicarum und nach der Übersetzung von Reinhold Schottin
in der Ausgabe von W. Wattenbach. Neu übertragen und bearbeitet von
Paul Hirsch. Im Anhang die Schrift über die Herkunft der Schwa-
ben, hg. von W. Wattenbach, sowie Ibrähim ibn Ja'qfübs Bericht
über die Slavenlánder, neu übersetzt von Georg Jacob. 5. Aufl. Leipzig:
Verlag der Dykschen Buchhandlung, 1931. (Die Geschichtschreiber der
deutschen Vorzeit. In deutscher Bearbeitung hg. von G. H. Pertz (u. a.].
Zweite Gesamtausgabe. Fortgesetzt von Karl Brandi. Bd. 33. 5. Aufl.)
XLIII, 208 S. 8. AA 8,55; geb. AM 9,90.
Noch vor der in Vorbereitung befindlichen 5. Ausgabe des Werkes Widukinds
in den Scriptores rerum germanicarum, die Paul Hirsch übernommen hat, ist von
demselben diese 5. Ausgabe der wissenschaftlichen Übersetzung erschienen.
Die Worte des Untertitels „Neu übertragen und bearbeitet‘ erfahren ihre
Aufklärung auf S. XXXVIII der Einleitung: „Die vorliegende Ausgabe nimmt
zwar den bisher nahezu unveründert beibehaltenen Wortlaut der Schottinschen
zur Grundlage; doch schien es ratsam, die nach achtzigjähriger Geltung
allm&hlich etwas veraltete Sprache auch an solchen Stellen, die sachlich nicht zu
beanstanden waren, mehr oder minder stark zu ändern. Im Ganzen war der Neu-
herausgeber bestrebt, die Übersetzung móglichst dem lateinischen Text anzugleichen,
wo nicht in wórtlicher Wendung, so doch im Gedankengang. Hierbei ist stellenweise
186 Kritiken
einer Annäherung an andere Verdeutschungen ... mit Bewußtsein nicht ausge-
wichen worden, wenn sie der Schottinschen Übertragung vorzuziehen schienen.“
Es mischt sich also in der vorliegenden Gestalt fünferlei Deutsch: Schottins,
Wattenbachs, Erlers, Gundlachs, Hirschs.
Das MaB an Bedenken demgegenüber wird, je hóher man die 8
jedes der Genannten einzuschätzen geneigt wäre, auch um so höher sein; je geringer
man aber davon denken möchte — das Maß an Bedenken will erst recht nicht ab-
nehmen.
Dasteht eine Ubersetzung. durch welche hindurch man das Latein hört,
jedoch nicht so, daß der „Geist“ der fremden Sprache uns zwar fremd, aber als
Geist berührte; statt dessen begegnen wir einem bloBen CompromiB: zwischen der
Wörtlichkeit der Übersetzung von Wort zu Worte, und den unvermeidlich zu er-
füllenden Forderungen deutscher Wortstellung, deutschen Satzbaues — das durch
gelegentlichen Gebrauch gewohnter Wortverbindungen um so fühlbarer wird.
Wörter „treu“ übersetzen zu wollen, ist ein Ungedanke; das Wort kommt zu
seiner Wirklichkeit im Satz, dieser bestimmt seinen Sinn. Übersetzen heißt vom
Satz her übersetzen, noch mehr: vom ganzen Context her. Man empfindet nicht,
daß der lateinisch geformte Sinn erst einmal „flüssig‘‘ und dann in deutscher Sprache
wieder Gestalt geworden wäre; keine „Freiheit“ — die etwas ganz anderes ist als
Willkür und Ungefähr, vielmehr Freiheit unter dem Gesetz der gebildeten Spra-
che, nicht allein des Wórterbuches und der Sprachlehre. Solche Sprache darf sehr
geprägt persönlich sein, um so schärfer vermag sie den Sinn der fremden Vorlage
bis in seine zartesten Bestimmtheiten wiederzugeben. Wörterbuch-Wörtlichkeit
und vollkommene Treue bedingen einander negativ: indem sie einander ausschließen.
Sollte ein Übersetzer sich versehen und genu und gena, amica und amita ver-
wechselt haben, so läßt sich dergleichen berichtigen; handelt es sich nicht um solche
Berichtigungen, so bedeutet jeder Eingriff in eine persönlich geprägte Übersetzung
eine Zerstórung ihrer Organik; war aber nicht viel zu verderben, so durfte nichts
stehnbleiben und war ein gánzlicher Neubau unerlüBlich. Jetzt bleibt nichts übrig
als hinzunehmen, daB eine Übersetzung vorliegt, die Studierenden zur Vorberei-
tung um so willkommener sein wird, je geringer die Kenntnis des Lateinischen
und die Neigung sie zu erweitern ist.
Wilhelm Wattenbachs Einleitung ist beibehalten (S. VII—XV). Dagegen
ist nichts Entscheidendes einzuwenden, obgleich mancherlei darin heute zum we-
nigsten mit Fragezeichen würe zu versehen gewesen. Auch die Schulmeisterung
„sehr unglücklicher Etymologien" Widukinds, „wie er denn ... Hermes mit Ares
verwechselt" (I c. 12; S. XI), empfindet man nicht mehr als so befriedigend wie
vor achzig Jahren; ein Historiker hat vielmehr zu fragen und verstehn, welches
andere Verhältnis zur Sprache und Sprachbewußtsein in solchen mittel-
alterlichen (wie antiken) „ falschen“ Etymologien sich ausdrückt, — daB eine Ety-
mologie des 10. Jahrhunderts etwas ganz anderes meint, als eine der vergleichenden
Sprachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts.
Bedenklicher als solche Bewahrung des Fragwürdigen und Unzulänglichen
ist stillschweigende Berichtigung der Darstellung Wbch.s, wodurch diese (wenn
auch sachlich zutreffend) in ihr Gegenteil verkehrt wird, so *S. XIV.: „An
diesen beiden Stellen [I c. 22; III c. 2] hat auch die Fassung B Zusätze, welche
offenbar von Widukind selbst herrühren“. Wbch.s Worte haben in Wahrheit
Kritiken 187
gelautet: „An diesen beiden Stellen hat auch die Steinfelder Abschrift [B1] Zu-
sätze, welche nicht von W. herzurühren scheinen". Der einfache und zugleich
legitime Ausweg wäre gewesen, Wbch.s Darstellung des Handschriftenverhültnisses
wegzulassen ; niemand würde sie vermißt haben, da die eigene Einleitung des Heraus-
gebers das Verháltnis der Texte ausführlich erórtert, und den Fachmann nimmt
‚under, daß Wbch. 1852/82 etwa sollte Reincke-Blochs Ergebnisse von 1913 vor-
getragen haben.
Umgekehrt wiederholt Hirsch in eignem Namen Anschauungen Wbch.s und
seiner Zeit, wo bessere Einsicht hätte geltend gemacht werden müssen: daß nämlich
das Latein der Literatur des Mittelalters als eine lebendige Sprache nicht an ,,dem
Latein“ „der römischen Literatur zu messen ist. Wir lesen aber (S. XV) von Widu-
kinds „gegen Grammatik und Syntax auf Schritt und Tritt verstoBendem" Latein
(— gegen Lucretius' oder Ciceros oder Tacitus'?) Schon Wattenbach hatte
(S. XII) gesehen, welcher bestimmte Stilwille Widukinds zuweilen hindert, ihn
auf den allerersten Blick zu verstehn; und was derselbe Wbch. (a. a. O.) schon
angerührt hatte, wie Widukinds Sprache und Geschichtsanschauung
einander bedingen und tragen — eine Ausführung über dieses für das ganze
Verständnis des Werkes grundlegende Verhältnis, worauf inzwischen durch ver-
schiedene Forschungen neues Licht gefallen ist, vermissen wir in Hirschs Einleitung.
Diese behandelt die Entstehungsgeschichte des Werkes (S. XV ff.), „die Person
des Verfassers (S. X XVff.), seine politische Anschauung und Stellung, seine Quellen
und Unterlagen (S. XXVIIIff.), sowie die weitere Geschichte seines Werkes (S.
XXXV.) ohne daB wesentliche neue Ergebnisse vorgetragen würden; die
Darstellung besonders der Textgeschichte durfte an dieser Stelle, in den G.
d.d. V., kürzer sein. Ein Versuch, Widukind aus und in seinem Werke tiefer zu
verstehn, ist nicht gemacht; selbst Gegenstücke zu der schlechten Zensur seines
Latein finden sich, wo „der übertriebene! Schwulst der Widmungen“ oder „des
Verfassers übertriebene! Nachahmungssucht gegenüber seinen römischen Dar-
stellungsmustern" gerügt werden (S. XXVIII Anm. 1; S. XXX); solche Negationen
bezeichnen haarscharf, wo der „ Positivismus“ an seine Grenzen gestoßen ist, viel-
mehr sie schon überschritten hat, — daB nicht nur nichts mehr verstanden, sondern
daB auf Verstehn verzichtet ist. Der Hg. ist Widukind durchaus freundlich gesinnt,
er schätzt und achtet ihn hoch und entschuldigt ihn gerne, wo er ihm es zu bedürfen
scheint.
Wir bekennen uns ohne Einschránkung zu gleicher Hochachtung und Liebe;
das Werk Widukinds móchten wir noch hóher einschátzen und insbesondere über
das *wohlmeinende' Urteil hinausgehen, zu welchem Hirsch über eine der bekann-
testen und meisterörterten Erzählungen gelangt (S. XVI—XVIII). Es handelt sich
um den Bericht über die Ungarnschlacht bei Augsburg 955 (III c. 44—46)
und seine Unterbrechung in c. 46. H. ist geneigt, diese „Zerreißung‘‘ als „ gewollte
Kontrast wirkung“, nicht aber als „künstlerische Tat“ anzusehen (S. XVI Anm. 1).
Da das Urteil über die historiographische Kunst Widukinds wesentlich ab-
hangt von zutreffendem Verständnis dieser Stelle, liegt uns daran, sie hier schärfer
zu betrachten, als bisher geschehen zu sein scheint. Dieser Ungarnsieg ist in Widu-
Von mir gesperrt; „Schwulst‘“ und ,,Nachahmungseucht sind wohl schon selbst
Übertreibungen".
188 Kritiken
kinds Augen das größte und bedeutendste Ereignis in der ganzen Geschichte des
Königs; durch ihn wird Otto in W.s Vorstellung zum imperator: triumpho celebri
rez factus gloriosus ab exercitu pater patriae imperatorque appelatus est
neque enim tanta uictoria quisquam regum intra ducentos annos ante eum laetatus est
(III c. 49). Außerdem aber hatte W., als von einem mit dem Ungarnkriege gleich-
zeitigen Ereignisse, von dem unglücklichen, mit schwerem Verlust und unrühmlicher
Flucht endenden Slawenzuge des preses Thiadrik* zu berichten, den dieser unter-
nahm, als Otto schon nach Süden gegen die Ungarn unterwegs war. Die Sieger des
Lechfeldes waren Baiern, Schwaben, Franken; weniger als der achte Teil, aber
vielleicht viel weniger, pauci admodum (1IIc. 44), waren Sachsen; solche allein
waren mit Thiadrik gewesen.
Der Geschichtsehreiber der Sachsen stand vor einer schwierigen Aufgabe,
wollte er nicht die Geschichte Thiadriks unterschlagen. DaB er dies nicht getan hat,
zeugt für seine Redlichkeit; wie er sie mit seiner Erzählung der Ungarnschlacht ver-
bunden hat, zeigt ihn als einen aus schönem und echtem Gemüte denkenden Mann.
Im 44. Kapitel erzählt er zunächst den Hergang von der Gesandtschaft der Ungarn
nach Sachsen circa Kal. Iulii bis zum Aufmarsch des deutschen Heeres zur Schlacht,
numero VIII quasi legionum. Das Treffen beginnt mit dem unvermuteten Angriff
der Ungarn vom Rücken her, durch welchen die drei hinteren Abteilungen der
Heeressáule (die 8., 7. und 6., die bóhmische und beide schwäbischen) nach sehr
schweren Verlusten (plurimis ex eis [der 7. und 6. legio] fusis?) in helle Flucht auf-
gelöst wurden. Otto, der die 5., die stärkste und aus erlesenen Leuten aller Stämme
gebildete Abteilung, den Kern des Heeres befehligte, entschlieBt sich angesichts
dieses bedrohlich ungünstigen Standes der Schlacht (cum intellexisset bellum ex
adverso esse), die 4., fránkische Abteilung unter Herzog Konrad nach hinten zu
ziehen. Dieser gelingt es in überraschendem Gegenangriff, den Ungarn ihre Ge-
fangenen und Beute wieder zu entreiBen, die Ráubernden teils zu zersprengen, die
übrigen zu erschlagen (fusis*). Als Sieger kehrt Herzog Konrad zurück; mirumque
in modum, cunctantibus ueteranis militibus gloria uictoriae assuelis, cum nouo
milite et fere bellandi ignaro triumphum peregit. Mit dieser Reflexion „gemischter
Stimmung" schließt Widukind das Kapitel5. Nicht minder deutlich setzt das folgende
(45.) ein, von dem unglücklichen Slawenzug der Sachsen unter Thiadrik: Dum ea
* Warum verhochdeutscht H. den Namen halb: „Thiad rich“ ? Entweder ganz hoch:
deutsch „Dietrich“, oder ganz altsáchsisch, wie oben (th wie englisch zu sprechen).
* An der ersten Stelle übersetzt H. fusis zutreffend: „machten ... nieder" — die ent-
gegensetzenden Worte daneben: in fugam uerterunt machten ein Mißverständnis unmöglich;
an der zweiten steht bei ihm zu lesen, daß Konrad die ,,plündernden Horden davonscheuchte
[proturbauit]. Nachdem er dann diese plündernden Scharen der Feinde [dieselben I] in die Flucht
geschlagen hatte [fusis]'' etc. Der Unterschied zwischen ,,davonscheuchen'' und ‚in die Flucht
schlagen'' ist hier ebenso unerfindlich, wje es bare Willkür bedeutet, dasselbe Wort fusis an
dieser Stelle in ganz anderer Bedeutung zu verstehn: als 4 Zellen früher.
* Davon haben wir vorher nichts gehört! Es kann allein die 5., die erlesene legio regia
gemeint sein, an der nach der Niederlage der 8., 7. und 6. das Eingreifen gewesen wäre (von
alacer iuuentus war innerhalb ihrer der König persönlich umgeben, ipse uallatus) ; nicht gemeint
sein können die vorderen, im Augenblick hinteren, die 3., 2. und 1. Für die 5. griff dann die 4.
ein. — Dazu fügt sich, daß als nächste Hörer der Ansprache Ottos wieder die 5. vorzustellen ist
— über den Sinn dieser Ansprache s. unten.
Die Kapitelzählung ist nach ihm eingeführt worden.
Kritiken 189
geruniur in Boioaria, etc. Die sich anschließenden Sätze sind unverstándig davon
ab- und dem 46. Kapitel zugeteilt worden, welches nun beginnt: Ingens inlerea
pauor omnem Sazontam trepidam pro rege el ezercilu eius pro hac re aduersa
[se. Thiadrici] inuasit. terrebant nos prelerea portenia $nusilala etc.: Die um den
König und sein Heer (wie der Leser weiß, mit Recht!) besorgten Sachsen befällt
vollends bleiche Angst nach Thiadriks Niederlage; dazu kommen böse Vorzeichen,
einzeln aufgezählte und andere, dictu horrenda et propterea nobis pretereunda. Widu-
kinds nächste Worte, ja ihr ganzer vor- und rückwärtiger Zusammenhang bleiben
freilich unverständlich, solange man sie nicht verstanden hat und „übersetzt“:
,Als nun der Kónig erkannte, daB er jetzt die ganze Wucht des Kampfes von
vorne zu bestehn haben werde“ (Hirsch S. 126), hielt er nämlich, um den Mut
und die Gesinnung des Heeres zu stärken, eine kurze Ansprache, die ihre Höhe er-
reicht in den Worten: Melius bello, si finis adiacet, milites mei, gloriose moriamur,
quam subiecti hostibus uiam seruiliter ducamus ... Darauf ergreift Otto Schild
und heilige Reichslanze und sprengt als erster gegen die Feinde“. Deren Mutigere
leisten zuerst Widerstand, fallen aber, durch die Flucht der übrigen verstórt, bald
im Gedrünge in der Vereinzelung inmitten der angreifenden Deutschen. — Es folgt
die Erzählung der Flucht und Verfolgung der Ungarn, von Herzog Konrads Tode,
der Gefangennahme und Hinrichtung dreier ungarischen Führer, darauf die oben
angeführten Sätze: triumpho celebri etc. (III c. 48). —
Man versteht nicht — der Angriff der Ungarn vom Rücken her hatte das
Heer der Deutschen schwer getroffen, das in der entgegengesetzten Richtung auf
den Feind zu stoBen bereit war, und nun, nachdem der Entscheidungskampf auf der
vorgesehenen Front des deutschen Aufmarsches stattfinden sollte, spricht Otto,
nach H.s Übersetzung deshalb (s.o.) aus tiefer Besorgnis zu seinen Leuten.
Als deren Ursache hätte man erwartet, die Niederlage der 8., 7. und 6. Abtei-
lung angegeben zu finden, wodurch Hoffnung und Móglichkeit des Sieges sehr viel
schwächer geworden waren. Die in H.s Übersetzung angeführte Begründung Widu-
kinds für die tiefernste Ansprache Ottos, dessen Erkenntnis, ,,daB er jetzt ...
haben werde" (s. o.), lautet im Lateinischen: Totum pondus prelis ez aduerso sam
adesse [esse B1; iam ez aduerso esse Frut.] conspiciens rez exhorlandı gratia
allocutus est socios hoc modo: etc. Was das auf Deutsch heißt, lehren, wenn überhaupt
ein Zweifel aufkommen kann, dann sowohl die beiden kurz vorhergehenden ange-
führten Stellen pro hac re aduersa (c. 46) und rez autem cum intellexisset bellum
ez aduerso esse (c. 45), wie auch eine Überlegung des Zusammenhanges. Es heißt
wörtlich: „In der Erkenntnis, daß die ganze Schwere /pondus ist ein Begriff der
Statik, nicht ,, Wucht"] des Kampfes Id. i. der entscheidende Kampf] unter un-
glücklichen Umständen? jetzt bevorstehe [nun unter ungl. Umständen stehe
B; Frul.]", usw. Welche „unglücklichen Umstände“ (ich finde keine sprachlich
noch nähere Übersetzung) gemeint sind, ist klar: der Teilsieg der Ungarn, durch
den 3 von den 8 Abteilungen des deutschen Heeres bis auf Reste ausgeschieden
waren. Darum ist Otto so ernst gestimmt (nach einer anderen Darstellung bedurfte
* Zu seiner Übersetzung der Worte fortissimi militis ac optimi imperatoris officium gerens
merkt H. an: „Ebenso unten Kap. 60° (8. 127 Anm. 3); in der 4. Ausgabe in den Scr. rer. Germ.
steht richtig ,,/cf.7 Sallust. Cat. e. 60: eto.
7 Von H.s an beiden Stellen verschiedener Übersetzung der Worte ez aduerso gilt Ent-
sprechendes wie das in Anm. 3 Gesagte.
190 Kritiken
er selber des Zuspruches®), darum bedurften Mut und Gesinnung des Heeres der
Stärkung. Von einer „gewollten Kontrastwirkung“ der c. 44, 45, 46 kann
demnach nicht die Rede sein. Von dem Stimmungseinklang der c. 45, 46 in. mit
c. 44 ist gesprochen; die trübe Stimmung herrscht in c. 46 noch weiter bis zu Ende
der Worte des Königs. Der Gedankengang Widukinds in diesen Kapiteln ist deutlich:
Beginn des Kampfes bei Augsburg mit einer Niederlage; in Sachsen Sorge um den
König und sein Heer, erst recht nach Thiadriks Unglück, dazu portenta inusitata,
Sorge des Kónigs selber um den Ausgang der Schlacht nach dem bósen Angang —
zu dem auch das cuncíari der Veteranen gehört (s.o. Anm. 4); man ist versucht,
auch dieses als von Widukind als portentum gemeint zu verstehn, vielleicht nicht
gegen den Sinn des 10. Jahrhunderts — es war ein „Zeichen“, magisch oder empirisch
verstanden.
Also gewiß nicht zu schelten, aber für „lesende Schnelläufer“ nützlich anzu-
merken bleibt, auf welche schöne und denkende Weise Widukind seine Erzählung
der Schlacht auf dem Lechfelde durch diese Unterbrechung retardiert hat. In einem
besonderen Sinne freilich hat er seinen Bericht gar nicht „unterbrochen“, indem
er nämlich „uns über den Gang der Hauptschlacht völlig im Dunkeln
läßt“ . Er weiß von Konrads Fall, einiges von der Verfolgung, sonst nichts. Mit
der Erzählung des Rückenangriffs der Ungarn war sein Tatsachen-
wissen von den Kampfhandlungen am Ende. Daran trifft ihn keine Schuld,
so gerne wir mehr wüBten; er hat den Ausfall erzühlerisch geistvoll auszugleichen
verstanden, überdies aber durch die „Stimmungsbilder‘‘: die Geschichte Thiadriks
und Ansprache Ottos, historisch nicht minder Wichtiges mitgeteilt, als eine ein-
gehende Schilderung der Schlacht gewesen wäre.
Ein Urteil, ob Widukind auf der Höhe seiner Erzählungskunst allein in seiner
Zeit steht, ist bei weitem nicht möglich, mangels Untersuchungen mittelalterlicher
historiographischer Werke (welche die ganzen Texte, und von Satz zu Satz, Kapitel
zu Kapitel usw., auf ihren Aufbau hin zu betrachten, zu analysieren und inter-
pretieren hätten — in welcher Richtung zuletzt S. Hellmann über Einhard in dieser
Zsch. 27, 1932, 40—110 vorgegangen ist).
Welcher Gewinn hier noch zu erwarten steht, vermag schon eine nähere Betrach-
tung der Urgeschichte der Sachsen zu lehren, mit welcher Widukind sein Werk
anfängt. Sie anzustellen, legt Hirschs Übersetzung auch hier nur allzu nahe. Die
Kritik jener Urgeschichte, gegen die wir uns zu wenden haben werden, rührt zwar
nicht von H. her, dem sie entgangen zu sein scheint, sondern von dem verdienten
Germanisten Wilhelm Wilmanns. Das 3. Kapitel des 1. Buches sagt: Für gewiß
aber wissen wir, daß die Sachsen in dies Land zu Schiff gekommen und zuerst an
einem Orte gelandet sind, der bis heute Hadeln heißt. Der Anfang des 4. Kap. lautet
bei H.: „Die Einwohner aber, die Thüringer gewesen sein sollen, vermerkten ihre
Ankunft übel und erhoben die Waffen gegen sie; die Sachsen jedoch leisteten kräftigen
Widerstand und behaupteten den Hafen." Widukind sagt das gerade Gegenteil:
„Da aber die Einwohner, die Düringe [nicht “Thüringer’!] gewesen sein sollen, ihre
* Siehe Kópke-Dümmler S. 254 Anm. 6; ebenda noch andere Zeugnisse seiner Besorgnis.
* Kópke-Dümmler S. 258 Anm. 3. So konnte auch Dümmler nicht mehr darüber bieten
als die Sátze: ,, Wie lange Zeit die Gegenwehr des Feindes dauerte, wissen wir nicht. Doch war
eine Zeitlang das Gefecht ein ziemlich blutiges für beide Teile ... Als die Flucht end lich III
begonnen hatte“, usw. S. 258.
Kritiken 191
Ankunft sich übel gefallen lassen, greifen sie [die Ankömmlinge] gegen sie zu den
Waffen; gegen den beftigen Widerstand der Sachsen aber behaupten sie den Hafen“ “.
Mit anderen Worten: Die Sachsen werden auf ihre Schiffe zurückgeworfen.
Neue unentschiedene Kämpfe folgen, schließlich ein Vertrag, wonach die Sachsen
zwar Handelsfreiheit genießen, jedoch von Land und Leuten ihre Hände lassen
und insbesondere keine Raubzüge tun sollten. Nachdem den Sachsen das Geld aus-
gegangen war, und sie also Hunger zu leiden begonnen hatten, begibt sich ein junger
Sachse mit seinem goldenen Schmuck, Halskette oder Halsring (torques) und
Armringen (Baugen), an Land (egredi de nauibus), um diesen gegen Lebensmittel
zu veräußern. Auf die Frage eines Dürings, was er dafür fordere, erwidert er — in
seiner Not gar keines anderen Angebotes als eines von Lebensmitteln sich ver-
sehend —: Jeder Preis gilt mir gleich: was du mir geben willst, ist mir willkommen.
Diese unüberlegte Antwort soll ihn zum Opfer eines Betruges machen: er aber
läßt von dem verschlagen lächelnden (subridens) Düring für sein Gold seinen Ge-
wandbausch ruhig mit Erde sich füllen und kehrt damit zu den Schiffen zurück,
nach der Meinung des Dürungs um das Gold, wie um die erhoffte Stillung seines
Hungers betrogen. Die Düringe aber belobigen ihren Landsmann für seinen Betrug
(qui nobili fraude Saxonem deceperit) und preisen ihn als ein Glückskind mit seinem
Golde — ceterum certi de uictoria, de Saxonibus iam quasi triumphabant. Warum?
Noch galt doch, ungebrochen, der Vertrag und Friede! Ich ersehe keinen anderen
Sinn dieser Bemerkung, als daß W. als Grund ibrer Zuversicht, die feindlichen
Gáste loszuwerden, die Kundschaft des glücklichen Küufers von ihrer beginnenden
Hungersnot sich vorstellt — eine Zuversicht, die um so gewisser sein durfte,
nachdem der Sachse ungenießbare Erde eingehandelt hatte.
Der macht nun von seiner Last Erde den listigen Gebrauch, ein Stück
Land damit zu bestreuen, welches die Sachsen als erkauften Grund und Boden
gegen rechtliche Anfechtung und Waffengewalt behaupten, wodurch sie also auf
dem Lande jetzt zuerst festen Fuß fassen. Von dieser nun gewonnenen
sicheren Stellung (castrorum loca) aus erobern sie, nicht ohne Verrat zu gebrauchen,
das ganze Land der Düringe, als siegende Landnehmer auch aller Nahrungssorgen
enthoben (Kap. 5. 6). Die sächsische List ist das Gegenspiel zum Betrug des Dürings.
Diese ganze Geschichte bleibt unverständlich, wenn man mittels falscher Über-
setzung die Sachsen schon gleich zu Anfang „den Hafen behaupten“ läßt. Auf
demselben alten Übersetzungsfehler, der schon in den Deutschen Sagen der Brüder
Grimm (411.) sich findet, beruht auch, was W. Wilmanns in seinem Kommentar
zum Annoliede über Widukinds sächsische Urgeschichte ausgeführt hat:
„Widukind kennt also verschiedene Sagen über den Ursprung seines Volkes ...;
und so erscheint auch das, was er von ihrer Niederlassung auf thüringischem Boden
erzählt, nicht als einheitliche Sage, sei es daß ein älterer Bericht durch neuen Stoff
erweitert, sei es daß zwei verschiedene Berichte miteinander verschmolzen sind.
Jedenfalls enthält Widukinds Erzählung Motive, die für zwei parallele Sagen aus-
reichen: nach der einen kommen die Sachsen als Kaufleute und gewinnen, ähnlich
wie Dido, den Boden ihrer ersten Niederlassung durch List; nach der andern kommen
a Inoolis ... aduentum eorum graniter ferentibus, qui Thuringi traduntur fuisse, arma
contra eos [sc. Thwringoe] monent Sa xone / Saxonibus .. acriter resistentibus, portum
obtinent. [ Thuringi]. `
192 Kritiken
sie mit Heeresmacht, setzen sich mit Gewalt fest und sichern und erweitern ihre
Herrschaft durch Treubruch. Ein solcher Überfluß von Motiven pflegt in alten
Sagen nicht ursprünglich zu sein, man darf ihn um so weniger für ursprünglich
halten, wenn die Motive nicht zusammenpassen. Unserer Erzählung, so anmutig
sie sich liest, fehlt augenscheinlich innerer Zusammenhang und konsequente Be-
gründung. Der erste Vertrag, sagt Widukind, wurde den Sachsen unnütz, weil ibnen
das Geld ausgegangen war und sie weder zu kaufen noch zu verkaufen hatten; und
doch tritt gleich darauf ein junger Sachse auf mit einem groBen Schatz [siehe oben !]
von Gold, goldener Halskette und goldenen Armringen. Der sächsische Jüngling,
der ans Land steigt, trägt den Stempel des Hungers in seinen Zügen, und Hunger
bewegt ihn, das Gold hinzugeben, und doch nimmt er als Kaufpreis einen Sack
voll Erde, mit dem er das Bedürfnis des Magens ebensowenig befriedigen kann.
(Beiträge zur Geschichte der älteren deutschen Litteratur. Hg. von W. Wilmanns.
H. 2. Bonn 1886. S. 33f.; vgl. ebenda 31 unten.)
Daß die didonische List der Sachsen und ihre Eroberung des Landes durch
Waffengewalt und Treubruch einander nicht bedürfen, liegt offen; eine andere
Frage ist, ob sie einander widersprechen. Ich sehe nicht. Die Sachsen kommen,
um in dem fremden Lande sich anzusiedeln, gewiß nicht als Kaufleute. Der
bewaffnete Widerstand der Eingeborenen zwingt sie zu einem für sie von vornherein
sinnlosen Vertrage: in die Rolle von Kauffahrern. Nachdem ihnen ihr Gut
(pecunia) bald ausgegangen war, „die nicht hatten, was sie hätten verkaufen oder
kaufen sollen!!“, da sie ja nicht Kaufleute waren, und sie schon nach Tagen sich
in der größten Verlegenheit befanden (inutilem sibi pacem esse arbitrabantur), er-
möglicht ihnen die unverhofft erworbene Erde die List, welche die gewaltsame
Landnahme einleitet. Wilmanns hat nicht nur die beiden ersten Sätze falsch ver-
standen, sondern auch übersehen, daß der Sachse von dem Düring zunächst betrogen
wurde, oder betrogen werden sollte und nach der Meinung dieses es auch war. Erst
als der Sachse auf seine unüberlegte Antwort (s. o.) das Angebot vernimmt: „Was,
wenn ich mit der Erde da dir den Bausch fülle?“ — erst in diesem Augenblicke
blitzt in ihm der Gedanke an ihren späteren listigen Gebrauch auf und er nimmt sie
gerne in Empfang. Widukinds Erzählung ist in sich ohne Widerspruch.
Landkaufsage (Kap. 5) und Namensage!? (Kap. 6. 7) können wie bemerkt je
für sich allein bestehn; (jene bedarf auch nicht des Zuges, daß der Käufer unverhofft
in den Besitz der Erde kommt, ja damit betrogen sein sollte; typische
Sagengestalt ist wohl, daß der Käufer schon mit der List im Sinne kauft).
Ohne Zweifel ist die Namensage eine Volkssage, die Landkaufsage aber
gelehrten, und das bedeutet wohl: klösterlichen Ursprungs. Widukind bezeugt
seine Kenntnis solcher gelehrten Sagen ausdrücklich: uf ipse adolescentulus audsus
quendam predicantem, de Graecis (originem duzisse Saxones), quia ipsi dicerent,
Sazones reliquias fuisse Macedonici exercitus, qui secutus magnum Alexandrum
inmalura morte ipsius per totum orbem sit dispersus (I c. 2). Als wahrscheinlich ergibt
n Daß „sie nichts mehr zu kaufen oder verkaufen hatten“ (Hirsch), steht nicht da; auch
die Folge quid uenderent aut emerent ist nicht gleichgiltig.
12 Diese allein erzählen Annolied und Kaiserchronik, mit glelohgiltigen Abweichungen
von Widukind; vgl. R. Much, Germanische Vólkerschaftsnamen in sagenbafter Deutung,
Zschr. für Deutsche Wortforschung 1, 1901, 319—398, bes. 326 fl. über die Sachsen-
namensage.
Kritiken 193
sich wohl, daß die Verbindung beider heterogenen Sagen ihm gehört. — Weitere
Probleme seiner Erzählung zu erörtern, gibt die Übersetzung keinen Anlaß.
Unsere Meinung ist nicht, der Übersetzer hätte, in seiner Vorrede etwa, ausführen
sollen, was wir gegen seine Übersetzung auszuführen genötigt waren; jedoch scheint
nicht unbillig zu verlangen, daß eine Übersetzung auf einem Grade und Maße
privater Interpretation des Textes beruhe, das solche Versehen ausschließt, die
Kunst und Sinn der Erzählung geradezu vernichten; wie an zwei Beispielen gezeigt
wurde. —
Dem Texte Widukinds beigegeben sind wie in der vorigen Ausgabe 1. ein Ab-
schnitt der Translatio s. Alexandri Rudolfs von Fulda; 2. Abschnitte der Annales
Quedlinburgenses; 3. die Schrift De origine gentis Sueuorum; und in dieser 5. Aus-
gabe zum ersten Male: 4. ein Stückchen der älteren Vita Lebuini, 5. einiges aus dem
Poeta Sazo; 6. die Auszüge der Annales Iuuauenses maximi ad a. 809—956; 7. das
Fragmentum de Arnulfo duce Bauariae; in verschiedenen Übersetzungen; schließlich
als Anhang Ibn Ja'qübs Bericht über die Slawenlande vom Jahre 973 mit eigenem
Vorwort und übersetzt von Georg Jacob, aus desselben „Arabischen Berichten
von Gesandten an germanische Fürstenhófe aus dem 9. und 10. Jahrhundert",
Berlin 1927, mit hier vermehrten Anmerkungen.
Die kritischen Ausführungen im Allgemeinen und im Besonderen durch die
selbstverstándliche Anerkennung des im übrigen Geleisteten aufwügen zu wollen,
erscheint hier wie sonst als sinnlos ; ungerechte Kritik wird nicht ertrüglicher dadurch,
gerechte bedarf keines mildernden Scheines.
Göttingen. Walther Bulst.
Louis Halphen, Professeur honoraire à l'Université de Bordeaux, Directeur à l'École
des Hautes Études historiques et philologiques (Sorbonne) L'essor de
l’Europe (XI* et XIII® siècles). Paris, Felix Alcan 1932, 609 S. Peuples
et civilisations, Histoire générale p. sous la direction de Louis Halphen et
Philippe Sagnac, VI. Bd. 60 Fr.
Die lange Zeit hindurch zum Schaden der Wissenschaft vernachlássigte welt-
geschichtliche Arbeit macht erfreuliche Fortschritte. Ohne nach Vollständigkeit
zu streben, heben wir hervor in Deutschland die durch glänzende Ausstattung be-
stechende Propyläenweltgeschichte, in England die Cambridge Modern und die
Cambridge Medieval History, in Frankreich die von Gustav Glotz geleitete Histoire
générale und die Sammlung Peuples et civilisations, zu der unser Band gehört.
Sein Erscheinen bietet willkommenen Anlaß, ihn unter allgemeineren Gesichts-
punkten zu würdigen. Über das, worauf es ankommt, weiß man recht wenig. Auch
die bekannten Werke der Art werden nach ihrer Vollendung kaum als Ganzes ge-
würdigt, und es ist daher nicht leicht, eine Übersicht darüber zu gewinnen, was auf
dem Gebiete schon geleistet worden ist oder noch geleistet werden kónnte. Im Vor-
dergrunde steht doch die Frage nach der richtigen ráumlichen und zeitlichen Glie-
derung. Wieweit soll man beispielsweise Indien und China! berücksichtigen, die
doch ohne jeden Zweifel in die Weltgeschichte hineingehóren, aber in den älteren
Jahrhunderten keinen deutlich spürbaren Einfluß auf das Abendland geübt haben?
! Vgl. die lehrreichen Bemerkungen über die Vernachlässigung der chinesischen Geschichte
bei O. Franke, Geschichte des chinesischen Reiches, Berlin 1 (1930), Vorwort.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H. 1. 13
194 Kritiken
Soll man erst von diesen Ländern reden, wenn sie Gegenstand europäischer Aus-
dehnungspolitik werden, und dann einen Rückblick auf ihre frühere Geschichte
geben? Darüber wird sich niemand täuschen, daß, wenn der Raum zu stark erweitert
wird, der lebendige Zusammenhang aufhört und die einzig sicher erreichbare Einheit
die des Buchbinders ist. Betreffs der zeitlichen Gliederung wird sich eine streng
wissenschaftliche Stellungnahme zu dem inhaltleeren Begriff des Mittelalters auch
bei aller Anhänglichkeit an bequeme Gewohnheiten auf die Dauer nicht vermeiden
lassen. Sollte nicht endlich bewiesen werden, daB es ein Mittelalter gegeben hat,
ehe man sich darum streitet, wann es begonnen und aufgehórt hat? Warum muB
denn die Geschichte unbedingt in zwei erstarrte (Altertum und Mittelalter) und eine
lebendige, immer weiter fortschreitende Periode (Neuzeit) eingeteilt werden? In
weitverbreiteten Büchern kann man mit Befremden bemerken, daB einmal die
politischen, dann wieder die kulturellen Verhültnisse zum MaBstab der Einteilung
genommen werden, ohne daß vorher feststeht, ob beide übereinstimmen. Es wäre
doch viel sachgemäßer, man grenzte erst einmal für die Geschichte der Macht,
ferner für die der Verfassung und des Rechts, der Wirtschaft, der Religion und der
Kirche, der Kunst und der Wissenschaft usw. Abschnitte ab und erforschte zuletzt
das Gemeinsame. Dann würde es sich zeigen, ob alle diese verschiedenen Gebiete
derselben Periodisierung unterliegen oder nicht.
Von vornherein sei gesagt, daß das Buch von Halphen einen sehr beachtens-
werten und gut gelungenen Versuch darstellt, der eben angedeuteten Schwierig-
keiten Herr zu werden. Man móchte fast die Franzosen beneiden, daB ihnen ein so
brauchbares Hilfsmittel zu billigem Preise geboten wird. Die Ausstattung ist einfach,
aber durchaus zweckentsprechend, der Druck sorgfältig und sauber, ein Namen-
verzeichnis vorhanden.
Der vorhergehende 5. Band der Peuples et civilisations, der auch von Halphen
stammt und schon eine 2. Auflage (1930) erlebt hat, führt den Titel: Les barbares
des grandes invasions aux conquêtes turques du XI? siècle. Am Schluß finden wir
darin die Ereignisse nach der Schlacht bei Manzikert (1071) und einen Ausblick
auf die Kreuzzüge. Man wird es vollkommen billigen, daB der Verf. Asien gerecht
werden will und ihm viel Platz gónnt, aber man wird sich doch schwer entschlieBen, die
Eroberungen der Seldschuken als weltgeschichtlichen Markstein zu betrachten.
Da wäre das Konzil von Clermont (1095) doch geeigneter gewesen, da es mit dem
Aufruf zum Kreuzzuge die Antwort auf den VorstoB der Seldschuken bedeutet.
Die vorhergehenden Kapitel des 5. Bandes handeln von Ostrom (bis 1025), dem
Islam (etwa bis 1032) und der Erneuerung des abendlündischen Kaisertums durch
Otto den Großen. Der Tod Ottos bleibt demnach rund 100 Jahre hinter den vorhin
erwühnten asiatischen Ereignissen desselben Bandes zurück. Wird dadurch nicht
das Gesamtbild gestórt?
Der vorliegende 6. Band zerfällt in 5 Bücher, deren Überschriften den weit ge-
spannten, wirklich weltgeschichtlichen Rahmen zeigen: I. das feudale Europa und
der Kreuzzug, II. die Bildung der groBen Monarchien, III. die Versuche einer
Einigung Europas in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, IV. das mongolische
Asien und Europa, V. Europa nach dem Stillstand des mongolischen Vorstoßes.
I. spricht im Anschluß an die cluniazensische Bewegung von Gregor VII., Urban II.,
der Eroberung Süditaliens und Englands durch Normannen und dem 1. Kreuzzug,
abgesehen von zuständlichen Abschnitten. Das deutsche Kaisertum seit Otto dem
Kritiken 195
Großen finden wir erst am Anfang von II. von 973 bis 1183. Damit wird man sich
nicht befreunden kónnen. Die Weltstellung des deutschen Reiches mit ihrem Hóhe-
punkt 1046/1047, die in der Absetzung dreier Pápste und dem Plan einer Angliederung
der Normannen gipfelt, kommt nicht zu ihrem Recht, ebensowenig der rasche
Niedergang. Ein starker, über das Papsttum verfügender deutscher Kaiser hätte
selbstverständlich die christlichen Scharen zum Heiligen Grabe geführt. Wenn
in II. unter dem schon wiedergegebenen Titel ein 5. Kapitel von „den fränkischen
Staaten Syriens und der Verteidigung gegen die Türken“ handelt, so hat man doch
Bedenken, das Königreich Jerusalem als eine große Monarchie zu bezeichnen.
Die Formel, auf die in der weltgeschichtlichen Darstellung alles ankommt,
wird lauten: mehreren Völkern gemeinsame Ereignisse sollen tunlichst nicht an ver-
schiedenen Stellen berichtet werden. Geschieht das doch, so fállt eben die Welt-
geschichte in ein Nebeneinander von Landes- oder Volksgeschichten zurück. Die
Aufgabe stellt sehr hohe Anforderungen an den Verfasser, aber man muß sich
immer wieder darum bemühen, sie so gut zu lósen, wie es bei dem heutigen Stande
der Wissenschaft angeht. Es sei hier deshalb nur unter allem Vorbehalt Kritik
geübt. Man wird es beispielsweise bedauern, daß in III. ein erstes Kapitel den
großen Krieg im Abendlande vom dritten Kreuzzug bis Bouvines, das nächste die
Eroberung des byzantinischen Reiches durch die Abendländer, das dritte die päpst-
liche Theokratie Innozenz’ III. schildert. Denn das gehört doch alles zusammen,
bildet eine große Linie romanisch-germanischen Gemeinschaftslebens im Sinne
Rankes. Philipp II. August von Frankreich und der herrschgewaltige Papst ge-
winnen ihre überragende Bedeutung gerade durch den deutschen Thronstreit. Auch
würde es sich empfehlen, das Laterankonzil von 1215, das der Verf. natürlich nicht
unterschätzt, zu einem weltgeschichtlichen Einschnitt zu benutzen. Der Tod
Heinrichs VI., ein sicher nicht nur Deutschland, sondern auch das gesamte Abend-
land berührendes Ereignis, wirkte sich erst durch die Ermordung Philipps von
Schwaben, die Anerkennung und Verwerfung Ottos IV., sowie die Erhebung Fried-
richs II. so verhängnisvoll aus. Bouvines kommt hinzu, und alles das diente dem
Siege des Papsttums, wie er auf dem Konzil verkündet wurde. Mit dem Jahre 1250
eine Periode zu schlieBen, wie es in deutschen Büchern vielfach geschieht, ist auch
für die deutsche Geschichte ungeeignet. Die Zerstórung der Einheit im Reiche zu-
gunsten der Vielheit gehort in die ersten Jahre Friedrichs II., dessen bewunderungs-
würdige geistige Vielseitigkeit und Beweglichkeit nicht zu einer Überschützung
seiner Machtmittel führen darf. Der „Rückfall in die Landesgeschichten“ veranlaßt
leicht Wiederholungen. So ist beispielsweise vom Tode des Staufers Konrad IV. einmal
in dem Abschnitt L'anarchie allemande und spáter wieder unter l'anarchie italienne
die Rede (S. 459, 471). Läßt sich das vermeiden oder ergeben sich, wenn es ver-
mieden wird, andere Übelstände? Vielleicht wird der Verf., der seine Einteilung
nach reiflichster Überlegung gewählt haben wird, durch die vorstehenden Bemer-
kungen zu neuer Prüfung veranlaBt. Mit einer neuen Auflage des sehr nützlichen
und angenehm zu lesenden Werkes ist doch wohl zu rechnen.
Den Wert der geschichtlichen Einteilungen sollte man nicht unterschátzen,
wie es vielfach geschieht. Sie erleichtern in hohem Maße die Beherrschung des
Stoffes und damit den Einfluß unserer Wissenschaft auf den weiteren Kreis der Ge-
bildeten. Wie Ranke „über die Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der
Begebenheiten dachte, erhellt aus der nie veraltenden Vorrede zu den „Geschichten
13*
—
196 Kritiken
der romanischen und germanischen Vólker". Man kann annehmen, daB er dem
Beispiel des dramatischen Dichters folgen wollte. Auch die Art, wie Albert Sorel
an seiner „Geschichte der französischen Revolution" schuf, mag zum Vergleich
herangezogen werden“. Die Technik derjenigen Historiker alter und neuer Zeit zu
prüfen, die am meisten Eindruck auf ihre Leser gemacht und die dauerhaftesten
Spuren hinterlassen haben, würde nicht überflüssig sein.
Wo in einer Ereignisgeschichte, wie sie Halphen hauptsächlich gibt, also in
einem Längsschnitt, zuständliche Schilderungen, also Querschnitte anzubringen
sind, scheint bisher kaum untersucht worden zu sein. Das Ideal wäre wohl, sie nach
aufwühlenden inneren und äußeren Kämpfen einzuschalten, wenn durch Verträge,
Friedensschlüsse, Konzile oder Kongresse eine gewisse Ruhezeit gesichert ist. Bei-
spielsweise würde eine Übersicht über die Zustände des Abendlandes um 1215 sehr
lehrreich sein. Dabei könnte die geistige Blüte Frankreichs stark zur Geltung
kommen. Halphen hat 3 Kapitel von I. mit 45 Seiten der Wirtschaft, dem Geistes-
leben, der Kunst und der Kirche Europas im 12. Jahrhundert, 2 Kapitel von V. mit
40 Seiten den wirtschaftlichen und geistigen Veränderungen des 13. Jahrhunderts
gewidmet. Sie sind, wie man sieht, ziemlich kurz ausgefallen, aber es wäre Sache
der französischen Leser, zu entscheiden, ob der Inhalt als ausreichend angesehen
wird. Ich fürchte, daß doch recht große Lücken auffallen werden. Ob es abgesehen
davon immer gelungen ist, zwischen den machtpolitischen und den kulturgeschicht-
lichen Abschnitten eine wirkliche innere Verbindung herzustellen, damit der Vorteil
des Lesers nicht bloß hauptsächlich darin liegt, beide in einem Bande vor sich zu
haben, mag noch offen bleiben. Man darf das auch so ausdrücken: könnten die
kulturgeschichtlichen Abschnitte wegfallen, ohne daß die ursächliche Verknüpfung
der machtpolitischen Schaden litte? Die Frage wäre natürlich nicht nur an unser
Werk, sondern ebenso an zahlreiche andere derselben Art zu richten. Kulturelle
Querschnitte durch Asien ähnlich denen durch das Abendland fehlen, sicher, weil
es bei den heutigen Vorarbeiten kaum möglich ist, sie zu geben. In einer kurzen
und klaren Schlußbetrachtung hebt der Verfasser die 80er Jahre des 13. Jahr-
hunderts hervor und erinnert an die sizilische Vesper, wiean den Tod Karls von Anjou
und Peters III. von Aragon. Er meint, jetzt scheine die Welt in eine tiefe Verwirrung
gestürzt. Wer, wie oben angedeutet wurde, vom Jahre 1215 ausgeht, wird unter
dem leitenden Gedanken der päpstlichen Weltherrschaft an anderer Stelle halt-
machen, je nachdem nur ihr Höhepunkt oder schon ihr Niedergang den Abschluß
bilden soll. Die beiden folgenden Bände der Peuples et civilisations, die mehreren
Verfassern zu verdanken sind, die Jahre 1285 bis 1492 umfassen und den recht
wenig besagenden Titel La fin du moyen äge führen, sind übrigens schon erschienen.
Im Titel hätte sich Gelegenheit geboten, den Aufstieg der Westmächte und die
abendländischen Konzile als das große Neue kenntlich zu machen.
Der Sinn für streng wissenschaftliche Forschung, bei der doch alles auf den
Quellenbeweis ankommt, ist heute so wenig entwickelt, daß selbst in Fachzeit-
schriften nicht immer beachtet wird, ob ein besprochenes Werk Belege bringt oder
nicht. Man versucht sogar, auf den Waschzetteln es dem gutgläubigen Publikum
immer wieder als ein Verdienst der Verfasser einzureden, daß sie sich von gelehrtem
2 L' nom et la Révolution francaise. Discours prononcés .. en l'honneur de M. Albert
Sorel ... Paris, Plon 1905. Darin E. Boutmy, S. 24.
Kritiken 197
Ballast, wie es schón ausgedrückt wird, frei halten. Es gibt zwar eine Entschuldigung
für die Angst, die sonst vortreffliche Verleger vor Belegen haben, nämlich die häß-
lichen überlangen Anmerkungen, deren sachlicher Inhalt oft bei gutem Willen in
den Text hätte eingearbeitet werden können. Halphen gibt keine Einzelbelege,
wohl aber am Anfang größerer und kleinerer Abschnitte zahlreiche Büchertitel mit
kritischen Urteilen, die den Lesern recht willkommen sein werden. Einzelbelege
können dadurch natürlich niemals ersetzt werden. Das ideale Ziel wird immer darin
zu sehen sein, daß jedes Ereignis rasch auf die zeitgenössischen Berichte zurück-
geführt und damit soweit bewiesen wird, wie es unsere Wissenschaft erlaubt. Bei dem
auch sonst viel angewandten Verfahren Halphens ist es nicht zu vermeiden, daß es
nicht immer leicht ist, ein Buch zu finden, und daß gelegentlich dasselbe Buch an
mehreren Stellen wiederkehrt. Ein vollständiges alphabetisches Verzeichnis, wie
es gerade in französischen Büchern gern gegeben wird, ist am förderlichsten, und es
können dann die Hinweise erheblich verkürzt werden. Es läßt sich aber denken,
daß ein solches Verzeichnis dem Geschmack des breiteren französischen Publikums
nicht entspricht. Mit dem Verfasser über Einzelheiten zu rechten oder die wenig
zahlreichen kleinen Versehen aufzuspüren, erscheint nicht angebracht. Ernste
weltgeschichtliche Versuche verlangen eine der Schwierigkeit des Unternehmens
angepaßte Beurteilung, und Fortschritte können nur in verständnisvoller Zusammen-
arbeit der Historiker aller Kulturländer erzielt werden. Wie der Deutsche, der
Franzose, der Engländer und andere Weltgeschichte schreiben, wird einmal einer
vergleichenden Betrachtung zu unterwerfen sein.
Jena. A. Cartellieri.
Armando Sapori, Una Compagnia di Calimala ai primi del Trecento. Biblio-
teca Storica Toscana vol. VII. Firenze, Leo Olschki 1932.
Zu der höchst erfreulichen Lebendigkeit, die in letzter Zeit eine jüngere Ge-
neration italienischer Wirtschaftshistoriker auf den verschiedensten Gebieten
der wirtschaftlichen Vergangenheit ihrer Heimat an den Tag legt, hat sicherlich
das Erscheinen von Sombarts monumentalem Werk das ihrige beigetragen. Indem
er in dessen historischem Teil dem italienischen Frühkapitalismus zum ersten Mal
eine eingehende, zusammenfassende Darstellung zuteil werden ließ und ihn als
typischen Übergangszustand scharf gegen die Großzeit des modernen Kapitalismus
abhob, während er die Grenzen gegenüber der handwerklichen Wirtschaftsform
mehr verschwimmen ließ, wurde von ihm vor allem die relative Enge jenes viel-
gepriesenen, seit Heyds klassischer Darstellung allbekannten italienischen „Groß-
handels“ in quantitativer, die starke Gebundenheit und Durchsetzung mit irratio-
nalen Bestandteilen in qualitativer Hinsicht mit besonderer Emphase hervorgehoben.
Es ergab sich indessen bei einer exakten Nachprüfung dieser These, daß sie auf
einer allzuengen Quellenbasis beruhte, daß einzelne Überlieferungen, wie vor allem
der Familientraktat des Alberti, einseitig in den Vordergrund gerückt, andere
über Gebühr vernachlässigt waren, daß ferner jene von Sombart und anderen
vor und nach ihm als völlig unzuverlässig angezweifelten statistischen Angaben
des Giovanni Villani und anderer italienischer Chronisten der gleichen Periode
sich bei genauerer Untersuchung als im ganzen durchaus hieb- und stichfest
erwiesen.
198 Kritiken
Unter jener jüngeren Generation italienischer Wirtschaftshistoriker hat sich
Armando Sapori durch eine Reihe von Untersuchungen, die insbesondere den Floren-
tiner Handelsgesellschaften, ihren wirtschaftlichen Funktionen, ihren Schicksalen
und ihrer Bedeutung gewidmet waren, den Ruf eines Forschers von intensivstem
Fleiß und einer unbeirrbaren Zuverlässigkeit in der Feststellung auch der scheinbar
unbedeutendsten Einzelheiten erworben, ohne daß die Linie der großen Zusammen-
hänge dabei zu kurz kam. Seine neueste Arbeit zeigt diese Eigenschaften wieder
in hervorragendem Maße. Auf die Handelsbücher der Firma Francesco Del Bene
e Compagni hatte schon Robert Davidsohn in seiner Geschichte von Florenz hin-
gewiesen. Nicht in der Größe der Firma, deren Handelstätigkeit sie widerspiegeln,
liegt ihre Bedeutung — es handelt sich vielmehr um ein Geschäft von mittlerem
Umfang, nicht um eine der großen, weltbeherrschenden Firmen des damaligen
Florenz; nicht auch in ihrer zeitlichen Ausdehnung — die von Sapori behandelten
Bücher umfassen nur die kurze Spanne von fünf Jahren (1318—1323) —, sondern
einzig in der relativen Vollständigkeit ihrer Erhaltung, die für lange Zeit in keinem
Lande ihresgleichen hat, die uns deshalb Einblicke in den Gang, die Funktion, den
Erfolg oder Mißerfolg einer gesellschaftlichen Unternehmung gewähren, wie wir
sie sonst für jene Frühzeit nirgends besitzen. Es handelt sich, von kleinen, un-
bedeutenden Gelegenheitsgeschäften abgesehen, um den Import französischer und
flandrischer Tuche, zum Teil in ihrer natürlichen, zum Teil in veredelter (gefärb-
ter, umgefärbter, appretierter) Form, die meist in Florenz, zum kleinen Teil in
Unteritalien en gros oder auch im Ausschnitt wieder verkauft werden. Zum ersten
Male werden wir in den Stand gesetzt, auf Grund exakter Angaben diesen Handel,
der den Nerv des Geschäfts der Calimalakaufleute bildete, in allen seinen Phasen
aufs genaueste zu verfolgen: den Einkauf in Frankreich, Flandern oder auf den Messen
der Champagne, der für die nicht eben kapitalstarke Firma meist von den mit ihr in
engster Geschäftsverbindung stehenden großen Handelshäusern der Bardiund Peruzzi
besorgt wurde; den Transport auf verschiedenen Wegen zur See und zu Lande bis
Florenz und seine Kosten; den Verkauf im kleinen wie im großen, die Gewinnspanne
im einzelnen und im Laufe der Jahre; die Methoden der Buchführung und Bilan-
zierung und vieles andere mehr. Es ergibt sich als wesentliches Resultat, daß auch
in den relativ kleinen Verhältnissen dieser Firma wenig mehr von der Enge hand-
werklichen Betriebs zu finden ist, daß man meilenweit entfernt ist von jener Zeit,
da der Kaufmann mit seinem Packen selbst über Land zog, um ihn auf Märkten
und Messen abzusetzen; daß die Transportkosten im Rahmen des ganzen Betriebs
nicht die Rolle spielen, die Sombart ihnen zuweist; daß die Buchführung, wenn
auch noch in einfachen Formen, dennoch durchaus auf Exaktheit ausgeht und sie
auch in überraschendem Maße erreicht; daß endlich das Gewinnenwollen, nicht die
Befriedigung irgendwelchen Lebensbedarfs Ziel des ganzen Geschäftsbetriebes ist
und eine kapitalistische Atmosphäre herrscht, wie wir sie bei den Medici und den
Fugger wiederfinden.
Der ausführliche Dokumentenanhang gibt die Möglichkeit, all diese Resultate
auf ihre Exaktheit nachzuprüfen; man wird sie durchaus bestätigt finden. Der
monumentalen Ausgabe der Handlungsbücher der Peruzzi, die uns Sapori für die
nächste Zeit in Aussicht stellt, dürfen wir nach den Resultaten der vorliegenden
Untersuchung mit besonderer Spannung entgegensehen.
Leipzig. A. Doren.
Kritiken 199
Fremerey, Gustav, Guicciardinis finanzpolitische Anschauungen. (Bei-
l heft 26 zur Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hrsg.
von Prof. Dr. H. Aubin.) Verlag von W. Kohlhammer, Stuttgart 1931.
Ein Beiheft der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dürfte
auch den politischen und Kulturhistorikern willkommen sein, zumal wenn es, wie
hier, ein Problem behandelt, das in gleichem Maße die Geschichte des Wirtschafts-
lebens, der Politik und der geistigen Kultur berübrt. Die kleine Schrift (80 S. 89)
ist bemüht, unter Verzicht auf eine eingehende Schilderung der Technik und des
Funktionierens der Florentiner Finanzpolitik ,,zu zeigen, wie sich die Probleme ...
einem hervorragenden Kenner der Verhältnisse und einem scharfen Beobachter
der Zeitverhältnisse, wie es Francesco Guicciardini war, darstellen‘. Sie ist aus einer,
für Heidelberg bestimmten, Doktordissertation entstanden und hat die Vorzüge
und Mängel einer solchen. Die Vorzüge bestehen in einer fleiBigen Sammlung und
verständigen Durchleuchtung des Materials, die Mängel ergeben sich aus einer,
dureh ungenügende Kenntnis der Gesamtentwicklung hervorgerufenen, etwas
unfruchtbaren Fragestellung. Der Verfasser will offenbar durch die Anschauungen
eines allgemein als sachverstándig anerkannten Zeitgenossen Probleme beleuchten,
die sich aus der Forschung über das Aufkommen des Kapitalismus ergeben haben.
Er übersieht jedoch, daB zur Zeit Guicciardinis der Kapitalismus schon voll aus-
gebildet ist und seine erste, sich immer mehr verschärfende, Krise durchmacht.
Infolge seines ganz auf das Vorhergegangene gerichteten Interesses làBt uns der
Verfasser ziemlich über das im unklaren, was sein Gewährsmann zur gleichzeitigen
Entwicklung zu sagen bat. Ähnlich erschwert er ein tieferes Verständnis durch
isolierende Behandlung der finanzpolitischen Anschauungen. Gerade Guicciardini
bietet für eine solche Betrachtungsweise aus noch zu erórternden Gründen keine
wesentlich weiterführenden Gesichtspunkte. Daß für die Arbeit ferner nur die sog.
„Opere inedite herangezogen sind, hätte im Titel ausdrücklich erwähnt werden
müssen, da man doch auch heute noch, wenn man den Namen Guicciardini hört,
fast unwillkürlich an die „Storia d'Italia“ denkt. Auch könnte sonst immerhin
einer oder der andere Benutzer der Schrift auf den Gedanken kommen, nach Stellen
zu suchen, an denen Anschauungen behandelt sind, die sich aus der eigenen Praxis
des Geschichtsschreibers als päpstlicher Statthalter in der Emilia ergeben.
Eine Einschränkung des Themas im Titel der Arbeit hätte den Verfasser
auch der Notwendigkeit enthoben, den Ausschluß der „Storia d'Italia“ zu begründen.
Er schreibt: „Seine bis dahin am meisten bekannte und angesehene ‚Geschichte
Italiens‘, deren konventionelle Form und Quellenunklarheiten Ranke zu einer
eingehenden Kritik veranlaßt haben, trat mit jener Veröffentlichung (der der ,Opere
inedite") weit in den Hintergrund, die desto eindrucksvoller den großen Geschichts-
schreiber seiner Vaterstadt, den politischen Denker und Schriftsteller und nicht
zuletzt den Freund Macchiavellis hervortreten ließ.“ Abgesehen davon, daß es frag-
lieh ist, ob die hier angegebene Folge von Rankes — übrigens ungenau wieder-
gegebenem — Urteil auch noch für uns verbindlich sein muß — bekanntlich wird
das von Fueter und anderen heftig bestritten —, so l&Bt sich doch nicht leugnen,
daß selbst bei zugegebener Wertlosigkeit der , Storia d'Italia“ für die Zeitgeschichte
ihr Quellenwert für die Anschauungen Guicciardinis unschützbar ist. Auch in ihr,
und vielleicht noch mehr, als in den anderen Schriften, offenbart sich der hervor-
ragende politische Denker und Schriftsteller und der Freund Macchiavellis, und
200 Kritiken
darüber hinaus ist sie dadurch bedeutsam, daB sie sein einziges für die Veröffent-
lichung bestimmtes Werk gewesen ist, und so statt der in der „Opere inedite“
wiedergegebenen wechselnden Stimmungen die für Mit- und Nachwelt gültigen
Grundsätze enthält. Daß sich aber aus ihr nichts über finanzpolitische Anschauungen
entnehmen ließe, wird im Ernst wohl nicht behauptet werden können.
Unter den genannten Einschränkungen in Btr. der Stoffauswahl und Behand-
lungsweise ist die Schrift eine wertvolle Bereicherung der finanztheoretischen Lite-
ratur. Das Material dürfte im wesentlichen vollstándig gesammelt sein, und die
Auslegung genügt den Ansprüchen, die man an eine vorläufige Bearbeitung richten
kann, die tieferschürfenden Fragestellungen den Weg nicht verlegen will. So ist
das Büchlein eine vorzügliche Stoffsammlung für Arbeiten jeder Art, die auf der
von ihm gegebenen Grundlage nach allen Richtungen weiterbauen kónnen. Die
wichtigsten Sätze sind wörtlich im Urtext und in deutscher Übersetzung zitiert,
und die Gedankenreihen, denen sie entstammen, ausführlich wiedergegeben und
miteinander in Zusammenhang gebracht, was bei ihrer Herkunft aus 3. T. grund-
verschiedenen Werken nicht immer ganz einfach war. Interessant sind die Aus-
führungen über die Bedeutung des Reichtums und die daraus folgende Ablehnung
konfiskatorischer Steuerprogressionen durch die hierzu aus dem Steuerdialog an-
geführten theologisierenden Argumente, die man von dem Freund Macchiavellis
und pfaffenfeindlichen Politiker nicht erwarten würde. Sollte der Zweck dieses Dia-
logs vielleicht weniger in der unparteiischen Abwügung des Für und Wider der
Streitfrage zu suchen sein, als in der Ausarbeitung wirksamer, wenn auch vom
Verf. selbst nicht geglaubter Argumente für den von Anfang an feststehenden
eigenen Standpunkt? Wenn dem so wäre, so könnte man sich überhaupt große
Teile der „Opere inedite" ähnlich entstanden denken, was ihren Wert als Selbst-
zeugnis allerdings stark beeinträchtigen würde. — Auch das Kapitel über die Steuer-
politik der Medici und des Volkes wirft interessante Streiflichter auf die schon
sonst bekannte Entwicklung. — Wenn sich aus der Schrift trotz der sorgfältigen
Arbeit des Verfassers keine zusammenhängende und umfassende Finanztheorie
ergibt, so liegt das zum groBen Teil daran, daB Guicciardini als reiner Empiriker
eine solche nicht ausgearbeitet hat, und daß er gerade in der ,,Opere inedite" immer
nur zu einzelnen Streitfragen, und auch nur vom praktischen Standpunkte aus
Stellung nimmt. Daher hätte die Beigabe einer kurzen Einführung in das floren-
tinische Finanzsystem das Verständnis der besprochenen Ausführungen Guicciar-
dinis sicher gefördert. Sie hätte auch den Hauptteil der Arbeit in bessere Verbin-
dung mit der Einleitung und dem Schluß gebracht, denn es wäre dann klarer als
jetzt hervorgetreten, daß in dem Augenblick, als die Finanzen des Stadtstaates
Florenz unter dem Übermaße der Anforderungen zusammenbrachen, sein Haupt-
vertreter nur Einzelverbesserungen vorzuschlagen wußte, während der ihr auf-
gezwungene Herzog Cosimo I., wenn auch zögernd und nicht ohne Rückschläge,
ein neues System versuchte, nämlich eine das ganze Land umfassende Wohlfahrts-
politik unter Verzicht auf kostspielige und un zeitgemäße Großmachtsbestrebungen.
Eine auf die Wohlfahrt der Einwohner bedachte Politik hatte auch Guicciar-
dini gefordert, aber sie sollte lediglich der Stadt Florenz und den Besitzungen ihrer
Bürger auf dem Lande zugute kommen. Stets warnt er davor, den Sudditi des
Territoriums Konzessionen zu machen, die nur die Folge hätten, ihre Begehrlich-
keit höher zu reizen. Besonders bezeichnend sind für ihn die Zitate in den Ab-
Kritiken 201
schnitten: Der Haushalt, Das Territorium, Die Miliz. Unter diesem Gesichtspunkt
muB man aber auch sein Verfassungsprojekt betrachten. Der Senat, ohne dessen
Zustimmung der Herrscher keine wichtigen Schritte unternehmen sollte, sollte
natürlich nur aus Stadtbürgern von Florenz bestehen. Für die Staatsauffassung
Cosimos wáre aber, wenn überhaupt, nur eine Kórperschaft aus Notabeln des ganzen
Landes annehmbar gewesen, die dann selbstverständlich auch in ihren Funktionen
etwas wesentlich anderes geworden wäre, als Guicciardinis Senat. Eine solche
Versammlung würe aber, selbst wenn man sich hátte über Richtlinien für die Ver-
tretung des Territoriums einigen können, infolge der Gegensätze zwischen Stadt-
bürgern und Sudditi arbeitsunfühig gewesen. Aus diesem Grunde schien es auch
sachlich gerechtfertigt, irgendeine Art von mitentscheidender Körperschaft gar
nicht erst aufkommen zu lassen, wenn auch der Hauptgrund für die Ablehnung
des Projekts die bekannte Abneigung Cosimos war, seine Macht mit irgend
jemand zu teilen. Durch diese wurde aber aus dem sachlichen Gegensatz auch
ein persönlicher, da Guicciardini ja als Führer des geplanten Senats sich selbst
gedacht hatte.
Abgesehen von der stadtstaatlichen Beschrünktheit seines Standpunktes
hat dieser auch deshalb keine grundlegenden Änderungen der Finanzpolitik vor-
geschlagen, weil er mit vielen anderen hervorragenden Politikern der Vergangen-
heit und Gegenwart der Ansicht war, daß die Finanzpolitik nur ein verhältnismäßig
gleichgültiger Nebenpunkt der allgemeinen Politik ist. Es ist ja auch ohne weiteres
klar, daß eine auf Förderung des Reichtums und Vermeidung unnótiger Ausgaben
gedachte Verwaltung, wie sie Guicciardini wünscht, auch bei einer theoretisch
falschen Finanzpolitik die nótigen Einnahmen erlangt, ohne die Steuerzahler be-
sonders schwer zu drücken, wührend eine verkehrte Allgemeinpolitik selbst bei
idealem Finanzsystem schlieBlich auch durch stárksten Druck nichts mehr aus den
leeren Taschen herausholen kann!. Daher wáre es lehrreich gewesen, wenn Guicciar-
dinis Verfassungsentwurf nicht nur mitberücksichtigt, sondern in den Mittelpunkt
der Darstellung gerückt worden würe, denn von ihm aus empfangen alle seine andern
Anschauungen erst den zur Beurteilung nótigen MaBstab. Die neue Verfassung
sollte ja nicht nur eine gerechte Lastenverteilung gewährleisten, sondern die Po-
litik des durch sie ans Ruder gebrachten Senats von Sachverständigen sollte auch
den Druck der Lasten auf den einzelnen und womóglich ihre absolute Hóhe min-
dern. Was Guicciardini sonst finanzpolitisch für wünschenswert hült — Abschaffung
der Progression bei der Decima und statt dessen Erhóhung der Mehl- und Salz-
preise, sowie der Staatsschuld — war bei der herrschenden Not undurchführbar,
die er selbst zugibt (vgl. S. 30 und 76), und hätte ihm bei besserer Gesamtlage
schwerlich Kopfzerbrechen gemacht. Seine ganze finanzpolitische Spekulation ist
ihm eben nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur Wiederherstellung des Wohl-
standes der früheren Herrenschicht, in der sich Geburtsadel, Bildung und Besitz —
oft sogar in der gleichen Person — vereinten. Wenn diese die ausschlaggebende
Macht zurückerhielt, wobei der Herzog eine Stellung wie der Doge von Venedig
bekommen hátte, wührend das Volk mit dem Gran Consiglio zu einer bloBen Ja-
sagemaschine herabgedrückt worden wäre, so wäre nach Guicciardinis Meinung auch
finanzpolitisch alles in Ordnung gewesen. Dieser Optimismus und vielleicht auch
! Vgl. die Zustände im Preußen Friedrichs des Großen und im heutigen Reiche.
202 Kritiken
die fast 20jährige, nur selten auf kurze Zeite unterbrochene Entfernung von der
Vaterstadt läßt ihn übersehen, daB schon zur Wiederherstellung des Reichtums
der doch meist auch auBerhalb der Stadt begüterten Herren und des Handels und
Wandels der ärmeren Klassen nichts so dringend nötig war, wie eine Hebung des
Untertanengebietes — namentlich der Seestädte und der Landwirtschaft treibenden
Bezirke —, wie sie Cosimo I. tatsächlich begann, wenn er auch auf halbem Wege
stecken blieb. Das hàtte zwar auBerdem die Entlastung der Stadt durch Erhóhung
der Lasten des Territoriums ermóglicht, aber auch die Bedeutung der Sudditi in
einer Guicciardini unerwünschten Weise erhöht. Die Zeiten des städtischen
Patriziats waren eben auch nach dieser Richtung vorbei. Als Ursachen seines wirt-
schaftlichen Niederganges nennt Guicciardini in allererster Linie, wie wir schon
sahen, die den Ruin aller Klassen herbeiführende falsche Gesamtpolitik und daneben
eine reichtumsfeindliche Handhabung der Steuergesetze, schlechte Wirtschaft sowie
den allgemeinen Kreislauf der Dinge, der selten zulasse, daß ein Vermögen länger
als drei Generationen in einer Hand bleibt. Von dem für die Wirtschaft Italiens
verhängnisvollen Umschwung der Lage seit der Entdeckung Amerikas und dem
Niedergange des Orienthandels weiß er also nichts. Auch hier zeigt sich Cosimo I.
mit seiner Monopolisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen,
namentlich mit Korn, Öl und Wein und den damit zusammenhängenden Maßnahmen
zur Mehrung und Verbesserung der Erzeugung, sowie mit seiner Hebung von Pisa
und Livorno und der auch politisch wichtigen Pflege der Beziehungen zu Spanien
und selbst Frankreich als der die Forderungen der Zeit besser erkennenden Politiker.
Dabei entsprach sein Verhalten, das am Finanzsystem nur die sich aus der Gesamt-
politik ergebenden Änderungen vornahm, völlig den Anschauungen Guicciardinis
über den Vorrang der allgemeinen Politik vor den speziell finanzpolitischen Maß-
nahmen.
Leipzig. Max Hofmann.
Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende. Stuttgart
und Berlin. (Deutsche Verlags-Anstalt) 1932. 644 S. 8°, geb. 14.2 K.
In seiner 1908 erschienenen Erstlingsschrift schrieb Willy Andreas, ausgehend
von einer Analyse des Geistes, der sich in den Relazionen der venezianischen Staats-
männer kundtut: „Man sehnt sich nach vielem Lesen einmal nach einem ihrer un-
geschickten deutschen Zeitgenossen, nach seiner treuherzigen Hingebung und naiven
Erzühlerbreite." Heute legt er ein Buch vor, das nichts Geringeres darstellt als
einen Querschnitt durch die gesamte Kultur Deutschlands am Vorabend der Re-
formation, diese üppig wuchernde, aller einfachen Formulierung spottende Kultur
mit ihren örtlich und zeitlich so mannigfaltigen, hier plumpen und groben, dort
wieder einen Spätstil verratenden feinen Zügen.
Hatte einst Jacob Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien
erstmalig versucht, die einheitliche Art eines als Ganzheit so noch nicht erfaßten
Zeitalters herauszustellen, so fiel Andreas seinem Gegenstande gegenüber eine
wesentlich andere Aufgabe zu. Er fand gebahnteren Weg, hatte dafür aber die
schwerere Bürde einer riesigen, über den Stoff erwachsenen Literatur zu tragen.
Die letzten breiteren Bearbeitungen des Themas liegen freilich schon weit zurück:
42 Jahre Georg von Bezolds seinerzeit mit Recht bewunderte Einleitung zur Ge-
Kritiken 203
schichte der deutschen Reformation, 37 Jahre A. E. Bergers weniger gelungener
Versuch über die Kulturaufgaben der Reformation. Desto gewaltiger ist die Zahl
der Monographien, die seitdem ans Licht traten.
In einem stattlichen Bande von mehr als 600 Seiten ziehen Menschen und
Dinge jener Zeit an uns vorüber. Er ist in drei Hauptteile gegliedert: I. Weltbild,
Kirche und Volksreligiosität am Vorabend der Reformation. II. Staat, Gesell-
schaft und Wirtschaft an der Neige des Mittelalters. III. Die Zeitenwende in Geistes-
leben und Kunst. — Es ist wohl kein Zufall, daB von Bezold seinerzeit im groBen und
ganzen den Weg von außen nach innen einschlug, mit Reich und Staat begann,
um mit den religiösen Zuständen und den Vorspielen der Revolution zu schließen,
Andreas dagegen mit Kirche und Religion beginnt und im letzten Abschnitt zu
ihnen zurückkehrt, indem er ihr Hervor- und Zurücktreten in Geistesleben und Kunst
beobachtet.
Die Eigenschaften, die zum Gelingen einer so schwierigen Arbeit erforderlich
sind, vereinigt der Geschichtschreiber Andreas in glücklichster Weise: die Kunst
farbiger Schilderung, die durch den Reichtum gut gewühlter Einzelzüge fesselt,
die Fähigkeit, Stärkegrade abzuschätzen, im Fluß befindliche Dinge behutsam zu
beschreiben, das Nebeneinander mannigfacher Ursachenreihen anschaulich zu
machen, landschaftliche Unterschiede in der Ausprägung der gleichen Erscheinung
zu erfassen, nicht zuletzt, eigenartige und umstrittene Persönlichkeiten feinsinnig
zu verstehen und gerecht abwägend zu würdigen. (Man vergleiche u.a. die Cha-
rakteristiken von Celtis und Mutianus Rufus, S. 494—496, des Erasmus, S. 506 bis
623, Kaiser Maximilians, S. 230—241.) i
Das Buch enthält auffallend wenig Jahreszahlen, gleichwohl bleibt der Leser
nie im Unklaren, ob die geschilderten Zustände dem Beginn, der Mitte oder dem
Ende des behandelten Zeitraums angehören. Der Verfasser hat, was er in den
Quellen und einer weitschichtigen Literatur fand, nicht nur zusammengefaßt, ab-
gewogen und gestaltet, sondern auch erweitert und ergänzt. In einem Anhang
führt er die wichtigsten Schriften kurz an, nimmt Stellung zu ihnen und bezeichnet
Lücken, die er auszufüllen suchte. So heißt es zum 7. Kapitel (Ländliche Ver-
hältnisse und Vorboten des Bauernkrieges): ,,Diese den süddeutschen Verhältnissen
gewidmeten Studien bedurften nunmehr einer Ergänzung für Norddeutschland,
für dessen agrarische Zustünde eine einheitliche, zusammenfassende Schilderung
fehlt", — und ähnlich nennt er auch sonst die besonderen Ziele, die er sich gesteckt
hat. Wenn er an ein oder zwei Stellen trotz seiner bemerkenswerten Vorsicht in
der Deutung der Tatbestánde nicht allen Móglichkeiten gerecht zu werden scheint!,
bleibt das die Ausnahme und tut der anregenden Kraft des Buches keinen Eintrag,
das dem einfachen Leser wie dem sachkundigen Fachgenossen reichen Genuß
bereitet.
Leipzig. Paul Kirn.
1 Ich denke an S. 602/08, wo aus der immer mehr realistisch werdenden Darstellung
beiliger Personen und Dinge in der Kunst gefolgert wird: „Die feste Rangordnung meta-
physischer Werte .... gerät ins Wanken.“ Gewiß kann man das so auffassen. Aber m. E.
kann der gleiche Tatbestand auch so verstanden werden, daß man wagte, jene erhabenen
Personen in Alltagsbeleuchtung zu stellen, weil man nicht zu fürchten brauchte, sie büßten
Ihren tm Volksbewußtsein sicher gegründeten hohen Rang dadurch ein.
204 Kritiken
Lacour-Gayet, G., Talleyrand (1754—1838). T. 1 (1754—1799), 1930, 426 S.;
T. 2 (1799—1815), 1930, 495 S.; T. 3 (1815—1838), 1931, 519 S. Paris (Payot).
Preis je 40 frcs.
Bei der hohen Bedeutung, die der groBen Revolution mit ihren klaren Front-
stellungen in Frankreich in den geistigen Auseinandersetzungen des Tages zu-
kommt, ist das lebendige Interesse der franzósischen Geschichtschreibung an dieser
entscheidenden Wende ihrer vaterländischen Geschichte, die der Physiognomie des
französischen Wesens bestimmende Züge aufgeprägt hat, sehr wohl zu verstehen.
Eher wäre es zu verwundern, daß diejenige Persönlichkeit, die bis auf zwei Jahre
durch alle Phasen der großen Umwälzung hindurch — zuerst als hervorragendes
Mitglied der Nationalversammlung, dann als leitender Minister der verschiedenen
Systeme — im Blickpunkt des Interesses gestanden hat, erst rund 40 Jahre nach
dem Erscheinen seiner Memoiren seine eingehende Biographie erhält. Ihr Verf.
hat eine sehr fleiBige Arbeit geleistet. Zehn Jahre hat er der sorgsamen Durchforschung
des gesamten handschriftlichen und gedruckten Materials gewidmet, und nach
einer größeren Zahl von Einzeluntersuchungen über Teilprobleme der Geschichte
T.’s legt er nunmehr diese seine Studien abschließende Darstellung vor, in der er
eine erdrückende Fülle von Quellenzeugnissen vor dem Leser ausbreitet, aber die
Forschung dadurch um so ernstlicher zur Prüfung herausfordert, ob es sich hier
wirklich um die abschließende Behandlung der wohl am schwersten zu deutenden
Persönlichkeit der französischen Revolution handelt, als die das Werk nach dem
aufgewandten wissenschaftlichen Apparat angesehen zu werden doch wohl den
Anspruch erheben dürfte.
Die vier ersten Kapitel des 1. Bandes, der mit dem Staatsstreich des 18. Bru-
maire abschließt, behandeln die Zeit bis zum Ausbruch der Revolution. Nach einem
kurzen Rückblick auf die Geschichte der Familie T., die sich bis ins 10. Jahrhundert
zurückverfolgen läßt, beginnt Verf. mit einer Schilderung der Kindheit und Jugend-
zeit T.'s. Hauptquelle sind hier die 1816 niedergeschriebenen Memoiren. Sie be-
zeichnen als für seine Entwicklung weithin bestimmenden Grundzug jener Jahre
das innerlich kühle Verhältnis zu seinen Eltern, das sich bis zu dem Gefühl der
Vereinsamung und Verlassenheit steigerte. L. erklärt diese Darstellung für einen
Versuch T.'s, sein liebloses Verhalten späterer Jahre nachträglich zu rechtfertigen,
und sucht sie zu entkräften, indem er aus Briefstellen der Eltern und Äußerungen
von der Familie nahestehenden Personen zu erweisen sucht, daß kein Grund zu
einer solchen Einstellung des Knaben T. bestanden habe. Aber angesichts der
psychologischen Unmöglichkeit, das Vorhandensein eines Gefühls durch den Nach-
weis seiner Unberechtigtheit zu widerlegen und angesichts der äußeren Stellung
der Eltern — beide in hohen Hofámtern — und schließlich angesichts der respekt-
vollen Schilderung T.'s von seiner Mutter als der vollendeten Gesellschaftsdame des
ancien régime, die immerhin zusammen der Darstellung der Memoiren einen hohen
Grad von Wahrscheinlichkeit geben, hütten doch schwerer wiegende Beweise bei-
gebracht werden müssen, um die Glaubhaftigkeit der Memoiren zu erschüttern.
Ohne Blick für das noch in die Zeit hereinragende kräftige Stück Mittelalter,
das in den hóheren geistlichen Würden im Grund weiter nichts sah als eine Móg-
lichkeit, den Söhnen alter Familien eine einflußreiche politische Laufbahn zu er-
öffnen — man denke nur an die stattliche Reihe von Kardinälen in der Leitung
der franzósischen Politik —, wird die geistliche Laufbahn T.'s geschildert. Dabei
Kritiken 205
scheint das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, das unüberbrückbare Auseinander-
klaffen zwischen seiner Lebensauffassung und Lebensführung und den Anforderungen
und Pflichten des geistlichen Amtes, diese im strengsten und ernstesten Sinne ge-
nommen, aufzuzeigen, indem L. aus der zeitgenössischen Memoirenliteratur, selbst
aus Pamphleten der Revolutionsjahre, kritiklos alles zusammentrügt, was zu einer
moralischen Verurteilung T.'s dienen kann, wobei er sich sogar einmal auf eine
heute noch im Seminar von Angers lebendige Tradition beruft, um nachzuweisen,
daß T. wegen sittenlosen Lebenswandels das Seminar von Saint Sulpice habe ver-
lassen müssen. Das in dieser Zeit bei T. unverkennbar hervortretende Bestreben,
in die hohe Politik hineinzukommen, und zwar nicht nur durch Anknüpfung von
einfluBreichen Beziehungen und durch Betátigung in der Standesvertretung der
Geistlichkeit, sondern auch durch ernsthaftes Streben nach Aneignung des Rüst-
zeugs zu einer erfolgreichen späteren politischen Tätigkeit, tritt gelegentlich in
den zitierten Quellenstellen hervor, aber mehr zufällig; für eine Zeichnung des
Charakterbildes ist es nicht verwandt, obwohl gerade hier die individuellen Züge
liegen, die ihn sich von den allgemeinen Erscheinungen seiner Zeit und seines Standes
abheben lassen. Die Darstellung dieser ersten, in sich geschlossenen Periode der
Entwicklung T.'s schlieBt mit einer kurzen Charakteristik, die ohne Verstándnis
für seine seelische und gesellschaftliche Lage eine Zusammenstellung von Eigen-
schaften gibt, die ihn in ungünstigem Lichte erscheinen lassen.
Drei Kapitel verfolgen seine Tütigkeit wührend der Revolution. Auch hier
steht das moralische Raisonnement durchaus im Vordergrund. Größerer Wert
als auf die Herausarbeitung seiner politischen Stellungnahme, die durch eine Ana-
lyse seiner Reden und Denkschriften sehr wohl móglich würe, wird auf die Erzühlung
von Anekdoten und Skandälchen gelegt, offenbar in der Absicht, T.'s Charakter
und Lebensführung zu verdächtigen. Von 43 Seiten der Darstellung stehen nicht
weniger als 18 unter diesem Gesichtspunkt, während auf den verbleibenden 25
dem Verf. hauptsáchlich der Nachweis am Herzen zu liegen scheint, daB sein po-
litisches Verhalten mit seiner Stellung als geweihtem Bischof der katholischen
Kirche in einem unvereinbaren Widerspruche stand.
Mit wie wenig Verstándnis Verf. dabei zu Werke geht, zeigt deutlich seine
Behandlung der Bischofskonsekrationen, die T. noch nach Niederlegung seines
bischöflichen Amtes vorgenommen hat. Obwohl von L. selbst zitierte Äußerungen
deutlich zeigen, daß in ihm Gedankengänge des Gallikanismus lebendig waren,
wird in eigenartigen kritischen Erörterungen die Angst als hauptsächlichste Trieb-
feder seines Handelns nachzuweisen gesucht. Eine Besinnung auf die Situation zu
Anfang des Jahres 1791 läßt die Angelegenheit in einem wesentlich anderen Lichte
erscheinen. Die von der Nationalversammlung beschlossene Zivilkonstitution des
Klerus hatte zum Konflikt mit dem Papste geführt, wodurch die Maßnahmen auf
religiösem Gebiet einen nationalkirchlichen Anstrich erhielten. Die Opposition
richtete sich damals gegen den römischen Zentralismus, in jenem Zeitpunkt aber
noch keinesfalls gegen das Dogma oder gegen das priesterliche Amt als solches.
Wollte daher die nach dem Bruch mit Rom zur Nationalkirche gewordene Gemein-
schaft Geistliche haben, die die zur Ausübung des geistlichen Amtes erforderlichen
Bedingungen erfüllten, so mußte für sie der durch die bischöfliche Priesterweihe
unumgängliche unmittelbare Zusammenhang zurück bis auf Petrus und Christus
gewahrt werden. Nun hatten sich aber durch Leistung des Priestereides zwar eine
206 Kritiken
Reihe von Priestern, jedoch nur ganz vereinzelt Bischófe auf die Seite der neuen
Ordnung gestellt. Die neue Nationalkirche mußte daher zunächst darauf bedacht
sein, sich die Möglichkeit, selbst zum Priester zu weihen, zu schaffen. Da nun in-
folge von Verhinderung und Abwesenheit die nach den kanonischen Vorschriften zur
Durchführung einer Bischofsweihe erforderliche Anzahl von Bischöfen ohne Hinzu-
nahme T.'s nicht aufzutreiben war, übernahm dieser als der vornehmste der anwesen-
den den Akt der Weihe, woran ihn die kurz zuvor vollzogene Niederlegung seines
bischóflichen Amtes nicht hinderte, da ja nach katholischer Auffassung eine einmal
vollzogene Weihe einen Charakter indelebilis verleiht, der durch keinen Akt des Ge-
weibten wieder aufgehoben werden kann. Diese Auffassung ergibt sich zwanglos
aus der Darstellung der Memoiren, wenn man ihr ohne Voreingenommenheit gegen-
übertritt, nur vom strengen Standpunkt der zentralistischen Papstkirche erscheint
das Verhalten T.'s als Frevel und Abfall. Auch in der Behandlung dieser zweiten
Periode im Leben T.'s tritt seine wahre Haltung und Bedeutung nur gelegentlich
hervor, polemisches Beiwerk und moralisches Raisonnement stehen durchaus im
Vordergrund.
Die einer Besprechung gezogenen Grenzen erlauben nicht, die gesamte Dar-
stellung L.'s in der gleichen Weise einer kritischen Nachprüfung zu unterziehen, im
Folgenden sollen daher lediglich die wichtigsten Punkte hervorgehoben werden.
Bei der Darstellung des Eintritts T.'s ins Ministerium folgt Verf. zwei Quellen,
dem Bericht in Barras’ Memoiren und T.'s eigener Darstellung. In der für seine
Methode kennzeichnenden Art reiht er beide Berichte aneinander, ohne an den
handgreiflichsten psychologischen Unmöglichkeiten Anstoß zu nehmen. DaßT. durch
eine Intrigue der Frau von Staél ins Ministerium gekommen ist, wissen wir von
ihm selbst, aber es müßte doch auf einiges Bedenken stoßen, sich den Hergang so
vorzustellen, wie ihn Barras erzáhlt. Es ist doch zum mindesten unglaubhaft, daB
die rührselige Geschichte von den Selbstmordabsichten des Ministerkandidaten
den anfänglich widerstrebenden Barras ungestimmt haben sollte. Und welche
Rolle läßt Barras T. spielen, den Weltgewandten, jeder Situation Gewachsenen?
Die eines linkischen unbeholfenen Menschen, der von anderen zurechtgerückt
werden muß. Dieser Bericht enthält doch wahrlich soviel des Unwahrscheinlichen,
daB seine Glaubhaftigkeit erschüttert sein dürfte. Und da auch T. aus den Gescheh-
nissen nur einen Zug heraushebt, so würde ein non liquet der historischen Wahrheit
auf alle Fälle eher gerecht als ein kritikloser Anschluß an die Quellen. Von der
gleichen inneren Unmóglichkeit ist der Wille zur Bereicherung, der ihm als alleiniges
Motiv untergeschoben wird, und zwar auf Grund einer Szene von einer nicht ge-
ringeren Unwahrscheinlichkeit. Zweifellos war es für T., der die Grundlagen seiner
früheren Existenz verschüttet sah, und der nach seiner Rückkehr aus Amerika
in einer sehr bedrángten Lage war, sehr wesentlich, in ein gutbesoldetes Staatsamt
zu kommen, aber ist man deswegen berechtigt, angesichts des in seinem ganzen
früheren Leben hervorgetretenen Dranges nach politischer EinfluBgewinnung, der ihm
alle Aussicht eróffnet hatte, einmal die Reihe der erfolgreichen geistlichen Würden-
träger als Leiter der französischen Politik fortzusetzen, das Streben nach politischer
Betätigung als Motiv auszuschalten, zumal er dann später der einflußreichste und
wirksamste der Minister der Revolution und des Kaiserreichs geworden ist ?
Die einseitige Betonung des finanziellen Interesses bei der Übernahme des
Ministeriums führt mit innerer Notwendigkeit dazu, T. in seinem Verhältnis zu
Kritiken 207
Napoleon jede Selbstándigkeit der politischen Haltung abzusprechen und ihn zum
willenlosen Werkzeug des Usurpators zu machen. Allein in dem Straßburger Schreiben
von 1805 und in der Warschauer Denkschrift von 1807 sieht L. den Versuch zur
Entwicklung einer eigenen politischen Meinung. Dem könnte man aus seiner eigenen
Darstellung entgegenhalten die Bedeutung, die er selbst ihm als dem geistigen
Urheber der Expedition nach Ägypten beimißt, der von ihm gleichfalls behauptete
Einfluß auf den spanischen Krieg von 1808, wozu noch zahlreiche Äußerungen
Napoleons kommen, die nicht recht zu dieser These stimmen wollen. Vor allem
aber die von ihm vertretene Mittelmeerpolitik, von der der Zug nach Ägypten nur
ein Teil war, und die doch schon die ganze spätere Mittelmeerpolitik vorzeichnete.
Ihm mit dem Verf. die Schuld an dem Mißerfolg der Expedition zuzuschreiben, geht
doch wohl kaum an; den militärischen Teil hatte Napoleon als der zuständige Fach-
mann gebilligt, und daB die französische Flotte durch eine Unachtsamkeit ihres
Kommandanten vóllig vernichtet werden würde, konnte er wirklich nicht voraus-
sehen. Daß die französische öffentliche Meinung einen Sündenbock suchte und in
T. fand, ist weiter nicht verwunderlich, aber nach 130 Jahren sollten derartige Ur-
teile nicht mehr ungeprüft übernommen werden.
Entsprechend dieser Gesamtauffassung von T.'s Charakter wird auch seine
Losung von Napoleon und der schlieBliche Bruch betrachtet. Die These der Memoiren,
daB die Eroberungspolitik nach 1803 mit seiner politischen Gesamtanschauung
nicht mehr vereinbar war und sich nun eine Entfremdung anbahnte, die schlieBlich
zu seinem Ausscheiden aus dem Ministerium führte, wird abgelehnt und durch die
L. nàherliegende Erklärung ersetzt, daB T. mit der ihm eigenen feinen Witterung für
das Kommende Napoleons Sturz vorausgeahnt und sich rechtzeitig in Sicherheit
gebracht habe. Dementsprechend sieht Verf. in T.'s Verhalten auf dem Erfurter
Kongreß nichts weiter als einen nur aufs schürfste zu verurteilenden Verrat, wobei
die finanziellen Vorteile in geschickter Weise in den Vordergrund geschoben werden.
Es ist hier nicht der Platz, auf die schwierige Frage der auBenpolitischen Haltung
T.’s näher einzugehen, die Dinge liegen hier keineswegs einfach und bedürfen noch
der náheren Klárung.
Noch stärker identifiziert Verf. 1814, als T. wieder in die Politik einzugreifen
begann, das Interesse Frankreichs mit dem Napoleons und hat darum für T. nur
die stärksten Worte der Verurteilung; was er für die Wiederherstellung der Bour-
bonen tat, erscheint als reiner Landesverrat, ein anderes Motiv als das des ehrgeizigen
Egoismus wird nicht anerkannt.
Besonders zu bemerken ist die Stellung zu dem von T. abgeschlossenen Ersten
Pariser Frieden. Er wird als eine unnötige Preisgabe der berechtigtsten Interessen
Frankreichs abgelehnt, in einer eigentümlichen Einschätzung der politischen und
militärischen Lage, die einen Frieden auf einer anderen Grundlage als den Grenzen
des alten Frankreichs für möglich hält. Die Verträge von Basel, von Campo-Formio
und Luneville, „ces traités où la France était parvenue à dessiner le cadre de ses
frontiéres naturelles", werden deutlich geschieden von den maBlosen Eroberungen,
die ihnen folgten. Nun, T. hat nicht an diese natürlichen Grenzen geglaubt, für ihn war
das Frankreich des ancien régime das naturgegebene Glied der europäischen Völker-
gemeinschaft. Es erweckt aber den Anschein, als ob in diesen Differenzen der politischen
Zielsetzung einer der Gründe zu suchen sei, der dem heutigen geistigen und poli-
tischen Frankreich weithin den Zugang zu einem seiner gróBten Politiker verschlieBt.
208 Kritiken
Von dieser Einstellung aus ist es schwer, der Leistung T.'s auf dem Wiener
KongreB gerecht zu werden. Das Ansehen und die einfluBreiche Stellung, die er
für Frankreich in diesen Verhandlungen erkämpft hat, werden anerkannt, aber wie
etwas Selbstverständliches hingenommen, der Vertrag vom 3. Januar 1815, der
das geschlagene Frankreich den Siegerstaaten Österreich und England gleichberech-
tigt an die Seite stellte, wird mit schlichten Worten registriert, ohne daB die von T.
entfaltete hohe diplomatische Kunst gewürdigt wird. Dafür wird ihm aber, wieder aus
den Einstellungen der praktischen Politik heraus, der Vorwurf gemacht, nicht ver-
hindert zu haben, daB PreuBen am Rhein die starke Position begründete, welche
die Voraussetzung für die spátere Einigung Deutschlands wurde, übrigens Fragen,
die auch von T.'s politischer Gesamtanschauung aus sich nicht unwesentlich anders
ausnehmen. Von Interesse ist hier ferner noch die Beobachtung, daB der Behandlung
des Wiener Kongresses ganze 11 Seiten gewidmet sind, während z. B. die also an-
scheinend für so viel wichtiger gehaltenen Fragen der Laifizierung und Ver-
heiratung T.'s auf nicht weniger als 22 Seiten behandelt sind.
Die Zeit nach dem Wiener KongreB bis an sein Lebensende füllt den 3. Band.
Zunächst wird in seiner Quellenstück an Quellenstück reihenden Art T.’s Tätigkeit
als Minister Ludwigs XVIII. dargestellt, dann folgt in ausführlicher Breite mit
zahlreichen Streiflichtern auf die Vorgänge der großen Politik eine Schilderung
der Jahre der Zurückgezogenheit ins Privatleben, bis zur Rückkehr in die hohe Politik
in der Zeit der Julirevolution. T.'s Anteil an der Revolution wird bestimmt und
dann in eingehender Darstellung seine diplomatische Tátigkeit als Gesandter Louis
Philipps in London gewürdigt. Wenn auch die Seitenblicke auf die persónlichen
Motive und auf den Ehrgeiz, eine hervorragende politische Rolle zu spielen, nicht
fehlen, so werden doch die hohen Verdienste, die er sich aus patriotischem Pflicht-
gefühl um das Ansehen Frankreichs, die Erhaltung des Friedens und die Anerkennung
der neuen Dynastie erworben hat, durchaus anerkannt.
Von den Ausführungen über die letzten Lebensjahre nach dem Ausscheiden
aus der politischen Wirksamkeit sind die Untersuchungen über T.'s Friedensschluß
mit der Kirche von besonderer Bedeutung. Auf der Grundlage der intimen Zeug-
nisse wird zunüchst seine ernste Grundhaltung in den Fragen der Religion und Welt-
anschauung sichtbar gemacht, dann wird an Hand der Dokumente, der Selbst-
zeugnisse T.'s, der Aufzeichnungen der Herzogin von Dino und ihres Beichtvaters,
des späteren Bischofs von Orléans, Dupanloup, dessen Vermittlungstätigkeit sich T.
zur Wiederanknüpfung der Beziehungen zur rómischen Kirche bediente, Schritt
für Schritt die Entwicklung der Vorgänge verfolgt und einwandfrei festgestellt, daß
diese letzte Wendung weder aus Gründen einer unmännlichen Todesfurcht, noch
aus bloßer Opportunität zu erklären ist, sondern sich organisch aus dem Wesen
des Fürsten erklärt, dabei allerdings seinem Charakter eine Tiefe gibt, die zu
manchen Partien des Werkes nicht recht passen will.
Eine Gesamtwürdigung des privaten und öffentlichen Charakters T.'s schließt
das Werk. Für jenen wird zunächst der unwiderstehliche Zauber, der von ihm aus-
ging, aus Urteilen seiner Zeitgenossen belegt und aus seiner Herkunft als gentilhomme
des ancien régime erklärt, wie in gleicher Weise seine Beherrschtheit, seine Gleich-
gültigkeit gegen die Wechselfälle des Lebens, eine gewisse Skrupellosigkeit in Geld-
sachen und sein Verhältnis zu den Frauen. Überall in dieser Zusammenfassung
wird das Bestreben deutlich, dem Gegenstande gerecht zu werden, und doch wird
Kritiken 209
dieser Wille zur Objektivität dem Staatsmanne gegenũber erschwert durch die
schon erwähnten Differenzen in der politischen Zielsetzung. Der Glaube an die
Rheingrenze läßt eine Anerkennung der großen Leistung des Politikers T. nicht
zu, so daB das abschließende Gesamtbild ihm nur die Eigenschaften der Gewandt-
heit, der Kunst der Anpassung, der Geschmeidigkeit, der Fähigkeit zu geschickter
Ausnützung der gegebenen Umstände zuerkennt, die darüber hinausgehenden
Qualitäten des Politikers oder gar Staatsmannes von größerem Gewicht aber versagt.
Ist nun dieses monumentale Werk, das sich in Heranziehung auch entlegensten
Materials nicht genug tun kann, wirklich die erschöpfende und endgültige Bio-
graphie, die das Bild des wandlungsfähigsten aller französischen Staatsmänner für
immer gezeichnet hat? Und wenn sie es nicht ist, woran liegt es, daB einer so
großen Mühewaltung der letzte Erfolg versagt geblieben ist? Zwei Gründe nehmen
dem Werk den Charakter einer abschlieBenden und seinem Gegenstande von allen
Seiten gerecht werdenden Leistung: der eingenommene Standpunkt und die an-
gewandte Methode. Der Verf. hat sich für seine Wertung einen ganz festen Aus-
gangspunkt genommen, den der katholischen Kirche. An ihren Maßstäben mißt er
alles und verurteilt, was mit ihnen nicht in Einklang ist, anstatt Handlungen und
AuBerungen auf ihre Motive zurückzuführen und in ihrer eigentümlichen Bedingt-
heit zu verstehen zu suchen. So kommt in die Darstellung ein zwiespältiger Zug:
alles was in T.’s Leben sich von streng kirchlicher Auffassung entfernt, erfährt
entschiedene Ablehnung: so seine Auffassung seiner priesterlichen Stellung im alten
Frankreich wie seine Kirchenpolitik während der Revolution, seine Laifizierung
wie seine Verheiratung, wohingegen mit seiner Rückwendung zur Kirche in seinem
Alter ein völliger Umschwung in seiner Beurteilung einsetzt, so daß die dem Bilde
zugrundeliegende Einheit der Persónlichkeit nicht genügend gewahrt erscheint.
Bedenklicher noch erscheinen die Schattenseiten der angewandten Methode.
Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, daB in Aufnahme zahlreicher wört-
licher Anführungen eine möglichst große Quellennähe gesucht wird; wenn das
hier nur mit der nötigen kritischen Besonnenheit geschehen wäre! In dieser Hinsicht
läßt der Verf. aber so gut wie alle Wünsche offen. Nur gelegentlich wird der Versuch
gemacht, handgreifliche Widersprüche der Überlieferung durch Interpretation aus
der Welt zu schaffen. Im allgemeinen aber druckt er aus der überreichen Memoiren-
literatur so gut wie alles ab, was ihm zur Beleuchtung des Charakters T.'s dienlich
erscheint, ohne sich um die Einstellung seiner Zeugen zu kümmern. So erscheint
das Bild T.'s in ganzen Partien des Werkes weithin bestimmt durch die Memoiren
der Frau von Staél und Barras’, von denen beiden man eine objektive Haltung nach
dem 18. Brumaire aus naheliegenden Gründen nicht erwarten kann, und Chateau-
briands, der als Vertreter des romantisierenden Katholizismus von T. als dem Ex-
ponenten des aufgeklürten ancien régime durch eine Welt von Gegensätzen geschieden
war. Das hindert aber den Verf. nicht, auch die extremsten Behauptungen und
Verdáchtigungen ihrer Erinnerungen ohne die geringste kritische Bemerkung ab-
zudrucken. In manchen Partien bietet bei diesem unkritischen Verfahren die Dar-
stellung eher ein Bild von der Zerrissenheit der Parteikämpfe und der MaBlosigkeit
der persönlichen Angriffe in der Zeit der staatlichen Auflösung Frankreichs, sowie
der Rivalität und des Intriguierens um die Gunst des allmächtigen Despoten, der
Ruhe und Ordnung wiederherstellte. Indem aber die einzelnen Züge aus diesem
Material mosaikartig zu einem Bilde zusammengefügt werden, erhält dieses etwas
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 14
210 Kritiken
Unsicheres, Schwankendes, und da diese Mängel nicht dadurch ausgeglichen werden,
daß der Verf. die leitenden Linien und beherrschenden Züge deutlich herausarbeitet,
erscheint manches verzerrt, wie aus einem nicht einwandfreien Spiegel reflektiert.
So kommt die kritische Prüfung zu dem Ergebnis, daß es Lacour-Gayet noch nicht
gelungen ist, eine abschließende Darstellung T.’s zu geben. Sein Werk ist zu ver-
stehen aus den Spannungen und Gegensätzen des französischen Geistes, eine ge-
rechte Würdigung des Menschen und Staatsmannes T. ist es aber nicht.
Leipzig. Wendorf.
Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894—1901. Versuch
eines Querschnitts durch die innerpolitischen, sozialen und ideologischen
Voraussetzungen des deutschen Imperialismus. Historische Studien heraus-
gegeben von Ebering, Berlin, 1930. Verlag von Emil Ebering. IX und 464 S.
Das vorliegende Buch ist in der von Ebering unter Mitwirkung von verschiede-
nen hervorragenden Gelehrten herausgebenen Reihe der Historischen Studien er-
schienen. Die Drucklegung ist durch die Notgemeinschaft der Wissenschaft er-
möglicht worden. Man konnte also erwarten, daß es sich um ein Buch von wissen-
schaftlicher Bedeutung handelte.
Ich erlebte eine bittere Enttäuschung. Trotz wissenschaftlicher Verbrämung,
trotz des mit vielen gelehrt klingenden Fremdwörtern gespickten Stiles ist es leider
kein objektives Geschichtswerk, sondern ein politisches Tendenzbuch. Es ist in
die Reihe der Schriften einzureihen, die den Zweck haben, nachzuweisen, daß
Deutschland unter seinem letzten Kaiser von Männern regiert worden ist, die teils
Trottel, teils brutale Egoisten waren.
Nun kann man mir vorwerfen, daB ich ebenfalls parteiisch in der Flottenfrage
bin, denn ich bin in den Jahren 1900 bis 1907 sehr häufig für den Flottenverein,
gelegentlich auch für die Kolonialgesellschaft, als Redner aufgetreten. Ich fühle
mich aber nicht als befangen, glaube im Gegenteil die Pflicht zu haben, das Referat
nicht abzulehnen, obgleich ich gestehen muß, daß es mir persönlich nicht erfreulich
ist, vorliegendes Buch zu besprechen.
Die ersten 34 Seiten berichten über die Entwicklung der deutschen Flotte
bis 1894. Daß in jenen Zeiten gerade der Liberalismus marinefreundlich war, ist
richtig. Aber die Rollen wechselten, als der junge Kaiser eine Seemacht schaffen
wollte. Daß er seine guten Gründe dazu hatte, dafür fehlt Kehr jedes Verständnis.
Kehr teilt (S. 177) die Ansicht Max Webers, daß „die Flottenvorliebe Wilhelms II.
weder Einsicht in eine politische, noch in eine wirtschaftliche Notwendigkeit über-
seeischer Machtpolitik war, sondern Spielerei. Er behandelte auch die Flottenfrage
unter dem Gesichtspunkt eines originellen Leutnants". Die leidenschaftlichen
Äußerungen des Kaisers für die Flotte sind nicht nur „aus der Haltlosigkeit des
Psychopathen" zu erklären, sie wurzelten vielmehr stark in der sozialen Krisis
seines Reiches. — , Der Kaiser wußte gar nicht, was er wollte." — „Mit dem kümmer-
lichen Rest monarchischen Instinkts, den der letzte Hohenzoller noch besaß, hat
er selbst begriffen, auf welcher Grundlage dieser sein Sieg in der Flottenfrage ruhte
(S. 316). Als die Reichstagsabgeordneten die Flotte nicht bewilligen wollten, nannte
er sie Ochsen (S. 315), als sie endlich sich fügten und das nationale Bürgertum
sich für die Flotte begeisterte, freute er sich über das gut vorbereitete Stimmvieh
(S. 316). Seite 413 zitiert Kehr das Schreiben des Kaisers an den Fürsten Hohen-
Kritiken 211
lohe vom 1. August 1897, darin der Kaiser meint, daB England den Handelsvertrag
nicht gekündigt haben würde, wenn Deutschland eine starke, achtunggebietende
Flotte hátte. Kehr gibt sich keine Mühe, Verstündnis für diese Ansicht zu finden,
sondern tut sie spöttisch als „grotesk, aber offenbar ganz ernst gemeint" ab und
sieht sie als Zeichen eines „weltfremden Doktrinarismus“ an, „der ans Patholo-
gische grenzt“.
Kehr schildert, wie dieser angeblich geistig nicht ganz zurechnungsfähige
Kaiser Männer findet, die seine törichten Ideen praktisch ausführten. Zunächst
versuchte er es mit Hollmann, der kam nicht zum erwünschten Ziel. Erst Tirpitz
gelang es. Daß dieser ein kluger und energischer Mann war, leugnet Kehr keines-
wegs. Aber selbst Tirpitz wußte anfangs noch gar nicht, gegen wen man eigentlich
eine Flotte bauen wollte (S. 382). Die Gefahr, die von England her drohte, ent-
deckte man erst später (S. 381). Tirpitz und seine Offiziere wollten eine Flotte
bauen, , weil sie Marineoffiziere waren und ihre eigene Waffe stärken wollten“
(S. 380 und 381). Die Bedeutung der Flotte für die Kolonien sei anfangs auch noch
nicht ausschlaggebend gewesen, denn für diesen Zweck brauchte man keine starke
Schlachtflotte, da genügten die Kreuzer. Übrigens habe die ganze Kolonialpolitik
mit einem Korruptionsskandal angefangen, dem Zusammenbruch des samoanischen
Unternehmens des Hauses Godeffroy. Daß in Wirklichkeit die Kolonialpolitik
damals noch nicht begonnen, sondern für eine spätere, günstigere Zeit zurückgestellt
wurde, daß erst die Flaggenhissung zum Schutz der Unternehmungen des Hauses
Lüderitz in Angra Pequena die Geschichte der deutschen Kolonien beginnt, scheint
Kehr nicht bekannt zu sein.
Seite 209 vertritt Kehr die merkwürdige Idee, daB vor Bernhard Dernburg die
deutsche kapitalistische Wirtschaft sich nicht für die Kolonien interessiert hátte.
Dagegen hätte sie für die Flotte Interesse gezeigt, am meisten natürlich die In-
dustrie, die am Schiffsbau verdiente, weniger der Handel, am wenigsten die Finanz.
Das letztere mag stimmen.
Noch merkwürdiger aber ist die mehrfach wiederkehrende Behauptung (SS. 315,
318, 381), mit Hilfe des Flottenbaues habe man den Sozialismus niederringen wollen.
Gerade das Gegenteil hat man in Wirklichkeit in jenen Tagen ófter gehórt. Wieder-
holt haben Redner, die auf die Arbeitermasse wirken wollten, gesagt, die Marine
kàme nicht, wie das Landheer, bei der Niederwerfung innerer Unruhen in Frage.
Tatsächlich hat die Meuterei 1918 zuerst auf den Kriegsschiffen angefangen.
Sehr eingehend bemüht sich Kehr darzustellen, warum die verschiedenen po-
litischen Richtungen für die Vergrößerung der Flotte eintraten. Daß Millionen von
Deutschen aus innerster Überzeugung es taten, weil sie erkannten, daß keine moderne
Großmacht ohne eine starke Flotte ihre Weltgeltung behaupten kann, dafür fehlt
ihm jedes Verständnis. Er sieht überall nur Eigennutz.
Die Nationalliberalen wurden von der Schwerindustrie unterstützt, diese war
für die Flotte. Der Führer der Nationalliberalen Ernst Bassermann wird S. 311
als ein Mann geschildert, der die Ehre, Rittmeister der Reserve zu sein, hóher stellte,
als die eines politischen Führers im Reichstage, er, „der prominenteste Partei-
führer des Bülowblockes sei von Wilhelm II. mit den unverhülltesten Bezeugungen
der Verachtung bedacht worden, habe aber darauf mit immer wiederholten Er-
gebenheitsbezeugungen reagiert. „Der politische Instinkt, das Gefühl für die politi-
sche Lage erstarrte zu den grotesken Formen, deren Prototyp Ernst Bassermann“ war.
14*
212 Kritiken
Wenn diese Schilderung Kehrs richtig würe, so würde es doch ganz unbegreif-
lich sein, daB Bassermann jahrelang Führer einer Partei sein konnte, zu deren
Mitgliedern damals eine groBe Zahl von Intellektuellen, darunter sehr viele Uni-
versitätsprofessoren, gehörte. Wie würde es ferner möglich gewesen sein, daB Strese-
mann, als er bereits republikanischer Minister war, so warm seines verstorbenen
Parteifreundes gedachte?
Ganz unzureichend ist, was Kehr über die Freisinnige Vereinigung sagt. Jeder
Kenner unserer neuesten Geschichte weiß, daß die Trennung der deutsch-frei-
sinnigen Partei in die freisinnige Vereinigung und in die freisinnige Volkspartei
der Wehrfragen wegen 1893 erfolgte. Damals handelte es sich um das Landheer.
Sieben Jahre später bildete die Vermehrung der Flotte den Gegensatz. Die frei-
sinnige Vereinigung trat für die Flotte ein, und zwar aus innerster Überzeugung.
Angesehene Männer dieser Partei sind in der Flottenbewegung hervorgetreten
und haben im Flottenverein mitgewirkt. Kehr behauptet (S. 307), sie haben das
getan, weil sie hofften, dadurch dem Konservativismus die Herrschaft zu unter-
graben. Während er hier ihnen einen parteipolitischen Zweck unterlegt, wider-
spricht er sich selbst im folgenden Satz, in dem er ganz richtig sagt, daß der Wille
zur nationalen außenpolitischen Macht, die auf der innerpolitischen Freiheit be-
ruhen sollte, für die freisinnige Vereinigung ausschlaggebend gewesen sei.
Nicht ganz leicht ist es für Kehr, sich mit der Haltung des Zentrums ausein-
anderzusetzen. Wenn es sich für die Flotte entschied, so geschah das nach seiner
Ansicht, weil es glaubte, auf diesem Wege sein Ziel zu erreichen: Hegemonie-Partei
zu werden.
Auch die Haltung der Konservativen ist nicht immer leicht zu verstehen. Ihre
nahen Beziehungen zu agrarischen Kreisen hemmten sie vielfach. Aber anderer-
seits war sie so eng mit der Dynastie, der Staatsgewalt und der Wehrmacht ver-
knüpft, daß die Entscheidung zugunsten der Flotte nicht ausbleiben konnte. Die
Niederwerfung des Sozialismus spielte nach Kehr auch bei den Konservativen
eine Rolle in der Flottenfrage. War im Kriege die Industrie beschäftigungslos, so
konnte es zu Hungerrevolten kommen, darum waren die Konservativen für eine
starke Flotte, die eine Blockade brechen konnte (S.329). Ein Hauptgrund sei ferner
gewesen, daß die Konservativen befürchtet hätten, ihre Machtstellung an die Libe-
ralen zu verlieren, wenn diese und nicht sie selbst, die Mittel für die Seemacht be-
willigten. „Die Konservativen bewilligten die Flotte nicht, weil sie sie liebten,
sondern weil sie sie fürchteten." Ein Gegensatz der Demokratie gegen das Heer
sei zur Erhaltung des konservativen Partei- und Sozialprimates unbedingt not-
wendig gewesen (S. 327). Auf der folgenden Seite versteigt sich Kehr zu der un-
geheuerlichen Behauptung, der Grund, weshalb die Konservativen 1893 an der
dreijährigen Dienstzeit festgehalten, sei der gewesen, daß sie die Freisinnigen ab-
sichtlich in die Opposition treiben wollten, ebenso hätten sie später lieber die gräß-
liche Flotte bewilligt, als daß diese gegen ihren Willen von der Linken gebaut wurde.
Von den ein halbes Jahrhundert lang anhaltenden Kämpfen um die Frage zwei-
jährige oder dreijährige Dienstzeit, von dem abweichenden Gutachten militärischer
Sachverständiger, von der lebhaften Anteilnahme König Wilhelms I. an diesen
Erörterungen, scheint Kehr nichts zu wissen. Daß hier ehrliche Überzeugung gegen
ebenso ehrliche Überzeugung stand, daß beide Teile das Beste des Vaterlandes
wollten, das ist ihm unverständlich, denn er sieht überall nur krassen Eigennutz
Kritiken 213
und boshafte politische Intrigue. „Die Flottenfrage", so schreibt er S. 330, „wird
nur verständlich unter dem Gesichtspunkt der Sammlungspolitik. Die Industrie
sollte die Flotte bekommen, aber nur, wenn sie den Agrariern ihre politische und
soziale Vormachtstellung in PreuBen, in Ostelbien belieB, wenn in dem neuen Zoll-
system die Agrarzólle der Mittelpunkt wurden, wenn die Industrie mit der Be-
willigung der Zólle die Profitgarantie der Landwirtschaft übernahm und sich bereit
erklärte, diese Sonderbesteuerung der proletarischen deutschen Stadtbevólkerung
zugunsten der dünnen Herrenschicht des flachen Landes mit ihren polnischen
Saisonarbeitern hinzunehmen.“
Ich habe diese Stelle wórtlich zitiert, denn hier offenbart sich deutlich der Kern
des Kehrschen Buches: die Profitgier der Industriellen verband sich mit der der
Agrarier, sie füllten ihre Taschen mit dem Gelde, das man von der armen prole-
tarischen Bevölkerung erpreBte.
Es gab aber neben den Parteien einen überparteilichen Verein, der das Ziel
hatte, den Bau einer starken Flotte durchzusetzen und der dieses Ziel unter schweren
Kämpfen erreicht hat: das war der deutsche Flottenverein. Die Bedeutung dieses
Vereins kann von keinem ernsthaften Geschichtsforscher geleugnet werden und
wer die Geschichte des deutschen Flottenbaues schildern will, muß sich auch ein-
gehend mit der Tätigkeit dieses Vereins beschäftigen.
Kehr macht sich die Sache recht bequem. S. IX sagt er, daß die Akten des
Flottenvereins nicht mehr vorhanden sein sollen.
Daß sämtliche Akten der Präsidialstelle, der Provinzialgruppen, sowie der
Ortsgruppen im Laufe von dreißig Jahren verschwunden sind, erscheint mir un-
glaublich. Wenn es aber wirklich der Fall sein sollte, dann bleibt doch noch ge-
drucktes Material in Menge, z. B. die alljährlich erscheinenden Jahresberichte, die
Vereinszeitschriften „Überall“ und „Die Flotte“, sowie andere Veróffentlichungen.
Viel Material, das allerdings mühsam zu sammeln ist, bilden die oft sehr ausführ-
lichen Zeitungsberichte über die veranstalteten groBen Versammlungen. Ferner
war durch Erkundigung bei noch lebenden Männern, die an der Bewegung teil-
genommen, noch manches zu erfahren. Allerdings ist der größte Teil der Führer
gestorben, aber es leben noch genug, die Auskunft geben kónnen. Kehr nennt
S. IX einige Herren, an die er sich gewandt, aber das sind nur wenige. So kommt
es, daB wir von der Tátigkeit des Flottenvereins nur ein ganz unzureichendes Bild
bekommen.
Ausführlich behandelt Kehr die Tätigkeit von Viktor Schweinburg, der als
Redakteur der gouvernementalen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung bekannt-
geworden war. Man könnte zunächst glauben, daß Kehr seine Nachrichten von
Ernst Schweinburg bekommen, der ihm nach S. IX mündliche und schriftliche Aus-
kunft gegeben. Dann aber würde das Urteil über Viktor Schweinburg wohl freund-
licher lauten, als wir S. 183—189 zu lesen bekommen. Was wir dort finden, ist
dem „Vorwärts“, der,, Táglichen Rundschau“, der „Deutschen Reform“ und anderen
Zeitungen entnommen.
Sehr bald trat Schweinburg von seinem Posten als „Sekretär“ des Flotten-
vereins zurück und der Hauptmann Freiherr von Beaulieu wurde sein Nachfolger,
der sich als „Kanzler“ des Flottenvereins bezeichnete. Aber, nach Ansicht von
Kehr (S. 186), änderte sich nichts, der Flottenverein blieb das „Agitationsbüro
Krupps“. Daß auch Beaulieu schon 1901 wieder ausschied und durch den Leutnant
214 Kritiken
&. D. Hans Blum ersetzt wurde, erwähnt Kehr nicht. Blum, der auf einer Südsee-
Insel verwundet worden war, führte sein Amt wieder mit dem Titel „Sekretär“.
Er war ein Neffe des nationalliberalen Reichstagsabgeordneten und Leipziger Rechts-
anwaltes Hans Blum, mit dem er häufig verwechselt wurde und ein Enkel des 1848
erschossenen Demokraten Robert Blum. Daß um dieselbe Zeit Fürst Wied, der
große pekuniäre Opfer für den Flottenverein gebracht, seine Stelle als Präsident
des Flottenvereins niederlegte und Fürst Salm-Horstmar sein Nachfolger wurde,
wird kurz erwühnt, ohne auf die Bedeutung dieser beiden Fürsten einzugehen.
Ganz unerwähnt bleibt General Menges, der als „Geschäftsführender Vorsitzender“
eine groBe Tátigkeit entfaltete und in Ritterlichkeit wiederholt für seine Mitarbeiter
eintrat. Unbekannt scheint auch Kehr zu sein, welche opfervolle Tátigkeit der
damals schon kranke Dichter Julius Lohmeyer, sowie der Gymnasialdirektor
Dr. Rassow entíalteten. Des letzteren Flottentabellen hingen auf allen deutschen
Bahnhöfen aus, so daß sein Name im ganzen Reich bekannt war.
Zweiundzwanzig Seiten (S. 343—364) widmet Kehr dem Kapitel: „Die Stände
und die Flotte.‘
Die Beamtenschaft war nach Ansicht von Kehr für die Flotte, weil sie in Sub-
ordination sich den Wünschen des Staates fügte. Das nationale Gefühl war manch-
mal ehrlich, manchmal Aushängemantel, um Beförderung und Orden zu erhalten.
Dazu kam das Bedürfnis nach Sekurität, man glaubte, daß die Flotte sowohl gegen
den inneren als auch gegen den äußeren Feind nützen könnte.
Daß im Offizierkorps der Landarmee die Meinung über die Bedeutung der Flotte
geteilt war, ist richtig.
Dasselbe gilt von der Professorenschaft. Erfreulicherweise erkennt Kehr an
(S.187), daß sie aus reinem, nationalen Idealismus handelte, und daß sie den Staat
von charakterlosen Strebern freihalten wollte. Recht hat er auch, wenn er S. 362
schreibt: „Voll Verachtung lehnten Gelehrte alten Stils die Bezahlung ihrer agita-
torischen Schriften durch das Reichsmarineamt ab: der Erfolg war nur, daß sie
ohne Bezahlung das schrieben, was Tirpitz wünschte, und seinen Propagandafonds
ungeschmälert ließen.“
Über eine Frage kann ich Aufklärung geben. S. 101 macht Kehr darauf auf-
merksam, daß die vom Flottenverein als Unkosten für die Vorträge angegebenen
Zahlen nicht stimmen könnten. Einmal würden 30 Æ, ein andermal 150—200 4
als Durchschnitt angegeben. In Wirklichkeit stimmt es doch, es handelt sich in
dem einen Fall um den Durchschnitt der Rednerhonorare, im andern Fall um den
Durchschnitt der Gesamtunkosten. Ein großer Teil der Redner verzichtete auf
Honorar, ließ sich nur Diäten und Fahrgeld oder auch nur die tatsächlichen Un-
kosten vergüten. Aber neben den Ausgaben für den Redner standen solche für
Saalmiete, Annoncen und wiederholt auch für Lichtbilder und Marinefilme. Der
Film war damals eine neue Erfindung, er erwies sich als ein gutes Mittel der Propa-
ganda, verursachte aber viel Unkosten für Anschaffung, Bedienung und Transport.
Diese Ausgaben waren erheblich teurer als das, was der Redner an Fahrgeld und
Wegzehrung brauchte.
Kehr erkennt also an, daß die Professoren, die für die Flotte eintraten, aus
reinem Idealismus handelten und daß sie sich gegen jede Bevormundung von seiten
des Reichsmarineamtes wandten (S. 362). Aber trotz dieser Erkenntnis hält er
das Konto der Agitation für eine schwere Belastung der Wissenschaft (S. 364).
Kritiken 215
Die Entscheidung der Professoren in den schwebenden Lebensfragen des deutschen
Volkes jener Tage sei einer der Gründe gewesen für „das dauernde Sinken des An-
sehens der Universität und für die tiefe Skepsis, die heute das Volk gegen sie und
die von ihr vertretene Wissenschaft hegt.“
Das ist eine grundfalsche Behauptung. Wenn Männer wie Dietrich Schäfer,
Schmoller, Adolf Wagner, Hans Delbrück und viele andere Professoren für die Flotte
eintraten, so hat das der Wissenschaft ebensowenig geschadet, als wenn andre
Kollegen dagegen auftraten; die Zahl der letzteren war freilich nur gering. Vergesse
man nicht, daß der überwältigende Teil des gebildeten Bürgertums von den Konser-
vativen bis zur Freisinnigen Vereinigung, um die Jahrhundertwende auch das
Zentrum, für die Flotte eintrat, ihnen war die Haltung jener Professoren sym-
pathisch. Einzelne Ausnahmen hatten besondere Gründe, so z. B. der Angriff der
Zeitung ,,Post" im Februar 1900. Kehr erkennt (S. 171) richtig, daß sich hier der
Haß der Kreise um Stumm gegen die Kathedersozialisten, besonders gegen Adolf
Wagner, widerspiegelt. Wenn Kehr (S. 407) Adolf Wagner einen weltbürgerlichen
Spießbürger nennt, der keine heroische Tragik hatte, so ist das freilich wieder ein
Zerrbild, dem jede Berechtigung fehlt. Wer Adolf Wagner gekannt hat, wer seinen
Idealismus, seinen gelegentlich wohl über das Ziel hinausschießenden Optimismus,
vor allem den Schwung, mit dem er in begeisterter Rede zur Jugend sprach, zu
würdigen verstand, der wird durch ein derartig schiefes Urteil abgestoßen wenden.
Das Eintreten der Professoren für die Flotte hat ihrem Ansehen nicht geschadet,
auch nicht bei der akademischen Jugend. Vor Jahren unterhielt ich mich einmal
über diese Fragen mit einem angesehenen Kollegen der Berliner Universität, der
die Zeit noch als Student miterlebt hatte. Er sagte, es habe damals auf ihn und
weite Kreise der Studentenschaft einen tiefen Eindruck gemacht, daß die Pro-
fessoren sich nicht gescheut, in die sozialdemokratischen Versammlungen zu
gehen, um dort für die Vermehrung der Flotte einzutreten.
Wenn heute der Professor, ähnlich wie auch der Offizier, von der breiten Masse
nicht mehr so geehrt wird, wie früher, so hat das nicht das geringste mit der Flotten-
bewegung zu tun. Freilich verloren die Universitäten die ihnen verfassungsmäßig
gesicherten Sitze in den ersten Kammern der Bundesstaaten, die durch die neuen
Verfassungen aufgehoben wurden, aber auch in die neuen Landtage und in den
Reichstag zogen sie 1919 noch in stattlicher Anzahl ein. In fast allen Fraktionen,
von der deutschnationalen bis zur sozialdemokratischen, sind sie vertreten gewesen.
Wenn in den letzten Jahren ihre Bedeutung in den Parlamenten gesunken ist, so
liegt das an der Änderung unserer Parteiverhültnisse. Mit der Flottenbewegung,
die vor 30 Jahren stattfand, hat das schlechterdings gar nichts zu tun. Wer jenes
Ringen um eine starke Flotte richtig schildern will, der muß sich in den Geist der
damaligen Zeit versetzen. Auch heute leben glücklicherweise noch viele Deutsche,
die höhere Ideale haben als Parteiinteresse und Eigennutz, sie werden Verständnis
dafür finden, daß es damals Männer gab, die Zeit, Kraft, Gesundheit und Geld
dafür einsetzten, um für eine Flotte, ohne die Deutschland seine Großmachtstellung
nicht bewahren konnte. zu werben.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
216
Nachrichten und Notizen.
Familiengeschichtliche Bibliographie. Herausgegeben durch die Zentral-
stelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte, E. V. Jahrgang 1927
bis 1930, bearbeitet von Johannes Hohlfeld, 1900—1920, Lief. 1 und 2,
bearb. von Friedrich Wecken. — Mitteilungen der Zentralstelle für Deutsche
Personen- und Familiengeschichte 39, 40. 42—45 Heft. Leipzig 1929—1931.
Diese Bibliographie, die bis zum Jahrgang 1926 von Fr. Wecken und seitdem
von J. Hohlfeld herausgegeben ist, ist allmählich zu stattlichen Jahresbünden
herangewachsen und für jeden, der sich mit genealogischen Fragen beschüftigt,
zum unentbehrlichen Hilfsmittel geworden. Es werden in ihr nicht nur die Arbeiten
über die einzelnen Personen und Familien angezeigt, die naturgemäß den breitesten
Raum für sich beanspruchen, sondern die für die wissenschaftliche Arbeit besonders
wichtigen über methodische Fragen, Quellenveróffentlichungen und solche über
ständische und biologische Genealogie finden sich hier verzeichnet. Sammelver-
óffentlichungen werden nicht nur genannt, sondern einzeln verzettelt. Da ja viel-
fach Arbeiten ganz abgelegen erscheinen und erst spáter dem Bearbeiter zu Gesicht
kommen, so werden diese in die späteren Jahrgänge mit hineingearbeitet. Als An-
hang finden wir Arbeiten über Heraldik und zur Namenkunde. — Nebenher kommt
nun in Lieferungen die schon lange erwartete Bibliographie der Jahre 1900 bis
1920 heraus, die schon teilweise in den ersten Heften der Mitteilungen als Halb-
jahrsberichte, sowie in genealogischen Zeitschriften erschienen. Vergleicht man aber
Weckens Arbeit damit, so kann man feststellen, wie viel reichhaltiger seine Biblio-
graphie geworden ist. Diese beiden ersten Jahrzehnte bringen den ungeheueren
Aufstieg der Familienkunde, den Kampf der Genealogie um ihre Anerkennung
als Wissenschaft. Dafür ist gerade die erste Lieferung wichtig, die in dem Teil „All-
gemeines und Methodisches‘ die Arbeiten der Vorkämpfer besonders von Heydenreich,
Tille, Devrient und Forst bringt. Wir erleben noch einmal das schnelle Anwachsen
der genealogischen Vereine und Zeitschriften mit. Der zweite Teil Quellen und Be-
arbeitungen führt zuerst die Sammlungen auf und bringt dann die Arbeiten über
einzelne Familien nach dem Abece. Die Árbeit der Herausgeber und der Zentral-
stelle, deren Wirken jetzt durch die ráumliche Zusammenfassung mit der Deutschen
Bücherei sehr unterstützt wird, verdient unsere vollste Anerkennung und Unter-
stützung.
Neuruppin. Lampe.
Die Reform der Nationalschriften. Beiträge zur Reform der türkischen,
russischen, chinesischen und japanischen Schrift, herausgegeben von Albert
Schramm, Wolfenbüttel: Heckner, 1932. (44 S.) (Sondernummer des Ar-
chivs für Schreib- und Buchwesen.)
Nachrichten und Notizen 217
Der Übergang der Türkei zur Lateinschrift hat eines der brennendsten Schrift-
probleme der Gegenwart über die Fachkreise hinaus zum Bewußtsein gebracht:
Die Frage einer einheitlichen Schrift für alle Sprachen. Eine gründliche Diskussion
dieser Frage vom Standpunkt der einzelnen Nationalschriften muB etwaigen Ent-
schlüssen, die nicht überall so mutig und diktatorisch gefaBt werden kónnen, wie
in der Türkei, vorangehen. Die wichtigsten, der Antiquaschrift noch nicht an-
geschlossenen Kulturkreise werden in den Aufsätzen des vorliegenden Heftes mit
solcher Fragestellung behandelt. F. Braun schreibt über die „Latinisierung der russi-
schen Schrift"; für die ganz besonderen Schwierigkeiten ausgesetzte Angleichung
der chinesischen Schrift an die Lateinschrift kommen Fachkenner wie Joh. Schubert,
Friedr. Wichner und Hellm. Wilhelm mit Erfahrungen, theoretischen Forderungen
und allgemeineren Gedankengängen zu Worte. Am aufschlußreichsten für die
Praxis ist, was F. H. WeiBbach über die türkische Lateinschrift berichtet, da ja
hier schon die Erfahrungen einiger Jahre vorliegen. Die Behandlung der japanischen
Schrift sucht man vergeblich ; doch kann ein groBer Aufsatz im Gutenberg-Jahrbuch
1932 die Lücke ausfüllen. Das „Archiv für Schreib- und Buchwesen“ hat die Auf-
sätze schon in seiner, ebenfalls als Sondernummer bezeichneten, letzten regulären
Nummer von 1930 gebracht. In die Reihe der gezählten „f Sonderhefte“ des Archivs
ist dieses Heft nicht aufgenommen.
Leipzig. H. Schreiber.
Erica Schirmer, Die Persónlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der deutschen
Geschichtschreibung. (Vom Humanismus bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts).
Jena, Verlag der Frommannschen Buchhandlung. 1931. XVI, 92 S.
Neben den Einzeluntersuchungen und Dissertationen zur Aufhellung der ge-
schichtlichen Vorgänge selber und zur Quellenkritik nehmen mit Recht in neuerer
Leit Untersuchungen zur Geschichte der Geschichtschreibung einen wachsenden
Raum ein und Bedeutung in der Geschichtswissenschaft in Ansprucb. Sie dienen
dazu, die Tatbestánde der geschichtlichen Auffassung in ihrem eigenen Zusammen-
hange, in ihren Abhüngigkeiten, etwaigen Voreingenommenheiten und dergleichen
zu kláren und dadurch auch die sachlich-geschichtliche Erkenntnis selber zu fórdern.
Außerdem wird dadurch die Geschichte der Geschichtschreibung als ein Teil der
neueren Geistesgeschichte in wünschenswerter Weise ausgebaut.
Die Verfasserin hat sich ein kleineres Sonderproblem, die Beurteilung Hein-
richs IV., zu solcher Behandlung ausgesucht. Das bietet den Vorteil einer gewissen
Anschaulichkeit der Ergebnisse und der Darstellung, die bei der Begrenztheit der
Aufgabe möglich ist, dem aber etwas entgegensteht, daß der allgemeinere Zu-
sammenhang der Geistesentwicklung nicht als Gegenstand für sich erfaBt, sondern
nur beispielmäßig an dem Sonderfall verfolgt wird. Aber in dieser Begrenzung ist
die Arbeit sehr sorgfältig verfaßt und ein brauchbarer Beitrag zu dem größeren
allgemeinen Thema. Sie geht von dem Urteil schon der mittelalterlichen Geschicht-
schreibung unmittelbar nach Heinrichs IV. Tode aus, verfolgt die Strömungen einer
mehr geistlichen (kirchlichen) oder mehr weltlichen Beurteilung bei den Italienern
und Deutschen, im Humanismus, der Reformation, den juristischen Historikern
(Staatsrechtlern) des 17. und 18. Jahrhunderts und das Herauswachsen einer eigent-
lich wissenschaftlich-gelehrten Geschichtschreibung. Für jeden der sehr vielen
herangezogenen Geschichtschreiber wird anmerkungsweise einiges Material zur
218 Nachrichten und Notizen
Kenntnis seiner Lebensgeschichte und Werke bereitgestellt, in der Anlage wie in der
Ausführung kann die Arbeit so als ein nützlicher und brauchbarer Beitrag zur Ge-
schichte der Geschichtschreibung nur begrüßt und empfohlen werden.
Erlangen. B. Schmeidler.
Heinrich Sproemberg, Beiträge zur Französisch-Flandrischen Geschichte.
Band I. Alvisus, Abt von Anchin (1111—1131). Historische Studien, herausg.
von Dr. E. Ebering. Heft 202. Berlin, Verlag Dr. Emil Ebering 1931. 201 S.
Alvisus, ein geborener Flame, im Kloster Saint-Bertin von dem reformfreund-
lichen Abt Lambert erzogen, 1109 Reformprior von St. Vaast, 1111—1131 Abt von
Anchin, dann bis zu seinem am 6. Sept. 1147 erfolgten Tode Bischof von Arras,
hat in der flandrischen Reformbewegung eine hervorragende Rolle gespielt. Ob
seine Bedeutung ausreicht, um eine Biographie von dem Umfang der hier vorgelegten
zu rechtfertigen, darf man gleichwohl bezeifeln. Sie bietet aber viel mehr als der
Titel besagt; es ist eine weitausgreifende und tief eindringende Untersuchung über
das Vordringen der klösterlichen Reformbewegung in Flandern seit dem Ende des
11. Jahrhunderts. Die führenden Persönlichkeiten, wie Anselm von Canterbury,
den Abt des normannischen Klosters Bec, und Hugo von Die, den Erzbischof von
Lyon, und die Kirchenpolitik der flandrischen Landesherren hat der Verf. mit der-
selben liebevollen Sorgfalt herausgearbeitet wie die Abwandlungen der Reformpraxis
und ihre wechselvolle Auseinandersetzung mit anderen kirchlichen Faktoren. Nicht
ganz auf der Höhe der Untersuchung steht die Form, in der sie vorgelegt wird; sie
läßt stellenweise die letzte Feile vermissen (S. 52: die Ehe mit Goda, der Schwester
König Eduards von England, die ihn auch persönlich nach England führte. S. 54:
eine großartige Freigebigkeit gegenüber der Kirche, die in keinem Verhältnis zur
Kleinheit ihres Landes stand. S. 57: Die Gründung scheint schon im Jahre 10%
stattgefunden zu haben, sie erhielt am 28. Oktober 1110 ein großes Privileg). Als
Beilagen werden Regesten des Alvisus und eine Untersuchung zweier Urkunden
des Papstes Paschalis II. für St. Bertin vom 25. Mai 1107 (Jaffé 6201) und 28. Ok-
tober 1112 geboten. Die Urkunde von 1107 ist durch Interpolationen entstellt,
deren älteste Simon von St. Bertin zur Last fällt und zum Zwecke der Bestätigung
durch Innocenz Il. im Jahre 1139 hergestellt wurde. Die Urkunde von 1112 ist
eine Fälschung, die nach 1139 fallen muB, aber nicht näher zeitlich festzulegen ist.
Ob freilich durch diese Feststellungen die quellenkritischen Untersuchungen, die
der ültere Urkundenbestand von St. Bertin erfordert, erledigt sind und die Mónche
von St. Bertin tatsächlich, wie der Verf. (S. 184) sagt, von dem Mittel der Urkunden-
fülschung fast niemals Gebrauch gemacht haben, erscheint uns zweifelhaft.
Das Vorwort unterrichtet über die weiteren wissenschaftlichen Pläne des Ver-
fassers. Die zweite Hülfte des ersten Bandes, deren Druck für die n&chste Zukunft
in Aussicht gestellt wird, soll die Jahre 1131—1147 behandeln, in denen Alvisus
Bischof von Arras gewesen ist. Es soll dabei dem Kampf Ludwigs VII. mit der
Kurie und der politischen Tätigkeit Bernhards von Clairvaux besondere Aufmerk-
samkeit geschenkt werden. Ein zweiter Band soll sieben Aufsütze bringen, welche
u. &. die ültesten Urkunden aus Kloster St. Vaast und die ausgedehnte Fülscher-
tätigkeit des Abtes Fulrad behandeln und damit eine Untersuchung bringen werden,
die lángst als dringendes Bedürfnis empfunden wird.
Utrecht. O. Oppermann.
Nachrichten und Notizen 219
Bruno Schumacher, 700 Jahre Preußenland im Rahmen der deutschen und der
europäischen Geschichte. S. A. aus: Altpreußische Forschungen, Jg.8 (1931),
Heft 2. Königsberg i. Pr. Gräfe u. Unzer in Komm.
Die Schrift bringt die Festrede, die Verf. bei der 700-Jahrfeier der Provinz
Ostpreußen im Großen Remter der Marienburg am 14. Juni 1931 gehalten hat.
Knapp aber treffend, zeigt Verf. die großen Linien auf, bietet aber kaum etwas Neues.
Vielleicht geht S. doch zu weit, wenn er sagt: „Es ist das Solidaritätsgefühl der mittel-
alterlichen Menschheit, das auf dem Schlachtfeld von Tannenberg einem neuen,
national eingestellten Europa wich.“
Neuruppin. Lampe.
Ronneberger, Werner, Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz
bei Saalburg a. d. Saale. Jena: G. Fischer 1932. XVIII, 324 S., mit 4 Tafeln.
8. RM 15.—, geb. AM 17.—. (= Beiträge zur mittelalterlichen und neueren
Geschichte, Bd. 1.)
Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz bei Saalburg im Reu-
Bischen Oberlande gelegen, ist um 1315 gegründet worden von den Vógten von
Gera und hat bis 1544 bestanden. In diesem Jahre wurde es sequestriert. In der
Reihe der geistlichen Anstalten des Vogtlandes ist dieses Nonnenkloster eine der
jüngsten, und seine allgemeine Bedeutung für die Geschichte des Ordens wie des
Territoriums ist sehr bescheiden geblieben. Es ist nie mehr als eine Versorgungs-
stätte für die Töchter des umwohnenden Adels gewesen. Daran liegt es wohl auch
mit, daß es so lange gedauert hat, ehe es einen Forscher als Gegenstand einer Unter-
suchung gelockt hat, nachdem Mildenfurth, Cronschwitz, die Plauener Klöster und
Weida schon längst ihren Bearbeiter gefunden haben. Ronneberger hat nun aller-
dings gründlich nachgeholt, und es war ihm möglich, trotz der offen zutage liegenden
Dürftigkeit des Gegenstandes ein umfangreiches Buch zusammen zu tragen. Mit
anerkennenswertem Fleiße hat er wohl sämtliche in Betracht kommenden Archive
durchforscht — viele vergeblich, worüber er ausführlich unterrichtet. Es ist gewiß
in diesem Buche mancherlei über Gebühr etwas zu breit behandelt, da an bedeuten-
den Ereignissen und Tatsachen wenig zu berichten war. So hat das Buch vor-
nehmlich heimatgeschichtlichen Wert, und es ist in dieser Hinsicht beinahe un-
erschöpflich. Es werden z. B. in dem Abschnitt über den Wirtschaftsbetrieb des
Klosters im einzelnen die Besitzungen in den Ortschaften, Feldern und Wäldern
behandelt, es wird bald jeder zinspflichtige Bauer aufgeführt mit seinen Leistungen.
So kommt eine Unsumme von Personennamen an das Tageslicht, die für die ge-
nealogische Forschung Thüringens einen reichen Stoff bieten. Ausführlich handelt
der Verfasser weiter über die inkorporierten Kirchen. Nach jeder Richtung hin, so-
weit es das Quellenmaterial, vornehmlich Urkunden, erlaubte, hat Ronneberger
die innere und äußere Geschichte des Klosters ausgearbeitet. Wie außerordentlich
reich die Darstellung an lokal- und personengeschichtlichen Einzelheiten ist, ferner
wie ausführlich der Verfasser seine Darstellung zu unterbauen und zu begründen
gesucht hat, lassen die Tatsachen erkennen, daß die Register allein ein Zehntel
des Buches und die Anmerkungen (an Zahl 2569) ein Siebentel ausmachen. Es darf
nicht verschwiegen werden, daß das Buch eine Dissertation darstellt. Diese fleiBige
Arbeit verdient alle Anerkennung.
Wolfenbüttel. H. Herbst.
220 Nachrichten und Notizen
Karl Holl, Gesammelte Aufsátze zur Kirchengeschichte. I. Luther. 6., neu durch-
gesehene Auflage. Tübingen, Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1932,
XII, 593 S. gr. 8°. Preis br. 15.— AM, Hlbl. 17,50 AM, Hbfrz. 23.— RA.
In dem die weitesten Ráume und Zeiten umspannenden Schaffen von Karl Holl
hat die deutsche Reformation eine bevorzugte Stellung eingenommen. Dennoch
ist uns eine zusammenfassende Darstellung nicht beschieden gewesen, dafür aber
hat er acht an den verschiedensten Stellen veróffentlichte Abhandlungen unter dem
Titel, Luther“ als erster Band seiner Gesammelten Schriften erscheinen lassen, der
in den folgenden Auflagen noch um einen Vortrag über das Táufertum unter dem
Titel „Luther und die Schwärmer“ vermehrt wurde. Diese Untersuchungen fügen
sich in ihrer Gesamtheit zu einer umfassenden Würdigung Martin Luthers zusammen
und ergeben ein in sich geschlossenes Bild von der Persónlichkeit des Reformators,
das zwar manche zeitgebundene Züge seiner Individualität im Halbdunkel läßt,
aber die wesentlichen Elemente seiner Religiositát und Theologie mit einer solchen
Klarheit und grundsätzlichen Schärfe herausstellt, daB eines der markantesten und
bestprofilierten Lutherbilder der neueren Zeit entstanden ist, das an Lebendigkeit
und Dauer der Wirksamkeit manche Lutherbiographie hinter sich lassen wird. Der
Erfolg des Buches macht dies deutlich. In zehn Jahren (1921 war die erste Auflage
erschienen) waren fünf Auflagen vergriffen. Die nunmehr vorliegende sechste ist
vom Verlag mit besonderer Aufmerksamkeit vorbereitet. Der Text ist unter der
Leitung eines unserer namhaftesten Kirchenhistoriker revidiert und sorgfáltig von
allen Druckversehen gereinigt worden, alle Zitate sind nachgeprüft, die Register
neu bearbeitet und vervollstándigt, endlich sind Text und Anmerkungen zeilengleich
gesetzt, so daß diese neue Auflage die vorangegangenen an Treue in der Wiedergabe
des Holl'schen Textes sowie an drucktechnischer Ausstattung übertrifít.
Wendorf.
Victor Herold, Die Brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Re-
gister des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 1. Band: Die Prignitz. Berlin 1928
bis 1931. VIII u. 847 S. = Veröffentlichungen der Historischen Kommission
für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, IV.
Vier Generalvisitationen wurden zu Beginn des 16. und 17. Jahrhunderts
in der Mark durchgeführt. Nur gelegentlich und ganz unsystematisch sind bis jetzt
Teile davon veröffentlicht worden, ausgenommen ist die Altmark. J. Müller und
L. Parisius haben, allerdings in anderer Art als in der vorliegenden Arbeit, die
Abschiede von 1540—1542 mit Anführung der folgenden Abschiede in den Anmer-
kungen herausgebracht. Herold bewahrt sich bei der Herausgabe freie Hand. Da
die Akten der ersten Visitation bei der zweiten ,,reiteriert, vervollstándigt und er-
günzt" wurden, nach Form und Inhalt die der beiden letzten übereinstimmen, so
lag es nahe, sie in Spaltendruck nebeneinander aufzuführen. Davon ist auch teil-
weise Gebrauch gemacht worden, besonders bei den letzten beiden Visitationen.
Voran geht die erste Visitation. Spátere Streichungen sind in Kursivdruck gegeben;
die Texterweiterungen stehen mit Jahresangabe in runden Klammern. Auf die
Abschiede folgen die Register. Den Stádten gehen die zum Sprengel gehórigen Dorfer
in alphabetischer Reihenfolge nach. Zugrundegelegt ist das Konzept, soweit es
noch vorhanden war. Die Abweichungen der Abschrift sind in die Anmerkungen
verwiesen, wo auch die zu den Akten gehórigen Briefe, Verschreibungen usw. stehen.
Nachrichten und Notizen 221
So ergibt sich ein klares Bild über den Fortgang der Visitationen. Voran geht jedes-
mal ein Literaturverzeichnis, das die Weiterforschung erleichtert. Die Ausgabe
erschien in sechs Heften nach Maßgabe der damaligen Inspektionen (1. Kyritz,
2. Pritzwalk und Putlitz, 3. Perleberg, 4. Lenzen, 5. Havelberg, 6. Wilsnack und
Wittstock), als Schlußheft folgte ein sehr sorgfältiges Orts-, Personen- und Sach-
register, dem eine Zeittafel der Visitationen und eine von Hans Volz entworfene
Karte der Inspektionen der Prignitz im Jahre 1600 beigefügt ist.
Hoffentlich hindert die Not der Zeit nicht die baldige Herausgabe der weiteren
brandenburgischen Kreise.
Neuruppin. Lampe.
Wittrock, Georg, Gustav II Adolf (Sveriges historia till vära dagar, delen 6).
Stockholm: Norstedt (1927), VIII, 430 S.
Wittrock, Georg, Gustav Adolf, übersetzt von Toni Schmid. Stuttgart: Perthes,
1930, 391 S.
Das Gustav-Adolf-Buch Georg Wittrocks erschien 1927 als 6. Band des be-
kannten Sammelwerkes „, Sveriges historia till våra dagar“, in dem mehrere Ver-
fasser die einzelnen Abschnitte schwedischer Geschichte auf Grund der neuesten
Forschung, doch in allgemein verständlicher Form behandeln. Das Buch ist eine
Neubearbeitung des Werkes von Martin Weibull, das 1881 erstmalig herauskam.
Unter Zugrundelegung der neuesten Literatur, der gedruckten Quellen, auch eigener
Archivstudien — z. B. zur Wirtschafts- und Finanzpolitik des Kónigs — schildert
Wittrock in gut lesbarer Form Leben und Werk Gustav Adolfs. Unter Hinweis
auf den 1. Band von Johannes Pauls Lebensbeschreibung des Kónigs verzichtet
Wittrock darauf, in der Einleitung über Gustav Adolf hinaus zurückzugreifen.
In seiner Auffassung des Kónigs stimmt der Verfasser, wie er im Vorwort zur deut-
schen Ausgabe seines Buches ausführt, mit Paul überein, so auch in der Ansicht,
daB nicht religióse oder politische Überzeugungen allein oder die einen die andern
überwiegend, Gustav Adolf veranlaBt haben, in den deutschen Krieg einzugreifen,
sondern daß man nur aus den Anschauungen der Zeit heraus die enge Verflechtung
und innige Durchdringung vielseitiger Gesichtspunkte, wie religióser, politischer,
militärischer, dynastischer u.a. erkennen wird, die den König in seinem Handeln
bestimmt haben. Ein Versehen liegt S. 130 vor: Gotthard Kettler war der letzte
Landmeister des deutschen Ordens in Livland, nicht der Hochmeister des Schwert-
ritterordens, der schon im 13. Jahrhundert im Deutschen Orden aufgegangen war.
Die deutsche Übersetzung fertigte Toni Schmid an. An einigen im Vorwort
verzeichneten Stellen weicht sie inhaltlich von der schwedischen Ausgabe ab, sonst
hält sich Schmid genau, viel zu genau, an das Original, so daß die Übersetzung
steif, ungeschickt und schlecht lesbar wurde. Zahlreiche Druckfehler verunstalten
den Text. Grammatische Schnitzer (Der Reichsrat sendete S. 35, der Erzbischof
oder jemand anderer S. 116), unmögliche Art des Ausdrucks (Die Absicht Wallen-
steins war die Umkehrung derjenigen Gustav Adolfs S. 212, dieses Kollegium soll
alles, was die auswärtige Politik betrifft, überhaben S. 234), Übersetzungsfehler
und andere zahlreiche Ungenauigkeiten beweisen, daß der Übersetzer die deutsche
Sprache nur unvollkommen beherrscht. Es ist bedauerlich, daß das Werk Witt-
rocks in dieser, seinen Wert für deutsche Leser stark beeinträchtigenden Form
——— im —— .
— — —————— FGu—— — ie me
222 Nachrichten und Notizen
herauskommen mußte. Es wäre wohl auch die Pflicht des Verlags gewesen, den
Verfasser auf die ungenügende Übersetzung aufmerksam zu machen.
Dresden. Alfred Büscher.
Veróffentlichungen des Braunschweiger Genealogischen Abends zum
Goethe-Lessing-Jahr 1929. Degener u. Co. (Inh.: Oswald Spohr), Leip-
zig 1931.
Als Nr. 2 gibt Heinrich Mack die Fehde zwischen Georg Ludwig Spohr und
Conrad Heusinger über Heusingers Gedicht „Lessings Tod“ heraus. Eine Literatur-
fehde aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, charakteristisch für den Haß, mit dem
die orthodoxe Geistlichkeit Lessing noch nach seinem Tode verfolgte. Die Gesell-
schaftsschicht, aus der die beiden Kámpfer stammen, wird uns durch die beigefügten
Stammtafeln erláutert. |
Die dritte Veröffentlichung bringt in Faksimile, in ganz hervorragender Aus-
führung, die beiden Lessingschen Entwürfe seiner unvollendeten Abhandlung ,,Von
den Ahnenbildern der alten Römer‘, die Wilhelm Herse mit erläuternden Beigaben
versieht. Die Einleitung führt uns in den Streit mit Klotz ein und sucht die Gründe
darzulegen, weshalb Lessing seine Abhandlung nicht vollendete. Er gibt die Dar-
legungen von Klotz und die beiden Entwürfe im Druck, sowie schlieBlich die Be-
arbeitung der beiden Entwürfe durch Eschenburg mit Benutzung des dritten nun
verlorenen. Heute schwerer verständliche Stellen werden von Herse in den Anmer-
kungen erläutert. Beide Schriften sind gut gewählt als Festgaben für das Lessingjahr.
Neuruppin. Lampe.
Efterladte Papirer fra den Reventlowske Familiekreds i tidsrummet
1770—1827, udgivne paa foranledning af Kammerherre, Lehnsgreve Christian
Einar Reventlow ved Louis Bobé. 10 Bde. Kebenhavn: Lehmann & Stage
(P. Haase & Sens Forlag) 1895—1932.
Seit etwa 1886 hat Bobé in dänischen und deutschen Adelsarchiven erforscht
und gesammelt, was an Briefen aus dem weitgespannten Familienkreis der Grafen
von Reventlow erhalten geblieben ist. In der Hauptsache sind es die Reventlow,
Stolberg und Schimmelmann, durch eine ganze Anzahl von Heiraten miteinander
verbunden, deren Briefe in geschickter Auswahl und weiser Kürzung im Laufe der
Jahrzehnte dargeboten worden sind. Zunächst waren 4 Bände vorgesehen, erschienen
1895—1900; unerwartete Funde gaben aber neuen wichtigen Stoff, so daB bis 1922
allmählich noch 5 Bände erscheinen konnten, und nun liegt ein 10. Band vor, der
sich Schlußband nennt. Er enthält einen ausführlichen Nachruf auf den Mäzen,
der die bisherige Arbeit betreut hat, und sein Druck ist nicht mehr von diesem,
sondern, wie so viele wertvolle geschichtliche Veróffentlichungen in Dánemark, vom
Carlsbergfond bezahlt. Über die Herkunft der Briefe wird genaue Rechenschaft
gegeben; man lese das Schicksal des Schimmelmannschen Archives, das teilweise
aus der Papiermühle gerettet werden konnte (5, 238; 8, VI; 9, 390). Aufs intimste
erlebt der Leser den Zeitraum etwa von Struensee bis zum Staatsbankrott von
1813, Politik und Literatur, französische Revolution und Napoleon, Negerhandel
und Bauernbefreiung, hófisches Leben und Schulwesen, Göttinger Hain, „Lucifer
Goethe“, Baggesen und Oehlenschläger. Der 10. Band bringt nachträglich noch
Wichtiges aus dem Staatsrat nach der Gründonnerstags-Schlacht auf der Reede
Nachrichten und Notizen 223
von Kopenhagen. Alle abgedruckten Briefe sind sehr sorgfältig erläutert; auf die
Feststellung der Persönlichkeiten und ihrer Beziehungen ist sehr große Arbeit ver-
wendet und für das Sachliche ist die Literatur sehr eingehend herangezogen. Die
Anmerkungen beruhen häufig sogar auf ungedrucktem Material aus den verschie-
densten Archiven. Als besondere Beigaben sind Stammtafeln angefügt und aus-
führliche Genealogien von Familien fremder Herkunft, die in Dänemark tätig oder
bedeutsam geworden sind. Den Bänden gehen ausführliche Einleitungen voraus,
die sich bis zu wertvollen Monographien von selbständiger Bedeutung erweitern.
Alle Arbeit des Herausgebers ist in dánischer Sprache geschrieben; die Briefe sind
in der Originalfassung wiedergegeben, französisch, deutsch und dänisch. Hervor-
zuheben sind die vielen Bildnisse in ausgezeichneter Wiedergabe. Der 10. Band
enthält das dringend nötige alphabetische Personenregister auf fast 300 Seiten,
dearbeitet von A. Drachmann Bentzon. Sehr zu wünschen wäre es, wenn das mehr-
mals verheißene zeitliche Register der Briefe doch noch erscheinen könnte. Liest
man die Briefe so, wie sie in Rede und Antwort oder aus verschiedenen Federn
gleichzeitig geschrieben sind, so ergibt sich rasche Erhellung und unerwartetes
Leben.
Leipzig. Hans Schulz.
Hans Spellmeyer, Deutsche Kolonialpolitik im Reichstag. Beitráge zur Ge-
schichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges. Heft II. Stutt-
gart (Kohlhammer) 1931. 7,50 RA.
Die Studie erweist als charakteristischen Zug aller deutschen Parteien der Früh-
zeit einen aus Unerfahrenheit und Vorsicht resultierenden Mangel an prinzipieller
Formung ihres Verhältnisses zu kolonialer Politik, der den wenig eindrucksvollen
Kolonialdebatten im Reichstag immer den Stempel aufgedrückt hat. Es verdient fest-
gehalten zu werden, daB die Erwerbung Kiautschous, überhaupt die deutsche China-
politik, von den Parteien in seltener Einmütigkeit begrüBt und selbst in der Oppo-
sition des Freisinns und der Sozialdemokratie, die China im Gegensatz zu Afrika
als zukunftsreichen Absatzmarkt betrachteten, wohlwollend beurteilt wurde. —
Bei den regierungstreuen Parteien basierte die Unterstützung der deutschen Ko-
lonialunternehmungen mehr auf nationalen Erwägungen als auf den großen wirt-
schafts- und bevólkerungspolitischen Prinzipien moderner Kolonialpolitik, an denen
die erst aufgeschlossenen deutschen Kolonien vorrerst kaum gemessen werden konn-
ten. Auf seiten der Opposition hat nach dem Abfall der bürgerlichen Parteien des
Freisinns und des Zentrums die Sozialdemokratie bis zum Jahre 1914 an der prin-
zipiellen Verwerfung kolonialer Expansion festgehalten, trotzdem sich in der re-
visionistischen Richtung kolonialfreundlichere Tendenzen entwickelten.
Berlin. Herbert Michaelis.
Die deutschen Wahlen. Eine Übersicht über die Ergebnisse der Reichsprási-
denten- und Reichstagswahlen seit 1919, sowie der Wahlen zu sümtlichen
deutschen Landtagen seit 1926, die Zusammensetzungen der Reichsregierun-
gen und der wichtigsten Landesregierungen sowie die hauptsüchlichsten wahl-
rechtlichen Bestimmungen, mit 23 graphischen Darstellungen. Leipzig, Verlag
Lühe & Co., G. m. b. H., 1932, 62 S. mit drei Nachträgen. Preis 1,80 RAM.
Sowohl für die wissenschaftliche und publizistische Tátigkeit wie auch für die
politisch Interessierten war eine vergleichende Auswertung der für die innerdeutsche
224 Nachrichten und Notizen
Geschichte des letzten Jahrzehntes so wichtigen Wahlergebnisse recht schwierig.
Wohl waren die Ergebnisziffern in den amtlichen statistischen Publikationen zu-
gänglich, aber diese sind weder verbreitet noch in der Benutzung übersichtlich genug,
um den zu stellenden Anforderungen auch nur irgend zu genügen. Die hier zweifellos
bestehende Lücke dürfte das vorliegende Heftchen in glücklicher Weise ausfüllen.
Es bietet eine Zusammenstellung und sinnvolle Erschließung der Ergebnisse der
Reichs- und Länderwahlen seit 1919, soweit die Angaben zu erfassen sind. So mußte
für die Jahre, für die das Statistische Reichsamt die Veröffentlichung der Länder-
wahlergebnisse in „Wirtschaft und Statistik" noch nicht durchgeführt hatte, auf
die „endgültigen“ Ergebnisse in der Tagespresse zurückgegriffen werden. In der
Anordnung vorangestellt sind die Reichswahlen, zur Präsidentschaft wie zum Reichs-
tag. Für die letzteren wird zunächst eine tabellarische Übersicht mit den Ergebnissen
aller Wahlen seit 1919 gegeben, weitere Tabellen über Prozentualergebnisse und Man-
datsverteilung folgen. Dann schließt sich eine ausführliche Zusammenstellung der
Ergebnisse der Wahl vom 14. September 1932 an, die die Ergebnisse nach Parteien
und Wahlkreisen getrennt erkennen läßt. Graphische Darstellungen machen die
Parteiverhältnisse auf eine doppelte Art sinnfällig anschaulich: eine flächige An-
ordnung zeigt die Verteilung der Mandate im Reichstag, gibt die Reihenfolge der
Regierungen an und hebt unter denen mit parlamentarischer Bindung deutlich
Regierungskoalition und Opposition hervor, während andererseits die Veränderun-
gen im Mitgliederbestand durch lineare Eintragung der Wahlergebnisse in einen
Quadranten des Koordinatensystems veranschaulicht wird. Es ist zu begrüßen, daß
hier über den Stand im Zeitpunkt des Erscheinens des Heftes Raum für weitere Ein-
tragungen freigelassen ist. Ähnlich wie für das Reich sind auch die Parteiverhält-
nisse für die Länder bearbeitet, wenn auch das Anschauungsmaterial in der gleichen
Reichhaltigkeit nur für die größeren unter ihnen bereitgestellt ist. Den Abschluß
bildet eine Zusammenstellung der wichtigsten Verfassungs- und wahlrechtlichen Be-
stimmungen, die verschiedenen Anordnungen über Wahlrecht, Ermittlung der Wahl-
ergebnisse, Zahl der Abgeordneten, Wahlperioden u. a. m. enthaltend. Um das Werk-
chen auf dem jeweiligen Stand zu halten, erscheinen nach jeder Wahl Nachträge, so
bisher zu den Reichstagswahlen vom Juli und November 1932 und von Lippe-Det-
mold vom Januar 1933, die zum Preise von 0,20 ZA zu beziehen sind. Durch diese
kleine Broschüre wird sich der Verlag den Dank aller politisch Interessierten sichern,
so daß nur von ihrem Bekanntwerden abhängen dürfte, bis wann eine neue Auflage
notwendig sein wird. An Vorschlägen für ihre Ausgestaltung, um die in der Ein-
leitung gebeten wird, wäre vielleicht der Wunsch anzubringen, ob nicht bei den
ehemals großen Parteien der Demokraten und der Deutschen Volkspartei dort, wo
sie keine eigene Reichslisten aufgestellt haben, in einer Anmerkung angegeben werden
könnte, wieviel Sitze sie aus eigener Kraft errungen, wieviel sie dem Bündnis mit
einer mächtigen Partei zu verdanken haben. Durch diese Angaben würden manche
Erscheinungen in der bürgerlichen Mitte erst deutlich erfaßt werden können. Die
gesamte Anlage des Büchleins erscheint aber wohl durchdacht und dürfte all-
gemeinen Anklang finden. Möchte es den Erfolg haben, den es durchaus verdient.
Wendorf.
HISTORISCHE z E
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LATBINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS
HERAUSGEGEBEN VON
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0. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG
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XXVIII. JAHRGANG
2. HEFT
AUSGEGEBEN AM 1. JULI 1933
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VERLAG UND DRUCK
I DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG -
DRESDEN 1933
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HISTORISCHE VIERTELJAHRSCHRIFT
Herausgegeben von Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig.
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden A 1.
Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen zu je
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang HAM 30.— und für
das Heft AM 7.50. |
Die Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters haben die
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig ge-
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philologischen
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die aktuellen
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fórdern und zu festigen.
Die Abteilung „Nachrichten und Notizen'' bringt Angaben über neue
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf dem
persónlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens.
Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgescháfte wird von
Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von Herrn
Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und für den mittel-
lateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Universität, Borneria-
num I) unterstützt wird.
Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität,
Bornerianum I) zu richten.
Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift-
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne-
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographischer
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, auch
kleinereWerke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeitschriften-
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch machen,
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen.
p 5 = 225
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches“.
Entstehung und staatsrechtlicher Charakter.
Von
Hermann Aubin.
Die Vorfahren unseres Volkes treten zwar in einer Bewegung,
die im Großen gesehen von Norden nach Süden gerichtet ist,
in die Geschichte ein, und der „Drang nach dem Süden“ hat
sich als politisches, später als geistiges Erbe noch lange in den
Deutschen lebendig erhalten. Je länger, desto stärker aber ist
deutlich geworden, daß unser Schicksal vielmehr von der Stel-
lung in der Mitte zwischen West- und Osteuropa bestimmt wird.
Politisch hat uns der Doppeldruck, welcher von diesen beiden
Seiten ausgegangen ist, ob er sich in Frankreich und dem Os-
manenreich, oder in Frankreich und RuBland darstellte, durch
Jahrhunderte fast den Atem genommen und zeitweise nieder-
geworfen, geistig hat man uns die Wahl zwischen dem westlichen
und dem óstlichen Menschen vorschreiben wollen, ja, die Grenze
zwischen den so postulierten Grundformen europàischen Daseins
wohl gar mitten durch Deutschland gezogen und unser Eigen-
wesen damit aufgelöst. Auch heute wird um die westwärts-
oder ostwártsgerichtete Orientierung unserer Politik wie unseres
Geistes als um Grundfragen gerungen, von denen unser Schick-
sal abhänge. Die Süd- und Nordprobleme treten dahinter völlig
zurück.
Sehr verschieden hat sich dabei das Verhältnis gestaltet, in
welehem die Deutschen jeweils zu den Nachbarn im Westen und
Osten gestanden sind. Es ist z. T. von den Volkscharakteren
abhängig gewesen, welche miteinander in Berührung, in Aus-
tausch und Kampf getreten. Es ist zum anderen Teil von den
* Vortrag, gehalten auf dem Deutschen Historikertag zu Göttingen am
2. August 1932.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.2. 15
226 Hermann Aubin
geschichtlichen Lagen bestimmt worden, in denen sich diese
Berührung vollzogen hat. Nicht ohne Bedeutung für die Grund-
bedingungen der großen, quer über ganz Europa hingehenden
Auseinandersetzung ist dabei die Gestaltung der Staatsgrenze
gewesen; und umgekehrt spiegelt sich in deren Wesen und
Wandel ein gutes Stück der Voraussetzungen wider, unter
denen die Deutschen an den beiden Hauptfronten ihren Lebens-
kampf geführt haben.
Schon das Ausgangsbild der deutschen Staatsgeschichte
weist einen vollstándigen Gegensatz in der Grenzgestaltung
zwischen Ost und West auf, wie er offenkundiger, wie er aber
auch bezeichnender nicht gedacht werden kann. Das ostfrän-
kische und das junge deutsche Reich verfügen über eine vóllig
eindeutige, scharf gezogene Westgrenze. Ihre Ostgrenze dagegen
ist nicht nur für unser rekonstruierendes Auge, sondern in Wirk-
lichkeit unscharf, mehrdeutig, ja manchmal geradezu offen ge-
wesen.
Dieser Gegensatz läßt sich so in zwei Schlagworte fassen,
daß die westliche eine Binnengrenze, die östliche eine AuBen-
grenze dargestellt hat.
Von einer Binnengrenze dürfen wir im doppelten Sinne
reden. Staatlich zunáchst: Es handelt sich um die innere Tei-
lungslinie des Karolingerreiches, dessen Gemeinsamkeit auch
nach Verdun in der Idee festgehalten und auf kurze Zeit noch
einmal verwirklicht worden ist!. Ja, man kónnte die West-
grenze des ostfränkischen und des nachfolgenden deutschen
Reiches einfach als eine Verwaltungsgrenze ansprechen. Wenn
auch durch den Machtkampf der karolingischen Brüder ent-
standen?, folgt die Grenzziehung doch ganz der gleichen Praxis,
mit welcher man vordem schon in dem noch ungeteilten Reiche
Karls friedlich, ich möchte sagen am grünen Tisch, große Ver-
waltungsgebiete für die Kaisersöhne abgesteckt hatte. Die Über-
1 R. Faulhaber, Der Reichseinheitsgedanke in der Literatur der Karolingerzeit
bis zum Vertrage v. Verdun, Hist. Stud., hgb. v. E. Ebering, H. 204, 1931, u. dazu
P. W. Finsterwalder in der HZ. 146 (1932) S. 537.
2 Daß auch Einzelheiten der Grenzziehung von militärischen Gesichtspunkten
diktiert worden seien, sucht F. Steinbach, Gesch. d. deutschen Westgrenze, SA.
aus d. Bericht d. 18. Hauptversammlung d. Gesellschaft v. Freunden u. Fórderern
d. Universität Bonn, 1930, S. 5 herauszustellen.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 227
lieferungen der exakten rómischen Bureaukratie scheinen durch,
indem sie sich an die Grenze der Diózesen, d. h. also der rómischen
Civitates anschloB?*, und hüben wie drüben stießen in Gestalt
der Grafschaften* gleichartige Verwaltungseinheiten, Binnen-
zellen gleichwertiger Staaten an die Grenze an.
Von dieser Struktur sind alle die verschiedenen Linien ge-
wesen, welche zwischen 843 und 925 als ostfränkisch-deutsche
Westgrenze Geltung gewonnen haben.
Der eben dargelegte Binnencharakter gilt von dieser Grenze
aber noch in einem anderen Sinne. Sie ist zugleich nur innere
Linie innerhalb eines einheitlichen Kulturgebietes, das seine Ge-
meinsamkeit nicht allein in dem — allmählich sich abschwächen-
den — imperialen Gedanken festhielt, sondern auch in dem wach-
senden und erstarkenden Gebäude der Kirche vor Augen sah
und in christlichem Glauben gegenüber den Heiden, wie in roma-
nisch-germanischem Kulturbewußtsein gegenüber den östlichen
Fremdvölkern empfand. Von dem Gemeinschaftsgefühl dieser
abendländischen Welt legte der Grenzverlauf selbst Zeugnis ab.
Denn er schnitt, ohne irgendwelche Rücksicht auf Sprach- oder
Stammeszusammenhänge zu nehmen, den romanisch-germa-
nischen Mischungsgürtel mitten durch, welcher damals zwischen
Seine und Rhein gelegen war, und brachte so zur Anschauung,
daß für die Zeitgenossen hier keine Kultur- oder Völkerscheiden
bestanden. Daher haben auch alle Schwankungen von Lud-
wigd.D. bis Heinrich I. diesen Binnencharakter der Westgrenze
nicht verändert. Es handelt sich nur um dynastisch-staatlich
bedingte Verschiebungen innerhalb des gleichen Kulturraumes.
Erst später sind in die neu auflebende Auseinandersetzung um
unsere Westgrenze in zunehmendem Maße andere Töne hinein-
getragen worden®.
* Dargelegt von A. Schulte, Frankreich u. das linke Rheinufer, 1918, S. 53fl.
* Die Markgrafschaften, welche gelegentlich bis ins 12. Jh. im Westen auf-
tauchen, sind nicht als solche im eigentlichen Sinne anzusprechen; seit der Erhebung
Namurs zur Markgrafschaft 1188 wird dieser Titel gewählt, um eine Erhebung in
den Reichsfürstenstand durchzuführen, s. J. Ficker, Vom Reichsfürstenstande,
1. Bd., 1863, 88 148, 72 u. 80.
5 Vgl. meine Studie Staat u. Nation an d. deutschen Westgrenze, Völkerrechts-
fragen hgb. v. H. Pohl u. M. Wenzel, H. 34, 1931, S. 6f. u. d. dort angeführten Literatur.
* Den Beginn dieser neuen Etappe bezeichnet schon im Titel: F. Kern, Die
Anfünge der franzósischen Ausdehnungspolitik, 1910.
15*
228 Hermann Aubin
Einen gánzlich abweichenden Charakter zeigt hingegen die
Ostgrenze. In ihrer politischen Bedeutung ist sie vom Anbeginn
an die Außengrenze des fränkischen Reiches. Sie verläuft in
einem Raume, der ganz dünn besiedelt ist, welcher der Kultur
erst gewonnen werden muß, gegenüber Völkerschaften von frem-
der Herkunft und Art, die auf einer weit niedrigeren Stufe der
staatlichen Organisation und der Gesittung überhaupt stehen.
Grenze bedeutet hier nicht einfach das Ende eines beliebigen
Staatsgebietes, und Grenzschutz nicht nur die Verteidigung von
Leben und Habe,. sondern der höheren Zivilisation gegen den
Einbruch der primitiven; Grenzbildung wird hier Kulturarbeit
im eminenten Sinne, Grenzvorschiebung meint nicht nur Ge-
bietsgewinn, sondern Staatsaufbau von innen heraus.
Es handelt sich dabei aber keineswegs nur um eine Angelegen-
heit unseres Volkes. Diese Grenze der Deutschen ist zugleich
die Grenze des Abendlandes, seiner Kirche, seiner Gesittung.
Hier stand ein Bollwerk, das, wie einst der römische Limes, zwei
große Lebensgebiete schied, und den weiten Kreis des abend-
làndischen Daseins gegen den mehr als einmal drohenden An-
drang der Barbaren oder vóllig fremder Kultur verteidigte.
Seine Festigkeit war der Schutz des Okzidents, seine Vorver-
legung dessen Erweiterung. Mit jedem Vorrücken der deutschen
Ostgrenze war bis weit ins Mittelalter hinein die christliche
Mission, wie die Ausstrahlung abendländischen Wesens auf allen
Gebieten verbunden. Den Rücken an jene scharf gezogene Tei-
lungslinie im Westen gelehnt, die noch nicht vom Nachbarn
bedroht war, konnte das deutsche Volk damals im Osten seinen
Bewegungsraum sehen. Hier hat es durch Jahrhunderte die Móg-
lichkeit einer Ausbreitung seines Staats- und Volksgebietes be-
sessen und, indem es diese verfolgt, zugleich okzidentale Auf-
gaben erfüllt. Nirgends kommt so sinnfällig die Arbeit zur An-
schauung, welche das Deutschtum für die Ausgestaltung und
Formung der abendländischen Kultureinheit geleistet hat, wie
hier.
Die Vorgánge, die Mittel, die Kráfte dieser Leistung wollen
wir zu erkennen trachten, indem wir die Bildung der Ostgrenze
des alten deutschen Reiches verfolgen.
Es bedarf keines Wortes, daß diese Leistung keineswegs von
den Deutschen allein vollbracht worden ist. In gewissem Sinne
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 229
hat das ganze Abendland dahinter gestanden. Unmittelbar
haben allgemeine und besondere Mächte mit Hand angelegt.
Namentlich greift als die geprägteste Vertreterin des universell-
okzidentalen Gedankens bald und allenthalben die römische
Kurie ein. Sie stellt von den partikularen vornehmlich die
Kräfte Italiens in den Dienst der Aufgabe, dessen alte und
reichere Gesittung auch sonst daran Teil hat“. Später, wenn
sie dem christlichen Glauben gewonnen sind, rücken die Skan-
dinavier in die Front ein. Wir wollen auch nicht übersehen,
was die Ostvólker allmáhlich aus Eigenem zur Entwicklung bei-
getragen haben.
Das Hauptstück aber der ersten Eingliederung des Ost-
raumes in die abendlàndische Welt ist von den Deutschen von
ihrem Staat, ihrer Kirche, ihrem Volke vollbracht worden.
Dabei vereinigen sich in ihrer Ausstrahlung und Ausbreitung
aufs innigste partikuläre und universalistische Gedankengänge.
Ich habe hier nicht das rein tatsáchliche Zusammenfallen im
Auge, von dem ich vorhin sprach, daß die Handlungen des
deutschen Grenzschutzes, der Eroberung und Auswanderung
immer auch in gewissem Umfange abendlándische Belange mit-
besorgt haben, daß das deutsche Volk also Sachwalter des
Okzidents, wenn auch ohne Auftrag dazu, gewesen ist. Sondern
es handelt sich jetzt um die Frage, ob die Deutschen sich selber
auBer den realen Aufgaben der Sicherung und Ausweitung des
eigenen Lebensraumes auch noch andere, allgemeinen Ideen ent-
Springende Ziele gesetzt haben. Konkret gesprochen sind es
der christliche Missionsgedanke und die imperiale Idee nach
deren EinfluB wir fragen müssen. Die christliche Pflicht, das
Evangelium zu predigen, wird man ohne weiteres als ein Agens
der deutschen Ostbewegung anerkennen, um dessen Stärke
wohl, nicht aber um dessen Existenz gestritten werden kann.
Doch schon Julius Ficker hat geleugnet, daß irgendeine Er-
? Wie sich in einem südöstlichen Grenzgebiete des Abendlandes neben dem
vorherrschenden deutschen Einfluß auch der italienische geltend machte, läßt sich
gut an der Darstellung ablesen, welche Coloman Juhász von der „Einfügung des
Banats in die westeuropäische germanisch-christliche Kulturgemeinschaft‘ gegeben
hat (Das Tschanad-Temesvarer Bistum im frühen Mittelalter 1030—1307, Deutsch-
tum u. Ausland, hgb. v. G. Schreiber, H. 30/31, 1930).
230 Hermann Aubin
oberung der deutschen Kaiser dem Weltherrschaftsgedanken
entsprungen seis.
Hier berühren wir den überaus schwierigen Punkt aller Ge-
schichtsforschung, bei der Motivierung des politischen Handelns
den Anteil der ideellen und realen Triebkräfte gegeneinander
abzugrenzen, die doch selbst in der Brust des Einzelnen eine un-
bewuBte Verbindung eingehen. Wir dürfen nicht hoffen, zu
einer reinen Scheidung zu gelangen, wieweit die Ideologien
selbstwirksam und echt, wieweit sie nur Deckmantel gewesen
sind, da zu den allgemeinen Hindernissen unserer Einsicht für
unsere Periode noch hinzukommt, daß uns die ältere Zeit viel
zu wenig ursprüngliche Zeugnisse für die Beweggründe ihres
Handelns hinterlassen hat. Wir erleben es zwar selber zur Ge-
nüge, wie sich die wahren politischen Interessen hinter der fable
convenue ideologischer Phrasen verbergen, die sich wie selbst-
verständlich überall und täglich einstellen, wo von dem Ver-
hältnis der Völker untereinander die Rede ist. Indessen im
frühen Mittelalter wird dieser Vorhang vor den Herzen der
Politiker aus den Sätzen einer Weltanschauung gebildet, welche
viel tiefer und umfassender als irgendeine seitdem die Menschen
in Europa ergriffen hatte. Der Vorhang droht zur Kurtine zu
werden, welche uns den Einblick in die in Wahrheit wirksam
gewesenen Kräfte abschneidet. Nehmen wir hinzu, daß die in
Betracht kommenden Vorstellungen und Begriffe Wandlungen
durchgemacht haben, welche es nicht erlauben, die spärlichen
Zeugnisse über Jahrhunderte hin einfach zusammenzufassen.
Man denke nur an das entscheidende Wort Imperium!
Die Fragen nach dem Ideengehalt der mittelalterlichen Po-
litik sind allerdings in jüngerer Zeit mit einem Eifer bearbeitet
worden, welcher sehr deutlich die Ansicht widerlegt, daB unsere
8 J. Ficker, Deutsches Königtum u. Kaisertum, 1862, S.47f. — Über die
Möglichkeiten der deutschen Politik in der Kaiserzeit s. F. Kern, Der deutsche Staat
u. d. Politik des Rómerzuges, in Aus Politik u. Geschichte, Gedächtnisschr. f. G.
v. Below, 1928, S. 32ff., bes. S. 41 ff., wo der Einklang betont wird, in welchem sich
bei der deutschen Ostpolitik die Weltanschauung u. das „Kulturgebot der Zeit“ mit
den realen Interessen der Deutschen befunden haben. — Nun hat A. Brackmann
in den SB. der Preuß. Akad., Phil.-Hist. Kl. von 1932, Nr. XVII einen Vortrag
vorgelegt: Der „Römische Erneuerungsgedanke“ und seine Bedeutung für die
Reichspolitik der Deutschen Kaiserzeit, welcher für die eine Seite der imperialen
Idee, welche er behandelt, die antike, diese Bedeutung sehr gering anschlägt.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 231
Fachwissenschaft sich dem Einfluß der Probleme verschlossen
halte?, welche die eigene Zeit bewegen. Wir haben viel wert-
volle Klärung erfahren. Dennoch müssen wir uns zufrieden
geben, wenn wir an dieser oder jener Stelle das Einwirken der
einen oder der anderen Motivenreihe nachweisen oder wenigstens
wahrscheinlich machen kónnen. Solche Beschránkung gilt in beson-
derem Maße für eine Übersicht, wie sie hier geboten werden soll.
* *
*
Schon die Ostgrenze des merowingischen Reiches läßt, so-
weit wir unterrichtet sind, Züge erkennen, welche sie als echte
AuBengrenze in dem vorhin dargelegten Sinne kennzeichnen.
Da ist einmal ihr Verteidigungscharakter, welcher sich in eigenen
militärischen Einrichtungen ausspricht. In Thüringen wird so
gegenüber den Slawen!®, in Hessen!! und am Niederrhein!!* gegen-
* Vorangegangen ist 1918 E. Bernheim mit seinen unvollendeten Studien:
Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik u. Geschichts-
schreibung, T. 1, dem von ihm angeregt H. Lubnow mit der Greifswalder phil. Diss.:
Die Slavenkriege der Ottonen und Salier in den Anschauungen ihrer Zeit, 1919,
gefolgt ist. Umfassender und in glücklichem Eindringen ist auf F. Bäthgens Rat
Th. E. Mommsen darangegangen den Ideengehalt der deutschen Außenpolitik im
Zeitalter der Ottonen u. Salier zu untersuchen (Berliner phil. Diss. 1930). Fedor
Schneider, E. Pfeil u. P. E. Schramm haben in bekannten Schriften das Teilproblem
des Romgedankens und des römischen Erneuerungsgedankens gründlich gefördert,
dessen Einwirkung auf unsere Frage indessen A. Brackmann, wie gesagt (s. vorsteh.
Anm.), für sehr gering hält. Selber hat Brackmann mit dem Aufsatz: Die Ost-
politik Ottos d. Gr., HZ. 134 (1926), anhebend die Linien seiner Grundanschauung
über die Auseinandersetzung mit F. Kerns Abhandlung (s. vorsteh. Anm.) in Vel-
hagen u. Klasings Monatsheften, 1928/29, S. 443ff., die kurze Schilderung Ottos d. Gr.
in Bd. 2 der Sammlung Menschen, die Geschichte machten (1931, S. 1ff.), u. den
Vortrag in der Preuß. Akad., Phil.-Hist. Kl., 1931, Nr. IX, Die Anfänge der Slaven-
mission und die Renovatio Imperii des Jahres 800, bis zu dem in vorsteh. Anm.
genannten Vortrag immer fester herausgearbeitet. Von der Seite der Liturgie-
geschichte sind noch H. Hirsch (MÖIG. 44 [1930]) u. Carl Erdmann (s. unten S. 242,
Anm. 43) hinzugetreten.
10 Gegenüber den Angriffen, welche die durch Samo zu einem Großreich geeinten
Wenden gegen die thüringische Grenze des Frankenreiches führen, müssen die Auf-
gebote z. T. bis von Neuster und Burgund herangeholt werden. 631 bieten sich die
Sachsen in Nordthüringen an, Francorum limitem de illis partibus custodire, ohne
viel auszurichten. Es bedarf der Bestellung Sigiberts zum König von Auster mit
dem Sitze in Metz, 632, damit limes et regnum Francorum erfolgreich verteidigt
werden, s. Fredegar IV, c. 68, 74, 75 in MG. SS. rer. Mer. II.
1 Die Büraburg a. d. Eder sdl. Fritzlar hat sich nach den Ausgrabungen
J. Vonderaus als ein Grenzkastell mit ständiger Besatzung herausgestellt, das in
232 Hermann Aubin
über den Sachsen der Fortdauer der Vólkerwanderung der
Riegel eines neuen Limes vorgeschoben. Interessant genug ist
seine Beschaffenheit: Neben dem uralten Verteidigungsmittel
der Fluchtburg?, finden sich Kastelle, und die Bauanlage der
Büraburg wie ihre ständige Besatzung lassen annehmen??, daß
hier nicht nur der Name, sondern auch die tatsáchliche Über-
lieferung der spátrómischen Limeskastelle fortgewirkt hat!“.
Der Eindruck einer fast noch ganz auf Abwehr gerichteten
Haltung wird durch die Beobachtung verstärkt, daB damals
kaum irgendwelche kulturelle Kräfte über diese Grenze aus-
strahlten. Was der fränkische Kaufmann Samo in seiner Herr-
schaftsgründung den Wenden an höherer westlicher Gesittung
einflößte, war an seine Person gebunden und ging sogleich mit
seinem Tode wieder verloren. Die fränkische Kirche aber hat
die Erwartungen des Bischofs von Vienne schwer enttäuscht,
welcher die Taufe Chlodwigs als den Beginn der Christiani-
sierung aller Germanen begrüßt hatte!®. Sind doch unter den
Merowingern nicht einmal die rechtsrheinischen Stämme inner-
der Mitte d. 6. Jhs. entstanden sein dürfte (s. die Vorberichte in Germania XII
(1928), S. 34ff., XIII (1929), S. 77f., XIV (1930), S. 98). H. ZeiB, Die geschicht-
liche Bedeutung der frühmittelalterlichen Archäologie, Historisches Jb., 51. Bd.
(1931), S. 300 nimmt an, daB die Büraburg Parallelen z. B. in Mainfranken gehabt
habe.
11a S. die Alteburg bei Werden a. d. Ruhr von c. 700 mit der etwas jüngeren
kleinen Rundanlage daneben, von der C. Schuchardt, Die Burg im Wandel der
Weltgesch. (Museum der Weltgesch. hgb. v. P. Herre) 1931, S. 181, eine Abb.
(Nr. 165) gibt.
13 Nicht nur die Alteburg ist eine solche gewesen, sondern auch die Büraburg
hat dazu gedient, s. Ann. reg. Franc. (in us. schol. [1895] S. 36): confiniales de hac
causa (Sachseneinfall) solliciti, ... castello sunt ingressi.
3 Mehr noch als die Vorberichte Vonderaus (s. oben Anm. 11) ließ mich ein
Vortrag des Forschers erkennen, daB die Anlage der Mannscbaftsunterkünfte in
Anlehnung an die Verteidigungsmauer durchaus dem Typ spätrömischer Kastelle
von der Art Alzeys entspricht, über welche E. Anthes, Spätrömische Kastelle u.
feste Städte im Rhein- u. Doanugebiet, X. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1917
(1918), bes. S. 112 u. 161f. berichtet hat. — Auch die Alteburg hat Innenbauten
besessen, über welche aber nicht genügend Klarheit herrscht. Die etwas jüngere,
kleinere Anlage muB eine stándige Besatzung beherbergt haben.
M So stellt auch Vonderau, Germania XII (1928), S. 45 an bautechnischen
Einzelheiten fest, „daß die Erbauer sich an spätrömische Vorbilder in der Befesti-
gungskunst vielfach angelehnt haben".
15 Aviti epp. MG. Auct. antiqu. VI, 1, S. 76, Z. 7ff.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 233
halb des Reiches dem Christentum gewonnen worden, und selbst
die Tätigkeit der angelsächsischen Missionare, welche dann die
Unterstützung und den Schutz der ersten Karolinger fanden, hielt
sich noch ganz überwiegend innerhalb des engeren Reichsgebietes.
Von einem engeren Reichsgebiet ist zu sprechen!$. Denn von
den frühesten Zeiten her tritt uns als das andere Kennzeichen
der fránkischen Ostgrenze die Tatsache entgegen, daB wir es
nicht mit einer Grenzlinie, sondern mit einem Grenzsaum
zu tun haben. Der in der geschilderten Weise bewehrten Grenze
des eigentlichen Reichsterritoriums ist ein Streifen vorgelagert,
in welchem tributpflichtige Stämme der Sorben“ oder Sachsen!“
dem Reiche lose angeschlossen sind. Man wird selbst bei den
Herzogtümern der Thüringer und Bayern darauf hinweisen
müssen, daß sie ihre weitgehende Selbständigkeit nicht allein
der inneren Auflösung der Merowingermonarchie verdanken,
sondern daß sich darin auch noch ihre lockerere Einfügung in
das Reich ausspricht!?, Von dessen Kernlanden ausgehend, ist
also die Staatshoheit nach Osten zu räumlich mannigfach ab-
geschattet, bis sie sich sozusagen ohne Grenze im Niemandsland
verliert, in welches langsam die Slawen einsickern.
In vollerem Lichte erscheinen diese Zustände freilich erst
unter Karl d. Gr. und nun erhebt sich vor uns ein überaus ein-
16 In der Unterscheidung, welche E. E. Stengel in der Marburger akademischen
Rede (Nr. 49, 1930) Regnum und Imperium. Engeres und weiteres Staatsgebiet
im alten Reich, im Auge hat, kommt dem Begriff des engeren Staatsgebietes ein
anderer Sinn zu. Indessen deckt sich Stengels „weiteres Staatsgebiet‘ tatsächlich
z. T. mit unserer „Außenzone“, sodaß sein Material insoweit auch hier heran-
zuziehen ist.
17 Fredegar a.a. O. IV, c. 68: ...gentis Surbiorum, que ... ad regnum Fran-
corum iam olem aspexerant (vor 631). Ebenda 117 (cont. 31) Hilfeleistung der reges
Winidorum seu Frigionum für Pipin gegen die Sachsen 747.
18 U. zw. die nordthüringischen seit Teuderich und wieder seit Pipin, die west-
lichen seit Karl Martell, s. G. Waitz, VG. 2, 2* (1882), S. 252f. u. L. Schmidt, Gesch.
d. deutschen Stämme 2 (1911), S. 54ff.
19 Über diese Selbständigkeit s. Fr. Schneider u. A. Tille, Einführung in d.
Thüring. Gesch., 1931, S. 3; S. Riezler, Gesch. Bayerns, 1* (1927), S. 143. Ob das
bayrische Herzogtum tatsächlich eine „Modifikation eines vorfränkischen Volks-
königtums (s. M. Döberl, Entwicklungsgesch. Bayerns, I (1906), S. 27) oder ein
fränkisches Amtsherzogtum gewesen, ist allerdings immer noch umstritten, s. zuletzt
W. Varges, Das Herzogtum, in Aus Politik u. Gesch., Gedächtnisschr. f. G. v. Below,
1928, S. 19. `
234 Hermann Aubin
drucksvolles Bild planender Staatstätigkeit, das die älteren
Züge z. T. festhält, aber auch wesentliche neue hinzufügt und
den vornehmlich abwehrenden Charakter der Ostgrenze in das
Gegenteil umkehrt. Das Markensystem entsteht.
Die militärisch-verwaltungstechnische Einrichtung der Mar-
ken hat wahrscheinlich zuerst im Westen, gegenüber den Bre-
tonen und den Arabern in Spanien ihre Ausbildung erfahren®
Zur umfassenden Anwendung bot indessen erst der Osten Raum.
Hier hat sie dann den Boden gefunden, auf welchem sie sich zu
langdauernder geschichtlicher Wirkung entfalten konnte.
Wir wollen den Begriff der Mark nicht streng definieren und
das Wort System nicht pressen. Grenzgrafschaft, wie sie schon
früher bestand, und Mark gehen wohl manchmal begrifflich und
sicher zeitlich ineinander über“. Geographische und geschicht-
liche Sonderlagen bewirken Sonderbildungen, und überhaupt
ist der ganze ostmitteleuropäische Raum noch auf lange in
dauerndem Fluß begriffen.
Für die geschichtliche Wertung aber ist das Wesentliche,
daß die Marken gemeinhin auf erobertem Boden errichtet
worden sind. Das zu überlegener Machtfülle angewachsene Reich
brauchte sich nicht mehr damit zu begnügen, eine ihm oftmals
aufgezwungene Grenze eben noch zu behaupten. Es war viel-
mehr imstande, nach seinen Bedürfnissen den Nachbarn ihren
Verlauf vorzuschreiben. Es schob die erste Verteidigungslinie
in das Vorfeld eroberten Landes vor. So wird jenseits der Elbe
und Saale von Itzehoe bis Halle eine Burgenreihe errichtet, um
dem engeren Reichsgebiete die unmittelbare Abwehraufgabe ab-
zunehmen?!*, Und mehr, man richtet jenseits einen Streifen als
Zwischenglied zwischen dem befriedeten Binnenland und der
darüber hinaus noch bestehenden unbestimmt sich verlaufenden
39 M. Lipp, Die Marken des Frankenreiches unter Karl d. Gr., Phil. Diss. Königs-
berg 1892, 1. T., S. 14ff. Für den militärischen Ausbau spricht H. Zeiß, a. a. O. die
glaubhafte Vermutung aus, daß Karl von den langobardisch-byzantinischen Burgen-
linien in Italien Anregungen empfangen habe.
u Das ist alles sehr gut von M. Lipp, Das fränkische Grenzsystem unter Karl d. Gr.,
Untersuch. z. deutschen Staats- u. Rechtsgesch. hgb. v. O. Gierke, 41. H., 1892, dar-
gelegt worden. Für den Wiederaufbau seit Otto d. Gr. s. Waitz, a. a. O. 7 (1876), S. 66ff.
218 S. K. Rübel, Die Franken usw., 1894, S. 99; H. Hofmeister, Limes Saxonicus,
Zschr. d. Ges. f. Schleswig-Holstein. Gesch. 56 (1927); A. v. Oppermann und
C. Schuchardt, Atlas vorgeschichtl. Befestigungen in Niedersachsen, 1887—1916.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 235
Einflußzone ein. Der Mönch von Fulda ist gewiß ungeschickt,
wenn er 858 hochtrabend von einer respublica Sorabici limitis
spricht?*, Dennoch bringt er damit den Grundvorgang plastisch
zum Ausdruck, daß nämlich die Grenzlinie des engeren Reichs-
gebietes zu einem ráumlichen Gebilde angeschwollen ist.
Diese neue Zwischenzone ist sehr verschieden breit. Im SO,
wo das bayerische Herzogtum durch die Unterwerfung der Ost-
alpen-Slawen vorgearbeitet hatte, zwang die vollstándige Er-
ledigung des awarischen Problems bis tief in die ungarische
Ebene hinabzusteigen?. Hier reichen die Marken bis an den
südwärts gerichteten Lauf der Donau und an die Sau“. Dem
Nordabschnitt hat Karl erst in seinen letzten Jahren die volle
Aufmerksamkeit zugewendet. Seine Absicht, das im SO be-
gründete System hierhin zu übertragen, ist jedoch erkennbar,
und unter seinem Sohn die Zugehórigkeit von Marken zu den
Grenzlandschaften schon eine Selbstverstándlichkeit?5. Freilich
ist der Markengürtel hier noch recht schmal, und gegen Bóhmen
gar — im bayrischen Nordgau — auf dem engeren Reichsterri-
torium geblieben?®. Davor noch liegt die Zone der tributáren
Völkerschaften: im SO eingesprengt zwischen die Marken die
slawischen Vasallenstaaten in Kärnten, zwischen unterer Sau
und Drau und um den Platensee, in der Mitte vorgelagert das
umfangreiche Böhmen, weiterhin dann kleinere Stämme der
Elbslawen in wechselndem Gehorsam“.
* Ann. Fuld. ad. ann. Das Herrschaftsgebiet des damals unverläßlich werdenden
Sorbenfürsten scheint innerhalb der Mark gelegen zu haben. Uber den Limes Sorabi-
cus s. P. Honigsheim in d. Zschr. d. Ver. f. Thüring. Gesch. NF. 16 (1906), S. 303ff.
2 Wieweit Karl, als er nach Tassilos Sturze in Regensburg fines et marcas
Baioariorum disposuit (Ann. regn. Franc. ad ann.), schon eigentliche Marken gebildet
hat, ist nicht auszumachen
# Darüber zuletzt H. Pirchegger, Karantanien u. Unterpannonien zur Karo-
lingerzeit, MIÓG. 33 (1912), S. 272ff. u. in Einzelheiten abweichend L. Hauptmann,
Erláuterungen z. Hist. Atlas d. ósterr. Alpenlünder. 1. Abt., 4. Teil, 2. H. (Krain)
S. 3371f., ferner, die Binnengrenzen ausfeilend, E. Klebel, D. Ostgrenze d. Karo-
ling. Reiches, Jb. f. Landeskde. v. Niederösterreich NF. 21 (1928), S. 348ff.
* S. die Reichsteilung v. 839: ducatum Toringie cum marcis suis, regnum
Saxonie cum marcis suis (MG. Cap. 2, Nr. 200, S. 58).
3 G. Waitz, VG. 7 (1876), S. 76; M. Dóberl, D. Markgrafschaft u. d. Mark-
grafen auf d. bayr. Nordgau, 1894.
T Den genauen Verlauf der karoling. Ostgrenze hat jüngst E. Klebel zu be-
stimmen versucht, s. oben Anm. 24. Sein Hauptverdienst liegt in dem Abschnitt
236 Hermann Aubin
Die Anlage der Marken wáchst aus der reinen Verteidigungs-
aufgabe des Reiches heraus. Indem diese aber aktiv erfaßt wird,
wandelt sich die bloBe Abwehr zu einer Erweiterung des Staats-
gebietes, wird ein Stück Barbarenland in die hóhere Organisation
des Frankenreiches einbezogen. Der Markgraf muB für seine
besonderen Pflichten mit gesteigerter Befehlsgewalt ausgestattet
werden, und damit wird in den Markenboden der Keim einer
besonderen Verfassungsentwicklung gelegt, welcher ihm später
einen Vorsprung an Geschlossenheit der Territorialbezirke vor
Altdeutschland verleihen sollte®. Zugleich lenkt Karl, geleitet
über die SO-Marken. Beim Nordabschnitt geht er zu seinem Schaden an vor-
handener Literatur vorüber. Die zusammenfassende Feststellung, daß „die Reichs-
grenze bei Karls Tode keine zusammenhängende Linie gewesen“ (s. 353, vgl. auch
364) hätte K. richtiger formuliert, wenn er von seiner eigenen Unterscheidung des
geschlossenen Reichsgebietes und den vorgelagerten Tributärstaaten grundsätz-
licher Gebrauch gemacht hätte. Seine lebendige Schilderung von der Unfertigkeit
der Grenze gilt für die ,,AuBenzone". Das engere Reichsgebiet besaß eine sehr viel
schärfere, welche das bekannte Kapitular v. 805 (MG. Cap. 1, Nr. 44, S. 123), das
K. selber stark heranzieht, durch die Angabe der Grenzübertrittsorte zu bestimmen
gestattet. Daß auch diese Grenze bei dem damaligen Stande des Landesausbaus
noch nicht überall abgemarkt war und daB sie Verschiebungen erleiden konnte,
versteht sich von selbst.
?5 Die communis opinio s. f. d. fränk. Zeit bei Waitz a. a. O. 33 (1883), S. 370ff.
u. H. Brunner-Cl. Fhrr. v. Schwerin, Deutsche RG. 2* (1928), S. 231ff., für das
Mittelalter Waitz a. a. O. 7 (1876), S. 84ff. u. R. Schróder-E. Fhrr. v. KünBberg,
Lehrbuch d. deutschen RG? (1932), S. 616ff. Letztere stehen noch unter dem
Banne von Brunners Aufstellungen f. Österreich (D. gerichtl. Exemtionsrecht d.
Babenberger, Wiener SB. 47 (1864), S. 315ff., bes. 320. S. auch J. Ficker-P. Punt-
schart, Vom Reichsfürstenstande, 2, 3 (1923), $ 589. Danach hátten sich die Mark-
grafen einer bes. günstigen Ausgangsstellung für den Erwerb einer geschlossenen
Landeshoheit erfreut, weil ihnen allein die ganze Grafengerichtsbarkeit in den
Marken zugestanden. O. H. Stowasser hat dieser übersteigerten Zeichnung des
Gerichtszustandes in der Mark erfolgreich das Bild einer auch hier allmählich sich
vollziehenden Territorialbildung entgegengesetzt (ZRG. Germ. Abt. 44 (1924),
S. 114ff., D. Land u. d. Herzog, 1925, u. VSWG. 19 (1926), S. 413ff.). Die darüber
entbrannte Diskussion hat für unsere Zwecke soviel ergeben (s. A. Dopsch, VSWG. 20
(1928), S. 460ff.), daB es sich bei der territorialen Entwicklung auf dem österr.
Markenboden mehr um einen zeitlichen und graduellen Vorsprung, als um einen
konstitutiven Unterschied handelt. Abgeschlossen aber ist die Frage nicht; es steht
noch aus, daB der Ursprung der Grafenrechte festgestellt ist, welche neben denen
des Markgrafen bestanden: Handelt es sich um wirkliche Grafschaften, wie H. v. Vol-
telini, VS WG. 19 (1926), S. 325 mit dem Worte „echte Grafen“ zu meinen scheint,
oder um weltliche Hochimmunitäten, wie Voltelini ebenda S. 326 nahelegt? Erst
diese Klärung würde die Lücke zur fränkischen Zeit zuschlieBen. Eine erneute
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 237
von dem Streben, der Mark verläßliche Verteidiger zuzuführen,
einen Strom deutscher Kolonisten in die Donau- und Ostalpen-
landschaften. Der kónigliche Anspruch auf allen Grund und
Boden im eroberten Lande?? bietet die vollkommenste Hand-
habe, dieses Werk nach einheitlichen Gesichtspunkten zu unter-
nehmen. Mit der materiellen Kolonisierung geht die geistige
Hand in Hand. Karl hat sich mit dem Gedanken der Heiden-
mission erfüllt, dem sich die Franken bis dahin nur zógernd
genähert hatten. Er erkennt in ihr die hohe, unerläßliche
Pflicht des christlichen Kónigs und treibt die Kirche seines
Reiches zur Arbeit an. Zwar sucht er auch die Hilfe des Papstes
dafür. Aber er befiehlt ihm, Salzburg zur Metropole für die
Missionierung der Donaumarken zu erheben??; die Missions-
sprengel und jene der weltlichen Verwaltung werden einander
Gesamtbehandlung der Markenverfassung wäre erwünscht. Sie müßte auch die
sächsischen mit heranziehen, obwohl hier z. T. erkennbar abweichende Verhältnisse
geherrscht haben, da sie nicht, wie die bayerischen, ursprünglich dem Herzog unter-
standen (Waitz a. a. O. 7, S. 93 u. J. Ficker-P. Puntschart, Vom Reichsfürstenstande
2,3 (1923), $ 543) u. bier der Markgraf zu eigenen Hulden dingte (daß das aller-
dings kein Vorzug des Mgfn. sei, macht Voltelini, a. a. O. S. 324 eine Anspielung).
Außer Ficker - Puntschart a. a. O. $8 590 ff. s. dazu auch zusammenfassend R. Kótz-
schke, Die deutschen Marken im Sorbenland, Festgabe f. G. Seeliger 1920.
æ Ich halte diese Anschauung fest (s. zuletzt E. E. Stengel a. a. O. Anm. 31
über dieses „staatliche Hoheitsrecht im ‚Vorfeld‘ des Reiches“), obwohl A. Dopsch,
D. ältere Sozial- u. Wirtschaftsverfassung d. Alpenslawen, 1909, S. 59 mit Recht
bemerkt, daB sich diese Ansicht durch keinen positiven Beleg stützen lasse. Dieses
Bodenregal im eroberten Lande darf wohl als ein natürlicher AusfluB aus dem Recht
des Eroberers angesehen werden, was nicht hinderte, daß dieser bestehende private
Eigentumsrechte anerkannte. Solcher Art kónnen die v. Dopsch, D. Wirtschafts-
entwicklung d. Karolingerzeit, 1. Bd., 1. Aufl. (1912), S. 108 Anm. 3 angeführten
Belege gegen das Bodenregal erklärt werden, soweit sie nicht überhaupt auszu-
scheiden sind. Private Eigentumsrechte sind stets bereits einige Jahre nach der
Eroberung schon auf Grund kgl. Schenkungen zu erwarten, die Anzeichen eines
diskrätionären kgl. Rechtes dagegen am ehesten unmittelbar nach der Eroberung.
Die einzige erhaltene Schenkungsurk. Karls d. Gr. f. d. Ostmark, D. Car. 212, a. 811
zeigt bei einem Areal v. 40 Hufen in offenem Lande keine Beschränkung des kgl. Ver-
fügungsrechtes durch etwa bestehende private Ansprüche. Vgl. ferner unten S. 245
Anm. 55. Die ganze Frage bedarf einer Neubehandlung. S. auch S. 255 Anm. 84.
æ S. A. Brackmann, Slavenmission a. a. O. S. 9. S. auch den Befehl, den Karl
d. Gr. den Bischófen erteilte, den neubekehrten Main- und Rednitzwenden Kirchen
zu erbauen, u. zw. bezeichnenderweise im Zusammenwirken mit den Grafen (erhalten
in der im Formular überlieferten Urk. Ludwigs d. Fr., Form. Imp. Nr. 40, MG.
Formulae, S. 317, u. in DD. Ludwigs d. D. 42, a. 845).
238 Hermann Aubin
angeglichen. Die Mission ist Staatsaufgabe. Niemals mehr
haben alle Elemente der Ostausbreitung so vollkommen zu-
sammengewirkt. Denn niemals mehr waren alle Kräfte des
Abendlandes in gleicher Weise einem einzigen Willen unter-
worfen. So wandelt sich in der Hand des großen Ordners der
defensive Akt der Markenbildung zu einer Tat fruchtbarster
Schöpfung. Die Mark wird gleichsam zur großen Schulstube
für die jungen Völkerschaften des Ostens, welche sie durch-
machen müssen, um für die Aufnahme in die abendländische
Kulturgemeinschaft reif zu werden.
Hier tritt ein auffallender Unterschied gegenüber der Be-
handlung des sächsischen Eroberungsgebietes durch Karl zu-
tage. Die Sachsen sind ohne Zögern ins engere Reichsgebiet
aufgenommen worden, obgleich doch auch sie erst für das
Christentum gewonnen werden mußten. Wenn ihnen erlassen
blieb, den Vorhof der Markenorganisation zu durchlaufen, so
ist der Grund dafür ohne Zweifel ihr Germanentum, das sie auf
eine Stufe mit dem Herrenvolk der Franken stellte, wie sich
ja auch die angelsächsischen Glaubensboten ihnen als ihren
Vettern nahe verwandt gefühlt haben? An dem Vergleich
dieses verschiedenen Verhaltens gegenüber Slawen und Awaren
einerseits, Sachsen anderseits wird deutlich, daß unter den
Kompenenten des karolingischen Kulturbewußtseins das Ger-
manengefühl nicht das letzte gewesen ist. Diese Feststellung
schließt sich eng an den Nachweis an, den jüngst Albert Brack-
mann erbracht hat, daß in eben den Jahren, da die Ostaus-
breitung in das entscheidene Stadium der Markenbildung ein-
tritt, und gerade an der großen, hier gestellten Erziehungsauf-
gabe in dem Kreise Karls d. Gr. der Gedanke der abendlän-
dischen Lebensgemeinschaft zu dem Bilde des allumfassenden
Imperiums ausgeformt worden ist??. Auch in dieser Konzeption
sind, im eigensten Sinne Karls, religiöse und kirchliche Ge-
31 Die Abkunft der Sachsen in England von den Festlandsachsen, die Beda
mehrmals betont (Hist. eccl. I, 15 u. V, 9), gibt Bonifaz Anlaß, seine Landsleute auf-
zufordern, für die Bekehrung der Altsachsen zu beten. Er kennt deren Recht und
hält es, obwohl es das Recht von Heiden, dem christlichen König v. Mercia als Beispiel
vor, s. Die Briefe d. hl. Bonifaz u. Lullus, Epp. sel. in us. schol. I, Nr. 46, a. 738 u.
Nr. 73, a. 746/7 (S. 150).
32 Slavenmission, bes. S. 16f.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 239
danken, doch sie eben nicht allein, enthalten, und sie fállt nicht
mit jener kurialen zusammen, welcher Leo III. durch den Akt
der Kaiserkrónung Ausdruck verleihen wollte. An sich bedurfte,
wie hier schon klar geworden ist, der fränkische König weder
des von den alten Augusti hergeleiteten Anspruchs auf das
imperium mundi, noch der kurialen Sanktion, um für das Zivi-
lisations- und Missionswerk im Osten legitimiert zu werden.
Indessen sind in der Zukunft die verschiedenen Wurzeln der
Kaiseridee, wie sie miteinander verschmolzen, auch in dieser
Richtung vereint wirksam geworden?
Mit der Markenbildung an der Slawengrenze hat Karls
Schöpferkraft die Formen geprägt, in welcher noch auf Jahr-
hunderte das deutsche Volk seine Verteidigung führen und die
große, vom Kaiser gewiesene und der Natur der Sache nach
vornehmlich den Deutschen zufallende Aufgabe verwirklichen
sollte, dem ostmitteleuropäischen Raume die abendländische
Gesittung zuzuführen. In dem Vorgang der Markenbildung lag
unmittelbar eine fortzeugende Kraft. Denn wenn die intensive
Kulturarbeit, welche an den Jungboden gewandt wurde, die
alte Mark allmählich in Binnenland verwandelt hatte, mußte
eine neue vorgelegt werden, um die alte zu schützen.
Das karolingische System der Ostgrenze ist allerdings in der
Zeit des verfallenden Reiches unter dem Ansturm der Magyaren
zusammengebrochen. Die deutschen Randstámme sind nicht.
imstande gewesen, bei ihrer Vereinzelung in den rasch errichteten
NotbautenrückwártigerVerteidigungsstellungen** dieÜberflutung
Wie gering Brackmann dabei mit Recht die Wirkung des römischen Er-
neuerungsgedankens anschlägt s. oben Anm. 8.
** Fs handelt sich dabei nicht einfach um die Rückverlegung des Grenzschutzes,
wie ihn die Anlage der Ennsburg an dem alten Grenzflusse des engeren Reichs-
gebietes um 900 oder einzelne der Bauten Heinrichs I. an der Saale, z. B. die Um-
mauerung von Merseburg, darstellen. Vielmehr ist das karolingische Markensystem
gänzlich zusammengebrochen, und das zeitigte Folgen, wie einst der Zusammen-
bruch der Limeslinie bei den Einfällen der Markommen seit 166 u. der Alemannen
259/260. An die Stelle der von einem zentralen Staatswillen eingerichteten Ver-
teidigung des gesamten Staatsgebietes an der Grenze tritt die Notwendigkeit, sich
durchs ganze Hinterland Ort für Ort in Verteidigungszustand zu setzen. Wie damals
im Römerreiche die bisher offenen Städte Germaniens, Galliens u. Oberitaliens bis
hinab zur Urbs selbst (275) mit Mauern umgürtet worden sind, so jetzt Bischofssitze
wie Regensburg u. Augsburg, Klöster, wie St. Gallen, Hersfeld, Gandersheim, Pfalzen,
wie Quedlinburg oder Werla in Sachsen, u. selbst in Lothringen suchte ein jeder,
240 Hermann Aubin
der abendländischen Welt bis tief nach Frankreich und Italien
durch den barbarischen Feind abzuwehren. Sobald aber das
neu geeinte Reich unter Ottos Führung erstarkt, nimmt es wie
selbstverstándlich, in dem gleichen Bedürfnis der umfassenden
Verteidigung und gleichfalls im Nachstoßen hinter dem östlichen
Gegner, mit der Ostpolitik die Überlieferung der Marken-
organisation auf. Und zwar wird nicht nur die karolingische
Einrichtung dort, wo sie verschüttet war, nach Möglichkeit
wieder hergestellt, sondern das Prinzip auch lebendig an neuer
Stelle zur Anwendung gebracht, nämlich im Nordabschnitt von
Elbe und Saale. Wieder tritt die innige Verbindung der gleichen
Elemente auf: der staatlichen Abwehr und Herrschaftsorgani-
sation, der Mission und Diözesenbildung und der ländlichen
Kolonisation, letztere wenigstens im Südabschnitt der Donau-
und Ostalpengebiete, wo die karolingischen Grundlagen keines-
wegs vernichtet waren. Wieder wird die gleiche Technik ange-
wandt und jenseits des Markengürtels die Tribut- und Einfluß-
zone hergestellt. Auch die ottonische Restauration der deutschen
Ostgrenze schafft also nicht eine einfache Grenzlinie, sondern
einen vielgestaltigen und dreifach in die Tiefe gegliederten
Grenzraum.
Im Südabschnitt ist die alte Karolingische Grenze bekanntlich
nicht wieder erreicht worden. Vor des Kaisers sáchsischer
Heimat dagegen hat sich das Grenzwerk um so weiter auszu-
dehnen begonnen. Am umfassendsten wird die große Kon-
zeption von Ottos Ostpolitik in der in wenigen Akten einge-
leiteten kirchlichen Organisation des Grenzsaumes deutlich.
Von Jütland bis Bóhmen legt sich eine Kette von Bistümern
vor die Grenze des engeren Reichsgebietes. Wenn denen von
Havelberg und Brandenburg noch das Meer% und die Oder“
wie es eine Urk. v. 926 lebendig schildert, tuta loca perquirere, ubi aliquid firmitatis
fieri potuisset contra predictorum insidias perfidorum (der Ungarn) Die Belege
bei G. Waitz, JB. d. Deutschen Reiches unter Kg. Heinrich I.“, 1883, S. 92ff. u.
für Italien bei Dümmler, Gesch. d. Ostfránkischen Reiches, 2 (1865) S. 508 m. Anm. 40.
*5 DOI. 76, a. 946 f. Havelberg, S. 156, Z.32: ab aquilone mare Rugianorum
s. dazu F. Curschmann im NA. 28 (1903) S. 393ff. u. derselbe, D. Diözese Branden-
burg, 1906, S. 21, Anm. 1.
** Curschmann, Diózese Brandenburg, S. 176 nach DOI. 105, a. 948 S. 189, Z. 21:
Terminum ... orientem versus ad flumen Odera.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 241
als Ostbegrenzung gewiesen worden sind, so war dem über-
geordneten Erzbistum Magdeburg ursprünglich eine uneinge-
schränkte Einflußsphäre nach Osten hin zugedacht?”, in welcher,
wie sich die Tributsherrschaft des deutschen Reiches über Polen
bis an die Warthe erstreckte“, ein eigenes Bistum in Posen an
der Warthe errichtet wurde“. Das Bistum Prag aber sollte auch
Mähren, das Waagtal, Krakovien und Teile RotruBlands, also
gleichfalls ein noch nicht abzusteckendes Missionsgebiet um-
fassen“, von dem Otto gewiß der Überzeugung war, daß es auch
seiner Oberhoheit unterliege. Máhren aber und das Waagtal
gehórten staatlich zu Ungarn und in der Tat scheint Otto bereits
auch das übrige Ungarn in seine kirchlichen Organisationspläne
einbezogen zu haben“. Wie in karolingischer Zeit dürfen wir
nun die Grenze der deutschen Kirche als die Grenze wenigstens
des weiteren Reichsterritoriums in Anspruch nehmen. Diese
gibt sich derart als noch völlig offen zu erkennen. Sie verliert
sich in nebelhaften Fernen.
Man möchte so weitgehende Ansprüche auf den ersten Blick
auf das Kaisertum Ottos zurückführen. Indessen die Aufgabe,
die Kirche zu schützen, lag allen christlichen Herrschern ob, sie
wurde an der Grenze zum Kampf gegen die Heiden“, sie konnte
durchaus offensiv aufgefaBt werden und Carl Erdmann hat eben
an liturgischen Texten festgestellt, daB das 10. Jahrhundert
„den Beruf zum Heidenkrieg dem Kaisertum nicht in höherem
* Das hat A. Brackmann, Ostpolitik Ottos d. Gr. überzeugend herausgestellt.
3 Thietmari chron. I. II. c. 29 (19), in us. schol. S. 37: ... Miseconem inperatori
fidelem tributumque usque in Vurta fluvium solventem ...
»Die kirchenrechtliche Stellung des Bistums in seiner Frühzeit ist bestritten.
P. Kehr hat in der Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Jg. 1920, Phil. Hist. Kl. Nr. 1,
D. Erzbistum Magdeburg u. d. erste Organisation d. christl. Kirche in Polen, Posens
Unterstellung unter Magdeburg für eine jüngere Fabel erklärt. Indessen kommt
es hier nur darauf an, ob das Bistum zur Sphüre der deutschen Reichskirche gehórt
habe. Brackmann hat a. a. O. S. 2451. auf diesen Gesichtspunkt hinzielend äußerst
glaubhaft gemacht, daB das Letztere der Fall war.
* Nach der Urk. Heinrichs IV. f. das Bistum Prag v. 1086, deren Zurückgreifen
gerade in der Grenzbeschreibung auf die Gründungsurk. v. 973 R. Holtzmann im
Arch. f. Urkundenforsch. VI (1918), S. 177 erwiesen hat.
“4 So v. Brackmann, Ostpolitik S. 2541. in naheliegendem Zusammenhange
Wahrscheinlich gemacht.
*3 A, Brackmann, Slavenmission S. 6.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 16
242 Hermann Aubin
Maße beigelegt habe, als dem Königtum“ “. Sicher ist um-
gekehrt, wie besonders Brackmann betont, daB die Ostpolitik
deutschen Ursprungs beigetragen hat, Otto auf das Bündnis mit
dem Papst hinzudrängen, und daß der Papst Otto als den Heiden-
sieger der Kaiserkrone für würdig angesehen hat“.
Wie immer dem sei: Soweit das Kaisertum Ottos von dem
Karls abstand, um soviel weniger waren nun die Machtmittel
des Abendlandes noch in einer Hand konzentriert. Die abend-
lándische Aktion im Osten batte sich schon einmal aufgespalten.
In der Zeit der Schwäche der Karolinger hatte sich das Papst-
tum in der Vertretung der okzidentalen Interessen im Ostraum
von der weltlichen Führung befreit und vornehmlich unter
Nicolaus I. im Wettbewerb mit der fränkischen Kirche und
unter deren Ausschaltung die Mährer, Bulgaren und Kroaten
in eine lediglich römisch bestimmte Gemeinschaft mit dem
Westen hineinzuziehen getrachtetfs, Was es davon überhaupt
erreichte, war in der Hauptsache bald wieder hinweggewischt
worden. Indessen erhob sich, als Otto I. mit seinen weittragen-
den Entwürfen hervortrat, eine kuriale Opposition. Papst
Johann XIII. schränkte jenes ausgreifende geistliche Erobe-
rungsgebiet, das dem Magdeburger Erzbistum zugedacht war,
auf die bereits christianisierten Slawengebiete ein. Hier trat ein
Gegensatz zutage, welcher für die Gestaltung der deutschen
Ostgrenze von groBer Bedeutung werden sollte: Der Gegensatz
einer römischen und der deutschen Ostpolitik“ . Sehr bald er-
scheint Rom als der Stützpunkt, an den der Herzog von Polen
durch Auftragung seines Landes an den hl. Petrus Anlehnung
sucht, um sich dem deutschen Einfluß zu entziehen, ohne auf
die Hilfe der westlichen Zivilisation verzichten zu müssen“;
ein Akt, welcher ein Loch in den östlichen Grenzraum reißen
C. Erdmann, Der Heidenkrieg in d. Liturgie u. d. Kaiserkrönung Ottos I.,
MÓIG. 46 (1932), S. 130ff, bs. 140.
4 In: Menschen, die Gesch. machten, a. a. O. S. 5f., Slavenmission S. 18, Er-
neuerungsgedanke S. 7.
8. H. v. Schubert, Geschichte d. christl. Kirche im Frühmittelalter, 1921,
S. 510 ff. u. F. v. Šišić, Gesch. d. Kroaten, 1 (1917), S. 60f., 91f., 98f., 101 f. u. 105f.
** Dies hat A. Brackmann, Ostpolitik, bes. S. 249 scharf herausgearbeitet.
Vgl. auch Erneuerungsgedanke S. 15.
4? S. R. Holtzmann, Böhmen u. Polen im 10. Jh., Zschr. d. Ver. f. Gesch. Schle-
siens 52 (1918), S. 1ff., bes. 33.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 243
mußte, wenn er von Bestand“. Und unter Otto III. gewinnt
dieser Gegensatz fast auf der ganzen Linie Kraft.
Allerdings nicht in der Konstellation, daB er durch die beiden
Häupter der Christenheit wäre personifiziert worden, sondern
vielmehr in einer Zeit von deren einträchtigstem Miteinander-
gehen. Indem der junge Otto von universalistischen Gedanken-
gängen getrieben“ die Entstehung einer selbständigen polnischen
Kirche fördert und einer ungarischen nicht bindert“, bricht aus
der deutschen Ostpolitik in breiten Stücken jene Stütze heraus,
welche eine deutsche Kirchenorganisation im Ostraum hätte
darstellen können. Nicht länger mehr fällt nun hier Christen-
heit und Einordnung in den deutschen Kirchenverband zu-
sammen, und damit hört auf weite Strecken die Grenze der
katholischen Lebensgemeinschaft auf, die äußerste Linie des
deutschen Grenzsaums im Osten zu tragen.
Die Entstehung dieser Landeskirchen ist freilich nur das
eindrucksvolle Zeichen für den sich nunmehr anmeldenden
Willen der Ostvölker, eigene Lebensformen höheren Ranges aus-
48 A. Brackmann, Erneuerungsgedanke, S. 14, sieht schon mit diesem Akt den
deutschen Einfluß auf das Missionsgebiet in Polen rechtlich ausgeschaltet. Die
Überlieferung aber von der Tradition des „Landes Gnesen'* an den hl. Petrus ist
derart, daB es sehr fraglich scheint, ob sie irgend welche praktische Folgen gehabt
und ob man sich ihrer je wieder erinnert habe. Der deutsche Herrscher als Lehnsherr
Mieskos hatte auch gewiß nicht seine Zustimmung dazu gegeben, und so sind er und
die deutsche Kirche durch die Auftragung nicht gebunden gewesen.
Gänzlich von solchen beherrscht schildert Otto III. auch P. E. Schramm in
der knappen Skizze, welche er zu der Revue: Menschen, die Geschichte machten,
beigetragen hat (2, bes. S. 11). Dort wo Schramm die Wandlung jener Gedanken-
gänge am eindringendsten verfolgt hat (Kaiser, Rom u. Renovatio, 2. T., 1929),
hat er sich die Auswertung für die Fragen des realen Volkerlebens leider versagt
(1, S. 138, Anm. 3 u. 2, S. 15).
59 A. Brackmann, Erneuerungsgedanke S. 16, geht noch einen Schritt weiter
als Schramm und sieht in Ottos Verhalten den Versuch, „jene Differenz zu über-
brücken, die zwischen der traditionellen fränkisch-ottonischen und der kurialen
Anschauung von der Missionstätigkeit (vgl. oben Anm. 46), bestand, und dem
Kaiser die Móglichkeit zu schaffen, in Polen in autoritativer Form aufzutreten und
die kirchlichen Verhältnisse selbst zu ordnen". Er spricht damit Otto, wenn auch
innerhalb der universellen Gedankensphäre, doch gewisse realpolitische Instinkte
zu. Die Grundlagen für diese Auffassung scheinen mir aber noch nicht so gesichert
(vgl. auch oben Anm. 48), als daB ich Brackmann folgen möchte. — Auf jeden Fall
bleibt die Frage nach der Bedeutung von Ottos Schritten für die deutsche Ent-
wicklung bestehen.
16*
244 Hermann Aubin
zubilden und namentlich ihre staatliche Selbstándigkeit zu er-
langen. Während die Deutschen sich bisher im Ostraum — von
der ephemeren Erscheinung des Großmährischen Reiches ab-
gesehen — so ziemlich einer amorphen Masse von kleinen Gau-
schaften gegenüber gesehen hatten, in welcher sie trotz aller
Rückschläge doch nach ihrem Willen Ordnungen schaffen
konnten, so ist hier nunmehr mit Gegenspielern zu rechnen,
welche eigene aufbauende Ziele verfolgen, und welche mindestens
als römische Christen bereits anerkannte Glieder der abend-
ländischen Völkergemeinschaft, von der Kurie gestützt und wohl
auch einmal gedeckt, darstellen. Die Wendenstämme zwischen
Saale —Elbe und Oder gelangen allerdings auch jetzt noch nicht
zu festerer und weitráumigerer staatlicher Organisation. Indem
sie zugleich weiter im Heidentum verbarren, bleiben sie Objekt
nur der Geschichte. Drei Kraftgebiete aber treten hervor,
welche teils von deutsch-abendländischer Zivilisation aufgesäugt,
teils auch aus anderen, nordischen wohl und oströmischen
Wurzeln Säfte ziehend, untereinander und auch schon mit den
Deutschen in die Auseinandersetzung um den Lebensraum ge-
raten, welcher bislang die äußere Sphäre des deutschen Grenz-
raumes im Osten gewesen war: Ungarn, Böhmen und Polen.
Mit dem Worte von der Auseinandersetzung um den Ost-
raum aber ist das Schlagwort gegeben, unter dem von nun an
die Geschichte der deutschen Ostgrenze steht.
Am frühesten hat das Herrenvolk der Magyaren ein festes
Staatswesen aufzurichten verstanden. Die Auseinandersetzung
mit ihm ging um zwei Ziele: Ein großes, nämlich die Einbe-
ziehung oder Festhaltung ganz Ungarns innerhalb des äußeren
Reichsgebietes. Das Lehnsrecht bot jetzt für ein solches Ver-
hältnis eine sehr geeignete Form. Aber trotz aller Bemühungen
der Salier, welche diesem Grenzabschnitt sich zuwandten, war
es nur von kurzem Bestand. Das andere Kampfobjekt war be-
scheidener: Der Grenzverlauf des Markengürtels. Schon im
10. Jahrhundert ist diese Grenze im großen ganzen abgeklärt“.
8 Die Erläuterungen z. Hist. Atlas d. österr. Alpenländer, Abt. I, bisher 4 Teile
1906—1929, geben das Material im Einzelnen. S. bes. 1. T., S. 199, 2. T., S. 15 ff.,
4. T., S. 350 ff. Die Einzelheiten bringen interessante Beiträge zu dem Problem der
Herausbildung der Grenzlinie aus dem Grenzs aum, für die allgemeine geschicht-
liche Ansicht indessen sind außer der gleich im Text zu erwähnenden und der unten
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 245
Grob, aber im Wesen nicht unrichtig, kann man sie mit dem
Rand des Alpenlandes gegenüber der Tiefebene bezeichnen.
Nur dort, wo die groBe VólkerstraBe entlang der Donau nach
Ungarn hineinführte, ging der Kampf noch im 11. Jahrhundert
um das noch siedlungsarme aber siedlungsfreundliche Gelände
weiter, in welches die deutschen Kolonisten nach Überwindung
der Naturscheide des Wienerwaldes und Manhartsberges hinab-
stiegen®?. Hier ist es das Reich selber, das die Grenze vorträgt,
das die Eroberungen nach erprobter Praxis als neue Marken
einrichtet und kirchliche Pastorisierung wie deutsche Ansiedlung
einleitet®®. Für sein Besitzrecht beruft es sich ausdrücklich auf
die Eroberung durch das Schwert, ohne jede andere Moti-
vierung“, und wieder verfügt der König dementsprechend über
den ganzen Grund und Bodens. Zwischen 1030 und dem Ende
des Jahrhunderts schwankt der Grenzverlauf um die nasse
8. 267 vorgebrachten zeitweiligen Verschiebung der niederósterr.-ungar. Grenze
nur noch das Vortragen der Krainer Grenze gegen Kroatien im 12. u. 13. Jh. über die
untere Gurk und an die obere Kulpa und seit dem 14. Jh. im Gottscheer „Ländchen“,
weil es von dem Vorrücken der z. T. deutschen Kolonisation hervorgerufen war
und von Edelherrengeschlechter letzten Endes zugunsten des Deutschen Reiches
besorgt wurde. Umgekehrt ist auch ein Verlust an Territorium im Gottscheer Bezirk
dadurch verursacht worden, daB im 16. u. 17. Jh. die wirtschaftliche Nutzung des
Grenzwaldes von der anderen Seite her vordrang (A. Mell, D. bist. u. territ. Ent-
wicklung Krains (1898) u. L. Hauptmann in den Erläuterungen 1, 4 passim).
a S. M. Vanscsa, Gesch. Nieder- u. Oberösterreichs 1 (1905), S. 199ff.
5 Das unter Konrad II. zeitweise verlorengegangene Gebiet zwischen Fischa
und Leitha wird 1043 v. Heinrich III. als eine Mark unter eigenem Markgrafen orga-
nisiert, welche erst zwischen 1051—1067 an die Babenberg. Markgrafen der Ostmark
fällt. Sie bildete auch einen Zehntbezirk des Marienstiftes in Hainburg für sich.
S. Thausing, Die Neumark Österreich, Forsch. z. dtschen Gesch. 4 (1864), S. 35öff.
u. Erläuterungen 1, 2, S. 183. — Auch das v. Salomon v. Ungarn an Heinrich IV.
abgetretene, wohl bald wieder verlorene predium östl. d. Leitha (St. 2782, a. 1074)
muß als Mark angesprochen werden, wenn auch auffällt, daB die Verpflichtung zum
Burgwerk ausdrücklich als Gegenleistung für kgl. Landschenkung begründet wird.
s DH III. 277, a. 1051... regionis in finibus Ungarorum gladio ab hostibus
adquisitae.
5 In beiden Neumarken fallen wieder außergewöhnlich umfangreiche Land-
schenkungen der Könige auf, die bis 100 und 150 Hufen gehen. DH 111.141, a. 1051
sieht vor, das ein nuntius des Kónigs das Areal anweisen werde. Als schon vor-
handene Grundbesitzer kommen in diesen Urk. nur solche vor, von denen es deutlich
ist, daB sie eben erst vom Konig beschenkt worden sind, sodaD der ganze Boden zu
dessen Verfügung zu stehen scheint, auch wo er schon ältere Siedlungen trägt, wie
in $t. 2782. Vgl. dazu oben S. 237 Anm. 29.
246 Hermann Aubin
Leitha—March-Linie hin und her, auf welcher er dann feststebt.
Zur selben Zeit ist entschieden, daß Ungarn sich dem Vasalli-
tätsverhältnis entzogen hat. Die äußere Hobeitssphäre des
Reiches ist damit fortgefallen, die Markengrenze ist zur Reichs-
grenze geworden. Indem die Marken dank der starken Ein-
wanderung, welche die staatliche Macht unterbaut, einen raschen
kulturellen Aufschwung nehmen, steigen sie auf die Stufe des
deutschen Binnenlandes hinauf und verlieren mit dem Mark-
charakter schon im 12. Jahrbundert zum größeren Teil auch
deren Namen. Hier also grenzt nun unmittelbar das engere
deutsche Reichsgebiet an das Ausland. Der Prozeß der Grenz-
bildung ist in den Grundzügen schon abgeschlossen. Daß dies
in diesem Abschnitt so früb geschehen ist, dafür wird man an-
führen dürfen, daß Deutschland hier einem besonders zeitig
konsolidierten Staatswesen mit eigener Kirche gegenüberstand,
das über einen geographisch gut zusammenhängenden Raum
verfügte. Das brachte den deutschen Vormarsch an der Marken-
grenze zum Stehen.
Der Fall Ungarns stellt nur die eine Möglichkeit des Ergebnisses
dar, welche die Auseinandersetzung um den ostmitteleuropäischen
Raum zwischen dem vordringenden deutschen Einfluß und den in
Bildung begriffenen Ostnationen zeitigen konnte. Einen anders
gearteten Fall bietet Böhmen mit Mähren. Geographisch in bezug
auf die räumliche Geschlossenheit und die Naturgrenzen nicht
minder zur Eigenentwicklung prädestiniert wie Ungarn, aber viel
weiter nach Westen vorgeschoben, sind diese Länder völlig in
das deutsche Reich hineingezogen worden. Wir beobachten
den Aufstieg, den sie innerhalb der äußeren Hoheitszone Schritt
für Schritt von der Stufe des Tributärstaates über eine als
Lehnsverhältnis aufgefaßte Abhängigkeit zum Reichsfürsten-
tum und endlich zur Kurwürde vollziehen. In der Frühzeit hat
es an Versuchen, die deutsche Oberhoheit abzuschütteln, nicht
gefehlt. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts tritt Böhmen
zeitweise als ernster Bewerber um eine Führerstellung unter
den Westslawen an die Stelle Polens. Die Zugehörigkeit zur
deutschen Kirche muß demgegenüber als ein besonders starkes
Band angesprochen werden, welches Böhmen fester in der
56 Österreich wird 1156, die Mark Steier 1180 zum Herzogtum erhoben.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 247
deutschen Einflußsphäre erhielt. Dazu kam der Übertritt
deutscher Ritter, die Niederlassung deutscher Mönche und
Chorherren, aus welchen Anfängen allmählich die starke bäuer-
lich-bürgerliche Einwanderung des 13. Jahrhunderts hervor-
ging, die dem Lande mehr und mehr einen deutschen Kultur-
charakter gegeben hat, bis Prag nicht nur deutscher Kaisersitz,
sondern auch erstes Zentrum hoher deutscher Bildung geworden
ist. Die national-tschechische Reaktion der Hussiten droht zwar
die Länder vom Reiche abzureißen, sie sind dabei, sich aus dem
Reiche allmählich hinauszuleben, da auch Habsburg im Terri-
torialinteresse den Zusammenhang nicht fördert, bis es im
18. Jahrhundert neuerlich Anlaß gewinnt, die böhmische Kur-
würde zur Anerkennung zu bringen, wodurch Böhmens Ver-
bleib im Reiche entschieden ist.
Für die Führung der Ostgrenze des alten Reiches in diesem
Abschnitt ergibt sich daraus: Die Marken gegen Bóhmen haben
schon früh diesen Charakter abstreifen können”. Sie werden
etwa im 11. Jahrhundert bereits Binnenland, und die Grenze des
eigentlichen Reichsgebietes rückt an den Ostrand des bóhmisch-
mährischen Komplexes. Mähren, obwohl seit dem Ende des
12. Jahrhunderts Markgrafschaft genannt®®, ist nie eine Mark
im eigentlichen Sinne gewesen. Im Abschnitt nórdlich der
Thaja stammt die Reichsgrenze also nicht von einer Mark,
sondern von einem ehemaligen Vasallenstaate, der fest mit dem
Reiche verwachsen ist. Damit ist auch hier die äußere Hoheits-
zone des Reiches verschwunden. Sie ist zu eigentlichem Reichs-
territorium geworden. Daß der bóhmische Länderkomplex
allerdings innerhalb des Reiches doch noch eine gewisse Sonder-
stellung eingenommen hat, ging aus der vorhin gegebenen
Übersicht über seine Geschichte hervor. Und man kónnte das
aus den besonderen Verfassungsverháltnissen, dem eigenen Erb-
folgerecht der Dynastie und ähnlichem weiter belegen®.
9 R. Kötzschke, Sorbische Marken (s. oben S. 237 Anm. 28) S. 93 sieht den
Markencharakter des Reichsgebietes an der bóhmischen Grenze schon seit Hein-
rich I. als erloschen an. Indessen hat noch Heinrich III. schwer gegen Böhmen
gekämpft, 1056 (DH III. 376) rechnet er mit der Nutzung eines Gutes in der Baben-
berg. Ostmark, quae contra Boemos quoquomodo haberi et conquiri potest.
95 Wohl 1182, s. J. Ficker, Vom Reichsfürstenstande, 1 (1861), $8 71 u. 167.
G. Pirchan, Böhmen und das Reich. Sammlung gemeinnütziger Vorträge,
hgb. v. d. Ver. z. Verbreitg. gemeinnütziger Kenntnisse in Prag, Nr. 621 (1931), S. 7.
248 Hermann Aubin
In einer dritten Variation hat die Geschichte dasselbe Thema
im Falle Polens behandelt. Kein Zweifel, daB Polen vom An-
fang seines eigenen Staatslebens im 10. Jahrhundert an, weit
schwächer in die deutsche Sphäre hineingezogen worden ist,
wie Bóhmen. Sehr schmal war die ráumliche Berührung des
Reiches mit dem áltesten Herzogtume, und sie vollzog sich nicht,
wie Bóhmen gegenüber, unmittelbar vom deutschen Binnenlande
aus, sondern durch Vermittlung des eben erst eroberten Marken-
bodens der Lausitze. Weiter nórdlich war zwischen Deutsch-
land und Polen zunächst noch die Zone der in der Völkerschafts-
verfassung verharrenden Elbslawen gelegt. Weit nach dem
Osten hinwiederum sich ausdehnend, entzog sich Polen dem deut-
schen Zugriffe anders, als es Böhmen vermochte. Die erste Tribut-
verpflichtung, welche ihm von dem großen Markgrafen Gero auf-
erlegt wurde, betraf daher auch nur das Land bis zur Warthe"!,
obgleich Miescos Herrschaft viel weiter nach Osten reichte. Ob
später das ganze Polen als tributär angesehen wurde, haben wir
meines Wissens keine Nachrichten. Indessen ist, durch den
Treueid, der Herzog von Polen persönlich auf eine gleiche Stufe
mit dem von Böhmen getreten. Ja, während die deutschen
Herrscher den Prschemysliden zeitweise den auszeichnenden
Königstitel als Belohnung zugestanden, haben sie ihn den
Piasten immer verweigert, bei denen er allerdings auch das
Zeichen ihrer Emanzipation von deutscher Oberhoheit war.
Gleich wie in Böhmen ist der deutsche Einfluß anfangs auch
in Gestalt der Kirchenorganisation aufgetreten. Doch ist dieser
Zustand sehr bald der Ablösung von der deutschen Kirche ge-
wichen. Durch die Konnivenz Ottos III. trat Polen derart in
Hinsicht der kirchlichen Selbständigkeit auf die gleiche Stufe,
welche zur selben Zeit Ungarn erlangt hatte, und genoß alle
Vorteile eines nationalen Kirchenwesens bei seinem Streben,
sich der deutschen Oberhoheit zu entziehen. Ob Otto diese aus
der Hand gegeben, ist nicht zu sagen“. Sie ist jedenfalls bald
% Vgl. C. Wersche, Das staatsrechtl. Verbältnis Polens z. Reich während des
MA. Zschr. d. hist. Gesellschaft f. d. Provinz Posen, 3. Jg. (1888) S. 247ff. u. 375ff.
61 5. oben S. 241 Anm. 38.
*? Daß die weltliche Seite der Vorgänge von Gnesen im Jahre 1000 dringend einer
Neubearbeitung bedarf, ist von Schramm a. a. O. 2, S. 14 ausdrücklich ausgesprochen
worden u. geht ebenso aus Brackmanns Darstellung, Erneuerungsgedanke S. 17, hervor.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 249
wieder begründet worden und dann bis ins Ende des 12. Jahr-
hunderts anerkannt und wirksam geblieben. Das bedeutet
für die Gestaltung der deutschen Ostgrenze, daB dem an der
Elbe endenden Binnenlande und der bis an die Bober vor-
gerückten Mark ein ganz auBerordentlich tief nach Osten vor-
dringender Baum vorgelagert war, in welchem das Reich mehr
oder minder seine Hoheit zur Geltung bringen konnte. Die äußere
und die innere Reichsgrenze sind hier ganz besonders weit von-
einander entfernt gewesen, wenn man sich überhaupt eine be-
stimmte Linie als äußere Reichsgrenze vorstellen darf.
Ungarn hat sich aus einer ähnlichen, allerdings staatsrecht-
lich nur kurze Zeit ebenso geregelten Lage früh und gänzlich
zur Selbständigkeit befreit, Böhmen ist umgekehrt aus ihr
völlig ins Reich hinübergeglitten. Polen hat die Mitte beider
Entwicklungen gehalten. Es wurde zerteilt. Die Auseinander-
setzung zwischen dem deutschen und dem eigenständigen sla-
wischen Wesen hat sich in diesem Abschnitt mitten im alten
Polenreich abgespielt und eine Scheide hindurchgelegt, welche
dann zur deutschen Reichsgrenze geworden ist. Denn nachdem
im 12. Jahrhundert Polen in mehrere Linien zerfallen war, sind
die von Friedrich Barbarossas Waffen zur Anerkennung ge-
brachten schlesischen Piasten im Laufe des 13. Jahrhunderts
gänzlich auf die deutsche Seite übergetreten®. Das übrige
Polen aber ist in der Zeit der Schwäche des deutschen König-
tums ebenso gänzlich aus dem Reichsverband ausgeschieden*?*,
Kein Akt hat hier die deutsche Ostgrenze gezogen. Fast bis
in die Mitte des 14. Jahrhunderts war in diesem Abschnitt die
deutsche Ostgrenze vóllig offen, in Frage gestellt, bis sich eine
neue gebildet hatte, die nun Schlesien von Polen trennte und
es dem Reiche zuschlug. Auch dies hat sich nicht mit einem
Schlage, sondern in Verhandlungen binnen etwa 50 Jahren
abgespielt. Während dieses halben Jahrhunderts gehörten
Teile Schlesiens schon in der neuen Form zum Reich, andere
9 Zum Folgenden diene als Führer: A. Kutscha, D. Stellung Schlesiens 2.
Deutschen Reich im MA., Hist. Stud. hgb. v. E. Ebering, H. 159 (1924).
&a Noch im Jahre 1300 erinnert sich König Albrecht I. der Oberherrschaft,
wenn er Wenzel II. von Böhmen die Erlaubnis, die Erbtochter von Kleinpolen
zu ehelichen, unter der Bedingung erteilt, daß er die Lehnshoheit des Reiches.
über deren Erbherrschaft anerkenne. B. Reg. Imp. (1844) 294 vom 29. Juni 1300..
250 Hermann Aubin
hóchstens noch in der alten, welche aber eben schon lange
nicht mehr wirksam war. Es ist bezeichnenderweise auch nicht
das Reich unmittelbar, welches hier die Grenze gebildet hat.
Nur sporadisch macht dieses einen lehnsherrlichen Anspruch
an das führende der schlesischen Teilfürstentümer, das Herzog-
tum Breslau, geltend, um ihn selber an Böhmen abzutreten“.
Vielmehr ist es, äußerlich gesehen, dieser erstarkende bóhmische
Staat der Prschemysliden und Luxemburger, welcher einen der
zahlreichen Piastenherzoge nach dem anderen zur Lehnshuldi-
gung veranlaßt und so Schlesien als Vasallenland an sich zieht.
Auf dem Umwege also über die bóhmische Lehnshoheit wird
Schlesien in der neuen Form und dauernd mit dem Reiche
verbunden. Damit rückt noch eindrucksvoller vor unser Be-
wußtsein, daB die alte deutsche Reichsgrenze nördlich der
Thaja auf einer sehr langen Strecke — auf einem guten Drittel
ihres Gesamtverlaufes — in Wirklichkeit die Grenze eines in
das Reich eingelagerten Regnums, um mich des Ausdrucks von
Walter Vogel zu bedienen®®, gewesen ist. Dieses hat mit seiner
Anziehungskraft schon unter Ottokar II. im 13. Jahrhundert
das Herzogtum Breslau zur engen Anlehnung veranlaßt“, dann
zwischen 1329 und 1336 den Großteil des übrigen Schlesiens
allmählich durch Verträge sich angegliedert und gegen Polen
gesichert”. 1348 fanden die Akte durch die feierliche Inkor-
poration aller dieser Teile Schlesiens in die Krone Böhmens
*4 Es liegt darüber nur die Urk. Rudolfs v. Habsburg vor (C. Grünhagen u.
H. Markgraf, Lehns- u. Besitzurk. Schlesiens 1, S. 63, Nr. 3, mit welcher er seinem
Schwiegersohne Kg. Wenzel II. v. Bóhmen das durch den Tod Hzg. Heinrichs IV.
dem Reiche ledig gewordene Herzogtum Breslau verleiht. S. z. Urk. Kutscha S. 24,
Anm. 13. Ob Hzg. Heinrich erst wegen der Niederlage auf dem Marchfelde Vassall
des Reiches in dem neuen, verstärkten Sinne, wie man nun es auffaßte, geworden
ist, so wie es Kutscha darstellt, haben wir keinen Beweis. — Danach greift nur noch
einmal in besonderer politischer Konstellation Ludwig d. B. mit lehnsherrlichen
Ansprüchen ein, indem er an das alte Lehnsband erinnert (Grünhagen u. Mark-
graf S. 65, Nr. 7). Kutscha spricht S. 36 vielleicht zu bestimmt von einer neuen
Belehnung.
as W. Vogel, Politische Geographie (Aus Natur u. Geisteswelt, Bd. 634, 1922)
S. 63.
66 Die staatsrechtlichen Formen dieses Verhältnisses sind unklar, s. Kutscha
S. 22f.
*' Dies im Trentschiner Vertrag v. 1335, s. Grünhagen u. Markgraf S. 3, Nr. 1,
erneut 1339, S. 4, Nr 2.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 251
durch Karl IV. als Römischen König ihren Abschluß®. Erst
1368 allerdings fielen ihm die letzten Fürstentümer als Heirats- -
gut zu®.,
Die Anziehungskraft, welche der aufblühende böhmische Staat
auszuüben vermochte, in Anschlag gebracht, sie ist doch nicht der
letzte Grund für die Ablösung Schlesiens von Polen und sein
Verharren im Reiche gewesen. Bei dessen Schwäche im 13.Jahr-
hundert bedeutet die Haltung der schlesischen Piasten eine
Option für die deutsche Kultur, und diese hätte bei aller persön-
lichen Neigung einzelner Herzoge doch kaum sich durchzusetzen
vermocht, wenn nicht in eben diesem Jahrhundert die deutsche
Kolonisation Schlesiens erfolgt wäre. Die polnische Forschung
hat sich in den letzten Jahren eifrig bemüht, das Phänomen
der ländlichen und städtischen Kolonisation Polens, in welchem
Schlesien stets mitbegriffen gedacht wird, als einen Vorgang
innerer Wirtschafts- und Sozialentwicklung hinzustellen, den
das Land mit einer gewissen Phasenverschiebung hinter West-
europa, aber doch im Zuge eines gesamteuropäischen, stufen-
weisen Fortschrittes aus eigenen Kräften getan habe. Diese
Anschauung, in ihren Einzelbeweisen nicht zu halten®®, über-
sieht vor allem auch die Schlüsse, welche aus den Grund-
tatsachen des Erlebens im Ostraum zu ziehen sind. Sie muß
versagen, fordert man von ihr eine Erklärung der eben be-
sprochenen Option, welche letzten Endes bedeutet, daB die ko-
lonisatorische Arbeit der Geistlichen, Ritter, Bürger und Bauern
Schlesien nicht nur dem deutschen Volksboden hinzugefügt,
sondern auch dem Reiche erhalten hat.
Kein Grenzabschnitt weist ein solches Hin und Her der
Kräfte auf, wie der nördlich von Schlesien anschließende. Es
ist der Raum von der Elbe bis jenseits der Oder und bis zum
Meere, in welchem sich das Slawentum nicht mehr zu größeren
Staatenbildungen entwickelt hat, wo sich daher das deutsche
Vordringen in den Kampf um die kleinen Gauschaften auf-
löste. Der deutsche Vormarsch hat hier mehrmals empfind-
es Ebenda, S 8, Nr. 4.
9 Nämlich Jauer mit Schweidnitz, welche allerdings für die Grenzbildung des
Reiches nicht in Betracht kommen.
„ S. jetzt die Kritik von R. Koebner, Deutsches Recht u. deutsche Kolo-
nisation in den Piastenländern, VSWG 25 (1932), S. 313ff.
252 Hermann Aubin
liche Rückschläge erlebt. Zeitweise trat ihm zwischen Elbe
und Oder der polnische Wettbewerb entgegen. Polen versuchte
sich sogar in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der
Zivilisationsaufgabe der Mission, wozu es allerdings deutsche
Kräfte heranholen mußte, die Otto v. Bamberg nach Pommern
führte“. Von der See her jedoch drang der dänische Einfluß
ein. Am Ende hat sich von der Basis der Altmark an der
Elbe aus das Zwischenglied der Mark (Mark Brandenburg und
Neumark) über die umstrittene Interessensphäre so weit nach
Osten ausgedehnt, bis sie an dem polnischen Widerstande zum
Stillstand kam und sich hier die Reichsgrenze niederschlug. Dem
Namen nach ist sie Markengrenze, wie die zwischen der Donau
und der Adria. In der Tat aber handelt es sich um eine andere
Erscheinung. Nicht mehr das Reich ist es gewesen, das hier
durch Markensetzung seine Grenze gebildet hat, wie es dort
unten im 10. und 11. Jahrhundert geschehen war. Sondern
jetzt im 12. und 13. Jahrhundert tritt das Territorium auf den
Plan. Als Territorium, mit dessen Eigeninstinkten, hat sich
die Mark Brandenburg nach Osten ausgedehnt. Daher werden
auch keine neuen Marken mehr vorgeschoben, sondern die Er-
werbungen mit der alten Mark zu einem Territorium vereinigt.
Das Territorium wirkt hier für das Reich grenzbildend. Aller-
dings steht dahinter die noch lebendige Anschauung, daß dem
Reiche alle Eroberung auf fremdem Boden zustehe. Das Terri-
torium ist also gewissermaßen Treuhänder des Reiches. Das
Reich aber nimmt die Neuerwerbungen des Territoriums noch
in seinen Verband auf und in den seltenen Augenblicken, da
es in der Stauferzeit hier noch eingreift, hat es sie wohl auch
ausdrücklich gedeckt.
Am längsten ist der pommersche Küstenstreifen ein um-
kämpftes Vorfeld des deutschen Reiches geblieben. Schon unter
Otto dem Großen glaubte man, die deutsch-christliche Organi-
sation bis an die Odermündung vortreiben zu können“, aber
erst im 13. Jahrhundert sind hier die letzten Stücke von dem
Treibeis der slawischen Kleinherrschaften durch die über-
” MG. SS. XII, S. 778f.
71 A. Hofmeister, Der Kampf um die Ostsee, vom 9. bis 12. Jh., Greifswalder
Universitátsreden 29, 1931.
72 S. oben S. 240 Anm. 36.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 253
geworfene brandenburgische Lehnshoheit an der Küste des
deutschen Staatswesens landfest gemacht worden”. Wie im
Falle Schlesiens ist es also eine Mittelsmacht, hier ein aus der
Mark erwachsenes Territorium, welches die endgültige Aus-
bildung der Reichsgrenze herbeigeführt hat. Diese Grenze ist
dabei 1269 mit Ostpommern?* beträchtlich über die Oder
hinüber in die alte polnische Interessensphäre vorgeschoben
worden. Die Herzóge von Pommern treten 1320 unmittelbar
als Fürsten unters Reich”®, der Bischof von Kamin, der seine
Zwischenstellung und die Rivalitát des deutschen Magdeburg
und des polnischen Gnesen ausgenützt hatte, um die Unter-
ordnung unmittelbar unter den Päpstlichen Stuhl zu erreichen“é,
wird gleichfalls im 14. Jahrhundert schon als Reichsfürst an-
gesehen und empfängt im Beginn des 15. Jahrhunderts die
Belehnung vom deutschen Konig". Mit diesen Akten wird
dem pommerschen Küstenstreifen zugelegt, was ihm etwa noch
zum Charakter des eigentlichen Reichsgebiets gefehlt hat, und
damit ist auch in diesem Abschnitt von einer Reihe paralleler
Scheidelinien verschiedener Wertigkeit innerhalb des Grenz-
saumes die äußerste zu der nunmehr einzigen, eindeutigen
Grenze des alten Reiches geworden. |
Und endlich die letzte Etappe dieser Grenze, der weite
Bogen, mit welchem sie zeitweise Preußen und die baltischen
Landschaften bis zur Narowa umspannte, eine Strecke, welche
allein die gleiche Länge aufweist, wie die dauerhaftere Linie
73 Daß die brandenburg. Lehnshoheit über Westpommern älter ist als die
Belehnung durch Friedrich II. v. 1231 (Krabbo, Reg. d. Mgfn. v. Brandenburg 605)
hat Rachfahl, Der Ursprung des brandenburgisch-pommerschen Lehnsverhältnisses,
Forschung. z. Brandenbg. u. Preuß. Gesch. 5 (1892), S. 403ff. nachgewiesen. Er
knüpft die Lehnshoheit unmittelbar an die Amtsgewalt der Markgrafen der Nord-
mark an. S. des weiteren zur Wirkung der Belehnung v. 1231 Wehrmann, Gesch.
v. Pommern, 1 (1919), S. 97ff. Auch bei Pommerns Unterordnung unter Branden-
burg handelt es sich um einzelne Akte wie bei Schlesien. Sie können hier unmöglich
verfolgt werden.
% Krabbo, Reg. a. a. O. 969.
* S, den Exkurs II v. Rachfahl a. a. O.: Übersicht über d. Entwicklung d.
staatsrechtl. Verhältnisses Pommerns 2. dtschn. Reiche seit dem 14. Jh., u. J. Ficker,
Vom Reichsfürstenstande 1, $ 169.
* S. H. Krabbo, Die ostdtschn. Bistümer ... unter ... Friedrich II., Hist.
Stud. hgb. v. E. Ebering, H. 53 (1906), S. 30ff.
n Ficker a. a. O. $ 205.
254 Hermann Aubin
zwischen Ostsee und Adria insgesamt, deren einzelne Stücke
wir abgeschritten sind. Diese Etappe ist nicht nur die jüngste,
sondern auch so unerhört exponiert und vorgetrieben, daß sie
unter sehr veränderten Bedingungen ins Lebens treten mußte.
Das Motiv des unmittelbaren Schutzes für das deutsche
Reichsgebiet spielt hier nicht mehr mit. Für die Verteidigung
Masowiens geschieht es, daB der Orden von St. Marien ins
Kulmer Land gerufen wird, und es ist sein eigener Entschluß,
diese Aufgabe offensiv durch die Unterwerfung und Bekehrung
der preußischen Heiden zu lösen. An der Düna beginnt die
deutsche Ausbreitung als einfache Predigt des Meinhard v. Sege-
berg, bis sein zweiter Nachfolger, Bischof Albert von Riga,
erkennt, daß zum Schutze der Evangelisation eine christlich-
deutsche, weltliche Herrschaft notwendig ist. In diesem letzten
Abschnitt ist es auch nicht das Reich, das gar nicht mehr
die Kraft dazu besitzt, sind es aber auch keine altländischen
Territorien, welche die deutsche Ausbreitung tragen. Sondern
neben den zu eigenstaatlicher Macht sich konsolidierenden
Missionsbistümern?” an erster Stelle — und ihnen erst Halt
gebend — das völlig neue und eigenartige Gebilde geist-
licher Ritterorden”®. Im übrigen aber nehmen auch in diesem
letzten Abschnitt noch genug der überlieferten Elemente an
der Grenzbildung teil, und es lohnt sich, dabei zu ver-
weilen, weil in dieser schreibfroheren Epoche die Motive und
begleitenden Gedanken deutlicher vor Augen treten, als in
der wortkargen Vergangenheit. Hier wird noch einmal die
enge Verbindung anschaulich, in welcher die deutsche Reichs-
ausbreitung mit der Heidenbekehrung und der Kolonisation
gestanden hatte und noch stand. Über alle Anhänger des
katholischen Glaubens müsse er, so sagt z. B. Otto IV., im
Hinblick auf den Schwertorden in Livland, sacri palatii nostri
77a Außer den livländischen Bistümern ist auch der preußischen zu gedenken,
wenngleich diese im Schatten des Deutschordens noch weniger zur Entfaltung ihrer
Landeshoheit gekommen sind, als jene. Am Anfang standen auch hier die hoch-
fliegenden Pläne des unglücklichen Missionsbischofs Christian, der noch 1231 der
Überzeugung war, daß das Land Preußen ihm von „Rechten und Gnaden des
apostolischen Stuhles* zugehöre, s. E. Caspar, Hermann von Salza, 1924, S. 23.
78 S. die schöne Charakterisierung desselben, die E. Caspar, Treitschkes be-
rühmtes Bild sicher und bedacht unterfangend, in seiner Kónigsberger Rektorats-
rede, Vom Wesen des Deutschordensstaates, 1928, geboten hat.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 255
scutum halten, und deshalb besonders die Streiter Christi gegen
die Ungläubigen in den kaiserlichen Schutz nehmen“. Fried-
rich II. proklamiert als die liebste seiner Kaiserpflichten, zur
Ausbreitung des katholischen Glaubens beizutragen“, und
noch konkreter sagt sein Sohn Heinrich, daß er den Bischöfen
von Dorpat und Riga zur Hilfe verpflichtet sei, weil sie die
Grenzen des Reiches erweitern und die ungläubigen Barbaren
dem Christentum unterwerfen®!, ja er nennt in einem Atem
diejenigen, welche honorem Dei et sacri imperii in remotis
partibus Estensis contra insultus paganorum verteidigten ?.
Immer stehen die Sache Gottes und die Sache des Reiches eng
beieinander. Der Heide ist zugleich der Reichsfeind.
Hier im jüngsten Grenzabschnitt erhalten wir aber auch
zum ersten Male eine theoretische Begründung der Ansprüche
des Reiches auf die Ostgebiete; freilich eine, welche der Aus-
legung, um es gleich zu sagen, nicht geringe Schwierigkeiten
bereitet. Das große Privileg, in welchem Friedrich II. 1226 dem
Deutschen Orden Kulmerland und die künftigen Eroberungen
in Preußen bestätigte, beruft sich für diese Verleihungen auf
das alte Recht, welches dem Reiche an Bergen, Ebenen, Flüssen,
Wäldern und dem Meere zustände®®, auf ein Bodenregal also.
Da ein solches in dem beschriebenen Umfange in Altdeutsch-
land nicht bestand, kann hier nur eines gemeint sein, das am
eroberten Lande erwuchs®®. Es bleibt dabei offen, ob als begrün-
BF. Reg. Imp. 462 v. 27. I. 1212.
9 Ebenda 1517, a. 1224.
*! Ebenda 3991 v. 6. XI. 1224, wiederholt Reg. 3995 v. 1. XII. 1225.
6 Ebenda 4297 v. 20. XI. 1233.
8 Ebenda 1598, v. 1226, s. dazu E. Caspar, Hermann v. Salza, Exkurs.
%8 Das ist auch die Auffassung E. E. Stengels, a. a. O., S. 17f. Der Wort-
laut der Urk. ist auffallend. Ich habe keine Parallelen dazu finden kónnen, so formel-
haft er klingt. An Flüssen und am Meere bestand auch in Altdeutschland das Regal,
man würde in dieser Reihe noch die StraBen erwarten, welche aber bei der Bean-
spruchung der Berge und Ebenen nicht notwendig zu nennen waren. Die Heran-
ziehung der Wälder könnte man als einen recht summarischen Ausdruck dafür
ansehen, daß daheim wenigstens die geschlossenen Wälder einstmals dem Könige
gehört hatten; dann müßte die Formel allerdings auf sehr alter Überlieferung beruhen.
An Bergen und Ebenen (planities, neben den Wäldern offenbar: bebaute Flächen)
hat im Reiche selbst das Bodenregal nie bestanden. Im Grunde handelt es sich wohl
nur um den durch kasuistische Aufzählung umschriebenen Begriff: Recht am ganzen
Land.
256 Hermann Aubin
dender Rechtstitel einfach die Eroberung oder ein hóherer des
universellen Kaisertums angesehen worden ist, und nur das
ist für die Interpretation sicher, daB in diesem Jahrhunderte
niemand mehr in dem Worte „Imperium“ der Urkunde un-
bedingt eine Berufung auf die rómische Kaiserwürde und ihren
universalen Geltungsbereich wird sehen wollen ; wie ja der Rechts-
titel der Eroberung nicht zu diesem, sondern zum deutschen
Königtum zu stellen wäress.
Als ein neues Moment tritt aber in diesem Grenzabschnitt
die päpstliche Konkurrenz um die Oberhoheit über die neu-
bekehrten Heiden auf. Wir haben gesehen, wie die Kurie an
der Ordnung des Ostraumes im Gefolge des überlegenen Kaiser-
tums teilgenommen, dann ihre kirchlichen Interessen zur selbst-
stándigen Anerkennung gebracht und die deutsche EinfluB-
sphäre eingeengt hat, indem sie der Bildung eigener National-
kirchen der Ostvólker ihre Hilfe geliehen. In der Periode nun,
da sie, von Innozenz III. angeleitet, allgemein den Versuch
macht, ihre Weltherrschaftsansprüche in die Tat umzusetzen,
meldet sie sich als aktiver Wettbewerber auch um die staat-
liche Gestaltung der baltischen Gebiete an. Die geistlich-
weltliche Zwischenstellung der Träger der deutschen Ausbrei-
tung, der Bischófe und der Orden, kommt ihr dabei ebenso
entgegen, wie der auch von der kaiserlichen Seite ge-
flissentlich betonte Missionscharakter des deutschen Vor-
gehens. Erich Caspar hat vor acht Jahren in feinster Ur-
kundenanalyse die schwebende Zwischenstellung zwischen der
Kurie und dem Kaiserhofe dargelegt, in welcher unter
diesen Voraussetzungen Hermann v. Salza die Gründung des
Deutschordensstaates in Preußen sorgfältig vorbereitet und
durchgeführt hat. Die gleichen Bedingungen herrschten
in Litauen, Kurland, Livland und Estland. Die deutsche
Wenn es sicher wäre, daB die karolingische und die nächstfolgende Zeit kein
derart umfassendes Bodenregal am eroberten Lande gekannt hätten, wie es die
Ansicht von Dopsch ist (s. oben S. 237 Anm. 29), dann hätten wir in dem Privileg
von 1226 einen Beweis dafür, daß der Gedanke des universalen Imperiums die
deutsche Ausbreitung nach dem Osten gefördert, indem er ihr eine ideologische
Begründung für ein unbeschränktes Eroberungsrecht gegeben hat. Indessen scheint
mir, wie ich oben sagte, jene schmalere Ausgangsbasis des Eroberungsrechtes keines-
wegs genügend gesichert, um darauf einen Schluß aufzubauen.
3 S. oben S. 255 Anm. 83.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 257
Reichsgrenze erscheint uns hier zeitweise in einem neuen Sinne
offen, weil die pápstlichen Hoheitsansprüche die Konsolidierung
der deutschen Reichsherrschaft hinderten®”. In den 20er und
30er Jahren des 13. Jahrhunderts ließ der Papst Teile jener
Landschaften unmittelbar von sich aus verwalten® und
darüber hinaus nahm er ein Obereigentum in Anspruch?
#7 Diese Vorgänge erforderten einer eigenen zusammenhängenden Behandlung.
Im allgemeinen s. außer den Landesgeschichten A. Hauck, Kirchengesch. Deutsch-
lands, Bd. 4 (1913) S. 655ff. und für den Abschnitt Livland die gleich zu nennende
Abhandlung von Fieberg. |
ss H. Fieberg, Wilhelm v. Modena, ein päpstlicher Diplomat d. 13. Jhs. Phil.
Diss. Königsberg (Maschinenschr.) 1926, S. 8ff. Der Anfang ist ein zufälliger: Der
Legat greift 1225 als Schiedsrichter zwischen dem Schwertritterorden und den Dänen
ein und es bleiben gewisse Gebiete Livlands in seiner Hand, aus denen er erkennbar
die Deutschen wie die Dänen fernhalten will. Aber schon 1222 ist Honorius III. wie
ein Landesherr aufgetreten, indem er den iudicibus in Livonia befohlen hat, die sich
ansiedelnden Russen zur lateinischenObservanz zurückzubringen, Pothast Reg. Pont.
6783. Formell aufgegeben hat die Kurie dieses Stückchen Kirchenstaat erst, als
Gregor IX. 1238 die Hilfe der Dänen gegen Friedrich II. gewinnen wollte. Im
Kampfe mit dem Kaisertum verlor auch sie ihre territorialen Außenposten.
8 Der Anspruch des Papstes auf Oberherrschaft über alle christlichen Neu-
erwerbungen steckt schon etwa in der Bestätigung der Landesteilung zwischen
dem Bistum Riga und dem Schwertritterorden, Reg. Pont. 4104 f. Vgl. Heinrich
v. Lettland, MG. SS. 23, S. 258 f. Dieser deutsche Priester, welcher von der Auf-
tragung des Landes an den Kaiser berichtet hat, betont auch bei dem Teilungsrezeß
ausdrücklich die Herleitung des bischöflichen Verfügungsrechtes vom Reiche und
scheint mit dem — offenbar vom Orden herbeigeführten — Eingreifen des Papstes
keineswegs einverstanden. — Zu denken ist auch an die päpstliche Privilegierung
des Preußenmissionärs Christian und noch mehr an die des Deutschordens, welche
nicht nur wegen dessen geistlichen Charakters erfolgte, sondern auch weil der Papst
über jene Länder ein Verfügungsrecht beanspruchte. 1229 unterstellte Herzog
Swantopolk von Pommerellen sein Land dem Schutze des Papstes (Pommerll. UB.
Nr. 44, a. 1231). Gleichzeitig nahm der päpstliche Vertreter Balduin v. Alna die
Unterwerfung der Kuren beiderseits der Windau entgegen, welche terras suas, se
et obsides suos ... ad manus domini papae übertrugen (Liv. UB. Bd. 1, Nr. 103;
in der sost parallelen Urk. 104 fehlt dieser Satz). Indessen handelt es sich hier
nur um eine Oberherrschaft des Papstes. Tatsächlich wurden die Kuren dem Hoch-
stift, der Stadt Riga und dem Orden als steuerpflichtig unterstellt (vgl. unten
8. 258, Anm. 91). In dieser Form, welche übrigens schon um 990 in bezug auf
Polen angewendet worden war (s. oben S. 243, Anm. 47) wurde die päpstliche Ho-
heit im Baltikum auch nach dem Verzicht auf ein eigenes Verwaltungsgebiet noch
weiter ausgedehnt. Mindowe v. Litauen bekannte 1253, daß er personam, regnum
et omnia bona ... iurisdictioni ac protectioni apostolicae sedis unterworfen habe
(ebenda, Nr. 252), durch welchen er zum Kónig von ganz Litauen bestellt worden
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 17
258 Hermann Aubin
Das Konzept eines baltischen Kirchenstaates schien vorzu-
schweben“.
Es ist bekannt, daß der Kampf mit dem Papsttum allgemein
die Gedankengänge der imperialen Theorie geschärft hat. So
sind erkennbar auch in diesem Sonderfall der Ostausbreitung
die deutschen Herrscher durch den Wettbewerb mit den ku-
rialen Bestrebungen angetrieben, ihre Ansprüche und Rechte
stärker zu formulieren, vielleicht auch, den Missionscharakter
des deutschen Vorgehens zu betonen. Wenn nun die beiden
Spitzen des Abendlandes die Eroberungen im Osten als ihrer
Herrschaft unterworfen ansahen, so bestand doch ein bezeich-
nender Unterschied. Wieder E. Caspar hat schon den Gegen-
satz des reinen Eroberungsanspruches auf der kaiserlichen Seite
und der päpstlichen Missionstheorie auf der anderen heraus-
gestellt, welche den unterworfenen Neuchristen ihre volle Frei-
heit garantieren wollte“ 1. Es kommt hinzu, daß Alexander IV.
sei. (286, a. 1255). So war ein weitgedehntes Gebiet päpstlicher Oberherrschaft
im Umkreis der Ostsee entstanden. Das Papsttum hielt überhaupt den Anspruch
aufrecht, über alle Heidengebiete zu verfügen (Reg. Pont. 17769, a, 1260).
** Am schárfsten hat das Fieberg a. a. O. hervorgehoben. Man wird seiner
Ansicht zustimmen, wenn man bedenkt, daß solches Streben nach einer von der
weltlichen Herrschaft freien Sphäre — oder in welcher die weltlichen Herren nur
die Beauftragten der Kirche innerhalb genau bestimmter Grenzen sein sollten —
von der Kirche verfolgt wurde, seit die Kluniazensische Reformbewegung dieses
Ideal für die Verwaltung der Temporalien aufgestellt hatte. (Für Deutschland s.
namentlich H. Hirsch, Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit, 1918.)
Eine äußerste Form seiner Ausprägung hat in einem vielleicht zu konkreten Bilde
von dem Kirchenstaate des Reformklosters von St. Victor in Marseille A. Brack-
mann, Die politische Wirkung der Kluniazensischen Bewegung, HZ. 139 (1929)
gezeichnet. Eine andere jüngere ist die Übergabe des von den Kreuzfahrern er-
oberten Jerusalem an den Patriarchen, von dem es Gottfried v. Bouillon nur pro-
visorisch als „Beschützer“ erhielt (S. R. Röhricht, Gesch. d. ersten Kreuszuges,
1901, S. 196f., 2171). Dieser Kluniazensische Gedanke, welcher alle weltliche
Herrschaft zu zersetzen gedroht, hatte allerdings im 13. Jh. seine Kraft schon
vóllig verloren. Aber es ist durchaus nicht abzuweisen, daB er unter den günstigen
Bedingungen des Neulandes noch einmal nach Anerkennung gerungen hätte, indem
er sich zugleich dem allgemeinen Weltherrschaftsanspruche der Kurie als eine
besondere Form darbot.
*! Caspar a. a. O. S. 21, Balduin v. Alna hat allerdings gegen diesen päpst-
lichen Grundsatz verstoBen, wenn er erlaubt, daB die Kuren, denen er selber libertas
zugesagt hatte, solange sie nicht vom christlichen Glauben abfielen (Liv. UB. Bd. 1,
Nr. 103, a. 1229), den Deutschen steuerpflichtig wurden (ebenda, 105, vgl. auch
oben S. 257, Anm. 89).
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 259
deutlich erklárt, daB die neuen Herrschaftsansprüche nur gegen-
über Heiden begründet werden®®. Vor christlichen Ländern
fallen sie nieder. Hier also scheiden sich die Anschauungen,
welche die Kurie und das Reich von der Neuordnung des Ost-
raumes hegten, und es tritt wieder einmal das selbständige sae-
culare Element zu Tage, welches trotz aller Hervorhebung des
Missionsgedankens in den Urkunden dennoch in der Konzeption
der Ostpolitik auf der kóniglichen Seite enthalten war.
So bedeutsam das Eingreifen des Papsttums in diesen in
Abklärung begriffenen Raum gewesen ist, weil es die Gedanken-
gänge der Zeit zur Präzisierung getrieben hat, so wenig Einfluß
kommt ihm für die endgültige Territorialgestaltung zu. Eine
Weile wollte es scheinen, als würde die Kurie das Reich an Gel-
tung überflügeln, das im Kampfe mit ihr und durch das Inter-
regnum geschwächt war; dann fiel sie in der zweiten Hälfte
des 13. Jahrhunderts selber kraftlos — durch das Ringen um
Italien gefesselt — aus der baltischen Position zurück. Das
Reich behauptete das Feld.
Allerdings nicht dank seiner Leistungen. Ein einziges Mal
hat ein Kaiser selber den Blick des Reiches auf die Zukunfts-
länder an der Ostsee gelenkt. Das war noch ganz im Anfang
ihrer Erschließung, als durch die Gefangennahme König Walde-
mars der dänische Rivale lahmgelegt schien”. Die Ostpolitik
freilich, welcher Friedrich II. damals in dem Manifest vom März
12249 weite, wenn auch wenig bestimmte Ziele steckte, hat er
selbst fast binnen Monatsfrist schon wieder verleugnet, um sie
nie mehr aktiv aufzunehmen®. Die deutschen Herrscher
* Reg. Pont. 17769, a. 1260.
s F. Rörig, Die Schlacht bei Bornhöved, Zschr. d. Ver. f. Lüb. Gesch. u.
Altertumskde. 24 (1928), S. 281ff.
94 s, oben S. 255, Anm. 80.
s Nachdem die Verträge v. Nordhausen v. 24. September 1223 Waldemar
ganz niedergeworfen, hat Friedrich II. im Vertrag v. Danneberg am 24. Juli 1224
dem Dánenkónig schon wieder die strittigen Landschaften Slawiens überlassen, s.
Zickermann in d. Forsch. z. Brandenbg.-PreuB. Gesch. 4, S.36f. Heinrich VII.
scheint allerdings bei Ausstellung der Privilegien für die Bischófe von Riga und
Dorpat von 1224/5 (s. unten) noch unter dem Impulse des kaiserlichen Manifestes
gehandelt zu haben, und indem Friedrichs Urk. für den Deutschorden und den
Schwertritterorden von 1226 (BF. Reg. Imp. 1598 u. 1613) mit ihnen einen ge-
wissen inhaltlichen Zusammenhang zeigen, wird doch etwas wie Grundsätze in der
Behandlung der Ostfragen durch das Reich sichtbar. Es handelte sich in allen
17*
260 Hermann Aubin
brauchten jedoch gar keinen Finger zu rühren. Die neuen
deutschstämmigen Landesherren im baltischen Bereich trugen
ihnen die Anerkennung und den Erfolg zu. Sie bedurften der
Anlehnung an den Heimatstaat, und die Könige nahmen gerne
die Erweiterung des Reichsgebietes an, welche ihnen durch
das Ringen jener in den Schoß fiel”. Bischof Albert von Riga
erklärte, wenn wir dem Chronisten folgen dürfen, dem König
Philipp, daß Livland zum Reiche gehöre und der König über-
trug es ihm von Reichs wegen”, wie das auch der Theorie vom
Eroberungsregal entsprach. Hermann v. Salza war es, der die
vollkommenste Fassung dieser Theorie diktiert hat, welche wir
besitzen, um darauf das kaiserliche Privileg für den künftigen
Ordensstaat in Preußen zu gründen®. Von dem bischöflichen
Brüderpaare Albert und Hermann ist offenbar der Gedanke
ausgegangen, Riga und Dorpat zu Marken zu erklären und zu
Reichsfürstentümern zu erheben, dem König Heinrich VII.
willfahrte?®. Als seine Eroberungen nach Kurland, Litauen und
Semgallen fortschritten, versäumte der Orden von St. Marien
nicht, wie er päpstliche Besitzbestätigungen einholte!9, so auch
Fällen um die Aufgabe, die neuen Territorien in das System des Reiches einzufügen
und ihnen möglichst weitgehend jene Rechte zuzusichern, welche die altdeutschen
Territorien damals dabei waren, zu erwerben. Die allen genannten Urk. gemein-
same Vergünstigung ist das Bergregal, ein gerade bei dem reichen Metallfunden
des ostdeutschen Koloniallandes hóchst erstrebenswertes Recht.
** Vel. oben S. 255, Anm. 81. DaB und in welchem Umfange die áltesten Be-
sitzungen der Rigaer Kirche ursprünglich der russischen Hoheit unterworfen ge-
wesen, hat am besten F. v. Keussler, Ausgang der ersten Russischen Herrschaft
in den gegenwártigen Ostseeprovinzen, 1897, dargelegt.
*? Heinrich v. Lettland a. a. O. S. 258 stellt es so recht als letzten Ausweg dar:
cum ad nullum regem auxilii haberet respectum, ad imperium se convertit et Ly-
voniam ab imperio recepit. Er faBt den Sachverhalt insofern richtig auf, als es dem
Bischof in der Tat darauf ankam, einen Rechtstitel für die Gebiete zu gewinnen,
welche er (s. oben Anm. 96) der russischen Hoheit entzogen hatte.
%8 s. oben S. 255, Anm. 83.
** BF. Reg. Imp. 3991 u. 3995.
19 Der Orden wendet sich in diesen Fällen an den Papst nicht allein als an
sein geistliches Oberhaupt, sondern er gibt deutlich zu erkennen, daß er ihn auch
als Oberherren der in Betracht kommenden Gebiete ansieht; so wenn er 1253 im
unmittelbaren AnschluB an eine Schenkung Konig Mindowes v. Litauen, welcher
wir oben (S. 257, Anm. 89) die Erklärung der Tradition an den Päpstlichen Stuhl
entnommen hatten, die päpstliche Bestätigung für die Schenkung einholt (Reg.
Pont. 15099) und sich 1260 (s. die Urk. oben S. 259, Anm. 92) nochmals alle Schen-
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 261
eine kaiserliche Schutzurkunde darüber ausstellen zu lassen!?!,.
Ja noch im 14. Jahrhundert trat der Hochmeister an den deut-
schen König heran, um mit Litauen belehnt zu werden!%, |
Während im Falle der livländischen Bistümer die Stellung
der neuen Landesherren innerhalb des Reiches durch die Zuerken-
nung des Reichsfürstenstandes sogleich eindeutig geregelt war,
ist sie in der großen Bewidmung des Deutschherrenordens von
1226, weil dem Hochmeister die Qualität zum Reichsfürsten
fehlte!®, nur — wenn auch in ähnlicher Weise — entworfen
worden. Die Zugehörigkeit des Ordensgebietes zum Reiche
wurde dadurch selbstredend nicht berührt. Es ist kein Zweifel,
daß im Bewußtsein der Zeitgenossen die Reichsgrenze jeweils
so weit vorgerückt war, als das Schwert des missionierenden
Ordens reichte. Immerhin darf es als Zeichen für das steigende
Verlangen nach wirkungsvollem, formalem Ausdruck dieser
Zugehörigkeit vermerkt werden, daß der Hochmeister seit der
Mitte des 14. Jahrhunderts zeitweise, seit dem 16. endgültig, zu
den Reichsfürsten gerechnet wurde!“.
So hat sich dieses weitentfernte Außengebiet aus eigenem
Antriebe an das Reich heran- und sogleich in das Reich voll
hineingeschoben. Denn daß der Ausdruck „Mark“ für die Bis-
tümer Riga und Dorpat untechnisch gebraucht worden ist und
keine Mark im reichsrechtlichen und verwaltungsmáBigen Sinne
von einst bezeichnen sollte, ist offensichtlich. Er steht hier
in der allgemeinen Bedeutung einer Vereinigung von Missions-
sphäre und Grenzland und Kolonialgebiet. Doch ist es höchst
bezeichnend, daß das Wort in diesem ihm seit der Karolinger-
zeit gleichfalls zukommenden Begriffe immer noch lebendig
kungen des in der Betonung seiner Unterstellung unter den Papst ganz besonders
beflissenen Mindowe konfirmieren läßt. Theoretisch die Oberherrschaft des Papstes
und des Kaisers anzunehmen, bereitete im Sinne der Universitas Christiana mit
ihren beiden Oberhäuptern keine Schwierigkeiten. Dann ist hier der Kaiser aller-
dings der Kaiser und nicht deutscher König.
BF. Reg. Imp. 3479, a. 1245.
ı# Nämlich von Ludwig d. B., s. dazu A. Werminghoff, Die Urkunden Ludwigs
d. B. f. d. Hochmeister d. D. O. v. J. 1837, Arch. f. Urkd.-Forsch. 5 (1914), S. 21ff.
1 In diesem Punkte hat E. E. Stengel die Darstellung Caspars entscheidend
berichtigt, s. a. a. O. Anm. 80.
1% J. Ficker, Vom Reichsfürstenstande, 1, $ 254.
262 Hermann Aubin
war. In der Tat ruft dieser letzte Abschnitt der alten Ostgrenze
des Deutschen Reiches noch einmal das Bild der ganzen Leistung
wach, aus welcher der Grenzverlauf, von der Adria angefangen,
hervorgegangen ist. Hier im Baltikum ist das Deutschtum noch
einmal der Reprásentant des abendlándischen Wesens im vollsten
Sinne geworden. Hier hat es unmittelbar die Entscheidung um
die Absetzung des lateinischen Okzidents gegenüber der grie-
chisch-russischen Welt ausgefochten. Gerade im Gegensatze zu
dieser und in dem reicheren Lichte, das die Quellen der vor-
geschrittenen Epoche spenden, kommt hier die soviel gróBere
Aktivitát der abendlándischen Art und zugleich ihr hóheres
Streben zu überzeugendem Ausdruck. Die Zeitgenossen selber
haben schon auf diesen Unterschied der Weltanschauungen
und des Verhaltens hingewiesen, welche hier zusammenstieBen,
indem für die Russen die Unterwerfung der Eingeborenen nur
den Vorteil der Tributerhebung bedeutete!®, den man durch
Bekehrung eher gefährdete, während die Deutschen, wie sie als
wagende Kaufleute in die fremden Länder vorstießen, um den
Handel zu knüpfen, so auch hinauszogen, um die Aufgabe der
Heidenmission — wenngleich mit den Gewaltmitteln, welche
der Zeit in ihrer innersten Überzeugung selbstverständliche
Pflicht waren — zum Zwecke der Seelengewinnung opferbereit
zu erfüllen. Hier auch tritt greifbar als der andere Rechtstitel
der deutschen Ausbreitung der Segen zutage, welchen die aus-
gebildeten Formen der starken deutschen Herrschaft für die
amorphe Masse der kleinen Völkerschaften darstellten. Die
Deutschen haben ihnen damit Frieden und Schutz vor der Ver-
1% Heinrich v. Lettland a. a. O. S. 281: Est enim consuetudo regum Ruthe-
norum, ut quamcumque gentem expugnaverint, non fidei christianae subicere, sed
ad solvendum sibi tributum et pecuniam subjugare: oder S. 328: mater Ruthenica
sterilis semper et infecunda, que non spe regenerationis in fide Jesu Christi, sed spe
tributorum et spoliorum terras sibi subiugare conatur. Heinrich spricht hier als
unmittelbarer Konkurrent und ist sich anderer Gründe, welche die orthodoxe Kirche
wenig expansionsfreudig gemacht haben, nicht bewußt. Indessen schildert er den
Zustand im Baltikum treffend. Die russischen Missionsversuche hier sind sehr be-
scheiden gewesen und erst durch den deutschen Wettbewerb ausgelöst worden.
Die Bedeutung des Naturaltributes für das russische Handelssystem hebt zutreffend
P. v. d. Osten-Sacken, Der erste Kampf des Deutschen Ordens gegen die Russen,
Mitt. a. d. livl. Gesch. 20, 1910, S. 89, hervor.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 263
sklavung gebracht!“, ja manchen von ihnen, wie wir aus der
geschichtlichen Perspektive sagen dürfen, überhaupt das Gut
ihrer Nationalität erhalten. In der baltischen Grenzbildung
erscheint so das ganze Werk der vorangegangenen Jahrhunderte
in nuce vor unseren Augen gestellt und es fällt von diesem
äußersten Winkel Licht auf die anderen, im Dunkel der Ver-
gangenheit ausgebildeten Abschnitte.
Fassen wir die Ergebnisse dieser Übersicht zusammen, so
haben wir an uns das Bild einer durch Jahrhunderte hingehenden
Bewegung vorbeiziehen lassen, in welcher die Ostgrenze des
alten Reiches entstanden ist. Bewegung, Verschiebung der
Grenzen findet sich nun durch die ganze Geschichte und all-
überall in der Welt. In diesem einfachen Sinne kónnten die
geschilderten Vorgänge noch nicht den Anspruch erheben, als
eine besondere Erscheinung gewertet zu werden. Es handelt
sich indessen bei den hier verfolgten Vorgángen um mehr, als
um das Oszillieren einer gegebenen Grenzlinie. Eine solche ist
ja ursprünglich gar nicht vorhanden gewesen. Vielmehr sahen
wir dem eigentlichen Reichsgebiet im Osten einen breiten Streifen
abgeschwächter Staatshoheit vorgelagert, der in sich wieder von
verschiedener Struktur war; meist zerfiel er in organisiertes
Markenland, Tributär- und Vasallenstaaten und manchmal wies
er noch darüber hinaus eine unbestimmte Einflußzone auf; jaam
Ende schienen sich die theoretischen Ansprüche des Kaisertums
auf Oberherrschaft ins Ungemessene auszudehnen. Statt einer
Grenzlinie hatten wir derart einen Grenzgürtel, statt einer
19$ Heinrich v. Lettland a. a. O. S. 264 schildert aus dem Leben, wie den von
den Liven und Esten drangsalierten Letten durch die Taufe das Selbstbewußtsein
ihrer Menschenexistenz kommt, quod post baptismum eodem iure et eadem pace
omnes simul gauderent, S.286. Letten ergeben sich den Deutschen, indem sie
vom orthodoxen zum katholischen Glauben übertreten und eine Abgabe versprechen,
eo quod tam pacis quam belli tempore semper tuerentur ab episcopo, et essent cum
Theutonicis cor unum et anima una, et contra Estones et Letones eorum semper
gauderent defensione.
Daß der Übertritt der Eingeborenen zum abendländischen Christentum gewiß
nicht immer in einer bewußten Wahl erfolgte, bieten die Letten an der Ymera ein
Beispiel, die das Los darüber geworfen haben, welcher der rivalisierenden Kon-
fessionen sie sich anschließen sollten. Indem uns Heinrich diese Geschichte von
seiner eigenen Pfarre in naiver Offenheit erzählt (S. 261) — gewiß des Glaubens,
deren Anfangs mangelnde innere Berufung durch sein treues Wirken wettgemacht
zu haben —, gibt er uns Gewähr, daß seine Berichte ohne Harm sind.
264 - Hermann Aubin
Linie ein Bündel von solchen angetroffen. Sie liefen, schematisch
angesehen, einander parallel und waren von verschiedener staats-
rechtlicher Qualität, die von Westen nach Osten sank, indem sie
Gebiete voneinander trennten, in welchen die Einwirkung der
Reichsgewalt stufenweise abnahm. Innerhalb dieses Grenzgürtels
hat sich dann die eine eindeutige Reichsgrenze herausgebildet,
wie sie seit dem späteren Mittelalter feststand. Wir haben es hier
also mit jenem Vorgange zu tun, welcher dem Geographen als
ein Grundvorgang der Grenzbildung so gut bekannt ist, der
Abklärung nämlich einer Grenzlinie aus einem Grenzsaum!"?,
Als Besonderheit ist dabei hervorzuheben, daß, wie ich gezeigt
habe, in den meisten Fällen eine aus jenem Bündel unter-
geordneter und verschiedenwertiger Grenzlinien für einen Ab-
schnitt zum Range der endgültigen Reichsgrenze emporgestie-
gen ist. Diese setzte sich dergestalt schließlich aus Abschnitten
verschiedenen stäatsrechtlichen Ursprungs zusammen. Zwischen
Adria und Thaja war sie Anfangs eine Markgrenze, von der
Thaja bis Schlesien baute sie auf der Grenze eines ehemaligen
Vasallenstaates und sodann auf der inneren Teilungslinie eines
solchen auf, im Verlaufe nordwärts von Schlesien haben allent-
halben die Territorien ihre Grenzen dem Reiche untergeschoben.
Als die Institutionen, welche die in dem Vorrücken der
Grenze sich darstellende Ausbreitung getragen haben, traten
uns so nacheinander das Markensystem, das Lehnswesen, das
Territorium entgegen. Das Markensystem hat die ihm gestellte
Erziehungsaufgabe in vollem Umfange erfüllt. Alles ehemalige
Markland ist zu eigentlichem Reichsgebiet geworden. Nicht
gleich wirkungsvoll hat sich die Einreihung von Teilen der
Außensphäre in den Reichslehnsverband erwiesen. Die Lehns-
abhängigkeit ist nicht überall zur Reichsuntertanenschaft ver-
dichtet worden. Immerhin ist das in einem solchen Umfange
und in einem so wichtigen Abschnitte wie den Sudetenländern
geschehen. Seit dem 12. Jahrhundert haben die Territorien
die Arbeit besorgt und, wo sie ansetzten, in den nächsten Jahr-
hunderten vollen Erfolg erzielt. |
Zu diesen staatlichen Einrichtungen traten andere tragende
Kräfte hinzu. Die Kirchenverfassung zunächst. Ich habe Bei-
107 Vgl. H. Helmolt, Die Entwicklung der Grenzlinie aus dem Grenzsaum. Hist.
Jahrb. XVII. (1896).
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 265
spiele dafür angeführt, wie die Einbeziehung des Grenzgürtels in
den Verband der deutschen Reichskirche die Ausdehnung des
Reichsgebietes und die Vorschiebung der Reichsgrenze gefórdert,
wie umgekehrt die kirchliche Emanzipation der Ostvólker ihren
Widerstand gegen die Einordnung in den deutschen Staat ge-
stärkt hat. Die ganze Front entlang konnte das Zusammen-
gehen und Auseinanderfallen von weltlicher und kirchlicher
Organisation nicht verfolgt werden!®, Doch habe ich es überall
dort zur Sprache gebracht, wo es in jenen frühen Jahrhunderten
akut geworden ist, in denen die kirchliche Zugehórigkeit noch
imstande war, die kulturelle Einordnung einer Landschaft maB-
gebend zu beeinflussen. Seit dem 12. Jahrhundert nimmt diese
Kraft zusehends ab!99,
Der andere unpolitische Faktor, welcher bei der Bildung
der deutschen Reichsgrenze im Osten entscheidend mitgewirkt
hat, ist die groBe Volksbewegung der deutschen Rückwanderung.
Es ist genugsam bekannt, daß sich die beiden Größen deutscher
Staat und deutsches Volk räumlich niemals vollkommen ge-
deckt haben. Dennoch kann nicht übersehen werden, in welch
hohem MaBe die Ausdehnung des Reiches von der Ausbreitung
des Volkes getragen worden ist. Aus einzelnen Beispielen, die
ich vorgebracht, erhellte der abschnittsweise Zusammenhang
zwischen der Grenzbildung und der Kolonisation bis zur ge-
nauesten Entsprechung von deutscher Reichsgrenze und deut-
scher Siedlungsgrenze!?, Doch möchte ich mich nicht auf die
letzteren stützen, denen man ebensoviele oder noch mehr Gegen-
beispiele entgegenstellen kónnte. Viel überzeugender ist die
Parallelität der Bewegungen im Großen, im europäischen Rah-
men gesehen. Der Wanderzug begleitet die Grenzbildung in
1** Es handelt sich vornehmlich um die weitgehenden Aspirationen der Magde-
burger Erzbischöfe und des Gegensatzes ihrer Erzdiözese zur Gnesener, um die
oben (S. 265) berührte Zwischenstellung, welche das Bistum Kamin zwischen ihnen,
als römisches Bistum, zeitweise einzuhalten vermochte, ferner um die Verselbständi-
gung der ursprünglich von Bremen abhängigen baltischen Kirche, auf welche
auch Magdeburg noch einmal im Anfang des 13. Jhs. ein Auge geworfen hatte.
1* So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Unterordnung des Breslauer
Bistums unter die polnische Metropole Gnesen das Einströmen des Deutschtums
in Schlesien nicht aufgehalten. Vielmehr ist das Bistum selber zeitweilig sein stärkster
Förderer geworden.
ne S. oben S. 245, S. 251 und bes. S. 244, Anm. 51.
266 Hermann Aubin
ihrer ganzen zeitlichen Erstreckung. Vergleicht man ihn mit
dem abnehmenden Faktor der kirchlichen Organisation, so kann
man sagen: Er begleitet die Grenzbildung durch alle ihre Phasen
und auf der ganzen Ausdehnung ihrer Front mit gleicher In-
tensität. Dabei ist die Bedeutung der deutschen Zuwanderung
für die einzelnen Landschaften gewiß verschieden groß, wie sie
auch sozial verschieden zusammengesetzt gewesen ist. Dennoch
springt in die Augen, wie das Festwerden der Reichsgrenze vom
Südflügel her über den Elbe-Oderraum bis zu dem weitestent-
legenen Nordpunkt hin gänzlich dem allmählichen Fortschreiten
der Kolonisation entspricht, welche unter Karl d. Gr. in den
Ostalpen und im Donautal begonnen hat und unter den Hoch-
meistern in PreuBen auch dann noch weitergegangen ist, als
sie sonst bereits erloschen war, bis endlich auch hier der poli-
tische und kulturelle Rückschlag, den das Deutschtum durch
die Schlacht bei Tannenberg erlitt, den Stillstand herbeigeführt
hat. Auch hierin können wir den Gleichtakt der Bewegungen
erkennen, daß, wie die Markenbildung, so die Kolonisation
Anfangs und bis ins 11. Jahrhundert letzten Endes vom Reich
geleitet worden ist, während dieses nach dem Investiturstreit
keinen tätigen Anteil mehr daran genommen und auf beiden
Feldern die Initiative den Territorien überlassen hat.
Mit der Schlacht bei Tannenberg bezeichnen wir das Datum,
von dem an in wiederholten Schlägen des 15. und 16. Jahrhun-
derts der weitgespannte, die Ostsee umklammernde Bogen der
deutschen Reichsgrenze völlig zusammengebrochen ist. Die
einzelnen Akte sind hier nicht mehr zu verfolgen. Für unser
Thema genügt die Feststellung, daß vor der Schlacht bei Tannen-
berg die äußerste Ausdehnung der Ostgrenze des alten Reiches
bestanden hat, die nachmals nie mehr wiedergewonnen worden
ist. Obwohl das Brandenburgische Territorium die Verluste,
welche der deutsche Staatskórper hier erlitten hatte, 2. T.
wieder auszugleichen vermochte, tat es nichts, um die ehemalige
Reichsgrenze wieder herzustellen; und in keinem anderen Ab-
schnitte hat noch eine Vorverlegung derselben stattgefunden.
Bei diesen Feststellungen erhebt sich die Frage, wie lange
überhaupt die Territorien und ihre Dynastien dem Reiche die
11 S. zuletzt C. Krollmann, Die Besiedelung OstpreuBens durch den deutschen
Orden, VSWG. 21 (1928), S. 280ff.
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 267
Arbeit abgenommen und ihm ihre Erwerbungen eingebracht
haben. Die Bewegung der deutschen Kráfte nach dem Osten
war ja keineswegs mit der Errichtung der geschilderten Reichs-
grenze zu einem Ende gelangt. Die Landesherren z. B. der
ehemaligen Ostmark an der Donau drängten fast ununterbrochen
seit dem Stillstand der Marken- und Reichsgrenze an Leitha
und March dem natürlichen Wegweiser des Stromes folgend in
die ungarische Ebene hinab, indem sie bald nach dem Ganzen,
bald nach Teilen griffen. Lange Zeit trat keine dauerhafte
Besitzverschiebung ein, bis im 15. Jahrhundert mehrere Herr-
schaften des heutigen Burgenlandes als Pfand an die Habs-
burger gelangten!!?, Unzweifelhaft war damit ein bedeutsamer
Ansatz zur Ausweitung des Reichsgebietes gegeben. Er fand
günstige Voraussetzungen in der vollkommen deutschen Be-
siedlung der Landschaft, welche damals auch einen überwiegend
deutschen z. T. aus Niederósterreich hinübergewechselten Adel
besaB, und auf welche das westliche, das deutsche Leben allent-
halben seine Anziehungskraft ausübte, wie noch heute die Bau-
werke der gotischen Periode beweisen. Indessen das Reich als
Ganzes war an dieser Expansion gar nicht mehr beteiligt. Zum
Reich hat man diese Eroberung der einstigen Ostmark nie
mehr gerechnet, und es sind nur die niederósterreichischen
Stände gewesen, welche ab und zu den Anschluß der ungarischen
Herrschaften an ihr Land verlangt haben, um sie mitbesteuern
zu kónnen. Die habsburgische Dynastie, obwohl selber auf den
deutschen Königsthron erhoben, hat kein Interesse daran ge-
zeigt, den Zuwachs dem Reiche einzubringen. Sie erringt auch
die Stephanskrone; die alte seit den Sachsen und Saliern wache
Tendenz des deutschen VorstoBes die Donau hinab, hat damit
endlich vollen Erfolg erreicht. Aber doch nur in einer Form,
welcher das Reich von jedem Anteil daran ausschloB und der
längst errungenen Selbständigkeit Ungarns Rechnung trug.
113 S. zum Folgenden O. Aull, Die politischen Beziehungen zwischen Österreich
und Ungarn in ihrer Auswirkung auf das Burgenland (bis 1918), Burgenland, 3. Jg.
(1930), S. 98ff. und O. Brunner, Geschichte des Burgenlandes im Rahmen der
deutsch-ungarischen Beziehungen, Deutsche Hefte f. Volks- u. Kulturbodenfor-
schung, 1. Jg., (1930/31), S. 152ff. O. Brunner hatte die Freundlichkeit, mir aus
drücklich zu bestätigen, daß jene Herrschaften niemals dem deutschen Reiche zu-
gerechnet worden sind.
268 Hermann Aubin
Die Personalunion, welche den deutschen Kaiser zum Konig
von Ungarn macht, schiebt zugleich jeder weiteren Vorverlegung
der deutschen Ostgrenze an dieser Stelle einen Riegel vor. Der
Prátension von dem unverlierbaren Besitz der Stephanskrone
hat man sogar jene Wachstumsspitze im Burgenland geopfert.
Im 17. Jahrhundert sind die burgenländischen Ämter allmählich
ohne Entschádigung zurückgegeben worden.
Diese Vorgänge führen uns in die gleiche Zeit, in welcher
dem Reich auch bereits die Kraft fehlte, die Verluste abzu-
wehren, welche seinem Bestande im Osten, wie berührt, seit
dem Beginn des 15. Jahrhunderts geschlagen worden sind, und
das Beispiel der westungarischen Herrschaften ist durchaus
kennzeichnend. Das Reich war von sich aus lángst keiner Aus-
dehnung mehr fähig und die Dynastien der ostdeutschen Terri-
torien haben ihm in der Neuzeit ihre Erwerbungen nicht mehr
zugeführt. Das gilt nicht nur dort, wo es sich um völlig aus-
gebildete Staaten handelte, welche von sich aus, auch bei Per-
sonalunion mit deutschen Landesherren ihre Selbständigkeit
zu wahren wuBten, wie eben Ungarn unter den Habsburgern
oder Polen unter den Wettinern. Sondern es gilt in gleicher
Weise auch dort, wo die deutschen Dynastien über den Gebiets-
zuwachs völlig frei verfügten, wie Österreich und Preußen über
die ihnen zugefallenen Teile Polens. Obwohl sie diese ohne jede
ständische Beschränkung ihrem Altbesitz mit Haut und Haar
einverleiben konnten, haben sie doch nicht daran gedacht, sie
auch dem monströsen Reichskörper einfügen zu lassen. Sie
strebten im Gegenteil danach, sich jenseits der Reichsgrenze
eine Sphäre politischer Aktionsfreiheit zu sichern, welche nicht
mit der Hypothek der Reichspflichten belastet war. Nur dort
winkte volle Souveränität und europäische Gleichberechtigung.
Gerade jene Territorialkomplexe, bei welchen die Zukunft lag,
entwickelten sich dergestalt über die Reichsgrenze hinüber, und
soweit sie sich auch ausdehnten, diese Grenze blieb davon un-
berührt. Sie war nun versteinert. Noch kurz, ehe sie aufhörte
zu bestehen, wurde ihr ihre gänzliche Bedeutungslosigkeit in
aller Form attestiert. Die Begründung des Kaisertums Öster-
reich im Jahre 1804 faßte alle habsburgischen Länder dies- und
jenseits zu der staatsrechtlichen Einheit, welche die Zeit er-
forderte, zusammen, ohne Notiz davon zu nehmen, daß durch
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 269
ihre Mitte eine Grenze lief, die einstmals eine sákulare Kurir
scheide bedeutet hatte.
Diese Überlegung bringt den Wandel zum Bewußtsein,
welchen das Wesen der deutschen Ostgrenze im Laufe der
Jahrhunderte durchgemacht hat. Ihn noch deutlicher in seinen
Etappen zu erfassen, greife ich noch einmal auf die Gegen-
überstellung der Westgrenze zurück, durch welche ich eingangs
ihren ursprünglichen Charakter in schärferes Licht gerückt
hatte. Jener Gegensatz, von dem wir ausgegangen waren, hat
sich während des Mittelalters mehr und mehr verloren, und zwar
durch die Entwicklung auf beiden Seiten. Die Bildung der
Ostgrenze erschien uns in ihren älteren Stadien als eine univer-
sal-okzidentale Angelegenheit. Die von Kaiser und Papst
patronisierte deutsche Einflußsphäre hatte zeitweise zugleich
die äußerste Erstreckung abendländischen Wesens bedeutet.
Mit der Abklärung der eigentlichen Grenzlinie ging ihr dieser
universelle Charakter verloren. Wo immer die Auseinander-
setzung mit den aufkommenden nationalbestimmten Ost-
staaten um den Grenzgürtel zur Herausbildung eines festen
Grenzverlaufes führte, drückte sie zugleich die deutsche Ost-
grenze auf den Rang einer einfachen Staatsgrenze herab. Um-
gekehrt war die Westgrenze, seitdem keine Aussicht mehr auf
Wiedervereinigung des karolingischen Erbes bestand, zu der
vollen Funktion einer Staatsgrenze aufgestiegen, hinter welcher
sich im Westen mehr und mehr der nationalstaatliche Wille
anmeldete. Wenn auch entsprechend den entgegengesetzten
Ausgangsbedingungen in gegenläufigem Sinne, so machen
derart doch beide Fronten gleichermaßen jenen Grundvorgang
der politischen Entwicklung des Abendlandes anschaulich,
welcher sich im Hochmittelalter angebahnt hat: Den Verzicht
auf die einheitliche imperiale Konzeption der Staatsordnung
und das Vordringen der Idee grundsätzlich gleichgeordneter
Staaten.
Noch in einem Anderen Sinne führt ebendamals die Entwick-
lung im Westen und Osten unter dem Einfluß der gleichen Zeit-
erscheinungen zu einander ähnlichen Zuständen. Während sich
hier innerhalb des Grenzsaumes eine Grenzlinie abzuzeichnen be-
ginnt, wird umgekehrt dort die bestehende scharfe Scheide ver-
wischt. Das Lehnswesen, das wir im Osten als ein staatsrecht-
270 Hermann Aubin
liches Mittel zur Konsolidierung der deutschen Oberherrschaft
innerhalb der AuBenzone erkannt haben, arbeitet zur selben Zeit
im Westen daran, den eindeutigen Charakter der Reichsgrenze zu
erweichen und zu durchbrechen. Lehnsabhängigkeiten sind her-
über und hinüber geknüpft worden, zunáchst einfach aus den nach-
barlichen Gegebenheiten, dann aber seit dem fortschreitenden
12. Jahrhundert von seiten der Krone Frankreichs als ein ab-
sichtsvoll verwendetes Mittel, um jenseits der Reichsgrenze Fuß
zu fassen und die nationalstaatliche Ausbreitung vorzubereiten.
Nicht minder macht sich die politische Größe der folgenden
Epoche, das Territorium, in gleichsinniger Wirkung auf die
Westgrenze geltend. Rittlings derselben bilden sich Territorial-
. komplexe aus. Indem Frankreich, im 100jährigen Krieg mit
England ringend, zeitweise die Bahn freigibt, kann der bur-
gundische Hausbesitz zu einer Masse anschwellen, welche die
deutsche Reichsgrenze verwischt, und zu einer Macht aufsteigen,
welche sie negiert, wie es später die Habsburger und Hohen-
zollern im Osten tun werden. Die Reichsautorität erlahmt
gegenüber den westlichen Randgebieten bis zu dem Grade, daß
sie sich ihm von der Schweiz über die spanischen Niederlande
bis zu den Generalstaaten mehr oder weniger vollstándig ent-
ziehen. In der Mitte der Front bricht dann Frankreich nicht
nur mit klaren Gebietsabtretungen — welche ja staatsrechtlich
neue scharfe, wenn auch geographisch oft sehr zerrissene Grenzen
schaffen —, sondern auch mit allen Unklarheiten und den mannig-
faltigen Rechtsgestaltungen, welche das damalige Reichsrecht
an die Hand gab, einzelne Stücke heraus. Die einst einheitliche
und klare Westgrenze ist völlig zersetzt, zerfetzt und aufgelöst.
Durch Jahrhunderte liegt nunmehr an dieser Front in verschie-
denen wechselnden Formen ein Grenzsaum vor dem unbestritte-
nen Reichsgebiet. Damit haben sich die Verhältnisse gegenüber
dem Osten geradezu umgekehrt. Freilich ist auch die Ostgrenze
ihres staatsrechtlichen Inhalts so gut wie entleert und jedenfalls
ohne entscheidende politische Bedeutung für die europäischen
Mächtekonstellation. Aber ihr Bestand wenigstens wird durch
die starken Territorien aufrechterhalten, welche sich hier ge-
bildet haben. Wollte man das gegensätzliche Wesen in Ost und
West nunmehr auf eine Formel bringen, so würde man sagen
dürfen: Die Ostgrenze ist eine im Vorrücken erstarrte Front;
Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 271
im Westen handelt es sich um die vorübergehenden Wider-
standslinien eines, von kurzen Erholungspausen abgesehen,
fortgesetzten Rückzugs.
Die Umkehrung der Dinge, welche daran offenbar wird, ist
indessen noch weiter zu verfolgen. Die Westgrenze bekommt
in dieser Periode ihren vollen Charakter erst durch einen weiteren
Zug, welcher ihr von außen aufgeprägt wird: Der Staat, der
von Westen her andringend, ihren Verlauf bestimmt, ist zugleich
dabei, in ihrem Schutze mit mächtig formender Hand die
Nation zu bilden. Staatsgrenze und Nationsgrenze, wird das
Postulat, fallen zusammen. Damit türmen sich auf der Staats-
grenze alle die Unterscheidungen auf, welche die aufblühende
nationale Kultur und das anwachsende Nationalbewußtsein
hervortreiben. Wir sehen uns wieder zurückversetzt vor das
Bild, von welchem wir ausgingen: Einer politischen Grenze,
welche sichtbar zur Kulturscheide wird. Nur trägt in dieser
neuen Ära der nationalen Kulturen die Westgrenze des Reiches
das Zeichen, das wir am Anfang der deutschen Geschichte seiner
Ostgrenze eigen erkannten.
Diese war, als die neue Ära vom Westen heraufzog, schon
längst kein lebenserfülltes Gebilde mehr. Ihre Zeit hatte einer
anderen Epoche angehört, welcher der Gedanke der Nations-
bildung durch den Staat völlig fremd gewesen war.
Wir sind dieses Abstandes der Epochen voll gewärtig.
Dennoch können wir, noch einmal zu dem Verhältnis der Aus-
breitung von Staat und Nation zurückgeführt und in dem
schmerzvollen Bewußtsein, daß nirgends die Gleichung des
Staats- und Volksgebietes so unvollkommen ist, wie an unserer
Ostfront, unsere dieser Front gewidmete Betrachtung nicht
schließen, ohne den Versuch zu unternehmen, zu jener Frage
Stellung zu nehmen, welche immer wieder an unsere mittel-
alterliche Geschichte gerichtet werden wird, die Frage, meine
ich, welche Bedeutung der Reichspolitik jener Jahrhunderte
für die Geschicke des deutschen Volkes im Ostraum zukommt.
Tatsächlich hat doch auch vor der Ära der Nationalstaaten
Macht und führendes Beispiel des Staates für die Verbreitung
der Kultur des eigenen Volkes werbend gewirkt, ja wir sahen
schon in früher Zeit das deutsche Reich unmittelbar die Zu-
wanderung deutscher Kolonisten nach dem Osten leiten.
272 Hermann Aubin: Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches
Die Antwort zu bilden, ist es nicht unnütz, noch einmal
darauf hinzuweisen, daß bereits in dem Wesen der Grenzbildung
im Osten, wie ich sie aus ihren Grundvoraussetzungen zu erkláren
versucht habe, eine Ungleichmäßigkeit der einzelnen Abschnitte
bedingt war, welche auch für die Erfüllung des Reichsgebietes
mit deutscher Bevölkerung, sei es durch Zuwanderung, sei es
durch Eindeutschung ungleichartige Bedingungen zur Folge hatte.
DaB indessen die Geschicke in den einzelnen Abschnitten sich in so
hohem Grade individuell gestaltet haben, wird man nicht allein
auf die Ausgangslage zurückführen kónnen. Man wird vielmehr
— neben anderen geographischen und geschichtlichen Faktoren —
auch darauf hinweisen müssen, daB die einheitlich ordnende
Kraft des Reiches bereits zu einem Zeitpunkt erlahmt ist, wo gewiß
noch nicht das halbe Werk der mittelalterlichen Volksausbreitung
geleistet war. Es ist keine Gedankenspielerei, sondern dient,
die Bedeutung der historischen Ereignisse sicherer zu erfassen,
wenn man sich einen Geschichtsverlauf vorstellt, in welchem
die tátige Teilnahme des Reiches den Ostfragen noch bis zum Ende
des Mittelalters zugute gekommen wáre oder gar die Ostpolitik
in die Periode des Nationalismus hineingeführt hätte. Man hat
mit Recht die Konsequenz ausgemalt, daB eine rallierte Front
auf deutscher Seite vielleicht eine geschlossenere Gegnerschaft
hervorgerufen und damit dem Deutschtum seine kulturspendende
Verbreitung bis tief in die östlichen Nationalstaaten hinein
verwehrt hätte. In Zusammenhange der hier vorgeführten
Gedankengänge wird man geneigt sein, die andere voraussicht-
liche Folge einer solchen Entwicklung ins Auge zu fassen: Eine
Führung der deutschen Ostpolitik durch ein starkes Reich hätte
einen kompakteren Einsatz der deutschen Kräfte bedeutet,
welcher wohl zu einer zwar geringeren, aber geschlosseneren
und dem Reichsgebiet genauer entsprechenden Verteilung des
Deutschtums im Osten geführt hätte. In diesem Sinne ergibt die
Prüfung der Vorgänge und Kräfte, welche an der Ausbildung
der Ostgrenze des alten deutschen Reiches mitgewirkt haben,
die Bestätigung der Anschauung, daß das frühe Ausscheiden
des Reichs aus der aktiven Ostpolitik zu jener langen Reihe
von Komponenten zu rechnen ist, welche das Auseinanderklaffen
von deutschem Staats- und Volksgebiet verursacht haben,
das heute dieser Grenze ihren entscheidenden Charakter gibt.
273
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserfiche Kanzlei.
| Von |
S. Hellmann.
Ubersicht:
L Die Vita Heinrici IV., literarhistorisch betrachtet. S. 273. — II. Methodolo-
gisches zur Stilvergleichung. S. 284. — III. Die beiden großen Klagebriefe
Heinrichs IV. S. 298. — IV. Die kürzeren Briefe, S. 311. — V. Vita und Briefe
S. 320. — VL Die Briefe Erlungs. S. 330. — Epilog. S. 334.
I. Der Unbekannte, der die Vita Heinrici schrieb, hat seine
Aufgabe anders ergriffen und durchgeführt als seine Vorgánger.
Das Mittelalter war der Entwicklung der Biographie nicht
günstig. Von der einen Seite her sah es das Wesen der Geschichte
zu sehr unter dem Gesichtspunkt der Bewegung von Weltanfang
zu Weltende hin, um die Persónlichkeit als den Punkt ins Auge
zu fassen, wo die Fáden sich schlingen und darum einen Augen-
blick stille stehen. Daher wurde für sein Denken die lineare Ent-
wicklung das Normale, das Pragma mit seiner Gleichgültigkeit
gegen jedes chronologische Schema etwas bestenfalls nicht Er-
strebenswertes, wenn nicht geradezu Bedenkliches!, die empi-
ristische oder, wie man vielleicht sagen mag, positivistische Dar-
stellung der Annalen zur normalen Gattung der Geschichtschrei-
bung, die Schilderung des Einzelereignisses zum Ausnahmefall.
Auf der anderen Seite faßte es Staat und Persönlichkeit vor-
wiegend als Summe von Beziehungen zwischen Mensch und
Mensch und brachte sich dadurch um die Erfassung des Indi-
viduums im historischen, d. h. mehr als einzelpersónlichen Sinn:
wie das Problem der Geschichte kam auch ihr letztes Element
1 Bona dispositio est rem eo ordine quo gesta est narrare. Non est hoc observa-
tum in libris regum novissimis, ubi praepostero ordine quorundam regum obitus,
deinde quid in vita gesserint, narratur. Rationalis dispositio facit lucidam orationem.'
St. Galler Rhetorik c. 49 (ed. Piper I, 670; vgl. auch c. 47, S. 667 und zu der ganzen
Frage M. Schulz, Die Lehre von der historischen Methode bei den Geschichtschreibern
des MA. 102, 132).
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 18
274 S. Hellmann
seinem Denken nicht voll zum Bewußtsein. Trotzdem hat das
Mittelalter eine reiche biographische Literatur hervorgebracht.
Aber die kirchliche Biographie, von Anfang an ein Ding
zwischen Erbauungsbuch und Geschichte, sah in ihrem Helden
mehr die exemplarische als die historische Persönlichkeit; eben-
sowenig wie ihr dämmerte der weltlichen, die nicht zufällig ver-
schwindend wenige Vertreter fand, das eigentliche Problem der
Biographie auf, das Ineinander von Übereinstimmung und
Gegensatz, die Verwobenheit von Zeit und Mensch. Daher blieb .
Einhard mit seinem Versuch einer Charakteristik einsam stehen;
seine nächsten Nachfolger, Thegan und der Astronom, wandten
die Biographie ins Erzählende und Annalistische um; Wipo tat
das gleiche: der einzige Nachahmer, den Einhard fand, so gern
man ihm zu stilistischen Zwecken die eine oder andere Wendung
entnahm, war der Biograph des Adalbero von Trier.
Andere Wege ist der Verfasser der Vita Heinrici IV. gegangen.
Er verband Charakteristik mit Erzählung: seine Schrift ist Are-
talogie und Lebensbeschreibung zugleich. Beide hält das subjek-
tive Element zusammen, der persönliche Anteil des Verfassers an
Mensch und Schicksal, einem Schicksal, das aus Kampf, Ver-
greifen, Erfolg und Untergang im Verrat tragisch gemischt ist.
In doppelter Gestalt tritt der Subjektivismus hervor: im Urteil
über Heinrich IV., das bei aller Einseitigkeit doch auch seine
Mißgriffe nicht einfach verhehlt, und im Ton des Vortrags, der
überall darauf gestimmt ist, Mitgefühl zu wecken. Auch die Form
ist dieser Absicht unterstellt: die Vita gibt sich als Brief an einen
nirgends Genannten, der in literarischer Selbstverstellung ge-
beten wird, sie niemand zugänglich zu machen.
Die kleine Schrift zerfällt deutlich in zwei Teile von sehr un-
gleicher Länge. Der erste umfaßt nur das heutige Kapitel I®, der
zweite alles Übrige. Trotzdem darf der erste Teil nicht nur als
Einleitung und als einem größeren Ganzen subordiniert ange-
sehen werden: für den Verfasser besaß er vermutlich gleiche Be-
deutung wie der viel umfangreichere zweite, denn er enthält die
Aretalogie. Auch sie zerfällt in zwei Teile: zuerst wird der Mann
der Kirche und der kirchlichen Wohltätigkeit geschildert, dann
2 Die Handschrift (Clm. 14095) bezeichnet Einschnitte nur durch Initialen und
Alinea; W. Wattenbach hat sich zu ángstlich daran gehalten, als er die Einteilung in
Kapitel vornahm.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 275
der Herrscher. Die Vita stellt sie nicht. einfach nebeneinander.
Vielmehr erhält der Bau dieses ersten Hauptteils sein Gepräge
durch die Gelenke, die seine beiden Glieder miteinander und
mit dem Folgenden verbinden. Zwischen sie schiebt sich die mit
Emphase gefüllte Reflexion, die auf das eine zurück- und auf das
andere vorausblickt. Eingerahmt wird die Aretalogie durch kurze
rhetorische Stücke am Anfang und Ende: dort, zugleich als Ein-
leitung zum Ganzen, die Klage über den Verlust, den mit dem
Verfasser die ganze Welt erlitt, hier der fingierte Zweifel ob er
fortfahren und zur Schilderung der „fraudes et scelera“ über-
gehen solle, der feindlichen Welt?.
Wenn die beiden rhetorischen Einfassungen und das zugleich
trennende und verbindende Mittelstück zwischen den Bildern des
Frommen und des Herrschers sich über die beiden Teile der
Aretalogie wólben wie die Bogen einer Brücke über einen geteil-
ten FluB, so wird der Bau des zweiten Hauptteils, die Lebens-
geschichte, von einem einzigen starken Pfeiler getragen. Es ist
in Kapitel 8 der Bericht über den Mainzer Reichslandfrieden von
1108. Von vorne gesehen, bildet er den Abschluß der Kämpfe seit
der Mündigkeit des Kaisers: indem die fürstlichen Gegner des
Kaisers zur Ohnmacht verurteilt werden, scheint ein neues Zeit-
alter beginnen zu sollen. Von rückwärts, von der Katastrophe
Heinrichs IV. her betrachtet, ist der Friede das Vorspiel zum
Ende, und die letzten Sätze des Kapitels präludieren dazu wieder
in den Tonarten der Rhetorik. So wird durch einen Ruhepunkt,
durch einen breiten Einschnitt charakterisierender, nicht erzäh-
lender Art, auch der zweite Hauptteil in zwei Hälften zerlegt; sie
* Aufbau des ersten Teils: Einteilung 9, 1—18 ; Charakteristik des Frommen 9,19
bis 11, 14; Mittelstück 11, 15—26; Charakteristik des Herrschers 11, 27—13, 2;
Epilog und Überleitung zum zweiten Teil 18, 3—18. — Die Seiten und Zeilenzahlen
sind hier und im folgenden immer diejenigen der Schulausgabe von Wattenbach-
Eberhard (1899). — Ich benutze die Gelegenheit, einige Anmerkungen zum Text der
Schulausgabe zu machen. 26, 23 ist gegen Holder-Eggers Vorschlag an 'iunctus' fest-
zuhalten, ebenso wie 29, 25 an ‘iuncti’ mit Jaffé gegen Wattenbach. Ob 33, 18c mit
Holder-Egger 'cum' zu ergünzen ist, erscheint fraglich; vgl. vorher Z. 14 'ambo
mediocri copia venirent’ und den Brief Heinrichs an die Römer, Jaffé, Bibl. rer,
Germ. V, 499, wo Jaffé's Korrektur (bei a) von fragwürdigem Werte erscheint. 34, 31
Pertz Emendation rationis statt ‘orationis’ und ihre Begründung ist nicht zu
halten; vgl. Z. 31 'oratio'. 37, 8 ist mit C. Meiser nicht 'surreptio', sondern ‘suggestio’
zu lesen: 'suggerere' und ‘suggestio’ sind in der Vita häufig. :
18*
276 ; . 8. Hellmann.
sind annähernd gleichlang. Aber da der ersten nur der verhält-
nismáBig kurze aretalogische Teil vorausgeht, so füllt die Er-
zählung der beiden letzten Jahre des Kaisers fast die Hälfte der
kleinen Schrift. Man sieht, worauf es dem Verfasser vor allem
ankam: durch die Schilderung von Tücke und Verrat des Sohnes,
von vergeblicher Abwehr und vom Tode des Alten bei dem Mit-
gefühl des Lesers zu werben.
Die einfach-große Gliederung durch das Kapitel vom Reichs-
landfrieden ist nicht die einzige dieses Teiles; unter ihr durch-
zieht ihn, fast in stetem Rhythmus, dem schnell wechselnden
Weiß und Bunt eines farbigen Bandes vergleichbar, noch eine
zweite, die nicht nach Epochen des Geschehens fragt, sondern
nur den Reiz der Erzählung erhöhen will. Der Fluß der Darstel-
lung bewegt sich nicht gleichmäßig fort, sondern verbreitert sein
Bett und verlangsamt seine Strömung, um sie dann rascher wie-
der vorwärts zu treiben. Es sind Episoden nach antikem Vorbild,
mittels derer diese Wirkung hervorgebracht wird, Einzelvorfälle,
die es an sich nicht erfordern, selbst nicht einmal immer verdien-
ten, daß die Darstellung bei ihnen verweilt, die aber doch episch
oder wenigstens novellistisch in Kleinschilderung ausgeführt wer-
den: das Ende des Gegenkónigs Hermann, der Untergang Ekberts
von Meißen, der in einer Mühle, von der Sommerhitze über-
wältigt, im Mittagsschlaf von zufällig des Weges kommenden
Kaiserlichen überrascht und niedergemacht wird; die Einnahme
Roms dank der Kühnheit eines Kaiserlichen, den ein Zufall auf
die Sorglosigkeit der Besatzung aufmerksam macht; ein Mord-
anschlag auf Heinrich IV. in Rom; der Aufruhr von Ruffach im
Elsaß gegen Heinrich V.; die Niederlage seiner Anhänger bei
Viset; die vergebliche Belagerung von Kóln. Die Episoden wer-
den in ihrer Wirkung unterstützt durch zwei fingierte Kund-
gebungen, die der Verfasser einschiebt: eine mündliche Botschaft
Heinrichs IV. an seinen Sohn, bald nach der Flucht aus dem
Gewahrsam“, und ein Aufgebot Heinrichs V. an die Fürsten, nach
seiner Niederlage bei Viset. Ein weiteres Element der Abwechse-
lung bilden rhetorische Ergüsse, die da und dort eingeschoben
werden. Zu besserem Überblick gebe ich ein Schema.
4 Darüber, daB es sich nicht um einen Brief bandelt, wie man beim ersten Anblick
glauben könnte, vgl. später.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 277
1. Teil, c. 3—7 (S.14, 31— 28, 4).
c. 3. Erzählung (14, 31—16, 35). i
Rhetorisches Zwischenstück (16,
! 36—17, 16).
c. 4. Erzählung (17, 17—19, 18).
Ende des Gegenkónigs Hermann
(19, 18—20, 13).
c. 5. Erzählung (20, 14—19).
Ende Ekberts von Meißen (20, .
20—22, 3).
c. 6. Erzählung (22, 4—23, 8).
Einnahme von Rom (23, 8—24,
19).
Erzählung (24, 19—26).
c. 7. Anschlag auf Heinrich IV. (24,
27—25, 26).
Erzählung (25, 27—28, 4).
Mittelstück, c. 8 (28, 5—29, 14).
9. Teil, c. 9—13 (29, 15—44, 10).
c. 9, 10. Erzählung (29, 15—35, 18).
c. 11. Aufstand in Ruffach (35, 19—36,
16).
Erzählung (36, 17—21).
Botschaft des Kaisers an seinen
Sohn (36, 21—38, 8).
Erzählung (38, 9—21).
c. 12. Kampf an der Maasbrücke (38,
22—39, 30).
c. 13. Schreiben Heinrichs V. (39,
| 31—41, 4).
Erzählung (41, 5—34).
Belagerung von Köln (41, 35
bis 43, 5).
Erzählung (48, 6—28).
Totenklage (43, 28—44, 5).
Erzählung (44, 6—10). `
278 S. Hellmann
Auffallend kurz, wenige Zeilen umfassend, wohl beabsichtigt
in dieser Kürze ist der SchluB des Ganzen: keine Rekapitulation,
keine Reflexion, nur unter Tränen ein Fingerzeig auf das Ge-
schriebene. Eine Knappheit, deren Zweck es ist, die Sache, das
Erzählte noch einmal eindrucksvoll hervortreten und durch eine
stumme Gebärde doppelt stark wirken zu lassen.
Der Verfasser ist ein Meister des architektonischen Aufbaus.
Er ist Meister auch der Sprache, sofern man ihr das Recht zu-
gesteht, nicht nur der Sache zu dienen, sondern auch selbständig,
durch sich allein, Wirkungen aufzusuchen.
Hier ist der Punkt, wo die Vita sich mit einer Zeitbewegung
berührt, und diese wieder ist bezeichnet durch ihr Verhältnis zur
antiken Rhetorik. Das Mittelalter hat sie in dem ganzen, weit-
gespannten Sinn aufgefaßt, der dem Wort innewohnte: als Lehre
vom Ausdruck in Prosa jeder Art. Ihre praktische Seite erfaDten
Alchvin und der Verfasser der Sankt-Galler Rhetorik: sie schrie-
ben ihre Leitfáden als Anleitung zum Auftreten in der Reichs-
oder Stammesversammlung und vor Gericht®. Die Rhetorik er-
órterte auch den Aufbau des Literaturwerkes und sein Verhältnis
zum Gegenstand: auch diese Seite ihrer Lehre erfaßte das Mittel-
alter und entnahm ihr seine Theorie für die Anlage der histo-
rischen Erzählung, soweit es sich nicht der Tradition und Empirie
überließ®. Endlich war Rhetorik die Lehre vom Ausdruck im
engeren und eigentlichen Sinne, die Lehre von der Erhabenheit
des Stils, mit all den Feinheiten und virtuosenhaften Zuspitzun-
gen, die aus der griechischen in die römische Beredsamkeit und
aus dieser in das Buch übergegangen waren. Erstorben in diesem
letzteren Sinne war die Rhetorik niemals. Sie rettete sich über
die große Grenzscheide in das Mittelalter hinüber, verkümmert
und verarmt, aber niemals ganz vergessen: gerade Schriftsteller,
die sie am heftigsten verschwören, sind am meisten verdächtig,
nach ihren Lorbeeren zu geizen'. Mit der andern Literatur der
5 Vgl. die ersten Sätze von Alchvins Dialogus de rhetorica et virtutibus, Migne
CI, 919, und bei Notker besonders den Beginn der Einleitung 643, c. 16 (652) und
den Epilog (684), wo es von der Rhetorik heiBt 'inventa occasione manifestam se
praebet et in multitudine populi, ubi sunt iudicia plebis et consilia principum curam
regni ministrantium, ibi maxime gloriatur'.
* Vgl. M. Schulz, a. a. O. 104, 128, 132f.
7 M. Schulz 84 ff. hat das nicht gesehen. Um den ältesten Vertreter der mittel-
alterlichen Literatur heranzuziehen: Gregor von Tours betont seine literarische Un-
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 279
Antike erlebten auch ihre Theoretiker im karolingischen Zeitalter
die Auferstehung. Der Auctor ad Herennium, Ciceros Libri de
inventione und Quintilian wurden zu klassischen Lehrmeistern;
neben ihnen dienten besonders die kurzen Abrisse, die man bei
Martianus Capella und Isidor von Sevilla fand. Der Gebrauch,
den man von ihren Lehren machte, war nach Verfassern und
Literaturgattungen verschieden. Je mehr das Gefühl, und am
meisten, wo das unechte Gefühl sprach, desto hóher stiegen die
Ansprüche an den eigenen Ausdruck, desto reichlicher wurde von
den Anweisungen der Antike Gebrauch gemacht: die Widmung
an den Freund oder Gónner, die Predigt, die Heiligenlegende,
und in ihr wieder die Vorrede, waren die geeigneten Orte, pathe-
tische oder sentimentale Tóne erklingen zu lassen. Die Geschicht-
schreibung blieb im Ganzen nüchterner, und es gab nationale
Unterschiede: Notker tat sich etwas darauf zugute, daD die
Deutschen immer das Maß beobachtet hatten, sich an die Sache
hielten und die Worte ihr folgen lieBen?.
Mit dem 11. Jahrhundert verstärkt sich der Einfluß der Rhe-
torik. Häufiger als früher werden die Lehren des Auctor ad
Herennium und Ciceros über Wesen und Aufgaben der Ge-
schichte ins Auge gefaßt?. Zugleich begann auf dem Gebiete der
Stilistik im engeren Sinne eine Bewegung, die gerade das auf-
suchte, was die ältere Schule nicht gerne sah. Aus dem Auctor
ad Herennium holte man sich die Vorschriften heraus, die auf
bloßen Schmuck der Rede ausgingen, die Lehre von den Tropen
und Figuren, den Colores rhetorici, wie man sie jetzt nannte.
Marbod von Rennes und Onulf von Speier paraphrasierten sie!?.
bildung. Aber wenn man seine Vorreden darauf hin ansieht, so findet man (übrigens
nicht nur in ibnen) überall Beweise für die Fortdauer der rhetorischen Tradition:
Parallelismus, Chiasmus, Antithese, rhetorische Frage, Apostrophe, Anaphora,
Correctio, Occupatio.
* c. 52 (‘Quod bipertita sit elocutio’), über die Lehre von den beiden funda-
menta’ (‘Latine loqui planeque dicere’) und den beiden ‘fastigia’ (‘copiose ornateque
dicere’): ‘nostri itaque scriptores plerique in fundamentis studiosi fuerunt, fastigia
vero quasi supervacanea refutaverunt' (ed. Piper 672).
* M. Schulz 130 fl.
10 Über Marbods De ornamentis verborum (Migne CLXXI, 1687ff.) vgl. M. Ma-
nitius, Gesch. d. lat. Literatur des MA. III, 723f. Onulf von Speier, Rhetorici colores,
hrsg. von W. Wattenbach, Berliner SB. 1894, 361ff. Vgl. Manitius II, 715ff. Das
Verhältnis von Marbod und Onulf wäre noch zu klären.
280 S. Hellmann
Aber beide sind vielleicht nicht so sehr Wegbereiter als Zeugen
der neuen Kunst. Die Bewegung ist nicht rein artistischer Natur,
was man auch daraus ersehen kann, daß sie einsetzt, lange ehe
im 12. Jahrhundert, wohl von der Lombardei aus, der vollstän-
dige Text des Auctor und vielleicht auch der des Quintilian be-
kannt wird! Es ist denkbar, daß ihre Wurzel in der Steigerung
des religiösen Gefühls liegt, das auch nach gesteigertem Aus-
druck verlangte. Gewirkt hat sie bis in die Dichtung in den Natio-
nalsprachen hinein, wie der Eingang von Gottfrieds Tristan
zeigt. Allerdings ging sie nicht darauf aus, die ältere, einfachere
Richtung zu verdrängen. Sie wollte sie nur überhöhen, ihr eine
neue Legierung geben.
Durch die Vita gewinnt die Bewegung eine Vertreterin im
Rahmen der Geschichtschreibung, wenn auch nur für einen
Augenblick. Ihr Verfasser beherrscht all die kleinen Künste und
Mittelchen der antiken Rhetorik mit voller Meisterschaft. Er hat
ein Virtuosenstück des rhetorischen Stiles in seiner letzten Stei-
gerung geliefert.
Ich veranschauliche das Gesagte durch ein Beispiel, indem
ich den Anfang der Vita hersetze und nach der stilistischen
Seite erläutere.
„Quis dabit aquam capiti meo et fontem lacrimarum oculis
meis, ut lugeam, non excidia captae urbis, non captivitatem vilis
vulgi, non damna rerum mearum, sed mortem Heinrici impera-
toris augusti, qui spes mea et unicum solacium fuit, immo ut de
me taceam, qui gloria Romae, decus imperii, lucerna mundi ex-
titit? Erit posthac mihi vita iocunda? Erit absque lacrimis dies
aut hora? Aut tecum, o dulcissime, potero illius mentionem
11 Vgl. F. Marx und Ch. Fierville in der Einleitung zu ihren Ausgaben des Auctor
ad Herennium 32ff. und von Quintilians De Institutione oratoria L. I, p. XVIff.
13 Ein gutes Beispiel für die Richtung des rhetorischen Interesses ist der Vindo-
bonensis 2521 (vgl. St. Endlicher, Catalogus codd. mss. bibliothecae palatinae Vindo-
bonensis I, 165—180). Von seinem bunten Inhalt interessieren hier ausgedehnte
Exzerpte römischer Rhetoriker: aus dem Auct. ad Her., aus Ciceros De Oratore,
Quintilian, Martianus Capella. Wie die beiden vorangehenden hexametrischen Ge-
dichte zeigen, stammt die Sammlung von Udalrich von Bamberg ; nach Bamberg weisen
auch manche Lesarten der Texte. Vgl. E. Dümmler, Zu Udalrich von Bamberg, NA.
XIX (1894) 222ff. Der Text ist verstümmelt, was D. zu Unrecht bezweifelt. AuBer der
Sammlung des Udalrich enthält die Hs., von der gleichen Hand geschrieben, die
Colores rhetorici des Onulf von Speier, die nur durch sie erhalten geblieben sind.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 281
habere sine fletu? Ecce dum scribo quod dictavit impatientia
doloris, cadunt lacrimae, madent fletu litterae, et quod notat
manus, diluit oculus. Sed forsan impatientiam doloris mei redar-
guis, et ut fletum meum reprimam, ne forte his qui de morte
imperatoris gaudent innotescat, instruis. Recte me doces, fateor;
sed non possum imperare mihi, quin doleam, non possum me
continere quin lugeam. Licet in me furorem suum exacuant, licet
me per membra discerpere cupiant: dolor timere nescit, dolor
illatas poenas non sentit.“
Was sofort empfunden wird, ist die Hyperbolik des Aus-
drucks, die zwar nicht einer bestimmten Regel, aber einer Tra-
dition der Rhetorik entsprach. Dann fällt die Isokolie der Satz-
glieder und selbst ganzer Sátze in die Augen (besonders bemerk-
bar am Schluß, aber z. B. auch in den beiden mit ‘erit’ beginnen-
den Fragesátzen). Diese beiden, Hyperbolik und Isokolie, die eine
den Ausdruck bezeichnend, die andere ein formales und sinn-
liches Element enthaltend, sind Kennzeichen des Stiles, die zu-
sammen mit einem dritten, das wir sofort kennen lernen werden,
sich durch die ganze Vita hindurchziehen. Sie werden durch-
woben und umspielt von den Tropen und Figuren im eigentlichen
Sinne. Ich weise auf einige hin, die in den oben abgedruckten
Zeilen vorkommen, wobei ich die bekanntesten, wie rhetorische
Frage und Anaphora, beiseite lasse: Occupatio (‘ut lugeam, non
excidia captae urbis. ..')!?; Correctio (immo ut de me taceam’);
Allegorie (‘dictavit impatientia doloris’; ‘diluit oculus’; dolor
timere nescit’ usw.); Praesumptio (‘sed forsan impatientiam dolo-
ris mei redarguis, et, ut fletum meum reprimam ... instruis’);
Confessio (‘recte me doces, fateor).
In den soeben abgedruckten Sätzen der Vita ist nur ein Teil
der Redefiguren vertreten, die sie anwendet; andere, die häufig
auftreten, wie die Alliteration, die Antonomasie, besonders die
Traductio, für die vielleicht noch später Beispiele anzuführen sein
werden, vervollständigen das Bild. Jedoch ist der Einfluß der
Rhetorik auf die Vita damit nicht erschöpft. Er berührt auch den
Aufbau wie den Inhalt. Dort entspricht rhetorischer Vorschrift
13 Der Anfang (bis ‘vilis vulgi’ einschließlich) stammt, zum Teil schon umge-
bildet, aus der Homilie des Johannes Chrysostomus. In Theodorum lapsum (Migne,
ser. gr. XLVII, 277), wird aber im letzten Gliede der Occupatio selbständig fort-
gesetzt.
282 S. Hellmann
die Einschiebung jener nach vorwärts und rückwärts weisenden
Zwischenglieder!*, hier die reichliche Ausstreuung von Sentenzen
über den Text hin“. Endlich macht sich rhetorischer Einfluß mit
besonderer Stärke in der Anwendung eines rein sinnlichen Reiz-
mittels bemerkbar, des Homoioteleutons. Es ist antikes Erb-
teil!“. Aber zu rechter Entwicklung ist es erst in der kirchlichen,
vor allem der mittelalterlich-kirchlichen Literatur gelangt. Wir
finden es in der gehobenen Rede, im Briefstil, in der Predigt, im
moralischen Traktat. In der erzählenden Literatur ist seit alters
sein Platz in der Heiligenlegende, und die cluniacensische Bio-
graphik hatte sein Recht darauf eben erst neu bestätigt!“. Weni-
ger häufig begegnet das Homoioteleuton in der Geschichtschrei-
bung, aber auch hier hat es sich seit Anfang des Jahrhunderts
eine feste Stelle erobert: die panegyrischen Lebensbeschreibun-
gen der Kaiser, die Vita Heinrici II. des Adalbold von Utrecht,
Wipo's Leben Konrads II. wenden es reichlich an. Es ist diese
Linie, in welche die Vita Heinrici IV. einbiegt, sie weiterführend
und verstárkend.
Mustern wir die Ausdrucksmittel der Vita auf ihre Herkunft,
so fällt der Dualismus zweier Stilelemente auf. Der größte Teil
des rednerischen Schmuckes ist nach antiker Anweisung gebildet;
aber nicht nur war das Homoioteleuton durch die kirchliche
Literatur hindurchgegangen, hatte gewissermaßen kirchliche
Weihe erhalten, die Vita stellte neben Sentenzen nach antikem
Muster und neben Zitate und Anklänge aus antiker Literatur
auch biblische und patristische!®. Ein anderer Dualismus liegt im
Ausdruck selbst. Dieser scheint ganz durch die Colores rhetorici
14 Sie stellen die Form der Transitio dar (Auct. ad Her. IV 26, 35).
18 Vgl. 13, 24: ‘sed quoniam aetas immatura parum timori est et, dum metus
languet, audacia crescit, pueriles anni regis multis suggerebant animum sceleris.' Im
ganzen zähle ich über zwanzig Stellen. — Der Satz 'consuetudo mala' usw. 29, 14
steht auch im Vindob. 2521 (vgl. oben Anm. 12); ob er zu den Exzerpten Udalrichs
gehört, ist zweifelhaft.
1* Als „similiter cadens" und „similiter desinens“ (Auct. ad Her. IV 20, 28). —
Vgl. zum folgenden auch K. Polheim, Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925.
17 Vgl. des Syrus V. Maioli, Odilo's Epitaphium Adalheidae und des Jotsaldus
V. Odilonis. Dazu deutsche Viten der Reformbewegung, z. B. Widerichs Vita Gerardi
Tullensis.
18 Vgl. den Apparat der Schulausgabe, und „Zur Benutzung der Vulgata in der
Vita Heinrici IV.“. NA. XXVIII (1903) 239ft.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 283
bestimmt zu sein. Aber durch ihre Decke hindurch gewahrt man
eine fast entgegengesetzte Erscheinung. Wo die Literatur der
Zeit in gehobenem Tone spricht, schreibt sie Pluralismus des
Ausdrucks vor: der einzelne Begriff wird nicht durch die ent-
sprechende Bezeichnung allein wiedergegeben, der einzelne Satz-
teil nicht in der durch die Sache allein geforderten Gestalt, son-
dern ästhetische und gefühlsmäßige Bedürfnisse verlangen nach
Fülle und Schmuck: dem attributiven Adjektiv, den kompli-
zierten Prädikativen, entsprechenden Umschreibungen auch für
das Objekt. Die Vita beobachtet gegenüber dieser Zeitmode eine
eigenartige Haltung. Sie lehnt sie nicht ab; ebensowenig aber
folgt sie ihr ohne Rückhalt; manches, wie die Hendiadys, ver-
meidet sie sogar offenbar absichtlich. Wir finden also ein merk-
würdiges Nebeneinander, das zugleich ein Gegensatz ist: Ex-
uberanz der kleinen rhetorischen Mittel, aber zugleich Zurück-
haltung gegenüber der Abänderung, die der Zeitstil predigt. Ein
dritter Dualismus ist derjenige der elegischen Stimmung und der
apologetischen Absicht des Verfassers auf der einen und des
historischen Elements auf der anderen Seite. Aber weder sind
alle diese Dualismen voneinander geschieden — sie durchdringen
und kreuzen sich vielmehr —, noch ist innerhalb eines jeden eine
scharfe Grenze gezogen: auch in die historische Erzählung dringt
nicht nur die Kunst der Colores rhetorici ein, sondern auch die
Emotion, in der Apostrophierung der handelnden Persönlich-
keiten, in empfindungsbeschwerter Reflexion!®. Eine einzige Aus-
nahme gibt es: die beiden kurzen Sätze, in denen die Vita den
allgemeinen Abfall vom Kaiser nach seiner Flucht an den Rhein
und den notgedrungenen Übergang seiner Anhänger zum Sohne
nach dem Tode des alten Kaisers meldet“. Es sind Wendungen
rein sachlich-historischen Stils, bloße Feststellungen, nicht mehr,
die scharf von der gerade unmittelbar vorher zu der vollen Höhe
der Rhetorik sich erhebenden Diktion abstechen.
Isaak Casaubonus hat der Vita einen Adelsbrief verliehen,
indem er sie mit dem Agricola des Tacitus verglich, und noch
immer wird sie als ein Meisterwerk der mittelalterlichen Historio-
graphie gepriesen. Sofern man auf das Artistische blickt, mit
19 Vgl. 16, 36ff.; 19, 108f.; 26, 14ff., 28, 33ff. u. à. 0 32, 20ff.; 44, 61f.
! m So W. Wattenbach, Deutschlands GQ. im MA. II, 92. Weder in den Casau-
boniana noch den Scaligerana vermochte ich die Stelle zu finden.
Recht. Meisterhaft ist die durchdachte Form des Baues, erstaun-
lich das Kónnen, mit dem der Verfasser fremde und im Innern
Sich widerstrebende Ausdrucksmittel zu einer Einheit ver-
schmilzt, erstaunlich zuletzt nicht nur die Korrektheit, sondern
auch die Klarheit und zugleich Innigkeit der Sprache. Aber diese
Innigkeit, ist sie wirklich ganz echt ? Ist der Verfasser so ganz
nur Gefühl, wie er sich gibt? Es ist zuviel bewuBtes und über-
legtes Können in seiner Schrift, als daß wir ihm unbedingt glau-
ben sollten. Bernhard von Clairvaux hat Zweifler gefunden, die
seinen Stilkünsten mi8trauten?*. Ein ähnlich gemischtes und
zweifelhaftes Gefühl steigt auch dem Verfasser der Vita gegen-
über auf. Man bewundert ihn. Aber darf man das, was der Vir-
tuose leistet, auch dem Künstler zugute rechnen, oder hat der
Künstler jenem zu bereitwillig und zuviel nachgegeben? Fragen,
die auch die Glaubwürdigkeitskritik berühren, aber wohl niemals
rein beantwortet werden kónnen, solange es nicht gelingt, den
Verfasser mit einer bestimmten, auch im Geistigen greifbaren
Persónlichkeit der Zeit gleichzusetzen.
II. Seit Melchior Goldast wollen die Bemühungen, der Vita
einen Verfasser zu geben, nicht zur Ruhe kommen. Otbert von
Lüttich, der Abt Dietrich vom St. Albanskloster in Mainz, Erlung
von Würzburg sind nacheinander in Anspruch genommen wor-
den, ohne daß man über bloße Vermutungen hinauskam, weil der
Text nirgends wirklich greifbare Anhaltspunkte gab. Einen neuen
Weg schien der große Aufschwung zu zeigen, den seit Theodor
von Sickel die Erforschung der Kaiserurkunden nahm. Mit dem
Grundsatz der Stilvergleichung erhielt man die Móglichkeit, be-
stimmte Urkunden und Briefe einer Kanzlei auf den gleichen
Beamten zurückzuführen. Gelang das, dann war auch denkbar,
daß erneuter Stilvergleich es erlaubte, in dem auf solche Weise
Umschriebenen den Verfasser eines anonymen Werkes der Lite-
ratur festzustellen oder in dem Verfasser eines mit Namen über-
lieferten jenen Beamten wiederzuerkennen. Der erste, der auf
diesem Wege die Frage der Verfasserschaft für die Vita zu beant-
worten versuchte, war Wilhelm Gundlach (Ein Diktator aus der
33 Vgl. Neander, Der heilige Bernhard und sein Zeitalter (Ausgabe von S. M.
Deutsch) II, 25 und dazu Berengars von Poitiers Apologeticus pro Petro Abaelardo,
Migne 178, 1857, 1868.
Die Vita Heinrici IV, und die Kaiserliche Kanzlei 2.85
Kanzlei Heinrichs IV., Innsbruck 1884). Gleichzeitig mit H.BreB-
lau, der den Schriftvergleich durchführte, suchte er auf dem
Wege der Sprachvergleichung eine größere Anzahl von Urkunden
Heinrichs IV.9 dem von Breßlau festgestellten Diktator Adal-
bero C zuzuschreiben, in dem er den späteren Propst Gottschalk
von Aachen erkennen wollte; in ihm glaubte er auch den Ver-
fasser der Vita erblicken zu dürfen. Mindestens für die Vita“ ist
Gundlachs Beweis nicht geglückt. Nach fast vierzig Jahren nahm
B. Schmeidler (Über den wahren Verfasser der Vita Heinrici IV.
imperatoris, in: Papsttum und Kaisertum, P. Kehr dargebracht,
München 1926, S. 233ff., und: Kaiser Heinrich und seine Helfer
im Investiturstreit, Leipzig 1927) * die Frage wieder auf, auch er
an der Hand des Sprachvergleichs. In dem von ihm sogenannten
Mainzer Diktator glaubte er den Verfasser kaiserlicher Urkunden
und zugleich der Vita wiederzuerkennen®. Als letzter ergriff
* Und sechs Briefe aus den Jahren 1075—1082.
* A. a. O. 107ff. Soweit sich sein Beweis auf die Lebensschicksale Gottschalks
stützt, kommt er über Vermutungen nicht hinaus; für den Sprachvergleich (118ff.)
vgl. was später im Text über seine Methode ausgeführt wird. Seitdem hat G. Dreves
(Gottschalk Mönch von Limburg an der Hardt und Propst von Aachen, ein Prosator
des 11. Jhs., Leipzig 1897) in dem Sequenzendichter Gottschalk einen Kaplan Hein-
richs IV. und Propst von Aachen nachgewiesen. Ob er mit dem von Gundlach als
Adalbero C angenommenen zusammenfällt, ist nicht sicher. Jedenfalls hat er mit der
Vita nichts zu tun. Gundlach hat zwar (Heldenlieder der deutschen Kaiserzeit III,
987.) wiederum einen Sprachvergleich versucht und dazu die von Dreves veröffent-
lichten Sermone Gottschalks benutzt. Der Parallelismus der Gedanken und manch-
mal auch des Ausdrucks, den schon Dreves 17 angemerkt hatte, beweist nichts,
ebensowenig das Homoioteleuton, das beiden nicht aufgefallen zu sein scheint.
Gundlach stützt sich auf die Verwendung der sog. Traductio in der Vita und druckt
ein größeres Stück aus Gottschalk ab, um zu zeigen, daß auch er diese Figur an-
wendet. Abgesehen davon, daß die Traductio zum Sprachgebrauch der Zeit gehört,
beweist die Stelle (und beweisen andere bei Gottschalk) nicht das, was Gundlach
will. Bei der steten Wiederholung des gleichen Ausdrucks aus Bibelstellen handelt
es sich für Gottschalk nicht um Redeschmuck, sondern um Beweisführung; er
schreibt scholastischen Stil, nicht rhetorischen. P. v. Winterfeld, Zur Gottschalk-
frage, NA. X XVII (1902) 513f. berücksichtigt die sprachliche Seite der Frage nicht;
was er ausführt, um im Hinblick auf die letzten uns bekannten Schicksale Gottschalks
seine Autorschaft immerhin als möglich erscheinen zu lassen, kommt über eine
ansprechende Vermutung nicht hinaus.
“a Wo im Folgenden Schmeidler ohne weiteren Zusatz zitiert wird, ist SEI
mal, Kaiser Heinrich" usw. gemeint.
3$ Schmeidler hat mannigfache Kritik erfahren (H. Zatschek, Ein neues Buch
über Heinrich IV., MÜJG. XLIII [1929] 20ff.; H. Hirsch, DLZ. LIII [1932] 26ff.,
286 S. Hellmann
K. Pivec das Wort (Studien und Forschungen zur Ausgabe des
Codex Udalrici, MÖIG. XLV [1931] 409ff. und XLVI [1932]
257 fl.) und versuchte die von Giesebrecht aufgestellte Kandidatur
des Bischofs Erlung von Würzburg zu stützen. Sein Weg trennte
sich insofern von dem Gundlachs und Schmeidlers, als er nicht
von der Urkunde, sondern vom Brief ausging. Eine lángere Reihe
von Schreiben Heinrichs IV., mit wenigen Ausnahmen im Codex
Udalrici überliefert, glaubte er durch Stilvergleichung Erlung zu-
weisen zu dürfen, der in jener Sammlung ebenfalls mit zwei Brie-
fen vertreten ist. Weiterer Vergleich schien ihm zu ergeben, daß
Erlung auch die Vita zugehört, und mit ihr das Carmen de bello
Saxonico, das schon Gundlach dem gleichen Verfasser wie die
Vita zugeschrieben hatte“.
Wenn Untersuchungen über ein engumgrenztes Problem zu
so verschiedenen Ergebnissen führen, so wird die Schuld weniger
beim Gegenstand, als der Methode zu suchen sein. In der Tat war
auf dem Wege, den Gundlach, Schmeidler und Pivec gingen, das
Ziel nicht zu erreichen. Indessen ist es nicht meine Absicht, ihre
Darlegungen im einzelnen mit Kritik und Polemik zu verfolgen.
Sie wird sich nicht immer vermeiden lassen. Zunáchstaber scheint
es mir richtiger, nach den Grundsätzen zu fragen, auf denen sich
ein Stilvergleich aufbauen muß“.
Die Methode, die Gundlach, Schmeidler und Pivec anwenden,
ist die lexikographische und phraseographische: sie stellen Iden-
titàt fest auf Grund des Vorkommens gleicher oder áhnlicher
Wörter und Wortkombinationen hüben und drüben. Es fehlt
ihnen nicht ganz an der Besinnung darauf, daß ein solches Ver-
fahren nicht genügt, und auf der Suche nach einem wirksameren
stellt sich die eine oder andere zutreffende Beobachtung ein.
C. Erdmann, Die Briefe Meinhards von Bamberg, NA. XLIX [1932] 3321ff.), das Ent-
scheidende, die Methode seiner Stilvergleichung, ist fast nicht berührt, jedenfalls
nicht prinzipieller Prüfung unterzogen worden. Einige Bemerkungen bei Zatschek
38f., Erdmann 366ff.
3* A. a. O. 147ff. und: Wer ist der Verfasser des Carmen de bello Saxonico,
Innsbr. 1887.
3 Vgl. zum folgenden Aug. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philo-
logischen Wissenschaften, hrsg. von E. Bratuscheck, 2. Aufl. 1876. — Fdch. BlaB,
Hermeneutik und Kritik (Teil des Handbuchs der klassischen Altertumswissenschaft,
2. Aufl. 1892; die Neubearbeitung von Th. Birt, 1913, erreicht das Original nicht). —
Ch. Bally, Traité de stylistique francaise, 2 Bde. Heidelb. 1909.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 287
Aber auf das Ganze gesehen, überwiegt die Technik einer Ver-
gleichung von Wort zu Wort und oft nur von Anklang zu An-
klang“, ganz gleichgültig, wie unbestimmt und entfernt er sein
mag. Sie kann ihren Zweck nicht erreichen, muß vielmehr fast
zwangsläufig zu Fehlergebnissen führen“. Aus mehreren Grün-
den: sie sucht nicht systematisch, sondern überläßt sich dem
33 Die „Allgemeinen Grundsätze der Stilkritik", die Schmeidler 383ff. gibt,
sind geradezu auf ihr aufgebaut; von Syntaktischem ist nicht die Rede. Pivec wendet
sich an verschiedenen Stellen gegen Schmeidlers Methode und erklärt sie für un-
genügend; im Grunde tut er nicht viel anderes, als sie selber ausüben. Eine grofe
Rolle spielt bei ihm das, was er 452ff. die Ableitung der Latinität eines Verfassers
nennt, d. h. die Zurückführung einzelner Worte oder Wendungen auf einen antiken
Autor. Vgl. 428, wo er die Identit&t der Verfasser zweier nach Inhalt, Umfang und
Ton ganz verschiedener Schreiben Heinrichs IV. mit folgendem Argument zu stützen
sucht. In dem einen der beiden Briefe heiBt es: 'tempus est omni rei ... tempus est
irse Domini', in dem anderen: 'iam tempus est finem imponere'. Dazu bemerkt P:
,Die erste Wendung stammt aus der Spruchsammlung Otlohs von St. Emmeram,
c. 19 *tempus est omni rei sub coelo'; die Phrase 'tempus est’ kommt des öfteren
bei Terenz vor, Heaut. 1, 1, 116 'tempus est monere me’, Boöthius, ... auch bei
Vergi), Aen. 5, 638 'iam tempus agi res' und Sallust, Bell. Iug. 66, 3 'sed ubi tempus
fuit ... invitant’. Am wahrscheinlichsten dünkt mir die Ableitung aus Vergil und
Terenz." Derartige Hinweise wiederholen sich auf jeder Seite. Man sieht nicht, was
für einen Zweck sie haben. Ganz abgesehen von der Äußerlichkeit dieses Verfahrens,
das grammatisch verschiedene Konstruktionen miteinander identifiziert, weil sie
einen einzelnen Ausdruck gemeinsam haben, so würde gemeinsame Übereinstimmung
zweier Schriftwerke mit einem antiken Autor für den Stilvergleich hóchstens dann
etwas besagen, wenn es sich um einen wenig gelesenen oder sonst unbekannten han-
delte. Aber solche Fälle zu entscheiden, dazu fehlt es Pivec an der nötigen Voraus-
setzung, der Bekanntschaft mit Überlieferung und Verbreitung der römischen Auto-
ren im Mittelalter. Er glaubt (456), daß Tacitus (neben Ovid und Vergil) auf der
Bamberger Domschule viel gelesen wurde, und führt gelegentlich eine Wendung selbst
auf Ammianus Marcellinus zurück. Dabei ist nicht einmal sicher, ob die Übereinstim-
mung einer Wendung bei einem mittelalterlichen Autor mit der bei einem antiken
unbedingt auf direkte Entlehnung zurückgehen muß. Es ist auch noch eine andere
Erklärung möglich: das mittelalterliche Latein beruht nur zum einen Teil auf der
literarischen Tradition aus der Zeit der Antike, zum anderen, wenn auch vielleicht
kleineren, auf der mündlichen Praxis der Schule, die auch in der vorkarolingischen
Zeit nie ganz unterbrochen gewesen sein kann, wie manche syntaktische und sprach-
liche Gewohnheiten beweisen. Aus dem Schatz von Wendungen, den die Schule
gebrauchte, kann ebensogut wie der mittelalterliche auch schon der antike Autor
geschöpft haben, und vielleicht ist manches, was wir bei Cicero oder Tacitus lesen,
gar nicht „ciceronianisch” oder „taciteisch”.
# Teilergebnisse, wo sie erreicht werden, haben in der gemeinsamen Provenienz
einzelner Schriftstücke (kaiserliche Kanzlei) ihre Wurzel; sie sind mehr erraten als
die Frucht wirklicher Methode.
Zufall; sie sieht nur die Übereinstimmungen, die ihr auf diesem
Wege aufstoDen, nicht auch die Abweichungen; sie berücksich-
tigt endlich den allgemeinen Sprachgebrauch gar nicht oder zu
wenig, und bucht voreilig als individuell, was in Wirklichkeit der
ganzen Zeit geläufig ist. Es ist die Methode, mit welcher F. Kurze
sich an den karolingischen Annalen, Pannenborg an Schriftstel-
lern der Salierzeit versuchte, Manitius zahlreiche Anleihen mit-
telalterlicher Autoren bei antiken nachgewiesen zu haben glaubte;
trotz all dessen, was schon dagegen gesagt und geschrieben
wurde, scheint sie unausrottbar zu sein.
Wenn ich im Gegensatz dazu mich darzulegen bemühe, welcher
Weg eingeschlagen werden muß, so kann es sich nicht um eine
erschópfende Darlegung handeln: sie würde nicht weniger als
eine vollständige Stillehre mit sehr weitreichenden Ausflügen in
das Gebiet der historischen Grammatik wie der Sprachphilo-
sophie erfordern. Ich muß mich damit begnügen, einige Grund-
sätze zu zeigen, und mich selbst hier mit dem Elementarsten und
einer nur ungefähren Linienführung begnügen.
Der Stilvergleich baut sich auf den Lehren der philologi-
schen Interpretation auf. Er will nicht bei dem Schriftwerk
stehen bleiben, das er ins Auge faßt; vielmehr dient es ihm nur
als Ausgangspunkt. Wohin er vorzudringen sucht, ist die Persön-
lichkeit des Verfassers, um festzustellen, ob sie noch an anderer
Stelle tätig war. Deshalb geht er an der einzelnen Spracherschei-
nung vorüber und sucht die Gewohnheiten des Denkens und Emp-
findens auf, wie sie sich im geschriebenen Wort kundgeben; die
Einzelerscheinung, namentlich das letzte Element der Sprache,
das Wort, interessiert ihn nur, soweit sie als Phänomen der gei-
stigen Anlage des Autors gewertet werden kann; sie kommt daher
nur da in Betracht, wo sie als Vertreterin einer Kategorie oder
als Glied eines größeren Ganzen auftritt.
In aller Sprache wirken untrennbar Denken und Empfinden
zusammen. In der geschriebenen überwiegt jenes insofern, als
der Gedanke im Satz formalen Ausdruck gewinnt und damit ein
Gefüge aufrichtet, dem sich auch die emotionalen Elemente ein-
zuordnen gezwungen sehen. Indessen ist Gegenstand der Stil-
analyse und der Stilvergleichung nicht der einzelne Satz, sondern
sie bewegt sich nach oben in der Richtung auf den größeren Ge-
dankenzusammenhang, in dem der einzelne Satz steht, nach
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 289
unten sucht sie Satzteile und schlieBlich Redeteile, und in diesen
wieder Wortkategorien zu erfassen. Der erste und am weitesten
führende Schritt ist der nach oben. Die Art, wie ein Autor seine
Sätze verbindet, ob in Parataxe oder Hypotaxe und in welchen
ihrer Untergattungen, oder ob er sie asyndetisch nebeneinander
stellt und die Verbindung nur innerlich, durch den Sinn merkbar
macht, ist das wichtigste Mittel, das Gepräge seiner Denkgewohn-
heiten und damit den beherrschenden Zug seiner schriftstelle-
rischen Eigenart kennenzulernen. Mit Recht hat daher die klas-
sische Philologie den Rat gegeben, den Blick vor allem auf die
Konjunktionen eines Autors zu richten“. Neben dem Konjunk-
tionalsatz steht der Relativsatz; ob er als echter Relativsatz,
d. h. zur Bezeichnung einer dauernden oder vorübergehenden
Eigenschaft, ob er statt eines Konjunktionalsatzes, oder endlich
ob er zur Umschreibung von Subjekt oder Objekt gebraucht
wird, erlaubt weitere Schlüsse in bezug auf Abgegrenztheit und
Plastik des Denkens. Endlich ist im Lateinischen besondere Auf-
merksamkeit noch den Konstruktionen zuzuwenden, die Neben-
sátze vertreten: dem Participium coniunctum, dem Ablativus
absolutus, dem Akkusativ cum Infinitiv: in der Häufigkeit oder
‚Seltenheit ihrer Anwendung offenbart sich größere oder geringere
Geschlossenheit des Denkens.
Nach systematischer Ordnung wäre nunmehr die Behandlung
der Satzteile erforderlich. Ich ziehe es vor, mich zuerst dem letz-
ten Element der Sprache zuzuwenden, dem Wort. Von den
Wortkategorien sind die wichtigsten Substantivum und Verbum.
Über ihre Unterarten wird noch zu reden sein; hier genügt, daB
sie Dinge und Vorgänge bezeichnen, und damit den sachlichen
Untergrund des Satzes herstellen. Für die Erkenntnis schrift-
Stellerischer Eigenart sind jedoch Adjektiv und Adverb bedeu-
tungsvoller: soweit sie sich nicht auf sachliche Feststellung be-
schränken ('rotundus', hesternus'; ‘illic’, tunc'), bezeichnen sie
Qualitäten, Grade und Werte; durch sie erlangen Relativität
und Subjektivitát Eingang in die Darstellung.
Hier óffnet sich schon der Übergang, um den Stil im engeren
Sinne zu erschließen. Er ist bestimmt durch den Wortschatz, die
Wortbedeutung, endlich die Mittel zur Steigerung des Eindrucks,
der durch das Schriftwerk hervorgerufen werden soll. Mit
Vgl. Boeckh, a. a. O. 108f., 1351.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 19
290 S. Hellmann
dieser letzten Kategorie sehen wir neue Kräfte im Leben der
Sprache hervortreten. Ihre Ursprünge liegen im UnterbewuBt-
sein, dessen naiver Ausdruck ihre anfänglichen Äußerungen sind.
Indem sie in die Sphäre der Bewußtheit und des Willens auf-
steigen, jene ursprünglichen Elemente jedoch nicht verdrängen,
sondern sich in mannigfacher Weise mit ihnen vermischen, ent-
steht eine lange Skala der verschiedensten Ausdrucksmóglich-
keiten vom unreflektierten Gefühlsausbruch über die Gemessen-
heit von Denken und Gefühl bis zum leeren Intellektualismus auf
der einen, zu Sentimentalität und Pose auf der anderen Seite.
Durch die Wahl der Worte und die Bedeutung, in der er sie ge-
braucht, umschreibt der Autor die Welt der Begriffe und An-
schauungen, in denen er lebt. Die Auswahl kann sich einmal auf
die Dynamik der Worte beziehen, d. h. die Enge oder Weite des
Geltungsbereiches, die der einzelnen Wortkategorie gegenüber
anderen zugemessen wird. Hier liegt der Ursprung des Unter-
schiedes von Verbalstil und Nominalstil®!. Den gleichen Vorgang
drückt das Mittellateinische aus durch ‘peccata confiteri’ oder
durch 'peccatorum confessionem facere' ; im ersten Fall liegt der
Sinnesakzent auf dem Verbum, im zweiten auf dem Substantiv,
dort wird der Vorgang sinnlicher, hier gedankenmäßiger erfaßt.
Áhnliches wie zwischen Verbum und Substantiv spielt sich zwi-
schen Substantiv und Adjektiv ab. Wenn Gregor von Tours in
der Vorrede zu seinem Geschichtswerk schreibt 'cum ... feretas
gentium desaeviret, regum furor acueretur..'?? so zieht er die
Eigenschaft aus der Einzel- oder Kollektivpersónlichkeit heraus,
der sie anhaftet, um sie zu einem Allgemeinbegriff zu erheben, der
sich auf die Individuen niederlassen kann: auch hier findet eine
Abstraktivierung und dadurch eine gedankliche Schärfung statt.
Was in den eben geschilderten Vorgàngen sich abspielt, setzt
sich innerhalb der großen Wortklassen fort: es ist weder gleich-
gültig noch ein Zufall, wieviel Spielraum ein Autor den im Mittel-
lateinischen (d. h. bereits der Spátantike) häufigen Verbalsub-
stantiven, z. B. denen auf -io' überläßt. Die Folgerungen, die
31 Er darf nicht etwa mit dem zwischen attributiven und praedikativen Aussage-
sätzen und Satzformen zusammengeworfen werden, den W. Wundt, Völkerpsycho-
logie I. Die Sprache II, 268ff., 317ff. aufstellt. Vgl. C. L. Meader, Types of Sentence
Structure in Latin Prose Writers, Transactions and Proceedings of the American
philological association XXXVI (1905) 37ff. 33 SS. Rer. Mer. I, 31.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 291
daraus gezogen werden müssen, laufen in der gleichen Richtung
wie in den eben erórterten Fällen. .
Das Vordringen des Substantivs auf Kosten anderer Rede-
teile und die Rolle bestimmter Klassen innerhalb des Substantivs
führt an den Unterschied von Konkret und Abstrakt heran. In-
dessen ist derjenige von ursprünglicher und übertragener Be-
deutung für die Erkenntnis des Stiles fast noch ergiebiger: Meta-
pher und Vergleich lassen die Spháre der Anschauung erkennen,
der er sein Material entnimmt®. Die Verkennung des Unter-
schiedes von eigentlicher und übertragener Bedeutung, die selt-
samerweise vorkommt, ist einer der schwersten Verstöße gegen
Stilanalyse und Stilvergleich: sie übersieht, daB nur die Schrift-
zeichen übriggeblieben sind, das Wort aber seinen Sinn ge-
wechselt hat“.
Ich kehre zu der Aufgabe zurück, die ich vorläufig beiseite
schob: zu dem Zwischengebilde zwischen Satz und Einzelwort,
33 Vgl. jedoch die Einschränkung, die Bally I, 190 vornimmt.
* Damit man mir nicht Übertreibung vorwirft, gebe ich Beispiele, und zwar aus
den jüngsten Untersuchungen zur Vita, zunächst aus Pivec 445f. In der Vita
bittet Heinrich IV. seinen Sohn ne patrem omnium offenderet, ne se s put is hominum
exponeret, ne se fabulam mundo faceret’ (S. 30, 24); damit bringt P. eine Stelle aus
einem kurzen Schreiben des Kaisers an Hugo von Cluny in Zusammenhang, in dem er
von seiner Absicht spricht, einen Kreuzzug zu unternehmen: ‘post confirmatam
pacem ire Jerusalem disponimus et videre sanctam terram, in qua Dominus noster
in carne visus est ..., ut ibi expressius eum adoremus, ubi eum alapas, sputa,
flagella, crucem, mortem, sepulturam passum esse pro nobis cognovimus' (d'Achéry,
Spicilegium III®, 443), und weiter stellt er dazu einen Satz aus einem noch öfter anzu-
führenden Schreiben Heinrichs an Philipp von Frankreich (Jaffé, Bibl. rer. germ. V,
241) 'quod de ... apostolica sede ... persecutionis et excommunicationis et omne
perditionis flagellu m in nos emittitur' und aus dem gleichen Brief: ammonens et
obtestans (scil. filium') per deum ..., ut, si pro peccatis meis flagellandus eram
à deo, de me ipse nullam maculam conquireret animae, honori et nomini suo'. Er
nennt das eine „gefühlsbetonte Parallelisierung der Leiden Heinrichs zu denen Jesu“,
und sieht nicht, daß sputum' und flagellum', die als dünne Balken dieses ganze Ge-
bäude tragen müssen, das eine Mal wörtlich, das andere Malin übertragenem d.h. voll-
ständig anderem Sinn verwendet werden. Schmeidler (317f.) verfährt nicht anders.
Die mortales inimici', von denen Heinrich in seinem großen Klagebrief an Hugo von
Cluny (vgl. später) wiederholt spricht, zieht er zu den *mortales’ in Urkunden, z. B.
in quantum maior ceteris mortalibus potestas nobis a Deo largita est und quanto
maiores, potentiores et ditiores inter ceteros mortales Deus noster voluit'. Schmeidler
bemerkt dazu: „allerdings in dem Sinne von sterblich, während es hier in den Briefen
bedeutet: tódliche Feinde. Aber ich glaube nicht, da8 das ein Argument gegen die
Gleichheit des Verfassers ist.“
19*
292 S. Hellmann
dem Satzteil. Das Schema: Subjekt — Prädikat oder Subjekt —
Prádikat — Objekt kann durch Attribute und die mannigfach-
sten Prädikative auf verschiedene Weise erweitert werden, so
sehr, daß seine gerade Linie von Zutaten überwuchert und ver-
deckt wird?5. Die Gegenpole sind hier: Nacktheit und Exuberanz;
zwischen ihnen vermitteln alle nur erdenklichen Móglichkeiten
den Übergang. Die eine wie die andere, und ebenso jede Stufe der
Zwischenskala kann geradezu entgegengesetzte Ursachen haben:
Dürftigkeit von Phantasie und Denken wie absichtliche Zurück-
haltung, gedankenlose Häufung von Nebenbestimmungen oder
überlegte Absicht barocker Formgebung. Die Entscheidung im
Einzelfall wird nur durch den Blick auf das Ganze und das Maß
von Einfühlung in Literarisches erreicht werden, das zu Gebote
steht.
Der Ausbau der Satzteile reicht in das Gebiet dessen hinüber,
was man gehobenen Stil nennt. Einen eigenen Bezirk nehmen
hier besondere Ausdrucksmittel ein, die dem bloßen Schmuck
der Rede dienen. Jede Sprache besitzt ihre Rhetorik; die aus-
gebildetste ist die, welche die Römer von den Griechen über-
nahmen“. Die Mittel der lateinischen Rhetorik sind teils dia-
lektischer Natur, wie etwa die Antithese, teils klanglich-sinn-
licher, wie die Alliteration, teils verbinden sie beide Wirkungen,
wie Anaphora, Epiphora, Symploke. Auch die Isokolie und das
Gesetz der wachsenden Glieder in der Periode gehört hierher.
Für das Ende und die Einschnitte von Perioden hat das Mittel-
alter, antike Vorschriften teils umbildend, teils erweiternd, die
Unterstreichung durch Homoioteleuton und Cursus ausgebildet.
Ein letzter Anhaltspunkt für Stilvergleichung darf nicht
übersehen werden: alle Rede verläuft in der Zeit. Von hier nimmt
das Problem der Wortstellung seinen Ausgang. Ob ein Autor für
3 Als Beispiel wähle ich den Brief Friedrich Barbarossas an Otto von Freising
an der Spitze der Gesta (ed. Simson 1, 7): Cronica, quae tua sapientia digessit vel de-
suetudine inumbrata in luculentam erexit consonantiam, a dilectione tua nobis trans-
missa cum ingenti gaudio suscepimus et post bellicos sudores interdum in his delectari
et per magnifica gesta imperatorum ad virtutes informari praeoptamus.'
** Vgl. R. Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, 2. Aufl., Berl. 1885.
— Ders., Rhetorik der Griechen und Rómer, 3. Aufl., bes. von C. Hammer (im Hand-
buch d. klass. Altertumswissenschaft II, 3), München 1901. — A. Ed. Chaignet, La
Rhétorique et son histoire, Paris 1888. — Über die Bedeutung der Rhetorik für die
Vita vgl. oben S. 280ff.
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Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 293
betonte Worte Kopf- oder Endstellung wáhlt oder sie an ihrer
gewöhnlichen Stelle beläßt, ob er sie durch Chiasmus sperrt oder
durch Parallelstellung den Ton wiederholt auf die gleiche Stelle
fallen 1äßt?”, kann mit anderen Merkmalen zur Erkenntnis seines
Stiles beitragen.
Soweit hier Grundsátze für den Stilvergleich vorgetragen
wurden, faBten sie das einzelne Schriftwerk, den einzelnen Ver-
fasser ins Auge. Neben dem individuellen Sprachgebrauch muß
jedoch auch der allgemeine der Zeit berücksichtigt werden. Von
ihm hebt sich der individuelle ab, aber er speist sich zugleich fort-
dauernd aus ihm. Vernachlässigt der Stilvergleich dieses Ab-
hängigkeitsverhältnis, so erliegt er der Versuchung, die ihm von
Natur innewohnt: vorschnell aus gleichen Spracherscheinungen
| auf den gleichen Verfasser zu schließen. Diese Gefahr ist beim
Mittellateinischen vielleicht größer als bei einer anderen Sprache.
Wenn man von wenigen Einzeluntersuchungen absieht, ist sein
Sprachgebrauch noch unerforscht??, Wir wissen nur, daB das
Mittellatein als Hochsprache sich nicht von unten, vom ge-
sprochenen Wort her, immer wieder zu erneuern vermochte, daß
es deshalb nur über einen verhältnismäßig beschränkten Vorrat
. an Ausdrücken verfügte und mehr dazu neigte, festgeprägte
Wendungen durch die Schule zu vermitteln, als eine lebende
Sprache dies tut. Aus allen diesen Gründen verwischen sich für
den Stilvergleich die Grenzen zwischen individuellem und all-
gemeinem Sprachgebrauch bei mittellateinischen Texten beson-
ders leicht. Nirgends ist die eindringliche Mahnung mehr am
Platz, die Untersuchung auf das Innere des Stils zu richten, auf
die Art der Verbindung von Vorstellung, Begriff, Gedanke, nicht
auf das einzelne Wort oder eine Kombination, in der es auftritt.
Ich wähle noch einmal ein Beispiel aus Gregor von Tours, weil in ihm die
antike Rhetorik noch unmittelbar fortlebt, nicht erst wieder zu neuem Leben erweckt
werden muBte, und nehme die schon vorhin zitierte Stelle, diesmal mit ihrer Fort-
setzung: ‘cum nonnullae res gererentur vel rectae vel improbae, ac feretas gentium
desaeviret, regum furor acueretur, ecclesiae inpugnarentur ab hereticis, a catholicis
tegerentur, ferveret Christi fides in plurimis, tepisceret in nonnullis...' Das Beispiel
ist dadurch besonders lehrreich, daB das erste Gliederpaar Parallelismus, das zweite
Chiasmus, das dritte wieder Parallelismus zeigt.
38 Unerreicht steht noch immer M. Bonnet, Le Latin de Grégoire de Tours (1890)
da; das Wenige, was sonst zu nennem ist, und jene Indices, die einen gewissen Ersatz
bieten, verzeichnet K. Strecker, Einführung in das Mittellatein *, 8f., 11, 15.
294 S. Hellmann
Übereinstimmungen dieser letzten Art trügen meist; an ihnen
erweist sich die Schwäche jener lexikographischen und phraseo-
logischen Methode, von der früher die Rede war. In ihrer Bevor-
zugung oder ausschlieBlichen Anwendung liegt der Grund, da6
die Mehrzahl der stilvergleichenden Arbeiten ihr Ziel nicht er-
reichen konnte. Dieser Umstand rechtfertigt es vielleicht, wenn
ich etwas ausführlicher werde, und für einen Augenblick von
meinem Vorsatz abgehe, auf Kritik zu verzichten.
Ich beginne damit, daß ich ohne weiteren Zusatz einige Über-
einstimmungen hierhersetze, von der Art wie sie Gundlach,
Schmeidler und Pivec zu ihren Schlüssen verwendet haben :
la) '... difficile est credere nisi cui contingit et videre';
b) ‘nulli est credibile, nisi cui contigit haec omnia loca praesen-
tialiter videre'*?, 2a) 'si non benedictionem pro maledic-
tione... hoc tempore reputassem' ; b) rex ab apostolico regres-
sus, benedictione pro maledictione accepta...'*. 3a)'fra-
tres nostri, qui sunt sanioris sententiae...’; b) ‘ex consilio
omnium sanioris sententiae'.
Ich will den Leser nicht länger hinhalten, sondern ihm ver-
raten, woher diese sechs Stellen stammen: 1a) aus der Vita
Heinrici IV.€, b) aus Bruno, De bello Saxonico, c. 123, 2a) aus
einem Brief des Bischofs Theoderich von Verdun von 1070%,
b) wieder aus der Vita Heinrici IV.“, 3a) aus einem Schreiben
des Erzbischofs Siegfried von Mainz (1075)*5, b) aus dem Schrei-
ben Heinrichs IV. an Philipp von Frankreich (1106), von dem
noch oft die Rede sein wird“. Ich bemerke, daß ich diese Über-
einstimmungen fand, nicht bei planmäßigem Suchen, sondern ge-
legentlichem Blättern.
Fälle wie die hier angeführten lassen ersehen, wie sehr die vor-
hin ausgesprochene Mahnung und Warnung angebracht ist. Sie
Vgl. Sall. Cat. 13, 1: quid ea memorem, quae nisi eis qui videre nemini credi-
bilia sunt".
“ Vgl. Gen. 27, 12: inducam super me maledictionem pro benedictione’.
4 10, 12.
42 Ph. Jaffé, Bibl. rer. Germ. V, 131.
€ 17, 17.
4 Jaffé a. a. O. 99.
“ Jaffé 245. — Zu ‘cassa obsidione’ in der Vita (31, 3), habe ich mir notiert, daß
die Wendung auch bei Frutolf-Ekkehard vorkommt, vermag aber die Stelle nicht
wieder aufzufinden und lasse daher dieses Beispiel beiseite.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 295
waren freigewählt. Ich füge noch andere aus den Untersuchungen
von Schmeidler und Pivec an.
Pivec stellt (S. 422) einen Passus aus dem ebengenannten
Schreiben Heinrichs IV. an Philipp von Frankreich — ich nenne
es der Kürze halber fortan P — neben eine andere aus einem
Brief an Hugo von Cluny: ‘primum et praecipuum ... vos excepi,
cui conqueri calamitateset omnes miserias measnecessarium
duxi' und: 'ut apud te saltem miseriarum nostrarum sola-
tium inveniamus, humiliter exposcimus'. „In gedanklicher und
satztechnischer Hinsicht besteht demnach eine weitgehende
Übereinstimmung.‘ Sie ist in ,,satztechnischer'" Hinsicht jeden-
falls nicht vorhanden: Hauptsatz und Relativsatz hier, Haupt-
satz und Finalsatz dort. Was bleibt, ist das gleichmäßige Vor-
kommen von ‘miseriae nostrae’, bzw. ‘meae’. Aber wieder kann
man bei gelegentlichem Bláttern im Codex Udalrici einen Brief
der Erwählten Egilbert von Trier finden (1080), in dem es heißt:
‘inter has multiplices calamitates et miserias, quas patitur
et conqueritur sancto ecclesia’*. Mit der Hendiadys steht Egil-
berts Schreiben P náher als dieses dem Brief an Hugo von Cluny.
An einer anderen Stelle bei Pivec (448) findet man unter dem
Material, das Identität zwischen dem Verfasser der Vita und dem
Schreiber von P feststellen soll, folgende Wendungen: 'ad patrios
pedes advolvi ... pedibus legati advolvitur'*'; ‘genibus vestris
advolvi' €. ‘Pedibus’, ‘genibus advolvi' oder provolvi' sind
konventionelle Wendungen, wie man sie in der Legende und Ge-
schichtschreibung des Mittelalters jeden Augenblick trifft. Ich
wähle als Beispiel einen Bericht, dessen Verfasser Heinrich IV.
feindlich gegenübersteht, also weder mit dem Verfasser der Vita
noch dem eines Schreibers des Kaisers aus seiner letzten, schwer-
Sten Zeit identisch sein kann, die Annales Hildesheimenses:
‘filius patris genibus advolutus’ und ‘eorum pedibus se ad-
volvit'*. Noch ein letztes, sehr belehrendes Beispiel. Der Ver-
fasser von P läßt Heinrich IV. sagen: ‘filium meum ... contra
me animaverunt, sed etiam tanto furore armaverunt, ut' usw.
* Jafféa.a. O. 128. 7 35, 3 und 7. % Jaffó a. a. O. 241.
* S. 54 Z. 2 v. u. und S. 56 Z. 12 der Schulausgabe. — Noch zwei andere Autoren,
gleichfalls Gegner Heinrich IV. für pedibus provolutus': Lampert von Hersfeld
157, 18; 165, 7; 170, 2 (auch dies sind zufállige Funde) und Werner von Magdeburg
(bei Bruno, De bello Saxonico c. 42, Schulausgabe S. 28).
296 S. Hellmann
' Animaverunt/ und armaverunt' bilden die rhetorische Figur der
Paronomasie; dadurch, und daß es eine Steigerung von 'anima-
verunt' darstellt, erhält armaverunt' erst seine Tönung, ganz
abgesehen davon, daB die übertragene Bedeutung, in der es ver-
wendet wird, durch den Hinzutritt der Metonymie 'tanto furore'
noch Verstárkung erfáhrt. Schmeidler wie Pivec übersehen das.
Schmeidler“ bringt als Parallelen dum subditos in praelatos
armasti’ und et fratrem in fratrem armavit’, Pivec9! ‘contra nos
studerent commovere et armare'. Von den beiden Stellen, die
Schmeidler anführt, stammt die eine aus dem dreißig Jahre
zurückliegenden Absetzungsschreiben Heinrichs IV. an Gre-
gor VIL, die zweite aus einem nicht viel jüngeren Brief an die
Römer°®, die von Pivec zitierte aus einem Schreiben des Kaisers
an Paschalis II.9 — ich nenne es A —, das uns später noch be-
scháftigen wird. Es ergibt sich folgende Lage. Schmeidler und
Pivec haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: es ist P, nur
daB jeder auf Grund vermeintlicher stilkritischer Argumente es
einem anderen Verfasser zuschreibt, Schmeidler dem von ihm
postulierten ,, Mainzer Diktator'', Pivec, der an den Mainzer Dik-
tator.nicht glaubt, Erlung von Würzburg. Die beiden Schreiben,
die Schmeidler heranzieht, läßt Pivec beiseite: sie gehören für ihn
jedenfalls nicht dem Verfasser von P. A, das Pivec diesem zu-
schiebt, ist nach Schmeidler zusammen mit den anderen großen
Briefen aus Heinrichs letzter Zeit von einem Dritten verfaßt,
und zwar dem Diktator Ogerius A, während Pivec sie samt und
sonders Erlung zuweist. Als dessen Werk betrachtet er auch die
Vita, wogegen bei Schmeidler wieder der ,, Mainzer Diktator“ auf-
tritt. Ich weiß nicht, ob es nötig ist, noch weitere Beispiele dafür
aufzuführen, wohin Stilvergleichung gelangen kann, wenn sie
sich nicht vor jeder Gleichsetzung fragt, ob es sich wirklich um
individuellen oder nicht vielleicht doch allgemeinen Sprach-
gebrauch handelt, und wenn sie es überhaupt versäumt, nach
vollgültigeren Beweisen als äußerlichen und zufälligen Anklängen
zu fragen.
Die Auseinandersetzung über diesen Gegenstand hat mich
weiter geführt, als ich voraussah. Ich kehre an meinen Ausgangs-
punkt zurück; in aller Kürze bringe ich zum Abschluß, was noch
über die Methode des Stilvergleichs zu sagen ist.
0 S. 320. 81 8. 423. ss Jaffé 500. ss Jaffé 231.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 297
Wenn die Stilvergleichung persónlichen und Zeitstil scheidet,
so ist ihre Aufgabe noch nicht erledigt: sie muB auch auf den
Unterschied der Literaturgattungen Rücksicht nehmen. Sie wer-
den konstituiert durch den Gegenstand, die Absicht des Autors,
das Publikum, für das er sein Elaborat bestimmt: je nach ihren
Verschiedenheiten wechselt Aufbau, Ton des Vortrags, Wahl des
Ausdrucks“. Die mittelalterliche Forschung trägt den Erforder-
nissen, die sich aus dieser Sachlage ergeben, nicht immer ge-
nügend Rechnung. Wenn man Legendenschreiber abkanzelt,
weil sie Dinge berichten, die der Prüfung nicht standhalten, so
beweist man damit vielleicht, daß man hinreichende Übung in
den Grundsätzen der historischen Kritik besitzt, wie sie in Semi-
naren gelehrt werden; nur fragt es sich, ob man berechtigt ist,
sie gegenüber Autoren anzuwenden, die, im stillschweigenden
Einverständnis mit ihren Lesern und Hörern, gar nicht daran zu
denken brauchten, historische Wahrheit zu geben, sondern die
Frömmigkeit erbauen, das ethische Verhalten durch großes Bei-
spiel stärken, das ästhetische Bedürfnis durch stilvolle Darstel-
lung befriedigen und schließlich selbst dem Verlangen nach Ab-
wechselung durch gelegentliche novellistische und selbst humo-
ristische Züge Genüge leisten wollten. Um den Grundsatz, daß
die Unterschiede der Literaturgattungen zu berücksichtigen sind,
auf den Gegenstand dieser Untersuchung anzuwenden, so werden
wir noch sehen, daß sich Schwierigkeiten ergeben, wenn Ge-
schichtschreibung und Brief stilistisch miteinander verglichen
werden sollen.
Der generische Unterschied von Historiographie und Epi-
stolographie macht es notwendig, noch auf eine letzte Vorsichts-
maßregel hinzuweisen, die eine Untersuchung wie gerade die
unsere befolgen muß. Sie wird gefordert durch die Umstände,
unter denen die eine dieser beiden Gattungen entsteht, der Brief.
So wenig Gemeinsames Brief und Urkunde geistlicher und
weltlicher Gewalthaber im Mittelalter sonst haben®®, stimmen sie
„ Das kann beim gleichen Autor der Fall sein, wenn er sich in verschiedenen
Gattungen betätigt; vgl. Birt a. a. O. 63f. über Catull, den „zweisprachigen Dichter“.
Der Brief bewegt sich in literarischen Formen und ist (mindestens in der
Antike und im Mittelalter) ein Genus der Literatur. Wenn man ihn der Urkunden-
lehre zuweist, do ist das nicht anders, als wollte man die Behandlung von Bismarcks
Gesandtschaftsberichten aus Sankt-Petersburg in die gleiche Hand legen und nach
298 S. Hellmann
doch darin überein, daB sie aus einer Organisation hervorgehen,
der Kanzlei. Das bedeutet einmal die Entwicklung einer sprach-
lichen Tradition, die mit feststehenden Wendungen in den Wort-
laut der einzelnen Stücke eindringt; dann, daß der Verfasser des
Briefes, von seltenen Ausnahmen abgesehen, sich nicht der glei-
chen Unabhängigkeit erfreut, wie der eines Literaturwerkes**,
Der Kanzleiherr wird ein gewichtiges Wort zu sprechen haben
und, wenn die Verhältnisse entwickelter sind, der Leiter der
Kanzlei oder der Vorstand einer Abteilung. Auch kollegiales Zu-
sammenwirken mit gleichgestellten oder untergeordneten Orga-
nen ist móglich, sei es auf Befehl, sei es aus eigenem Antrieb.
Diese Mitwirkung fremder Hände erschwert die Feststellung des
individuellen Stiles und macht das Ergebnis unsicher. Zwei
Briefe der gleichen Kanzlei kónnen weitgehende sprachliche
Übereinstimmung zeigen und brauchen doch nicht vom gleichen
Verfasser zu stammen ; umgekehrt kann hinter einem sprachlich
geschlossenen Schriftstück eine Mehrheit von Personen stehen.
Wir werden im Laufe dieser Untersuchung noch sehen, wie stark
mit solchen Móglichkeiten zu rechnen ist.
III. Für die Frage, ob der Verfasser der Vita in der kaiser-
lichen Kanzlei zu suchen ist, kommen entscheidend sechs große
Schreiben aus der letzten Zeit Heinrichs IV. in Frage; andere,
nach Inhalt und Umfang weniger bedeutend, kónnen ohne Nach-
teil beiseite gelassen werden; wohl aber ist es nótig, die Erlung-
Hypothese auch an den zwei schon erwáhnten Briefen unter des
Bischofs Namen nachzuprüfen.
Drei dieser Schriftstücke sind nur im Codex Udalrici und da-
neben in isolierter handschriftlicher Überlieferung erhalten, und
von diesen dreien findet sich eines auch in der zeitgenóssischen
Literatur9?". Zwei andere, die Jaffé unter die Epistolae Bamber-
derselben Methode durchführen, wie etwa die eines modernen Notariatsinstruments
oder der Konzession für einen Kraftwagenverkehr. Auch sie sind „aus einer Kanzlei"
hervorgegangen. Die Hypertrophie einer Hilfsdisziplin, die aus einem Mittel zum
Selbstzweck geworden ist, wird gegenüber der Geschichte der Epistolographie die
gleiche Wirkung haben, wie gegenüber der Pal&ographie, die in Deutschland durch
sie zum Verkümmern verurteilt ist.
s Es ist ein Fehler von Schmeidler wie Pivec, daß sie die Verfasser der Briefe,
mit denen sie zu tun haben, viel zu sehr als selbständige Politiker behandeln, die nach
eigenem Ermessen Inhalt und Text ihrer Schreiben bestimmen.
7 Bei Siegbert von Gembloux, MG. SS. VI, 369.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 299
genses aufgenommen hat (im Anhang zu seiner Ausgabe des
Codex Udalrici), sind uns gleichfalls handschriftlich aufbewahrt,
eines der beiden daneben auch noch auf literarischem Weges’.
Das sechste Schreiben allein nimmt insofern eine Sonderstellung
ein, als es der handschriftlichen Beglaubigung entbehrt und uns
nur durch die zweite Ausgabe von d’Achery’s Spicilegium erhal-
ten blieb. Ich verzeichne zunächst die sechs großen Briefe Hein-
richs mit ihrem Druckort (bei d'Achéry bzw. in Jaffé's Bibliotheca
rerum Germanicarum V) und setze die Siglen bei, unter denen
ich sie im folgenden zitiere.
1. An Hugo von Cluny, bald nach der Flucht aus der Haft
des Sohnes geschrieben, d'Achéry, Spicilegium, Nova editio,
III (1723), 441ff. — €**. 2. An Paschalis II., 1105, Jaffé n. 120,
S. 230 ff. — A. 3. An König Philipp von Frankreich; Zeit der
Abfassung etwa wie bei 1, Jaffé n. 129, S. 241ff. — P. 4. An
Heinrich V., ebenso wie die beiden folgenden aus den letzten
Wochen des Kaisers, Jaffé n. 134, S. 250 ff.; MG. Const. I, 228
n. 77 nach Jaffé — H. 5. An die Sachsen“, Jaffé, Epp. Bamber-
genses n. 12, S. 505 f.; MG. Const. I, 130 n. 178 nach Jaffé's Aus-
gabe — 8. 6. An die Fürsten, Jaffé n. 13, S. 506ff.; MG. Const.
I, 131 n. 179 nach Jaffé's Ausgabe — F.
In der kleinen Gruppe dieser Schreiben nehmen zwei, C und
P, eine Sonderstellung ein. Schon äußerlich: jedes von ihnen
übertrifft die anderen kürzeren Schreiben um ein Mehrfaches an
Umfang. Dann aber durch ihre Übereinstimmung im Inhalt.
Beide Male wendet sich Heinrich an eine auBerhalb des Reiches
stehende Persönlichkeit, um sie für sich zu gewinnen, wenn auch
der Zweck, zu dessen Verwirklichung sie ihm beistehen soll, hier
ein anderer ist als dort. Beider Schreiben Hauptteil bildet die
Schilderung seiner Katastrophe, von dem Augenblick an, wo er
^ Bei Frutolf, MG. SS. VI, 236.
% Der Druck, aus einer z. T. lückenhaften Hs. geflossen, ist mangelhaft. Es ist
zu lesen: 441 B unten: *os meum et caro nostra’ (Gen. 29, 14); 442 A: 'omni genere
contumeliae et terroris’; provoluti' statt praevoluti'; 442 B: ‘Deo utique pro-
mittimus’; conquerimur'; letzte Zeile: ‘omnino verum non esse’. Für 'domestica
manus' (441 B) finde ich keine Erklärung. — Neben dem großen Schreiben an Hugo:
steht bei d'Achéry 442 f. noch ein zweites, kürzeres. Es wird gelegentlich herangezogen
werden, im ganzen aber kann es unberücksichtigt bleiben.
œ So in der Inscriptio der St. Emmeramer Handschrift, aus der Jaffé schöpfte;
bei Frutolf, MG. SS. VI, 236, ist das Schreiben an die Fürsten des Reichs gerichtet.
300 S. Hellmann
sich nach seinem Rückzug an den Rhein in Verhandlungen mit
seinem Sohne einläßt. Beide Male endlich Dualismus des Inhalts:
emphatische Bitte und historische Erzählung, und beide Male
dringt das emotionelle Element aus jener auch in diese ein. Der
Inhalt macht C und P also in seltener Weise geeignet zu einem
Vergleich auf die Identität des Verfassers hin. Ein äußerlicher
Umstand erleichtert ihn noch: nimmt man sich die Mühe zu
messen, so findet man, daB die beiden Briefe bis auf zwei oder
drei Zeilen gleichlang sind.
Die Übereinstimmung setzt sich im Aufbau fort: hier wie
dort ein erster, stark rhetorisch gefárbter Teil mit dem Versuch,
den Empfánger günstig zu stimmen; daran anschlieBend, kurz
und nur in groBen Umrissen gezeichnet, die Empórung des Soh-
nes bis zur Flucht des Vaters an den Rhein; nun als Hauptteil,
in P zwei Drittel, in C etwas über die Hälfte des Ganzen ein-
nehmend, die Erzáhlung von Gefangennahme, Absetzung und
Flucht; endlich, wiederum kurz, ein SchluBteil, erneut an den
Empfänger sich wendend und deutlich die Absicht aussprechend,
für die er gewonnen werden soll.
Die Reihe der Übereinstimmungen ist damit noch nicht zu
Ende. An einigen Stellen finden sich wörtliche Anklänge. In-
dessen wird es richtiger sein, sie spáter zu behandeln und zu-
nächst zu fragen, worin sich die beiden Schreiben unterscheiden.
Am besten ist es, vom SchluBteil auszugehen. In P ruft Heinrich,
an Philipp sich wendend, das Solidaritätsgefühl der abendländi-
schen Herrscher an gegenüber dem Verrat und der Schmach, die
man ihm angetan hat; in C bittet er den Erzabt von Cluny um
Vermittelung beim Papste und stellt, vorbehaltlich der Ehre des
Reiches, alles in sein Ermessen: man sieht, daß P aus kriege-
rischer, C aus einer dem Ausgleich geneigten Stimmung hervor-
gegangen ist und die beiden Schreiben auf verschiedener Ein-
schátzung der Lage und ihrer Aussichten beruhen. Wenden wir
uns zum ersten Teil. P füllt ihn mit leidenschaftlichen Anklagen
gegen den pápstlichen Stuhl, als sein Werk erscheint die Em-
pórung Heinrichs V.; dagegen beweint in C der Kaiser sein Un-
glück und seine Sünde, wie das Leid, das der Sohn über ihn ge-
bracht hat: vom Papst ist nicht die Rede. Die Unterschiede
setzen sich fort, wenn wir in das Innere der Briefe eindringen.
Im Vordergrunde alles gegen den Kaiser gerichteten Geschehens.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 301
steht in P der Sohn und der päpstliche Legat ; die Falschheit des
einen wird gebrandmarkt, der andere verschleiert und doch deut-
lich als die treibende Kraft des SchluBaktes bezeichnet: die
kurzen, harten Antworten, die er dem Kaiser auf seine Bitten
und Fragen erteilt, fahren dem Leser schneidend ins Herz*!. In
C ist der Legat fast verschwunden, nur seine Anwesenheit bei der
Abdankungsszene wird erwähnt; auch der Sohn steht nicht mehr
ganz so stark im Vordergrunde. Dafür treten Unbekannte und
Ungenannte hervor; die Abdankung ist besonders ihr Werk“.
In P betont der Kaiser durch die ganze Erzáhlung hindurch die
Todesgefahr, in der er geschwebt haben will; in C erscheint sie,
sobald er die Reichsinsignien ausgeliefert hat, nur noch einmal®;
desto öfter ist von seiner Befreiung die Rede, von der in P über-
haupt nicht gesprochen wird“.
Wenn ich die inhaltlichen Abweichungen von C und P hier
breiter auseinandersetzte, als es auf den ersten Blick vielleicht
nötig erschien, so geschah es, um spätere Ausführungen nicht zu
belasten, wenn das Verhältnis beider zu den vier kleineren Brie-
fen untersucht wird. Davon ganz unabhängig erhebt sich jetzt
die Frage, was diese Unterschiede für die Frage der Verfasser-
schaft von P und C bedeuten.
Zunächst: Nichts. Sie können trotz dieser Verschiedenheiten
noch immer aus der gleichen Feder geflossen sein. Denn — was
die bisherigen Untersuchungen nicht genügend beachten — eben
hier tritt eine der früher aufgestellten Vorsichtsmaßregeln in
Kraft, die dureh die Entstehungsbedingungen fürstlicher Briefe
notwendig gemacht waren: wir haben nicht literarische Werke
1 A. a. O. 245f.
*3 Vgl. 442: Contra omnem voluntatem nostram captivos nos duxerunt ...;
Eduxerunt nos de horribili carcere ... Ingilheim ...; Ubi multa inconvenientia ...
sunt nobis ab inimicis nostris obiecta...; Illi pro imperio renuerunt; ... Tunc pro-
voluti ad pedes eorum coepimus suppliciter implorare ...; ... ut secundum eorum
voluntatem redderemus imperii coronam :.. Postquam a nobis omnia pro voluntate
et imperio extorserunt ... in eodem loco nos sine honore reliquerunt.' Heinrich V.
ist aus der Erzählung verschwunden. Vgl. auch das wiederholte mandatum est nobis',
‘responsum est nobis’.
6 442 B oben.
“ Ein kleinerer, aber nicht bedeutungsloser Unterschied: daß Heinrich die
Weihnachtstage in Haft, ohne Priester zubringen muß, bildet in P einen der Höhe-
punkte, in C wird die Tatsache, daß es gerade die Festtage waren, nicht erwähnt.
302 S. Hellmann
freier Herkunft, sondern Schriftstücke einer Kanzlei vor uns, die
an Instruktion und Information eines Auftraggebers gebunden
sind. Heinrich IV. aber hat von C zu P oder von P zu C seine An-
sichten und Absichten gewechselt. Das mußte sich in den beiden
Schreiben widerspiegeln; noch immer jedoch konnten sie von
dem gleichen Beamten geschrieben sein. Trotzdem: P und C
rühren von verschiedenen Verfassern her, und zwar sehr un-
gleichen Persónlichkeiten. Den Beweis hat die Stilvergleichung zu
erbringen. Daß sie dabei den Sprachgebrauch der beiden Briefe
in ihrem Gesamtumfang darstellt, ist nicht nötig; es genügt,
wenn sie eine Anzahl besonders charakteristischer Erscheinungen
hervorhebt.
Ich beginne mit dem Elementaren, dem Wortschatz. P hat
168, C 165 Substantiva; die entsprechenden Zahlen sind für das
Adjektiv 50 und 49, für das Verbum 164 und 140, für das Adverb
60 und 70. C ist also reicher an Adverbien als P, sonst stehen sich
beide ziemlich gleich. Das Bild ándert sich, wenn wir bei den
Adverbien die starren Formen und die nach Bedarf von Adjek-
tiven und Partizipien gebildeten scheiden, bei jeder Wort-Kate-
gorie die Zahl der P und C gemeinsamen Wörter angeben und auf
Grund dieser Gemeinschaftsziffer eine Skala herstellen. Dann er-
gibt sich (P ist stets vor C gestellt) folgende Reihe: Substantiva
168 — 165:71; Verba 164 — 140:49; starre Adverbien 46 — 59
:22; Adjektiva 50 — 49:10; abgeleitete Adverbia 15 — 11:0.
Diese Aufstellung will keine Zahlenspielerei sein, sondern einen
ersten, allerdings vielleicht schon entscheidenden sprachlichen
Unterschied hervorheben. Sie ergibt, daß P und C gemeinsam
sind etwa drei Siebentel aller Substantiva, etwa ein Drittel der
Verba, von starren Adverbien die Hälfte derjenigen in P, nicht
mehr ganz ein Drittel der von C verwendeten, schließlich ein
Fünftel der Adjektiva, während es überhaupt keine Überein-
stimmung in den abgeleiteten Adverbien gibt. Am geringsten ist
also der Abstand in den Bezeichnungen für Dinge und Tätig-
keiten (oder Zustánde), am gróBten bei den Adjektiven und frei-
gebildeten Adverbien. Gerade diese beiden Kategorien aber sind
es®® die Abtónung und Wertung in die Rede bringen, und mit
ihnen das subjektive Element. Prüfen wir noch besonders das
Zahlenverhältnis beim Adverb, so finden wir das bestätigt. Die
Vgl. oben S. 289.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 303
einzige der untersuchten Wortkategorien, in der C einen größeren
Reichtum aufweist als P, ist das starre Adverb, während bei dem
freigebildeten das Verhältnis sich umkehrt: C bindet sich stärker
an die Tradition, während P sich freier bewegt. Wir werden das
auch sonst bestätigt finden; aber schon jetzt ist zu sehen, daß P
und C nicht vom gleichen Verfasser herrühren können“.
Ich wende mich vom Wortschatz zum selbstándigen Satz,
und zwar in seiner einfachen Gestalt wie als Periode. Man kann
nicht sagen, daB er in der einen oder anderen Form von P oder C
bevorzugt würde: die Zahlen hüben wie drüben scheinen un-
gefähr gleich zu sein. Fassen wir aber den im eigentlichen Sinne
historischen Teil ins Auge, so sehen wir doch wieder einen Unter-
schied, in dem sich abermals die stárkere Eigenart von P spiegelt.
GroBe Perioden baut er da, wo Heinrich IV. leidenschaftlich sein
Gefühl sprechen läßt, oder Erregung den äußeren Hergang
durchzittert: bei dem Wiedersehen mit dem Sohne in Koblenz,
bei der Schilderung der Weihnachtstage mit ihren Beschimpfun-
gen und Bedrohungen und ohne den Trost des Sakramentes, bei
der Abdankungsszene von Ingelheim, deren Schilderung großen-
teils in zwei geschlossene Gefüge zusammengedrängt wird. Sonst,
wo es sich um äußeres Geschehen handelt, bevorzugt er kürzere
Zusammenhänge, oft ganz einfache Sätze, die er dann schnell
aufeinander folgen läßt. Das geschieht auch bei C, aber doch ist
ein Unterschied. Ich setze zwei Beispiele.
P (S. 243): 'et fllius meus aliquantulum praecesserat me; cum
ecce quidam fideles mei occurentes mihi verissime affirmabant
me deceptum et proditum sub falsa pacis et fidei sponsione. Re-
vocatus autem filius meus et iterum instantissime a me ammoni-
tus, sub eiusdem fidei et sacramenti obtestatione, animam suam
pro anima mea fore, promisit iam secunda vice. — C (442 A):
* Nur anhangsweise sei hier das Verhültnis der Abstrakta bei P und C gestreift.
Verbalsubstantiva auf '-io' hat P 25, C 21, gemeinsam sind 5; für die Substantiva auf
in ist das Verhältnis 21, 15 und 7, für die auf '-tas' (nativitas Christi’ und den Typus
pietas tua' in der Anrede abgerechnet) 7, 7 und 4. Zusammen 53, 43 und 16 (Sub-
stantiva auf '-us', edo- und '-udo' sind so selten, daß sie unberücksichtigt bleiben
können). Der gemeinsame Besitz ist also klein; er erreicht weder die Hälfte der
kleineren noch ein Drittel der gróBeren Zahl. Ausnahmslos handelt es sich dabei um
Worte, die dem allgemeinen Sprachgebrauch angehören, z. B. ‘confessio’, ‘consolatio’,
‘persecutio’, ‘reconciliatio’, ‘tribulatio’: ihre Anwendung entspringt der Situation, in
der die Briefe geschrieben sind.
304 S. Hellmann
'cum autem essemus in media via, nuntiatum est nobis quod
traderemus. Hoc cum ipse sciret nobis relatum esse, coepit iurare
et detestari nullo modo esse verum, recipiens nos iterum sub
praefata fide'. Oder: P (244): 'ex omnibus meis quartus ego sum
inclusus; nec admitti potuit quilibet alius. Custodes deputati,
qui vitae meae erant atrociores inimici? — C (442 A): contra
omnem voluntatem nostram captivos nos duxerunt, ibique re-
trusi in arctissima custodia traditi sumus mortalibus nostris ini-
micis, exclusis omnibus nostris praeter tres laicos..." Man sieht:
ob C knapper wird oder auseinanderzieht und verbindet, P wirkt
jedesmal anschaulicher und lebendiger: er versteht besser, die
Szene in einzelne Vorgánge zu zerlegen und so an uns vorüber-
ziehen zu lassen.
Die Beobachtung der äußeren Form des Satzes vermittelte
einen Einblick in Technik und Charakter der historischen Er-
zählung bei P. Einen Augenblick folgt die Untersuchung dem
Wege, der sich hier óffnet, um erst spáter wieder sich den Fragen
der Satzform zuzuwenden.
P erreicht die größere Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit sei-
ner Erzáhlung zum Teil durch die Art, wie er unter den Aktions-
arten des Verbums wählt. Im Gegensatz zu C, das durch Passiv-
konstruktionen einen farblosen, neutralen Ton in die Erzáhlung
bringt, gibt er dem Geschehen durch Verwendung des Aktivums
einen unmittelbaren, persönlichen Charakter: ‘cum autem esse-
mus in media via, nuntiatum est nobis privatim quod tradere-
mur (C 442 A); ‘quidam fideles mei occurrentes mihi verissime
affirmabant me deceptum et proditum sub falsa pacis et fidei
sponsione’ (P 243). — ‘afflicti sumus fame et sit?’ (C a. a. O.); ut
taceam ... famem ... et sitim, quam perferebam' (P 244). —
‘Interea mandatum est nobis, quod liberationis nostrae nullum
esset consilium’ usw. (C a.a. O.); in illis poenitentiae et tribula-
tionis meae diebus a fllio meo missus venit ad me quidam princi-
pum Wipertus, dicens: nullum vitae meae esse consilium" usw.
(P. 244)". Zum Sprachgebrauch der Zeit gehórt der Ersatz des
Verbum finitum durch seinen eigenen Infinitiv mit finiter Form
eines anderen Verbums, also die Anwendung des Hilfszeitwortes,
7 Vgl. auch die vielen ‘mandatum est nobis', ‘responsum est nobis’ der Erzäh-
lung von der Gefangennahme Heinrichs und in der Abdankungsszene bei C (242 A
und B), gegenüber der aktivisch gehaltenen Darstellung in P.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 305
wo die Antike nur das einfache zuließ. Wir finden hier bei P, was
uns noch öfter begegnen wird: die größere Selbständigkeit gegen-
über der Schule, im Gegensatz zu C. Achtmal verwendet C allein
‘posse’, das bei P ganz fehlt, und der Gesamtzahl von 21 Fällen,
in denen C dieses oder ein anderes Auxiliare verwendet, steht nur
die Hälfte bei P gegenüber**. Wiederum tritt C hinter P zurück:
P erfaßt die Vorgänge sicherer und bestimmter; was er erzählt,
tritt dadurch in festerer Form und schärferem Umriß vor die
Augen des Lesers. P kennt noch ein anderes Mittel die Erzáhlung
zu beleben: er beschleunigt ihr Tempo und verschárft die Gegen-
sätze des Geschehens. Die Kontinuität des Lateinischen über die
Grenze zwischen Antike und Mittelalter hinweg, gewissermaßen
unter der Regeneration in der karolingischen Periode hindurch
zeigt sich, außer in anderem Erscheinungen, auch in dem Bedürf-
nis, die Perioden möglichst nicht unvermittelt nebeneinander zu
stellen, sondern, unter Wahrung ihrer Selbständigkeit, doch
irgendwie miteinander zu verbinden. Diesem Zweck dienen“ vor-
nehmlich einmal Konjunktionen, dann deiktische Elemente, wie
das Demonstrativpronomen, demonstrative Adverbien der Zeit
oder des Ortes und die relativische Anknüpfung, endlich Adver-
bien, die nicht deiktischen Charakter besitzen; auch Kombina-
tionen dieser Elemente finden statt. Die Partikeln sind dabei
großenteils in ihrer Bedeutung abgeschwächt und deuten nur
noch an, daß die Darstellung sich von der Stelle bewegt: sed',
‘sed et’, autem', ‘enim’, ‘igitur’, ‘vero’, ‘ergo’ haben kaum mehr
eine andere Funktion als ‘aber’ oder ‘also’ im Deutschen in er-
zählender Populärprosa, etwa dem Grimmschen Märchen. Unter-
suchen wir P und C darauf, wie sie sich zu diesem Stilmittel ver-
halten, dann finden wir, daB P acht, C vierzehn derartige ent-
leerte Verbindungswörter verwendet; die deiktische Verbindung
durch Demonstrativpronomina oder Adverbien findet dort sech-
zehn-, hier zehnmal statt”®. Der wichtigste Unterschied aber ist,
daß in P ‘Et’ sechsmal an der Spitze der Periode erscheint“, ‘at’,
“ S. 243 schreibt P: iam fraus ipsa se detegere videbatur’. — 'Videri' ist hier
nicht, wie sonst so häufig, Hilfszeitwort, sondern muß in seinem ursprünglichen Sinn
genommen werden: „man sah, wie der Trug sich selbst entlarvte“.
* Vgl. J. Nye, Sentence connection illustrated chiefly from Livy (ThesisYale1912).
** Die relativische Anknüpfung kommt gleich oft vor (sechsmal).
71 Vgl. 246: 'quo nuntio tunc satis vitae meae diffisus sum. Et ilico aufugiens,
fugiendo veni Coloniam. Et ibi aliquot diebus commoratus, postea Leodium veni’.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 20
306 S. Hellmann
das einzige Adversativum, das seinen schneidenden Charakter
nicht eingebüßt hat, in vier Fällen, während für C die entspre-
chenden Zahlen 1 und 2 sind. Es ergibt sich: P stellt Gegensátze
schárfer gegeneinander, bei C verblassen sie; mit 'Et' beschleu-
nigt P die Erzählung, die Vorgänge drängen sich, die deiktischen
Elemente weisen mit dem Finger auf das, was der Leser eben
gehórt hat, lenken noch einmal seine Aufmerksamkeit darauf
und lassen es fortwirken: die Erzáhlung hat ein rascheres Tempo
und sinnlichere Fárbung gegenüber ihrem ruhigeren Fortgang
bei C: auch diesmal erweist sich P als der Überlegene.
Lassen wir einen Augenblick die Fragen des Erzáhlungsstiles
ruhen und wenden wir uns zu syntaktischen Erscheinungen ; die
Ergebnisse werden uns ohnehin bald wieder zu dem gleichen
Punkt zurückführen. »
Ich setze zunächst wieder einige Textstellen aus P. S. 242:
‘In hac igitur persecutionis et odii sui inflammatione, cum parum
viderent se proficere, contra ipsum ius naturae laborantes' (folgt
eine zweigliedrige Paranthese) fllium meum ... non solum con-
tra me animaverunt, sed etiam tanto furore armaverunt, ut? usw.
— 8. 242: In hac tanta mali sui machinatione, cum essem in
pace et in aliqua salutis meae securitate, in ipsius dominici ad-
ventus sanctissimis diebus in locum, qui Confluentia dicitur, ad
colloquium evocavit me; quasi de communi salute et honore
fllius tractaturus cum patre'. — S. 244: 'Tunc, communicato con-
silio cum inimicis meis, egrediens fllius meus, relictis ibidem fide-
libus et amicis nostris, quasi me eo adducturus, sub multa fre-
quentia et custodia armatorum suorum eductum ad villam, quae
Ingelheim vocatur, me fecit ad se adduci Überall zeigt sich hier
Übereinstimmung im Aufbau der Periode. Prádikativbestim-
mungen verschiedener Form und verschiedenen Inhalts, tempo-
rale, modale, kausale kurze Nebensätze, das Participium con-
iunctum, der Ablativus absolutus eröffnen sie, füllen einen großen
Teil ihres Raumes und drángen das regierende Verbum weit nach
rückwärts. Die präpositionalen und partizipialen Konstruktionen
erhalten gróDere Selbstàndigkeit, ihr Nebensatzcharakter tritt
stárker hervor. Ein scheinbar ungeordnetes Ganzes entsteht, die
einzelnen Periodenteile lósen einander nicht in logischer, selbst
nicht ganz in chronologischer Folge ab, der Leser hat einen
Augenblick lang das Gefühl, daß sie nicht nur in grammatischem
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 307
Sinn parataktisch nebeneinander stehen, sondern überhaupt ohne
rechten Zusammenhang von innen. Er täuscht sich; das schein-
bare Chaos entspringt einem bestimmten Stilgefühl: die Dinge
spielen sich nicht flächenhaft ab wie auf einem Fries, sondern hin-
ter-, neben- und übereinander wie auf dem mannigfach gestaffel-
ten Tiefenraum der Bühne. Auch damit erweist sich P wieder als
die kraftvollere, eigenartigere Persónlichkeit. Denn blicken wir
zu C hinüber, so finden wir dort wohl Verwandtes, weil es im
Zuge der Sprachtradition liegt, aber doch eben nur Verwandtes,
nicht das Gleiche. C stellt, mit dem Sprachgebrauch der Zeit
übereinstimmend, das regierende Verbum weiter nach vorne, und
verzichtet damit auf die spannende Wirkung, die P durch die
Häufung jener Nebenbestimmungen erzielt, von denen jede eine
neue Vorstellung erweckt, aber nach ihrer Ergánzung verlangt
und nach vorwärts drängt, bis der Anschluß an das Prádikats-
verbum erreicht ist. C setzt auch jenes Konglomerat von hypo-
taktischen Bestimmungen anders zusammen, gleichmäßiger.
Während P in auffallender Weise vom Sprachgebrauch der Zeit
abgeht, indem er den Ablativus absolutus fast meidet, wendet C
ihn reichlich an“, gelegentlich unter Ergänzung durch einen an-
deren Ablativ oder eine Präpositionalkonstruktion.
P erwies sich in diesen letzten Beispielen nicht nur als der
stärkere Erzáhlungskünstler, sondern auch als der geübtere Syn-
taktiker. In dieser Eigenschaft zeigen ihn zwei weitere Vergleiche,
mit denen die lange Reihe der Gegenüberstellungen abgeschlossen
sei. Der prádikative Gebrauch von Nominalformen findet sich
in P 25 mal gegenüber 14 mal bei C?*; zugunsten des strafferen
Accusativ cum Infinitiv meidet P den Deklarativsatz mit Kon-
junktion fast ganz; er verwendet ihn nur zweimal, wáhrend er
sich bei C immerhin an sechs Stellen findet.
Von der Vergleichung des Wortschatzes angefangen über
Einzelheiten der Syntax weg bis zu den Feinheiten bei der Wahl
der Ausdrucksmittel und bis in den Stil der Erzählung hinein
ergab sich immer wieder das gleiche Bild der Überlegenheit,
7? Das Verhältnis ist 3 — 16. — Der reine Ablativ ist überhaupt bei P selten;
fast immer wird er mit einer Präposition gesetzt. — P eigen ist der Typus: in hac
igitur persecutionis et odii sui inflammatione', ‘in hac tanta mali sui machinatione'
(242 u. ö.) an der Spitze eines Satzkomplexes. C bat ihn nicht.
73 Das Prädikatsnomen (8 gegen 6) ist nicht mit eingerechnet.
20*
308 S. Hellmann
durch die P von C sich abhebt. Nicht etwa, daB C ein Durch-
schnittsschreiber wáre?*; er beherrscht die Sprache, wie die ein-
gerückten Stellen das sehen lassen, und was wir spáter von ihm
kennen lernen werden, verrát Kraft und Vielseitigkeit; er ist
jeder Aufgabe gewachsen. Aber diese Linie überschreitet er auch
nicht; Schule und Tradition halten ihn stark in ihrem Bann, sie
setzen seiner Unmittelbarkeit Grenzen. P dagegen ist eine un-
gewöhnliche Erscheinung: selbständig, eigenwillig, unabhängig der
Schule gegenüber, dabei ein Herr der Sprache: den ganzen Reich-
tum seiner Ausdrucksmittel, die Fülle der Vorstellungen, die in ihm
aufsteigen, unterwirft er kraftvoll dem beherrschenden Gedanken.
Er ist voller Anschauung; die Erzählung weiß er zu beflügeln und
gleichzeitig dramatisch zu gestalten, und mischt in sie den weicheren
Ton der Klage wie die Leidenschaft des Zornes und der Entrüstung.
Sein Klagebrief ist ein Meisterwerk; wir begreifen, daß noch Jahr-
zehnte später der Abt Hermann von Tournai darüber urteilte:
quam si quis legerit et non fleverit, videtur mihi duri esse cordis’”®.
Ehe ich weiter gehe und mich den vier anderen Schreiben des
Kaisers zuwende, muß erst noch das historische Verhältnis zwi-
schen den beiden großen Klagebriefen geklärt werden. Vielleicht
ergeben sich dabei Erkenntnisse, die über den nächsten Zweck
dieser Untersuchung hinausführen.
Die Chronologie von P und C und was sich daraus ergibt, ist
bisher noch nicht Gegenstand ernster Untersuchung gewesen.
Stenzel stellte P vor C, aber nur in einer flüchtig hingeworfenen
Bemerkung, ohne nähere Begründung“, Floto kehrte die Reihen-
folge um, wieder, ohne sich weiter zu äußern“, Druffel, Giese-
brecht, Meyer von Knonau folgten ihm?5; für Schmeidler?? und
Pivec stand die Folge C—P von vornherein fest und sie haben
nicht weiter daran gerüttelt®®.
** Am wenigsten darf man mit Schmeidler 317 von dem „umständlichen und
treuherzigen Stil" des Ogerius A sprechen (dem er diesen Brief zuweist).
” MG. SS. XIV, 314f.; vgl. G. Meyer von Knonau, Jahrbücher des deutschen
Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., V, 292 n. 24.
7 Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern I, 603; II, 176.
77 Kaiser Heinrich IV. und sein Zeitalter II 409, 413.
18 A. v. Druffel, Kaiser Heinrich IV. und seine Söhne 89ff.; Giesebrecht KZ IIIS,
1199; G. Meyer v. Knonau, a. a. O. V, 262 n. 62. 73 Kehrfestschrift 243.
% Soviel ich sehe, spricht sich Pivec nicht darüber aus, aus seiner Darstellung
geht aber hervor, daB er C für álter hàlt.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 300
Vorhin sprach ich davon, daB beide Briefe verschiedene
Zwecke verfolgen: der eine sucht einen Bundesgenossen, der
andere einen Vermittler zu gewinnen, jeder rückt die Tatsachen
entsprechend zurecht und läßt Personen hellbeleuchtet an die
Rampe treten oder schiebt sie in das Dunkel des Hintergrundes
zurück. Hier müssen sich Anhaltspunkte für die chronologische
Fixierung der Briefe gewinnen lassen. Gehen wir von der heute gel-
tenden Anschauung aus und fragen wir, wie sich nach ihr die Dinge
abgespielt haben müssen, soweit sie aus den beiden Schreiben
erkennbar sind. Unmittelbar nach seiner Flucht richtet Hein-
rich IV. ein Vermittlungsgesuch an den Abt von Cluny, wobei
die Kurie geschont wird, der Legat und sein Verhalten bei der Ab-
dankungsszene in bemerkenswertem Maße zurücktritt. Der
nächste Schritt des Kaisers ist ein Schreiben an den König von
Frankreich, in welchem er an das Solidaritátsgefühl der abend-
ländischen Herrscher appelliert; das ihm selbst angetane Unrecht
wird als ihre gemeinsame Angelegenheit hingestellt, die Kurie als
die Anstifterin alles Unheils bezeichnet, ihr Legat als der Inspi-
rator und Führer des Abdankungsreichstages. Das Dritte, was
geschieht, ist, daB Heinrich sich wieder an den Abt von Cluny
wendet, diesmal in einem kurzen Schreiben?!, und unter Hinweis
auf sein erstes noch einmal um Vermittelung beim Papste bittet.
Die weiteren Briefe, an den Sohn, an die Sachsen, an die Fürsten
schlagen nicht nur die gleiche Richtung ein, sondern gehen noch
weiter: jedesmal wird am Schluß mit der Appellation an die
Kurie gedroht. Man sieht sofort: stellt man P zwischen C und die
andern Schreiben hinein, so bringt man einen Widerspruch in
Heinrichs Aktion. Begann er damit, sich um Vermittelung beim
Papste zu bemühen, so gefáhrdete er seine eigene Absicht, wenn
er kurz nachher in einem Schreiben, das wohl nicht ohne sein
Zutun weite Verbreitung erlangte®?, die Kurie heftig angriff und
Bundesgenossen gegen sie warb. Dann wieder mit ihr anknüpfen
und gegen das Verhalten seines Sohnes wie der Fürsten Verwah-
rung bei ihr einlegen, d. h. auch sie um Hilfe anrufen wollen,
wäre bei der damaligen Kräfteverteilung wohl ein vergebliches
Beginnen gewesen. Es bleibt nichts übrig, als die jetzt anerkannte
Reihenfolge der Briefe zu ándern und P an die Spitze zu stellen:
*1 Es ist das oben S. 299, Anm. 59 erwähnte.
Vgl. Meyer von Knonau a. a. O. 292 n. 24, und weiter unten.
310 S. Hellmann
als im Kaiser der Wille zur Abwehr gegen den Sohn wieder er-
wachte und er versuchte, die niederlothringischen Fürsten gegen
ihn zu einigen, warb er um Beistand bei Kónig Philipp; als spáter
Heinrich V. gegen ihn heranzog und seine Lage schwieriger zu
werden begann, änderte er seine Taktik: er versuchte, den ge-
fáhrlichsten Gegner aus dem feindlichen Lager abzuziehen und
bat Hugo von Cluny um seine guten Dienste bei Paschalis II.
Wenn aber P vor C gesetzt werden muß, so entsteht ein neues
Problem. Beide sind nicht lange nacheinander im Auftrage des
Kaisers geschrieben, beide Kundgebungen in dem groDen End-
kampf um seine Herrscherstellung. Unwillkürlich erhebt sich die
Frage, ob der Verfasser von C vielleicht P gekannt und benutzt hat.
Die Gleichheit des Aufbaus allein ermóglicht noch keine
Sichere Antwort: sie kann auf Instruktion durch den gemein-
samen Auftraggeber zurückgehen. Vielleicht wird eine Entschei-
dung durch Beobachtungen an den Texten selbst herbeigeführt.
P, S. 243. 'Et filius ad me:
pater, inquit, vobis seceden-
dum est in vicinum castellum
.. . Ego interim, quanto instan-
tius,quanto fidelius potero,
pro nobis utrisque laborabo.'
S. 244 A filio meo missus
venit ad me quidam principum
Wipertus, dicens: nullum vi-
tae meae esse consilium,
nisi sine ulla contradictione
omnia regni insignia red-
derem ex voluntate et imperio
principum.’
S. 246. ‘Sic spoliatum et
desolatum — nam et castella
et patrimonia, et quicquid in
regno conquisieram, eadem vi
et arte sua extorserunt a
me — in eadem villa reli-
querunt me.
C, S. 441 A. 'Illuc nos ipse
duceret omni certitudine secu-
ritatis, et cum principibus,
quanto fidelius posset,
de honore nostro sollicite trac-
taret.'
S. 442 A. Mandatum est
nobis, quod liberationis
nostrae nullum esset
consilium, nisi extemplo da-
retur et crux et lancea cete-
raque regalia insignia.’
442 B. Postquam a nobis
omnia pro voluntate et imperio
extorserunt, abeuntes Mo-
guntiam
in eodem loco nos sine
honore reliquerunt.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 311.
S. 248. 'me in praesenti Commisisnus nos animae
nativitate se perducturum Mo- | tuae
guntiam, ... et inde in pace et
securitate me reducendum pro-
misit in ea veritate et fide, | sub ea fide,
qua patrem a filio honorari et qua Deus voluit fi-
filium a patre praecipit | lium diligere patrem.’
Deus diligi'.
In zwei zeitlich wenig auseinanderliegenden Schriftstücken
der gleichen Kanzlei viermal am gleichen Ort der Erzählung
gleicher Gedankengang, kürzer, aber teilweise mit dem gleichen
Worte wiedergegeben: es ist nicht gut anders denkbar, als daß
der Verfasser des einen Briefes den des anderen vor Augen gehabt
und benutzt hat“. Ein Ergebnis, das uns später noch einmal be-
schäftigen und uns zunutze kommen wird.
IV. Die Neuordnung des chronologischen Verhältnisses zwi-
schen P und C hat zur Folge, daß C in größere zeitliche Nähe von
H S F gelangt, wie es sich anderseits von A etwas entfernt.
Damit wird eine Doppelfrage gestellt: kann, trotzdem in Gestalt
von P ein fremdes Element sich einschiebt, noch eine einheitliche
Reihe AC H S F angenommen werden, und wenn, wie ist jenes
Dazwischentreten zu erklären? Ich wende mich zunächst dem
ersten dieser beiden Probleme zu.
Wie bei den bisherigen Untersuchungen müssen wir uns auch
hier über die Hindernisse im klaren sein, die einem Stilvergleich
entgegenstehen. Um mit dem Äußeren zu beginnen, so erschwert
die Kürze von AH S F schon an sich einen Vergleich: HSF
zusammen erreichen noch nicht den Umfang von C, und auch
wenn man A hinzunimmt, übertreffen sie es nur wenig. Ferner
bestehen zwischen C und den anderen Schreiben auch beträcht-
liche Verschiedenheiten des Inhalts: dort tritt Heinrich als Bit-
tender auf, hier verschmäht er zwar auch die Bitte nicht, läßt
sogar durch Einschüchterungsversuche seine Schwáche und das
Bestreben, sie zu verhüllen, erkennen, sucht aber trotzdem die
Fiktion der kóniglichen Macht und die Stellung des Befehlenden
beizubehalten. Der náchste, letzte Unterschied ist fast ein solcher
*! Pivec 423 hat die starken wörtlichen Übereinstimmungen gesehen, aber in
seiner Weise benutzt, d.h. als Beweise für die Identität von P und C angeführt.
312 S. Hellmann
der Literaturgattung: C arbeitet mit der Erzählung der Schick-
sale des Kaisers, dem historischen Element, das gut die Hälfte
des ganzen Schreibens füllt, während es für AH S F lange nicht
die gleiche Bedeutung hat und gar nicht oder nur flüchtig berührt
wird. Es ist unvermeidlich, daß Sprache, Ton, der ganze Cha-
rakter der Gruppe A H S F und von C diese Verschiedenheiten
widerspiegelt und die Untersuchung erschwert.
Um das Ergebnis der folgenden Untersuchung vorwegzu-
nehmen: eine sichere, vollkommen eindeutige Lósung ist nicht
móglich.
Zunächst fallen bei einer Vergleichung Sätze und Satzstücke
auf, die sich von A weg durch C hindurch in die Gruppe H SF
hineinziehen. Ich beginne, indem ich vor allem die Worte neben-
einanderstelle, in denen C und A von dem Beginn der Erhebung
Heinrichs V. sprechen.
C (d'Achéry 441 B)
‘Scire te credimus
quanta affectione et intima
cordis dilectione ... eundem
filium nostrum exaltavimus
usque ad regni solium ...
Verum his omnibus posthabi-
tis et oblivioni traditis con-
silio perfidorum et per-
iuratorum mortaliumque ini-
micorum nostrorum ita a nobis
Separatus est ut' usw.
A (Jaffé 231).
"Nunc quoque filius noster,
quem adeo affectuose di-
leximus, ut eum usque ad
solium regni nostri exalta-
remus, eodem veneno infec-
tus, consilio quorundam per-
fidissimorum et periura-
torum sibi adhaerentium in-
surgit in nos; postpositis omni-
bus sacramentis, post-
habita omni fide et iustitia.’
Ich führe noch eine stereotype Wendung an, die in À zuerst
auftritt, C überspringt, aber in der spáteren Gruppe wieder-
kehrt; A, S. 231: ('expectantes ... si in beneplacito Dei sit, nos)
caritative et amicabiliter posse convenire (et ecclesiam
suam ... in statum redire unitatis pristinae"); 232: '(volumus
cognoscere, si est tibi voluntati) te nobis caritative et amica-
biliter et nos uniri tibi'. — H, S. 251 ('promisisti nos ducere
Mogontiam coram principibus). Hac fiducia cum tecum cari-
tative et indubitanter ascenderemus...' — S, S. 505 ‘quia
cum consilio et rogatu filii nostri ... fiducialiter et deside-
ranter Mogontiam ... tenderemus'. In diesen Wendungen
handelt es sich stets um das Gleiche, das auch mit gleichen Mit-
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 313
teln ausgedrückt wird: die Gesinnung, die Heinrich dem Gedan-
ken des Friedens entgegenbringt und die er auch auf der Gegen-
seite wünscht, durch eine adverbiale Scheinhendiadys, zu der
teilweise die gleichen Worte verwendet werden, die Absicht durch
ein Verbum, das die Versóhnung selbst bezeichnet oder die Be-
wegung zu dem Orte und der Versammlung hin, auf der sie statt-
finden soll,
Von dem der Gruppe Gemeinsamen wende ich mich zu den
einzelnen Briefen, und zwar zunáchst zu H. Es nimmt insofern
eine zentrale Stellung ein, als es am ausführlichsten unter den vier
kleineren Schreiben auf Heinrichs V. Verrat eingeht, dies zu
einem groBen Teil mit den gleichen Worten tut wie C, in einigen
Wendungen aber auch S F vorwegnimmt.
H. 25
"Tu enim ipse scis ... qua- S, 505: 'cum consilio et ro-
liter, data fide et securitate | gatu fllii nostri, fide et secu-
personae et honoris nostri.. | ritate vitae et honoris ab eo
primum accepta’; vgl. C, 441 B:
juravit vitam et salutem per-
sonae nostrae’.
C, 442 A: ‘...Moguntiam.
promisisti nos ducere Mogun- | Illuc nos ipse duceret ... et
tiam coram principibus etinde | inde nos peracto negotio vel
nos securissime reducere, | infecto, ad locum quem vel-
quocunque vellemus ...' | lemussecurissime reduce-
fet ...
% Zu 'ascenderemus' der letzten Stelle vgl. C, 441B: cum ipse ... disposuisset
colloquium apud Moguntiam, congregatis fidelibus nostris coepimus illuc ascendere'.
Zum Verständnis von 'ascendere': Heinrich IV. befindet sich in Köln. — Mit einiger
Zurückhaltung setze ich 'religiosi viri' hierher: A, 231: tempore religiosorum
virorum, Romanorum pontificum’; 232: ‘consilio et suggestione principum nostrorum,
religiosorum virorum nos diligentium.' — Zweites Schreiben an Hugo von Cluny,
d'Achéry 442 B: 'nos ... de causa, quae est inter nos et papam, consilio religiosorum
virorum voluimus pleniter agere ... ponimus nos in consilio vestro patris nostri
aliorumque religiosorum virorum'. — H, 252: ‘consilio principum et spiritualis patris
nostri Hugonis Cluniacensis abbatis aliorumque religiosorum virorum'. — S, 506:
'pro consilio vestro et aliorum, qui nos odio non habent, religiosorum virorum'.
Eine besondere Bemerkung verdient nur nos diligentium’ in A; in S kehrt es als
Litotes wieder.
314
‘Contra datam fidem
apud Bingam nos cepisti.
Ubi nec paternae lacrimae nec
patris maeror et tristitia, qua
ad pedes tuos aliorumque
provolvebamur,
te movit ad
misericordiam, quin nos cape-
res et captum mortalibus
inimicis ad illudendum et
custodiendum traderes;
‘ubi,omnigenerecontume-
liae et terroris afflicti,
compulsi sumus ferme venire
usque ad ipsum articulum
mortis...'
"Verum non satis mirari
possumus, qua ratione vel oc-
casione hoc tam obstinate fa-
cis; cum de domno papa et de
Romana ecclesia tibi nulla re-
sidua sit occasio.
"Nunc enim nuntio domni
papae et Romanae ecclesiae,
te praesente, oboedire pa-
rati fuimus et sumus;
omnem debitam oboedien-
tiam et reverentiam ei
praesentialiter et semper
exhibere; et consilio prin-
cipum et spiritualis pa-
tris nostri Hugonis Clu-
niacensisabbatis aliorum-
S. Hellmann
S, 505: non est veritus nos
contra datam fidem ca-
pere’.
C, 442 A: ‘Cum igitur pro-
volveremur ad pedes tam
suos quam aliorum...’
‘Contra omnem voluntatem
captivos nos duxerunt ibique
retrusi in arctissima custodia
traditi sumus mortalibus
inimicis nostris...
‘Ubi etiam afflicti sumus
fame et siti et omni genere
contumeliae et terroris,
usque ad ipsum articulum
mortis.'
S, 505 (Fortsetzung der
vorhin angeführten Stelle): et
usqueadarticulum mortis
ferme ducere’.
S, 506: 'instanter moncatis
fllium vostrum, cum nulla ei
secundum praefatam senten-
tiam adversum nos residua
sit occasio...'
S, 506: 'Sicut domino
papae in praesentia legati
sui et vestra oboedire parati
fuimus, ita et nunc parati
sumus ei omnem debitam
reverentiam et oboedien-
tiam sincero corde et devo-
tione praesentialiter exhi-
bereet —tam consilio vestro
quam spiritualis patris no-
stri Hugonis Cloniacensis
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei
que religiosorum virorum
et de statu ecclesiae et ho-
nore regni libentissime agere.
H, S. 252.
'Rogamus te...,
ut de iniuria, no-
bis illata et de his,
quae nobis vi et
iniuste abstulisti,
iustitiam facias.
Nec non etiam
rogamus,
ut e e 0 9
nos et fideles
nostros cesses
infestare, immo
permittas nos
pacifice et quie-
te vivere,
315
abbatis aliorumque reli-
giosorum virorum — de
Statu ecclesiae et honore
regni, quantum in nobis est,
disponere.
S, S. 505.
" Quapropter
multum vos roga-
mus et obnixe pre-
camur: ut pro ti-
more Dei et ho-
nore regni, et ho-
nestate vestra di-
gnemini studere,
quomodo de in-
iuria in manibus
vestris nobis illa-
ta per vos possimus
recuperare iusti-
tiam.’
|
F, S. 507.
‘ Quapropter,
sicut prius rogavi-
mus, ita et nunc ite-
rum precamur et
obnixe rogamus:
quatinus pro Deo
et anima vestra ...
et pro honore
regni dignemini
apud filium no-
strum efficere, ut
dimisso exercitu
cesset vos perse-
qui; et ordinetur,
quomodo secure et
absque omni ambi-
guitate ^ possimus
nos cum ceteris sup-
ra dictis ad agen-
dum de iniuria
nostra et pace in
regno componenda
quiete et paci-
fice convenire’...
‘Rogamus vos et
obnixe precamur
quatinus pro Deo
et honore regni
et vestro instanter
moneatis filium no-
strum, amodo
desistat nos et fi-
316 S. Hellmann
deles nostros
persequi; et paci-
fice et quiete vi-
utintegreetcum vere permittat,
tranquillitate ut supra dicta
possimus omnia integre et cum
supradicta per- tranquillitate
agere?5, perficiantur.'
Darf aus diesen Parallelen auf einen gemeinsamen Verfasser
geschlossen werden ? Wären die Briefe im Namen verschiedener
Aussteller geschrieben, so fiele die Entscheidung nicht schwer,
auBer man setzte den unwahrscheinlichen Fall einer privaten
Schreibstube mit noch so primitiver Organisation, die für sie alle
arbeitete. Hier aber ist die Schreibstube, die kaiserliche Kanzlei,
nicht das Hypothetische, sondern das Gegebene und der Aus-
gangspunkt, der uns zwingt, mit einer Mehrheit von Verfassern
zu rechnen. Allerdings kommen zu den angeführten Überein-
stimmungen weitere hinzu: die 'gratuita misericordia' Gottes in C
(442 B) und H (252). 'absque ambiguitate’ in A (232) und F (507),
von denen aber namentlich die zweite Formel die Frage nahelegt,
ob sie nicht dem Sprachschatz der Zeit entstammt; weniger ist
vielleicht ein Zweifel am Platze bei einer auffallenden Verwen-
dung von ‘pro’: illi pro imperio renuerunt’, postquam a nobis
omnia pro voluntate extorserunt’ in C (442 A, 442 B), und ‘ut
iniuriis et contumeliis nos pro voluntate sua sicut prius valeat
tractare’ in S (505), wo immer nur die iniqua voluntas ins Auge
gefaßt wird**. Doch ist das zu wenig für eine sichere Entschei-
dung, denn es fehlt auch nicht an Abweichungen, wenngleich sie
nicht ausreichen, ein entschiedenes Nein zu sprechen®”. Auch ein
*5 Auf manches, wie ‘rogamus et obnixe precamur’, das zum Sprachschatz der
Zeit gehórt, oder auf die formelhaften Wendungen, mit denen in allen drei Briefen
von der Appellation an den Papst gesprochen wird, lege ich kein Gewicht, ebenso-
wenig auf den Zusatz zur Inscriptio dignantibus eam recipere' in S F.
** Daneben hat C(442 B) fast an der gleichen Stelle ‘secundum eorum voluntatem’.
8? C, 441 B: ‘ut vellet iam cessare ab inhumana patris persecutione'; dagegen
verbinden H und F ‘cessare’ immer mit dem Infinitiv: 251, 252, 507, 508. In dem
ersten, an die Geneigtheit des Empfüngers appellierenden Teil arbeitet C mit Genitiv-
konstruktionen; in A sind sie durch die Hendiadys oder das attributive Adjektiv
ersetzt. Aber die Stellen sind zu kurz, und in Inhalt und Ton zu verschieden, um
einen Vergleich zuzulassen.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 317
Vergleich zwischen der Art. wie der Verfasser von C A und wie er
spáter P benutzt hat, hilft nicht viel weiter: es ist beide Male auf
ziemlich gleiche Weise geschehen. Dazu kommt noch die Schwierig-
keit, wenn nicht Unmóglichkeit, die Frage auf Grund einer Ver-
gleichung des Wortschatzes oder der Syntax zu klären. Nicht nur
Inhalt und Zweck der fünf Schreiben ist verschieden, wie schon
wiederholt gesagt wurde, sondern gerade die wórtlichen Entleh-
nungen verkleinern den ohnedies schon knappen Raum, der für eine
solche Untersuchung zur Verfügung stánde. Und nicht nur das, er
wird noch weiter eingeengt durch weiBe Stellen, wenigstens in
dreien der Briefe, zu denen sich keine Parallele findet: in À ist es
eine höfisch gefärbte Captatio benevolentiae, in der Form einer Art
Notatio gehalten89, in S eine klagende Anrede an Gott, die Got-
tesmutter, den Apostelfürsten und die Empfänger“, in F eine
Beschwerde über den Bescheid der Fürsten, der in Aussicht stellt,
daß sie ‘sub specie colloquii' an der Spitze eines Heeres erscheinen
werden, und dem Kaiser eine Frist von acht Tagen gibt”. Um
die Schwierigkeiten zu steigern, läßt die Zusammenstellung der
Parallelen erkennen, daB die Übereinstimmung zwischen S und F
größer ist als zwischen diesen beiden und A C H, und wieder, daß
F sich noch weiter von ihnen entfernt als S. Der einzige Ausweg
aus diesem Dilemma scheint zu sein: die Wahrscheinlichkeit
spricht dafür, daß man einen Beamten, dem man die Abfassung
eines so bedeutsamen und an die Sprachkunst so große Anforde-
rung stellenden Schreibens wie das an den Erzabt von Cluny
übertrug, auch mit der Herstellung anderer, ebenso wichtiger
Briefe betraut haben wird. Nur bleibt es eben bloße Wahrschein-
lichkeit, und man muß sofort einschränkend hinzufügen, daß
hier einer der Fälle vorliegt, wo vielleicht mehrere Hände an dem
gleichen Schriftstück tätig waren, ohne daß wir ihren Anteil zu
scheiden vermöchten.
Nunmehr kann an die Erörterung der zweiten Frage heran-
getreten werden: wie es zu erklären ist, daß in eine Reihe von
Schreiben der kaiserlichen Kanzlei, die mindestens Einfluß der
. ‘Praeterea, quia audivimus: te, hominem discretum, Deum timentem, caritati
insudantem, sanguinem humanum non sitire, rapinis et incendiis non gaudere, uni-
tatem ecclesiae super omnia diligere ...' (232).
** S. 505.
** 8. 507.
318 S. Hellmann
gleichen Hand zeigen, vielleicht sogar auf sie zurückzuführen
Sind, ein fremdes Element sich einschieben konnte.
Den ersten Fingerzeig gibt eine stilistische Eigentümlichkeit
von P: es ist in Reimprosa geschrieben, wenn auch mit einigen
Unterbrechungen?!. Sie ist der kaiserlichen Kanzlei in dieser
Zeit zwar nicht fremd9*: aber soviel ich sehen kann, findet sie
sich nur in Urkunden, nicht in Briefen, jedenfalls nicht denen
der letzten Zeit Heinrichs IV. Dieser Befund läßt den Zweifel zu,
ob der Verfasser von P überhaupt der Kanzlei angehört hat. Der
dreimalige Gebrauch der Formel ‘fides et sacramentum’ für
Lehenseid, die sich in der kaiserlichen Kanzlei nicht findet, ver-
stärkt diesen Zweifel®. Wenn aber P, wie es scheint, nicht in der
Kanzlei zu suchen ist, wo dann? Wieder sind es sprachliche
Beobachtungen, die, wie mir von berufenster Seite versichert
wird, wenigstens eine Vermutung zulassen, wenn auch nicht
mehr* Der Ausdruck 'regnum et omnia regalia exfestucare'
(245) ist ungewóhnlich; 'exfestucare' gehórt dem Gebiet des
salischen Rechtes an®; im Französischen ist daraus 'effestuer',
‘effestuquer’ geworden. S. 246 schreibt P: ‘cum ... ex eodem
consilio fraudis suae filius meus demandasset, ut ibidem eum ex-
pectarem’. Auch ‘demandare’ ist ein ungewöhnliches Wort. Die
kaiserliche Kanzlei kennt es nicht. Wenn sie ersucht, schreibt sie
‘rogare’, ‘orare’, ‘precari’, wo sie befehlen will ‘mandare’. Wenn
P ihr hier nicht folgte, so hatte das seinen Grund: ‘demandare’
entspricht dem franzósischen demander, das gleichfalls eine mit
1 Vgl. 241: ‘clarissime’ — 'fidelissime'; ‘excepi’ — ‘duxi’ — 'advolvi' — im-
perii’; ‘arbitramur’ — ‘oriebatur’ — ‘emittitur’; ‘saevitiae’ — 'indiscretae' ; ‘me’ —
‘me’; ‘sedi’ — ‘mihi’.
n H. BreBlau, Handbuch der Urkundenlehre II“, 374.
ss S. 242 ‘contra fidem et sacramentum, quod ut miles domino iuraverat' ; dann
noch 243 und 244. In keinem der anderen kaiserlichen Schreiben, die sich mit dem
Abfall Heinrichs V. beschäftigen, kommt die Wendung vor.
% Es ist die freundliche Hilfe Walter von Wartburgs, die es mir ermöglicht,
die folgenden Ausführungen zu machen.
% Rechts des Rheines tritt es nur selten auf (zwei Beispiele s. XII med. bei
Ducange s. v. festuca'). Vgl. auch Ysengrimus, hrsg. von E. Voigt, im Glossar. —
"Exfestucatio' ist ein t. t. der rechtsgeschichtlichen Forschung für „Auflassung
geworden; man darf sich dadurch nicht verleiten lassen, das Wort in außerfränkischen
Rechtsdenkmälern zu suchen.
** W. v. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch, Lief. 21, 485.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 319
Nachdruck erfüllte Bitte bedeutet und ihm offenbar geläufig
war”.
Wenn diese Stellen es wenigstens nicht unmöglich erscheinen
lassen, daß die Muttersprache des Verfassers von P das Franzö-
sische war, so kann man weiter schließen, daB wir vielleicht einen
Lütticher Kleriker in ihm zu suchen haben. Die Zeitumstände
würden diese Annahme begünstigen. Schon als Heinrich IV. im
Herbst 1105 vor seinem Sohn den Rückzug an den Rhein antrat,
muß der weitverbreitete Abfall auch seine Kanzlei ergriffen
haben. Als er am 24. November und 3. Dezember in Köln urkun-
dete, rekognoszierte ein sonst nicht genannter Kanzler Theoderi-
cus, dem Namen nach vielleicht ein Lothringer®. Wie sich dann
weiter das Schicksal der Kanzlei gestaltete, ob der Kaiser auf
seiner Fahrt rheinaufwärts, die dann zu seiner Einkerkerung
führte, sie mit sich führte oder in Köln zurückließ, wissen wir
nicht. Anzunehmen ist, daß er wenigstens einen oder mehrere
ihrer Angehörigen mitnahm. Aber seine Haft durften sie nicht
teilen: die drei mit ihm Eingeschlossenen waren Laien“. Auf die
Kunde von seiner Gefangensetzung und Abdankung wird die
Kanzlei zunächst auseinandergefallen sein. Ob ihre Beamten
gleich nach seiner Flucht den Weg zu ihm zurückfanden, wissen
wir wieder nicht. Aber denkbar ist sehr wohl, daß Heinrich zu-
nächst auf fremde Hilfskräfte angewiesen war, und daß erst
nachher wieder ein Mann sich bei ihm einfand, der schon das
Jahr vorher für ihn tätig gewesen war und fortan als Helfer und
literarischer Berater ihm die wenigen Monate bis zu seinem Tode
noch zur Seite stand.
*? Vgl. W. v. Wartburg, a. a. O. Lieferung 11, S. 36. — Noch einige Stellen, die
aus dem Sprachgebrauch der Zeit herauszufallen scheinen, verlocken dazu, sie auf
französischen Einfluß zurückzuführen: vor allem 'habeo deplorare' (has omnes
miserias meas 246), ex omnibus meis quartus ego’ (244), schließlich *pensare Deum'
(241); aber der Infinitiv mit „haben“ ist im Deutschen alt, dem „moi quatrième“
entspricht das deutsche „selbviert“; endlich , penser Dieu“ wiegt schwerer als
„penser à Dieu“, ist aber — ich werde wieder von W. von Wartburg belehrt —
zwar im Italienischen und Provenzalischen, jedoch nicht im Altfranzósischen belegt.
os Meyer von Knonau a. a. O. 251 n. 61. — Der Name scheint bei den ober-
deutschen Stämmen in dieser Zeit verhältnismäßig selten zu sein; häufig ist er bei
Lothringern und Sachsen; vgl. E. Fórstemann, Altdeutsches Namenbuch 1“, 1445ff.,
dazu die Indices von Giesebrecht KZ, Wattenbach GQ, den Jahrbüchern.
” C, 442 A.
320 S. Hellmann .
V. Ich wende mich an den Ausgangspunkt der Untersuchung
zurück. Nachdem sie den Ursprung der sechs groBen Briefe ge-
klärt hat, soweit das gehen wollte, muß sie der Frage näher-
treten, ob sie V (wie ich der Kürze halber fortan die Vita be-
zeichne) mit ihnen iR Zusammenhang bringen darf. Die Antwort
kann nur durch den Stilvergleich gegeben werden. Man kónnte
einwenden, daß er sich erübrigt ; denn gerade die charakteristisch-
sten Merkmale von V, Antithese, Isokolie, Anwendung der
Colores rhetorici in dem Ausmaß der Vita, fehlen den Briefen,
und mit einer Ausnahme ist das auch mit dem Homoioteleuton
der Fall. Indessen will ich der folgenden Untersuchung nicht vor-
greifen und gehe zunáchst zum Vergleich mit P und C über.
Auf den ersten Anblick scheint diese Aufgabe groBe Schwie-
rigkeiten zu bergen: es ist miBlich, Vertreter so verschiedener
Literaturgattungen, wie Brief und panegyrische Historie, mit-
einander zu vergleichen. Bei näherem Zusehen verringern sie sich
jedoch. Die Vita bietet einen Ansatzpunkt, und zwar in jenem
Teil, wo sie die Katastrophe Heinrichs IV. behandelt; hier be-
rührt sie sich inhaltlich mit den beiden Briefen und erlaubt, eine
Gegenüberstellung mit Aussicht auf Erfolg zu wagen.
In V füllt die Darstellung des Kampfes zwischen Vater und
Sohn beträchtlichen Raum, etwa ein Sechstel der ganzen Schrift.
Die Erzählung weicht von derjenigen der beiden Briefe in ver-
schiedenen, nicht unwesentlichen Einzelheiten ab. Am greifbar-
sten in der Gewichts- und Raumverteilung, wie es dem anders
gearteten Zweck der Biographie entspricht: bei PC liegt das
ganze Gewicht auf der Schilderung der Ereignisse von der Zu-
sammenkunft zwischen Vater und Sohn in Koblenz bis zur Ab-
dankung in Ingelheim und der Flucht des Kaisers, während der
Anfang der Erhebung als Einleitung zusammengedrängt wird.
Dagegen wird er in V nicht mehr der Schilderung der Kata-
strophe untergeordnet, sondern ihr gleichgestellt und erhält sogar
etwas mehr Raum zugebilligt. Auch in der Darstellung erscheinen
Abweichungen, zunächst in der Stilisierung der Ereignisse. Bei
der Schilderung des ersten Wiedersehens auf der Zusammenkunft
in Koblenz läßt V nicht wie P und C Heinrich IV. einen Fußfall
vor dem Sohn tun, sondern benutzt Stücke aus den Patriarchen-
erzáhlungen der Genesis, um eine Versóhnungsszene auszumalen,
100 Vgl. S. 300.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 321
ebenso wie sie bald darauf alle stilistischen Mittel zu Hilfe ruft,
um ein sentimentales Bild von der letzten Nacht zu entwerfen,
die Vater und Sohn vor dem Verrat zusammen verbringen!?!,
Unterschiede von P C zeigt V auch im Tatsáchlichen. Sie sind
oft angemerkt worden. Der auffallendste ist vielleicht, daß die
groBe Rede Heinrichs auf dem Abdankungsreichstag ganz ande-
ren Charakter trägt als in P und C, die in diesem Punkt auch
ihrerseits nicht übereinstimmen.
Diese Abweichungen, so bedeutend sie teilweise sind, würden
an sich noch keinen Grund bilden, die Abfassung von V durch P
oder C für ausgeschlossen zu erklären. Der mittelalterliche Histo-
riker, der zuerst und vor allem Historiker der eigenen Zeit und
somit Publizist war, ging mit anderen Absichten an seinen
Gegenstand heran als der heutige, war auch bereit, dem ásthe-
tischen Bedürfnis größeren Einfluß auf die Darstellung zuzu-
gestehen, als sich mit unseren Begriffen von Tatsachenhaftigkeit
vertrágt: für die Annahme, daB V und P, V und C, oder V und
P C vom gleichen Verfasser herrühren kónnte, bleibt also noch
Raum, und ebenso für den Gedanken, daß es nur noch der Ver-
gleichung des Sprachstils bedürfe, um diese Vermutung zur Ge-
wißheit zu erheben. Auffallend ist nur, daß man da, wo diese
Vergleichung unternommen wurde, einen bedeutsamen metho-
dischen Gesichtspunkt außer acht lieB und zu fragen vergaß, ob
die sprachlichen Übereinstimmungen, dieman gefunden zu haben
glaubte, nicht vielleicht auf Benutzung der Briefe durch V zurück-
geführt werden muBten!9?,
P ist als Propagandaschrift offenbar sofort verbreitet worden.
Heinrich V. klagt darüber!®; Siegbert von Gembloux hat den
Brief in seine Darstellung eingeschoben, später erwähnt ihn der
Abt Hermann von Tournai!, und wir selbst besitzen ihn, außer
durch den Codex Udalrici noch in zwei etwa gleichzeitigen Hand-
schriften, einer aus Sankt Emmeram in Regensburg, die mit
101 33,19ff. Daß Heinrich IV. die Weihnachtstage in Haft verbringen mußte,
wird überhaupt nicht hervorgehoben. Über die verschiedenartige Stellung, die P und
C zu dieser Tatsache einnehmen, vgl. oben S. 301 Anm. 64.
108 In einem früheren Aufsatz „Heinrichs IV. Absetzung 1105/6 kirchenrechtlich
und quellenkritisch untersucht", Zeitschr. der Savigny-Stiftung XLIII, Kanon.
Abt. XII (1922) 184, hat Schmeidler mit Benutzung von P durch V gerechnet, später,
so viel ich sehe, nicht mehr.
18 Meyer von Knonau a. a. O. 308 n. 54. 19 Vgl. S. 308.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.2. 21
322 S. Hellmann
einer anderen, aus dem Besitze von Matthias Flacius herrühren-
den in Wolfenbüttel! gegenüber den Handschriften des Codex
Udalrici zusammengeht. Wie zu erwarten, berührt sich V mit P
in einzelnen Gedanken: nur verführt erhebt sich Heinrich V.
gegen seinen Vater, wobei V deutlich die Fürsten als die Anstifter
bezeichnet, während P auf die Kurie hinweist“; nicht soll der
Sohn eine vom Vater vor Gott verwirkte Strafe an ihm vollziehen
wollen!??; die Erklärung endlich, mit der V den Kaiser die Ab-
dankung vollziehen läßt, tut nichts als nur die kirchlichen Motive,
mit denen sie in P begründet wird, ins Weltliche übersetzen!“s.
Erst eine Untersuchung der Sprache zeigt so tiefe Unterschiede
zwischen V und P, daß an gemeinsame Verfasserschaft nicht
mehr gedacht werden kann.
Schon oben wurde gesagt, daB zwischen den beiden Briefen
und der Vita der Ansatzpunkt für den Stilvergleich gegeben ist:
in der Behandlung der Katastrophe Heinrichs IV. Allerdings:
dadurch, daB sie in V nur etwa die Hálfte des Raumes einnimmt
wie in P, wird die Arbeit erschwert.
Die Gegenüberstellung von V und P erinnert an diejenige von
P und C. Der Verfasser von P hat die breitere Brust und den
làngeren Atem, mehr Blut und Saft in den Adern als der Bio-
graph, dessen Redeweise, an der seinigen gemessen, manchmal
dünn erscheint. Sein Eigenwille zeigt sich in der Selbständigkeit
gegenüber den Sprachgewohnheiten der Zeit: den Ablativus
absolutus meidet er, soweit es geht, ebenso den Deklarativsatz
mit Konjunktion statt des Accusativ cum Infinitiv!®; er führt
ein Wort der Urkunden- und der Umgangssprache, wie 'exfestu-
care’ in die gehobene Diktion des kaiserlichen Briefes ein, er gibt
‘ich selbviert’ oder moi quatrième’ mit ex omnibus meis quartus
ego’ wieder, er versucht ‘pensare Deum'!!? und wagt selbst einen
Infinitivus futuri passivi!!!. In den übereinander getürmten Prä-
1% 1126 (früher Helm. 1024) s. XII; vgl. O. v. Heinemann, Die Hss. d. Herzogl.
Bibliothek zu Wolfenbüttel I 3, 15. 106 29, 15ff., P S. 241.
107 Vita 36, 33ff.; P 242: 'ammonens et obtestans . .. ut, si pro peccatis meis
flagellandus eram & Deo, de me ipse nullam maculam conquireret animae, honori et
nomini suo; quia, culpae patris vindicem filium esse, nulla divinae legis unquam
constituit sanctio'.
108 34, 24ff. 19 Vgl. oben S. 307. 110 Vgl. oben S.319 n. 97.
11 5.243 cum ... deliberationi suae et consilio principum in hoc totum me
mancipandum promisissem' und ‘inde in pace et securitate me reducendum promisit".
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 323
dikativen und Nebensátzen, mit denen er seine groBen Perioden
eröffnet, zeigt sich die starke Hand, die scheinbar Zusammen-
hangsloses verschweiBt. Dem Zeitgeschmack folgend schiebt er
in seine Perioden Parenthesen ein. Sie werden bei ihm zu ge-
schlossenen Gebilden mit Nebensätzen, fast selbst wieder Perio-
den; in ihnen läßt er Heinrich IV. die Erzählung seiner Drangsale
durch laute Ausbrüche des Schmerzes unterbrechen, in der Form
der Aposiopese die Anklage gegen den Sohn bis zur letzten Hóhe
steigern ; in eine Ich-Erzáhlung eingeschoben, táuschen sie den Ton
des gesprochenen Wortes vor und verdoppeln die Stárke des sub-
jektivistischen Elements!!?, Die reichlich, fast überreichlich einge-
streuten Parenthesen in V wirken daneben matt: kurze Bemer-
kungen sententióser Art, Exklamationen, manchmal Begründung
oder Beurteilung eines Tuns, noch ófter Nachholen eines früheren
Geschehens, das zum Verständnis nötig ist, aber an seinem chrono-
logischen Ort nicht recht eingereiht werden konnte!!?: alles enger
im Ausdruck, kleiner im Stil, mehr Kunst als Natur. Die Schwä-
chen von V, von einem andern Standpunkt aus gesehen, ent-
halten allerdings auch eine Stárke. Wenn P sprachliche Neuerun-
gen wagt, so verfügt die Vita mit voller Sicherheit über ererbtes
Sprachgut. Überall sehen wir sie den Blick auf das antike Vorbild
richten. Bis ins Kleinste durchdacht ist die Diktion, alle Fein-
heiten des lateinischen Gedankens wurden erfaBt!!*, Vielleicht ist
der Verfasser dabei im Unterlassen ebenso stark wie im Tun.
Die Pseudohendiadys, die seinem Zeitalter so geläufig war und
in P fast jedes Satzglied füllt, vermeidet er; den historischen
Infinitiv, den Lampert von Hersfeld der Antike absah!!5, und den
Diese Verwendung des Gerundivums ist spátantik (vgl. Stolz-Schmalz, Lateinische
Grammatik, 5. Aufl., neubearbeitet von M. Leumann und J. B. Hofmann 556f., 597),
kommt aber im Mittelalter, wenigstens soviel ich sehen kann, nicht mehr vor.
13 Als einziges Beispiel die Parenthese, die in die leidenschaftliche Darstellung
der weihnachtlichen Haft eingeschoben ist: ‘ut taceam obprobria iniurias minas
gladios in cervicem meam exertos, nisi omnia imperata facerem; famem etiam et
sitim, quam perferebam, et ab illis, quos iniuria erat videre et audire; ut etiam
taceam, quod est gravius, me olim satis felicem fuisse’.
ns 15, 4 (von den Sachsen bei Zerstörung der Harzburg) ‘ossa filii regis — nec-
dum enim imperator factus erat — o inhumanam mentem, o probrosam vindictam! —
ellodere'. Anderes 13, 16; 16, 20; 20, 29; in der Schulausgabe sind die Parenthesen
nicht immer bezeichnet. 114 Vgl. nachher S. 325.
ns Ich greife aufs Geratewohl einige Stellen heraus: Holder-Egger 143, 7; 264, 9;
296, 32; 297, 6. m
21*
324 S. Hellmann
er selbst bei Sallust, Livius, Sulpicius Severus fand, hat er ab-
gelehnt: er war ein Kind der Schule, aber nicht alles nahm er
an, was sie ihm bot.
Der Verfasser der Vita ist nicht so stark, nicht so kühn, wie
sein Gegenpart. Wir kónnen es auch anders wenden: er ist das
geringere Temperament und deshalb mehr intellektualisiert.
Als das beherrschende Gesetz der Vita lernten wir die Anti-
thetik kennen. Immer ist es der Gegensatz, die Negation, durch
welche die Aussage erst zu voller Wirkung gebracht werden
soll!$: der Verstand, nicht die Anschauungskraft des Lesers
wird zu Hilfe gerufen. Die Antithetik des Gedankens wirkt hin-
über auf die Form; sie entwickelt den Satzparallelismus und die
Isokolie, die wieder durch phonetische Mittel, Anklänge im
Innern der Glieder und Gleichklang am Ende unterstrichen wird.
Derartige Formen des Ausdrucks sind P fremd. Was er gibt ist,
wenn er erzählt, Erzählung im epischen Sinn, gefühlsdurch-
tränkt, aber nirgends mit einander ausschließenden Gegensätzen
arbeitend. Ein Unterschied zwischen P und C lag in der Verbin-
dung der Perioden. Er wiederholt sich in anderer Gestalt der
Vita gegenüber. In der Darstellung von Heinrichs Katastrophe
arbeitet auch sie anfánglich mit dem deiktischen Element; dann
löst sie es durch Konjunktionen ab, ‘nec’, ‘sed’, sed et’, sed nec’,
die nur andeuten, daB die Erzáhlung weitergeht, nicht sie glie-
dern wollen. Zweimal tritt autem' auf, nicht mehr narrativ, aber
auch nicht mit der Schärfe, die das Unerwartete ankündigt, wie
‘at’ bei P, sondern in dem abschwächenden Sinn „im Gegensatz
dazu'!?, Auch das eilige emphatische ‘Et’ des königlichen
Schreibens fehlt!!?: nirgends wird die Dramatisierung und Be-
flügelung des Vortrags von P erreicht. Dagegen wirkt V durch die
gerade in diesem Teile häufige Nebeneinanderstellung der Perio-
den ohne jede Verbindung, die bei P selten ist. Zusammen mit den
Accusativ-cum-Infinitiv-Ketten der wiederholten indirekten Re-
110 31, 19: ‘Cur fugis non fugiendum, cur fugis patrem tuum? Sequitur te, non
persequitur; sequitur, inquam, non ut hostis, sed ut pater, non ut perdat, sed ut
servet'. Vgl. z. B. auch 10, 18; 12, 28.
117 34, 31: ‘multos et oratio imperatoris et fortuna ad gemitus et lacrimas com-
movit; filium autem ad miserationem nec ipsa natura movere potuit'. — 35, 9: 'Laici
misericordia commoti veniam dabant; legatus autem domni apostolici absolutionem
negabat...’
118 Vgl. oben S. 305, Der 'Et'-Satz 34, 33 hat anderen Charakter.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 325
den, die P ganz fehlen, gibt sie der Rede etwas kraftvoll Gedrun-
genes, und macht es einen Teil jenes Weniger an Unmittelbarkeit
wett, durch die V sonst hinter P zurücksteht!!?, Im Innern der
Periode fehlt V die oft besprochene Anháufung von Vordersátzen
und Prádikativen in P. Aber V baut Prádikative überhaupt
anders, einfacher. Meist erscheinen sie nicht als Präpositionalkon-
struktionen, sondern als bloße Ablative mit oder ohne Attribut;
man vergleiche 'patrem sicut ficta poenitudine, sic et consilio
fefellit’ (33, 11) mit sub eiusdem fldei et sacramenti obtesta-
tione ... promisit' (Jaffé V, 243). Erläuternde Genitive verschie-
dener Art wie in diesem Beispiel wendet P in jeder Zeile an!;
in V müssen sie gesucht werden; Fälle wie damnum oblectationis
diu intermissae' oder ‘pulchra species mendacis fidei’ (33, 23 und
34, 1) sind in den rein erzählenden Teilen selten. Auf ein dem
Zeitstil geläufiges Mittel der Erzählung verzichtete P fast ganz,
den Ablativus absolutus!?!: in V durchzieht er die ganze Dar-
stellung. Ebenso häufig stellt V nach Abschluß des Hauptsatzes
ein Partizip oder Adjektiv als Apposition zum Subjekt statt
eines modalen oder kausalen Nebensatzes. Àuch P kennt diesen
Gebrauch; aber die Vergleichszahlen sind elf und vier, und das
im Rahmen eines Abschnittes, der nur die Hálfte des Raumes
von P einnimmt. Vollstándig gehen beide in dem Gebrauch der
Hilfszeitwörter auseinander; sind sie in P schon erheblich seltener
als in C12, so vermeidet V sie ganz. Wo es Verba wie ‘posse’ und
‘velle’ bringt, tut es das am rechten Ort, in einer der Antike ab-
gelernten Weise: 'si sic occasionem fraudis invenire posset, ute-
retur illa, sin autem, fraus ipsa pro fide ... teneretur' (33, 9);
"misso legato patri mandavit, ut, si vitam servare vellet, absque
mora sibi crucem, coronam et lanceam ceteraque regalia trans-
mitteret? (34, 10)!22, Wir lernten als einen der Unterschiede zwi-
schen P und C ihr Verhalten gegenüber dem subjektivistischen
Mittel des vom Adjektiv oder Partizip abgeleiteten Adverbs
kennen; hier steht V noch weiter von C ab als P: rectene secum
an secus actum esset’ (32, 28) wirkt wie eine Seltenheit.
us 32, 33ff.; 33, 14ff., 30ff.; 34, 24ff., dazu 29, 29ff.; 41, 15ff.
130 Vgl. die oben S. 304 abgedruckten Stellen.
131 Vgl. oben S. 307. 133 Vgl. S. 304 f.
13 Vgl. im Gegensatz dazu ‘nihil esse, cum ipsi coissent in concordiam, quod illi
resisteret" (33, 15).
326 S. Hellmann
Meine letzten Ausführungen prüften das Verháltnis von V und
P an der Hand von Wortkategorien und Satzteilen. Zum Ab-
schluß frage ich noch einmal nach den beherrschenden Stilten-
denzen beider, nachdem ich schon am Eingang dieses Teils der
Untersuchung mich damit beschäftigt habe.
Wir erinnern uns an die sprachlichen Grundlagen der Vita:
den Gedanken formt die Antithese, den Ausdruck bestimmen die
Colores rhetorici. P ist die Antithese fremd, wie wir vorhin sahen;
noch bleibt sein Verhältnis zum rhetorischen Virtuosentum von
V zu untersuchen. Es beherrscht, wie alle übrigen Teile der Vita,
so auch die Schilderung des Verrats am Kaiser und seiner er-
zwungenen Abdankung. Gerade hier treten rhetorische Figuren
auf, die in dem im ersten Teile dieser Untersuchung wieder-
gegebenen Abschnitt fehlten, vor allem die Traductio. Ich führe
ein Beispiel an, in dem sie zugleich dauernd mit Antithese ver-
setzt ist. 'Hac instructus arte cum venisset ad patrem, pater
credulus verbis et lacrimis filii, irruit super collum eius, flens
et deosculans eum, gavisus instar illius evangelici patris revixisse
filium, qui mortuus fuerat, et inventum, qui perierat. Quid
multa ? Condonavit filio tam poenam quam culpam; et hoc fuit
illi iniuriam filii vindicasse, paterna caritate filium corri-
puisse, iuxta illud comici: pro magno peccato filii paululum
supplicii satis est patri!** (33, 3ff.). Ein paar Zeilen weiter wird
das Doppelspiel mit den Formen von 'pater' und 'filius' abermals
aufgenommen und noch einige Male wiederholt. Vorher wie nach-
her finden sich noch genug Beispiele für diese und verwandte
Arten rednerischen Schmuckes, die weniger mit Sinngehalten als
mit akustischen Mitteln zu wirken suchen!?5, Halten wir einige
Stellen aus P daneben, die am stárksten rhetorisch gefárbt sind.
‘Cum igitur ipso sacratissimo die nativitatis suae omnibus re-
demptis suis ille sanctus sanctorum puer fuisset natus, mihi soli
Filius ille non est datus. Nam — ut taceam obprobria iniurias
minas gladios in cervicem meam exertos nisi omnia imperata
facerem ; famem etiam et sitim quam perferebam, et ab illis, quos
144 Der Satz stammt aus Terenz (Andr. V, 3, 32); aber ‘filii’ ist erst von V eingesetzt.
155 33, 33—34 deduceret' — ‘adduceret’, weiterhin die Antithesen ‘dol? —
‘fidei’, ‘dominus’ — ‘captivus’; vorher die Paronomasien recollegit' — ‘cogeret’ —
‘coegit’ (31, 25) und ‘secum secus’ (32, 28), die Fälle von Alliteration ‘tamquam
tanti" (31, 29), ‘multis magnisque’ (31, 31), in fide frigebant' (33. 32).
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 327
iniuria erat videre et audire; ut etiam taceam, quod est gravius,
me olim satis felicem fuisse — illud nunquam obliviscar, illud
nunquam desinam omnibus Christianis conqueri, quod illis sanc-
tissimus diebus sine omni Christiana communione in carcere illo
fui." (244). — 'Cumque inquirerem, si saltem sic de vita mea
certus et securus esse deberem, eiusdem apostolicae sedis legatus,
qui ibidem aderat — non dico, qui haec omnia ordinaverat —
respondit, me nullo modo eripi posse, nisi publice confiterer: me
iniuste Hildebrandum persecutum fuisse; Wicpertum iniuste ei
superposuisse; et iniustam persecutionem in apostolicam sedem
et omnem ecclesiam hactenus exercuisse' (245). Auch hier finden
wir rhetorischen Schmuck: die Hyperbel, die Anaphora, in dem
zweiten Beispiel (‘iniuste — iniuste — iniustam’) mit Traductio
verbunden, die Occultatio oder Omissio ('ut taceam obprobria'
usw.; non dico, qui’ usw.), die Steigerung!?®, im ersten Beispiel
mit einer kleinen Binnensteigerung ('obprobria — gladios’),
im zweiten nach dem Gesetz der wachsenden Glieder geformt.
Aber diese Kunstmittel werden nur sparsam angewendet,
in Augenblicken, die eine Steigerung des Ausdrucks zulassen
oder gebieterisch verlangen, unwiderstehlich bricht ihr Pathos
aus dem Inneren heraus, das rein akustische, nur sinnliche Ele-
ment wird hóchstens gelegentlich zu Hilfe gerufen, nicht gleich-
mäßig und in steter Wiederholung, bis zur Gefährdung aller
Wirkung über das Ganze ausgebreitet. Man lasse den leiden-
schaftlichen Ausbruch des Schmerzes und der Empórung in 'illud
nunquam obliviscar, illud nunquam desinam omnibus Christianis
conquer?’ auf sich wirken, vergleiche ihn mit irgendeiner pathe-
tisch gefárbten Stelle der Vita, und man sieht und fühlt den
tiefen Unterschied, der beide trennt: hier wächst das Ornament
der Idee des Ganzen gemäß aus dem Stein heraus, dort bleibt
es äußerlich aufgeklebter Zierrat aus Stuck.
Der Vergleich zwischen P und V gab die Móglichkeit, Seiten-
blicke auch auf C zu tun. Sie ergaben Übereinstimmung zwischen
C und V in der Art der Periodenverbindung, in dem abundanten
Gebrauch des Ablativus absolutus, also Sprachgewohnheiten der
Zeit. Aber ebenso auch Gegensátze: V ist die Verwendung des
Hilfszeitwortes und des von Nominalformen abgeleiteten Ad-
verbs fremd. Dafür kennt C den Gebrauch des dem Hauptsatz
1 Nicht im Sinne der Klimax.
328 S. Hellmann
angehängten Partizips so gut wie überhaupt nicht. Es wendet die
Hendiadys an, wenn auch nicht so hàufig wie P, wáhrend V sie
fast absichtlich vermeidet. Was aber entscheidet: gerade in den
für V bestimmenden Stilgrundsátzen trennt C sich von der Vita:
es hat weder Antithetik noch Isokolie noch das dazugehórige
Homoioteleuton, und beobachtet auch den kleinen Mitteln der
Rhetorik gegenüber ebensolche Zurückhaltung wie P.
Es wäre in manchem lohnend, diesen Gegensátzen weiter
nachzugehen und noch andere aufzuspüren. Indessen sagen sie
allein genug, und fruchtbarer wird es sein, statt die Liste der Ab-
weichungen zu verlängern, V noch mit einem der kleineren
Schreiben aus der von C geführten Gruppe zu vergleichen.
Ich wáhle dazu H und stelle es einem Teil des 11. Kapitels der
Vita gegenüber!?”, weil Gegenstand und Form sich nahe berüh-
ren. In H eine Bitte an Heinrich V., nicht weiter gegen den Vater
vorzugehen, in V eine mündliche Botschaft!“ : der Kaiser, selbst
in Lüttich, bittet den Sohn, der Ostern auch dort feiern will, von
seinem Vorhaben abzustehen, weil er sich bedroht fühle. Aber die
Behandlung des Gegenstandes hier und dort ist verschieden.
H geht von dem Vorwurf mangelnder Sohnesliebe aus und be-
gründet ihn mit der Schilderung von Heinrich V. Auflehnung
und seinem Verrat. Dann folgt der positive Teil: da der Vater
zur Aussöhnung mit Rom bereit ist und schon Schritte getan hat,
wird dem Sohn nahegelegt, von weiteren Feindseligkeiten zu
lassen. Der Gedankengang ist historisch begründend und persua-
sorisch. Dagegen gibt sich V ganz moralisierend und sententiös,
ganz auf das Vater- und Sohnesverhältnis eingestellt, in der
Weise, daß der Sohn als der Verführte, der Vater als der Nach-
giebige, zur Verzeihung Bereite erscheint. Der politische Charak-
ter des Briefes, die moralisierende und zugleich panegyrische
Tendenz der mündlichen Botschaft bedingen auch eine Verschie-
denheit des Stils. Der unnatürliche Gegensatz von Vater und
Sohn gibt V Gelegenheit, die Antithetik noch zu steigern und
durch kleine rhetorische Künste zu unterstützen!“. Für H ganz
17 36, 23ff. 138 36, 23ff.: ‘legationem ad eum in hunc modum direxit’
und 38, 9 ‘hanc legationem patris aure surda filius audivit’. Vgl. dazu die entsprechen-
den Stellen in A (S. 232) und P (S. 246).
129 36, 29 ff.: isti te decipiunt, non instruunt, isti honori tuo non provident, sed
invident, isti sub specie fidei perfidiae laqueos nectunt. Non aliter pervenire potuerunt
ad destructionem honoris tui, nisi per destructionem nostri'.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 329
wie für P bedeutet Rhetorik nicht Anbringung der Colores rhe-
torici, sondern Steigerung des Ausdrucks, Kraft mit Maß ver-
bunden, und verhaltenes Gefühl. Die Antithese herrscht auch
hier; aber sie ist durch den Gegenstand gefordert, nicht ist sie
ein Stilprinzip, noch äußert sie sich in den gleichen Formen wie
in VI. Das tritt schon in scheinbar äußerlichen und nebensách-
lichen Dingen hervor. Ego' und tu' stehen in V im gleichen
Casus?! einander gegenüber und erhalten den Ton selbst wo der
Sohn nicht dem Vater, sondern seinen Verführern gegenüber-
gestellt wird!. In H spricht Heinrich von sich mit ‘nos’ und
redet seinen Sohn mit ‘tu’ an: Vater und Sohn stehen nicht auf
der gleichen Ebene des natürlichen Verhältnisses, sondern in dem
Abstand des Verhältnisses von Herrscher und Untertan!®. Die
beiden Personalpronomina und ihre Possessiva kommen häufiger
vor als ‘ego’ und tu' in V. Aber sie werden nie in Antithese gebracht
und nie betont. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen V
und P: H braucht den Gegensatz nicht künstlich zu unterstreichen,
weil es ihn aus den Tatsachen und den Argumenten der Menschen
Sprechen zu lassen versteht. Die Parallele des Unterschieds von
H V und V P setzt sich fort, so sehr sich auch die C- Gruppe und
P voneinander unterscheiden: die einfachere, dünnere Diktion
der Biographie, ihre kürzeren Sátze, die Seltenheit ausgearbei-
teter Prádikative!**4, überhaupt der Mangel an Abundanz des
Stils, die geringe Zahl attributiver Adjektiva, mit der sie
gegenüber H um die Hälfte zurücksteht, das Fehlen adjekti-
vischer und adverbialer Partizipien — all das zeigt den verstan-
desklaren, aber weniger reichen Stilisten, der uns schon in der
Gegenüberstellung mit dem Verfasser von P begegnete.
19 Vgl. S. 261: Ante captivitatem etiam abstulisti nobis episcopatus et quicquid
de honore regni potuisti; et praedia nostra; et ipsam familiam. In captione vero,
quicquid residuum erat, etiam lanceam et crucem et omnia regalia insignia vi et
timore mortis — ut ipse bene scis et omni ferme notum est Christianitati — a nobis
extorsisti ; vix relicta ipsa vita.’
m 37, 4, 19, 21—22; 38, 3.
133 Vgl. 36, 29ff. (oben S. 328, Anm. 129) und 37, 11—12.
33 Die einzige Ausnahme 252: (Deus) ... forsitan de sede sancta sua inter me
€t te sua gratuita misericordia aliud iam definivit, intercedente iustitia, quam tu ipse
cogites et disponas.’ Vor dem Angesicht Gottes verschwindet der Unterschied.
1 Vel. oben S. 325.
330 S. Hellmann
VI. Die náchste Aufgabe, die diese Untersuchung sich stellen
muß, ist die Frage, ob Bischof Erlung von Würzburg als Ver-
fasser der Vita in Anspruch genommen werden darf. Ich beab-
sichtige nicht, zu prüfen, ob das Wenige, was wir von ihm wissen,
mehr zuläßt als eine unsichere Vermutung!®®. Nunmehr hat Pivec
den Versuch gemacht, ihn von anderer Seite her zu stützen. Er
erinnerte sich daran, daß der Codex Udalrici zwei Schreiben unter
Erlungs Namen enthält. Das eine wollte er einer Persönlichkeit
zuweisen, die wir durch Ekkehard als Publizisten im Dienste
Heinrichs V. kennenlernen, dem Iren David; ihn sieht Pivec als
Verfasser von Urkunden und Briefen des Kaisers an, glaubt, daß
er auch für dritte Personen tätig gewesen sei und zählt zu diesen
auch Erlung!?®. Dagegen behält er den anderen der beiden Erlung-
Briefe, und zwar den älteren, dem Verfasser der Vita und der
seiner Meinung nach damit verbundenen Briefreihe vor!??, Daran
1355 Bei dem Versuch, sie zur Gewißheit zu erheben, haben neuerdings die Anfangs-
worte der Vita (vgl. oben S. 2801.) eine gewisse Rolle gespielt. Holder-Egger (NA.
XXVII [1901] 176) glaubte die capta urbs’ auf Würzburg deuten zu müssen, und da
Erlung durch Heinrich V. im Sommer 1105 vorübergehend seines Würzburger Bis-
tums entkleidet wurde, so schien die Beweiskette geschlossen. Es war vergeblich, daB
Paul von Winterfeld, geleitet durch sein literarisches Feingefühl, Einspruch erhob
(NA. XXVII [1902] 5631.) und durch eine Mitteilung E. Dümmlers instand gesetzt
wurde, zu zeigen (a. a. O. 563), daB die Stelle Johannes Chrysostomus entlehnt ist,
der seinerseita Jeremias 9, 1 weiter fortgebildet hat. M. Tangl glaubte ein Übriges
tun zu müssen, indem er die 'capta urbs' der Eingangsworte in der 'capta urbs' der
Vita (18, 19) wiederfand, mit der Würzburg gemeint ist (NA. XXXI [1906] 479).
Es klingt hart, aber man muß es aussprechen, daB hier der Punkt erreicht ist, wo
historische Methode und literarische Verstándnislosigkeit ineinander übergehen. Das
Chrysostomus-Zitat kehrt seit Hieronymus (Ep. XXXIX, Migne XXII, 465) háufig
wieder (auBer bei Alchvin und Lampert von Hersfeld, die man gewóhnlich anführt,
auch bei Jotsaldus, V. Odilonis, Migne 142, 897; anderwürts nur der Vers aus Jere-
mias: bei Leo von Vercelli, Versus de Ottone et Heinrico 1ff. [E. Dümmler, Anselm
der Peripatetiker 80, und H. Bloch, NA. XXII (1897) 119] und Helinand, Liber de
reparatione lapsi, Migne 212, 716). Andeutung persónlicher Schicksale darf man erst
von dem Punkt an suchen, wo vom Wortlaut abgewichen wird. Das ist in der Vita
mit non damna rerum mearum' der Fall; man darf aber damna rerum mearum'
nicht mit Holder-Egger a. a. O. 182 auf Erlungs Bistum deuten: res meae' — so
hátte kein mittelalterlicher Bischof von seinem Amte gesprochen. Um aber zu Tangl
und der ‘capta urbs’ zurückzukehren, so wird der Ausdruck nicht nur für Würzburg
verwendet, sondern auch für Rom (24,6). 1% MÓJG. XLVI (1932) 264ff., 304.
17 Schmeidler dagegen (319) läßt diesen Brief von dem Diktator Ogerius A ge-
schrieben sein, dem er auch A C H S F (nicht aber P und V) zuweist; Schmeidlers
Methode bleibt sich dabei gleich. Die Frage liegt auBerhalb meines Themas.
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 331
ist soviel richtig, daB die beiden Briefe unter Erlungs Namen nicht
von der gleichen Hand herrühren; mindestens den einen hat er
nicht selbst verfaBt, sondern von einem Beauftragten schreiben
lassen. Welches der beiden Schreiben das ist, wissen wir nicht und
mit der von Pivec angewandten Methode läßt es sich nicht fest-
stellen. Da aber bei der Hartnäckigkeit, mit der Erlungs Name sich
in der Diskussion erhált, der Versuch, ihn stilistisch zum Verfasser
der Vita zu stempeln, noch einmal wiederholt werden kann, so
rechtfertigt es sich wohl, wenn ich ein letztes Mal in eine Stil-
vergleichung eintrete, die sich auf beide Schreiben erstreckt. Die
Folgerungen für die Vita werden sich von selbst ergeben.
Die Erlung-Briefe (Jaffé n. 118, S. 228 und n. 209, S. 382),
fast genau von gleichem Umfang, sind kurz: jeder umfaßt nur
einige Zeilen mehr als eine Seite im Druck. Der Inhalt ist ver-
schieden. In I, das etwa in den März 1105, kurz nach der Er-
hebung des Absenders zum Bischof zu setzen sein wird!®, dankt
Erlung dem Bischof Otto von Bamberg für dessen Bemühungen
um seine Wahl und bittet um eine Zusammenkunft. Einige kurze
Mitteilungen über Personen des gemeinsamen Bekanntenkreises
schlieDen sich an, dazwischen die Nachricht von Heinrichs IV.
Bemühungen, mit Paschalis II. zu einer Einigung zu gelangen.
Brief II, den Jaffé zu 1107—1121 setzt, an das Bamberger Ka-
pitel gerichtet, beschäftigt sich mit den Beschwerden eines frühe-
ren Würzburger Propstes und soll Erlungs Verhalten in dieser
Angelegenheit rechtfertigen.
Ich beginne diesmal mit einer rein syntaktischen Beobach-
tung. Untersuchen wir die Konjunktion in I und II, zunáchst die
kopulative, und zwar mit Beschränkung auf die Fälle, wo sie
Sätze oder Satzteile verbindet, unter Ausschluß derjenigen, in
denen sie in einer Hendiadys oder einer áhnlichen Verbindung
steht. Wir finden, daß sie in I achtzehn-, in II nur siebenmal vor-
kommt. Für die Adversativpartikel ist das Verhältnis umgekehrt
1:5. Das bedeutet, daß in II die Gedanken sich schärfer von-
einander abheben und enger miteinander in Verbindung gebracht
werden. Für den Satzbau läßt sich erwarten, daB in dem einen
Schreiben die Koordination vorherrscht, in dem andern subordi-
niert wird, und daß sich die Diktion von I in einfacheren Sätzen
bewegt, in II zur Periodenbildung neigt, d. h. zu logischer Zu-
138 Meyer von Knonau a. a. O. 213f. n. 5.
332 S. Hellmann
sammenfassung der Gedanken in größeren Gefügen. Ein Blick
auf die Texte bestätigt diese Vermutung. In I treten die Gedan-
ken hintereinander und in ihrer natürlichen Reihenfolge auf. Ich
gebe wieder ein Beispiel. 'Novi enim: vos meae sublimitatis post
Deum esse principium; nec nunquam posse me in curia tam diu
sustinuisse, quod ad honorem pervenirem, nisi vestra largitas meo
labori subvenisset et vestra me fovissent ac solidassent consilia'
(S. 229). Die durch Et' miteinander verbundenen Sätze haben
die Eigentümlichkeit, daB der zweite den Inhalt des ersten
variiert, allenfalls auch etwas steigert oder erweitert, aber nicht
eigentlich Neues hinzufügt!?®, so daß sich eine Art Satzhendiad ys
ergibt, wie sie dem Zeitgeschmack entspricht. Schon hier zeigt
II ein anderes Bild. Es kennt die Satzhendiadys zwar auch,
wendet sie aber nicht so häufig an!“. Gewichtiger indes sind
andere Unterschiede. Die Sátze in II sind lànger: Jaffé's Satz-
distinktion zugrunde gelegt!*', ergeben sich, bei gleichem Um-
fang, nur acht selbstándige Sátze gegenüber zwólf in I. Diese
Sätze zeigen einen Bau, wie er einem schärferen und energische-
ren Denken entspricht. Seine groBe Probe legt es in einer Periode
ab, die allein fast ein Drittel des Ganzen einnimmt und nicht
weniger als fünfzehn Glieder kraftvoll und durchsichtig zugleich
zu einem Zusammenhang zu ordnen versteht!**, Auch gegenüber
den Gebilden, die im Lateinischen dazu helfen, die Periode zu
19 ‘Scio indubitanter et credo (nec credendo fallar in aliquo). — ‘Unde in
praesenti grates, quot et quantas possum, vestrae paternitati refero et, dum vivo,
me et mea ad vestrae voluntatis arbitrium exhibeo' (S. 229).
140 Eigentlich nur einmal: in dem Satz Visum est’ S. 382.
M1 Jaffé's Interpungierung ist ungewöhnlich geistreich, und es wäre zu wünschen,
daB man sich daran bei der künftigen Neuausgabe der Cod. Udalrici erinnerte. Mit
allen erdenklichen typographischen Mitteln gliedert sie die Periode, gibt durch An-
wendung des Semikolons den Partizipial- und Ablativkonstruktionen ihren Neben-
satzcharakter wieder, und markiert durch Spatien (vgl. z. B. S. 244, 245) die selb-
ständigen Abschnitte der Erzählung. Man kann die Frage aufwerfen, ob diese deut-
liche, fast überdeutliche Gliederung dem mittelalterlichen Denken immer entspricht;
trotzdem soll man nicht übersehen, wieviel philologische Kraft und wieviel Fähig-
keit zum Eindenken in Texte daraus spricht.
143 In qua re cognoscere vos volo primo omnium: quod, quam diu res tulit et
ultra quam tulit, ego eum semper toleravi; adeo ut, etiam postquam iudicio fratrum
meorum destitutus est, electo in locum eius cognato meo, ego tamen — cum iudicii
sententiam, quae data erat in eum, rescindere non possem — mansuetudine et
compassione fraterna devictus, nolui prorsus omni spe eum destituere, donec beni-
volentia, cum nihil ei deberem, duas parochias cum pecunia ei dedi, eo tenore, ut
Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 333
bauen, verhalten I und II sich analog. Den Accusativ cum Infini-
tiv hat I drei-, II fünfmal, das Participium coniunctum und der
Ablativus absolutus, von denen in II vier und zwei Fälle vor-
kommen, fehlen I überhaupt. Die Worthendiadys, die Schwáche
der Zeit, trägt hier und dort ein verschiedenes Gesicht. Largus
atque propitius', 'rogo atque desidero' in I: eine konventionelle
Manier wird ohne viel Überlegung angewendet; in den seltenen
Fällen, wo II zur Hendiadys greift, ist sie sinngefüllt und sach-
lich gerechtfertigt!€. Adverbien und Adverbialien, in I häufig,
treten in II zurück, weil der Verfasser, gemessen und kraftvoll,
einer besonderen Steigerung oder Variierung seines Ausdrucks
nicht bedarf. Ein letztes, und was mit entscheidet: I und II
stehen in ganz verschiedenem Verhältnis zu der Bildung ihrer
Zeit. Der eine der beiden Verfasser ist vollständig in den Geist
der fremden Sprache eingedrungen: er handhabt sie in über-
legener Weise, weil er in ihr denken gelernt hat. Der andere da-
gegen beherrscht nicht einmal ihre Regeln vollständig. Die oben
(S. 332) angeführte, mit 'novi enim' beginnende Satzfolge zeigt
bei den beiden Infinitiven falschen Gebrauch der Tempora. Ähn-
lich später: 'vellem itaque vobis libenter loqui, antequam redirem
ad curiam, si scirem, quomodo possemus utiliter convenire’.
VerstóBe, die für II ebensowenig denkbar sind wie der Germanis-
mus 'nos duo'. |
Noch bin ich auf einen Einwand gefaßt: daß I und II zwar
nicht von gleicher Hand herrühren, daß es aber doch erlaubt sein
muß, wenigstens dem einen Verfasser die Vita, oder P, oder sei es
auch nur einen Anteil an der C-Gruppe beizulegen. Darauf ist zu
erwidern, daB man die Virtuosität des Biographen, die Voll-
endung von P, die Fertigkeit und Ausdrucksfähigkeit der C-
Gruppe, wie sie an einer langen Reihe von Stileigentümlichkeiten
dargelegt wurde und an den abgedruckten Proben abgelesen
werden kann, auf keinen Fall mit einem ungeübten Stilisten
omni deinceps querela sopita nihil molestiae super hoc negotio sustinerem.’ Der
Indikativ ‘nolui’ in dem Konsekutivsatz ist, als sinnbetont, und um einen neuen
Träger für das ganze Gefüge zu gewinnen, wohl absichtlich gesetzt, ebenso das ihn
stützende 'tamen'.
16 Vgl.: ‘mansuetudine et compassione fraterna devictus (allgemein mensch-
liches neben dem verwandtschaftlichen Gefühl); "libera et unanimi electione ... nec
venalitate nec personae acceptione inductus, praepositum ... constitui' (juristische
Zirkumspektion läßt die Worte genau wählen).
334 S. Hellmann, Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei
wie I in Zusammenhang bringen darf. Will man es mit II ver-
suchen, so mag man das tun, vorausgesetzt, daB man sich
zweierlei vor Augen hält: einmal, daß ein so kurzes Schriftstück
weder mit umfangreichen Dokumenten ganz anderen Inhalts
noch mit einem vielleicht dreißigmal so langen Panegyrikus ver-
glichen werden darf, ohne daß man sich Voreiligkeiten und Fehl-
griffe zuschulden kommen läßt. Das andere ist, daß damit nicht
viel gewonnen sein würde, weil wir immer noch nicht wüßten,
welcher der beiden Briefe Erlung zum Verfasser hat. Denn um
es noch einmal zu sagen: der Bischof ist und bleibt als Stilist
eine unbekannte Größe.
Alle Bemühungen, eine bestimmte Persönlichkeit als Verfasser
der Vita Heinrici IV. zu nennen, sind bisher vergeblich gewesen.
Die Lebensverhältnisse Dietrichs von Sankt Alban und Erlungs
von Würzburg kennen wir zu wenig, um über unbestimmte Ver-
mutungen hinauszukommen. Daß es auch nicht statthaft ist,
den Verfasser in dem weiteren Kreise der kaiserlichen Kanzlei
zu suchen, hoffen die eben abgeschlossenen Untersuchungen ge-
zeigt zu haben. Auch die handschriftliche Überlieferung führt
nicht weiter. Die Vita ist uns allein durch Clm. 14095 aus St.
Emmeram erhalten; von eben dort stammt Clm. 14096, das
APHSF enthált. Der Gedanke blitzt auf, ob diese Nachbarschaft
nicht mehr sein kónnte als nur zufállig. Aber sofort kommt die
Enttáuschung. Der Schreiber der Briefe ist álter als derjenige
der Vita, beide Handschriften sind wesentlich jüngere Sammel-
handschriften verschiedenen Inhalts, in den dort die Vita, hier
die Briefe aus uns unbekannten Gründen eingelegt wurden.
Ebensowenig besagt es, daB P. außer in Clm 14096 auch im
Guelferbytanus 1126 enthalten ist (vgl. S. 321f.). Beide Hand-
schriften gehen gegenüber denen des Cod. Udalrici in einer groBen
Anzahl von Lesarten zusammen (vgl. den Apparat bei Jaffé),
auch in der vermutlich linksrheinischen Form „Engelheim“ statt
„Ingelheim“ (vgl. die bei Fórstemann s. v. angegebenen Stellen),
aber ein weiterer Schluß, etwa auf die Heimat der Vita, läßt
sich von hier aus nicht ziehen. So bleibt ein negatives Er-
gebnis. Vielleicht wird es aufgewogen durch die Erkenntnis, die
dann der Behandlung anderer Fragen gleicher Art zu gute
kommen mag, mit welchen Schwierigkeiten jede Untersuchung
rechnen muß, die den Weg der Stilvergleichung betritt.
335
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand.
Ein Versuch
von
Hermann W endorf.
Zur Kritik der Quellen S.337. — Talleyrands Stellung in der Philosophie seiner
Zeit. S. 342. — Seine Religiosität S. 348. — Auffassung vom Verhältnis der Menschen
zu einander S. 353. — Die Prinzipien als die Gesetzmäßigkeit des gesellschaft-
lichen Seins S. 355. — Das Prinzip der Legitimitát S. 361. — Das System des
europäischen Gleichgewichts S. 367. — Die Stellung zu Napoleon S. 371. — Der
innere Aufbau des Staates S. 373. — Talleyrands Auftreten auf dem Wiener Kongreß
S. 378. — Zusammenfassung S. 383.
Eine merkwürdige Zwiespältigkeit liegt über der Gestalt, in
der Talleyrand, der wohl wandlungsfähigste aller französischen
Staatsmänner, in die Geschichte eingegangen ist und in ihr
scheint fortleben zu sollen. Auf der einen Seite erscheint er als
der Undurchdringliche, Rátselhafte, Hintergründige, ‚le grand
enigme‘‘, um eine in der französischen Geschichtschreibung mit
Vorliebe gebrauchte Bezeichnung anzuführen. Trotzdem aber
zeigt sein Bild eine überraschende Übereinstimmung in der Be-
urteilung seiner Persönlichkeit; wohl finden sich Schattierungen
und Abweichungen, aber nur in nebensächlichen und unter-
geordneten Punkten. Die Grundauffassung von Talleyrand ist
überall die gleiche: die des finassierenden und intrigierenden
aalglatten Diplomaten, des Meisters der Lüge und der Kunst der
Verstellung, der, ohne eigene tiefere Überzeugung, stets bereit ist,
sich auf jeden Standpunkt zu stellen, jede Auffassung mit der
gleichen Geschicklichkeit und Gewandtheit zu vertreten, voraus-
gesetzt, daß es von Nutzen ist, von Nutzen für die Sache, die er
vertritt, wie auch für seine Person, welche beiden Gesichtspunkte
für ihn stets zusammenfallen, da eine hemmungslose Selbstsucht
und ein schrankenloser Ehrgeiz ihn treiben, sich auf den Boden
eines jeden Systems zu stellen und den Anschluß an jeden Macht-
336 Hermann Wendorf
haber zu suchen, um nur ja selbst an der Herrschaft zu bleiben
und die gegebene Konstellation zu seinen Gunsten auszunutzen.
Diese Auffassung làuft auf eine Entwertung der Gedankenarbeit
Talleyrands hinaus, denn ein Denken, das sich mit einer solchen
Leichtigkeit auf Situationen und Bedürfnisse ein- und umstellt,
kann nicht den erforderlichen strengen inneren Zusammenhang
und das mit innerer Notwendigkeit erfolgende Hervorgehen aus
einem zentralen Punkte haben, das den Wert des Denkens aus-
macht. Es muß durch den skrupellosen Gebrauch der logischen
Denkfunktionen herabgedrückt werden zu einer sophistischen
Kunstfertigkeit, die es jeder tieferen Bedeutung beraubt. „Ad vo-
cat utilitaire" nennt ihn einer derjenigen franzósischen Histo-
riker!, die sich eingehend und mit sichtlichem Willen zur Objek-
tivität mit ihm beschäftigt haben, und gibt damit dieser Auf-
fassung einen treffenden Ausdruck.
Auf der anderen Seite stehen diesem Urteil Äußerungen von
Männern gegenüber, die Talleyrand näher gekannt haben. Zwei
von ihnen seien hier angeführt. So nannte ihn Napoleon einen
Philosophen?, und der sächsische Generalleutnant von Funck,
der 1807 in Warschau wochenlang sein täglicher Tischgast war,
sagt von ihm: „Er war nie der schlaue Bösewicht, zu dem man
ihn immer hat machen wollen; er besaß zuviel Genie, um zur
Schlauheit seine Zuflucht zu nehmen“, und führt seine diploma-
tischen Erfolge auf die persönliche Überlegenheit Talleyrands
über seine politischen Gegner zurück, unter denen er Castlereagh,
Metternich und Hardenberg namentlich anführt?.
Es verdient Beachtung, daB diese Urteile, die noch um ein
Beträchtliches vermehrt werden könnten, auf Grund einer per-
sónlichen Bekanntschaft mit Talleyrand entstanden sind und
nicht auf dem Wege der Bildung historischer Erkenntnis. Diese
Beobachtung ist keineswegs gleichgültig und würde auf das
weitere Problem hinführen, unter welchen Umstánden und in
welcher geistesgeschichtlichen Situation das Talleyrandbild seine
! G. Pallain, Correspondance inédite du Prince de Talleyrand et du Roi
Louis XVIII. pendant le Congrès de Vienne, Paris 1881, S. XI.
3 Bei La cour-Gayet, Talleyrand, Bd. III, Paris 1931, S. 146 angeführt, ohne
Angabe der Gelegenheit, bei der die Äußerung gefallen ist.
3 C. W. F. von Funck, Im Banne Napoleons, herausgegeben von A. Brabant,
Dresden 1928, S. 180.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 337
so entscheidend gewordene Formung erfahren hat. Eine der-
artige Untersuchung würde zu aufschlußreichen Ergebnissen
führen, würde aber den Rahmen der vorliegenden Abhandlung
sprengen, weshalb von seiner Verfolgung Abstand genommen
werden muß. Nur die eine Frage soll kurz aufgeworfen werden,
ob dieses auffállige Auseinandergehen der Urteile der Zeitgenos-
sen und der historischen Forschung etwa in den Besonderheiten
der Quellenüberlieferung seine Erklärung finden könnte. Viel-
leicht ist hier der Grund zu suchen für die weitgehende Überein-
stimmung in der Geschichtschreibung; vielleicht gibt eine nähere
Betrachtung der Quellen einige Fingerzeige und Hilfen für die
Beantwortung der Frage, ob Talleyrandeinsophistischer Routinier
war oder ob hinter seinen Handlungen eine einheitliche Welt- und
Lebensanschauung stand, aus der sie zu erkláren sind.
Auf den ersten Blick erscheint die Lage günstig; es scheint ein
wahrer Reichtum von Quellen vorhanden zu sein: Memoiren in
fünf stattlichen Bánden, dazu ein reichhaltiger Briefwechsel, von
dem wohl alles, was Talleyrands óffentliche Wirksamkeit angeht, in
zahlreichen Sonderpublikationen, wie auch an zerstreuten Stellen
herausgegeben sein dürfte; Denkschriften und Reden, die er in
amtlicher Eigenschaft und als Mitglied des Instituts verfaßt hat,
und schließlich dient noch zur Ergänzung dieser persönlichen
Hinterlassenschaft der reiche Niederschlag, den seine vielum-
strittene Persónlichkeit in der fast unübersehbaren Memoiren-
literatur jener schreibfreudigen Zeit gefunden hat. Man sollte
denken, daB eine so reiche Überlieferung imstande sein müBte,
zur Lósung wenn auch nicht aller, so doch der wichtigsten Fragen
über Talleyrand zu führen.
Und doch erweist sich bei náherer Prüfung das meiste von
diesem Material als brüchig und zur Errichtung eines soliden
Baues wenig geeignet. Und das aus Gründen, die dem innersten
Wesen Talleyrands entspringen. Er ist, wie ein Blick über die
Memoirenliteratur seiner Zeit zeigt, schon seinen Zeitgenossen
ein Rátsel gewesen, das jeder anders zu deuten suchte, und das
führt zurück auf seine Herkunft aus der Herrenschicht des alten
Frankreich mit seiner überfeinerten und künstlichen Salonkultur
des Rokoko, die er sich so zu seinem innersten Eigentum gemacht
hatte, daB er als einer ihrer letzten Vertreter in eine anders geartete
Zeit hineinragte, als der erauch in die Geschichte eingegangen ist.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 22
*
338 Hermann Wendorf
. Einen mit dieser Kultur unlósbar verknüpften Zug hatte er
zur Vollendung ausgebildet: die Kunst des Nuancierens, des
Sprechens in feinen Abtönungen und Schattierungen des Ge-
dankens, der bloßen Andeutungen und des geistvollen Wort-
spiels, das, um als Mittel der Verständigung zu dienen, auf der
Seite des Aufnehmenden die Kunst des richtigen Verstehens er-
forderte, die ihrerseits wiederum an eine áhnliche gesellschaft-
liche Schulung und Erziehung gebunden war. Da diese aber nicht
immer vorhanden war, so ist es nicht zu verwundern, daß seine
Äußerungen zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt waren,
die noch durch die bei Diplomaten leicht ins Privatleben hinüber-
genommene Gewohnheit vermehrt wurden, sich in bewußter Ab-
sicht eine bestimmte Haltung zu geben. Man kann sogar so weit
gehen, zu sagen, daß die offensichtlich mißgünstige Meinung über
Talleyrand nicht zuletzt dem Umstande zuzuschreiben ist, daß
er die Haltung des Grandseigneurs bis zur letzten, die wahre
Vornehmheit der Gesinnung bezeugenden Schlichtheit des Auf-
tretens durchgebildet hatte, daB er aber gerade dadurch seine
gesellschaftliche Überlegenheit um so sichtbarer zum Ausdruck
brachte und Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten und mit
anderen Gewohnheiten des persónlichen Umganges entwaffnete,
zugleich aber in ihnen eine Art instinktiver Abwehrreaktion
hervorrief, die den Willen, ihm gerecht zu werden, zum Erliegen
brachte. Weiter kommen noch hinzu die Schwierigkeiten, die aus
verschiedener weltanschaulicher Einstellung, persónlichem Gegen-
satze stammen, so daß leicht einzusehen ist, mit welcher Vorsicht
alle Äußerungen Dritter über Talleyrand aufzunehmen sind.
Keinesfalls darf eine von ihnen ohne die sorgsamste Prüfung
übernommen und verwandt werden.
Nicht minder schwierig ist die wissenschaftliche Auswertung
der Korrespondenz. Zwar ist nach Pierre Bertrands scharfsinnigen
Untersuchungen? nicht mehr an ihrer Authentizität zu zweifeln.
Aber mit der Sicherstellung des Textes geht nicht zugleich seine
Verwertbarkeit Hand in Hand. Talleyrand ist ja für die meiste
Zeit seiner politischen Wirksamkeit nicht der Urheber der Politik
gewesen, die er diplomatisch zu vertreten hatte. Es muß daher
vor Verwendung der in dieser Tätigkeit entstandenen Schrift-
* Pierre Bertrand, Lettres inédites de en à Napoléon 1800—1809.
Paris 1889, Introduction.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 339
stücke der persönliche Anteil bestimmt werden, den Talleyrand
an ihnen gehabt hat. Da das aber in den meisten Fällen nicht
gelingen dürfte, haben groBe Teile der Korrespondenz für die
Behandlung mancher Probleme überhaupt auszuscheiden.
Aber selbst Briefe von durchaus privater Natur müssen mit
der áuDersten Vorsicht aufgenommen werden. Das sei nur an
einem Beispiel klargelegt. Im März 1814, wenige Tage vor dem
Einzuge der Verbündeten in Paris, findet sich in dem vertrauten
Briefwechsel mit der Herzogin Dorothea von Kurland der Ge-
danke ausgesprochen®, daß im Falle eines plötzlichen Todes
von Napoleon die Krone auf seinen Sohn überzugehen hátte und
daß für die Zeit seiner Minderjährigkeit ein Regentschaftsrat
gebildet werden müsse. Die Persónlichkeit der ihm sehr eng ver-
bundenen Empfängerin, sowie die Weisung, den Brief zu ver-
brennen, kónnten als Zeichen für die Echtheit der ausgesprochenen
Meinung angesehen werden. Damit steht jedoch in Widerspruch,
daB Talleyrand um diese Zeit bereits, wie aus zeitgenössischen
Memoiren hervorgeht, entschlossen war, seinen Einfluß zugunsten
der Bourbonen geltend zu machen““.
Zieht man hier jedoch die immerhin in dem damaligen Augen-
blick noch vorhanden gewesene Unsicherheit des Ausganges und
das Bestreben des Diplomaten, sich nach jeder Seite zu sichern,
zur Erklärung heran, so wird es doch wahrscheinlicher, daß jene
Bemerkungen in dem Briefwechsel in das kunstvolle System der
5 Talleyrand intime, d'aprés sa correspondance avec la Duchesse Dorothée
de Courlande, Paris 1891, S. 162, 169f.
5a Vgl. Marquise de la Tour-Du-Pin, Journal d'une femme de 50 ans, II, 335ff.;
Mémoires d'Aimée de Coigny S. 242ff.; Mémoires du Baron de Vitrolles, I, 59ff.
Charles Dupuy vertritt in seinem Werk „Le ministère de Talleyrand en 1814“ Paris
1919, B. I., S. 94ff. die Anschauung, daß T. bis unmittelbar vor der Entscheidung
des 31. März an der Nachfolge des Sohnes von Napoleon festgehalten hätte. Als
einzigen Beleg führt er die Briefe an die Herzogin von Kurland an. Daneben ist für
ihn ausschlaggebend die allerdings nicht náher belegte Auffassung, T. sei durch
seinen Ehrgeiz zu dieser Haltung bewogen worden, weil er gehofft hütte, in dem
dann einzurichtenden Regentschaftsrat die entscheidende Rolle spielen zu kónnen.
Aber es ist schwer einzusehen, wie bei der allgemeinen Stimmung Napoleons (den
Brief an seinen Bruder Joseph vom 8. Februar 1814 mit seiner scharfen Anklage
T.'s druckt D. selbst I, S. 120 ab), aber auch der Kaiserin und ihrer ganzen Um-
gebung, über die sich der Menschenkenner T. nicht im Unklaren gewesen ist (vgl.
Mémoires de Mme. de Chastenay II, S. 310) in T. eine solche Hoffnung sollte ent-
standen sein kónnen.
22"
340 Hermann Wendorf
Sicherheitsvorkehrungen gehórt, mit denen sich Talleyrand in
jenen Tagen umgeben hatte, um für jeden seiner Schritte eine
Rechtfertigung oder harmlose Deutung zu ermóglichen. Dieses
Beispiel zeigt, wie sehr man bei Talleyrand auch in den vertrau-
testen Äußerungen immer mit der Möglichkeit des Hereinspie-
lens irgendwelcher durch die politische Haltung bedingter Un-
stimmigkeiten zu rechnen hat.
Auch die Memoiren als die in sich geschlossenste und zu-
sammenhängendste Gruppe der Quellen haben ihre besondere
Eigenart, die sie von anderen Vertretern dieser Gattung sich
abheben lassen. Weit über die Hälfte des in den fünf Bänden vor-
liegenden Inhalts ist Abdruck diplomatischer Korrespondenz mit
dem für das Verstándnis erforderlichen verbindenden Text. Aber
auch das noch Verbleibende wird weiterhin eingeschränkt durch
Abschnitte mit ganz detaillierter Darstellung von Vorgángen, an
denen Talleyrand selbst gar nicht unmittelbar beteiligt war, oderan
denen er, wie an der Vorbereitung der Konkordatsverhandlungen,
nur einen untergeordneten Anteil gehabt hat. So hat nur ein Bruch-
teil der Ausführungen Memoirencharakter, und auch er enthält
nur einen knappen Bericht über seine äußeren Lebensschick-
sale, daneben aber eine Fülle von Urteilen über die verschiedenen
politischen Situationen, über Personen und Maßnahmen, die den
geborenen Staatsmann von außergewöhnlichen Fähigkeiten er-
kennen lassen. Nur selten finden sich nähere Aufschlüsse über
die internen Zusammenhänge der politischen Vorgänge, wie man
sie von den Erinnerungen eines handelnden Staatsmannes er-
warten sollte, so z.B. bei der Behandlung des Wiener Kongresses,
wo er eine eingehende und lebensvolle Schilderung der ersten, für
die Durchsetzung der französischen Ansprüche entscheidenden
Sitzung gibté, um aber bald wieder in seine nur das Wichtigste
herausschálende Darstellungsart zurückzufallen, der in der Tat
der von Talleyrand selbst in der Vorbemerkung vorgeschlagene
Titel ,, Mon opinion sur les affaires de mon temps“ viel besser ent-
sprochen hätte als der zu große Hoffnungen weckende, den der
Herausgeber gewáhlt hat. So geben denn diese Niederschriften
für die Kenntnis Talleyrands nicht mehr her als einen kurzen
Abriß seines äußeren Lebens und eine Reihe von Urteilen, die
* Mémoires du Prince de Talleyrand, Bd. II, 1891, S. 279. Zit.:
Mémoires".
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 341
erkennen lassen, wie er aus der Rückschau des Alters Móglich-
keiten und Wirklichkeiten der franzósischen Politik einschátzte.
Im Ganzen ist also festzustellen, daß trotz desrelativen Reich-
tums an Quellen die Persónlichkeit Talleyrands sehr schwer zu
fassen ist, weil direkte Zeugnisse über sein Innenleben vollkommen
fehlen, die vorhandenen Angaben aber nicht ohne die sorgfältigste
Prüfung verwandt werden dürfen. Aus der Tatsache, daß man
diese quellenkritische Notwendigkeit bisher nicht genügend be-
achtet hat, erklärt sich sowohl die weitgehende Übereinstim-
mung der Geschichtschreibung, als auch die Abweichungen in
der Beurteilung, da viele Forscher aus der Fülle der sich oft kraß
widersprechenden Zeugnisse diejenigen höher bewerteten, die
ihrer Auffassung entgegenkamen.
Am ungünstigsten mußte sich der geschilderte Zustand der
Quellenüberlieferung bei Erörterung aller auf die Erkenntnis der
Persönlichkeit und ihrer Struktur gerichteten Fragen auswirken,
denn hier läßt sich nach der meist angewandten Methode des
Sammelns und Zusammenfügens von Belegstellen am wenigsten
ausrichten. Erst recht muß diese Methode bei der Aufgabe ver-
sagen, festzustellen, welcher Art der innere Zusammenhang der
einzelnen Elemente der Anschauung ist, ja ob es überhaupt er-
laubt und möglich ist, nach so etwas wie einer einheitlichen Welt-
anschauung als der Grundlage des staatsmännischen Handelns
zu fragen.
Hier muß eine andere Art der Behandlung eintreten, die von
der Einsicht in die für jene Zeit in Frage kommenden welt-
anschaulichen Möglichkeiten aus die in den Quellen unterlaufen-
den gelegentlichen Bemerkungen in ihren gedanklichen Zu-
sammenhang einordnet und durch die Reflexion auf die ideolo-
gischen Voraussetzungen erst in die rechte Beleuchtung rückt.
Nur auf diesem indirekten Wege ist es móglich, zu den Ebenen
seiner Persónlichkeit vorzudringen, über die er sich niemals aus-
gelassen hat, weil das gegen sein elementarstes Stilgefühl ver-
stoßen hätte. Es kommt also darauf an, durch eine verstehende
Interpretation aller über das ganze Material zerstreuten Einzel-
äußerungen und Urteile, in denen seine persönlichen Anschau-
ungen sichtbar werden, auf deren weltanschaulichen Gehalt
zurückzuschließen. Dabei ist Ordnung zu bringen in ein un-
systematisches, in seiner Entstehung für uns zufälliges Material,
342 Hermann Wendorf
und nur dessen weite Ausdehnung läßt hoffen, daß alle wesent-
lichen Punkte irgend einmal anklingen werden. Dabei darf denn
nicht überraschen, wenn notwendige Verbindungsglieder fehlen
und Lücken auftreten, die sich aus dem Stoff allein nicht werden
schlieBen lassen.
An einer Stelle der Memoiren verbreitet sich Talleyrand aus-
führlicher über die Philosophie seiner Zeit, nicht um seinen eigenen
Standpunkt zu ihr zu bekennen, sondern um sein Urteil auszu-
sprechen über Anteil und Bedeutung, die sie für die Vorbereitung
der Revolution gehabt hat?. Diese kritische Stellungnahme ist
für unsere Aufgabe deshalb so wertvoll, weil sie eine gründliche
Kennerschaft ihres Urhebers in philosophischen Fragen bezeugt.
. Es finden sich hier eine ganze Reihe von Urteilen, die nur jemand
fállen konnte, der in dieser geistigen Bewegung selbst als denken-
des Glied gestanden hatte. In ihnen sind Einsichten in das Wesen
und in die Haltung der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Be-
wertungen im Ganzen sowie auch einzelner Denker, ausge-
sprochen, die fast ein Jahrhundert verschüttet gewesen und erst
durch die grundsátzliche Revision der Stellung zur Philosophie
der Aufklärung wieder entdeckt worden sinds.
Zu lange ist das Urteil über die Aufklärung durch die Roman-
tik bestimmt gewesen, deren ablehnende Stellung einer zwiefachen
Wurzel entsprang: einmal dem überwindenden Hinwegschreiten
über die von der Aufklärung eingenommene Position des Denkens,
zum anderen aber dem Verwurzeltsein in einer grundsätzlich
andersartigen Haltung und Begründung des Denkens überhaupt.
Das menschliche Denken schwingt in seinem Entwicklungs-
gange zwischen den beiden Polen der autoritáren und der auto-
nomen Gedankenführung hin und her; beide Grundhaltungen
lósen sich in der Führung ab, indem die Jeweils siegreiche wesent-
liche Inhalte der als ihrer Gegnerin vorgefundenen Denkrichtung
sich zu eigen macht und aufhebt. Dieses polare Entwicklungs-
7 Mémoires, Bd. I, S. 82—86.
® Für die neue Einstellung zur Aufklärung siehe neben W. Diltheys jetzt
im III. Band der Ges. Werke, Leipzig, 1927, abgedruckten Abhandlungen: „ Fried-
rich der Große und die deutsche Aufklärung“ und „Das 18. Jahrhundert und
die geschichtliche Welt“, besonders: Ernst Cassirer, „Die Philosophie der Auf-
klärung“. Grundriß der philosophischen Wissenschaften, herausgegeben von Fritz
Medicus, Tübingen 1932.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 343
gesetz des Geistes tritt in Frankreich vermóge der auf übersicht-
liche Klarheit drängenden Eigenart des französischen Wesens
deutlicher in Erscheinung als etwa in Deutschland, wo die Fülle
der individuellen Gestalten im Geistigen die Einordnung in die
beiden großen allgemeinen Grundhaltungen erschwert und die
Linienführung nicht so klar hervortreten läßt. So wird in Frank-
reich die eigentümliche Leistung der Aufklärung besonders deut-
lich sichtbar, weil hier die beiden Parteien in reinlich geschiedene
Heerlager auseinandertreten.
Im 18. Jahrhundert nimmt unter dem überwältigenden Ein-
druck der großen Fortschritte der Naturwissenschaften der
menschliche Geist die unter dem Druck der beherrschenden
Stellung der großen Systeme des 17. Jahrhunderts in den Hinter-
grund getretene Linie der autonomen Haltung wieder auf und
wagt, jetzt mit größerem Erfolg, sich ganz auf sich selbst zu
stellen und mit den Mitteln der Vernunft allein, ohne die Krücken
einer überpersönlichen Weltordnung und Offenbarung, an die
Entschleierung der Welträtsel heranzugehen.
Diese Sachlage spiegelt sich deutlich in den Bemerkungen
Talleyrands, wenn auch nicht in der Terminologie der modernen
Philosophie und Psychologie. Aber alle Momente finden sich
vereinigt: die Gegnerschaft gegen die ganz unter dem Einfluß der
großen Systeme stehenden Schulen, das Bewußtsein der An-
knüpfung an die Philosophie der Renaissance, die Einsicht in die
hohe Bedeutung der Fortschritte der Naturwissenschaft und die
Rolle, die ihrem bedeutendsten Vertreter, Newton, für die Ent-
wicklung des philosophischen Denkens zuzuerkennen ist.
Der Denker, in dem Talleyrand die neue Richtung des Denken
vorzüglich verkörpert sieht, ist Voltaire. Seine Äußerungen über
ihn werden wichtig im Zusammenhang mit der allgemeinen Stel-
lung, die Frankreich zu einem seiner größten Denker einnimmt.
Denn Voltaire ist nicht nur der Führer und hervorragendste
Repräsentant der französischen Aufklärung, er wird von vielen
für einen der, ja für den charakteristischsten Vertreter franzö-
sischer Geistesart angesprochen?. Allerdings ist das ein Urteil,
dem nur die werden zustimmen können, die sich seinem Denken
innerlich irgendwie verbunden fühlen. Das trifft aber, wie eine
* Diese Auffassung wird z. B. vertreten bei Eduard WechBler, Esprit und
Geist, Bielefeld und Leipzig 1927, S. 19.
344 Hermann Wendort
Überschau über die franzósischen Stimmen zeigen würde, für
weite Kreise des franzósischen Volkes nicht zu. Gerade in Frank-
reich ist Voltaire, nachdem die Zeit seiner beherrschenden Vor-
machtstellung im geistigen Leben abgelaufen war, auf über-
wiegende Ablehnung gestoßen. Selbst das Buch von George
Pellissier!®, der mit einer weitgehenden Kongenialität an seinen
Stoff herangeht und, gestützt auf eine gründliche Kenntnis des
gesamten Voltaireschen Schaffens, die wahre Gestalt und Be-
deutung dieses Philosophen durch den Nachweis seiner eigentüm-
lichen Leistung, wie ihrer persónlichen und soziologischen Be-
dingungen und Voraussetzungen mit groDer Eindringlichkeit und
warmer Beredsamkeit zeichnete, hat hierin keinenWandel schaffen
kónnen; es handelt sich hier ja im Grunde auch gar nicht um be-
weisbare Wahrheiten, die nur einsichtig gemacht zu werden brau-
chen, um sich durchzusetzen, sondern es geht um grundsätzlich
anderes, nämlich um die Einstellung zu den letzten Fragen des
Seins, eine Angelegenheit, bei der nur wenigen Menschen das Ver-
stehen für die Art des anderen gegeben ist. So ist es auch nicht
zu verwundern, daß auch nach Pellissier in der französischen
Literatur die Urteile über Voltaire nicht aufgehórt haben, die
auch beim besten Willen zur Objektivitát und Gerechtigkeit nicht
das rechte Verstándnis aufbringen kónnen für das, was er zu-
tiefst gewollt hat und worin das Auszeichnende seiner Leistung
besteht!!,
So galt und gilt auch heute noch Voltaire für einen Vertreter
eines verschämten Atheismus und für einen Feind der Religion
schlechthin. Und an dieser Tatsache wird auch der von Pellissier
mit sichtlicher Wärme der inneren Zustimmung erbrachte Nach-
weis!? nichts zu ändern vermögen, daB Voltaire eine weit über
die bloß aus verstandesmäßigen Erwägungen hervorgegangene
Anerkenntnis eines Gottes als Gesetzgebers und Baumeisters der
Welt hinausgehende echte, aus den Tiefen des Herzens auf-
quellende Religiosität verkörpert, die er selbst mit der aus den
Werken der Kunst aufkeimenden Ergriffenheit und dem Drang
nach dem höchsten Wesen vergleicht. Diese Revision der Auf-
10 Georges Pellissier, Voltaire philosophe, Paris 1908.
u Ein Beleg hierfür ist z. B. das Werk von Victor Delbos, La philosophie
française, Paris (1919), für Voltaire siehe S. 153 ff.
13 Voltaire philosophe, S. 66ff.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 345
fassung wird schon deshalb nicht eintreten kónnen, weil von der
autoritativen Einstellung aus diese Regungen gar nicht als zum
Religiósen gehórig anerkannt werden.
Unter diesen Umständen ist es in höchstem Maße bemerkens-
wert, daß Talleyrand einen sicheren Blick für diese Geistesart
Voltaires hat. Er sieht klar und deutlich den tiefen Respekt, den
Voltaire den ewigen Wahrheiten entgegenbringt, und verteidigt
ihn gegen den Vorwurf, durch seine Lehren zur Untergrabung der
Sittlichkeit und der Ordnung beigetragen zu haben. Er zieht eine
deutliche Scheidelinie zwischen ihm und den Geistern, gegen die
er selbst diese Anklage erhebt, und beweist mit dieser Scheidung
noch klarer seine Fähigkeit und sein Recht zu eigenem Urteil in
Fragen der Philosophie und Weltanschauung.
Der Gegensatz zwischen autoritativer und autonomer Hal-
tung hatte sich in Frankreich zu außerordentlicher Schärfe zu-
gespitzt, weil die katholische Kirche als die Vertreterin der Auto-
rität in den Fragen des Glaubens über die Macht des Staates zur
Unterdrückung aller ihrer Gegner hatte verfügen können. Als
aber nach Ludwigs XIV. Tode eine Erschlaffung der Staats-
gewalt eintrat, setzte eine Zeit nachsichtiger Behandlung ein,
in der die publizistische Vertretung der bis dahin auf das strengste
unterdrückten Auffassungen wieder möglich war. Aber man darf
bei Beurteilung dieses Umschwunges nicht verkennen, daß die
Wandlung der Verhältnisse bloß eine faktische war, daß an dem
geltenden Rechtszustand noch auf lange Zeit hinaus nichts ge-
ändert wurde und daherein festeres Anziehen der Zügelund damit
eine Rückkehr zu den früheren Zuständen jederzeit möglich war.
Durch nichts wird die Labilität der Verhältnisse deutlicher illu-
striert, als durch die Ketzerprozesse des 18. Jahrhunderts und
durch die Tatsache, daß die meisten Schriften der Philosophen
nur im Auslande erscheinen konnten und keiner von ihnen sich
öffentlich zu seinen Werken zu bekennen wagte.
Die allen Vertretern einer freieren Auffassung drohenden Ge-
fahren hatten zur Folge, daß diese sich alle als Kämpfer in einer
gemeinsamen Front fühlten und Divergenzen und Differenzen
der Anschauung zurücktreten ließen hinter dem einen hohen Ziel
des Kampfes für Duldung und Meinungsfreiheit gegen die Macht
der Kirche. So ist denn schon den Zeitgenossen meist verborgen
geblieben und auch in der Forschung nicht immer genügend be-
346 Hermann Wendorf
achtet worden, daß in dieser Kampfgemeinschaft sich zwei grund-
verschiedene und miteinander unvereinbare Formen des Denkens
zusammengefunden hatten, nur scheinbar vereinigt durch die
Grundforderung des Jahrhunderts nach erkenntniskritischer
Besinnung.
Das konsequente Verhalten der Aufklärungsphilosophie in
allen Fragen der Weltanschauung schloß in sich die grundsätz-
liche Ablehnung aller Aussagen, die über die durch die Vernunft
gegebenen menschlichen Erkenntnismóglichkeiten hinausgingen.
Voltaire war auch hier von klarer Folgerichtigkeit und lehnte das
Vorhandensein eingeborener Ideen, der idées innées, entschieden
ab, war aber konsequent genug, diesen Standpunkt auch auf die
Negierung der Transzendenz auszudehnen. Konnte er aus seinen
Voraussetzungen des Denkens angeborene moralische Begriffe
nicht anerkennen, so sprach er sich unter Anlehnung an das
analoge Beispiel aus der Pflanzenwelt, wo die fertige Pflanze ja
auch im Samenkorn angelegt ist und sich in der Entwicklung
entfaltet, für die den Menschen in der Anlage gegebene Móg-
lichkeit des moralischen Verhaltens aus und wußte so dem
Hereinragen der Transzendenz in die immanente Welt Rechnung
zu tragen.
Aber nicht alle waren dem eigenen Denken gegenüber von
der gleichen Verantwortungsbewußtheit. Gerade in Frankreich
glaubten viele in der Leugnung alles Übersinnlichen die letzte
Konsequenz der erkenntniskritischen Fragestellung zu ziehen;
sie machten aber damit Aussagen, die über das Beweisbare
hinausgingen und vollzogen damit, in der irrigen Meinung, einen
weiteren Schritt nach vorwärts zu tun, einen Rückfall in un-
kritische Denkmethoden. Sie landeten so bei einem Materialis-
mus, der — wenn man seine entschiedenen Vertreter durch das
ihnen allen gemeinsame Moment der Negation des Übersinnlichen
zusammenfaBt — den beiden Typen der autoritáren und der
autonomen Einstellung zum Góttlichen als eine dritte, von ihnen
toto genere verschiedene Verhaltungsweise zum Absoluten an die
Seite gestellt werden kann.
Die klare Einsicht in diese Dinge, die Talleyrand in seinen
kritischen Ausführungen zeigt, ist ein weiterer Beweis für das
Sachverständnis, mit dem er sich in den Fragen der Weltan-
schauung bewegt. Ja noch mehr, die Art, wie er Stellung nimmt,
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 347
macht deutlich, daB er sich der von Voltaire geführten Partei inner-
lich zugehórig fühlt. Ihm, Locke und Montesquieu als den wahren
Weisen, die bei aller ihrer Kühnheit immer klug und vorsichtig
gewesen sind und die ewigen Grundlagen alles menschlichen Seins
stets im Auge behalten haben, stellt er in Helvetius, Condorcet,
Raynal, Holbach die weniger aufgeklärten und daher weniger
bedachtsamen Schüler gegenüber, die mit ihren scharfsinnigen
Analysen wohl den Verstand fesseln konnten, die aber die Herzen
kalt lieBen, die Welt mit leeren Abstraktionen anstatt mit den
aus den ewigen Wahrheiten geschópften moralischen Begriffen
zu lenken suchten und darum alle Grundlagen der gesellschaft-
lichen Ordnung erschütterten. Vor allem eine Bemerkung, die
Talleyrand bei dieser Gelegenheit macht, zeigt wie kaum eine
andere seine gründliche gedankliche Schulung und seine
Fähigkeit zu philosophischem Denken. Indem er ihnen den
Vorwurf macht, daß ihre Moralanschauung durchaus meta-
physisch ist, hat er die anfechtbarste Stelle ihrer Position er-
kannt, in der sie ihrem eigenen Ausgang untreu werden und
eine Setzung vollziehen, die im Widerspruch zu ihren Voraus-
setzungen steht.
So zeigt eine genaue Interpretation der Stelle, an der Talley-
rand sich über die Verantwortlichkeit der franzósischen Philo-
sophie für den Ausbruch der Revolution verbreitet, nicht allein,
daB er eine gründliche philosophische Schulung und Begriffs-
bildung besessen haben muß, sondern macht darüber hinaus
wahrscheinlich, daB er dieser Philosophie an einer ganz bestimm-
ten Stelle einzugliedern ist, daß er der Gruppe der um Voltaire
sich scharenden Denker zugehórt.
Man muß sich jedoch hüten, dieses Ergebnis zu sehr zu
pressen und Talleyrand nun für alle Lehren, die bei Voltaire oder
anderen Angehörigen seines Kreises vorkommen, in Anspruch
zu nehmen. Mehr besitzen wir jedenfalls nicht als eine allgemeine
Richtlinie, einen Orientierungspunkt, ein Hilfsmittel, mit dem
es uns vielleicht gelingen kann, noch andere Anschauungselemente
auf ähnliche Weise zu erschließen. Aber es darf ihm dabei keine
Meinung zugeschrieben werden, die sich nicht aus seinen Äuße-
rungen belegen oder mit Sicherheit auf anderem Wege glaubhaft
machen läßt. Äußerste Vorsicht bei allen Schlußfolgerungen muß
leitender Gesichtspunkt sein.
348 Hermann Wendorf
Insbesondere wird man sich hüten müssen, etwa den religiósen
Standpunkt Voltaires auf Talleyrand zu übertragen. Es lieBen
sich wohl vereinzelte Aussprüche finden, die als eine innere Zu-
stimmung gedeutet werden kónnten, doch sind sie viel zu all-
gemein gehalten, um auf ihnen Rückschlüsse aufbauen zu können.
Die schon erwáhnte Einstellung Talleyrands, die jede vertrau-
liche Aufgeschlossenheit Dritten gegenüber als einen Verstoß
gegen den Stil der Lebenshaltung empfindet, gilt erst recht für
das Gebiet des Religiósen. Solche Menschen nehmen, wenn eine
Regung des Gemütes sie zu überkommen droht, lieber ihre Zu-
flucht zu einem Zynismus, als daß sie die Bewegtheit ihres Innern
fremden Augen sichtbar werden lassen. Ebensowenig haben wir
bei der geschilderten Eigenart aller Aufzeichnungen damit zu
rechnen, daB Talleyrand jemals seinen religiósen Standpunkt
schriftlich niedergelegt hat.
Eher noch als die schriftlichen Quellen bieten bei entspre-
chender Interpretation die Maßnahmen des praktischen Ver-
haltens in der Politik die Móglichkeit eines Eindringens in die
Zusammenhänge und die Bestimmtheit seiner inneren Einstel-
lung. Wird es auch auf diese Weise nicht gelingen, eine pháno-
menologische Beschreibung seiner Religiosität zu geben, so läßt
sich diese doch vielleicht gegen andere mógliche Haltungen ab-
grenzen.
Am aufschlußreichsten ist unter diesem Gesichtspunkt die
Konsekration von Bischöfen, die Talleyrand noch nach Nieder-
legung seines bischöflichen Amtes am 24. Februar 1791 vollzogen
hat. Der Vorwurf des Sakrilegs, der ihm hieraus wie auf Grund
seiner ganzen kirchenpolitischen Stellungnahme während der
Revolution von streng katholischer Seite gemacht worden ist, läßt
sich nicht halten, da er Talleyrand an einem ihm wesensfremden
Maßstab mißt und nicht nach seinen wahren Motiven fragt;
ebenso unhaltbar ist auch der Versuch der Erklárung aus der
Angst vor dem Pariser Póbel, weil er auf kritikloser Verwendung
offensichtlich voreingenommener Berichterstatter beruht??.
Zu verstehen ist Talleyrands Verhalten nur aus der allge-
meinen Situation im damaligen Zeitpunkte. Die Beschlüsse der
Nationalversammlung über das Kirchengut, die rechtliche Stel-
lung des Klerus und die Besetzung der Stellen hatten sie in einen
13 So Lacour-Gayet, Talleyrand I, S. 129f.
3 —— — —
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 349
Gegensatz zur Kurie gebracht, der durch die Einführung der
Zivilkonstitution des Klerus den offenen Konflikt herbeiführte.
Dabei richtete sich, wenigstens damals noch, der Gegensatz
lediglich gegen die zentralistische Verfassung der Kirche und die
Vormachtstellung des Papstes; insofern liegt die Kirchenpolitik
der Nationalversammlung damals noch in der Linie des Galli-
kanismus. Keinesfalls wollte man aber 1791 schon die Lehre der
Kirche oder etwa ihre Idee verwerfen. Mit der Verdammung der
Zivilkonstitution durch den Papst wurde für die franzósische
Kirche eine sehr schwierige Lage geschaffen. Zwar entschlossen
sich trotz Androhung schärfster pápstlicher Zensuren zahlreiche
Geistliche zur Ablegung des Eides auf die Konstitution, aber im
Ganzen nur vier Bischöfe. Da sich also die hohen Würdenträger
der franzósischen Kirche auf die Seite des Papstes stellten und
sich der nationalkirchlichen Neuordnung versagten, lag auf diesen
vier ,,konstitutionellen" Bischöfen die Zukunft der neuen Nati-
onalkirche, da sie ja allein die durch Handauflegung, Salbung und
Gebet vollzogene Weihe erhalten hatten, die sie zu Nachfolgern
der Apostel machte und befáhigte, auch ihrerseits nach den
kanonischen Vorschriften gültige Weihen von Priestern und
Bischófen vorzunehmen, die den ununterbrochenen Traditions-
zusammenhang mit Petrus und über ihn mit Christus wahrten,
aus dem allein Kraft und Fáhigkeit zur Ausübung der priester-
lichen Funktionen sich herleiteten. Selbst nach den günstigsten
Zählungen hätten nur 56—57 aller Geistlichen den verlangten Eid
geleistet; diese Ziffer wird aber angezweifelt, ihre Höhe bestritten“.
Um den Anforderungen der Seelsorge zu genügen, war die neue
Nationalkirche darauf angewiesen, so bald wie möglich eine große
Zahl von Priestern zu weihen und auch für den Aufbau einer
Hierarchie Sorge zu tragen.
Für diesen Zweck hat sich Talleyrand zur Verfügung gestellt,
weil die zur Vornahme einer Weihe nach den kanonischen Vor-
schriften erforderliche Anzahl von Bischöfen infolge Verhinde-
ıung und Abwesenheit nicht aufzubringen war.
Das ist der zu interpretierende Tatbestand; ergänzend tritt
hinzu die Rechtfertigung, die er seinem Verhalten in seinen
Memoiren gegeben hat!5. Auch bei der größten Vorsicht bei der Be-
M Pierre dela Gorge, Histoire religieuse de la Révolution francaise, Paris1909,
Bd. I, S. 389. 15 Mémoires I, S. 136.
350 Hermann Wendort
urteilung wird man zu dem Schluß kommen müssen, daß Talley-
rand doch wohl in der Kirche einen Wert gesehen haben muß,
der ihm ihre Erhaltung als unbedingt notwendig erscheinen ließ,
zumal er noch nach dem Verzicht auf sein bischófliches Amt die
Weihe vornahm, was keinen Widerspruch in sich schließt, da
nach katholischer Auffassung eine einmal vollzogene Weihe einen
character indelebilis verleiht, der nicht wieder aufgehoben
werden kann.
Zur Begründung seines Schrittes führt Talleyrand in seinen
Memoiren an, daß dies der einzige Weg gewesen sei, das Abgleiten
der französischen Kirche in den Presbyterianismus zu verhindern.
Daraus ergibt sich zunächst, daß er diese Form der Religions-
übung ablehnte, weil er in ihr eine Gefahr für das Glaubensleben
sah. Es läßt sich daraus mit ziemlich weitgehender Sicherheit
schließen, daß er das Prinzip, auf das sich der Protestantismus
gründet, auch für seine Person ablehnte, was wiederum die
weitere Schlußfolgerung zuläßt, daß ihm dessen Grundeinstellung,
die aus der unmittelbaren Ergriffenheit des Innersten im Menschen
von Gott das Gefühl der persönlichen Verantwortung vor seinem
Gericht schöpft, innerlich fremd gewesen sein muß.
Damit scheiden für Talleyrands religiöses Innenleben alle
Züge einer persönlichen Heilsgewißheit, die im inneren Ringen
mit dem in der Tiefe des Herzens erfahrenen Gott erworben ist,
aus, also jene Art des Gotterlebens, die einem Luther mit solcher
Kraft aufgegangen war, daß sie ihn den Kampf mit der Kirche auf-
nehmen hieß, sie konnte ihm nur fremd und unverständlich bleiben.
Will man hier im Verstehen noch weiter vordringen, so be-
findet man sich seelischen Tatbeständen gegenüber, die, 80
wichtig, ja entscheidend sie für die Willensbildung der Völker
sind, sich der Erfassung in exakter Beweisführung entziehen.
So viel läßt sich jedoch sagen, daß die auf dem Boden des Pro-
testantismus häufig zu beobachtende Dynamik des Glaubens-
lebens mit allen ihren erschütternden Zügen des Irrationalen,
dieses Uberwältigtwerden von dem übermächtigen Einbruch
Gottes in die Seele, dem Bedürfnis des französischen Geistes nach
rationaler Klarheit und übersehbarer Durchsichtigkeit aller Ver-
hältnisse durchaus zuwiderläuft. Diese Verschiedenheit der
inneren Haltung ist ja auch der tiefste Grund dafür, daß die
Reformation Martin Luthers in Frankreich keinen Eingang ge-
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 351
funden hat, daß sogar schon der dem französischen Denken mehr
angenäherte Calvinismus es schwer hatte, überhaupt dort Fuß
zu fassen. Zu verschieden ist eben Denken und innere Wesensart
des deutschen und französischen Volkes, um eine Gemeinsam-
keit inneren Erlebens auf dem Gebiete der Religion zu ermög-
lichen. Noch unterstützt werden mußte bei Talleyrand die Ab-
lehnung der persönlichen Auseinandersetzung mit Gott durch
den erkenntniskritischen Standpunkt der Aufklárungsphilosophie,
der seinen aus dem Volkstum stammenden rationalen Bedürf-
nissen entgegenkam. Je strenger er sich die Achtung der
dem menschlichen Erkenntnisvermógen gezogenen Grenzen zur
Pflicht machte, desto weniger konnte er einen persónlichen Ver-
kehr des einzelnen mit Gott annehmen.
Aus diesem Zwiespalt, daß ein Gott existiert, der sich jeder un-
mittelbaren Erfassung entzieht, daB aber trotzdem alles moralische
Verhalten nach ihm einzurichten ist, zeigt eine andere Eigentüm-
lichkeit des französischen Geistes einen Ausweg, nämlich sein
Bedürfnis, alle Verhältnisse in klare, einsichtige, faßbare juri-
stische Formen zu kleiden, alles in Rechtsbeziehungen aufzu-
lösen. So wird auch das religiöse Verhältnis als ein juristisches
aufgefaBt, und da Gott nicht aus seiner Transzendenz heraus-
tritt, so hat er sich als seine Stellvertretung, als den Vertrags-
partner, mit dem man in gesetzlich geregelte Beziehungen ein-
zutreten hat, die Kirche geschaffen und mit seiner höchsten
Autoritát bekleidet.
Diese Auffassung begründet eine ganz besondere Stellung zur
Kirche. Diese wird für einen jeden Menschen zu einem unum-
gánglichen Bindeglied, zum Mittler mit Gott, als dessen Stell-
vertreter sie auftritt. Nur durch sie wird ein Verháltnis zu Gott
ermóglicht, das gleichfalls als eine Erfüllung der aus einem Rechts-
verhältnis sich ergebenden Verpflichtungen aufgefaßt wird.
Diese durchgehende Rationalität aller Beziehungen rückt eine
Erscheinung in das rechte Licht, die gerade in diesem Kulturkreis
eine besonders eigentümliche Ausbildung erfahren hat: die Kon-
versionen. Sie gewinnen von den Voraussetzungen dieser typischen
Geistesverfassung aus im Seelenleben des Einzelnen eine ganz
bestimmte Bedeutung und nehmen im Ablauf der individuellen
Entwicklung eine mit einer Art von gesetzmäßiger Regelmäßig-
keit auftretende Stelle ein.
352 Hermann Wendorf
Weil alle Phánomene des Religiósen auf der gleichen Ebene
vernunftgemäßer Rationalität liegen, gibt es keine schroffen
Gegensätze von kontradiktorischer Ausschließlichkeit. Es gibt
im Gegenteil nur allmähliche Übergänge von einem Standpunkt
zu dem ihm im logischen Fortgang der Gedankenbewegung
nächst verwandten, so daß die Fülle der verschiedenen Welt-
anschauungen im Bewußtsein verknüpft erscheint durch eine
Reihe von kontinuierlichen Übergängen, und es ist gar keine
Seltenheit, daß die verschiedenen Möglichkeiten weltanschau-
licher Einstellung von einem und demselben Individuum ohne
schwerere seelische Erschütterungen und innere Kämpfe rein
an der Hand des rationalen Denkens nacheinander durchlaufen
werden. Dabei ist die extreme Negierung des Religiösen über-
haupt, der Atheismus, keineswegs ausgeschlossen, weder im Prin-
zip noch tatsächlich. Dabei begegnet man häufig einer bestimm-
ten Regelmäßigkeit in der durchlaufenen Bewegung: von einem
positiven Ausgangspunkt nimmt das seiner Kraft bewußt ge-
wordene Denken seine Stellung auf der Seite einer freieren Hal-
tung, um dann später, wenn in vorgerückterem Lebensalter die
Fragen der Ewigkeit stärker bestimmend auftreten, in eine
rückläufige Bewegung einzutreten und die Fäden zur Kirche
wieder anzuknüpfen, um das Fazit des Lebens zu ziehen und
nicht ohne eine Bereinigung des Verhältnisses zu Gott aus dem
Leben zu scheiden.
Ganz in Übereinstimmung mit diesen unter den angegebenen
Voraussetzungen für den geschilderten Menschentyp nicht selten
zu beobachtenden Formen wird sich auch die innere Entwick-
lung Talleyrands vollzogen haben. Über das abschließende Sta-
dium, seinen Frieden mit der Kirche, sind wir durch Lacombe!“
und Lacour-Gayet!" gut unterrichtet; wenn beide auch von
grundsätzlich anderer Einstellung an die Dinge herangehen, so
widerspricht doch nichts in ihrer Darstellung der oben gegebenen
psychologischen Deutung. So kommen wir zu dem Schluß, daß
wir zwar nicht Talleyrands persönliche Religiosität in ihren
individuellen Eigentümlichkeiten haben bestimmen können, daß
es uns aber doch gelungen sein dürfte, den näheren Umkreis
10 Bernard de Lacombe, La vie privée de Talleyrand, Paris 1910, S. 255.
1 Lacour-Gayet, Talleyrand, Bd. III, S. 338ff.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 353
von Móglichkeiten ziemlich genau zu umgrenzen, die für sein
persónliches religióses Verhalten in Frage kommen.
Auch hier wurden wir wieder auf die Kreise der Aufklärung
hingewiesen, so daß wir für seine religiösen Anschauungen eine
Übereinstimmung mit seinen philosophischen Ansichten fest-
stellen kónnen. In zwei der wichtigsten Bezirken des Seelenlebens
erscheint so die Einheit der Haltung gewahrt, ohne die der Per-
sónlichkeit die Geschlossenheit mangeln würde, die die Voraus-
setzung einer sich nicht durch innere Widersprüche und Dis-
harmonien um die besten Möglichkeiten des Wirkens bringende
Tátigkeit bildet.
Ehe wir weitergehen und den Versuch fortsetzen, die Quellen
zu Talleyrand auf die in ihnen sichtbar werdenden Bestandteile
seiner Ideenwelt zu untersuchen, ist zunächst noch ein Grund-
zug aus dem Denken der Aufklárung herauszuheben. Jhr Auf-
treten war bedingt durch die imponierenden Leistungen der
Naturwissenschaften, vor allem der mathematischen Physik und
Astronomie, die den zur Zeit der Vorherrschaft der großen
Systeme des 17.Jahrhunderts im Schatten stehenden, aber
keineswegs ausgestorbenen Vertretern der autonomen Ein-
stellung wieder Mut und Zuversicht gaben, durch Anwendung
ihrer erfolgreichen Methoden den Versuch zu wagen, die Welt
durch das empirische Denken zu erobern. Die Bedeutung der
Naturwissenschaften mußte unter diesen Umständen für das
gesamte Denken der Aufklärung entscheidend werden, indem
die naturwissenschaftliche Begriffsbildung schlechthin vorbildlich
für alle Operationen des Denkens wurde, in der Welt der Natur,
wie auch, da die Eigengesetzlichkeit der Geisteswissenschaften
noch nicht erkannt war, im Bereiche des gesellschaftlichen und
geistigen Lebens. Ausgehend von den durch die Beobachtung ge-
gebenen Tatsachen suchte man die allen Dingen zugrundeliegende
Gesetzmäßigkeit, die allen ein feststehender Glaubenssatz war,
zu finden und unterwarf diesem Gedanken mit rücksichtsloser
Konsequenz alle Verhältnisse des Lebens. Wie weit man dabei
ging, mag ein Wort Voltaires zeigen: „Nous sommes emportés
dans le mouvement general imprime par le Maitre de la nature...
nous ne sommes pas plus les maitres de nos idees que de la cir-
culation du sang dans nos veines. Chaque étre, chaque maniere
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 23
354 Hermann Wendorf
d’être tient nécessairement àla loi universelle. Il est ridicule, dit-on,
et impossible que l'homme se puisse donner quelque chose, quand
la foule des astres ne se donne rien. C'est bien à nous d'étre
maîtres absolus de nos actions et de nos volontés quand univers est
esclave!‘‘1®, Diese Gesetzmäßigkeit dachte man sich ganz nach der
Weise der Naturwissenschaften, hauptsáchlich der Astronomie. So
faßte man auch die Gesellschaft auf als eine Summierung von in
sich selbständigen Individuen, von denen jedes seinen eigenen Be-
wegungsgesetzen folgt und seine eigene Rechts- und EinfluB-
sphäre besitzt. Da die Aufklärung nach ihrem erkenntnis-
kritischen Grundsatz jede die Grenzen der Erfahrung über-
schreitende Aussage zu machen ablehnte, war ihr bei dem noch
unentwickelten Stand der fxeisteswissenschaften die Einsicht in
die überpersönlichen Zusammenhänge notwendigerweise ver-
schlossen. Sie konnte den Staat von ihren Denkvoraussetzungen
aus nicht anders als mechanisch bilden und kam darum über die
bloße Aneinanderreihung einzelner Individuen mit ihren In-
teressensphären nicht hinaus. Wenn nur ein Jeder seine Bahn
nach dem Gesetz des größten Nutzens und des höchstens Glückes
verfolgte, glaubte man, daß vermöge einer Art von prästabi-
lierter Harmonie damit zugleich das allgemeine Wohl auch der
Gesamtheit befördert würde, vorausgesetzt, daß die eine Be-
dingung gewahrt würde, daß jeder Einzelne sich aller Beein-
trächtigung und Schädigung der Rechts- und Interessensphäre
des anderen enthielte. So kam man zu der Idee einer in der Art
ihres Aufbaues primitiven, in der angenommenen Wirkung aber
höchst kunstvollen Struktur der Gesellschaft, die die über-
greifenden Gemeinsamkeiten auf eine einfache rationale Formel
brachte und in einem individualistischen Zeitalter auch den für
den Aufbau der Gemeinschaft unvermeidlichen altruistischen
Notwendigkeiten Rechnung trug.
Diese Auffassung wird bei Talleyrand an mehr als an einer
Stelle sichtbar, so, wenn er in seinen Memoiren sagt: „que Phom-
me dépend pour son bonheur du bonheur des autres hommes“
und von einem ,,besoin réciproque des services, puissant mobile
de bienveillance générale et particuliére" spricht. Die gleiche
Auffassung steht im Hintergrunde, wenn er dem Herzog von
1? Brief an Mme, Du Deffand vom 24. Mai 1764. Oeuvres complètes, Bd. 43
(Correspondance Bd. 11), S. 223.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 355
Orléans den Vorwurf macht, „qu'il ne voyait pas dans le bien
qu'il voulait faire aux autres la garantie de celui qu'il en recevrait ;
son égoisme borné ne lui permettait pas de croire que, dans
cette échange, on lui rendait plus qu'il ne donnerait'!?. Und
da man die Beziehungen zwischen den Staaten als den Kollektiv-
individuen analog dem bürgerlich-gesellschaftlichen Verhältnis
konstruierte, findet sich die Grundanschauung der Aufklàrung
von der Natur des gesellschaftlichen Zusammenlebens in gerade-
zu klassischer Einfachheit und Deutlichkeit formuliert in dem
Bericht an den König über den Wiener Kongreß in den beiden
Sätzen: „pour établir un ordre de choses solide, il fallait que
chaque État y trouvát tous les avantages auxquels il a droit
de prétendre' und „on avait travaillé de bonne foi à procurer
à chacun ce qui ne peut pas nuire à un autre“.
Noch deutlicher als in dieser Spiegelung der einzelnen Ele-
mente aufklárerischen Denkens in seinen Äußerungen tritt die
Zugehörigkeit Talleyrands zur Aufklärung in Erscheinung, wenn
man auf seinen Sprachgebrauch achtet. Es sei hier an einem
besonders wichtigen Beispiel nachgewiesen, wieviel für das rich-
tige Verstándnis Talleyrands darauf ankommt, die von ihm ver-
wandten Begriffe in der richtigen, d. h. in der von ihm gemeinten
Bedeutung aufzufassen. Es handelt sich dabei um das Wort
„Prinzip“, das vor allem auf dem Wiener Kongreß eine große
Rolle bei den diplomatischen Verhandlungen gespielt hat und
das durch die Art, wie es ausgelegt wurde, zu Mißverständnissen
Anlaß gegeben hat. Indem man es einfach mit dem Wort,, Grund-
satz übersetzte, legte man Talleyrand in den Mund, er habe
in der Politik strenge Befolgung von sittlichen Grundsätzen
gepredigt, wobei es dann ein Leichtes war, da er sich in seiner
eigenen Politik durchaus nicht von grundsätzlichen Erwägungen
bestimmen ließ, sondern, wie alle wahren Staatsmänner, real-
politisch nach den gegebenen Umstánden handelte, ihn des
Widerspruches zwischen Worten und Taten zu zeihen und den
Vorwurf des Machiavellismus gegen ihn zu erheben. Dabei ist
man aber einem sprachlichen Mißverständnis zum Opfer ge-
19 Mémoires, Bd. I, S. 157.
2 Pallain, Correspond. inéd. du Prince de Talleyrand et du Roi Louis XVIII.,
S. 456.
23*
356 Hermann Wendorf
fallen, denn Talleyrand verwendet das Wort principe im Sinne
der Aufklärung und gibt ihm damit einen ganz anderen Sinn, als
er ihm hier beigelegt wird.
Im 18. Jahrhundert hatte der Begriff,, Prinzip“, wie übrigens
auch heute noch im Französischen in höherem Maße als im
deutschen Sprachgebrauch, die ursprüngliche Bedeutung des
Aníangs, des Voraussetzung-Seins für ein anderes noch durchaus
bewahrt?!, So sagt die Encyclopédie von den principes: „Les
axiomes ou les principes sont des propositions dont la vérité se
fait connaître par elle-même, sans qu'il soit nécessaire de la
démontrer. On les appelle autrement des premiéres vérités: la
connaissance que nous en avons est instinctive. Comme elles
sont évidentes par elles-mémes, et que tout esprit les saisit sans
qu'il lui en coute le moindre effort, quelques uns ont supposé
qu'elles étaient innées ... Par les premiers principes nous enten-
dons un enchainement de vérités dont l'objet existe hors de
notre esprit'**. In ganz ähnlichem Sinne sagt Montesquieu in
der Préface seines „Esprit des lois“: „J'ai d'abord examiné les
hommes, et j'ai cru que, dans cette infinie diversité de lois et
de moeurs, ils n'étaient pas uniquement conduits par leurs
fantaisies. J'ai posé les principes et j'ai vu les cas particuliers
S'y plier comme d'eux-mémes, les histoires de toutes les nations
n'en étre que les suites, et chaque loi particuliére liée avec une
autre loi, ou dépendre d'une autre plus générale ... Je n'ai
point tiré mes principes de mes préjugés, mais de la nature
des choses.“
Diese Ausführungen, von denen die eine durch den Namen
ihres Urhebers, die andere durch die Stelle, an der sie erschienen
ist, als charakteristisch für das Denken der Aufklärung erwiesen
sind, die aber durch zahlreiche ähnlich lautende Äußerungen aus
der französischen Aufklärungsliteratur ergänzt werden können,
sind in dieser Ausführlichkeit wiedergegeben worden, weil nur
der genaue Wortlaut zeigt, worauf es hier ankommt. Zweierlei
ist für unsere Fragestellung wesentlich: 1. das den Standpunkt
des Subjekts transzendierende Moment, das dem Begriff inne-
wohnt. Aus den Erfahrungstatsachen, die das Bewußtsein vor-
findet, wird durch das „Prinzip“ eine objektive, d. h. dem
31 Vgl. den Artikel , principe" in: La Grande Encyclopédie, T. XVII. S. 662.
133 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné, T. I, Paris 1751, S. 906f.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 357
Subjekt gegenüberstehende Außenwelt erfaßt und mit intui-
tiver Gewißheit erkannt; 2. die Tatsache, daß die auf diese
Weise erfaßte Wirklichkeit ihrerseits von sich aus einer Gesetz-
mäßigkeit unterworfen ist. Diese Gesetzmäßigkeit wird in den
„Prinzipien“ in unserem Bewußtsein mit den Mitteln des empi-
rischen Denkens gleichsam nachgebildet, so daß die Prinzipien
ein doppeltes Gesicht bekommen: sie sind bewußtseinsimmanent,
aber sie spiegeln eine außerhalb des Bewußtseins in der objek-
tiven Wirklichkeit seiende Gesetzmäßigkeit wider, sie gehen auf
eine gültige Seinsordnung und haben damit eine über die Sub-
jektivität hinausweisende Tendenz. Das angeführte Beispiel
Montesquieus zeigt, daß dies auch für die Welt des Staates und
der Gesellschaft Geltung hat, daß auch dieser Teil der objektiven
Wirklichkeit in die strenge Gesetzmäßigkeit alles Seins ein-
bezogen ist.
Eine Überprüfung des Sprachgebrauchs Talleyrands zeigt
ihn mit dieser Auffassung durchaus in Übereinstimmung. Wo
er von principes ohne nähere attributive Bestimmung spricht,
da hat er meist die zu treffende oder zu wahrende Überein-
stimmung der Maßnahmen staatlicher Politik mit den ewigen
Gesetzen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung im
Auge. Er spricht gelegentlich von den „principes constitutifs
de la société“ und führt Schädigungen und Rückschläge des
politischen Lebens auf ihre Nichtbeachtung zurück. So sieht er
den Grund für den Zusammenbruch des franzósischen Staates
und die Verirrungen der Revolution darin, daß die Stände des
alten Frankreich von ihrer ursprünglichen Bestimmung abge-
wichen sind und ein jeder von ihnen die ihm gesetzten Schranken
durchbrochen hat“. Die Nationalversammlung vermochte eine
neue staatliche Ordnung nicht zu schaffen, weil sie nicht die
nötige Einsicht hatte, „qu'il y a pour la société civile un mode
d'organisation nécessaire sans lequel elle ne saurait exister''?5,
Derartige Wendungen, die auf die Annahme einer überstaat-
lichen Ordnung hindeuten, sind von ziemlicher Häufigkeit,
Talleyrand spricht gern von „systeme social“, „société Euro-
peenne‘‘, vom ,,systéme?* de politique générale“, in dem Frank-
3 Mémoires I, S. 132. 24 Mémoires I, S. 110f. 35 Mémoires I, S. 132.
* Es sei darauf hingewiesen, daß auch der Begriff „système“ im Denken der
Aufklárung transzendierende Bedeutung hat. Ein echtes System muB auf empirischen
358 Hermann Wendorf
reich den Rang wieder einnehmen solle, „qu'elle est appellée
à occuper"? , welcher Ausdruck doch nur unter der Voraus-
setzung einer übergreifenden Rechtsordnung verständlich ist,
in der von dem Ganzen aus jedem der Teile sein bestimmter
Platz angewiesen ist. Diese Rechtsordnung ist nichts anderes als
das Naturgesetz der Aufklärung, die ,,loi morale ou de nature''?5,
in welchen Worten Talleyrand in dem grundsätzlichen Teil
seiner Instruktionen für den Wiener Kongreß die weltanschau-
liche Unterbauung seiner Politik sichtbar werden läßt.
Aber auf dem Gebiete der Gesellschaft wirkt das Gesetz nicht
unmittelbar wie im Reich der Natur, sondern durch das Medium
des Menschen. Er ist mit seinem Bewußtsein und seiner Fähig-
keit zu freier Willensentschließung wie eine Art Zwischeninstanz
eingeschaltet. In dem Bereich des gesellschaftlichen Lebens voll-
ziehen sich die ewigen Gesetze, indem sie der Mensch in sein
Bewußtsein erhebt und sich in seinen Handlungen durch ihre
ewigen Wahrheiten bestimmen läßt. Damit ist gegeben, daß
ihre Verwirklichung nicht mit der ehernen Notwendigkeit erfolgt
wie im Naturgeschehen, sondern mannigfacher Durchbrechung
und Durchkreuzung durch menschliche Verblendung und Irr-
tümer aller Art ausgesetzt ist. So sehen wir auf dem Wiener
Kongreß als der einzigen Zeit im Leben Talleyrands, in der ihm
eine unbehinderte politische Wirksamkeit beschieden gewesen
ist, — zugleich aber auch als derjenigen, die durch seine Instruk-
tionen“, durch seine Berichte an den König und das Ministe-
rium?" und durch den „ Rapport fait au Roi pendant son voyage
Tatsachen aufgebaut sein, die einer großen Zahl von strengen Beobachtungen ent-
stammen. Derartige Systeme gibt es in den Naturwissenschaften, aber auch in der
Politik. Während sie dort die Aufgabe haben, Wirkungen zu berechnen, dienen sie
hier dazu, sie vorzubereiten und hervorzubringen. „ Il n'y a point de science ni d'art
oü l'on ne puisse faire des systémes: mais dans les uns, on se propose de rendre raison
des effets; dans les autres, de les préparer et de les faire naitre. Le premier objet est
celui de la physique, le second est celui de la politique." Encyclopédie, T. XV,
Art., syst dme“.
7 Mémoires II, S. 205; ähnlich sagt er II, S. 156: „... la replacer au rang élevé
qu'elle doit occuper dans le système social.“
38 Mémoires II, S. 217.
13 Mémoires II, S. 214—266.
30 Pallain, Georges, Correspondance inédite ... vgl. Anm. 1 und Mémoires II,
S. 300 bis III, S. 190. Hier auch die Korrespondenz mit dem Ministerium, beides
nach den Konzepten T.'s.
> Pg * —
* T í
a — ma a
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 359
de Gand à Paris“ 1 die reichsten Einblicke in sein Denken und
Handeln ermóglicht — einen ganz wesentlichen Teil seiner Be-
mühungen darauf gerichtet, die gegnerischen Staatsmänner mit
seiner Auffassung von der notwendigen und allein gerechten
Ordnung der Staatenwelt zu durchdringen, die ihm gerecht
erscheint, eben weil sie mit den einzig wahren Prinzipien der
natürlichen Gesellschaft übereinstimmt. Darum spricht er auch,
wenn er sie im Auge hat, mit Vorliebe von den ,,vrais prin-
cipes‘‘®2, dem „ordre véritable"53, dem er als Gegensatz den
,Ordre de choses existant''** gegenüberstellt. Es findet also eine
völlige Schwerpunktsverlagerung statt. Das wahre Sein der
Dinge liegt nicht mehr in der vorgefundenen Wirklichkeit,
sondern in den überzeitlich naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten.
Das Wirkliche hat seine Wahrheit nicht mehr im Seienden,
sondern im Seinsollenden. Diesem wird daher die wahre Rea-
litàt zuerkannt. Das ist bei Gelegenheit eines zusammenfassen-
den Urteils über Napoleon ganz deutlich ausgesprochen. ,,Na-
poléon est le premier et seul qui ait pu donner à l'Europe un
équilibre réel qu'elle cherche en vain depuis plusieurs siécles ...
Avec l'équilibre réel, Napoléon a pu donner aux peuples de
l'Europe une organisation conforme à la véritable loi morale.
Un équilibre réel eut rendu la guerre presque impossible. Une
organisation convenable eut porté chez tous les peuples la civi-
lisation au dégré le plus élevé qu'elle puisse atteindre''35,
Diese allenthalben über Talleyrands ÁuBerungen zerstreuten
Wendungen weisen in ihrer Gesamtheit durchaus auf eine ein-
heitliche Quelle hin; sie sind der AusfluB einer geschlossenen
Weltanschauung, die auf dem gedanklichen Boden der Auf-
klärung erwachsen ist. Ihre erkenntniskritischen und meta-
physischen Voraussetzungen hatten wir überall durchscheinen
sehen; nun auch noch seine Anschauungen zur Staats- und Ge-
sellschaftslehre kennen zu lernen, wird aus einem besonderen
Grunde von besonderem Interesse sein. Der schwächste Teil der
Aufklárungsphilosophie ist zweifellos ihre Staatslehre — auch
n Abgedruckt: Mémoires III, S. 195—227.
n Mémoires II, S. 281.
9 Mémoires I, S. 253.
M Mémoires I, S. 256.
55 Mémoires II, S. 132.
360 Hermann Wendorf
das ist eine natürliche Folge ihres Ausgangspunktes und ihrer
Methode. Da alle Erkenntnis aus der Erfahrung stammen, durch
Verarbeitung des gegebenen Tatsachenstoffes mit den Mitteln
des analytischen Denkens zustande kommen sollte, fehlte es den
Aufklärern, die fast durchweg aus den Schichten des Bürger-
tums stammten, also nach der damaligen Lage der Sache keine
Einsicht in das Wesen und den Aufbau des Staates mitbrachten,
durchaus an der nötigen Erfahrung, so daß sie ihre Zuflucht zu
einer wirklichkeitsfremden Abstraktion zu nehmen gezwungen
waren. Montesquieu mit seinem „Esprit des lois“ steht auf ein-
samer Hóhe. Um so gróDeres Interesse weckt da die Frage nach
der Staatsauffassung Talleyrands als eines Mannes, der dem
Staat durch Familientradition eng verbunden war und der
durch seinen Entwicklungsgang und durch seine staatsmän-
nische Laufbahn eine gründliche empirische Kenntnis aller
Funktionen des Staatslebens erworben hatte, wie sie den meisten
Vertretern dieser Denkrichtung abgegangen war.
Ebensowenig wie bei den übrigen Seiten seiner Ideenwelt
werden wir in Hinsicht auf den Staat damit rechnen kónnen,
zusammenhängende Ausführungen von Talleyrands Anschau-
ungen zu finden. Auch auf diesem Gebiete sind wir auf den Ver-
such der Wiederherstellung durch Rückschlüsse aus der diplo-
matischen Korrespondenz und den Memoiren angewiesen, nur
daß in dieser Beziehung das Material reicher fließt, weil der
Staat ganz im Mittelpunkt dieser Betrachtungen steht.
Nach der formalen Seite ist die Grundanschauung bereits
festgestellt: sie besteht in der Annahme einer durchgehenden
GesetzmáDigkeit, der alle einzelnen Momente untergeordnet
sind. Die Grundzüge dieser Ordnung der in staatliche Verbände
zusammengefaßten Menschen untereinander sind die,, Prinzipien“
als die dem Reich der natürlichen und ewigen Wahrheiten ent-
stammenden Regeln des Verhaltens. Man wird sich also Talley-
rands Staats- und Gesellschaftsanschauung vorzustellen haben
als eine Summe von derartigen Prinzipien, die in ihrer Gesamt-
heit das ganze gesellschaftliche Leben der Menschen umfassen
und in allen seinen einzelnen Äußerungen bestimmen. Aber nicht
alle dieser Prinzipien werden sichtbar, sondern nur diejenigen
von ihnen, die im Bereich seiner politischen Tätigkeit berührt
werden, oder die er in seinen Urteilen über die geschichtliche
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 361
Entwicklung als für das politische Geschehen als bedeutsam
hervorhebt.
Unter den Prinzipien ist das der Legitimität mit besonderem
Nachdruck als das wichtigste herausgehoben. Für Talleyrand
ist es „le principe sur lequel repose tout ordre social“ . Vor
allem zur Zeit des Wiener Kongresses steht es im Vordergrunde
seiner Argumentation. In immer neuen Wendungen betont er
seine Heiligkeit, Unverletzlichkeit, seine Bedeutung für die
staatliche Ordnung, ohne daß aber klar zum Ausdruck gebracht
wäre, was er im einzelnen unter diesem Begriff versteht. In den
den KongreB selbst betreffenden Aktenstücken scheint es auf
die Erhaltung der erblichen Monarchie hinauszulaufen, in den
Memoiren aber gibt Talleyrand dem Begriff der Legitimität eine
sehr viel weitere Fassung. Hier macht er keinen Unterschied
zwischen den verschiedenen Staatsformen. Ganz gleich, ob eine
Regierungsgewalt erblich ist oder auf Wahl beruht, ob sie monar-
chisch oder republikanisch, aristokratisch oder demokratisch ist,
wenn sie nur durch die Abfolge langer Jahrhunderte gefestigt
und geheiligt ist, so hat sie einen Anspruch auf Schutz und Er-
haltung. So weitet sich das Prinzip der Legitimität zu der For-
derung auf Bewahrung des allgemeinen Rechtsstandes und auf
seine Sicherung gegen jede Anderung, die nicht von dem Boden des
geltenden Rechts aus erfolgt. Insofern wird die Legitimität in
der Tat zum „principe conservateur‘‘?®, als das er sie auf dem
Wiener Kongreß so warm empfiehlt.
Besser und umfassender als durch derartige allgemeine An-
gaben sind wir über Talleyrands Anschauungen von den zwi-
schenstaatlichen Beziehungen und Verhältnissen unterrichtet,
weil fast seine ganze staatsmännische Tätigkeit der auswärtigen
36 Mémoires II, S. 281.
37 „Je parle en général de la légitimité des gouvernements, quelle que soit leur
forme, et non seulement de celle des rois, parce qu'elle doit s'entendre de tous. Un
gouvernement légitime, qu'il soit monarchique ou républicain, héréditaire ou électif,
aristocratique ou démocratique, est toujours celui dont l'existence, la forme et le
mode d'action sont consolidés et consacrés par une longue succession d'années, et
je dirais volontiers par une prescription séculaire. La légitimité de la puissance
souveraine résulte de l'antique état de possession, de méme que pour les particuliers
la légitimité du droit de propriété.* Mémoires II, S. 159f.
** Pallain, Correspondance... du Prince de T. et de Louis XVIII., S. 80.
362 Hermann Wendort
Politik gewidmet war, deren Gegenstände daher in den ange-
gebenen Quellen den breitesten Raum einnehmen. Da beobach-
ten wir denn, daß der für den Verkehr der Völker und Staaten
untereinander bei weitem wichtigste Begriff, um den sich die
gesamten Angaben gleichsam gruppieren, der des politischen
Gleichgewichts ist. GewiB ist daran bei einem Staatsmann des
18. Jahrhunderts nichts Auffallendes. Für die Art seines Den-
kens ist aber bezeichnend, in welche eigentümliche Form er
diesen Begriff faßt. Merkwürdig ist die Verbindung, die in diesem
Kopfe die Gleichgewichtsidee mit der Ablehnung der Politik der
Staatsraison eingegangen ist. Sie begegnet bereits in der Denk-
schrift von 1792. Hier erhebt er die Forderung einer Umstellung der
französischen Politik auf die Orientierung am ,,intérét de l'espéce
humaine" und gibt eine scharfe Absage an die auf das Interesse
und die Selbstsucht der Staaten gegründete Politik des ancien
régime mit ihren „grandes idées de rang, de primatie, de pré-
pondérance''3?,
Die gleiche grundsátzliche Einstellung zur Interessenpolitik
ist in Talleyrands Haltung auf dem Wiener Kongreß zu be-
obachten, wo dem auf das Interesse gerichteten staatlichen
Machtstreben bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Not-
wendigkeit des politischen Handelns nach den Prinzipien ent-
gegengehalten wird. In den Quellen findet diese Einstellung an
zwei Stellen einen besonders deutlichen Niederschlag, so in dem
Bericht über die Unterredung mit dem Zaren Alexander vom
1. Oktober 1814*9, bei der Talleyrand dem von diesem aufge-
stellten Grundsatz der convenance mit Entschiedenheit und
Geschick entgegengetreten ist, und in der Charakterisierung der
englischen Politik, die die Seele des Widerstandes gegen den
franzósischen Gleichberechtigungsanspruch bildete und der eine
ihrer inneren Natur zuwiderlaufende Verquickung der Interessen
mit den Prinzipien zum Vorwurf gemacht wird. ,,Son peu de zéle
pour les principes ne doit point surprendre, ses principes sont
son intérét''&t,
Diese Ablehnung einer rein auf das Interesse gegründeten
Politik ist eine ganz notwendige Folge der Annahme einer allen
?? Pallain, Le Ministère de Talleyrand sous le Directoire Paris 1891, S. XLIIIf.
“ Pallain, Correspondance du Prince de T. et du Roi Louis XVIII, S. 2.
41 Ebenda, S. 63.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 363
Dingen zugrundeliegenden natürlichen Ordnung und führt auf
ein weiteres für die Auffassung der Staatenwelt charakteristi-
sches Merkmal hin: auf den Glauben an eine verbindende Gemein-
samkeit aller europäischen Staaten. Im Rahmen dieser Gemein-
Schaft Europa hat jeder Staat seine bestimmten Aufgaben;
immer muß das Auge des handelnden Staatsmannes auf das
Ganze der Gemeinschaft gerichtet sein, er muß seine Maßnahmen
so treffen, daß er diesem Ganzen keinen Schaden zufügt. So
wird die Politik in der theoretischen Auffassung Talleyrands
überstaatlich orientiert, sie wird die eines guten Europäers, und
es bedarf eines genauen Aufmerkens, um die feinen Fäden zu
sehen, die den guten Europáer in ihm mit dem franzósischen
Staatsmann verbinden. Es ist ja keineswegs so, daD diese ganze
Ideologie von ihm nur aus utilitaristischen Gründen wie eine
Maske angenommen ist, sondern seine politischen wie allge-
meinen Anschauungen des Denkens sind in der Auseinander-
setzung mit den gegebenen Tatsachen der Wirklichkeit ausge-
bildet, und es ist darum kein Wunder, daß es schließlich zu einer
Deckung des europäischen Gemeinschaftsideals mit seiner Auf-
fassung von den Interessen und Bedürfnissen Frankreichs kam.
Das war um so leichter móglich, als auch diese letztere von den
weltanschaulichen Voraussetzungen seines Denkens entscheidend
beeinfluBt wurde.
Des weiteren gehórt in den Zusammenhang dieser Denk-
weise, daß der Staat nicht als Selbstzweck, als in sich ruhendes
Sein, gefaßt wird. Wie er in das Gewebe einer Naturgesetzlich-
keit eingefügt ist, so steht er auch im Dienste hóherer Werte,
die in dem Begriff der geistigen und materiellen Kultur zusam-
mengefaBt sind. Sie bedarf zu ihrer Entfaltung und Verwirk-
lichung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Diese Voraus-
setzungen zu schaffen, ist Aufgabe der Staaten; zu ihrer Durch-
führung sind sie im Innern mit der Zwangsgewalt ausgerüstet.
Nach außen hin, im Verhältnis der Staaten untereinander, fällt
diese Funktion dem System des Gleichgewichts zu. Es hat die
Bestimmung, durch feine Ausbalancierung der Machtverhält-
nisse einen natürlichen Ausgleich der Verschiedenheiten herzu-
stellen und hierdurch Kriege als die schlimmste Gefahr für die
Kultur zu verhindern. So stellt sich uns das Gleichgewichts-
system dar als das Produkt einer Verschmelzung der Kultur-
364 Hermann Wendorf
gesinnung der Aufklärung mit der realpolitischen Einsicht des
Staatsmannes Talleyrand in das innere Wesen des Staates. Er
hatte ihn in seinem Kern als Macht erkannt, aber er betrachtete
ihn deshalb mit dem geheimen Mißtrauen, das diese ganze Denk-
bewegung dem Staate entgegenbrachte, und war darum von der
Notwendigkeit einer Ordnung überzeugt, die diese Machtinstinkte
in ihren Schranken halten und ihren Ausbruch verhindern sollte.
So war denn Talleyrand aus innerster Überzeugung ein Vertreter
einer grundsátzlichen Friedenspolitik, was ihn aber, wie der Ver-
trag vom 3. Januar 1814 zwischen England, Österreich und
Frankreich zeigt, durchaus nicht vor der Möglichkeit eines
Krieges zurückschrecken ließ, wenn er ihn zur Erreichung seiner
politischen Ziele, die sich für ihn natürlich mit seinen Mensch-
heitszielen deckten, für notwendig hielt. Im Ganzen aber ist das
von ihm vertretene Gleichgewichtssystem durchaus als Korrek-
tiv gegen die aus der Machtnatur der Staaten drohenden Ge-
fahren gedacht und aufzufassen.
Angesichts dieser stark konstruktiven Züge in der Unter-
bauung der politischen Ideenwelt Talleyrands wird man nicht
erwarten kónnen, daB die europáischen Staaten in sein Gleich-
gewichtssystem mit allen ihren konkreten Interessen und Macht-
verhältnissen eingegangen sind. Andererseits aber macht die
realpolitische Einsicht des praktischen Staatsmannes wahr-
scheinlich, daß sich seine Vorstellungen von utopischen Ele-
menten freigehalten haben werden. Grundlage des politischen
Denkens bleiben für ihn immer die historisch gewordenen
Staaten, alle in Erwägung gezogenen Maßnahmen zur Anglei-
chung des vorgefundenen an sein „reales“ Gleichgewichtssystem
bewegen sich daher im Rahmen des politisch Möglichen und
Durchführbaren.
Die Gliederung Europas in eine Vielheit von Staaten von
verschiedener Größe und Machtstellung scheint Talleyrand als
Tatsache hingenommen zu haben, es deutet wenigstens nichts
darauf hin, daß er sein Nachdenken auf dieses Problem gerichtet
hat. Ebenso scheint ihm das Nationalstaatsproblem als solches
mit den sich aus ihm für die Nationalitätenstaaten ergebenden
Schwierigkeiten nicht aufgegangen zu sein. Das hat auf dem
Hintergrunde seiner Zeit nichts Auffallendes; es ist jedoch zu
beachten, daß sich an einer Stelle bei Talleyrand eine Einsicht.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 365
findet, die zum Verständnis für diese Frage hätte hinführen kön-
nen. Unter den Gründen, aus denen er eine Ausdehnung Frank-
reichs nach Osten widerrät, befindet sich nämlich eine ganz klare
und nüchterne Einschátzung der Schwierigkeiten, die die Assi-
milation einer zahlreichen Bevölkerung mit sich bringt. Sind
dabei die aus der Verschiedenheit des Volkstums herrührenden
Gründe auch nicht ausdrücklich genannt, so là8t doch die
Knappheit der Äußerungen, die keinerlei Begründung geben,
die Vermutung aufstellen, daß derartige Bedenken ihm nicht
fremd gewesen sein dürften. Aber selbst wenn sie vorhanden ge-
wesen sind, so haben sie doch eine tiefere Bedeutung für sein
politisches Denken nicht gehabt.
Die natürliche Gliederung der Staatenwelt, die Talleyrand
als Ordnungsprinzip durch die tatsáchlichen Machtbeziehungen
der Staaten durchscheinen sieht, trägt den realen Machtverhält-
nissen Rechnung. Als bestimmend für das Schicksal Europas
werden die vier Großmächte Frankreich, England, Österreich
und Rußland angesehen“. Die unbestreitbare Vormacht unter
ihnen ist Frankreich, weil es infolge der glücklichen Vereinigung
der bei den anderen in ungleichem MaBe vorhandenen beiden
Voraussetzungen für die GróBe: Bevólkerung und Reichtum, so-
wohl militárisch wie wirtschaftlich die stárkste unter ihnen ist.
Aber trotz dieser bei einem Franzosen der damaligen Zeit selbst-
verständlichen Einschätzung steht er im Gegensatz zu der seit
Richelieu traditionellen Ostpolitik Frankreichs, insofern er ein
entschiedener Gegner der Rheingrenze ist. Schon in der Denk-
schrift von 1792 warnt er nachdrücklich vor Einbeziehung ge-
schlossener Gebietsteile im Osten, und dieser Haltung ist er für
seine Person sein ganzes Leben hindurch treu geblieben, wie die
von keiner Rücksicht beeinfluBten ÁuBerungen zeigen. Die Frie-
densschlüsse von Rastatt bis Preßburg, an denen er mitgewirkt
hat, können nicht als Gegenbeispiel angeführt werden, weil er
dort nur das ausführende Organ fremden Willens gewesen ist.
* Pallain, Le Ministère de Talleyrand sous le Directoire, S. XLIX.
“ Die zusammenhängendste Darstellung der Anschauungen Talleyrands über
das europäische Gleichgewicht verdanken wir der Oktober-Denkschrift von 1806, in
der er Napoleon für seine politischen Ideen zu gewinnen suchte. Vgl. Bertrand,
Lettres à Napoléon, S. 156—174. Diese Ausführungen sind, von Ergänzungen ab-
gesehen, der folgenden Darstellung zugrundegelegt.
366 Hermann Wendorf
Aber die Grenzfestsetzungen des Ersten Pariser Friedens, für die
er die volle Verantwortlichkeit trägt, entsprechen durchaus
seinen politischen Überzeugungen, wie er sie ganz folgerichtig
auf dem Wiener Kongreß und in den Denkschriften jener Zeit
vertreten hat, und bedeuten keineswegs eine Kapitulation unter
dem Druck der militärischen und politischen Lage. Die Begrün-
dung, die er, übrigens schon 1792, für seine Auffassung gibt,
zeugt von wahrhaft staatsmännischer Einsicht und scharfer
politischer Beobachtungsgabe. Talleyrand hat klar erkannt, daß
Eroberungen nur dann einen Nutzen bringen, wenn es gelingt,
die Bevölkerung der erworbenen Gebietsteile zu assimilieren und
in ihren Interessen und Zielsetzungen ganz in dem neuen Mutter-
staat aufgehen zu lassen, daß aber jeder Zuwachs an Staatsvolk,
das im Staatsverband als Fremdkörper bestehen bleibt, für
dessen Politik eine Belastung, in kritischen Zeiten eine ent-
schiedene Gefahr bedeutet. So empfindet er die Rückgabe der
seit 1792 erworbenen Provinzen als Befreiung von einer Last,
die Frankreich die rechte Erfüllung seiner Verpflichtungen gegen
die Völkergemeinschaft erschwert hätte“ “. „Soulagée“ du poids
de ses conquétes, la maison de Bourbon seule, pouvait la re-
placer au rang élevé qu'elle doit occuper dans le systéme so-
cial“ “. In dieser Äußerung findet Talleyrands Auffassung einen
charakteristischen Ausdruck. Sie enthált in der Bemerkung von
dem ,,poids de ses conquétes'* einen Kern realistischer Betrach-
tungsweise, der aber überlagert ist von dem ideologischen
Glauben an ein System der gesellschaftlichen Ordnung, in dem
Frankreich der ihm zukommende Platz angewiesen ist, aber
einem ganz bestimmten Frankreich, nämlich dem des ancien
régime mit den Grenzen von vor 1792.
Wenig sagt er über England, obwohl die Pflege guter Be-
ziehungen zu dem benachbarten Inselreich zu den wichtigsten
43a Die wirklichen Interessen Frankreichs sieht er durch das Recht der freien
Schiffahrt auf Rhein und Schelde durchaus gewahrt: „Par la libre navigation
du Rhin et de l'Escaut, la France aura les avantages que lui eüt donnés la possession
des pays traversés par ces fleuves, et auxquels elle a renoncé, et n'aura point
les charges de la possession. Elle ne pourra donc plus raisonnablement la regretter.“
Mémoires II, S. 252, aus den Instruktionen für den Wiener Kongreß.
* [m Zusammenhang des Textes auf ein im vorhergehenden Satze vorkommen-
des „la France“ bezogen.
*5 Mémoires II, S. 156f.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 367
Grundsätzen seiner Außenpolitik gehört und er beide Länder
durch den gemeinsamen Fortschritt in der Zivilisation und
späterhin durch die Übereinstimmung freiheitlicher Institutionen
als eng zusammengehórig empfindet. Aber Englands Gesicht ist
zu sehr der überseeischen Welt zugewandt, und es zeigt sich an
den europáischen Fragen zu wenig interessiert, als daB es ihm
Anlaß zu grundsätzlichen Betrachtungen gäbe.
Anders steht es mit Österreich. In seinem derzeitigen Besitz-
stande sieht Talleyrand eine dauernde Gefahr für den ruhigen
Bestand Europas. Er denkt dabei noch nicht an die dem Habs-
burgerreiche aus dem Nebeneinander der verschiedenen Natio-
nalitäten drohenden Schwierigkeiten, sondern nur an die aus
den territorialen Besitzverhältnissen sich ergebenden Konflikts-
möglichkeiten. Zu ihrer Behebung hält er für notwendig, zwi-
schen ihm und Frankreich einen breiten Gürtel unabhängigen
Gebietes zu schaffen, um auf diese Weise die Reibungsflächen
zwischen beiden Mächten zu beseitigen. Österreich soll daher
seine Besitzungen im südwestlichen Deutschland und in Italien
aufgeben, dafür aber, um sein Schwergewicht nicht zu vermin-
dern, im Südosten durch die Moldau, die Walachei und Bes-
sarabien entschädigt werden. Durch diese Gebietsveränderungen
würde nicht nur der Friede im Westen gesichert, sondern die
Donaumonarchie wüchse erst in ihre wichtigste Aufgabe in der
europäischen Staatengemeinschaft hinein: Rußland von der
Türkei zu trennen, und so zugleich die Vernichtung der letzteren
und das das Gleichgewicht bedrohende Anwachsen der ersteren
Macht zu verhindern. Es würde damit allerdings zu einer völligen
Umstellung seiner gesamten Politik genötigt, aber es würde da-
durch seiner alten Aufgabe, die Schutzwacht Europas gegen den
Osten auszuüben, wieder zurückgegeben; gewechselt hätte nur
der Gegner.
Seit dem Zurücksinken des Türkenreiches in militärische
Ohnmacht sieht Talleyrand in dem schnellen Aufstieg Rußlands
eine neue Gefahr sich erheben, die den Frieden und die Ordnung
nicht weniger bedroht als vordem die Türken. Die junge GroB-
macht des Ostens, die sich in wenig mehr denn einem halben
Jahrhundert von unbedeutenden Anfängen zu einer Weltgeltung
erhoben hatte und nach Erreichung seiner weitausschauenden
Pläne auf dem Balkan im Besitz der Meerengen zueineralleanderen
368 Hermann Wendort
Staaten überragenden Machtentfaltung emporgestiegen wäre,
erfüllt ihn mit sichtlichem Unbehagen und Mißtrauen. Von dieser
Seite sieht Talleyrand die stärkste Gefährdung seines Gleich-
gewichtssystems; ihr zu begegnen hält er für die dringendste
Aufgabe einer am gesamteuropäischen Interesse orientierten
Politik. Rußland muß, um der Erhaltung Europas willen, an der
Vernichtung der Türkei gehindert werden. Darum wird für
Talleyrand Österreichs starke Stellung an der unteren Donau
zur ersten und wichtigsten Forderung, weil er in ihr die einzige
praktisch durchführbare Maßnahme zur Verhinderung der rus-
sischen Vormachtstellung im fernen Südosten sieht.
Das Verhältnis der vier Großmächte hat Talleyrand in der
Oktoberdenkschrift von 1805 auf eine knappe Formel ge-
bracht, indem er die Ersetzung des bestehenden Gleichgewichts-
systems durch ein anderes fordert, „qui, ôtant tout principe de
mésintelligence entre la France et l'Autriche, sépare les intéréts
de l'Autriche de l'Angleterre, les mette en opposition avec ceux
de la Russie et, par cette opposition, garantisse l'empire otto-
man‘‘*,. Durch alle Wendungen hindurch, die sich aus der Be-
dingtheit der augenblicklichen Lage erklären, sieht man hier
die tragenden Grundlagen einer auf unwandelbare Dauer ange-
legten Ordnung deutlich sichtbar werden.
Von hohem Interesse ist Talleyrands Stellung zu Preußen.
Den Rang einer Großmacht erkennt er ihm nicht zu; die Zer-
stückelung des Gebietes, die Armut des Bodens, die Zahl der
Bevólkerung weisen ihm seinen Platz an der Spitze der Máchte
zweiten Ranges an, über den es sich nur vorübergehend durch
die Taten eines großen Königs erheben konnte. Wenn trotzdem
in seinen politischen Erórterungen diesem Preußen eine größere
Breite eingeráumt wird als selbst der für so wichtig erachteten
russisch-türkischen Frage, so hat das zu einem guten Teil seinen
Grund in den Besorgnissen, die sich aus der Einsicht in die Natur
dieses Staatswesens für die Gleichgewichtsgrundlage der euro-
päischen Staatenwelt ergeben. Wir stoßen hier auf den gleichen
Grund, der ihm schon das russische Reich hatte verdáchtig er-
scheinen lassen: der Voraussicht von Verwicklungen, die sich
aus der mit Notwendigkeit aus der Natur des Landes hervor-
gehenden Politik ergeben müssen. Von dem unruhigen Vor-
“ Bertrand, S. 160.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 369
wärtsdrängen, das diese Macht charakterisiert und das ihr im
Verlauf von 63 Jahren einen Bevölkerungszuwachs von vier
auf zehn Millionen eingebracht hat, befürchtet er deshalb außen-
politische Gefahren. Hier zeigt sich in ihm der geborene Politiker
und der durchdringende Beobachter. Ausgehend von der Zer-
stückelung des preußischen Staatsgebietes sagt er voraus, daß
Preußen nach Einbeziehung der zwischen den getrennten Teilen
der Monarchie liegenden Gebiete streben müsse, und daß sich
diese Arrondierungspolitik zwangsläufig zu einer Einigung des
gesamten außerösterreichischen Deutschland unter preußischer
Führung ausweiten werde. Mit einer Art von visionärer Klarheit
sieht so Talleyrand schon im Jahre 1814 den Gang der deutschen
Entwicklung voraus, aber — er lehnt ihn ab, weil er ihm mit
dem dynamischen Charakter seines Gleichgewichtssystems un-
vereinbar erscheint“.
So ist Talleyrand, obwohl weder in seiner Auffassung von
den Interessen Frankreichs, noch von seiten seines europäischen
Gleichgewichtssystems aus eine Nötigung hierfür vorlag, zu einem
entschiedenen Bekämpfer einer aktiven preußischen Politik ge-
worden. Als solcher hat er in seinen Instruktionen für den
Wiener Kongreß als Richtlinie aufgestellt, daß Preußen mit
allen Mitteln an der Erlangung einer starken Stellung auf dem
linken Moselufer gehindert werden müsse®. So große Erfolge er
auch in Wien erzielt hat, in diesem Punkte hat er sein Ziel nicht
erreicht, und man wird es wohl als ein indirektes Eingestándnis
einer diplomatischen Niederlage ansehen dürfen, daß er bei seiner .
Sonst sehr ins Detail gehenden Berichterstattung alle auf die
Entschädigung Preußens auf dem linken Rheinufer gehenden
Verhandlungen mit völligem Stillschweigen übergeht.
Die übrigen Staaten zweiten Ranges finden in den Aufzeich-
nungen Talleyrands keine Erwähnung, die hinreichend wäre,
die ihnen zugedachte Einordnung in das Gleichgewichtssystem
zu erschließen. Im Rahmen des Ganzen kann aber nicht zweifel-
haft sein, daß sie, selbst zu unbedeutend, um von sich aus die
allgemeine Ordnung zu stören, ihre Sicherheit und Ruhe dem
zwischen den Großmächten obwaltenden Schwebezustand ver-
danken, daß sie, ein jeder an seiner Stelle, eingegliedert sind in
In den Instruktionen für den Wiener Kongreß Mémoires II, S. 2431.
Ebenda, S. 246.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 24
370 Hermann Wendorf
dieses System dynamischer Beziehungen, gleichsam eingebettet
in das politische Kraftfeld Europa.
In weniger einfachen Formen ist die Einordnung der kleineren
Staaten, vor allem in Deutschland und Italien, gedacht. Sie
erscheinen ihrerseits wieder zu besonderen partiellen Gleich-
gewichtssystemen zusammengefaDt, deren jedes seinen eigenen
Bewegungsgesetzen folgt; im Rahmen der Gesamtheit kónnen
diese Teilsysteme nicht die Bedeutung selbständiger dynamischer
Elemente haben; sie haben daher ihre Aufgaben in Anlehnung an
eine der großen Mächte zu erfüllen, die das Ganze mit ihren Wir-
kungen umfassen und ihm diese untergeordneten Teile einfügen,
indem sie ihnen ihr Gesetz auferlegen*?.
Überschaut man diesen Aufriß eines Gleichgewichtssystems,
so fällt als einerseiner Grundzüge ins Auge, daß es in seiner Syste-
matik an keinem Punkte der Möglichkeit von Veränderungen oder
gar einer Entwicklung Rechnung trägt. So wie die einzelnen
Elemente aus der denkenden Verarbeitung der in der Erfahrung
vorgefundenen Staaten hervorgegangen sind, so sind sie auch als
unveränderlich wirkende in Anschlag gebracht, ja es erweckt
geradezu den Anschein, als ob diese Statik der Verhältnisse die
Voraussetzung für die Erhaltung von Ruhe und Sicherheit bilden
sollte.
Diese Ordnung selbst, die dem praktischen Verhalten der
Staaten zugrunde liegt, stellt in ihrem Aufbau wie in dem In-
einandergreifen der einzelnen Teile ein äußerst künstliches Ge-
bilde dar, „un équilibre tout artificiel et précaire'*, wie es Talley-
rand selbst einmal genannt hat““. Für seine Beurteilung ist zu
beachten, daß sein Schöpfer durchdrungen ist von der Über-
zeugung, nicht ein Gedankengebäude seiner schaffenden Phan-
tasie errichtet, sondern durch Beobachtung und Analyse eines
in der Erfahrung gegebenen Tatbestandes eine in der objektiven
Wirklichkeit gegebene und von ihm nur nachgezeichnete Natur-
gesetzlichkeit festgestellt zu haben. Die Herkunft aus dem Geiste
der Aufklärung ist auch aus der Bedeutung zu ersehen, die die
Gesetze der physikalischen Astronomie für den Aufriß dieses
Systems gewonnen haben. Alles scheint sich in analoger Kom-
position zu den Gesetzen der Sternenwelt zu vollziehen. Wie im
19 Instruktionen Mémoires II, S. 236.
80 Ebenda S. 238.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 371
Kosmos die Himmelskórper einander in freischwebenden Bahnen
nach den ewigen Gesetzen der Gravitation in Anziehung und Ab-
stoBung umkreisen, so auch nach ihrem Vorbilde die gesellschaft-
lichen Körper der Staaten mit ihren „forces d'agression'" und
„forces de résistence“ 1. Dabei sind die „corps composés“ der
kleineren Staaten ihrerseits wieder als Gleichgewichtssysteme
organisiert, „ils ont leur équilibre propre sujet à mille altérations
qui affectent nécessairement celui dont ils font partie,'5* und das
Ganze stellt sich dar als ein Zusammenhang von Wechselwir-
kungen und Abhängigkeiten, wo eines das andere bedingt und
hervorbringt, durchaus vergleichbar einem Planetensystem,
dessen innerer Aufbau bei der Bestimmung der Beziehungen der
einzelnen Teile zueinander vorbildlich gewesen zu sein scheint.
Es erhebt sich die Frage, ob diese Auffassung eines europá-
ischen Gleichgewichtssystems mit seinen stark konstruktiven
Elementen in irgendeiner Form eine praktische Bedeutung in
der Politik des Staatsmannes Talleyrand gewonnen hat. Er be-
hauptet das selbst an der Stelle seiner Memoiren, an der er als
Grund für die eingetretene Entfremdung von Napoleon tief-
gehende Auffassungsverschiedenheiten über die von Frankreich
zu befolgende Außenpolitik angibt. Bei dieser Gelegenheit gibt
er seiner politischen Anschauung eine Formulierung, die seine
Auffassung vom europäischen Gleichgewicht zwar nur andeu-
tungsweise, aber doch mit Sicherheit durchscheinen läßt: ,, Étab-
lir pour la France des institutions monarchiques qui garanti-
raient l'autorité du souverain, en la9* maintenant dans de justes
limites; — ménager l'Europe pour faire pardonner à la France
son bonheur et sa gloire' 55; Napoleon aber habe durch die Maß-
losigkeit seiner Eroberungspolitik ihm jede weitere Mitwirkung
auf seinem ihm verderblich erscheinenden Wege unmóglich ge-
macht, so daß ihm nur das Ausscheiden aus dem Amte ge-
blieben sei.
Man hat diese Darstellung als den Versuch einer spáteren
Rcchtfertigung seines treulosen Verhaltens ablehnen zu dürfen
5! Ebenda.
5 Ebenda.
535 Kann sich dem weiteren Zusammenhange nach nur auf „la France“ be-
ziehen.
53 Mémoires I, S. 318.
24*
372 Hermann Wendorf
geglaubt, aber zu Unrecht, denn die gleiche Auffassung hat
Talleyrand bereits zu Anfang des Jahres 1807 dem sächsischen
Generalleutnant von Funck gegenüber vertreten“, also zu einer
Zeit, wo Napoleon noch nicht auf der Hóhe seiner Macht stand
und noch keine Anzeichen auf einen móglichen Umschwung hin-
deuteten. Für die Loslósung im damaligen Zeitpunkte haben
also Differenzen im Grundsätzlichen als Erklärung für den Bruch
durchaus nichts Unwahrscheinliches für sich.
Nimmt man aber diese Deutung an — und es ist kein stich-
haltiger Grund beizubringen, der ihre Glaubhaftigkeit erschüt-
tern kónnte —,so erscheint sein Verháltnis zu Napoleon ein-
deutig und von in sich geschlossener Konsequenz. Er hatte ihn
begrüßt als den einzigen, der imstande war, das Chaos in Frank-
reich zu ordnen, und hatte alles, was in seiner Hand lag, getan,
um seine Macht zu stützen und zu legitimieren. Als er aber sah,
daß die Gleichgewichtsverhältnisse, die für ihn die Voraussetzung
für die Ruhe und den Frieden Europas — für ihn die Grundlage
alles kulturellen Lebens — waren, durch die Ma8losigkeiten der
napoleonischen Eroberungspolitik gefáhrdet wurden, da ànderte er
die Einstellung zu dem Träger dieser Politik. Den er für den Mann
der Ordnung angesehen hatte, dcr wurde nunmehr unter dem
hóheren Gesichtspunkt Gesamteuropas zum Stórenfried, von dem
Gefahr drohte und dem entgegenzuarbeiten sich als eine Pflicht
gegenüber dem gesamteuropäischen Interesse erweisen konnte.
Und nun mußte es entscheidend werden, daß Napoleon nicht der
legitime Herrscher Frankreichs, ja streng genommen nicht einmal
Franzose war. Das gleiche Recht, das er auf Frankreich hatte,
konnte jeder Franzose, der es ehrlich mit seinem Vaterlande
meinte, für sich in Anspruch nehmen. Es konnte von diesem
Standpunkt aus sogar als Pflicht erscheinen, diejenigen Pläne,
die man für bedenklich und gefährlich hielt, mit allen Mitteln
zu durchkreuzen zu suchen.
Von diesen Voraussetzungen aus ist sein Verhalten auf dem
Kongreß in Erfurt 1808 zu verstehen®®. Er unterstützte Napo-
leon in allen Punkten, die in der Richtung seiner Konsolidierungs-
politik lagen. Damals gewann der Gedanke an die Scheidung von
& C. W. F. v. Funck, Im Banne Napoleons, S. 175f.
5 Talleyrand hat dem Erfurter Kongreß in seinen Memoiren einen besonderen
Abschnitt, I, S. 393—457, gewidmet.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 373
Josephine und an eine ebenbürtige Heirat zum erstenmal Ge-
stalt. Talleyrand griff ihn sofort auf, aber von den ersten Schritten
zu seiner Verfolgung an suchte er die Lósung im Sinne seiner
Politik umzubiegen und auf die Verbindung mit Österreich, die
in der Richtung seiner Gleichgewichtspolitik lag, hinzulenken.
Aber mit der ganzen Meisterschaft seines diplomatischen Auf-
tretens wußte er die von Napoleon geplante enge Verbindung
zwischen Frankreich und RuBlandzu verhindern, weilsieseinenAn-
schauungen von einer gesunden europäischen Politik widersprach.
Von französischer Seite ist ihm der Vorwurf des Verrats und
des Vertrauensbruchs gemacht worden. Zweifellos hat er ein
doppeltes Spiel getrieben, das Napoleon gegenüber unaufrichtig
und doppelzüngig war. Vom Standpunkt der privaten Moral ist
es nicht zu rechtfertigen, daß er den Zaren Alexander in vertrau-
lichen Unterredungen beriet, wie er die geheimen Absichten
Napoleons durchkreuzen und vereiteln könne. Aber Talleyrand
sah keine Möglichkeit, auf geradem Wege einen Akt zu verhin-
dern, den er für verderblich ansah, und berief sich daher auf die
allen anderen Rücksichten übergeordnete europäische Idee. Wie
man auch sein Verhalten beurteilen mag, es wird sich nicht wider-
legen lassen, daß hinter allem als regulative Idee eine ganz be-
stimmte Vorstellung von einer gesamteuropäischen Ordnung
gestanden hat, von der aus sich sowohl der Gegensatz gegen
Napoleon herleitet, als auch die Rechtfertigung, die Talleyrand
für seine Handlungsweise gegeben hat.
Wenn auf das Ganze gesehen der Zustand der Über-
lieferung schon für den Teil der Staatsanschauung des Außen-
politikers Talleyrand, der das Leben des Staates nach außen
darstellt, kaum mehr als die Grundzüge festzustellen erlaubt,
so wird man erst recht nicht erwarten können, daß es gelingen
wird, aus den Quellen ein genaues Bild von seinen Vorstellungen
von dem inneren Aufbau des Staates zu gewinnen. Auch hier
wird die Interpretation seines praktischen Verhaltens in seiner
politischen Laufbahn ergänzend einzutreten haben.
Geht man an diese Aufgabe heran, so wird als bestimmender
Grundzug seiner Auffassung sein konsequentes Eintreten für die
Monarchie in Wort und Tat sichtbar. Selbst wenn man sein
warmes Sicheinsetzen für die legitime Monarchie auf dem Wiener
374 Hermann Wendorf
KongreB aus anderen Gründen als ausseiner inneren Überzeugung
bedingt aufzufassen geneigt ist, so bleibt doch immer noch sein
bestándiges Wirken für die Wiederherstellung einer monarchi-
schen Regierung wáhrend der ganzen Zeit seiner ministeriellen
Tätigkeit. Sein Eintritt in den Dienst des Direktoriums bildet
hierzu keinen Widerspruch, denn der geborene Politiker in
Talleyrand drángte nach angemessener Betátigung, und auBer-
dem war seine wirtschaftliche Lage nach seiner Rückkehr aus
Amerika so wenig günstig, daß sein Streben nach einem gut be-
soldeten Staatsamt zum mindesten verständlich erscheint.
Einmal im Ministerium, hat er alle Bestrebungen auf Rück-
führung Frankreichs in monarchische Verfassungszustände mit
allen seinen Kräften unterstützt. Er hat zu dem engeren Kreis
der Verschworenen des 18. Brumaire gehört; er war es, der als
erster nach dem Staatsstreich Napoleon gegenüber dem Ge-
danken von der Notwendigkeit einer Zusammenfassung der drei
wichtigsten Ministerien in seiner Hand Ausdruck gegeben hat“,;
er hat jedem Schritt in der Richtung auf die erbliche Monarchie
seine helfende Hand geliehen, war einer der eifrigsten Befür-
worter der Ehescheidung von Josephine und der Verheiratung
mit einer Angehörigen eines der regierenden Häuser zur Begrün-
dung einer legitimen Dynastie und hat bei der Entscheidung in
Übereinstimmung mit seinen außenpolitischen Berechnungen
den Ausschlag zugunsten der Verbindung mit dem österreichi-
schen Hause gegeben.
Über die Stellung Talleyrands zu Napoleon sehen wir heute
noch nicht klar. Es gibt noch keine auf unvoreingenommener
kritischer Prüfung des ganzen weitschichtigen Materials aufge-
baute Untersuchung der Frage“. Die bisher im Rahmen größerer
Zusammenhänge gegebenen Lösungsversuche haben in der Regel
bestimmte Ausgangspunkte und Maßstäbe, von denen aus es
schwer ist, Talleyrand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Be-
sondere Schwierigkeiten bereitet bei der Erörterung die Beurtei-
lung seiner Wendung zu den Bourbonen. Talleyrand selbst gibt
in seinen Memoiren dafür die Erklärung, daß nach dem Sturz
Napoleons ein anderer als der legitime Herrscher überhaupt nicht
6% Lacour-Gayet, Talleyrand II S. 8.
sea Es ist jedoch zur Zeit eine Leipziger Dissertation über dieses Thema in
Vorbereitung.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 375
hätte in Frage kommen können”. Man hat die Wahrheit dieser
Begründung in Zweifel gezogen und ehrgeizigen Utilitarismus
als letzte Triebfeder seines Handelns erkennen wollen. Aber dem
kónnte entgegengehalten werden, daB die Erfüllung ehrgeiziger
Pläne ebensogut durch jeden anderen hätte erfolgen können, dem
Talleyrand auf den Thron Frankreichs verholfen hätte, und daß
er bei seiner großen Erfahrung und erprobten Menschenkenntnis
sich der Einsicht in die schweren Belastungen, denen sein Ver-
hältnis zu Ludwig XVIII. notwendig ausgesetzt sein mußte, wohl
kaum dürfte verschlossen haben. Es müßten daher schon stich-
haltigere Gründe beigebracht werden, als es bisher geschehen ist,
um die Begründung, die Talleyrand für seine Entscheidung gibt,
zu entkräften. Nach dem gegenwärtigen Stande der Quellen-
forschung und -kritik jedenfalls muß eine Beleuchtung von
Talleyrands Haltung in der inneren Politik zu dem Ergebnis
kommen, daß er den grundsätzlichen Anhängern der legitimen
Erbmonarchie zuzurechnen ist.
Auch seine Anschauungen über den inneren Aufbau des
Staates lassen sich in ihren Grundzügen wiederherstellen. Er ist
keinesfalls, woran man bei seiner Herkunft aus dem ancien regime
denken könnte, ein grundsätzlicher Vertreter der absoluten
Monarchie; auch teilt er nicht die bei vielen praktischen Staats-
männern seiner Zeit aus der Befürchtung, daß die Mitwirkung
von gewählten Volksvertretern ohne Erfahrung in den Fragen
der Staatspolitik die kunstvolle Staatsmaschinerie in Verwirrung
bringen müßte, hervorgehende Ablehnung aller ständischen oder
parlamentarischen Einrichtungen. Er hat im Gegenteilden Stand-
punkt der absoluten Fürstengewalt nicht nur theoretisch ab-
gelehnt, sondern sogar mit Entschiedenheit bekämpft. Im Jahre
1815 hat er in seinem dem König während der Rückkehr nach
Paris überreichten Rapport mit einem Freimut, der allen denen
zu denken geben sollte, die in ihm nur den ehrgeizigen Streber und
geschmeidigen Höfling sehen wollen, auf die nach seiner Meinung
während der ersten Restauration gemachten Fehler hingewiesen
und sie auf die Verwechslung der Begriffe Quelle und Ausübung
der königlichen Gewalt und auf den irrigen Glauben zurück-
geführt, der König sei auch unbeschränkt, weil er legitim sei®®.
5 Mémoires II, S. 161.
5 Pallain, Correspondance du Prince de T. et du Roi Louis XVIII., S. 463ff.
376 Hermann Wendort
Die frühere unumschränkte Kónigsmacht sei gegründet ge-
wesen auf den religiósen Glauben, der in dem Fürsten den Stell-
vertreter Gottes auf Erden gesehen habe. Aber durch die in den
letzten Jahrzehnten vor der Revolution eingerissenen Miß-
bräuche sei das Ansehen des Kónigtums und das Vertrauen zu
ihm schwer erschüttert worden, und jetzt verlange das Volk be-
stimmte Garantien gegen den Mißbrauch der königlichen Ge-
walt. Als solche führt Talleyrand an®®: Freiheit der Person und der
Meinungsäußerung, Beschränkung der Strafverfolgung auf Fälle
von Gesetzesübertretung und Aburteilung nur durch mit un-
abhängigen Richtern besetzte Gerichte, Verantwortlichkeit der
Berater des Königs und Gesetzgebung nur unter Mitwirkung des
durch eine Repräsentation verkörperten Volkswillens, diese
letztere Forderung ausgedrückt in den Worten: „L'esprit des
temps où nous vivons exige que, dans les grands Etats civilisés,
le pouvoir supréme ne s'exerce qu'avec le concours de corps tirés
du sein de la société qu'il gouverne‘‘®. Wie sich aber Talleyrand
diese Volksrepräsentation hinsichtlich der Art ihrer Bildung,
Zusammensetzung, Aufgabenzuweisung und Abgrenzung der
Kompetenzen gedacht hat, sind wir nicht mehr in der Lage fest-
zustellen, weil er keinerlei Anhaltspunkte hierfür gegeben hat.
Es liegt nahe, in jener Zeit bei der Forderung auf Einschrän-
kung der absoluten Gewalt an Beeinflussung durch Montesquieus
Lehre von der Gewaltenteilung zu denken. Obwohl aber Talley-
rand den Namen Montesquieu des öfteren mit Verehrung nennt
und seinen Träger zu den wahren Philosophen rechnet, sind doch
keine Anzeichen dafür gegeben, daß er gerade dieses Element
seines Denkens übernommen hätte. Ja es läßt sich die Unwahr-
scheinlichkeit einer derartigen Beeinflussung durch die Erwägung
dartun, daß Talleyrand als der Freund des Grafen Mirabeau und
als der gründliche Kenner des Aufbaues und der Wirksamkeit
eines geordneten Staatswesens die Gefahren sehr wohl wird er-
kannt haben, die für das Leben des Staates aus der mechanischen
Zerteilung organischer Funktionen erwachsen mußten.
In einem Punkte entsprach jedoch die Staatsanschauung
Talleyrands der Montesquieuschen: in der Ablehnung eines für
alle Zeiten und Völker gültigen Schemas für den Aufbau eines
59 Ebenda S. 470ff.
% Ebenda S. 464.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 377
Staatswesens. Nur das Prinzip, auf das Talleyrand die Verschie-
denheiten unter den einzelnen Staaten gründet, ist ein anderes.
Und hierin ist er durchaus ein Kind seiner Zeit, wenn er die die
verschiedenen Staatsverfassungen in ihrer Besonderheit be-
stimmende und gestaltende Macht in der öffentlichen Meinung
sieht.
Der Begriff der öffentlichen Meinung ist keineswegs ein Er-
zeugnis des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Er läßt sich, wenn
auch nicht in der sprachlichen Formulierung, so doch bestimmt
in der Sache, bis in die altgriechische Polis zurückverfolgen. Im
christlichen Mittelalter nur vereinzelt nachweisbar, ist die öffent-
liche Meinung durch Machiavelli in das neuzeitliche Staatsdenken
eingeführt worden, ohne jedoch durch Jahrhunderte hindurch
allgemeinere Verbreitung zu finden, bis sich in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Durchbruch vollzieht und der
Begriff eine Popularität gewinnt, die ihm eine Verbreitung bis in
private Korrespondenzen hinein sichert“. Die ursächlichen Be-
dingungen dieses plötzlichen Anschwellens sind, soweit ich sehe,
noch nicht geklärt, ebensowenig wie der innere Zusammenhang
mit dem Denken der Aufklärung.
Unter den verschiedenen Fassungen, in denen damals der
Begriff begegnet, bald als Summierung und Zusammenfassung
der einzelnen Meinungen zu einem Gesamtbilde, bald mit einer
Wendung ins Voluntaristische als eine Vereinigung der einzelnen
Willen zu einem ganz bestimmt gerichteten Gesamtwillen von be-
sonderer Festigkeit, mitunter aber auch als der Kritik, mit der die
aufgeklärten Kreise des Volkes die Maßnahmen der Regierung
verfolgen als eine Art von Korrektiv für den handelnden Staats-
mann, aber auch als eine geheimnisvoll wirkende Macht, die allein
durch ihr Vorhandensein sich auswirkt und die Mánner der Politik
in ihre Bahnen zwingt, scheint Talleyrand der letzteren von
diesen zuzuneigen. Zwar ließe sich die erwartete Einwirkung auf
die Lösung des englisch-holländischen Bündnisses in der Denk-
schrift von 1792 auf dem rationalen Wege der Beeinflussung des
englischen Parlamentes erklären, aber wenn es in den Instruk-
tionen für den Wiener KongreB heiBt, die Proklamierung des
Rechtes der Eroberung durch die verbündeten Mächte „serait
1 Wilhelm Bauer, Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grund-
lagen. Tübingen 1914, S. 16ff.
378 Hermann Wendort
repoussée à l'instant par un cri de réprobation unanime“ “, so
kann man das kaum anders deuten als einen Appell an jene un-
faßbar geheimnisvoll wirkende Kraft, zumal da in den Staaten,
gegen deren Leiter er gerichtet ist, von einem irgendwie gearteten
verfassungsmäßigen Einfiuß der Bevölkerung keine Rede sein
konnte. Es ist wohl auch kein Zufall, daB er in der angeführten
Mahnung an den König nicht von der opinion publique spricht,
sondern im Namen des ‚esprit des temps“ die Mitwirkung des
Volkes verlangt, um eben die Vorstellung von der Menge der
einzelnen fordernden Individuen zu ersetzen durch eine andere,
der er eine stárkere Kraft der Wirkung zutraut. Ja, er erkennt
der óffentlichen Meinung eine Wirkung zu, die über die der mili-
tärischen Machtmittel weit hinausgeht, wenn sie sich in Über-
einstimmung befindet mit den ,,Prinzipien". So schreibt er im
November 1830, daß die absolutistischen Ostmächte ,,soutiennent
leur droit divin avec du canon; l'Angleterre et nous, nous sou-
tiendrons l'opinion publique avec des principes; les principes
se propagent partout, et le canon n'a qu'une portée dont la me-
sure est connue“ 24. So sehen wir, daß in seiner Auffassung vom
inneren Wesen des Staates dasjenige Prinzip, aus dem er die
Mannigfaltigkeit der verschiedenen Staaten hervorgehen läßt, ihn
durch die eigentümliche Art, in der er es auffaBt, wiederum in
die nächste Nähe zum Denken der Aufklärung bringt.
Nachdem wir, so gut es die Dürftigkeit der Überlieferung ge-
stattet, die Staatsanschauung Talleyrands mit ihren zahlreichen
Momenten aufklärerischen Denkens durchmessen haben, erhebt
sich als letztes die Frage, wie sich dieses Verwurzeltsein in einer
als besonders dogmatisch beleumundeten Weltanschauung mit
den Aufgaben des Staatsmannes verträgt, dessen Wesen es ge-
radezu erfordert, nicht durch Bindungen irgendwelcher Art an
der Ergreifung der in der jeweiligen Lage notwendigen Maß-
nahmen behindert zu sein. Aber hat nicht auch Friedrich der
Große zu den Kreisen der Aufklärung gehört und war er nicht
unter ihren deutschen Vertretern einer der besten Köpfe, ohne
daß auch nur jemand eingefallen wäre, zu bezweifeln, daß er ein
en Instruktionen Mémoires II, S. 241.
e383 Schreiben an Sebastiani vom 27. November 1830, vgl. Pallain, Le ministère
de T. sous le Directoire, S. XLVII.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 379
noch größerer Politiker gewesen ist? Man sieht, beides kann
nebeneinander bestehen, die Frage ist nur, wie sich die beiden
Momente auf dem Boden einer Persönlichkeit vertragen. Bei
Friedrich dem Großen war die Lösung die, daß er, unbeschadet
der aufklärerischen Formen seines Denkens, in seiner Politik den
Notwendigkeiten und Forderungen seines Staates in einer Weise
Rechnung trug, die oft inschärfstem Widerspruche zu den Lehren
der Aufklärung von der Natur und den Gesetzen der Verhältnisse
der Staaten stand.
Wie steht es nun hierin bei Talleyrand? Hat er den Philo-
sophen dem Staatsmann geopfert, oder hat er sich in seiner
Politik von seiner Ideologie beeinflussen lassen? Die einzige
Periode in seinem Leben, die auf diese Fragestellung Antwort
gibt, ist die Zeit des Wiener Kongresses, die allein in seiner ganzen
Laufbahn ihm die Möglichkeit gab, frei von Bindungen und Vor-
schriften die Politik zu machen, die er für die richtige hielt. Es
kann nicht unsere Aufgabe sein, sein Auftreten auf dem Kongreß
zu verfolgen; wir haben uns im Rahmen der uns gestellten Auf-
gabe nur die Frage vorzulegen, ob die großen Erfolge, die er bei
den Verhandlungen errungen, in irgendeiner inneren Verbindung
mit seiner Gedankenwelt stehen.
Eine Antwort auf diese Frage versuchen, heißt sie dahin er-
weitern, die Bedeutung zu bestimmen, die das Denken der Auf-
klärung auf dem Wiener Kongreß für den Gang der Verhand-
lungen und die schließliche Gestaltung der Verhältnisse gehabt
hat. Vieles an diesem Kongreß in der Art seiner äußeren Auf-
machung, der Verhandlungsführung, der Methoden der Politik ist
nur unter dieser Voraussetzung zu verstehen. Die für die Führung
maßgebenden Männer waren selbst durch die Schule dieses
Denkens hindurch gegangen, hatten ihre geistige Gestalt durch
sie formen lassen ; soweit sie ihr aber nicht zugehörten, hatten sie,
wie etwa der Zar Alexander, ihr keine eigene durchgebildete Art
der Gedankenführung entgegenzusetzen und beugten sich daher
vor ihr. So kam es, daß der Geist der Aufklärung der alles be-
herrschende war. Für Talleyrand war dies ein unschätzbarer Vor-
teil, denn durch seine gründliche philosophische Bildung und
Schulung verfügte er über eine Beherrschung aller Methoden des
Denkens, die ihm eine dialektische Überlegenheit über alle Ver-
handlungspartner sicherte.
380 Hermann Wendorf
In den praktischen Verhandlungen kam ihm weiter zustatten,
daß seine an der Wirklichkeit orientierten politischen Vorstel-
lungen von den Interessen Frankreichs, wie er sie auffaßte, sich
mit seinen theoretischen Überzeugungen von den notwendigen
Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens völlig
deckten, wáhrend alle anderen Staatsmánner Forderungen zu ver-
treten hatten, die ihre Begründung in der Staatsraison hatten und
daher mit der unter dem EinfluB aufklárerischen Denkens gebil-
deten diplomatischen Ideologie der Zeit im Widerspruch standen.
So stand der Geschlossenheit der Talleyrandschen Position auf
der Seite der Verhandlungsgegner eine innere Brüchigkeit ihres
Standpunktes gegenüber, und Talleyrand war der Mann, alle
Chancen, die sich für ihn aus diesem Verhältnis ergaben, rück-
sichtslos auszunutzen.
Auf diese Voraussetzung waren die Methoden gegründet, mit
denen er sich durchsetzte und Frankreich seine alte Stellung
unter den Máchten wieder errang. Wir besitzen in seinen Be-
richten und Memoiren Einblicke genug, um sehen zu kónnen, mit
welchen Mitteln er seine diplomatischen Erfolge erzielte. Im
Grunde befolgt er bei den verschiedensten Situationen immer die
gleiche, stets zum Ziele führende Taktik. Seiner schnellen Auf-
fassungsgabe und gedanklichen Schulung entgeht keiner der
Widersprüche, die sich einer der Verhandlungspartner inner-
halb seiner Ausführungen oder gegenüber seinen Voraussetzungen
zu Schulden kommen läßt. Sofort greift er ein, nützt die auf der
Gegenseite mit einer gewissen psychologischen Notwendigkeit
sich einstellende innere Betretenheit über die sich gegebene Blófe
mit Geschicklichkeit aus, indem er in läng erer Rede mit großer
Gewandtheit der Gedankenführung die gegnerische Position
durch Aufdeckung aller logischen Widersprüche, in die sie sich
zu ihrer eigenen Anschauungsgrundlage und den allgemein an-
genommenen Grundsätzen des öffentlichen Rechts verwickelt
hat, zu erschüttern weiß. Seine Schnelligkeit in der Erfassung
der gegebenen Lage, seine Menschenkenntnis kommen ihm dabei
ebenso zustatten wie die in den Salons des ancien régime er-
worbene Sicherheit des Auftretens und Kunst der Menschen-
behandlung. Alle hierin nicht anlagemäßig gegebenen Faktoren
weisen aber auf Formen des Lebens hin, an deren Ausbildung der
Geist der Aufklärung einen ganz wesentlichen Anteil gehabt hat.
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 381
Das große Glück für Talleyrand, dessen auch der erfolgreichste
Staatsmann bedarf, bestand darin, daB ihm niemand entgegen-
getreten ist, der, auBerhalb seiner Denkart und -gewohnheiten
stehend, die Schwächen seines Standpunktes erkannt hätte und
seine Methoden auf ihn selbst anwenden konnte. Im Jahre 1814
war die Aufklärung bereits eine überalterte Denkweise; die neuen
geistigen Kräfte, die dem öffentlichen Leben neue Züge einprágen
sollten, die Romantik im weitesten Sinne genommen, und die
Nationalstaatsidee, der die Zukunft des staatlichen Lebens ge-
hóren sollte, waren bereits da, aber ohne Sprachrohr unter den
Vertretern des offiziellen Europa. Die einzige amtliche Persón-
lichkeit, die einer Denkrichtung angehörte, die die Aufklärung
schon überwunden hatte, Wilhelm von Humboldt, war ihrem
innersten Wesen nach so wenig Staatsmann, war in ihrem frucht-
barsten Streben staatsfremden Wertgebieten des geistigen Lebens
so sehr verhaftet, daB von ihm eine gedankliche Überwindung
der staatstheoretischen Position Talleyrands nicht gut erwartet
werden konnte.
Der ihm ein vollwertiger Gegner gewesen wáre, war ohne
amtlichen EinfluB, eine bloBe Privatperson bei den Verhand-
lungen des Kongresses. Das war der Freiherr vom Stein. Er kam
aus einer ganz anderen seelischen und geistigen Umwelt, und er
hatte mit der ihm eigenen gestrafften Energie seines Wesens sein
Denken zu der gleichen Geschlossenheit gebracht wie seine
moralische Persónlichkeit. In allen entscheidenden Punkten war
er das entschiedene Gegenbild zu Talleyrand: dem verstandes-
mäßigen Deismus Voltairescher Prägung gegenüber war er der
Vertreter einer ihrer persönlichen Verantwortung zutiefst be-
wußten Frömmigkeit altlutherischer Art; der überfeinerten
Salonkultur des französischen Rokoko mit ihren gekünstelten
Formen setzte er den auf die unbedingte Forderung gegründeten
ethischen Rigorismus des sittlichen Wollens gegenüber. Ähnlich
wie Talleyrand hatte auch er aus der denkenden Auseinander-
setzung mit der Wirklichkeit des Staates seine Staatsanschauung
gebildet, die, nicht weniger scharf durchdacht, von seinen anderen
Voraussetzungen aus zu einem Aufriß ganz anderer Art führte.
Hier hatte ein aus einer tief religiösen Wurzel entspringendes
Verantwortungsbewußtsein in Besinnung auf die lebendigen
Kräfte des Volkstums eine Staatsidee geboren, die in Überwin-
382 Hermann Wendort
dung der mechanischen Staatslehre der Aufklärung dem schópfe-
rischen Staatsmanne neue Wege zur Gestaltung des nationalen
Lebens wies. Im Freiherrn vom Stein wáre Talleyrand auf den
Mann gestoDen, der in der organischen Verbundenheit und Ge-
schlossenheit seiner Anschauungswelt fest genug in sich gegründet
gewesen wäre, der aber auch den Blick gehabt hätte für die Mängel
und das Überholte seines an den Maßstäben einer bereits der
Geschichte angehórenden Denkform orientierten Standpunktes,
um ihm nachhaltigen Widerstand entgegenzusetzen. An diesem
Felsen wären alle Künste der Kabinettspolitik des ancien régime
gescheitert, das Zusammentreffen beider Männer im Kampfe der
Verhandlungen hätte zugleich ein Schauspiel von grandioser
Wucht darbieten müssen.
Aber ob trotzdem der Sieg auf der Seite Steins geblieben
wäre? Das zu behaupten heißt der Struktur des Kongresses nicht
die genügende Beachtung schenken. Alles das, was dieser Ver-
einigung von Fürsten und Staatsmännern das äußere Gepräge
verlieh und was ihr oft zum Vorwurf gemacht wird, hängt ja auf
das engste mit dieser Art der Politik zusammen. Der ganze Appa-
rat von Empfängen, Bällen, Redouten, Maskeraden war ein not-
wendiger Bestandteil dieser finassierenden Diplomatie; man
brauchte diese Veranstaltungen, um Gelegenheit zu haben, un-
auffällig und ohne Argwohn zu erregen, vertrauliche Unterhal-
tungen mit anderen Diplomaten zu pflegen, sich hier unbemerkt
in eine Fensternische, dort in ein Seperatgemach zurückziehen
zu können, um sich zu orientieren, zu sondieren, Verbindungen
anzuknüpfen, Intrigen zu spinnen oder neue Möglichkeiten vor-
zubereiten. In allen diesen Künsten war Talleyrand Meister, aufs
trefflichste unterstützt von seiner Nichte, der Herzogin von Dino,
die er wegen ihrer ausgezeichneten gesellschaftlichen Fähigkeiten
mit nach Wien genommen hatte, um die so wichtigen Honneurs
der französischen Vertretung zu machen. Keiner wußte so zu
bezaubern wie Talleyrand, keiner verstand sich so wie er auf die
Kunst der bonmots und des „parler par nuances“. Dieser Be-
herrschung aller Mittel und Formen des gesellschaftlichen Lebens
verdankt er nicht zuletzt seine großen Erfolge und seine hohe
Eignung für den diplomatischen Dienst. Aber seine ganze Wir-
kung konnte diese Durchschlagskraft nur entfalten in Jener ge-
sellschaftlichen Atmosphäre, für deren Voraussetzungen der
Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 383
Geist der Aufklärung eine nicht geringe Bedeutung hat. Auf ihn
sehen wir uns, wo wir uns auch immer der Persönlichkeit Talley-
rands zu nähern suchen, stets zurückverwiesen.
Die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassen ist fest-
zustellen: Die Quellen zur Geschichte Talleyrands sind ein sprödes
und schwer erschließbares Material, dessen Verarbeitung der
allergrößten kritischen Sorgfalt bedarf. Insbesondere zur Be-
antwortung aller Fragen, die das Innere der Persönlichkeit an-
gehen, sind sie völlig ungeeignet. Aber es lassen sich über das
Ganze der Überlieferung hin eine große Zahl von Äußerungen
und Urteilen zusammentragen, die in ihrer Gesamtheit den Auf-
riB seines Geistes zwar nicht unmittelbar zur Darstellung bringen,
aber doch einen in sich geschlossenen Zusammenhang weltan-
schaulicher Art als ihre Voraussetzung erkennen lassen. So finden
sich Aussprüche, die auf eine ernsthafte philosophische Schulung
hinweisen und zeigen, daß er der französischen Aufklärung Vol-
tairescher Richtung zuzurechnen ist. Was in seinen Äußerungen
an Hinweisen auf die Weltanschauung begegnet, deutet in die
gleiche Richtung und läßt sich mühelos in die Systematik dieses
Kreises einordnen. Das betrifft seine religiöse Haltung, die sich
einer genauen Bestimmung zwar entzieht, aber sich doch durch
die Möglichkeit der AusschlieBung nicht in Frage kommender
Formen und durch verstehende Deutung wenigstens ihrer un-
gefähren Art nach angeben läßt.
Von besonderem Interesse sind seine Anschauungen über das
staatliche und gesellschaftliche Leben, weil er auf diesem Gebiete
eine entschieden selbständige Haltung des Denkens zeigt. Talley-
rand war gewiß kein Systematiker, aber seine Gedanken lassen
doch erkennen, welche Möglichkeiten zur Ausbildung einer
Staatslehre von der Anschauungsgrundlage der Aufklärung aus
gegeben waren. Er hat auf dem Gebiet des Staates, auf dem er
über eine empirische Kenntnis verfügte, wie keiner der philo-
sophischen Denker seiner Zeit gezeigt, wie der Grundgedanke
der Aufklärung von der durchgehenden gesetzlichen Ordnung
alles Seins in sinnvoller Weise auch auf dieses ihm so heterogen
erscheinende Gebiet übertragen werden kann. Nur im Ausschnitt
ließen sich einzelne Bruchteile dieser Anschauungen sichtbar
machen, aber was so an einzelnen Teilen nachgewiesen werden
3 84 Hermann Wendorf: Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand
konnte, läßt sich mühelos als Glied eines sinnvollen Ordnungs-
prinzips auffassen. Eswar so möglich, über das schwankende und
unsichere Bild, das man sich bisher von Talleyrand machte,
hinaus wenigstens für die geistig weltanschauliche Seite seiner
Persönlichkeit einige klare Linien herauszuarbeiten. Welche Be-
deutung ihnen für die Zeichnung der gesamten Auffassung des
Menschen und Politikers Talleyrand zukommt, ist eine Frage,
die sich auf engem Raum nicht wird beantworten lassen.
385
Kleine Mitteilungen.
S. Afrae vita metriea.
Einleitung.
A. Die Überlieferung.
I. Der Cod. lat. Mon. 4431.
1. Der Cod. lat. 4431 (olim Aug. S. Ulr. et Afrae 131) der Münchner Staats-
bibliothek ist eine kleine Papierhandschrift — 14,9 x 10,9 cm groß —. Das
1. Blatt ist leer, auf der 1. beschriebenen Seite steht von später Hand: ‘Mon.
S. Udalr. et Afre Aug. Vindel'. und dann mit roter Schrift: Ex monasterio
Loricensi metra perpulchra de Sancta afra comportata et consequenter tota
legenda'. Auf der Rückseite dieses Blattes mit roter Schrift: 'De sancta afra
martire.’ Fol. 2 hat von der Hand des letzten Stiftsbibliothekars P. Placidus
Braun (T 1829)! den Eintrag: Mon. S. Udalr. auguste.’ Dann beginnt der
Text, der 12 Blätter einnimmt; am Schluß folgen noch einige leere Blätter.
2. Die Schrift ist eine spätgotische, halb kalligraphische Minuskel, die
jedoch schon humanistische Einschläge zeigt.
3. Der kleine Papiercodex bekennt sich durch die oben wiedergegebene
Überschrift als Kopie eines älteren im Benediktinerkloster Lorch in Württem-
berg, ehemals zur Diözese Augsburg gehörig. Noch deutlicher spricht für
diese Herkunft und zugleich für die Entstehungszeit dieser Abschrift die
Subskription am Schlusse des Textes:
Rescriptum ex vetustissimo quodam
libello in quo continebantur de ortu
et Vita beate marie virginis plura
metra. vna cum prescriptis de
sancta afra. Anno domini 1489.
In monasterio sancti Benedicti Lorch.
4. Der 'vetustissimus libellus’ von Lorch ist verschollen; auch in der
Landesbibliothek Stuttgart haben sich? von der Lorcher Hss.-Sammlung
keinerlei Spuren nachweisen lassen. Wir sind also nicht imstande, die Vor-
lage unseres Textes nachzuprüfen; auch andere Textzeugen vor Clm 4431
sind bis jetzt nicht bekannt. Daß die angegebene Vorlage ein verhältnismäßig
hohes Alter hatte, ist glaubwürdig, auch wenn derartige Bemerkungen bei
8787 Zusammenfassend über ihn jetzt F. Lauchert in Lex. f. Theol. u. K. II (1931)
2 FrdL Mitt. des Herrn Bibliotheksdirektors Dr. K. Löffler (Stuttgart) vom
14. XI. 1931.
Histor. Viertellahrschrift. Bd. 28, H. 2. 25
386 Anton L. Mayer
den Humanisten sehr häufig sind* und nicht immer ganz wörtlich genommen
zu werden brauchen. Einige Anzeichen lassen freilich vermuten, daB die
Vorlage unserer Hs., also der unbekannte Lorcher Codex, auch nicht der
ursprüngliche Text war: der unbekannte Lorcher Cod. (— L) scheint vielmehr
eine schon glossierte Abschrift einer älteren Handschrift — wahrscheinlich
auch nicht des Archetypus (A) — gewesen zu sein. Denn wenn z.B. in V.5
oder V. 335 in Clm 4431 (— M) ganz deutliche ehemalige Glossen schon in
den Text der Verse selber eingedrungen sind (licet, Christus’), während an
anderen Stellen die Glossen noch interlinear erscheinen, so zeugt das von einer
mechanischen Kopierung eines bereits vorhandenen Zustands; der Schreiber
von Clm 4431 hätte nicht gewagt, den Text so zu verunstalten, wenn er ihm
nicht schon genau so vorgelegen wäre. Wir müssen also diese Entstellung
bereits in L annehmen, dem wir auch sonst manche in M sich findende Text-
fehler zuschreiben müssen. Anderseits ist es nicht wahrscheinlich, daß A
(das Autograph) schon selbst Glossen hatte; eher ist noch ein Zwischenglied
(= X) möglich; dieses brachte zum erstenmal die Glossierung, die dann von
L zum Teil mißverstanden wurde. Es ergäbe sich also — vermutungsweise —
folgende einfache Kette:
*A (Autograph bzw. Archetypus)
"X (Absehrift mit Glossierung) $
1 (Abschrift mit mißverstandener Glossierung)
M
5. Das Jahr 1489, zusammengenommen mit der ehemaligen Zugehörig-
keit von M nach dem Benediktiner-Reichsstift St. Ulrich und Afra in Augs-
burg, führt uns in den Abschnitt der Geistesgeschichte dieses Klosters, der
dureh den Aufschwung infolge der Melker Reform* und durch den damit
verbundenen Aufschwung der humanistischen Studien und literarischen
Arbeiten gekennzeichnet ist*. In dieser Zeit erfuhr auch die Geschichts-
schreibung von St. Ulrich und Afra einen besonderen Antrieb, vor allem
durch einen Mann wie Sigismund Meisterlin®, der i. J. 1456 seine Chrono-
graphia Augustensium und i. J. 1483 sein Chronicon ecclesiasticum Augusta-
num vollendete. In diesen Werken spielt auch die Afra-Legende eine be-
sondere Rolle. Doch war Meisterlin nicht der einzige, der sich mit diesen
historischen Studien beschäftigte. Nach ihm und vielfach von ihm abhängig
* Vgl. z.B. P. Joachimsohn, Zur städt. u. klösterl. Geschichtschreibung Augs-
burgs im 15. Jahrhundert (Alemannia XXII [1894]), S. 132: „W. Wittwer beruft
sich für seinen Abtkatalog auf 'antiquissimi libri' als Quellen."
Über diese und ihre Einführung in Augsburg jetzt bes. V. Redlich, Tegern-
see und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert (Schriftenreihe z. bayer.
Landesgesch., Bd. 9, München 1931), S. 162ff.
5 Vgl. N. Bühler, Die Schriftsteller und Schreiber des Benediktinerstiftes
St. Ulrich und Afra in Augsburg wührend des MA. (1916) S. 44ff.
P. Joachimsohn, Die humanistische Geschichtschreibung in Deutschland.
1. Sig. Meisterlin. (Bonn 1895.)
A. Bigelmair, Die Afralegende. (Arch. f. d. Gesch. d. Hochst. Augsburg I
[1909/11], S. 170.)
S. Afrae vita metrica 387
arbeitete der Mönch Wilhelm Wittwer (1449—1512)* an der Geschichte
seines Klosters; er verfaßte 1493/7 den Catalogus abbatum monasterii Ss.
Udalrici et Afrae Augustensis, die große Chronik, die gewissermaßen den
Abschluß der mittelalterlichen Geistesgeschichte des alten Stiftes bezeichnet.
Hier hat die Afra-Legende „ihre umfangreichste Ausgestaltung erreicht‘.
Wie sehr sich gerade Wittwer um die Beibringung ülteren hagiographischen
Quellenmaterials bemühte, zeigt z. B. die Kunde, daß er sich durch die Ver-
mittlung eines Domherrn Konrad Frey und eines Kaufmanns N. Echinger
von Ulm i. J. 1485 den Text der Narzissus-Legende 'ex civitate Gerundia'
(in Spanien) besorgen ließ". Da das Jahr 1489, in dem die Afra-Dichtung
aus dem Lorcher Cod. abgeschrieben wurde, eher zu den historischen Arbeiten
Wittwers als zu denen Meisterlins paBt, liegt die Vermutung nahe, daB die
Abschrift für die Zwecke des ersteren geschah; der Schriftcharakter verbietet
es allerdings, seine eigene Hand anzunehmen. Die Vermutung seiner Anteil-
nahme aber wird durch ein anderes Zeugnis zur Gewißheit.
II. Die Abschrift von Gamans.
1. Die Afra- Dichtung des Clm 4431 wurde schon einmal abgeschrieben,
und zwar durch den bekannten Bollandisten P. Joh. Gamans S. J. (1605
bis 1684}3. Diese Abschrift (4 Seiten) ist uns erhalten in der Bibliothek der
Bollandisten zu Brüssel Collect. Bolland. n. 127 (= G unseres Apparats).
2. Gamans hat nicht eine bloBe Kopie geliefert, sondern auch an mehreren
Stellen, wie unser kritischer Apparat zeigt, Emendationen gemacht, die viel-
fach mit unseren Konjekturen übereinstimmen.
3. In der Einleitung zu seiner Abschrift sagt P. Gamans:
S. Afrae historia metrica ex ms. Codice papyraceo corio subrubro
assere in 8 Litt Z num 94 inscript. Meditationes, quales complures
post hanc ipsam legendam in eodem de Vita et passione Christi (pi?)
entissimas collegit et manu sua descripsit F. Wilhelmus Witwer S.
Udalrici et Afrae Augustae professus an. 1492 quod ipse tribus locis
* Bühler a. a. O. S. 58ff.
* Bigelmair a. a. O. S. 171.
10 P. Braun, Notitia historico-literaria de codicibus manuscriptis in biblio-
theca monasterii ad S. Udalricum et Afram III (Augsburg 1793) S. 93 (XVI).
u A, Schröder, Der Humanist Veit Bild, Mönch bei St. Ulrich (Zschr. d. Hist.
Ver. f. Schwaben u. Neuburg XX [1893]) S. 194 (Reg. Nr. 28): V. B. schreibt für
Subprior Wilhelm Ranger (Rang) an Georg N., Propst der Regularkanoniker zu
Neuburg, das Begleitschreiben bei Übersendung einer von R. verfaBten (?) Historia
divae martyris Christi Afrae (Vgl. Mittelalterl. Bibliothekskataloge III, S. 45.)
Mit unserer Hs. kann die hier genannte Historia nicht identisch sein. — Ich verdanke
diesen und manchen anderen Hinweis der Freundlichkeit des Herrn Staatsober-
bibliothekars Dr. Paul Ruf (München).
12 Acta Ss. Aug. II p. 44: Habemus eadem Acta conversionis et martyrii S. Afrae
metro elegiaco, sed rudi, satis fideliter expressa, et quidem anno 1489 1 ut
adnotatur, ex vetustissimo quodam libello ... in monasterio S. Benedicti Lorch,
dioecesis Augustanae, ac deinde servata in coenobio St. Udalrici et Afrae Augustano;
unde apographum huc olim dedit sua manu exaratum Gamansius noster.
x Der date des H. P. Mauritius Coens S. J. (Brüssel) verdanke ich eine leser-
liche Photographie dieser Bll.
25
388 Anton L. Mayer
diversis testatur in fine ipsarum meditationum. Caeterum historia
haec et alia et antiquiore manu descripta est ex nota rubricata prae-
missa: Ex Monasterio Loricensi metra perpulchra de S. Afra com-
portata et consequenter tota legenda.
Am Schluß steht folgende Nota':
Si libellus iste iam ad id temporis fuit vetustissimus sane carmen
ipsum erit haud paullo vetustius id quod ipsa metri simplicitas ac
ruditas indicat, haud absimilis Eclogaeilli S. Adelardi Abb.Corbeiensis(?)
et ideo referri possit eius auctor ad tempus eiusdem fere aetatis.
4. Von besonderer Wichtigkeit sind für uns die einleitenden Bemerkungen.
Sie besagen, daB Clm 4431 früher einer andern Handschrift einverleibt war,
und zwar den 'Meditationes', die Wilhelm Wittwer aus dem Werk de vita
Christi (des Kartháusers Ludolf von Sachsen) i. J. 1492 zusammengestellt
hat. Der Zusammenhang zwischen dem eifrigen Schreiber und Geschicht-
schreiber Wittwer und dem Münchner Codex wird hierdurch bestätigt. Noch
dazu ist uns die Handschrift erhalten, an deren Anfang früher die Vita metrica
S. Afraestand. Esist: Augsburg, Stadtbibliothek Oktav 3. Sie weist folgende
Anordnung auf: a) Pergamentbl. mit innen aufgeklebtem Exlibris des
Klosters St. Ulrich und Afra, Sign. Nr. 673; b) Pergamentbl., dessen Rück-
seite den Namen pro fratre Wilhelm Wittwer und die Jahreszahl 1489 trägt;
c) 6 leere oder fast leere Blätter; das erste trägt an der Vorderseite den Namen
Wittwer und die Bleistiftnotiz: Klostersig. B 141 und die Sign. Nr. 3; d) da-
hinter eine Bindelücke, in die genau Clm 4431 paBt!*; e) dann beginnen die
Meditationes. — Auch Gamans' Jahresangabe stimmt für diese Augsburger
Handschrift. An drei Stellen gibt Wittwer pedantisch genau das Datum
anb, Wir können also um so sicherer behaupten, daB die Afradichtung aus
dem Lorcher Codex für Wilhelm Wittwer abgeschrieben worden ist und ein
Stück seiner Quellensammlung für seine klostergeschichtlichen Studien war.
M Es ist auch zu bemerken, daß Clm 4431 an mehreren Bil. so zugeschnitten
erscheint, daB die letzten Buchstaben der Zeilen verschwunden sind; er mußte der . |
Größe nach zu den Bil. der Meditationes passen.
18 Da Bühler a. a. O. S. 62 die Meditationes nur streift, ohne die Hs. einiger-
maßen zu charakterisieren, möchte ich die Notizen Wittwers hier ausheben, da sie
für das Wesen dieses Historikers bezeichnend und auch sonst nicht ohne Wichtigkeit
sind
a) ene feria tercia 11 Dominicam Estomihi anno domini 1492 (also —
II.) per Fratrem Wilhelmum Wittwer professum huius monasterii anno
ingressionis sue vicesimo tercio, qui intravit monasterium sanctorum Udal-
rici et affre anno dni (unleserliches Zeichen) et ipsa die sanctorum aposto-
lorum Symonis et iude idque quinto kalendas nouembris (also — 28. X.)
anno gracie 1469 et indictum festum erat illo anno die sabbati. Abbas huius
loci tunc temporis erat dominus Melchior de Stamhaim E genere (?)
sciencia et sapientia cuius anima requiescat in pace.
b) Nota: quando ego fr. Wilhelm Wittwer scripsi istud ... infra 2 et 3 horis
idque to Kk (= kalendas) aprilis siue in octaua sci benedicti (= 28. IIL)
7 145 pam utilis firma (?) et postea tonitrua audita sunt prima illius anni
80
c) Am Schluß der Hs. ciunt oraciones ex [p ?] quarta parte de vita
Christi per fratrem Wilhelm Wittwer feria 3a post dominicam Judica idque
4to idus apprilis (— 10. IV.) sive ante festum sanctorum Tiburcii et Valeriani
S. Afrae vita metrica 380
B. Die Dichtung.
I. Entstehungszeit.
1. Daß die Entstehung der Afra-Dichtung geraume Zeit vor dem Ende
des 15. Jahrhunderts — der Abschrift in M — liegen muB, ergibt sich schon
aus dem Ausdruck 'vetustissimus libellus’, obwohl dieser Ausdruck an sich
noch nicht die Gewähr für ein hohes Alter der Vorlage bóte. Ganz genau
wird sich die Entstehungszeit einer Quelle nicht festlegen lassen. Wir haben
nur einen sehr deutlichen terminus a quo: es ist das Zitat aus der 'Aurora'
des Petrus Riga V. 303 mit ausdrücklicher Nennung der Quelle V. 3041*,
Ferner legt V. 308 die Benutzung eines anderen Werkes des Petrus Riga
nahe. Auch sonstige Stileigentümlichkeiten verweisen auf seinen EinfluB
(s. u. B III 3). Da er in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts dichtete — das
genaue Entstehungsjahr der ,Aurora' scheint nicht bekannt zu sein —,
dürfte hiermit ein Anhaltspunkt gegeben sein. Auch die stilistischen Ein-
flüsse des Matthàus von Vendóme weisen in diese Jahrzehnte als Grenzpunkt
nach rückwárts.
2. Schwieriger gestaltet sich die Auffindung eines terminus ante quem.
Abgesehen von dem unten zu erwähnenden Stil der Dichtung, gibt es keiner-
lei bestimmte Linien. Immerhin kónnten einige Vermutungen zu einem
gewissen Ziele führen. Die Art nàmlich, wie V. 308 Petrus Riga zitiert wird:
"Seribis in Aurora, Petre nobilis’ . .. läßt auf den Gedanken kommen, als ob
der angerufene Dichter damals noch unter den Lebenden geweilt habe —
80 lebendig, so unmittelbar ist dieses Zitat eingeführt. Petrus Riga ist 1209
gestorben; dann wäre also unser Gedicht vor diesem Jahr 1209 und nach
der Ausgabe der ‘Aurora’ entstanden, rund um oder vielleicht besser noch
etwas vor 1200, eine Annahme, die durch den stilistischen und prosodischen
Charakter nicht widerlegt, ja bestätigt wird; sie selbst bleibt freilich Hypo-
these. Eine Vermutung, obschon begründbar, ist auch folgendes: Ein Blick
in den Inhalt unserer Afra-Dichtung zeigt, daB er sich, namentlich in der
quod festum fiut sabbato palmarum (— 14. IV.), anno domini 1492. Et
feria secunda post eandem dominicam (— 9. IV.) dux Georius baioariorum
venit cum magno apparatu ad augustam occurrente ei rege maximiliano
usque ad pontem lici fluminis et sic honorifice fuit susceptus a rege et omnibus
augustensibus. Die letzte Bestimmung — Zusammentreffen König Maxi-
milians mit Herzog Georg d. R. von Bayern-Landshut — bezieht sich auf ein
Ereignis während des Streits Albrechts IV. von Bayern-München mit dem
Kaiser Friedrich III. und dem Schwäbischen Bund (,, Regensburger Handel“),
bei dem der deutsche Kónig Maximilian und der Landshuter Herzog eine
vermittelnde Rolle spielten. Am 8. April kommt Maximilian aus Tirol nach
Augsburg; am náchsten Tag also besucht ihn schon der Herzog, der in der
Nähe, bei Friedberg, ein kleines Kontingent zum Schutze des eigenen Landes
zusammengezogen hatte. (Vgl. S. Riezler, Geschichte Baierns III, 550.)
16 Es war mir bis jetzt nicht möglich, das Zitat in den Hss. des Petrus Riga
zu verifizieren. Auch H. P. Michael Huber (Metten), der die groBe Güte hatte,
seine auBerordentlich zahlreichen Hss.-Kopien der Aurora für mich durchzusehen,
konnte die Stelle bis jetzt nicht nachweisen. Es liegt nahe anzunehmen, daB wir
den eigentlichen, ursprünglichen Text dieses Werkes in keiner der uns zunáchst
zugä lichen Hss. vor uns haben. Vgl. M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit. des MA. III
(1931) S. 821.
390 Anton L. Mayer
Bekehrungsgeschichte, eng, jà zum Teil wórtlich an die alten Legenden von
der Conversio und Passio S. Afrae" anlehnt. Diese Gestalt der Heiligen-
geschichte war aber im Mittelalter die einzig maßgebende bis zur Erweite-
rung der Legende durch den Prologus des Priors Adilbert von St. Ulrich
und Afra!?; über seine Lebenszeit wissen wir nur, daß er i. J. 1235 sein Testa-
ment gemacht hat. Von dieser Erweiterung hat — wenn wir dieses argumen-
tum e silentio gelten lassen — unser Dichter noch keinerlei Kenntnis. Er
folgt ganz den alten Spuren. Ist es sehr verfehlt, zu vermuten, daß er aus
diesem Grunde vor dem Prologus des Adilbert gedichtet haben muB?
Allerdings: die alte Legendenform hat auch über die Zeit des Adilbert hinaus
gewirkt, vor allem auf Jacobus de Voragine und seine Nachfolger“, und diese
Tatsache scheint die Bedeutung des Prologus als Terminus einigermaßen
zu entkräften. Aber vielleicht muß man doch die Dinge verschieden beur-
teilen. Es ist von unterscheidendem Gewicht, in welchem Kreis, in welcher
Atmosphäre die Rezeption geschieht. Unsere Dichtung steht in enger Be-
ziehung mit dem Kloster Lorch, das vom gleichen Orden besiedelt war wie
St. Ulrich und Afra und das auch zum Augsburger Bistum gehörte, jeden-
falls aber der Hauptpflegestätte des Afra-Kultes in mehr als einer Beziehung
viel náher stand als der Italiener Jacobus de Voragine. Es ist schwer glaub-
lich, daB man in dieser Umgebung auf die alte, weniger bietende Gestalt
der Legende zurückgegrifien hätte, wenn man die neue, durch Adilbert ver-
breitete schon kannte. Man hätte sich in Lorch wahrscheinlich keine Mühe
mehr gegeben, etwas so Überholtes zu kopieren; erst der Frühhumanismus
hat sich auch um solche Quellen aus rein wissenschaftlichem Interesse wieder
gekümmert. Läßt man also die Abfassungszeit des Prologus als terminus ante
quem gelten, so hätte die oben angenommene Entstehungszeit unserer Afra-
dichtung eine gewisse Stütze.
II. Entstehungsort.
1. Bei der ganz spárlichen handschriftlichen Überlieferung ist es wohl
so gut wie unmóglich, den letzten Ausgangspunkt einer solchen Überlieferung,
also den Entstehungsort des Gedichtes, mit einiger Sicherheit festzustellen.
Bei einer Dichtung über die hl. Afra, die älteste Patronin von Augsburg und
die Schutzheilige des Klosters St. Ulrich und Afra, denkt man gewiB in
erster Linie an dieses Kloster als die Státte, an der sie entstanden sein kann.
Diese Annahme vorausgesetzt, lieBe sich im Hinblick auf die von uns gefundene
Entstehungszeit gerade um 1200 im Ulrichskloster eine Periode lebhafterer
Beschäftigung mit der Geschichte und Legende der heiligen Martyrin und
Patronin erkennen, als deren Hauptergebnis dann eben die Arbeit des Priors
Adilbert erschiene. Ja, unter diesen Voraussetzungen lieBe sich sogar der
Kreis noch enger ziehen: 1187 wurde das neu gebaute Ulrichsmünster ein-
geweiht und dort auch ein eigener und wohl auch besonders wichtiger Afra-
17 Hrsg. von B. Krusch. Mon. Germ. hist. Ss. rer. Meroving. III (1896) S. 55ff.
Diese zahlreichen Entlehnungen sind in unsern Anm. nicht eigens gekennzeichnet.
19 Vgl. Bigelmair a. a. O. S. 168 und Bühler a. a. O. S. 301.
19 Bigelmair a. a. O. S. 167.
S. Afrae vita metrica 391
Altar errichtet”. Sollte gelegentlich der Weihe dieses Altars — vollendet
wurde der Münsterbau erst unter Abt Erchembold (1190—1200) — das
Interesse an der Heiligen besonders wach geworden sein? Die Dichtung wäre
damals im Kloster ohnedies nicht brach gelegen. Wir haben Nachricht, daß
die vielen Heiligenbilder des neuen Münsters mit metrischen Inschriften
versehen waren?!, die — nach dem nur wenig älteren Analogon in einer aula
episcopalis zu Freising“ — damals wohl in dem elegischen Versmaß — wie
unsere Afra-Dichtung — abgefaBt waren. Der Dichter dieser tituli und der
Dichter der Vita S. Afrae kónnten identisch sein.
2. Doch bei aller Móglichkeit einer solchen Annahme ist es doch nicht
sehr wahrscheinlich, daß die Dichtung in St. Ulrich und Afra entstanden
ist. Es ist kaum zu glauben, daB ein in diesem Kloster gedichteter, also auch
dort niedergeschriebener Gesang auf die Schutzheilige seiner Geburtsstátte
so entfremdet wird, daß der Humanist und Historiker des späten 15. Jahr-
hunderts seiner auf dem Umwege über Lorch wieder habhaft werden muß.
St. Afras Verehrung herrschte nicht bloB in Augsburg, sondern war um 1200
schon ziemlich weit verbreitet**; insbesondere hat der Stoff auch schon vor
1200 immer wieder und allenthalben zur poetischen Bearbeitung gelockt“.
Die hl. Afra war liturgisch und infolge des novellistischen Anreizes ihrer
Geschichte“ schon weit über ihre Bedeutung als Lokalheilige und Kloster-
patronin hinausgerückt.
3. Freilich: fállt es uns so nicht schwer, negativ gegen den Augsburger
Ursprung zu entscheiden, so wird uns die positive Fixierung eines Entstehungs-
ortes wohl ganz unmüglich sein. Wir kónnen hóchstens sagen, daB die stili-
stischen Eigentümlichkeiten, wie wir sie im folgenden (B IIT) — absichtlich
kurz — streifen wollen, die Dichtung entweder auch lokal in den Kreis des
Petrus Riga oder Matthaeus v. Vendóme oder — zusammengenommen mit
der Tatsache der Aufbewahrung in Lorch — wahrscheinlicher nach Süd-
deutschland verweisen.
III. Prosodischer und stilistischer Charakter.
Ausführlicheres móchte ich spüter in anderem Zusammenhang bringen.
Hier nur einige Punkte:
1. Der Versbau weist keine Besonderheiten auf, die das Gedicht aus
der Reihe der um die angenommene Zeit entstandenen Werke herausrückten.
æ F. A. Hoeynck, Gesch. d. kirchl. Liturgie des Bist. Augsburg (1889) S. 262.
923) 530 M. Hartig, Das Benediktiner-Reichsstift St. Ulrich und Afra in Augsburg
1
S. 30
* Vel. J. Brummer, Aula episco B. Bl. f. d. Gymnas. 58 [1922]) S. 196;
Mon. Germ. hist. Ss. XXIV S. 317. Be = i J
Vgl. Bigelmair a. a. O. S.151f.; ferner z. B. F. v. d. Leyen, Des armen
Hartmann Rede vom Glouven (German. Abhdlg. XIV. Breslau 1917 ) S. 117. Inter-
essant ist auch, daß gerade um jene Zeit (1205) as Augustinerchorherrenstift St. Afra
in Meißen gegründet wurde, das mit St. Ulrich i in Augsburg in keinerlei Beziehungen
zu stehen scheint.
* Bigelmair a. a. O. S. 156.
8 d Vgl. A. Mayer, Der Heilige und die Dirne (B. Bl. f. d. Gymn. 67 (19311)
392 Anton L. Mayer
Außerordentlich häufig ist die kurze betonte Silbe vor jeder männlichen
Zäsur (bzw. Schluß des Pentameters); mit ihr schaltet der Dichter ebenso
unbeengt wie der des Asinarius“, der vermutlich um 1200 in Süddeutschland
entstanden ist“. Sonst freilich sind die verwandten Formen und Endungen
etwas strenger gehandhabt als im Asin.: egö 74, 172; ego 187; dagegen tibi,
mihi, sibi, hie immer kurz; ó beim Verbum immer kurz (außer vor Zäsur)
usw.; ‘h’ wirkt positionslängend V. 241 ‘et ab humanis’ (dagegen V. 65
'sanetüs ad haec").
2. Der Reim (leoninisch, meist einsilbig zwischen Zásur und Versschluß,
zweisilbig z. B. 64, 138, 301, 325, 340; häufig Attribut und Subst. in der sog.
‚Reimstellung‘) ist sichtlich angestrebt, jedoch keineswegs ängstlich durch-
geführt; außer in der 'Reim'-stellung wirkt er nicht wesentlich textgestaltend.
3. Die Diktion des Gedichts ist weniger leicht, flüssig und beweglich
als die des Asinarius, teilt mit ihm jedoch zeitgemäß manche stilistischen Er-
scheinungen, wenn auch auf niedrigerer Stufe. Eine direkte Beeinflussung
oder Übernahme irgendwelcher Art ist nicht anzunehmen. (Vgl. Anm. zu
V. 88, 105 [Langosch S. 12 s. v. Präposition], 293). Deutliche Anklänge
treten auf an die Sprache des Petrus Riga und des Matthaeus v. Vendóme,
bei letzterem vor allem durch die Vorliebe für das Asyndetontf*. (Vgl. z.B.
V. 35f.; 84 ‘sunt rata sana pia’, 199ff. 'assunt — queruntur — fallit —
dixit’; 127f. ‘nox instat — destinat — adest’; 152 ‘pectore, voce, manu' u.a.)
Text:
Vitam preclare scripturus martyris Afre
Hanc precor, ut teneri (res) velit esse metri.
Sed nisi laudator sanctorum, non imitator
Esse volo, mea laus est speciosa minus.
5 Pax sit ecclesie in isto tempore, ne me
Compellat verum pena negare deum.
Non excusari possum tamen ex racione,
Quin fiam martyr auxiliante deo.
Martyrii genera demonstro tibi tria, lector,
10 Que potes explere non paciendo necem.
Si caste vivas, tibi florida dum viret etas,
Et si divicias dives amare negas,
Quelibet adversa si ferre soles pacienter
Nec mala reddideris, sed bona, martyr eris.
2 res von mir ergänzt; G vermutet me (7). — 3 sed cum G.
5 paz licet st M; licet ist eingedrungene Glosse; vgl. Einl.
14 stc bona G; über sed in M die Glosse te (7).
LI Ausg. von K. De osch (Samml. mittellat. Texte, von A. Hilka Nr.10
Heidelberg 1929) S. 9 = d
7 Ebenda S. 14.
2 Manitius III S. 740.
S. Afrae vita metrica 393
15 Quartum predictis genus addere possumus istis:
Si tibi larga manus, mens et egena manent,
Martyrii merito te virtus omnis honorat,
Si carnis vicia spernis amore dei.
His prelibatis narratio materiei
20 Nostre procedat tuta favore dei.
Egregio flore paradisi nobilis hortus
Gaudet Narcisso, floridus inde magis.
Non est hic, puris qui se spectabat in undis,
Cuius stultitiam fabula vana canit.
25 Vir prudens iste spargens tua semina, Christe,
Dulciter in mundo fraglat odore bono.
Tota per hunc florem suavis fit Suevia, per quem
Suave iugum Christi suscipit atque fidem.
Presulis officio fungens duce rege superno
30 Augustam subiit, non eques immo pedes.
Ordine levita meritis et nomine felix
Huic comes unus erat, felle doloque carens.
Luminis ignara veri fuit urbs memorata,
Ceca per errores ydola multa colens.
35 Famosum gemme celestes ingrediuntur
Prostibulum: digne suscipiuntur ibi.
Hospita turpis eos voltu ridente salutans
Credit amatores corporis esse sui.
Vestem crispatam putat ambobus fore gratam
40 Et vult in roseis ipsa placere genis.
Sed nec in hac sancti pascunt oculos nec in illis,
Optantes animas lucrificare deo.
Largam cum ternis cenam parat Afra puellis,
In vitio socias quas suus error habet.
45 Jam cenaturus vir purus psallit et orat,
Porrigit appositis celica signa cibis.
Hospita perpendit, hospes quod conveniens sit
Nec Veneri nec ei servus uterque dei.
Qui sint edocta, miratur et obstupefacta
—
16 si tibi larga mens et egena manus M ist prosodisch und inhaltlich unrichtig;
vgl. Anm. Über egena in M die Glosse humilis.
43 teneris G.
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85
Anton L. Mayer
Procumbit sancti presulis ante pedes.
Sic mutare solet excelsi dextera quos volt,
Electos dominus sic vocat, immo trahit.
Sic Saulum stravit, ut Paulus surgeret et vas
Electum fleret, iussa ferendo dei;
Sic alios multos viciorum mole sepultos
Sublevat ad celi culmina dextra dei.
Hanc ita felicem nunc sanctam, tunc meretricem,
Sicut ovem rabidi tollit ab ore lupi.
Dogma salutare nondum perceperat, et iam
Crescit in illius pectore vera salus.
Presul', ait, ‘sancte, mihi non licet, ut videam te
Nec tali, fateor, hospite digna fui.
Non est hic peior seu turpior, ad mala queque
Semper eram prona non faciendo bona.'
Sanctus ad hec: 'Mea lux, quo volt deus ipse, meus dux,
Pergere non timeo; quo duce tutus eo.
Per turpes actus numquam fuit hic maculatus
Perpetuo mundus et sine sorde manens;
Solis enim radius, loca dum penetrat luculenta,
Purus descendit, mundus ad alta redit.
Ergo, filiola, fidei modo suscipe lumen,
Ut tibi dent aditus gaudia vera mei!’
'Sunt', ait illa, meis mea crimina plura capillis!
Sordibus a tantis qualiter ego laver?'
Ile refert: Sacri mundabere fonte lavacri
In Christum credens, ydola nulla colens.'
Afra salutifera sitibundo pectore verba
suscipit et famulas suspicit inde suas:
Hospes', ait 'noster, antistes christicolarum,
Spondet nos vero conciliare deo,
Nos baptizari docet, in Christo renovari,
Ut possint nobis regna patere poli.
Quid vos consulitis, quid vobis ergo videtur?
Eius consilia sunt rata sana pia.'
Respondent illic tres ex uno velut ore:
"Tu caput es nostrum, nos tua membra sumus!
78 suscipit inde M (u. G). — 79 est bei antistes überschrieben in M.
S. Afrae vita metrica 395
Membra sequi iure debent, quo vult caput ire:
Velle tuum nostrum velle frequenter erit!
Te semper, domina, sumus ad viciosa secute
90 Nostraque servicia prompta fuere tibi:
Nunc potes assensum magis ad bona flectere nostrum.
Elige: Quid placeat, nos faciemus idem.'
Imminet interea noctis caligo sacrisque
Insistunt sancti laudibus ambo dei.
95 Insomnem corde peragunt et corpore totam
Noctem cumque suis pervigil Afra manet.
Cum iam gallorum resonat vox, lumen eorum
Expirat; cecus inde fit ille locus.
Hospita larga volens hunc defectum reparare
100 Evolat et revocat iunior hospes eam,
"Expecta', dicens, lumen clarum modo cernes,
Quod famulis eius conferet ipse deus.'
Sic ait et presul: Mea lux celestis, adesto:
Jstum digneris irradiare locum"
105 Fulgens absque mora lux celica durat ibidem,
Dum nitet aurora, testiflcando fidem.
Jamque micans clare fidei splendore cor Arfe
Occultat sanctos hec imitando Raab.
Assunt ydolatre, sancti queruntur ab illis,
110 Prudens utiliter femina fallit eos.
Dixit: 'Amatores venere mei, remanentes
Hic mecum nocte, nunc abiere simul."
His verbis credunt, certi si inde recedunt —
Sed manet unus eam sollicitando magis.
115 'Christicolas', inquit, patet quos querimus esse;
Fronti namque suae signa dedere crucis.'
Subridens illa: ‘Tales’ dixit mihi credas
Ignotos esse, non mea tecta petunt!
Ad me non veniunt, non concordes mihi qui sunt,
120 Hos amo, quos video vivere more meo!
Sic est delusus et post reliquos abit ille.
Lini fasciculis contegit illa suos.
Eius continuo petit hospitium genetricis,
115 hos M; quos vermutet auch G. — 120 meo more M.
396
132 eoram Glosse in M zu illa. — 142 nostre legis Glosse in M.
146 -s tua peccata Glosse in M.
151 cyprus me genuit Korr. in M.
125
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140
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150
155
Anton L. Mayer
Hilarie, cuncta notificando sibi.
Mater in his gaudens ad se rogat ut venerandos
Tempore nocturno dirigat illa viros.
Nox instat; Christi precones filia matri
Destinat, ipsa suis cum famulabus adest.
Exoptat pacem presul pius atque salutem
Huic domui signum dando salutis ei.
Se blanda voce resalutat suscipientem
Hilariam, pedibus sternitur illa suis
Dicens: 'Dignare, pie vir, me purificare!
Est multo feda crimine vita mea.'
‘Nondum’, presul ait, 'audisti verba salutis
Mundarique petis: munda decenter eris!
Septenis igitur vos jeiunate diebus
Pregustando mei dogma salubre dei!
Octava die vos purificabit ab omni
Crimine fons vite, quo renovatur homo.'
Sic ait. Hec iterum: Tibi, si placeat, referemus
Culture nostre propositique modum,
Ut sic, dum fuerit noster tibi cognitus error,
Edoceas veri nos iuga ferre dei.'
Sanctus ad hec: Verum constat te querere numen,
Si prius errores confiteare tuos.
Claret in hoc vite verbum te corde sitire.
Ergo mihi cultum, filia, pande tuum!
Utilius medicus egro confert medicamen,
Cum fuerit morbi cognita causa sibi.'
Illa refert: Hic advena sum, Cyprus genuit me
Et colui Venerem pectore, voce, manu.
Obsequiis huius hanc dilectam mihi natam
Subieci, quod ei gratior inde foret.
Namque sacerdotes Veneris dicunt mulieres
Per multos Veneri posse placere mares.
In tali nostros huc usque peregimus annos
Ritu; nos melius instrue, sancte pater!“
Promens ex imo suspiria corde ministro
S. Afrae vita metrica 397
160 Felici loquitur talia preco dei:
'Frater, cultura lamentemur super ista,
Que parit omne malum, negligit omne bonum!
Aures divinas prece pulsemus, quod habundans
Gratia fiat ibi, res ubi turpis erat"
165 Continuo sanctis apparet fraudis amator,
Nudus et horribilis, vulnera multa gerens.
"Quid facis?’ hic hostis antiquus vociferatur;
Hic, Narcisse, nihil iuris habere potes!
Certe presentes mea vascula sunt mulieres
170 Sordida, corde tuus nescit amare deus!
Turpia vitare loca deberes, habitare
In sanctis, ut ego non loca sancta peto.'
Presul ait: 'Tibi precipio, demon scelerate,
Ut des responsum vera fatendo mihi!
175 Quem veneror Christum, quem predico, scis crucifixum,
Scis hunc esse deum, vivere credis eum ?'
Demon respondit: Utinam nescire liceret!
Mors eius vicit me sociosque meos.’
Sic presul: 'Mortis ut supplicium pateretur,
180 Christus quid fecit, que sua culpa fuit ?'
Sic demon: 'Mortem pro peccatis alienis
Sustinuit; nullum fecerat ipse malum.'
Presul: 'Pro culpis quia passum scis alienis,
Te nequam, supero, spiritus, ore tuo!
185 Est etiam passus his pro mulieribus; ergo
Discedas ab eis nec tibi spes sit in his!’
Demon: 'Tunc auffers mihi, quas lucratus ego sum
Has animas, legem non violare timens.
Lex iubet, ut nemo vi tollat res alienas:
190 Non debes igitur me spoliare meis!
Presul: 'Non facio tibi vim, sed, quod rapuisti
Fraude, creatori plasma reduco suum.'
Demon: 'Quid tuus est, meus est deus ille creator.
Ergo factori me quoque redde meo!
168 iuris niil M.
187 tum M.
190 Glosse rebus in M.
398
Anton L. Mayer
195 Presul: 'Si pro te foret passus hic quasi pro me,
Reddere te possem conciliando sibi.
Sed cum sic fueris lapsus, ne surgere possis,
Non est salvandi spes venieque tibi.'
Demon: ‘Nunc animam tua det pietas mihi solam
200 Nec tu me vacuum prorsus abire sinas!
'Quem tibi tradidero, dic, quid facturus es illi ?'
"Hunc perimens mecum semper habere volo.'
Mane revertaris, per me dabitur tibi talis,
Quem punire potes, qualiter ipse voles.'
205 Ante deum dicas comedentem sive bibentem,
Somnis utentem te dare velle mihi!
‘Qui bibat et comedat, qui dormiat evigiletque,
Ante deum dico me dare velle tibi.'
‘Hac ergo nocte iubeas hic me remanere
210 ‘Sic mihi promissa certificando tua!’
Si possis, maneas istic!’ Si tu modo cessas
Ymnizare deo, tunc remanere queo.'
Presul ait: ‘Numquam bene sit tibi, predo maligne,
Non cessabo meum glorificare deum!
215 Hasque requirentes lucem, tenebras fugientes,
Divine socias laudis habere volo.'
Vociferans igitur per terribiles ululatus
Demon disparet nec remanere valet.
Fortis agonista domini timidas mulieres
220 Consolans vite nectare potat eas
Et, se corporeis ut confortent alimentis,
Admonet absque cibis ipse manere volens.
Jeiunus reditum volt expectare tyranni,
Sic ut conflictum muniat ipse suum.
225 Cum Felice suo divinis laudibus instans
Totam per noctem pervigil ipse manet.
Jam lucet aurora, iam civis adest tenebrarum,
Jam promissa petit non patiendo moram.
203 Glosse anima in M.
215 requiremus G.
206 socios G.
222 remanere M. manere G.
223 teiunijs M.
S. Afrae vita metrica 399
'Presul', ait, 'sancte, tua sponsio perficiatur
230 Nec iuramentis dissonus esto tuis!'
Vir sincerus ad hec: 'Tu per dominum mihi iura,
Quem tibi tradidero, mortifices ut eum!
Quod si volueris, mox descendas in abyssum
Semper ibi remanens precipiente deo!’
235 Munus ut accipiat, demon iurat sub eadem
Lege nec est damni conscius ipse sui.
Hoc syllogismo iustus captivat iniquum,
Sic est conclusus simplicitate dolus.
Victor eidem ait: 'I festinanter ad Alpes,
240 Ad loca, que fauces nomen habere solent
Et ab humanis obcludit ibi draco fontem!
Occidas illum non faciendo moram!’
Sic se delusum, confusum seu superatum
Invidus ille dolens clamitat ista loquens:
245 'O quam mendosus, quam callidus atque dolosus
Seductor, cuius occido fraude nova!
Me predilectum morti dare cogit amicum!
Quod si non faciam, puniar inde magis!
Hostis inique, bona dat Narcissus tibi dona!
250 Exultes ideo plura petens ab eo!
Grates huic referas nec ei convicia dicas,
Contemptor noli muneris esse boni!
Quid moror? Horribilem crudeliter ipse draconem
Interimit: pax est his reparata locis.
255 Quam bonus hic fons sit, quantum constancia possit
Ac virtus fidei, lux hodierna probat.
Celica verba suis preclarus ductor alumnis
Predicat instanter nocte dieque docens;
Errorum frutices ab eis conamine toto
260 Exstirpans vite semina spargit eis.
Hic rigat, hic plantat, colit, incrementa deus dat;
Fructu ditatur ubere terra bona.
Mater cum nata, domus et cognatio tota
Fonte sacro lota munda fit atque nova.
298 conclusum — dolo M; conclusus — dolus auch G.
239 victo MG.
Anton L. Mayer
265 Hilarie domus templum sacratur et eius
Fratrem sublimat pontificalis honor.
Sic confirmatis et cunctis rite peractis
Lumen fert aliis viva lucerna locis.
Terga dat Auguste sub mense dei vir uterque,
270 Qui nonum sequitur undecimumque preit.
Hispanos adeunt sancti duo lumina mundi.
Excipit hos gremio clara Gerunda suo,
Caelesti rore, qui sacro manat ab ore,
Ut fructum pariant, arida corda rigant.
275 Semina spargentes vite segetemque metentes
Fruge student fidei vasa replere dei.
Purificant sacri multos virtute lavacri.
Nolentes soli scandere regna poli,
Christi dant agnis pastum lucis tribus annis.
280 Ambos martirii palma coronat ibi.
Eternum munus confert his trinus et unus,
Cuius, ut hic patuit, miles uterque fuit.
Dulcis Narcisse, paradisi flos preciose,
Cum Felice pio, nos prece iunge deo.
285 Ad prelibatos, mea penna, reflectere cives
Auguste scribens, quanta fides (inyeis,
Qui non immemores divini dogmatis instant
Obsequiis veri nocte dieque dei!
Numquid amatores repetit nunc Afra priores,
290 Per ludum Veneris ut societur eis?
Non; quia verus amor iamiam regnabat in eius
Pectore, depulso carnis amore procul,
A cunis illo vellet numquam carnisse,
Huius noticiam nollet habere modo;
295 In vera semper optans se luce stetisse
Hactenus in tenebris se iacuisse dolet.
Felix Afra, dole, sed consolare dolendo!
Digne solamen accipit iste dolor.
267 doclor statt duclor vermutet unnótig G.
269 Glosse zu mense: decembri M.
286 in fehlt M. G. vermutet: deest in vel sit.
291 iam regnat M.
297 consociare M; consolare vermutet auch G.
S. Afrae vita metrica 401
Qui te salvavit, age grates omnipotenti,
300 Nullius culpe vult memor esse tue.
Non es ob errorem penas passura priorem,
Cum sis conversa fine potita bono:
"Finem quippe deus, non preteritos notat actus,
Transactos redimit hora suprema dies.'
305 Scribis in Aurora versus, Petre nobilis, istos;
Hic mihi queso, tua gratia prestet eos!
Ad celos nivea quo fine columba volarit,
Narrabo, linguam compluat illa meam!
Jam non apparet talis, qualis fuit ante:
310 Jam Veneris cultus est alienus ei;
Vestes rugosas spernit vanasque choreas,
Que coluisse gemit, ydola nulla colit.
Christicolam morum mutatio prodit et ipsa
Christum constanter asserit esse deum.
315 Accusatores instillant iudicis auri
Ut prius hanc superis nolle litare suis.
Impius inde fremit iudex rabieque lupina
Carpere festinat viscera mitis ovis.
Hanc presentari sibi precipit, illa venire
390 Non timet ad mortem, pneumate firma sacro.
Prefectus — Gaius idem nomen fuit eius —
Pestifero tumidos fundit sermone sonos.
'Enarra', dixit, ‘hec vera relacio si sit
Spernere te superos christicolamque fore ?'
325 Hilarie nata sic inquit: 'Vera relata
Sunt tibi; nam superis nolo litare tuis.
Christum corde gero, veneror, colo, semper adoro,
Ydola sunt non di, que venerando colis"
Gaius ad hec: 'Meretrix cum sis, Christi fore cultrix
330 Non potes, obsequium respuit ille tuum!
Nunc ergo superis offer libamina nostris
Placans eternos magnificosque deos!
Hec iterum: Digna non sum Christo famulari,
— À——
— —
302 Glosse zu potita: probata M.
313 ipsam M; ipsa auch G.
Histor, Vierteljahrschrift Bd. 28 H.2 26
402
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Anton L. Mayer
Sed recipi spero me pietate sua.
Humanam carnem pro peccatoribus ipse
Induit, humanum sic redimendo genus.
A plantis eius non est depulsa meretrix
Cum lacrimis veniam mundiciamque petens;
In se credentes, ad se numquam venientes
Respuit ille reos immo recepit eos.
Sepius illorum fieri conviva volebat,
Verbi celestis his alimenta dabat.
Huic — licet indigna — desidero nunc famulari
Nec volo demoniis flectere colla tuis.'
"Desine stulta loqui', iudex respondet iniquus,
'Desine, que mala sunt, et sapienter age
Sic, ut amatores possis rehabere priores
Ac ab eis dentur munera multa tibi!
Cultrix nostrorum si non vis esse deorum,
Tradam te sevis ignibus absque mora"
Ila refert: Non hos repeto, male quos adamavi,
Nec poterunt horum dona placere mihi.
Amodo ditari per turpia munera nolo:
Si mundum potero vincere, dives ero!
Acceptabilia mihi cum desint holocausta,
Esse deo cupio victima grata pio.'
Continuo flammis sententia iudicialis
Addicit sanctam, perdit ut ignis eam.
Impia tortorum manus hanc rapit, insula Lici
Urendam recipit, fit pira grandis ibi.
Hec denudata, manibus pedibusque ligata,
Flammis vallata, gaudet et orat ita:
'Suscipe, Christe, meum libamen, qui moriendo
In cruce pro nobis hostia mitis eras,
Justus ut iniustos salvares, dulcis amaros!
Propiciare mihi! Laus sit honorque tibi!
A me tartareum pellat rogus iste calorem,
Quo simul uruntur spiritus atque caro!
335 tipse Christus M (vgl. Einl. A I 4).
342 verba M; verbi auch G.
358 perdat verb. G.
S. Afrae vita metrica 403
Talia dicentis gratesque deo referentis
370 Puro spiritui regna superna patent.
Ossa levat nate pietas materna beate
Cumque suis tumulat tempore noctis eam.
Vilibus ex lignis constructa tegit casa bustum,
Orando vigilat turba fidelis ibi.
375 Sancte produntur mulieres, Gaius ad illas
Mittit tortores, has revocare volens.
Blandiciis variisque minis cum non superantur,
Martirio roseas flamma coronat eas.
Filia cum matre regnat famuleque sacrate,
380 Que nunc in celis consociantur eis.
Dignentur domino nos commendare precando,
Ne nobis regni clausa fit aula sui.
Lingua sile, requiesce manus, nostroque labori
Merces eterna detur in arce poli!
385 Non queras, lector bone, quis sit carminis auctor:
Si foret hic notus vilius esset opus.
Solvant lectores doctori ius et honores.
Anmerkungen.
Abkürzungen ófter zitierter Literatur.
Antibarb. = J. F. Krebs — J. H. Schmalz, Antibarbarus der lat. Sag
I. II. (Basel 1905).
Asin. — Asinarius hrsg. von K. Langosch (vgl. o. S. 392, Anm. 26).
Carm. Cant. — Carmina Cantabrigiensia ed. Kar. Streeker (Mon. Germ.
hist. Berlin 1926).
Krusch — o. S. 390, Anm. 17.
Lehmann, Judas = P. Lehmann, Judas Ischarioth in der lat. Legenden-
überlieferung des Mittelalters (Studi medievali N. S. 1930).
Lehmann, Ps.-ant. Lit. — P. Lehmann, Pseudo-antike Literatur des Mittel-
alters (Studien der Bibl. Warburg 1927, Leipzig-Berlin 1927).
Mag. Heinr. = H. Grauert, Magister Heinrich, der Poet in Würzburg, und
die rómische Kurie. (Abhandlung. der Kgl. Bayer. Akad. d. Wiss.
Philos.-philol. und hist. Kl. XXVII. 1/2. München 1912.)
Manitius — Gesch. der latein. Literatur des Mittelalters (Handb. d. Alter-
tumswiss. IX 2), II (München 1923), III (1931).
Rapul. = Rapularius (I. u. II.) hrsg. von K. Langosch; vgl. o. Asin.
369 dicentem — referentem G; referentes M.
387 docto M. G: forte doclori vel docturo vel magis ad sensum auctort.
26*
404 Anton L. Maver
Schlecht, de el. = J. Schlecht, Kirchenpolitisches Gedicht a. d. Zeit Lud-
wigs d. B. in Clm. 21566. (Hist. Jahrb. d. Görresges. 42 [1922].)
Vit. Eust. — Petrus Riga, Vita S. Eustachii, hrsg. v. Fierville, Notices et
extraits 31, 1, S. 64ff.
Weyman Beitr. = C. Weyman, Beiträge 2. Gesch. d. christl. - lat. Poesie
(München 1926).
1f. Der Dichter ruft den Heiligen an, den er besingt; vgl. K. Jax, Nach-
wirkung der homerischen Proömien (B.Bl. f. d. Gymnasialschulw. 63 [1927]
354); ferner z. B. Petrus Riga Passio Agnetis (Migne P. L. 171, 1307; unter
dem Namen des Hildebert von Lavardin vgl. Manitius III, 827): Agnes
Sacra sui pennam scriptoris inauret, Linguam nectareo compluat imbre
meam' (vgl. u. V. 308) und den Beginn der Vita S. Martini im Cod. Darmst.
755 (14. Jh.) fol. 175v (Verfasser Petrus de Sanctis): 'O Martine pie, natum
deposce Marie, Ut mihi prestare veniam velit et reserare Paucula de vita
varia pietate polita.'
2. Ergánzung unbedingt nótig, vgl. Gamans, 'velit esse' an gleicher
Versstelle im Pyramus des Dietrich V. 262 (Lehmann, Ps.-ant. D. S. 44).
5. Das eingedrungene 'licet' ist wichtig für die Überlieferungsverhältnisse:
vgl. V. 335 u. Einl.
6. Zu pena' = „physische Marter“ vgl. Weyman, Beitr. S. 5.
9ff. Das unblutige Martyrium findet sich in der Literatur seit Cyprian und
Kommodian (vgl. Weyman, Beitr. S. 15f.). Vgl. auch die Unterscheidung
eines „roten“, „weißen“, „blauen“ Martyriums in einem altirischen Homiliar
(C. Plummer, Vitae Ss. Hiberniae I [Oxon. 1910] p. CXIX und K. Weber,
Kulturgesch. Probl. der Merowingerzeit im Spiegel frühmittelalterlicher
Heiligenleben. Stud. und Mitt. z. Gesch. des Benedikt.-Ordens 48 [1930]
8. 362), Caesarius von Arles Serm. I de martyr. Pervenitur non solum occasu,
sed etiam contemptu mundi ad coronam. Absque iniuria sanctorum in per-
secutionibus defunctorum dicere liceat carnem afflixisse, libidinem superasse,
avaritiae restitisse, de mundo triumphasse pars magna martyrii est.' Die
Jungfräulichkeit als eine Art Martyrium bei (Ps.-) Chrysostomus Laud.
S. Theclae (Migne P. Gr. 50, 745), die Armut bei Origenes Exhort. ad. mart.
15 (P. Gr. 11, 581); die Geduld bei Greg. M. hom. in Ev. 32,5 (P. L. 76,
1236 B); der „Gnostiker“ als der wahre Märtyrer erscheint bei Clem. Alex.
Strom. 2, 20, 104, 1; 2, 169 (Stählin). St. Martinus von Tours galt als der
erste Confessor im späteren Sinne Keuschheit, Armut und Geduld werden
besonders gepriesen; vgl. die Biographie des Sulpicius Severus; außerdem
der (zu Unrecht) Leo IX. zuzeschriebene Traktat Migne P. L. 143, 559 (im
1. Kap.). (Freundl. Hinweise zu diesem Punkt verdanke ich Dr. Odo Casel
O. S. B. und Dr. A. Michel.). Das 4. genus ist offenbar Hinzufügung des Afra-
Dichters an das alte Schema.
11. florida etas’ Prov. 17, 22 (vgl. Antibarb. I, 598!); ‘florida’ an gleicher
Stelle des Hexam. Vita Eust. V. 393.
16. Der überlieferte Vers ist aus prosodischen und inhaltlichen Gründen
nieht zu halten; tibi' wird an dieser Stelle und auch sonst außer vor der
Cäsur oder am Versschluß (V. 90, 208, 348) stets O gebraucht (vgl.
S. Afrae vita metrica 405
72, 141, 143, 173, 186, 191, 201, 203, 249, 326); also ist die Lesung mit Cäsur
nach ‘larga’ unmöglich; mit der Annahme der Cäsur nach ‘mens’ entstehen
bei 'et' und 'egena' falsche Làngen. Aber auch inhaltlich gibt der über-
lieferte Vers keinen klaren Sinn; dagegen ist "larga manus' stehender Aus-
druck; ‘egena’ (= 'humilis in der Glosse) mens' entspricht den 'pauperes
spiritu’ bei Matth. 5, 3 = arazo: ro nvevuarı;, (dagegen übers. die
Vulg. arwze = 'egena' bei Gal. 4,9); zu "humilis — egenus’ vgl. Sedul.
pasch. caım. 3, 334: ecce humilem dominus de stercore tollit egentem'.
2]. 'nobilis hortus: fert-ilis hortus' an gleicher Stelle bei Albert v. Stade
Troil. V. 127.
24. ‘fabula vana’: wohl = Ov. Met. 3, 413ff.
25. ‘spargens semina’: vgl. V. 275.
26. Zu ‘odore fragrare' vgl. Thes. 1. L. VI, I, 1238f.; Antibarb. I, 607;
Mag. Heinr. 123.
28. 'suave iugum': Matth. 11, 30.
30. non eques immo pedes’: zu (‘non’) ‘immo’ C als Pentameter-
schluß vgl. V. 52; ferner Rapul. I 328 (Langosch S. 69) non manet immo
fugit; Lehmann, Ps.-ant. Lit. S. 57, V.214 'non iuvat immo gravat';
S. 34 V. 146 non dolet immo furit’; Mag. Heinr. V. 442 numquam supprimit
ymo legit’; J. Werner, Beitr. z. Kde. d. lat. Lit. d. Mittelalters, S. 38 'Eccle-
siae matris filius immo pater (vgl. Jahrb. f. Liturgiewiss. 7 S. 60); Lehmann,
Judas, S. 318 V. 148 ‘vix aliquid fieri debeat immo nichil’. — 'Eques—pedes'
„im Mittelalter beliebt"; Langosch zu Rapul. II, 384 u. K. Strecker, 'Quid
dant artes nisi luctum' (Studi mediev. N. S. 6 (1928] S. 388) zu Str. 12, 4.
31. ‘meritis et nomine’ anschließend an m. e. n. dignus’; vgl. Wey-
man Beitr. S. 223; V. Grain, Zur Liturgiegesch. des St. Kastulusstiftes in
Moosburg (15. Sbl. d. Hist. Ver. Freising [1927]) S. 78; Versschluß 'pastoris
nomine dignus’ in der Series episcoporum Frising. beim Conr. Saer. (Mon.
Germ. hist. Ss. XXIV, 317) V. 11. — Zu 'ordine levita' als Versanfang vgl.
Sedul. p. c. IV, 208 'ordine Melchisedech’; K. Löffler, Mindener Geschichts-
quellen I (jüngere Bischofschron. 15. Jahrhundert) (Münster 1917) S. 179
‘ordinem pontificis’; als Merkwürdigkeit die byzant. Inschrift auf dem Frei-
singer Lukasbilde a. d. 12. Jahrhundert (J. Sighart, Dom zu Freising [1852]
S. 70) ræğer Ae HE.
32. 'felle doloque carens': vgl. 'labe carens fellea’ bei A. Hilka, Festschr.
f. K. Strecker (1931) S. 109; ‘carens’ als Pent.-Schluß z. B. Rapul I, 294;
Mag. Heinr. 434, 902; L. Sattina, Festschr. f. Strecker S. 191 V. 12.
39. 'erispata vestis' wohl = 'rugosa' (V. 311); 'erispare' in ähnlichem
Zusammenhang Hieron. epist. 54, 7: 'non habuit crispantes mitras (mere-
trix); Salv. de gub. II, 19: crispantia auro textili indumenta’.
40. 'in roseis genis': Rosenfarbenes Antlitz ist stereotypes Charakteristi-
kum der lieblichen Schónheit überhaupt; vgl. Asin. 198 mit Anm. von Lan-
gosch: lilia mixta rosis’ (bei Matthäus v. Vendôme in anderem Sinn ge-
braucht; vgl. M. Manitius III 740); 'roseo ... ore puer' bei Hildebert v.
Lavardin (Migne P. L. 171, 1387 A); Vita Eust. V. 291 ‘in vultu roseo nichil
est quod labe notetur’; Passio Agnetis (vgl. Anm. z. V. 1): ‘sic socias roseo
406 Anton L. Mayer
virgo decore premit.“ Jedoch ist die Rose und die rote Farbe besonderes
Attribut und Kennzeichen der Venus; vgl. Ennodius 388, 42 p. 277 Vog.
(Weyman, B. Bl. f. d. Gymn. 59 [1923] S. 141 u. 139); ferner die aus dem
Mythologen Fulgentius II, 1 (vgl. F. Keseling, De mythographi Vat. secundi
fontibus [Halis 1908] S. 77) in den Myth. Vat. Il, 32 und von hier zu Konrad
von Mure (A. Mayer, Quellen zum Fabularius des K. v. M. [Nürnberg 1916]
S. 73) übergegangenen 'Veneris rosae’: zum purpurnen Schleier der Venus
vgl. A. Frey-Sallmann, Aus dem Nachleben antiker Góttergestalten (Leipzig
1931) S. 154: daher liebt auch das Werk der Venus solche Farbe, vgl. z.B.
Carm. Bur. 37 ‘si dederit thorum rosa’; Carm. Bur. 34 ‘inter septa lilia locus
purpuratus'. Vgl. den Streit zwischen Rose und Lilie bei Walther, Streit-
gedicht S. 54 (bes. Tobler, Arch. f. d. Stud. d. n. Spr. 90 [1893] 152 ff.). Be-
zeichnend ist eines der ganz wenigen Gedichte der Carm. Bur., wo sich das
Mädchen selbst anbietet, Carm. Bur. 138 (Schmeller S. 210) (vgl. dazu H.
Süßmilch, Die lateinische Vagantenpoesie des 12./13. Jahrhunderts al:
Kulturerscheinung [Leipzig 1917] S. 35): ‘Stetit puella rufa tunica, siquis
eam tetigit tunica crepuit (= crispata est?). Stetit puella tamquam rosula,
facie splenduit ... hohe minne bot siir manne.' Die Dienerinnen der Venus
haben das rotbemalte Gesicht als Kennzeichen; die Greise, die in der ,Su-
sanna' des Petrus Riga (Migne P. L. 171, 1289 C D) die unschuldige Frau
der Unzucht bezichtigen, nennen sie 'picta genis’ und erzählen: ‘Arte suam
pinxit faciem, quia pectus amantis Praedari citius forma polita solet; frons
stellata rosis ...' Stephanus de Borb. 286 (bei G. Grupp, Kulturgesch. d.
Mittelalters III’, 356) berichtet die Spottworte, die den Dirnen von den
Gassenbuben nachgerufen wurden: Egredere roselle cum venenosa pelle’.
In Westbóhmen muBten die unehelichen Mütter mit einem roten Kopftuch
vor der Kirchentüre stehen bleiben (Baechtold-Stäubli, Lex. d. d. Abergl. IV,
509). Die 'roseae genae’ der Afra sind also Merkmal ihres Gewerbes.
42. ‘lucrificare’: Seltenes Wort; du Cange (IV, 155) verzeichnet nur eine
Stelle aus Tertull. de praescript. c. 24. — Die Verba auf — ficare' erfreuen
sich unter dem überragenden Einfluß von Vulgata und Liturgie, aber auch
aus metrischen Gründen, im Mittelalter einer wachsenden Beliebtheit, be-
sonders in hexametrischen und elegischen Dichtungen. Einige Versstellen
sind oft übermäßig bevorzugt, im Pentameter weitaus am meisten der
Beginn der 2. Hälfte. Von den 8 Verba auf — ‘ficare’ in unserer Afra-
Dichtung stehen 6 an dieser Stelle; alle 4 Verwendungen in der Pyramus-
dichtung des Matthäus v. Vendöme ebenso; alle 3 bei Mag. Heinr. ebenso;
von 67 solchen Verben im ‚Tobias‘ des Matthäus v. V. stehen 60 hier (davon
allein 41 im Inf. Präs.!), von 29 in ‘De myst. miss.’ des Hildebert von La-
vardin 18 (1 im Inf. Präs.), von 14 in des nämlichen In libr. reg.’ 6. Im
Hexameter ist der Schluß sehr beliebt; Hildebert in de sacr. euchar.'
hat von 37 solchen Verben allein 32 hier gesetzt, in ‘de myst. miss.’ 5, in libr.
reg. D.
46. ‘celica signa’ vgl. Hildeb. Lav. P. L. 171, 1186D ‘mystica signa’ an
gleicher Versstelle.
53/4. 'vas electum' Act. Ap. 9, 15.
S. Afrae vita metrica 407
58. lupi': vgl. V. 317; zum Bild vom guten Hirten Joh. 10, 12.
65. mea lux': vgl. Joh. 8, 12; 12, 46.
66. quo duce tutus eo’: vgl. Lehmann Ps.-ant. Lit. S. 58 V. 279 quo
duce tuta foret’.
73. Vgl. Ps. 39, 13.
75. ‘sacri — lavacri': vgl. V. 277 u. Hild. Lav. P. L. 171, 1205 A in
fonte lavacri' (VersschluB); Vita S. Barb. im Cod. Darmst. 755 fol. 1607 2. 7
V. o. :‘sacro piscina probata lavacro’.
81. ‘renovari’: vgl. Tit. 3, 5. Häufig in der Liturgie, z. B. Ord. Bapt.
Adult. in Rit. Rom. Tit. II c. 4, 4 'renovetur fonte baptismatis'.
86f. 'caput—membra': Zu diesem (allerdings aus der alten Legende —
Krusch, S. 56 — übernommenen) Bilde vgl. auch Hild. Lav. (P. L. 171,
1192) ‘quo sua membra caput glorificanda trahit'; Matth. Vind. Tobias (hrsg.
v. F. A. W. Müldener [1855]) V.2098 (= P.L.205, 977 A): 'insequitur
truncum virgula, membra caput’. Das Bild ist biblisch (vgl. H. Lietzmann —
M. Dibelius, Briefe des Apostels Paulus (Hdb. z. N. T. III. Tüb. 1913] S. 135
zu 1. Kor. 12, 12) und ursprünglich auf das Verhältnis Christus—Ekklesia
angewandt; vgl. Eph. 1, 22; Kol. 1, 18. In diesem Sinne ist das Bild zu den
Vätern übergegangen, wurde dann aber auch für andere Gehorsamsverhältnisse
angewandt; vgl. den Bericht Avell. Nr. 223 (E. Caspar, Aus der altpäpstl.
Diplomatie, in: Festschr. f. A. Brackmann [1931] S.8): ut . . omnibus mem-
bris capiti suo connectatur ecclesia'.
88. 'velle tuum': Zum subst. Infin. (bes. von 'velle' u. à) vgl. jetzt
H. Ottinger, Zum Latein des Ruodlieb (Hist. Vierteljschr. 26 [1931] 505f.);
dazu Lehmann, Judas S. 320 V. 218 (‘sine velle meo’). Im Ordo Cencius II
und anderen Riten beißt es bei der Eidesleistung des Kaisers: ‘secundum scire
meum ac posse.'
88. 'frequenter' — sofort; vgl. Asin. V. 49: 'ergo frequenter adit, quem
noverat arte peritum ... quem sic aggreditur’, wo der Zusammenhang die
gleiche Bedeutung erfordert.
95. ‘corde — corpore’: Zu dieser Alliteration vgl. E. Wölfflin, All. Ver-
bindungen der lat. Spr. (Sitz.-Ber. d. Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl.,
1881, 2) S. 52; in einer Dichtung des Petrus Riga (P. L. 171, 1290) hat eine
Rezension bei 'graves corpore mente leves' statt ‘mente’ wohl richtig 'corde'.
In der Liturgie eine Oration des Bischofs vor der Pontifikalmesse ('ad an-
nulum cordis’): Cordis et corporis mei ... Tract. Ebor. IV de cons. Pont.
et Reg. (M. G. h. Lib. d. lit. I11675): ‘potest salvare hominum corda et corpora’.
103. mea lux': vgl. V. 65.
106. ‘absque mora’: vgl. V. 222 an gleicher Versstelle 'absque cibis’.
Die auch hier auftretende Verwendung der unklassischen Konstruktion
'absque = sine’ (vgl. Antibarb. 156), also absque + C A vor der Penthe-
mim. bzw. am Pentameterschluß ist in der mittellateinischen Dichtung dieser
Zeit weitaus die häufigste; ich gebe nur einige Beispiele, die sich beliebig
vermehren lassen: Asin. 63 'absque manu', 132 'absque viro’ (ebenso Hildeb.
Lav. P. L. 171, 1382 A u. 1383 D), 162 u. 183 'absque modo'; Mag. Heinr.
218 ‘absque sale’, 603 ‘absque viris’; Vit. Eust. 116 'absque minis’ (im gleichen
408 Anton L. Mayer
Vers am Hexameterschluß die Ausnahme 'absque pruinis’; Hildeb. Lav. a.a.
O. 1384D 'absque Joseph’; Schlecht ‘de elect.’ 18 absque nota'; Rap. II.
370 'absque mora' u. v. a.
108. ‘Raab’ (= Rahab) vgl. Krusch S. 57 Anm. 1. Den Vergleich Afras
mit der Dirne R. bei Jos. 2, 6 bringt auch Warnerius von Basel im Synodicus
(hrsg. von J. Huemer, Roman. Forsch. III, 319ff.; vgl. Manitius II, 578)
V. 267fl.
129. pacem ... atque salutem': vgl. Eccles. 1, 22 replens pacem et
salutis fructum’; Benzo v. Alba (M. G. h. XI, 598): ‘pax ubique, perpes
salus’; in einem kath. Kirchenlied der Gegenwart: „Gib, unsre Herrin,
Friede und Heil."
130. ‘huic domui’: wörtliche Übernahme des Grußes beim Kranken-
besuch, der aus Matth. 10, 12 in das Rit. Rom. gekommen ist.
140. 'fons vite': Prov. 14, 27; Apoc. 7, 17. Vgl. aueh Anm. zu V. 81.
151. Die Korrektur ‘me genuit’ ist vielleicht in Anlehnung an das
Epitaph Vergils: 'Mantua me genuit’ entstanden.
160. preco dei’: vgl. V. 127.
163. 'aures ... pulsemus’: erscheint in ähnlichen Ausdrücken um diese
Zeit öfter, z. B. Asin. 21 pia numina pulsans' ; Carm. Cantabr. 81, 22 (Strecker)
*precibus pulsantes deum'; Petrus Riga Aur. V.286 (Pol. Leyser, Hist.
poet. et poem. med. aev. [Halle 1721] S. 716) 'si pulses precibus aethera';
Vita S. Mart. im Cod. Darmst. 755 fol. 176" Z.17 v. o. ‘precibus ut pulset
cunctipotentem' ; Schlecht de el’ 10 'pulset monachorum concio celos’. Ferner
die Kaiserurk. b. Stumpf, Die Reichskanzler vorn. d. X., XI., XII. Jh. Bd. II
Nr. 2783 (= Gottschalk von Aachen nach B. Schmeidler, K. Heinrich IV. u.
seine Helfer [1927] S.12/5): cum illam domi nam. . .honorando precibus pul-
semus. Eine Oratio de s. Arsacio in B. Hauptst.-Arch. Klost.-Lit. Immünster
Nr 1 fol.5Y sagt: Aures tuas.. .pulsantibus precibus aperi’. Ursprünglicher
ist der Gebrauch im Hymnus Papst Gregors I. zur Sonntagsvesper (‘Lucis
creator optime") Str. 4, 1: (mens) caelorum pulset intimum’, auch noch z. B.
im Cod-Udalr. bei Jaffé V S. 87: *pia exhortationis manu pulsamus.'
171f. 'habitare in sanctis' Ps. 21, 4.
175. Die Tilgung des zweiten 'scis' wird verhindert durch die Quantität
von predico' (vgl. V. 258) und durch die prosaische Vorlage (Krusch S. 58).
184. ore tuo’: Anklang an Luc. 19, 22 de ore tuo te judico’.
187. tunc' für tum der Hs.; der Dichter scheint die Möglichkeiten für
Elisionen sichtlich zu meiden.
189. ‘iubet ut’: dazu H. Ottinger (vgl. oben Anm. zu V. 88) S. 528; vgl.
auch Krusch 58, 14. 15 "iubeo tibi ... ut des mihi responsum’.
193ff. Diese Verse des Dialogs (vgl. Krusch S. 59, 15ff.) lassen eine An-
spielung auf die Lehre von der Apokatastasis (Origenes, Gregor von Nyssa)
oder auf die volkstümlichen Annahmen von einer Begnadigung auch der zur
Hölle Verdammten, selbst des Teufels, vermuten; zum mindesten läßt der
Volksglaube háufig eine Pause oder eine vorübergehende Milderung der Hóllen-
strafen eintreten, jedoch findet — auch nach der dogmatischen Fixierung
der Ewigkeit der Hóllenstrafen — in der Volkssage oft noch ein bóser Feind
S. Afrae vita metrica 409
Gnade oder hofft der böse Feind auf Erlösung. Es läßt sich freilich nicht
entscheiden, ob es sich an unserer Stelle um eine Polemik gegen eine von der
Kirehe abgewiesene Irrlehre oder gegen den Volksglauben handelt. Vgl.
R. Brotanek, Refrigerium damnatorum (Festg. d. philos. Fak. Erlangen z.
55. Vers. d. Philol. u. Sehulm. 1925, S. 77ff.); A. Mayer, Stetit urna paullum
sicca (B. Bl. f. d. Gymn. 62 [1926] S. 331ff.); A. Cabassut, La mitigation des
peines de l'enfer d'aprés les livres liturgiques (Rev. d'hist. eccl. 23 [1927]
S. 65ff.); L. Gougaud, La croyance au répit périodique des damnés dans les
légendes irlandaises (Mélanges brétons et celtiques off. à M. I. Loth. Ann. de
Bret. 1927, S. 1ff.); W. Mulertt, stl. Züge in der Navigatio Brandani?
(Zschr. f. roman. Philol. 45 [1925] S. 322) erwühnt die auch bei Brotanek
und in der früheren Lit. auftauchende Legende von der vorübergehenden
Begnadigung des Judas Iskariot im AnschluB an Asin. Palaccio, La escatologia
musulmana en la Divina Comedia (Madrid 1919); vgl. auch Lehmann, Judas
S.309 u. 340; S. Merkle, Augustin über eine Unterbrechung der Höllen-
strafen (Festschr. d. Görr. z. 1000 jähr. Todestag des hl. Aug. [1930] S. 197fl.);
A. Mayer-Pfannholz, Des Teufels Begnadigung (Traute Heimat, Beil. z.
Sehwandorfer Tagblatt 1932, Nr. 1).
197. ‘sic — ne’: vgl. Mag. Heinr. 921f. ‘Sic vellem sermone frui, ne
ventus et aura Deferrent voces et mea vota simul.'
205. 'sive = et’ (vgl. 207). Der Gebrauch in der Poesie ist namentlich
seit der karolingischen Zeit außerordentlich häufig; für die Prosa muß der
Bedeutungswandel von sive (seu) noch besonders untersucht werden; ich
führe einstweilen nur zwei Urkundenstellen an: Th. Bitterauf, Tradit. d.
Hochst. Freising I Nr. 34 (Stiftung von Innichen im Pustertal): 'campestria
seu et montana' u. E. Kittel, Der Kampf um die Reform des Domkapitels
in Lueca. (Festschr. f. Alb. Brackmann [1931] S. 245): 'de presbiteris et
diaconis seo clericis’. Vgl. auch Otto Morena über Friedrich I. (M. G. h.
Ss. XVIII, 587, 21): *. . .religiosissimo ac prudentissimo seu dulcissimo viro.’
212. hymnizare': Du Cange IV, 272; Carm. Cant. 82, 12.
220. ‘vite nectare': vgl. Hildeb. Lav. P. L. 171, 1182 A ‘nectar supernum’;
1382 A 'nectareum rorem terris instillat Olympus’.
222. vgl. zu V. 105.
225. vgl. V. 284 und V. 94.
232. ‘mortificare’: Verdrängt im Mittelalter immer mehr die Synonyma
für „töten“ (vgl. zu V. 42). Über die ältere Bedeutung vgl. A. H. Salonius,
Vitae Patrum (Lund 1920) S. 154, 168.
243. seu = et’: vgl. V. 63. 205.
261. hic rigat’ ... 1. Kor. 3, 6.
271. "lumina mundi’: Oft von Bischöfen und Priestern gebraucht, z. B
Ser. episc. Fris. (s. Anm. zu V. 31) V. 27 (die Mon. lesen nach Conr. Saer
falsch numina'). Der Gedanke geht zurück auf Matth. 5, 14 vos estis lux
mundi'; die im Vers, bes. im daktylischen, beliebte Verwendung von lumen
(vgl. über diese Beliebtheit L. Kraus, Die poet. Sprache des Paulinus No-
lanus [1918] S. 38) kann zurückgehen auf den seit dem 10. Jahrhundert
gebräuchlichen Vesperhymnus im Commune Apost. (‘Exultet orbis gaudiis’)
410 Anton L. Mayer
V. 6: 'et vera mundi lumina' (An. hymn. LI, 125; vgl. Cl. Blume in Lex. f.
Theol. u. K. III, 919).
275. vgl. V. 25.
277. vgl. V. 75.
284. vgl. V. 225.
293. vellet': zu diesem Konj. vgl. Asin. 30 (mit krit. App.) und B. Bl. f. d.
Gymnas. 67 (1931) S. 110.
308. compluat' = beregnen, beträufeln; vgl. Amos 4, 7 pars una com-
pluta est; et pars, super quam non plui, aruit' (also — fruchtbar machen).
Unser Bild lehnt sich jedoch deutlich an den Eingang der Passio Agnetis des
Petrus Riga an; vgl. Anm. zu V. 1. Clm 4408 (s. XV) notiert einen (älteren)
Merkvers ‘in exordio libri’ (fol. 120"): *Compluat inceptum sancta Maria
meum.’
311. ‘vestes rugosas’; vgl. V. 39.
398. ‘Ydola sunt non di’: Über die geistlichen Auseinandersetzungen
gerade jener Zeit mit den in die Ritterdichtung usw. eingedrungenen
„Heidengöttern“ vel. jetzt L. Denecke, Ritterdichter und Heidengötter
(1150—1220) (Form und Geist H. 13, Leipzig 1930) S. 123ff. Besonders
bezeichnend die S. 133 ausgehobenen Verse aus dem Ernestus des Odo von
Magdeburg (um 1206), die jedoch einer textlichen Änderung bedürfen:
'[deirco vitam morbosi temporis illo
vivere feliei (subst. Inf.!) mutantes, cauteriati
peccato primi sceleris, redimamur ab istis
idolatris, quoniam Christi blasphemat eorum
vana superstitio nomen rituque nefasto
divinae cultum condemnat religionis.
335. Sehr wichtig für die Geschichte der Überlieferung. (Vgl. Einl. A I4)
337. meretrix — Maria Magdalena. Ihre Gestalt spielt in vielen Be-
kehrungslegenden und -historien, BuBpredigten und Sündenklagen eine große
Rolle. Vgl. A. Mayer, Der Heilige und die Dirne (B. Bl. f. d. Gymn. 67 [1931])
S. 78ff., 84, 95; Die Sündenklage in des armen Hartmann Rede vom Glauben
(Ausg. F. v. d. Leyen, Des armen Hartmann Rede vom Glouven. Germ.
Abhdlg. XIV [Breslau 1897]) spricht z. B. V. 2114 über Maria Magdalena,
V. 2238ff. über die hl. Afra.
347. Trehabere': Du Cange V, 679 verzeichnet im wesentlichen rechtliche
Dokumente als Belege; Carm. Bur. 48, 2, 10 (Ausg. von Hilka-Schumann I,
S. 95; vgl. II, S. 102) et dolebit dum rehabuerit'.
348. ‘ac ab’: Es wäre falsch, hier ‘atque’ anzunehmen; gerade 'ac' vor
Vokalen (auch ‘et’ vgl. o. V. 241) kommt an dieser Versstelle häufig vor;
Lehmann, Ps.-ant. Lit. S. 41 (Dietrichs Pyramus V. 125) ‘ac in’; Rapul I,
424 ‘ac in’; Lehmann, Judas S. 318 V. 126 ac inventicius’; Lehmann, Ps.
ant. Lit. S. 56 (Anon. Pyram. V. 202) ac odiosa’ am Beginn der 2. Pent
meterhülfte. Ac' vor Vokal erscheint aber auch in der Prosa immer
häufiger; um nur ein paar Beispiele anzuführen, hat Otto v. Freising Chron.
VII, 30 (Hofmeister 359, 5) ‘ac omnia’, VIII, 28 (438, 29) ‘ac ad’. Dagegen
erscheint z. B. im 14. Jahrhundert, in einer Urkunde Karls IV. für das Reichs-
S. Afrae vita metrica 411
stift Herford von 1377 (A. Cohausz, Herford als Reichsstadt und papst-
unmittelbares Stift am Ausg. des Mittelalters [1928] S. 95) folgender Satz:
'Ac omnibus et singulis contradicentibus perpetuum silentium imposuit ac a
quibuslibet impetitionibus praedictis ac etiam futuris ipsam dominam
Hillegundim et suam ecclesiam ac oppidum Herforde absolvit.' Hier steht
nur vor Vok. ‘ac’, vor Kons. ‘et’. Wir haben die Erscheinung verhältnis-
mäßig früh in den Ann. Hildesh. M. G. h. Ss. III, 92 (‘ac alii) und bei
Gregor V II., z. B. Reg. IV, 3: ‘ac indubitabili', VIII, 26: *devotus ac utilis’,
ferner in dem unter Heinrich IV. gefälschten Dekret Leos VIII Rez. a
(M. G. h. Const. I, 673): eligendi ac ordinandi’ und Stumpf, Reichskanzler
Nr. 2912: fecitac ordinavit’.
356. deo — pio: pius = benignus’ oder ‘misericors’. Langosch zu Rapul. II,
100 verweist nur auf Ysengrimus S. 451. Die Bedeutung ist aber durch Vul-
gata (2 Par. 30, 9; Judith 7, 20; Eccles. 2, 13) und Liturgie (vgl. Communio
der Missa pro Defunct: 'quia pius es’ nach Jud. 7, 20 und Apoc. 15, 4) geläufig.
Zu den Beziehungen zwischen 'deus pius' und der Totenliturgie vgl. R. Bauer-
reiB, Pie Jesu (München 1931) S. 9.
366. 'laus ... honorque': vgl. den Hymnus des Theodulph v. Orl. (in der
Palmsonntag-Liturgie): Gloria laus et honor tibi sit, rex Christe
378. ‘rosea’: Erscheint im Zusammenhang mit dem Martyrium, aller-
dings mit anderem Subst. in O Roma nobilis’ (L. Traube, Abh. d. Bayer.
Akad. d. Wiss. I Kl. 19 [1891] 306): ‘roseo martyrum sanguine rubea’.
Wieder mit anderer Wendung (an St. Afra): O martyr Afra ... rosea gemma
inter coeli principes' (An. hymn. 4, 68).
379. 'famule sacrate’: ‘sacratus’ hat hier ganz Adjektiv-Bedeutung; vgl.
Weyman Beitr. S. 40; Jahrb. f. Liturgiew. 2 (1922) 154; B.Bl. f. d. Gymn. 63
(1927) S. 382. 'Jesu victima sacrata' wird Afra genannt im Hymnus An.
hymn. 52, 87.
387. ‘doctori’: Von den Vorschlägen Gamans' erledigt sich ‘docturo’
wegen des Sinnes, 'auctori' wegen V. 385; 'doctori' liegt paläographisch am
allernächsten.
Freising. Anton L. Mayer.
412
Kritiken.
Boéthius, Anicius Manillas Severinus: De consolatione Philosophiae
libri quinque [lat.]. Trost der Philosophie. Übersetzt von Eberhard
Gothein. Berlin: Verlag Die Runde, 1932. 215 S. 8%. Kart. ZA 6.—
Das Buch ist ein Vermáchtnis: Eberhard Gotheins, der dieser letzten
Schrift des „letzten Römers“ lange Jahre seines Lebens zugewendet blieb, und
Marie Luise Gotheins, die seine Übersetzung, mit einem Nachwort geleitet,
In memoriam Friedrich Gundolf herausgegeben hat — ein Vermächtnis aber
auch eines, in Deutschland, versinkenden Zeitalters humanistisch gebildeten Bürger-
tums. Die Unzeitgemäßheit dieser Ausgabe repliziert symbolisch geistesgeschicht-
liche Umstánde der Entstehung des Originales.
Das Buch ist nicht für die Wissenschaft gemeint; eine Anzeige in einer wissen-
schaftlichen Zeitschrift kann allein dem an ihm Unwesentlichen gelten; sie darf
jedoch stattfinden, wenn, wie es der Fall ist, auch die Wissenschaft Ursache hat, es
willkommen zu heiBen. Der lateinische Text, dem die Übersetzung rechts gegen-
über steht, beruht auf der Edition von R. Peiper (1871; Bibl. Teubn.), jedoch ist
eine große Anzahl der Besserungen von Aug. Engelbrecht aufgenommen!. Da Pei-
pers Ausgabe seit langem vergriffen ist und die neueren in Loeb's Classical Library
(1919; 21926) und von A. Fortscue (Cambridge 1924) in Deutschland selten ge-
funden werden, bestand für einen neuen deutschen Druck ein gewisses Bedürfnis;
die von W. Weinberger für das Florilegium patristicum versprochene Ausgabe wird
erst nach der im Wiener Corpus noch ausstehenden gróBeren erscheinen.
Eine Übersetzung eines Textes wie des vorliegenden richtet sich, anders
als etwa eine aus entlegenen Sprachen, nicht an den Gelehrten; nicht allein der
Philologe, auch der Philosophiehistoriker wird stets ausschlieBlich des Originales
sich zu bedienen haben. Jedoch indem jegliche Übersetzung eines philosophischen
Textes schon durch das Medium der andern Sprache eine Interpretation darstellt,
ist sie geeignet, gerade den Leser, der das Original sprachlich unmittelbar verstehend
aufzuneh men gewohnt ist, Fragen zu stellen, und die Schürfe des originalen Sinnes,
das Unübersetzbare an ihm erst recht deutlich zu machen.
Darüber hinaus ist die Wiedergabe des Sinnes von Wort zu Wort stark bedingt
durch die individuelle Sprache des Übersetzers, und nur in so weiten Grenzen
durch den fremden Wortlaut vorbestimmt, daB nicht ein Satz von zwei Menschen
gleich übersetzt würde. So wird eine eingehende Vergleichung des lateinischen und
deutschen Textes in jedem Satze einem jeden Gelegenheit geben, sich zu besinnen,
wie er anders übersetzt, etwas anders verstanden hätte, und so zu immer schárferen
Zusehen nótigen — eine erwünschte Wirkung.
! 8BWien 1902; die Abweichungen von P. sind 8. 190f. verzeichnet.
Kritiken 413
Der Ernst und die Würde der Sprache des Boéthius sind in Eb. Gotheins
Übersetzung glücklich erhalten; ihre Treue wird nicht pedantisch, ihre Freiheit
nicht Willkür. Die schwierigste Aufgabe stellen die carmina. Manche Zeilen sprach-
lich besser oder treuer zu wünschen, fällt leicht; jedoch anstatt hier wohlfeile Kritik
zu üben, stellte man billiger in Frage, ob auf metrische Wiedergabe nicht überhaupt
hätte können verzichtet werden.
DaB Anmerkungen nicht beigefügt sind, kann dem Eindruck der Schrift nichts
abtragen; das Verständnis alles Wesentlichen wird hievon nicht berührt. Auskunft
über die genannten Personen gibt das Namenverzeichnis zu Text und Nachwort.
Dieses selbst gibt ein Lebens- und Persönlichkeitsbild des Boéthius und eine Würdi-
gung seines Werkes. Die gelehrte Forschung ist, mit Angabe der Literatur, umsichtig
herangezogen; die Darstellung selber hält hohes Niveau. Das legt den Wunsch nahe,
die Verfasserin wäre in ebensolcher gehaltvollen Kürze auch etwa auf die Bedeutung
seiner philosophischen Schriften für die Grundlegung des scholastischen Denkens
eingegangen; handelt es sich doch da nicht um einen ganzen Zufall. Über das ,, Chri-
stentum“ des Boéthius wäre mehr zu sagen gewesen: Daß er Christ war weder
im Sinne des Mittelalters noch in dem des Zeitalters der Bekehrungen und Über-
tritte; das Wesen dieses Christentums, das ihn in Erwartung des Todes nicht ein Mal
an Christus und Erlösung durch ihn denken läßt, bestand in dem philosophisch-
religiösen Theismus der spätesten Antike; es war trotz opuscula sacra das eines
„edlen Heiden". — Die äußere Ausstattung des bei Otto v. Holten gedruckten
Buches ist vornehm wie die der übrigen Werke des Verlages.
Göttingen. Walther Bulst.
Lehmann, Paul, Mitteilungen aus Handschriften. 3. München: Bayer. Akad.
d. Wiss. 1932. (66 S.) (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften, Philos.-hist. Abt., Jahrg. 1931/32, H. 6.)
Zum dritten Male bringt P. Lehmann in zwangloser Form ein Heft von Auf-
zeichnungen über Handschriften, die auf Reisen seinem suchenden Blick begegnet
sind. Geschlossener als die früheren Mitteilungen ist dieses Heft, das fast aus-
schließlich den kürzlich in die Universitäts-Bibliothek Prag übergegangenen Lob-
kowitzhandschriften gewidmet ist. Lehmann hatten sie wegen ihrer überwiegend
Weißenauer Herkunft gelockt. Es ist auch das dritte Mal, daß er zur Geschichte
der Weißenauer Bibliothek und zur Rekonstruktion ihres Handschriftenbestandes
das Wort ergreift. Zu der ersten Übersicht des weit zerstreuten Bestandes gelegent-
lich der Veröffentlichung des bruchstückhaften Katalogs aus dem 13. Jahrhundert
(in einer Lobkowitzhandschrift!) im 1. Band der „ittelalterlichen Bibliotheks-
kataloge Deutschlands" waren im Zentralblatt für Bibliothekswesen, Jahrg. 49
(1932), S. 1ff., weitere inzwischen aufgetauchte Handschriften, vor allem die St. Pe-
tersburger mitgeteilt worden, dazu ein noch älterer Bibliothekskatalog der Augia
minor; jetzt kann Lehmann aus Prag und (durch Karl Wehmers Mitarbeit) aus dem
Berliner Historischen Seminar weitere 70 Weißenauer Handschriften beschreiben.
Man darf erwarten, daß das nächste, was wir von Lehmann über diese Prämonstra-
tenserbibliothek zu lesen bekommen werden, eine Geschichte ihrer Bestände sein
wird; die Proben, die für eine solche Zusammenfassung in den bisherigen Arbeiten
enthalten sind, machen größten Appetit darauf. Die Wissenschaft wird die Ver-
zeichnung der deutschen Bibliotheken entstammenden Bestände unter den Lob-
414 Kritiken
kowitz-Handschriften froh begrüßen; noch bis vor kurzem waren die Handschriften
nur schwer zugänglich. Und so oft Handschriften dieser Bibliothek schon in früheren
Jahren der Forschung gedient haben, so oft muB Lehmann nun darauf hinweisen,
daB einzelne dieser Handschriften für Textausgaben übersehen worden sind, dab
sie eine weitere Bearbeitung verdienen. Die rund 600 Handschriften umfassende
Sammlung, von deren letztem Drittel, offenbar, wie sich jetzt zeigt, nicht ganz zu
Recht, Weißenauer Herkunft behauptet worden ist, hat schon mehrfach sichtende
Gelehrte zu Mitteilungen veranlaBt. Aber was G. H. Pertz als Historiker, Hoffmann
v. Fallersleben, J. Kelle und Steinmeyer als Germanisten, J. F. Schulte als Kano-
nist beachtet hatten, hat bei weitem nicht so viel Geltung finden können, wie die
neueste systematische, wenn auch nicht in allen Einzelheiten so, wie bei Hand-
schriftenkatalogen üblich, gleichmäßige Verzeichnung, die, um nur einiges zu nennen,
auf S. 31 ein lat.-deutsches Abendmahlspiel, noch unbeachtet, S. 43 eine Cusaner-
Handschrift mit eigenhändigen Einträgen des Nicolaus v. Cues, an verschiedenen
Stellen Handschriften aus Blankenheim, Erfurt (Universität und Benediktiner),
Oybin (anderes ist schon länger in Prag), Schussenried u. a. bekanntmacht (über
die mit dem Besitzvermerk Bibl. Ambt. [S. 48] gekennzeichneten Handschriften
wird der Leser freilich seinem eigenen Spürsinn überlassen) Es ist die Aufgabe
gerade eines solchen Verzeichnisses, mit den Ungenauigkeiten der bisherigen Lite-
ratur aufzurüumen; wie sie sich forterben, zeigt z. B. S. 26/27, wo man noch aus
der 2. Auflage von BreßBlaus Handbuch, Bd. 2, S. 252, zitiert findet, „in einer Fürst-
lich Lobkowitzschen Hs. zu Weißenau“. Bis in diese Kleinigkeiten, ja bis in das
gegenüber den früheren Sitzungsberichten mit dem Übergang zum Beckschen Ver-
lag verschónte Satzbild ist der Katalog eine erfreuliche Lektüre.
Wenn das Ziel der Lehmannschen Arbeiten über WeiBenau die Rekonstruktion
des alten Handschriftenbestandes ist, so ist die nicht einheitliche Kennzeichnung
des alten Besitzes besonders zu bedauern. Auffallend einheitlich ist dagegen der
Einband, über den Lehmann freilich nur ganz kurze Angaben macht. Aber dab er
bei den meisten Bänden schlechthin von „Weißenauer Einband" sprechen kann
und nur ganz selten eine Beschreibung hinsichtlich Farbe und Leder geben muß,
deutet darauf, daß für ihn der WeiBenauer Einband schon zu einem festen Begriff
geworden ist. Wer viele WeiBenauer Einbände gesehen hat, wird diesen Begriff
such kennen. Aber für das literarische Kennenlernen der Weißenauer Handschriften
müßte eine nähere Charakteristik dieser Einbände erwünscht sein. Ich spüre die
Pflicht, das was ich, freilich nur an wenigen Bänden, als typisch für Weißenau
kennengelernt habe, hier, vorbehaltlich späterer Ergänzung, mitzuteilen. Die Weiße-
nauer Einbände, die ich kenne (es sind die der Berliner Staatsbibliothek, einige
Lobkowitzsche und die eine im Stift Strahov), sind Arbeiten vom Ende des 15. Jahr-
hunderts, sorgfältige, wenn auch wenig reich geschmückte Arbeiten klösterlicher
Buchbinder. An technischen Einzelheiten ist beachtenswert, daB die Vorsätze
(Papier) eigens geheftet sind, mit einem Pergamentfalz innen; gelegentlich sind die
Einstichstellen des Heftfadens noch eigens durch einen Pergamentquerstreifen ver-
stärkt. Die Bände waren angekettet. Die Holzdeckel sind mit weißem Schweins-
leder überzogen; die Deckel mit Streicheisen, Einzelstempeln und Rollen (?) blind
geschmückt. Mit Streicheisen sind ein oder zwei äußere Rahmen abgeteilt; das
innere Rechteck ist von Diagonallinien durchzogen. Der Stempelvorrat ist gering.
Am häufigsten ist ein kreisrunder Stempel mit einem nach links gewendeten Ver-
Kritiken 415
kündigungsengel (20 mm Durchmesser); er füllt hauptsächlich die Mittelfelder.
In gleicher Größe begegnet ein Rosettenstempel im Rahmen großer Bände. Zur
Füllung kleinerer Flächen dient der von Lehmann sogenannte Netzstern. Es ist ein
Freistempel, ein vierzackiger Stern mit 15 mm größter Ausdehnung, die ganze
Innenfläche von einem Netz übersponnen. Die schmaleren Rahmen sind mit einem
Fries phantastisch ornamentierter Tiere ausgefüllt, offenbar schon von der Rolle
gedruckt, doch in einer Ausführung, welche an die Jagdrolle, das Anfangsstadium
der deutschen Renaissancebuchbinderrolle erinnert. Der Rücken, mit echten Bünden,
ist schmucklos. Aber an dem Weiß des Überzuges sind die Weißenauer Bände schon
von ferne zu erkennen. Nur wenige scheinen davon abweichend eingebunden zu
sein. Das im Exlibris vorkommende Besitzzeichen „B(onaventura) A(bt) z(u)
W(eissenau)" erscheint auch auf späteren Einbünden (Cambridge, Fitz-William-
Museum, McClean Coll. Ms. 6).
Leipzig. H. Schreiber.
W. Bornhardt, Geschichte des Rammelsberger Bergbaues von seiner Auf-
nahmebiszur Neuzeit. Berlin: Preußische Geologische Landesanstalt 1931.
(XII, 366 S., 10 Taf., 17 Abb. im Text) gr. 8° — Archiv für Lagerstätten-
forschung, H. 52.
Unter der Obhut und mit der selbstlosen Hilfsbereitschaft des Stadtarchivars
Wilhelm Wiederhold (f 1. Jan. 1931) ist in dem letzten anderthalb Jahrzehnt eine
Reihe trefflicher Studien zur Geschichte der Reichsstadt Goslar erschienen. Eine
kritische Bibliographie aus der Feder des genauesten Kenners der goslarschen Rechts-
und Verfassungsgeschichte gibt darüber wie über die künftigen Aufgaben der Goslarer
Geschichtsforschung wertvolle Aufschlüsse; die Durchsicht dieses Aufsatzes sei all-
gemein den Städtehistorikern empfohlen!. Unter diesen Arbeiten verdient die ,,Ge-
schichte des Rammelsberger Bergbaues" von Wilhelm Bornhardt aus mehreren
Gründen besondere Beachtung: Der Verfasser ist von Beruf Bergfachmann — er ist
Berghauptmann a. D. — und bringt zu ausgedehnten und soliden historischen
Kenntnissen daher noch ein Wissen um Fragen der Technik und des Betriebswesens
in Bergbau und Verhüttung mit, das dem Historiker in der Regel verstündlicherweise
abgeht. Und dort, wo Bornhardt nicht durch eigenes Studium zu Entscheidungen
gelangen konnte, hat er sich der Unterstützung durch Fachmänner erfreut, wie etwa
bei der Übersetzung des Goslarer Bergrechts aus dem 14. Jahrhundert, die von
Conrad Borchling und Agathe Lasch überprüft und von Borchling durch eine
sprachliche Untersuchung der mittelalterlichen Grubennamen ergänzt worden ist.
Ein weiterer Vorzug des Buches ist seine zeitliche Ausdehnung von den Anfängen
des Goslarer Bergbaues bis in die unmittelbare Gegenwart — B. schließt mit der
Erörterung des durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen Preissturzes der
Metalle im Hinblick auf die künftige Rentabilität des fast tausendjährigen Betriebes.
Es bedarf nur eines Blickes in die letzte größere Darstellung des Rammelsberger
Bergbaues®, um zu ermessen, welche Bedeutung sowohl die berg- und hüttenmän-
nische Vorbildung des Verfassers wie sein Entschluß, auch die an sich für die Dar-
stellung weniger reizvollen neueren Zeiten in gleicher Ausführlichkeit einzubeziehen,
! Karl Frölich, Stand und Aufgaben der goslarschen Geschichtsforschung (Zschr. des
Harzvereins 64, 1931, 15 — 45).
C. Neuburg, Goslars Bergbau bis 1552 (Hannover 1892).
416 Kritiken
haben: ein seit der Mitte des 10. Jahrhunderts ununterbrochen betriebenes Wirt-
schaftsunternehmen von stets überlokaler, zeitweise geradezu internationaler Be-
deutung hat durch B. eine des Gegenstandes würdige Darstellung gefunden; auBer
der speziellen Geschichte der Montanindustrie dürfen sich die deutsche Wirtschafts-
geschichte im allgemeinen, die Geschichte des Bergrechtes, die Sozialgeschichte und
in Einzelheiten manche andere Gebiete der historischen Forschung gefórdert sehen.
Bei dieser Sachlage ist es untunlich, hier den ganzen Inhalt des Buches nach-
zeichnen zu wollen — es gábe ein totes Gerippe von Tatsachen und Zahlen, das keinen
Eindruck von der Fülle wertvoller Einzelbeobachtungen vermitteln würde. Ich
beschränke mich daher auf die Hervorhebung einiger mir bedeutsam erscbeinender
Punkte.
Geologische und betriebstechnische Einsichten Bornhardts ermóglichen ihm
gleich anfangs die Entscheidung in der neuerdings diskutierten Frage des Beginnes
der Rammelsberger Erzfórderung: wührend Quiring* hier schon in der jüngeren
Bronzezeit (etwa 850—650 v. Ghr.) Kupfergewinnung als wahrscheinlich angenom-
men hat, erhärtet jetzt B. die mittelalterliche Überlieferung (Widukind, Thietmar),
daB der Abbau des Alten Lagers unter Otto I. zwischen 964 und 969 begonnen worden
ist. Im Hinblick auf die verhältnismäßig leichten technischen Probleme des Tagebaus
und des ersten unterirdischen Betriebes lehnt B. auch die vom Annalista Saxo in
der Mitte des 12. Jahrhunderts erstmalig gebrachte Nachricht ab, man habe fràn-
kischer Bergleute bedurft; nach Quiring ist sogar die Zustimmung des Sachsen-
herzogs zur Königswahl Konrads I. davon abhängig gewesen, daß Konrad als Gegen-
leistung Bergleute seines Herzogtums (aus dem Siegerlande) für das Rammelsberger
Bergwerk zur Verfügung gestellt habe. Die Frage der ältesten fränkischen Beziehun-
gen zu Goslar ist also nach den wohldurchdachten Darlegungen B.'s nicht mehr von
der Seite des Bergbaus her zu lósen, wohl aber m. E. durch eine Klárung der karo-
lingischen Verwaltungsorganisation im Bereich der spüteren Stadt Goslar und ihrer
Umgebung, wie sie von Wilhelm Lüders zu erwarten ist“. Demgemäß bringt B. auch
die Frankenberg-Siedlung in Goslar nur allgemein mit der fránkischen Kolonisation
Sachsens unter Karl d. Gr. in Verbindung, ohne daß es sich dabei um die Ansetzung
gerade von Bergleuten gehandelt habe. Auch daran darf erinnert werden, daB die
Goslarer Pfalz zu den fränkischen Königshöfen gezählt wurde; das läßt sich noch
in der Ausbreitung des Goslarer Stadtrechtes verfolgen“.
Die erste Blütezeit des Goslarer Bergbaues fand ihr Ende mit der Zerstórung
der Hütten durch Heinrich den Lówen im Jahre 1181; Abwanderung von Bergleuten
nach Meißen, Böhmen und Oberungarn war die Folge. Da das Bergwerk nun seinen
Wert, der als Streitobjekt zwischen Friedrich Barbarossa und dem Welfen deutlich
genug hervortritt, großenteils eingebüßt hatte, wurde der Bergzehnte einschließlich
der Berghoheit und des Berggerichts 1235 als Reichslehen an Otto das Kind von
Braunschweig überlassen. Da die Braunschweiger Herzöge es in bemerkenswertem
Gegensatz zu Wettinern und Przemysliden nicht verstanden, diese Gerechtsame für
sich auszunutzen, gelang es dem Rat der Stadt in hundertfünfzigjährigem zähen
* H. Quiring, Die Anfänge des Bergbaues in Deutschland und die Herkunft der ,.frán-
kischen'* Bergleute. (Zachr. f. Berg-, Hütten- und Salinenwesen 77, 1929, 222 — 251).
* Die Sudburg und ihr Verhältnis zu Werla, Goslar und dem Gebiet von Harzburg
(Braunschweigisches Magazin 29, 1923, 1—9; ferner Zschr. des Harzvereins 65, 1932, 34—30.
a Herbert Meyer, Das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch (Weimar 1923), S. 78f.
Kritiken 417
Ringen, Reichsvogtei, Zehnten, Gericht und fast alle Gruben aus Privatbesitz in seine
Hand zu bringen — um das Jahr 1400 schien der Kampf um den Berg vollständig
zugunsten Goslars entschieden zu sein. Die Vorsicht und Geschicklichkeit, aber
nicht weniger die von allen rechtlichen und sittlichen Bedenken freie List und Ge-
waltsamkeit, mit der der Rat, durch die Gewandtheit und Skrupellosigkeit seiner
Kanzleibeamten wirkungsvoll unterstützt, hierbei vorging, gewährt spannende Ein-
blicke in das Getriebe mittelalterlicher Diplomatie und Wirtschaftspolitik®.
Die Errechnung der Erträgnisse des Bergbaus und die mineralogische Bewertung
der Kupfererze führen zu einer handelsgeschichtlich interessanten Feststellung: das
„keuvre de Gosselaire“, das im 14. Jahrhundert zu Wasser und zu Lande nach West-
europa ausgeführt worden ist, stammt teilweise gar nicht aus Goslar, sondern ist von
den marktbeherrschenden (oder jedenfalls den Metallmarkt genau kennenden) Goslarer
Kaufleuten von anderwürts bezogen und als gut eingeführter „Markenartikel“ weiter
gehandelt worden.
Der bis 1360 betriebene Raubbau hatte gefáhrliche Zusammenbrüche in den
Schächten und das Ersaufen der tiefer gelegenen Baue zur Folge; die seit Ende des
12. Jahrhunderts vorhandenen technischen Anlagen genügten nicht mehr, um das
fast völlige Erliegen des Bergbaues für ein ganzes Jahrhundert zu verhindern. Die
wiederholten Versuche des Rates, mit Hilfe tüchtiger auswürtiger Fachleute die
Wassernot zu beseitigen, geben B. Gelegenheit zur Erläuterung der mittelalterlichen
Bergbautechnik; ein um die Mitte des 14. Jahrhunderts angelegtes „Gewölbe“ ist
noch jetzt wohl erhalten. Seit dieser Zeit lassen sich auch über die Arbeits- und
Arbeiterverhältnisse nähere Angaben machen, denen B. dann bis in die Gegenwart
fortlaufend eigene Abschnitte widmet. Daß das älteste Bergrecht (von etwa 1360)
in neuhochdeutscher Übersetzung beigefügt ist, wurde schon erwähnt; es sei noch
gesagt, daB B.’s Kommentierung die Verhältnisse in Obersachsen, Böhmen und
Ungarn vergleichsweise berücksichtigt, wobei die einzigartige Stellung des Rammels-
berg-Betriebes deutlich hervortritt. Sorgfältige Berechnungen eines Markscheiders
gewähren auch einen Überblick über die Menge des geförderten Erzes: einer Gesamt-
förderung von 3 Millionen Tonnen in den Jahren 968—1360 stehen 9 Millionen in
der Zeit von 1480—1929 gegenüber. Kriegsereignisse und Betriebsänderungen (wie
2. B. Mangel an Holz und Holzkohle, Verwendung von Steinkohle, moderne Ratio-
nalisierungsmaßregeln) haben zeitweilig starke Schwankungen hervorgerufen, deren
Ursachen und Auswirkungen B. jeweils sorgsam nachgeht.
Die in den wenigsten Fällen einwandfreie Art, mit der sich der Rat die recht-
lichen Unterlagen für seine Herrschaft über den Berg verschafft hatte, sollte ihm
schließlich zum Verhängnis werden. Es nützte ihm nichts, daß er seit der Mitte des
15. Jahrhunderts mit schweren Kosten einen großartigen neuen Aufschwung des
Bergwerkes herbeiführte, wodurch Goslar zum Zentrum des mitteleuropäischen Blei-
marktes wurde, während es nunmehr allerdings in der Kupfererzeugung hinter Mans-
feld und Ungarn zurückstand. Es half auch nichts, daß die im 15. Jahrhundert zeit-
weilig übermächtigen Einflüsse auswärtiger Geldgeber bis 1511 fast völlig aus-
geschaltet werden konnten. Denn das ausschlaggebende Gefahrenmoment, das Recht
des Rückkaufs des Bergzehnten durch die Welfen, konnte trotz wiederholter Er-
höhung der Pfandsumme nicht gebannt werden. Sobald der Stadt in Herzog Heinrich
^ Hierzu vgl. S. H. Steinberg, Die Goslarer Stadtschreiber und ihr Einfluß auf die Rats-
politik bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts (Goslar 1933).
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 27
418 Kritiken
dem Jüngeren von Wolfenbüttel (regierte 1514—1568) ein von den Ideen des moder-
nen Landesfürstentums durchdrungener Gegner erwuchs, mußte Goslar notwendiger-
weise ins Hintertreffen geraten. Die engherzige Wirtschaftsgesinnung der nord-
deutschen Stádte am Ausgang des Mittelalters führte in Goslar wie anderwürts zum
schlimmen Ende*: Man übersah vollständig, daß mit juristischen Deduktionen (noch
dazu von hóchst zweifelhafter Grundlage) nichts mehr zu machen sei; man versáumte
es, auswärtigen Mächten Beteiligung an den Erträgnissen des Bergwerkes zu ge-
wühren und sie damit gleichzeitig für die politischen Interessen der Stadt einzu-
spannen; selbst ein erträgliches Abkommen mit dem Braunschweiger hätte sich wohl
noch treffen lassen. Aber Goslar ging vereinsamt in den Kampf, und das Ergebnis
war der vóllige Zusammenbruch im Jahre 1552: das Bergwerk ging in braunschwei-
gische Hände über, und Goslar siechte fortan einem unrühmlichen Ende entgegen
(1802). Im Jahre 1820 hat die Stadt ihre letzten Besitzrechte an den Gruben ab-
getreten — es waren seit 1552 nur noch ZuschuBbetriebe.
Für den Rammelsberger Bergbau hingegen ist die Zeit der braunschweigischen
Herrschaft keineswegs unvorteilhaft geworden, was B. einwandfrei nachweist. Be-
zeichnend für den organisatorischen Weitblick des neuen Landesfürstentums ist es
etwa, daB die Bergordnung Heinrichs des Jüngeren von 1555 bis zum Jahre 1874 in
Kraft bleiben konnte. Und bei den wiederholten Versuchen, neue Vorkommen zu
erschließen, hätte man im Jahre 1749 fast schon das Neue Lager entdeckt, das dann
1859 gefunden worden ist; bis auf 10 m hat man sich ihm damals bereits genáhert.
Ja, die Besitzverhültnisse der braunschweigischen Zeit sind bis heute geblieben:
die Anteile der bei der Errichtung der Kommunionverwaltung im Jahre 1635 zufällig
gleichzeitig lebenden sieben Herzóge drücken sich, über das Kónigreich Hannover
und das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel hinweg, noch in den anteiligen
Verhültniszahlen der 1924 gegründeten Unterharzer Berg- und Hüttenwerke
G. m. b. H. aus.
Diese Ausführungen mögen genügen, um einen Anhalt dafür zu geben, was der
Historiker in dem Buche finden kann. Zu bessernder oder tadelnder Kritik liegt kein
AnlaB vor; es darf im Gegenteil der Meinung Ausdruck gegeben werden, daB es
schwer móglich sein wird, im ganzen über die hervorragende Darstellung B.'s hinaus-
zugelangen.
Leipzig. Sigfrid H. Steinberg.
Gustav Luhde, Der Archipoeta. Seine Persónlichkeit und seine Gedichte. Er-
läutert und aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen. Düsseldorf:
Industrie-Verlag u. Druckerei Akt.-Ges. 1932. — 175 S. geb. RA 2,90.
L. ist in Jacob Grimms Kleineren Schriften (III 3—102) auf den Archipoeta
gestoßen; der Eindruck war so stark, daß er die Gedichte genauer zu lesen anfing.
Bemerkte Schwierigkeiten des Textes haben ihn dazu geführt, Literatur heranzu-
ziehen; er glaubt gegen diese zum ersten Male das wahre Bild des Dichters ge-
wonnen zu haben. Das zgwrov wevdos der gesamten Forschung ist nach L. ihre
einhellige, zu späte Ansetzung der Geburt des Dichters: um 1140. Aber Manitius
schreibt auf der ersten Seite der Ausgabe, 2. Aufl. 1929, 1130/40, und in der Ge-
schichte der lat. Lit. des MA.s III 979: um 1130. L. will aus dem Sinn der Worte
* Vgl. etwa das lehrreiche Kapitel „Lübeck und Nürnberg“ bei Fritz Rörig, Die euro-
pälsche Stadt (Propyláen-Weltgcschichte Bd. IV).
Rritiken 419
puer und iuuenis den unwiderleglichen Beweis für um 1125 führen; an Stelle Hei-
nichens und Menges Schulwörterbüchern wäre zwar Hofmeisters Aufsatz über
puer iuuenis senex aus der Festschrift für Kehr 1926 anzuführen gewesen — davon
abgesehen, über die fünf Jahre Unterschied soll mit L. kein Streit sein. Daß der
uagus quidam clericus Nicolaus nomine quem uocant archipoelam, von dem Caesarius
Heisterbac, Dial. mirac. II 15 (nicht „XII 43‘) erzählt, von der Wissenschaft für
den Dichter angesehen werde, trifft auch nicht zu; s. Manitius, Ausg. S. 3 und
a. a. O. III 983; umgekehrt war J. Grimm, den L. gegen die neuere Wissenschaft
ausspielt, durchaus nicht von jener Annahme ,,weit entfernt“; er schreibt vielmehr,
daB, nachdem man ,,nothwendig annehmen“ müsse, die Lieder seien „in schäumen-
der Jugend verfaßt“, sie „keiner Möglichkeit widerstrebe“ (III 15. 14); wenn P.
Zaunert (nicht „Zeunert“) vor einigen Jahren sie „wieder aufgetischt“ hat, durfte
L. das ebenso wortlos auf sich beruhen lassen wie Hennig (nicht ,, Henning") Brink-
manns Einfall, in dem Dichter einen Schüler Ottos von Freising oder Rahewins
zu vermuten!. Der erregten Ehrenrettung des Archipoeta bedurfte es nicht mehr
nach Wilhelm Meyers Vortrag (Nachr. d. K. G. d. Wiss. zu Göttingen, Geschäftl.
Mitteil. 1914, 2. H.) und nach W. Stapels Ausführungen zu dem von L. besprochenen
Gedichte Fama tuba dante sonum; L.s Worte: „Wie Jonas hatte er einen bestimmten
... Auftrag nicht ausgeführt‘‘ (S. 19) berühren sich nahe mit Stapels: „Auch der
Dichter wird [wie Jonas] irgend einen Auftrag ... nicht ausgeführt haben“ (Des
A. erhaltene Gedichte, Hamburg 1927, S. 168); ebenda hat L. Stapels Übersetzung
der V. 29—31, wie öfter stillschweigend, abgedruckt, auch der Schnitzer brutus
„toll“ ist beibehalten. S. 24 will L. der Variante Mihi est propositum? ( Meum G) den
Vorzug geben; den Sinn „Mein Vorsatz ist“ etc. dürfe man dem Dichter nicht zu-
trauen, er sage „Meine Bestimmung ist“, „Ich soll", nicht „Ich will". Jedoch
die folgende Zeile ut sint uina proxima morientis ori entscheidet mit Sicherheit für
Meum. Übrigens würde auch der Ausdruck der Voraussicht (Mihi) als einer des
Willens zu verstehn sein. DaB die 21. Strophe des 6. Gedichts (Ausg. Manitius)
in G nur zur Hälfte steht, beweist dem Verf., daß es (oder die ganze Handschrift ?)
„aus dem Gedächtnis niedergeschrieben" sei; daB der Abschreiber, wie wir es aus
unzähligen Fällen kennen, mit dem Blick zum nächsten bezw. übernächsten Reim
gesprungen war, kommt ihm gar nicht zu Sinne; er leitet dafür Rechte zu weit-
gehenden Textänderungen daraus ab. Gebrauch davon zu machen hat er jedoch
vermieden; 14 quo und XIV2 posse sind doch wohl bloß Druckfehler; V2 plane und
XVI4 propier sind alte Conjekturen; bleibt XXVI4 archicancellarius für electus
Colonie — eine bare Willkür zugunsten der Datierung auf 1167; auf deren phan-
tastische Begründungen einzugehn nicht lohnt. Übrigens hatte Reinald nicht, wie
L. und andere immer wieder schreiben, ein Epos verlangt, vielmehr ausdrücklich,
breviter zu schreiben. Wenn L. Latium und Tuscus nicht synekdochisch verstehn
will, so durfte er erst recht nicht dieses für Romanus nehmen. Das Gedicht, in dem
er „eine Folge von [5] Bruchstücken aus ganz anderen [unbekannten] Gedichten“
des A. sieht, als ein Ganzes zu verstehn, hat er offenbar nicht ernstlich versucht;
es ist wirklich nicht so schwer, daß es ihm nicht hätte gelingen sollen. Was L. zur
1 Germ.-rom. Mschr. 13 (nicht 12), 105. 111.
* Die weder in B steht, wie L. behauptet, noch in einer andern der vielen Handschriften,
die das Gedicht ganz, nicht nur Str. 12ff., enthalten; s. B. Schmeidler in dieser Zschr. 14, 1911,
369 Anm. 1 und 394.
27*
420 Kritiken
Persönlichkeit des Dichters ausführt, leidet an begrifflicher Unschärfe und groben
Übertreibungen (,, 600 Jahre vor Kant formte er . .. einen Kantisch anmutenden
Gedanken“; „Keiner hat für das innerste Wesen des Christentums so schlichte, so
innige und ergreifende Töne des Bekenntnisses gefunden wie er" S. 44. 49), zu-
weilen an Ungeschmack (Mystik als „religiöse Vóllerei"); einiges Biographische
ist allermindestens hypothetisch, wird jedoch als Factum vorgetragen. Die generelle
Verschiedenheit metrischen und rhythmischen Zeilenbaues ist dem Verf. nicht
bewußt geworden; die Zeile 4xx-j- 6xx bezeichnet er als „das anspringende Metrum"
(S. 57f.). Unter „Doxologie“ ist, sooft es begegnet, „Dogmatik“ zu verstehn.
Auf die Prüfung der Übersetzungen, des Textes (rechts gegenüber, S. 68ff.) und der
kurzen Vorbemerkungen zu den einzelnen Gedichten habe ich verzichtet. — Daß
nicht allein Gelehrte den Dichter lesen und studieren, ist sehr erfreulich; jedoch „80
ziemlich alles“ über ihn gelesen und sich „mit dem Wesen des Mittellateins vertrau-
ter“ gemacht zu haben, setzt noch nicht in den Stand, über ihn zu schreiben. Die Zu-
versicht des Verf., es sei „kaum zu erwarten, daß die Forschung dem oben ent-
worfenen Bild des Erzpoeten noch wesentliche Züge hinzufügen wird“, ist unbe-
gründet; die zu beantwortenden Fragen hat L. freilich nicht einmal gestellt.
Göttingen. Walther Bulst.
The Cambridge Medieval History. Planned by the late J. B. Bury, edited by (vol.
VII: the late), J. R. Tanner, C. W. Previté-Orton, Z. N. Brooke.
Vol. VI. Victory ofthe papacy. XII, 1047 S., 10 Karten in Mappe. Cam-
bridge, University Press, 1929. Vol. VII. Decline of empire and papacy.
XXXVIII, 1073 S., 11 Karten in Mappe. Cambridge, Univ. Press, 1932.
Von diesen beiden umfangreichen Bänden der englischen Weltgeschichte ist
der erste (VI) schon 1929 erschienen und gelangt also hier mit einiger Verspätung
zur Anzeige. Wenn dies dem Referenten mit Recht zum Vorwurf gemacht werden
kónnte, so mag es doch eine Art Entschuldigung und Rechtfertigung darin finden,
daB die beiden Bánde in ihrer Gesamtauffassung und -darstellung eng zusammen-
gehören und sich ergänzen, also gut zusammen angezeigt werden können. Es ist
gewiB nicht leicht, über zwei so starke Bánde, an denen Gelehrte von Namen und
Rang mitgearbeitet haben, in Kürze etwas Zutreffendes und Kennzeichnendes zu
sagen. Wenn ich in der Anzeige von Band V (Histor. Vjs. Bd. 24, [1929], S. 630 bis
635) etwas tiefer in die Einzelanalyse einiger Kapitel zur deutschen Geschichte
einging, so mag hier der Versuch gemacht werden, etwas über die gesamte Art und
Anlage dieser Bánde zu sagen.
Jeder von ihnen bietet auf mehr als 1000 Seiten ungefähr die Geschichte eines
Jahrhunderts, Band VI die des 13., Band VII die des 14. Jahrhunderts. Nach einer
allgemeinen Einleitung zur Gesamtcharakteristik der jeweils behandelten Zeit von
10 bzw. 14 Seiten, beide Male von Previté-Orton (S. VII—XVII in Band VI bzw.
S. VII—XX in Band VII) geschrieben folgt in VI ein Kapitel über Innocenz III.
(S. 1—43) von F. Jacob-Manchester, drei Kapitel zur deutschen Geschichte von
Austin Lane Poole-Oxford, nämlich über Philipp von Schwaben und Otto IV.
(S. 44—19), über die Regierung Friedrichs II. (S. 80—109) und das Interregnum
(S. 110—130); dann Italien und Sizilien unter Friedrich II. (S. 131—165) von
M. Schipa-Neapel, Italien von 1250—1290 von Previté-Orton (S. 166—204);
dann England unter Richard Löwenherz und Johann ohne Land von F. M. Po-
Kritiken 421
wicke-Oxford (S. 205—251), unter Heinrich III. von Jacob (S. 252—283); dann
Frankreich unter Philipp II. August und Ludwig VIII. von Powicke (S. 284 bis
330), unter Ludwig IX. von Ch. Petit-Dutaillis (S. 331—361); die skandinavi-
schen Staaten bis zum Ende des 13. Jahrhunderts von Halvdan Koht-Oslo (8.362
bis 392); Spanien 1034—1248 von R. Altamira-Haag (S. 393—421); Bóhmen bis
1306 von K. Krofta-Prag (S. 422—447); Polen von 1050—1303 von A. Bruce-
Boswell in Liverpool (S. 447—463); Ungarn von 1000—1301 von () L. Leger
(S. 463—472). Dann eine Reihe von kulturgeschichtlichen Kapiteln (XIV—XXV),
nàmlich über Handel und Industrie im Mittelalter von J. H. Clapham-Cambridge
(S. 443—504), über die Städte des Nordens und ihren Handel von H. Pirenne
(S. 505—527), über die Organisation und die Finanzen der Kirche von J. W. Wat-
son-Oxford (S. 528—559), über die mittelalterlichen Universitäten von (T) H. Rash-
dall-Oxford (S. 559—601), über die Staatstheorie bis ca. 1300 von H. V. Reade-
Oxford (S. 602—633), über die Entwicklung des Glaubens und Dogmas bis zum
4. Laterankonzil (1215) von A. H. Thompson-Leeds (S. 634—698), über Ketzer
und Inquisition von ca. 1000—1305 von A. S. Turberville-Leeds (S. 699—726),
über die Bettelorden von A. G.Little-Oxford (S. 727—762), endlich über die
kirchliche Architektur von H. J. Cranage-Norwich (S. 763—772), die weltlichen
Bauten (Burgen und Schlösser) von A. H. Thompson (S. 773—784), über die
Kriegskunst bis 1400 von Thompson (S. 785—798); das Rittertum von Miss
A. Abram (S. 799—814) und über Sagenkreise des Mittelalters von (T) Miss Jessie
Laidlay Weston (S.815—842). Dazu S.843—985 eine Liste der Abkürzungen
und eine Bibliographie, die sehr vielseitig und nach Kapiteln gegliedert ist; endlich
ein Index von S. 986—1047. Im ganzen enthält der Band also 472 Seiten Einzel-
darstellung zur äußeren Tatsachengeschichte der europäischen Länder und Staaten
und 370 Seiten Durchschnitt und Übersicht gebende Kapitel kulturgeschichtlicher
Art.
Ähnlich ist die Anlage und Gliederung von Band VII. Ein erstes Kapitel von
(t) E. Armstrong behandelt Italien in der Zeit Dantes (S. 1—48), ein zweites von
R. Caggese-Mailand Italien von 1313—1414 (S. 49—77). Kapitel III—V erzählen
die deutsche Geschichte von Rudolf von Habsburg bis zum Tode Karls IV.; III A
von J. P. Blok () die Geschichte von 1273—1313 (S. 78—102), III B von W.
T. Waugh-Montreal bietet allgemeine Gesichtspunkte und Betrachtungen zur deut-
schen Geschichte der Zeit (S. 102—112); IV und V behandeln Ludwig den Bayern
(S. 113—136) und Karl IV. (S. 137—154), von Waugh. Kap. VI bietet die Geschichte
Bóhmens im 14. Jahrhundert von Krofta-Prag (S. 155—182), VII die Geschichte
der Schweiz bis 1474 von P. E. Martin-Genf (S. 183—215). VIII die Geschichte
der Hanse bis zum Ende des 15. Jahrhunderts von A. Weiner-London (S. 216 bis
247), IX die des Deutschen Ordens bis 1466 von A. Bruce Bos well-Liverpool
(S. 248—269). X die Avignonesischen Päpste von Mollat-StraBburg (S. 270 bis
304), XI—XIII Frankreich, und zwar XI: Die letzten Kapetinger von Hilda
Johnstone-London (S. 305—339), XII (S. 340—367) den Hundertjährigen Krieg
(bis 1380) und XIII: Armagnac und Burgund 1380—1422 (S. 368—392), beide
Kapitel von A. Coville-Lyon. Dann Kapitel XIV—XVI England, und zwar XIV
unter Eduard I. und Eduard II. von Hilda Johnstone (S. 393—433), XV
unter Eduard III. und Richard II. (S. 434—485), XVI: Wyclif (S. 486—507),
beide Kapitel von B. L. Manning-Cambridge. Dann Kapitel XVII: Wales
422 Kritiken
von 1066— 1485, von J. E. Lloyd-Bangor (S. 508 — 526), XVIII: Irland
bis 1316 von G. H. Orpen-Dublin (S. 527—547), XIX: Schottland bis
1328, von C. Sanford Terry-Aberdeen (S. 548—566). Kapitel XX behandelt
Spanien von 1252—1410 von R. Altamira-Haag (S. 567—598), XXI Rußland
von 1015—1462, von Prinz D. S. Mirsky (S. 599—631). Das sind 631 Seiten über-
wiegender Einzeldarstellung, daran schlieBen sich wieder fünf Kapitel mit rund
180 Seiten kulturgeschichtlichen Durchschnitts und allgemeiner Übersicht. Nàmlich
Kapitel XXII (S. 632—664) von Cecil Roth-Oxford über die Geschichte der Juden
im Mittelalter (genau für die einzelnen Länder), Kapitel XXIII: Mittelalterliche
Staaten von C. H. Mc Ilwain-Harvard (S. 660—715), eine verfassungsgeschicht-
liche Übersicht und Analyse, Kapitel XXIV über bäuerliches Leben und ländliche
Zustände (von ca. 1100—1500) von Eilleen E. Power-London (S. 716-750),
Kapitel XXV über die Frührenaissance von A. A. Tilley-Cambridge (S. 751 bis
776) und Kap. XXVI über die mittelalterliche Mystik von Evelyn Underhill-
London (S. 777—812). Dazu wieder ein Verzeichnis der Abkürzungen, eine Biblio-
graphie von 160 Seiten, einige Addenda zu Band II der M. C. H., eine chronologische
Tabelle über die im Bande behandelten Ereignisse und ein Index (S. 988 — 1073)
von Miss Marin. Endlich 11 Karten in eigener Mappe.
Die allgemeinen Einleitungen beider Bände von Previté-Orton kennzeichnen
sehr knapp und im allgemeinen zutreffend die allgemeine Art und weltgeschichtliche
Lage der jeweils in dem betreffenden Bande nachher behandelten Zeit, schildern
das 13. Jahrhundert als eine Zeit der Höhe und der Erfüllung des Mittelalters, mit
kaum ersten Zeichen einer beginnenden Auflósung, das 14. Jahrhundert als die
Zeit der fortschreitenden Erstarrung des Alten, mit vielen Erscheinungen von
Neubildung und von Auflósung des Alten, die aber nach Meinung des Verfassers
noch durchaus nicht überwiegt. Man kónnte m. E. schen im 13. Jahrhundert mehr
Erstarrung des Alten und beginnende Neubildung, im 14. Jahrhundert mehr Auf-
lósung und Streben nach neuen Zielen sehen als P.-O. tut; doch ist das mehr nur ein
leichter Gradunterschied der Beurteilung, der Ansicht über die allgemeine Richtung
des Ganges der Entwicklung wird man durchaus beipflichten kónnen. Als allgemeine
Gesamtanschauung liegt der Redaktion und Disposition der M. C. H. durchaus die
bisher gültige Meinung über den Unterschied von Mittelalter und Neuzeit zugrunde,
wie ich ihn (gegen Troeltsch und Anhänger) auch in meinem Bande von Kendes
Handbuch für den Geschichtslehrer (IV, 1) vertreten habe, wie ihn ebenso die fran-
zósische Weltgeschichte: Peuples et Civilisations Band VII von Halphen und Sagnac
annimmt.
Will man die wissenschaftliche Ausführung und Begründung der einzelnen
Sachkapitel prüfen, so wird ein deutscher Referent vor allem zu den Kapiteln über
die deutsche Geschichte greifen, die im sechsten Bande von Austin Lane Poole,
im siebenten hauptsáchlich von W. T. Waugh (bis auf einen ersten Abschnitt von
dem über der Arbeit verstorbenen P. J. Blok) herrühren. Ich glaube sagen zu können
(auch zur Charakteristik der anderen Kapitel und dieser Bände überhaupt), daB
diese Abschnittesehr solide Kenntnisse der Tatsachen und Literatur (oft auch neuester
deutscher Einzelliteratur), ein nüchtern gesundes Urteil und guten Überblick zeigen.
Aber bei aller oft recht ausführlichen Einzelerz&hlung fehlt doch manchmal nicht
Unwesentliches, der Leser gewinnt kaum jemals das Gefühl, die Darstellung eines
durch eigene langjährige Sonderforschung auf dem Gebiete geschulten Gelehrten
Kritiken 423
vor sich zu haben. Die Kapitel Pooles im VI. Bande über den Streit zwischen Wel-
fen und Staufern, zwischen diesen und den Püpsten zeigen eine deutlich ghibelli-
nische, prostaufische Einstellung, sie arbeiten die rein weltlich-politische Haltung
der Päpste von mindestens Gregor IX. an sehr deutlich und unbefangen heraus.
Eine ausführliche Darstellung und einige Charakteristik für Friedrich II. bietet
nicht Poole, sondern im V. Kapitel M. Schipa, aber da fehlt nicht weniges an Lite-
ratur und Quellen, die Gesamtwürdigung der Problematik und Beurteilung des Kai-
sers könnte erheblich tiefer eindringen. Bei Poole ist das Buch von Kantorowicz
in der Bibliographie (Kapitel IV) genannt, die Kontroverse Brackmann—Kanto-
rowicz (allerdings erst von 1929) noch nicht erwähnt; ebenso fehlen verschiedene
Arbeiten und Mitteilungen von Hampe über Friedrich II., und Aufsätze von A. Car-
tellieri über die staufische Politik und europäische Entwicklung um 1200, nur sein
Aufsatz über die Schlacht bei Bouvines von 1914 ist verzeichnet. Die Kapitel von
Waugh im VII. Bande zeigen eine verständnisvolle Auffassung des allgemeinen
Ganges der deutschen politischen Geschichte des spáteren Mittelalters in ihrer Um-
lagerung vom Westen nach dem Osten, ein gutes Verständnis für Ludwig den Bayern,
etwas weniger wohl für Karl IV. Aber bisweilen scheint es, als ob er seine eigenen
Gesichtspunkte (S. 102—112) auf die Beurteilung der Einzelhandlungen der deutschen
Konige (besonders Karls IV.) nicht genügend eindringlich und nachdrücklich an-
wendet, sich trotz guter Überlegungen etwas mit der Wiedergabe herkómmlicher
Urteile begnügt, eben weil sie in dieser Weise herkómmlich sind. Die in ihren wahren
Motiven und ihrem echten Gehalt zweifellos &uBerst raffinierte Politik Karls IV.
kommt bei W. in keiner Weise zu entsprechenden und genügendem Ausdruck. Das
Werk als Ganzes soll mit solchen Bemerkungen keineswegs etwa herabgesetzt
werden; es ist umfassende Gesamtkompilation mit einer bei solcher Art und Anlage
zum Teil wohl unvermeidlichen gelegentlichen Oberflüchlichkeit, es bietet eine Fülle
von richtigen und fleiBig gesammelten Tatsachen in ausführlicher Darstellung, in
durchschnittlicher Auffassung, die allerdings wohl fast überall ohne viel Mühe ver-
tieft werden kónnte.
Von ähnlichem Charakter ist die Bibliographie. Sie ist sehr umfangreich,
mit 135 Seiten in Band VI und 160 Seiten in Band VII je ein stattliches Heft für
Sich. In jedem Bande ein Kapitel allgemeiner Bibliographie und eine besondere für
jedes Kapitel. Jeder Abschnitt wieder gegliedert in allgemeine Werke, Quellen,
moderne Werke, und zwar Bücher und Spezialuntersuchungen (Aufsátze) je für
sich; vielfach der Untergliederung der Kapitel entsprechend auch eine Untergliede-
rung der Bibliographie. Es ist bei dieser Anlage, bei der Áhnlichkeit und dem engen
Zusammenhang des Inhalts vieler Kapitel und ihrer Bibliographie nicht ganz leicht
festzustellen, ob ein Buch, eine Einzeluntersuchung wirklich genannt sind (was ja
noch nicht immer zugleich Benutzung bedeutet!) oder nicht. Was geboten wird, ist
ungeheuer viel, mit zweifellos sehr groBer Arbeit und Mühe zusammengetragen.
Natürlich kónnte man vieles Einzelnes nachtragen, das hat keinen begründeten
Sinn; aber es ist doch ein bedenklicher und bemerkenswerter Mangel, wenn im
VII. Bande Burdachs Werk vom Mittelalter zur Reformation in seiner neuen viel-
bàndigen Bearbeitung nirgends gekannt und genannt wird, weder im I. und II. Ka-
pitel über Italien (im II. wird nur das Buch Piurs, des Mitarbeiters von Burdach,
über Cola di Rienzo genannt) noch im 25. Kapitel über die Frührenaissance noch
im 26. über die mittelalterliche Mystik: nur im 6. Kapitel über Bóhmen (von Krofta)
424 Kritiken
wird Burdachs erster Band von 1893 genannt. Das zeigt doch einen Mangel an Ver-
trautheit mit der gegenwürtigen Forschung und Fragestellung, der nicht mehr ganz
entschuldigt werden kann. Sehr erwünscht und wertvoll sind die 10—11 Karten in
eigener Mappe zu jedem Band.
Die Cambridge Medieval History ist ein Werk von vielen dicken Bänden, die
an den, der sie wirklich durcharbeiten wollte, sehr große Anforderungen stellen.
Sie ist eine Encyklopädie der durchschnittlich geltenden Auffassungen mit Angabe
vieler Literatur und sonstiger Hilfsmittel, ein Werk von ungeheurem Sammelfleiß
und nüchternem Tatsachensinn, im ganzen, wie mir scheint, der englischen Geistes-
richtung und Art entsprechend, die man philosophisch als Sensualismus und prak-
tisch als commun sense zu bezeichnen pflegt. Auf deutschem Boden kónnte man ihr
heutzutage wohl die von W. Goetz herausgegebene Propyläen-Weltgeschichte an
die Seite stellen. Das deutsche Werk ist dem englischen an Umfang und in der Art
der Disposition und Redaktion etwa gleich oder ähnlich, es verzichtet auf den ge-
lehrten Apparat der Bibliographie, aber an Auffassung und wissenschaftlicher Ver-
tiefung scheint es mir im Durchschnitt über dem englischen Werk zu stehen. Es
scheint, daß die englische Weltgeschichte mit einem breiteren wissenschaftlichen
Benutzerpublikum rechnen kann, während das deutsche Werk sich mehr an ein all-
gemein gebildetes, aber nicht fachmännisch interessiertes Publikum wendet. Ich
glaube, die deutsche Geschichtswissenschaft hat, an Organisation und wissenschaft-
licher Leistung im einzelnen, auch heute noch den Vergleich mit der Geschichts-
wissenschaft des Auslandes — hier jedenfalls Englands, nicht zu scheuen.
Erlangen. B. Schmeidler.
Emil Ficken, Johann von Böhmen. Eine Studie zum romantischen Rittertum
des 14. Jahrhunderts. Göttingen 1932. 176 S.
Daß König Johann von Böhmen aus dem luxemburgischen Hause bisher noch
keinen modernen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Biographen gefunden
hat, mag wundernehmen; gehört er doch zu jenen problematischen Naturen, die sich
heutzutage in weiten Kreisen so außerordentlicher Beliebtheit und Wertschätzung
erfreuen. Das verhältnismäßig geringe Interesse gerade der zünftigen Forschung
ist um so merkwürdiger, als er in der deutschen wie der europäischen Politik seiner
Zeit eine wesentliche Rolle gespielt hat, wenn er auch an historischer Bedeutung
zweifelsohne sowohl hinter seinem Vater Kaiser Heinrich VII. als seinem Sohne
Karl IV. oder seinem Oheim, Erzbischof Balduin von Trier, zurücksteht. Diese
Lücke auszufüllen, hat sich die vorliegende, von A. Hessel angeregte Göttinger
Dissertation zum Ziele gesetzt, und zwar, um es vorwegzunehmen, im großen und
ganzen mit Erfolg. Da sie grundsätzlich auf Einzelheiten und eigene Detailforschung
verzichtet, gibt sie allerdings mehr einen Überblick über den jeweiligen Stand der
wissenschaftlichen Diskussion als eine abschließende Darstellung, dies aber immerhin
mit soviel Sorgfalt und Umsicht, daß man fürs erste ein durchaus genügendes Gesamt-
bild von Johanns Persönlichkeit erhält.
Nach einigen einleitenden Bemerkungen, in denen die geistige Situation des
späteren Mittelalters doch etwas gar zu vereinfacht auf die Spannung zwischen
einem hochmittelalterlichen Idealismus und einem modernen Realismus reduziert
wird, gibt Ficken in einem ersten Teil „das historische Lebensbild" König Johanns.
So dankenswert an sich die zusammenfassende Darstellung ist, die dessen weit-
Kritiken 425
verzweigte, von Litauen und Polen über Schlesien, Bóhmen, Kürnten, Tirol bis
nach Italien und andererseits bis nach Frankreich und den Niederlanden reichende
Hausmacht- und Territorialpolitik hier gefunden hat, z. T. unter Heranziehung
fremdsprachiger und sonst schwer zugänglicher Literatur, so kann man sich gleich-
wohl nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß hierüber die Schilderung seiner Reichs-
politik zu kurz gekommen ist. In diesem Zusammenhange würe insbesondere eine
eingehendere Würdigung der auffallenden Tatsache erwünscht gewesen, daB die
beiden Hauptvertreter des luxemburgischen Hauses, eben Kónig Johann und Erz-
bischof Balduin von Trier, in ihrer Politik des ófteren erheblich divergierten. Die
Ergebnisse würen sicherlich nicht nur für ihre Beziehungen zueinander, sondern
auch für ihr beiderseitiges Verhältnis zur Reichsgewalt, vor allem also zu Ludwig
d. B., hóchst aufschluBreich gewesen.
Im 2. Teil geht Ficken sodann den verschiedenen Wurzeln von Johanns
Ritterideal in der älteren französischen Literatur sowie der Darstellung seines
Rittertums in der zeitgenössischen, zumal bei seinem Hofpoeten Guillaume de Ma-
chaut, nach. Man wird diesen Ausführungen, die eine tiefere Erfassung der geistigen
und psychologischen Eigenart König Johanns anstreben, gewiß mit größtem
Interesse folgen, um sich doch schließlich fragen zu müssen, ob hier der Verfasser
nicht das „Bildungserlebnis‘‘ seines Helden beträchtlich überschätzt hat. Hätte es
nicht ungleich näher gelegen, den unleugbar romantischen Grundzug in Johanns
Wesen, das Hochfliegende und MaBlose, das Sprunghafte und unstet Umher-
schweifende, ja Ausschweifende seiner Natur, auf erbliche und persönliche Veran-
lagung, statt auf das mehr oder weniger Zufällige eines durch seine niederländisch-
französische Erziehung und Bildung geformten Ritterideals zurückzuführen ? (So
ausdrücklich S. 11, einschränkend S. 1571) Und hätte man nicht vielleicht auf dem
Wege einer vergleichenden Charakteristik der bedeutendsten Mitglieder des luxem-
burgischen Hauses weit eher und unmittelbarer zu dem eigentlichen Kern der
Persönlichkeit Johanns vordringen können, als es dem Verfasser auf seine Weise
möglich war? So etwa, daß man dem einen, von Heinrich VII., König Johann und
Kaiser Sigismund verkörperten Typus den andern, wie ihn Balduin von Trier und
Karl IV. repräsentieren, gegenübergestellt hätte. Ficken macht wohl einige Ansätze
in dieser Richtung (S. 10f., 157f.), ohne freilich gerade hierin befriedigen zu können.
Doch das sind Fragen, die bereits weit über den Rahmen einer Einzelbesprechung
hinausgehen; denn sie rühren letzten Endes an das Grundsätzliche und Problema-
tische biographischer Geschichtsschreibung überhaupt.)
München. Ernst Bock.
Hans Ammon, Johannes Schele, Bischof von Lübeck, auf dem Basler
Konzil. Ein Beitrag zur Reichs- und Kirchengeschichte des 15. Jahrhun-
derts. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und Hansestadt Lübeck,
herausgegeben vom Staatsarchiv zu Lübeck. Band 10.) Lübeck, Verlag des
Staatsarchivs 1931. XIV u. 129 S. 40.
Bei der vorliegenden, von H. Weigel angeregten Erlanger Dissertation handelt
es sich um einen jener leidigen Versuche, Methoden und Stil der „Jahrbücher des
Deutschen Reiches" auf das Gebiet biographischer Geschichtschreibung zu über-
trazen. Damit sind bereits die Vorzüge, freilich auch die Grenzen dieser Arbeit an-
426 Kritiken
gedeutet. Mit rühmenswerter Hingabe und Sorgfalt wird das ganze, gerade für die
Konzilszeit verhältnismäßig reichhaltige Quellenmaterial zusammengetragen, so
daß das auf Grund seiner entworfene Lebensbild Johann Scheles im Tatsächlichen
wohl erschöpfend sein dürfte. Während seine Regierungszeit (1420—1439) in der
Geschichte des Bistums Lübeck kaum tiefere Spuren hinterlassen hat, sicbert ihm
die rege und vielseitige Tätigkeit, die er als prominentes Mitglied des deutschen
Episkopats sowie als diplomatischer Vertreter Kaiser Sigismunds und Albrechts IL
auf dem Basler Konzil entfaltet hat, zweifelsohne eine gewisse historische Bedeutung.
Diese seine Wirksamkeit, das buntbewegte Leben und Treiben, aber auch die mannig-
fachen Intriguen und politischen Wechselfälle, die ein gedeihliches Arbeiten des
Konzils so außerordentlich erschwert, ja nicht selten geradezu unmöglich gemacht
haben, werden eingehend, verschiedentlich sogar allzu minutiös geschildert. Hervor-
gehoben sei hier nur die Reise, die Bischof Johann als Konzilsgesandter wegen der
kirchlichen Union mit den Griechen nach Avignon und an den Hof Karls VIL von
Frankreich nach Montpellier unternahm, ferner die von ihm im Rahmen der kaiser-
lichen Vermittlungsaktion zwischen Papst Eugen IV. und dem Konzil geführten
Verhandlungen sowie seine Teilnahme an den Reichstagen zu Nürnberg 1438 und
Mainz 1439, dessen Ergebnis die so berühmt gewordene Mainzer Akzeptation war.
Einer diplomatischen Mission galt endlich auch seine letzte Reise zu dem in Ungarn
weilenden Albrecht II.; hier ist er, fern von der Heimat, am 8. September 1439 an
der Pest gestorben.
Das alles wird, wie erwähnt, in beinahe epischer Breite und fast ohne jegliche
belebenden Akzente erzählt; der gleichmäßige Fluß der Darstellung, der selbst die
Höhepunkte des Geschehens und Momente von historischer Tragweite mehr ahnen
als erkennen läßt, wirkt freilich auf die Dauer ziemlich ermüdend. Eine etwaige
Erfassung der geistigen und persönlichen Wesensart Scbeles wird man nach dem
Gesagten vollends nicht erwarten dürfen; tatsáchlich wird eine solche auch kaum
irgendwo versucht, obwohl der Verfasser in Anhang II selbst die hierfür erforderlichen
Voraussetzungen geschaffen hat. Es handelt sich um eine in ihrem Wortlaut bisher
noch nicht gedruckte, für das Basler Konzil bestimmte kirchenpolitische Denk-
schrift Bischof Johanns, die schon deshalb von besonderem Interesse ist, weil kein
Geringerer als Nikolaus von Cues sie mit Randbemerkungen versehen und uns in
seinem Nachlaß überliefert hat. Grund genug, um jene Reformvorschläge einer ein-
dringlichen Analyse zu unterziehen und sie mit dessen berühmten Werke „De con-
cordantia catholica", dem „bedeutendsten Geisteserzeugnis, das das Konzil über-
haupt hervorgebracht hat“, zu vergleichen. Man braucht dabei durchaus nicht an
ein förmliches Abhängigkeitsverhältnis zu denken, das bei der ungeführen Gleich-
zeitigkeit beider sowieso wenig wahrscheinlich ist. Auf jeden Fall aber hätte eine Un-
tersuchung gerade dieser und der hiermit zusammenhängenden Fragen ungleich tiefer
in die ganzen Probleme der Konzilsbewegung hineingeführt, als eine noch so detaillierte
Schilderung der jeweiligen Beratungen und Verhandlungen.
München. Ernst Bock.
L. von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters.
Bd. XVI: G. d. P. im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus von der Wahl
Benedikts XIV. bis zum Tode Pius' VI. (1740—1799). 1. Abt. Benedikt XIV.
Kritiken 427
und Klemens XIII. (1740—1769). 1.—7. Auflage, XXI, 1011 S. Freiburg
i. Br. 1931, Herder & Co. — 2. Abt. Klemens XIV. (1769—1774) 1.—7. Auf-
lage X, 440 S. Freiburg i. Br. 1932, Herder & Co.
Mit Band XVI wird die Papstgeschichte L. von Pastors zu Ende geführt werden.
Doch bat man die gedrángtere Darstellung, die im 14. und 15. Bande durchgeführt
wurde, wieder verlassen und ist zu der breiteren Art der früheren Bánde zurück-
gekehrt. Es ist daher nótiggeworden, den letzten Band zu teilen, und zwar in drei
Abteilungen, von denen bisher die beiden ersten vorliegen. Von ihnen behandelt
Bd. XVI, 1, auf mehr als eintausend Seiten die drei Jahrzehnte von 1740—1769.
Sie werden eingenommen von den Pontifikaten Benedikts XIV. (Prospero Lam-
bertini &us Bologna) und Klemens' XIII. (Carlo Rezzonico aus Venedig), beide
fünfundsechzigjährig zur höchsten Würde erhoben. Die Lage des Papsttums zwischen
dem Staatsabsolutismus der Großmächte und dem Gallikanismus auf der einen,
der Aufklärung und dem Rationalismus auf der andern Seite war so schwierig wie
nur je und es hätte stärkerer Hände bedurft, als die der genannten Oberhäupter,
um aller dieser Schwierigkeiten Herr zu werden. Übrigens war Benedikt (1740—1758)
eine Persönlichkeit eigener Prägung, weltoffen wie wenige der Nachfolger Petri,
und nicht ohne Verständnis für das, was die Weltlage verlangte. Den Forderungen
der katholischen Mächte nachgebend, hat Benedikt die altüberkommenen Hoheits-
rechte des Papsttums, die längst ihre Bedeutung eingebüßt hatten, großenteils
fallen lassen, die geistliche Gerichtsbarkeit und Immunität eingeschränkt, Indulte,
Reservate, Exemtionen aufgehoben u. dgl. mehr. Er hat dadurch, wie Pastor es
auffaßt, zur Stellung der katholischen Kirche zum modernen Staat den Grund
gelegt, wobei freilich zu bemerken ist, daß die weitere Entwicklung nicht geradlinig
verlaufen ist. Dem immer noch starken Jansenismus in Frankreich gegenüber, der
sich gegen Königtum und Papsttum besonders auf die Parlamente stützte, ist
Benedikt von der Verdammungspolitik seiner Vorgänger (Bulle Unigenitas Kle-
mens’ XI. 1713) merkbar abgerückt. Auch mit dem neuen evangelischen Landes-
herrn von Schlesien, dem jungen Preußenkönig Friedrich II., der trotz seiner damals
einzig dastehenden Toleranz doch nicht gewillt war, der geistlichen Macht irgend-
welche mit der Staatsgewalt konkurrierende oder diese einschránkende Macht ein-
zuráumen, ist Benedikt, indem er in den streitigen Materien (gemischte Ehen usw.)
sich zugänglich zeigte, in ein leidliches Verhältnis gelangt und hat sich, indem er
dem preußischen Monarchen auch den Königstitel wenigstens tatsächlich nicht
länger vorenthielt, dessen persönliche Hochschätzung erworben.
Durch die europäischen Wirren, die dem im Jahre des Pontifikatsbeginns
Benedikts eingetretenen Tode des letzten männlichen Habsburgers folgten, kam
der Papst als Herr des Kirchenstaats während der ersten Hälfte seiner Regierung
wiederholt in schwere Bedrängnis, zumal im Jahre 1744, als Österreicher und Spanier
im päpstlichen Gebiete, und zwar in nächster Nähe der ewigen Stadt, einander
lange Monate feindlich gegenüberlagen. Dann jedoch hat der Aachener Friede
von 1748 der apenninischen Halbinsel einen vierzigjährigen Friedensstand gebracht.
So konnten die Päpste dieser Epoche, neben der Fürsorge für das materielle Wohl
ihrer Untertanen, dem am Heiligen Stuhle herkömmlichen Mäzenatentum obliegen,
auch ihre Hauptstadt bereichern und verschönern. Es ist das Rom der Piranesi,
Winckelmann, Raphael Mengs. Benedikt hat der Wissenschaft gelehrte Aka-
demien (wobei auch die Naturwissenschaften nicht leer ausgingen), den Künsten
428 Kritiken
Museen errichtet, auch der Bereicherung und Katalogisierung der Vatikanischen
Bibliothek sein Augenmerk zugewandt.
In voller Unmittelbarkeit offenbart sich Benedikts Wesen und Eigenart in den
zahlreichen Privatbriefen, die sich von ihm erhalten haben, zumal seinem von 1142
bis 1756 reichenden Briefwechsel mit dem französischen Kardinal Tencrin — einem
Unikum, wie es von keinem anderen Papste vorliegt (Pastor S. 435), und um so
wertvoller, als Benedikt hier seiner Feder freiesten Lauf läßt.
Noch während Benedikt die Tiara trug, zeigten sich im Katholizismus die Vor-
boten einer Katastrophe, die diesen schwer erschüttern sollte, und auch das Papst-
tum vor Entscheidungen von größter Tragweite stellen mußte. Es handelte sich
um die Gegnerschaft der katholischen Mächte wider den Jesuitenorden. Pastor
hat diese Kämpfe und Machenschaften in größter Ausführlichkeit behandelt; schon
in der ersten Abteilung unseres Bandes kommt fast der halbe Umfang auf die Je-
suitenfrage. Nach ihm nämlich gilt der Kampf der Mächte eigentlich dem Papsttum,
in dem Orden bestürmen jene das Vorwerk des letzteren, nach dessen Einsturz sie
nicht zweifeln den eigentlichen Feind, Rom, zerschmettern zu können. Dabei ver-
schweigt Pastor allerdings auch die mannigfaltigen Anstöße und Anstände nicht,
die der Orden den Mächten darbot, allein eine eigentliche Schuld der Jünger Loyolas,
die die Auflösung rechtfertigen könnte, erkennt der Verfasser nicht an.
Klemens XIII. (1758—1769), eine unselbstándige Natur, hat sich zu einer
festen Haltung in der Jesuitenfrage, die mehr und mehr alles andere in den Hinter-
grund drängte, nicht aufzuschwingen vermocht, durch seine Unschlüssigkeit aber
die Mächte nur um so mehr vorangetrieben. Unter seinem Pontifikat sind die Jesuiten
aus Portugal, Frankreich, Spanien, Neapel, Parma und Malta vertrieben worden
und folgerichtig sind dann auch die Mächte an den Heiligen Stuhl mit der kate-
gorischen Forderung herangetreten, kraft seiner oberhoheitlichen Gewalt den Orden
aufzuheben. Aber ein Mächtigerer griff ein und überhob den Papst der gefürchteten
Entscheidung; es war der Tod, der ihn in schicksalsschwerer Stunde jählings hin-
wegraffte.
Es ist bekannt, daß im Gegensatz zumal zu den bourbonischen Höfen der
habsburgische Staat sich in der Jesuitenfrage lange zurückhielt. Gleichwohl sind
dort schon unter Maria Theresia dem kirchenfeindlichen Geist wesentliche Zuge
ständnisse gemacht worden. Das Josefinische Zeitalter kündete sich an. Im deut-
schen Reiche aber kam, zumal an den geistlichen Fürstenhöfen, gleichzeitig ein auf-
geklärter Katholizismus auf, verbunden mit Wiedererstarkung des episkopalistischen
Gedankens, der sich wider die päpstliche Oberhoheit zur Wehr setzte. Zu markantem
Ausdruck kam diese Strömung damals in dem 1763 erschienenen Buche „Vom Zu-
stand der Kirche und von der rechtmäßigen Gewalt des Papstes“ des „Justus
Febronius“, d.h. des erzbischöflich Trierischen Weihbischofs Nikolaus von Hontheim.
Die Kurie schritt mit Verboten ein, ohne damit dem tief- und weitgreifenden Ein-
druck des Buches wesentlich Abbruch tun zu können. So warteten schwere Auf-
gaben auf den Nachfolger Klemens’ XIII., den aus einem viermonatlichen Konklave
als Sieger hervorgegangenen Lorenzo Ganganelli (geb. 1705 unweit Rimini), der den
Namen Klemens XIV. annahm. Seinem fünfjährigen Pontifikat (1769—1774)
ist die zweite Abteilung des 16. Bandes gewidmet. Verf. ist kein Freund des neuen
Papstes; zwar spricht er ihm Frömmigkeit und Güte des Herzens nicht ab, stellt
aber doch die Mängel seines Charakters in den Vordergrund: Klemens ist unzuver-
Kritiken 429
lässig, ja doppelzüngig, intrigant, ehrgeizig (die Tiara hat er durch falsche Angaben
über seine Stellung zur Jesuitenfrage erschlichen), dazu furchtsam, mißtrauisch,
schwach. Auch ist er der Dinge der Welt unkundig; es fehlt ihm, daß er, als Ordens-
mann, niemals im diplomatischen Dienst der Kurie gestanden, Italien nie verlassen
hat. Eine objektive Würdigung Klemens’ XIV., der ja zu den Männern gehört,
deren Bild, wie der Dichter sagt, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt in der
Geschichte schwankt, ist gewiß nicht ganz leicht. Doch hat Klemens den Schritt,
den ihm der orthodoxe Katholizismus noch heute nicht vergibt, zum mindesten
nicht vorschnell getan, sondern den Mut aufgebracht, dem Drängen der katholischen
Mächte auf Aufhebung des Ordens vier Jahre lang Widerstand zu leisten. Vor allem
aber sieht man kaum, wie die Dinge anders hätten ausgehen können ohne das An-
sehen des Papsttums vielleicht noch mehr zu schädigen, als dies durch die schlieB-
liche Nachgiebigkeit Klemens' geschehen ist. DaB übrigens, wie Pastor betont,
das entscheidende Breve Dominus redemptor noster vom 21. Juli 1773 seinem
Wortlaut nach kein vollgültiges Zeugnis gegen den Orden ist, d. h. seine Schuld
nicht beweist, mag zugegeben werden; über die Schuldfrage selbst ist aber damit
noch nichts gesagt. Durch eine eigenartige Fügung hat übrigens die Stellungnahme
Maria Theresias, ihr AnschluB an Spanien, die Entscheidung über das Schicksal
des Ordens herbeigeführt (Pastor S.193) — wogegen bekanntlich der groBe Feind
der Kaiserin in PreuBen die Verkündigung des Auflósungsdekrets in seinen Staaten
verbot, da er die Jesuiten als Jugenderzieher nicht entbehren zu kónnen glaubte;
angeknüpfte Unterhandlungen mit Rom über die Modalitäten, unter denen die
Ordensmänner im Preußischen in ihrer Tätigkeit fortfahren könnten, unterbrach
der Tod des Papstes (Pastor S. 303 ff.).
Aus der Fülle des ungedruckten Materials, das der Darstellung Pastors zugrunde-
liegt, ist eine Auswahl der zweiten Abteilung des 16. Bandes anhangsweise beige-
geben: päpstliche Erlasse, Äußerungen der Diplomaten usw., am Schluß ein kurzer
Vermerk zu den Lebensbeschreibungen Klemens’ XIV.
Auf Anregung des regierenden Papstes Pius XI. ist der Schlußband des Pastor-
schen Lebenswerkes keinem Geringeren gewidmet als — dem Apostel Petrus, „dem
Fürsten der Apostel, dem von unserem Heiland eingesetzten ersten römischen
Papste“ („Nomini honori perbeati Simonis Petri, apostolorum principis primique
& Christo servatore constituti Romani pontificis"). Dies Einbeziehen einer un-
historischen Tradition in ein Geschichtswerk, das der voraussetzungslosen Aufhellung
der Vergangenheit dient, oder doch dienen sollte, ist für den Nichtkatholiken schwer
verstándlich.
Wernigerode a. H. Walter Friedensburg.
Anton Chroust, Das Großherzogtum Würzburg (1806—14). Die äußere Politik
des Großherzogtums. Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Ge-
schichte IX, 1. XIV, 617 S. Würzburg, Becker 1932. 36.— ,L brosch.
Mit der Herausgabe der breitangelegten Geschichte des rheinbündischen Groß-
herzogtums Würzburg liefert die um die Erkenntnis der Eigenart Frankens hoch-
verdiente Gesellschaft für Frünkische Geschichte erneut den Beweis ihrer Daseins-
berechtigung, ebenso wie sich der Verfasser abermals nicht nur als unermüdlicher
Forscher, sondern auch als Geschichtschreiber vorstellt, der formgewandt selbst
sprödeste Stoffe geschickt zu meistern weiß. Denn daB die Geschichte des Groß-
430 Kritiken
herzogtums Würzburg ein dankbarer Vorwurf für einen Geschichtsforscher ist, der
sich den Beifall der Masse seiner Fachgenossen zu erringen hofft, das wird niemand
behaupten wollen. Um so bereitwilliger aber werden dem Verfasser alle die danken,
die sich ernsthaft um die Erkenntnis des Deutschlands der napoleonischen Zeit be-
mühen, und erst recht alle Freunde und Fórderer der Geschichte Frankens.
Erzherzog Ferdinand aus dem Hause Habsburg, durch Geburt auf den Thron
Toskanas berufen, von den Stürmen einer gewaltigen Welterschütterung zuerst nach
Salzburg und dann nach Würzburg geschleudert, um zuletzt in Florenz zur Ruhe zu
kommen, war eine durchaus passive Natur, deren Kräfte sich in der bloßen Daseins-
behauptung als Mitglied der fürstlichen Gesellschaft Europas verzehrten. Geschichte
und Wesen des Großherzogtums Würzburg sind durch fünf Züge gekennzeichnet. Zeit
seines kurzen Lebens liegt es mit seinem größeren Nachbarn und Todfeind, dem
Königreich Bayern, in einem zermürbenden Kleinkrieg um seine äußere Form, um
Dörfer und Ämter, um ritterschaftliche Enklaven und Interposen; feste Grenzen
erlangt es hier endlich 1810, nach Westen und Norden gegen Baden, Frankfurt und
die sächsischen Herzogtümer aber erst zu einem Zeitpunkt, als seine Einverleibung
in Bayern bereits beschlossene Sache war. Vom Anfang bis zum Ende bestreitet
diesem Kleinstaat der Kaiser von Österreich die volle staatliche Selbständigkeit, die
wirkliche Eigenstaatlichkeit; nur den Charakter einer habsburgischen Sekundo-
genitur mit dem politischen Zweck, Vorposten der Donaumonarcbie am Main zu
sein, will Kaiser Franz dem Großherzogtum Würzburg zugestehen. Andrerseits will
Napoleon unbedingt und restlos über diesen Kleinstaat im Herzen Deutschlands am
mittleren Main verfügen — gemeinsam mit dem Primatischen Staat und dem franzö-
sischen Bayreuth sichert er Napoleon die Mainlinie —, ihn ausnützen als militärisches
Auf- und Durchmarschgebiet erster Ordnung wie als Quelle für Mensch und Tier
und für alles, was der Soldatenkaiser sonst zum Kriegführen braucht. Unter der
Führung des Staatsrates Johann Michael Seuffert treibt Würzburg keine große, aber
einegeradlinige und folgerichtige Politik, durch unbedingten Gehorsam gegenüber allen
Befehlen und Wünschen des Kaisers der Franzosen sich dessen Hilfe im Kampf gegen
Bayern zu versichern; freilich zeitigt sie nur einen teilweisen Erfolg. Nach seinem
Sturz verfállt der Staat einer feigen und dünkelhaften Bürokratie, die, vor Napoleons
Generälen und ihrer Brutalität kuschend, rasch arbeitet und die Kräfte des Landes
auf das äußerste anstrengt. In der Allianz aber sabotiert sie die maßvollen und im
Interesse des deutschen Befreiungskampfes gestellten Forderungen des österreichi-
schen Gouverneurs; sie legt auch die opferfreudige und reichsdeutsche Gesinnung
aller Stánde lahm, der Bauern, Bürger und Adeligen, die sich durch jahrhunderte-
lange Tradition, sei es eine bischóflich -würzburgische, sei es eine reichsritterschaft-
liche, mit dem habsburgischen Kaiser als Verkórperung des Reiches verbunden fühlen.
Ein Stück Entstehungsgeschichte des modernen Bayern, eine Episode aus dem
europäischen Großkampf zwischen Österreich, Frankreich und Bayern, einen Aus-
schnitt aus dem Werden des deutschen Volkes als einer politischen Größe, das ist
von einer höheren Warte aus gesehen die Geschichte des Großherzogtums Würzburg.
Dabei sei noch auf einen besonderen Vorzug der Chroust’schen Arbeit hinge-
wiesen: die scharfe Herausarbeitung der bedeutenden Rolle, die damals das Recht,
insbesondere das Reichsrecht, in der Politik spielte.
Die Anlagen, 27 Aktenstücke, und das Register müssen als sehr willkommen be-
zeichnet werden. Insbesondere sei verwiesen auf die Anlagen 25 und 26, die Adresse
Kritiken 431
des Regierungsdirektors v. Schallhammer an die verbündeten Monarchen vom
26. April und die Gegenerklárung des Hofgerichtsrats Oehninger vom 3. Mai, die den
nationalen und liberalen Gedanken nicht als Synthese, sondern als Antithese zeigen.
Chrousts Buch rollt nun noch eine grundsätzliche Frage auf: die nach der
Technik der territorialen und landschaftlichen Geschichtschreibung.
Der Verfasser glaubt sich von vornherein gegen den Vorwurf der allzugroßen Breite
und Ausführlichkeit verteidigen zu müssen. Ich fürchte, von den Historikern, denen
der Begriff Geschichte unter dem Einfluß bisher nahezu allmächtig herrschender
Schulen zu den Begriffen „Europäische Machtgeschichte“ und „Geistesgeschichte“
eingeschrumpft ist, wird der Verfasser kaum einen überzeugen. Auch ich rechne nicht
damit, daß die folgenden Darlegungen einen besseren Erfolg haben. Aber jeder, der
die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft seit Kriegsende aufmerksam
verfolgt hat, wird zugeben müssen, daß neben der großzügigen weltgeschichtlichen
Betrachtung eine andere Anschauung, die sich liebevoll in die Einzelheiten der Hei-
matgeschichte vertieft, mit dem Anspruch auf Gleichwertigkeit sich mehr und mehr
durchsetzt. Gleichwertig, weil sie zu der politisch-intellektuellen Bildung als Ergän-
zung jene gefühls- und willensmäßigen Kräfte weckt, die nur dem Mutterboden ent-
sprießen können.
Chroust dient mitseinem Buch der Fränkischen Geschichte. Geschichtforschung
und Geschichtschreibung der deutschen Landschaft müssen im Einklang stehen
mit der Eigenart dieser Landschaft. Die innere Eigentümlichkeit der politischen
Landschaft Franken besteht nun seit dem 13. Jahrhundert darin, daB seine Struktur
das Chaos ist: äußerste Zersplitterung und Zerfetzung einerseits und engste gegen-
seitige Durchdringung der Einzelbestandteile andererseits. Wenn nun der Charakter
der Landschaft sozusagen mikroskopisch ist, dann kann seine Geschichtschreibung
nicht makroskopisch sein, dann darf sie nicht, um Chrousts Worte zu gebrauchen „nur
groß ausschreitend und vornehm andeutend" die Geschichte darstellen; sie muß
„das Kleine und Örtliche maBvoll pflegen“. Aber dieses Kleinleben ist doch nur die
eine Seite fránkischer Landschaft und Geschichte. Franken bleibt nun einmal das
Herzstück des deutschen Mitteleuropa zwischen den europäischen Meeren mit ihrem
Binnencharakter, Anteil habend an zwei von den drei Schicksalsstrómen Mittel-
europas, an dem Rhein und an der Donau. Diese geographische Lage zerrt die frán-
kischen Kleinwesen immer wieder hinein in den Strom des groBen Geschehens, des
politischen wie des geistigen Lebens. Das heißt aber, daB das kleinste Geschehen in
Franken mit den groBen Ereignissen der deutschen (und das ist eben der mittel-
europäischen) Geschichte enger zusammenhängt, als das bei einer anderen deutschen
Landschaft der Fall ist. Der dritte Abschnitt des Chroust'schen Buches, Würzburg
und Bayern (die Bildung des Territoriums), ist ein geradezu klassischer Beweis für
diese Erscheinung. Es ist aber für die Darstellung wahrhaftig keine leichte Aufgabe,
inmitten der kleinen und sich wiederholenden Einzelheiten den großen Zusammen-
hang erkennen zu lassen und in dem großen Rahmen gerade soviel von dem Kleinen
zu geben, daß auch die einzelnen Fäden der Entwicklung klar erkennbar werden.
Mit diesem Doppelcharakter fránkischer Geschichte hängt nun noch ein weiteres
zusammen. Das Kleine und Örtliche an ihr muB aus den riesigen Aktenmassen der
fránkischen Archive herausgeholt, herausdestilliert und herausgeschürft werden.
Ihre Verbundenheit mit dem deutschen und europäischen Geschehen aber wird nur
völlig klar aus dem Material der großen Archive der europäischen Staaten, vor allem
432 Kritiken
der Archive in Wien und Paris, aber auch in München und Berlin; ja bis nach Italien
und nach RuBland hinein wird man gelegentlich greifen müssen. Damit aber ergibt
sich für den Forscher logisch und moralisch die Pflicht, dieses Material in seiner Ge-
samtheit gründlichst auszunutzen; er muB ganze Arbeit machen, da es unwahr-
scheinlich ist, daB ein zweiter in absehbarer Zeit ihn ergünzen oder berichtigen wird.
Weil somit eine jede Darstellung zur neueren fränkischen Geschichte auf einem weit-
schichtigen und zerstreuten Material beruht, so wird sie notwendigerweise zu einer
getarnten Aktenedition; die Darstellung wird so breit als sie eben noch sein darf;
und die Anmerkungen sind eine Art Archivinventar.
So mußte auch Chrousts Buch als eine Arbeit zur fränkischen Geschichte diese
beiden Züge an sich tragen. Sie sind zwangsläufig — und bedürfen keiner Rechtferti-
gung, sondern nur einer Darlegung.
Wir buchen Chrousts Darstellung als einen wertvollen Beitrag zur jüngeren frän-
kischen Geschichte, aber auch als einen solchen zur Geschichte der napoleonischen
Zeit schlechthin. Wir möchten ihn nicht mehr missen; und erwarten in Spannung
den zweiten Band, der uns das innere Leben dieses Rheinbundstaates vorführen soll.
Erlangen. Helmut Weigel.
Abel Mansuy, Jéróme Napoléon et la Pologne en 1812. Paris. Félix Alcan.
1931. 704 S. 80 Frs.
Das Buch ist an Stelle einer angeblich von den deutschen Truppen 1916 im
Manuskript zerstórten umfangreichen Veróffentlichung über die franzósische Ver-
waltung im Westen Rußlands 1812 erschienen. Kein Wunder also, daB der Verf.
auf die Deutschen schlecht zu sprechen ist und ihnen gegenüber nicht immer die
nótige Unparteilichkeit findet, so in der Beurteilung der Bayonner Konvention
(S. 287) und bei Zurückführung vieler durch den Vormarsch der großen Armee
nach einer schlechten Ernte im Herzogtum Warschau entstehender Verpflegungs-
schwierigkeiten auf die vertragsmäßigen preußischen Getreideankäufe in Polen,
ohne zu berücksichtigen, daß Preußen selbst infolge der französischen Truppen-
durchzüge bis zum äußersten ausgesogen war.
Jedenfalls hat der Direktor des französischen Lyzeums in Warschau mit Bienen-
fleiß aus polnischen, russischen und französischen Archiven unter Heranziehung
einer gewaltigen Literatur, auch der Presse, seinen Stoff zusammengetragen, wobei
ihm freilich selber die Übersicht verlorengegangen ist (gleiche Zitate an mehreren
Stellen, z. B. S. 227 und 278, S. 188 und 365). Außerdem wimmelt das Buch von
Versehen und Druckfehlern (S. 212 Reitz statt Rietz, S. 409 Lothum statt Lottum,
auf dem Bild S. 72 Kotska statt Kostka) und leidet unter unheitlicher Schreib-
weise der Eigennamen (S. 509: Ville-suz-Illon, S. 512: Ville sur Illon) und pol-
nischen Texte; sogar auf der einzigen ganz ungenügenden Karte wechseln will-
kürlich deutsche und polnische Ortsbezeichnungen (Thorn, Posen, aber Gniezno,
Rawicz). Bei der Literatur kommen die Deutschen gleichfalls schlecht weg (Nicht-
erwüáhnung von Schottmüllers Polenaufstand von 1806/07, S. 13 Anführung von
Forst Battaglias tendenzióser Schrift über die polnische Thronkandidatur des
Landgrafen von Hessen unter Totschweigung von B. Volz’ vernichtender Kritik
daran), wogegen ein Hinweis auf Emil Ludwig (S. 335) nicht fehlt. Hier scheinen
M. überdies die erforderlichen Sprachkenntnisse zu mangeln (S. 93 Anm. 1: Er
zeugte sich sehr befriedigt; er war ganz wohlwollen; er ermunterte sie zu eifrigen
Kritiken 433
Streben; Kinder unterhielten sich mit ihrer Vater) Im ganzen nimmt Verf.
seinem Helden gegenüber eine stark apologetische Haltung ein und polemisiert
vor allem gegen Masson und den Sekretär des Warschauer Ministerrats, den Hi-
storiker Niemcewiez, kann aber nicht leugnen, daB Jéróme im Gegensatz zu dem
Vizekönig Eugen durch seinen Luxus und arrogantes Benehmen sich viele Sym-
pathien verscherzt hat, wenn er auch ófter als Sündenbock für seinen Bruder dienen
mußte. Auch gerät M. dadurch in die Notwendigkeit, gerade das westfälische, also
deutsche Korps, gegen die Vorwürfe gewaltsamer Requisitionen verteidigen zu
müssen, ohne die Raublust und Habgier seines Kommandanten Vandamme wesent-
lich abschwächen zu können. Bezüglich der Thronkandidatur zeigt Verf. unauf-
hörlich, daß Jeröme selbst keine Neigung für einen Wechsel seiner Stellung besaß,
nicht der auserwählte Anwärter des Kaisers war und endlich bei den Polen wenig
Anklang als Monarch in ihrem zukünftigen, vergrößerten Vaterlande fand.
Leider wird das ungeheure Material nur in 11 Kapitel gegliedert, und die Be-
nutzung nicht durch sachliche Hinweise, sondern bloß durch ein nicht voll befrie-
digendes Personenregister erleichtert. Da sich der Verf. zudem an eine streng chrono-
logische Reihenfolge hält, sind zahllose Wiederholungen und Breiten unvermeidlich.
Ferner fügt er der Darstellung viele mit seinem Thema kaum zusammenhängende
Einzelheiten, häufig solche pikanten Beigeschmacks, ein, und das Buch wird dadurch
förmlich zu einer Skandalchronik der Warschauer Gesellschaft (S. 419 Aufzählung
von Jerömes Maitressen, übrigens ohne Benennung Dianas von Pappenheim, lang-
atmige Schilderung der Poniatowski beherrschenden Gräfin Vauban). Entbehrlich
erscheinen insbesondere die vielen Details über des Königs Umgebung in Kassel.
Mit minutiöser Sorgfalt untersucht M. Jérómes Beziehungen zu Polen während
des Krieges von 1806/07, dann seine Berührungen während der westfälischen Zeit
(polnische Soldaten in seinem Dienst, Interesse für seine Regierungshandlungen
und die Vorkommnisse am Kasseler Hof in den polnischen Zeitungen mit vielfachen
Zitaten aus diesen). Der zweite Teil behandelt seine Reise nach Paris 1812 und
seinen Aufbruch über Dresden nach Kalisch, sowie Napoleons Stellung zu Polen.
Der dritte enthält die militärischen Vorkommnisse am rechten Flügel, zu dessen
Führer der König ausersehen war, doch in drückender Abhängigkeit von Davout,
und durch die notwendige Geheimhaltung seiner Berufung zu geringer Aktivität
verurteilt. Eine Hauptrolle spielt die von Napoleon wohl unterschätzte Verpflegungs-
frage mit fortwährenden Kollisionen und erbarmungsloser Auspressung der Ein-
wohner. Das Mißlingen der zur Irreführung der Russen geplanten Demonstration
gegen Lublin tritt nicht recht klar zutage und die Schuld daran wird einseitig
Reynier zugeschoben.
Eingehend werden die Momente klargelegt, die an sich die Herzen der maß-
gebenden polnischen Kreise den Napoleoniden entfremden mußten (Kirchenfeind-
lichkeit, Einführung der Zivilehe, Begünstigung der alle Lieferungen besorgenden
Juden, S. 356, Wirkungslosigkeit der französischen Gesetzgebung, Besorgnis vor
einer Bauernemanzipation usw.) Sehr breiten Raum nimmt die Behandlung der
trostlosen Zustände in Polen und der hier wirksamen Parteien und politischen
Kräfte ein. Der Hochadel war mit Erfolg bemüht, die Kriegslasten auf die unteren
Schichten abzuwálzen und besorgte eine Durchkreuzung seiner Absichten, auch
gegenüber der Szlachta, durch die mit den Gedanken von 1789 erfüllten westlichen
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 28
434 Kritiken
Machthaber. Dann intriguierten die einzelnen Magnatenfamilien gegeneinander,
vor allem die Jöröme durch seine Gemahlin Katharina von Württemberg verwandten
Czartoryski, die gens Julia Polens, unter dem jungen Fürsten Adam mit seiner
Hamletnatur und seinem ehrwürdigen betagten Vater, dem Marschall der 1812
gebildeten Konföderation, der Kriegsminister Joseph Poniatowski, die Potocki,
Zamojski und andere, alle unter lebhafter Anteilnahme ihrer weiblichen Mitglieder.
Diese vielfach in Österreich und Rußland begüterten, an die dortigen Monarchen
und den Adel geketteten Geschlechter schwankten durchweg und wichen jeder
festen Bindung sorgfültig aus. Durch das Medium dieser Amphibien, sowie durch
seine diplomatischen Vertreter in Dresden, Kassel usw. erlangte Alexander fort-
dauernd die wertvollsten Informationen.
Die unerquicklichen Reibereien setzten sich in die Ministerien und übrigen
Behórden fort, deren Reprüsentanten gleichfalls Revue passieren. Dabei wurden
die wirklich patriotischen Elemente, wie die Legionáre um Dombrowski und der
Senator Wybicki beiseite geschoben und mit Undank abgespeist. Auch die Sachsen,
wie Friedrich Augusts Minister des Auswürtigen, Senfft von Pilsach, spielten eine
zweifelhafte Rolle.
Alles in allem dürfte das Buch niemandem zu rechter Freude geschrieben sein,
denn es enthält wenig schmeichelhafte Urteile über das Gebaren der Franzosen
von polnischer Seite, und ebenso vernichtende Kritiken an den Polen aus dem
Mund ihrer Pariser Freunde, z. B. des Geschäftsträgers Bignon. In dem Chaos der
Verwaltung hielten nur die Deutschen einigermaßen die Ordnung aufrecht, die
unter den 59 Stellen der Warschauer Kommunalbehörden 33 innehatten (S. 517),
und zumal im Finanzwesen unentbehrlich waren (S.98: „les finances n'ont été
soutenues jusqu'ici que par les soins des anciens fonctionnaires prussiens. Le désir
des habitants d'ici (Posen) est de redevenir sujets prussiens“, nach aufgefangenem
Brief in den archives nationales).
M. versucht im Schlußwort, diese Erscheinungen durch die bisher zwischen
Franzosen und Polen obwaltenden und zu jeder Zeit bestehenden Mißverständnisse
zu erklären und appelliert an beide Parteien zu deren künftiger Behebung. Es er-
scheint fraglich, ob dieser Versuch großen Erfolg verspricht, denn die Ursache des
MiBakkordes liegt doch in der Natur der Sache, in der grund verschiedenen Struktur
beider Länder und ihrer Bewohner begründet. Auch heut noch gilt das Urteil des
neuen französischen Gesandten de Pradt: La Pologne n'est plus l'Asie: ce n'est
pas encore l'Europe (S. 612).
Breslau. Manfred Laubert.
Schneider, Hans, Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates 1848 bis
1918. Erster Halbband 1848—1874. (Allgemeine Staatengeschichte, Erste
Abteilung, 26. Werk, Band 6.) Friedrich Andreas Perthes A.-G. Stuttgart,
1931. XVI. 857 S. geb. RA 26,—, brosch. ZA 23,—.
Johannes Dierauer hat die Geschichte der Eidgenossenschaft von ihren An-
fängen bis zum Jahre 1848 in fünf Bänden dargestellt; es war das Lebenswerk des
1920 hingeschiedenen Gelehrten. Nach seinem Wunsche sollte Hans Schneider
das Werk fortsetzen; dieser bietet nun zunächst die Schilderung der Jahre von
1848—1874. Der umfangreiche Halbband enthält die erste umfassende wissen-
schaftliche Schweizergeschichte dieser Zeit; er ist mit viel Fleiß und Sorgfalt aus
Kritiken 435
den schweizerischen wie auslündischen Archiven und einer weitschichtigen zeit-
genóssischen Literatur herausgearbeitet. Dem Wesen des Gesamtwerkes entsprechend
wurde allein das staatliche Leben erforscht und beschrieben, das wirtschaftliche und
geistige nur insoweit, als es für den Staat in Betracht kommt. Ein zweiter Halb-
band soll der Geschichte von 1874 bis zum Ende des Weltkrieges gelten.
Der Bundesvertrag von 1815 mit der schwachen Bundesgewalt und der Selbst-
herrlichkeit der Kantone hatte sich schon für die Stellung nach außen als ungenügend
erwiesen; auch die wirtschaftlichen Verhältnisse drängten zu einer strafferen Zu-
sammenfassung. Der Sieg des Liberalismus ermóglichte es, die Schweiz durch die
Bundesverfassung von 1848 fester zu einigen; sie besaß nun im Bundesrat ein stehen-
des, mit der Wahrung der Gesamtinteressen betrautes Organ, neben dem die Bundes-
versammlung den Willen des Schweizervolkes vertreten sollte. Zunächst legte man
die Grundlagen der wirtschaftlichen Einheit, indem Zólle und Posten, Münze,
Maß und Gewichtswesen den Kantonen entzogen und dem Bunde übertragen
wurden, ähnlich wie dies später in Deutschland nach der Gründung des Deutschen
Reiches geschah. Nicht gelang, wie später auch im Reich nicht, die Vereinheit-
lichung der Eisenbahnen noch die Gründung einer gemeinsamen Universität; nur
ein Eidgenössisches Polytechnikum in Zürich fand Verwirklichung. Der Einfluß
des Bundes war fortwährend im Steigen, wenn auch die Kantone ihr Eigenleben
innerhalb des ihnen verbliebenen Geltungsbereichs weiterführten; die wohlüber-
legte Bundesverfassung bewährte sich. Im Innern schwelte zwar das Feuer der
alten Gegensätze noch lange weiter; die siegreiche Partei hielt die Konservativen
nach Möglichkeit vom Regimente fern, und im einzelnen versagten die eidgenössischen
Behörden den Unterlegenen nicht selten den Schutz gegen die Willkür der radikalen
Regierungen. Im ganzen aber verstand es der Bundesrat, die Schwierigkeiten zu
meistern; man kann den leitenden Staatsmännern das Zeugnis nicht versagen, daß
sie ihre Gewalt mit Klugheit und Maßhalten ausgenutzt haben. Gegen Ende der
Epoche setzte eine Revisionsbewegung ein mit dem Schlagwort: ein Recht und
eine Armee, und mit dem weiteren Ziel, die demokratischen Einrichtungen, wie
sie zunächst in einzelnen Kantonen und 1869 besonders in Zürich durchgedrungen
waren, auch in den Boden des Bundes einzupflanzen, vom repräsentativen System
zur unmittelbaren Demokratie überzugehen. Dies geschah durch die neue Bundes-
verfassung von 1874, welche jedoch die Grundlagen der von 1848 beibehielt. Das
Buch Schneiders ist von dem Gedanken beherrscht, daß hier ein stetiger und not-
wendiger Fortschritt zu bemerken sei, worüber seine Landsleute je nach ihrem po-
litischen Standort ja verschiedener Meinung sein können.
Die Wirtschaft der Schweiz führte längst kein sich selbst genügendes Eigen-
leben mehr, sie war in die Weltwirtschaft verflochten, damals bereits, wie erst
wenige Länder, auf Industrie und Export angewiesen. Für die notwendig werdenden
Handelsverträge erschien sie nach 1848 weit besser gerüstet als der Staatenbund
von 1815. Aber bereits begannen materielle Ziele die bisherigen Parteien mit
ihrer ideellen Grundrichtung zu zersetzen. Das sich verschärfende Widerein-
ander der wirtschaftlichen Interessen beherrschte das öffentliche Leben immer
stärker; besonders das Eisenbahnwesen wurde zu deren Kampfplatz. Wenn die
Gegensätze doch nicht zerstörend wirkten, so war die Ursache, daß die Industrie,
wie auch sonst in Mitteleuropa, sich rasch entfaltete, was wohl der Tatkraft und
dem Fleiß der Schweizer Bürger verdankt, im letzten Grunde doch nur durch die
28*
436 Kritiken
Gunst der auswärtigen Lage und die dadurch bewirkten friedlichen Verhältnisse
ermöglicht wurde.
Denn darüber kann kein Zweifel herrschen, daß die Schweiz ihre Geschicke
längst nicht mehr selber zu bestimmen vermochte, sondern von der Gruppierung
der umgebenden Mächte abhing. Sie war 1815 für neutral erklärt worden, und die
Schweizer hatten bald in der Neutralität ein Gesetz der Selbsterhaltung zu schätzen
gelernt. Wenn der Bundesrat auch aus fähigen Männern bestand, so war er doch
in der äußeren Politik noch wenig erfahren, in den diplomatischen Formen un-
gewandt und auch durch den jährlichen Wechsel im außenpolitischen Departement
gehemmt; er pflegte sich bei der englischen Regierung Rat zu holen und deren
Fürspruch zu erwarten, die natürlich doch in erster Linie bei allen strittigen Fragen
den eigenen Vorteil im Auge behielt. Wiederholt kam die Schweiz in erhebliche
Schwierigkeiten, so wegen der politischen Flüchtlinge, welche in großer Zahl die
Schweiz aufsuchten und von hier aus ihre Heimatländer in Unruhe versetzten,
dann wegen des Neuenburgerhandels mit Preußen, während des Krieges von 1859,
der besonders den Kanton Tessin aufrührte, in der Zeit des Deutsch-französischen
Krieges, während dessen eine ganze französische Armee auf Schweizerboden über-
trat. Aber stets gelang es ihr, unversehrt aus den gefährlichen Umständen sich
herauszuretten. Der Grund lag nicht sowohl in der eigenen Macht und in dem vor-
sichtigen, völkerrechtlich einwandfreien Verhalten der obersten Behörden als viel-
mehr im Willen der umgebenden Mächte und im Widerstreit ihrer Interessen.
Beim Hader um Neuenburg 1857 kam die Eidgenossenschaft recht glimpflich davon,
ja mit Gewinn, weil dem übermächtigen Preußen das eigentliche Wollen zum Ein-
greifen mangelte und es seine Heereskräfte für das ferne, längst unwert gewordene
Ländchen nicht einsetzen mochte; man kann es verstehen, wenn die Schweizer
selbst ihren Erfolg auf das vermeintlich bessere Recht und ihre Tatbereitschaft
zurückführten, eine Selbsttäuschung, die auch durch das im allgemeinen ruhige
Urteil des Geschichtschreibers noch allzusehr durchschimmert. Im Savoyer Zwist
des Jahres 1860 dagegen sah sich die Schweiz dem festeren Machtwillen Frankreichs
gegenüber und konnte darum mit ihrem Streben, die Abtretung des Savoyer Gebiets
bis zu einer gewissen Militärgrenze zu erreichen, nicht durchdringen. Eine lange
Dauer des Deutsch-französischen Krieges hätte für die Versorgung mit Lebens-
mitteln und Kohle, für die Industrie und den Ausfuhrhandel verheerende Folgen
nach sich gezogen, die nur abgewehrt wurden, weil die kriegerische Kraft der Deut-
schen eine rasche Beendigung des Feldzuges erzwang. Immerhin kräftigte und ver-
feinerte die Wiederkehr äußerer Gefahr den Begriff und das Gefühl der Neutralität:
der Krieg von 1870/71 weckte und verschärfte freilich auch die politischen und
nationalen Gegensätze innerhalb des Schweizervolks. Im Grund hat die Bildung
neuer Großstaaten südlich und nördlich des Landes das europäische Gleichgewicht
gefestigt und dadurch den Wert der Neutralität für die Eidgenossenschaft erhöht.
Es war ein Glück für sie, daß die von außen sich erhebenden Gefahren niemals über-
groß wurden und im ganzen die von ihr unbeeinflußten und unbeeinflußbaren aus-
wärtigen Verhältnisse während dieses ganzen Zeitraumes ihr günstig blieben.
Die Einleitung des Buches ist wohlüberlegt, das Urteil von politischem Ver-
ständnis getragen und gegen außen wie innen nach Billigkeit strebend. Es hängt
wohl mit der Eigentümlichkeit der schweizerischen Republik dieser Zeit zusammen,
scheint aber auch der geschichtlichen Auffassung Schneiders zu entsprechen, daß
Kritiken 437
im Vordergrund der Schilderung durchaus die Mafregeln stehen, eine Zeichnung
der Persönlichkeiten mit wenigen Ausnahmen kaum versucht wird, daB der Ver-
fasser, wenn schon er das eigene Urteil auszusprechen sich nicht scheut, dies doch
möglichst mit Anführungen aus gleichzeitigen Schriften und Äußerungen von
Landesgenossen wiederzugeben sucht. Als Ganzes bedeutet das Buch eine recht
wertvolle Bereicherung der geschichtlichen Literatur und bietet auch für dies Ver-
ständnis der Geschichte der Nachbarstaaten reiche Aufschlüsse.
Stuttgart. Karl Weller.
Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung.
Von Bismarck bis 1918. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1931.
Das fundamentale Problem der deutschen Geschichte: Unitarismus und Fö-
deralismus beschränkt auf die spezifische Erscheinungsform des Dualismus zwischen
dem Reich und seinem gróBten Gliedstaat, seinem eigentlichen Schópfer, PreuBen,
bildet den Gegenstand des Goldschmidtschen Buches. Es will „die geschichtlichen
Erfahrungen für die Reform der Reichs- und Länderverwaltung nutzbar machen".
Eine sorgsam ausgewühlte Fülle von Aktenstücken kennzeichnet die verschlungene
Problematik der inneren Situation des Reiches in dem Wechselverhältnis mit
Preußen, der der Verfasser im ersten Teil des Buches durch kurze kritische Er-
örterungen die grundsätzlichen Linien des beiderseitigen Wollens und Handelns
abzugewinnen sucht. G. unterscheidet drei Entwicklungsstadien dieses Verhält-
nisses: das des Unitarismus (1867—1880), des bündischen Unitarismus (1880—1890)
und des Partikularismus (1890—1918).
Den Nachweis, daß beim Ausbau der Reichsinstitutionen in Bismarck, bei
allem Festhalten der bundesstaatlichen Grundlage des Reiches, der Wille zu uni-
tarischer Reichsgestaltung leitend gewesen sei, glaubt G. als entscheidendes
Ergebnis seines Buches ansehen zu kónnen, das wir im einzelnen dahin prázisieren:
Die erste große Periode des „Unitarismus“ gipfelt aus der Vielheit der Mög-
lichkeiten und Ansátze gedanklich in der parlamentarischen Idee eines verant-
wortlichen Ministeriums für das Reich nach dem Muster Englands mit dem Premier
als eigentlich verantwortlichen Führer der Regierung, im Gegensatz zu der preußi-
schen Kollegialverfassung mit verfassungsrechtlich verantwortlichen Ministern,
gegen deren Übertragung auf das Reich Bismarck sich stets gewehrt hat, praktisch
in den Versuchen, die Reichskompetenzen auf Kosten der Gliedstaaten zu stärken
und durch Ausbau und Vermehrung selbständiger Reichsámter und durch enge
Verbindung der Behörden des Reichs und Preußens dem ersteren einen verstärkten
Einfluß zu verschaffen, es dem preußischen Ressortpartikularismus gegenüber
durchzusetzen und diesen für die gleichzeitige Wahrnehmung von preußischen
und Reichsinteressen zu gewinnen und zu erziehen; vielleicht die preußischen
Minister nach dem Modus des preußischen Kriegsministers als Bundeskriegsministers
in die Stellung der vom Kanzler abhängigen Chefs der Reichsämter herabzudrücken.
Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung Ende der 70er Jahre, als eine all-
gemeine Finanzreform Hand in Hand mit der Schwenkung in der Wirtschafts-
politik das Reich aus der finanziellen Abhängigkeit von den Gliedstaaten befreien
und eine grundlegende Vereinheitlichung in der Verwaltung jenen Dualismus be-
seitigen sollte.
438 Kritiken
Diese weitausgreifenden Pläne sind letzten Endes gescheitert, weil die parla-
mentarischen Verhältnisse in dem unitarischen Element der Reichsverfassung, dem
Reichstag, sich so gestaltet hatten, daß Bismarck ihm den notwendigen Einfluß
nicht zugestehen wollte und konnte.
Die Folge war in der Periode des „bündischen Unitarismus" das verstärkte
Bestreben nach Minderung der Machtstellung des Reichstags und das schärfer
akzentuierte Herausheben des föderativen Faktors der Legislative, des Bundes-
rats, den der Kanzler allerdings erst durch eine einschneidende Reform zu einem
für seine Zwecke handlichen Instrument umzugestalten hatte; ob diese Reform
eine „unitarisch“ gerichtete war, wie G. urteilt, wird noch zu überprüfen sein.
Die Plüne zur Bildung eines Volkswirtschaftsrats und Reichsrats waren weitere
Mittel, die Reichsgewalt zu stärken und Parlament und bundesstaatliche Kompe-
tenzen zu schwächen.
War es der Autorität und Gewaltsamkeit Bismarcks gelungen, die ausein-
anderstrebenden und rivalisierenden Tendenzen des Reichs und PreuBens zugunsten
des ersteren einzuspannen und die dualistischen Lücken der Reichsverfassung zu
überbrücken, so mangelte allen seinen Nachfolgern bis 1918 — Periode des ,,Par-
tikularismus“ — die Kraft und der Wille, die einander bekämpfenden Kräfte den
notwendigen Bedürfnissen des Gesamtreichs entsprechend auszugleichen. Die
preuBischen Minister arbeiteten dem Reiche oft direkt entgegen und versagten
sich ihm, wenn sie die Reichspolitik mit ihrem Ressortinteresse in Widerspruch
fanden, und der ungelóste, durch das Anschwellen der Aufgaben des Reiches in
der Wirtschafts- und Sozialpolitik immer mehr hemmend empfundene Dualismus
hatte die unheilvollsten Folgen während der ungeheuren Belastungsprobe des
Weltkrieges und erschwerte, ja verhinderte geradezu die nótige Geschlossenheit
der Reichsverwaltung in den Momenten größter Gefahr. —
Der Verfasser hat das unbestreitbar große und über alle Differenzen der Be-
trachtungsweise und Beurteilung erhabene Verdienst, mit seinem Buche den Grund-
Stein für eine objektiv zu greifende Verfassungsgeschichte des Bismarckischen
Reiches gelegt zu haben. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über das
Problem Reich—PreuBen ist durch ihn erst ermóglicht worden, und die Gegner
seiner Auffassung erhalten erst von ihm die Grundlage und das Rüstzeug
ihrer Kritik. Besondere Anerkennung gebührt dem Verfasser für das vorgelegte
Aktenmaterial, das er an entlegensten und schwer zugänglichen Orten auf-
gespürt hat.
Aber ist es richtig, die in den von G. ausgewühlten Dokumenten zur Erórterung
stehenden Fragen der Bismarckischen Reichsverwaltung in das auf die Gegenwart
zugespitzte Schema: Unitarismus und Föderalismus einzuspannen? Beide Be-
griffe sind Funktionen von Vielheit und Einheit. In G.s Buch handelt es sich um
das von der erwähnten Fragestellung gerade zu Bismarcks Zeit sehr wesentlich
verschiedene Problem des Dualismus zwischen dem Reich und Preußen, um die
Frage: wie mußte verfahren werden, um das preußische Königtum mit seinem
Machtapparat, das den Kaiser und den Kanzler für das Reich stellte und verfassungs-
mäßig den Primat im Reich innehatte (Verfassungsveto!) mit dem Organismus
des von ihm selbst geschaffenen Reiches zu harmonischer, dem Reichsgedanken
förderlicher und dennoch der Eigenart des Landes Preußen gerecht werdender
Zusammenarbeit zu bringen? G. sieht diese Sachlage nicht klar und spricht sie
Kritiken 439
nicht aus, und dies veranlaßt ihn stellenweise, das vorhandene Material unorganisch
auf das Gleis seiner Betrachtungsweise zu schieben und in Vorgängen rein geschäft-
licher Natur prinzipielle, angeblich „unitarisch“ gemeinte (Reichs-)Reformmaß-
nahmen anzunehmen. Entscheidend ist, daß Bismarck bewußt und peinlich ver-
mieden hat, durch eine der projektierten oder verwirklichten Vereinfachungen des
preußisch-deutschen Verwaltungsapparates die Eigenart der preußischen Ver-
fassung anzutasten, zumal jene organisatorischen Veränderungen nicht auf der
Basis eines bewußt angelegten Reformprogramms erfolgten, sondern mehr aus
zwangsläufig sich ergebenden Notwendigkeiten resultierten. Reichsreform bedeutet
aber stets irgendwie Verfassungsänderung.
Die kurzen kritischen Erörterungen des Verf., die nur ein Führer durch die
Akten sein wollen, leiten den Leser doch bewußt in jenes „unitarische“ Blickfeld
hinein. Sie stehen auf einer Stufe, die sich von der souveränen Höhe einer ver-
arbeitenden Darstellung ebensoweit entfernen wie von dem Charakter einer bloßen
kritischen Notiz und suchen zu erfassen und zu beweisen, was die abgedruckten
Akten allein zu sagen nach dem richtigen Gefühle des Verf. nicht imstande sind.
Eine zusammenfassende Darstellung hätte die Klarheit der Problemlage gebracht.
Das von Goldschmidt erarbeitete Resultat eines „unitarischen“ Reichsaus-
baues unter Bismarck steht an keiner Stelle so sehr in Widerspruch mit dem vor-
liegenden Material und mit dem Wesenskern der Bismarckischen Haltung zu dem
preußisch-deutschen Problem als auf S. 93 ff. Der Verf. hebt hier die beiden Fak-
toren hervor, die eine Schwächung der Reichsgewalt herbeiführen könnten: die
Ausartung der Hegemonie Preußens, das dem Reich seinen Willen aufzwänge,
und ein Übermächtigwerden des Reichstages, ohne daß ihm ein entsprechendes
Gegengewicht gegenüberstände. Die partikulare, oder wenn man so will, die fö-
deralistische Kraft und die unitarische, der Reichstag, stehen, wenn auch aus
konträren Bedingungen erwachsen, gegen das Reich. Das hierdurch bedingte Ver-
halten Bismarcks erhellt in nicht zu leugnender Klarheit, daß für ihn die Stärkung
der Reichsgewalt ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Prinzipien das Ziel
seines Handelns war, das mit den nachträglich angelegten Formeln des Unitarismus
nicht einzufangen ist, auch dann nicht, wenn man diese unitarische Tendenz zu
einem unitarischen Medium degradiert, das alle Pläne des Ausbaus der Reichs-
institutionen unter Bismarck passiert haben sollen. Ein solches Bemühen bedeutet
stets Einengung, Verkümmerung, ja Vergewaltigung von Bismarcks Staatskunst.
Die grandiose schöpferische Elastizität, mit der der Reichsgründer alle Mittel und
Formen staatsmännischen Handelns verwandte, ohne sich ihnen jemals vollständig
zu verschreiben, und sie rücksichtslos zerschlug, wenn er sie den Gegebenheiten
der Situation nicht mehr adäquat fand, ist zu vielgestaltig und eigengesetzlich, als
daß man nicht Abstand nehmen sollte, ihn für ein bestimmtes Lager zu beanspruchen,
dessen formaler Gehalt in diesem Falle obendrein viel mehr aus den praktischen
Erfahrungen der neuen Gegenwart seit 1918 fließt als aus geschichtlich ererbten
Problemen.
Wenn der Verf. im Vorwort zu seinem Buche die persönlichen Kundgebungen
Bismarcks in der Innenpolitik dahin beurteilt, daß ihr wesentlicher Zweck gewesen
sei, „die Staatsoberhäupter und Regierungen der Gliedstaaten glauben zu machen,
sie würden in seiner Gefolgschaft ihr politisches Ziel, die Erhaltung ihrer Selbst-
ständigkeit, am sichersten erreichen“, so bedeutet das neben einer vollständig
440 Kritiken
unmotivierten, auch durch G.s Buch nicht gerechtfertigten Verurteilung dieser
Äußerungen des Kanzlers eine so einseitige Festlegung, daß man die Auswahl der
von G. abgedruckten Dokumente einer sehr kritischen Durchsicht unterziehen muß.
Ich möchte behaupten, es müsse möglich sein, dieser Auswahl „unitarisch gerich-
teter“ Stücke eine solche „föderalistischer“ Tendenz an die Seite zu stellen. Die
einen der anderen überzuordnen, liegt keine Veranlassung vor; es bóte sich ledig-
lich das beinahe amüsante Schauspiel, daB die einseitigen Verfechter der einen
wie der anderen Theorie spáte Opfer von Bismarcks eigener Taktik geworden sind.
Diese Problemstellung ist zur ausschlaggebenden erst seit 1918 geworden.
Die Verfassung von Weimar hat in stark und wahrhaít unitarischem Sinne die
Kompetenzen des Reichs gegenüber den Gliedstaaten im Vergleich zu der Bis-
marckischen Verfassung erheblich gesteigert, das Reich aber gleichsam seiner Haus-
macht, der Gewalt über PreuBen, beraubt und damit das Nebeneinander zweier
starker Gewalten gebracht, deren Verhältnis zueinander längst einer harmonischen
Regelung bedarf. Immer aber sollte Preußen die ihm historisch erwachsene Stellung
eines Treuhänders des Reiches erhalten bleiben, die ihm verpflichtendes Gebot
sein muß gegenüber der Nation und ihren vielen eigenartigen Gliedern.
Berlin. Herbert Michaelis.
Nachrichten und Notizen.
Theorie der Geschiedenis, voornamelijk met betrekking tot de cultuur door
K. Kuypers. H. J. Paris, Amsterdam 1931. 279 Seiten.
Wer einen Beweis für das starke Interesse sucht, das man außerhalb Deutsch-
lands dem deutschen Historismus und der Soziologie entgegenbringt, findet am
Schlusse dieser holländischen Publikation ein Literaturverzeichnis, das unter 103
benützten Autoren 81 Deutsche nennt. „Theorie der Geschiedenis“ soll nicht etwa
Geschichtsphilosophie bedeuten, sondern eine sich möglichst eng an die praktische
Forschung anschließende Besinnung über die historischen Begriffe und ihr gegen-
seitiges Verhältnis. Dilthey, Troeltsch, Max Weber sind die Namen, von denen der
Autor ausgeht und mit deren Fragestellung er sich beschäftigt. Es ist indessen weder
Absicht noch Ergebnis seines Buches, eine geschlossene eigene Systematik der histo-
rischen Begriffe aufzustellen. Es handelt sich eher um eine kritische Einführung in
das Vorhandene, wobei freilich bei der nüchternen und umsichtigen Art des Ver-
fassers wertvolle Einsichten und Perspektiven nicht ausbleiben. Aus der Fülle der
Themen seien einige Stichworte ausgewählt: Aufgabe der philosophischen Anthro-
pologie und ihre Beziehung zu den historischen Disziplinen. Das Psychische und das
Sinnhafte. Kultur und Sinn, Kultur und Wert, Kultur und Norm. Die Trennung der
Kulturgebiete und ihr Zusammenhang. Die Tradition und das Problem des Gene-
rationenwechsels. Entwicklung und Fortschritt. Historischer Zusammenhang und
Kausalität. Die politische Geschichte in ihrem Verhältnis zu den andern Kultur-
gebieten. Die Biographie. Der Begriff des Sozialen und die Geschichte.
Die weite Verzweigung der Themen verbietet eine einheitliche Kritik, die Sorg-
falt der Reflexionen und der offene Bliek für die praktischen Probleme der Forschung
verdienen Anerkennung und Beachtung. Werner Kaegi.
Nachrichten und Notizen 441
„Gestalten und Gedanken in Israel, Geschichte eines Volkes in Charakter-
bildern" von Prof. Dr. Rud. Kittel. 2. Auflage (Quelle & Meyer) Leipzig.
536 S. In Leinw. geb. & 12,—.
Der Verfasser der groBen Geschichte des Volkes Israel hat kurz vor seinem Tode
noch einmal die wesentlichen Inhalte dieses eigenartigen Geschichtsablaufes in einem
neuen Werk vor dem Leser ausgebreitet. Dieses Buch ist — natürlich auf der Basis
des großen dreibándigen Werkes — allgemeinverständlich geschrieben; jedoch so,
daß ein ausführlicher Anmerkungsapparat in die neue wissenschaftliche Debatte
eingreift. Den Unterschied deutet der Titel an: Gestalten und Gedanken wollte der
Verfasser nachzeichnen; in diesem neuen Buch kommt also das ganz persönliche
Bekenntnis des greisen Gelehrten zum Ausdruck, daB es nämlich „nichts Aristo-
kratischeres gibt als die Weltgeschichte“. So hat es die Darstellung in erster Linie
auf die großen Persönlichkeiten abgesehen: Von Mose bis zu den Makkabäern wird
eine Kette der markantesten und verschiedenartigsten Gestalten in wirklich packen-
der Schilderung umrissen. Auch die Anonymi (Erzähler, Gesetzgeber, Propheten)
werden dieser Reihe eingegliedert. Hier freilich spürt man wohl auch die Schranke
dieses bedeutenden Unternehmens, die „Geschichte eines Volkes in Charakterbildern“
zu schreiben, denn jene Gesetzgeber, der „Jahwist“, „Deuterojesaja“ usw. sind doch
nicht zufällig für uns Anonymi! — Den religiösen Gedanken, soweit sie sich mit
den geschilderten Persónlichkeiten verbinden, hat der Verfasser einen breiten Raum
gegeben, ohne daß dadurch doch das Buch zu einem theologischen Werk geworden
wäre. Die 2. Auflage ist jetzt nach hinterlassenen Angaben des Verfassers verbessert
und ergänzt.
Leipzig. v. Rad.
Bremisches Jahrbuch, Band 33, herausgegeben von der historischen Gesell-
schaft des Künstlervereins, Bremen 1931. (G. Winters Buchhandlung,
Fr. Quelle Nachf.) (X, 535 S.)
Zur Pfingsttagung des Hansischen Geschichtsvereins in Bremen 1931 über-
reichten die Bremer Gastgeber den Teilnehmern unter anderen wertvollen Fest-
gaben ihr besonders reichhaltiges Jahrbuch 33 mit 14 Beitrügen, von denen mehrere
besondere Bedeutung über den órtlichen Rahmen hinaus besitzen.
K. Battré weist das älteste Schiffsmodell in der oberen Rathaushalle
zu Bremen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu. Damit gewinnt das schöne
Stück besonderen Erinnerungswert an die Hansezeit. — Zur mittelalterlichen
Baugeschichte des Bremer Doms, der seit seiner Restaurierung von den
Kunsthistorikern zu Unrecht etwas vernachlüssigt wurde, bringt Helen Rosenau
einen zu kunstgeschichtlich lehrreichen Ergebnissen (trotz des schwer genieBbaren
Stils) führenden Beitrag. Wesentliche Teile des heutigen Baues entstammen nach
den Ausführungen der Verfasserin einer frühromanischen Basilika, deren Lang-
haus Bischof Bezelin nach dem großen Brande von 1041 nach Kölner Vorbild,
und zwar ohne den sogenannten niedersáchsischen Stützenwechsel errichtete.
Dieser Bau wurde von einer streng romanischen Anlage des 12. Jahrhunderts ab-
gelöst, um dann im 13. Jahrhundert einem Neubau im Sinne des rheinischen Über-
gangsstils zu weichen. Endlich hat die Spätgotik das nördliche Seitenschiff ent-
scheidend umgestaltet unter Anpassung an romanische Einzelheiten, worin sich
vielleicht das früheste Auftreten des architektonischen Historismus zeigt. Eine:
442 Nachrichten und Notizen
Reihe guter Aufnahmen von den Grabungen der Verfasserin, darunter das zweite
Grab des Erzbischofs Adalbert, unterstützen den Text.
Friedrich Prüser setzt seine Untersuchungen über bremischen Kirchengüter-
besitz fort an Hand der Güterverháltnisse des Anscharikapitels. Für seine
sehr eingehenden Forschungen stützt er sich auf den vorzüglich erhaltenen Ur-
kundenbestand, der ergänzt wird durch die Regula Capituli S. Anscharii und den
Liber fundationum Vicariorum. — Einen tiefen Einblick in die sozialen und wirt-
schaftlichen Verhältnisse des hansischen Bürgertums vom 14. bis zum 17. Jahr-
hundert vermittelt uns der Aufsatz von Heinrich Sasse über das bremische
Krameramt, dessen Gründung 1339 als politischer Schachzug des Rates gegen
den Erzbischof gewertet wird, indem der Rat dadurch die Markthoheit usurpierte.
Wir verfolgen den Aufstieg des Kramers vom wandernden Kleinhändler zum Groß-
händler, der sich allmählich eine gesellschaftliche Stufe höher schwingt.
Ilse Schunke beschreibt die Handschriften von Renners Bremer
Chronik in der Staatsbibliothek zu Bremen (Urschrift nebst 15 Abschriften) und
erweckt in uns den Wunsch nach einer baldigen Ausgabe der noch immer ungedruck-
ten wichtigen Chronik aus der Hand der Verfasserin. Ein zweiter Beitrag von ihr
handelt über Einbände aus der bremischen Staatsbibliothek.
Eine militärgeschichtliche Studie liefert Hans Stuckenschmidt über das
Artilleriewesen der Stadt Bremen. Nach seinen Ausführungen gehörte Bremen
um 1700 zu den ersten Festungen Norddeutschlands; eine lehrreiche Karte von
1734 zeigt die hervorragende Bestückung der Festungsbastionen. — Inhaltlich
verwandt mit dem vorhergehenden ist der Beitrag von Fritz Lemelson über
die bremische Bürgerwehr von 1813—1853, deren Stärke im Durchschnitt
etwa 2100 Mann betrug.
Wertvolle Erkenntnisse zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts liefern die
Forschungen von Alfred Schmidtmayer, der über die Beziehungen des
Bremer Gymnasium illustre zu J. A. Comenius und den mährischen
Brüdern schreibt. Von welcher Bedeutung der bremische Calvinismus seit der
Verödung der Schule zu Herborn für Böhmen gewesen sein muB, ersieht man dar-
aus, daß 1610 fast ein Viertel der am Bremer Gymnasium immatrikulierten Stu-
denten (20 von 83) aus Böhmen und Mähren stammte; die Empfehlungen des Spät-
humanisten Karl von Zierotin an den böhmischen Adel haben hierzu nicht wenig
beigetragen. Als besonders einflußreiche Lehrerpersönlichkeit stellt der Verfasser
den klugen Matthias Martinius hin. Ein Schüler des Gymnasiums war u. a. der Arzt
Dr. Kozak, dessen enge Beziehungen zu Comenius klargestellt werden. Ein Matrikel-
auszug ist dem wertvollen Aufsatz beigefügt.
Auf Grund einer Dissertationensammlung berichtet Heinz Schecker über
Bremer Mediziner der Barockzeit und beleuchtet in einer auch für Nicht-
mediziner fesselnden Form kulturgeschichtliche Zustände der Zeit. — Aus den
Briefen des Humanisten Johannes Molanus veröffentlicht Wilko de Boer einen
Bericht des genannten Bremer Rektors über eine Bremer Hexe aus dem Jahre
1565. — In einem glänzend geschriebenen Aufsatz stellt Heinrich Tidemann
den Pastor Rudolph Dulon als geistigen Führer der bremischen Märzrevolution
hin und entwickelt den Werdegang dieses bedeutsamen Achtundvierzigers aus
altem Schweizer Geschlecht, der groß geworden war im Rationalismus und sich
Nachrichten und Notizen 443
allmählich dem religiösen und politischen Radikalismus zuwandte. Auf die Fort-
setzung von Tidemanns Arbeit darf man gespannt sein.
Ernst Grohne läßt uns den weiten Rahmen der bremischen Handelsbezie-
hungen ermessen, wenn er den fremden Import unter dem altbremischen
Hausrat nachweist, namentlich bei Keramik und Glas, Metallgerüten, Móbeln und
Textilien, — Einen ganz knappen Überblick über bremische Kunst und Künst-
ler in der Fremde bietet Gerd Dettmann. — Rein lokale Bedeutung hat die
Zusammenstellung von W. Albers, der nach alten Reiseberichten Besuche in
Bremen mitteilt. — Literarische Besprechungen beschlieBen den vielseitig wertvollen
Band.
Oldenburg i. Old. Hermann Lübbing.
Siegfried Salloch, Hermann von Metz. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen
Episkopats im Investiturstreit. (Schriften d. Wissenschaftl. Instituts der
Elsaß-Lothringer im Reich a. d. Universität Frankfurt, n. F. Nr. 2.) 1931,
Selbstverlag des ElsaB-Lothringen-Instituts Frankfurt a. M.
Wenn man diese Dissertation zu Ende gelesen hat, fragt man sich, was den Ver-
fasser bewogen haben mag, gerade diesen Bischof Hermann von Metz zum Gegenstand
einer Monographie zu machen. Die Arbeit stellt in ihrer ersten Hälfte fleißig und
sauber alles zusammen, was wir über H. v. M. wissen. Es ist und bleibt sehr wenig,
und das Wenige reicht nicht aus, um irgendwelche festen Züge des Mannes erkennbar
zu machen. Auch der Verfasser stellt fest, daB sein Held nicht sicher zu charakteri-
sieren ist. Um so erwartungsvoller geht man an die zweite Hälfte, in der die „staats-
und kirchenrechtlichen Anschauungen Hermanns von Metz“ systematisch vorgeführt
werden sollen. Die Quellen dazu sind das, was der Verfasser mehrfach den Brief-
wechsel des H. v. M. nennt. Dieser „Briefwechsel“ besteht aber aus drei Schreiben,
die an H. v. M. gerichtet sind, zwei von Gregor VII., eines von Gebhart von Salz-
burg. Von Hermann selbst ist uns nichts erhalten. Dabei ist es augenscheinlich, daß
die drei Briefe Propaganda-Schriftstücke sind, die nur an H. v. M. gerichtet werden,
weil er der Typus des zwischen Gregorianern und Kaiserlichen schwankenden
Kirchenfürsten ist. Gewiß ist es möglich, aus diesen Schreiben die Anfragen zu
rekonstruieren, auf die sie antworten. Aber zu mehr als einer ganz allgemeinen
Charakterisierung H. v. M.s reicht auch das wieder nicht aus. Der Verfasser geht
auch in diesem Teile mit Vorsicht zu Werke, stellt das, was er als Anschauung H.v.M.s
erschlieBen zu kónnen glaubt, in Zusammenhang mit den scharf kaiserlichen und
päpstlichen Programmen. Aber das Ergebnis ist eben nur eine vage Vermittlungs-
doktrin, die als solche längst bekannt ist. So bleibt auch des Verfassers Gesamturteil
vage und blutleer. Man kónnte da sicher noch einen Schritt weitergehen und H. v. M.
als einen der üblen Tergiversatoren bezeichnen, denen es nicht darauf ankam, drei
oder viermal das Lager zu wechseln. — Auch die in einem Exkurs beigefügten Be-
merkungen zur Textkritik der beiden Briefe Gregors VII. führen zu keinem Ergebnis,
das die Mühe lohnt. Sie sind übrigens in manchen Punkten methodisch anfechtbar.—
Ist also die fleiBige Stoffsammlung zu loben, so hätte der Verfasser doch eben bei der
Materialsammlung bemerken müssen, daB seine Untersuchung zu keinem Ergebnis
führen konnte.
Breslau. Peter Rassow.
444 Nachrichten und Notizen
Franz Lerner, Kardinal Hugo Candidus. 77 S. 89. 1931. München. Beiheft 22 der
Historischen Zeitschrift. Broschiert 4,— RN.
In dieser von der Universität Frankfurt am Main gekrönten Preisschrift wird
an Hand der letzten Forschungsergebnisse eine der umstrittensten Figuren des
Investiturstreites in neuer Auffassung gezeigt. Hugo Candidus wird vom Verfasser
als Vertreter feudaler Anschauungen und der Reformkurie Leo IX. aufgefaßt, der
Entschwindendes mit diplomatischen Mitteln festhalten wollte, indem er als feudaler
Reaktionär die Politik Gregor VII. bekämpfte. Gegenüber den bisher fast nur ab-
schätzigen Wertungen des Kardinals dürfte Lerner trotz der überaus dürftigen
Quellen den Beweis erbracht haben, daß Hugo Candidus als eine eigenartige Figur,
die mehrfach extremen Parteiwechsel vornahm, zu verstehen ist. Hennig.
Wilhelm Hotzelt, Familiengeschichte der Freiherren von Würtzburg. Freiburg i.B.
1931.
Es ist immer schwierig, Ordnung in die Anfänge der alten Ministerialengeschlech-
ter hineinzubringen, treten die ersten Mitglieder doch häufig ohne Herkunftsbezeich-
nung auf oder ändern ihren Beinamen je nach ihrem Wohnort. Diese Schwierigkeit
bot sich auch bei der Bearbeitung der vorliegenden Geschichte. Es tauchen da neben
der Bezeichnung von Würtzburg als weitere Geschlechtsnamen vom Markte und
von Rabensburg auf. Mit dem erstgenannten Namen bezeichneten sich mehrere
Ministerialenfamilien, von denen drei nach der Ansicht des Verfassers untereinander
verwandt sein sollen. Mit dem Vitztum Herold, der seit 1152 ‚von Würtzburg“
genannt wird, beginnt das Geschlecht erst greifbarer in Erscheinung zu treten. Aber
auch dann ist noch manche Abstammung fraglich, wie Verfasser in seiner Abhandlung
auch meist hervorhebt. Leider gibt aber die beigefügte Stammtafel ein anderes Bild.
Denn auf ihr gehören alle diese fraglichen Mitglieder als gesichert zur Familie. Diese
Ungenauigkeit hätte sich mit Leichtigkeit vermeiden lassen. — Die älteren Würtz-
burg bleiben bis 1282 im Bistum. Aus ihnen ragt da schon Heinrich II. als Bischof
von Eichstätt hervor. Der Verfasser macht es glaublich, daß die seit 1227 in Thüringen
als Ministerialen der Lobdeburger auftretenden Würtzburg eines Stammes mit den
fränkischen sind. Diese thüringische Linie erreicht mit Konrad V., dem Vogt in der
Lausitz (1327—1378), ihren Höhepunkt. Unklar bleibt, wessen Sohn er gewesen ist.
Nach S. 83 der Sohn Friedrichs I., nach der Stammtafel und S. 51 der Sohn Kon-
rads IV. — Während durch die jüngeren Söhne der Stamm in Thüringen noch für
einige Generationen fortlebt, kehrt der älteste Konrad VII. durch die Erwerbung
von Rothenkirchen wieder in die fränkische Heimat zurück und bringt dort das
Geschlecht zu neuer Blüte. Der hervorragendste Vertreter wird Veit II. Bischof von
Bamberg, über den H. doktorierte und so die Anregung zu der vorliegenden Ge
schichte fand. Zahlreiche geistliche Würdenträger sind dem Geschlechte entsprossen
und haben dadurch auch zu dem Aussterben des Geschlechtes beigetragen, das 1922
mit dem Reichsrat Ludwig Veit v. W. erlosch. Seinem Schwiegersohn Theodor
von Cramer-Klett ist die Herausgabe dieser Familiengeschichte zu danken, die uns
in das Leben und Streben eines alten Ministerialengeschlechtes auf breitester Grund-
lage einführt. H. hat es sehr gut verstanden, seinen Stoff zu meistern und bietet uns
oft trotz der Spröde des selben eine ganze Reihe guter Lebensbilder der einzelnen
Persönlichkeiten, naturgemäß ausführlicher seit dem 16. Jahrhundert, da von dieser
Zeit an das Material sehr reichhaltig vorhanden ist.
Neuruppin. Lampe.
Nachrichten und Notizen 445
Martin Ludwig, Religion und Sittlichkeit bei Luther bis zum „Sermon von den
guten Werken“ 1520. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte,
Bd. XIV). Leipzig 1931. 212 und XVI Seiten. 15,— RA.
Diese mit groBer Sorgfalt hergestellte Untersuchung macht zunüchst mit den
Schwierigkeiten bekannt, die sich der Darstellung von Luthers Ansicht bieten. Die
Mystik und Scholastik kannten das Problem „Religion und Sittlichkeit" kaum.
Ludwig zeichnet, chronologisch vorgehend, die Entwicklung der Gedanken Luthers
zum Problem bis 1518. Quietismus und Laxismus werden vollkommen ausgeschlossen,
Rechtfertigung und Heiligung bedingen einander. Statt der bisher immer für aus-
schlaggebend gehaltenen Motivierung der Sittlichkeit durch die Dankbarkeit spielen,
wie Ludwig nachweist, Wahrhaftigkeit, Furcht Gottes, Sündenerkenntnis, Liebe zum
Guten und Nachfolge Christi die entscheidende Rolle in den Gedanken Luthers.
Die sittliche Triebkraft des Glaubens ist der Heilige Geist. Ausführlich wird dann
über den „Sermon von den guten Werken“ 1520 als Zusammenfassung der Luthe-
rischen Anschauungen über das Problem berichtet. Ein umfangreicher systema-
tischer Teil versucht schlieBlich eine Gesamtwürdigung zu geben. Hennig.
Georg Adelheim, Revaler Ahnentafeln [in Listenform]. Eine Fortsetzung der
Laurentyschen „Genealogie der alten Familien Revals“. 1. und 2. Lieferung
F. Wassermann, Reval 1929. 1932.
Im AnschluB an die von ihm bearbeitete und 1925 herausgegebene Genalogie
der alten Familien Revals von Heinrich Laurenty (T 1692) will Vf. weitere 31 Ahnen-
tafeln in Listenform folgen lassen, von denen bis jetzt 19 erschienen sind. Eine un-
geheure Fülle von Material zur Stándegeschichte und zur Geschichte des sozialen
Aufstieges steckt in diesen beiden Heften, nicht zuletzt in den Anmerkungen. Alle
Angaben sind aus einwandfreien Quellen genommen. Fragliche Abstammungen sind
als solche gekennzeichnet. Bei der Durchsicht der Reihen fällt die starke Mischung
mit dem Landadel auf. Auch eine háufige Nobilitierung ist zu verzeichnen, leider
aber erfahren wir nie, aus welchem Grunde sie erfolgt ist. In einer Anmerkung macht
A. darauf auf die ständische Geschlossenheit Revals im 17. Jahrhundert aufmerksam.
„In Reval schlossen sich die Gilden streng von einander ab und ihre Glieder gingen
keinerlei Verbindungen mit einander ein." Erst 1710 kommt der erste Handwerker-
sohn in den Rat. Das Erstarken des Literatentums wirkt fördernd auf den Zusammen-
schluß der Stände. Und doch steckt in den alten Ratsfamilien ein gut Teil Hand-
werkerblut, wie die Listen beweisen. Eine ganze Reihe der Vorfahren dieser Revaler
Geschlechter stammen aus allen Teilen Deutschlands, wenn auch Norddeutschland,
besonders Lübeck, den Hauptteil stellt. Auf Einzelheiten einzugehen, muß ich mir
versagen. Nur den Wunsch móchte ich aussprechen, daB beim Verweis auf früheres
Vorkommen Seite und Nummer mit angegeben wird. Das würde viel Sucharbeit
sparen und sich ohne Mehrkosten erübrigen lassen, wenn statt Ahnentafeln abgekürzt
AT. geschrieben würde. Dem Bearbeiter und dem Verlag gebührt unser Dank. Zeigt
doch auch diese Arbeit recht deutlich die enge Verbundenheit des Baltikums mit
Deutschland.
Neuruppin. Lampe.
Josef Karl Mayr, Die Emigration der Salzburger Protestanten von 1731—32. Das
Spiel der politischen Kráfte. Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salz-
burg 1931. 191 S. 89. Preis 4,— RM.
446 Nachrichten und Notizen
Diese Arbeit ist eine wertvolle Ergänzung zu Georg Lösches Darstellung, da sie
mehr die außenpolitische Seite des Gegenstandes betont. Mayr weist nach, daß der
Anteil des Erzbischofs Firmian an der Vertreibung der Salzburger nur ein mittelbarer
und geringer gewesen ist. Die praktische Durchführung und politische Durchfechtung
der Emigration lag vielmehr in den Hánden des Hofkanzlers Christiani. Die treiben-
den Kräfte bei der Wiederherstellung der Glaubenseinheit im ganzen Lande, der
kaiserliche Hof und Firmian, sind vornehmlich weltlicher Natur gewesen, obgleich
sie sich natürlich für das zeitliche und góttliche Wohl der ihnen anvertrauten Seelen
verpflichtet gefühlt haben. Für PreuBen war die Zuwanderung eine ebenso weltliche
Angelegenheit wie für den Kaiser die Tatsache, daB er dem Reichsrecht Genugtuung
verschafft hatte. Hennig.
Georg Pfeilschifter, Korrespondenz des Fürstabtes Martin II. Gerbert von St.
Blasien. Herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission.
I. Band. 1752—1773. Karlsruhe 1931. 684 Seiten.
Die Herausgabe der Korrespondenz des Fürstabtes Martin II. Gerbert von
St. Blasien (1720—1793) stellt das Lebenswerk des verdienten Präsidenten und
Gründers der Deutschen Akademie dar. Von dem auf 3 Bände berechneten Werke
legt Pfeilschifter zunächst den Briefwechsel der ersten 3 Perioden im Leben des
„deutschen Mabillon" vor. Gerbert hatte sein Kloster gleichsam zu einer Mauriner-
metropole gemacht. Als Historiker, Kirchenmusiker und Liturgiker genoß er einen
beinahe internationalen Ruf. Seine Korrespondenz, die mit großer Sorgfalt auf
Grund der Vorarbeiten von Dr. Friedrich von Weech seit etwa 1906 von Pfeilschifter
bearbeitet worden ist, trägt einen literarhistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen
Charakter. Die in diesem Bande erschienene Korrespondenz Gerberts zeigt zunächst
seine theologischen Reformideen, wie z. B. seine Vorschläge für eine Verbesserung
der entarteten Spätscholastik, Vereinigung der historischen Theologie mit der über-
kommenen systematischen Theologie. Die liturgie- und musikgeschichtlichen Studien
wurden durch seine großen Reisen neu befruchtet. Von zirka 1770 an begann Gerbert
mit den großen Arbeiten zur Geschichte des habsburgischen Kaiserhauses, der
Kirchenmusik, der alemannischen Liturgie und der Geschichte des Schwarzwaldes.
St. Blasien wurde durch Gerbert zu einer Gelehrtenakademie. Für die Arbeitsweise
Gerberts und die Gelehrsamkeit seines Benediktinerklosters inmitten der klosterfeind-
lichen Aufklärung sind die veröffentlichten Briefe ein wertvoller Beleg. Hennig.
Wilhelm Zimmermann, Die Entstehung der provinziellen Selbstverwaltung in
Preußen 1848—1875. (Hist. Studien 216). Verlag Dr. Emil Ebering, Berlin
1932. 112 S.
Die Arbeit verwertet ein umfassendes Material und gibt eine gründliche Über-
sicht über ihren Gegenstand. Hinter der Darstellung der Entwürfe und parlamen-
tarischen Verhandlungen treten die ideengeschichtlichen Grundlagen und Gegensátze
etwas zurück, ohne ganz vernachlässigt zu werden. Auch die Vorgeschichte von 1823
an wird berücksichtigt, die Ausdehnung der Selbstverwaltung auf Rheinland, West-
falen und Posen in den Jahren 1884—88, obwohl sie sich nicht abtrennen läßt, nur
im Anhang gestreift. Das Heft ist ein sehr praktisches Hilfsmittel zur Einführung
in dies beziehungsreiche Gebiet der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. In
manchen Einzelheiten dürfte sich Nachprüfung empfehlen. Die immer wieder an-
Nachrichten und Notizen 447
klingenden Gegensätze zwischen den Bestrebungen, die auf ständische Autonomie
bzw. kommunale Selbstverwaltung, auf Dezentralisation bzw. einheitliche Zu-
sammenfassung der Staatsgewalt, auf Wahrung lokaler und provinzieller Eigen-
rechte bzw. auf Erziehung des Volkes zum Staat (auf dem Umwege über die kom-
munale und provinzielle Selbstverwaltung) drängen, treten nicht so deutlich hervor,
daß durch die Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Volks-
vertretung die in ihnen wirksamen historischen Kräfte anschaulich werden.
Frahm.
Arnold Schultz-Trinjus, Die sächsische Armee in Krieg und Frieden. VII. und
285 S. Zeulenroda in Thüringen, Verlag Bernhard Sporn, 1932.
Im vorliegenden Buche gibt uns Oberst Schultz-Trinius einen Überblick über
die Geschichte der süchsischen Armee vom 17. Jahrhundert bis auf unsere Zeit.
Etwa die Hälfte der Darstellung ist der Teilnahme der Sachsen am Weltkriege ge-
widmet. Die Tätigkeit der führenden Persönlichkeiten wird eingehend gewürdigt,
ihr Lebenslauf geschildert. Besonders interessiert das Urteil über den General-Oberst
von Hausen, dem jetzt wohl von allen Seiten Gerechtigkeit zu teil wird. Persönlich
gefreut habe ich mich über die treffende Charakterisierung des Generals von Menges,
(S. 58, 174 und 175), von dem der Verfasser sehr richtig sagt, daß er „in des Wortes
vollster Bedeutung ein Ritter ohne Furcht und Tadel war“. Der aus der hessischen
Armee hervorgegangene preußische General, der trotz hohen Alters seinen Degen
dem heißgeliebten deutschen Vaterland zur Verfügung stellte und 1916 im Schützen-
graben starb, hatte auch sächsische Truppenteile in seiner Division, so konnte Oberst
Schultz-Trinius, der ihm unterstellt war, in seiner, der sächsischen Armee gewid-
meten Darstellung dem Nicht-Sachsen „ein Dankeswort in die Ewigkeit“ nachrufen.
Einige Irrtümer muß ich berichtigen. Stanislaus Leszcynski war nicht Schwieger-
sohn, sondern Schwiegervater Ludwigs XV. von Frankreich (S. 16). S. 26 „Beitritt
Österreichs zur pragmatischen Sanktion“ stimmt nicht, gemeint ist offenbar, daß
Bayern die pragmatische Sanktion anerkennt. Eine kurbadische Armee (S. 33)
gab es 1681 noch nicht, die Landesherren von Baden waren damals noch Mark-
grafen, Kurfürsten waren sie nur von 1803 bis 1806.
S. 65 wird leider Friccius m einem Atem mit Blücher, Yorck, Bülow und Sacken
genannt. Die Fricciuslegende ist doch oft genug widerlegt, endgültig durch das 1913
erschienene Buch von Henke: Oberst Otto Freiherr von Mirbach und die Erstür-
mung des Grimmaischen Tores in Leipzig am 19. Oktober 1813.
Gewundert habe ich mich über den Irrtum, der dem Verfasser auf S. 128
unterlaufen ist. Dort heißt es, daB die beiden Töchter König Georgs vorzeitig ver-
storben seien. Das trifft weder auf Prinzessin Mathilde noch auf Erzherzogin Maria
Josepha, die Mutter des letzten österreichischen Kaisers, zu.
Der Verlag hat das Buch geschmackvoll in weiß-grünem Einband ausgestattet.
Es wird nicht bloß den Angehörigen der ehemaligen sächsischen Armee, sondern
auch andern Freunden deutscher Kriegsgeschichte von Interesse sein.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
Erklärungen.
Im ersten Heft des Jahrgangs XXVIII der Historischen Vierteljabrschrift
hat Alfred Büscher meinem „Gustav Adolf“ eine Anzeige gewidmet, deren
448 Nachrichten und Notizen
freundliche Bewertung meines Werkes, soweit von dessen Inhalt die Rede ist, ich
voll Dank anerkenne. Nur kann die Bemerkung, mein Buch sei „eine Neubear-
beitung des Werkes von Martin Weibull“ (1881), irreführen. Gewiß ist es für
denselben Zweck auch innerhalb desselben Rahmens geschrieben, im übrigen aber
ganz selbstándig; keine Zeile wurde darin aus der seinerzeit zwar ausgezeichneten
weibullschen Darstellung übernommen.
Über die Berechtigung der Kritik, der Büscher die &uBere Form der Über-
setzung meines Buches unterzogen hat, überlasse ich im ganzen das Urteil den
deutschen Lesern des Werkes. Die Historische Zeitschrift spricht vom ‚schön
geschriebenen Buch“. Auf den Wunsch der Übersetzerin, Dr. Toni Schmid,
darf ich ihr aber bezeugen, daß sie anfangs den schwedischen Text hat freier
wiedergeben wollen und daB ich also für die Gestaltung des deutschen Textes die
Verantwortung teile. Ich habe auch hie und da einiges selbst verándert oder hin-
zugefügt — an den vier vom Rezensenten besonders herangezogenen Stellen je-
doch nichts!
Uppsala, den 9. Mai 1933. Georg Wittrock.
AnláBlich der Besprechung in der letzten Nummer dieser Zeitschrift bringe
ich zur Kenntnis, daß meine ursprüngliche Übersetzung geändert wurde und ich
die Verantwortung für die im Druck vorliegende deutsche Übersetzung des Werkes
ablehne. Toni Schmid.
vit
zanso FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT
E UNT m USRA i UNDFÜR 5
HERAUSGEGEBEN VON
DR. ERICH BRANDENBURG
0. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG
XXVIII. JAHRGANG
3. HEFT
AUSGEGEBEN AM 1. NOVEMBER 1983
T [ rs ITa
> VERLAG UND DRUCK
RUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSOH STIFTUNG
PA. DRESDEN 1933
5 : 1 bo Digitized by Google r$
>
23
€,
HISTORISCHE VIERTELJAHRSCHRIFT
Herausgegeben von Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig.
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden A 1.
Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen zu je
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang ZM 30.— und für
das Heft . 7.50.
Die Beitráge zur lateinischen Philologie des Mittelalters haben die
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig ge-
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philologischen
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die aktuellen
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fórdern und zu festigen.
Die Abteilung „Nachrichten und Notizen“ bringt Angaben über neue
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf dem
persónlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens.
Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgeschäfte wird von
Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von Herrn
Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und für den mittel-
lateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Universität, Borneria-
num I) unterstützt wird.
Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität,
Bornerianum I) zu richten.
Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift-
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne-
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographischer
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, auch
kleinereWerke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeitschriften-
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch machen,
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen.
-
INHALT DES 3. HEFTES
Aufsätze: Seite
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich. Von
Univ- Prot: Dr Helmut Weigel in Erlangen l. 4
Studien zur mittelalterlichen Dichtung
Zum Problem der literarhistorischen Stellung des „Ruodlieb“. Von Dr. Kurt
Dahinten in Balbasstadt . ER Ue KA 503
II. Studia Burana. Von Dr. Walter Bulst in Göttingen ................... 512
III. Eine unbekannte mittellateinische Satire gegen die Geistlichkeit. Von Priv.-Doz.
Dr Hans Walther in Gn“ 2 522
Fichte und Frankreich. Von Priv.-Doz. Dr. Hedwig Hintze in Berlin ............ 535
(Fortsetzung s. 3. Umschlagseite)
449
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das
merowingisch » karolingische Reich.
Von
Helmut Weigel.
I.
Jede Forschung, die sich dem Staat der Merowinger und der
Karolinger zuwendet, muß von einer grundlegenden Tatsache
ausgehen, die ich die „Verstaatlichung des fränkischen
Stammes‘! nennen möchte.
Das Vordringen der salischen Franken vom Niederrhein her
gegen das römische Gebiet um die Mitte des 4. Jahrhunderts
war, durchaus vergleichbar dem Ansturm der Chatten und der
Alamannen gegen den Limes, die Vorwärtsbewegung, die Wan-
derung eines Volkes, das Siedlungsraum brauchte. Der Cäsar
Julian verzichtete darauf, sie über den Rhein zurückzutreiben;
er beließ sie 358 als Grenzwehr am Niederrhein und an der un-
teren Maas?. Ein Entschluß von zukunftsbestimmender Trag-
weite. Denn er ermöglichte erst die Verstaatlichung des fränki-
Anmerkung: Diese Studien bilden zusammen mit anderen noch im Gang
befindlichen Untersuchungen (siehe Abschnitt V) Vorarbeiten zu einer umfassen-
den Darstellung, betitelt „Binnenkolonisation im fränkischen Reich als Mittel
der Staatspolitik“.
1 Vgl. K. Schumacher, Siedelungs- und Kulturgeschichte der Rheinlande 3
(1925), 59f.
3 Die politischen Ereignisse nach L. Schmidt, Allgemeine Gesch. der german.
Völker bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts (1909) und Fr. Kauffmann, Deutsche Alter-
tumskunde 2 (1923); vgl. auch Fr. Stein, D. Urgeschichte d. Franken u. d. Grün-
dung des Frankenreiches durch Chlodwig. Archiv hist. Ver. Unterfranken 39
(1897), 79—213. — Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände und Entwick-
lungen im Anschluß an A. Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der
europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen,
(1923).
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.3. 29
490 Helmut Weigel
schen Stammes. Nunmehr begann námlich für die Franken, oder
genauer gesagt für die sozial und politisch führende Schicht der
Franken eine hundertjährige Lehr- und Lernzeit, deren äußeres
Ergebnis man als die „technische Rezeption“ des römischen
Staates bezeichnen kann?. Eng verbunden war damit wohl auch
ein inneres Wachstum, ein Steigen des Selbstbewußtseins, gefür-
dert durch die zunehmende Erkenntnis von der inneren Schwäche
des Römertums. Ihm entsprach eine äußere Ausdehnung des
Frankenstammes, der um 400 im Westen das Meer und im Süden
die Linie Boulogne—Herstall erreicht hatte. Der Kohlenwald*
bildete für diese volksmäßige Ausbreitung ein natürliches Hin-
dernis. Noch stärker war ein anderes Hindernis, die Persönlich-
keit des letzten Römers Aetius*. An ihm brach sich 428 der Ver-
such des Frankenfürsten Chlodio, die römische Herrschaft abzu-
schütteln. Aber eben diese beiden Hindernisse verursachten eine
Aufstauung der Franken, die ihrerseits den Vorgang der Ver-
staatlichung beschleunigt haben wird. Denn seit Beginn des
5. Jahrhunderts treten an der Südgrenze des fränkischen Sied-
lungsgebietes fränkische Teilstaaten, wenn auch noch innerhalb
des römischen Reiches hervor.
Nach dem Tode des Aetius 454 lockerte sich die Abhängig-
keit der Franken von den Römern. Um 470 hatten sich die frän-
kischen Teilstaaten an den Flußläufen der Lys, der Schelde und
der Sambre auf die Höhen des Artois und auf die Ausläufer des
Ardenner Waldes hinaufgeschoben. Childerich und Chlodwig
residierten in Tournai, Chlodio und Rachnagar hielten Hof zu
Cambrai. Diese neue Eroberungspolitik trug staatlichen Cha-
rakter; sie hatte nichts mehr mit der Vorwärtsbewegung eines
ganzen Volkes zu tun. Das schloß nicht aus, daß in den eroberten
Gebieten sich Franken ansiedelten oder angesiedelt wurden.
Denn sowohl das staatliche Motiv, die neu erworbenen Lande zu
sichern, war bei dieser Ansiedlung wirksam, als auch das sozial-
wirtschaftliche Element der Landnot. Der fränkische Einstrom
war nun wohl stark genug, um die Ortsnamen in fränkischer
Weise umzugestalten oder neu zu schaffen; aber er war nicht
* Darf man dazu die äußerliche Europäisierung Japans in Parallele setzen?
4 H. van der Linden, La forêt Charbonniére. Revue belge de philologie et
d'histoire 2 (1923), 203—214.
5 Th. Mommsen, Aetius. Hermes 36 (1901), 516—530.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 451
kräftig genug, um die germanische Eigenart der Zuwanderer
auf die Dauer zu erhalten“.
Nur eine Fortsetzung der so gearteten Eroberungspolitik
der fränkischen Staaten war der siegreiche Feldzug der zwei
Frankenfürsten Chlodwig und Ragnagar gegen das gallisch-
römische Reich des Heermeisters Syagrius. Trotzdem lenkte
er die Weiterentwicklung des fränkischen Staates in neue,
unvorhergesehene und unabsehbare Bahnen. Denn durch die
Schlacht bei Soissons (486) fiel Chlodwig das gesamte römische
Gebiet in Gallien zu. Dessen Südgrenze lag jenseits der Loire;
im Osten gehörte Metz und der Landstrich längs der von
dieser Festung nach dem Elsaß führenden Straße zu ihm’.
Das bedeutete aber außenpolitisch nichts anderes, als daß das
Frankenreich an seiner gesamten Ostgrenze von der Hochfläche
von Langres bis zu den Ardennen und zur Eifel die Alamannen
als Nachbarn erhielt®. Die von diesem starken und vielleicht
auch politisch gut organisierten Volke drohende Gefahr war
um so weniger zu unterschätzen, als es immer stärker die rhei-
nischen Franken bedrängte. Es war Chlodwigs allereigenstes
Interesse, seinen „Vettern“ zu Hilfe zu kommen.
Ein Angriff der Alamannen auf die Rheinfranken unter
König Sigibert bewog Chlodwig im Jahre 496 zur Einmischung.
Die Schlacht — irgendwo in der oberrheinischen Tiefebene —
endete nach einer schweren Krise doch mit dem Siege der Fran-
ken. Aber Unruhen an der westgotischen Grenze sollen den
Frankenkönig verhindert haben, den militärischen Erfolg zum
politischen voll auszuwerten; er hätte sich mit einer lockeren Ab-
hängigkeit der Besiegten zufrieden geben müssen“.
* A. Schiber, Die fränkischen und alamannischen Siedlungen in Gallien, be-
sonders im Elsaß und Lothringen. (1894) S. 43—62 und Karte 1.
7 G. Wolfram, Entstehung der nationalen und politischen Grenzen im Westen.
Frankreich und der Rhein (1925) S. 12ff. Doch kann ich der Theorie, wie die eigen-
tümliche Form des alamannischen Siedlungsgebietes in Lothringen entstanden
sein soll, gerade in den Hauptpunkten nicht zustimmen.
8 L. Wirtz, Franken und Alamannen in den Rheinlanden bis zum Jahre 496.
Bonner Jahrbb. 122 (1912), 170—240. Auch K. Schumacher, Siedelungs- und
Kulturgesch. 3, 30—37; 52—58.
® Unsere Kenntnis von dem alamannisch-fränkischen Konflikt ist äußerst
dürftig. Die Quellenkritik des 19. Jahrhunderts hat in diesem Falle ganz besonders
zersetzend gewirkt. Ich kehre mit H. Delbrück, Weltgeschichte 2, 165 zu der Auf-
29*
452 Helmut Weigel
Dagegen móchte ich eine Vermutung aussprechen, die mir von
den politischen und geographischen Verhältnissen her nahegelegt
wird. Chlodwigs Ziel war doch unstreitig die Sicherung der
Ostgrenze des Frankenreichs gegen die Alamannengefahr. Ge-
lang ihm nicht die völlige Unterwerfung dieses Stammes, so
war doch schon ein Wesentliches erreicht, wenn er seinen Einfluß
über die oberrheinische Tiefebene von Straßburg bis Worms
ausdehnte. Der Rhein war in seinem damaligen Zustande ein
starkes militärisches Annäherungshindernis. Außerdem stand
Chlodwig an den zwei Pforten ins Alamannenland, die auch die
Römer immer benützt hatten, an den Mündungen des Neckars
und der Kinzig. Diese Vermutung erklärt ungezwungen auch
den Verlauf der weiteren Ereignisse!?.
Der alamannische Aufstand zu Beginn des 6. Jahrhunderts
konnte dann von der Rheinstellung aus ohne große Schwierig-
keiten, jedenfalls ohne Gefahr für das Frankenreich niederge-
worfen werden. Immerhin erschien Chlodwig eine weitere
Schwächung der Alamannen durch eine Gebietsabtretung not-
wendig.
Deshalb vereinbarte, wie man annimmt, Chlodwig mit dem
Ostgotenkónig Theoderich, der zugunsten der Alamannen diplo-
matisch eingriff, eine genaue Grenze zwischen dem fränkischen
und dem alamannischen Gebiet, und zwar unter Benutzung alter
Straßen und alter Fliehburgen in der folgenden Linie: Oosbach,
Hornisgrinde, Alt-Bulach, Hohenasperg, Lemberg, dann südlich
der Stádte Marbach, Murrhardt, Gaildorf und Crailsheim (nàm-
lich vorrómischer Weg Poppenweiler-Waldrems - Limes - Mónchs-
hof-Rothenhaar-Laufen am Kocher), weiter Hoher Berg bei
Ellwangen und Hesselberg!!. Durch siedlungsarmes, wenn nicht
fassung H. v. Schuberts, Die Unterwerfung der Alamannen unter die Franken (1881)
zurück.
10 Schumacher, Siedelungsgeschichte 3, 57 setzt die fränkische Durchdringung
des Elsaß in die Zeit unmittelbar nach der endgültigen Unterwerfung der Alamannen;
vgl. auch ebd. S. 56—58; 101—104. Wolframs These, Frankreich und der Rhein
S. 15, daß sich die allgemeine Umbenennung der alamannischen -ingen-Orte des
Elsaß in -heim-Orte lediglich durch die Verwaltungspraxis vollzog, geht mir zu weit.
11 Über die Grenzziehung K. Weller, Die Ansiedelungsgeschichte des württem-
bergischen Franken rechts vom Neckar. Württemberg. Vierteljahrshefte für Landes-
gesch. 3 (1894), 28f. K. Schumacher, Siedelungsgesch. 3, 15; dazu Abbildungen
S. 15 und 92, sowie Karte 3 mit Erläuterungen.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 453
siedlungsleeres Waldland gezogen, legte diese Grenze vor die
fränkischen Dörfer ein Vorfeld, das gegen plötzliche Überfälle
sicherte. |
Nach Osten und Norden konnte der fränkische Ausdehnungs-
drang durch zwei Elemente eingeschränkt werden, durch ein
natürliches und durch ein politisches. Das erstere bildeten die
großen Waldgebiete, die von dem Schwäbischen Wald als
Frankenhöhe und Steigerwald nordwärts streichend ihren
zweiten Ansatzpunkt in dem Waldland der Buchonia (dem Ge-
biet von den Haßbergen bis zum Vogelsberg und vom Thüringer
Wald bis zur Wern) fanden. Das zweite Hindernis war das Reich
der Thüringer, das zu dem Staatensystem des großen Ostgoten-
königs Theoderich gehörte; die den Franken zugewandte Süd-
westgrenze des Thüringerreiches ist freilich bis jetzt nicht ein-
wandfrei bestimmt.
Gleichgültig nun, wie weit das zu Beginn des 6. Jahrhunderts
gewonnene rechtsrheinische Gebiet nach Osten und Norden sich
erstreckte, es bedurfte einer festeren Verbindung mit den älteren
Reichsteilen. Nach Beendigung des Westgotenkrieges 507
brachte Chlodwig die Herrschaft über die Franken am Nieder-
und Mittelrhein an sich. Er wird auch noch das Chattenland
seinem Reich einverleibt haben. Auch hier ergaben die vom
Spessart nördlich zur Weser ziehenden Waldgebirge eine natür-
liche Grenze gegen Osten, hinter der das Reich der Thüringer lag.
Theuderich und Chlothar, die Söhne Chlodwigs, setzten
die Politik ihres Vaters fort. Eine Einmischung Theuderichs
in die Streitigkeiten der Thüringer Könige 516 brachte ihm
keinen Gewinn. Ein Krieg mit Thüringen aber bedeutete bei
Lebzeiten des großen Ostgotenherrschers Theoderich — das
war den Frankenkönigen klar — einen Konflikt mit diesem
mächtigen Fürsten. Erst als das Ostgotenreich durch innere
Wirren lahmgelegt war, schritten Theuderich und Chlothar zur
Eroberung Thüringens, die mit dem Feldzug von 531 begann,
und mit der Niederwerfung eines Aufstandes 534 beendet war.
Der Feldzug von 531 ging von der Rheinstrecke Mainz-Koblenz
unter Benützung alter Fernstraüen!* aus, nicht aber vom
ua K, Schumacher, D. Erforschung des römischen u. vorrómischen StraBen-
netzes in Westdeutschland 3. Bericht der Römisch-germanischen Kommission
Frankturt. S. 29.
454 Helmut Weigel
mittleren Main. Die politische Bedeutung dieser Gegend in der
Merowingerzeit darf nicht überschätzt werden.
Ebenso ging die Oberhoheit, die die Ostgoten seit Anfang
des 6. Jahrhunderts über die Gebiete der Alamannen und der
Baiern ausgeübt hatten, infolge der inneren Reichswirren an
den Frankenkönig Theudebert (534—548) über.
II.
In diesen geschichtlichen Rahmen ist die erste Festsetzung
der Franken in dem Gebiet zwischen den großen Wäldern
Odenwald, Spessart, Rhón, Thüringerwald, westlicher Franken-
wald, Haßberge, Steigerwald, südfränkischer Keuperwald und
Schwäbischer Wald — wir wählen dafür den Namen „Ost-
franken“ 12 — zeitlich einzuspannen. Ein solcher Versuch stößt
auf beträchtliche Schwierigkeiten.
Die uns zur Verfügung stehenden Quellen geben nämlich
keine Auskunft darüber, ob dieses Ostfranken zum alamanni-
schen oder zum thüringischen Stammesbereich gehörte. Fried-
rich Kauffmann spricht an einer Stelle davon, daß infolge der
Verpflanzung der Burgunden nach Savoyen um die Mitte des
5. Jahrhunderts die Alamannen das Mainland bis in die Gegend
von Würzburg und Aschaffenburg wieder bekamen; an einer
zweiten Stelle führt er aus, daß die Chatten und Burgunden an
der großen Wanderung teilgenommen und am Steigerwald und
an der Frankenhöhe, am Main und an der Altmühl, an der Tauber
und an der Jagst Angehörige der Ermunduri zu Nachfolgern be-
kommen hätten; denn Abkömmlinge der Thuri: Duri heißen ,, Thu-
ringi‘‘!®, Beide Stellen miteinander in Einklang zu bringen, über-
läßt Kauffmann dem Leser, der sich eine von Nordost nach Südwest
streichende alamannisch-thüringische Grenze konstruieren kann.
Die ältere Forschung hatte eine Ausdehnung des Thüringer-
reiches bis zum mittleren Main hin abgelehnt!?. Neuere Arbeiten
11 H. Schreibmüller, Wanderungen und Wandelungen des Raumbegriffs
Ost franken. Fränkische Zeitung Ansbach nr. 206. 12. 9. 1933.
122 F. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 2 (1923), 105 und 155. Die von
Kauffmann S. 155 Anm. 2 angeführte Stelle aus dem Geographen von Ravenna
enthält keinen Beweis. Die gleichfalls zitierten Darlegungen Fr. Steins, Geschichte
Frankens 2, 211 f. gelten den Thüringern an der Donau bei Regensburg.
13 Fr, Stein, Geschichte Frankens 2 (1886), 212—214. G. Brückner, Der Renn-
stieg in seiner historischen Bedeutung. Oder: War das obere Werra- und Main-
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 455
zur fränkischen Geschichte nehmen kurzerhand ein geschlossenes
thüringisches Reich bis zur Donau an; über dessen Südwest-
grenze schweigen sie sich aus!*. Dadurch entsteht das völlig
unzutreffende Bild, als ob nahezu das gesamte bayerische
Franken einst dem Reiche der Thüringer angehört habe.
Aus der einzigen schriftlichen Quelle, die uns über ostrhei-
nische Verhältnisse um 500 belehrt, aus der Kosmographie des
unbekannten Ravennaten!5, ergibt sich folgendes: In der „pa-
tria Alamannorum“ und zwar weiter ab vom Rhein (,,ad aliam
partem'', nachdem vorher die Städte am Rhein und bei Straß-
burg aufgezählt worden sind), liegen die „civitates“ Ascapha,
Uburzis und Solist, d. h. die befestigten Plätze, die Fliehburgen
von Aschaffenburg, Würzburg und Salz (?)!9. Die folgenden
Sätze fehlen, so daß von der Beschreibung der ,,patria Turrin-
gorum“ nur ein Satz erhalten ist; er nennt die beiden Flüsse
Bac (wohl Nab=Naab) und Reganus, die in die Donau fließen.
Das alamannische Stammesgebiet umfaßte nach Norden hin
also die Gegenden des unteren und mittleren Mains und viel-
leicht auch noch den Lauf der Saale. Damit dürfen wir auch die
Lande zwischen dem Neckar, dem Main und dem Waldgebiet
von Kocher, Jagst und oberer Tauber als alamannischen Boden
ansehen". Von Thüringern bewohnt erscheint lediglich das
Donaugebiet um Regensburg. Ob aber dieser Strich mit dem
thüringischen Hauptland um Nesse, Ilm und Unstrut sied-
land jemals thüringisch? Neue Beiträge zur Gesch. des deutschen Alterthums
bersg. vom Hennebergischen alterthumsforschenden Verein 3 (1867), 247—285
bes. 280ff.
14 Erich Freiherr v. Guttenberg, Territorienbildung am Obermain. 79.Bericht
des histor. Vereins zu Bamberg (1928), S. 22—24. Da Guttenberg nur die Kontinuität
der germanischen Bevólkerung in Oberfranken und in der Oberpfalz über die Slaven-
zeit hinweg interessiert, gelten die beigebrachten Anzeichen nur für das Gebiet
óstlich der Regnitz, und sind selbst in diesem Gebiet für den Nachweis thüringischer
Bevölkerung kaum beweiskräftig. Die Ausdehnung der Guttenbergschen Auffassung
auf das Gebiet am mittleren Main, wie bei B. Schmeidler, Franken und das deutsche
Reich im Mittelalter (1930) S. 70, ist als methodisch unzulässig abzulehnen.
15 Ravennatis Anonymi Cosmographia ed. M. Pinder et G. Parthey. Berlin 1860.
Kritische Literatur bei F. Kauffmann, Altertumskunde 2, 192 Anm. 3.
1* Zusammenstellung der Deutungen bei K. Schumacher, Siedelungsgesch. der
Rheinlande 3, 79.
17 Vgl. K. Weller, Die Ansiedelungsgeschichte des württemberg. Franken rechts
vom Neckar. Württemberg. Vierteljahrshefte 3 (1894), 38f.
456 Helmut Weigel
lungsmäßig zusammenhing, erscheint mir sehr zweifelhaft!?.
Erst recht bleibt die Frage offen, ob das mitteldeutsche Haupt-
land und das süddeutsche Nebengebiet der Thüringer eine
politische Einheit, ein Reich bildeten. Nicht nur die übergroße
Ausdehnung dieses mutmaßlichen Reiches, sondern noch mehr
die Trennung seiner beiden Teile durch den siedlungsfeindlichen
Urwald (Thüringer Wald, Frankenwald, Fichtelgebirge) schließt
die Annahme eines Thüringerreiches von der Bode bis zur
Donau aus!“.
Man kónnte nun noch eine zweite, aber auch — bei dem
heutigen Stand der volkskundlichen Wissenschaften?“ — letzte
Quelle zu Hilfe rufen, die Ortsnamen?!, Doch sie bringen uns
keine Klarheit, stellen vielmehr nur neue Fragen.
Die wenigen Orte auf -ingen zwischen der Tauber und dem
Mittelmain:
Simmringen, ohne Beleg für ältere Formen, wohl PN,
Oellingen, 11. Jahrhundert Otilingum PN Odilo,
15 Stein, Geschichte Frankens 2, 211 und Guttenberg S. 22 f. nehmen einen Zu-
sammenhang an; L. Schmidt, Die germanischen Reiche der Völkerwanderung (1918)
S. 52f. bestreitet ihn unter Hinweis auf den Urwald in der Oberpfalz.
1? Ich möchte in den Donau-Thüringern einen abgesplitterten Volksteil er-
blicken.
39 Andere Quellen auf dem Gebiete der Überreste sind nicht oder noch nicht
brauchbar. Die Forschungen über Orts- und Flurformen, Haus- und Hofformen
stecken für Franken noch in den Anfängen; für die vorfränkische Zeit kommen diese
Quellen wohl überhaupt nie in Frage. Ebenso versagt die Spatenforschung teils
wegen ungenügender Ausgrabungen, teils wegen der eigenartigen Kulturverhältnisse
der Völkerwanderungszeit; vgl. E. Brenner, Der Stand der Forschung über die Kultur
der Merowingerzeit. 7. Bericht der rómisch-germanischen Kommission (1912), 253
bis 346. Die moderne Mundartforschung eróffnet nur geringe Aussichten auf Er-
gebnisse für das Frühmittelalter; kennzeichnend für die Schwierigkeiten: J. Schnetz,
Das Lär Problem, Programm Lohr am Main 1913 erklärt die Eigentümlichkeiten
des Ostfrünkischen aus einer Beeinflussung durch das Alamannische; K. Uibeleisen,
Die Ortsnamen des Amtsbezirks Wertheim 1900 sieht in dem Gäu-Dialekt von Wert-
heim bis Schweinfurt eine Auswirkung des thüringischen Volkstums.
1 Die Belege und Deutung der Ortsnamen nach E. Fórstemann, Altdeutsches
Namenbuch Bd. 2 Ortsnamen 1913—1916. Gelegentlich auch nach A. Schumm,
Unterfránkisches Ortsnamenbuch 1901 (populär). — B. Eberl, Die bayerischen Orts-
namen als Grundlage der Siedlungsgeschichte hat vorwiegend bairisch-schwäbische
Verhältnisse in Betracht; seine für dieses Gebiet gewonnenen Ergebnisse sind nicht
ohne weiteres auf Franken anzuwenden. — K. Schumacher, Siedelungsgesch. der
Rheinlande Bd. 3 Kapitel 4 streift wenigstens Mainfranken.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 457
Gützingen, ohne Beleg, wohl PN,
Hóttingen, 1159 Hotingen PN Hod-,
* Innsingen, erhalten in dem Namen: Innsinger Bach;
weiter die geschlossene Gruppe der -ingen-Dórfer im Walt-
sassengau, in der Hauptsache westlich von Würzburg??:
Bettingen, 1105 Bettingen PN Bado-,
Dertingen, 9. Jahrhundert Tharehedinges PN Dart-,
Uettingen, 9. Jahrhundert Uotinga PN Uoto,
Remlingen, 9. Jahrhundert Rameningen PN Ramino,
Zellingen, 9. Jahrhundert Cellinga wohl PN Cello,
Eisingen, 1182 Isingen PN Iso;
endlich der wichtige Mainübergang
Kitzingen, 9. Jahrhundert Chizzingim PN Chizo —
all diese Siedlungen sind gerade mit Rücksicht auf den Geogra-
phen von Ravenna, aber auch unter Abwágung des allgemeinen
geschichtlichen Verlaufs als alamannisch anzusehen. Auch die
Mainuferorte Volkach und Fahr gehóren wohl noch der vor-
fränkischen Zeit an. Aber die nördlich des Mains liegenden Orte
Bessingen, Alt- und Neu-, 974 Bezzinga (?), wohl PN,
Nüdlingen, 772 Hnutilinga PN Hnotilo (?),
kónnen nicht mit Sicherheit als alamannische Orte angesehen
werden. Sehr alt dürfte wohl auch der Salzort Kissingen sein,
der aber wegen seiner áltesten Namensformen (864 Kizzicha
mit unsicherer Ableitung) nicht ohne weiteres den -ingen-Orten
eingereiht werden kann.
Östlich der Linie Bessingen- Nüdlingen finden sich Orts-
namen auf -ungen, wie sie in den unstreitig thüringischen Ge-
bieten ófters vorkommen. Nicht selten wechseln in der allerdings
erst Jahrhunderte jüngeren schriftlichen Überlieferung die En-
dungen -ungen und -ingen miteinander. Überwiegend sind diese
Orte nicht mehr wie die -ingen-Orte links des Mains mit PN
gebildet, sondern mit Fluß- und Bachnamen oder mit Bezeich-
nungen, die ein Merkmal der Lage und der Umgebung aus-
drücken. Sie geben sich damit als junge Bildungen der letzten
Landnahmezeit zu erkennen“. Da nun alle swebischen Stämme
auf ihrer Wanderung von der Elbe zum Rhein Ostfranken in
23 K. Uibeleisen, Die Ortsnamen des Amtsbezirks Wertheim, hält die -ingen-
Orte des Waldsassengaues für thüringisch.
* Eberl, Bayer. ON 1, 28 u. 66.
458 Helmut Weigel
südwestlicher Richtung durchzogen haben, so wird man diese
Ortsnamen einem Stamm zuschreiben müssen, der eben noch
vor dem Festwerden der Siedlungen hier von Norden her ein-
gewandert ist. Das können aber nur die Thüringer sein“. Ich
führe diese Namen hier auf:
Schonungen bei Schweinfurt, ohne Beleg, ahd. sconi =
schön (?),
Kronungen an der Wern, ohne Beleg (Grüningen?) ahd.
kran = Wacholder oder gruoni = grün,
Rannungen, 837 Hramnungen PN Hraban oder ahd. hra-
ban = Rabe,
* Jeusing, Waldbezirk zwischen Rannungen und Maßbach,
9. Jahrhundert, Giusunga, wohl PN,
Weichtungen, 825 Uuichtungun wohl PN,
Strahlungen, Strolungen, ahd. strala — Rohr,
Hendungen, 800 Hentingen PN Hando,
Behrungen, 800 Baringe, Bachname Bahra, ebenso
Waldbehrungen, 809 Uualtbaringi,
Fladungen, 789 Pladungen, 1031 Fladungom, nd. flat —
versumpfendes Wasser,
Schwallungen, 788 Suuollunga, hd. swall = Flut, fließen-
des Wasser,
Wasungen, 874 Uuasunga, ahd. waso — Wiese,
Hellingen bei Heldburg, 800 Helidungom, 838 Helidingero
marcu, wohl PN Halido,
Lauringen, 801 Hlurunga, Flußname Lauer,
Wettringen, 838 Wettarungon, Bachname Wetter (vgl.
Wettringen bei Rothenburg).
Neben den -ungen-Namen finden wir nun noch einige Namen
mit der gleichfalls in Mitteldeutschland üblichen Endung
-leben, ahd. leiba = Erbgut, Nachlaß, die gedanklich der Zu-
gehörigkeitsbezeichnung -ungen nicht fern steht. Ich verzeichne
im Grabfeld:
Dingsleben, 9. Jahrhundert Dingesleiba PN Thing-,
Alsleben, 9. Jahrhundert Adalolfesleiba PN Adalolf,
Unsleben, Unsoltesleiba PN Unnolt;
# Eberl, Bayer. ON 1, 69 und Schumacher, Siedelungsgesch. 3, 115 sprechen
die -ungen- (-ingen-) Orte des nördlichen Franken als thüringisch an.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 459
dann im Maindreieck:
Zeuzleben, 1060 Zuzeleiba PN Zuzo,
Ettleben, 9. Jahrhundert Hettileiba PN Hatto,
EDleben, 779 Isinleiba PN Isino,
Güntersleben, 1113 Guntresleiba PN Gunther;
endlich óstlich des Mains
Kolitzheim, 791 Coldleibesheim PN Golth-.
Die stammesgeschichtliche Deutung dieser Orte ist um-
stritten. Die einen sehen in ihnen volksmáBige Siedlungen der
suebisch-thüringischen Angeln; in diesem Fall würden die
-Jeben-Orte an der Wern und am Main die südlichste Spitze des
thüringischen Vorstoßes bilden. Andere fassen sie als staatliche
Zwangsansiedlungen nach der Niederwerfung eines Aufstandes
der suebisch-thüringischen Warnen zu Ende des 6. Jahrhunderts
durch die Franken auf?. Ich neige mehr der ersteren Auf-
fassung zu.
Das Ergebnis: Ostfranken ist in der Völkerwanderungszeit
Durchmarschgebiet, Durchgangsland. Nördlich des Mains saßen
um 500 bereits Thüringer, südlich von ihm noch Alamannen.
Man mag die ersteren als die Spitze, die letzteren als die Nachhut
ihrer Stämme ansehen. Trotzdem wäre es zuviel gesagt, wollte
man den Main als politische Grenze zwischen beiden Stämmen
bezeichnen; er allein war wohl nicht einmal eine natürliche
Grenze. Jedenfalls eine politische Einheit stellt Franken um
500 nicht dar. Ob die Einverleibung Ostfrankens in das Mero-
wingerreich zeitlich an die Besiegung der Alamannen oder an die
Unterwerfung der Thüringer anzuschließen ist, bleibt also nach
der Untersuchung der staatlich-politischen Verhältnisse dieses
Gebietes immer noch fraglich.
III.
Suchen wir dieser Frage von einer anderen Seite her beizu-
kommen. Wir wenden uns ab von dem staatlichen Denken des
19. Jahrhunderts und fragen vielmehr einmal nach den natür-
lichen Bedingungen, die im 5. und 6. Jahrhundert die staatlichen
Verhältnisse Ostfrankens bestimmten.
# Die verschiedenen Meinungen zusammengestellt bei K. Schumacher, Siede-
lungsgesch. 3, 146.
460 Helmut Weigel
Die mittel- und unterfränkischen Gäulandschaften, das Main-
tal und die beiderseits anschließenden Hochflächen (Iffgau,
Uffenheimer, Ochsenfurter und Schweinfurter Gau, Grabfeld)
zählen zu den „altbesiedelten“ Landschaften. Darunter versteht
der Geograph „Siedlungsflächen, die wir uns schon seit dem 2.
bis 3. Jahrtausend als offene, nur von kleineren Waldstücken
durchsetzte Kulturlandschaften vorzustellen haben, und die auch
von den vordringenden Germanen der Vólkerwanderungszeit zu-
nächst allein besetzt worden sind‘‘. Im Umkreis um Mainfranken
sind als altbesiedelt zu nennen: die Untermain-Ebene, die Gáu-
landschaften am oberen und mittleren Neckar, die schwäbische
Alb, das Ries, der Donauzug der Frankenalb bis Regensburg
und das thüringische Becken. In diesen Gebieten, wie in Main-
franken, sind Bodenfunde aus fast allen Kulturperioden seit
der jüngeren Steinzeit gemacht worden. Nach Zahl und Art
der Funde bezeichnet unter ihnen in Mainfranken die Hall-
stattzeit nicht nur den hóchsten Stand, sondern auch die
weiteste Ausdehnung menschlicher Kultur. Mit der La-
Téne-Zeit werden die Funde seltener. Ja,im Regnitzgebiet und auf
dem Nordzug der Frankenalb hóren sie in diesem Zeitraum über-
haupt auf; die menschenleer gewordenen Gebiete verwalden,
so daß im Mittelalter eine gewaltige Rodungsarbeit geleistet
werden muß, um den Boden wieder siedlungsfáhig zu machen.
In Mainfranken ist eine solche Kulturlücke nicht fühlbar. Aber
das Seltenerwerden der Funde weist doch auch hier auf ein
Dünnerwerden der Bevólkerung. Hand in Hand ging damit ein
Einschrumpfen der wirtschaftlich benutzten Bodenfläche (Acker-
und Wiesenland) und eine Ausdehnung des Waldes. Freilich
verhinderte der nicht besonders waldfreundliche Boden Main-
frankens und die Nutzung dieser kleineren Wälder als Hutwälder
zur Viehzucht das Aufkommen eines dichten vollkommen
siedlungsfeindlichen Urwaldes?$.
Die waldfreien Stellen kommen nun freilich nicht sàmtlich
für Ansiedlung und landwirtschaftliche Nutzung in Betracht.
Einmal überwiegt in jenen Zeiten des 6.—8. Jahrhunderts die
38 Vgl. Robert Grad mann, Die Arbeitsweise der Siedlungsgeographie in ihrer
Anwendung auf das Frankenland. Zeitschrift für bayerische Landesgesch. 1 (1928),
318f.; 320 u. 338ff. — G. Hock, Vor- und Frühgeschichte Frankens. Führer durch
das fränkische Luitpoldmuseum in Würzburg. 1922 S. 114ff. u. 128f.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 461
Viehzucht. Für den Ackerbau aber wáhlt man nicht die schwer-
sten und fettesten Böden, sondern man bevorzugt Löß mit san-
digen Beimischungen, der leicht zu bearbeiten doch eine
genügende Ernte verspricht. Erst in der Hochkarolingerzeit
nimmt man auch die schweren Lößböden von größerer Mächtig-
keit in Angriff:“.
Diesen siedlungsfähigen Boden für Mainfranken topogra-
phisch genau zu umschreiben, ist heute noch unmóglich, da die
Nachbarwissenschaften der Geologie und der Geographie die
erforderlichen Karten noch nicht zur Verfügung stellen kónnen.
Wir besitzen für Franken noch nicht einmal eine Karte der Ver-
teilung des Wald-, Sumpf- und siedlungsfähigen Bodens um 500,
wie sie für Elsaß-Lothringen und für die Rheinlande vorliegen?“.
Erst recht mangelt uns eine topographische Karte der LóDvor-
kommen, aus der sich die Mächtigkeit und die besondere Be-
schaffenheit des Lößes ergibt. So bleibt uns nur ein indirektes
Mittel, um die Besiedlungsfläche um 500 zu rekonstruieren, die
Ortsnamen. Neben den wenigen Ortsnamen der ältesten Schicht
auf -aha, -lar und -mar kommen nur die Ortsbezeichnungen auf
-ingen und auf -heim, als die zweitälteste Schicht, in Betracht“.
Zuerst sind aber noch einige allgemeine Bemerkungen voraus-
zuschicken. Über die zeitliche und stammesmäßige Einreihung
der -ingen-Orte besteht keine Differenz. Sie gehören (von den
sog. falschen -ingen abgesehen) der Landnahmezeit und vor-
zugsweise swebischen Stämmen, Alamannen, Thüringern und
Baiern an. Umstritten sind die -heim-Orte. Arnold wollte sie den
Franken zuweisen. Doch die durch ihn angeregte Forschung
* K. Rübel, Reichshófe im Lippe-, Ruhr- u. Diemelgebiet und am Hellwege
8. 22 ff; S. 127 f.
28 ElsaB-Lothringischer Atlas hrsg. von G. Wolfram und W. Gley (1931),
Karte Nr. 7. Erláuterungsband S. 26—28 (Otto Schlüter). — Geschichtlicher Hand-
atlas der Rheinprovinz hrsg. von H. Aubin und J. Niessen (1926) Karte Nr. 1.
39 Vgl .die in vorhergehender Anmerkung verzeichneten Ausführungen von
O. Schlüter zur Methode. Doch können die archäologischen Funde, insbes. der
La-Tene-Zeit, nichts gegen eine Überwaldung oder Verwaldung einer Landschaft
in den folgenden 400—500 Jahren. Das Klima ist entscheidend nur bei der Frage
nach der Siedlungsfähigkeit der Landschaft, nicht der einzelnen Stellen. Fluß- und
Bachnamen aus keltischer Zeit gestatten die Annahme dauernder Besiedlung an
dem Wasserlauf, versagen aber natürlich bei dem Versuch, die siedlungsfühigen
Stellen genauer abzugrenzen; vgl. R. Kötzschke, Flußnamenforschung und Sied-
lungsgeschichte. Deutsche Geschichtsblütter 8 (1907), 233—246 bes. 235 u. 240.
462 Helmut Weigel
kam mehr und mehr davon ab. Man begnügte sich damit, die
-heim-Orte als Orte der Landnahme-Periode aufzufassen. Neuer-
dings aber will man die -heim-Orte auch ihres „Rangalters“
berauben und sie der Ausbauzeit zuweisen??, Mit einem Wort, es
herrscht hinsichtlich der -heim-Orte eine völlige Verwirrung,
um so mehr, als einige Forscher mit erbitterter Záhigkeit an den
-heim-Orten als Frankensiedlungen festhalten?! Die Forschung
ist meines Erachtens zwei Irrwege gegangen. Sie hat einmal Er-
gebnisse, die für eine bestimmte deutsche Landschaft gefunden
worden waren, ohne weiteres verallgemeinert und tut das heute
noch. Weiter sind Geographie und Philologie in einer systemati-
schen und formalen Betrachtungsweise stecken geblieben. Immer-
hin betonte gesprächsweise gerade ein führender Geograph, daß
die Auswertung der Ortsnamen für die Siedlungsforschung Sache
der Historiker“ sei. Mit vollstem Recht. Die frühmittelalter-
liche Bevólkerungsgeschichte, die Stammesgeschichte einer
deutschen Landschaft, muß aus anderen Quellen so genau wie
eben möglich festgestellt sein, bevor man an die Auswertung der
Ortsnamen gehen kann. Bei der Stammesgeschichte Süddeutsch-
lands ist nun bisher ein einziger aber ausschlaggebender Umstand
nicht, oder nicht genügend berücksichtigt worden: die swebischen
% W. Arnold, Ansiedlungen und Wanderungen deutscher Stämme (1881) S.
163, 165, 177. K. Lamprecht, Fränkische Wanderungen und Ansiedlungen, vornehm-
lich im Rheinland. Zeitschrift des Aachener Gesch.-Vereins 4 (1882), 189ff. K.
Weller, Ansiedlungsgeschichte des württembergischen Franken. Württembergische
Vierteljahrshefte für Landesgesch. 3 (1894), 33—35. B. Ebert, Die bayerischen
Ortsnamen 1, 79—81. — Weitere Literatur Dahlmann- Waitz Nr. 228; 230; 239; 240.
— Adolf Bach, Die Ortsnamen auf -heim im Südwesten des deutschen Sprachgebiets.
Wörter und Sachen 8(1923), S. 142—175. A. Bach, Die Siedlungsnamen des Taunus-
gebietes in ihrer Bedeutung für die Siedlungsgeschichte. 1927. K. Bohnenberger,
Zu den Ortsnamen. Germanica. Festschrift für Eduard Sievers (1925) S. 129—202,
bes. S. 145 ff. — Diese letzteren drei Arbeiten interessant wegen der verschiedenen
Auffassung von dem Wert bzw. Unwert der Bestimmungswörter.
31 O. Bethge, Fränkische Siedelungen in Deutschland auf Grund von Orts-
namen festgestellt. Wórter und Sachen 6 (1914), 56—89. K. Bohnenberger, Die
-heim- und -weiler-Namen Alemanniens. Württembergische Vierteljahrshefte für
Landesgesch. 31 (1922), 1—10. K. Schumacher, Siedlungsgesch. der Rheinlande 3
101—104.
33 A. Bach will zwar die Ortsnamen-Typen und ihre Verbreitung in allererster
Linie als sprachliche Erscheinungen gewürdigt sehen. Vgl. A. Bach, Deutsche Sied-
lungsnamen in genetisch-geographischer Betrachtung. Festschrift für O. Behaghel
(1924) S. 233—279.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 463
Stämme der Alamannen, Thüringer und Baiern kommen als
landsuchende Vólker; die Franken lassen sich nieder im
Auftrag ihrer obersten politischen Gewalt mit der Absicht, die
besetzten Gebiete ihrem Staate fest einzugliedern. Die
Landnahme der swebischen Alamannen ist im 6. Jahrhundert
längst abgeschlossen, die der Thüringer dem Abschluß nahe, die
der Baiern hingegen noch in vollem Fluß. Im gleichen Jahr-
hundert setzt der erste Einbruch des fränkischen Staates in die
ostrheinischen Lande ein. In Tauber- und Mainfranken sind
also alamannische -ingen-Orte älter als die fränkischen Sied-
lungen; die thüringischen sind etwa mit den fränkischen gleich-
altrig. Daß der fränkische Staat bereits im 6. Jahrhundert auch
siedlungsmäßig in das Gebiet der Baiern eingebrochen sei, ist
wenig wahrscheinlich. In dem Jahrhundert von 561—660 scheint
die fränkische Zentralgewalt einen nennenswerten Einfluß auf
die ostrheinischen Gebiete nicht ausgeübt zu haben. Am rasche-
sten muß Pippin der Mittlere spätestens um 687 Franken zwi-
schen Neckar und Main, sowie Thüringen seiner Hausmeier-
gewalt wieder unterworfen haben. Es gibt also eine zweite
Gruppe fränkischer Siedlungen in Ostfranken, die dem aus-
gehenden 7. und beginnenden 8. Jahrhundert entstammt.
Schwieriger gestaltete sich die völlige Eingliederung Alaman-
niens und Baierns; die meisten fränkischen Siedlungen im
alamannischen und wohl alle im baierischen Gebiet gehören dem
8. Jahrhundert an. Aber es wäre verkehrt, alle fränkischen Sied-
lungen in Baiern erst der Zeit nach 788 zuweisen zu wollen; den
Terminus post quem für fränkische Ansiedlungen in Baiern
bilden die Kämpfe Pippins und Karlmanns in den 40er Jahren.
Fränkische Siedlungen in Sachsen gehören natürlich erst dem
späteren 8. Jahrhundert an. Da diese fränkischen Siedlungen
mit der durch Kriegszüge bewirkten Machtausdehnung und der
auf Machtbehauptung gerichteten Verwaltung des fränkischen
Reiches zusammenhängen, s0 werden sie diesen militärisch-poli-
tischen Charakter irgendwie erkennen lassen. Trüger und Werk-
zeug dieser politischen Aufgabe bleibt aber immer der fränkische
Bauer; das Dorf versieht Aufgaben, die später den Burgen und
den Stádten zufallen sollen. Die Folgerung aus all dem: -heim-
Orte im Bereich der Frankenherrschaft, die einen aus dem Ge-
lànde oder dem Siedlungsbild ihrer Umgebung leicht erkennbaren
464 Helmut Weigel
militärischen oder verwaltungspolitischen Zug aufweisen, sind,
besonders wenn sie gar als Kónigsgut (in Baiern als Herzogsgut)
nachgewiesen werden können, als fränkisch anzusprechen“. Als
äußerliches Merkmal dieser -heim-Orte erscheint vielfach die
Benennung nach Báchen und Wasserläufen, nach Völkern und
Stämmen, nach den Himmelsrichtungen und nach örtlichen
Eigentümlichkeiten der Lage (Tal, Berg, Hóhe), des Bodens
(Ried, Sulz = Sumpf, Stock = Buschwald, Stamm = Hochwald,
Holz, Tanne, Fóhre, Buche, See), endlich nach bemerkens-
werten Gebäuden (Kirche, Burg, Hof)“. Orte mit solch schema-
tisch-bürokratischen Namen dürfen wir in Ostfranken, Alaman-
nien und Baiern erst der Zeit Pippins und seiner Nachfolger zu-
schreiben. Hingegen gehóren die mit Personennamen gebildeten
-heim-Orte Ostfrankens überwiegend dem 6. Jahrhundert an;
sie sind entweder nach dem Grundherrn, dem Besitzer des
Dorfes oder nach dem (vom Staat bestellten ?) Führer des Ein-
wanderer- bzw. Siedlertrupps benannt. Bei diesen älteren
-heim-Dörfern ist ein politisch-militärisches Element in der Lage
nicht einwandfrei zu erkennen; es wiegt durchaus die Rück-
sicht auf die Erfordernisse der Landwirtschaft vor. Ob es da-
neben schon im 6. Jahrhundert besondere militärische Stütz-
punkte gab, ist eine noch nicht entschiedene Frage®. Es soll
aber nun nicht behauptet werden, daß diese älteren -heim-Orte
sämtlich Neugründungen der Franken sind; häufig ist lediglich
ein neuer Name einem bereits vorhandenen alamannischen
Ort von den fränkischen Einwanderern beigelegt worden“.
3 K. Rübel, Reichshófe im Lippe-, Ruhr- und Diemelgebiete und am Hellwege.
Beitráze zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 10 (1910). O. Bethge,
Bemerkungen zur Besiedelungsgeschichte des Untermainlandes in frühmittelalter-
licher Zeit. Jahresberichte der Humboldtschule Frankfurt a. M. 1910/11 u. 1913/14.
*4 Vgl. die in Anmerkungen 31 und 33 erwähnten Arbeiten Bethges.
*5 Vgl. K. Weller, Die Besiedelung des Alamannenlandes. Württembergische
Vierteljahrshefte 7 (1898), 311 f.
s Vgl. G. Göpfert, Castellum ..... Stadt oder Burg? (1920). Die hier behan-
delten 5 castella Eltman, Hammelburg, Würzburg, Karlburg und Salz liegen auBer-
halb oder wenigstens am Rande des Gebietes, in dem die von PN abgeleiteten
-heim-Orte gehäuft vorkommen. Ebenso verhalten sich die beiden Burk in Mittel-
franken und Oberfranken, sowie Castell zu dem Gebiet der alten -heim-Orte.
* W. Veeck, Über den Stand der alamannisch-fränkischen Forschung in Würt-
temberg. 15. Bericht der Rómisch-germanischen Kommission 1923/24. — W. Veek,
Alamannen und Franken in Süddeutschland, Volk und Rasse 2 (1927).
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 465
Für die Bestimmung des siedlungsfáhigen Raumes
um 500 kommen somit neben den -ingen-Orten nur die
álteren -heim-Orte, d. h. die nach Personen benannten,
in Betracht.
Dauernd besiedelt?? sind die Neckarstrecke von Gundelsheim
bis über Cannstatt hinaus, dann die Täler der Fils, des Kochers
und der Jagst. Das von ihnen umflossene Gebiet ist siedlungs-
unfáhiges Waldland, abgesehen von einigen Tälern (Ohrn,
Brettach, Bühler). Die gleichfalls besiedelten rechten Neben-
täler der Jagst (Schefflenz, Seckach mit Kirnau) führen auf die
Hochfläche zwischen dem Odenwald, dem Unter- und Mittel-
lauf der Tauber und der Umpfer (linker Zufluß der Tauber bei
Kónigshofen). Sie weist bei reichlicher Bewaldung doch auch
zahlreiche und ausgedehnte waldfreie Stellen auf; sie gehört
zu dem fränkischen Gau Wingarteiba, dem heutigen Bauland,
zwei Namen, in denen sich der hohe wirtschaftliche Wert dieses
Landstriches widerspiegelt. Die Tauber ist in ihrem Mittellauf
von Impfingen bis Creglingen dicht besiedelt. Hingegen ist die
Hochfläche, die sich zwischen der Tauberstrecke Königshofen—
Creglingen, der Gollach, der Frankenhöhe, der Brettach, der Jagst
und der Umpfer ausdehnt, ein weites, wenn auch verschieden
dichtes Waldgebiet, das zur Siedlung wenig lockte. Es bildet
die Verbindung zwischen dem südfränkischen Keuperwald und
dem Schwäbischen Wald. Am dichtesten scheint die Bewaldung
beiderseits der oberen Tauber gewesen zu sein. Doch finden sich
gerade im Quellgebiet der Tauber einige siedlungsfähige Stellen.
Gering sind die Siedlungsspuren auch an der unteren Tauber.
Die Hochfläche, die von der Tauberstrecke Röttingen—
Wertheim, den beiden Mainschenkeln Wertheim—Gemünden
und Gemünden—Ochsenfurt, sowie dann künstlich von der
westwärts einspringenden Linie Ochsenfurt—Oberwittighausen
—Röttingen begrenzt wird, trug eine viel ausgedehntere Be-
waldung als heute. Darauf deuten schon die unzähligen kleineren
Gehölze und Wäldchen. Das nördliche Dreieck, wo der Spessart
über den Main herübergriff, hatte nicht umsonst den Gaunamen
„Uualtsazzi‘‘, beiden Wäldlern. In dem mittleren Teil zwischen
38 Für die folgenden Ausführungen und die des Abschnittes IV ist es zweck-
mäßig, die Karte des Deutschen Reiches 1:100000 heranzuziehen. Literarische -
Arbeiten in Richtung unserer Fragestellung liegen für Franken noch nicht vor.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 30
466 Helmut Weigel
Aalbach und Wittigbach fallen heute noch groBe geschlossene
Waldungen, die Forste von Waldbrunn und Rinderfeld, sowie
der Guttenberger Wald auf. Den Charakter als Waldland hat
sich auch der südliche Teil zwischen der Wittig und dem Tauber-
bogen Róttingen—Lauda unverkennbar bewahrt. Besiedelt oder
siedlungsfähig waren nur die Täler des Aalbaches mit seinen
Zuflüssen, die bei Werbach in die Tauber mündenden Täler und
die vom Welzbach aus zugänglichen Teile der Hochfläche. Die
obenerwáhnten drei Forste reichten zwischen Würzburg und
Ochsenfurt bis an den Main. Auch der ganze Mainbogen von
Ochsenfurt bis Kitzingen war auf seinem Südufer in wachsender
Breite mit Wald bestanden. Von Süden her reichte das Wald-
gebiet, wie wir wissen, bis zur Gollach. Es blieb also nur ein ver-
hältnismäßig schmaler, doch zusammenhängender Streifen von
Siedlungsland, der westöstlich von der Tauber zum Steiger-
wald zog. Vor diesem Hindernis bog das siedlungsfáhige Land
nach Norden und Süden aus. In dieser letzteren Richtung wurde
es durch den von der Frankenhóhe óstlich zur Regnitz streichen-
den betrüchtlich breiten Keuperwald begrenzt. Doch boten die
parallel nordostwärts in den Steigerwald hineinstoßenden Täler
der oberen Ehe und der oberen Aisch siedlungsfähiges Land.
Nördlich der oberen Gollach dehnte sich siedlungsfähiger Boden
am Steigerwald entlang, die Bucht südlich des Schwanberges
erfüllend, bis zu der Linie Mainbernheim— Kitzingen. In dem
nördlich anschließenden Raum Einersheim—Kitzingen— Volk-
ach—Gerolzhofen gingen der Steigerwald und der Auwald des
Mains ineinander über. Die Südspitze des Maindreiecks bis zu
der Linie Kitzingen—Heidingsfeld ist heute noch stark be-
waldet; auch der Raum Würzburg—Escherndorf—Kitzingen
wird im 6. Jahrhundert eine größere Walddecke getragen haben
als jetzt. Der Gramschatzer Wald hat einst ganz sicher bis zum
Westabfall der Hochfläche gereicht und sich auch nach Osten
weiter als heute erstreckt.
Halten wir einen Augenblick inne. Vom Spessart bei Ge-
münden bis zum Steigerwald bei Iphofen—Kitzingen—Dettel-
bach läuft neben dem Main auf seinem Süd-, aber auch auf
seinem Nordufer ein nahezu geschlossener Waldgürtel einher.
Er könnte viel eher eine Stammes- und Siedlungsgrenze gebildet
haben als der Main selbst.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 467
Den Ostrand des Maindreiecks scheint wiederum ein Wald-
streifen begleitet zu haben. Östlich des Mainbogens Volkach—
Schweinfurt bot sich siedlungsfáhiger Boden, aber stark von
Wald und Sumpf zerstückelt. Frühbesiedelt ist endlich das Tal
der Wern, das den natürlichen Abschluß des Maindreiecks im
Norden bildet. Nördlich der unteren und mittleren Wern und
des Schweinfurter Mainbogens beginnt ein breiter Gürtel lichter
Hutwälder, der zu den Urwäldern des Spessarts, der Rhön und
der Haßberge hinüberleitet. Er bildet zugleich die Nord-
grenze der nach Personen benannten -heim-Orte. Nördlich und
nordöstlich kommen nur noch -heim-Orte vor, deren Namen mit
der Stammesbezeichnung der Franken, mit den Namen der
Himmelsrichtungen und mit anderen Sachwörtern gebildet sind.
Andrerseits setzen unmittelbar nördlich und östlich von Gelders-
heim an der Wern die thüringischen -ungen-Orte ein, die sich
nun als dünner Faden nach dem Hauptland Thüringen hin-
ziehen. Mit anderen Worten: die Waldzone Gemünden — Ham-
melburg— Schweinfurt stellt abermals eine Grenze in siedlungs-
mäßiger Hinsicht dar.
Ich glaube nunmehr sagen zu dürfen: Der Waldgürtel süd-
lich des Mains von Gemünden nach Kitzingen bildete um 500
die nördliche, die rückwärtige Grenze des alamannischen Stam-
mesgebietes. An der mittleren Tauber saß noch eine starke ala-
mannische Bevölkerung. Der Raum zwischen den Waldzonen
des Mains und der Tauber-Gollach wird von Alamannen nur
noch dünn bevölkert gewesen sein, am dichtesten noch im
Westen; der dem Steigerwald benachbarte Teil war von ihnen
anscheinend schon geräumt. Alamannische Siedlungen hielten
sich am Aalbach; und so wird auch Würzburg noch alamannisch
gewesen sein. |
Entsprechend war der Waldgürtel am rechten Mainufer die
natürliche Südgrenze des thüringischen Vorstoßes von Norden.
Die Waldzone Hammelburg—Schweinfurt kann die Südgrenze
um 500 nicht mehr gewesen sein; denn sie war bereits von den
-ungen-Orten durchbrochen. So sind auch die -leben-Orte an
der Wern wohl noch volksmäßige Siedlungen.
In diese noch ungefestigten Verhältnisse einer Vólkerwan-
derung stießen nach 500 die Franken hinein, und zwar nach der
Besiegung der Alamannen. Ihr Vorstoß fand zuerst an den Main-
30*
468 Helmut Weigel
wäldern Halt. Dann brachen die Franken aber durch und trieben
ihre Siedlungen in das Gebiet der Thüringer bis an den Wald
zwischen Main und Saale vor. Ob dieser zweite Vorstoß nun
Anlaß oder Folge des fränkisch-thüringischen Krieges war, wird
freilich immer dunkel bleiben.
IV.
Wenn wir uns nach den Quellen umsehen, die uns die Ein-
gliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich
— einen der folgenschwersten Vorgänge der deutschen Ge-
schichte — im einzelnen erkennen lassen, so fällt die schrift-
liche Überlieferung nahezu völlig aus.
Gregor von Tours schweigt. Die Einfügung der Lande
vom Neckar bis zum Steiger- und Thüringerwald in das Franken-
reich war kein einmaliges Ereignis, das Aufsehen erregte, kein
Ereignis, an dem ein frommer Bischof der katholischen Kirche
oder gar einer der mächtigen Heiligen des Himmels Anteil hatte.
Im Gegenteil, die Durchdringung dieser Lande mit fränkischem
Wesen war eine sehr irdische, ganz nüchterne Angelegenheit.
Von solchen Dingen des täglichen Lebens berichten uns in
späteren Jahrhunderten die Urkunden. Aber auch diese Quellen-
gruppe fällt für Ostfranken während der Merowingerzeit aus.
Glücklich preisen wir uns schon, daß wir die Urkunden der
Klöster Fulda und Lorsch aus dem 8. und 9. Jahrhundert
wenigstens teilweise, wenn auch oft bös mißhandelt und ver-
unstaltet, besitzen??. Aber die Verhältnisse des 6. Jahrhunderts
schimmern in diesen 200 bis 300 Jahre jüngeren Schriftstücken
nur hier und da noch durch. Immerhin, sie übermitteln uns aus
sehr früher Zeit eine stattliche Reihe von Ortsnamen, also die
Quellenart, auf die wir vorläufig in Ostfranken noch auf das
stärkste angewiesen sind.
Denn die zweite Art frühmittelalterlicher Forschungstätig-
keit, die Bodenforschung, ist gerade für unseren Zeitraum in
dem bayerischen Ostfranken bisher wenig gepflegt worden; ihre
Ergebnisse sind dementsprechend bescheiden. Doch bieten die
Bodenfunde immerhin einige wertvolle Anhaltspunkte.
3 Urkundenbuch des Klosters Fulda Bd. 1, 1. bearb. von E. E. Stengel. 1913.
— Codex diplomaticus Fuldensis, hrsg. von E. Dronke 1850. — — Codex Laures-
hamensis. Bd. 1, hrsg. von K. Glöckner. 1929. — Codex princeps olim abbatiae
Laureshamensis diplomaticus. Ed. A. Lamey 1786.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 469
Diese handgreiflichen Überreste der merowingisch-karolin-
gischen Zeit entstammen in der Hauptsache fränkischen Rei-
hengräbern. Denn Siedlungen dieser Periode haben sich bis
jetzt in Franken archäologisch nicht nachweisen lassen, und
zwar wohl deshalb, weil sie auch hier wenigstens in der über-
wiegenden Zahl mit den heutigen Dörfern ortsgleich sind.
Ausnahmen vermag gelegentlich die Flurnamenforschung fest-
zustellen. Fränkische Reihengräber wurden aufgedeckt am
unteren Main bei Mómlingen, Obernburg a. Main und Obernau;
an der mittleren Tauber bei Werbach, Impfingen, Tauber-
bischofsheim und Edelfingen-Mergentheim; auf der Hochfläche
zwischen unterer Tauber und mittlerem Main bei Urphar,
Mädelhofen, Unter-Leinach, Neubrunn und Darstadt; am mitt-
leren Main bei Heidingsfeld, Würzburg, Thüngersheim, Karl-
stadt; làngs des Steigerwaldes bei Uffenheim, Weigenheim,
Seinsheim, Nenzenheim, Hellmitzheim, Iphofen, Willanzheim
und Lülsfeld; am Main bei Gochsheim und Schweinfurt; im
Gebiet der Wern bei Arnstein und Reuchelheim; vereinzelt bei
Westheim an der Saale und bei Ostheim an der Rhön; imSüden
zwischen Jagst und Tauber bei Crailsheim und Ingersheim“.
Sehen wir von den Orten Ost- und Westheim ab, so verläuft die
Linie der vom Neckar am weitesten vorgeschobenen Reihen-
gráberorte ganz entsprechend dem Bogen, der von den württem-
bergisch-südfránkischen Keuperwäldern (Frankenhóhe) dem
Steigerwald und dem Waldgebiet zwischen Main und Saale ge-
bildet wird.
Über das Gebiet der mit Personennamen gebildeten -heim-
Orte zwischen Jagst— Tauber—Steigerwald—Wern reicht das
Reihengrábergebiet nur im Norden und Nordwesten hinaus.
Man darf sagen: soweit beide Gebiete — das der Reihen-
gräber und das der -heim-Orte mit Personennamen
— sich decken, soweit erstreckte sich die erste Land-
nahme der Franken. Die Reihengräber-Orte auf -heim liegen
weiter sämtlich in Tälern entsprechend den Erfordernissen einer
Landwirtschaft, bei der die Viehzucht überwiegt. Dies gilt nun
4 K. Weller, Ansiedlungsgeschichte des württembergischen Franken. Würt-
tembergische Vierteljahrshefte 3 (1894), 37. G. Hock in: Führer durch das Luitpold-
museum S. 123ff.; 128; 130; 132. P. Reinecke, Die Slaven in Nordostbayern. Bayr.
Vorgeschichtsfreund 7 (1927/28), 36f. 8 (1929), 43.
470 Helmut Weigel
auch für die beiden Orte Westheim und Ostheim, die in die
großen Waldgebiete der Buchonia eingestreut sind; ersteres liegt
an der Saale bei Hammelburg, letzteres mit anderen gleichge-
bildeten Orten an der oberen Streu (ZufluB der Saale). Die Besied-
lung lehnt sich also auch hier an die FluBtáler an. Aber Saale und
Streu sind auch die natürlichen Wege vom Main nach Thüringen,
haben also auch politische Bedeutung®!. Die anderen Reihen-
gräber-Orte, die nicht -heim-Orte sind, machen hinsichtlich ihrer
wirtschaftlichen Lage keine Ausnahme. Bei einigen von ihnen
spielt auch das politische Moment herein; sie scheinen in Be-
ziehung zu wichtigen StraDen zu stehen. Darstadt oder die sonst
zu dem Gräberfeld gehörige (vielleicht abgegangene) Siedlung
ist unstreitig auf den Mainübergang von Klein-Ochsenfurt orien-
tiert. Urphar selbst ist ein weiterer alter Mainübergang. Neu-
brunn liegt in der kürzesten Linie zwischen beiden Übergängen.
Auch Heidingsfeld ist als Mainübergang zu werten, und zwar in
Richtung auf Röttingen an der Tauber. Und endlich wird auch
das Reihengräberfeld bei Karlstadt zu einer Siedlung an einem
Mainübergang gehören, den wohl das Kastell Karlburg deckte.
Auch bei Lülsfeld und Arnstein könnte es sich um Siedlungen
an der Kreuzung von Wasserlauf und Straße handeln.
Einzelforschungen über die Reihengräber, besonders über die
für uns wichtigste Frage nach ihrer zeitlichen Einreihung und
Erstreckung stehen noch aus. Wenn Schumacher diese Reihen-
gräber an der Tauber und in der Umgebung von Würzburg als
„frühfränkisch“ bezeichnet“, so ist das etwas zu summarisch;
die von Darstadt, Neubrunn, Lülsfeld, Ostheim und Westheim
werden aus siedlungsgeschichtlichen Erwägungen doch frühe-
stens dem ausgehenden 7. Jahrhundert zuzurechnen sein.
Neben, ja vor den Funden der Spatenforschung bleiben aber
doch die Ortsnamen unsere Hauptquelle.
In dem Gebiet zwischen Tauber, Frankenhöhe, Steigerwald
und Wern fallen zuerst die -heim-Orte auf. Wir haben sie in
zwei Gruppen geschieden. Die erste hat als Bestimmungswort
einen Personennamen (PN); wir haben sie als die ältere ange-
“ Vgl. K. Rübel, D. Franken ihr Eroberungs- und Siedlungssystem im deutschen
Volkslande. S. 323—338.
K. Schumacher, Siedlungsgeschichte der Rheinlande 3, 58.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 471
sprochen. Die zweite Gruppe““ weist Sachbezeichnungen der ver-
schiedensten Art auf, wozu wir auch Vólker- und Stammes-
namen rechnen; handelt es sich doch dabei um Zwangsansied-
lungen von Menschen, die nicht freiim Rechtssinn waren, also den
Charakter einer Sache an sich trugen. Die Ortsnamen beider
Gruppen finden sich nun in Ostfranken bunt durch-
einander, aber nicht regellos. Das Vorkommen der zweiten
Gruppe ist durch topographische Momente bedingt. Hinter ihr
werden bestimmte wirtschaftliche und politische Zweckset-
zungen erkennbar. Die Namen der ersten Art haften hingegen
an Dórfern, die nichts weiter sind als Bauernsiedlungen ohne
(wenigstens deutlich hervortretende) staatliche Nebenzwecke.
Neben den -heim-Orten aber werden auch Ortsnamen mit
anderen Endungen berücksichtigt, so auf -hofen, -hausen,
-stadt, -feld und -brunn, soweit die entsprechenden Orte in die
fränkische Zeit zurückzureichen scheinen.
Wir untersuchen diese Orte Ostfrankens zuerst auf ihre
Lage“. Es sei aber von vornherein betont, daß die folgenden
Aufstellungen und Ergebnisse nicht ohne weiteres verallge-
meinert werden dürfen.
Der Siedlungsvorstoß der Franken in der ersten Hälfte des
6. Jahrhunderts, dem die älteren, mit einem Personennamen
gebildeten -heim-Orte ihre Entstehung verdanken, hatte zum
Ausgangsraum die rheinische Ebene von der Mündung des Mains
bis zu der der Oos. Die natürlichen Einfallslinien waren durch
den Neckar bzw. die Kraichgau-Senke und durch den Main ge-
geben. Bei dem Charakter des Alamannenkrieges ist mit Sicher-
heit anzunehmen, daß die fränkischen Ansiedlungen dieses Vor-
StoBes wenigstens zum Teil königlich waren. Der im Ortsnamen
enthaltene Personenname bezeichnet also vielfach den Anführer
der Siedler, den kóniglichen Offlzier und Beamten. Aber daneben
haben wir grundherrlich-adelige Dórfer auf kóniglichem Schen-
kungsland anzunehmen. Der Personenname rührt dann von dem
Die Bezeichnung „ unechte“, „falsche“ heim-Orte ist abzulehnen.
Eine solche Untersuchung, obwohl Grundlage jeder siedlungsgeschichtlichen
Forschung, ist bisher noch nicht vorgenommen worden. Verfasser kennt den größeren
Teil der Orte aus eigener Anschauung. — Die ortsgeschichtliche Literatur hier einzeln
aufzuführen, wäre unzweckmäßig, da sie bei einer gesonderten Behandlung des
fränkischen Königsgutes in Ostfranken im einzelnen verzeichnet werden soll.
472 Helmut Weigel
Grundherrn her. Das Königshofsystem der Merowinger ist wohl
damals schon auch nach Ostfranken übertragen worden. Aber
die Machtstellung des Königs östlich des Rheins war noch nicht
fest genug verankert, als nach Chlothars Tod 561 die jahrzehnte-
langen greuelvollen und zerrüttenden Wirren im Frankenreich
ausbrachen. Sie förderten die schon vorhandenen Bestrebungen
des ostfränkischen Adels, sich gegenüber dem Merowingerkönig
selbständig zu machen. Die Bedrohung durch die von Osten
heranrückenden Slaven“, gegen die der König keinen Schutz
zu gewähren vermochte, trieben diese Selbständigkeitsgelüste
weiter. Herzog Radulf von Thüringen war um 640 vom Franken-
könig so gut wie unabhängig. Aber noch vor Ablauf des Jahr-
hunderts, vielleicht als Folge der Schlacht bei Tertry 687, stellte
der karolingische Hausmeier Pippin der Mittlere die Macht der
Zentralgewalt, also seine eigene in Franken wieder her**. Auf ihn,
zum Teil auch auf Karl Martell haben wir wohl den planmäßigen
Ausbau der Staatsmacht in Ostfranken, d. h. das System der
Königshöfe, zurückzuführen. Damit hingen auf das engste die An-
lage von Straßen, umfangreiche Rodungen zwecks Anlage neuer
Dörfer, die Sicherung wichtiger Fluß- und Gebirgsübergänge,
ja die politische Organisation Ostfrankens überhaupt zusammen.
Dieser zweiten Periode der karolingischen Durchdringung Fran-
kens von etwa 680 bis 750, der „Hausmeierzeit“, gehören die
jüngeren -heim-Orte an, die nach Stämmen und Völkern, nach
Wasserläufen und Himmelsrichtungen, auch nach Eigentümlich-
keiten ihrer Lage benannt sind. Ferner sind dieser Periode, aber
auch den folgenden Zeiträumen der Hochkarolingerzeit (bis 814)
* Die letzten Veróffentlichungen zur Slavenfrage als Problem der fränkischen
Geschichte: Marga Bachmann, Die Verbreitung der slavischen Siedlungen in Nord-
bayern. 1926. — Erich Freiherr von Guttenberg, Die Territorienbildung am Ober-
main. 79. Ber. d. Hist. Ver. Bamberg (1927) S. 16—41. P. Reinecke, Die Slaven
in Nordostbayern. Bayer. Vorgeschichtsfreund 7 (1928), 17—37; 8 (1929) 42f. Johann
Schlund, Besiedlung und Christianisierung Oberfrankens 1931. A. Stuhlfauth, Die
baierisch-fránkische Kolonisation gegen die Slaven auf dem Nord- und Radenzgau.
1932. Grundlegend aber wenig beachtet E. Schwarz, Die Frage der slavischen Land-
nahmezeit in Ostgermanien. Mitt. Instituts für österreich. Geschichtsforschung. 43
(1929).
“a Der in Würzburg wirkende Irenmissionar Kilian war vielleicht wie Iren-
missionare in Baiern ein Werkzeug der fränkischen Politik. Vgl. R. Bauerreiß
Irische Frühmissionäre. In: Korbinian-Festschrift Freising 1922, S. 44 f.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 473
und Spátkarolingerzeit (bis 918) die Ortsnamen auf -stadt,
-feld, -brunn, auch ein großer Teil der auf -hofen, -hausen und
-burg zuzurechnen. Die Orte auszuscheiden, die in der ,,kónigs-
losen" Zeit, etwa 560 — 680, entstanden sind, wird kaum
móglich sein; am ehesten kommen wohl noch Ortsnamen auf
-bach in Betracht. Ortsnamen auf -feld und -brunn mit schema-
tisch gebrauchten, immer wiederkehrenden Bestimmungswörtern
wird man wohl der spätmerowingisch-karolingischen Durch-
dringung zuweisen dürfen.
Ich beschránke mich im folgenden auf das Kerngebiet des
alten Ostfrankens, die Landschaften zwischen der mittleren und
unteren Tauber, der Gollach, dem Steigerwald und der Wern®,
Das Hauptaugenmerk sei dabei auf die Orte auf -heim gerichtet,
insbesondere auf die Frage, ob die Lage der jüngeren heim-Orte
auf eine besondere staatlich-politische Aufgabe hinweist.
An der unteren und mittleren Tauber, die den merowin-
gischen Kern des Taubergaues bildet, finden wir nun:
Wertheim, 1009 Werdheim SN ahd. warid = Insel in
Flüssen und Sümpfen,
Reicholzheim, 1199 Richolvesheim PN Ricolf,
Impfingen, 1320 Umphenkeim, 1365 Umpfingen PN Um-
mo (?),
Tauberbischofsheim, etwa 800 Biscofesheim SN Bischof,
Dittigheim, 1271 Dietencheim PN Diot-,
Gerlachsheim, 1209 Gerlagesheim PN Gerlach,
Edelfingen, 1207 Uotelfingen, wohl PN,
Mergentheim, 1058 Merginthaim PN Maria (?),
Igersheim, 1089 Jegersheim PN Igo,
Markelsheim, 1054 Markolfesheim PN Markolf,
Elpersheim, 1219 PN Ellenbert (?),
Weikersheim, 935 Wighartesheim PN Wichart,
Schäftersheim, 1146 Scheftersheim PN Skapto-,
Tauberrettersheim, 1225 Rettersheim PN Ratger (?),
Röttingen, 1215 Rotingin PN Hrod-,
Creglingen, 1045 Chregelingen PN Krako.
*5 Für die heute württembergischen Gaue Ostfrankens vgl. K. Weller, An-
siedlungsgeschichte. Württembergische Vierteljahrshefte 3 (1894), 40—77. Für die
badischen Gaue vgl. K. Schumacher, Das Land zwischen Neckar und Main in der
alamannischen und fränkischen Zeit. 1926.
474 Helmut Weigel
Wir stellen fest, daß -ingen und heim-Orte nebeneinander
vorkommen, daß sich auch einige -ingheim-Orte finden. Die
Tauberufer waren also von Alamannen noch dicht besetzt, als
die Franken einwanderten. Es überwiegen die mit Personen-
namen gebildeten Ortsbezeichnungen auf -heim. Die anders
gearteten -heim-Orte weisen einige Merkmale auf, die besprochen
werden müssen. Wertheim ist das Dorf an der Insel, oder ge-
nauer wohl an der Halbinsel, die durch den ZusammenfluB von
Tauber und Main gebildet wird. Ich verweise auf ein gleichge-
bildetes Wirtheim an der Mündung der Bieber in die Kinzig.
Bei Wirtheim überschreitet, wie die Karte deutlich erkennen
läßt, ein von Norden kommender Weg die Kinzig, führt dann
als Hochstraße nach Süden zu der sog. Birkenhainer Straße,
einem uralten Handelsweg durch den Spessart, schneidet diese
und erreicht an Huckelheim, dem einzigen -heim-Orte des nörd-
lichen Spessart, vorbei das fruchtbare Tal der Kahl bei dem
Ort Kónigshofen. Das Wegesystem bei Wertheim harrt noch
der Untersuchung. Aber Wertheim hat eine Entsprechung an
dem spátkarolingischen Mainübergang Lengfurt (abermals eine
schematische Ortsnamenbildung in Anlehnung an besondere
Boden- bzw. Wasserverhältnisse). Und beide Orte liegen in dem
Zug einer Linie zwischen dem frühkarolingischen Kloster Amor-
bach und dem gleichfalls karolingischen Kónigshof Salz an der
Saale. Eine Süd-Nord-Verbindung, die den Main bei Wertheim
überschreitet, scheint gegeben durch die Orte Buchen (774
Bucheim) an einem Odenwaldeingang, und Windheim an einer
älteren Straße durch den Spessart. Der südliche Teil der Straße
ist genügend gewährleistet durch den Namen Hochstraße zwi-
schen Buchen und Hardheim, sowie durch den Ort Steinfurt
(Namenbildung nach den Furtverhältnissen); der nördliche Teil
ist eine einwandfreie Höhenstraße auf der Wasserscheide.
Windheim trägt seinen Namen als eine auch zu Rodungen an-
gelegte Wendensiedlung; Buchen ist nach den Buchenwaldungen
genannt; beides sind also -heim-Orte der Hausmeierzeit.
Mergentheim liegt an einer schon in der Steinzeit besie-
delten Stelle. Man ist versucht, deshalb auch die fränkische An-
siedlung in das 6. Jahrhundert zu verlegen. Andrerseits darf
nicht übersehen werden, daß dem Mergentheim an der Tauber
ein spátmerowingisches Krautheim an der Jagst entspricht, und
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Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 475
daß zwischen beiden hart an der Wasserscheide ein etwa gleich-
altriges Assamstadt liegt; die -stadt-Orte finden sich aber mit
V orliebe an karolingischen Straßen. Mergentheim könnte sehr
wohl ein aus politisch-verwaltungsmäßigen Gründen angelegter
Tauberort (mit einer Marienkirche) sein. Endlich mag auch noch
ein anderes Moment mitgesprochen haben, seine heilkräftigen
Quellen.
Dann Tauberbischofsheim in hervorragender Verkehrs-
lage an einer vorrömischen Straße, die bei Miltenberg (römisches
Kastell Miltenberg-Ost) den Main verließ und sich südöstlich
der Tauber zuwandte; jenseits der Tauber verlief sie östlich in
das seit der Steinzeit dauernd besiedelte Gebiet zwischen Main
und Gollach. Nun finden wir den Namen Bischofsheim noch
Ofters, besonders am unteren Main bis gegen Mainz hin. Ein
zweiter ostfránkischer Ort dieses Namens, Bischofsheim vor der
Rhön, hat gleichfalls eine wichtige Verkehrslage am Übergang
aus dem Tal der Brend (Nebenbach der Saale) in die Täler der
Sinn (NebenfluB des Mains) und der Fulda, oder nach karolin-
gischen Orten bezeichnet, am Übergang zwischen dem Kloster
Fulda und dem Königshof Salz“.
Die drei mit Sachbezeichnungen gebildeten -heim-Orte des
Taubergrundes sind durch ihre Verkehrslage vor den anderen
nach rein landwirtschaftlichen Gesichtspunkten angelegten
Orte hervorgehoben. Als Ansiedlungen einer politischen Gewalt,
des Königs, eines Bischofs oder Abtes, sind sie frühestens dem
ausgehenden 7., wenn nicht erst dem 8. Jahrhundert zuzuweisen.
Klärung bringt vielleicht eine Untersuchung der Rechts- und
Besitzverhältnisse, wobei freilich die Gründung von Städten
stark erschwerend wirkt und genaue topographische Studien
notwendig macht.
Neben diesen -heim-Orten zieht nun noch der Ort Königs-
hofen unsere Aufmerksamkeit an sich. Es ist der Endpunkt der
von Möckmühl an der Seckach und von Widdern (774 Widdern-
heim) an der Kessach, d. h. also der von der Jagst ausgehenden
Siedlungstreifen und Straßen; erstere sind durch -ingen- und
-heim-Orte, letztere durch -stadt-Orte gekennzeichnet. Ostwärts
von Königshofen dehnte sich zwischen Tauber und Wittig ein
Eine Straße Gemünden—Tal der Felda (Thüringen) würde an Bischofsheim
vorbeiführen; sie läßt sich aber bis jetzt nicht einmal in Spuren erkennen.
476 Helmut Weigel
Waldgebiet, das in Resten noch heute erhalten ist. Wir finden
dort eingesprengt Dörfer mit Namen, wie sie für die karolingische
Rodungstätigkeit kennzeichnend sind, Kützbrunn, Messel-
hausen, Oesfeld. Nun wissen wir, daß die Gewinnung neuen
Landes durch Rodung zu den Hauptaufgaben der Königshöfe
gehörte?”. Wir machen aber zugleich die Wahrnehmung, daß
durch diese Rodungen siedlungsmäßig die Verbindung mit dem
Ort Gaukönigshofen (südwestlich Ochsenfurt) hergestellt wurde;
Gaukönigshofen ist aber der Königshof im Badanachgau. Wir
werden sehen, daß Gaukönigshofen nach Lage und mutmaßlicher
Verwaltungsaufgabe von Königshofen an der Tauber sich nicht
unterscheidet. Wir stellen fest, daß die Lage an einem wich-
tigen Flußübergang und im Waldgebiet auch für Königshofen
an der Kahl zutrifft. Wir dürfen daraus schließen, daß diese
Königshöfe nach ganz bestimmten Gesichtspunkten angelegt
sind: zur Gewinnung neuen Kulturlandes, zur Sicherung wich-
tiger Wege und Flußübergänge, endlich — und das war die poli-
tische Auswirkung der Rodung — zurengeren Verknüpfung
der durch die großen Wälder voneinander getrennten Siedlungs-
streifen. Erst dadurch konnte der merowingische Gau, der nichts
anderes war als cine siedlungsmäßig-landschaftliche Einheit, zu
der politischen Einheit der Karolingerzeit werden.
Es erhebt sich die Frage, wie sich der fränkische Siedlungs-
vorstoß des 6. Jahrhunderts von der Tauber aus fortgepflanzt
hat. Die Orte
Böttigheim, Bettenkaim PN Bado,
Wenkheim, 1144 Wegengheim PN Wago,
Altertheim, Ober- und Unter-, 1137 Alterheim Adj. ahd.
alt oder PN Adal- (?),
Gerchsheim ohne Beleg
deuten auf eine Ausdehnung in nordöstlicher Richtung. Man
wird aber die beiden in Tälern gelegenen -ingheim-Orte als ur-
sprünglich alamannische und von den Franken lediglich über-
nommene Siedlungen ansehen dürfen. Die beiden auf der Hoch-
fläche liegenden -heim-Orte sind vielleicht erst späteren Ur-
sprungs. Darauf scheint bei den beiden Altertheim zu deuten,
4 Vgl. Erich Freiherr von Guttenberg, Die Königskirche in Fürth und ihre
Bedeutung für die Südgrenze des Bistums Bamberg. 66. Jahresbericht Hist. Ver.
Mittelfranken (1930), 125, bes. S. 127.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 477
daß sie in der Nähe einer Straße zwischen den beiden Mainüber-
gängen Klein-Ochsenfurt und Urphar, einer sog. Weinstraße
liegen; auch Gerchsheim verdankt als ein sog. Freidorf der
staatlichen Kolonisation seinen Ursprung$?*. In ihrer Nähe finden
wir tatsächlich wiederum frühmittelalterliche Waldorte, Neu-
brunn an der Weinstraße, Großrinderfeld, Schönfeld und Klein-
rinderfeld (schematische Bildungen) längs einer Linie Tauber-
bischofsheim—-Heidingsfeld (Mainübergang südlich Würzburg).
Somit muß sehr fraglich erscheinen, ob die Franken bereits
im 6. Jahrhundert durch die von Heidingsfeld nach Urphar
ziehende Waldschranke zu den alamannischen Dörfern des
Aalbaches und seiner Zuflüsse Bettingen, Dertingen, Remlingen,
Uettingen und Eisingen durchgestoßen sind.
Wir finden weiter nordöstlich von Üttingen
Greußenheim, Grüzzenheim SN grioz = Sand, Kies,
dann am Main selbst unterhalb von Würzburg
Höchheim, Veits- und Margets-, 800 Hocheim Adj. hoch,
Thüngersheim, 1100 Tunigeresheim PN Dun-.
Die Einreihung dieser Orte stößt nur scheinbar auf Schwierig-
keiten. Es sagt uns nämlich sowohl das heutige Kartenbild, als auch
der alte Name dieser Landschaft zwischen den beiden Mainschen-
keln, „Waltsazzi‘‘, daß wir für die frühmittelalterliche Periode
hier eine sehr starke Bewaldung anzunehmen haben. Die Orte
auf -feld, -brunn und -hausen, besonders im Nordwesten, deuten
in die gleiche Richtung und zugleich darauf, daß erst in der
Hausmeierzeit oder darnach diese Landschaft von der Kolo-
nisation der Franken erfaBt worden ist. Man kónnte auch auf
den Ortsnamen Urspringen verweisen, der noch einmal mitten
in einem einwandfrei staatlichen Siedlungsgebiet vorkommt,
nàmlich im Gebiet der oberen Streu neben Sontheim, Ostheim,
Nordheim. Die Gruppe der -ingen-Orte im Aalbach-Gebiet
konnten sich also — um ein Bild Schumachers zu gebrauchen —
wie „harte Felsenriffe“ erhalten, weil die „fränkische Hochflut“
erst sehr spät an sie herandrang®®. Bei Helmstadt und Hett-
stadt werden wir nach einer Straße fragen; tatäschlich liegen sie
an der Straße vom mittleren Neckar zum mittleren Main bei
F. Schneider, Staatliche Siedlung im frühen Mittelalter. Aus Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte. Gedächtnisschrift für G. v. Below (1928), S. 16—45.
K. Schumacher, Siedelungsgeschichte der Rheinlande 3, 96.
478 Helmut Weigel
Würzburg und Veitshóchheim; sie trägt noch heute zwischen
Hardheim und Külsheim in Baden den Namen ,,Würzburger
Steig“; östlich der Tauber bezeichnen die Orte Höhe feld und
Neubrunn ihren Verlauf. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die
nach Schema F benannten Orte Wiesenfeld, Steinfeld, Ur-
springen, Birkenfeld eine von Gemünden nach Süden verlau-
fende Linie (wohl eine Straße) bilden, als deren Endpunkte nach
der Karte entweder die vom Neckar her kommende Straße bei
Hóhefeld oder Tauberbischofsheim bzw. Königshofen an der
Tauber oder auch Mergentheim anzunehmen sind. Himmel-
stadt liegt als Übergang über den Main im Zug jener uns
schon bekannten Linie Wertheim—Lengfurt— Stetten an der
Wern—Hammelburg. Halten wir das alles zusammen, so bleibt
als Gesamteindruck der, daB die Franken im 6. Jahrhundert
dieses Gebiet zwischen den beiden Mainschenkeln als für sie
bedeutungslos umgangen haben; ihr SiedlungsvorstoB nahm eine
andere Richtung. Erst als das Gebiet nórdlich der Wern an der
Saale und an der Streu — das Verbindungsstück zwischen
Franken und Thüringen — durch die staatliche Kolonisation
der Hausmeier dem Frankenreich fest eingegliedert wurde, und
als andrerseits das mittlere Neckargebiet eine fränkische Basis
in den Kämpfen gegen die Alamannen wurde, gewann das Wald-
sassenland als natürliches Verbindungsland zwischen Neckar
und Saale erhöhte Bedeutung. In der zweiten Hälfte des 8. Jahr-
hunderts drehte sich dann, wenn man so sagen darf, die Achse
des Waldsassenlandes in die Nordwest-Südost-Richtung Frank-
furt Würzburg.
Wir kehren zur mittleren Tauber zurück. Aus der Gegend
Gerlachsheim scheint ein zweiter Siedlungsvorstoß nach Osten
hin unternommen worden zu sein. In dem tief eingeschnittenen
Tal der unteren Wittig fehlen -heim-Orte völlig. Siedlungsnamen
auf -ingen und -heim sind erst auf der Hochfläche an den Zu-
flüssen der Wittig nachzuweisen, und zwar am Mosbach:
Kirchheim (nicht identisch mit dem Kyrchaim von 823)
SN ahd. kirihha = Kirche,
an dem Seebach und Nebenbächen:
Gützingen, ohne Beleg, wohl PN,
Allersheim, 1224 Alderesheim PN Adalhart,
Herchsheim, Harichesheim PN Harja-,
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 479
am Innsingerbach:
Gaurettersheim, ohne Beleg PN Ratger (?),
endlich Sáchsenheim, ohne Beleg VN Sahso = Sachse.
Die -ingen-Orte liegen am weitesten westlich. Kirchheim
ist als -heim-Ort ganz vereinzelt, weit in den Wald hinein vor-
geschoben. Die Nachbarorte Moos und Sulzdorf lassen den
wenig siedlungsgünstigen Charakter des Bodens erkennen. Nórd-
lich schließen sich, die heutige Waldgrenze in gewissem Abstand
begleitend, drei Orte auf -hausen an. Aus ihrer Lage schon
können wir entnehmen, was uns Fuldaer Urkunden bezeugen,
daß solche -hausen-Orte im Wald auf Bifängen, auf Rodungs-
land erwachsen sind. Östlich von Kirchheim finden sich dann die
Orte auf -feld und auf -stadt, die nahezu sämtlich in der
Karolingerzeit urkundlich beglaubigt sind. Sie hingen wohl mit
dem karolingischen Straßensystem zwischen Main und Tauber
zusammen, denn Ingolstadt und Giebelstadt waren auf den
älteren und in der Südwest-Nordost-Richtung wichtigsten Main-
übergang Klein-Ochsenfurt, Fuchsstadt auf den von Eibelstadt
gerichtet. Giebelstadt besaß noch erhöhte Bedeutung als Schnitt-
punkt der Linien Kleinochsenfurt— Kirchheim — Tauberbischofs-
heim und Würzburg—Heidingsfeld—Röttingen an der Tauber.
Dieses Gebiet nördlich der Linie Gützingen—Allersheim—
Herchsheim ist also erst in der Hausmeierzeit besiedelt worden.
Es stellt die Verbindung zwischen der Erweiterung des Tauber-
gaues östlich Tauberbischofsheim und dem Kern des Badanach-
gaues her.
Die oben angeführten mit Personennamen gebildeten -heim-
und -ingen-Orte nahmen in der Merowingerzeit eine kleine, in
sich geschlossene, rings aber von Wald umgebene Siedlungsfläche
ein, die nach einem heute nicht mehr feststellbaren Bach als
Badanachgau bezeichnet wurde. Über die heutige Straße
Ingolstadt Riedenheim wird er sich östlich etwa bis zur Wasser-
Scheide des Thierbachs erstreckt haben.
Auffällig ist Sáchsenheim. Als Ansiedlung deportierter
Sachsen kann es nicht vor den Sachsenkriegen Karl Martells
entstanden sein, wenn es nicht überhaupt in die Zeit König
Karls hinunter zu rücken ist°®. Der Lage nach erscheint es als
® J. Schmidkontz, Sachsenansiedlungen in Unterfranken. Alma Julia. Beilage:
zur Neuen Bayerischen Landeszeitung Würzburg 26. 2. 1906.
480 Helmut Weigel
Ausbauort von Sonderhofen. Dieses aber ist nachweislich
Königsgut und unzweifelhaft ein Ableger von Gaukönigs-
hofen. In seiner Nähe treffen wir nun 6 Orte mit der Endung
-hausen, davon vier in dem gegenüber Klein-Ochsenfurt mün-
denden Thierbachtal. Ein fünftes, Osthausen, liegt östlich von
Sonderhofen, während Euerhausen nach Südwest von Königs-
hofen vorgeschoben ist. Die Aufgabe der ersten 5 -hausen-Orte
wird sich in der Rodung erschöpft haben, politisch gesehen in
der Herstellung der Verbindung zum Main und zum Gollachgau.
Euerhausen und Sächsenheim aber dienen unstreitig in
erster Linie dem Zweck, die Verbindung zwischen dem Königs-
hof des Badanachgaues und dem des Taubergaues enger und
fester zu gestalten. Hinsichtlich des Verhältnisses der -hausen-
Orte zu Königshöfen möchte ich noch auf einige Einzelfälle ver-
weisen: bei dem Königshof Forchheim an der Regnitz liegen
am Waldrand nördlich Buckenhofen, südlich Hausen; vom
Königshof Oettingen im Ries ist Belzheim westlich, und von
diesem Hausen nördlich unmittelbar an den Wald vorgeschoben;
am Westrand der Frankenhöhe finden sich die Orte Brettheim und
Oestheim als Siedlungen der Hausmeierzeit und zwischen ihnen
Hausen. Der karolingische Badanachgau besteht somit aus einem
älteren merowingischen Siedelungsgebiet im Westen und einem
in der Hausmeierzeit gewonnenen Rodungsgebiet im Osten und
Süden, das sich um Gaukönigshofen gruppiert; es schließt sich
an das Rodungsgebiet des Taubergaues, östlich Königshofen an.
Nach dem allen kam der von Gerlachsheim ausgehende Sied-
lungsvorstoß des 6. Jahrhunderts in östlicher Richtung nicht
vorwärts; auch den Main hat er nicht erreicht.
Um so erfolgreicher war der Vormarsch, der von der Tauber
bei Röttingen gollachaufwärts ging. Der tief eingeschnittene
enge Unterlauf ist auch hier von alten Siedlungen frei. Im Gebiet
der mittleren Gollach finden wir nun
Baldersheim, 1009 Baldolvesheim PN Baldolf,
Gelchsheim, 1219 Geulichsheim, 1225 Geillichsheim,
wohl PN,
Riedenheim, 1237 Rietheim, eher zu ahd. riutan =roden
als zu hriad = Rohr, Ried,
Hemmersheim, 914 Hamersheim PN Hamar,
Gollachostheim, 1136 Ostheim SN ahd. ost = Osten,
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 481
Uffenheim, 1161 Uffenheim PN Uffo,
Ulsenheim, 1094 Ulsinheim PN Ulso.
An dem der oberen Gollach parallel laufenden Holzbach liegen
Geckenheim, 1169 Geggenheim PN Gago,
Weigenheim, 822 Wigenheim PN Wigo.
Vorgeschoben sind in ein südliches Seitental
Pfahlenheim, um 1136 Pholinheim, SN ahd. phäl = Pfahl,
in nördliche Nebentäler
Rodheim, 1017 Rodeheim ahd. riutan = roden,
Gülchsheim, 1119 Gullichesheim, 1136 Goulichesheim PN
Gawi-,
Geißlingen, 1144 Gisilinheim PN Gisilo.
Wir halten inne; die Wasserscheide zwischen Tauber und
Main ist wieder einmal erreicht. Die mit PN gebildete westliche
Gruppe Hemmersheim, Gülchsheim, Geißlingen, steht mit der
östlichen gleichgearteten Gruppe Geckenheim, Weigenheim,
Ulsenheim, Uffenheim in Verbindung durch gleichgebildete Orte
jenseits der Wasserscheide: Ickelsheim und Herrnberchtheim.
Der Siedlungsvorstoß der Merowingerzeit, der sonst die Wasser-
läufe einhält, muß an der mittleren Gollach ein Hindernis vorge-
funden und umgangen haben. Es war der Wald, der sich im
Raum Bieberehren — Uffenheim — Tauberzell — Burgbernheim
noch erhalten hat. Wir stellen fest, daß sich am Nordrand dieses
Waldstriches von Waldmannshofen bis Adelhofen eine Kette von
5 -hofen-Orten hinzieht. Nördlich dieser Linie liegen die schon
genannten Orte Gollachostheim und Pfahlheim; dazu gesellte
sich früher ein Stockheim, von dem nur noch der Stockheimer
Brunnen zeugt. Pfahlenheim ist verwandt mit Pfahlheim östlich
Ellwangen am Limes. Dem Namen Stockheim werden wir noch
öfters begegnen, wie es auch viele Ostheim gibt. Alle drei sind
planmäßige Gründungen der fränkischen Staatsgewalt auf
einem mit Busch bestandenen feuchten Boden. Wo ist der fis-
kalische Mittelpunkt? Gollachostheim weist auf das westlich
gelegene Lipprichhausen. Hier münden denn auch die Täler,
in denen Pfahlenheim und Rodheim — gleichfalls auf Wald
(Hochwald ?) deutend — liegen; auch Stockheim hat man von
hier unmittelbar erreichen können. Freilich der Name Lipprich-
hausen will zu einem staatlich-fiskalischen Mittelpunkt gar nicht
passen. Man würde ihn eher in Gollhofen, 823 Gullahaoba,
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 31
482 Helmut Weigel
889 Gollahofe, Flußname Gollach, suchen. Die Namenbildung
klingt an Iphofen an, das als Kónigshof bezeugt ist. Ich bin
versucht, den Zwiespalt so zu lösen, daß Gollhofen tatsächlich
der Kónigshof für das Gebiet der Gollach, den Gollachgau war;
die staatliche Aufrodung des mittleren Gollachwaldes aber wurde
von einem Außenposten des Kónigshofes, eben Lipprichhausen,
vorgenommen.
Mit Ulsenheim und Weigenheim hatte der merowingische
SiedlungsvorstoB die Südwest-Ecke des Steigerwaldes erreicht.
Von letzterem Ort war es aber móglich, noch weiter nach Osten
in das Tal des Ehebaches einzudringen. Am oberen Ehebach und
an seinen Zuflüssen, die ein für die Viehzucht äußerst brauch-
bares Gelände boten, stellen wir an -heim-Orten fest:
Herbolzheim, 1324 Herboltsheim PN Heribolt,
Krautostheim, SN Osten,
Markt-Nordheim, SN ahd. nord — Norden
Kottenheim, 11. Jahrhundert Cuttenheim PN Kutto (?),
Deutenheim, 1220 Titenheim PN Tito,
Krassolzheim, 1023 Graszulzun PN Grasolf (oder ahd.
gras = Gras?),
Etzelheim, 1023 Detzelheim, 1421 Etzelheim PN Azzo,
Sugenheim, 1421 Sugenheim PN Sugo.
Die Orte, deren Namen mit einem PN gebildet ist, liegen an
der Ehe und an der sog. Kleinen Ehe. Die Siedlung, nach der
Krautostheim und Markt-Nordheim orientiert sind, läßt sich
mit Sicherheit nicht angeben. Ein Ort, der im Namen den
Königshof erkennen ließe, ist nicht festzustellen; auch das
Wüstungsverzeichnis liefert keinen Hinweis. Am wahrschein-
lichsten ist noch Herbolzheim. Dann hätten wir in Herbolz-
heim auch den politischen Mittelpunkt des Ehegaues zu er-
blicken. Dazu würde passen, daB von hier aus — freilich durch
feuchtes Gelände — das Gollachgebiet leicht zu erreichen ist;
auch nach Osten vermittelt die Einsenkung in dem Hóhenzug
bei Humprechtsau den natürlichen Übergang ins Tal der oberen
Aisch, wie auch das karolingische Windsheim leicht zu erreichen
ist. Welche Aufgaben aber haben nun die beiden Fiskaldörfer
Krautostheim und Nordheim? Ihre Anlage kónnte mit den
Straßen zusammenhängen, die vom Ehetal zum Hohenlandsberg
und beiderseits um ihn herum zu der Gollach und zur Iffig,
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 483
d. h. aus den Gebieten der Aisch und der mittleren Regnitz in
die der Tauber und des mittleren Mains führen; eine verrát noch
heute mit dem Namen ,,Breiter Weg'' ihre alte Eigenschaft als
Handelsweg. Jedenfalls stellte der Weg über die Hóhe die kür-
zeste Verbindung zwischen den genannten Tälern dar. Zudem
bot der Wald jederzeit trockene Wege, während die Linie Her-
bolzheim—Ulsenheim durch äußerst feuchtes Gelände führte.
Beide Momente waren für die Scharen der fränkischen Reiter
von größter Wichtigkeit. Es kommt also — zum mindesten ge-
legentlich — den fiskalischen Dörfern auch militärische Be-
deutung zu. Die Frage, warum die merowingischen Siedlungen
nicht über Sugenheim hinaus vorgetrieben worden sind, erklärt
sich m. E. sehr leicht aus den örtlichen Verhältnissen. Der Ehe-
bach, der nur noch ein ganz geringes Gefälle hat, andererseits
durch Zuflüsse aus den beiderseitigen Wäldern an Wassermenge
zunimmt, versumpft das Gelände; dieses wird zudem durch
die besonders nahe herantretenden Wälder stark eingeengt.
Von Uffenheim bot sich den anrückenden Franken noch eine
weitere Siedlungsmöglichkeit, nach Süden hin bis zum Nord-
abfall des Keuperwaldes und diesen entlang in das Tal der
oberen Aisch hinein. Ich verzeichne:
Seenheim, 903 Seheim SN See,
Ergersheim, 8. Jahrhundert Argisesheim, 1108 Ergeresheim
PN Arg-,
Buchheim, 1146 Buchheim SN Buche,
Schwebheim, 8. Jahrhundert Suabheim VN Schwabe,
Swebe,
Wiebelsheim, 1136 Wibilisheim PN Wibold,
Illesheim, 1328 Illensheim, Illingsheim PN Illinc,
Urfersheim, Urbaresheim PN Urbert oder Urfrit,
Westheim, SN ahd. west — Westen,
Sontheim, SN ahd. sunt — Süden,
Windsheim, 823 Windesheim PN Windo,
Ickelheim, 1171 Itolfesheim PN It-,
Lenkersheim, 1421 Lengkersheim PN Landger,
Mailheim, PN Megin (?),
Weimersheim, Weimmersheim, vielleicht PN,
Külsheim, 790 Gullesheim PN Gullo,
Ipsheim, 1189 Ippetesheim PN Ipp-,
31?
484 Helmut Weigel
Kaubenheim, 1518 Kaubenheim PN Kub- oder Gaud-,
Menheim, 1226 Menneheim PN Menno (jetzt mit Kauben-
heim vereinigt),
Berolzheim, 1317 Beroldesheim PN Berold,
Altheim, 1158 Altheim Ad). alt,
Dottenheim, 774 Tottenheim PN Tot-,
Dietersheim, 1370 Dytrichsheim PN Diether,
Schauerheim, 1421 Schawerheim PN (?),
Burgbernheim, 889 Berenheim, 1000 castellum Bernheim
PN Bero (oder SN bero = Bär ?).
Die Ortsbezeichnungen des oberen Aischgrundes sind über-
wiegend von PN gebildet. Östlich der Linie Ergersheim—-Urfers-
heim sind sie nahezu alleinherrschend. Westlich findet sich nur
Burgbernheim, wenn es wirklich von einem PN Bero und nicht
von der Tierbezeichnung Bär sich ableitet. Räumlich hängen
sich die Siedlungen nicht an Uffenheim, sondern an Ulsenheim
an, liegen also östlich der nassen Senke zwischen den Gollach-
wäldern und dem Höhenzug längs der Ehe und Aisch. Die allzu-
große Entfernung und das feuchte Gelände zwischen Ulsenheim
und Ergersheim ist im 8. Jahrhundert durch die (fiskalische)
Anlage Seenheim überbrückt worden.
In die obengenannte Linie Ergersheim—Urfersheim gehört
nun auch Windsheim. Denn das frühkarolingische Windsheim
ist nicht ortsgleich mit der heutigen Stadt Windsheim. Es ist
bei der Kleinwindsheimer Mühle an der Ranach zu suchen, die
heute den einzigen Rest eines Dorfes darstellt, das im 14. Jahr-
hundert noch aus der Kirche, der Mühle und einigen Bauern-
höfen bestand. Der Kern des karolingischen Dorfes war ein
Königshof mit einer Martinskirche. Wir haben somit in Winds-
heim den politischen Mittelpunkt des Rangaues zu erblicken.
Dieser Charakter Windsheims veranlaßt mich, die Ableitung der
Ortsbezeichnung von dem Volksnamen Windo = Wende abzu-
lehnen; denn in Franken findet sich kein mit einem Volksnamen
gebildeter -heim-Ort, der ein Mittelpunkt der fränkischen Ver-
waltung gewesen wäre. Neuangelegte Verwaltungsmittelpunkte
der spát-merowingischen und karolingischen Zeit werden in Ost-
franken mit der Endung -hofen belegt; daneben scheinen Kónigs-
hófe auch in -heim-Orten mit PN angelegt worden zu sein, so
vermutlich in Herbolzheim im Ehegau, hóchstwahrscheinlich in
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 485
Geldersheim im Grabfeld. Wir dürfen also auch Windsheim von
einem PN Windo ableiten, wozu auch das genitivische s eher
passen würde.
Die Reihe der mit PN gebildeten Ortsnamen schließt — wie
im Ehegrund mit Sugenheim — so hier im Aischgrund mit
Schauerheim sackartig ab. Versumpftes Gelände am Zusammen-
fluB der Aisch und des Diebaches, das sich noch heute in den
karolingischen Ortsnamen Birkenfeld und Riedfeld, letzteres als
Königshof bezeugt, widerspiegelt, anscheinend auch hart heran-
tretender Wald, riegelten den Vorstoß der Franken im 6. Jahr-
hundert ab.
Ein Ortsname fällt uns auf: Altheim. Er kann nur eine
ältere Siedlung im Gegensatz zu einer neueren bezeichnen. Diese
hat der Muttersiedlung den ursprünglichen Namen bei der Grün-
dung entwendet. Man sucht die jüngere Siedlung in dem gegen-
überliegenden Dottenheim. Ein ähnliches Verhältnis werden wir
bei Altendorf-Buttenheim südlich Bamberg anzunehmen haben.
Wie Buttenheim so könnte auch Dottenheim die jüngere Markt-
gründung neben dem älteren Bauerndorf sein.
Weiter stellen wir östlich von Lenkersheim zwei Weiler
fest, deren Name heute auf -heim ausgeht: Mailheim und
Weimersheim. Beide sind bis an den Westrand des Hohen-
ecker Forstes vorgeschoben und standen vermutlich in irgend-
welchen Beziehungen zu den Straßen, die in das mittlere Zenntal
und damit nach dem Regnitzübergang bei Fürth hinüberleiteten.
Der Weilercharakter dieser Orte braucht nicht gegen karolin-
gischen Ursprung zu sprechen; die landwirtschaftlich ungünsti-
gere Lage hat die Entwicklung zu Großdörfern wie unmittelbar
an der Aisch gehemmt. Ich möchte in beiden Orten fränkische
Wegstationen sehen. Diese Vermutung gewinnt an Wahrschein-
lichkeit, wenn wir südwestlich dieser beiden Orte am Fuß der
Höhe ein anderes eng zusammengehöriges Ortspaar erblicken
mit den typischen Namen Sontheim und Westheim. Ersteres
ist nach Ickelheim orientiert, letzteres wieder nach Sontheim.
Von beiden führen in steilem Anstieg Wege hinauf in den obersten
Zenngrund. Wir müssen es uns einstweilen versagen, den oberen
auf der Keuperplatte nach Osten führenden Wegen und Tälern
nachzugehen; die Durchdringung dieses Gebietes mit fränkischen
Siedlungen fällt erst in das 7. und 8. Jahrhundert. Nur das sei
486 Helmut Weigel
bemerkt, alle von der Natur vorgezeichneten Besiedlungslinien,
die Täler der Zenn und der Bibert samt ihren Zuflüssen, führen
auf den Regnitzübergang (vielleicht sollten wir besser sagen:
Regnitzübergánge) bei Fürth.
Westwärts Westheim stoßen wir erst in Burgbernheim wieder
auf einen -heim-Ort. Dazwischen liegt ein Ort, der unsere Auf-
merksamkeit in Anspruch nimmt: Markt Bergel, 793 Bürgel,
837 Bargilli in pago Rangau, 1007 Biergila. Er liegt dicht vor
dem Anstieg der großen Staatsstraße Würzburg —Ochsenfurt—
Ansbach auf die Hochfläche des Keuperwaldes. Ihre Kurven
schneidet eine weit ältere Straße ab, die siedlungsmäßig ge-
sprochen aus dem Grund der Aisch zu den Oberläufen der Alt-
mühl und der Rezat führt. Politisch angesehen, und zwar aus
der Mitte des 8. Jahrhunderts heraus, ist diese Straße nichts
anderes als die unmittelbarste Verbindung zwischen dem Zen-
trum fränkischer Macht am mittleren Main, dem neuen Bischofs-
sitz Würzburg, und dem fränkischen Vorposten gegen Baiern,
dem gleichfalls neugegründetea Bistum Eichstätt. Oben auf dem
Höhenrand, der den Namen Hohe Steig trägt, kreuzt sich diese
Nord-Süd-StraBe mit einem anderen alten Weg, der von dem
Regnitzübergang bei Fürth herankommt, über die Hohe Leite
die Frankenhöhe westwärts hinabsteigt und das Taubertal bei
dem keltischen Ringwall von Finsterlohr trifft. Daß Bergel frän-
kisches Königsgut ist, nimmt uns nun nicht wunder. Auch die
Deutung des Namens als Verkleinerungsform zu Burg erscheint
uns passend, wobei wir sowohl an eine vorgeschichtliche Be-
festigung auf dem Petersberg, als auch an ein fränkisches Kastell
mit dauernder Besatzung?! denken könnten. Freilich legen die
anderen ältesten Namensformen die Vermutung nahe, daß es sich
um eine Ansiedlung von Bargilden, d. h. von Freien auf Königs-
land handeln kónnte9?, Die Anlage dieser fränkischen Station
haben wir mit der Gründung der Bistümer Würzburg und Eich-
státt zusammenzubringen, also in die Mitte des 8. Jahrhunderts
zu setzen. Die Verbindung zwischen Marktbergel und dem älteren
Uffenheim an der Gollach bilden die spáten -heim-Orte Schweb-
heim und Buchheim sowie einige -hofen-Orte, letztere z. T.,
9 K. Rübel, Das fränkische Eroberungs- und Siedlungssystem in Oberfranken.
Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 54 (1906) Spalte 157f.
53 Vgl. den Anmerkung 48 erwühnten Aufsatz von F. Schneider.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 487
wie Pfaffenhofen und Rudolzhofen, mit Front gegen den Gollach-
wald. Auch Buchheim gibt sich nach seinem Namen als wohl
frübkarolingischer Rodungsort, àhnlich Buchen (774 Bucheim)
an einem Eingang in den Odenwald. Schwebheim liegt wie der
gleichnamige Ort südlich von Schweinfurt in áuBerst nassem,
damals wohl sumpfigem Gelànde. Sollte es sich dabei um eine
Zwangsansiedlung von Nordsweben handeln, die von ihrer nie-
derdeutschen Heimat mit einem solchen Boden und seiner Be-
wirtschaftung wohl vertraut waren? Jedenfalls verrát diese
Siedlungsfolge einen zielbewußten Willen und planmäßigen
Ausbau.
Am Fuß einer weit nach Nordosten vorspringenden Kuppe
der Frankenhóhe liegt, als Reichsgut eindeutig bezeugt, Burg-
bernheim. Auch hier steigt eine alte Straße zur Frankenhóhe
empor, um in südlicher Richtung auf der Wasserscheide nach
Schillingsfürst, einem wichtigen Paßort, und weiter südwestlich
nach den fränkischen Siedlungen im Maulachgau, Crailsheim,
Onolzheim, Ingersheim und Jagstheim, zu verlaufen. Auch diese
Straße schneidet südlich von Burgbernheim die obenerwähnte
Ost-West-StraBe. Die rückwärtige Verbindung Burgbernheims
mit Uffenheim wird wieder durch einige -hofen- Orte gebildet.
Der merowingische Ehegau hat in karolingischer Zeit keine
Erweiterung erfahren, im Gegenteil, er ist von dem Iffgau auf-
gesogen worden. Der Rangau traf in seiner Ausbreitung nach
Westen in den Wäldern zwischen der Gollach und der Tauber
mit dem Gollachgau, dem Taubergau und dem von Süden her
sich gewaltig ausdehnenden Maulachgau zusammen. Genaue und
Sichere Gaugrenzen lassen sich hier nicht ziehen. Die Hauptaus-
dehnung des Rangaus in karolingischer Zeit ging nach dem
Osten und dem Süden, also den Richtungen, die durch den Lauf
der Aisch und durch die Paßorte Westheim, Sontheim und
Marktbergel angezeigt sind. Aber auch die Waldkette zwischen
der Aisch und der Ehe wurde aufgelockert.
In diesen Ausgangsräumen der karolingischen Ausdehnung
sind denn auch einige nur urkundlich überlieferte -heim-Orte
zu lokalisieren. So dürfte ein *Rietheim schon wegen der ur-
kundlichen Zusammenstellung mit Riedfeld bei diesem Ort an-
zusetzen sein. Aus dem gleichen Grund suchen wir ein *Hoch-
heim bei Külsheim; die Ortsnamen Obern- und Unterntief
488 Helmut Weigel
werden uns nun erklärlich. Wir dürfen dieses Hochheim um so
eher als karolingischen -heim-Ort hier annehmen, als die be-
nachbarten Orte Rüdisbronn und Humprechtsau als Rodungs-
orte der gleichen Zeit angehóren dürften. Und es ist wiederum
kein Zufall, daB dieser Durchbruchsstelle durch den Wald
gegenüber im Ehegrund Krautostheim und Markt-Nordheim
liegen. Ein *Urheim dürfen wir bei Urphertshofen, also beim An-
stieg in das Zenngebiet, und ein Hofheim bei Marktbergel,
somit am Anstieg in die Quellgebiete der Rezat und Altmühl
annehmen; móglicherweise ist Hofheim mit Ottenhofen oder
dem in Marktbergel aufgegangenen Niederhofen gleichzusetzen.
Wenn im Aischgrund nicht weniger als 4 karolingische -heim-
Orte wieder verschwunden sind, dann wird es uns auch leichter,
den Weilern Weimersheim und Mailheim fränkischen Ursprung
zuzubilligen.
Gehàuft treffen wir nun auch die -heim-Orte jenseits der
Wasserscheide Geislingen—Weigenheim im Gebiet des Iffig-
baches und der gleichlaufend mit ihm dem unteren Breitbach
zufließenden Bäche:
Herrnbergtheim, 1136 Berhtheim PN Berht,
Ippesheim, 9. Jahrhundert Ippinesheim PN Idbert = Ippo
oder Idwin = Ippin,
Bullenheim, 1023 Bullem PN Bul-,
Seinsheim, 9. Jahrhundert Saunesheim PN Savo,
Iffigheim, ohne Beleg, Flußname Iffig,
Ickelsheim, Ober- und Unter-, 889 Ickilenheim, 1171 Idtol-
phesheim PN It- wie Ippesheim,
Gnötzheim, ohne Beleg, wohl PN,
Martinsheim, Merzensheim, Kirche St. Martin,
Enheim, ohne Beleg.
In der Linie Enheim—Martinsheim —Bullenheim—Iffigheim
war der Südrand des südlichen Mainufer-Waldes erreicht.
Im Gebiet der oberen und mittleren Breit liegen:
Nenzenheim, 1168 Nensenheim PN Nanzo,
Dornheim, 823 Tornheim, 889 Dornheim SN Dorn,
Hellmitzheim, Helmboltsheim PN Helmbolt,
Mónchsondheim, SN ahd. sunt = Süd,
Possenheim, 1139 Bozzenheim PN Posso,
Einersheim, 1023 Einheresheim PN Einher,
Ne i
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 489
*Kirchheim, 823 Kirchaim, 1297 zur Pfarrei Einersheim
gehórig,
Willanzheim, 889 Wielantesheim PN Wielandt,
Herrnsheim, 1155 Hernesheim, wohl PN Her-,
Hüttenheim, 1108 Hittenheim PN Hiddo,
Tiefenstockheim, SN Stock.
Auch in dem ganzen Gebiet von der Gollach bis zum Schwan-
berg überwiegen also die von PN abgeleiteten Ortsbezeichnungen.
Orte abweichender Bildung liegen an dem Süd- und Westrand
des südlichen Mainufer-Waldes: Enheim, Martinsheim (nach
einer dem hl. Martin geweihten Kirche), Iffigheim (nach dem
Bach), Tiefenstockheim (am Buschwald im Tal). Nach Name und
Lage wird Tiefenstockheim Ausbau des Kónigsgutes zu Willanz-
heim sein. Mónchsondheim hingegen kónnte auch auf Iphofen
bezogen werden; es erweckt den Eindruck einer Station zwischen
Iphofen (5 km) und Nenzenheim (4 km), zugleich am Schnitt-
punkt mit einer alten Verbindung von der Aisch über den Bibart-
bach zum Main bei Marktbreit. Die Bezeichnung eines durch
seine Straßenlage wichtigen Platzes nach der Himmelsrichtung
haben wir ja schon mehrfach festgestellt. Die beiden letzt-
erwähnten Gruppen von -heim-Orten füllen das Gebiet der Breit
mit ihrem größten Nebenbach, dem Iffigbach. Keiner der ge-
nannten Orte liegt nördlich der Wasserscheide zwischen Breit
und Wehrbach. Den von Südwesten her kommenden Franken
erschien die Iffig als der erste Bach von Bedeutung; so be-
nannten sie nach ihm die Landschaft Iffgau. Die heutige
Waldverteilung und die Ortsnamen nördlich des Wehrbaches
lassen. vermuten, daB der linksmainische Uferwald sich bis
herüber zum Schwanberg erstreckte, mochten auch einige
Pfade und Wege durch ihn führen. Der fränkische Siedlungs-
vorstoD des 6. Jahrhunderts scheint hier ins Stocken ge-
kommen zu sein.
Als Ostfranken aber fest in die Hand der Pippiniden ge-
kommen war, erschien es notwendig, wohl schon mit Rücksicht.
auf das Slavenproblem, die Verbindung zwischen Würzburg,
dem Hauptort Frankens, und dem Iffgau siedlungsmäßig auszu-
bauen. Als Mittelpunkt im Iffgau, hart an der Waldgrenze wurde
ein neuer Kónigshof geschaffen, der seinen Namen von dem Gau
erhielt: Iphofen, 823 Ippihaoba, 889 Iphahofa, vom Flußnamen
490 Helmut Weigel
Iffig. Hier überschritt die von Kitzingen her kommende Straße
den Wehrbach, um wohl nördlich an Einersheim und Possen-
heim vorbei den Grund der Bibart zu erreichen. Von da führten
dann anscheinend mehrere Wege nach den Königshöfen Forch-
heim und Fürth. Die siedlungsmáBige Verbindung Iphofens mit
dem Mainübergang bei Kitzingen stellen die Orte
Mainbernheim, ohne Beleg, PN Bero (oder SN Bär?),
Fróhstockheim, SN Stock,
Hoheim, Adj. hoch
dar. Die schematische Namengebung tritt beherrschend zutage.
Die Besiedlung ist hier Sache eines überragenden Willens. Es ist
kein Bauernland, was hier neu gewonnen wurde. Es dient hohen
Herren, dem König und bald darauf dem Bischof mit einem vor-
nehmsten Erzeugnis, dem Wein. Dessen Kultur drückt ja heute
noch dem Landstrich von Iphofen bis über Kitzingen hinaus
seinen Stempel auf.
Auch auf der Strecke Ochsenfurt—Kitzingen haben die
-heim-Orte den Main so wenig erreicht, wie zwischen Ochsenfurt
. und Heidingsfeld. Der in ihrem Charakter doch überwiegend
bàuerlich - wirtschaftlichen Landnahme des 6. Jahrhunderts
konnte das überschwemmungsreiche Maintal mit seinen Hoch-
ufern nichts bieten. Die staatliche Kolonisation der Hausmeier-
zeit hingegen rückte an den Fluß heran; für den fränkischen
Staat waren die Mainübergänge von größter Bedeutung. Wir
haben schon festgestellt, wie karolingische Ortsgründungen bei
aller Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Bedürfnisse auf
die Übergänge von Eibelstadt und Ochsenfurt gerichtet sind.
Ihnen entsprach auf der anderen Seite des Maindreiecks Kit-
zingen. Nicht zufällig gründete Bonifatius in Klein-Ochsenfurt
und in Kitzingen zwei Frauenklöster; freilich ist das erstere
wohl sehr bald mit dem Kitzinger vereinigt worden. In Kitzingen
soll Pippin eine Brücke gebaut haben. Jedenfalls das Recht der
Mainüberfahrt auf der Strecke von Heidingsfeld bis Köhler ge-
hörte dem Kitzinger Frauenkloster; ebenso besaß es im Mittel-
alter das Recht des Brückenzolls und die Baupflicht an der
Brücke. Das Kloster war aber in all dem wohl nur der Nach-
folger eines Königshofes. Man wird nun auch Kleinochsenfurt als
einen Reichshof ansehen dürfen. Es muß doch auffallen, dab
die Ortsnamen auf -furt äußerst häufig schematische Bildungen
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 491
sind, bei denen oft Tiernamen das Bestimmungswort abgeben.
So finden wir gerade im Maindreieck Ochsenfurt (Ohsonofurt),
Hirschfeld (Hirzuurtin), Schweinfurt (Swinfurt); ich erinnere
an Lengfurt am Mainviereck und an Steinfurt; ob Haßfurt neben
Frankfurt zu stellen ist, wage ich nicht zu entscheiden. Jeden-
falls ergibt sich doch daraus, daB am Main neben diesen alten
Furten erst in hochfränkischer Zeit Siedlungen entstanden sind,
besser, angelegt wurden.
Bei Kitzingen wirkt die Bodengestaltung wie bei Würzburg.
Sie sammelt auf dem einen Ufer die Wege von allen Seiten; ver-
eint überschreiten sie den Fluß; auf dem anderen Ufer streben
sie nach allen Richtungen auseinander. Nicht so bei Klein-
Ochsenfurt. Der Übergang von Ochsenfurt ist von Natur aus in der
Südwest-Nordost-Linie orientiert, man kann auch sagen, in der
merowingischen Linie Paris—Metz—Kraichgau—Neckar—Ü ber-
gang über den östlichen Thüringerwald—Saale—Elbe. Die karo-
lingische Linie verläuft anders: Niederrhein—Frankfurt —W ürz-
burg, um sich hier zu spalten; die Südlinie zielt auf Ostschwaben
bei Ulm und überschreitet den Main bei Heidingsfeld ; die Süd-
Ost-Linie strebt auf das östliche Baiern, d. h. Regensburg zu, und
geht bei Kitzingen über den Main; dazwischen láuft eine süd-
süd-östlich gerichtete Linie nach dem westlichen Baiern, d. h. nach
Eichstátt und Ingolstadt, die den Main bei Ochsenfurt überquert.
Zu dieser Linie gehórt Gnodstadt. Auf eine zweite von Ochsen-
furt unmittelbar südlich gegen den Paß von Schillingsfürst
ziehende Linie — es ist dies die hochmittelalterliche Straße
Würzburg— Augsburg — deuten die Orte Hohestadt und
Hopferstadt; auch das uns bekannte Osthausen und weiter
Aub an der Gollach liegen neben dieser Straße. Ochsenfurt büßte
also in der Karolingerzeit seine Bedeutung keineswegs ein, aber
es verlegte seine Achse in der Frühkarolingerzeit um 45, bzw.
um 90 Grad. Durch die erwáhnten -stadt-Orte waren nun
Badanach- und Gollachgau siedlungsmäßig mit dem Main bei
Ochsenfurt verbunden.
Für den Iffgau stellte die Verbindung zum Main eine Gruppe
von -feld-Orten südlich von Kitzingen her: Michelfeld, Hohen-
feld, Sulzfeld. Hohenfeld liegt heute im Tal; nur Kirche und
Friedhof auf dem Hochufer bezeichnen noch die Lage des karo-
lingischen Dorfes. Nähere Forschung wird noch entscheiden
492 Helmut Weigel
müssen, ob diese Orte von Kitzingen oder von Iphofen her an-
gelegt worden sind.
Hinter den Mainübergángen Ochsenfurt und Kitzingen
scheint der Weg über Segnitz—Marktbreit (früher Niedernbreit)
an Wichtigkeit zurückgestanden zu sein. Er führte ja auch mitten
hinein in das große Keuperwaldgebiet Mittelfrankens, um, soweit
ich heute die Verháltnisse übersehen kann, sich dort zu verlieren.
Die Verbindungswege zwischen den FluBübergàngen des süd-
lichen Maindreiecks zu sichern, war für die karolingischen Haus-
meier eine Notwendigkeit. So finden wir denn tatäschlich an den
Schnittpunkten dieser Linien Fiskaldörfer mit vertrauten
Namen:
Kaltensondheim, ohne Beleg, SN Süd, Kalten- unerklärt,
Westheim, ohne Beleg, SN West,
Theilheim, ohne Beleg, mundartlich für Thalheim SN Tal.
Die ersten beiden sind wohl nach Kitzingen benannt.
Der Durchbruch von Süden und Osten her an und über den
Main war in siedlungsmäßiger Hinsicht das Werk der Hausmeier-
zeit. Wir haben dasselbe auch für den Durchbruch von Süd-
westen her gegen Würzburg festgestellt. Trotzdem muB Würz-
burg schon im 6. Jahrhundert von den Franken besetzt worden
sein. Aber die Kraft des Siedlungsvorstoßes lieB merklich nach.
Die Zahl der mit Personennamen gebildeten -heim-Orte wird
jenseits von Würzburg absolut und relativ geringer. Mit einer
einzigen Ausnahme, dem fruchtbaren Tal der Wern, das die
fränkischen Bauern reizte. Die Hochfläche des Maindreiecks bis
hin zur Wern weist nur drei oder vier ältere -heim-Orte auf. Von
ihnen liegt Bergtheim, Berhtheim, PN Bercht-, zentral in dem
mittleren Teil des Maindreiecks zwischen Main und Gram-
schatzer Wald an der Straße Würzburg—Geldersheim—Salz
(sämtliche drei Orte waren Reichsgut). Die Verbindung mit
Würzburg ist durch die Orte Lengfeld, Estenfeld, Kürnach und
die beiden Pleichfeld gegeben. Westlich gegen den Wald ist eine
Vorpostenlinie von -hausen- Orten vorgeschoben, die ein Maid-
bronn als südlicher Eckpunkt abschließt; Lage und Name lassen
ihren Ursprung auf Rodungsland eindeutig erkennen. Ob der
Weiler Gadheim (ohne Beleg) fränkisch ist, kann nur die
Erforschung des StraBensystems am und im Gramschatzer Wald
ergeben. Nordóstlich von Bergtheim finden wir dann in bunter
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 493
Mischung an dem Ostabfall der Hochfläche eine Reihe von Orten
auf -feld, -hausen und -stadt, die sämtlich an Mainüber-
gàngen von beschränkter Bedeutung liegen. Von größerer Wich-
tigkeit sind lediglich
Theilheim, 1098 Daleheim, SN Tal, und
Dächheim, ohne Beleg,
beide gegenüber der alten Übergangsstelle von Hirschfeld. Nach
Westen vermittelt Theilheim zur Wern, d. h. zu den Straßen,
die über Gemünden nach Aschaffenburg, oder von der Wern
südwestlich durch den Waldsassengau zum Neckar führen.
Die Wasserscheide Wern— Main bildet wohl auch die Grenze
zwischen Gozfeld und Werngau. Der Name Gozfeld ist noch
unerklärt; sein Kerngebiet dürfte durch die Orte Bergtheim,
Püssenheim, Eisenheim, Prosselsheim bestimmt sein.
An der Wern traf der VorstoB der Franken auf die drei schon
früher erwähnten -leben-Orte, EBleben, Zeuzleben, Ettleben.
An ihnen vorbei glitt er in der Hauptsache wernabwärts. Wir
finden:
Gänheim, 889 Gouvnheim PN Gawi-,
Maria Sontheim, SN Süd,
Reuchelheim, 1187 Ruchilnheim, PN Rugilo,
Müdesheim, 9. Jahrhundert Muotwinesheim, PN Muotwin,
Halsheim, 770 Haholtesheim PN Haholt,
EuBenheim, 1167 Uzenheim PN Uzo,
Góssenheim, 789 Gozzinheim PN Gauto,
Sachsenheim, VN Sachso = Sachse.
Die mit PN gebildeten Ortsbezeichnungen überwiegen. Die
beiden Ausnahmen sind überaus kennzeichnend. Maria-Sont-
heim besteht heute nur noch aus einer Kirche und wenigen
Häusern, es ist von einer Siedlung bei Arnstein oder wegen
seiner Lage am Südufer der Wern so benannt. Es hatte den
Übergang eines Weges über die Wern zu decken, der als Höhen-
weg von Würzburg her kam und über Alt-Bessingen und Fuchs-
stadt zur Saale lief, die er bei Westheim überschritt. Sachsen-
heim, gleichfalls eine Gründung des 8. Jahrhunderts, ist zu-
sammen mit Wernfeld wohl zu erklären als eine Niederlassung,
die Gössenheim als letzte der älteren Siedlungen an der unteren
Wern mit dem verkehrswichtigen, etwa 10 km entfernten Ge-
münden verbinden sollte. Eine süd-nördliche Verbindung ist aus
494 Helmut Weigel
der Karte nicht mit der gleichen Sicherheit zu erkennen. Der
Hauptort des Werngaus ist wohl Gänheim mit seinem Konigs-
hof gewesen. Als karolingische Binnenkolonisationsorte stellen
wir ein Mühlhausen, ein Stetten und zwei -feld - Orte,
Binsfeld und Aschfeld fest. Nach letzterem wird in den Fuldaer
Urkunden mehrfach ein nördlich sich erstreckendes Siedlungs-
gebiet der Aschfeldgau genannt.
Vom Wernknie aufwärts findet sich nur ein alter -heim-Ort,
Geldersheim, 804 Geltherenheim, PN Galther. Nördlich von
ihm setzen die -ungen- (ingen-) Orte der Thüringer ein. Die
-heim-Orte, die unter sie eingestreut sind, weisen durchweg
schematische Bildung und eine politisch wichtige Lage auf,
sind also erst der Hausmeierzeit zuzurechnen. In den Fuldaer
Urkunden des 9. Jahrhunderts wird Geldersheim als villa publica
bezeichnet. Die beiden Übersetzungen Reichsdorf und Königshof
sind zutreffend, wenn auch im 9. Jahrhundert in Geldersheim
viel freieigener Besitz vorkommt. Wie dürfen ja nie vergessen,
daß zwischen der Gründung von Geldersheim und den Fuldaer
Urkunden das 7. Jahrhundert liegt, das bei der Schwäche des
Königtums die Ausdehnung des freien Eigens begünstigte. Die
fränkischen Hausmeier erneuerten den Charakter Geldersheims
als eines Reichsdorfs so stark, daß die Einwohner des Ortes sich
noch im 12. Jahrhundert als cives bezeichnen, d. h. mit dem
Namen der für die freien Einwohner königlicher Städte üblich
wurde. Die Lage Geldersheims ist landwirtschaftlich gesehen
äußerst günstig; aber auch die Verbindungslinien zwischen dem
Kastell Hammelburg und den Mainübergängen Schweinfurt und
Grafenrheinfeld ziehen in nächster Nähe vorbei. Da Gelders-
heim im 9. Jahrhundert dem Grabfeld zugerechnet wird, das
jüngere Königshofen an der Saale als Königshof der einst stärker
bewaldeten Landschaft anzusehen ist, die jetzt den Namen
Grabfeld trägt, so liegt die Vermutung nahe, daß der mero-
wingische Kern des Grabfeldes die Gegend beiderseits des Mains
zwischen Geldersheim und Gochsheim war, und daß die gewaltige
Ausdehnung des Gaues Grabfeld über die Waldgebiete des Nor-
dens, ähnlich der Ausdehnung des Rangaues, des Iffgaues und
des Volkfeldes, in die karolingische Zeit fällt.
Der fränkische Siedlungsvorstoß kam an der Wern vor dem
Waldgebiet nördlich der Linie Gemünden—Schweinfurt, also
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 495
an der Südgrenze der Buchonia, zum endgültigen Stillstand.
Aber er hatte von Würzburg aus neben der nórdlichen auch eine
nordóstliche Richtung eingeschlagen. Wir finden nämlich zwi-
schen Theilheim und Kitzingen am Main folgende -heim-Orte:
Stammheim, SN ahd. stamm = Stamm, Hochwald,
Eisenheim, Ober- und Unter-, 788 Isanesheim PN Iso,
Püssenheim, ohne Beleg, wohl PN Busso,
Prosselsheim, 903 Prozzoltesheim PN Prozzolt,
Astheim, SN Ost,
Nordheim, SN Nord,
Mainsondheim, SN Süd,
Mainstockheim, SN ahd. stock — Busch,
*Ostheim, SN Ost.
Die drei letztgenannten Orte gehören zu einem Königshof Det-
telbach, der für Mitte des 8. Jahrhunderts bezeugt ist. Viel-
leicht gehórt auch Nordheim noch zu ihm; allerdings kónnte
dieses auch nach der Übergangsstelle von Kóhler orientiert sein.
Mainsondheim deutet auf eine Straße, die bei Dettelbach den
Main überschreitet, das sumpfige Mündungsgebiet des Castell-
baches bei Münsterschwarzach umgeht, über Atzhausen zum
Steigerwald und weiter über die Regnitz in den Raum Seußling,
Buttenheim und Eggolsheim führt. Daneben aber hat Dettel-
bach die zweite Aufgabe, die etwas lange Wegstrecke zwischen
den Übergängen bei Kitzingen und an der Vogelsburg, gleich-
falls Reichsgut, zu überbrücken. Die zwei Vogelsburger Über-
gänge gewannen anscheinend erst in der karolingischen Zeit an
Bedeutung. Darauf weisen nicht nur die beiden Namen Astheim
und Nordheim, sondern auch die Breite und starke Feuchtigkeit
des Maingrundes an diesen Stellen. Weiter führen die von Ast-
heim und Nordheim ausgehenden Wege in ein Gebiet, das nach
Ausweis seiner Ortsnamen nicht vor der Hausmeierzeit dem
Wald und dem Sumpf abgewonnen wurde. Hingegen liegen die
drei mit PN gebildeten -heim-Orte um den alten Übergang von
Fahr, eben an der engsten Stelle des Maintales kilometerweit
auf- und abwärts. Die rückwärtige Verbindung mit Würzburg
wird siedlungsmäßig freilich erst später durch eine Kette von
-feld-Orten hergestellt. Der erste Anmarschweg der Franken
im 6. Jahrhundert ist der auf der Karte deutlich erkennbare
Höhenweg Würzburg—Prosselsheim— Fahr gewesen.
496 Helmut Weigel
Ist unsere Aufstellung über das Alter der Mainübergänge
richtig, so müssen auch auf dem östlichen Mainufer die -heim-
Orte der Merowinger- und der Hausmeierzeit entsprechend grup-
piert sein. Ich verzeichne:
Langheim, Groß- und Klein-, 837 Lancheim Adj. ahd. lanc,
Krautheim, 889 Chrutheim SN ahd. chrut = Kraut,
Frankenwinheim, 9. Jahrhundert Winideheim VN ahd.
Winid = Wende (Wendenheim in Franken),
Mönchstockheim, ohne Beleg, SN ahd. stock,
Sulzheim, ohne Beleg, SN ahd. sulz = Salzwasser, Sumpf,
Zeilitzheim, ohne Beleg, PN Ziolf,
Kolitzheim, 791 Coldleibesheim PN Golth-,
Herlheim, 889 Herilindesheim PN Herlind,
Alitzheim, ohne Beleg, wohl PN Athalolt,
Spiesheim, Ober- und Unter-, 791 Spiozesheim, wohl PN
Spio-,
Schwebheim, 1122 Swebehim VN Swabo =Schwabe, Sueve,
Gochsheim, 8. Jahrhundert Gohhesheim PN (oder SN ahd.
gouh = Kuckuck ?),
Gàdheim, ohne Beleg,
Euerheim, Ober- und Unter-, PN Uro (?),
Püsselsheim, ohne Beleg, PN (?),
Westheim, ohne Beleg, SN West.
Der Raum Iphofen—Kitzingen—Volkach—Michelau war
Waldgebiet. Die beiden Langheim liegen nach Ausweis von Flur-
namen in der Nähe von Straßen, die anscheinend auf den Steiger-
waldhóhenweg Prichsenstadt—Seußling führten. Eingehendere
Forschung wird den Anteil der Königshöfe Kitzingen, Iphofen,
Dettelbach und des Klosters Münsterschwarzach an der Binnen-
kolonisation des südlichen Volkfeldes festzustellen haben. Östlich
des Mainüberganges bei dem Königshof Vogelsburg finden wir
jüngere -heim-Orte, die alle in Beziehung zu dem Königshof in
Rügshofen (bei Gerolzhofen) zu stehen scheinen. Krautheim
und Frankenwinheim vermitteln den Weg zum Astheimer Main-
übergang. Mónchstockheim und Sulzheim sind gegen den Wald
und den Sumpf an der Nordwestecke des Steigerwaldes vorge-
schoben; bei Mönchstockheim zweigt nordöstlich die Straße
über Steinsfeld nach dem Mainübergang Haßfurt ab; Sulzheim
verbindet mit den Übergängen von Schweinfurt und Grafen-
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 497
rheinfeld. Von Rügshofen selbst gehen zwei Hóhenwege über den
Steigerwald zu den Unterläufen der Aurach und der Rauhen
Ebrach. Endlich sei noch auf die -feld-Orte südlich von Rügs-
hofen verwiesen. Mit einem Wort, auch Rügshofen bietet das
uns bekannte Bild eines Kónigshofs, der die großen Fernwege
zusammenfaBt und die trennenden Wálder durch Rodung auf-
lockert, kurz, die bisher getrennten Siedlungsflächen zu einem
zusammenhängenden Staatsgebiet vereinigt.
Der Mainübergang von Fahr bringt uns in das Gebiet der
von Personennamen gebildeten -heim-Orte zwischen der Volkach
und dem Unkenbach. Man wird diesen Raum als den mero-
wingischen Kern des Volkfeldes ansehen dürfen. Volkach —
nicht die Stadt, sondern das westlich am Abhang des Kirch-
berges gelegene Dorf — wird der vorfränkische Mittelpunkt
dieser Landschaft gewesen sein. In der karolingischen Zeit
breitete sich dann der Gau über den Steigerwald hinweg um-
fassend nach Osten aus, wobei Rügshofen einer der Ausgangs-
punkte war.
Schon bei Oberspießheim kann man sich des Gedankens
nicht erwehren, ob nicht dessen Anlage mit der alten Straße, heute
Hochstraßweg genannt, von Fahr nach Haßfurt zusammen-
hängt. Erst recht drängen sich solche Fragen auf, wenn wir
eine Hohe Straße als Weg von Hirschfeld (furt) über Heiden-
feld nach Schwebheim feststellen, um so mehr, da wir uns
erinnern, daß das Schwebheim im Rangau auf ganz gleichem,
äußerst feuchtem Boden angelegt ist; wir bemerken ferner, dab
die Verlängerung der eben erwähnten Hochstraße über Euerheim
und Steinsfeld nach Osten um die Nordflanke des Steigerwaldes
herumführt. Gochsheim gehört verkehrsmäßig irgendwie zu den
Übergängen von Grafenrheinfeld und Schweinfurt Sennfeld.
Diese vier Orte aber liegen alle noch im Hochmittelalter auf
Reichsboden. Ihre Anlage muß mit Straßenzügen zusammen-
hängen, die von dem Westen, Hanau—Birkenhainer Straße—
Gemünden, herkommend, den Main bei Schweinfurt und Grafen-
rheinfeld überschreiten und längs des Mains an dem fränkischen
Kastell Eltmann (Altimoin) vorbei nach Hallstadt verlaufen,
d. h. dort, wo Mitte des 8. Jahrhunderts das politisch noch nicht
gesicherte „Slavenland“ an Franken grenzte. Die Parallele mit
dem Lippeweg Karls in den Sachsenkriegen drängt sich auf.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.3. 32
498 Helmut Weigel
Und dem Hellweg vergleichbar, erreicht jene obenerwähnte
Hochstraße Würzburg—Fahr—Spiesheim über Dürrfeld und
Püsselsheim bei Steinsfeld diese West-Ost-StraBe. An ihr
liegt als wichtigster Punkt das Königsgut Knetzgau. Süd-
westlich davon, bart an den Fuß des Steigerwaldes vorgeschoben,
deckt Westheim einen Hóhenweg, der über Geusfeld und
GroBbirkach, an Geiselwind vorbei, in die dichter bevöl-
kerten Täler des Scheinbachs und des Laimbachs (Nebentäler
der Aisch) führte. Östlich von Knetzgau finden wir im Maintal
bis Hallstadt keine alten -heim-Orte mehr. Ebensowenig nórd-
lich des Mains.
Denn die -heim-Orte nördlich von Haßfurt tragen das Ge-
präge der Hausmeierzeit; es sind typische Bildungen:
Rügheim, 814 Rugiheim Adj. ahd. ruh = buschreich,
Hofheim, 12. Jahrhundert Hofheim SN Hof,
Ostheim, SN Osten.
Das gleiche gilt von den -heim-Orten im Steigerwald:
Theinheim, mundartlich = Thannheim SN Tanne,
Burgwindheim, 9./10. Jahrhundert Winet Hochheim (?),
Wined — Wende,
Heuchelheim, 856 Huchilheim SN ahd. huckil = kleiner
Hügel.
Allen drei ist gemeinsam die lage: am Tal 3—4 km unterhalb
alter Höhenstraßen, die von den Königshöfen Dettelbach und
Vogelsburg—Astheim kommend die Regnitz bei Bamberg und
Seußling erreichen. Auffällig ist, daß sämtliche drei an einer
nahezu geradlinigen Nord—Südlinie liegen, die vom Main bei
Knetzgau oder wohl richtiger bei Eltmann ausgeht und bei
Rietheim-Riedfeld auf die Aisch trifft. Man möchte hierin einen
frühkarolingischen Limes erblicken.
Nun finden wir aber jenseits dieser Linie im Regnitztal noch
Buß -heim-Orte älterer Bildung:
Gundelsheim, 1136 Gundolfesheim PN Gundolf,
Buttenheim, 1118 Butenheim PN Bodo, |
Eggolsheim, 889 Eggolfesheim PN Agilolf,
* Röthelheim, 16. Jh. Bachname bei Erlangen, PN
Radilo (?), Ä Ä
dazu noch als jüngere Bildung
Forchheim, 889 Forahheim SN ahd. forah = Föhre.
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 499.
Buttenheim und Eggolsheim könnten tatsächlich noch Sied-
lungen des 6. Jahrhunderts sein; denn sie liegen nahe bei Seußling,
dem Regnitzübergang der Straße Würzburg—Prosselsheim—
Vogelsburg—Steigerwald. Bei Gundelsheim scheint mir nach
der Lage am nórdlichen Rand der Main-Regnitz-Bucht und
östlich des karolingischen Königshofes Hallstadt ein Hinauf-
rücken bis ins 6. Jahrhundert bedenklicher, unmöglich aber ist
eine solch frühe Entstehung nicht. Forchheim möchte ich nach
seiner Namensbildung der Hausmeierzeit zurechnen. Es ist zu-
dem der Endpunkt einer Straße ins Slavenland, die von Würz-
burg ausgeht, bei Kitzingen den Main überschreitet, bei Castell
die Höhe des Steigerwaldes erklimmt, ihn ostwärts über Burg-
haslach durchzieht, bei Lauf (beliebter Name für Flußüber-
gänge) die Aisch überschreitet und bei Burk sich ins Regnitztal
gegen Forchheim hinabsenkt. Eine fränkische Siedlung * Röthel-
heim südlich von Erlangen ist im Hinblick auf eine in der Nähe
vorbeiziehende Eisenstraße aus der Oberpfalz und auf den gleich-
namigen Vorort von Frankfurt a. Main nicht unwahrscheinlich,
Wieder wie gegen Norden am Main und gegen Süden am
Keuperwald, so haben wir gegen Osten an der Regnitz die
Grenze der mit Personennamen gebildeten -heim-Orte auf frän-
kischem Boden erreicht. Aber das -heim-Problem ist damit noch
nicht allseitig erfaßt. Die -heim-Orte in den großen Waldgebieten
Frankens, im Steigerwald, im Grabfeld, in der Rhön und im
Spessart erheischen eine besondere Würdigung, nicht minder
jene allerdings sehr kleine Zahl von -heim-Orten östlich der
Regnitz bis zur Böhmischen Grenze. Endlich erfordern auch die
-heim-Orte im fränkisch-baierisch-schwäbischen Grenzgebiet
von der Naab bis zur Jagst und südlich bis zur Donau eine ein-
gehende Untersuchung. Vorarbeiten dazu sind im Gange.
V.
Doch auch Ostfranken, wie wir es oben umgrenzt haben,
bietet noch Fragen genug. Denn unsere Ergebnisse sind erst ein
bescheidener Anfang. Fassen wir sie noch einmal kurz zusammen.
Das Ostfranken der Merowingerzeit, begrenzt durch die Keuper-
wälder der Hohenloher Ebene, der Tauber und der Gollach,
durch den Steigerwald, durch die Wälder von den Haßbergen
bis zum Spessart, war auch längs des mittleren Mains von einem
32*
500 Helmut Weigel
Waldgürtel durchzogen, der aller Wahrscheinlichkeit nach Ala-
mannen und Thüringer voneinander trennte. Die Besiegung der
Alamannen zu Beginn des 6. Jahrhunderts führte zur Ansetzung
fränkischer Siedler in dem Raum zwischen Neckar, Main, Steiger-
wald und Keuperwald. Diesem älteren SiedlungsvorstoD sind
die mit Personennamen gebildeten -heim-Orte zuzuschreiben,
die das oben bezeichnete Gebiet geradezu beherrschen. Doch
setzte sich das Vorrücken der Franken bis zu den Randwäldern
der Buchonia und bis zur Regnitz fort, wenn auch mit ver-
minderter Kraft. Die -heim-Orte älterer Bildung sind hier noch
führend, aber nicht mehr beherrschend. Nach 561 entglitt Fran-
ken mehr und mehr den Merowingerkónigen. Erst Pippin der
Mittlere und Karl Martell stellten die Herrschaft der Zentral-
gewalt in Ostfranken wieder her. Neue fränkische Anlagen,
Königshöfe und Fiskaldörfer, letztere mit schematisch sich
wiederholenden Bestimmungswörtern und der Endung -heim,
hatten nicht nur die wirtschaftliche Aufgabe durch Rodungen
neues Siedlungsland zu gewinnen, sondern auch die politische,
eben durch die Rodung die einzelnen Siedlungsstreifen und
Siedlungskreise zu einem großen zusammenhängenden Sied-
lungsgebiet zusammenzufassen. Erst ein von Siedlungen, d. h.
von Menschen hinreichend erfülltes Land vermag politisch eine
Rolle zu spielen. Diese Umwandlung Ostfrankens aus
einem Kolonialgebiet zu einem vollgewichtigen Reichs-
teil, ist das Werk der karolingischen Hausmeier, also
des Staates, der sich dabei freilich auch des einhei-
mischen Adels bediente.
Damit ergeben sich nun weitere Aufgaben für die Forschung.
Das nächste wird sein, Umfang und Verteilung des fränkischen
Reichsgutes so genau wie móglich festzustellen. Von da aus
werden auch die von Dopsch aufgeworfenen Fragen nach der
Organisation des Reichsgutes neues Licht erhalten. Gleichzeitig
mit diesen Untersuchungen über die karolingischen Fisci werden
andere unternommen werden müssen, deren Aufgabe es ist, die
Gemarkungen der merowingischen Dórfer abzugrenzen. Es
wird damit auch die Lósung der Frage gefórdert, inwieweit diese
Frankensiedlungen volksmáBig genossenschaftlichen oder grund-
herrlichen Charakter trugen. Eine dritte Gruppe von Unter-
suchungen wird sich damit befassen müssen, den Anteil des
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 501
Königs, des Adels und der Kirche an der Gewinnung von Neu-
land durch Rodungen abzugrenzen. Ich habe diese Unter-
suchungen, soweit sie das gedruckte Quellenmaterial zuläßt,
bereits in Angriff genommen.
Aber es ist klar, daß ohne die Heranziehung von archiva-
lischem Material des Hoch- und Spätmittelalters diese Fragen
nicht in erforderlicher Weise behandelt werden können. Von
grundlegender Bedeutung sind dabei die bäuerlichen Weis-
tümer, deren baldige Herausgabe wir von der Gesellschaft für
Fränkische Geschichte erhoffen. Auch die Flurnamensamm-
lung bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte wird,
wenn einmal gewisse äußere Voraussetzungen erfüllt sind,
wertvolle Dienste leisten können. Aber all diese Schreibtisch-
arbeiten müssen ergänzt werden durch Studien im Gelände,
wobei die Denkmäler bäuerlichen Rechtslebens besonders be-
rücksichtigt werden müssen.
Erst recht gilt dieses Zusammenspiel von archivalischer For-
schung und von Geländestudien für ein grundlegendes Sonder-
gebiet, an dem die mittelalterlichen Historiker achtlos vorüber-
zugehen pflegen, weil sie sich — A. Dopsch wohl bewundernd,
ihn aber nicht nachahmend — ängstlich von der römisch-ger-
manischen Forschung, von der Alt- und Vorgeschichte abkapseln:
die Straßenforschung®®. Auch die Franken der Merowinger-
zeit sind auf Straßen nach Ostfranken gekommen; freilich haben
sie als echte Bauern ihre Dörfer nicht an den Straßen, sondern
etwas abseits angelegt. Erst recht waren die karolingischen
Hausmeier bei ihren Kriegszügen und Reisen auf Straßen ange-
wiesen, ja wir wissen, daß viele Fiskaldörfer zum Schutz wich-
tiger Straßen und Pässe angelegt sind. Es ist höchste Zeit, die
Erforschung der mittelalterlichen Straßen und Wegesysteme
in Ostfranken in Angriff zu nehmen. Die Aufgabe übersteigt die
9 Über die vorgeschichtlichen Straßen: K. Schumacher, Die Erforschung des
römischen und vorrömischen Straßennetzes in Westdeutschland. 3. Bericht der
Römisch-germanischen Kommission S. 26ff. Fr. Hertlein, Die Eigenart vorgeschicht-
licher Wege. Württembergische Studien. Festschrift für Eugen Nägele (1926) S.
163—176. Zur fränkischen Königsstraße: K. Rübel, Reichshöfe im Lippe, Ruhr-
und Diemelgebiet (1901) S. 73—75. Ihr Verhältnis zum Königsgut: O. Bethge, Pro-
gramm der Humboldtschule Frankfurt a. M. 1913/14 S. 23—26; sowie K. Schu-
macher, Siedlungsgeschichte des Rheinlandes 3, 117—141.
502 H.Weigel: Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merow.-karol. Reich
Arbeitskraft eines einzelnen; aber die Reichslimeskommission
hat uns in unübertrefflicher Weise gezeigt, wie diese Forschungen
zu organisieren sind. Ohne die StraDenforschung aber schwebt
jede Siedlungsforschung in der Luft.
Und sie bedarf noch einer anderen Stütze, nàmlich genauer
Untersuchungen über die Waldbedeckung, über die größeren und
kleineren Sumpfgebiete, also über den siedlungsfeindlichen oder
doch siedlungsungünstigen Boden“, und andererseits über die
Lößvorkommen und andere besonders siedlungsfreundliche
Bodenarten®®. Die Ergebnisse einer solchen Bodenforschung sind
in Karten niederzulegen, für die sich die Maßstäbe 1:50000 oder
1:25000 empfehlen. Grundlage dieser Forschungen sind so-
wohl archivalisches Material, darunter auch Karten, besonders
alte Wildbannkarten, Flur- und Wasserlaufnamen, und vor
allem wieder Studien im Gelände selbst, zu denen aber der Ge-
schichtler den Geographen und den Geologen heranziehen wird.
Auch diese Aufgabe, die naturgegebenen Grundlagen der Sied-
lung, die Verteilung von Wald, Sumpf und agrarischem Nutz-
land für die Zeit um 500 festzulegen, kann nur eine festgefügte,
straffgeleitete, von sachlich und idealistisch denkenden Men-
schen getragene Organisation in entsagungsvoller Einzelarbeit
bewältigen.
% Vgl. Anm. 28.
5 Bisher noch für keine deutsche Landschaft vorhanden.
503
Studien zur mittellateinischen Dichtung.
Übersicht:
I. Zum Problem der literarhistorischen Stellung des , Ruodlieb". Von Kurt
Dahinten. — II. Studia Burana. Von Walther Bulst. — III. Eine unbekannte mittel-
lateinische Satire gegen die Geistlichkeit. Von Hans Walther.
L Zum Problem der literarhistorischen Stellung des ,,Ruodlieb*.
Von
Kurt Dahinten.
Größere epische Gebilde, deren Stoff nicht ausschließlich
Eigentum ihrer Verfasser ist, gestatten stets zwei Arten der
Betrachtung: die einen sehen nur die Vielheit einer mit mehr
oder weniger Kunst zu einem Ganzen vereinigten Stoffmasse,
die anderen richten den Blick unbeirrt auf das Ganze und wollen
nur die Einheit gelten lassen. So ist es bei den homerischen Ge-
dichten, so beim Nibelungenlied. Einordnen in eine literarhisto-
rische Entwicklung und Beurteilung der Leistung eines Dich-
ters kann nur ermöglicht werden durch eine Analyse, die, um
mit Karl von Kraus zu reden „den Gesamteindruck einer Dich-
tung in seine Teile zerlegt und die Geschichte dieser Teile ver-
folgt". Mit Hilfe dieses Verfahrens hat man auch in das Dunkel
der literarhistorischen Stellung des 'Ruodlieb' Licht zu bringen
versucht, vor allem ist es Konrad Burdach gewesen, der mit
einer ganzen Reihe wichtiger Hinweise der Forschung den rich-
tigen Weg gewiesen hat, an dessen Endpunkt erst eine literar-
geschichtliche Würdigung der Dichtung móglich sein wird. Hier
sollen einige bedeutungsvolle Punkte stärker herausgearbeitet
und mit bisher vernachlässigten Argumenten belegt werden.
I.
Mit guten Gründen hat Burdach (‘Die Entstehung des mittel-
alterlichen Romans’, abgedruckt in ‘Vorspiel’ I, 1, S. 101f.)
504 Kurt Dahinten
auf das Verhältnis zwischen der Ruodlieb-Dichtung und der
Antike hingewiesen, besonders in bezug auf die Beschreibungs-
kunst des deutschen Dichters und seine Freude am Genrehaften.
DaB uns auch sonst in dem Epos antike Luft anweht, hat bereits
der erste Herausgeber Schmeller schón an der Szene IX, 30ff.
gezeigt (vgl. Burdach S. 153). Nicht gesehen hat man das antike
Motiv in der Schilderung der Grämlichkeiten und Gebrechen
des Alters frg. XIV. Mit des Dichters Hang zu realistischer Dar-
stellung ist jene abstoßend häßliche Schilderung nicht zu er-
klären. (Vgl. dazu Loewenthal, Bemerkungen zum Ruodlieb,
Z. f. d. A. 64, S. 133, wo die drastische Realistik des Dichters
als eine Eigentümlichkeit bezeichnet wird, die er z.B. mit
Wolfram von Eschenbach teile.) Gerade an dem genannten
Fragment aber läßt sich zwingend erweisen, daß der Ruodlieb-
Dichter einer literarhistorischen Tradition verhaftet ist, deren
Entwicklungslinie man wenigstens in diesem Motiv bis ins ein-
zelne verfolgen kann. Der Jammer über das Altwerden und die
realistisch-widerwärtige Schilderung der Gebrechen des Alters
ist nämlich ein uralter Topos der antiken Literatur. Zum ersten-
mal ist er bezeugt bei Mimnermos, der geradezu sprichwörtlich
für die Verwendung jenes Motivs in seinen Elegien geworden ist.
‘Lieber mit 60 Jahren sterben als die Plagen des Alters erleben
müssen' (frg. 2 bei Crusius). Diese Klage muB er ófter ange-
stimmt haben, denn er forderte damit den Widerspruch des
Solon heraus, der in einer männlich-schönen Elegie dem gries-
grämigen Sänger die gebührende Antwort gab. Aber das Motiv
ist nicht wieder verstummt: es taucht wieder in den Chorliedern
der griechischen Tragódie auf, vornehmlich bei dem Realisten
und Pessimisten Euripides. (Vgl. besonders Herakles V. 107
bis 129, ferner V. 637ff.) Selbstverstàndlich hat es seinen Weg
auch in die rómische Elegie genommen, und in den Chorliedern
der Tragödie des Seneca begegnet es häufig, zumal die Personen
des Chors genau wie im griechischen Drama meist Greise sind.
Selbst der antike Roman bietet ein Beispiel für die Verwendung
jenes Topos: in den saturae des Petronius singt der ewige Verse-
macher Eumolpus eine Elegie auf das Alter, in der besonders
der Haarausfall mit all seinen fatalen Folgen ausgemalt wird,
und die in der Pointe gipfelt: 'Du fürchtest und fliehst das
Geláchter der Mádchen. Der Tod kommt bald, das glaube mir,
Studien zur mittellateinischen Dichtung 505
denn mit dem Ausfall der Haare ist bereits ein Teil des Kopfes
gestorben.’ Man vergleiche damit die Verse des Ruodlieb XIV,
45ff. VE nach M. Heyne):
Wenn er der Jugend frohem Reigen naht,
So weicht man aus und gibt ihm herbe Worte;
Und will er, hingerissen vom Gesange
Und wieder jung sich träumend, gar am Tanze
Teilnehmen, o, dann hat der Spott kein Ende.
Da seufzt er schmerzlich auf aus tiefstem Herzen
Und sagt zu sich in Tránen: Tod, du Ende
Von jedem irdschen Übel, warum kommst du
So spät, aus dem Gefängnis mich zu lósen?
Die verháltnismáBig groBe Ausdehnung der Schilderung im
Ruodlieb läßt den Verdacht aufkommen, daß der Dichter über-
haupt unmittelbar nach einer Vorlage gearbeitet hat, um so mehr,
als doch gerade im Munde der Mutter die abstoDenden Bilder,
mit denen die Darstellung durchsetzt ist, recht wenig geschmack-
voll wirken. Manitius macht m. W. als einziger auf die erste
Elegie des Maximian aufmerksam, die in überaus breiter Form
und mit einer ans Widerwärtige grenzenden Detailmalerei, die
vor allem auch vor dem Obszónen nicht haltmacht, eine Schil-
derung der Gebrechen des Alters enthált. Man bekommt bei der
Lektüre den Eindruck, da8 der Ruodlieb-Dichter diese Elegie
gekannt und seine Darstellungskunst an ihr geschult hat, min-
destens in Hinblick auf die in Frage stehende Episode. Hier ist
er jedenfalls — mag man nun an eine direkte Abhängigkeit von
einer Vorlage glauben oder nicht — ein NutznieBer antiken
Stoffgutes, eine Tatsache, die auch an der Originalität seiner
Schilderungskunst einige Zweifel aufkommen läßt.
II.
Ein zweiter áuBerst wichtiger Hinweis von Burdach in dem
schon genannten Aufsatz betrifft die Berührungspunkte der
Ruodlieb-Dichtung mit dem antiken Roman. Als solche Be-
rührungspunkte können gelten das Schema Ausfahrt — Aben-
teuer — Heimkehr und Wiedervereinigung, das Auseinander-
fallen der Komposition, die einfach Abenteuer an Abenteuer
reiht, die ganze Technik der epischen Erzáhlung, vor allem aber
auch das mangelnde psychologische Interesse an den Haupt-
personen, eine Tendenz des antiken Romans, die E. Rohde, Der
506 Kurt Dahinten
griechische Roman und seine Ausläufer, 1914, S. 182 dahin ge-
kennzeichnet hat, daß ,,die mangelnde Intensität des Interesses
durch Extension der Ereignisse, das im Innern wirkende Leben
durch eine unruhige äußere Lebhaftigkeit ersetzt wird“. Ge-
wisse Züge unseres Gedichtes zeigen starke Ähnlichkeit ins-
besondere mit dem Alexander-Roman, der seit dem 4. Jahr-
hundert n. Chr. in lateinischen Bearbeitungen zugänglich war.
Antike Fabuliersucht hat sich hier der Person des Welteroberers
bemächtigt und sie ihrer Attribute entkleidet; nicht mehr der
Kriegsmann interessiert, sondern der wagemutige Abenteurer,
der tief in das Reich des Wunderbaren eindringt (Alexander:
Indien). Freilich hat für diese Tendenz der Sänger der Odyssee
das große Vorbild gegeben, wie denn auch dieses Epos der Aus-
gangspunkt für die antike Reisefabulistik geworden ist. In der
Odyssee geht es im Grunde äußerst unheroisch zu: nichts von
Schlachtengetöse und Kampf wenigstens als etwas Charakte-
ristischem, dafür aber Begegnungen mit schönen Nymphen und
verführerischen Zauberinnen, mit Seeungeheuern und märchen-
haften Unholden. Und zwischen all dem ein Held, der indessen
weniger durch seine kriegerischen Fähigkeiten, als durch seine
List und Schlauheit zum Ziele kommt. Man sieht, wie sich die
Fäden bis zu dem deutschen Gedicht spinnen: auch da der
Held ein Ritter, wieer am Anfang ausdrücklich bezeichnet wird;
aber von kriegerischen Tugenden läßt ihm sein Dichter keine
bemerkenswerten Beweise geben; dafür macht er ihn zu einem
tüchtigen Jäger, zu einem geschickten Diplomaten; der Held
ist listenreich im Schachspiel und wenn es gilt, einer liederlichen
jungen Dame, die es heimlich mit einem Kleriker hält, einen
Denkzettel zu geben. Wenn ihn der Dichter am Schluß noch in
die Welt des Wunderbaren eindringen läßt, so liegt das ganz im
Zuge antiker Reisefabulistik.
Daß der deutsche Dichter den Alexander-Roman gekannt
hat, läßt sich vermuten, es spricht dafür besonders dessen große
Verbreitung in der damaligen Zeit (vgl. Burdach S. 134). Einer
solchen Verbreitung erfreute sich auch ein anderer antiker
Roman, nämlich die Historia Apollonii Regis Tyri, auf die Bur-
dach ebenfalls hinweist. Sie gehört in die Gattung der sophi-
stischen Liebesromane und wurde ungefähr im 6. Jahrhundert
n. Chr. lateinisch und christianisierend bearbeitet. Nicht belang-
Studien zur mittellateinischen Dichtung 507
los scheint es mir zu sein, daß sich eine Haupt-Handschrift des
Romans in Tegernsee befunden hat (vgl. die Ausgabe von Riese,
praef. VII), wo die Heimat des Ruodlieb-Dichters ist.
An Einzelheiten in diesem Roman nun, die den Vergleich
mit dem Ruodlieb nahelegen, verzeichne ich folgende: das
zeremonielle Weinen und Küssegeben Kap. 15, 12; der Held
wird klingend belohnt Kap. 17; vor der Hochzeit seiner Tochter
beruft der Kónig einen Rat von Freunden Kap. 23; Reden
werden wörtlich wiederholt Kap. 24 (vgl. Ruodlieb XVII, 11
bis 14 = 66—69, ferner die Wiederholungen in Frg. 4).
Einen ganz sicheren Anhaltspunkt dafür, daß der Ruodlieb-
Dichter den Roman von Apollonius von Tyrus in irgendeiner
Form gekannt hat, bietet die Stelle im Ruodlieb frg. IX, 25ff.:
Der Held, sein Neffe und die SchloBherrin lauschen dem Spiel
von Harfnern. Ruodlieb bemerkt jedoch, daß auch der beste
unter ihnen seine Kunst nur recht mäßig versteht. So gedenkt
er es selbst besser zu machen; er läßt sich die Harfe des seligen
Gemahls der Herrin reichen und entzückt durch sein Spiel die
Zuhörer. Sehr ansprechend hat Paul von Winterfeld (Deutsche
Dichter des lateinischen Mittelalters, 1913, S. 498) auf eine ähn-
liche Szene in Lenaus Faustdichtung hingewiesen, in der Me-
phisto in Jägertracht zum Tanz aufspielt, nachdem ihm die
Spielleute ihre Sache nicht gut genug gemacht haben. Das
Motiv ist wiederum als antik zu bezeugen: es findet sich im
Apollonius von Tyrus Kap. 16. Dort geht es allerdings recht
ungalant zu: das Königstöchterlein spielt auf der Lyra; alle
spenden ihm lauten Beifall, nur der Held Apollonius verhält
sich zur größten Verwunderung der Umsitzenden stillschwei-
gend. Als ihn der König nach der Ursache seines merkwürdigen
Benehmens fragt, antwortet jener reichlich ungeschlacht —
das sind die Helden der sophistischen Liebesromane alle —:
Herr, wenn du erlaubst, will ich meine Meinung sagen: deine
Tochter hat zwar die mimischen Künste betrieben, aber nicht
gelernt. (Im Original das Wortspiel incidit — didicit). Laß mir
eine Lyra geben, und gleich sollst du erfahren, was du vordem
nicht wußtest.’ Und nun spielt er selbst und erregt das Ent-
zücken der Gäste, die niemals Schöneres gehört zu haben
meinen. Dann produziert sich der Romanheld auch noch als
mimischer Tänzer in comico habitu atque in tragico’.
508 Kurt Dahinten
Die Ähnlichkeit der Ruodlieb-Szene mit der eben wieder-
gegebenen Romanstelle ist so offenkundig, daß man für die
Episode in dem deutschen Epos keine weitere Erklärung zu
suchen braucht und die Konstruktionen Paul von Winterfelds
(a. a. O. S. 497ff.) mit Hilfe der Mimus-Hypothese hinfällig
werden.
III.
Den Mimus hat Winterfeld auch für die Erklárung der Dorf-
geschichte im Ruodlieb bemüht. Trotzdem scheint mir eine
Bemerkung Burdachs einen besseren Weg zu weisen. Burdach
hat nàmlich im Verfolg der Wirkung des antiken Romans die
Behauptung ausgesprochen, daB auch die christliche Heiligen-
legende geradezu von der Weiterbildung und Umwandlung an-
tiker Romanmotive lebt (a. a. O. S. 108ff.). Diese Erwägung
läßt die Ehebruchs-Episode im Ruodlieb in etwas anderem
Lichte erscheinen. Burdach weist S. 109ff. darauf hin, daB sogar
die erotischen Bestandteile des hellenistischen Romans von der
christlichen Hagiographie mit geringen Änderungen über-
nommen werden konnten; er nennt als Beispiel die Vita des
heiligen Paulus von Theben des Hieronymus, in der eine obszóne
Situation aus Apuleius eine solche Umwandlung erfáhrt. B. sagt
dann weiter: ,,Oder es konnte auch das Liebesleben voll aus-
gemalt werden, wenn nachher die christliche Peripetie in Form
der Reue, Buße und Umkehr folgte." Reue, Buße, Umkehr,
das alles begegnet uns am Schluß der Dorfgeschichte des Ruod-
lieb. Da haben wir das Kolorit der Heiligenlegende; auch das
didaktische Element fehlt nicht. Die Sünderin bittet in ihrer
Selbstanklage um alle möglichen grotesken Strafen, wird von
den Richtern freigesprochen und weiht ihr Leben fortan der
Buße und inneren Einkehr. Suchen wir nach einem Beispiel in
der christlichen Legendenliteratur, so bietet sich ein über-
raschendes in der Passio Sancti Gongolfi martyris, die wir als
dritte unter den Legenden der Hrotsvitha von Gandersheim
lesen. (Ausgabe von Strecker, 1906, S. 36ff.) Ein Kleriker ver-
führt das Weib des Gongolf, eines burgundischen Großen im
Reiche Pippins, und ermordet ihren Gatten. Das Weib wird
durch ein Wunder einer sehr kuriosen, nicht wiederzugebenden
Strafe teilhaftig. Die Übereinstimmungen dieser Legende mit
der Erzählung im Ruodlieb liegen am Tage: ein Weib wird von
Studien zur mittellateinischen Dichtung 509
einem Fremden verführt, ihr Gatte vom Verführer getötet, die
Sünderin bereut und büßt. Auch die ganze Diktion zeigt Ähn-
lichkeiten: Burleskes und Ernstes, obszöne und religiöse Si-
tuationen liegen unmittelbar nebeneinander. Allerdings ent-
springt dieses Nebeneinander bei Hrotsvitha und dem Ruodlieb-
Dichter verschiedenen geistigen Haltungen: die Gandersheimer
Nonne will durchaus religiös wirken, sie strebt ja gerade danach,
das Unsittliche aus der Legende zu verbannen; wenn ihr das
nicht gelingt, so ist es ein gewisses dichterisches Ungeschick, den
profanen Stoff religiös zu bändigen. Anders der Dichter des
Ruodlieb: Seine Tendenz ist nicht ausgesprochen religiös, er
sieht ja alles „mit dem billigenden Auge des Weltkindes“
(Schneider). Wenn dennoch über seiner Darstellung ein Hauch
der religiös-christlichen Stimmung liegt, so beweist das eben
eine Unfreiheit des Dichters gegenüber dem Zwang der kirch-
lichen Tradition; seine Menschen sind Menschen von Fleisch
und Blut, keine Heiligen, darum bedeutet die geistliche Lehr-
haftigkeit des Gedichts einen Tribut, den sein Verfasser nicht
nur einer geistlichen, sondern auch einer literarischen Tradition
zollt. Mag also die Binnenerzählung des Ruodlieb in Einzel-
heiten freie Erfindung des Dichters sein, in dem oben aufge-
wiesenen Grundzug läßt sie eine literarische Abhängigkeit von
der Legende erkennen und ist so entwicklungsgeschichtlich
bedingt.
IV.
Schon in seiner bekannten Abhandlung über den Ursprung
des mittelalterlichen Minnesanges (B.S.B. 1918, S. 1018) hatte
Burdach angedeutet, daß mit Byzanz als Vermittlerin ge-
wisser Stoffe des Ruodlieb zu rechnen sei. Bestimmter wird das
ausgesprochen in dem nun schon mehrfach zitierten Aufsatz
„Die Entstehung des mittelalterlichen Romans“ (Vorspiel I, 1,
S. 156ff.). Hier werden als wichtige Punkte hervorgehoben: die
Beschreibung der neuen byzantinischen Goldmünzen, die
Schachspielszene, die Erwähnung gezähmter Tiere und sprechen-
der Vögel. Diese Andeutungen hat Löwenthal (Z. f. d. A. 64,
1927, S. 128ff.) aufgenommen, in schärfere Beleuchtung gesetzt
und damit der Byzanz-Hypothese für den Ruodlieb kräftigere
Stützen verliehen. In einigen Punkten möchte ich diese Aus-
führungen ergänzen.
510 Kurt Dahinten
L. verweist zweimal auf Angaben des Liudprand von Cre-
mona, die sich mit solchen des Ruodlieb berühren, nämlich auf
die Beschreibung eines der byzantinischen mechanischen
Kunstwerke und auf die Bezeichnung der in Nordafrika herr-
schenden Sarazenen als Afrikani. Mir scheint, daß uns besonders
die Darstellung Liudprands in seiner 'Relatio de legatione Con-
stantinopolitana’ für die Erklärung der Partien im Ruodlieb
Dienste leisten kann, die das diplomatische Zeremoniell schil-
dern. Hier ergibt sich nämlich eine auffallende Ähnlichkeit mit
dem byzantinischen Zeremoniell, wie es Liudprand schildert.
Dieser war zweimal am Hofe von Byzanz, einmal im Jahre 949
als junger Mensch auf Befehl Berengars, dann spáter 968 als
Brautwerber für Otto II. An diese letzte Reise erinnerte er sich
offenbar nicht gern; er wurde in Byzanz mit großer Unhóflichkeit
behandelt, die seine Eitelkeit verletzten; man hielt ihn fort-
während hin, bei Tafel vermißte er die gebührenden Ehrenbe-
zeugungen, bei der Abreise das übliche Geleit. Das Positive des
höfischen Zeremoniells kann man aus dem Negativen der Schil-
derung Liudprands entnehmen. Dazu kommen folgende Einzel-
heiten aus der Relatio, die ihre Parallelen im Ruodlieb haben:
der Gesandte wird nicht sofort vorgelassen, sondern verhan-
delt erst mit dem Kanzler; erst nach 4 Tagen wird Liudprand
vom Kaiser empfangen, der von seinen Großen umgeben ist.
(Ruodlieb IV, 189: quinque dies sic me non siverat ante
venire.)
Eine Darstellung seiner ersten Reise nach Byzanz hat Liud-
prand in seiner Antapodosis' gegeben; aus dem 6. Kapitel ver-
zeichne ich folgende Einzelheiten: der Kaiser verhandelt nicht
selbst mit dem Gesandten, sondern läßt das den Kanzler be-
sorgen; erst nach 3 Tagen wird dem Gesandten die Ehre zuteil,
persönlich vor dem Herrscher erscheinen zu dürfen. Man lädt
ihn zur Tafel und beschenkt ihn reichlich. Dann schildert der
Autor, 'qualis eius sit mensa, festis praecipue diebus, qualesque
ad mensam ludi celebrentur’. Es folgt eine Beschreibung kost-
barer Tafelgeráte, Obstschalen u. dgl. Von den Spielen, die er
bei Tische sah, erwähnt Liudprand nur die Darbietungen eines
Gauklers, das andere übergeht er: nimis longum est scribere.
Schade, denn sicher würden wir da so manches finden, was im
Ruodlieb an Kuriositäten beschrieben wird, und vielleicht würde
Studien zur mittellateinischen Dichtung 511
auch der dressierte Hund nicht fehlen, von dessen Kunststücken
das fr. XIII berichtet.
Und nun zu einer mehr als auffálligen Übereinstimmung
einer Episode des Ruodlieb mit einer von Liudprand berichteten :
Ruodlieb V, 176—201 wird aufgezählt, wieviel Pfund Gold die
Adligen und geistlichen Herren aus den von dem kleinen Kónig
bereitgestellten Geschenken bekommen sollen, je nach ihrem
Range. Diese umständliche Aufzählung kann unmöglich eigens
für unser Gedicht erfunden sein, sie wirkt eher kurios, da ja
tatsáchlich die Genannten die Geldgeschenke auf Befehl ihres
Herrn, des großen Königs, nicht annehmen, abgesehen von den
Klostergeistlichen. Das Vorbild der Episode ist bisher nicht er-
kannt worden, es ist offensichtlich die Münzverteilung in der
Woche vor dem Palmsonntag am Hofe in Konstantinopel; die
Beschreibung lesen wir bei Liudprand Antapodosis VI, 10
(Übersetzung nach Karl von der Osten-Sacken, Aus Liudprands
Werken in: Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit,
Band 29): „In der Woche vor Vaiophoron, was wir Palmsonntag
nennen, teilt der Kaiser sowohl an das Kriegsheer wie auch an
die verschiedenen Staatsbeamten nach Maßgabe ihres
Ranges goldene Münzen aus. ... Zuerst wurde der Hausmeier
gerufen, und ihm gab man das Geld nicht in die Hand, sondern
lud es ihm auf die Achsel, nebst vier Ehrenkleidern. Nach ihm
wurden o domesticos tis askalónas und o delongaris tis ploos
gerufen, von denen der eine über das Landheer, der andere
über die Flotte gesetzt ist. Weil diese im Range einander gleich-
Stehen, erhielten sie auch eine gleiche Anzahl von Goldstücken
und Ehrenkleidern. ... Hierauf wurden 24 Oberbeamte vor-
gelassen, und nach ihrer eigenen Anzahl jedem auch 24 Pfund
Goldes nebst 2 Ehrenkleidern verabreicht. Nach diesen kam die
Reihe an die Patrizier, deren jeder 12 Pfund Goldstücke und
ein Ehrenkleid erhielt. ... Hierauf wurde eine zahllose Menge
gerufen, von Protospatharen, Spatharen, Spatharocandidaten,
Kitoniten, Manglaviten, Protokaraven, welche je nach ihrem
Range von 7 bis zu 1 Pfund erhielten."
Eine einzelne Parallele würde vielleicht nicht so ins Gewicht
fallen; hier aber fordert ihre Häufung zu Prüfung und Aner-
kennung heraus. Es würde zunächst noch die Frage zu beant-
worten sein, auf welchem Wege dem deutschen Dichter die
512 Kurt Dahinten
byzantinischen Importen in die Werkstatt gekommen sind. Für
die Schachanekdote etwa, für die Beschreibung des mechanischen
Kunstwerks und die Verwendung griechischer Worte ist münd-
liche Überlieferung anzunehmen; ob auch für die von mir oben
angeführten Einzelheiten, ist schwieriger zu entscheiden. Lite-
rarische Abhängigkeit wäre nach den zahlreichen Übereinstim-
mungen mit den Berichten Liudprands denkbar, um so eher,
als die Werke Liudprands in der damaligen Zeit in Deutschland
ziemlich verbreitet waren. Die Reisen des Italieners konnten
den Tegernseer Geistlichen deshalb interessieren, weil er selbst
vermutlich am Hofe eines Großen tätig war und vielleicht auch
diplomatische Missionen zu seinen Geschäften rechnete.
Man könnte nun meinen, dem deutschen Dichter werde viel
von seiner Originalität genommen, wenn man ihm auf größeren
Strecken ,, Quellen" nachwiese; in Wahrheit bleibt das Problem
seiner Kunst davon unberührt. Ihr Letztes ist nicht in der Er-
findung von diesem oder jenem Einzelzug begründet, sondern
vielmehr in der Komposition, der Art, wie überkommenes Stoffgut
der Gesamtdarstellung amalgamiert wird, wie Fugen und Ritzen
verdeckt und Übergänge hergestellt werden, so daß im Leser mit
Leichtigkeit die Illusion geweckt wird, alles könne sich so abge-
spielt haben, wie es der Dichter darstellt. Man könnte also von
einer Mosaikarbeit sprechen, nicht mit einer geringschätzigen
Geste freilich, sondern in dem Sinne, der dem Dichter gibt, was
des Dichters ist. Darüber hinaus noch die Frage zu stellen, woher
dem Ruodlieb -Dichter seine Kunst gekommen ist, dünkt
mich müßig, genau wie bei jedem Dichter, dessen Werk den
Stempel des Einmaligen trägt. Der Ruodlieb gehört in die Reihe
der Kunstwerke, über deren Betrachtung der Literarhistoriker
im Stile des Chronisten schreiben muß: Als die Zeit erfüllet war.
II. Studia Burana.
Von
Walther Bulst.
I. Die handschriftliche Ordnung der Carmina
Burana Nr. 56 ff.
Unter den mittelalterlichen Handschriften haben von früh
an Lieder- und Gedichtsammlungen mit am stärksten die Auf-
Studien zur mittellateinischen Dichtung 513
merksamkeit auf sich gezogen; der individuelle Charakter, den
jede Handschrift einem gedruckten Buche voraushat, tritt in
ihnen durch die Einmaligkeit des Beieinander der verschiedenen
Texte, mögen sie auch sonst noch ófter erhalten sein, besonders
deutlich hervor; nicht minder aber durch die Einmaligkeit ihres
Nacheinander, ihrer Anordnung. Die Frage nach den Gründen
der Textfolge in solchen Sammelhandschriften ist wichtig für
die Erkenntnis der Absicht des Sammlers und seines und seiner
Zeit Verháltnisses zu den enthaltenen Gedichten. Die Anordnung
Z. B. der Dichter in der manessischen Sammlung nach ihrem
Stande, der Lieder des cod. reg. der „Edda“ nach den Gegen-
ständen der Dichtung sagt viel. Mit Recht hat Otto Schumann
dieser Frage in der Einleitung der von ihm zusammen mit À.
Hilka neu herausgegebenen Carmina Burana eingehende Un-
tersuchungen gewidmet. Ich habe in der Besprechung der Aus-
gabe, DLZ. 53, 1932, 1308—1315 lediglich das z. T. negative
Ergebnis einer Nachprüfung mitteilen können (1313 f.); bei der
Bedeutung der Frage und der Schwierigkeit und Gründlichkeit
der von Sch. angestellten Forschungen, die einen höchst auf-
merksamen Leser verlangen, besteht Anspruch auf Begründung
jenes Urteils.
Die Anordnung der ,,moralisch-satirischen'' Gedichte des
ersten Teiles der Hdschr. in z. T. überschriebenen, inhaltlichen
Gruppen ist nicht zu bezweifeln: auf je ein bis vier rhythmische
Gedichte folgen metrische, Versus. Sämtliche 14 Gruppen jenes
ersten Teiles nehmen zusammen 24 Bl. ein (f. 3848—48. 1—18"1.3).
Unter der Überschrift Incipiunt iubili beginnt der zweite Teil,
der die Liebesdichtung enthält. Wirkliche tubil:, Sequenzen oder
Leiche, sind nur die 15 Nr.n 56—58. 60—63. 65. 67—73; andere
20, Nr. 59 und 74—92 sind gleichstrophisch gebaut!. Nr. 64 und
66, mythologische Kommentare zu den Nr.n 63 und 65, bestehn
aus Hexametern. Nr. 91, De sacerdotibus, „eine heftige Scheltrede
gegen die verheirateten Priester“, scheint nach textlichem und
Schriftbefund nachgetragen; jedoch als „ganz heterogen“ (Sch.
S. 45* f.) wird es nach mittelalterlichen Begriffen an dieser Stelle
nicht erschienen sein; die Einreihung vor das berühmte Gedicht
De Phyllide et Flora (Nr. 92), das die vielbehandelte Streitfrage
1 Schumann S. 457 Z. 12 ist = Z. 14, sodaß die Darstellung eine (anschei-
nend gróBere) Lücke hat.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.3. 33
514 Walther Bulst
zum Thema hat, ob clericus oder miles der aptior amator sei, ist
gewiß Ausdruck einer zwischen beiden Gedichten hergestellten
vagen gedanklichen Beziehung. Nr. 92 bricht auf f. 42" in der
62. Strophe ab, die ursprünglich folgenden Blätter sind höchst-
wahrscheinlich verloren, Bl. 49 scheint allein von der nächsten
Lage übrig geblieben. Diese Nr.n 56—92 (f. 18'—42") bezeichnet
Sch. als 15. Textgruppe (S. 45*f.), die also nach seiner An-
schauung gleichen Umfang (24 Bl.) hátte wie alle 14 Gruppen
des 1. Teiles zusammen ; auf sie bezieht er gegen den formalen
Befund die doch nur auf Nr. 56—73 (mit Ausnahmen. o.) sinn-
voll zu beziehende Überschrift Incipiunt iubili, um wenigstens
dies als Kriterium weiterer Gruppeneinteilung der Handschrift
zu haben, nachdem Stellung und inhaltliche Beziehung der
Versus (Nr. 64. 66; 8.0.) den Dienst als Kriterien versagen. Auch
im Folgenden versucht Sch. noch Gruppeneinteilung nachzu-
weisen: „Möglich daß auch die Gedichte. . auf f. 49 . . derselben
[16.] Gruppe ... angehört haben . . . Aber da f. 49 vereinzelt
steht, tun wir doch wohl besser daran“, Nr. 93—96 als eine
neue Gruppe (16) anzusetzen. Erst recht werden wir eine
neue Gruppe (17) beginnen lassen mit der. . . folgenden
Lage f. 73 ft. [—82]. Wir haben hier zunächst . . Texte, die von
berühmten Liebesgeschichten handeln Nr. 97—100]'*; Nr. 101 f.
sind Versus auf Trojas Fall und die Schicksale des Aeneas; „eine
neue Gruppe begann hier [mit Nr.103] jedenfalls nicht, ob-
wohl die Dido-Gedichte hier zu Ende sind. Die Gruppe
reicht vielmehr weiter bis Nr. 125 (f. [50'—]52" unten). Sie enthält
zunächst, in Nr. 103—120, Liebesklagen, die sich also. .. inhalt-
lich ganz gut anschließen ... dazu... des Kontrastes halber
gestellt Nr. 121... Aber was nun folgt [Nr. 122—124], sind
Gedichte ganz anderer Art ... Es folgen die Versus Nr. 125 ...
sie bilden also [nach der Technik des Eintrages] deutlich den
Abschluß dieser Gruppe. Inhaltlich freilich passen sie nur zu
dem letzten der darin enthaltenen Rhythmi, Nr. 124; also
ganz ähnlich wie Nr. 55''— in der 14. Gruppe, deren Gruppen-
charakter, durch Aufnahme unzugehóriger Gedichte, gleiches-
falls schon schwer gestört war. „Die nächste Gruppe (18, f.
52'"—654")enthált vollends Textedesallerverschiedensten
2 Diese und die folgenden Sperrungen von mir. B.
Studien zur mittellateinischen Dichtung 515
Inhalts[Nr.126—131a]... es sind Nachträge . . daher fehlen
auch die Versus am Schlusse ... Hinter Nr. 131/131a sind
noch mehrere Seiten freigeblieben; sie sind erst nachträglich
von anderen [he, h?, h°] mit allerhand Texten beschrieben
worden ... Auf dem Blatte, das hinter f. 55 ausgerissen ist,
muß eine neue Gruppe (19) begonnen haben. Denn [f. 56"
ist leer] f. 56” enthält nur den Schluß eines Gedichts (Nr. 132)...“
Auf Getilgtem folgen diesem ,,als eine Art naturwissenschaft-
lichen Kommentars .. Nr. 133 f.. . . Nr. 132 hat keine
deutsche „Zusatzstrophe“. „Wir lassen daher mit Nr 135, f.
56° oben, obwohl hier nur die Überschrift Item al. steht, eine
neue Gruppe (20) beginnen." Die von Sch. ihr zugeteilten
Rhythmi Nr. 135—153 (f. 56—627) haben „Natureingang“ und
je eine deutsche „Zusatzstrophe“ miteinander gemein; aber
dieselben Erscheinungen hat Sch. bei den Reihen Nr. 56—59,
Nr. 68—71. 73£., Nr. 78—85 und Nr. 112 (a)—115 (a) zwar ebenso
ausdrücklich bemerkt, jedoch nicht als Kriterien für Gruppen-
einheit beansprucht. Die Versus Nr. 154 schlieBen sich wiederum
nur an Nr. 153 bezw. an deren 3. Strophe. Nr. 155/155a hat
keinen ,,Natureingang'" und ist nachgetragen. „Auf f. 63" oben
beginnt Gruppe 21. Sie reicht bis... zum Ende der Lage [f. 64"],
und umfaßt die Rhythmi Nr. 156—160. Nr. 156 trägt endlich
wieder einmaleine Hauptüberschrift...DeVere; .. lauter
Frühlings- (und Liebes-)lieder, wenigstens haben alle, außer
der ersten der beiden Pastourellen Nr. 157f.,... Id. h. 4 von 6
haben] den „Frühlingseingang“; der Unterschied von Gruppe 20
besteht im Fehlen deutscher Strophen. „Die schließenden
Versus fehlen;“ Sch. vermutet, sie hätten sollen nachgetragen
werden; wofür Raum ist. „Und deutlich wird das Ende der
Gruppe hier bezeichnet durch die Doppelminiatur auf
f. 64'." Dahinter ist vielleicht eine Lücke. „Für uns jeden-
falls beginnt mit der neuen Lage, auf f. 657 [—69"], die
22. Gruppe“, (Nr. 161—176), überschrieben Item al. Aber diese
Überschrift hat Sinn allein für das erste Gedicht, Nr. 161, das
wie Nr. 160 ,,Natureingang'' mit dem Stichwort estas in der 1.
Zeile hat (entsprechendes Stichwort in Nr. 156. 158. 159 ist uer);
die übrigen (Nr. 162—175) haben keinen. Man wird auch hier,
wie schon die Worte Incipiunt iubili (s. o.), die Überschrift viel-
mehr als auf das bezüglich verstehn, wofür sie Sinn hat: eben
33*
516 Walther Bulst
Nr. 161, nicht auf die postulierte Gruppe. Dürfte man deutsche
„Zusatzstrophen“ als Kriterium in Anspruch nehmen, so hat sie
doch solche mit der 20. gemein; „Natureingang“ wiederum ist
weder in der vorigen ,,Gruppe'' durchgeführt noch in dieser aus-
geschlossen; auf die Verhältnisse in Nr. 56 ff., 68 ff., 78 ff., Sch.s 15.
„Gruppe“, haben wir soeben hingewiesen. Als Abschluß dieser
22. betrachtet er die (4) Versus Nr. 176, ,,die freilich inhaltlich
zu den Rhythmi ganz und gar nicht zu passen scheinen.
Aber die ersten drei stehen jeder auf einer besonderen Zeile;
Nr.176 bezeichnet also deutlich den GruppenabschluB.''— Wir
glauben auf die weitere Wiedergabe der Argumente verzichten
zu dürfen, womit der Gruppencharakter der noch übrigen Liebes-
gedichte, Nr. 177—186 (f. 70—72), dargetan werden soll: „Nr.
177 ist einfach Item überschrieben. Doch beweist das ja
nichts dagegen, daB hier eine neue Gruppe einsetzt."
usw. usw. „Mit f. 83' treten wir ein in die dritte Abteilung, die
in der Hauptsache Trink-, Spieler- und eigentliche Vaganten-
lieder enthält. Sie zerfällt wieder in eine Anzahl von Gruppen,
doch ist es nicht überall deutlich, wo wir den Beginn einer
neuen anzunehmen haben; daher geben wir die Gruppen-
zählung, die sich bisher leidlich durchführen ließ, nun-
mehr auf.“ (S. 51*).
Dieses Eingestándnis hätte 7 Seiten früher erfolgen sollen—:
daß nämlich im 1. Teile der Handschrift die Gliederung
in Gruppen objektiv vorliegt, im 2. es jedoch ein Unter-
nehmen des Hg.s darstellt, sie ‘durchzuführen’. Daß er im
3. Teile die Gruppenzáhlung aufgegeben hat, „bedeutet, obwohl
auch weiterhin (S. 51*—54*) noch von ‘Gruppen’ die Rede ist,
praktisch auch das Aufgeben einer Einteilung in solche; man
kann sinnvoller Weise nicht ein begrenztes Ganze in eine endliche
Anzahl objektiv gleichartiger Untereinheiten zerlegen wollen,
ohne daB doch diese Anzahl objektiv bestimmbar wäre?.‘‘ Früher*
hatte Schumann— ‚die beiden Spiele der letzten Lage [Schmellers
Nr. CCII] als je eine besondere Gruppe gerechnet''— im Haupt-
teil der Hdschr. (f. 1—106) 25 Gruppen gezählt, während jetzt
nach ihm die moralisch-satirischen und die Liebesgedichte zu-
sammen allein aus 23 Gruppen bestehn. Die verschiedene
* DLZ. 53,1314.
* Germ.- Rom. Monatsschrift 14 (1926) 419.
Studien zur mittellateinischen Dichtung 517
Berechnung offenbart praktisch die bezeichnete logische Untun-
lichkeit. Trotzdem behalten die Untersuchungen Schumann ihren
Wert als sorgfältigste Analyse der schwer zu überblickenden
Textfolge; die festgehaltene Voraussetzung ist heuristisch frucht-
bar geworden. Fragt man aber, warum eine Gruppenleitung auch
der Liebesgedichte, zu der in der Handschrift ebenso gewif
Ansätze sich finden wie sie in ihr nicht vorliegt, nicht durch-
geführt wurde, so wird zu antworten sein, daB die Thematik
dieser Dichtungen es kaum gestattete und die Poetik des 13.
Jh.s auBerstande war, an die Stelle einer beinahe unmóglichen
inhaltlichen Ordnung eine andere nach historischen genus-
Begriffen zu setzen.
II. Vvere div werit alle min (n. 108a-Nr. 145a).
Unter den deutschen Strophen der C. B. ist diese wohl die
bekannteste— ihr und noch einer anderen (137a) allein ist die
Ehre der Aufnahme in „Des Minnesangs Frühling“ zuteil ge-
worden; kaum eine andere ist öfter in der Literatur behandelt.
Aus teils Unkenntnis teils MiBachtung der hdschr.lichen Über-
lieferung mußte sie trotz aller darauf gewandten Mühe dunkel
und vieldeutig erscheinen.
In der Hdschr. (Cod. Mon. lat. 4660 f. 607 1. 1.2.3.) steht:
Vvere div werlt alle min von deme mere ünze an den rin
diu chünegin
des wolt ih mih darben dazchunich vonengellant lege an mi-
nen armen.
chunich durchgestrichen ; diuchünegin über chunich von geschrieben
von jüngerer Hand. minen armen. aus minem arme. geändert
durch Rasur des letzten Grundstriches in minem und Zusetzung
des n hinter arme.; der erste Grundstrich des n ist über den
Punkt nach e gezogen, der noch zu sehen ist.
Als ältester Text ist also zu erreichen:
were diu werlt alle min
von deme mere unze an den rin
des wolt ih mih darben
daz (der) chunich von engellant
lege an minem arıne.
Ich begründe: alle — in dieser Stellung eine Altertümlich-
keit — mit MFr. in alliu zu ändern, besteht kein Grund. — deme
518 Walther Bulst
und unze mit MFr. in dem und unz ändern heißt dem Texte ein
jüngeres Aussehen geben als er in der Hdschr. hat, verbietet
sich also trotz Theorien der Verslehre. Die von allen Hg.n auf-
genominene hdschrl. Änderung aus chunich in dtu chünegin ist
ohne Gewähr. Daß der nicht in M steht ist der Anlaß zu
einer Korrektur überhaupt geworden; daß aber nicht bloß
der eingefügt, vielmehr in diu chünegin geändert wurde, ist zu
verstehn aus der Befremdlichkeit des Sinnes, die sich zu ergeben
scheint, indem es eingefügt wird. Die Korrektur beweist doppelt,
daB der sprachlich gefordert ist: indem sie überhaupt ge-
8chah, und indem vor dem geánderten Substantivum Artikel
steht. Außerdem ist der rhythmisch gefordert: ohne es hätte
die Zeile sowohl innerhalb der deutschen Strophe, wie in ihrer
formalen Entsprechung zu den lateinischen (Carm. Bur. [hg.
v. Schmeller] n. 108 S. 185) betrachtet, eine Hebung zu wenig
(3 statt 4). Umgekehrt beweist es die Willkür der hdschr. Kor-
rektur, daß sie die Zeile zur rhythmischen Unmöglichkeit gemacht
hat; — ob man ihre beiden ersten Hebungen mit Lachmann oder
mit Vogt verteilt: dàz diu chünegtin von oder daz diu chünegin
von liest. Daß Lachmanns Lesung unmöglich ist, hat Vogt ge-
sehen; die von V. für seine eigne Lesung angeführten Stellen
vermógen auch sie nicht zu rechtfertigen. Unter sámtlichen von
Haupt und Vogt zu MFr. 154,21 und 11,20 aufgezählten (50)
Fällen zweisilbigen Auftaktes ist keiner, wo eine kurze und eine
lange durch zwei Konsonanten getrennte Silben den Auftakt
bildeten — nicht einmal ein so gebildeter, der aus einem Worte
bestünde. Die Form der lat. Strophen ist 2-7 xxa + 6xx b
+7xxc+6 xx b. (Die Freiheiten betreffen in keiner Strophe
die 4. Zeile).
Die deutsche Strophe ist also zu lesen®:
Were diu wérlt álle mín
vón deme mére unze án den Rín
des wolt ih mih därbeh
dàz (der) chünich von éngellànt
lege an minem ärnie'.
Die Vertretung lat. fallender Zeilen (wie 8. 5) durch solche
deutschen, in denen nach deutschem Versbau im Zeilenschlusse
Zur Form s. auch A. Heusler, Deutsche Versgeschichte, $ 751 (II, 1927, 276),
auch $ 642 (eb. 176).
Studien zur mittellateinischen Dichtung 519
eine (Neben-) Hebung mehr zu zählen sein würde als die latei-
nische Zeile Hebungen hat, ist aus den deutschen Strophen der
Carm. Bur. mit vielen Beispielen zu belegen; darben, arme, gilt
als xx. Daß der ursprüngliche unreine Reim darben: arme (also
natürlich auch das ursprüngliche minem) der Hdschr. einzu-
setzen ist, bedarf keiner weiteren Begründung.
Nachdem der corrigierte hdschrl. Wortlaut diu chünegin
nicht der ursprüngliche der Strophe sein kann, und der conjicierte
Text (der) chunich sprachlich und rhythmisch gefordert ist, haben
wir diesen sachlich zu verstehn zu suchen: außer wir setzen
voraus, daß die Verderbnis des ursprünglichen hdschrl. Wort-
lautes nicht in der versehentlichen Auslassung des Wortes der
besteht, sondern in etwas anderem, ohne daß wir wissen können,
in was anderem. Diese Voraussetzung wäre allein daraus zu be-
weisen möglich, daß der conjizierte Text überhaupt keinen Sinn
haben kann, d. h. sie ist unbeweisbar. Die Frage nach dem Sinn
der Strophe in ihrem hdschrl.-korrigierten Wortlaut hat keine
höhere Bedeutung, als daß damit gefragt wird: was hat der
Korrektor sich bei seiner Korrektur gedacht? worüber schon
reichlich Literatur zusammengekommen ist. Die allein wesent-
liche Frage ist: wer ist der chuntch von engellant? Die Antwort
gibt eine Strophe Mechthilds von Magdeburg (Offenbarun-
gen der Schwester M. v. M. oder das fließende Licht der Gott-
heit ... hg. v. P. Gall Morel, Regensburg 1869, 7. Th. XL. Kap.,
S. 256):
XL. Alsus sprichet diu minnende sele ze irme lieben herren:
Were alle die welt min
und were si luter guldin
und solte ich hie nach wunsche eweklich sin
die alleredelste die allerschóneste die allerricheste keyserin
dc were mir iemer unmere:
Also vil gern
sehe ich Iesum Cristum minen lieben herren
in siner himelschen ere.
Prövent wc si liden die sin lange beiten.
Der chunich von engellants ist CHRISTUS, die Strophe ein
Denkmal der Christusminne geistlicher Frauen. Die Direktheit
* engellant ‚der Himmel’ belegt Mhd. Wb. 1936a, Lexer 1556.
020 Walther Bulst
des Wunsches ist nicht ohnegleichen; vgl. z. B. im Gedichte von
unserm herren Ihesum Christ Vnd von der minnenden sel dte sın
gemahel ist’:
Es mócht ain mensch wunder hon
Wie es umb diss küssen sy geton:
Es ist in gaistlicher wis mund an mund,
Größer fród ward nie kund,
Vnd brust an brust,
Wa ward ie größer lust?
Es ist hertz an hertzen.
etc. (Z. 1730ff.; dazu S. 93. 95f.);
im selben Gedicht spricht Christus zur Seele:
Vnd machte dich so wol gemut
Das du nit nemist all der welt gut
Für die minne min (Z. 99f.),
sie zu ihm:
O herr het ich dich vor als wol erkant:
Ich hett nit genomen alle land
Das ich als spat wär kommen (Z. 1210ff.; dazu S.98f.).
Die innere Beziehungslosigkeit der deutschen Strophe zu
den lateinischen, denen sie angehängt ist und formal entspricht,
erweist wohl, daß sie unabhängig von jenen entstanden ist und
um der formalen Entsprechung willen mit ihnen verbunden wurde.
Daraus ergibt sich als nächste Frage, ob die deutsche Strophe eine
Einzelstrophe oder aus einem mehrstrophigen deutschen Gedichte
allein erhalten ist. Eine Entscheidung von einem áuDeren Um-
stande her scheint nicht möglich; die Geschlossenheit ihres Sinnes
spricht stark für das erste, ebenso die Erhaltung der Strophe nur
an dieser Stelle; allerwenigstens gilt, daß sie für sich allein be-
stehn kann. Die Strophe Tougen minne diu ist guot (Carm. Bur.
hg. von Schmeller n. 137a S. 209), die MFr. 3, 12—16 als
2. Strophe dahinter gestellt ist, hat mit ihr keinerlei Zusammen-
hang.
Die Art des ausgedrückten Empfindens der Frau, welche in
weltlich-höfischer Dichtung auf ‚des Minnesangs Frühling’ weisen
7 Christus und die Minnende Seele. Untersuchungen und Texte hg. von
P. R. Banz, Breslau 1908 (Germanist. Abh. 29); vgl. ebenda Z. 1870ff.; auch
Z. 2049 (die Seele zu Christus): O her, du bist min, so bin ich din, dazu S. 104 f.
Studien zur mittellateinischen Dichtung 521
würde, ist bei der Altersbestimmung geistlicher Minnedichtung
nicht ebenso anzuführen. Ähnliches gilt noch stärker von der
Reim- und Verskunst: im Bereich der Christusminne haben Er-
scheinungen, welche in der ritterlichen Dichtung für Beweise
hohen Alters gelten dürfen, nicht dieselbe Beweiskraft. Die nähere
Bestimmung des Alters und der Heimat wird in einem weiteren
Beitrag versucht werden.
Nach Abschluß des Obenstehenden sehe ich, daß S. Singer
in den Beitr. 44 (1920) 427 zugunsten ,,der ursprünglichen Lesung"
chunich v. e. gesprochen und dazu gemeint hat „ unter dem ch. v.
e. ist doch eher Christus als ein König von England zu verstehn“,
daB Ph. Strauch im Afd A. 19 (1893) 195 unter andern Parallelen
zu der Strophe auch die Zeilen Mechthilds angeführt hat, ohne
jedoch an der Lesung künegın v. E. zu zweifeln.
Ich entnehme seiner Sammlung noch folgenden besonders
nahekommenden Satz: tu scis, Domine, quod st lotus mundus meus
essel cum omnibus que in eo sunt, pro amore tuo ad integrum deserere
uellem ( Revelationes Gertrudianae ei Mechthildianae II 315). Nach
Singer und mit Beziehung auf ihn ist Strauch noch einmal in
den Beitr. 47 (1923) 171 auf die Strophe zu sprechen gekommen:
„Wenn wirklich die Strophe ... auf Christus... zu deuten wäre,
so bliebe ein solcher Nonnenwunsch im Rahmen der übrigen
deutschen Stücke der Carmina Burana jedenfalls auffallend.’
Daß die Strophe diesen Sinn hat, scheint mir gar nicht zu
bezweifeln, und da sie wie andre deutsche Strophen der C. B.
in lediglich formaler Beziehung zu den vorangehenden lateini-
schen steht, auch nicht so „auffallend“, daß damit ein Zweifel
an diesem Sinn zu begründen wäre, zumal da die entschieden
kirchliche und geistliche Gesinnung den überwiegenden An-
teil an der ganzen Sammlung hat — so leicht das auch im Ge-
danken an die anziehenderen amatoria, polatoria, lusoria ver-
gessen wird.
e „Daß man den rez angelorum als den ‚König von England’ bezeichnete“
(Singer a. a. O.), ist schief ausgedrückt: engellant ist auch Engelland; außer den
Wörterbüchern (s. oben Anm. 6) s. Singer selbst ebenda, sowie Strauch in den
Beitr. 47 (1923) 171. Zu Singers Beispielen für das Spiel mit den Worten angeli-
Angli wäre noch eine Stelle des Hilarius (Anf. 12 Jh.) zu fügen: Errant quidem
inmo peccant qui le uocant Anglicum: E uocalem interponant et dicant angelicum.
(IX 7, 5. 6).
522 Hans Walther
III.
Eine unbekannte mittellateinische Satire gegen die Geistlichkeit.
Von
Hans Walther.
Es ist für die Blütezeit der mittellateinischen Dichtung im
12./13. Jahrhundert des öfteren für besonders kennzeichnend er-
klärt worden, daB sie so zahlreiche Satiren aufzuweisen hat, vor
allem Satiren gegen die Geistlichkeit und die Kurie in Rom,
aber auch gegen die anderen Stände, Ritter und Bauern, und
gegen die Frauen. Das trifft zu, und es verdient auch hervorge-
hoben zu werden, daß viele dieser Satiren außerordentlich ver-
breitet waren, z. T. in Dutzenden von Handschriften erhalten
sind.
Von den mittelalterlichen Satiren gegen Papst und Klerus
hat im 16. Jahrhundert Mathias Flacius Illyricus so manches
gesammelt und zu einem anschnlichen Bändchen vereinigt:
Varia doctorum piorumque virorum, De corrupto Ecclesiae
statu Poemata. Ante nostram aetatem conscripta: ex quibus
multa historica quoque utiliter, ac summa cum voluptate co-
gnosci possunt; ich benutze die Ausgabe: Basileae, per Ludoui-
cum Lucium, 1557, und zitiere auch danach. Nicht historisch-
literarisches Interesse hat diese Sammlung veranlaßt, wie es
später bei dem verdienstvollen Polycarp Leyser der Fall war;
Flacius wollte vielmehr — ein damals beliebtes Verfahren! —
mit Hilfe dieser mittelalterlichen Zeugen die protestantische
Sache im Kampfe gegen die katholische Kirche und gegen das
Papsttum unterstützen. Das Büchlein ist für uns in vieler Hin-
sicht wertvoll geworden; denn von einem Teil dieser Gedichte,
die auch in spätere Anthologien aufgenommen wurden, sind
die handschriftlichen Zeugen verloren gegangen, so daß wir
allein auf dem Abdruck bei Flacius fuBen, ja bisweilen nicht
einmal unbedingt sicher sind, ob es sich um echtes mittelalter-
liches Gut handelt oder um Nachdichtungen des 16. Jahrhun-
derts. In solchen Fällen ist es besonders willkommen, wenn eine
mittelalterliche Handschrift für eines dieser Gedichte auftaucht,
Zeugnis für die Echtheit liefert und den Text revidieren hilft.
Bei Flacius liest man S. 152f. einen ,,Sermo Goliae ad Prae-
latos" (Inc.: A legis doctoribus lex evacuatur ...), 10 gutge-
Studien zur mittellateinischen Dichtung 523
baute Vagantenstrophen, an deren mittelalterlicher Echtheit ich
trotz einigen befremdenden Wendungen und trotz dem Fehlen
jeder handschriftlichen Überlieferung im Grunde nie gezweifelt
habe. Die Satire ist später noch zweimal wörtlich nach Flacius
abgedruckt worden: 1. Johannis Wolfii ... Lectiones memo-
rabiles. Sec. ed. Francofurti ad Moenum. 1671, I, 359. 2. The
Latin Poems commonly attributed to Walter Mapes, coll. and
ed. by Thomas Wright (Camden Society). London. 1841.
S. 43f.!. Eine ma. Handschrift dieses Stückes hat sich, wie ge-
sagt, m. W. bisher nicht auffinden lassen.
Bei Durchsicht der mittelalterlichen Handschriftenbestände
der Universitäts-Bibliothek Innsbruck? stieß ich kürzlich im
cod. 669 auf die nachstehend abgedruckte antiklerikale Satire,
die ich kopierte, da sie mir unbekannt zu sein schien; ich habe
auch jetzt nirgends feststellen können, daß sie an anderer Stelle
überliefert wäre®. Interessant ist nun, daß der von Flacius mit-
geteilte „Sermo Goliae ad Praelatos“ zum großen Teil darin
enthalten ist: 71, von den 10 Strophen (s. u. die Strophen-
gegenüberstellung!), und zwar mit teilweise recht starken Vari-
anten, die an einigen Stellen den Text F.s wesentlich verbessern.
Der Abdruck dieser 33 Vaganten-Strophen (Inc.: Pastores ec-
clesie principes inferni ...) schien mir um so mehr gerecht-
fertigt, als die Satire nicht ohne Schwung und Geist ist*, und
der im ganzen tadellose Bau der Verse vermuten läßt, daß das
Gedicht — trotz der späten Überlieferung (15. Jahrh.) — der
besten Zeit, d. h. dem 12/13. Jahrhundert, angehören mag;
sichere Anhaltspunkte zur zeitlichen Fixierung bietet der Inhalt
leider nicht.
Die Papier-Handschrift (in Quart, 225 Bll., Provenienz un-
bekannt) gehört zwar, wie bereits erwähnt, erst dem 15. Jahr-
hundert an, sie enthält aber, wie aus den Proben unten hervor-
! Vgl. auch: Polycarpi Leyseri Historia Poetarum medii aevi. Halae. 1721.
8. 777.
2 [ch habe Herrn Direktor Dr. Pogatscher auch hier für das sehr freundliche
Entgegenkommen und die nachtrügliche Beschaffung einer Photographie des Stük-
kes herzlich zu danken. — 100 der wertvollsten Hss., d. h. etwa ein Zehntel des ganzen
Bestandes, sind nach dem Kriege von Italien entführt worden.
* Dies gilt nur für den ersten Teil (s. u.!).
* Die Sprache lehnt sich allerdings stark an die Bibel an, in den vae-Strophen
besonders an Isai. 5 und Matth. 23.
524 Hans Walther
geht, vieles, was sicher in die oben angegebene Zeit zurückreicht,
z. B. der angeführte Conflictus vitiorum et virtutum. Ich habe
mir aus dem Inhalt nur einiges notiert:
fol. 70r u. v Ein kleiner Dialog in Prosa: Es tu scolaris?
Sum! . .., auch in Prag, Metropol. Bibl. 1643 f. 80a—b; vgl.
Ch. H. Haskins, Mediaeval Culture. 1929. S. 83, u. Bäbler,
Beiträge. 1885, S. 190f.; Nota Sacerdos quatuor modis expo-
nitur ..., verschiedene etymologische Erklärungen in der be-
kannten ma. Art, und Notizen, von denen die beiden folgenden
Interesse haben: 1. Nota Roma dicitur quasi rodens manus
advenarum per malicias et nequicias suorum incolarum, unde
versus Roma manus rodit, quos rodere non valet odit, der
Vers sehr häufig hs. überliefert, z. B. Carm. Bur. ed. Schmel-
ler, S. 23, V. 16. 2. Nota differentiam inter formam et figuram,
unde versus
Flos in pictura non est flos, ymmo figura.
Qui pingit florem, non pingit floris odorem.
gleichfalls háufig, z. B. Carm. Bur. S. 217.
fol. 72r—143v enthält Briefmuster aus der Zeit Karls IV.
fol. 146r—49v Tractatus bonus de forma et modo predica-
tionis. Inc. Ut ornate loqui scias ...
fol. 158r—v steht unsere Satire, ohne Überschrift und Strophen-
abteilung, zwei Vagantenzeilen in einer Zeile, die Breite der
Seite ziemlich füllend, in flüchtiger Kursive, wie der größte
Teil der Handschrift.
fol. 158v Planctus anime contrite.
Flere volo, me flere juvat, volo nil nisi flere,
Absque modo flere gestio, flere volo.
Flere volo, largos, oculi, rivos lacrimarum
Ut pluvias subitas fundite! flere volo.
Die Verse stehen auch in Lilienfeld 40 (s. XIII.) f. 151v
(Zahl unbekannt) und S. Florian 303 (s. XIV.) f. 196v—97r;
in letzterer Hs. sind es 50 Verse, die hier „pacceriti“ (1. parac-
terici! gewöhnlich „reciproci!“) genannt werden.
fol. 159r—v ein Stammbaum der 7 Hauptlaster mit ihren je
6 Species, zu jedem Hauptlaster ein Vers; die Verse für die
Species stehen zusammengefaßt hinter dem Stammbaum
(Sa 49 V.); Inc.: Cetera cum supero memet transcendere
Studien zur mittellateinischen Dichtung 525
quero ...; vgl. H. Walther, Das Streitgedicht in der lat. Liter.
d. MAs. München, 1920, S. 117.
fol. 165v 12 Hexam., alle mit „Nec sine doctrina“ beginnend,
der erste: Nec sine doctrina morbum sanat medicina; hierüber
an anderer Stelle. Es folgen zwei Nummus-Verse:
Nummum mercantur reges et ei famulantur.
Nummo venalis vacat ordo pontificalis.
fol. 165 v—69 v deutsche Verse, z. B.:
Wenn der wolf mawsen gaet
vnd der fuchs chefer vacht (!)
vnd der chunnig pus macht,
so ist ir gewalt gar geswacht®.
ebenda:
Got vatter alle cristenhait
lob vnd er sy dir gesait ...
40 Zeilen®,.
fol 166r:
Liegen triegen ist ain sitt
dem dy welt nun folget mit ...
20 Verspaare”.
Strophenkonkordanz
für
J (= Satire cod. Innsbruck) u. F (= Flacius „A legis doct...)
J 16, 3 u. 4 F 1, 1 u. 3 J 20 = F 5
J 17 =F 2 J 22 =F6
J 18 =F 3 J 23 =F 8
J 19 =F 4 J 24 =F 7.
Natürlich fragt man sich sofort: Sind die gemeinsamen
Strophen — daß F. eine andere handschriftliche Quelle vorlag,
geht aus den Lesarten hervor — von dem Verfasser unserer Sa-
tire aus „A legis doctoribus ...'* entlehnt, oder ist das Verhält-
nis umgekehrt ? Von vornherein ist das erstere wahrscheinlicher:
unserem Dichter kam bei dem Reim auf -atur (Str. 16, 3f.) der
5 Vgl. Fridankes Bescheidenheit, v. H. E. Bezzenberger, Halle 1872, S. 133,
V. 16—19.
* Vgl. Fridank, l. c. S. 232.
* Vgl. Fridank, 1. c. S. 218.
526 Hans Walther
Anfang des „Sermo ad Praelatos“ in Erinnerung, und nun
setzte er die folgenden Strophen dieser Satire, die denselben
Stoff behandelte, ziemlich in der gleichen Reihenfolge hierher,
nur einmal durch einen eigenen Zusatz unterbrochen (Str. 21)*.
Ähnliches läßt sich auch sonst beobachten. Daß die beiden Ver-
fasser identisch sein kónnten, móchte ich nicht glauben; jeden-
falls ist es mir für das Mittelalter unwahrscheinlich, daß ein
Dichter sein eigenes Erzeugnis in ein späteres Gedicht verar-
beitet haben sollte. Allerdings bleibt es immerhin auffällig, daß
ein so spärlich überliefertes und kaum verbreitetes Gedicht hier
in solchem Umfange ausgeschrieben erscheint.
Was ergibt nun die Vergleichung der Form beider Gedichte?
Der Reim ist bei beiden zweisilbig rein; denn in J kann Str. 7
periti: dimitti als rein gelten. In der Silbenzahl findet sich ein
Verstoß nur in J; aber er läßt sich leicht durch fehlerhafte Uber-
lieferung erklären und ist unschwer zu beseitigen. Auch die Un-
tersuchung des Taktwechsels ergibt nichts Zwingendes: in J
33mal in 33 Strophen (einschl. der 3 Fälle in mit F gemein-
samen Strophen), in F siebenmal in 10 Strophen. Der Hiat da-
gegen ist in F gánzlich vermieden, wáhrend er in J innerhalb der
Halbzeilen dreimal, zwischen den Halbzeilen einmal und zwi-
schen den Langzeilen fünfmal begegnet; das spricht m. E. ge-
nügend für die Annahme, daß „A legis doctoribus ...“* von
unserm Dichter ausgeschrieben worden ist. Erschwert wird die
Entscheidung dadurch, daß ein Vergleich des inhaltlichen Auf-
baues beider Gedichte deshalb nicht viel hergibt, weil die ein-
zelnen Strophen in beiden Gedichten in sich geschlossene An-
klagen enthalten, die einen logischen Zusammenhang und Fort-
schritt vermissen lassen.
Aufbau des Gedichtes
Str. 1—4: Anklage des Pastores ecclesie, bes. wegen Hab-
sucht und Luxus, in der 2. P. Pl. — Str. 5—8: Anklage wegen
ungerechten Richtens und Bestechlichkeit, davon nur Str. 6 in
d. 2. P. PL, die übrigen in d. 3. P. Pl. — Str. 9—12: Anklage
wegen allgemeiner Vernachlässigung der Priesterpflichten und
Androhung der Höllenstrafen, in der 3. P. Pl., womit ein ge-
® Dieser Zusatz könnte natürlich auch schon in der Vorlage von J gestanden
haben.
Studien zur mittellateinischen Dichtung 527
wisser Abschluß erreicht scheint. — Str. 13: nimmt eine Son-
derstellung ein: Es ist nicht völlig klar, ob hier der Dichter,
Petrus, den Papst (Petrus = Papa) oder einen Kirchenfürsten
mit Namen Petrus anredet; auch ist eine eigentliche Bitte (13, 4
sic, quod justum petimus, non repellas retro) in den folgenden
Strophen nicht recht erkennbar. — Str. 14: gegen die betrüge-
rischen und bestechlichen Notare (3. Pl.) (Str. 13 u. 14 scheinen
aus anderen Satiren hier eingesprengt zu sein). — Str. 15 f. all-
gemeine Klage: Die Welt ist schlecht geworden. 16, 3 wird die
Anklage gegen die legis doctores (s. o. 6, 1) nach F 1 und 3
wiederholt (3 P.). — Str. 17—23 enthalten die 7 Strophen aus
F, allgemeine Klagen über die Schlechtigkeit der Welt, die
durch das schlechte Vorbild der Geistlichen hervorgerufen sei;
frühere Anklagen (Bestechlichkeit, Habsucht, Pflichtvergessen-
heit) wiederholen sich dadurch. Die 3 ersten Strophen in 3. P.,
die übrigen, einschl. der Zus. Str. 21, in 2. P. Pl. — Str. 25—27:
Anklagen in der 2. P. Sing. (an den Papst oder einen Kirchen-
fürsten gerichtet ?). — Str. 28—33: Ermahnung an die Pastores
ecclesie (3. P.), Christi Beispiel zu folgen und rechtzeitig bessere
Sitten anzunehmen.
Man wird aus dieser Übersicht erkennen, daß das oben aus-
gesprochene Lob der Satire nicht für ihren Aufbau gelten kann;
ja man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch die
nicht aus F entlehnten Strophen z. T. (z. B. 13, u. 25—27) aus
einem anderen Gedicht hineingeflickt sind; sicheren Aufschluß
konnte freilich erst das Auftauchen von weiteren handschrift-
lichen Zeugen bringen. Daß manche Anklagen und Wendungen
sich mit ähnlichen in anderen Scheltpredigten berühren, darf
nicht wundernehmen, auch ist nicht immer an bewußte Ent-
lehnung zu denken; eine ähnliche Sprache gegen Klerus und
Kurie wurde damals allgemein geführt, sie geht in vielen Fällen
auch auf die gemeinsame Quelle (Bibel) zurück.
Daß Strophe 1—12 von den übrigen zu trennen sind, dafür
spricht schon die Verteilung der Taktwechsel in dem Gedicht:
von den 33 Fällen stehen in Str. 1—12 allein 26, während sich
die übrigen ziemlich gleichmäßig auf Str. 13—33 verteilen.
Soweit hatte ich die Sachlage geklärt, als mich ein Hinweis
Otto Schumanns zu Str. 31 weiter führte: Wattenbach hat im
Anzeiger f. Kunde d. deutschen Vorzeit 15, 1868, 164—66 die
528 Hans Walther
Strophen 15—33 bereits aus der Münchener Hs. lat. 10751 (M)
mitgeteilt?, in der sie auf fol. 145r—147v stehen; allerdings
handelt es sich um eine sehr spáte Überlieferung: der Liesborner
Benediktiner Anton Husemann hat die Stücke im Jahre 1575
gesammelt und abgeschrieben ,,partim ex vetustis manu-
Scriptis codicibus, partim etiam ex familiaribus bonorum virorum
et amicorum colloquiis. Daß M auf eine andere Überlieferung
zurückgeht als J, erhellt schon daraus, daß die Strophen 18
und 20 fehlen, dafür aber im ganzen 5 Zusatzstrophen vorhanden
sind: 1 hinter 25, je 2 hinter 31 und 32.
Durch diese Feststellung gewinnt auch die oben ausgespro-
chene Vermutung an Wahrscheinlichkeit, daß auch Str. 13/14
aus einem anderen Gedicht hier interpoliert sind. Es bestätigt
sich von neuem, daß Schreiber und Dichter des späteren Mittel-
alters sehr sorglos mit den überlieferten Gedichten umsprangen,
aus dem Gedächtnis Strophen, die sich einigermaßen in den Zu-
sammenhang fügten, hinzusetzten oder auch neue Strophen
hinzudichteten, wie es der Schreiber von M. getan hat!“.
Es ist nunmehr klar, daß nicht erst der Dichter oder Schreiber
der Innsbrucker Satire den sogen. „Sermo Goliae ad praelatos"
seiner Dichtung einverleibt hat, sondern daß sie bereits in der
Scheltpredigt „Suscitavit Dominus simplicem et brutum ..."
stand, die er als Str. 15 ff. seinen eigenen, Scheltversen anhängte.
Jene Scheltpredigt muB übrigens noch verbreiteter gewesen
sein: Th. Wright (Mapes S. XXVII) berichtet, daB sie in dem
dureh Brand vernichteten cod. Cotton. Vitellius D. VIII. des
Brit. Museums unter der Überschrift „Ad utrumque statum"
enthalten gewesen sei; er erwähnt dies, weil Leyser S. 785 sie
als ein Werk des Walter Map ansah, wofür sich keinerlei Beweis
erbringen läßt, so wenig wie für die anderen Zuweisungen an
den berühmten Kanzler von Lincoln und Oxforder Diaconus!!.
* Die Hs. M wurde von mir mit Wattenbachs Abdruck verglichen; der Direktion
der Münchener Staatsbibliothek danke ich bestens für freundliche Übersendung.
10 Ein ganz bezeichnendes Beispiel für dieses Verfahren bietet cod. Florent.
Laur. Plut. XXXVI, 34 (perg. s. XIV.) fol. 16r—19r, 126 Vagantenstrophen (Inc.
Multiformis hominum fraus et injustitia ...), meist satirischen Inhalts, die nicht
weniger als 5 bekannte Stücke in bunter Folge aneinander reihen.
11 Über ihn vgl. jetzt M. Manitius, Gesch, d. lat. Liter. d. MA. s. III, 1931,
264 ff.
Studien zur mittellateinischen Dichtung 529
1. Pastores ecclesie, principes inferni,
qui non bona queritis pastoris eterni,
amisistis gloriam luminis superni,
deputati rabidis ignibus inferni.
2. Christum enim venditis et felle potatis,
eius sacrum lancea latus perforatis;
precio, non precibus aurem commodatis;
nam qui gratis accipit, debet dare gratis.
3. Ve vobis, ypocrite, vos ypocrisantes!
luci datis tenebras, lucem tenebrantes;
magna pretermittitis, ^ mentam decimantes,
a via justicie prorsus deviantes.
4. Ve, qui vestris oculis estis sapientes,
amara pro dulcibus pocula prebentes,
in liris et cytharis ad mensam sedentes,
opus sanctum Domini non respicientes!
5. Ve, qui quasi licita illicita jungunt
nec non et illicite licita disjungunt,
verbis coram positis fallaces emungunt,
quos caninis dentibus detrahentes pungunt!
6. Ve vobis, pastores et vos legis doctores,
immo mercenarii legis perversores
et matris ecclesie dilapidatores,
symonie subditi Symonis cultores!
Wilhelm Heraeus und Otto Schumann haben sich freundlicherweise um das
Verständnis des Stückes bemüht; ihre Bemerkungen und Hinweise sind im Apparat
durch H, bzw. S gekennzeichnet. J = cod. Innsbruck, M = cod. München, F =
Text des Flacius. Die aus F stammenden Strophen sind kursiv gesetzt.
1,4 rabiis J. — 2, 1a öfter, z. B. Walter v. Chat, Mor. -sat. Gedd. ed. K. Strek-
ker. 1929. S. 64, Str. 6, 4; Christum vendunt hodie novi Scariotes. — 2, 1b Jer. 23,
15 cibabo eos absynthio, et potabo eos felle. — 2,2 Joan. 19, 34. — 2,3 zu dem
Wortspiel pretio-precibus vgl. Hist. Vierteljahrschr. 26, 306. — 2,4 Matth. 10,8
gratis accepistis, gratis date. — 3,1 Matth. 23, 13 Vae autem vobis, scribae et
pharisaei hypocritae (vgl. auch die folg. Verse bei Matth. 14, 15, 23, 25, 27, 29). —
3,2 Isai. 6, 20 Vae qui dicitis malum bonum, et bonum malum: ponentes tenebras
lucem et lucem tenebras: ponentes amarum in dulce, et dulce in amarum (letzteres
*. 4, 2). — 8, 3 mentam] mca J (was ich zuerst als marcam auflöste). Matth. 23,
23 Vae vobis ... qui decimatis mentham, ..., et reliquistis, quae graviora sunt
legis (S). — 4, 1 Isai. 5, 21 Vae qui sapientes estis in oculis vestris. — 4, 3 Isai. b,
12 Cithara et lyra ... in conviviis vestris: et opus Domini non respicitis. —
9, 1/2 Isai. 5, 8, Vae qui conjungitis domum ad domum, worauf H. hinweist,
Histor, Vierteljahrschrift, Bd. 28, H. 3 94
530 Hans Walther
7. Usurpato nomine sunt legis periti,
nam sunt lege perditi, cum sua dimitti
credunt posse crimina, mollibus vestiti,
delicate variis dapibus nutriti.
8. Quorum deus dicitur venter incrassatus,
ciborum edulio nimis dilatatus;
quibus quando fuerit aureus oblatus,
pupillus et orphanus jacet viduatus.
9. In Moysi cathedra contendunt sedere
primosque recubitus in cenis habere;
imponentes sarcinas, quas illi movere
suo nolunt digito, sed neque videre.
10. Sacerdotes Domini volunt appellari,
sed sacerdotaliter ^ nolunt operari;
nam quecumque predicant populum sectari,
ab ipsis conspicimus minus observari.
11. Unde restat merito, quod eorum dicta
sine fructu maneant vento derelicta;
se fideles simulant in fide non ficta;
que cavenda predicant, non cavent delicta.
12. Judicabit Dominus, quos predixi tales,
passuros perpetuo penas infernales;
sed qui vita, moribus sunt spirituales,
erunt in celestibus anglis coequales.
erklärt wenig; S. glaubt, die Zeilen bezögen sich auf leichtsinniges Schließen und
Lösen von Ehen, das nur Sache des Papstes ist (vgl. Walter v. Chat. MSGedd. 5,
9, 1 Roma solvit nuptias); ich glaube doch, daß die Verse allgemeiner zu fassen sind.
— 5,2 distringwunt J. — 5, 4 emungunt] Konj. H, injungunt J (inungunt S); zu
den Reimwórtern dieser Str. vgl. K. Strecker, Estr. dagli Atti dell' Accad. degli
Arcadi. 1930, vol. V/VI. S. 8, Str. 16 u. Anmerk. — 5, 4a Strecker weist in der An-
merk. zu 6, 2, 2 der MSGedd. Walters v. Chat. auf Hieronymus Epist. 50, M. 22,
513 A hin. — 6, 1 vos] fehlt J. — 6, 1 f. Jer. 23, 1Vae pastoribus, qui disperdunt et
dilacerant gregem pascuae meae. — zu 6, 2a vgl. Joan. 10, 12f. — 7, 1a vgl. Deut.
5, 11. — 7, 1f. periti—perditi, Wortspiel! — 7, 3b Matth. 11, 8. — 8, 1f. incrasatus
J. Phil. 3, 19 quorum deus venter est ; Deut. 32, 15 incrassatus, impinguatus, dilatatus.
— zu 8, 3 f. vgl. 2. B. Eccli. 4, 10. — 9, 1 Matth. 23, 2 super cathedram Moysi
sederunt scribae (s. u. Str. 24, 1). — 9,2 Matth. 23, 6 amant autem primos recubitus
in coenis et primas cathedras in synagogis. — 9, 8f. Matth. 23, 4 Alligant enim
onera gravia et importabilia, et imponunt in humeros hominum: digito autem suo
nolunt ea movere. — 10, 1 Matth. 23, 7 (amant) vocari ab hominibus Rabbi (5). —
10, 4 munus J. — 11, 1 quod] über d. Zeile nachgetr. J (wohl von ders. Hand). —
11, 3b in fide] Korr.; victa J. 1. Tim. 1, 5 caritas de corde puro. .., et fide non
„ oo gr pm m [2 ri
— C) —— — LER a. O — 2
Studien zur mittellateinischen Dichtung 531
13. Petrus Petrum convenit versibus et metro,
ut per metrum Petrus sit generosus Petro;
sicud quondam Moyses acquievit Jetro,
sic, quod justum petimus, non repellas retro!
14. Fraus est in notariis, sed fraus est ignota;
hac in parte curie fides est remota;
carta cavens precio non carebit nota,
sed scriptum reperies apicem pro jotha.
15. Suscitavit Dominus simplicem et brutum,
ut peccantes arguat subjugale mutum;
jam se mundus erigit contra Dei nutum,
jam Johannem video mollibus indutum.
16. Jam pusille fidei Petrus naufragatur,
inter fluctus ambulans fluctibus gravatur.
A legis doctoribus lex evacuatur
nec in cruce Domini quisquam gloriatur.
17. Vitam claudit hominum paucitas dierum
nec est inter homines, qui discernat verum;
jam plebs juste murmurat contra Dei clerum,
facta est confusio, perit ordo rerum.
18. Puer senem arguit dignitate pari,
Rachel plorans filios non vult consolari;
jam ruinas Jericho vides 1nnovari
nec jam mala Sodome possunt exstirpari.
ficta. — 12, 1a des öfteren bibl. Versanfang! — 12,4 S vermutet angelis equales.
— 18, 8 aquievit J. vgl. Exod. 18, 1ff. — 14, 3 cavens] carens J; ich vermag
der La. carens keinen Sinn abzugewinnen und ändere daher trotz Zerstörung,
wenigstens teilweiser, des Wortspiels. — Mit Str. 16 setzt M ein. Rote Ü.: Item
alius Rhytmus (das vorhergehende Stück, Inc.: Prohdolor confusio nascitur
antiqua ..., hat die Ü. De corrupto mundi statu Rhytmus); M hat die gemein-
samen Reimsilben jeder Strophe ausgeklammert. — 15, 1a Jer. 51, 11 u. ö. —
15, 1f. 2. Pet. 2, 16 u. Num. 22, 28. — 15, 3b vgl. Walter v. Chat., MSGedd.
56,9, 1. — 15, 2 peccantem M (peccatum, Wattenbach). — 16, 1/2 Matth. 14, 22ff.
— 16, 3f. = F 1, 1 u. 3. — 16, 3b Ephes. 2, 15. — 16, 4 non F. — 16, 4
Gal. 6, 14 Mihi autem absit gloriari, nisi in cruce Domini nostri Jesu Christi. —
17 = F2. — 17, 1 clausit J. — 17, 1b z. B. Job. 10, 20 numquid non paucitas
dierum meorum finietur brevi. — 17,2 nec] vix F; discernit F. — 17, 4 fraus est
et confusio F, ich gebe aber der La. von J den Vorzug, trotz dem Hiat; vgl. 1. Reg. 5,
6 facta est confusio mortis magnae. — 18 = F 3; fehlt M. — 18,2 Matth. 2, 18
Rachel plorans filios suos, et noluit consolari. — 18,3 ruinam F; videt reparari
F; vides] unter d. (letzten) Zeile statt getilgten „non vult“ J. — 18, 4 jam] dum J
(s. u. 20, 4); res mala dum Sodomae nequit e. F. — 19 = F 4. — 19, 1 circa mundi
94*
532 Hans Walther
19. Jam in mundi vespere | mala convalescunt,
in senili corpore sordes juvenescunt,
suis in stercoribus pecora putrescunt
et languente capite | membra conlanguescunt.
20. Ve, qui propter munera justum condempnatis!
glucientes bubalum, culicem liquatis,
per errorum devia graviter erratis
nec jam dona gratie gratus habet gratis.
21. Ve, qui in sudario ponitis talentum,
qui nec unum spargitis, ut metatis centum!
Male concupiscitis aurum et argentum;
hoc in cardinalibus vetus est fermentum.
22. Ve, pastores Israhel, | gregem non pascentes
et a grege Domini lupos non arcentes!
erratis pro precio Christum non sequentes,
qui se dedit precium ad salvandas gentes.
23. Ve vobis, ypocrite, filii meroris:
qualis quisque lateat, jam apparet foris!
Oui lux esse debuit vite melioris,
per exemplum factus est — laqueus erroris.
24. Ve, qui super cathedram Moysi sedetis!
lex a vobis legitur, quam vos non inpletis;
eius in ecclesia speciem tenetis,
cu ius procul dubio vitam non habetis.
vesperam F. — 19, 3 peccora J; sordescunt F. Joel 1, 17 computruerunt jumenta
in stercore suo. — 19, 4 languenti capiti M. Wohl weniger an 1. Cor. 12, 26 gedacht
als an die im ganzen MA. sehr verbreitete Fabel. — 20 — F 5; fehlt M. — 20,1
justum] vitam F. Ahnlich bibl. öfter, z. B. Isai. 5, 23 Vae . .. qui justificatis impium
pro muneribus, et justitiam justi aufertis ab eo. — 20, 2 vor glutientes] Bub durch-
strichen J; colatis F. Matth. 23, 24 Duces caeci, excolantes culicem, camelum autem
glutientes. — 20, 3b male deviatis F. — 20, 4 jam] dum J (vgl. 18, 4). — zu 20,4
8. 0. 2, 41 Zu dem sehr beliebten Wortspiel vgl. Walter v. Chat. MSGedd. S. 23,
Str. 11, 4, S. 107, Str. 9, 4 u. S. 111, Str. 4, 2; auch Carm. Bur. ed. Hilka-Schumann,
Anmerk. zu 1, 4, 4. — 21,1 sudariis M. — 21, 1f. Luc. 19, 20 ecce mna tua, quam
habui repositam in sudario. — 21, 2 spargitis] korr. a. spigis J. — 22, 3 Deut. 7, 25
non concupisces argentum et aurum. — 21, 4b 1. Cor. 5, 7f. — 21 und 22 in M um-
gestellt. — 22 = F 6. — zu 22, 1 s. o. Str. 1 und 6, ferner Jer. 23, 2 u. Ezec. 34, 3ff.
— 22,2 Joan. 10, 12. — 22,3 u. 4 umgestellt in F. — 22,3 pro pr.] in invio F. —
22, 4 1. Cor. 6, 20 empti enim estis pretio magno. — 23 — F 8. — 23, 1 vgl. o.
Str. 8, 1. — 23, 2 lateat] fuerit F. Matth. 23, 28 vos aforis quidem paretis homini-
bus justi, intus autem pleni estis hypocrisi et iniquitate. — 23, 3 dux F. Matth. 5,
14 (u. 16) vos estis lux mundi. — 23, 4 exemp.] errorem F; erroris] horroris F. —
^
—
Studien zur mittellateinischen Dichtung 533
25. Ve, qui mundum judicas sub humano die!
sub te pugna geritur David et Golie;
post vite periculum, post laborem vie
nosti dare miseris literas Urie.
26. Ve, qui per sententiam inpium non feris
et cum pereuntibus per consensum peris!
cum offensas principum tangere vereris,
turpis lucri gratiam pro mercede queris.
27. Ve, qui male spolias Grecum et Latinum,
ut in auro studeas coronare vinum!
Non sic Christus habuit pondus metallinum;
manum cum discipulis mittens in cacinum.
28. Veniamus igitur ad agonem Christi,
qui pro nobis voluit ad tribunal sisti!
Quodsi bene novimus opus Antichristi,
n non ad Christum pertinent seductores isti.
29. Christus semet obtulit hostiam pro mundo,
Christus crucem subiit, mundus pro immundo,
ut suos educeret lacu de profundo,
numero celestium collocans jocundo.
30. Christus morti datus est patris ex decreto,
cuius Jonas meminit positus in ceto;
Christus fellis poculum bibens cum aceto
dixit „Consummatum est!" ordine completo.
24 = F 7. — 24, 1 Moysi cath. J., s. o. Str. 9, 1. — 24,2 dicitur F. vgl. z. B. Rom.
2, 14, Jac. 4, 11. — 24, 4 procul] sine M. — 25, 1 1. Cor. 4, 8 mihi autem pro
minimo est ut & vobis judicer, aut ab humano die. — 25, 2 in der bekannten Deu-
tung: David = Christus (Vertreter des Guten), Golias = Satan (Vertreter des
Bösen). — 25, 4 2. Reg. 11, 14. — Hinter 25 in M Zusatz:
Ve qui donis hominum faves et personis
et ad voces pauperum aures non apponis!
Hic eclipsim patitur lumen rationis,
ubi causa geritur precibus et donis.
In 26 fehlt in den ausgeklammerten Reimsilben das e. M.— 26, 1 f. s. zu 20, 1. —
26, 3 offendas precium M. — 26, 4 merc.] labore M. 1. Pet. 5, 2 neque turpis lucri
gratia, sed voluntarie (auch Tit. 1, 11). — 27, 1b s. Carm. Bur. (ed. Hilka-Schumann)
Nr. 50, 14,3 (H), auch Walter v. Chat. MSGedd. 4, 27, 1 wo Strecker auf Juv. 10,
138 hinweist. — 27, 2b Verg., Aen. 1, 724 (H). — 27, 3 Christus non sic M. — 27,4
mittes J. Marc. 14, 20 Unus ex duodecim, qui intingit mecum manum in catino. —
28, 1 agones J. — 28, 2 tribunnal J. — 28, 3 qui si M; corpus M (opus Wattenb.). —
28, 4 ad Chr. non pertinet M (pertinent Wattenb.). —
534 Hans Walther: Studien zur mittellateinischen Dichtung
31. Christus mori voluit firma ratione,
preda factus eripit predam a predone,
sub Pilato mutus est potens in sermone,
hic qui Salomonior erat Salomone.
32. Christus paciencie tribuit doctrinam,
nostre carnis induens vestem cilicinam;
hoc illis in tempore fecit in ruinam,
qui tenere rennuunt eius disciplinam.
33. Super gregem Domini vigilent pastores
et paulatim transeant ad honestos mores,
ut honestis moribus congruant honores,
ne maiorum meritis pereant minores!
29 durch Verweisstrich hat J die 4. Zeile an die 2. Stelle gerückt; urspr. 29, 2 =
29, 4. — 29,1 semel J. Ephes. 5,2 Christus ... tradidit semetipsum pro nobis
hostiam deo. — 29,2b bibl. — 29,3 scelestium J. — 29, 2—4 in M:
et qui cedrus fuerat — factus est arundo;
sub Herode passus est mundus ab immundo,
ut suos reduceret lacu de profundo.
30,2 Jon. 2, 2ff. — 30,3 acceto J. — 30,3 f. Joan. 19, 28ff. — 31,1 firma]
nova M. — 31,2 sanctus J. Zu dem Wortspiel: praeda—praedo vgl. Hilarius ad
puerum anglicum 13, 4, 1—14 u. Spicil. Solesm. II, 466. — 31, 3 Matth. 27, 13f. —
31, 4 hic] et M. — Hinter 31 in M 2 Zus.-Strophen:
Christus pro Bersabee celos inclinavit,
quam de patris solio solus adamavit;
liber inter mortuos mortem non expavit,
propter quod et dominus illum exaltavit.
Christus inter scandala melius profecit,
peccatori similis peccatum non fecit,
cum humani corporis speciem objecit,
non in fortitudine fortem interfecit.
32,2 vestem] carnem J; induit M. — 32, 3 illis hoc M; factus M. — 32, 4 nes-
ciunt M. —
Vor 33 in M 2 Zus.-Strophen:
Christus dedit animam mundi pro salute
et pro mundo moritur mundus absolute,
sed jam pro vocalibus successerunt mute,
rosa cessit lilio, — lilium cicute.
Ecce dicat aliquis: Factus es ut Dina,
qui relictis propriis tractas peregrina:
jam cortinas arguunt saga cilicina,
locis dignioribus ^ detrahit sentina.
93, 1 gregem dom.] greges igitur M. vgl. o. die Str. 1, 6 u. 22! —
535
Fichte und Frankreich‘.
Von
Hedwig Hintze.
In seinen „Vorlesungen über Geschichte der Philosophie‘
hat Hegel das Verhalten Frankreichs und Deutschlands im Zeit-
alter der großen Revolution bedeutsam charakterisiert: „In
der Kantischen, Fichteschen und Schellingschen Philosophie ist
die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und
ausgesprochen ... An dieser großen Epoche der Weltgeschichte,
deren innerstes Wesen in der Philosophie der Geschichte be-
griffen wird, haben nur zwei Völker Theil genommen, das Deutsche
und das Französische, so sehr sie entgegengesetzt sind, oder
gerade, weil sie entgegengesetzt sind... In Deutschland ist dieß
Princip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirk-
lichkeit hinausgestürmt. ..“.
In der kritischen Gesamtausgabe des Fichteschen Brief-
wechsels, die Hans Schulz besorgt hat, wird ein Fragment ver-
öffentlicht, das auf die innere Beziehung Fichtes und seines
Werkes zur französischen Revolution ein besonders starkes Licht
wirft und Hegels Auffassung in sehr charakteristischer Weise
bestátigt. Es handelt sich um den Entwurf zu einem Briefe, der
wahrscheinlich an den dánischen Freund Baggesen gehen sollte
und vermutlich aus dem April 1795 stammt, aus jener Zeit,
1 Ein wichtiger Punkt dieser Arbeit — das Verhältnis Fichtes zu Lepelletier de
Saint-Fargeau — ist bereits kurz umschrieben in der ausführlichen Besprechung,
die ich von Alfred Sterns Buch ,,Der Einfluß der französischen Revolution auf das
deutsche Geistesleben“ im Herbst 1928 verfaßte und die dann erst im September
1930 in der „Zeitschrift für Politik" erschienen ist. — Im Sommersemester 1931
behandelte ich in historischen Übungen an der Berliner Universitát die Aufnahme
der großen Revolution in Deutschland. Die beiden tüchtigen, materialreichen Re-
ferate meiner Schüler Erich Leupert und Gerda Winkler sind auch dem vorliegenden
Aufsatz zugute gekommen.
2 Hegel, Werke 15. Bd., Berlin 1844, S. 485.
536 Hedwig Hintze
die Fichte in Oßmannstädt verbrachte, nachdem akademische
Jugend ihm die Fenster eingeworfen und seine Frau „ durch Zu-
rufung schandbarer Ausdrücke insultiert“ hatte“.
Der Brief sollte einem ungemein praktischen Zweck dienen“.
Fichte, der damals versichert, von keinem König oder Fürsten
eine Pension annehmen zu wollen, möchte die französische
Nation veranlassen, ihm eine solche zu gewähren, damit er die
Wissenschaftslehre in Ruhe vollenden könne, im Elsaß ,,oder in
einer andern deutschen Provinz der Republik“ lebend und
keinen Titel tragend, ‚als den eines französischen Bürgers“,
wenn die Nation ihm diesen Titel geben wollte. In einem solchen
Zusammenhang wird keine Verherrlichung des revolutionären
Frankreich überraschen; aber was Fichte hier über das innere
Verhältnis seines Werkes zur Revolution sagt, geht doch über
die wohlerwogene captatio benevolentiae eines selbstbewußten
und geschmackvollen Bittstellers hinaus:
„Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene
Nation von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reist
mein System ihn von den Feßeln der Dinge (?) an sich, des
äußern Einflußes los, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze
als selbstständiges Wesen hin. Es ist in den Jahren, da sie mit
äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpften, durch innern
Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurtheilen
entstanden; nicht ohne ihr Zuthun; ihr valeur war, der mich
noch höher stimmte, u. jene Energie in mir entwikelte, die dazu
gehörte, um dies zu faßen. Indem ich über diese Revolution
schrieb, kamen mir gleichsam zur Belohnung die ersten Winke
(?)u.(?) Ahndungen dieses Systems. Also — das System gehört
gewißer maDen schon der Nation.
Die Schriften Fichtes über die französische Revolution, auf
die er hier anspielt, sind sehr bekannt: es handelt sich einmal
um die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten
Europens, die sie bisher unterdrückten. Eine Rede“, die Fichte
— ohne seinen Namen zu nennen — mit der sehr bezeichnenden
Angabe von Erscheinungsort und -Jahr ausstattete: ,,Helio-
polis, im letzten Jahre der alten Finsternis (1793)“, und zweitens
* Vgl. J. G. Fichte, Briefwechsel ed. Hans Schulz, Zweite Auflage, Leipzig
1930, Bd. I, S. 437.
Briefwechsel, Bd. I, S. 449ff.
Fichte und Frankreich 537
um den „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums
über die Französische Revolution“, der in erster Auflage 1793,
in zweiter 1795 erschienen ist®. Charakteristisch für beide Schrif-
ten ist die Art, wie der Autor die Revolution in ganz große Zu-
sammenhänge einordnet. Lapidar beginnt der „Beitrag“: „Die
franzósische Revolution scheint mir wichtig für die gesamte
Menschheit. Ich rede nicht von den politischen Folgen, die sie
sowohl für jenes Land, als für benachbarte Staaten gehabt, und
welche sie, ohne daB ungebetene Einmischen und das unbeson-
nene Selbstvertrauen dieser Staaten, wohl nicht gehabt haben
würde. Das alles ist an sich viel, aber es ist gegen das ungleich
Wichtigere immer wenig“. Was mit diesem „Wichtigeren“ ge-
meint ist, erhellt aus einer anderen Stelle derselben Schrift:
die Revolution erscheint dem Autor als ein Schritt vorwárts zu
einer hóheren Entwicklungsstufe der Menschheit".
Wenn Fichte den erdennahen demokratischen Standpunkt
vertritt, die „politische Freiheit“, „das Recht, kein Gesetz an-
zuerkennen, als welches man sich selbst gab“, solle in jedem
Staate sein, so ist ihm dies doch erst die dritte Form der Frei-
heit; die erste Form, die „transcendentale“ Freiheit, sei ,,in
allen vernünftigen Geistern die gleiche''; es sei ,,das Vermógen,
erste unabhängige Ursache zu sein“; zwischen diesen beiden
„Freiheiten“ aber steht die ,,kosmologische, der Zustand, da
man wirklich von nichts außer sich abhängt — kein Geist be-
sitzt sie, als der unendliche, aber sie ist das letzte Ziel der Kultur
aller endlichen Geister'?. Auf dem Wege zu einem in solchen
Bildern geschauten einheitlichen Menschheitsziel liegt ihm die
Revolution; er weiß, daß dies, was er postuliert, ,,nie ... ganz
. in Erfüllung gehen .. wird“, aber die Menschheit „soll“,
„Wird“, „„ muß“ diesem Ziele immer näher kommen. „Sie hat
vor euren Augen an einem Ende einen Durchbruch begonnen;
sie hat unter einem harten Kampfe mit dem gegen sie verschwo-
renen Verderben, das an ihr selbst und außer ihr seine ganzen
5 Vgl. zum Folgenden Georges Delobel, Fichte et les idées de la Révolution
franccaise, Annales révolutionnaires, Bd. 4 (1911), S. 299ff. (Mai/Juni).
* Ich zitiere beide Schriften nach der Ausgabe der ‚Philosophischen Biblio-
thek", Bd.163: Fichtes Staatspolitische Schriften ed. Hans Schulz und Reinhard
Stucker.
* Vgl. Beitrag S. 65ff. ^ * Beitrag, S. 65 Anm.
538 Hedwig Hintze
Kráfte gegen sie aufbot, etwas geleistet, das doch wenigstens
besser ist, als eure despotischen Verfassungen, die auf die Herab-
würdigung der Menschheit ausgehen?.''
Wer ein historisches Ereignis in solchen Zusammenhängen
sieht, findet sich auch irgendwie mit den schauderhaften Aus-
schreitungen eines „sanften“ Volkes ab, das „herabgesunken“
erscheint „zur Wut der Kannibalen“, mit jenen Greueln, die
der Revolution so viele vorgezogene Geister der Mit- und Nach-
welt entfremdet haben; an die Fürsten, die gerne bei solchen
Dingen verweilen, wendet sich Fichte mit überlegener Ironie:
„ . . Wir wollen euch nicht an blutigere Feste erinnern, welche
Despotismus und Fanatismus im gewohnten Bunde eben diesem
Volke gaben — euch nicht erinnern, daß dies nicht die Früchte
der Denkfreiheit, sondern die Folgen der vorherigen langen
Geistessklaverei sind, — euch nicht sagen, daß es nirgends stiller
ist, als im Grabe!“
Wenn Fichte hier zuweilen wie ein Marquis Posa spricht,
so erinnern seine Worte über die Greueltaten noch bedeutsamer
an einen Brief Babeufs, der am 22. Juli 1789 schmerzerfüllt die
grauenvollen Pöbelszenen in Paris, die Ermordung des früheren
Ministers Ludwig XVI., Foullon und seines Schwiegersohnes
Berthier mit angesehen hatte und damals an seine Frau
schrieb: „Die Leibesstrafen aller Art, das Vierteilen, die Folter,
das Rad, die Scheiterhaufen, die Galgen, die überall verbreiteten
Henker haben unsere Sitten so verdorben. Statt uns zu erziehen,
haben die Machthaber uns zu Barbaren gemacht, weil sie selbst
es sind. Sie ernten und werden ernten, was sie gesät habenl."
Es kommt hier nicht darauf an, gewisse Schwankungen
Fichtes in Beurteilung der Revolution zu verfolgen, sondern die
Brücke zu finden, die zu seinem späteren Verhalten Frankreich
gegenüber führen kann.
* Ebenda, S. 67.
10 Denkfreiheit, S. 25. Ähnlich Fichtes Gattin an Vater Rahn aus Beon, den
26. Oktober 1793, Briefwechsel I, S. 303.
11 Vgl. Albert Mathiez, La Révolution francaise, Bd. I, 3. Aufl. Paris 1928,
S. 60. — In der Correspondance inédite des Marquis de Ferriéres, député de la Nob-
lesse aux Etats Généraux, ed. Henri Carré, Paris 1932, steht eine merkwürdig ähn-
liche Bemerkung über die gleichen Szenen: Brief vom 24. Juli an seine Schwester
Madame de Medel, S. 97: ,,Je n'aurai jamais cru qu' un peuple aimable et bon se
füt porté à detels excés; mais la justice du ciel se sert souvent dela main des hommes."
Fichte und Frankreich 539
Im „Beitrag“ hatte er 1793 geschrieben: „Glaubt ihr, daß
dem deutschen Künstler und Landmanne sehr viel daran liege,
daß der lothringische oder elsassische Künstler und Landmann
seine Stadt und sein Dorf in den geographischen Lehrbüchern
hinfüro in dem Kapitel vom deutschen Reiche finde, und daß
er Grabstichel und Ackergerät wegwerfen werde, um es dahin
zu bringen ?!?''
Ich weiß nicht, ob Fichte je von dem Enthusiasmus berührt
worden ist, mit dem in der Föderationsbewegung des Jahres
1790 führende Schichten der elsässischen Bevölkerung sich an
das große französische Vaterland anschlossen!?; gerade damals,
1790, schreibt er selbst in Briefentwürfen an den Oberkonsi-
storialpräsidenten von Burgsdorf in Dresden, „Vaterland“ sei
ihm „kein leerer Name“ !“; aber in dem staatlosen Deutschland
konnte er nichts erleben, was mit dem franzósischen Vorgang
zu vergleichen war, wo das Vaterland sich aus der gemeinsamen
Wohnstátte der Untertanen des Kónigs von Frankreich zum
Substrat für die selbstbewußte und verantwortungsbereite Na-
tion wandelte und weitete!5.
Jedenfalls sehen wir Fichte 1795 noch ganz in der Stimmung
der von ihm 1793 gekennzeichneten Bevólkerungsschichten, die
sich gleichgültig verhalten gegen politische Grenzen; wünscht
er doch selbst, gerade im Elsaß als „französischer Bürger'' die
Wissenschaftslehre zu vollenden; auf eine „deutsche Provinz
der Republik" muß seine Wahl schon fallen; denn der franzó-
sischen Sprache sei er „nicht so mächtig ... um sie zur gewöhnl.
Conversationssprache zu brauchen!®.“
Zwischen den ersten Äußerungen Fichtes über die franzó-
sische Revolution und diesem Briefentwurf an Baggesen liegt
die Berufung an die Universitát Jena und der Beginn der
132 Beitrag, S. 59f.
13 Vgl. Confédération de Strasbourg ou Fédération du Rhin run 1790), Pro-
ces-verbal ed. A. Aulard, Paris 1919.
4^ Vgl. Briefwechsel I, S. 110, 113.
* Noch am 10. Dezember 1798 — zu Beginn des Atheismusstreites spricht
Fichte von der „deutschen Nation“ mit dem Zusatz „wenn wir eine haben“. (Brief-
wechsel I, S. 609). Das berühmte Wort vom 29. Juli 1807 „... ich glaubte, die
deutsche Nation müsse erhalten werden“, ebenda, II, S. 472.
1 Briefwechsel, I, S. 450.
540 Hedwig Hintze
dortigen an Erfolgen, Enttäuschungen und Argernissen so
reichen Wirksamkeit.
Auf der Reise von Zürich nach Jena schreibt er am 12. Mai
1794 aus Frankfurt a. M. an die bei ihrem Vater zurückgebliebene
Gattin: „In Frankfurt fällt es niemand ein, die Franzosen zu
fürchten; nicht einmal in Mainz ... Die Stimmung der Ein-
wohner, deren Ländereien doch durch die Franzosen verwüstet
sind, ist dennoch sehr zu ihrem Vortheile. Der gemeine Mann liebt
sie; u. wer nichts mehr hat, den ernähren sie; nur die privilegirten
Stände sind wüthend gegen sie. In Mainz u. in Frankfurt
wünscht man sie zurück. Alles ohne Ausnahme haßt die Preu-
Bischen, u. Oesterreichischen Völker, und verachtet, u. verlacht
sie, und spottet ihrer schreklichen Niederlagen!7.“ Fritz Medicus
hat bereits auf „den innern Anteil" hingewiesen, „mit dem
Fichte für die französische Sache Partei nimmt''18,
Am 26. Mai 1794 schreibt der Jenaer Professor an seine Frau,
man solle ihm die „Zürcherische Zeitung“ mit jedem Posttage
schicken; es folgen die Worte: „Wolf ... soll brav ächt den
Moniteur, u. das Journal de Paris, u. die Englische Zeitung
ausziehen, so will ich seine Zeitung berühmt machen bis ans
Ende der Tage, und sie verbreiten, soweit die deutsche Mundart
reicht ... Auch der Ex. Hirzel ... soll hübsch tolerant mit der
Censur seyn, und nicht wegstreichen; die armen bedrängten
Teutschen, die keinen Moniteur u. kein Journal de Paris
bekommen, bedenken.!“
Es handelt sich hier offenbar um Auszüge aus den fremden
Organen in der Zürcher Zeitung: man spürt, wie heftig Fichte
nach solcher geistigen Kost verlangt, wie sehr der politisch enge
Horizont Deutschlands ihn bedrückt haben muß.
In den Anfängen seiner Jenaer Lehrtätigkeit ist Fichte erfreut
über die Franzosen, die ,,citoyens de France“, nach seinen eige-
nen Worten, die dort an der Universität studieren, sich an ihn
anschließen, seine Revolutionsschrift übersetzen wollen“.
Bemerkenswert ist eine briefliche Äußerung seiner Frau vom
12. Juli 1794, die in Zusammenhang steht mit der falschen
17 Briefwechsel, I, S. 360.
18 Fichtes Leben, Zweite Auflage, Leipzig 1922, S. 6.
1* Briefwechsel, I, S. 368.
» Äußerungen vom 26. Mai, 24. Juni 1794, Briefwechsel I, S. 369, 375.
Fichte und Frankreich 541
Nachricht von der Absetzung Kants von seiner Königsberger
Professur , wegen seiner Demokratischen Grundsätzen‘. Jo-
hanna schreibt damals: „Mir ists immer, Frankreich könne,
wenn einmahl Ruhe und Ordnung dort herscht, ein Zufluchts Ort
für uns werden . . “ Und gerade sie hat sich, wie wir noch
sehen werden, fünf Jahre später auf der Höhe des Atheismus-
streites Reinhold gegenüber höchst diplomatisch in dieser
schwierigen Frage ausgesprochen. Fichte ist im Juli 1794 auf
die Anregung seiner Gattin kaum eingegangen, fühlte sich offen-
bar damals in Jena leidlich wohl?; aber aus dem April 1796
stammt ja hóchstwahrscheinlich jener mehrfach zitierte Brief-
entwurf, der über den Wunsch des deutschen Philosophen, in
den Dienst der franzósischen Republik zu treten, keinen Zweifel
aufkommen läßt.
Am 15. November 1795 teilt er dem Buchhändler Cotta in
Tübingen vertraulich mit, er werde „von Frankreich aus sehr
dringend angegangen, etwas für sie über die ersten Principien
des Natur- und Staatsrechts zu schreiben“. Er trägt sich gerade
mit dem Plan, sein „Naturrecht“ im Druck erscheinen zu lassen
und wünscht sehr, ‚daß zugleich auf eine französische Über-
setzung gedacht würde“.
Was Fichte in der „Verantwortungsschrift“ gegen die An-
klage des Atheismus vom 18. März 1799** über sein Verhältnis
zu Revolution und Demokratie aussagt, muß unter dem Ge-
sichtspunkt gewertet werden, daß es sich eben um eine Verant-
wortungs-, eine Verteidigungsschrift handelt. Die viel zitierten
Worte: „Ich bin ihnen ein Demokrat, ein Jacobiner; dies ist's.
Vor einem solchen glaubt man jeden Gräuel ohne weitere Prü-
fung“, lassen eigentlich mehr von seiner wahren Meinung er-
raten, als die zur Abwehr solcher in Deutschland fürchterlichen
Vorwürfe ersonnenen künstlichen Konstruktionen. Zögernd, in
21 Briefwechsel, I. S. 393.
33 Vgl. den Brief vom 21. Juli 1794, Briefwechsel, I, S. 394ff.
32 Briefwechsel, I, S. 520.
% Sämtliche Werke, Bd. V, Berlin 1845, S. 239ff.
3$ Ebenda, S. 286. — Vgl. in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxis-
mus“, Jahrgang III, Heft Nr. 3, S. 406ff. den Aufsatz von S—ii, Die Große Franzó-
sische Revolution in der deutschen Rechtsphilosophie; S. 412: in der „Eudamionia
erklärt ein Hörer Fichtes, er glaube, wenn er Fichtes Auditorium betrete, er sei
„in einen Jakobinerklub unseligen Andenkens“ geraten.
549 Hedwig Hintze
hypothetischer Einkleidung, mit allerlei Drehungen, Wendungen
und teilweiser Zurücknahme halber Zugeständnisse läßt er die
Möglichkeit offen, als „junger Mensch", unter besonderen Ver-
háltnissen über die Revolution schreibend, vielleicht ,,ein wenig
übertrieben“ zu haben“,; sein Verhältnis zur Demokratie soll
geklärt werden durch Berufung auf das 1796 erschienene Werk
Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts-
lehre 7, das er gern in französischer Übersetzung wollte er-
scheinen lassen. Gerade dieses aber ist ein revolutionäres Werk,
das Grundsätze wie den folgenden aufstellt: „... das Volk*
ist nie Rebell ... Nur gegen einen Hóheren findet Rebellion
statt. Aber was auf der Erde ist höher, denn das Volk“!“
Demokratie verwirft Fichte hier nur in dem Sinn, daB darunter
eine Ordnung verstanden wird, in der „die ganze Gemeine die
ausübende Gewalt in den Händen hat““. Also unmittelbare
Volksherrschaft, im Gegensatz zur Repräsentativverfassung,
wird abgelehnt; aber noch in der ,, Verantwortungsschrift'' selbst
gibt Fichte zu, er sei „ein sehr entschiedener Demokrat“ in dem
Sinne, daB er „lieber gar nicht seyn möchte, als der Laune unter-
worfen seyn, und nicht dem Gesetze“ “.
Mit besonderer Vorsicht ist es aufzunehmen, wenn er in der
gleichen Schrift „mit der entschiedensten Freimüthigkeit“ er-
klärt, „daß gegenwärtig kein anderes Land in Europa“ sei, in
welchem er „lieber leben möchte, als Deutschland“ sI. Die fol-
genden Worte über die Möglichkeit, „daß in Deutschland keine
Ruhe und bürgerliche Sicherheit mehr für den Schriftsteller
wäre“, daß diesem dann nichts übrig bleibe, als zu gehen, wohin
man ihn „ausstößt““, deuten schon darauf hin, daB er mit
solchen Möglichkeiten sehr stark rechnet und sich praktisch
darauf einstellt.
Die Absichten des deutschen Philosophen, in den Dienst der
franzósischen Republik zu treten, reichen offenbar weit zurück.
Einen Brief Claude Camille Perrets vom 16. März 1798 bezeichnet
1$ Sämtliche Werke, Bd. V, S. 288.
* Hier zitiert nach der Ausgabe der „Philosophischen Bibliothek“, Bd. 128
(Fichtes Werke ed. Medicus, Bd. II).
38 Werke, Bd. II, S. 186, 3? Ebenda, S. 162. Vgl. auch ebenda, S. 290f.
3 Sämtliche Werke, Bd. V, S. 288.
21 Ebenda, S. 295. *3 Ebenda, S. 295.
Fichte und Frankreich 543
Fichtes Sohn als die „erste Anregung von französischer Seite .,
die umso merkwürdiger war, als sie seinen alten Plänen und
Entwürfen unerwartet ein Feld zu öffnen schien“.
Der aus Dijon gebürtige Perret war in Jena ein bevorzugter
Hörer Fichtes gewesen, den dieser in einem Brief vom 22. Sep-
tember 1794 mit freundlichen Worten an Lavater empfohlen
hatte; er bezeichnete ihn damals als „jungen Republikaner, von
welchem ich mir für seine Republik, die er sehr liebt, viel ver-
spreche''*,
Der junge Republikaner hatte Karriere gemacht, war im
Jahre 1798 diplomatischer Sekretär Bonapartes. Schon 1794
hatte Fichte seine groBen Fortschritte im Studium der Philo-
sophie — offenbar vorwiegend der deutschen — gerühmt, wo-
durch er seinem Vaterlande dienen wolle. Der erwáhnte Brief
Perrets an seinen einstigen Lehrer vom 16. März 1798% schwärmt
in hohen Tónen von der Vereinigung des deutschen und fran-
zösischen Geistes, von der notwendigen gegenseitigen Ergänzung
der beiden Vólker; die Erwerbung des linken Rheinufers durch
Frankreich wird als „neues Band zwischen den beiden Nationen“
bezeichnet; diese günstige Lage soll ausgenützt, an den Ufern
des Rheins sollen Schulen eróffnet werden; die Lehrer seien unter
den Deutschen zu suchen, die reiche Kenntnisse und Talente
mit der Liebe zur Freiheit vereinigten. Wir wissen nicht, wie
Fichte gerade auf diesen Brief geantwortet hat.
Mehr Raum in seinem Leben und Denken hat offenbar ein
von anderer Seite herrührender Plan eingenommen. Es handelt.
sich dabei um folgendes: der kurfürstlich mainzische Hofrat.
Jung, ein Freund Hölderlins, damals Leiter der Studienkom-
mission in dem an Frankreich abgetretenen linksrheinischen
Gebiet, bemühte sich in hóherem Auftrag eifrig darum, die
Mainzer Universität zu reorganisieren, der Stadt Mainz über-
haupt im franzósischen Bildungswesen eine bevorzugte Stellung
zu sichern. Für diese Aufgabe suchte er die Mitwirkung Fichtes
zu gewinnen, und er hat mit ihm darüber einen regen Brief-
33 Morgenblatt für gebildete Stände, Stuttgart und Tübingen 1831, S. 1186,
Sp. 2, Einleitung zu der Briefpublikation: „Fichte und sein Verhältnis zur Franken-
republik.“
* Briefwechsel, I, S. 403.
33 Briefwechsel, I, S. 684ff.
544 Hedwig Hintze
wechsel geführt, der sich vom Herbst des Jahres 1798 bis Ende
Juni 1799 hinzieht.
Fichte erklärt sich am 12. September 1798, oder, wie er
schreibt, den 29. Fructidor VI., — also vor Ausbruch des Atheis-
musstreites — „für einen Verehrer der politischen Freiheit und
der Nation, die dieselbe zu verbreiten verspricht“ und betont,
wie gern er gerade in dieser Rücksicht bereit wäre, sein „Leben
der großen Republik für die Bildung ihrer künftigen Bürger zu
weihen''36,
Der Briefwechsel ist nicht ganz leicht auszudeuten, einmal,
weil er lückenhaft überliefert ist, dann, weil zwischen den Korre-
spondierenden selbst manchmal keine volle Klarheit herrschte,
wie denn Fichte über die Organisation des franzósischen Bil-
dungswesens verháltnismáDig wenig unterrichtet war, und drit-
tens, weil sich die Absichten Jungs mit dem bekannten, während
des Atheismusstreites gereiften Plane Fichtes kreuzen, in Ver-
bindung mit einer Anzahl von Kollegen außerhalb Jenas ein
„neues Institut“ zu gründen?”.
Gerade dieser letzte Punkt macht besondere Schwierigkeiten.
In einem bekannten, während des Atheismusstreites am 22./23.
März 1799 geschriebenen, an den Weimarer Staatsbeamten, Ge-
heimrat Christian Gottlob von Voigt gerichteten Brief schreibt
Fichte, gleichgesinnte Freunde hätten ihm ihr Wort gegeben, ihn
zu begleiten, falls er, durch Verletzung seiner Lehrfreiheit ge-
zwungen, die Universität Jena verlassen müsse: „Es ist von
einem neuen Institute die Rede, unser Plan ist fertig.. ..
Medicus ist der Ansicht, daß eben mit diesem Institut die
damals unter französischer Herrschaft stehende Universität
Mainz gemeint wars“. Fichte aber hat am 22. Mai 1799 einen
freilich geheimnisvollen und rätselhaften, noch dazu verstümmelt
überlieferten Brief an Reinhold geschrieben, in dem es ausdrück-
lich heißt: „Das projectirte neue Institut war nicht für die
Frankenrepublik, sondern für eine andere projectirt*? ...“.
Reinhold selbst bemerkt am 24. Juni 1799 Fichte gegenüber,
daß alles, was dieser ihm in seinen letzten Briefen „über das
** Ebenda, S. 593 (Fichte unterstreicht).
3! Vgl. Briefwechsel II 63ff, * Ebenda, S. 56.
3% Fichtes Leben, S. 139.
*9 Briefwechsel, II, S. 108.
Fichte und Frankreich 545
projectirte Institut“ geschrieben habe, ihm ‚völlig unver-
ständlich und ein unauflósliches Räthsel“ sei“.
Auch Xavier Léon, der hingebende und tiefschürfende neueste
Biograph Fichtes“, hat dieses Rätsel nicht gelöst, er stellt aber
folgende Hypothese zur Diskussion: Mainz sei von deutschen
Behórden (magistrats) verwaltet worden und habe nur der Ober-
aufsicht eines franzósischen Kommissars unterstanden; viel-
leicht habe Fichte nun gemeint, daB wegen dieser Art von poli-
tischer Autonomie die Universität Mainz nicht als Universität
der französischen Republik zu bezeichnen sei“.
Der Briefwechsel mit Jung bringt neue Beweise für die starke
und warme Sympathie, die Fichte der französischen Republik
entgegentrug. Freilich, es gibt diplomatische Wendungen aus
der Feder Fichtes und seiner Gattin. So bemerkt Johanna Rein-
hold gegenüber am 3. Mai 1799, es habe den Anschein, als wolle
man das Ehepaar Fichte „gewaltsam nach Frankreich treiben“,
um dann sagen zu können, „da stand sein Sinn immer hin, er
war nie kein redlicher Deutscher", und doch werde nur ,,die
äußerste Noth“ sie zu einem solchen Schritte veranlassen“.
Acht Tage spáter, am 10. Mai 1799 — er datiert ,,d. 21. Flo-
real. 7.“ — unterscheidet Fichte in einem Schreiben an Jung**
— kritisch wie selten gestimmt — die von jedem vernünftigen
Menschen anzuerkennenden Principien der fränkischen Re-
publik von ihrer Praxis; aber in demselben Briefe schreibt er
auch, anknüpfend an die ,,Greuelthat zu Rastatt“, die Ermor-
dung der franzósischen Gesandten durch Szekler Husaren, am
28. April 1799: „Der Despotismus wird nun consequent." „Es
ist klar, daB von nun an nur die Fr.[anzösische] Rep.[ublik] das
Vaterland des rechtschaffenen Mannes sein kann, nur dieser er
seine Kräfte widmen kann, indem von nun an nicht nur die
theuersten Hofnungen der Menschheit, sondern sogar die Exi-
stenz derselben an ihren Sieg geknüpft ist““ . Für sich persönlich
zieht er hieraus folgende Konsequenzen:
*! Briefwechsel, II, S. 128 (Reinhold unterstreicht).
4 Xavier Léon, Fichte et son temps, Bd. I, Bd. II, 1, Bd. II, 2, Paris 1922 bis
1927
13 op. cit. Bd. I, S. 602, Anm.
“ Briefwechsel, II, S. 97.
Ebenda, II, S. 99ff. — Ebenda, S. 100.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 35
546 Hedwig Hintze
„ . . Ich übergebe mich hierdurch feierlich mit allem, was
ich kann und vermag, in die Hände der Republik; nicht, um
bei ihr zu gewinnen, sondern um ihr zu nützen, wenn ich kann.“
„Nur die furchtbarste Überlegenheit‘, meint er, „kann der
Republik Ruhe, und Existenz verschaffen.“
„Ich habe nur Ein Mittel in der Hand, für diesen Zwek mit-
zuarbeiten: Schriftstellerei. Vielleicht ist es .. nicht un-
möglich, den verblendeten Deutschen die Augen aufzureißen®”“.
Aus der gleichen Stimmung stammt Fichtes Brief an Rein-
hold vom 22. Mai 1799, der die rätselhaften Worte über ,,das
projectirte neue Institut“ enthält. Er schreibt damals in tiefer
Verbitterung über seine persönliche Lage, über den „gräßlichen
Gesandtenmord" und dessen mutmaßliche Folgen. Es ist ihm
„völlig gewiß ... daß der Despotismus sich von nun an mit Ver-
zweiflung vertheidigen wird, daß er durch Paul und Pitt con-
sequent wird, daß die Basis seines Plans die ist, die Geistes-
freiheit auszurotten, und daß die Deutschen ihm die Erreichung
dieses Zweks nicht erschweren werden““.
„In Summa: es ist mir gewisser, als das Gewisseste, daB,
wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Ubermacht erringen,
und in Deutschland, wenigstens einem beträchtlichen Theile
desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in
Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem
Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte
finden wird*?.''
Solchen Bekenntnissen gegenüber wiegt es nicht schwer,
wenn Fichte am 21. Juni 1799 in einem an denselben Adressaten
Reinhold gerichteten Brief eine vorsichtige Wendung einfließen
läßt, von Personen, denen er , wohl den größten Dienst ...
thäte, wenn [er] nach Frankreich ginge“.
Sicherlich haben ihm auch die durch Jung geführten Ver-
handlungen mit den französischen Behörden manche Enttäu-
schung gebracht. Bereits am 28. September 1798 hatte ihm dieser
geschrieben, daß ‚sich die schönen Aussichten zu einer ganz
zweckmäßigen National-Bildung unseres Departements um
47 Ebenda, S. 101.
48 Briefwechsel, IT, S. 103.
** Ebenda, II, S. 104.
9 Ebenda, II, S. 124.
Fichte und Frankreich 547
vieles getrübt“ hätten®!. Aber noch nach dem endgültigen
Scheitern ihrer gemeinsamen Plàne schreibt Fichte am 30. Juni
1799, kurz vor der Übersiedlung nach Berlin, an den ,,verehrungs-
würdigen Freund“, wie „sehnlichst“ er für Frankreich ,,eine
einer freien Nation würdige Verwaltung“ herbeiwünsche; „und
dann wird mein zweiter Wunsch seyn“, fährt er fort, „daß die
Republik auch mich und meine Kráfte brauchen kónne, und ich
auf diese Weise aus Deutschland, das ich denn doch für ein frem-
des Land in Rücksicht auf mich betrachten muß, hinweg-
komme“.
Der bedeutsame Briefwechsel, der in solche Töne ausklingt,
enthält einen besonders wichtigen Kern: in jenem Schreiben
vom 12. September 1798, in dem der deutsche Professor seine
prinzipielle Bereitschaft, der französischen Republik zu dienen,
zum Ausdruck bringt, gibt er auch zu, keinen rechten Begriff
von einer französischen „Centralschule“ zu haben; an einer
solchen hatte ihm Jung offenbar eine Stelle angeboten“. Hier-
von seinen Ausgang nehmend, weiht Fichte den Freund ver-
traulich in „einen andern Plan“ ein: „Ich glaubte nämlich“,
schreibt er, „daß es Etwas geben müsse, was noch über die
Centralschule und Universität hinausliegt, und das wir eigentlich
noch gar nicht haben, ein Institut für das rein wissenschaft-
liche Interesse, wo nicht gefragt werde, wozu dieses oder jenes
diene, sondern nur, ob es wahr sey“; er glaubt, „es wäre der
groDen Nation würdig, diese Idee zuerst zu fassen und auszu-
führen, nicht blos für ihre Bürger, sondern für die ganze Mensch-
heit, so alle Nationen an sich zu fesseln und die Geister zu er-
obern“, und er glaubt ferner, „daß die Basis einer solchen Ver-
einigung der Menschheit für Ein Interesse, das an der Wissen-
schaft, die Vereinigung des franzósischen und deutschen Geistes
seyn müBte, und daB daher der Sitz der Anstalt am zweck-
mäßigsten auf dem linken Rheinufer seyn würde**'',
sı Ebenda, I, S. 600. — Vgl. auch den in vieler Hinsicht interessanten Brief
eines nur als Kr. bezeichneten Korrespondenten an Fichte, Offenbach, 2. Márz 1799;
ebenda, II, S. 15f.
55 Briefwechsel, II, S. 130f.
Vgl. Albert Durny, L'instruction publique et la Révolution, Paris 1882,
S. 182ff. Chapitre IV, Les écoles centrales. Vgl. im selben Werk die „Appendices“,
Nr. 8, Nr. 9, Nr. 17.
Briefwechsel, I, S. 594.
35*
048 Hedwig Hintze
Dieser Brief ist deshalb so wichtig, weil wir hier am Quell-
punkt der Ideen Fichtes über Universitätsreform stehen; es ist
der Anfang der Kurve, die über verschiedene Punkte — Lands-
huter, Erlanger Entwürfe — zum Berliner Universitätsplan
führt*. Dabei verdient es besondere Beachtung, in welchem
geistesgeschichtlichen und politischen Zusammenhang diese
Ideen zuerst auftauchen: getragen von den Menschheitsgedanken
der franzósischen Revolution, wie sein Schüler Perret für die
„Vereinigung des französischen und deutschen Geistes“ werbend
und wirkend, möchte Fichte damals durch die französische
Nation auf linksrheinischem Gebiet das verwirklichen lassen,
was er später für die verschiedenen deutschen Universitäten in
Vorschlag bringt: „eine Akademie, die wahrhaft Akademie
sei ... eine Schule der Kunst des wissenschaftlichen
Verstandesgebrauches“, nach den bekannten Worten des
Erlanger Entwurfes vom Winter 1805/0659,
Was die Erlanger Schrift „Grundsätzliches“ enthält, bringt
dann, wie bereits Alois Riehl betont hat, „der Berliner Univer-
sitätsplan in ausführlicher Entwicklung““ 7. Auch dieser be-
rühmte „Deducirte Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern
Lehranstalt“ des Jahres 1807 bedeutet keinen Bruch innerhalb
der weltbürgerlich-humanitären Gesinnung Fichtes, so über-
stark auch ein Kenner wie Eduard Spranger den „preußischen“
Geist dieser Schrift betonen mag°®. Soll doch gerade die „Aka-
demie des Berliner Planes“ in ihrer Verbindung mit den übrigen,
außer ihr vorhandenen wissenschaftlichen Körpern ... das
Bild des vollendet rechtlichen Staatenverháltnisses' darstellen.
„Die Wissenschaft zu allererst soll eine „organische Vereinigung
der aus lauter verschiedenen Individuen bestehenden Mensch-
heit ... realisieren", einen ,, Verein von Republiken .. die für
55 In der mir bekannten Literatur über Fichtes Universitätspläne wird dieser
wichtige Brief nicht herangezogen: Vgl. z. B.: Alois Riehl, Fichtes Universitäts-
plan, Berliner Universitätsrede 1910, Wilhelm Erben, Fichtes Universitätspläne,
Innsbruck 1914, Eduard Spranger, Staat und Universität, Einleitung zu Bd. 120
der Philosophischen Bibliothek (Über das Wesen der Universität, Aufsätze v. Fichte,
Schleiermacher, Steffens), Neue Ausgabe, Leipzig 1919.
ss Fichtes Nachgelassene Werke, Bd. III, Bonn 1835, S. 277f.
7 Riehl op. cit., S. 10. Vgl. Spranger, op. cit., S. XXV.
88 op. cit., S. XXIII.
Fichte und Frankreich 549
alle menschlichen Verhältnisse eben also angestrebte Form“; so
wird sie „Weissagung, Bürge und Unterpfand, daß auch das
übrige einst also gestaltet sein werde, der strahlende Bogen des
Bundes, der in lichten Hóhen über den Háuptern der bangen
Völker sich wólbt9?'", Der Berliner Universitätsplan läßt sich
also mühelos in die weitgespannte, weltbürgerlich orientierte
Ideenwelt Fichtes einordnen, die in den ersten Jahren des
19. Jahrhunderts nun auch den nationalen Gedanken, der
dem universalen polar zugeordnet ist, immer mehr Raum ge-
wáhrt.
Aus diesem harmonischen Zusammenhang fällt freilich der
ebenfalls ins Jahr 1807 gehörige ,,Machiavell" heraus®® — eine
Gelegenheitsschrift des nach der Schlacht von Jena aus Berlin
nach Königsberg geflüchteten Fichte, die offenbar in Zusammen-
hang steht mit dem ihm dort übertragenen Amt eines Zensors
der Zeitungen; als solcher hatte er ja — nach den Worten des
Ernennungspatents — ,,dahin zu sehen, daB die Nachrichten
von den Kriegs- und anderen óffentlichen Begebenheiten nicht
in einem verführerischen, den Patriotismus niederschlagenden
Ton erzählt, gegenseitig alle Anlässe, um den Mut der Unter-
tanen zu beleben gehörig benutzt werden““!.
Man darf dem Franzosen Xavier Léon ruhig zugeben, daß
im „Machiavell‘‘ la faillite de l'humanitarisme dans les rela-
tions entre Etats“ proklamiert wird®; aus der Stimmung der
Zeit und den damaligen besonderen Lebensumständen Fichtes
ist das gut zu verstehen. Andererseits sollte man dem in dieser
Gelegenheitsschrift skizzierten Typus des „realen National-
staates“ innerhalb des Fichteschen Denkens keine allzu große
Bedeutung beimessen, sich im allgemeinen vor einer Über-
schätzung des „rücksichtslosen Machtstaates“ hüten. Dies
% Philosophische Bibliothek, Bd. 120, S. 103 f. — Fritz Medicus, I. G. Fichte
als Anhänger und als Kritiker des Völkerbundgedankens, Zeitschrift für Völkerrecht,
Bd. 11 (1920), S. 141ff., legt viel Gewicht auf spätere AuBerungen Fichtes (Rechts-
lehre des Jahres 1812), die ihn als „Kritiker“ des Völkerbundgedankens können er-
scheinen lassen.
% Kritische Ausgabe von Hans Schulz, Philosophische Bibliothek, Bd. 163 d
(2. Aufl.).
*! Zitiert in der Einleitung von Hans Schulz, ebenda S. VII.
e op. cit., II, 2, S. 34.
550 Hedwig Hintze
hat schon Otto Braun in ein paar feinen Bemerkungen be-
tont s.
Es wäre reizvoll, das geistige Ringen Fichtes um den Aus-
gleich zwischen universalem und nationalem Denken zu ver-
folgen, wie es etwa in den „Patriotischen Dialogen''** sich aus-
wirkt, die ja in dieselbe Zeit wie der „Machiavell‘‘ und der
„Deducirte Plan“ gehören®®. Ich kann die wichtige Schrift unter
diesem Gesichtspunkt hier nicht ausschópfen und móchte nur
nachdrücklich auf den von der Forschung auch bereits betonten
Zusammenhang dieses Werks mit den „Reden an die deutsche
Nation“ hinweisen“.
Gegen Schluß des zweiten Gesprächs läßt Fichte den als B.
bezeichneten Träger seiner eigenen Gedanken folgende aufschluß-
reiche Bemerkung machen: „Man hat gar viel von National-
erziehung gesprochen, ehe es eine Erziehungskunst gab. Diese
haben wir nun; gebt sie den Bürgern, und Ihr werdet zu-
gleich eine Nation erhalten, und diese Erziehung wird im
höchsten Sinne des Worts, als Nationalerziehung sich bewährt
haben“ 7.
Wir stehen hier wieder an einem wichtigen Knotenpunkt:
die Linie, die auf Pestalozzi und seine „Erziehungskunst“ weist,
will ich nicht weiter verfolgen; die Beeinflussung Fichtes durch
den Schweizer Pädagogen ist ja bekannt genug; aber über die
Genesis der Idee einer Nationalerziehung móchte ich einiges an-
deuten, denn gerade hier berührt sich das Denken Fichtes wieder
** Der deutsche Staatsgedanke, Erste Reihe Bd. IV, Fichte, Volk und Staat,
München 1921, Einleitung: „Fichte und seine Staatslehre“, S. XVII. — Für die
Überschätzung des „rücksichtslosen Machtstaates“ charakteristisch die, allerdings
wührend des Weltkrieges 1917 geschriebene, Einleitung von Josef Hofmiller zur
Reklam-Ausgabe des „Machiavell“.
„Der Patriotismus und sein Gegenteil, Patriotische Dialogen, Kritische Aus-
gabe von Hans Schulz, Philosophische Bibliothek, Bd. 163c, 2. Aufl.
*5 Das erste Gespräch wurde in Berlin vor der Schlacht bei Jena geschrieben,
das zweite war bestimmt im Juni 1807 vollendet. Vgl. die Einleitung von Schulz,
S. IV, VII.
Vgl. Otto Braun, op. cit. S. XVII, Medicus, Fichtes Leben, S. 220f.
7 Philosophische Bibliothek, Bd. 163c, S. 60.
** Ich nenne hier aus der weitschichtigen Fichteliteratur (sehr eingehende Bi-
bliographie im zitierten Werke von Léon) nur Richard Wagner, Fichtes Anteil an der
Einführung der Pestalozzischen Methode in PreuBen, Leipzig 1914. — Ernst Berg-
mann, Fichte, der Erzieher zum Deutschtum, Leipzig. 1916.
Fichte und Frankreich 551
mit Ideen der franzósischen Revolution in einer — wie mir
scheint — noch nicht genügend beachteten Weise.
DaB der Gedanke der Nationalerziehung aus Frankreich
stammt, wird heute kaum ernstlich bestritten werden93*, Den
ersten wichtigen Schritt in dieser Richtung tat der Procureur
Général du Roi au Parlement de Bretagne Louis René de Cara-
deuc de La Chalotais mit seiner 1763 erschienenen — von
Schlózer ins Deutsche übersetzten — Schrift „Essai d'édu-
cation nationale ou plan d'études pour la jeunesse", die an
Stelle des „ultramontanen“ Erziehungssystems, wie es die Je-
suiten handhabten, eine Erziehung durch den Staat setzen
wollte®. Schon La Chalotais vertrat den Gedanken, daß durch
eine solche Erziehung in wenigen Jahren die Sitten der gesamten
Nation könnten umgestaltet werden“.
Die gleiche Idee hat etwa ein Jahrzehnt später Turgot ver-
fochten”!, Vor allem aber war die Nationalerziehung einer der
Lieblingsgedanken der groBen Revolution. Im April 1792 —
tragischerweise gerade im Augenblick der Kriegserklärung —
hatte Condorcet in der Legislative einen weitherzigen demokra-
tischen Plan allgemeiner Volksbildung entwickelt“. Im Sommer
«5? Die Amerikanerin Lucy M. Gidney, L'influence des Etats-Unis d'Amérique
sur Brissot, Condorcet et Madame Roland, Paris 1930, S. 114ff., glaubt „ces trois
grands esprits" beeinfluBt durch amerikanische Erziehungsideen. In der Besprechung
ihres Buches von Grunebaum-Ballin in Annales historiques de la Révolution fran-
caise, Jan./Febr. 1932, S. 87, wird betont, daß für diese Auffassung kein wirklicher
Beweis erbracht sei. — Vgl. über die Genesis der Nationalerziehung in Frankreich
den Artikel „Schleiermacher“ von Alfred Heubaum in W. Rein, Encyclopädisches
Handbuch der Pädagogik, Bd. VII, S. 687, Sp. II. Dazu: Das Wesen der Revolutions-
pädagogik, Eine historisch-systematische Untersuchung an der französischen Re-
volution von Dr. Elisabeth Siegel, Langensalza, Berlin, Leipzig 1930 (Göttingen,
Studien z. Pädagogik ed. Hermann Nohl, Heft 16).
% op. cit. S. 16, S. 20.
70 op. cit. S. 9, „Elle changeroit en peu d'années les moeurs d'une Nation en-
tiere.“
n Vgl. über den Turgot-Dupontschen „Munizipalitätenplan“, der diesen Ge-
danken enthült, mein Buch Staatseinheit und Fóderalismus im alten Frankreich
und in der Revolution, Stuttgart 1928, S. 107ff., besonders das Zitat in Anm. 58
zu Kapitel VI, S. 534.
73 Vgl. Procès-verbaux du Comité d'instruction publique de l'Assembleé légis-
lative ed. M. J. Guillaume (Collection de documents inédits sur l'histoire de France)
Paris 1889, S. 188ff., S. 249ff. — Dazu Jean Jaurés, Histoire socialiste de la Revo-
lution francaise ed. Mathiez, Tome III, La Législative, Paris 1922, S. 232ff.
002 Hedwig Hintze
1793 beschäftigten den Konvent u. a. die großen Projekte einer
„Nationalerziehung“ von Lepelletier de Saint-Fargeau und La-
voisier.
Deutsche Pläne, die bereits vor Fichtes „Reden“ in solche
Richtung weisen — etwa Johann Friedrich Zöllners, des Nach-
folgers von Meierotto im preußischen Oberschulkollegium
„Ideen über Nationalerziehung'', 1804 nach dem Tode des Ver-
fassers erschienen und von Schleiermacher einer Rezension ge-
würdigt, oder das ins gleiche Jahr 1804 gehörige „System der
öffentlichen Erziehung“ des bayerischen Kirchenrats Heinrich
Stephani — sind offenbar auch irgendwie beeinflußt durch fran-
zösische Gedankenströme”®,
Ich möchte hier nur bei dem Plane Lepelletiers einige Augen-
blicke verweilen, weil mir dieser besonders stark auf Fichte ge-
wirkt zu haben scheint“.
Der von liberalen und sozialen Ideen erfüllte Großgrundbe-
sitzer Louis-Michel Lepelletier, marquis de Saint-Fargeau, war
am 20. Januar 1793, einen Tag vor der Hinrichtung Ludwig XVI.
von einem früheren Leibgardisten des Monarchen, Päris, als
„Königsmörder‘ getötet worden. Sein großzügiges Projekt einer
„Nationalerziehung‘‘ legte am 13. Juli 1793 — dem Tag der
Ermordung Marats — Robespierre im Namen der „Commission
d'instruction publique" dem Konvent vor”. Der Vortragende
bemerkte dazu, der „Genius der Humanität“ selbst schiene
733 Für Zöllner betont dies Alfred Heubaum, Die Nationalerziehung in ihren
Vertretern Zöllner und Stephani, Halle a. d. S., 1904, S.18, Anm. 1. — Über National-
erziehung im allgemeinen vgl. noch das Buch von Edward H. Reisner, Nationalism
and education since 1789, New York 1923. Aus der Literatur über Fichtes „Reden“
nenne ich noch: Franz Fröhlich, Fichtes Reden an die deutsche Nation. Eine Unter-
suchung ihrer Entstehungsgeschichte, Berlin 1907, und Friedrich Janson, Fichtes
Reden an die deutsche Nation. Eine Untersuchung ihres aktuell-politischen Gehalts
(Abhandlungen z. mittleren und neueren Geschichte ed. Below, Finke, Meinecke),
Berlin u. Leipzig 1911.
74 In der deutschen Fichte-Literatur finde ich Lepelletier erwähnt in der zi-
tierten Schrift von Richard Wagner, S. 37. — Auf eine Beeinflussung Fichtes durch
Lepelletier verweist — unabhängig von meiner Anm. 1 zitierten, im gleichen Jahr
erschienenen Arbeit — Siegfried Bernfeld, Léonard Bourdons System der Anstalts-
disziplin, 1788—1795, Zeitschrift für Kinderforschung, Bd. 36, Heft 2, Berlin 1930,
S. 168.
75 Vgl. Procès-verbaux du Comité d'instruction publique de la Convention
nationale, ed. Guillaume (Doc. inéd.), Bd. II, Paris 1894, S. 31ff.
Fichte und Frankreich 553
diesen Plan entworfen zu haben, welcher dem Weltall einen
neuen Beweis liefern móge, daB ,,die von der Tyrannei als wild
und blutdürstig hingestellten unversóhnlichen Feinde der Kónige
gerade die zärtlichsten Freunde der Humanität seien''?$,
Der „Moniteur“ brachte am 17. Juli 1793 einen ziemlich
ausführlichen Auszug aus Lepelletiers Werk““, den Fichte viel-
leicht direkt kennen gelernt hat, vielleicht durch Vermittlung
der Zürcher Zeitung. Lange mógen die Ideen des Franzosen in
ihm geruht und gekeimt haben. Als er im Winter 1807/08 sich
mit seinen „Reden“ an die deutsche Nation wendet, erwachen
sie zu neuem Leben.
Die Unterschiede in der Lage des Franzosen und des Deut-
schen sind freilich bedeutend.
Lepelletier hat offenbar zwischen dem 24. Dezember 1792
und dem 20. Januar 1793 seine Gedanken formuliert?*. Damals
war Frankreich bereits in den Krieg verwickelt, den es durch-
kämpfen mußte, um sein Weiterbestehen in der neuen demokra-
tischen Staatsform zu sichern. Aber Lepelletier betont gleich
im Eingang seines Projektes, daß er den „manchmal flüchtigen
Ruhm der Eroberungen und Siege“ ziemlich gering ein-
schätzt: „Schöne Institutionen dagegen dauern und machen
die Nationen unsterblich. In diesem großen Zusammenhang
bringt der Franzose gleich sehr kräftig das zum Ausdruck, was
den eigentlichen Kern der „Reden“ Fichtes bildet: „In Ansehung
des durch die Fehlerhaftigkeit unseres alten Gesellschafts-
systems tief gesunkenen Menschengeschlechts, habe ich mich
von der Notwendigkeit überzeugt, eine vollständige Wieder-
geburt herbeizuführen und sozusagen ein neues Volk zu
schaffen).
Die Nation, an die Fichte sich wendet, ist nicht gleich der
französischen im revolutionären Aufschwung begriffen, sondern
— wie der Redner es bitter ausdrückt — sie hat „ihre Selb-
ständigkeit und mit ihr allen Einfluß auf die öffentliche Furcht
und Hoffnung verloren“. Ihr „bisheriges Leben' ist „erloschen
7€ op. cit. S. 34f.
” Vgl. Moniteur, Réimpression, Bd. 17, S. 134ff. — Eine Bemerkung Fichtes
im Brief vom 6. Juni 1807 an Altenstein zeigt, wie gut er mit dem „Moniteur“ ver-
traut war, Briefwechsel II, S. 58.
78 Vgl. Guillaume, op. cit. S. 35. ?* Ebenda, S. 35, Anm. 2.
554 Hedwig Hintze
und Zugabe eines fremden Lebens geworden‘‘®. Aber Fichte,
der Ja bekanntlich in diesen Reden keineswegs zum Kampf mit
den Waffen auffordert?!, schlágt genau das gleiche Mittel, wie
Lepelletier fast mit den gleichen Worten vor. Von einer „völligen
Wiedergeburt“ spricht der Franzose. Fichte erblickt das „Ret-
tunsgmittel" für die unterdrückten Deutschen in der „Bildung
zu einem durchaus neuen ... Selbst, und in der Erziehung der
Nation ... zu einem ganz neuen Leben‘. „Eine gänzliche Ver-
änderung des bisherigen Erziehungswesens'' soll herbeigeführt
werden®?.
Lepelletier findet, daß in den bereits vorhandenen Entwürfen
des Komitees für Öffentlichen Unterricht zu wenig Rücksicht
genommen werde auf die Lage der arbeitenden Klassen, die ihre
Kinder zum Broterwerb mit heranziehen müßten und dann
nicht abends eine halbe Meile weit nach der nächsten Schule
schicken könnten; er aber wünscht ‚einen allgemeinen Unter-
richt für alle, den Bedürfnissen aller angepaßt ... mit einem
Wort eine wahrhaft universale Nationalerziehung‘‘*®.
In ähnlichem Sinne stellt Fichte fest, daß bisher die „Bil-
dung nur an die sehr geringe Minderzahl der eben daher ge-
bildet genannten Stände gebracht‘‘ wurde?*; er möchte hier Ab-
hilfe schaffen. „An alles ohne Ausnahme, was deutsch ist“, will
er „die neue Bildung ... bringen, so daß dieselbe nicht Bildung
eines besonderen Standes, sondern, daß sie Bildung der Nation
schlechthin als solcher ... werde ... und daß auf diese Weise
unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche
deutsche Nationalerziehung entstehe?5'*,
Lepelletier beklagt es, daß in den bisherigen Plänen die kór-
perliche Erziehung zu sehr vernachlássigt worden sei, daB dem
„sittlichen Wesen" nur „einige nützliche Unterweisungen,
einige Augenblicke des Studiums‘ zugebilligt würden; das
genüge nicht zur Heranbildung von Menschen, Bürgern, Repu-
8° Ausgabe von Medicus in der Philosophischen Bibliothek, Bd.131c, S. 21
(Erste Rede).
81 Vgl. loc. cit. S. 180 (11. Rede) und S. 243 (14. Rede), dazu Richard Wagner,
op. cit. S.1.
33 Erste Rede, loc. cit. S. 21.
8 Guillaume, S. 36.
*^ Erste Rede, S. 28. Ebenda, S. 23, 24.
Fichte und Frankreich 555
blikanern, zur Erneuerung der Nation. Darum soll auf dem Wege
der Gesetzgebung die óffentliche Anstaltserziehung eingeführt
werden; die Knaben im Alter von 5—12, die Mädchen im Alter
von 5—11 Jahren sollen, ohne Berücksichtigung der sozialen
Unterschiede auf Kosten der Republik gemeinsam erzogen
werden, „unter dem heiligen Gesetz der Gleichheit‘‘, die gleiche
Kleidung, Nahrung, den gleichen Unterricht erhalten®®.
Fichte, der áhnlich wie Lepelletier betont, die bisherige Er-
ziehung habe ,,zu guter Ordnung und Sittlichkeit hóchstens nur
ermahnt“ 7, kann nicht an eine einige Nation, an eine große
Republik sich wenden; er hofft auf den Wetteifer der verschie-
denen deutschen Staaten®® oder auf wohlgesinnte Privatper-
sonen, etwa große Gutsbesitzer®®; aber auch er fordert „gänz-
liche Absonderung von den Erwachsenen“, gemeinsame An-
staltserziehung für beide Geschlechter“.
Interessant wie die Ubereinstimmung im Grundgedanken,
ist auch der Unterschied in vielen Einzelzügen der beiden Pro-
jekte. Im allgemeinen hebt sich die schlüssige Logik und Klar-
heit, die praktische Durchdachtheit des französischen bedeutsam
ab von dem stürmischen, alle Hindernisse überfliegenden Idealis-
mus des deutschen. Sehr charakteristisch ist es in dieser Hin-
sicht, daß Lepelletier das Hauptgewicht auf „den physischen
Teil der Erziehung“, wie wir heute sagen würden, die ,,kórper-
liche Ertüchtigung“ legt?! ; aber diese ist doch nicht Endzweck:
die jungen Menschen sollen an Arbeit gewóhnt, zur Arbeit er-
Zogen werden, damit sie sich spáter ihre Existenz sichern kónnen,
von niemandem abzuhängen brauchen, als von sich selbst;
darum soll schon in den Jahren der Erziehung die praktische
Arbeit, die Handarbeit den größten Teil des Tages in Anspruch
nehmen,
Fichte läßt zwar im „Gemeinwesen der Zöglinge auch ...
körperliche Ubungen“ zu, ferner die „mechanischen, aber hier
zum Ideale veredelten Arbeiten des Ackerbaues, und die von
mancherlei Handwerken“ “, aber der deutsche Philosoph betont
æ Guillaume, S. 37/38. *' Zweite Rede, S. 27.
88 11. Rede, S. 184f.
** 11. Rede, S. 186. Dazu Bergmann op. cit., S. 222f.
0 10. Rede, S. 169.
21 Guillaume, S. 44. * Guillaume, S. 42f. * Zweite Rede, S. 41.
556 Hedwig Hintze
doch viel stärker als der französische Philanthrop, ein rein
geistiges Prinzip: der beabsichtigte Erfolg seiner Erziehung wird
„angeknüpft. an ... das ewige und ohne alle Ausnahme
waltende Grundgesetz der geistigen Natur des Menschen, daß
er geistige Tätigkeit unmittelbar anstrebe“ “.
Freilich wirbt auch Fichte für die neue Anstaltserziehung
u. a. mit der Begründung, daB eine ,, Verbesserung der Staats-
wirtschaft" dabei herauskommen werde“ — hier vielleicht
direkt durch Lepelletier beeinflußt, der nacheinander ausführlich
die eigentliche Erziehungsfrage und die der „politischen Oeko-
nomie“ behandelt“. Nachdem er die großen praktischen Vor-
züge seines Planes entwickelt hat, ruft der Franzose aus: „Ich
wage die Frage zu stellen, wo wird es jetzt noch Armut geben?" ?‘‘
Fichte nimmt wörtlich das Motiv auf: „Arme gibt es unter
einem also erzogenen Volke gar nicht“?“
Beide Projekte stehen im Dienst der großen Humanitätsidee
des 18. Jahrhunderts: der Menschheit und seinem eigenen Lande
— man beachte die Reihenfolge — will Lepelletier durch seinen
Erziehungsplan dienen’. Mit bekanntem Überschwang knüpft
Fichte ‚alle Hofinungen des gesamten Menschengeschlechts auf
Rettung“ an die Erhaltung, die Erneuerung der deutschen
Nation an!99,
Das Nationalempfinden, das er — schwer getroffen durch die
Übergriffe des napoleonischen Imperialismus — in Deutschland
erwecken will, hat wenig zu tun mit den ,,Antrieben der Ehre
und des Nationalruhms"', wie er sie im kaiserlichen Frankreich
vorherrschend findet und — gleich in der ersten Rede — als
„leere Trugbilder“ kennzeichnet!9?!, Sein sub specie aeternitatis
geschautes Deutschtum ist überhaupt nicht an politische Gren-
zen oder Sprachgrenzen gebunden: , Was an Geistigkeit und
Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung
dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren
sei, und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts.,
heißt es in der siebenten Rede!9?,
% Zweite Rede, S. 33. ** 11. Rede, S. 178.
** Vgl. Guillaume, S. 46f. 7 Guillaume, S. 47.
78 11. Rede, S. 179. *? Guillaume, S. 41.
19 14. Rede, S. 245. Vgl. Bergmann, op. cit., S. 215, S. 308ff.
101 Erste Rede, S. 24. 10 7. Rede, S. 122.
Fichte und Frankreich 557
Vaterlandsliebe soll das Aufblühen des Ewigen, Göttlichen
in der Welt bewirken!®; Fichte wußte sehr wohl, daß für uns
in unsern Erdenschranken das Göttliche eben nur im Mensch-
lichen sichtbar wird. Vaterland und Vaterlandsliebe erscheinen
so als Gefäß und Motor wahrer Humanität!%,
Fichte hat in der,, Staatslehre des Jahres 1813“ in der ihm
eigentümlichen eigenwilligen Form mancherlei über die Ver-
schiedenheit zwischen franzósischem und deutschem Volkstum,
zwischen franzósischer und deutscher Geschichte gesagt, was
intuitiv ganz richtig erfaßt ist. Die Deutschen sind ihm „Ein
Stamm ... aber niemals, was auch Gelehrte ihnen aufzudringen
suchten, ein Volkes“. „In ihnen soll das Reich ausgehen von
der ausgebildeten, persönlichen individuellen Freiheit““. Es ist
ein Ideal sehr áhnlich dem, das in dem aus der Zusammenarbeit
von Goethe und Schiller erwachsenen bekannten Distichon for-
muliert wird:
Zur Nation Euch zu bilden, ihr hoffet es Deutsche
vergebens;
Bildet, ihr kónnt es, dafür
reiner zu Menschen Euch aus.
Sehr bemerkenswert ist es, daß Fichte in dieser Staatslehre
zu einer überraschend leidenschaftslosen Beurteilung Napoleons
kommt!" unter dessen Despotismus er doch als Mensch und
als Deutscher so viel zu leiden gehabt hat. Sehr stark wird
108 8, Rede, S. 131.
194 Vgl. gute Bemerkungen hierüber bei Victor Basch, Les doctrines politiques
des philosophes classiques de l'Allemagne (Leibniz, Kant, Fichte, Hegel), Paris
1927, S. 90ff. und bei Xavier Léon, op. cit., Bd. II, 2, S. 34ff., S. 54ff. — Völliges
MiBverstehen bei Charles Maurras, L'élève de Fichte (Mars 1903) in ,,Quand les
Francais ne s’aimaient pas“, Paris 1916, S. 43ff. — Über eine merkwürdige Rück-
wirkung der „Reden“ Fichtes auf Frankreich vgl. G. Claß, Über Fichtes Reden an
die deutsche Nation, Preußische Jahrbücher, Bd. 43 (1879), S. 534ff.; knüpft an
an folgende 1871 erschienene Schrift: Le Salut par l'Education, Lecture du XIième
discours de Fichte à la nation allemande en 1807, faite à l’oratoire St. Honoré 'le
80 oct 1871 devant l'Assemblée trimestrielle des moniteurs et monitrices des écoles
du Dimanche de Paris; par Mr Charles Robert, ancien secrétaire général du ministére
de l'Instruction publique.
106 Zitiert nach der Ausgabe von Medicus, 132. Band der Philosophischen
Bibliothek, S. 472.
19 Ebenda, S. 472.
1? Ebenda, S. 473ff.
558 Hedwig Hintze
betont, daß Napoleon kein Franzose sei, vielmehr aus einem
schon unter den Alten wegen seiner Wildheit berüchtigten Volke
stamme, das im 18. Jahrhundert verzweifelt und vergeblich
um seine Freiheit habe kämpfen müssen. Die persönliche Be-
deutung Bonapartes wird durchaus anerkannt: „Mit diesen Be-
standteilen der Menschengröße, der ruhigen Klarheit, dem
festen Willen ausgerüstet, wäre er der Wohltäter und Befreier
der Menschheit geworden, wenn auch nur eine leise Ahnung der
sittlichen Bestimmung des Menschengeschlechts in seinen Geist
gefallen wäre les“. Fichtes Napoleon ist also etwas durchaus
anderes, als das Ungeheuer, zu dessen Vernichtung Heinrich
von Kleist so hemmungslos leidenschaftlich aufruft. Fichte sieht
Napoleon als tragischen Helden, der seine eigentliche Mission
nicht erfüllt hat. Man trägt nichts Fremdes in die Gedankenwelt
des Philosophen hinein, wenn man annimmt, daß er sich diese
Mission, die Befreiung der Menschheit, im Zusammenhang mit
den Ideen von 1789 vorgestellt hat, als vollständige Durch-
führung der Humanitátsgedanken der jungen, von ihm so sehr
bewunderten franzósischen Revolution.
Gewiß, auch Fichte war ein Mensch mit seinem Widerspruch,
und hätte diese Feststellung gewiß nicht als Vorwurf empfun-
den. „Einige wohltätige Schwäche und Inkonsequenz“ vermißt
er selbst an Napoleon und führt diesen Mangel darauf zurück,
daß dieser — kein Franzose seil“.
Geht man darauf aus, so wird man im Gesamtwerk von
Fichte — auch abgesehen vom ,,Machiavell" — wohl noch
Stellen finden, die auf einen härteren egoistischeren National-
begriff deuten, als es die von mir herausgestellte, vorwiegend
humanitär bestimmte Nationalidee ist. Aber, wenn wir Fichtes
Wirken in ganz großen historischen Zusammenhängen sehen
wollen, so wie er einst in jugendfroher Begeisterung die fran-
zösische Revolution geschaut hat, so tun wir gut, in seinem Werk
die Momente zu betonen, die über die Jahrhunderte hinweg in
die Zukunft weisen. Dem starren, egoistischen Nationalismus
des 19. Jahrhunderts gehört die europäische Zukunft nicht,
sondern einem neuen, geläuterten, völkerbundmäßigen, der mit
108 Ebenda, S. 474.
19 Ebenda, S. 473.
Fichte und Frankreich 559
der eigenen Geltung auch die der andern bejaht. Wieder, wie
zu Fichtes Zeiten, schauen die bangen Völker aus nach dem
„strahlenden Bogen des Bundes‘, der sich Frieden verheißend
wölben soll über ihren Häuptern in lichten Höhen.
„Le monde en s'éclairant s'éléve à l'unité", so hat es Lamar-
tine in der „Marseillaise de la Paix“ des Jahres 1841 schön
formuliert.
Wir sahen im Anfang unserer Untersuchung, wie dankbar
Fichte selbst den Zusammenhang seines eigenen, wie ihm schien,
weltumwälzenden Denkens mit der großen politischen Revo-
lution der Franzosen empfand, die ja eine neue Epoche der euro-
päischen Staatengeschichte einleitet.
Der Philosoph Jean Jaurés, der in seiner lateinischen Doktor-
these den deutschen Sozialismus von Luther, Kant, Fichte und
Hegel ausgehen là8t!9, hat als Historiker der französischen
Revolution mit ausbrechendem Jubel festgestellt, wie Hegel und
Schelling als ganz junge Studenten durch die großen Ideen von
1789 begeistert worden sind. „Fern sei es von mir“, fügt Jaurés
hinzu, „der französischen Revolution einen allzu großen Anteil
an den künftigen Kühnheiten ihres Denkens einzuräumen. Ich
weiß wohl, daß ihre Systeme aus den tiefen Quellen des deut-
schen Gedankens entsprangen ... Aber schließlich, wer kann
daran zweifeln, daß die erste Erregung durch das große Ereignis,
das die Welt durch den Gedanken erneuerte, diese jungen
Geister erhoben hat? ...''
So vollzog sich in jenen glühenden Schmelztiegeln der Ge-
dankenwerkstätten Tübingens die Verschmelzung des deutschen
und des franzósischen Geistes, des tiefen Idealismus Deutsch-
lands und des tatkráftigen Idealismus Frankreichs.
Wann endlich werden die beiden Vólker in Erinnerung an
diese heiligen Stunden die Kraft finden, ihre Vereinigung zu
erneuern ?‘ M,
110 In französischer Übersetzung jetzt zugänglich in Oeuvres de Jean Jaurès,
ed. Max Bonnafous, Etudes socialistes I, 1888—1897, Paris 1931, S. 49ff.
11 Histoire socialiste, ed. Mathiez, Bd. V, La Révolution en Europe, 1923,
S. 128—130.
560
Kleine Mitteilungen.
Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours (507/8) und die Legende
Gregors von Tours (Reims 496/97).
Ein Aufsatz von den Steinens, Privatdozent in Basel, im Jahrbuch der
Görresgesellschaft (Bd. 53, Heft 1, S. 51—66) kommt zu dem niederschmet-
ternden Ergebnis, kein Quellenzeugnis, auch nicht das dürftigste, gibt es für
Tours als Taufort Chlodowechs und für 507 als Taufjahr.
So hätte ich mir also alles das nun schon zum dritten Male aus den Fingern
gesogen. Aufgebaut, schreibt er, hátte ich meine These auf einem Druck-
fehler in Frehers Ausgabe des Nicetiusbriefes. Unglaublich! Hoffentlich
werden nicht alle seine Leser mir eine solche Dummheit zutrauen. Daß ich
übrigens auch „im Irrweg“, wie er schreibt, richtig gesehen habe, erkennt er
wenigstens indirekt an. Einen zuerst von mir ausgegrabenen Ausdruck für
Chlodowech (competens) verwertet er schon selbst. Hier hat also mein be-
schránkter Verstand mehr gesehen als alle früheren Forscher.
Seinen Angriff richtet v. d. St. gegen das Taufjahr 507. Er entwirft ein
„recht genaues“ Itinerar Chlodowechs für 507 und meint, es sei an sich kaum
glaubhaft, habe auch alle Quellenzeugnisse gegen sich, daB der Kónig so
viele GroBtaten 507 vollbracht habe. Vielleicht wáre es gut gewesen, wenn
v. d. St. meinen Aufsatz erst einmal richtig gelesen hätte. Ich schreibe NA 49
(1932) S. 468: Damals (bei dem feierlichen Einzug in Tours 508) sei auch die
Taufe erfolgt. Der Sicherheit halber setze ich jetzt in die Überschrift 507/8,
wie ich auch das Legendenjahr nach v. d. St.s Aufsatz erweitere. Leicht könnte
sonst noch jemand in frommer Entrüstung wiederum gegen Windmühlen los-
stürmen. v. d. St.s Arbeit war also schon überholt, als er sie schrieb. Er er-
wähnt (S.53) den „byzantinischen Umzug" Chlodowechs in Tours, ver-
schweigt aber hier und überhaupt in der ganzen Schrift, daB ich die Taufe
„damals“ angesetzt habe. Immer und immer wieder 507! v. d. St. hat Tinte,
Papier und Druckerschwärze umsonst verschwendet! Lassen wir das „recht
genaue“ Itinerar Chlodowechs, das wir v. d. St. verdanken, und wenden wir
uns sofort der Hauptsache zu. Das ist, wie ja wohl jeder leicht begreift, die
Frage: ob Tours, ob Reims? Zum vierten Male stelle ich die Zeugnisse für
Tours zusammen, ohne Hoffnung zu haben, daB sie die Gegenseite würdigt.
1. Der Brief des Bischofs Avitus von Vienne an Chlodowech!, die Ant-
wort auf dessen Einladung zur Taufe und Entschuldigung seines Ausbleibens.
Darin gibt er seiner Freude Ausdruck über den EntschluB des Königs, dem
1 AA. VI, 2, S. 75.
Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 561
athanasianischen Bekenntnis beizutreten. Der Brief ist am Tage der Taufe
geschrieben, das álteste und vertrauenswürdigste Zeugnis, das es geben kann.
Seine Authentizität angreifen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Der
Brief zeigt uns den Kónig unter der Einwirkung von Schismatikern, die
ihn für sich zu gewinnen suchten. Arianer könnten auch nach Reims ge-
kommen sein. Avitus spricht aber von einer multitudo. Die Masse Irrlehrer
weist auf das Westgotische Reich, zu dem Tours gehörte.
2. Der Brief des Bischofs Nicetius von Trier an Chlodosuinda, die
Enkelin Chlodowechs und der Chrodichilde, zwecks Bekehrung ihres ariani-
schen Gatten Alboin, des Königs der Langobarden, von etwa 560, also auch
ein Zeugnis von stattlichem Alter. Das einzige Zeugnis, welches mit der
Martinskirche ausdrücklich Tours nennt?. Nicetius schreibt:
Chlodowech sei beim Anblick der Wunder ad domni Martini limina sofort
„sine mora") niedergefallen und habe sich taufen lassen. Alle Versuche,
diese Martinskirche nach Reims zu verlegen und so Gregor und die Legende
zu retten, sind unter meinen Hieben zerschellt. Aus diesem Kampfe bin ich
als Sieger hervorgegangen. Selbst v. d. St. erkennt dies an. Ein Zusatz des
Nicetius reicht allerdings den Gegnern den Strohhalm, an den sie sich krampf-
haft klammerten. Nicetius schreibt der Enkelin Chlodowechs: Was der
getaufte Chlodowech gegen die Ketzer Alarich (507) ‘und Gundobad’ (500)
ausgerichtet habe, hast Du gehört. An erster Stelle nennt er also den stärksten
Ketzer Alarich (507). Er verwirrt die zeitliche Reihenfolge.
v. d. St. behauptet, daß der Nicetiusbrief eine Datierung vor 500 verlange.
Das ist ein falscher Schluß. Nicetius stellt 507 vor 500, verlangt also bei dem
legendarischen Ansatz eine Datierung 496 . 507 . 500, das ist Unsinn. Er war
ein alter Mann, den das Gedächtnis im Stich ließ. Wenn aber v. d. St. diese
Gedächtnisschwäche als Stütze von 496 und Reims benutzt, so zeigt das
schon, daß er richtige Zeugnisse nicht anführen kann. Was ich als wahr er-
kannt habe, verteidige ich bis zum letzten Atemzuge. An v. d. St. richte ich
nun die Frage: Welche wirklichen Zeugnisse haben Sie für Reims ?
Man sollte meinen, daß ein Mann wie v. d. St. selbstverständlich glänzende
alte Zeugnisse für Reims und die Legende haben müsse. Das Gegenteil ist der
Fall. Sein Urteil schwebt vollständig in der Luft. Was er von Tours schreibt,
gilt Wort für Wort für Reims. Er hat gar kein Zeugnis, nicht einmal das
dürftigste, für Reims. Selbst Gregor, der Vater der Legende, nennt Reims
nicht als Taufort. Bei Gregor II, 31 predigt Chrotchilde unablässig Chlodo-
wech, an den wahren Gott zu glauben und die Götzen aufzugeben. In der
Alamannenschlacht, von den Feinden hart bedrängt, ruft Chlodowech Gott
an, ihm den Sieg zu verleihen. Chrotchilde, fährt er II, 31 fort, ließ heimlich
Bischof Remigius von Reims kommen; dieser ließ sich wieder Chlodowech
kommen und vollzog die Taufe. Den Ort hat Gregor nicht verraten: Irgendwo.
Dann war kein „recht genaues“ Itinerar vonnöten. Gregor weiß die Worte,
welche die drei Personen: der König, die Königin, der Bischof, bei dieser Ge-
legenheit sprachen. So genau war er unterrichtet. Erstaunlich! Sogar, was
der König bei der Anrufung Gottes in der Alamannenschlacht sprach, hat
3 MG. Ep. III, S. 122. Ed. Gundlach.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.3. 36
562 B. Krusch
er Wort für Wort aufgezeichnet. Gregor muB neben ihm in der Schlacht ge-
standen haben. Aber Reims als Taufort nennt er nicht, und das hátte uns
doch vielleicht mehr interessiert. Auf Reims wird nur aus der Rolle geschlos-
sen, die Remigius bei der Feier spielt. Weshalb diese Zurückhaltung? Ich
will nicht raten. Er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Alte Weiber und
Kinder mögen ihm alles glauben, was er treuherzig erzählt, aber Männer und
sogar Geschichtsforscher, welterfahrene Leute? Gregor läßt sich nicht in die
Karten gucken.
Der Avitusbrief bedeutet, so schloD ich, den vólligen Zusammenbruch
der Erzählung Gregors, und das Urteil kann ich nur auf das bestimmteste
wiederholen.
Keine Gótzen, keine Hilfeleistung des Christengottes in der Alamannen-
schlacht, kein Bischof Remigius: Frei hat Chlodowech seinen Entschluß
gefaßt unter Zurückweisung der arianischen Irrlehrer, und getauft wurde er
von einer Menge Bischófe: numerosa pontificum manus.
So steht der historische Chlodowech da. Wer sich einen anderen Chlodo-
wech konstruieren will, mag es tun. Aber historisch ist er nicht. v. d. St.
leugnet nicht, daB der Avitusbrief zur Legende nicht paBt (S. 55). Aber
seine meisterhafte Interpretationskunst sieht die Dinge ganz anders an als
gewöhnliche Sterbliche. Das meiste, was ich bemängelte, versteht sich für
ihn (S. 61) von selbst. Daß sich der Bischof den König kommen läßt, hatte
ich als unverschámte Lüge bezeichnet, und Bonnet, auch ein Protestant,
war darüber so empört, daB er den überlieferten Text ganz willkürlich durch
eine grobe Interpolation àndern wollte. v. d. St. kennt die kirchlichen Bedinst-
heiten und zieht nun gegen mein Fehlurteil los. Chlodowech eróffnete sich der
Chrodichilde und ging dann, von dieser angemeldet und begleitet, zum Bischof.
Eine Art Lakei! Genau diesen Hergang, behauptet v. d. St., schildert
Gregor. Also statt der Disharmonie vollkommene Harmonie. Mit „genau“
demselben Recht, schreibt v. d. St., kónnte man auch jede K niebeuge eines
mittelalterlichen Königs als eine unverschämte Lüge gegen die Glaubwürdig-
keit einer Quelle zeugen lassen. Man sieht: der Verf. lebt in einer anderen
Welt; seine Kritik muB mit anderen Augen angesehen werden, als es mir
móglich ist.
Den ausschlaggebenden Brief des Avitus (AA. VI, 2, S. 75, nr. 46) hatte
der Herausgeber Peiper von 496/97 datiert, dem Taufjahre der Legende, die
meine Kritik zerstórt. Dem vorhergehenden Brief nr. 45 hat Peiper das Jahr
607 beigesetzt. Welch glänzendes Zusammentreffen mit meinem Ansatz des
folgenden Briefes! Avitus preist die ‘misericordia’ des Königs, quam solutus
& vobis adhuc nuper populus captivus gaudiis mundo insinuat, lacrimis
Deo'. Diese Befreiung eines gefangenen Volkes kurz vor der Taufe war für
die Legendenschwärmer der Alamannenkrieg, und so verschafften sie sich
ein gleichzeitiges Zeugnis für die Richtigkeit der Legende. Ich wandte ein,
dab Heiden doch wohl nicht zu Gott zu beten pflegen, und ein junger Franzose
Reverdy? hat mir zugestimmt. Das war mir eine groBe Genugtuung. Wer mit
mir für Tours stimmt, muß das Legendenjahr 496/97 in der Ausgabe in 507
3 Moyen Age 26, 2 série 13.
Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 563
korrigieren, und dann folgen zwei Briefe von 507 aufeinander. Dagegen
protestiert v. d. St. sehr entschieden und ruft laut in die Welt, es sei kaum
glaubhaft, stehe auch in keiner Quelle, habe vielmehr alle Quellenzeugnisse
gegen sich. Daß Reims alle Quellenzeugnisse gegen sich hat, selbst Gregor,
weiß er nicht. Er weiß auch nicht, daß das Legendenjahr 496/97 ein späterer
Zusatz im Gregortext ist, vielleicht sogar eine Interpolation. Das hatte ich
in meinem Aufsatz klargelegt. Aber was ihm nicht paßt, liest er nicht.
Die Datierung der Avitusbriefe beruht auf den scharfsinnigen Unter-
suchungen Bindings; v. d. St. erklärt sie für unzuverlässig. In dem vorher-
gehenden Briefe an den Burgunder Sigismund nr. 45 wünscht Avitus dem
Adressaten Glück beim Auszug in den Westgotenkrieg 507. Der „alte ehrliche“
Gregor hatte die Burgunder als Bundesgenossen der Franken im Westgoten-
krieg ganz gestrichen, weil er Arianer als Mitstreiter der Franken in dem
Kriege nicht gebrauchen konnte, den er zu einem Religionskrieg umgedeutet
hatte. v. d. St. als Schutzengel Gregors kann unmöglich diesen Brief als echt
hinnehmen, der seinen Schützling Lügen straft. Der Brief ist also eine Fäl-
schung. Der folgende Brief nr. 46 an Chlodowech, der von dem Gelübde in
der Alamannenschlacht nichts, rein gar nichts weiß, muß natürlich wieder
eine Fälschung sein. Auf diesem einfachen Wege wären wir beide ärgerlichen
Briefe mit einem Schlage los. Geschwindigkeit ist keine Hexerei.
Das Jahr 507 für die Datierung des Avitusbriefes nr. 46 hatte ich schon
in meinem ersten Aufsatze* an die Stelle des Legendenjahres 496/97 bei
Peiper wegen des Westgotenkrieges gesetzt und schon damals hatte ich 508
als Taufjahr näher bestimmt. Dasselbe hatte ich in meinem letzten Aufsatz
wiederholt. Also zweimal! Und zweimal hat es v. d. St. nicht gelesen! Im
anderen Falle hátte er sich seine Entgegnung ersparen kónnen.
Gregor, schlieBt v. d. St. seine Streitschrift (S. 66), wird in seiner Glaub-
würdigkeit verdächtigt auf Grund einer Reihe nachweislicher Irrtümer, die
nicht Gregor begeht. Wer denn? Nachweisliche Irrtümer hat v. d. St.
begangen, und gar nicht wenige. Allerdings verdächtigen sie nicht Gregor,
sondern suchen ihn rein zu waschen. Daß das vergebliche Mühe ist, dafür
habe ich unwiderlegliche Beweise.
Einer meiner Aufsätze? beschäftigt sich speziell mit der Unzuverlässig-
keit der Geschichtsschreibung Gregors. Von dieser Arbeit scheint v. d. St.
ebenfalls keine Kenntnis zu haben, wenigstens zitiert er sie nirgends. Sollte er
sie übersehen haben ? Er entrüstet sich darüber, daß ich die Einschiebung der
Geburt des H. Martin in die Hieronymus-Auszüge ein Kuckucksei genannt
hatte. Die Nachricht erhált, wie ich in dem von ihm übersehenen Aufsatz
ausführte, durch die Einschiebung an dieser Stelle eine Beglaubigung, die sie
nicht hat. Mehr wird zur Entlastung Gregors kaum gesagt werden kónnen.
Vor mir hat kaum jemand gemerkt, wie es mit der Nachricht steht, daD es kein
Hieronymustext ist, sondern ein Gregorzusatz®. Als glühender Verteidiger
der Ehrlichkeit Gregors bin ich an die Ausgabe gegangen; aber die Merkmale
* Mitth. des österreich. Instituts 14 (1893), S. 446.
5 Ebend. 1931, XLV, S. 486.
Selbst in den Hieronymus-Codex von Tours ist die Nachricht eingeschmuggelt
worden, wie ich nachwies.
36*
564 B. Krusch
für das Gegenteil mehrten sich; und fortwührend finde ich auf meinem Wege
neuen Stoff.
Man lese, mit welcher Wärme ich den H. Aravatius, Bischof von Tongern,
gegen den schweren Verdacht einer Namensverwechselung mit dem histo-
rischen H. Servatius verteidigt habe. Als mir G. Kurth seine Abhandlung
über die Identität beider sandte, blieb ich ungläubig und widersprach. Jetzt
wieder vor die Prüfung der Frage gestellt, sah ich, daB schon ein so orthodoxer
Mann wie L. Duchesne (III, S. 189) die Identität bejahte und die Erzählung
Gregors als ‘inadmissible‘ ablehnte. Gregor setzt seinen Áravatius kurz
vor den Hunneneinfall, also in das 5. Jahrhundert, während der historische
H. Servatius im 4. Jahrhundert Konzilien beiwohnte. Servatius schlummerte
also schon 100 Jahre im Grabe, als der fromme Aravatius (II, 5) ‘vigiliis et
ieiuniis vacans, crebro lacrimarum imbre perfusus', Gott anflehte, er möge
die bösen Hunnen nicht nach Gallien kommen lassen. Jedes Wort in dieser
rührenden Geschichte ist eine Lüge, und der Ausdruck ‘inadmissible’ von
Duchesne ist viel zu schwach. In einem späteren Kapitel desselben II. Buches
schildert Gregor dann die Taufe Chlodowechs durch Remigius. Hier steht
es ebenso; jedes Wort ist gelogen. Gregor war ein dreister Schwindler und
der Schaden, den seine Legenden angerichtet haben, ist unübersehbar.
Wer Gregors Charakter richtig beurteilen will, darf nicht bloß auf das
achten, was er schreibt, sondern auch auf das, was er nicht schreibt. Hier
zeigt er seine ganze Schlauheit. Schon der alte Valesius, der gewiß nicht vorein-
genommen war, bemerkte bezüglich des Briefes des Bischofs Nicetius von
Trier an die Enkelin Chlodowechs bei der Nachricht von der Taufe in der
Martinskirche: Gregorius quantum in ipso erat, id scire nos noluit'. Er sah
weiter als v. d. St. (S. 66). Einen anderen Brief derselben austrasischen Brief-
sammlung hat Gregor, wie ich (S. 466) nachwies, gekannt, wahrscheinlich
hat er auch diesen gekannt. Auch Valesius nimmt dies an. Zweitens hat
Gregor auch den Brief des Avitus gekannt, denn er zitiert selbst eine Samm-
lung der Avitusbriefe in 9 Büchern. Er hatte viel mehr Avitusbriefe, als wir
heute besitzen. v. d. St. (S. 54, 11) weiß, daß das verlorene Epistolar des
Avitus einen Brief an Remigius enthielt, den wir nicht mehr haben. Es wäre
verlorene Mühe, solchem Scharfsinn zu widersprechen. — Der schlimmste
Streich, den Gregor der Geschichtsschreibung gespielt hat, ist die voll-
ständige Unterdrückung des Konzils von Orleans 511, das Chlodowech zur
Einfügung der Arianer in den fránkischen Staatsverband berief. Kein Sterbens-
würtchen findet man darüber in seinem Geschichtswerk. Es ist ein Glück,
daß wir die Akten noch heute haben, sonst wüßten wir überhaupt nichts
von ihm. Auf diese meine Feststellung läßt sich v. d. St. überhaupt nicht
ein. Dagegen eifert er gegen meine Bemerkung, daB das legendarische Tauf-
jahr 496 zu der Zeit des Konzils wenig passe. Mit großem Geschick weiß
er immer die Nebensache in den Vordergrund zu stellen und die Haupt-
sache zu übersehen.
Gregor war ein Meister im Verschweigen dessen, was seine Geschichts-
auffassung Lügen strafte. Er nennt weder Reims noch Tours als Taufort.
Und weshalb Tours nicht, seine eigene Bischofstadt? Mit Tours hat es eine
eigene Bewandtnis. Bis 507 war es in den Händen der Westgothen. Noch 506
Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 565
hat sich Bischof Verus auf den westgothischen Konzil von Agde vertreten
lassen. Setzte Gregor die Taufe nach Tours, so kam sie in gefährliche Nähe der
Arianer, was er auf alle Fálle vermeiden wollte. Alle seine Phantasien von den
römischen Gótzen, dem Gelübde in dem Alamannenkriege und Remigius wären
dann umsonst gewesen. Nach Reims konnte er sie nicht setzen, weil es doch
noch Leute geben konnte, die es besser wuBten. So ließ er eben einen weißen
Fleck, den die Legendenschule freudig ausgefüllt hat. Nebenbei sei bemerkt,
daB es noch bei seiner eigenen Bischofswahl einen dunklen Punkt gibt, auf
den bisher noch niemand geachtet zu haben scheint, wenigstens soviel ich weiD:
Von seiner Bischofserhebung berichtet nur sein Freund Fortunat. Die
Bischófe von Tours behandelt Gregor zweimal. In der historischen Reihen-
folge und zusammenfassend im letzten Kapitel X, 31. Aber beide Male kein
Wort über seine eigene Erhebung, und sogar kein Wort über den Tod seines
Vorgängers Euphronius, seines Verwandten. Was war der Anlaß zu diesem
Schweigen ? Wir erfahren nur, daB er einen Gegenkandidaten hatte, Riculfus;
wie er diesen überwunden hat, alles Nähere bleibt im Dunkeln. Für seine
religióse Verblendung noch ein letzter Beweis, auf den ich in meinem letzten
Aufsatze schon hingewiesen hatte". Zu unserem Erstaunen lesen wir II, 20,
daß König Gundevech von Burgund ex genere Athanarici persecutoris'
gewesen sei. Beide waren Arianer, und die Arianer gehörten eben alle in einen
Topf!
DaB man ihn so lange verkannt hat, bewirkte die Biederkeit, mit der er
sich gibt. Doch nicht alle haben sich täuschen lassen. So urteilte Bonnet, seine
Lauterkeit sei mit Falschheit gemischt gewesen. Gregor hat sein Werk 694
geschrieben und bald nachher ist er gestorben. Also etwa 200 Jahre waren
damals seit der Taufe verflossen. Was wissen wir heute von den Begebenheiten
des 17. Jahrhunderts durch Tradition? Wenn also Gregor sogar die Reden
aufzeichnet, die damals gehalten wurden, müBten schon schriftliche Auf-
zeichnungen von ihm benutzt sein. Auf der Suche danach ist G. Kurth, der
katholische Biograph des Königs, auf den Einfall gekommen, es habe ihm
eine ausführliche V. Remigii vorgelegen, die heute verloren sei. Meine Ent-
gegnung hat den Erfolg gehabt, daB dieses Phantasiegebilde aus der Lite-
ratur für immer verschwunden ist. Selbst v. d. St. kommt nicht mehr darauf
zurück, wie er überhaupt das Hauptwerk seines Glaubensgenossen nirgends
zitiert. DaB das wesentlich auf die Wirkung meiner Kritik zurückzuführen
ist, kann ich wohl aussprechen, ohne mich zu rühmen.
Daß übrigens Tours in der Taufgeschichte eine Rolle gespielt hat, gibt
auch v. d. St. zu. Das Gestándnis habe ich ihm abgerungen. Auf den angeb-
lichen Druckfehler in der alten Freherschen Ausgabe, den ich nach v. d. St.s
Behauptung meinem ersten Aufsatz zugrunde gelegt haben soll, muB ich
zum Schluß noch näher eingehen, weil es wohl das stärkste ist, was mir in
meinem hohen Alter von einem Gegner geboten wird. Meine Untersuchung
der V. Vedastii kommt zu dem Ergebnis, daß Jonas von Susa der Verfasser
dieses Lebens ist, und meinem Nachweis hat alle Welt zugestimmt. Damit
war das Zeugnis der Gegner für Reims erledigt, welches als das älteste galt,
7 NA. 49, 461.
566 B. Krusch
und heute haben sie gar keins mehr. Sie klammerten sich nun an die Worte
im Briefe des Nicetius, daB Chlodowech in der Martinskirche in Tours nieder-
gefallen sei und sich ohne Säumen habe taufen lassen: Ad domni Martini
limina cecidit et baptizare se sine mora permisit'. Hier setzt die ungeheuer-
liche Beschuldigung v. d. St.s ein, ich hätte einen Druckfehler bei Freher zu-
grunde gelegt. Eine dreiste Unwahrheit! Dreist, weil ich die neue Gundlach-
sche Ausgabe MG., Epp. III, ausdrücklich zitiere. Wahr ist, daß ich die alte
Frehersche Ausgabe überhaupt nicht in der Hand gehabt habe. Ich muß
gestehen, daß ich für einen solchen Kniff kein Verständnis habe.
Zu promisit' bemerkte Gundlach 'nescio an permisit legendum sit’ und
der alte Freher hatte diese auf der Hand liegende Korrektur gleich in den
Text gesetzt. Da tritt nun v. d. St. keck mit seiner Behauptung auf, und sie
ist nicht etwa in der Übereilung gefallen. Im Gegenteil, er hat darüber nach-
gegrübelt, wie er mir den angeblichen Druckfehler anhángen kónnte. 40 Jahre,
fáhrt v. d. St. fort (S. 61), besteht nun der handschriftliche Text — und nun
sollen wir einen abgetanen Druckfehler als notwendige Konjektur annehmen!
Er ist entrüstet über diese Zumutung. „Offenbar“, schreibt er, „war beim
Erscheinen seines Aufsatzes sein Manuscript bereits abgeschlossen.“ „Hier-
gegen“, fügt er hinzu, „ist nichts einzuwenden.“ Es ist schwer, sich in eine
solche Geistesverfassung hineinzudenken. Er hat gegen seine eigene Erfin-
dung nichts einzuwenden! Eine gute Seele! Zwei Unwahrheiten hat er zu-
sammengekittet, und dazu kommt noch eine dritte. Der angebliche Druck-
fehler, von dem v. d. St. viel Redens macht — er kehrt auf mehreren Seiten
wieder — ist eine sehr verstándige Textverbesserung Frehers. Wie
Gundlach sah auch Freher, daB ‘permisit’ zu lesen sei, und besserte gleich
die handschriftliche Lesart promisit'. Daß die alten Herausgeber keine
Korrekturen lasen, ist v. d. St. bekannt, aber nicht bekannt ist ihm, daß sie
den Text gleich besserten, wenn sie Fehler in den Handschriften bemerkten.
Daß promisit' in der klassischen Bedeutung nicht stimmt, weil man nicht
etwas versprechen kann, was ein anderer tun soll, weil auch hier kein Ver-
sprechen, sondern eine vollzogene Tatsache vorliegt, liegt ja wohl auf derHand.
Die handschriftliche Lesart war sinnlos, weil sie ja gleich zwei logische Schnit-
zer umschließt. Nur permisit' paßt in den Sinn. Die Leitung der Epistolae-
Abteilung hatte Wattenbach, und das war ein ausgezeichneter Philologe. Er
muß die Konjektur permisit' wenigstens gebilligt haben. Die Lesart Frehers
ist also, weit entfernt, ein Druckfehler zu sein, die Lesart, die der Sinn er-
fordert. Freher konnte noch Latein. Nun gebraucht aber, wie v. d. St. selbst
aus meinem Index S. 957 feststellt, Gregor 'prosecutio' für ‘persecutio’.
Permisit' ist also gar kein Druckfehler, sondern ein Lateinfehler. Für diese
Feststellung gebührt v. d. St. mein herzlichster Dank. Promisit' hat ohne
jede Änderung die Bedeutung von 'permisit', und damit löst sich der ver-
meintliche Druckfehler in das Gegenteil auf.
In dem Brief Theoderichs d. Gr., Cassiodor, Variae II, 41, den Mommsen
von 507 datierte, sind Alamannicos populos inclinatos' den 'fortioribus
caesis' gegenübergestellt, und in den Stárkeren wollte ich die Westgothen er-
blicken. Bei der Nachprüfung sah ich, daB v. d. St. recht hat, daß der Brief
vor Vouillé geschrieben ist, womit meine Erklärung fällt. Für die Sache
Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 567
ist das ohne Bedeutung. Ebenso kann Titel 56 der Lex Gundobada beiseite
bleiben, den der Herausgeber der Lex von Salis von 496 datiert hatte, und
zwar, wie man sieht, eben nur wegen der Legende. Bekanntlich hat die Lex
Burgundionum Novellen, die zum Teil fest datiert sind. Der Alamannen-
Titel 86 (S. 91) steht vor der Novelle von 517, 29/3 (S. 93), und hinter einer
solchen von demselben Jahre LIII (S. 87). —
„Sonach“, schließt v. d. St. seine Entgegnung, ‚denke ich, wird niemand
mehr auf die These ‚Tours 507“ zurückkommen; das war von jeher eine un-
glückliche Idee". Lassen wir ihn in seinem Siegesrausche! , Wenn", wie er
schreibt, „ meine nicht geringe Leistung für Gregor nicht zu gedankenlosem
Nachschreiben, sondern zu tüchtiger Weiterarbeit verpflichtet", so versteht
er doch diese „tüchtige Weiterarbeit" in einem ganz eigenen Sinne.
Das Zeugnis des Avitusbriefes streicht er, weil er ihn nicht zu lesen ver-
stand, das des Nicetiusbriefes, weil ich auf einem angeblichen Druckfehler
der Ausgabe Frehers aufbaute, die ich nicht in der Hand gehabt habe, und
die Glaubwürdigkeit Gregors verteidigt er, weil er meinen bezüglichen Auf-
satz nicht gelesen hat. Das genügt.
Welche tiefe Kluft gähnt zwischen uns beiden!
In einem neuen Aufsatz in den Mitteilungen des Österreichischen Insti-
tuts für Geschichtsforschung 1932, XII. Erg.-Bd., S. 417ff. versucht v. d. St.
den positiven Beweis für die Richtigkeit der Legende zu führen. Seine Gründe
sind liturgischer Natur und der gedruckten Literatur entnommen. Als wenn
sich die Taufe des großen Königs 608 in denselben Formen vollzogen hätte,
wie die des gemeinen Mannes. Die Taufe durch eine Menge Bischöfe erklärt
er für unmöglich. Der Baseler Privatdozent weiß die Sache viel besser als
der Bischof Avitus von Vienne. Über die Quellen Gregors gibt er ganz
wundersame Aufschlüsse. Gregor benutzte u. a. das Gebetbuch der Chro-
dichilde und hat es getreulich kopiert. Es würde keinen Zweck haben, sich
mit solchen Trüumereien auseinanderzusetzen.
Eben hat sich Dr. Beyer in seiner Leipziger Dissertation „König Gunth-
chramn‘“ durchaus auf meine Seite gestellt.
„Die unglückliche Idee“, von der v. d. St. dachte, daß niemand mehr
darauf zurückkommen würde, hat Beifall gefunden, und v. d. St.s Prophe-
zeiung ist nicht eingetroffen. v. d. St. ist ein schlechter Prophet.
Hannover. B. Krusch.
Das Ideal einer europäischen Republik.
Ein Plan aus dem Dreißigjährigen Krieg.
Gustav Adolf war der erste Fürst, der die Macht der Presse erkannte
und sich ihrer systematisch bediente. Er unterhielt eine Reihe von politischen
Schriftstellern, Rasch, Salvius, Svensson, Chemnitz, die für ihn propa-
gandistisch agitierten. In Hamburg erschien in seinem Auftrag 1628 der
„hansische Wecker“.
Den bedeutendsten Rang nimmt Philipp Bogislaw von Chemnitz (1605
bis 1678) ein. Er stammt aus deutscher Gelehrtenfamilie. Sein Vater war
Pommerscher Kanzler und Professor an der Universität zu Rostock, sein
568 Mela Escherich
GroBvater ein berühmter Theologe aus der Schule von Melanchthon, den er
noch persónlich kannte. Chemnitz selbst studierte in Rostock und Jena,
ging 1627 in niederländische und dann in schwedische Kriegsdienste, wurde
Kapitän, scheint aber bald den Militärdienst aufgegeben zu haben.
Seine beiden Hauptwerke sind die „Dissertatio de Ratione Status in
Imperio Romano-Germanico" und „Der königlich Schwedische in Deutsch-
land geführte Krieg" (1648 und 1653).
„De Ratione Status“, eine mit reichen historischen Kenntnissen ausge-
stattete außerordentlich temperamentvolle Streitschrift wider Habsburg, er-
schien 1640. Sie muß kurz zuvor geschrieben worden sein; denn mehrfach wird
darin Kaiser Ferdinand II. (T 1637) als verstorben erwähnt. Aber sie ent-
stand aus den Empfindungen und der Stimmung der Zeit Gustav Adolfs;
denn der aufgesammelte Haß wider Habsburg gipfelt überall in der Kritik
über Ferdinand.
Es wäre wichtig zu wissen, was Chemnitz früher schrieb unter den ersten
Eindrücken, die er von Gustav Adolf empfing.
Aber hierüber mangeln leider die Nachrichten. Es machte schon Schwierig-
keiten, bis man überhaupt aus seinem Pseudonym Hippolitho a Lapide seinen
Namen Philipp Chemnitz herausbrachte (seine Familie hieß ursprünglich
Stein und nahm erst in Pommern die wendische Übersetzung Chemnitz an).
Verschiedene Flugschriften wurden ihm irrtümlich zugewiesen!.
Nun findet sich ein interessierender Hinweis auf eine Schrift von Chemnitz
in einem heute vergessenen Buch von Niklas Vogt ,,Gustav Adolph, Kónig
in Schweden, als Nachtrag zur europäischen Republik" (Frankfurt und
Mainz 1790).
Vogt (1756—1836) war Professor der Mainzer Hochschule, Gelehrter,
Dichter, Maler, Musiker, eine jener vielseitigen sprudelnden Naturen, die
sich in einem nicht genug tun kónnen. Die grenzenlose Verehrung des Fürsten
Metternich, der sich als seinen Freund und Schüler bezeichnete, und der ihm
auch zu Johannisberg einen Grabstein setzte, wo Vogts Leiche ruht — sein
Herz und Hirn wurde auf seinen Wunsch im Rhein versenkt — spricht für
Vogts Bedeutung.
Sein „Gustav Adolf" ist eine Mischung von Drama und historischem
Aufsatz. Dichterisch — es muB leider gesagt werden! — eine Kasperliade.
Aber das tut hier nichts zur Sache. Zwischen den dramatischen Szenen
steckt eine geschichtliche Abhandlung über Philipp Bogislaw von Chemnitz.
Leider fehlen hier die sonst sehr freigebig verstreuten Quellenangaben;
doch ist nicht anzunehmen, daß Vogt an dieser Stelle, wo der Gelehrte den
Dichter ablóst, gefabelt hätte.
Offenbar stand ihm ein heute nicht mehr vorhandenes Material zur
Verfügung.
Zunächst weist er auf die Beziehung des jungen Chemnitz zu dem eben-
falls jungen Cromwell hin, der gleichzeitig mit diesem im schwedischen
Heer gedient habe. (Nur kurze Zeit móglich, da Chemnitz kaum vor 1628
zu den Schweden kam, Cromwell aber im selben Jahr wieder in England ist.)
! Friedrich Weber, Hippolithus a Lapide, Hist. Zeitschr., 29. Bd., 1879.
Das Ideal einer europäischen Republik 569
Beide politische Feuerköpfe hätten sich in gemeinsamen Schwärmereien
republikanischer Ideale gefunden; doch seien diese bei Chemnitz durch den
Kanzler Oxenstierna stark gemäßigt worden. Chemnitz, der völlig Oxen-
stiernas politischer Zögling wurde, habe demnach den Gedanken, daß nicht
die Geburt, sondern die Befähigung zum Herrschen berechtige, aufgegeben,
und dem Kanzler einen neuen Plan vorgelegt, dessen Durchführbarkeit von
diesem in Erwägung gezogen worden sei.
Dieser Plan sei folgender gewesen.
1.
Aufteilung Europas in zwölf erbliche Monarchien und vier Republiken.
Die Monarchien: Portugal, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Schwe-
den, Dänemark, Preußen, Polen, Böhmen, Sardinien, Ungarn, Rußland.
Die Republiken: die deutsche, bestehend aus den Schweizer Kantons
und allen den deutschen Staaten, die nicht zu einer Monarchie gehören.
Die niederländische, bestehend aus den gesamten Niederlanden und allen-
falls aus einigen säkularisierten Bistümern. Die italienische, bestehend
aus allen italienischen Staaten mit Ausnahme Neapels. Die griechische,
sie enthielte alle jenseits der Donau den Türken abgenommenen Staaten.
. In allen diesen Staaten müßte die gesetzgebende Gewalt beim Volk
oder vielmehr seinen Repräsentanten und Ständen sein.
. Die vollstreckende Gewalt bliebe in den Händen der nun einmal privi-
legierten Häuser und Familien in Europa: Habsburg, Bourbon, Braganza,
Braunschweig, Wasa, Holstein, Brandenburg, Sachsen, Wittelsbach,
Savoyen. Für die deutsche Republik erhielte die Repräsentation das
Haus Hessen, für die niederländische das Haus Nassau, für die italienische
das Haus Savoyen, für die griechische das Haus Württemberg.
. Alle diese Staaten würden durch das römische Reich verbunden. Jeder
Regent eines großen Staates müßte zugleich Kurfürst sein, und diese Kur-
fürsten hätten das Recht, den römischen Kaiser zu wählen. Ebenso
wäre durch Wahl ein höchstes europäisches Reichsgericht herzustellen.
. Ein jedes Königreich müßte zugleich noch ein Kurtum besitzen, auf dem
die Kurstimme haftete.
. Die drei geistlichen Kurfürsten blieben in ihrer Würde und der Erz-
bischof von Salzburg würde ebenfalls Kurfürst und Erzkanzler. Der
Kurfürst von Mainz hätte das Erzkanzleramt in den südlichen, der von
Trier in den westlichen, der von Köln in den nördlichen, der von Salz-
burg in den östlichen Staaten Europas auszuüben. Der Kurfürst von
Mainz wäre Direktor des europäischen Reichstages.
7. Man müßte soviel als möglich völlige Handelsfreiheit zu stiften suchen.
Zur Ausführung dieses Planes werden folgende Mittel vorgeschlagen:
1. Brechung der Übermacht des Hauses Österreich! Man müßte die Nieder-
länder stützen, um sie vom spanischen Joch zu lösen, Böhmen durch
die Utraquisten an das Haus Wittelsbach bringen, die Ragozei in Un-
garn und die Katalonier in Spanien aufmuntern, damit die Freiheit
dieser Völker hergestellt werde. Dafür würde Habsburg gegen die Türkei
mit einigen beträchtlichen Provinzen entschädigt. Österreich und Neapel
würden Kurtümer für die beiden Zweige des Hauses.
570 Mela Escherich
2.
14.
15.
Belebung der Hugenotten. Entkräftung der Despotie des Kardinals
Richelieu. Dafür erhielte das Haus Bourbon Elsaß und Lothringen als
Kurtum.
. Das Mißvergnügen der Briten gegen das Haus Stuart erhalten und ver-
mittelst Revolution das Haus Braunschweig auf den englischen Thron
bringen. Hannover zum Kurtum erheben.
. Die Tochter Gustav Adolfs müßte mit einem deutschen oder dänischen
Prinzen vermählt werden. Man könnte auch die kalmarische Union wieder
herstellen. Holstein würde mit Pommern zu einem Kurtum gemacht.
. Polen müßte ein erbliches Königreich werden und an Sachsen kommen.
. Preußen, ein Stück vom nördlichen Polen, Litauen, Kurland und etliche
säkularisierte Bistümer des deutschen Reiches würden als Königtum
PreuBen unter dem Kurfürsten von Brandenburg vereinigt.
. Rußland würde gegen Norden etwas eingeschränkt. Man müßte seine
Krone an ein deutsches Haus bringen. Es bekäme eine freie Verfassung;
dafür würde ihm die Krim eingeräumt unter dem Namen eines Kurtums
von Taurien.
. Die Türken würden aus Europa vertrieben. Ungarn, Moldau und Wa-
lachei dem Haus Österreich gegeben, das Übrige zur griechischen Republik
geschlagen. |
. Ebenso würden auch die Raubnester und Despotien in Nordafrika zer-
stört. Der König von Portugal würde Kurfürst von Algarbien.
Böhmen und noch einige Länder in Deutschland kämen an Wittelsbach.
Das Haus hätte nur eine Kurstimme und diese hafte auf Bayern.
. Hessen würde Kurfürstentum und führte die Kurstimme für die deutsche
Republik.
. Der Herzog von Savoyen würde König von Sardinien und Oberdoge der
italienischen Republik, führte darüber wechselweise mit dem Papst die
Kurstimme,
. Das Haus Nassau erhielte die Erblichkeit der Statthalterschaft in den
gesamten Niederlanden und hätte die Kurstimme für die niederländische
Republik.
Der Herzog von Württemberg würde Oberarchont der griechischen
Republik und wechselte in der Kurstimme mit dem Patriarchen von
Konstantinopel.
Rom. Konstantinopel, Hamburg und Lissabon würden die Haupt-
städte der europäischen Republik, sie müßten alle freie Reichsstädte
sein und in denselben die Versammlungen der Repräsentanten Europas
gehalten werden.
Hierzu sagt Vogt: „Dieses Projekt legte Chemnitz dem Kanzler vor,
als er ihm auftrug, eine Zeitschrift zu verfertigen, welche hernach unter dem
Titel Hippolithus a Lapide de ratione status in imperio Romano-germanico
erschienen ist, und so viel Aufsehen machte. So ungeheuer und tollkühn
nun dieses Hirngespinst war, so machte es doch einigen Eindruck auf den
sonst kalten Oxenstierna. Chemnitz wußte auch seine Träumereien mit einer
solchen Wärme und Beredsamkeit vorzutragen, daB der Kanzler selbst
vieles davon für tunlich hielte, wie man aus verschiedenen Äußerungen und
Das Ideal einer europüischen Republik 571
Negoziazionen der Zeit ersehen konnte. Auch war eine solche Begeisterung
dem kalten Staatsmanne in den Umständen notwendig, weil er seinen König
von Nebenwegen und gewissen despotischen Gesinnungen abbringen wollte.“
Die Dissertatio de Ratione status kannte Vogt offenbar nicht; denn in
diesem Werk ist keine der obenangeführten Ideen enthalten.
Sehr merkwürdig ist, daß von den Einzelvorschlägen mittlerweile eine
ganze Reihe Tatsache geworden ist: der Zerfall der habsburgischen Macht,
die Befreiung der Niederlande 1648, das Haus Hannover-Braunschweig auf
dem englischen Thron 1714, das Haus Sachsen auf dem polnischen Thron 1697,
das Haus Brandenburg auf dem preußischen Thron 1701, Anfall der Krim
an Rußland 1783, Anfall Ungarns an Österreich 1688, Hessen-Kassel wird
Kurfürstentum 1803, Herzog von Savoyen wird König von Sardinien 1720,
König Karl Albert von Sardinien wird Vorkämpfer der italienischen Republik
und sein Sohn wird König von Italien 1861. Griechenland kommt zwar
nicht an Württemberg, aber an Bayern, also immerhin an eine deutsche Schutz-
macht 1832.
Der Verfasser des Planes ist somit kein bloBer Phantast, sondern ein Mann
von unleugbarem Weitblick und politischem Fingerspitzengefühl; denn es
ist erstaunlich, wie er in den verschiedensten Richtungen Fingerzeige gibt,
die später, unter ganz andern Verhältnissen tatsächlich sich bewahrheiteten.
Wir kennen die Quelle Vogts nicht und so müssen wir vor allem die
Frage aufwerfen: ist dieser Plan von Chemnitz?
Da Vogt ihn mit seinen Worten wiedergibt, kommt ein stilistischer Ver-
gleich in Wegfall. Bleibt also nur psychologische Kritik. Diese würde die
kühne Phantastik des Planes, die in den reifen Werken von Chemnitz fehlt,
bei einem Jugendwerk nicht beanstanden.
Jedenfalls stammt die Arbeit aus dem Ideenkreis, der die Umgebung
Gustav Adolfs beherrschte. Die Taktik des Großen Königs der Liga gegen-
über, seine Abneigung gegen das Haus Stuart, seine Stellung zu Frankreich,
seine zögernde Haltung in der böhmischen Frage entsprechen durchaus den
in dem Plan angedeuteten Ideen. Und schließlich der Hauptpunkt: eine
imperialistische Europarepublik! Sieht dieser Gedanke nicht fast aus, als
ob er dem Haupt des Mannes entsprungen wäre, der, da ihm Schweden zu
klein war, das Heilige Römische Reich zu seinem Tatengebiet machte, und
über ein kleines auch dieses als zu eng empfindend, wohl Lust und Kraft
gehabt hätte, ein neues Europa zu schaffen!
Wiesbaden. Mela Escherich.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-
Soglio, Kais. Königl. Kämmerer.
Herausgegeben von Ewald Reinhard.
Die nachfolgend veröffentlichten Schreiben des berühmten Staatsrechts-
lehrers Karl Ludwig von Haller an seinen Freund, den Kaiserlich-Königlichen
Kammerherrn Anton Freiherrn von Salis-Soglio, 27 an der Zahl, entstammen
dem Archive des Freiherrn von Salis-Soglio auf dem Rittergute Gemünden
(Hunsrück) und wurden mir von dem jetzigen Besitzer, Herrn Oberregierungs-
572 E. Reinhard
rat a. D. Freiherrn von Salis-Soglio in Gemünden, in liebenswürdiger Weise
überlassen. Dafür sei auch an dieser Stelle herzlicher Dank gesagt, um so
mehr, da diese Überlassung von einer verständnisvollen Interpretation
mancher Partien begleitet war, wovon schon die Einleitung Vorteil gewann.
Der Empfänger der Briefe, Anton Freiherr von Salis-Soglio, geboren 1760,
der Urgroßvater des jetzigen Besitzers, war ursprünglich Graubündener
Kommissar in Chiavenna, d.h. er war Generalbevollmächtigter der Re-
publik Graubünden in diesem Gebiete, das mit dem Veltlin die sogenannten
Untertanenlande von Graubünden bildete. Der große Einfluß der Familie
von Salis bewirkte, daß dieses Amt, wie auch manche andere wichtige Posten,
geradezu im Besitze der Familie war.
Mit dem Aufkommen des mächtigen Korsen brach eine neue Zeit herein,
die diese gesicherten Verhältnisse für immer zerbrach. Napoleon Bonaparte
gab nämlich den Untertanenlanden nicht nur die Freiheit, sondern beschlag-
nahmte auch das Privatvermögen der Graubündener Herren, u. a. der Frei-
herren von Salis, so daß sich diese von heute auf morgen dem Nichts gegen-
über befanden. Vergebens versuchten die Geschädigten durch Anschluß an
Österreich und England wiederzugewinnen, was man ihnen entrissen hatte,
vergebens bildete man unter dem Schutze dieser beiden Mächte in Chur eine
Interimsregierung, das Machtwort Napoleons hatte mehr Wirkung als der
Schrei nach Recht und Gerechtigkeit; Anton von Salis-Soglio floh nach
Tirol und lebte hier in der unsicheren Hoffnung auf den Sieg der gerechten
Sache, verarmt und verbittert; Zuwendungen aus der Privatschatulle des
österreichischen Kaisers bewahrten ihn vor der äußersten Not. Die Gast-
freundschaft des Kaiserstaates ließ ihn dort so heimisch werden, daß er auch
dann nicht mehr in seine Heimat zurückkehren mochte, als unter den
veränderten politischen Verhältnissen das Tor der Heimat ihm wieder offen
stand. Er sah, ähnlich wie sein Freund Haller, in dem Österreich des Fürsten
Metternich den Hort der alten rechtmäßigen Ordnung. In der Heimat da-
gegen triumphierten Freimaurer und Republikaner.
Die Erfahrungen und Erlebnisse in dem Donaustaate brachten auch eine
religiöse Wandlung in ihm hervor, wie sie damals viele seiner Zeitgenossen
durchmachten. Von Hause aus Protestant und unter Lavaters Einfluß stehend,
wandte er sich später mehr und mehr vom Protestantismus ab und näherte
sich so der katholischen Kirche, daß auch Haller in den vorliegenden Briefen
oflen darauf anspielen konnte. Zu einer formellen Konversion scheint er
jedoch erst kurz vor seinem Tode gelangt zu sein.
77 jährig floh er, obwohl selbst schwerkrank, vor der in Wien herrschenden
Cholera zu seiner in Innsbruck wohnenden Tochter, welche mit einem Grafen
Reisach verheiratet war, und schied hier im Jahre 1831 aus dem Leben.
Von den übrigen Mitgliedern der Familie von Salis-Soglio, welche in den
Briefen aufgeführt werden, seien erwähnt Anton von Salis’ Sohn Andreas;
er war zu Hallers Zeit Kapitän der Schweizergarde in Paris und begegnete
gelegentlich dem „Restaurator“. Karl von Salis entstammte dem in Schlesien
ansässigen Zweige der Familie von Salis-Samaden. Der Graf Johann von
Salis-Soglio entsandte ihn als diplomatischen Agenten nach Paris; später
treffen wir ihn als Ingenieur-Offizier in österreichischen Diensten.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 573
Der háufig genannte Graf Johann von Salis-Soglio war 1776 in Chiavenna
geboren und gehörte der sogenannten englischen Linie der Familie an. Nach
dem Tode seiner streng protestantischen Mutter, die in Chur lebte, trat er
zum Katholizismus über und wurde später Geheimer Rat in Wien und Hof-
marschall in Modena. Er war eine jener wertvollen Naturen, die weniger
durch auffallende Vorzüge als durch innerliche Tugenden, wie Frómmigkeit
und Ehrenhaftigkeit, sich angenehm machten. Mit Karl Ludwig von Haller
war er durch gleichen Sinn und gleiches Streben innig befreundet, wie sich
das auch in ihrem leider noch nicht veróffentlichten Briefwechsel klar und
deutlich ausspricht.
Die Briefe gruppieren sich einmal um die Zeit von 1814/15, d. h. um die
Zeit des Wiener Kongresses und der damit verknüpften Neugestaltung des
europäischen Erdteiles (hier nicht aufgenommen); es folgen dann vier Schrei-
ben aus den Jahren 1820/21, da Hallers religióse Entwicklung durch seine
Konversion in ein neues Stadium trat. Danach bleibt der Briefwechsel
wiederum für längere Zeit unterbrochen, wie aus dem Anfang des Briefes
vom 8. Juli 1823 hervorgeht. Haller ist in der Zwischenzeit nach Frankreich
übergesiedelt und weilt als Privatmann in der franzósischen Hauptstadt. Seine
Seele ist voll Unmut über die mangelnde Anerkennung seiner politisch-
literarischen Tátigkeit; andererseits fühlt er sich in einer Umgebung wohl,
die so viele treffliche Mitkämpfer aufweist. Der Briefwechsel lebt dann in
den Jahren 1823, 1824 und 1825 wieder recht stark auf; manche Schreiben,
wie das vom 31. Juli 1824 (Nr. 11), wachsen sich zu förmlichen politischen
Abhandlungen aus; darauf wieder eine Lücke von fünf Monaten, in denen
der briefliche Verkehr ruht. Um die Wende des Jahre 1825 schließt sich dafür
ein Brief an, der der längste von allen ist, der im ersten Teile wiederum eine
weit ausholende Übersicht über das politische Geschehen in den hauptsäch-
lichsten europäischen Ländern bietet, während der zweite Teil privaten An-
gelegenheiten vorbehalten bleibt. Mit diesem Briefe berührt sich vieles in
dem vorletzten Schreiben aus dem Jahre 1826. Bis zu der nächsten Antwort
Hallers verstreichen dann abermals 1%, Jahre; der Brief vom 25. Februar 1828
beendet den Briefwechsel von Seiten Hallers; die letzte Antwort von Salis
datierte vom 24. November 1828. Mit dem Tode von Salis fand die Korre-
spondenz ihr natürliches Ende; Karl Ludwig von Haller überlebte den Freund
noch um ein Menschenalter: er starb im Jahre 1854 auf seinem Landsitze
vor den Toren Solothurns. (Näheres in meiner Hallerbiographie 1933.)
Von den Antworten des k.k. Kämmerers Anton von Salis-Soglio sind
vorläufig zwei Entwürfe beigegeben, welche einen willkommenen Einblick
in die Schreibweise und Sinnesart des Bündener Aristokraten gewähren.
Sie sind ebenfalls Eigentum des Herrn Baron von Salis-Soglio auf Gemünden.
1.
d Bern, 14. Oct. 1820.
Hochwohlgeborener Freyherr,
Verehrtester Freund.
Ihr intereBanter Brief vom 6ten Sept. ist mir erst gestern durch den Östreichi-
schen Gesandschafts-Sekretär übergeben worden. Der beygelegte treffliche Aufsatz
geht schon heute nach Paris ab und ich habe sehr darauf gedrungen, daB er in den
574 E. Reinhard
Defenseur aufgenommen werde, welches auch wohl geschehen wird, wenn die Censur
nicht etwa noch die Speise zu stark findet. Diesen wakeren Defenseur und den Dra-
au blanc werden sie also wohl auch in Wien haben. Man sollte sie so viel möglich
in kleinen Lesezirkelu, durch Subscription zu verbreiten suchen auch bisweilen
Auszüge davon in den Óstr. Beobachter geben oder wenigstens kürzlich den Innhait
jedes Heftes anzeigen.
DaB man die revolutionäre Sekte noch nicht in der Wurzel angreifen sondern
mit verderblichen ConceDionen, Amnistie, Garantie amalgamiren u.s. w. zu Werk
gehen würde, ist freylich zu befürchten. Der zweydeutige Styl in einer gewiBen Note
an den Chev. Zea, das Zaudern von Warschau her, Griechisch-Italienische Namen
die mir übel in die Ohren klingen, schäbige Correspondenzen von Laharpe aus Lau-
sanne u.s.w. machen mir ebenfalls bange. IndeBen tröstet mich der Gedanke, daz
die Menschen u. selbst die großen Mächte oft durch EreigniBe weiter geführt werden,
als sie ursprünglich wollten. Es ist Ao 1814 u. 1815 auch manches geschehen was
noch zu Frankfurt oder zu Wien nicht in den Planen lag. Wenn man nur einmal von
dem guten (reist ausgeht, so wird man nach und nach von selbst in alle Wahrheit
geleitet, Wir müBen nur nicht zu ungeduldig seyn, kein Apfel reifet vor der Zeit,
u. ich vertraue nüchst Gott, auf den Muth und die Gewandheit des Fürsten von
Metternich!, der die Sachen zu Ende bringen wird ohne eben stets bey Verkündigung
des Endes anzufangen. Wenigstens wird man doch in Neapel nicht die leidige
un des General Bianchi von 1815 erneuern welche der Grund von allem
bel ist.
Das Andenken und die Zufriedenheit der Frau Fürstin von Metternich sind
mir äußerst schmeichelhaft und ich bitte Sie mich derselben unterthünigst zu Füöen
zu legen auch für die bewußte Empfehlung bey Ihrem Herrn Sohn meinen gefühl-
testen Dank zu bezeugen. Das Freyh. Diplom wäre mir am liebsten? weil es auch
nach meinem Tode einen Werth hat, freylich bedeutet es in Wien nicht viel, aber ganz
anders ist es hier, besonders wenn es nicht gekauft sondern mit Ehren erworben
worden. Auch kann es mir und meinen 2 Söhnen, den einzigen männlichen Ab-
kömmlingen Albrechts von Haller? im Auslande nüzen, u. ich hoffe ihnen ein solch
anständiges Vermögen zu hinterlaßen und zum Theil zu versichern, daß sie ihren
Stand mit Ehren sollen behaupten können. Ich ersuche Sie daher recht sehr verehr-
tester Freund diese Sache nach der Rükkunft des Kaysers in gefällige Erinnerung
zu bringen, damit sie nicht etwa vergeßen werde, wofür Sie auf meinen ewigen Dank
zählen können. Vermuthlich wird man erst nach genommenem Entschluß die Ma-
terialien für die Ausfertigung des Diploms verlangen, worüber ich seiner Zeit Ihre
Weisungen erwarte.
Die näheren Nachrichten über die Aufnahme der Jesuiten in Gallizien haben
mich sehr gefreut und ich ermangelte nicht sie sogleich mehreren guten Freunden
mitzutheilen. Über die Veranlaßung und die Umstände ihrer Vertreibung aus Ruß-
land hat mir der P. Ledrogart Neffe des Abt von St. Gallen welcher selbst zu den
Vertriebenen gehört intereßante Details erzählt.
Der bekannte Herr von Stein“ welcher unlängst durch die Schweiz nach Ita-
lien reiste, hat sich hier ziemlich entlarvt. In Luzern war er sehr vertraut mit dem
Dr. Rengger und dem SchulthB am Rhyn® (einem Erz Jakobiner) gieng aber nicht
zu dem Präsidenten der Tagsatzung Rütimann® dem er einen Empfehlungs Brief
durch eine Dienst Magd zusandte, u. der ihn doch durch seinen Sohn Offizier in der
* Mit dem Fürsten, Staatskanzler Clemens von Metternich, stand Haller viele Jahre in
Verbindung; zuletzt sah er ihn bei den Krönungsfeierlichkeiten in Paris 1825. Vgl. Ewald Rein-
hard: Karl Ludwig von Haller und seine Beziehungen zum Kreise um Metternich. Hist.-pol.
Blätter CX XII (1918) Heft 3.
3 Jahrelang bemühte sich Haller um die Nobilitierung durch den österreichischen Kaiser,
ohne Jedoch zu seinem Ziele zu gelangen.
* Albrecht von Haller (1708—1777), der große Haller, der Dichter der „Alpen“, war der
Großvater Karl Ludwig von Hallers.
* Der berühmte Staatsmann Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein (1757
bis 1831), dessen ganze Art dem „Restaurator“ naturgemäß völlig entgegengesetzt war.
1837 * Josef Karl Am Rhyn (1777—1848). Schultheis 1817—1840. Vorsitzender der Tagsatzung
e Vinzenz Rütimann (1769—1844), Luzernischer Politiker.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 575
Schweizer Garde hatte complimentiren laßen. Vermuthlich hatten ihm jene Brüder
und Freunde gesagt, daß Rütimann nicht mehr zu den ihrigen gehöre. Auch in
Lausanne hatte er eine lange Zusammenkunft mit Laharpe. Hier in Bern war er
beständig bey dem Schulthß v. Mülinen? (dem Freund u. Protektor aller Liberalen,
dem Grund alles hiesigen revolutionären Elends) und machte häufige Wallfahrten
nach Hofwyl. Mich hingegen hat er mit einem eiskalten Empfang beehrt als ich
ihm in einer Gesellschaft bey Herrn von Billieux präsentirt wurde. Die Spanische
Revolution lobte er offentlich, nur die Neapolitanische schien er mißbilligen zu wol-
len. Ich denke, daß diese Notizen Ihnen vielleicht angenehm seyn möchten.
Sagen Sie mir doch verehrtester Freund durch welchen Canal ich Ihnen ein
Exemplar der 2ten Ausgabe meiner Restauration der Staatswißenschaft® zusenden
könnte, denn ich schmeichle mir daß Sie dieselbe mit Intereße lesen dürften.
Die Vorbereitungen zu einer kleinen Herbstreise ins pays de Vaud mit dem
trefflichen Bayerschen Gesandten? zu einigen dortigen Gerechten, zwingen mich
für heute diesen Brief zu schließen. Über den hiesigen politischen Zustand wäre
Ihnen viel, aber nichts erfreuliches zu melden, was ich auf ein andermal verspare.
Wir sind ganz unter dem Joche der Jakobiner und treiben tàglich tiefer in den
Pful der Revolution. Unter gegenwärtigen Umständen empfehle ich mich mehr
als je um häufige Nachrichten von Ihnen, die mir sehr nüzlich seyn können. Verlangen
Sie hinwieder etwas v. hier zu wißen so stehe ich stets zu Befehl. Unterdeßen be-
wahren Sie mir Ihre unschäzbare Freundschaft u. seyen Sie meiner aufrichtigen
Verehrung u. unwandelbaren Ergebenheit versichert, wir wollen in Zukunft ohne
Complimente enden. v. H.
P.S. Ihr Vetter Graf Johann /: ein rechter Apostel :/ ist vor einigen Tagen hier
durch nach Lausanne gereist, u. ich hoffe ihn bey dem wakeren Herrn v. Ginegins!?
zu Orny zu sehen, demjenigen der den Druk jener Schrift über die Cortes!! bewilliget
hat, zum großen Ärger der hiesigen Liberalen u. der Allg. Zeitung.
2.
| Bern, 10. Nov. 1820.
Vom 16t bis zum 30t Oct. war ich mit dem braven, muthigen, Ihrer würdigen
Bayerschen Gesandten v. Olry auf einer kleinen Lustreise ins pays de Vaud begriffen,
wo wir unter anderem in dem Schloß Orny bey dem trefflichen hiesigen Rathsherren
von Gingins Chevilly dem nemlichen der den Druck meiner Schrift über die Cortes
bewilligte, in Gesellschaft mit Ihrem Vetter dem Grafen Johann, welcher eben von
Lausanne zurükkam, fünf herrliche Tage zugebracht haben, alle in einerley Sinn
und einerley Meynung.
Gestern habe ich einen Brief von Paris erhalten, worinn man mir meldet, daß
der bewußte Aufsatz von welchem Sie mir sprachen nächstens in dem Défenseur
erscheinen wird, so auch meine Abhandlung über den Adel, welche aus dem 3t Band
meiner Restauration Cap. 25 übersezt ist und (um ?) dem Französischen Publiko
einen Vorgeschmak von dieser kräftigen Medizin zu geben.
Schreiben Sie mir doch, verehrtester Freund, ob nicht bald nach Neapel mar-
schirt wird! Alle Redlichen in ganz Europa harren mit Ungeduld darauf und es wird
ein allgemeiner Jubel seyn. Laße man sich doch nicht etwa durch die wehmüthigen
u. furchtsamen Klagen od. Vorstellungen des unterjochten Königs von Neapel!?
und seines Sohns irre führen; die dortigen Jakobiner dürfen dem König kein Haar
krümmen, denn nur unter seine Sinnen (?) können sie regieren, wenn er ihnen nicht
* Nikolaus Friedrich von Mülinen (1760—1833) bekannter Staatsmann.
* Die zweite Auflage des Hallerschen Werkes der ,, Restauration der Staatswissenschaft“
erschein gleichzeitig mit der ersten. Vgl. Ewald Reinhard: Der Restaurator Karl Ludwig von
Haller und die Steinersche Verlagsbuchhandlung in Winterthur. Jahrbuch der literarischen
Vereinigung Winterthur. 1925.
Antoine Chevalier d Olvy (1769—1863) geb. Elsässer, Erzieher Ludwig I. von Bayern.
1 Antoine Charles von Gingins (1766—1823). Mitglied des Kleinen Rates zu Bern 1816.
ramtmann von Erlach 1822.
"^ Hallers Schrift „Über die Konstitution der spanischen Cortes“, die lebhaftes Aufsehen
* König Ferdinand IV. von Neapel (1751—1825), der auf dem Laibacher Kongresse
erschien, und um dessentwillen Österreich tatsächlich in Neapel intervenierte.
576 E. Reinhard
seinen Namen liehe, so würden sie vom Volke zerriBen. IndeBen ist es nicht genug
daß man auf Neapel marschire und das Carbonari Parlament auseinander sprenge,
wenn nicht durch begleitende politische Maasregeln das Übel mit der Wurzel ge-
hoben wird. Wäre es mir erlaubt, unmaßgeblich einige Bedenken zu äußern, so würde
ich folgende Maßregeln anrathen, die auch für andere Länder zum heilsamen Berv-
spiele dienen können.
1. sogleich beym Aufbrechen der Armee die Carbonari u. ähnliche Gesellschaften
durch eine wohlmotivirte Proklamation als Hochverräther zu erklären u. zu diesem
End das Dekret der Päpstl. Regierung vom 13. Aug. 1814 zu Rath zu ziehen.
2. auf die Fahnen zu schreiben: J. Carbonari pagaranno und es auch zu halten,
von ihnen allein die Bezahlung der KriegsKosten u. alles seit 7. July verursachten
Schadens zu fordern, ihre Renten aus dem großen Buche zu streichen, dagegen aber
den unterdrükten u. ehrlichen Theil der Nation zu schonen.
3. beym Einmarsch in Neapel den König u. seinen Sohn zu einem wohlmotivirten
Acte de rétractation zu bewegen, da er durch seine Annahme der heillosen Consti-
tution auch gefehlt hat.
4. die Capitulation des General Bianchi vom J. 1815 (welche der Grund alles
Übels ist) null u. nichtig zu erklären, weil sie von der anderen Seite gebrochen
worden und kein Vertrag gültig ist, er werde denn von dem anderen Theil auch ge
halten. Sie werden bemerkt haben, daß gerade wegen Aufrechterhaltung dieser den
Jakobinern ohne Noth zugestandenen unbegreiflichen ConceBion, die Allg. Zeitung
stets darauf deutet, man solle dem Bianchi das Commando der Armee übergeben.
5. Die Rädelsführer der Rebellion vom "ten July öffentlich und schmählich
hinrichten, doch nicht mehr als etwa 10 bis 12 und ihre Güter confiskiren.
6. Alle Civil u. Militär Autoritäten apuriren, die Carbonari absezen, es sey denn
gegen fórmliche Retractation und Beweise aufrichtiger Reue.
7. Die Alta vendita u. alle anderen vendite schließen, die Gebäude niederreiBen,
die Güter, wenn deren vorhanden sind, confiskiren.
8. Den König zu bewegen Sizilien auf den alten Fuß herzustellen, nicht die
Constitution Bentink und auch nicht die Muratische revolutionäre Uniformitàt von
1816. Der Kónig soll wieder heiBen Ferdinand IV. K. v. Neapel u. Sizilien, nicht
Ferdinand I. K. beyder Sizilien, als wodurch er sich nur zum Nachfolger v. Murat
gemacht hat.
9. Den Code Napoleon abzuschaffen, besonders das Verbot der Substitute
art. 896. Primogenitur, Fidei Commiße u.s.w herzustellen u. ferner zu erlauben.
Ich habe selbst in Neapel bemerkt, daB diese unglükseligen Gleichtheilungen den
Adel ruiniren, allgemeine Gleichheit u. folglich die Demokratie herbeyführen.
10. das Concordat zu exequiren u. die Kirche in allem gut zu begünstigen.
11. um den König zu stüzen u. denjenigen welche Repräsentativ Ver-
sammlungen lieben, etwas dergleichen vorzustellen, für ungefähr 6 Wochen
Reichsstände zu berufen, aber zusammengesetzt wie folget:
a. Erzbischöffe u. Bischöffe, v. Rechtenswegen, mit Ausschluß derjenigen, so
im Carbonari Parlament saßen.
b. hohe begüterte Edelleute, diBmal vom König ernannt.
c. die ersten Vorsteher der größeren Städte, kraft ihres Amtes. Diese werden
dann gerade das Gegentheil von dem thun, was die Jakobiner mit solch Repräsen-
tanten wollen und die ferneren Maßregeln vorbereithen um Ruhe u. Gerechtigkeit
gründlich herzustellen.
Finden Sie Gelegenheit diese Gedanken dem Herrn Fürsten von Metternich
mitzutheilen, so könnten Sie vielleicht etwas Gutes wirken. Auch Hr von Gentz”?
sollte sie kennen.
Da auch ein Haupt Triebrad alles Bösen, der Ex Advokat Cäsar Friedrich La-
harpe, die Mittels Person zwischen den Franzósischen Jakobinern u. dem Kayser
Alex. noch immer gewißes Zutrauen zu genießen scheint, so sende ich Ihnen Ab-
schrift eines noch im J. 1817 an seinen Bruder u. Freund Usteri“ erlaßenen Briefs,
Friedrich von Gentz (1764—1832), Metternichs rechte Hand. Haller kannte den „Sy-
bariten‘, wie er ihn nennt, schon aus der Zeit, wo er in österreichischen Diensten stand.
^ Paulus Usteri (1768—1831), bekannter liberaler Politiker.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 577
welcher diesen Kerl vollends entlarvet. Die Noten, denen ich zwar ganz beystimme,
sind nicht von mir, sondern von einer diplomatischen Person.
Ohne Complimente, wegen ermüdeter Hand, empfehle ich mich Ihnen u. ver-
bleibe zeitlebens
Ihr gehorsamer ergebener Diener
v. Haller.
3.
Bern, 22. Nov. 1820.
Vor etwa 8 Tagen langten der bekannte Chev. Micheroux und unter dem be-
scheidenen Namen de Riva ein Sohn des Duce de Campo Chiavo von Neapel hier an.
Sie kamen von Lausanne, verlangten eine Audienz bey dem Herrn Schultheiß von
Mülinen und giengen von da nach Aarau, Zürich und Luzern. Jetzt heißt es, sie seyen
mit Empfehlungs Briefen von Laharpe plótzlich nach Troppau verreist. Was sie
wollten, konnte ich nicht erfahren, da Herr Schulthß v. Mülinen behauptet sie nicht
empfangen zu haben.
Das jakobinische Deutschthümmelsche Produkt , Manuscript aus Süd-
deutschland“ eine Nachäffung des Manuscrit de St Helène, ist, nach Papyr
und Lettern zu schließen, offenbar zu Aarau bey Sauerlünder gedrukt u. wahrschein-
lich von Zschokke oder eher noch von Benzel Sternau!® verfaßt, einem Erz
Jakobiner der bey Zürich sein Wesen treibt u. von dem Churfürsten von Heßen
12000 G. Pension bezieht.
Die Artikel in der Bayreuther und Hamburger Zeitung über die Schweizerschen
Carbonari od. Unitarier Logen haben hier viel Aufsehen gemacht, sind aber nur zu
wahr u. zuverläßig giebt es dergleichen auch in Bern. Es ist unglaublich wie sehr
man seit 4 Jahren wiewohl unter anderen Namen die Helvetische Republik herzu-
stellen und ihren Anhängern allein die oberste Gewalt zu geben sucht. Bey jeder
Tagsazung werden durch schlau aufeinander folgende Dekrete die verbündeten
Stände mehr zu Departements gemacht, u. ihnen ein Recht nach dem anderen ge-
nommen. Dabey Central Armee, Central Generalstäbe, Central Caßen, Central
Auflagen u. der nemliche Canzler seit 1798. Der Impuls kómmt durch das Illuminaten
Comité von Luzern (am Rhyn, Meyer, Pfyffer) u. Bern d. h. unsere Schultheißen
Ist verblendet genug, dieses System, das uns desto eher mit den Teutonen verknüpfen
soll, noch zu begünstigen. Auch zanket man mit Rom wegen dem neuen Bischoff v.
Basel aus welchem die Herren v. Luzern u. Aarau nur einen neuen Minister de
l'instruction publique machen móchten. In dem Augenblik wo wir 40000 catho-
lische Unterthanen erhielten, welche die besten Leute von der Welt sind, ist es der
Sektegelungen durch Bibel Gesellschaften, Basler Missionen, Zürchersche fanatische
Intriganten u.s.w. einen unvernünftigen Haß gegen die Catholiken einzublasen, der
vorhin bey uns gar nicht existirte.
In Zürich ist eine sonderbare Sippschaft bey einander. Dr. Usteri"?, Colloborateur
der Allg. Zeitung, seit 25 Jahren Praeses aller Schweizerschen Revolutionäre, jetzt
Staatsrath, Benzel Sternau, Górres vertrieben aus Coblenz!?, de Wette!? flüchtig
aus Bonn, Wolf% Dr. aus Berlin etc. Was wir 1814 u. 1815 vorhersagten, erfolgte.
Die Schweiz ist ein Asyl und eine Citadelle aller Jakobiner von Deutschland, Frank-
reich und Italien geworden. Was man gesäet hat, das erndet man ...
Das Aufsehen erregende „Manuskript aus Süddeutschland" von Georg Erichson.
London (Stuttgart) 1820, 1821 stammte von Friedrich Georg Ludwig Lindner.
'* Christian Ernst Graf von Bentzel-Sternau (1707—1849), der in demselben Briefe noch
einmal genannt wird, 1812 Finanzminister im GroBherzogtum Frankfurt. Auch als Schriftsteller
tätig, Freund Wessenbergs.
. ™ Paulus Usteri (1768—1831), s. o., der für die freisinnige Aarauer Zeitung und die
„Neue Zürcher Zeitung“ schrieb, daneben auch für die „Allgemeine“.
!* Josef Görres (1776—1848), der berühmte Politiker und Publizist: er kam im Mai 1821
Mi Straßburg nach Basel. Vgl. Albert Renner: Josef Görres in der Schweiz. Freiburger Disser-
on 1930.
" Wilhelm de Wette (1780—1843), protestantischer Theologe, war wegen seiner Partei-
nahme in der Sand-Angelegenheit seines Amtes verlustig gegangen. Später Professor in Basel.
** Friedr. Aug. Wolf (1759—1824), bedeutender Philologe. Besuchte 1820 die Schweiz.
Histor. Vierteljahrschrift. Ed. 28, H. 3. 37
578 E. Reinhard
4.
Bern, 17. Febr. 1821
Ihr Brief, theuerster verehrungswürdigster Freund, vom 5t Dezember ist mir
seiner Zeit durch meinen Vetter Herrn Schultheß richtig aus Zürich zugeschikt
worden, und nur die kurzen Tage, geschwächte Augen, tägliche Sinn und Körper
abmattende große Raths-Sitzungen, Privatzeschäfte die sich am Ende jedes Jahres
und beym Anfang eines neuen anhäufen, Vogts-Rechnungen etc. etc. waren daran
schuld dab ich ihn nicht früher beantworten konnte, ungeachtet er zu diesem Zwek
beständig, nebst vielen anderen, auf meinem Pulte lag. Vorgestern habe ich nun
auch Ihr sehr intereßantes Schreiben vom 6ten Februar erhalten und ich eile Ihnen
für beyde meinen Dank und meine Freude zu bezeugen.
Ihre Ansicht und Prophezeyung daB die Berufung des K. v. Neapel nach Lay-
bach nichts gutes hervorbringen werde, war wohl ganz richtig gefaBt; bereits hatten
ihn auch die Carbonari in Zeitungen und anderswo nur ihren Advokaten oder Bevoll-
mächtigten genannt. Allein die Erbarmung Gottes leitet oft die Dinge zum Besten,
wenn schon die Menschen sie übel anfangen. So tróste ich mich auch mit dem alten
Spruch: l'homme propose, Dieu dispose. Seine Gnade zeigt sich besonders da, wo
er auch nur den guten Willen sieht. Man wollte Ende 1813 u. anfangs 1814 auch
nicht alles was späterhin doch geschah. Sobald man nur einmal auf dem guten
Wege ist, so wird man von selbst, ohne daran zu denken, immer weiter geführt. Es
geht hier im Guten wie im Bösen. Das ist mein Trost und mein unerschütterlicher
Glauben. Allein Männer die schnell und weit sehen, sind oft nur zu ungeduldig.
Fürst Metternich klagte schon Ende 1813 zu Frankfurt über diejenigen qui vouloient
toujours commencer par la fin. Ich hoffe, daß er auch diese neuen Historien, die ich
als die lezten Zeitungen des Jakobinismus betrachte, zu gutem Ausgang bringen
werde; er hat einen harten Stand auf zahlreichen CongreBen, so viele Köpfe unter
einen Hut zu bringen, und über dem vielen Deliberiren das Handeln nicht zu verab-
säumen, wenn es ihm aber gelingt, so wird auch sein Name unsterblich sevn.
Der Kónig v. Neapel sollte nicht nur zu den BeschlüBen der verbündeten Mon-
archen einwilligen, sondern nach meiner Ansicht wäre eine fórmliche w ohlmotivirte
Retractation oder Desavouirung des gemachten Versprechens u. leid igen Consti-
tutions Eides unentbehrlich. Diese Retractation wäre leicht zu machen, kann aber
nicht auf Gewalt (als welche Schuld nicht vorhanden war, theils nicht ganz ent-
schuldiget) sondern muB darauf begründet werden, daß solche Constitution höheren
Pflichten, früheren Versprechen und fremden Rechten zuwider sey, auch wie sich
seither gezeigt habe, von allen rechtschaffenen Menschen des ganzen Volkes mit
Unwillen aufgenommen worden und die Carbonari nur seinen Namen usurpirt
haben etc. Übrigens wären die seiner Zeit angerathenen weiteren Maßregeln nicht
zu vergeDen, sonst nüzt der ganze Kreuzzug nichts. Wie gern wollte ich in dieser
Hinsicht bey dem Frevh. v. Fiquelmont seyn!
In der gestern erhaltenen 45t Livraison des Défenseur sah ich mit Vergnügen,
daB endlich Ihr Aufsatz eingerükt worden ist. Mir scheint nicht, daB etwas aus-
gelaßen sey und vielleicht kömmt er just noch zur rechten Zeit.
Graf Johann war lezthin in Mayland, von wo er mir am 3t Febr. schrieb.
AE u ihn alle Tage u. behalte auch noch einen für ihn aus England erhaltenen
rief.
Aus den Noten der Östreich. u. Preußischen Minister gegen die Deutschthümler
und Turner in Chur?! und anderswo, ist nichts geworden, es war nur ein Hieb ins
Waßer. Vorerst hat der Vorort Luzern oder vielmehr Mousson?! u. dann die Bünd-
nerische Regierung eine evasive, theils heuchlerische theils arrogante Antwort ge
geben, womit sich die Herren Minister begnügten. Tscharner? kam über Luzern
nach Bern, wo er nur die beyden Schultheißen und die fremden Gesandten sah.
]t um zu erforschen, ob unter lezteren sich nicht ein Bruder und Freund finde,
2t um zu spioniren woher die den Liberalen so mißfälligen Artikel in der Hamburger
und Bayreuther Zeitung gekommen seyen. Nach seiner Rükkehr hat er zur Beruhi-
si Der „Demagogenklub“ zu Chur bestand aus Snell, Follen, Röder, de Prati u. a.
*"* Markus Mousson (1736—1861), Politiker.
** Wohl Karl Friedrich von Tscharner (1772—1842).
e
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 579
gung der Brüder eine Art von Rapport druken laßen, aus welcher die Aarauer
Zeitung eine merkwürdige Stelle herausgehoben hat, die da feierlich deutlich be-
weist, daß zwischen den bedeutendsten Regierungshäuptern der Schweiz (B. nicht
ausgenommen) ein Bund zu Beschüzung der Liberalen u. des liberalen Systems,
selbst gegen das Ausland geschloBen worden sey!! Eine Radical Cur würe nirgends
nöthiger als in der Schweiz, nirgends geht es gut als in Freyburg, nirgends so schlecht
als in B. u. das vorzüglich bey dem verbohrten Geist unserer beyden Häupter.
Laharpe gab unlängst ein Mittagsmal zu Lausanne, wobey auch ein vornehmer
Liefländer speiste. Dieser brachte mehrere mal die Gesundheit des Kayser Alexander
aus. Laharpe schien nichts (?) darauf zu hóren. Als man ihn endlich daran erinnerte,
sagte er unverholen: nein, er tránke nicht mehr auf die Gesundheit des Kayser A.
Denn derselbe führe sich nicht gut auf, u. wenn es ihm seine Verhältniße jezt zu-
lieBen, so würde er Laharpe sich nach Laybach begeben, um mit ihm ein paar Worte
zu sprechen. Wollte Gott daß Alex. sich von der Vormundschaft dieses neuen Ari-
stoteles losgemacht hätte u. nicht mehr eine jakobinische Schlange mit Orden u.
Pensionen überhäufte.
Mein Buchhändler schreibt mir daß der 4te Band der Restauration u. auch die
2te Auflage in Wien verboten oder mit argem schaden (?) erlaubt sey, welches dem
Absatz sehr schade. Kónnten Sie nun nicht vernehmen woher dieses Verbot ge-
kommen! auf was es begründet worden und ob es streng gehandhabt werde.
Die bewußte Sache?“ pressirt ganz u. gar nicht, man kann in der That bis nach
der Rükkunft des Kaysers v. Laybach warten, indessen empfehle ich Sie ihrem
Gedächtniß, nicht blos als eine Ermunterung für mich sondern als eine Art von Stär-
kung gegen die hiesigen hohen u. niederen Antagonisten der Gerechtigkeit und
Legitimität.
Der Bogen ist überschritten, die Post verreiset u. läßt mir nur noch Zeit Sie
meiner unwandelbaren Dankbarkeit u. Ergebenheit zu versichern.
P.S. Ich werde die erste Gelegenheit benuzen um Ihnen ein Exemplar der 2ten
Auflage der Restauration zu schicken und auch eines für den Fürsten v. Metternich
beylegen. Der Abdruk des 3ten Bandes ist noch nicht vollendet.
6.
Paris 8. July 1823.
rue du regard No 1.
Ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit des nach Wien abreisenden Herrn
Grafen von Senfít Pilsach*5 um demselben einen Brief an Sie mein verehrtester
Herr und Freund mitzugeben. Unsere Correspondenz ist leider schon zu lang unter-
brochen und ich hoffe daß meine Verlaßung des Protestantismus die nach und nach
aus consequentem Haß gegen die revolutionären Principien hervorging und dem
Sie wahrscheinlich auch nicht von ganzer Seele anhängen, mir ihre Achtung und
Freundschaft nicht werde entzogen haben. Wenigstens lassen mich die Gesinnungen
Ihres trefflichen, jezt in Spanien befindlichen Sohnes den ich hier oft gesehen habe
nicht daran zweifeln.
Von den Besorgnißen und Hofnungen die Sie mir in Ihrem lezten Brief vom
28t März 1821 äußerten, hat sich in diesen zwey Jahren fast alles erwahret. Wir
haben zwar manche Fortschritte gemacht, aber es bleibt noch viel zu thun übrig.
Mich freut daß Sie die griechische Rebellion eben so wie ich betrachten, nemlich
als eine Frucht des Jakobinismus und nicht des Christianismus, sonst würden
nicht alle Liberalen so warmen Antheil daran genommen haben. In Piemont hat die
gute Partey vollkommen gesiegt. Das jezige Franzósische Ministerium ist zwar
beBer als das vorige, aber noch lange nicht so gut als es sevn sollte und schleppt
sich theils in dem Moderantism, theils in den revolutionären Administrations Formen
fort. Die Spanischen Rebellen werden zu paaren getrieben, die Portugiesische Re-
volution zerplazt wie eine Seifenblase u. mit der neuen Königlichen Constitution
* sc. Verleihung des österreichischen Freiherrentitels.
^ Friedrich Ludwig Graf von Senfit-Pilsach (1774—1853). Konvertierte im Jahre 1819.
Einer der vertrautesten Freunde Hallers, mit dem er einen eifrigen Briefwechsel unterhielt.
Diplomat in österreichischen Diensten.
37°
580 E. Reinhard
wird es wohl noch einigen Anstand haben. In Spanien befürchtet man nur union
et oubli des Herzog von Angouleme*, doch Rom ist auch nicht in einem Tag ge-
baut worden; Alexander hat sich gebeBert, der K. von Preußen marschirt auf guten
Wegen, obschon viele seiner Gesandten nichts taugen und wir kónnen also noch
manches beDere hoffen. Der Jakobinismus thront besonders in Würtemberg, Baden
und der Schweiz. Von lezterem Land, wo die ci devant Aristokraten selbst Jako-
biner geworden und daher schlechter als vordem sind, werden Sie vermuthlich
durch Thren Vetter Graf Johann alle nóthigen Nachrichten erhalten haben. Er hat
mir desgleichen sehr intereßante mitgetheilt, die ich an Mann zu bringen wüßte u.
man versicherte mir, daB sie an allen Hófen bekannt seyen.
Was mich betrifft. so scheint die Vorsehung zu wollen daB ich selbst wider
meinen Wunsch, immer und ewig auf dem litterarischen Kampf Platz bleibe. Wih-
rend so viele andre, für mittelmäßige Gelegenheits Broschüren mit Orden und Titeln,
Ringen, Dosen oder einträglichen Ehren Ämtern überhäuft werden, erhalte ich hin-
gegen, der das Ungeheuer bey der Wurzel angegriffen nicht das geringste Zeichen
ürstlicher Zufriedenheit. Weit entfernt mich darüber zu beklagen, erkenne ich
darinn eine höhere Fügung um vielleicht desto mehr zu nüzen. Daher arbeite ich
hier an der Französischen Übersezung der Restauration, an der Vollendung des
deutschen Originals und zugleich bisweilen an dem Drapeau blanc, zu welchem man
mich eingeladen und beynahe genöthigt hat. Dieser Drapeau blanc, an welchem
La Mennais”, Saint-Victor, O. Mahony!$, Jouffroy? und ich die vorzüglichsten
Mitarbeiter sind, ist das einzige ächt royalistische Journal, welches ohne furchtsame
ConceDion ohne feile Hingebung die wahren monarchischen Grundsäze rein ver-
theidiget und daher theils mit den Jakobinern theils mit dem Ministern selbst viel
zu kämpfen hat. Es soll nach unserer Absicht das allgemein antijakobinische Jour-
nal, das Organ der guten Partey in ganz Europa werden, bestimmt ihre Fortschritte
zu befórdern u. bekannt zu machen, ohne Gefahr zu zeigen, die Rechtschaiienen
hervorzuziehen, zu ermuntern, die Jakobiner aber, welches Kleid sie auch tragen
mógen, zu entlarven, zu bezeichnen und dadurch in Schreken zu sezen. Nun
aber mangelt uns ein geprüfter Correspondent in Wien, der um desto nöthiger ist,
da die Östreichischen Zeitungen beynahe gar nichts intereBantes melden. Sie würden
daher, theuerster Freund, mir und der guten Sache einen auBerordentlichen Dienst
leisten, wenn Sie die Gefálligkeit haben wollten mir etwa alle 14. Tag, oder mehr,
wenn etwas außerordentliches begegnet, einige Nachricht mitzutheilen, versteht sich
von solcher Natur, daß sie zwar wohl gesagt werden könne aber dennoch nicht in
den gewóhnlichen Zeitungen stehen. Sie würden dagegen das Drapeau blanc um-
sonst, so wie die Vergütung Ihrer Porto Auslagen erhalten und wenn Sie es wünsch-
ten so kónnten dabey auch noch andere Vortheile für sie herauskommen. Am besten
würe es wenn Sie die Artikel gleich Franzósisch schrieben und die Briefe entweder
directe an mich (Mr d'Haller rue du regard No 1) oder sous enveloppe an meinen
Banquier Mr. Louis Guebhard rue Michodiére (?) No 8 oder an die Marquise de
Mollans rue de Sevres No 19 (welche Dame Sie bey Doblhof in Wien gesehen haben)
adressirten. Ich bitte instándig um diesen Dienst der sehr wichtig werden kann.
Während die Leipziger Buchhändler sich zusammen verschworen haben meine
Restauration der Staatswißenschaft nicht mehr zu verkaufen u. daher der vormals
starke Absaz im nórdlichen Deutschland stokt, verbietet man dieses Werk in Wien!
Ohne Zweifel sind die Josephinischen Censoren daran schuld u. werden zum Vor-
wand genommen haben, was etwa beyläufig, obschon mit vieler Schonung gegen
die Conscription und die willkührlichen Auflagen, als Früchte des revolutio-
2% Herzog von Angoulême (1775—1844), ältester Sohn des Königs Karl X. Führte die
franzósischen Truppen nach Spanien.
" Felicité de Lammenais (1782—1854),1816 Priester, berühmter Vorkämpfer der katholischen
Kirche in Frankreich. In Hallers Pariser Zeit Berater des „ Restaurators“, den er auch zur Ab-
fassung seiner Konversionsschrift bestimmte. Briefe von de Lammenais an Haller in meinen
„Präludien zu einer Biographie K. L. von Hallers“ (Historisches Jahrbuch, Bd. 35, 3). Später
trat Haller dem Abtrünnigen scharf entgegen.
1 Graf d'Mahony, naher Freund Hallers, der ihn in Versailles oft besuchte. Später Heraus
geber des Invariable.
2 Achilie Marquis de Jouffroy (1790—1842 f). betätigte sich als Parteigänger der Restau-
ration, außerdem Veríasser von Werken über Mechanik.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 581
nären Systems gesagt worden ist. Graf Senfft will versuchen, ob nicht durch den
Einfluß des Fürsten von Metternich dieses Verbott gehoben oder gemildert werden
könnte, und ich bitte Sie sehr ihm darinn behülflich zu seyn, mich selbst aber der
verwittweten Fürstin v. Metternich zu FüBen zu legen. Der gewóhnliche Correspon-
dent meines Buchhändlers ist Schauenburg. Dort können Sie alles nähere erfahren,
was es mit dem Verbott der Restauration für eine Bewandniß hat.
Leben Sie wohl, theuerster Freund, und nehmen Sie zum Schluße noch die Ver-
sicherung meiner unbegränzten und unwandelbaren Hochachtung an.
von Haller.
6.
Paris, 29. Sept. 1823.
Ihr intereßantes Schreiben vom 13t Aug., das ich seiner Zeit durch Frau v.
Mollans richtig erhalten, hat mir u. den Eigenthümern der D. b. unendliche Freude
gemacht. Aus einigen Stellen die ich dem Abbé de la Mennais las, erkannte derselbe
gleich, daß Sie würdig seyen in hoc doctum corpus aufgenommen zu werden. Diese
meine Antwort wird Ihnen nebst einem Exemplar der Restauration durch einen
Östreichischen Courier mithin sicher und franco zukommen. Ich hoffe daß es Sie
nicht gereuen wird in jenem Werk etwa täglich ein Capitel zu lesen und daß Sie
dabey bisweilen mit Freundschaft an den Verfasser denken werden. Das Drapeau
blanc werden Sie wahrscheinlich erhalten; da es nicht möglich war, die Francatur
bis Wien zu besorgen; daher belieben Sie nur Noten über die Porto Auslagen zu er-
halten, für deren Ersezung ich gut stehe. Ich arbeite zwar gewiBer Umstünde wegen
nicht mehr an diesem Journal, kann aber gleichwohl Ihre Artikel dort einrüken
laBen. Was Sie uns zu melden haben, wollen wir Ihnen wahrlich nicht vorschreiben.
Es versteht sich von selbst, daB wir Ihnen nicht zumuthen gewöhnliche Neuigkeiten
zu berichten die man in den Wiener Zeitungen auch findet. Das ist aber der Geist
der Sache, das D. b. soll das antirevolutionäre Blatt für ganz Europa, die Allgemeine
Zeitung en son contraire seyn. Wir müßen die Welt jezt als ein Kriegs Theater be-
trachten, wo zwey große Parteyen die Illuminaten od. Jakobiner auf der einen
und die Christen und rechtschaffene Menschen auf der anderen Seite gegen einander
kämpfen. In diesem Kampf erhält die Sache der lezteren bisweilen Vortheile, er-
leidet hinwieder bisweilen einige Nachtheile und die Thatsachen sind blos aus diesem
Gesichtspunkt zu betrachten. Alles also was zum Besten der Religion und Kirche,
der Kónige und Fürsten, des Adels, der Corporationen u.s.w. geschieht oder was gegen
dieselben von den Jakobinern u. geheimen Gesellschaften gegen sie getrieben u,
machinirt wird, gehórt in unser Blatt. Auch merkwürdige Schriften für und wider
sind wenigstens dem Titel nach anzuzeigen und endlich selbst die Personen nicht
zu vergeBen; denn gleichwie die Jakobiner so manchen rechtschaffenen Mann er-
schrekt oder um seinen Credit gebracht haben: so müßen wir hingegen die gut-
gesinnten bekannt machen und rühmen, die schlechten aber entlarven und signali-
Siren, um sie entweder zu befern oder ihnen das blinde Zutrauen zu entreißen.
Doch nach Umständen alles mit Behutsamkeit.
Was Sie von Ganning®, der constitutionellen Coalition, der Lauigkeit gegen
die Spanischen Revolutionárs, dem heillosen Moderantism u.s.w. sagen unterschreibe
ich alles mit vollem Bevfall. Das ist auch noch die Folge des Kampfes der Doctrinen,
die sich um die Herrschaft der Welt theilen. Was soll man denken, wenn der Herzog
von Angouléme selbst von den schlechten angestekt ist, weil man ihm weis ge-
macht hat, er würde keines Ansehens genießen wenn er seiner Frau Einfluß auf sich
selbst gestatte. Doch muB man auch nicht zu ungeduldig seyn; Rom ist nicht in
einem Tag gebaut worden. Der Gerechten giebt es hier auch noch viele u. zulezt
on die Sachen doch wie sie gehen sollen. Bereits hat das Decret d'Andejar, den
reybrief aller Schurken zurüknehmen müssen u. die Jakobiner werden so viele
Tollheiten machen, daß man sie nicht schonen kann auch wenn man wollte.
Den Rath des Herrn Fürsten v. Metternich habe ich dem Redacteur des D. b.
mit so viel mehr Freude mitgetheilt, als er meiner eigenen Meynung desto mehr
** George Canning (1770—1827), berühmter englischer Staatsmann. Seit 1829 Minister
des Äußeren; bewirkte Englands Loslösung von der Hl. Allianz,
582 E. Reinhard
Gewicht gab. Der verwittweten Frau Fürstin von Metternich bitte ich mich zu Füßen
zu legen und Ihr für Ihre gütige Erinnerung an meinen Namen ehrfurchtsvoll zu
danken. Die Vorsehung scheint nicht zu wollen, daß ich zu einiger äußeren Ehre
u. Ansehen gelange, oder Belohnungen erhalte, die von anderen wahrlich mit ge-
ringerer Mühe verdient werden. Ich sehe darinn einen Wink mich einzig allein der
Vollendung meines Hauptwerkes zu widmen, welches vielleicht gerade deswegen
desto mehr wirken wird. Wenn es übrigens nur meinen Kindern gut geht, so wünsche
ich für mich selbst nichts mehr.
Ich werde die Aufschrift meiner Briefe an Sie immer durch eine andere Hand
schreiben laben. Für die Ihrigen können Sie allenfalls mit folgenden Adressen ab-
wechseln:
à Mr Louis Guebhard rue Michodiére No 8 (sous enveloppe),
à Mr Joseph Bourrier, rue du regard No 1 (mein Bedienter).
Die leztere braucht kein enveloppe und die Briefe kommen mir schneller zu.
Fr. v. Mollans hingegen scheint es nicht gerne zu sehen, daB Ihr (!) Briefe advenirt
werden.
Leben Sie wohl verehrungswürdiger Freund und erfreuen Sie bald mit Ihren
Nachrichten denjenigen der Ihnen mit unwandelbarer Hochachtung zugethan ist.
H.
7.
Paris, den 25t Nov. 1823.
Ich hatte seiner Zeit, verehrungswürdigster Herr u. Freund auf Ihr Schreiben
vom 13t Aug. welches mir die Frau Marquise de Mollans richtig übergab, zu ant-
worten gewartet bis sich eine Gelegenheit fand Ihnen zugleich ein Exemplar der Re-
stauration der Staatswissenschaft 2te Ausgabe — portofrey zukommen zu lassen.
Dieses ist durch den lezten Courier, welchen die Östreichische Gesandschaft ab-
fertigte, geschehen und es scheint daß derselbe sich mit Ihrem neuerlichen Schreiben
vom öt Nov. gekreuzt habe. Ich bedaure indeßen sehr daß dieser Verschub mich
und das Publikum von Ihren intereDanten Mittheilungen beraubt hat. Vielleicht
daß einige ältere, gehörig arrangirt, gleichfalls noch intereBant wären.
Graf Senfit und die Gräfin laBen sich Ihnen sehr empfehlen und haben mir
ebenfalls ihr Bedauern geäußert Sie weder in Grünberg noch in Wien getroffen zu
haben.
Es scheint allerdings gewiß, daß die zwey Bataillons Schweizer Garden einst-
weilen noch in Madrid bleiben. Ich werde also lange noch des Vergnügens entbehren
Ihren Herrn Sohn hier in Paris zu sehen.
Das hiesige Ministerium hat mit Auflösung der Kammern ein gewagtes Spiel
angefangen. Diese, zwar noch nicht publizierte Maßregel wird hier und in den Pro-
vinzen allgemein mißbilligt. Wenn 450 Stellen auf einmal besezt werden, so ist es
beynahe nicht anders möglıch, als daß die Liberalen wenigstens einen guten Drittheil
erhaschen werden.
Der König ist in mißlichen Gesundheits Umständen“. Viele befürchten, daß
unter seinem Nachfolger, von dem man sonst viel Gutes hoft, der Herzog von An-
gouléme einen nachtheiligen Einfluß ausüben werde.
Um auch etwas von unserer elenden Schweiz zu reden, so melden mir alle
Berichte, selbst die meiner eigenen Brüder, daß die Stupidität und der damit ver-
bundene Hochmuth des Schultheißen v. Wattenwyl® über alle Begriffe gehe u.
täglich ärger werde. Stellen Sie sich vor, daß er den neuen Französischen Gesandten“
einen sehr verständigen u. gutgesinnten Mann nicht einmal sehen will, kein Wort
zu ihm spricht, hingegen aber vor dem Esel Meuron** und vor dem nur durch sein
scandalóses Leben bekannten Krüdener®, niederträchtig kriecht, weil sie den Libe-
31! König Ludwig XVIII. von Frankreich starb am 16. September 1824.
33 Nikolaus Rudolf von Wattenwyl (1779—1832), von Haller auch früher bitter befehdet.
* Marquis de Moutier (1779—1830) wurde am 18. Juli 1823 französischer Gesandter in
der Schweiz, blieb bis 26. September 1825. Später im Ministerium; Hallers besonderer Gönner.
3 Wohl Charles Gustave de Meuron (1779—1838), der in der Eidgenossenschaft als pren-
Bischer Gesandter fungierte.
3 Baron Paul von Krüdener, Sohn der bekannten Freundin des Kaisers Alexander von
Rußland. Von 1815—1827 Vertreter Rußlands in Bern.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 583
ralen mehr günstig sind. Dieser Schultheiß der einhergeht wie ein Pfau und sich
einbildet der größte Potentat von Europa zu seyn ist ganz in den Händen der
Jakobiner u. allein an allen Dummheiten schuld die seit 1813 zu Bern ge-
schehen sind.
Leben Sie wohl verehrungswürdigster Freund und seyen Sie stets meiner aus-
gezeichneten Hochachtung und unwandelbaren Ergebenheit versichert.
v. H.
P.S. Ich habe diesen Brief nachdem er schon versiegelt war, wieder erófnet,
bloß um Ihnen zu melden, daß wenn Sie das Paket mit den 4 Bänden Restauration
noch nicht erhalten haben sollten, Sie nur in der Staats Canzley nachzufragen brau-
chen, wo es zuverläßig angelangt seyn wird.
8.
Paris 29 Febr. 1824.
Ich habe, verehrtester Freund sogleich nach Empfang Ihres Briefs vom 13t Jan.
den Baron Karcher Gesandten von Heßen u. Toskana ersucht bey der Östreichischen
Gesandschaft wegen dem Paket mit dem Exemplar der Restauration nachzufragen.
Er erinnerte sich dieses Pakets sehr wohl u. konnte nicht begreifen daß es nicht ab-
eq sey. Es war in gelbes Papyr eingepakt womit man gewóhnlich die Wachs-
ichter einzuwikeln pflegt.
In Spanien geht es nicht gut weil man die Revolution nur beym Schweif und
nicht beym Kopf angegriffen hat.
Mit der clémence gegen Gonfalieri, Andriane etc. werden Sie wahrscheinlich
so wenig als ich zufrieden seyn.
Hier erlebt man den Skandal den Benjamin Constant®® erwählt zu sehen, ver-
muthlich als Deputirter aller Frey Maurer Logen. Wie kann es aber anders seyn,
wenn man in einer so ungeheuren Stadt wie Paris alle Krämer die 300 Fr. Patent-
steur bezahlen, zu Elektoren macht. Wo sind auch mehr Acquiseurs als in Paris
von den geraubten Häusern?
Von der Schweiz melde ich Ihnen nichts; Ihr Vetter Graf Johann wird Ihnen
davon genug sagen. Die stupide Verstokung des Schultheißen v. Wattenwyl wird alle
Tage größer.
Ich hoffe Sie werden nun beßere Nachrichten von Ihrem Sohn erhalten haben.
Wüßte ich wo nachzufragen, so wollte ich es recht gern thun!
Mich um fernere Briefe von Ihnen empfehlend, verbleibe ich von ganzer Seele
der Ihrige.
H.
9.
Paris 5 Apr. 1824.
Ich benuze verehrtester Freund einen heute nach Wien abreisenden Courier
um Ihnen in Eile zu melden, daß das für Sie bestimmte Paket mit einem Exemplar
der Restauration d. St. durch ein Versehen bey der hiesigen óstreichischen Ge-
sandschaft verblieben war, daB es aber nun auf gehaltene Nachfrage seit geraumer
Zeit bestimmt abgegangen ist, so daß Sie es wohl erhalten haben werden oder in
der Staats Canzley abholen lassen kónnen.
Der Schulth(ei)8 v. Wattenwyl hat durch die Bernersche Annahme der Neapo-
litanischen Capitulation?” eine Ohrfeige bekommen. Sein Credit ist erschüttert u.
fr geinnte selbst wollen dieses Dekret als eine halbe Contrerevolution verstehen.
ch aber erwarte nicht viel davon, die Maße unserer Patricier ist zu verdorben, keiner
Anstrengung, keiner Consequenz fähig u. bier wirkten nur Privat Intereße nebst
dem Einfluß zwey großer Mächte.
* Benjamin Constant de Rebecque (1767—1830), berühmter Publizist; einer der heftigsten
Gegner der Restauration. 1830 Präsident des Staatarats.
d Vielmehr wurde im Jahre 1824 zunächst ein Militärabkommen zwischen König Fer-
dinan
I. von Neapel und den Kantonen Luzern, Uri, Unterwalden und Appenzell geschlossen,
Bern folgte einige Zeit später.
584 E. Reinhard
Hier in Paris sieht man dermal alles Rosenfarb seit dem Sturz des Frances. cer
Zins Reduction die zwar vielen und auch mir nicht behagt, vorzüglich aber wegen
der Entschädigung der Emigrirten. Ich hoffe daB dieses leztere Bevspiel auch aaf
Östreich wirken und nicht ohne günstigen Einfluß auf die Angelegenheit der schon
so lang dauernden veltlinischen Conflikte seyn werde.
Wenn Ihr Vetter Graf Johann noch in Wien ist so bitte ich Sie mich demselben
ganz besonders zu empfehlen. Übrigens hoffe ich selbst von ihm oder anderen direkte.
mir immer höchst angenehme Nachrichten zu erhalten und verbleibe inzwischen
unwandelbar
Ihr treu ergebenster
v. Haller.
10.
Paris 25 Apr. 1824.
(restern, verehrtester Freund, erhielt ich Ihren Brief vom 14t u. heute kann ich
denselben schon durch sichere Gelegenheit beantworten. Was Sie mir über die Re-
stauration sagen ist mir um so viel schmeichelhafter als es von Ihnen kommt und
mir beweist, daß ich die Wahrheit getroffen haben muß; denn die wahre WiBenschaft
ist doch nichts anderes als der deutliche und geordnete Vortrag deBen was schon
dunkel oder wie Sie sich ausdrücken Instinktartig in dem gesunden Verstand jedes
unbefangenen Menschen liegt. Mein einziges Verdienst besteht vielleicht in dem
tantum ordo juncturaque pollet. Ich habe das Principium errathen und dann die
'ousequenzen mit der natürlichen Logik die mir von Jugend auf angeboren war,
gezogen und geordnet. Dabey sprach die Wärme des Herzens und das ist das Rezept
des ganzen Werks. — Die Französische Übersezung des 1t Bands wird auch bald
erscheinen; eine Italienische ward in Turin gemacht, da aber zweydeutige Censoren
Vorwünde fanden das Imprimatur zu versagen, so ward sie nach Rom geschikt um
dort die Bewilligung zu erhalten. Durch die Duchesse d’Escars?® will ich versuchen
ein Exemplar an den König von Spanien® zu bringen. Übrigens habe ich weder für
dieses Werk noch für das kleinere über die Cortes nicht die geringste Belohnung
oder Aufmunterung erhalten, während z. B. Gentz* für ein paar Broschüren oder
vielmehr Übersezungen mit Pensionen, Orden und Titeln überhäuft ist. Frevlich
habe ich auch nicht meinen eigenen Nuzen gesucht u. vielleicht macht das Werk
dadurch nun desto mehr Eindruk.
Allerdings ist zu befürchten, daß die, wenn auch wißenschaftlich vernichteten
Revolutions-Prineipien sich durch eine Art von Tradition behaupten werden und
die Juristen werden stets die wieder bestehenden Chartes u. Constitutionen zu ihrer
Stüze anführen. So gieng es in England, so mit dem Protestantismus der an und für
sich ein gleich unhaltbares und bodenloses System ist. Allein eben deswegen muB
man die Sache bey der Wurzel anfaßen, in die Schulen zu dringen suchen, so werden
diese Constitutionen wohl auch über den Haufen geworfen werden.
Ich besorge daB Ihre düsteren Ansichten über die e Europas und Frank-
reichs selbst nur zu gegründet seyn dürften. Das hiesige Ministerium macht sich
durch sein zweydeutiges egoistisches Betragen täglich mehr Feinde und es erscheinen
eine Menge sehr starker Broschüren gegen daßelbe, z. B. von Juan Jermene (?),
v. Morsbury, Sarron u.s.w. Chateaubriand ist leichtfertig und eitel, liebt Weiber
und Spiel, man kann mit ihm nichts zum Ende bringen. Villele von tatenlosen Geld
Menschen umringt u. ohne große politische Ideen hat sich bereits ganz in die Gunst
des nächsten Thron Erben eingeschlichen. Den K. v. Spanien sucht man in Ab-
hängigkeit zu erhalten u. ihm Constitutionen u. emprunts der Jakobiner aufzu-
dringen. Ich habe Briefe von Infantinnen selbst gesehen die sehr unzufrieden lau-
ten. Man sucht mit großen Geld Summen alle royalistischen Journale zu töden oder
33 Mit ihr verkehrte Haller sehr freundschaftlich.
3* Am 28. Februar 1826 erhielt der „Restaurator“ dafür den spanischen Orden Karls III.
“ Friedrich von Gentz (1769—1832), s. Anm. 13.
*! Francois René Chateaubriand (1768—1848), der berühmte Dichter. Als Minister ver-
hinderte er Hallers Anstellung im Ministerium des Auswärtigen.
a Jean Baptiste Villèle (1773—1554) war bis Januar 1828 Ministerpräsident. Er war
Hallers Gónner.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 585
sich derselben zu bemeistern, auf daß sie nur nichts gegen das Ministerium sagen.
Die jakobinischen Blätter hingegen können gegen Gott u. den König sagen was sie
wollen. Die Schweiz ist von Grund aus verdorben; so lang man dort u. vorzüglich
in Bern die Häupter nicht ändert, so nuzen alle Noten der allirten Mächte nichts.
Stellen Sie sich vor, daß Wattenwyl u. Mülinen, die sich allein die Schweiz nennen,
unterstüzt von einem liberalen Französischen Gesandschafts-Sekretär, Namens
Bourquenel, noch jezt hier in Paris alle möglichen Verläumdungen gegen den wakeren
Marquis de Moustiers ausstreuen laDen, weil er der jakobinischen Partey ein Dorn
in den Augen ist, um seine Zurükberufung zu veranlaßen und hätte er nicht S. K. H.
Monsieur u. selbst Mr de Villéle für sich: so würde vielleicht Chateaubriand der
Sollicitationen der Mme de Broglio, des zweydeutigen Alexis de Noailles u. a. des
gleichen Gelichters nachgeben. — Aus Deutschland meldet mir Pfeilschifter“ daß
sein Staatsmann nur noch 200 Abonnenten zähle, daß er in Preußen gar nicht
einmal angekündigt werden und daß die große Begünstigung des Wiener Cabinets
in der Abnahme von 12 Exemplaren bestehe. Das sind böse Zeichen.
Ihre Notiz über den General de Mont (?) verstehe ich nicht recht. Auf der einen
Seite beißt es daB er der Bastard eines Freyherren du Mont sey u. auf der anderen
daB sein Vater ein gemeiner Landmann gewesen. Lezterer wird also wohl der No-
minal Vater seyn.
Empfehlen Sie mich verehrungswürdiger Freund, dem Grafen Johann. Wir
wollen immer thun was von uns abhängt und das Beßere hoffen.
H.
10a.
An Haller. Wien, den 23 Juny 1824.
Es gestaltet sich im westlichen Europa eine unnatürliche Coalition gegen die
heilige Allianz, welche den Triumph der Revolution herbeyführen, oder deren Be-
siegung wenigstens erschwehren und unendlich verzögern wird. Zwey Mächte durch
Lage, Intereßen und Sitten, geographisch, politisch, und moralisch, grell getrennt,
scheinen sich jetzt enge an einander zu schließen, um das revolutionäre Prinzip,
welches sie regiert, durch deBen Ausbreitung in auswärtigen Staaten festzuhalten;
die eine, nicht des Princips, sondern ihres egoistischen Insular Systems wegen,
die andere, aus dem revolutionären Grundsatz der Gleichheit, der die revolutio-
nären Machthaber auf die hohe Stuffe brachte, die sie ohne daßelbe nie erklommen
hätten. Erstere hoft, durch die Fortdauer der Empörungen, Bürgerkriege und con-
vulsionen eine Art von organisirter Anarchie in den Ländern entstehen zu sehen,
deren Handel sie sich dadurch ausschlüßig zu bemächtigen wünscht. Letztere,
eigenen National Handel und Industrie vergeßend, will blos, auswärts wo sie kann,
die politische VerfaBungsformen die sie besitzt, aufdringen, um Alliierte zu gewinnen,
wenn einmal die Sonne der Wahrheit die kimmerische FinsterniB durchbrechen sollte.
Daß England sich der Rebellen in America annimmt, für Spaniens Restauration
weniger als nichts thun wollte; allen Empórern Schutz und Hülfe gewährt; Portugal
den Liberalen Preis giebt, um es wieder zu einer baskischen Provinz zu erniedrigen,
und Brasilien nun unter constitutionellen Bedingnißen jenem zu nähern suchen wird,
um den Handel allein sich zuzueignen; daB England die Algierer schrekt, sie aber
nicht vertilgt; die Griechen ohngeachtet ihres Liberalism, ihrem Schicksal über-
läßt; die christlichen Irrländer als Heloten, die heidnischen Neger aber als zärtlich
eliebte Brüder behandelt ... alles dieses begreift sich, da die Regierung dieses
ndes alle Federn in Bewegung setzen muß, um Mittel ausfindig zu machen, die
Ausgaben, welche aus der ungeheuren Schuldenlast, aus der Erhaltung der unermeb-
lichen zerstreuten territorial Besitzungen, und aus der Nothwendigkeit, sich gegen
die wüthenden Angriffe der ja mehr und mehr anwachsenden methodistisch radicalen
faction zu vertheidigen, entspringen, zu bestreiten.
Daß aber eine geistreiche, durch die Schule der schrecklichsten Erfahrung ge-
witzigt seyn sollende Nation, sich abermals so blenden laßen könne, zum Werkzeug
Johann Baptist von Pfeilschifter (1793—1874), Herausgeber des ‚„Staatsmannes‘, der
die Metternichsche Politik mutvoll verteidigte. Vgl. Ewald Reinhard: J. B. von Pfeilschifter
Hist.-pol. Blätter. Jahrg. 1921. 1 Heft.
586 E. Reinhard
der Habsucht und des Ehrgeizes einiger weniger zu dienen, welche durch d3e Adop-
tion des verächtlichen Schaukel Systems, das sie mit Erfolg bekämpft hatten, nun-
mehr nur zu sichtbar beweisen: daß es ihnen nicht um die Religion, den rechtmäöigen
Thron, die NiederreiBung des revolut. Gebäudes, die Ruhe, den Frieden von Europa
und der innere und äußere Wohlstand ihres Vaterlands, — sondern blos um die M;-
nisterial Stelle zu thun ist — wahrlich dieses ließe sich nicht begreifen, wenn manm
nicht durch die Erfahrung belehrt, überzeugt sein könnte, daB die praktische Ar-
wendung der revolut. Dogmen, besonders bey einer leichtsinnigen, eitlen und durch
30 jährige Gráuel entarteten Nation, alle Gefühle des wahren Patriotism, dem indi
viduellen Egoism, unterordnen mu B.
Ich weis, es giebt ehrenvolle Ausnahmen, und es zeigen sich beharrliche An-
strengungen, das Reich des Christenthums, der Tugend, und des Rechts, zurükzu-
führen; allein großer Gott! welcher Wiederstand wird ihnen nicht entgezengethürmt,
und von welcher Seite? Was soll aus allem diesen werden, wenn die feste Kraft,
sich nicht mit dem ernsten Willen zum Guten vereinigt, und wenn man einzig
und allein auf eine langsam zu bewirkende Zukunft rechnet, während ungezügelte
Leidenschaften die Gegenwart zum Verderben hintreiben? Hoft man auf Wunder?
Erwartet man wieder Wunder, neue Wunder? Hat man deren nicht zahlose ge-
sehen, hat man sie benutzt, sie verdient? Pfuy der Feigheit!
Durch EntschloBenheit wurde der wirklich heilige Krieg gegen die rebellischen
spanischen Cortes, trotz der Baskulanten, erzwungen; das revolutionäre Gerüst
stürtzte in sich zusammen, ohngeachtet alles angewendet wurde es aufrecht zu er-
halten. Portugal kaum der anarchischen Tiranney entschlüpft, neigt sich wieder
unter dem eigensüchtigen Einfluß Englands, zu revolutionären Grundsätzen hin,
welche unfehlbar Brasilien vom Mutterlande trennen, den Handel beyder König-
reiche in die Hände der leitenden Macht liefern und in der pyrenäischen Halbinsel,
den Keim zu neuen Empórungen und Umwälzungen, lebendig erhalten werden“.
Und dennoch sucht die nemliche Regierung, welche Ferdinanden rettete und der
Befreyung Joao's zujauchzte, beyde Monarchen unter dem liberalen Joch der
afranasado's und der Freymaurer gebeugt zu sehen; und treibt die Verblendung,
um nicht mehr zu sagen, so weit: sich den imperiosen Insinuationen einer Macht zu
unterwerfen, deren tichten und trachten dahin zielt, das bourbonische Spanien und
Portugal von ihren Colonien zu trennen, und Frankreich dahin zu beschränken, mit
diesen Nachbar-Staaten keinen anderen Verkehr zu haben, als denjenigen einer
Liberalitäts Verwandschaft.
Wie verträgt sich aber dieses Benehmen, welches die Aufdringung der revolu-
tionären VerfaBungs-Systeme dort wo sie 1815 nicht bestanden, zur Absicht hat,
mit der heiligen Allianz der großen Continental Mächte, welche die Restaurazion
des Legitimitäts-Prinzips der Thronen eroberte, festsetzte und garantierte, der Aus-
breitung der antimonarchischen Theorien Schranken setzten und das gerettete
Frankreich, deßen dringenden Wünschen gemäß, in diesem Bund aufnahmen?
Heilt solches nicht die eingegangenen Verpflichtungen mit Füßen tretten, ja selbst
denselben schnurstraks entgegen wirken ?
Freilich ist dort nichts, für die Solide Begründung der Religion, und der Sou-
verainen Autorität, so wie auch für die hermetische ZuschlieBung der revolutionären
Pandora Büchse zu erwarten: wo ein Marchangy ausgeschloßen, und ein B. Constant
zugelaBen wird; wo man Bourmont aus Spanien entfernt, weil er sich royalistisch
bewies; wo alles angewendet wird, die Anleihen der rebellischen Cortes anerkennen,
zu machen, und nichts thut, die königlichen zu begünstigen; wo der Verschärfungs-
Vorschlag der Strafen gegen die Kirchenfrevler, die empörendste Gleichgültigkeit
verrieth, und lieber zurückgenommen wurde, als ihn den Bedürfnißen der berrschen-
den Religion anzupaßen; wo Millionen ausgegeben wurden, damit statt der auf-
gelößten ächt royalistischen Kammer der Deputirten, eine neue, von ventrus be-
setzte, erwählt würde, geeignet die Septennalität (der Minister) und die Con-
version des rentes (um obige Millionen wieder einzubringen, ohne sie im Budjet
einschieben zu müßen) zu decretiren, wo, um jeden PreiB, die royalistischer Jour-
% Don Miguel (1802—1866) wurde 1824 aus Portugal verbannt.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 587
nale zum Schweigen oder zur Belobung antiroyalistischer Verfügungen gebracht
werden; wo endlich, die Geldmáklerey zur einzigen StaatswiBenschaft sich erhoben
hat, und dem zufolge, die Bórse zum Staats Kabinet, die Geldkisten der Banquiers,
zum Staats Schatz, zu den zu dirigierenden Staatsministern, die Capitalisten zu
einer unwiederstehlichen Puißance, und der ultra Liberale Lafitte zum ersten Mi-
nister des Presidenten du Conseil geworden sind, wo durch ein wahres goldenes
Zeitalter entstehen wird, welches den materiellen paßiven Feinden, trotz des wüthen-
den Krieges der Leidenschaften gegen das Recht, nothwendigerweise festbannen muß,
wenn der pactolus, gleich dem Meander, durch seinen schleichenden und schlängeln-
den Lauf nesenhaft angeschwollen, wieder zur Quelle zurückkehren soll.
Im Schreiben dieser Zeilen begriffen, ersehe ich aus den Zeitungen die Verstoßung
des VerfaBers der Monarchie (?) selon la Charte aus dem Ministerium. Aus-
genommen über die etwas brutale Art seines Collegen's, kann sich H. Chateaubriand,
rücksichtlich dieses MiBgeschicks nicht beklagen, denn es ist eine natürliche Folge
des in der so hochgepriesenen Charte festgesetzten oder vielmehr bestätigten revolut.
representativ Systems, deBen Opfer sein immediater Vorgänger auch ward! Was
mich hiebey in Erstaunen setzt, und mein Bedauern sehr vermindert, ist: daB das
Journal des Debats, deBen Grundsátze, vom Memorial catholique so bündig ent-
larvt wurden, wieder meiner Vermutbung durch seine heftige Theilnahme an das
Schicksal des gefallenen Ministers, sich als ein Blatt zeigt, welches unter seiner
Leitung und Schutz stand!?!
Das Decazische Scl auklwesen scheint sich vollkommen erneuern zu wollen. Frei-
lich erhält es gegenwärtig eine neue Auflage; der Zweck, und ich fürchte auch die
Resultate werden indeßen die nemlichen seyn, wenn man ihm nicht bei Zeiten in
die Speichen greift. Die royalistische Farbe ist zwar wie 1815 aufgezogen, sie er-
scheint aber schon sehr gestreckt, und kann leicht wie 1815 ff. in grelleren tincturen
übergehen.
Die mittel- oder unmittelbare Vereinigung der wichtigsten Portefeuilles in
einer Hand — die zu erwartende eparationen in den Dikasterien, — die schamlose
Dictatur über die Journale — eine muthmaßliche neue Pairs-fournée, — eine
wahrscheinliche Aufnahme einiger Ultraliberalen im Conseil, — der handgreiflich
gefaßte Entschluß, Spanien der Constitutions-Wuth aufzuopfern, — endlich die
Trennung vom politischen Intereße des Continents, werden die Folgen einer Ver-
blendung seyn, die eben so unbegreiflich als betäubt ist, wenn sie noch länger dauern
sollte. Wolle Gott, daß dieser Staar, durch die Erfahrung und die Erkenntniß, und
durch gelinde, nicht blutige Mittel gehoben werden könne. Verzeihen Sie mir, bester
Freund, diese lange Rapsodie, allein weßen Herz voll ist, davon geht der Mund über;
und ich muß gestehen, daß mir das ganze reppresentative Constitut.-Unwesen und
alles was daraus herflieBt, ein Greuel ist, weil es, überall wo es statt fand, seinen
en der Rebellion gegen die göttlichen und menschlichen Satzungen hatte.
Auf die Länge, muß ein jedes Represent.-System, es mag auf aristocrat. od. demo-
cratischen Institutionen beruhen, den Triumph der modernen Philosophismen herbei-
führen, der die groBe Menge, mithin die phisische Kraft schmeichelt, und alle gesell-
schaftliche Subordination tódtet. Beweis das jetzige England, wo das Ministerium,
dem wilden Gepolder der Radikalen, wieder seine eigene Überzeugung nachgeben
muB, um den völligen Umsturz, nicht so sehr, der unvergleichlich seyn sollenden
brittischen Constitution, als vielmehr der Existenz des Staates noch eine Zeitlang
aufzuhalten.
Die letale Kälte womit die vortrefliche, und wohl meinende Zeitschrift Der
Staatsmann in Deutschland aufgenommen wird, ist allerdings ein böses sehr böses
Zeichen. Vom östlichen und nördlichen europ. Continente, wird das, von allen red-
lichen Leuten so ersehnte Heil nicht ausströmen; nicht daß es an Wärme gebräche,
sondern weil man nur Wärme für das schlechte zeigt, und duldet! Nur vom Westen
her, kann noch das gute kommen, weil jenseits der Pyrenäen noch ein religioser u.
monarchischer Geist herrscht, und diefeits derselbe Wurzel zu faßen sucht. Der
Himmel segne diese Bemühungen, und zerstreue alle sich dagegen stráubenden
HinderniBe.
S.
588 E. Reinhard
11.
Paris 31t July 1824.
Verehrtester Freund!
Ihr intereDantes, wenn auch nicht erfreuliches Schreiben vom 23t Juny ist
mir etwas spät nemlich erst den 27t July zugekommen. Zweymal habe ich es mit
Aufmerksamkeit gelesen und bin nicht wenig erschrekt worden, da ich manches
darinn zu wahr finde. Doch kann ich Jhnen aus meinen Beobachtungen näheres
melden, was Ihre Ostergrüße etwas mindern oder wenigstens beweisen mag daß der
Grund des Übels nicht von der Seite kömmt welche Sie anzudeuten scheinen. 80
kann ich vorerst unmöglich glauben, daß das hiesige Ministerium sich so sehr an
England anschlieBe, es müßte denn (was gar wohl möglich wäre) der König selbst
diesem System ergeben seyn. Sonst wäre dieses Benehmen so sehr dem National
Charakter entgegen daß in diesem Punkt allein Royalisten und Jakobiner einig
sind. Was mich in meiner Vermuthung bestärkt ist, daß der Etoile ein ganz mini-
sterielles Journal, keine Gelegenheit versäumt, um gegen die falsche Englische Po-
litik zu eifern. Der Infant D. Michel wird hier mit mehr Distinktion als kein
anderer Prinz empfangen und Herr v. Villele sagte selbst er billige die Präfekten
daß sie auf deBen Durchreise ihm sogar mehr qune en redis erwiesen hätten
als sonst üblich gewesen. Wenn Hyde de Neuville“ vielleicht Fehler begangen
und den Prinzen Michel paralysirt hat: so weiß ich aus den Äußerungen des Marquis
de Moutiers selbst, daB solches hier ungern gesehen worden. — Marchangy“ ward
nur wegen einer gesezlichen Pedanterey ausgeschloßen und die schändliche Auf-
nahme des B. Constant, dieses Repräsentanten aller Europäischen Revolutionàr
ist nur dem la Bourdonnaye zuzuschreiben, der wegen seinem leidenschaftlichen
Haß gegen die Minister, mit dem cité gauche fraternisirt, durch seinen Anhang
mit 40 Stimmen den Ausschlag gab und selbst den Dudon zum Mitschweigen brachte.
Über das Renten Gesez konnte man verschiedener Meynung seyn u. zuverlässig
ist es nicht zu Dekung geheimer Ausgaben vorgeschlagen worden. Sobald man die
Rükzahlung anbot, so schien es mir wenigstens gerecht und der Monarchie offenbar
vortheilhaft, obschon ich viel dabey verlohren hätte. Die Verwerfung deßelben war
nur die Folge des Geschreys der Pariser rentiers (die alle gejubelt hätten wenn man
ihnen vor 5 Monaten gesagt hätte, daB sie statt 90 — 100 Fr. bekommen würden)
und einer Cabale der liberalen Pairs mit denen Chateaubriand wiederstand, gewesen.
Eine neue entgegengesezte fournie von 30 à 40 um die 8%, Cazische zu über-
wältigen, wäre höchst nothwendig, um so da mehr als die liberale Faktion seither
sogar den Skandal gegeben hat das Gesez über Anerkennung der bereits bestehenden
und künftig weiblichen Congregationen zu verwerfen. Was die Journale betrifít,
so kann ich ihnen auch nicht so viele Wichtigkeit beymeBen. Ich habe diese hommes
de lettres in der Nähe gesehen. Sie sind von einer unerträglichen Arroganz, schreiben
sich Jnfaillibilität zu wollen in ihrer Unwißenheit die Mentors der Regierung seyn,
Minister ein und absezen und haschen im Grund nur nach abomination ( ?). Mit solch
täglichen Angriffen kann kein Ministerium bestehen auch wenn es aus lauter Engeln
zusammengesezt wäre. Die Quotidienne besonders führt seit einiger Zeit ein leeres
Oppositionsgeschwäz, greift täglich die Minister an u. fürchtet sich dagegen vor den
unbedeutendsten fremden Jakobinern, wovon ich Beyspiele anführen könnte. Mich
wundert nur daß man so viel Geld ausgiebt um die Actien aufzukaufen, alldieweil
man anderswo mit diesen Herren nicht so viel Umstände macht. Allein das ist noch
ein Beweis der hier zu Land bestehenden übergroßen Freyheit. Daß Chateaubriand
kein Bedauern verdient, daran haben Sie ganz recht. Hat er nicht in allen seinen
Schriften das Repräsentativ System, welches den König zu einer Nulle macht,
hoch gepriesen und sich neuerlich in dem nicht allein zweydeutigen sondern durchaus
schlechten Journal des Débats vollends entlarvt. Sprach er nicht auf jeder Seite von
Chartes und Constitutionen, von libertés publiques, opinion publique, von mouve-
ment du siécle, wollte Feuer u. WaBer, den bon sons de nos péres und den aspect
** Hyde de Neuville (1776—1857) beschützte als Gesandter den bedrohten König von
Portugal. Einer der unentwegtesten Verfechter der Restaurationsideen.
** Louis Antoine Francois Marchangy (1782—1826), Schriftsteller. Wurde 1823 und 1824
trotz seiner Wahl zum Abgeordneten zurückgewiesen.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 589
du siécle mit einander vereinigen? Ein beBerer Christ und ein beBerer Rovalist zu
seyn als er, ist wahrlich keine Kunst. Die Duchesse d'Escars nannte ihn schon längst
einen Décorateur und der Abbé de Robiano*? einen parfumeur. Von Eitelkeit auf-
gebläht und nur von sich selbst redend, will er stes gerühmt seyn, besonders von
den sogenannten hommes de lettres, und selbst von den Liberalen, um deren Gunst
er gleich einer Coquette buhlte. Nach London ging er mit einer comoediantin und
lieB die Frau zu Haus, welches wahrscheinlich auch zum génie du Christianisme
gehört. In seinem Ministerio gab er sich mit den Geschäften nichts (!) ab, war in
die Me Bonay de Castellane die Frau eines Banqueroutier sterblich verliebt, hatte
2 bis 3 Maitreßen, lief stets zu der Mme Récamier, zeigte große Deferenz für die
Empfehlungen der furibonden Protestantin u. sehr liberalen Me de Broglie, der
berüchtigten Fr. v. Stael würdiger Tochter, hat für die Royalisten nichts gethan
und dagegen in allen mächtigen Gesandschaften revolutionäre Legations Sekretärs,
neuerlich sogar einen Sohn und einen Neffen des Girardin angestellt, die schändlichen
Intriguen der beyden Berner Schultheißen gegen den Marquis de Moutiers hätte
er nachgegeben und beschüzte sogar den infamen Sekretär Bourguenet, welcher
mit ihnen und allen Jakobinern zu seinem Sturze einverstanden war. Villéle sezte
ihn dagegen ab und hat den M. de Moutiers noch hóher gehoben. Übrigens ist Cha-
teaubriand noch ein Spieler u. Verschwender, u. hat in dem Ministerio 120000 Fr.
schreyender Schulden hinterlaBen. Dagegen hat H. de Villéle vielleicht nicht den
roßen politischen Blick der zu wünschen wäre, aber unendlich mehr Muth, gesunden
'erstand u. Geschäfts KenntniB. Wenigstens scheut er sich nicht überall die best-
esinnten wahrhaft religiösen u. royalistischen Männer anzustellen, als wie z.B.
den Mr de Vauchier als Chef des Douanes an Plaz des liberalen St Coivy (?), der
Herr v. Horrer*? als Legations Sekretär in Bern, ein trefflicher Mann, welchen
Chateaubriand nie wollte, obschon er von dem Thron Erben selbst empfohlen war;
was mir auch eine gute an Ea ist daB die würdigsten Mànner wie z. B.
Chifflet*, Bonald®®, Marcellus, Frayssinous9? u.s.w. am meisten Einfluß auf ihn
haben. Selbst meine Anstellung? hat bey ihm nicht den geringsten Anstand gefun-
den, wáhrend Chateaubriand sich mit den Liberalen zu compromittiren gefürchtet
hátte. Die sogenannt ministeriellen Journale, besonders das Drapeau blanc und die
Etoile sind im Grund royalistischer als die anderen, und so wie ich sie stets gewünscht
hätte, nemlich für die Religion und gegen die Jakobiner, ihre Prinzipien, ihre An-
hänger, ihre Constitutionen und geheimen Verbindungen, laBen aber die Regierung
ungeschoren, welches auch allerdings in der Ordnung ist.
Übrigens, mein bester Freund halte ich dafür daß die Persönlichkeit des Königs
und die unselige Charte der Grund alles Übels ist und die besten Absichten lähmt.
Zum erstenmal in meinem Leben bin ich auch energischer als Sie und überhaupt
daB ohne blutige Mittel das Übel nicht gehoben werden kann ja vielleicht nicht ein-
mal gehoben werden soll. Das Blut der Rechtschaffenen muB durch das Blut der
MiBetháter ausgesöhnt und die Gerechtigkeit befriediget werden. Ein Schreckens
Svstem gegen die Jakobiner ist absolut nóthig und dieses wird früher oder spáter
erfolgen u. dieses wird früh oder spät eintreten man mag wollen oder nicht. Vielleicht
giebt Spanien das erste Beyspiel dazu.
Ihr Vetter Graf Johann meldet mir, daB Sie mir einen Wechselbrief von 120 F.
Augspurger Courant oder circa 300 Fr. senden werden. Derselbe wird sehr willkom-
men seyn, da ich in diesem Augenblick eben nicht sonderlich bey Baarschaft bin
und für verschiedene Personen um mehr als 1000 Fr. in VorschuB stehe.
4 Vertrauter Freund Hallers in Paris.
** Marie Joseph Chevalier d'Horrer, zweiter Gesandtschaftssekretär, auch Geschäftsträger
Frankreichs in Bern, mit Haller innig befreundet.
Marie Büslgue Ferreol Xavier Chifflet (1766—1835), erster Präsident de la cour de
Besancon.
% Louis Gabriel Antoine Vicomte de Bonald (1754—1840), der bekannte Begründer des
Traditionalismus.
^" Louis Marie-Auguste Graf von Marcellus (1776—1841), bedeutender Politiker; seit
1823 Pair.
ss Denis Graf von Frayssinous (1765—1841), Priester, von 1824—1828 Kultusminister.
ss Nach dem Abgang Chateaubriands wurde Haller unter dem Baron de Damas Publiciste
attaché au Ministre des affaires étrangéres (Juli 1824).
590 E. Reinhard
Mich freut daß Sie das Mémorial catholique lesen und sich von dem Titel nicht
abschreken laden. Ich habe verschiedene Artikel darinn geliefert theils mit theils
ohne meine Unterschrift, unter anderen die nouvelle acception du mot protestant
auf welche wohl zu merken ist. Im Staatsmann werden Sie wohl auch gelesen haben,
wie ich die Portugiesische Constitution durchmusterte. Es ist eine Ampliation des-
jenigen was seiner Zeit im Drapeau blanc erschien.
Leben Sie wohl theuerster Freund, ich erwarte mit Ungeduld Ihre ferneren
Briefe, zu adressiren nicht an Louis sondern an Joseph Bourrier rue du regard No 1.
v. H.
12.
Paris 4. Sept. 1824.
Ich benuze die Gelegenheit eines nach Wien abgehenden Couriers um Ihnen
verehrtester Freund, den Empfang Ihrer Briefe vom 1t und 11ten August nebst dem
Wechselbrief von 300 Frs. aufs Guerin Fourin et Comp. zu avisiren. Dieser Wechsel
ward auch richtig bezahlt und die Secondo ist also vernichtet worden.
Seither habe ich von dem Grafen Johann einen Brief aus München und nachher
durch Courier einen viel früheren vom 10t July aus Wien erhalten. Er gab mir die
Adresse eines gewißen Carl Pogliese Toscano von Augspurg; ich weiß aber nicht ob
dieser Toskano auch zu Augspurg oder nur von Augspurg und zu Chur sey.
Mit vielem Vergnügen habe ich unlängst Ihren trefflichen Herren Sohn in bester
Gesundheit zu Versailles* gesehen, wo er die Güte hatte, meine Frau u. meine
Tochter so wie die bey uns auf Besuch wohnenden Frau u. Fräulein von Erlach im
Park zu begleiten, als eben die WaBer spielten. Er ist ein würdiger Sohn seines Vaters
und hat sich in Spanien noch sehr in den guten Principien gestárkt, scheint aber mit
dem Benehmen der Franz. Truppen Commandantur u.s.w. gar nicht zufrieden.
Desto beDer, es giebt dann nach ihrem Abzug, früher oder später eine Saint Barthé-
lemy von Negros.
Die Königliche Ordonnanz welche ein eigenes Ministerium für die kirchl.
Angelegenheiten errichtet, ist eine indirekte Regeneration für die Eliten wegen
den famósen u. von Ludwig) XIV selbst zurükgezogenen Quatre articles wie auch
eine Garantie für die Zukunft. Der Pästl(iche) Nuntius hat dieses mit vieler Klug-
heit durch den Grafen v. Artois und Herrn v. Villéle eingeleitet.
Leben Sie wohl für heute verehrtester Freund, ich muß abbrechen um meinen
Brief noch zu rechter Zeit an den Graf Senfít-Pilsach zu schiken.
Ihr Ergebenster
v. Haller.
12a.
Grünberg & Wien, den 16. October 1824.
Ich hatte, theuerster Freund, Ihr Schreiben vom 31. July, erst zu Anfangs Sept.
erhalten als der Fürst v. Metternich zu seiner Mutter nach Grünberg kam, wo ich
ihm solchen vorwies; er nahm ihn mit sich, da ihn derselbe ungemein intereßierte,
erstattete mir ihn aber erst nach Verlauf von 3 Wochen; diese späte Zurükgabe,
unsere Wiederübersiedlung nach der Stadt, endlich die Durchreise meiner Tochter
Bißingen samt Familie nach Presburg, und ihr Auffenthalt hierorts von einigen Tagen,
hinderte mich Ihnen früher zu schreiben. Ich weis nicht, ob ich das Recht hatte,
mir die oberwähnte Mitheilung zu erlauben, allein so viel kann ich sie (!) versichern,
daß der Innhalt Ihres Briefs, den Fürsten in seinen Ansichten rüksichtlich des
Ganges des franz. Ministerii bestärkte. Ich muß gestehen, daß ich bisher diese nicht
theilte; allein profan in den Staatsgeheimnißen, entfernt von dem Kern der poli-
tischen Umtriebe, ein unv erbeBerlicher Feind alles constit. Unwesens, trotz meines
Alters rasch ungeduldig und reizbar, durch die Vergangenheit empört, durch die
Gegenwart mißvergnügt, für die Zukunft zitternd; bin ich wahrlich zu entschuldigen,
An v. Haller, Paris.
„% Am 15. August 1824 verzeichnet Hallers Tagebuch einen Besuch in Versailles; avec
mes fils à Versailles, visites chez Mr. de Salis, Bernoulli et O’Mahony.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 591
sollte mein ultraismus mich irre geführt haben; ich laBe mich daher gerne eines
beßeren bescheiden und stimme willig in die Strophe des confiteor mea culpa ein,
wenn die franz. Minister aufrichtig und ohne Winkelzüge sich bestreben, den Im-
puls zur Vernichtung der revolut. Grundsátze, ebenso von Frankreich aus über
beyde Hemispheren ergehen zu laBen, wie dieselben von dorther zerstórend sich
in allen Richtungen ergoBen. Dieser Erwartung wird man sich bey der erfolgten
Veränderung um desto zuverläßiger überliefern dörfen, als der dirigierende Presid.
du Conseil, welcher seit einigen Monathen bereits ein beruhigerenderes System
angenommen zu haben scheint, ohne Zweifel seinen Platz behalten wird.
Sie haben mich, bester Freund nicht verstanden, oder vielmehr habe ich mich
übel ausgedrückt, als ich Ihnen den 23 Juny schrieb: „Wollte Gott, daß der Staar“,
(nemlich der Fürsten und Minister) „durch die Erfahrung und die Erkenntniß,
und durch gelinde nicht blutige Mittel gehoben werden möge.“ Die Phrase sollte,
nach meinem Sinne, einen Zweifel enthalten, ob der Erfahrung von der Unver-
beBerlichkeit der revolut. und der ErkenntniB der Pflicht der Regierungen, ge-
màB, gelinde und unblutige Mittel hinreichten, die bevorstehende Gefahr zu beschwich-
tizen, und Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. In meinen Ideen ist dieser Zweifel
längst entschieden, und ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, daß das Un-
kraut nur mit Feuer vertilgt werden könne, wenn man einen verwilderten Acker,
wieder einer reinen Saat und einer erfreulichen Erndte empfánglich machen will.
Diese unausweichliche Nothwendigkeit, zeigt sich auf das deutlichste in Spanien,
wo Proklamationen, Kapitulationen, Insinuationen, Interventionen, Vorschläge
zu Constitutionen, und endlich Amnistien, den Rebellen hinlänglich zeigen, daß
man sie fürchtete und ihnen MuBe laBen wollte, mit mehr Klugheit und Umsicht
den Zeitpunkt abzuwarten, bis die gelähmte Spannkraft einer zitternden Hand,
durch die lange paßive Anstrengung völlig entkräftet niedersinken würde. Rütteln
die in Andalusien vorgefallenen Tollháuslerstreiche, die schlaftrunkenen Kópfe nicht
auf, entsetzt man sich immer mehr vor den absolutos, der Junta apostolica, den
ultra royalisten, als vor den comuneros, dem comité directeur, und den literaux
constitutionels; beharrt man, mit Halsstarrigkeit le pardon et oubli, der justice
et sévérité vorzuziehen: so laßt uns in Caesar's Mantel uns einwickeln, die Dolche
der modernen Brutus, werden auf den nemlichen Stuffen nebst denen, welche sie ihnen
nn wollten, auch diejenigen morden, die sie ihnen in die Hände geben, oder
ießen.
In Ansehung der redaction des rentes, die vermuthlich wieder auf das Tapet
kommen wird, kann ich nicht, theuerster Freund, Ihrer Ansicht beypflichten. —
Der erste und einzige Zweck der Regierungen ist, die Beförderung des Wohlstandes,
die Vermeh des Ruhms, und die Erhaltung der Sicherheit des Staats dem sie
vorstehen; die Finanzen sind als bloßes Mittel zu betrachten, jenen zu erreichen,
und sollen daher demselben völlig untergeordnet seyn; und ich theile vollkommen die
Meinung Machiavell’s, welcher in seinen Fragmenten über solches sagt: es seye
ein großer Irrthum zu glauben, daß das Geld der nervus belli wäre: denn Millioren
seyen nicht vermógend, tapfere Soldaten zu schaffen, wührend tapfere Soldaten
Millionen eroberten. Wie im Militär, so auch im Civil und wehe dem Staat, deßen
Existenz nicht auf Rechtschaffenheit, Festigkeit und Tugend, sondern nur auf
Geld und Geldkredit gestützt ist. — Was entstünde daraus, wenn es umgekehrt
wäre, und der Zweck von den Mitteln abhinge? Wenn z. B. die Finanzen, ich will
nicht sagen, zerüttet, sondern nur verwirrt, oder in weitaussehenden combinationen
compliziert, bey einem unvorhergesehenen und unausweichlichen Krieg, die Staats-
kráfte und die Politik, paralisieren würde? — Gesetzt, man entschlöße sich, Spanien
auf eine thátige Weise zur Wiedereroberung seiner empórten Colonien zu verhelfen
(welehes allerdings zur Aufrechthaltung der Legitimitüts-Prinzipien, mithin zur
Ruhe von Europa höchst wünschenswerth wäre, und ohne welches der Kreuzzug
nach der Halbinsel unütz ausfallen dürfte) würde man sich in der Lage finden, den
allfälligen Wiederstreichen und Drohungen Englands, sich mit Würde und Ernst
entgegenzuwerfen, wenn nebst der Vermehrung der Schuld, durch die Herab-
setzung des ZinsfuBes der Staatspapiere, man sich außer Stande fände, zur Führung
des Krieges, oder auch nur um eine imponirende Stellung anzunehmen, neue An-
592 E. Reinhard
leihen zu machen; da Niemand geneigt seyn móchte zu niederen intereDen seine
Kapitalien aufzulegen ? Oder würde man sich bequemen, die neuen Stammsummen
niedrig anzunehmen, um die einmal ostensibel festgesetzten IntereBen nicht zu
erhöhen ? Welche Verwirrung, Ungerechtigkeit, und welche immense Vergrößerung der
zu amortisierenden Schuld würde aber daraus nicht erfolgen? Oder, um alles dieses !)
auszuweichen, wäre man gesonnen, sich in allen Fällen leidend zu verhalten, wie,
wie man sagt, fünf als gerade gelten zu laben? Zu diesem Resultat muß die elende.
alle hohen und edlen Gedanken erstickende Geldmäklerey die Regierungen zu einer
Zeit führen, wo noch vieles zu thun ist, um die Altäre und die Thronen aufzubauen,
und gegen die Angriffe einer eng verbündeten Sekte von Verschwörern zu verthei-
digen, und zu sichern.
Überhaupt ist Pluto jetzt der Alleinherrscher der sogenannten civilisierten
Welt geworden, und die Alten hatten volles Recht ihn, zu gleicher Zeit zum Gott
des Geldes und des Tartarus zu machen.
Sucht man endlich einmal durch die gräßlichste Erfahrung belehrt, und durch
einen noch glimmenden Funken Vernunft erleuchtet, sich von den pestilentialischen
Influenzen des philosophischen Acherons zu befreyen: so sendet flugs der Herr des
Abgrunds, seine Gnomen Lafitte, Rothschild, Baring und wie sie alle heißen, in die
Oberwelt, welche die höllischen Kuxen öfnen, und die glänzenden Produkte der-
selben, unter der Bedingung anbieten, keinen Krieg anzufangen, oder dazu, es
geschehe was da wolle, Anlaß zu geben, damit ja die modernen Apicii und Luculli
in Friede des Lebens froh genießen, besonders aber damit die, zur allgemeinen
Menschenbeglückung unternommenen Geld Speculationen nicht unterbrochen
werden, oder gar periclitieren mögen. Dann ist die Allianz zwischen den Siban-
tischen Epikuráern und Pluto geschloßen, und Gold und Nationen fallen ihm
anheim.
Auf diese weise finden sich nunmehr alle Regierungen in die Hände der Ban-
quiers verstrickt, welche ihnen die Waffen zu ihrer eigenen Vertheidigung zu er-
greifen nicht erlauben, und sie zwingen werden, der Ausbreitung der Revolutions
Grundsätze ruhig zuzusehen, oder höchstens mit der Zunge oder Gänsekielen zu
bekämpfen, auf daß die Quelle immerwährender Gährungen und Unruhen nicht
versiege, und die Geldmäkler alle Muße erhalten, ihre Speculationen vor dem aus-
esogenen Europa, nach dem brache liegenden America zu verpflanzen, wofür sie
Jetzt einen kleinen Theil der in ihren Kisten gerathenen Beute als Saat zu einer
millionenfältigen Erndte hinsenden!
Es scheint, die neue Ära beginne nach dem Einklang der disparatesten Jour-
nale zu urtheilen, unter den constitutionellsten Auspizien. Man sehe la Gazette de
France, und das Journal de Paris, le Drapeau blanc und das Constitutionel, T’Etoile
und das Journal des Debats, wie sie alle gleich dem prosaischsten Dichter in seinem
le roi est mort, viveleroi dem Könige die Beobachtung und Beschwöhrung der Charte
einschärfen, als wenn sie die Aufrichtigkeit seiner Äußerungen in Zweifel zógen,
und das heilige Óhl, welches den ersten Sicamber zum Kónige salbete, die Eigen-
schaft nunmehr erworben hätte, das Stigma der gekrónten Knechtschaft einzu-
ützen.
Die Errichtung eines Ministeriums für die Kirchlichen Angelegenheiten und die
Erziehung in der Person des grand maitre de l'université, ist eine große Vorberei-
tung zu einer tróstlichen Zukunft. Móge nun auch die Bildung der Jugend nach einem
festen Plan in einfórmiger Ausübung gebracht, und in die Hände derjenigen wieder
gegeben werden, welche über 200 Jahre den Schulen vorstanden, und Christen und
gründlich nützliche Männer bildeten, die man gegenwärtig überall vermiBt. Dieses
wäre ein entscheidender Sieg über die Negros aller Länder, und wird er in Frank-
reich erfochten, so würden hier die tausend Schwierigkeiten, die man dagegen auf-
schichtet, leicht wegfallen, und Deutschland, nebst Italien, gerettet seyn. Hat man
bey so günstigen aspecten, wie sie jezt in Frankreich sind, nicht den Muth, die Je-
suiten, Jesuiten zu nennen, statt sie unter dem Rahmen von Pères de la foi oder de
la doctrine chrétienne zu masquieren: so hat man auch den festen Willen nicht,
das wahre Gute zu wollen. Es ist wahrlich keine Zeit mehr zu verliehren; nicht nur
die generationen, sondern die revolut. Begebenheiten schreiten vorwürts und letztere
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 593
gewinnen an Schnelligkeit und Gewalt nach Maasgab der Verschlechterung der
ersteren; diese ist bereits soweit gekommen, daB die energische phisische Kraft, zur
Hülfe gerufen werden muß, um die Erziehung mit den Ereignißen in eine Art
von Gleichgewicht zu bringen, damit jene diese, und nicht diese, jene bestimme und
leite, wie es nun geschieht.
Pfeilschifter, den ich hier persönlich zu kennen Gelegenheit hatte, trägt mir
auf ihn zu entschuldigen, daB er Ihnen noch nicht geschrieben hat, er erwartet die
Bestimmung seines Schicksals, um es Ihnen zu melden; er ersuchte mich auch, Sie
zu bitten, die Übersetzung des Artikels im Staatsmann, über die Ultra (den ich
noch nicht zu Gesicht bekam) zu veranstalten, und sie dann in einem Journal dem
franz. Publicum zu überliefern. Verbindlichst danke ich Ihnen, theuerster Freund,
für die meinem Cousin Baron Carl v. Salis erwiesene freundliche Aufnahme und emp-
fehle ihn zur ferneren gütigen Leitung. etc.etc.etc.
S.
13.
Paris 17. Nov. 1824.
Ich eile verehrungswürdiger Freund noch eine Stunde vor Abreise des Couriers
zu benuzen um Ihren intreBanten Brief vom 16t Oct. zu verdanken und zu beant-
worten. Der jezige Zustand der Dinge in Frankreich gefällt mir gar nicht. Der König
ist ein liebenswürdiger Ritter®®, sucht sich aber, wie mir scheint, mehr durch Po-
M als durch Gerechtigkeit und Strenge festzusezen; man befürchtet den
influß seines Sohns, dem die Liberalen schmeicheln, und seit der Spanischen
Expedition soll sogar die Dauphine das falsche System ihres Gemahls angenommen
haben. Der Windbeutel Chateaubriand beträgt sich wie ein wütender conspirateur
u. nimmt allen Masken an um neue Anhänger zu gewinnen. Während er Minister
war sollte das Ministerium alles u. der Kónig eine Nulle seyn, jezt will er nur den
König u. weder Kammern noch Minister, das läßt mich vermuthen daB die Liberalen
ohne die ersteren als die lezteren zu gewinnen hoffen. Ich meines Orts finde dermal
den wahren Royalismus und den gesunden Verstand nur in den sogenannt ministe-
riellen Journalen. Das Renten Gesetz wird nicht wieder zum Vorschein kommen.
Die Ráumung Spaniens, wiewohl sie nur aus finanziellen Gründen geschieht (weil
Ferdinand VII. den Überschuß des gewóhnl. Soldes nicht zahlen kann) sehe ich
nicht ungern u. bin überzeugt daB die Negros dabey ihre Rechnung gar nicht finden
werden. Die Revolution war nur durch die Stimme des Kónigs stark, diese hat sie
auf ewig verlohren, die Rädelsführer sind zerstreut, der Rest gebeßert u. die wahre
Gerechtigkeit wird vielleicht nur dann eintreten, wenn sie nicht mehr von fremden
Truppen comprimirt ist. Ein Auftrag den ich so eben erhalten, beweist nun daB
das geistige Ministerium nicht auf die Anerkennung des emprunt der Cortes ge-
drungen haben muß. Ich soll nemlich einen Rapport erstatten ob in die Reklama-
tionen verschiedener Gláubiger welche die Verwendung des Ministeriums ansprechen
einzutreten! sey. Sie können sich wohl vorstellen wie mein Gutachten ausfallen
wird, der Schluß wird seyn, daB der emprunt bezahlt werden soll, aber nicht von
dem König noch von der Spanischen Nation, sondern von den Mitgliedern der
Cortes in solidum, zumal die ersteren gar nicht die rechtmäßigen Schuldner seyen.
Cousin in Berlin wird alles Geschreys der Journale ungeachtet nicht unterstüzt
werden. Der Streich ist ihm sogar von hier aus gespielt worden indem man dem
PreuBischen Ministerio einen Wink gegeben hat.
DaB man die Jesuiten nicht bey ihrem Namen nennen darf ist allerdings eine
elende Schwäche, datirt aber noch von de Cazes her u. bleibt einstweilen so viel
niemand eine Änderung verlangt. Übrigens hat der Name nicht viel zu bedeuten:
In verbis sienae facile. (?)
Ihr Vetter Baron Carl ist ein trefflicher junger Mann u. erweist mir oft die Ehre
zu mir zu kommen. Ich habe ihm lezthin die hinterlaBenen Papyre des Abbé Barruel“
* Am 16. September 1824 folgte auf Ludwig XVIII. König Karl X., dessen Krönung in
Reims unter mittelalterlichem Pomp stattfand.
August in de Barruel (1741—1826), berühmter Verteidiger der Kirche, dessen Schriften
schon früh auf Haller einwirkten.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 38
594 E. Reinhard
verschafft wo er nach Art der Bienen allerley Honig sucht zu dem Kuchen welchen
er den Jakobinern u. Frey Maurern bereitet.
Wenn Sie Pfeilschifter sehen, so sagen Sie ihm daß ich das gte 10te u. 11te Heft
des Staatsmannes nicht erhalten habe und folglich seinen Auftrag nicht erfüllen
konnte.
Der nämliche Artikel im Drapeau blanc über Follknes (?) Zschokke u. Trox-
ler? war von mir aus Auftrag der Franzós. Gesandschaft in Bern.
Graf Johann hat mir unlängst aus Bern einen langen und intreBanten Brief
geschrieben.
Ich muß enden weil der Courier abreist u. verbleibe mit unwandelbarer Gesin-
nung stets der Ihrige
v. Haller.
14.
Paris 10 Juny 1825.
Ich hätte Ihnen verehrungswürdiger Herr Baron, schon längst geschrieben
und den Empfang Ihres Schreibens vom 31t Januar avisirt wenn es mir nicht theils
an Stoff theils an ruhiger MuBe gemangelt hátte. Jezt aber wekt mich die Abreise
Ihres trefflichen Vetters Carl v. Salis Samade, den ich bald wieder hier zu sehen
hoffe auf die versáumte Pflicht nachzuholen. Drey Wochen war ich lezten Winter
krank; dann kamen außerordentliche Arbeiten im Ministerium Helvetica betreffend
und vorzüglich mußte ich Hals über Kopf den 5t oder vielmehr 6t Band des Ori-
inals der Restauration über die Republiken beendigen u. das Manuscript nach
interthur®® abgehen laBen. Dieser Band wird nun gedrukt seyn; ich habe Befehl
gegeben Ihnen ein Exemplar zukommen zu laßen u. hoffe daß Sie mit demselben
eben so sehr als mit den ersteren zufrieden seyn werden.
Den Fürsten v. Metternich habe ich hier mehrere mal gesprochen u. bın von
ihm sehr gütig empfangen worden®®, Seine lehrreiche u. unterhaltende Conversation
haben allhier im Stillen viel genüzt. Er hat sich auch gegen den Grafen v. Senfft
u. mich neuerdings anheischig gemacht, mir das Baronen Diplom zu verschaffen,
von welchem schon 1820 bey AnlaB der Schrift über die Cortes die Rede war. Die
Data zu seiner allfälligen Ausfertigung habe ich bereits durch K. de Pont an den
Grafen Johann nach Mayland gesendet und werde sie auch noch dem Grafen v.Senft
en Kömmt der Kayser nach Wien zurük, so empfehle ich Ihnen ebenfalls
die Betreibung dieser Sache, damit sie im Strudel der Geschäfte nicht neuerdings
vergellen werde. Ich gestehe Ihnen daß mir daran viel gelegen ist, vorzüglich um
meinen Söhnen zu beweisen, daß mein Übertritt zur rechtmäßigen Kirche mir an
äußeren Ehren nichts geschadet hat, um sie desto mehr von der Schweiz zu entwöh-
nen, ihnen vielleicht beßere Etablißements zu verschaffen u. sie sowohl als mich
selbst, von vielen Individuen ähnlichen Namens zu unterscheiden, die sich gleich
allen Bernern, Zürchern, Freyburgern u.s.w. ohne BefugniB das Prädikat von be
dienen. Die sogenannte Ehren Legion, welche man sogar Musikanten und Mahlern
austheilt, u. die ich so eben ohne nur daran zu denken, zu meinen größten Erstaunen
erhalten habe“, verschafft mir keinen dieser Vortheile.
DaB Sie die Angelegenheiten Europas und Frankreichs insbesondere schwarz
ansehen, kann ich Ihnen wahrlich nicht verargen. Sie sind darinn mit St Roman,
Duplessis, Grenédan, la Mennais u. vielen anderen gleicher Meynung; mir selbst
kómmt die Zukunft auch gar nicht heiter vor. Die charakterlose Politik in Rüksicht
auf Spanien, Portugal etc. das manquirte Indemnitáts Gesetz, das illusorische
Gesez gegen die Sacrilegien, der verkrüppelte Krónungs Eid der alles übrige zum
bloßen Spielbub macht u. wo die charte nebst den loix de royaume, dem göttlichen
*' Ignaz Paul Vitalis Troxler (1780—1866), Abgesandter der Schweiz auf dem Wiener
Kongresse, Arzt und Philosoph, heftiger Gegner der Restaurationsbestrebungen.
ss Über Hallers Beziehungen zu seinem Verleger vgl. Ewald Reinhard: Der Restaurator
Karl Ludwig von Haller und die Steinersche Verlagsbuchhandlung in Winterthur. Jahrbuch
der Literarischen Vereinigung Winterthur. 1925. :
* Nach dem Tagebuche traf Haller mit Metternich, der anläßlich der Königskrönung in
Paris weilte, am 25. März und am 16. April zusammen.
* Am 11. Juni 1525 heißt es im Tagebuch: recu Chevalier de La Legion d'honneur.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio — 595
Geseze vorgehen; die Gefallsucht des Kónigs der stets vom bonheur du peuple
spricht, alldieweil er bloß die Schurken zu strafen u. sich dann über das bonheur du
peuple nicht zu bekümmern braucht, die Überschwemmung mit schlechten Büchern,
die Gesinnungen des Dauphin der alle Royalisten ganaches nennt, alldieweil er selbst
der ärgste von allen ganaches ist; die Arroganz der Journalisten denen kein Ministe-
rium in der Welt es recht machen kann; die Undankbarkeit eines großen Theils
der ungeheuren Stadt Paris, welche blos durch die Restauration und des Kónigs
Gegenwart über alle MaBen bereichert wird, vor allem, allem die unglükselige Charte
die ein HinderniB alles Gnten und ein Vorwand zu allem Bósen ist — alles das ge-
währt nur trübe Aussichten. Und überhaupt kann kein Segen auf einem Lande
ruhen, wo man solch infame Produkte wie den Constitutionel, den Courier und selbst
das Journal des Débats duldet.
Ihr Vetter Carl wird Ihnen wahrscheinlich die zwey Meister Schriften von Dup-
lessis Grenédan gegen das Indemnitätsgesez u. von la Mennais de la religion dans ses
rapports avec l'ordre politique et civil mitbringen, daher ich von denselben nichts
weiter beyfüge.
Wenn Sie mir durch die Östreichische Gesandschaft schreiben, so adressiren
Sie die Briefe wie bisher an Mr de Haller, rue du regard No 1 fauxb. St Germain à
Paris; geschieht es aber durch die Post: so wünsche ich daB sie adressirt werden an
Jean Blanchot, brocanteur, rue des vielles tuileries No 16 à Paris, als welcher der-
mal mein Bedienter oder vielmehr Aufpaßer ist; ein trefflicher junger Mann der lange
bey Graf v. Senft diente.
Mit aufrichtiger und unwandelbarer Hochachtung verharrend
Ihr getreuester u. gehorsamster
v. H.
15.
. 30. Dec. 1825.
Paris, { 99. Jan. 1896.
Unsere Correspondenz, mein verehrungswürdiger Freund ist leider, wie ich
sehe, durch meine Schuld oder durch die Schuld so vieler unwillkührlicher Hinder-
niße seit beynahe 5. Monaten unterbrochen worden; ich will jedoch beym Schluße
dieses anscheinend ruhigen aber Unheil verkündigenden Jahres nicht länger säu-
men mich Ihrem Andenken zu empfehlen und wünsche vor allem daß das nächst-
folgende Jahr für Sie und für die gute Sache recht glücklich seyn móge, welch
lezteres ich zwar mehr wünschen als hoffen kann. Die Ansichten die Sie in Ihrem
Briefe vom 20t July áuBerten, sind leider nur allzurichtig u. was sie (!) besonders
am Ende gegen die fatale Graeco Manie’! sagen, unterschreibe ich von ganzem
Herzen. Diese Bemerkungen fand ich so gründlich, daB ich sie übersezt und dem
Minister Bn de D(ama)s mitgeschikt habe, welcher mir sehr dafür dankte; auch
scheint mir das Lob Preisen der griechischen Rebellion habe doch in einigen Journalen
etwas abgenommen.
Hier gehn, wie Sie wißen, die Sachen gar nicht gut, aber die Schuld liegt meines
Erachtens nicht an den Ministern, wiewohl sich mehrere derselben von einzelnen
sehr zweydeutig gesinnten Divisions Chefs am Gängelbande führen laßen und durch
die sich stets aus ihren Freunden und Anhängern rekrutierende Bureaukratie der
revolutionáren Traditionen verewiget werden. Hier besonders liegt der Augiasstall
welcher ausgefeget werden muß. Der König seiner seits will nur geliebt statt ge-
fürchtet werden, ohne zu bedenken, daß lezteres die Präliminar Bedingung des er-
steren ist. Hätte er sich doch der trefflichen Lehren erinnert, die ihm in den Gebeten
u. anderen Ceremonien der Krönung gegeben worden, u. die ihm stets empfohlen
Muth u. Kraft für die Gerechtigkeit an Tag zu legen, der Schuz der Guten u. der
Schreken der Bösen zu seyn. Dieses wäre beßer als alle Charte. Der Preß Scandal
in schlechten Büchern, brochures, Zeitungen und Lithographien ist auf den höchsten
Grad gestiegen; den Ministern die am meisten dabey leiden kann es wohl nicht an-
“ Gemeint ist die weite Kreise erfassende Begeisterung für die um ihre Unabhängigkeit
kämpfenden Griechen; Metternich und seine Gesinnungsgenossen standen diesen Bestrebungen
ablehnend gegenüber.
38*
596 E. Reinhard
genehm seyn; was sollen sie aber thun wenn der König die Censur nicht herstellen
will und die Tribunalien kein Recht halten. Das Urtheil der cour royale zu Gunsten
des Constitutionel u. des Courier ist eine Infamie und ein ewiger Schandfleck für
den Präsidenten Séguier*! der zu den Jakobinern übertrat weil er nicht garde des
sceaux geworden. Unter Ultramontanisten werden alle Catholiken, unter Jesuiten
alle Feinde der Revolution und unter den libertés Gallicanes die Unterjochung
und Verfolgung der Kirche verstanden. Doch hat die Sache eine heilsame Indiena-
tion erregt und gedachter premier Président ist von den Abbés Fayet“, La Mennais
u. a. m. tüchtig zurechtgewiesen worden. Die Apotheose des verrätherischen General
Foy, bei welcher sich der Duc d'Orléans und Chateaubriand prostituirt haben. ist
ein affront für den König und ein Versuch der Jakobiner um ihre Kräfte zu zeigen
u. jedermann zu ihrer Fahne anzuloken. Doch scheint mir die Sache ein vorüber-
gehendes Strohfeuer zu seyn, sie wird bereits lácherlich und es sind in ganz Frank-
reich nur die Frey Maurer welche Subscriptionen für die Familie ihres verblichenen
Bruders zusammenbetteln. — Von den royalistischen Journalen wird der Drapeau
blanc, dem Bn de Damas gehórig, durch einen ziemlich zwevdeutigen Menschen
u Eckstein“ dirigirt, der sich bald O, bald Bn d’E. unterzeichnet und deßen
atholicismus mir ziemlich einer Art von Universal Maurerey zu gleichen scheint.
Die Quotidienne ist mir wenigstens wegen ihrem gedankenlosen Geschwäz und
ihren obigen Ausfällen gegen die 3%, unerträglich. Der Aristarque wird ganz von
persónlicher Leidenschaft dirigirt. Dort hat sich Bonaquenay eingeschlichen, der
verrätherische Gesandschafts Sekretär in Bern welcher die Archive und Depeschen
des Marquis de Moutiers der Bernerischen liberalen Faktion um Geld zur Einsicht
gab und dennoch von Chateaubriand begünstigt ward; ferner Hyde de Neuville
ein Charlatan und Sohn eines Knopf Fabrikanten, der sich für einen gerechten
und vollkommenen Royalisten ausgiebt, obschon er als Minister in Amerika, zum
Erstaunen des Duc de Richelieu selbst, der Advokat aller Proscribirten des champ
d'asyle war, in Portugall gegen die Kónigin und den Infanten San Miguel machinirt
(3t Constitution einführen wollte) den Kónig auf ein Englisches Schiff geführt, da-
durch die vollständige Contrerevolution gehindert hat und eben def wegen aus
Portugall zurükberufen worden ist. Diese beyden machen die unverständigen
und verleumderischen Artikel gezen den Marquis de Moustiers, ersterer weil er
auf Betrieb deBelben abgesezt und nicht wieder angestellt worden, lezterer weil er
vermuthet, der Marquis de M. habe als interimistischer Directeur des travaux
politiques auf seine Zurükberufung angetragen. Dazu kómmt noch Bryant Sekre-
tär des Cte de Bourmont® der seinen Principalen zum Ambaßador in Madrid machen
möchte, deBwegen dem Duc d'Infantado schrieb, solchen zu verlangen und dabey
für sich wegen seiner Verbindung mit Baguenot das courtage allfälliger weiß emp-
runts zu erhaschen hofft, welches keine Kleinigkeit ist, zumal Achille de Jouffroy**
durch seine Regierung das emprunt Guebhard 1,500,000 Fr. gewonnen haben soll. —
In dem Journal des Débats welchem Hr v.Villéle an Pensionen oder Abonnements
Jährliche 72000 Fr. entzogen, beträgt sich Chateaubriand nebst Fiévée*?, Salvandos“
u. Bertin de Vaux*? wie ein wahrer Jakobiner. Ersterer, der keine selbständige, wohl-
begründete Reputation leiden kann und nur litterarische Hof Schranzen um sich
haben will, war im Grund immer revolutionär gesinnt u. sieht in der ganzen Welt
nur seine eigene Person. Keiner hat dem Bonaparte so sehr geschmeichelt wie er
und es ist nicht wahr daB er wegen der Ermordung des Duc d'Enghien seine Stelle
* Antoine Jean Matthleu Baron de Séguier (1768—1848), Präsident in dem Prozeß des
Constitutione!" und des „Couriers“.
Jean Jacques Fayet (1787—1849), hervorragender Verteidiger der Kirche. Starb als
Bischof von Orleans.
* Freiherr von Eckstein (1790—1861), Konvertit, mit dem Haller in Paris verkehrte,
so daß das abfällige Urteil dem Wiener Freunde gegenüber sich sehr seltsam ausnimmt. Eckstein
zeichnet sich auch als Schriftsteller aus.
"e ** Louis Auguste Viktor Graf de Bourmont (1773—1846), 1829 Kriegsminister. Eroberer
giers.
“ Siehe Anmerkung 29.
* Josef Flévée (1767—1839), trat als Dichter und Publizist hervor.
* Narcisse Achille Graf von Salvandy (1795—1854), Politiker und Schriftsteller.
* Louis Francois Bertin de Veaux (1771—1842), Journalist und Politiker.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 597
als Chargé d'affaires in Rom resignirt habe. Zur Taufe des kleinen Napoleon hat er
Waßer aus dem Jordan „ wobey noch ein paar Tropfen für den Duc de
Bordeaux übrig geblieben. Sein genie du Christianisme ist ein seichtes Geschwäz
und ein Roman. Zu Hand hat er immer noch liberal riechende Rapporte an den Köni
0 Seine royalistisch scheinenden Schriften unter de Cazes?® waren blo
rucht seiner üblen Laune weil er damals als Staats Minister ausgestochen worden
und dabey sind sie noch so sehr von repräsentativen und constitutionellen Ideen,
vom Geist der Zeit und von einem so unertrüglichen Eigendünkel angefüllt, daf
ihm die Jakobiner den royalistischen Mantel allenfalls gar wohl verzeihen kónnten.
Als er im Conservateur am meisten gegen de Cazes schrieb, versuchte er zugleich
alles mögliche um bey demselben wieder in Gnaden zu kommen und ließ nachher
durch andere auf den Knieen bitten, daß man ja seine dißörtigen Briefe nicht in
fremden Zeitungen bekannt machen möge. In Berlin ist er beynahe nie gewesen
und fand bellas Besoldune u. die Etablißements Kosten hier in Paris zu verzehren.
Überhaupt hat er von dem Kónig und von Buchhündlern ungeheure Summen
bezogen, aber alles mit Spielen und 5 bis 6 MaitreBen durchgebracht. Mit einer
Actrice gieng er als Botschafter nach London und ließ die Frau zu Hause, was ver-
muthlich auch zum Genie seines Christianisme gehórt. Als er endlich Minister ge-
worden, so war er es der dem Pozzo di Borgo?! den Vorsprung in Spanien gewinnen
ließ und dem König stets Chartes und Constitutionen aufdringen wollte. Dabey
konnte man kein Gescháft mit ihm beendigen, sie machten ihm lange Weile u. der
Minister schmachtete dagegen mit allerley frevsinnigen Weibern als der Mme de
Castellane, Récamier u. a. m. auf deren Empfehlung er fast lauter Revolutionürs
als Consuln und Legations Secretairs angestellt hat. Ich weiß bestimmt daß er auch
mit den Liberalen in der Schweiz, besonders mit dem erzfalschen Schultheiß v.
Mülinen in vertrautem Briefwechsel stand, die notorischen Thatsachen welcheihm
von gutgesinnten bekannt gemacht wurden, nannte er balivernes, phantasmagories
und hätte es von ihm abgehangen, so wäre der Marquis de Moutiers niein der Schweiz
angestellt oder auf Verlangen der in Bern herrschenden Faktion zuverläßig wieder
zurükberufen worden. Als er endlich abgesezt worden und nur im Ministerio
80000 frs. laufender schreyender Schulden hinterließ so ward er wieder Journalist
und beträgt sich wie ein wahrer Rädelsführer um alle Claßen gegen König und
Ministerium aufzuhezen, coquettirt mit den Jakobinern, lobt die Republik, spricht
öffentlich von seiner Rache, publizirt Geheimniße die er als Minister vernommen
und greift jezt sogar die Heil. Allianz, besonders aber den Fürsten v. Metternich an,
deBen in ganz Europa genießendes wohlverdientes Zutrauen er eine dictature con-
tinentale nennt. Wie würde nicht solche dictature als natürliche Belohnung des
énie gerühmt worden, wenn sie ihm dem Chateaubriand zu Theil geworden wäre.
wäre gut wenn dieser Gecke defen Äußeres schon unerträglich ist, einst in einer
fremden Zeitung entlarvt würde. Die besten Journale sind noch die Etoile und die
Gazette de France, überdem giebt es eine Legion von Wochen- und Monats Schriften;
von denen die meisten langweilig oder schlecht sind.
Werfen wir unsere Blicke auf das Ausland: so sehen wir das groBe Britannien
in einer bedenklichen Geld Crisis und seine Spekulanten von der Seite bestraft wo
sie gesündiget haben. Der Krieg mit den Biemends (?) kostet groBe Summen,
Canning hat eine mächtige Partey gegen sich und der Augenblick scheint nicht
ungünstig um sich vor den Drohungen dieser Insulaner eben nicht sehr zu fürchten.
In Spanien ist wieder ein Schimmer von Hofnung. Der Mr de Moutiers steht sehr
wohl mit dem Duc d’ Infantado, mit der Geistlichkeit u. auch mit dem Östreichischen
Gesandten Brunetti. Aber die Wieder Eroberung der Südamerikanischen Provinzen
sollte um jeden Preis versucht werden. Dieses müßte durch eine Art von Enthou-
siasmus geschehen, welches zugleich eine nüzliche Diversion wäre um die gährenden
Geister in Spanien mit etwas anderem zu beschäftigen. Die Armee welche eben nicht
blos aus Spaniern zu bestehen braucht, könnte mit Ländereven belohnt werden,
deren es in Südamerika genug giebt u. von denen der König sich den Zehnten vor-
uu ” Elle Herzog von Decazes und von Glücksbjerg (1780—1860), war von 1818—1820
gter.
" Karl Andreas Pozzo di Borgo aus Korsika (1764—1842), russischer Gesandter in Paris.
598 E. Reinhard
behalten könnte und führte man dort ein verständiges Lehen System ein: so wäre
dieses das beste Mittel um dem König beträchtliche Einkünfte zu verschaffen,
ihm den Besitz des Ganzen zu sichern und das Land selbst in schnelle Aufnahme zu
bringen. Ich habe neulich die Geographie dieser Lànder so wie die Geschichte der
jezigen Revolution studirt und bin überzeugt daB 10000 Mann gut commandirter
Truppen, in die Colombie geworfen und sich der Hauptstadt Panama bemächtigend
zureichen würden um alles in Ordnung zu bringen. Mexico auf der einen und Peru
auf der anderen Seite würden dann nicht sáumen von selbst das Joch der Revo-
lutionàrs abzuschütteln. Aber man hat keinen Muth mehr und läßt die Guten ohne
Schuz alldieweil sie zerstreut sind und sich nicht selbst helfen konnen. — Von dem
neuen Kónig von Bayern?? erwarte ich nicht so viel als man zu hoffen scheint. Noch
ist nichts entscheidendes geschehen und der Constitutions Fabrikant Zentner?
soll noch immer vielen EinfluB haben. Von dem nórdlichen Deutschland hingegen
höre ich von allen Seiten, daB eine beßere Tendenz zu herrschen anfange und selbst
der Lutheranismus, dieser Vorläufer des Jakobinismus, gewaltig erschüttert sev.
Mehrere deutsche Fürsten haben das constitutionelle, auf der Souveränität des
Volks oder teilweise auf der Souveränität jedes einzelnen beruhende chartrirte
Christenthum bereits verlaBen ohne daß es noch öffentlich bekannt ist und dem
Vernehmen nach sollen sogar zwey Brüder und eine Schwester des Kónigs von Preu-
Den in demselben Falle seyn. Was von Rußland zu erwarten, ob die constitutions-
süchtigen rebellischen Offiziers der verdienten Strafe entgehen, ob Corsikaner,
Corfuraner und Waadtländer in Gunst verbleiben werden oder den alten RuBen
weichen müßen: dürften Sie wohl beßer als ich wißen. Fürst Metternich hat da
wieder ein Meisterstück zu thun den neuen Kavser auf den rechten Weg zu führen.
Am besten geht es noch in Italien mit Ausnahme von Neapel wo der König nach
und nach alle Carbonari und Rebellen begnadiget. Man spricht viel Gutes von dem
Östreichischen Bottschafter, welcher nächstens hierher kommen soll und ich hoffe
mit ihm gute Bekanntschaft zu machen. Graf Senft meldete mir auch gedachter
Bottschafter werde mir bringen was mir der Fürst v. Metternich versprochen habe.
Nun habe ich theuerster Freund genug politisirt und muß Sie jezt noch von
einem sehr materiellen Gegenstand unterhalten, der aber für mich nicht unwichtig
ist. Ihr Vetter Baron Carl v. Salis, der hier fast täglich in meinem Hause und uns
allen recht lieb war, hat mir einen sehr unangenehmen Streich gespielt, den ich von
ihm nie erwartet hätte. Zwey Tage vor seiner Abreise kam er zu mir und frug mich
um Rath wie er, da sein Creditbuch ausgelaufen sey sich etwa 60 Louisd’or oder
1440 Frs. verschaffen könnte, die auf den 7ten August unfehlbar in Wien zurück-
behalten werden sollen. Da ich diese Summe eben vorräthig hatte, so gab ich sie
ihm selbst, was er mit vielem Dank annahm und mir dagegen ein Billet ausstellte
zahlbar d. ten August bey dem Buchhändler Heubner in Wien. Ich negocire dieses
Billet mit einem redossement bey einem hiesigen banquier; es wird auf die Verfall-
zeit präsentirt, kam aber wegen Nichtbezahlung mit Protest zurük. Salis meldet
mir am 10t August diesen Vorfall selbst, behauptet solches sey nur durch ein
Mißverständniß geschehen, weil man den Handlungs Diener nicht zu ihm gewiesen
habe, er würde aber morgen früh einen Wechsel nach Paris auf meine Ordre aus-
stellen laBen und mir übersenden, worauf ich ganz zuverläßig zahlen könne. Ich warte
vergeblich, anstatt deßen aber langt der protestirte Wechsel an, den ich nebst auf-
ee Kosten und Zinsen mit 153 Frs. bezahlen muß. Ich melde dieses Ihrem
etter am 27t August bitte ihn sich darüber gar nicht zu bekümmern u. füge
bey daB wofern ich vor dem 1t October bezahlt werde, ich gar keinen Zins ver-
lange, weil das Geld ohne dem in der Casse geblieben würe, daB es mir aber auf diese
Zeit wezen Quartiers Änderung, Pensionsbezahlungen u.s.w. sehr nöthig sey. Da-
rauf erfolget ein vom 16t September datierter äußerst hóflicher Brief, worinn
Ihr Vetter sagt er könne in Rüksicht der ihm bezeigten Gefälligkeit von meinem
Anerbieten in Rüksicht der Zinsen keinen Gebrauch machen, und habe sich nur
die Gewißheit verschafft die ganze Summe unfehlbar in der ersten Hälfte Oktobers
" Der kunstsinnige König Ludwig I. von Bayern, dessen kulturelle Sendung Haller natur-
gemäß völlig verkannte.
73 Georg Friedrich Freiherr von Zentner (1752—1835), Schöpfer der bayrischen Verfassung.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 599
absenden zu kónnen, welches er mit seinem Ehrenwort verbürge. Allein
es erfolgte abermal nichts und auf meinen lezten Brief vom 16t November habe
ich noch gar keine Antwort, daher ich Sie bitten muß gedacht Ihrem Hn Vetter
die Einlage zuzustellen. Ich gestehe Ihnen theuerster Freund daß mir dieser Vorfall
höchst unangenehm ist nicht nur wegen der Summe deren Abgang mich
genirte und mich zwang selbst à 5%, zu borgen, sondern auch weil ich befürchten
muB mich in meiner guten Meynung von einem sonst so wohl denkenden Manne be-
en zu haben. Ich habe darüber durch den von hier abgereisten Oberst u. Grafen
Salis Zizers, auch an den Grafen Johann geschrieben, weiß aber nicht ob derselbe
bereits wieder in Chur angelangt ist. Haben Sie indeßen die Güte mir im Vertrauen zu
sagen ob Baron Carl v. Salis einiges Vermógen besizt oder zu erwarten hat und wie
ich mich benehmen muß um auf gute Art von ihm zur Bezahlung zu gelangen.
Ein Umstand der mir nicht gefüllt und den ich erst seither von dem Oberst v. Salis
Zizers vernommen, ist auch der, daB gedachter Baron Carl sogar die Zimmermiethe
im Hotel garni schuldig geblieben, obschon er dem äußeren Anschein nach sehr
oekonomisch u. regelmäßig lebte, ich ihm die 60 Louisd'or zwey Tage vor seiner
Abreise zugestellt habe und er wahrlich diese Summe nicht brauchte um von Paris
nach Wien zu kommen.
Dieser Brief ward, wie Sie aus dem doppelten dato ersehen können, schon zu
Ende des vorigen Jahres angefangen und kaum habe ich in diesen kurzen Tagen
bey großer Kälte u. zahllosen Geschäften so viel Zeit finden können um seit drey
nen alle Tage ein paar Zeilen zu schreiben und endlich die ganze Epistel zu
eendigen.
So eben lese ich den Zeitungen das Manifest des Kaysers Niklaus über den
jakobinischen Versuch vom 26t Dec worinn es heißt: ,Ja justice défend d'éparg-
ner les coupables." Wolle Gott daß dieses in Erfüllung gehe und endlich ein strenges
und heilsames Exempel statuirt werde. Oberst Stürler, Commandant des Regiments
der Leibgrenadiers welcher auf Seite der Getreuen umgekommen, war ein Berner
Sohn eines Rathsherrn des alten regime, mußte sich vor etwa 15 Jahren als Sekretär
der Bau Commißion, wegen einem Caßa Defekt von circa 40000 Gulden von Bern
flüchten, ward durch freymaurerische Protection und schöner Weiber Gunst, so-
gleich äußerst vortheilhaft in Rußland placirt, obschon er nie Militär gewesen,
außer etwa in der Berner Miliz. Es mag wohl blos ein glüklicher Zufall seyn, daB
dieser ebenfalls treu geblieben.
Mit unwandelbarer Hochachtung und Ergebenheit — ewig der Ihrige
v. Haller.
16. ,
Paris 22 May 1826.
Ich eile, verehrtester Freund Ihnen durch einen heute abreisenden Courier,
den Empfang Ihrer beyden Briefe vom 16t u. 31t März anzuzeigen, welch lezterer
mir aber erst vorgestern zugekommen ist. Ihre Ansichten über Rußland sind leider
nur allzuwahr und mir genügen die Zeitungen um einzusehen daß dort alles schlecht
geht. Man zieht die Untersuchung in die Länge unter dem Vorwand alle Verzweigun-
gen zu kreuzen, ein Grund aber nur Zeit zu gewinnen u. die erste Indignation ver-
rauchen zu laßen, man danket mit Affectation allen die nur die geringste Treue
bewiesen, als ob sie etwas Außerordentliches u. die Rebellion gewöhnliche Regel
wäre; man füllt die Zeitungen nur mit leeren Ceremonien von Präsentationen und
von einem Leichenzug; man giebt den Eltern oder Kindern der Hochverräther Pen-
sionen als ob ihr Verbrechen ein Titel zu Belohnungen wäre; man streut bereits
aus, es seyen der Schuldigen nur wenige; Gallizin wahrscheinlich Mitverschworener
sizt selbst in der Untersuchungs Commißion; in dem diplomatischen Personale, das
um die Sache wißen sollte, ist nicht die geringste Veränderung geschehen u. endlich
ward Kayßer Niklaus selbst von einem deutschen Jakobiner Namens Storch er-
zogen der nicht viel beßer als Laharpe ist. Mehr brauche ich nicht zu wißen; man
erndet in Rußland was Alexander gesäet hat, und wird da, wie mir neulich Mme
Potocka sagte, stets nur die Früchte aber nie die Wurzel des Übels bekämpfen.
600 E. Reinhard
Was Spanien betrifft: so beweisen mir ebenfalls die liberalen Blátter daB der
wegen seiner Wachsamkeit (gegen die Royalisten) und seiner Mäßigung gepriesene
Recacho ein neuer De Cazes und Duc d'Infantado, aus ritterlichem Leichtsinn u.
falscher Generositát ebenfalls vom Modernetismus angestekt ist. Doch wird der
Französische Gesandte die wahre Contra Revolution gewiß eher zu begünstigen als
zu hindern suchen u. wahrscheinlich würde das hiesige Ministerium sie selbst gern
sehen; denn es leidet an dem leider überhand nehmenden Jakobinismus am meisten
u. man hat das Gute an andern gern, wenn man auch nicht das (?) courage hat es
selbst zu thun.
In Portugall sind die Frey Maurer, auch sogar seit dem Sturz ihrer sauber
Constitution, immerfort Meister geblieben u. das ist im Grund alles was sie wünsch-
ten. Man exilirt eine Kónigin und einen Kónigs Sohn; für Verbrechen der beleidigten
Maurerey od. Revolution giebt es keine Amnestie. Wird Don Miguel nicht nach
LiBabon zurükkehren um diesem Skandal ein Ende zu machen und Don Pedro
in Brasilien nicht durch die gegen ihn Krieg führenden Südamerikanischen Jakobiner
vom Liberalismus geheilt werden.
Wie kann man sich vor England fürchten, wenn man den Krieg in Ostindien,
die innere Finanz Verlegenheit, die Insurrektion von 40000 brotlosen Arbeitern,
die Spannung in Irrland u. die gewaltige Partey gegen Canning selbst in Betrachtung
zieht. Mir scheint der Augenblik sey nicht ungünstig um seine Wege zu gehen
ohne sich um diese Insulaner zu bekümmern. Sie werden schreyen aber nichts thun.
In Preußen ist der König mit Fabrikation einer neuen Königl. Preußischen
Kirche beschäftigt und da sein Bruder, seine Schwester und sein Schwager diese
neue Constitution nicht abgewartet haben sondern sich vielmehr an die alte und
rechtmáBige Ordnung der Dinge anschloßen, so ist er über diesen Mangel an Ach-
tung hoch erzürnt und hat sie deßwegen aus Berlin verwiesen“. Der gute Friedrich
Wilhelm, obschon politisch gebeBert, ist noch auf Irrwegen und mit seinen Begriffen
nicht im reinen.
Wie die Sachen hier stehen, wiBen Sie wahrscheinlich beBer als ich, da ich nur
flüchtig 3 royalistische Journale, aber kein liberales lese und wenig in Gesellschaften
gehe. Alles will König seyn außer der König selbst. Drey Prütendenten melden
sich gleichsam für die Krone. 1t Die Jakobiner gestüzt auf den Geist der Zeit u.
früher beseBene höchste Gewalt, repräsentirt durch die Frey Mauerev, u. mittelst
der Charte in den Steigbügel gehoben. 2t Die Bonapartisten dieein bloß militärisches
und kriegerisches Regiment wollen. 3t Die Christen oder eigentlichen Royalisten
gestüzt auf die alte Ordnung, repräsentirt durch die Kirche, jezt aber von Mont-
lozier (?), dem Constitutionel u. dem J. du B. als Jesuiten oder Congreganisten
bezeichnet. Welche von diesen Parteyen siegen werde, mag der Himmel wißen,
zwischen ihnen giebt es nur einen Trupp von Indifferentisten, Schaafskópfen
oder Ehrgeizigen, die da wanken und schwanken, lauernd auf den Wind, der ihr
Schifflein treiben soll. Ohne Stürme und Commotionen wird dieses alles nicht ab-
gehen, aber wir werden es wahrscheinlich nicht erleben und oft ist mir wie Ihnen
der Gedanke eingefallen, daß neue Völkerschwärme aus Asien oder Afrika kommen
dürften um unser verdorbenes kraftloses Europa zu züchtigen.
Der Projekt des garde des sceaux über das droit d’ainesse war so elend abgefaßt,
daß man sich über seine Verwerfung nicht wundern muß. Hätte er statt deBen
lediglich die Testirungs Freyheit für jedermann erweitert und die beständigen
Substitutionen gestattet, so würde es zuverläßig angenommen worden seyn. Man
sieht auch hieraus daß die Ménagemens für die Jakobiner nichts nuzen.
Die 10 Bischóffe haben meines Erachtens einen großen Schnizer begangen,
indem sie durch ihre neueste Deklaration die galikanischen Maximen, wenn auch
nur implicite bestátiget haben. In der Schrift des Abbé de la Mennais, aus welcher
ich bloß einige zu bittere Vorwürfe gegen den ehrlichen aber schwachen Fra yssinous?*
weggewünscht hátte, sind unnachahmlich schóne Dinge. Da die darin aufgestellten
* Bezieht sich auf den Fürsten Friedrich Ferdinand von Anhalt-Köthen, der im Jahre
1825 mit seiner Gemahlin, einer preußischen Prinzessin, in Paris konvertierte. Haller war mit
dem herzoglichen Paare befreundet.
" Biehe Anmerkung 52.
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 601
Grundsäze auch in Östreich nicht angenommen sind, wiewohl die dortige Geist-
lichkeit keine quatre articles publizirt hat, und das Buch daher nicht óffentlich
verkauft werden dürfte, so will ich es Ihnen bey erster Gelegenheit senden.
Chateaubriand ist nach Lausanne abgereist; wenn man in den Zeitungen sagen
láBt, daB er schon = Frs. für seine noch nicht herausgegebenen Werke erhalten
habe: so geschieht dieses um Käufer anzuloken und die Gläubiger einzuschläfern.
Denn der politische Fant, der decorateur oder parfumeur de la révolution, wie ihn
die Duchesse d’Escars nannte, ist ruinirt, nicht aus Uneigennüzigkeit, denn er
zog ungeheure Summen sondern durch Spiel und MaitreBen.
22. May. Ich danke Ihnen sehr für Ihre wenn auch fruchtlosen Bemühungen
mir bey dem Bn Carl von Salis zur Bezahlung der ihm geliehenen 60 Louisd’or zu
verhelfen. Er versprach auf lezte Ostern seine Schuldigkeit abzutragen, seither
ist aber weder Brief noch Geld angelangt. Hier dachte er an Heyrathen und gab sich
für reich aus, denn der Abbé Kenzinger?* sagte mir daß er bereits 100000 Francs
Einkünfte habe. Ich habe dem Grafen Johann bereits vor mehreren Monaten über
die Sache geschrieben und gab ihm zu verstehen, daß wenn ich nur der Bezahlu
sicher sey, ich gerne Termine gestatten wolle. Er antwortete mir, daß er den Grun
des unerwarteten Aufschubs wohl vermuthen könne und daß er hoffe, mir in kurzem
etwas befriedigendes melden zu können.
Diesen Brief wollte ich in der That am 6t März einem nach Wien abgehenden
Französischen Courier mitgeben. Allein es ward mir unmöglich ihn zu rechter Zeit
zu vollenden und deßwegen ist er jezt so alt geworden.
Soll man nicht dem Pabst Dank wißen. daß er die Frey Maurer Sekte samt
ihren Arten und Abarten neuerdings der Welt signalisirt hat. Wo findet man unter
den protestantischen Geistlichen solch einsichtsvolle und aufmerksame Wächter.
un muß ich enden, verehrtester Freund, denn ich habe noch eine Menge Briefe
zu schreiben und finde dazu fast gar keine Zeit. Mit unwandelbarer Ergebenheit
verharre ich ganz der Ihrige
v. Haller.
P.S. Sagen Sie der Fürstin von M(etternich), indem Sie mich ihr zu Füßen legen,
daß meine Tochter Emilie ein blühendes herrliches Mädchen von beynahe 17 Jahren
gestern ihr catholisches GlaubensbekenntniB abgelegt hat“. Sie sehnte sich dar-
nach, gieng entschloßen voran und die übrigen werden wohl bald folgen. Die Mutter
widersezte sich nicht ihrem Vorhaben und ist selbst gewaltig erschüttert, hórt auch
mit Eifer dem cathol. Unterricht zu?$. Gleichen Tages erklärte ihr Fräulein von
Erlach aus Bern, die seit einiger Zeit bey uns auf Besuch ist, den nemlichen uner-
warteten Entschluß catholisch zu werden??, Ein paar angehörte Predigten waren
hinreichend um sie von dem Unterschied zwischen der revolutionären Anarchie
und der rechtmäßigen Ordnung zu überzeugen. Das wird eine gewaltige Sensation
in Bern machen, denn das Mädchen ist nicht nur, wie Sie willen. von sehr guter
Familie, sondern auch reich; meine Sóhne werden hoffentlich dem Beyspiel der
Schwester und der Freundin folgen®®. Sie sehen, mein theuerster Freund daß ich
zutrauensvoll mit Ihnen rede, als ob Sie schon von den unserigen wären. Was Sie
eigentlich sind, weiß ich nicht, nach Ihren Briefen zu schließen sind Sie aber zu-
verläßig kein Protestant, wenigstens nicht den Grundsätzen u. der Gesinnung nach.
17.
Paris 25 Febr. 1828.
Ich ersuche Sie theuerster Freund, einliegenden Brief dem Baron Carl v. Salis
zuzustellen, deßen dermalige Adresse mir unbekannt ist. Er hat sich jezt brav ein-
’e Einer der geistlichen Freunde Hallers.
" Die einzige Tochter Hallers, Cácilie, folgte zuerst dem Beispiele Hallers.
7 Hallers Gattin bereitete der Tochter jedoch einen „eisigen“ Empfang und verteidigte
sich Jahre hindurch gegen jede Konversionstendenz.
t» Julie Mathilde von Erlach; sie nahm später im Sacré Coeur den Schleier.
Jai ** Albrecht von Haller konvertierte am 10. August 1826, Karl am letzten Tage desselben
res.
602 E. Reinhard
gestellt und mir für den ersten Termin einen Wechsel] von 400 Francs zugesendet,
so daß Sie ihm gar keine Art von Vorwurf machen müßen.
Was haben Sie nicht alles erlebt theuerster Freund seit Ihrem reichhaltigen
und wahrhaft prophetischen Brief vom Sept. 1826, den ich nach meiner Rükkunft
aus Turin und Bern?! gefunden habe der aber seither leider, nebst vielen anderen
auf meinem bureau geblieben ist. Wir sahen die Portugiesische cannaillöse Revo-
lution fortwährend begünstiget und zulezt zwar den Infanten Don Miguel rach
Portugall geschikt, aber durch die Charte an Händen und Füßen gefeBelt, um jene
gottlose Revolution und die Frey Maurer-Sekte, die er Ao 1824 ausrotten wollte,
mit seinem legitimen Mantel zu bedeken; wir sahen einen Bund zwischen drey
Monarchen um griechischen Revolutionen zu Hülfe zu kommen, welche die Schiffe
ihrer Beschützer, sogar die Häuser ihrer Consuln plündern; zur Sicherung des Han-
dels denjenigen beystehen welche ihn allein gestört haben und das Meer mit See-
räubern anfüllen; zur Hinderung des BlutvergieBens 3000 Türken niedermachen,
die ihnen nichts zu leid gethan hatten; zum Schuz ihrer zahlreichen und ruhig im
Türkischen Reiche lebenden Unterthanen die Wegjagung derselben veranlaßen,
und nachdem sie mit stolzer Zuversicht die Vollziehung ihres Traktats gefordert
hatten, als ob er für die Pforte ein Gesez würe, zulezt unverrichteter Dingen ab-
ziehen u. alle RuBen, Engländer und Franzosen demüthig der ohnmächtigen Ver-
wendung eines niederländischen Gesandten empfohlen. Wir sehen in dem unglük-
lichen Frankreich eine offenbare, anerkannte, eingestandene formlich organisirte
Conspiration ruhig fortarbeiten, ohne daß man sich die geringste MaBregel gegen
dieselbe erlaube, da doch der Kónig das Recht des Krieges, mithin auch gegen
innere Feinde hat; die scandalöse Preß Licenz, bey deren kein Reich auf dem Erd-
boden bestehen kann, immer weiter getrieben, die Verabschiedung einer royalistischen
Kammer wie 1816. Die Verstärkung der Pairs Kammer (deren Majorität man auf
anderen Wegen leicht hátte bessern kónnen u. die nur in 3 bis 4 Parteven gespalten
ist) gerade mit den besten Deputirten, mit denjenigen die am meisten Hofnung zur
Wiedererwählung gehabt hätten u. dadurch den Jakobinern so viele Pläze geófnet ;
die Erwählung einer neuen Kammer zur Hälfte aus Jakobinern bestehend und
eingestandener offenkundiger maßen von der Central Loge in Paris durch ihre Suk-
kursal Loge eingeleitet, organisirt, theils mit Bestechungen theils mit Verläumdungen
und Drohungen erzwungen, den Sturz eines Ministerii welches zuverläßig noch jezt
da stehen würde wenn es muthvoller vorgeschritten wäre und nicht durch seine
furchtsame, schlecht verdaute und widersprechende Maßregeln theils die Royalisten
entzwevt theils die Jakobiner immer frecher gemacht hätte, die Ernennung eines
neuen Ministerii** deBen Mehrzahl selbst von den Liberalen als ein Triumph ihrer
Partey angesehen wird und ihnen die Gewalt in die Hände spielt, die Absezung der
fähigsten und durch ihre Gewißenhaftigkeit ausgezeichneten Beamten, die Ver-
folgung der unschuldigen Jesuiten welche 100000 Jünglinge unterrichten, nirgends
hingehen, kein Journal lesen und denen nach Abbé de la Mennais nur das vorzu-
werfen ist, daB sie von der allgemeinen Furchtsamkeit angestekt, keine Influenz
haben, sich der geistigen Autorität nicht bemächtigen und allen doctrinellen reli-
EH oder politischen Pest Quästionen fremde geblieben sind; den Abfall von
0 bis 24 Royalisten in der Kammer, welche aus Verzweiflung, UnwiBenheit, Geld
oder Ehrgeiz sich wie Narren gebärden u. nicht mehr wiBen was sie wollen, den da-
durch bewirkten, dem König angethane affront, ihm zum Präsidenten in der Kammer
drey Renegaten und zwev Jakobiner vorzuschlagen etc. etc. etc. Alles das, mein
theuerster Freund kömmt daher, daß in diesem Lande kein König ist, wenigstens
de facto kein Kónig und daher ein jeder die hóchste Gewalt an sich zu ziehen d. h.
Kónig zu werden sucht. Bereits sind die Tribunalien wie vormals die Parlamente
in offenbarer Opposition und üben ungestraft den unerhórten Skandal den Truppen
u. Gens d'armes welche einen Aufruhr gedámpft und Gewalt mit Gewalt abgetrieben
*" Im Jahre 1826 unternahm Haller eine große Reise, die ihn zunächst in die Heimat,
von dort nach Oberitalien führte. In Turin wurde Hallers Sohn Albert als Kadett eingekleidet ;
später verließ er den Militärdienst, studierte Theologie und starb als Weihbischof von Chur.
n Zu Beginn des Jahres 1828 wurde das Ministerium Villéle durch das Ministerium Mar-
tignac abgelöst.
*
Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 603
haben, einen Prozeß anzuhängen. Eine revolutionäre förmlich organisirte Regierung
ist neben der gesezlichen aufgestellt, unter dem Vorwand sie müße dieser lezteren
die auch vereinigt sey, das Gegengewicht halten. Man weiß es und thut nichts
dagegen. Wenn nun von zwey feindseligen Mächten die eine immer vorwärts die
andere immer rükwürts geht und noch dazu die Feinde selbst zu seinen Rathgebern
wählt, so ist leicht vorauszusehen welche von bevden die Oberhand behalten werde.
Alles das kann nur mit dem Sábel ausgemacht werden; es kann nicht ohne Cata-
strophe abgehen und wenn ich dazu noch den leidigen aber wie es scheint unvermeid-
lichen Krieg im Orient betrachte, welcher der revolutionären Faktion in Frankreich
freye Hände laßen wird, so muß ich meines Orts eine allgemeine Conflagration in
Europa voraussehen, deren Resultat abermal problematisch ist. Zieht uns der Kay-
ser von Östreich und Fürst Metternich für die ich alle Tage zu Gott bitte, noch aus
diesem Wirrwarr, so sollen ihnen alle künftigen Geschlechter Bildsáulen errichten.
Wenn man jedoch noch einmal Revolutionen dämpfen u. rechtmäßige Könige
herstellen muß: so hoffe ich man werde sie nicht mit der einen Hand einsezen und
mit der anderen wieder durch Chartes absezen laBen.
Schade daß die Türken die Natur der Revolution nicht beßer kennen sie hätten
in ihrem Manifest den 3 Mächten treffende Dinge sagen können, die mehr gewirkt
hätten als eine ganze Armee; wie z. B. daß sie einer Sekte beystehen die nicht nur
gezen die Mohametanische sondern gegen alle Religion u. gegen alle Kónige ver-
schworen sey, daB der K. von F. denjenigen beystehe die ihn 29. Jahr lang entfernt
haben u. neuerdings entthronen wollen. Rußland den Brüdern u. Freunden den-
jenigen zu Hülf komme die das ganze Kaiserliche Haus ausrotten und Rußland um-
stürzen wollten, dagegen aber diejenigen bekämpfen die durch ihren Frieden v.
1812 dieses Reich gerettet haben, daß England seinen Radikalen und Colonien das
Recht zum Aufruhr gebe u. vergeBe daB die Muselmänner an seiner Seite in Egypten
gezen solche gekämpft haben, die, wenn es nur auf die Taufe ankömmet, so gute
hristen waren als die griechischen Frey Maurer u.s.w.
Leben Sie wohl theuerster Freund u. legen Sie mich der verwittweten Fürstin
Metternich zu Füßen. Von dem wozu mir seiner Zeit Hofnung gemacht worden,
vill ich nichts mehr melden; es scheint dieses Schwierigkeiten gefunden zu haben
oder ganz vergeBen worden zu seyn. 1
604
Kritiken.
Hennig, Richard, Geopolitik. Die Lehre vom Staat als Lebewesen. 2. vermehrte
Auflage. Leipzig und Berlin. 1931. B. G. Teubner. VIII und 396 S. 81 Karten
im Text. Geb. ZA 18.—.
Daß von dem vorliegenden Werke, dessen erste Auflage ich in dieser Zeitschrift,
25. Bd., S. 672—673, besprochen habe, schon nach drei Jahren eine neue Auflage
nötig war, verdankt es sowohl der leichten Lesbarkeit, wie auch dem vielseitigen
Inhalte und nicht zum wenigsten der reichen Ausstattung mit anschaulichen und
lehrreichen Textkarten. In der 2. Auflage sind einige Schärfen des Ausdrucks ge-
mildert worden, die besonders im Ausland Anstoß erregt hatten. Mit Recht betont
der Verfasser im Vorwort, daß er keine Veranlassung hatte, seine politische Welt-
anschauung in seinem Buche zu verheimlichen, woran einige Besprecher der 1. Auf-
lage Anstoß genommen haben. Wenn die geopolitischen Betrachtungen nicht farb-
und saftlos werden sollen, so muß deutliche Kritik an vielen Gegenwartsproblemen
und an den brennenden Nöten der Zeit geübt werden. Damit auch hat diese Geo-
politik eine gewisse persönliche Note bekommen, die in solchen Werken nicht zu
entbehren ist. Der Verfasser war bestrebt, Schäden und Gebrechen der heutigen
Weltstruktur offen zu kritisieren. So hat er z. B. auch von der scharfen Kritik am
Genfer Völkerbund sachlich nichts zurückgenommen, da Wahrheit in wissenschaft-
lichen Werken erwünscht sein und ertragen werden muß.
Die neue Auflage ist, soweit es sich um die ersten acht Kapitel handelt, somit
großenteils unverändert. Neu hinzugekommen aber ist das letzte umfangreiche
Kapitel über , Rasse, Nationalität und Volkstum"' (46 Seiten), also ein zum Teil
überaus heikler Stoff. Dieser Teil wurde schon vor drei Jahren mit dem übrigen
Werk niedergeschrieben, aber in der 1. Auflage weggelassen, um den Umfang des
Buches nicht zu stark anschwellen zu lassen. In diesem letzten Kapitel, das wieder
eine reiche Literatur und viele Beispiele aus der Geschichte bringt, sucht der Ver-
fasser zuerst Klarheit zu schaffen über die oft recht durcheinandergehenden Begriffe
Rasse, Nation und Volk, worin die Ansichten verschiedener Autoren (Kirchhoff,
Ratzel, Supan, Sieger, Schlüter, Maull, Meinecke, Vogel, Schnee) nicht unerheblich
voneinander abweichen. In dem Abschnitt über Rassenreinheit und Rassenmischung
tritt der Verfasser nachdrücklich für Rassenreinheit ein und wendet sich scharf gegen
jegliche Vermischung der Menschenrassen („Mischlings-Nationen sind immer minder-
wertig“), was er an Beispielen zu beweisen sucht. Für ganze Nationen mag das ja
zutreffen, für einzelne Menschen aber kaum, da gerade aus Rassenmischung hoch-
wertige und geistig hochstehende Menschen hervorgehen können. Hennig betont
besonders, daß das von den Weißen beherrschte Nordamerika in bezug auf staatliche
Macht, kulturelle und wirtschaftliche Blüte turmhoch über den Ländern Latein-
amerikas mit ihren bunten Rassenmischungen steht.
Kritiken 605
Vom Stamm führt uns der Verfasser dann weiter über den Stadtstaat zumStaat,
dessen Wesen er treffend kennzeichnet. Die Nation ist nach ihm das Wandelbare,
das bewegliche Element, der Staat aber das Dauernde, der ruhende Pol in der Er-
scheinungen Flucht, und die vóllige Entwurzelung oder Verpflanzug eines Staates
ist ein Ding der Unmóglichkeit. Im Gegensatz zur Nation steht das Volk, d. h. eine
Kultur- und Sprachgemeinschaft. Nation ist ein rein politischer, Volk nicht nur ein
politischer, sondern vor allem auch ein kulturell-sprachlicher Begriff ohne zufällige
staatliche Grenzen, während die Nation ohne Staat undenkbar ist. Sie ist nicht vor-
stellbar ohne eine bewußt erlebte und gewollte, ruhmvolle geschichtliche Vergangen-
heit. Damit ist eine Nation nicht zum wenigsten auch eine Schicksalsgemeinschaft.
Mit Recht weist der Verfasser in seinem Kapitel über Toleranz und Intoleranz in
nationalen, völkischen und konfessionellen Fragen darauf hin, daß in allen völkischen,
staatlichen und kulturellen Angelegenheiten die Welt seit dem Altertum immer
intoleranter geworden ist. So ist auch das Nationalgefühl erst allmählich entstanden.
Solange weite Teile der Völker unfrei oder gar leibeigen und ohne jedes Verständnis
für höhere Bedürfnisse als die Befriedigung tierischen Trieblebens waren, konnte
es kaum ein eigenes Nationalgefühl geben, wie wir es heute kennen. Immer kam im
Laufe der Geschichte dieses Nationalgefühl erst dann zur Ausbildung, wenn die Ab-
schüttelung der persönlichen Unfreiheit der Untertanen oder der kirchlichen Be-
vormundung des Papsttums sich einstellen. Erst seit den Tagen der Königin Elisabeth
entwickelte sich in England ein starkes Nationalgefühl, in Frankreich erst nach der
sozialen und kirchenfeindlichen Befreiung des Jahres 1789, in Deutschland erst ganz
unvermittelt plötzlich als Reaktion auf die Periode des napoleonischen Joches, die
der politischen Vormacht Preußens die Bauernbefreiung und die städtische Selbst-
verwaltung brachte. In einem weiteren Abschnitt werden die Kämpfe der Volkheiten
in Nationalitätenstaaten behandelt, wobei von der Schweiz ausgegangen wird, die
das Muster eines Nationalitätenstaates mit durchaus friedlichem Nebeneinander ver-
schiedenartiger Volkssplitter ist. Auch Kanada und die Vereinigten Staaten sind Bei-
spiele dafür. Es ist also gut möglich, einen Nationalitätenstaat in einem ungleich
erwünschteren Nationalstaat umzuwandeln. Voraussetzung dafür ist nur die Gleich-
berechtigung aller Volksteile und sprachliche Toleranz. Das heute in den neu-
geschaffenen Nationalitätenstaaten beliebte Mittel der Unterdrückung und Ent-
rechtung der sprachlichen und völkischen Minderheiten durch die jeweilige herrschende
Nation ist dafür allerdings das denkbar ungeeignetste. Unterdrückung völkischer
Minderheiten ist zwar eine bequeme, aber törichte Regierungsmethode, die unter
allen Umständen eines Tages staatszerstörend wirken muß, denn kein Staat mit
rebellischem Bevölkerungsblute kann jemals ein wirklicher Machtfaktor in der hohen
Politik werden, da er stets nur durch seine inneren Gegensätze behindert wird.
Weiter behandelt der Verfasser die Mehrstaatlichkeit und kritisiert das Schlagwort
vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Er tritt energisch für die Notwendigkeit
des Nationalbewußtseins ein. „Eine politische Großmachtstellung ist ohne starkes
Nationalgefühl der großen Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht denkbar, und
da der wirtschaftliche Wohlstand überall eine Funktion der politischen Gesundheit
des Staates ist, kann es kaum verwundern, daß die am meisten nationalbewußten
Völker häufig auch die wohlhabendsten sind.“ Als „Staaten ohne Volk“ nennt
Hennig den Kirchenstaat und die Europäische Donaukommission (?), als ,, Volker
ohne Staat“ die vielen völkischen Kulturgemeinschaften, die einem fremden Staat
606 Kritiken
einverleibt oder unter mehrere Staaten restlos aufgeteilt sind. Zu den Volkern ohne
Staat gehóren vor allem auch die Zigeuner und die Juden. Bei dem von England
neugeschaffenen „Jüdischen Staat Palästina“ kann es sich immer nur um kleinere
Teile des jüdischen Volkes handeln, die dem Zionismus anhüngen. Die groBe Mehrheit
der Juden hat nicht die geringste Neigung, sich staatlich „erlösen“ zu lassen und
steht dem neuen Judenstaate gleichgültig oder sogar ablehnend gegenüber. Die
Hauptmasse der nach dem Weltkriege aus Europa auswandernden Juden zog nicht
nach Palästina, sondern nach dem gelobten Lande der Vereinigten Staaten. So soll
die Hóchstzahl der jüdischen Kolonisten im Zionistenstaat nur 160000 betragen
haben, und da die Mehrzahl aller Juden niemals Bauern oder Farmer werden kann
und es auch gar nicht will, und Palästina nicht menschenleer ist, sondern seit langem
von Arabern bewohnt wird, so ist der jüdische Staat, aus dem die jüdischen Siedler
in den letzten Jahren wieder stark abwandern, als Fehlgeburt zu werten. Größere
Aussicht auf Verwirklichung haben vielleicht die Judenkolonien der Sowjetregierung
in Südrußland und die geplante autonome Juden-Sowjetrepublik in Ostsibirien
(zwischen Amur und Buraja-Fluß). Von den rund 14,8 Millionen Juden der Erde
wohnten 1926 nur 160000 in Palästina, dagegen 3,6 Millionen in den Vereinigten
Staaten (davon etwa 2 Millionen in New York) und über 2,8 Millionen in Polen. An
dieser Verteilung der Juden wird auch durch gelegentliche freiwillige Übersiedlung
nach Palästina in Zukunft wenig geändert werden.
Deutlich und offen wendet sich der Verfasser gegen die nationale Zersetzung
der Wirtsvölker durch die Juden, besonders durch die jüdische Presse. Mit Recht
weist er auf den unverhältnismäßig großen Anteil hin, den die Juden, insbesondere
diejenigen, die den mosaischen Glauben abgelegt, ohne ein anderes Religionsbekennt-
nis angenommen zu haben, in der Führung der Umsturzparteien aller Länder, zumal
im Parlament und in der Presse haben. In allen Ländern, wo der Bolschewismus die
Macht zeitweilig an sich riß, waren jüdische Elemente die wesentlichsten Träger der
Bewegung, lag doch die Regierungsgewalt in RuBland nach der zweiten bolsche-
wistischen Revolution 1917 in den Händen von 47 Juden und nur 4 Nichtjuden!
Der seit 2000 Jahren lebenskräftige Antisemitismus ist insoweit berechtigt, als er
die weitgehenden Sonderansprüche und die staatsunterwühlende bzw. -zerstórende
Tätigkeit erheblicher Teile des Judentums kräftig zurückweist.
Die beiden letzten Kapitel behandeln die Vorzüge und Nachteile der nationalen
Einheit des Staates und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Praxis der
Gegenwart. Die Nation wird als das physische, das Volk als das kulturelle und der
Staat als geistiges Individuum definiert. Durch die erzwungene Abtretung von Rand-
gebieten ist das Deutsche Reich heute noch mehr ein Nationalstaat als vor dem
Kriege, und die nationalen Minderheiten sind bei uns jetzt verschwindend klein. So
ist das Deutsche Reich neben Portugal der geschlossenste Nationalstaat der Erde,
aber von den 77½ Millionen geschlossen siedelnden Deutschen Mitteleuropas gehört
fast jeder fünfte nicht zum Deutschen Reiche! Frankreich dagegen, das neben
Italien vor dem Weltkriege zu den national am besten geschlossenen europäischen
Großmächten gehörte, hat heute eine völkische Minderheit von 13 v.H. Die Zahl
der reinen Franzosen im heutigen Frankreich ist um mehr als 2 Millionen kleiner als
im Jahre 1911. — So bietet Hennigs Werk eine Fülle von verarbeitetem Material
und reiche Anregungen zu geopolitischen Betrachtungen, wenn man auch nicht mit
allem einverstanden zu sein braucht. Bedauerlich ist z. B., daß er öfters von Deutsch-
R E = EEE — TR A—— _
Kritiken 607
land spricht und damit das heutige Deutsche Reich meint. Gerade in einer Geo-
politik müßten diese beiden wichtigen Begriffe klar auseinander gehalten werden.
Im Register erscheint das Deutsche Reich überhaupt nicht, und alles ist in den
Begriff Deutschland zusammengeworfen.
Leipzig. Hans Rudolphi.
Hans Sehaefer, Staatsform und Politik, Untersuchungen zur griechischen
Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts, Leipzig (Dieterich'sche Verlagsbuch-
handlung) 1932. VIII, 283 S.
Die Untersuchung Sch.s setzt sich das Ziel, für das 6. und 5. Jahrhundert
„zwischenstaatliche Formen gemein-griechischer Geltung zu suchen, ihre Herkunft
und ihre Veründerung durch die politischen Geschehnisse zu verfolgen". Es soll
versucht werden, ,,einen Zusammenhang zwischen dem Entstehen und Vergehen so-
wie dem Geltungsbereich der zwischenstaatlichen Formen und dem Verhalten der
einzelnen Staaten in der praktischen Politik festzustellen" und eine Erklürung
„für diese Besonderheit der Griechen aus ihnen selbst und ihren politischen Aktio-
nen“ zu finden, „die die wesensmäßige Einheit von Griechentum und politischer Form
erweist‘ (S. 12). Damit ist ein weites Feld der Forschung abgesteckt: im 1. Kapitel
befaBt sich Sch. mit den Formen des Einzelstaates in der zwischenstaat-
lichen Politik und untersucht den Fremdenschutz (S. 13ff.), die Ehrungen Aus-
wärtiger (S. 29ff.), die Verträge (S. 44ff.) und endlich die staatliche Form als zwi-
schenstaatlichen Faktor (S. 94ff.), im 2. Kapitel betrachtet er gemeingriechische
Formen in der zwischenstaatlichen Politik; zwei wichtige Elemente poli-
tischer Formung finden hier Behandlung: einmal wird der Nomos als Form zwischen-
staatlicher Politik in seinen politischen Erscheinungsformen, die der Verf. aus den
Begriffen der evvouía, ionvouia und avrorvouía herauszuarbeiten bestrebt ist,
einer eingehenden Erörterung unterzogen (S. 144ff.), weiter die Stellung der ago-
nalen Formen in der zwischenstaatlichen Politik näher untersucht (S. 175ff.);
hier interessiert den Verf. neben der begrifflichen Erfassung von agıoreverv - mootevew
und djiailaxrg; vor allem die Problematik der für das archaische und klassische
Griechentum so überaus bedeutsamen Begriffskomplexe von Hegemonie und Pro-
stasie.
Schon diese kurze Inhaltsübersicht zeigt, daB Sch. Fragen zu behandeln unter-
nommen hat, die zu den schwierigsten gehóren, die der historischen Forschung
gestellt sind. Nicht allein die Lückenhaftigkeit des Materials, die so häufig beklagte
Mehrdeutigkeit der Quellen treten der Erkenntnis hemmend in den Weg; der Ver-
such, zur tatsächlichen Wesenheit des griechischen Menschen und des von ihm
geformten Staates vorzudringen, setzt eine völlige Ablösung von gegenwartsnahen
Anschauungen voraus, die natürlich theoretisch stets zu fordern sein wird, deren
reale Durchführbarkeit aber starken Zweifeln begegnen muB. Vor allem liegt die
Gefahr nahe, daB die Bedeutung an sich richtig erkannter Besonderheiten in der
Grundhaltung des griechischen Menschen überschátzt und das Gesamtbild in dem
Streben, die verschiedensten Gegebenheiten politischer Formen einheitlich zu er-
fassen, verzerrt wird. Die Schwierigkeiten, die bei einer nach solchen Gesichts-
punkten orientierten Untersuchung wesensmáDig gegeben sind, kónnen nur gemeistert
werden durch die Sicherheit der Methode: gründliche Kenntnis der antiken Tradi-
tion und der modernen Literatur, völlige Beherrschung des Handwerksmäßigen
608 Kritiken
der Forschung, Zuverlässigkeit und Schärfe der sprachlichen Interpretation dürfen
ebensowenig fehlen als begriffliche Klarheit, die gestützt sein muß auf peinlich
genaue Auswertung des Materials. Nun erheben sich aber gerade in dieser Hinsicht
Bedenken gegen die Arbeitsweise des Verfassers. Wenn auch durchaus nicht in
Abrede gestellt werden soll, daß das Material fleißig durchgearbeitet ist, so sind
doch ziemlich häufig Versehen, Irrtümer und Flüchtigkeiten in der Argumentation
und Interpretation zu konstatieren, die den Wert der Beweisführung oft ganz
empfindlich schwächen und die erkennen lassen, daß Sch. noch nicht über die me-
thodische Sicherheit verfügt, die zur erfolgreichen Behandlung dieser an Schwierig-
keiten so überreichen Materie notwendig gewesen wäre. Ich gehe daran, dies an einer
Auswahl von Beispielen zu zeigen.
So findet sich S. 13 im Zusammenhang mit & 207f. (vgl. übrigens auch E 57f.)
7005 yao Aio; ei atavte; beivoi te royo te, docıs t oliyn re giin te der
Satz: „Dann aber ist es für alle Gebot, ihn (nämlich den Eros) mit Speise und
Trank zu laben, denn vor Zeus sind sie alle Bettler." Ganz abgesehen davon, daß
die sprachliche Interpretation der Stelle unter gar keinen Umständen diese Er-
klärung zuläßt, liegt auch der Gedanke, daß vor Zeus alle Bettler seien, dem ago-
nalen Menschen der homerischen Welt vollkommen fern. Man schwankt, ob hier
falsch übersetzt oder flüchtig interpretiert wurde. — S. 32 wird im Anschluß an
Thuk. I 129, 3 xeiraí co evepyeoia dv to) perigo oïxw d; del avaypa;rto;
folgende Behauptung aufgestellt: , Der pointierte Ausdruck rückt den Begriff
evepyeoia von selbst in die Nähe von »ouo;, der alle Griechen in gleicher Weise
verpflichtenden Norm, die niemals aufgezeichnet oder in festen Regeln gegeben
werden konnte. Gleich diesem ist die Euergesie schriftlos, sie wirkt verpflichtend
und verbindend zwischen den Staaten, die sie alle in demselben MaBe annehmen
und vergelten.“ Hier scheint araygarrro; mit aygarrro; verwechselt zu sein. —
S. 33 wird das athenische Ehrendekret für die Bewohner von Halikarnass nach der
Behandlung von Ad. Wilhelm, Hermes 24 (1889) S. 126f. zitiert und in die erste
Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert; in Wirklichkeit gehört die Inschrift in das Jahr
410/9 v. Chr. und ist IG II? 142, sowie nach endgiltiger zeitlicher Einordnung IG
1? 110a zu finden. — Der Rechtsvertrag zwischen Oianthea und Chaleion wäre S. 51f.
wohl besser nach Inschriftenpublikationen, etwa IGA 322 oder SGDI 1479, zu
zitieren gewesen, als nach Ed. Meyer, Forschungen z. Alt. Gesch. I S. 307ff. Daß
der diesem Vertrag unterstehende Fremde vor staatlicher Willkür nicht geschützt
gewesen sein sollte, wie Sch. S. 52 meint, ist — zumindest in dieser Formulierung —
nach Zl. 6ff. der Inschrift unrichtig. — Daß die Symmachie ursprünglich ein von
der ritterlichen Gesellschaft politisch formlos geübtes Zusammenkämpfen gewesen
ist, das nach Beendigung des jeweiligen Kampfes auch als aufgelóst galt und keine
„politischen“ Konsequenzen nach sich gezogen hat, ist sicher richtig; man darf
aber nicht glauben, daß es erst dem 5. Jahrhundert vorbehalten blieb, die Sym-
machie zum Träger zwischenstaatlicher Politik zu machen, ebensowenig, daß die
Symmachie des 6. Jahrhunderts keine Vertragsform, keine „eigentlich politische
Entscheidung‘ darstellte, die „schriftlich fixiert werden müßte“, daB sie „ihrem
Wesen nach schriftlos“ gewesen sei (S. 66). Hier, wie auch sonst, tritt die Neigung
Sch.s mit Argumenten e silentio zu operieren, stark zutage, ein Vorgang, der um so
gefährlicher ist, als unsere epigraphische Überlieferung für diese Zeit mehr als frag-
mentarisch ist. Trotzdem kann auf Grund eines inschriftlichen Zeugnisses die Un-
Kritiken 609
richtigkeit der Sch.schen Behauptung erwiesen werden. Auf einer Bronzetafel aus
Olympia, Inschr. v. Olympia Nr. 9, ist ein auf 100 Jahre abgeschlossener Vertrag
zwischen Elis und Heraia erhalten, der Zl. 2 als ovvaayıa bezeichnet unwider-
leglich zeigt, daB hier die Symmachie tatsüchlich zum politischen Instrument ge-
worden war; vgl. Zl. 3ff. a« de te deos: cute Fenos aate Flagyov: avyeav x alaloıs:
za t alla) xas naje moleuo: as de pa Ovrear: talaytov xlagyvQo: anotivoiar:
tos Ai Olwrnıo: tos xa/dalenevor: Aarpesouevov. Diese Inschrift — es ist
Sch. scheinbar entgangen, daß sie u. a. auch Syll.3 9 publiziert ist — will
Sch. in anderem Zusammenhang S. 80 „frühestens um die Mitte des 5. Jahrh.“
ansetzen, in Wirklichkeit gehört sie nach der sehr altertümlichen Form der
Buchstaben ziemlich hoch hinein in das 6. Jahrhundert, wie ein Vergleich mit
der sicherlich auch in Olympia selbst aufgezeichneten Weihung des Pantares,
Inschr. v. Olympia Nr. 142 (=Hiller v. Gaertringen, Histor. Griech. Epigramme
Nr. 5) erweist, die in die Jahre 530—520 zu setzen ist. Das Material ist in beiden
Fällen dasselbe, so daB man wirklich vergleichen kann; die Schrift in Syll. 9 ist
weit altertümlicher, wie denn auch Hiller v. Gaertringen Syll. 9 in das 6. Jahr-
hundert datiert hat. Danach sind also die Ausführungen Sch.s über die Entwick-
lung der Symmachie ganz wesentlich zu modifizieren. — Wenn Sch. S. 67 meint,
daß „der Charakter der Vereinbarung“ von 480 gegen die Perser „durchaus unpoli-
tisch, lediglich zur Verteidigung, nicht zum Angriff bestimmt" gewesen ist, muß
ich gestehen, dem nicht folgen zu können und verweise auf die bedeutungsvollen
zwischenstaatlichen Ergebnisse, über die Herodot VII 145 berichtet. — S. 106
wird behauptet, „daß erst seit Thukydides das Wort dnuoxgaria auftaucht, wäh-
rend es Herodot und der älteren Poesie fremd war“, S. 115 ist zu lesen, daß „das
Wort „Innorcaria“ in der älteren griechischen Literatur gänzlich fehlt, nicht ein-
mal bei Herodot zu belegen ist und erst der attische Anonymus, der sogen. Ps.-Xe-
nophon ( Adrvaior zolıreia) die ersten Belege vor Thukydides bringt“; das Wort
findet sich indes bei Herodot VI 43 robe yag rupavvovs tov Iovo* xxrazavcac
narras 0 Magóoviog à nuoxpatiag xatiota i; tag molit, weiter wäre wohl auch noch
ein Hinweis auf IG I? 14/15 (vor 446/5 v. Chr.) angezeigt gewesen, wo Zl. 37 die
Ergänzung xai Oeno[xgatiav ov xaralvoo tiv nadeoroocay] doch recht wahr-
scheinlich ist. — Man sollte auch nicht davon sprechen (S. 123), daB das Wort
zoAwttía „überhaupt erst im attischen Schrifttum“ aufkommt und dafür
Herodot IX 34 zitieren, wo ravra de Miyov ovrog (uuwero Melaumoóa, ws
eixacaı BacsAmirv te xai molırninv aiteonevoy Zu lesen ist. — Die Verleihung des
athenischen Bürgerrechtes an die Metoiken (IG II? 10) gehórt in das Jahr 401/0
und nicht 405, wie S. 139 steht; indes wird das wohl Druckfehler sein. Aber zu dieser
Inschrift war unbedingt außer W. Kolbe, Klio 17 S. 242ff. auch auf die Vorschläge
von De Sanctis, Riv. Filol. 51, S. 287ff. (vgl. SEG II 11) zu verweisen. — Für ver-
fehlt halte ich die Argumentation S. 154f.: die von B. Haussoullier, Rev. Philol.
1928, S. 191ff. edierte Inschrift aus Erythrai zieht Sch. als Beweis dafür heran,
daß die durch IG 1? 10 (= Syll.’ 41) bezeugte Verfassungsänderung in Erythrai
keinen gewaltsamen Eingriff Athens in die dortige Verfassung bedeutet habe, da
die erstgenannte Inschrift eine demokratische Ordnung voraussetze; einmal über-
! Auf diese Stelle hat, wie ich nachträglich bemerke, auch V. Ehrenberg, Der
griechische und der hellenistische Staat (Gercke-Norden, Einleitung in die Altertums-
wissenschaft III/3, 1032) S. 61 hingewiesen.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3 39
610 Kritiken
sieht Sch. vóllig, daB auch eine demokratische Ordnung gewaltsam im Sinne einer
schärferen Radikalisierung geändert werden kann, weiter ist aber die Deutung des
sachlich schwer zu verstehenden Textes von Erythrai keineswegs so sicher, als daß
man mit den Vermutungen Haussoulliers bündig argumentieren könnte. Direkt
falsch ist es, wenn Sch. behauptet, die erythräische Inschrift sei „in das Dezennium
zwischen 470—460 zu datieren“, Haussoullier a. O. S. 199 sagt ausdrücklich von
ihr: ,,Elle est antérieure aux changements qui sont intervenus dans la constitution
de cette cité ionienne vers 470—460." Auf keinen Fall geht es aber an, die gleiche
Inschrift an verschiedenen Stellen des Buches verschieden zu zitieren und auch im
Register so zu führen, wie dies bei dem athenischen Dekret über Erythrai geschehen
ist: als IG I? 10 wird es S. 86, als Syll.’ 41 S. 153f. behandelt. Bei dieser Gelegen-
heit muß auch einiges über die Art Sch.s, Inschriften heranzuziehen, vermerkt
werden. Man ist doch verpflichtet, wenn man Inschriften ausschreibt, die Ortho-
graphie beizubehalten und die epigraphischen Editionszeichen so zu setzen, dab
der Leser über den Erhaltungszustand im klaren ist, zumal, wenn man damit argu-
mentieren will. Die Orthographie ist, soweit ich sehe, konsequent vernachlässigt;
Klammern werden zuweilen gesetzt, zuweilen weggelassen, ohne daß sich für die
einzelnen Fälle ein Grund ausfindig machen ließe. Ferner wäre doch wohl auch
eine Gleichmäßigkeit der Zitierweise möglich gewesen. Man zitiert heute nicht
mehr ohne zwingenden Grund nach älteren Publikationen allein, wenn neuere vor-
liegen; vgl. S. 187, wo Hicks and Hill Nr. 150 zu ersetzen war durch Syl.’ 261
und Michel Nr. 20 durch IG IV/1? 71, wenn man auf Syll.5 471 wegen des Fehlens
der Schiedsrichternamen nicht verweisen will. Man zitiert auch nicht die inschrift-
liche Formel xe» rayà xev araylias nach Ed. Meyer, Theopomps Hellenika
allein, wie das S. 212 geschehen ist, sondern nach IG IX/2 257 bzw. Syll.5 55. —
Flüchtigkeiten führen häufig zu schief formulierten Behauptungen, so z. B. eben
S. 212, wo man die Behauptung, daß „er rayà x’er arayias (Ed. Meyer a.a. O.
S. 232) gleichbedeutend ist mit ¿y zoA/u» xai év eh mit den weit vorsichtige-
ren und einschränkenden Ausführungen bei Ed. Meyer, Theopomps Helleniks
S. 2321. vergleichen móge. Auf der gleichen Seite wird über den Vertrag zwischen
Athen, Argos, Mantineia und Elis unter Verweis auf Thuk. V 47,7 gesagt: „In
dieser Symmachie ist derjenige Hegemon, der die Hilfe des Bundes für sich in
Anspruch nimmt, im übrigen besteht vollkommene Gleichheit‘; dagegen berichtet
Thukydides a. O. ) de zou; peramepwapivg thy nyenoviav fr, orav èr ty
avtz; © moÀeuo; y. — S. 250 meint Sch., daB nur durch den persischen
Rachezug das Bündnis von 338/7 v. Chr. „überhaupt formalen Charakter"
erhalten habe, eine Formulierung, von der ihn gerade die Untersuchung U. Wilckens,
Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee hätte abhalten sollen, die
er nennt und deren Ergebnissen er sonst zuzustimmen scheint (vgl. S. 82 und 90).
Obwohl sich die Zahl der Beispiele noch ganz bedeutend vermehren lieBe,
breche ich ab; einmal, um den Rahmen einer Besprechung nicht allzuweit zu über-
schreiten, zum andern, weil ich der Ansicht bin, genügend Material beigebracht zu
haben, um mein Urteil zu begründen.
Die Untersuchung Sch.s verdient aus methodischen Gründen allgemeines
Interesse; denn sie zeigt mit unwiderleglicher Klarheit, daB man sich nur dann an
die letzten Probleme der Forschung wagen darf, wenn man sich mit dem metho-
dischen Rüstzeug sicher gewappnet weiß. Erst wenn die Quellen scharf erfaßt
Kritiken 611
sind, die Interpretation sprachlich und sachlich gesichert ist, kann Ideenforschung
getrieben, Neuland gewonnen werden. Der Versuch Sch.s ist ein Versuch geblieben,
der die Forschung nicht wesentlich bereichert hat. Und doch würe es ein Unrecht
gegen den Verf., wollte man nun nach solchen Eindrücken das ganze Buch von
vornherein ablehnen; seine Ausführungen sind anregend und enthalten oft wertvolle
Gedanken, wenn sie auch leider nur zu oft berechtigten Widerspruch herausfordern.
Ungeprüft wird man die Ergebnisse Sch.s nicht übernehmen dürfen und immer wie-
der wird man sich vor die Notwendigkeit gestellt sehen, nachzuarbeiten und die
Untersuchung von neuem zu führen. Denn der Grund, auf dem die stellenweise
stark ins Spekulative gehenden Argumentationen Sch.s aufgebaut sind, scheint
nicht sicher. Und von dem peinlichen Gefühl groBer Unsicherheit wird der kritische
Leser sich nicht befreien können, wenn er auch den Fleiß des Verf. und die Neu-
stellung der Problematik dankbar anerkennen wird.
Graz. Franz Scbehl.
Geschichte der führenden Völker. Herausgegeben von Heinrich Finke, Hermann
Junker, Gustav Schnürer. Freiburg im Breisgau, Herder & Co.
Bd. VI. Rómische Geschichte. Erste Hálfte. Die rómische Republik. Von
Joseph Vogt. Mit 9 Tafeln. 1932. 350 S.
Bd. VII. Rómische Geschichte. Zweite Hálfte. Die rómische Kaiserzeit.
Von Julius Wolf. Mit 8 Tafeln. 1932. 286 S.
Vogts Geschichte der rómischen Republik ist ein ernstes und gediegenes Buch.
Unter Verzicht auf alles anekdotische Beiwerk gibt V. eine pragmatische Geschichte,
in der die historisch wirkenden Krüfte dargelegt und aus ihrem Zusammenspiel
die großen Linien der Entwicklung gestaltet werden. Der Verf. verfügt über die
seltene Gabe, auf knappem Raume das Wesentliche zu sagen. Auf Schritt und Tritt
merkt man, daß er die Ergebnisse der jüngsten Forschung berücksichtigt, aber
keineswegs nur das übernommene Gut in neue Form einkleidet, sondern die Pro-
bleme scharf und selbstándig durchdacht hat. Dem Plane des Gesamtwerks ent-
sprechend, wird besonderer Nachdruck gelegt auf die diesem ‚führenden Volk“, das
wie kein anderes der Geschichte diesen Namen verdient, eigentümlichen Eigenschaf-
ten und Lebenswerte, auf ihre Verkórperung im Staate und auf die Mission, die dem
Römertum im Ablauf der Universalgeschichte zufällt. Das geistige Element findet
ebenso eingehende Berücksichtigung wie die sozialen und wirtschaftlichen Ver-
hältnisse; dagegen tritt m. E. das militärische Moment zu wenig hervor, dem doch
gerade in der rómischen Geschichte besondere Bedeutung zukommt. Eine Ausein-
andersetzung mit Quellen und neuer Literatur lehnt V. im Vorwort mit dem Hin-
weis auf eine Behandlung derselben an anderer Stelle ab, doch würe eine kurze
Charakterisierung des Quellenmaterials mit Rücksicht auf den nicht fachlich
geschulten Leser erwünscht gewesen. Eine Literaturübersicht findet sich am Schlusse
des Buches.
Bei einem Werke dieser Art kann es nicht Aufgabe einer Besprechung sein,
in Einzelheiten des gewaltigen Stoffes einzugehen. In einer Anzahl von Punkten
deckt sich meine Auffassung nicht mit der des Verf.; wenn im Folgenden einige von
diesen angeführt werden, so soll dies die Anerkennung, die dem Buche gebührt,
nicht beeinträchtigen.
39*
612 Kritiken
In dem ersten Abschnitt behandelt der Verf. die „geographischen und histo-
rischen Grundlagen" der rómischen Geschichte; gleich hier wird man einzelnen Be-
merkungen nicht ohne weiteres beistimmen kónnen: so, wenn der Verf. (wohl im
Anschluß an Strabon) meint, daß von Italien aus „nach allen Richtungen hin mit
leichter Bewegung Entscheidungen herbeigeführt werden kónnen" und daB sich
„besonders im Altertum ... hier der Sammelpunkt aller wirksamen Kräfte bilden
mußte“ (S. 7f.); fügt er doch gleich selbst hinzu, daß „diese politische Einigung
des Mittelmeergebiets nur einmal in der Geschichte, eben durch die Römer, ganz
verwirklicht worden“ ist. Die historische Entwicklung in der Zeit vor der römischen
Universalherrschaft (der Seeverkehr war damals mindestens ebenso rege als unter
römischer Herrschaft) und in den Jahrhunderten seit dem Untergang des römischen
Reiches beweisen, daß der Lage Italiens die Bedeutung einer „kaiserlichen Tribüne“
nicht zukommt; die Nachteile der geographischen Lage der Halbinsel sind oft hervor-
gehoben worden und machen sich noch heute geltend. Dagegen kann den Bemerkun-
gen des Verf. über die Lage Roms (S. 4) durchaus zugestimmt werden. Sehr fein
bemerkt er: „An der großen Durchgangsstelle des Landes gelegen, war die Stadt
vor die harte Notwendigkeit gestellt, sich äußerem Druck zu fügen oder von sich
aus die Umgebung zu beherrschen. Der römische Charakter hat die Alternative im
Sinne der Herrschaft entschieden." Hier kommt der Verf. zum erstenmal auf die
nationale Wesensart des römischen Volkes zu sprechen; er betont seinen „aus-
gesprochen männlichen Charakter“ (S. 7), „die Anerkennung einer überragenden
Autorität und die Erziehung zum Befehlen und Gehorchen“, die bereits in der Or-
ganisation der Familie, der patria potestas, zum Ausdruck komme (S. 13).
Für die gesamte Darstellung gilt, daß Vogt in seiner Bewunderung für das Römer-
tum, in welchem Machtwille, Herrschaftsgedanke und „Zweckgebundenheit“ ihre
vollkommenste Ausprägung in der Geschichte gefunden haben, die Schattenseiten,
die dem römischen Nationalcharakter anhafteten, außer Acht läßt, vor allem die
„wölfische“ Art, die nicht einmal von den Römern selbst geleugnet wurde; man
lese die Reden, die der gewiß patriotische Livius Gegnern Roms in den Mund legt.
Der stahlharte, nüchterne, verschlagene Bauernkopf des sog. Brutus, den eine dem
Buche beigegebene Tafel zeigt, spiegelt die Charakterzüge des Römers der herrschen-
den Schicht ganz vorzüglich wider, ebenso wie in den Kriegern der praenestinischen
Cista (Tafel II) die knorrige Zähigkeit und — Engstirnigkeit des römischen Bürger-
soldaten unübertrefflich zum Ausdruck kommt.
Dem großen Rätselvolk der Etrusker kann der Verf., der Ökonomie seines
Werkes entsprechend, nur wenige Seiten widmen. Was er über die Etrusker sagt,
scheint mir doch mit zu großer Sicherheit vorgetragen; über die Art der Einwande-
rung, des Vordringens in Italien und die anderen Fragen der etruskischen Geschichte
schwebt noch immer ein nur spärlich gelichtetes Dunkel. Ein feststehendes Faktum
vermisse ich: den Seeraub, einen Haupterwerbszweig der Etrusker. DaB ein An-
gehöriger des Geschlechtes rumlna die lateinische Siedlung am unteren Tiber er-
obert und zur etruskischen Gemeinde erhoben habe (S. 17), wird durch die Ableitung
des Stadtnamens aus dem Etruskischen noch nicht bewiesen; eine etruskische Ge-
meinde ist Rom, wie Vogt selbst betont, nie gewesen. Da es nach der Besitzergreifung
Toskanas wohl niemals zu etruskischen Gesamtunternehmungen gekommen ist,
war eine zielbewuBte imperialistische Politik und die gewaltsame Etruskisierung
einer stammfremden Gemeinde kaum móglich; die vorübergehende Beherrschung
Kritiken | 613
Roms durch das Geschlecht der Tarquinier wird das Werk einer kriegerischen Adels-
sippe gewesen sein.
Mit Recht tritt der Verf. dafür ein, daß die Legenden über die Königszeit
manche historischen Erinnerungen enthalten. Die dunkle Zeit des ersten Jahrhunderts
der Republik wird in dem zweiten Abschnitt „Die Republik und Italien“ mit der
gebotenen Vorsicht behandelt. In einzelnen Punkten entscheidet sich V. für eine
Auffassung, die ich nicht zu teilen vermag. So kann man z. B. für die Frühzeit
gewiß noch nicht behaupten, daB „die patrizischen Gentes durch Verluste im Krieg,
durch Inzucht und andere Gründe abzunehmen begannen" (S. 19), und ebensowenig
wird es zutreffen, daB der Senat in diesen Zeiten „die Entscheidung der Gemeinde-
versammlung bestátigen muBte". Die Erringung des Rechtes der Provokation —
eine außerordentlich einschneidende Einschränkung des Imperiums — würde ich
eher an das Ende als an den Beginn (S. 25) des „Ständekampfes“ setzen. Die ganz
ungewöhnliche Institution der sacrosanctitas der Volkstribunen findet in der
„feierlichen Erklärung‘ der ganzen plebeischen Gemeinde (S. 29) keine hinreichende
Aufhellung. — Der für die Beurteilung der rómischen Machtverháltnisse hóchst
bedeutsame erste Vertrag zwischen Rom und Karthago kann, wie zuletzt Schacher-
meyer (Rhein. Mus. 1930, 350ff.) nachgewiesen hat, iu in das erste Jahr der Re-
publik (S. 21) verlegt werden.
Allen Lobes wert sind die Abschnitte , Wesen und Wirken der republikanischen
Verfassung“, „Das Problem der römischen Expansion“ und „Staatenbild Italiens
um 265 v. Chr.". In diesen Kapiteln sind mit sicherem Blick die Grundlinien der
inneren und äußeren Politik Roms gezogen und „die Triebkräfte der römischen
Machtpolitik" dargelegt, um die sich, wie V. bemerkt, die wissenschaftliche For-
schung bisher noch wenig bemüht hat. Mit Recht hebt der Verf. die einzigartige Ver-
bindung von (allerdings, wie mir scheint, stark formalistischer) Rechtlichkeit und
Einräumung einer gewissen bürgerlichen Freiheit mit der Auswirkung des in strenger
Form durchgeführten Machtgedankens hervor. Doch so wie Polybios, dessen Be-
trachtungsweise er sich weitgehend zu eigen macht, geht er in der Bewunderung
der organisatorischen Kunst Roms doch wohl zu weit und übersieht die auch hier
nicht fehlenden dunklen Seiten; hätten wir zeitgenössische Nachrichten über das
innere und áuBere Leben Roms in diesem Zeitalter, so würde vieles nicht in so ver-
klärtem Lichte erscheinen.
Der dritte Abschnitt „Die Republik und die Mittelmeerwelt“ setzt mit der zu-
treffenden Ablehnung einer „von Anfang an feststehenden Planmäßigkeit der Er-
oberungen“ ein, doch vermag Vogt den Auftakt der neuen Epoche, den Konflikt um
Messana, nicht überzeugend zu motivieren (S. 79ff.). Roms damaliges Verhalten
gegen Karthago ist ein unter Bruch eines Übereinkommens erfolgter Akt provoka-
torischer Politik. Die phönizische Republik verfolgte, wie V. mit Recht betont, nur
Handelsinteressen; sie hatte sich bis dahin kommerziell und politisch mit Rom
ausgezeichnet verstanden; nur dank der Koalition der beiden Mächte war es möglich
geworden, einen so gefährlichen Gegner wie Pyrrhos zu erledigen. Die Festsetzung
der Punier in Messana bedeutete noch lange nicht die Gefahr einer Annexion der
ganzen Insel; war doch damals das von Karthago niemals bezwungene Reich von
Syrakus noch in voller Blüte und es lag nicht im Wesen der punischen Politik, alle
Machtmittel des Staates an die Erreichung imperialistischer Ziele zu setzen. Die
Besitznahme Messanas hätte demnach an den Verhältnissen nicht viel geändert,
614 Kritiken
zumal da den Rómern zu ihren Kolonien und Bundesgenossen an der Adria der Land-
weg jederzeit offen stand. Es scheint mir auch kaum glaublich, daB tatsächlich, wie
die Überlieferung besagt und auch der Verf. annimmt, die leitenden Staatsmanner
Roms die Führung aus der Hand gaben und sich — etwa nach Art der Athener —
von der Bürgerschaft ins Schlepptau nehmen ließen. In Wirklichkeit wird damals —
gerade so wie später bei der Entfesselung des ebensowenig durch eigene Lebens-
gefahr bedingten zweiten makedonischen Krieges — die Initiative von der Regie-
rung ausgegangen sein.
Die (gerade jetzt im Mittelpunkt einer Diskussion stehende) Frage der
„Kriegsschuld‘ im zweiten punischen Krieg beantwortet V. dahin, daB der punischen
Regierung und den Barkiden die systematische Vorbereitung eines Rachekrieges
fernelag und Hannibal den Konflikt nicht gesucht hat, daB aber der junge Feldherr
nicht zógerte, den durch das Vorgehen der Rómer unvermeidlich gewordenen Krieg
mit raschem Zugriff aufzunehmen. Das Kriegsziel Hannibals erblickt Vogt in der
Sprengung des italischen Bundes und in der Anerkennung der von seiner Vaterstadt
beanspruchten Machtposition in Afrika und Spanien.
DaB der Verf. die Ereignisse im Westen vom Ende des zweiten bis zum Ausgang
des dritten punischen Krieges von den Vorgängen im Osten getrennt behandelt,
ist kaum zu billigen. Der universal-historische Zusammenhang der Ereignisse geht
dadurch verloren. Gleich der Friedensschluß, der den hannibalischen Krieg beendete,
erscheint in ganz anderem Lichte, wenn man die damalige allgemeine politische
Lage in Erwägung zieht. Er bedeutete keineswegs den Zusammenbruch der punischen
Macht; vielmehr bot er bei entsprechender Gestaltung der internationalen Kon-
stellation noch genügend nutzbare Móglichkeiten; erst bei Magnesia ist Karthago
besiegt worden.
„Das bedeutsamste Ergebnis des (hannibalischen) Krieges war die weltpolitische
Orientierung Roms" (S. 116). Zutreffend spricht V. von einer „im Wesentlichen
praeventiven Politik Roms“ im Osten, man kann noch weiter gehen und sagen,
daß die Politik der leitenden römischen Staatsmänner, wie die Bismarcks nach 1871,
vom cauchemar des coalitions beherrscht war. Erst nach den (gewiB auch den
Rómern unerwarteten) schnellen und entscheidenden Erfolgen über die waffen-
mächtigsten hellenistischen Großmächte ist „die indirekte Beherrschung der öst-
lichen Staatenwelt" die leitende Maxime der römischen Ostpolitik geworden. Aber
nicht einmal die Römer selbst hätten sich, wie es V. tut (S. 120), darauf berufen
können, daß sie ‚in Italien und auf Sizilien wiederholt ihre Griechenfreundschaft
bekundet hatten“ — man lese doch, was ein Gesandter Antiochos’ III. den Vertretern
der Tiberstadt ins Gesicht sagt (Liv. XXXV 16). — Auch in dem „Die Organi-
sation der römischen Herrschaft im Mittelmeergebiet“ betitelten Kapitel erscheint
mir die Auffassung Vogts als für Rom zu günstig; seine Darstellung nimmt Er-
scheinungen vorweg, die erst der Kaiserzeit angehören. Die Struktur des mediter-
ranen Reiches zeigt „die politische und rechtliche Begabung der Römer“ keineswegs
„auf ihrer Höhe“ (S. 134), sie steht vielmehr an Folgerichtigkeit und Großzügigkeit
weit hinter den Einrichtungen des italischen Bundes zurück; gibt doch der Verf.
an einer späteren Stelle (S. 176) selbst zu, daß „die Organisation der Provinzen keinen
Zweifel darüber lieB, daB die Untertanenländer Ausbeutungsobjekte des römischen
Volks waren". Während die politische Herrschaft Roms für die griechische Welt
sich bei weitem weniger segensreich ausgewirkt hat, als man nach Vogts Ausführun-
Kritiken 615
gen annehmen müBte, hat umgekehrt die kulturelle Übermacht des hellenischen
Geisteslebens die Rómer erst zu einer Kulturnation erhoben. In dem Kapitel ,, Rómer-
tum und Hellenismus behandelt V. die Resorption des hellenistischen Kultur- und
Zivilisationsbesitzes durch Rom, die — und dies ist der leitende Gedanke dieses
Abschnittes — zwar eine geistige Krise des Rómertums herbeiführte, aber nicht
zur Preisgabe der rómischen Wesensart, vor allem der Praeponderanz des Staats-
und Machtgedankens, geführt hat.
Der vierte Abschnitt „Die Republik und die Weltherrschaft“ legt dar, daB
der Übergang zum Großreich eine „Revolutionierung des ganzen römischen Daseins“
mit sich brachte, die in politischer Hinsicht schließlich in die unabwendbare Forde-
rung nach dem persónlichen Regiment ausmündete. Das schürfere Hervor-
treten der einzelnen Persónlichkeit und unsere genauere Kenntnis gibt dem Verf.
Gelegenheit zu Charakterbildern der führenden Männer, die in knapper Formu-
lierung die beherrschenden Wesenszüge scharf herausheben!. Doch kann ich dem
Verf. nicht beistimmen, wenn er Caesar schon frühzeitig das Ziel einer „königlichen
Herrschaft verfolgen läßt, die aus den Trümmern von Staat und Gesellschaft eine
Neuordnung schaffen" sollte (S. 240). Caesar ist, wie jeder große Staatsmann, in
seine politischen Zielsetzungen erst hineingewachsen. Den Kern der Sache trifft
dagegen die Bemerkung, daß der Feind, gegen den Caesar nach Pharsalos zu kämpfen
hatte, „Rom als Staatsidee“ gewesen ist. Diesem Feinde ist er erlegen, während
sein Adoptivsohn „sich den wohlgesetzten Normen des Rómertums fügte“ und
dauernde Ordnungen zu begründen vermochte, indem er „Monarchie und Reich
in römische Formen prägte“.
In dem letzten Kapitel „Römertum, Hellenismus, Orient“ entwirft V. ein Bild
des geistigen Lebens im Zeitalter des Ausganges der Republik. Auffälligerweise fehlt
ein Hinweis auf die Jurisprudenz, eine der stolzesten Leistungen des römischen
Geistes, die doch nicht erst eine Schöpfung der Kaiserzeit ist. Gerade dieser Bereich
des geistigen Lebens ist ja so recht ein Beleg für die Richtigkeit des schönen Aus-
spruches, mit dem V. den das ganze Werk durchziehenden Gedanken am Schlusse
wieder betont (S. 321): „Die neuen Fähigkeiten und Ausdrucksformen des Geistes
hatten sich nicht zu Selbstzwecken erhoben, sie dienten vielmehr dem Handeln
im Staate, der höchsten Lebensaufgabe, die auch dem geistig erschlossenen Römer-
tum unerschütterlich feststand.“ —
Zum Schlusse seien einige störende Schreibfehler angemerkt. S. 62 soll es statt
Manius Spurius Manius Curius heißen. — Die Triumvim hatten nicht 10000 Ve-
teranen zu versorgen (S. 306), sondern gegen 170000. — DaB der Consul des J. 83
v. Ch. C. Norbanus, nicht C. Junius Norbanus, hieB, hat Münzer (Hermes 1932,
S. 222) berichtigt. —
Die Geschichte der römischen Kaiserzeit von Julius Wolf trägt einen von dem
Buche Vogts wesentlich verschiedenen Charakter. Die Synthese der geschichtlich
wirksamen Faktoren und die Durchdringung des Stoffes mit leitenden Gesichtspunk-
ten sind hier nicht in demselben Grade gelungen. Zwar hebt der Verf. aus der Fülle
der historischen Probleme, die gerade die Kaiserzeit dem Forscher stellt, einzelne
heraus: so erscheinen ihm die Regierungssysteme des Diktators Caesar und des
Augustus als die beiden gegensátzlichen Regierungsprinzipien, von denen sich die
Daß Brutus nicht Stoiker war (S. 278), sondern der Schule der Akademiker an-
gebórte, sel nebenbei bemerkt.
616 Kritiken
Kaiser bis ins zweite Jahrhundert leiten ließen (Traian sei in der Innenpolitik „die
Wege des national-römischen Principats“, in seiner Außenpolitik die Wege Caesars
gegangen); die Umwandlung des römischen Nationalstaates in ein ‚internationales,
universales Weltreich‘‘, in dem der Vorrang Roms und Italiens aufgegeben wurde,
die Stadien der Orientalisierung und der Barbarisierung u. a. verliert W. nicht aus
dem Auge, im Allgemeinen überwiegt jedoch in den politisch-historischen Abschnitten
die erzählende Form oder der reine Tatsachenbericht, der auch (mitunter minder
wesentliches) Detail nicht verschmäht, obwohl der ungeheure Stoff in verhältnis-
mäßig sehr gedrängter Form dargeboten wird.
Die Behandlung des geistigen Lebens befriedigt in höherem Maße als die der
politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Die (von der historischen Darstellung
getrennten) geistesgeschichtlichen Abschnitte sind bei aller Knappheit klar und for-
mell sowie inhaltlich ansprechend; sie bieten treffliche Charakteristiken literarischer
Größen (z. B. des Vergil, Horaz, Tacitus, Augustinus) und enthalten feinsinnige und
prägnante Bemerkungen (z.B. S.165: „Die allgemeine Verleihung des Bürger-
rechtes durch Caracalla wirkte sich auch auf religiösem Gebiet aus. Waren jetzt die
Untertanen gleichberechtigt, so mußten es allmählich auch ihre Götter werden“.)
Die Abschnitte, die sich mit dem Christentum, seiner Ausbreitung und den geistigen
Strömungen innerhalb der Kirche befassen, heben das Wesentliche hervor und können
als besonnen und um Objektivität bemüht bezeichnet werden, wenn man sich auch
nicht mit allen Ausführungen des Verfassers einverstanden erklären wird.
Leider fehlt es in dem Buche nicht ganz an störenden Versehen (z. B. Diodors
Einreihung S. 109; „Roma-Augusta-Altar“ S. 26; Varus „sollte das verloren ge-
gangene Land wieder erobern“ S. 31; des Tiberius „Stiefmutter“ S. 56; der „ein-
undachtzig jährige“ Nerva S. 96; die Angabe, daß man im Osten nach dem Sture
des Gainas „endgültig mit der Einrichtung des Privatmilitärs, der sog. bucellarii,
aufráumte", S. 229, beruht auf einem Mißverständnis der Bemerkungen Ernst
Steins in seiner Geschichte des spátrómischen Reiches (S. 365: bestand doch der
Kern der Ármee Belisars aus bucellarii).
In einer Schlußbetrachtung (S. 269ff.) legt der Verf. zusammenfassend die Mo-
mente dar, die nach seiner Auffassung dazu führten, daß „die Römer ihre Stellung
als führendes Volk verloren" (in politischer Hinsicht führt er den unzulänglichen
Grenzschutz, die Barbarisierung der Armeen, die verfehlte Wirtschaftspolitik und
die Reichsteilungen an), und betont, daß sich das Erbe des römischen Kaisertums
hauptsächlich in der katholischen Kirche erhalten habe.
In dem Literaturverzeichnis vermisse ich die Werke vonDopsch, Wirtschaft-
liche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung, O. Th. Schulz,
Das Wesen des römischen Kaisertums und Vom Prinzipat zum Dominat, Arthur
Stein, Der römische Ritterstand. Die längst veraltete Arbeit von C. Fuchs, Geschichte
des Septimius Severus, verdient nicht mehr angeführt zu werden.
Wien. Edmund Groag.
Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Hrsg. v. d.
Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Bd. 3, Tl. 1: Bistum
Augsburg. Bearb. von Paul Ruf. München: Beck 1932. (191 S.). 40.
Obwohl auf dem Titelblatt dieses Bandes ein anderer Name steht als bei den
beiden bisher erschienenen, trägt doch auch dieser Band ganz den Stempel dessen,
Kritiken 617
der das Unternehmen der „Mittelalterlichen Bibliothekskataloge“ bisher betreut
hat und weiterhin als Redaktor die Leitung bei der Veröffentlichung in der Hand hat;
und mehr als das: Paul Lehmanns Vorarbeiten sind immer wieder bei den Literatur-
angaben zu finden, seine weitgehende uneigennützige Hilfe fördert die Zusammen-
stellung der bibliothekshistorischen Notizen und der erhaltenen Handschriften er-
sichtlich. Das Verdienst des neuen Bearbeiters ist deshalb nicht geringer; ein Ver-
gleich mit den vorhergehenden Bänden zeigt, daß die Fortführung genau in dem
Geist erfolgt, mit dem das Unternehmen begonnen ist. Keineswegs galt es, sklavisch
das nachzuahmen, was für andere geographische Gebiete schon geleistet war; der
neue Band stellte neue Aufgaben; sie sind ebenso selbständig, wie im Geiste des
ganzen Unternehmens gelöst. Wieder sind es nicht nur Kataloge, welche in philo-
logisch einwandfreier Form dem Forscher auf dem Gebiet mittelalterlichen Geistes-
lebens dargeboten werden: die Einleitungen mit ihren gedrängten Übersichten der
Bibliotheksgeschichte, mit ihrer Verarbeitung des erfaßbaren buchgeschichtlichen
Materials bieten dem Leser und Forscher gleichzeitig Zusammenfassungen der Er-
gebnisse der bisherigen Literatur, wie auch Hinweise auf Quellen und Gegenstände,
die noch weiterer Behandlung bedürfen. Welchen Wert die Veröffentlichung der
Mittelalterlichen Bibliothekskataloge für die verschiedensten historisch gerichteten
Wissenszweige hat, beweist dieser Band von neuem durch die Menge gesicherten
Materials, das zum Teil in der systematischen Zusammenstellung und einwandfreien
Bearbeitung bequem zugänglich, zum Teil überhaupt erstmalig bekanntgemacht
wird. An der Entdeckung der letzteren Materialgruppe für den vorliegenden Teil-
band hat der Bearbeiter beträchtlichen Anteil. Diese Leistung wird jeder anerkennen,
der weiß, wie verborgen solche Quellen oft fließen; und jeder wird dankbar sein,
daß ein in der mittelalterlichen Geistesgeschichte so wichtiges Gebiet wie das Bistum
Augsburg nun in den „Mittelalterlichen Bibliothekskatalogen“ vorliegt, die nach
den Worten des Bearbeiters „bereits zu einem vielbenutzten Nachschlagebuch für
das Gebiet des mittelalterlichen Geisteslebens geworden sind".
Die überwiegend sehr kurzen Bücherlisten aus der Augsburger Diözese konnten
trotz ihrer beachtlichen Zahl (66) einen Band im üblichen Umfang nicht füllen.
Daß trotzdem dieser Teil einzeln ausgegeben wurde (es sollen Eichstätt und Freising
noch folgen), ist wegen des dadurch ermöglichten rascheren Erscheinens, aber auch
im Interesse der Lokalforscher sicher sehr zu begrüßen. Freilich müssen die Ab-
nehmer nur dieses Teilbandes auf ein Register, ja sogar eine Liste der enthaltenen
Kataloge verzichten; im Hinblick auf die Ökonomie des Ganzen wird man die Be-
rechtigung dieser Regelung anerkennen. Daß ein Ausschöpfen gerade von der
inhaltlichen Seite her ohne das Register nicht möglich ist, hat die Kommission zu-
gegeben, als sie im Gegensatz zur österreichischen Reihe jeden Band gleich mit
Register erscheinen ließ. Wer jetzt nicht notwendig auf das Register warten muß,
der ortsgeschichtliche Forscher und der Bibliothekshistoriker, ist später wieder der
Benachteiligte, da ja Orts- und Personenregister vorerst nicht zu erwarten sind;
die Fülle von Namenmaterial war aber vielleicht noch in keinem der bisherigen
Bände so groß, wie in diesem: Namen der Schenkgeber, Schreiber, Illuminatoren,
Buchbinder, Bibliothekare, gelehrten Besucher, ja auch in einzelnen Bibliotheken
tätigen Autoren. Auf die Vervollständigung der bibliothekshistorischen Nachrichten
aus der Literatur und aus urkundlichen Quellen ist in dem neuen Band mehr Wert
gelegt worden als bisher, um die oft kärglichen Kataloge zu ergänzen; so fällt der
618 Kritiken
Mangel eines solchen Namenregisters hier besonders auf. Der Bibliothekshistoriker
denkt bei dieser Gelegenheit vielleicht noch weiter: werden die Einzelbearbeiter,
wird die Kommission sich einst dazu entschließen, auch das in ähnlicher Weise
bekanntzugeben, was sie über Bibliotheken, von denen mittelalterliche Kataloge
sich nicht mehr gefunden haben, gesammelt haben? Für die Schlüsse, welche von
den Katalogveróffentlichungen auf das mittelalterliche Geistesleben gezogen werden,
würde damit eine sicherere Grundlage geschaffen; denn die Versuchung, von den Bi-
bliotheken mit Katalogen aus zu verallgemeinern, ist nicht wegzuleugnen. Ange
sichts des Augsburger Bandes wird man dies Bedenken vielleicht nicht mehr allzu
schwer nehmen; von den wichtigeren Klosterbibliotheken wenigstens fehlt wohl so
gut wie keine: Wir finden die Benediktinerklóster in beträchtlicher Zahl und mit
Namen, die in Weltgeschichte und Weltliteratur eingegangen sind: Andechs, St.
Ulrich und Afra in Augsburg, Benediktbeuren, St. Mang in Füssen, Kochel, Thier-
haupten, Wessobrunn; auch das noch nicht gesicherte Staffelseekloster ist dabei.
Von anderen Klóstern müssen wenigstens das Zisterzienserkloster Kaisheim bei
Donauwörth und die Kartause Buxheim bei Memmingen genannt werden. Dazu
kommen die Dom- und sonstigen Kirchenbibliotheken, die Bücherlisten einzelner
Geistlicher, die umfangreichen Verzeichnisse der Grafen von Öttingen. An Buntheit
der Bücherlisten (auch in ihrer äußeren Form) übertrifft der neue Band noch den
ersten.
Diese Buntheit erstreckt sich auf das Alter der Kataloge, die von der frühesten
Zeit, aus der wir Bibliothekskataloge im Mittelalter kennen, bis tief in die Inkunabel-
zeit reichen; das bedeutet freilich, daß nicht alle verzeichneten Bücher Handschriften
sein müssen. Dessen muß sich der Benützer stets bewußt bleiben, zumal er durch
den Brauch, nur die erhaltenen Handschriften, nicht auch die Inkunabeln zu ver-
zeichnen, versucht ist, bei den Katalogen reine Handschriftenverzeichnisse anzu-
nehmen. Nur wenigen spätmittelalterlichen Katalogschreibern erschien es wesentlich,
den handschriftlichen oder typographischen Charakter anzumerken. — Bunt ist
das Bild auch hinsichtlich der Sprache: Viele deutschgeschriebene Kataloge sind
diesmal dabei; die Erklärung wird oft mehr Schwierigkeiten machen, als bei den
lateinischen Titeln, besonders wo Fachausdrücke, noch dazu in dialektischer Form
vorkommen. Die Folgen dieser Ungleichheit wird auch das Register zu spüren be-
kommen. — Vor allem aber ist der Inhalt bunt: neben richtigen Inventaren zahl-
reiche Vermächtnisse (aus denen Erstaunliches über den Bücherbesitz einzelner
Geistlicher zu sehen ist) und Schenkungen, Teilverzeichnisse der kirchlichen Bücher,
über Ankäufe, über die Bücher eines Abschreibers; lakonische Titelaufzählungen
und eingehendere Beschreibungen; neben den üblichen überwiegend theologischen
Werken auch viel Weltliches, besonders unter den deutschen Verzeichnissen.
Für den Historiker, für die Geschichte des Buchwesens und der gelehrten
Studien ist der Band eine reiche Fundgrube, nicht nur durch den Nachweis von
historischen Handschriften, sondern mehr noch durch das in den Einleitungen ver-
arbeitete Quellenmaterial. Die buchgewerbliche Tätigkeit im Kloster St. Ulrich
und Afra in Augsburg, die Listen der von Diemot geschriebenen Bücher in Wesso-
brunn verdienen Beachtung; daß wissenschaftliche Ausschöpfung historischer
Handschriften noch im Mittelalter erfolgte, wird von Benediktbeuren berichtet;
in Andechs war Herzog Ernst mit Aventin zu Gast, um zu exzerpieren. — Für die
Buchgeschichte ist manches wertvoll, was über die Einbände zu erfahren ist: grüne
Kritiken 619
Einbände werden in Augsburg erwähnt (S. 39); in St. Ulrich und Afra ließ man in
einem Jahr von einem Meister 350 Einbände herstellen. In Benediktbeuren geben
die erhaltenen Ausgabenbücher (die Ruf in der Festschrift für Georg Leidinger ver-
öffentlicht hat) Auskunft über den Verbrauch der Hausbuchbinderei (vielleicht
wäre der Artikel „Peir‘‘ in Gruels Manuel zu erwähnen gewesen). Die Einband-
beschreibungen im Katalog des Grafen Wilhelm von Öttingen sind besonders auf-
schlußreich (,in weißleder gebunden mit langen schwentzen“). Die Beispiele mögen
genügen.
Den Schicksalen der Handschriften ist der Bearbeiter mit unermüdlichem Spür-
sinn nachgegangen. Wenn nicht alle Wanderungen aufgeklärt sind, nicht alle noch
erhaltenen Handschriften verzeichnet, so liegt das an dem beklagenswert rück-
ständigen Zustand der modernen Handschriftenkatalogisierung. Wie weit aber die
Verfolgung zerstreuter Bestände geglückt ist, zeigt das eine Beispiel von Buxheim.
Ich wüßte kaum eine Bibliothek, die so weit zerstreut worden ist und noch zerstreut
wird; kaum einen Katalog einer guten Privatsammlung, der nicht Bestände aus Bux-
heim enthält. Soweit sie überhaupt in den Auktionskatalogen als solche kenntlich
gemacht sind, sind sie auch erfaßt, wofür ich zahlreiche Stichproben gemacht habe
(lediglich S. 90 oben muß die erste Zahl 122 heißen). — Nicht ersichtlich ist es, in
welchen Fällen bei den erhaltenen Handschriften außer der Signatur der Inhalt
angegeben ist; denn einerseits ist es bei Sammlungen mit gedruckten Katalogen
schon nicht einheitlich gehandhabt; andrerseits fehlt die Inhaltsangabe häufig
gerade bei Sammlungen ohne leicht zugängliche Kataloge; aber auch eine Beziehung
zu den in den mittelalterlichen Katalogen erwähnten Titeln ist nicht zu erkennen,
Konkordanzen sind nicht gegeben.
Der Grundsatz, offensichtliche Schreibversehen der Vorlage stillschweigend zu
verbessern, scheint nicht streng durchgeführt zu sein. S. 20,18 steht libriam für
librariam, S. 152, 7 librie für librarie (wie 5 Zeilen weiter richtig steht). Ähnliche
Versehen notierte ich S. 20, 23: in uno volumina, S. 38, 33 Collecterius; das xristi-
fidelium S. 32, 14 ist mindestens graphisch auffallend. — In den sehr reichlichen Lite-
raturangaben ist Ruf etwas von Lehmanns Brauch abgewichen: Manche immer wieder
zitierten Schriften werden stark gekürzt erwähnt, aber ohne eine Übersicht dieser
Titel mit vollen bibliographischen Angaben. Die Erspamis ist gegenüber der Er-
schwerung nicht nennenswert. Da es sich meist um Titel handelt, die nicht nur für
Augsburg gelten, wird man das jetzt Vermißte nach Abschluß des Bandes zu er-
warten haben. Aber auch ohne diese Aussicht wird man diesen Teilband mit un-
geteilter Freude aufnehmen.
Leipzig. Heinrich Schreiber.
Boshop, Ulrich, Die Entstehung des ländlichen Siedlungs- und Flurbildes
in der Grafschaft Diepholz. Eine siedlungsgeographische Studie. 104 S.
mit 30 Karten und Plänen im Anhang == Quellen und Darstellungen zur Ge-
schichte Niedersachsens Bd. 39. Hrsg. vom Hist. Ver. f. Niedersachsen. Verl.
August Lax, Hildesheim und Leipzig 1932. Preis brosch. 5.— RA.
Die Untersuchung, die als Dissertation aus dem geographischen Seminar der
Universität Göttingen bei Meinardus hervorgegangen ist und dort wohl auch um-
fangreiche Anregung durch den Siedlungsgeographen Dörries erfahren hat, beschäf-
tigt sich mit dem engen Raum der alten Grafschaft Diepholz, die etwa dem gegen-
620 Kritiken
wärtigen gleichnamigen Kreise in der preußischen Provinz Hannover entspricht. Die
Grenzen der Grafschaft sind durch weite Moorflächen, teilweise auch durch Geest-
rücken und bergiges Land von alters her naturgebunden. Die natürlichen geo-
graphischen Verhältnisse haben auch die Siedlungen nach Verbreitung und Art be-
dingt, die in den ältesten Zeiten zunächst auf die von Sumpf und Moor freien frucht-
bringenden Anbauflächen angewiesen waren. Ein zweiter Siedlungsabschnitt setzte
etwa um das Jahr 1000 ein und brachte eine starke Erweiterung des ursprünglichen
Siedlungsraumes durch Urbarmachung der Heide- und Bruchgebiete. Von der Mitte
des 19. Jahrhunderts an begann eine dritte Siedlungsperiode, die bis in die Gegenwart
hineinreicht und das ältere Siedelbild durch die Faktoren neuzeitlicher Siedlungs-
bedürfnisse wesentlich umgestaltet hat. Diese hier nur grob gezeichneten Ergebnisse
hat der Verfasser in seiner nach geographischer wie historischer Seite orientierten
Studie klar herausgearbeitet, indem er sich durchaus der heute erforderlichen und
sehr umschichtigen Methode siedlungskundlicher Forschung zu bedienen versuchte.
Nicht in allen Teilen ist ihm Vollkommenheit geglückt. Vielleicht hátte gerade bei
Betonung der geographischen Einstellung (siehe Titel!) auch eine Klärung der
modernen siedlungsgeographischen Momente ausführlicher befördert werden konnen.
Siedlungs- und Flurdichte, Bevölkerungsstatistik nach Zahl, räumlicher, wirtschaft-
licher und sozialer Verteilung der Gegenwart würden ebenso wie Übersichten über
Flurgrößen, Verteilung der wirtschaftlichen Nutz- und Anbauflächen, Größe und
Arten der Wirtschaftseinheiten, Erträgnisse u. ä. (z. T. in kartographischer Dar-
stellung) das Bild der gesamten Siedlungsentwicklung vervollkommt haben. Auf
dem Gebiete der historischen Darstellung würde ebenso eine vertiefte Untersuchung
des reichhaltigen älteren und jüngeren Quellenmaterials die aufgeworfenen Fragen
in der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung der Siedler (Voll-
erben, Teilerben, Kótner, Brincksitzer usw.), in der Bedeutung der Gutssiedlung, in
der Flurgliederung, schließlich auch in dem durch Dorf, Flur und gemeine Mark sehr
wechselvoll bedingten und gegebenen Gemeinschaftszusammenschluß geklärt haben.
Die kartographische Darstellung der Verbreitung der Orts- und Flurformen nach den
älteren Landesaufnahmen und Kartenwerken wäre gleichfalls förderlich gewesen.
Das schwere, aber ebenso vielseitig auswertbare siedlungskundliche Rüstzeug erfor-
dert und ermöglicht weitschichtige und umfassende Lösung, zumal wenn sich der
gegebene Arbeitsstoff auf engerem Raume abgrenzt.
Trotz dieser Wünsche, die wohl an die Arbeit herangebracht werden können,
bietet sie doch auch über die Aufhellung der Besiedlungsverhältnisse jenerLandschaft
hinaus manch wertvollen und wichtigen Beitrag für die allgemeine siedlungskundliche
Forschung. Besonders instruktiv sind die Ausführungen über Entstehung und Ent-
wicklung der Eschfluren, die durch geschickt ausgewählte Flurkartenbeispiele gut
ergänzt werden. In diesem Zusammenhange wird auch das , Wegedorf" (S. 47)
besprochen, das gerade in der jüngsten Fachliteratur als Bezeichnung eines besonde-
ren Formentypes eingeführt ist. Auch das Problem Einzelhof und Dorfsiedlung, das
die Forschung immer wieder beschäftigt, wird vom Verfasser eingehender behandelt.
Im Untersuchungsgebiet erscheint der Einzelhof und seine Kampflur entschieden
als die Siedlungsanlage des älteren Landesausbaues, die von der Bodenbeschaffenheit
abhängig ist. Doch gilt dies nicht als starre Regel, da auch Altsiedlungen dörflicher
Art, vorwiegend in vergleichender Beurteilung der geographischen Situation be-
trachtet, auf die Urform des Einzelhofes zurückgeführt werden können. Mit Recht
Kritiken 621
lenkt der Verfasser überhaupt die Beurteilung dórflicher Siedlungstypen von der
rein formalen, zu einer natürlich bodengebundenen Betrachtung hin. Nicht nur die
Entstehung, sondern auch die Weiterentwicklung der im Untersuchungsgebiet vor-
handenen Dorfformen und ihrer Flurbildungen werden nach ihrer geographischen
und topographischen Lage zu bestimmen versucht. Diese Untersuchungen, die immer
wieder sehr eingehend und mit sicherem Blick für die wirklich wesentlichen und
belangreichen Feststellungen geführt werden, gehóren zu den wertvollsten Erkennt-
nissen der Arbeit. Sie müssen aber auch zur allgemeineren Nutzung der Forschung
besonders unterstrichen werden. Die vorgelegte Arbeit wird geradein dieser Richtung
besonders wirksam sein und weiterführen kónnen.
Leipzig. Walter Uhlemann.
Paul Rolland, Les origines de la commune de Tournai. Histoire interne de la
seigneurie épiscopale Tournaisienne. Ouvrage bénéficiaire de la Fondation
H. Pirenne. Bruxelles, Maurice Lamertin. 1931. 263 S.
Der Verfasser, der seit 1924 eine lange Reihe von Einzelstudien über das mittel-
alterliche Tournai veróffentlicht hat, legt hier eine zusammenfassende Arbeit über
diesen Gegenstand vor. Er hat die vielen verwickelten Fragen, vor die ihn seine
Aufgabe stellt, mit groBer Sachkunde und Umsicht erórtert. Allerdings macht er
es dem Leser nicht leicht, aus der Fülle der Einzelheiten das Wesentliche heraus-
zufinden, und nicht in allem Wesentlichen scheint er uns zu einem abschließenden
Ergebnis gelangt zu sein.
Es gilt das unseres Erachtens insbesondere von der ältesten Periode, deren Auf-
hellung freilich den schwierigsten stadtgeschichtlichen Problemen zuzuzählen ist.
Zu der Stadt Tournai waren schon im 11. Jahrhundert eine Marktansiedlung und
andere Stadtteile zu beiden Seiten der Schelde mit der Burg durch eine Befestigung
zusammengeschlossen. Über die Verfassung dieser älteren Stadt geben Zeugen-
reihen aus Urkunden von 1098—1171 Auskunft; in ihnen werden genannt iudices
civitatis, senatores, scabini. Nach R. sind das gleichbedeutende Bezeichnungen für die
Schöffen, die, wie einem Schiedsspruch des Königs Philipp Augustus von Frankreich
zu entnehmen ist, nur aus den Mannen der bischóflichen Kirche, den homines s.
Mariae, genommen werden dürfen. Diese letztere Bestimmung ist auf die erste Hälfte
des 12. Jahrhunderts nicht ohne weiteres anwendbar, und die senatores dürfen mit
den scabini nicht gleichgesetzt werden. Zwar decken sich die Personenkreise teil-
weise; doch ergibt sich daraus nur, daB beide Gruppen irgendwie verbunden waren,
nicht ihre Identität. Die senatores sind, wie die S. 65 von R. angeführte Urkunde
von 1130 zeigt, für die Markt- und Zollverwaltung zuständig, die scabini amtieren
bei Handánderungen von Grundbesitz. Daß auch in Trier und Köln die scabini mit
den Senatoren gleichzusetzen seien, behauptet R. unglaublicherweise lediglich unter
Verweisung auf die unzuverlüssige und vóllig veraltete Kompilation von Wauters,
Les libertés communales (1878). Die dort über Trier sich findende Angabe z. B.
beruht auf dem Coblenzer Zolltarif des Kaisers Heinrich IV. von 1104, Beyer Mittelrh.
UB. I Nr. 409, wo die scabini loci von den senatores unterschieden werden; an der
Spitze der letzteren erscheint der Zöllner. Für die Aufhellung dieser älteren Zeit
hätte unbedingt die von R. (S. 153, 156) mehrfach erwähnte Urkunde von 1108
herangezogen werden müssen, welche von den paribus et casatis episcopi pertinen-
tibus sive ad urbem sive ad castellum spricht: schwerlich kann man sie doch mit
622 Kritiken
den hospites infra muros eines päpstlichen Privilegs von demselben Jahre (Jaifé
6202) gleichsetzen. Auch müBte gerade dieses Privileg vorab auf seine Echtheit
untersucht werden; denn es hängt an der fraglichen Stelle mit dem Diplom des
Königs Chilperich II. zusammen, das R. selbst 1926 als eine im 12. Jahrhundert
zugunsten des Domkapitels hergestellte Fülschung erwiesen hat. Beide Urkunden
sprechen diesem den Zoll zu Tournai und die iustica eiusdem telonei zu. Nach dem,
was oben über die senatores gesagt wurde, ist der tatsächliche Rechtszustand von
Zoll und Zollgerichtsbarkeit in Tournai während des 11. Jahrhunderts für die Be-
urteilung der ältesten Stadtverfassung natürlich von entscheidender Bedeutung.
Einleuchtender als über die älteste berichtet R. über die zweite Periode der mittel-
alterlichen Geschichte von Tournai. Die Handfeste, die König Philipp Augustus
von Frankreich der Stadt 1188 verlieh, bedeutet nicht die Errichtung, sondern die
Bestätigung einer Kommunalverfassung, als deren Organe Geschworene neben den
Schóffen seit 1147 erscheinen. Durch diese Kommune ist eine jüngere Schicht der
Bevólkerung mit der alteingesessenen zur Stadtgemeinde verschmolzen. Als treibende
Kraft sieht R. eine Kaufmannsgilde an, deren Überrest in der Handfeste von 1188
als caritas beati Cristofori erscheint. Verschiedene Stadtplüne, Siegelabbildungen
und ein verkleinertes Facsimile der Handfeste des Kónigs Philipp Augustus von
1211 — die von 1188 ist nur abschriftlich erhalten — sind dem Buche beigegeben.
Utrecht. O. Oppermann.
Uhlhorn, Friedrich, Geschichte der Grafen von Solms im Mittelalter.
Leipzig, Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte. (Mar-
burg, Universitáts-Druckerei Joh. Aug. Koch) 1931. 471 S. 8°. = Beiträge
zur deutschen Familiengeschichte, Bd. 12.
Dieses Buch des Solmsischen Samtarchivars soll die älteren unzulänglichen
Hausgeschichten von Hayl, Knoch, Graf Friedrich Ludwig zu Solms, J. C. Schaum
und Graf Rudolf zu Solms-Laubach ersetzen. Mit modernem Rüstzeug geht der
Verfasser den Ergebnissen dieser Schriftsteller — Historiker sind sie meist nicht —
kritisch zu Leibe und setzt sich auch mit anderen Forschern wie Helfrich Bernhard
Wenck, J. E. Chr. Schmid, die sich mit dem Ursprung des Hauses Solms beschäftigt
haben, auseinander. Allen seitherigen Ansichten stellt er eine neue gegenüber, die
er hauptsächlich aus dem späteren Territorialbestand der Grafschaft zu erhärten
sucht. Nach ihm sind die Solmser die direkten Fortsetzer des Gleibergisch-Luxem-
burgischen Hauses, und zwar durch einen nur aus zwei undatierten Nachrichten
bekannten Grafen Otto von Gleiberg (um 1150), der eine solmsische Erbtochter
geheiratet haben soll. Mit der Luxemburgisch-Gleibergischen Genealogie hat sich
eine ganze Reihe namhafter Forscher bescháftigt, ich nenne nur Helfrich Bernhard
Wenck, Kraft (Geschichte von GieBen) Wyss, Witte, G. Frhr. Schenk zu Schweins-
berg, Kalbfuß (Geschichte von Schiffenberg), und keiner von ihnen ist der Meinung
des anderen. So plausibel U. seine Anschauung macht und so glänzend er sie zu
stützen sucht, sie bleibt, wie er selbst anfänglich zugibt, eine Hypothese, die er aber
dann am Schlusse des Buches (S. 403) auch nicht als gesichertes Ergebnis betrachten
darf, und die auch schon Widerspruch von genealogisch hervorragend sachverstàn-
diger Seite gefunden hat.
Im zweiten Teil werden die geographischen Grundlagen der Grafschaft Solms,
ihre Eingliederung in die benachbarten Territorien und ihre ersten Veränderungen
—M —— — M -—
Kritiken 623
aufgezeigt und dabei den StraBenzügen, die die wirtschaftliche und politische Lage
beeinflussen konnten, Beachtung geschenkt. Er teilt das ganze Gebiet in drei Sied-
lungs- und Wirtschaftsgebiete, von denen jedes seinen Mittelpunkt in einem festen
Haus, z. T. ursprünglich Wirtschaftshöfen hatte: Burgsolms am Solmsbach, dann
Werdorf für das Gebiet an der Dill, schlieBlich Kónigsberg für die Altenkirchener
Zent. Etwa in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts trat als vierter fester Platz
Burg Braunfels an der Lahn „als erste ausschließlich militärische Gründung“ hinzu,
zum erstenmal 1248 urkundlich erwähnt. Während Werdorf zurücktrat, „gewann
der Braunfels wachsende Bedeutung" als einer der nachmaligen drei Hauptorte,
die um 1257 und dann nach dem Tode Graf Heinrichs I. (nach 1260) Sitze dreier
Hauptlinien des Hauses wurden, die eine Mutschierung eingegangen waren. In
diese Zeit fällt die Annahme des neuen Wappens mit dem Löwen. In den
Kämpfen der jungen Landgrafschaft Hessen mit Mainz standen die Solmser auf
der Seite des letzteren, nur Reinbold I. von Königsberg wurde 1257 hessischer
Burgmann und versprach, seine Schlösser der Landgräfin Sophie und ihrem Sohn
zu öffnen. Aber mit Reinbolds Tod (etwa 1274) erlosch die Hinneigung seines
Zweiges zu Hessen.
Der Raum verbietet, hier den weiteren Schicksalen des Hauses, seinen Fehden
mit Hessen, der Reichsstadt Wetzlar u.a. zu folgen. Das Buch schließt mit der
Beteiligung des Hauses an der Falkensteiner Erbschaft (1419), auf die die Grafen
Bernhard II. und Johann VI. durch ihre Mutter, Tochter Philipps VI. von Falken-
stein und Schwester des 1418 gestorbenen Erzbischofs Werner von Trier, des letzten
Falkensteiners, Anspruch hatten.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir es hier mit einer fleiDigen und tüchtigen
Arbeit, die vieles Neue bietet, zu tun haben. Die Richtigkeit aller Ergebnisse wird
wohl in manchen Füllen nachzuprüfen sein, aber wir dürfen uns freuen über die Auf-
hellung eines wichtigen Stückes deutscher Territorialgeschichte und dürfen auf die
Fortsetzung dieser in vier Teilen geplanten Geschichte des Fürstlichen Hauses ge-
spannt sein. Dagegen möchte ich gegen die ganz unmógliche Einteilung und An-
ordnung der Anmerkungen entschieden Einspruch erheben. So sehr der Verfasser
gegen die Unzulänglichkeit seiner Vorgänger zu Felde zieht, in dieser Äußerlichkeit
ist er ganz veraltetem Gebrauch gefolgt, indem er die Anmerkungen innerhalb der
Einteilung seines Textes stets von neuem zählt und dann alle zusammen dem Buch
hinten anhängt. Beim Nachschlagen ist man dann jedesmal von neuem zu der Fest-
stellung genötigt, bei welchem „Teil“ und „Stück“ man gerade steht, ein ungeheuerer
Zeitverlust und eine große Gefahr, sich im Zitat zu irren. Ich empfehle dringend,
bei den folgenden Bänden die Anmerkungen wenigstens durchzuzählen, auch wenn
dieses Verfahren zu hohen Ziffern führt.
Gießen. K. Ebel .
Wolfgang Wießner, Die Beziehungen Kaiser Ludwigs des Bayern zu Süd-,
West- und Norddeutschland. Beträge zur königlichen Innenpolitik.
(Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, hrsg. von B.
Schmeidler und O. Brandt, Bd. XII.) Erlangen, Palm & Enke, 1932. VIII
u. 142 8.
Der Verfasser dieser aus der Schule Schmeidlers hervorgegangenen Erlanger
Dissertation hat sich mit dem Versuche, eine zusammenfassende Darstellung der
624 Kritiken
Beziehungen Ludwigs d. B. zu den einzelnen Landschaften des Reiches zu liefern,
zweifelsohne zu viel zugemutet. Es mag hierbei dahingestellt bleiben, ob das Thema
nicht überhaupt etwas zu weit gespannt war; jedenfalls aber stellt seine Bewältigung
Anforderungen, die erheblich über den Durchschnitt solcher Erstlingsarbeiten wie
der vorliegenden hinausgehen. Eine Beschrünkung auf die südwest- und mittel-
deutschen Gebiete wäre um so eher angängig gewesen, als die Aufgabe, die Wießner
sich gestellt hat, für Norddeutschland bereits in der Göttinger Dissertation Erich
von Freedens: „Die Reichsgewalt in Norddeutschland von der Mitte des 13. bis
zur Mitte des 14. Jahrhunderts“ (1931) eine fast durchweg befriedigende und alles
Wesentliche vorwegnehmende Lösung gefunden hat. Es ist daher ein besonders
unglücklicher Zufall, daß diese Arbeit Wießner erst während des Druckes der seinen
zu Gesicht gekommen ist; hätte er doch nicht nur daraus ersehen, wie derartige
verfassungsrechtliche Probleme im Rahmen und Zusammenhang mit der allgemeinen
politischen Geschichte behandelt werden müssen, um einen entsprechenden Ertrag
zu zeitigen, sondern auch die Mühe und Arbeit, die er auf die Untersuchung der nord-
deutschen Verhältnisse verwandt hat, anderen Gebieten zugute kommen lassen
können. In doppelter Hinsicht wäre eine solche Konzentration empfehlenswert und
förderlich gewesen. :
Niemand wird es dem Verfasser billigerweise verargen, daß er bei so weit-
verzweigten Forschungen eine vollständige Sammlung des einschlägigen Quellen-
materials weder erreicht, noch auch nur angestrebt hat. War es doch nicht seine
Absicht, „eine jeweils lückenlose Geschichte der Beziehungen Ludwigs zu den einzel-
nen Landschaften zu geben. Es soll immer nur die besondere Art, der Umfang
königlichen Wirkens in den verschiedenen Landschaften hervorgehoben werden.“
Mit diesem Programm würde man sich gewiß ohne weiteres einverstanden erklären
können, wenn nicht Wießner andererseits sein Urteil über die Regierungstätigkeit
Ludwigs d. B. vornehmlich auf Vergleichen der jeweiligen Ergebnisse in den einzelnen
Landschaften gründete. „Statistische Aufstellungen und Vergleiche werden unsere
Übersicht erleichtern. Es wird die Zahl der Urkunden gezählt werden müssen, um
einen wirklichen Überblick über Ludwigs Tätigkeit als König zu bekommen.“ (S.9.)
Die Zweckmäßigkeit eines solchen Verfahrens mag schon angesichts der Lücken-
haftigkeit unseres Urkundenbestandes und den Zufälligkeiten seiner Überlieferung
ziemlich zweifelhaft erscheinen. (Vgl. z. B. S. 66!) Im vorliegenden Falle führt es
gar zu einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen Zielsetzung und Arbeitsmethode,
unter deren nachteiligen Folgen zwangsläufig auch der Ertrag der ganzen Unter-
suchung leidet. Denn was wir so erhalten, ist lediglich eine mehr oder weniger will-
kürliche und fragmentarische Aufzählung der einzelnen Reichsständen gewährten
Privilegien und Vergünstigungen. Über die besondere Art der innerpolitischen
Wirksamkeit Ludwigs d. B. in den verschiedenen Landschaften läßt sich eben auf
diese Weise kein Aufschluß gewinnen, sofern man sich nicht mit einigen allgemeinen
Ergebnissen begnügt. Das ist vielmehr nur möglich auf Grund genauester Sach-
kenntnis und minutióser Detailforschung. Hieran gebricht es jedoch Wießner wieder-
holt bedenklich.
Es wäre kleinlich und würde zu weit führen, mit dem Verfasser wegen jedes
ihm unterlaufenen Versehens und Fehlers zu rechten. Es mag daher genügen, einige
besonders krasse und wichtige Fälle hervorzuheben. So verraten die Ausführungen
Wießners über die fränkischen und zumal die Nürnberger Rechtsverhältnisse eine
Kritiken 625
sehr geringe Vertrautheit mit der spätmittelalterlichen Gerichtsverfassung, die in-
folge ungeschickter Formulierung wohl noch besonders auffállt. Vor allem vermiDt
man die Kenntnis des grundlegenden Buches von H. Hirsch über die hohe Gerichts-
barkeit. Völlig im unklaren scheint sich der Verfasser auch über die rechtliche
Stellung der zur Reichsfreiheit aufgestiegenen Bischofsstädte zu sein; denn sonst
würde er schwerlich von einem ,,Abfall" StraBburgs von seinem Bischof sprechen
(S. 71) oder gar Mainz auf die gleiche Stufe mit Würzburg und Bamberg stellen
(S. 81). Vergebens sucht man ferner nach einer Würdigung der Landfriedenspolitik
Ludwigs d. B., die deren Bedeutung angemessen wäre; ihre Darstellung — soweit
man überhaupt von einer solchen reden kann — krankt zudem an zahlreichen
sachlichen Unrichtigkeiten (so vor allem S. 60 und 83f.), obwohl hierüber bei
Schwalm alles Nötige zu finden gewesen wäre. Unbedingt erforderlich wäre es
gewesen, auf die nicht selten geradezu entscheidende Rolle der Hausmachtsinteressen
Ludwigs d. B. bei der Gestaltung seiner Innenpolitik näher einzugehen; von ihnen
ist z. B. sein Verhalten gegenüber den schwäbischen Ständen (S. 69) wesentlich
mitbestimmt worden. Nicht immer glücklich ist endlich auch die Anlage und Ein-
teilung der ganzen Arbeit. Hätte es nicht ungleich näher gelegen, das Elsaß zusammen
mit dem Mittelrhein zu behandeln und ihnen ein eigenes Kapitel zu widmen, statt
jenes im Anschluß an Schwaben zur Darstellung zu bringen und diesen unter die
„Wetterau und die angrenzenden Gebiete‘ einzuordnen, wo ihn niemand vermutet ?
Alles in allem: der gute Wille und Eifer Wießners sei gern anerkannt — eine
Darstellung der Innenpolitik Ludwigs d. B., die man dem Titel seiner Arbeit nach
vielleicht erwarten kónnte, und die an sich zweifelsohne einem dringenden Bedürfnis
entsprüche, erhalten wir keinesfalls.
München. Ernst Bock.
Wehmer, Carl, Studien über die mittelalterlichen Buchschriften. Teil-
druck: Die Namen der gotischen Buchschriften. Ein Beitrag zur Geschichte
der lat. Paläographie. Berlin, Phil. Diss. von 1932. (Halle, 1932: Karras,
Króber u. Nietschmann). 48 S.
Die Vernachlässigung der spätmittelalterlichen Schriften durch die paläographische
Forschung, über die mehrfach und zum Glück erfolgreich geklagt worden ist, hat nicht
zuletzt ihren Grund darin, daB den Forschern vielfach die intime Kenntnis der
frühesten Druckschriften fehlte, ohne die eine spätmittelalterliche Paläographie
undenkbar ist. In der Verbindung des Handschriftenfachmannes mit dem Kenner
der Druckschriften liegt großenteils der Wert des Kirchner-Crousschen Tafel-
werkes. Wehmer als Mitarbeiter am Gesamtkatalog der Wiegendrucke ist also aufs
beste für eine solche Arbeit ausgerüstet und auf jeder Seite beweist er das Geschick,
mit dem er an die Aufgabe herangegangen ist. Er behauptet auch nicht zu viel,
wenn er glaubt, durch den Namen „gotisch“ wichtige geistige Zusammenhänge
berühren zu können. Durch eine ästhetisch wertende Betrachtungsweise wird der
historische Abschnitt zu einem eigenartigen, anregenden Ausschnitt aus der Ge-
schichte der Paläographie, einem Ausschnitt, der dem bekannten Bild neue Züge
hinzufügt, welche dem Umstand zu danken sind, daß der Verfasser sich in der Lite-
ratur aller Zeiten über die Grenze des Faches hinaus umgesehen und die Früchte
davon besonnen für seine Darstellung verwertet hat. In dieser kenntnisreichen Be-
trachtung der Entwicklungsgeschichte der Paläographie durch die Linse „gotische
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 40
626 Kritiken
Schrift" fehlen nicht die GroBen dieser Wissenschaft von Mabillon bis auf Traube
und Paul Lehmann, dessen Förderung Wehmer dankbar anerkennt, auch nicht
die Humanisten und die Schreibmeister der Renaissance (die der Verfasser sehr
genau kennt), nicht Goethes „zornig begeistertes Schriftchen" „Von Deutscher
Baukunst“ (es lohnt nachzulesen, was er gotisch nennt), nicht Friedrich Schlegels
qualitätsvoller Aufsatz über die „deutschen und lateinischen Lettern“. So wird selbst
ein solch eng begrenzter Abschnitt aus der Geschichte der Schriftterminologie
weit über eine philologische Untersuchung hinausgehoben, ohne daB die philologische
Grundlage verleugnet wird. Was Wattenbach an Belegen für die gestellte Frage schon
gebracht hat, wird gründlich weiter verfolgt und ausgebaut. Ehe wir heute eine
Terminologie festlegen, ehe wir das überlieferte Schriftgut mit heutigen Namen
benennen, ist es nótig zu untersuchen, was die Zeitgenossen unter den einzelnen
Schriftarten, denen sie Namen gaben, verstanden haben. Hierfür schafft Wehmer
— wofür auch Traube schon eifrig gesammelt hat — gute Grundlagen. Die Namen
„Textura, Fractura, Litera formata, Rotunda, Bastarda“, alles Ausdrücke, die keines-
wegs zu allen Zeiten und in allen Kópfen das gleiche, oder nur überhaupt etwas Kla-
res bedeutet haben, finden ihre Erklärungen aus der zeitgenössischen Verwendung
heraus; die Forschung steht nun vor der Frage, wie weit sie sich in der Nomen-
klatur den alten Bedeutungen anschließen will — konsequenter und einheitlicher, als es
seit kurzem schon angebahnt worden ist. Durch den Druck im Zentralblatt für Bi-
bliothekswesen 49 (1932) H. 1—5 ist für die Verbreitung der Arbeit genügend ge-
sorgt. Leider aber ist von den übrigen Abschnitten der Dissertation, auf die man
nach dieser Probe und der Inhaltsangabe über den nichtgedruckten Teil reichlich
gespannt ist, noch nichts weiter an die Üffentlichkeit gekommen. Darin ist die Ent-
Stehung der gotischen Schrift untersucht, wobei eine Einwirkung der Beneventana
abgelehnt wird. Zu diesen sachlich interessanten Fragen treten methodische Hin-
weise für die weitere Erforschung der gotischen Schriften, die ebenso der Beachtung
der Fachwelt empfohlen werden dürfen, wie das voll veróffentlichte Specimen.
Leipzig. Heinrich Schreiber.
Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance. Zur Physiognomik und Rhyth-
mik bürgerlicher Kultur. F. Enke Verlag, Stuttgart 1932. 135 S.
Unter den Desiderata der Renaissanceforschung steht eine Soziologie der
italienischen Renaissance seit Jahrzehnten an erster Stelle. Es sind bald hundert
Jahre her, daß Adolphe Thiers nach seinem ersten Ministersturz 1838 von Como aus
mit einem Stab italienischer Mitarbeiter, unter denen sich Gino Capponi befand,
eine Geschichte von Florenz zu schreiben unternahm, in der „le florin, l'agiot, la
soie des Florentins“ zu ihrem Recht kommen sollten. Noch in seinen letzten Lebens-
jahren hat Thiers den Plan wieder aufgegriffen. Aber er ist über seiner unvoll-
endeten Geschichte von Florenz gestorben, die mit einer Soziologie wohl einige
Ähnlichkeit bekommen hätte.
Seither haben wohl Italiener und Deutsche an dem Plan weitergearbeitet. Aber
was so begabte Forscher wie Gaetano Salvemini und Alfred Doren zum Thema bei
trugen, sind verhältnismäßig kleine, wenn auch höchst wichtige und sorgfältige
Teilausschnitte geblieben. Was die eigentlichen Soziologen wie Werner Sombart
sagten, klang so, als wäre die Einzeluntersuchung geleistet, die in Wirklichkeit
nicht existierte, und es entsprach mehr den logischen Bedürfnissen eines reinen Ge-
Kritiken 627
dankenbaus, der nach sejner eigentlichen Absicht und seinem Gegenstand Italien
fremd war.
Auch das vorliegende Bündchen von Alfred von Martin bleibt zu sehr im all-
gemeinen und abstrakten Räsonnement befangen, als daß es den Historiker be-
friedigen oder überzeugen kónnte. Für den Verfasser bedeutet es das Dokument
seines Übertritts von der Historie zur Soziologie. Der Untertitel „Zur Physiogno-
mik uud Rhythmik bürgerlicher Kultur" ist jedenfalls für den Inhalt ausschlag-
gebend.
Der nachzuweisende „Rhythmus“ ist ungefähr so gedacht: Die italienischen
Städte treten aus dem Traditionsrahmen der mittelalterlichen Gemeinschaftskultur
heraus, beginnen statt für den Bedarf für den Markt zu produzieren, und von der
kleinbürgerlichen Schicht, die von mittelalterlichen Lebensformen auch weiterhin
beherrscht bleibt, löst sich allmählich eine Oberschicht der Unternehmer, der Groß-
bankiers und Großindustriellen, welche sich eine neue Lebensform schaffen durch
die Verbindung zweier Mächte, die an keine Tradition gebunden, leicht beweglich,
überall und zu allem verwendbar sind: durch Geld und Verstand. Diese neue Haltung
ist gekennzeichnet durch einen radikalen, weil geschäftsnotwendigen Bruch mit
allen Hemmungen der Sitte, der Tradition, der sozialen Rücksicht, der gemein-
schaftlichen Bindung und durch die Schaffung eines neuen Wissens, das nicht mehr
in den Zusammenhang der theozentrischen Lebensansicht eingeordnet wird, sondern
dem technischen und ökonomischen Erfolg dient, und durch das Aufkommen einer
neuen Bildung, die ohne religiöse Hintergründe rein ästhetisch repräsentativen
Dekorationscharakter trägt. Die Träger dieser beiden neuen Mächte sind einerseits
der individualistische Unternehmer, andererseits der Humanist. Der eine stützt
den andern bei seiner Ablösung vom alten Corpus mysticum. Der Unternehmer
bedarf zu seiner Rechtfertigung der humanistischen Ratio, der Humanist des kapital-
kräftigen Mäzens.
Im Ablauf der neuen Bürgerkultur zeigt sich aber bald ein Erlahmen der ur-
sprünglichen Antriebe. Hatten ursprünglich die staatlichen Mittel zur Förderung
der Emanzipation und zur Schaffung der großen Kapitalien dienen müssen, so wird
dem saturierten Großbürger die Politik bald zur Last. Er will das Erworbene in der
Ruhe des Villenlebens genießen und überläßt den in seiner alten Struktur gebrochenen
Staat einem autoritativen Hüter von Ruhe und Sicherheit, dem Stadttyrannen.
Damit wird die Dekadenz der bürgerlichen Entwicklung vor aller Welt offenbar.
Eine neue Anlehnung an aristokratische Formen des Mittelalters, die „Verhöfischung“
der Gesellschaft setzt ein, bedingt durch das doppelte Bedürfnis des dekorativen
Glanzes und der materiellen Sicherung. Damit mündet die dynamische Kurve dieser
Entwicklung wieder in eine neue Periode der Statik. Gleichzeitig setzt auch auf dem
Gebiet des geistigen Lebens ein neuer Traditionalismus ein, eine neue Verkirch-
lichung, ein neuer Konservatismus.
Dieser Rhythmus, den der Verfasser als Typus glaubt feststellen zu kónnen,
ist ganz vorwiegend aus der florentinischen Geschichte abstrahiert. Ob er in der
späteren auBeritalienischen Geschichte so häufig nachzuweisen ist, daB der Not-
wendigkeitscharakter dieses Ablaufs einleuchtet, muB dahingestellt bleiben. Für
Italien aber konstituiert der eine florentinische Fall keinen Rhythmus. Denn ob hier
der Ablauf wirklich aus inneren Wachstumsgesetzen gerade so geschah oder ob er
den nach 1494 so gewaltig einsetzenden äußeren Einwirkungen zuzuschreiben ist,
40*
628 Kritiken
bleibt eine offene Frage. Außerdem glauben wir, daß die Begriffe , Mittelalter",
„bürgerliche Bildung“, „Humanismus“, wie sie in dieser Schrift verwendet werden,
so ausgesprochen deutsche Färbung tragen, daß sie bei ihrer Anwendung auf das
italienische Gebiet einen groBen Teil ihres Sinnes und ihrer Richtigkeit einbüßen.
Der Verfasser selbst gibt in seinem Vorwort neben anderen starken Bedenken gegen
seinen Versuch auch der Meinung Ausdruck, daB es „echtes“ Mittelalter nur in
Deutschland und „echte“ Rennaissance nur in Italien gebe. Wie soll aber 2. B. ein
italienischer Leser die wissenschaftliche Verbindlichkeit eines Geschichtsrhythmus
für sein Land anerkennen, der teilweise auf unechten Begriffen aufgebaut ist? Wir
möchten der Schrift mehr einen die Diskussion anregenden als einen Wege weisenden
Wert zuschreiben. Werner Kaegi.
Die Protokolle des Mainzer Domkapitels. 3. Band. Die Protokolle aus der Zeit des
Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514—1545 in Regestenform bearbeitet
und herausgegeben von D. Fritz Herrmann, Archivdirektor in Darmstadt.
Paderborn, Ferdinand Schöningh, 1932. XXXVIII u. 1216 S. 4°.
Es ist der wissenschaftlichen Forschung schon lange bekannt, wie sehr den
Bischöfen und Erzbischófen der Reformationszeit durch die weitgehende Abhängig-
keit von ihren Domkapiteln die Hände gebunden waren. Auch die Zeitgenossen
wußten hierüber genau Bescheid. Luther, der schon bei der Verfolgung der Evan-
gelischen in Miltenberg darauf hingewiesen hatte, daß das Domkapitel mehr ab
der Erzbischof verantwortlich sei (Werke deutsch Erl. Ausg. 53, 233) schrieb 1527,
in seiner Tröstung an die Christen zu Halle mit einem Vergleich, der gerade den Ein-
wohnern dieser Stadt besonders anschaulich sein mußte, daB „in allen Stiften ge
meiniglich die Bischöfe ihres Kapitels so mächtig sind als der Roland seines Schwerts,
daß sie Bischöfe heißen und sind's nicht. Dompfaffen sind Bischöfe und heißen’
nicht" (W. A. 23, 408).
Die lebendigste Anschauung von dieser Teilnahme der Domkapitel an der
Landesregierung läßt sich in Mainz gewinnen, und das beste Mittel hierzu sind die
Protokolle des Mainzer Domkapitels. Trotz der Ungunst der Zeit konnte die Histo-
rische Kommission für den Volksstaat Hessen die Ausgabe dieser Protokolle, von
der in der vorliegenden Zeitschrift einmal andeutend die Rede war (Bd. 26, S. 427),
für die Zeit Albrechts aus dem Hause Hohenzollern zu Ende führen.
Die auf uns gekommenen Protokolle setzen 1450 in lateinischer Sprache ein.
Im April 1514 vollzieht sich der Übergang zur deutschen Sprache. Das ist ebenso
bemerkenswert wie die S.382 N.1 verzeichnete Tatsache, daB man im Kloster
Haina, als man Verlust der Originalurkunden befürchtete, diese, soweit sie deutsch
waren, abschreiben, die übrigen ins Deutsche übersetzen ließ. Über die Entwicklung
der Protokollführung selbst lassen sich allerhand Beobachtungen anstellen. Einmal
schreibt der Protokollant, es seien mehrere Suppliken verlesen worden et praecipue
una contra me per cancellarium et secretarios oblata, quibus falso me
incusant (S. 10). Später unterbleiben, soviel ich sehe, solche Entgleisungen ins
Subjektive.
Das Gesamtbild, das man aus diesen Quellenauszügen erhält, weicht doch nicht
unerheblich ab von dem Bilde weitgehender erzbischóflicher Ohnmacht, wie es
die Protokolle des 15. Jahrhunderts vermitteln (vgl. meinen Aufsatz: Die Neben-
regierung des Domkapitels im Kurfürstentum Mainz und ihr Ausdruck im Urkunden-
Kritiken 629
wesen des 15. Jahrhunderts im Arch. f. Urk.-Forsch. 9 [1925]). Die Mitregierung
der Domherren ist für Erzbischof Albrecht wohl oftmals drückend, aber ohne Zweifel
herrscht auf beiden Seiten das Gefühl, daß man aufeinander angewiesen ist. Auch
die vielen Gravamina der Domherren (siehe dieses Stichwort im Sachregister) ver-
hindern das Zusammenwirken nicht. Selbst die Verhaftung des Domdekans Lorenz
Truchseß von Pommersfelden im Juli 1528 entzweit Erzbischof und Kapitel nicht
auf die Dauer. (Kalkoffs Äußerungen zu diesem Vorgang werden S. 372 erwähnt.
Soviel ich sehe, bleiben sie nach wie vor eine phantasievolle Vermutung.) Einer der
wichtigsten Gründe für die Bereitwilligkeit, die kurfürstliche Politik immer wieder
finanziell zu unterstützen, ist die Erkenntnis der Kapitulare, es sei „umb glaubens
rettung willen" nótig (S. 835). Überzeugt, der Geistlichen Wohlfahrt stünde jetzt
allein an Gott und kaiserlicher Majestät (S. 382), erklären sie dem kaiserlichen Vize-
kanzler Held „als gute keyserliche und undertenige Personen", man verleumde
sie, wenn man ihnen Begünstigung franzósischer Knechte vorwerfe (S. 749).
So steht hinter der fast erdrückenden Fülle von Angaben, die persónliche und
wirtschaftliche Dinge, Gericht und Verwaltung beleuchten, doch auch der tiefe Ge-
gensatz der großen geschichtlichen Mächte.
Keine Ausgabe kann dem Historiker ganz die Eindrücke und Erkenntnisse
ersetzen, die er in den Gewölben des Würzburger Archivs empfängt, wenn er dort
die Originalbände der Domkapitelprotokolle studiert. Aber was eine notgedrungen
kürzende Ausgabe leisten kann, ist hier mit Umsicht und tiefdringender Sachkenntnis
geleistet. Besonders sei auf das Verzeichnis der Sachen und Wörter verwiesen. Es
erläutert viele auch dem nicht ganz Unbewanderten undurchsichtige Ausdrücke
und gibt wertvolle Anregung zur Ausbeutung des Inhalts; als Beispiele nenne ich
Stichwörter wie Archivalien; Bücher des Domkapitels; Siegel und Siegelbrauch;
Ordnungen; Wahlmodi. — Dem Erscheinen der noch ausstehenden Bände I und
II sieht man mit Spannung entgegen.
Leipzig. Paul Kirn.
Fritz Jafle, Elsässische Studenten an deutschen Hochschulen (1648 bis
1870) mit besonderer Berücksichtigung des 18. Jahrhunderts.
1932. Selbstverlag des ElsaB-Lothringischen Instituts, Frankfurt am Main.
Rudolf Wackernagel sagt in seiner Geschichte des Elsasses (Frobenius, Basel,
1919): „So ergibt sich durch ganz Elsaß hin ... das Bild eines von französischem
Wesen nur stellenweise berührten deutschen Lebens ... Die durch Frankreich
eroberte Bevölkerung ist juxtaposée plutöt que réunie à la nation victorieuse“
(S. 348) und meint damit die Zeit unmittelbar noch vor der französischen Revolution.
Daß es so war, wußten wir; wir hatten aber doch keine rechte Anschauung von
dem Ausmaß der Wanderung elsässischer Menschen ins Reich hinein. Da hat Fritz
Jaffé auf Grund der Matrikeln der Universitäten für das fahrende Volk der Studenten
den Beweis geliefert, daß sie bis zur französischen Revolution in hellen Scharen vom
Wasgau reicheinwärts gezogen sind. „Ganze Geschlechterreihen, Protestanten und
Katholiken, Barone und Landpfarrer, Patrizier und Handwerkersöhne, Gelehrte
von Weltruf und schlichte Schullehrer sind durch den Filter deutscher Bildung
gegangen, so lange sie irgend konnten und durften“, so kann Jafíé in seinem Geleit-
wort (S. X) sagen. Diese dem gesamtuniversitären Raum des deutschen Kultur-
bereichs viel mehr wie die benachbarte Schweiz etwa verbundene Welt elsässischer
630 Kritiken
Geistigkeit hat Goethe noch im Elsaß angetroffen, als er in Straßburg studierte.
Man steht erschüttert vor dieser „Totenbeschwörung“ aus dem vorrevolutionären
Elsaß.
Jaffé hat sein Material aus 38 Matrikeln geschöpft, von denen 13 ungedruckte
Urmatrikeln sind. Köstliche Abbildungen aus dem Stammbuch des Elsässers Vol-
pertus Christianus Zeiß, der bis 1759 in Jena studiert, schmücken den Text; dazu
kommen einige Tafeln aus dem Nachlaß des Pfarrers Eduard Spach.
Die Übersicht ist gegliedert nach dem konfessionellen Charakter der Univer-
sitäten; das lutherische Elsaß zieht natürlich nach den lutherischen, das reformierte
nach den reformierten, das katholische nach den katholischen Universitäten des
Reichs.
Gießen, Tübingen, Jena weisen die größte protestantische Besucherzahl auf.
Nach Gießen ziehen die Studenten aus dem hessischen Hanau-Lichtenberger Lande,
nach Tübingen die aus dem württembergischen Horburg-Reichenweier, Jena hat
ganz besondere Anziehungskraft. Hier ist aus der elsässischen Landsmannschaft der
Mosellaner der älteste der großen studentischen Verbände hervorgegangen. Aber
auch Wittenberg, Göttingen, Leipzig, Erlangen, Altdorf weisen recht erhebliche
Besucherzahlen aus dem Elsaß auf. Ja sogar die kleinen norddeutschen Hochschulen:
Frankfurt an der Oder, Rostock, Königsberg, haben überraschenderweise mehr
Besucher aus dem Frankreich angeschlossenen Elsaß aufzuweisen wie aus dem
übrigen Süddeutschland. Selbst ins schwedische Upsala schwärmen Elsässer hinüber.
Es ist geradezu eine Heerschau der studierenden Söhne der führenden protestan-
tischen Familien des Straßburger und Colmarer Bürgertums, des Adels des Unter-
elsasses, des Beamtentums der hessischen Verwaltung in Buchsweiler, der württem-
bergischen in Horburg, der Pfarrer- und der Lehrerschaft der protestantischen
Stände und Städte, die wir an uns vorüberziehen sehen.
Von den reformierten Universitäten des Reichs ist natürlich Heidelberg für
das Elsaß von besonderer Bedeutung, aber auch Marburg weist allerhand elsässische
Besucher auf. Auch nach Hanau und nach Herborn sind einige gezogen. Für Mül-
hausen allerdings spielt das staatsverwandte Basel eine ganz besondere Rolle: es
zieht die Söhne Mülhausens an sich heran und hält sie so vom Studium im Reiche ab;
auch Leyden und Utrecht machen Konkurrenz.
Die Zahl der katholischen Studierenden bleibt verhältnismäßig hinter der Zahl
der protestantischen Studierenden zurück. Das geht mit auf die andersartige Struktur
des katholischen Volkes des Elsasses zurück. Dem katholischen Elsaß fehlen die
großen „Intelligenzzentren“ des evangelischen; sein Volk sitzt auf dem flachen
Lande und in den kleinen Landstädten; ein großer Teil des katholischen Oberelsasses
gehört zum Bistum Basel, das naturgemäß dadurch elsässisch-katholische Jugend
nach Pruntrut zieht; auch Besançon und Metz üben Anziehungskraft aus. Die Ehe-
losigkeit des Priesters beschränkt naturgemäß den akademischen Nachwuchs. Im
ganzen ist so das studierende katholische Elsaß ortsgebundener. Ihm stehen die
heimischen Klosterschulen und Jesuitenseminare zur Verfügung. Andererseits aber
bindet doch gerade der Jesuitenorden ans Reich und fügt doch auch das katholische
ElsaB dem Leben des deutschen Katholizismus ein. Wenn auch die Provinz Cham-
pagne des Jesuitenordens sich in Colmar und in StraBburg festsetzt, so gehórt doch
die Mehrzahl der Jesuitenkonvikte zur oberrheinischen Provinz des Ordens und
unterhält die lebendigsten Beziehungen ins Reich hinein. Bezeichnend ist, daß Trier,
Kritiken 631
Köln, ja selbst Mainz verhältnismäßig wenig von Elsässern besucht werden; es zieht
den Elsässer, so kann Jaffé sagen, nach dem Osten, den Protestanten zu den Hoch-
schulen der reinen Lehre, den Katholiken entsprechend der alten Tradition nach
Schwaben und über Schwaben hinaus in der Richtung auf Österreich zu, nicht
rheinabwärts. Würzburg, Bamberg, Dillingen, Ingolstadt-Landshut, auch Wien
kommen in Betracht. Freiburg hat kaum elsässische Jesuiten, es ist aber doch auf
Grund seiner Nachbarschaft die Universität der weltlichen Studierenden des katho-
lischen Oberelsasses: Bürgermeister, Schöffen, Ärzte, Notare, Chirurgen, aber auch
weltliche Geistliche haben hier in sehr großer Zahl ihre Ausbildung genossen. Auch
das Jesuitenseminar in Heidelberg übt große Anziehungskraft aus.
Kein deutscher Stamm, so kann Jaffé sagen, hat in der gleichen Zeit auch nur
annähernd in gleicher Zahl und Mannigfaltigkeit des Reiches Bildungsstätten be-
völkert wie gerade der elsässische (S. 169). Das ist ein außerordentlich wertvolles
Ergebnis seiner Arbeit.
Gießen. Fr. König.
Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Grundriß der Philosophischen
Wissenschaften; herausgegeben von Fritz Medicus. Tübingen. J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck), 1932, XVIII, 491 S., gr. 80.
Hans Leisegang, Lessings Weltanschauung. Leipzig, Felix Meiner, 1931.
XI, 205 S., gr. 89.
Die von Dilthey eingeleitete Revision unserer Einstellung zur Aufklárung
wird in dem an erster Stelle angeführten Werk auf jene gesamte Bewegung des
Denkens ausgedehnt und konsequent durchgeführt. Es wird grundsätzlich gebrochen
mit dem seit der Romantik beliebten Verfahren des Messens an dem eigenen ent-
wickelteren philosophischen Standpunkt und der Abwertung alles dessen, was sich
vor ihm als rückständig erweist. Der Gedankengehalt der Aufklärung wird an
sich zur Darstellung gebracht und daraufhin untersucht, was er dem menschlichen
Denken für seine Entfaltung Neues gebracht hat. Es wird daher von der Behandlung
der Geschichte einzelner Denker und ihrer Lehren abgesehen, vielmehr der Ideen-
gehalt der Bewegung thematisch nach den einzelnen Problemen geordnet und in
einer allgemeinen Überschau vorgeführt.
In einem ersten, „die Denkform des Zeitalters der Aufklärung“ überschriebenen
Kapitel wird als der zentrale Punkt, aus dem sie zu verstehen und in ihren einzelnen
Erscheinungsformen zu erklären ist, die neue Stellung zur Vernunft bestimmt, die
jetzt nicht mehr als die Region ewiger Wahrheiten gefaßt wird, sondern als die
Grund- und Urkraft, mit der der Mensch die gegebene Erfahrung durchmißt, ihre
Daten ordnet und sichtet und, ohne über den Bereich des Erkennbaren hinaus in
die Transzendenz vorzustoßen, in der Welt der äußeren Wirklichkeit wie des See-
lischen die letzten Prinzipien aufzusuchen hat, die der konkreten Mannigfaltigkeit
der Welt zugrunde liegen und ihre durchgehende Gesetzlichkeit darstellen.
Die durch diese neue Haltung hervorgebrachte grundsätzliche Umstellung des
Denkens wird in ihrer Auswirkung auf das geistige Leben durch eine systematische
Überschau über das gesamte Gedankengut der Aufklärung dargestellt. Entsprechend
der hohen Bedeutung der naturwissenschaftlichen Methoden für die Begriffsbildung
jener Zeit ist die Erkenntnis der Natur vorangestellt, dabei ist Vf. stets bedacht,
das entwicklungsgeschichtliche Moment hervorzukehren, indem er zeigt, wie schon
632 Kritiken
in der Renaissancephilosophie angeklungene Fragestellungen wieder aufgegriffen
und dank den Fortschritten der mathematischen Naturwissenschaften der Lösung
nähergebracht werden. Eine Übersicht über das auf den Gebieten der Psychologie
und Erkenntnistheorie Geleistete zeigt, wie fruchtbar die Grundhaltung der Auf-
klärung für die Kenntnis und Erforschung der Zusammenhänge des Seelenlebens
war und wieweit man ganz allgemein die erkenntniskritische Fragestellung vor-
getrieben hatte, durch welche Einsicht aber die Leistung dessen, der den entscheiden-
den Schritt zu ihrer Lösung tat, in ihrer einzigartigen Größe erst in die rechte Be-
leuchtung gerückt wird. Eindringende Untersuchungen, in denen der Differenziertheit
der Aufklärung nach der Seite der nationalen Voraussetzungen wie der einzelnen
Persónlichkeiten Rechnung getragen ist, sind der Frage nach ihrer Religion zu-
gewandt. Àn einigen besonders kennzeichnenden Themen, wie dem der Erbsünde,
der Theodizee, der Toleranz und der natürlichen Religion, wird mit der Auffassung
von der zersetzend skeptischen, religionsfeindlichen Haltung der Aufklärung ge-
brochen und gezeigt, daß es sich bei ihr nicht um eine Abkehr vom Glauben, sondern
von der von ihr eingenommenen Grundposition aus vielmehr um eineandere Art
von Gläubigkeit handelt, die die Schaffung von Dogmen und ihre Auslegung ab-
lehnt und ihre Aufgabe in der transzendentalen Begründung der GlaubensgewiBheit
sieht. Hier läßt sich jedoch ein Bedenken nicht unterdrücken. Die inhaltliche Ver-
gleichung einer größeren Zahl von räumlich und zeitlich weitgetrennten Persön-
lichkeiten läßt ein Eingehen auf die Motive des Denkens bei den einzelnen nicht zu.
So ist es wohl zu erklären, daß die neben dieser autonomen, die religiöse Gewißheit
auf die denkende Verarbeitung der gegebenen Erfahrungstatsachen gründenden
Haltung herlaufende materialistische Einstellung zum Göttlichen in ihrer grund-
sätzlichen Andersartigkeit nicht genügend in Erscheinung tritt. Der gemeinsame
Kampf gegen die Orthodoxie hat den Zeitgenossen diese Gegensätze weitgehend
verwischt, die Forschung hat aber hier klar zu sehen und zu scheiden.
Nachdem bereits vorher die Verdienste der Aufklärung um die historische Bibel-
kritik hervorgetreten waren, wird alsdann ihre Stellung zur Geschichte besonders
untersucht. Die Grundeinstellung zur gegebenen Wirklichkeit bildet nicht nur
die Kritik der geschichtlichen Überlieferung aus, das auch auf die Gebiete der
Geisteswissenschaften ausgedehnte Suchen nach den „Prinzipien“ bringt Werke
hervor, die nicht nur für ihre Zeit vorbildlich gewesen sind, sondern in der Geschichte
ihrer Wissenschaft eine bleibende Stelle gefunden haben. Auf das Ganze gesehen
bildet die historische Leistung der Aufklärung die unumgängliche Voraussetzung
der sehr viel tieferen historischen Besinnung der Romantik, die ohne jene gar nicht
möglich gewesen wäre. Die Rechts- und Staatsphilosophie wird an zwei zentralen
Problemen entwickelt, an dem ein Motiv des Renaissancedenkens wieder aufnehmen-
den und weiterbildenden Gedanken von der Apriorität des Rechts als eines In-
begriffs schlechthin allgemeinverbindlicher und unveränderlicher rechtlicher Grund-
normen und an der Lehre vom Staatsvertrag. Wer sich einmal näher mit dem Staats-
denken des 18. Jahrhunderts zu beschäftigen hatte, wird bedauern, daß die letzte,
aber auch schwierigste Frage auf diesem Gebiete nicht angeschnitten worden ist:
wie denn nun für die Welt des Staats und der Gesellschaft die Grundforderung der
Aufklärung nach Erfassung der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen
durchgeführt worden ist. Da die wenigsten ihrer Vertreter bei ihrer Staatsfremdheit
diese Probleme zu Ende gedacht haben, wäre es für den Vf. bei seiner ausgebreite-
Kritiken 633
ten Kenntnis des aufklärerischen Schrifttums eine lohnende und wertvolle Aufgabe
gewesen, zur Lösung dieser Frage beizutragen, die erst ein abgerundetes Bild von
der Staatsphilosophie der Aufklärung zu geben vermag.
Ein letztes Kapitel behandelt die Grundprobleme der Ästhetik, die Versuche,
die die Kunst und Philosophie verbindenden Fäden zu fassen und in Verbindung
von literarischer Kritik und ästhetischer Reflexion Poetik, Rhetorik und die Theorie
der bildenden Künste systematisch zu ordnen und in ihrer eigentümlichen Wesens-
gesetzlichkeit unter logischen Kategorien zu erkennen.
So wertvoll und notwendig die von C. bewirkte Neuorientierung ist, so sind
ihr doch durch ihre Betrachtungsweise gewisse Grenzen gezogen: die vergleichende
Nebeneinanderstellung von Gedankeninhalten läßt ihre Zurückführung auf deren
Bedingtheiten nicht zu und bringt daher eine zu weitgehende Harmonisierung des
Gesamtbildes hervor. Andererseits werden immer wieder Vertreter herangezogen,
deren Schaffen über die gedanklichen Kreise der Aufklürung hinausreicht, ja die
sie zum Teil überwinden. Die C.'sche Darstellung erfordert daher Ergánzung nach
zwei Seiten: es müssen die bei ihm nur abgeschwücht hervorgetretenen charakteri-
stischen Verschiedenheiten in ihrem Zusammenhang mit den volkstümlichen Vor-
aussetzungen herausgearbeitet werden, und es ist für jede Persónlichkeit dieses
Kreises, zum mindesten für die bedeutenderen seiner Vertreter, das geistige Bild
genau festzulegen, zu zeigen, aus welchen Voraussetzungen sie ihre Eigenart schópfen,
welche Denkmotive Anteil an dem strukturellen Aufbau ihres Geistes haben, wie-
weit sie der Aufklärung zugehóten und worin sie über sie hinausweisen. Eine Arbeit
der letzteren Art ist die mit dem Lessingpreis des Reichsprásidenten ausgezeich-
nete Untersuchung Leisegangs über eine der schópferischsten Persónlichkeiten der
Aufklürungszeit.
Ihre besonderen Vorzüge liegen in der durchsichtigen Klarheit in Aufbau und
Gedankenführung, sowie in der sorgsamen quellenmäßigen Unterbauung aller Er-
gebnisse. In einem ersten Teil werden die für die Zeit Lessings in Frage kommenden
Weltanschauungstypen, Orthodoxie, Materialismus, Mystik und philosophischer
Idealismus als mógliche Vergleichspunkte für die Untersuchung in ihren Grund-
zügen kurz umrissen. In einem zweiten Teil wird an Hand der Quellenzeugnisse der
Nachweis erbracht, daB Lessing in den letzten Gründen seiner Innerlichkeit aus den
Tiefen mystischen Erlebens schópfte. Dieses Ergebnis wird gewonnen durch Inter-
pretation Lessingscher Selbstzeugnisse, und zwar in der Weise, daB jeweils eine
Schrift oder ein Fragment in den Mittelpunkt gestellt, während sein übriges Schaffen
und das Urteil der Zeitgenossen ergánzend herangezogen wird. Als Marksteine der
inneren Entwicklung Lessings werden behandelt das Fragment über die Religion
von 1748, „das Christentum der Vernunft“ von 1753, „die Erziehung des Menschen-
geschlechts“, der „Nathan der Weise“ und die „Gespräche über Spinoza“. Es wird
an Hand dieser Texte überzeugend dargetan, daß gewisse Spekulationen über das
Wesen Gottes, die ihn in engste Nähe zu den Mystikern verweisen und die zum Kern
von Lessings Weltanschauung gehören, von Anfang an in seinem Denken vor-
handen sind, ihn immer und immer wieder beschäftigt haben, bis sie schließlich in
knappster Formulierung, die in ihrer Gedrängtheit ihren ganzen Gehalt erst ein-
dringlicher Interpretation erschließt, ihren endgültigen Ausdruck gefunden haben.
So begleitet bei Lessing den Kampf des Tages ein Unterstrom in seinem Wesen und
Denken, der nur gelegentlich hervortritt und der zunáchst als nicht vereinbar
634 Kritiken
empfunden wird mit dem Bilde, unter dem Lessing der Um- und Nachwelt erscheint.
Diese Äußerungen, die sich, meist in Fragmenten niedergelegt, für die ganze Zeit
seines Lebens auffinden lassen, weisen hin auf die von Meister Eckart und Tauler
über Jacob Böhme heranführende Linie der deutschen Mystik, die dann später in
Schelling und Hegel in abgewandelter Gestalt eine philosophische Weiterbildung
erfahren hat.
Hier eróffnet sich ein Blick auf eines der interessantesten Probleme der Geistes-
geschichte, nämlich, wie sich in einer großen schöpferischen Persönlichkeit die indi-
viduell gegebene Anlage verbindet mit den Denknotwendigkeiten und -methoden,
die der Geist auf dem Stufengang seiner Entwicklung gerade durchläuft und denen
sich niemand entziehen kann. In dieser Hinsicht ist Lessing ein besonders dankbarer
Fall, und erst der Nachweis seines mystischen Erlebniskernes gibt die Einsicht in
die Spannweite der seelischen Auseinandersetzungen, die auf dem Boden dieser
Individualität der Formung des erlebten und innerlich erfahrenen Gedankens
vorausgingen, zugleich aber auch seine Tiefe und Innerlichkeit bestimmten. Nur
eine Persönlichkeit, die aus einem solchen Urerleben schöpfte, konnte sich zu der
Fülle und Prägnanz entfalten, die Lessing zu einer der lebensvollsten Gestalten des
18. Jahrhunderts machen. Diesen mystischen Wesenskern in Lessing erkannt und
herausgeschält zu haben, wird zweifellos ein bleibendes Verdienst des Vf. in der
Lessingforschung bedeuten. Wendorf.
I. Monteilhet, Les institutions militaires de la France (1814—1932). De la
paix armée à la paix désarmée. 2. Auflage, Paris 1932. Verlag von Felix Alcan.
XXIV und 472 Seiten.
Das vorliegende Buch schildert in sehr eingehender Weise die vielen Wechsel,
die das System der franzósischen Landesverteidigung in etwa anderthalb Jahr-
hunderten durchgemacht hat. Auf das Berufsheer des ancien régime war die levée
en masse der Revolution, dann das napoleonische Heer gefolgt. Nun kehrten 1814
die Bourbonen zurück und mit ihrer Restauration entstand auch wieder das Berufs-
heer, l'armée de métier. Darin ánderte auch die Julirevolution nichts, das Bürger-
kónigtum behielt das Berufsheer, die armée de mercenaires, wie es damals von der
Opposition genannt wurde (S. 28). Wohl schuf das Gesetz von 1832 neben dem
stehenden Heer eine Reserve, aber über deren Wertlosigkeit waren sich sowohl der
Staatsmann Guizot, als auch die Generäle Leydet und Soult klar (S. 25 und 26).
Selbst die Februarrevolution änderte das Wehrsystem nicht und Napoleon III. hielt
es auch für den besten Schutz seiner Monarchie. Dabei war der Kaiser keineswegs
blind gegen die Mängel der französischen Kriegsvorbereitung. Schon 1859 schrieb
er an den Kriegsminister, wir sind niemals bereit gewesen für den Krieg, das sei
aber nicht die Schuld des Ministeriums, sondern des Systems (S. 54).
Auch 1870 zeigten sich dieselben Mängel, obgleich Leboeuf erklärt hatte, wir
sind erzbereit. Als nach der Niederlage ein parlamentarischer Untersuchungsaus-
schuß zusammentrat, sagte Riant (S. 54), die Geschichte der letzten fünfzig Jahre
lehre, daß Frankreich nie bereit gewesen, wenn ein Krieg ausbrach.
Aber es gab Militärs, die die Schäden des französischen Wehrsystems erkannten
und sich nicht scheuten, das preußische zu empfehlen. Sie wurden heftig bekämpft.
Die preußische Armee sei nur eine Art Landwehr, sie würde im Ernstfall versagen
(S. 39).
Kritiken 635
Da kam die Nachricht von dem Siege der PreuBen bei Kóniggrütz, bei Sadowa,
wie die Franzosen sagen. Vielfach schlug jetzt die Stimmung um. Die einen verlang-
ten, daB das preußische System sofort in Frankreich eingeführt würde, andere
dagegen bekämpften energisch diesen Vorschlag. Napoleon erkannte die Bedeutung
der preuBischen allgemeinen Wehrpflicht, fand aber eigentlich nur bei seinen poli-
tischen Gegnern, den Republikanern, Zustimmung. Die Imperialisten bekämpften
die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht. Der Gedanke sei unpopulür, die De-
putierten befürchteten ihre Mandate zu verlieren, wenn sie dafür stimmten. Auch
die Generalität war dagegen, so der Kriegsminister Randon. Napoleon ersetzte ihn
durch den Marschall Niel, der versuchte, das Heerwesen zu verbessern. Unstreitig
hat er Erfolge gehabt, dem stehenden Heer trat eine Reserve zur Seite. Aber was
er errichtete, genügte doch nicht, wie der Krieg von 1870 bewies. Niels Nachfolger,
der General Leboeuf, hatte vor dem Krieg die Armee für erzbereit erklärt, als er
nach der Niederlage zur Rechenschaft gezogen wurde, meinte er, er habe nicht
ahnen können, daß der Krieg zur Zeit seines Ministeriums ausbrechen könnte (S. 53).
Monteilhet schreibt S. 62, die nationale Eitelkeit habe sich damit getröstet,
die Soldaten seien Helden gewesen, aber Löwen seien von Eseln kommandiert
worden. Das sei nicht richtig, wohl hätten einzelne mit großer Tapferkeit gekämpft,
aber die große Masse habe schon bei Wörth versagt, Flüchtlinge von Wörth hätten
die Disziplin der Nationalgarde von Straßburg verdorben und besonders traurig
sei das Verhalten vieler Soldaten bei Sedan, wo schon vor der Kapitulation
21000 Mann sich den Deutschen ergeben hätten. Nicht die schlechte Führung,
sondern das System sei schuld gewesen.
Ein großer Teil der Schuld fällt auf die Vertreter des Volkes, die vor 1870 sich
gegen eine Änderung dieses Systems gewandt. Jetzt nach der Niederlage kam der
Umschwung. Der Sieg Deutschlands, sagte Renan, ist der Sieg der Wissenschaft
und der Vernunft gewesen (S. 129). Jetzt beeilte man sich, das preußische Wehr-
system für mustergültig zu erklären und seine Einführung in Frankreich zu verlangen.
Monteilhet erkennt, daß in diesem Meinungsumschwung etwas für Frankreich De-
mütigendes liegt, aber er kann sich mit Recht damit trösten, daß die allgemeine
Wehrpflicht eine Erfindung der französischen Revolution ist, die Preußen nach-
geahmt hat, so daß man auf dem Umweg über Preußen wieder zu den Traditionen
der Großväter zurückkehrte. Freilich möchte ich bemerken, daß das Kantonsystem
Friedrich Wilhelms I. schon eine Etappe auf dem Wege zur allgemeinen Wehr-
pflicht gewesen ist und darum der Bruch mit der Vergangenheit 1808 in Preußen
kein so radikaler war, wie anderthalb Jahrzehnt vorher in Frankreich. Aber daB
Scharnhorst und Gneisenau dort Vorbilder gefunden, bleibt für die Franzosen ein
Trost.
Aber trotzdem sträubte man sich lange in Paris gegen die notwendigen Re-
formen. Der Widerstand wurde durch den ersten Mann der Republik, durch den
Präsidenten Thiers, unterstützt. Ihm war das preußische Wehrsystem nie sym-
pathisch gewesen. Was schließlich beschlossen wurde, war auch weit vom preußischen
Vorbild entfernt. Die Zahl der Wehrfähigen, die eine längere Ausbildungszeit durch-
machten, war zu gering, die Dienstzeit von fünf Jahren aber zu lang, tatsächlich
ähnelte die neue französische Armee dem alten Berufsheer, wenn die Soldaten so-
lange bei der Fahne blieben. Dazu kam die Ungerechtigkeit: nur ein Teil der Wehr-
fähigen mußte diese fünf Jahre abdienen, sie wurden in ihren beruflichen Ent-
636 Kritiken
wicklungsjahren schwer gestört, während die Altersgenossen, die nicht einberufen
wurden, ihnen gegenüber im Vorteil waren. Bald setzte deshalb auch eine Agitation
für Verkürzung der Dienstzeit ein; die drei Jahre, die für den deutschen Soldaten
genügten, konnten auch für den franzósischen ausreichend sein.
Für die Gebildeten gab es freilich eine Erleichterung: das Einjáhrigen-Jahr.
Auch hier war man dem preußischen Muster gefolgt. Ganz richtig sagte General
Barail: Wir haben sehr viel mehr nachgeahmt als geschaffen (S. 194).
Nun wurde im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts in Deutschland die zwei-
jährige Dienstzeit eingeführt. Da gewannen ihre Anhänger auch in Frankreich den
Sieg, freilich nur einen vorübergehenden, denn kurz vor dem Kriege verlängerte
Frankreich wieder seine Dienstzeit auf drei Jahre. Der Mangel an Rekrutenmaterial
war wohl der entscheidende Grund. Derselbe Mangel führte auch zu dem nicht un-
bedenklichen Entschluß, farbige Truppen zur Verteidigung des europäischen Be-
sitzes heranzuziehen. Auf jeden Fall wurde durch die Vermehrung des stehenden
Heeres die allgemeine Dienstpflicht aller Wehrfähigen im großen und ganzen durch-
geführt, zeitenweise noch konsequenter als in Deutschland. Monteilhet betont zu
wiederholten Malen, daB allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wehrpflicht eng
zusammenhängen, ein Volk, das seinen Bürgern das erstere bewilligt, kann auch
die andere von ihnen verlangen.
Aber trotz dieses Fortschrittes ist Monteilhet auch jetzt noch nicht mit dem
System einverstanden, er sagt, es war zwar nicht mehr eine armée de métier, aber
es war noch kein richtiges Volksheer, sondern eine armée de caserne. Der junge
Franzose wurde dem bürgerlichen Leben entfremdet, er bekam nicht nur einen
militärischen Drill, sondern auch seine Denkweise und seine Lebensauffassung
wurden dadurch beeinflußt.
So kam es, meint Monteilhet, daß die französische Armee auch beim Ausbruch
des Weltkrieges 1914 nicht auf der Höhe stand. Mit großer Offenherzigkeit schildert
Monteilhet die Mängel, unter denen sie litt (S. 314ff.). Die armée de caserne war im
Kielwasser der armée de métier geblieben, so war sie auch demselben Schicksal
verfallen, das ist das Resultat seiner Überlegungen (S. 344). Er schließt sich der
Meinung an, die General Malleterre schon 1915 vertreten, genau so, wie 1870, seien
auch 1914 die Deutschen den Franzosen in drei Punkten überlegen gewesen: stra-
tegisch, numerisch und materiell seien sie im Vorteil gewesen.
Ob Monteilhet und Malleterre recht haben, das zu untersuchen würde hier zu
weit führen. Wenn sie mit bewunderswerter Selbsterkenntnis die Fehler, die Frank-
reich gemacht hat, offen eingestehen, so glaube ich, daß wir ihrem guten Beispiele
folgen und mit ebensolcher Wahrheitsliebe sagen sollen: dieselben Fehler haben wir
Deutschen auch gemacht. Neben hervorragenden Leistungen strategischer Feld-
herrenkunst sind wir leider auch mit unentschuldbaren Fehlern belastet, ich er-
innere nur an die Marneschlacht und an Verdun (vgl. hierüber Historische Viertel-
jahrschrift X XVII, 206 und 207). Die numerische Stärke hatten Franzosen, Russen,
Engländer und Belgier schon von Anfang des Krieges, die Deutschen verstanden
nur die Massen besser zu gruppieren. Und was das Material anbelangt, so sind auf
deutscher Seite leider auch Unterlassungssünden gemacht worden, die bei Kriegs-
ausbruch sich rächten. Aber wenn schließlich der Ausgang für die Deutschen un-
glücklich auslief, so waren es bekanntlich weniger die militärischen, als die poli-
tischen Fehler, die uns um den Erfolg brachten.
Kritiken 637
Seit 1871 sind die preuBischen Heereseinrichtungen in Frankreich als muster-
gültig angesehen und nachgeahmt worden. Monteilhet wirft die Frage auf (S. 402),
ob Frankreich um 1918 endlich dazu gelangt sei, seine Armee zu entpreußen
(,déprussianiser'"). Am Tage nach dem Waffenstillstand habe es schon Leute ge-
geben, die geglaubt, der franzósische Generalstab habe nur deshalb die Deutschen
zur Einführung eines Berufsheeres gezwungen, weil er gehofft, daB dann auch
Frankreich diesem Schritte folgen würde.
DaB die 100000 Mann, die man dem Deutschen Reich gelassen hat, den Fran-
zosen selbst dann nicht geführlich werden kónnen, wenn man die 150000 Mann
Schupo hinzurechnet, sieht Monteilhet ein. Aber er fürchtet, daB es Deutschland
im gegebenen Augenblick móglich sein werde, ein Heer aus dem Boden zu stampfen
wie 1813. Allerdings, es würde ein Milizheer sein, aber trotzdem gefährlich.
Monteilhet übersieht aber dabei, daß die Neuformationen, die Preußen im Früh-
jahr 1813 errichtete, erst im Spätsommer kampffähig waren. So viel Zeit würden
uns heute unsere Feinde nicht gönnen. Wir könnten in wenigen Wochen ver-
nichtet sein.
Wenn nun auch heute noch ein Milizheer für so gefährlich gehalten wird, so
erweist ihm der französische Militarismus damit eine Ehre, vielleicht ohne es zu
wollen, sagt Monteilhet (S. 402). Man baut einen großen Festungsgürtel, man holt
Farbige aus fremden Erdteilen, bloß um Frankreich gegen die von Deutschland
drohende Gefahr zu schützen. So ist man wieder zu einem falschen System gekom-
men. Monteilhet wirft nun die Frage auf, wie sich die Zukunft gestalten wird. Er
setzt große Hoffnung auf die Verhandlungen, die zu einer Abrüstung führen sollen.
Gelingt es, hier eine Einigung zustande zu bringen, dann würden geringe Heeres-
stärken genügen, um die Ordnung im Innern und den Schutz der Kolonien zu sichern.
Dann würde die Zeit kommen, wo die paix armée der paix désarmée weichen würde.
Ginge man aber nicht auf die Abrüstung ein, dann würde das Gemälde eines alten
spanischen Malers Wirklichkeit werden: Europa würde ein Skelett in einer Waffen-
rüstung sein.
Mit diesen Worten schließt Monteilhet sein Werk ab. So objektiv und wahr-
heitsgetreu er den Entwicklungsgang des franzósischen Heerwesens geschildert, so
wenig überzeugend wirken seine Zukunftsplüne. Ich fürchte, es werden gerade seine
Landsleute sein, die das Zustandekommen einer paix désarmée verhindern werden.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
Félix Ponteil, docteur és lettres, L'opposition politique à StraBburg sous la monarchie
de juillet (1830—1848). 1932. Paul Hartmann, éditeur. (982 S.)
Das wechselvolle Schicksal StraBburgs und des Elsaß spiegelt sich auch insofern
in der Geschichtsschreibung wider, als die Historiker des jeweiligen Staatsvolks
andere Perioden der elsüssischen Geschichte in den Vordergrund zu rücken ver-
suchen. Die deutsche Geschichtsschreibung sieht das Land natürlich unter dem
deutschen Aspekt: das Mittelalter, die Zeit des Humanismus und der Reformation
sind ihr die hohe Zeit des Elsasses und Straßburgs, die Zeit der französischen Herr-
schaft aber erscheint ihr als eine Zeit fortschreitender Lähmung des autochthonen
Eigenlebens. Die franzósische Geschichtsschreibung betrachtet demgegenüber die
Zeit der Revolution als die entscheidende: durch sie sei das ElsaB mit Frankreich
638 Kritiken
eins geworden; es habe sich unter der Einwirkung der Ideen der groBen Revolution
jene freiwillige Hingabe an Frankreich eingestellt, die dem Lande den Willen der
Zugehörigkeit zur „Nation une et indivisible" gegeben hätten. Und in der Tat: die
nachrevolutionäre Zeit ist für die Schau vom deutschen Gedanken her am wenigsten
befriedigend. Das deutsche Wesen ist in eine Aschenbródelrolle zurückgedrängt;
die liberale Bourgeoisie ist in das Leben Frankreichs eingetreten, Paris ist ihr das
Zentrum jeglicher fortschrittlichen Entwicklung. Sie erscheint daher auch den
Franzosen als der Repräsentant des elsässischen Lebens im 19. Jahrhundert. Kein
Wunder, daB die franzósische Geschichtsschreibung nach dem Rückfall des Elsasses
an Frankreich ihre Aufmerksamkeit vor allem auf diese bourgeoise Zeit der elsas-
sischen Geschichte richtet. Georges Pariset und Chrétien Pfister haben so eine
Reihe junger französischer Historiker auf das 19. Jahrhundert hingelenkt; auch
Félix Ponteil ist einer ihrer Schüler.
Ponteil hat sich die Zeit der Julimonarchie vorgenommen; nach einer Arbeit
von vielen Jahren ist nunmehr dies außerordentlich umfangreiche Werk unter dem
Titel: „Die politische Opposition in Straßburg unter der Julimonarchie"
erschienen. Neben Pfister und Pariset sind der Professor an der Sorbonne Louis
Eisenmann und der Straüburger Fritz Kiener bei dem Werke Pate gestanden. Die
Arbeit umfaßt 982 Seiten, ein außerordentlich umfangreiches Quellenmaterial (das
Verzeichnis umfaßt 29 Seiten) ist verarbeitet, der Index der Namen von Personen
und Örtlichkeiten umfaßt 18 Seiten; 6 interessante Bilder, eine Karte des Departe-
ments vom Jahre 1841 und ein Plan der Stadt Straßburg vom Jahre 1842 sind
beigegeben. An der Finanzierung haben sich die wichtigsten staatlichen und wirt-
schaftlichen Stellen des Departements beteiligt, ein Zeichen, welch großen Wert
man drüben auf Arbeiten wie diese legt. In seiner Einleitung unterstreicht Ponteil
den Wert der Lokalgeschichte, die infolge der jakobinischen Tradition in der Ver-
gangenheit zu kurz gekommen sei, für die französische Geschichte überhaupt, von
der Provinz her erschließe sich erst die wahre Wirklichkeit des französischen Lebens,
dabei sei das ElsaB von ganz besonderer Bedeutung, Straßburg erscheine geradezu
neben Paris, Lyon, Grenoble als Zentrale der liberalen, der demokratischen, der
revolutionären Opposition.
Wie stellt sich Ponteil den Ablauf der Geschehnisse dar?
Das Jahr 1830 bringt den Sieg der auch in Straßburg geschlossenen liberalen
Opposition über die ,,karlistische" Reaktion. Der Sieg des Julikönigtums aber führt
zu einer Spaltung: die einen schließen sich dem neuen Regime an, die andern ver-
bleiben in der Opposition. Ponteil spricht von einer ersten „heroischen‘‘ Periode
der Opposition; sie wird durch den Putsch des Prütendenten Louis Napoléon im
Jahre 1836 beschlossen, die Staatsgewalt erwehrt sich ihrer durch die Kampfgesetze
vom Jahre 1834/35. Nach einer kurzen Zeit des Übergangs (1837) setzt unter neuen
Männern, dem Präfekten Sers und dem Generalleutnant Buchet die neue Periode
mit einer neuen Methode ein: die Opposition soll zwar niedergehalten, es soll ihr
&ber durch eine intensive Fórderung der materiellen Interessen das Wasser abge-
graben werden. In der Führung der Bewegung seien neben einigen Katholiken, wie
dem Advokaten Louis Lichtenberger, vor allem Männer aus der protestantischen
Bourgeoisie StraBburgs und des Landes gestanden. Die Bewegung habe eine ausge-
zeichnete Presse gehabt, habe eine Fülle oppositioneller Broschüren erscheinen lassen,
sei überhaupt bis 1836 von außerordentlicher Regsamkeit gewesen. Eine Haupt-
Kritiken 639
stütze war die garde nationale, die 1834 von dem Präfekten aufgelöst wurde; von
der Garnison neigten ihr die Artillerie und die Pioniere zu, während die Infanterie
dem Regime gegenüber loyal war, auch besaß sie eine Reihe von Gesellschaften,
die sich recht rege betätigten. Nach 1834 sah sie sich infolge der Verbote der Re-
gierung auf die Herrschaft im Conseil municipal, auf den „Kurier vom Niederrhein",
auf die Agitation durch Bankette und in den Brasserien beschränkt. Nach 1840
erscheint sie für eine Reihe von Jahren gebrochen. Von besonderer Bedeutung war,
daß Straßburg eine Art Hochburg der Flüchtlinge aus dem Osten, sowohl derer aus
den Ländern des deutschen Bundes, wie aus Polen war. Die Deutschen vermitteln
zwischen den deutschen, elsässischen und französischen Liberalen hin und her, die
flüchtigen polnischen Insurgenten finden enthusiastische Anteilnahme und Unter-
stützung. Ereignisse, wie das Hambacher Fest und der Frankfurter Wachensturm
spielen sowohl in der Vorbereitung wie in der Nachwirkung nach Straßburg hinüber.
Eins allerdings glaubt Ponteil mit absoluter Gewißheit behaupten zu können: daß
die Bewegung trotz aller Opposition, trotz aller Sympathie mit den liberalen Ge-
sinnungsfreunden jenseits des Rheins unbedingt „national“ geblieben sei. Zwar
habe es, so sagt er in seiner Einleitung S. 16, im Elsaß Elemente gegeben, die geistige
und religiöse Sympathien für Deutschland kundgetan hätten, er glaubt aber auf
Grund genauen Studiums aller Texte, der günstigen und der ungünstigen, sagen zu
können, daß Straßburg mit voll bewußter und offen bekannter Treue und Liebe an
Frankreich gehangen habe. Auch Ponteil bewegt sich also rein auf der Ebene des
nationalstaatlichen Denkens der Franzosen, von der aus die Einsicht in ein volks-
politisches Problem wie das elsässische nicht voll zu gewinnen ist. Es konnte sich
im Zeitalter des liberalen Nationalstaatsgedankens eine Volksgruppe politisch dem
Staatsvolk verschreiben, vor allem in ihrer Oberschicht, ohne daß dadurch die alte
Volkstumsgrundlage der Mutterschichten der Bevölkerung und daher die Dispo-
sition zur Rückbesinnung verlorengegangen wäre. Es genügt auf die analoge Ent-
wicklung in Flandern oder auch in Ungarn hinzuweisen.
Wie war's mit der Vertretung im Parlament? Es haben merkwürdig viele
führende liberale Innerfranzosen in Straßburg kandidiert und sind gewählt worden:
B. Constant, Voyer d’Argenson, Lafayette, Odilon Barrat. Die lokalen Kandidaten
entstammen natürlich aus der haute bourgeoisie: Humann, der französische Finanz-
minister, Saglio, de Türckheim, der Notar Martz, die Advokaten Coulmann und
Ed. Martin, M. Magnier. Immer mehr entstammen die Abgeordneten dem juste-
milieu, sind Angehörige der stádtisch-bourgeoisen Intelligenzschicht. Daß die
Masse des Volks aber abseits vom politischen Getriebe stand, sieht auch Ponteil:
nur die Oberschicht habe das Französische beherrscht, habe sich um das Leben
Gesamtfrankreichs gekümmert, die Masse aber sei uninteressiert und indifferent
gewesen; ihren materiellen Interessen und der Geistlichkeit ergeben, sei sie —
zumeist des Französischen unkundig — eigentlich außerhalb des politischen Lebens
gestanden (S. 17 der Einleitung). Daraus den Schluß zu ziehen, daß die civilisation
francaise im Elsaß doch nur eine Angelegenheit der Oberschicht gewesen sei, die der
Masse der Bevólkerung durchaus nicht gut bekam, ist Ponteil allerdings nicht in
der Lage.
Bezeichnend für die Stärke der Opposition in Straßburg sind die Unruhen der
ersten Hälfte der 30er Jahre: die eigenartige „émeute des boeufs“, die die Öffnung
der Rheinbrücke erzwingen will, und die Unruhen um die Gesetze vom Jahre 1834
640 Kritiken
herum. Straßburg ist in einem Zustand dauernder Gárung gewesen, es hat damals
— so meint Ponteil — nur an einer größeren Arbeiterbevölkerung gefehlt, um sie
recht gefährlich werden zu lassen. Sehr eingehend ist das Verhalten der Staats-
gewalt im Departement untersucht: die beiden Prüfekten sind Gegensätze, Choppin
d'Amouville und Sers; der erstere autoritür, rücksichtslos, von der Opposition
gehaBt, der letztere schmiegsam, konziliant, die Losung der Schwierigkeiten durch
gute Verwaltungsleistung suchend (Eisenbahnbau, Kanalbau, Rheinregulierune|.
Es scheint zum Ende der Periode, als sei es der Staatsgewalt gelungen, eine Art
Gleichgewicht herzustellen. Da aber setzt im Jahre 1846 die Wirtschaftskrise ein,
nun erstehen die Wahlrechtsprojekte wieder und die Opposition lebt auf. Sie siegt
in der Revolution vom Jahre 1848.
Indem Ponteil die Bourgeoisie dem Elsaß gleichsetzt, ermöglicht er sich natür-
lich, die Geschichte des Elsasses in der Zeit der Julimonarchie als eine ausschlieBlich
französische zu sehen und darzustellen; damit aber ist die Erkenntnis des elsässischen
Problems als eines zwischenvólkischen verbaut. Bezeichnend, daB Ponteil auf S. 21
seiner Einleitung sagen kann:
D'un patriotisme chatouilleux prompt à se transformer en ardeur guerriére,
profondément religieux, avec un instinct de lutteur, que n'arrive pas toujours
à tempérer le sentiment de l'ordre, animé d'un perpétuel esprit de critique, l'Al-
sacien est une individualité, en réalité difficile à amener. Jaloux de son indépen-
dance, dominé par un sentiment particulariste que renforcent à la fois l'usage d'un
dialecte et des moeurs maintenues par des traditions séculaires, il considère
souvent comme des intrus les fonctionaires que le gouvernement lui envoie pour
l'administrer. Sans cesse, il réclame une large décentralisation, qui accorderait aux
organes départementeaux et communaux des attributions étendues. Le régio-
nalisme alsacien, en effet, est trés vif sous la monarchie de juillet, sans que les
hommes qui le défendent les Boersch, les Lichtenberger, les Silbermann, puissent
étre suspects d'opposition nationale.
Gewiß, eine Opposition gegen die Zugehörigkeit zum französischen National-
staat hat es damals im Elsaß nicht gegeben, wie hätte es dergleichen auch im Zeit-
alter des deutschen Bundes überhaupt geben können ? Es gab aber diesen elsässischen
Regionalismus im Elsaß, dessen Stärke — trotz Ponteil — aus rein französischen
Voraussetzungen nicht zu begreifen ist, sondern die unfranzösische Volkstums-
grundlage der Bevölkerung mit zur Voraussetzung hat; es gab auch eine deutsch-
kulturelle Stimmung bei gar manchen einzelnen, die treu gehütet wurde, bei den
Gebrüdern Stöber, Ludwig Spach, Daniel Hirtz, Gustav Mühl, Eduard Reuß,
und wie sie alle heißen mögen. Davon merkt man bei Ponteil recht wenig. Jeder
Deutsche, der die Geschichte des Elsasses des 19. Jahrhunderts kennt, hat einmal
jene berühmte Erklärung gelesen, die Ed. Reuß in der Nummer vom 2. Juni 1833
der „Erwinia“ unter dem Titel: „Wir reden Deutsch“ veröffentlicht hat: „Mag es
wahr sein, daß, wer von uns etwas werden will, vor allem ein Franzose werden
müsse, ein Franzose mit Mund und Seele — wir wollen ja nichts werden, wir wollen
sein und bleiben was wir sind“, so steht da zu lesen. Wahrlich, der berühmte elsäs-
sische Theologe war ebensowenig ein Kulturfranzose wie der ganze Kreis der „Er-
winia“; aber über diese Dinge geht Ponteil entweder hinweg, oder er vermag ihnen
nicht das rechte Gewicht zu geben.
Gießen. Friedrich König.
Kritiken 641
Tbimme, Hans, Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen
Deutschland, ihre Wirkung und ihre Abwehr. Mit sechs Abbildungen. Stutt-
gart u. Berlin 1932. I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger. VIII und
294 Seiten.
Hans Thimme hat sich einer sehr schweren Aufgabe unterzogen, aber er hat
sie mit groBem Geschick gelóst. Er zeigt, wie unsere Gegner uns nicht blof mit
Waffen, sondern auch auf andere Weise bekämpft haben, man könnte sagen, mit
papierenen Waffen. Wir wissen, welche Fülle von Verleumdungen elendester Art
gegen uns in der Welt verbreitet wurde, es zum Teil jetzt noch wird. Thimmes
Verdienst ist es, gezeigt zu haben, welche furchtbare Wirkung diese Lügenpropaganda
gehabt hat und wie wenig wir es verstanden haben, uns dagegen zu wehren.
Gleich nach Kriegsausbruch begann die Verleumdungsoffensive, der Einmarsch
in Belgien und andere MaBnahmen der politischen und militárischen Leitung Deutsch-
lands boten ihr reichen Stoff. Anfangs waren es hauptsächlich zwei Länder, die sich
ihrer bedienten, Frankreich und England, spáter trat Amerika hinzu. Bei den anderen
Feinden tritt diese Kampfweise weniger hervor, selbst die Italiener scheinen wenig
Gebrauch davon gemacht zu haben.
Was uns überaus schmerzlich berührt, ist der Umstand, daB eine ganze Reihe
unserer Volksgenossen sich der feindlichen Propaganda zur Verfügung gestellt haben.
Thimme weist darauf hin, daß ein sehr großer Prozentsatz dieser Verräter Männer
jüdischen Ursprungs war. Das ist richtig, es trifft auf Grelling, Fernau, Eisner,
Eckstein, Witting und andere zu. Es mag auch richtig sein, wenn Thimme S. 142
und 143 meint, die Erklärung für das Verhalten der Unabhängigen Sozialisten liege
darin, daß ihre Führer zum großen Teil international gesinnte jüdische Schriftsteller
gewesen seien, denen der Instinkt für das Wesen und den Willen des deutschen
Volkes gefehlt habe, die Führer von den Mehrheitssozialisten, die aus den Reihen des
Volkes stammten, seien ihnen in diesem Punkte überlegen gewesen. Aber trotz allem,
es waren Bürger des Deutschen Reiches, es bleibt darum ein schmerzliches Gefühl,
daß sie sich auf die Seite unserer Feinde stellten. Grelling war Syndikus des deutschen
Schriftsteller-Verbandes gewesen, wiederholt hatte ihn die Fortschrittspartei bei
Reichstagswahlen als Kandidaten aufgestellt. Noch schlimmer liegt der Fall bei
Witting. Er genoß das Vertrauen höchster Kreise. Oft hatte man ihn als den zukünf-
tigen Finanzminister Preußens bezeichnet. Als Oberbürgermeister von Posen hatte
er regsten Anteil an der Gründung der Akademie Posen genommen. Welche hohen
nationalen Tóne schlug er damals an! Als er bald darauf an die Spitze der National-
bank für Deutschland trat, begrüBte die Berliner Bórse diese Berufung mit einer
Hausse. Schon August Winnig hat uns in seinen Erinnerungen manches mitgeteilt
über die Rolle, die Witting gespielt. Das Bild wird durch Hans Thimme weiter
ergänzt. Von Witting und seinen Kreisen wurde die Propaganda der Unabhängigen
Sozialisten mit beträchtlichen Summen unterstützt, „auch der politische Streik
im Januar des Jahres 1918 gefördert‘ (S. 85). Bekanntlich hat dieser Streik
die Munitionsversorgung gehemmt und damit wesentlich zum Verlust des Krieges
beigetragen.
Die Wittingschen Kreise, die man ,,das bürgerlich-sozialistische Hauptquartier
der werdenden Revolution“ nannte (a. a. O.), unterstützten auch die Bestrebungen des
Reichstagsabgeordneten Hanssen, der die Abtretung von Nordschleswig an Däne-
mark betrieb und leider durchsetzte. Von hier aus wurde auch die Broschüre des
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 8. 41
642 Kritiken
Fürsten Lichnowsky verbreitet, ob mit oder ohne Einverständnis des Fürsten, läßt
sich noch nicht klar erkennen (vgl. S. 124).
Ein anderer ehemaliger deutscher Diplomat, der sich an diesen Bestrebungen
beteiligte, war Hans Schlieben, der Organisator der in der Schweiz gedruckten
Freien Zeitung, die in Unmengen von Exemplaren nach Deutschland verschickt
wurde. Auch ich habe diese und andere Schriften oft zugesandt bekommen und
habe es nie begreifen können, daß die deutsche Reichspost die Beförderung übernahm.
Ein reger Mitarbeiter dieser Zeitung war Edward Stilgebauer, dessen Roman
Gótz Krafft einst viel gelesen war.
Von groBer Bedeutung für die antideutsche Propaganda war es, daB Dr. Muehlon,
der früher Direktor bei Krupp gewesen, für die Kriegsschuld Deutschlands eintrat.
Ein geführlicher Verráter war auch der Münchner Rechtsanwalt Eckstein, dessen
Tätigkeit Thimme ausführlich schildert (128 bis 135). Eckstein hatte es in der deut-
schen Armee bis zum Gefreiten gebracht. Im Oktober 1916 lief er zu den Franzosen
über, wurde von diesen zunächst benutzt, die deutschen Gefangenen zu verhetzen,
womit er damals noch wenig Erfolg hatte. Dann aber schrieb er eine Fülle von
Schmähschriften, von denen viele an der deutschen Front abgeworfen wurden. Auch
als Mitarbeiter der oben genannten Freien Zeitung war er eifrig tätig. Er schrieb unter
dem Decknamen Siegfried Balder. Er litt wohl an Großmannssucht. So wenigstens
erscheint er uns in der Schilderung seines Mitarbeiters Hansi, der als Karikaturen-
Zeichner sich an der antideutschen Propaganda beteiligte. Hansi hieß ursprünglich
Waltz und lebte vor Kriegsausbruch in Kolmar im Elsaß. Er entstammte aber keines-
wegs einer altelsässischen Familie, sondern einer badischen. Er wirkte zusammen mit
dem Abbé Wetterlé, der deutscher Reichstagsabgeordneter gewesen war, und mit
dem Elsässer Schuhl. Diesen drei Deutschen stand der Lehrer der deutschen Lite
ratur Tonnelat zur Seite.
Für uns Berliner Professoren ist es sehr schmerzlich, die Abschnitte über Pro-
fessor Haguenin zu lesen, der über ein Jahrzehnt lang Professor der romanischen
Philologie an der Berliner Universität war. Er war geborener Franzose, und es ist
begreiflich, daß der Ausbruch des Krieges ihn in schwere Konflikte brachte. Man ver-
stand, daß er nach Frankreich flüchtete; man würde auch entschuldigt haben, wenn
er in ritterlicher Weise für sein Geburtsland gegen das Land, in dessen Dienste er
getreten, gekämpft. Aber daß er einer der Hauptleiter des Verleumdungsfeldzuges
wurde, daß er, der Deutschland kannte, wider besseres Wissen die Lügen verbreiten
half, das war uns, die wir ihn für einen vornehmen Charakter gehalten hatten, eine
bittere Enttäuschung. Er leitete besonders die Presse-Propaganda in der Schweiz,
war für die Freie Zeitung tätig, nahm auch an der großen Konferenz teil, die im
August 1918 im Crewe House stattfand (S. 25). Thimme meint (S. 99), daB er einer
französisch-deutschen Verständigung nicht abgeneigt war, vorausgesetzt, daß die
Ziele der franzósischen Machtpolitik vorher gesichert waren.
Das Ziel der großen Verleumdungsbewegung war zunächst, das neutrale Ausland
zu beeinflussen. Das ist gelungen. Von besonderer Bedeutung war, daß die öffentliche
Meinung in Amerika für die Entente gewonnen wurde. Gewiß spielten da die geschäft-
lichen Interessen eine große Rolle, aber gegen die Stimmung des Volkes hätten sie
sich nicht durchsetzen können. Erst als es gelungen war, den Deutschen als den
Friedensbrecher, den Unterdrücker der Freiheit, den grausamen Barbaren verhaßt zu
machen, war das amerikanische Volk für den Krieg reif.
Kritiken 643
An die Deutschen selbst wandte sich die Propaganda erst später. Anfangs war
die Stimmung nicht zu erschüttern. Aber nach und nach schwand die Begeisterung
trotz der glänzenden Erfolge der Waffen im Osten. Im Westen kam man nicht vor-
wärts; der Hunger und der Mangel an Munition und anderem Kriegsmaterial ließ
den Mut sinken. Die deutsche Front wurde müde. Nun war der Zeitpunkt für die
Entente gekommen, den deutschen Soldaten durch Massenabwurf von Flugblättern
in der Front und in der Etappe zu erschüttern und gleichzeitig die Heimat durch
heimliche schriftliche und mündliche Verhetzung zu zermürben. Mit welchem Erfolg
das geschah, zeigt Thimme in dem Kapitel: „Die Wirkung“ (S. 159 bis 183). Der
Erfolg war um so gróBer, als man in Deutschland selbst Bundesgenossen fand. Es
waren nicht mehr bloß die vereinzelten Fanatiker, die seit Anfang des Krieges ihre
Maulwurfsarbeit trieben; seitdem die radikalsozialistischen Strómungen an Boden
gewannen, war das deutsche Volk für die Revolution reif.
Viel zu spát haben die leitenden deutschen Stellen die Gefahr erkannt. Als man
endlich zu Gegenmaßregeln schritt, hat man ein Ungeschick bewiesen, das uns
Thimme in dem Kapitel: „Die Abwehr“ (S. 184—207) in treffender Weise zeichnet.
Ende Oktober 1918 übertrug die Reichsregierung die Leitung der „Aufklärungstätig-
keit" Herrn Erzberger. Die oberste Heeresleitung hatte nicht mehr die Kraft, das zu
verhindern.
Thimme sagt S. 206, man kónnte versucht sein, zu sagen, in den letzten Monaten
des Krieges sei jeder Versuch, durch geistige Mittel die Kampfkraft der Truppen
zu heben, aussichtslos gewesen. Er führt Stimmen an, die sehr pessimistisch waren.
Aber Thimme meint (S. 207), daB trotzdem die Aufgabe nicht grundsätzlich unlós-
bar war.
Hier werden die Meinungen auseinandergehen. Wir müssen uns leider mit der
Tatsache abfinden, daB die Propaganda der Entente ihr Ziel erreicht hat. Was den
Waffen nicht gelungen, hat der Hunger und die Vergiftung der óffentlichen Meinung
bewirkt.
Mit Recht nennt darum Hans Thimme sein Buch: Weltkrieg ohne Waffen. Er
hütet sich vor dem Fehler, dem manche andere verfallen sind, den Verlust des
Krieges einer einzigen Ursache zuzuschreiben; verschiedene Gründe haben zusammen-
gewirkt. Aber einer der wichtigsten war, daß wir nicht die Fähigkeit hatten, die feind-
liche Propaganda zu besiegen. Einen wie hohen Anteil sie an unserm Untergang
hatte, das zeigt Thimmes Buch in klarer Deutlichkeit.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit. De Gruyter, Berlin/Leipzig
1931. (5. Auflage 1933.)
Wenn dieses gehaltvolle, in schwer gedrüngter Sprache geschriebene und nur
ernst sinnendem Denken ergreifbare Göschenbändchen in zwei Jahren bereits fünf
Auflagen erlebte, so bestátigt das Jaspers Grundgedanken, insoweit als er das Frag-
lichwerden alles Sinnes, sogar desjenigen des eigenen Seins, und das Suchen nach
neuem sinngebendem Halt als ein wesentliches Zeichen unserer Zeit sieht. Dieses
Bewußtsein der Krise nach allen Seiten hin zu erhellen und zu vertiefen, ist das
Thema des Buches. , Was in Jahrtausenden die Welt des Menschen war, scheint
heute zusammenzubrechen." Immer stärkeres Schwinden von substanzhaftem
Leben, zunehmende innere Leere und Verlassenheit, die man um so betriebsamer
41*
644 Kritiken
durch Veranstaltungen zu vergessen sucht, Grauen vor dem Abgrund, Lebensangst
dessen, der vor dem Nichts steht, Vermassung und Entwurzelung allen Seins —
das ist die Diagnose, die Jaspers der Zeit stellt. Sie läßt seine Beeinflussung durch
die Psychopathologie und durch Max Webers Denken deutlich genug erkennen.
Diese „Entzauberung der Welt“ ist aber der notwendige Weg der Geschichte. So-
bald der Mensch überhaupt aus seinem ungeschichtlichen, geborgenen Sein, aus der
gebundenen gültigen Ordnung, die ihn Ruhe in der Transzendenz finden ließ, zu
einem geschichtlichen Bewußtsein erwachte, sich auf sich selbst stellte und nach
eigener Vernunft zu planen begann, hatte er auch schon den Weg der unaufheb-
baren Widersprüche betreten, die ihn schließlich zur Verzweiflung an sich selbst
bringen müssen. Denn mit dem Glauben an die Möglichkeit einer irdischen Voll-
endung erstand zugleich das Gefühl der Ohnmacht, des Gefesseltseins an den Gang
der Dinge. Diese ganze geschichtliche Entwicklung und die jetzige Lage ist also
nach Jaspers bestimmt durch die immer fortschreitende Rationalisierung, durch die
Technik, die menschliche Planung, sie schuf immer mehr einen Apparat der Fürsorge
für den Menschen, die in Wahrheit, weil sie ihn als bloße Funktion in ihre Maschinerie
einspannt und über sein Leben und Wagen in wachsendem Maße vorentschied, ihm
damit sein persönliches Selbstsein nahm, um es in ein bloßes auswechselbares Da-
sein zu verwandeln. Heute ist vollends aus dem verantwortlichen Eigensein sub-
stanzloses Massensein, aus der beseelten Welt eine planetarische Fabrik geworden;
kaum ein Beruf füllt noch die Existenz voll aus; das Dasein ist an einen Apparat
gebunden, der den Menschen durch seine Vollendung wie durch sein Zusammen-
brechen gleicherweise ruiniert. Schlechthin alles sieht Jaspers in diesem entwurzelten
Strudel hineingezogen, Kultur und Bildung drohen ihm gänzlich zu versanden,
Kunst wird weithin zum Vergnügen, Forschung zum Betrieb, Philosophie zur Rou-
tine; ja sogar „der physiognomische Ausdruck der Generationen scheint seit einem
Jahrhundert ständig auf ein tieferes Niveau zu sinken", Weder der Mensch noch
die Wissenschaft ist noch vertrauenswürdig. „Die Naturwissenschaften bleiben
ohne Totalität einer Anschauung; trotz ihrer großen Vereinheitlichungen wirken
ihre heutigen Grundgedanken eher wie Rezepte, mit denen man es versucht, denn
als Wahrheit, die endgültig erobert wird. Die Geisteswissenschaften bleiben
ohne Gesinnung einer humanen Bildung; es gibt noch gehaltvolle Darstellungen,
aber sie sind partikular und wirken selbst da wie die letzte Vollendung einer Mög-
lichkeit, der vielleicht nichts weiteres folgen wird."
Bei aller grandiosen Einseitigkeit sind diese Gedanken ernst genug, um ebenso
ernst geprüft zu werden. Wer in der Tat wird nicht im Innersten getroffen von der
Dämonie des Apparats, der alles verschlingen möchte? Wer fühlte heute nicht die
Schwierigkeit, im Ansturm der fordernden Gewalten das eigene Leben zu leben?
Wer würde verschont von der Bedrüngnis, sich inmitten der unübersehbaren Bil-
dungsmassen und Könnensforderungen einer ausgereiften Kultur substantielles
Menschentum einzuformen ? Wer übersähe die Tragik wissenschaftlicher Forschung
von heute, um den Preis wesenhafter Gesamtschau das Leben an die Erhellung
eines kleinsten partikularen geschichtlichen oder naturwissenschaftlichen Frage-
bestandes zu setzen, auch auf die Gefahr, dabei um der Erfüllung der Sache willen
zu zerbrechen ? Wenn diese Spannungen zugenommen und sich vielfach bis zur Grenze
des Tragbaren zugespitzt haben, so bedeutet das zwar eine gróBere Belastung vor
dem Gewissen und der Geschichte, nicht notwendig aber jenen Strudel, der die
Kritiken 645
Existenz erdrückt. Niemand kann daran zweifeln, daB das Selbstsein um viele
Grade gefahrvoller und schwieriger geworden ist; das heiBt aber noch nicht, un-
möglich. Überdies müßte, wenn die rationalisierende Technik in jenem Sinne das
gesamte geistige Leben bestimmte, eine einzige absteigende Linie der Kulturent-
wicklung vom Erwachen des geschichtlichen Bewußtseins bis zur Jetztzeit führen,
in der nach Jaspers nun gerade der Umschlag und „Rückstoß“ erfolgt. Nur mit
kühnem Schwunge wohl läßt sich der Befund der heutigen Kunst und Philosophie
überwiegend mit Vergnügen und Routine kennzeichnen; nur unter dem Zwang
eines a priori unumschränkte Herrschaft und Bestätigung fordernden pessimi-
stischen Grundgefühls aber sind die Leistungen der Natur- und Geisteswissen-
schaften nach der rein negativen Seite zu beurteilen. Zwar ist das entpersónlichte
geistige Schaffen in weitem Umfange Wirklichkeit unserer Zeit, und auf diese
Nachtseite der Entwicklung und ihre Gefahr hinzuweisen, ist richtig; sie aber als
das Wesen der Gegenwart gelten lassen, heißt geradezu das Menschsein dem Geiste
der Technik erbarmungslos und von vornherein ausliefern. Gegenüber dieser Dia-
gnose Jaspers, die überall Verfall wittert, muB gesagt werden, daB dies alles doch
eben nur eine Seite der Sache darstellt. Oder ist nicht durch die Erweiterung der
historischen Kunde und die Verfeinerung der kritischen Mittel zugleich mit der
Gefahr des Zerschellens auch die Möglichkeit substantiellen Seins gewachsen?
Oder liegt nicht in der Aufgabe, in der Zunahme des Apparats doch die Substanz
zu wahren, selbst schon eine wesenhafte Steigerung des Menschseins, von der man
etwa sagen müBte, sie würe in dieser Zeit nicht verwirklicht? Ist neben dem Schutt
der Kultur die viele bescheidene, verantwortungsbewußte Hingabe an ein Werk,
bei dem wahrlich auch das eigene Selbst wüchst auf der einen Seite, das ernste Rin-
gen um eigene Sinngebung auf der anderen Seite zu übersehen?
Man kann im Zweifel sein, ob Jaspers selbst die Lage so schwarz sieht oder ob
ihn bei der Zeichnung eine mehr psychologische Erwägung leite, die ihn zunächst
alles niederreiBen, zum Schluß aber erklären läßt, es sei so schlimm nicht gemeint.
Wenn heute das „Menschsein in dem Adel freier Selbstschöpfung“ immer schwerer
wird, so liegt es auch nach Jaspers dennoch ganz an ihm, in diesem Apparat sein
eigenstes Leben zu wagen, er kann und soll „in der Ohnmacht doch die Freiheit
zum Handeln ergreifen". Zwar kennt der bewuBt Ungeborgene nicht mehr den
Glauben an eine objektive Ganzheit etwa einer vorgezeichneten Geschichtsentwick-
lung, denn sie würde ihn als geschichtlichen Menschen zu einer bloBen Funktion
machen, und auch in die ungeschichtliche Welt kann er nicht zurück, er muß „durch
die Bewußtheit hindurch" ; ebenso verantwortungslos aber würde er handeln, wollte er
auf eine sinngebende Orientierung überhaupt verzichten. Es gilt Distanz zu gewinnen
zu dem Strudel der Welt und sich doch in die Konkretheit des Seins einzusenken. Jeder
verabsolutierende Anspruch von Philosophie, Wissenschaft, Staat, Erziehung usw.
muß abgewiesen werden; sie können dem Menschen nicht sagen, was er tun soll
und was er schicksalhaft „ist“, sondern ihm nur Möglichkeiten des Menschseins
zeigen, er selbst entscheidet, welche Möglichkeit gewählt wird.
Was sich bisher als gültiges Bild der Wissenschaft formte und den Menschen
in übergreifende Zusammenhänge hineinstellte, löst sich für Jaspers in eine Fülle
bloß partikularer Perspektiven, in reine „Möglichkeiten des Menschseins auf, die als
solche nicht verpflichtend sind“. Eine verwirrende Verschiebung wird aber hier
dauernd von Jaspers in die Diskussion getragen dadurch, daB er „wirklich“ im Sinne von
646 Kritiken
„wesenhaft, existentiell“ und, Sein“ im Sinne von „Substanzsein“ gebraucht. In diesem
Sinne hat er durchaus recht, mit dem Satz, daB das Sein dem Erkennen entzogen ist:
„Keine Soziologie kann mir sagen, was ich als Schicksal will, keine Psychologie mir
deutlich machen, was ich bin.“ Aber will denn „die“ Wissenschaft dies überhaupt und
muß sie sich dafür als solche radikal in Frage stellen lassen? Mit Recht getroffen wird
von der Kritik nur rationalistische und objektivistische Hybris der Wissenschaft,
die es unternimmt, den Menschen gültig etwa aus ökonomischen Mächten abzu-
leiten oder als bestimmte Funktion in eine Geschichtsphilosophie einzuordnen,
kurzum ihn zum Objekt und seine Freiheit zur Illusion zu machen; nicht aber
solche Wissenschaft und Philosophie, die nicht weniger Gültigkeit beansprucht,
aber dabei die Spontaneität des Menschen von vornherein berücksichtigt, die des-
halb auf eine geschichtsphilosophische Konstruktion verzichtet, weil die Geschichte
mit dem Handeln des Einzelnen anfängt. Es ist in dieser Verallgemeinerung nicht
wahr, wenn Jaspers meint, „Soziologie, Psychologie und Anthropologie lehren die
Menschen als ein Objekt sehen, über das Erfahrungen zu machen sind, mit deren
Hilfe es durch Veranstaltungen modifizierbar ist“, — es sei denn, Jaspers lasse
Marxismus, Psychoanalyse und Rassentheorie als „die“ Wissenschaft gelten.
Sind so gültige Erkenntnis und Selbstsein des Menschen, die Jaspers beide
gegenseitig radikal in Frage stellen möchte, voneinander abzuheben und in ihrem
Zusammenbestehen zu rechtfertigen, so muß auf der anderen Seite dagegen Ein-
spruch erhoben werden, daß die aus dem Gebiet gültiger Wissenschaft verwiesenen
persönlichen Perspektiven von Geschichte, Kultur, Staat, Bildung usw. dem
Menschen als bloße „Möglichkeiten des Menschseins“ gegenübergestellt werden,
für die sich der Einzelne aus Freiheit heraus jedesmal krampfhaft zu entscheiden
hätte, als ob man bestimmte Ziele des Handelns in Staat und Geschichte oder
bestimmte Prognosen, deren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit bereits abgewiesen
wurde, nun gleichsam als Gegenstände zunächst vor sich hinstellen könne im ge-
schichtlich konkreten Sein. Es gibt keine „Konstruktion der Möglichkeiten“ als
Absteckung des Kampffeldes, auf dem um die Zukunft gerungen wird, worauf dann
das Eintreten in dieses Kampffeld folgt; sondern in dem sich gegenseitig bedingenden
und unlósbaren Ineinander von persónlichem Bild und Handeln verwirklicht der
Mensch sein Eigensein und macht Geschichte; nicht mehr philosophisch-wissen-
schaftlich faBbar, sondern nur in weltanschaulich-persónlichem Bilde. — Es st
charakteristisch für Jaspers’ verwickelte Denkart und eine Folge seiner radikalen
Kritik an allgemeingültiger Erkenntnis, daB er die Philosophie zur persónlichsten
Welt- und Selbstschau macht, die nicht mehr für alle identisch sein will, daB er
aber für die grundlegendsten seiner philosophischen Gedanken und Einsichten,
mit denen er gerade Wissensgeltung in Frage stellt, eben solche Geltung in An-
spruch nehmen muß, um diese Kritik halten zu können.
Daß Jaspers hier aber so energisch zum tiefen Durchdenken der entscheidenden
Fragen zwingt, ist das Fruchtbare an dem Buch.
Albert Reble.
647
Nachrichten und Notizen.
Ebert, Max, Reallexikon der Vorgeschichte. 15 Bände. Lexikon 80. Berlin 1924
bis 1932. Walter de Gruyter & Co.
Mit dem soeben erschienenen 15. Band (dem Registerband) liegt das gewaltige
Werk Max Eberts und seiner zahlreichen Mitarbeiter nunmehr abgeschlossen vor
uns. „Die vorgeschichtliche Forschung“, schrieb der Herausgeber im Vorwort, „hat
während der beiden letzten Menschenalter in fast allen europäischen Ländern,
sowohl durch die Leistungen einzelner hervorragender Gelehrter, wie durch die me-
thodische Arbeit ganzer Schulen, wie sie mit Stolz sagen darf, mächtige Fortschritte
gemacht und sich zu einem selbständigen Zweige der Altertums wissenschaft ent-
wickelt.“ Den Beweis für diese Behauptung erbringen die 14 Textbände in vollem
MaBe. Wir haben den Inhalt der ersten 6 Bände schon ausführlich gewürdigt (Hist.
Vierteljahrschrift, 24. Band, S. 660—663) und können das dort gefällte günstige
Urteil auch auf die folgenden acht Bánde übertragen. Besonders zu bewundern
ist das groBe Geschick, mit dem der Herausgeber die wichtigsten Kapitel der frühe-
sten Kulturentwicklung nicht nur Europas, sondern auch Westasiens und des
näheren Orients auswählte und behandeln ließ. Es ist ihm wirklich gelungen, die
Einheit in dem Überblick über die Altertumskunde dieser Gebiete, die verloren zu
gehen drohte, wieder herzustellen, wie er das als seinen Wunsch im Vorwort ausge-
sprochen hatte.
Naturgemäß konnten bei der erstmaligen Bearbeitung eines so gewaltigen
Stoffes die Hinweise auf das öftere Vorkommen des gleichen Stichwortes nicht sofort
gezeben werden, und so war die Anfertigung eines Registerbandes eine der dringend-
sten Forderungen zur Krönung des ganzen Werkes. Daß sie erfüllt wurde und nun-
mehr in dem 16. Band vorliegt, ist in diesen finanziell so schwierigen Zeiten ein
gar nicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst des Verlages. Das am Schluß
dieses ausführlichen Registers gebotene Verzeichnis der 142 Mitarbeiter bringt ge-
wissermaßen noch einmal den Beweis dafür, wie sorgfältig alle Stichworte ausgewählt
und dem besten Kenner des betreffenden Gebietes übertragen wurden. Bei dieser
Gelegenheit muB betont werden, daB das Ebertsche Reallexikon nicht nur als
aufschlußreiches Nachschlagewerk und als Abschluß eines gewissen Forschungs-
Stadiums zu würdigen ist, sondern gleichzeitig als Anreger neuer wissenschaft-
licher Monographien. So hat, um nur ein Beispiel zu erwühnen, Ernst Sprockhoff
die Bearbeitung verschiedener waffentechnischer Schlagworte aus der Bronzezeit
übertragen bekommen. Als er erkannte, wie wenig diese Gebiete bisher durchgearbei-
tet waren, schrieb er parallel zu seinen Lexikon-Artikeln noch eingehende wissen-
schaftliche Monographien, die wichtige Gebiete neu erschlossen und letzten Endes
der Anregung bei der Mitarbeit am Lexikon zu danken sind.
648 Nachrichten und Notizen
Leider hat der Herausgeber Max Ebert, zuletzt Ordinarius für Vorgeschichte
an der Universität Berlin, den endgültigen Abschluß seines Lebenswerkes nicht
mehr erleben dürfen. Sein Bild schmückt den letzten Band, und G. Lüdtke, der
wissenschaftliche Referent für Altertumskunde beim Verlag, schrieb ihm dort
auch den Nachruf. , Es soll hier nicht davon gesprochen werden, welche mühselige
Kleinarbeit zu leisten war, nicht von den Sorgen, die die immer wachsende Fülle
des Stoffes schuf, so daB die Grenzen des Werkes bedroht schienen: die treue, um-
sichtige und unermüdliche Hilfe seiner Gattin, die seine Schaffenskraft so kongenial
ergänzte, trug an diesen Mühen ihr reichlich Teil und half sie mildern.“ Das Vorwort
zum ersten Band war am 1. Juni 1924 gezeichnet worden, das Nachwort zum 14. Band
trägt das Datum vom 15. April 1929. In fünf Jahren war das Werk vollendet wor-
den. Noch dauerte es drei Jahre bis der so unendlich viel Kleinarbeit erfordernde
Registerband fertig gestellt wurde, aber er lohnt allen Benutzern des Lexikons die
große Mühe seiner Anfertigung.
Im Vorwort, schrieb Ebert in bezug auf die zeitliche Begrenzung des Werkes:
„Die untere Grenze ist fließend. Sie war nicht allein durch theoretische Erwägungen
zu finden, sondern auch durch praktische Rücksichten bestimmt. So wurde für
große Teile Europas (Westen, Mitte, Norden, Südosten) mit dem Beginn der christ-
lichen Zeitrechnung abgeschlossen. In Osteuropa, wo es besonders erwünscht ge-
wesen würe, die Linien im vollen Umfange noch weiter zu ziehen, erlaubten dies
weder der Stand der Forschung, noch die äußeren Verhältnisse.“ Diese vor fast
zehn Jahren richtigen Erwägungen treffen heute zum Glück nicht mehr zu. Vor allem
ist die Forschung auf frühgeschichtlichem Gebiete immer weiter ausgebaut worden,
und so würe es m. E. ein weiteres groBes Verdienst des Verlages, wenn er sich ent-
schlieBen kónnte, das Ebertsche Reallexikon durch die Herausgabe eines weiteren
Werkes zu krónen, das an Eberts Begrenzung unmittelbar anschlieBend die für
Mitteleuropa so wichtigen Kapitel wie provinzialrömische, völkerwanderungszeit-
liche, wikingische, slawische Kulturen usw. behandeln müßte. Damit würde auch
die Zusammenarbeit zwischen eigentlicher Geschichte und frühgeschichtlicher
Altertumskunde wesentlich gefórdert werden und ein Werk geschaffen, das von
den ültesten Kapiteln der Urgeschichte, mit denen bei Ebert die Behandlung be-
ginnt, hinüber leitet zur Hochgeschichte.
Hannover. Jacob-Friesen.
Handwórterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, unter Mitwirkung
von 800 Mitarbeitern in Verbindung mit 46 Teilredaktoren herausgegeben
von Carl Petersen und Otto Scheel. Band 1, Lieferung 1. Ferdinand Hirt in
Breslau 1933. XV, 80 S. Lex. 8°,
Eine große Zahl von Forschern, Historiker, Geographen, Soziologen, Juristen,
Nationalökonomen, Volks- und Rassenkundler, Theologen und Schulfachleute,
haben sich zur Inangriffnahme der durch die Gestaltung des deutschen Schicksals
dringlich gewordenen Aufgabe vereinigt, Wesen und Formen deutschen Lebens
überall im europäischen und außereuropäischen Raum zu erkennen, wo Deutsch-
tum im Kampf um die Bewahrung seiner Art und Sitte und seines von den Vätern
ererbten Bodens steht, und die geistigen Kräfte zu stärken für dieses Ringen. Die
Bewußtwerdung und Bewußtmachung des deutschen Menschen zu fördern, überall
Nachrichten und Notizen 649
wo er um die Behauptung seiner Art ringt und weit darüber hinaus unter allen Deut-
schen, ist das Ziel, das sich dieses weit ausgreifende, auf fünf stattliche Bände be-
rechnete Werk gesetzt hat. Das große und weitschichtige Gebiet, das hier erfaßt
werden soll, wird in orientierenden Einführungen erschlossen, die zum Material
hinführen und die Möglichkeit zu immer tieferem Eindringen in die verschiedensten
Sachgebiete geben. Dabei ließ das hochgesteckte Ziel des Unternehmens die not-
wendigerweise eine starke Zersplitterung und damit eine Herabminderung der gei-
stigen Wirkungsmöglichkeit bedingende enzyklopädische Aufteilung des Stoffes
unter eine große Zahl von Schlagworten für weniger geeignet erscheinen als die
Zusammenfassung aller innerlich verbundenen Lebensgebiete zu größeren geschlosse-
nen Artikeln von systematischem Aufbau und wissenschaftlichem Gehalt. Die ein-
zelnen Beiträge zerfallen in regionale, in Sach- und in Personalartikel. Unter den
regionalen Stichworten finden sich zusammenfassende Übersichten über die Grenz-
fragen des geschlossenen deutschen Volks- und Kulturbodens, Behandlungen der
Fragen der deutschen Grenzgebiete und der größeren deutschen Siedlungsgebiete
außerhalb des geschlossenen deutschen Volksbodens, Artikel über alle europäischen
und außereuropäischen Staaten und Ländergruppen sowie über die ehemaligen
deutschen Schutzgebiete, wie auch über fremde Kolonien und Schutzgebiete, die
für das Deutschtum von Bedeutung sind. Die einzelnen Beiträge sind in der Regel
nach folgenden Gesichtspunkten gegliedert: Allgemeine Aufgaben, Raum und Gren-
zen, Bevölkerung, Geschichte der Staatsbildung, das Werden und Wesen des deut-
schen Volkstums, das politische, wirtschaftliche, kirchliche, geistige, künstlerische
Leben der Deutschen, Fragen des Gesundheitswesens, der Wohlfahrtspflege, des
Vereinslebens und andere Lebensfragen des Deutschtums. Neben diese regionalen
Artikel tritt zur Behandlung von zum Verständnis der dort entwickelten Einzel-
materien notwendigen Fragen eine Reihe von Sachartikeln von teils systemati-
schem Charakter, wie Volk, Staat, Nation u. a., oder auch in Darstellungen über-
greifender Gebilde, wie etwa Brüdergemeine, V. D. A. u. dgl. Schließlich erfahren
Persönlichkeiten, deren Wirken für das Volkstum unter dem Gesichtspunkt des Hand-
wörterbuchs von besonderer Bedeutung ist, eine Würdigung in biographischen
Artikeln, wobei Zeitgenossen nur berücksichtigt werden, soweit bei ihnen bereits
ein geschlossenes Lebenswerk sichtbar ist.
Die vorliegende erste Lieferung umfaßt Titelblatt zu Band 1, Vorwort des
Ganzen, das grundsätzliche Angaben über Sinn und Anlage des Unternehmens gibt,
eine Anweisung zur Benutzung und die Stichworte von Aachen (9%, Seiten mit
3 Karten und 1 Tabelle) bis Albanien. Von den einzelnen Beiträgen sei hervorgehoben
der über Afrika von K. Dietzel unter Mitarbeit von W. Semmelhack mit 13 Spalten
und zwei gut orientierenden Karten im Text. Aber auch zu den kürzer behandelten
Schlagworten sind den Eindruck großer Zuverläsisgkeit erweckende knappe hi-
storische Abrisse gegeben, unter besonderer Berücksichtigung der Fragen der Volks-
tumsforschung und, bei außerdeutschen Materien, der Bedeutung des Deutschtums
als konstituierendem Faktor des geschichtlichen Werdens. Von den allgemeinem
historischen Artikeln enthält diese erste Lieferung den über die Agrarverfassung; in
R. Kötzschke, K. Weimann, G. Ipsen, E. G. Bürger sind eine Reihe anerkannter
und zuverlässiger Fachleute gewonnen worden, die die Frage von den verschiedenen
Seiten aus, der Wirtschafts-, der Verfassungsgeschichte, der Soziologie, der Gesetz-
gebung, umfassend und, sofern es auf dem beschränkten Raum möglich ist, erschöp-
650 Nachrichten und Notizen
fend behandeln. Die Literaturangaben sind bei allen Beitrágen reichhaltig und, so
weit nachgeprüft werden konnte, zuverlässig zusammengestellt. Die Ausstattung
des Ganzen ist solide und den an ein für eine lange Zeit bestimmtes Nachschlage-
werk zu stellenden Anforderungen durchaus angemessen. Die beigegebenen Karten
und Pläne sind übersichtlich und gut unterrichtend. Wenn auch ein abschlieBendes
Urteil naturgemäß noch nicht möglich ist, so muß doch ausgesprochen werden, daß
in dieser ersten Lieferung das Programm eines Unternehmens entwickelt wird, das
vom Standpunkte der historischen Wissenschaft ebenso zu begrüßen ist wie von
dem höheren und allgemeinen Gesichtspunkte der Belange von Volkstum und Nation
überhaupt, und daß in dieser ersten Lieferung die von den Herausgebern gesteckten
hohen Ziele durchaus erreicht sind, ein Zeichen dafür, daß die Wahl der Mitarbeiter
glücklich war. Es sei daher die Hoffnung ausgesprochen, daß der Fortgang des Werkes
der ersten Probe entsprechen möge. Wendorf.
Gustav Krueger, Das Papsttum. Seine Idee und ihre Träger. 2. Aufl. Tübingen:
J. C. B. Mohr (P. Siebeck) 1932.
Die Neuauflage der 1907 in der 4. Reihe der Religionsgeschichtlichen Volks-
bücher zuerst erschienenen Schrift des im vorigen Jahre siebzigjährigen Gießener
Ordinarius für Kirchengeschichte kann mit Recht den Anspruch erheben, einem
Bedürfnis entgegenzukommen. Auf 150 Seiten zusammengedrängt wird hier mit
meisterhafter Erzählungskunst, die sich an einzelnen dramatischen Stellen (S. 69.
u. S. 136ff.) zu Rankescher GróBe steigert, eine Überschau über die Geschichte der
Idee des Papsttums und ihrer Träger gegeben, die durch ihre unbedingte Zuver-
lässigkeit und ihren Gedankenreichtum, der jedoch nie die ganz vom Gegenstand
her erfüllte historische Darstellung erdrückt, für den Historiker bes. den jungen —
von gleichem Wert ist wie durch ihre Schlichtheit — Fremdsprachliches (selbst
filioque) wird weitgehend vermieden, termini (nicht einmal Pataria) werden wie
uneingeführt verwandt — für den Laien, ganz im Sinne des ursprünglichen Erschei-
nungsortes. In konfessioneller Hinsicht strebt der Verf. „Vorurteilslosigkeit, nicht
Voraussetzungslosigkeit" an. Die Darstellung der Reformation ist darin vorbildlich,
die der jüngsten Zeit seit dem Vaticanum, die gegenüber der ersten Auflage um
fünf Seiten vermehrt (S. 150ff.) bis zum Staatsvertrag geführt ist — zu wünschen
wäre hier ein Eingehen auf die bedeutsamen Enzykliken zu Fragen des Gemein-
schaftslebens —, hat begreiflicherweise mit besonderen Schwierigkeiten zu
kämpfen. Die Beurteilung des Verhältnisses Leos XIII. zu Thomas im Lichte etwa
seiner Sozialencyklika wird den Katholiken nicht ganz befriedigen (bes. S. 145 und
S. 149.)
Darf Rez. vorschlagen, auf S. 119 Mitte „nicht mehr hervorbringe“ in „nicht
länger hervorbringen könne“ zu ändern: Der Text lautet $ 26: animadvertimus
societatem Jesu uberrimos illos fructus ... afferre amplius non posse ..., nàmlich
vor allem auf Grund der veründerten Weltstimmung für die $ 15 genannten Auf-
gaben. Es besteht daher auch kein „Gegensatz“ in der Auffassung von den „über-
reichen Früchten“ der S. J. zwischen Klemens XIV. und Pius VII. (S. 128), was
ja auch ganz im Sinne der Kruegerschen These liegt, daB das Breve von 1773 , keine
grundsätzliche Verdammung des Ordens darstelle“, es zitiert ja nur Stimmen der
Welt.
Leipzig. J. Hennig.
Nachrichten und Notizen 651
Aders, Günter: Das Testamentsrecht der Stadt Kóln im Mittelalter (— Ver-
öffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, E. V. 8). Köln: Verlag
des Kólnischen Geschichtsvereins E. V. In Kommission bei Creutzer u. Co.
1932. IX, 117 S. 8°.
Der Vf. hat eine groBe Anzahl Schenkungsurkunden und Testamente von
Kolner Geistlichen und Bürgern des Mittelalters untersucht und zeigt nun an ihrer
Hand die allmähliche Durchdringung des altgermanischen Erbrechts mit römisch-
rechtlichen Bestandteilen, die zur Entwicklung und Ausgestaltung des Kölner
Testamentsrechts führte. Die Herkunft des Kölner Testaments aus der „Deutsch-
rechtlichen Schenkung", sein erstes Auftreten und seine allmähliche Ausbreitung,
die verschiedenen Formen der Testamentserrichtung bis zur endgültigen Festlegung
in den „statuta civitatis" von 1437 und der Kampf der städtischen Obrigkeit gegen
den mit der Verbreitung der Testamente stark überhandnehmenden geistlichen
Grundbesitz werden eingehend geschildert und durch zahlreiche Beispiele erläutert.
Ein weiterer Abschnitt des Buches behandelt die Testierfähigkeit, die Zusammen-
hänge mit dem kölnischen Familien- und Erbrecht, Stellung, Pflichten und Rechte
des Erblassers, der Bedachten und Erben sowie verschiedene mit dem Testamente
zusammenhängende Rechtsfragen.
Das letzte Kapitel ist dem Wirken des Testamentsvollstreckers gewidmet
und befaßt sich mit der Entwicklung seines Amtes, seiner Berufung, seinen Rech-
ten und Pflichten sowie seiner immer noch umstrittenen Rechtsnatur. — Die für
die Geschichte Kölns wie für die allgemeine deutsche Rechts- und Kulturgeschichte
sehr aufschlußreiche Arbeit darf in ihrem klaren Aufbau und der erschöpfenden
Darstellung der z. T. sehr verwickelten Rechtsverhältnisse als eine mustergültige
Leistung bezeichnet werden.
Köln-Riehl. 7 Paul Holtermann.
Das älteste Bürgerbuch der Stadt Hannover und gleichzeitige Quellen.
Bearbeitet von K. Fr. Leonhardt. Verlag Degener & Co. (Inhaber Oswald
Spohr.) Leipzig 1933. Quellen und Darstellungen zur Bevölkerungskunde der
Stadt Hannover. I. A. des Magistrats der Hauptstadt Hannover hrsg. v.
Verein für stadthannoversche Geschichte und Bevölkerungskunde. Bd. I. =
Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen. Bd. VI.
Das älteste Bürgerbuch der Stadt Hannover beginnt mit dem Jahre 1301 und
reicht bis 1549. Doch enthalten die ersten Jahrzehnte vielfach auch Einträge von
Statuten, die schon an anderer Stelle veröffentlicht sind. Auch sind nicht alle Bürger-
aufnahmen in den Büchern verzeichnet, sondern nur die Namen der Zugezogenen, die
das Bürgerrecht erwerben und die Gebühren bezahlen. Erst vom Jahre 1629 an
werden in dem Bürgereidbuch auch die Aufnahmen von Bürgersöhnen eingetragen.
Die meisten der Neubürger stammen aus der Umgegend Hannovers. Teilweise
finden wir auch Doppeleintragung. Sollte es hierbei sich nicht darum handeln, daB
der Betreffende zuerst das Bürgerrecht zwar erwerben wollte, aber das Bürgergeld
nicht gleich bezahlen konnte und dann, als er es bezahlt hatte, noch einmal ein-
getragen worden ist? In der ersten Zeit halten sich Herkunftsname und Eigenname
(diese werden in der Arbeit durch Sperrdruck hervorgehoben) fast die Waagschale.
Doch schon nach einem Jahrhundert überwiegt dieser bei weitem. Von 1440 an be-
ginnen die Bürgen mit aufgeführt zu werden. Án das Bürgerbuch schlieBen sich
652 Nachrichten und Notizen
Namensverzeichnisse aus den beiden ältesten Pfandregistern von 1289—1294 und
1310—1348. Es folgt eine Liste der Kaufleute von 1299—1533, von 1432 an jahr-
weise aufgeführt. Daran schließen sich Listen der Ratsherren aus dem gegebenen
Zeitabschnitt, der Geschworenen, der Kämmerer und Burmeister, die nicht in den
sitzenden Rat gelangten. Schließlich werden die Werkmeister aus den großen und
kleinen Ämtern abgedruckt.
Im Vorwort werden die benutzten Handschriften sachgemäß beschrieben.
Vorläufig ist nur ein Ortsverzeichnis beigegeben. Das Personenverzeichnis soll nach
dem 2. Bande erscheinen, der als Häuserbuch der Stadt Hannover gedacht ist. Die
Arbeit ist sehr sorgfältig ausgeführt und gibt zu Beanstandungen kaum Anlaß.
Eine eingehende Durchsicht zeigt, daß die Bevölkerung der Stadt rein niedersächsi-
schen Charakter hat.
Neuruppin. Lampe.
Walter Friedensburg, Kaiser Karl V. und Papst Paul III. (1534-1549).
(Schriften d. Vereins f. Ref.-Gesch., J. 50, H. 1, Nr. 153.) M. Heinsius Nachf.,
Leipzig 1932. — IV, 99 S., 89.
Der Altmeister der Papsturkunden-Forschung für die Reformationszeit zieht
in diesem Schriftchen die Summe der historischen Anschauung, die sich ihm von
dem Verhältnis Karls V. und Pauls III. in einem lebenslangen Studium gebildet
hat. Die Quellen, die er hier mit Recht sparsam heranzieht, sind in erster Linie
natürlich die Nuntiatur-Berichte. Darüber hinaus aber zeigt jeder Satz die profunde
Kennerschaft des Verfassers in jeder Beziehung. So ist denn seine Darstellung
gedrängt voll von Stoff. Die Ereignisse ziehen in klarer Zeichnung an uns vorüber.
Der Verfasser hat sich nicht die Aufgabe gesetzt, die überpersönlichen Kräfte, die
in den Schauspielern auf dieser Bühne lebendig sind, herauszuarbeiten. So bleibt
seine Darstellung ohne eigentliche Spannung. Ein so hochdramatischer Moment
wie etwa die Rede Karls V. in Rom am 18. April 1536 kommt denn auch in dem
politischen Raisonnement des Verfassers nicht zur Wirkung. Das hängt aber auch
mit der von Friedensburg schon in den Einleitungen zu seinen Bänden der Nuntiatur-
Berichte vorgetragenen Auffassung von den Charakteren Karls V. und Pauls IIL
zusammen. Für meine abweichende Auffassung verweise ich auf mein vor kurzem
erschienenes Buch über „Die Kaiser-Idee Karls V.“ (Berlin 1932). Hinsichtlich der
Politik Pauls III. móchte ich aber auch hier ausdrücklich der Auffassung von
„Nepotismus“ entgegentreten, die trotz Ranke sich so fest in unserer Geschichts-
schreibung eingenistet hat. Es ist ganz in Vergessenheit geraten, daB für die Re-
naissance-Pápste die Verwendung von Familienmitgliedern zum Zwecke der mil-
tárisch- politischen Kraftentfaltung des Kirchenstaates eine absolute Notwendig-
keit war, wenn man, wie die ganze Zeit, den Kirchenstaat als Staat bejahte. In der
Machtpolitik des Kirchenstaates von Päpsten wie Sixtus IV. und Julius II. steckte
auDerdem die national-politische Wurzel der Einigung Italiens. Hatten jene den
Widerstand gegen die franzósische Fremdherrschaft organisiert, so war es die Auf-
gabe Pauls III. als Landesherrn, die spanische Fremdherrschaft abzuwehren. In
diesem Zusammenhang also bleibt für moralisierende Kritik am „Nepotismus“,
die ja aus der religiósen Spháre Savonerolas stammte, historisch kein Raum.
Breslau. Peter Rassow.
Nachrichten und Notizen 653
Phil. Anton Ernstberger, Judr. und Dr. phil., Österreich und Preußen von
Basel bis Campoformio 1795—1797. I. Der Westen, Krieg und Frieden mit
Frankreich. Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte.
Hrsg. von der Hist. Komm. d. deutsch. Gesellschaft d. Wissensch. und Künste
für die Tschechoslowakische Republik, Bd. 12. Prag, Verlag d. deutsch. Ges.
der Wissenschaften u. Künste f. d. Tschechosl. Rep., 1932. 450 S.
Der Verf. hat es unternommen, die diplomatische — nur diese! — Geschichte
Preußens und Österreichs während der drittehalb Jahre vom April 1795 bis Oktober
1797 zu schreiben, eines für beide Länder gleich traurigen und verhängnisvollen
Zeitabschnittes. Schon die Selbstverleugnung und Entsagung, die dazu gehört,
verdient Anerkennung. Enthusiasmus zu erregen, was doch das Beste sein soll,
was wir von der Geschichte haben, bei einem Preußen oder Österreicher ist
die Zeit der beiden Friedensschlüsse wahrlich nicht geeignet. Auch versucht
der mit kühler Sachlichkeit und möglichst unparteiisch urteilende Verf. weder
die Eigenschaften der beiden Herrscher und leitenden Minister, die einander
gegenüberstehen, noch ihre Politik zu beschönigen, sondern alle vier Persönlich-
keiten erscheinen bei ihm so wie sie uns nur zu bekannt sind: Friedrich Wilhelm II.
als der seinem hohen Berufe nur geringes Verständnis entgegenbringende König,
Kaiser Franz als schwerfällige, nüchtern schwunglose Natur, Graf Haugwitz als der
unentschiedene Schwächling, Thugut als der bis zum Starrsinn zähe, von bitterer
Feindschaft gegen Preußen erfüllte Staatsmann.
Zu rühmen ist weiter die peinliche Sorgfalt, mit der er die Archive durchforscht
hat, besonders die von Wien und Berlin, und ebenso seine Literaturkenntnis. Nicht
nur die neuen und neuesten Vorgänger nutzt er mit der erforderlichen kritischen
Vorsicht aus, sondern auch ältere Geschichtsschreiber verschmäht er nicht zu be-
rücksichtigen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wie Ranke, Sybel, Häusser.
Mit dem Anführen von Belegstellen in den Anmerkungen tut er unbedingt des
Guten zu viel. Ist es wirklich notwendig, für jeden einzelnen politischen Schach-
zug, auch den kleinsten, einen aktenmüDigen Beweis zu erbringen? Fürchtet er
etwa, daß der Leser ihm ohnedem nicht glaubt? Und nebenbei: Warum kürzt er
nie ab? Muß es denn in den Fußnoten immer heißen: Leopold von Ranke, Heinrich
von Sybel usw.? Namentlich viel Platz nimmt weg der oft und stets mit vollem
Namen zitierte Alfred Ritter von Vivenot. Welche Umständ)ichkeit! Überhaupt
leidet die Darstellung mitunter an Breite. Namentlich wünschte man die kleinlichen
Reichshändel, das Ränkespiel in Regensburg knapper abgemacht zu sehen.
Hinwiederum ist die klare Übersichtlichkeit ein Vorzug des Buches. Von vorn-
herein gegeben war die Einteilung in die Geschichte der Jahre 1795 — er nennt es
das Krisenjahr —, 96, das Schicksalsjahr, 97, das Katastrophenjahr. Im wesent-
lichen beschränkt er sich auf „die Geschichte des Westens“, kann aber nicht um-
hin, einmal ein Kapitel über „Rußlands Drängen und Drohen“ einzuschieben und
auch sonst öfter Katharina II. und Kaiser Paul zu erwähnen.
Durch seine Nachforschungen tauchen manche in Vergessenheit geratene, aber
beachtenswerte Einzelheiten wieder auf: so daB die Not der Zeit schon damals zu
dem Gedanken führte, einen schwäbischen Landsturm gegen die Franzosen aufzu-
bieten, und Konstanz allein sofort ein volles Bataillon aufzustellen bereit war.
Es blieb leider bei dem Gedanken, so sehr sich auch der österreichische Gesandte am
schwäbischen Kreise, Graf Fugger, für ihn einsetzte (S. 337. 433). Nicht weniger
654 Nachrichten und Notizen
auffallen muB uns heutigen Lesern die Stelle in einer namenlosen Flugschrift:
„Germania im Jahre 1795‘, wo zu lesen ist: „Ich erkläre mich für die große einige
deutsche Nation und nenne meine Leute Nationalisten“ (S. 351).
Der Genauigkeit des Verf. in allem entspricht der bis auf wenige Stellen fehler-
freie Druck. Die Form „Feber“, die er statt Februar braucht, scheint mundartlich
zu sein. Ein musterhaft sorgfáltiges Register erhóht die Brauchbarkeit des Buches.
Merkwürdig ist, daB sich der Verf. Judr. und Dr. phil. nennt. Daß die erste
Bezeichnung Dr. iuris bedeuten soll, leuchtet ein. Aber unverständlich bleibt es
jedem nicht in Prag Geborenen, warum er nicht die bei Gelehrten und Ungelehrten
übliche Form des juristischen Doktortitels beibehält.
Berlin. Viktor Heydemann.
Anne-Lore Gräfin Vitzthum, Julius Wilhelm von Oppel, ein sächsischer
Staatsmann aus der Zeit der Befreiungskriege. Dresden, 1932, Verlag der
Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung. 158 Seiten.
Die Verfasserin, eine geborene von Oppel, hat dieses Buch zu Ehren eines Ver-
wandten geschrieben und dazu eingehende Studien in staatlichen und privaten
Archiven gemacht. Sie hat dadurch neue Quellen für die sáchsische und deutsche
Geschichte der Jahre 1790—1815 erschlossen, und jeder, der sich mit dieser Zeit
beschäftigt, wird das Buch dankbar benutzen. — J. W. von Oppel (1765—1832)
war ein weitblickender Staatsmann, der seiner Zeit in vielen Dingen vorauseilte
und daher auch vom Parteistandpunkte aus vielfach falsch beurteilt worden ist.
Da sein Vater Oberberghauptmann und Mitbegründer der Freiberger Bergakademie
war, wendete er von Jugend an seine Interessen dem Bergbau zu; er hatte in dem
berühmten Geologen A. G. Werner einen vortrefflichen Lehrer und kam schon
als junger Mann mit dem Freiherrn vom Stein zusammen, der ja auch auf diesem
Gebiete tätig war. Nach seinem juristischen Studium in Leipzig wurde er zunächst
in der Bergbauverwaltung verwendet, kam aber bald in die allgemeine Finanz-
verwaltung nach Dresden, wo er 21 Jahre lang eine leitende Stellung inne hatte.
Die Verwaltung Sachsens war nicht so verrottet, wie sie z. B. Treitschke darstellt.
Es gab jedenfalls auch sehr tüchtige Beamte. Oppel trat für zeitgemäße Reformen
und Zusammenfassung der Behórden der verschiedenen Landesteile ein. Da er aber
1812 durch Marcolini bei einer Beförderung übergangen wurde, nahm er seinen Ab-
schied. Doch als Sachsen nach der Schlacht bei Leipzig unter die Herrschaft der
Verbündeten kam, wurde Oppel durch das Vertrauen des Freiherrn vom Stein
als der beste Kenner der Verhültnisse mit der Finanzverwaltung beauftragt. Es
war eine sehr schwere Aufgabe. Die Kassen waren leer, das Land ausgesogen,
60000 Mann sollten ausgerüstet werden. Oppel leistete, was in der verzweilelten
Lage móglich war. Eine von ihm entworfene Neueinrichtung der Kreis- und Unter-
behórden ist zwar nicht damals, wohl aber von der neuen sächsischen Regierung
1816 durchgeführt worden. Daneben ließ er noch den Großen Garten wieder her-
stellen, sorgte für Kunst und Wissenschaft und plante die Abschaffung der italieni-
schen Oper zugunsten der deutschen; aber auch hierin eilte er seiner Zeit voraus.
Unterdessen hätte der Streit um die sächsische Frage auf dem Wiener Kongreß
beinahe zum Kriege geführt. Oppel reiste selbst mit seinem Freunde Miltitz nach
Wien. Aber die gefürchtete Teilung Sachsens wurde zur Tatsache. Für Oppel war
der sächsische Staatsdienst nunmehr verschlossen. Nachdem er mehrere Jahre als
Nachrichten und Notizen 655
Privatmann gelebt hatte, erhielt er 1828 eine ehrenvolle Berufung als Kammerpräsi-
dent nach Gotha, wo er 1832 gestorben ist. Oppels Bedeutung beruht auf seiner
schöpferischen Tüchtigkeit als Finanz- und Verwaltungsmann. Viele seiner Maß-
nahmen sind erst später gewürdigt worden. Dem französischen Einfluß stand er
stets ablehnend gegenüber. Er liebte sein sáchsisches Vaterland. „Die Sachsen haben
nie aufgehört, Deutsche zu sein und deutschen Ruhm zu erhöhen“, schrieb er an
Stein. Der Gedanke der ZerreiBung Sachsens war ihm ein Greuel; lieber sollte Sach-
sen ungeteilt an Preußen kommen. Er ersehnte ein geeintes deutsches Reich unter
norddeutscher protestantischer Führung. — Im Anhang des Buches wird ein Teil
von Oppels Briefwechsel mit den hervorragendsten Zeitgenossen veröffentlicht.
Die Briefe Oppels zeichnen sich durch ihre klare offenherzige und gewandte Sprache
aus. Oppel, der unverheiratet geblieben war, besaß eine Bücherei von über 30000 Bán-
den und eine wertvolle Mineraliensammlung; einen Teil seines Vermögens verwendete
er für die Gründung der Sophienstiftung mit Schule in Krebs bei Pirna.
Dresden-Zschieren. Richard Kótzschke.
Heinz Lehmann, Zur Geschichte des Deutschtums in Kanada. Bd. 1. Das Deutsch-
tum in Ostkanada. (Schriften des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart.
A. Kulturhistorische Reihe. Bd. 31.) Stuttgart 1931. 125 S.
Der Verf. unternimmt es in dem vorliegenden Bande seiner zweibündig an-
gelegten Studie, das heute bereits fast ganz der Geschichte angehórende Deutsch-
tum in Ostkanada zu bearbeiten. Im wesentlichen handelt es sich um eine Besied-
lungs- und Siedlungsgeschichte, kulturgeschichtliche Bemerkungen über Kirche,
Schule, Presse sind hier und dort eingefügt, gelegentlich hóren wir auch von der
Betätigung der Deutschen als Bauern, Kleinbauern oder Handwerkern, nur einmal
aber (in einer Anmerkung S.92, Anm. 192) von ihrer Stellung im óffentlichen
Leben. Damit ist schon gesagt, daB es dem Verf. nicht darauf ankam, die Rolle
der Deutschen im Rahmen des geschichtlichen Lebens von Ostkanada zu schil-
dern, sondern, daB er sie isoliert, gesondert, als Ganzes für sich, beobachtet.
Hier bietet er wertvolles. Die Gebiete deutscher Siedlungen in den kanadischen
Seeprovinzen, in den Provinzen Quebec und Ontario werden in ihrer Entstehung
und Entwicklung eingehend untersucht. Die ersten deutschen Ansiedlungen gróDeren
Umfangs erfolgen im Anschlusse an die amerikanische Revolution. Flüchtige deutsche
Loyalisten! aus den Vereinigten Staaten und hessische Kriegsteilnehmer aus der
englischen Armee siedeln sich in groBer Zahl im englischen Kanada an. Eine un-
mittelbare Einwanderung aus Deutschland („reichsdeutsch“, wie der Verf. sagt),
erfolgt, von Ausnahmen abgesehen, erst seit etwa 1830.
Mit Recht und aufschlußreich beobachtet der Verf. im einzelnen das Schicksal
der deutschen Sprache im óffentlichen Leben, in Kirche, Schule und Familie. Ebenso
auch den Willen und die Gesinnung zu deutscher Abkunft. Englische Vorstöße
zunáchst kirchlicher, dann seit Ende des 19. Jahrhunderts nationalistischer Art
1 Die Ausführungen des Verf. bezüglich der zahlreichen Einwanderung von deutschen
Loyalisten aus U. S. A. (vgl. auch besonders S. 5) zeigen die Haltlosigkeit der Behauptung
von H. Kloß, daß die Deutschen (als solche, in ihrer Gesamtheit) „F besonders entschiedene
Vertreter des Unabhángigkeltsgedankens' waren. (Vgl. Der Auslandsdeutsche XX/1931
8. 655.) Ihre geringe Anteilnahme am politischen Leben während der amerikanischen Kolo-
nialzeit läßt sich ebensowenig aus einer Antipathie gegen das englische Regime erklären!
(Vgl. ebenda).
656 Nachrichten und Notizen
und die Neigung der kanadischen Deutschen selbst, das Englische aus wirtschaft-
lichen und sonstigen Gründen zu pflegen, wirken zusammen, daB das deutsche Sprach-
gut und der bewuBte Zusammenhang mit der deutschen Kultur verschwand, be-
ziehungsweise verschwindet. Der Ausblick auf den zweiten Band, der sich mit dem
erst etwa 50 Jahre alten Deutschtum auf der westkanadischen Prärie befassen wird,
zeigt, daß wir es dann mit noch lebendigem Deutschtum zu tun haben werden.
Die Arbeit ist statistisch gewissenhaft unterbaut und schlieBt mit einem reich-
haltigen Literaturverzeichnis.
Prag. Käthe Spiegel.
Freiherr vom Stein, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen. Bearbeitet
von Erich Botzenhart. Bd. III, Berlin, Carl Heymanns Verlag, o. J.
(1932), XX, 717 S. gr. 89.
Um in dem Fortschreiten der groBen Stein-Ausgabe durch die für die Herausgabe
des die Materialien der Reformzeit enthaltenden II. Bandes aus den sachlichen
Schwierigkeiten der publikationsmäßigen Bearbeitung wie aus Rücksicht auf die
Spezialpublikation des Staatsarchivs erwachsenden Hindernisse keine zu weit-
gehende Verzögerung eintreten zu lassen, wird der III. Band zuerst vorgelegt.
Auch er enthált nach sorgsamster Heranziehung aller in Frage kommenden Archive
eine Fülle bisher unbekannten Materials. Am wertvollsten ist wieder der Zuwach:
aus dem im Staatsarchiv Breslau verwahrten Briefwechsel mit Reden. Aber auch
was aus dem Steinarchiv in Kappenberg und hauptsächlich aus dem Geh. Staats-
archiv in Berlin an Denkschriften und Briefen jetzt in aktenmäßig getreuer Wieder-
gabe publiziert wird, was aus Pertz und Lehmann nur andeutungsweise, in unzu-
länglichem Abdruck oder auch entstellt bekannt war, bringt eine beträchtliche Er-
weiterung der Quellengrundlage für das Lebenswerk Steins. Auch hier zeigt sich
wieder, daß nicht mehr alles vorhanden ist, was Pertz vorgelegen hatte. Für diese
Stücke ist sein Abdruck zugrunde gelegt worden. In weitaus größerem Maße als
in Bd. I sind Briefe von Zeitgenossen an Stein aufgenommen, wodurch sich die
Ausgabe auf weite Partien hin zu einer Quellensammlung für die Geschichte der
Zeit rundet, auch gewinnt dadurch die Persönlichkeit Steins eine reichere Beleuch-
tung durch fremdes Urteil und dadurch mehr an Plastik, beides nur zum Vorteil
der Ausgabe. Es ist nicht leicht festzustellen, wie groß der Zuwachs an neu erschlosse-
nem Material ist, weil bei den einzelnen Stücken nicht angegeben ist, ob und wo sie
bereits anderweit abgedruckt worden sind. Derjenige, der sich schon näher mit
Stein befaßt hat, wird das bedauern, denn ihm wird dadurch die Orientierung
sehr erschwert. Wer aber neu an ihn herantritt, und das wird in zunehmendem Maße
die Situation der jungen Generation sein, der wird es begrüßen, die ganze Fülle der
quellenmäßigen Überlieferung über diesen großen Staatsmann an einer Stelle ver-
einigt zu finden. Der Band umfaßt die Zeit des Exils in Österreich, setzt mit dem Äch-
tungsdekret Napoleons ein und reicht bis zu dem Schreiben Gneisenaus vom 2. April
1812, führt also unmittelbar bis zu dem Einladungsschreiben des Zaren Alexander,
das Steins Rückkehr in den Brennpunkt des politischen Geschehens einleitete. Auf-
genommen sind auch die in die Zeitspanne fallenden Niederschriften Steins, so die
von Pertz bereits unter der Bezeichnung „staatswissenschaftliche Betrachtungen"
publizierten aphoristischen „Aufsätze und Bemerkungen über mancherlei Gegen-
stände“ unter móglichster Herstellung der von Stein hinterlassenen Reihenfolge,
Nachrichten und Notizen 657
sowie Auszüge aus seiner „Französischen Geschichte“ und der „Geschichte des Zeit-
raumes von 1789—1799“, ausgewählt unter dem Gesichtspunkt, alles zu geben, was
zur Kenntnis der Ideen und Auffassungen Steins über Staatsphilosophie, Verfassungs-
wesen und Stellung zur französischen Revolution dienlich ist. Das Fortschreiten der
Ausgabe zeigt, was schon Bd. I versprach (vgl. diese Zeitschr. Bd. 27, S. 654f.), daB
hier in editionstechnisch einwandfreier Wiedergabe eine ausgezeichnete Zusammen-
fassung des Lebenswerkes des Freiherrn vom Stein zu erwarten ist. Wendorf.
Bakuninstudien. Von Dr. Josef Pfitzner, Professor an der Deutschen Universität
in Prag. Prag 1932. Verlag der deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und
Künste für die Tschechoslowakische Republik. (Quellen und Forschungen
aus dem Gebiete der Geschichte. Herausgegeben von der Historischen Kom-
mission der deutschen Gesellschaft der Wissenschaft und der Künste für die
Tschechoslowakische Republik. 10. Heft.)
Die Studien berichten von der ersten westeuropäischen Zeit Bakunins. Sie be-
gleiten das Leben des groBen Antipoden des 19. Jahrhunderts von seiner Ankunft
in Westeuropa bis zu der Stunde, da er es als Gefangener des Zaren verläßt. Mit-
teilungen von seinen persónlichen Beziehungen zu Varnhagen von Ense, George
Sand, Proudhon und von seinem Leben in sáchsischen und ósterreichischen Gefüng-
nissen verhelfen zu einer vertieften Kenntnis seiner menschlichen Haltung und wer-
fen zugleich manches Streiflicht auf das Werden seiner politischen Überzeugungen.
Wie die Welt beschaffen war, in der diese sich auswirkten und welcher Mittel er
sich dazu bediente, lassen die Skizzen von seinem Wirken in der Pariser Februar-
revolution, im Deutschland des Vormürz und der Revolution von 1848 erkennen.
Von besonderer Bedeutung ist aber, was von seinen Beziehungen zu Polen, Tsche-
chen und Sudetendeutschen erzählt wird. Dazu gehört der Bericht über die Ent-
stehungsgeschichte des „Aufrufs an die Slaven“ und die Mitteilung einer ersten
Fassung und bedeutsamer Varianten dieses Aufrufs. Die Beziehung dieser und der
sonstigen in den „Studien“ erstmalig veröffentlichten und erschlossenen Materialien
zu den bereits vorhandenen wird in der Einleitung festgestellt. Dort wird auch will-
kommene Auskunft über den Forschungsstand, vor allem auch über die Arbeiten
russischer Historiker gegeben.
Welche bedeutsamen Beiträge zur politischen und sozialen Geschichte des
19. Jahrhunderts somit in den „Studien“ enthalten sind, ließ das vorstehende Re-
ferat wohl erkennen. Für den Verfasser ist ihre Veröffentlichung aber noch mit einem
bestimmten Zweck verbunden. Sie sollen seine im Vorwort angekündigte Bakunin-
biographie entlasten. In dieser sei für eine ausführliche Behandlung der „vielfach
die Auseinandersetzung von West- und Ostkultur berührender Sonderfragen“ nicht
der rechte Ort. Wenn das heißen soll, daB die genannten Themen und vor allem
das eben nochmals betonte in dem späteren Werke gewissermaßen ausgegliedert wür-
den, so wäre ein kritischer Einwand gegen die „Studien“ unvermeidlich. Diese lassen
immer erneut die erstaunliche Beherrschung der umfangreichen und verstreuten
Quellen erkennen. Die Hingabe an die Quellen, an ihre Erschließung und Erläuterung
ist aber so vollständig, daß die plastische Vergegenständlichung der Situationen
und die Erhellung des prinzipiellen Gehaltes gerade der Auseinandersetzung von
West und Ost und der von nationaler und sozialer Frage zurücktritt.
Leipzig. E. Thier.
Histor.Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 42
658 Nachrichten und Notizen
Heinrich Schaudinn, Das Baltische Deutschtum und Bismarcks Reichsgrün-
dung. Kónigsberger Historische Forschungen, Band I. Leipzig, J. C. Hin-
richs'sche Buchhandlung, 1932.
Die Schriftenreihe der Kónigsberger Historischen Forschungen eróffnet diese
gehaltvolle und anregende Untersuchung über die tragische Situation des Deutsch-
tums der russischen Ostseeprovinzen im Kampfe gegen den erwachenden russischen
Nationalismus, der auch die nationalen Minderheiten des Zarenreiches ihrer ver-
brieften Autonomie berauben und sie einem allgemeinen Zentralisationsprinzip
einordnen will. Die Politik Bismarcks steht in einem ebenso tragischen Gegensati
zu diesem Ringen der baltischen Deutschen um die Aufrechterhaltung ihrer politischen
und kulturellen Sonderart. Ihr nach Osten gewandtes Gesicht trug die Züge eines
eisernen Konservativismus und verlangte die Bändigung des nationalen Lebens-
dranges der Völkersplitter zu beiden Seiten der östlichen Grenzen; nationalstaat-
liches Denken und liberale Idee waren aus ihm verbannt und auf den Westen be-
schränkt. Strategische Forderungen der Reichsgründungspolitik mischten sich
darin mit Bismarcks Überzeugung, daß die Realisierung des Nationalstaatsgedankens
im Osten den preußischen Staat selbst zerstöre, daß ein selbständiges Polen Preu-
Bens Existenz grundsätzlich gefährde, daß er den Rhein nicht halten könne, wenn
er Polen im Rücken habe. Diese Anschauung mußte in der Entwicklung und dem Un-
sichgreifen der westeuropäischen Ideen des Liberalismus und Föderalismus im rus-
sischen Reiche für den preußischen Staat im Osten und das Werk der Reichs-
gründung im Westen die größte Gefahr erblicken. Das konservative Regime der
Dynastie mußte daher unterstützt, der historisch gewordene Staat gegen die an-
drängenden jungen Nationalismen verteidigt werden. Die Politik des Jahres 1862
hatte in der Alvenslebenschen Konvention jene gefahrvolle Entwicklung zu rechter
Zeit auf lange Jahre gehemmt und das Zarenreich von der Schwenkung auf die
französische Seite abgehalten, sie verhalf aber damit zugleich der radikal nationalen
Moskauer Partei zu einem überragenden Einfluß auf das schwache russische Kaiser-
tum. Das Schicksal der Sonderstellung der baltischen Provinzen war damit be-
siegelt. Bismarck aber fehlte mit zwingender Logik jede Möglichkeit, sich für den
Kampf der Ostseeprovinzen zu verwenden, wenn er deren Lage nicht noch hoffnungs-
loser gestalten und ihren Untergang beschleunigen und das ungemein zarte politische
Verhältnis zu Rußland nicht gefährden wollte. Blieb die polnische Frage geschlossen,
so konnte die baltische nicht eröffnet werden. Der Familienbund der Dynastien fing
an, mit dem Nationalismus der Völker immer stärker in Widerspruch zu geraten.
An dieser Lagerung des Problems und der fortschreitenden Nivellierung und Rus-
sifizierung der baltischen Provinzen haben die Reichsgründung selber und das
preußisch-russische Bündnis bis zum Rückversicherungsvertrag keine Änderung be-
wirken können; im Gegenteil ist die staatliche und nationale Konsolidierung Deutsch-
lands erst der starke Förderer jener nationalen Umbildung Rußlands gewesen.
Berlin. Herbert Michaelis.
Paul Kluke, Heeresaufbau und Heerespolitik Englands vom Burenkrieg bis
zum Weltkrieg. (Beiheft 27 der Historischen Zeitschrift.) München-Berlin,
R. Oldenbourg, 1932. 208 S. 89. Preis geh. 8,50 Z<.
Es ist sehr erfreulich, daB nach F. Upleggers Buch über die englische Flotten-
politik vor dem Weltkrieg (Stuttgart 1930) jetzt auch die Vorkriegspolitik der eng-
Nachrichten und Notizen 659
lischen Armee in einer reichhaltigen und feinen Arbeit deutsch geschildert wird.
Der Verf. behandelt in drei Kapiteln die Aufrüttelung der englischen Heeresauf-
fassungen durch den Burenkrieg, die Reorganisation Haldanes (der so etwas wie
der Held des Buches genannt werden kann) und mit besonders neuartigen Ergeb-
nissen schließlich die äußere und innere Vorbereitung Englands auf den Kontinental-
krieg mit Deutschland.
Das erste Kapitel untersucht an Hand der Parlamentsberichte, der Blaubücher
und der Fachpresse die Reformversuche von Haldanes Vorgängern Brodrick und
Arnold-Forster. Mit klarem Sachverständnis werden dabei die Hauptprobleme
herausgearbeitet: Aufgabenverteilung zwischen dem (mehr und mehr von der
Flotte übernommenen) Heimatschutz und dem Schutz der Kolonien u. a. Außen-
stellungen einerseits, zwischen dem (gleichzeitig der Rekrutierung für Indien dienen-
den) regulären Soldheer und den Resten ehemaliger Wehrpflicht Militia, Yeomanzy
und Volunteers. Wieweit die Versuche der Vorgänger Haldanes innere Verbindung
von Expeditionary Force und Territorials bereits vorgebildet hatten, dafür muß
sich der Rez. als Laie auf das Urteil des fachmännischen Verf. verlassen. Aber aus
der Behandlung der politischen Dinge scheint doch hervorzugehen, daß manchmal
von Haldanes Glanz ein zu scharfer Schatten rückwärts fällt. Z. B. stimmt für die
Angabe, daß Arnold-Forster „durch grobe Taktlosigkeit und unnötige Schroffheit
in Fragen nebensächlicher Art ... Eduard VII. empfindlich verletzt und sich selbst
eines wertvollen Rückhalts beraubt“ habe (S. 47 Anm. 6), das Zitat aus Lees Bio-
graphie des Königs weder äußerlich (2, 208—210 statt 210ff.) noch innerlich; Lee
sagt geradezu: „The King was in cordial social relations with Mr. Arnold-Forster.“
Umgekehrt wäre vielleicht der Glanz des zweiten Kapitels stellenweise abzu-
dämpfen. Wenn auch natürlich die Erfolge des englischen Eingreifens in den Welt-
krieg Haldanes und seiner Vertrauten Haig und Robertson Hoffnungen weitgehend
gerechtfertigt und die Zweifel der Wehrpflichtvertreter Roberts und Sir Henry
Wilson (dessen Biographie von Callwell Kluke, wie er im Vorwort bekennt, zuerst
angeregt hat), beschämt haben, so sollte doch nicht vergessen werden, daB gerade
das im dritten Kapitel betonte Wagnis, sich mit dem kleinen Expeditions- und dem
unfertigen Territorialheer zunächst ganz in die Hand Frankreichs zu geben,
großenteils die notwendige politische Folge von Haldanes Militärsystem war. Ohne
die Marne (vielleicht sogar ohne Amerika) hätte England da doch in eine böse Falle
hineingeraten können.
Das dritte Kapitel setzt zunächst sozusagen den Punkt auf die in Carl Horses
schönem Buch über die englisch-belgischen Aufmarschpläne (Leipzig— Wien 1930)
bereits so gut wie erreichte Gewißheit, daB seit Griersons Verhandlung im
Frühjahr 1906 das englisch-französisch-belgische Zusammenwirken selbst für den
Fall der Nichtverletzung Belgiens durch uns festgestanden hat. Das Wichtigste
aber scheint mir der vom Verf. mit Recht stark betonte Nachweis, daß die noch in
J. E. Edwards’ Official History of the Great War (1922) vorgetragene Legende
von der völligen Unbestimmtheit der englischen Kriegsvorbereitungen der Wahr-
heit geradezu ins Gesicht schlägt. Die seitdem reichlich veröffentlichten persön-
lichen Erinnerungen und Nachlässe englischer Heerführer lassen nicht den geringsten
Zweifel, daß die ganze Armee Jahre hindurch auf den deutschen Gegner systematisch
geschult und geistig vorbereitet war. Sollte nicht sogar der ganz frühe Hinweis (in
den Verhandlungen mit den Kolonien 1902, S. 127) auf die „notwendige“ Richtung
42*
660 Nachrichten und Notizen
der gemeinsamen Schlagkraft gegen „einige Schutzgebiete“ europäischer Mächte
eine erste Andeutung der späteren Mandatspolitik sein?
Heidelberg. Car] Brinkmann.
N. Mexmontan, Ur frihetskrigets förhistoria. Helsingfors, Holger Schild ts förlag.
1929. 75.— FA. 207 8.
Wer Gelegenheit gehabt hat, während des Krieges einmal hinter die Kulissen
unserer Diplomatie zu schauen, weiß, daß sich der verhängnisvolle Gegensatz
zwischen Oberster Heeresleitung und Auswärtigem Amte bei den einzelnen Aus-
landsmissionen in dem Neben- und bisweilen auch Gegeneinanderarbeiten von
Militär-Attaché und politischer Vertretung in oft wenig erfreulicher Weise wider-
spiegelte. Ein schwacher Trost ist es, daB es in den finnischen Vertretungen, die in Ber-
lin und Stockholm die Schilderhebung Finnlands vorbereiteten, ähnlich war. In
den bisherigen Veröffentlichungen, wie dem „offiziellen“ Werke über den Freiheits-
krieg oder dem sog. „Teilnehmerwerke“, aber auch bei Gummerus „Jägare och
Aktivister" hat man diese minder erfreulichen persönlichen und sachlichen Difie-
renzen zurücktreten lassen. Mexmontan dagegen, der als einstmaliger Kommandeur
der Finnischen Garde eine Zeitlang gehofft hatte, finnischer Oberbefehlshaber zu
werden, und der seine zweifellos wichtige Stockholmer Arbeit bisher nicht genügend
gewürdigt glaubt, gibt seinem Buche von vornherein eine ziemlich scharfe po-
lemische Note. Besonders greift er das Militärkommitté in der Heimat und dessen
Mitglied Ignatius an, weil sie seine Organisationsvorschläge nicht in der erwarteten
Weise durchführten, aber auch die Sektion Politik in Berlin und ihren Agenten
werden Vorwürfe nicht erspart, weil sie über die militärischen Dinge gelegentlich
auch mit anderen als nur mit ihm verhandelten. Obwohl M. nur einen kleinen Aus-
schnitt aus der Tátigkeit der finnischen Aktivisten gibt, und sein Buch auch sonst
nicht auf der Hóhe etwa von Gummerus steht, bringt er doch mancherlei Neues.
Vielfach freilich steht nunmehr Behauptung gegen Behauptung und man wird
erst nach Kenntnis aller Akten ein abschlieBendes Urteil fällen können,
Greifswald. Johannes Paul.
Aus genealogischen Zeitschriften.
Im verflossenen Berichtsabschnitt bringen die Familiengeschichilichen Blätter
eine Arbeit von W. Kilian? über die Notwendigkeit genealogischer Begriffsentwick-
lungen. — Wilhelm Karl Prinz v. Isenburg? tritt wie schon viele vor ihm für die
Einführung der Genealogie als Lehrfach ein. — Lehrreich ist der Aufsatz von F.
Hugenschmidt* über die graphische Darstellung von Ergebnissen der Familien-
forschung. Drei graphische Darstellungen erláutern treffend seine Ausführungen. —
Walter Transfeldt5 berichtet über die familienkundlichen Quellen der preußischen
Staatsbibliothek. — Am wichtigsten sind selbstverständlich für den Familienforscher
! Monatsschrift für wissenschaftliche Genealogie. Hsg. v. d. Zentralstelle für deutsche
Personen- und Familiengeschichte in Leipzig. Schriftieitung Johannes Hohlfeld. 29. Jg. (1931)
u. 30. Jg. (1932).
* Ebenda 29, 111—115.
* Ebenda 29, 211—214; vgl. auch Eberhard Zwirner, Genealogie als Lehrfach. Ebenda
30, 305—308.
* Ebenda 29, 213—220. Ebenda 29, 1—10.
Nachrichten und Notizen 661
zuerst die Kirchenbücher, deren Aufbewahrung und Erhaltung doch immer noch
zu wünschen übrig läßt. Es wäre doch wohl am richtigsten, wenn wenigstens die
wertvollen unersetzlichen alten Kirchenbücher, die auch für die Orts- und Landes-
geschichte Material liefern, in den zuständigen Archiven aufbewahrt würden“. —
SchlieBlich sei noch die umfangreiche Arbeit von Herbert Koch, Zur Familien-
geschichte der Jenaer Professoren des 16. Jahrhunderts erwähnt?. — Eine sehr wert-
volle Besprechung und Auswertung der von der Zentralstelle herausgegebenen
Ahnentafeln berühmter Deutscher gibt Gerhard KeBler*. — Gottfried Roeseler
tritt für die Genealogie als Wissenschaft ein, sucht neue Bestimmungen für die
Grundbegriffe der allgemeinen Genealogie? und beschäftigt sich in zwei Arbeiten
mit der sogenannten genealogischen Gruppe!®. — Josef Kallbrunner weist nach-
drücklich auf die Bedeutung der Familienforschung für das Auslandsdeutschtum
hinH, — Wertvoll ist die Veróffentlichung der Leichenpredigten und Gelegenheits-
schriften, die sich in der thüringischen Landesbibliothek zu Weimar befinden!?, —
Die Neubürger der Stadt Havelberg von 1628—1800 werden von K. H. Lampe
nach den beiden ältesten Bürgerbüchern, die sich jetzt im Geheimen Staatsarchiv
in Berlin befinden, veröffentlicht!“.
Die für das niedersächsische Gebiet führende Zeitschrift der Zentralstelle für
niedersächsische Familienforschung in Hamburg heißt vom 14. Jahrgang (1932) ab
Zeitschrift für niedersächsische Familienkunde!*, Wie bisher veröffentlicht sie viel
Quellenmaterial. — Die Arbeit von Hans Meyer!5 ergänzt und berichtigt die Vor-
fahren des Malers Asmus Jacob Carstens auf Grund seiner Forschungen im Schwab-
stedter Kirchenarchiv und im Staatsarchiv in Kiel, ohne allerdings Schlüsse auf die
Erbmasse zu ziehen. — Otto Goebel gibt Beiträge zur Geschichte der Vornamen.
— Peter Hanssen” stellt die Hundertjährigen von Schleswig-Holstein zusammen
und knüpft daran Betrachtungen über die Gesundheitsverhältnisse in Schleswig-
Holstein. Er kommt zu dem Ergebnis, daß bis zum 15. Lebensjahre die Sterblichkeit
in dieser Provinz größer ist als im übrigen Preußen, dann aber sich ständig im Ver-
hältnis verringert. — Werner Konstantin von Arnswaldt!® erläutert Beispiele
methodischer Forschung mit Hilfe von Kombination und Zufall. — Über den Ur-
adel in Dithmarschen handelt Erwin Freitag!?. Er stellt eine Verbindung mit Hol-
stein und Bremen durch Einwanderungen fest. — Hans Arnold Plöhn?® spricht über
den Aukrug vor Rensburg, der 1588 zum erstenmal erwähnt wird, und seine Be-
sitzer. — Im letzten Hefte veröffentlichte Ernst Reinstorf®! Beiträge zur Geschichte
der Kirchenbücher im Hannoverschen und stellt auf einer Tabelle die noch erhal-
tenen Kirchenbücher der einzelnen Landschaften zusammen.
* Georg Kietz, Zur Aufbewahrung und Erhaltung der Kirchenbücher. Ebenda 29, 1151.
? Ebenda 29, 41—48, 99f., 121f., 147—150, 197—200, 269—270; 30, 272ff.
* Ebenda 80, 89—96. * Ebenda 30, 145—150, 177—190.
1° Der Einzelne und die genealogische Gruppe. Ebenda 30, 251—254. — Die Mischung
genealogischer Gruppen. Ebenda 30, 249—252.
n Ebenda 30, 105—108. 18 Ebenda 30, 361—370.
13 Ebenda 30, 61—68, 125—128, 149—154, 181—180, 255—258, 309—310, 329—340.
14 Herausgeber Wilhelm Weidler in Altona. Jg. XIII (1931) u. Jg. XIV. (1932).
1 Ebenda XIII, 69—71. 1% Ebenda XIII, 176—180.
17 Ebenda XIII, 189—191. Vgl. Hugo Scharffenberg, Einiges über Hundertjährige. Ebenda
XIII, 173—176.
" Ebenda XIV, 45—54, 69—72. 1 Ebenda XIV, 11—18, 33—38.
Ebenda XIV, 89—91. sı Ebenda XIV, 125—135.
662 Nachrichten und Notizen
Aus dem Deutschen Herold’? ist vor allem die Arbeit von F. Haupt mann“,
Das angeblich älteste Wappensiegel von 1131 zu erwähnen. Es soll sich da um ein
Siegel des Grafen Poppo v. Henneberg handeln. In Wirklichkeit ist es nicht das
Siegel Poppos V. (XI.), sondern Poppos VI. (XII.) vom Jahre 1185. Nach den Mit-
teilungen von W. Möllenberg ist die Urkunde, an der das Siegel hängt, erst im
Jahre 1187 ausgestellt. — Mit der Arbeit von Hermann Stöbe über General Steubens
Herkunft (erschienen in „Sachsen und Anhalt" Bd. 7 (1931)) beschäftigen sich
K. H. Schäfer“ und Stephan Kekule von Stradonitz**. Durch diese Arbeit ist end-
gültig festgelegt, daB der General aus hessischem Müllergeschlecht zu Heldra her-
vorgegangen ist und daß sich sein Großvater den Adel angemaßt hat. Mit dem
mansfeldischen adeligen Geschlecht hat die Familie nichts zu tun. — Als dritte
Folge seiner Wappen- und Siegelveróffentlichungen bringt der nun verstorbene
A. K. Hoppe“ Wappen und Siegel von großbritannischen und nordamerikanischen
Universitäten und Wappen und Siegel deutscher Prälaten als Ergänzung der Ab-
teilung „Bistümer und Klöster“ des Neuen Siebmacher. — Arnold Berg“ will die
Arbeit von Hans Großkopf, Die Herren von Lobdeburg bei Jena, berichtigen. Doch
scheinen mir die Ausführungen von Großkopf meist richtiger zu sein. — Über den
Bischof Moritz Wrangel von Reval (1558—1560) spricht Georges Baron Wrangell”.
— Erich Winguth?® untersucht die Herkunft des Generalfeldmarschalls Grafen
Yorck von Wartenburg. Obwohl er neues Quellenmaterial über den Großvater
beibringt, kann er auch nur feststellen, daß die Ahnen aus Ostpommern stammen.
In den Mitteilungen des Roland® in Dresden veröffentlicht O. Freiherr von
Schaumberg“ eine Zusammenfassung der Forschung über Wesen und Entstehung
der Ministerialität und nähert sich mit seiner Ansicht der Auffassung von O. von
Dungern. — Plenske v. Plontzike®! bespricht die pommerschen Afterlehne in
ihren Beziehungen zu den Lehnsherren. — Elisabeth Boer“ druckt eine Studie
über den Dresdner Baumeister Matthes Daniel Pöppelmann (1662—1736) und seine
männlichen Nachkommen in Dresden ab. Über die Vorfahren Póppelmanns ist kaum
etwas bekannt. Der letzte Nachfahre in Deutschland starb Ende des vorigen Jahr-
hunderts in Dresden. Vielleicht gibt es noch geadelte Nachkommen in Polen, die
von einem Sohne des Baumeisters abstammen. — Der 17. Jahrgang bringt eine kurze
Geschichte des Vereins von Selle? während der 30 Jahre seines Bestehens. —
Auf die Bedeutung eines deutschen Bildnisarchivs für Familienforscher weist Ludwig
Munzinger“ hin. — Heinrich Butte“ unterrichtet den Familienforscher über die
Benutzung der Archive. — E. Dobers** handelt über die Bedeutung der Kirchen-
bücher als Grundlage bevölkerungsbiologischer Arbeiten. — Carl Hollstein“ gibt
Nachrichten über die Kirchenbücher im Freistaat und in der Provinz Sachsen. —
Interessant ist der kurze Aufsatz von Alfred Meiche?®, Überraschende Beziehungen
zwischen Örtlichkeiten und Personen.
** Schriftleiter: G. Adolf Clos. 62. Jg. (1931) u. 63. Jg. (1932).
* Ebenda 02, 12f., 61. ** Ebenda 62, 751., 94f.
* Ebenda 62, 77f. u. 63, 35f. ** Ebenda 03, 23f., 33ff., 43ff., 56f.
7 Ebenda 63, 55f., 69. 1 Ebenda 03, 62—66.
Schriftleiter H. Butte, W. Reichelt und F. Gritzner. 16. Jg. (1931) u. 17. Jg. (1932).
Ebenda 16, 1—7. *! Ebenda 16, 15—18.
** Ebenda 10, 29—31. Ebenda 17, 1f.
** Ebenda 17, 2f. Vgl. F. Schulz, ebenda 17, 31. s Ebenda 17, 11—14.
** Ebenda 17, 24. * Ebenda 17, 35. 3 Ebenda 17, 36.
Nachrichten und Notizen 663
Im Ekkehard® führt Hanns Frey dank*9 seine Veröffentlichung: Jugenderinne-
rungen eines pommerschen Juristen zu Ende. — Martin Boehr*! entwirft in seiner
Biographie von Karl Eduard Boehr (1793—1847) ein ausgezeichnetes Bild aus dem
Berlin der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. — Günther Schmid“ untersucht
das Verhältnis Goethes zu von Seelus. — Aus dem Nachlaß von Emil Bahrfeldt
veröffentlicht Hanns Freydank“ Münzbeamte und Münzstätten in der Grafschaft
Mansfeld. — Louis R. Grot e“ gibt in seinem Aufsatz: Die Genealogie in der heutigen
Zeit einen guten Überblick. — Unter dem Titel: Mitteldeutsche Menschen im mittel-
deutschen Raum“ spricht Hermann Kuhn über das Gesicht des mittelalterlichen
Deutschen nach Kópfen aus dem Naumburger Dom und Hans Hahne über die
rassische und persönliche Artung Martin Luthers und der Seinen. — Gustav Aubin“
behandelt die Stammeswanderung auf deutschem Ahnenboden. — Friederich
Rieh m*' veröffentlicht in Regestenform die für den Genealogen wichtigen Stücke
aus den Decisiones Electorales Palatinae des Johann Wolfgang Textor, des UrgroB-
vaters der Frau Rat. — Hanns Freydank“® beginnt in der gleichen Nummer, die
Goethe gewidmet ist, die Besprechung der Bildnisse des Kaiserlichen Rats Dr. Jo-
hann Caspar Goethe.
In der Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde*? werden die
Arbeiten von Karl von Bott mer“ und Georges Baron von Wrangell®! beendet.
— Robert Freiherr von Zedlitz veröffentlicht „Beiträge zum Schlesischen Per-
sonal- und Besitzstand im 17. Jahrhundert" aus dem umfangreichen Briefwechsel
des kaiserlichen Rats und Landeskanzlers Melchior v. Lest auf Polkau ( 1659).
Zahlreiche schlesische Familien werden in alphabetischer Folge mehr oder minder
ausführlich erwähnt. — Adolf von Einem“ bringt Lehnsträger der Herrschaft
Oxenstein aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Leider ist die Arbeit nicht abgeschlossen,
da die Zeitschrift ihr Erscheinen eingestellt hat.
Die „Familiengeschichtlichen Quellen‘ haben es sich zur Aufgabe gestellt, dem
Familienforscher die Durchsicht des genealogischen Schrifttums zu erleichtern.
100 Bücher sind für einen Band verzettelt. In alphabetischer Folge werden die in
diesen Werken vorkommenden Namen aufgeführt. Soweit ich feststellen konnte,
ist die Arbeit sehr zuverlässig. Es ist also gleichsam eine gedruckte Namenskartei,
von der wóchentlich 4 Seiten erscheinen. Keiner, der genealogisch arbeitet, kann an
dieser fleiBigen Sammlung vorbeigehen. Leider ist man aber immer noch gezwungen,
das betreffende Werk ganz durchzusehen, da in den ‚Quellen‘ bei den einzelnen
Namen die Seitenangabe in den angeführten Werken fehlt.
5 Schreiftleiter: Hanns Freydank. 6. Jg. (1930) u. 7. Jg. (1931).
** Ebenda 6, 5f., 25f., 421., 61f., 75ff., 95ff.,; 7, 117f., 1331.
*! Ebenda 6, 38ff., 60f. ** Ebenda 6, 58fl.
Ebenda 7, 158—161, 181, 2011. ** Ebenda 7, 216fl.
„Ebenda 7, 2181. % Ebenda 7, 219f.
*! Ebenda 7, 223f. ** Ebenda 7, 226ff.
** Hrg. vom Verein „Herold“ in Berlin unter Leitung von G. Adolf Cloß. Jg. LVI (1930)
u. Jg. LVII (1931).
Die niedersächsische Familie von Schilden. Ebenda LVI, 33—55.
*! Geschichte der Wrangel zur Dünischen und Ordenszeit. Ebenda LVI, 56—97.
5, Ebenda LVII, 11—22, 33—46.
s Ebenda LVII, 23—32.
** Zeitschrift familiengeschichtlicher Quellennachweise. Hsg.: Oswald Spohr. Bd. V
41929—1931). Verlag: Degener & Co., Inh. Oswald Spohr in Leipzig.
664 Nachrichten und Notizen
In den Blättern für Württembergische Familienkunde** beschließt Paulus WeiBen-
berger“ seine Arbeit aus dem inneren Leben der Abtei Neresheim im 16. Jahr-
hundert. — Alfred Zeller“ veröffentlicht Zellerbildnisse und Zellerschicksale aus
3 Jahrhunderten. Der im vorigen Jahr verstorbene Friedrich Freiherr von Gais-
berg-Schöckingen®® untersucht in seiner wertvollen Abhandlung zur Geschichte
der Freiherren von Gaisberg den Ursprung der Familie und macht es glaubhaft,
daB die Familie zum Uradel gehört. Als Beilage wird die Stammreihe [nicht der
Stammbaum!] der Familie gegeben. Der gemeinschaftliche Urstamm zählt 78, die
Schnaiterlinie 159 und die Schóckinger 178 Personen. — O. Kommerell*? äußert
sich über seine Erfahrungen bei der Aufstellung einer Ahnentafel. Er hat dieselbe
halbkreisförmig angeordnet. — Walter Pfeilsticker'? spricht über „Horoskope als
genealogische Quelle“ in Anlehnung an eine Schrift von Johann Rudolf Camerer. —
Als Beilage erscheinen schwäbische Ahnentafeln in Listenform“, die mit den
Ahnen der Philosophen Hegel und Schelling beginnen.
Von den deutschen familienkundlichen Zeitschriften, die auBerhalb des Reichs-
gebietes erscheinen, werden zwei in der Tschechoslowakei herausgegeben. Die
„Sudetendeutsche Familienforschung''** veröffentlicht weiter sehr zahlreiches Namen-
material aus Kirchenbüchern und Bürgerrollen. Neuerlich hat Anton Herglot 2
begonnen, in alphabetischer Folge die lateinischen Ausdrücke in Kirchenmatriken
zu erläutern. — Robert und Alfred Trótscher** sprechen über die Statistik im
Dienste der Familienforschung mit erläuternden Beispielen. — Eine Namendeu-
tungsecke®® ist eingerichtet, wo die bekannten Namen sprachlich erklärt werden.
— Anton Dietl% gibt eine gute Anleitung über photographische Aufnahmen von alten
Schriften. In einem weiteren Aufsatzes“ spricht er über die Verfilmung von Kirchen-
büchern. Eine wohlgelungene Vergrößerung zeigt, daB sein Vorschlag wohl durch-
führbar ist. Daraufhin sind in verschiedenen Zeitschriften kleinere Aufsátze über
die Bedeutung der Photographie für den Familienforscher erschienen. Aber nicht nur
für ihn ist das Lichtbild wichtig. Es ist für den Historiker schon seit längerer Zeit
für seine Arbeiten unentbehrlich. — Auf die Veröffentlichung von Ernst Enzmann““,
Wappenbilder Egerer Geschlechter, sei aufmerksam gemacht. — Ebenso auf eine
kurze Zusammenfassung von Gustav Hofmann“ über seelenkundliche Familien-
forschung. — Erbgesundheitsfragen bespricht Fritz Netolit zky“ auf Grund seiner
5 Hsg. v. Verein für Württembergische Familienkunde, Stuttgart. Schriftleltung: K. Ad.
Emil Müller. Bd. IV (1930f.) u. B. V (1932) = Heft 40—54.
ss Ebenda IV, 50—60. % Ebenda IV, 78—84.
% Ebenda IV, 101—109. Beilage 1—24; vgl. V, 341. % Ebenda V, 1—4.
% Ebenda V, 49—56. *! Ebenda Beilage S. 1—32.
„ Hag. v. d. Zentralstelle für sudetendeutsche Familienforschung des deutschen Ver-
bandes für Helmatforschung und Heimatbildung in der techechoslowakischen Republik, Außig.
Geleitet v. Anton Dietl und Franz Josef Umlauft. 3. Jg. (1930—31) u. 4. Jg. (1931— 32).
** Ebenda 3, 15f., 4, 30. Vgl. Karl Siegl, Die lateinischen Bezeichnungen für Stand und
Gewerbe in den Egerer Pfarrmatriken. Ebenda 3, 150—155.
* Ebenda 3, 3—9.
Geleitet von Karl Gaube. Ebenda 3, 29—32, 81—84, 132ff., 171—174; 4, 30ff., 126 fl.,
182f.
** Ebenda 3, 49—53. *' Ebenda 4, 49—55.
% Ebenda 3, 174ff.; — 4, 122ff. ** Ebenda 4, 145—147.
** Ebenda 4, 148f; — vgl. Julius Röder, Krankheiten und Todesursachen. Ebenda 4,
106/109.
Nachrichten und Notizen 665
Familiengeschichte. — Schließlich sei erwähnt, daß die Veröffentlichung der Ahnen-
tafeln bekannter Sudetendeutscher?! fortgesetzt wird.
Der neugegründete Deutsche Verein für Familienkunde für die tschechoslowakische
Republik hat sein erstes Jahrbuch herausgegeben“, das durch sehr wertvolle Auf-
sätze der führenden Männer des Vereins eingeleitet wird. Als Einführung wird vor
diesen Aufsätzen das Bild und die Lebensbeschreibung des Verfassers gebracht. —
Armin v. Tschermak-Seysenegg?*, der bekannte Forscher der Vererbungs-
wissenschaft, spricht über Familienkunde und Vererbung und erläutert seine Aus-
führungen durch Beigabe von trefflichen Bildern und Schemen. Ich móchte nicht
verfehlen, auf die am Schluß gegebene Übersicht der wichtigsten zusammenfassenden
Darstellungen über Vererbung aufmerksam zu machen. — Bernhard Brandt“ er-
läutert seine Ausführungen über die neuen Ziele der Rassenkunde unter besonderer
Berücksichtigung der Forschung in den Sudetenländern. — F. Breinl?5 spricht
über die Entwicklungsstufe des Menschen im Verhältnis zur Siedlung. — Über die
Wechselbeziehungen von Quantität und Qualität äußert sich Friedrich Wele-
minsky?*. — A. P. Slechta“ gibt eine Archiv-Schau durch Prag. — Über Archiv
und Bibliothek der dortigen israelitischen Kultusgemeinde spricht Wilhelm Klein“?
und Siegfried Habermann“ über das Archiv der Stadt Eger.
Die Zeitschrift der tschechoslowakischen genealogischen Gesellschaft in Prag®®
bringt von Karl Galle?! einen Aufsatz über die höhere Intelligenz des hervorragenden
Menschen. — Roman Procházka** veröffentlicht eine Bibliographie des familien-
kundlichen Schrifttums über Erblichkeit, Rassen-Hygiene und verwandte Diszi-
plinen, in der die deutschen Arbeiten weitaus den gróBten Teil einnehmen. — Zu
beachten ist die Veröffentlichung von Johann Lintner“ über die Freilassungs-
briefe im Archiv der Stadt Sobeslau. — Arthur Prozik gibt Bemerkungen zum
genealogischen und biologischen Stammbaum, wobei er besonderen Wert auf die
biologische Verarbeitung der Stammtafeln legt und zeigt, wie ein solcher biologischer
Stammbaum auszusehen hat. — Zdenek Kolowrat® beschreibt 69 Grabdenkmäler
in den Prager Kirchen und gibt 51 Wappenzeichnungen von diesen Denkmälern.
Deutsche Abstammung tritt dabei überwiegend hervor. SchlieBlich sei noch auf die
Besprechung eines Kopiars aus Sedčic von Andreas Frante® hingewiesen. — Im
letzten Bande behandelt Jos. V. Simák*' die Anfänge des Steigbügelwappens. —
Johann Lintner*? stellt zusammen, was er über die Beamten und die Dienerschaft
im Kloster Selau unter dem Abte Siekurd Falkon 1661—1677 gefunden hat. — Auch
hier wird ein lateinisches Glossar mit vorangehender Auflösung der gebräuchlichsten
Abkürzungen veróffentlicht*?, — Als Beilage erscheint ein Namensverzeichnis der
" Ebenda 3, 37 (Pleischl), 86f. (Ditz), 129 (Krones), 179—183 (Kolbenheyer); — 4,
33—37 (Berger), 84—88 (Mühlig), 129f. (Schmidt), 181 (Schinzel).
" Geleitet v. Hans Felix Zimmermann. 1. Jg. 1930 (Prag 1931).
Ebenda 1—34. "e Ebenda 37—45. 7 Ebenda 47—52.
* Ebenda 53—57. " Ebenda 68—76. ** Ebenda 77—80.
7 Ebenda 81—84.
** Geleitet von Anton Marcus. II. Jg. (1930) bis IV. Jg. (1932).
*! Ebenda II, 1—7. e Ebenda II, 45—55, 108f. * Ebenda II, 101—105.
Ebenda II, 101—106. * Ebenda III, 1—7, 49—92.
„ Ebenda III, 65—83; weiter in IV, 10—17 (hier werden 21 Grabsteininschriften und
18 Wappen gegeben).
* Ebenda III, 86—94. % Ebenda IV, 1—9, 65—74. * Ebenda IV, 80—84.
% y, Adolf Ld. Krejlik. Ebenda IV, 87—90, 133—152.
666 Nachrichten und Notizen
Einwohner im Thein-Viertel der Prager Altstadt**, in dem wir zahlreiche deutsche
Namen finden.
In der Schwedischen personengeschichtlichen Zeitschrift! bringt Niels Forssell*t
ein Lebensbild von dem Brigadegeneral Johann Sarrazin, der in Südfrankreich
geboren ist und als Gewährsmann über Bernardottes, des späteren schwedischen
Königs Karl XIV. Johann, französische Zeit gilt. Nach einer Einleitung wird das
Leben Sarrazins in der Revolution und unter Napoleon bis zu seiner Flucht nach
England 1810 behandelt. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit seiner Schwe-
denfahrt. Abschließend erfahren wir seine ferneren Schicksale. Aus der gleichen
Zeit bringt Bo Enander“ einen Aufsatz über Karl Heinrich Anckarsvärd und das
„Disciplinverbrechen“ 1813. — Birger Lind ön® spricht über die Stammreihe des
aus Hamburg stammenden und in Danzig ansässigen Geschlechts von Cuyper, das
1676 den schwedischen Adel von Cuypercrona erhielt. — Als letzte Arbeit von
H. Södersteen® wird ein Beitrag zur Genealogie des Geschlechts Bjórnram ge-
boten. — Über den Kammerherrn Freiherrn Adam Christian Raabe (1801—1872)
und seinen Sohn Hugo (1831—1881), Chef des schwedischen Generalstabes 1873
bis 1881, der auf der Berliner Kriegsakademie unter Moltke studiert hat, spricht
Elias Tiselius9**. — Den Bild- und Wappenschneider Jost Schutze in Stockholm
im 17. Jahrhundert behandelt Efraim Lundmark“. — Bengt Hildebrandt”
befaBt sich mit der Abstammung des Erzbischofs Nathan Sóderblom. Die Ahnen-
tafel zeigt auf väterlicher Seite vorwiegend Vollbauern, auf der mütterlichen Städter
und Pfarrer. — Ausgehend von der Bulle des Papstes Alexanders IV. von 1171
spricht Johann Erich Almquist*? über die Blutsverwandtschaft als Ehehindernis
gemäß des schwedischen Rechtes. — Einige neue Gesichtspunkte bringt Nies
Ahnlund!® zu Königin Christines Thronverzicht. — Der 33. Jahrgang wird mit
einer Ahnentafel der Prinzessin Sybilla von Sachsen-Koburg, der Gemahlin des
Prinzen Gustav Adolf von Schweden, eróffnet!?!, — Im gleichen Heft untersucht
Beth Hennings?!® eingehend die Gouverneurszeit von Karl Gustav Tessin bei dem
jungen Kronprinzen Gustav, dem späteren König Gustav IV. — Der Band bringt
eine große Anzahl Besprechungen von Arbeiten über Gustav Adolf und Oxen-
stierna!®,
Im neuen Jahrgang der Ungarischen heraldischen und genealogischen Zeitschrift
„Turul' e veröffentlicht Alexander Mihalik““ eine sehr wertvolle Abhandlung
über alte ungarische Siegel der Goldschmiedezünfte aus sieben ungarischen Städten.
— In der Hauptsache führen sie die Gestalt des heiligen Eligius im Wappenbild. Das
älteste von ihm behandelte Siegel ist das der Kaschauer Goldschmiedezunft aus
dem Jahre 1476. — Josef Follajtar!® untersucht die Abstammung (zuerst 1358
erwühnt) und die Geschichte der Familie Ocskay de Ocsko. Besonders eingehend
** Eduard Sebesta, Beschreibung der Prager Bevölkerung vom Jahre 1770, aus den Kon-
skriptionsakten des alten Stadtarchives zusammengestellt. Bis jetzt sind 48 Seiten erschienen.
*! Hag. von der Personengeschichtlichen Gesellschaft in Stockholm. Schriftleiter: Bengt
Hildebrandt. Jg. 31 H. 3—4 (1930), Jg. 32 (1931), u. Jg. 33 (1932).
** Ebenda 31, 139—167. ** Ebenda 31, 174—198. ** Ebenda 31, 168—173.
s Ebenda 32, 1—10. * Ebenda 32, 28—68. * Ebenda 32, 69—76.
% Ebenda 32, 153—169. ® Ebenda 32, 160—176. 10% Ebenda 32, 196—214.
1 Ebenda 33, 1—3. 1 Ebenda 33, 4—37. 1* Ebenda 33, 103—118.
1% Hag. von Antal Aldásy u. Alfred Czobor. Jg. 35 (1930) u. Jg. 36 (1931).
1% Ebenda 35, 20—31. 1* Ebenda 35, 1—19, 83—90.
Nachrichten und Notizen 667
wird über die Gütererwerbung der Familie gehandelt. Stammtafeln sind beigefügt.
— Über das rein Genealogische hinaus führt der Aufsatz Lorends v. Szilágyi”,
Die Rolle der ungarischen königlichen Kanzlei in der Zentralverwaltung 1458—1526.
Er behandelt die Übergangszeit zwischen der mittelalterlichen und der neuzeitlichen
Zentralverwaltung. — Das öffentliche Wirken des Bischofs Gregor unter der unglück-
lichen Regierung Ladislaus IV. schildert Koloman Juhácz!9*, — Berndt Ludwig
Kumorovitz!® bespricht den liber judiciarius der Stadt Kassa der Jahre 1392
bis 1406 und veróffentlicht die Aufzeichnungen über die Gerichtssitzung vom 10. Mai
1395. — Im 36. Jahrgang, der einen Bericht über das 50jährige Jubiläum der Un-
garischen Heraldischen und Genealogischen Gesellschaft bringt, behandelt Béla
Bitto!!? die Geschichte seiner Familie, die sich seit 1287 lückenlos verfolgen läßt,
bringt Wappenabbildungen und 13 Stammtafeln. — Paul Lukcsics!!! versucht in
Anschluß an eine Arbeit von K. H. Schäfer im „Deutschen Herold“ durch ein-
gehendere Forschung die einzelnen Wappen von ungarischen Söldnern in Italien
genauer zu bestimmen. — J. Holub!!2 antwortet „Noch einmal und zum letzten
Male über die Quarta" auf den Aufsatz von L. Kelemen im Jahrgang 34 der Zft.
Die Mühlhäuser Geschichisblütler!* bringen wie immer sehr reichhaltiges fa-
milienkundliches Material. Aus der Anzahl der Lebensbeschreibungen nenne ich die
Arbeit von Paul Alfred Merbach!!4, Gottfried Christoph Beireis, Prof. der Medizin
an der Universität Helmstedt (1730—1810), der ,, Wundermann von Helmstedt‘.
— Im Anschluß daran untersucht Ernst Brinkmann!! den Einfluß Mühlhausens
auf Beireis und gibt Nachrichten über seine Familie. — Theodor Wotschke!!e
schildert Marie Sophie von Marschall in ihren Briefen an A. H. Francke. — Wilhelm
Auener!!? entwirft das Wirken des Mühlhäuser Kindes Johann August Röbling
(1806—1869), der ein berühmter Brückenbauer in Nordamerika war. Von ihm
stammt auch der Gedanke der Brooklynbrücke, während er die Ausführung seinem
Sohne überlassen mußte. — Den Bürgerschuldirektor Friederich Otto (1806—1876)
würdigt Fritz Kaisers. — Über das Leben und Wirken des Dramatikers Johannes
Cuno im 16. Jahrhundert spricht Karl Eberlein. — Fred Fis cher!“ entwirft
ein anziehendes Lebensbild des Theologen und Dichters Ludwig Helmbold zu
seinem 400. Geburtstag. Als Nachfolger Starkes wurde er Superintendent in Mühl-
hausen. Über dieses Geschlecht Starke spricht Gustav Starke. — „Neues über
Johann Sebastian Bach in Mühlhausen“ liefert Ernst Brinkmann!®#. Der rührige
Herausgeber der Zeitschrift schildert u. a. Beiträgen auch die Geschichte des Mühl-
häuser Syndikatshauses !*, das auf dem Boden des alten Franziskanerklosters er-
10 Ebenda 36, 45—83. 1" Ebenda 35, 00—94. 1% Ebenda 35, 95ff.
110 Ebenda 36, 1—66. 111 Ebenda 36, 84—88. 1? Ebenda 36, 89—93.
113 Zeitschrift des Altertums vereins für Mühlhausen in Thüringen u. Umgegend. Hsg.
von Ernst Brinkmann. Jg. 29 (1928—1929), Jg. 31 (1932).
11 Ebenda 29, 1—54; 30, 62—73. H5 Ebenda 29, 55— 60.
118 Ebenda 29, 100—119. u” Ebenda 30, 1—61.
1* Ebenda 30, 74—93, dazu Ergänzungen von Bernhard Heetzsch. Ebenda 31, 71—88.
110 Rbenda 30, 206—225. Vgl. Ebenda 31, 235—250 Joh. Biereye, zum Leben des Dichters
&us Erfurt.
1% Ebenda 31, 147—103, dazu gibt Biereye Ergänzungen über sein Leben in Erfurt.
Ebenda 31, 251—256.
1" Ebenda 31, 257—993.
128 Ebenda 31, 204—299. Vgl. auch „Neue Beiträge zur Mühlhäuser Musikgeschichte“.
Ebenda 29, 225—306. 133 Ebenda 29, 307—345.
668 Nachrichten und Notizen
richtet ist und 1597 zuerst erwähnt wird. — In das „Mittelalter“ führt uns die
Arbeit von Georg Thiele!#, Vorreformatorische Geistlichkeit in der Freien und
Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen. Es ist aber nicht nur die Stadt selbst, sondern
das ganze reichsstándische Gebiet berücksichtigt worden. Ich hätte gewünscht, daB
zu den Jahreszahlen auch die Monats- und Tagesangaben beigefügt worden wären.
— Wichtig für die Stadtgeschichte sind die Kámmereirechnungen von 1407—1410,
die Hugo Groth!*^ veröffentlicht. Dankenswert ist auch desselben Verfassers!“
Arbeit über Geldwerte, Preise und Löhne in Mühlhausen um 1400. Am Schluß
möchte ich auf die neuen Studien zum Mühlbäuser Reichsrechtsbuch von Herbert
Meyer!* hinweisen, in der er sich mit der unsachlichen Schrift von Hans Reichard
über die deutschen Stadtrechte des Mittelalters auseinandersetzt. Aus dem letzten
Bande ist besonders die Arbeit von Ernst Brinkmann!#, Gelegenheitsfunde im
Mühlhauser Archiv hervorzuheben. B. druckt verschiedene noch nicht veróffentlichte
Urkunden- und Aktenstücke ab: zuerst eine Urkunde des Landgrafen Albrecht des
Entarteten von Thüringen über sein Bündnis mit den Städten Mühlhausen, Eise-
nach, Gotha, Nordhausen und Weißensee vom 24. Februar 1258. Es ist die älteste
deutsche Urkunde des Archives, die aber leider nur in einer Abschrift des 17. Jahr-
hunderts erhalten ist. Auch die folgende Urkunde, Innungsprivileg für die Woll-
weber oder Tuchmacher vom 18. Januar 1302 ist nur in einer beglaubigten Über-
setzung erhalten. Daran schließt sich die Liste der Ratsmeister von 1441—1524 aus
einem Bruchstück aus dem sonst verlorenen liber consulum, civium et ansarum.
Ferner Nachrichten über die ültesten Dorfrechnungen des Archives von Eigenvieden
über die Jahre 1449—53; Notizen zur Geschichte des Gymnasiums, aus dem ältesten
Gesindebuch von 1502 ff, zum Bauernkrieg, vom Dorfe Eigenrode, das 1545
wiedererbaut ist, über Mühlhäuser Dorfpfarrer während des Interims u. a. — Weiter
sind aus dem Bande zu erwähnen: Fritz Kaiser“, Zur Geschichte der Salzsteuer
in Mühlhausen, Hugo Grothe!*9, Die ältesten Straßennamen Mühlhausens, Gustav
Picard, Mühlhausens Wasserläufe, Heinrich Wetterling , Aus der Geschichte
der Lehrerbildungsanstalten in Mühlhausen i. Thür. und Otto Drenckhahn, sein
Lebenslauf und Schülererinnerungen an ihn!33, — Es ist mir natürlich unmöglich,
den äußerst reichhaltigen Inhalt dieser Jahrgänge hier voll auszuschöpfen.
Fünf genealogische Vereine des Baltikums!** geben zusammen die Baltischen
Familiengeschichtlichen Mitteilungen!*5 heraus. R. A. v. Lemm!? behandelt einen
baltischen Zweig des Geschlechtes Leibniz, der mit dem Großneffen des Philosophen
beginnt. — Erich Säuberlich!?? teilt die ältesten Vorfahren von Carl Ernst
von Baer mit und A. v. Schmidt!» gibt einige Daten über die Vorfahren des
14 Ebenda 31, 164—234. 125 Ebenda 29, 119—168; 30, 133—168.
!5 Ebenda 30, 169—179. 1 Ebenda 30, 226—240. 13 Ebenda 32, 98—119.
1% Ebenda 32, 76—86. 126 Ebenda 32, 92—97. 11 Ebenda 32, 130—133.
188 Ebenda 32, 42—97.
1 von Werner Drenckhahn und Alwin Schmidt, Ebenda 32, 68—75.
124 Genealogische Gesellschaft Lettlands, vormals Genealogische Gesellschaft der Ostsee-
provinzen in Mitau. — Sektion für Genealogie der Gesellschaft für Geschichte u. Altertumskunde
in Riga. — Sektion für Genealogie der Estländ. Literür. Gesellschaft in Reval. — Livländ. Ge-
ncalogische Gesellschaft in Riga. — Dorpater Deutsche Genealogische Gesellschaft.
*" Hrsg. u. Schriftleiter: W. Baron Maydell. Jg. 1 (1931) u. Jg. 2 (1932).
120 Baltische Familiengeschichtl. Mitteilungen 1, 2—5.
127 Ebenda 1, 6. ?* Ebenda 1, 6f.
Nachrichten und Notizen 669
Dichters Reinhold Lenz. — Als Beitrag zur Frage der Herkunft und der Soziologie
des Literatentums veröffentlicht G. Adelheim die Lehrer der großen Stadtschule!“
und der Jungfern-Schule“ in Reval. — Mit dem Leben und der Familie des aus
Sachsen gebürtigen Johann Ernst Gluck, Propstes in Marienburg (Livland), der
dann als Gefangener in Moskau das erste russische Gymnasium gründete (1708),
beschäftigt sich Frhr. J. v. Koskull!“, In seinem Hause wuchs die elternlose
litauische Bauerntochter Marta Skavronski, die spätere Kaiserin Katharina I. auf.
Die Vorfahren des Propstes bringt N. v. Essen!“ “. — Baron Frhr. v. Wolff ver-
öffentlicht die Ahnentafel des weil. livl. Landmarschalls Friedrich Frhr. v. Meyen-
dorff. — Erich Säuberlich!“ bringt Nachrichten über die Herkunft einiger Adels-
familien und N. v Essen!“ über die Familie (von) Peucker. Schließlich sei noch die
Arbeit von A. v. Transche- Roseneck** erwähnt, Zur Frage Namengebung und
Wappenannahme alter livländischer Geschlechter. — Fast alle diese Aufsätze und
die anderen Veróffentlichungen zeigen wieder die enge Verbundenheit der baltischen
Provinzen mit dem großen Deutschland.
Zusammenfassend sei bemerkt, daß alle familienkundlichen Zeitschriften viel
Namensmaterial bieten, das fast ausschließlich aus noch ungedruckten Quellen alpha-
betisch oder nach Jahren geordnet zusammengestellt ist. AuBerdem bringen sie in
reichstem MaBe Anzeigen genealogischer Bücher und Zeitschriften sowie von Werken
verwandter Gebiete. Es sind selbstverstándlich nur Überblicke über die Zeitschriften
gegeben worden, die regelmáBig dem Referenten zur Berichterstattung zugehen.
Neuruppin. K. H. Lampe.
Wissensehaftliehe Gesellschaften und (Publikations-) Institute. Wie das Thü-
ringische Volksbildungsministerium mitteilt, hat das 1913 begründete Karl-
Augqust-Werk unter der Leitung von Willy Andreas-Heidelberg seine Tätigkeit
wieder aufgenommen. Von den bisher im Zusammenhang mit dem Unternehmen
erschienenen Veröffentlichungen sind zu nennen: Der Briefwechsel Karl Augusts
mit Goethe, hsg. von H. Wahl, 3 Bde. 1915—18; F. Hartung, „Das Großherzog-
tum Sachsen unter der Regierung K. A.s 1775—1828“, 1923; W. Andreas, „Johs.
von Müller in Weimar“, H. Z., Bd. 145, 1932; Ders., „Preußen und Reich in K. A.s
Geschichte", Rektoratsrede Heidelberg 1932; H. Blesken, „Der Landtag im Groß-
herzogtum Sachsen-Weimar- Eisenach 1816—1848“, Z. V. Thür. G. N. F. 30, 1932;
G. Bahls, „K. A. als Soldat“, 1933. Die Verwirklichung des letzten Zieles der Unter-
nehmung einer umfassenden Biographie K. A.s liegt in der Hand von W. Andreas
selbst, dem zur Durchführung der archivalischen Vorarbeiten U. Crämer und
A. Bergmann beigegeben sind, von welch letzterem als erste Frucht ihrer Tátig-
keit soeben eine K.-A.-Biographie erschienen ist. Weiter sind an vorbereitenden und
unterbauenden Publikationen ins Auge gefaBt: Die Bearbeitung der namentlich
für die Zeit von den französischen Revolutionskriegen bis zum Wiener Kongreß
aufschluBreichen politischen Korrespondenz K. A.s, die teils im Wortlaut veróffent-
licht, teils zu einer Darstellung der auswärtigen Politik K. A.s verarbeitet werden
soll; die Promemorien Goethes über den Empfang K. A.s bei der Rückkehr aus den
Befreiungskriegen (im Jb. der Goetheges.); der für die Beziehungen König Ludwigs I.
zu Weimer aufschlußreiche Nachlaß des Kanzlers Müller. Es ist lebhaft zu begrüßen,
daB durch die tatkräftige Förderung durch das Thüringische Staatsministerium
und unter der sachkundigen Leitung durch W. Andreas die Durchführung des Karl-
August- Werkes gesichert erscheint.
"* Ebenda 1, 18—24. 14° Ebenda 2, 2—4.
1 Ebenda 1, 35—39, 50—57; vgl. dazu Ebenda 1, 571. u. 2, 10f.
1% Ebenda 2, 20, vgl. 2, 45f. 14° Ebenda 2, 4—8. 144 Ebenda 2, 50—55.
M5 Ebenda 2, 21—28, 34—28. ** Ebenda 2, 41—45.
670 Nachrichten und Notizen
Entgegnung.
Sachliche Bemerkungen zu der Kritik von G. Fischer, Dresden über M. A. H.
Fitzler, Die Handelsgesellschaft Felix v. Oldenburg & Co. 1758— 1760. Ein Beitrag
zur Geschichte des Deutschtums in Portugal im Zeitalter des Absolutismus. Statt-
gart 1981. Beiheft 28 zu V.S.W.G.
Der erste Teil der Kritik wird den Fachmann, der das Buch gelesen hat, aufs
äußerste befremden. Doch genügt es, im Gegensatz zu G. Fischers Meinung, auf die
außerordentlich eingehenden Würdigungen des Buches durch H. Sieveking (Hit.
Ztschr. Bd. 146, Hett I, S. 179) und durch E. Baasch (Jhb. f. Nat. u. Stat. Bd. 155,
S. 928/9) hinzuweisen.
Dagegen verlangt der zweite Teil der Fischerschen Kritik wegen Inhalt und
Form eine Richtigstellung.
Unter Anführung eines reichen Quellenmaterials (S. 113/114) kommt die Ver-
fasserin nach sorgfältigen Untersuchungen über die Schiffsgrößen des spanisch-
portugiesischen Überseehandels im 16., 17. und 18. Jht. zu einem von Sombart ab-
weichenden Ergebnis, das sie auf S. 114 (Anm. 38) in folgender, nach Form und In-
halt einwandfreier Weise formuliert: „Die Angabe Sombarts (Der moderne Kapi-
talismus II, I, 281), daß die Tonnenzahl der größten Handelsschiffe des 17. und
18. Jhs. durchschnittlich nur 300—400 t betragen habe, kann nicht aufrechterhalten
werden." Als weiteren Beweis führt sie neben ihrem eigenen Forschungsergebnis
noch die Studien von Morse in der Ausgabe der „Chronicles of the East India Com-
pany (1653— 1834)" über Schiffsgrößen in England an (S. 114 Anm. 39). Einen ‚Stoß
ins Leere", eine „zwar heftige, aber ganz ungerechtfertigte Kritik“ nennt Fischer
diese sachliche, wohlbegründete Feststellung, rät der Verfasserin „gewissenhafter“
zu lesen, da der Hinweis „völlig fehlgreife“, und endet schließlich mit dem ebenso
unberechtigten, wie die Form einer vornehmen Kritik verletzenden Vorwurf „leicht-
sinniger Voreiligkeit“, die sich die Verfasserin in dieser Frage habe zuschulden kom-
men lassen. Die schweren Geschütze fallen indessen sämtliche auf den Kritiker selbst
zurück. Die Angaben bei Sombart beziehen sich nicht „lediglich auf solche Schiffe,
die auf lübischen Werften gebaut wurden“, wie Fischer behauptet, sondern sie
dienen Sombart zur Bekräftigung seiner allgemeinen Feststellung: ‚Wir werden
es begreiflich finden, daß die Schiffsgrößen während der ganzen frühkapitali-
stischen Epoche, jedenfalls während des 17. und 18. Jhs., nachdem der Ostindien-
fahrertyp aufgekommen war, unverändert geblieben ist." (A. a. O. 1I, I, 281).
Die von H. Fitzler und Morse gebotenen einwandfreien Quellen beweisen, daß
dieser Satz, trotz der als Beleg angeführten Angaben über lübische Schiffsgrößen,
weder für Spanien und Portugal, noch für England, wahrscheinlich auch nicht für
Holland aufrechterhalten werden kann.
Ferner hat H. Fitzler, wie ihr G. Fischer „unterschiebt“, ganz und gar nicht
übersehen, daß die 18 von Sombart nach E. Baasch angeführten zwischen 105
und 193 Lasten liegenden lübischen Schiffsgrößen aus den Jahren 1560—1765 in
Tonnen umzurechnen waren; das zeigen ja schon die uns hier von der Verfasserin
zum Vergleich gebotenen Durchschnittszahlen in Tonnen, die, wie G. Fischer leicht
hátte berechnen kónnen, etwa das Doppelte vom Durchschnitt der von Sombart
gebotenen Zahlenreihe in Lasten ergeben. Hätte der Kritiker sich hier keine „leicht-
sinnige Voreiligkeit zuschulden kommen lassen“, dann hätte er sich auch den „ völlig
verfehlten", kaum verständlichen Hinweis auf W. Vogel (Gesch. d. deutschen
Seeschiffahrt, I, 553—560) erspart, dessen Ausführungen über die „gegenwärtigen
drei Maßstäbe zur Angabe von SchiffsgróBen: Raumgehalt, Depalcement, Trag-
fähigkeit, Erórterungen über lübische, hamburgische Lasten etc., die Regel für die
Umrechnung in die ab 1854 in Geltung gekommenen Registertonnen (Rt zu 100 ku-
bikfuB englisch), mit den Ausführungen von H. Fitzler aber auch nicht das
mindeste zu tun haben." —
Colombo. P. E. P. Pieris. _
Schlußwort.
Zu den vorstehenden Ausführungen von P. E. P. Pieris bemerke ich das Folgende:
Die Aufnahme des Buches von Hedwig Fitzler durch die Kritik ist eine durch-
aus einheitliche gewesen. Bei aller Anerkennung des Fleißes der Verf. hat es doch
Nachrichten und Notizen 671
nirgends restlose Zustimmung gefunden, auch nicht von seiten E. Baaschs und
H. Sievekings. Meine eigene Stellungnahme weicht — das hätte auch P. E. P. Pieris
sehen können, wenn ihn nicht die enge Arbeitsgemeinschaft, die ihn seit Jahren
mit Hedwig Fitzler verbindet, offenbar gehindert hätte, meine Ausführungen un-
befangen zu lesen — von der allgemeinen Linie höchstens dadurch ab, daß ich
wärmer, als es von sämtlichen Kritikern geschehen ist, für die Vorzüge des Buches
eingetreten bin. Wenn ich es bedauert habe, daß sich die Verf. durch Titelwahl
und Aufbau allzu bescheiden selber das Licht weggenommen hat, so stehe ich auch
damit nicht allein. Von anderer Seite ist ebenfalls auf die kompositorische Un-
zulänglichkeit des Buches hingewiesen worden!. Der erste Teil meiner Besprechung
wird also nirgends Befremden erregen.
Damit, daß Pieris sich die von mir gerügte Kritik Hedwig Fitzlers an Sombarts
Ausführungen über Schiffsgrößen zu eigen macht, hat er weder sich noch Hedwig
Fitzler einen Dienst erwiesen. Der Vorwurf leichtsinniger Voreiligkeit, der gegen
diese erhoben werden mußte, fällt nunmehr in voller Schwere auch auf ihn. Was er
zur Stützung der Fitzlerschen Behauptung ins Feld führt, ist — um in seiner mili-
tanten Terminologie zu bleiben — nur leichte Kavallerie, die gegen betonierte
Schützengräben angesetzt wird, und zwar auch noch in falscher Richtung. Sombarts
Ansicht wird von Fitzler und Pieris nicht — wie beide glauben — widerlegt, sondern
im Gegenteil erneut vollauf bestätigt. Sombart sagt ja gar nicht, was Fitzler und
nun auch Pieris von ihm behaupten. Von der von Fitzler nach Pieris in einwandfreier
Weise wiedergegebenen angeblichen Ansichten Sombarts, „daß die Tonnenzahl der
größten Handelsschiffe des 17. und 18. Jhs. durchschnittlich nur 300—400 t be-
tragen habe“, findet sich an der von ihr zitierten Stelle auch nicht ein einziges Wort.
Sombart äußert sich dort überhaupt nicht selbst, sondern gibt nur im Anschluß
an die von E. Baasch veróffentlichen Schiffslisten der Lastadienbücher eine Tabelle
über die Durchschnittsgrößen der auf lübischen Werften von 1560—1785 erbauten
Schiffe wieder und führt dann weiter den Raumgehalt der größten davon gesondert
auf, und zwar mit 300—400 lübischen Lasten, d. h. also rund 600—800 t. Wie Hed-
wig Fitzler diese Angaben als „Sombartsche Zahlen“ bezeichnen und aus ihnen die
Behauptung herauslesen konnte, Sombart habe die Tonnenzahl der größten Handels-
schiffe des 17. und 18. Jhs. mit nur 300—400 t angegeben, ist um so unerfindlicher,
als sich auch sonst in den vier Bánden seines Werkes nicht eine Zeile findet, die in
ihrem Sinne gedeutet werden könnte?. Vielmehr zeigt sich überall dort, wo sich
Sombart über SchiffsgróBen äußert, eindeutig und ganz unmißverständlich, daB
er den 600—800 t-Typ seit dem 16. Jht. kennt, und vóllig in Übereinstimmung
mit dem von Fitzler und Pieris zitierten Morse das 500 t-Schiff für die lange Fahrt
als das Regelmäßige ansieht, und zwar tut er das gerade unter Hinweis auf die
Indienfahrer englischer, holländischer und spanischer Flagge, welche Fitzler und
Pieris gegen ihn glauben anführen zu sollen; ja, er tut das weiter — freilich in einem
anderen als dem von Fitzler und Pieris zitierten Bande — sogar mit Benutzung
der gleichen Stelle bei Klerk de Reuss, die Fitzler zur Widerlegung seiner angeb-
lichen Ansicht geltend machen wills. Der Sachverhalt ist vollkommen klar und kann
auch von jedem Nichtspezialisten sofort nachgeprüft werden. Sombarts Ansicht in
dieser Frage ist zudem, wie jeder mit der Literatur einigermaßen Vertraute weiß,
längst Allgemeingut der deutschen und fremden Wirtschaftsgeschichtschreibung
geworden. DaB nicht ich es bin, der Sombart — soweit das überhaupt móglich sein
sollte — miBverstanden hat, zeigen, um nur zwei Äußerungen zu der Frage aus letzter
Zeit anzuführen, z. B. die Angaben von Eugene H. Byrne und H. Sieveking —
1 Von Paul Darmstädter in Ztsch. f. d. ges. Staatsw. 91, 1931, 608. Er nennt die
Arbeit „unübersichtlich“ und meint, daß die Geschichte der kurzlebigen Oldenburgschen
Gesellschaft allein kaum als Thema für ein 300 Seiten starkes Buch ausreiche.
* Am allerwenigsten gilt das von dem Satz, den Picris oben aus II, 1, 280 (nicht
281, wie er schreibt) anführt.
* I, 2, 764. Nebenbei: eine Autorität vom Range Walther Vogels hat übrigens in
den Angaben von Klerk de Reuss keine Widerlegung van Dams gesehen. Vgl. Dietrich
Schäferfestschrift, 1915, 316 und 317.
672 Nachrichten und Notizen
zweier Autoren, deren fachliche Kompetenz wohl weder Hedwig Fitzler noch ihr
Verteidiger werden bestreiten wollen. Eugene H. Byrne spricht“ unter Berufung
auf das gleiche Kapitel bei Sombart, aus dem Fitzler und Pieris ihre Meinung heraus-
lesen, von den spanischen, holländischen und englischen Überseehandelsschiffen
des 16. Jhs., „listed by the same authority (= Sombart G. F.) as 600 to 800 tons“
und H. Sieveking hebt im Anschluß an Byrne ebenfalls ausdrücklich hervor, „daß
nach Sombart die Überseeschiffe des 16. Jhs. 6—800 t faßten“ 5. Die von Fitzler
gemachten Feststellungen über die Größe der von der Oldenburgschen Gesellschaft
für die kleine und große Fahrt verwendeten Schiffe bringen also nichts Neues. Sie
sind viel mehr lediglich eine abermalige Bestätigung bereits seit langem bekannter
und besonders von Sombart betonter Tatsachen. Ihr Kampf gegen diesen ist,
dabei bleibt es, ein Kampf gegen einen imaginären Gegner, „ein Stoß ins Leere“.
Entstehen konnte Fitzlers Meinung nur durch oberflächliches und unvoll-
ständiges Lesen und einen simplen Rechenfehler. Es ist nicht mehr als ein billiges
Fechterkunststückchen, wenn Pieris oben den SpieB umdreht und mir vorwerfen
will, ich sei es, der den an Fitzler gerügten Schnitzer begangen hätte. Fitzler bezieht
sich nicht, wie er sagt, auf die Durchschnittszahlen der von Baasch übernommenen
Tabelle, sondern, wie sich aus Text und Seitenangabe ergibt, ausdrücklich auf den
dieser Tabelle folgenden Absatz über den Raumgehalt der „größten Handelsschiffe“.
Bezóge sie sich auf die Tabelle, würde ihre Behauptung nur noch sinnloser. Dieses
Fehlers wegen war der für Hedwig Fitzler sicher etwas peinliche Hinweis auf Wal-
ther Vogels grundsätzlichen Exkurs über die Umrechnungen von Lasten in t nötig.
Jeder Fachgenosse wird ihn verstehen.
Es hütte nahegelegen, aus dem bedenklichen Lapsus, der Hedwig Fitzler in
dieser Frage unterlaufen ist, und aus einigen weiteren Oberflüchlichkeiten, die sich
in ihrem Buche finden, Schlüsse auf die Zuverlüssigkeit der Partien ihres Buches zu
ziehen, die sich nicht in gleicher Weise nachprüfen lassen. Ich habe das nicht getan
und tue es auch heute nicht. Ich sehe in ihrer mißglückten Polemik vielmehr nur
einen jener Fehler, ohne die nach einem Worte Treitschkes es nun einmal unmöglich
ist, einen historischen Aufsatz zu schreiben und lasse mir dadurch, wie ich es schon
am Ende meiner Besprechung betonte, die Freude am übrigen Inhalt ihres Buches
nicht verkümmern. Übergehen konnte ich bei gewissenhafter Erfüllung meines
Kritikeramtes ihre fehlgegangene Auseinandersetzung mit Sombart deshalb aber
nicht. Gewiß: Sombarts Werke sind für den Wirtschaftshistoriker nicht Bücher
von kanonischer Geltung. Kritik an ihnen ist möglich und nötig. Man wird Som-
barts Leistung damit nicht zu nahe treten. Sein Gesamtwerk ist von einer Art, die
auch Passivposten verträgt®. Voraussetzung einer solchen Kritik ist aber doch
zum mindesten, daß man ihn zunächst einmal gewissenhaft liest, dann richtig ver-
steht und schließlich seine Meinung zutreffend wiedergibt. Das hat Hedwig Fitzler
aber nicht getan. Was sie, die sich auch sonst gerne als Sombartkritikerin gefällt,
in unserem Falle bietet, ist vielmehr ein Schulbeispiel für jene „Detailkritik“ an
Sombarts Werk, deren „üble Manier“ Karl Diehl vor kurzem? mit Recht an den
Pranger gestellt hat. Eine scharfe Zurückweisung ihrer Ausführungen war daher
nicht zu umgehen. Ich habe daran kein Wort zu ündern.
Dresden. Georg Fischer.
* Genoese Shipping in the twelfth and thirteenth Centuries-, Monographs of the
Mediaeval Academy of America No.1, Cambridge, Massachusetts, 1930, 11. Vgl. dazu die
Besprechung von H. Sieveking in Ztschr. f. d. ges. Staatsw. 91, 1981, 166 ff und meine
Anzeige in Hist. Ztschr. 146, 1932, 159.
* 4.8. 0.107. Byrne hat auch die einzige Korrektur, die an Sombarts Ansicht
möglich war, vorgenommen; sie betrifft nicht die Schiffsgröße, sondern die Zeit des ersten
Vorkommens des 600 t-Typs.
* Schumpeter in Schmollers Jb. 51, 1927, 369.
* Schmollers Jb. 56, 1932, 867.
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ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT
UND FÜR
| LATEINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS 1
% - HERAUSGEGEBEN VON
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4 AUSGEGEBEN AM 10 FEBRUAR 1934 |
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HISTORISCHE VIERTELJAHRSCH x
Herausgegeben von Prof. D. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig. T
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, I
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Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen 2 zu je
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang AM 30.— u in id fü
das Heft . 7.50. Fr
Die Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters €: *
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig g
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philelo gische
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die < ellen. »
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fördern und zu festigen. E- A
Die Abteilung „Nachrichten und Notizen“ bringt Angaben übe
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Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgeschäfte wird von
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mittellateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Univers itt,
Bornerianum I) unterstützt wird. o ud
Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität,
Bornerianum I) zu richten. Té ^
Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift-
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne- l
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographiseher -
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, au
kleinere Werke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeits: ri
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch m ! |
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen. 2 hy
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673
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frank-
reich gegen Aragon.
Von
Walther Kienast.
Selten“ hat die kapetingische Monarchie so schlimme Tage
gesehen wie im Herbst des Jahres 1285. Mit dem stärksten
Heer, das Frankreich je aufgebracht, war Philipp III. in Aragon
eingefallen. Nun strömten die Trümmer der stolzen Macht zu-
rück, auf den von tagelangen Regengüssen zerweichten Pyrenäen-
straßen, von Seuchen furchtbar heimgesucht, von den Almo-
gavaren verfolgt und den sarazenischen Bogenschützen aus dem
Hinterhalt beschossen. Der Paßweg von Panisars war bedeckt
mit Leichen und Gepäck. Auf die Nachhut stürzte sich König
Pedro an der Spitze seiner Ritter, die Banner entfaltet, mit dem
Schlachtruf Aragon, Aragon! Nur ein Bruchteil der Franzosen
1 Dem folgenden Aufsatz liegt in umgestalteter Form das erste Kapitel einer
„Geschichte Philipps des Schönen von Frankreich“ zugrunde. Vgl. auch meinen
Aufsatz „Der franz. Staat im 13. Jahrh.“, in: Hist. Zs. 148 (1933), 457 —519.
Laufend sind zu vergleichen: Ch. V. Langlois, Le Règne de Philippe III.
le Hardi (1887), 138—166; J. Petit, Charles de Valois (1900), 1—23; Lecoy de
la Marche, Les relations pol. d. 1. France avec le roy. de Majorque I (1892), 182
bis 310. 338ff.; Amari, La guerra del vespro sic. (1886) J, 191—1I,? 248; M. Gai-
brois de Ballesteros, Hist. del reinado de Sancho IV. de Castilla I (1922), 210
bis 238. II (1928), 18f. 39—51. 137—165. 187f. 198—206. 212. 231—248; G. Dau-
met, Mém. sur les relations d. I. France et d. I. Castille de 1255 à 1320 (1913), 86
bis 114; Ch. dela Roncière, Hist. d. I. marine franç. I (1899), 189—210; besonders
L. Klüpfel, Die äußere Politik Alfonsos III. von Aragonien (Bln. 1911), und H. E.
Rohde, Der Kampf um Sizilien in den Jahren 1291—1302 [1295] (Berlin 1913).
Diese Werke werden im Folgenden nur noch in besonderen Füllen angeführt. —
Die Hauptquellen für den Krieg Philipps III. mit Aragon sind Bern. Desclot,
Crónica ed. J. Coroleu (Barcel. 1885), cap. 137—168, transl. by Critchlow (Prin-
ceton 1928), 223—380; Ram. Muntaner, Crónica ed. A. de Bofarull (Barcel.
1860), cap. 119—139, übs. von K. F. W. Lanz (Lpg. 1842), I, 253—307.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 43
674 Walther Kienast
sah die heimatliche Erde wieder. In einer Sánfte, schwer krank,
hatte Kónig Philipp den Rückzug mitgemacht. Am 5. Oktober
ist er in Perpignan gestorben. „Solange die Welt steht, wird
man in Frankreich nicht den Namen Katalonien aussprechen,
ohne dieses Unglücks zu gedenken.“ Mit diesen Worten schließt,
der katalanische Chronist seinen Bericht?.
Philipp III., „der Kühne“, hatte seinem Hause durch den
Feldzug eine neue Krone erwerben wollen. Als die „sizilische
Vesper'' die Franzosen von der Insel gefegt und das Joch Karls
von Anjou, Philipps Oheim, gebrochen hatte, als König Pedro,
der Gemahl einer Enkelin Friedrichs II., unter dem Jubel des
Volkes in Palermo einzog (1282), da hatte Papst Martin IV.,
durch und durch Franzose und eine Kreatur Karls, dem Ara-
gonesen sein Reich, das von der Kurie zu Lehen ging, entzogen
und es dem französischen König angetragen. Auf einer feier-
lichen Versammlung von Adel und Prälaten in Paris, in An-
wesenheit des Kardinallegaten Cholet, nahm Philipp die Krone
für seinen zweiten Sohn, Karl von Valois, an. Die Einsetzung
einer kapetingischen Nebenlinie, die einst in Süditalien so gut
gelungen war, sollte jetzt also in Aragonien wiederholt werden.
Gegen König Pedro, den Rebellen wider den römischen Stuhl,
wurde das Kreuz gepredigt; ein Kirchenzehnt auf mehrere Jahre
in ganz Frankreich und den angrenzenden Reichsdiözesen aus-
geschrieben; gewaltig rüstete die Monarchie zum Kriege“. Im
® Nach Desclot 361 cap. 167, transl. 366 hätte Roger Loria jenseits des
Passes gestanden und die Franzosen angegriffen. Auch nach Muntaner cap. 139,
übs. I, 304 hatte Roger Loria mit seinen Seeleuten den Paß vor Ankunft des feind-
lichen Heeres besetzt. Versteht man schon nicht, daß unter diesen Umständen der
Rückzug überhaupt möglich war, so wird die Nachricht widerlegt durch die Urkunde
bei Vaisséte, Hist. de Languedoc X (1885), pr.195 nr. 42 II. — Die im Text zitierte
Stelle bei Muntaner cap. 139 Ende, übs. I, 307.
* Auch eine Anzahl deutscher Landesherren, die mit Philipp befreundet oder
verwandt waren, nahmen an dem „Kreuzzug“ teil: Herzog Johann I. von Brabant,
sein Bruder Gottfried, Graf Gottfried II. von Vianden, Gerhard von Lützelburg
und Herr von Durbuy, Herr Rase von Gavre, Pfalzgraf Otto IV. von Burgund.
Jan van Heelu, Rijmkronijk betr. den slag van Woeringen, ed. Willems (Brüssel
1836), 98 v. 2573ff. 102 v. 2680ff. 434 nr. 60—62; Recueil des Hist. d. 1. France
[im folg. abgekürzt: Rec. J. XXII, 470B. 481L. 482 FH. 492E. 673—675. 674C;
A. Castan, Le siège de Besançon .. (Bes. 1869), 16. pièc. just. nr. 5. 7. 8. 10. 13. 19;
Cartulaire des Comtes de Bourgogne (Mém. et doc. .. dela Franche Comté VIII,
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 675
Mai 1285 begann der Einmarsch in Roussillon, das dem König
Jayme von Mallorca, Pedros feindlichem Bruder, gehörte. Die
Stadt Elne, die Aragon anhing, wurde gestürmt und völlig zer-
stört, die gesamte Einwohnerschaft, auch Frauen und Kinder,
auf Befehl des Legaten niedergemetzelt. In der ersten Juni-
hälfte überschritt das Heer die Pyrenäen auf einem schmalen
Fußpfad, den die Verteidiger zu sperren versäumt hatten. Der
Feind, zahlenmäßig sehr unterlegen, zog sich in voller Ordnung
zurück und beobachtete das weitere Vordringen der Franzosen.
Auf dem Schloß Lers krönte Cholet Karl von Valois zum König.
Ende Juni fing die Belagerung von Gerona an; sie dauerte
Monate, bei glühender Sommerhitze. Die Entscheidung des
Krieges führten die Katalanen, die damals die erste Seemacht
des westlichen Mittelmeers waren, auf dem Wasser herbei.
Roger Loria, Pedros großer Admiral, war aus Sizilien herbei-
geeilt und vernichtete die Kreuzflotte in einer großen Schlacht;
der französische Führer wurde gefangen. Damit war Philipp
der gesamte Nachschub abgeschnitten. Obwohl sich Gerona
endlich ergab, mußte wenige Tage später das französische Heer,
von Krankheiten schon stark gelichtet, den Rückzug antreten,
der zur Katastrophe wurde®.
Auch der Thronfolger, Philipps gleichnamiger Sohn und
älterer Bruder Karls, hat an dem Feldzug teilgenommen — als
Besançon 1908), 378 nr. 409. Vgl. A. Wauters, Le duc Jean I. et le Brabant (Brüssel
1862), 63; L. de Piépape, Hist. d. I. réunion d. l. Franche-Comté I (Paris
o. J.), 37.
5 Auf willkürlicher Verbindung verschiedener Quellenangaben beruht die Er-
zählung von Petit, Valois 9f., der Kardinal habe in Lers Karl mit seinem Hute
gekrönt, da eine Krone nicht zur Hand gewesen sei. Desclot cap. 155, transl. 297
(diese Stelle zitiert Petit nicht) sagt nur kurz, in Lers habe Cholet den Prinzen zum
König krónen lassen; nichts von einem Hute. Dagegen bei der Pariser Versammlung
von Febr. 1284 hat der Legat Karln mit seinem „capell burgueren y“ investiert,
Desclot262 cap.136. Was, burguereny' bedeutet, habe ich nicht sicher feststellen
konnen, auch Erkundigungen bei katalanischen Romanisten durch freundliche Be-
mühung der ‚Deutschen Wissenschaftlichen Vermittlungsstelle" in Barcelona
blieben erfolglos. Doch meint ‚capell’ zweifellos den Kardinalshut; die Wiedergabe
transl. 219 mit „Burgundian helmet" ist falsch. (Vgl. Labernia, Diccionari
de la lengua Catalana, Barcelona 1864, 300 s. v. Capelo). Diese Stelle führt Petit
zu seiner Geschichte von der Hutkrónung in Lers allein an (neben der ausdrücklich
abgelehnten Nachricht Muntaners cap. 103, übs. I, 211 von seiner Krönung durch
den Papst in Rom).
43*
676 Walther Kienast
Gegner des ganzen Unternehmens“. Seinen Bruder, dem hier
der Legat mit dem Kardinalshut sein neues Reich übertrug,
soll er als „König Hut“ verhöhnt haben“. Während der Kämpfe
vor Gerona stand der französische Thronfolger mit Pedro in
geheimem Briefwechsel. Das verräterische Schriftstück, ein
Brief Pedros, ist noch heute erhalten®. Als dann der Rückzug
notwendig wurde, versprach, so wird erzählt, der Aragonier dem
Prinzen auf seine Bitte, die Paßstraße nicht zu sperren; doch
könne er seine leichten Truppen nicht vom Angriff zurückhalten.
In der Tat verlegte er den Franzosen den Weg nicht und be-
genügte sich mit einem Angriff auf die Nachhut?. Mochte Philipp
schon aus Liebe zu seiner verstorbenen Mutter, Pedros Schwe-
ster, mit seinen Gefühlen auf Seiten des Oheims, des berühmten
Kriegshelden stehen — bewußt oder unbewußt lehnte er damit
ein Unternehmen ab, das weniger den Interessen Frankreichs
diente als denen Neapels und der Kurie. Philipps Stellung wirkt
wie ein Leitmotiv für seine künftige Regierung!?.
In Narbonne hielt Philipp dem Vater eine Leichenfeier;
langsam zog er von dort durch Languedoc, Auvergne, Bour-
bonnais nordwärts nach ParisH. Hier wurde der Leib des toten
* Nach J. de Hocsem, Chronique ed. G. Kurth (Brüssel 1927), 69 Z. 10
würe auch Karl von Valois Gegner des Krieges gewesen, sicher unzutreffend. — Als
Philipp III. bereits mit den GroDen der Languedoc letzte Abreden traf, ja von
Navarra aus schon einen Einfall in feindliches Gebiet machen lieB, erhielt der Thron-
folger noch von Pedro ein in herzlichstem Ton gehaltenes Schreiben, 1283 Nov. 16:
J. Carini, Gli archivi ele bibl. di Spagna .. II (Palermo 1884), 51. Vgl. Langlois,
Phil. 146; Petit, Valois 7. Auf dem großen Pariser Hoftag soll der Erbprinz vor
dem Kriege mit Aragon gewarnt und Pedro, den Abgesetzten, zum Arger des
Legaten „König“ genannt haben, Desclot 258f. cap. 136, transl. 214f.
7 Muntaner cap. 108, „rey del xapeu“, was nach Bofarulls Anm. zur Stelle
„Hutkönig“ bedeutet; von Lanz I, 212 u. ö. als Windkönig übersetzt.
* Pedro an Kronprinz Philipp, 1285 Aug.: Petit, Valois 371 nr. 1; Carini
59 (mit Aug. 5).
® Desclot 357 cap. 167, transl. 361f.; Muntaner cap. 138, übs. I, 301ff.
Die Richtigkeit der Nachricht sucht zu widerlegen Molinier bei Vaisséte In. 3]
IX, 113 n. 3. Moliniers Gründe reichen nicht aus, die Angaben zu verwerfen, doch
bleiben hier, wie so oft, wenn eine Nachricht nur von den beiden spanischen Chro-
nisten überliefert wird, Zweifel.
10 K. Wenck, Philipp d. Sch. .. (Marburg 1905), 41f. betont ausschließlich
die persönlichen Beweggründe bei Philipp. Über Pedros Persönlichkeit vgl. O.
Cartellieri, Peter von Aragon (Heidelbg. 1904), 30ff.
11 Rec. XXII, S. XL; Harduin, Acta Concil. VII (1714), 1063f.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 677
Kónigs in der Erbgruft der Kapetinger zu St. Denis begraben,
aber ohne das Herz, das Philipp auf Bitten seines dominika-
nischen Beichtvaters den Predigerbrüdern in Paris überließ.
Darob große Zwietracht zwischen den Prädikanten und den
Mönchen von St. Denis. Die Magister der Theologie von der
Pariser Universität veranstalteten Streitgespräche und bewiesen
klärlich das Recht der Abtei. Die Prälaten und Barone, der
Legat selbst wurden bei dem jungen Herrscher vorstellig: der
letzte Wille seines Vorgängers werde mißachtet, dem uralt-ehr-
würdigen Kloster seines Hauses geschehe schweres Präjudiz.
Doch alles umsonst — der König bestand fest auf seinem Willen.
Ein kleiner Zug, belanglos als Begebenheit, aber bezeichnend
für Philipps Sinnesweise!?,
Zu Epiphanias 1286 wurde er als der Vierte seines Namens,
zusammen mit seiner Gemahlin Johanna von Champagne-
Navarra, in der Kathedrale von Reims gekrónt!?. Als Philipp
die Krone empfing, zählte er erst 18 Jahre, Johanna erst 13.
Bereits vor zwei Jahren in noch überaus jugendlichem Alter, wie
so häufig in jenen Zeiten, war das Paar vermählt worden!“. Der
König war ein Jüngling von hohem Wuchs und starkem Knochen-
bau. Das bleiche, regelmäßige Gesicht, aus dem blaue Augen
kalt und klar blickten, umrahmte langes Lockenhaar. Die Jagd,
die er leidenschaftlich liebte, hatte seinen Körper gestählt; er
verfügte über ungewöhnliche Kräfte: zwei Ritter, auf deren
Schultern er sich stützte, konnte er zu Boden beugen. Die Zeit-
genossen gaben ihm den Beinamen des Schönen",
2 Guill. de Nangis, Chronique lat. ed. H. Géraud (1843) I, 266 und Gesta
Phil. in Rec. XX, 538. 539. | |
13 Nang is, Chron. I, 267. Kosten der Feier: 23. 160 lib. 72 s. 1d. par., L. De-
lisle, Mém. sur les opérations financiers des Templiers (Acad. Inscript. et Belles
Lettres, Mém. XXXIII, 2, 1889), 52f. 55.
M Philipp war 1268 (Nangis, Chron. I, 233 und Gesta Lud. in Rec. XX,
428C), die Königin 1273 geboren, Arbois de Jubainville, Hist. .. de Champagne
VI (1866), 102 nr. 3856; vgl. auch Wenck, Philipp 44. Die Hochzeit fand 1284
Aug. 16 statt, Nangis, Chron. I, 262.
15 Les Gestes des Chiprois publ. par G. Raynaud (Genf 1887), 313 (Templier
de Tyr.); Anon. reg. Franc. Chron. in Rec. XXII, 17F; Aegid. li Muisis im
Corpus chron. Flandr. ed. J. de Smet II (1841), 184. 200; Nic. Triveti Annales
ed. Th. Hog (Lond. 1845), 311; Giov. Villani, Cronica, ed. Moutier et Dragomanni
(Florenz 1844), IT, 187 nennt ihn den schönsten Mann der Christenheit. Ein Porträt,
678 Walther Kienast
Währenddessen standen an der aragonischen Grenze schwache
französische Streitkräfte unter dem Befehl des Königs von
Mallorca. Philipp stellte ihm genügend Geldmittel zur Ver-
fügung, um den Feind abzuwehren und zu beschäftigen, zu
wenig, um den Angriff in größerem Maßstab wieder aufzunehmen.
Auch als Roger Loria eine Reihe von Küstenstädten der Lan-
guedoc bis nach Aigues-Mortes niederbrannte und ausplünderte,
ließ er sich nicht zu einem neuen Einfall nach Aragon fort-
reißen!®. Sein Vater habe ihm sterbend, so erzählt ein Chronist,
den Eid abgenommen, er werde seinem Bruder die Krone Ara-
gons erkämpfen“. Hat Philipp diesen Schwur wirklich geleistet,
so betrachtete er sich an ihn nicht gebunden; er dachte nicht
an ernsthafte Fortsetzung des Krieges. Aber er schloß auch
nicht Frieden; das verbot nach dieser Niederlage schon die
Ehre Frankreichs. Er hielt die Ansprüche Karls von Valois
auf das Nachbarland aufrecht, willens, sie möglichst teuer zu
verkaufen. Die diplomatische Lage begünstigte solche Ab-
sichten.
Die sizilische Vesper, ein Ereignis von weltgeschichtlicher
Tragweite, hatte die Verhältnisse ganz Süd- und Westeuropas
erschüttert. Gewaltig hatte Karl von Anjou, der päpstliche
Lehnskönig von Neapel und Sizilien, nach Ost und West aus-
gegriffen. Er erwarb die Würde eines Königs von Jerusalem.
Er erneuerte die alten normannischen Pläne auf Byzanz, wo
nach dem Sturze des lateinischen Kaisertums die Paläologen
residierten. Schon reichte sein Arm über die Adria: er hatte die
Lehnshoheit über das fränkische Fürstentum Achaja erworben
und seine Verwaltung in eigene Hand genommen, hatte Korfu
besetzt und das Königreich Albanien und Epirus gewonnen.
Der König der Serben, der Zar der Bulgaren waren seine Ver-
bündeten. Ein Vertrag mit Venedig war geschlossen, 1283 sollte
sich das Heer in Brindisi sanımeln, zur Verschiffung nach Kon-
stantinopel. Das Reich der Romäer schien dem Untergang ge-
das auf Ähnlichkeit Anspruch erheben könnte, ist von Philipp IV. nicht erhalten,
vgl. Ch. Maumené et L.d’Harcourt, Iconographie des rois de France I (1929), 271.
1* Chron. Gir. de Fracheto in Rec. XXI, 7E; Lecoy I, 284 n. 1; Muntaner
cap. 152, übs. II, öff.
17 Chron. Frachet. 7C. Das Gegenteil behauptet Muntaner cap. 138, übs.
I, 302.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 679
weiht!®. Und ebenso drohte eine bedeutende Erweiterung des
angiovinischen Machtbereiches im Nordwesten. Vor Jahrzehnten
war einst Karl durch Heirat Graf der Provence geworden, von
dort aus hatte er später, wenn auch unter erheblichen Rück-
schlägen, seine Herrschaft in die westliche Lombardei aus-
gedehnt. Er war das natürliche Haupt aller Welfen der Halb-
insel. Sein Enkel Karl Martell sollte jetzt mit Clementia, der
Tochter Rudolfs von Habsburg vermählt werden und mit ihrer
Hand das Königreich Arelat erhalten. Unter dem Druck der
Kurie mußte Rudolf auf diese südburgundischen Gebiete, in
denen die Reichsgewalt nur noch ein Schattendasein fristete,
Verzicht leisten. Schon ankerten Karls Schiffe auf der Rhöne,
um das Land in Besitz zu nehmen”.
Vor dem Blitzstrahl der sizilischen Vesper zergingen die
arelatischen wie die byzantischen Entwürfe in nichts. Die spon-
tane Erhebung der Sizilianer führte König Pedro von Aragon
auf den Thron der Insel. Schon früher hatte Pedro, der mit dem
schismatischen Kaiser von Ostrom gegen Karl ein Bündnis
eingegangen war, als Gemahl der staufischen Konstanze Erb-
ansprüche erhoben. Zu den dynastischen Interessen kamen
wirtschaftliche. Dem katalanischen Handel, den die Sizilianer
durch mannigfache Privilegien förderten, eröffneten sich durch
die Eroberung der Insel glänzende Aussichten. Den Katalanen
galt der Kampf um Sizilien als wahrer Volkskrieg, ihre Flotte
schlug unter Führung Roger Lorias die neapolitanische in zahl-
reichen Schlachten. Anders in dem binnenländischen Teil des
Staates, dem eigentlichen Aragon. Hier sah man in dem sizi-
lischen Unternehmen lediglich eine persönliche Angelegenheit
des fremden Königshauses von Barcelona, die ohne den Rat
der Großen unternommen worden war. Die Stände schlossen
sich gegen den König zu einer Union zusammen, trotzten ihm
18 W. Norden, Papsttum und Byzanz (Bln. 1903), 440ff. 467 ff. 474ff. 592ff.
621ff.; O. Cartellieri 69ff. 133ff.
19 Vom Arelat sollten jedoch die Hochstifter Bisunz und Lausanne, sowie die
Grafschaft Burgund abgetrennt werden und nicht mit zur Mitgift Clementias ge-
hóren. G. M. Monti, La dominazione angioina in Piemonte (Turin 1930), cap.
1—4; O. Redlich, Rud. v. Habsburg (Innsb. 1903), 396ff. 595ff.; P. Fournier,
Le royaume d'Arles (1891), 231ff.; R. Grieser, Das Arelat in der europ. Politik
(Jena 1925), 31f.; A. Demski, Nikolaus III. (Münster 1903), 150ff.; F. Kern,
Ausw. Politik Rudolfs von Habsbg., in MóJG. XXXI (1910), 61ff.
680 Walther Kienast
das große Generalprivileg ihrer Freiheiten ab, ja sie knüpften
mit dem Feinde an. Das Land, von Parteikámpfen zerrissen, litt
schwer unter dem jahrelangen Krieg und dem Interdikt“.
Die inneren Schwierigkeiten Aragoniens bildeten ein wich-
tiges Druckmittel für die zähe und tatkräftige französische Po-
litik. Die Hauptakteure waren von der Bühne abgetreten:
Karl I. starb bereits Anfang 1285, tief verdüstert, daß sein
Lebenswerk halb zerstört und sein gleichnamiger Sohn und
Nachfolger, der Fürst von Salerno, von Roger Loria gefangen
genommen war. Karl I. trug am Tode seines Neffen Philipp
ebenso die Schuld, wie er einst seinen Bruder Ludwig den Hei-
ligen ins Grab gebracht hatte, als er ihn der Mittelmeerpolitik
Neapels zuliebe in den Krieg gegen Tunis zog®!. Auch Martin IV.
hatte den Beginn des Feldzuges nicht mehr gesehen. König
Pedro endlich überlebte seinen geschlagenen Feind Philipp III.
nur um einige Wochen; seine Sóhne Alfons III. und Jayme
folgten ihm in der Regierung Aragons und Siziliens. Die Herr-
scher hatten gewechselt, aber die übermächtige Koalition gegen
Aragon hielt zusammen. Doch statt des Kampfes mit den Waffen
hob nun ein diplomatisches Ringen an. Wir führen im Folgenden
die äußerst langwierigen und verwickelten Verhandlungen nicht
im einzelnen vor, sondern begnügen uns mit den Hauptlinien
und Wendepunkten.
Philipps Bestreben mußte darauf gerichtet sein, weitere
Bundesgenossen zu gewinnen und den Gegner noch mehr zu
vereinzeln.
Von dem englischen Vermittlungsversuch, der im Sommer
1286 einsetzte, konnte er Vorteile nach dieser Richtung nicht
erwarten. Den äußeren Anlaß für das Eingreifen König Ed wards I.
bot die Bitte der Söhne Karls von Salerno, sich um die Befrei-
Neben dem Buch von O. Cartellieri [n. 10] vgl. R. Sternfeld, Der Vertrag
zwischen . . Michael VIII. und Peter v. Aragon 1281, in Arch. f. Urkf. VI (1918);
W. Heyd, Hist. du commerce du Levant, éd. franç. par F. Raynaud (Lpz. 1885),
I, 475; Klüpfel, Alf. 20. 83. Anh. I; Ders., Verwaltungsgeschichte .. Aragons
(Stuttg. 1915), 192ff.; A. de Bofarull, Hist. crit. de Catalufia III (Barcel. 1876),
552f.
31 Über Karl von Anjou und Ludwigs IX. 9. Kreuzzug urteilt Sternfeld anders.
Nähere Literaturangaben W. Kienast, Die Deutschen Fürsten im Dienste der
Westmächte, II, 1 (München 1931), 219 n. 5.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schónen von Frankreich gegen Aragon 681
ung ihres Vaters zu bemühen*?, Edward sagte gern seine Hilfe
zu. Karl war sein persónlicher Freund, und noch mehr: ein
baldiger FriedensschluB lag durchaus im eigenen Interesse des
Plantagenet. Denn die Sicherheit der englischen Besitzungen
in Südfrankreich heischte gebieterisch, Aragon vor einer Nieder-
lage zu bewahren, welche die Machtstellung der Kapetinger in
der Languedoc unerträglich verstärkt hätte. Um den Druck
Frankreichs von Guyenne abzulenken, hatte Edward auf die
verschiedenste Weise versucht, die Monarchie von Süden und
Osten zu umklammern. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte er
eine Vermählung seiner Tochter Eleonore mit Alfons von Aragon,
dem jetzigen König, in die Wege geleitet. Sie war durch Pro-
kuration vollzogen worden, doch befand sich die Braut noch
in England“. Zur selben Zeit verlobte er seinen Sohn mit Jo-
hanna, der Erbtochter des Grafen von Champagne und Königs
von Navarra. Durch die Heirat wäre das angevinische Reich,
in neuer Form, wieder aufgerichtet, wären vielleicht die Ge-
schicke Frankreichs in andere Bahnen gelenkt worden. Doch der
Bräutigam starb bald darauf. Johanna wurde zur Gemahlin
Philipps des Schönen bestimmt; ihr gewaltiges Erbgut fiel an
die Monarchie, nicht an den Staat der Plantagenets ?“. Immerhin
hatte bis vor kurzem, Anfang 1284, Edwards Bruder als zweiter
Gemahl von Johannas Mutter die Champagne verwaltet; zu
diesem Zeitpunkt, als die Erbin volljährig wurde, fand die vor-
mundschaftliche Regierung ihr Ende?5*. — Und ähnlich weiter
südwärts. In dem Königreich Burgund, den Landen zwischen
Rhöne, Meer und Alpen, bestanden jahrhundertealte englische
Interessen. Während der Gefangenschaft Richard Löwenherzens
tauchte vorübergehend der Plan auf, ihn mit dem Arelat zu
belehnen?$, Mit Savoyen knüpfte bereits Heinrich II. eine Ver-
33 1286 Mai 2: Rymer, Foedera [im folg. cit. nach der Record-Edition, London
1816] I, 2, 664. 1283 Jan. 12 hatte Edward jede Unterstützung Aragons abgelehnt,
ebd. 625. Siehe auch Klüpfel, Alf. 22.
33 Swift in EHR.V (1890), 326ff.; Kern, Eduard I. und Peter, in MöJG.
XXX (1909), 412. 415ff.; Langlois, Phil. 73.
** Langlois ebd.; Arbois [n. 14] IV, 1, 440f.; Ramsay, Dawn of the Consti-
tution (Lond. 1908), 352.
3$ W. E. Rhodes, Edmund Earl of Lancaster, in EH R. X (1895), 214. 216. 224;
Arbois IV, 1, 446. 4521.
3€ A. L. Poole, England and Burgundy in the last decade of the 12th century,
in: Essays in history pres. to R. L. Poole (Oxf. 1927), 261—273.
689 Walther Kienast
bindung an, die sein Enkel sorgfältig pflegte und durch die
Heirat mit einer Tochter des Grafen von Provence ergänzte?”.
Noch festeren Fuß suchte Edward zu fassen durch die Ver-
lobung einer seiner Töchter mit Hartmann, dem zweiten Sohne
Rudolfs von Habsburg. Das alte Königreich Arelat sollte wieder-
hergestellt und der Prinz damit vom Reiche belehnt werden.
Doch auch diese Pläne scheiterten: die Kurie führte die Ver-
bindung des Habsburgers mit dem Anjou herbei. Ebenso zeigt
Edwards Beteiligung an der „Liga von Mäcon‘ wie sehr er
nach Einfluß in den burgundischen Landen strebte: Er ver-
pflichtete sich seiner Muhme Margarete, der greisen aber noch
recht tatkräftigen Witwe des heiligen Ludwig, zur Waffenhilfe,
als sie ihre Erbansprüche auf die Provence gegen Karl von
Anjou mit dem Schwerte verfechten wollte und eine Liga ins
Leben rief, bestehend aus zahlreichen burgundischen Landes-
herren und Edwards Bruder, dem Verwalter der Champagne.
Schon hatte Margarete die Streitkräfte aufgeboten, als auch
hier die sizilische Vesper einen Umschwung herbeiführte. Die
Verbündeten der Königin brauchten nun eine angiovinische
Herrschaft im Arelat nicht mehr zu fürchten und verloren da-
mit das Interesse an dem Bunde. — Höchst unangenehm
mußte es in Paris berühren, daß Edward durch seine Gemahlin,
Eleonore von Kastilien, die zwischen Flandern und der Nor-
mandie gelegene Grafschaft Ponthieu erbte und damit einen
wertvollen Stützpunkt an der nordfranzösischen Küste gewann“.
Hält man sich diese gefährliche Betriebsamkeit der englischen
Politik an den Grenzen der Monarchie vor Augen, so nimmt es
nicht Wunder, daß die Mittlerrolle Edwards, der im Mai 1286
selbst auf das Festland gekommen war“, um Philipp dem Schönen
für seine Lehen zu huldigen?!, in Frankreich mit tiefem Miß-
trauen betrachtet wurde. Zwar ließ sich Philipp zu einem Waffen-
7 Kienast I, 78ff.; II, 1, 81ff. 101ff. 118ff. 1408. 158ff.
38 Redlich [n. 19] 410 ff. 594ff.; Fournier, Arl. 230f. 250ff.; Gries er 291f.;
F. Kern, Die Anfänge der frz. Ausdehnungspolitik (Tüb. 1910), 92f.; Dems ki
[n. 19] 142ff. Die Liga bestand aus dem Herzog und dem Pfalzgrafen von Burgund,
den Grafen von Savoyen und Piemont, dem Erzbischof von Lyon und dem Bischof
von Langres, und einigen kleineren burgundischen Herren.
3 Johnstone, County of Ponthieu, EHR. XXIX (1914), 435ff.
% Calendar of the Close Rolls, Edward I. II, 396.
31 1286 Aug.: J. Dumont, Corps univ. dipl. I, 1 (1726), 264 nr. 496.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 683
stillstand herbei, aber er verfolgte argwóhnisch die aragonisch-
neapolitanischen Verhandlungen, die Edward leitete??. Sie
stießen auf den Widerspruch der Kurie. Der neue Papst Nico-
laus IV., kaum gewählt, erklärte das Abkommen für nichtig®®,
das Edward in Oléron zwischen diesem und Karl von Salerno
zustande brachte (Juli 1287) und welches gegen große Pfänder
die Freilassung des Gefangenen vorsah**.
Nach der Aufhebung des Vertrages begann Frankreich um
die Jahreswende 1287—1288 wieder den offenen Krieg. Philipp
ließ bekanntmachen, der Waffenstillstand sei aufgehoben. Er
verbot jeden Handel mit dem Feinde, befahl, die aragonischen
und katalanischen Kaufleute einzusperren und ihre Güter zu
beschlagnahmen. Geräuschvoll rüstete er zum Krieg. In der
Seneschallei Carcassone wurden die ritterlichen Vasallen auf-
geboten, die Burgen in Stand gesetzt, ein Küstenschutz ein-
gerichtet. Der König von Mallorca erhielt Hilfe von Kron-
beamten bei Anwerbung von Söldnern; die königlichen Zeug-
häuser lieferten ihm Waffen. Eine Flotte wurde in Marseille
ausgerüstet. Jenseits der Grenze fürchtete man einen neuen
französischen Einfall. Man wollte wissen, Karl von Valois werde
binnen kurzem die Pyrenàen überschreiten. Doch der ganze
Kriegslárm gebar nur eine Maus: Der Kónig von Mallorca legte
sich vor eine katalanische Grenzfeste und wurde von Alfons
bald zum Abzug gezwungen®®. Dachte Philipp tatsächlich an
einen neuen großen Feldzug? Alles deutet darauf hin, daB die
plótzlich erwachte Kampflust nur gespielt war, um den Papst
zu täuschen. Der Zehnt, den einst Martin IV. auf vier Jahre
Philipp III. bewilligt hatte, war abgelaufen?**. Der französische
? Nangis, Chron. In. 12] I, 268. Philipp IV. verfolgte die Verhandlungen
aufmerksam; seine Gesandten Peter von Mornay und Johann von Akkon suchten
den englischen Kónig in Bordeaux auf, Delisle, Temp. [n. 13] 141 nr. 113. 151.
* 1288 März 15: Reg. Nicol. In. 39] nr. 560—565. Bereits das Kardinalskolleg
hatte wührend der Sedisvakanz den Vertrag verworfen, ebd. nr. 107. Es wurde über
die näheren Bedingungen der Freilassung verspätet unterrichtet, Ry mer I, 2, 679;
Raynaldus, Ann. eccl. (Bar-le-Duc) XXIII, 27 ad 1288 § 12.
** Vertrag betr. Karl, 1287 Juli 25: Rymer I, 2, 677.
* Vaisséte In. 8] X, pr. 207. 229 nr. 51. 57; IX, 132f.; J. Régné, Amauri 11
vicomte de Narbonne (Narb. 1910), 40 nr. 36; Klüpfel, Alf. 49 n. 2; Petit, Valois
15 n. 7; A. Baudouin, Lettres inéd. de Philippe le Bel (1887), 208 nr. 182, 2.
* Rec. XXI, 524; Rob. Mignon, Invent. d'anc. comptes roy., ed. Ch. V.
Langlois (Rec. Hist. de France. doc. financ. I, 1899), 93 nr. 639; L. Bourgain,
684 Walther Kienast
Kónig schickte eine Gesandtschaft nach Rieti, die Nicolaus
um Verlängerung des Zehnten für den Krieg gegen Aragon
bitten, sowie dafür wirken sollte, daß Alfons keinen Dispeus
für seine englische Ehe erhielt*?, die er in Oléron von neuem
mit Edward verabredet hatte“. Der Papst wollte die Unter-
werfung Siziliens wie seine Vorgànger. So willfahrte er, obschon
zógernd und zaudernd. Er verlieh Philipp im September 1288
den Zehnten der französischen Kirche erst auf zwei“, dann,
nachdem die Gesandten etliche Kardinäle, wohl mit metallischem
Händedruck, umgestimmt hatten, auf drei Jahre“. Der Papst
bedang sich ein Viertel des Gesamtertrages, 200000 Pfd. Tur-
nosen, als seinen Anteil aus. Aber auch so war das Geschäft
für Philipp noch glänzend. Es wurde ein Goldstrom von jähr-
lich rund 190000 Pfd. Tur. in die kóniglichen Kassen gelenkt —
vorausgesetzt freilich, daB nicht ein unzeitiger FriedensschluB
dazwischen kam“!. In diesem Falle sollten, das war ausdrück-
Contribution du clergé à l'impót, in Rev. Quest. hist. 48 (1890), 66 nach ungedr.
Urkunde. Ausschreiben an Reichsbistümer, 1284 Mai 5: F. Kaltenbrunner, Akten-
stücke zur Gesch. d. dtsch. Reiches (Wien 1889), 293 nr. 262; A. Gottlob, Die
päpstl. Kreuzzugssteuern im 13. Jahrh. (Heiligst. 1892), 129; M. A mari, Storia
dei Musulmani di Sic. II, 113.
7 Klüpfel, Alf. 86 n. 2; Petit, Valois 14 n. 7. Schon 1286 Juni 17 hatte
Honorius IV. die aragonische Heirat Edward ausdrücklich verboten, Rymer l.
2, 666; ob auf Philipps Wunsch, ist unbekannt und anzunehmen unnótig.
35 1287 Juli 28: Rymer I, 2, 678.
® Zweijährig und nur in Frankreich, 1288 Sept. 11: Registres de Nicolas IV.
ed. E. Langlois (1886ff.), nr. 613.
40 1288 Sept. 25: für Frankreich und die Kirchenprovinzen Bisunz, Lyon,
Vienne, Tarentaise und den nicht zur Provence gehórigen Teil von Embrun, sowie
für die Sprengel von Lüttich, Metz, Tull und Verdun: ebd. nr. 615. Erster Zahlungs-
termin sollte 1289 Juni 24 sein. Siehe auch Mignon [n. 36] 95 nr. 669; St. Baluze,
Vitae paparum Avenion., ed. G. Mollat (1914—28) III, 6 nr. 4 (Alte Ausg.: II, 10).
1289 Mai 31 und Juni 28 legte der Papst auf Philipps Bitten statt den Provinzen
Embrun und Tarentaise der Diózese Kamrik den Zehnten auf, ebd. nr. 1004—5;
E. Boutaric, Doc. inéd. .. sous Phil.-le-Bel (Notices et Extraits des mscr. d. l.
Bibl. imp. XX, 2, 1862), 91 nr. 1. Siehe ferner Reg. Nicol. IV. nr. 991ff. 1006ff.
Vgl. A. Baumhauer, Phil. d. Sch. u. Bonifaz VIII. in ihrer Stellung zur frz. Kirche
(Phil. Diss. Freibg. i. Br. 1920), 35; O. Schiff, Stud. z. Gesch. Nikolaus IV. (Bln.
1897), 22.
4 Zehntertrag (1289—1291): 793. 192 lib. tur., einschließlich der Reichs-
diózesen. Nach Abzug der Zahlung an Rom und der 23. 353 lib. Erhebungskosten
bleibt ein Reingewinn für Frankreich von rund 570.000 lib. tur., Rec. XXI, 556
n. 5; Gottlob [n. 36] 132.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 685
lich ausgemacht, die Zehnten sogleich aufhóren. MuBte sich
nicht bei solchem Himmelslohn der „Rex christianissimus‘‘*?
dem gottgefälligen Werk des Ketzerkrieges mit frommer Aus-
dauer widmen?
Für die Zehnten, die er einstrich, zog Philipp zwar nicht das
Schwert, aber er erweckte Alfons einen neuen gefährlichen
Feind: Kastilien. Noch immer lasteten auf König Sancho von
Kastilien die Thronansprüche der Cerdas, der Nachkommen
seines vor ihm verstorbenen älteren Bruders, der mit einer
französischen Prinzessin vermählt gewesen war. Dazu kam,
er lebte in kirchlich ungültiger Ehe, und Philipp bearbeitete
die Kurie nach Kräften, Sancho nicht den ersehnten Dispens zu
erteilen. Noch die letzte französische Gesandtschaft, deren
Hauptgeschäft der Zehnte war, bat den Papst, er möge Sancho
nicht König betiteln und seine Ehe nicht legitimieren“®. Philipp
wollte, wie die Instruktion der Gesandten deutlich durchblicken
ließ, mit diesem Druckmittel die bereits eingeleiteten Verhand-
lungen mit Kastilien fördern. Im Juli 1288 haben in Lyon die
Unterhändler beider Mächte den Vertrag besiegelt. Ein Kriegs-
bündnis gegen Aragon wurde abgeschlossen. Der französische
König versprach, nun umgekehrt, den Papst um Anerkennung
von Sanchos Ehe zu bitten und ließ die Cerdas fallen. Sie sollten
mit Murcia, das noch nicht lange den Mauren entrissen war,
als selbständigem Königreich entschädigt werden. Als die Cerdas
das ausschlugen und als Verbündete des Aragoniers zu offenem
Kampfe gegen Sancho fortschritten, gab Philipp ihre Ansprüche
gänzlich preis“.
Durch den Anschluß Kastiliens an die feindliche Koalition
bedrängt, kam König Alfons dem Wunsche Edwards nach, der
als eifriger Vermittler dauernd persönlich mitwirkte, und ließ
Anfang November 1288 den kerkermüden Fürsten von Salerno,
der dafür seine jüngeren Söhne als Geiseln überlieferte, unter
der Bedingung frei, daß er entweder einen Frieden herbeiführte,
*3 Der Titel „Rex christianissimus“ wurde auch auf andere Könige angewendet,
erst am Hofe Karls V. entstand die Idee, ihn für Frankreich vorzubehalten, vgl.
N. Valois, Le roi trés chrétien, in: La France chrétienne dans l'hist., publ. p.
Baudrillart (Paris 1896), 317—330.
Klüpfel, Alf. 93 n. 2.
1288 Juli 13: Daumet 184 nr. 19.
686 Walther Kienast
der Sizilien bei Aragon ließ, oder in die Gefangenschaft zurück-
kehrte**. Die Maßnahme erwies sich als völliger Fehlschlag“.
Denn weder erreichte Karl, der sich nach Paris begab, die Zu-
stimmung seines Vetters, noch bewogen Edwards Mahnungen
an den Papst“, er möge um des Heiligen Landes und der Not-
wendigkeit eines Kreuzzuges willen dem Blutvergiefen unter
den christlichen Vólkern endlich Einhalt gebieten, diesen dazu,
Sizilien den Ketzern zu überlassen. Vielmehr versagte Nicolaus
dem Plantagenet den Dispens für die aragonische Heirat“,
krónte Karl zum Kónig von Sizilien (Mai 1289) und schrieb,
um die Sizilianer zu züchtigen, einen dreijährigen Zehnt“ in
ganz Italien und der Provence aus. Karl aber unterwarf sich
dem unbeirrbaren Kriegswillen der Kurie. Der Akt des Dramas,
in dem der Plantagenet die Führung an sich zu reiBen gesucht
hatte, war damit zu Ende. Sein Abschlu8 wird durch die Rück-
kehr Edwards nach England (August 1289) auch äußerlich
gekennzeichnet“.
So blieben Aragon und Sizilien dem lastenden Druck einer
gewaltig überlegenen Koalition weiter ausgesetzt; von keinem
Gliede der christlichen Staatenwelt durften sie noch wirksamen
Beistand erwarten. In dieser Lage richtete Alfons seine Blicke
auf das Morgenland. Die Vormacht des Islam war damals Agyp-
ten. Der große Mameluckensultan Kalaün gebot von der ly-
bischen Wüste bis zum Taurus und Euphrat, die wenigen
“ Canfranc, 1288 Okt. 28: Rymer I, 2, 687f.; Schiff In. 40] 24f. Während
der Verhandlungen um Karls Freilassung reisten in die Provence arag. Gesandte ab,
welche die Bürgen und Pfünder in Empfang nehmen sollten, aber Philipp verweigerte
den Geiseln das Geleit und brachte das Geschäft der Bevollmächtigten damit zum
Scheitern: Alfons an Jayme von Sizilien, 1288 Juni 1, G. La Mantia, Cod. dpl.
dei ré Aragonesi di Sicilia I (1917), 421 nr. 181. Instruktion arag. Gesandter an
Edward, 1288 Juni 17: Klüpfel, Alf. nr. 6 S. 154.
Klüpfel, Alf. vgl. zu diesem Absatz Schiff 25ff.
@ 1289 Mai 8: Rymer I, 2, 708f.; Barth. de Neocastro, Hist. Sicula, ed.
G. Paladino (Rer. Ital. SS. XIII, 3, 1922), 110f.
48 Reg. Nicol. IV. nr. 1005.
4 1289 Juni 20: ebd. nr. 1142—1152. Den Vertrag von Canfranc hob Nicolaus
auf, 1289 Sept. 12: ebd. nr. 1389.
99 Aug. 12: Rymer I, 2, 711. Als 1290 Febr. 3—13 in Perpignan auf englische
Einladung eine Gesandtentagung stattfand, um gewisse Schadenersatzansprüche
zu prüfen, da war die Vollmacht der Franzosen so zweideutig abgefaßt, daß die
Konferenz noch vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen aufflog: eb d. 726—729.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schónen von Frankreich gegen Aragon 687
Christenstädte in Syrien ausgenommen; er übte die Oberherr-
schaft über die heiligen Stätten in Mekka und Medina; der
Khalif, das oberste religiöse Haupt der Gläubigen, der seit der
Eroberung Bagdads durch die Mongolen in Kairo residierte, war
eine bloße Drahtpuppe in seinen Händen. An Kalaün schickte
Alfons Anfang 1290 seine Gesandten, um ein Bündnis nachzu-
suchen. Am 25. April wurde der Vertrag abgeschlossen®!, wäh-
rend die christliche Welt um das heilige Land zitterte und immer
lauter der Ruf nach einem neuen Kreuzzug ertönte; zu einer
Zeit, da der Sultan Tripolis erobert hatte und Akkon, die letzte
Frankenveste, bedrohte.
Die Beziehungen Aragoniens zu Ägypten waren bisher rein
wirtschaftlicher Natur gewesen; in dem schwunghaften Mittel-
meerhandel mit dem Nillande standen die katalanischen Küsten-
plätze neben den italienischen Seestädten an erster Stelle. Die
Kaufleute holten die kostbaren indischen Gewürze und Luxus-
waren aus den Häfen des Sultans und lieferten dafür Nahrungs-
mittel, Sklaven, Pech, vor allem aber Holz und Eisen, die beide
Ägypten nicht erzeugte und deren genügende Einfuhr für das
Land eine Lebensfrage war. Daß Ägypten in zweien, für Rüstung
und Schiffsbau so unentbehrlichen Stoffen vom Westen ab-
hing, hatte man früh erkannt, und das spätere 12. und das
13. Jahrhundert durchzieht eine ganze Kette von Konzils-
beschlüssen und Synodalstatuten und päpstlichen Mandaten,
die alle den Handel mit Ägypten teils ganz untersagten, um
den Sultan auch durch den Fortfall der hohen Zölle zu schädigen,
teils den mit Holz und Eisen verboten und über die dawider-
handelnden „schlechten Christen“ Bann, Beschlagnahme der
Güter und Versklavung verhängten. Erst Ende 1289 hatte
Nicolaus IV. abermals eine solche Handelssperre verkündet, und
seine Nachfolger erneuerten sie alle paar Jahre. Wie hoch man
die Wichtigkeit dieser Maßnahme einschätzte, zeigen auch die
zahlreichen Kreuzzugsgutachten, die Entwürfe Karls II. von
Neapel und des Franziskaners Fidentius von Padua, des Ar-
menierprinzen Hayton und des Johannitermeisters, des Königs
von Cypern und Nogarets, der Raimund Lull, Marino Sanudo
und Pierre Dubois: sie alle sehen in einer möglichst vollständigen
1 Text des Vertrages in ital. Übersetzung bei Amari, Vespro III, 364 nr. 81.
Vgl. ebd. II, 216ff.; La Mantia [n. 45] I, 456 nr. 194.
688 Walther Kienast
Blockade Ägyptens die unumgängliche Voraussetzung und zu-
gleich die sicherste Gewähr für das Gelingen eines Kreuzzuges.
Aber wie die háufige Wiederholung dieser Handelsverbote schon
zeigt, wurden sie keineswegs lückenlos durchgeführt. Die italie-
nischen, spanischen, südfranzósischen Seestädte erlitten durch
den Ausfall eines ihrer Haupterwerbszweige schwere Verluste,
und oft genug war, zum Hohn der Mohammedaner, die Gier nach
Gewinn stärker als das Gefühl der christlichen Gemeinschaft“.
Als Abwehr gegen die neuerliche Handelssperre mußte
sich Alfons in einer Klausel des Vertrages verpflichten, die
freie Ausfuhr von Eisen, Waffen und Holz zu gestatten. Aber
was dem Bündnis sein besonderes Gesicht gab, waren die po-
litischen Bestimmungen. Brechen die syrischen Christen den
gegenwärtigen Waffenstillstand mit Kalaün, so werden ihnen
die Könige von Aragon und Sizilien keinerlei Hilfe gewähren.
Ebenso werden Alfons und Jayme dem Papst, dem König von
Frankreich oder anderen christlichen Mächten jeden Beistand
durch Hilfstruppen, Geld, Schiffe verweigern, vielmehr dem
Sultan schnellstens Nachricht senden, wenn diese einen Kreuz-
zug gegen ihn vorbereiten und ihm das voraussichtliche Angriffs-
ziel mitteilen. Wollen der Papst oder irgend ein christlicher Staat
oder die Ritterorden die Länder des Sultans bekriegen, so werden
Alfons und Jayme sie daran mit Waffengewalt verhindern, zu
Wasser und zu Lande. Leider wissen wir nicht, welche politisch-
militärischen Gegenleistungen Kalaün übernahm; es ist nur
die ägyptische Ausfertigung des Vertrages überliefert, die davon
nichts enthält. Man wird eine entsprechende Kriegshilfe voraus-
setzen dürfen oder doch Subsidien, gewissermaßen eine Parallele
zu den päpstlichen Zehnten für Philipp den Schönen.
Versuchen wir, uns klar zu machen, welche Stelle dieses
bedeutsame Bündnis in den allgemeinen Weltbegebenheiten
einnimmt. Auf der Pyrenäenhalbinsel und in Nordafrika be-
5? Heyd In. 20] I, 378ff. II, 23ff.; G. Caro, Genua u. d. Mächte am Mittel-
meer, II (Halle 1899), 133. 1289 Dez. 28, Reg. Nicol. IV. nr. 6789. Verschärft
1291 Aug. 23, ebd. nr. 6784—6788, vgl. 6782—6783. Fr. Heidelberger, Kreuz-
zugsversuche um die Wende des 13. Jahrh. (Bin. 1911), 4. 6ff. 12. 391. 66ff.; J.
Delaville-le-Roulx, La France en Orient au 14e siècle I (1886), 16ff. 31. 35fl.;
M. Heber, Gutachten u. Reformvorschläge f. d. Vienner Generalkonzil (Phil.
Diss. Lpz. 1896), 22ff., 45f.; H. Finke, Acta Arag. II (1908), 744 nr. 461. 915 nr.
587.
Der Kreuskrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 689
stimmte die Religion lángst nicht mehr das politische Handeln.
Wie es der Vorteil des Augenblicks heischte, verbanden sich
christliche und muhammedanische Fürsten gegen ihre Nachbarn.
Diese Besonderheit der spanischen Verhältnisse spielte auch
bei dem Bündnis zwischen Aragon und Ägypten mit, aber
es bedeutete doch viel mehr: ein Ereignis, das in tiefsten
Wandlungen des historischen Lebens wurzelt, eine Wegmarke
der mittelalterlichen Geschichte. Es ist kein Zufall, daB die
Gesandten Alfonsens auf jenen Vertrag Kaiser Friedrichs II.
mit dem Sultan El Kamil verwiesen®®, der hauptsächlich die
Abtretung Jerusalems regelte, daneben aber für die Dauer der
Waffenruhe beide Teile zu gegenseitigem Beistand verpflichtete.
Als der kaiserliche Kreuzfahrer das neue Kónigreich Jerusalem
begründete, stand er unter Kirchenbann, hatte er das hóchste
Ziel der Christenheit gegen die haßerfüllte Kurie zu erkämpfen,
die sein Erbland mit ihren Schlüsselsoldaten überschwemmte.
Später, nach der zweiten Bannung Friedrichs, hielt der Papst
mit allen Mitteln die Kreuzträger vom Zuge ins Heilige Land
zurück, damit sie sich den Sündenablaß lieber im Krieg mit dem
53 Der arabische Biograph des Kalaün, der uns den Text des Vertrages über-
liefert hat, bemerkt dazu, die aragonischen Unterhändler hätten vom Sultan erbeten
„la pace nei medesimi termini, ne’ quali fu stabilita tra lo imperatore
[Federigo II.] e (il sultano] Malec Camil“. Der Friedensvertrag von 1229 ist
nicht vollstándig auf uns gekommen (Winkelmann, Jahrb. Friedr. II, II, 113),
er enthält eine Bestimmung, wonach sich beide Teile für die Dauer des Stillstandes
im Falle eines Angriffs von dritter Seite gegenseitigen Beistand versprechen (ebd. II,
116; MG. Epp. saec. XIII. I, 298 § 7—9). Für den Frieden von 1229 ist bisher,
soviel ich sehe, die angeführte Stelle des arabischen Chronisten nicht herangezogen
worden. Stellt das Bündnis von 12% wirklich in größerem oder kleinerem Umfang
eine Wiederholung von Abreden zwischen Friedrich und El Kamil dar? Die Frage
zu lösen, könnte nur ein Arabist versuchen. Viel hängt davon ab, ob Amari, Vespro
III, 368 mit seiner Auffassung des Satzes gegen de Sacy im Recht ist. Durchaus
unbegründet scheint mir die Bezugnahme A maris ebd. II, 222f. auf einen Vertrag
zwischen Friedrich und dem Sultan Malek Saleh von 1242. Ganz abgesehen davon,
daß der arabische Biograph ausdrücklich El Kamil nennt (siehe oben), findet sich
an der von Amari angezogenen Stelle einer arabischen Chronik der Patriarchen von
Alexandria (A mari, Bibl. Arabo-sicula, Vers. ital. I (1880), 522f., bzw. 325f.) nur
ein Bericht über zwei Gesandtschaften Friedrichs an den Sultan von Ágypten —
die übrigens in den Regesta Imperii nicht erwühnt sind —, die erste zwischen 1241
Aug. 29 und 1242 Aug. 28, die zweite zwischen 1242 Aug. 29 und 1243 Aug. 28.
Von einem damals abgeschlossenen Vertrag des Kaisers mit dem Sultan steht in
dieser Chronik kein Wort.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 44
690 Walther Kienast
Kaiser verdienten. Die Katastrophe Ludwigs von Frankreich
in Ágypten gab man dieser Haltung des Papstes schuld. Vollends
in dem furchtbaren Endkampfe des vierten Innocenz mit dem
abgesetzten Staufer wird es den Augen der Welt offenbar: die
Religion umhüllte nur noch wie ein schlechtsitzendes Kleid die
weltumspannenden Herrschaftsziele der römischen Kirche.
Kein geistliches Strafmittel, das nicht mißbraucht, keine
Kirchenvorschrift, die nicht gebrochen, kein Sittengesetz, das
nicht politischen Vorteilen bedenkenlos geopfert wurde. Meuchel-
mord wurde wider den Imperator versucht, und der heilige
Vater war Mitwisser. Der Gedanke von der Überordnung der
spiritualen Gewalt, den seit Gregor VII. die Kirche nicht wieder
aufgegeben hatte, war zu seinen letzten Folgerungen vorgeschrit-
ten: Der Vikar deB, der verkündete: „mein Reich ist nicht von
dieser Welt‘‘, verdammte seine politischen Feinde als Ungläubige
und Ketzer. Die Kirche hatte ihre ideale Mission eingebüßt, die
sie ehedem innegehabt. Umsomehr mußte die Überspannung
der geistlichen Tendenzen entgegengerichtete Ideen auf den
Plan rufen. Es war ein unerhörtes Geschehnis: Dem Papsttum
zu Trotz erkoren und behaupteten die Sizilianer ihren nationalen
König. Vielleicht zum ersten Male in den mittleren Jahrhunderten
stieß damit der Wille eines Volkes zu unmittelbarer historischer
Wirkung vor. „Glücklich der Herrscher, der nach dem Willen
der Sizilianer auf dem Thron des Königreiches sitzt‘‘, läßt der
patriotische Chronist eine seiner Personen ausrufen. Für die
Ziele seiner italienischen Territorialpolitik setzte der römische
Stuhl die Mittel der universalen Kirche ein: die Kreuzzugs-
zehnten, die das Lyoner Konzil für das heilige Land bewilligt
hatte, die erste Steuer der gesamten katholischen Kirche, stellte
der Papst zum großen Teil Frankreich und Neapel zur Ver-
fügung“; gegen die Ketzervölker von Aragon und Sizilien rief
er das Schwert der Gläubigen auf und verhieß den Gottesstreitern
vollständigen Ablaß ihrer Sünden. Nicolaus IV. schlug Jayme
vor, zum Schutze Palästinas auszuziehen; er werde ihn dafür
zum päpstlichen Gonfaloniere machen. Statt Bannerträger der
Kirche wurde Jayme lieber Bundesgenosse des Sultans. In dem
angiovinischen Heere fochten unter der Kreuzesfahne, vom
Gottlob In. 36] 116ff.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 691
Legaten geführt, die Sarazenen von Lucera, die ehemalige Leib-
garde des staufischen Antichrist®®. Es ist, als hätte eine damals
herrschende Tendenz der Weltgeschichte Gestalt gewonnen:
Die Einheit der christlichen Welt, die das Hochmittelalter trotz
aller Kämpfe zwischen Päpsten und Kaisern bewahrt hatte,
sie begann zu zerfallen; aus der Res publica christiana schälten
sich die einzelnen Glieder mehr und mehr heraus; wider die
universale Macht der römischen Kirche erhob sich der auf sich
selbst beruhende, nur seinen eigenen Interessen dienstbare,
autonome Staat.
Des geistigen Zusammenhanges wegen, als ein wichtiges
Moment dieses Auflösungsprozesses, verdient das Bündnis unsere
Aufmerksamkeit. Eine unmittelbare politische Wirkung auf
den aragonisch-französischen Krieg hat es dagegen nicht aus-
geübt. Wir wissen nicht einmal, ob Alfons es bestätigte. Denn
seine Politik nahm jetzt eine entscheidende Wendung vor: unter
dem Druck der auswärtigen Lage und der inneren Schwierig-
keiten entschloß sich der König, Sizilien aufzugeben, das zu
verteidigen jenes Bündnis vor allem hatte dienen sollen. Er
überließ seinen Bruder sich selber, in der stillen Hoffnung, Jayıne
werde angesichts der militärischen Überlegenheit, die er bisher
bewiesen, auch auf sich allein gestellt die Insel behaupten. Doch
wie würde sich Frankreich bei so verwandelter Lage verhalten ?
Philipp der Schóne war im April 1290 mit Sancho von Kastilien
in Bayonne zusammengetroffen und hatte mit einigen Abände-
rungen den Vertrag von Lyon erneuert“. Einer Waffenruhe, die
Alfons mit Karl von Neapel verabredete, versagte er seinen Bei-
tritt und brachte sie so zum Scheitern”. Aber einen großen
Schritt zum Frieden bedeutete es, daB Karl von Valois die
Tochter des Kónigs von Neapel heiratete, die als Mitgift die
Grafschaften Anjou und Maine erhielt, und er sich dafür zum
Verzicht auf seinen aragonischen Schattenthron bereitfand®®.
55 Neocastro [n. 47] 109 Z. 35. 114 Z. 35. Die wörtlich zitierte Stelle ebd.
139 Z. 40.
** 1290 Apr. 9: Daumet 200 nr. 21; Gaibrois II, 39ff.
87 Alfons an Jayme, 1290 Sept. 18: G. La Mantia, Documenti su le relazioni
del rè Alfonso III. di Arag. con la Sicilia (Institut d'Estudis Catalans. Barcel.
1908), 362 nr. 22.
s Heiratsvertrag, 1290 Aug. 18: Marténe et Durand, Thesaurus nov. I, 1236.
Vgl. Petit, Valois 17ff. Zum Lohn für die großen Gebietsopfer, die sein Vetter
44*
692 Walther Kienast
Philipp stimmte zu; sein Bruder war reich entschädigt und der
Krone Frankreich der Anfall beider Grafschaften zugesichert,
falls die Ehe kinderlos bliebe. Der Papst gab sofort den wegen
der Verwandtschaft nótigen Dispens; er wünschte, würde nur
das angiovinische Recht auf Sizilien nicht angetastet, durchaus
den Frieden mit Aragon. Nicolaus stand damals in etwas ge-
spanntem Verháltnis zu Frankreich. Innere Fragen der franzó-
sischen Kirche hatten zu einem Konflikt zwischen König und
Papst geführt. Zwei Legaten gingen nach Paris ab, um die
Angelegenheit zu bereinigen?. Die beiden Kardinäle waren
gleichzeitig für die Friedensverhandlungen mit Aragon bevoll-
máchtigt, die in dem provencalischen Rhónestádtchen Tarascon
stattfanden. Der Kónig von Neapel war selber anwesend; der
Papst, Aragon und England ließen sich durch Gesandte ver-
treten. Alfons ließ feierlich erklären, er mißbillige das Unter-
nchmen seines Vaters auf Sizilien; er wurde dafür von Bann
und Interdikt gelöst und bekam die Krone zurück, die der Papst
einst dem Valois verliehen hatte. Auf dieser Grundlage, wenn
wir uns auf die Hauptpunkte beschränken, ward der Friede
zwischen Aragonien und der Kurie am 19. Februar 1291 ge-
schlossen$?, Daß Nicolaus selbständig, ohne Frankreich, den
Krieg mit Aragon beendete, scheint für seine Stimmung gegen
Philipp immerhin bemerkenswert, wenn auch der Beitritt des
Königs zu erwarten stand. Während die Legaten in Paris weil-
ten, hatte sich Philipp durch ein Privileg (August 1290) vor der
Friedensgefahr gesichert: Er sollte die Zehnten, auch wenn
Aragon die Waffen niederlegte, noch für die vorgesehenen zwei
Jahre beziehen, nur würde er dann dem Papst für die sizilischen
Karl von Neapel gebracht hatte, trat Philipp ihm die Hälfte von Avignon ab, das
bisher dem frz. König und Karl als Grafen der Provence gemeinsam gehört hatte,
wie einst dem alten Grafen von Toulouse und denen von Provence aus dem Hause
Barcelona. Aus der Erbschaft Alfons’ von Poitiers fiel die eine Hälfte an die franz.
Krone, die andere kam durch die Heirat mit der provengalischen Erbtochter an Karl
von Anjou. Seb. Franc. Castrucci, Istoria .. d’Avignone I (Vened. 1678), 153:
A. Longnon, La Formation de l'unité franc. (1922), 153f. 177.
5 1290 März 23: Reg. Nicol. IV. nr. 4254—47; Raynaldus ad 1290 $ 19. 20.
Vgl. H. Finke, A. d. Tagen Bonifaz VIII. (Münster 1902), 13ff.
* Rymer I,2, 744f.; G. Curita, Anales I (1669), 344 ff.; Neocastro In. 47]
121f.; Muntaner cap. 173, übs. II, 43ff.; Gesta Comitum Barcin., ed. L. B. Dihigo
. J. M. Torrents (Barcel. 1925), 101f.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 693
Kriegskosten statt der bisher vereinbarten 200000 Pfd. Tur.
deren 400000 bezahlen. So hatte Philipp selbst für diesen Fall
einen groBen Teil der Beute gerettet.
Da trat ein plótzliches Ereignis ein, das alles Erreichte wieder
umstürzte: Alfons erkrankte an einer Drüsengeschwulst und
starb nach wenigen Tagen am 18. Juni 1291.
Sein Nachfolger war sein Bruder Jayme. Er eilte aus Sizilien
herbei und ließ dort seinen dritten Bruder Friedrich als Statt-
halter, zusammen mit seiner Mutter, der staufischen Konstanze,
zurück. Die Verzichtpolitik Alfonsens brach er schroff ab, ja
.er ging über die ursprünglichen Absichten seines Bruders noch
hinaus: Er wollte die Insel nicht nur seinem Hause bewahren,
sondern sie mit der Krone Aragon vereinigen, lenkte also wieder
in die Bahnen Pedros des GroBen ein.
Philipp dem Schónen konnte der Wiedereintritt des Kriegs-
zustandes nur lieb sein. In diesem Jahre lief der von Nicolaus
bewilligte Zehnt ab, und es war an der Zeit, die Schleusen des
Goldstroms abermals aufzuziehen. Dem kastilischen Bundes-
genossen schlug Philipp einen Doppelangriff auf Aragon vor;
man mußte jetzt wieder für den nötigen Waffenlärm in den Ohren
des Papstes sorgen®. Eine französische Gesandtschaft ging
nach Rom. Sie forderte, Nicolaus möge von neuem das Kreuz
gegen Aragon predigen lassen und den französischen Kirchen-
zehnten verlängern — diesmal gleich auf sechs Jahre, vermut-
lich, um dem Papst nicht durch zu häufige Bitten lästig zu fallen.
€ 1290 Aug. 19: Amari, Mus. (n. 36] II, 226 nach ungedr. Urkd. Wenn die
Eroberung der Insel übers Jahr und 2 Monate vollendet sei, sollte sich die Summe
von 400000 lib. tur. auf 300000 ermäßigen. Der Vertrag galt nur, wenn Sizilien im
Widerstand verharrte. Daß Jayme aber nicht an Unterwerfung dachte, hatte Phi-
lipp erst zuletzt aus dessen Friedensvorschlügen von 1290 Juni 14 ersehen, wo
Jayme für sich Sizilien und Kalabrien forderte, La Mantia In. 45] I, 472 nr. 200.
493 nr. 209.
Rohde 19 n. 1; Gaibrois III, COXCIX nr. 445. Die Darstellung der ka-
stilisch-franzósischen Verhandlungen bei Rohde ist viel klarer und ausführlicher, als
die bei Daumet 111ff. Beide stützen sich auf denselben, jetzt von Gaibrois a. a. O.
herausgegebenen Gesandtschaftsbericht. Die Angabe Daumets 112, Philipp habe
Sanchos Kriegshilfe gegen Edward gewünscht, ist ein Versehen, statt der gegen
Aragon.
694 Walther Kienast
Es war eine starke Zumutung. Philipp hatte jahrelang das Geld
eingestrichen und nichts dafür geleistet, hatte alle Bitten des
Papstes überhört“, er möge als „filius benedictionis et gratiae"
den Zehnt, den einst sein Vater für einen (dann unterbliebenen)
Kreuzzug ins heilige Land erhalten, zurückzahlen. Und vor
allem: im Mai war Akkon gefallen, in schmerzdurchzitterten
Klagebriefen hatte Nicolaus die Schreckensbotschaft der ganzen
Christenheit verkündet und zu einem allgemeinen Kreuzzug
aufgerufen; den Beginn setzte er auf Johanni 1293 fest“. Auch
Philipp hatte er mahnend an die „Fußspuren seiner Ahnen“
und deren fromme Werke erinnert*5, Indeß den König schreckten
diese Spuren, und die frommen Werke wollte er lieber gegen
Aragonien verrichten. Doch diesmal wich der Papst seinen
Wünschen aus. Aus triftigen Gründen, erklärte Nicolaus“,
müsse er seinen Entscheid auf später verschieben; er fürchte,
durch die Kreuzpredigt gegen Jayme werde der fromme Eifer
des englischen Königs und der übrigen Fürsten erkalten, werde
vielleicht das Ganze in Frage gestellt. Selbst den Stachel sparte
er nicht und führte als Hindernis auch die Gewalttaten der könig-
lichen Beamten gegen die französischen Kirchen an. Es war eine
kaum verhüllte Absage.
Philipp hätte sich damit nicht zufrieden gegeben, doch bald
darauf starb Nicolaus (April 1292) und eine Sedisvakanz von
27 Monaten folgte. Eine unerfreuliche Lage. Der König hatte
alle Lombarden seines ganzen Landes unter dem Vorwand un-
erlaubten Wuchers in einer Nacht gefangen setzen lassen und
** 1290 Apr. 25: Raynald. ad 12% $ 17. 12% Dez. 9: Reg. Nicol. IV. nr.
44111f.; Sbaraleae Bullar. Francisc. IV (1768), 199 nr. 370. 1291 Aug. 24: Reg.
ebd. nr. 6779f. Nach Edg. Boutaric, La France sous Philippe le Bel (1861), 280
habe Philipp als Antwort den Nachweis geführt, die Kurie schulde umgekehrt ihm
noch Geld. Das Quellenzitat stimmt nicht. Ist Rec. XXI, 531 B gemeint? Aber
dieses Schriftstück ist erst nach 1307 abgefaBt. Immerhin ist eine solche Entgegnung
Philipps sehr wohl denkbar, denn in der Tat war ihm seit der ganz einseitig Frank-
reich begünstigenden Generalabrechnung unter Martin IV. die Kurie mehrere
hunderttausend Pfund schuldig, Gottlob [n. 36] 128; siehe auch Reg. Nicol. IV.
nr. 616, col. 123.
„ 1291 Aug. 1. 13. 23: Reg. ebd. nr. 6800—5. 7625.
4 Ebd. nr. 6778.
* 1291 Dez. 13: ebd. nr. 6849. Vgl. Schiff [n. 40] 54f.; Vaissète In. 3]
IX, 159.
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 695
ihnen die Freiheit gewiß nicht umsonst zurückgegeben“, hatte
die Juden des Poitou und der Saintonge vertrieben, ihre Habe
beschlagnahmt und sich von der dortigen Bevólkerung, die diese
Maßnahme gewünscht, eine mehrjährige Herdsteuer bewilligen
lassen®®. Doch was bedeutete dies neben den gewaltigen Summen,
die er den Kirchen abgenommen hätte? Er hielt sich schadlos,
so gut es ging: 137000 Pfd. Tur., die er vom letzten Kirchen-
zehnten noch der Kurie zu erstatten hatte, behielt er ein®.
Die Kardinäle bekamen seinen Ärger zu spüren, als sie von der
französischen Kirche ein Subsidium für das heilige Land ver-
langten. Er verbot kurzerhand, es zu bewilligen?®. Es sei dem
Staat ersprießlich, daß die Bewohner wohlhabend seien. Durch
die Steuern verarmten die Kirchen, und nicht nur die Geist-
lichkeit, sondern dem ganzen Gemeinwesen geschehe schwerer
Schade; zudem habe man die königliche Erlaubnis nicht ein-
geholt. Offen war am Schluß dieses Mandates ausgesprochen:
er wolle die Sammlung nicht unterbinden, sondern fördern, aber
nur, wenn sie mit seinem Einverständnis und in der alten Weise
vorgenommen werde, — das heißt, wenn er das Geld in die
Hand bekomme und darüber verfügen könne“.
© Borrelli de Serres, Recherches sur div. services publics III (1909), 13f.;
P. Emiliani-Giudici, Storia dei communi Italiani III (Florenz 1866), 424ff.;
J. Olivier, Le livre de Comptes .., ed. A. Blanc (1899), 444 nr. 30 bis; A. Gherardi,
Le consulte della Repubblica Fiorentina II (Flor. 1898), 142.
*$ E. Audouin, Rec. de doc. concernant .. Poitiers, in Arch. hist. du Poitou
44 (1923), 226 nr. 147; Vincent, Les juifs du Poitou, in Rev. d'hist. écon. et soc.
XVIII (1930), 289f., vielfach fehlerhaft, mißt u. a. den Angaben des im 16. Jahrh.
schreibenden J. Bouchet, Les annales d'Aquitaine (ed. nouv. Poitiers 1644), 179
zu viel Gewicht bei.
® Rec. XXI, 631B; Registres de Boniface VIII., ed. Digard u. a. (1884ff.),
nr. 2318. 2327. 2329; Fr. Baethgen, Quellen und Untersuchungen z. Gesch. d.
päpstl. Hof- und Finanzverwaltung unter Bonifaz VIII., in Quellen u. Forsch. XX
(1928/29), 177, der aber dahin zu berichtigen ist, daB die von Philipp 1297 gezahlten
20. 000 lib. ein Teil der Restsumme von 37. 000 lib. sind, denn nach Rec. a. a. O. waren
von den geschuldeten 200.000 lib. bis Himmelfahrt 163.000 lib. bezahlt.
æ 1292 Aug. 3: Ordonnances XI (1769), 372.
n Nach Kervyn de Lettenhove, Etudes sur l'hst. du 13. siécle (Mém. del’Acad.
roy. des sciences .. de Belgique XXVIII, 1854), 8, dem sich Baumhauer [n. 40]
39 anschließt, hätte Philipp 1292 vom Cisterzienserorden drohenden Tones die
Zahlung eines Zehnten gefordert, den Gregor X. vor 17 Jahren Philipp III. ver-
liehen hatte. Die Urkunde, auf die sich Kervyn stützt, hat er selbst spüter veróffent-
licht, Kervyn, Cod. Dunensis (Brüssel 1875), 186 nr. 117. Es ist eine Protest-
696 Walther Kienast
Inzwischen wühlte und zettelte er in Aragon. Der Statthalter
von Navarra sollte die ihrem Kónig Abtrünnigen vereidigen.
Unzufriedene Große erklärten sich als Vasallen Philipps und
traten in den Dienst des Valois. Die Kurie unterstützte das
Werk nach Kräften“. Zusammen mit dem König von Neapel
schickte Philipp Gesandte nach Genua und bemühte sich—
vergeblich — um ein Bündnis mit der seemächtigen Republik“.
Mit Kastilien, das sich, durch einen Maurenangriff schwer be-
drängt, im November 1291 mit Aragon gegen Frankreich ver-
bündet“, aber im Herbst 1292 durch einen Sieg über die Moslem
wieder größere Handlungsfreiheit verschafft hatte, verständigte
er sich im geheimen über die Bedingungen, unter denen Jayme
Frieden erhalten würde. So sah sich dieser, der Anfang 1293,
anscheinend aus dem Verlangen nach Subsidien, das frühere
ägyptische Bündnis mit dem jetzigen Sultan, dem Sohn Ka-
laüns und Eroberer von Akkon, erneuert hatte?5, derselben
Koalition gegenüber, der sein Bruder erlegen war. Er mußte
sich, wollte er Frieden haben, zum Verzicht auf Sizilien ent-
schließen. Aber anders als Alfons, überließ er nicht die Insel
sich selber, sondern wollte sie, nótigenfalls mit Gewalt, der
Kurie ausliefern, die ihn dafür mit Sardinien belehnen
würde. Auf dieser Grundlage verabredeten die Könige von
Aragon und Neapel, als sie Ende des Jahres in dem kata-
lanischen Grenzort Junquera zusammentrafen, den Frieden.
Der Vertrag sollte vor Kastilien und den Sizilianern streng
erklärung im Namen der Äbte von Citeaux und Clairvaux, 1292 April 4. Darin steht
von Philipp IV. kein Wort; die Erzáhlung von seinen Drohungen ist reine Phantasie.
Vielmehr verlangt ein Beauftragter Nicolaus’ IV. von den genannten Äbten die
Zahlung gewisser Restbestünde jenes Zehnten zu Gunsten der Kurie. Im Vorwort
zum Cod. Dun. S. IV hat Kervyn seine alte falsche Darstellung aus den Études
wiederholt.
733 Amari, Vespro II, 236 n. 1; Petit, Valois 20.
78 Wende 1292—1293: Caro, Gen. [n. 52] II, 165ff.
74 1291 Nov. 28: Gesta Bare. In. 60] 103f.; Rohde 23ff. 155; Schiff [n. 40]
61f.; Gaibrois II, 137—152. Der Vertrag setzte auch eine Kriegshilfe Kastiliens
gegen Frankreich fest. Zugleich wurde die Hochzeit Jaymes mit der erst neun-
jährigen Tochter Sanchos gefeiert.
75 1293 Jan. 29: Amari, Vespro III, 489 nr. 72. Jayme ließ als seine Verbün-
deten auch Kastilien und Portugal aufnehmen. Die Instruktion für die arag. Ge-
sandten, 1292 Aug. 10: ebd. III, 391 nr. 33. II, 234f.
Der Kreuskrieg Philipps des Schónen von Frankreich gegen Aragon 697
geheim bleiben, bis ein Papst gewählt sei und ihn bestä-
tigt habe“.
So hatte Philipp acht Jahre lang Krieg geführt, ohne zu
kämpfen. Allein durch eine überlegene und zähe Diplomatie
hatte er Aragon zur Aufgabe Siziliens gezwungen; die Unter-
werfung der Insel unter ihren alten Herrn schien nur noch eine
Frage der Zeit. Dem Traumbild einer kapetingischen Herr-
schaft in Barcelona und Saragossa brachte er keine neuen Blut-
opfer. In dem Heiligen Krieg suchte er nicht Ruhm, sondern
Geld. In den Mitteln seiner Politik war er freilich sehr wenig
wählerisch. Während der Verhandlungen von Oléron ließ der
Seneschall von Beauceire, wenn nicht auf Befehl, so doch im
Sinne seines Herrn, einen Bericht, den die vom Papste ab-
geordneten Nuntien nach Rom sandten, dem Boten gewaltsam
entreißen und erbrechen“. Als nach der Freilassung Karls von
Salerno eine aragonische Friedensgesandtschaft durch die
Languedoc nach Rom reiste, wurde sie, trotz päpstlicher Geleit-
briefe, schimpflich festgenommen, ihrer ganzen Habe beraubt
und der Führer, aller Einsprüche des Apostolischen Stuhles
ungeachtet, noch jahrelang im Kerker festgehalten”®. Doch der
französische Stolz, der sich über solchen gemeinen Rechtsbruch
wenig kränkte, verschmerzte es schwer, daß Philipps III. kläg-
liches Ende ungerächt blieb. Man war keineswegs allgemein
einverstanden mit der Aufgabe der Eroberungspolitik jenseits
der Pyrenäen. Dem König schob man die Schuld am Unglück
seines Vaters zu. Ganz Aragons hätte sich dieser bemächtigt,
wäre nicht der junge Philipp heimlich auf Seiten seines Oheims
gestanden“. Böse Gerüchte liefen um: Vor Gerona habe der
Kronprinz durch den Erzbischof von Saragossa, der die Über-
gabe der Stadt anbot, Pedro zu weiterem Ausharren ermuntert,
Joh. de la Ferté, Archidiakon von Brügge, ging als franz. Gesandter nach
Sevilla. Abrechnung 1293 Febr. 2: Delisle, Temp. In. 13] 56. Das übrige in diesem
Absatz nach Rohde 43ff. und Gaibrois II, a. a. O. (oben n. 2). Vorfriede von
Junquera, 1293 Dez. 14: Finke, Acta Arag. III, 21 nr. 13 (siehe auch ebd. 19
nr. 11 zu Rohde 65f.); Gesta Barc. [n. 60] 105.
" Reg. Nicol. IV. [n. 39] nr. 6981.
78 Alfons an Nicolaus, 1289 April 28, Klüpfel, Alf. 156 nr. 6. Siehe auch
Reg. Nicol. IV. nr. 638—644. 7389; Finke, Acta Arag. I, 13 nr. 7 n.
73 Hocsem In. 6] 74 Z. 10, die Eroberung wurde durch Philipps Parteinahme
für Pedro verhindert, „sicut postmodum veritas detexit".
698 Walther Kienast: Der Kreuzkrieg Philipps des Schónen gegen Aragon
da die Franzosen bald die Belagerung aufgeben müßten“. In
einem giftigen Schmähgedicht, das damals entstanden ist, hält
der unbekannte Verfasser seinem König hóhnend vor: ‚Selber
bist du ein Aragonier; nie wirst du Aragonien deinem Joch
unterwerfen !''81
Frankreich war mißvergnügt über den Frieden. Es sollte
die Schrecken des Krieges noch gründlich auskosten. Denn
nun traten Verwicklungen ein, in die Philipp -nicht als
Bundesgenosse einer kapetingischen Nebenlinie und aus finan-
ziellen Ursachen, sondern zum Ausbau und zur Vergrößerung
des eigenen Staates, mit dem ganzen Gewicht seiner Macht ein-
griff. Das Sturmzentrum der europäischen Politik, das bisher
über dem westlichen Mittelmeer lag, verschob sich nach Norden.
Der säkulare Gegensatz zwischen Plantagenets und Kapetingern
gebar einen neuen Krieg, der die spanisch-sizilianischen Ver-
hältnisse zu einer bloßen Funktion im englisch-französischen
Koordinatensystem herabdrückte. Der Friede um Sizilien wurde
in Anagni (Juni 1295) geschlossen, wie er in Junquera geplant
worden war, und zugleich mündete der „Kreuzkrieg‘‘ Philipps
des Schönen aus in ein Militärbündnis mit Aragon, das seine
Spitze gegen Edward I. richtete.
* Joh. Longus de Ipra, Chronica, ed. O. Holder-Egyer (MG. SS. XXV), 863
Z. 40. Die Nachricht geht auf eine sonst unbekannte zeitgenössische Quelle zurück,
vgl. Holder-Eggers Einleitung. Auch die Bitte um freien Abzug (oben 676), ob
sie nun der Wahrheit entspricht oder nicht, wurde gerüchtweise bekannt, Des-
clot 357:... „segons que es fama publicha e continua."
*! Bordier, Une satire contre Phil. I. B., in Bull. d. I. 1 b. de l'hist. de
France, 2. Ser. I (1857—58), 199. NW
699
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol.
Von
Otto Stolz.
Inhaltsübersicht,
I. Die bisherige Literatur über die Landstandschaft der Bauern in Tirol
8.699: Albert Jägers Geschichte der landstándischen Verfassung Tirols S. 700. — Die
allgemeinen Werke zur österreichischen und deutschen Verfassungsgeschichte,
Luschin, Huber, Dopsch, Below, Gierke, Brunner, Schróder u. a. S. 702f. — Die
Tiroler Landeshistoriker Roschmann, Beda Weber, Staffler, Ladurner, Egger,
Noggler u. a. S. 704f.
II. Ständisches Auftreten der Bauern in Tirol vor dem 14. Jh. S. 706:
Urkundliche Angaben aus dem 11.—13. Jh. über die Mitwirkung der Insassen der
Grafschaft an den öffentlichen Angelegenheiten S. 706. — Die Formel „Edel und
Unedel, Reich und Arm“ als Ständebezeichnung in Tirol im 13. Jh. S. 707. — Die
Bezeichnungen für den Bauernstand in Tirol seit dem 11. Jh. S. 708. — Der Bestand
der Landgemeinden und ihre Beschwerden gegen die adeligen Amtsleute im Jahre
1313 S. 712.
IIL Die Anfänge der Landstände (Landschaft) in Tirol und die Teil-
nahme der Bauern an dieser vom 13.bis 15. Jh. S. 716: Die ältesten urkundlichen
Nachweise über das Auftreten landständischer Einrichtungen in Tirol und ihre Be-
ziehungen zur indesfürstlichen Rat von 1289—1320 S. 716. — Das landesfürstl.
Hofgericht und ein Verhältnis zu den Anfängen der Landstände S. 718. — Das Auf-
treten der Landstände in Tirol von 1330—1342 in der Form von „Edel und Unedel,
Arm und Reich“ S. 724. — Der große Freiheitsbrief der Tiroler Landschaft von 1342
und die Einschließung der Landgemeinden in jenen S. 726. Das Auftreten der
Landgemeinden in der Landschaft im J. 1363 S. 728. — Die Fortbildung der Frei-
heiten der Landschaft 1406 und 1511 S. 730. — Die Sammlung der „Landesfrei-
heiten" S. 731. — Der Zusammenhang zwischen der politischen Stellung des
Bauernstandes und seinen Besitzrechten und seiner Wehrhaftigkeit, Belege für diese
seit dem Ende des 13. Jahrh. S. 732.
(Fortsetzung und Schluß im nächsten Heft.)
I. Die bisherige Literatur.
Die Tatsache, daß in Tirol wie in einigen schwäbischen Terri-
torien, in der Schweiz und in Friesland die Bauernschaft an
den Landtagen teilnahmsberechtigt gewesen ist, die Land-
700 Otto Stolz
standschaft also besessen hat, ist in der verfassungs- und
rechtsgeschichtlichen Literatur schon seit längerem hervorge-
hoben. Es mußte dies als eine besondere Erscheinung, als eine
Ausnahme von der allgemeinen Regel um so mehr auffallen, als
in den meisten anderen Ländern des alten deutschen Reiches,
im Norden und im Süden, im Osten und im Westen die Bauern
ein derartiges politisches Recht nicht besessen haben. Es handelt
sich aber nicht bloß um die Feststellung dieser verfassungsge-
schichtlichen Sondererscheinung an sich, sondern auch um eine
Aufklärung, seit wann und wie die Bauernschaft in der ge-
fürsteten Grafschaft Tirol zu diesem Rechte gekommen ist.
Hierüber finden wir in der bisherigen Literatur Angaben, die an
sich nicht ganz einhellig und ausgeglichen sind, aber auch sonst
einer Nachprüfung an der Hand der Quellen bedürfen. Es emp-
fiehlt sich, vorerst diese Angaben hier in Kürze vorzuführen.
Gleich hier sei auch bemerkt, daß man in Tirol die Körperschaft
der Landstände stets als,, die Landschaft“ bezeichnet hat!. Auf
die Grafschaft Tirol, die im 13. Jahrhundert durch die territoriale
Vereinigung der in den Alpen gelegenen Teile des Etsch- und
des Inntales entstanden ist, ist der Begriff und Ausdruck „Land““
(„terra“) fast gleichzeitig, nämlich seit dem Ende des 13. Jahr-
hunderts angewendet worden?. Dieser Begriff mußte natürlich
vorher gegeben sein, ehe sich der Begriff „Landschaft“ in dem
angedeuteten verfassungsrechtlichen Sinne bilden konnte.
In sehr breiter Anlage hat in den Jahren 1881—1885 Albert Jägers Werk
„Geschichte der landstündischen Verfassung Tirols" den Gegenstand behandelt.
Der 1. Band bietet eine Sozial- und Verfassungsgeschichte Tirols für die Zeit vom
6. bis 13. Jahrhundert, womit der Verfasser die Entwicklung der Stände erklären
wollte. Manche Abschnitte dieses Bandes sind allerdings durch die spátere Forschung
weit überholt worden, andere harren noch dieses Schicksals, aber im ganzen war
es für die damalige Zeit eine gute Leistung exakter Geschichtsdarstellung. Der 2. Band
bringt eine politische Geschichte der Landstünde Tirols vom Anfang des 14. bis zu
jenem des 16. Jahrhunderts, eine zeitlich angeordnete, in alle Einzelheiten eingehende
Darstellung des Auftretens der Landstánde in Tirol, ihrer politischen Handlungen
und Verhandlungen. Die quellenmäßigen Unterlagen Jägers reichen in beiden
Bänden allerdings meist nur soweit, als sie damals durch den Druck bekannt waren,
diese führt er aber mit jener Genauigkeit an, die eine rasche Überprüfung seiner
Darlegung ermóglicht und sein Werk gerade auch zum Nachschlagen sehr brauchbar
! Náheres über das Aufkommen dieser Bezeichnung siehe unten S. 729.
3 Vgl. Stolz, Begriff des tirol. Landesfürstentums in Schlernschriften Bd.9 (1925),
S. 4221f.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 101
macht. Das ungedruckte Quellenmaterial, das im Archive der Innsbrucker Regie-
rung und in anderen Archiven vorhanden ist, hat Jüger nicht herangezogen, nur
einige Handschriften des landschaftlichen Archives und des Stadtarchives Meran.
Daher fehlt bei ihm die Verwertung der vielen in Druck nicht bekannten landes-
fürstlichen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts, die manchen Hinweis auf die
Anfänge der Landstände geben können, so wie der Akten und Verhandlungsschriften,
die über die Tätigkeit der Landschaft seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vorhanden
sind. Die vollstándige Sammlung und Veróffentlichung derselben würe wohl eine
der lohnendsten Aufgaben, die die landesgeschichtliche Forschung für Tirol — glück-
licherweise, möchte ich sagen — noch vor sich hat. Jägers Werk hat aber — bei
aller Verdienstlichkeit, die man ihm billigerweise nicht absprechen soll — einen
weiteren erheblichen Mangel. Jäger hätte nämlich im 2. Bande nicht bloß eine
zeitlich geordnete politische Geschichte der Landstände geben sollen, sondern we-
nigstens in einem Abschnitte auch eine systematische Darstellung ihrer Verfassung.
In zwei „Rückblicken“, die Jäger im 2. Bande, 1. Teil, S. 393—411 und 2. Teil,
S. 513—517 einfügte, suchte er zwar jenem Mangel abzuhelfen, allein diese Rück-
blicke sind im Verhältnis zur sonstigen Anlage des Werkes allzu knapp geraten, um
die einzelnen Elemente der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Tiroler
Landschaft in voller Deutlichkeit aufzuzeigen. So müssen wir uns dieselben immer
wieder aus seiner weitläufigen zeitlichen Schilderung zusammensuchen.
Die Hauptmomente der Entwicklung der landständischen Verfassung Tirols
sind nach Jäger folgende: Aus Urkunden seit rund 1300—1320 ergibt sich, daB bei
gewissen Verfügungen des Landesfürsten nicht nur die Zustimmung des von ihm
aus den obersten Würdenträgern des Hofes und der Regierung gebildeten „Rates“,
sondern auch anderer angesehener Personen des Landes eingeholt worden ist (Jüger2,
1, S. 15 und 25ff.). Für die Zusammensetzung und die Befugnisse der Landstánde
findet Jäger (S. 83f.) die ersten Angaben in dem Freiheitsbriefe Markgraf Ludwigs
für die Tiroler Landschaft vom Jahre 1342. Denn als Empfánger desselben werden
angeführt außer dem Adel „die Gotteshäuser, Städte, Märkte und Dörfer, alle
Leute, edel und unedel, arm und reich, wie sie heißen und wie sie gelegen oder ge-
sessen sind in der Grafschaft Tirol“. Jäger bemerkt, daß der Freiheitsbrief zwar auf
Grund von Verhandlungen zwischen dem Adel und dem neuen Landesfürsten zu-
stande gekommen sei, daß er sich aber auf ‚alle Klassen und Stände des Landes“
beziehe. Er betont aber zu wenig entschieden, daß laut dieser Urkunde alle diese
Stände an der Vertretung des Landes damals gewohnheitsmäßig Anteil gehabt
haben und ihnen dieses Recht nun verbrieft werden sollte. Auch die Befugnisse, wie
sie in dieser Urkunde den Ständen zugesichert werden, gibt Jäger S. 84 richtig an,
aber auch wieder nicht mit jenem Nachdruck, daß sie als eine Hauptsache in die
Augen springen würden. Noch mehr schwächt Jäger seine Erörterung über den
Freiheitsbrief von 1342 durch die Bemerkungen im weiteren Verlaufe seiner Dar-
stellung ab. So sagt er S. 172, Herzog Rudolf von Österreich habe nach der Erwer-
bung Tirols im Jahre 1363 „die Städte und Landgemeinden in die politisch berech-
tigten Landstände eingeführt". Er folgert dies daraus, daß eine Urkunde dieses
Fürsten „die gemeine Landschaft, edel und unedel, arm und reich“ anführe. Daß
die Städte und Märkte „zum ersten Male an einer Versammlung der Landschaft
teilgenommen hätten“, schließt Jäger S. 120 aus einem Schreiben vom Jahre 1362,
das zwar stark an spätere Erfindung anklingt, von Alfons Huber aber als echt ver-
702 Otto Stolz
teidigt wird. Ungeachtet dieser Feststellungen bezeichnet Jäger (2, 1, S. 262) die
Einigung, welche die Herrn und Ritter Tirols mit den städtischen und ländlichen
„Gemeinschaften“ zur Sicherung ihrer Rechte auch gegenüber dem Landesfürsten
im Jahre 1407 geschlossen haben, als „die erste Verbindung des Adels mit den Städten
und Gerichten“ und als „den ersten Bund der sich wechselseitig anerkennenden
vier Stände Tirols“. (Die Urkunde dieser in der späteren Literatur anscheinend
ohne Grund als „Falkenbund“ bezeichneten Einigung ist neuerdings abgedruckt
bei Schwind und Dopsch, Urk. z. öst. Verf.-Gesch., S. 304 und bei Sander und Span-
genberg, Urk. z. deutschen Verf.-Gesch., Bd. 2, 3 S. 40.) Es ist richtig, daB dies die
erste beurkundete Einigung zwischen den genannten Ständen der tirolischen Land-
schaft ist, aber unrichtig wàre zu behaupten, daB bei dieser Gelegenheit überhaupt
die Städte und Gerichte überhaupt zum ersten Male neben dem Adel als politischer
Stand anerkannt werden. Von einer weiteren solchen Einigung vom Jahre 1416,
als deren Glieder die betreffende Urkunde „Herren, Ritter und Knechte, Städte und
Märkte, Täler und Gerichte“ anführt, meint Jäger (Bd. 2, 1, S. 328), daB hier „die
bäuerliche Bevölkerung zum ersten Male mit den anderen Ständen, Adel und Städte
gleichberechtigt bei den wichtigsten Landesangelegenheiten mitwirkend erscheine".
Diese Behauptung Jägers steht ebenfalls in Widerspruch zu seinen eigenen Aus-
führungen über den Freiheitsbrief von 1342. Richtig ist nur, daß der Ausdruck „Täler
und Gerichte“ zur Bezeichnung der Landgemeinden hier erstmals in Verbindung mit
landständischen Rechten aufscheint. Jedoch nicht überhaupt, denn wie Jäger S.180
selbst mitteilt, spricht Bischof Johann von Brixen im Jahre 1368 von „dem Bauern-
volk seiner Täler und Gerichte“, das er gegen das Heer der Herzoge von Bayern
aufgeboten habe. Endlich verweist Jäger S. 301 ohne weitere Auseinandersetzung
auf die „Volkssage“, laut der Herzog Friedrich von Österreich (als Landesfürst von
Tirol von 1406—1439) dem Tiroler Bauernstand die Teilnahme an der Landschaft
verschafft habe.
Fehlt so in der Darstellung Jägers in der Frage des Alters der Landstandschaft
der Tiroler Bauern die nötige Klarheit und Entschiedenheit, so erklärt es sich, daß
jene von der allgemeinen Literatur nicht in seinem Sinne übernommen
worden ist. Daß der Adel in Tirol seit dem Ende des 13. Jahrhunderts landständische
Rechte ausgeübt habe, hat man zwar aus Jägers Darstellung anerkannt, hinsichtlich
des Bauernstandes ließ man aber den Freiheitsbrief von 1342 völlig unter den Tisch
fallen. A. Luschin sagt in seiner Österr. Reichsgeschichte (Ausgabe von 1896,
S. 180 und von 1914, S. 217), daß ‚in Tirol die Bauernschaft der Täler und Gerichte
seit Anfang des 15. Jahrhunderts bzw. seit 1416 an der Landschaft beteiligt sei".
Die Österr. Reichsgeschichte von A. Huber (1. Aufl. 1894) und A. Dopsch (2.Aufl.
1901, S. 78) sieht in einer Urkunde vom Jahre 1363, in der „die Landschaft gemeinig-
lich, edel und unedel, arm und reich" genannt werde, den ersten Hinweis, dab
„vielleicht Vertreter auch einzelner Landgemeinden‘ an einer Versammlung der
Landschaft teilgenommen hätten“. Ferner erklärt Huber u. Dopsch a. a. O., dab
Wendungen wie „gemeiniglich alle Landesleute' oder „gemeiniglich all unser Landes-
volk“ in landesfürstlichen Urkunden von 1404, 1406 und 1415 ‚wohl schließen
lassen, daB auch Vertreter der Bauern zu den damaligen Beratungen beigezogen
* Die Urkunde ist näher angeführt bei A. Huber, Gesch. d. Vereinigung Tirols
mit Üsterreich (1863), S. 94, Anm. 2 und S. 232, Reg. 330.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 703
worden sind“, bzw. daß „ohne Zweifel“ dies geschehen sei“. E. Werunsky's Österr.
Reichs- und Rechtsgeschichte, deren Lieferungen über Tirol in den J. 1917—1926
erschienen und sonst sehr sorgfältige Darlegungen über Verfassung und Verwaltung
enthalten, bringt auffallender Weise nichts über die Landstände, vielleicht ist dies
einer weiteren Lieferung dieses Werkes vorbehalten.
G. Below in seinem Buche „Territorium und Stadt“ (1900) S. 219f. schließt
sich dieser Meinung, daB in Tirol „die freie Bauernschaft der Täler und Gerichte
sicher seit 1415 zu den Landständen gehöre“, an und fügt die bedeutungsvolle weitere
Annahme hinzu, daß „hiebei in Tirol ohne Zweifel das Vorbild der Schweiz maß-
gebend mitgewirkt habe“ (vgl. dazu unten im nächsten Heft). Nach O. Gierke,
Deutsches Genossenschaftsrecht (1868, Bd. 1, S. 540) ist der Bauernstand in Tirol
zeit dem Anfang des 15. Jahrhunderts der vierte Landstand geworden. Nach H.
Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, neu bearbeitet von Schwerin
(1930) S. 159 haben die Bauern in Tirol „das Recht der Landstandschaft seit
1407 erworben“, während R. Schröder in seinem Lehrbuch der deutschen Rechts-
geschichte, 6. Aufl. bearbeitet von E. KünBberg (1922) S. 671, hierfür keinen
näheren Zeitpunkt angibt, ebenso nicht H. Spangenberg (Vom Lehensstaat zum
Ständestaat 1912, S. 144) und F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte
(2. Aufl. 1928, S. 34f.). Letzterer unterschätzt überhaupt die Bedeutung der
Landstandschaft des Bauernstandes in Tirol (vgl. dazu unten). O. Hintze erwähnt
in seiner Abhandlung „Typologie der ständischen Verfassungen“ (Histor. Zeitschrift,
Bd. 141, 1930, S. 233ff.) für die deutschen Länder nur das Dreikuriensystem —
Geistlichkeit, Adel, Bürger —, übergeht die Teilnahme des Bauernstandes in einigen
wenigen deutschen Ländern, darunter eben Tirol, wohl aber führt er für die Ver-
fassung Schwedens wegen des Hinzutrittes des Bauernstandes den Ausdruck „Vier-
kuriensystem" ein.
Wáhrend also hier eigentlich nur festgestellt wird, wann in Tirol die Bauern
erstmals als Glied der Landschaft auftreten, gibt hierfür A. Dopsch in seiner kürz-
lich veröffentlichten Vortragsreihe über die „Die ältere Wirtschafts- und Sozial-
geschichte der Bauern in den Alpenländern Österreichs“ (gedruckt Oslo 1930)
8.118f. eine nähere Erklärung. Infolge der Kämpfe, welche Herzog Friedrich, der
damalige Landesfürst von Tirol, 1415 und in den nächsten Jahren gegen die vom
Kaiser gegen ihn aufgerufenen Schweizer sowie besonders gegen den Adel des eigenen
Landes zu führen hatte, habe jener „um einen Rückhalt zu gewinnen, die Bauern
begünstigt und ihnen geradezu eine Vertretung auf den Landtagen als vierter Stand
gewährt“.
* Der von Huber angeführte Freiheitsbrief von 1406 hat nicht, wie dieser
schreibt, den Ausdruck „land volk“ sondern „landesvolk“ ebenso wie jener von
1415 „landesleute“. Der Ausdruck soll demgemäß die Gesamtheit des Volkes bzw.
der Leute andeuten, die im Lande wohnen und zu ihm gehóren, nicht aber etwa
Landleute oder Bauern zum Unterschied von Städtern. Denselben Sinn hat der
Ausdruck „gemainleich all landsleut unsers landes und der grafschaft ze Tyrol und
in dem Intal" in der Landesordnung von 1404, die Huber nach einem unvoll-
kommenen älteren Abdrucke anführt, seit 1903 in der zuverlässigen Wiedergabe
bei Wopfner, Gesch. d. Erbleihe Deutschtirols (1903), S. 203 vorliegt und zu
benützen ist.
704 Otto Stolz
Diese Auffassung wird in ähnlicher bestimmter Form auch in der älteren
Tiroler Geschichtschreibung, wie sie vor Jägers Werk erschienen ist, ausgesprochen,
so in J. Eggers Geschichte von Tirol, Bd.1, S. 628 (1870) und bei Staffler, Tirol,
1. Teil, S. 625 (1839). Dieser sagt: „Im Jahre 1363 wird bei der Übergabe des Landes
an Österreich der vierte Stand ziemlich deutlich unterschieden. Doch erst von
Herzog Friedrich mit der leeren Tasche im Jahre 1417 erhielten die Bauern, deren
Treue gegen den unglücklichen, in Kirchenbann und Reichsacht gefallenen Fürsten
nicht wankte, sondern sich glänzend bewährte, allgemeine Freiheit, Eigentum und
förmliche Landstandschaft. 1420 kam der erste Landtagsabschied zu Stande." Das-
selbe behauptet J. Hórmann in seinem 1816 ohne Verfassernamen erschienenen
Buche Tirol, S. 148, und eine im Jahre 1778 erschienene Geschichte der Grafschaft
Tirol, die dem Archivar C. A. Roschmann zugeschrieben wird, S. 72: „Herzog
Friedrich habe die Leibeigenschaft aufgehoben und das Erbleiherecht eingeführt,
dadurch die Bauern als den vierten tirolischen Landstand am meisten gekräftigt.“
Weiter zurück kónnen wir in der tirolischen Geschichtschreibung diese Meinung
nicht verfolgen, die Brandis und Burglechner erwühnen nichts davon, vielleicht
weil man im 17. Jahrhundert nicht so bauernfreundlich eingestellt war wie in der
Theresianischen Zeit. Diese Behauptungen können sich aber auch nicht auf Urkunden
stützen, sondern sind frei erdacht. Es ist nicht der geringste Anhalt dafür gegeben,
daB Herzog Friedrich hinsichtlich der Leibeigenschaft etwas verfügt habe; nach
einem amtlichen Gutachten vom Jahre 1769 schrieb man übrigens die Aufhebung
derselben dem Kaiser Max I. als tirolischem Landesfürsten zu (vgl. Stolz, im Arch.
öst. Gesch., Bd. 102, S. 138f., wo diese letztere Behauptung auf das richtige geschicht-
liche MaB zurückgeführt wird). Die gesetzliche Festigung der Erbleihe in Tirol
brachte die Landesordnung von 1404, die nicht Herzog Friedrich, sondern sein
älterer Bruder und Vorgänger, Herzog Leopold, erlassen hat. GewiB ist richtig,
wie Ladurner (Zt. Ferd. 1860, S. 124) und nach ihm Egger a. a. O. angeben,
daB Herzog Friedrich den Bürger- und Bauernstand neben dem Adel zur Beratung
der Landesangelegenheiten herangezogen hat, aber zur Annahme, daB dies unter
Herzog Friedrich zuerst geschehen sei, fehlt jede positive Unterlage in der zeit-
genóssischen schriftlichen Überlieferung. Diese wird allerdings seit 1417 für die Be-
tátigung der Landstánde gegenüber früher viel reichhaltiger und bestimmter, aber
für alle Stände, nicht etwa bloß für die zwei unteren. Auch für die zwei oberen
Stände kommt vor 1417 nicht wesentlich mehr in den einschlägigen Urkunden vor
als für die beiden unteren. Von der speziellen Literatur über die Regierung Herzog
Friedrichs von Tirol enthält das Buch von Clemens Brandis (1823), das auch einen
sehr reichen Anhang von Urkunden bringt, keinen Hinweis auf besondere Mab-
nahmen zugunsten des Bauernstandes. Beda Weber, Herzog Friedrich und Oswald
von Wolkenstein (1850) schreibt S. 333f. dem Herzog die bewuBte Einführung einer
Reihe neuer Grundsätze für „die tirolische Staatslehre“ (er wollte damit sagen
„Staatsrecht“) zu, die aber in Wahrheit zum Teil schon früher vorhanden, zum Teil
erst spáter zur Reife gelangt sind. Darunter wird auch angeführt, daB die Landtage
von den Fürsten nach dem Bedürfnis des Landes einzuberufen seien und daß gemäß
der bisherigen Gewohnheit hierbei Adel und Volk teilzunehmen und in allen An-
gelegenheiten mitzusprechen hátten. Weber scheint also die Heranziehung der unteren
Stánde nicht als eine Neuerung Herzog Friedrichs zu betrachten, wie es auch durch-
aus richtig ist. A. Noggler, der die Niederwerfung der Herren von Starkenberg
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 705
durch Herzog Friedrich an der Hand des gesamten im Innsbrucker Staatsarchiv
vorhandenen archivalischen Stoffes neu bearbeitet hat (Programm des Gymnasisums
Innsbruck 1882/3 und Zt. d. Ferd., Bd. 27), sieht in diesem Vorgang und überhaupt
in der Bändigung des Tiroler Adels, der damals offen die Reichsunmittelbarkeit
und damit die Zertrümmerung des tirolischen Landesfürstentums angestrebt hat,
mit Recht die besondere Bedeutung der Regierung dieses Fürsten. Jenes Ziel der
Adelsbündner geben klipp und klar die Aussagen ihrer gefangenen Hauptleute vom
Jahre 1423 wieder (wórtlich mitgeteilt aus einem gleichzeitigen Kanzleibuch von
Noggler in der Zt. d. Ferd. 26, S. 172). Daß Herzog Friedrich den unbotmäßigen
Adel nur mit Hilfe der kriegerischen Aufgebote der Bürger und Bauern niedergewor-
fen hat, ist hinreichend belegt (s. unten S. 735). Wenn Noggler (Programm 1883,
S. 38) erklärt, daB gerade deshalb „der tirolische Adel fortan die Leitung der
landesangelegenheiten — besser wäre zu sagen, die Mitwirkung hierbei im Wege
der Landschaft — mit dem Bürger und Bauer teilen muBte, so ist das an sich richtig.
Aber es darf auch dies nicht so aufgefaBt werden, daB die rechtliche Grundlage für
diese politische Bedeutung des Bürger- und Bauernstandes erst damals geschaffen
worden ist, jene ist hóchstens seit der Regierung Herzog Friedrichs zu einer noch
stärkeren politischen Geltung gekommen. H. Wopfner, Die Lage Tirols am Aus-
gang des Mittelalters (1908) S. 117 erklürt ohne auf Einzelheiten einzugehen, daB
unter Herzog Friedrich (der eben von 1410—1439 in Tirol regiert hat) die formelle
Entwicklung des Ständewesens in der Hauptsache zum Abschluß gelangt sei. Diese
Ansicht ist den bisher dargelegten Auffassungen angepaßt, ohne über die Frage,
wann die Landstandschaft der Bauern in Tirol zuerst auftritt, etwas Bestimmtes
auszusagen.
Mit einem Worte, für die gesamte Literatur gilt es als ausge-
macht, daß die Bauernschaft von Tirol erst seit dem Anfang
des 15. Jahrhunderts das Recht der Landstandschaft dauernd
erworben und besessen habe. Allein schon mit Rücksicht auf
die oben angedeuteten Darlegungen Jägers über den Freiheits-
brief von 1342 erscheint diese Auffassung einer näheren Nach-
prüfung in dem Sinne bedürftig, ob jenes Recht des Bauern-
standes nicht doch etwa hundert Jahre älter ist. Es sind ferner.
noch Urkunden, die Jáger nicht bekannt wurden, anzuführen,
die diese Frage in ein neues Licht rücken. Ich habe nun hierauf
bereits vor einigen Jahren mehrfach hingewiesen, aber nicht an
Stellen, die von der Fachwissenschaft beachtet zu werden pflegen,
und auch nicht mit jener quellenmäßigen Ausführlichkeit, die
nötig ist, wenn eine bisherige Lehrmeinung abgeändert und dies
begründet werden soll. Das móge nun durch die folgende Dar-
legung geschehen‘.
5 In folgenden kleineren Abhandlungen habe ich die vorerwühnte Frage be-
rührt: „Das staatliche Selbstbestimmungsrecht in der Geschichte Tirols“ (Sonder-
schrift des Andreas-Hofer-Bundes Innsbruck 1921, 16 S.). ,,Die alte Tiroler Landes-
Histor. Vierteljahrscbrift. Bd. 28, H. 4. 45
706 Otto Stolz
IL Ständisches Auftreten der Bauern in Tirol
vor dem 14. Jahrhundert.
Als den áltesten Keim der landstándischen Verfassung Tirols
bezeichnet Jäger (Bd. 2, 1, S. 8ff.) die Tatsache, daß laut Ur-
kunden des 12. und 13. Jahrhunderts bei den Grafschafts-
und Gerichtstagen die Insassen der betreffenden Gebiete an-
wesend waren, so insbesondere die „universi incolae provinciae
für die andechsische Grafschaft im Inntal (mit Innsbruck als
Mittelpunkt) zum Jahre 1187, und für das Landgericht Bozen
1293 die Edeln und Dienstmannen, Bürger und Bauern (, nobiles
magnates et ministeriales, cives et cultores“)s. Jäger wollte
damit den gewiß richtigen Gedanken ausdrücken, daß diese
Mitwirkung der Bevólkerung an den óffentlichen Angelegen-
heiten innerhalb der alten Grafschaften und Landgerichte es
nahegelegt hat, jener ein ähnliches Recht für die Angelegen-
heiten des ganzen Landes zu geben, das durch die Vereinigung
eben dieser alten Grafschaften und Landgerichte entstanden
war. Außer den von Jäger hierfür erwähnten urkundlichen Be-
legen sind noch zwei andere anzuführen: Zum Jahre 1078 er-
scheinen die „comprovinciales“, d. h. Landsgenossen der Graf-
schaft Bozen bei dem „placitum“, dem Taiding derselben’. Als
Graf Albert von Tirol im Jahre 1230 dem Kloster Neustift bei
Brixen das Eigentumsrecht an den von ihm angelegten Neu-
rodungen in der Umgebung desselben verlieh, tat er dies mit
Zustimmung der „ganzen Gemeinde der (zuständigen) Graf-
schaft Raas, der Reichen und Armen, Edlen und Unedlen, Ritter
und Bauern“. Es war also nicht nur der Adel, sondern auch der
verfassung — ein Erbstück bodenständiger Demokratie" in Tir. Heimat, Bd.2
(1922), S. 39—53. „Die Magna Charta des Landes Tirol (1342) in der Zeitschrift
„Tirol“, 2. Folge, 2. Heft (1929) S. 8—17 mit Schriftabbild der Landesfreiheit von
1342. „Die alte Verfassung des Landes Tirol" in den Schweizer Monatsheften,
10. Jg. (1930) S. 403—413. Von fachwissenschaftlicher Seite hat A. Wretschko
in seiner Abhandlung „Zur Geschichte der Tiroler Landesfreiheiten" in Schlern-
schriften, Bd. 9 (Festschrift für Ottenthal 1925) S. 312 f. meine Darlegungen gebilligt.
* Die Urkunden von 1293 seither auch abgedruckt bei Schwind und Dopsch,
Urk. z. öst. Gesch. S. 146f.
7 Mon. Boica 9, S. 372; vgl. Stolz im Arch. öst. Gesch. 102, S. 109.
* Mairhofer, Urkundenbuch von Neustift, Font. rer. Austr. 34, S. 90: ,, „
consenciente tota communitate ... divitum pauperum, nobilium et ignobilium,
militum, rusticorum omnimodum ...* |
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 707
Bauernstand vor Erlaß einer solchen, die Rechte der umliegen-
den Gemeinden berührenden Anordnung befragt wurden. Ähn-
lich befreit im Jahre 1227 Graf Albert von Tirol einen Hof des-
selben Klosters in der Nähe von Klausen von allen Rechten der
Grafschaft und der Gemeinde ausdrücklich mit dem Rate und
der Zustimmung aller Nachbarn?. 1218 übereignet derselbe Graf
dem Stifte Marienberg einen bisher der Gemeinde Mais bei
Meran gehórigen Grund, aber nicht er allein, sondern zusammen
mit seinen Ministerialen und Leuten und der ganzen Gemeinde!?,
Wenn jene Urkunde von 1230 zur Kennzeichnung der Ge-
samtheit der Bevólkerung die Formel ,,Edel und Unedel,
Reich und Arm, Ritter und Bauer‘ verwendet, so können
wir hierzu Anklänge auch in anderen Urkunden jener Zeit aus
dem Gebiete Tirols anführen. So werden in Brixner Urkunden
von 1250, 1264 und 1282 die Untertanen des Hochstiftes Brixen
und der Gerichtsherren von Kastelruth und Schóneck zusammen-
fassend als „nobiles et ignobiles“ bezeichnet!!. Diese Un-
edlen oder Gemeinen sind eben die Bürger und Bauern zum
Unterschiede von Edlen oder den Rittern. Als die Gemeinde
Schleis im obern Vinschgau im Jahre 1292 das Stift Marienberg
in ihren Verband aufnahm, werden die Angehórigen oder Nach-
barn derselben auch als ,,Edle und Unedle, Vornehme und Ge-
ringe“ 12 genannt. Andererseits wird im Innsbrucker Stadtrechte
von 1239 die Teilnahme an der Gemeinweide der ,, Gesamtheit
der Reichen und Armen“ zugesprochen?®, 1331 erläßt der Lan-
desfürst von Tirol in einer ähnlichen Sache — wegen Weide-
nutzung — einen Schutzbrief für die „armen Leute“ gegenüber
den „edlen Leuten“ der Gemeinde Eppan bei Bozen“. In einem
A. a. O. S. 87: „... ab omni jure comicie atque communitatis convicinorum
sano consilio et bona omnium voluntate atque consensu."
19 ,... ministeriales et nostri homines et tota universitas de Mays“ (Goswin
von Marienberg ed. Schwitzer, S. 72).
11 Santifaller, Urkunden d. Arch. v. Brixen, S. 130, 153, 220. — Auch in einer
weiteren Urkunde von 1266 Dez. 10 (Staatsarchiv Innsbruck Urk. II 521), einem
Vertrag zwischen dem Bischof Bruno von Brixen und dem Edlen Hugo v. Taufers
wird von den beiderseitigen „nobiles et ignobiles“ gesprochen.
13 „. .. Vicini ... nobiles et ignobiles, maiores et minores“ (Goswin v. Marien-
berg ed. Schwitzer, S. 110). Noch früher bringt die Formel „nobiles et ignobiles“
eine Urk. v. 1158 für den Vintschgau (Veróff. d. Ferd. 12 S. 294).
18 „ .. universitati divitum et pauperum" (Schwind u. Dopsch, Urk. z. öst.
Gesch., S. 80). 1* Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 2, S. 37.
45*
708 Otto Stolz
in sozialer Hinsicht höchst merkwürdigen Testamente des tiro-
lischen Kanzlers Heinrich vom Jahre 1306 vermacht dieser dafür,
daß er durch seine Ämter von den „Reichen und Armen“ vielen
Nutzen gezogen habe, den letzteren hohe Geldbetràge!5. Laut
einer Stiftung, die im Jahre 1332 für das Deutschordenshaus in
Sterzing gemacht wurde, soll der davon gehaltene Gottesdienst
„den purgeren von Sterzing und allen lantherren in dem Wibtal
und allem lant, reichen und armen“ zugute kommen!®. Diese
„Armen“ sind jedenfalls die weniger bemittelten und hart ar-
beitenden Leute des Bauern- und Handwerkerstandes, aber der
Zusammenhang der meisten dieser Urkunden zeigt doch, daß
sie als Mitglieder der ländlichen und städtischen Gemeinden ge-
wisse politische Rechte gehabt haben.
In einem Privileg des Tiroler Landesfürsten für den Deut-
schen Orden vom Jahre 1311 wird den Mitgliedern desselben
zugesichert, daß über diese nur Adelige und landesfürstliche
Dienstmannen, nicht aber Bürger und andere gemeine Leute
zu Gericht sitzen sollen!**. Diese anderen gemeinen Leute
sind dann eben Bauern, der Ausdruck „gemein“ entspricht dem
„unedel“.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß diese Bezeichnungen
edel und unedel, reich und arm in Tirol schon im 13. und be-
ginnenden 14. Jahrhundert vorkommen, denn wir finden sie in
bedeutsamem Zusammenhange hier auch in den ersten land-
ständischen Freiheitsbriefen; um ihr Auftreten in den letzteren
zu erklären, braucht man daher nicht Ubertragungen aus ähn-
lichen Urkunden benachbarter Länder, insbesondere Baierns
anzunehmen, sondern sie können in Tirol selbst aus ihrer
früheren Verwendung in die Verfassungsurkunden übernommen
worden sein.
Der Bauer wird in seiner Abhängigkeit vom Grundherrn,
die wohl auch in Tirol im weitesten Umfange bestanden hat, in
den lateinischen Urkunden des 11. bis 13. Jahrhunderts als
»,colonus'' bezeichnet. Daneben wird aber auch ein anderer
Ausdruck dafür verwendet, der weniger die Abhängigkeit von
Heuberger, Kanzleiwesen d. Grafen von Tirol in Mitt. d. Inst. öst. Gesch.
Erg., Bd. 9, S. 887.
1* Schadelbauer in Schlernschriften, Bd. 12, S. 70.
1** Siehe Ladurner in der Zt. d. Ferd. Bd. 10 S. 368.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 709
den Grundherrn, als vielmehr die Tätigkeit als Bodenbebauer
im Auge hat, nämlich „rusticus“ oder auch „cultor“, also
eine eigentliche Standesbezeichnung ist. Wir finden dieselbe in
den Traditionsbüchern des Hochstiftes Brixen besonders im
12. Jahrhundert", ferner in Urkunden für Bozen aus dem Jahre
1190 und 1293. In einer Satzung, die Bischof Konrad von Trient
im Jahre 1190 zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen den
Gemeinden Bozen und Gries mit deren Zustimmung erlassen
hat, werden einleitungsweise die drei Stánde dieser Gemeinden
angeführt: nämlich „Ritter, Bürger und Bauer“ 1s. Die Gerichts-
ordnung von Bozen von 1293 bringt eine ähnliche Reihe, wobei
aber das deutsche „Bauer“ statt mit „rusticus“ mit „cultor“
wiedergegeben wird!“. Reimprecht von Voitsberg verspricht im
Jahre 1277 die Untertanen des Bischofs von Brixen nicht zu be-
lästigen, weder die Dienstmannen und Diener, noch die Bürger
und Bauern“. In einer Urkunde Graf Meinhards von Tirol von
1284 werden die Leute auf Schenna bei Meran, die gewisse
Frondienste zu leisten haben, als „rustici“ bezeichnet?!. In
Sarntein werden zu einem Schiedsgerichte im Jahre 1333
20 Adelige (nobiles) und 40 Bauern (rustici) herangezogen??,
Vor dem landesfürstlichen Hofgerichte zu Bozen wird im Jahre
1322 festgestellt, daB die Edelleute (nobiles), die einen Bürger
oder Bauer (civis seu rusticus) verletzen, vor dem Gerichte, in
dem letztere wohnen, zu belangen seien, nur wenn sie dort nicht
zu Recht stehen wollen, vor dem Gerichte des Landesfürsten.
Es wird also hier ein Unterschied zwischen dem Adel und den
beiden unteren Ständen in gerichtlicher Hinsicht als bisherige
Gewohnheit betont:“.
1? Deutschmann, Entstehung des Tir. Bauernstandes (1913), S. 127f. Dazu
die bereits oben S. 706 angeführte Urkunde von 1230 für Neustift bei Brixen.
15... miles, burgensis, rusticus" (Kink Cod. Wang. Font. Austr. 5, S. 101).
19 Siehe oben S. 706.
39 „ .. ministeriales et servitores, cives et rusticos" (Santifaller, Urk. Brix.
S. 207).
31 Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/2, S. 180, Reg. 33. Hingegen ,,cultor''
für Algund a. a. O., S. 184, Vr. 3a.
33 A. a. O. S. 13.
*Die Urkunde (aus dem Archive Gandegg zu Eppan, Abschrift Ladurners
und Durigs im Besitze der hist. Komm. des Ferd.) ist eine der ältesten für das landes-
fürstliche Hofgericht (s. unten S. 719) und hat folgenden, bisher noch nicht bes pro-
chenen Inhalt: 1322 Juni 23. „Bozani coram novo hospitali S. Spiritus.“ Vor dem
710 Otto Stolz
Besonders beachtenswert sind die Bezeichnungen für die
bäuerliche Bevölkerung, die in einer landesfürstlichen Verord-
nung über eine allgemeine außerordentliche Vermögensabgabe
vom Jahre 1312 enthalten sind, weil sie eben für das ganze Land
einheitlich verwendet werden“. Die steuerpflichtigen Personen
sind nach dieser Verordnung „quilibet colonus“, d. h. jeder
Bauer und zwischen ihnen wird nur unterschieden, ob der
Bauer Eigengut oder Lehen-, d. i. grundherrliches Leihegut
(bona propria seu feudalia) besitze, und bei letzterem, ob zu
Erbrecht oder auf Zeitpacht. Von diesen ,,bona propria, die man
freyes aygen nenne‘, sagt die Stiftungsurkunde des Grafen
Meinhard II. von Tirol für das Kloster Stams vom Jahre 1275,
daB sie bzw. ihre Besitzer ihm als Herrn der Grafschaft in be-
sonderer Weise zugehóren und solche Güter dem Stifte nicht
vermacht werden dürfen”.
Den deutschen Ausdruck „Bauer“ finden wir erstmals in
einer Urkunde von 1318, mit der Seifried von Rottenburg, der
damalige Richter zu Hall im Inntal, „die paurschaft ze Ar-
celle und uf dem Wald“ (die heutigen Gemeinden Arzl und Gna-
denwald) auf Klage des Abtes von Georgenberg gerichtlich an-
weist, die Steuerfreiheit der in ihrem Bereiche gelegenen Höfe
dieses Stiftes zu achten®. Im Jahre 1315 nahm Konrad der Ar-
berger, Pfleger zu Taufers im Pustertale, über das Patronat an
der dortigen Pfarrkirche eine Kundschaft auf mit ,,den tiwristen
(d. h. angesehensten) und mit den eltisten ze Taufers, mit ritter
und mit chnechten und mit den eltisten der gemaine der pau-
leute‘‘??, Also auch hier werden die Bauern — unbeschadet ihrer
Landesfürsten von Tirol K. Heinrich und mehreren Adeligen klagt die Frau Villiebis,
Witwe des Martin Chombostus, und ihr Sohn Batolomeus gegen den Herrn Haeclinus
de novo burgo Bozani, daß dieser den ersteren mit einem Steinwurfe verwundet
habe. Der Beklagte stellt die Tat in Abrede und, wenn er sie getan hätte, so bestreitet
er die Zuständigkeit des Gerichtshofes. Der Landesfürst läßt darüber einen Spruch
fällen und dieser lautet: ,,Si quis nobilis homo in terra Bozani aliquem de civibus
seu rusticis male tractaret verbis operibus aut vulneribus, quod de hoc stare debet
juri coram illo judice, in cuius judicio factum esset, secundum consuetudinem
hucusque conservatam et si hoc vellet protrahere aut juri non dare, quod tunc
stare debeat juri coram dicto domino Heinrico rege."
* Vollinhaltlich mitgeteilt bei Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/2, S. 247.
Rapp, Beschr. d. Diözese Brixen 3, S. 286.
3* Arch. Gesch. Tirol, Bd. 4 (1869), S. 58.
# Staatsarchiv Innsbruck Cod. 18, fol. 114.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 111
besonderen grundherrlichen Abhängigkeit — als Ganzes, als ein
Stand den Adeligen, Rittern und Knechten, das waren die
Kriegsleute, die nicht den Ritterschlag empfangen hatten,
gegenübergestellt.
Vielfach werden die Bauern auch kurzweg in die Bezeichnung
„homines“, Leute, mit eingeschlossen. So wird in den Ver-
trägen, die im 13. Jahrhundert wegen des Gebietsumfanges
der Grafschaft Tirol geschlossen wurden, die Bevólkerung, die
zu dem betreffenden Gebiet gehórt, in zwei Klassen angeführt,
nämlich ,,ministeriales et ceteri homines‘‘, das sind die adeligen
Dienstmannen und alle übrigen Leute, darunter auch die
Bauern?», In einem Vertrage von 1290 sichern sich die beiden
Landesfürsten Graf Meinhard von Tirol und Graf Albert von
Görz für ihre „Leute“ in ihren beiderseitigen „Herrschaften und
Landen‘ Freiheit der Eheschließung und Teilung der Kinder aus
diesen Ehen zu“. In den Verträgen von 1359 und 1363 über die
Übergabe der Grafschaft Tirol wird die zu dieser gehörige Be-
völkerung genauer nach ihren Ständen unterschieden, nämlich
in Landherren, Ritter, Knechte, Burggrafen, Pfleger, Richter,
Amtleute, Räte, Bürger, Holden — d. s. die Bauern — und an-
dere Landsassen?9,
Diese bäuerlichen Leute konnten entweder im Eigentume
eines adeligen Herrn oder Stiftes stehen, ,,homines proprii“ oder
Eigenleute oder freie Leute sein. Für beide Kategorien haben
wir aus den verschiedensten Teilen des Landes für das 13. und
14. Jahrhundert zahlreiche Belege, die wir aber hier nicht náher
anführen wollen. Im Laufe des 15. Jahrhunderts treten in Tirol
die Merkmale der Leibeigenschaft zurück und die Bauern unter-
scheiden sich nur mehr nach der Art der grundherrlichen Be-
28 So im Vertrage von 1263 über die Erwerbung des Inntales durch Graf Mein-
hard von Tirol (Hormayr, Beitr. Gesch. Tirols, Bd. 2, S. 312) und in jenem von
1271 über die Teilung der Grafschaften Tirol und Górz (Sammler f. Gesch. Tirols,
4, S. 39).
* 1290 Aug. 29 Or. Staatsarchiv Innsbruck Pestarch. Urk. 1, 287. Nach dem
Wortlaut der Urkunde ist nicht sicher zu entscheiden, ob es sich um landes- oder
leibherrliche Untertanen handelt und ob die Teilung der Kinder gebietsweise —
nach der landesherrlichen Zugehórigkeit ihres Geburts- und Wohnortes — oder
wie bei den Eigenleuten von nicht fürstlichen Adeligen, nach dem Geschlechte
und der leibherrlichen Zugehórigkeit des betreffenden Elternteiles gedacht war.
39 Huber, Ver. Tirols mit Öst., S. 193 u. 221.
712 Otto Stolz
lastung ihres Grundbesitzes*!, Die Nachkommen dieser Eigen-
leute, die in den Landgerichten wohnten und mit den anderen
báuerlichen Bewohnern derselben verschmolzen, gewannen mit
diesen Anteil an der Landstandschaft. Ein anderer, erheblicher
Teil der Eigenleute saß aber gerade in jenen, an sich allerdings
kleinen Hofgerichten, die im Eigentume von Stiftern und Ade-
ligen standen, und die Bewohner dieser Gerichte haben, wie
im náchsten Heft náher angeführt, keinen Anteil an der Land-
schaft erlangt.
Aus manchem der bereits angeführten und zahlreichen an-
deren urkundlichen Angaben kónnen wir ersehen?*: Bereits im
13. Jahrhundert haben in Tirol órtlich geschlossene Ge meinden
— ohne Rücksicht auf die grundherrliche Abhängigkeit ihrer
Angehórigen — bestanden, und in jenen haben die Bauern eine
gewisse Selbstverwaltung und damit auch ständische Geltung
besessen. Die Weistümer, wie sie seit dem 14. Jahrhundert zur
Aufzeichnung gelangten, zeigen noch deutlicher die Organisation
dieser ländlichen Gemeinden, sowie insbesondere die Selbst-
verwaltung, die der Bauernstand in diesen durch selbstgewählte
Vorsteher (meist Dorfmeister genannt) und Räte (Geschwo-
rene, Riegler und Ausschüsse genannt) ausgeübt hat“. Die
großen Gemeinden bildeten häufig auch je ein Gericht, sonst
waren mehrere zu je einem Landgerichte zusammengeschlossen,
das außer der Rechtspflege als autonomer Verband auch gewisse
Aufgaben der Verwaltung, wie Wege- und Wasserbau, Steuer-
wesen und Landwehraufgebot, zu besorgen hatte. Den Vorstand
des Gerichtes, Pfleger oder Richter, ernannte in alter Zeit, im
13.—16. Jahrhundert, der Landesfürst, den Gemeinden war
nur selten ein Vorschlag- oder Wahlrecht für dieses Amt einge-
räumt“. Stets wurden aber von den Gerichtsgemeinden aus
31 Vgl. Stolz im Arch. öst. Gesch., Bd. 102, S. 134ff. — Näheres über diese
Standesunterschiede zwischen den Bauern in Tirols. bei Wopfner, Tirol am Ausgang
des Mittelalters S. 71ff. und bei Werunsky, Österr. Reichsgesch. S. 687ff.
33 Siehe die Angaben von 1213—1230 oben S. 706f., von 1331 oben S. 707 f., von
1318 und 1320 oben S. 710. Sonstige erstmalige Erwähnungen von bestimmten Ort-
schaften in Tirol als Gemeinden seit dem 13. Jahrhundert siehe auch in meiner
Polit.-Histor. Landesbeschreibung von Tirol, Arch. óst. Gesch., Bd. 107.
33 Vgl. Jäger, Gesch. d. Landständ. Verf. 1, S. 581ff. Egger, Tir. Weistümer,
Bd. 4. S. 1056 u. 1059. Werunsky, Ost. Reichsgesch. (10. Lief. 1926), S. 723ff.
** Stolz, Gesch. d. Gerichtes Deutschtirols, Arch. öst. Gesch. 102, S. 2231.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 713
deren bäuerlichen Mitgliedern die Geschworenen oder Gerichts-
ausschüsse gewählt, in alter Zeit Eidschwörer, mitunter auch
die Ältesten oder Besten des Gerichtes genannt®. Die letz-
teren Bezeichnungen kommen in ältester Zeit auch für die Ver-
treter der Landstände vor*$, wir ersehen hierin einen gewissen
Zusammenhang zwischen den Öffentlichen Befugnissen im Ge-
richts- und Gemeindeverband wie im ganzen des Landes.
In der geschichtlichen Literatur noch nicht verwertet ist ein
anderes verhältnismäßig frühes Zeugnis politischer Geltung des
Bauernstandes in Tirol, auf das ich hier hinweise. Im Jahre 1312
hatte nämlich der damalige Landesfürst von Tirol, Heinrich, zu-
gleich Herzog von Kärnten, infolge einer kurzen Regierung in
Böhmen bis zu seinem Tode stets König genannt, die Regierung
der Grafschaft Tirol, deren Finanzen durch seine abenteuernde
Politik arg zerrüttet waren, einem Kollegium von zehn Landes-
verwesern (provisores terre oder Pfleger des Landes genannt),
meist höheren Beamten, auf drei Jahre übertragen und sich
selbst nach Kärnten begeben, wo er ebenfalls die Herzogswürde
bekleidet hat. Diese Verweser haben in Tirol bald eine außer-
ordentliche Landessteuer zur Wiedereinrichtung der Finanzen
ausgeschrieben, deren Einhebung aber Verhandlungen mit den
Steuerpflichtigen bedingte. Eine Niederschrift zum mindesten
eines wesentlichen Teiles dieser Verhandlungen aus dem Jahre
3$ Außer den von mit a. a. O. S. 229 erwähnten „Geschworenen“ sind noch
anzuführen: 1315 die „eltisten der Pauleute zu Taufers“ (oben S. 710 Anm. 27). —
In dem Urbar des Hochstiftes Brixen von 1320 heißt es, daß die Grundzinse für das
Tal Lüsen nach der eidlichen Aussage der „meliores et seniores vallis Lusene“ ein-
getragen seien. — 1326 Dez. 8 verleiht der Landesfürst K. Heinrich dem Ulricus de
Flittes ein Grundstück Egerde, das durch die „precones et seniores communitatis
hominum in Gufduna (Gufidaun im Eisacktal) ausgesteckt worden war (Ferd. Inns-
bruck, Sammlung Schónach). — 1393 die Pfarre in Sarntein soll nur mit „der pesten
will und wort“ besetzt werden (Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/2, S. 135). —
1398 an der Dingstätte sprechen die „aytsweren und eltisten" auf Schenna Recht
(a. a. O. S. 308). — 1309 Juni 2 beurkundet Bischof Johann von Brixen eine Kund-
schaft der „lantleut und nachgepowern die in dem tale ze Phunders gesessen sind“
über die Rechte des Hochstiftes dortselbst (Archiv des Hochstiftes Brixen, jetzt im
Staatsarchiv Bozen).
36 So 1306 „seniores terre“ (Jäger 2, 1, S. 15), in der Landesfreiheit von 1342
„die Besten, die im Lande gesessen sind“ (s. unten S.726). Bereits in dem allgemeinen
Privileg des deutschen König Heinrich von 1231 wird von den ,, maiores et meliores
terre“ gesprochen, die jeder Landesfürst vor dem Erlaß neuer Gesetze um ihre Zu-
stimmung zu fragen habe (A. Winkelmann, Verfassungsgesch. 1901, S. 286).
114 Otto Stolz
1313 ist uns erhalten, und zwar in ihrer ursprünglichen Gestalt“.
Der Inhalt derselben ist: Beauftragte der Regierung haben die
Listen der Steuerpflichtigen nach ihren Gemeinden zusammen-
gestellt und zugleich Beschwerden derselben über ungerechte
Behandlung seitens der landesfürstlichen Amtleute, Pfleger und
Richter, sowie sonstige Angehórige des Adelsstandes entgegen-
genommen. Obige Niederschrift bezieht sich auf das Inntal vom
Ziller aufwárts bis zum Arlberg, soweit es eben damals zu Tirol
gehörte. Die Beschwerden, die — wie es meist heißt — von
den Leuten gemeinlich einer Ortsgemeinde oder auch mit-
unter eines ganzen Gerichtes vorgebracht werden, beziehen sich
auf folgende Gegenstände: 1. die adeligen Amtleute erhöhen
widerrechtlich Steuern und andere Abgaben. 2. Sie eignen sich
Grundstücke aus der Gemeinweide an, beengen die Holz- und
Weiderechte der Gemeinden und treiben ihre Rosse auf die
Felder der Bauern zur Weide. 3. Sie und andere Adelige zwingen
die Bauern widerrechtlich zu Fronarbeiten und beeinträchtigen
das Erbrecht an ihren Baugütern. 4. Sie maßen sich das Eigen-
tum über Leute an, die bzw. deren Vorfahren niemals ihre Eigen-
leute, sondern Untertanen des Landesfürsten gewesen sind. 6.
Die adeligen Richter sind in der Erteilung und Durchführung
von Rechtssprüchen zum Schaden der Leute lässig und ver-
hängen hohe Vermögensstrafen, nur um sich zu bereichern.
Diese Beschwerden sind in der kräftigen gedrungenen mittel-
hochdeutschen Sprache jener Zeit gehalten, und gipfeln meist
in der halb drohenden, halb auf Mitleid berechneten Ankündi-
gung, daß die Leute, wenn ihnen nicht Abhilfe werde, verderben,
d. h. wirtschaftlich zugrunde gehen oder aus dem Lande ziehen
müssen.
Ich führe einzelne Stellen wörtlich an, um von dem Ton dieser Beschwerden
einen Begriff zu machen. (Die Beschwerden der Bürger von Hall, die in derselben
Handschrift enthalten sind, habe ich bereits in meiner Abhandlung „Zur Verkehrs-
geschichte des Inntales im 13. und 14. Jh.“ in den Veröffentl. d. Ferdinandeum
Bd. 12 Jg. 1932 S. 103ff. wörtlich mitgeteilt.)
(Cod. 17, fol. 16): „Item chlagent alle, die in hern Seifrides gerihte“ sint, daz
er si mit uberger stellunge und mit unrehter stiure verderbet hab so sere, daz si
7 Staatsarchiv Innsbruck Cod. 107. Näheres darüber bei Stolz, Verkehrsgesch.
d. Inntales, Veróffentl. d. Ferdinand., Bd. 12 (1932), S. 103.
35 Seifried von Rottenburg hatte damals die Gerichtsgewalt im Unterinntal
von Hall bis Münster.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 715
muezen von dem lande und sprechent alle gemainlich, und sul er lenger rihter sein,
so sein si rehte verdorben. Item chlagen Wisinger”, daß er si mit seinen wilden rossen
verderbet naht und tach. ... Daz er si verderbet mit holzfuore zuo ainer sage. Si
chlagent uber hern Thomas den Vriuntsperger, daz er in hiure in dem winder ir
heu und ir vuoter nam, daz in ir vihe starb."
(Cod. 17 fol. 23): „Ez chlagent Obernhover und Phaffenhover alle gemain-
lich, daz si der rihter ab Hertenberch*? mit ubermaze des chornes, daz si ze zinse
gebent, so groezlich ubernuzzet, daz si da von verdorben sint. Si chlagent auch, daz
er si verderbet mit vuerunge holtzes, staine und chalches. Si chlagent umme ir
garten, die in mein herre gelazen hat ucz der gemainde, so ainre stirbet, so under-
windet er sich des garten und lat den hin umme zins. Si chlagen auch, daz er sich
ains akkers underwunden hat, der was ir aller gemainlich, und solt man in ir gattern
da von machen. Si chlagent auch umme ain auwe, diu ir rehtiu gemainde ie gewesen
ist, daz er si daran enget und ir aime weder zounholtz noch ander holtz daruz niht.
Si chlagent auch, daz er in ir velt etzet und ir wisen mit seinen ochsen und mit
seinen rossen. Si chlagent auch, daz er in mit stellunge gar unmazlichen wetuot.
So chlagent auch, daz seine chnechte in iriu ros raitent.“
(Cod. 17 fol. 27): „Item chlagent Unster“ alle gemainlich, daz er Gebhart
von Starchenberch in iriu chorn haizet sneiden rocke und gersten und sleht seiniu
rinder und seiniu ros uf ir wisen und in ir gras, daz peste, daz si indert haben und
enget si an ainem pach, da si ir wisen mit solten wezzern, den ziuhtet sich vur aigen
an und hat si zwaier alben entwert, die si ze recht haben solten.“
(Fol. 28): „Item chlagent die von Grindes in hern H. Hirzperges gerihte“,
si habe her Hirzperch gezigen, si wolten sich einen andern herren geben haben und
wolten sich dem chunege“ haben enphroemdet und wellen sich des entreden, swie
si sulen. Umme die selben rede sint si im niht holt, so ist er in niht genedich ...
Si pittent alle gemainlich, daz man in einen andern rihter gebe und disen verchere
oder si muezen alle von dem lande und chlagent er tue in grozen ungemach mit
fuetrunge, da von si sein verdorben ... Si chlagent umme ain stiure, diu man von
in nam und solt in die haben wider geben, das hat man niht getan. Und chlagent,
daz man des chuneges leute und der dienstmanne solte haben getailt, da ist her
Hirzperch sumich an gewesen und swaz die selben solten geben, daz muezent allez
dise geben. Si iehent auch, daz vier und zwainzich wirtsleute von rehter armout
sin gangen von dem lande, da diu stiure von ab get. Item habent die von Ramusse
und die von Schrovenstain sich underwunden der leute, die diu stiure niht wolten
geben und habent si gehaimzet uf ir veste mit ir libe und mit ir guote.“
3° Dorf Wiesing östlich Jenbach.
% Gegend von Telfs im Oberinntal.
*1 Imst, Ort und Gericht im Oberinntal, vgl. dazu Stolz, Schwaighöfe in Tirol
(1930), S. 45.
4 Grins bei Landeck, Heinrich von Hirschberg war Richter in dem „gerihte
ze Landekke", wie es auch in diesen Beschwerden heißt. Vgl. Veröffentl. d. Ferdi-
nand. 12, S.160.
** Heinrich, Graf und Landesfürst von Tirol, Herzog von Kärnten, Exkönig
von Böhmen, daher hier König genannt.
716 Otto Stolz
Zur Sprache dieser Beschwerden bildet ein wirksames Gegenstück eine Bitt-
schrift, die um dieselbe Zeit zu Gunsten eines in Not geratenen Baumannes an den
Landesfürsten gerichtet worden ist. Sie ist im Original in der Schrift von Anfang
des 14. Jahrhunderts, ohne Datierung, erhalten, auf einem Papierstreifen von 21 cm
Länge und 5 cm Höhe und ist eines der ältesten Beispiele eines „Aktes“ (im archiv-
theoretischen Sinne), der aus der Kanzlei eines Landesfürsten erhalten ist (Staats-
archiv Innsbruck, Urk. 63). Sie lautet: „Herre es ist iwer armer pawman ainer,
haizzet Hans von Raye, der hat wol zehen clayniu chynt und sol noch zinsen von
zwain jaren lib. XXV und tuoch XXXVII ellen und pit iwer gnade, daz ir im dar
an genaedlichleich tuot oder in verderbet der irhter gar darumb, sol er ez geben
und muest mit chynde und mit hausfrawe von dem lande. Daz understet durch
Got, lieber herre." — Raye ist Rojen, ein Hochtal bei Reschen im obersten Vinsch-
gau, wo es einige besonders hoch (über 1900 m) gelegene Schwaighófe gegeben hat,
die heute noch bestehen (vgl. Stolz, Die Schwaighöfe in Tirol, S. 194).
Jene Beschwerden und Klagen zeigen uns, daß damals zu
Beginn des 14. Jahrhunderts in Tirol die bäuerlichen Gemeinden
als ein geschlossener Stand dem Adel gegenüber getreten sind
und ihre Anliegen der landesfürstlichen Regierung vorgebracht
haben, was vermutlich durch Wortführer und Bevollmächtigte
geschehen ist. Der Bauernstand Tirols zeigt also schon zu dieser
Zeit die Möglichkeit und Befähigung zu politischem Auftreten;
dies bedeutet eine wesentliche Voraussetzung zu seiner Teil-
nahme an der Landschaft und war daher hier anzuführen. Wir
wenden uns nun jener selbst zu.
III. Die Anfänge der Landstände (Landschaft) und die Teilnahme
der Bauern an derselben vom Ende des 13. bis zum 15. Jahrhundert.
Bereits zum Jahre 1289, nicht wie Jäger aus Unkenntnis
angibt, erst zum Jahre 1305, liegt der erste urkundliche Be-
weis vor, daß der Landesfürst für wichtige Entscheidungen und
Gesetze neben seinem Rate auch sonstige, eben nicht beamtete
Vertreter der Bevölkerung befragt hat. Diese Urkunde Herzog
Meinhards II. vom Jahre 1289 beinhaltet ein Landesgesetz über
die Ersitzungsfrist von Liegenschaften und sagt, daß der Landes-
fürst dieses „mit ersamer, weiser leute und unserer
dienstmanne rat“ erlassen habe“. Der eigentliche landesfürst-
“4 Die Urkunde ist mir allerdings nicht im Original, sondern in einer Abschrift
von Just. Ladurner nach dem Or. oder einer beglaubigten Kopie vom Jahre 1384
im Archiv des Schlosses Gandegg bei Eppan bekannt. Ich habe sie in den Urkunden-
beilagen zum 3. Bande meines Werkes „Deutschtum in Südtirol", S. 18, Nr. 1,
vollinhaltlich mitgeteilt. Kurz habe ich auf sie bereits in meiner Abhandlung über
das tirol. Landesfürstentum in Schlernschriften, Bd. 9, S. 433, Anm. 1, hingewiesen.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 717
liche „Rat“, der aus den obersten Hofbeamten bestand, wird
in dieser Urkunde zwar nicht angeführt, der Ausdruck ,,ehr-
same weise Leute und Dienstmannen'' stimmt aber gerade mit
jenen zusammen, mit welchen in Urkunden von 1305 und 1317
neben dem Rate und auBer diesem stehende Vertreter des Lan-
des bezeichnet werden, nämlich ,,die Ältesten und Vornehmsten
des Landes“ oder die „biederen“ oder „ehrbaren Leute!“ (s.
Jàger S. 15 u. 30). In den Urkunden Graf Meinhard II. (1258
bis 1295) wird sonst der Ausdruck „Rat“ bzw. , consilium"
nicht erwähnt, wenn auch die Hofbeamten in den Urkunden
als Zeugen háufig wiederkehren, also das Wesen eines Rates
doch schon gegeben erscheint“. Unter Meinhards Nachfolgern
Herzog Otto und Heinrich, besonders unter letzterem (1310
bis 1335) tritt der landesfürstliche „Rat“ als feste Körperschaft,
als ein ständiges Regierungskolleg stark hervor. Aus diesem
Rate und mit dessen Einverstándnis bestellte Heinrich im Jahre
1312 auf drei Jahre zu seiner Vertretung ein Kollegium von
zehn Landesverwesern oder Landpflegern, die aber nach den
darüber erhaltenen Urkunden nicht etwa als ein Ausschuß des
Adels als Stand, sondern als Beauftragte des Landesfürsten auf-
zufassen sind“.
Die vorerwähnten Urkunden zeigen also, daß für besonders
wichtige Angelegenheiten der Landesfürst außer jenem stän-
digen Rate seiner obersten Beamten auch noch andere hervor-
ragende und vom allgemeinen Vertrauen des Landes getragene
Persónlichkeiten zur Beratung herangezogen hat. Auch spáter
noch — in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts — werden
gemeinsame Beratungen der landesfürstlichen Räte und der
gemeinen Landschaft erwáhnt, insbesondere bei Gelegenheit des
Hofgerichtes“. Deswegen darf man aber wohl nicht sagen, daß
Dies ergibt eine Durchsicht der fast vollständigen Sammlung landesfürst-
licher Urkunden jener Zeit, die L. Schönach angelegt hat und im Ferdinandeum zu
Innsbruck aufbewahrt wird.
Näheres bei Heuberger, Die ältesten Kanzleivermerke auf den Urkunden
der Tir. Landesfürsten in Mitt. d. Inst. öst. Gesch., Bd.33, S. 443f.
7 Vgl. Heuberger in Zt. d. Ferd. 56, S. 265ff. Jäger, Landstánd. Verf., Bd. 2,1,
S. 21ff. hat in der Einsetzung dieser Landpfleger eine besonders wichtige Etappe
in der Entwicklung der Landstände in Tirol gesehen, was aber im erwähnten Sinne zu
berichtigen ist. — Siehe dazu auch oben S. 713.
43 Siehe unten S. 730 zum Jahre 1404 und S. 720 zum Jahre 1417.
718 Otto Stolz
aus dem landesfürstlichen Rate die Landschaft, d. i. die Körper-
schaft der Landstände, hervorgegangen sei, sondern alle diese
Einrichtungen haben sich ziemlich gleichschrittig entwickelt.
Jene Angaben von 1289, 1305 und 1317 über die Heran-
ziehung von gewissen angesehenen Personen außerhalb des
landesfürstlichen Rates zur Besprechung óffentlicher Angelegen-
heiten, sowie die Auslegung dieser Angaben wird sehr bedeutsam
durch ein anderes geschichtliches Zeugnis gestützt. Der Frei-
heitsbrief vom Jahre 1342, der die Rechte und Befugnisse der
Tiroler Landschaft erstmals näher feststellt, betont, daß die-
selben gewohnheitsmäßig schon unter den früheren Landes-
fürsten und ausdrücklich unter Herzog Meinhard II. gegolten
hätten. Im Jahre 1342 konnte man von den Zuständen, wie sie
50 Jahre früher im Lande geherrscht haben, wohl noch eine
richtige Vorstellung gehabt haben. Daß man gerade den Namen
des Herzogs Meinhard dabei hervorhob, war wohl auch nicht
Zufall, sondern sollte mit Rücksicht auf das Ansehen dieses
Herrschers auch die Bedeutung der von ihm anerkannten Rechte
der Landschaft steigern. Meinhard II., der von 1258—1295 re-
gierte, hat eigentlich das Land Tirol geschaffen, das Inntal, das
durch die Teilung von 1254 vom Etschland abgesondert worden
war, wieder mit der Grafschaft Tirol vereinigt und deren alleinige
Herrschaft über das untere Etschland und Eisacktal sicher-
gestellt; er hat durch ein straffes Verwaltungssystem eine wirk-
liche Landeshoheit und Landeseinheit geschaffen. Und nun zeigt
sich, daß dieser tatkräftige Landesfürst zu wichtigen Regierungs-
handlungen außer seinem Rate auch noch Vertreter der Be-
vólkerung herangezogen hat. Die Anfänge der Landstände in
Tirol fallen also so ziemlich zusammen mit der ersten Ausbildung
der landesfürstlichen Gewalt, beide Einrichtungen sind zugleich
miteinander aus älteren Grundlagen erwachsen.
Am landesfürstlichen Hof versammelten sich die Vasallen —
adeligen Lehensträger — auch zur Rechtsprechung über ihre
Standesgenossen. Das war schon am Hofe der Bischófe von Trient
so, aus der Zeit von 1200—1220 kennen wir sechzehn Rechts-
sprüche des Trientner Lehenshofes, die zum Teil das Gepräge
von Weistümern haben, also auch Rechtssátze in allgemeiner
Form aussprechen“. Eine ähnliche Einrichtung dürfte auch am
Veröffentlicht von Durig in den Mittlg. d. Inst. óst. Gesch. 6. Erg. Bd.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 719
Hofe der Grafen und Landesfürsten von Tirol bestanden, und
daraus sich das sogenannte Hofgericht oder Hofrecht ent-
wickelt haben. Nach Meinung mancher Forscher ist dasselbe
unmittelbar aus dem Grafschaftsgericht der Grafschaft Bozen
um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert hervorgegangen.
Mir scheint das aber nur in dem Sinne richtig zu sein, daß diesem
Grafschaftsgericht wohl die Gerichtsbarkeit über gewisse Stan-
desklassen entzogen und dem Hofgerichte übertragen worden ist,
nicht aber in dem Sinne, daß das Gericht der Grafschaft selbst
zum Hofgericht geworden ist, vielmehr lebte dieses in dem
späteren Landgerichte fort“. Das tirolische Hofgericht, wie es
sich im 14. Jahrhundert darstellt, stand unter dem Vorsitz des
Landesfürsten und in dessen Vertretung des Landeshauptmanns,
früher auch Hauptmann an der Etsch genannt, die Urteiler
waren aus den Kreisen des Adels und der Bürgerschaft der
Städte genommen. Ob auch Vertreter der Landgerichte beim
Hofgerichte teilnahmen, ist für diese Zeit nicht direkt über-
liefert. Zuständig war es in Klagen gegen Adelige, Stifter und
Gemeindeverbánde. Die ältesten mir bekannten Urkunden,
welche Sprüche dieses Hofgerichtes enthalten, sind aus den
Jahren 1322 und 132751. Die Verhandlungssprache war, wie die
Urkunde von 1327 ausdrücklich angibt, deutsch, die schriftliche
Ausfertigung der Urteile damals noch lateinisch. Ferner waren
vor dieses Gericht die Berufungen (Appellationen) aus den
Stadt- und Landgerichten zu bringen. Dieses ,,Dingen an Hof''
wird erstmals durch Urkunden von 1392 und 1396 erwáühnt*?,
50 Werunsky, Österr. Reichs- u. Rechtsgesch. (10. Lief. 1926), S. 796, äußert
sich zurückhaltend über die Ansicht von Voltelini, daß das Landgericht von Bozen,
dessen Wesen aus einem Weistum von 1293 ersichtlich ist, sich in ein Adelsgericht
verwandelt habe. In der Tat hat sich das Bozner Landgericht weiter erhalten,
wenn auch der Adel aus demselben ausgeschieden ist.
51 Über die Urkunde von 1322 s. oben S. 709, Anm. 23. — Die Urkunde von
1327 ist näher besprochen und mitgeteilt bei Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/1,
S. 70 u. Bd. 3/2, S. 29. In dieser werden die bei der Gerichtsverhandlung anwesenden
Personen zum großen Teil namentlich angeführt, zuerst Bischöfe und Äbte, dann
Adelige und schließlich Bürger von Bozen und Meran. Weitere Urteile dieses Hof-
gerichtes, nun unter dem Vorsitz des Hauptmannes an der Etsch, aus den Jahren
1366, 1376, 1377 und 1385 siehe bei Stolz a. a. O. 3/2, S. 53, 56, 58, 64.
ss Stolz a. a. O., Bd. 2, S. 238, Nr. 43a und Bd. 3/2, S. 307. Daß der Stadtrat
von Meran ein Weistum über das Dingen an Hof abgibt, zeigt die Mitwirkung der
Bürgerschaften an diesem Hofgericht.
720 Otto Stolz
Seitdem der landesfürstliche Hof um das Jahr 1420 von Meran
nach Innsbruck verlegt worden war, wurde das Hofgericht zu
Bozen und Meran meist nur unter dem Vorsitze des Landes-
hauptmannes abgehalten und erhielt infolgedessen die Bezeich-
nung „Landeshauptmannschaftliches Gericht an der Etsch",
und war auch nur für Stifter, Adelige und Gemeinden in den
Vierteln an der Etsch, im Vinschgau und am Eisack zuständig,
während die Gerichtsbarkeit über die genannten Standesklassen
in den Vierteln des Unter- und Oberinntales und Pustertales
die landesfürstliche Regierung zu Innsbruck übernahm“.
Manche Forscher äußerten die Ansicht, daß aus diesem Hof-
gerichte im Laufe des 14. Jahrhunderts die Landtage sich
entwickelt haben, indem die bei jenem versammelten Adeligen
und Vertreter der Stadtgemeinden seitens des Landesfürsten
nicht nur über Rechtsklagen, sondern auch über politische und
finanzielle Angelegenheiten des Landes befragt worden seien
und entschieden hätten, und zwar in derselben Form, die bei den
Gerichtsverhandlungen üblich war. Die ältesten Urkunden
über das Auftreten der Landschaft im 14. Jahrhundert, das sind
die Freiheitsbriefe der Landesfürsten von 1330, 1336, 1342 und
1406, und andererseits die Beschlüsse der Landschaft von 1336
und 1363°° lassen zwar noch nicht einen Zusammenhang zwischen
Hofgericht und Landschaftsversammlung unbedingt feststellen,
wohl aber die nächstälteren Urkunden über Landschaftsbe-
schlüsse aus den Jahren 1417—1423. Demnach sind tatsächlich
in Sitzungen, welche die Ráte des Landesfürsten und die ge-
meine Landschaft gemeinsam abhielten, eigentliche Gerichts-
verhandlungen geführt und Urteile gefällt worden59. Anderer-
6 Stolz, Gesch. d. Gerichte Deutschtirols, Arch. öst. Gesch., Bd. 102, S. 257.
5 So Wopfner, Die Lage Tirols am Ausgang des Mittelalters (1908), S. 1161.
85 Siehe unten S. 722—130.
55 1417 Sept. 29 bekennt Vogt Wilhelm von Matsch, Hauptmann an der Etsch
und des Bistums Trient, daß ‚auf heut für mich und ander meins gnedigen herrn
rät ritter und knecht und für die gemaine landtschafft komen ist“ der Bischof Se-
bastian von Brixen und sich beklage, der Burggraf von Tirol habe die bischóflichen
Bauleute zu Algund wegen eines Zehenten vor sein Gericht gezogen, was wider die
Freiheiten des Hochstiftes sei. Es wird geurteilt, daB gegen jene Bauleute nur an
den Stätten, wo es billig und recht sei, Klage zu führen und Recht zu sprechen sei
(Or. im Arch. d. Hochstiftes Brixen Lade 107, 9 A, jetzt kgl. ital. Staatsarchiv zu
Bozen, Abschrift Ferdinandeum Innsbruck, Sammlung Egger Quart II, 190, Aus-
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 721
seits wurden Verhandlungen und Beschlüsse der Landschaft
über rein politische Gegenstände in ganz ähnlicher Weise wie
bei den Gerichtsverhandlungen protokolliert und beurkundet,
also wohl auch abgeführt?”. Endlich werden solche politische
Verhandlungen — Landtage — ausdrücklich anläßlich eines
Hofrechtes angesetzt), Demnach ist wohl auch für die frühere
Zeit anzunehmen, daß bei den Hofgerichtstagen politische Ge-
genstände zwischen dem Landesfürsten und der Landschaft be-
sprochen und erledigt worden sind. Nachher haben sich aber
dann die Sitzungen der Landschaft — die Landtage — einerseits
und das Hofgericht bzw. das landeshauptmannschaftliche Ge-
richt andrerseits voneinander durchaus getrennt.
Politisch bedeutsam ist die Tiroler Landschaft hervorge-
treten, als mit König Heinrich das bisherige görzische Geschlecht
der Tiroler Landesfürsten im Mannesstamme zu erlöschen drohte
und sich um seinen Landbesitz die drei mächtigsten Fürsten-
häuser des damaligen Deutschland, Wittelsbacher, Habsburger
und Luxemburger bewarben. Der Luxemburger, Johann, der
Sohn des gleichnamigen Königs von Böhmen, wurde im Jahre
1330, obwohl erst neun Jahr alt, mit der Margareta, der Tochter
des tirolischen Landesfürsten König Heinrich, vermählt, die auch
als alleinige Erbin seines Fürstentums erklärt wurde. Schon bei
der Vermählung hat König Johann von Böhmen als Vormund
seines Sohnes im Jahre 1330 in einer Urkunde versprochen, daß
er „Edel und Unedel, Bürger, Arm und Reich der Graf-
schaft Tirol" bei allen ihren Rechten und Handfesten, die sie
unter Kónig Heinrich, dem bisherigen Landesfürsten, gehabt
zug bei Sinnacher, Gesch. v. Brixen VI, S. 69). — 1417 März 4 Herzog Friedrich
bestätigt einen Urteilsbrief, daB „fur uns unser rett und gemaine lantschafft ist
kommen Hanns Pletscher zu Pletsch“ und gegen den Bischof Ulrich von Brixen
klage wegen der Lehenschaft seines Ansitzes. Das Urteil verfügte die Rückgabe
desselben an den Kläger (Brixner Archiv Lade 43, 23A, Abschrift wie oben II, 189,
Auszug bei Sinnacher VI, S. 60).
87 Dies wird besonders deutlich in einem Abschiede der Landschaft über ihre
Verhandlungen mit dem Landesfürsten wegen eines eigenmächtigen Bundes mehrerer
adeliger Mitglieder jener vom Jahre 1423 (Urkunde bei Brandis, H. Friedrich, S.492f.
Auszug bei Jäger, Landständ. Verf., Bd.2, 1, S. 374). Darauf verweist insbesondere
Wopfner a. a. O.
5* In dem Landtagsabschied von 1420 (Brandis, H. Friedrich, S. 484) wird ge-
sagt, daß der Landesfürst „der ganzen lantschaft, edel und unedel, als die bey ain-
ander was auf dem hofrecht ze Botzen“, die schwierige Lage des Landes vorgetragen
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.4. 46
722 Otto Stolz
hätten, bewahren und sie mit keinem Gast übersetzen, d. h.
keinem Ausländer in Tirol ein wichtiges Amt verleihen werde.
Jäger erwähnt wohl S. 51 in der Anmerkung diese Stelle, aber
er erkannte nicht ihre Bedeutung für die Geschichte der Land-
schaft®®. Denn eine solche rechtsverbindliche und zugleich im
eigentlichen Sinne politische Erklärung hat König Johann gewiß
nur deshalb gegeben, weil eben die Gegenseite einen juristischen
und politischen Faktor dargestellt hat, und das war eben nur
dann denkbar, wenn die Stánde, wie sie eben in jener Urkunde
als deren Empfänger genannt werden, eine kórperschaftliche
Form bereits angenommen haben. Als König Heinrich für seine
sieche Tochter Adelheid im Jahre 1335 eine besondere Versor-
gung in Form eines Vermächtnisses traf, setzte er als Wahrer
desselben aufer seinen eigenen Erben noch ,,die Getreuen, die
zur Herrschaft zu Tirol gehören“, ein; unter letzteren waren
wohl auch jene landständischen Vertreter gemeint“.
Nach dem Tode des Landesfürsten Heinrich im Jahre 1335
hat die Tiroler Landschaft als seine Erben Johann und Margareta
anerkannt, und Johanns Bruder Karl, der spátere Kaiser, kam
nach Tirol, um für jenen wegen seiner Minderjáhrigkeit die Zügel
der Regierung zu ergreifen und seine landesfürstliche Stellung
zu befestigen. Kaiser Ludwig hatte damals mit den Herzogen
von Österreich vereinbart, sich in den Besitz des Landes Tirol
zu teilen. Aber gerade dieser Plan hat den einmütigen Wider-
stand des Landes gegen den Kaiser hervorgerufen und die
Luxemburger als die Verfechter der bedrohten Einheit des
Landes erscheinen lassen. Karl schloß mit der Landschaft einen
fórmlichen Vertrag, daB diese seinen Bruder Johann und dessen
Gemahlin Margareta als Landesfürsten anerkennen und gegen
jeden Feind verteidigen wollen, wohingegen Karl das Land und
seine Einheit gegen jedermann, auch gegen den Kaiser schützen
werde. Von diesem gegenseitigen Versprechen wußte die Ge-
schichtschreibung lange, und so auch Jäger (S. 62 u. 67), nur das,
habe und daraufhin eine Reihe von Maßregeln zur Herstellung von Ordnung und
Sicherheit im Lande getroffen worden seien. — In dem Landtagsabschiede von 1424
heißt es, daB der Landesfürst „der lantschaft gegunt hat ainen tag zu laisten ze
Botzen auf dem nechsten hofrecht“ (Röggl in Zt. d. Ferd. 1828, S. 273).
5 Die Urkunde ist nach dem Original gedruckt bei Chmel, Ust. Geschichts-
forscher 2, S. 393.
% Huber, Vereinigung Tirols mit Österreich, S. 139, Z. 10 v. o.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 793
was Kaiser Karl darüber in seiner Lebensbeschreibung und
Johann von Viktring in seiner ebenfalls zeitgenóssisch geschrie-
benen Geschichte mitteilt. Der erstere erzáhlt, daB er von den
„terrigenae“, d. h. Landsassen der Grafschaft Tirol zur Regierung
ihres Landes berufen worden sei. Jäger übersetzt jenes Wort
etwas einseitig als „Landherren‘‘, bezieht es also allein auf die
adeligen Landsassen, diese haben dabei jedenfalls eine führende
Rolle gespielt, aber jener Ausdruck schlieBt die Vermutung
keineswegs aus, daB nicht auch die Unedlen dabei beteiligt ge-
wesen sind. Johann von Viktring berichtet, daß am Fronleich-
namstag 1336 Karl und die Edlen des Landes sich den Schwur
gegenseitigen Beistandes gegen den Kaiser geleistet hätten.
Seither hat sich aber der volle Wortlaut des Vertrages selbst in
einem Registerbuch der Tiroler landesfürstlichen Kanzlei, in
das er schon damals — im Laufe des Jahres 1336 — eingetragen
worden ist, gefunden?! Der formelle Aussteller der Vertrags-
urkunde ist die Landschaft, der Empfänger ist Karl für seinen
minderjährigen Bruder. Am Beginn der Urkunde sind, wie öfters
in Kanzleiregistern, der oder in diesem Fall die Namen der Aus-
steller weggelassen, wohl aber werden diese im Innern des
Textes®? in einer Weise bezeichnet, die für unsere Zwecke vollauf
genügt, nämlich als „nos prescripti et alii nobiles, et ignobiles
€ Staatsarchiv Innsbruck Cod. 108, Fol. 29. Vollinhaltlich herausgegeben von
L. Schónach in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Bóh-
men, Bd. 43 (1905), S. 507f. Wenn Schönach den Text im Kanzleibuch als Entwurf
bezeichnet, so liegt hierfür kein zwingender Grund vor. Denn es findet sich in jenem
keine einzige nennenswerte Korrektur oder sonstige Abänderung, woran Entwürfe
oder Konzepte meist zu erkennen sind. DaB am Schlusse die Datierung fehlt, kommt
in den Kanzleibüchern ófters vor. Andere Stücke in diesem Kanzleibuch besitzen
allerdings in stärkerem Maße Korrekturen und R. Heuberger bezeichnet dasselbe
daher im Ganzen als ein Konzeptregister (Das Urkunden- und Kanzleiwesen der
Grafen von Tirol in den Mitt. d. Inst. f. öst. Gesch. 9., Erg. Bd., S. 374ff.). Daß da-
mals irgendein ähnlicher Vertrag zwischen den Luxenburgern Karl und Johann
einerseits und der Tiroler Landschaft andererseits geschlossen worden ist, ergibt sich
auch aus den andern obenangeführten Nachrichten. Und selbst wenn keine un-
bedingte Sicherheit besteht, daB der Vertragstext, wie er im Kanzleibuche steht,
auf Pergament mit Siegel reingeschrieben und ausgefertigt worden ist, so genügt
für die Erkenntnis der Geschichte der Tiroler Landschaft doch die Tatsache, daB
damals eine solche Urkunde in der landesfürstlichen Kanzlei entworfen worden ist.
Denn schon dies beweist, daB die Landschaft damals eine entsprechende rechtliche
und politische Stellung eingenommen hat.
A. a. O. S. 509, Zeile 7 von unten.
46*
124 Otto Stolz
communiter cuiuscunque dignitatis", d. h., wir die vorgeschrie-
benen und anderen Edlen und Unedlen gemeiniglich
jedes Standes. Die „Vorgeschriebenen‘ sind eben am Beginn
der ausgefertigten Urkunde mit ihren Vor- und Eigennamen
genannt gewesen und haben jedenfalls als Wortführer und Ver-
treter aller anderen gewirkt. Der Vertrag ist in lateinischer
Sprache verfaßt, es fällt dies auf, weil damals die landesfürst-
lichen Urkunden bereits meist in deutscher Sprache geschrieben
sind; die Stilisierung macht den Eindruck besonderer Gewandheit
und Ausdrucksfülle und darf vielleicht einer persönlichen Mit-
wirkung Karls, der sehr sprach- und schreibgewandt war, zu-
gemutet werden. Daß nun dieser Vertrag wirklich geschlossen
worden ist, beweist ferner eine Urkunde Kónig Johanns von
Böhmen vom 23. Dezember 13369. Derselbe bestätigt hierin,
daß seine Söhne mit der Tiroler Landschaft — „alllantleut,
edel und unedel" — sich zur Aufrechterhaltung der Selb-
ständigkeit und Unversehrtheit der Grafschaft Tirol gegen jeder-
mann eidlich verpflichtet hätten, und verspricht, sie in diesem
Vorhaben zu unterstützen. Jäger erwähnt S. 67 Anm. 2 wohl
diese Urkunde aus den Regesten Böhmers, übersieht aber wieder
ganz die Art, wie die Landschaft hier bezeichnet wird.
Aus diesen beiden Urkunden vom Jahre‘ 1336 ergibt sich
mit Gewißheit, daß damals an der Landschaft außer den Edlen
auch die Unedlen beteiligt gewesen sind. Man könnte sagen,
daß mit den letzteren nur die Städte gemeint waren und nicht
auch die Landgemeinden. In dem Handfesten, laut der die
Stände von Niederbayern 1311, 1322 und 1331 von ihren Her-
zogen für die Bewilligung einer einmaligen Steuer die niedere
Gerichtsbarkeit erhalten, wird die Formel „Arm und Reich“
mit ausdrücklicher Beziehung auf die Städte und deren Bürger
gebraucht; in weiteren Bestätigungen dieser Handfesten von
1315, 1341 und 1347 wird die Formel auf „Edel und Unedel,
Arm und Reich“ mit derselben Beziehung auf Herren, Ritter
und Knechte, Städte und Märkte erweitert, und ebenso in einer
ähnlichen Urkunde für Oberbayern von 13569*, In Bayern waren
s Von Schönach ebenfalls a. a. O. S. 509 aus dem Original wörtlich mitgeteilt.
** Abdrücke dieser Handfesten siehe bei Lerchenfeld, Die Altbaier. Landstánd.
Freibriefe (1853) S. CL u. S. 1ff. Quellen und Erörterungen z. bayr. u. d. Gesch.,
Bd. 6 (1861), Altmann u. Bernheim, Urk. z. d. Verfassungsgesch., S. 354 u. 361.
Hierauf verwies Wretschko in Schlernschriften, Bd.9, S. 313.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 795
weder damals noch spáter die Landgemeinden Mitglieder der
Landschaft. Allein die Beziehung in diesen Urkunden hat keine
unbedingte Geltung, da — allgemein genommen — auch Bauern
unter unedel und arm gemeint sein kónnen. Auch kann man
keineswegs behaupten, daB jene Ausdrücke nach dem Vorbild
der bayrischen Urkunden in die tirolischen übernommen worden
sind, denn nach unserer Darlegung (s. oben S. 707) haben die
tirolischen Urkunden jene Ausdrücke schon vor dem Regierungs-
antritte Ludwigs von Bayern-Brandenburg in Tirol verwendet.
Wenn nun für Tirol — wie wir gleich hóren werden — Urkunden
von 1342 und 1363 die Teilnahme von Landgemeinden an der
Landschaft ausdrücklich anführen, so ist auch für die Urkunden
von 1330 und 1336 die weitere Auslegung des Ausdruckes Unedel
— im Sinne von Bürger und Bauern — eher gestattet, als die
engere — im Sinne von Bürger allein. Auch scheint mir die Hinzu-
fügung ,,Unedle gemeiniglich jedes Standes“ in der lateinischen
Urkunde von 1336 stark darauf hinzuweisen, daB man damit
unbedingt alle unedlen Leute, daher auch Bauern gemeint hat.
Diese Urkunden vom Jahre 1336 zeigen außer der Zusammen-
setzung der Landschaft deren allgemeine Bedeutung kräftig an.
Die Tiroler Landschaft ist damals bereits der Träger des Ge-
dankens der Selbständigkeit und Unversehrtheit des Landes,
sie entscheidet und bestimmt darüber, indem sie jenem Be-
werber, der die Erfüllung jener Forderung am besten gewähr-
leistet, zur landesfürstlichen Würde und Gewalt verhilft.
Die bekannte Vertreibung des Luxemburger und die Be-
rufung des Wittelsbachers Ludwig, des Sohnes des damaligen
Kaisers, zur landesfürstlichen Würde von Tirol im Jahre 1341
war wieder ein Werk der führenden adeligen Kreise der Land-
schaft. Ludwig hat alsbald, sei es als Dank oder als Preis dafür,
wohl aus beiden Rücksichten zugleich, in einer feierlichen Ur-
kunde vom 28. Januar 1342 die Rechte und Befugnisse der
Tiroler Landschaft, wie sie unter den bisherigen Landes-
fürsten, namentlich unter Herzog Meinhard II. gegolten haben,
nicht nur im allgemeinen bestátigt, sondern auch im einzelnen
näher bestimmt. Nämlich, der Landesfürst soll keine ungewóhn-
liche Steuer auflegen ohne der Landleute Rat, d. h. ohne Zu-
stimmung der Landschaft; er soll die Grafschaft Tirol handeln
und haben nach der Besten Rat, die darin gesessen sind,
726 Otto Stolz
d. h., er soll sie regieren im Einklange mit den Vertretern der
Landschaft; und er soll ebenso nur mit deren Rat das Recht,
d. h. die Gesetze des Landes bessern. Also Steuerbewilligung,
Zustimmung zu neuen Gesetzen und Prüfung der Regierung und
Verwaltung im allgemeinen werden hier als Befugnisse der
Landschaft gegenüber dem Landesfürsten und seiner Regierung
scharf umrissen, jene haben auch weiterhin das Wesen der land-
ständischen Betätigung ausgemacht.
Diese Urkunde von 1342, die wir demnach mit gutem Grunde
als den Großen Freiheitsbrief der Tiroler Landschaft be-
zeichnen können, ist aber in zwei Ausfertigungen erhalten. Der
bestimmende (dispositive) Inhalt sowie die Datierung ist in beiden
wörtlich gleichlautend, verschieden aber sind die Empfänger
bzw. Adressaten. Die eine Ausfertigung (1) richtet sich nämlich
an „alle Gotteshäuser und Edelleute in der Grafschaft Tirol“,
die andere (2) an „alle Gotteshäuser, geistliche und weltliche,
alle Städte, Dörfer und Märkte und auch alle Leute,
edel und unedel, reich und arm, wie sie geheißen und wo
sie gelegen oder wo sie gesessen sind in der Grafschaft Tirol“.
Auch Kaiser Ludwig hat diese Handfeste seines Sohnes mit
zwei verschiedenen Adressen bestätigt, die eine derselben ist
wörtlich gleichlautend mit der zweitangeführten des neuen
Landesfürsten, die andere wendet sich nur an die Edelleute,
nicht wie die erstangeführte auch an die Gotteshäuser®®. Die
*5 Diese zweifache Ausfertigung des Freiheitsbriefes von 1342 hat erst F. Haug
in seiner Abhandlung über die Regierung Ludwigs des Brandenburgers in Tirol in
den Forsch. u. Mitt. z. Gesch. Tirols, Bd. 3 (1906) S. 276f. festgestellt und näher
besprochen. Das Original der erst erwähnten Ausfertigung (1) befindet sich im land-
schaftlichen Archive zu Innsbruck (s. Böhm, D. Tir. Landesarchiv 1911, S. 31),
die Ausfertigung (2) im Hauptstaatsarchiv zu München. Man würde natürlich auch
diese im Archiv der Tiroler Landschaft vermuten, sie ist auch wahrscheinlich erst
zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Innsbruck nach München gelangt. Das Archiv
der Tiroler Landschaft hat nämlich die bayerische Regierung im Jahre 1808, als
sie damals während ihrer Herrschaft in Tirol die alte Landesverfassung aufhob,
in Beschlag genommen und dem staatlichen Archiv in Innsbruck in Verwahrung
übergeben. Da 1813 alle Urkunden vor 1400 von diesem an das Münchner Reichs-
archiv eingefordert wurden, dürfte auch jener Freiheitsbrief von 1342 darunter
gewesen sein. Bei der Rückstellung der Innsbrucker Archivalien nach 1815 konnte
das Münchner Archiv infolge der Nachlässigkeit der österreichischen Stellen nicht
wenig davon zurückbehalten, für die Urkunde eines Wittelsbachers lag dies besonders
nahe, vgl. M. Mayr, Gesch. d. Innsbrucker Statthaltereiarchivs in Mitt. d. Archivs-
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 727
ausdrückliche Anführung der Dörfer, sowie die auch sonst mög-
lichst weitgezogene Umschreibung der an der Landschaft be-
teiligten Bevölkerungskreise machen es sicher — wenn man
überhaupt eine wortgetreue Auslegung anwenden darf — daB
die Landgemeinden damals zur Landschaft gerechnet worden
sind, und zwar auf Grund alter Gewohnheit.
Wenn wir den Freiheitsbrief der Tiroler Landschaft von 1342
mit den landständischen Privilegien der benachbarten anderen
Länder vergleichen, so zeigt er einen ganz besonderen — man
darf wohl sagen — einzig dastehenden Charakter99, Die Land-
handfesten für Steiermark von 1186 und 1237 und jene für
Kärnten von 1338 sind lediglich Privilegien für den Adel dieser
Lànder, beziehen sich mehr auf diesen als einen besonderen
Stand, als auf das Land im ganzen; ähnliche Bestimmungen ent-
halten für den Adel auch die beiden Fassungen des Landrechtes
des Herzogtums Österreich aus dem 13. Jahrhundert‘, Die
Handfesten für die Landstände der Herzogtümer Nieder- und
Oberbayern seit 1311 und für jene des Erzstiftes Salz-
burg seit 1327 sind auch nur Schadloserklärungen für ein-
malig bewilligte Steuern oder gewähren diesen Ständen beson-
dere Rechte für den eigenen Gebrauch, wie die niedere Gerichts-
barkeit in der ottonischen Handfeste für Niederbayern von
131193. Der Tiroler Freiheitsbrief von 1342 enthält aber eine
zusammenfassende Erklärung der einzelnen Rechte der Land-
schaft mit Bezug auf das Land und dessen Verwaltung im ganzen
und gegenüber dem Landesfürsten, er ist daher bei aller Ge-
drängtheit eine wirkliche, schriftlich festgelegte Landesver-
fassung. In den vorerwähnten Ländern ist eine solche auch im
sektion, Bd.2 (1894), S.172. Die Ausfertigung (2) ist gedruckt bei Schwind und
Dopsch, Urk. z. öst. Gesch. (1895) S. 179, ferner samt Schriftabbild von mir heraus-
gegeben in der Zeitschrift , Tirol", Jg. 2 (1928) H. 2, S.15.
% Es darf daher wohl als ein Mangel bezeichnet werden, daß in dem Werke
,Ausgewühlte Urkunden zur deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte'',
Bd. III, Heft 3 (1923), „Die Entstehung d. landständ. Verfassung“, bearbeitet von
P. Sander und H. Spangenberg dieser tirol. Freiheitsbrief von 1342 nicht aufgenom-
men worden ist. Er wäre neben den bayr. ständ. Handfesten (a. a. O. S. 19f.) wohl
am Platze gewesen.
7 Den Wortlaut dieser Urkunden s. bei Schwind und Dopsch, Urk. z. óst.
Gesch. Nr. 13, 84, 87, 94 u. S. 468.
** Über die bayrischen Ständebriefe s. oben S. 724, Anm. 64, die salzburgischen
bei Mell in den Mitt. f. Salzburger Landeskunde, Bd.44 (1904), S. 351ff.
728 Otto Stolz
weiteren 14. und im 15. Jahrhundert nicht gegeben worden,
sondern es sind nur die alten Handfesten wieder bestätigt und
die Rechte der Landschaft im allgemeinen, wie sie sich gewohn-
heitsmäßig entwickelt haben, anerkannt worden. Auch waren in
keinem jener Länder — das sei auch hier wieder betont — die
Landgemeinden an der Landschaft beteiligt, sondern eben nur
Geistlichkeit, Stifter, Adel und Städte. In Vorarlberg waren die
Landstände allerdings nur aus Städten und Landgemeinden zu-
sammengesetzt, allein hier besteht gegenüber Tirol der Unter-
schied, daB die Vorarlberger Landstände entsprechend der
späteren Bildung des Landes erst seit dem Anfang des 16. Jahr-
hunderts in Erscheinung treten und es auch niemals zu einer
ausdrücklichen feierlichen landesfürstlichen Beurkundung ihrer
Befugnisse, sondern nur zu einer gewohnheits mäßigen Aner-
kennung gebracht haben““.
Im weiteren Verlaufe der Regierung Markgraf Ludwigs in
Tirol finden wir die Betätigung der Landschaft nur noch einmal
beurkundet, nämlich bei Erlaß eines Landesgesetzes oder so-
genannten Landesordnung über die Rechts verhältnisse der Bau-
leute, der bäuerlichen Dienstboten und der Handwerker vom
Jahre 13527. Der Landesfürst sagt hier nämlich, daß er die
Ordnung mit Rat seines Rates und der Gotteshäuser und aller
ehrbaren Leute, die Eigen und Urbar, d. h. Grundeigentum und
davon pflichtige Abgaben im Lande besitzen, erlassen habe. Die
Bauleute, die die große Masse der Bauern bildeten, erscheinen
also wohl als Gegenstand dieser Ordnung, nicht aber als Mit-
wirker an derselben.
Stürker treten dann die Landschaft, und als ein Glied der-
selben auch die Landgemeinden in Tirol beim Wechsel im Lan-
desfürstentum in den Jahren 1361—1363 hervor, wie Jäger
S. 120ff. bereits näher ausgeführt hat. Die Belege hierfür sind:
In einem Schreiben der Landschaft vom September 1362 an den
bald nachher verstorbenen Herzog Meinhard IIL, den Sohn
Ludwigs und der Margareta nennt sich jene ,,eure Dienstleute,
Ritter und Knechte, Städte und Märkte und alle Gemeinschaft,
® Siehe A. Brunner, Die Vorarlberger Landstände bis zum 18. Jahrhundert
(1929).
7 Schwind und Dopsch, Urk., S. 184f.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 729
arm und reich in dem Gebirge“. Hier könnte man noch eine be-
stimmtere Erwähnung der Vertreter der Landgemeinden wün-
schen. In der Urkunde vom 26. Januar 1363, mit der die Erb-
gräfin Margareta dem Herzog Rudolf von Österreich und dessen
Bruder das Fürstentum Tirol vermacht, und bereits ihnen des-
sen Regierung übergibt, beruft sie sich auf Verhandlungen, die
sie mit den „edlen Landherren und Ratgeben von wegen aller
anderen, Geistlichen und Weltlichen, Edlen und Unedlen,
Armen und Reichen, in den Städten und auf dem Lande,
die zum Fürstentum Tirol gehören“, geführt habe. Auch die For-
mel ,,Landherren, Bürger und Landsassen“ kommt in dieser Ur-
kunde ebenfalls mit Bezug auf die Gesamtheit der Landstände
vor”!. Der Ausdruck „auf dem Lande“ neben „in den Städten“
kann nur im Gegensatz oder als Ergänzung hierzu eben auf die
Landgemeinden gedeutet werden, auch „Landsassen“ im Ver-
hältnis zu „Bürger“ auf die Landbewohner. Mit der Urkunde
vom 11. September 1363 bestätigt die Landschaft, daß Margareta
die Grafschaft Tirol den österreichischen Herzogen ganz über-
eignet habe und bezeichnet sich hierbei als Aussteller der Ur-
kunde zuerst mit namentlicher Anführung von 24 Landherren
und im unmittelbaren Anschlusse daran als „die Landschaft
gemeinlich, edel und unedel, arm und reich, die zur
Herrschaft von Tirol gehóren''. Das ist die erste schriftliche Ver-
wendung des Ausdruckes „Landschaft“, die für Tirol überliefert
ist. Daß sich diese damals zu gemeinsamer Tagung versammelt
hat, ist aus dem Zusammenhang anzunehmen, aber der Aus-
druck „Landtag“, den Jäger S. 148 hierfür gebraucht, kommt
in Schriften, die zu jener Zeit verfaßt worden sind, nicht vor.
Im Einklang mit jener Urkunde sagt der gleichzeitige Geschichts-
schreiber Goswin von Marienberg, die Abtretung des Landes
sei erfolgt „cum consilio nobilium et ignobilium‘‘”?,
Nach dem Jahre 1363 findet man mehrere Jahrzehnte nichts
über irgendeine Betätigung der Tiroler Landschaft. Es muß
aber gesagt werden, daß die urkundliche Überlieferung — ins-
71 Die erstere Formel steht im Abdruck der Urkunde bei A. Huber, Vereinigung
Tirols mit Österr., S. 225, Zeile 1 von oben, die letztere S.222, Zeile 1 von unten.
7? Huber, Vereinigung, S. 94 u. 233. Jäger, 2, 2, S. 147f. Goswin Chronik
von Marienberg (Ausgabe in Tir. Geschichtsquellen Bd. 2) S. 217.
730 Otto Stolz
besondere was die landesfürstliche Kanzlei betrifft — aus der
Regierungszeit der ersten Habsburger in Tirol im Vergleich zu
den vorausgegangenen Jahrzehnten überhaupt ziemlich spärlich
ist. Man darf deshalb wohl nicht annehmen, daß jede Betätigung
der Landschaft seit 1363 geruht hat und insbesondere die Land-
gemeinden aus dieser wieder gänzlich verdrängt worden seien.
Die Landesordnung vom Jahre 1404, die das rechtliche Verhält-
nis zwischen den Grundherrn und den Bauleuten in Tirol im
Vergleich zu andern Ländern sehr zugunsten der Bauern in
Gestalt der Erbleihe festgelegt hat, ist vom Landesfürsten er-
lassen worden „nach Rat und Erkenntnis unserer Räte und mit
dem mehrern Teil der Landesleut und über Bitten der Prälaten,
Herren, Ritter, Knecht, Städte und gemeinlich aller Lands-
leute der Grafschaft zu Tirol“. Dieser letztere Ausdruck be-
zieht sich wohl auf die Mitwirkung der Landgemeinden bei
diesem Gesetze. Ferner wird hier zum ersten Male das Mehrheits-
prinzip für die Entscheidungen der Landschaft bezeugt“. 1406
haben dann die Herzoge Leopold und Friedrich für die Hilfe,
die ihnen und ihren Vorfahren ,,die Landesherrn, Ritter, Knechte
Stádte und gemeinlich all unser Landesvolk in unser Grafschaft
zu Tirol" geleistet haben, die früheren Freiheitsbriefe bestätigt
und erneuert und außerdem um einige wichtige Bestimmungen
erweitert”®. Kein Landesangehöriger darf seinem ordentlichen
Gerichte entzogen, ohne Spruch desselben verurteilt oder be-
straft werden, auch verspricht der Landesfürst in den Gang
dieser Rechtspflege nicht einzugreifen. Diese Bestimmungen er-
innern uns an ähnliche Vorkehrungen zum Rechtsschutze der
einzelnen Landesangehörigen in anderen älteren und neueren
Verfassungen. Die nächste Fortbildung der Tiroler Landesver-
fassung ist dann das Grundgesetz, das Kaiser Maximilian I. als
Landesfürst von Tirol für die Wehr- und Steuerverfassung dieses
Landes im Jahre 1511 mit der Landschaft vereinbart hat und
gewöhnlich das elfjährige Landlibell genannt wird. In dieses
wurde die Bestimmung aufgenommen, daß der Kaiser und seine
Nachfolger ohne vorherige Verständigung und Einwilligung der
Landschaft keinen Krieg beginnen dürfen, der „durch das Land
n Wopfner, Gesch. d. Erbleihe Tirols (1903), S. 2081.
74 Weiteres hierüber s. unten im nächsten Heft.
*$ Wortlaut bei Schwind und Dopsch, Urk. 3. Gesch. Österreichs, S. 297.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 731
gehe“, d. h. dieses zum Kriegsschauplatz mache oder es unmittel-
bar bedrohe"$,
Bereits seit etwa 1420 begannen einzelne Landstände, Adels-
geschlechter und Stadtgemeinden, sich Abschriften der be-
sprochenen Verfassungsurkunden, Landesordnungen und der
Schadlosbriefe, d. s. Erklärungen der Landesfürsten, daß die
Bewilligung einer Steuer seitens der Landschaft diese nicht für
weitere derartige Ansuchen des Landesfürsten binde, anzulegen,
um sie für ihren Gebrauch stándig zur Hand zu haben. Diese
Abschriften wurden dann in einem Hefte oder Bande gesammelt
und im Ganzen als „Landesfreiheiten‘ oder „Landesfreiheit
der fürstlichen Grafschaft Tirol“ bezeichnet. Diesen Ausdruck
finde ich zum erstenmal in einer Eingabe der Südtiroler Gerichte
an die Landschaft vom Jahre 1473 gebraucht". Früher, so 1363
und 1406 wird wohl von ‚Freiheiten und Rechten‘, die dem
Lande zukommen, gesprochen’®, ferner seit 1420 von „Freiheits-
briefen‘ der Landschaft??. Die Wortverbindung „Landesfrei-
heiten“ ist aber erst seit der 2. Hälfte des 15. Jh. belegt.
Die erwähnte Landesordnung von 1404 zeigt wohl die enge
Verbindung, die einerseits zwischen der besitzrechtlichen
?* Wortlaut des Landlibells von 1511 siehe Brandis, Gesch. d. Landeshaupt-
leute von Tirol (Druck 1850) S. 412ff., jene Stelle S. 418, Zeile 12 von oben.
77 Näheres darüber bei Wretschko, Zur Gesch. d. Tiroler Landesfreiheiten in
Schlernschriften, Bd. 9 (1925), S. 309ff. Doch fehlt hier der Hinweis auf die erste
schriftliche Überlieferung jenes Ausdruckes vom Jahre 1473: „Vermerckt das an-
pringen und beswärung der hernachgeschrieben gericht: am ersten von des vichs
wegen daselbig nach innhallt der landsfreihait aus dem land nicht verkaufft sol
werden.. (Staatsarchiv Innsbruck chronolog. Landtagsakten 1473, Niederschrift
der Zeit). — Eine der Schrift nach um 1460 angelegte Sammlung jener Urkunden
(ebenda Cod. 511 fol. 26) trägt die Bezeichnung: „Copien der lanntschaft an der
Etsch freyhaiten und bestettung." Eine andere nach der Schrift auch Mitte des
15. Jahrhunderts angelegte Sammlung derselben Verfassungsurkunden seit 1342
hat von einer kaum sehr viel späteren anderen Hand die Bezeichnung „Lanndes-
freyhayten“ erhalten. (Landesarchiv Innsbruck Hs. 16 fol. 105.) Alle späteren, seit
dem 16. Jahrhundert überlieferten Sammlungen dieser Art tragen, wie erwähnt,
die Überschrift „Landesfreiheiten“.
73 So 1363 Huber, Vereinigung Tirols mit Österreich, S. 193, 1406, Schwind
Urk. S. 298. Der Freiheitsbrief von 1342 spricht nur von „Rechten“. Ferner auch
„Freiheiten“ in Urk. von 1415 und 1419 (Böhm, Tir. Landesarchiv, S. 37).
7» Noggler in Zt. Ferd. 27, S. 107. Brandis, H. Friedrich, S. 493. Im Landtags-
abschied von 1483 heißt es „Freiheiten“ (Chmel, Mater. S. 73), nicht wie Jäger 2, 2,
S. 57 angibt, „Landesfreiheiten“.
732 Otto Stolz
und sozialen Stellung des Bauernstandes, und andrerseits
seiner politischen Stellung als Mitglied der Landschaft bestanden
hat, an. Aber man kann deswegen nicht sagen, daß die politische
Stellung älter sei als die besitzrechtliche und diese hervorge-
bracht habe, noch kann man schlechtweg das Gegenteil davon
behaupten. Sondern die beiden Bevorzugungen, die der Bauern-
stand in Tirol auf diese Weise gegenüber jenem in anderen deut-
schen Ländern besessen hat, bedingen sich zeitlich und ursäch-
lich gegenseitig. Der Bauernstand hat in Tirol schon bei den
Anfängen der Landstände zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit-
wirken können, weil er in seinen Gemeinden und in seinem
Verhältnis gegenüber den Grundherren schon damals ein
gewisses Gewicht besessen hat und er hat andererseits die-
ses Verhältnis auch weiterhin günstig für sich gestalten
können, weil er eben Teilnahme an der Landesvertretung be-
sessen hat.
Die politischen Rechte des Bauernstandes in Tirol haben
sich auch hier wohl nur deshalb durchsetzen kónnen, weil jener
Stand unmittelbaren Anteil an der kriegerischen Kraft des
Landes nach außen genommen hat, und auch bei inneren
Kämpfen sich mit der Waffe in der Hand zur Geltung gebracht
hat, mit einem Worte, weil in Tirol seit jeher der Bauernstand
wehrhaft gewesen und geblieben ist. Die Nachrichten über ein
solches Auftreten bäuerlicher Kreise im Sinne einer Landwehr
sind aus dem 14. Jahrhundert auch für Tirol selten, um so wich-
tiger ist es, darauf hinzuweisen. Für das Jahr 1302/3 bucht der
damalige Vorstand des Gerichtes Thauer oder Hall im Inntal
Ausgaben für einen Kriegszug, den die steuerpflichtigen, also
bürgerlichen und báuerlichen Insassen seines Gerichtes im Auf-
trage der Grafen von Tirol an die Südgrenze des Landes, auf
den Nonsberg und nach Trient unternommen hätten“. Zu diesem
Kriegszuge sind anscheinend alle Gerichte der Grafschaft Tirol
aufgeboten worden, denn der Richter von Mühlbach bei Brixen
verrechnet ebenfalls zum Jahre 1312 eine Abgabe von den
Leuten des Lüsentales, weil sie nicht nach Trient gezogen seien,
89 Straganz, Gesch. d. Stadt Hall (1903), S. 21, Anm. 2. Kogler, Steuerwesen
Tirols im Arch. óst. Gesch. 90 (1901), S. 474 z. Jahre 1303. M. Mayr in Zt. d. Ferd.
42, S. 153, Nr. 237. — Diese und die folgenden Angaben stelle ich hier erstmals aus
sehr verstreuten Quellen zusammen.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 733
offenbar wie die andern Gemeinden des Gerichtes 1. Im Jahre
1336 bezeugt Karl von Mähren, der damals in Tirol die Regierung
für seinen Bruder führte, die Teilnahme der „Bauerschaft auf
dem Gäu im Gericht zu Hall“ an der Reise, d. h. am Kriegszug
gegen Bayern bis an die Klause von Auerburg, nördlich Kuf-
stein??, Die Bergknappen und Salinenarbeiter von Hall standen
im Jahre 1347 über drei Monate beim Heere des Landesfürsten
im Süden des Landes®. Die Bürger von Bozen waren laut Ur-
kunde von 1290 zum Kriegsdienste und zur „hervart“ für die
Tiroler Landesfürsten verpflichtet, ebenso die Insassen des Ge-
richtes Neuhaus oder Terlan?*. Als im Jahre 1369 die Herzóge
von Bayern in Tirol einflelen, um jenen von Österreich das neu
gewonnene Land wieder zu entreißen, bot im Dienste der letz-
teren der Bischof von Brixen zur Verteidigung Tirols nicht nur
die Edlen und Ritter, sondern auch ,,die burger aus den stetten
zu rossen und zu fuessen und ander gross fuesvolck von dem
land aus sein telern und gerichten“ auf®®. Diese unbedingt zeit-
genóssischen Aufzeichnungen beweisen, daB die Land- und
Stadtbevölkerung Tirols schon seit dem Anfang des 14. Jahr-
hunderts an den Landeskriegen wehrhaften Anteil genommen
hat, und zwar nicht bloB im engsten Heimatsbereiche, sondern
51 Jener Richter verrechnet 1315 die Einnahme von „xv marcis de hominibus
de Lusen, datis pro eo, quod non iverunt ad Tridentum" (Staatsarchiv München,
Tir. Raitbuch Nr. 10, fol. 93).
533 Huber, Regesta Imp. Karl IV., S. 5, Nr. 31.
53 Laut einer Rechnung des Salinenamtes Staatsarchiv Innsbruck Cod. 288,
fol. 39. Als Kampforte werden da genannt: Brixen, Rodenegg, Beutelstein auf der
Grenze zwischen Pustertal und Ampezzo, Nonsberg und Fürstenburg im oberen
Vinschgau. — Vgl. Schónach in Tir. Stimmen 1908, Nr. 153.
94 Stolz, Gesch. d. Gerichte Tirols in Arch. óst. Gesch. 102, Bd. S. 105. — Um
1320 erhält Peterl der Frey einen Hof zu Neuhaus bei Terlan auf Bitte der Frau
Elspeten, der edlen chunigin von Sicili, mit der ich über mer (Meer) fur, mit der Be-
dingung, daB er als Besitzer dieses Hofes „chain wagenvart noch tagwerch noch
stewer noch chain hervart aus dem land zu leisten habe“ (Staatsarchiv Innsbruck,
Cod. 18, fol. 78). Da die zuerst genannten Dienste rein báuerlicher Art sind und
eben von allen Hofbesitzern des Gerichtes Neuhaus zu leisten waren, so ist dies auch
für den Heerfahrtsdienst anzunehmen. — Königin Elisabeth von Sizilien und Argonien
war eine Tochter des Herzogs Otto von Kürnten und Tirol und seit 1323 mit dem
Inhaber der genannten Kronen verheiratet (Ladurner im Arch. f. Gesch. Tirols
1, S. 121).
85 Sinnacher, Gesch. von Brixen (1827) Bd. 5, S. 454, Abdruck aus Urkunde.
Huber, Vereinigung Tirols mit Österreich, S. 114 u. 226.
734 Otto Stolz
auch an den äußeren Landesgrenzen und jenseits derselben,
nicht wenige Tagreisen vom eigenen Haus und Hof entfernt,
und daher jedenfalls in einer gewissen organisierten Form
Wenn in der Landesfreiheit von 1406 die Dienste, die die Herren
und Ritter, Städte und alles Landvolk der Grafschaft Tirol
gegen „Lamparten“, d. i. gegen die Stadtstaaten der Lombardei
geleistet haben, erwähnt werden, so entsprachen diese Waffen-
dienste auch auf Seite der Stadt- und Landgemeinden also einer
damals schon eingebürgerten Einrichtung. Übrigens haben wir
aus demselben Jahre 1406 als ältestes dieser Art ein Aufgebot-
schreiben des Landesfürsten für das Gericht Passeier zu einem
Kriegszug gegen die Feinde, die damals von Süden Trient und
damit Tirol bedrohten, erhalten?9. 1407 erklärte der Landes-
fürst Herzog Friedrich gegenüber den Leuten des Gerichtes
Taufers, daß sie nur für ihn Kriegsdienste zu leisten haben, nicht
aber in den Fehden seines Hauptmannes auf Schloß Taufers?”.
In dem Bürgerkrieg, der 1415 infolge der Ächtung des Herzog
Friedrich zwischen diesem einerseits und seinem Bruder Ernst
und einem Teile des Adels andererseits entbrannt ist, haben die
es Dieses bisher nicht veröffentlichte Schreiben vom 14. Jan. 1406 hat folgenden
Wortlaut: „Wir Leupolt herczog ze Osterreich, graf ze Tyrol etc. enbieten u. I. getr.
Hilpranten und Hannsen in Passeyr oder wer ir stat daselbs haltet unser gnad und
alles gut. Wir lassen ew wissen, das sich die veind, so in unserm land an der Etsch
bey Tryendt ligend tegleich sterkhen und herauf rukhen und uns unsern freund von
Tryendt und unser land und leut grossleich beschedigen, daz wir aber maynen mit
der hilffe Gotes understen und in mechticleich engegen und unser land und leut
vor in beheben. Davon emphelhen wir ewch ernstleich bey unserm hulden und
gnaden, das ir mit allen den, so in dem gericht zu Paseyr siczen und darzu gehoren
und die zu wer geschikht sein, von unsern wegen schaffet und aufgebietet, das sy
mitsampt ew ze ross und ze fussen, so sy aller sterkhist mugen, sich zu uns gen Sa-
lurn bey nacht und tag furderleich und (on) alles vercziehen fugen und kost und
speis mit in bringen und unser land und leut und auch sy selber helffen ze retten,
wan versehenleich ist, solten wir in solicher mass nicht engegen, das sy mitsampt
unsern landen und leuten in gross und verderbleich scheden geseczt wurden. Das
wellen wir gen in mit sundern gnaden gern erkennen. Geben ze Brichsen an pfincztag
nach sand Erharts tag a. d. etc. quadragentesimo sexto (d. dux in consiglio). (Staats-
archiv Innsbruck, Urk. I, 4214.) 1403 bestätigte der Landesfürst H. Friedrich, daß
er „die Hilfe und Steuer, die die Aigenleute des Hofmeisters Heinrich von Rotten-
burg zu seinem Zuge nach welischen Landen getan haben, von pete und nicht von
eines rehtes wegen erhalten habe (a. a. O. I, 3577). Ob unter dieser Hilfe auch persón-
liche Kriegsdienste jener Eigenleute gemeint sind, ist fraglich.
8° Archivberichte aus Tirol 3, S. 369, Nr. 1830.
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 735
Aufgebote der Landgemeinden oder, wie es damals hieß, der
Bauernschaft die Stellung des Herzog Friedrich behauptet, und
damit auch den Versuch des Adels, seine Macht auf Kosten des
Landesfürsten und der Landgemeinden zu erhóhen, zurückge-
wiesen. Das hervorragendste Zeugnis hierfür ist das Gedicht
Oswalds von Wolkenstein über den Sieg der báuerlichen Auf-
gebote des Etschlandes über den Adel vor Greifenstein bei
Bozen“. In ähnlicher Weise hat Herzog Friedrich im Jahre 1417
die Gerichte des Burggrafenamtes aufgeboten, ,,ein Viertel ihres
wohlbezeugten Volks' zur Bekámpfung der Herren von Schlan-
dersberg ihm zuzusenden®®. Auch die Bürger der Stadt Sterzing
lagen damals mit dem Landesfürsten im Felde und vergossen
für ihn ihr Blut, wie eine Urkunde sagt. Laut des Landtags-
abschiedes von 1424 bestand damals schon seit einiger Zeit ein
fester Anschlag, nach dem Städte und Gerichte auf das Aufgebot
des Landesfürsten ihre Mannschaft gegen innere und äußere
Feinde zu stellen hatten®!. Auch in andern Teilen des Landes
wurden wichtige Punkte durch die Aufgebote damals besetzt
und verteidigt. Der Sieg Friedrichs hat sehr dazu beigetragen,
daB die Stellung der Bauern in der Landschaft für die Folgezeit
sich verstärkt hat. Im Laufe des 15. Jahrhunderts mehren sich
dann die Zeugnisse über die stándige Teilnahme der Bauern-
schaft in Tirol an der Landesverteidigung, insbesondere auch
5*5 [n der Ausgabe der Gedichte O. v. Wolkenstein von J. Schatz (1904) S. 183,
besonders die SchluBzeilen: „Die Potzner, der Ritten und die von Meran, Hafning,
der Melten, die zugen oben dran, Sárntner, Jenesier, die freidige man, die wolten
uns (den Adel unter Führung der Herren von Wolkenstein) vergämen, do kamen
wir dervon.“ — Daß der gegnerische Bruder Friedrichs, Herzog Ernst, hauptsächlich
„wider die Bauerschaft der Grafschaft Tirol“ zu kämpfen hatte, steht auch in einem
Schreiben von 1416 (Jäger, Bd.2, 1, S. 329).
** Jäger, Landstünd. Verf. 2, 1, S. 342. Das Aufgebotschreiben ist eingetragen
im St.A. Innsbruck, Schatzarchivrepert. Bd. 4, pag. 8.
*9 Fischnaler, Regesten aus dem Stadtarchiv Sterzing, Nr. 186.
21 Jäger a. a. O. 2, 1, S. 378, Anm. 4. — Über die Teilnahme der Etschländer
Gerichte an der Belagerung der Churischen Feste Fürstenburg im Vinschgau im
Jahre 1430 siehe Lechner im Tir. Almanach 1926, S. 19ff.
en Laut einer Urkunde vom 2. März 1415 fand damals vor dem Elichtaiding des
Gerichtes Steinach eine Verhandlung statt wegen Bezichtigung zweier Leute wegen
landesverráterischer Umtriebe. Hier heißt es, daß die Leute des Gerichtes Steinach
an der Klausen an dem Rottschrein (bei Ellbogen) gelegen wären, jedenfalls um sie
zu verteidigen (Staatsarchiv Innsbruck, Urk. I, 5783).
736 Otto Stolz: Die Landstandschaft der Bauern in Tirol
Zählungen über die wehrfähige Mannschaft und ihre Waffen
in den einzelnen Gerichten“.
*3 Berichte über die Zahl der „wehrlichen Mannschaft" in den einzelnen
Gerichten des Etschlandes aus dem Jahre 1460 verzeichnet das Schatzarchiv Re-
pert. Bd. 4, pag. 35 und 108 (Urk. Nr. 9501—6, Staatsarchiv Innsbruck). Für das
Landgericht Lienz, das damals zur Grafschaft Görz, seit 1500 zu Tirol gehörte,
sind sog. Musterlisten, Verzeichnisse der wehrhaften Leute und ihrer Waffen bereits
aus den Jahren 1410 und 1444 erhalten (ebenda Cod. 63). Einen Anschlag der ‚‚wer-
lichen Mann“ für die einzelnen Gerichte des Fürstentums Brixen vom Jahre 1479 ist
bei Sinnacher, Gesch. Bd.6, S. 617, wörtlich mitgeteilt. (Schluß folgt.)
797
Zur Geschichte der spanischen Musik des
Mittelalters.
Von
Hans Spanke.
Der vor zwei Jahren an dieser Stelle! ausgesprochene Wunsch
nach einem „Corpus musicae mediaevalis piae non liturgicae"
scheint nunmehr, wenigstens auf einem Teilgebiete, doch noch
seiner Erfüllung sich zu nähern. Die Biblioteca de Catalunya in
Barcelona (Departement de Musica) beschert uns eine prachtvolle
Ausgabe einer sowohl durch den reichen Inhalt als durch ihre
Sonderbedeutung für die Musikgeschichte äußerst wichtigen
Sammlung spanischer (bzw. in Spanien gesungener und auf-
gezeichneter) Vokalmusik des 13.—-14. Jahrhunderts: Higini
Anglés, El Codex musical de Las Huelgas, Barcelona 1931; wei-
tere Publikationen ähnlichen Inhalts werden in Aussicht gestellt.
Bei dem heute in Deutschland erfreulich zunehmenden Inter-
esse für Hispanica dürfte es angebracht sein, hier auf den Inhalt
dieses bedeutenden Werkes, das über so manche bisher dunkle
Punkte Klarheit schafft, etwas näher einzugehen. Ein schönes
Bild Fr. Ludwigs schmückt den ersten Band (Introducció): den
Geist des Meisters — Anglés war lange Jahre sein Schüler und
Freund — spüren wir auf jeder Seite. —- Es galt in der Einleitung,
nicht nur den Inhalt der Huelgashandschrift und die darin ver-
tretenen Gattungen in den groBen Rahmen der mittelalterlichen
Musik einzuordnen, sondern überhaupt festzulegen, welche Rolle
denn eigentlich Spanien im Vergleich zu den andern europäischen
Völkern in der mittelalterlichen Musik gespielt hat. Bisher war
das Bild, das wir von dieser Rolle hatten, nur kümmerlich und
teilweise schief; man maß vielfach episodischen Strömungen, in
die zufällig durch Spezialforschungen etwas Licht gekommen
1 Bd. 27, S. 375.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 47
738 Hans Spanke
war, eine zu groBe Bedeutung bei, und wenn man von spanischer
Musik sprach, dachte man an Mozarabisches oder auch Sara-
zenisches. Mit Benutzung eines gewaltigen Materials (man vgl.
die Bibliographie, die mit ihren 300—400 benutzten Handschrif-
ten in der Literatur wohl einzig dasteht und für weitere For-
schung auf mehreren Gebieten grundlegend ist) ist es Anglés
gelungen, von der Entwicklung der Musik Spaniens ein, wenn
auch nur skizziertes, doch so deutliches Bild zu entwerfen, daß
vom 6. Jahrhundert an die Vacua relativ nicht zahlreicher und
umfangreicher sind als sonst in Europa, und vor allem, daß für
die noch zu schlagenden Brücken die Pfeiler festliegen.
Vor dem Einfall der Araber, im 6. und 7. Jahrhundert, gab
es auf der Pyrenäenhalbinsel drei blühende Musikzentren: Sevilla
mit dem Komponisten St. Leander und dem Theoretiker Isidor,
Toledo mit St. Eugenius, Ildefons und Julianus und Saragossa
mit den Brüdern Johannes und Braulius, letzterer der Lehrer
Eugens. Leander nahm größeren Anteil an der Schaffung des
westgotischen, spáter mozarabisch genannten Ritus, dessen
eigentliche Blütezeit von 711 bis 1085 reicht. Über diese Periode,
deren Poesien uns textlich bequem im Bd. XXVII der Analecta
hymnica zugänglich sind, bringt Anglés wertvolle Quellen-
angaben. Interessant sind besonders seine Mitteilungen über die
Gattung der „Preces“, die bekanntlich W. Meyer? als verderbte
bzw. mißverstandene Sequenzen betrachtete; die Chronologie
spricht dagegen, da sie schon im 7. und 8. Jahrhundert nach
jüngerer Angabe gedichtet wurden. Die Preces müssen sehr
beliebt gewesen sein; denn noch nach Abschaffung der mozara-
bischen Liturgie sind einige in Hss. mit Melodie aufgezeichnet
worden. Die bisher unedierten Melodien (A. verspricht, sich ihrer
anzunehmen) scheinen volkstümlichen Charakters zu sein. Sollte
hier vielleicht, ähnlich wie bei der Sequenz, ein Einströmen welt-
licher Musik im Bereich der Möglichkeit liegen ? Und sollte die
(von Meyer teils übersehene) freie Verwendung antiker Verse
und Strophen in stark verwilderter Form vielleicht ähnliche
Schlüsse zulassen? Jedenfalls ist auch die textliche Seite der
Preces noch durchaus ungeklärt; W. Meyer kam nicht recht
voran, da er (ausgenommen zwei Stücke) nur spáte Drucke als
3 „Über die rhythmischen Preces der mozarabischen Liturgie“ in Nachrichten
der Kgl. Ges. der Wiss. in Göttingen aus dem Jahre 1913, S. 177ff.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 739
Quellen benutzte. — Seit 1076 siegte die Lex Romana über die
Lex Toledana im Ritus der Reiche Navarra, Kastilien und Leon,
und ungefáhr um dieselbe Zeit drang sie in Katalonien ein; aber
das alte nationale Gut verschwand keineswegs vóllig: einzelne
Klóster und Hauptkirchen hielten záh daran fest, und Einzelzüge
der mozarabischen Art finden sich in zahlreichen Sammlungen und
Handbüchern viel spáterer Zeit. Die mozarabische Musik, speziell
ihre Notation, birgt noch manche Rätsel’, deren Lösung dadurch
besonders erschwert wird, daß spanische Musiktraktate aus dieser
Zeit leider fehlen, — abgesehen von dem (keine Aufschlüsse
bringenden) Breviarium de Musica des Mónches Oliva von dem
katalonischen Kloster Ripoll; diese Abtei verdient wegen ihrer
reichen Bibliothek und ihrer frühen Beziehungen zu südfran-
zösischen Klöstern (St. Martial in Limoges, St. Peter in Moissac
und Fleury an der Loire) besondere Beachtung. Der Theorie
einer arabischen Einwirkung auf mittelalterliche spanische
Musik, heute nur noch von einigen Arabisten vertreten, steht
Anglés mit Recht sehr skeptisch gegenüber; solange wir von
älterer arabischer Musik auch nicht das geringste authentische
Stück besitzen, schweben tatsächlich alle Erörterungen in der
Luft.
Bisher hielt man die teilweise neumierten Versus und Planc-
tus der Handschrift Paris BN lat. 1154 für die ältesten erhaltenen
Beispiele mittelalterlicher weltlicher Vokalmusik. Geschrieben
wurde der Codex in St. Martial am Ende des 9. Jahrhunderts;
die genannten Texte, und auch wohl die beigefügten Melodien,
sind bedeutend älter“. Anglés weist nun darauf hin, daß in der
mozarabischen Hs. Madrid BN 10029 (aus dem 9. bis 10. Jahr-
hundert) mehrere Poesien des Eugentus von Toledo (gest. 657)
wenigstens teilweise neumtert überliefert sind; es sind Planctus
(hier „Epitafion‘‘) auf den König Chindaswinthus (f 652) und
die Königin Reciberga (, Recciverga“, T 657) und das „ Disticon
Filomelaicum''. Mit den Notenzeichen (vgl. die Faksimilia S. 26
und 27) ist allerdings wenig anzufangen; sie sind anscheinend
teils auf die Silbenquantität, teils auf die Tonhóhe bezüglich.
* Es dürfte interessieren, daB P. Wagner 1926 eine Studienreise nach Spanien
unternahm, eigens zu dem Zweck, diese Rátsel zu lósen.
* Vgl. Spanke, Rhythmen- und Sequenzenstudien" in Studi Medievali N. S.
1932, S. 2861f.
47*
740 Hans Spanke
Ebenso alt ist ein,, Carmen de nubentibus“, ohne Noten erhalten,
aber mit zahlreichen musikalischen Ausdrücken durchsetzt (Anal.
XXVII S. 283), in asklepiadeischen Strophen, deren 12-Silbner
großenteils daktylischen Charakter tragen. Derartige Lieder
waren bei den kirchlichen Behórden verpónt, und das oft zitierte
Konzil von Toledo im Jahre 587 verbot sogar ein ,,funebre car-
men, quod vulgo defunctis cantari solet'5. Zahlreiche musi-
kalische Ausdrücke enthält auch ein Epithalamium für die
Kónigin Leodegundia aus dem 9. Jahrhundert, in dem eine
Strophe:
Nervi repercussi manu cithariste
Tetracordon tinniat, armoniam concitet,
Ut resonent laudes dulces domine Leodegundie —
vielleicht auf mehrstimmige (instrumentale) Musik hindeutet;
auch die Strophenform ist interessant und in der mittelalterlichen
Lyrik isoliert. Die erste Strophe ist neumiert; vgl. das Faksimile
S. 31. Internationale Verbreitung hatte das berühmte Sibyllen-
lied, für welches Anglés eine bisher unbekannte mozarabische
Quelle vom Jahre 960 anführt; er hält es nicht für ausgeschlos-
sen, daB das Lied westgotischen Ursprungs ist, da die Nieder-
schrift weit ab von der franzósischen Grenze (bei Burgos) erfolgt
ist. Ein mozarabischer Codex enthält auch die älteste bisher
bekannte Fassung des Totentanzes; vielleicht stammt das Genre
aus Spanien.
Von den spanischen Heldenromanzen, von denen eine (Ro-
manz del Infant Garcia) schon erklang, als der Cid Herr von
Valencia war, sind keine Melodien erhalten; ebensowenig von
den zahlreichen hófischen Liedern des 13. Jahrhunderts, mit allei-
niger Ausnahme von sechs Melodien des galicischen Sängers
Martim Codax, doppelt wertvoll, da es Frauenlieder sind ; Anglés
will sie demnächst transkribiert herausgeben. Eine Art Ersatz
für diese Lücke bieten die Weisen der geistlichen Cantigas des
Königs Alfons von Kastilien, sorgfältig aufgezeichnet in Hss.,
die teilweise unter Aufsicht des Verfassers selbst hergestellt wur-
den. Leider ist noch keine brauchbare Gesamtausgabe der Melo-
dien vorhanden; hoffen wir, daß Anglés (als Berufenster) auch
diese Lücke ausfüllen wird.
5 In dem Texte der Konzilverordnung dürfte statt des überlieferten sinnlosen
„peccatores cedere“ eher „pectora cedere“ zu lesen sein; vgl. Anglès I S. 29 Fußnote2.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 741
Trotz des schon erwähnten Fehlens spanischer musiktheore-
tischer Werke steht fest, daß man schon früh in mehreren Hoch-
schulen Spaniens, anscheinend sogar früher als sonst irgendwo in
Europa (vgl. Anglés S. 36) die Lehre vom Organum (d.h. der
mehrstimmigen Musik) vortrug. Der „ maestro en organo'', für
den 1254 der gelehrte Kónig Alfons bei der Organisation der
Universitát Salamanca eine Lehrstelle schuf, scheint allerdings
eher ein richtiger Organist gewesen zu sein. — Ungefähr gleich-
zeitig berichtet der Vielschreiber Juan Gil de Zamora, daB die
Orgel nunmehr in der Kirche alle andern Instrumente, die ,,prop-
ter abusum histrionum“ in den Bann getan wurden, verdrängt
hatte. Das früheste Dokument, das von der Benutzung der Orgel
in Spanien als Kircheninstrument berichtet, stammt aus dem
Jahre 972; über die ältere Zeit schweigen Urkunden und Minia-
turen. Allerdings geht aus mozarabischen Gedichten und ara-
bisch-andalusischen Geschichtsnotizen hervor, daß die Orgel als
weltliches Instrument schon früher bekannt war; — ähnlich in
Frankreich, wo Pipin schon 757 eine Orgel von dem byzanti-
nischen Kaiser Konstantinos Kopronymos bezog, wo aber erst
827 die erste Orgel in einem Kloster aufgestellt wurde. Andere
Instrumente erklangen vielfach in spanischen Kirchen; bemer-
kenswert ist die urkundlich bezeugte Schenkung einer citara
an ein Kloster im Jahre 1040.
Ein noch fast unbebautes Gebiet ist die Geschichte der mehr-
stimmigen Vokalmusik auf der Pyrenäenhalbinsel. Vielleicht wäre
es verfehlt, wenn man aus dem Fehlen von Nachrichten aus dem
12. Jahrhundert zu weit gehende Schlüsse ziehen wollte, und
Anglès mag recht haben, wenn er die Bezeichnung ,,magnus
organista'', die urkundlich einem 1164 verstorbenen Kanonikus
der Kathedrale von Tarragona beigelegt wird, auf eine Pflege
des Organums an dieser Kirche deutet: wohlbemerkt, zu einer
Zeit, als in Paris der berühmte Komponist Leoninus an der
Notre-Dame-Kirche noch nicht lange seine Tätigkeit aufgenom-
men hatte. In mozarabischen Codices ist von Mehrstimmigkeit
keine Spur erhalten; doch ist noch vieles von den handschrift-
lichen Schätzen der Kathedrale von Toledo unerforscht. Toledo
konnte als international bedeutende Stätte des Geisteslebens im
11. Jahrhundert wohl mit Paris konkurrieren, und seine Blüte
wührte noch das 13. Jahrhundert hindurch. Andere in Betracht
142 Hans Spanke
kommende Musikzentren sind Santiago de Compostela im Nor-
den, Burgos (neben Toledo) im Zentrum und Ripoll und Tortosa
in Katalonien.
Alfons VIII. von Kastilien (T 1214) war nicht nur tapferer
Kàmpe in Maurenkriegen, sondern groBer Freund der Musik.
Zwei große Königinnen waren seine Töchter, Berenguela von
Kastilien und Blanca, die Mutter Ludwigs des Heiligen und
Schützerin bedeutender altfranzösischer Dichter. Auch der Sohn
Berenguelas, Ferdinand der Heilige (T 1252), ist bekannt als
Förderer der Joglares und Trobadors, noch mehr sein Sohn, der
als Dichter und Schriftsteller so berühmte König Alfons der Ge-
lehrte. Seine Cantigas sind keineswegs, wie Ribera behauptet,
von arabisch-andalusischer Lyrik formal oder musikalisch beein-
fluBt, sondern zeigen im Strophenbau Abhängigkeit von dem
franzósischen Tanzlied, das schon vor Alfons durch andere Tro-
badors in Spanien eingeführt war und auch auf die geistliche
lateinische Dichtung in Ripoll und Montserrat nachweislich ein-
gewirkt hat. Auch die Musik der Cantigas hat, wie Anglés betont,
keine Züge, die sie von der sonstigen Vokalmusik der damaligen
Zeit wesentlich trennen, wenngleich sie derselben an Schónheit
und Originalität durchaus ebenbürtig ist. Überzeugend wirkt die
Zusammenstellung von Transkriptionen einiger Cantigas und
eines ungefähr aus der gleichen Zeit stammenden lateinischen
Ripoll-Virelais. Die Diskussion um die Ribera-Theorie, soweit sie
die Cantigas des Königs Alfons betrifft, dürfte damit abgeschlos-
sen sein. Zweifellos ist nicht Kastilien oder gar Andalusien die
Ursprungsstätte der musikalischen Rondeauform, sondernFrank-
reich, wo dieselbe schon vor 1150 in der Conductusliteratur hei-
misch war und auch in regelrechten Tanzliedern der Kleriker
benutzt wurde. Zu meinen früheren Feststellungen über das Vor-
kommen der Form in Notre-Dame-Hss.® sei hier nachgetragen,
daß auch in St. Martial anscheinend zu Rondeaus getanzt wurde;
denn die dort entstandene Hs. London Brit. Mus. Add. 36881
enthält fol. 16" ein bisher nicht ediertes Rondeau, dessen erste
Strophe hier mitgeteilt werden móge:
Ave, mater salvatoris,
NOSTRI TERMINUS DOLORIS,
„Das lateinische Rondeau“, in Zts. für frz. SpLit. LIII, S. 113ff. Vgl. ferner
Neuphil. Mitt. XXXI (1930), S. 143ff. u. ib. XXXIII (1932), S. 1ff.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 1 43
Virga Jesse, cuius floris
Mater es et filia.
NOSTRI TERMINUS DOLORIS
CONFERT NOBIS GAUDIA.
Obwohl hierdurch das Alter des textlich erfaßbaren lateini-
schen geistlichen Rondeaus um mindestens 50 Jahre hinauf-
gerückt wird, während für französische Rondeaus immer noch
der gegen 1200 entstandene Roman Guillaume de Dole mit seinen
lyrischen Einschiebseln die älteste Quelle bildet, ist die Frage der
Priorität weiterhin unentschieden. Einen neuen Anstoß zur Dis-
kussion wird das kürzlich erschienene, weitausgreifende und
äußerst ernst zu nehmende Werk von Paul Verrier, „Le Vers
francais“, bringen“.
Juden und Sarazenen spielten auch in den erlösten Gebieten
des mittelalterlichen Spaniens kulturell noch lange eine
Rolle, nicht zum mindesten im Dienste der Musik. Noch 1322
klagt ein Konzil in Valladolid über Judaei et Sarraceni, qui (in
vigiliis nocturnis) „tumultum faciunt suis vocibus vel quibus-
libet instrumentis". Anglès bemerkt dazu, daß von orientalischer
Instrumental- und Vokalmusik in Spanien irgendwelche Frag-
mente nicht erhalten sind; ich móchte es für wahrscheinlich
halten, daß die betreffenden Künstler überhaupt nicht eigene
Produktionen vorgetragen haben, sondern lediglich als Virtuosen
mit den sonstigen mittelalterlichen Joculatores auf eine Stufe
zu stellen sind, deren Auftreten in der Kirche die hohen Behórden
so oft bekämpften. Was sie sangen, waren sicher nicht maurische
oder hebräische Lieder (dafür hätte sich das Publikum wahr-
scheinlich bedankt), sondern religiöse Stücke außerliturgischer
Art, naive Volkslieder oder feine Motetten, beides in heimischer
oder lateinischer Sprache; was sie spielten (oder handelt es sich
nur um Begleitmusik ?), bleibt uns verschlossen.
Die älteste historisch erfaßbare volkssprachliche Lyrik der
Pyrenäenhalbinsel scheint weit oben im Norden, in Galicien,
beheimatet gewesen zu sein. Sie war anscheinend zunächst aus-
gesprochen volkstümlich und ihre Wurzeln gehen (deutlicher als
bei irgendeiner sonstigen romanischen Literatur) offenbar in
uralte Schichten; das war schon lange durch monumentale
7 P. Verrier, Le Vers francais, Paris 1931/32 (drei Bände).
744 Hans Spanke
Werke iberischer Forschung erwiesen, wurde aber kürzlich durch
ein schönes Buch des Portugiesen Rodrigues Lapa (Jeanroy-
Schüler!) besonders plastisch dargelegt. Was mag der 1154 in
dem Testament eines Erzbischofs erwähnte Jongleur und Trou-
badour des Königs Alfons VII., Palea benannt, gesungen haben ?
Waren es Imitationen der frühesten Troubadours nördlich der
Pyrenäen, oder einheimische Frauenlieder ? Eine dritte Möglich-
keit ist kaum denkbar. — Die schon oben erwähnten Melodien
des galicischen Sängers Martim Codax aus der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts sind wertvoll als einzige musikalische Quellen
der galicisch-portugiesischen Minnelyrik und besonders deshalb,
weil es sich um Frauenlieder handelt. Es tritt hier das gleiche, zu-
nächst überraschende Phänomen auf wie bei den altfranzósischen
Romanzen: womanzudenformalundinhaltlich primitivenund auf
den Geschmack weiter Kreise zugeschnittenen Strophengebilden
einer Frühzeit Melodien erwarten sollte, die im Verhältnis zur
sonstigen Trouvére-Lyrik in einfachen, vielleicht syllabischen
Linien verliefen, stoßen wir auf teilweise komplizierte Weisen
mit mehr oder weniger reich melismierter Ausführung. Nun
braucht freilich Melismierung und Volkstümlichkeit nicht in
innerm Gegensatze zu stehen, und ein Kenner wie P. Wagner hat
noch kürzlich darauf hingewiesen, daß Melodien, die ursprünglich
einfach und syllabisch waren, zuweilen im Munde des „Volkes“
eine gegliedertere Form annehmen. So ist es wohl möglich, daß
die 6Codax-Melodien Schlüsse auf die der sonstigen gleichzeitigen
und älteren Frauenlieder zulassen. Seit kurzem bietet P. Wagners
klassische Ausgabe der Vokalmusik des berühmten Codex Calix-
tinus® die Gelegenheit, lateinische geistliche Liedkunst Galiciens
des frühen 12. Jahrhunderts mit den Codax-Weisen zu verglei-
chen: es springt in die Augen (was auch schon 1905 Fr. Ludwig
aussprach), daß hier eine im Vergleich zu Späterem ziemlich
reichliche Melismierung vorwiegt, ähnlich wie in Frankreich in
dem gleichzeitigen bzw. noch etwasälteren St. Martial-Conductus.
Santiago de Compostela war im 12. Jahrhundert als viel-
besuchter Wallfahrtsort auch das Zentrum einer reichen und
hochstehenden Musikpflege, die neben anspruchsvoller Mehr-
stimmigkeit auch einfachere, dem Geschmack der Pilger durch
8 P. Wagner, Die Gesänge der Jakobsliturgie zu Santiago de Compostela (Collec-
tanea Friburgensia N. F. XX), Freiburg (Schweiz) 1931.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 745
Verwendung von Refrains (auch an sonst ungewohnter Stelle)
und Einstreuung volkssprachlicher Bruchstücke entgegenkom-
mende Lieder zum Vortrag brachte. Berühmt ist eine von Pilgern
gesungene, in einen Hymnus de St. Jacobo eingeschobene
Strophe:
Herru Sanctiagu,
Grot Sanctiagu,
E ultreia,
E sus eia,
Deus aia nos!
Da die Strophe an eine der sonst gleichen Strophen dieses
Hymnus als zusátzlicher Fremdkórper angefügt ist, dürfte die
Melodie, zumal da sie ohne Beziehungen zu den sonstigen Zeilen
des Hymnus ist, als original anzusprechen sein. Die beiden Rufe
ultreia und sus eia, hier mit gleicher Melodie versehen, müssen
besonders beliebt gewesen sein; denn sie stehen auch am Schluß
des Halbversikels 8b einer polygotten Sequenz des gleichen Co-
dex, die einer älteren südfranzósischen Sequenz nachgebildet ist.
Aber hier ist die Melodie, wie zu erwarten war, eine andere, näm-
lich eine auch im Original vorhandene Versikelklausel; durch
alte kleine Überschrift wird erklärt: sus eia = sursum perge und
ultreia — vade ante.
Man ist darüber einig, daß der Inhalt des Codex Calixtinus
gegen 1137 zusammengestellt bzw. geschaffen wurde. Neuerdings
wurden jedoch berechtigte Zweifel daran geäußert, ob die noch
vorhandene, in Santiago aufbewahrte Fassung der Urtext ist.
Im Jahre 1173 kam der weitreisende Mönch Arnaldus de Monte?,
seBhaft im Kloster Ripoll, auch nach Santiago und nahm eine
Kopie vom Jakobsofficium, die wir noch besitzen. Nun hat diese
Kopie statt der zweistimmigen Melodien der andern Fassung nur
einstimmige und trágt auch sonst in der Notation primitivere
Züge. Anscheinend hat Arnaldus ein anderes, álteres Exemplar
benutzt ; sicher ist es jedoch, wie P. Wagner bemerkt, nicht, denn
vielleicht folgte er beim Kopieren und Ändern seinem persón-
lichen Geschmack oder der Stilrichtung seines Klosters. An dem
ursprünglich angenommenen hohen Alter des Kompostelaner
Kodex ließ noch ein weiterer Umstand zweifeln: das Vorhanden-
* Arnaldus ist auch als Verfasser weltlicher Lyrik bekannt; vgl. Neuph. Mitt.
XXXIII (1932), S. ff.
146 Hans Spanke
sein einer dreistimmigen Melodie, zu dem Conductus ,,Congau-
deant catholici" (fol. 185). P. Wagner, dessen Arbeit Anglés
nicht mehr benutzen konnte, hat nun gefunden, daß die Melodie
in Wirklichkeit nicht drei, sondern nur zwei Stimmen hat, ge-
trennt durch die in der Hs. übliche zackige Linie; die anschei-
nende dritte, zwischen den beiden andern Systemen nachträglich
mit blasserer Tinte eingetragene Stimme ist in Wirklichkeit eine
Ersatzoberstimme, die in ihrem Stil (fast syllabisch, strenge
Gegenbewegung) eine andere, jüngere Richtung als die erste
Oberstimme (reich melismiert) verkórpert. Das von Anglés S. 65
gebotene Faksimile scheint mir die Auffassung Wagners durchaus
zu bestätigen. — Der Verfasser, nach der Rubrik ein ,, Magister
Albertus Parisiensis“, war bis vor kurzem in der Musikgeschichte
noch unbekannt. Meine 1931 geäußerte Vermutung!?, daß die
Zuweisung, wenn auch mit Vorsicht aufzunehmen, doch wohl
für die Existenz eines so benannten Musikers um 1150 in Paris
beweiskräftig scheine, fand kürzlich ihre Bestätigung: Wie
Handschin!! in einer Urkundensammlung der Notre-Dame-
Kirche in Paris entdeckte, starb gegen 1180 ein Albertus, Kantor
an dieser Kirche, der er verschiedene musikalische Sammlungen,
u. a. zwei „versarii“ vermachte; er muß recht alt geworden sein,
denn schon viel früher, zuerst 1147, tritt er in gleicher Eigen-
schaft auf. Man darf annehmen, daß es sich tatsächlich um eine
und dieselbe Persönlichkeit handelt; und da 1147 Albertus schon
Kantor war (ein in der Hierarchie der Haupt- bzw. Klosterkirchen
recht hohes Amt), wird die Kompostelaner Fassung des Jakobs-
officiums, da sie ihn noch als Magister nennt, im Gegensatz zu den
oben geäußerten Bedenken doch in eine recht frühe Entstehungs-
zeit hinaufgerückt. Will man noch weiter gehen und den Pariser
Musiker mit der musikalischen Fassung von ,,Congaudeant
catholici" in direkte Beziehung bringen, so tauchen verschiedene
wichtige stilhistorische Fragen auf, denen nachzugehen hier zu
weit führen würde.
Wie schon angedeutet, wird die Frage nach dem Verhältnis
zwischen der frühesten iberischen Trobadorlyrik und der dortigen
gleichzeitigen und früheren volkstümlichen geistlichen lateini-
19 7ts. für franz. SpLit. LIV (1931), S. 404.
11 Mitteilungen der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft (Acta
Musicologica) Jahrg. IV S. b.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 747
schen Liedkunst hinsichtlich der melodischen Seite durch eine
Vergleichung der Codax-Melodien und der Conductus der Calixti-
nischen Handschrift bearbeitet werden müssen. Darüber hinaus
wird jedoch festzustellen sein, in welchem Umfange, was das
Teætliche angeht, Beziehungen zwischen originellen, bzw. sonst
wenig verbreiteten Strophenformen auf den beiden Gebieten sich
beobachten lassen, wobei neben den Frauenliedern des Martim
Codax die zahlreichen andern (ohne Melodie überlieferten)
Frauenlieder heranzuziehen wáren. Die Beantwortung der Frage
mochte ich auf eine andere Gelegenheit verschieben; hier sei nur
erwähnt, daß im galicisch-portugiesischen Frauenlied eine sehr
einfache Strophe eine Hauptrolle spielt, die sich aus zwei gleich
langen Textzeilen und einem einzeiligen, oft kurzen Refrain zu-
sammensetzt ; die gleiche Strophe, den romanischen Troubadours
und dem Notre-Dame-Conductus fremd, findet sich auch in
volkstümlichen Einschiebseln des Jakobsofficiums. Sie ist dort
nicht entstanden, da sie Frankreich schon in der áltesten Quelle
des St. Martial-Conductus, mit kindlich-einfachen Texten, auf-
tritt. Im weltlichen franzósischen Volksliede erlebte sie im
14. Jahrhundert und spáter eine groBe Blüte; daB sie dort jedoch
schon viel früher bekannt war, zeigt das in der áltesten franzósi-
schen Tanzliederquelle, dem gegen 1200 geschriebenen Roman
Guillaume de Dole, erhaltene, zu einer Carole gesungene Lied-
chen:
Renaus et s'amie chevauche par un pré,
Tote nuit chevauche jusqu'au jor cler.
(Refrain:) Ja n'avrai més joie de vos amer.
In seiner schónen Ausgabe der altfranzósischen Tanzlieder (Ron-
deaux und Virelais Bd. I) versuchte Fr. Gennrich — etwas ge-
waltsam — wegen der Isoliertheit dieser Form die Strophe durch
Ánderungen zu einem Rondeau zu machen; das ist überflüssig,
denn gerade in Frankreich tanzte man schon viel früher zu
solchen Liedern. Eine gegen 1130 in Ostfrankreich geschriebene
Fassung der Sage von den Kólbigker Tänzern! enthält folgenden
Text, zu dem angeblich 1015 eine tanztolle Schar in der Weih-
nacht zu Kölbigk vor der Kirche tanzte, worauf sie, vom Priester
der Kirche verflucht, ein volles Jahr weitertanzen mußte:
13 Näheres darüber s. Neuph. Mitt. XXXIII, S. 16.
748 Hans Spanke
Equitabat Bovo per silvam frondosam,
Ducebat sibi Merswindam formosam.
(Refrain:) Quid stamus ? Cur non imus?
Schwierig, doch nicht aussichtslos wird die Lósung der Frage
sein, auf welchen kulturhistorischen Grundlagen die anscheinend
vorhandenen Wechselwirkungen zwischen der frühesten volks-
sprachlichen und der lateinischen geistlichen Liedkunst sich voll-
ziehen mochten. In helles Licht gestellt, freilich noch làngst
nicht gelóst wurde dieses Problem von Rodrigues Lapa in seinem
oben erwáhnten Werk über die Ursprünge der lyrischen Poesie
in Portugal; vgl. besonders die Kapitel IV und VI“.
Während der Codex Calixtinus mit textlichen und musikali-
schen Sonderzügen deutlich Verwandtschaft mit der früheren
Periode der mehrstimmigen franzósischen Liedkunst, verkórpert
in den aus dem Kloster St. Martial stammenden Handschriften,
aufweist, führt uns eine weitere von Anglés behandelte Quelle
in Spanien gesungener mehrstimmiger Musik mitten in die Blüte-
zeit der „Ars antiqua", in die Notre-Dame-Periode, eng ver-
knüpft mit den großen Musikern Leoninus und Perotinus. Es sei
hier erwähnt, daß das Dunkel, welches bisher letzteren umhüllte,
kürzlich durch einige wertvolle Feststellungen Handschins etwas
gelichtet wurde, der ihn mit einem urkundlich in der ersten Hälfte
des 13. Jahrhunderts (1211—1238) mehrfach belegten ,,Petrus
succentor'' in Beziehung brachte!*, Besonders interessant ist eine
Urkunde aus dem Jahre 1236, in der dieser Petrus zusammen
mit dem berühmten Kanzler Philipp auftritt, der gegen Ende
dieses Jahres starb; schon lange wußten wir, daß Perotinus
Magnus Texte vertont hat, die von Philipp gedichtet waren. —
Es handelt sich um die heutige Hs. 20486 der BN von Madrid,
die früher (vor 1869) seit undenklichen Zeiten der Kathedrale
von Toledo gehórte und eine der vier wichtigsten Quellen der
Notre-Dame-Musik ist. Lange glaubte man, die Hs. sei in Paris
entstanden, ein Irrtum, der 1930 von Fr. Ludwig (in der Adler-
Festschrift) berichtigt wurde; die Orthographie und Teile des
Inhalts beweisen die Niederschrift — und damit die frühzeitige
Pflege der Notre-Dame-Musik in Spanien, allem Anscheine nach
13 Vg]. meine Besprechung des Werkes in Studi Medievali N. S. IV, S. 194.
14 Gleiche Quelle wie Anm. 11 angegeben, S. 10.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 749
in Toledo, dem damaligen geistigen Zentrum des Landes. —
Nunmehr steht also fest, sei hier erwähnt, daß von den vier
großen Handschriften, die uns den Schatz der Notre-Dame-
Musik überliefern, nur zwei in Frankreich niedergeschrieben
sind: die Florentiner und die jüngere der beiden Wolfenbütteler
Hss.; denn die ältere stammt, wie Handschin schon vor Jahren
nachwies, aus England. Man hat früher, hauptsáchlich von ita-
lienischer Seite, behauptet, die Florentiner Hs., die sich schon
im 15. Jahrhundert in Italien (im Besitz des Piero de Medici)
befand, sei in Italien niedergeschrieben worden. Doch dagegen
spricht, wie schon Fr. Ludwig betonte, die sicher franzósische
Miniaturenmalerei und die gute Erhaltung des Exemplars.
Beachtenswert ist ferner die Tatsache, daB in Spanien und Eng-
land auch die sonst zu ermittelnden Beziehungen zur franzó-
sischen Musik viel stärker und vielseitiger sind als in Italien.
Von der Musik der spanischen Notre-Dame-Hs. war bisher sehr
wenig publiziert; Anglés gibt anerkennenderweise (zur Illustrie-
rung seiner Huelgasmelodien) ein Dutzend Motetten und Con-
ductus aus ihr heraus.
Während die Madrider Sammlung nach Zusammensetzung
und Textgestalt schon lange durch Publikationen von W. Meyer,
Guido Dreves und Fr. Ludwig bekannt war, wußten wir bisher
kaum etwas von 14 weiteren Manuskripten, die Anglès zur
Grundlegung einer Geschichte der spanischen mehrstimmigen
Musik des Mittelalters ausführlich bespricht. Das álteste von
ihnen, Madr. BN 289, aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, ist
interessant durch seine Beziehungen zum Narrenofficium von
Sens; es enthált z. B. den berühmten Eselsconductus ,,Orientis
partibus“ 18. Sollte der Codex tatsächlich obiges Alter haben,
wäre das nord französische Officium in der uns vorliegenden Form
erheblich jünger. Als gemeinsame Quelle für Sens und Madr. 289
kommt nur eine Sammlung in Betracht, die älter als die Notre-
Dame-Kunst ist, wahrscheinlich ein St.-Martial-Corpus; tatsäch-
lich scheinen die von Anglés angegebenen Initien der ,,Conduc-
tus“ der spanischen Hs. auf mehrere bekannte St.-Martial-Stücke
hinzuweisen. Interessant ist auch das Auftreten des Wortes
„Conductus in Madr. 289: anscheinend neben den Hilarius-
dramen die älteste Stelle; ferner das Vorkommen zweier Dramen:
15 Den Text s. Anal. hymnica XX, S. 217.
790 Hans Spanke
das eine, „Muleres“, dürfte eine der bekannten Fassungen des
Osterspiels sein, mit dem andern, „De peregrino in die lune
Pasche“ (fol. 117—118") weiß man vorläufig nicht viel anzu-
fangen. Singulár ist hier die Bezeichnung der bekannten Weih-
nachtssequenz „Letabundus“ als eines Conductus. Falls es sich
nicht um einen lapsus calami handelt, würde daraus hervorgehen,
daB man neben Strophenliedern gelegentlich auch eine Sequenz
zu kirchlichen Umzügen sang; es sei hier daran erinnert, daß die
berühmteste Ostersequenz, „Victime paschalis", in Frankreich
gelegentlich zum Tanz der Kleriker in der Kirche gesungen
wurde!®. Auffallerd gering war die Ausbeute Anglès’ auf der
Suche nach Stücken spanischer mehrstimmiger Musik der Ars
nova; der ihr zugehörige „Llibre Vermell" von Montserrat ist
kostbar als Dokument für die Pflege des kirchlichen Tanzes im
spanischen Mittelalter".
Der nunmehr von Anglés edierte Codez des Zisterzienserin-
nenklosters Las Huelgas bei Burgos ist an seinem Aufbewah-
rungsort im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geschrieben
worden. Der Inhalt ist systematisch nach Gattungen geordnet:
Organa zum Ordinarium und zum Proprium Missae, Prosen
(Sequenzen), Motetten und Conductus. Zu jedem dieser Ab-
schnitte gibt Anglés im Einleitungsbande einen AbriB der Ge-
schichte der betreffenden Gattung, zunächst für die ältere (fran-
zösische oder englische), dann für die spanische Entwicklung der-
selben. Wieder sind diese Skizzen als Arbeitsbasis wegen ihrer
Sicherheit, Gründlichkeit und ihrer sonst nirgends so vereinigten
Angaben über Handschriften, Ausgaben und Untersuchungen
von einzigem Werte. Man hat das Gefühl, daß sich hier manches
findet, was Fr. Ludwig gern in seine klassische Bearbeitung der
mittelalterlichen Musik in Adlers Handbuch gesetzt hätte, wäre
der Raum vorhanden gewesen. — Die mehrstimmigen Organa
der Huelgashs. sind für die Musikgeschichte wertvoll als eins der
wenigen Zeugnisse, daß überhaupt mehrstimmige Musik in Spa-
nien frühzeitig gepflegt wurde; denn die meisten andern paralle-
len Sanımlungen sind nur mit einstimmiger Notation versehen.
Der Stil der Huelgas-Organa ist nicht einheitlich; ihre Fassung
16 Vgl. Neuph. Mitt. XXXI, S. 149.
17 Vgl. Volkstum und Kultur der Romanen III. S. 276.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 791
stammt, bei teilweiser Benutzung älterer Grundmelodien, teils
aus der ersten oder der zweiten Hálfte des 13. Jahrhunderts,
teils aus dem Anfange des vierzehnten; letzteres u. a. ein am
Ende der Hs. nachgetragenes dreistimmiges Credo, das schon
der Ars nova zuzuzählen ist. Der Literaturhistoriker wird sich
besonders für die Tropen dieses Abschnittes interessieren, welche
Gattung bekanntlich für die Entwicklung des mittellateinischen
Strophenliedes von größerer Bedeutung ist. Auch die Sequenzen-
form ist schon in diesem Abschnitt vertreten, nämlich, wie auch
sonst in der Regel, in Hosannatropen. Zahlreich sind in ihm die
Benedicamusmelodien (18, davon 11 tropiert). Man könnte sich
fragen, ob diese Benedicamus, da sie nach bzw. zwischen den
Messestücken stehen, in der Messe gesungen wurden, oder ge-
legentlich auch in den kirchlichen Tagzeiten (Officien) Verwen-
dung fanden. Eine sichere Antwort läßt sich nicht geben. — Zu
den einzelnen (49) Nummern des Organa-Teiles gibt Anglés
nicht nur vollständige bibliographische Angaben, aus denen für
den kundigen Leser Alter und Heimat der Stücke hervorgehen,
sondern auch die auftretenden Bauarten. Zwei mehrstimmige
Agnustropen sind „Rondelli“ nach der Definition Walter Oding-
tons: Et si, quod unus cantat, omnes per ordinem recitent, voca-
tur hic cantus rondellus, id est rotabilis vel circumductus. Wenn
nicht aus dem Zusammenhange der Odington-Stelle hervorginge,
daB es sich um mehrstimmige Musik handelt (Discantus), so
kónnte man die Stelle auch auf das einstimmige Rondeau, bei
den Theoretikern Rotundellus genannt, beziehen; Walter hatte
die Musikform im Auge, die wir heute als Kanon bezeichnen:
man vergleiche das allbekannte deutsche ,,O wie wohl ist mir
am Abend“, wo drei Stimmen zugleich nacheinander und über-
einander erklingen. Falls, wie hier und auch in den zwei Agnus-
tropen von Las Huelgas, dre: musikalische Abschnitte vorliegen,
erwartet man Dreistimmigkeit. Diese liegt tatsáchlich in dem
einen Tropus (,, Regula moris“, Nr. 24) vor; der andere, Nr. 23,
in Las H. zweistimmig, ist in andern Fassungen (spanischer Her-
kunft) ebenfalls dreistimmig. Noch andere Fassungen der Melo-
die, darunter auch eine schweizerische aus dem 14. Jahrhundert,
haben nur eine Stimme. Es liegt auf der Hand, daß dieses Genre
nur aus der mehrstimmigen Poesie stammen kann; es wáre ja
auch ein sonderbarer Zufall, daß man eine einstimmige Melodie
752 Hans Spanke
komponiert hätte, deren zweiter Teil, mit dem ersten zusammen
gesungen, dessen zweite Stimme ergeben hätte.
Unter den Schätzen des Nachlasses von W. Meyer, der in der
Göttinger Universitätsbibliothek aufbewahrt wird, befinden sich
mehrere Handexemplare von Bänden der Analecta hymnica,
wertvoll durch Randbemerkungen (manchmal recht bissig gegen
Dreves) und Textbesserungen nach Vergleich der Handschriften.
Als ich sie vor einiger Zeit durchblätterte, fand ich in Bd. XXI
Nr. 40 zu dem Conductus ,, Veris ad imperia“, einem dreist immi-
gen Unicum der berühmten Florentiner Notre-Dame-Hand-
schrift, an mehreren Stellen ein bei Dreves fehlendes „, eya“ ein-
gesetzt. Es war mit einem Schlage klar, daß es sich um eine
Nachbildung des vielbehandelten provenzalischen Tanzliedes von
der Regina avrillosa (weiter nördlich würde man Maikönigin
sagen) handeln mußte. Die beiden ersten Strophen seien hier
nebeneinander gesetzt:
Al'entrade del tens clar, eya, ^ Veris ad imperia, eya,
Pir joie recomengar, eya, Renascuntur omnia, eya,
Et pir jalous irritar, eya, Amoris próemia, eya,
Vol la regine mostrar, Corda premunt saucia
K'ele est si amorouse! Querula melodia,
A la vi' a la vie, jalous! Gratia previa corda marcentia
Lassaz nos, Media. Vite vernat flos intra nos.
Lassaz nos ballar entre nos,
entre nos!
Ein von der Laurenziana freundlichst geliefertes Photo der
Seiten 228' und 229 der lateinischen Hs. (Plut. 29 I), verglichen
mit fol. 82' der altfranzósischen Liederhs. Paris BN fr. 20050
ergab Gleichheit auch der Melodien. Ein Vergleich des Textes
zeigt schon, daB der Conductus ein Kontrafaktum ist; man vgl.
besonders den StrophenschluB. Das provenzalische Lied, mit
nördlichen Sprachformen gemischt, von denen man nicht weiß,
ob sie dem Schreiber oder dem Dichter zuzuschreiben sind (denn
das Lied steht in der Hs. zwischen Trouvéreliedern, und es gibt
sonst noch Beispiele solcher Mischpoesien), diente offenbar zur
Tanzbegleitung und hat den primitiven Bau AAAABCD. Der
unbedeutende lateinische Text (eine zweite Strophe ist frommen
Inhalts) ist offenbar nur gedichtet, um eine Unterlage für die
Benutzung der beliebten, recht ansprechenden Melodie in der
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 753
hohen Kirchenmusik zu schaffen. Der Verfasser kannte anschei-
nend auch ein hübsches Frühlingsgedicht von Walther von Chä-
tillon, dessen erste Strophe lautet:
Imperio eya
Venerio eya
Cum gaudio cogor lascivire,
Dum audio volucres garrire.
Ob man es wagen darf, aus dem ,,eya'' dieses Liedchens, das
nach der Strophenform (aa bb mit längerem b; die Melodie ist
leider nicht erhalten) ein Tanzlied sein kónnte, den SchluB zu
ziehen, daB auch Walther das provenzalische Tanzlied kannte?
Dann wäre für letzteres der sonst fehlende terminus ad quem
gegeben: etwa 1175. Interessant ist der Ausdruck eya, hier offen-
sichtlich ein Tanzruf, ähnlich wie mehrfach in mittelhochdeut-
schen Tanzleichs, worauf ich im vorigen Jahrgang dieser Zts.
S. 384 hinwies, weiteres Material s. Zts. f. d. Altertum 1932
S. 59. Man könnte fragen, was denn im Nordfranzösischen aus
dem alten Spielmannsruf eia geworden sei; aus den (spärlichen)
Belegen führe ich den refrainartigen Abschluß einer Estampien-
strophe an:
Ail Ail
Et si troverai
Chansonettes, hokés et notes novelles
Et si dancerail
Wozu man etwa den Refrain eines Osterliedes der Hs. Tours 927
vergleiche:
Die tertia,
Eia,
Gaudeat ecclesia
Nova colens sollemnia!
Als kürzlich Fr. Gennrich, der die Konkordanz A l'entrade:
Veris ad imperia, ebenfalls gefunden hatte, das Notenmaterial in
Transkription herausgab!8, stellte sich heraus, daß die drei-
stimmige Melodie des Conductus in den beiden Begleitstimmen —
und damit kehren wir zu dem vorhin besprochenen spanischen
Rondellus zurück — teilweise kanonartig gebaut ist. Allerdings
nur in den beiden Begleitstimmen, denn die Grundstimme hat
den Bau des Vorbildes getreu beibehalten. Demgegenüber macht
18 Formenlehre des mittelalterlichen Liedes (1932), S. 85.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.4. 48
754 Hans Spanke
das Verfahren des spanischen Komponisten, der alle drei Stim-
men in den Kanon einbezieht, einen, wenn nicht primitiveren,
so doch gleichsam architektonischeren Eindruck; wenn man,
den mittelalterlichen Notenschreibern folgend, die Grundstimme
zuunterst stellt, so ergibt sich folgendes Bild: b c a. — Ähnlich
cab
abc
gebaute Melodien sind in der Huelgashs. auch sonst vertreten;
vgl. Anglés I S. 319. Diese Form setzt a priori eine noch primi-
tivere, nur zwei Stimmen umfassende Vorstufe voraus: b a. Die-
a b
selbe ist tatsächlich vorhanden, und zwar in einem Unicum
unserer Handschrift, dem Benedicamustropus Qui nos fecit ex
nichilo (Anglés Nr. 34), wo den sechs Zeilen der Bau entspricht:
b a b a b a. Die ziemlich reich melismierte Singweise läßt sich
ababab
nach Anglés auf eine sehr einfache Grundmelodie zurück-
führen. — Bisher galt der englische Sommerkanon, geschrieben
ungefáhr 1240, als áltestes Beispiel der Gattung, die schon wegen
ihrer leichten Singbarkeit etwas Volkstümliches hat; vielleicht
sind die spanischen Stücke ungefáhr ebenso alt. Doch das Prinzip
des Stimmentausches wurde in Frankreich erfunden; denn
„Veris ad imperia", freilich kein reiner Kanon, ist zweifellos
älter als 1240, und noch früher verwandte Meister Perotinus
Magnus in seinen gewaltigen mehrstimmigen Schópfungen das
Kunstmittel des Stimmentausches, wie zuerst Fr. Ludwig fest-
stellte.
Zu den beiden Agnustropen 26 und 27 ist nachzutragen, daB
auch Gennrich, in seinem eben erwáhnten Werke (S. 46 und 52),
ihre Melodien herausgab; seine Rhythmisierung des letzten
Verses von 26 (. . . SU — —pé— —ra— — vít), die Anglès natürlicher
gestaltet, dürfte kaum Anklang finden. Die beiden Melodien sind
gleich, der Bau jedoch verschieden: in 26 AAB und in 27 AABAB
(durch Zusatz zweier Zeilen). Gennrich benutzt die beiden Bei-
spiele zur Illustrierung von zwei der Typen, in die er die Formen-
kunst des mittelalterlichen Liedes einteilt: das erste ist eine
„Laissenstrophe“, das zweite eine „Rotruenge‘‘. Er erklärt die
zweite Form durch ein „Anwachsen“ der ersten; in Wirklichkeit
sind jedoch beide Formen, wenn man sie durchaus „erklären“
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 755
will, eher als Kürzungen der beliebten Rondeauform AAABAB
aufzufassen, der ein dritter Agnustropus unserer Sammlung
(Nr. 28), im Bau Nr. 27 völlig gleich, dadurch noch besonders
angenähert wird, daß die beiden letzten Zeilen ein Refrain sind.
Derartige Veränderungen von Melodien durch Weglassung einer
Zeile sind in der mittelalterlichen Musik auch sonst nachzuwei-
sen; in einem der von E. Coussemaker (Drames lit. du Moyen-
Age, 1861) edierten Musikdramen, einem Nikolausspiel des
13. Jahrhunderts, tritt 35 mal eine Refrainstrophe mit dem musi-
kalischen Bau ABABC auf, die mehrfach durch Fortlassen ein-
zelner Zeilen zu ABBO, ja sogar ABC verkürzt wird!“.
Die soeben besprochenen drei Benedicamustropen stammen,
mógen sie in Spanien oder anderswo entstanden sein, aus einer
Zeit, als die ursprünglich unstrophische Form des Tropus schon
ins Strophenlied eingemündet hatte. Beim Ben.-Tropus scheint
dieser Vorgang schon besonders früh stattgefunden zu haben,
oder vielmehr: wir besitzen nur sehr wenige Ben.-Tropen in
Hexametern oder prosaischem Text. Vielleicht wáren wir reicher
orientiert, wenn Blume, der kürzlich Verschiedene, noch die Zeit
gehabt hátte, den beabsichtigten Band der Tropi antiphonales??
herauszugeben. Zwei Tropen ältester Fassung hat unser Codex.
Die eine: „Benedicamus benigno voto, qui cuncto preside?!
mundo, celo, arvo atque ponto, Domino sidereo" stammt an-
scheinend aus St. Martial; der tropische Charakter kennzeichnet
sich in den vielen Endungen auf -o. Der andere ist Unicum,
aber anscheinend noch älter: „Benedicamus, Hic est enim pre-
cursor et magnus Johannes Baptista, qui viam Domino prepara-
vit in heremo in Jordane baptizato Domino. Deo dicamus Hodie
natus est Johannes de Helisabet ; repletus spiritu sancto magnum
predicavit. Eya, nunc pueri dicite: Deo gratias!"
Bei dem Fehlen von Literatur dürften hier einige Notizen zur
ältesten Geschichte des Benedicamustropus nicht unangebracht
sein. In den Troparien des 9. Jahrhunderts (Ostfrankreich und
Oberitalien) und denen des 10. Jahrhunderts, soweit sie in Frank-
19 Vgl. Zts. für frz. SpLit. LIV (1931), S. 420.
2 Die Tropen, die in den kirchlichen Tagzeiten gesungen wurden. — Die
in der Messe gesungenen Tropen wurden in den Bänden 47 und 49 der Anal. hymn.
ediert.
31 Man sollte presidet erwarten; aber alle Quellen haben preside.
48*
156 Hans Spanke
reich entstanden sind, fehlen die Ben.-Tropen. Die älteste Quelle
ist anscheinend der Limousiner Troparius Paris BN lat. 887,
dessen erster Teil, der hier in Betracht kommt, dem frühen
11. Jahrhundert angehört. Auf fol. 45' —46' stehen am Ende einer
Lage als Nachtrag, aber von alter Hand etwa ein Dutzend Ben.-
Tropen ältesten Stiles, meist in Prosa, aber auch in Gebilden, die
man als Anfánge einer sich auf diesem Gebiete selbstàndig ent-
wickelnden Strophenkunst ansprechen kann. Den Anstoß zu
dieser Entwicklung gaben anscheinend die Reime auf -o, bzw.
(beim Deo-gratias) auf -as: man bestrebte sich, die zunächst
ungleichen und beliebig langen gereimten Abschnitte in bezug
auf ihre Länge unter ein wenigstens einigermaßen gleiches Maß
zu bringen. Man vgl. folgenden Abschnitt aus dem Ostertropus
„Odie surrexit leo“: . . . Ex eo processit benedictio, — largitor
omnis alfa et o, — clementissimo domino etc. Auch das wohl-
bekannte eya ist vertreten; z. B. in Anfängen wie: Eia pueri,
jubilo clangentes tinnulo etc., oder: Eia nunc pueri voce pre-
celsa etc. Interessant ist, sei nebenbei bemerkt, auch der vorher-
gehende Teil der Hs. 887 (fol. 8—45), der auch für andere Tropen-
gattungen eine gute Vorstellung von ihrem primitivsten Stadium
vermittelt; da diese Tropen prosaisch sind, hat Blume sie nicht
in die Analecta (Bd. 47 und 49) aufgenommen. Und auch hier
spielt wieder der Ruf eia eine bemerkenswerte Rolle, besonders
in den Einleitungstropen, und zwar in dem Teile, der unmittelbar
vor dem liturgischen Text steht; z. B. . .. dic domne eia: Can-
tate etc. (Tropus zum Psalm Cantate), oder ...dicite eia: ...,
je nachdem der Tropus Chor oder Sologesang einleitet. So bildet
hier der Tropus eine Art Ankündigungskommando, und diese
Rolle wird dadurch noch besonders deutlich, daB er sehr oft mit
demselben Ton endet, mit dem der liturgisch^ Text beginnt, —
was sich bei der guten Diastemmatie der Neumen dieser Hs. ein-
deutig feststellen läßt. Vielleicht spielte hier der gesungene Tro-
pus zuweilen die Rolle unseres heutigen Orgelpräludiums. Zu-
weilen umfaBt diese musikalische Angleichung zwischen Tropen-
schluß und Liturgieanfang mehrere Töne und ganze Wörter, wie
z. B. in einem Tropus fol. 12’ der Tropenschluß „domne“ die-
selben 4 Töne hat wie das folgende „Etenim“.
Den zweiten Abschnitt der Huelgas-Sammlung bilden 31 Se-
quenzen, teils ein-, teils zweistimmig. — Man hat kürzlich die
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 757
Geschichte der frühesten Sequenz mit Irland zusammengebracht,
freilich mit vorläufig noch etwas dünnen Belegen. Irische Mönche
als Klostergründer und Träger hoher literarischer Kultur sind
speziell nachzuweisen in Deutschland, Nord- und Mittelfrank-
reich, Ober- und Süditalien, aber nicht in Spanien“. Dazu würde
stimmen, daß die Pyrenäenhalbinsel für die Geschichte der
Frühsequenz tatsáchlich unfruchtbar ist. Zwar hat Blume im
Bd. 53 der Analecta hymnica für drei in einem im 11. Jahrhun-
dert in dem Kloster Silos geschriebenen ,,Breviarium et Missale“,
heute Lond. Brit. Mus. Add. 30850, erhaltene Sequenzen ältesten
Stils mozarabischen Ursprung angenommen. Doch diese Hs. ist,
wie (nach Anglés) die Solesmes-Benediktiner bemerkten, gar
nicht mozarabisch, sondern die Abschrift einer Benediktiner-
sammlung in westgotischer Schrift. Zudem sind die auffallend
weit verstreuten franzósischen Quellen der ersten dieser Sequen-
zen, ,, Adludat letus ordo“ (Anal. 53, 189), wenn auch nicht der
ältesten Schicht angehórig, doch zweifellos älter als der Codex
von Silos, und auch die sonstige Verbreitung (Italien, 11. Jahr-
hundert!) spricht keineswegs für spanischen Ursprung. Der Text
stammt sicher aus dem 10. Jahrhundert; denn das Melodie-
schema, ausdrücklich als ,, Adludat letus“ bezeichnet, diente u. a.
einer in der ältesten St.-Martial-Schicht erhaltenen Sequenz,
„Phoebus nunc pollens'', die schon im 11. Jahrhundert auch in
Süditalien bekannt war, als Vorbild®. Die beiden andern von
Blume als „mozarabisch“ bezeichneten Sequenzen des Silos-
Codex (Anal. 53, 232 und 233) sind Unica und Nachtráge aus dem
12. Jahrhundert. Also wird der erste der Analecta-Bearbeiter,
G. Dreves, mit seiner Behauptung doch recht behalten, daß der
mozarabische Ritus keine Sequenzen kannte. Dazu stimmt die
von Anglés festgestellte geringe Anzahl von späteren Sequenzen-
33 Dem irischen Einschlag in der frühmittelalterlichen Literatur weist neuer-
dings Philip Schuyler Allen, in seinem geistreichen Buche „Medieval latin Lyrics“
großen Raum zu; vgl. das Kapitel IV: „The seed of St. Patrick". Weniger als ich
erwartet, fand sich darüber in dem üuBerst gründlichen Werke des Benediktiners
Dom Louis Gougaud „Christianity in celtic Lands“; der Verfasser teilt mir liebens-
würdigerweise brieflich mit, daB ihm von einem Auftreten irischer Mönche in Spa-
nien nichts bekannt sei.
*9 Quellen und Text s. Anal. hymn. VII Nr. 212 und LIII Nr. 231a; auch diese
Sequenz móchte Blume, da in drei nordspanischen Prosarien des 12. Jahrhunderts
erhalten, als spanisch ansprechen.
798 Hans Spanke
quellen auf kastilischem Boden — wahrend im Norden, in Kata-
lonien solche recht zahlreich sind. Man wußte bisher wenig von
diesen Hss., und Anglés hat sich durch seine auf jahrelangen
Nachforschungen beruhenden Quellennachweise ein großes Ver-
dienst erworben. Interessant ist die Bezeichnung einer in einem
Legat erwähnten Sammlung als „Presser cum Himner“ (vom
Jahre 1055); man hatte also ganze Sammlungen von Preces. —
In die Diskussion um die Ursprünge der Sequenzengattung ein-
zugreifen hat Anglés vermieden; vielleicht weil es dem monumen-
talen Charakter des Werkes nicht entsprochen hätte. Doch dafür
gibt er eine Bibliographie von Sequenzenausgaben und -unter-
suchungen, auch der neuesten, wie sie sonst nirgends existiert.
Eine Kleinigkeit möchte ich hier nachtragen: das Studium der
noch ganz unerforschten zahlreichen Hss. des portugiesischen
Klosters Alcobaca wird jetzt erleichtert durch das neuerschienene
„Inventario dos Codices Alcobacenses'' (Lisboa, Bibliotheca Na-
cional, 1930—1932), 456 Nummern umfassend.
Der Kirchenmusiker, der im Anfang des 14. Jahrhunderts den
Nonnen von Las Huelgas, jedenfalls dem Geschmack seiner
Zeit folgend, für ihren Gebrauch eine Anzahl Sequenzen auf-
schrieb und teilweise mit einer zweiten Stimme ausstattete, be-
vorzugte entschieden die jüngste Periode; an älteren Stücken
nahm er nur „Verbum bonum“ und ,,Victime paschalis“ auf,
beide zweistimmig. Beachtung verdienen die Unica; sie neigen
textlich stark zur franziskanischen Mystik hin und zeigen in den
Melodien deutliche Anklánge an mehrere Cantigas des Königs
Alfons. Wenn man nun, so führt Anglés aus, in Betracht zieht,
daß Alfons, der für das Huelgas-Kloster großes Interesse hatte,
den Franziskaner Gil de Zamora, der als Verfasser von Sequenzen
bezeugt ist, zum Erzieher seines Sohnes, des späteren Königs
Sancho IV., bestimmte, so erscheint nicht ausgeschlossen, daß
dieser Dichter mehrere der Huelgas-Sequenzen verfaßt habe.
Gehen wir einen Schritt weiter und weisen wir ihm auch die
Melodien zu, so käme Gil de Zamora auch als Komponist von
Cantigasmelodien in Betracht.
Die Melodien der Huelgas-Sequenzen nehmen in der Musik-
geschichte eine Sonderstellung ein: durch ihre mensurale Nota-
tion und durch ihre Zweistimmigkeit. Anglés teilt, über die An-
gaben Fr. Ludwigs (Repertorium S. 12) hinausgehend, eine gró-
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 759
Bere Anzahl von Hss. mit zweistimmigen Sequenzenmelodien
mit. Die Zweistimmigkeit hat natürlich mit dem Wesen der
Sequenz nichts zu tun, steht sogar zu ihm in gewissem Wider-
spruch, wenigstens was die liturgische, mit dem Alleluia in Be-
ziehung stehende Sequenz angeht. Bei der außerliturgischen
(archaischen) Sequenz freilich tritt Zweistimmigkeit gelegentlich
schon in einem sehr frühen Zeitalter auf“. Übrigens ist nicht
ausgeschlossen, daB noch weitere Sequenzen als bisher bekannt,
zweisilbig sind; denn gelegentlich vereinfachten sich die Schrei-
ber bei der Aufzeichnung zweisilbiger Melodien zu sequenzen-
artig gebauten Stücken ihre Arbeit dadurch, daß sie zu den ersten
Halbversikeln die erste, zu den zweiten die zweite Stimme nieder-
schrieben. Dadurch sah das Ganze aus wie eine einstimmige
Melodie, und die ersten beiden Vollversikel erhielten etwa das
Bild AB CD. In Wirklichkeit erklang jedoch A und B gleich-
zeitig zu jedem der beiden ersten Halbversikel: À -- B À -- B
C + D C + D etc. Jedesmal, wenn also in den Analecta hymnica
der Herausgeber vermerkt: ,,Dem Parallelismus des Textes ent-
spricht kein Parallelismus in der Melodie“, ist daher nachzuprüfen,
ob nicht die beiden verschiedenen Melodien von zusammenge-
hórenden Halbversikeln zusammen eine zweistimmige Melodie
ergeben können“. Das gleiche gilt, nebenbei bemerkt, von allen
Strophenliedern, in denen die erste Strophe eine andere Melodie
hat als die folgenden“. — Daß sich die modale Rhythmik des
3 Vgl. Handschin, „Über Estampie und Sequenz", in Zts. für Musikwissen-
schaft XII (1929), S. 11.
35 So ist der in meinen St.-Martial-Studien (Zts. f. frz. SpLit. LIV, S. 299) als
„durchkomponiert“ bezeichnete Conductus „Noster cetus psallat letus“ in Wirklich-
keit zweistimmig und sequenzartig gebaut, wie aus der mir erst kürzlich zugänglich
gewordenen Fassung der Hs. London Brit. Mus. Add. 36881, fol. 3 hervorgeht,
wo die beiden Stimmen übereinanderstehen, wührend die ülteste Quelle, Paris
BN lat. 1139, die oben angedeutete Stimmenanordnung aufweist.
Als Beispiel sei der Benedicamustropus „Prima mundi seducta subole“
angeführt. Auch hier gab die Fassung der Londoner Hs. den Schlüssel für die in
der alten Quelle sich über die zwei ersten Strophen ausdehnende, anscheinend nur
einstimmige Melodie. Über weitere ähnliche Fälle vgl. meine in den ,, Memories de
l'Institut d'Estudis Catalans", Jahrg. 1934, erscheinende Studie „Die Londoner
St.-Martial-Conductushandschrift". Es soll nicht verschwiegen sein, daB auch Paris
NB 1139 zweistimmige Notation mit übereinandergesetzten Stimmen kennt;
aber nur in zwei Fällen, von denen der eine Nachtrag ist. — Jedenfalls war die
Formulierung der Zweistimmigkeit durch Nacheinandersetzung der Stimmen,
160 Hans Spanke
12. bis 18. Jahrhunderts auch auf die damals entstandene
Sequenzenproduktion erstreckt, war eine Entdeckung P. Aubry's,
die er 1909 veróffentlichte, nachdem er noch 1900 die Prosen
Adam's von St. Victor wie gregorianische Musik herausgegeben
hatte. Bei 24 seiner 31 Sequenzenmelodien hat der kastilische
Schreiber das ternáre TaktmaB durch recht konsequente Mensu-
ralnoten wiedergegeben, so daß Anglés sich in seiner Transkrip-
tion im allgemeinen eng an sie anschließen konnte; andere
Stücke waren, entsprechend der Aufzeichnung, im *, Takt zu
übertragen. Bei längeren Melismen (z. B. auf „Amen“) war ein
„ad libitum" vorzuziehen.
1923 schrieb Fr. Ludwig, der beste Kenner der Materie, über
die Rolle Spaniens für die Geschichte der Motette: „An Nach-
richten aus Spanien, die die älteste Motettenkunst betreffen,
fehlt es leider ganz." Wie oben erwähnt, fand später Ludwig
selbst, daß eine der vier großen Notre-Dame-Hss., die Madrider,
in Spanien niedergeschrieben wurde; sie enthält 37 Motetten,
zum allergrößten Teil auch aus der sonstigen Literatur bekannt,
aber teilweise in selbständiger Fassung. Daß die Sammlung tat-
sächlich spanisch ist, ging, abgesehen von Sprachformen, auch
daraus hervor, daß sie in einigen sonst singulären Stücken mit
der (früher unbekannten) Huelgas-Handschrift zusammengeht.
Letztere zeigt mit ihrem auffallend reichen Inhalt an Motetten,
daß diese schwierige Kompositionsart in Spanien recht beliebt
gewesen sein muß: nicht weniger als 21 von den 59 Nummern des
Motettenabschnittes sind in Spanien komponiert, bzw. mit neuen
Texten versehen worden. Wer die Entwicklung der Motette im
13. Jahrhundert studieren will, findet in der Angles’schen Aus-
gabe ein einzigartiges Material; denn der Verfasser liefert nicht
nur eine ausführliche, den neuesten Stand der Forschung berück-
sichtigende Geschichte der Gattung, sondern in den Anmerkun-
wie sie die Regel ist in den Motetten, auch anderswo gerade in der ältesten Periode
üblich. Ich möchte hier — mit aller gebotenen Vorsicht — erwähnen, daß auch in
den Versus der Karolingerhs., Paris BN lat. 1154, mehrfach die zweite Strophe eine
andere Melodie zeigt als die erste; vgl. meine Behandlung dieser Hs. in den Studi
Medievali N. S. 1932, wo ich hinsichtlich des Planctus Caroli (fol. 132b) die melo-
dische Divergenz der beiden ersten Strophen dadurch zu erklären suchte, daß die
reicher melismierte Melodie der ersten Strophe vielleicht die Begleitmusik (ich
meinte: instrumentale) zur einfacheren Melodie der zweiten Strophe darstelle.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 761
gen zu den einzelnen Stücken Transkriptionen der (meist un-
edierten) Parallelüberlieferung. Besonders wertvoll ist der
Huelgas-Codex durch seine mensurierte Fassung der Melodien,
worin er sich der spáteren Überlieferungsschicht anschlieBt, zu
deren Behandlung Fr. Ludwig (im beabsichtigten 2. Band seines
klassischen Repertoriums)? leider nicht mehr gekommen ist.
Auch in englischen Handschriften steckt bisher noch unbenutztes
Material zur Geschichte der Motette; zu einer derselben, Oxf.
New coll. 362, gibt Anglés (S. 229) das Initienverzeichnis.
Eine beachtenswerte und erfolgreiche Arbeit steckt in der Er-
mittlung der Tenores der einzelnen Stücke: das sind die prä-
existierenden, meist liturgischen Melodien, die der Komposition
gleichsam als Grundpfeiler dienen und über denen die neuge-
schaffenen Melodien mit eigenen Texten im Diskant erklingen.
Die ältesten Tenores sind Benedicamusmelodien; eine solche
scheint mir, sei hier bemerkt, im Motetus I (Belial vocatur) vor-
zuliegen, wo Anglès zu keiner Feststellung gelangt ist. Darauf
deutet der im Text vorkommende 0o-o-o-Jubilus, der Abschluß
mit der liturgischen Formel und der Beginn mehrerer Abschnitte
mit der Silbe Be-; ähnlich wie es im Motetus III zu beobachten
ist; vgl. dazu Streckerfestschrift (1931) S. 179. Dort vermutete
ich, daß in dem „Dorenlot“ der französischen Fassung dieser
Motette eine Nachbildung von „Domino“ stecken könne. Will
man das akzeptieren, so dürfte man in dem eigenartigen Passus
Je voi le jour, deurenleu,
Je voi le jour, deurenleu,
Je voi le jour, deurenleu, compaigne,
Je voi le jour, Dex le vous amaigne!
Et dont vient il, deurenleu,
Et dont vient il, deurenleu ?
Devers Paris, Dex le vous amaigne!
der in der altfranzósischen Handschrift Paris Arsenalbibl. 3517,
fol. 144c, in die Mirakel des Gautier von Coinci eingebettet, kurz
auf die soeben erwähnte Motettennachbildung (Hui matin à la
journée) folgt, wohl den Tenor einer (mir unbekannten, vielleicht
37 Hoffen wir, daß dieser Band, dessen Manuskript der Meister druckfertig
hinterlassen hat, von einem seiner Schüler in nicht allzu ferner Frist herausgegeben
wird.
162 Hans Spanke
verlorenen) Motette erblicken. Die einstimmige, fast syllabische
Melodie hat den Bau AABB!AAB?, Der Text zeigt, daß die Kom-
position aus den Elementen eines Tanzrefrains aufgebaut ist;
Wiederholungen der obigen Art finden sich ófters in Tenores,
auch in solchen der Huelgashandschrift.
Die Verwendung von Tanzrefrains als Tenores in der Motet-
tenliteratur, neben solchen liturgischer Herkunft, führt uns auf
das jetzt so aktuelle Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen
geistlicher und weltlicher Musik des Mittelalters. Wie schon oben
angedeutet, liegen die Wurzeln der Motettengattung in der Tro-
pik, genauer gesagt, im strophischen Benedicamustropus, wie er
um 1100 in der Klostermusik Südfrankreichs gepflegt wurde”.
Wenngleich nun die Tropik, im ganzen betrachtet, ein Grenz-
oder vielmehr Verschwisterungsgebiet zwischen geistlicher (litur-
gischer) und weltlicher (neuschaffender, bindungsloser) Musik
darstellt, steht der liturgisch-traditionelle Charakter der T'enores
dieser ältesten Epoche wohl außer Zweifel. Auch die hochoffizielle
Motettenkunst, die seit etwa 1150 an der Notre-Dame-Kathe-
drale in Paris unter GróBen wie Leoninus und Perotinus erblühte,
zeigt in der Auswahl der Tenores ein durchaus exklusives Ge-
präge: in der Regel alte, reich melismierte Teile der liturgischen
Vokalmusik. Nun treten in einem spáteren Stadium der Motette,
als die Komponisten die Gattung weiteren Kreisen durch Ver-
wendung volkssprachlicher Texte schmackhaft zu machen ver-
suchten, neben den alten lateinischen Tenores auch solche in
franzósischer Sprache auf: auch hier bevorzugte man Bekann-
testes: man nahm Refrains aus Tanzliedern oder ganze Tanz-
lieder. Genau wie bei den liturgischen werden auch bei diesen
Tenores einzelne Teile, Silben oder lángere Bruchstücke auch in
den andern Stimmen der Motette verwandt, besonders gern am
Anfang und am SchluB. Da nun auch sonst vom franzósischen
Tanzlied zur geistlichen mittellateinischen Poesie Brücken hin-
führen, dürfte die Frage nicht unangebracht sein, ob und inwie-
fern die Tanzlieder-Tenores mit den lateinischen Tenores formal
und insbesondere musikalisch verwandt sind. Die Frage ist weni-
38 Die älteste Motette ist ein Benedicamustropus der St. Martial- Hand-
schrift Paris BN. lat. 1139: „Stirps Jesse florigeram". Vgl. Zts. f. frz. SpLit. LIV,
S. 299.
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 763
ger kühn als es den Anschein hat: man denke an die teils ganz
überraschenden auf ähnlichen Gebieten in den letzten Jahren
ermittelten Beziehungen zwischen geistlicher und weltlicher
Lied kunst des Mittelalters. — Für Motetten mit französischem
Text hatte man in Spanien kein Interesse; oder vielmehr man
schuf zu solchen, die man benutzen wollte, einen neuen latei-
nischen Text. Interessant ist z. B. Nr. XXV der Huelgas-Motet-
ten, mit einem sonst nirgends vertretenen lateinischen Text zu
einer Schöpfung des Trouvères Richard de Fournival: „Chascuns
qui de bien amer“; der neugeschaffene Text ist hübsch und ori-
ginell. Beachtung verdient ferner Nr. LVII mit dem auch in der
deutschen Musikgeschichte nicht unbekannten Tenor „Brumas
est mort", mit dessen bisher bekannter Fassung „Brumas e
mors“ man nicht viel anfangen konnte, wenngleich die deutsche
Fortsetzung „Brumas ist tod, o wê der not!“ auf den richtigen
Weg wies.
Der Ausdruck Conductus für ein- oder mehrstimmige Stro-
phenlieder neuer Komposition (im Unterschied zur Motette san-
gen hier die verschiedenen Stimmen den gleichen Text) war auch
in Kastilien bekannt, wie die Schreibereintragung ,,condutz*'
beweist. Über das Wesen dieser Gattung, ihren Ursprung und
ihren Umfang innerhalb der mittelalterlichen Liedkunst waren
wir bisher, trotz verschiedener trefflicher Vorarbeiten, noch nicht
in allen Punkten im klaren. Anglés hat diese Lücke in seiner
meisterhaften Skizze (S. 305—330 des Einleitungsbandes) nun-
mehr ausgefüllt; wer weiter arbeiten will, findet hier alles Nótige.
Wie man eigentlich nicht erwarten sollte, bietet die Transkrip-
tion der Conductus, und gerade der einstimmigen, oft besondere
Schwierigkeiten. Denn die Melodien sind vielfach an den Stro-
phenenden (caudae), teils auch an anderen Stellen so reich ver-
ziert, daB die Einordnung dieser Melismen in eine modale Taktie-
rung auf groBe Schwierigkeiten stoBen würde; Anglés hat in
solchen Fállen, wenn auch schweren Herzens, auf die Taktein-
teilung verzichtet. Über die Hälfte der 32 Conductus unserer
Handschrift, nämlich 18, stammen wieder aus dem Notre-Dame-
Repertoire; zwölf sind sonst nirgends erhalten. Mehrere stehen,
man weiß nicht weshalb, schon zwischen den Motetten; der erste
von ihnen hat einen Doppelgänger, der Anglés entgangen ist.
Man vergleiche:
164 Hans Spanke
Huelgas fol. 93 u. Carm. Bur. fol. 38’
Surrexit de tumulo Exiit diluculo
Fulgens plus quam stella Rustica puella
Frangit in diluculo Cum grege, cum baculo,
Hostis dira bella. Cum lana novella.
Vitam dedit seculo Sunt in grege parvulo
Celi prebens mella, Ovis et asella,
De cruoris rivulo [Hs. Da] Vitula cum vitulo,
Gaudia novella. Caper et capella.
Dulce leta concio Conspexit in cespite
Pangat alleluya, alleluya! Scolarem sedere:
Quid tu facis, domine?
Veni mecum ludere!
Schon durch seinen mehr als mittelmäßigen Text kennzeichnet
sich der Huelgas-Conductus als Imitation; entscheidend aber ist,
daß die in der kostbaren Handschrift München Staatsbibl. lat. 5539
erhaltene zweistimmige Melodie der Pastorelle mit der kasti-
lischen, ebenfalls zweistimmigen Weise große Ähnlichkeit auf-
weist. Die Pastorelle folgt in den CB auf den eigenartigen, alle-
gorischen Leich „Nos duo boni“, der wohl vom gleichen Verfasser
stammen kónnte und mir den Eindruck erweckt, als gehóre er
in die zweite Hálfte des 12. Jahrhunderts. Die Münchener Va-
riante hat nur die ersten acht Verse, und der abweichende Rhyth-
mus der vier letzten Verse der CB erweckte mir früher den Ein-
druck eines Zusatzes; heute móchte ich die Frage offen lassen,
denn auch Huelgas hat nach den ersten acht Versen einen formal
abweichenden, allerdings mit dem Pastorellenschluß auch nicht
übereinstimmenden Abschluß.
Die andern drei in den Motettenabschnitt eingeschobenen
Conductus stehen in dem dreistimmigen Conductusfaszikel der
Florentiner Notre-Dame-Handschrift bemerkenswert nahe zu-
sammen. Zwei von ihnen, „Crucificat omnes“ (auch in den CB
erhalten) und ,,Parit preter morem“ gehören der Gattung des
Strophenlais an. Der zweite ist musikalisch identisch mit einem
altfranzósischen Strophenlai, einstimmig erhalten in der Lieder-
handschrift Paris BN fr. 20050. Ob die franzósische oder die
lateinische Fassung álter ist, bleibt unentschieden; Anglés mag
mit seiner Ansicht, daB vielleicht beide Fassungen auf eine [in-
strumental] präexistierende Melodie zurückgehen, recht haben,
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 165
denn gerade innerhalb der Lai-Literatur läßt sich Ähnliches
mehrfach beobachten. Auch „Crucifigat omnes“ zeigt nach
Anglés in seiner Grundmelodie Züge, die an weltliche Musik
erinnern; das etwaige Original scheint verloren zu sein, am ersten
dürfte ein provenzalisches Stück in Betracht kommen. In der
Florentiner Handschrift werden (aufeinander folgend) die beiden
letztgenannten Stücke durch zwei weitere Strophenlais ein-
gerahmt: „Latex silice“ und ,,Isaias cecinit“; auch hier sind Be-
ziehungen zur weltlichen Musik nicht ausgeschlossen.
Mehrfach hat der Huelgas-Schreiber seine Vorlage dadurch
verstümmelt wiedergegeben, daB er nur die erste Strophe notierte,
auch bei solchen Conductus, die bei gleichgebauten Strophen
durchkomponiert sind oder Sequenzenbau aufweisen. Zuweilen
springen andere Handschriften ergänzend ein; in andern Fällen
jedoch ist die (anzunehmende) Lücke nicht auszufüllen — ähn-
lich wie übrigens auch in Notre-Dame-Handschriften der Haupt-
tradition und mehrfach in Unicis der Carmina Burana.
Am Schluß des Conductusabschnittes stehen mehrere Planc-
tus auf hohe Personen der spanischen Geschichte: auf die kasti-
lischen Könige Alfons VIII. (T 1214) und Sancho III., den 1158
jung verstorbenen álteren Bruder Fernandos II. von Leon (der
1188 starb und in einem Planctus der Florentiner Hs., ,,Sol
eclipsim patitur‘‘, besungen wurde) und auf eine Äbtissin, Maria
Gonzalez, die um 1330 starb. Alfons VIII., den Ph. A. Becker
irrig mit Alfons XI. (T 1850) verwechselte, ist der Gründer des
Klosters Las Huelgas, das auch spáterhin mit dem spanischen
Konigshause aufs engste verbunden blieb: Prinzessinnen erhiel-
ten dort ihre Erziehung, andere wurden dort Äbtissinnen.
Geschrieben wurde der Huelgas-Codex, der zeit seines Be-
Stehens an seinem Entstehungsorte verblieb und, wie deutliche
Spuren zeigen, fleiBig benutzt wurde, wohl kurz nach 1330. Ob
sein Inhalt von mánnlichen Sángern oder den Nonnen gesungen
wurde, steht nicht genau fest; einzelne Kompositionen konnten
nur von Männerstimmen vorgetragen werden, andere auch von
Frauenstimmen. Jedenfalls bestand im Kloster dieser spanischen
Zisterzienserinnen ein künstlerisch hochstehender, gut geleiteter
Kirchenchor. Vielleicht spielte in seiner Leitung kurz nach 1300
ein Johannes Roderici eine Rolle, der in der Handschrift an
einigen Stellen als Korrektor und auch als Komponist auftritt.
766 Hans Spanke: Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters
Ph. A. Becker sah in ihm den bekannten Erzpriester von Hita,
Juan Ruiz; doch dieser starb um 1351, und schon der Inhalt und
Stil der Kompositionen des Johannes läßt eine so späte Zeit
keineswegs zu. Eher dürfte er, wie Anglés fand, mit einem ,, Johan
Rodriguez“ identisch sein, der 1308 in einer Urkunde in den
Diensten einer kastilischen Infantin bescháftigt auftritt.
Nachtrag zu S. 761.
Die Melodie des Textes ,,Je voi le jour“ erschien jetzt im Bd. XXXIV (1933)
der Neuphil. Mitteilungen (S. 173).
767
Kritisches zu mittellateinischen Texten.
Von
K. Strecker.
Mehr als einmal habe ich mir erlaubt, darauf aufmerksam zu
machen, daB man etwas vom Mittellatein verstehen muB, wenn
man mittellateinische Texte edieren oder sonst behandeln will.
Ich habe aber nicht den Eindruck, daß der Erfolg sehr groß ge-
wesen ist; der Fall scheint ziemlich hoffnungslos zu sein. Erfah-
rungen, die ich gemacht habe, waren für mich sehr lehrreich.
Davon vielleicht ein andermal; heute móchte ich noch einmal ein
kürzlich erschienenes Buch in dem obigen Sinne durchgehen und
Bemerkungen zu einigen andern Texten folgen lassen.
Comoediae elegiacae.
Die Bescháftigung mit den sogenannten Comoediae elegiacae
war bisher dadurch recht erschwert, daß sie sehr zerstreut ediert
und teilweise fast unzugänglich waren. G. Cohen hat sich daher
ein großes Verdienst dadurch erworben, daß er diesem Mangel
abgeholfen hat: La «comédie» latine en France au XIIe siécle.
Textes publiés sous la direction et avec une instruction de Gus-
tave Cohen. Textes établis et traduits .. Paris 1931, wo dankens-
werterweise fast die ganze Überlieferung, freilich ungleichmäßig,
herangezogen ist. Bedauerlich ist es ja dabei, daß nicht in Frank-
reich entstandene Stücke von dieser Sammlung ausgeschlossen
sind, zumal bei einigen der aufgenommenen die Herkunft wohl
nicht ganz sicher ist, doch soll diese Schrulle uns die Freude an
der Sammlung nicht stören. Ein anderer Umstand darf aber
nicht unerwähnt bleiben, der schon eher diese Wirkung haben
könnte: es ist eine große Arbeit, die da geleistet werden mußte,
denn es sind 15 Stücke in dieser Sammlung vereinigt. Cohen hat
sich diese Aufgabe nun ziemlich erleichtert, indem er sie auf drei-
768 K. Strecker
zehn seiner Schüler verteilt und sich mit der Oberleitung begnügt
hat. Zweifellos ein guter Gedanke, vorausgesetzt, daB sich 13 Ge-
lehrte finden, die dafür hinreichend ausgerüstet sind; aber
man muß sich dabei klar machen, daB man ein trefflicher klas-
sischer Philologe, Romanist oder sonst etwas sein kann, ohne
doch das Rüstzeug für Arbeiten auf mittellateinischem Gebiete
mitzubringen. Das ist bei der Verteilung der Arbeit wohl nicht
hinreichend beachtet worden; so stößt man denn immer wieder
auf recht ärgerliche Versehen. Fast komisch mutet es an, daB
immer wieder derselbe Beweis für die franzósische Heimat eines
Stückes auftaucht, nämlich der, daß nach dico usw. quod gesetzt
wird wie im Französischen dire que. Ich habe schon vor Jahren,
Zs. f. d. A. 57, 188, gesagt, daß man mit solchen Beweisen auch
den hl. Hieronymus mit seiner Vulgata und sämtliche Kirchen-
väter zu Franzosen stempeln kann — es hilft nichts. Auf der-
selben Stufe steht es, wenn Cohen es als eine treffliche Konjektur
('corrections qui restituent heureusement des passages déses-
pérément corrompus' 1, S. VIII) rühmt, daB jemand flagrat in
fraglat geändert hat, während es doch eigentlich nicht unbekannt
sein sollte, daß die beiden Wörter in den Hss. andauernd ver-
wechselt werden und nach dem geforderten Sinne gesetzt werden
müssen. Daß fore = esse ist, müßte ein Bearbeiter der Comoe-
diae e. eigentlich auch wissen, vgl. 1 S. 196 (Miles glorios. 20).
Der Herausgeber scheint es sogar abzulehnen, sich für solche
Dinge zu interessieren, 1 S. XXIX sagt er in dem Abschnitt über
den Stil ‘il ne s'agit pas ici .. d'en faire une étude complete (ce
sera le róle de quelque étudiant allemand ou américain qui vou-
dra y consacrer une thése de doctorat assurément riche en en-
seignements)'. Unter den angedeuteten Umständen hat es nicht
ausbleiben können, daß die Mitarbeiter sehr verschiedene Arbeit
geleistet haben; bei der Lektüre habe ich mir manche Notiz ge-
macht, die ich im folgenden mitteile, ohne irgendwie Vollstàn-
digkeit anzustreben!.
Ziemlich mißglückt — milde ausgedrückt — ist die Ausgabe des
Babio. Für diese ist es von groBer Bedeutung, daB auBer den
drei bisher benutzten Hss. (vgl. Filippo Ermini, Il Babio.
Commedia latina del secolo XII. Roma 1928. Dagli atti dell’
1 Auf Fragen nach der'Aufführung' dieser Stücke u. a. a. gehe ich hier nicht ein;
ich glaube nicht daran.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 769
accademia degli Arcadi 1927) von dem Herausgeber Henri
Laye auch die Berliner Florilegienhs. Phillippicus 1827 — P,
13. Jh. fol. 56" (außer wenigen einzelnen Versen fehlen V. 55 bis
202)* und L — Cod. 105 von Lincoln, 18. Jh., in dem leider sogar
262 Verse fehlen, herangezogen werden konnte. Der Herausgeber
gibt 2 S. 28 an, daß er sich auf eine vollständige Kollation der
6 Hss. stütze. Leider muß ich aber Zweifel äußern, ob er seiner
Aufgabe völlig gewachsen war, denn die Verwertung der bisher
noch nicht benutzten Hs. P, die ich allein kontrollieren kann,
läßt doch ganz außerordentlich zu wünschen übrig; an vielen
Stellen sind Varianten aus P gar nicht erwähnt, an anderen ist
der Text völlig verlesen. Ich bringe nur ein Beispiel: V. 401 cum
carmen gallı letum cecinere. Dazu gibt der Apparat als Variante
aus P: ter carmen galli cecinere pocum. Was heißt das? In Wirk-
lichkeit hat P ter cantum galli cecinere posum ( = perosum). Ich
habe daher eine Nachkollation vorgenommen und teile das Er-
gebnis hier mit; die Abkürzungen der Hs. sind durch kursiven
Druck angedeutet:
8 malo, über dem o: ü —claua trinodis mit Umstellungszeichen,
trınodis aus trinodit korr. 10 hic übergeschr. 12 ut didici: uber-
geschr. l'interdum — gruis. 13 quid adest. 15 stipis externe. 19
audeat unus. 20 illa, uiola als Glosse übergeschr. Die nicht seltenen
Glossen erwähne ich im übrigen nicht. 21 Heu dabo. non. 23
morear. 26 Sed: Si. 27 lepus est, darüber es. 31 precurrunt socii
sequor hos pede cl. 32 esse: isse. 34 c' = cuius. 36 thetidis. 42
Sed: Si, das doch wohl einzusetzen 1st. 47 floris nitor inuiolate.
49 parentum. 50 pene, n Korr. 51 uiolà uiola — plus übergeschr.
m. 1. 53 deuoueo ganz deutlich. V. 55—201 fehlen. 203 asperis.
204 erigyus, Schluß undeutl. 205 difficiles getilgt u. dissimiles
übergeschr. 206 rerent. 210 pudicicam. 216 panses. 217 Plebs:
Pheb;, h getilgt u.l übergeschr. pacuisse a. pecuisse korr. 221 eras.
225 Spendidus. 226 actibus eximius. 227 h' suptus — cin-
bala. secula tanti. 228 tot numero, nicht minimo. 230 dana. 231
Dum sic seruitur male. 233 parauit. 236 modo fit cuculus illa. fit.
237 Addita — sic: sibi oder tibi. 238 pernam. 241 Inconcinca.
242 Resq; mihi — filea trahis. 245 O petula pelans, tu übergeschr.
— petissimus. 247 scandet auch P — crematur. 249 michi: nisi
3 Über die Hs. vgl. V. Rose, Meermanhss. S. 430ff., wo auch auf die Erwähnung
des Babio bei Robertus Holcot hingewiesen wird, die bei Laye übersehen ist.
Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 49
770 K. Strecker
— hortis. 251 phebi. 252 dicet für discet. 253 forsam. 255 l'nguo.
259 frus (a übergeschr.) fune peremto. 264 a causa perire. 266
uelis (uel fehlt) aqua. 270 fructificant. 272 non: nec. 276 Scit:
Sic. 277 tib: babio uendit. 279 celeus. 281 scit: stt. 283 preuidiat
— loquar (die Lesart ist einzusetzen). 285 periisse. 288 Forsitam
— Im Apparat: fedet in hac sacra sermo. 289 Talis ego uideor.
290 similem simli thaide nate. 291 Aüt. 292 letes infatuaris.?
293 tibi ... quietem. 295 niuescant. 296 Mennona. 297 Ledere
(einzusetzen l). 302 michi: bene. 303 multis: miti. 309 obod'.
313 non abit transacta voluntas. 315 extorquabit — ista. 317
cohibunt. 321 nequ:as — mille fehlt mtt Zeichen. 323 hortis. 327
auch redibit. 328 sit (einzusetzen) — tep'. 329 noctem ducat
mihi titan. 330 almene. 331 rerum. 333 Hie foramen erat sehr
ansprechend. Nicht „hier wird ein Loch sein“ (erit); Bab io steht
vor seinem eigenen Hause und entsinnt sich, daß da ein Loch ist:
„hier war doch ein Loch“ oder „hier muß doch ein Loch sein“.
334 luculus — evum. 335 arcanum: artoum. 337 captus: abiens.
338 deuenient uincula uirga salax. 339 esse fehlt. 343 Canta tuba.
345 curite. 346 Strangule — olla prei fehlt, dafür esto. 347
michi: tibi (einzusetzen?). 348 cape Jura flagella dabunt. 349
salutat. 351 parcite ne neies, über ne steht . f. (= Fodius). 352
En soleen esse nequid. 354 caüses — et: set. 357 cessascem.
360 gemens: geras. 362 qua: que. 364 Nud' (o übergeschr.)
erat (i übergeschr.) — ficta. 365 nigredie. 366 nodum. 368
quando: ante. 369 Experie — urrtutis adictus. 370 Pax. 371
scinseris. 372 Nec sus: Nexus. 373 serpens mitis. 375 sunt mea
dapna pudoris et estus. 376 has. 379 sala — uiarum: uiuam?
385 Cure fata. 387 comites: socii — ferte: ferre. 389 inconnita.
891 rui: tui oder cui — labor h:c fuit et dolor inde. 392 capto.
893 Reppulit — arcem faueam. 394 Cum. 395 succedet. 397 Pro-
sequor. 401 ter cantum — perosum, vgl. oben S. 769. 402 App.:
capd hoc. 408 Iam ludunt fessi, fast sessi, i korr. ? 405 hc plausus;
fiet mthi set dolor illi. 406 ternis. 411 Surgo nimis moror hie ra-
pimur uir adest tuus et pl. 412 Nunc vter michi sint dolia pl. d.
413 ero. morior vter. 415 gloria uite (nicht gratia). 419 Febre:
Freb*. 423 Sum felix diues rex habet ita ciues. 426 Ypocresisq;
decus, hic fehlt. 428 crux, x undeutlich. 431 tenobrose. 432 Et
3 Über dem t ist das ur-Zeichen durch Punkt getilgt.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 771
patria — sata praua (einzusetzen). 433 thicii ... icsionis (nicht
orionis). 434 ferens. 435 Sabata nuc instras (oder instrat), a
etwas undeutlich. 436 adest. 439 Prestorlare — nam: non. 441
Quo tibi — sophisma: doc's. 446 fodio: facto. 448 leues. 451
Nunc: Nö - trinis: certus. 452 Cinbala. 453 Ve mihi non moraor.
465 acellus. 457 quia. 458 quid — nimis. 459 Tantila — arce.
460 leniter. 463 rerum res pessima, a korr. 464 Non est quo (ein-
zusetzen). 465 quam: tam. 467 lector .. h michi mit Lücke dazwi-
schen. 469 Hic terit illa. 471 Curus. 472 bono: nolo. 473 linquis.
— sere. 477 farater. 479 nunc litere uocis. 480 credis, is getilgt
u. e übergeschr. — vraq; facta. 481 crocius. 482 germine, — ge-
tilgt. 483 timete.
Leider muß ich auch sonst bezweifeln, ob der Herausgeber
seiner Aufgabe gewachsen war. Man wird doch recht stutzig,
wenn er S. 6 anfängt 'Gallicismen' nachzuweisen. Zum Glück
sind es nur vier“:
1. ‘plus suivi d'un adjectiv‘.
2. ‘probabo quod', vgl. oben.
3. emploi de unus comme pronom indefini‘.
Es sei erlaubt, an diesen drei Beweisen mit einem leisen Kopf-
schütteln vorüberzugehen, dagegen verdient der vierte nähere
Betrachtung: testa. Was damit gemeint ist, zeigt V. 371f.
Se sues ostro seu testas cinzerıs auro,
mec sus sorde caret mec labe testa luti,
das ist übersetzt: 'Que tu aies couvert des pores de pourpre ou
la téte d'or, le porc n'est pas dépourvu de saleté ni la téte de la
souillure de la fange‘. Ich bekenne, daß das über mein Fassungs-
vermógen geht. DaB man ein Schwein mit einer Purpurdecke aus-
statten kann, die dann bald entsprechend aussehen wird, kann
ich mir vorstellen, aber warum wird ein Kopf, den man mit Gold
bedeckt — es ist doch wohl an einen Goldreif, eine Krone oder
dergl. zu denken ? — alsbald wieder schmutzig ? Der Kónig wird
doch wohl morgens die Krone absetzen und sich den Kopf gründ-
lich waschen? — téte hángt natürlich mit testa zusammen, das
ist ja bekannt, aber ich entsinne mich keiner Stelle in mittel-
lateinischen Texten, wo testa — téte ist, wohl aber mehr als einer,
* Ich bemerke, daß ich die französische Herkunft des Babio gar nicht be-
zweifeln will, jedenfalls ist sie doch wohl durchaus möglich.
49*
172 K. Strecker
wo testa seine alte Bedeutung hat. Der Sinn ist natürlich: man
kann einen Topf (oder irgend ein anderes Gefäß) vergolden, er
wird doch immer wieder schmutzig werden. — Ein noch drol-
ligeres Mißverständnis haben wir V. 295f.:
Fama fide careat, que cum volet atra nılescunt;
Cum volet hec eadem, Memnona vestit olor.
Das ist übersetzt: 'ce qui est noir brille comme neige; à sa volonté
encore un parfum enveloppe la statue de Memnon'!5 Was das
wohl für ein Parfum um die Memnonssäule sein mag! Memnon
ist natürlich der schwarze Mohr, olor der weiBe Schwan, die
weiße Farbe! — Auch 125 ist nicht verstanden. Babio begrüßt
den Croceus: valeas valeantque coortes. Dann murmelt er für sich:
Heu mihi dico; vale dicere posse velim. Das ist nicht ‘Hélas pour
moi dis-je, alors que je voudrais pouvoir dire salut et prosperité',
sondern ‘wenn ich doch Lebewohl'' (oder besser auf Nimmer-
wiedersehn") sagen kónnte'! — V. 65 sagt Viola zum Babio: Quid
mihi cum Croceo? Sibi quam vult eligat ipse. Das heißt nicht
qu'il se choisisse lui-même celle qu'il veut’, ‘lui-même gibt
keinen Sinn, ¿pse ist wie unzählige Male in mittellateinischen
Texten =‘er’ gebraucht. — In V. 37 Fert Helene faciem, gracilem
precincta Corinnam wird gracilem Corinnam als Akkusativ der
Beziehung erklärt! (vgl. S. 11) ‘elle presente le visage d’Helene
avec la taille de la fine Corinne‘. Das verstehe ich leider wieder
nicht. Ich würde vorschlagen, zu lesen: fert Helenam facte, wie
P L haben, dann brauchen wir diesen abenteuerlichen Akkusativ
d. B. nicht. (Übrigens hátte auf Ovid, Am. 1, 5, 9 hinge-
wiesen werden sollen.) Überhaupt wird der Text wohl noch an
mancher Stelle geándert werden müssen, freilich mit Vorsicht,
die m. E. G. Colien bei seinen gelegentlichen Eingriffen zuweilen
vermissen läßt. V. 179 endet ludumque ibi parcit. Das ist Unsinn,
und Cohen ändert in parat. Das wäre sachlich möglich; aber durch
Konjektur einen schweren prosodischen Fehler in diesen Text
zu bringen, ist ganz unerlaubt. Erminis carpit ist sicherlich vor-
zuzichen. (Sollte nicht auch Alda 455 carpente für parcente zu
schreiben sein? Bücheler wollte pascente.) 432 nunc fata prava
metes ist ebenso unmöglich wie Erminis nunc prave fata metes.
5 Ich habe nur sporadisch die Übersetzung angesehen, vielleicht ist mir da
mancher Scherz entgangen.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 773
Ich schreibe nunc sata prava metes. Damit vergleiche man 183 sevt
sata, messust alter. Meiner Ansicht nach muß hier das Komma
hinter sevi stehen, sata messuit gehört zusammen wie 432. —
Hóchst bedenklich ist V. 165:
Surgite, scandam; Viole substernite mulum.
Laye will uns hoffentlich nicht zumuten, daB wir den Vers
in dieser Form für richtig halten. Wie soll er denn gelesen wer-
den? Da ist er bei Ermini doch besser, wenn er auch keinen
Sinn gibt:
Surgite, sancta domus, molae substernite mulum.
Ich gestehe, daß ich mich über diese Verse wundere; die
Heilung ist doch wirkiich nicht schwer. sancta wird bekanntlich
sca geschrieben, was man auch scan lesen kann, bzw. umgekehrt ;
wenn sca und dam' etwas voneinander entfernt standen, konnte
es unschwer in sancta damus oder domus verlesen werden, und
es ist noch die Frage, ob nicht in der Hs. C wirklich damus steht.
Jedenfalls wird wohl niemand meine Behauptung bestreiten, daB
der Vers Surgite, scandamus beginnen muß. — Auch ein richtiger
FünffüBer wird uns, wie schon von Ermini, zugemutet 411:
Surge, nimis moror; hic vw adest tuus et plebs.
Wenigstens hátte eine Bemerkung gemacht werden müssen.
Die oben mitgeteilte Lesart von P hic rapımur gibt wenigstens
einen ordentlichen Vers. Ob rapımur richtig ist, steht freilich
dahin.
Noch ganz kurz einige Bemerkungen. Daß V. 269 dem Babio
in den Mund gelegt wird, leuchtet mir nicht ein. 136 Sollte nicht
Sortes Sortes zu schreiben sein? 138 ist mir nicht ganz klar; an
den prosodischen Fehler magister ven: glaube ich nicht; für quid
doch wohl quod. 235 l. nondum glutire oder necdum glutire. —
Undeutlich ist auch 236. Zunáchst ist cuculus, nicht cucullus zu
schreiben, dann sicherlich mit P fit — fit statt sit — sit. nero
bleibt unklar, aber zweifellos ist es, daB Cohens veto abzulehnen
ist. 266 Igne velis vel aqua, si magis esse placet ou par l'eau, s'il
te convient mieux qu'il en soit ainsi'. Das scheint mir kaum
möglich, drei Hss. haben tlla oder tpsa für esse, beides gut.
268 trahar, nur in P, besser als trahor. Ebenso 283 mit P loquar
statt loquor. 23 Hanc dabo; si dicam, moriar verstehe ich nicht,
wohl aber Erminis ‘Hanc dabo’ si dicam. 162 nolo geht kaum.
774 N K. Strecker
284 solent und minus darf nicht fehlen, etwa: Expectata solent
pungere dampna minus.
Zitate sollten nachgewiesen werden: 37 praecincta
Corinna: vgl. Ovid, Am. 1,5,9. — 66 prece vel precio ist Zitat,
Horaz, Ep. 2, 2, 173. Ovid, Fast. 2, 806. — 480 Vergil, Aen.
11, 283. — 117 tribulus nunquam feret uvas ist biblisch, Matth.
7, 16. Dagegen hat V. 79 mit Catull nichts zu tun. Daß 171f.
mit Geta 483, 177f. mit Geta 489f. zusammenhängt, hätte
nicht übersehen werden sollen. Ich hátte noch manche Stelle zu
diskutieren, breche aber ab.
Die übrigen Stücke werden uns nicht so lange aufhalten,
obwohl auch da gelegentlich Anmerkungen gemacht werden
müssen. Namentlich Girard mit seiner Ausgabe der Aulularia
(Bd. I, 61ff.) gibt dazu Veranlassung. Wie er sich das gedacht
hat, weiß ich nicht, jedenfalls läßt sich eine ganze Reihe von
Versen überhaupt nicht lesen! Ist das lediglich Flüchtigkeit oder
steht er auch auf dem Standpunkt, daB es im Mittelalter nicht
so genau darauf ankommt? Man braucht wirklich nur Müllen-
bachs Ausgabe aufzuschlagen, um das Richtige zu finden. Neh-
men wir den Hexameter' 255 Dum tenet ille vam spaciumque
locumque! reducem fehlt vor tenet. 103 aut certe débeat homo deus
esse deorum; Müllenbach hat deberet. 264 läßt sich nur lesen, wenn
suis in suus geändert wird. So bei Müllenb. 309 Der Versanfang
Propositum modum ist unmöglich, 1. Proposttumque, ebenso 423
Die ait Gnatho; Müllenb. hat Dic art o Gnatho; ebenso 595 Feton-
temque sol retrogradum, Müllenb. Faetontem s. r. 712 Non im-
pune suo movebis ossa loco: l. moveris. 732 fuerat: l. futt. 678
recipit: l. recepit. 457 Versschluß: aut est Gnatonis virtus: Müllenb.
Gnathonza virtus. Daß dem Leser solche Verse vorgesetzt werden,
wo doch Müllenbachs Ausgabe vorliegt und nur mit einiger Auf-
merksamkeit abgedruckt zu werden brauchte, ist mindestens
etwas überraschend.
Auch sonst móchte ich einige Bemerkungen zufügen. Ich habe
nicht etwa den Text mit Müllenbach verglichen, das lohnte mir
nicht der Mühe, sondern nur wo ich stockte, bei M. nachgesehen.
149 si se putat esse beatus; l. beatum. 152 discere disce tacens
(apprends à apprendre): M. richtig dicere. 157f. 1. arcet res; Iovis
wie M. 210 largus amicitias urget Girard und M.: 1. auget?
348 vocas Gir. und M., iclt denke voces. 340 nach ne muß putetur
Kritisches zu mittellateinischen Texten 775
stehen wie bei M. 126 l. Perpetuam wie M. 270 Seque ptum
wie M. 300 ignoret wie M. 305 würde ich mit M. Büchelers duos
für dolis vorziehen. 371 dvmetiar wie M. 668 M. hat liminibus,
Gir. luminibus, beide ohne v. I., also ist wohl liminibus über-
liefert. 671 usquam huc ades, wie M. hat, zweifellos richtig, Gir.
unquam huc ades ohne v. I. Ebenso muß 734 huc ades mit M.
geschrieben werden, Gir. hat hic ades ohne v. I. 781 furtaque:
l. furataque. 699 hinter urnam Komma. 461 nunc cogere nosirum
est ist Unsinn; das Folgende zeigt, daB mit M. nec zu schreiben
ist. Auch 498 erkennt man nicht, was vicinus heißen soll gegen-
über dem richtigen vicinum. 500 l. differat. Diese Blütenlese
genügt wohl.
Auf die Angabe der Zitate wird in diesem Buche wenig Wert
gelegt. So ist auch in der Aulularia einiges übersehen. 552 war
auf die zum Babio 66 schon angeführte Horaz- bzw. Ovidstelle
hinzuweisen nec prece nec precio. 685 vielleicht ist es Zufall, daB
Vergil, Aen. 1, 637. 2, 486 die Verbindung domus interior an der-
selben Versstelle steht. 86 Horaz, Sat. 1, 8, 4. 2, 1, 22. 132 Vgl.
Horaz, Ep. 2, 2, 28.
Der Geta ist ja oft abgeschrieben® und oft behandelt worden;
80 ist der Text im allgemeinen gut. Natürlich kann man an vielen
Stellen anderer Meinung sein, doch ist es nicht meine Absicht,
die Lesarten einzelner Stellen zu diskutieren. Nur einige wenige
seien erwähnt. 30 utor: warum nicht utar? 199f. suum allein-
stehend scheint mir doch bedenklich, die Lesung amicum mit
Komma davor ist jedenfalls leichter, und daB man hinter parcat
das amicum in amico korrigierte, ist erklärlich. 464 Amphitryo
treibt die beiden Sklaven, ihn beim Angriff auf die Haustür zu
unterstützen: nos lucra multa manent ' Quel butin nous allons
faire'! Nein, eurer warten Belohnungen, vos lucra manent, wie
bei Wright steht. 473 sine ist nicht übel. 494 minima statt
nimta, nimio scheint mir sehr gut.
Auch für den Geta sind nicht alle Zitate festgestellt. Zu 489f.
ist richtig auf Babio 177f. verwiesen, dagegen zu 483 nicht auf
Babio 172. Zu 197 vgl. Alda 315. 458 uncta poptna: vgl. Horaz,
Ep. 1, 14, 21. 488 Quis furor? vgl. Lucan 1, 8.
* Auch in dem oben behandelten Berliner Phillippicus stehen Proverbia Getae,
Aululariae, Pamphili, doch bin ich der Kürze halber zu diesen Stücken nicht darauf
eingegangen.
776 K. Strecker
Alda'. Hier haben wir ja die Ausgabe von Lohmeyer, es ist
also nicht viel zu bemerken. 31 das Komma hinter prosperitatis
macht den Satz unverständlich, es muB hinter homini stehen.
Anders bei Lohm. 57 zu lesen impia fata, nicht facta, der Tod
würde für ihn ein Glück sein. 103 tıbique gibt einen unmöglichen
Vers: I. tibi quae wie bei Lohm. 168 furit (so auch Lohm.) scheint
undenkbar, l. furat. 260 mußte angedeutet werden, daB die Rede
des Pyrrus beendet ist. 286 die Konjektur sato ist schwer glaub-
lich, doch weiß ich pulvis sacer (so alle Hss.) nicht zu erklären.
455 dente parcente: vgl. zu Babio 179.
Auch hier ist auf fehlende Zitate hinzuweisen. Lohmeyer war
doch schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Was er bringt,
wiederhole ich nicht. 158 fit fabula: vgl. Horaz, Ep. 1, 18, 8. Zu
165 ist richtig Vergil, Aen. 4, 2 zitiert; vielleicht war auch Ovid,
Met. 3, 490 zu nennen. 243 genus aut formam: Horaz, Ep. 1, 6, 37.
244 vgl. Juv. 3, 140f. 281 carnis suille: vgl. Juv. 14, 98. 384 crescit
amor: vgl. Juv. 14, 139. Lohmeyer 31 denkt an Pamphilus 259.
429 vgl. Ovid, Met. 4, 350. 401 vgl. Carm. Bur. (ed. Schmeller)
Nr. CXCIV Str. 12. 231 vgl. Carm. Bur. (ed. Schmeller) Nr.
LXVIII, ed. Hilka- Schumann 4, 2, 5. 315 vgl. Geta 197. 318
vgl. Geta 10 Aulul. 792. Diese zuletzt angeführten Stellen wies
Lohmeyer nach, ebenso Zusammenhang mit dem Mathematicus.
Davon erfährt man hier nichts. Wenn ein Herausgeber dafür
kein Interesse hat, so kann er diese Interesselosigkeit doch nicht
bei allen Lesern voraussetzen. Auch das ist wohl nicht unwichtig,
daB Heinrich von Settimello die Alda exzerpiert hat, wie ich
gelegentlich nachgewiesen habe. 466 virginitatis honor: vgl. De
tribus puellis 152, Sedulius, c. p. 1, 67.
Von De tribus puellis haben wir ja den Jahnkeschen Text
und kónnen damit zufrieden sein. Auch der Herausgeber Maury
ist es im ganzen. V. 14 druckt er post salto ‘je bondis aprés elles',
wenig überzeugend. Aber Jahnkes subtta ...solea ist es ebenso-
wenig. Wenn salto richtig ist, muß post doch wohl temporal gefaßt
werden. — 129 fehlt est aus Versehen. 155 Büchelers pattantur
ist wohl mindestens ebenso berechtigt wie parentur (von parare),
sie nimmt doch Abschied. 123 wird bene für quoque gesetzt. Wie
* Ich möchte bemerken, daß der Lambacensis 100 jetzt der Staatsbibliothek
in Berlin gehört.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 777
soll die Korruptel entstanden sein? Und ist quoque denn un-
móglich? Im allgemeinen schlieBt der Herausgeber sich an
Jahnke an, es bleibt aber mancher Anstoß. 183 Annuitur usw.
schlug Bücheler vor und Jahnke, Maury sind ihm gefolgt; von
den Hss. hat eine Annutiter, zwei Annuts, eine annuis ac. Mir
scheint dies Annuttur ganz unmöglich, eher noch, ebenfalls mit
Bücheler, annuimus, obwohl auch das wenig überzeugend ist.
Oder annu: tum? Annu: iam? 196 Maury druckt Igne calescebam
corpora nostra grato, ohne irgendeine Bemerkung. Ich hatte mir
schon calescebant notiert, als ich bei Jahnke sah, daB calescebam
nur in einer Hs. steht, sonst calescebant. grato am Pentameter-
schluß kommt nicht in Frage, eher noch gravi wie Jahnke.
163 beginnt fürchterlich Nam illi mentitus. Ich will nicht be-
haupten, daB der Vers unmóglich ist, aber unvergleichlich besser
bei Jahnke Nam stib: m. Im Apparat steht weder bei Maury noch
bei Jahnke ein Wort; ich nehme an, daß Nam stb: überliefert ist.
140 lautet bei Jahnke und Maury Cuius Helenam tuvenem
Susctptt in pretium. Der Vers ist nicht zu lesen; P. v. Winterfeld,
dessen Exemplar ich besitze, vermutet eine Glosse und schreibt
Cuius suscepit in pretium iuvenem. — Der Text des Stückes ist
ja nur in ganzen Hss. und Inkunabeln erhalten, und ohne Kon-
jekturalkritik kommt man nicht aus. Jahnke hat da mit solchem
Erfolge vorgearbeitet, daß Maury den Text zum größten Teil
übernehmen konnte und nur an wenigen Stellen abwich. Und
auch da nicht immer mit Recht. DaB 227 valebat nicht durch
volebat ersetzt werden darf, ist ja klar; ebenso daß facilis aus
dem Verse wieder verschwinden muß. Auch wird 222 Jahnkes
soltum wohl bleiben müssen wie 226, wo auch Maury zustimmt.
Kaum eines Wortes bedarf es auch, daß 64 Büchelers dirimam
statt dıruam einzusetzen war; ich weiß nicht, warum so evidente
Verbesserungen nicht wenigstens im Apparat erwáhnt werden.
Neue wichtige Verbesserungen bringt die Ausgabe kaum außer
232, wo Cohens cigni statt agn? ausgezeichnet ist. Dagegen ist
273 Jahnkes lacertis statt gente viel einleuchtender als Maurys
labellis.
In einer Beziehung bin ich mit dem Herausgeber gar nicht
einverstanden. Er hat erkannt, daB der Dichter stark unter ovi-
dischem EinfluB steht (S. 228 'd'un scholar qui avait trop lu
Ovide’), ja er behauptet S. 227 sogar, der Dichter scheue sich
778 K. Strecker
nicht d'attribuer à Ovide la paternité'. Nicht jeder Leser wird
sich mit dieser Behauptung abspeisen lassen, man wird sich
wundern, daß der Herausgeber seine Aufgabe damit als erledigt
ansah, daB er eine Stelle aus Horaz, die jeder Leser zur Not auch
ohne Nachhilfe kannte ( Ibam forte via sacra), und eine aus Vergil,
dazu einige mehr oder weniger dahingehórige aus den Carmina
Burana anführte, von Ovid kein Sterbenswórtchen. Ich fürchte,
nicht alle werden es sofort bemerken — was der Herausgeber
doch wohl getan hat? — daß z. B. Amores 1, 5 teilweise wörtlich
benutzt ist: 45 Am. 1, 5, 20. 53 Am. 1,5, 23. 250 Am. 1, 5, 18.
255 Am. 1, 5, 19. 269 Am. 1, 5, 21. 144 Heroid. 15, 162. 278
Heroid. 2, 58 wórtlich. 221 Amores 1, 4, 53. So wird sich die
Abhängigkeit von Ovid wohl noch oft nachweisen lassen, ich
führe nur an, was mir zur Hand ist, denn ich bin nicht in der
Lage, die Arbeit auf mich zu nehmen, die dem Herausg. zukam.
So steht es auch mit dem Pamphilus. Freilich sind
S. 173f. einige Entlehnungen aus Ovid, auch aus Terenz mit-
geteilt, aber eben nur einige, und von Vergil ist gar nicht die
Rede. Ich gehe nicht weiter darauf ein. Und ebensowenig auf die
Textgestaltung, ich sehe keine Móglichkeit, sie — wenigstens
ohne einen sehr großen Aufwand von Mühe — nachzuprüfen.
Der Herausg. Évesque hat aus der großen Zahl von Hss. einige
wenige, 10, herausgesucht und behauptet, daß aus diesen der
Text hergestellt werden müsse, ohne daß man es prüfen kann.
Das möchte sein, wenn der Text überzeugender wäre. Aber da
steht z. B. 69 ein Vers, der mit einer Konjektur von Cohen und
einer von Dain ausgestattet ist und trotzdem so aussieht: Justa
precando michi tum dolor anzvus instat: ich wüßte gern, wie er
gelesen werden soll, denn ich komme damit nur zustande, wenn
ich dolor skandiere, móchte aber darauf hinweisen, daB V. 250,
463 an derselben Versstelle dolör steht. — Wie liest man 202
Quid quid nocet aut prodest noscere nescit adhuc?, 213 Ire venire
loqui tibi nec cuiquam non prohibebo?, wie 621 He duo discordes
hunc die mocteque fatigant?? An den Vers mit dolor erinnert
529 Est crimen immensum si dives fallit egenum, wo 532 ein Vers
mit crimine folgt. Im Apparat findet man neben crimen auch
scélus, damit wäre der Vers in Ordnung wie bei Baudouin. Über
* Diese Monstra sind wörtlich aus Baudouins Ausgabe übernommen (vgl. dazu
Cohen 1, S. VII).
Kritisches zu mittellateinischen Texten 779
die Ausgabe wäre noch manches zu sagen, doch verzichte ich bei
dem dürftigen Apparat darauf.
De nuntio sagaci von A. Dain macht einen besseren Ein-
druck als manche der bisher genannten Stücke; der Herausg.
hat sorgfältig gearbeitet, die Hss. sind voll ausgenutzt und,
wie es scheint, neu verglichen. Allerdings macht der Text auch
kaum solche Schwierigkeiten wie etwa der Babio. Natürlich
könnte man auch hier über manche Stelle streiten, doch erwähne
ich nur kurz weniges. — Es wäre praktisch gewesen, wenn wie
in der Ausgabe von Jahnke die Personen am Rande bezeichnet
worden wären; auch für den Pamphilus u. a. hätte sich das
empfohlen. 89 Die Textänderung vivus scheint mir mindestens
überflüssig zu sein, dagegen war 169 eine solche nötig: His con-
cessıs volo finem ponere verbis. Jahnke druckt His ita concessis,
im Apparat ist nichts erwáhnt, ist «ta nur durch einen Druck-
fehler ausgefallen ? Ein solcher liegt vor V. 60 bona statt dona,
250 dicit statt dicis. Warum 160 spem...certam in s. cretam
geándert wird, sehe ich nicht. 329 Komma hinter monstrum, da-
gegen ist es hinter cognata zu tilgen. 322 quod male non facıebas
ist unmóglich, ebenso ist es V. 336, denn Corporé darf nicht in
Corpori geändert werden (Traube, Karol. Dichtg. 28, 1), auDer-
dem fehlt zwischen proficit und spero ein Dactylus. 346 cernerent
ist metrisch unmóglich und nicht einmal überliefert, cernent da-
gegen metrisch und sachlich nicht zu beanstanden.
Zu den übrigen Stücken nur noch ein paar Worte. Miles
gloriosus 90 quid voluere mei: es muß selbstverständlich quod
heißen. 307 Hanc procul esse putans cutus preferat amorem ist
kein Vers. ^ s
Pamphilus, Gliscerium und Birria macht im ganzen
einen befriedigenden Eindruck, vor allem auch, weil die bib-
lischen Zitate sorgfáltig nachgewiesen sind. Freilich findet man
sie auch schon in der Ausgabe von Lohmeyer, Zs. f. d. À. 41,
1897, 144ff., die dem Bearbeiter erst nach Abschluß seiner Arbeit
oder während derselben bekannt geworden ist. Anklänge an
klassische Autoren sind selten, aber sie sind doch da und hátten
auch berücksichtigt werden sollen wie 174 Quaerentes patriam,
nomen et unde genus, vgl. Prudenz, Psych. 706. 175 Der Vers-
anfang Conticuere vgl. Aen. 2, 1. Doch ist wohl nicht viel Der-
artiges vorhanden. V. 35 ternarius ist nicht ‘der dritte’, sondern
180 K. Strecker
die Dreizahl! 148 tn me mora nulla: Bucol. 8, 52. Natürlich ist
zu schreiben: Quid obiurgas? Auch sind noch einige weitere
Fehler vorhanden, zumeist wohl Versehen wie 108. 171. 207.
Noch manches wäre zu bemerken, doch muß ich fürchten,
daß ich die Zeit des Lesers schon zu lange in Anspruch genommen
habe. Zusammenfassend muß ich sagen, daß mir das Lob, das
Salverda de Grave im Neophilologus 1932? der Ausgabe spen-
det, doch reichlich übertrieben zu sein scheint.
Inschriften und Verwandtes.
E. Areus hat Ann. d. hist. Vereins f. d. Niederrhein 118,
1931, 32ff. neben anderen einige Stücke aus den Christl. In-
schriften der Rheinlande, herausgegeben von F. X. Kraus 2,
1894, kritisch behandelt. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich
sage, daß die von Kraus dort gedruckten Texte vielfach drin-
gend der Nachprüfung bedürfen, und so bringe auch ich eine
Reihe von Notizen, die ich mir gelegentlich gemacht habe.
Kraus Nr.373 Sehr beachtenswert ist diese Sammlung von
Inschriften zu Stickereien auf Teppichen, die in Trier in der
Kirche von S. Maximin hingen; sie sind in der Hs. T — Trier
1337, chart. XV s., ol.s. Maximini fol. 94r erhalten, eine andere
Überlieferung scheint nicht vorhanden zu sein. Der Druck von
Kraus macht einen etwas merkwürdigen Eindruck, so daB ich
mich veranlaßt sah, die Hs. selbst einzusehen, was sich als sehr
notwendig erwies. Ich gebe ihren Text, ohne jedesmal die Le-
sung von Kraus mitzuteilen. Zur Vereinfachung der Angaben
habe ich die Zeilen numeriert. 4 QVOSV IS Kraus, quus (g.
6 Schäfte, s) T. Was ist gemeint? — 12 Es sind leoninische
Hexameter, deshalb hatte ich auch in diesem Verse Quodque
dolens lepra Job scripsit quodque prophete die La propheta ver-
mutet, aber T hat wirklich H das Zeichen für prophete. —
16 infernas T. — Hinter V. 16 hat T: In alto panno veter: deætri
chori reiro dorsum domini abbatis. Plato: Triumphus innocencie
est non peccare ubi liceat posse. Socrates: Virtus usw. 21ff. Item
in predicto panno depingitur ymago philosophie et tristis Boecius
eic. Quem philosophia alloquitur: Agnosctsne me? Letargum
* Bd. 17, S. 205. — Kritische Beitráge, die mir aber infolge Krankheit nicht
zugänglich sind, lieferten inzwischen auch W. B. Sedgwick, Archiv. lat. med. aevi
VIII, 1933, 164—168 und M. Manitius.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 781
pateris. Ascende si placet. Abite syrenes meisque eum (cum T)
musis curandum relinquite. Kraus hat offenbar nicht erkannt,
daB wir wörtliche Zitate aus der Consolatio ph. (S. 5, 37f., 7, 6. 11 ed.
Peip.) haben. — 29 peccati T. — 31 status est via. — 32 hatholomei.—
1221 = 1227. 34 dextri. 35 Pheniz degit avis ... Scherzhaft ist der
Text von Kraus Pheniæ degit anus! V. 36 ist der Anfang des
Physiologus Theobaldi. 38 Et fehlt T. panthere 'T. monstratur
T. V. 39 virginis agnus ovis formam dat rinocerotis. 40 repara-
tor. V. 38 und 40 erklären sich aus dem Physiologus Th., auch
39 ist Physiologusgelehrsamkeit, doch verstehe ich die Kon-
struktion nicht. 45 1. Angelus hunc istis gregis innuit ecce magistris
T nach Lucas 2, 9. — 46. Enea qui regum sumens dat munera
legum: enea verstehe ich nicht; es handelt sich um die An-
betung der Magier, also etwa zenta? Das Wort wird auch sonst
gelegentlich mit e gebraucht. 47 Templis oblatus limphas beat T.
49 mortis. — 50—52 Kraus Nr. 395. V. 53—56 = Kraus Nr.372
I, doch V. 56 H1; T. Apokal. 14, 13. 58 an: l. tu V. — 62—64 die
Lücken auch in T. 64 presule ... 66ff. = Kraus Nr. 393. 1 Fun-
dite, nicht Effundite, wie Kraus angibt. corda T, also derselbe
Anfang wie im Epitaph Brunos von Kóln, Kraus Nr. 583, 1, 1.—
8 Ecclesijs T. hinc oder husc T. 7 mortis ganz deutlich T. —
Auf 393 folgt in T Kraus Nr. 394 Epithaphtum cuiusdam ab-
batis prope arcum eundem. 394, 3 Idib; T.Auf 394 folgt Kraus
Nr. 375, darauf Kraus 376 = 890, 2—3. 376, 2 Supplex T. 4
sibi «ure T. 9 celebres richtig? vite T. 10 Illico lese ich auch. et
fehlt T.
Zu andern Nummern bei Kraus mache ich kurz Ánderungs-
vorschláge, ohne jedesmal seinen Text mitzuteilen. Wieweit es
sich um Druckfehler handelt, habe ich nicht jedesmal feststellen
kónnen. Zunáchst noch Trier: Nr. 346, 9, 6 meus Druckfehler,
wie der Apparat zeigt. V. 23 l. ferrea. 35 Posce deum. Nr. 352.
Der Vorschlag zu V. 8 tecum ist unmóglich. 357, 1 urbs. 364, 1
ist natürlich aetas oder besser etas am Versende zu schreiben,
nicht artes im Reim auf etas, das Gedicht besteht aus 4 Paaren
von Caudati. Dieser Reim etas ... metas auch in Nr. 262, 5.
318, 3—4. 366, 21. ovans. 367, 31. complens. 8 l. centuplicei.
372, 3, 11. Sis memor illarum. 377, 2, 4 l. spectoso. — 11 l. ast.
Auffallend ist 1, 4 superno mit kurzem o, ebenso aber auch
376, 10 Weomado. 462b l. tempore degens. 535, 2, 1 l. Claret
182 K. Strecker
opus domino. 550, 7 (S. 260) reddere vota. 579, 3 1. Adstruæere.
586, 4 doch wohl Ornantur ? 586, 6 I. aptantur. 619, 3 l. immensıs.
623, 4 conquesacravit oder conquesecravit mit Tmesis. Nr. 4
S.3 war statt Durandus vielmehr Isidor, Etym. 7, 5, 10ff.
heranzuziehen. ustas ist nicht der Genetiv, abhängig von media-
tor, sondern Acc. Plur. prospice terrigenas usias (Wesen). So
schon P. E. Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige in
Bildern ihrer Zeit, 1, 1928, S. 199. Nr. 28, 2 domini. 3 Komma
hinter constat fort. 7 Coeperit ut. 33, 1 1. carcere, so auch in der
Wiederholung Nr. 80, 1. V. 4 verstehe ich nicht, cunctis (ohne
Reim) ist wohl verdorben. 100 Ein Stein in Ebersmünster im
Unterelsaß hatte 2 Inschriften: 1. in circumferentia lapidis,
2. in medio lapidis. Die letztere läßt sich verhältnismäßig leicht
und sicher herstellen (bei Kraus ist sie nicht lesbar):
Tertia lux Februr quod vidit ad ista pararı,
En Iudithae corpus conditur hoc tumulo,
Pro cuius requie legis haec quicunque precare,
Ui quae sperabat gaudia percipiat.
Schwieriger sind die beiden Zeilen, die auf der ctrcum-
ferentia. stehen: |
Matris Adelgaudi patris hic vocem degaudı
Quam pro me tibi dat: meritis in pace quiescat.
Adelgaudus war der Sohn der Judith, der Tochter der Schwe-
ster Herzog Rudolfs von Schwaben, darum wurde er von
Heinrich IV. schlecht behandelt, wie die Hs. mitteilt!9. Wie
sind die beiden Verse zu verstehen? Wer wird mit tibt angeredet ?
Ich denke, es muß deus sein, deus audi in degaud« verdorben.
Aber wer ist Subjekt zu dat?
119, 11. tria dona. 135, 2 meritis: I. mentis. 4 opus: l. opes.
140, 4 spernens, elegit pauperiem. 146, 4 anglis; die Änderung
von similis in simul würde einen falschen Vers ergeben. 12 ab.
16 regum. 17 dignanter. 20 exto. 23 Der Text bei Eccard ist
besser. 190, 3 paret. 201 virtute sequaces. 208 1. Hec, rogo, qui
cernant, Eberhardo gaudia poscant. 210 II 2 Die vorgeschlagene
Ergänzung divina clementia motus ist wertlos. 218 steht auch
im Vindobonensis 3381 = V. 2 h«c lateat V. 8 sita: fixa V. hoc:
19 Vgl. Meyer v. Knonau, Jahrb. d. d. R. u. Heinrich IV., Bd. 3, S. 634
M. G. SS. 23, 444.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 783
hw V. 4 suum: sacrum V. opus: onus V. 9 richulfi V. 219 auch
im Vindob. 3381. 1 pronus qui V. 8 ovans V. 10 urbe V. 11 me-
hori V. 18 semper letus V. 295, 4 doch wohl in domino gaudens.
16 l. cor elevatur. 300, 11 l. tota. 306, 1 Gens subiecta parem te
sentiat, effera grandem. Es ist ein Elfenbeinstab, der diese In-
schrift trägt. Kraus bemerkt dazu: ‘in Zeile 1 ist ohne Zweifel
zu lesen efferat.' Das Gegenteil ist richtig: ein unterwürfiges Volk
soll dich als gleich, als einen, der sich ihm gleichstellt, ein re-
bellisches als erhaben, überlegen kennen lernen. 321, 13 Pes.
26 necis. 822, 5 ceu. 327 S. 160, 2 fundaverunt, dahinter Inter-
punktion, wáhrend der Punkt hinter monumentum zu tilgen ist.
V. 4 Punkt hinter idem. 6 l. alter fuerat Machabaeus. V. Tf.
hinter opinor und aevum ein Komma. 328, 4 wohl norma statt
forma. 6 archimandrite Abl. 7 et: 1. est. 8 plenis oder plenam?
In seinen Horae Belgicae, Bonner Jahrb. 50/51, 1871, 200ff.,
hat F. X. Kraus aus dem Codex 2164 von Mons (17. Jh. = M)
einige Inschriften mitgeteilt, die teilweise auch sonst überliefert
sind und natürlich erst, wenn sie mit der sonstigen Überlieferung
zusammengestellt werden, rechten Wert bekommen. Leider
gibt er teilweise nur Exzerpte. So druckt er S. 202 (IV 118)
von dem Epitaph des Gervilius nur das Initium Patrius affectus
und verweist im übrigen auf Joannis, Rer. Mogunt. 2, 170. Dort
findet man freilich nichts, wohl aber steht der Epitaph Joann. 1,
170 (= Jo) zusammen mit Quid latcus faciet. Dieselben beiden
Stücke finden wir bei F. Zorn, Wormser Chronik, herausgegeben
von W. Arnold in den Zusátzen von F. B. v. Flersheim 1857,
S.19 und in dem bekannten Würzburger Codex theol. fol.
187 — W, W1 =W fol. 141v und W2 — W f. 207 v. (Über den
Codex vgl. vor allem A. G’sell NA 43, 1922, 29ff.) 1, 1 facet:
faceret WI. pergit Jo, pergat Z WI W2.1, 3 gladio non: non
gladio WI. 2, 2 quam fehlt WI. tuli: lus W2. 2, 4 At: nunc W2.
S. 200 hat Kraus aus M 1, 31 den Epitaph des Amandus von
Worms. Derselbe steht auch bei Zorn S. 20 und W 1 = f. 187,
W2 = f. 307. V. 3 deum Z WI W2, deus M. V. 4 Et: Is W.
Aus derselben Hs. M (III 205) gibt er S. 202 die häufiger über-
lieferten Epitaphien der Stifter von Brauweiler Erenfrid (Ezzo)
11 Es ist offenbar der in dem Catal. des manuscr. de la biblioth. de la ville de
Mons par P. Faider 1931 als Nr. 590 erscheinende, obwohl der Druck von Kraus
nicht erwähnt wird.
184 K. Strecker
und Mathilde, (Brunwilre, Mathildis abbatissae). Von dem
letzteren, Inc. Otto avus teilt er nur V. 2 mit, der öfter anders
überliefert wird: Sub queis (I) Roma potens su(b) didit omne
nocens. Von der Grabschrift des Erenfrid stehen in der Hs.
von Mons nur die 4 ersten Verse, die Kraus abdruckt, frei-
lich ohne Nutzen. V.3 hat M factum ... factum. 4 et haec
subitt.
Ebenfalls S. 202 druckt er aus M (VI 269) die Grabschrift
des Ebbo von Worms, der 1115 gestorben ist, Überschrift:
Wormatiae. Inc. Laurishami consors. Sie findet sich auch in Z
(Zorns Wormser Chronik) S. 50 und W (Würzburger Hs. Theol.
fol. 187) f. 218r. Zorn sagt: 'Nach ihm (sc. Bisch. Dietmar)
kommt Ebbo, ein Mónch zu Lorch und darnach Canonicus zu
Goslar, stirbt anno 1115. In dem Nachtrage von Flórsheim
findet sich dann die Grabschrift. Ich teile auch hier nur die
Abweichungen mit. 1 Laurtsham*: Lorchorum Z, Lurchorum W.
Ebbo: Eppo W, ebenso V.6. 2 Goslartas W, Goslarıus Z, Ger-
tariae M. 3 die Variante flevit zu demit nur in M. 4 que fehlt W.
6 credite fratri M, credite patri Z, patri fehlt W. Recht interessant
ist schließlich eine Grabschrift aus derselben Hs, V 126, Kraus
S. 202.
Laureshami.
D. O. M.
Qui vestes geritis pretiosas, qui sine fine
Non profecturos accumulatts opes,
Discite quam paucis opibus post funera sitis
Contents, saccus sufficit atque lapis.
Conradus rex tacet hic, qui tot castella, tot urbes
Possedit, tumulo clauditur iste brevi.
Obut 1152. XV Kal. Marin non sine veneni suspicione.
Kraus bemerkt: Conrad III., F 15. Februar 1152, starb
aber zu Bamberg, wo er auch begraben wurde. Es muB also ein
Irrtum vorliegen.' Der Irrtum wird aufgelöst durch A. de Terre-
basse, Inscriptions de Vienne. II. Inscr. du moyen áge 1, 1875,
150, danach sind es die ersten 6 Zeilen der Grabschrift König
Conrads von Burgund, der am 19. Oktober 998 starb und in
Saint-André-le-Bas in Vienne bestattet wurde. (Also die Über-
schrift Laureshami ist ebenfalls ein Irrtum.) Warum die sechs
letzten Zeilen fortgelassen worden sind, wissen wir nicht. Im
Kritisches zu mittellateinischen Texten 185
12. Jahrhundert ist die Inschrift in Vienne erneuert worden,
und dabei sind dem Steinmetzen erhebliche Fehler unterlaufen,
so daB ein Vers in der jetzt vorliegenden Fassung ganz unver-
stándlich ist, und der Sammler hat diese letzten Verse fort-
gelassen. Dann würde diese Abschrift erst nach dem 12. Jahr-
hundert von der restaurierten Platte genommen sein. Anderer-
seits bietet diese Platte V. 3 Dicite, die Hs. von Mons das rich-
tige Discite. Wenn dies nicht eine ziemlich nahe liegende Korrek-
tur des Abschreibers ist, die Verwechslung ist ja unendlich
häufig, müßte man hier schließen, daB die Abschrift von der
ursprünglichen Platte, also vor dem 12. Jahrhundert, genommen
wurde; ich glaube es nicht. V. 5 der den Vers zerstórende Zu-
satz rex fehlt auf dem Stein. S. 201 druckt Kraus aus M (II 62)
die Grabschrift des Balderich von Utrecht ab. Wattenbach
GQ 1,7 420 wiederholt sie und stellt die falschen Änderungen
von Kraus richtig.
Die Ausgaben der zahlreichen une en Miniaturen-
hss. des MA. erregen zuweilen den Eindruck, daß der Bearbeiter
sich nur für die kunstgeschichtliche Seite seiner Aufgabe in-
teressiert und die philologische wenig beachtet hat. Es wäre
zweifellos richtiger, wenn es nötig ist, einen Philologen heran-
zuziehen, als solche unglaublichen Texte zu drucken, wie man
sie zuweilen findet. H. Ehl, Die ottonische Kólner Buchmalerei,
1922 S.49 gibt bei der Beschreibung des Lektionars des Erz-
bischofs Evergerus (985—999), Köln, Dombibl. Fol.143 die
Inschrift der bekannten Miniatur (f. 3“) so wieder: Neæus
alme pater vitiorum solve potenter | Paulo deo lectus pariter tu
solve reatus | Consequor ut veniam Christi regnante. episcope
superarem. Das verstehe, wer kann. Es ist zu lesen Paule statt
Paulo, Consequar statt Consequor, Christo donante supernam
statt Christt regnante episcope superarem. Dabei ist die Schrift
durchaus lesbar, so steht die Inschrift auch bei A. Goldsch midt,
Die deutsche Buchmalerei o. J. (1928) zu Taf. 80 richtig,
Consequor ist wohl nur ein Versehen. Ebenso bei J. Prochno,
Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buch-
malerei I (800—1100) 1929 S. 58, doch hat dieser dolante ge-
lesen; das erste n ist etwas undeutlich, aber doch gar nicht zu
bezweifeln. All diese Fehler waren unnótig, richtig steht der
Text schon bei Jaffé und Wattenbach im Katalog. — E. F.
Hist. Vierteljahrschrift Bd. 28, Heft 4. 50
786 K. Strecker
Bange, Eine bayerische Malerschule des XI. und XII. Jahrhun-
derts o. J. (1923) S.115 druckt ein Hexameterpaar aus clm 23343:
Istum messyae librum sanctaeque martae in
Libro vitae quo scriptus stt sine fine.
Die Verse sind nur zu lesen, wenn man in an die Spitze des
zweiten Verses setzt. — Das erwáhnte Buch von Prochno gibt
ebenfalls zu einigen Bemerkungen Anlaß. Namentlich S. 66, Die
Miniatur in der Hs. Brüssel, Kgl. Bibl. II 2570 (früher Chelten-
ham 12349), 10. Jh.!* Die Hs. enthält Werke des Gregor v. Na-
zianz. Christus thront in der Mandorla, rechts von ihm Johannes
d. T., links die hl. Jungfrau. Gregor, flankiert von St. Petrus und
St. Paulus und vielen andern Heiligen, reicht mit der Linken den
Codex zu Christus hinauf, während er mit der Rechten den linken
Arm des Schreibers faßt. Über Christus steht Qui dator es vite,
scriptori crimina parce, und etwas darunter zwischen den beiden
Erzengeln Angelus huic Gabrihel subvenit et Raphahel. Auf der
Mandorla die zwei Hexameter:
Celum perpetuo virtutis ure guberno,
Atque meis pedibus 1ncurvat pondera mundus.
Die beiden Figuren rechts und links (Maria und Johannes)
weisen jede auf einen Spruch Huic miserere deus, so daß man
einen Pentameter hat: Hutc miserere deus, huic miserere deus,
dazu der Vers Poscit cum matre hoc baptista tuus. Möglich wären
auch die Verse 80 zu lesen:
Poscit cum matre Huic miserere deus
Hoc baptista tuus Huic misere deus’,
aber weniger wahrscheinlich. Rechts und links oberhalb der
Schar der Heiligen auch wieder Huic miserere deus (rechts Huic
schlecht zu lesen, Prochno druckt miserere ev deus), dazu links
der Pentameter Supplicat hinc precibus, hoc cuncti petimus. Das
Subjekt zu Supplicat ist nicht klar. Hinter dem Rücken des
Schreibers schließlich unterhalb des Buches: Aufer htnc scelera
quot sunt hic grammata scripta, darunter Postulat extensis Grego-
rius brachiis.
Sonst habe ich bei Prochno nur kleinere Versehen bemerkt:
S. 4 doch wohl in hunc mundum? S. 9 benedicit. S. 27 rusticus
poaela. S.49 pietate, pietati metrisch falsch und auch nicht über-
12 Die falschen Lesungen wiederhole ich nicht.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 187
liefert. S. 78, 5 1. genetrici, nachher dempserit illum. S. 89, 2
l. renouauerat. S. 90, 1 I. serenus. S.90, 3 Juditte? S.90, 8 sit vita.
In dem erwähnten Buche von Goldschmidt, 2 zu Taf. 53
Bild 2 ist zu lesen tuvenili flore. Zu 54 Bild 2 muß es heißen Utdom:-
num credas, hominem tu Didyme palpas. Zu 72, 6 l. praesignando.
Stephan Beissel, Des hl. Bernward Evangelienbuch, Hildes-
heim 1894, druckt S. 22 Verse aus dem Wyschrader Evangelien-
buch zu Prag, die verschiedene Fehler enthalten: 3, 2 1. vero
tudice. 3, 8 ist Manasses oder Manases geschrieben? Das letztere
wäre prosodisch richtiger. 4, 8 inficit ist unmöglich, wohl infit?
17 B qui cor lavat. 18 B deus ut. 24, 2 surrexisse deum. 25, 2
super astra. 26, 4 der Vers ist unmöglich, wie überhaupt noch
mancher bedenklich ist; die Hs. muß noch einmal verglichen
werden. Auch aus dem Evangelienbuche des Prager Domes
druckt Beissel a. a. O. S. 28 Verse mit manchen Fehlern ab, doch
übergehe ich dies, weil er sie in seiner Geschichte der Evangelien-
bücher korrigiert hat.
Recht merkwürdige Verse bietet auch G. Swarzenski, die
Regensburger Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, 1901,
namentlich in seinem Bericht über den Utakodex. Ich habe
diesen gesehen und konnte die Irrtümer feststellen. Das S. 101
gedruckte Gedicht wiederhole ich ohne die Irrtümer:
A Christi genealogia En menti contemplabili
Formans ceu doctrinalia Carmen occurrit domini,
Punctum in archipatribus Si primos fide typice,
Locat priscis temporibus Ftongum ponas melodię.
B Dehinc per ducum stemmata Sed rudis dudum populus
Ducta Judae prosapia, Cum se subegit ducibus
Secundus honor apicis Dum affectat mosaica
Ut telon paret grammatis Ceu psallit diastemata.
C Sed David per imperia Sub regibus prophetica
Dum crevit stirps magnifica, Dum concordant praeconia,
Quasi per sceptri gloriam Per plura testimonia
Exarat epiphaniam. Clara sonant sistemata.
D Tandem propago caelica Concentus huius carminis
Per virginis vitalia Concluditur ab angelis,
Dum carnem veram suscipit, Cum nato canunt domino:
Cybi ceu formam subrigit. Doxa en ipsistis theo.
50*
188 K. Strecker
4,4 d.i. % vwioros De. Swarzenski druckt en ipsis tistheo.
— Ich trage noch einige Korrekturen zu dieser Hs. nach.
Swarzenski S. 91 (Mitte) l. perpetuo. S. 94 ecce: l. Arce und einige
Zeilen weiter l. quia Christum. S. 95 links unten caelica spes
titulum secreta deique profundum. S. 99 rectriæ agnarum Christus
te conloquor agnus ... quo se mec pietas penitus nec norma recla-
met. S. 100 unten racionis dogmate veloz.
Zum Schluß zu Swarzenski S. 85. Dort sind aus clm 14176
f. 19" und 20' zwei Verse gedruckt:
labro hoc Guntpoldus fuerat se poscere suetus,
Bubeda adhuc teneris viguit sed et acribus annis.
Swarzenski fügt hinzu: über den Ort Bubeda bedaure ich,
keine Auskunft geben zu kónnen.' Zum Glück gibt der clm 18628
f. 94" diese Auskunft: in dem Gedicht Postquam nocturnas,
das Dümmler, Anz. f. K. d. d. Vorz. 23, 1876, S. 238, gedruckt
hat, steht der Vers: Bubeda, quid dormis? Jam 1am rogo surgito
dulcis. bupaeda, bupaes, Bovneıs vgl. Mart. Capella 1 § 31,
9 8 908.
Vita Frodoberti.
Der Kodex, der das historisch nicht wertlose Gedicht er-
halten hat, ist verloren. Mabillon verzichtete leider darauf, es
in seine AASS. aufzunehmen, die Bollandisten haben es dann
nach einer Abschrift, die F. Chifflet genommen hatte, = A,
in ihren Analecta 5, 1886, 59ff. abgedruckt, = E. Einige Stellen
bedürfen wohl noch der Erläuterung, und ich trage nach, was
mir auffiel, als ich mich kürzlich wieder mit der Vita beschäftigen
mußte. Leider sind die Verse nicht durchgezáhlt. S. 59, 11 Ex
infelici cursu feliciter acto: l. Exin felici cursu f. a. Der Vers-
anfang Exin auch S. 61, 22. 65, 3. S. 60, 2f. vetustas (Nomi-
nativ) aedes consumpsit. Alias manus hinc loca struxit, et licet
has alto satagat fundare locello ... E drucken alta manus hinc
loca struxit, wobei loca wohl synonym mit aedes sein soll; aber
dann schwebt das folgende has in der Luft, alas muB also
bleiben. Eine andere Frage ist, was mit loca anzufangen ist,
ich verstehe es vorläufig nicht. Die Änderung alto in alto ist
wohl nötig, denn die Erzählung sagt uns ja, daß die Kirche an
derselben Stelle, nicht an einer anderen, errichtet wird. Freilich
erscheint alto recht überflüssig. S. 60, 12 ist sacrato more sácrata
richtig? S. 60, 18f. pignus herile illud, quod studeat ... Der
Kritisches zu mittellateinischen Texten 189
Satz ist final; ich schlage vor, das Komma hinter herile zu setzen
und fortzufahren: llud quo ... studeat. S. 60, 27 Exanımes
ardet: die Änderung der Herausgeber in Ex animo cadere ist nicht
sehr überzeugend, aber sicherlich wird der oder ein ähnlicher
Sinn hier gefordert. S. 61, 1 Quo nach a tempore liegt ja sehr
nahe, aber es fragt sich immerhin, ob das überlieferte Quod
nicht zu halten ist, es wird nicht selten im Sinne von Seit'
gebraucht. Einige Beispiele Poetae 4, 1036 zu V. 8. S. 61, 26 J.
iamiam. S. 61, 28 Irradiant: Levison S. S. rer. Mer. 5, 71 korri-
giert wohl mit Recht stillschweigend Irrad:at. S. 62, 12 hinter
ipsa Komma, hinter S. 62, 13 hora vielleicht Punkt, doch kann
V. 14 noch dazu gezogen werden. S. 62, 15 1. anglorum. S. 62,171.
fratris (nur Druckfehler?). S. 62, 30 voluit ist unmöglich, 1.
volvit von volvere. S. 62, 35f. I. stupefecit ipsum, nam
S. 63, 17ff. Schwierige Konstruktion, ich schreibe Tum für
Cum. S. 64, 13 Christi verstehe ich nicht und würde Christus
vorziehen. S. 64, 21 et culto: E vermuten excluso; vielleicht
expulso. S. 64, 26f. thesaurum patris geht wohl nicht. Punkt
hinter ostensum, patris von aures abhängig. S. 65, 21 potis est
ist überliefert und doch auch wohl möglich, die Änderung es
unnötig. S. 66, 24 l. curvos crypiae arcus (nicht artus).
Anschließend füge ich auch die Zitate bei, die ich mir nere
habe: S. 60, 2: Aen. 8, 415. 12, 686. S. 60, 14 n. 62, 27: Aen.
4, 859. S. 60, 17 Sedul. 4, 32. S. 60, 21: Aen. 1, 26. S. 61, 2:
Arator 1, 164. S. 61, 7 Arator 1, 610. S. 62, 5f. Arator 1, 1022f.
vgl. Herigers Vita Ursmari, N. A. 50, 147. S. 62, 18 Juvenc. 8, 1.
S. 62, 19 Aen. 4, 183. S. 62, 20 Aen. 3, 669. 6, 547. S. 62, 22
Arator 1, 54. S. 62, 25 Aen. 4, 129. S. 62, 26 Aen. 4, 6. S. 62, 33.
S. 68, 20. S. 64, 35. S. 65, 35: vgl. Arator 1, 815. S. 63, 5 Aen.
2, 774. 8, 48. S. 63, 9 Aen. 1, 29. S. 63, 10 Juvenc. 1, 326. S. 63,
30 vgl. Georg. 4, 548. S. 64, 1 coeli convexa (61, 8) Aen. 5,
461. S. 64, 28 Aen. 1, 93. S. 64, 30 Aen. 3, 588. S. 65, 7 signa
virtutum Sedul. 1, 95. S. 65, 9 Aen. 2, 9. 4, 81. S. 65, 18 Georg.
1, 78. Aen. 5, 836. Über das Verhältnis dieses Gedichtes zu den
Vitae Ursmari und Landelini habe ich N. A. 50, 148ff. gehandelt.
Uffings Vita Liudgeri.
Um das Jahr 1000 lebte im Kloster Werden ein Ordensmit-
gled, das an der Bearbeitung hagiographischer Stoffe Freude
490 K. Strecker
hatte, Uffing. Er ist vor allem bekannt als Vf. einer Vita der
hl.Ida. Von ihm haben wir auch ein kurzes hexametrisches
(xedicht von 63 Versen über den hl. Liudger, den Stifter seines
klosters. Es wurde 1515 gedruckt von dem Werdener Joannes
Cincinnius am Schlusse seiner Prosavita divi Liudgeri, dessen
Druck von Leibniz mit einigen Änderungen wiederholt wurde,
SS. rer. Brunsv. 3, 604f. In den AASS. Boll. Mart. III, 1865,
656 wurde es unter Heranziehung des Cincinnius aus der ältesten
Hs. (in Kassel) gedruckt. Zum letzten Mal erfuhr es eine Bearbei-
tung von Wilh. Diekamp in seiner Sammlung der Vitae s. Liud-
geri 1881 S. 223ff., leider so, daß ich dringende Veranlassung
habe, in kritischen Betrachtungen zu mittellateinischen Texten
von seiner Ausgabe zu sprechen. So druckt er V. 51f.:
O pater alme! tuts narratis summa decoris
Jam modo, iam meas tuaearis undique caulas etc.
Diekamp sagt S. LXXXVIII, die Hexameter des Gedichtes
seien nicht leicht verständlich, und in der Tat dürfte er die
eben abgedruckten kaum verstanden haben. Aber die beiden
Hss. C und M, von denen ich sofort sprechen werde, haben
nicht narratıs, sondern mratts, d. i. nostratis, Gen. von nostras.
Wenn Diekamp es nicht lesen konnte, so hatte er doch Vorgänger,
und er gibt sogar im Apparat an, daB die Bollandisten und Cin-
cinnius nostratis haben. Dann ist alles in Ordnung, nur weiß man
mit dem Dativ (Abl) tws nichts anzufangen, solange man
wie Diekamp interpungiert. tuis ist zu alme zu ziehen und die
Interpunktion, Komma, hinter tuts zu setzen, und so hat
auch die älteste Hs. C, während die zweite, M, und Cinc. über-
haupt nicht interpungieren. — V. 54 steht bei Diekamp ullum
ab agnis im Apparat 'ullum Boll. Leibn.', das ist unverständlich,
aber in den Hss. ist ullam überliefert, es sollte also offenbar
in V. 54 ullam gedruckt werden. Ein Druckfehler ist es wohl
auch, wenn man V. 34 morte statt des überlieferten marte liest.
Dagegen bin ich nicht ganz sicher, ob auch V. 61 ein Druck-
fehler steht.
Hoc auferre velit, iustisque sidera pandit.
Der Vers ist falsch, ist aber auch nicht so überliefert; die
älteste Hs. C hat zustis q (mit dem Kürzungsstrich für ur), die
andere, M, zustıs q, und Cinc. noch deutlicher tustis qui.
Kritisches zu mittellateinischen Texten 191
Ich habe das Gedicht vor allem herangezogen, weil sich
eine schwer zu entscheidende Frage daran knüpft. Es ist in
der Hauptsache in zwei Hss. überliefert: 1) C — Kassel, Cod.
theol. 4? Nr. 29, über die Diekamp S. LVIIIf. handelt, wohl
nicht viel nach 1000 geschrieben. Daraus abgeschrieben die Hs.
Msc. II 12 des Staatsarchivs in Münster aus der Kindlinger-
schen Sammlung, 17. Jahrhundert, kritisch für unser Gedicht
wertlos. Daneben haben wir 2) M = Münster, Staatsarchiv,
Mscr. 136 der Bibliothek des Altertumsvereins, um 1500 ge-
schrieben. Diese Hs. legte Cincinnius zugrunde. Diekamp
S. LX XXVIIIf. sagt, M. sei nach einer von C abweichenden,
damals noch in Werden befindlichen Vorlage abgeschrieben.
Das ist natürlich kritisch wichtig und muß sorgfältig geprüft
werden. Ich war dank dem gütigen Entgegenkommen der be-
treffenden Bibliotheks- bzw. Archivverwaltungen in der Lage,
beide Hss. nebeneinander zu benutzen. Dadurch ergaben sich
recht interessante Beobachtungen, die Diekamp offenbar ent-
gangen sind, denn sein Apparat ist hóchst lückenhaft und für
diese Frage gar nicht zu gebrauchen. So zu V. 29. Er lautete
in C ursprünglich: tyrannos Principes sederum iunzit ferus ille
chelydrus. Der Vers ist weder zu lesen noch zu verstehen, und
schon früh, m. E. von der Hand des Schreibers, korrigiert
worden, und das Wort sieht nun so aus: Principes (was das
heißen soll, ist eine Frage für sich, wahrscheinlich wird mit
den Bollandisten Principiis zu korrigieren sein). Man ist über-
rascht, wenn man in die Hs. M sieht, denn dort steht der Un-
sinn principes, von Cincinnius wiederholt. Kann man das
anders erklären als durch die Annahme, daß M aus C abgeschrie-
ben wurde? — Ein ähnlicher Fall:
35 Arıda de vero qui moz rigat ora docendo
Aeternam in vitam puteo salientis aquai!*,
So in C. In M für aqua: das unsinnige aquelt, so auch Cincin-
nius, während Leibniz aqualı daraus machte. Sieht man das
Wort aqua: in C flüchtig an, so kann man es leicht in aquel
13 Von Diek. in etwas peinlicher Weise miBverstanden, er erklärt das Salz-
wasser ist das Taufwasser'. Dabei hat er auch übersehen, daß es ein wörtliches und
sogar recht bekanntes Zitat aus Ev. Joh. 4, 14 ist.
792 K. Strecker
verlesen; das a ist etwas merkwürdig, der Bauch ungewöhnlich
rund und dick, ein wenig ausgelaufen, dabei der senkrechte
Schaft länger als sonst. So liegt die Erklärung sehr nahe, daß
aqueli in M aus dem aqua: in C verlesen ist. Dazu stimmt nun
aber ein dritter Fall nicht: 45 Intonsı montes (Zitat aus Vergil,
Ecl. 5, 63) in C, dafür in M In tonu m. Das Wort ist in C ganz
deutlich zu lesen; kann daraus dieser Unsinn entstehen? Nun
ist freilich in C das s etwas stark über das schließende i hinüber-
gebogen, so kann immerhin si in % verlesen sein, es ist möglich,
wenn auch nicht wahrscheinlich — jedenfalls würde man auf
Grund dieser Lesart wohl noch nicht die Unabhängigkeit der
Hs. M von C behaupten dürfen, aber es kommt ein zweiter,
recht erschwerender Umstand dazu: C hat in den 63 Versen
nicht weniger als 7 falsche Initialen, wie Condere statt Pondere,
Effingi statt Uffingi, Nam statt Jam u. a. a., während sie in M
richtig sind. Wollte man also behaupten, daB M direkt aus C
abgeschrieben wäre, so müßte man sich damit abfinden, daß
derselbe Mann, der skrupellos principies oder aqueli schrieb,
andererseits doch so philologisch geschult gewesen sein müßte,
daß er die 7 falschen Initialen aus Konjektur richtig änderte.
Also direkte Abschrift liegt sicherlich nicht vor, zumal M in
Werden geschrieben ist, während C im 12. und im 17. Jahrhun-
dert in Abdinghof lag, mithin auch wohl in der Zwischenzeit
nicht in Werden war. Also daß M auf C zurückgeht, ist mir
sehr wahrscheinlich, aber direkter Zhg. kann nicht vorliegen,
in den 5—6 Jahrhunderten von 1000 bis 1500—1600 wird der
Text eben verschiedene Abschriften und Korrekturen über
sich haben ergehen lassen müssen. — Und dann noch ein
merkwürdiger Umstand: M und C haben auch gemein-
sam falsche Initialen, was bisher nicht beachtet worden
ist: 30 Contulit ulterius ... colla omnisator ... multarter in
C M ist unverständlich, obwohl es noch nie beanstandet
worden ist; es muß Non tulit heißen. 37 Nunc quoque signorum
iuvat efficientia gibt ebenfalls keinen Sinn, man muß Hunc
lesen. Wer also die Herkunft von M aus C leugnet, muß eine
Herkunft der beiden Überlieferungen aus einer Quelle an-
nehmen, die auch schon einige falsche Initialen hatte, die an-
deren wären dann in C hinzugekommen, was nicht sehr wahr-
Scheinlich ist. |
Kritisches zu mittellateinischen Texten 798
Felix Saxonia.
Wie geringe Sorgfalt W. Diekamp gelegentlich beim Abdruck
aus Hss. aufwandte, sieht man ebenfalls bei seiner Wiedergabe
von Feliz Sazonıa aus der Berliner Hs. in der Zs. f. vaterländ.
Gesch. u. Altertumsk. 44, 1886, S. 79. Wie mir scheint, verdient
das kleine Gedicht, das zwar oft, aber in den verschiedensten
Fassungen gedruckt ist, noch eine Behandlung, darum stelle
ich zusammen, was mir von der Überlieferung bekannt ge-
worden ist.
1. B. Die sámtlichen 21 unten wiedergegebenen Verse
stehen nur in der Hs. Berolin. Theol. quart. 141 s. 15 u. 16,
f. 123', vgl. Archiv 8, 846f. Daraus sehr unzuverlässig gedruckt
von Diekamp a. a. O. Die falschen Lesungen notiere ich nicht.
2. E — Dietrich Engelhus, Chronicon bei Leibniz, SS. rer.
Brunsv. 2 S. 1066f. Er hat V. 1—11, woran sich V. 21 schließt.
Vorher aber zitiert Leibniz auf derselben Seite noch V. 14—17,
es fehlen V. 12—13 und 18—20.
8. L! — Joh. Letzner, Corbeische Chronica 1590 Kapitel 19.
Es fehlen V. 17, 18.
4. L? = Joh. Letzner, Chron. Lodowici Pii 1604f. 51".
Es fehlen ebenfalls V. 17, 18.
5. Br = Chr. Brower, Sidera 1616. Schol. in vitam Mein-
werci S. 105 hat 1—5, 10—11. Ebenso Brower, Scholia in vi-
tam s. M. recognita ab A. Overham 1681, S. 212.
6. H. Meibom, Rerum Germanic. Tomi III Bd. 1, 1688,
S. 789, daraus AASS. Boll. Juni III S. 515 mit einigen Ab-
weichungen.
7. S = N.Schaten, Annales Paderbornenses 1, 1693, 110
und zweite Auflage 1774 S. 73, hat nur V. 1—11. |
8. Ebenfalls 11 Verse hatte die Fassung, die auf einem ver-
lorenen Blatt stand, das 1904 in Köln versteigert worden ist,
vgl. P. Lehmann, Corveyer Studien, München 1919, S. 60. Das
Blatt war nach dem Auktionskatalog aus dem 12. Jahrhundert,
das Gedicht ist aber spáter eingetragen, denn die V. 12 genannte
Chronica Martini ist Martinus Polonus, vgl. AASS. a. a. O.,
Lehmann a. a. O. S. 62.
Fehz Saxonia, gaude per pignora sacra
Viti ditata, que dat tibi Francia grata.
794 K. Strecker: Kritisches zu mittellateinischen Texten
Abbas Warinus regali semine primus
Francorum natus Viti venerabile corpus
6 Transtulit a Francis Corbeiam ceu patet istis.
Romano fretus ptus imperio Ludowicus
Hoc, Hildewine, donat te patre favente,
Quando Dionysii rexisti limina claustri,
Quo tam praeclaro gaudebas ante patrono.
10 Eætunc translatum furt a te, Francia, sacram
Imperium, divi quo nunc gaudent Alamannı.
Cronica Martini dant hec veteres quoque libri,
Ez qua re sanctum veneremur carmine Vitum.
Octingentenus dum vicenusque secundus
15 Annus erat Christi, claustro fundum dedit isti
Filius iste pius magni Karoli Ludowicus,
Uzor Juditta cui votum prestat ad ista,
Quorum dat natus liciatum rer Ludowicus.
Quos septenne puer foveas sancta prece semper
20 Ei benefactores omnesque tibi famulantes.
Care puer Vite, nos duc ad pascua vite.
1. Saxonia: Westphalia Br. — gaudet Br. — de pignore Br. —
sacra BEL'!L?, cara Meib. S, nata Br. 2. dicata Li, dotata Br.
tibi: sibi Br. 3. stemmate E. — regalis L?. — Primis AS. 5. Trans-
fert E. — e Meib. LI L? S, a B Br E. — patet: paret Br. — istic
B E, istis LI L? Meib. S, «n istis Br. (Sidera, nicht ed. Overham).
6—9 fehlen Br. 6. Lodewicus, Lodovicus, Ludovuicus, Ludu-
wicus die Hss. und Drucke. 7. Hildewine EL!, Hildewino B,
Hilduwine Meib. S, Hilduino L?. 8. Dyonisii B, Dionisii L?. —
texisti S. — lumina LI L?. 9. Quod ... gaudebat AS. 10. futt:
est Br. sacrum. Meib. LI. 11. Imperium domini de quo gaudent
A. Br., domini las auch Diekamp, aber es sind 4 Schäfte hinter
D. Alimam B. — Hinter 11 hat E den Vers Care puer rite duc
nos ad pascua vitae, vgl. zu 21. 12.13 fehlen E. 14. dum: dm B,
domini druckt Diekamp. 15. claustrum LI LI. — iste LI Li.
16. Ludowicus: vgl. zu V. 6. 17. nur in BE. cw B, bene E.
18. nur in B. 19. Quas L! L?. foveas: fovens Meib., aber foveas
AASS. 21. Care puer B. E vgl. zu 11. Conserves Meib. LI Li.
Vite: vitae L? duc nos Meib. LI L? (E), nos duc B. pascua B L
L? (E), pabula Meib.
195
Die Bauernbefreiung und die Ablósung des Ober-
eigentums — eine Befreiung der Herren?
Von
Annmarie Wald.
Aufklärung, moderne Staatsidee und französische Revo-
lution sind die geistigen Urheber der Stein-Hardenbergischen
Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einen wichtigen Be-
standteil dieses Reformwerkes bildet die sogenannte Bauernbe-
freiung, wichtig in bezug auf das Ziel, das sie sich steckte, die
Beweggründe der Beteiligten, Durchführung und Erfolg.
Das Ziel der Befreiung war die Aufhebung der persónlichen
Hörigkeit oder Guts-(Erb-) Untertänigkeit, ein Problem des
öffentlichen Rechts, die Beseitigung der bäuerlichen Leistungs-
pflichten (Frondienste) und die Verwandlung der ganz verschie-
denartigen Besitzrechte der Bauern in freies Eigentum samt Ab-
lösung der auf ihren Gütern ruhenden Reallasten — dies letz-
teres alles auf dem Gebiete des Privatrechts liegende Aufgaben.
Hier interessiert ausschließlich die Verbesserung des bäuerlichen
Besitzrechts oder die Ablósung des gutsherrlichen Obereigen-
tums. Das Besitzrecht war sehr oft auBerordentlich schlecht.
Während der Bauer hier und da seinen Hof zu Eigentum, im
Erbpacht- oder Erbzinsverhältnis besaß, waren die herrschaft-
lichen Bauern in Preußen meist zu „lassitischem“ Besitz ange-
siedelt, und zwar in Altvorpommern zu erblichem, in Hinter-
pommern und OstpreuBen aber zu unerblichem, d. h. ihr Grund-
stück war ihnen nur zu Kultivierung und Benutzung gegen ge-
wisse dem Eigentümer vorbehaltene Vorteile eingeräumt; sie
standen sich kaum besser als die reinen Zeitpächter in Neuvor-
pommern. Schlechtes Besitzrecht und schwere Fronen gingen
796 Annmarie Wald
Hand in Hand, besonders bei der slawischen Bevölkerung des
Ostens!.
Die Wissenschaft hat sich mit diesen eigentümlichen Besitz-
verhältnissen eingehend beschäftigt und für die Scheidung von
Ober- und Untereigentum zwei Theorien aufgestellt. Die eine An-
sicht hált nur den Obereigentümer für den wirklichen Eigen-
tümer, während der báuerliche Untereigentümer nur ein, wenn
auch ausgedehntes, Nutzungsrecht besitze. Diese Auffassung
findet ihre Stütze in der Rechtsstellung der Beteiligten: an den
Herrn fállt vermóge des wahren Eigentums das Gut zurück,
wenn die Familie des Untereigentümers ausstirbt (Heimfall-
recht). Auch kann er gewöhnlich vindizieren, wenn das Anwesen
ohne seine Einwilligung veräußert wird. Der Untereigentümer
dagegen besitzt das Recht zu ausschließlicher Nutzung, hat aber
auch alle ordentlichen und außerordentlichen Lasten der Sache
zu tragen. Diese Rechtssätze werden übrigens zuerst in den Ko-
difikationen der Aufklärungszeit anerkannt, im bayerischen und
preußischen (Teil I Titel 18) Landrecht und im Code Napoléon“.
Die unteren Gerichte stellten sich auf den soeben gekennzeich-
neten Standpunkt, ebenso zahlreiche, meist ältere Schriftsteller
wie Vangerow?, Platner“, Gustav Hartmann’, Randa®, Heusler’,
Huber, Stobbe? und Oertmann!”, ferner das Reichsgericht, das
die Rechtslage an dem Beispiel des Erbpachtverhältnisses er-
1 Gg. Fr. Knapp, Art. ,,Bauernbefreiung. I. Die Bauernbefreiung in den öst-
lichen Provinzen des preußischen Staats“, HWB. St W. 2. Aufl. 1899, Bd. 2, S. 843ff.
3 Oertmann, Bayerisches Landesprivatrecht in „Das Bürgerliche Recht des
Deutschen Reiches und PreuBens" von Heinrich Dernburg, Ergünzungsband 1,
1903, S. 314.
3 Lehrbuch der Pandekten, 7. Aufl. Bd. 1, 1863, S. 560.
* Sachenrecht mit besonderer Rücksicht auf das frühere Kurfürstentum Hessen,
1876, S. 23.
5 Rechte an eigener Sache. Untersuchungen zur Lehre vom Eigentumsrecht,
Iherings Jahrb. Bd. 17, S. 81, 1879.
* Das Eigentumsrecht nach ósterr. Rechte mit Berücksichtigung des gemeinen
Rechts und der neueren Gesetzbücher, erste Hälfte 1884, S. 17.
7 Institutionen des deutschen Privatrechts Bd. 1, Systematisches Hdbch. der
deutschen Rechtswissenschaft 2. Teil, Bd. 2a, 1885, S. 288. |
3 System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts Bd. 4, 1893, S. 692.
* Handbuch des deutschen Privatrechts, neu bearbeitet von H. O. Lehmann,
Bd. 2, Hlbbd. 1, 3. Aufl. 1896, S. 280.
10 g. o. Note 2, S. 316.
Die Bauernbefreiung u. d. Ablósung d. Obereigentums — e. Befreiung d.Herren? 797
órtert!!, Selbst verständlich haben auch die adeligen Grund-
herren energisch an dieser Meinung festgehalten: Eine Ver-
sammlung von Gutsherren begründete ihre einstimmige Ab-
lehnung der Eigentumsverleihung an die Bauern bezeichnender-
weise damit, diese sei ein Eingriff in das Privateigentum, denn
es gehe damit das Recht verloren, „den NieBbraucher wegen
grober Exzesse zu exmittieren“ 12. Dagegen räumten die andern
oberen Gerichte und neuere Autoren dem Untereigentümer eine
einflußreichere Stellung ein. Sein Recht ist nach ihnen kein ein-
faches dingliches Recht an fremder Sache, sondern ein nutzbares
Eigentum, eine eigentumsmäßige Herrschaft!?, So Bernatzik'4,
wohl auch Gerber!5, — Beide Ansichten enthalten einen richtigen
Kern; die ältere trifft für den Anfang der Entwicklung durchaus
zu; im Laufe der Zeit aber, unter dem Einfluß individualistischer
Strómungen, ausgehend von der Wiedererweckung des rómi-
schen Rechts, erwies sich das Nutzungsverháltnis und die tat-
sächliche Gewalt als stärker denn das Obereigentum und ist
schließlich, nachdem es diesem zunächst die Wage gehalten,
zum vollständigen Eigentum geworden, während das Ober-
eigentum seinerseits in die Rolle des ius in re aliena zurückge-
drängt wurde (Reallasten). Im Grund aber läßt sich die wirt-
schaftliche Seite dieser Besitzverhältnisse durch unsere Theorien
gar nicht deutlich genug charakterisieren: Während Eigentümer
und dinglich Berechtigter häufig entgegengesetzte Interessen
vertreten, decken sich die des Ober- und Untereigentümers nahe-
zu vollständig!®. Otto Gierke beschreibt diese Interessenver-
kettung folgendermaßen!”: „Weil das Wesen des germanischen
Eigens nicht in der abstrakten Beziehung auf eine Person, son-
dern in der Zusammenfassung aller denkbaren Herrschaftsbe-
fugnisse zu einem Ganzen lag, dessen Rechtscharakter alle seine
11 Entscheid. in Zivilsachen Bd. 18 Nr. 52, S. 252ff. (254).
13 Steffens, Hardenberg und die stándische Opposition 1810/11, Veróff. d.
Vereins f. Geschichte der Mark Brandenburg, 1907, S. 113.
13 Vgl. Platner ob. Note 4. |
14 Kritische Studien über den Begriff der jur. Person und die juristische Per-
sönlichkeit der Behörden insbesondere, Arch. f. öff. Recht Bd. 5, S. 288f. Anm.
281, 1890. | Ä
15 System des deutschen Privatrechts, 17. Aufl. von K. Cosack, 1895, S. 128f.
16 Bernatzik, s. o. Note 14.
17 Das deutsche Genossenschaftsrecht Bd. 2, 1873, S. 138.
798 Annmarie Wald
einzelnen Bestandteile bestimmen helfen: so fehlte es an dem
Gegensatz des Eigentums und der Rechte an fremden Sachen.
Vielmehr schien soweit, als ein Grundstück tatsächlich mehr-
facher Herrschaft unterworfen sein konnte, dieselbe Sache auch
rechtlich das gleiche unmittelbare Objekt mehrfacher Befugnisse
zu sein. Es gab kein Sachenrecht, das andere Sachenrechte aus-
zuschließen hätte.“ Trotzdem hat die Lehre vom Ober- und
Untereigentum, abgesehen davon, daß es sich um einen festen
Sprachgebrauch handelt, einen praktischen Sinn für die Be-
leuchtung des Rechtsverháltnisses der Beteiligten zum Gut, wie
sie auch durchaus nicht einem MiBverstándnis der Glossatoren
entsprang, sondern altdeutsche Volksanschauungen wiedergibt.
Es bedarf nur nicht der Annahme einer Teilung des Eigentums
in Proprietäts- und Nutzungsrechte, wie sie seitens der Wissen-
schaft um das Jahr 1800 erfolgt und spáter mit Recht verworfen
worden ist.
Von den Triebkráften, die zu der umwálzenden Erscheinung
der Bauernbefreiung, dieser Umschichtung eines großen Teils
der ländlichen Besitzwerte, führten, seien zunächst die aus der
betriebswirtschaftlichen Sphäre emporsteigenden erwähnt. Wir
erinnern uns, daß die Bauernbefreiung zeitlich mit dem er-
wachenden Kapitalismus zusammenfällt; so nimmt auch Som-
bart!? an, daß vornehmlich die kapitalistischen Interessen die
Ursachen der Befreiung gewesen sind. Die landwirtschaftliche
Betriebsweise erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
einen gewaltigen Aufschwung“: das System der Dreifelder-
wirtschaft wurde von dem der Koppel- und Schlagwirtschaft
oder auch einer Art der Wechselwirtschaft abgelöst, der Futter-
bau eingeführt und dadurch ausgedehntere Viehzucht ermóg-
licht und vieles mehr. Die verbesserte Technik stieß sich am
Flurzwang, die Leistungen der Fronbauern wurden im Ver-
hältnis zu dem Interesse an der Ertragssteigerung mehr und
mehr unzureichend, also unwirtschaftlich, die bäuerliche Eigen-
wirtschaft selbst war ungeregelt, denn der Bauer wurde häufig
18 Vgl. den Ausdruck „onderhave“ im altfriesischen Recht, Heck, Die alt-
friesische Gerichtsverfassung, 1894, S. 105 Anm. 8.
19 Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrh. und im Anfang des 20. Jahr-
hunderts, 6. Aufl., 1923, S. 67.
% Vgl. die Agrargeschichte.
Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 799
unvorhergesehen von seiner Arbeit abgerufen — kurz die Er-
kenntnis vom Wert der freien Arbeit gewann immer mehr an
Boden. Nachdem die Vorteile intensiver Bewirtschaftung er-
probt worden waren, war man geneigt, die alte Agrarverfassung
zum Opfer zu bringen und auf den gezwungenen Dienst für den
Grundherrn zu verzichten. Danebenher ging die Entwicklung
zum Großgrundbesitz in Ostdeutschland, der den vom Staat ge-
botenen ,,Bauernschutz" als lästige Fessel empfand“. Als
das staatliche Befreiungswerk einsetzte, war die alte Gutsver-
fassung bereits in der Auflösung begriffen; zahlreiche Herr-
schaften arbeiteten schon mit Tagelóhnern und eigenen Ge-
spannen; die gesetzliche Abschaffung der Fron beschleunigte
nur die Entwicklung und bestätigte sie**. Ein wichtiger Faktor
ist ferner die Zerrüttung des Wohlstandes bei Bauern und Herren
infolge der langjährigen Kriege, die teilweise das flache Land
selbst in Mitleidenschaft zogen; sie verlangte gebieterisch eine
Änderung der bestehenden Verhältnisse, deren Auswirkung
unten noch zu schildern sein wird.
Der Gedanke an den Einfluß der Kriegsläufte verweist schon
auf das lebendige Interesse des Staates selbst am Bauerntum.
Er mußte seine wachsende Bevölkerung ernähren, er zog die
Bauern wieder zum Kriegsdienst heran, sein gesteigerter Geld-
bedarf wurde hauptsächlich vom Bauernstand gedeckt, bis all-
mählich auch der Adel zur Steuerzahlung verpflichtet wurde.
Somit hatte die Regierung allen Grund, die Leistungsfähigkeit
der Bauernstellen zu stärken und der Ausbeutung bäuerlicher
Wirtschaftskraft durch den Grundherrn entgegenzuarbeiten.
Sie nahm gewissermaßen eine Doppelstellung ein, indem sie
einerseits die Bauern gegen völlige Herabdrückung zu schützen,
andererseits aber auch dem adeligen Grundherrn seine Vor-
machtstellung zu erhalten suchte. In bezug auf die Staats- oder
Domänenbauern, d. h. die ländlichen Siedler auf staatlichem
Grund und Boden, handelte der Staat als Grundherr nicht
wesentlich anders als die adeligen Privatbesitzer: auch er schritt
aus denselben in den unhaltbar gewordenen Verhältnissen gründen-
den Erwägungen zu einer allmählichen Auflockerung und schließ-
11 Skalweit, Gutsherrschaft und Landarbeiter in Ostdeutschland, Schmollers
Jahrb. Jg. 35, S. 1353, 1911.
33 Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 1931, Bd. 1, S. 328.
800 Annmarie Wald
lich zur endgültigen Beseitigung des alten Bundes. Die Herren selbst
widersetzten sich als Anhänger des bestehenden Regimes an sich
allen Neuerungen, die die leitenden Staatsmänner und ihre in
der Königsberger Schule und in den Manchesterideen herange-
bildeten Mitarbeiter planten. Allein die Zeugnisse sind doch
zahlreich, nach denen gerade auch der Adel die Aufhebung der
patriarchalischen Zustände auf dem Lande begrüßte, und zwar
natürlich in seinem eigenen Interesse. Dieses galt zunächst der
Vermehrung des gutsherrlichen Landbesitzes; ein Motiv war der
Landhunger?. Der Bauernschutz (Grundsatz: Bauernland muß
Bauernland bleiben), d. h. der Zwang, die lassitischen Bauern
nicht zu „legen“, nicht von der Scholle zu vertreiben und dem
ungewissen Schicksal unter dem stádtischen Armeleutevolk preis-
zugeben, —vielmehr aufgehende Bauernhófestets mit neuen Land-
wirten zu besetzen, war den Grundherren ein Dorn im Auge;
viel lieber hátten sie die betreffenden Stellen zu ihrem Vorwerks-
land geschlagen, besonders wenn der Krieg den Hof verwüstet
hatte, und in Eigenbewirtschaftung übernommen. Der Kauf-
preis dafür in Gestalt der Aufhebung der Erbuntertänigkeit er-
schien ihnen aus den unten zu erórternden Gründen als nicht
allzu hoch. Bezeichnend, daB da, wo der Bauernschutz nicht
durchgeführt war, wie in Ostpreußen, der Widerstand gegen die
Bauernbefreiung besonders stark gewesen ist**. Diesen Bestre-
bungen kam der ,,manchesterlich freihändlerische Doktrinaris-
mus“, wie Schmoller® sich ausdrückt, eines der Reformer,
Schoens, entgegen: er sah in der Freiheit des Adels, seine
Bauern zu legen, einen Fortschritt, denn er erwartete davon die
Beseitigung der deutschen Kleinbauern und ihre teilweise Er-
33 Vgl. hierzu Gg. Fr. Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Land-
arbeiter in den älteren Teilen Preußens, 2. Aufl., Bd. 1, Ausgewählte Werke Bd. 2,
1927, S. 135ff. Im Folgenden wird häufig auf dieses Werk verwiesen, das in bezug
auf Darstellung und Deutung der sozialpolitischen Verhältnisse der damaligen Zeit
immer noch unübertroffen dasteht. Auf die Bemängelungen Schmollers, s. u. Note 25,
S. 646, und Guradzes, s. u. Note 27, kann nicht eingegangen werden, da dies bei
dem Ausschnitt aus der Fülle des Materials, der hier gegeben wird, nicht erfor-
derlich ist.
x Vel. etwa Knapp s. o. Note 23, S. 172f.
3 Der Kampf des preußischen Königtums um die Erhaltung des Bauernstandes,
Schmollers Jahrb. Jg. 12, S. 649f, 1888.
26 Knapp 8. o. Note 23, S. 132.
Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums —e. Befreiung d. Herren? 801
Die Verbindung dieses Gedankens mit dem Interesse der Guts-
besitzer wirkte sich später denn auch verhängnisvoll genug aus.
Die Stimme Guradzes?, der wegen des Umstands, daß damals
noch im deutschen Osten sehr viel unbebautes Land vorhanden
war, das sich zu Äckern eignete, den Gutsbesitzern das Interesse
am Verschwinden des Bauernstandes abspricht, scheint mir des-
halb nicht sonderlich ins Gewicht zu fallen, weil auch er dieses
Interesse wenigstens für die Fälle zugibt, in denen der Gutsherr
das Land selbst bewirtschaften wollte; und dies muß sehr häufig
vorgekommen sein, zumal das làndliche Proletariat bereits in
der Bildung begriffen war und die nótigen Arbeitskráfte als
Ersatz für die Fronbauern liefern konnte. Eine Ausnahme
machte nur Schlesien; dort waren die Güter stark verschuldet,
Untertänigkeit und Frondienste stellten einen guten Teil ihres
Wertes dar, Zuwachs an Land galt daher als ‚ein Uebel“ ?. Die
Grenze für die VergróBerungssucht bildete nur das dem Guts-
herrn in verhältnismäßig geringem Umfang zur Verfügung ste-
hende Kapital“.
Der entscheidende Beweggrund für das Entgegenkommen
einsichtiger Grundbesitzer in der Frage der Bauernbefreiung
war aber ihr Wunsch, sich selbst von den Verpflichtungen, die
ihnen gegenüber ihren abhängigen Bauern oblagen, auch einer
Art „Wohlfahrtslasten“, zu befreien. Das Treueverhältnis zwi-
schen Herr und Hintersassen, ein Überrest aus dem mittelalter-
lichen Recht, hatte die Korrespektivität der beiderseitigen
Leistungen zur notwendigen Voraussetzung: dem ,,Arbeits-
zwang“ der Bauern stand der ,,Versorgungszwang'' der Herren
gegenüber“. Im Anfang hielten sich die wirtschaftlichen Kräfte
?' Der Bauer in Posen. Beiträge zur Geschichte der rechtlichen und wirtschaft-
lichen Hebung des Bauernstandes der jetzigen Provinz Posen durch den preuBischen
Staat von 1772 bis 1805, Zeitschr. d. histor. Gesellschaft f. d. Provinz Posen, hsg.
v. Rodgero Prümero Jg. 13, S. 275ff., 1898.
39 Ziekursch, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertus-
burger Frieden bis zum AbschluB der Bauernbefreiung, Darstellungen und Quellen
zur schlesischen Geschichte, hsg. v. Verein f. Gesch. Schlesiens Bd. 20, S. 327f., 1915.
2 Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795—1815), Monogra-
phien zur Weltgeschichte, hsg. v. Ed. Heyck, Bd. 25, 1913, S. 92, berichtet von einem
Schriftsteller aus dem Jahr 1812: „Hätten sie nur noch mehr Kapital gehabt, so
würden sich die größeren Güter schnell zu unfórmlichen Massen gehäuft und die
achtbare Klasse der kleinen Ackerbürger schon verschlungen haben".
2 Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit, 1891, S. 59.
Hist. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 51
802 Annmarie Wald
die Wage. Der Gutsherr war der wirtschaftliche Machthaber,
weil er das Hauptproduktionsmittel der damaligen Zeit, den
Grund und Boden, kraft seines Obereigentums in Anspruch
nahm und den Besitz des Bauern nur als gegen Dienst und Zins
geliehen betrachtete. Es entsprach aber seinen eigenen Zwecken,
den Untertan im gesicherten GenuB eines so eintráglichen Kapi-
tals zu sehen, da8 dieser Fron- und Kriegsdienstpflicht erfüllen
konnte. Dafür übernahm er gern die Fürsorge in Notfällen.
Diese Wechselwirkung der beiderseitigen Rechte und Pflichten
war aber allmáhlich aus dem Gleichgewicht gekommen, und
zwar hatten sich die Pflichten auf der Seite der Herren erhalten,
wührend ihre Rechte sich fast verflüchtigten. Umgekehrt war
der wirtschaftliche Wert der Fronden und Zinsen zurückge-
gangen, während der Bauer nach wie vor auf seiner Stelle saß.
Wiewohl er als Nutzeigentümer in einem Punkt zum Entgelt für
das commodum auch das onus zu tragen hatte, nämlich die
öffentlichen Lasten, die auf seinem Grundstück ruhten, war das
gestórte Mißverhältnis damit nicht ausgeglichen. Wir haben hier
ein Beispiel — vgl. die Forschungen Erich Jungs aus Philosophie
des Eigentums — für die übermáBige Belastung des juristischen
Eigentums, deren sich der Tráger durch Aufgabe des Rechtes
selbst zu entledigen sucht, wobei ihm allerdings vielerlei andere
Bestrebungen zu Hilfe gekommen sind.
Wie sich die Verhältnisse kurz vor dem Eingreifen der Ge-
setzgebung zugespitzt hatten, soll nun des näheren dargelegt
werden. Es wird sich zeigen, daß die Bedeutung des Obereigen-
tums mit Ausnahme sehr weniger Fälle völlig illusorisch und rein
ideell war und nur noch die Grundlage für lästige Verbindlich-
keiten bildete?!,
Der Gutsherr war zunáchst verpflichtet, seinen Hintersassen
bei Unglücksfällen Unterstützung zu gewähren®®,. Dies folgt aus
der mit dem Grundsatz des Bauernschutzes zusammenhängenden
Verpflichtung des Herrn zur „Konservation der Hufen“ x. Im
31 Steffens s. o. Note 12, S. 113ff. (aufgrund von Protestationen und Gut-
achten).
833 Knapp s. o. Note 23, S. 106f.
33 Hannssen, Die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Umgestaltung der
gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse überhaupt in den Herzogtümern Schleswig
und Holstein, 1861, S. 23f.
Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 803
einzelnen handelte es sich um Aufbau und Reparierung zer-
stórter Gebáude**, Ersatz der Hofwehr und des Abgangs an
Vieh, Lieferung von Saat- und Brotgetreide bei schlechter Ernte
und ebenso von Viehfutter, wenn daran Mangel entstand; auch
Vorschüsse an Geld waren nicht selten. Konnte der Bauer sich
auf der Stelle nicht mehr halten, einerlei, ob er durch üble Wirt-
schaft oder auf andere Weise zurückgekommen war, man konnte
ihm sein Gut nicht wegverkaufen und ihn selbst nicht verjagen,
er blieb vielmehr auf dem Hof hangen. Lästig war auch die
Pflicht, die Bauernhófe überhaupt besetzt zu halten, beziehungs-
weise die eingegangenen Stellen wieder zu besetzen ; damit waren
große Kosten verbunden, denn der Gutsherr mußte regelmäßig
die ganze Bauernwirtschaft mit Gebáuden, Vieh und Acker-
geräten ausstatten, „oft sogar alle Möbel und Hausgeräte bis
zum Löffel herab den anziehenden Wirten liefern“ “'; noch kost-
spieliger waren die Anstrengungen bei der Neuansetzung auf un-
kultivierten oder verwilderten Böden“. Diese Hilfeleistungen
steigerten sich naturgemäß in allgemeinen Notzeiten und im
Kriege. Die kriegerischen Verwicklungen zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts, die vor allem auch das preußische Gebiet heim-
suchten, hatten sowohl den bäuerlichen wie den gutsherr-
lichen Wohlstand zerrüttet. Viele Gutsbesitzer waren nicht im-
stande, die Bauernhöfe ihrer Güter, denen es zum Teil an Ge-
báuden und in der Regel an Inventar gebrach, wiederaufzu-
richten?”. Im Jahre 1814 sahen die in den Provinzen beschäf-
tigten Generalkommissare, die die inzwischen eingeleiteten Re-
gulierungen betrieben, in den schlimmen Wirkungen des Krieges
keinen Grund, die Regulierungen zu unterbrechen; fast nirgends
konnten die Gutsherren den Bauern die verfassungsmäßige Un-
** Knapp s. o. Note 23, S. 156 (nach Weber, Über den Zustand der Landwirt-
schaft in den preußischen Staaten und ihre Reformen, 1808).
æ Guradze s. o. Note 26, S. 275.
** Übrigens haben die bäuerlichen Wirte das ihnen gesetzlich oder vertrags-
mäßig zugestandene Recht, in Unglücksfällen oder bei Brandscháden Remissionen
an Diensten und Abgaben zu fordern, auch durch das Ablósungsgesetz vom 2. 3. 1850
nicht verloren, vgl. Lette und Rónne, Die Landes-Kultur-Gesetzgebung des Preuß.
Staates usw. in Ludwig von Rönne, Die Verfassung und Verwaltung des Preuß.
Staates usw. TI. 7 Abt. 3 Bd. 2 Halbbd. 1, 1853, S. 301.
3” Schön bei Knapp s. o. Note 26.
51*
804 Annmarie Wald
terstützung leisten*$. Kein Wunder, daß man sich von der Be-
freiung der Bauern eine Heilung der Zustände versprach und die
Rettung zu ergreifen suchte, ehe der Bauernstand wieder die
größten Einbußen erlitt.
Seit alters besaß der Bauer Anspruch auf den Bezug von
Bau- und Brennholz aus dem Gutswald. Dazu kamen andere,
unbedeutendere Waldberechtigungen, wie das Recht auf Raff-
und Leseholz und auf Waldstreu sowie Hütungsgerechtsame,
z. B. das häufig vorkommende Recht der Bauern, ihr Vieh in
den gutsherrlichen Wald zu treiben®®. Der Wald unterlag somit
gewissermaßen der Mitbenutzung durch die Bauern. Im Mittel-
alter, bei dem gewaltigen Umfang der herrschaftlichen Forsten
und dem noch unentwickelten Holzhandel, waren die Berech-
tigungen für die Waldeigentümer durchaus tragbar gewesen.
Dies änderte sich, seitdem der Holzreichtum der Wälder als be-
deutende Einnahmequelle erkannt worden und der Gesamt-
besitz der Gutsherren im Laufe der Jahrhunderte merklich zu-
rückgegangen war und trotzdem eine immer teurere Bewirt-
schaftung nötig machte. Für die württembergischen Verhält-
nisse ist bezeugt, daß gerade die Holzabgaben unter den guts-
herrlichen Gegenleistungen die wichtigste Stelle einnahmen, und
das mag für andere Landstriche und geordnete Zeitläufte eben-
falls gegolten haben. Diese Bezüge waren für die Bauern von
grobem Wert, ja — und hier zeigt sich die Untragbarkeit für den
Herrn — sie überstiegen bei den damaligen Holzpreisen hin und
wieder den Wert der Grundabgaben“. Trotzdem sicherte das
preußische Regulierungsedikt vom Jahre 1811 (830) dem Bauern,
wo es bestand, das Recht zu, Brennmaterial zu eigenem
Bedarf zu beziehen; dafür sollte er aber die Walddienste weiter
leisten. Und in Lippe war 1849 in Aussicht genommen, den
Bauern für die aufgehobenen Holzberechtigungen Forstgrund-
stücke abzutreten, eine Regelung, die dann aber nicht Gesetz
wurde“.
38 Knapp s. o. Note 23, S. 178.
*9? Knapp s. o. Note 23, S. 193.
« Werner, Die neuesten Ablösungsgesetze für das Königreich Württemberg
usw., Handausg. 1. Abt. 1850, S. 71f.
41 Wilh. Meyer, Guts- und Leibeigentum in Lippe seit Ausgang des Mittel-
alters. Ein Beitrag zur Geschichte der Grundentlastung und Bauernbefreiung,
Halle- Wittenberg. Diss. 1896, S. 38.
Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 805
Ferner war der Gutsherr dem Staat gegenüber verpflichtet,
im Notfall für die Steuerleistungen“ und für die Entrichtung
anderer Öffentlicher Abgaben seiner Bauern einzutreten®. War
der Bauer nicht leistungsfähig, so wartete der Fiskus nicht, bis
er sich wieder erholt hatte, sondern überließ es dem Gutsherrn,
sich später schadlos zu halten, nachdem er die Steuer vorläufig
für den Bauer bezahlt hatte. Wie oft mag der Herr da wieder
zu seinem Gelde gekommen sein?“ In diesen Zusammenhang
gehórt auch die Verpflichtung des Gutsherrn zur Übernahme der
Deichlasten für unvermögende Hintersassen$5, Zur Veranschau-
lichung diene ein Abschnitt aus der Glogauer Kammerverord-
nung an die Landräte der an der Oder liegenden Kreise vom
22. Juli 1786**: „Da durch die Durchbrüche der Oder viele
Grundstücke unwiederbringlich versandet, oder auf andere
Weise gänzlich ruiniert wären und verschiedene Untertanen
hierdurch außer Nahrungsstand gesetzt worden, so daß sie die
auf ihren Gütern haftende Kontribution nicht bezahlen könnten,
und da in der Folge hieraus zum großen Nachteil der Dominien
Wüstungen entstehen müßten, deren Retablissement ihnen ob-
liegen würde ..., so sei kein anderes Mittel übrig, als daß die
Grundherrschaften dergleichen verunglückte Untertanen durch
Anweisung von anderem zu Ackerbau und Wiesewachs taug-
lichem Lande von Dominialgrundstücken im ene e
zu erhalten suchten
Die Fürsorgepflicht der Gutsherren ging aber noch viel
weiter und umfaßte alle die Wohlfahrtseinrichtungen, soweit
man sie damals schon kannte, die im Lauf der folgenden Jahr-
zehnte vom Staat übernommen worden sind, z. B. Armen- und
43 Grundsteuern, soweit das an sich steuerpflichtige Bauernland infolge von
Besitzverschiebungen noch dazu gehalten war.
Knapp s. o. Note 23, S. 11.
“ v. Brünneck über Knapp, Die Bauernbefreiung usw., Conrads Jahrb. f.
Nationalökonomie u. Stat., N. F. Bd. 16 (ganze Reihe Bd. 50), S. 376f., 1888,
betont allerdings, diese Verpflichtung sei nur hóchst selten einmal praktisch ge-
worden; meist habe es sich um zeitweilige Vorschüsse gehandelt, und fast immer
sei es gelungen, diese wieder beizutreiben.
4 v. Bülow und Hagemann, Praktische Erörterungen aus allen Teilen der
Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 2, 2. Aufl., 1807, S. 4.
** Krug, Geschichte der staatswirtschaftlichen Gesetzgebung im preußischen
Staate, von den ältesten Zeiten bis zu dem Ausbruch des Krieges von 1806, Bd. 1,
1808, S. 72f.
806 Annmarie Wald
Gesundheitspflege, Schulwesen und Wegebau. Der Gutsherr
stellte eben den in der Dorfgemeinde zusammengefaßten Dienst-
leuten gegenüber die „Obrigkeit“ mit allen ihren feudalen Rech-
ten und mit allen ihren vielfältigen sozialen Pflichten dar. Jene
durften, soweit sie den Untertan belasteten, nicht willkürlich
ausgedehnt werden, diese aber steigerten sich in dem Maß, als
die Fürsorge für die niederen Schichten der Landbevólkerung das
Gebot der Stunde wurde. Die Folge war, daB die Mittel der mit
diesen Hilfsmaßnahmen Beschwerten immer unzureichender
wurden, zumal die Zeitumstände selbst eine Umwälzung der
Landwirtschaft mit sich brachten.
Einige Beispiele aus verschiedenen deutschen Landstrichen,
vornehmlich aus den preußischen Provinzen, sollen die Lage
noch mehr verdeutlichen. So meldete nach Knapp“ im Jahr
1808 ein Herr von L. aus Westpreußen, „daß ihm auf seinen
drei Rittergütern die Bauern durch den Krieg völlig zurück-
gekommen seien; sie können nicht mehr bestehen, und er kann
ihnen nicht helfen, denn ihm selbst ist ein Vorwerk nebst sieben
Bauernhöfen abgebrannt“. — „Herr von W. hat zwei Ritter-
güter in der Neumark; von seinen Bauern haben vier schon
während des Krieges ihre Höfe verlassen; die andern zwölf
Bauern sind so entkräftet, daß unausbleiblich die meisten ihre
Wirtschaften niederlegen müssen. Jene vier ledigen Höfe hat
der Gutsherr während der Anwesenheit der französischen Trup-
pen verschenken wollen, aber niemand wollte diese annehmen
wegen der großen Lasten und der schlechten Beschaffenheit
des Landes und der Gebäude. ... Von den noch bestehenden
zwölf Bauern haben die meisten nur noch ein Pferd, zwei Ochsen
und eine Kuh oder zwei Pferde und eine Kuh; der Gutsherr
kann ihnen nicht helfen." — Die pommersche Regierung be-
richtete 1809%, daß einige Herrschaften nicht imstande waren,
ihre Hintersassen zu unterstützen, weshalb 500 Wirte ihre Höfe
verließen. — Besondere Beachtung verdient die Stellung der
niederschlesischen Dreschgärtner. Diese „sind“ eine eigentüm-
liche Art von Feldarbeitern, die, weder ganz frei, noch ganz
*? S. o. Note 23, S. 138f.
1$ Knapp s. o. Note 23, S. 197f., Anm. 2.
Bericht des Direktors des Landes-Ükonomie-Kollegiums v. Beckedorff, 1845,
Knapp s. o. Note 23, S. 216f.
Die Bauernbefreiung u. d. Ablósung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 807
dienstbar, in einem nach den Örtlichkeiten mannigfach modi-
fizierten Verhältnisse zu der Gutsherrschaft stehen. Häufig ist
dies Verháltnis für beide Teile — immer aber für die Herrschaft
und für die Wirtschaftsführung — lästig und hindernd. In
Hermsdorf (Kr. Waldenburg) gibt es 10 oder 18 solche Dresch-
gärtner. Jeder besitzt sein eigenes Haus und mehrere Morgen
Land, wohl bis zu 10 Morgen, wofür ein ganz unbedeutender
Grundzins an die Herrschaft gezahlt wird. Die ganze Dienst-
verpflichtung besteht darin, daB er 60 Schock Strohseile zu
Getreidebünden macht, wogegen er das Recht hat, ... die ganze
Getreideernte des Guts gegen die zehnte“ Garbe und den ganzen
Ausdrusch gegen den 19. Scheffel zu besorgen.“ Der Bericht-
erstatter urteilt über die Beziehung zwischen Gärtner und Herr,
offenbar sei hier die Grundherrschaft der allein verpflichtete
und belästigte Teil. Sie ist ihren Dreschern zehntpflichtig und
„bezahlt ihre Ernte und ihren Ausdrusch mit dem Zehntel alles
Strohes und mit über 159459! aller gewonnenen Körner“. In-
folge davon verliert das Gut einen groBen Teil des Strohs;
jede Verbesserung des landwirtschaftlichen Betriebs, soweit sie
mit einer Einschränkung des Kórnerbaus verbunden sein würde,
muß an dem Widerstand der Dreschgärtner scheitern; Meliora-
tionen und Neubrüche sind wegen der Abgabe des Zehnten er-
schwert. Die Ablösung war also keineswegs für die „abhängigen“
Landleute, sondern im Gegenteil für die Gutsherren ein dringen-
des Bedürfnis. — Über die Zustände im westfälischen Münster-
land äußert sich Taine®? zum Vergleich mit den feudalen Ver-
hältnissen in Frankreich: „Niemals fällt es einem ... ein, zu
remonstrieren ..., denn wenn der Herr als Familienvater ihn
schlägt, beschützt er ihn auch als Familienvater, hilft ihm im
Unglück und pflegt ihn wáhrend einer Krankheit; er gibt ihm
im Alter eine Zufluchtsstütte ..., versorgt seine Witwe, ist
mit ihm durch gemeinsame Sympathie verbunden. Der Bauer
weiß, daß der Herr ihm in allen extremen und unvorhergesehenen
Notfállen beistehen wird und ist daher weder elend noch un-
ruhig." — Für Württemberg ist eine starke Parzellierung des
% Anderwärts 13.
& ? port
53 Die Entstehung des modernen Frankreich, deutsch von L. Katscher, Bd. 1:
Das vorrevolutionäre Frankreich, 2. Aufl. (1907/08), S. 77f.
808 Annmarie Wald
Bauernlandes charakteristisch. Die Einnahmen der Gutsherren
setzten sich daher großenteils aus winzigen Beträgen zusammen;
deren Einziehung kostete Zeit und Mühe und erforderte eine
verhältnismäßig große Zahl von Verwaltungsbeamten, abgesehen
davon, daß sie vielfach gar nicht durchgeführt werden konnte“.
— Aus Schleswig-Holstein, das damals noch zu Dänemark
gehörte, sei das Beispiel von Rütschau5* herangezogen: dieses
Gut ging 1777 in den Besitz eines gewissen Schalburg über;
vorher war es mit zwei dazugehórenden Dórfern und deren
Diensten für 2900 Rthl. holstein. Kurant®® verpachtet gewesen.
Von dieser geringen Summe gingen auBer der Kontribution
von 288 Rthl. die Unterhaltungskosten für die Hof- und Dorf-
gebäude und die häufig erforderlichen Unterstützungen der
Leibeigenen mit Saat- und Brotkorn, Vieh usw. ab, so daß in
manchen Jahren die Ausgaben durch die Pachteinnahmen
nicht einmal gedeckt wurden®®. Diese Beispiele zeigen zur Ge-
nüge, daß die Verpflichtungen der Gutsherren gegenüber ihren
Hintersassen keineswegs „ mehr dem Gebiet der Moral als des
Rechts angehören“ 7, sondern einen greifbaren Inhalt hatten.
Fast ein Kuriosum ist es, daB auch beim reinen Zeitpacht-
verháltnis der gutsherrliche Volleigentümer gegenüber dem
bäuerlichen Pächter den kürzeren zog. Wegen der großen
Lasten, die auf den Äckern ruhten, meldeten sich bei Neu-
verpachtungen nie vermögliche Leute; der Gutsherr erzielte
also keine nennenswerten Einnahmen. Im Interesse der Landes-
kultur wurde von Regierungsseite beschlossen®®, auch die Pacht-
bauern zu Eigentümern zu machen, also den Gutsherren ihr
Theodor Knapp, Neue Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des
württ. Bauernstandes Bd. 1, 1919, S. 154.
5* Holstein; Hannssen s. o. Note 33, S. 809.
55 — 3480 Rthl. preuß. Kurant.
5 Daß die Verhältnisse in Frankreich ähnlich lagen, zeigt Cauwés und Gide,
Die Bauernbefreiung in Frankreich, HWBStW. Bd. 2, 2. Aufl. 1899, S. 382. Über die
irischen Zustánde (Belastung der Landlords durch die 1881 von Gladstone verwirk-
lichten „drei F“ der Pächter und Abbau der Pachtbeziehungen durch staatliche
Hilfsmittel) vgl. z. B. Kantorowicz, Der Geist der englischen Politik und das Ge-
spenst der Einkreisung Deutschlands, 1929, S. 247.
7 Art. „Gutsherrlich-bäuerliche Regulierungen“, HWB. der preuß. Verwaltung,
hsg. von v. Bitter Bd. 1, 1906, S. 756.
9 Kriegsrat Scharnweber über den Entwurf zum Regulierungsedikt von 1811
in der Versammlung der Nationalreprüsentanten, Knapp s. o. N. 23, S. 1671.
Die Bauernbefreiung u. d, Ablósung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 809
Land wegzunehmen, während diese doch grundsätzlich den
obligatorischen Vertrag hátten auflósen kónnen. Hereinspielt,
und zwar entscheidend, daB der Gutsherr auch nach Ablauf
der sechs- oder zwölfjährigen Pachtzeit über die Stellen nicht
frei verfügen durfte, sondern gezwungen war, sie stets besetzt
und in ihrer bisherigen Verfassung zu erhalten. Durch Zu-
billigung einer Entschädigung an die Eigentümer in Gestalt
der Hälfte des bisherigen Bauernlandes zu freier Verfügung
wurden die Betroffenen, zumal diese Regelung ihren Landhunger
zu stillen geeignet schien, willfáhrig gestimmt.
Lediglich um das Bild der sozialpolitischen Zustände zu
vervollständigen, sei auch auf das Spannungsverhältnis zwischen
dem preußischen Staat und seinen eigenen Bauern kurz hin-
gewiesen. Hier lagen die Dinge ganz ähnlich wie zwischen Guts-
herren und Privatbauern. Die Domänenkammern als Verwal-
tungsbehörden versprachen sich durch den Wegfall von Unter-
stützungen (Kriegsschäden!) und den Verzicht der Bauern auf
Waldberechtigungen®? Ersparnisse, beziehungsweise eine Wert-
steigerung des staatlichen Grundbesitzes — im ganzen also ein
einigermaßen vorteilhaftes Geschäft auch für den Staat! Da
es sich hier aber nicht um eine übermäßige Belastung privaten
Eigentums handelt, sondern gewissermaßen um ein staatliches
Hilfsunternehmen zugunsten eines Standes auf der Grundlage
des Gemeineigentums, erübrigt sich die eingehende Darstellung.
Dem Verantwortungsgefühl des Herrn, dem Bewußtsein,
der Vormund der Bauern zu sein, und der patriarchalisch-päda-
gogischen Behandlung der Hintersassen entsprach auf der
anderen Seite nicht Diensteifer und Strebsamkeit. Im Gegen-
teil, der fortwährende Rückhalt am Herrn machte den Bauer
unselbständig und nahm ihm den Antrieb zu eigener Verant-
wortung“; sein Erwerbsstreben wurde durch die sichere Aus-
sicht auf die gutsherrliche Unterstützung mehr gelähmt als be-
flügelt; es fehlte am Anreiz zur Verbesserung des Besitzes, denn
Diese spielten die Hauptrolle: die Bauern sollten ihre Holzbenefizien auf-
geben und fortan das Bauholz nach der Forsttaxe bezahlen (Wert des Freiholzes
1808 für den 12jährigen Durchschnitt im Königsberger Kammerdepartement
14800 Taler, im Gumbinnenschen 27000 Taler, vgl. Theodor Knapp, Gesammelte
Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte vornehmlich des deutschen Bauern-
standes, 1902).
** Knapp s. o. Note 23, S. 106.
810 Annmarie Wald
dieser ist nur von einem gesicherten und schlechthin vererblichen
Recht zu erwarten; die Dienstleistungen wurden daher wider-
willig und lássig und ohne viel Sorge für das Interesse des Herrn
vollzogen?!, Daraus erklärt sich auch die, wenigstens teilweise,
Gegnerschaft der Bauern selbst gegen das Reformwerk. Wáhrend
die Kräftigeren unter ihnen die persönliche Freiheit und den
freien Besitz eines Stück Landes als erstrebenswertes Gut an-
sahen, wollten die Schwácheren und Schwerfälligen an dem
alten Zustand festhalten. Entweder war ihnen das Einkaufsgeld
trotz niedrigster Bemessung zu hoch®®, oder sie mochten auf die
gutsherrlichen Gegenleistungen, die ihnen ein festes Brot, eine
ordentliche Wohnstätte und umfassenden Schutz, kurz eine
„Versorgung“ boten, nicht verzichten. Lieber erblicher Laß-
besitz mit allen seinen Vorteilen, dachten sie, als freies Eigentum
und eine ungewisse Zukunft, die sie womöglich dem Proletarier-
dasein auslieferte.
All dies wurde von den Gutsbesitzern in Rechnung gezogen,
und „viele begriffen‘‘, wie Ritter in der großen Stein-Biographie
sich ausdrückt®, ‚daß die Fronarbeit nur scheinbar billig, in
Wahrheit unverhältnismäßig teuer bezahlt wurde: mit der Für-
sorgepflicht des Herren für seinen Untertan, der Haus, Hof,
Herde und Ackergerät aus stumpfer Gleichgültigkeit verkommen
ließ, alle Jahre Ersatz seines Inventars brauchte und nach jeder
MiBernte oder Viehseuche dem Gutsherrn mit Schulden, Steuer-
rückständen und anderen Nöten zur Last fiel“. Sie bequemten
sich, wenn auch ungern von ihrem konservativen Standpunkt
lassend, den Reformgedanken sich zu eigen zu machen, und der
Erfolg gab ihnen recht. Ganz abgesehen davon, daß mit jeder
Etappe des staatlichen Gesetzgebungswerks® die einschlägigen
Bestimmungen immer mehr zugunsten der Gutsherren ausfielen
(vor allem bezüglich der Ersatzleistungen der Bauern), die spä-
teren Jahrzehnte brachten für den Gutsbetrieb den erhofften
Aufschwung in vollem Maße. Das pessimistische Urteil v. d. Mar-
witz’®, die Auseinandersetzung mit den Hintersassen sei zwar
1 Klagen über schlechten Zustand des Ackergeráts und der Zugtiere, Gut-
mann, Art. „Bauernbefreiung“, HWBStW. Bd. 2, 4. Aufl. 1924, S. 385.
€ Knapp s. o. Note 23, S. 106.
€ S, o. Note 22, S. 321.
“ Edikte vom 9. 10. 1807, 14. 11. 1811, Deklaration vom 29. 5. 1816.
Aus dem Nachlasse Bd. 1 Lebensbeschreibung TI. 2 „Hausbuch“, 1852, S. 451.
pw
Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 811
im allgemeinen für vermógliche Grundherren vorteilhaft ge-
wesen, aber es gebe eben selten „Vermögen, und die kleinen
Bauern machten sämtlich Bankerott ...', traf vielleicht ver-
einzelt zu. So war man im Jahr 183999 in Schlesien enttäuscht,
daß die Erfolge hinter den Erwartungen zurückgeblieben waren,
suchte die Ursache aber in den besonderen Verhältnissen der
Provinz und den niedrigen Preisen für landwirtschaftliche Er-
zeugnisse. Im ganzen hatten aber doch die Gutsherren ihren
Grundbesitz betráchtlich vergróBert, teils durch die Landentschá-
digungen der Bauern“, teils durch freihändigen Erwerb von
Bauernstellen, teils auch durch Einziehung solcher, die keinen
gesetzlichen Schutz genossen; ihnen standen ferner die not-
wendigen Arbeitskräfte zur Verfügung, die einen modernen Be-
trieb zu heben vermógen. Hier und da haben auch vielleicht
die Ablósungssummen zur Verbesserung der Wirtschaft nen-
nenswert beigetragen. Technische Reformen, Feldbereinigung,
gewerbliche Anlagen und nicht zuletzt die Gunst der Zeit für
die Ausdehnung der Landwirtschaft trugen schlieBlich noch
dazu bei, die Stellung der Gutsbesitzer zu kräftigen. Die Bauern-
befreiung kann daher ebenso eine Befreiung der Grund- und
Gutsherren® von ihren ,,hochberechtigten''*? bäuerlichen Arbeits-
kräften genannt werden. Eine rückläufige Bewegung durch-
leben wir heute: Der Großgrundbesitz war an der Grenze seiner
Leistungsfáhigkeit angelangt. Die Weltagrarkrise und die spezi-
fischen deutschen Verhältnisse erschütterten seine Rentabilität.
Die Pläne für eine ausgedehnte Ostsiedlung versuchen nun im
Verfolg einer bewußten Bevölkerungspolitik und einer Tendenz
zum Anbau veredelter Erzeugnisse das Werk der Bauern-
befreiung fortzusetzen, bedeuten aber nach ihren Motiven keine
Befreiung, sondern eine Verdrängung der letzten Grundherren
alten Stils.
* Anonymus, Einige Bemerkungen über die Entwicklung der ländlichen Ver-
hältnisse im preußischen Staate usw., Zeitschr. f. gutsherrlich-bäuerliche Verhält-
nisse usw. Bd. 1, 1839, S. 5.
7 Hierdurch erhielten die Herren ein Drittel bis die Hälfte der regulierten
Stellen als freies Eigentum, Bornhak, Die Bauernbefreiung und die Gutsherrlichkeit
in PreuBen, PreuB. Jahrb. Bd. 61, S. 284, 1888.
Fuchs, Art. „Agrargeschichte“, WB. der Volkswirtschaft, 3. Aufl. 1911, S. 36.
% Knapp s. o. Note 1 am Ende.
812
Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher
Erkenntnis im Gebiet der neuesten Zeit.
Dargestellt an der Monarchenzusammenkunft zu Racconigi,
24. Oktober 1909.
Von
Hugo Preller.
Die Frage lautet: Ist eine historisch-methodische Schulung
zu Forschung und Darstellung, wie wir sie auf dem Gebiete der
mittelalterlichen und neueren Geschichte an unseren Universi-
táten gewóhnt sind, auch auf dem Gebiete der neuesten Zeit
móglich? Die Frage hat ihren Grund in der Tradition, welche
die Schulung der jungen Historiker an den Stoffen des sogen.
Mittelalters oder auch des Altertums als das Übliche und sachlich
allein Berechtigte erscheinen läßt mit Rücksicht auf die Be-
schaffenheit des hierfür zur Verfügung stehenden Materials.
Hinzu kommen Erwägungen über den „geschichtlichen Ab-
stand'" als psychologische Voraussetzung geschichtlicher Er-
kenntnisse; ferner das verehrungswürdige Beispiel des Altmeisters
Ranke, der, ein keineswegs teilnahmsloser Zeitgenosse der kon-
servativ-liberalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts
(,,Historisch-politische Zeitschrift“ 1832—36), den Gegenstand
seiner historischen Erkenntnis wenn auch keineswegs ausschlieB-
lich, so doch ,,vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert'' wáhlte;
endlich die Gepflogenheit der Archive, kein Aktenmaterial frei-
zugeben unter einem Alter von wenigstens 80 Jahren. Alles das
hatte in derselben Richtung gewirkt, und besonders Rankes
historisches Seminar wurde der Ausgangspunkt jener Anschau-
ung, daß historisch-methodische Schulung an den Stoffen des
Mittelalters zu gewinnen sei.
Wenn während der letzten zwei Jahrzehnte hierin ein tief-
greifender Wandel unverkennbar eingetreten ist, so aus folgenden
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 813
Erfahrungen. Jeder, der zunächst Fühlung mit geschichtlichen
Stoffen aus den letzten Jahrzehnten zu gewinnen wünscht, greift
zu „Schultheß’ Europäischem Geschichtskalender', beginnend
mit 1860, oder zu „Wippermanns Deutschem Geschichtskalen-
der“ ab 1885. Er benutzt sie als ,, Quelle“. Aber woher haben hier
die einzelnen Jahrgänge ihren Stoff? Und so entsteht die Frage
nach der Zeitung als Quelle geschichtlicher Erkenntnis, eine
Frage, die darum von so grundsätzlicher Bedeutung ist, weil
hier aller „historischer Abstand“ fehlt. Unter Hinweis auf Wilh.
Mommsens Abhandlung! über „Die Zeitung als historische
Quelle“ sei gleich bemerkt, daB gerade der Fall Racconigi zu
der Frage nach mehr als einer Seite instruktives Material bietet.
Auf alle Fälle ist die Zeitung die Form, in der das Publikum —
und dazu gehört auch der Zeithistoriker — in all den Fällen
„Geschichte“ erlebt, wo es nicht mit Augen und Ohren dabei
sein kann. Wir werden sehen, wie das Tagesereignis sodann
durch die Stufe der vorsichtigen Publizistik geht, um von da
aus als bedeutend genug zur Einarbeitung in größere Zusammen-
hánge erkannt zu werden; und wie es im weiteren Erkenntnis-
prozeB in Biographien über die beteiligten Mánner, in Lebens-
erinnerungen dieser Männer selbst auftaucht, um schließlich,
in unserem Falle bei einem Zeitabstand von nur 12 Jahren, die
erste aktenmäßige Bestrahlung zu erfahren.
I. Am 25./26. Oktober erfuhr die Öffentlichkeit aus der
Tagespresse folgendes: Zar Nikolaus II. von Rußland hat dem
König Viktor Emanuel III. von Italien in dessen Schloß Rac-
conigi südlich von Turin einen Besuch abgestattet. Um dorthin
zu gelangen, ist er von seinem Schloß Livadia (Südspitze der
Krim) zu Schiff nach Odessa gefahren, von dort aber per Bahn
über Posen, Frankfurt a. M., Straßburg, Lyon, Modane und
Bardonnecchia gereist. Ankunft Sonnabend, 23. Oktober, nach-
mittags 2 Uhr 37 Min.; Abreise Montag, den 25., 3 Uhr nach-
mittags. Beide Monarchen waren von ihren Außenministern be-
gleitet. Auch die bei dem Galadiner gehaltenen Trinksprüche
wurden dem Publikum mitgeteilt. Dies der erste nackte Tat-
bestand.
1 Archiv f. Pol. u. Gesch. 1926, S. 244ff.
814 Hugo Preller
In dem politischen Teil der Trinksprüche? betonte der
König ,,die Bekräftigung der aufrichtigen Freundschaft und der
Übereinstimmung der Ziele, die Unsere Häuser, Unsere Re-
gierungen und Unsere Lànder verbindet, die Gemeinsamkeit der
Interessen“ und „das feste Vertrauen, mit Eurer Majestät zu-
sammenwirken zu können, um unsern Völkern diese Wohltat
(nämlich der ‚Erhaltung des Friedens‘) zu sichern‘. Ent-
sprechend unterstrich der Zar ‚die aufrichtige Freundschaft und
die Gemeinsamkeit der Ansichten und Interessen, die Unsere
Häuser, Unsere Regierungen und Unsere Länder verbinden‘
und sprach weiter von dem ,,festen Vertrauen, daß Unsere Re-
gierungen zielbewußt vorgehen werden, um diese Sympathien
(zwischen Unsern beiden Vólkern) zu pflegen, und daB sie durch
beharrliches und vertrauensvolles Zusammenarbeiten nicht nur
an der Annäherung zwischen Italien und Rußland, die so ganz
den beiderseitigen Interessen der beiden Länder entspricht,
sondern auch an dem Werke des allgemeinen Friedens mit-
wirken werden“.
Diese Töne konnten denjenigen, der damals die Entwick-
lung der italienisch-russischen Verhältnisse mit In-
teresse verfolgt hatte, nicht überraschen. Aus der Tages-
presse war bereits folgendes bekannt: Tittoni, seit 29. 5. 1906
zum zweiten Male italienischer Außenminister, hatte schon am
11. März des Vorjahres 1908 in öffentlicher Kammerverhandlung
betont?, die Beziehungen zu Rußland seien immer gut gewesen
„und gegenwärtig ausgezeichnet geworden‘ und hatte bald
danach in der offiziellen ‚Tribuna‘ der Öffentlichkeit mitteilen
lassen, daß zwischen dem in der Kammer vorgetragenen Bal-
kanprogramm der italienischen Regierung und einem russischen
Rundschreiben bezüglich der Balkanfrage „Übereinstimmung
herrsche“. Ferner hatte nach einer Zusammenkunft des rus-
sischen Außenministers Iswolski mit Tittoni in Desio (29/30.
Sept. 1908) die „Agenzia Stefani“ für die Öffentlichkeit den Schluß
gezogen, „daß die Beziehungen zwischen Italien und Rußland
intimer sind, als seit langer Zeit‘‘. Endlich hatte in der Kammer-
rede vom 4. Dezember Tittoni mitgeteilt: „Ich habe mich be-
müht, Rußland und Italien in nähere Beziehung zu bringen,
2 Jetzt bei SchultheB 1909, S. 529; Wippermann 1909, S. 152. 210f.
* SchultheB 1908, S. 351. 353. 368. 363f.
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 815
und die Annäherung Italiens und Rußlands ist heute eine voll-
endete Tatsache.“ Dann hatte er Italiens Stellung im europäi-
schen Bündnissystem mit den Worten umschrieben: „Das
Bündnis mit Deutschland und Ósterreich-Ungarn, dem wir treu
bleiben, darf kein Hindernis sein für unsere traditionelle Freund-
schaft mit England, für unsere erneuerte Freundschaft mit
Frankreich und für unsere jüngste Verständigung mit Ruß-
land.“
Entsprechend hatte Iswols ki, seit 12. Mai 1906 Außen-
minister des Zaren, am 17. April 1908 in der Duma erklärt“, in
der Frage der makedonischen Reformen (s. u.) habe Osterreich-
Ungarn keine Einwendungen erhoben, auch Deutschland habe
seine Zustimmung erklärt; „besonderes Entgegenkommen habe
Rußland bei Frankreich gefunden, mit dem es sich in vollster
Harmonie und herzlichen alliierten Beziehungen befinde; in
ganz kategorischer Form habe sich Italien angeschlossen“. Nach
der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-
Ungarn und nach der gleichzeitigen Unabhängigkeitserklärung
Bulgariens (Oktober 1908) sprach Iswolski in der Duma (25.
Dezember) von der ‚jüngsten Annäherung Rußlands und
Italiens" als der „natürlichen Folge gemeinsamer Interessen
beider Länder an der Wahrung des territorialen Status quo auf
dem Balkan und der politischen und ökonomischen Unabhängig-
keit der Balkanstaaten‘‘. Er messe der Annäherung an Italien
großen Wert bei und sei überzeugt, sie werde eine friedliche und
gerechte Lösung der auf der Tagesordnung stehenden wichtigen
Fragen wesentlich fördern‘‘. Hinsichtlich der durch die bosnische
Annexion entstandenen Krise betonte Iswolski, Rußland habe
hier von Anfang an „nicht nur mit Frankreich, sondern auch
mit England und Italien im Einverständnis gehandelt“.
Was konnte also der damalige Historiker hinsichtlich
des Sinnes der Zusammenkunft von Racconigi unzweifelhaft er-
kennen? 1. Daß es sich nicht nur um die reichlich späte Er-
widerung des Antrittsbesuches gehandelt hat, den Viktor
Emanuel III. 1902 in St. Petersburg abgestattet hatte; schon
die Gegenwart der beiderseitigen Außenminister unterstrich den
hochpolitischen Charakter der Zusammenkunft. 2. Daß die in
* Schultheß 1908, S. 388. 404.
816 Hugo Preller
den Trinksprüchen einmütig betonte Gleichheit der Interessen-
richtung, obwohl von einem bestimmten Objekt in beiden Reden
nicht gesprochen war, sich auf die schwebenden Balkanfragen
bezog. Dazu kam die eigenartige Reiselinie des Zaren, die offen-
kundig die ósterreichisch-ungarische Monarchie umging; es war
also 3. mit unzweifelhafter Sicherheit schon damals zu erkennen,
daB die Reise zu werten sei als eine russisch-italienische Kund-
gebung über die beiderseitige Einigkeit in Balkanfragen im
Gegensatz zum Habsburgerreich, das soeben einen großen
Schritt nach dem Balkan hin getan hatte. —
II. Die Monarchenzusammenkunft von Racconigi hat die
Presse so auffallend lebhaft und lange beschäftigt, daß die
Behandlung des Ereignisses in der Presse Gegenstand einer be-
sonderen Arbeit sein müßte. Da aber die dann in Büchern ein-
setzende Publizistik (s. u.) in erster Linie auf den Presseerör-
terungen aufbaut, so mag hier wenigstens einiges von dem
gesagt werden, was wir darüber in den späteren Aktenveröffent-
lichungen finden. Das ist methodisch unbedenklich, da ja die
in den Akten erwähnten Erörterungen doch schon damals sich
an aller Öffentlichkeit abspielten und also auch dem etwa sam-
melnden Historiker zur Verwertung zugänglich waren.
Zunächst brachte am 25. Oktober die „Agenzia Stefani“ ein
amtliches Kommuniqué5, aus dem die Welt erfuhr, daß
unter den von den beiden Außenministern besprochenen Fragen
„besonders die Balkanfragen“ erörtert seien; „es wurde fest-
gestellt, daß Italien und Rußland das gleiche Ziel verfolgen,
nämlich die Erhaltung des politischen Status quo in der Türkei
sowie die Unabhängigkeit und die normale friedliche Entwick-
lung der Balkanstaaten“. Es war also schon am Tage nach der
Zusammenkunft allgemein aus dem Inhalt der Verhandlungen
bekannt, daß und in welcher Linie ein Einvernehmen zwischen
den beiden Staaten über die akuten Balkanfragen abgeschlossen
war.
Die italienische Presse begrüßte „mit seltener Ein-
mütigkeit" die Zusammenkunft als Zeichen willkommener An-
näherung®. Selbst der sozialdemokratische „Avanti“ prophezeite
5 Jetzt abgedruckt im Gr. Pol. Bd. 27, 1, S. 407.
* Chlumecky S. 152 vom 26. Okt., veröffentlicht am 1. November.
Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 817
eine Loslösung Italiens vom Dreibunde?, und der Republikaner
Barzilai prägte die Worte, der Ruf „ Nieder mit dem Zar!“ käme
dem Ruf „Hoch Habsburg!“ gleich, und darum müsse er ver-
stummen?*. Die ,| Tribuna" teilte mit, „daß unter anderem die
innere Lage in Serbien, Albanien und Griechenland Gegenstand
des Gedankenaustausches gebildet hat““. Die unabhängige
Presse sah in dem bekundeten Einvernehmen ein weiteres Glied
in der ,,Kette der diplomatischen Versicherungen und Rückver-
sicherungen‘‘, eine Ergänzung der Tripelallianz mit dem Ziel,
Italien gegen Österreichs Übergriffe im Orient zu decken. „Die
offiziöse Presse dagegen fährt fort zu betonen, daß der Dreibund
durch die Ereignisse von Racconigi keine Beeinträchtigung er-
fahren und die letzten Tage nichts Neues gebracht haben, als
höchstens eine Freundschaft mehr unter den Völkern Europas,
einen weiteren Kitt des allgemeinen Friedens“ ““.
Auch die russische Presse knüpfte an die Begegnung
vielfach „übertriebene Schlußfolgerungen‘‘; so vor allem die
„Nowoje Wremja“. Sie benutzte schon am 25. Oktober „immer
wieder“ die Monarchenzusammenkunft „zu Angriffen gegen den
Dreibund‘‘: Italien begreife, daß mit dem Dreibund keine Ge-
scháfte mehr zu machen seien; Italiens erhöhte Rüstungen seien
bestimmt, dem Staate „bei der bevorstehenden Neugruppierung
der Mächte die freie Entschliebung über seine Bündnisbe-
ziehungen zu sichern“; es sei zu hoffen, daß die kombinierte
Kraft Rußlands, Italiens und Frankreichs „in naher Zukunft
das Zentrum durchbrechen“ werde. Von Racconigi dürfe man
„ein Balkanbündnis zwischen den slawischen Staaten und der
Türkei und den Anschluß Italiens an die Tripelentente er-
warten,
Mit der russischen war die französische Presse in der
dreibundfeindlichen Ausdeutung der Monarchenzusammenkunft
einig! Aus ihr erfuhr man zunächst, daß der Zar, obwohl er
inkognito reisen wollte, schon auf der Hinfahrt an der fran-
7 Gr. Pol. a. a. O. S. 404.
5 Chlumecky S. 152.
* Gr. Pol. S. 407.
19 Daselbst S. 409.
n Daselbst S. 413. 404; Schiemann S. 356. 371f.
12 Gr. Pol. S. 403 Abs. 2. 6.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 52
818 Hugo Preller
zösischen Grenze von Vertretern des französischen Staats-
präsidenten begrüßt und bis Belfort geleitet worden war!, und
daB unmittelbar nach Racconigi während der Rückfahrt der
Zar und Iswolski im Zuge mit dem französischen Außenminister
konferierten!& Das „Echo de Paris" nannte unumwunden als
Hauptthema der Monarchen- und Ministerbesprechungen die
Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan!5. Das
„Journal des Débats“ berichtete: „Herr Iswolski soll einen Ge-
danken aufgenommen haben, der ihm lieb ist, nämlich eine
Balkanfóderation zu konstruieren, in die auch die verjüngte
Türkei und selbst Griechenland eintreten könnten!®.‘‘ Auch sei
die in Racconigi besiegelte italienisch-russische Entente sofort
Frankreich und England mitgeteilt und in London wie in Paris
durchaus gebilligt worden; es bestehe also eine Quadrupel-
entente.
Wie in Italien, so war schon für den damaligen Beobachter
auch in der russischen, ósterreichischen, deutschen Presse ein
deutlicher Unterschied zu verfolgen zwischen der ausschwei-
fenden Tonart der unabhängigen Presse und einer auf Be-
ruhigung eingestellten Haltung der regierungsseitig beein-
flußten Presse",
III. Konnte, so lautet die Frage, der damals nach dem Tat-
sáchlichen suchende historisch interessierte Mensch aus der
Presse über den Inhalt der in Racconigi gepflogenen Besprechun-
gen mehr erfahren als aus den offiziellen Verlautbarungen
(Trinksprüchen und Kommuniqué)? Statt aller Theorien zwei
Beispiele aus der Publizistik jener Tage.
Theod. Schiemann notierte schon am 27. Oktober in
seinen die Tagesereignisse begleitenden Betrachtungen, die dann
jährlich unter dem Titel „Deutschland und die Große Politik"
erschienen: „Wir wissen von italienischer wie von russischer
Seite, daB keinerlei gegen die Stipulationen des Dreibundes
gerichtete Unternehmungen in Racconigi Boden finden kónnen
und enthalten uns deshalb jeder Besprechung der nicht be-
12 Schulth. 1909 8. 573.
M Gr. Pol. S. 404.
15 Daselbst S. 404 Abs. 5.
16 Schiemann, S. 370f.
Y Gr. Pol. 413. 414 („die verstündige Presse“), Chlum. S. 153.
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 819
glaubigten Nachrichten über das politische Resultat der Zu-
sammenkunft, die durch die Presse gehen!5." Mit anderen Wor-
ten, Schiemann, Professor in Berlin und in persónlicher Fühlung
mit dem Auswärtigen Amt, lehnt alle Andeutungen der Presse
als „unbeglaubigt‘‘ ab; für ihn ist maßgebend, was amtlich „von
italienischer wie von russischer Seite‘‘ vorliegt und was wir
unten kennen und unter die Lupe nehmen werden. Diesen
Standpunkt hat er auch noch festgehalten, als er acht Tage
später notiert: „Die Erörterungen über die Zusammenkunft in
Racconigi dauern immer noch fort und nehmen je länger desto
mehr einen Charakter an, der eine Entgegnung notwendig
macht.“ Er bespricht dann mit überlegener Ironie einen russi-
schen und einen englischen Zeitungsartikel und schreibt in der
Entgegnung: „Was in Racconigi an geheimen Abmachungen
stattgefunden hat und ob überhaupt es solche gegeben hat,
wissen wir ebensowenig wie Herr Wesselitzky (russischer Korre-
spondent der ,,Nowoje Wremja'' in London mit sehr guten Be-
ziehungen zu amtlichen Kreisen) und die Redaktion der ,,No-
woje Wremja''. Wir sehen hier ganz deutlich in den Erkenntnis-
prozeß hinein, freilich auch in seine damaligen Bedingtheiten.
Auf Grund der Presseerórterungen taucht der Gedanke an
„geheime Abmachungen‘ auf; aber er wird, weil er aus der
Presse stammt, nicht aus amtlichen Äußerungen, mit deutlichem
Einsatz eines Willensaktes zur Seite geschoben: was wir nicht
amtlich wissen, existiert nicht. — Und doch bleibt auf die Dauer
das, was immer wieder in der Presse auftaucht, nicht ganz
wirkungslos. Denn wieder sieben Tage spáter kommt Schiemann
in seinen Betrachtungen noch einmal zurück auf ,,die Abmachun-
gen von Racconigi (sic!), als deren Folgen (in Rußland) ein
Balkanbündnis zwischen den slawischen Staaten und der Türkei
und der Anschluß Italiens an die Tripelentente mit voller Be-
stimmtheit erwartet wird". Das klingt nun doch schon anders
als die souveráne Geste vom 27. Oktober; als ob er Jetzt sagen
móchte: es kónnte da doch noch einiges verborgen liegen, was
auch gegen den Dreibund seine Spitze haben kónnte.
Ganz in derselben Zeit, am 1. November 1909, notierte, sehr
viel weniger optimistisch, der Baron Leop. von Chlumecky,
13 2.2.0. S. 342. 366f. 369ff.
52*
820 Hugo Preller
Schriftleiter der „Osterreich. Rundschau“ und Gesinnungs-
genosse des Kreises von Männern, die sich im strikten Gegensatz
gegen die offizielle Politik der Wiener Hofburg, besonders des
k. u. k. Außenministers Aehrenthal im Belvedere um den Erz-
herzog-Thronfolger Franz Ferdinand gesammelt hatten, seine
Betrachtungen. Vom Auswärtigen Amt war die Presse angewie-
sen worden, der Zusammenkunft keine Bedeutung beizumessen.
Chlumecky schreibt (S. 153): „Ein Teil der österreichischen
Presse glaubt die politische Bedeutung dieses Besuches und
deren Folgen aus der Welt zu schaffen, indem sie ihr gegenüber
Vogel Strauß spielt ... Kindisch scheinen die krampfhaften
Bemühungen, welche darauf abzielen, die Ergebnisse der jüng-
sten Monarchenbegegnung als für uns höchst nebensáchlich, ja
sogar erfreulich darzustellen.. Eine Tartüfferie ist es, wenn
man dergleichen tut, hóchst befriedigt zu sein, weil auch Tit-
toni in einer offiziellen Kundgebung nicht von fixen Verträgen
oder neuen politischen Bündnissen spricht, sondern ‚bloß‘ von
der Annäherung Rußlands und der vollständigen Identität der
Interessen und Ansichten, welche zwischen den beiden Regie-
rungen bestehen... Wenn nun Tittoni offiziell konstatiert, ‚daß
Italien und Rußland auf diesem Gebiete dieselben Ziele ver-
folgen‘, so ist es klar, daß der Kurs der italienischen Balkan-
politik gegen Österreich gerichtet sein wird und daß wir einer
uns feindlichen russisch-italienischen Koalition gegenüber-
stehen.“ Mit anderen Worten, in der Ausdeutung der Monarchen-
zusammenkunft, im Suchen nach dem Wesentlichen, kam der
ósterreichische Publizist genau zu dem entgegengesetzten Er-
gebnis wie in denselben Tagen und auf Grund des gleichen
Materials der deutsche. Schrieb Chlumecky doch am 9. Novem-
ber: „Die italo-russische Annäherung hat die Balkanstaaten neu
aufgerüttelt und allerhand Hoffnungen, allerlei Begierden ge-
weckt. Viele Pláne tauchen wieder aus der Versenkung auf,
eifrig wird das Material zur Errichtung des Balkanbundes zu-
sammengetragen, dessen Baumeister Rußland und Italien werden
sollen.“
In einem Punkte stimmen allerdings beide Publizisten
schließlich doch überein, nämlich in dem Argwohn, daß hinter
dem Tage von Racconigi doch mehr steckt als was Tischreden
und amtliches Kommuniqué vermuten lassen. Aber was?
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 821
Hier wird nun der Wert der Presse als geschichtlicher Quelle
besonders deutlich. Unter dem 29. Dezember námlich notierte
Schiemann!** ein Zeugnis wesentlichen Erkenntnisfortschritts,
der, wie er selbst sagt, auf das Studium der Presse zurückgeht.
„Der Zar hat dem König Eduard in England seinen Gegen-
besuch gemacht, an dem auch der Minister des Auswärtigen
teilnahm. Es gehórt in diesen Zusammenhang, auch der Zu-
sammenkunft in Racconigi zu gedenken, bei der es dem Leiter
der russischen Politik Iswolski gelang, auch Italien für das
Balkanprogramm der Tripelentente (sic!) zu gewinnen, das offl-
ziell Erhaltung des Status quo lautete, in Wirklichkeit aber,
wie die Presse der vier Staaten zeigt, jene Balkanföderation
zum Ziele nimmt, von der wir oben geredet haben.' Hier wird
der Beweis erbracht, daB allein aus der Presse ein, wie sich
spáter ergeben wird, sehr wesentlicher Teil der Racconigi-Ver-
abredungen als geschichtliche Erkenntnis abgeleitet werden
konnte.
Auf der Grenze von der Publizistik zur Geschichtsschreibung
steht, was Egelhaaf in der „Historisch-politischen Jahres-
übersicht von 1909‘ (2. Jahrg. S. 19) schreibt. Er findet den
Reiseweg „in hohem Grade auffallend“, hebt aus den Trink-
sprüchen die „Übereinstimmung der Ziele“ und die „Gemein-
samkeit ihrer Interessen“ hervor und ergänzt sie durch eine
Äußerung Iswolskis, die der „Temps“ aufgefangen und mitge-
teilt hatte: „Die Erhaltung des bestehenden Zustandes auf dem
Balkan und die Entwicklung der Autonomie der Balkanstaaten
ist unser gemeinsames Ziel.“ Eine Äußerung übrigens, die auch
Schiemann zugänglich gewesen war, so daß von hier aus auf
die damalige deutsche Publizistik ein eigenartiges Licht fällt.
Sie war innerlich nicht frei, sondern Sprachrohr der Regierung,
wie wir gleich auch an einem andern Falle zu beobachten haben
werden. Egelhaaf versieht zum Schluß die amtliche italienische
Versicherung, daß keine Spitze gegen den Dreibund vorliege,
wenigstens mit einem recht kräftigen Fragezeichen, ohne doch
so weit zu gehen wie die „Osterreichische Rundschau“.
Auch auf der Grenze von Publizistik und Geschichte steht
das seinerzeit hoch verdienstvolle Werk des Grafen Re vent lo v
188 a. a. O. S. 438.
822 Hugo Preller
über „Deutschlands auswärtige Politik 1888—1914'', in erster
Auflage erschienen 1914 in Berlin. Hier schreibt der zum Aus-
wärtigen Amt in persönlichen Vertrauensvcerháltnissen stehende
Verfasser (S. 366): „Im Herbste 1909 machte der Zar seinen
lange aufgeschobenen Besuch in Italien und begegnete sich zu
Racconigi mit Kónig Viktor Emanuel. Anstatt den Landweg
zu wählen, wurde die viel längere Reise zu Schiff gemacht. nur
damit der Zar keinen österreichischen Boden zu betreten
brauchte‘ (ein merkwürdiger Irrtum der Verfassers, daß er den
Zaren zu Schiff, also durch das Schwarze Meer, die Meerengen
und das Ägäische Meer nach Italien kommen läßt). Wie unsicher
noch 1914 der historische Boden war, zeigen nun die nächsten
Sätze Reventlows: „Man versuchte, diese russisch-italienische
Annäherung als gegen Österreich-Ungarn gerichtet auszubeuten.
Es mag sein, daß sie auch einen solchen Einschlag, im Hinblick
auf eine künftige Balkanpolitik, enthalten hat." Das sind die-
selben Gedankengänge, die bei Schiemann zu beobachten
waren. Bezeichnend für die deutsche Mentalität jener Jahre
1913 auf 1914 ist dann der Satz, mit dem Reventlow diese Be-
trachtung schließt: „Er (dieser Einschlag) ist jedoch nicht zu
tatsächlicher Geltung gekommen“. Das schrieb Reventlow, als
bereits der Balkan durch die Verwickelungen von 1911 an zum
Hauptthema der großen Politik geworden war. Kam ihm selbst
damals gar nicht der Gedanke an die Möglichkeit eines Zu-
sammenhanges zwischen Racconigi und dem Balkanbund von
1912? Freilich müssen wir in Rechnung setzen, daß Reventlow
publizistische Zwecke verfolgte, und es ist nicht zu erkennen,
wie weit er dabe etwa unter offizieller Beeinflussung gestanden
haben mag.
IV. Wir kommen nun auf den Boden der eigentlchen Ge-
schichtsschreibung. Ein freundlicher Zufall läßt mich in
einem aus demselben Jahre wie Reventlows Aufzeichnungen
stammenden Geschichtswerk! den Vorfall behandelt finden:
„Der erste Schritt einer Aktion nach jener Richtung hin (Kon-
stantinopel mit den Meerengen die Herrschaft auf der Balkan-
halbinse') war die Zusammenkunft des Zaren mit König Viktor
18 Sturmhófel & Kämmel, Illustr. Gesch. d. neuesten Zeit, Bd. III, S. 765;
vgl. auch S. 704.
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 823
Emanuel III. von Italien n Racconigi vom 23 bis 25. Oktober
1909, wohin sich Nikolaus II. auf e nem ungeheuren Umwege
um Österreich herum durch Deutschland und Südfrankreich
begab.“ Hier wird ganz deutlich gesagt, daB es russische Balkan-
pläne sind, die den Zaren nach Racconigi führen. Leider ist nicht
zu erkennen, womit der Verfasser seine Kombination des Be-
suches mit der Balkanpolitik begründet; aber wir sahen ja
schon, daB die Tagesblätter von 1909 dazu allen Grund gaben.
Sehr vorsichtig und die Grenzen des exakten Wissens sehr
eng ziehend, drückt sich Lindner 1916 in seiner ,,Weltge-
schichte der letzten hundert Jahre (1815—1914)“ Bd. II S. 435
aus. Nachdem er den gewaltigen Umweg des Zaren betont hat,
fáhrt er fort: ,, Man weiB nicht, was die von ihren Staatsministern
begleiteten Herren besprachen, gewiß nichts Freundliches für
Österreich und die Türkei." Hier wird also auf ein Eingehen
auf den gedanklichen Inhalt der Monarchenzusammenkunft aus-
drücklich verzichtet; er gilt als nicht bekannt.
Wie sehr man noch acht Jahre nach dem Ereignis im Dunkeln
tasten zu müssen glaubte, zeigt sodann Moldens Aehrenthal-
Biographie von 1917. Hier heißt es: „Der Gedanke (Tittonis
an einen Balkanbund) dürfte auch eine Rolle bei der náchsten
Begegnung der beiden Minister gespielt haben, die im Oktober
1909 stattfand. Es scheint, daD sie sich gegenseitig auch vor
österreichisch-ungarischen Absichten auf Saloniki warnten?“
Nachdem dann der Reiseweg als die Hauptsache in den Presse-
erörterungen jener Tage besprochen ist, führt Molden noch an,
de Marini habe 1916 in der Presse mitgeteilt, in Paris von IS“
wolski erfahren zu haben, Italien sei an Rußland „durch mehr
als durch Sympathie“ gebunden. Molden fährt fort: „Aber viel
kann dahinter nicht gesteckt haben.“ Der offenbare Unterschied
Moldens in diesem Punkte von Chlumeckis Ausführungen von
1909 in der „Osterreich. Rundschau“ geht auf die grundver-
schiedene Einstellung beider Osterreicher zurück: in Moldens
Bemerkung wirkt die offizielle, von Aehrenthal 1909 selbst aus-
gegebene Parole (s.u.) nach; Chlumecki war, wie schon erwáhnt,
gegen Aehrenthal eingestellt.
So ergibt sich eine für das Werden geschichtlicher Erkennt-
nis im Gebiete der neuesten Zeit wichtige Feststellung: Die
von den amtlichen Stellen ausgegebenen Lesarten
824 Hugo Preller
stellen ein viel gróBeres Hindernis der Erkenntnis
wirklicher Sachverhalte dar als die Äußerungen der
Presse, wenn diese unabhängig ist.
Hochinteressant und lehrreich nach verschiedenen Seiten ist
nun, was Reventlowinseiner dritten Auflage über Racco-
nigi gibt; man vergleiche es mit seiner ersten Auflage (s. o.) und,
da die dritte Auflage 1916 erschienen ist, mit der gleichzeitigen
Haltung Lindners sowie derjenigen Moldens, die sogar noch
etwas später niedergeschrieben ist. „Der Zar und der König von
Italien und ihre Minister haben sich in Racconigi besonders mit
südöstlichen Fragen beschäftigt und ihre völlige Übereinstim-
mung über die Balkanangelegenheiten feststellen können. Als
möglich erscheint, daß der Bundesgenosse Deutschlands und
Österreich-Ungarns damals schon in das Vertrauen Rußlands
und damit des Dreiverbandes gezogen wurde, daß man Italien
den Inhalt der in Reval vereinbarten Beschlüsse (S. 352: ‚im
Vereine mit Frankreich und den Balkanstaaten den Vernich-
tungskrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zu führen,
sobald Rußland seine Armee reorganisiert haben würde‘;
Reval, 19. Juli 1908, König Eduard und Unterstaatssekretär
Hardinge mit Zar und Iswolski) mitteilte, und für den Fall
eines europäischen Krieges bei entsprechendem italienischen
Verhalten Beute in Aussicht stellte. Außerdem wurde man sich
in Racconigi darüber einig, daß gegen eine Besetzung von Tri-
polis durch Italien auch russischerseits nichts einzuwenden sei.
Der in diesem Falle zu erwartende Krieg mit der Türkei sollte,
wenn möglich, dazu benutzt werden, um die Türkei auch auf
dem europäischen Festlande zu schwächen. Daß Italien bei
dieser Gelegenheit versuchen werde, sich in Albanien festzu-
setzen, dürfte ebenfalls in Racconigi besprochen worden sein.
Genug, diese Zusammenkunft ist ein wichtiges Ereignis von
politischer Bedeutung gewesen und hat die Knüpfung eines
neuen Bandes zwischen Italien und dem Dreiverbande be-
deutet.“
Der große Fortschritt in der historischen Erkennt-
nis, den wir hier zwischen 1914 und 1916 beobachten, ist ein
dras tisches Beispiel für die auf diesem Gebiete schöpferische
Bedeutung des Krieges. Schon sieben Jahre nach dem Ereignis
ist die wirkliche Bedeutung der Monarchen- und Ministerbe-
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 825
sprechung zwar noch nicht in ihrem vollen Umfange, wohl aber
in wesentlichen Teilen erkannt. Leider läßt Reventlow die
Quellen seines Erkenntnisfortschrittes nicht erkennen, und es
würde Aufgabe einer eingehenden Quellenkritik sein, diese zu
ermitteln; eine Aufgabe, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen
würde. —
Am 23. November 1917 begannen die Aktenveróffentlichun-
gen der Sowjetregierung Rußlands in der ,,Iswestija''; sie wurden
als Weißbuch vom deutschen Auswärtigen Amt in Übersetzung
veröffentlicht 1918 unter dem Titel „ Dokumente aus russischen
Geheimarchiven bis 1918". Halten wir also, ehe wir den neuen
Boden betreten, an mit der Frage: Was wußte der Historiker
in Deutschland über Racconigi, ehe die großen Akten-
veröffentlichungen einsetzten?
Fest steht die Tatsache, daß zwei Monarchen, von denen der
eine, um den andern zu besuchen, einen höchst auffälligen Reise-
weg wählt, mit ihren Außenministern zu der und der Zeit an dem
und dem Ort sich treffen. Fest steht durch Kombination der
Trinksprüche und des Kommuniqués mit ministeriellen Äuße-
rungen in den Kammern der Charakter dieser Veranstaltung:
Abschluß und Besiegelung eines beiderseitigen Annäherungs-
prozesses mit der Möglichkeit einer anti-österreichischen Spitze.
Fest steht als Hauptthema der Verhandlungen die beiderseitige
Balkanpolitik: etwas widerspruchsvoll die Erhaltung des poli-
tischen Status quo, die Unabhängigkeit und normale friedliche
Entwicklung der Balkanstaaten unter dem Gesichtswinkel der
Autonomie, wobei auch Albanien genannt wird. Fest steht aber
darüber hinaus auch, daß italienische Tripolis- und russische
Meerengenpläne erörtert wurden; endlich seit 1916 durch die
Veröffentlichung des „Temps“, daß in Racconigi ein Vertrag
geschlossen wurde. Inhalt und Text des Geheimabkommens sind
aber acht Jahre nach dem Abschluß noch nicht bekannt. Man
kann indessen nicht sagen, daß es damals einem Historiker nicht
hätte möglich sein können, über Racconigi zu referieren.
V. Die Entwicklung der Erkenntnis unter Einfluß
der ersten Aktenveröffentlichungen (1919—1922).
Am 23. Februar 1919 veröffentlichte der russische Historiker
Pokrowski in Nr. 5 der „Prawda“ gelegentlich eines Aufsatzes
826 Hugo Preller
zur Kriegsschuldfrage einen Teil des Geheimvertrages von Rac-
conigi!®. Es heißt dort: „Am 24. Oktober 1909 wurde in Ver-
bindung mit dem Besuche Nikolaus’ bei Viktor Emanuel in
Racconigi ein Vertrag geschlossen. Der letzte Paragraph dieses
Vertrages lautet: ,Italien und RuBland verpflichten sich, sich
wohlwollend zu verhalten, das erstere zu den Interessen der rus-
sischen Meerengenfrage, das zweite zu den Interessen der Ita-
liener in Tripolis und in der Cyrenaika'. Was das bedeutet, wird
uns klar, wenn wir uns erinnern, daf ein Jahr nach Racconigi
der Krieg mit der Türkei um Tripolis begann.“
Àm 14. Juli 1909, drei Monate vor Racconigi, war in Deutsch-
land Bethmann Hollweg Reichskanzler geworden ; er warschon
seit 1907 mit der Stellvertretung des Reichskanzlers betraut
gewesen. Im Jahre 1919 veróffentlichte er seine ,,Betrachtun-
gen“ Bd. I; hier schreibt er (S. 76): „Zwar fehlte uns genauere
Kunde, wie weit man sich in Racconigi mit den Russen einge-
lassen hatte — erst die jüngsten bolschewistischen Veróffent-
lichungen haben uns darüber belehrt, daß sich Italien damals im
Oktober 1909 das russische Einverstándnis mit seinen tripoli-
tanischen Wünschen durch Zusagen in der Meerengenfrage ge-
sichert hatte — aber auch ohne diese positive Wissenschaft war
hinsichtlich des Maßes italienischer VerláBlichkeit Skeptizismus
geboten.“
Hier erfahren wir, daß auch in der Verschwiegenheit des
amtlichen diplomatischen Verkehrs über den wirklichen Inhalt
der Monarchenzusammenkunft genauere Kunde, wenigstens in
Berlin, damals nicht vorgelegen hat. Ferner wird hier zum ersten
Male in der geschichtlichen Literatur Deutschlands auf die rus-
sischen Aktenveröffentlichungen Bezug genommen, und da tritt
nun als wesentlich neuer Gesichtspunkt hervor, daß zwischen
den italienischen Tripoliswünschen und dem russischen Meer-
engenbegehren in Racconigi ein vertragsmäßiges Wechselver-
hältnis hergestellt wurde.
Im gleichen Jahre 1919, wie Bethmanns „Betrachtungen“,
erschienen die belgischen Zirkularberichte“ im Druck.
Hier findet sich aus einem Bericht des in Berlin akkreditierten
198 Deutsch veröffentlicht in: „Deutschland schuldig?" Deutsches Weißbuch
über die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges, Berlin 1919, S. 188ff.
% Amtliche Aktenstücke z. Gesch. d. europ. Politik 1885—1914, her. v. Bernh.
Schwertfeger, Bd. 3 für 1908—1911: Bosnische Krise, Agadir, Albanien; S. 182f.
Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 827
belgischen Barons Greindl schon vom 26. Oktober 1909 ein Aus-
zug, in welchem es heißt: „Die Annexion Bosniens und der Her-
zegowina sowie die Unzufriedenheit, die in St. Petersburg und
in Rom durch die Lósung des ósterreichisch-serbischen Kon-
fliktes verursacht wurde, haben eine Annäherung zwischen St.
Petersburg und Rom herbeigeführt und die Gemeinsamkeit der
Interessen geschaffen, von der die beiden Souveräne in ihren
Trinksprüchen gesprochen haben .... Die Entente hat sich ent-
wicklet mit der Aufgabe, sich neuen Zugriffen Österreich-Un-
garns auf der Balkanhalbinsel zu widersetzen, wo Rußland, im
fernen Osten geschlagen, von neuem seine Rolle als Protektor
der kleinen christlichen Staaten ausüben will und wo Italien
Pläne verfolgt, die zu verbergen es sich nicht immer die Mühe
genommen hat.“ Man sieht, daß dieser 1919 zugänglich gemachte
Bericht von 1909 nicht wesentlich über das schon damals aus
der Presse Erkennbare hinausgeht.
Trotzdem muß man sagen, daß das, was Egelhaaf?! 1920
über Racconigi gibt, hinter dem damals Erkennbaren erheblich
zurückbleibt. Wunderlich ist, daß er seine 1909 an den Tag ge-
legte Skepsis hinsichtlich der Rückwirkungen auf den Dreibund
jetzt nach den Erfahrungen des Weltkrieges aufgegeben hat und
die Unberührtheit des Dreibundes über 1909 hinaus noch be-
sonders unterstreicht.
Im folgenden Jahre, 1921, veröffentlichte der ehemalige
Sekretär der Kaiserlich Russischen Botschaft in London,
B. von Siebert, „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte
der Ententepolitik der Vorkriegsjahre‘‘. Hier erfahren wir neu
unter dem 3. November 1909, daß dem zwischen Italien und
Rußland in Racconigi getroffenen Abkommen England und
Frankreich beigetreten seien (S. 144. 145), unter dem 15. No-
vember, daß in London und Paris Gerüchte über schriftliche
Verpflichtungen umlaufen und dementiert werden sollen (145),
endlich, daß die türkische Regierung durch Racconigi stark be-
unruhigt worden ist und hinsichtlich der Abmachungen von
Racconigi beschwichtigt werden mußte (121).
Was 1922 Friedjung*?? bietet, stützt sich hinsichtlich des
kaiserlichen Reiseweges offenkundig auf Reventlow, hinsichtlich
31 Gesch. d. neuesten Zeit, 8. Aufl., Bd. I, S. 329.
33 Friedjung, Das Zeitalter des Imperialismus, Bd. II, S. 281f.
828 Hugo Preller
des Inhalts der Vereinbarungen auf die Aktenveróffentlichung
in „Deutschland schuldig?“ von 1919, auf denen auch Bethmann
Hollweg fuBt.
Friedjung konnte noch nicht Nutzen ziehen aus der fran-
zósischen Sammlung russischer A ktenveróffentlichun-
gen, die 1922 erschien und in der sich, nun zum ersten Male
allgemein zugänglich, der volle Wortlaut des zu Racconigi ab-
geschlossenen Geheimvertrages findet. Hier erfahren wir, daß
der von Pokrowski mitgeteilte Paragraph im Vertrage von
Racconigi noch vier Vorgänger hat. „1. Rußland und Italien
werden es sich in erster Linie angelegen sein lassen, den Status
quo auf der Balkanhalbinsel aufrechtzuerhalten. 2. Bei allen
auf dem Balkan möglichen Fällen müssen sie in der Entwicklung
der Balkanstaaten auf der Befolgung des Nationalitätenprinzips
unter Ausschluß jeder fremden Herrschaft bestehen. 3. Sie sollen
in gemeinsamen Aktionen alles zu verhindern suchen, was den
vorerwähnten Zielen entgegengesetzt ist. Unter ‚gemeinsame
Aktion‘ ist eine diplomatische Aktion zu verstehen. Jedes ander-
weitige Eingreifen in die Verhältnisse muß natürlich einer spä-
teren Verständigung vorbehalten bleiben. 4. Wenn Rußland und
Italien hinsichtlich des europäischen Ostens mit einer dritten
Macht Verträge außer den bereits bestehenden abschließen
wollen, darf jede der beiden Mächte dies nur unter gleichzeitiger
Beteiligung der andern tun.“ Hier folgt der schon seit 1919 be-
kannte Schlußparagraph (s. o.). Kurz interpretiert heißt das:
Hände weg vom Balkan für beide Teile (1), desgl. für Österreich-
Ungarn und für die Türkei (2), denn die Balkanstaaten sollen
sich selbst nach dem Nationalitätenprinzip entwickeln. Gemein-
samer diplomatischer Schutz dieses Entwicklungsprozesses; da-
her auch nur gemeinsamer etwaiger Weiterbau des Vertrags-
werkes und nur gemeinsames Handeln auch jenseits der Grenzen
der bloßen Diplomatie.
Daß in Racconigi ein schriftliches Geheimabkommen ge-
schlossen, war seit 1916 durch Schluß, seit 1919 unmittelbar
bekannt. Der Umfang seines Inhalts war um 1916 mit großer
3 Un Libre noir: Diplomatie d’avant-guerre d’après les documents des
archives russes. Novembre 1910— Juillet 1914; préface par René Marchand; Paris
o. J.; t. I, S.358ff. Deutsch in: „Der Diplomat, Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914“,
her. v. Fr. Stieve, Bd. II (1924), S. 363f.
Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 829
GewiBheit zu ermitteln, kam aber erst 1922 durch allgemeine
Zugànglichkeit des Vertragstextes auf den denkbar festesten
Boden. Zugleich sieht man, wie stark der Eindruck der ersten
Veróffentlichung Pokrowskis wirkte: Bethmann, der doch 1909
selbst in den Dingen drin stand, sieht 1919 in seinen Betrach-
tungen nur den fünften Teil des Vertrages, obwohl damals selbst
für den auBenstehenden Historiker die Bedeutung des Vertrages
für die Balkanpolitik durchaus klar war.
Unsere Untersuchung ergibt also: bereits acht Jahre
nach dem Ereignis war in einer Zeit der anerkannten Geheim-
diplomatie wesentlich durch die Presse der Inhalt der Racco-
nigi-Verhandlungen bekannt; die mit 1917 einsetzenden Akten-
veróffentlichungen liefern Bestátigungen. Es ist also durchaus
móglich, auf dem Gebiete der neuesten Geschichte nach allen
Regeln einer an weiter zurückliegendem Material entwickelten
Methode wissenschaftlich Forschungsarbeit zu leisten. Die wich-
tigste Eigentümlichkeit für die neueste Geschichte ist die, daB
an die Stelle der Quellenkritik hier eine sehr ausgedehnte und
gründliche Zeitungskunde zu treten hat. Sie muB die große
Presse der zivilisierten Welt kennen, dabei besonders auch über
eine ganz eingehende Personalkenntnis hinsichtlich der von den
großen Tagesblättern gehaltenen politischen Korrespondenten,
der Leitartikler, der Zeitungsinhaber und der etwaigen Geld-
geber verfügen. Hier tut sich ein im wesentlichen verkehrstech-
nisches Problem auf, und Orte mit Zeitungsinstituten oder Uni-
versitäten mit besonderen Professuren für Zeitungswissenschaft
werden dafür am günstigsten gestellt sein.
Anhangsweise sei in diesem Abschnitt noch ein Blick auf
die geschichtlichen Arbeiten bis 1925 geworfen, d. h. bis
zum Erscheinen der auf Racconigi bezüglichen deutschen Akten-
veröffentlichung“.
Erich Brandenburg“, fußend auf v. Siebert und auf deut-
schem Aktenmaterial, das sonst damals noch nicht zugänglich
war, entwickelt zunächst ein großzügiges und planmäßiges Vor-
gehen Rußlands in den Balkandingen, in welchem der Zaren-
besuch zu Racconigi nur eine EinzelmaBnahme ist. Er bespricht
sodann voraufgegangene, aber nicht mehr rechtzeitig zum Ab-
% Für Racconigi kommt Bd. 27, I. Teil v. Jahre 1925 in Betracht.
3$ Brandenburg, Von Bismarck zum Weltkrieg, Berlin 1924, S. 305ff.
830 Hugo Preller
schluB gebrachte Verhandlungen zwischen Wien und Rom. Bei
der Wiedergabe des Inhalts der Abmachungen erfahren wir neu,
daB darin auch Albaniens besonders gedacht sei. In der Würdi-
gung des Abkommens heißt es, für den Fortschritt der histo-
rischen Erkenntnis sehr bezeichnend: ,,So schuf die Zusammen-
kunft von Racconigi ein gewisses Einvernehmen über die Zu-
kunft der europäischen Türkei zwischen den Ententemächten
und Italien. Das war hóchst bedeutsam, weil hierin die erste
Einigunz der Ententemächte selbst über Fragen des nahen
Orients lag, und zwar zugleich ein weiterer Schritt Italiens vom
Dreibund zur Entente hinüber.
Um so mehr mag überraschen, daB im gleichen Jahre Fr.
Stieve seine hochverdienstvolle Sammlung des diplomatischen
Briefwechsels Iswolskis mit einer Klage über ,, Mangel an zuver-
lässigem Aktenmaterial“ begleitet“. Freilich stellt er die For-
derung, „die Gedankengänge Iswolskis im einzelnen zu ver-
folgen“. Diese Forderung läßt ganz außer acht, in welcher
glücklichen Lage sich der Erforscher der neueren Zeiten be-
findet. Stehen wir nicht hinsichtlich Iswolskis günstiger da,
als hinsichtlich selbst der größten Kaiser des Mittelalters? Und
haben wir nicht über jenen ein erdrückendes Material im Ver-
gleich zu dem bedeutendsten unter ihnen? Auf v. Siebert
und Brandenburg fuBte dann, unmittelbar vor Erscheinen
der einschlägigen deutschen Akten, Preller“, und gleich-
zeitig und in voller sachlicher Übereinstimmung mit ihm
Herre®#, Gerade die Übereinstimmung beider bei völliger gegen-
seitiger Unberührtheit kennzeichnet den Stand des Wissens im
Augenblick der deutschen Veróffentlichung. Er würde zur Er-
weisbarkeit der Möglichkeit eines quellenkritischen Studiums
neuester Geschichte durchaus hinreichen auch ohne die deutsche
Aktenveróffentlichung samt allem, was diese an anderweitigem
Material nach sich gezogen hat und noch weiterhin erzwingen
wird.
Die Bedeutung dieser erstrangigen Quellen für den Fort-
schritt der historischen Erkenntnis kann erst erfaßt werden,
9* Stieve, Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, Berlin 1924,
4 Bde., dazu: „Iswolski und der Weltkrieg", hier S. 7.
*?' Preller in Friedrichs Handbuch IV, 2, Lpg. 1926, S. 329. 383.
38 Herre in Pflugk-Harttungs Weltgesch. VII, 2, S. 518.
PN
Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 831
wenn der deutschen (1925), österreichischen (1929) und eng-
lischen (1931) Publikation auch die nur sehr zógernd fort-
schreitende franzósische und eineseit 1926 verheiBene italienische
gefolgt sein werden. Auch die große russische Veröffentlichung,
die begonnen hat, muß für diese Zeit noch abgewartet werden.
Die Bedeutung dieser erstrangigen Quellen wird sich als so groß
herausstellen, daB die im vorstehenden gebotenen Nachweise
ihr nicht abträglich sein können.
832
Kleine Mitteilungen.
Kann frater „Schwager“ bedeuten?
In der Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg wird der Markgraf
Gunzelin von MeiBen (1002—1009), der Bruder und Nachfolger Ekkards des
Großen, mehrmals als frater des berühmten Polen-Herzogs Boleslaw Chabri
(Chrobry) bezeichnet!, ein Ausdruck, der viel Kopfzerbrechen verursacht
hat, da sonst von einer Verwandtschaft der Ekkardiner mit den Piasten, die
diese Bezeichnung (im Sinne von „Bruder“) rechtfertigen könnte, nichts
bekannt ist. Daß Boleslaw und Gunzelin Brüder oder auch nur Stiefbrüder
gewesen seien, darf nach allem, was wir über ihren Stammbaum wissen, als
völlig unmöglich bezeichnet werden. Einen Fingerzeig für die Lösung des
Problems muß die Beobachtung abgeben, daß bei Thietmar immer nur
Gunzelin, nie aber sein viel bekannterer und bedeutenderer Bruder Ekkard
uns als Boleslaws frater vorgestellt wird. In einer Untersuchung der ganzen
Frage* glaubte ich die Hypothese vertreten zu dürfen, daB Gunzelin eine
Schwester Boleslaws geheiratet habe und also nicht sein Bruder oder Stief-
bruder, sondern sein Sehwager (Schwestermann) gewesen sei. Diese, alle
Schwierigkeiten beseitigende Annahme hat zur Voraussetzung, daB ein
Gebrauch von fraterin der Bedeutung von Schwager, Schwestermann móglich
ist. GewiB standen Boleslaw und Gunzelin sich persónlich und politisch nahe.
Aber das allein würde ihre Bezeichnung als,, Brüder“ nicht genügend erklären.
Es bleibt zu beweisen, daB dieser Ausdruck für Schwüger auch sonst vorkommt.
Nun wird das Wort frater schon im klassischen Latein nicht nur in seiner
eigentlichen Bedeutung für Bruder, sondern gelegentlich auch in einem etwas
freieren Sinn für andere nahe Verwandte gebraucht. So für Vetter und für
Neffe, ja allgemein für einen Blutsverwandten?. Das gleiche gilt vom Latein
der Vulgata-Bibel, wo beispielsweise Lot, der Neffe (Bruderssohn) Abrahams,
mehrfach als sein frater bezeichnet wird‘, und wo Jakob, der Neffe
(Schwestersohn) Labans, sich dessen frater nennt und von ihm mit frater
angeredet wird*. Immerhin handelt es sich hier überall um Blutsverwandte.
1 Thietmar, Chron. V, 18 (10). 36 (22); VI, 54 (36). In der Ausg. v. F. Kurze
(1889) S. 117, 127, 166.
2 Sachsen und Anhalt Bd. 8 (1932), S. 123—129. Den hier angeführten älteren
Ansichten füge ich hinzu: Otto Forst-Battaglia in den Jahrbüchern f. Kultur u.
Gesch. der Slaven, N. F. Bd. 3 (1927), S. 256, der aus Gunzelins mütterlichem GroB-
vater und Boleslaws mütterlicher Großmutter Geschwister macht, was völlig in
der Luft schwebt.
3 Thesaurus linguae Latinae Bd.6, fasc. 6 (1922), Sp. 1264f.
* Gen. 13, 8. 11; 14, 16. Vgl. 11, 27. 5 Gen. 29, 12. 15. Vgl. 24, 29; 28, 5.
Kann frater „Schwager“ bedeuten? 833
Aber sogar für uxoris frater, also für Schwager (Gattinbruder), ist das
einfache frater bereits belegt*. Von da ist gewiB kein weiter Weg zum
Schwestermann.
Und in der Tat hat bereits Georges auf einen Fall hingewiesen, wo
frater im klassischen Latein für den Schwestermann gebraucht werde:
Livius 28, 35, 8. Ich übernahm dieses Zitat?, nicht als einen Beweis, aber als
eine Stütze für meine These von der Verschwügerung Gunzelins mit Boleslaw.
Ein Kritiker meiner Untersuchung hat mir das Recht dazu bestritten, da
nach Ausweis von Liv. 27, 19, 9 an der anderen Stelle des Livius lediglich
ein „Irrtum“ vorliege*. In diesem Einwand dürfte jedoch eine Petitio principii
stecken. Eine kurze Betrachtung der Erzählung des Livius mag das zeigen.
Liv. 28, 35, 8 berichtet, daß der Numidierkónig Masinissa bei einer Zu-
sammenkunft mit dem älteren Scipio Africanus diesem gedankt habe de
fratris filio remisso, also wörtlich: für die Rücksendung des Sohnes
seines Bruders. Was damit gemeint ist, ergibt sich aus Liv. 27, 19, 9, wo wir
das Nähere über diesen filius fratris Masinissas erfahren: es handelte
sich um den jungen Massiva, der durch seine Mutter ein Enkel von Masi-
nissas Vater Gala war, und Masinissa wird dabei ganz richtig als avunculus
(Mutterbruder) des Massiva bezeichnet*. Massiva war mithin nicht der Sohn
des Bruders, sondern der Sohn der Schwester und des Schwagers von Masi-
nissa, und mit dem frater Masinissas ist also nicht sein Bruder, sondern
sein Schwager (Schwestermann) gemeint. Von einem „Irrtum“ des Livius
sollte man keinesfalls reden, da es ja Livius selbst ist, der uns an anderer
Stelle über die verwandtschaftlichen Verhältnisse im Haus des Masinissa
genauer orientiert. Hóchstens kónnte man an ein Versehen, einen Lapsus
calami, eine Unaufmerksamkeit des Verfassers denken. Die Möglichkeit,
daB eine solche vorliegt, soll nicht ganz in Abrede gestellt werden!®. Wahr-
scheinlicher bleibt doch das Gegenteil. Und jedenfalls bedeutet es einen
ZirkelschluB, die Móglichkeit der Bedeutung von frater — Schwager an
unserer Stelle durch die kategorische Behauptung von einem Irrtum des
Livius zu bestreiten. Wer dem Vorkommen des Wortes frater für Schwager
nachgeht, wird auch in Zukunft an Liv. 28, 35, 8 anzuknüpfen haben.
Indes da wir hier einen Beitrag zum Mittellatein und zur Erklärung eines
Ausdruckes bei Thietmar geben wollen, wenden wir uns der Frage zu, ob
sich auch im Mittelalter die Bedeutung frater — Schwager noch anderweit
* Thes. a. a. O. 1254 Zl. 81. Da bei Thietmar Gunzelin zweimal der fraler
(wir glauben: Schwestermann) Boleslaws, einmal aber, nämlich VI, 54 (36), auch
Boleslaw Gunzelins frater (das wäre Gattinbruder) genannt wird, gewinnt dieser
Beleg für uns erhóhte Bedeutung.
7 Es hätte im Thes. keinesfalls ungenannt bleiben dürfen, selbst wenn man
in ibm ein Versehen des Autors erblicken will.
Histor. Ztschr. Bd. 146 (1932), S. 389.
* Vgl. A. W. Ernesti, Glossarium Livianum (Bd. 5 der Livius-Ausg. v. A. Dra-
kenborch, 4. Aufl. 1827), S. 274.
10 W. Weißenborn, Livius 6, 1 (3. Aufl. 1878), S. 213 will das Wort durch ein
Versehen oder durch eine andere Quelle des Autors erklären.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 53
834 Robert Holtzmann
nachweisen lasse. Bei dem geringen Stand der lexikalischen Arbeiten zum
Mittellatein ist es schwer, hier AbschlieBendes zu bringen. Ducange enthált
kein Beispiel, das hier als Beleg dienen kónnte, und man ist bei einer Frage
wie der unsrigen immer auf ein mehr oder weniger zufälliges Teilwissen an-
gewiesen. DaB ich nun in der Tat einige weitere Zeugnisse für den Gebrauch
des Wortes frater in der Bedeutung von Schwager beibringen kann, ver-
danke ich der Freundlichkeit von Harold Steinacker, dem sie bei seinen Samm-
lungen für die Regesta Habsburgica aufgestoBen sind. Es wird, denke ich,
nichts austragen, daB sie nicht, wie Thietmar, dem Anfang des 11., sondern
dem Ausgang des 13. Jahrhunderts angehören!!. Liefern sie so doch den
Beweis, daB frater bis ins späte Mittelalter hinein für den Schwager vor-
kommt, und darüber hinaus, daB ganz entsprechend auch soror von der
Schwägerin (Brudersgattin) gesagt werden konnte.
Es handelt sich um drei Urkunden Herzog Albrechts I. von Österreich,
des Sohnes König Rudolfs von Habsburg, aus den Jahren 1288—1295, also
aus der Zeit, bevor Albrecht 1298 selbst deutscher König geworden ist. Wie
bekannt, hat König Rudolf es verstanden, durch die Heiraten seiner Kinder
weitverzweigte Familienverbindungen zu gewinnen. Mit den Wittelsbachern
in Bayern kam solches schon bei Gelegenheit seiner Königswahl (1273) zu-
stande, mit dem Pfemysliden in Böhmen nach dem Tod König Ottokars
auf dem Lechfeld (1278), und so waren von Albrechts Schwestern Mathilde
mit Ludwig dem Strengen von Oberbayern und der Pfalz (dem Vater Kaiser
Ludwigs des Bayern), Guta oder Jutta mit König Wenzel II. von Böhmen
(dem Sohne Ottokars) vermählt; ein Bruder Albrechts, der 1290 noch vor
dem Vater verstorbene Rudolf II. (Vater des Johann Parricida), hatte Agnes
von Böhmen, eine Schwester Wenzels II., geheiratet. Ludwig der Strenge
und Wenzel II. waren also Albrechts Schwäger (Schwestermänner), Agnes
seine Schwägerin (Brudersfrau). Albrecht aber beurkundete am 20. Mai 1288
einen Waffenstillstand, abgeschlossen cum fratre nostro dilecto, nämlich
dem König Wenzel II. von Böhmen”. Ebenso schreibt er am 9. September
1290 Ludwig dem Strengen fratri nostro karissimo; und am 20. Mai
1295 nennt er Agnes von Böhmen seine soror!*. Dabei steht fest, daB die
11 Einen Beleg aus dem 12. Jh. böte das Chronicon Ebersheimense, wo in
cap. 25 (SS. 23, S. 444, Z1. 12, 15) der Graf Radbot vom Klettgau, ein Habsburger,
als frater des Bischofs Werner von StraBburg bezeichnet wird, wenn Steinacker mit
der Ansicht Recht hat, daß Werner mit Radbots Schwester Ita vermählt war.
Doch ist die Genealogie umstritten. Hermann Bloch in der Ztschr. f. d. Gesch. des
Oberrheins, N. F. Bd.23 (1908) sieht in Werner einen Oheim Radbots (Bruder
seines Vaters). Die Frage soll hier unerórtert bleiben.
13 Eine Wiener Briefsammlung zur Geschichte des Deutschen Reiches und der
österreichischen Länder in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. Nach den Abschriften
von Albert Starzer hrsg. v. Oswald Redlich (Mitteilungen aus dem Vaticanischen
Archive, Bd. 2, 1894), S. 253 Nr. 253. Auch in MIÓG. 4. Erg. - Bd. (1893) S. 161,
Nr. 2 (vgl. S. 154f.). 12 Mon. Germ. Constitutiones Bd.3, S. 425, Nr. 441.
14 Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, bearb. v. J. Escher u.
P. Schweizer, Bd. 6 (1905), S. 298, Nr. 2332. — Einige Jahre früher (vor 1. März
Kann frater „Schwager“ bedeuten? 835
Urkunde von 12% gar nicht in der österreichischen, sondern in der baye-
rischen Kanzlei abgefaBt wurde!®, so daß der Gebrauch des Wortes frater
für Schwager gleich für zwei verschiedene Kanzleien nachgewiesen ist.
Diese Beobachtung hat auch gar nichts Auffallendes. Das Lateinische be-
sitzt ja kein unmißverständliches Wort für Schwager, weder für den Schwester-
mann noch für den Gattinbruder!*. Es behilft sich da mit Ausdrücken wie
affinis, womit aber jede durch Heirat verwandte Person bezeichnet werden
kann, oder gener, was aber eigentlich und hauptsächlich Schwiegersohn
bedeutet; will man genau sein, so muß man zu einer Umschreibung greifen
(vir sororis, frater uxoris, mariti). Lag es da nicht nahe, das Wort frater,
wie für Vetter und Neffen und andere nahe Verwandte, so auch für den Schwa-
ger zu verwenden? Moderne Sprachen weisen ja gleichfalls auf die enge Zu-
sammengehörigkeit der Begriffe Bruder und Schwager. So das Französische,
indem es den Schwager beau-frère (die Schwägerin belle-soeur) nennt.
Noch näher steht das Deutsche der Gleichung frater — Schwager. „Wir
gebrauchen Bruder", laut Grimmschem Wörterbuch 2, 417, außer vom
leiblichen und Stiefbruder „auch von dem angeheirateten Schwager; da-
gegen werden Neffen und Vetter nicht Bruder angeredet.“
Jedenfalls darf die gelegentliche Verwendung des Wortes frater für
Schwager im Mittelalter als erwiesen gelten. Robert Holtzmann.
Ein unveröffentlichter Brief Friedrichs des Großen.
Im Besitze der Familie von der Mosel befindet sich ein eigenhändiger
Brief Friedrichs des Großen an den General von der Mosel aus der Zeit des
Siebenjährigen Krieges!. Der König schreibt:
1284) gibt Herzog Rudolf II. seine Einwilligung zu einer Dotierung seiner Schwägerin
Elisabeth, der Gemahlin Albrechts, quam veluti sororem nostram karissimam
singularis amoris privilegio ampleramur; Archiv f. Kunde österreichischer Ge-
schichts- Quellen 2 (1849), 273 Nr. 35. Er bedenkt sie somit ,als unsere teuerste
Schwester“. Da man aber versucht sein könnte, das veluti auch mit „wie“ (gleichsam
als) wiederzugeben, soll auf dieses Beispiel kein Gewicht gelegt werden.
15$ [vo Luntz in MIÓG. Bd. 37 (1916), S. 454. Die Urkunde ist von einem, in
den Jahren 1286—93 häufig nachweisbaren Kanzleischreiber Ludwigs geschrieben,
diejenige von 1295 dagegen von einem österreichischen Schreiber, den Luntz mit der
Sigle R bezeichnet (ebenda 451); die Urkunde von 1288 ist nicht im Original erhalten.
16 Für den Bruder des Mannes kommt das seltene Wort levir vor, für die Schwe-
ster des Mannes glos, für die Frau des Bruders (oder auch des Bruders des Mannes)
fratria. Aber für den Mann der Schwester wie auch für den Bruder der Gattin gibt
es kein eindeutiges Wort.
1 Für das liebenswürdige Entgegenkommen und die Veróffentlichungserlaubnis
möchte ich auch an dieser Stelle Fräulein Berta von der Mosel danken.
3 Die Textgestaltung erfolgte nach dem Vorbild der „Politischen Correspon-
denz Friedrichs des Großen“. Die Rückseite des Briefumschlages enthält von gleich-
zeitiger Hand, wohl der des Generals von der Mosel, den Vermerk: „vom König
eigenhändig geschrieben."
53*
836 Helmut Eckert
(Auf dem Umschlag:) A Mon major-général de Mossel à Hirschberg“.
Ich habe Nachricht, daß Ihm der Feind die Nacht oder morgen Nacht
von Fridtberg* aus attaquiren will. Ich lasse deswegen den General Bülow
mit 6 Bataillons, 2 Kürassier-, 1 Dragonerregiment und Husaren diesen
Abend nach Spiller® marschieren. Wor seine Patrouillen was entdecken, so
lasse Er Bülow gleich avertiren, daB er zu Ihm marschiret. Der Zweck des
Feindes ist dem Devillet, der bei Freiburg? stehet, Brot durchzuschicken, und
solches müssen Sie beiderseits zu verhindern suchen. Es gehet auch an, wenn
man nur dem Feind den Uebergang des Bobers disputiret, und daß man nur
des Nachts die Lomnitzer* Steinbrücke brav mit Holz bewerfen läßet, damit
sie nicht darüber sogleich fortkommen und immerdar mit Bülow zugleich
auf den Hals gegangen wird. Das Holz von der Brücken kann des Tages
wieder aufgeráumt werden. Friderich.
Umb sie 80 besser aufzuhalten, darf man nur das Holz anzünden.
Der Empfünger des Briefes, Friedrich Wilhelm von der Mosel, ist ein Sohn
des Gouverneurs von Wesel, Generalleutnants Konrad Heinrich von der Mosel
(1663—1733), der 1730 nach dem Fluchtversuch des Kronprinzen Friedrich
diesen wáhrend des ersten Verhórs in Wesel vor dem Degen des Vaters ge-
schützt hat. 1709 geboren, trat er nach einer Zeit des Studiums und nach
einer Frankreichreise mit einem Patent vom 20. März 1727 als Fähnrich in
das Füsilierregiment von Dossow (Nr. 31) in Wesel ein*. Am 7. April 1729 ist
er Leutnant und am 10. Oktober 1729 bereits Oberleutnant. Am 11. März 1734
wird er Kapitän, und zwar beim ehemaligen Regiment seines Vaters, jetzt
Graf Dohna (Nr. 28), zu Wesel. 1748 wird er Major, 1756 Oberstleutnant und
am 5. September 1758 gleich Generalmajor. Am 10. Februar 1759 übernimmt
er das bisherige Infanterieregiment von Pannwitz (Nr. 10). Alle Feldzüge
von 1741—1759 hat er mitgemacht, bei Hohenfriedberg wurde er ver-
wundet. 1758 fiel von der Mosel die Aufgabe zu, den gewaltigen Transport
von mehr als 3000 Fuhren, über 40 Geldwagen und 940 Munitionskarren,
Rekruten und Wiedergenesenen, von 8 Bataillonen und 1700 Reitern bedeckt,
dem Belagerungskorps von Olmütz zuzuführen!*. Am 30. Juni bei Domstadl
von den 5 angegriffen, geriet der größte Teil des Transportes in
Feindeshand. Der Verlust nötigte den König zur Aufgabe der Belagerung.
Wie sein baldiges Avancement beweist, hat Friedrich aber von der Mosel
keinen Vorwurf daraus gemacht. Erst das Unglück in die Kapitulation von
Maxen verwickelt worden zu sein, trug ihm noch 1765 auf die Bitte um die
Präbende des Kanonikus Poggen die bittere Antwort des Königs ein: „Das
Canonicat hat er bei Maxsen verlohren.“ Am 18. Januar 1768 erhielt er auf sein
Ansuchen den Abschied in den ehrendsten Ausdrücken und starb 1777 zu Mórs.
* Hirschberg SW von Liegnitz. * Friedeberg am Queis. ® Dorf O Friedeberg.
© Karl, Marquis de Ville de Canon (1705—1792) österr. Feldmarschalleutnant.
7 SO Liegnitz. * Dorf bei Hirschberg.
* Das Fühnrichs-, Leutnants- und Generalspatent sowie die Entlassungs-
urkunde im Besitze von Fráulein Berta von der Mosel. Die übrigen Daten nach
„Militärisches Pantheon“ 1797.
10 Preuß, Friedrich der Große, Bd. 2, Berlin 1833, S. 226.
Ein unveróffentlichter Brief Friedrichs des GroBen 837
Im Folgenden soll eine Datierung des ohne jeden Zeit- und Ortsvermerk
gebliebenen Schreibens versucht werden. Es führt in die Zeit des Jahres 1759,
zu der der Kónig im Lager von Schmottseiffen dem bei Marklissa verschanzten
Daun in Niederschlesien gegenüberstand und Feldzeugmeister Graf Harsch
und Feldmarschalleutnant de Ville vereint von Trautenau aus in Schlesien
eindrangen, um das preußische Korps Fouqué von Landeshut abzudrängen
und den König in Flanke und Rücken zu bedrohen!!, Am 17. Juli waren sie
bis Schómberg vorgedrungen, wo Harsch erkrankte und vor seiner Rückkehr
nach Bóhmen den Oberbefehl de Ville übergab. Am 20. setzte dieser den
Marsch fort, und zwar auf Konradswaldau. Die Absicht de Villes, sich zwischen
Fouqué und dessen Magazin Schweidnitz zu schieben, erriet der König so-
gleich und wies Fouqué an, zwischen Konradswaldau und Friedland in Stel-
lung zu gehen, um de Ville die Verbindung mit Böhmen zu nehmen. Gleich-
zeitig beschloB Friedrich das Korps Fouqué durch den General von Krockow,
der mit dem Grenadierbataillon von-Kleist, dem Infanterieregiment von-
Rebentisch und 2 Eskadrons Gersdorff-Husaren Hirschberg besetzt hielt, zu
verstárken!*, Am Abend des 22. Juli löst ihn General von der Mosel mit dem
Füsilierregiment Jung-Braunschweig und 2 Eskadrons Gersdorff-Husaren aus
dem Lager von Schmottseiffen ab. Am gleichen Tag ist de Ville über Gottes-
berg, Salzbrunn bis in die Gegend von Freiburg vorgestoBen. Am 23. Juli
wird ihm durch General von der Goltz, der auf Befehl Fouqués die Hóhen
bei Friedland besetzt, die Zufuhr aus Bóhmen abgeschnitten. Fouqué selbst
steht am 25. auf den Höhen westlich von Konradswaldau, hat die Verbindung
mit Goltz aufgenommen und verlegt de Ville den Rückweg. Dieser sieht seine
Pláne vereitelt und unter dem Drucke empfindlichen Brotmangels sucht er
am 27. und 28. Juli bei Konradswaldau und Friedland durchzubrechen. Da
das Korps Fouqué standhält, entschließt sich de Ville über Waldenburg—
Tannhausen auszubiegen und bricht in der Nacht zum 29. auf. Nach einem
36stündigen Gewaltmarsch erreicht er Johannesberg und ist der Vernichtung
entronnen. In diese Vorgänge reiht sich unser Brief ein. Wie schon erwähnt,
bezieht sein Empfänger am Abend des 22. Juli den Posten Hirschberg. Das
Schreiben zeigt, daß bei seiner Niederschrift dem König die Stellung de Villes
bei Freiburg bereits bekannt war. Es handelt sich hierbei um das Lager
Fürstenstein—Liebichau—Kuntzendorf, das de Ville bezogen hatte, und von
dem Fouqué dem König am 24. Juli nachmittags Bericht erstattet“. In seiner
Antwort vom 25. zweifelt der König bereits daran, ob sich de Ville in diesem
Lager werde halten können“, und schon am 26. teilt Fouqué mit, daB dem
österreichischen Korps die Zufuhr aus Böhmen abgeschnitten sei und de Ville
in der Freiburger Gegend Brotlieferungen ausgeschrieben habe!*. Dieser
Bericht kann allerfrühestens am 26. Juli Schmottseiffen erreicht haben und
11 Die Darstellung nach dem Generalstabs werk: Die Kriege Friedrichs des Gro-
Ben, Abtl. III, Bd. 10, Berlin 1912.
12 Politische Correspondenz Friedrichs des Großen (P C) Bd. 18, Berlin 1891,
Nr. 11200.
33 Mémoires du baron de la Motte-Fouqué T. 1, Berlin 1788, S. 277.
M PC, Bd. 18, Nr. 11281. U Mémoires a.a. O. S. 280.
838 Helmut Eckert: Ein unveróffentlichter Brief Friedrichs des Großen
somit kann unser Brief nur am 26. oder 27. geschrieben sein, denn erst dann
kann der König Truppenbewegungen „von Fridtberg aus“, d. h. bei der
Hauptarmee, dahin deuten oder Deserteuraussagen darin Glauben schenken,
daB „dem Deville Brot durchgeschickt" werden soll, wenn er weiß, daß
de Ville von seinen Magazinen abgeschnitten ist und die Hauptarmee Grund
hat, ihn von sich aus zu verproviantieren. Für den 28. Juli aber ist eine Da-
tierung nicht möglich, weil der König an diesem Tag bereits weiß, daß de Ville
das Lager bei Freiburg verlassen hat und jetzt bei Gottesberg steht“. Der
Verpflegungsschwierigkeiten ist de Ville noch nicht enthoben, aber der
König würde jetzt nicht mehr geschrieben haben, „Deville, der bei Freiburg
stehet“. Fouqués Bericht vom 26. Juli gibt die Vorgänge bei dem Korps an
diesem Tage in der Landeshuter Gegend wieder. Er kann also frühestens am
Spätnachmittag verfaßt sein und nicht vor Nacht Schmottseiffen erreicht
haben. Den Brief an General von der Mosel muß aber der König mehrere
Stunden vor Abend geschrieben und in Hirschberg gewußt haben. Seine
Wendung, er werde Bülow „diesen Abend" marschieren lassen und die An-
gabe der noch zu treffenden Maßregeln in Hirschberg deuten darauf hin.
Diese Überlegungen nun führen zu dem Ergebnis, daB nur der 27. Juli
1759 als Tag der Briefniederschrift angenommen werden kann, die in Dürings-
Vorwerk, dem Hauptquartier des Königs im Lager von Schmottseiffen,
stattgefunden hat. Eine solche Datierung wird noch durch eine Eintragung
im Tagebuch des Feldpredigers Balke vom Kürassierregiment von Seydlitz
bekräftigt“: „Den 27. [Juli] ging das Regiment Seydlitz nach Spiller. Der
Feind ging auf die Nachricht davon zurück. Das Regiment kam den 28.
wieder ins Lager" [von Schmottseiffen]. Es kann wohl kein Zweifel sein,
daB das Regiment Seydlitz eines der beiden Kürassierregimenter des Korps
Bülow ist, das der Kónig nach Spiller entsenden will. Was aber ist über die
Tátigkeit dieses Korps zu sagen? Anscheinend haben Bewegungen bei der
Hauptarmee Daun oder dem zu ihr gehórigen Korps Siskovisz, das in der
Gegend von Friedeberg, bei Gebhardsdorf, stand, oder irgendwelche Kund-
schafter- und Deserteuraussagen dem König eine Detaschierung von der
Armee Daun zu de Ville wahrscheinlich erscheinen lassen. Ob sie wirklich
geplant war und ob Bülow in der angegebenen Stärke ausgerückt ist, wage
ich nicht zu entscheiden. Weder die Generalstabswerke, noch Tempelhoff,
noch Regiments- und Armeejournale, die mir zugänglich waren, sprechen von
einem solchen österreichischen Plan, von solchen preußischen Gegenmaß-
nahmen. Das Journal des Regiments Jung-Braunschweig, das unter General
von der Mosel in Hirschberg stand, berichtet in den betreffenden Tagen nichts
von irgendeiner feindlichen Unternehmung!s. Sicher ist, daß Hirschberg und
die Lomnitzer Brücke nicht angegriffen wurden. Deutlich aber geht aus dem
Tagebuch Balke hervor, daß feindliche Bewegungen in dieser Richtung statt-
gefunden haben. | Helmut Eckert.
16 P C, Bd. 18, Nr. 11296.
17 Tagebuch des Feldpredigers Balke 1759—62, bearbeitet von E. Buxbaum
1889, S. 11.
18 Sammlung ungedruckter Nachrichten, so die Geschichte der Feldzüge der
Preußen von 1740—1799 erläutern. Dresden 1782. Bd. 2, S. 102ff.
839
Kritiken.
Hugo Hassinger, Geographische Grundlagen der Geschichte. (Geschichte
der führenden Völker. Herausgegeben von Heinr. Finke, Herm. Junker und
Gustav Schnürer. II. Bd.) Freiburg i. Br. 1931. Herder & Co. XIII und 331 S.,
8 Karten.
Das vorliegende Werk bildet eine geographische Einleitung zu der auf 30 Bände
veranschlagten, von anerkannten Historikern geplanten „Geschichte der füh-
renden Völker“. In Bänden mittleren Umfangs und in volkstümlicher Sprache
soll die Geschichte der führenden Völker behandelt werden. Auffallend ist dabei,
daß in dem aufgestellten Plane die nordischen Völker fehlen, die doch keinesfalls
vernachlässigt werden sollten. Einige Bände liegen bereits vor, u. a.: „Der Sinn der
Geschichte“ und „Die Urgeschichte der Menschheit“ von H. Obermaier, „Die griechi-
sche Geschichte“ von H. Berve und „Die geographischen Grundlagen der Geschichte“
von H. Hassinger. Der Verfasser dieses letzteren Bandes, der auf dem Gebiete der
Anthropo- und Kulturgeographie und der Länderkunde eine geachtete Stellung
einnimmt, will den Zusammenhang zwischen Erdraum und Kulturentwicklung einer-
seits, zwischen Erdraum und Staatenleben andererseits untersuchen. Diese Aufgabe
war um so dankbarer, als wir in der deutschen wissenschaftlichen Literatur noch kein
Werk besitzen, das systematisch diese Zusammenhänge über die Schauplätze der
Geschichte hinweg und in Beziehung zu ihr verfolgt. Dabei hat sich der Verfasser
nicht darauf beschränkt, nur den heutigen Zustand der Erdräume zu schildern,
sondern er hat, darüber hinausgehend, die Entwicklung der Kulturvölker auf den
Hintergrund der Landschaft vergangener Zeiten und auf die Lageverhältnisse der
Staaten vergangener Jahrhunderte und Jahrtausende projiziert und die allgemeine
Entwicklungslinie der Kultur in ihrem Verhältnis zum Erdraum herausgearbeitet.
Denn mit dem Fortschritt eines Kulturvolkes ändert sich ständig auch das Land-
schaftsbild seines Wohnraumes und der Wert von dessen Lagebeziehungen. Damit
wird die ehemalige Urlandschaft in eine Kulturlandschaft umgewandelt. Bewußt
wurde dabei auf eine Darstellung der historisch-geographisch gut untersuchten einzel-
nen Landschaften Griechenlands, Italiens und Deutschlands verzichtet, da sie, ebenso
wie die Vorgeschichte, in einigen Bänden des Sammelwerkes sowieso behandelt
wird. Beider überwältigenden Fülle desüber große Räume und weite Zeitspannen ver-
teilten Tatsachenmaterials einerseits und der Raumbeschränkung des Bandes an-
dererseits mußte der Vf. auf eine systematische und erschöpfende Bearbeitung des
Themas verzichten, und so betrachtet er sein Werk nur als vorläufige grobe Umriß-
zeichnung, in der das Wesentliche aus der Stoffülle als erste Überschau herausgehoben
werden soll. | |
840 Kritiken
Das ganze Buch umfaßt acht Kapitel. Ausgehend von der Betrachtung des
Verhältnisses der Geographie zur Geschichte behandelt der Vf. Erde und Mensch,
dann die Erdteile der Alten Welt (Europa, Asien und Afrika), die Schauplätze der
ersten Staatenbildungen (die Strom- und Hochlandoasenländer des Orients: Ágyp-
ten, Mesopotamien, Arabien und den vorderasiatischenIsthmus, die vorderasiatischen
Hochlandoasen und ihr nördliches Vorland, ferner die Monsunlánder: Indien, Ost-
asien), dann die Mittelmeerlünder, die Erweiterung des geschichtlichen Schauplatzes
bis zum kontinentalen Zusammenschluß der Völker der Alten Welt, die Überwindung
der ozeanischen Räume und die Neue Welt. Zum Schluß gibt er dann eine politisch-
geographische Übersicht der Großreiche der Vergangenheit und Gegenwart mit
einem Rückblick und Ausblick.
Die engen Beziehungen zwischen Geographie und Geschichte sind ja so alt wie
diese beiden Wissenschaften selbst und kommen schon in den Geschichten des Hero-
dot zum lebendigen Ausdruck. Hatte doch die Geographie des Altertums neben
der mathematischen auch eine ausgesprochen historische (länderbeschreibende)
Richtung. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es besonders Karl
Ritter, zusammen mit A. von Humboldt, dem Begründer der neueren Geographie,
der den Versuch machte, in einer großzügig angelegten Länderkunde die Erdräume
im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen erklärend zu schildern.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts unternahm es der Geograph Friedrich Ratzel,
die Lehre von der Geographie des Menschen und seinen staatlichen Organisationen
in ein System zu bringen. Er schrieb die erste „Anthropogeographie“ mit dem
programmatischen Untertitel „Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die
Geschichte“ und ließ ihr bald die erste „Politische Geographie“ folgen. Diese poli-
tisch-geographischen Ideen Ratzels gaben dann dem schwedischen Staatsrechts-
lehrer Rudolf Kjellén Anlaß zu seiner „Geopolitischen Betrachtung" des heutigen
Systems der Großmächte. Nach dem Weltkriege hat diese „Geopolitik“ eine umfang-
reiche Literatur geschaffen (Haushofer, Dix, Vogel, Maull, Wütschke, Lautensach,
Hennig, Supan, Braun, Ziegfeld u. a.). Die Geopolitik ist nach Kjellén die Lehre von
der Abhängigkeit der inneren und äußeren Politik eines Volkes von den Eigenschaften
der Erdoberfläche seines Wohngebietes. Im Gegensatz zur Anthropogeographie,
deren Aufgabe es ist, die heutige Kulturlandschaft mit ihren ererbten und mit ihren
Gegenwartsformen zu betrachten, steht die historische Geographie, die die Kultur-
landschaft vergangener Zeiten zu beschreiben und zu erklären hat. Unter den
, Weltgeschichten" nimmt die Helmolts, zu der Ratzel einen einleitenden Abriß
der Anthropogeographie lieferte, insofern eine Sonderstellung ein, als sie geographisch
orientiert ist. Sie ist durchaus nach ráumlichen Gesichtspunkten angelegt, und die
Geschichte der einzelnen Erdräume wird durch alle Zeiten verfolgt, denn jeder
Erdteil besitzt seine eigene Geschichte, wenn auch die Gleichstellung von Ländern
geringerer Kulturbedeutung mit den führenden Kultur- und politischen Máchten
von historischer Seite mit Recht beanstandet worden ist.
Nach diesem ersten Kapitel, in dem der Vf. sich in vorsichtig abwügenden
und knappen Formulierungen über das Verhältnis von Geographie und Geschichte
äußert, untersucht er dann das Verhältnis Erde und Mensch, indem er vom Wohn-
raum der Menschheit über die Brennpunkte des Lebens zum „Gang der Hochkultur“
gelangt und dann in groBen Zügen die Erdteile der Alten Welt darstellt, worauf im
4. Kapitel die „Schauplätze der ersten Staatenbildungen“ in den Strom- und Hoch-
-- — h wi
Kritiken 841
landoasen des Orients und in den Monsunländern eingehend behandelt werden.
Nun folgt die Darstellung der Mittelmeerlünder, ihr Wesen und ihre Einheit, die
natürlichen Veränderungen der Mittelmeerlandschaft in geschichtlicher Zeit und die
Kulturlandschaften des Mittelmeergebietes von Palästina, Phönikien, Syrien und
Kleinasien im Osten bis zur Iberischen Halbinsel und den Atlasländern im Westen.
Die Erweiterung dieses geschichtlichen Schauplatzes bis zum kontinentalen Zu-
sammenschluß der Völker der Alten Welt nach der Nord- und Ostsee, den nord-
atlantischen Inseln und Osteuropa hin, ist der Inhalt des nächsten Kapitels. Hier
wird der Versuch gemacht, darzustellen, wie sich die Alte Welt durch Kulturein-
flüsse, Reisen, Entdeckungen, Kolonisation und Eroberungen räumlich zusammen-
schloß und der geographische Gesichtskreis sich immer mehr erweiterte. Mit der
Überwindung der ozeanischen Räume und der Besitzergreifung und Erschließung
der Neuen Welt befaßt sich ein weiteres Kapitel, dem sich schließlich eine politisch-
geographische Übersicht der Großreiche der Vergangenheit und Gegenwart anreiht.
Diese Übersicht zeigt, daß der Vf. vom geschichtlichen Werdegang ausgeht und
auch die für den Historiker wichtigen geographischen Kenntnisse und Erklärungen
eines Gebietes jeweils bringt, wenn sie für diese in der zeitlichen Reihenfolge gegeben
ist. Maßgebend für die Anordnung des Stoffes ist der vorderasiatisch-mediterran-
europäische Standpunkt, wenn er auch nicht immer vorwiegt. Da das Gebiet des
Mittelmeeres im weiteren Umfange für den Historiker das meiste Interesse hat,
so steht dieser Raum in der Ausdehnung der Behandlung weitaus im Vordergrunde,
denn die geschichtlich-geographische Erforschung dieses Gebietes ist ja besonders
weit gediehen. Dagegen werden die dem europäischen Gesichtskreis erst später be-
kannt gewordenen Teile der Erde und ihre Schicksale bedeutend kürzer dargestellt.
Trotz dieser Ungleichheit in der Behandlung des Stoffes liegt hier ein Werk von
sachlicher Nüchternheit, solidem Wissen und straffer Zusammenfassung vor, das
in weiten Teilen mustergültig geschrieben ist und sowohl dem Historiker wie dem
Geographen reiche Belehrung bietet. Der Zwang, bei der Fülle des Stoffes mit dem
zur Verfügung stehenden Raume hauszuhalten, hatte zur Folge, daB manche Vor-
gänge etwas kurz weggekommen sind oder vermißt werden. Auch ist die Zahl der
Kärtchen zu gering, und manches ließe sich kartographisch als Ergänzung zum Text
noch anschaulicher darstellen. BegrüBenswert sind die reichen Literaturangaben am
Schluß eines jeden Kapitels und das ausführliche Sach- und Personenregister.
Leipzig. Hans Rudolphi.
Saxonis Gesta Danorum primum a G. Knabe & P. Herrmann recensita recogno-
verunt et ediderunt J. Olrik & H. Raeder. Tomus I. textum continens.
Hauniae. 1931. apud librarios Levin & Munksgaard. Typis Fr. Bagge. LI,
609 S.
Die für die germanische Sagengeschichte als Ergänzung zur Edda so bedeut-
samen Gesta Danorum des Saxo Grammaticus haben in der Überlieferung ein
eigentümliches Schicksal gehabt: bis auf wenige Fragmente sind uns Handschriften
nicht erhalten; man ist für die Textherstellung fast ausschließlich auf den Pariser
Druck des Christern Pedersen von 1514 angewiesen, der aber auf einer guten alten
Handschrift beruht, wohl kaum der gleichen (wie jetzt feststehen dürfte), von der
die Fragmente von Angers stammen.
842 Kritiken
Die vor fast 100 Jahren erschienene dänische Ausgabe von Müller und Velschow
ist seit langem vergriffen; für wissenschaftliche Zwecke benutzte man bisher die von
Alfred Holder (Straßburg 1886); sie ist auch verhältnismäßig selten, und außerdem
haben sich inzwischen zahlreiche Philologen um das Werk und seinen Text bemüht,
so daß eine Neuausgabe eine Notwendigkeit war. Daß diese uns jetzt von dänischer
Seite geschenkt worden ist, ist nur in der Ordnung, da es sich um ein einzigartiges
Denkmal der Geschichte dieses Volkes handelt, wie es ähnlich keinem anderen Volke
aus dem Mittelalter erhalten ist.
Die gegenwärtigen Herausgeber konnten sich so weitgehend auf die Vorarbeit
zweier deutscher Forscher stützen, daB sie der Ehrenpflicht genügten, deren Namen
auf dem Titelblatt zu nennen. Namentlich der Torgauer Gymnasialprofessor G. Knabe,
der 1912 Prolegomena zu einer Neuausgabe erscheinen lieB, hatte durch Textkritik
und durch den für Saxo Grammaticus sehr wichtigen Zitatennachweis (besonders
aus Valerius Maximus) schon auBerordentlich viel getan, als ihm der Tod den Ab-
schluß seines Werkes unmöglich machte. P. Herrmann, der seine Arbeiten fort-
führte, starb ebenfalls vor der Vollendung. Der handschriftliche NachlaB der beiden
Gelehrten, der sich auf der Kgl. Bibliothek zu Kopenhagen befindet, ist von den
dänischen Herausgebern der neuen Ausgabe dankbar benutzt worden. Die Arbeit
verteilt sich so, daB Raeder den Text mit Valerius Maximus verglichen, Olrik das
Manuskript Knabes weiter ausgearbeitet und auch die Prolegomena zu der Ausgabe
(lateinisch und dänisch) verfaßt hat, die über den Autor, die bisherige Forschung
und die Textgeschichte (Handschriftenfragmente und frühere Editionen) erschóp-
fende Auskunft geben. Danach scheint die Hauptlast der Arbeit auf J. Olrik geruht
zu haben.
Die beiden dánischen Gelehrten haben gründliche Arbeit getan, es ist von ihnen
mit gróBter Vollstándigkeit alles herangeholt worden, was die gelehrte Forschung
bisher geleistet hat; um nur eins zu erwähnen: auch die sämtlichen Konjekturen
von M. C. Gertz, die sich in dessen Handexemplar fanden, sind nach sorgfältiger
Prüfung entweder in den Text aufgenommen oder in den Variantenapparat ver-
wiesen worden. Von der Holderschen Ausgabe unterscheidet sich die neue vor allem
dadurch, daB die Orthographie modernisiert worden ist, die Holder nach dem Frag-
ment von Angers in mittelalterlicher Form durchgeführt hatte (e für ae, u für v,
-cio für -tio usw.), und daB die von Knabe herrührende Einteilung der 16 Bücher
in Kapitel und Paragraphen überall angenommen worden ist. Die textlichen Ab-
weichungen gegenüber der Holderschen Ausgabe sind, soweit meine Nachprüfungen
(Praefationes, Buch I. und Buch XV und XVI) gehen, verhältnismäßig geringfügig.
In der Partie des I. Buches, die auch die Angersfragmente überliefern, hat Holder
meist deren Text übernommen, und hier sind daher die Abweichungen stärker, da
ihr Wert von Olrik anders beurteilt wurde. Im übrigen hielt sich Holder strenger an
den Text des Pariser Druckes; wo die neuen Herausgeber diesen Text verlassen,
geschieht dies meist mit guter Begründung.
Nur eins vermisse ich bei der von ihnen geleisteten Arbeit: sie haben sich nirgends
mit der Frage des rhythmischen Satzschlusses (Cursus) auseinandergesetzt, und dies
war m. E. unbedingt notwendig, da Saxo Grammaticus ihn fast regelmäßig anwendet.
Ich habe mir die Mühe gemacht, daraufhin die Praefationes, Buch I. und Buch XV.
(also eins der zuletzt und eins derzuerst entstandenen Bücher) durchzuarbeiten, und
teile kurz das Ergebnis mit: Im XV. Buche(621 Zeilen) begegnet Planus 457 mal, Tardus
Kritiken 843
198 mal, Velox 174 mal; außerdem findet sich — offenbar mit Absicht, allerdings meist
nur im Innern der Periode, in diesem Buche aber auch am Ende derselben — ein rhyth-
mischer Kolonschluß, den ich mit y bezeichnen will, in der Form / x x x/ x, und zwar
94 mal; keinen Cursus finde ich in diesem Buche an 267 Stellen. Im I. Buche (521
Zeilen) — also später — ist das Verhältnis folgendes: Planus 271 mal, Tardus
207 mal, Velox 179 mal, y (nie als Schluß der Periode!) 77 mal, kein Cursus 98 mal.
In den Praefationes (232 Zeilen), meist als zwischen den beiden obigen Büchern
verfaßt angenommen, Planus 112 mal, Tardus 99 mal, Velox 89 mal, y 20 mal, kein
Cursus 26 mal. Die Aufstellung zeigt ein anfängliches Bevorzugen des Cursus planus
bei einer verhältnismäßig großen Zahl von cursusfreien Kolaschlüssen; das Verhältnis
verschiebt sich mit der Zeit zugunsten der beiden anderen Cursusarten, der Cursus y
wird seltener (wenigstens als Periodenschluß), immer seltener werden vor allem die
Satzpausen ohne den Schmuck des Cursus gelassen. Ich will nicht so vorschnell sein
zu behaupten, daß sich mit Hilfe einer eingehenden Cursusuntersuchung zu einer
größeren Sicherheit in der Feststellung der Reihenfolge des Entstehens der einzelnen
Bücher wird vordringen lassen; aber notwendig erscheint mir die Untersuchung der
befolgten Cursusregeln auch deswegen, weil die Einsetzung von Konjekturen in den
Text nicht im Widerspruch stehen darf zu der geübten Cursuspraxis. Nur ein paar
Beispiele dafür: S. 27,2 bietet a (der Druck von 1514) „muletavit“, wofür aus der
Chronica Jutensis „mutilavit“ übernommen ist, das den Cursus planus zerstört;
S. 30,25 gehört das Komma offenbar hinter „abruptum“, da „forte deferebat"
keinen Cursus ergibt, wohl aber , deferebat abruptum". S. 538,5 war (gegen Holder)
richtig , praesidiis irrupisset" (velox) einzusetzen, S. 539,30 richtig „circumvenire
studentis" (planus).
Eine Eigentümlichkeit fällt mir im übrigen beim Cursusgebrauch des Saxo auf:
er wendet gern mehrmals hintereinander denselben Cursus an; die Fülle sind sehr
zahlreich; ich weise nur auf Buch I. cap. V, § 6 hin, wo in 5 Zeilen ausschließlich der
Tardus vorkommt, 8mal hintereinander. In Hinsicht auf die Cursusberücksichtigung
halte ich also die neue Ausgabe für ergünzungsbedürftig.
Sonst ist von den Herausgebern vortreffliche Arbeit geleistet worden. Der Les-
artenapparat ist mit größter Sorgfalt angelegt; der Zitatennachweis dürfte jetzt
nahezu vollständig sein. Druck und Ausstattung des Buches sind mustergültig.
Dieser I. Band bringt außer dem Index editionum et versionum nur den wichtigen,
sorgfältig redigierten Index nominum; den Index verborum wird ein besonderer
ll. Band bringen; das läßt darauf schließen, daß er das Wortmaterial sehr voll-
ständig enthalten wird, was bei der eigentümlichen Sprachkunst des Schriftstellers
sehr zu begrüßen ist. Für die Arbeit am neuen Du Cange (m. W. ist Olrik unter den
dänischen Mitarbeitern) dürfte dieser noch ausstehende Band einen bemerkens-
werten Beitrag liefern.
Góttingen. H. Walther.
Neuere Sehriften über den Deutschen Orden.
Die Erinnerung an die 700jährige Zugehörigkeit des Deutschordenslandes zu
Preußen bringt es mit sich, daB im Verlauf dieser Jahre die Beschäftigung mit dem
Deutschen Ritterorden gewachsen ist. Vor allen Dingen ist nach langer Zeit vom
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Preußischen Urkundenbuch die erste Lieferung des 2. Bandes erschienen!, die
die Jahre 1310—1324 umfaßt. Sie bringt demnach die Schlußzeit der Regierung
Siegfrieds von Feuchtwangen und die gesamte Zeit des Hochmeisters Karl von
Trier. Hoffentlich gerät die Arbeit nun nicht wieder ins Stocken, so daß wir in ab-
sehbarer Zeit die Schlußlieferung und das so notwendige Register erwarten können.
Für die äußere Form war die Diplomata-Ausgabe der Monumenta Germaniae
historica maßgebend. Es sind also alle Vorbemerkungen vor den Text gesetzt. Die
Benutzung von Vorurkunden ist bei den betreffenden Stücken durch Petitdruck
kenntlich gemacht. Hinweise auf das Diktat fehlen nicht. Als Frucht dieser Arbeit
bringt Hein in den Alipreugischen Forschungen 9 (1932) eine Untersuchung
über die Ordenskanzleien in Preußen“. Er kommt dabei zu dem Ergebnis: „Starkes
Leben herrscht nur in den beiden großen Komtureien, die sich vorwiegend dem Fort-
schreiten der Kolonisation widmen, in Christburg und Elbing, die Zentrale hat nur
vorübergehend das Bedürfnis nach einer ständigen Kanzlei, ist also noch von ge-
ringem Einfluß, im Westen darf das Fehlen von Kanzleien als sicher angenommen
werden; hier sind die eigentlichen Kulturzentren noch die beiden Klöster Pelplin und
Oliva. Unfertig erscheinen die Verhältnisse noch in Königsberg. Die Kolonisation
in den Komtureien Brandenburg und Balga hat noch kaum begonnen. Die Syste-
matik in der Kolonisationsarbeit des Ordensstaates wird daraus erkennbar“ (S. 21).
Von den 478 Urkunden des Urkundenbuches sind 167 neu, davon werden 6 als
Regesten gebracht (Nr. 227), deswegen weil das in Zuckau liegende Original nicht
einzusehen war. 106 Stücke waren schon in der Literatur bekannt. Dieser verhältnis-
mäßig geringe Ertrag an neuen Urkunden ist nicht weiter verwunderlich, da ein
Teil der Landschaften und Orte schon eigene Urkundenbücher herausgegeben haben.
Hierin veróffentlichte Stücke werden meistens als Regest gebracht. Nur dort, wo die
Veröffentlichung nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügte (besonders im Po-
mesanischen Urkundenbuche und im Urkundenanhang zu Cramers Geschichte der
Lande Lauenburg und Bütow) war ein Neudruck notwendig.
Vom Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen ist keine Urkunde mehr aus-
gestellt, von Karl von Trier nur 49. Die letzte von ihm in Preußen datiert vom
2. Juli 1317 (Nr. 185). Bald darauf legte er sein Hochmeisteramt nieder und zog
sich nach Deutschland zurück. Auch als er die Würde wieder übernahm, ist er nicht
nach Preußen zurückgekehrt, hat aber besonders am päpstlichen Hofe in Avignon
für den Orden gewirkt. Auch sonst ist seine Tätigkeit für den Orden erfolgreich
gewesen. So wird die Urkunde vom 17. Januar 1321 (Nr. 312) abgedruckt, in der
König Johann von Böhmen und Polen in Trier dem Deutschen Orden seine Rechte
in Böhmen und Mähren bestätigt. Im eigentlichen Sinne gehört diese Urkunde nicht
in das preußische Urkundenbuch hinein, da sie keine preußischen Verhältnisse be-
handelt, auch schon einwandfrei gedruckt vorliegt*. — Es erhebt sich aber da die
Frage, ob es nicht überhaupt ratsam wäre, in das preußische Urkundenbuch alle
Urkunden, die die Hochmeister betreffen, aufzunehmen, sei es auch nur in einer An-
! Preußisches Urkundenbuch. Zweiter Band, 1. Lieferung (1309—1324). Herausgeg.
im Auftrage der Histor. Komm. für ost- und westpr. Landesforschung von Max Hein und
Erich Maschke. Königsberg 1932. Komm.-Verlag Gräfe u. Unzer.
3 Max Hein, Die Ordenskanzleien in Preußen 1310—1324. In: Altpr. Forschungen 9. Jg.
(1032) 8. 9—21.
* Johannes Voigt, Die Ballei des Deutschen Ordens in Böhmen. Wien 1803. 8. 581.
Kritiken 845
merkung, damit alles, was den derzeitigen Hochmeister betrifft, hier vereinigt wäre. —
Nach der Abreise Karls von Trier aus Preußen treten die Urkunden des Landmeisters
Friedrich von Wildenberg und des Großkomturs Werner von Orseln, späteren Nach-
folgers im Hochmeisteramt, in den Vordergrund. Recht breiten Raum nehmen die
Urkunden über den Streit in Pommerellen ein. Der Prozeß des Königs von Polen
mit dem Deutschen Orden um Pommerellen vor den päpstlichen Richtern im Jahre
1320/21 (Nr. 310) füllt allein 25 Seiten.
Wir sind dankbar, daß die Arbeit am preußischen Urkundenbuch uns endlich
wieder einen Band beschert hat, dessen Wert vollanerkannt werden kann. Es soll keine
Herabsetzung sein, wenn ich auf einiges aufmerksam mache. Das Original von Nr.16
(1310 Juli 27) befindet sich im Geheimen Staatsarchiv in Berlin und von Nr. 231
(1319 Juli 12) im Deutschordens-Zentralarchiv in Wien (K.61). Bei den Geheim-
urkunden fehlt eine Stellungnahme der Herausgeber. Oder soll die Arbeit von Forst-
reuterin denaltpreußischen Forschungen 5 (1928)* alsmaßgebend angesehen werden ?
Daß tatsächlich nicht alle Urkunden erfaßt sind, ist schon von anderer Seite hervor-
gehoben worden.
Schon in den Jahren 1927—29 erschienen die drei letzten Lieferungen vom
4. Bande des Codex Diplomaticus Warmiensis*, so daB zum Abschluß dieses
Bandes nur noch das Register fehlt. Nicht durch Schuld des Referenten erscheint
jetzt erst die Anzeige. Ebenfalls über 2 Jahrzehnte sind seit Erscheinen der ersten
beiden Hefte dieses Bandes, die noch Röhrich und Liedtke besorgten, verstrichen.
Die Schlußhefte, die als Jahresgabe für die Mitglieder des Historischen Vereins für
Ermland erschienen sind, bringen nicht ganz 400 Urkunden (die Nrn. 218—609)
und umfassen die Jahre 1428—1435, einen Teil der Regierungszeit des Bischofs
Franz Kuhschmalz (1424—1457). Außerdem stehen in den Bemerkungen, die am
SchluB jedes Stückes gebracht werden, zahlreiche Teildrucke und Regesten.
Es ist die Zeit der Hussitengefahr und der dauernden Bedrohungen durch die
Polen, die natürlich auch in dem vorliegenden Urkundenbuch ihren Niederschlag
finden. Die Schreiben des Deutschordensprokurators aus Rom betreffen in der
Hauptsache livländische Verhältnisse. Da aber ermländische Kanoniker als Schlich-
ter eingesetzt sind, so mußten sie auch hier teilweise abgedruckt werden. Im Streit
des Deutschordens einerseits, des Erzbischofs von Riga und seines Kapitels anderer-
seits wegen deren Habitwechsel treten gleichfalls ermländische Kanoniker als Ver-
mittler auf. Ferner berühren eine ganze Anzahl Urkunden die Stellung des Deutschen
Ordens auf dem Baseler Konzil. Aus allen diesen Äußerungen wird uns die enge
Bindung des Ermlandes an den Deutschen Orden und seine Geschicke deutlich.
Noch nirgends finden wir eine Andeutung von Mißhelligkeiten zwischen beiden.
Nr. 4% bringt ein Verzeichnis der Urkunden, die 1433 das Domkapitel dem
Bischof Franz übersendet. Ein Vergleich zeigte, daß die Originale dieser Urkunden
noch größtenteils erhalten sind. Erwähnung verdient auch die Willkür Eberhards von
Wesentau, des Vogtes von Seeburg, für den ermländischen Bauernstand vom
* Kurt Forstreuter, Die Bekehrung Gedimins und der Deutsche Orden. In: Altpr.
Forschungen 5. Jg. (1928) 8. 239— 61.
* Monumenta Historiae Warmiensis. 32.—34. Liefg. Bd. IX, 3—5. I. Abt. Codex
Diplomaticus Warmiensis oder Regesten und Urkunden zur Geschichte Ermlands. — Ge-
sammelt u. in N. d. Hist. Ver. f. Ermland herausgegeb. von Hans 8chmauch. Bd.IV. Bogen
17—39. Braunsberg 1927—29.
846 Kritiken
12. März 1435 (Nr. 571). In 29 Artikeln werden Rechte und Pflichten der Schulzen
und Bauern festgelegt. Nachträge ergeben sich auch hier. Schmauch berichtet
bereits 1927, daB er für das Gesamturkundenbuch schon 500 neue Stücke gefunden
hat. Die Zahl hat sich seitdem noch vermehrt.
Kurz nach seiner Arbeit über die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen
in dem Sammelwerk, das der Landeshauptmann der Provinz OstpreuBen zur
Jubelfeier veranlaßte®, hat Krollmann eine selbständige politische Geschichte
des Deutschen Ordens in Preußen? erscheinen lassen. Die Arbeit ist aus genauester
Kenntnis mit der Entwicklung des Deutschen Ordens-Staates geschrieben und stellt
eine hervorragende Leistung dar. Jedem Abschnitt merkt man die innige Vertraut-
heit mit dem Stoffe an. Wie ein groBes Drama von erschütternder Tragik spielt sich
die Geschichte des Deutschen Ordens vor unseren Augen ab. Drei Jahrhunderte:
Aufstieg, Blüte und Verfall. Besonders packend weiB K. die letzten Zeiten zu schildern:
das vergebliche Bemühen, Preußen vor der Ländergier der Polen zu retten. Der
Übergang in ein weltliches Herzogtum blieb die einzige Rettung. Zu bewundern ist
die straffe Zusammenfassung. Dabei wird der ständige Fortgang des Geschehens
durch die Einteilung in kleine, ja kleinste Abschnitte nicht gestört. Allerdings wird
uns meist die allmähliche Entwicklung eines Ereignisses nicht gebracht. Erst dann
wird es erwähnt, wenn es in Erscheinung tritt. Dies ist allerdings richtig für den
Zweck, für den das Buch geschrieben ist: es will sich an einen weiteren Leserkreis
wenden. Ich glaube aber, daB der Fachgelehrte mehr von dem Buche haben wird,
und bedauere deswegen auch, daB die Anmerkungen fortgefallen sind. Vielleicht
entschlieBt sich der Verlag noch, dies bei der zweiten Auflage nachzuholen. Und dann
will K. nur die „politische Geschichte" bringen. Dies wird allerdings nicht streng
durchgeführt und kann es auch nicht, da sich gerade im Deutschordensstaate Kultur
und Wirtschaft nicht von den politischen Maßnahmen trennen lassen. Im Vorder-
grund der Schilderung steht aber immer das Ringen des Deutschen Ordens mit den
Grenzmächten und die Bündnispolitik. Besonders deutlich ist das völlige Versagen
von Kaiser und Reich um die Erhaltung dieser deutschen Feste im Nordosten und
das Bestreben der Polen, dort zu ernten, wo sie nicht gesát haben, herausgearbeitet.
Trotz der Schwachheit und Unzuverlässigkeit der polnischen Stände gelingt es dem
Könige, im 2. Kriege mit dem Deutschen Orden zu siegen, durch — die gewaltige
Anstrengung der preußischen Städte, die zwar ihre Freiheit vom Deutschen Orden
erstrebten, diese aber nicht an die Polen zu verkaufen gedachten; hierin sollten sie
sich táuschen. Ein treffendes Beispiel dafür, daB Deutsche sich immer selber ver-
nichten müssen.
Leider hat Krollmann sich nur ganz auf Preußen beschränkt und nicht den
Anteil, den die zahlreichen Balleien besonders in Deutschland am Werden und Ver-
gehen des Deutschordensstaates haben, mit einbezogen. Der Umschlagtitel: „Poli-
tische Geschichte des Deutschen Ordens“, der zu dieser Annahme führen konnte, ist
also irreführend und kommt wohl auf Konto des Verlages. Hervorzuheben sind die
ausgezeichneten zahlreichen bildlichen Beilagen aller Art.
* Vgl. HVj. XXVII. Hg. S. 877f.
* Christian Krollmann, Politische Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen.
Gräfe u. Unzer. Königsberg 1. Pr. (1932) = Ostpr. Landeskunde in Einzeldarstellungen
(Bd. 3).
Kritiken 847
Gleichsam als Ergänzung zu Krollmanns politischer Geschichte erscheint von
Oscar Schlicht, Das Ordensland Preußen®. Deshalb wird auch hier die politische
Geschichte nur in zwei kurzen Abschnitten (S. 23—50 u. 116—134) gegeben. In der
Einleitung verweist Schlicht selbst auf Krollmanns Darstellung, sowie auf die an-
deren Arbeiten, die in der von ihm herausgegebenen OstpreuBischen Landeskunde
in Einzeldarstellungen erschienen sind, für ein tieferes Eindringen in den Stoff. Be-
sonderer Wert ist auf die kulturelle Entwicklung gelegt. Der dritte Abschnitt: „Der
Orden als Lehnsherr“ (S. 51—82) weist starke Anleihen bei Voigt, „Die Balleien des
Deutschen Ritterordens in Deutschland'?, auf, ohne daB das Werk erwühnt wird.
Im folgenden, „Kultur und kulturelles Leben im Ordensstaat“, werden die Bauten
der Ordenszeit, geistiges Leben und Kunst, Klóster und Klosterwesen, sozial-kirch-
liche Einrichtungen und Anschauungen behandelt. Den Abschluß bilden die Kapitel
über „Livland und der Deutsche Ritterorden“ und „Die Balleien des Deutschen
Ritterordens". Diese Inhaltsangabe zeigt ein erfreuliches Programm, das wirklich
eine wertvolle Ergänzung zu Krollmanns politischer Geschichte und besonders nach
der kulturellen Seite hin wäre, wenn das Werk nicht so viele Fehler enthielte. Es ist
sehr schade, daß die Liebe zur Heimat den Verf. nicht auch zu sorgfältigerem Arbeiten
veranlaßte. So ist leider das Buch nur mit großer Vorsicht zu benutzen. Hoffentlich
fällt der 2. Teil besser aus. Hervorragend sind aber die sehr zahlreichen bildlichen
Beigaben, die mit feinem Verständnis ausgewählt sind.
Rechtsgeschichtlicher Natur sind zwei eingehende Untersuchungen von
Guido Kisch über „Die Kulmer Handfeste“ io und „Das Fischereirecht im Deutsch-
ordensgebiet 11 erschienen. Kisch knüpft an die Arbeiten Wilhelm von Brünnecks
über die Quellen zur Altpreußischen Rechtsgeschichte an, die aber nicht den ver-
dienten Widerhall gefunden haben. Seit seinem Tode (1918) schien dieses Gebiet
völlig verwaist zu sein. Da hat sich Kisch in seiner Königsberger Zeit von neuem
in diesen Stoff vertieft und ist diesen dort begonnenen Arbeiten treu geblieben. In
verschiedenen kleinen Studien hat er zuerst Teiluntersuchungen veröffentlicht !?
und bringt nun als erste reife Frucht rechtshistorische und textkritische Unter-
suchungen über die Kulmer Handfeste, denen er die Herausgabe der wichtigsten
Texte dieses Privilegiums anhängt.
Die Kulmer Handfeste ist das bedeutendste und einflußreichste Rechtsdenkmal
des Deutschordensgebietes. Gleichsam als Richtungsweiser steht es am Anfang der
* Oscar Schlicht, Das Ordensland Preußen. (T. DerOrdensstaat. Buchdruckerei der
Wilh. u. Bertha v. Baensch Stiftg. Dresden 1933.
* Bd. I, erschienen 1857.
" Guido Kisch, Die Kulmer Handfeste. Rechtshistorische und textkritische Unter-
suchungen nebst Texten. = Deutschrechtl. Forschungen. Herausgegeb. von Guido Kisch
1. Heft. W. Kohlhammer. Stuttgart 1931. Vgl. dazu: H. Kleinau, Untersuchungen über die
Kulmer Handfeste, besonders ihre Stellung im Recht der deutschen Kolonisation. Zugleich Be-
merkungen zu Guido Kisch, Die Kulmer Handfeste. In: Altpr. Forschungen 10. Jg. (1933)
8. 231—201.
" Guido Kisch, Das Fischereirecht im Deutschordensgebiet. Beiträge zu seiner Gc-
schichte. = Deutschrechtl. Forschungen. 5. Heft. W. Kohlhammer. Stuttgart 1932,
13 Das Mühlenregal im Deutschordensgebiet. Sav. ZRG. Germ. Abt. 48 (1028) S. 176—193.
— Studien zur Kulmer Handfeste. Die Rechtsvorbehalte der Kulmer Handfeste, ihre Rechts-
grundlagen und Rechtsnatur. In: ZSRG. Germ. Abt. 50 (1930) S. 180—239. — Zur Geschichte
des Fischereiregals im Deutschordensgebiet. In: Beiträge zum Wirtschaftsrecht. Festschrift
für Ernst Heymann. Marburg 1931. 8. 399—413.
848 Kritiken
Eroberung PreuBens durch den Deutschen Orden. 1231 beginnt der Kampf um
PreuBen, 1233 wird die Urkunde für Kulm und Thorn ausgestellt. Dadurch wird es
klar, daB diese verfassungsrechtliche Urkunde, die Kulm als Oberhof für die zu-
künftigen Städte einsetzt, auch Bestimmungen enthält, die sich später als untunlich
erwiesen. Es war ein Programm. Dies zeigt Kisch in dem Abschnitt: „Unange-
wendet gebliebene Bestimmungen der Kulmer Hand feste“. Darunter fallen . B.
die Freiheit der Bürger, eine Mühle zu erbauen, sofern ihr Acker an ein geeignetes
Gewässer grenzt (Art. 13), ferner die freie Richterwahl, die den Bürgern mit ge-
wisser Einschränkung zugesichert wurde (Art. 1). Deutlich tritt das Programmatische
in der Urkunde bei Art. 11 hervor, wo sich der Deutsche Orden ein Regalvorbehalt
für die edlen Metalle, namentlich für Gold und Silber, ausmacht. Eine Hoffnung,
die nie in Erfüllung ging.
Nachdem Kisch sich mit den Forschungen von Brünnecks u. a. auseinander-
gesetzt hat und sich dabei besonders gegen die juristisch-konstruktive Denkweise
wendet, behandelt er die Einwirkungen des alten Gewohnheitsrechtes auf die
Kulmer Handfeste. Er stellt die Frage: „Ist neben der Kulmer Handfeste das alte
heimatliche Gewohnheitsrecht der Ansiedler oder der eine oder andere wichtige
Rechtsgrundastz daraus auch für die neuen Verhältnisse im nordöstlichen Kolo-
nisationsgebiet in Geltung geblieben? Oder ist altes heimisches Gewohnheitsrecht
der deutschen PreuBensiedler von der Kulmer Handfeste aufgenommen und an-
erkannt und so zur Geltung gebracht worden?“ (S. 41 f.). Wie dem Siedler im
Osten das ius theutonicum nur durch ein besonderes Privileg zuteil wird und damit
die Bedeutung des Gewohnheitsrechtes verliert, so kommen dem alten Gewohnheits-
recht ,nur infolge und im Rahmen seiner Anerkennung durch die Kulmer Hand-
feste ... im Ordenslande noch Wirksamkeit zu“ (S. 47). Die Hand feste beweist
aber, daB auf dieses Gewohnheitsrecht der Siedler weitgehend Rücksicht genommen
worden ist. Leider geht Kisch auf diese Abhängigkeit nicht näher ein.
Der 2. Teil (S. 57—108) bringt textkritische Untersuchungen über die einzelnen
Fassungen. Einzeluntersuchungen fehlen leider auch hier. Zur Frage, ob Hermann
von Salza selbst bei der Abfassung des Privilegs im Deutschordenslande geweilt hat,
drückt sich Kisch schon im 1. Teil unter Anführung der gesamten Literatur
sehr vorsichtig aus (S. 6ff.). Er scheint aber zu der Annahme zu neigen, daB der
Hochmeister tatsächlich im Ordenslande war. Ebenso fehlt eine Untersuchung über
das Verhältnis des Originals von 1233 und der Neuausfertigung von 1251. Welcher
Text lag der Erneuerung zu Grunde? Im allgemeinen begnügt sich Kisch, die
Handschriften zu besprechen und die Grundsätze seiner Edition klarzulegen.
Allein für die Übersetzungen sucht er die Abhängigkeit nachzuweisen, die an einem
„Stammbaum“ (S. 106) schematisch dargestellt wird. Ich glaube also, daß noch nicht
mit dieser Veröffentlichung das letzte Wort für die textkritische Untersuchung ge-
sprochen ist.
Anschließend an diese Untersuchungen legt Kisch die Arbeit über „Das
Fischereirecht im Deutschordensgebiet" 11 vor. Das Forschungsverfahren ist das
gleiche wie im ersten Werke. Im 1. Teil unterrichtet er über den Stand der
Forschung. Durch die Überschrift des 2. Teiles: „Das Fischereiregal", der haupt-
sächlich sich mit Art. 10—12 der Kulmer Handfeste befaßt (S. 23—99), läßt Kisch
sofort seine Stellung zu der Frage erkennen, wie er sie schon in seinen Studien
zur Kulmer Handfeste!?, S. 187ff., gegen von Brünnecks Scheidung in Eigentums-
Kritiken 849
und Regalienvorbehalte auseinandergesetzt hatte und nochmals hier ausführlicher,
S. 35— 39, wiederholt. Seinen Ausführungen ist zuzustimmen. Die gleichen Verhält-
nisse haben wir in den Balleien, deren Urkundenmaterial nicht herangezogen wird.
Er lehnt es ab, daB das Binnenfischereiregal erst später aus dem Meeresfischereiregal
entstanden ist, sondern nimmt die Gleichaltrigkeit beider Regale an. Die Unter-
suchung über die rechtlichen Grundlagen der Fischereiprivilegien, ihr Verhältnis
zur alten Fischereifreiheit und zu den Rechtsverhältnissen an Grund und Boden faßt
Kisch in die Worte zusammen: „Der Nachweis konnte erbracht werden, daß dem
Deutschen Orden von Anbeginn seiner ordnenden Tätigkeit auf dem Gebiete des
Fischereirechts ein allgemeines Fischereiregal in weitestem Umfange als Ziel vor-
geschwebt hat, das zu erreichen, durchzuführen und zu behaupten er allezeit eifrigst
bestrebt gewesen ist“ (S. 103). Dieses Bemühen des Deutschen Ordens, das Fischerei-
regal genau wie das Mühlenregal auch in seinen sonstigen Besitzungen durchzu-
führen, lassen zahlreiche Urkunden aus den Balleien erkennen. Andere Territorien
ergeben allerdings wenig Vergleichungspunkte.
Der letzte Teil der Arbeit will nun durch Untersuchungen des Rechtsinhaltes
der Fischereiprivilegien im Deutschordensland die gewonnenen Erkenntnisse stützen
und erweitern. Er zeigt, ‚in welcher Weise das Fischereiregal seit der 2. Hälfte des
13. Jahrhunderts bis zur Zeit des Sinkens der politischen Macht des Deutschen
Ordens gehandhabt worden ist“ (S. 105) und „wie sich praktisch die Ausübung der
verliehenen Fischereigerechtigkeiten abspielte, wie sie sich ráumlich, zeitlich, gegen-
stándlich und persónlich innerhalb der engen Grenzen zu halten hatten, die der
Orden in Anwendung seiner hoheitsrechtlichen Gewalt vorschrieb'* (S. 105f.). Die
Bodenberechtigungsfrage und die Fischereigerechtigkeit sind keine untrennbaren
Begriffe. Das Recht zum Fischen wurde besonders verliehen. So bleibt auch das
Fischereirecht an gróBeren Seen nicht ausschlieBlich dem Deutschen Orden vorbe-
halten, wie es die Kulmer Handfeste vorgesehen hatte. Zahlreiche Privilegien durch-
löchern dieses Recht. Neben diesen selbständigen Fischereiprivilegien finden wir
vielfach auch in Pertinenzformeln die Fischerei erwähnt. Welche Bedeutung dieses
Vorkommen hat, darüber gehen die Meinungen noch auseinander. Doch scheint es,
darin stimme ich Kisch vollkommen zu, daß ihrer Erwähnung besondere Be-
deutung zukommt. Denn durchaus nicht in allen Pertinenzformeln von Verleihungs-
urkunden am oder beim Wasser gelegener Grundstücke wird die Fischerei erwähnt.
Ausführlich werden auch an Hand des gedruckten Materials die Beschränkungen
der Fischereigerechtigkeit auseinandergesetzt. Abschließend wird über die Fischerei-
rechtsstreitigkeiten gesprochen, soweit es das bis jetzt lückenhafte Material zuläßt.
Alle aufgeworfenen Fragen konnten nicht geklärt werden, da dazu noch viele Einzel-
untersuchungen auch in anderen Hoheitsgebieten nötig sind. Wir sind aber auch
dankbar für die reichen Anregungen und die Untersuchungen, die uns in der Er-
kenntnis dieses schwierigen Gebietes wesentlich gefördert haben.
Rudolf Grieser untersucht das älteste Register der Hochmeisterkanzlei in
Preußen (1238—58)1®, das er im Königsberger Staatsarchiv als Blatt 222 bis
254 des Ordens-Folianten 105 entdeckt hat, und gibt dabei auch wichtige Auf-
schlüsse über die Einrichtung dieser Kanzlei und über ihre Beamten. Sehr wichtig
sind die Feststellungen, daß die Eintragungen nach Konzepten vorgenommen sind,
? Rudolf Grieser, Das älteste Register der Hochmelsterkanzlel des Deutschen Ordens.
S.A. a. MöIG. Bd. XLIV (1930) 8. 417—456. f
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 94
850 Kritiken
und daß bei gleichartigen Beurkundungen nach Formularen gearbeitet wurde. —
In einem anderen Aufsatz!® versucht er die Entstehung der Lischken und ihre Ent-
wicklung zur Stadt festzustellen. Doch nicht bei allen Orten läßt sich genau die Zeit
bestimmen, in der sie Stadt wurden, d. h. als letzte Rechte den Wochenmarkt und
das freie Brauwerk bekamen, sondern es findet allmählich ein Hinübergleiten statt.
Als weitere Veröffentlichungen erwähne ich kurz zwei gemeinverstándliche Vor-
träge aus dem preußischen Gebiet des Deutschen Ordens von Stolz el, die ursprüng-
lich für den Rundfunk bestimmt waren. Im ersten gibt er einen Überblick über die
geschichtliche Bedeutung OstpreuBens als Eckstein des Deutschtums im Nordosten
gegen Polen und Russen. Im zweiten hebt er die staatlichen und kulturellen Lei-
stungen des Deutschordenslandes und der Provinz Preußen hervor.
Aus der Literatur der Ordensballei weise ich zuerst die quellenkritische
Arbeit von Willy Flach, Urkundenfälschungen der Deutschordensballei Thü-
ringen im 15. Jahrhundert hin!*. Er ergänzt und erweitert seine Forschungen,
die er uns zuerst als Anhang in seiner Arbeit über das Urkundenwesen der Vögte
von Weida vorlegte. Die Arbeit zerfällt in drei Teile: Schriftuntersuchung, Diktat-
untersuchung und der Zweck der Fälschungen. Im ersten Abschnitt zeigt Flach,
daß alle bis jetzt bekannten Fälschungen der Deutschordensballei Thüringen von
dem Notar Gregorius Wernher aus Eger stammen, der sie sicher im Auftrage des
Landkomturs Eberhard Hoitz ausgeführt hat. Daß Wernher nach vorliegenden
echten Urkunden arbeitete, beweist Flach im zweiten Teile. Die Originale, die ihm
für seine Arbeiten als Unterlage dienten, sind teilweise noch vorhanden. Flach stellt
vielfach die Stücke zum Vergleich nebeneinander. Von den verlorenen Originalen,
die der Notar verfälschte, ist wahrscheinlich noch das Pergament vorhanden, denn
es ist anzunehmen, daß da, wo der Fälscher abgeschabtes Pergament benutzt, dies
von den verlorenen Originalen herrührt. Der Zweck aller Fälschungen läßt sich
ebenso meist noch nachweisen. Größtenteils ist es der Streit um Landbesitz, in dem
der Landkomtur alte Urkunden beibringen mußte, um die Rechtmäßigkeit seiner
Ansprüche zu erhärten. Mit den in vorliegender Arbeit behandelten Fälschungen
ist aber die Reihe derselben, die sich bis jetzt auf die Häuser Altenburg, Nägelstedt,
Plauen, Reichenbach und Saalfeld erstreckt, noch nicht erschöpft, wie Flach auch
am Schluß der Arbeit andeutet. Über Nägelstedt haben sich neue Fälschungen
herausgestellt. Ebenso ist eine Urkunde für das Deutschordenshaus Halle aus der
Werkstatt von Gregorius Wernher hervorgegangen.
Über die Deutschordensballei Thüringen hat Bernhard Sommerlad!? in
Halle promoviert. Wenn auch Verfasser die gesamte gedruckte Literatur für seine
Arbeit herangezogen hat, so würe doch die ausführliche Bearbeitung eines Ordens-
hauses wertvoller gewesen, denn das vorliegende Material reicht eben noch nicht aus,
34 Rudolf Grieser, Lischke und Stadt. Ein Beitrag zur Geschichte der Städte im Lande
des Deutschen Ordens. S.A. a. Prussia. Heft 29 (1931). 8. 232—243.
"5 Wilhelm Stolze, Ostpreußens geschichtliche Sendung. Zur 700-Jahrfeier der Ver-
bindung Ostpreußens mit Deutschland. Langensalza 1931. Hermann Beyer u. Söhne.
1% Willy Flach, Die Urkundenfälschungen der Deutschordensballei Thüringen im 15. Jahr-
hundert. S. A. a. Festschrift. Valentin Hopf zum 80. Geburtstage. 27. Januar 1933. S. 86—136.
Bernhard Sommerlad, Der Deutsche Orden in Thüringen. Geschichte der Deutach-
ordensballei Thüringen von ihrer Gründung bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderte. = For-
schungen zur thür.-sächs. Geschichte. 10. Heft. Gebauer-Schwetschke. Halle (Saale) 1931. —
Vgl. dazu meine ausführliche Besprechung in Z. Thür. G. u. A. Neue Folge. 30. Bd. (1932).
8. 342—354 und von Willy Flach in Sachsen u. Anhalt 1933.
Kritiken 851
um ein einwandfreies Bild über die Ballei zu geben. Besonders da, wo er kulturelle
und wirtschaftliche Fragen des 15.—16. Jahrhunderts berührt, zeigt sich dieser
Mangel an Material sehr.
Die späteste größere Erwerbung des Deutschen Ordens ist die Neumark, die
1402 als Pfandbesitz, 1429 für dauernd dem Ordensgebiet angeschlossen wurde. Sie
war für den Deutschordensstaat die Verbindung mit dem Reich und mufte bei der
beginnenden Auseinandersetzung mit Polen sehr wichtig sein. Da die Lützelburger
Geld brauchten und unter allen Umstánden dieses Gebiet versetzen oder verkaufen
wollten, so mußte der Orden zugreifen. Tat er es nicht, so bestand die Möglichkeit,
daB Polen dieses Gebiet an sich riB und dadurch den Orden vóllig vom Reiche
trennte.
Diese außenpolitischen Verwicklungen berührt Heidenreich!* nur kurz im
ersten Teil seiner Arbeit, sonst beschránkt er sich bewuBt auf die Behandlung der
innerpolitischen Verhältnisse. Insofern ist auch der Titel des Werkes irreführend.
Verf. kommt es darauf an, zu zeigen, wie sich der Orden mit dem ganz anders ge-
arteten staatlichen Aufbau in der Neumark abfand und trotzdem Ruhe und Ordnung
hineinbrachte. Hier weitgehendste Vorherrschaft der Stände mit fast völliger Aus-
schaltung des Landesherrn und daher fortschreitender Verfall durch die Selbstsucht
der Stände, dort straffste Zusammenfassung des Staates unter einem zielbewußten
Führerwillen und daher ein blühendes Gemeinwesen. Es ist nun Heidenreich gut
gelungen herauszuarbeiten, wie sich der Deutsche Orden mit der völlig veränderten
Struktur des neuen Gebietes abfindet. Der Hochmeister paßt sich den dortigen Ver-
hältnissen an und sucht nur Schritt für Schritt, soweit es ohne wesentliche Reibungen
geschehen kann, seine Stellung zu befestigen (Rückerwerbung der Hoheitsrechte).
Dies beweist, wie beweglich trotz der Starrheit in Preußen doch die politische
Leitung des Ordens war. Durch Verhandlungen mit den Ständen und ihre Heran-
ziehung zu gemeinsamer Arbeit (Landtage) — also ganz im Gegensatz zu Preußen —
gewinnt er Boden im neuerworbenen Lande. Allerdings kann ihm unter den ver-
änderten Zeitverhältnissen und bei den Sorgen im Stammgebiet nicht alles gelingen.
Überblicken wir aber die ganze Zeitspanne der über 50jährigen Ordensherrschaft,
so sehen wir deutlich, wie groß der Segen dieser Regierung für die Neumark gewesen
ist. In einem Zeitpunkt tiefster innerer Zerrissenheit und alleinherrschender Eigen-
sucht von Adel und Städten zwingen die im Ordenslande geschulten Vögte diese
beiden Gruppen, wieder etwas staatlicher zu denken. Wie schwer die Arbeit der
Vögte gewesen ist, tritt oft deutlich genug hervor. Ein kurzer Überblick über das
Verzeichnis der Neumärkischen Ständetage während der Ordenszeit (Anhang I)
veranschaulicht uns dies. Meist zweimal jährlich beruft der Vogt — auch dies ist
bemerkenswert — diese Versammlungen zur Aussprache und Beschlußfassung über
wichtige Angelegenheiten. In der Beschränkung auf innere Verhältnisse ist die
Arbeit voll anzuerkennen. Allerdings glaube ich, daß die Schwierigkeit des ganzen
Problems erst durch die Verbindung mit der außenpolitischen Lage des Deutschen
Ordens und damit der Neumark völlig zu verstehen ist. Reiches ungedrucktes Mate-
rial, besonders das des Königsberger Staatsarchivs, stand Verf. zur Verfügung. Auf
Grund der genauen Durcharbeitung gelingt es ihm, verschiedene, besonders un-
Karl Heidenreich, Der deutsche Orden in der Neumark (1402—1455). = Einzel-
schriften der Historischen Komm. für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptetadt
Berlin. 5. Komm.-Verlag von Gsellius. Berlin 1932.
54*
852 Kritiken
datierte Stücke richtig einzureihen. — Die beiden Thobenecker oder Tobenecker (so
wechselnd) gehóren zu dem aus dem Vogtlande teilweise nach PreuBen eingewan-
derten alten Geschlecht von Dobeneck. Da sonst die moderne Schreibung der Namen
durchgeführt wurde, so hätte es sich auch bei diesem Namen empfohlen. — Auf S. 78f.
und 81 ist versehentlich wiederholt Hofmeister statt Hochmeister stehen geblieben.
Endlich erwähne ich zwei Arbeiten von Schnettler!*. In der ersten gibt Verf.
einen Überblick über die Deutschordensballei Westfalen und berücksichtigt be-
sonders den Anteil der Westfalen als Ritter des Deutschen Ordens in PreuBen und
Livland. — Im zweiten Aufsatz macht Verf. auf eine Handschrift im Staatsarchiv
Münster aufmerksam, die nach 1745 abgefaBt ist. Der Schreiber steht nicht fest.
Aus dieser Lebensbeschreibung geht hervor, daB der livlándische Landmeister
Walter von Plettenberg aus Meyerich i. W. stammt.
Über einzelne Hochmeister handeln zwei Arbeiten. Willi Cohn“ stellt in den
Elbinger Jahrbüchern geschickt und anschaulich zusammen, was er über die Be-
urteilung Hermann von Salzas von Peter von Dusburg bis Erich Caspar gefunden
hat, allerdings ohne die polnische Literatur zu berücksichtigen. AbschlieBend kann
er sagen: „... alle Männer, seien es Chronisten des Mittelalters, seien es moderne
Geschichtsforscher, stimmten in der Anerkennung der GróBe dieses Mannes überein.
Wohl ist die Auffassung von ihm im einzelnen verschieden gewesen, aber alle be-
wundern gemeinsam die Reinheit seiner Gesinnung, die edlen Motive seines Handelns.
Nur über wenige Männer, die in der Weltgeschichte eine hervorragende Rolle ge-
spielt haben, ist man in ihrer Gesamtbeurteilung so einig.
Das Lebensbild des Hoch- und Deutschmeisters Wolfgang Schutzbar behandelt
Renz#l. Schon Johannes Voigt hat im 2. Bande seiner Geschichte des Deutschen
Ritterordens? die Hoch- und Deutschmeisterzeit Schutzbars behandelt. Für ihn
spielen nur die großen Geschichtspunkte eine Rolle, während Renz mehr das Milieu
schildert. Mergentheim steht bei Renz im Mittelpunkt der Regierungszeit. Über
Voigt hinaus macht uns Renz mit der Familie des Ordensritters bekannt. Der Tag
seines Eintrittes in den Deutschen Orden ist bekannt. Von da aus glaubt Renz sein
Geburtsdatum feststellen zu kónnen. Das ist immerhin zweifelhaft, da wir wissen,
das vielfach die jüngeren Sóhne des Adels schon sehr früh das Ordenskleid nahmen.
Leider übergeht Renz die Griefstedter Zeit ganz. Da hätte doch die Arbeit von Ander-
son® einiges geboten. Eingehender wird seine Wirsamkeit als Landkomtur in Hessen
und sein Kampf mit dem Landgrafen Philipp dem Großmütigen um die Erhaltung
der Ballei und besonders des Hauses Marburg geschildert. Wenn man von einigen
Wiederholungen und Druckfehlern absieht, so gibt das Buch ein gutes Bild-
Wirken des Deutschmeisters, besonders für Mergentheim. Allerdings hat wohl Renz
auf jede selbständige Forschung — wenigstens außerhalb von Mergentheim — ver-
1 Otto Schnettler, Westfalen und der Deutsche Ritterorden. In: Auf Roter Erde.
Beiträge zur Geschichte des Münsterlandes und der Nachbargebiete. Aschendorffsche Verlags-
buchhandlung. Münster i. W. 1932. S. 35ff. — Ders., Eine unbekannte Lebensbeschreibung
Wolters von Plettenburg. Ebda. 8. 62.
% Willy Cohn, Hermann von Salza im Urteil der Nachwelt. 8.A. a. Elbinger Jb. Heft 10
(1932° 8. 33—50.
" Gustav Adolf Renz, Wolfgang Schutzbar genannt Milchling. Das Lebensbild eines
Reichsfürsten und Ordensritters. Hans Kling. Bad Mergentheim (1932).
*! 8. 94-180: Der Orden unter d. Deutschmstr. Wolfg. Schutzbar, gen. Milchling. 1543-1566.
1 Gesch. d. Deutschen Ord.-Commende Griefstadt. Erfurt 1867.
Kritiken 853
zichtet und stützt sich auf die schon genannte sehr viel ausführlichere Arbeit Voigts,
den er zwar nicht erwähnt, dessen Angaben er aber unbesehen übernimmt. Sonst
wäre es ihm z. B. aufgefallen, daB das Schreiben des Speyerer Generalkapitels vom
16. [nicht 15.] April 1543, durch das dem Kaiser Karl V. die Ernennung Schutzbars
zum Deutschmeister angezeigt und um seine Bestütigung gebeten wird, nicht mehr
im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien (Renz nennt es Reichsarchiv) liegt, son-
dern im Deutschordenszentralarchiv in Wien.
- Abschließend möchte ich auf die kleine Schrift von Ledermayer* hinweisen,
der von dem ehemaligen und gegenwärtigen Wirken des Deutschen Ordens in
schlichter Form berichtet, wobei er sich für die früheren Zeiten vielfach auf Voigt
stützt. Ihm kommt es darauf an, zu zeigen, daß der Deutsche Ritterorden eigentlich
ein Hospitalorden ist und sich zu diesem seinem ursprünglichen Zwecke nach der Neu-
organisation durch den Hochmeister Maximilian Josef von Österreich-Este (1835—63)
wieder zurückgefunden hat. Manch einem wird das Schriftchen zur Unterrichtung
über die auch jetzt noch bedeutsame Tätigkeit des Ordens willkommen sein. Leider
sind die bildlichen Beigaben nicht besonders gut ausgefallen. Lampe.
Ernst Rietschel, Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Lu-
ther. Darstellung und Lósungsversuch. Mit einem Anhang: Die Kirche bei
Melanchthon. — Schrr.Ver. f. Ref.-Gesch. 164, M. Heinsius Nachf., Leipzig
1932. 110 S.
Der Vf.legt in sorgfältiger Auseinandersetzung mit der neueren Literatur und in
durchgehender z. T. etwas sophistischer Polemik gegen ein seinem Urteil nach
melanchthonisierendes und katholisierendes Neuluthertum (W. Elert u, a.) seine
schon 1900 (Th. St. Kr. 404—456) im Grundzug entwickelte Lösung eines Problems
vor, das zwar so durchaus Anliegen der Lehre von der Kirche in der lutherischen
Orthodoxie ist, das aber doch an Luther selbst mehr herangetragen als von ihm ge-
stellt wird. Führer bei dem Lósungsversuch ist dem Vf. R. Sohm (Weltliches und
geistliches Recht, 1914; vgl. Rietschel, Exkurs 2, S. 91—93).
Bereits A. Ritschl hat (Th. St. Kr. 1859) entgegen der Zweikreise-Theorie —
die unsichtbare Kirche als communio fidelium der kleinere Kreis in der die Sakra-
mente verwaltenden Kirchenanstalt —, die für Zwingli und z. T. für Melanchthon
bezeichnend ist, die Einheit der unsichtbaren und sichtbaren Kirche in einer Doppel-
heit der Betrachtungsweise betont: Der Glaube sieht die Kirche, ihm ist sie sichtbar;
der Verstand des natürlichen Menschen sieht die àuBere Ordnung, ihm ist die Kirche
unsichtbar. E. Rietschel bezieht die doppelte Betrachtungsweise auf einen Be-
trachter, auf den Glauben: für den Glauben ist die wesensmäßig unsichtbare Kirche
dennoch an ihren Gnadenzeichen sichtbar. Wie das Verständnis für Musik, heißt es,
musikalischen Sinn voraussetzt, so gilt es analog für das Problem der Sichtbarkeit
der unsichtbaren Kirche als für einen „Spezialfall“ des Glaubens eben „mit den
Augen des Glaubens das Góttliche, Ewige, Übernatürliche im Endlichen, Zeitlichen,
Natürlichen zu sehen“ (80). „Vom Glaubensstandpunkt aus zu urteilen — das ist
der Schlüssel zu Luthers Kirchenbegriff‘‘ (82).
Die Voraussetzung dieser beiden von A. Ritschl und E. Rietschel (und áhnlich
auch von anderen) vorgeschlagenen Antworten, nämlich die Identität der unsicht-
* P, Kanisius Ledermayer O. T., Der Deutsche Orden einst und jetzt. Freudenthal
(in Schlesien, Tsch.-81.) 1933.
854 Kritiken
baren und der sichtbaren Kirche bei Luther, das Fehlen eines über die Gemeinde der
Gläubigen hinausgreifenden erweiterten (anstaltlichen) Kirchenbegriffs, hat Vf. sehr
nachdrücklich herausgestellt und gesichert (bes. Exkurs 1, S. 83—91). ,,Die Ver-
waltung von Wort und Sakrament schreibt Luther der innerlichen Christenheit,
der wahren Kirche, der unsichtbaren Gemeinde der Gläubigen zu“ (36/37). Man wird
Vf. hierbei gern zustimmen. Ebenso im allgemeinen bei seinen vorbereitenden und
den Stand der Forschung zusammenfassend auswertenden Ausführungen: Die Kirche
die Gemeinde der Gläubigen (Kap. 1); Die Kirche unsichtbar für den natürlichen
Menschen (Kap. 2), sofern es hier um die Sichtbarkeit des Wesens der Kirche geht;
die Kirche Inhaberin der sichtbaren Gnadenmittel (Kap. 3).
Dagegen sind die für die These des Vf. entscheidenden Kapitel 4—6 doch in
ihren Fragestellungen und in ihren Antworten da und dort anfechtbar. Die Kirche
Luthers droht in Kap. 4 (Die Gnadenmittel in ihrem Wesensgehalt unsichtbar für
den natürlichen Menschen) unversehens zu der — vom Vf. abgewiesenen — Kirche
Schleiermacher zu werden, die sich bekanntlich „bildet ... durch das Zusammen-
treten der einzelnen Wiedergeborenen zu einem geordneten Aufeinander- und Mit-
einanderwirken" ; aber der (mit Sohm) versuchte Nachweis, dem dieses Kap. gilt,
daB nämlich Luther „unter dem die Kirche ebenso erzeugenden wie bezeugenden
Wort nicht festbestimmtes Schrift- oder Bekenntniswort, sondern mündliches,
lebendiges Menschenwort versteht“ (45), und zwar nicht das Wort der Predigt als
solches, sondern „die brüderliche und unmittelbare" Bekundung des ‚Herzens-
glaubens“, dieser Nachweis kann nicht als geglückt angesehen werden, trotz des
Euangelium vocale, des Euangelium viva voce (WA 7, 721), das Luther betont.
Die Unsichtbarkeit des Wortes für den natürlichen Menschen ist eben nicht dadurch
begründet, daB es persönliches Glaubenszeugnis ist, sondern daß es Wort Gottes ist;
und dieses ist auch den Gläubigen noch immer irgendwie unsichtbar. Es stimmt also
nicht, wenn Vf. gegen den Hinweis auf das „objektive Wort“ in der Verkündigung
(viva vocel) sagt: „Keine Rede von einem Gotteswort in der Schrift, im Bekenntnis,
im Gottesdienst oder in der Sakramentsfeier, das für Luther nicht in irgendeiner
Weise persónliches Glaubenszeugnis, lebendige Stimme des Evangeliums und damit
auch nur (!) für das gläubige Verständnis sichtbar und im übrigen unsichtbar
wäre“ (50).
Es stimmt daher zweitens auch nicht — im Rahmen des vom Vf. behandelten
Problems — wenn die Kirche in ihren Gnadenmitteln ausschlieBlich für die Gláubigen
„sichtbar“ ist. Hier hätte Vf. dem Zeichenbegriff bei Luther, dem Luther sehr
wichtigen Gedanken des signum und der signa salutis im besonderen weiter nach-
gehen müssen, um deren objektiven Hinweis- Charakter entsprechend würdigen
und auswerten zu kónnen. Das Zeichen sagt, daB etwas da oder dort vorhanden ist.
Für den Vf. aber sind Wort und Sakrament nach Luther „Zeichen der Kirche als
unmittelbarer Ausdruck ihres inneren Wesens, als (was ich nur für die entscheidende,
dem ,Herzensglauben', dessen Bekundung Kirche erzeugt und bezeugt, entsprechen-
de Auslegung des bis dahin angüngigen Satzes nehmen kann) natürliches Mittel
des in ihr sich auswirkenden Gemeinschaftslebens“ (53). Hätte das nicht besser in
einer Studie über den Kirchenbegriff Schleiermachers seinen Platz gefunden? Die
notae ecclesiae sind für Luther doch wirklich — was Vf. allerdings gegen Kohlmeyer
ablehnt — so etwas wie „heuristische Prinzipien“, d.h. sie sagen, daß Kirche da
ist; und sie sagen es auch dem Ungläubigen. Diese ihre Funktion schließt aber not-
Kritiken 855
wendig einen Syllogismus ein, auch beim Gläubigen. Man verdeutliche sich das etwa
an der verschiedenen signa praedestinationis bzw. electionis in Luthers Römerbrief-
Vorlesung. Rietschel behauptet allerdings: „Für eine Verstandesoperation, an deren
Ende die Erkenntnis vom Dasein einer unsichtbaren Gemeinde der Gláubigen steht,
bleibt kein Raum. In dem gläubigen Verständnis des Wortes wird vielmehr ohne
weiteres die Kirche selbst getroffen“ (57). „Im Zeichen des gläubig bekannten Wortes
bezeugt sich die Kirche und wird deshalb ganz unmittelbar in diesem Zeichen dem
Gläubigen erkennbar, faßbar, wahrnehmbar“ (60). Zu dieser schlußfreien betonten
Unmittelbarkeit paßt es allerdings nicht sonderlich, wenn kurz darauf ein ganz
bezeichnender Satz aus „Von den Konziliis und Kirchen“ (1539) zitiert wird: „Wo
du nun solch Wort hórest und siehest predigen, glauben, bekennen und darnach
tun, da habe keinen Zweifel, daB gewißlich daselbst sei eine rechte ecclesia sancta
catholica." Also: die sichtbaren, hörbaren Erkennungszeichen der wahren Kirche
sind Hinweis auf das Vorhandensein von Kirche dort, wo solche Zeichen
wahrgenommen werden. „Sichtbar“ ist auch für den Gläubigen offenbar nur das
Dasein von Kirche; sein „Sehen“ ist freilich ein anderes, als das des Ungläubigen,
sofern es eben eine glüubige persónliche Stellungnahme ist, einen dieser entsprechen-
den Syllogismus einschlieBt, und sofern es, wenn die Frage darauf eingeengt und
zugespitzt wird, ob der Gläubige auch den Nächsten als solchen Gläubigen bestimmt
erkennen könne, ein von der Liebe befohlenes Sehen ist; die Liebe aber darf sich
täuschen lassen. Die Beschränkung der Sichtbarkeit der Kirche auch für den Gläu-
bigen (Kap. 6) bezieht sich daher, streng genommen, nur auf das Daß des Daseins
von Kirche da und dort, so daß m. E. der Satz Gottschicks, des Forschers, der am
Eingang der neueren Beschäftigung mit Luthers Kirchenbegriff steht (Z K G VIII,
1885, S. 345 ff., 543ff.), diese Schranke genauer wahrt: die Kirche „hat an dem
Wort ihr Zeichen, das — natürlich nur für den Glauben, der aus eigener Erfahrung
seine Kraft kennt — das Dasein des Reiches Christi ausweist.“
Es ist m. E. eine Folge der starken Betonung „realer Wechselbeziehung gläubiger
Persönlichkeiten“ in Luthers Kirchenbegriff, daB sich Vf. verführen ließ, die richtig
beobachtete starke, mitunter formalistische Zurückhaltung Luthers im Urteil über
die „Sichtbarkeit“ der Kirche doch wieder außer acht zu lassen, und die Frage nach
der Sichtbarkeit der Kirche so unmittelbar auf das Wesen, auf die Substanz der
Kirche zu beziehen, als ob die Gemeinschaft der Gläubigen das Wesen der Kirche
selbst wäre; vielmehr: tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo Dei (WA 7,
121). Zugleich wird in jener unmittelbaren Beziehung auf das Wesen die „Sichtbar-
keit" der Kirche ihrer Unsichtbarkeit nebengeordnet, was wiederum an der theolo-
gischen Begründung des Kirchenbegriffs bei Luther vorbeiführt, für den Kirche
gleich Christus die Offenbarungsgegenwürtigkeit Gottes ist, d.h. wesensgemäße
Unsichtbarkeit mit ihr eingeordneter, also nur mittelbar auf das Wesen bezogener
„Sichtbarkeit“, die beide grundsätzlich an alle Menschen, Ungläubige und Gläu-
bige, gerichtet sind.
Wenn Rietschel von der Sichtbarkeit der Kirche für den Gläubigen redet,
sagt er zuviel; wenn er von der Sichtbarkeit der Kirche für den Gläubigen
spricht, zu wenig.
Der bei allen angedeuteten Bedenken anregenden und sorgfältigen Studie sind
vier lehrreiche Exkurse angefügt und eine knappe Untersuchung der Kirche bei
Melanchthon. Von da aus (S. 99) ist S. 44, Z. 13 „an“ statt „in“ zu lesen; von da
856 Kritiken
aus wird das Urteil über Schwabacher Artikel 12 (S. 44 unten) doch wieder ab-
geschwácht.
Bonn. E. Wolf.
Helmut Weigel, Franken, Kurpfalz und der BóhmischeAufstand 1618—1620,
Erster Teil: Die Politik der Kurpfalz und der evangelischen Stände Frankens
Mai 1618 bis Márz 1619. Verlag von Palm und Enke, Erlangen 1932. 274 S.
Preis br. 8 RA, geb. 10 RM.
Altbekannte Dinge, etwas ausgeweitet und mit neuen Einzelfunden ausge-
schmückt — so denkt man, wenn man Weigels Buch zur Hand nimmt. Indes stutzt
man: Für 10 Monate des DreiBigjáhrigen Krieges 17 Druckbogen! Und doch ist die
gründliche Durchforschungsmethode Weigels allgemein — und insbesondere für
die behandelten Territorien notwendig, wenn wir, was auf vielen Gebieten der Historie
bitter notwendig ist, von dem gelegentlich Schematischen der zünftigen Geschichts-
auffassung uns losmachen und den Menschen und Dingen, wie sie nun einmal waren,
gerecht werden wollen. Der „Sondercharakter des einzelnen Staates, seine Persönlich-
keit" muB, wie Weigel mit Recht betont, mehr als bisher, möglichst tief erfaßt
werden für eine Zeit, in welcher die großen Staaten und starken Persönlichkeiten
„bereits dem modernen Machtgedanken“ huldigten, während die Schwächeren die
sie schützenden Rechtsbeziehungen als papierne Schutzmauern ihrer politischen
Kartengebäude immer dichter und höher zu bauen versuchten. Aber was bedeutet
Recht vor Macht? So wie ich in meinem Werk „Nürnberg, Kaiser und Reich — Studien
zur reichsstädtischen Außenpolitik“ (München 1930) wiederholt richtigstellen oder
wesentlich vertiefen mußte, — ich denke u. a. an meinen Aufriß der politischen Ein-
stellung der maßgebenden evangelischen bzw. kalvinistischen Fürsten und der deut-
schen Reichsstädte in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts — so hat Weigel die Per-
sönlichkeit des Pfälzer Kurfürsten Friedrichs V. in ein ganz neues Licht gestellt und
damit seine Politik. Das gleiche gilt für Kursachsen.
Im einzelnen behandelt Weigel zunächst den Fenstersturz zu Prag und seinen
Einfluß auf Franken im Mai und Juni 1618, das Verhältnis zwischen Böhmen, Kaiser,
Reich und Franken und arbeitet dabei die Sonderstellung Nürnbergs zu Böhmen,
dem Kaiser und Kurpfalz heraus. Die zweite Frage lautet: Vermittlung oder Krieg
im Sommer 1618? Der Einfallin Böhmen und die Durchzugsgefahr vom August 1618,
die Interpositionsverhandlungen und die Vorbereitung des Unionstages im Sep-
tember bilden die Themen der beiden nächsten Kapitel. Der Kaiser hatte in Franken
nur Bamberg, Würzburg und Eichstätt auf seiner Seite. Im Westen bemühte sich
König Ferdinand, Kurpfalz für seine Auffassung zu gewinnen, die böhmischen Un-
ruhen seien politischen Charakters. Kurfürst Friedrich versagte sich mit Ausreden
den königlichen Hilfsforderungen der verschiedensten Art. Er wollte wie bisher eine
böhmenfreundliche Vermittlungspolitik — dies ist wichtig gegenüber der her-
kómmlichen Auffassung — durchsetzen! Kursachsen und das unionistische Franken
suchte er bei sich festzuhalten. Indessen drohte vom Niederrhein her ein Durchzug
ligistischer Truppen. Von Bayreuth dagegen „hatten die böhmischen Stände niemals
etwas zu erwarten‘; der Markgraf war zwar ein guter evangelischer Christ, hatte
aber doch seine Bedenken gegen die Opportunität des Vorgehens der böhmischen
Stände. Bayreuth und Koburg erwogen vor allem, wie sie sich selbst schützen
könnten. Der Nürnberger Rat dagegen ließ es nach beiden Seiten sein Bewenden
Kritiken 857
haben; er bereitete sich nur darauf vor, daB er im Notfall genügend geschulte Offiziere
und hinreichendes Kriegsmaterial für die Stadttruppen zur Verfügung hatte. Kaiser,
Union und Böhmen bestürmten die Stadt. Nürnberg stand, wie so oft, zwischen
zwei Gruppen. Es ist die Politik der Halbheiten, die ich in meinem Werk „Nürnberg,
Kaiser und Reich“ seit Beginn der Reformation für die alte Reichsstadt so oft fest-
stellen mußte und begründet habe. „Temporisieren“ war Trumpf.
Mit dem Angriff des Kaisers in Bóhmen steigt die Durchzugsgefahr in der
zweiten Augusthälfte des Jahres 1618. Kurfürst Johann Georg von Sachsen war zwar
mit der Wiener Politik nicht einverstanden, enthielt sich aber doch vorerst der Zusam-
menarbeit mit den Gegnern des Kaisers. Kurfürst Friedrich, der Fürst von Anhalt,
sein väterlicher Freund, der Markgraf von Ansbach und der Herzog von Savoyen
spielen in einem — gegenüber dem Savoyer — nicht ganz ehrlichen Spiel zusammen.
Am 6. September gab der Kaiser seine Bedingungen bekannt, zu denen ihn
die Erfolge seiner Waffen berechtigten. Der Vermittlung war dies natürlich nicht
dienlich. Bayreuth und der sächsische Kurfürst hielten „absolute Neutralität mit
Neigung nach der Seite des Kaisers. Der einzige Unterschied lag in der Aktivität,
die Johann Georg in und mit der Interposition entwickeln muBte, wührend Christian
[von Bayreuth] in die bóhmischen Dinge sich nicht im geringsten einmischte und
einzumischen brauchte". Der Kaiser konnte daher die Interposition Sachsens am
7. September annehmen. Koburg, Anhalt und Kurpfalz waren einig in der Auffassung,
daB die bóhmische Frage als Religionsangelegenheit anzusehen sei. Nürnberg
dagegen blieb auch weiterhin neutral mit Vorbereitung des eventuell nótigen mili-
tärischen Schutzes.
Wichtiger noch als die sächsische Vermittlungsaktion war für Frankens politische
Zukunft der Unionstag von Rothenburg (7.—14. Oktober 1618). Von den Städten
gingen gegenüber der anhaltisch-pfälzischen Aktionspartei die stärksten Hemmungen
aus. Die Unklarheit der Nürnberger Delegiertenäußerungen brachte gerade diese
Reichsstadt in eine besonders schwierige Lage. Das Ergebnis der Tagung war jeden-
falls für den Pfälzer besonders peinlich: die Union lehnte jede militärische und selbst
eine heimliche Geldhilfe für ihn in Böhmen zu seinem großen Verdruß ab. Straßburg
hatte hier die Städte geführt. Als es ans Zahlen aus eigener Tasche ging, versagte
sich u. a. auch der sonst so eifrige Freund des Pfälzers, der Markgraf von Ansbach.
Nur Anhalt setzte sich heftig gegen den Kaiser ein. Trotzdem blieb, wie Weigel mit
Recht behauptet, das Ergebnis des Rothenburger Unionstags kläglich. Weigel zeigt
die Gründe hiefür deutlich auf. Die pfälzischen Wünsche zu Rothenburg hatten
gelautet: 1. Geldhilfe von der Union für Böhmen, 2. Die Aufstellung einer Unions-
armee, die weit größer, als in der Unionsverfassung vorgesehen war, sein sollte, also
für Böhmen und für Deutschland überhaupt eingesetzt werden konnte. Eine Geld-
hilfe, die hauptsächlich zu Lasten der Städte ging, wurde schließlich doch noch
bewilligt; aber hier blieben die Städte weit hinter den gestellten Forderungen,
ebenso wie die Fürsten sich zu keiner militärischen kostspieligen Hilfe bequemen
wollten. Kurpfalz hatte nichts erreicht. Und die Koburger Politik brach in den
gleichen Wochen auch zusammen. Nun begannen die Durchzüge der zu ihrer Ziel-
setzung stehenden beiden Parteien.
Für die deutschen Protestanten war die Lage im Spätjahr günstig — voraus-
gesetzt, daB sie zu wagen verstanden. Der Kaiser gab die Forderung der Waffen-
streckung auf und wollte sich zu einem zweimonatlichen Waffenstillstand verstehen.
858 Kritiken
Dieser sollte nur ein Anfang sein. Inzwischen war Heidelberg seit Ende November der
Kernpunkt der großen europäischen Politik geworden. Weigel sieht dabei in Fried-
rich von der Pfalz immer noch einen ehrlichen Vermittler, auch wenn er das bóh-
mische Angebot nicht von vornherein ablehnte. Dem kaiserlichen Vermittlungs-
werk freilich miBtraute Kurfürst Friedrich von Anfang an. Er hielt es mit Recht für
höchst wichtig, daB die Gemeinsamkeit des Handelns zwischen Böhmen und Schle-
sien einerseits, den evangelischen Ständen anderseits nicht durch den Kaiser unter-
brochen werden konnte. Getrennt wären beide Parteien wesentlich leichter zu erledi-
gen gewesen. Anhalt und Ansbach standen auf seiner Seite. Im Dezember 1618
bereitete sich große pfälzische Politik vor, die „das Reich und Europa um Böhmens
willen umfaßte“. Anhalt war aktiver noch als Kurpfalz. In schwierigste Lage kamen
die kleineren Territorien, so besonders die Reichsstadt Nürnberg. Auf dem Kreistag
stritten Bamberg und Bayreuth wegen der Kreiskanzlei. Nürnberg und Ansbach
dagegen stellten ihre Politik in den Rahmen der Unionspolitik und der europäischen
Fragen, ersteres mit Vorbehalten. Ein wirres Bild bietet dieses Deutschland von da-
mals und Franken im besonderen. Nürnberg geriet schließlich zwischen Pfalz und
Habsburg. Seine notwendigerweise vorsichtige Politik war teuer. Die Böhmen brauch-
ten Geld, Friedrich von der Pfalz ebenso und der Kaiser nicht minder. In einem
fränkischen Unionskonvent sahen die Beauftragten des Rates die für Nürnberg
günstigste Lösung. Erst nach diesem hätte ein evangelischer Partikularkreistag zu-
sammentreten sollen. Faktisch trat er schon in den nächsten Wochen zusammen.
Ich sagte: ein buntes Gewirr spielt sich vor unseren Augen ab; die Schilderungs-
weise des Verfassers, welche immer wieder abbricht und uns den Faden dann
mühsam wieder finden läßt, verstärkt dieses Bild vielleicht noch. Aber es blieb ihm
wohl nichts anderes übrig. Das notwendige, dem Leser höchst erwünschte Korrelat
bildet die Zusammenfassung des Schlußkapitels. Drei Gruppen unterscheidet Weigel:
Die erste ist die der Staatsmänner: der koburgisch-bayreuthische Geheimrat Christof
von Waldenfels, der Nürnberger Ratskonsulent Johann Christof Oelhafen und
Christian Fürst von Anhalt, kurpfülzischer Statthalter in Amberg. Sie sind die
Männer der vorwärtstreibenden Erkenntnis, daß die große religiöse Entscheidung
kommen müsse im Anschluß an die böhmische Frage.
Die 2. Gruppe bilden Herzog Johann Kasimir von Koburg und Friedrich von
der Pfalz: evangelische Stände und doch innerlich dem Reich im Gewissen noch
verpflichtet und dem katholischen Kaiser. Beide bemühen sich, das Haupt des deut-
schen Protestantismus, den Kurfürsten Johann Georg von Sachsen, zu einem ener-
gischen Vorgehen zugunsten der Böhmen zu bewegen.
Die 3., in sich nicht einheitliche Gruppe bilden Markgraf Christian von Bayreuth
und die Nürnberger Ratsherren. Sie wünschen sich von einer Aktion in Böhmen
fernzuhalten. Die Gunst des Kaisers ist ihr belebendes Element, das sie nicht ver-
missen können. Nürnberg freilich lavierte, wie immer, mehr; der Markgraf dagegen
war unbedingt neutral; seine Hauptsorge war sein Land und die Sicherung gegen
Bamberg. Diese Sicherungspolitik verband ihrerseits wiederum Nürnberg und Bay-
reuth besonders innig. — Eine zusammenfassende Kritik der Tätigkeit der drei
Gruppen beschließt die Darstellung, welcher sich ein reicher Anmerkungsapparat
anschließt.
Das Buch ist von hohem Wert als Antwort auf die Frage: Wie konnte es zum
Dreißigjährigen Krieg kommen? Durch die Tragweite dieser Aufklärung recht-
Kritiken 859
fertigt sich die Ausführlichkeit der Darstellung. Wollte man diese Art durch 30 Jahre
fortsetzen, so würde ein vieltausendseitiger Wülzer geboren. Dies hat der Verfasser
nicht vor. Den 2. Band aber, der in das Jahr 1620 hinüberführen soll, wird man
mit Freuden erwarten. Außerdem stimme ich mit dem Verfasser darin völlig überein,
— ich habe es hier einleitend und anderwärts wiederholt betont —, daß das Stereo-
type unserer Historiographie eine Gefahr ist, die nur durch solche Einzelstudien
überwunden werden kann. Voraussetzung ist dabei, daB es sich um ausschlaggebende
Persönlichkeiten, Ereignisse, Zeiten handelt. Anderenfalls würde die Detailforschung
zum Ballast. Hier aber hat Weigel mit einem glücklichen Griff einen der grofen
historischen Momente der europäischen Geschichte herausgegriffen und faßt das
Geschehen in dem wichtigen Herzland des Deutschen Kaiserreichs und damit Euro-
pas, in Franken und der Pfalz, wie in einem Brennspiegel zusammen zu starker
Wirkung. Über die Gliederung und Einteilung wird man mit dem Autor nicht ernst-
lich rechten; er mußte aus der Kenntnis des historischen Bodens am besten wissen,
wie er ihn auflockerte und in welchen Abständen. Hervorzuheben aber ist die un-
bedingte Sachlichkeit, die Abgeklärtheit des ruhigen historischen Urteils über eine
Zeit, die uns nationaldenkende Historiker, denen das Schicksal unseres Volkes
mehr ist als eine Materie, die wir sezieren, an sich zu manchem harten subjektiven
Urteil verleiten könnte.
Persönlich empfinde ich die Publikation als sehr erfreulich, weil sie eine Zeit, die
ich in meinem Werk „Nürnberg, Kaiser und Reich — Studien zur reichsstädtischen
Außenpolitik“ in Anbetracht des großen, viele Jahrhunderte umfassenden Rahmens
nicht ausführlicher behandeln konnte, so eingehend untersucht. Ich darf aber dabei
noch auf eine Frage eingehen, welche Weigel früher schon aufgeworfen hat und in
seinem jetzigen Buch noch einmal betont. Er schreibt: „Nürnbergs Wesen war die
Wirtschaft. Sie hatte in der alten Reichsstadt den Primat vor allen anderen Zweigen
menschlicher Betätigung.“ Weigel stellte seinerzeit zur Diskussion, ob ich diesen
Punkt gelegentlich zugunsten einer selbständigen Politik nicht unterschätzt habe?
Ich glaube nicht. Denn ich stehe wie Weigel auf dem Standpunkt, und habe an
verschiedenen Stellen meines Buches diese Ansicht betont, daß die Nürnberger
Außenpolitik zu einem guten Teil wirtschaftlich bestimmt ist. Trotzdem glaube ich
nach wie vor behaupten zu dürfen, daß diese Politik doch etwas Selbständiges ist,
daß sie zwar wirtschaftlich stark unterbaut, aber in ihrer Betätigung nach den ver-
schiedenen Richtungen, gegenüber den Schwesterstädten des Reiches, gegenüber
dem Kaiser, gegenüber den großen Territorien sich doch einen eigenartigen, oft
eigenwilligen Charakter bewahrt hat, und zwar deshalb, weil wichtiger noch als
die wirtschaftlichen Vorteile für jenen Kreis, der die Stadtregierung innehatte,
den aristokratischen Nürnberger Rat, die Huld des Kaisers erschien. Es war
u. a. unwirtschaftlich, daß Nürnberg sich des Kaisers wegen in ungeheuere
Schulden stürzte; aber der politische Lebenswille schien dem Rat zu gebieten,
sich des Kaisers Gunst zu erhalten, auch wenn sie wirtschaftlich unren-
table Summen kostete, um sich als politisches Gebilde, als Stadtstaat zu
erhalten auch in einer Zeit, welche mehr und mehr gegen die Stadt und zugunsten
der großen Territorien sich auswirkte. Wirtschaftlich hätte Nürnberg in einem
der großen Territorien, mindestens seit dem 17. Jahrhundert besseren Schutz
und reichere Einnahmen erzielt, als in seiner kostspieligen, wirtschaftlich nach-
teiligen Selbständigkeit. Die Entwicklung benachbarter kleinerer Städte — z. B.
860 Kritiken
Schwabachs — beweisen diese meine Behauptung. Ich glaube daber, daB meine
seinerzeit aufgestellte Behauptung doch zu Recht besteht, daB Nürnbergs Politik
durch zwei Motive bestimmt wird: Durch Rücksichtnahme auf den Kaiser und
durch ihre wirtschaftliche Stellung, wobei die Huld des Kaisers bei wichtigen Ent-
scheidungen für den Rat den Ausschlag gab vor dem wirtschaftlichen Vorteil. Nur
vorübergehend hat das Glaubensmotiv die beiden anderen maßgebenden Gründe der
Nürnberger Außenpolitik in den Schatten gestellt. — Auf jeden Fall hat die von
Weigel begonnene Diskussion m. E. zu einer letzten, scharfen Klärung der Frage
geführt; in der praktischen Wertung der Ereignisse, so glaube ich, sind wir — Weigel
in seinem Buch von 1932 und ich in meinem von 1930 — nicht allzuweit auseinander.
Der verworrenen deutschen Geschichte des beginnenden Dreißigjährigen Krieges hat
Weigel eine Bresche geschlagen, durch die wir einen freien, weiten Blick gewonnen
haben. Dafür wird ihm der Historiker Dank wissen.
München. Eugen Franz.
Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters.
Band XVI. Geschichte der Päpste im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus
von der Wahl Benedikts XIV. bis zum Tode Pius’ VI. (1740—1799). Dritte
Abteilung: Pius VI. (1775—1799). Freiburg i. Br., Herder 1933. XXXIX.,
678 8.
Endlich liegt uns von Pastors bändereicher Papstgeschichte der abschließende
Teil vor, mit dem nun der Plan zur Verwirklichung gekommen ist, den der junge
Gelehrte vor fast einem halben Jahrhundert entwarf. Und es zeugt von dem Weit-
blick des Verfassers, daB die Durchführung seines Planes sich auch im einzelnen
nach dem zu Anbeginn aufgestellten Schema gestaltet hat. Die Grundlage des
Werkes ist erwachsen aus der Bewältigung eines überaus umfänglichen Schrifttums,
dessen Ergebnisse ausgedehnteste Archivforschung erweitert und vertieft hat, in
dem Grade, daB im ganzen Umfang des Werkes wohl kaum eine Seite ist, die nicht
wenigstens in einer Kleinigkeit Neues brächte. Ausgewählte Proben des ungedruck-
ten Materials neben gelegentlichen kritischen Exkursen sind der Mehrzahl der Bände
beigegeben. Den so gewonnenen Stoff hat Pastor mit bewunderungswürdiger
Darstellungsgabe zu farbenreichen Bildern zusammengefügt, die uns das Walten
der Nachfolger des Fischers von Galiläa als Herren des Kirchenstaates, als Regenten
der katholischen Kirche und in allen den Beziehungen und Verwicklungen vor Augen
stellen, in die sie als höchste Inkarnation des kirchlich-religiösen Prinzips im christ-
lichen Abendlande geführt wurden. Naturgemäß ist der Anblick, den das Papsttum
in den verschiedenen Zeiten darbietet, ein überaus wechselnder. Bei ihm, wie bei
jeder anderen geschichtlich erwachsenen Macht, wechseln je nach dem Geist der
Zeiten und den Fähigkeiten und Handlungen des jeweiligen Trägers der Tiara Zeiten
des Aufschwungs mit denen des Abstiegs und Verfalls. Von den Wogen des geschicht-
lichen Lebens umspült und umbrandet, schwankt wohl auch der ,,Fels Petri“, und
das Schifflein der Kirche kommt nicht selten in Gefahr, vom Sturme fortgerissen zu
werden.
Gerade der Schlußteil von Pastors Papstgeschichte zeigt uns vorwiegend Bilder
dieser letzten Art. Den Gegenstand bildet der Pontifikat Pius' VI. (Gianange o
Braschi), der mit seiner fast fünfundzwanzigjährigen Dauer der längste aller Ponti-
fikate war, die die Christenheit bisher gesehen hatte, zugleich einer der unglücklich-
Kritiken 861
sten. Pius trat eine schwierige Erbschaft an. Die Unterwühlung der Zeitmeinung
durch die Aufklárung bedrohte in zunehmendem MaBe die Idee des Papsttums
und der fürstliche Absolutismus der katholischen Monarchien war unentwegt darauf
gerichtet, die Kirche dem weltlichen Herrscher zu unterstellen. Schon hatte das
Papsttum seinen wertvollsten Gehilfen, den Jesuitenorden, dem Machtstreben der
katholischen Höfe preisgeben müssen, und es bezeichnet die Lage, daß der Nach-
folger Klemens’ XIV. vor seiner Wahl sich verpflichten mußte, die Verfügung seines
Vorgängers unangetastet zu lassen. Pius wäre freilich auch nicht der Mann gewesen,
heroische Entschlüsse zu fassen und zur Ausführung zu bringen. Er überragte nach
keiner Richtung hin den allgemeinen Durchschnitt; doch war sein Auftreten in den
Stürmen seiner Regierung nicht ohne Würde, und wo Nachgiebigkeit unvermeidbar
schien, suchte er wenigstens grundsátzlich die Rechte der Kirche zu wahren. Seinem
Ansehen war freilich das Laster des Nepotismus, dem er frónte, nicht fórderlich.
Dem beim heiligen Stuhle herkömmlichen Mäzenatentum für Wissenschaft und
Kunst versagte sich Pius VI. nicht. Es geschah auch nicht ohne sein Zutun, daB da-
mals bei den gebildeten und höheren Klassen der europäischen Gesellschaft ein Be-
such Roms zur Modesache wurde und, solange der Friede andauerte, ein gewaltiger
Fremdenstrom sich in die ewige Stadt ergoB (Goethe; fürstliche Besuche, Kolonien
auswärtiger Künstler in Rom). Einem Lieblingsplan Pius’, für den er bedeutende
Geldmittel ohne wesentlichen Erfolg opferte, der der Austrocknung der Pontinischen
Sümpfe, ist erst die Gegenwart mit Aussicht auf Gelingen nähergetreten.
Daß der kirchliche Sinn damals noch nicht ganz erloschen war, bezeugte der
Aufschwung, den der schon 1732 gestiftete Orden der Redemptoristen und Re-
demptoristinnen nahm, solange zumal der erst 1787 einundneunzigjährig ins Grab
sinkende Stifter Alphons de Liguori (für dessen Schilderung Pastor ausschließlich
die leuchtendsten Farben in Anwendung bringt), tätig war. Die Redemptoristen
traten gleichsam in die Fußtapfen der Jünger Loyolas. Pius sah auch den erzwungenen
Widerruf des greisen Hontheim - Febronius; allein die hinter dem Febronianismus
stehende Richtung bereitete in dem sogenannten Nuntiaturstreit (einer Folge der
Errichtung einer Nuntiatur in München) der Kurie größte Schwierigkeiten; eine
Zeitlang schien der Episkopalismus in Deutschland es über den Papalismus davon-
tragen zu sollen; man hat diese Vorgänge wohl als die schwerste Krise bezeichnet,
die seit Luthers Zeiten das Papsttum in Deutschland durchlebt habe.
Tiefe Eingriffe in das kirchliche Gebiet mußte Pius von den nördlichen und süd-
lichen Nachbarn des Kirchenstaates — von der Republik Venedig, den Habsburgern
in Toskana, den Bourbonen in Unteritalien — sich gefallen lassen. InRußland mischte
sich die Zarin Katharina II., durch die polnischen Teilungen Herrin zahlreicher
Katholiken geworden, in die kirchlichen Angelegenheiten dieser ein; u.a. machte
sie die Veröffentlichung päpstlicher Erlasse von ihrer Genehmigung abhängig. Wenn
aber Katharina andererseits (wie übrigens bekanntlich auch Friedrich der Große)
Jesuiten nach der Aufhebung des Ordens den Aufenthalt in ihren Staaten erlaubte,
so geschah das natürlich nicht aus Wohlwollen für Rom. Ein gefährlicher Gegner
erstand der Kurie auch in dem österreichischen Herrscher und deutschen Kaiser
Joseph II., dem ebenso mächtigen wie rücksichtslosen Vertreter des kirchenfeind-
lichen Geistes der Aufklärung (Josephinismus).
Allein was wollte das alles bedeuten im Vergleich mit den Ereignissen in Frank-
reich, einst der geliebtesten Tochter der römischen Kirche? Der Schilderung dieser
862 Kritiken
Ereignisse von den letzten Ursachen und dem Ausbruch der Revolution an ist das
letzte Drittel unseres Bandes eingeráumt, und in eindrucksvollen Bildern sehen wir
das große Drama, soweit die katholische Kirche von ihm berührt und fortgerissen
wird, sich vollziehen: in der Aufhebung der kirchlichen Privilegien im Lande der
Revolution, der Säkularisation der Kirchengüter, der Aufhebung der Klöster, der
Zivilkonstitution des Klerus, der Verfolgung der eidverweigernden Priester. Bald
überschreiten die revolutionären Gedanken die französischen Grenzen und dringen
u.a. auch in den Kirchenstaat ein, der auf der anderen Seite in weitem Umfang
zur Zufluchtsstätte des französischen Klerus wird. So sammelt sich hier ein Zünd-
stoff an, der, als Pius unbesonnenerweise sich der ersten Koalition der Mächte gegen
Frankreich anschließt, zur Katastrophe führt. Bonaparte dringt in den Kirchenstaat
ein und erzwingt den Frieden von Tolentino, der die Kurie u.a. Avignon kostet.
Aber das Ende der Leiden des heiligen Stuhles ist durch dieses Abkommen nicht er-
reicht worden; unruhige Bewegungen in Rom führen in Kürze zu dauernder Be-
setzung der Stadt durch die Franzosen und der Errichtung der römischen Republik,
und als Folge davon der Ausweisung des Papstes. Den durch Alter und Krankheit
Geschwächten hat man schließlich noch über die Alpen nach Frankreich ge-
schleppt; dort, in Valence, ist Pius als ein macht- und hilfloser Greis ins Grab
gesunken.
In einem kurzen Schlußwort gibt der Verfasser einen Ausblick auf den Wieder-
aufbau des Papsttums nach dem Sturze Napoleons. Pastor möchte diesen Verlauf
im Lichte eines ganz außerordentlichen Ereignisses, wenn nicht eines Wunders,
aufgefaßt wissen; tatsächlich ist neben dem Papsttum bekanntlich auch die Mehr-
zahl der alten Staaten, die durch Napoleon zertreten waren, im „Zeitalter der Re-
stauration“, das dem revolutionären Zeitalter folgte, „restauriert“ worden und das
hatte zumal für den Kirchenstaat gute Gründe; nach der Erschütterung jeg-
lichen Herkommens und der Aufpeitschung aller Leidenschaften mußten die in Wien
versammelten Mächte auf die Wiederaufrichtung einer geistigen, ihrer Natur nach
fortschrittsfeindlichen Macht, wie es das Papsttum war, einen erheblichen Wert
legen. Und daß das Papsttum nach und in seiner tiefsten Erniedrigung die Kräfte
für einen künftigen Aufstieg fand, was Pastor wiederum als etwas Außerordentliches
herausheben möchte, ist eine Erscheinung, von der die Geschichte eine Fülle von
Beispielen aufweist, ja, die sich auch im einzelnen Menschenleben zeigen kann.
Aber diese Betrachtungsweise hängt bei Pastor eben mit der ganzen Richtung
zusammen, die seine Feder lenkt. Wenn er im Vorwort zum ersten Bande der Papst-
geschichte sich neben Leopold Ranke stellt und die Absicht ankündigt, dessen Ge-
schichte der Päpste als veraltet und ersatzbedürftig durch sein Werk zu ersetzen,
so hat er diese Absicht bis zu einem gewissen Grade unzweifelhaft verwirklicht.
Kein Forscher, der sich mit der neueren Kirchengeschichte, ja der europäischen
Geschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts beschäftigt, kann ohne ständige Beachtung
des großen Pastorschen Werkes auskommen. Allein, wenn Ranke es einmal als
Ziel seiner Geschichtschreibung bezeichnet hat, daß er sehen wolle, wie die Dinge
eigentlich verlaufen seien, so liegt diese Voraussetzungslosigkeit Pastor durchaus
fern. Ihm stand, noch ehe er das erste Wort zu Papier gebracht hatte, das Ziel schon
klar vor Augen. Er hatte zu zeigen, wie in der Geschichte des Papsttums für die Zeit,
die er behandelte, das (seiner Authentizität nach mehr als zweifelhafte) Wort unseres
Heilandes bei Matth. 16 V. 18f.: „Du bist Petrus“ usw., sich auswirke und bewahr-
Kritiken 863
heite. „Ihr habt einen anderen Geist", werden wir, von Ranke herkommend, dem
Vertreter dieser gebundenen Geschichtsbetrachtung zuzurufen uns gedrungen fühlen.
Wernigerode a. H. Walter Friedensburg.
Josef Sauer, Finanzgeschäfte der Landgrafen von Hessen-Kassel. Ein
Beitrag zur Geschichte des kurhessischen Haus- und Staatsschatzes und zur
Entwicklungsgeschichte des Hauses Rothschild. Fulda 1930, Fuldaer Aktien-
druckerei. 149 S. 89,
Diese Münchner Dissertation verdient als Erstlingsschrift wegen ihres ruhigen
und vorsichtigen Urteils, wegen der umsichtigen Anlage, der Benutzung umfang-
reicher archivalischer Quellen und der ausgedehnten Literatur besonderes Lob,
Die Grundlage des kurhessischen Schatzes bilden die Gelder, die aus den berüchtigten
„Subsidienverträgen“ geflossen sind. Es ist und bleibt eine Schande, daß deutsche
Fürsten ihre Landeskinder fremden Mächten gegen Geldzahlungen zur Verfügung
gestellt haben, ohne an den Kämpfen dieser Mächte irgendwie politisch interessiert
gewesen zu sein. Kam es doch vor, daß — im österreichischen Erbfolgekrieg —
hessische Truppen auf beiden Seiten standen, „wenn auch durch einen Geheimartikel
ein direkter Kampf zwischen den hessischen Soldaten theoretisch ausgeschlossen
war“! Durch einen Subsidienvertrag, den Wilhelm VIII. mit England abschloß,
wurde sein Land einer der Kriegsschauplätze des Siebenjährigen Krieges und hatte
jahrelang furchtbare Brandschatzungen durch die Franzosen zu erdulden. Der Land-
graf aber konnte mit den ihm gezahlten Geldern den ,,Grundstock zu dem späteren
kurhessischen Haus- und Staatsschatz" legen. Das größte Finanzgeschäft des Fürsten-
hauses ist der Subsidienvertrag vom 31. Januar 1776, den Friedrich II. mit Eng-
land schloß. Dieser Landgraf aber besaß dennoch hohe Regententugenden und be-
mühte sich mit Erfolg um die Wohlfahrt seines Landes. Es ist auch ganz falsch,
ihm und seinem Hause allein den Abschluß von Subsidienverträgen zur Last zu
legen. Andere deutsche Fürsten haben dasselbe getan, und wieder andere hätten es
getan, wenn ihre Truppen nicht zu schlecht gewesen wären. Dies richtig herausgestellt
und damit hoffentlich den Streit über die hessischen Subsidienvertráge beendet zu
haben, ist ein Verdienst des Verfassers.
Durch die Ansammlung groBer Überschüsse aus den Subsidiengeldern wurden
die Landgrafen unabhüngig von dem Steuerbewilligungsrecht ihrer Landstünde und
konnten mit ihrem Gelde gewinnbringende Finanzoperationen unternehmen. Als
Muster ihrer Kapitalanlagen dienten ihnen die des Kantons Bern, die sie aber an
Zinsgewinnen weit übertrafen. Von 1762 an stiegen die Zinseinnahmen auf zuletzt
950000 Rth. im Jahre 1805. Die ersten größeren Kapitalanlagen geschahen durch
Vermittlung des Hauses Notten u. Sóhne in Amsterdam bei der hollündischen Ost-
indischen Kompanie. Später folgten Darlehen an die eigenen Landstände und an
deutsche Fürsten, die in scharfen Bedingungen meist Landesteile mit höheren Ein-
künften verpfänden mußten, Die erste ausländische Millionenanleihe (1200000 Rth.)
zu 4%, wurde 1784 mit Dänemark abgeschlossen. Friedrich II. hinterließ ein Kapital-
vermögen von 10 Millionen Rth. Unter seinem Sohn Wilhelm (IX.) trat seit 1786
u.a. auch der Hessen-Hanauische Hoffaktor Meyer Amschel Rothschild als Dar-
lehensvermittler auf. Jüdische Banken in Kassel (Feidel David, Michel Simon u. a.)
verwerteten die für Subsidiengelder in Zahlung genommenen Wechsel, wurden aber
auch später von Frankfurter Banken an den von diesen übernommenen Anleihe-
864 Kritiken
geschäften beteiligt. Die amtliche Stelle, die die Gelder verwaltete, war die Kriegs-
kasse. Sie bevorzugte neuerdings Obligationenankäufe zur Anlage ihrer Kapitalien,
ohne das Anleihegescháft zu vernachlüssigen. In Frankfurt arbeitete sie mit der Firma
Rüppel und Harnier und mit Rothschild, der 1803 zum Oberhofagenten ernannt
wurde und bald alle seine Konkurrenten am Kasseler Hof überflügelte. Durch ihre
Verbindung mit dem Kurfürsten aber, der als Geldgeber ganz im Hintergrund blieb
und somit nur finanzielle Gesichtspunkte zu berücksichtigen brauchte, konnten die
Frankfurter Bankhäuser die Anfänge der modernen bankmäßigen Organisation des
öffentlichen Kredits zeitigen. Unter den Anleihenehmern befanden sich Kaiser Franz,
die Könige von Preußen und Dänemark, der russische Thronfolger. Nach 1800 nahm
die Beteiligung Wilhelms an den Frankfurter Anleihen einen ganz großen Umfang
an. Das Streben der hessischen Kassen ging auf Erhöhung ihrer Zinseinnahmen,
wodurch sich das Kapitalvermögen beständig erhöhte, von 1801—1806 durchschnitt-
lich jedes Jahr um 520000 Rth. Um Kapitalrückgang zu verhindern, mußten die
zurückflutenden Anleihegelder neu angelegt werden, so daß jährlich etwa 800000 Rth.
unterzubringen waren. Für alle Darlehen an die Banken wurden 1—3% Provision
verlangt und an Wilhelms Kabinettskasse abgeführt, die auf diese Weise ein eigenes
Kapitalvermögen bilden konnte. Das Kapitalvermögen der mit den Darlehen
arbeitenden hessischen Kassen ist von 10 Millionen Rth. im Jahre 1794 auf minde-
stens 25 Millionen am 1. November 1806 angewachsen. Bei aller Geschäftstüchtigkeit
Wilhelms wirft es auf ihn doch ein gutes Licht, daB er schon von seinem Regierungs-
antritt an auffallend häufig Darlehen in Höhe von 1000—3000 Rth. an hessische
Bauern und Handwerker zu dem niedrigen ZinsfuB von 1—3% gegeben und ihre
Gewührung durch besondere Verordnung vom 20. Februar 1786 geregelt hat. Ebenso
wurden an Gemeinden Darlehen zu 2 und 3%, zum Bau von Kirchen und Schulen
gegeben.
Von der Beschlagnahme seines Kapitalvermógens durch Napoleon rettete der
Kurfürst nur etwa 13 Millionen, hieraus wurde eine Kabinettskasse gebildet, die auch
nach der Restauration Privatkasse des Landesherrn verblieb. Mit der Vertreibung
Wilhelms erhielt das Haus Rothschild eine Monopolstellung in den kurfürstlichen
Finanzgeschäften, durch die es in die Lage kam, mit den billigen hessischen Geldern
groBe Spekulationen auszuführen und so den Grund zu seiner Weltstellung zu legen.
Eine ganz merkwürdige Finanzoperation waren die Darlehen der Kabinettskasse
an die Kriegskasse, die in den Jahren nach der Restauration bis 1816 die für das Heer
nótigen Mittel nicht aufbringen konnte, die Vorschüsse aber, diesie von der Kabinetts-
kasse erhielt, als Darlehen zu 414%, verzinsen mußte. Um dies zu verschleiern, wurde
ein Consortium creditorum in Frankfurt eingeschoben, das als Geldgeber auf-
trat. Hierdurch sollte dem Kurfürsten ZinsgenuB und für den Fall der bevorstehenden
Trennung des Staatsvermógens vom Privatvermógen hohe Geldeinkünfte aus dem
Steueraufkommen des Landes gesichert werden. Der Feststellung des Staatsvermó-
gens widersetzte sich Wilhelm I. mit allen, nicht immer einwandfreien Mitteln, ob-
gleich die Staatsfinanzen nur durch äußerste Sparsamkeit und Erhöhung der Steuern
im Gleichgewicht erhalten werden konnten, während sich die Kapitalanlagen der
Kabinettskasse weiter vermehrten. Auch seinem tief in Schulden steckenden Sohn,
dem späteren Kurfürsten Wilhelm II., half er nicht. Nach seiner Wiedereinsetzung
hatte er versucht, die nicht von den Franzosen genommenen Nominalkapitalien zu
retten, es war ihm nur bei inländischen Schuldnern auf dem Weg der Gesetzgebung
Kritiken 865
gelungen. Verhandlungen mit den auslándischen wurden erst unter Wilhelm II. mit
einem Verlust von 47—48% abgeschlossen. Die zurückflieBenden Gelder erhielt die
Kabinettskasse. Endlich wurde in den Jahren 1830/31 mit der Einführung der Ver-
fassung das kurhessische Kapitalvermógen in einen Staatsschatz und einen Haus-
schatz zu gleichen Teilen geteilt (je 14 253 827 Gulden), nachdem die Vorschüsse der
Kabinettskasse an die öffentlichen Kassen niedergeschlagen und über 414 Millionen
zur Tilgung der kurfürstlichen Schulden verwendet waren. Vom Hausschatz, der
Fideikommiß sein sollte, wurden dann noch etwa 1½ Millionen als Schatullvermógen
des Kurfürsten abgespalten, er bestand danach aus 12 760 479 Gulden. Nach der
Annexion Kurhessens 1866 wurden beide Schátze von PreuBen beschlagnahmt,
der Staatsschatz, bald an den Regierungsbezirk Kassel zurückgegeben, bildete den
Grundstock des Kasseler Kommunalfonds. Den Hausschatz verwandte Preußen
hauptsächlich zur Bekämpfung der Umtriebe der verjagten Fürstenhäuser. Beim
Tode des Kurfürsten 1876 war er verbraucht.
Ein interessantes Stück deutscher Geschichte und Finanzgeschichte wird vor
uns aufgerollt, so daß wir auch viele bei Corti und Losch erzählten Dinge in schärferer
Beleuchtung sehen.
Gießen. K. Ebel f.
Joachim Hild, August Hennings, ein schleswig-holsteinischer Publizist um die
Wende des 18. Jahrhunderts (Erlanger Abhandlungen zur mittleren und
neueren Geschichte, hrsg. von B. Schmeidler und O. Brandt, 11. Bd.). Er-
langen, Palm & Enke, 1932. 184 S. 8,— AM.
August v. Hennings ist der leidenschaftlichste und publizistisch rührigste Vor-
kämpfer für die Ideen der Aufklärung in Schleswig-Holstein gewesen. Seine Stellung
im geistigen Leben der Herzogtümer, besonders seinen Gegensatz zu dem pietistisch-
religiösen, ritterschaftlich-ständischen, kulturell-deutschbewußten, um Fritz und
Julia Reventlow sich scharenden Emkendorfer Kreis hat Otto Brandt vor einigen
Jahren in seinem ,,Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende
des 18. Jahrhunderts" klar umrissen. Jetzt unternimmt es ein Schüler Brandts,
unter Heranziehung des bündereichen handschriftlichen Nachlasses von Hennings —
Brandt hatte sich vor allem auf dessen Briefwechsel mit Ernst Schimmelmann
gestützt — Leben und Streben dieses unruhvollen, letztlich unfruchtbaren Auf-
klürers von neuem darzustellen. Ein unbefriedigendes Bemühen! — Nach vollendeten
Göttinger Studienjahren, in denen die französische Aufklärungsphilosophie ihm zum
geistig bestimmenden Erlebnis wurde, drängte den jungen Hennings gesteigerter
Ehrgeiz zu praktischer staatlicher Wirksamkeit. Besondere Förderung erhofite er
von seiner Freundschaft mit Ernst Schimmelmann, dem Sohn des dänischen Schatz-
kanzlers. Sie eröffnete ihm auch den Zugang zur Verwaltungslaufbahn, die nur an-
fangs eine kurze Verwendung im auswärtigen Dienst in Berlin und Dresden unter-
brach. Bedeutsam wurde für Hennings der Berliner Aufenthalt: er schenkte ihm
die Freundschaft Moses Mendelssohns. Nach der Rückkehr in die dänische Haupt-
stadt erweiterte und erhöhte sich wohl sein amtlicher Pflichtenkreis, allein er ge-
währte dem Ehrgeizigen keine Befriedigung. So entstanden in diesen Jahren, an-
geregt zumeist durch fremde Werke, denn Hennings war kein originaler Denker,
volkswirtschaftliche und philosophische Schriften, so der großes Aufsehen erregende
„Olavides“, in denen er seine aufklärerischen Gedanken über religiöse Duldung oder
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 55
866 Kritiken
den Wert der Freiheit für den Aufbau eines gesunden Staatswesens aussprach, oft
in schroffer Form und nicht, ohne die regierenden Kreise zuweilen heftig anzugreifen.
Das erschütterte seine Kopenhagener Stellung, 1784 wurde er aus den dortigen Äm-
tern entlassen. Auch in den Herzogtümern, zuerst in Schleswig lebend, dann lange
Jahre als Amtmann in Plón, schlieBlich in Rantzau, hat er neben seiner amtlichen
eine rege schriftstellerische Tätigkeit entfaltet, Zeitschriften wie den „Genius der
Zeit" herausgegeben und umfangreiche wissenschaftliche Werke geschrieben. In
der französischen Revolution begrüßte er, der grimmige Adelshasser, den Aufstieg
des „Volkes“ zur Menschheit, und als die blutigen Wogen der Volksherrschaft hoch
gingen, da pries er in seinem „Wort der Mäßigung an Europa“ den Gebrauch der
Vernunft als Förderin höchsten Glückes, da erblickte er in dem französischen Ge-
schehen bewundernd den Anbruch einer neuen, vom Geist der Aufklärung beherrsch-
ten Zeit.
Besonderes Interesse erweckt sein Verhältnis zu Deutschland. Seiner Ab-
stammung — seine väterlichen Vorfahren waren Dithmarscher — seinem Wesen
und seiner geistigen Haltung nach durchaus deutsch, fühlte er sich dennoch ganz
als Däne, in Dänemark sein Vaterland erblickend. Mit leidenschaftlicher Verachtung
sah er auf die staatliche Zerrissenheit Deutschlands herab, auf seine geistig-kulturelle
Rückständigkeit und auf die Unfähigkeit der in gegenseitigem Haß sich zerspaltenden
Deutschen, Nation zu werden. In einer seiner letzten Arbeiten, der „Geschichte der
Deutschen in der Vorzeit“ wollte er nachweisen, daß es nie ein deutsches Volk gegeben
habe. Aber dennoch hielt er eine künftige deutsche Volkwerdung für möglich. Der
von deutschem Kultur- und Nationalgefühl getragenen geistigen Bewegung in den
Herzogtümern, deren Anfänge er erlebte, mußte dieser Rationalist verständnislos
gegenüberstehen.
Ein kümpferisches Leben, das nie zum Ausgleich seiner inneren Kráfte gelangt
ist, nie teilhatte an jener Harmonie, die nach seinem Glauben das Weltall durch-
waltet. — Energisch hat sich der Vf. um ein seinem „Helden“ gerechtwerdendes
Verstehen bemüht und die geistige und charakterliche Eigenart von Hennings zu
erfassen und zu analysieren erfolgreich versucht. Wenn der Schrift dennoch etwas
Unbefriedigendes anhaftet, so deshalb, weil sie einem von Disharmonien erfüllten
Dasein gewidmet ist, das zu schópferischem Gestalten nie gelangte.
Kiel. G. E. Hoffmann.
Edgar Bonjour, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848—56. (Berner
Untersuchungen zur Allgemeinen Geschichte.) (Paul Haupt, Bern und Leip-
zig.) Geh. 4,— RM.
Wir sind uns heute kaum noch bewußt, in welchem Maße Neuenburg in den
Jahren 1848—67 die öffentliche Meinung und die große Politik beschäftigte. Trotz
Revolution und Krimkrieg waren Regierungen und Diplomatie gezwungen, den
politischen Entwicklungen in Neuenburg ihre sorgende Aufmerksamkeit zuzuwenden,
Entwicklungen, die sich bis zur Gefahr eines europäischen Krieges steigerten.
Wir folgen der Darstellung Bonjours.
I. Am 1. März 1848 wurden Monarchie und Regierung im Fürstentum Neuen-
burg durch eine republikanische Bewegung gestürzt und der eidgenössische Vorort
Bern anerkannte alsbald den neuen Zustand: „es stehe jedem Kanton das unveräußer-
liche Recht zu, sich seine Verfassung selbst zu geben". Der schweizerische Bundes-
Kritiken 867
rat, in dem der Radikalismus maßgebend war, zeigte sich bereit, allenfalls über eine
Geldentschádigung zu verhandeln, auf andere Verhandlungen werde er sich nicht
einlassen.
Die republikanische Verfassung wurde am 30. April mit 5813 gegen 4395 Stim-
men angenommen. Auf der einen Seite die Ideale der Aufklärung und des schweize-
rischen Gesamtnationalgefühls und die Befreiungswünsche der unter der monarchi-
schen Regierung sozial und wirtschaftlich benachteiligten Kreise, auf der anderen
Seite, geführt von Graf Wesdehlen, Frédéric de Chambrier und dem preuBischen
Gesandten von Sydow die Idee des christlich-germanischen Ständestaates und der
gottgewollten Ordnung: „ihren Fürsten betrachteten sie als die Quelle und Garantie
ihrer Rechte und Freiheiten“. Sie hofften auf Unterstützung durch die Großmächte,
von deren keiner aber materielle Hilfe zu erwarten war.
Dem König Friedrich Wilhelm IV. war Neuenburg besonders durch seinen
Besuch im Jahre 1842 ans Herz gewachsen. Das Land „bot seinen Augen ein Bild
altständischer Schichtung der Gesellschaft und patriarchalisch-christlicher Einfach-
heit“. Auf keine seiner Untertanen war der König so stolz wie auf seine allertreuesten
Neuenburger.
Nun mußten die sehr weitgehende Autonomie der Gemeinden, die Selbständig-
keit der vier Bourgeoisien Landeron, Boudry, Neuenburg und Valangin, die in
der Compagnie des Pasteurs organisierte Geistlichkeit den modernen Ausgleichs-
bestrebungen weichen. Alle diese Maßregeln riefen große Unruhe unter den Alt-
gesinnten hervor, die noch dadurch gesteigert wurde, daB die Regierung ihrerseits
bewaffnete Trupps aus den republikanisch gesinnten Gemeinden und Milizen auf-
bot, die sie zur Strafe bei den kóniglich Gesinnten einquartierte. Die Unzufrieden-
heit wurde so groß, daB mancher der Altgesinnten dem Lande der Väter den Rücken
kehrte. Aus dem Dorfe Lingniéres allein hatten Anfang 1850 schon 47 Personen die
Heimat verlassen.
II. Nachdem die in der Schweiz vorbereiteten und von einigen Kantonen unter-
stützten Aufstánde in Baden (April und September 1848) niedergeschlagen waren,
retteten sich zahlreiche Flüchtlinge in die Schweiz. Die von der badischen Regierung
erhobenen Vorstellungen fanden die Unterstützung Sydows, in dessen Augen der
Putsch in Baden und der Neuenburger Aufstand Auswirkungen eines und desselben
Prinzips waren. Als das preußische Heer unter der Führung des Prinzen von Preußen
in Baden und in der Pfalz siegreich vordrang, regte sich in der Schweiz die Besorgnis,
nun werde Preußen die Gelegenheit benutzen, um die Neuenburger Angelegenheit
in seinem Sinn zu regeln. Der von Sydow angefochtenen Neigung des Königs und
des Prinzen von Preußen, in Neuenburg mit militärischer Gewalt einzugreifen,
stand die „junge Real- und Opportunitätspolitik des Grafen Brandenburg gegen-
über, die sich insbesondere über die von den Großmächten zu erwartende Gegner-
schaft im klaren war. Der König gab mit großemWiderstreben nach. Unter den re-
gierenden Personen fand dadurch ein Wechsel statt, daB Sydow nach Berlin berufen
wurde und an seiner Stelle Major Ludwig von Wildenbruch als interimi:tischer
Gescháftstráger nach Bern geschickt wurde. Als in dieser Zeit eine Gruppe von
38 Neuenburger Royalisten dem Prinzen von Preußen in Baden ihre Aufwartung
machte, schwor ihnen der Prinz bei Gott, sie nie zu verlassen.
III. Da die Wiedergewinnung von Neuenburg durch das Schwert aussichtslos
erschien, versuchte der Kónig, auf diplomatischem Wege zum Ziele zu gelangen.
95*
868 Kritiken
Aber die mit Rußland, Österreich, Frankreich und England aufgenommenen Unter-
handlungen hatten keinen Erfolg. Ein unerwarteter Vorschlag des schweizerischen
Bundesrats, die Neuenburger Sache zum Gegenstand von Verabredungen zu machen,
wurde von der preußischen Regierung dahin erwidert, daB sie gern zu Verabredun-
gen die Hand bieten werde, welche die Wiederherstellung der rechtmáBigen Regie-
rung im Fürstentum Neuenburg bezweckten. Ein von Preußen und Österreich
gemeinschaftlich dem französischen Außenminister La Hitte unterbreiteter Vor-
schlag, eine Konferenz der Nachbarstaaten nach Paris einzuberufen und der
Schweiz das Ultimatum zu stellen, alle Flüchtlinge auszuweisen, fand Zurück-
weisung.
Der Bundesrat sah sich veranlaßt, sich gegen die preußische Auffassung zu ver-
wahren, wonach in seiner ersten Note irgendwelche Anerkennung einer Rechts-
verletzung gelegen habe. Der schroffe Ton des bundesrätlichen Schreibens veranlaßte
die preußische Regierung zur Abberufung Wildenbruchs, an dessen Stelle nun wieder
Sydow trat.
Erneute Versuche des Kónigs, Frankreich und England für den preuBischen
Rechtsstandpunkt zu gewinnen, schlugen fehl. Die dabei in den Vordergrund treten-
den realpolitischen Gesichtspunkte fanden auch bei Bunsen trotz seiner Freund-
schaft mit dem Kónig Vertretung.
Eine Demonstration der Gemeinde La Sagne zugunsten der Anhänglichkeit
an das Königshaus wurde von dem republikanischen Staatsrat mit harten Vergel-
tungsmaBregeln bestraft. DaB der Kónig seinerseits an seiner einmal ergriffenen
Rechtsauffassung festhielt, bewies er durch ein Patent, wonach die durch die re-
publikanischen Mehrheiten bewirkten oder noch zu bewirkenden Veräußerungen
von Staats- und Kirchengut die Genehmigung der rechtmüBigen Obrigkeit nicht
erhalten würden.
IV. Der auf Befehl des Kónigs mit der Erstattung eines Berichts beauftragte
Major von Roeder kam zu dem Schluß, der König möge gegen eine von der Schweiz
zu gewährende Genugtuung auf Neuenburg verzichten. Sydow hielt dagegen an
seinem Standpunkt fest, Neuenburg zu behaupten; schweizerischer Kanton könne
es dann allerdings nicht mehr bleiben. Von der Auffassung ausgehend, daß eine
friedliche Erledigung der Neuenburger Sache nur durch ein Zusammenwirken aller
GroBmáchte sichergestellt werden könne, machte der König den Vorschlag, dem
schweizerischen Bundesrat möchte in seinem Auftrag von den vier anderen GroB-
mächten die friedliche Mediation in der Neuenburger Frage angeboten werden.
Nach dem Ausscheiden Neuenburgs aus dem Bundesstaat werde das Fürstentum
zu der gesamten Eidgenossenschaft in dasselbe ewige Verhältnis treten, in dem es
früher zu den einzelnen Kantonen gestanden habe. Wien und Petersburg stimmten
zu, Palmerston dagegen widersetzte sich jedem Beschluß, der die Trennung Neuen-
burgs von der Schweiz bezweckte.
Bei der am 28. März 1852 vorgenommenen Wahl zum Großrat wurden nur
14 Royalisten gegenüber 74 Republikanern gewählt, ein Ergebnis, welches nicht
geeignet war, die preußischen Bestrebungen zu unterstützen. Nach längeren Ver-
handlungen zwischen den Großmächten fand am 24. Mai 1852 die Unterzeichnung
des Londoner Protokolls statt, das zwar die Rechte des Königs auf Neuenburg an-
erkannte, aber die Selbsthilfe während der zu unternehmenden Vermittlung aus-
schloß.
Kritiken 869
Am 20. August 1851 hatten 65 Royalisten die sogenannte Pilgerfahrt nach
Hechingen unternommen. Der Kónig und der Prinz von Preufen gaben ihr Ehren-
wort, sie nie zu verlassen.
V. Die Monarchisten schöpften aus der europäischen Anerkennung der königlichen
Rechte frischen Mut und bereiteten einen Putsch vor. Durch den ehemaligen Staats-
ratspräsidenten de Chambrier machte der König indessen ein Verbot bekannt, zu
den Waffen zu greifen. Um den in England und Frankreich festgewurzelten Gedanken,
als ob die Mehrzahl der Neuenburger der Republik anhinge, zu widerlegen, betrieb
Bunsen im Einverständnis mit Wesdehlen und Rougemont die Abfassung einer
Dankadresse an den König, welche 5900 Unterschriften erhielt. Einer auf den 6. Juli
einberufenen Heerschau der Royalisten bei Valangin setzte die Regierung eine repu-
blikanische Kundgebung zu Boudevilliers im Val de Ruz entgegen, und am 30. Juli
beschloß der Große Rat, die Bourgeoisie von Valangin aufzuheben; am 7. August
folgte die Wegnahme des Vermögens, des Archivs und des Siegels. Wiederum sprach
der König die Erwartung aus, daß jede Schilderhebung unterbleibe.
Der von der preußischen Regierung an die übrigen Großmächte ergangenen
Aufforderung, mit der Schweiz Unterhandlungen zur Wiederherstellung der könig-
lichen Gewalt in Neuenburg anzuknüpfen, zeigten sich nur Frankreich und Öster-
reich entgegenkommend, während Rußland den Zeitpunkt nicht für günstig erachtete
und England sich weigerte, der Schweiz das Protokoll vom 24. Mai zur Kenntnis zu
bringen. Auch alle weiteren Bemühungen des Königs, England umzustimmen,
blieben vergeblich.
Als im Frühjahr 1853 Weesdehlen, Pourtalés-Steiger und der Schotte Ibbetson
sich verabredeten, den Aufstand zu wagen, trat der Kónig dem Vorhaben energisch
entgegen.
Die inzwischen ausgebrochene orientalische Krise gab dem König neuen Anlaß
zu einem Versuch, England in der Neuenburger Sache auf seine Seite zu ziehen.
Preußen verlangte als Preis seiner „autonomen Neutralität“ erstens die Garantie des
europäischen Besitzstandes, zweitens die Unanfechtbarkeit des deutschen Bundes-
territoriums in seiner Totalität, und drittens das heilige Versprechen, ihm nach und
durch den Frieden sein treues Neuenburg ohne Bedingungen wieder zu verschaffen.
Friedrich Wilhelms Briefe an Bunsen haben etwas Ergreifendes.
Nach Beendigung des Krimkrieges wurde auch Preußen zu den Schlußsitzungen
der Pariser Konferenz eingeladen. In der Sitzung vom 8. April verlangte Manteuffel,
daß man auch die Neuenburger Frage unter die zu behandelnden Gegenstände auf-
nehme. Der Antrag hatte keinen Erfolg.
Am 20. April erfolgten Neuwahlen zum Großen Rat. Sie ergaben 37 Republi-
kaner, 25 Unabhängige und 27 Royalisten.
VI. Auf Grund dieser Wahlen unterbreitete Weesdehlen dem König eine Denk-
schrift, wonach von der Gesamtheit der Wähler (14898) zunächst 4966 Schweizer
abzuziehen seien, die in den letzten zwei Jahren infolge ihrer Niederlassung im Kanton
Neuenburg durch die Republik das Wahlrecht erhalten hätten. Von den 9932 Neuen-
burgischen Wählern seien ¼ (gleich 5934) Royalisten. Den auf solchen Erwägungen
gestützten Hoffnungen trat Major von Roeder mit der kühlen Betrachtung entgegen,
daß das wirksamste Mittel, dem Zerfall der alten Institutionen Einhalt zu tun, in
der Anerkennung Neuenburgs als Kanton bestehe. Damit gäbe der König nur eine
traditionell gewordene romantische Fiktion auf. Die Wahlen hatten in der Tat der
870 Kritiken
royalistischen Partei einen Erfolg gebracht: im Juli bestand die Versammlung aus
36 Gouvernementalen, 22 Unabhängigen und 31 Royalisten. „Vom Auslande ganz
im Stich gelassen, in Neuenburg durch das Anwachsen der industriellen Bevölkerung
republikanischer Gesinnung immer mehr beiseite geschoben, aus den Reihen der
eigenen Partei durch Zersetzung bedroht", faBten die unbedingten Royalisten den
Plan eines bewaffneten Aufstandes. Weesdehlen war die Seele der Verschwórung.
Professor Matile, der seinerzeit nach Amerika ausgewanderte, „durch bittere Er-
fahrungen ruhig gewordene Mann“ urteilte, daß die Neuenburger Bevölkerung allent-
halben der gegenwártigen Regierung überdrüssig geworden sei. Im Mai und Juni
weilte Weesdehlen in Berlin, um dort das Terrain zu sondieren. Der Prinz von
Preußen redete ihm ab, auch der König war „wie immer (Schreiben des Prinzen von
Preußen an den Prinzgemahl) dagegen". Weesdehlen schrieb an Sydow, er habe von
den hóchstgestellten Persónlichkeiten die ermutigendsten Versicherungen erhalten,
ausgenommen vom König. Auf der Heimreise besuchte Weesdehlen den Grafen
Pourtalés, der sich indessen weigerte, irgend etwas ohne Aufforderung durch den
König zu unternehmen. Als am 19. August eine Versammlung in La Sagne beschloB,
auch ohne Pourtalés loszuschlagen, reiste dieser nach Berlin, um sich Klarheit zu
verschaffen. Er hatte dort u. a. Unterredungen mit dem Prinzen von Preußen, dem
Ministerpräsidenten von Manteuffel und dem Generaladjutanten von Gerlach. Der
Prinz von Preußen verhehlte, wie er an Prinz Albert schrieb, „nicht die Bangigkeit
des manquiren des coups", und auch der König erklärte seine Besorgnis, daß er die
große Bangigkeit nicht unterdrücken könne. Da aber en tout cas losgeschlagen
werden solle, so könne er nur sagen, daß er im Falle des Gelingens wisse, was seine
Ehre, gestützt auf seine Erklärungen von 1848 und das Protokoll der Mächte von 1852
zu tun verpflichten würde. Über die in Neuenburg bevorstehenden Ereignisse machte
die preußische Regierung den Mächten geheime Mitteilungen. Der König schrieb
außerdem im gleichen Sinne an den Kaiser Franz Joseph und der Prinz von Preußen
auf seine Veranlassung an den Prinzen Albert. Ein dem preußischen Gesandten in
Karlsruhe, von Savigny, erteilter Auftrag, mit dem schweizerischen Bundesrat zu
verhandeln, erledigte sich dadurch, daß Savigny erst in Bern eintraf, als der Putsch
schon niedergeschlagen war. Die Royalisten, die große Hoffnungen auf eine Einwir-
kung Preußens auf den Bundesrat gesetzt hatten, waren bitter enttäuscht. Sydow,
der in die Vorbereitungen zur Erhebung nicht eingeweiht war, war sehr bestürzt, als
er davon hörte, und ließ Weesdehlen seine Bedenken noch einmal vorstellen. „Der
König könne nur billigen, was er unterstützen könne und mißbillige folglich ein
solches Unternehmen.“ Da erhielt Sydow am 30. August von Manteuffel die Mit-
teilung, man wisse in Berlin, was sich in der Schweiz vorbereite, Sydow solle nicht
dagegen wirken, sondern der Sache fremd bleiben. Weesdehlen aber teilte ihm mit,
der König wünsche und billige die Schilderhebung. Sydow war überzeugt, die Roya-
listen würden von bernischen und waadtländischen Truppen erdrückt werden. Nach
dem Mißerfolg des Unternehmens schrieb Manteuffel an Sydow, er habe Pourtalés
immer erklärt, er könne als Minister nur davon abraten.
In der Nacht vom 2. zum 3. September brach der Aufstand aus, und für kurze
Zeit wehte die königliche Fahne auf dem Neuenburger Schloß.
„Es scheint uns nicht Aufgabe des Historikers zu sein, hier die Frage nach der
Allein- oder Hauptschuld zu stellen, und so über die Vergangenheit zu Gericht zu
sitzen. Eine solche rein moralische Betrachtungsweise kann der Mannigfaltigkeit
Kritiken 871
geschichtlichen Lebens nicht gerecht werden. Wir haben vielmehr danach getrachtet,
die in den Verhältnissen liegenden Gegebenheiten zu erfassen und Verschuldungen
im einzelnen — bei den Neuenburger Royalisten sowohl wie bei den Leitern der
preußischen Politik — festzustellen. Erst aus dem Zusammenwirken aller dieser
Kräfte ist der Neuenburger Konflikt entstanden, auf dessen Verständnis es uns hier
vor allem ankam.“
Die Arbeit Edgar Bonjours schließt mit einer Niederschrift des Generals Karl
von der Gröben, eines „untadeligen Charakters und frommen Christen“, der die
gegen die Schweiz zu führende Armee befehligen sollte.
„Mein heißgeliebter König hat die Unterstützung nie verheißen. Aber — das
unsägliche Wehe: eine Perle aus seiner Krone verloren zu haben, hat ihn getötet.“
In der Einleitung sagt Edgar Bonjour, es solle im Gegensatz zum Streitschriften-
charakter der bisherigen Literatur der Gegenstand aus den Bezirken der Politik, des
Gefühls und der Moral in das Gebiet der Wissenschaft verlegt werden. Er sucht
nicht den Schuldigen, sondern forscht nach den tieferen Ursachen des geschichtlichen
Ereignisses. Wir sind überzeugt, daß Bonjour ernstlich bemüht gewesen ist, dies Ziel
unter Benutzung aller ihm zu Gebote stehenden Quellen zu erreichen, und daß seine
Bemühungen im wesentlichen von einem schönen Erfolge gekrönt worden sind.
Wenn wir die treibenden Kräfte des Geschehens innerlich erfassen und klar und
unzweideutig hinstellen wollen, so ist es einerseits der unanfechtbare und von der
Überzeugung von dem unerschütterten Wert der verlorenen staatspolitischen Güter
getragene Rechtsstandpunkt des Königs Friedrich Wilhelm und der altgesinnten
Bevölkerung des Fürstentums und andererseits das für die heutigen Begriffe nicht
ganz verständliche Verhältnis der gegenseitigen Liebe, Treue und Verantwortung
zwischen Fürst und Volk. Wir haben den Eindruck, daß Bonjour gerade das letztere
nicht seinem ganzen inneren Wert nach würdigt, wie er auch den Besuch des Königs-
paares in Neuenburg im Jahre 1842, der mit seiner offenbar aus aufrichtigem Herzen
kommenden Huldigung der ganzen Bevölkerung ein wahrer Triumphzug war, keine
Erwähnung schenkt. Hat nicht auch die Beifügung des Wortes „vielgeliebt“ oder
„heiß geliebt" bei Erwähnung des Königs ironische Bedeutung?
Seite 30 spricht Bonjour von „dem sonst so wankelmütigen Monarchen, der wie
immer, wenn es sich um Grundsätzliches handle, eine verblüffende Beharrlichkeit an
den Tag legte". Wir finden dieses Urteil reichlich widerspruchsvoll und meinen im
übrigen, daß der König während aller der Jahre 1848—56 mit bewunderungswerter
Zähigkeit an seinem Standpunkt festgehalten hat. Und ist die „allgemeine Unauf-
richtigkeit des Königs, die Bonjour Seite 46 hervorhebt, wirklich ein Ergebnis unvor-
eingenommener geschichtlicher Forschung? Palmerston, der alles preußische Auf-
würtsstreben mißgünstig beobachtete, ist jedenfalls ein ungeeigneter Gewührsmann;
auch Kónige haben Anspruch auf gerechte Beurteilung.
Auf Seite 29 sagt Bonjour, daB das Doppelverhältnis Neuenburgs zu Preußen
und der Schweiz unglücklich gewesen sei. Wie sehr aber der überwiegende Teil der
Bevólkerung damals an seinem Hohenzollerschen Fürstenhause hing, beweisen die
Vorgünge bei und nach dem Aufstand von 1831 (siehe E. Kayser, Die Neuenburger
Revolution vor 100 Jahren, Historische Vierteljahrschrift 1932, Seite 589). Dem
Vorwurf des Dr. A. Chatelain gegenüber, daß die Leiter von Berlin betrogen worden
seien, hátte meines Erachtens der Brief des Pfarrers Fr. Godet, des Erziehers des
Kaisers Friedrich, an den Grafen Fr. Pourtalés vom 23. März 1857 nicht unerwähnt
872 Kritiken
bleiben dürfen, in dem es heißt: „Je crois à la parfaite loyauté du roi et du prince de
Prusse. Si il y a des apparences contraires je les envisage comme le résultat d'un
malentendu. Je ne mois pas seulement qu'il a eu malentendu, je mois comprendre
quel il a été.“
Alles in allem, darin glauben wir mit dem Verfasser einig zu gehen, das Ende
des Fürstentums Neuenburg stellt die ergreifende Tragódie eines Fürsten und eines
Landes dar.
Freiburg i. Br. Emil Kayser.
R. P. Oszwald, Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Köln,
1931. Gilde-Verlag. XII und 284 Seiten.
Zu den unerquicklichen Streitfragen des Weltkrieges, die nicht zur Ruhe kom-
men, gehört der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Immer wieder werden
von belgischer Seite die alten, oft widerlegten Geschichten von den deutschen Greuel-
taten aufgewärmt. Selbst das Buch des ehemaligen Unterstaatssekretärs im eng-
lischen Außenministerium, Arthur Ponsonby, über die Lügen in Kriegszeiten hat
daran leider nichts ändern können, obgleich dieser englische Diplomat mit erfrischen-
der Offenheit darlegt, wie bewußt man damals gelogen hat.
Oszwald wendet sich zunächst gegen die belgische Behauptung, daß die durch
die heimische Presse aufgehetzten deutschen Soldaten mit einer Franktireur-Psy-
chose in den Krieg gezogen seien und unschuldige, harmlose Leute des heimtückischen
Mordes beschuldigt und erschossen hátten. Er zeigt, in wie widersprechender Weise
die Belgier wiederholt die Franktireur-Bewegung abgeleugnet und andere Male als
patriotische Tat gepriesen haben. Das ist übrigens eine Erscheinung, die wir auch
anderwürts beobachten, je nach den Umständen wird eine Tat verherrlicht oder als
Legende erklärt. Ausführlich schildert dann der Verfasser die Tätigkeit der belgischen
aktiven und inaktiven Garde civique, welche letztere angeblich nur zum Polizeidienst
aufgerufen war, in Wirklichkeit aber am Kampfe teilgenommen hat. Die Bedingungen
der Haager Konvention sind hierbei vielfach verletzt worden. Oszwald macht der
belgischen Regierung den Vorwurf, daß sie es versäumt hat, die Garde civique über
die Bestimmungen dieser Konvention zu unterrichten, und daB sie nicht zur rechten
Zeit dafür gesorgt, sie mit Abzeichen und erlaubten Waffen zu versorgen. Wahrschein-
lich hat der gróBte Teil dieser Bürgerwehr gar nicht gewuBt, daB Zivilkleider und
Schrotmunition gegen die Haager Abmachungen verstoßen. Oszwald bringt genaue
Beweise, schriftlich und bildlich, daB mit Schrot geschossen worden ist, Róntgen-
bilder sind dem Texte beigefügt.
Energisch wendet sich Oszwald auch gegen die tórichte Behauptung, daB die
protestantischen Deutschen die katholischen Belgier aus religiösem Haß verfolgt
hätten. Er bringt Zeugnisse deutscher katholischer Kriegsteilnehmer, aber auch
belgischer katholischer Geistlicher, die solche Lügen widerlegen. Eins scheint mir
aber durch Oszwalds Darstellung nicht genügend geklärt zu sein: Sind nicht doch
vielleicht belgische Geistliche, die man als Geisel genommen, erschossen worden.
wenn nach ihrer Verhaftung ohne ihre Schuld Überfälle stattgefunden haben? Ich
habe beim Lesen des Oszwaldschen Buches an Vorgänge denken müssen, die sich am
27. Juni 1866 in Trautenau ereignet haben, die ich in meinem Buche über die Ge-
fechte bei Trautenau geschildert habe. Auch damals sind optische und akustische
Täuschungen vorgekommen, die zu irrtümlichen Annahmen führten. Jener Brief-
Kritiken 878
schreiber Ther, den Oszwald S. 103 und 104 zitiert, hat vielleicht nicht unrecht, wenn
er annimmt, daB gelegentlich unschuldige Zivilisten verdächtigt worden sind, weil
aus der Nachbarschaft ihrer Häuser Kugeln kamen, für die sie in Wirklichkeit gar
nicht verantwortlich waren.
Wir dürfen ferner nicht vergessen, zwei Entschuldigungsgründe für die Belgier
zu berücksichtigen. Oszwald weist auf die psychologische Verfassung des belgischen
Volkes in jenen Tagen hin, einerseits hatten die ruhmredigen Prahlereien über Helden-
taten der Belgier und Feigheit der Deutschen die Bevólkerung in den Glauben ver-
setzt, es sei nicht schwer, die Feinde zu vertreiben, andererseits hatten die Erzäh-
lungen von den Greueltaten den Gedanken erweckt, man sei in der Notwehr, es sei
erlaubt, sich gegen grausame Mórder zu wehren. Ich móchte noch hinzufügen, daB
der unter Bruch der Neutralität erfolgte Einmarsch der Deutschen naturgemäß die
Belgier verbittern mufite, um so mehr, als der oberste Beamte des Deutschen Reiches,
der Reichskanzler von Bethmann Hollweg, diesen Akt óffentlich als ein Unrecht
bezeichnet hatte. So gern wir bereit sind, den Belgiern entgegenzukommen, so müssen
wir aber doch verlangen, daß auch diese endlich bereit sind, die Streitfragen ohne
Voreingenommenheit zu prüfen. Davon ist leider bis jetzt wenig zu merken. Oszwald
nennt uns eine sehr groBe Reihe von Büchern, die er Seite 121—227 eingehend
bespricht, man sieht daraus, wie wenig bis heute die Wahrheit Fortschritte gemacht
hat. Mit welchen Mitteln die belgische Propaganda arbeitet, das zeigt Oszwald
S. 202—206 an dem Beispiel der von dem Mónch Norbert Nieuwland und dem Di-
nanter Staatsanwalt Moritz Tschoffen verfaBten Broschüre: Das Märchen von den
Franktireurs von Dinant, Gembloux 1928 erschienen. In 170000 Exemplaren ist
diese Tendenzschrift versandt worden, auch ich habe ein Gratis-Exemplar bekommen
und ich vermute, daß meine Fachkollegen ebenso bedacht worden sind.
Oszwald sagt S. 86, die besonders schweren Fälle von Löwen, Dinant und Aerschot
erforderten eine besondere Darstellung, im Rahmen des vorliegenden Buches kónnen
sie nur gestreift werden. Ich stimme ihm zu, ich móchte wünschen, daB Oszwald sich
entschließt, diese uns noch fehlende Darstellung zu geben. Er würde sich damit ein
Verdienst erwerben sowohl um die Wissenschaft, als auch um das deutsche Volk.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
Nachrichten und Notizen.
Württembergische Vergangenheit. Festschrift des Württ. Geschichts- und
Altertums vereins zur Stuttgarter Tagung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertums vereine. Stuttgart, Kohlhammer 1932.
Zur Stuttgarter Tagung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine
(1932) sind württembergische Organisationen mit zwei Festgaben hervorgetreten.
Die eine gab die Württembergische Kommission für Landesgeschichte als Sonder-
heft der Württembergischen Vierteljahrshefte für Landesgeschichte heraus. Die
zweite, die hier angezeigt werden soll, ist die Festschrift des Württembergischen
Geschichts- und Altertums vereins. Beide hat Prof. Dr. Karl Weller redigiert. Er
hat jeder der beiden Festgaben ihren besonderen Charakter gegeben. So enthält die
„Württembergische Vergangenheit“ weniger Beiträge zur staatlich-politischen Ge-
schichte als solche zur Urgeschichte und Kunstgeschichte. Hier können nur die für
den Historiker im engeren Sinne wesentlichen Aufsätze genannt werden.
874 Nachrichten und Notizen
Im Mittelpunkt dieser Aufsätze steht der Beitrag von K. Weller: „Die
HauptverkehrsstraBe zwischen dem westlichen und südóstlichen Europa in ihrer
geschichtlichen Bedeutung bis zum Hochmittelalter." Es handelt sich um die
Verbindung von Metz nach Passau, die ein Stück der alten groBen Linie zwischen
Paris auf der einen und Wien und Ungarn auf der anderen Seite ausmacht. Weller
stellt nun als erster Verlauf und Bedeutung dieses Weges auf deutschem Boden,
besonders zwischen Worms und Pföring an der Donau, genau fest. Er war schon von
den Römern begangen und behielt seine Wichtigkeit durch die Jahrhunderte unter
den verschiedensten politischen Verhältnissen, bis der Bau der Regensburger Donau-
brücke ihn außer Gebrauch brachte und den Durchgangsverkehr auf die nördlichere
Linie über Würzburg und Nürnberg zog. Der frühere Direktor des württembergischen
Staatsarchivs E. Schneider schreibt über den ältesten Herrn von Württemberg
und versucht in Anlehnung an frühere Theorien nachzuweisen, daß der um 1080
genannte Konrad von W. aus der Gegend von Luxemburg stamme und Luitgart
von Beutelsbach geheiratet habe. Der jetzige Direktor des Staatsarchivs, Fr. Wint-
terlin, behandelt „Untertanenrechte, Naturrecht und Menschenrechte in der alt-
württembergischen Verfassung“ und zeigt die außerordentlich große Rolle der alten
Freiheiten in der Verfassung des württembergischen Herzogtums seit dem 16. Jahr-
hundert, besonders im Vergleich zu der franzósischen Erklárung der Menschenrechte
von 1789. Diesen allgemeinen historischen Aufsätzen reiht sich noch die Veröffent-
lichung und Erläuterung politischer Stellen aus Briefen Eduard Zellers dureh
A. Wahl an; auch Max Ernsts neue Studien zu den Beziehungen der Stadt Ulm
und dem Kloster Reichenau sind hier zu erwähnen.
Zahlreich sind die urgeschichtlichen und archäologischen Beiträge. Ich nenne
den Aufsatz von Karl Schumacher über „Siedlungs- und Kulturgeschichtliches
aus dem Tauberland", den Versuch R. Raus, in „Das Alter der Neckar- und Alb-
kastelle“, den Bau dieser Befestigungen im Zusammenhang mit einer Untersuchung
der Germanenkriege zwischen 80 und 90 neu zu datieren, den Aufsatz O. Parets
über die „alemannische Besiedlung des Langen Feldes“, der römische und alemannische
Besiedlung desselben Gebiets vergleicht und sich besonders mit der Auswahl der
Siedlungsplätze — die Alemannen bevorzugen im Gegensatz zu den Römern Wasser-
läufe — und den alemannischen Markungsgrenzen beschäftigt, und schließlich
W. Veecks Beitrag: „Der fränkische Formenkreis der Völkerwanderungszeit im
Gegensatz zum alemannischen“, in dem gegenüber anderen Ansichten an dem Be-
stehen eines deutlichen Unterschieds zwischen fränkischen und alemannischen
Formen bei den Bodenfunden festgehalten wird. Die genannten und eine Reihe
weiterer Arbeiten zeigen in den verschiedenen behandelten Gebieten, wie mannig-
faltig die in den Geschichtsvereinen gepflegten Interessen sind und wie man gerade
in Württemberg bemüht ist, des alten guten Rufes, den die landesgeschichtliche
Forschung genieBt, sich weiter würdig zu erweisen.
Tübingen. Fritz Ernst.
SchieB, Traugott, Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz. Mittei-
lungen zur vaterländischen Geschichte, hrsg. vom Historischen Verein des Kan-
tons St. Gallen XXXVIII. St. Gallen, Fehr'sche Buchhandlung 1932. 419 S.
Der um die schweizerische Geschichte verdiente Stadtarchivar von St. Gallen
hat eine Auswahl seiner kleineren Arbeiten zusammengestellt, 18 Abhandlungen,
Nachrichten und Notizen 875
die mit einer Ausnahme schon an andern Stellen veróffentlicht wurden. Manche haben
rein órtlichen Belang; im folgenden sollen nur diejenigen Aufsátze besprochen werden,
welche für die allgemeine Geschichte wichtig sind. Im ersten ,,Die st. gallischen
Wil-(Weiler-) Orte“ lehnt der Vf. die von Behaghel in seiner verfehlten Schrift „Die
deutschen Weilerorte“ (Wörter und Sachen II, 1910, S. 142 ff.) verfochtene An-
sicht, daß diese romanischen Ursprungs seien, mit vollem Recht ab. Der nördliche
Teil des Kantons St. Gallen ist unter allen Gebieten mit der Ortsnamenendung
-weiler am dichtesten mit so benannten Siedlungen besetzt. SchieB selber glaubt,
die ebenfalls irrige Auffassung Wilhelm Arnolds wieder aufnehmend, die Endung
sei geradezu kennzeichnend für den Alamannenstamm; sie spricht jedoch nur über-
haupt für grundherrschaftliche Siedlungsweise. Es ist merkwürdig, wie langsam
lángst erreichte Erkenntnis durchdringt: die Entstehung der Ortsnamen auf -weiler
wurde bereits in den Württembergischen Vierteljahrsheften für Landesgeschichte,
Neue Folge VII, 1898, S. 29ff. aufgehellt; man hat sich leider bisher begnügt, die
veralteten und falschen Erklárungen immer aufs neue vorzubringen. — Die Frage
„Hat St. Gallus Deutsch verstanden?“ wird selbstverständlich bejaht. — Von den
acht „ältesten Kirchen der st. gallischen Stiftslandschaft“ sind sieben als Eigenkir-
chen des Klosters, als von diesem ausgegangene Gründungen anzusehen: sie bezeugen,
wie mit Recht geschlossen wird, eine vom Kloster ausgeübte Missionstätigkeit. —
Der bedeutendste Aufsatz, der einzige zuvor noch ungedruckte, handelt von der
„St. gallischen Klostertradition“; Schieß führt die Forschungen von Sickel, Meyer
von Knonau, Beyerle, Caro und Ganahl weiter; er stellt sich vielfach auf die Seite
des Letztgenannten, der eine Ehrenrettung der st. gallischen Tradition vollzogen
hat. St. Gallen war von Anfang an nicht etwa ein königliches Kloster, es hatte
vielmehr eine unabhängige Stellung und stand zum Könige nur in einem Schutz-
verhältnis. Seine Abhängigkeit von Constanz trat erst durch den Vertrag von 759/60
ein und wurde nur in der Entrichtung eines jährlichen Zinses zum Ausdruck gebracht,
während die Verwaltung des Klosterguts dem Abte überlassen blieb. — In der
Abhandlung „Zur älteren Geschichte von Herisau bis zu den Appenzellerkriegen“
kommt der Verfasser auch auf die Freien des Appenzeller Landes, die Freivogtei
im oberen Thurgau, zu sprechen; er faßt sie wie alle bisherigen Forscher und zumal
Friedrich von WyB als einen Überrest der einstigen alamannischen Gemeinfreiheit
auf. Was sich von freien Bauern in Schwaben bis in die neuere Zeit erhalten hat,
ist jedoch als eine Neubildung der Stauferzeit zu betrachten, ihre Freiheit als eine
Neuschöpfung für Neusiedler auf Reichsgut oder Reichsvogteigut, wie ich an anderer
Stelle begründen werde. — „Der Schluß der Appenzellerkriege 1420—1429"' sucht
die Ereignisse und Verhandlungen dieser Jahre zu entwirren. Mit dem Frieden von
1408 war der Streit zwischen dem Abt und den Appenzellern keineswegs beigelegt,
sondern zog sich infolge der Hartnäckigkeit und Widerspenstigkeit der Appenzeller
Bauern noch zwei Jahrzehnte hin. Der diesen günstige Spruch der Eidgenóssischen
Orte von 1421 wurde nach langem Hadern 1429 bestátigt, weil Kaiser Sigismund
der Hussitenkriege wegen auf AbschluB drang. — Ein Aufsatz behandelt den Hu-
manistenkreis um den Bodensee zu Beginn der Reformation, den Briefwechsel des
Johannes von Botzheim in Constanz und des Michael Hummelburg in Ravensburg. —
Eine Anzahl von Flugschriften zugunsten der Reformation aus den Jahren 1520 bis
1522 werden von neueren Forschern dem St. Galler Reformator Vadian zugeschrie-
ben; SchieB lehnt das mit durchschlagender Begründung ab. — In einem Aufsatz
876 Nachrichten und Notizen
über ,,Goldasts Aufenthalt in St. Gallen" weist er aus dem St. Galler Stadtarchiv
den Verdacht als durchaus begründet nach, daB dieser Gelehrte seine kostbare
Bibliothek zum Teil durch unrechtmäßige Aneignung erworben habe. — Andere
Abhandlungen bringen aus demselben Archiv Beitráge über die Belagerung von
Constanz durch die Schweden 1633 und über die Folgen der Französischen Revolution
im st. gallischen Mittellande, nämlich die revolutionäre Bewegung der Bauern gegen
die Abtei und den Übergang von Stadt und Landschaft an die Helvetische Republik.
— SchieB hat durch alle diese Aufsátze die Geschichte St. Gallens mannigfach ge-
fördert. Am Schluß wird ein Register vermiBt.
Stuttgart. Karl Weller.
Literatur zur Ordensgeschichte.
Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens
und seiner Zweige. Hrsg. von der Bayerischen Benediktinerakademie.
Ergánzungshefte.
1. Wilh. Fink, Entwicklungsgeschichte der Abtei Metten. Teil I. Das ProfeBbuch
der Abtei. München 1926. 144 S. ZA 3,50. Teil II. 1928. Das königliche Klo-
ster. 138 S. mit Karten. & 3,50. Teil III. 1930. Das landstándische Kloster.
1275—1803. A. Die politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
A7, 50. 300 8.
Der Bibliothekar des Klosters bietet eine großangelegte Geschichte seines
Klosters, auf die hier im Rahmen einer gedrüngten Sammelbesprechung nur kurz
hingewiesen werden kann. Die Entwieklung wird durch die Hauptdaten bestimmt
von der Gründung um 770 bis zum Aussterben der Babenberger 1246. Bis zur Wende
des 10. Jh.s waren Mönche im Kloster, dann bis 1157 Kanoniker und darauf wieder
Mönche. Nachdem Metten bis zum Ende des 10. Jh.s eine königliche Abtei gewesen
war, kam es in Abhängigkeit von den Babenbergern und nach deren Aussterben zu
den Landständen des Herzogtums Bayern- Straubing. Versuche um 1270, die Exemp-
tion zu erreichen, scheiterten. 1803 wurde das Kloster säkularisiert und 1830 wieder
errichtet. Das nach den 54 Abten aufgestellte ProfeBbuch ist eine überaus mühsame
Arbeit mit wertvollen Angaben über die Personalien, die Ämter, die Ausbildung
und die wissenschaftliche Tátigkeit der Klosterinsassen. Zu den von P. Lindner
herausgegebenen ProfeBbüchern anderer bayerischer Abteien bildet dieses Buch
eine willkommene Ergänzung. Im 3. Teil ist die erschöpfende Statistik des Kloster-
besitzes beachtenswert. F.s auf reichem archivalischem Stoff aufgebaute Darstellung
bedeutet einen gewaltigen Fortschritt gegenüber der Materialsammlung des P. Rupert
Mittermüller aus dem Jahre 1856.
2. Sigisbert Mitterer, Die bischóflichen Eigenklóster in den vom hl. Bonifazius
139 gegründeten bayerischen Diözesen. 1929. IV, 158 S. ZA 5,—.
Gleich anderen, von Michael Doeberl angeregten Dissertationen zeichnet sich
diese Arbeit durch sorgfältige, quellenmäßige Untersuchungen aus. M. weist nach,
daß der Niedergang der Eigenklöster nicht erst nach dem vielfach überschätzten
Ungarneinfall und den Säkularisationen des Herzogs Arnulf im 10. Jh. eingesetzt
hat. Der Verfall hat innere Ursachen: die Verkettung der benediktinischen Kloster-
familie mit dem Eigenkirchenherrn mußte in der Beobachtung der Ordensregel
zersetzend wirken. Der Bischof wurde Eigentümer und Abt des Klosters. Um 800
Nachrichten und Notizen 877
war kaum in einem der bischöflichen Eigenklöster noch ein Abt. Seit dem 11. Jh.
wirkte der Reformgedanke aufbauend, aber keines der Eigenklöster (außer Mond-
dee) wurde reformiert.
3. Barnabas Schroeder, Die Aufhebung des Benediktiner-Reichsstiftes St. Ul-
rich und Afra in Augsburg 1802—1806. Ein Beitrag zur Säkularisations-
geschichte im Kurfürstentum Bayern und in der Reichsstadt Augsburg.
1929. IV, 159 S. mit Tafeln. ZÆ 5,76.
Nach der unzulänglichen Arbeit Scheglmanns über die Säkularisation in Bayern
(1903/08) sind derartige Sonderuntersuchungen sehr zu begrüßen. Die Münchener,
Neuburger und Augsburger Archivalien sowie die Flugschriften-Literatur sind reich-
lich herangezogen. Der letzte Abt war Gregorius II. Schäffler. Die Bestandsaufnahme
in der Abtei ist für die Geschichte des Archivs, der Bibliothek und der Kunstgegen-
stände beachtenswert. Die Darstellung haftet nicht an Einzelheiten und weiß die
leitenden Ideen der Aufklärung und Säkularisation geschickt zu verweben.
4. Ildefons Stegmann, Anselm Desing, Ábt von Ensdorf 1699—1772. 1929.
XXVIII, 330 S. & 8,—.
Unter den gelehrten Benediktinern des 18. Jh.s nimmt Desing eine hervorragende
Stelle ein. Zuletzt hat wohl J. Rottenkolber seine Bedeutung für die Neugestaltung
des Geschichtsunterrichts (1921) gewürdigt. Seine zahlreichen Schriften hat schon
Meusel 2, 336 ff. zusammengestellt. Sein NachlaB ist in der Münchener Staatsbiblio-
thek. AuBer diesem hat der Vf. umfangreiche andere Quellen herangezogen und so
ein abgeschlossenes Lebensbild des Ensdorfer Benediktiners gezeichnet. Abgesehen
von seinen Schulschriften über Geographie, Geschichte und Latein, auch einer
,, Reichsgeschichte" (bis auf Ludwig das Kind) ist D. besonders als Kritiker der natur-
rechtlichen Theorien und der Philosophie Christian Wolffs bekannt geworden.
5. Bernhard Walcher, Beiträge zur Geschichte der bayerischen Abtswahlen mit
besonderer Berücksichtigung der Benediktinerklóster. 1930. XI, 79 S. AA 3.
Es ist sehr zu begrüBen, daB Berliéres Arbeit über die mittelalterlichen Abts-
wahlen (1927) und Bernheims Greifswalder Dissertationen neue Anregungen geben.
Der erste Abschnitt behandelt die Stellung der bayerischen Herzóge und Kurfürsten
zu den Abtswahlen, der zweite die wirtschaftliche Belastung der Klóster durch die
Abtswahlen, wobei namentlich die Kosten eine groBe Rolle spielen. Seit 1486 sind
Wahlkommissare der Bischöfe und Landesherren nachweisbar. Die saubere Arbeit
ist so inhaltreich, daß das Fehlen eines Registers doppelt zu bedauern ist.
6. Adelhard Kaspar, Die Quellen zur Geschichte der Abtei Münsterschwarzach
am Main. 1930. XII, 86 S. RA 3,—.
Die Überlieferung über diese 1913 wieder besetzte fránkische Abtei ist so reich,
daB zunüchst eine quellenkritische Untersuchung notwendig war, bevor an eine Dar-
stellung der Geschichte des Klosters zu denken ist. In dem ersten, der „Tradition“
geltenden Abschnitt der Dissertation werden folgende Aufzeichnungen geprüft:
die Chroniken und Sammelwerke, wie Bruschius, Ussermann und Link. Unter den
Chroniken stehen an erster Stelle die Chronik des Augustinerchorherrn Balthasar
von Birklingen; das von J. P. v. Ludewig (1718) veröffentlichte „Chronicon Schwar-
zacense“; die Werke des Würzburger Juristen Konrad Dinner (16. Jh.) sowie die
Werke der Münsterschwarzacher Mönche Leopold Wohlgemuth (f 1686) und Bur-
878 Nachrichten und Notizen
kard Bausch (17. Jh.). Im 2. Teil „Überreste“ sind die Quellen im Staatsarchiv
Würzburg, das die Reste des Klosterarchivs verwahrt, und in anderen Kirchen-,
Ordens- und Privatarchiven besprochen. Dem Heft sind gute Register beigegeben.
7. Placidus Sattler, Die Wiederherstellung des Benediktiner-Ordens durch
Kónig Ludwig I. von Bayern. I. Die Restaurationsarbeit in der Zeit Eduards
von Schenk. 1931. IV, 223 S. & 7,—.
Eduard von Schenk, der Romantiker und Minister Ludwigs I., steht im Mittel-
punkt dieser Epoche der Säkularisation und Restauration. Sein Briefwechsel
mit dem König und der neuerdings veröffentlichte Briefwechsel des Bischofs Sailer
bringen reichen Stoff für die Beurteilung der führenden Persönlichkeiten dieser be-
wegten Zeit, die uns aus vielen Arbeiten M. Doeberls vertraut ist. Doeberl gebührt
auch das Verdienst, diese Dissertation angeregt zu haben. Sie ist mit lobenswertem
Fleiße unter Bewältigung eines überaus großen Quellenstoffes und Schrifttums ab-
geschlossen worden. Der Kampf um die Wiederherstellung Mettens steht im Vorder-
grund. Ein zweiter Teil steht noch aus.
Analecta Praemonstratensia. Tomus VI und VII. Tongerloae 1930 und 1931.
Die vorliegenden Bände bringen mancherlei bibliographische Beiträge, die für
die deutschen Stifte in Frage kommen: A. Stara, Beiträge zur Bibliographie
O. Praem. (6, 375—409): Die durch böse Druckfehler entstellte Übersicht ist leider
sehr lückenhaft. Für die hessischen Niederlassungen hátte ein Hinweis auf meine
viel vollständigere Abhandlung in den „Analecta“ I (1925), 69ff. genügt. Wertvoller
ist N. Backmund, Zur Bibliographie ord. Praem. (7, 172—182), der mit Recht
das schon im 6. Bande, S. 206 und 422—427 angezeigte Werk von Raphael van
Waefelghem, Répertoire des sources imprimées et manuscrites relatives à l'hi-
stoire et à la liturgie des monastéres de l'ordre de Prémontré (Bruxelles 1930) ab-
lehnt, Berichtigungen gibt und bedauert, daB die Mitarbeit ausländischer Fach-
männer nicht angerufen wurde (vgl. auch meine Anzeige im Korrespondenzblatt
d. Gesamtver. 78. 1930. Sp. 290f.). Der Reisebericht (1928) von A. Zák (Iter Prae-
monstratense 6, 196—205, 414—418. 7, 27—65, 293—320) enthält auch vielfach
bibliographische Angaben über die Stifte in Süddeutschland, im Rheinland und
Westfalen. Leider ist der unermüdliche Sammler und Forscher 1931 gestorben
(Nachrufe: 7, 206—208); sein Bullarium und eine Ordensgeschichte blieben un-
vollendet. Ein Literaturbericht von J. Ramackers (7, 339—347) berücksichtigt
vornehmlich die Bedeutung des Ordens im Kolonisationsgebiet der Bistümer Branden-
burg, Havelberg und Ratzeburg. R. beschließt seine Arbeit über die adligen Prae-
monstratenserstifte in Westfalen und am Niederrhein (6, 281—332) mit einer alpha-
betischen Reihenfolge der Kanoniker von Kappenberg, Varlar, Klarholz, Hamborn
und Scheda. Aus dem Rheinland sind zu nennen die Beiträge von Th. Paas, Die In-
korporation [1678] der Pfarre Müddersheim in die Abtei Steinfeld (6, 255—269) und
H. Kissel, Das ehem. Prämonstratenserstift Altenberg (6, 144-154). Es wäre
dankenswert, wenn die Chronik des Altenberger Priors Petrus Diederich (1643 bis
1655) im Solmsischen Archiv in Braunfels (vgl. auch Zák 7, 43) eine kritische Aus-
gabe fände. — Nach Ostdeutschland führen die Aufsätze von: A. Stära, Die Prae-
monstratenser-Handschriften im Magdeburger Liebfrauenkloster (6, 190f.). M. A.
van den Oudenrijn, Miracula quaedam et collationes fratris Wichmanni (6, 1—53):
Neues aus Handschriften in Utrecht, Rom und München. O. konnte den Aufsatz
mn. ^
Nachrichten und Notizen 879
von W. Mollenberg in d. Zsch. d. Vereins f. Kirchengesch. der Provinz Sachsen 24
(1928), 21 ff. noch nicht verwerten. K. Pfándtner, Ein Brief des Prámonstratenser-
Bischofs Anselm v. Havelberg (7, 97—107): Der oft falsch gedeutete Brief an Wibald
von Stablo erführt hier eine Interpretation, die zu einer gerechteren Beurteilung des
Bischofs den Weg zeigt. — A. Zäk bringt einige Ergänzungen zu der Czarnowanzer
Festschrift (7, 219f., vgl. auch 6, 338—340, 349—359, 448f.). — Dem böhmisch-
österreichischen, polnischen und ungarischen Kreis gehören folgende Abhandlungen
an: B. F. Grassl, Das älteste Totenbuch des Pr.-Chorfrauenstiftes Chotieschau
1200—1640 (7, 1—41). A. Zák (V. Besdeka), Insignia abbatiae Siloensis (6, 367 bis
373). A. Zák, Praepositi in monasterio Zwierzyniec in Polonia (6, 359—363). A. T.
Horvath, Ad bibliographiam monasteriorum ex Hungaria (7, 183—201, Berich-
tigungen zu Waefelghem). B. L. Kumorovitz, De conventus Lelesziensis activi-
tate authentica diplomatibus expediendis usque 1569 (6, 168—183). Aeg. Hermann,
Das Praemonstratenser-Gymnasium von Roznyo (Rosenau) 1778—1787 (7, 255 bis
269). — Folgende französisch-belgische Stifte werden behandelt: Bucilly (von
Th. Béjalot 7, 143—171, 225—254), Averbode (von E. Valvekens 6, 225—254,
7,270—292, 324—337), Antwerpen (von A. Erens 6, 102—143), Floreffe (von A. Maes
4, 108—142) und Tusschenbeek (von M. de Meulenmeester 6, 270—280). E. Val-
vekens würdigt das Nationalkapitel in Pare 1572, durch dessen Beschlüsse die
Tridentiner Reformen, namentlich das Gelübde der Armut, im Orden eingeführt
wurden (6, 74—101). — Pl. Lefévre weist auf die eifrige Tätigkeit der Prämon-
stratenser in der liturgiegeschichtlichen Forschung hin. Es besteht der Plan einer
Neuausgabe des von Waefelghem (1913) nur teilweise benutzten „Liber ordinarius“
in der Münchener Bibliothek von etwa 1175 (6, 333—337 und 7, 20—26). In den
beigehefteten Sonderveröffentlichungen werden abgeschlossen: die ,Capitula Sue-
viae‘ (6, 97—103) und die Urkunden von St. Catharinadal (6, 241—288, 289—336.
4, 969—400, 401—502; bis z. J. 1588). — Aus einem Knechtsteder Codex veröffent-
licht Th. Paas die Beschlüsse des Kólner Provinzialkapitels für die westfülische
Zirkarie a. d. J. 1665—1717 (6, 1—88).
Franziskanische Studien. 19. Jahrgang 1932. Münster i. W., Aschendorff.
Die Lehren der groBen Klassiker der Scholastik aus dem Franziskanerorden
finden immer wieder neue Deutungen, weil sie vielfach noch zeitgemäß sind und
eine Zukunft haben. Mehrere Aufsätze von Jos. Klein befassen sich mit dem „sub-
tilsten Meister der Hochscholastik Johannes Duns Skotus, oder vielmehr mit
dem von P. Parthenius Minges hinterlassenenen Werk über die ,,Doctrina philoso-
phica et theologica“ des Skotus (S. 40—51, 128—133, 256—208, 327—335). — Jul.
Kaup und F. Imle, denen wir ein Buch über die dogmatischen Lehren Bonaventuras
(Werl 1931) verdanken (vgl. Fr. Stud. 19, 344f.), besprechen besonders die Sozial-
ideen Bonaventuras und die Konkurslehre des Petrus Olivi und B.s (S. 81—98,
315—326). — Jos. Lechner und M. Schmaus bringen sorgfältige Untersuchungen
zur Geschichte der Oxforder Schule, insbesondere des Wilhelm von Ware und Wil-
helm von Nottingham (} 1336) (S. 1—12, 99—127, 195—223). — Ludger Meier
weist nach (S. 269—291), daB die Lehre vom Primat des Papstes in Lehre und Juris-
diktion von der Erfurter Schule des ausgehenden Mittelalters, mit Ausnahme von
Matthias Döring, klar vertreten worden ist. — Abraham a Sancta Claras Predigt
. über den hl. Antonius von Padua, die wohl 1683 in Graz gehalten worden ist, wird
880 Nachrichten und Notizen
von K. Bertsche nach einer Wiener Hs. erstmalig herausgegeben. — Die bisher
wenig beachtete Bedeutung des Franziskanerordens für die Entwicklung der rómi-
schen Liturgie, insbesondere der Kirchenmusik, namentlich in der sächsischen
Provinz, wird von Sig. Cleven behandelt (S. 173—194). — Hnr. Hermelinks ,,Die
hl. Elisabeth im Licht der Frömmigkeit ihrer Zeit" (Marburg 1932) hat Gisb. Men-
ges angeregt, sich über einige Fragen der Elisabethforschung kritisch zu äußern
(S. 292—314). — Der Aufsatz von Rich. Rysávy, Die erste Hussitenmission des
hl. Johannes von Capestrano in Máhren 1451 (S. 224—255), schildert unter
Verwertung der im deutschen Schrifttum bislang nicht beachteten tschechischen
Literatur die Reise Capistranos von Venedig nach Wien, Brünn, Olmütz und Znaim.
— Ortsgeschichtlich fördernd sind zwei Aufsätze, die Rheinland und Tirol angehen:
H. H. Roth, Das Franziskaner-Rekollekten-Kloster von der Unbefleckten Empfäng-
nis Marias zu Neuss (S. 52—63) und Gerold Fussenegger, Einführung und erste
Schicksale des Dritten Ordens zu Schwaz (S. 134—152). Das Schwazer Tertiaren-
haus für Personen beiderlei Geschlechts wurde erst 1518 begründet. In den abge-
druckten Statuten von 1522 heißt es, daB diejenigen ausgetrieben werden sollen,
„welch lutherisch oder ander verworffen irrsal lernen oder solche pücher pebalten".
Franziskanische Studien. Beihefte 12. 13. 14. Münster i. W., Aschendorff.
Julian Kaup, Die theologische Tugend der Liebe nach der Lehre des hl. Bona-
ventura. 1927. IV, 100 S. & 3,50.
Bernh. Stasiewski, Der heilige Bernardin von Siena. Untersuchungen über die
Quellen seiner Biographen. 1931. VII, 112 S. ZA 6,12.
Ferd. Doelle, Der Klostersturm von Torgau im Jahre 1525. Mit 4 Bildtafeln. 1931.
126 S. RA 6,12.
Kaups dogmengeschichtliche Untersuchung verdient schon wegen der Per-
sónlichkeit des Bonaventura auch in Historikerkreisen bekannt zu werden, zumal
schon A. Harnack und K. Reitzenstein sich 1916 mit dem Ursprung der Formel
„Glaube, Liebe, Hoffnung" beschäftigt haben.
Stasiewskis quellenkritische Untersuchungen gelten den Lebensbeschrei-
bungen des Heiligen Bernardin von Siena aus der Zeit vom 15. bis zum 18. Jh. In
einer Einleitung werden Lesefrüchte aus den „wichtigsten biographischen Büchern“
der letzten zwei Jh. vorangestellt. Abschließendes konnte schon deshalb nicht ge-
boten werden, weil der Vf. manche Quellen, wie er selbst bedauert, nicht ausschöpfen
konnte. Manche Abschweifungen stóren. Einzelne Richtigstellungen haben schon
Ger. Fussenegger im Archivum Francisc. histor. 25 (1932), 280ff. und M. Bihl in d.
Franz. Studien 19 (1932), 347f. gebracht.
Doelles Arbeit ist ein neuer willkommener, sorgfáltiger Beitrag zur Geschichte
der sächsischen Franziskanerprovinz. Obwohl Agnes Bartscherer 1926 auf Grund
des Torgauer Stadtarchivs und P. Kirn in demselben Jahre in seinem Buche „Fried-
rich der Weise und die Kirche“, allerdings nur kurz, den Torgauer Klostersturm
behandelt haben, war eine erneute Inangriffnahme des Gegenstandes, den schon
Seckendorf vor mehr als 200 Jahren richtig beurteilt hat, notwendig, weil wichtige
Briefe des Weimarer Archivs inzwischen bekannt geworden sind. Das Verhalten des
Kurfürsten auch bei dieser Gelegenheit bis zu seinem Todestage beweist, daß er
durchaus unparteiisch das Unrecht, das an den Mönchen verübt worden war, miß-
billigte und nicht als einseitiger Bekenner der Lutherischen Bewegung angesprochen
Nachrichten und Notizen 881
werden kann. Die Arbeit hátte gewonnen, wenn die in den umfangreichen Beilagen
(40 Seiten) mitgeteilten Texte, die z. T. schon bei Geß gedruckt sind, in der Dar-
stellung kürzer aufgenommen worden wären. Der Vf. wendet sich gegen eine ein-
seitige Besprechnung des Buches in der „Thuringia Franciscana“ 1931, S. 213f.
durch G. Haselbeck in dem Aufsatz: ‚Ist der Guardian Urban Abern zu Torgau der
katholischen Kirche treu geblieben?“, in den Franz. Studien 19 (1932), 64—68,
auf den Haselbeck nochmals gereizt antwortet, ebenda S. 155—162. S. 163f. be-
spricht M. Bihl D.s Arbeit, die auch kulturgeschichtlich in den Angaben über das
Inventar des Klosters und die Kleinodien bemerkenswerte Beiträge bringt. Das
Heft ist dem früheren Provinzialminister in New York Matthias Faust gewidmet,
dessen Bild vorgeheftet ist.
Archivum historicum Societatis Iesu. Periodicum semestre a Collegio scrip-
torum de historia S. I. in Urbe editum. Anni I fasc. I und II. Romae 1932.
VIII, 384 S. Jährl. 30 L.
Als P. Bernhard Duhr S. I. in seinem letzten Aufsatz in der Festschrift für Georg
Leidinger (1930) erneut auf die Notwendigkeit einer Zeitschrift für die Geschichte des
Jesuitenordens hinwies, ahnte er kaum, daB schon seit dem Januar 1932 diese neue
Zeitschrift in vornehmer Ausstattung erscheinen würde. Die Beiträge sind in der
Regel in lateinischer Sprache abgefaBt, doch werden auch die übrigen Kultur-
sprachen Europas zugelassen. Da aber jedem Aufsatz in nichtlateinischer Sprache
ein „Summarium“ in lateinischer Sprache vorangestellt ist, wird die Benutzung
sehr erleichtert. Jedes Heft gliedert sich nach folgendem Inhalt: I. Lucubrationes
nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen. II. Textus inediti vel rarissimi, soweit
sie nicht den „Monumenta historica Societatis Iesu“ vorbehalten bleiben. III. Bre-
viores textus. IV. Selectorum operum iudicia. V. De historia Missionum S. I. com-
mentarius bibliographicus. VI. Selectiores nuntii de Historiographia S. I. Hinzu
kommt vom zweiten Jahrgang ab die von Edm. Lamalle S. I. bearbeitete, sehr
sorgfáltige Bibliographia de Historia S. L, die mit dem Jahre 1931 einsetzt.
Von den Beitrügen sollen hier die für Deutschland in Betracht kommenden
in erster Linie genannt werden. Eine quellenkritische Untersuchung von Arth. Co-
dina, Regulae antiquorum Ordinum et praeparatio Constitutionum S. L, weist
nach, welche Teile der Augustiner-, Franziskaner- und Benediktinerregel durch
Johannes de Polanco bei der Gestaltung der Constitutiones verwertet worden sind.
(S. 41—72.) — W. Kratz veröffentlicht 7 Briefe Friedrichs des Gr. aus dem
Vatikanischen und dem Ordensarchiv (1769—1774), die an den Jesuitengeneral
und den preußischen Agenten in Rom Abbé Ciofani gerichtet, wichtig sind
für die Beurteilung des Königs in seiner Jesuitenpolitik (S. 281—291). — Jos.
Grisar bespricht die 1931 erschienene große ‚Geschichte des Gymnasium Tri-
coronatum" in Kóln (S. 109—117). — Zur Geschichte der Jesuiten in Westfalen
ist zu nennen: Jos. Kuckhoff, Ex litteris P. Quinckenii superioris Lippensis ad
P. Bavingh provincialem 27. dec. 1630 (S. 306/7). — Die Besprechungen, unter
denen W. Kratz meist die deutsche Literatur anzeigt, sind sorgfältig und bieten
vielfach eigene Forschungen. Wir wünschen der vortrefflichen neuen Zeitschrift,
die der wissenschaftlichen Tradition des Ordens würdig ist, einen gedeihlichen
Fortgang zum Ruhme des Ordens in aller Welt.
Breslau. Wilhelm Dersch.
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 56
882 Nachrichten und Notizen
Kallmerten, Paul, Lübische Bündnispolitik von der Schlacht bei Bornhöved bis zur
dänischen Invasion unter Erich Menved (1227—1307). Diss. Kiel 1932. 104 S.
Kallmertens Dissertation behandelt einen Abschnitt aus der frühen Geschichte
Lübecks und schildert die Politik der Travestadt von dem Siege der norddeutschen
Fürsten und Städte über Waldemar II bei Bornhöved bis zu den Vorstößen Erich
Menveds. Diese Politik, die von rein kaufmännischen Gesichtspunkten bestimmt
wurde, war ein Kampf um die wirtschaftliche Führerstellung im Ostseeraum.
Von diesem Ziel wurde das Verhalten Lübecks gegenüber seinen fürstlichen Nach-
barn, gegenüber den anderen Städten, den skandinavischen Reichen und auch den
westlichen Seemáchten Holland und England beherrscht. Ein feines Gefühl für die
Kunst des Móglichen und die Wahl des richtigen Augenblicks verbunden mit kluger
Voraussicht bestimmt die Bündnispolitik Lübecks, die der Vf. in ihrem bunten Wech-
sel anschaulich darstellt.
Dresden. Alfred Büscher.
R. Straus, Die Judengemeinde in Regensburg im ausgehenden Mittelalter, in:
Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 61, Heidel-
berg 1932.
Die Vertreibung der Regensburger Juden im Jahr 1519 stellt in den Zusammen-
hang der politischen und wirtschaftlichen Nóte Regensburgs im 15. Jh. und deckt
in durchaus gerechten und umsichtigen Darlegungen die „intrigante Prozeßführung“
auf, der die Juden in dem Augenblick des Interregnums nach Maximilians Tod zum
Opfer gefallen sind. Die Anteile der einzelnen Faktoren, des Klerus, des Herzogs,
des Kaisers, der Stadt werden in auch allgemeingeschichtlich ertragreicher Weise
gemessen, wobei vor allem auf das Ergebnis hinzuweisen ist, nach dem der Juden-
schutz bei Friedrich III. weniger dem rein fiskalischen Gesichtspunkt, als dem
Streben des Kaisers zuzuschreiben ist, das kaiserliche Hoheitsrecht an den Juden,
den „Kammerknechten“, zu wahren. Wirtschaftsgeschichtlich ergibt sich, daß die
ganze Judenfeindschaft neben den allgemeinen spätmittelalterlichen geistigen
Voraussetzungen ein deutliches Zeugnis für den wirtschaftlichen Abstieg Regensburgs
im 15. Jh. ist und besonders für das Überwiegen der zunftmeisterlichen Interessen,
denen gegenüber die patrizischen Kreise nur zögernd an die Vertreibung herangingen.
Es ist schade, daß S. nicht sozusagen als Gegenprobe auf das Verhältnis des fern-
händlerischen Patriziats zu den Juden in der Zeit der Blüte Regensburgs eingegangen
ist. Eine Geschichte der Regensburger Juden im Ma. überhaupt würde sich nach
meiner Kenntnis der Überlieferung! lohnen; es wäre zu begrüßen, wenn S. selbst sich
dieser größeren Aufgabe zuwenden würde. Einen Dokumentenband? zu seiner jetzt
vorliegenden Darstellung kündigt er an.
Freiburg i. Br. H. Heimpel.
V. A. Nordmann, Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer.
Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Bd. XXVIII, 2, Helsinki, 1932,
101 Seiten.
Das Hauptthema, Lipsius im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte
der Historiographie darzustellen, wird aufgelöst in drei Sonderthemen: Begründung
! AufschluB über eigenartige Formen der Einbeziehung der J. in den christlichen Ka-
pitalverkehr gibt z. B. Bastian, Oberdeutsche Kaufleute in den oberdeutschen Raitbüchern,
München 1931.
* Urkunden und Aktenstücke zur G. der J. in Regensburg im ausgehenden Mittelalter.
Nachrichten und Notizen 883
der historischen Kritik; Erhebung der Geschichte zur selbstándigen akademischen
Disziplin; Periodisierung in die vier Weltreiche und Kritik dieser Tradition. Der
Vf., der durch eine frühere Untersuchung über Victorinus Strigelius (gest. 1569),
einen unmittelbaren Schüler Melanchthons, in diese Probleme eingeweiht ist, zeichnet
mit lebendiger Kürze den universal-humanistischen Rahmen für die Gestalt des
Lipsius, der von Geburt Niederlánder, nach Abstammung und Bildung ebensogut
Franzose als Deutscher heiBen kann. Die innere Bindung des Lipsius an die rómische
Geschichte, die durch einen jahrelangen Aufenthalt in Rom vertieft wurde, stellt
er eindrücklich in diese Zusammenhänge. Lipsius (1547—1606), der seiner ganzen
Art nach an seinen größeren Landsmann und Kollegen an der Universität Leiden,
an Hugo Grotius erinnert, vertritt als Professor in Jena, Leiden und Löwen jenen
Typ des gelehrten Humanisten, der auch nach der Kirchenspaltung am geistigen
Erbe der Renaissance festhält, seine Konfession je nach den Bedürfnissen seiner
Laufbahn wechselt, aber mit Passion über den Blumenduft im alten Ägypten dis-
putiert und Wert darauf legt, daß ihm die kalvinistische Universität Leiden neben
dem Gehalt auch die Benutzung eines alten Klostergartens sicherstellt. Bedeutender
als Schriftsteller wie als Lehrer, hat er die alte Periodisierung der Geschichte in die
vier Weltreiche umgedeutet in eine Abfolge von Historia Orientalis, Graeca, Romana
und Barbara und für die Einzelbehandlung neben der politischen und der Kirchen-
geschichte auch eine profane Kulturgeschichte vorgeschlagen und versucht. Der Ein-
fluß Jean Bodins wird vom Vf. als selbstverständlich angenommen, wohl mit Recht;
für Lipsius aber weist er eine selbständige Fortbildung der Gedanken Bodins nach,
die an mancher Stelle schon beinahe an Vico erinnern. Die Nachwirkung des Lipsius
im XVII. und XVIII. Jh., insbesondere in Frankreich und Italien, bleibt eine in-
teressante und vorläufig unbeantwortete Frage.
Oetwil a. 8. Werner Kaegi.
Concilium Tridentinum. Diariorum, actorum, epistularum, tractatuum Nova
Collectio edidit Societas Goerresiana. Tomus tertius. Diariorum pars tertia
volumen prius ... collegit edidit illustravit Sebastianus Merkle. Friburgi
Brisg. 1931, Herder & Co. VIII, 762 S. gr. 49. ZA 60,—.
Sebastian Merkle, der seinerzeit die beiden ersten Teile der Abteilung Diaria
des Concilium Tridentinum der Górresgesellschaft bearbeitet und herausgegeben hat,
legt nun auch von dem abschließenden dritten Teil die erste Hälfte vor. Die früheren
Bánde brachten uns den Konzilskommentar des Hercules Severoli und vor allem
die grundlegenden Tagebücher des Angelo Massarelli, der vorliegende Teil fügt dem
hinzu die Acta concilii Tridentini ann. 1562 et 1563 des Gabriel Paleottus. Der Ka-
nonist Gabriel Paleottus wurde in seiner Eigenschaft als Auditor Rotae von Pius IV.
nach Trient entsandt und empfing hernach als Lohn für die der Kurie dort geleisteten
Dienste von dem nümlichen Papste in der großen Kardinalspromotion des 12. März
1565 den roten Hut; auch wurde er Erzbischof von Bologna. Seinen handschrift-
lichen Nachlaß fand Merkle schon vorlängst im Archiv Isolani in Bologna auf (vgl.
Römische Quartalschrift XI, 1897). Auf dessen Grundlage und mit Hilfe mehrerer
Hss. der Abteilung Concilium des Vatikanischen Archivs liefert uns Merkle nun von
den in nicht weniger als vier verschiedenen Rezensionen vorliegenden Acta concilii
des P. (von denen bisher nur die Schlußredaktion gedruckt war) eine in jeder Bezie-
hung abschlieBende, musterhafte Ausgabe. Den Rest des Bandes nehmen die kürzeren
56*
884 Nachrichten und Notizen
Ausarbeitungen von Aistulf Servantius, Philippus Musottus und Philippus Gerius
ein. Was noch übrig ist von einschlägigen Quellen, wird die zweite Hälfte des dritten
Bandes bringen, die uns hoffentlich nicht mehr lange vorenthalten bleibt. Mit ihr
sollen auch die Prolegomena zum dritten Band nebst den Registern ausgegeben
werden.
Wernigerode a. H. Walter Friedensburg.
LindnerscheStamm- und Ahnentafelsammlung. Manuldruck. Degener u. Co.
(Inhaber: Oswald Spohr). Leipzig (1931f.). Stammtafeln Band I, Lieferung
6, 7 u. 9; Ahnentafeln Band II, Lieferung 1—3.
Der sächsische Lehnsgerichtssekretär Heinrich August Lindner (t 1787) hat in
53jähriger Tätigkeit eine große handschriftliche Sammlung von über 4000 Stamm-
und Ahnentafeln, die zumeist mitteldeutsche Adelsgeschlechter betreffen, aus den
ihm zugänglichen Lehnsakten zusammengetragen. Diese Sammlung erwarb der auch
als Genealoge bekannte Dresdner Hofprediger Christian Friedrich Jacobi (} 1821),
der sie ergänzte und selber eine große Sammlung hinzufügte. Nachdem diese Samm-
lungen durch ständige Ergänzungen vervollständigt und durch neue Sammlungen
erweitert, noch durch verschiedene Hände gegangen waren, waren sie über ein halbes
Jahrhundert verschollen. Oswald Spohr ist es vor einigen Jahren gelungen, sie nicht
nur wieder zu entdecken, sondern die zerstreuten Teile fast vollständig zu erwerben.
Von diesem ganzen sehr umfangreichen Material will er nun die Lindnersche Stamm-
und Ahnentafelsammlung allmählich in Manuldruck lieferungsweise veröffentlichen.
Schon 1930 überreichte er den Teilnehmern der Wiener Tagung des Gesamtvereins
zur Probe die sehr gut gelungene Vervielfältigung der Langenauschen Stammtafel.
Auch an den vorliegenden Lieferungen ist drucktechnisch nichts auszusetzen. Be-
wundern muß man den Mut des Verlegers, in so schwerer Zeit an die Herausgabe
eines so großen Unternehmens heranzugehen.
Da Spohr, wie schon bemerkt, auch die Sammlungen der Nachbesitzer erworben
hat und somit wohl über die größte Sammlung für den mitteldeutschen, wenn nicht
gesamtdeutschen Adel verfügt, könnte man geteilter Meinung sein, ob es nicht rat-
samer wäre, alles erst noch einmal genau zu vergleichen und zu ergänzen, bevor an
die Veröffentlichung herangegangen würde. Eine solche Arbeit würde wohl aber kaum
unter den heutigen Verhältnissen zum Abschluß gebracht werden können. Deswegen
begrüße ich die Veröffentlichung der Tafeln, die nach den vorgenommenen Proben
äußerst sorgfältig gearbeitet sind. Schmerzlich wird allerdings manch einer das
häufige Fehlen der Daten besonders bei den Ahnentafeln bemerken. Soweit es mir
möglich war, habe ich auch da die Tafeln einer Prüfung unterzogen und keinen Fehler
feststellen können. Steht doch jeder der Anführung von Ahnen, bei denen sämtliche
Daten fehlen, von Anfang an skeptisch gegenüber. Die Probanden der 16stelligen
Ahnentafeln sind meist um 1700 geboren. Diese Tafeln haben häufig die Eigentüm-
lichkeit, daß sie auch die Nachfahren des Probanden bringen. Man sieht es an der
Schrift, daß dies Nachträge sind, die jedenfalls nach dem Tode des Lehnsinhabers
bei Belehnuug zu gesamter Hand gemacht worden sind. Dazu kommen auch Ver-
weise auf andere Tafeln des Gesamtwerkes. Hier findet man dann die Stamm- oder
Ahnentafeln von den Personen, die gegebenenfalls auch lehnsberechtigt waren. Aus
diesen Feststellungen können wir erkennen, daß die Tafeln, die heute für uns von
großem Werte sind, von Lindner für seinen Privatgebrauch zu einem rein praktischen
Nachrichten und Notizen 885
Zweck angefertigt worden sind, ihm als urkundliche Unterlage dienten und deshalb
wohl jede Fehlerquelle móglichst ausschalten. Die Stammtafeln bringen z. T. die
Beschreibung des Geschlechtswappens. Hoffentlich findet der Herausgeber, der
zugleich auch Verleger ist, immer die genügende Anzahl von Abnehmern, zu denen
vor allem die Archive und Bibliotheken gehóren sollten, um die weitere Herausgabe
des Werkes zu ermóglichen.
Neuruppin. Lampe.
Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus
im ehemaligen und im neuen Österreich, ed. Karl Völker. 53. Jahr-
gang, Wien und Leipzig 1932. 162 S. 80.
Johann Loserth berichtet in einem Vortrag „zur Geschichte des Brucker Li-
bells“ von den Zugeständnissen, die in der Brucker Pacification 1778 den Protestan-
ten von der katholischen Regierung wegen der Türkennot gemacht werden mußten.
Ignaz Hübel bietet in der Fortsetzung seiner Aufsatzreihe ,,Das Schulwesen Nieder-
österreichs im Reformationszeitalter“ interessante Einzelheiten zur Geschichte der
einzelnen Schulen. Christian Stubbe gibt in einem Bericht „vom dänischen Gesandt -
schaftsprediger Burchardi in Wien“ einen Beitrag zur Geschichte des evangelischen
Gottesdienstes in Wien vor dem Toleranzpatent und damit eine Ergänzung zu seinem
Aufsatz in den „Veröffentlichungen des Vereins für Schleswig-Holsteinsche Kirchen-
geschichte“ 1932. Die wertvolle Abhandlung von Karl Völker über das Protestanten-
patent in Tirol vom 12. April 1861 schildert, wie die evangelischen Gemeinden
eine günstige Entwicklung trotz zahlreicher Schwierigkeiten erlebt haben. Theodor
Hasse schreibt über das evangelische Schulwesen in Bielitz bis zum Toleranzpatent
und Paul Dedic setzt seine „Geschichte des Protestantismus in Olmütz“ (52. Jahr-
gang, 1931) fort. |
Leipzig. K. Hennig.
The social and political ideas of some representative Thinkers of the
Revolutionary Era. Ed. F. J. C. Hearnshaw. 252 S. George G. Harrap
& Comp. London 1931.
Der vorliegende hübsche und handliche Band — der sechste einer laufenden Serie
— umfaßt neun Vorlesungen, die im Studienjahr 1929/30 am Londoner King's
College gehalten worden sind.
Die erste von R. Mc Elroy behandelt „die Theoretiker der amerikanischen Re-
volution", die zweite von G. S. Veitch „die englischen Alt- Radikalen“. J. Holland
Rose widmet eine großzügige Studie der „Revolutions-Ara in Frankreich“; dann
folgen eingehende Charakteristiken einzelner Denker und Politiker: „Edmund
Burke" von F. J. C. Hearnshaw, dem verdienstvollen Herausgeber des Bandes,
„William Godwin“ von C. H. Driver, „Jeremy Bentham“, von J. W. Allen. Mit
bemerkenswert eigener Stellungnahme untersucht Harold J. Laski „die sozialistische
Tradition in der französischen Revolution“; den Schluß bildet eine feinsinnige Studie
über „die deutschen Denker des Revolutionszeitalters“ von H. G. Atkins.
Diese trockene Aufzählung vermag freilich keine Vorstellung zu erwecken von
der Farbigkeit und Fülle des hier Gebotenen. Es handelt sich um jene Form der
Vermittlung gesicherter Forschungsergebnisse, welche die Franzosen „haute vulga-
risation“ nennen; der von jedem gelehrten Ballast freie, aber mit nützlichen biblio-
886 Nachrichten und Notizen
graphischen Notizen ausgestattete Band ist dem gebildeten Laien sehr wohl zugäng-
lich, bietet aber auch dem Forscher eine Fülle von Anregung. Auf Schritt und Tritt
wird man angereizt zum neuen Durchdenken alter Probleme, fühlt man sich verlockt,
die angeknüpften Gedankenfüden aufzunehmen und weiterzuspinnen.
Die Einleitung des Herausgebers schafft dem in sich lose gefügten Werk den
festen einheitlichen Rahmen; sie steckt den Zeitraum ab — 1760—1820 —, dem die
einzelnen Essays sich einfügen und sie charakterisiert mit ganz knappen, aber sehr
eindringlichen Worten die drei großen Umwälzungen jenes Zeitalters: die amerika-
nische Revolution, die industrielle Revolution Englands, endlich die französische
Revolution, die als die gewaltigste soziale und politische Erhebung gekennzeichnet
wird zwischen der Reformation des 16. Jahrhunderts und dem mit dem Jahre 1914
anhebenden Zeitalter neuer gesellschaftlicher und politischer Erschütterungen.
Berlin-Charlottenburg. Hedwig Hintze.
H. Voges: Der Handstreich der Preußen gegen die Festung Bitsch in der Nacht
vom 16. zum 17. November 1793. Alsatia, Colmar und Winter, Heidelberg,
37 Seiten.
Die vorliegende Schrift ist ein Sonderdruck aus dem Jahrbuch der ElsaB-
Lothringischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. V. Wenn als Erscheinungsjahr
auf dem Umschlag 1922 angegeben ist, so ist das wohl ein Druckfehler für 1932.
Die kleine Festung Bitsch, die im Kriege von 1870 von den Deutschen nicht
genommen werden konnte, hat auch 77 Jahre früher im Kriege gegen die französische
Revolution den Preußen erfolgreich Widerstand geleistet. Allerdings war der preußi-
sche Angriff auch sehr ungeschickt ausgeführt worden. Der Oberbefehlshaber,
Herzog von Braunschweig, war erst gegen den Plan, gab aber schlieBlich seine Ein-
willigung. Verschiedene Bitscher waren von den Preußen gewonnen worden, 30
ein Leutnant, ein Kantinenwirt und ein Gutspüchter. Den Kommandanten zu be-
stechen, gelang nicht, ein Ingenieur, der schon nachgeben wollte, bekam Angst
und zog sich zurück. Trotzdem waren die Preußen überzeugt, daß der Handstreich
gelingen würde. Aber sie führten ihn so ungeschickt durch, daB er völlig mißlang.
Mit einem Verlust von 24 Offizieren, 21 Unteroffizieren und 518 Mann wurden sie
zurückgeschlagen.
Mit der damals üblichen Ruhmredigkeit trösteten sie sich über die Niederlage
und meinten, daß die Nacht von Bitsch, wie die Nacht von Hochkirch, ewig zum
Ruhme der preuBischen Armee beitragen werde. Knesebeck verglich den Kampf
mit dem Sturme der Giganten auf den Olymp. So kam es, daB dieses für den Verlauf
des Krieges ganz belanglose Gefecht von der zeitgenóssischen Berichterstattung
überschátzt wurde.
Charlottenburg. Richard Schmitt.
Bopp, O. F. M., Dr. oec. publ. P. Hartwig, Die Entwicklung des deutschen Hand-
werksgesellentums im 19. Jh. unter dem EinfluB der Zeitstrómungen. 4. Heft
der Veröffentlichungen der Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft
der Görres-Gesellschaft. Verlag von Ferdinand Schóningh, Paderborn 1932.
382 S. RM 8,—, geb. AM 10,—.
Der Vf. gibt eingangs ein treffendes Bild von der Entstehung des Handwerks-
gesellentums und dessen Werdegang bis zum 18. Jh., um uns dann mit seinem
Nachrichten und Notizen 887
Kernthema vertraut zu machen — der Geschichte des deutschen Gesellenstandes im
19. Jh. Wir sehen die Jugend des Handwerks im Lernen, Wandern und Ringen,
getragen oder überspült von den starken Ideenstrómungen des Zeitalters — sozial,
wirtschaftlich und politisch ergriffen und betroffen. Was Bopp auch schildern mag,
sei es die Auseinandersetzungen der Gesellenschaft mit den Zunftmeistern oder mit
dem überall Rebellen witternden und kleinlich reglementierenden Staat — immer
versteht er es, den Leser zu fesseln und dem sonst ja schon häufig behandelten Stoff
neue Seiten abzugewinnen und uns eigenartige Gesichtspunkte zu bieten. Der Vf.
stützt sich auf eine große Literatur, die er souverän verwendet, ohne in eine leidige
Abhängigkeit zu geraten. Sehr verdienstvoll ist seine Bemühung um die Begründung
und Deutung jeglicher Stellungnahme, zu der die Gesellen in den sozialen Kämpfen
ihrer Zeit gelangen. Man gewinnt den Eindruck: so und nicht anders mußten sie
fühlen und handeln! Konservativ und revolutionär, bewahrend und begehrend, in
merkwürdiger und doch so verständlicher Doppelnatur, steht der Gesell der 40er,
50er und 60er Jahre vor uns: Verfechter alten wirtschaftlichen Handwerksschutzes
und neuer politischer und sozialer Freiheit. Besonders reizvoll ist die Darstellung der
Berührungs- und Unterscheidungspunkte zwischen dem handwerklichen Denken
und der sozialistischen Ideologie des aufkommenden Industrieproletariats, das vor
allem in Marx, Engels und Lassalle seine geistigen Führer fand.
Am Schlusse seines Buches zeigt Bopp die Gefahren religiöser und sittlicher
Verwahrlosung, denen der Gesellenstand ausgesetzt war, und die Bemühungen von
Katholizismus und Protestantismus um seine seelische wie materielle Betreuung.
Es ist menschlich begreiflich, aber auch sachlich nicht ungerechtfertigt, wenn der
Vf. als katholischer Priester die Gesellenstandpflege seiner Kirche in erster Linie
würdigt. Im ganzen ist seine Haltung von peinlicher Objektivität. Das Werk bietet
viel und ist eine wirkliche Bereicherung des sozialgeschichtlichen Schrifttums.
Leipzig. Kurt Ammon.
Leipzig um 1832. Aus Zeit und Umwelt des Gustav-Adolf-Vereins in seinen An-
fängen, herausgegeben von Otto Lerche. Leipzig 1932. 95 Seiten.
Diese Festschrift zur Hundertjahrfeier des Gustav-Adolf-Vereins wird durch
einen umsichtigen und weitblickenden Aufsatz von Hermann Wendorf über „die
nationalen und politischen Strómungen vor 100 Jahren" eingeleitet, in dem die
relative Einheitlichkeit dieser oft miBachteten Periode trotz aller einzelstaatlichen
Verschiedenheit gut herausgearbeitet wird. Mit Humor schildert Otto Lerche die
Leipziger Bürger von 1832. Er druckt auch die zeitgenössischen Zeitungsberichte
über die Anfänge des Gustav-Adolf-Vereins ab. Friedrich Schulze zeigt in seinem
wertvollen Beitrag: Das geistige und künstlerische Leben Leipzigs um 1832, wie sich
während der sogen. Restaurationszeit eine neue Epoche gleichsam unter der Ober-
fläche vorbereitete. Carl Niedner weist nach, daß die Zustände im „kirchlichen Leben
Leipzigs zur Zeit der Gründung des G.-A.-V.“ auf eine Reform hindrängten. Eine
besonders feinsinnige Würdigung dieser Entstehungszeit des Gustav-Adolf-Vereins,
die ja als theologische Durststrecke gilt, gibt Horst Stephan in seinem Beitrag: Die
theologische Fakultät um 1832. Der historische Sinn und die kirchliche Aktivität
der damaligen Theologie sind die Grundlagen für die kommenden großen Entschei-
dungen geworden.
Leipzig. Hennig.
888 Nachrichten und Notizen
Meyen, Fritz, „Riksmälsforbundet“ und sein Kampf gegen Landsmäl. Oslo 1932,
XV, 92 S. Diss. Leipzig.
Meyens Arbeit gibt einen guten Überblick über die Sprachkämpfe, die in Nor-
wegen in den letzten hundert Jahren ausgefochten worden sind, und verhilft so zu
einem klareren Verständnis dieser Streitigkeiten, das sich der ausländische Beobach-
ter so schwer verschaffen kann, der von der Um- und Rückbenennung norwegischer
Städte gehört hat, und dem aus norwegischen Büchern eine verwirrende Fülle ver-
schiedener Sprachformen entgegentritt. Meyen weist darauf hin, daB die Landsmäl-
und Riksmälbewegung geschichtlich darauf zurückzuführen ist, daß Norwegen
jahrhundertelang in politischer und kultureller Abhängigkeit von Dänemark gelebt
hat und erst im 19. Jh. zu eigenem VolksbewuBtsein erwachte. Die Landmálleute
möchten möglichst radikal alle Erinnerungen an die dänische Fremdherrschaft
tilgen, bekämpfen daher die in Norwegen gebräuchliche, dem Dänischen nah ver-
wandte Schriftsprache und erstreben eine auf den norwegischen Bauerndialekten
aufgebaute und aus ihnen konstruierte neunorwegische Sprache, eben das Landsmäl.
Diese konstruierte Sprache lehnen die Riksmälleute als nicht lebensfähig ab; sie
knüpfen an die augenblicklich lebende Schriftsprache, das Riksmäl, an, das wohl
aus dem Dänischen entstanden ist, sich aber schon beachtlich davon entfernt hat
und sich nach dem Willen der Riksmälleute organisch zu einer norwegischen Sprache
entwickeln soll. Der Bericht Meyens über das Vordringen und die Propaganda der
Landsmälanhänger und die Abwehr und Verteidigung der Riksmälanhänger gibt
ein seltsam buntes Bild durcheinander gehender politischer, nationaler und sprach-
licher Gesichtspunkte. Die Bewertung der Bewegungen durch den Vf. leuchtet ein.
Der Abschnitt über die Städteumbenennung besitzt aktuelle Bedeutung. Die bei-
gefügten Sprachproben sind sehr zu begrüßen. Insgesamt ist die Arbeit Meyens, die
zwar mit Zitaten sparsamer hätte umgehen, überhaupt im Ausdruck hätte gedrängter
sein können, verdienstvoll.
Dresden. Alfred Büscher.
Preisausschreiben der Rubenowstifitung der Ernst Moritz Arndi-U niversitàl
Greifswald: 1. Der Führergedanke als verfassungsorganisatorisches Prinzip. 2. Eine
kritische Bearbeitung der Genealogie des alten Pommerschen Herzoghauses. 3. Sinn
und Grenzen des Eigentums in der nationalsozialistischen Wirtschaftsauffassung.
Der Preis für die beste Bearbeitung jeder dieser Aufgaben beträgt Eintausend
Reichsmark. Die Beteiligung an dem Wettbewerb steht jedermann frei. Die Be-
werbungsschriften sind in deutscher Sprache abzufassen und mit einem Kennwort
zu versehen. Der Name des Verfassers darf nicht auf der Arbeit stehen, sondern
soll auf einem Zettel in einem versiegelten Umschlag verzeichnet sein, der außen
das Kennwort trägt. Die Bewerbungsschriften müssen spätestens am 1. März 1996
bei dem Sekretariat der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald eingeliefert
werden. Die Zuerkennung der Preise erfolgt am 17. Oktober 1936.
Au
INHALT DES 4. HEFTES
%%% DUM 4. En - a ee oss
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol. Von Univ.-Prof. Dr. Otto Stolz in Innsbruck
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters. Von Dr. Hans Spanke in Duisburg
Kritisches zu mittellateinischen Texten. Von Univ.-Prof. Dr. Karl Strecker in Berlin
Die Bauernbefreiung und die Ablósung des Oberei beer — eine Befreiung der Herren?
Von Rechtsanwältin Annmarie Wald in Stuttg
Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher n im Gebiet der neuesten Zeit.
^ Dargestellt an der Monarchenzusammenkunft zu Racconigi, 24. Oktober 1909.
Von De Hugo d ²˙ mw wre X ARR oh en
e 7. ae We 96 e
Kleine Mitteilu
ngen
Kann fraler „Schwager“ bedeuten? Von Univ.-Prof. Dr. Robert Holtzmann in
.. ĩ˙ TAT. ĩ¾ ᷣ d ĩ ̃ EAN CA SEL FOR
Ein unveróffentlichter Brief Friedrichs des Großen. Mitgeteilt von Dr. Helmut Eckert
% ům v ͤ . ·..76ßðĩẽͤ mm KÄO[ ü WOW OE
Kritiken:
Hassinger, xe Geographische Grundlagen der Geschichte. Von Univ.-Prof. Dr.
H. Rudolphi in Leip i» „FFT !! ð ̃ ] -!
Saxonis Gesta Deserum. ei. J. Olrik u. H. Raeder. Von Priv.-Doz. Dr. H. Walther
Menn ) .
Neuere Schriften über den Deutschen Orden. Von Dr. Karl H. Lampe in Neu—
Nieten hel Ernst, Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther. Von
Univ.-Prof. D. Ernst Wolf in Boon
Weigel, Helmut, Franken, Kurpfalz und der Böhmische Aufstand 1618—1620. Von
Priv.-Doz. Dr. Eugen Franz in ad en „ Xo Wim WS Au do S x X woo
Hild, Joachim, Fin aho ein schleswig-holsteinischer Publizist um die Wende
r / ek ar
Bonjour, Edgar, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts. Von Ministerialrat Dr.
E. Kayser in Freiburg E!!! €—— "PT
Oszwald, R. P., Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Von Univ.-Prof. Dr.
B Rubia Bel. C
Nachrichten und Notizen:
Württembergische Vergangenheit, Festschrift des Württ. Gesch.- u. Altertums-
vereins (F. Ernst) S. 873. — Schieß, Traugott, Beiträge zur Geschichte St. Gal-
lens und der Ostschweiz (Weller) S. 874. — Literatur zur Ordensgeschichte:
Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und
seiner Zweige, Erg. Hfte. 1—7 S. 876, Analecta Praemonstratensia T. VI
und VII S. 878, Franziskanische studien, Jg. 19 und Beihefte 12—14 S. 879,
Archivum historicum Societatis Iesu I; 1 u. 2 S. 881 (Dersch); Kallmerten,
P., Lübische Bündnispolitik von der Schlacht bei Bornhöved bis zur dänischen
Invasion unter Erich Menved (Büscher) S. 882. — Straus, R., Die Judengemeinde
in Regensburg im ausgehenden Mittelalter (Heimpel) S. 882. — Nordmann, Ys,
Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer (Kaegi) S. 882, — Con-
cilium Tridentinum, T. 3, 1. Hälfte (Friedensburg) S. 883. — Lindnersche
Stamm- und Ahnentafelsammlun UR LAGE) S. 884. — Jahrbuch der Ge-
sellschaft für die Geschichte des Protestantismus im ehemaligen und
im neuen Österreich, ed. K. Völker. 53. Jg. (Hennig) S. 885. — The social and
political ideas of some representative thinkers of the revolutionary Era, ed. Hearn-
shaw (H. Hintze) S. 885. — Voges, H., Der Handstreich der Preußen n die
Festung Bitsch in der Nacht vom 16. zum 17. November 1793 (Schmitt) - B86. —
Bopp, O. F. M., Die Entwicklung des deutschen Handwerksgesellentums im 19. Jh
(Ammon) S. 886. — N qns um 1832 (Hennig) S. 887. — Meyen, F., Riksmälsfor-
bundet und sein Kampf gegen Landamfl (Bi (Büscher) S. 888.
—. Lupa. E cw x e XX eX ²˙ ] . · ¶ ͤ dl! ꝗ V. w4 EI
Bitte Rückseite beachten 1
P
P
fsälze: Seite
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon. Von Priv.-Doz.
699
737
767
795
812
832
872
a *
SCHRIFTEN DER KRIEGSGESCHICHTLICHEN
ABTEILUNG IM HISTORISCHEN SEMINAR DER
FRIEDRICH -WILHELMS - UNIVERSITAT BERLIN
HERAUSGEGEBEN VON WALTER ELZE
In unserem deutschen Volke zeigt sich allgemein ein Wieder-
erwachen des Interesses an der wissenschaftlichen For-
schung auf dem Gebiete der Kriegswissenschaft und Kriegs-
geschichte. Die vorliegende Schriftenreihe bringt Arbeiten
aus diesem Gebiete, die wichtige Einzelprobleme unter dem
gemeinsamen Gesichtspunkt der schicksalhaften Bedeu-
tung des Krieges in der Geschichte behandeln. Sie erfüllt
damit eine pädagogische Aufgabe, die in dem großen Rah-
men der neuen Politik unserer Nation liegt: sie soll zu
einer Bildung hinführen, die den Kampf einschlieBt. Die
Wissenschaftlichkeit der Problembehandlung und die Zu-
sammenstellung des Materials wird darüber hinaus beson-
ders für Fachleute wertvoll sein.
Bisher sind erschienen:
Heft 1. Dr. Albert Perizonius, Die französischen Inva-
sionswege in das Reich von Ludwig XIV. bis
zur Gegenwart. — XII, 210 Seiten, mit 8 Karten-
skizzen, brosch. RM 9.—.
Heft 2. Dr.Hermann Gackenholz, Entscheidung in Loth-
ringen 1914. Der Operationsplan des jüngeren
Moltke und seine Durchführung auf dem linken
deutschen Heeresflügel. — XII, 174 Seiten, brosch.
RM 8.—.
Heft 3. Dr. Günter Nikolaus, Die Milizfrage in Deutsch-
land von 1848—1933. Brosch. RM 8.50.
Heft 4, Dr. Walter Elze, Der strategische Aufbau des
Weltkrieges. Betrachtungen und Anregungen, ca.
25 Seiten, brosch. ca. RM 1.—.
Unser vollständiges Verlagsverzeichnis geben wir kostenlos ab
JUNKER UND DUNNHAUPT VERLAG / BERLIN
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