Skip to main content

Full text of "Historische Vierteljahrschrift 28.1934"

See other formats


Google 


Über dieses Buch 


Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 


Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermógen dar, das háufig nur schwierig zu entdecken ist. 


Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei — eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 


Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 


Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 


+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 


+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 


+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 


Über Google Buchsuche 


Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 


Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|ht tp: //books.google.comldurchsuchen. 


dr 


— es DeD TTS 
ns wc S 


ID 


rtis rl ian 


ut 


BHMUUAUUCUIUUULU eee 


LEE LLL HELL LLOSA ILER ETE 


"dh Tm 
Snnt dti iie haa HL eee LH E ELEM HU ULT OUO IN EM Ld LR PLU 1 


--—————-- 


; 
np Hn n HH HP. ss 
——— 


-at — 


eee eee eee eee eee eee eee 


ILL 


III 


Digitized by Google 


3 
= 
123 

9 

Q 

8 
$ 


Digitized by Google 


HISTORISCHE 
VIERTELJAHRSCHRIFT 


ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT 
UND FÜR 
LATEINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS 


HERAUSGEGEBEN VON 


. 
oo ” 


D. Dr. ERICH BRANDENBURG - 


O. PROPBSSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


XXVIII. JAHRGANG 


VERLAG UND DRUCK 
BUCHDRUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG 
DRESDEN 1934 


Alle Rechte vorbehalten. 


Max: 


IN * 


INHALT DES XXVIII. BANDES. 


Aufsätze. 
a) Zur Geschichiswissenschaft. Seite 
Aubin, Hermann, Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 225 
Hellmann, S., Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 273 
Hilliger, Benno, Die Reichssteuerliste von 1242ũ2w22n᷑ĩ3• 2.222220. 88 
Hintze, Hedwig, Fichte und Frankreich . ............... 635 
Kienast, Walther, Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen 
„ aa ee ie ee Ru erh 673 
Krusch, Bruno, Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum 
Gregors von Tours. II. Tei 1 
Preller, Hugo, Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis im 
Gebiet der neuesten Zeit. . . ................. 812 
Spanke, Hans, Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters . . . . 737 
Spiegel, Käthe, Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 119 
Stolz, Otto, Die Landstandschaft der Bauern in Tirol! 699 
Wald, Annmarie, Die Bauernbefreiung und die Ablösung des Obereigentums — 
eine Befreiung der Herten? . ............... l.l. 195 
Weigel, Helmut, Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch- 
karolingische Reich ........................ 449 
Wendorf, Hermann, Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand ....... 335 


b) Zur mitiellateinischen Philologie. 


Blatt, Franz, Sprachwandel im Latein des Mittelalters . ........ 22 
Bulst, Walther, Studia Burna 612 
Dahinten, Kurt, Zum Problem der literarhistorischen Stellung des ‚Ruodlieb‘‘ 503 
Hellmann, S., Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 273 
Kamlah, Wilhelm, Der Ludus de Antichristo . ............ 53 
Krusch, Bruno, Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum 
Gregors von Tours. II. Teil 1 
Spanke, Hans, Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters . . . 737 
Strecker, Karl, Kritisches zu mittellateinischen Texten . . . . . . . .. 767 
Studien zur mittellateinischen Dichtung . ............... 503 


Walther, Hans, Eine unbekannte mittellateinische Satire gegen die Geistlich- 
/ a ee 45 38 re A ei ae 522 


IV Inhalt 


Kleine Mitteilungen. 

a) Zur Geschichiswissenschaft. Beite 

Bóhm, Wilhelm, Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen, 6./16. No- 
vembéer 1 ] ] 156 
Eckert, Helmut, Ein unveröffentlichter Brief Friedrichs des Groben. . 834 
Escherich, Mela, Das Ideal einer europäischen Republik 567 
Hübner, Fritz, Die Grabschrift Ottos I. im Magdeburger Don. 154 

Krusch, Bruno, Nochmals die Taute Chlodowechs in Tours (507/8) und die 
Legende Gregors von Tours (Reims 496/97) 560 

Reinhard, Ewald, Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von 
Salis-Soglio, Kais. Königl. Kämmerer 571 

b) Zur mittellateinischen Philologie. 

Holtzmann, Robert, Kann frater „Schwager“ bedeuten? sz: 832 

Krusch, Bruno, Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours (507/8) und die 
Legende Gregors von Tours (Reims 496/97) . . . . ........ 560 
Manitius, Max, Zu den Prudentiusglossen . . ............. 142 
Mayer, Anton L., S. Afrae vita metrica . ............. 5 

Besprechungen. 
a) Zur Geschichiswissenschaft. 

Adelheim, Georg, Revaler Ahnentafeln (Lampe) . .......... 445 


Aders, Günter, Das Testamentsrecht der Stadt Kóln im Mittelalter (Holtermann) 651 
Ammon, Hans, Johannes Schele, Bischof von Lübeck, auf dem Basler Konzil 


. ² ˙ ˙ U)ie ĩ ;- EE Te e ee 425 
Analecta Praemonstratensia. Tom. VI u. VII (Dersch)))h) 878 
Andreas, Willy, Deutschland vor der Reformation (Kirn) 202 


Archivum historicum Societatis Iesu. Anni I fasc. I u. II (Dersch) . . 881 
Bibliographie, Familiengeschichtliche. Hrsg. durch die Zentralstelle 
für Deutsche Personen- und Familiengeschichte, E.V. Jg. 1927—30 (Lampe) 216 
Bibliography, International — of Historical Sciences. Second Year 171 
Bibliothekskataloge, Mittelalterliche — Deutschlands und der 
Schweiz (Schreiber) .................. ccr rr 616 
Bonjour, Edgar, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848—56 (Kayser) 866 
Bopp, O. F. M., P. Hartwig, Die Entwicklung des deutschen Handwerks- 
gesellentums im 19. Jh. unter dem Einfluß der Zeitströmungen (Ammon) 884 
Bornhardt, W., Geschichte des Rammelsberger Bergbaues von seiner Auf- 


nahme bis zur Neuzeit (Steinberg) . . .............. 415 
Bürgerbuch, Das älteste — der Stadt Hannover und gleichzeitige Quel- 

len. Bearb. von K. Fr. Leonhardt (Lampe) . . .... 2222 2.0. 661 
Cambridge, The — Medieval History. Vol. VI u. VII (Schmeidler) . . . 420 
Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung (Wendorf) . . . . . .. 631 


Chroust, Anton, Das GroBherzogtum Würzburg (1806—14) (Weigel) . . . 429 
Cohn, Willy, Hermann von Salza im Urteil der Nachwelt (Lampe). . . . 852 
Concilium Tridentinum (Friedensburg). . . ............. 883 
Dahlmann- Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte. 9. Aufl. Hrsg. 
von HHan a a doux, 2 2 a Saar ¶⁰ðyy ER ern 171 


Inhalt V 


Belte 
Doelle, Ferd., Der Klostersturm von Torgau im Jahre 1525 (Dersch). . . . 880 
Ebert, Max, Reallexikon der Vorgeschichte (Jacob-Friesen) . . . . . . . 641 
Ernstberger, Phil. Anton, Österreich und Preußen von Basel bis Campo- 
formio 1795—1797 (Heydemann) . . . . . .. ........... 653 
Ficken, Emil, Johann von Böhmen (Bock) t 424 
Fink, Wilh., Entwicklungsgeschichte der Abtei Metten (Dersch) ) 876 
Flach, Willy, Die Urkundenfälschungen der Deutschordensballei Thüringen 
im 15. Jh. ,, 3 a er A 850 


Fremerey, Gustav, Guicciardinis finanzpolitische Anschauungen (Hofmann) 199 
Friedensburg, Walter, Kaiser Karl V. und Papst Paul III. (1534—1549) 


„ a ya re ne Be ee ih 652 
Goldschmidt, Hans, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung 

(Michaels) P a e a ea a a a a a a ea 437 
Grieser, Rudolf, Das älteste Register der Hochmeisterkanzlei des Deutschen 

Ordens “eee ar ern 849 

— Lischke und Stadt (Lampeꝛꝛꝛꝛꝛꝛ 850 


Halphen, Louis, L'essor de l'Europe (XIe et XIIIe siècles) (Cartellieri) . . 193 
Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Bd. I, 
Liefg. 1 (Wendoi) 4; % rer k s 99 ow ww Bi een 648 
Hassinger, Hugo, Geographische Grundlagen der Geschichte (Rudolphi) . . 839 
Hearnshaw, F. J. C., The social and political ideas of some representative 


Thinkers of the Revolutionary Era (Hintze 884 
Heidenreich, Karl, Der deutsche Orden in Neumark (Lampe). . . . .. 851 
Hein, Max, Die Ordenskanzleien in Preußen 1310—24 (Lampe) . . . .. . 844 
Hennig, Richard, Geopolitik. Die Lehre vom Staat als Lebewesen. 2. Aufl. 

(Rudolphi). e 2 Se u 28 Oe deve acce ET FRAUEN 604 
Herold, Victor, Die Brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und 

-Register des XVI. u. XVII. Jhs. 1. Bd. (Lampe) . . ........ 220 
Hild, Joachim, August Hennings, ein schleswig-holsteinischer Publizist um die 

Wende des 18. Jhs. (Hoffmann 865 
Holl, Karl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther. 6. Aufl. 

An MMC EP 220 


Hotzelt, Wilhelm, Familiengeschichte der Freiherren von Würtzburg (Lampe) 444 
Jaffé, Fritz, Elsássische Studenten an deutschen Hochschulen (1648—1870) 


mit besonderer Berücksichtigung des 18. Jhs. (König)... . . . .. 629 
Jahrbuch, Bremisches —, Bd. 33. Hrsg. von der historischen Gesellschaft 

des Künstlervereins (Lübbing) . )))) 441 
Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Öster- 

reich Hen 4 3 Een $E ee add 885 
Jahresberichte für deutsche Geschichte. 1.—6. Jahrgang (= 1925—1930) 171 
Jaspers, Karl, Die geistige Situation der Zeit (Reble777) . 643 


Kallmerten, Paul, Lübische Bündnispolitik von der Schlacht bei Bornhóved 

bis zur dänischen Invasion unter Erich Menved (1227—1307) (Büscher) 882 
Kaspar, Adelhard, Die Quellen zur Geschichte der Abtei Münsterschwarzach 

am Mam (Dersch) .... - 2 2.00 0.28 * 877 
Kaup, Julian, Die theologische Tugend der Liebe nach der Lehre des hl. Bona- 

ventura (Dersch)): 22... POTITI 880 


VI Inhalt 


Seite 
Kehr, Eckart, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894—1901 (Schmitt) . 210 


Kisch, Guido, Die Kulmer Handfeste (Lampe) . . . .... 2 222.0. 847 
— Das Fischereirecht im Deutschordensgebiet (Ders.:) 847 
Kittel, Rud., Gestalten und Gedanken in Israel, Geschichte eines Volkes in 
Charakterbildern. 2. Aufl. (v. Rad .............. 441 
Kluke, Paul, Heeresaufbau und Heerespolitik Englands vom Burenkrieg bis 
zum Weltkrieg (Brinkmann) . . .................. 658 


Krollmann,Chr., PolitischeGeschichte d. Deutschen Ordens in PreuBen (Lampe) 846 
Krueger, Gustav, Das Papsttum. Seine Idee und ihre Träger. 2. Aufl. (Hennig) 650 
Kuypers, K., Theorie des Geschiedenis (Kaegiuin g 440 
Lacour-Gayet, G., Talleyrand (1754—1838) (Wendorf) . . . . . . . . 204 
Ledermayer, O. T., P. Kanisius, Der Deutsche Orden einst und jetzt (Lampe) 852 
Lehmann, Heinz, Zur Geschichte des Deutschtums in Kanada. Bd. I (Spiegel) 655 


Lehmann, Paul, Mitteilungen aus Handschriften (Schreiber) . rr 413 
Leipzig um 1832. Aus Zeit und Umwelt des Gustav-Adolf-Vereins in seinen An- 

fängen. Hrsg. von O. Lerche (Hennig). )).. 887 
Leisegang, Hans, Lessings Weltanschauung (Wendorf) ......... 631 
Lerner, Franz, Kardinal Hugo Candidus (Hennig) )) 444 
Lindnersche Stamm- und Ahnentafelsammlung (Lampe) 884 
Ludwig, Martin, Religion und Sittlichkeit bei Luther bis zum „Sermon von 

den guten Werken" 1520 (Hennig) . . . . ............. 446 
Mansuy, Abel, Jérôme Napoléon et la Pologne en 1812 (Laubert) . . . . . 432 
von Martin, Alfred, Soziologie der Renaissance (Kaegi) . . . . . . . ... 626 
Mayr, Josef Karl, Die Emigration der Salzburger Protestanten von 1731—32 

(Henne): «cc 200 4 d kno ↄ VVT 445 
Mexmontan, N., Ur frihetskrigets förhistoria (Paul)). 660 


Meyen, Fritz, „Riksmälsforbundet‘ und sein Kampf gegen Landsmäl (Büscher) 888 
Mitterer, Sigisbert, Die bischöflichen Eigenklöster in den vom hl. Bonifazius 

139 gegründeten bayerischen Diözesen (Dersch h) 876 
Monteilhet, I., Les institutions militaires dela France (1814—1932) (Schmitt) 634 
Monumenta Historiae Warmiensis. 32—34 Liefg. (Lampe)... .'. . 845 
Nordmann, V. A., Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer 


Oszwald, R. P., Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg (Schmitt). 872 
Papirer, Efterladte — fra den Reventlowske Familiekreds i tids- 
rummet 1770—1827 (Schulz) ................... 222 
von Pastor, Ludwig, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. 
Bd. XVI. 1. Abt. Benedikt XIV. und Klemens XIII. — 2. Abt. Klemens 


XIV. — 3. Abt. Pius VI. (Friedensburg) .......... . . 426, 860 
Pfeilschifter, Georg, Korrespondenz des Fürstenabtes Martin II. Gerbert 

von St. Blasien (Hennig) ................. . . . 446 
Pfitzner, Josef, Bakuninstudien (Thier 657 
Ponteil, Félix, L'opposition politique à Strassburg sous la monarchie de 

une Fs, ]ĩ⅛?7 ] ͥ ͥ T 637 


Protokolle, Die — des Mainzer Domkapitels. 3. Bd. Die Protokolle aus 
der Zeit des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514—45. Bearb. u. 
hrsg. von Fritz Herrmann (Kirn 628 


Inhalt VII 

Seite 

Renz, Gustav Adolf, Wolfgang Schutzbar genannt Milchling (Lampe) . . . 852 
Rietschel, E., Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther 

F/ 22 25.2 28 228 SE A 853 

Rolland, Paul, Les origines de la commune de Tournai (Oppermann) . . . 621 
Ronneberger, Werner, Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz 


bei Saalburg a. d. Saale (Herbst) . ................ 219 
Roshop, Ulrich, Die Entstehung des ländlichen Siedlungs- und Flurbildes in 

der Grafschaft Diepholz (Uhlemann) . )) 619 
Salloch, Siegfried, Hermann von Metz (Rassow) . . . ......... 443 


Sapori, Armando, Una Compagnia di Calimala ai primi del Trecento (Doren) 197 
Sattler, Placidus, Die Wiederherstellung des Benediktiner-Ordens durch 
Konig Ludwig I. von Bayern (Dersch) . . ............. 878 
Sauer, Josef, Finanzgeschäfte der Landgrafen von Hessen-Kassel (Ebel }) . 863 
Saxonis Gesta Danorum. Edd. I. Olrik et H. Raeder. Tom. I (Walther). . 841 


Schaefer, Hans, Staatsform und Politik (Schehl) . . . ......... 607 
Schaudinn, Heinrich, Das Baltische Deutschtum und Bismarcks Reichs- 
gründung (Michaels) . .................. o 658 
Schieß, Traugott, Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz 
C/ u. as nee 0..ö. a er nde 2898 874 
Schirmer, Erica, Die Persönlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der deut- 
schen Geschichtschreibung (Schmeidler) . jj 317 


Schlicht, Oscar, Das Ordensland Preußen. I. Der Ordensstaat (Lampe) . . . 847 
Schneider, Hans, Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates 1848—1918. 


1. Halbbd. (Welle)), ein XC 434 
Schnettler, Otto, Westfalen und der Deutsche Ritterorden (Lampe) . . . . 852 
Schramm, Albert, Die Reform der Nationalschriften (Schreiber) . . . . - 216 
Schroeder, Barnabas, Die Aufhebung des Benediktiner-Reichsstiftes St. Ul- 

rich und Afra in Augsburg (Dersch) . ............. a‘ť 877 


Schultz-Trinius, A., Die sächsische Armee in Krieg und Frieden (Schmitt) 447 
Schumacher, Bruno, 700 Jahre Preußenland im Rahmen der deutschen und 

der europäischen Geschichte (Lampe77ꝛꝛꝛꝛꝛ aaa‘ 219 
Sommerlad, Bernhard, Der Deutsche Orden in Thüringen (Lampe) . . . . 850 
Spellmeyer, Hans, Deutsche Kolonialpolitik im Reichstag (Michaelis) . . . 223 
Sproemberg, Heinrich, Beiträge zur Franzósisch-Flandrischen Geschichte, 


Bd. 1 (Oppermann 218 
Stasiewski, Bernh., Der heilige Bernardin von Siena (Dersch) . . . . . . 880 
Steg mann, Ildefons, Anselm Desing, Abt von Ensdorf (Dersch) . . . . . 877 
vom Stein, Freiherr, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen. Bearb. 

von E. Botzenhart (Wendorf) . . ................. 656 
Straus, R., Die Judengemeinde in Regensburg im ausgehenden Mittel- 

alter (Heimpes o olo o9 Ro RR Ro Ros 882 
Studien, Franziskanische. 19. Jg., Beihefte 12. 13. 14 (Dersch). . . . 879 
Thimme, Hans, Weltkrieg ohne Waffen (Schmitt) . . .......... 641 
Uhlhorn, Friedrich, Geschichte der Grafen von Solms im Mittelalter (Ebel) 622 
Urkundenbuch, PreuBisches. 2. Bd. 1. Liefg. (Lampe) . . . . . . .. 844 


Veröffentlichungen des Braunschweiger Genealogischen Abends 
zum Goethe-Lessing- Jahr 1929 (Lampe) ............ 222 


VIII Inhalt 


Seite 
Vitzthum, Anne-Lore Gräfin, Julius Wilhelm von Oppel, ein sächsischer Staats- 


mann aus der Zeit der Befreiungskriege (Rich. Kótzschke) . . .... 654 
Voges, H., Der Handstreich der Preußen gegen die Festung Bitsch (Schmitt) 886 
Vogt, Joseph, Römische Geschichte. 1. Hälfte. Die römische Republik (Groag) 611 
Wahlen, Die deutschen — (Wendorf) . . ............... 223 
Walcher, Bernhard, Beitráze zur Geschichte der bayerischen Abtswahlen 

mit besonderer Berücksichtigung der Benediktinerklöster (Dersch) . . 877 
Wehmer, Carl, Studien über die mittelalterlichen Buchschriften (Schreiber) 625 
Weigel, Helmut, Franken, Kurpfalz und der Bóhmische Aufstand 1618— 1620. 

1. Teil. (Franz) 2:2 ou 2 ee ar EI do owe de 866 
Widukind, Sächsische Geschichte. Auf Grund des Textes der Seriptores 

rerum Germanicarum und nach der Übersetzung von B. Schottin neu 


übertr. u. bearb. von Paul Hirsch (Bulst) . . ........... 185 

Wießner, Wolfgang, Die Beziehungen Kaiser Ludwigs des Bayern zu Süd-, 
West- und Norddeutschland (Bock) . j 623 
Wittrock, Georg, Gustav II. Adolf (Büscher) . . . .. 2.222220. 221 
— Gustav oll e,, ‘o 221 
Wolf, Julius, Römische Geschichte. 2. Hälfte. Die römische Kaiserzeit (Groag) 611 
Württembergische Vergangenheit (Ernst) ............. 873 

Zimmermann, Wilhelm, Die Entstehung der provinziellen Selbstverwaltung 
in Preußen 1848—1875 (Frahm) . . )))) 446 


b) Zur millellateinischen Philologie. 
Bibliothekskataloge, Mittelalterliche — Deutschlands und der 
Schweiz. Hrsg. v. d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften in Mün- 
chen. Bd. 3, Tl. 1: Bistum Augsburg. Bearb. von P. Ruf (Schreiber) . . 616 
Boéthius, Anicius Manilius Severinus, De consolatione Philosophiae libri 


quinque Bu ð]i 412 
Campbell, James Marshall, Vergl. Deferrarrtt iii 176 
Deferrari, Roy Joseph und Campbell, James Marshall, A Concordance of 

Prudentius Meyer; 2 176 
Leh mann, Paul, Mitteilungen aus Handschriften (Schreiber) 413 


Luhde, Gustav, Der Archipoeta. Seine Persönlichkeit und seine Gedichte (Bulst) 418 
Saxonis Gesta Danorum. Edd. J. Olrik et H. Raeder. Tom. I. (Walther) 841 
Schramm, A., Die Reform der Nationalschriften (Schreiber) . . . . . .. 216 
Wehmer, Carl, Studien über die mittelalterlichen Buchschriften (Schreiber) 625 
Widukind, Sächsische Geschichte. Auf Grund des Textes der Scriptores rerum 
Germanicarum und nach der Übersetzung von R. Schottin neu übertr. 
u. bearb. von Paul Hirsch (Bust). ................ 185 


Nachrichten und Notizen. 


Aus genealogischen Zeitschriften (Lampe) . . . ... ....... 660 
Wissenschaftliche Gesellschaften und (Publikations-) Institute . 669 
EIKIATUNGEN 5c ns... al 441 
EntregnühEg.: 2.2: ERBE FR TEEN 670 
SCHIUBWOTL 2. 2.2 2. ee e Eee en 670 


artena FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT $ 
7 UND FÜR - | „ 
/ATEINISOHE. PHILOLOGIE DES MITTELALTERS BI 
" de yr | j | 7 N 
~ HERAUSGEGEBEN VON | | 


pn. ERICH BRANDENBURG zB 


2.0, PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG | 


. . XXVIII. JAHRGANG 


y. e" "a^ 
, Y 
u à " 
d DM L 3 , ; d 
ar LJ ò m f Y 1 x 
NL uUo 1. HEFT 
4 Pomp g » , ! M 
T! ) « r Pa " 2 - 
. . S ^ 
ue ^. AUSGEGEBEN AM 1. APRIL 1933 m 
> \ ` 
N " 
€ E 
LI J * j 
nsi 
"ag. 
* P m 
A 
u 
E 25! * 
4 
i mw 
» LM d" 
« a 
LJ ** L 
‚hs 
, b 
VP 


ES. | VERLAG UND DRUCK E 
| REI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG 
DRESDEN 1933 


ERI | Digitized » Google 


HISTORISCHE VIERTELJAHRSCHRIFT 


Herausgegeben von Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig. 
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden A 1. 


Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen zu je 
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang HA 30.— und für 
das Heft . 7.50. 

Die Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters haben die 
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig ge- 
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philologischen 
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die aktuellen 
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fórdern und zu festigen. 

Die Abteilung , Nachrichten und Notizen“ bringt Angaben über neue 
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf dem 
persónlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens. 

Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgescháfte wird von 
Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von Herrn 
Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und für den mittel- 
lateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Universität, Borneria- 
num I) unterstützt wird. 

Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität, 
Bornerianum I) zu richten. 

Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift- 
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne- 
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographischer 
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, auch 
kleinereWerke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeitschriften- 
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch machen, 
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia 


Francorum Gregors von Tours.“ 
Von 
Bruno Krusch. 
1. Die Handschrift von Namur C 2 und ihre Verwandten (C 2*, 
8, 3*, 4). 

C 2 (C7 bei Arndt), der Codex n. 11, der Stadtbibliothek in 
Namur, im Depositum der Société archéologique daselbst 
und in der Verwaltung des dortigen Staatsarchives, ist ein 
Schatz von großer historischer Bedeutung. Er stammt aus dem 
Ardennenkloster St. Hubert und ist schon áuBerlich an dem 
braunen Ledereinband mit der Inschrift "Monasterii S. Huberti 
in Arduenna Catalogo inscriptus' und dem eingepreBten Hirsche 
mit Wappen als Besitz des Klosters erkennbar. 

Er vereinigt die englische Kirchengeschichte Bedas mit der 

fränkischen Gregors, der schöne Beda und Gregor hatte schon 
die Aufmerksamkeit Bethmanns erregt‘, dem einst die Be- 
arbeitung der Gregor-Ausgabe zugefallen war, die sich ur- 
sprünglich Pertz selbst vorbehalten hatte. Es ist ein Band in 
größtem Folio-Format, geschrieben von mehreren Schreibern, 
bis Fol. 67“ in zwei Kolumnen. Vorangeht Fol. 1—59‘, Beda 
Historia ecclesiastica. Dahinter steht eine Augustinus-Stelle: 
Aug. Deus semper idem — in me sedeat et in te.’ 

Auf dem freien Raum der Seite hat dann eine Hand s. XII 
Traditionen für das Kloster: ‘Huic ecclesiae! eingetragen. 

Fol. 60—192“ / folgt eine andere Hs., 

Fol. 192/—221 Liber X, 
der Gregor von Tours. Vorangehen die Kapitelverzeichnisse 
für alle Bücher mit Einschluß Fredegars und der Fortsetzungen, 
und zwar reichen die Kapitelzahlen bis CVIIII, wie in den 


Fortsetzung und Schluß zu dem gleichnamigen Aufsatz HV. 27, S. 673ff. 
! Archiv VIII, 476. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 1 


2 Bruno Krusch 


Fredegar-Hss. 5?. Fol. 221' war ursprünglich freigelassen und ent- 
hält nur Federproben. Fol.222, das letzte Blatt der Hs., war auch 
zuerst frei. Eine Hand saec. XI setzte spáter eine Berechnung 
der Weltjahre bis zum 14. Jahre des Heraclius darauf: 'Ab initio 
mundi secundum. Ebraicam veritatem Jeronimi usque ad XIIII. 
Eraclii imperatoris, Daran schloß sie einen fränkischen Königs- 
katalog: 'Clodoveus regnavit annis XXX, der spätere Zusätze 
enthält über die Kinder der Könige und ihre Schicksale, zum 
Teil unter Benutzung von Gregors Frankengeschichte. Er reicht 
bis 'Pippinus regnavit annis XII’ [postea scilicet quo a Bone- 
facio*]. ‘Karolus deinde regnat vel imperat annis XLVI’, also 
bis zum Tode Karls des Großen 814, aber als späterer Nachtrag 
für die Altersbestimmung der Hs. nicht verwendbar. 

Die Hs. hat textkritisch bisher nur in der englischen Lite- 
ratur Beachtung gefunden, namentlich bei dem Geschichts- 
forscher Plummer wegen des Beda. 

Der deutsche Herausgeber Alfred Holder rühmt sich zwar, 
Bedas Originaltext hergestellt zu haben, hat es aber fertig- 
gebracht, ohne jedes Hss.-Material eine Beda-Ausgabe zu 
veróffentlichen. Seinen flüchtig hingeworfenen Ausgaben gab 
er statt der Vorrede ein Nachwort mit auf den Weg, für das 
er sich seine eigene Orthographie zurechtgemacht hatte. Über 
seinen Bedatext schreibt er, er wolle die alte Hs. von Cam- 
bridge wiedergeben, die er nie gesehen, leider sei sie nicht in 
Bedas eigener Orthographie geschrieben, und so vermaß er 
sich, unter Berufung auf Bedas liber de orthographia, „soweit 
die dortigen Beispiele ausreichten“, wie er in der Vorrede 
schreibt, die eigene Orthographie Bedas selbst herzustellen. 
Man faBt sich an den Kopf! Gleichwohl schrieb ein deutscher 
Kritiker*, daß das Verfahren jedenfalls Billigung verdiene. 
Zu seiner Ehre nehme ich an, daß er die kleine Schrift Bedas 
niemals* in der Hand gehabt hat. Sie enthält zumeist Er- 


3 Vgl. SS. rer. Merov. II, 122. 

* Ergünze: unctus est. 

* Peters in Anglia, Zeitschrift für englische Philologie, herausgegeben von 
Wülker, 1883, VI, S. 50. 

Von dem tiefsinnigen Inhalt hier eine Probe: B propinqua est litterae p, 
qua saepe mutatur, ut litterae supponit, opponit (Beda, de orthographia liber) 
Migne, P. L. 90 col. 123. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 3 


klärungen einiger zufällig zusammengelesener Ausdrücke, eigent- 
lich ein kleines Glossar und nur für Bedas Naivität charakte- 
ristisch. Mit Orthographie hat sie, wie schon Manitius® be- 
merkte, nichts zu tun. Sie trágt ihren Titel mit Unrecht, und 
Holders Berufung auf sie ist eine Täuschung der Leser, die der 
deutschen Wissenschaft nicht zur Ehre gereicht. Erst der 
Engländer Plummer hat sein Verfahren aufgedeckt, daB er nur 
frühere Ausgaben benutzte. Plummer hat in seiner Ausgabe" 
zum ersten Male auch die Hs. von Namur benutzt. Holder 
rühmt sich in seinem Nachwort seiner Verbesserungen der Hs. 
von Cambridge und stellt ein Verzeichnis derselben auf. Zum 
Teil hátte er sie in der Hs. von Namur finden kónnen. 

Plummer hatte eine sachkundige Beschreibung der Hs. 
schon 1892 auf Veranlassung der Société archéologique in 
Namur in deren Annales XIX, 3 (S. 393ff.) veröffentlicht, in der 
nur zu berichtigen ist, daB die Schrift nicht aus dem 8. Jahr- 
hundert, sondern erst aus dem 10. Jahrhundert stammt, wie 
sie Bethmann richtig taxiert hat. 

Mit dem Gregor Fol. 60 beginnt ein neuer quaternio und 
eine neue Hand. Die Verschreibungen von r—s und n—u, l für 
i, in für hi zeigen, daß die Vorlage in Kursivschrift und wohl 
in insularer geschrieben war. 

C 2* (C 5 bei Arndt), die Handschrift der Nationalbibliothek 
in Paris lat. 5922, früher 1618, dann 1462, s. XII, in außer- 
ordentlich groBen Buchstaben geschrieben, stammt nach der 
Notiz s. XIV auf S.1: 'Liber sce Marie virginis in Otterburg, 
Magunt. dioc. aus dem Zisterzienserkloster Otterberg, Bez. 
Amt Kaiserslautern, später in Privatbesitz, nach einer Eintra- 
gung 8. XVI: Ex Bibliotheca Jo. Huralti de Boistaillé, kam 
mit dessen Bibliothek 1622? in die kónigliche Bibliothek, trágt 
auch das Kónigswappen eingepreßt auf dem Ledereinbande. 


* Manitius, Gesch. der lat. Literatur des Mittelalters 1911, S. 75ff. Vgl. 
Mommsen, AA 13, 244. 

? Venerabilis Bedae historiam ecclesiasticam ed. K. Plummer, I. Oxonii, 
1896, S. LX XXII. 

* Lindsay, Notae latinae, Cambridge 1915, S. 469, setzt sie in das 9. Jahr- 
hundert, ebenso in seiner Palaeographia V. St. Andrews University Publications 
XXIII Oxford, University Press. 1927, S. 41, aber nur auf Grund einiger Abkür- 

en. 

* Nach Omont in seiner Ausgabe S. XVI. 


1* 


2 Bruno Krusch 


Fredegar-Hss. 5*. Fol. 221' war ursprünglich freigelassen und ent- 
hält nur Federproben. Fol. 222, das letzte Blatt der Hs., war auch 
zuerst frei. Eine Hand saec. XI setzte später eine Berechnung 
der Weltjahre bis zum 14. Jahre des Heraclius darauf: Ab initio 
mundi secundum. Ebraicam veritatem Jeronimi usque ad XIIII. 
Eraclii imperatoris.’ Daran schloß sie einen fränkischen Königs- 
katalog: 'Clodoveus regnavit annis XXX, der spätere Zusätze 
enthält über die Kinder der Könige und ihre Schicksale, zum 
Teil unter Benutzung von Gregors Frankengeschichte. Er reicht 
bis 'Pippinus regnavit annis XII’ [postea scilicet quo a Bone- 
facio*]. ‘Karolus deinde regnat vel imperat annis XLVTI', also 
bis zum Tode Karls des GroBen 814, aber als spáterer Nachtrag 
für die Altersbestimmung der Hs. nicht verwendbar. 

Die Hs. hat textkritisch bisher nur in der englischen Lite- 
ratur Beachtung gefunden, namentlich bei dem Geschichts- 
forscher Plummer wegen des Beda. 

Der deutsche Herausgeber Alfred Holder rühmt sich zwar, 
Bedas Originaltext hergestellt zu haben, hat es aber fertig- 
gebracht, ohne jedes Hss.-Material eine Beda-Ausgabe zu 
veröffentlichen. Seinen flüchtig hingeworfenen Ausgaben gab 
er statt der Vorrede ein Nachwort mit auf den Weg, für das 
er sich seine eigene Orthographie zurechtgemacht hatte. Über 
seinen Bedatext schreibt er, er wolle die alte Hs. von Cam- 
bridge wiedergeben, die er nie gesehen, leider sei sie nicht in 
Bedas eigener Orthographie geschrieben, und so vermaß er 
sich, unter Berufung auf Bedas liber de orthographia, ‚soweit 
die dortigen Beispiele ausreichten“, wie er in der Vorrede 
schreibt, die eigene Orthographie Bedas selbst herzustellen. 
Man faßt sich an den Kopf! Gleichwohl schrieb ein deutscher 
Kritiker“, daß das Verfahren jedenfalls Billigung verdiene. 
Zu seiner Ehre nehme ich an, daB er die kleine Schrift Bedas 
niemals® in der Hand gehabt hat. Sie enthält zumeist Er- 


* Vgl. SS. rer. Merov. II, 122. 

Ergänze: unctus est. 

* Peters in Anglia, Zeitschrift für englische Philologie, herausgegeben von 
Wülker, 1883, VI, S. 50. 

5 Von dem tiefsinnigen Inhalt hier eine Probe: B propinqua est litterae p, 
qua saepe mutatur, ut litterae supponit, opponit (Beda, de orthographia liber) 
Migne, P. L. 90 col. 123. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 3 


klàrungen einiger zufállig zusammengelesener Ausdrücke, eigent- 
lich ein kleines Glossar und nur für Bedas Naivität charakte- 
ristisch. Mit Orthographie hat sie, wie schon Manitius® be- 
merkte, nichts zu tun. Sie trágt ihren Titel mit Unrecht, und 
Holders Berufung auf sie ist eine Táuschung der Leser, die der 
deutschen Wissenschaft nicht zur Ehre gereicht. Erst der 
Engländer Plummer hat sein Verfahren aufgedeckt, daB er nur 
frühere Ausgaben benutzte. Plummer hat in seiner Ausgabe" 
zum ersten Male auch die Hs. von Namur benutzt. Holder 
rühmt sich in seinem Nachwort seiner Verbesserungen der Hs. 
von Cambridge und stellt ein Verzeichnis derselben auf. Zum 
Teil hátte er sie in der Hs. von Namur finden kónnen. 

Plummer hatte eine sachkundige Beschreibung der Hs. 
schon 1892 auf Veranlassung der Société archéologique in 
Namur in deren Annales XIX, 3 (S. 393ff.) veróffentlicht, in der 
nur zu berichtigen ist, daB die Schrift nicht aus dem 8. Jahr- 
hunderts, sondern erst aus dem 10. Jahrhundert stammt, wie 
sie Bethmann richtig taxiert hat. 

Mit dem Gregor Fol. 60 beginnt ein neuer quaternio und 
eine neue Hand. Die Verschreibungen von r—s und n—u, I für 
i, in für hi zeigen, daB die Vorlage in Kursivschrift und wohl 
in insularer geschrieben war. 

C 2* (C 5 bei Arndt), die Handschrift der Nationalbibliothek 
in Paris lat. 5922, früher 1618, dann 1462, s. XII, in auDer- 
ordentlich groBen Buchstaben geschrieben, stammt nach der 
Notiz s. XIV auf S. 1: Liber sce Marie virginis in Otterburg, 
Magunt. dioc. aus dem Zisterzienserkloster Otterberg, Bez. 
Amt Kaiserslautern, spáter in Privatbesitz, nach einer Eintra- 
gung s. XVI: Ex Bibliotheca Jo. Huralti de Boistaillé, kam 
mit dessen Bibliothek 1622? in die königliche Bibliothek, trägt 
auch das Kónigswappen eingepreßt auf dem Ledereinbande. 


* Manitius, Gesch. der lat. Literatur des Mittelalters 1911, S. 75ff. Vgl. 
Mommsen, AA 13, 244. 

7 Venerabilis Bedae historiam ecclesiasticam ed. K. Plummer, I. Oxonii, 
1896, S. LXX XII. | 

Lindsay, Notae latinae, Cambridge 1915, S. 469, setzt sie in das 9. Jahr- 
hundert, ebenso in seiner Palaeographia V. St. Andrews University Publications 
XXIII Oxford, University Press. 1927, S. 41, aber nur auf Grund einiger Abkür- 
zungen. 

* Nach Omont in seiner Ausgabe S. XVI. 

1* 


4 Bruno Krusch 


Die Hs. enthält fol. 1'—104' den Gregor, zuerst die Vorrede: 
Decidente ohne Überschrift, reicht aber nur bis IV, 16, 'effu- 
gient'. Die Hs. hat S. 34, 32, 93—94, 5 dieselben Lücken wie 
C 2, ist also Abschrift daraus. 

Es folgt fol. 104°. Incipit prefatio operis sequentis. An- 
fang: Excellentissimi ingenii, die Chronik Reginos. Im Gregor 
fehlt Kap. I, 48, das in C 2 vorhanden ist. 

C3. Die Handschrift der Nationalbibliothek in Paris 
lat. 9765, früher Suppl. lat. 808, dann 1538, in Fol.saec. X, 
fol. 110, enthält zuerst fol. 1—100, den Gregor bis X, 28 und 
dann als 10. Buch Fredegar mit der Fortsetzung bis c. 24 
(bb bei mir). Sie jst von mehreren Schreibern sehr ungleich- 
mäßig geschrieben und auch durch Einlegung von Blättern in 
der Art von C1 vervollständigt. Der erste Schreiber schrieb 
fol. 1—8 (S. 1—49, 5) ‘aedificandi’, den ersten  Quaternio, 
der folgende fol. 9—15, den zweiten bis S. 70, 2 ‘pavore und 
ließ dann fol. 15’ etwa !/, Seite leer. Fol. 16—31 scheint der 
erste Schreiber fortzufahren auf den Quaternionen III und 
IIII bis 'cura' S. 112, 1. Die ersten beiden Blätter vom 5. Qua- 
ternio, fol. 32, 33 bis 'patuisse' (S. 116, 16) sind später ein- 
gelegt, und fol. 33° ist ?/, Seite leergelassen. Dieser Schreiber 
war ohnedies schon zuweit vorgerückt, denn fol. 34, mit der 
Schrift des ersten Schreibers beginnt schon S. 116, 10 calli- 
dus’, so daß Z. 10—16 doppelt vorhanden sind. Die Lesarten 
stammen auch aus zwei verschiedenen Exemplaren!®, Fol. 37 
schließt der alte Text mit adhibebis' S. 123, 24. Der Rest der 
Zeile ist freigelassen, und das Ende der Seite, etwa 2 Zeilen, 
sind abgeschnitten. Auf fol. 37° folgt von anderer Hand der 
anschließende Text mit 'adsumptis'. Der 5. Quaternio schließt 
fol. 38. Aber auch dieses Blatt ist später eingelegt, und daB 
der alte Text ursprünglich fol. 37 mit ‘adhibebis’ schloß, und 
alles Folgende bis fol. 46 später interpoliert ist, dafür liefert 
C 3* den unumstößlichen Beweis, wo mitten in der Zeile der 
Text von ‘adhibebis’ (123. 24) zu ‘condignam’ (S. 163, 19) 
überspringt. Tatsächlich beginnt in C 3 fol. 47 mit dem 7. Qua- 


10 Im Text I fehlt 116, 10 erat'. Er liest ferner Hermenfridum precepit 
venire = C 1 quodam muris (= C 1) de inde tunc Theuderici. Im II. Text steht: 
Herminfredum v. praec. (= C2) a quo, muri, exinde, tamen, Theoderici. Der 
erste Text gleicht also C 1, der zweite C2. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 5 


ternio (condignam) wieder die alte Hand. Es sind also dort 
die ganzen vorhergehenden Blátter von fol. 38 an spáter ein- 
gelegt, und die Abschrift C 3* wurde genommen, als die Er- 
gänzung noch nicht erfolgt war. 

Die ganze Hs. zählt 15 signierte Lagen; die späteren Er- 
gänzungen sind eingereiht, so daß heute das Ganze äußerlich 
den Eindruck einer einheitlichen Hs. macht und nur ein scharfer 
Blick Altes und Neues zu scheiden vermag. 

C 3* (C2 bei Arndt, 5a im Fredegar), Paris, 5921 (Colb. 
701, Regius 3804), saec. XI, fol. 149, ebenfalls von mehreren 
Händen geschrieben, stammt, wie eine Hand saec. XI bemerkte, 
aus S. Arnulf in Metz: Liber sci Arnulf M L.. , wiederholt 
auch fol. 118“ von einer Hand s. XVII: S. Arnulfi, später in 
der Bibliothek 'P. Pithoei', ist, wie eben gezeigt wurde, Ab- 
schrift aus C 3, beginnt aber unvollständig fol. 1. At illi cum’ 
II, 7 (S. 69, 9). Zu der großen Lücke S. 123, 24 'adhibebis' 
ist am Rande von nicht viel spáterer Hand bemerkt: 'Hic deest 
multum usque ad flnem huius tertii libri et initiium quarti.' 
Auch in dieser Hs. finden sich Ergänzungen auf eingelegten 
Blättern von späterer Hand. Das Kapitelverzeichnis vom 
4. Buche fehlt. Das 10. Buch mit dem Fredegar steht Fol. 118’ 
bis 149. 

C4. Die Hs. der Stadtbibliothek in St. Omer n. 706. 
saec. X, in Folio, fol. 223 bis fol. 144, in 2 Kolumnen geschrie- 
ben, nach der Eintragung s. XV. auf fol. 1. 'De libraria sancti 
Bertini’, alte Signatur 268, enthält Fol. 1'—118' den Gregor 
in neun Büchern und als 10. Buch Fol. 118'—144' Fredegar 
mit Fortsetzung bis c. 21 (5c bei mir). 

Die erste Vorrede fehlt, und da der Anfang der 1. Kolumne 
für die Initiale freigelassen war, beginnt der alte Text: Mar- 
tyrum cum paganis (S. 33, 8). Die Kapitelverzeichnisse zum 
3. und 4.Buche sind umgeschrieben und erweitert. Vom 
5. Buche an fehlen sie ganz. Fol. 105 sind in der 2. Kolumne 
oben zwei Zeilen ausgeschnitten, so daB IX, 9 (S. 366, 19) der 
Text von misit' an ausgefallen ist und erst mit vitam' wieder 
beginnt. Die entsprechende Lücke findet sich auf der Rück- 


n Die Quaternionen-Z&hlung beginnt mit f. Ursprünglich bildete n. 697 
(Eutropius, Marcellini chronicon, Notitia provinciarum) mit unserer Nummer eine 
Hs., vgl. Archiv 8, 414. 


6 Bruno Krusch 


seite nach ,concederet' (S. 367, 6), indem der Text erst 'bilis 
iudicatur’ wiederkehrt. 

Die Interpolationen des Gregortextes aus dem L. h. Fr. 
sind HV. 27, S. 710f., zusammengestellt. 

Fol. 118' hinter dem ‘Incipit’ des 10. Buches steht die älteste 
Erwähnung des Namens Fredegar!* vor Transactis namque’ 
(S. 123, 22), der gekürzten Vorrede. 

Fol. 129° schließt 'cognomento Wi/’ S.144, 16 im Fredegar 
IV, 48. Der Rest der Seite bis IV, 54 ist ausradiert. Fol. 130 
fáhrt der alte Text fort mit Fredegar IV, 55. | 

An die Fredegar-Fortsetzung (c. 21) schließen sich fol. 146 
bis 223 an die Annales Bertiniani?: Partiuncula. Incipit 
de Gestis regum Francorum' bis zum Jahre 815: 'imperatori 
mandavit' (nicht nuntiavit', wie bei Kurze, Ann. regni Franc. 
S.143). Fol. 162 setzt eine andere Hand mit dem Jahre 816: 
"Hieme transacto' (sic) ein, die einen etwas jüngeren Eindruck 
macht. | | 

Die Kopierung der Hs. war unter mehrere Schreiber nach 
Quaternionen verteilt, wodurch sich auch die Rasur auf fol. 129 
im Fredegar erklärt. Das Bruchstück wurde entfernt, um den 
Übergang zur folgenden Lage ertrüglicher zu machen. Die 
erste Quaternionenzählung reicht bis X auf fol. 129“, und eine 
zweite beginnt fol. 134“ mit a. Sehr deutlich sieht man, wie 
die Schreiber Mühe hatten, die Intervalle auszufüllen, an den 
auseinandergezogenen Schriftzügen auf fol. 177“, wo der Qua- 
ternio schloß. Um die Seite zu füllen, ist hier an beiden Seiten, 
nach unten hin zunehmend, Raum freigelassen, so daB am 
Ende der Seite die Schrift in einen spitzen Winkel ausläuft. 

Fol. 223“, die letzte Seite, war ursprünglich freigelassen. 
Eine Hand des 11. Jahrhunderts trug spáter eine Notiz über 
die Bestrafung Karl Martells für die Verschenkung der Zehnten 
an seine Ritter ein, unter Bezugnahme auf die bekannte Vision 
des Hl. Eucherius, Bischofs von Orléans: 

Karolus Martellus, pater Pippini, genitoris Karoli Magni, 
primus decimas ab altaribus divisit et militibus tradidit 
unde et eternam damnationen incurrit. Quem sanctus Euche- 


12 Vgl. meinen Aufsatz in den Göttinger gelehrten Nachr. 1926, S. 243. 
13 Vgl. die Ausgabe von Waitz 1883, S. IX. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 7 


rius Aurelianensis episcopus, qui in monasterio sancti Tru- 
donis requiescit, in contemplatione positus, in inferno inferiori 
torqueri conspexit propter hoc maxime scelus, quod decimas, 
Deo sacratas contra ius usibus laicorum concedere presumpsit. 
Ipse namque sanctus Eucherius ilico beatum Bonefacium et 
Fulradum abbatem monasterii sancti Donisii ... 

Die Stelle ist nicht vollständig. Eine andere Hand hat eine 
Ergänzung schnell hineingeschmiert, die kaum zu lesen ist. 
Der Sinn läßt sich aber aus der interpolierten V. Eucherii, bei 
Levison, SS. rer. Mer. VII, 51,26 mit ad se vocavit’ usw. 
leicht erkennen. | 

Die V. Eucherii spricht in der Interpolation von einer all- 
gemeinen Säkularisation der Kirchengüter durch Karl Mar- 
tell: 'res abstulit et divisit laicis personis et comitibus', und 
die obige Stelle ist dadurch interessant, daB sie die Einziehung 
auf die Zehnten beschränkt und als Beschenkte ‘milites’ nennt, 
wie auch Hugo Flavin, SS. VIII, 342. 

C 4*. Die Hs. Brüssel n. 6439—6451, saec. XI, sehr sauber 
geschrieben, in Groß-Folio, früher Coll. Societatis’ Jesu Brugis 
N. 2? (Notiz saec. XVII, fol. 1), ist Abschrift aus C 4 und wurde 
kopiert, als dort die beiden Lücken durch Ausschneiden von 
zwei Zeilen bereits entstanden waren. In C 4* hat der Schreiber 
an beiden Stellen je zwei Zeilen freigelassen. Der Gregor steht 
fol. 17—59' hinter der Chronik des Marcellinus, fol. 11—16“, 
die von C 4 jetzt abgetrennt ist. Durch Ausfall von Bláttern 
fehlt im Gregor der Text von 219, 43—238, 30, den C 4 hat. 
Die Abschrift hat dieselben Interpolationen aus dem Lib. h. Fr. 
wie C 4 und Fehler natürlich noch mehr als die Vorlage. 


Konkordanz unserer Hss.-Bezeichnungen mit denen Arndts. 


Krusch. Arndt. 
A 3 C 

A4 a 

B3 B4 
B 4 B3 
C 1a C 6 
C2 C 7 
C 2* C 5 


^ Vgl. die sorgfältige Beschreibung von Pertz SS. II, 192. 


8 Bruno Krusch 


Krusch. Arndt. 
C 3* C 2 
C 3** C 8 
D1 D11 
Dia D8 
D1b D9 
Dic D 13 
D2 D 5 
D 3a D1 
D4 D6 
D 5a D14 
D 5b D 4 
D 6a D7 
D 6b D12 
D7 D10 
Ela p 

E 2a l 
E2b g 
F1 B ? 
F2 51 


Arndt bezeichnet mit D 2 den Kodex, aus dem die Editio 
princeps geflossen sein soll. Auf dem Titelblatt stehen als 
Verkáufer der Drucker Jodocus Badius und Joannes Parvus 
und unter dem Titel: B. Gregorii Turonésis episcopi Histo- 
riarum praecipue Gallicarum lib. X, in Vitas patrum fere sui 
temporis lib. I, De gloria confessorum praecipue Gallorum lib. I. 
Adonis Viennensis episcopi sex aetatum mundi breves seu 
commentarii vsque ad Carolum Simplicem Francorum regem 
ist das Wappen des Johan Petit gedruckt. In einigen Exem- 
plaren wird nach Potthast I, 542 (1896) ein dritter Name hinzu- 
gefügt: et Joanne Confluentino. Das Widmungsschreiben von 
Jodocus Badius Ascensus (geb. in Assche bei Brüssel 1462) an 
W. Parvus am Anfang des Bandes trägt das Datum 1512, 
12. Kal. Dec. Eine Bemerkung am Schlusse des Bandes besagt 
dagegen, daß der Druck erfolgt sei 'auspicio et iussu' des Ma- 
gister Guilelmus Parvus ord. Praed., Prof. der Theologie und 
Beichtvater des Königs, in aedibus Ascensianis im Jahre 1522. 
Id. Nov. Die Jahreszahl ist, wie schon Árndt gesehen hat, ver- 
druckt, und in 1512 zu verbessern. Ein Certifikat über das 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 9 


Druckprivileg des Kónigs auf der Rückseite des Blattes für den 
geschworenen Pariser Universitätsbuchhändler Josse Badius 
auf drei Jahre ist ausgestellt in Bloys am 12. März 1511. 

Die Lesarten der Ed. pr. im Arndtschen Apparat D 2, 
stimmen meistens mit der früher in Blois befindlichen Hs., 
jetzt Vat. reg. Christ. 556 (bei Arndt D 5, bei mir D 2) überein, 
und besonders stimmt auch die Kapitelzählung. Der Text ist 
aber teilweise ganz willkürlich überarbeitet!5 und die Kapitel- 
verzeichnisse haben die Herausgeber selbst verfaßt. Die in 
D 2 fehlenden Kapitel, z. B. S. 166, 1 und 178, 12, sind D 11, 
meinem D 1, entnommen, wie besonders die Stelle: 

IV, 42, S.175, 20: devia] divortia ed. pr. und D 1 beweist ; 
vgl. HV. 27, S. 697. Die Ausgabe zählt (fol. X X X^) IV, 40 als IV, 
32, gerade wie D 1 und schiebt am Schlusse vor IV, 40, hinter 
"petierunt" (S. 174, 17) die folgende Bemerkung ein: ‘Desunt 
hoc loco octo capitula, quae non potuerunt reperiri etiam in 
antiquis exemplaribus, forte quod in aliis eius operibus reperiun- 
tur. Sunt enim haec': Es folgen die acht Rubriken IV, 34—41 
des Kapitelverzeichnisses, die letzte aber in abweichender 
Fassung: 'De Alboino cum Longobardis Italiam occupante.' 
Das Kapitel IV, 41 folgt aber mit der richtigen Überschrift, 
und die Notiz greift mit den acht Kapiteln zu weit aus. Die 
Lücke aller Hss. außer A 1 reicht nur bis IV, 37. IV, 38, läßt 
allerdings D 2 noch aus, aber D 1 hat es und ebenso die beiden 
Kapitel 40, 41. Tatsáchlich gehen auch im Texte der Ed. pr. 
die Kapitel IV, 38, 40, 41 voraus, was der Herausgeber nicht 
bemerkt hatte!®, wie seine Anmerkung beweist. 

Der Text der Ed. pr. beruht also auf den Arndtschen Hss. 
D 5 und D 11 (bei mir D 2 und D 1), wozu noch eine gute Por- 
tion eigene Arbeit und nicht wenige Willkürlichkeiten der 
Herausgeber kommen, die damals ihre Pflichten noch anders 
auffaßten, als es heute erlaubt ist. 

Die Hs. D 2 in der Arndtschen Liste ist also zu streichen, 
und zum Glück kann in die Stelle sofort Arndts D 5 einrücken. 


15 Vgl. die starke Kürzung IX, 21 (S. 379, 31). 

1 Die verschiedene Kapitelzählung in den Hss. und Ausgaben macht dem 
Gregor-Forscher große Schwierigkeiten. Die Schreiber änderten die Zahlen infolge 
der weggelassenen Kapitel oder ließen sie wohl ganz fort. Erst Arndts Ausgabe 
bat die richtige Zählung hergestellt. 


10 Bruno Krusch 


Der zweite Herausgeber Morelius hat 1561 seine Ausgabe 
dem Erzbischof von Tours, Simeon de Maillé, gewidmet, der 
ihm mit anderen Hss. der dortigen Dombibliothek auch den 
Gregor-Kodex nach Paris geliehen hatte. Es ist wohl von vorn- 
herein anzunehmen, daß diese Hs. aus der Kirche Gregors, 
deren Bischófen sein Autograph anvertraut war, einen guten 
Text enthalten hat. 

Diese Hs. von Tours, die Arndt D 8 genannt hat, war nun 
ganz ähnlich der von Clermont-Ferrand, meinem D 1, und muß 
also D 1a genannt werden. 

Am Schlusse des Bandes hat der Herausgeber Varianten 
unter den Bezeichnungen ‘ex veteri libro’, 'antiqua lectio’ oder 
'manu scripto’ notiert, die meistens die Fehler der Ed. pr. ver- 
bessern, also die richtigen Lesarten sind. Wie sehr diese Hs. 
D 1 glich, zeigt folgender gemeinsamer Fehler: 

54, 12, dotem] dare = D 1. 

Am Schlusse der Vorrede zum 1. Buche S. 34, 26, nach 
den Worten Victorius cum ordine' fehlten in vetusto codice 
einige Blätter bis zur Mitte von Kapitel I, 4. Die Hs. von 
Tours war also mit D 1 nicht identisch, das hier keine Lücke hat. 

Die Kapitelverzeichnisse für die 10 Bücher stehen wie in 
der Ed. pr. zusammen am Anfang und ihr willkürlicher Text 
darf nicht etwa auf die Hs. von Tours zurückgeführt werden. 
Morelius hat ihn aus der Ed. pr. übernommen, und wie diese 
hat auch er die Chronik Ados folgen lassen, die auch in D 4 
mit Gregor verbunden ist. 

Wie die Hs. von Tours ist auch die dritte Hs. dieser Familie 
verschollen, der von Ruinart benutzte Beccensis = Dib 
(bei Arndt D 9) aus dem Kloster Bec (dép. Eure) in der Nor- 
mandie. Er war geschrieben nach Ruinarts Vorrede 8123 vor 
700 Jahren, also im 11. Jahrhundert oder nach den Maurinern 
im 12. Jahrhundert!” in der damals gegründeten Abtei. Die 
Hs. war ganz vollständig, außer daß die erste Vorrede fehlte. 
Sie las wie D1 und Morelius 344, 23, VIII, 30: 

"Post dies vero quattuor coniunctis episcopis'] Postea vero 
(fehlt D 1 und bei Morelius) quattuor convocatis episcopis. In 


17 Ins 12. Jahrhundert setzen die Verfasser des Nouveau Traité de Diploma- 
tique II, 61 (1755) die Hs. Vgl. das Faksimile am Schlusse des 1. Artikels. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 11 


einem Kataloge aus dem 12. Jahrhundert wird die Hs. be- 
schrieben: In uno volumine historia Gregorii Turonensis de 
gestis Francorum libri X. Sie enthielt auBer Gregor: historia 
Baldrici Dolensis archiepiscopi, quomodo Ierusalem capta sit 
a christianis libri IIIIIS. Dieselbe Schrift findet sich in Ver- 
bindung mit Gregor in einigen schlechten D-Hss. 

Zu dieser Überlieferung gehört noch das Bruchstück Dic 
(D 13 bei Arndt). Rom, Reg. Christ. n. 630, saec. XIII, in 
8°, fol. 1—65. Es beginnt mit der Vorrede: ‘Scripturus’ ohne 
Überschrift und reicht bis I, 47 (S. 54, 2) expetiit. Mehr als 
die Hälfte der Seite ist freigelassen. Die Hs. liest mit D 1: 

S. 83, 16 apud Deum] apud pium dominum. 

Zu dem unvollständigen D-Text der Editio pr. hatte Flacius 
Illyricus 1568 und Marquard Freher 1613 aus der Lor- 
scher-Hs. dem Palatinus C1 wertvolle Ergänzungen geliefert. 

Freher schob vor den Kapitelverzeichnissen der Ed. pr. 
die Vorrede Gregors: 'Decedente' ein, die in den D-Hss. fehlt, 
und fügte als Appendix sive liber XI, wie er schreibt, den 
Fredegar-Anhang aus derselben Hs. am Schlusse hinzu. Dieser 
ist auch in die Ausgabe: Ex. Bibliotheca Laur. Bochelli, Paris 
1610, übergegangen. Hinter dem alphabetischen Register stehen 
hier auf 17 nichtnumerierten Seiten: Variae lectiones ex ms. 
Cod. Ant. Oiselii I. C. partim ex membranis Laurentii Bochelli 
excerptae. 

Die Varianten stammen aus dem Kodex von Antoine Loisel 
(geb. in Beauvais 1536, T 1617), dessen Enkel Claude Joly ihn 
1756 der Bibliothek des Königs schenkte!?, Es ist der Bello- 
vacensis, bei Arndt B3 (bei mir B 4), und diese Varianten 
reichen bis V, 20. Aus den Kapiteln, die in B fehlen, sind keine 
Lesarten notiert. Die Hs. B 3 ist am Anfang beschädigt“. 
Die angeblich ex membranis’ des Bochellus stammenden 
Lesarten sind nur dem letzten Kapitel X, 31 entnommen, und 
außer B3 ist also auf den 17 Seiten mit Varianten nur noch 
eine Hs. des letzten Kapitels benutzt, die einen ziemlich ver- 
dorbenen Text lieferte; eine der von mir benutzten Hss. war 


1* Vgl. Omont S. XVIII. 
1 Vgl. Omont. 
9 Vgl. II, 3 S. 64, 39. 


12 Bruno Krusch 


es nicht. Was es mit diesen Varianten auf sich hat, zeigt am 
besten die folgende Probe: 

X, 31, S. 448, 27, basilicae sanctae parietes] Basilicas sancti 
Perpetui Bochellus im Text, 'Basilicae etiam quae a sancto Per- 
petuo constructae fuerant’ Variante. 

Die Variante ist also nur eine willkürliche Umschreibung 
des Bochellus, ein wertloser Einfall des Herausgebers, und es 
würde vergebliche Arbeit sein, für solche ‘Lesarten’ nach hand- 
schriftlichen Unterlagen zu suchen. Die 17 Seiten Lesarten, 
von denen in der Literatur viel Aufhebens gemacht wird, sind 
kaum die Druckerschwärze wert, und eigentlich ist vor ihrem 
Gebrauch zu warnen. 

Man sieht, wie ich schon bemerkte, daß die ganze Kunst 
der älteren Herausgeber darin bestand, daß sie einzelne Va- 
rianten aus Hss. notierten, die ihnen der Zufall in die Hände 
gespielt hatte, und im übrigen die früheren Ausgaben mit ein- 
ander verglichen und abdruckten. Eine Ausnahme macht allein 
Ruinart, ein fleiBiger Mann, der Hss. aller Klassen benutzte 
(1699). Selbst über A 1 in Monte Cassino hatte er sich Auskunft 
verschafft?!, so daß er einen vollständigen Text geben konnte. 
Aber die wenigen Varianten, die er mitteilt, zeigen doch auch, 
daB er keinen Einblick in das Hss.-Verháltnis hatte, daB er 
den Stoff nicht beherrschte, der ihm zu Gebote stand. So ist 
es kein Wunder, daß seine Ausgabe noch stark von der Ed. pr. 
beeinflußt ist, die nur ein Zerrbild des echten Gregortextes 
liefert. Bouquet (1739) hat sich darauf beschränkt, Ruinarts 
Ausgabe abzudrucken, und sonst nichts weiter getan, als Les- 
arten der Hs. Dubois (B 2) und des Cluniacensis (D 3a bei 
mir) in den Apparat einzurücken. 

Mit Recht schrieb G. H. Pertz im Archiv V (1824), S. 51, 
man könne sich nicht verhehlen, daß Ruinart und Bou- 
quet mehr durch das, was sie besaßen, als von einer klaren 
Ansicht des inneren Verhältnisses aller Hss. geleitet wurden. 

In diesem Zustande befand sich der Text Gregors vor der 
Arndtschen Ausgabe. Man muß sich das klarmachen, um 


21 Durch Stefanozzi. Dessen Varianten enthält der Cod. Ottobon. lat. 
3163 in Klein-Folio: Gregorii Turonensis lib. X historiarum Francorum Variae 
lectiones editionis Lugdunensis anno 1677 (XI, 703) collatae cum codice Biblio- 
thecae Casinensis signato numero 275. Vgl. Archiv XII, 393. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 13 


die Bedeutung von Arndts Ausgabe für die Wissenschaft 
richtig zu würdigen. 

Eine ungedruckte Ausgabe des hochgelehrten Jesuiten- 
paters Gilles Bouchier (Aegidius Bucherius), des Heraus- 
gebers des Paschale des Victorius, nach deren Verbleib ich 
Nachforschungen anstellte, hat meine Erwartungen nicht er- 
füllt. Ein sehr interessanter Artikel H. Omonts in der Biblio- 
théque de l'école des Chartes V (1894) hatte auf die damals 
in Cheltenham (n. 11917) befindliche Hs. aufmerksam gemacht. 
Aber die unzähligen Zusätze und Verbesserungen, die der 
Herausgeber (T 1665 in Tournay) in ein Exemplar des Freher- 
schen Corpus eingetragen hatte, haben hauptsächlich chrono- 
logischen Inhalt: Stammtafeln der Merovinger- und Burgunder- 
könige, auch von Gregors eigener Familie, Auszüge aus Quellen, 
Konzilien, also Material für einen Kommentar. Aber an irgend- 
welche Berücksichtigung von Hss., an die Verbesserung des 
Freherschen Textes scheint der eee gar nicht gedacht 
zu haben. 

Die Hs. befindet sich jetzt in der Nat ionalbibliothek in 
Paris und führt dort die Signatur Nouv. Acq. 2063. H. Omonts 
Gefälligkeit hat sie mir in Hannover zugänglich gemacht. Wie 
das auf dem Deckel eingeklebte Wappen besagt, stammt sie 
aus der Bibliothek C. von Baviere's, Sekretárs der Juristen- 
Fakultät der Brüsseler Akademie, und gehörte 1613 dem Je- 
suitenkolleg in Tournay. Die letzten Reste der berühmten 
Bibliothek des Sir Thomas Phillipps hat der Erbe, Herr T. Fitz 
Roy Henwith in Tirlestaine House, Cheltenham, 1913 in London 
versteigern lassen, wie er mir freundlichst mitteilte, und diese 
Spur führte mich weiter. 

In einem von Omont abgedruckten Briefe eines Ordens- 
bruders an Bouchier von 1642 nennt er Laurent Bochel 'un 
de nos sycophantes et calomniateurs'. 

Ruinart hatte bei seinen Zeitgenossen Verstándnis für 
die schwere Arbeit gefunden und das ermutigte ihn, 'prae 
laboris multitudine' (S 2) nicht zurückzuschrecken. Die An- 
forderungen sind inzwischen nicht geringer geworden, und die 
Notwendigkeit einer neuen Ausgabe liegt heute ebenso vor, wie 
damals. Zu der Bewältigung dieser Riesenaufgabe gehört aber 
nicht bloß Mut, sondern auch eine gewisse Erfahrung. 


14 Bruno Krusch 


Als ich vor einem halben Jahrhundert am 1. April 1879 als 
Mitarbeiter der M.G., Abteilung Scriptores, eintrat, gab 
mir mein Lehrer Arndt, dessen Erbschaft ich antrat, den 
Leitsatz mit auf den Weg, mich streng an die beste Hs. zu 
halten, und im Kolleg hatten wir von ihm gehört, wie sich 
G. H. Pertz mit den vielen Hss. abgeplagt und sein Mitarbeiter 
Jaffe durch Beschränkung auf die besten Hss. in kürzerer 
Zeit sehr viel Besseres zustandegebracht habe. Der Vorzug der 
neuen Lehre lag auf der Hand, und auch Waitz huldigte ihr 
bis zu einem gewissen Grade. Als ich ihm das Verzeichnis der 
Hss. für die hagiographischen Schriften Gregors vorlegte, an 
deren Aufnahme Pertz nicht gedacht hatte, erklärte er sofort, 
er habe nicht die Absicht, alle diese Hss. heranzuziehen. Pertz 
hatte mit ganz erstaunlichem Fleiß und umfassender Sach- 
kenntnis die Vorarbeiten für die Frankengeschichte betrieben, 
aber mit genialem Blick erkannt, daß er mit dieser schwierigen 
Arbeit das große Werk nicht beginnen könne. Er hatte sich 
daher zuerst den Karolingern zugewandt, wo die Sache viel 
einfacher lag. Auch für Einhards V. Karoli hatte er eine statt- 
liche Hss.-Reihe benutzt, wie es bis dahin kaum für stark ge- 
lesene klassische Autoren geschehen war. Zum erstenmal 
war einem mittelalterlichen Autor eine so eingehende Behand- 
lung zuteil geworden. 

Sein Mitarbeiter Jaffé hat wohl eine Anzahl Mängel der 
Pertzschen Ausgabe aufgedeckt — daran fehlte es auch in 
seiner eigenen Ausgabe nicht — aber die erste kritisch brauch- 
bare Ausgabe der kleinen Schrift hat nicht er gemacht, sondern 
G. Waitz. 

Zweifellos war Jaffés Urteil über die Pertzsche Ausgabe 
— acerbe nennt es Waitz in der 5. Auflage der V. Karoli — 
durch das gespannte persönliche Verhältnis zu dem ehemaligen 
Leiter des Unternehmens beeinflußt, unter dessen Schroffheit 
auch andere Mitarbeiter zu leiden gehabt hatten. Waitz 
Schrieb einmal??, es sei von Pertz nicht weise gewesen, 
sich das Verhältnis zu den Mitarbeitern in dieser Weise zu 
verderben. 


33 Holder-Egger schreibt in der 6. Auflage der V. Karoli (1911) P XXV von 
Waitzens Ausgabe: 'primam arte critica, qua oportuit institutam.' 
* NA. II, S. 468. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 15 


Das Jaffesche Prinzip war bei den M. G. durchgedrungen 
als ich eintrat, und auch Arndt hatte seiner Gregor-Ausgabe 
die älteste Hs. B 1 zugrunde gelegt. Waitz war zu vorsichtig, 
als daB er sich so ganz auf eine Hs. verlassen hátte und auf 
seine Weisung mußte ich Arndts Ms. auf der Grundlage von 
B1 und B2 umarbeiten. 

Pertz gebührt das große Verdienst, für die mittelalterlichen 
Quellen als erster eine erschöpfende Hss.-Benutzung ein- 
geleitet zu haben. 

Für Gregors groBes Werk habe ich zum erstenmal eine 
vollständige Untersuchung aller Hss. unternommen, und selbst 
die Splitter-Hss. mit einzelnen Kapiteln haben Ausbeute ge- 
liefert, wie dieser Aufsatz zeigt. 

Es ist die zweite Untersuchung über die Gregor-Hss. von 
seiten der M.G. Die erste im alten Archiv V stammte von 
unserem ausgezeichneten Altmeister. Ein Vergleich zwischen 
beiden wird für die Geschichte der M.G. nicht ohne Nutzen 
sein. Daß eine so mißachtete Hs. wie C 2 (bei Arndt C 7) zu 
der in vielen Beziehungen wichtigsten aufrücken konnte, hätte 
sich gewiß niemand träumen lassen. 


2. Fredegarius — Oudarius. 

Mein vor fast einem halben Jahrhundert erschienener Auf- 
satz über die Chronicae des sog. Fredegar, N.A.7, 247ff., 
421 ff., führte eine völlige Umwälzung in der Kritik dieser 
nach Gregor wichtigsten Quelle zur fränkischen Geschichte 
herbei und fand allgemeine Zustimmung. Mein Ergebnis setzte 
an die Stelle des einen Chronisten deren drei, die nachein- 
ander an dem Werke gearbeitet, es fortgesetzt und erweitert 
hatten. Die letzte Hand hatte ein austrasischer Bearbeiter 
daran gelegt, und zwar in Metz, der Hauptstadt Austrasiens. 
Ich wies darauf hin, daß die in der Kompilation benutzten alten 
Chroniken in einem früher Sirmond gehörigen Kodex des Je- 
suiten-Kollegs in Paris auf uns gekommen sind, daß dies nach 
Sirmonds eigenem Zeugnis eine Metzer Hs. war, daß der älteste 
Fredegar-Codex, Paris lat. 109, 10, der Archetypus unserer 
gesamten Überlieferung, ebenfalls Sirmond und dem Pariser 
Jesuiten-Kolleg gehört und die einzige direkte Benutzung dieser 
alten allein ganz vollständigen Hs. in Metz im dortigen Ar- 


14 Bruno Krusch 


Als ich vor einem halben Jahrhundert am — 
Mitarbeiter der M. G., Abteilung Script“ 
mir mein Lehrer Arndt, dessen Erbschaf: ea Sic 
Leitsatz mit auf den Weg, mich streng an c 
halten, und im Kolleg hatten wir von ihn 1 
G. H. Pertz mit den vielen Hss. abgeplagt u! —̃ͤ 


Jaffé durch Beschränkung auf die besten 
Zeit sehr viel Besseres zustandegebracht habe 
neuen Lehre lag auf der Hand, und auch 
bis zu einem gewissen Grade. Als ich ihm 
Hss. für die hagiographischen Schriften Gr 
deren Aufnahme Pertz nicht gedacht hatte, 
er habe nicht die Absicht, alle diese Hss. her- 
hatte mit ganz erstaunlichem Fleiß und u 
kenntnis die Vorarbeiten für die Frankenge- 
aber mit genialem Blick erkannt, daß er mit 
Arbeit das große Werk nicht beginnen xn 
daher zuerst den Karolingern zugewandt, - 
einfacher lag. Auch für Einhards V. Karol : 
liche Hss.-Reihe benutzt, wie es bis dahin 
lesene klassische Autoren geschehen war. m 
war einem mittelalterlichen Autor eine so - 
lung zuteil geworden. 

Sein Mitarbeiter Jaffé hat wohl ein 
Pertzschen Ausgabe aufgedeckt — dar 


seiner eigenen Ausgabe nicht — aber d 

bare Ausgabe der kleinen Schrift hat 

G. Waitz. m — 
Zweifellos war Urt 


ater d 


=— — = toria Francorum Gregors von Tours 17 


. p .onnte, und Marcel Baudot?®. 
E r dem Druck gegenseitig aus- 
dern. Beide sind überzeugte An- 
schrieben habe, ist nichts wert. 
N »urgundischen Chronik austra- 
3 lich sogar Lot zugegeben. Le- 
AE on ses für seine Einheitstheorie ge- 
zm z l izst aus der Welt zu schaffen. 
— ;terpolations certaines’, wie Lot 
JEN irbeitsmethode, und vermutlich 
Ey mee thode im Auge, die allerdings 
z ] ;ewuBtsein fehlt es ihm so wenig 
älteste Eintragung des Namens 
teht in einer C-Hs. Gregors, die 
lls bei Paris reicht. Einen Frede- 

u g m ältesten Obituarium der Abtei 
ier 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts. 

i ins Namen-Wörterbuch ausweist, 
HL x .n der Pariser Gegend gebräuchlich. 
5 -n Belegen das Zeugnis des Reiche- 
i , wo unter dem Abt Hilduin von 
‚„nchen einer Cella S. Dionysii mit 


en — x zen ist. Der Herausgeber Piper hat die 
Re Cen x u, und sehr gelehrte Franzosen haben 
fom. 5 n. A. Molinier hat sogar diese Liste 
"TN — Zum "arius unter der Überschrift: Abbaye de 
. Ausgabe der Obituaires de la province de 
In = e istoriens de la France 1902, I, 2, S. 1021 
TE ruckt mit allen Zutaten. Dieser Band wurde 

» „ von Auguste Longnon herausgegeben. 


* geirrt und mit ihm Molinier und Longnon, 

, die sich auf ihn verlassen haben. Es handelt 

Abtes Hilduin nicht um die Abtei St. Denis, 

eine Dependenz von ihr, um Salonne, ein Priorat 

zen, Dép. Meurthe. Frohlockend fragt Levillain: 

ı a-t-il si mal lu la source? Gewiß ‘si mal’, wie Mo- 

d Longnon, ausgezeichnete franzósische Gelehrte, 
wohl besser hätten wissen können. 


e Moyen Age 88, 1928, S. 1298. 
 rteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 2 


16 | Bruno Krusch 


nulfskloster erfolgt ist, in einer von dort stammenden Ex- 
zerpten-Hs. 

Bei meinem Gregor-Studium stieß ich nun auf eine Notiz, 
die mein höchstes Interesse erregte. 

Aus dem Nachlaß eines ‘Abbe de Lorraine’ verkauften 
die Erben kostbare Kodizes einem Buchbinder pour servir à 
l'usage de ses reliures. Diese Hss. hat der Wissenschaft gerettet 
der ausgezeichnete P. Sirmond, der sich damals gerade in 
Lothringen aufhielt. Er begab sich sofort — als er davon 
hórte — zu jenem Buchbinder, kaufte die Kodizes für 50 Taler 
und ließ sie nach Paris in das Jesuiten-Kolleg bringen. So 
berichtet Jacob, Traicté des plus belles bibliothéques S. 525. 

Im Album Paléographique, Paris 1887 n.14, ist an diese 
Nachricht die Vermutung geknüpft, daB sich unter diesen von 
Sirmond gekauften Hss. auch der alte Fredegar-Codex be- 
funden habe. 

Das wäre dann der Schlußstein für meine Ausführungen. 

Als lothringische Hs. würde der Kodex dieselbe Heimat 
haben, wie die Sirmondsche Chroniken-Hs., die Quelle Frede- 
gars, die aus Metz stammte. 

Die Nachricht kam noch zur rechten Stunde. Eben ist man 
fleiBig daran, alles niederzureiBen, was ich einst aufgebaut 
habe. Die alte Ansicht, daB nur ein Chronist anzunehmen sei, 
hat nach den langen Jahren vor kurzem F. Lot wieder auf- 
gewärmt. Er ist zu der ganz oberflächlichen Reisetheorie zurück- 
gekehrt, die vor meinem Eintritt in die merowingische Ge- 
schichtsforschung die Herrschaft hatte. Der burgundische 
Chronist soll nach ihm in austrasische Dienste getreten und nun 
plötzlich ein schwärmerischer Anhänger des karolingischen 
Herrscherhauses und des Hausmeiers Grimoald geworden 
sein. Meine Entgegnung Fredegarius Scholasticus — Ou- 
darius'?* brachte das älteste handschriftliche Zeugnis für den 
rätselhaften Namen an das Tageslicht und zugleich den ältesten, 
bisher ganz unbekannten Namen für den Chronisten: Oudarius. 

Über meinen Aufsatz sind gleich zwei französische Kritiker 
hergefallen, Levillain®®, der meine Kritik seiner Corbier Ur- 


% Nachrichten der Ges. d. Wissensch., Göttingen 1926, S. 257. 
35 Bibliothèque de l'école des chartes, 39, 1928, S. 89ff. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 17 


kunden nicht verschmerzen konnte, und Marcel Baudot“. 
Beide hatten ihre Aufsätze vor dem Druck gegenseitig aus- 
getauscht, der eine zitiert den andern. Beide sind überzeugte An- 
hänger Lots, und alles, was ich geschrieben habe, ist nichts wert. 

Daß gewisse Stellen in der burgundischen Chronik austra- 
sische Zusätze sind, hatte freilich sogar Lot zugegeben. Le- 
villain (S. 94) bemüht sich, dieses für seine Einheitstheorie ge- 
fährliche Zugeständnis schleunigst aus der Welt zu schaffen. 
Es sind, behauptet er, keine 'interpolations certaines’, wie Lot 
schrieb, sondern Zeichen der Arbeitsmethode, und vermutlich 
hat er seine eigene Arbeitsmethode im Auge, die allerdings 
recht eigenartig ist. An Selbstbewußtsein fehlt es ihm so wenig 
wie seinem Kompagnon. Die älteste Eintragung des Namens 
Fredegarius, die ich auffand, steht in einer C-Hs. Gregors, die 
bis zur Erkrankung Karl Martells bei Paris reicht. Einen Frede- 
garius sacerdos fand ich nun im ältesten Obituarium der Abtei 
Saint Germain-des-Prés, aus der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts. 
Der Name ist, wie Förstemanns Namen-Wörterbuch ausweist, 
nicht häufig, war aber gerade in der Pariser Gegend gebräuchlich. 

Zu streichen ist von meinen Belegen das Zeugnis des Reiche- 
nauer Verbrüderungsbuches, wo unter dem Abt Hilduin von 
St. Denis eine Liste von Mönchen einer Cella S. Dionysii mit 
einem Fredegarius eingetragen ist. Der Herausgeber Piper hat die 
Liste auf St. Denis bezogen, und sehr gelehrte Franzosen haben 
ihm das nachgeschrieben. A. Molinier hat sogar diese Liste 
mit dem Namen Fredegarius unter der Überschrift: ‘Abbaye de 
Saint Denis’ in seiner Ausgabe der Obituaires de la province de 
Sens (Recueil des historiens de la France 1902, I, 2, S. 1021 
aus Piper nachgedruckt mit allen Zutaten. Dieser Band wurde 
unter der Leitung von Auguste Longnon herausgegeben. 

Piper hatte geirrt und mit ihm Molinier und Longnon, 
überhaupt alle, die sich auf ihn verlassen haben. Es handelt 
sich trotz des Abtes Hilduin nicht um die Abtei St. Denis, 
sondern um eine Dependenz von ihr, um Salonne, ein Priorat 
in Lothringen, Dép. Meurthe. Frohlockend fragt Levillain: 
M. Krusch a-t-il si mal lu la source? Gewiß si mal’, wie Mo- 
linier und Longnon, ausgezeichnete franzósische Gelehrte, 
die es wohl besser hátten wissen kónnen. 


* Le Moyen Age 38, 1928, S. 129ff. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 2 


18 Bruno Krusch 


Da der Irrtum durch die Ausgabe in den M. G. weite Ver- 
breitung gefunden hat, nicht zum wenigsten auch in Frank- 
reich, erscheint es zweckmäßig, näher auf ihn einzugehen. 

Salona war eine Gründung des Abtes Fulrad von St. Denis, 
die dieser 777 in seinem Testament“ der Abtei vermachte. 
In der Kirche ruhten, wie er schreibt, der H. Privatus und 
sanctus Ilarus confessor, der auch in dem Reichenauer Ver- 
brüderungsbuch erwähnt wird. Karl d. Gr. hat Fulrad 777 
seine Besitzungen in Salona bestätigt“. In einer späteren 
Fälschung“ war die kleine klösterliche Anlage, die von der 
Abtei St. Denis dependierte, ebenfalls Cella genannt, wie in 
dem Reichenauer Verbrüderungsbuch. Diese Ausführungen gebe 
ich um so lieber, als meine Kritiker nur eben den Namen der 
lothringischen Cella zu kennen scheinen. Sie wird übrigens fast 
niemals so wie hier einfach nach dem H. Dionysius genannt“. 

Der Wegfall des lothringischen Fredegarius ist übrigens 
schnell ersetzt. In derselben Publikation Moliniers, in der er 
die lothringische Liste von Salona irrig als solche von St. Denis 
abdruckte, und so schlecht las wie ich, steht unter den Pariser 
Mönchen von St. Germain-des-Prés außer dem von mir schon 
erwähnten Fredegarius Sacerdos auch noch I, 1, 1902, S. 251, 
saec. X, ein geistlicher Namensvetter aus dem Pariser Stift 
Fredegarii monachi et levite S. Germani'. 

Setzen wir nun an die Stelle des Reichenauer Verbrüderungs- 
buches einfach das Polyptychum Irminonis abbatis, des Abtes 
von St. Germain-des-Prés, so finden wir sogar noch zwei Bauern 
des Namens Fredegarius bei derselben Abtei: Fredegarius co- 
lonus et uxor eius colona nomine Adelgundis?! und Frede- 
garius et uxor eius colona nomine Adelindis. Diese Zeugnisse 
— denke ich — werden genügen. 

Meine Ausführungen waren nur ein bescheidener Versuch, 
den Gedankengang zu erkláren, der den Erfinder auf den 
Namen Fredegarius gebracht hat. Die Auffindung der ältesten 


3 Vgl. die Ausgabe Tangls, NA. 32, 209. 

233 MG. Dipl. Karol. I, S. 163. 

39 Ebenda S. 321, 1. 

% Vgl. H. Lepage, Dictionnaire topographique du Dép. de la Meurthe, Paris 
1862, S. 123. | 

*31 Ed. Guérard, S. 41. 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 19 


handschriftlichen Aufzeichnung vor der Fredegar-Fortsetzung 
mußte wohl zu einem solchen Versuche anregen. Es war zu- 
gleich der erste Erklárungs-Versuch, der überhaupt gemacht 
ist. Viel leichter ist es natürlich, alles abzustreiten, ohne selbst 
eine positive Ansicht zu äußern. 

Die beiden Bauern von St. Germain neben den Geistlichen 
von St. Germain beweisen, daß der Name Fredegarius sogar in 
die tieferen Volksschichten von Paris gedrungen war. 

Marcel Baudot weiß aber alles viel besser und findet hier die 
Gelegenheit, auch seine germanistischen Kenntnisse leuchten 
zu lassen. Fredegarius, entgegnet er, ist ein deutscher Name, 
für den es zahlreiche Beispiele gibt, und, fährt er fort, der 
Herausgeber Freher trägt précisément einen Namen dérivé de 
Fredegarius. Précisément! Mit der ihm eigenen Keckheit wirft 
er da eine Behauptung hin, ohne eine Ahnung von der Sache 
zu haben. Frehers Familie nennt sich ursprünglich Froér, und 
der Name hat mit Fredegarius gar nichts zu tun. 

Noch ein glänzendes Beispiel seiner Leistungsfähigkeit gibt 
Marcel Baudot durch die Auslegung des Fredegar-Kapitels IV, 
61, S. 145, wo er sämtliche Kritiker von Pertz*? an auf einem 
groben Mißverständnis ertappt zu haben glaubt. Und doch 
ist der Text ganz klar, er läßt gar keinen Zweifel zu! Dagobert 
hatte seine Residenz nach Neustrien verlegt (Fredegar IV, 
60) und begann dort einen hóchst árgerlichen Lebenswandel zu 
führen, wollte von Pippins guten Ratschlägen nichts mehr 
wissen. Als Pippin die Unzufriedenheit der Leudes sah, begab 
er sich zu ihm, also nach Neustrien. Wegen seiner Gerechtig- 
keitsliebe wurde er von allen geliebt und benahm sich auch hier 
wieder hóchst vorsichtig in jeder Beziehung. Seine Erlebnisse 
schildert der Satz: Zelus Austrasiorum adversus eodem 
vehementer surgebat, ut etiam ipsum conarint cum Dago- 
bertum facere odiosum, ut pocius interficeretur, doch seine 
Gerechtigkeitsliebe rettete ihm das Leben. Das bezieht sich 
natürlich alles auf Pippin, und bisher hat noch kein verstän- 
diger Mensch daran gezweifelt, daB von Pippin die Rede ist. 
Marcel Baudot ist anderer Meinung. Er findet hier das grobe 
Mißverständnis seiner Vorgänger. 'Eodem', schreibt er, be- 
zeichnet den König und ipsum' Pippin. Er sieht nicht, daß 

* G. H. Pertz, Gesch. der merovingischen Hausmeier, 1819, S. 70. 

9* 


i 
! 
| 


20 PpBruno Krusch 


‘Dagobertum’ erst eine Zeile tiefer erscheint, er weiß nicht, 
was 'eodem' heißt, er sieht nicht die Steigerung: 'etiam ip- 
sum’, die auf eodem' geht, Pippin sollte getötet werden, gegen 
den sich das Ha8 der Neustrasier gerichtet hatte, und nicht 
der Austrasier, seiner Landsleute. Sein Sohn Grimoald ist ja 
später vor Chlodovus II., den König von Neustrien, geführt 
und hingerichtet worden. Marcel Baudot hat den Satz nicht 
übersetzen kónnen. Und dieser ausgezeichnete Lateiner wollte 
Pertz meistern, wagte sich an mir zu reiben. 

Übersehen hatte er, daß vorher IV, 60 ausdrücklieh 're- 
vertens in. Neptreco' steht, wo Dagobert das liederliche Leben 
mit den Weibern begann, meine handschriftliche Verbesserung 
aber hat. Marcel Baudot in leichtfertigster Weise beiseite ge- 
schoben, die. Korrektur von Austrasiorum' in 'Neustrasiorum', 
welche die: Konjektur Pertzens und anderer deutscher For- 
scher glänzend bestätigt. 

Ich fand Neustrasiorum' im Register zum p 
gehenden Kapitel IV, 60, wohin es durch eine Umstellung ge- 
kommen ist, und wies in meinem Aufsatz S. 262 nach, daß der 
Registerschreiber.noch den richtigen Text vor sich gehabt 
hatte und nicht den Schreibfehler Austrasiorum der ältesten Hs. 

Hier gerát nun Marcel Baudot in einige Verlegenheit. Er 
muß die Wahrheit dieser urkundlichen Bestätigung der bis- 
herigen Auslegungen anerkennen, aber er behauptet, um- 
gekehrt, der Registerschreiber habe fälschlich Neustrasio- 
rum geschrieben! Er dreht also die Sache einfach um, und dreht 
Sogar den ganzen historischen Sachverhalt um. Er vermutet, 
Dagobert habe sich entschlossen, Austrasien zu verlassen auf die 
schlechten Pläne der Neustrier hin. Umdrehen läßt sich eben alles. 

Das Meisterstück des ausgezeichneten Forschers, mit dem 
er sich in die Merowinger-Geschichte eingeführt hat, ist die 
Entdeckung der Persönlichkeit, die wir heute Fredegarius 
zu nennen pflegen. Jahrhundertelang hatten sich die gelehr- 
testen Männer die Köpfe zerbrochen, und nun hat der Neuling 
sofort den Autor entdeckt! Es war der Graf Bertharius. 

Précisément ein Graf! Damit hat sich Marcel Baudot 
selbst übertroffen. Und seine Schlauheit reicht noch weiter! 
Noch ein Bertharius wird vom Fredegar erwähnt, eine etwas 
anrüchige Persönlichkeit, jedenfalls kein Graf. Homo Scar- 


Die handschriftlichen Grundlagen der Historia Francorum Gregors von Tours 21 


poninsis' nennt ihn Fredegar IV, 52, S. 46, 25. Weshalb? 
Auch das weiß Marcel Baudot! Fredegarius, also der Graf 
Bertharius, nennt ihn so, damit er nicht später mit ihm ver- 
wechselt würde. Durch eine regretable confusion. In der 
Tat war es hóchste Zeit, daB ein Baudot der bósen Verwechs- 
lung des homo Scarponensis mit dem Grafen vorbeugte. 

Im Vergleich zu solchen Leistungen konnte diese Kritik 
meine Arbeiten natürlich als d'un intérêt fort cécondaire 
(S. 89) bezeichnen. 

Auch nach Levillain (S. 95) w war der Verf. eine hervorragende 
Persönlichkeit, ein Laie, aber was für ein Laie: qui avait fré- 
quenté ses cours. Also ein studierter, ein akademisch gebildeter 
fränkischer Regierungsbeamter. Seine tiefsinnige Forschung 
bricht Levillain leider vorschnell ab. Seine Besprechung, 
schreibt er, sei ja schon zu lang geworden. Er hat auch recht. 
Das Gedruckte genügt vollkommen. Der arme Fredegar! Hat 
er das alles wirklich verdient? Als einziges Ergebnis enthält 
der Aufsatz die Nachricht, daß es von Fauchets Antiquitez 
(1599) noch eine ältere Ausgabe von 1571 gibt, von der zwei 
Exemplare in der Nationalbibliothek vorhanden sind. Das 
war bisher allen Forschern unbekannt, selbst Monod. 

Wie Pippins Sohn, der Hausmeier Grimoald, hingerichtet 
wurde, erzählt uns nur der neustrische L. h. Fr.c. 43. Durch 
den Fehlschlag wurde die Stellung der mächtigen austra- 
sischen Hausmeierfamilie natürlich eine ganz andere. War sie 
vorher bei den Austrasiern beliebt gewesen, wurde sie jetzt 
verhaßt und man darf sich nicht wundern, wenn sich auch 
Spuren dieses Hasses bei Fredegar finden. 

Wir haben das ausdrückliche Zeugnis der V. Geretrudis 
c.6, daß auch Grimoalds Tochter die Abtissin Vulfetrudis von 
Nivelles unter diesem Hasse zu leiden hatte: ex odio paterno““. 

Aus der schlichten Schilderung dieses Heiligenlebens ist zu 
ersehen, welchen schweren Verfolgungen auch die weiblichen 
Angehörigen Grimoalds nach der Unterdrückung der Revo- 
lution ausgesetzt waren“. 


ss SS. rer. Merov. II, 460, 11. | 

% Die Ergebnisse der beiden französischen Kritiker lehnt auch W. Levison 
in seiner Besprechung, Jahresbericht der deutschen Geschichte, 1928, S. 174, als 
unbewiesen und unwahrscheinlich ab. 


22 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters. 


Von 


Franz Blatt. 


Wer dem Schicksal der lateinischen Sprache im Mittelalter 
nachgehen will, kann seine Aufmerksamkeit dem äußeren oder 
dem inneren Sprachleben zukehren. Die Frage nach der lokalen 
und sozialen Verbreitung des Mittellateinischen, nach den 
Trägern der Sprache, kurzum nach ihrem äußeren Leben, ist 
in letzter Zeit mehrfach unter prinzipiellen Gesichtspunkten er- 
örtert worden!. Im folgenden sollen einige Richtlinien für die 
. Ergründung ihres inneren Lebens gegeben werden. Es handelt 
sich vor allem darum, die mannigfachen Wandlungen, denen 
das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums unterlag, die 
Eigentümlichkeiten, wodurch sich das Mittellatein vom klas- 
sischen und spätantiken Latein abhebt, zu beschreiben, zu lo- 
kalisieren, zu erklären und, wenn irgendwie möglich, die Einheit 
in der Vielheit zu finden. Nachdem die Kenntnis des spätantiken 
Lateins im letzten Menschenalter so nachhaltig gefördert worden 
ist, dürften die Voraussetzungen für eine solche schärfere Ab- 
grenzung des typisch Mittelalterlichen einigermaßen vorhanden 
sein. 


1 Z. B. L. Traube, Vorlesungen und Abhandlungen II (1911) p. 44. Paul Leh- 
mann, Vom Leben des Lateinischen im Mittelalter (Bayer. Blätter f. das Gymnasial- 
schulwesen LXV (1929) p. 65ff. Max Manitius, Geschichte der römischen Literatur 
des Mittelalters I p. 7ff. Ferdinand Lot, A quelle &poque a-t-on cessó de parler 
Latin? (Archivum Latinitatis Medii Aevi 6 [1931] 97ff.). Strecker, Einführung in 
das Mittellatein 2 (1929) p. 13. C. H. Haskins, The Renaissance of the twelfth 
Century (Cambridge Harvard University Press 1927) p. 127 ff. F. Ermini, Athe- 
naeum (Studi periodici di letteratura e storia) Pavia 4 (1926). — Ältere Literatur 
gut zusammengestellt bei H. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre ? (1912) II 
325ff. (Die Urkundensprache) Als Ergänzung unentbehrlich A. Giry, Manuel de 
Diplomatique ? (1925) p. 933ff.: De la langue des documents diplomatiques. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 23 


Das typisch Mittelalterliche läßt sich im wesentlichen auf 
drei Elemente zurückführen: neu ist einmal der sich verschie- 
dentlich auswirkende Einfluß der Nätionalsprachen; aber nicht 
nur die neuen Landessprachen, sondern auch die neuen Verhält- 
nisse, vor allem die Umbildung der Gesellschaft, kommen im 
Mittellateinischen zum Ausdruck; schließlich müssen wir mit 
der Ausbildung einer machtvollen wissenschaftlichen Sonder- 
sprache rechnen, deren Einwirkung sich über das rein wissen- 
schaftliche Schrifttum hinaus geltend macht. 


I. 


Was nun den ersten Faktor betrifft, so gewähren am ehesten 
die einzelnen Länder selbst die Möglichkeit, die jeweils spezifisch 
nationalen Züge zu gewahren; demgemäß wird hier das Latein 
besonders der nordischen Länder berücksichtigt werden. Die Auf- 
gabe ist eine doppelte: genaue Bestimmung der regionalen Spezi- 
fika und des Gemein-Mittellateinischen einerseits, andererseits 
Herausarbeitung derjenigen gemeinsamen Gebiete, auf denen sich 
die verschiedenen lokalen Eigentümlichkeiten vorwiegend äußern. 

Am handgreiflichsten ist der Einfluß der Nationalsprachen 
in den Fällen, in denen das Lateinische direkte Entlehnungen 
aus diesen aufweist. Gelegentliche Entlehnungen aus dem Ger- 
manischen und Keltischen kommen bereits im Altertum vor, 
scheinen aber im Gegensatz zu den Anleihen aus dem Griechi- 
schen zerstreut und ohne ersichtliche Einwirkung auf die Struk- 
tur der Sprache geblieben zu sein*. Das Mittellateinische da- 
gegen, wie wir es aus Urkunden, Gesetzen und aus der schónen 
Literatur kennen, ist von neuen Lehnwörtern völlig durchsetzt. 
In mittellateinischen Texten nordgermanischer Herkunft findet 
sich z. B. das Wort scotacio (scoto, rescoto), welches von An- 
dreas Sunesen in seiner lateinischen Paraphrase des alten Land- 
schaftsgesetzes für Schonen? erklärt wird: terre modicum emp- 


2 Ich verweise auf die in methodischer Hinsicht wichtige Arbeit Josef Brüchs: 
Der Einfluß der germanischen Sprachen auf das Vulgärlatein (Sammlung Roma- 
nischer Elementar- und Handbücher herausg. v. W. Meyer-Lübke, Heidelberg 1913). 

* Johs. Brendum- Nielsen, Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene 
I p. 516, 22 (cap. 38 quid sit scotacio). Das dem lateinischen scoto, scotacio zu- 
grunde liegende Wort ist spezifisch nordisch, indem das mittelniederdeutsche 
schóten, schöte nordische Lehnwörter sind; vgl. Falk und Torp, Norwegisch-Dä- 
nisches etymolog. Wörterbuch. 


toris pallio ... apponit venditor ... hec... sollemnitas ex 
vulgari nostro producto vocabulo competenter satis potest sco- 
tacio nominari (Lex Scaniae 4,13); aber daneben finden sich 
sämtliche Formen von dem roh übernommenen sceting bis 
scotatio*. Schwerlich dürfte man außerhalb skandinavischer 
Quellen die selbständigen Bauern als bondones* antreffen 
(= rustici; Substrat das nordische Bonde'). Oft ist aber noch 
eine genauere Abgrenzung möglich: das latinisierte forta® als 
Bezeichnung des zu einer Siedlung gehörenden gemeinsamen 
(Weide)areals dürfte außerhalb des ostnordischen oder vom 
Ostnordischen beeinflußten Sprachgebietes kaum vorkommen. 
Und so hat jedes Land der lateinischen Sprache des Mittelalters 
seine Merkmale aufgedrückt; in Texten deutscher Provenienz 
treffen wir beispielsweise scario (Scherge)“, knapo (Knapp)®, 
auf franzósischem Territorium muf das auch in Nordeuropa vor- 
kommende prisonium® in das Mittellateinische eingedrungen 
sein. Im Chronicon Salernitanum läßt sich erabamus (eravamo )!? 


* 0. Nordberg, Fornsvenskan i våra latinska originaldiplom före 1300, Diss. 
Uppsala 1926. 

Siehe Scriptores Minores Historiae Danicae ed. M. Cl. Gertz I 166 u. öfters. 

* Z. B. in dänischen Urkunden: Repertorium Diplomaticum Regni Danici 
Medisvalis v. Kr. Erslev — im folgenden als Rep. Dan. zitiert — Nr. 98 (Diploma- 
tarium Vibergense ed. O. Heise Nr. 3 [a.1219]) diffinivimus, ut quicquid iam edi- 
ficio basilice vel usu aratri monachi occupaverant, sic de cetero sibi habeant, pars 
vero reliqua tam canonicorum quam monachorum communis sit forta. Rep. Dan. 99 
(a. 1221) pars eius reliqua com[mun]is [fjorta sit perpetuo. Vgl. Apenrader Stadt- 
recht (a. 1335) 38 unser weyde edder forta. 

? Monachi Sangallensis Gesta Karoli 1, 18 (MG. SS. II 738) dixit ... ad ho- 
stiarium vel scarionem suum, cuius dignitatis aut ministerii viri apud antiquos 
Romanos ediliciorum nomine censebantur. 

* Continuatio Vindobonensis Kalendarii Zwetlensis (MG. SS. IX 714, 15). 

* Rep. Dan. 387 Privilegia civitatis Ripensis (a. 1269) 60 advocatus et consules 
liberam habeant potestatem ipsum in prisonio ... detinendi. 

10 Chron. Salern. 117 (MG. SS. III 631, 42) rex omnium rerum propter nos 
in hunc per uterum virginis venit mundum, ut qui erabamus sub nodo peccati ab- 
solvere. Ähnlich in einem anderen Text italienischer Provenienz: Acta Andr. et 
Matth. (Beih. z. Zeitschr. f. d. neut. Wissenschaft XII) p. 134, 20 qui corde simpli- 
ces erabamus, das dadurch gesichert wird. Ein anonymer Rezensent versucht meine 
Ausgabe dieses Textes durch folgendes Gedankenexperiment herabzusetzen: Suppo- 
sons, par exemple, que cette version des actes de S. André soit l'oeuvre d'un Italo- 
grec peu familier avec le latin: les fantaisies extravagantes de son dictionnaire et 
de sa syntaxe perdent à peu prés toute valeur comme témoins de la latinité usuelle. 
Ce sont des faits linguistiques du möme ordre que les fautes d'ignorance et d'inatten- 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 25 


als Imperfektum zu sum, gradiebatur in der Bedeutung pla- 
cebat!! (gradisce) nachweisen. England hat das wichtige Wort 
baco!? beigesteuert, während zabellus und zibellinus (zebellinus 
u. à.)!? letzten Endes auf slawischen Einfluß zurückgehen. Sogar 
in Ungarn, das sich im Mittelalter einer recht reinen Latinität 
erfreut!* und bis in die neuesten Zeiten ein Hort der lateinischen 
Sprache geblieben ist, kommt das nationale Element gelegent- 
lich zum Vorschein: die Hofleute heißen ud(v)ornici, ein Richter 
birous (aus biró)!5. Endlich seien noch die vielen mittelalter- 
lichen Entlehnungen aus dem Griechischen erwähnt, die dem 
antiken und spätantiken Latein fremd sind: dulia, emologo, 
elenchus, elenchice, epiikia, latria, homonimus, soma, taflum, 


tion dont un professeur expurgerait les copies de ses mauvais élèves (Analecta 
Bollandiana 49 [1931] p. 132ff.); völlig wertlos wäre es doch wohl nicht, eine solche 
schlechte Schülerarbeit jener Zeit zu besitzen. Es handelt sich eben darum fest- 
zustellen, inwiefern die „Extravaganzen‘‘ okkasioneller oder usueller Natur sind. 

H Chron. Salern. (MG. SS. III p. 506, 26) ut talia Amalfitanus populus com- 
perit, valde gavisus est, atque ut id fieret omnimodis gradiebatur. 

13 Vita Meinwerci episcopi 44 (MG. SS. XI 121, 15) ei .... episcopus omnibus 
annis de episcopali substantia 20 maldros frumenti et 60 modios brasii et 3 bacones 
... dari constituit. Galbertus Brugensis, Passio Caroli Comitis 76 (MG. SS. XII 
601, 40) Gervasius Castellanus milites suos armatos intus posuit qui tumultuantes 
et ascendere volentes deinceps prohiberent; et obtinuit vinum traditorum optimum, 
etiam coctum vinum quod consulis erat, bacones, caseorum pisas 22, legumina etc. 

Chronicon episcoporum Merseburgensium 37 (MG. SS. X 208, 40) pelli- 
parium quidam ... accersiri fecit; quanti schubam (i. vestem) de mardir aut zabello 
exhiberet qualiterve sive pro quanta pecunia comparari posset, sciscitabatur. Vita 
Meinwerci episcopi 123 (MG. SS. XI 131, 25) unum martherinum pelliceum pro 
6 talentis, unam zebelinam tunicam pro aliis 6 talentis ... acceperunt. 

14 Es hängt dieses mit der dem Lateinischen ganz fremden Struktur der ein- 
heimischen Sprache zusammen; bekanntlich wirkt die Ähnlichkeit des eigenen 
Idiomes mit dem Lateinischen nicht fördernd auf die Reinheit der Latinitát; vgl. 
Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 338: „Bei deutschen Schreibern, die 
zumeist nicht einmal romanisch verstanden, fiel dieser zersetzende Einfluf weg; 
das allein muBte ausreichen, um die Urkundensprache korrekter zu gestalten, um 
den geistlichen Urkundenschreibern die Gewóhnung an die grammatisch richtigen 
Formen des Lateins, die sie in biblischen und theologischen Schriften oder in ihren 
MeBbüchern fanden, zu ermöglichen.‘ 

Monumenta Hungariae Historica, Diplomataria 6, 28 p. 61 (a. 1151) post 
aliquot ... dies udornici ... eam ab ecclesia distrahere laborabant (i. aulici a 
voce Hungarica udvar; auf jeden Fall liegt eine ungarische Form der lateinischen 
zugrunde). Brutus, Hist. XII 314, 12 iam nostri Albam advenerant et de totius 
belli gerendi ratione consultabant Albae magistratu praesente quem Ungari biroum 
vocant. 


26 Frans Blatt 


tafus usw.!®. Auch hybride Bildungen aus lateinischen und ein- 
heimischen Bestandteilen treten allerorten auf: burgiloquium 
findet sich neben civiloquium als Wiedergabe des mittelnieder- 
deutschen bürsprake, campimarchia für Veldmarke!”. 

Die den Nationalsprachen entlehnten Gebilde wandern in- 
nerhalb des Mittellateins von Land zu Land: griseus (grau), 
juppa (Rock) s u. à. lassen sich auch in skandinavischen Ur- 
kunden belegen, obwohl sie außerhalb dieses Gebietes in die 
lateinische Sprache aufgenommen sein müssen. Das wohl auf 
germanischem Boden vom Mittellateinischen rezipierte stuba!? 
und medo” ist auch in nicht-germanischen Ländern anzutreffen?!, 
in der Magna Charta Englands haben die Normannen auch 
sprachlich ihre Spuren hinterlassen, denn es heißt c. 39: nullus 
liber homo capiatur vel imprisonetur aut dissaisiatur aut ut- 
lagetur aut exuletur. Califus und zucara® sind nicht etwa auf 
die pyrenäische Halbinsel begrenzt, die Form guerra nicht 
auf die Romania. Daraus folgt einmal, daß das Vorkommen 
solcher nationalen Wörter in mittellateinischen Texten nicht 
ohne weiteres einen RückschluB auf den Abfassungsort oder 
auf die Herkunft des Autors erlaubt. Welche Lehnwórter auf 
gewisse Landschaften beschränkt, welche Gemeingut sind, 
darüber ließe sich gewiß noch manche dankbare Untersuchung 
anstellen. Insbesondere würde die Erforschung derjenigen Be- 
griffsphären, an welche die Lehnwörter vorzugsweise anknüpfen, 
von kulturgeschichtlicher Bedeutung sein. Es würde sich zeigen, 


% Vgl. u. a. das Thomas-Lexikon von Ludwig Schütz, Paderborn 1895. 

1? Vgl. Schiller-Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch I s. v. bürsprake. 

15 Erslev, Testamenter fra Danmarks Middelalder (im folgenden Erslev, Test.) 
(a. 1201) p. b sect. 4 grisei monachi p. 1 sect. 3. 

1% Herbordi, Vita Ottonis 2, 15 (MG. SS. XII 783, 15) in stupis calefactis et 
in aqua calida ... baptismi confecit sacramenta. Annales Stadenses (a. 1112) 
Olricum sedere in stupa et Ethiopum eum pectere illo pectine; vgl. Brüch, J., Der 
Einfluß der germanischen Sprachen auf das Vulgärlatein p. 5. 

* Vita Norberti Archiepiscopi Magdeburgensis 20 (MG. SS. XII 699, 45) 
singuli denarietam vini vel medonis biberent. 

n Monumenta Hungariae Historica, Diplomataria 6, 8 p. 35 (a. 1086) cale- 
faciunt stubam. ib. 4 p. 27 (a. 1067) per annum isti simul dant unum bovem, centum 
panes, tres cubulos medonis. 

22 Thomae Tusci, Gesta Imperatorum et Pontificum (MG. SS. XXII 507, 4) 
Saladinus ... caliphum occidit ac pro eo regnavit. Diplomatarium Suecanum 2660 
(a. 1328) quatuor libre zucare. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 27 


daB in der Verwaltung im weitesten Sinne des Wortes das Ein- 
heimische sich am záhesten hält; die bekanntesten Lehnwörter 
fallen gerade auf dieses Gebiet (bannus, feudum, hundaria, 
hereth [Dänisch]*; vasallus, marcgravius, marchio, gravio 
etc.); besonders aufdringlich ist der nationale Einschlag in der 
Rechtssprache (scariones, fasto, gerewen, næffningi [Skan- 
din.])** und der Bezeichnung verschiedener Steuerabgaben: inna, 
studh, lething, scot, qu&rs&t usw. aus dänischen Quellen“. 
Ferner lassen sich nationale Produkte als ein charak- 
teristisches Gebiet ausscheiden: die einheimischen Pflanzen und 
Tiere sind in ihrem nationalen Gewand anzutreffen; so finden 
sich humuli (Hopfen?®), daraus humlipotus?” in dänischen 
Quellen, broccus (Dachs, nach ir. brocc) kommt in irischen 
Heiligenleben vor“; in nördlichen und östlichen Gegenden 
spielen die verschiedenen Pelztiere, martur (mardrinus, marda- 
linus, mardelinus), hermelinus, zabellus und die aus ihnen ge- 
wonnenen Pelze (martelinae, zebellinae pelles) eine große 


* Avia Ripensis ed. O. Nielsen, Hauniae 1869 Nr. 43 p. 26, 17 (a. 1282 — die 
berühmte Handfeste des Kónigs Erik V. —) victualia ... plaustrare non debent 
ultra limites sui hæræth. 

% Vgl. für diese Kategorie das Verzeichnis juristische Ausdrücke in den von 
Pirson herausgegebenen merowingischen und karolingischen Formularen (Sammlung 
vulgärlateinischer Texte ed. Heraeus u. Morf, Heft 5) p. 54 (1913): frodannus (ver- 
urteilt), mundeburdum (Schutz), sonia, sunnia (Entschuldigung) usw. Rep. Dan. 
1491 (a. 1327) quatuor veredicos et duos neffningos habere decetero debeant. Auch 
der Name des Verbrechens háufig in nationaler Form, Rep. Dan. 1519 (a. 1328) 
pro excessibus suis omnibus, videlicet furto, homicidio, volneribus, friithkeep, 
baken, strandworth, garthmwite et causis aliis iuris regii. Namentlich in den 
nordgermanischen Ländern läßt sich das Vorwiegen des nationalen Einschlages in 
der Rechtssprache beobachten (Lehnwórter, Lehnübersetzungen); dem entspricht 
die ablehnende Haltung gerade dieser Länder gegenüber dem Einfluß fremder Rechts- 
normen (Kanonisches Recht), wie dies aus den Kämpfen zwischen König und Kirche 
im 13. Jahrhundert hervorgeht. Siehe Ácta processus litium ed. Krarup-Norvin und 
Norvin in der Zeitschrift Scandia 5 (1932) 251fl. 

* Rep. Dan. 1519 (a. 1328) innae stuth lethingh. Avia Ripensis p. 28, 10 scot 
querszt. 

= Im alten Flensburger Stadtrecht (1284) 63: hospes nec humulos vendere 
minori modio... nec linum... praesumet, sowie die entsprechenden Stellen ver- 
wandter Stadtrechte. 

** Rep. Dan. 1534 (a. 1328) quatuor lagenas humlipotus. 

35 Vitae Sanctorum Hyberniae ed. C. Plummer I 219 animalia... ad sanctum 
Kyaranum venerunt id est vulpis et broccus et lupus et cerva. 


28 | Franz Blatt 


Rolle. Die Bekleidung des mittelalterlichen Menschen vom 
Kopf bis zum FuB setzt sich aus nicht antiken Elementen zu- 
sammen: almucium®®, birretus®!, tabardum??, surcotium?*, roba*4, 
hzmzth?®, hosi?®, sotulares®. Daneben aber pilleus, tunica, 
calceamentum, crepidae usw. — Die üblichen Kleiderstoffe 
heißen burellus®, vadmale*? (Skand.); das letzte Wort tritt in 
den verschiedensten Formen an der Ostseeküste auff. Medo*! 
ist als deutsches Erzeugnis — man denke an das in dánischen 
Urkunden auftretende potus teuthonicus“ —, trafnisia* als Ex- 
portartikel Norddeutschlands auch in sprachlichem Sinne be- 
kannt; dieser Gruppe gehört das obenerwähnte baco an; po- 
tagium findet sich in den Satzungen schwedischer Studenten 
zu Paris“. 


= Erslev, Test. p. 6 sect. 3 (a. 1201 im Testament Absalons) cappa forrata de 
pellibus marturum. ib. p. 158, 5—6 de panno rubeo gallicano cum sufforatura de 
pellibus hermelinis. 

æ Avia Ripensis p. 89, 25 deposito almucio inclinet capud ad maius altare. 

31 Dipl. Hafn. IV p. 382, 8 (31. 7. 1520). 

* Dipl. Suec. 1605 (a. 1309) ad hec omnia solvenda deputo vestimenta mea 
infrascripta, videlicet unum tabardum blavium (blau) forratum (gefüttert) pellibus 
mardelinis. 

*3 Dipl. Suec. 155 (a. 1215) vestes meas meliores quas habeo: sorcocium tunicam 
et mantellum. ib. 3532 (a. 1340). Vgl. Hjalmar Falk, Altwestnordische Kleider- 
kunde in „Skrifter utg. av Vid.-Selsk. i Kristiania 1918 Nr. 3 (hist.-fil. Kl.)“. 

% Dipl. Suec. 3532 (a. 1340) Michaeli scolari meo robam meam integram relinquo. 

% Erslev, Test. p. 26 sect. 5 unum hæmæth melius. Daneben das in die Antike 
zurückreichende gallische oder germanische Lehnwort camisia. 

*? Fundatio monasteri Werthinensis App. (MG. SS. XV 168, 10). 

7 Erslev, Test. p.209 sect. 7 10 par sotularium. Gertz, Scriptores minores 
Historiae Danicae I 267,25 (im sogenannten Compendium Saxonis, vgl. unten 
Anm. 107) forman sotularium... fecit = Saxo, 5, 3, 12 crepidas creat. Vgl. Falk. 

38 Grober wollener Stoff, vgl. Dipl. Suec. 2829 (a. 1331) villico meo... triginta 
ulnas burelli lego. ; 

39 Dipl. Suec. 1077 (a. 1292) centum decem marcas wadmalie recepi. 

4 Heinrici Chronicon Lyvoniae 1, 11 (MG. SS. XXIII 242, 20) quo precio sal 
aut watmal in Gothlandia comparetur inquirunt. 

4 Rep. Dan. 387 Privilegia Civitatis Ripensis (a. 1269) 21 si quis cum falsa 
mensura... medonis... deprehensus fuerit. 

* Codex Esromensis ed. O. Nielsen, Hauniae 1880 Nr. 93 (a. 1337) p. 102. 

9 Necrologium Hafniense 8/7 saec. XIV (gedruckt im Werke: Københavns 
Diplomatarium v. O. Nielsen) lagenam trafnisie (Trawe-bier) cum refectione. 

Dipl. Suec. 1045 (a. 1291) qui una cum hospicio lignis potagio lectisterniis et 
utensilibus domus ultra duodecim denariorum subvencionem septimanatim receperat, 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 29 


Münz- und Maßbezeichnungen bilden wieder eine 
Gruppe für sich: francus, marka usw.; auf nordischem Gebiet 
außer marc(h)a noch ortuga, ora; lesta mit der Variante lasta 
bezeichnet im Norden, acra in England, rasera in Frankreich 
ein Raummaß*. Auf dänischen Boden beschränkt ist ‘ol’ im 
Kopenhagener Stadtrecht von 1254“: § 3 qui retibus utuntur 
ad capiendum allec, decimare debent episcopo ol unum pro 
piscatione hyemali (einen Wall Heringe). Nobulus* ist eine 
Latinisierung der englischen Münzbezeichnung noble, die wie- 
derum auf dem lateinischen nobilis fußt; vergleichbar wäre se- 
peliarius“, vom irischen seipel, welches auf capella zurückgeht; 
als Rückentlehnungen ließen sich noch anführen braza aus 
braz*? (lateinisch bractea), costuma aus costume“ (lateinisch 
consuetudo). 


Mit den alten lateinischen e wußte ı man 
nicht viel anzufangen; caeruleus wird daher durch blaveus, 
blavius ersetzt, bruneus und griseus werden neugebildet, ebenso 
wie das aus dem Dänischen übertragene blaccatus (blakket 
gelbbraun)®!. Die blonden Haare der Germanen heißen nun 
nicht mehr flavi, sondern blondi capilli. Erwähnenswert sind 
die Fälle, da das Lateinische nur mittels einer Umschreibung 
ein prázises Wort der Nationalsprache wiederzugeben ver- 


Rep. Dan. 2037 dabit undecim lestas ordei boni. Erslev, Test. p. 107, 6 di- 
midiam lestam annone (p. 83, 1 lastam). — Zu acra, siehe Plummer, Archiv. lat. 
medii aevi 2 (1925) p. 16. Zu ortuga', s. Hammarström, Glossarium till Finlands och 
Sveriges Medeltidsurkunder s. v. Zu ‘rasera’ Annales Elnonenses Maiores (a. 1196. 
MG. SS. V 16): rasera frumenti venundatur 50 solidis. 

“ Gedruckt bei O. Nielsen, Kebenhavns Diplomatarium. 

€ s. Hammarström a. O. 

4 s, Plummer a. O. p. 26. 

* Dipl. Suec. 1583 m (a. 1308) Katherine... unam brazam auream sc. lego. 

s Sveriges Traktater med främmande makter utg. af O. S. Rydberg (Stockholm 
1877 i.) 148. | 

st Dipl. Suec. 2829 (a. 1331) ancille mee Cristine unam tunicam blaviam lego. 
Erslev Test. p. 120 sect. 3 und passim. — bruneus, bruneticus ebenda p. 178 sect. 2 
unum par vestium brunei coloris. — blaccatus ebenda p. 5 sect. 6. — Zu griseus 
s. oben. 

#2 Acerbi Morenae Continuatio (MG. SS. XVIII 640, 35) Conradus frater 
imperatoris... erat spissus corpore, mediocris stature, capillis blondis, virtuosus, 
multum modestus, non multum loquens. 


30 Franz Blatt 


mochte: svagerus®® entspricht dem lateinischen frater uxoris 
oder frater mariti je nach den Verhältnissen; das in einer dä- 
nischen Urkunde (Rep. Dan. 3333 a. 1381) vorkommende: 
‘Notum facio quod domino Fikkoni Moltike ... curiam Lokkes- 
holm ... cum molendino et aliis adiacentibus ... cum jaa et 
bona voluntate mea ... scoto’ erinnert unwillkürlich an die 
Schwierigkeiten, die das germanische ‘Ja’ bei lateinischen Stil- 
übungen bereitet. Die Frequenz der Lehnwörter ist abhängig 
von der literarischen Höhenlage der Texte: je volkstümlicher 
der Text, desto häufiger und hemmungsloser der Gebrauch von 
Lehnwörtern. Innerhalb der Urkundensprache fallen nament- 
lich die Privaturkunden durch starken Einfluß der National- 
sprachen auf; es gilt hier natürlich nicht, Singularitäten zu 
sammeln und auszustellen, sondern typische Erscheinungen zu 
erfassen und ihre Ursachen darzulegen. Der als Künstler be- 
deutendste, obwohl als historische Quelle natürlich nicht einwand- 
freie Autor der mittellateinischen skandinavischen Literatur, man 
darf wohl sagen: einer der hervorragendsten mittellateinischen 
Schriftsteller überhaupt, Saxo Grammaticus, drückt mit dem 
lateinisch klingenden census aestivus®* korrekt diejenige Ab- 
gabe aus, welche — weil sie jáhrlich am 24. Juni zu errichten 
war — im Dänischen mithsumzrsgjald genannt wird, ein Wort, 
das in den Urkunden selten übersetzt wird. Ein Mittelding 
zwischen der hochliterarischen Lehnübersetzung census aestivus 
und dem vulgären ‘de mitsumergelt meo’°® ist der Typus 'cen- 
sus qui vulgariter (vulgo, lingua vernacula, lingua nostra) di- 
citur mithsumzrgyald'56, 

Mit den Lehnübersetzungen betreten wir ein zweites großes 
Gebiet, auf dem der nationale Boden durch das Lateinische 
durchschimmert. Der Ausdruck lux egreditur’ (das Licht geht 


5* Erslev Test. p. 194 sect. 3 dilecto swagero meo . . . unum cochlear argenteum. 
Rep. Dan. 5808 (Dipl. Hafn. 1, 111 p. 148, 25 a. 1419) me et heredes meos suagero 
meo dilecto ... teneri et esse veraciter obligatum. 

5 Saxonis Gesta Danorum 11, 12, 8 p. 322, 16 Reder-Olrik. 

55 Codex Esromensis Nr. 84 p. 91 (ca. 1140). In die Konstruktion ohne weiteres 
eingehend auch noch im Kopenhagener Stadtrecht (a. 1296) Dipl. Hafn. 133 p. 44,22. 

(Kopenhagener Stadtrecht a. 1254) Dipl. Hafn. I 16 p. 18, 34 solvere ... 
censum qui vulgariter dicitur mithsumęœrgyald. 

9 Miracula S. Verenae 16 (1005—1032) (MG. SS. IV 459) cumque divinae 
laudis tempus advenerit, officio candelarum rite peracto, accensisque omnibus, ad 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 31 


aus) wáre für eine romanische Zunge undenkbar, und man be- 
greift den Rat eines deutsch-lateinischen Dichters gerade dieser 
Zeit: Teutonicos mores caveas. Ähnlich lesen wir bei Thietmar 
von einer Stadt, die 'presidiis et imposicionibus (Anlagen) be- 
festigt wird's. Namentlich in den deutsch-lateinischen Urkunden 
finden sich zahlreiche solche Lehnübersetzungen9?. Doch ist die 
Erscheinung an und für sich keineswegs auf Deutschland be- 
schränkt; ganz analog ist es, wenn wir in einem irischen Heiligen- 
leben den folgenden unlateinischen Satz antreffen: cum enim 
ipse senex sapiens et benedictus ac summus pontifex esset, 
dignatus est discere sub genu alterius propter humilitatem et 
amorem sapientie®, oder wenn oculus unter Einfluß des walli- 
sischen llygat, welches sowohl Auge als Quelle bedeutet, in der 
Verbindung a dorso montis ... usque ad oculum Dingurach' 
vorkommt 1. Auch Lehnübersetzungen, welche zu Neubil- 
dungen führen, sind vertreten: milleartifex (Tausendkünstler) 
ist ein Beispiel für diesen Typus, dem das auf dánischem 
Boden entstandene 'puerpueri' (Bernebern) an die Seite zu 
stellen ist. Ganze Wortverbindungen werden oft erst ver- 


aecclesiae ianuam venimus, singuli singulas candelas in manibus portantes; sed 
tamen nulla ardens pre valitudine venti egrediebatur. 

58 Thietmar, Chron. lib. 1, 9 (MG. SS. III 739) quam urbem presidiis et imposi- 
cionibus munit. 

s Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 339 terram proservire, Land ver- 
dienen. Nicht alle dort angeführten Beispiele lassen sich als Germanismen und zur 
Lokalisation der Urkundenschreiber verwerten, z. B. ad nullum hominem nullum 
concambium faciant. Dazu bemerkt B. „deutsche Häufung der Negation“! Vgl. 
aber Handbuch der Altertumswissenschaft herausg. w. W. Otto II 2 p. 832 ff. 
(Lateinische Grammatik v. Leumann-Hofmann) p. 832ff.; es handelt sich um 
eine allerorts spontan auftretende Erscheinung. Der ganze Abschnitt ,Die Ur- 
kundensprache' (Vulgärlatein und Schriftlatein — lokale Verschiedenheiten des 
Vulgärlateins — Latinität der älteren deutschen Urkunden usw.) zeigt trotz vielen 
guten Beobachtungen, daß die Diplomatiker von den Sprachforschern noch einiges 
lernen können. 

* Plummer, Vitae Sanctorum Hiberniae I 232. Plummer vergleicht dazu das 
irische glün-dalta ‘kneefosterling, i. e. one fostered at another's knee’, 

“a Plummer, Archiv. lat. medii aevi 2 (1925) p. 22. 

en Vitae S. Heinrici Additamentum 3 (MG. SS. IV 819) cum ... arte nichil 
proficeret ille milleartifex. Die spätmittelalterliche lateinische Übersetzung 
(Ende des XV. Jahrh.) des jütländischen Landschaftsgesetzes, die überhaupt 
viel Derartiges bietet: Peder Kofod Ancher, En Dansk Lov-Historie I (1749) 
p. 180. 


32 Frans Blatt 


ständlich, wenn man sie als Lehnübersetzungen faßt; an das 
obige census aestivus läßt sich denarius aratralis (Plov- 
penning, Pflugsteuer)?, homines dominorum (Herremznd, no- 
biles)**, malleus securis (Oksehammer, ein aus Axt und Hammer 
bestehendes Werkzeug)*^, amicus anime (Beichtvater, nach 
ir. anmchara) reihen. Wie die Lehnwörter gehören auch 
die Lehnübersetzungen vorzugsweise bestimmten Kategorien 
an: Administration (centena, centenarius®, quinta pars 
gibt in Irland das einheimische coiced*? wieder), navigium 
entspricht in dánischen Rechtsquellen dem einheimischen 'ski- 
pæn’ und bezeichnet ein Gebiet, dessen Besitzer oder Be- 
wohner im Kriegsfall ein Schiff auszurüsten hatten usw.; 
Rechtssprache (duodecimum iuramentum*? 'Tylftered' in 
dänischen Quellen); Steuern (expensa canum so viel wie 
huntzstewr)'; nationale Produkte (panes siliginis" Roggen- 
brot); Münz- und MaBbestimmungen (ora terrarum, ager?*). 
Ortsnamen werden háufig auf diese Art behandelt: glacialis 
insula (Island), viridis terra (Grenland), ovium insulae (Fer- 
ger) 7s, portus mercatorum (Kebenhavn)", fundus aquilonaris 


© Avia Ripensis p. 6, 27 (a. 1252) dicto domino ... de nostris denariis ara- 
tralibus ... conferimus quinquaginta marchas. 

„ Kopenhagener Stadtrecht 1254 (Dipl. Hafn. 1, 16 p. 20, 21) fundum suum ... 
alienare principi aut militi vel homini dominorum. 

% Andr. Sun. Lex Scaniae cap. 66 (vgl. Anm. 3) fustis .. appellacio virgam et 
baculum, hastam, securis malleum, clavam et vaginatum gladium comprehendit. 

Vitae Sanctorum Hiberniae ed. Plummer II 147 quis in Hybernia erit amicus 
anime mee (syn. pater confessionis mee). 

7 Archiv. Lat. Medii Aevi 5 (1930) 167ff. Sur le sens du mot „Centena“. 

** Vitae Sanctorum Hiberniae I 8 de gente Ultorum ortus est quae est quinta 
pars Hiberniae. 

s Altestes Schleswiger Stadtrecht 4 duodecimo juramento convivarum (die 
lateinische Form, nur in einer Handschrift bewahrt vom Anfang des 14. Jahrhunderts, 
zeigt das Gesetz, wie es in der dünischen Stadt Horsens galt). 

70 Annales Matseenses (a. 1373 MG. SS. IX 836, 1) pro expensis canum que 
vulgariter nominabatur huntzstewr. 

71 Erslev, Test. p. 210 sect. 1. 

?3 jb. p. 80 sect. 2. Avia Ripensis p. 51, 36. 52, 6. 7. 

73 Historia Norwegiae; die Beispiele erwähnt von E. Skard in seiner Abhandlung 
Mälet i Historia Norwegiae 1930 Oslo p. 12/13 (vgl. diese Zeitschrift Bd. 27 
[1930] p. 844). 

74 Saxonis Gesta Danorum 14, 34, 6 ad vicum qui mercatorum portus nomi- 
natur deproperant. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 33 


(Norrbotten) usw.“, wenn nicht bereits vorhandene lateinische 
Eigennamen für den augenblicklichen Zweck umgedeutet wer- 
den. Die Einwohner Kurlands heißen bei Saxo Curetes?9, die 
Einwohner Norwegens Norici" usw. Obwohl es mit der Um- 
deutung bei Saxo eine besondere Bewandtnis haben mag”®, darf 
man den eben erwáhnten Beispielen vielleicht die spátere Ver- 
wendung des bekannten Eigennamens Velleius in umgedeutetem 
Sinn (= Bewohner der dänischen Stadt Vejle) oder Soranus 
(— Bewohner der Stadt Sore) an die Seite stellen, da dieselbe 
psychologische Disposition sämtlichen Fällen zugrunde liegt 
(„Nostrification‘‘). — Etwas ganz anderes ist dann wieder die 
willkürliche Latinisierung einheimischer Ortsnamen (Legum > 
locum dei, Tvis > Tutavallis usw.). 


Bisweilen ist der ganze Satzbau germanisch, so z. B., wenn 
im Chronicon Lethrense die Gründung der Stadt Roskilde fol- 
gendermaBen beschrieben wird: huic civitati nomen imposuit 
post se et fontem“ (dänisch: denne stad gav han navn efter 
sig og kilden), ebenda lesen wir: ut ... hanc plagam ... darent 
ad sedem regni“. Im irischen Latein finden wir apud wie ir. 
a' instrumental verwendet?! In Urkunden begegnet man Phra- 
sen des Typus: pono, habeo in pignore (pignere)?*, occupo in 
possessiones? (nehme in Besitz) sowie unlateinischen — und un- 
romanischen — Gebilden des Typus: prata in Lese, abbas de 
Esrom, prepositus in Sallingholm neben den mehr idiomatischen 
‘prata in Lese sita’, ‘canonicus Esromensis'. Ebenfalls aus 


*$ Finlands Medeltidsurkunder II (Nr. 1752). 

76 Gesta Danorum 8, 10, 6 p. 232, 30 Sembonum, Curetum compluriumque 
Orientis gentium cladem exercuit. 

n ib. 8, 4, 6 p. 218, 15 cogitare debere Sueones Noricos que quantum Germanos 
ac Sclavos Septentrionalis semper turba praestiterit. 

78 Vgl. unten Seite 39 Zeile 8ff. 

? Scriptores Minores Historiae Danicae ed. Gertz I 46, 14. 

9 ib. p. 44, 3. 

*! Vitae Sanct. Hiberniae ed. Plummer II p. 19 rex Fiachna regnum in Hybernia 
forte tenuit, apud quem reliquie multorum Hyberniae sanctorum elevate sunt et 
recondite honorifice. 

** Necrologium Hafniense 11/2 saec. XIV quam ipse habuit in pignere. 

* Rep. Dan. 97 (Dipl. Vib. 2 p. 2, 26 [1219]) medietas (pratorum) ... in 
possessione a monachis occupatorum. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.1. 3 


34 Frans Blatt 


dänischem Gebiet stammt 'vendideram pro centum marcas'“. 
Den letzten Beispielen gemeinsam ist die Präposition als Kern 
der Lehnübersetzung; ‘placitum tenere'985 (at holde ting, dem 
klassischen conventum agere einigermaßen entsprechend), mis- 
sam tenere’®, ‘mensam tenere'?? (Tafel halten, in einem Text 
deutscher Herkunft), ‘curiam tenere’® (Hof halten) sind vom 
humoristischen „sume te in octo“ nicht gerade wesentlich ver- 
schieden. Wenn es unumgängliche Regel wird, drei oder mehrere 
Glieder so miteinander zu verbinden, daß nur zwischen die zwei 
letzten Glieder eine Konjunktion gestellt wird, darf man in der 
regelmäßigen Durchführung dieser — im Gegensatz zur antiken 
entweder asyndetischen oder polysyndetischen — Verbindungs- 
weise wohl Einfluß der Nationalsprachen unterstellen, obgleich 
wir auch im antiken Latein den Typus ABCD finden. Dem 
Genius der lateinischen Sprache gänzlich widersprechend ist 
das Satzgefüge in folgender historischer Notiz: relaxatum 
fuit interdictum in Dacia, in concilio, habito in Nyburgh®®. 
Danach macht sich der nationale Einflu8 nicht nur in quanti- 
tativer Weise (Lehnwörter, einzelne Lehnübersetzungen), son- 
dern auch in tiefgehender qualitativer Beziehung (strukturell) 
geltend. 

Endlich blickt die nationale Unterschicht in den orthogra- 
phischen Eigentümlichkeiten der Texte durch. Ein mittelalter- 
licher Beobachter bemerkt: D et T confundunt sonos suos adin- 
vicem, ut pro D ponatur T et e converso, quod faciunt barbari 


% Erslev, Test. 3 p. 8 sect. 1. Gerade diese Phrase ist natürlich keineswegs auf 
Dänemark begrenzt. l 

8 v. Hammarström a. O. 

es Avia Ripensis p. 84, 7 deputavit ad missam perpetuam ... tenendam bona 
infrascripta. Dazu vgl. Rep. Dan. 12 68 (Hardsyssels Diplomatarium Nr. 2 [1319] 
pro sustentacione unius misse in remedium anime sue cotidie in easdem ecclesia in 
perpetuum tenenda, wo tenenda für tenende verschrieben sein muß. 

8” Ekkehardi IV Casus S. Galli 1 (MG. SS. II 84) misit ... ad Salamonem, ne 
sibi superveniret, sed uterque pro altero mensas teneret. 

. %8 Áltestes Schleswiger Stadtrecht 32 pellifices ... regi, cum tenuerit curiam 

in civitate, tenentur mille pelles. 

59 Necrologium Hafniense 4/4. 

s Über diese Scheidung sowie über die Bedingungen für den Eintritt des quali- 
tativen Einflusses, vgl. Josef Brüch, Der EinfluB der germanischen Sprachen auf 
das Vulgärlatein. | 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 35 


et maxime Theotonici pro deus' dicentes 'teus'?!; und so finden 
wir denn in allemannischen Diplomen: in bresente, bresbiter, 
baco, bumiferis, etefflcies für in presente, presbyter, pago, pomi- 
feris, edificiis. Deutschen Ursprung bekundet ferner die durch 
die deutsche Aussprache veranlaBte Schreibung visco statt fisco. 
Das lateinische auslautende s und t ist im Italienischen im Ge- 
gensatz zu anderen romanischen Sprachen früh geschwunden: 
in Texten italienischer Herkunft steht daher: ad causas audienda, 
ad fideiussores tollendo usw. Die Entwicklung rotundus œ ro- 
tondo, mundus > mondo spiegelt sich gleichfalls in italienischen 
Urkunden wider?. Wo y als i ausgesprochen wurde, findet 
sich dissipatus (= ðıcúzærog)®, martirium u. à. In mittel- 
lateinischen Texten, die in Irland oder von Iren geschrieben 
sind, stimmt horalogium für horologium mit der lautlichen Ent- 
wicklung, die das lateinische monachus zu irischem manach hat 
werden lassen; ebenso verrät die Schreibung ceallarius** irisches 
Substrat. In einer dänisch-lateinischen Urkunde lesen wir von 
einem gewissen Peter Magnussen, daB er seinen ganzen Hof und 
seine ganze Habe 'in parochia Ludrwp scita' ',cum duobus an- 
ceribus' hinterläßt®; dies ist ein Reflex der Tatsache, daB das 
lateinische c im skandinavischen Mittellatein durchweg als s 
ausgesprochen wurde, wie dies denn auch aus ‘Seddel’ (scedula), 
verglichen mit deu. 'Zettel hervorgeht; eine derartige Schreib- 
weise wäre m. E. undenkbar in einem italienischen Dokument: 
die Aussprache des c im nordischen Mittellatein ist eben auch 
von der französischen abhängig, ein kleines, aber untrügliches 
Zeugnis der damaligen kulturellen Beziehung zwischen dem 
Norden und Frankreich. 

So leicht es ist, nachdem man über den Abfassungsort einer 
Urkunde unterrichtet ist, Spuren der lautlichen Eigentümlich- 
keiten desjenigen Landes zu entdecken, dem der Verfasser oder 


i Siehe Thurot, Ch., Notices et extraits de divers manuscrits Latins pour servir 
à l'histoire des doctrines grammaticales au moyen äge p. 144 (Notices et Extraits des 
Manuscrits de la Bibliothéque Impériale tom. XXII 2). 

a Vgl. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 339. 

Vgl. diese Zeitschrift XXVII (1932) p. 245. 

Vitae Sanctorum Hiberniae II 245 Ceallarius (dispensator varia lectio) ... 
dixit sancto Ruadhano. Traube, Poetae aevi Carolini III 795. 

** Dueholms Diplomatarium ed. O. Nielsen, Hauniae 1872 79 p. 48. 


3* 


36 | Franz Blatt 


Abschreiber angehört, so sehr muß man sich davor hüten, auf 
Grundlage ungenügender orthographischer Kriterien die Heimat 
eines anderweitig nicht bestimmbaren Textes voreilig festlegen 
zu wollen. Wenn es gilt, orthographische Eigentümlichkeiten 
als Spezifika auszuwerten, kann man nicht vorsichtig genug 
sein. Ältere Zusammenstellungen solcher nationalen Kriterien 
sind irreführend; so werden z. B. die Formen coltis, incoltis, 
terrola, rivolus usw. als eine Eigentümlichkeit für italienische 
Urkunden angeführt®, obgleich derartiges nicht auf italie- 
nisches Sprachgebiet oder gar auf die italienische Urkunden- 
sprache? des IX., X., XI. Jahrhunderts begrenzt ist. Die Form 
incolomis findet sich wiederholt in mittellateinischen dánischen 
Texten??, und cortis für curtis kann man bei Adam von Bremen® 
lesen. Ferner wird nicht nur das Fehlen der Aspiration, sondern 
auch Konsonantenverdoppelung als charakteristisch für ita- 
lienische Urkunden angeführt, als ob legittimus, capittulum usw. 
nicht auch anderswo vorkämen!®, Wenn der Wechsel von i 
und e als etwas spezifisch Italienisches hingestellt wird und als 
Beispiele für diesen Wechsel ‘molestari, pignerari, calumniari' 
dienen sollen!, so liegt hier ein doppelter Irrtum vor; einmal 
handelt es sich nicht um eine phonetische Erscheinung, sondern 
um das allbekannte Schwanken der genera verbi, welches die 
ganze Latinität hindurch und namentlich im Spätlatein zutage 
tritt und im Mittellatein aller Länder anzutreffen ist!19?, Wenn 
man in einer bahnbrechenden Darstellung des schwedischen 


*€ Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre II 346. 

9 Ich kann mir nicht denken, daß es gerade günstig sein soll, die Sprache, be- 
sonders die Orthographica der Urkunden isoliert zu betrachten; sämtliche hier 
angeführten Erscheinungen kommen auch in italienischen Handschriften des IX. 
und X. Jahrhunderts vor; vgl. neuerdings Compositiones ad tingenda musiva ed. 
Hjalmar Hedfors, Uppsala 1932 (cod. saec. IX) p. 70ff. sowie die p. 3 A. 1 erwähnten 
Texte (saec. X. XI). 

os Dueholms Diplomatarium 15 p. 9. 79 p. 48. 

*? Bresslau, II 346. Adam Bremensis 2, 80 p. 138, 18 Schmeidler und passim. 
Auch in sogenannten Originalurkunden, siehe MG. DD. III, Indices. 

19 Dueholms Diplomatarium 20 p. 12. 57 p. 35. 

101 Bresslau II p. 346. 

102 Es ist nicht empfehlenswert, die angeführten Beispiele (molestari, pignerari 
calumniari) für den Vokalwechsel heranzuziehen, wenn man in derselben Anmerkung 
von der Verwendung des Activ für Passiv spricht. Vgl. Ch. Beeson A Primer of 
Medieval Latin, Introduction $ 64. Karl Strecker, Einführung in das Mittellatein ?* 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 37 


Mittellateins erfáhrt, daB in schwedischen Urkunden mit dem 
Wechsel zwischen e und i zu rechnen sei!®, ließe sich binzu- 
fügen, daB dieser Wechsel keineswegs auf die skandinavische 
Halbinsel beschränkt ist. Fehlender Überblick führt immer 
wieder dazu, daß dem gesamten Mittellatein geläufige Ortho- 
graphica für eine einzige Nation beansprucht werden, anstatt 
daB man dem Ursprung dieser supranationalen Erscheinungen 
nachginge, die entweder ihre Wurzeln im Spätlatein haben, also 
älter sind als man annimmt, oder von einem Land zum anderen 
entlehnt sind. So lassen sich die als charakteristisch mittel- 
lateinisch angesehenen Erscheinungen: Wegfall der Aspiration, 
q statt qu, y statt i, ch statt h (michi, nichil), ph statt f (pro- 
phanus), d statt t im Auslaut mitsamt den dazu gehórigen um- 
gekehrten Schreibungen bereits in spátantiken Inschriften nach- 
weisen; hingegen ist weder die Schreibung mpn — mn (co- 
lumpna, dampnum, sollempnis usw.) noch die Konsonanten- 
verdoppelung (legittimus, capittulum) inschriftlich zu belegen!9*, 


Berlin 1929 p. 24. Für dän. und deutsches Sprachgebiet verweise ich nur auf die 
Indices bei Gertz, Scriptores Minores Historiae Danicae, nnd auf die Indices Schmeid- 
lers zur Ausgabe Adams von Bremen. 

1*9 Hammarström a. O. p. 23: I Urkunder från Sverige kan man räkna med 
vàxling mellan e och i. 

1* mpn - findet sich meines Wissens weder in italienischen Handschriften 
des VII. noch des VIII. Jahrhunderts (negatives Resultat ergibt s. B. die älteste 
handschriftliche Überlieferung der Hieronymusbriefe, des lateinischen Josephus, 
sowie der merowingischen Urkunden — vgl. J. Vielliard, Le Latin des Diplómes 
Royaux et Chartes privées de l'époque mérovingienne 1927 Bibliothéque de l'école 
des hautes études no. 251). Erst in nachkarolingischer Zeit erscheint diese Schreib- 
weise öfters. Im Cod. Vat. 3833 (geschrieben zwischen 1099—1118) findet sich 
bereits dampnatus, und es findet sich gewiB schon früher, vgl. die Überlieferung zu 
Hieron. ep. 107, 9, 2 (cod. B saec. IX—X: sollempnes). Alles deutet darauf hin, 
daB die Schreibung im IX. Jahrhundert entstanden oder jedenfalls verallgemeinert 
worden ist. Die richtige Erklärung hat m. E. Otto Jespersen getroffen in einer Ab- 
handlung im Arkiv f. nord. Filologi 29, Ny Följd 25 (1913) p. 22; nachdem er den 
Tatbestand festgestellt hat — „vom 13. bis 16./17. Jahrhundert häufig in West- 
europa, sowohl in lateinischen, französischen, provenzalischen, katalanischen, eng- 
lischen Handschriften" — spricht er die Vermutung aus, daß verschiedene Faktoren 
die Schreibung veranlaßt haben können; einmal war man an sumpsi, sumptus, con- 
tempsi, contemptus gewohnt, daher sich contempno leicht einstellen mußte; 
außerdem trug die Schreibweise zur graphischen Deutlichkeit bei: mn ließ sich sonst 
leicht als inn, nm, nni usw. lesen. Die Erscheinung ist von phonetischer Seite aus 
öfter behandelt: G. Millardet, Linguistique et Dialectologie romanes (1923) p. 290ff. 
Pierre Fouché, Études de phonétique générale (1927) 108fl. 


38 Franz Blatt 


II. 


Das zweite Element, welches der lateinischen Sprache des 
Mittelalters ihr Gepráge gibt, besteht in den Neuerungen, welche 
von der Umbildung der Gesellschaft herrühren. Lange 
bevor Kaiser Gratian die Würde des Pontifex Maximus ablegte, 
wird pontifex vom christlichen Bischof gebraucht!95, Curia als 
Bezeichnung der päpstlichen Kurie, consistorium für das Kar- 
dinalkollegium, templum für den christlichen Kirchenbau — 
die Kirche als Geistesmacht muß natürlich ecclesia heißen — 
eine solche Umwertung ist in einer Zeit, da populus Romanus 
nicht das rómische Volk, sondern die rómische Kirche, die 
christliche Gemeinde, bedeutet, mutatis mutandis eine Fort- 
setzung der interpretatio Romana im weitesten Sinne, d. h. der- 
jenigen Mentalität, welche auf Grund teilweiser Ähnlichkeit 
zwischen fremden und bodenständigen Erscheinungen nicht nur 
göttlicher Art auf völlige Identität schließt!®. Die Kirche als 
Erbe des Imperium Romanum würde auch für das Studium 
der lateinischen Sprache ein fruchtbarer Gesichtspunkt sein. 
Hier gilt allen Ernstes das Wort: Emittis spiritum tuum et re- 
novabis faciem terrae! — Daneben erscheinen dann die sprach- 
lichen Wirkungen des Gedankenkomplexes der translatio im- 
perii überhaupt. 

Wer daher die Vorstellung hegt, daB die sogenannte Pagani- 
sierung des Kirchenlateins, oder wenn man will, ,,die Christia- 
nisierung des heidnischen Lateins‘‘ ausschließlich auf die Re- 
naissance beschränkt sei, wird diese Auffassung einer Revision 


19$ Cod. Theod. 9, 17, 2, 1 (a. 349) hoc in posterum observando, ut in provinciis 
locorum indices, in urbe Roma cum pontificibus tua celsitudo inspiciat, si per sarturas 
succurrendum sit alicui monumento, ut ita demum data licentia tempus etiam 
consummando operi statuatur. (Scholia Vaticana: libellis episcopo datis). Die 
Gleichsetzung geht bis auf Tertullian zurück, vgl. de pudicitia 1, 6 (ed. Labriolle 
Paris 1906) pontifex scilicet maximus, quod est episcopus episcoporum, edicit: Ego 
et moechiae et fornicationis delicta poenitentia functis dimitto. Die berühmte, viel- 
umstrittene Stelle wird nun im allgemeinen auf Callistus (217/8 bis 222/3) bezogen. — 
Daß Gratian die Würde des pontifex maximus ablegte, berichtet Zosimus 4, 36, 5 
ro ob nortigixmy xata TÒ 0Urndes zQocayayOrtov l'oatiavo r hr orolyv ane- 
0eidato ri altyaıy, aPtuıtov eivai ypıotıayın TO Oyzua vonicaz, Dem Hieronymus 
ist dieser Sprachgebrauch ganz geläufig, epist. 60, 10, 2 avunculum pontificem 
deserere non audebat. de vir. ill. 54 (a. 392) Fabianus, Romanae ecclesiae episcopus 
... et Alexander et Babylas, Hierosolymorum et Antiochenae ecclesiae pontifices. 

19 vgl. Tacitus Germania 43. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 39 


unterziehen müssen, da die bekannte Erscheinung ihre Wurzeln 
bereits im Mittelalter hat: Sabbadini führt in seiner Storia del 
Ciceronianismo an, daB Kardinal Bembo für 'excommunicare' 
das klassische aqua et igni interdicere', für morituro peccata 
remittere' das antikisierende deos superos manesque illi placare' 
setzt, und daB er den heiligen Geist 'divinae mentis aura', die 
Kirche ‘respublica’, die kirchlichen Würdenträger ‘magistratus’ 
nennt; in derselben Ebene liegt es aber, wenn Saxo in seinen 
Gesta Danorum das mittelalterliche 'introitum misse cantare' 
mit 'inchoamentum psallendi facere et primam concentus partem 
dare'??, horas legere’ mit ‘sacras preces decurrere’1% wieder- 
gibt, oder wenn bei ihm ‘papa’ dem ‘antistes’!®, ‘clericus’ dem 
‘scriba’? gewichen ist. 

Ganz analoge Erscheinungen bei Einhart hat Manitius be- 
handelt!!, Auch Widukind von Korvei antikisiert auf diese 
Art: pontifex maximus ist bei ihm der Erzbischof von Mainz, 
ecclesia und templum werden nebeneinander vom Kirchenbau 
gebraucht, satrapae und quaesturae finden sich bei ihm sowohl wie 
bei Saxo Grammaticus. Man wird scheiden müssen zwischen den 
durch kontinuierliche Entwicklung zustande gekommenen neuen 
Bedeutungen gewisser für das Mittellatein charakteristischer 
Wörter (comes, dux, miles, tribunus, beneficium usw.) und den 
künstlichen, archaisierenden Bestrebungen einzelner Autoren 
(quaestores und satrapae als Bezeichnung kóniglicher Beamten 


W Gesta Danorum 11, 7, 17 — Compendium Saxonis ed. Gertz, Script. min. I 
375,17. Das Compendium Saxonis soll das große Werk Saxos weiteren Kreisen 
zugänglich machen; daher muß es erstens kürzen, zweitens für das antikisierende 
Latein Saxos echt mittellateinische Ausdrücke wählen. 

108 Gesta Danorum 14, 28, 1 — Comp. Sax. 423, 21. 

19 Gesta Danorum 14,3, 5 — Comp. Sax. 409, 12. 

110 Gesta Danorum 14, 28, 1 — Comp. Sax. 423, 17. 

11 Neues Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde 7 (1882) 552 „Wie in der 
Vita Karoli, so werden auch in den Annalen antike Bezeichnungen für deutsche 
Verhältnisse gebraucht, oft in ganz sinnentstellender Weise, z. B. Ann. Einh. 763 
‘dimisso in hiberna exercitu’, als ob der deutsche Heerbann stehende Winterquartiere 
gehabt, wie sie die römischen Legionen unter Caesar und den Kaisern in den Pro- 
vinzen hatten ... Von den Sachsen heißt es zu 777 echt rómisch 'senatus ac po- 
pulus' ... überall treten *primores' und ‘proceres’ hervor, Laur. 819 und 821 ‘prae- 
toriani' 821 sogar ‘milites’ und ‘cives’ ... Vita c. 17 ‘pontifices ac patres’ usw. Vgl. 
Anm.144. Zu Widukind vgl. Manitius, Geschichte der rómischen Literatur des 
Mittelalters I 717, ferner die Ausgabe von K. A. Kehr. 


40 Frans Blatt 


bei unserem Saxo!!?*). Auch hier muß national Begrenztes und 
Gemeinsames auseinandergehalten werden: wáhrend advocatus, 
exactor, exactio, placitum usw. in speziell mittelalterlichen Be- 
deutungen großen Teilen des Abendlandes gemeinsam sind, ent- 
stammt z.B. veredici (= Wahrsagen, Santmanne)!P einem engen 
Bezirk, nämlich der mittelalterlichen Rechtssprache Dänemarks 
oder besser der Rechtssprache Jütlands. Eine Folge der Um- 
bildung der Gesellschaft ist ferner die Umdeutung der gesamten 
antiken Beamtenterminologie auf mittelalterliche Verhältnisse: 
senatus (Stadtrat), consul (Mitglied des Rates, vgl. consulo), 
proconsul (Bürgermeister), praetor urbanus (Stadvoghet) usw. 


III. 


Der dritte Hauptfaktor zur Fortbildung der lateinischen 
Sprache im Mittelalter ist die damalige Wissenschaft, die 
Scholastik. Wie man die Schmiegsamkeit des Mittellateinischen 
erreicht hat, erhellt aus einer Äußerung des französischen Philo- 
sophen dela Ramée. In der Einleitung zu den Scholae Gram- 
maticae behauptet Ramus, es habe an der Pariser Universität 
Lehrer gegeben, die — incredibile dictu — hartnäckig an dem 
Standpunkt festhielten, daß Ego amat ebenso gutes Latein sei 
wie Ego amo, und daß es notwendig gewesen sei, öffentlich gegen 
einen solchen Starrsinn einzuschreiten"*, Ramus hat insofern 
Recht, als man sich wirklich so ausgedrückt hat, wie er sagt; 
er verschweigt aber, warum man sich so ausgedrückt hat, und 
daB man mit Ego amat (das 'Ich' liebt) dasselbe hat sagen 
wollen, was man mit Hilfe des griechischen oder arabischen 
Artikels hätte zum Ausdruck bringen können!!®, Auch sonst 


13 Gesta Danorum 15, 4, 1 p. 524, 8 plebem a primoribus dissidentem adversum 
regios quaestores publicae consternationis impetum destrinxisse. 

113 [as alte Flensburger Stadtrecht (1284) 2: si negaverit, octo veridiei accedant 
legaliter et iuramento suo decernant veritatem. — Auf Jütland begrenzt ist auch 
provincia in der Bedeutung ,Syssel" (administrative Einheit zwischen terra und 
hereth). | 

14 Ramus, Scholae Grammaticae 1559 p. 23 incredibile prope dictu est, sed 
tamen verum et editis libris proditum in hac eruditissima Academia doctores exti- 
tisse, qui mordicus tuerentur ac defenderent ‘Ego amat’ tam Latinam orationem 
esse quam Ego amo’ ad eamque pertinaciam comprimendam consilio publico opus 
fuisse. 

ns Thom. Aqu. Summa theol. I quaestio 38 (ed. Romana) et sic ly per quan- 
doque non est appropriatum, sed proprium filii. Es gibt eine andere Theorie, nach 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 41 


wurde die lateinische Grammatik nach dem Vorbild der grie- 
chischen gedehnt, so daß z. B. esse endlich das Partizipium er- 
hielt, welches bereits Caesar nach der Analogie potest-potens 
verlangt hatte!!®. Im Spätlateinischen hatte man sich mit den 
Formen 'constitutus', ‘positus’, ‘existens’? behelfen müssen, die 
man zwar auch in mittellateinischen Texten flndet, die aber 
nicht spezifisch mittelalterlich sind. Auch sonst werden die 
fehlenden Formen der Verba defectiva nun einfach nachgeholt: 
während mal(l)ens zu malo noch antik ist, wird zu volo ein 
passives Perfektpartizipium gebildet 'volitum', um das Gewollte 
auszudrücken”. 

Die Neuerungen fallen sowohl auf das formelle als auf das 
semasiologische Gebiet. Abstrakte Substantiva werden mittels 
alter Suffixe neugebildet; das Neue besteht in der Menge und 
namentlich in der Art der Bildungen: -tas wird nicht nur, wie 
es sich gehört, an Substantiva und Adjektiva gehängt!!®, sondern 
auch an Verba (velleitas)!!?, Pronomina (talitas als Komplement 
des alten qualitas!?9; haecceitas, quidditas!*!), sowie an pro- 
nominale und andere Verbindungen (ipseitas, asseitas, perseitas 
— perseitas boni bei Duns Scotus — pervietas, deiformitas). 
Dieses Suffix ist bei weitem das fruchtbarste. Verbalabstrakta 
werden wie von alters her auf -tio gebildet (contumeliatio, 


der ‘ly’ dem alt-italienischen Artikel gleich kommt, aber dieser wird m. W. nicht 
mit y geschrieben. Wahrscheinlicher ist die Annahme, ly beruhe auf irrtümlicher 
Lesung des arabischen Artikels ül oder yl. 

1% Thom. Aqu. Summa theol. I quaestio 44 a. 1 necesse est dicere, omne ens 
quod quocumque modo est, a deo esse. 

117 jb. quaest. 19 volitum movet volentem sicut appetibile appetitum. 

118 alietas, actualitas, appetibilitas, bestialitas, causalitas, cognoscibilitas, 
communicabilitas, corporeitas, difformitas, entitas, exemplaritas, fontalitas, forma- 
litas, individualitas, indivisibilitas, infallibilitas, intellegibilitas, innascibilitas, 
irrascibilitas, irregularitas, materialitas, partialitas, personalitas, poenalitas, potenti- 
alitas, prioritas, realitas, servilitas, spiritualitas, studiositas, superioritas, unibilitas. 

H9 Thom. Aqu. Summa theol. I quaest 19, 6 ad 1 potest dici quod iudex iustus 
simpliciter vult homicidam suspendi, sed secundum quid vellet eum vivere, scilicet 
inquantum est homo. unde magis potest dici velleitas quam absoluta voluntas. 

12 Vgl. Seite 49 Zeile 17 *noluntas' zu ‘voluntas’. 

ıt Was die Form betrifft, so erklärt sich die Konsonantenverdoppelung bei 
haecceitas wohl aus dem Bestreben, der entstellenden Aussprache [haesitas, haet- 
sitas] vorzubeugen; die Konsonantenverdoppelung bei quidditas ist dann vielleicht 
als Analogie zu werten. Der Form haecceitas wären die verwandten Bildungen 
ipseitas, asseitas, perseitas an die Seite zu stellen. 


42 Frans Blatt 


ideatio, organizatio, reproductio, sensatio, sophisticatio, speci- 
ficatio, sublimatio. 

Bei der Bildung von Adjektiven erfreut sich besonders das 
Suffix -ivus großer Beliebtheit; in der Regel an den Stamm des 
Perfektpartizips gefügt, schafft es das aktive Komplement der 
sogenannten Verbaladjektiva der passiven Möglichkeit: con- 
summativus-consummabilis,  disputativus-disputabilis, divi- 
sivus-divisibilis, factivus-factibilis (selbst neu gebildet), forma- 
tivus-formabilis, gubernativus-gubernabilis usw. Häufig dienen 
diese Adjektiva zur Wiedergabe griechischer Adjektiva auf 
-g 122. Seltener, wenngleich bedeutsam, sind die Neubildungen 
auf -alis (-aris) von beliebigen Wörtern, sogar von Substantiven 
des Typus certitudo (certitudinalis, dazu certitudinaliter; habi- 
tudinalis!9) und auf -orius (aedificatorius, campsorius, comple- 
torius, contradictorius, demeritorius!'M, Bemerkenswert ist die 
bereits früher begonnene, durch das Griechische bedingte Sub- 
stantivierung der Praesens-Partizipia (accidens, agens, ante- 
cedens, continens, distans usw.) nebst den dazugehórigen Ab- 
leitungen (continentia, distantia usw.). Nur wenig neue Verba 
und Nomina agentia entstehen in dieser Hochsprache, was wohl 
kein Zufall ist: denn nicht von der kontemplativen scholasti- 
schen Sprache sind die mittellateinischen Neuerungen auf dem 
Gebiete des Handelns zu erwarten. 

Viele Neuerungen der oberen Sprachschicht sind den Prae- 
fixen zu verdanken (in, con, dis, prae, sub, super usw.): com- 
municabilis erhält als Komplement incommunicabilis, com- 
possibilis incompossibilis, generabilis ingenerabilis usw. Wo 
nicht schon beide Gegensätze vorhanden sind, werden sie neu- 
gebildet: auch die Sprache dieser Denker drängt nach Ab- 
rundung. Natürlich sind solche Bildungen keineswegs auf die 
Hochsprache beschränkt, noch auf Adjektiva; man findet 
immaterialitas, indeterminatio, injustiflcatio, inius?5 — das 


122 Siehe Seite 46 Zeile 10ff. 

* Thom. Aqu. Summa theol I quaestio 23,8 c praedestinationis effectus 
certitudinaliter impletur. t. II 40 p. 2 ad 3 lapis certitudinaliter tendit deorsum. Das 
Wort findet sich in allen Sprachschichten: Dipl. Suec. 3108. 

1*4 In der Bedeutung: verbrecherisch, zur Umdeutung vgl. Seite 44f. unten. 

1 Annales Corbeienses a. 1147 (MG. SS. III 17) si quid correctione condignum 
iniusque foret. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 43 


Praefix wirkt durchaus negierend, so daB wir gelegentlich in- 
numeri in der Bedeutung 'wenig'!?* antreffen. Wie durch Hinzu- 
fügung der Praefixe neue Begriffe entstehen, so auch durch 
Subtraktion: finitas, Begrenztheit entsteht neben infinitas!*", 
consignificantia, concomitantia, contrapassio, discontinuatio 
sind leicht zu vermehrende Beispiele anderer Praefixbildungen!?s. 

Manche der neuen Bildungen waren notwendig, um neue Be- 
griffe auszudrücken, andere hátte man wohl vermeiden kónnen. 
Dieser Gesichtspunkt wurde, wenngleich recht einseitig, bereits 
vor zweihundert Jahren von Walch in seiner Historia critica 
Latinae linguae, einem übrigens recht unkritischen Werk, vor- 
getragen. Das Mittelalter bedeutet ihm wie den meisten seiner 
Zeitgenossen die ferrea aetas!*??. gegen das scholastische Philo- 
sophenlatein polemisiert er mit folgenden Worten: latinitatem 
philosophicam, quae hodieque[!] a scholasticis praecipue ad 
nostram aetatem propagata in usu est, cum Tulliana conten- 
damus, ut ... eorum ... persuasio, qui philosophiam haud 
elegantiam latinam admittere putant, confutetur. sic pro homo 
‘Tationalis’ Cicero dicit de off. 1, 2, 4 homo qui particeps ra- 
tionis’, pro hypothesis, principium, praesuppositum’ 1, 9, 7 
'eas res ante constituimus', pro ‘irrationalis’ 1, 16, 5 'rationis 
expers’, pro 'effectiva potestas’ 1, 21, 15 'efflciendi facultas’, 
pro 'abstractum, abstractio', 1, 17, 12 'cogitatione magis quam 
re potest separari', pro 'genus et species’ 1, 27, 14 ‘generale et 
alterum huic subiectum', 'inde proveniunt malae consequen- 
tiae' 1 39, 9 'multum mali in exemplo est', pro 'caussa efflciens' 
11,5,8 'ex quo quid gignitur, pro 'disputat pro et contra' 
3, 28, 1 ‘in utramque partem disputat' usw. 

In semasiologischer Hinsicht führt die Hochsprache zu einer 
folgenschweren philosophischen Durchdringung des gesamten 
Wortschatzes; von den vielen Wörtern, die früher für philo- 


13 'Thietmari Chron. lib. 3, 2 (MG. SS. III 759, 23) ut post innumeros dies 
vitam hanc fragilem vita mutaret aeterna. 

19 Thom. Aqu. Summa de veritate catholicae fidei contra gentiles II 26 omnem 
finitatem effectuum transcendit. 

* Vgl. Schütz, Thomaslexicon: concanonicus, concapitularis usw. gehören 
einer anderen Schicht an. 

19 Er gehört zu denen, die über Leyser und dessen „De ficta medii aevi bar- 
barie“ herfallen: sentit non solum contra omnium opinionem, verum etiam contra 
veritatem, sagt er im ersten Kapitel De origine et fatis Latinae linguae. 


44 Franz Blatt 


sophische Zwecke nicht verwendet wurden, seien nur abstraho, 
approximatio (= concubitus), praemitto angeführt; hingegen 
findet sich efficio in der Bedeutung concludo anscheinend nicht 
mehr. Aber nicht nur die retrospektive Seite dieser Sonder- 
sprache, sondern auch die uns zugekehrte beansprucht Interesse: 
wie es allmählich kam, daß philosophische Termini einen dem 
ursprünglichen diametral entgegengesetzten Sinn erhielten 
(a priori, obiectivus usw.), wie man dafür die uns geläufigen 
Kategorien herausbrachte (obiektiv — subjektiv hieß: in ipsa 
rerum natura — in nostra contemplatione!*9), 


IV. 


Mit den drei erwähnten, nie versiegenden Quellen, aus denen 
der mittellateinischen Sprache neue Kraft zuflieBt, lassen sich 
jedoch nicht alle Neuerungen erfassen. Etliche der in der Hoch- 
sprache zutage tretenden Phänomene haben ihre Vorläufer be- 
reits im späten Altertum; die Weiterentwicklung der schon in 
der Spätantike vorkommenden Erscheinungen ist ein sämtlichen 
Schichten des Mittellateinischen gemeinsamer Zug. Wenn 
Thomas v. Aquin morositas in der Bedeutung 'Andauern' 
(mora)?! verwendet, oder wenn sonst im Mittellatein iterare 
unter Einfluß des Wortes iter die Bedeutung ‘reisen’ erhált!??, 
vectigal für vehiculum (vehor) vorkommt??3, oder wenn matri- 
monialis durch naheliegende Analogie die Bedeutung 'zum 
mütterlichen Erbe gehörig’ erhält!®, oder wenn eine Festung 
municipium (von munire abgeleitet) heißt!35, so ist dies prin- 
zipiell den Umdeutungen irritare = irritum facere9 (schon im 
Codex Theodosianus), delibero = libero"? (schon in antiken 


180 Scotus Erigena de div. nat. 493d; 528a. 

13 Summa theol. II 88,5 ob. 2 morositas est quaedam circumstantia. Vgl. 
E. Löfstedt, Arnobiana (Lunds Universitets Arsskrift. N. F. Aud. 1. Bd. 12. 
Nr. b) 58. 84. 

132 Thietmar, Chron. 8, 12 (MG. SS. III 868) post ... eundem secum iterantem. 

183 Historia Norwegiae, 84,8 ed. Storm, Monumenta Historica Norwegiae. 

14 Rep. Dan. 2588 (a. 1360) bona sua patrimonialia et matrimonialia (dem- 
entsprechend 'materna' Rep. Dan. 2641 (a. 1361); keineswegs singulür, vgl. 2837 
(a. 1367). 

185 A. Giry, Manuel de diplomatique p. 422. 

1* Rep. Dan. 465 (a. 1280) que geruntur in tempore, ne tempore elapso iyritentur. 

187 Rep. Dan. 1281 (a. 1320) bona archiepiscopi ... deliberet aut deliberata 
restituet. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 45 


Italaübersetzungen) an die Seite zu stellen. Bereits im aus- 
gehenden Altertum besitzt. diese Tendenz eine charakteristisch 
gelehrte Färbung; es ist daher zu erwarten, daß sie in einer ge- 
lehrten Zeit guten Nährboden findet. Derartige gelehrte oder 
besser halbgelehrte Umdeutungen sind nicht auf das Lateinische 
beschránkt!33, Auch die unter dem Namen 'Rekomposition' 
bekannte Erscheinung (indampnis statt indemnis!*?) ist dem 
Mittelalter nicht fremd. Die Verbindung der Negation mit Sub- 
stantiven oder substantivierten Adjektiven oder Partizipien 
z. B. non-ens (nicht-seiendes) hat sogar einst Cicero in 
seinen philosophischen Schriften gewagt“. 

Die für das Mittellatein so bedeutsamen Suffixe spielen 
bereits im Spätlatein eine vorherrschende Rolle. In Urkunden 
und historischen Texten dominieren zwar andere Suffixe als 
in den theologisch-philosophischen Traktaten; aber auch die 
Bildungen auf -issa, -fex, -arius, -orius sind dem Spátlateinischen 
geläufig. Oft ist es schwierig, den Inhalt der neugebildeten 
Wörter genau zu ermitteln; da hilft eben nur die philologische 
Methode, wie dies aus folgendem Beispiel nordischer Herkunft 
erhellen mag: die Ermordung des dänischen Königs Erik V. 
(1286) wird in einer späten Quelle!*! geschildert mit den Worten: 
intraverunt cum parva laternula septem viri armati quorum 
unus regis caput cum manu supposita grosso trusorio per- 
foravit. 'Trusorio' ist nicht ohne weiteres verständlich, so daß 
man es bald einem Abstraktum (Durchbohrung), bald einem 
Konkretum (Stoßwaffe) gleichgesetzt hat. Aus einem Testament 
(7. Mai 1394)1 geht hervor, daß es sich um ein Konkretum 
handeln muB (item domini Iohanni Iul presbitero balteum 
meum cotidianum argento reparatum cum trusorio). Daß 
andrerseits nicht von einem Schwert noch von einer Waffe im 
allgemeinen die Rede ist, zeigt ein Vergleich mit dem Kopen- 
hagener Stadtrecht aus dem Jahre 1294 (Dipl. Hafn. I 33 p. 52,5) 


128 yg]. das französische: Cette nouvelle a été à la fin heureusement controuvée 
(= dementiert, man dachte an ‘contre’), und andere Beispiele, die André Thérive 
in seinem Buch, Le francais langue morte p. 112 anführt. 

12 Rep. Dan. 2987 (a. 1372). 

M6 Tusc. 1, 7 ut verear, ne homini nihil sit non-malum aliud certius, nihil bonum 
aliud potius. 

M1 Ericus Olai, Scriptores rerum Suecicarum II 67. 

M3 Erslev, Test. p. 162 sect. 3. 


46 Franz Blatt 


quicumque alium vulneraverit cum gladio, trusorio seu alterius 
generis armis, dem in plattdeutscher Übersetzung das Wort 
'Steckmest? (Stechmesser) gleich kommt. In älteren Quellen 
heiBt die zur Ermordung des Kónigs verwendete Waffe 'pugio', 
so auch in der Vorlage unserer Stelle, den Annales 826—14151€: 
ingressi sunt septem viri ... quorum unus regis caput .... 
gravi pugione ... perfodit. Die spätere Quelle gibt hier, wie 
auch sonst, in unverfülschtem Mittellatein die etwas antiki- 
sierende Vorlage wieder!“. 

Wenn wir in der Hochsprache die Bildungen appetitivus, 
consiliativus, intellectivus, operativus, speculativus antreffen, die 
den aristotelischen Begriffen opexrexog, B'ovAevrexoc, (0«x)vonrexos, 
RORKTIXROS, Fewontıxos entsprechen, und wenn man die in allen 
mittelalterlichen Schichten verbreitete Häufigkeit der -ivus- 
Ableitungen bedenkt (relativus und ähnliche für die wissen- 
schaftliche Terminologie unentbehrliche Bildungen), wird man 
nicht umhin können, die Schmiegsamkeit des Mittellatei- 
nischen großenteils auf die Einwirkung griechischer Vor- 
lagen zurückzuführen. Die Bedeutung der spätantiken und früh- 
mittelalterlichen Übersetzungsliteratur für die lateinische 


148 Annales Danici Medii Aevi ed. Ellen Jørgensen p. 141. 

14 Man vergleiche die Annalen und den Bericht des schwedischen Geschichts- 
schreibers. Ann.: 1286 interfectus est Ericus, rex Dacie, dictus Klipping, filius 
Christofori regis et pater alterius Christofori, patris Waldemari dicti ... Sore 
sepulti. In nocte vero sancte Cecilie ruri agens venationis gratia in diocesi Wibergensi 
villa Findetorp cum graviter soporatus dormiret in horreo quodam, dormientibus 
etiam omnibus, qui cum illo erant, ingressi sunt clam septem viri, previa laternula, 
de industria armati, quorum unus regis caput manui innixum gravi pugione per- 
fodit. ceteri autem invadentes regium cadaver iam exanime intulerunt illi septua- 
ginta vulnera in ultionem, ut ferebatur, nefande libidinis, qua corruperat et ex- 
pugnaverat multarum etiam nobilium matronarum pudorem, inter quas fuerat 
etiam stuprata uxor domini Stigoti, marscalci regni. Ericus Olai: Ericus rex 
Daciae filius Christofori, in nocte S. Cecilie cum causa venationis in Iutia demoratus 
apud quoddam oppidum quievisset, cum nimium soporatus in horreo quodam aperto 
ostio dormivisset, cunctis qui secum erant dormientibus, intraverunt cum parva 
laternula septem viri armati quorum unus regis caput cum manu supposita grosso 
trusorio perforavit. Deinde alii subsecuti septuaginta vulnera et inferentes et 
eius viscera extrahentes crudeliter occiderunt. Kurz nachher steht 'rotatus', dem 
in der Vorlage 'rota percussus' entspricht. Konsequent antikisierend ist die Vorlage 
nicht, überhaupt läßt sich für die ganze mittelalterliche Geschichtsschreibung eine 
strenge Linie zwischen den „Klassizisten‘‘ und den „Modernen“ nicht ziehen. Alle 
móglichen Zwischenstufen sind vertreten. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 47 


Schriftsprache kann daher schwerlich hoch genug eingeschátzt 
werden. Manche der als genuin mittelalterlich angesehenen 
Erscheinungen sind nämlich älteren Datums, als man ge- 
meinhin denkt. Die Art, wortwörtlich zu übersetzen, hat be- 
reits im späten Altertum den andauernden Klagen über die 
egestas linguae Latinae ein Ende bereitet; dies gilt beispiels- 
weise auf dem Gebiete der zusammengesetzten Wörter: schon 
im VI. Jahrhundert versucht man in den nunmehr der For- 
schung in vorbildlicher Weise erschlossenen spätlateinischen 
Übersetzungen der Konzilakten!“ die Zusammensetzungen mit 
-xocexmoc durch ein Wort wiederzugeben; wir finden nicht nur 
das zahme ‘divinitus’ für S eon οõ,j,mug 1, sondern auch das be- 
deutend kühnere 'deodecibiliter!* ^ (deo decibilis); hominicola 
für ævõownzolgroæ!; mortuicola für vexooAeroce 1; lactatio!59 
(neben lactis nutrimenti) für yeA«xrorgoq/íc, deiflcat!9! (neben 
deifice loquitur, secundum deum ratiocinatur) für JeoAoyez usw. 
zeigen in ihrer Verwendungsweise — denn die Vokabeln als 
solche kommen zum Teil bereits früher vor — das Bestreben 
der Übersetzer, eine neue Terminologie zu schaffen. Die Über- 
setzungen der Konzilakten zeigen ferner, wie man um das Neue 
hat ringen müssen; denn teils besitzen wir oft mehrere Über- 
setzungen desselben Textes!9*, teils eine vom Presbyter Rusticus 
durchkorrigierte ältere Übersetzung gewisser Akten!#; so 
finden wir denn nebeneinander breviloquium—brevis sermonis, 
multiloquium—longi sermonis, hominicolae—hominum cultores, 
deicolae—dei cultores usw. Viele der besonders mittelalterlich 


145 Acta Conciliorum Oecumenicorum ed. Eduardus Schwartz. 

148 tom. 1 vol. 5, 296, 16. 

M? tom. 1 vol. 5, 263, 6. 

48 tom. 1 vol. 3, 113, 17. 

19 tom. 1 vol. 3, 78, 20. 

1 tom. 1 vol. 2, 43, 10 cf. vol. 3, 25, 31 sowie die Übersetzung des Marius 
Mercator. 

151 tom. 1 vol. 2, 43, 17 cf. ib. 60, 18. vol. 5, 49, 11. 

“3 So haben wir 2. B. einen Brief Cyrills an Nestorius in der Version des sky- 
thischen Mónches Dionysius Exiguus, in der Versio Turonensis (von Rusticus durch- 
korrigiert) und in der Versio Veronensis; Schwartz gibt unter jedem Stück genau 
an, ob es andere Übersetzungen gibt, und in welchen Handschriftensammlungen 
(Collectio Veronensis, Turonensis usw.) diese sich finden. 

188 tom. 1 vol. 3: collectionis Casinensis sive Synodici a Rustico Diacono com- 
positi pars prior (1929). 


48 Franz Blatt 


anmutenden verba sesquipedalia: impassibilitas, humanatio, 
appropriatio (in theologischem Sinn), incorruptibilitas, incon- 
vertibilis begegnen bereits in jenen alten Übersetzungen. 
Während man zu Ciceros Zeiten die zusammengesetzten Wörter 
schwerfällig umschreiben mußte, werden nun rücksichtslose 
Neubildungen gewagt (Heooeß&orarov heißt bei Cicero: quod 
est ad cultum deorum aptissimum!9**; dem entspricht nun dei- 
colentissimus). — In drei Parallelübersetzungen desselben grie- 
chischen Textes finden wir 'praeter ex deo verbum’ — prae- 
ter illud ex deo verbum’ — ‘praeter dei verbum"!55, Daneben 
hat man den Artikel durch relative Kurzsátze wiederzugeben 
versucht, 'qui ex sancta virgine', 'omnia facta sunt quae in 
caelo et quae in terra'!55, oder durch ganze Relativsátze. Die 
Form mit dem demonstrativen Pronomen setzte sich durch; es 
hängt dies wohl damit zusammen, daß das demonstrative Pro- 
nomen bereits in àlterem Latein nach Art des griechischen 
Artikels verwendet wurde, nämlich in Fällen, wo ‘hoc, id, illud 
einen folgenden Begriff oder Gedanken vorbereitet’!%. Die 
Komposita und die Geschichte des Artikels sind nur ein will- 
kürlich herausgegriffenes Kapitel, geeignet, um den Einfluß der 
Übersetzungsliteratur auf die lateinische Sprache zu veran- 
schaulichen!®®. Lehrreich für die Sprachentwicklung sind Ver- 
gleiche zwischen alten und neuen Übersetzungen desselben 
Textes, sowie zwischen lateinischem Original und lateinischer 
Rückübersetzung auf Grundlage des Griechischen!®. Was für 
das Altertum ein Vergleich zwischen der von Cicero und der 
von Chalcidius vorgenommenen Übersetzung des Timaios wäre, 
wird in einiger Zeit die von Thery vorgenommene Untersuchung 
der verschiedenen Dionysios Areopagites-Übersetzungen für das 
Mittellateinische sein!“. 


154 Vgl. Pierre de Labriolle. Histoire de la littérature Latine chrétienne. Paris 1920. 

155 Act. Conc. Oec. t. 1 vol. 3, 34, 6. 

155 jb. t. 1 vol. 3, 6, 8. 12, 34. 

1? Kühner-Stegmann, Latein. Grammatik II p. 625 Anf. Dazu p. 633 A. 22. 

158 Ich beabsichtige in größerem Zusammenhang die Bedeutung der spát- 
lateinischen Übersetzungslitteratur für die Entwicklung der lateinischen Schrift- 
sprache darzulegen. 

15 Cyprians de eleemosynis, Anfang, Acta Conciliorum Oecumenicorum tom. 1 
vol. 3, 70, 28ff. 

1600 Vgl. Arch. Lat. Medii Aevi 7 (1931) 185ff. 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 49 


Während dominicida, deicida noch dem Spätlatein ange- 
hören, sind z. B. episcopicida und uxoricida mittellateinisch ; 
neben die Gleichung pugna— pugnare läßt sich liga—ligare, 
emenda—emendare, commenda—commendare, collecta—col- 
lectare, resta—restare usw. stellen, über univira ist quadrivira 
geformt usw., alles Beispiele, die uns daran gemahnen, daB 
die lateinische Schriftsprache als eine Einheit zu betrachten 
ist, und daB der scharfe Einschnitt zwischen Altertum und Mit- 
telalter wie auf anderem so auch auf sprachlichem Gebiet für 
die Forschung ein Hindernis bildet. 

Bezeichnend für die mittelalterliche Latinität ist die durch 
das einheimische Substrat veranlaßte Unsicherheit in der Ana- 
logiebildung, die gelegentlich zu Entgleisungen führt; so wird 
z. B. neben den soeben angeführten Komposita auf -cida auch 
ein pannicida gebildet!®; wichtig sind die allen Kompositions- 
regeln spottenden Bildungen wie etwa promocundus bei Paulus 
Diaconus!9*, pistrebant!®, cessodium!**, noluntas!®, nolun- 
tarius!® u. a. Fänden wir nicht solche Neubildungen gegen alle 
Analogie, so dürfte man von einem Leben des Mittellateinischen 
wohl kaum reden. In allen lebendigen Sprachen gibt es Bil- 
dungen, die der Analogie und ‘organischen’ Entwicklung nicht 
folgen; daher gibt es sie auch in der lateinischen Sprache des 
Mittelalters, namentlich in der Hochsprache der Intellektuellen: 
wem das liberum arbitrium des Menschen ein Dogma ist, darf 
auch mit der Sprache schalten und walten, wie es ihm gut dünkt. 

Das innere Leben der lateinischen Sprache wird bezeugt vom 
Mittelalter selbst, indem man Äußerungen begegnet, aus denen 
hervorgeht, daß man nicht beabsichtigte, die klassische Norm 
zu befolgen. So ist es eine allgemeine, obwohl keineswegs nur 
im Mittelalter vorkommende Erscheinung, daß die Genera verbi 
verwechselt werden. Davon sagt der italienische Lexikograph 
Papias (ca. 1050): auguror commune antiquitus, pro quo modo 


141 Rep. Dan. 3465 (a. 1385) tabernam pannicidarum cum fundo ... inpignero. 

183 carm, II 93 cur promoconde times stillam praebere lechiti? (i. qui promit et 
condit). 

16 Diarium Vadzstenense, Scriptores rerum Suecicarum I 99ff. 

1*4 Dipl. Suec. 4423. 

1 Thom. Aqu. Summa Theol. t. II 8, 1 ad 1 fuga . . mali ... dicitur noluntas. 

1 Diplomatarium civitatis Malmogiensis ed. L. Weibull 2, 27 p. 11, 25 qui- 
cumque ... se reddiderit noluntarium et rebellem. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 4 


50 | Franz Blatt 


dicitur auguro. Bei Alexander de Villadei lesen wir: Accentus 
normas legitur posuisse vetustos/Non tamen has credo ser- 
vandas tempore nostro!®. Ähnliche Äußerungen hat Thurot 
aus mittellateinischen Grammatikerhandschriften der Pariser 
Nationalbibliothek gesammelt!®. Es wäre interessant zu er- 
fahren, ob es aus dem Mittelgriechischen solche Ausdrücke der 
Selbstbehauptung gibt. Das im spáteren Mittelalter neben dem 
Doctrinale Alexanders am meisten benutzte lateinische Lehr- 
buch, der sogenannte Gräzismus des Evrard de Béthune enthält 
in seinen Regeln manche mittellateinische Wörter und Be- 
deutungen; ich führe beispielsweise an: 


Praesentat dapifer epulas, cocus excoquit illas 
estque senescallus cuius sit sub duce iussus. 


prebitor est qui dat prebendas: suscipiens has 
prebendarius est; sicut legista docet nos. 


parricida patrem transfigit sive parentem 

est patricida suam qui violat patriam. 

curia planicies in terris: curia regum 

sed curtis proprie dicatur canonicorum. 
In jeder Beziehung wandelt sich das Lateinische im Laufe des 
Mittelalters, von der nach den Einzelländern abgestimmten 
Phonetik bis zur Syntax und Wortwahl, obgleich die Verände- 
rungen zum Teil von dem Konservatismus der Schriftsprache 
überdeckt sind; aber müssen wir nicht bereits die ganze späte 
Kaiserzeit hindurch mit einer Schriftsprache rechnen, die der 
gesprochenen gerade so wenig Rechnung trägt wie die des Mittel- 
alters!99 ? 


Auch über das áuBere Leben der lateinischen Sprache des 
Mittelalters dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. 
Erst wird man mühsam die Stellen zusammentragen müssen, 
die von der Kenntnis oder Unkenntnis des Lateinischen Kunde 
geben; recht große regionäre Unterschiede werden da zum Vor- 


19? Doctrinale 2330ff. Das Papiaszitat s. v. 

168 Notices et extraits des Manuscrits de la Bibliothéque impériale tom. XXII, 2 
p. 113ff. 

19 Ferdinand Lot, A quelle époque a-t-on cessé de parler Latin? (Arch. Lat. 
Medii Aevi 6 [1931] 133.) 


Sprachwandel im Latein des Mittelalters 51 


schein kommen: im Norden gab es noch in der Mitte des XI.Jahr- 
hunderts Geistliche, die des Lateinischen nicht máchtig waren, ob- 
wohl dies anscheinend schon damals eine Ausnahme war!“. 
Als Muttersprache lernte man das Lateinische freilich nicht, 
weder im Norden noch im Süden Europas, und vom Volke 
wurde es nicht gesprochen!”!. Da sei denn an das Wort eines 
verdienten Philologen erinnert!??, der in diesem Zusammenhang 
sagt: danach müßte das Hochdeutsch eine tote Sprache sein, 
es wird vom Volke nicht gesprochen. Mag man auch nicht un- 
umwunden diesem Vergleich beistimmen, so wird man trotzdem 
zugeben müssen, daß es sich in beiden Fällen um mehr oder 
weniger künstliche Schriftsprachen handelt, die von größeren 
oder kleineren Kreisen, früher oder später angeeignet werden. 
Höchstens wird man von Gradunterschieden reden dürfen. Was 
in dem vor wenigen Jahren erschienenen Werk des begabten 
französischen Autors André Thérive „Le francais langue morte'' 


170 Saxo, Gesta Danorum 11, 7, 7 p. 310, 19ff. Es ist die lustige Geschichte von 
einem aus Norwegen stammenden Geistlichen (Sueno Noricus) welcher — des 
Lateinischen unkundig, aber in anderer Beziehung ein vortrefflicher Mensch — 
hoch in seines Königs Gunst stand; um ihn aus dieser zu verdrängen, ersannen seine 
Feinde eine List: als er einmal in Anwesenheit des Königs die Messe lesen sollte, 
radierten sie im Meßbuch die ersten zwei Buchstaben des Wortes famulus aus, damit 
er im Gebet für den König pro mulo tuo’ statt pro famulo tuo’ hersagen und dadurch 
dessen Ärger erregen sollte. Sueno fiel nun richtig auf diese List herein (cum salutem 
regi votis libello expressis sollemni verborum precatione debuisset exposcere, ipsum 
famuli nomine designaturus, vitiata ab aemulis pagina, muli appellatione foedavit). 
Der Kónig aber zürnte ihm nicht, sondern sorgte bloB dafür, daB Sueno Latein 
lernte, indem er selber die Kosten des Unterrichts übernahm; bald wurde Sueno 
sehr tüchtig — peregrinae scholae erudiendum se dedit — und machte seine Rivalen 
zuschanden. — Leider verliert die von Saxo überlieferte Geschichte an histo- 
rischem Wert angesichts einer ähnlichen Anekdote in der Vita Meinwerci epis- 
copi cp. 186 (MG. SS. XI 150), wo es ebenfalls heißt, daß man durch ab- 
sichtliche Tilgung des ‘fa’ in 'famulis et famulabus' den die Messe Zelebrie- 
renden hineingelegt habe. 

171 Der französische Grammatiker Henri de Crissey (Ende des XIV. Jahr- 
hunderts, Thurot p.131) sagt: Latinorum populorum quidam laici dicuntur et 
quidam clerici ... laici vero dicuntur habere ydiomata vocum impositarum ad 
placitum, que ydiomata docentur pueri (a) matribus et a parentibus et ita ydiomata 
multiplicia sunt apud Latinos, quia aliud est apud Gallos aliud apud Lombardos seu 
Ytalicos. Clerici vero Latinis dicuntur habere ydioma idem apud omnes eos, et 
istud docentur pueri in scolis a grammaticis usw. 

17? Zielinski, Th., Cicero im Wandel der Jahrhunderte. 1912 p. 188. 

4* 


52 Franz Blatt 


von der konventionellen franzósischen Schriftsprache gesagt 
wird — und sie ist in der Tat in Anbetracht der geringen Ver- 
ánderung, welche sie die letzten Jahrhunderte durchgemacht 
hat!??, gewissermaßen eine tote Sprache — das gilt cum grano 
Salis auch von der lateinischen Sprache des Mittelalters: C'est 
une morte qui se porte gaillardement! 


178 Marouzeau, Le Latin, Dix Causeries p. 166ff. „Le francais a assez peu 
varié de Racine jusqu'à nos jours." p.215f. 


Der Ludus de Antichristo. 


Von 


Wilhelm Kamlah. 


I. 


Welchen Ort hat der Ludus de Antichristo! in der Früh- 
geschichte des geistlichen Spiels? 

Zur Geburt des liturgischen Spieles? war es gekommen, als 
der Oster-Tropus ‚Quem quaeritis" vom Introitus der Messe 
herübertrat in die Reihe der Kreuzzeremonien (adoratio, depo- 
sitio, elevatio) als deren AbschluB (visitatio), als so eine eigen- 
tümliche Kombination gebráuchlicher liturgischer Formen ent- 
stand: 1. Wechselgesang, 2. biblischer Dialog (dieses beides 
schon im Tropus verbunden), 3. similitudo-Gebärde (aus dem 
Zusammenhang der Kreuzzeremonien), und als dann allmáhlich 
an den Tag kam, daß diese Kombination sich tragen ließ von 
einem neuen, dem Kultus bis dahin fremden Verhalten: der 
imitatio im Schauspielen, als imitatio biblischer Handlung. 
Der ZusammenschluB alter Formen machte es also dem Schau- 


! Der folgenden Untersuchung ist die Ausgabe von W. Meyer zugrundegelegt 
(Sitz.-Ber. d. Münch. Ak. 1882, 1 = Ges. Abh. 1(1905), S. 136ff.). Hier soll der 
Versuch gemacht werden, durch eine ins einzelne gehende Interpretation vieles, was 
über den Ludus de A. mehr oder weniger summarisch schon manchesmal gesagt 
worden ist, schärfer zu fassen und zu ergänzen, weiterhin die zunächst isolierten 
Blickpunkte der Beobachtung so zu einander in Beziehung zu setzen, daß der Ludus 
im ganzen durchschaubar wird. Die Ergebnisse der Erforschung von Text, Vor- 
lage, Entstehungszeit u. dgl. können als bekannt vorausgesetzt werden. — Zahlen 
mit Bogen weisen auf die Einteilung durch die Spielanweisungen, einfache Zahlen 
auf die Verse des Ludus. 

2 Vgl. J. Schwietering, Über den liturgischen Ursprung des mittelalterlichen 
geistlichen Spiels Z. f. d. A. 62 (1925), S. 1 ff. und H. Brinkmann, Zum Ursprung des litur- 
gischen Spieles, Xenia Bonnensia (1929), S. 106ff. Die von Schw. u. Br. gegebenen 
„Deutungen“ treffen bei aller Tiefe des Eindringens doch wohl nicht ganz den Kern 
der Sache. 


54 Wilhelm Kamlah 


spielen möglich, sich einzuschleichen und bindende Einheit einer 
neuen Form zu werden, für deren Eigenstàndigkeit sich alsbald 
ein eigener Titel fand (ludus)?, und für deren Entwicklung der 
Weg schon vorgezeichnet war: von der similitudo zur imitatio®, 
vom Bedeuten zum Darstellen, vom „Symbolismus“ des 
frühen kultischen Spieles zum „Realismus“ der spátmittelalter- 
lichen Mysterien. Das Spiel hatte als schauspielende imitatio 
von vornherein die Móglichkeit, sich zu emanzipieren von der 
Liturgie, wenngleich es zunáchst und noch auf lange eingebettet 
blieb in die Formen seines Ursprungs. So allein läßt sich ver- 
stehen, daB es zu außerliturgischen Spielen kam. 

In die Reihe der frühesten außerliturgischen Spiele gehört 
der Ludus de Antichristo, allerdings als eine in ihren Eigentüm- 
lichkeiten einsame Schöpfung. Wenn sogar liturgische ludi, 
wie etwa größere, die Einzelszenen zusammenfassende Weih- 
nachtsspiele, den Kirchenraum damals zuweilen schon ver- 
lassen®, so versteht sich diese Neuerung für den Ludus de Anti- 
christo von selbst. Ganze Heere werden auf das Spielfeld ge- 
bracht und in Schlachtszenen gegeneinander geführte. Das 
übertrifft den ungewöhnlichen Pomp der beiden französischen 
Daniel-Spiele noch weit. In seinem Versbau ist der Verfasser, 
wie W. Meyer gezeigt hat, durchaus originell. Er verwendet 
ferner, soweit sich das heute mit Gewißheit sagen läßt, als 
Erster  Personiflkationen?. Auseinandersetzungen zwischen 
Synagoga und Ecclesia sind dann im späteren volkstümlichen 


* [m Antichrist-Spiel (die Handschrift hat keinen Titel) kommt „ludus“ bei- 
läufig in der Spielanweisung 3) vor. Über termini technici des geistlichen Spiels (neben 
ludus" z. B. „repraesentatio“) vgl. E. K. Chambers, The Mediaeval Stage (Ox- 
ford 1903), Vol. II, p. 103ff. 

* similitudo ist das Stichwort für die allegorische Bedeutung von Bibel und Kul- 
tus. imitatio findet sich bezeichnend gebraucht in der Osterfeier der Regularis Con- 
cordia: „Aguntur enim hec ad imitationem angeli sedentis in monumento atque 
mulierum cum aromatibus uenientium ...** (Logeman, Anglia XIII, S. 427). (Wenn 
es kurz vorher heißt: „... ad similitudinem querentium quid .. ., so hat dieser 
farblose Gebrauch von similitudo mit dem spezifischen Begriff der Allegorese natür- 
lich nichts zu tun.) 

5 W. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas I (2. Aufl. 1911), S. 60. 

* Solch ein Bühnenheer konnte allerdings durch vier Mann dargestellt werden, 
vgl. die erste Spielanweisung im Daniel-Spiel des Hilarius, ed. I. I. Champollion- 
Figeac (Paris 1838), S. 43. 

? Creizenach, a. a. O. S. 74. 


Der Ludus de Antichristo 55 


Spiel ein sehr beliebter Gegenstand geworden?. Die wesent- 
lichste Neuerung aber, die der Ludus bringt, ist doch noch 
etwas anderes: hier erscheint zum erstenmal die Politik auf 
der mittelalterlichen Bühne. Das heißt allerdings nicht, daß 
nun etwa neben den biblischen Stoff als etwas Zweites der 
politische trete, denn das Politische ist in der kirchlichen apo- 
kalyptischen Tradition schon enthalten. Die politische Seite 
dieser Tradition ist jedoch im Ludus ganz eigentümlich hervor- 
gekehrt, und wie wenig selbstverständlich das ist, zeigen die 
anderen epischen und dramatischen Weltgerichtsdichtungen der 
gleichen und der folgenden Zeit, die auf das Politische durchaus 
verzichten. Nimmt man die Weltgerichtsdramen des Mittel- 
alters für sich allein, so tritt die Einzigartigkeit des Tegernseer 
Ludus noch klarer ans Licht. Er ist nicht allein das erste Anti- 
christ-Spiel, das wir kennen, sondern auf lange Zeit hinaus auch 
das einzige. Erst aus dem 14. Jahrhundert sind in Deutschland 
wieder Antichrist-Dramen überliefert?. 

Wenn sich der Ludus als außerliturgisches Spiel weder aus 
dem Oster- noch aus dem Weihnachtszyklus, noch überhaupt 
aus einem liturgischen Ursprungsort unmittelbar herleiten läßt, 
so wäre nun doch die Annahme, das Stück sei für eine beliebige 
Zeit des Jahres geschrieben und zu beliebiger Zeit aufgeführt 
worden, ganz untunlich. Der Ludus, der seine Herkunft aus 
der liturgischen Formen welt übrigens nicht verleugnet!®, bietet 


* Eine Übersicht gibt P. Weber, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst 
in ihrem Verhältnis erläutert an einer Ikonographie der Kirche und Synagoge 
(1894), S. 71ff. 

* K. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der 
Reformationszeit (Teutonia IV, 1906). 

ı Für die Aufzugs- und Schlußgesänge bestimmt der Autor liturgische Stücke 
und setzt die Kenntnis von Text und Melodie bei den Spielern als selbstverstándlich 
voraus [7), 35), 104), es werden immer nur die Anfangsworte zitiert; vgl. ferner 9). 
36) der liturgische Terminus: , finito responsorio“ J. Jedes Wort wird gesungen 
wie in der Liturgie (neumiert ist nur 35) ,,Judea et Jerusalem"). Der liturgische 
Wechselgesang tritt in seiner eigentlich liturgischen Verwendungsweise in Gesángen 
auf, die der dialogischen Wechselrede entbehren, nämlich in den Aufzugs- 
liedern der Spielergruppen (s. unten S. 63). Neben den Einzelnen singen Chöre (Ein- 
zugschöre, der Chor der Gesandten, der Heuchler, der christlichen Reiche). Besonders 
notwendig wird das Verständnis von der Liturgie her bei einer oft bemángelten oder 
entschuldigten formalen Eigentümlichkeit des Ludus, nämlich bei den häufigen 
Textwiederholungen. Sie dienen einmal zur formalen Gliederung, wenn z. B. die 


56 Wilhelm Kamlah 


Hinweise genug, zwar nicht auf einen liturgischen Entstehungs- 
ort, wohl aber auf die Stelle, an der er sich einfügt in die Ord- 
nung des Kirchenjahres: 

Die biblische Grundlage der verarbeiteten Tradition ist 
2. Thess. 2. Auch Adso, die unmittelbare Vorlage des Ludus, ent- 
wickelt seine Darstellung im Anschluß an dieses Kapitel. Es 
wurde durch die herkómmliche Exegese im Sinne der Antichrist- 
Tradition interpretiert. Für die Augen des mittelalterlichen 
Lesers enthált es die ganze im Ludus dargestellte apokalyptische 
Geschichte. Das Kapitel hat seinen Platz in der Ordnung des 
Kirchenjahres als Epistel am Quatembersamstag des Advent. 
Heute wird leicht vergessen, daß die Bedeutung des adventus 
in der Liturgie eine doppelte war. Man dachte an das Kommen 
des Herrn zu seiner Geburt, und man dachte an sein einstiges 
endgültiges Kommen zum Gericht!!. Von dem Kinde, dessen 
Geburt bevorsteht, ist in der Adventsliturgie kaum die Rede, 
um so mehr von dem Rex und Dominus, der sein Königtum bald 
herrlich antreten wird. Die Erwartung des adventus Christi 
mußte aber zugleich eine Erwartung des adventus Antichristi 
sein. So kam das Antichrist-Kapitel in die Adventsliturgie. 
Nur die Adventszeit konnte zur dramatischen Gestaltung dieses 
Kapitels anregen. Einige im Ludus gebrauchte liturgische 
Stücke weisen ebenfalls in diese Zeit: 35) soll der Chorus die 
Antiphon „Iudea et Ierusalem“ 12 singen, die der Liturgie der 
Weihnachtsvigil angehórt. Die merkwürdige Parodie des Anti- 


Einzugsgesünge des Anfangs vor dem Auftreten des Antichrist noch einmal gesungen 
werden. Solche Wiederholung im Sinne der formalen Rundung ist der Liturgie 
geläufig. Auffallender ist es, wenn im Ludus bei der Wiederholung einer bestimmten 
Handlung, in der die beteiligten Personen wechseln, dieselben Worte gebraucht 
werden unter Einsetzung der neuen Namen. Aber auch so etwas kennt die Liturgie, 
z. B. in der Apologie (confiteor). 

1 Vom bevorstehenden Endgericht redet auch die Epistel des dem Quatember- 
samstag folgenden 4. Adventsonntages 1. Kor. 4, 1—5. Das Evangelium des 1. Ad- 
ventsonntages ist die Lucas-Apokalypse. 

33 Auf den engen Zusammenhang des geistlichen Spiels gerade mit den Anti- 
phonen macht W. Meyer aufmerksam: „In allen geistlichen Spielen werden sehr oft 
Antiphonen gesungen, die als allbekannt, wie in den liturgischen Büchern, nur mit 
den Anfangsworten zitiert werden" (Fragmenta Burana, 1901, S.38). Es muB 
übrigens gegen Meyers Ánderung das Judea der Handschr. stehen bleiben, wie die 
Neumen zeigen. (Deren Kenntnis verdanke ich einer Abschrift durch Herrn Dr. 
W. Lipphardt.) 


I 
l 


— — — — — ——À 


Der Ludus de Antichristo 57 


christ 177 auf das Marienwort von Luc. 1, 34 erklürt sich gut, 
wenn man beachtet, daB dieser Text als Advents-Antiphon 
mehrfach vorkommt!?, Es ergibt sich: Der Tegernseer Ludus 
ist ein auBerliturgisches Adventsspiel“. 


II. 


Welches sind die Aufführungsformen des Ludus, und wie 
geht die apokalyptische Geschichte in diese Formen ein? 

Die Osterfeier hált sich zunáchst an die liturgischen Geráte 
und Gewänder in ihrem similitudo-Charakter (Altar als Grab, 
Rauchfässer als Salben usw.), allmählich aber geht das Spiel 
dazu über, sich ein eigenes Spielgerät zu schaffen im Sinne der 
imitatio (,, Kostüme“, der Thron des Herodes u. dgl.). Da dem 
Schauspielen eigene Weisen des Bedeutens von Schauspiel- 
gerät zugehören, da die imitatio des Gerätes nicht ,,realistisch'' 
sein muß, sondern sich auf das „Andeuten“ von „Kostümen“ 
und „Dekorationen“ zu beschränken vermag, so konnte der 
Übergang vom Kult- zum Spielgerät allmählich erfolgen, ohne 
Revolution. Als das Spiel den Kirchenraum verließ, bedurfte 
es der Vollendung des neuen Spielgerätes, das nun allein den 


13 S. Gregorii M. liber responsalis, Migne S. L. 78, 730, 733. Ich setze noch 
einige Stücke aus der Adventsliturgie hierher, die das Gesagte beleuchten (nach 
der eben genannten Quelle; auf die Angabe der zugehörigen Tage verzichte ich, 
weil sich diese Zuordnungen im Mittelalter noch mannigfach verschoben haben). 
Die Erwartung der letzten Dinge kommt zum Ausdruck etwa in folgender Antiphon: 
„Dies Domini sicut fur ita in nocte veniet, et vos estote parati, quia qua hora non 
putatis, filius hominis veniet". Als Parallelen zu den Szenen 32) bis 36) cf etwa 
folgende Stücke: Antiphon „Sion, renovaberis et videbis iustum tuum, qui venturus 
est in te“. Resp. „Egredietur Dominus et praeliabitur contra gentes et stabunt 
pedes eius supra montes olivarum ad orientem." Die schon genannte Antiphon der 
Weihnachtsvigil heißt vollständig: „Judea et Jerusalem nolite timere; cras egre- 
diemini, et Dominus erit vobiscum, alleluja." Ein Resp. zu dem gleichen Tage 
lautet: „Constantes estote (cf Ludus 141), videbitis auxilium Domini super vos 
(cf Ludus 144). Judea et Jerusalem... Parallelen zu den Szenen 83) bis 84): 
Ant. „Elevare, elevare, consurge, Jerusalem; solve vincula colli tui, captiva filia 
Sion“ (cf Ludus 317/18). Ant. „Ecce venit Rex, occurramus obviam Salvatori 
mostro" (cf Ludus 321). 

14 Daß die eschatologischen Spiele in die Adventszeit gehören, ist oft behauptet 


und von P. E. Kretzmann (The liturgical element in the earliest forms of the me- 


dieval Drama, in: The University of Minnesota. Studies in language and literature, 
Nr. 4, 1916) nachgewiesen worden. Es fehlte für den Ludus de A. noch der spezielle 
Nachweis aus seinem eigenen Text. 


58 Wilhelm Kamlah 


Spielraum zu bestimmen und zu begrenzen hatte. So kam es 
durch die Aneinanderreihung von Gerüsten zu der für das mittel- 
alterliche Spiel so eigentümlichen Mansionenbühne, wie sie sich 
auch im Ludus de Antichristo findet. „Septem sedes regales“ 
stehen vor uns, außerdem der „Tempel des Herrn“. Vor diesen 
sedes und im Halbkreisfelde zwischen ihnen verláuft das Spiel. 
Sedes ist gleichbedeutend mit dem franzósischen étage, nicht 
„Thron“, sondern eher,, Burg“, wie das Spielgerüst im Deutschen 
später gelegentlich heißt!®. Die Spieler sind in Gruppen zu- 
sammengefaßt und auf solche Gerüste verteilt. Damit ist von 
Anfang an der ganze Raum für alle Handlungen des Stückes 
sichtbar. Die moderne Bühne zeigt einen Ausschnitt von 
Raum, der Zuschauer spürt das andere Leben, das diesen Aus- 
schnitt umgibt, immer mit, es gibt da ein „hinter der Szene“, 
das ständige Hin und Her der Schauspieler im Auf- und Ab- 
treten und der Szenenwechsel hält dieses „hinter der Szene" 
lebendig. Ganz anders die mittelalterliche Bühne. Ein „hinter 
der Szene“ kennt sie nicht, daher gibt es auch keinen Szenen- 
wechsel und kein eigentliches Neuauftreten oder Verschwinden 
von Schauspielern. Die einzelnen Gruppen — im Antichristspiel 
die Heiden, die Juden, die Ecclesia mit Kaiser und Papst usw. 
— ziehen zu Anfang der Reihe nach ein, jede mit einem Auf- 
zugsgesang, dem conductus!®. Erst wenn alles versammelt ist, 
heiBt es 10): ,,Tunc Imperator ..... „, die Handlung beginnt. 

Obwohl wir nun keinen „Szenenwechsel“ im modernen 
Sinne haben, so wechselt die „Szene“ doch fortgesetzt. Es ist, 
als sei immer nur ein Stück des Spielfeldes von einem Schein- 
werfer beleuchtet, und als bewege sich der Lichtkegel hin und 
her, während alles Umgebende im Schatten bleibt. Man könnte 
hier von einer wandernden Szene reden. Der Zusammenhang 
der Handlung, der im modernen Drama an den Raum selbst, 
die feststehende Szene, gebunden ist, haftet hier an den Per- 


15 Beschreibung einer Dortmunder Antichristspiel-Aufführung aus dem Jahre 
1513 (Chroniken deutscher Städte Bd. XX, S.398, abgedruckt bei Reuschel, 
a. a. O. S. 54). Jede sedes (Burg) des Ludus sollte eine ganze Schar von Menschen 
aufnehmen. Die Unkenntnis dieser Burgentechnik hat in der Zählung der „Throne“ 
zuweilen große Verwirrung angerichtet. 

16 Daß die Kürzung in 7) so aufgelöst werden muß, hat W. Meyer in einer zu- 
gesetzten Anmerkung 1905, S. 152 nachgetragen, „wie im Weihnachtsspiel (Bur) 
Nr. 44 und ófter im Daniel von Beauvais". 


Der Ludus de Antichristo 59 


sonen. Die Szene wandert von einer sedes zu einer andern, 
z. B. mit einer Gesandtschaft. Dieses Fortschreiten wird jedoch 
häufig unterbrochen, die Handlung schließt an einer Stelle ab, 
um an einer anderen neu einzusetzen". Eine solche Technik 
macht es möglich, zwei Szenen nebeneinander herzuführen, 
deren eine sich natürlich nur im stummen Spiel vollziehen 
kann. Durch ein , interim“ zeigt die Spielanweisung so etwas an, 
2. B. 48), eine neue stumme Szene setzt schon ein, während die 
gerade laufende Redeszene noch nicht zum AbschluB gekommen 
ist. Noch auffallender 39), es ist erstaunlich, was die ypocritae 
hier während der Gesänge der Ecclesia usw. an stummem Spiel 
nach der Vorschrift des Dichters zu leisten haben!“. 

Hier zeigt sich also, daB die wortvertretende oder wort- 
begleitende Gebärde, die als similitudo- Gebárde vor den An- 
fangen des liturgischen Spieles steht, ganz und gar nicht ver- 
schwunden ist. Sie war dem Mittelalter ja auch auBerhalb des 
Kultus, vor allem im Rechtsleben, so geläufig, daß sie im Spiel 
auch da beherrschend hervortreten kann, wo der unmittelbare 
Zusammenhang mit dem Kultus schon aufgegeben ist. Un- 
zählige Male vollzieht sich im Ludus die Belehnungszeremonie, 
zuweilen setzt das Wort für eine lange Weile völlig aus, um 
ganz dem Gebärdenspiel zu weichen, z. B. bei den ersten Wun- 
dertaten des Antichrist [69)], wo der deutsche Kónig nicht ein- 
ma] sein 'hesitare in fide' mit Worten ausdrücken darf. Ebenso 
wortlos vollziehen sich die Schlachtszenen, das ‘cum honore 
dimittere’ [17) u. ö.] und das ‘honeste suscipere’ [20) u. ö.]. 
Zum großen Teil sind die Gebärden des Ludus ähnlich denen 
der Liturgie durch bestimmte Formen gebunden, tragen also 
zeremonielle Gemessenheit an sich. Im Zusammenhang mit 
dieser rituell gebundenen Bewegung wirkt die zunáchst ver- 


1? Solche Sprünge der Handlung werden nur klar, wenn man sich den Ablauf 
des Spiels auf der Bühne deutlich vorstellt. Sie finden sich vor 18), vor 24), vor 35) 
usw. Das Neuansetzen ist hier immer nur szenischer Árt, wührend die Handlung 
inbaltlich glatt weitergeht. Anders ist es allein nach 194. Hier reiBt wirklich einmal 
der Faden einer Handlung ab und wird erst 235 wieder aufgenommen. 

15 Ein weiteres ,interim'-Spiel 34). — Solche Doppelszenen kommen auch 
anderswo im geistlichen Drama vor, vgl. Creizenach, a. a. O. S. 88. 

1* Stummes Spiel ferner 37) (adorare), 42), 46), 48), 53) usw., bes. eigentümlich 
noch 104): Die „Rückkehr zum Glauben" kommt dadurch zur Anschauung, daB 
man vor die sedes der Ecclesia zieht. 


60 Wilhelm Kamlah 


wunderliche starre Bewegungslosigkeit, in der die Spieler zu- 
meist verharren, nicht mehr sinnlos oder ungeschickt, wie auch 
die Sprache des Gregorianischen Rezitationstons zu dem un- 
realistischen Schweigen der untätigen Spieler in einem wohl- 
begreiflichen Verháltnis steht — daran werden die Grenzen 
deutlich, in denen sich die imitatio noch immer hält, noch 
immer, d. h. nicht etwa durch ästhetisch motivierte ,,Stili- 
sierung“, die dem extremen Realismus ja erst nachfolgt. 

Das Wort hat hier — im Gegensatz zum antiken Rededrama 
— ganz und gar nicht die Alleinherrschaft, es soll vielmehr das 
dramatische Geschehen zur vollen Anschauung gebracht werden, 
der „Zuschauer“ ist hier wirklich im Zuschauen und nicht allein 
im Zuhören beschäftigt. Creizenach hat sehr fein bemerkt, das 
mittelalterliche Drama wolle die Handlung in aller Vollständig- 
keit zeigen und bedürfe nicht der Auskunft des antiken Dramas, 
wo die Ereignisse hinter der Szene durch Boten gemeldet wer- 
den“. Das steht aber im Zusammenhang mit jener Eigentüm- 
lichkeit der mittelalterlichen Bühne, von der wir ausgingen. 
Das Wort-Drama muß sich auf einer Bühne vollziehen, die nur 
einen engen Ausschnitt des Raumes zeigt, da das Anschaubare 
hinter der Szene geschieht und nur in Rede transformiert auf 
die Bühne kommt, das mittelalterliche Drama dagegen stellt 
Gebärde und sichtbare Handlung auf die Bühne neben das Wort, 
da es hinter der Bühne nichts mehr zu verbergen hat. 

Alle diese Beobachtungen am Ludus zeigen seine Formen 
in weitgehender Übereinstimmung mit denen des mittelalter- 
lichen Spieles überhaupt, d. h.: sie zeigen die Formen, die der 
Dichter vorfindet. Es ist nun lehrreich, zu sehen, wie er sie 
anwendet auf seinen eigentümlichen Stoff. 

Die Bühne zeigt den ganzen Erdkreis. Wieso aber den 
ganzen ? Etwa die Erde in perspektivischer Zusammendrängung, 
wie Michaelis?! meinte? Dieser Raum, in dem sich die Handlung 
bewegt, ist kein empirischer Raum, sondern ein dogmatischer. 
Die Erde kommt als Erde, sofern sie nur hier vorfindlich und 
geographisch erforschbar ist, gar nicht in Betracht, sondern 
allein als eingeordnet in den Bau von Gottes Weltordnung. Nur 
andeutungsweise wird die Erdkarte berücksichtigt, Jerusalem 


20 A. a. O. S. 80. 
& Z. f. d. A. 54 (1913), S. 61ff. 


Der Ludus de Antichristo 61 


wird in den Osten verlegt und gegenüber in den Westen das 
imperium mit Frankreich und Deutschland. 


DaB die Bühne den Erdkreis darstellt, ist durch den Stoff 
gefordert: es soll ja das letzte Weltgeschehen zur Darstellung 
kommen. Doch ist nun sehr bemerkenswert, wie die Bühne in 
ihrer oben beschriebenen Eigenart dieser Aufgabe entgegen- 
kommt. Der totus mundus ist ja der umfassende Raum, hinter 
dem es nichts mehr gibt. Diese Eigenart des darzustellenden 
Raumes fällt also im Ludus zusammen mit der Eigenart der 
mittelalterlichen Bühne, die kein „hinter der Szene“ kennt. 
Eine derartige Bühne ist allein imstande, den totus mundus dar- 
zustellen. Die Eigenart der neuzeitlichen Bühne würde sich 
gegen die Aufnahme eines solchen Gegenstandes sträuben. 


In Gottes Weltordnung sind bestimmte Größen der Erde 
dogmatisch ausgezeichnet, indem sie nämlich die Ordnung von 
Gott zur Welt vermitteln. Damit ist die Auswahl der auftreten- 
den Personen gegeben. Als vermittelnde GróBen erscheinen die 
Kirche, der Papst, der Kaiser. Unter den regna werden die- 
jenigen ausgewáhlt, die zum imperium in einer wesentlichen 
Beziehung stehen, durch einen gegenwärtigen oder verjährten 
Anspruch auf seinen Besitz — so der deutsche Kónig, die Kónige 
der Franzosen und der Griechen — oder durch den Gegensatz 
— so der Rex Babylonis; parallel zu diesem Gegensatz stehen 
sich Ecclesia und Gentilitas gegenüber. Zu diesen beiden tritt 
die Synagoga, so daB die dogmatische Dreiheit: Heidentum, 
alter und neuer Bund hergestellt ist“. Die genannten Personen 
sind dem Dichter nur zum Teil durch die apokalyptische Tra- 
dition gegeben, die übrigen fügt er gemäß dem ihm vertrauten 


22 Honorius Augustodunensis sagt in seinem Hoheliedkommentar: ,,Haec (die 
Eccl. als sponsa) in duo quasi in duas personas dividitur, scil. in Synagogam et 
Gentilitatem. Ad istam prophetae fuerunt internuntii. Ad illam vero apostoli sunt 
missj. Sed de his duabus una sponsa, videlicet catholica Ecclesia, Christo per inter- 
nuntios est adducta . . (Migne S. L. 172, 359). Für die exegetische Herkunft der 
Ecclesia als Frauengestalt, vor allem als mater, ist neben dem Hohen Lied aus- 
schlaggebend Apok. 12. (Die mariologische Deutung des Weibes auf dem Monde 
ist spät und sekundär.) Eccl, Syn., Gent. sind also nicht allein ,,Personifikatio- 
nen“, sie sind zugleich allegorisch gedeutete Frauen der Bibel. Man sieht, wie hier 
die Begriffspersonifikation antiker Herkunft und die Allegorese der kirchlichen 
exegetischen Tradition ineinander spielen. Über Eccl. und Syn. handelt ausführ- 
lich P. Weber in der schon genannten Monographie. 


62 Wilhelm Kamlah 


Bilde des mundus hinzu. Der Kónig von Jerusalem hat keine 
direkte Beziehung zum imperium, er wird eingeführt entsprechend 
der Rolle seiner Stadt in der Tradition und entsprechend seiner 
Bedeutung in der Gegenwart des Dichters®. Damit ist die Schar der 
am Anfang des Spieles auftretenden Personen vollzáhlig. Es kommt 
dem Dichter also nicht allein darauf an, alle spáterhin agierenden 
Spieler am Anfang auf die Bühne zu bringen, diesem technischen 
Interesse ordnet sich ein anderes über: er will den Raum, in dem 
die kommenden Ereignisse geschehen sollen, vollständig abstecken 
und darstellen. Dabei ist es gleichgültig, ob sich die Bedeutung ein- 
zelner Figuren auf der Bühne in dieser Darstellung erschópft, so daB 
sje nie etwas zu sagen oder zu tun bekommen, wie etwa der Papst. 

Daß im Verlauf der nun folgenden Handlung noch weitere 
Personen auftreten, widerspricht dem oben über die Technik 
der Bühne Gesagten nur scheinbar. Die Handlung bringt ja das 
apokalyptische Endgeschehen zur Darstellung. Neu treten nur 
die Personen auf, die auch in diesem Weltgeschehen einmal neu 
auftreten werden. Dagegen bezeichnen die am Anfang einziehen- 
den Spieler die Welt, wie sie jetzt schon ist. Das „Auftreten‘‘ 
des Engels, des Antichrist mit seinen Helfern und der Propheten 
bezieht sich also nicht auf die Bühne, sondern auf die Welt, sie 
kommen nicht von „hinter der Szene“, sondern gewissermaßen 
von „über der Szene“. Man könnte ja die durch die Bühne dar- 
gestellte terra auch so bestimmen: sie ist die Erde, der das 
coelum gegenübersteht. So bleibt dem Zuschauer des Ludus 
im Gegensatz und doch in formaler Parallele zum Zuschauer 
des modernen Dramas immer das „über der Szene“ bewußt, der 
Himmel als der Raum, von dem aus ein überraschendes Ein- 
greifen in die Handlung in jedem Augenblick zu erwarten ist, 
„angelus domini subito apparens“ 34), der Engel des Herrn ist 
plótzlich da, er singt nicht etwa erst einen conductus wie die 
andern, und ebenso treten die Propheten 87) vom Himmel her 
auf, wo sie seit ihrer aus dem Alten Testament bekannten 
Himmelfahrt gelebt haben. Und von „über der Szene“ kommt 
dann auch die entscheidende Wendung am Schluß: ,,Statim fit 
sonitus super caput Antichristi" 103). Aber woher kommt denn 
der Antichrist selbst? Natürlich nicht aus dem Himmel. Er 
ist auch nicht, wie die Menschen sonst, am Anfang schon da, 


$3 g. u. S. 69. 


Der Ludus de Antichristo 63 


sein Auftreten ist ja gerade entscheidendes Ereignis der End- 
geschichte. Da die vom Dichter gehandhabte dramatische 
Technik einen solchen Fall nicht vorsieht, hilft er sich durch. 
ein KompromiB: er läßt den Antichrist einerseits erst im Laufe 
der Handlung auftreten, anderseits gibt er ihm einen conductus, 
wie ihn auch die anfangs einziehenden Gruppen zu singen haben. 
Um das formal noch deutlicher zu machen, läßt er sehr geschickt 
die drei ersten Gruppen 39) ihre Aufzugsgesánge wiederholen, 
so daB sich der conductus des Antichrist 151—170 als vierter 
anschließt“. Eine solche Lösung war durch die Tradition 


* Der conductus des Antichrist ist bisher als solcher nicht erkannt worden. 
Daß wir es bei den Versen 151—170 mit dieser besonderen Form des „Aufzugsliedes‘“ 
zu tun haben, zeigen folgende Beobachtungen: das Spiel verläuft durchweg im 13- 
silbigen Dialogvers mit paarigem Reim. Ausnahmen: die 11-Silber-Verse der Pro- 
pheten (die damit formal als die Boten aus einer anderen Welt gekennzeichnet sind), 
die 14-Silber-Verse der Synagoge 365—368, 399—402 (damit ist die Synagoge als 
Bekehrte und Märtyrerin gekennzeichnet. 399—402 sind zwei 14-silbige Zeilen, 
das hat Meyer selbst 1906 richtiggestellt!). Alle diese Verse gehören aber durch die. 
ungegliedert durchlaufende Versfolge noch mit dem 13-Silber-Vers zusammen. Da- 
gegen fallen ganz heraus die strophisch gebauten Stücke (4-zeilige Strophen): 
1) 1—32, 2) 33—44, 3) 45—48, 4) 151—170 (nicht durch die Reimstellung — die 
teilweise auch paarig ist —, sondern durch den Wechsel der Zeilenformen sind diese: 
Stücke als strophisch ausgezeichnet). Diese vier Stücke gehóren formal zusammen, 
stehen als undramatische Liedformen den dramatischen, ungegliedert 
durchlaufenden Versen der Handlung klar gegenüber. Das ist bewußte 
Absicht des Dichters und zeigt wieder seinen guten Formensinn. (Hier bedarf also 
Meyers Urteil a. a. O. S. 189 (S. 338), dem wir im übrigen allen Aufschluß über diese Dinge 
verdanken, einer kleinen Korrektur. Es bandelt sich nicht um „unentwickelten“ 
Strophenbau, sondern um bewußte Vermeidung der Strophen überhaupt innerhalb 
der Handlung. Hätte Meyer nicht die letzten Verse der Synagoge von 365 an fälsch- 
lich für Strophen gehalten — 1882 wahrscheinlich verfübrt durch den offenbar 
zufälligen Reim der Halbverse in den letzten beiden Zeilen — so würde ihm das 
nicht entgangen sein.) Daß die Verse 151—170 mit der folgenden Handlung in 
einem durchaus widerspruchsvollen Verhältnis stehen, hat Scherer schon gezeigt 
(Z. f. d. A. 24, S. 451). Nur seine Folgerung, es müsse sich um eine Interpolation 
handeln, ist zu voreilig. Bewiesen hat er ja nur, daß dieses Stück aus der durch- 
laufenden Handlung klar herausgeschnitten ist, wie die anderen Aufzugslieder 
auch (was durch ihre Wiederholung 39) besonders deutlich wird). Als conductus 
verstanden fügt sich das Stück jedoch glatt in den Ablauf des Ganzen ein. Eine 
Parallele zum conductus der Ecclesia zeigt nicht allein die Form des „Liedes“, 
sondern auch die Form des „Aufzugs“: beide, Ecclesia und Antichrist, werden zur 
Rechten und zur Linken von Personifikationen geleitet. Während die Ypocrisis 
in der Handlung nachher durch die ypocritae vertreten wird, ist es nun ganz folge- 
richtig, wenn der Antichrist gemäß 180 die Funktion der Heresis selber übernimmt. 


64 Wilhelm Kamlah 


durchaus nahegelegt: der Antichrist ist ja ein Mensch, der schon 
vor seinem Auftreten in Bethsaida und Corozaim?* aufgewachsen 
ist und von da nach Jerusalem zieht. So ist es nicht zu verwun- 
dern, daß diese Kompromißfigur als halb natürlich, halb über- 
natürlich, halb Mensch, halb Teufel, sich auch auf der Bühne 
in Kompromißformen zeigt. 

In der dramatischen Durchführung des darzustellenden 
Stoffes fällt die schematische Behandlung zweier umfangreicher 
Abschnitte auf, der Szenen nämlich, in denen zuerst der Kaiser 
und dann in deutlicher Parallele der Antichrist sich die Welt 
unterwerfen. Es liegt auf der Hand, daß mit dieser schematischen 
Durchführung auf „Individualisierung“ sowohl der Personen 
wie der Ereignisse verzichtet wird. Wenn sich die Unterwer- 
fungsszenen des Königs der Griechen und des Königs von 
Jerusalem gegenüber dem Kaiser in genau übereinstimmenden 
Worten und Handlungen vollziehen, indem allein die Namen 
wechseln, so ist deutlich, daß der Autor an ‚individueller Cha- 
rakteristik" nicht das mindeste Interesse hat. 

Nun zeigen sich aber in diesen Szenen an einigen Stellen Ab- 
weichungen vom Schema. Gerade weil die Handlung normaler- 
weise schematisch verläuft, müssen es ganz besondere Gründe 
sein, die den Dichter zu solchen Abweichungen veranlassen, und 
diese Gründe lassen sich denn auch in jedem einzelnen Fall un- 
schwer erkennen. 57 müßte es nach dem Schema heißen: „Hoc 
igitur edictum Francis indicate“ [cf 109], statt dessen heißt es: 
„Sed quod in militia valet gens Francorum“; der Dichter gibt 
also selbst in einem Kausalsatz den Grund der Abweichung an; 
weil die Franzosen so tüchtige Ritter sind, erfahren sie eine be- 
vorzugte Behandlung. Die Verse der Gesandten 11) entsprechen 
dann wieder dem Schema, mit einer durch den besonderen Be- 
fehl des Kaisers gebotenen Änderung am Schluß. Die nächste 
Spielanweisung müßte nach dem Schema von einem "honeste 
suscipere’ reden [cf 20), 26)], statt dessen heißt es bloß — und 
das klingt nun im Vergleich zum Schema kurz und schroff — 
„Quibus ille:“, der Franzosenkönig ist unhöflich, er hat im 
folgenden etwas ganz Besonderes zu sagen. Diese Untersuchung 
der einzelnen Abweichungen ließe sich nun weiter durchführen, 


3$ Adso (E. Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen (1898), S. 107). 


Der Ludus de Antichristo 65 


hier, wo es nur darauf ankommt, die Arbeitsweise des Verfassers 
in der dramatischen Gestaltung des Stoffes zu zeigen, genügen 
diese Beispiele schon, um Folgendes erkennen zu lassen: wenn 
der Dichter die schematische Behandlung der Personen und Er- 
eignisse durchbricht, so will er auch hier nicht ,,individuali- 
sieren", sondern ganz bestimmte Dinge zeigen, ganz be- 
stimmte klar umgrenzte Aussagen machen, die man beinahe 
an den Fingern aufzáhlen kann. Was hier vorliegt, ist Umsetzung 
von Beschreibung in die dramatische Form. Der Dichter zeigt 
die regna nicht anders, als sie auch ein Chronist seiner Tage in 
aneinandergereihten Urteilen beschreiben würde. 

Die einzelnen reges reden nur als Vertreter ihrer regna, auf 
die sich jene Urteile allein beziehen. Und so wenig wie die 
Könige „Individualitäten“ sind, so wenig ist es irgendeine 
andere Figur im Drama. Zeichen der „Individualität“ ist uns 
der Name. Mit Namen genannt werden nur die beiden Pro- 
pheten Elias und Henoch, alle anderen sind namenlos. Aber 
auch bei den Propheten wird auf die Móglichkeit, jeden einzelnen 
von ihnen als einzelnen zu zeichnen, nicht der geringste Wert 
gelegt. Nicht einmal die Charakterisierung dieser Propheten, 
die sich in der Bibel finden ließe, wird aufgegriffen. Der Dichter 
verzichtet auf das alles schon dadurch, daB er sie einfach zu- 
sammen singen láBt. Nur ein kleines Stück singt Elias allein, 
um sagen zu können „iste Enoch et ego sum Helias" 353 — 
denn wenn sie beide auf einmal reden, kónnen sie sich nicht 
vorstellen. Ebensowenig will der Dichter einzelne ypocritae 
oder legati zeigen, auch sie läßt er in Chören singen. Ja, auch 
dem Imperator und natürlich dem Antichrist fehlt jeder „ indi- 
viduelle“ Zug. (Eigentümlich behandelt sind dagegen die Per- 
sonifikationen. Die Gentilitas erscheint als Vertreterin philo- 
sophischer ratio“, die Synagoga ist mit alttestamentlicher Rede- 


= Der lehrhafte conductus der Gentilitas ist eine logische Schlußkette in 
Versen. Die behauptete These steht am Anfang 1—4, es folgt die Zurückweisung 
der Gegenthese 5—8, weiterhin der Beweis 9—20, und derselbe Beweis wiederholt 
21—32. Der Verfasser muß in der Schullogik zu Haus sein. Die Gentilitas tritt bei 
ihrem späteren kurzen Eingreifen in die Handlung 77) wieder mit einem Lehrstück 
auf. Neben den logischen Argumenten für den Polytheismus schiebt ihr der Dichter 
die Verteidigung des „ritus antiquitatis" zu. Dieses ihr Stichwort [7, 295] führt 
auch der König von Babel 119 ins Feld. Eigene Züge trägt der Heidenkónig nicht, 
er verkörpert nur die aggressive Seite der Gentilitas. — In dem „Rithmus de Fide 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 5 


66 Wilhelm Kamlah 


weise ausgestattet, die Ecclesia redet dié Sprache der aucto- 
ritas.) Zum AbschluB sei noch hingewiesen auf einen Fall, in 
dem der Verfasser einmal die Affekte der handelnden Personen 
benennt, um etwas Bestimmtes damit zu sagen: die ypocritae 
reden 253 von ihrer eigenen ,,confusio'', und vorher 62) heißt es 
confusi". Hier soll die Wirkung der zornigen Rede des deut- 
schen Kónigs zur Geltung gebracht werden. Es zeigt sich also 
die besondere Absicht, diesen rex Teotonicorum so imponierend 
wie nur móglich auftreten zu lassen. 

Wie der Dichter bei der Aufgabe, seinen Stoff in die vorge- 
fundenen Formen der Bühne zu fassen, vorgeht, ist nun soweit 
deutlich geworden, daB eine Antwort auf die Frage versucht 
werden kann: welchen Sinn hat denn hier die dramatische Ge- 
staltung überhaupt? Das typische moderne Drama will, was 
es auch immer im besonderen zu sagen hat, „das Leben“ zeigen, 
indem es irgendwelches Leben auf die Bühne bringt. Und den 
Zuschauer betrifft das insofern, als „das Leben“ auch sein 
Leben ist. Dabei kommt es.an auf das Leben, ‚wie es 
ist", in der Kontingenz seiner mannigfaltigen Besonderheiten, 
seiner „individuellen‘‘ Menschen, Geschehnisse usw. Wenn der 
Dichter des Ludus dagegen die apokalyptische Geschichte dar- 
stellt, so ist sie ihm keineswegs, trotz aller Schlachtenszenen 
und Gesandtschaften, ein Geschehen aus dem ,,Leben'', sondern 
aus der geoffenbarten Heilsgeschichte. Und den Zuschauer be- 
trifft das insofern, als diese Heilsgeschichte Geschichte seines 
Heiles ist. Der Antichrist ist sein Feind als der Widersacher 
Christi und nicht eine beliebige Figur mit einem interessanten 
Schicksal. Es kommt hier nicht an auf die Kontingenz des 
Mannigfaltigen, auf „individuelle“ Menschen und Geschehnisse, 
sondern immer nur auf die Heilsgeschichte in ihrer geoffenbarten 
Bestimmtheit. Diese Heilsgeschichte läßt sich darstellen in 
umgrenzten Aussagen, und diese wiederum lassen sich dra- 
EDEN formen. Nun geht der Verfasser des Ludus MS 


et Ratione invicem disceptantibus“ (abgedr. von F. Wilhelm, Münchner Museum II, 
S. 234ff.) heißt es: „Fides verecundior et minus arguta obmissis subtilibus non 
querit acuta. Syllogizat Ratio argumentis tuta." Damit sind Fides und Ratio genau 
so beschrieben, wie sie im Ludus als Ecclesia und Gentilitas auftreten. Auf die Áhn- 
lichkeit dieses M mit der pda des Ludus macht Wilhelm ebda. 
(S. 230) aufmerksam. | 


Der Ludus de Antichristo 67 


in solchen ,, Aussagen" über das Heilsgeschichtliche nach einer 
gewissen Seite — námlich der politischen — hinaus, er legt ja 
gerade Wert auf bestimmte Züge am deutschen Kónig, auf die 
Rittertüchtigkeit der Franzosen usw. Daran enthüllt sich in 
der Tat ein eigenartiges Problem dieser Dichtung, von dem 
unten noch gehandelt werden soll. Formal bleibt es auch hier 
dabei, daB nicht ,,das Leben'', sondern ein umgrenztes Aussag- 
bares dramatisch gezeigt wird. 

Zur Kontingenz des „Lebens“, auf das es dem modernen 
Drama ankommt, gehórt es, daB man nicht von vornherein 
übersieht, „wie es weitergeht“, daß alles mögliche geschehen, 
begegnen, aus der umgebenden Welt — d. h. auf der Bühne: 
von „hinter der Szene“ — „auftreten“ kann. Darum entspricht 
diesem Drama die Ausschnittbühne. Die Heilsgeschichte da- 
gegen ist nicht den Zufällen und Überraschungen menschlichen 
Lebens ausgeliefert, sie ist von Gott geleitet, von Ewigkeit her 
bestimmt, längst offenbar gemacht; jeder kennt sie schon und 
soll sie kennen. Wenn daher im Ludus wie in anderen frühen 
Spielen des Mittelalters Heilsgeschichte zur Darstellung kommt, 
so erscheint sie mit Recht in einem fest umrissenen abgeschlos- 
senen Bühnenraum, der von vornherein die Schauplätze der 
Handlung enthüllt, „hinter“ dem nichts mehr ist, von wo Über- 
raschendes auftreten könnte, der allein offen steht dem subito 
apparere himmlischer oder höllischer Gewalten. 

Kennt man aber die Heilsgeschichte schon und kann gar 
nichts „Neues“ mehr erfahren als Zuschauer eines Oster- oder 
Weltgerichtsspiels, welchen Sinn hat es dann, das Bekannte 
dramatisch darzustellen, oder gar das gleiche Spiel alljährlich 
zu wiederholen? Die Heilsgeschichte muß immer aufs neue 
vergegenwärtigt werden, sie geschieht alljährlich im Kir- 
chenjahr, alltäglich im Meßopfer; in solcher kultischen Ver- 
gegenwärtigung steht auch das geistliche Spiel, und nicht allein 
das liturgische. Hätte der Kultus nicht schon immer Heils- 
geschichte vergegenwärtigt, so hätte es niemals zu der beson- 
deren Weise solcher Vergegenwártigung in der „representatio“ 
des Schauspielens kommen kónnen. 

Der begründende Sinn des frühen heilsgeschichtlichen Spiels 
ist damit angedeutet. Dieser Grund kann noch manches andere 
tragen, der Dichter des Ludus mit seiner Hervorkehrung des 

p* 


68 Wilhelm Kamlah 


Politischen ist von besonderen Motiven geleitet, in das Osterspiel 
dringen Szenen ein, die das heilsgeschichtliche Geschehen aus- 
malen, die mehr der delectatio als der aedificatio dienen. Doch 
das alles gehórt in die allgemeine Geschichte des geistlichen 
Spiels und führt über den Rahmen einer Spezialuntersuchung 
hinaus. 


III. 


Wenn der Verfasser des Ludus Heilsgeschichte darstellen 
will, so muß er sich an eine autoritative Vorlage anschließen. 
Der Libellus de Antichristo des Adso ist ihm nicht ein anregender 
Vorwurf, sondern der Zugang zu dem in der Offenbarung be- 
gründeten, in der Bibel und den Vätern niedergelegten echten 
Wissen um die Zukunft. Er kann sich auf diesen Zugang ver- 
lassen, denn Adso verwahrt sich am Eingang seines Traktates 
heftig gegen den Verdacht, seine Aussagen kónnten Erzeugnisse 
seiner Phantasie, seines ‘fingere’? sein, er versichert mit Nach- 
druck, nur die Angaben der Kirchenväter wiederzugeben“. Die 
Absicht des 'fingere', die für den Begriff des Dichtens allmáhlich 
konstitutiv geworden ist, fehlt auch dem Dichter des Ludus 
durchaus. Wo heute die Phantasie ihre Stelle hat, steht hier 
die Autorität. Nun bringt aber die Tatsache, daB es sich nicht 
um schon gewesene und in der Bibel eindeutig beschriebene, 
sondern um noch bevorstehende Fakten der Heilsgeschichte 
handelt, ein Moment der Unsicherheit mit sich und damit die 
Móglichkeit zu freierer Gestaltung — zumal die geltende apoka- 
lyptische Überlieferung nicht ganz einhellig war. Die Freiheit in 
der Ausführung des Ludus ist denn auch — gemessen an Oster- 
und Weihnachtsspielen — sehr erheblich. Sie betátigt sich vor 
allem da, wo die Tradition noch Raum gelassen hat: in den 
Unterwerfungshandlungen, den kaiserlichen und den antichrist- 
lichen, hat der Dichter allgemein gehaltene Bemerkungen seiner 
Vorlage nach seinen Vorstellungen ins Einzelne ausgeführt“. Im 
übrigen hat er den bei Adso gegebenen kompilierten Stoff straff 
zusammengefaßt, alles für seine Zwecke Unbrauchbare wegge- 


* E. Sackur, a. a. O. S. 106. 

38 Adso sagt vom Antichrist nur: ,, Reges autem et principes primum ad se 
convertet .. (Sackur, S. 108), vom Kaiser: „unus ex regibus Francorum Roma- 
num imperium ex integro tenebit" (S. 110). 


Der Ludus de Antichristo 69 


lassen: die unpolitischen Schicksale des Antichrist sind im 
Ludus gestrichen. 

Da erhebt sich die Frage: hat der Verfasser diese seine poli- 
tische Dichtung nicht geschrieben aus der politischen Situation 
seiner Tage? Muß sich im Ludus nicht die Geschichte seiner 
Zeit erkennen lassen? Gerade nach dieser Seite haben sich 
mannigfache Interpretationen am Ludus versucht (im beson- 
deren mit der Absicht, das Spiel zu datieren), ohne einhellige 
Ergebnisse zu gewinnen. Eine gewisse Spiegelung der Zeit- 
ereignisse des 12. Jahrhunderts ist zunáchst nicht zu bezweifeln: 

Der letzte Zug des Kaisers nach Jerusalem und sein Kampf 
mit den Heiden [29)—37)] gewinnt für die Augen dieses Jahr- 
hunderts das Ansehen eines Kreuzzugs, wie umgekehrt die 
Kreuzfahrer apokalyptische Prophezeiungen auf sich bezogen 
haben“. Hilfesuchende Boten der bedrohten Kreuzzugsstaaten 
kamen häufig ins Abendland, das entspricht der Szene 30). Dann 
heißt es 133/134 „Locum, in quo sancti eius pedes steterunt, 
ritu spurcissimo contaminare querunt"', das ist die Sprache der 
Kreuzzugsagitation, wie sie auch der heilige Bernhard geführt 
hatte“. Daß der Dichter den König von Jerusalem der Kreuz- 
zugsgeschichte entnimmt, gehórt in diesen Zusammenhang. 
Unter den Heiden 29) dachte er sich wahrscheinlich die Sara- 
zenen. Dagegen hat sich die Suche nach einer bestimmten Be- 
lagerung Jerusalems, die ihm 30) vorschweben kónnte, als un- 
fruchtbar erwiesen. Man hat nicht beachtet, wie einfach sich 
diese Szene aus Apok. 20, 8 erklárt, wo es von den Vólkern Gog 
und Magog heißt: „circuierunt castra sanctorum et civitatem 
dilectam", Gog und Magog sind überall, auch bei Adso, die 
zuletzt sich empórenden Heiden?!, 


* Unter diesem Aspekt steht z. B. die Schilderung des ersten Kreuzzugs bei 
Frutolf, MG. SS. VI, S. 212. 

® S. Bernhard, Migne S. L. 182, 564ff., epist. 363: es fehlt nicht viel, daß die 
Feinde des Kreuzes „in ipsam Dei viventis irruant civitatem, ut officinas nostrae 
redemptionis evertant, ut polluant sancta loca ... patrum gladiis eliminata est 
spurcitia paganorum". Auf diese Parallele macht Michaelis in anderem Zusammen- 
hang a. a. O. S. 84 aufmerksam. 

n Eine Verwendung von Schriftweissagungen, deren Angabe bei Adso fehlt, 
findet sich mehrfach im Ludus. In 90) wird der Synagoge das velum abgenommen. 
Daß sie dadurch nicht nur den Antichrist erkennt, sondern sich auch zu Christus 
bekehrt, ist allein verständlich aus Prophezeiung des Paulus 2. Kor. 3, 15/16: „Sed 


70 ." Wilhelm Kamlah : ' 


Der Antichrist des Ludus ist nur die apokalyptische Figur, 
an eine polemische Gleichsetzung mit irgendeiner Größe der 
politischen Geschichte ist jedenfalls nicht gedacht. Ebenso 
verhält es sich mit seinen Helfern, den ypocritae. Die 
Menge und Verschiedenartigkeit der Vermutungen, mit denen 
man gerade diese Figuren hat deuten wollen — auf die 
Waldenser, die Hospitaliter, die Templer, auf die neuen Orden, 
die neuen Rechtslehrer usw. — zeigt zur Genüge, daß für solche 
Deutung eine andere Handhabe als die Phantasie nicht zur Ver- 
fügung steht?*, 


usque in hodiernum diem, cum legitur Moyses, velamem positum est super cor eorum 
(der Juden); cum autem conversus fuerit ad Dominum, auferetur velamem." 
Michaelis, &. a. O. S. 71, macht darauf aufmerksam, daB die Katastrophe des Anti- 
christ auf das Stichwort „pax et securitas" nach 1. Thess. 5, 8 zu verstehen ist. 
Übrigens findet sich diese Thess.-Stelle in gleicher Anwendung bei Otto v. Freising, 
Chronica VIII, 8 (Hofmeister, S. 401). 

33 Was die ypocritae für den Dichter abgesehen von solchen Vermutungen sind, wie 
sich also diese Figuren der apokalyptischen Tradition bei ihm darstellen, ist so viel 
mifverstanden worden, daß es einer ausführlichen Klärung dieser Frage bedarf. 
Bei Adso heißt es: „Hic itaque Antichristus multos habet suae malignitatis mini- 
stros, ex quibus iam multi in mundo precesserunt, qualis fuit Antiochus, Nero, Domi- 
tianus. Nunc quoque nostro tempore multos Antichristos novimus esse. Quicumque 
enim sive laicus sive canonicus sive monachus contra iustitiam vivit et ordinis sui 
regulam inpugnat et quod bonum est blasphemat, Antichristus est et minister 
sathane‘‘ (Sackur, S. 105f.). Hier werden unter dem Begriff ,,Antichristen" der 
„eigentliche“ letzte Antichrist und seine „Diener“ zusammengefaßt, jeder von 
ihnen ist ein ,,minister sathane“, sie gehören also alle auf die Seite der civitas 
diaboli. Es liegt nun kein Grund vor, bei dem Verfasser des ludus eine andere 
Auffassung der ypocritae als die ihm durch Adso überlieferte anzunehmen. Die Be- 
zeichnung ,,ypocritae'" für die Vorläufer des Antichrist findet sich auch sonst, z. B. 
bei Otto v. Freising, Chron. VIII (Hofmeister, S. 393). In der Darstellung des 
ersten Kreuzzugs redet Frutolf von pseudoprophetae, die der Teufel erweckt und 
die sub specie religionis auftreten. , Sicque per aliorum hypocrisin atque mendacia 
. .. Christi greges adeo turpabantur, ut iuxta boni pastoris vaticinium etiam electi 
in errorem ducerentur." So werden diese Teufelsdiener auch „seductores“ genannt 
(MG. SS. VI, S. 214f.). Das entspricht ganz den Szenen 61)—72) im Ludus, in denen 
der deutsche König verführt wird. Die ypocritae treten auf „sub silentio et specie 
humilitatis" (d. h. in Wahrheit dienen sie der antichristlichen superbia). Nur der 
deutsche König durchschaut sie 61) und sieht, ,,quod forma mentiatur‘‘ 238. Sie 
sind allerdings Menschen (der Antichrist ist ja auch ein Mensch), aber nicht ,,nur 
verblendete (Meyer, a. a. O., S. & S. 142); im Zusammenhang seiner Argumentation gegen 
Scherer hat er die Beziehung zwischen ypocrisis und ypocritae verkannt. Man kann 
auch nicht sagen, die Ypocrisis und Heresis seien ,, Geister". Sie sind vielmehr Perso- 
nifikationen wie Iustitia und Misericordia) Die seductores sind im Ludus so gut 


Der Ludus de Antichristo 71 


Hat der Verfasser aber nicht ganz gewiß bei seinem Imperator 
an Friedrich I. gedacht? Man hat das vielfach als undiskutierbare 
Selbstverständlichkeit angenommen. Auf den ersten Blick muß 
es scheinen, als sei Friedrich I. im Kaiser des Ludus geradezu 
porträtiert. Woher hätte ein Dichter des 12. Jahrhunderts 
denn sonst das Bild eines mächtigen, überall siegreichen Kaisers 
nehmen sollen? Jedoch: es ist ja kein „historisches Drama“, 
was wir vor uns haben, der Dichter zeichnet nicht die Wirklich- 
keit ab, sondern gestaltet die ihm vorliegende Tradition. In 
dieser Tradition tritt ein mächtiger Endkaiser auf, der alle 
Reiche der Erde sich unterwirft und schließlich in Jerusalem 
seine Krone an Christus übergibt. Der Imperator des Ludus 
zeigt nicht einen einzigen Zug, der nicht aus der Tradition 
seine volle Erklärung fände, von einer konkreteren Gestaltung 


wie in der ganzen Tradition von den „seducti‘' 361 unterschieden; da sie die fides 
nie gehabt haben (im Gegenteil: „Per vos corrupta est fides christianorum" 239) 
gehóren sie nicht zu den omnes ad fidem redeuntes 104) — das sind vielmehr die 
seducti, die im Dienste des Antichrist „pro fide" zu kämpfen glaubten 270, die 
christlichen reges — sondern sie sind die omnes sui 103), die nach der Katastrophe 
des Antichrist die Flucht ergreifen. Wie die Y pocrisis (159ff., 167/68) wissen auch 
sie, daB sie dem Feinde Christi dienen. Sie reden von ihm aber, wie er selber auch, 
den Christen und Juden gegenüber so, daB diese ihn für Christus (den Messias) 
halten müssen 201 ff., 301ff., 305ff., und gerade darin besteht ihre ypocrisis. Wenn 
sie unter sich sind und mit dem Antichrist reden, „heucheln“ sie natürlich nicht, 
sie halten sich auch selbst nicht für ypocritae, sondern sind empórt, als man sie so 
nennt (374. Das ist von Michaelis a. a. O. S. 75 völlig mibverstanden). Die Be- 
zeichnungen ypocritae und Antichrist sind als christliche, verurteilende im Ludus 
(391 klingt „Antichristus“ geradezu wie ein Schimpfwort) noch klar unterschieden 
von den Selbstbezeichnungen dieser Teufelsdiener. In ihrem Lager ist der Anti- 
christ „caput totius mundi“ 245, er nennt sich weder selbst, noch nennen ihn die 
ypocritae jemals „Antichrist“ (dieser Umstand hat wohl gerade die Unterscheidung 
der seductores von den seducti so oft verdunkelt) Das spätere deutsche Antichrist- 
Spiel verfährt nicht mehr so konsequent, im Zusammenhang mit der aufkommenden 
Volksetymologie nennt sich der Antichrist hier selber „Endchrist“. In unserem 
Ludus dagegen erklärt er sich , magnae muros consummans Babylonis" 358 (d. h. 
die Ursünde der superbia auf die Spitze treibend) für den „deus deorum“ (408, 
vgl. weiter 218, 260, 263, 278, 369, 380, 394 usw., überall bizarr gesteigerte Gött- 
liehkeitsprádikate). Um sich als solcher durchzusetzen, spielt er Christus. — Die 
ypocritae tragen übrigens die feststehenden Züge der dogmatischen Gestalt des 
„Ketzers“, vgl. H. Grundmann, Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher An- 
schauung, Kultur- und Universalgescbichte (1927), S. 91ff. Daß Heresis und Ypo- 
crisis miteinander dem Antichrist dienen (so im Ludus), ist ein altes Bestandsstück 
der Tradition. 


72 Wilhelm Kamlah 


dieser Figur über das in der Überlieferung Gegebene hinaus 
findet sich bei genauem Zusehen keine Spur, und daran wáre 
doch allein erkennbar, daß der Dichter Friedrich I. im Auge 
hatte. Mag er also Barbarossa für den geweissagten Endkaiser 
gehalten haben: in der Ausführung der Imperator - Gestalt 
hat er davon jedenfalls nichts gesagt. Wenn die Frage 
überhaupt noch entschieden werden soll, wird man sich nach 
anderen Anhaltspunkten umsehen müssen. 

Was würde es denn bedeuten, wenn man nun wirklich im 
Imperator des Ludus den Staufenkaiser zu erkennen hätte? 
Damit würde das, was im Drama gesagt ist, offenbar ungeheuer 
aktuell. Es hieBe dann nicht allein: was ihr hier seht, wird sich 
alles einmal so ereignen, sondern darüber hinaus: das Erscheinen 
des Antichrist steht schon jetzt vor der Tür, der Endkaiser ist 
schon da, wir stehen vor dem Ende der Welt. Es wäre nicht 
das erstemal, daß man eine solche Verkündigung ausgesprochen 
hätte. Und wenn auch am Imperator des Ludus selbst das 
Bild Barbarossas nicht sichtbar wird, so ist dieser Imperator 
doch identisch mit dem deutschen Kónig im zweiten Teil des 
Spieles, dieser deutsche König aber ist gestaltet aus einem 
stolzen nationalen SelbstbewuBtsein, wie es eben in den Tagen 
Barbarossas sich lebendig regte, und es ist — die Datierung 
auf c. 1160 hat sich ja als die beste behauptet — ganz un- 
móglich, daB der Dichter bei diesen Szenen nicht an den 
deutschen Kónig dieser Jahre, den Führer dieses neuen natio- 
nalen Deutschtums gedacht haben sollte. Der Kaiser, der am 
Ende der Tage die Welt erobert, wird ein deutscher König sein, 
ein Mann wie der Kaiser Friedrich, das ist zum mindesten der 
Gedanke, der im Verfasser lebendig gewesen sein muB. Ob er 
aber darüber hinaus schon Barbarossa selbst für diesen letzten 
rómischen Kaiser gehalten hat, wird auch mit dieser Árgumen- 
tation noch nicht entschieden. Manches spricht jedoch dagegen. 

Für die Schöpfung eines solchen ,,Spieles' mit seinen kunst- 
voll gebauten Versen und seiner ästhetisch geformten ausge- 
glichenen Klarheit erscheint eine gespannte eschatologische Er- 
regung als ein recht ungeeigneter Boden, so etwas gedeiht doch 
wohl nur unter Menschen, die nicht schon den nahe bevor- 
stehenden Abbruch aller irdischen Schönheit erwarten. Sollte 
gar der Ludus selbst die aufpeitschende Botschaft ver- 


- 


Der Ludus de Antichristo 73 


künden: Barbarossa ist der Endkaiser, der Antichrist ist nahe, 
warum hat der Verfasser dann nicht deutlich gesagt, was er 
sagen wollte? Wir kennen ja aus dem 13. Jahrhundert Schriften 
politischer Apokalyptik genug, die mit der Deutung von Weis- 
sagungen auf Personen ihrer Gegenwart ganz und gar nicht 
hinter dem Berge halten, und die álteren Sibyllensprüche deuten 
die Herrschernamen doch wenigstens mit den Anfangsbuch- 
staben an! 

Die Untersuchung muß hier, um zu einer wirklichen Klärung 
zu kommen, noch einmal einhalten zu einer Besinnung auf schär- 
feres Fragen. Spuren der Zeitgeschichte finden sich im Ludus 
zweifellos im Sinne einer ziemlich unbestimmten Spiegelung von 
Situationen des 12. Jahrhunderts (Kónig von Jerusalem, Kreuz- 
zugspredigt, deutsches Nationalgefühl der ersten Barbarossa- 
zeit usw.). Im besonderen suchen wir solche Spuren nun da, 
wo der Dichter die Tradition neu gestaltet. Diese Tradition ist 
eine apokalyptische, d. h.: jede „zeitgeschichtliche“ Bestimmung 
von Personen und Geschehnissen der Tradition wäre Deutung 
geoffenbarter Weissagungen auf die Gegenwart des Verfassers 
und damit eine aktuell apokalyptische Auslegung dieser Gegen- 
wart als der Endzeit der Weltgeschichte. Wir sind solche Deu- 
tung biblischer Weissagungen noch heute gewohnt und finden 
sie im Mittelalter allenthalben. Wie aber wäre es, wenn einmal 
jemand auf diese Auslegungsweise bewuBt verzichtet? Kónnte 
es für solchen Verzicht nicht gute Gründe geben? 

Bisher hat man übersehen, daB die Deutung apokalytischer 
Weissagungen erst im spáten Mittelalter allgemein verbreitet 
ist (seit dem franziskanischen Joachimitentum), daB sie jedoch 
im frühen Mittelalter und noch im 12. Jahrhundert allein bei 
den simplices geläufig, in der hohen Theologie dagegen verpónt 
und verboten war®. Die Kirche schützte sich so vor dem Ge- 
fahrenherd apokalyptischer Erregungen, der ihr spáter so viel 
zu schaffen machen sollte. Von hier aus ist die nach dem bisher 
Gewonnenen schon offenkundige Zurückhaltung des Ludus- 
Dichters in apokalyptischer Deutung nun voll verstándlich: er 
hält sie nicht allein zurück, sondern er vermeidet sie überhaupt. 
DaB er nicht zu den simplices gehórte, sondern über eine gute 


Diese These ist das Ergebnis einer Untersuchung des Verf. über „die Apo- 
kalypsenkommentierung des 12. Jahrhunderts" (erscheint demnáchst im Druck). 


74 Wilhelm Kamlah 


theologische Bildung verfügte, ist ja gewiß nicht zu bezweifeln. 
Wer der Endkaiser, wer der.Antichrist, wer die ypocritae seien, 
das hat er nicht gewuDt und nicht wissen wollen, weil er es nicht 
wissen durfte“. Wohl mag er dieses und jenes vermutet, er- 
wogen, geahnt haben, wohl mógen Leute, die seinem Spiele zu- 
schauten, sehr sichere Vermutungen gewagt haben, greifbar ist 
uns das nicht, und es kann uns nicht greifbar sein. Das Wissen, 
vor dem Ende zu stehen, hat wohl in jeder Generation des 
Mittelalters gelebt. Für dietheologisch Unterrichteten des frühen 
Mittelalters aber ist gerade diese schwebende Unsicherheit be- 
zeichnend: das Ende kann nicht mehr lange auf sich warten 
lassen, vielleicht ist gar der Kaiser schon der geweissagte Welt- 
herrscher, aber: „Es gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder 
Stunde“ (Act. 1,7)*55. Und was man damals nicht wußte, wird 
auch der Historiker von heute in der Interpretation des Ludus 
nicht besser wissen kónnen. 


IV. 


Wir begeben uns, um nun die Position des Autors 
gegenüber Reich und Kirche aufzuspüren, wieder unter 
die Zuschauer. Nachdem Gentilitas und Synagoga eingezogen 
sind, erscheint die Ecclesia mit großem Gefolge. Ihren Aufzug 
muß man sich deutlich vor Augen führen: 


clerus 


„ Misericordia — Apostolicus 


-«— Ecclesia 
tie e e o tin 
Romanus 


Angesichts der Bedeutung, die das Mittelalter der zeremoniellen 
Ordnung einer Prozession zuschrieb, als dem sichtbaren Bilde 
des Aufbaues politischer Würden, hat man in diesem Bühnen- 
aufzug ein Bild der Ordnung zu erkennen, die für den Verfasser 


** Die oben (S. 69) zur Erklärung angezogene Weissagung Apok. 20,8 könnte ja 
immer noch — im Sinne älterer Interpretations versuche — auf eine bestimmte Be- 
lagerung gedeutet sein, aber das ist gerade vermieden. Von hier aus wird auch 
Michaelis’ (a. a. O. S. 81) scheinbar so einleuchtende ,F Deutung“ von Babylon auf 
den gleichnamigen ägyptischen Platz der Araber gans unwahrscheinlich. Babylon 
ist in der biblischen Apokalyptik der Gegensatz zu Jerusalem, im Sinne des Mittel- 
alters die civitas diaboli, und das und weiter nichts ist auch das Babylon des Ludus. 

35 [n diesem Sinne häufig zitiert, z. B. von Augustin unter den abschließenden 
Sützen von De civitate Dei. 


Der Ludus de Antichristo 75 


des Ludus die Mächte dieser Welt bestimmt. Papst und Kaiser 
Stehen in gleicher Hóhe nebeneinander, beide aber sind der 
Ecclesia untergeordnet. Das Papsttum hat nicht etwa die Stelle 
der Ecclesia inne, sondern ist von ihr unterschieden, aber auch 
das Kaisertum ist nicht die Spitze des Systems, es steht eben- 
falls unter der Ecclesia. Suchen wir nach einer zeitgenóssischen 
Interpretation für diesen eigentümlichen Bau, so finden wir sie 
bei Otto von Freising: ,, Nemo autem .... nos Christianum im- 
perium ab ecclesia separare putet, cum duae in ecclesia Dei 
personae, sacerdotalis et regalis, esse noscantur“, und 
weiter sagt er, er habe in seiner Darstellung ‚non iam de 
duabus civitatibus, immo de una pene, id est ecclesia, sed per- 
mixta'' geredet“. Was also hier zugrunde liegt, bei Otto sowohl 
wie im Ludus, ist das Schema: 


. ecclesia 
regnum sacerdotium 

Christus ist beides, sacerdos und rex, die ecclesia umschlieDt 
als die übergeordnete Einheit in sich regnum und sacerdotium?”. 
Das Papsttum ist der Vertreter des sacerdotium. Bemerkens- 
wert ist im Ludus die Einschaltung der Personifikationen in 
den Bühnenaufzug. Misericordia und Justitia sind eschato- 
logische Figuren, sie treten entscheidend hervor im jüngsten 
Gericht. 

Kurz nach den eben zitierten Sätzen fährt Otto von Freising 
fort: ,,Porro ecclesiam ecclesiasticas personas, id est sacerdotes 
Christi eorumque sectatores, tam ex usu locutionis quam consi- 
deratione potioris partis diximus ....'. Der Gebrauch des Be- 
griffs ecclesia in der besprochenen Spielanweisung des Ludus 
wie auch in den vorausgehenden Sátzen Ottos ist also der 
theologisch-gelehrten Sprache vorbehalten, der usus locutio- 
nis dagegen meint mit ecclesia einfach die sacerdotische 


** Chronica VII, Prolog (Hofmeister, S. 309). 

V Dieses Schema ist mittelalterlich und keineswegs augustinisch. 
Erst die mittelalt. Augustin-interpretation hat es in Augustin hinein- 
gelesen und neuerdings E. Bernheim (Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem 
Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung I, 1918, S. 110ff.). 


76 Wilhelm Kamlah 


Kirche. Und dieser Sprachgebrauch hat in Ottos Augen auch 
unter der theologischen Perspektive ein gewisses Recht, denn 
das sacerdotium ist ja die potior pars, regnum und sacerdotium 
halten sich nicht die Wage, das sacerdotium hat vielmehr das 
Übergewicht. Schon Gelasius I. hat das ganz unmißverständlich 
ausgesprochen®. Um das Mehr oder Weniger dieses Über- 
gewichtes, um seinen Sinn und um die symbolischen und recht- 
lichen Formen, in denen es sich darstellt, ist das ganze Mittel- 
alter hindurch gestritten worden. Was für eine Position nimmt 
der Ludus-Dichter ein in diesem Streit? Daß dem Papst die 
höhere Würde zukommt, erkennt er an: er läßt ihn rechts gehen. 
Aber das ist auch alles und entspricht althergebrachter Norm. 

Daß es wirklich alles ist, läßt sich natürlich nicht mehr an 
diesem Aufzug, sondern nur an dem ganzen Verlauf des Ludus 
sehen. Dabei kommt es vor allem auf die Klärung der Rolle 
des Papstes an. Von seiner „Rolle“ ist eigentlich gar nicht zu 
reden, denn er fungiert nur als stumme Person. Darin darf man 
allerdings nicht — wie es vielfach geschehen ist — schon eine 
absichtliche Mißachtung des Papsttums sehen. Denn in der zu- 
grunde liegenden apokalyptischen Tradition, vor allem auch 
bei Adso, kommt der Papst nicht vor. Der Dichter setzt ihn 
ein, um das geschlossene Bild des mundus zu zeigen“. 0 Bei 
der sorgfáltigen Beobachtung der Tradition, deren er sich be- 
fleiBigt, hátten also ganz besondere Gründe vorliegen müssen, 
wenn er den Papst in die Handlung hätte einführen sollen. 
Solche Gründe hat es für den Dichter nicht gegeben. Daß 


39 ep. 12 an Kaiser Anastasius, 494 (C. Mirbt, Quellen, 4. Aufl., S. 85). 

3 S. o. S. 61. 

% A. Brackmann sagt in seinem Aufsatz: „Die Wandlung der Staatsanschau- 
ungen im Zeitalter Kaiser Friedrichs I.“, H. Z. 145, S. 1ff. (der erst nach Abschluß 
der vorliegenden Untersuchung erschien) über den Dichter des Ludus: ,,.... von 
diesen Gewalten, die beide ihr Recht aus Gott ableiten, interessiert den Dichter als 
Glied des Rainaldschen Kreises nur die kaiserliche, und der Papst spielt eine Neben- 
rolle“ (S. 16). Der Ausdruck „ Nebenrolle“ ist geeignet, Mißverständnisse hervor- 
zurufen, und die in diesem Zusammenhang vermutete Zugehörigkeit des Dichters 
zum Rainaldschen Kreis (Br. stellt ihn schon vorher S. 15 und S. 13, A.2 mit dem 
Erzpoeten zusammen) geht wohl einen Schritt zu weit (s. u.). So unmittelbar wie 
der Archipoeta spricht der Verfasser des Ludus eben gar nicht von Friedrich L, 
wenn er „imperator“ sagt (s. o. Abschn. III.). Macht man diese Einschränkungen, 
so läßt sich der Ludus sehr wohl als Zeuge aufrufen für die von Br. beschriebene 
»Wandlung der Staatsanschauungen" unter Friedrich I. 


Der Ludus de Antichristo 77 


diese Einführung an sich möglich gewesen wäre, beweist die 
Rolle der Ecclesia, die ja auch in der Tradition nicht vorkommt 
und vom Verfasser erdacht worden ist, weil er nicht allein im 
Bühnenaufbau, sondern auch in der Handlung die Weltordnung 
erkennen lassen will. Soviel also kann man sagen: ein ent- 
schlossen päpstlich gesinnter Verfasser hätte wohl, ohne der 
Tradition etwas abzubrechen, eine Rolle für den Papst gefunden, 
die ihn zwischen Verführung zum Unglauben und antichrist- 
lichen Schlägen [48)!] ehrenvoll hindurchgeführt hättet. 

Das Übergewicht des sacerdotium gegenüber dem regnum, 
dessen Sinn in der geistlichen Disziplinargewalt des Priesters 
über den Laien unbestritten bleiben mußte“, bekam durch 
Gregor VII. zuerst einen politischen Sinn als Oberlehnsherr- 
schaft des heiligen Petrus über die regna der Welt. Seitdem ist 
diese Politisierung des päpstlichen Primates der Gegenstand 
heißer Kämpfe, gerade auch in den ersten Regierungsjahren 
Barbarossas. Die Auseinandersetzungen um das bekannte 
Bild Lothars im Lateran und noch mehr der Streit von Besancon 
zeigten mit aller Deutlichkeit, wie wenig man bei der Kurie die 
Gregorianischen Ansprüche aufgegeben hatte, wie entschlossen 
man anderseits auf kaiserlicher Seite daran festhielt, auch nicht 
den Schatten einer päpstlichen Lehnshoheit aufkommen zu 
lassen. Auf dem Hintergrunde dieser Kämpfe gewinnt die 
Ausschaltung des Papsttums aus der politischen Handlung des 
Ludus die Bedeutung einer klaren Entscheidung gegen jene 
kurialistischen Bemühungen. 

Die gregorianischen Pläne mußten ja, wie Gregors VII. 
Politik und ebenso wieder die Innozenz’ III. zur Genüge zeigt, 
zu einer Auflösung der christlichen Welt in einzelne regna 
führen, deren jedes eine selbständige Lehnsbeziehung zum 
Papsttum eingeht. Demgegenüber bringt die staufische Politik 


€ Natürlich darf man in der Tatsache, daB der Papst überhaupt ohne Grund- 
lage in der Tradition auf die Bühne gebracht wird, nun auch nicht umgekehrt schon 
Sympathien für die Kurie erkennen wollen — dieser von Michaelis (a. a. O. S. 82) 
gezogene SchluB ist genau so voreilig wie der vorher abgewehrte entgegengesetzte —, 
denn aucb der radikalste Imperialist jener Tage konnte, wenn er schon den Bau 
der Weltordnung darstellen wollte, niemals darauf verfallen, das Papsttum dabei 
einfach wegzulassen. 

* Und deshalb geht der Papst im Ludus rechts vom Kaiser. 


78 Wilhelm Kamlah  . 


den Anspruch auf Überordnung des Kaisertums über alle regna 
schon in den ersten Jahren Barbarossas wieder nachdrücklich 
zur Geltung. .Wenn Reinald vom Dassel die außerdeutschen 
Könige reges provinciales“ nennt, so ist das zwar in Anbetracht 
der realen Machtverhältnisse eine Überspannung, im Sinne des 
imperialen Gedankens jedoch durchaus konsequent“. Daß auch 
den fremden Königen selbst solche Vorstellungen begreiflich 
waren, zeigt jener Brief des Kónigs Heinrich II. an Barbarossa 
aus dem Jahre 1157, in dem Heinrich die Überlegenheit des 
imperium gegenüber seinem regnum durchaus anerkennt“. 
„Reges ergo singuli prius instituta nunc Romano solvant inperio 
tributa", so heißt es im Ludus 55/56, das ist ganz im Sinne des 
staufischen Reichsgedankens gesprochen. Allerdings ist die 
Unterwerfung aller Reiche der Welt durch den Endkaiser schon 
in der sibyllinischen Überlieferung vorgezeichnet und insofern 
natürlich nichts spezifisch ,,Staufisches'. Aber daß diese Prophe- 
zeiungen hier überhaupt aufgegriffen werden, ist schon hoch be- 
deutsam. Bernheim beachtet mit Recht, daß „Autoren, die sich 
besonders lebhaft auf die Sibyllinen berufen, wie Liutprand 
von Cremona, Benzo von Alba, Gottfried von Viterbo, ausge- 
sprochenste Parteigänger des Kaisertums sind““ . Die Ver- 
mutung, daß auch der Dichter des Ludus im Zusammenhang 
jener neuen staufisch-imperialistischen Bewegung steht, ist 
damit nahegelegt. 

Der universale Herrschaftsanspruch des imperium ist ge- 
gründet in der Universalität der ecclesia. Dieser Unterbau ist 
auch im Ludus der eigentlich tragende und wird als solcher 
immer wieder sichtbar. Die Ecclesia nimmt zusammen mit 
Papst und Kaiser den gleichen Standort auf der Bühne ein 8). 
Dieser Standort wird zuweilen einfach als ‚imperium‘‘ bezeichnet 
130) und 31)). Der König von Jerusalem schickt seine Boten 
„ad imperium“, sie sollen der Ecclesia von ihrem Unglück 


J. Ficker, Reinald von Dassel (1850), S. 48. 

* Vgl. A. Brackmann, a. a. O. S. 14f. Über „reguli provinciarum“ bei Benzo 
v. Alba vgl. P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio I (1929), S. 271. 

4 H. Simonsfeld, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Friedrich I., Bd. I 
(1908), S. 563. Von der Frage, wieweit diese Unterwürfigkeit ehrlich und wieweit 
sie diplomatisches Entgegenkommen ist, kann in diesem Zusammenhang abgesehen 
werden. | E 

Bernheim, a. a. O. S. 153. 


Der Ludus de Antichristo 79 


melden 126 und reden dann den Imperator an 129; dieser 
unbeabsichtigte Wechsel der Ausdrücke zeigt deutlich genug, 
daB sich der Herrschaftsumfang des imperium mit dem der 
ecclesia deckt. Daher kann in einer eigentümlichen Redeweise 
auch dieser Umfang selbst als ,,tota ecclesia" bezeichnet werden 
29), im Sinne des späteren Sprachgebrauchs von „Christenheit“ 
für die Gesamtheit der christlichen Völker. Da es hier heißt, 
die tota ecclesia ist dem imperium Romanum unterworfen, ist 
die Unterscheidung dieses Begriffes ecclesia von dem sonst im 
Ludus gebrauchten ganz deutlich. Der Herrschaftsanspruch 
des imperium und der ecclesia ist aber nicht auf die ,,Christen- 
heit“ beschränkt, sondern erstreckt sich über den totus mundus. 
Daher müssen zu seiner vollen Erfüllung auch noch die Heiden 
unterworfen werden. Für diese ist solcher Anspruch super- 
stitio 117, als Heiden kónnen sie nicht sehen, was die ecclesia 
ist, daB ihr nach Gottes Willen die ganze Welt gehórt, sie 
sehen nur eine „secta“ 118, 124. Das Ineinanderliegen des 
Anspruchs von ecclesia und imperium wird gerade im Gegen- 
satz gegen die Heiden besonders deutlich, der übliche Ehren- 
name des Kaisers ,,defensor ecclesiae" 129 kommt nicht 
zufällig an dieser Stelle vor. Hinter der ecclesia steht ihr 
Herrscher Christus, Gott, die Heiden sind „inimici Domini“ 
130, , nostrum auxilium" (136 vom Kaiser gesagt) ist in sich 
ohne weiteres „auxilium dei“ 144, die zum Ausharren auf- 
rufende Rede der Gesandten kann vom „angelus domini" 34) 
einfach aufgegriffen und fortgesetzt werden. Es ist beachtens- 
wert, daB die Ecclesia nach der Abdankung des Kaisers im 
Tempel bleibt, nämlich bei den Insignien des Kaisertums, bei 
dem imperium*. Damit soll die Zusammengehörigkeit von 
ecclesia und imperium sichtbar gemacht werden, die Auseinan- 


© Der alte Standort des Kaisers heißt nachher nicht mehr ‚„imperium‘“‘, sondern 
— und das ist nun in diesem Zusammenhang eine Art Notbehelf — , sedes apostolici“ 
48). Michaelis (a. a. O. S. 82) ging völlig in die Irre, wenn er aus dieser Stelle auf 
eine besonders bevorzugte Stellung des Papstes schlieBen wollte, weil die Kirche 
bei ihm Zuflucht finde. Es steht nicht da „refugiet“, sondern nur „ redibit", da die 
Ecclesia aus dem Tempel herausgeworfen ist und nicht mitten im Spielfeld stehen- 
bleiben kann, geht sie auf ihren alten Standort zurück. An irgendwelchen Schutz 
von seiten des Papstes ist dabei nicht gedacht. Der Papst ist auch nicht, wie Mi- 
chaelis meinte, der einzige, der dem Antichrist widersteht, der Antichrist kümmert 
sich ja gar nicht um ihn. 


80 Wilhelm Kamlah 


derreißung erfolgt erst durch das gewalttätige Eingreifen des 
Antichrist 48). Durch den Fall des Antichrist wird die Eccle- 
sia in ihre eigentliche Herrschaftsstellung wieder eingesetzt, 
nimmt die Wiederbekehrten auf 104) und bekundet sich im 
Anstimmen des abschließenden Lobgesanges noch einmal als 
die letzte entscheidende Größe, der gegenüber auch dem im- 
perium nicht mehr als zeitliche Vorläufigkeit zukommt. 

Ist also die Universalität des imperium im ganzen Ludus 
immer wieder sichtbar als in der Universalität der ecclesia ge- 
gründet, so scheint es merkwürdig, wenn der Kaiser selbst in 
seiner Einleitungsrede 49ff., die doch gerade die Gültigkeit seines 
universalen Anspruches erweisen soll, von der ecclesia gar nicht 
redet und auch nicht von Gott oder Christus. Für den Herr- 
schaftsanspruch des imperium gegenüber dem totus mundus 50 
wird hier vielmehr das überkommene Recht ins Feld geführt, 
die „scripta historiographorum“ 49 werden als Beweisgrundlage 
herangezogen, der Kaiser tritt auf als Erbe des alten Rómer- 
reichs, das durch die „desidia posterorum'' in Verfall geraten 
ist und nun wiederhergestellt werden soll im Sinne eines 're- 
petere 54%. Gerade diese Erwartung einer Erneuerung des 
Rómerreiches ist von jeher der Nerv sibyllinischer Prophezei- 
ungen und wird auch bei Adso deutlich ausgesprochen®. Fried- 
rich I. hat solche Gedanken, nachdem sie schon durch alle 
vorangehenden Jahrhunderte in wechselnder Gestalt lebendig 
gewesen waren, mit neuer Betonung aufgegriffen und sich durch- 
aus als Rechtsnachfolger der rómischen Cásaren gefühlt. Es 
liegt also wieder die Vermutung nahe, daB der Ludus im Zu- 
sammenhang mit dem neuen Erwachen des renovatio- Gedankens 
unter Friedrich I. zu sehen ist““. 


** 101ff. kehren die Verse 49ff. wieder, mit der Änderung von „fiscus fuerat" 
zu „fiscus est“. Gerade die Tatsache, daB es gleichgültig ist, ob man „est“ oder 
fuerat" sagt, zeigt die Selbstverstándlichkeit, mit der man „die Römer“ von heute 
für die Rechtsnachfolger der Rómer von einst ansah. 

1* S. oben S. 68, Anm. 28. 

9 Dagegen finden sich im Ludus von der neuen Anknüpfung an das römische 
Recht, die von Bologna ausgehend auf dem roncalischen Reichstag zum ersten Male 
wirksam wird, noch keine Spuren. „Ius Romanum" heißt 64 nicht „römisches 
Recht" im besonderen Sinne, sondern allgemein etwa soviel wie „das Recht der 
römischen Herrschaft‘, das geht deutlich aus 77 hervor, wo imperii ius offenbar im 
gleichen Sinne gebraucht ist. 


Der Ludus de Antichristo 81 


Beide Begründungen des universalen imperium, die aus der 
ecclesia und die aus der Rechtsnachfolge der römischen Kaiser, 
stehen im Ludus nebeneinander, wie im Mittelalter auch sonst. 
An den Versuch, das alte Rómerreich in der christlichen Welt- 
ordnung, nàmlich in der Schópfungsordnung zu begründen und 
etwa dadurch die Eigenstándigkeit des Imperium gegenüber der 
erst von Christus gestifteten sacerdotischen Kirche zu sichern 
— diese Argumentation sollte unter Friedrich II. in den Kampf 
geworfen werden — ist im Ludus noch nicht gedacht, der Ver- 
fasser bleibt in der Bestimmung des Verhältnisses von Kaisertum 
und Papsttum vielmehr allein bei jener anderen Möglichkeit: 
er zerschlägt die gewöhnliche Ineinssetzung von Kirche und 
römischer Kirche, unterscheidet beide Größen deutlich von- 
einander, rückt das Papsttum in parallele Stellung zum Kaiser- 
tum und ordnet den theologischen papstfreien Begriff von eccle- 
siaum so nachdrücklicher dem Ganzen über. Das alte vor-gregoria- 
nische System gab ihm dazu die Handbabe, das Papsttum hatte 
ja erst das Verhältnis von sacerdotium und regnum immer mehr 
zu ungunsten des letzteren verschoben, und diese Theologen 
aus dem kaiserlichen Lager — als solchen hat die Untersuchung 
den Ludus-Dichter nun erkennen lassen? — mußten sich für 
die konservativen Bewahrer der alten Lehre halten. Eine revo- 
lutionär „weltliche“ Begründung des regnum lag ihnen gänzlich 
fern. Niemand hätte ja auch das Papsttum als Trägerin der 
Kirche anerkennen und dann noch erfolgreich angreifen kónnen. 


9! Der Verfasser gehört gewiß nicht in die von Gerhoh vertretene asketische 
Richtung. Er wird ja durch Gerhohs Kritik am geistlichen Spiel indirekt geradezu 
angegriffen. Sollte er Kanoniker gewesen sein, so hat er jedenfalls nicht einem re- 
gulierten Stifte angehórt. Denn in den nach der Regel Augustins lebenden Stiftern 
Oberdeutschlands herrschte zweifellos der Geist Gerhohs (zu Gerhohs Kampf für 
die Regulierung vgl. W. Ribbeck, Gerhoh von Reichersberg ... (Forsch. z. dt. 
Gesch. 24, 1883), S. 8, 11). Nach alledem sind die Verse 171—174 als ein bóser 
Scherz zu verstehen, die Schlagworte der Reformer sind offenbar mit Absicht gerade 
den ypocritae in den Mund gelegt. (Nur darf man daraus noch nicht schlieBen, 
daß der Autor die Reformer für die besonderen endzeitlichen Antichristdiener ge- 
halten hat.) Ähnlich äußert sich Creizenach (a. a. O. S. 75f.) und weist mit Recht 
auf den Archipoeta hin; es liegt in der Tat nahe, den Verfasser des Ludus in irgend- 
einem Zusammenhang mit jenen Dichtern in der Umgebung des kaiserlichen Hofes 
zu suchen. Man wird ihn aber, wenn man an diesem Hofe die Gemäßigten (Otto 
von Freising) und die Radikalen (Reinald von Dassel) unterscheidet, wohl eher zu 
der ersten als zu der zweiten Gruppe rechnen müssen. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 6 


Je papstfeindlicher man sein wollte, um so weniger durfte man 
kirchenfeindlich sein, das zeigt nicht nur dieses Spiel als die 
Schópfung eines theologisch denkenden Kopfes, die kaiserliche 
Politik hat das — natürlich ohne derartige Reflexionen — genau 
so gut gewußt®?. 
V. | 
Der Ludus verdankt seine allgemeine Hochschátzung nun 
aber weniger den Dingen, von denen bisher die Rede war, als 
vor allem dem deutschen Nationalgefühl, das in seinen Versen 
spürbar wird. Es ist ein Nationalgefühl des Schwertes, bestimmt 
durch den Waffenstolz jener Blütezeit des Rittertums: „Ex- 
cellens est in armis vis Teotonicorum“ 227, „est cum Teotonicis 
incautum preliari“ 230. Innerhalb der Szenen, in denen der 
Antichrist sich die Welt unterwirft, verläuft die Handlung 
zwischen Antichrist und deutschem König ganz und gar gegen 
das Schema, demzufolge es 235 heißen müßte: „Libenter ex- 
hibeo ....‘ [wie 51) und 57)]. Statt dessen fährt der König 
die ypocritae an, sie flüchten ‚confusi‘‘'® zurück zum Antichrist. 
Die höchste Ehre aber erweist der Dichter dem deutschen 
König, indem er ihn nun das ganze antichristliche Heer über 
den Haufen werfen läßt. Und später besiegen die Deutschen 
im antichristlichen Dienst den König von Babel, überall, wo 
sie Schlachten schlagen, bleiben sie Sieger“. 
sanguine patriae honor est retinendus, 
virtute patriae est hostis expellendus. 
Ius dolo perditum est sanguine venale. 
Sic retinebimus decus imperiale“ [271— 274]. 


53 In der berühmten Encyclica nach dem erregten Auftritt von Besançon 
z. B. (Otto v. Fr. Gesta Friderici, Forts. v. Rahewin, 11I, 11, v. Simson, S. 178f.) 
herrscht zwar durchaus der Begriff der ecclesia des „usus locutionis" (für unitas 
zwischen regnum und sacerdotium Z. 10 kann auch gesagt werden „unitas aecclesiae 
et imperii" Z. 26, der Papst wird sogar als „caput sanctae aecclesiae“ bezeichnet 
Z. 5) und doch wird gerade die vom Papste drohende Gefahr „totum corpus aecclesiae 
commaculari" Z. 9 genannt. „Pax aecclesiarum imperialibus armis conservanda" 
Z. 3, das sieht der Kaiser als seine ihm von Gott gesetzte Aufgabe auch und gerade 
im Kampfe gegen einen Papst. 

53 S. o. S. 66. 

5 DaB sich der deutsche Ritter dem Fremden im Schwertkampf überlegen 
fühlte, schildert auch Fr. G. SchultheiB, Geschichte des deutschen Nationalgefühls I 
(1893), S. 213f. Die Meinung der Zeit entsprach diesem Stolz, — bis zum Umschwung 
durch die Schlacht bei Bouvines. 


Der Ludus de Antichristo 83 


An dieser einzigen Stelle des Ludus findet sich das Wort patria, 
hier wird auch der eigentliche Gegenstand des deutschen nati- 
onalen Stolzes jener Tage genannt: „decus imperiale“ 8. Sofern 
das nicht mehr der Imperator sagt, sondern der deutsche Kónig, 
nachdem er auf das imperium verzichtet hat, zeigt sich hier 
unmiBverstándlich eine nationale Seite jenes stauflschen Im- 
perialismus. Er war getragen von der nationalen Energie des 
deutschen Volkes, vor allem des deutschen Rittertums, die 
Deutschen sahen ihren Stolz (honor 271) in jenem ,,Kaiserglanz'' 
— wie man decus imperiale geradezu übersetzen kann. Ihm 
zuliebe wagt der Autor einmal sogar eine Abweichung von der 
Tradition, oder er benutzt doch eine von seiner Quelle offen- 
gelassene Möglichkeit in auffällig eigenwilliger Weise. Nach 
Pseudo-Methodius stirbt der Kaiser, sobald er in Jerusalem die 
Krone abgelegt hat““. Adsos Meinung ist das zweifellos auch, 
es ist nicht durchsichtig, warum er das weitere Schicksal des 
Kaisers nach dem Thronverzicht nicht ausdrücklich erwähnt. 
Das macht sich der Verfasser des Ludus seiner Absicht gemäß 
zunutze: er läßt den Kaiser am Leben 38), ja, er läßt ihn als 
deutschen König nun noch eine ganz hervorragende Rolle spielen. 
Damit will er sagen: „Der Kaiser ist der deutsche König, das im- 
perium gehört den Deutschen.“ Und noch in anderer Weise gerät 
er durch solche Gedanken in ein merkwürdiges Mißverhältnis zur 
Tradition. In der Meinung der apokalyptischen Weissagungen be- 
steht der Zusammenhang zwischen dem Thronverzicht des Kaisers 
und dem Auftreten des Antichrist in Gottes Weltplan, eines muß 
dem andern folgen im Sinne des eschatologischen ,,oportet im- 
pleri‘‘5”. Darum tritt der Antichrist im Ludus auf mit den Worten: 
„mei regni venit hora“ 151. Das bedeutet nicht etwa: „Jetzt ist 
eine günstige Gelegenheit für mein Erscheinen“, sondern es heißt: 
„Der geweissagte Augenblick ist jetzt da“ s. Nun sagt aber später 
der Kónig von Jerusalem zum deutschen Kónig: 


9 274 ist zu verstehen im Gegensatz zu 215. 

Bei Sackur S. 94. 

V Luc. 22, 37, 1. Kor. 15, 53. 

Weil diese Stunde schon lange da war — nämlich im Weltplan Gottes — 
kann gesagt werden, sie „ist gekommen“. Damit schließt sich der Dichter an den 
Sprachgebrauch der Bibel an, vgl. z. B. Mark. 14, 41 ,,venit hora“, diese Wendung 
vor allem im Johannesevangelium sehr häufig. Vgl. auch Adso „ .. ea hora se- 
culum iudicabit, qua ante secula iudicandum esse prefixit" (Sackur, S. 113). 


6* 


84 Wilhelm Kamlah 


„Romani culminis dum esses advocatus, 
sub honore viguit ecclesiae status. 
Nunc tuae patens est malum discessionis“ [191—193]. 


Das heißt also: „Solange der deutsche König Kaiser war, stand 
alles gut in der Kirche, und die Folge seines Kronverzichts ist 
nun das größte Unheil“. Hier wird von Gottes Weltplan völlig 
abgesehen, dagegen wird ein kausaler Zusammenhang zwischen 
jenem Rücktritt des Kaisers und dem antichristlichen Verderben 
hergestellt, eine Betrachtungsweise, die mit der eschatologischen 
sich nicht vereinigen läßt; was der Kaiser nach der Tradition 
tun muß als eine heilige Tat, erscheint hier in ganz anderer Per- 
spektive als etwas, was er eigentlich hätte unterlassen sollen. 
Der Verfasser will also sagen: auch die Kirche ist darauf ange- 
wiesen, daB die Deutschen das imperium haben. 

Imperium und regnum sind streng geschieden, der König 
kehrt nach seiner Abdankung nicht auf das ,imperium" zu- 
rück, sondern er besteigt einen Kónigsthron, der ja eigens zu 
diesem Zweck von Anfang an aufgestellt ist. Der Standort 
des Kaisers ist also „imperium“ nicht etwa dadurch, daß 
der Imperator darauf thront — denn dann brauchte er ja 
nach seiner discessio nicht auf den andern Thron zu gehen. 
Auch wenn es keinen imperator mehr gibt, gibt es immer noch 
ein imperium. Was ist dann aber dieses imperium? Jedenfalls 
nicht die reale Herrschaft eines imperator, sondern jene GróBe 
der göttlichen Weltordnung, die ihre Universalität schon in sich 
selber hat durch ihre Bezogenheit auf Gott und auf die Welt. 
So sehr also eine nationale Bewegung nach diesem imperium 
als hóchstem Ziele greifen kann, so ist doch in der Begründung 
des imperium-Gedankens selbst für nationale Motive durchaus 
kein Raum, diese Begründung ist vielmehr schon vorher fertig 
und kann nur akzeptiert werden. Das imperium war schon da, 
als es die Deutschen noch nicht hatten, und es ist auch noch da, 
wenn die Deutschen darauf verzichten. Dieser Imperialismus 
ist nicht entfaltet aus einem nationalen Keim, wie der alte 
rómische, sondern er ist von vornherein universal. Allein weil 
der alte national-rómische Imperialismus in der Spátantike ent- 
nationalisiert und durch das griechisch-christliche Denken philo- 
sophisch-theologisch interpretiert worden war, konnte er über- 
haupt eine translatio vertragen. Nur so konnte das imperium 


Der Ludus de Antichristo 85 


als Erbgut an die Deutschen kommen, so daB ihr Imperialismus 
immer eine renovatio, ein repetere [54] sein mußte. Anderseits 
aber fehlte jede innere Möglichkeit, das imperium in seiner schon 
gegebenen universalen Struktur an neue nationale Kráfte an- 
zuschlieBen. Darum konnte dieses Reich seine alte Signatur als 
„römisches“ ungehindert beibehalten, darum verfällt der Ludus- 
Dichter so wenig wie irgendein anderer Deutscher des Mittel- 
alters darauf, von einem „deutschen“ imperium zu reden. So- 
lange aber der nationale Imperialismus sich nicht aus einem na- 
tionalen Gedanken zu begründen vermag, sondern das uni- 
versale Imperium übernimmt, muß er immer wieder den 
Boden unter den Füßen verlieren und zum universalen Im- 
perialismus umschlagen. Diese Tragik des mittelalterlich-deut- 
schen Nationalgefühls zeigt auch der Ludus: der deutsche Kaiser 
wird als Deutscher überhaupt erst erkennbar, als er aufhórt, 
Kaiser zu sein. Der universale Gedanke hatte immer wieder die 
Kraft, den nationalen zu überbieten und schließlich in den 
Schatten zu stellen. So geht die Entwicklung von Otto I. zu 
Otto IIT. und wieder von Friedrich I. zu seinem Sohn und 
Enkel. Und somit erklärt der Ludus auch in sich selbst, warum 
er als Zeugnis eines deutschen Nationalgefühls so einzig dasteht, 
warum es Ähnliches so selten in der deutschen Dichtung des 
Mittelalters gibt. 

Dieser nationaldeutsche Imperialismus setzt sich im Ludus 
auseinander mit den widersprechenden Ansprüchen der Fran- 
zosen. Der französische Mönch Adso läßt einen „rex Francorum“ 
als Endkaiser die Welt unterwerfen. Dagegen empört sich der 
Dichter, er will Adso richtig stellen und den wahren römischen 
Kaiser zeigen. Die Reden des Frankenkönigs und der kaiserlichen 
Gesandten 69— 80 sind eigentlich eine Auseinandersetzung 
des Dichters mit seiner Vorlage. In dieser Antithese ist er ge- 
zwungen, den ungewöhnlichen Titel „rex Teotonicorum‘‘5® zu 


% Darüber Fr. Vigener, Bezeichnungen für Volk und Land der Deutschen vom 
10. bis zum 13. Jahrhundert (1901, S. 230 und 67). Otto v. Freisings Neigung, die 
Deutschen noch im Zusammenhang der Franken zu sehen (Vigener, S.13f.) ist dem 
Ludus fremd. Die Deutschen und „ Franzosen“ nennt er mit den (außerhalb des 
deutschen Königstitels) üblichen einfachen Namen Teotonici und Franci. Das 
deutsche Land bezeichnet er nicht mit Hilfe von Teutonicus, sondern mit „ Ger- 
mania" |267]. So steht 251 das Land „ Germania“ für „die Deutschen“. 


86 Wilhelm Kamlah 


gebrauchen, denn der übliche „rex Romanorum“ bringt eben 
gerade nicht zum Ausdruck, daB es sich um den deutschen 
Kónig handelt. Wenn er sich damit gegen Adso wendet — 
während spätere deutsche Antichristdichtungen Adso einfach 
folgen? — so bekämpft er nicht eine vor Jahrhunderten einmal 
aufgestellte literarische These, sondern die franzósischen Macht- 
ansprüche seiner eigenen Zeit. Jenen Brief, der damals in Frank- 
reich umging und der von Ludwig VII. als von dem geweis- 
sagten Endkaiser und Eroberer des Ostens redetf!, wird er ja, 
wenn er ihn vorher noch nicht kannte, durch Otto von Freising 
kennengelernt haben, der ihn im Vorwort zu den Gesta Friderici 
zitiert. 

Die regna des griechischen Kónigs und des Kónigs von Je- 
rusalem werden in den Unterwerfungsszenen beide Male sche- 
matisch gezeichnet, durchbrochen wird das Schema nur zu- 
gunsten bestimmter Aussagen über das regnum der Franken und 
das der Deutschen. Der nationale Gegensatz gegen die Fran- 
zosen hindert den Dichter nicht an ritterlicher Achtung vor 
ihrem valor in militia 57, bei dem Frankenkönig als einzigem 
heißt es 17) „cum honore dimissus" *?, Der Theologe im Autor 
hält dagegen die subtilitas 223 der Franzosen für eine gefähr- 
liche Wegbereitung des Antichrist. Ob der nur beim franzó- 
sischen König erwähnte Lehnkuß auch eine besondere Beziehung 
der Franzosen zum Antichrist zeigen soll, ist schwer zu sagen. 
Der deutsche König empfängt ‚die noch höhere, eigentlich 
königliche Auszeichnung der Schwertreichung“ “. Wie die drei 
geweissagten Verführungsmethoden des Antichrist (terror, mu- 
nera, miracula) auf die Griechen, Franzosen und Deutschen ver- 
teilt werden, ist oft beobachtet worden“. Der deutsche König 
erscheint so als electus und übertrifft auch ohne Kaisertum den 


* Vgl. Fr. Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage (1896), 
S. 55 und 59ff. 

*! Vgl. dens. S. 63f. und Fr. Kern, Die Anfänge der französischen Ausdeh- 
nungspolitik (1910), S. 13. 
. . * Der Begriff „honor“ hat überhaupt eine hervorragende Stelle im Ludus, 
vgl. 91/92, 93 [217], 95—98, 20), 21), 213, 271, 372, 

€ Michaelis, a. a. O. S. 85. 

* Michaelis (ibid.) hat diese Verteilung richtig so erklärt, daß damit den Fran 
zosen nicht im besonderen Bestechlichkeit angehängt werden soll. 


Der Ludus de Antichristo 87 


Franzosenkónig noch weit. Immerhin àufert sich die nationale 
Gegnerschaft gegen Frankreich im ganzen maßvoll, von der 
scharfen Gespanntheit nationaler Gegensätze, wie sie spätere 
Jahrhunderte brachten, sind wir hier noch weit entfernt. 


Während die Meinung des Verfassers über Papsttum und 
Kaisertum sich greifen läßt, ohne eigentlich hervorzutreten als 
etwas, was er ausdrücklich aussprechen will, könnte ihm die 
Absicht, gegen die französischen Ansprüche das Imperium als 
rechtmäßiges Besitztum der Deutschen zu erweisen, wohl die 
konkrete Veranlassung für die Ausarbeitung des Ludus gewesen 
sein. Jedenfalls ist ihm die nationalpolitische Seite seiner Auf- 
gabe offenkundig so aktuell, daß es schon von hier aus — wenn 
wir andere Argumente nicht hätten — abwegig scheinen müßte, 
sein leitendes Interesse in apokalyptischer Weissagungsdeutung 
zu suchen. Natürlich ändert das nichts an dem tragenden Sinn 
des Spieles: es stellt die Heilsgeschichte der Endzeit dar. Diese 
Sinngebung ist ja nicht Sache des Verfassers. Es ist sehr wohl 
möglich und geschieht allenthalben, daß einer eine Sache unter- 
nimmt, die ihren Sinn in sich selber hat, und daß er sie doch 
unternimmt mit nebenherlaufenden oder gar veranlassenden 
„persönlichen“, d. h. an seine konkrete Situation gebundenen 
Motiven. Diese Motive sind im Verfasser des Ludus so mächtig, 
daß sie ihn den traditionellen Stoff in einer eigentümlichen 
Richtung neu entwerfen lassen, daß sie ihn zu Eigenmächtig- 
keiten gegenüber der Tradition ermutigen, daß sie ihn bestimmte 
„dramatische Aussagen' machen lassen, die in der Bahn der 
heilsgeschichtlichen Bestimmtheiten gar nicht vorgezeichnet 
sind. Das Politische ist in der Tradition schon angelegt, im 
Ludus aber ist es nicht allein hervorgekehrt, sondern — so kann 
das eingangs Gesagte nun schärfer gefaßt werden — es greift 
noch über den Rahmen der Tradition hinaus und damit über 
die tragende heilsgeschichtliche Sinngebung des Spiels. Zwar 
ist der Ludus nicht einfach eine „politische Dichtung“, aber 
die Bestimmung: „Der Ludus ist ein außerliturgisches escha- 
tologisches Adventsspiel‘‘ sagt auch nicht genug. Es ist in dem 
Spiel eine Unruhe, die sich nicht ganz einfügt in seinen heils- 
geschichtlichen Sinn, und doch ist dieser Sinn nicht etwa bloß 
die hohle Form für eine „Tendenz“, sondern lebendig ergriffen 
und getragen. | 


Die Reichssteuerliste von 1242. 


Von 


Benno Hilliger. 


Die Reichssteuerliste, von der hier gehandelt werden soll, 
ist ein letztes versprengtes Stück aus dem zugrunde gegangenen 
Reichsarchiv der Hohenstaufenzeit. Sie ist erst vor wenig 
Jahrzehnten durch einen Zufall ans Licht gekommen. Jakob 
Schwalm fand sie mit anderen Stücken aus der Zeit Kónig 
Rudolfs und Albrechts im bayerischen Reichsarchiv in München, 
und vermochte auch ihre Herkunft aus dem sog. Schatzarchiv 
in Innsbruck festzustellen. Er veróffentlichte das Stück zuerst 
im Neuen Archiv Bd. 23 (1899), und dann in den Constitutiones 
Bd. III der Monumenta Germaniae. Ich halte mich hier an die 
letzte Ausgabe, die in mancher Hinsicht berichtigt ist. Beiden 
Ausgaben ist ein vorzügliches Faksimile beigegeben, ohne 
welches sich eine Untersuchung, wie wir sie hier vorhaben, gar 
nicht machen ließe. 


Zunächst ein Wort über das Äußere dieser Liste. Es handelt 
sich um ein schmales Pergamentblatt 36 cm hoch und 16 cm 
breit, einseitig beschrieben mit 52 Zeilen Text von einer Hand 
um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Rückseite ist leer, und 
trägt nur oben, außer einem Archivvermerk des 16. Jahrhunderts 
noch drei kurze Zeilen Text, eine Summenziehung und drei 
Schuldposten. Das Stück ist vollstándig, denn es beginnt mit 
einer Überschrift: , Hic incipiunt precarie civitatum et villarum", 
und läßt unten etwa ein Achtel der Seite frei. Trotzdem umfaßt 
es nur die westliche Hälfte des Reiches; der Norden und Osten, 
Sachsen und Bayern sowie die Marken fehlen. Die Überschrift 
läßt keinen Zweifel: es ist ein Steuer- oder Bedeverzeichnis der 
Reichsstádte (civitates) und Reichsfronhófe oder Verwaltungs- 


| 
1 
r 


——— 


Die Reichssteuerliste von 1242 89 


' bezirke (villae). Es beginnt mit Frankfurt, wendet sich dann 


zu den Städten der Wetterau: Gelnhausen, Wetzlar, Friedberg, 
Wiesbaden, Seligenstadt, und dann vom Mittel- zum Nieder- 
rhein fortschreitend nennt es zuerst: Oppenheim, Nierstein, 
Ingelheim, Oberwesel und Boppard, macht darauf einen Sprung 


. zu Sinzig, Düren, Aachen und einen zweiten bis Kaiserswert, 
Duisburg, Nimwegen und Dortmund, wo es abschließt. Dann 
. geht es linksrheinisch, mit Kaiserslautern beginnend, über 
| Weißenburg, Hagenau, Trifels usw. den Elsaß hinauf bis Kol- 


mar, Mühlhausen, Basel, Rheinfelden, dann rechts den Rhein 
wieder hinunter bis Haslach und Offenburg, und endlich zurück- 
kehrend durch das nördliche Schwaben zum Bodensee und 
darüber hinaus bis Zürich und Bern. Im Gegensatz zu den 
wenigen am Niederrhein, ist dieses schwäbische Land mit 
Reichsstädten geradezu übersät. 


Es ist gewiß kein Zufall, daß unsere Liste gerade mit Frank- 
furt und den Städten der Wetterau beginnt. Denn hier war der 
Sitz der Reichskammerverwaltung, die zuletzt erblich in die 
Hände der Herren von Minzenberg und ihrer Nachfolger, der 
Herren von Falkenstein, gelangt war. Bekannt sind ja die 
Wetterauer Brakteaten, die wunderschönen Silberblechpfennige, 
welche zu dem Entzückendsten gehören, was die mittelalterliche 
Münzkunst geschaffen hat. Man streitet heute, ob die Stücke 
des 12. Jahrhunderts, welche im Brustbild nebeneinander Kaiser 
Friedrich I. mit seiner Gemahlin Beatrix zeigen, in Frank- 
furt oder in Gelnhausen beheimatet sind. Das ist eigentlich 
unerheblich, denn die Städte der Wetterau bilden, wie uns 
gerade unsere Liste an der Zusammenfassung der Judensteuer 
aus ihnen zeigt, eine Verwaltungseinheit. Solche Münzen hat 
gleichzeitig auch Kuno von Minzenberg, der Erbauer jener 
Burg, nach der er sich nannte, und der das Kämmereramt unter 
den staufischen Herrschern bis zu seinem Tode 1212 verwaltet 
hat, geschlagen. Sie tragen seinen Namen, sein Bild und das 
Bild seiner Burg mit dem Minzenstengel, seinem Wappen, 
zwischen ihren beiden Türmen. Auch äußerlich ein machtvoller 
Vertreter der Reichsministerialität, des Beamtentums, auf 
welches die Hohenstaufen ihre Verwaltung und ihre Königs- 
macht gegründet haben. Ja einer seiner Pfennige zeigt ihn 
uns, die Krone in der Hand haltend, in seiner Würde als 


90 ! Benno Hilliger 


Kämmerer des Reiches, zu dessen a LEINEN es gehörte, 
die Reichskleinodien zu wahren!. 

Wir haben schon hervorgehoben, daß die Zahl der steuernden 
Orte am Mittel- und Niederrhein verhältnismäßig gering ist und 
groDe Lücken aufweist. Wir vermissen in der Liste vor allem 
die großen rheinischen Bischofsstädte Mainz, Trier, Köln, aber 
sie nicht allein, sondern mit samt ihren ganzen Landstädten. 
Es kommt hierin der Begriff der Landeshoheit zum Ausdruck, 
diese Herren sind König auf ihrem eigenen Gebiet. Ähnlich ist 
es am Oberrhein, wo die Bischofsstádte Worms, Speier, Straß- 
burg selbst keine Steuer der Bürgerschaft aufweisen, wohl aber 
die Juden als steuerpflichtig erkennen lassen. In Basel und 
Konstanz endlich und ebenso in Ulm und Augsburg wird die 
Steuer von beiden Teilen erhoben. Beachtung verdient dabei 
vielleicht noch der Umstand, daß die Judensteuer anscheinend 
getrennt von der Bürgerschaftssteuer verwaltet und erhoben 
worden ist, wir erkennen dies daran, daß die Steuern beider 
Teile, wenigstens in Schwaben und am Oberrhein, mit nur ge- 
ringen Ausnahmen in der Liste nach Gruppen gesondert auf- 
geführt werden. Anders am Niederrhein, wo sie HEDPHEIDAD OE 
erfallen. 

Was nun die Entstehungszeit unserer Liste betrifft, so hat 
sie der Herausgeber Schwalm mit guten Gründen in die Zeit 
Kónig Konrads gerückt. Wenn er sich freilich dabei auf das 
Jahr 1241 festlegen móchte, so erscheinen mir seine Gründe 
nicht ganz stichhaltig, und wenn das, was ich auszuführen habe, 
zutreffen sollte, müßten wir sie unbedingt noch um ein un 
hinausschieben. 

Was hat uns nun die Liste sonst noch zu sagen? Eigentlich 
recht wenig. Sie besteht wie jedes Register dieser Art aus einer 
wortkargen Aufzählung von Ortsnamen und nackten Zahlen 
der beigesetzten Beträge, die zu entrichten waren, kaum je ein 


1 Nach eiuer Mitteilung von Herrn Dr. Julius Cahn in Frankfurt sind voh 
diesem seltenen Brakteaten drei Stück bekannt, eines in dem Berliner Kabinett, 
ein zweites in den stádtischen Sammlungen in Frankfurt und ein drittes im Besitz 
des Herrn Ernst Lejeune in Frankfurt. Letzteres, aus der Sammlung Lóbbecke 
stammend, in guter Abbildung bei Riechmann u. Co., Auktionskatalog XXXI (Halle 
1925) Nr. 962. Vgl. auch P. Joseph und E. Fellner, Die Münzen von Franktart 
a. M. Bd. 1 (1896) S. 90 Nr. 60. 


Die Reichssteuerliste von 1242 91 


Vermerk über erlassene Zahlung oder besondere Verwendung 
derselben. Das spiegelt sich auch in der Literatur über sie, die 
kurz nach ihrer Veröffentlichung entstanden ist, in den Unter- 
suchungen von Schwalm selbst, Zeumer und Aloys Schulte". 
Man begnügt sich darin, die Scheidung der Landschaften her- 
vorzuheben, die Scheidung der Einkünfte aus städtischen und 
ländlichen Bezirken zu erörtern, die Höhe der Judensteuer im 
Vergleich zu der der Bürgerschaft festzustellen. Und auch 
sonst, wo man diese Quelle in späterer Forschung benutzt, so 
in den Untersuchungen Nieses über das Reichsgut oder denen 
Rübels über die Reichsstadt Dortmund, ist man nicht viel weiter 
gekommen, sondern in den Anfängen, bisweilen sogar in Irr- 
tümern steckengeblieben. 

Natürlich hat man sich auch mit der Hauptfrage beschäftigt, 
deren Beantwortung wir in erster Linie uns von dieser Liste 
versprechen durften: wie hoch sich eigentlich die Einnahmen 
des Reiches aus dieser Quelle damals beliefen. Denn das allein 
könnte uns eine wirkliche Vorstellung von den wirtschaftlichen 
Grundlagen geben, auf denen sich die Macht des Reiches in der 
Hohenstaufenzeit aufgebaut hat. Aber hier ist man über die 
ersten Anfänge noch weniger hinausgekommen, denn gerade hier 
hüllt sich unsere Quelle in undurchdringliches Schweigen, sie 
verrät uns mit keiner Silbe, welches die Währung, die Münz- 
sorte ist, nach der sie rechnet, sie spricht lediglich von der 
Mark. Aber der Begriff der Mark ist im 13. Jahrhundert der 
dehnbarste, den man sich denken kann. Man verstand damals 
unter ihm entweder ein bloßes Gewicht — hier natürlich von 
Silber — oder gemünztes Geld von 10, 12 und mehr Schillingen 
jeder beliebigen Währung. So sind auch die Berechnungen 
Karl Zeumers nach der heutigen Kölnischen Mark und dem 
Graumannschen 14 Talerfuß Friedrichs des Großen, die ihn auf 
einen Betrag von 105000 Talern oder 315000 Mark früherer 
Währung geführt haben, völlig aus der Luft gegriffen. Es wird 
nun unsere Aufgabe sein, die Reichssteuerliste nach dieser Hin- 


1 J. Schwalm, Ein unbekanntes Eingangsverzeichnis von Steuern der kónig- 
lichen Städte aus der Zeit Kaiser Friedrichs II. Neues Archiv, Bd. 23 (1898), 
$.517-53. — K. Zeumer, Reichssteuern im frühen Mittelalter. Hist. Zeit- 
schrift, Bd. 81 (1898). — A. Schulte, Zu dem neugefundenen Verzeichnis des 
Reichsgutes. Ztschr. für die Geschichte des Oberrheins. N. F. 13 (1898). 


92 Benno Hilliger 


sicht auszuforschen und ihr ein Geständnis abzuringen, nach 
welcher Münze sie eigentlich rechnet. 

Unsere Untersuchung hat auszugehen von der Summen- 
ziehung auf der Rückseite, die man schon immer im Verdacht 
gehabt hat, daB sie in irgendeiner Beziehung zur Vorderseite 
stünde: ,,Sunt in denariis Coloniensibus MCCCCLX XXVIII mr.“ 
Nur wollte es niemals gelingen diese Beziehung nachzuweisen, 
denn den 1488 mr der Rückseite standen etwa 7000 mr der 
Vorderseite gegenüber. Man dachte deshalb schon an einen 
Teilbetrag, aber es wollte sich kein Abschnitt flnden, wo sich 
die Zahlen begegneten. Sogar die Summe bestimmter Ein- 
nahmen, wie die der Judensteuer, zog man fragend in Erórterung, 
um es aber gleich wieder fallen zu lassen. Immerhin werden wir 
nicht an der Tatsache vorübergehen dürfen, daB die sámtlichen 
Eintragungen der Rückseite, Summenziehung wie Schuldposten, 
kráftig mit Tinte wieder gestrichen sind. Was bedeutet das? 
Daß sie nicht mehr gelten sollen, aber — einmal gegolten haben. 

Die Rückseite also gedenkt an einer einzigen Stelle bei der 
Zusammenrechnung einer bestimmten Münze, der denarii Colo- 
nienses. Nun werfen wir die Frage auf, ob denn nicht auch die 
Hauptliste wenigstens ausnahmsweise einmal einer bestimmten 
Münzsorte gedenkt? Gewiß, sogar an drei Stellen! Zunächst 
für die schwäbischen Orte Heidelsheim (8 57) und Weil (S 59) 
der Hellermünze, und dann für Dortmund (820) wieder der 
Kólnischen Mark. Dabei ist beachtenswert, daB die Heller- 
münze, wie auch sonst bei ihr üblich, nach der libra, dem Pfund, 
die Kólner Münze aber auch hier gewohnheitsmáBig nach der 
Mark gerechnet wird, was ihr eine große Ähnlichkeit mit der 
Rechenweise der Hauptliste verleiht. Aber vergessen wir nicht, 
diese Erwähnung der Kölner Mark in der Hauptliste erfolgt in 
der Form einer Korrektur. Man hat den schlichten Eintrag für 
Dortmund: „Item in Dritmunden . CCC . mr.“ verändert, in- 
dem man die Zahl 300 durch Streichung tilgte und darüber 
zwischen den üblichen zwei Punkten ein einfaches C, d. h. 100, 
setzte. Dahinter fügte man dann etwas mühsam über dem ur- 
sprünglichen marcas die Buchstaben COL, d. h. Colonienses, ein. 

Danach unterliegt es wohl keinem Zweifel mehr, daß die 
Kölnische Mark für die Rechnungsweise der Hauptliste selbst 
nicht in Frage kommt, sonst hätte man ihrer allenthalben oder 


Die Reichssteuerliste von 1242 93 


wenigstens anfangs gedenken müssen. Welchen Zweck aber 
verfolgte man mit dieser Korrektur? Es gibt nur zwei Móglich- 
keiten, entweder man verfolgte die Absicht, den Steuerbetrag 
für Dortmund abzuändern, ihn zu erhöhen oder zu mindern, 
oder man wünschte den Betrag selbst unverändert zu lassen 
und wollte nur die abweichende Münzsorte vermerken, in der 
er schließlich gezahlt worden war. Im ersteren Falle könnte 
uns die Änderung nichts Neues lehren, im anderen aber wäre 
sie der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Liste. Denn wenn 
man hier die ursprüngliche Zahl von 300 mr in 100 mr Kölnisch 
umgerechnet hätte, betrüge die Mark der Reichssteuerliste ganz 
allgemein nicht mehr als den dritten Teil einer Kölnischen Mark. 
Ob das richtig ist, vermag nur der Versuch zu lehren. 

Wir hätten also die Zahlen der Rücksumme von 1488 mr. 
Kölnisch einfach zu verdreifachen, um mit 4464 mr. den Ver- 
gleichungspunkt auf der Vorderseite zu suchen. Da es sich dort 
aber um einen Gesamtbetrag von etwa 7000 Mark handelt, 
hätten wir diesen Vergleichungspunkt etwa in der Höhe des 
zweiten Drittels zu vermuten. Und in der Tat findet sich hier 
ein solcher Absatz in der Form einer unausgeschriebenen Zeile 
und einer unterbrochenen und wieder gestrichenen Eintragung: 
„Item de Schongawe“, der Steueransatz fehlt, und die ganze 
Eintragung ist erst 5 Zeilen tiefer wieder aufgenommen worden: 
„Item de Schongov XXX mr.“ Trotzdem ist das Ergebnis für 
uns kein befriedigendes, denn die Zusammenzählung ergibt 
einen Betrag von 5192 mr. und 200 Ib. hall, und das macht 
schon für die Markzahl 728 zu viel. 

Nun wäre allerdings zu beachten, daß hierunter eine ganze 
Reihe von Beträgen sind, die entschieden niemals ihren Weg 
durch die Kasse der königlichen Kammerverwaltung genommen 
haben. Dazu gehören zunächst die Beträge, die den Städten 
„ad edificia eorum“ zum Wiederaufbau überlassen werden“, 
zusammen 400 mr. und 200 Ib. hall. Dazu gehören weiter — 
und das möchte ich betonen — alle Leistungen an den Kaiser b, 
die den ausdrücklichen Vermerk tragen: „cedet imperatori“, 


32 Vgl. Friedberg (5 4), Wiesbaden (5), Seligenstadt (6), Ingelheim (10), Düren 
(14), Offenburg (45), Eberbach (51), Neckar-Gemünd (52), Heidelsheim (57), Weil 
(69). 

2b Vgl. Friedberg ($ 4), Düren (14), Offenburg (45). 


94 Benno Hilliger 


während sonst nur vom König die Rede ist, drei Fälle mit zu- 
sammen 110 mr. Drittens endlich einige kleinere Überweisun- 
gen?° an den Herrn von Schmiedelfeld, den Vogt in Schefflenz, 
und den Abt von Odenheim mit zusammen 12 mr. Das alles zu- 
sammengerechnet ergibt aber nur eine Summe von 522 mr. und 
200 lb. hall., so daß immer noch ein Überschuß von 206 mr. 
verbleibt. Werfen wir jetzt einen Blick auf das Faksimile, so 
beobachten wir — was auch dem Herausgeber nicht entgangen 
ist —, daß die Zahlen bei zwei Einträgen für die Juden in Worms 
(8 21) und in Speier (S 22) in der Hóhe von 130 und 80 mr. mit 
feinerer Schrift erst nachträglich eingefügt worden sind. Wir 
náhern uns der gesuchten Zahl sichtbarlich, nur schade, daB sich 
durch diese 210 Mark der anfängliche Überschuß von 206 Mark 
jetzt in einen Fehlbetrag von 4 Mark verwandelt hat. Behalten 
wir diese Zahl von 4 Mark kurz im Gedächtnis. 

Aber werfen wir noch einen Blick auf das Faksimile, diesmal 
auf die Rückseite, so erkennen wir, daß die SchluBziffer „eins“ 
in der Summierungszahl von MCCCCLXXXVIII mr. Kólnisch 
nicht ganz deutlich in die Erscheinung tritt, sondern daB an 
dieser Stelle entweder — wie sich der Herausgeber entscheidet 
— das Pergament etwas abgerieben ist, oder daB direkt eine 
Rasur vorliegt. Wir werden uns für das letztere entscheiden 
dürfen und die Zahl nicht als 1488 wie in der Ausgabe, sondern 
als 1487 mr. Kólnisch lesen müssen. Damit schrumpft auch der 
Unterschied der beiden Berechnungen auf eine einzige Mark 
der Steuerliste zusammen, um welche sich diese höher stellt, 
als die Umrechnung der Rückseite. Über den Verbleib dieser 
einzigen und letzten Mark schweigt die Geschichte. Doch 
brauchen wir nicht gleich das Schlimmste zu denken. Wir 
stellen fest, unsere Vermutung hat sich bestätigt, daß die Mark 
der Reichssteuerliste, viel kleiner als man gedacht, nur das 
Drittel einer Kölnischen beträgt*). Dieses Ergebnis ist so wichtig, 
daß wir gern noch eine Bestätigung von anderer Seite hätten. 

Wenn wir uns umsehen unter den Quellen dieser Zeit, dann 
fällt unser Blick auf ein fast ebenso merkwürdiges Stück wie die 


3* Vgl. Sinzig ($ 4), Schefflenz (53), Odenheim (54). 


*) Auf diesen Sachverhalt habe ich schon in den Blättern für Münzfreunde 
1923 S. 411ff. hingewiesen. 


Die Reichssteuerliste von 1242 95 


Reichssteuerliste, das ist die Jahresabrechnung?, welche am 
2. Mai 1242 der königliche Amtmann Gerhard von Sinzig vor 
Konig Konrad persónlich abgelegt hat. Darin werden die Ein- 
gänge mit 227 1, die Ausgaben aber mit 306 mr. Kölnisch ge- 
bucht, so daB der König mit 78 ½ mr. Kölnisch in der Schuld 
seines Amtmanns verbleibt. Wenn sich die hier vermerkten 
Bedezahlen von 50 und 18 mr. Kölnisch in keiner Weise mit 
denen von 70 und 25 mr. der Steuerliste decken, so darf das 
uns nicht befremden, denn wie wir noch sehen werden, dürfen 
diese Zahlen gar nicht stimmen. Hier beschäftigt uns nur die 
Schlußsumme von 78% mr. Kölnisch, welche der König seinem 
Amtmanne schuldig ist. Das wären nach der Rechnungsweise 
der Steuerliste verdreifacht 235 ½ mr. gewesen. Nun finden 
sich, wie schon erwähnt, auf der Rückseite unserer Liste unter 
der Summierungszeile noch 3 Schuldposten vermerkt: „Pin- 
cerne adhuc dande sunt 234 mr. et dim., et dapifero 150 mr. 
et W. notario 7 mr. et dim." Von diesen Zahlen nähert sich die 
vorderste wieder bis auf den Fehlbetrag von 1 mr. der Schuld- 
forderung des Amtmanns in Sinzig. 


Nun eine Personenfrage, wer sind die beiden Leute, der 
pincerna und der dapifer, Schenk und Truchseß? Nach den 
Untersuchungen Schwalms erscheinen damals nebeneinander 
Konrad von Winterstetten und Konrad von Schmiedelfeld unter 
den Räten am königlichen Hofe, ersterer als Schenk, letzterer 
als Truchseß. Nun finden wir im letzten, erst nachträglich ge- 
schriebenen Drittel unserer Liste einen Steuererlaß für Zürich 
($ 97) mit folgender Begründung: ,,quia nuper dederunt CL mr, 
quas assignaverunt domino pincerne ex mandato regis", weil 
sie erst neulich 150 Mark gezahlt haben, die sie dem Schenken 
überwiesen gemäß Befehl des Königs. Das ist m. E. der zweite 
Schuldposten der Rückseite, der aber dort irrtümlich dem an- 
deren Konrad, dem dapifer und nicht dem pincerna zuge- 
schrieben erscheint. Dann müßte umgekehrt der erste Schuld- 
posten von 234 ½ mr., welcher aus den Rückständen für den 
Fronhof in Sinzig herrührt, dem dapifer, d. h. Konrad von 
Schmiedelfeld, zugestanden haben. DaB aber dieser mit dem 
Fronhof in Sinzig zu tun hatte, verrát uns die Steuerliste selber 


* MG. Const. II, S. 446f. 


96 | Benno Hilliger 


mit dem Vermerk, daß die dortigen Juden aus ihrem Bedeanteil 
von 25 mr. „solvent quatuor marcas pro expensa domini de 
Smidevelt". Danach móchten wir annehmen, daB der Herr 
von Schmiedelfeld für die Schulden des Kónigs in Sinzig aufge- 
kommen ist, und dafür eine Anweisung auf die Kasse der 
Kammerverwaltung erhalten hat. Ist er nun wirklich zu seinem 
Gelde gekommen? Sein Name erscheint in der Liste nicht 
weiter, wohl aber stoßen wir im Schlußteil auf zwei gleich- 
lautende Eintragungen: „et solvent pro expensis regis", für 
die Städte EBlingen (878) und Überlingen (890) mit einem 
Betrag der einen von 152, und der anderen von 82 ½ mr., was 
zusammen wieder wie oben auf die Schuldsumme von 234145 mr. 
führt. — Wie man den notarius W., vermutlich den Schreiber 
unserer Liste, mit seiner Forderung von 7 ½ mr. schadlos ge- 
halten hat, vermag ich freilich nicht zu sagen. Geschehen aber 
muB es sein, denn auch dieser Posten ist wieder gestrichen. 
Wir sehen also, auch die Einbeziehung der Sinziger Abrechnung 
in die Untersuchung bestátigt unsere ursprüngliche Annahme, 
daB die Mark der Reichssteuerliste nur das Drittel einer Köl- 
nischen betragen habe. 


Nun aber die eine noch fehlende Mark — wo ist sie geblieben ? 
Das ist vielleicht nicht so unwichtig, denn es wáre ein Prüfstein 
für die Richtigkeit der hier geáuBerten Ansicht. Und da móchte 
ich, selbst auf die Gefahr hin, übertrieben spitzfindig zu er- 
scheinen, doch noch einen Erklärungsversuch wagen. Ich kann 
mir nicht denken, daB ein Mann, wie der Herr von Schmiedel- 
feld, der sich doch offenbar auf Geldgeschäfte verstand, ein so 
schlechter Rechner gewesen wäre, daß er nicht gemerkt hätte, 
wenn man ihn hier in seiner Forderung willkürlich um 1 mr. 
gekürzt hätte. Nun haben wir schon beobachtet, daß bei der 
Summenziehung der Rückseite von ursprünglich 1488 mr. 
Kölnisch eine mr. wieder durch Rasur getilgt worden ist. Das 
wären 3 mr. der Reichssteuerliste gewesen. Rechnen wir dazu 
noch die 1 mr., die man dem Herrn von Schmiedelfeld vorent- 
halten hatte, so wären dies zusammen 4 mr. gewesen, also 
genau so viel, wie der vorhin von uns bemerkte Überschuß der 
Vorderseite gegen die Rückseite. Nun erfolgte die Korrektur 
der Rückseite. — Warum? Weil diese 4 mr. bereits beglichen 
worden waren auf der Vorderseite durch die Anweisung auf die 


Die Reichssteuerliste von 1242 97 


Judensteuer in Sinzig an — den Herrn von Schmiedelfeld: 
„Solvent quatuor marcas pro expensa domini de Smidevelt“. 
Man beachte dabei die Übereinstimmung im Ausdruck: „sol- 
vent“ pro expensa mit EBlingen und Überlingen, welche für 
den Rest der Summe aufkamen. Anscheinend hat der Herr 
von Schmiedelfeld noch eine weitere Ausgabe von 3 mr. pro 
expensis suis —, vielleicht Verpflegungskosten gehabt, die mit 
der fehlenden anderen ihm aus dem Bedeertrag von Sinzig er- 
fallen sollten. So würde die Rechnung der Steuerliste bis auf 
den letzten Heller und Pfennig stimmen. 

Nun dràngt sich aber die Frage auf, welche Münze sollte das 
gewesen sein, die, womöglich noch bekannter als der Kölner 
Pfennig und so verbreitet war, daB man danach alle Steuer- 
eingänge wenigstens der Westhälfte des Reiches erfassen und 
verrechnen konnte? Wir kennen damals nur eine Währung, 
welche zu der Kölnischen in dem geforderten Verhältnis von 
1:3 gestanden hat. Das ist die bald nach dem Jahre 1200 auf- 
tretende Hellermünze, welche ihren Namen von der Stadt 
Schwäbisch Hall empfangen hat, wo man sie zuerst geprägt 
hatte. Wie aber kam gerade diese verhältnismäßig junge Münze 
einer von der großen Verkehrsstraße des Rheins abgelegenen, 
nicht sehr bedeutenden Landstadt dazu, im 13. Jahrhundert 
die Rechnungsgrundlage der gesamten Reichsverwaltung zu 
werden? Warum wählte man nicht eine schon bekannte Münze 
aus einer der großen Bischofsstädte, etwa Straßburg, Speier, 
Mainz, Köln? 

In der Beantwortung dieser Frage liegt ein Stück Münz- 
geschichte und Münzpolitik der Hohenstaüfenzeit. Der Köl- 
nische Pfennig verdankte seine überragende Bedeutung im 
Wirtschaftsleben jener Zeit dem Umstande, daß er seit Jahr- 
hunderten anerkannte Reichsmünze gewesen und geblieben war. 
Allerdings war er mit der Zeit, zur Hälfte wenigstens, in die 
Hände des Erzbischofs geraten, der zuletzt das auschließliche 
Recht der Münzprägung in Köln und einigen anderen Orten 
seiner Diözese für sich in Anspruch nahm. Aber ganz hatte er 
die Münze doch nicht in seine Gewalt bekommen, denn in 
einigen anderen Städten seines Sprengels übte noch der Kaiser 
die volle Münzhoheit aus und schlug eigene Pfennige. Da lag 
es in der Natur der Sache, daß schließlich der Machtkampf 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.1. 7 


98 Benno Hilliger 


entbrannte um den Besitz der ganzen Münze. Dieser war schon 
unter Friedrich Barbarossa ausgebrochen, der durch seine Zoll- 
und Münzpolitik alles daran setzte, die wirtschaftliche Macht- 
stellung Kólns zu erschüttern. Er tat dies durch Zollbehin- 
derungen in Kaiserswert, und vor allem durch Errichtung neuer 
Märkte in Duisburg und Aachen. Bei Gelegenheit der Heilig- 
sprechung Karls des Großen 1166, verlieh er der Stadt Aachen 
besondere Freiheiten“. Er gestattete ihr, obwohl sie nicht in 
derselben Diözese lag, Hälblinge auf Kölner Fuß zu schlagen, 
wie es auch Rainald von Dassel damals tat. Es geschah dies 
offenbar in der Absicht, die Kaufleute aus den Niederlanden, 
wo man sich der levis moneta bediente, anzulocken. Wichtiger 
aber war die Verfügung, daß diese Aachener Münze, um sie von 
der lästigen Fessel des Verrufes, mit seiner den Handel schä- 
digenden Wirkung, zu befreien, immer in Schrot und Korn un- 
unverändert bleiben solle. Dazu kam endlich noch die Be- 
stimmung, daß auch die lex iniqua, die unsinnige Verfügung, 
wonach es in Aachen verboten sei, andere Münze zu nehmen, 
falle, und daß es der ausdrückliche Wille des Kaisers sei, daß 
hier jede fremde Münze zu dem ihr entsprechenden Werte ge- 
nommen werden dürfe. Gewiß hatten dabei die Wünsche der 
Aachener Bürger Berücksichtigung gefunden, aber es war doch 
noch mehr, es waren die leitenden Gesichtspunkte der kaiser- 
lichen Verwaltung in wirtschaftlichen Dingen überhaupt. Denn 
nicht umsonst beruft sich der Kaiser darauf, daß es „ex consilio 
curie nostre", auf Beschluß unseres Rates geschehen sei, und 
wir werden bei anderer Gelegenheit diesen Gedankengángen 
erneut begegnen. Nun ging aber der Kaiser schon 7 Jahre spáter 
noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur zwei neue Márkte 
in Aachen und Duisburg errichtete, sondern auch für die Münze 
beider Stádte die Verfügung traf, daB sié aus einer um 1 Pfennig- 
gewicht schwereren Mark als der Kólnischen geschlagen werden 
solle®. Dazu hatte er mit dem Grafen von Flandern vereinbart, 


* Lacomblet, Urkundenbuch zur Geschichte des Niederrheins I, S. 283f., 
nr. 412. — Vgl. J. Menadier, Urkunden und Akten zur Aachener Münzgeschichte. 
Ztschr. f. Numismatik, Bd. 31 (Berlin 1914), S. 274ff. — Wilhelm Jesse, Quellen- 
buch zur Münz- u. Geldgeschichte des Mittelalters. Halle 1924, nr. 106. 

5 Hóhlbaum, Hansisches Urkundenbuch I, nr. 23. — Vgl. Menadier a. a. 
O., S. 276. Jesse nr. 107. 


Die Reichssteuerliste von 1242 99 


daB diese neue Münze, Pfennige wie Hälblinge, auch in dessen 
Landen Umlauf haben sollten. Das war vielleicht der empfind- 
lichste Schlag, welcher der erzbischóflichen Münze in Köln bei- 
gebracht werden konnte. Der Kaiser erweiterte das Umlaufs- 
gebiet seiner eigenen Prägungen und schádigte gleichzeitig durch 
die Wertsteigerung seiner Pfennige das hergebrachte Ansehen 
der erzbischóflichen Münze in Köln. 


Das MiBvergnügen, welches man in Köhn über diese Münz- 
politik empfunden hat, kommt in dem Vertrag® zum Ausdruck, 
den Erzbischof Philipp (von Heinsberg), die Abwesenheit des 
Kaisers im Heiligen Lande benutzend, schon am 25. März 1190 
mit König Heinrich VI. abgeschlossen hat. Dieser Vertrag be- 
deutet einen völligen Umschwung. König Heinrich verzichtet 
auf die Münzpolitik seines Vaters und gibt dem Erzbischof freie 
Hand. Er versprach sich in der Kölner Diözese mit zwei Münz- 
stätten zu begnügen: Duisburg und Dortmund, auch verstand 
er sich dazu, hier nur ,secundum antiquam consuetudinem"', 
d.h. nach altem Kölner Schlag prägen zu lassen. Er verzichtete 
also für Duisburg auf das Vorrecht der schwereren Prägung. 
Weiter aber versprach er, daB auch sonst niemand weder in 
noch auBer der Diózese Kóln nach diesem Kólner FuBe münzen 
dürfe. Er begab sich also des Rechtes, etwa einem anderen 
Fürsten dort ein solches Münzprivileg auszustellen. Nur sich 
selber behielt der Kónig das Recht, oder besser die Móglichkeit 
vor, auch außerhalb der Diözese nach diesem Fuße zu prägen. 
Aber freilich mit dem Zugeständnis, daß, wenn er dies täte, der 
Erzbischof das Recht haben solle, diese Münze des Königs 
vom Umlauf in seinem Herrschaftsgebiet auszuschließen. So 
beschämend dieser Vertrag für König und Staatsgewalt im 
ersten Augenblick erscheint, er hatte Hörner und Zähne auch 
für die Gegenseite, denn der König hatte seinem letzten Zu- 
geständnis eine gefährliche Klausel angefügt: er werde es dem 
Erzbischof nicht verargen, wenn er solche Münze in seinem 
Lande verbiete, aber auch dieser werde es ebenso gleichmütig 
und ohne Kränkung hinnehmen, wenn er selber in den Städten 
und Ortschaften des Reiches die Annahme Kölnischer Münze 
verbiete: „et si nos preceperimus, ne Coloniensis moneta reci- 


* Lacomblet I, nr. 524. 
7 


100 Benno Hilliger 


piatur in civitatibus et oppidis nostris, Coloniensis archiepis- 
copus id equo animo et sine rancore tolerabit." Dieser letzte 
Satz ist so. geschickt gefaßt, daß er gelten konnte, selbst wenn 
der Erzbischof nicht den ersten Schritt tat. Es handelte sich 
letzten Endes darum, ob die Kölner Münze ihren Charakter 
als Reichsmünze im Handelsverkehr mit den Städten behalten 
solle oder nicht. Es scheint, als ob man sich beiderseits gescheut 
hätte, die letzten Folgerungen aus diesem Vertrag zu ziehen. 
Der eigentliche Sieger war wohl der König, er hatte sich lediglich 
des Rechtes begeben, nach schwererem Münzfuß zu prägen. 
Wie aber stand es um Aachen? Es gehörte nicht zu Köln, son- 
dern zu Lüttich, fiel es also aus dem Vertrag heraus und konnte 
weiter münzen, dann aber nach welchem Fuß? Seine Münz- 
tätigkeit erscheint damals nicht groß’, es wäre denkbar, daß 
Heinrich VI. hier zunächst eine gewisse Zurückhaltung übte, 
selbst wenn der Vertrag, wie es den Anschein hat, nur für die 
Lebenszeit des Erzbischofs, der schon am 13. August 1191 starb, 
Geltung haben sollte. Dann aber unter König Philipp und 
Otto IV. erscheint sie wieder in voller Tätigkeit und wurde nun 
vom Erzbischof als eine schwere Beeinträchtigung empfunden. 
Damals trat der Erzbischof Adolf (von Altena) bei Otto IV. mit 
bestimmter Forderung hervor, und die Königsgewalt war schon 
so schwach, daß sie sich trotz besserer Einsicht den Wünschen 
ihrer Parteigänger unterwerfen mußte. Nach langem, erbittertem 
Sträuben mußte sich im September 1202 König Otto IV. doch 
endlich dazu verstehen®, auch die Münze in Aachen, welche sich 
damals im Pfandbesitz Walrams IV. von Limburg befand, aus- 
zulösen und stillzulegen. Der päpstliche Legat, welcher diesen 
Handel vermittelte, verkündete dazu unter Bannfluch, daß nie- 
mals wieder weder in Aachen noch sonstwo, außer in der 
Stadt Köln, Münze nach diesem Fuß geschlagen werden dürfe 
und versprach, nach Rom zu schreiben, damit der Papst 
selber es bestätige. Dieser Erfolg freilich der Kölnischen Münz- 
politik ist nicht von Dauer gewesen, er wurde vereitelt durch den 
Sieg der Staufer, und die Aachener Reichsmünze war damit 
gerettet. 


? Menadier, Münzprägung und Münzumlauf Aachens in ihrer geschichtlichen 
Entwicklung. Ebd. Bd. 31 S. 229. 
* Vgl. (Böhmer-Ficker), Regesta Imperii V, 1 (1881), nr. 226b. 


Die Reichssteuerliste von 1242 101 


In diese Zusammenhänge hinein gehört offenbar die Errich- 
tung der neuen Münze in Schwábisch-Hall?*. Ihr Ursprung liegt 
noch im Dunkeln, sie begegnet uns erstmalig um das Jahr 1200, 
aber wohl noch als bescheidene Landesmünze. Von gróferer 
Bedeutung ist sie erst unter Friedrich II. geworden, wo einzelne 
Stücke auBer der Ortsbezeichnung HALLE auch den Namen 
des Kaisers zeigen: FRISA, d. h. Fridericus Romanorum Im- 
perator Semper Augustus. Ihr Gepräge ist Hand und Kreuz. 
Die Stadt Schwábisch-Hall war ursprünglich staufischer Haus- 
besitz, seit 1231 erscheint sie aber in den Urkunden als kónig- 
liche Stadt®®. Es wäre denkbar, daB mit dieser Veränderung 
ihrer Stellung auch die Umwandlung ihrer Münze in eine Reichs- 
münze sich vollzogen hätte. Denn daß sie dieses war, bezeugt 
uns ausdrücklich der Bamberger Schulmeister Hugo von Trim- 
berg? um das Jahr 1300, wo er in seinem Lehrgedicht dem 
Renner ihre Verfälschung beklagt und sie dabei des ,,riches 
münze'* nennt. Von maßgebender Bedeutung erscheint sie aber 
bereits im Jahre 1288, wo der Erzbischof von Speier seine 
Münze nach Maßgabe der Hellermünze ordnet!!. Damit be- 
ginnt ihr Siegeslauf nicht nur in ganz Süddeutschland, sondern 
auch nach dem Mittel- und Niederrhein zu, nur an den Gren- 
zen des Kölner Gebietes scheint sie vorläufig haltzumachen. 
Sie hat die Lebensspanne des staufischen Geschlechtes über- 
dauert, im 14. und 15. Jahrhundert überschattet sie jede andere 
Münze in diesen Gebieten, und ihr Name ist ja bis zum heutigen 
Tage lebendig geblieben. Was gab ihr diese Überlegenheit? 
Zunächst die Kleinheit ihres Münzwertes gegenüber der schwe- 
reren Denarmünze. Es scheint überhaupt der Gedanke der 
Staufer gewesen zu sein, schon seit den Tagen Barbarossas, wie 
im Westen des Reiches zu einer leichteren Prägung überzu- 
gehen. In Aachen hatte man es mit Hälblingen versucht, hier 
in Schwäbisch-Hall setzte man dafür das Drittel. Der andere 


** Über die Hellermünze vgl. Dürr, Zur Geschichte der Haller Münzstätte. 
Ztschr. d. hist. Ver. f. Unterfranken. N. F. 13 (1922), S. 28. — W. Hävernick, 
Der Heller am Niederrhein. Blätter f. Münzfreunde 1930, S. 27ff. und 33ff. — 
F. v. Schrótter, Wörterbuch der Münzkunde (Berlin, Leipzig 1930): Heller. 

*^ Vgl. Schwalm, S. 539. 

10 Vers 18618, vgl. Jesse, nr. 394. 

u Remling, Speier. Urkundenbuch. Ält. Urkk. nr. 219, S. 217. — Jesse, 
nr. 122. 


102 Benno Hilliger 


Grund ihrer Überlegenheit aber war, daB die Staufer ihrer 
neuen Reichsmünze, wie seinerzeit schon in Aachen, das An- 
gebinde mit in die Wiege gelegt hatten, von jedem Münzverruf 
befreit zu sein. So konnte sie es als ewiger Pfennig mit jeder 
Landesmünze aufnehmen. 

Nur auf ganz verschlungenen Wegen ist es moglich, das 
Feingewicht der Kólnischen und der Hellermünze, das uns die 
Quellen hartnáckig verschweigen, zu ermitteln. Es ist dies selt- 
samerweise nur für das Jahr 1242 und mit Hilfe unserer beiden 
Urkunden móglich, so daB wir gerade für die Steuerliste ein zu- 
verlássiges Ergebnis gewinnen. Wir finden nàmlich in der Sin- 
ziger Abrechnung unter den Ausgaben der Fronhofsverwaltung 
von insgesamt 306 Mark einen einzigen Posten, der nicht auf 
Kólnische, sondern auf Trierische Münze lautet. Gerhard von 
Sinzig berechnet nämlich die Kosten seines Trierer Aufenthaltes 
auf 8 Pfund dortiger Pfennige: „in expensa nostra apud Tre- 
verim 8 libras Trever.‘‘ Da nun die Summe sämtlicher übrigen 
Posten sich auf 299 mr. 11 sol. 2 den. beläuft, so muß man hier 
die 8 Pfund Trierisch gleich 6 Mark 10 Pfennig Kölnisch ge- 
rechnet haben. Es wären mit anderen Worten 1920 Trierer 
gleich 874 Kölner Pfennigen gewesen, und 1 Kölner hätte einen 
Wert von 2,197 Trierer gehabt. Wie genau diese Rechnung ist, 
zeigen uns aber zwei Urkunden !!*, die wir über die Trierer Münze 
besitzen. In der einen von 1207 wird uns der Preis für die Mark 
Feinsilber (marca puri argenti) zu „27 sol. et 4 den. Trev. mo- 
nete“ angegeben, während die andere von 1221 den Pächtern 
der Münze vorschreibt, sie sollten sie in der Güte erhalten, daß 
von der feinen Mark nicht mehr als 11 Pfennige im Gewicht zu- 
rückbehalten würden: ,,conservabunt ... dictam monetam cum 
tali honore, quod a puritate marce non nisi 11 cadent denarii.'' 
Demnach wurden in Trier aus der Mark feinen Silbers 328 
Pfennige geschlagen, die aber zusammen nur 317 Pfennig- 
gewichte Feinsilber enthielten. Nach der Umrechnung Gerhards 
von Sinzig aber hätten auch in geprägter Münze 316½½ Trierer 
Pfennige den Wert einer Kölnischen Rechnungsmark von 144 
dortigen Pfennigen gehabt. 

Nun aber stehen wir wieder vor dem fraglichen Begriff der 
Mark, über den uns die Quellen für Köln im unklaren lassen. 


lla Beyer, Mittelrheinisches Urkundenbuch Bd. II Nr. 232, III Nr. 176. 


Die Reichssteuerliste von 1242 103 


LàBt er sich etwa für Trier ermitteln? Im Forstweistum der 
Trierer Kirche, welches seinem Inhalt nach wohl noch aus dem 
12. Jahrhundert stammt, aber erst im Beginn des 13. Jahr- 
hunderts aufgezeichnet sein dürfte, ist der große Bann des Erz- 
bischofs mit 3 Pfund angesetzt, das sind die 60 Schillinge des 
ursprünglichen Kónigsbannes: ,,tres libras et obolum archiepis- 
copo." Dazu hat man bei erstmaliger Erwähnung erläuternd hin- 
zugefügt: „ad pondus Karoli“, d. h. nach Karls Lot, was man 
endlich weiter zu verdeutlichen suchte durch die Worte: „sci- 
licet 6 marcas." Die Mark der Trierer Prügung war also die 
Hälfte einer libra ad pondus Karoli. Das Karlspfund!? aber 
des 12. und 13. Jahrhunderts war nichts anderes als das alte 
römische Zwólfunzenpfund, welches wir aus gewissen Gründen 
hier etwas hóher als herkómmlich (327,45 g) mit 328,79 g an- 
setzen wollen. Dieses Zwölfunzenpfund war seit den Tagen 
Karls des GroBen oder Ludwigs des Frommen in Deutschland 
das „pondus publicum" geworden, nach dem man den Fein- 
gehalt der Silbermünze zu regeln pflegte. Seine Hälfte von 
164,396 g war die „, marca puri argenti", nach welcher man noch 
im 13. Jahrhundert in Trier prägte. Freilich kamen von diesem 
vollen Feingehalt immer noch 11 Pfennige in Abzug, welche 
die Münzer, áhnlich wie in Kóln, als Gewinn und Kostendeckung 
für sich einbehalten durften. Als der 328. Teil einer solchen 
Mark stellte sich das Pfenniggewicht fast genau auf ein halbes 
Gramm (0,5012), so daß bei 11 solchen noch 5,513 g in Abzug 
zu bringen waren, was auf bloBe 158,88 g Feinsilber führt. Aus 
dieser Gewichtsmenge fein sollten nun 328 Trierer Pfennige 
geschlagen werden!, was für den einzelnen Pfennig ein Fein- 
gewicht von 0,4844 g ergibt. Daraus berechnen wir den Kólner 
Pfennig auf Grund obiger Gleichungen mit 2,197 oder 2,2014 
Trierer Pfennigen zu 1,0642 bis 1,0663 g Feingewicht. Das er- 
gibt für die Mark -Kölnisch, die ,,marca denariorum Colonien- 


12 Hilliger, Pondus Karoli. Blätter für Münzfreunde 1930, S. 170 oder Gold- 
und Silbergewicht im Mittelalter (Halle, Riechmann) 1932, S. 13ff. — Das Trierer 
Forstweistum, vgl. Beyer, Mittelrheinisches Urkundenbuch II, S. 242. 

13 Das entspricht dem Verfahren bei der Sterlingsprägung, wo von 160 Ge- 
wichtsdenaren Feinsilber 4 in Abzug kamen, so daB auf die Rechnungsmark ,,magna 
marca in computatione" immer noch 13!/, Schilling oder 160 Denare in beschicktem 
Silber entfielen. 


104 Benno Hilliger 


sium" zu 12 Schilling oder 144 Pfennigen, nach der auch die 
Reichssteuerliste auf ihrer Rückseite rechnet, eine Feinsilber- 
menge von 153,247 bis 153,555 g. 

Man hat bisher das Feingewicht der Kólner Pfennige all- 
gemein als viel hóher angenommen, weil man die Bestimmungen 
des Kólner Schieds von 1252 und des Bopparder Vertrages von 
1282, wonach 160 Pfennige aus der Mark geschlagen werden 
sollten, irrtümlich auf die heutige Kólnische Mark von 233,8 g, 
d.h. die Sterlingsmark bezogen hatte“. Da aber den Haus- 
genossen dabei nur ein Abzug von 4 Pfennigen am Feingewicht 
verstattet war, hätte sich die Münze auf 975 Tausendstel fein 
oder wegen den Mängeln der damaligen Schmelzkunst noch 
etwas geringer stellen dürfen. Das wäre die vorschriftsmäßige 
Sterlingsfeinheit gewesen. Nun haben aber Schmelzproben!® 
der jüngsten Zeit wiederholt bewiesen, daß ein so hoher Fein- 
heitsgrad wenigstens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts 
der Kólnischen Münze nicht mehr zu eigen ist. Nur ausnahms- 
weise wird dieser Grad erreicht, wenn man wirklich ,,Sterlinge'' 
zu prägen beabsichtigte. Sonst aber sinkt der Feingehalt nicht 
unerheblich unter 800 auf 790, 785 ja 755 Tausendstel herab, 
und auch das Rauhgewicht der Pfennige bleibt manchmal er- 
heblich im Durchschnitt hinter dem geforderten von 1,46 g 
zurück. Dabei wissen wir, daß man in Köln nicht immer gleich- 
mäßig nach ein- und demselben Fuße geprägt hat, am wenigsten 
unter Konrad von Hostaden. Denn im großen Schied!® von 
1258 beklagt sich der Erzbischof, daß die Bürgerschaft, ihm zu 
Unrecht, 12 alte Kölnische Pfennige gleich 10 neuen zu rechnen 
liebte. 

Wenn wir nun oben den Feingehalt des gesetzlichen Köl- 
nischen Pfennigs zu ungefáhr 1,064 und dementsprechend die 
zugehörige Zwölfschillingsmark zu 153,947 g berechnet haben, 
so läßt sich die Probe auf die Richtigkeit nach zwei Seiten hin 


14 E. Kruse, Kölnische Geldgeschichte bis 1386. Westdeutsche Zeitschrift, 
Ergh. 4 (1888). — W. Hávernick, Der Kölner Pfennig im 12. und 13. Jahrhundert. 
Periode der territorialen Pfennigmünze. Vjs. f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 
Beiheft 18 (1930), S. 49ff. 

15 Suhle in der Besprechung des Werkes von Hávernick. Ztschr. f. Numis- 
matik 41 (1931), S. 141, Anm. 

1* Ennen und Eckertz, Quellen zur Geschichte der Stadt Köln II, S. 880ff. 


Die Reichssteuerliste von 1242 105 


machen. Einmal, wie der Kólnische Pfennig unmittelbar da- 
nach in der zweiten Hálfte des 13. Jahrhunderts amtlich be- 
wertet wurde und zweitens, wie man in derselben Zeit in Süd- 
deutschland die Hellermünze im Verhältnis zur Gewichtsmark 
einschátzte. Da haben wir zunächst eine Urkunde von 1273, 
wonach Graf Heinrich von Kessel dem Erzbischof Engelbert II. 
von Köln das Schloß Grevenbroich für 2000 Mark Kölnischer 
Pfennige verpfándet!" und dabei die Sterlingsmark zu 18 Schil- 
ling Kölnisch rechnet: „pro duobus milibus marcarum Colo- 
niensium denariorum, marca sterlingorum pro 18 solidis Colo- 
niensibus computanda." Damit vergleiche man eine Urkunde 
von 1275, wonach Kuno von Müllenark dem Kölner Dom- 
kapitel seinen Hof bei Oidweiler für 430 Mark Aachener Münze 
verkauft!5, sich aber die Zahlung in Englischen Pfennigen aus- 
bedingt, die Mark Englisch zu 18 Schilling Aachener gerechnet: 
„pro 430 mr. monete Aquensis, que pecunia solvetur in denariis 
Angliensibus, semper marca Angliensis pro 18 solidis Aquen- 
sibus." Wir sehen hier die vóllige Gleichstellung der Aachener 
Reichsmünze mit dem Kölnischen Denar. Diese wird uns be- 
stätigt in Urkunden schon von 1254, 57, 75 aus der Mitte und 
selbst noch 1285 und 90 vom Ausgange des 13. Jahrhunderts, 
wo man unterschiedslos Zahlungen nach der Formel von „de- 
narii Aquenses sive Colonienses legales et boni“ fordert!?. 
Dem treten endlich andere Urkunden an die Seite, z. B. 1288, 
wo der Aachener Pfennig ganz wie der Kölnische zu 3 Hellern 
gerechnet wird. Unter der Sterlingsmark haben wir die Lon- 
doner Towermark zu verstehen, welche sich mit der heutigen 
Kólnischen Mark von 233,8 g im Gewichte deckt. Sie wurde 
zu 160 Pfennigen ausgeprágt, aber bei 4 Pfennigen fein, d. h. 
es wurden von der feinen Gewichtsmark noch 4 Pfennig- 
gewichte oder 5,84 g einbehalten, so daB sich ihr eigentlicher 
Feingehalt auf ungefáhr 228 g verminderte. Diese Feingewichts- 
menge von 228 g hätte also einer Summe von 18 Schilling oder 
216 Pfennigen gesetzlicher Reichsprägung von Köln und Aachen 
gleichgestanden. Das ergibt für den Pfennig einen Feingehalt 


17 Lacomblet, Urkundenbuch II, nr. 632. 
18 Lacomblet, a.a. O. II, nr. 673. 
19 H& vernick, S. 144. — Menadier, S. 292ff. 


106 Benno Hilliger 


von 1,055 und für die Mark von 151,92 g. Das ist nur wenig 
unter den von uns oben errechneten Zahlen. 

Die zweite Probe, die wir nach der Hellerseite hin machen 
dürfen, gründet sich auf die Tatsache, daB in süddeutschen 
Urkunden? für Schwaben und Franken in den Jahren 12465, 
55, 65 und 80 eine Wertgleichung von 660 Hellern mit 1 Mark 
feinen Silbers zu bestehen scheint. Das aber würde einer Summe 
von 220 und nicht von 216 Kólnischen Pfennigen entsprochen 
haben und deutet auf ein erhóhtes Markgewicht von etwa 235 g, 
wie es im Mainzer Sprengel üblich war, oder man hatte hier 
den Feingehalt voll für die ganze Mark zugrunde gelegt. Aber 
auch in diesem Falle würde der Feingehalt des Kólner Pfennigs 
nicht unter 1,041 oder über 1,068 g betragen haben. 

Hiernach stellt sich die Mark der Reichssteuerliste auf nur 
wenig über 51 g Feinsilber, wog also ungefáhr so viel wie zwei 
heutige Fünfmarkstücke, die aber kaum den halben Feingehalt 
davon haben. Nun wird man einwerfen, wie ist es denkbar, 
daB die Reichskammerverwaltung ihre Hellermünze ganz ab- 
weichend vom sonstigen Gebrauch nicht nach dem Pfund von 
240, sondern nach der Mark von 144 Hellern rechnet, während 
sie doch selbst für Heidelsheim und Weil bei den dort zurück- 
behaltenen Baugeldern die andere Rechnungsweise gelten läßt. 
Dafür scheinen zwei besondere Gründe maßgebend gewesen 
zu sein, die uns wieder einen Einblick in die Ziele der staufischen 
Verwaltungspolitik tun lassen. Zunáchst war es die bequeme 
Umrechnungsweise von der Haller in die Kólner Reichsmünze, 
denn man brauchte die Rechenzahlen der Betráge nur zu dritteln 
oder zu verdreifachen. Dann aber kam ein viel weiterreichender 
Gesichtspunkt hinzu, die Rücksicht auf die gesamte Reichs- 
verwaltung, welche auch Italien mit einschloß. Es ist offenbar 
das Bestreben der Staufer gewesen, die ganze Reichsmünze 
in eine bestimmte Ordnung zu bringen. So hatte schon Fried- 


= H. Grote, Münzstudien, Bd. 6 (1865), S. 69f., 102f. — Grote denkt dabei an 
die fránkisch-nürnbergische Mark von 238,5 g und berechnet daraus für den Heller 
0,338 g fein, während es nach Schmelzprobe nur 0,274 g fein waren. — Suhle in 
Schrótters Wörterbuch der Münzkunde spricht von 0,371 g Fein- und 0, 55 g Rauh- 
gewicht. — Die Heller des Ergersheimerr Fundes (13000 Stück), unter denen sich 
auch eine Kölner Denarmünze Konıads von Hostaden fand, waren leichter, sie wogen 
ungereinigt im Durchschnitt 0,475 bis 0,500 g. Vgl. H. Buchenau, Blätter f. Münz- 
freunde 41 (1906), S. 3583. 


Die Reichssteuerliste von 1242 107 


rich Barbarossa in Mailand und Oberitalien einen einheitlichen 
Münzfuß des Denarius imperialis geschaffen. In Zusammenhang 
damit steht die Einführung Kólnischen Gewichtes in Ober- und 
Unteritalien, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, daB der 
Erzbischof von Kóln zugleich Kanzler des Reichs für Italien 
war. Da tritt unversehens die Frage an uns heran, warum man 
grade auf ein so wunderliches Gewicht wie die Haller Mark 
verfallen konnte. Handelte es sich hier um eine willkürliche 
neue oder um eine alte überkommene Gewichtsbildung? Ich 
glaube, wir werden das letztere mit aller Bestimmtheit an- 
nehmen dürfen. Denn mit ihren 51!/, g Feinsilber ist die Haller 
Mark nichts anderes als der Silberwert für cinen merowingischen 
Goldmankusen, wie man ihn nach dem Aufhóren der Goldprä- 
gung im 9. und 10. Jahrhundert rechnerisch festgelegt hatte“. 
Als nun Kaiser Friedrich II. sich im Jahre 1231 entschloß, 
wieder zu einer Goldprägung zurückzukehren, tat er das unter 
einem veränderten Wertverhältnis, welches sich dem von 11:1 
näherte. Seine prächtige Augustalenmünze®?, welche nach rö- 
mischem Vorbild auf der Vorderseite ihn im Kaiserschmuck 
zeigt, während die Rückseite den Adler des Reiches trägt, ist 
in Unteritalien, in Brindisi und Messina geprägt worden. Bei 
einem Rauhgewicht von 5 ½ g hat sie einen Feingehalt von un- 
gefähr 4,5 g Goldes, während die Haller Mark von 51!/, g Fein- 
silber bei einem glatten Wertverhältnis von 11:1 auf eine Fein- 
goldmenge von 4,65 g geführt hätte. Daraus ergibt sich, dab 
die neue Goldmünze Friedrichs II. von 1231 in Unteritalien 
nichts anderes sein sollte, als ein Gegenwert zur Haller Silber- 
mark, welche die Rechnungseinheit der Reichssteuerliste bildet. 
Mit anderen Worten, jeder Silbermark der Reichssteuerliste 
entsprach rechnerisch ein Goldaugustale Friedrichs II. in seinem 
unteritalischen Erbreiche. Erinnern wir uns dabei auch des 
Umstandes — es mag ja ein Zufall sein —, daß uns im gleichen 

n Hilliger, Ursprung der Mark. Numismatische Ztschr., N. F. 22 (Wien 1929), 
S. 20. 


B E. Winkelmann, Die Goldprägungen Kaiser Friedrichs II. für Italien. 
Mitteilungen d. Inst. f. Österr. Geschichte 15 (1894). — A. Schaube, Der Wert 
des Augustalis Kaiser Friedrichs II. Ebd. 16 (1895). — Hilliger, Augustalis, 
Florenus, Ducatus und das Grundgewicht der mittelalterlichen Goldprägung. 
Blätter für Münzfreunde 1931 oder Ders., Gold- und Silbergewicht im Mittelalter, 
S. 18fl. 


108 Benno Hilliger 


Jahre 1231 erstmalig auch Schwäbisch-Hall als königliche 
Stadt begegnet. Dabei erkennen wir als eines der großen Ziele 
der staufischen Reichsverwaltung, vom Niederrhein her, über 
Schwaben hinweg bis an den äußersten Küstensaum des sizi- 
lischen Kónigsreichs eine einheitliche Ordnung für das Münz- 
wesen zu schaffen, welche die Verschiedenheiten der Landes- 
münzen in sich eingliederte. 

Kehren wir jetzt zu unserer Hauptaufgabe zurück. Es steht 
nun nichts mehr im Wege, den wirklichen Geldbetrag der Reichs- 
Steuerliste zu berechnen. Die gesamten Einkünfte stellten sich 
auf 7730 (%% ) Mark Haller Währung, 6833 (54) von der Bürger- 
schaft und 897 von den Juden. Davon aber waren nach Ab- 
rechnung aller Vorausgaben und Erlasse am Schluß nur noch 
6102 Mark barer Kassenbestand. Der Gesamtertrag von 
7730 Mark hätte sich also ziemlich genau auf 395 (*/,9) kg Fein- 
silber oder 35 kg (34,890) Feingold gestellt. Das wären, ein 
Kilogramm Gold zu 2790 Goldmark gerechnet, 97348 RM 
heutigen Geldes gewesen. 

Nun die Frage nach der Kaufkraft. Was hätte man da- 
mals für diese Summe in der Verwaltung leisten kónnen? 
Dafür haben wir einige schwache Anhaltepunkte in der Sinziger 
Abrechnung, weil sie uns einige Preisangaben für Getreide, 
Rosse und Kriegslóhne bietet. Leider läßt sich hierbei gerade 
für die Getreidepreise kein klares Bild gewinnen, weil die Frucht- 
sorten nicht geschieden werden und wir über das Sinziger Hof- 
maß im unklaren sind. Da kommt uns aber eine Angabe der 
großen Kölner Kónigschronik?* zu Hilfe, welche zum Jahre 
1246 vermerkt, daß man in Köln den Marktpreis für den Roggen 
auf 3 Schilling fürs Malter festgesetzt habe, was aber zur Folge 
gehabt hätte, daß die Getreidezufuhr in Köln ausblieb, weil die 
Bauern auf dem Lande mehr dafür bekamen. Das Kölnische 
Stadtmalter stellte sich aber damals schon auf etwa 143 Liter ab, 
so daß man bei gleichem Preisansatz für den Ertrag der Steuer- 
liste eine Roggenmenge von 14740 Hektolitern oder 10500 Dop- 


aa Vgl. K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter II (1885), 
S. 556. 

33b Vgl. Hilliger, Der Rauminhalt der Kölner HohlmaBe des Mittelalters 
nach dem Merkspruch von St. Severin. Siehe: Festgabe, Gerhard Seeliger zum 
60. Geburtstage dargebracht (Leipzig 1920) S. 9- -28. 


Die Reichssteuerliste von 1242 109 


pelzentnern hátte ankaufen kónnen, für die man im Januar 
des Jahres 1981 etwa 200000 RAM gezahlt hätte. Es hätte 
also, am Getreide gemessen, das Geld damals mindestens die 
doppelte Kaufkraft von heute gehabt. Zu einem áhnlichen Er- 
gebnis könnte man vielleicht bei den Pferdepreisen“ gelangen, 
doch ist das bedeutend unsicherer. Überhaupt sind Berech- 
nungen dieser Art irreführend, weil sie das Wichtigste un- 
berücksichtigt lassen, die viel geringere Dichte der damaligen 
Bevölkerung, die dem Geld eine ganz andere Macht gab, weil 
sie erlaubte, mit weit kleineren Mitteln viel Größeres zu leisten. 
Das werden wir gleich noch deutlicher sehen. 

Zum Schluß noch ein Wort über die Abfassungszeit und den 
Gang der Begebenheiten, in den unsere Liste hineingehört. Ich 
habe schon gesagt, daß wir trotz der Gegengründe um 1 Jahr über 
den Ansatz Schwalms hinausgehen müssen. Denn wenn unsere 
Auffassung von der Münzrechnungsweise der Liste begründet 
ist, erscheint sie mit der Sinziger Abrechnung vom 2. Mai 1242 
dermaßen verbunden, daß sie erst nach diesem Zeitpunkt, aber 
unmittelbar danach, noch im Sommer dieses Jahres abgefaßt 
sein müßte. Denn die Schuldforderung aus dem Fronhof in 
Sinzig lag schon vor, als man noch kaum einen Überblick über 
die ersten zwei Drittel der Bedeeingänge unserer Liste besaß. 
Sie wurde aber noch vor Abschluß derselben durch Anweisungen 
auf Eingänge aus dem letzten Drittel gedeckt. Wir haben es 
also mit der Frühjahrsbede von 1242 zu tun, die auf Johanni 


** Die Pferdepreise erscheinen in der Abrechnung Gerhards dreifach gestaffelt, 
zu 5, 8 und 20 Mark Kölnisch, das wären 15, 24 oder 60 Mark Haller Währung. Das 
erste sind Ackergäule, wie sie beim Brand des Hofes in Ahrweiler umgekommen 
waren, das zweite sind Reitpferde, mit denen die Knappen ihre Herren ins Feld 
und in die Schlacht begleiteten, das dritte endlich sind die dextrarii, die schweren 
Streitrosse der gepanzerten Ritterschaft. Die Preise für die letzteren sind nicht zu 
hoch, sie entsprechen dem, was wir gelegentlich auch aus anderen Quellen erfahren, 
vgl. Lamprecht, Wirtschaftsleben II, S. 544f. Allerdings muß es sich hier schon 
um Pferde von besonderer Güte gehandelt haben, denn dem Marschall von Alt- 
mannshofen sind nach der Reichssteuerliste nur 50 Mark ‚pro palefrido et dextrariis 
emptis apud ipsum" gezahlt worden. Doch das kónnte eine Restzahlung sein. Wir 
könnten am ehesten noch die Knappenpferde mit den gewöhnlichen Pferden unserer 
Reiterregimenter vergleichen, für welche der Durchschnittspreis vor dem Kriege 
etwa 450 bis 600 ÆA betragen haben dürfte. Die Preise beiderseits auf Gold um- 
gerechnet, würden ergeben, daß man für 1 kg Gold im Mittelalter 9 bis 10, heutzu- 
tage 5 bis 6 solcher Pferde beschaffen konnte. 


110 Benno Hilliger 


fällig war. Dem widerspricht auch nicht, wenn nach der Liste 
Konstanz ,ad unum annum propter incendium" von der 
Steuer befreit erscheint, und es sich um den Brand von 1240 
handelt, denn es kann dabei das letzte Jahr einer noch laufenden 
Steuerbefreiung gemeint sein. Auch die Verpfändung Dürens, 
das noch in unserer Liste erscheint, an den Grafen von Jülich, 
angeblich im März 1242, was nach Schwalm eine Ansetzung 
der Liste ins Jahr 1242 verbieten müßte, ist nach der Beschaffen- 
heit der Quellen höchst zweifelhaft. Es handelt sich um eine 
der Urkunden Friedrichs II. vom Herbst 1241, die an einem 
Orte ausgestellt sind, wo er damals sicher nicht geweilt hat, 
und mit einer Zeugenreihe von Personen, die schwerlich um 
ihn waren, sondern aus der Umgebung Konrads stammen. Nur 
aus Verlegenheit und um ihre Glaubwürdigkeit zu retten, hat 
Julius Ficker** versucht, sie als eine Urkunde Konrads in den 
März 1242 zu setzen. Aber selbst Schwalm muß zugeben, daß 
diese Verpfändung nicht von Dauer gewesen sein könnte und 
erst 1246 wirklich erfolgt ist. Vielleicht ist es ein blofer Ent- 
wurf zu einer solchen Urkunde gewesen, mit der man den Grafen 
von Jülich gewonnen hatte, deren Ausstellung dann aber 
unterblieb, als der Graf sich weigerte, dem Kónig den Erz- 
bischof auszuantworten. 

Wir stehen mitten in dem letzten Entscheidungskampfe 
zwischen der Kurie und dem staufischen Kónigtum, der mit 
der Bannung Kaiser Friedrichs II. 1239 begonnen hatte. Der 
Mongolensturm des Jahres 1240 hatte eine kurze Kampfes- 
pause gebracht, weil er die Fürsten nótigte, einig mit dem Kónig- 
tum der Gefahr entgegenzutreten. Deshalb hatten sie sich 
noch im Sommer 1241 bemüht, den Papst zur Zurücknahme 
des Bannes zu bewegen. Die Verteidigungskräfte waren zum 
1. Juli zur Sammlung nach Nürnberg entboten worden, als 
die Mongolen unvermutet wieder zurückwichen. Kaum zwei 
Monate spáter stand Deutschland wieder in Verrat und lodern- 
der Empórung gegen den Kaiser. Die beiden Erzbischófe Sig- 
frid von Mainz und Konrad von Köln waren die Rádelsführer. 
Am 11. September war ihr Bündnis zum Abschluß gekommen 
und sie brachen noch im Laufe dieses Monats mit Heeresmacht 
in die Wetterau ein, um dieses reiche Land bis zum Main herauf 


Wiener Sitzungsberichte, Bd. 69 (1871), S. 285. 


- — —ñ — — ————— —— M ÀÀ 


— —— € —— — 


Die Reichssteuerliste von 1242 111 


zu verwüsten. Sie verunglimpften óffentlich die Person des 
Kaisers, der wegen seiner Schandtaten gebannt worden sei 
und jetzt die Wahl eines neuen Papstes hindere. Da mußte 
Kónig Konrad alle Macht aufbieten, um sich diesem gefáhr- 
lichen Ansturm gegenüber zu behaupten, und er fand Bundes- 
genossen in den westlichen Teilen des Reiches hauptsáchlich 
an den Herzógen von Brabant, Limburg und dem Grafen von 
Jülich. 

In diese Wirren führt uns die Abrechnungsurkunde des 
Gerhard von Sinzig unmittelbar hinein, eines Mannes, der 
wohl unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir kónnen seinen 
Lebensgang® in etwas verfolgen, wie er sich aufgeschwungen 
hat vom Lehnsgánger des Herzogs von Limburg und Dienst- 
mann des Erzbischofs von Trier, endlich zum Reichsministeria- 
len, Amtmann des Königs in Sinzig und schließlich Burggrafen 
von Landskron. Er scheint einer der treuesten und verläßlich- 
sten Diener des staufischen Könighauses in diesen Gegenden ge- 
wesen zu sein und wurde immer mit Auszeichnung behandelt. 
Schon König Heinrich hatte ihm verbrieft, daß er ihm allein 
Rechenschaft zu legen schuldig sei. Er war auch einmal beim 
Kaiser in Italien gewesen und kehrte, wie sein Geleitbrief zeigt, 
erst zu Beginn des Jahres 1238 nach Deutschland zurück. Er 
war wohl nicht bloß ein erfahrener Kriegsmann, sondern auch 
in Staatsgeschäften ein gewandter und geschickter Verhand- 
lungsführer. In seiner Abrechnung erscheinen Verpflegungs- 
kosten für seinen Aufenthalt in Trier und Aachen, aber auch 
in Köln und Mainz, und da wäre es nicht undenkbar, daß er 
seine guten Beziehungen zum Erzbischof von Trier und zum 
Herzog von Limburg benutzt hätte, diese bei der Sache des 
Kaisers zu halten. Vielleicht war er auch an den Verhandlungen 
mit dem Grafen von Jülich beteiligt, die ja in Aachen zum 
Abschluß gebracht wurden. Sein Verwaltungsbezirk war groß 
und beschränkte sich nicht bloß auf Sinzig. Schon im Jahre 
1216 überträgt Friedrich II. einem Gerhard von Sinzig — es 
könnte der Vater sein — die gesamte Verwaltung über Mann- 
schaft und Einkünfte von der Mosel rheinabwärts. König 
Heinrich hat ihm Vollmacht gegeben, das verlorene Reichs- 


* Über Gerhard von Sinzig vgl. die Urkunden bei Beyer, Mittelrheinisches 
Urkundenbuch, Bd. III Register. 


112 Benno Hilliger 


gut wieder einzufordern. Wir haben ja schon gesehen, Sinzig 
lag mit Düren und Aachen wie ein vorgeschobener Posten in 
Feindesland, zwischen der Macht von Kóln und Mainz. Ger- 
hard stand also dem mächtigsten Feinde des Kaisers, dem Erz- 
bischof Conrad, mit nur geringer Seitendeckung gegenüber 
und hatte die ganze Gewalt des Kampfes aufzufangen. Er war 
besonders bedroht, da der Erzbischof Remagen zu befestigen 
versuchte. Deshalb ergingen schon Mitte September die ersten 
Weisungen des Kónigs an den Herzog von Limburg und den 
Burggrafen von Hammerstein, dem Gerhard von Sinzig auf 
sein Ansuchen Hilfe zu leisten. Der Feldzug dauerte über 
Winter bis in das erste Frühjahr hinein. Gerhard von Sinzig 
hatte — natürlich außer dem Lehnsaufgebot — ein kleines Sold- 
heer von 50 Berittenen in Dienst genommen, mit dem er für 
den König 16 Wochen im Felde lag. Auch eine Mannschaft von 
6 Armbrustschützen hatte er geworben. Wir erzählen dies, 
um zu zeigen, mit wie kleinen Mitteln damals die großen Ent- 
scheidungen der Weltgeschichte gesucht wurden. Wie der Krieg 
in seinem Lande gehaust hat, zeigt uns wieder seine Abrech- 
nungsurkunde. Der Hof in Ahrweiler war in Flammen auf- 
gegangen, in Sinzig hatte man ihm die eigene Behausung zer- 
stört, den Wein und alle Vorräte geraubt und alle seine Besitzun- 
gen niedergebrannt. Aber er hatte sich tapfer gewehrt, er hatte 
eine Anzahl von Gefangenen heimgebracht, an denen er sich 
für seine Verluste mit 400 Mark Kölnisch Lösegeld hätte schad- 
los halten können. Da gebot ihm der König, all seine Gefange- 
nen ohne Lösegeld wieder auf freien Fuß zu setzen. Es war dies 
politische Notwendigkeit, denn der König trachtete wohl, sich 
mit seinen kleineren Feinden zu vertragen, um sich der größeren 
zu versichern. Gerhard mußte sich mit einem halben Troste 
zufrieden geben, daß ihm der König noch in die Urkunde 
schrieb: „Super his expectat gratiam imperatoris et nostram“, 
daB er dies der Huld des Kaisers und des Kónigs anheimstelle. 
Jetzt verstehen wir wohl, warum der Truchseß hier einspringen 
mußte, um dem Amtmann wenigstens die Rückstände, die 
expensa regis, zu decken. 

In der Zwischenzeit aber war der groDe Schlag gefallen, der 
das Schicksal dieses Feldzuges entschied. Dem Grafen von 
Jülich war es geglückt, in der Schlacht von Lechenich seinen 


Die Reichssteuerliste von 1242 113 


eigenen Lehnsherrn, den Erzbischof von Kóln, zu schlagen und 
schwer verwundet gefangen zu nehmen. Das war wohl auch 
die Veranlassung, welche in diesen Monaten den Kónig nach 
Sinzig, Trier und Kóln an den Niederrhein führte. Er wollte 
sich offenbar der Person seines gefáhrlichsten Feindes, des Erz- 
bischofs, leiblich versichern. Aber es ist bezeichnend für die 
Machtstellung der Gewalten, daß es ihm nicht gelang, den Gra- 
fen von Jülich zu bewegen, ihm den Gefangenen auszuantworten. 
Es wäre möglich, daß damals erst der Gedanke einer Verpfän- 
dung Dürens für 10000 mr. erwogen worden wáre, um denr Gra- 
fen von Jülich eine Sicherheit zu bieten. Aber der Graf wollte 
nicht, und der Urkundenentwurf, wenn es ein solcher war, 
wäre unausgeführt geblieben. Nur so viel wurde erreicht, daß 
der Graf dem König versprechen mußte, den Erzbischof als 
Gefangenen des Reiches in Gewahrsam zu halten. Aber der 
Graf mochte seine eigenen Gedanken dabei haben, jedenfalls 
war ihm die Gnade seines Lehensherrn wertvoller, als die 
Gunst und alle Versprechungen des Königs. Schon am 2. No- 
vember entschloß er sich, den Erzbischof gegen Gewährung 
voller Verzeihung und ein gutes Stück Geld wieder freizugeben. 
Auch dieser Vertrag?” ist ein Kunstwerk staatsmännischer 
Überlegung, wie der Erzbischof den Grafen vom Banne löst 
und von dem unerlaubten Eidschwur, den er dem König und 
seinen Räten geleistet, ihn als Gefangenen des Reiches zu halten, 
und wie er dem Grafen verspricht, auf dessen Ersuchen auch 
mit dem Reich, Kaiser und König seinen Frieden machen zu 
wollen, falls nicht sein Leben, seine erzbischöfliche Würde, 
sein Gehorsam gegen Rom und die Unversehrtheit der Köl- 
nischen Kirche dadurch gefährdet würde. 
Mitten in diese Vorgänge hinein in den Sommer des Jahres 
1242, als der Aufstand am Niederrhein durch die Gefangen- 
nahme des Erzbischofs niedergeschlagen schien, fällt also die 
Aufstellung der Reichssteuerliste. Erst jetzt, da wir dieses 
wissen, wird sie gesprächig und erzählt uns wie ein altes An- 
nalenwerk von den Vorgängen dieser Tage. Wenn die Städte 
Friedberg, Wiesbaden, Seligenstadt, Ingelheim, aber auch Dü- 
ren und Offenburg u.a. „ad edificia eorum" von der Steuer 


** Lacomblet, a. a. O. II, nr. 270. 
Histor. Vierteljahrschrift, Bd. 28, H. 1. 8 


114 Benno Hilliger 


befreit erscheinen, so deutet dies eben auf die Kriegsscháden 
des vergangenen Herbstes besonders in der Wetterau. 

Ich habe schon erwähnt, daß wir den Ertrag unserer Liste 
unterschátzen, wenn wir allein die doppelte Kaufkraft des 
Geldes für sie in Anschlag bringen wollen. Viel wichtiger ist 
die Summe militárischer Macht, welche man mit ihr damals in 
die Waagschale des Kampfes werfen konnte. Und wir haben 
in den Wormser Annalen® gerade für diese Jahre und die uns 
hier bescháftigenden Ereignisse eine vorzügliche Quelle für die 
Kosten eines Heereszuges. Als die dem Kónig getreue Stadt 
Worms im August 1242, dem Rufe Konrads folgend, Kriegs- 
schiffe rüstete und mit 200 Bewaffneten zu seinem Heere stieß, 
um dem Erzbischof von Mainz die Pfalz zu verwüsten, stellten 
sich die Kosten dieses sechswóchentlichen Feldzuges auf über 
300 Mark Kölnisch. Und: als 1243 der König die Bergstraße ent- 
lang zog und sich vor Starkenburg legte, kamen ihm die Worm- 
ser „cum medietate civium“, mit der halben Stadt zu Hilfe und 
lagen bei 2000 Mann stark 8 Tage mit ihm zu Felde, und man 
schlug die Kosten dieses Heerzuges für die Stadt auf 200 Mark 
an. Und ebenso, als sie ihm 1250 in gleicher Stärke mit 
2000 Mann und 100 Armbrustschützen nach Flonheim folgten 
und 3 Wochen ausblieben, kostete es der Stadt über 700 Mark. 
Wir können daraus entnehmen, daß der Wochenlohn für einen 
armatus im Durchschnitt etwa 14 bis 15 Silberpfennige Kölnisch 
betragen habe, was wir in Hinblick auf die Nebenkosten für 
besonderes Heeresgerát wohl auf 1 Schilling, d. h. 12 Pfennige 
Kölnisch herabsetzen dürfen. Der Sold für geschulte Armbrust- 
schützen stellte sich natürlich entsprechend hóher. Gerhard von 
Sinzig berechnet für sie je einen Monatslohn von 1 mr. Köl- 
nisch. Sie erhielten also das Dreifache eines gewóhnlichen Be- 
waffneten. 

Man hätte also mit den Eingängen der Reichssteuerliste, 
trotz aller Abzüge, immer noch ein Heer von 6000 Bewaffneten 
aufstellen und einen Monat lang im Felde halten können. Diese 
Einnahmen des Reiches fielen also noch ins Gewicht und muß- 
ten sich mit der Zeit steigern, je größer und reicher die Städte 
wurden. Dabei gilt es auch noch zu bedenken, daß wir ja hier 


3$ MG. SS. XVII, 48. 


— ——— — — D —  — — "D — — — à !— 


— ———— ———  —X — — 


Die Reichssteuerliste von 1242 115 


nur die Steuern der Westhälfte des Reiches vor uns haben, die 
freilich die steuerkráftigste gewesen sein dürfte. Weiter aber 
kommt in Betracht, daB diese Bede nicht einmal, sondern, wie 
es scheint, zweimal im Jahr erhoben worden ist, zu Johanni und 
Weihnacht. Es würde sich also damit der von uns errechnete 
Betrag verdoppeln. Dazu aber kamen im Falle der Not noch 
außerordentliche Beden. So z. B. wenn Gerhard von Sinzig 
schon im Januar 1243 vom Kónig angewiesen wurde, geschwind 
von den Juden 500 mr. einzufordern, nótigenfalls auch mit 
Gewalt. Um eine solche auBerordentliche Steuer oder eine 
Hofbede mag es sich auch in seiner Abrechnung bei der precaria 
von 50 mr. für Sinzig und 15 für die Juden daselbst gehandelt 
haben“. Damit waren aber die Einkünfte von König und Reich 
noch lange nicht erschöpft. Es sei nur an Zoll, Geleit, Gerichts- 
gefälle und sonstige regalia erinnert. Dazu kamen — nicht an 
letzter Stelle — die Hofeseinkünfte. Stellten sie sich doch in 
Sinzig allein auf 22715 mr. Kölnisch, wenn sie auch in dem lau- 
fenden Kriegsjahr mehr als aufgebraucht worden waren. Dieses 
Kónigsgut aber war gefáhrdet worden in der langen Zeit der 
Bürgerkriege nach dem Tode Heinrichs VI. und wurde es noch 
mehr in der Zeit des eigentlichen Zwischenreiches. 

Hier aber führt eine gerade Linie von unserer Reichssteuer- 
liste hinüber zu dem großen Rheinischen Städtebund, der 
unter König Wilhelm von Holland 1254 zu Worms einen star- 
ken Landfrieden aufgerichtet hat. Zwei Jahre später, nach dem 
tödlichen Abgange dieses Königs, sind diese Städte es gewesen, 
die vor die Reichsfürsten traten und die Wahl eines neuen 
Königs verlangten, nicht demütig bittend, sondern in dem trotzi- 
gen Bewußtsein des Rechtes und der streitbaren Macht ihrer 
Mauern und Türme, in deren Schutz sie lagen, und der 150Kriegs- 
schiffe, die sie von Basel bis zum Niederrhein auf dem Strome 
liegen hatten. Es waren dieselben Namen der Rheinischen 
Städte, wie wir sie schon in unserer Liste gefunden haben, 
Frankfurt, Boppard, Aachen und andere, die hier an die Spitze 
traten, aber ihre Reihen erscheinen verstärkt jetzt auch durch 


Diese Bedebeträge dürfen mit denen der Steuerliste von 70 und 25 mr aus 
dem Grunde nicht stimmen, weil sie nur unter den Einnahmen, nicht aber auch 
unter den Ausgaben des Fronhofs gebucht erscheinen. Denn anderen Falles wären 
sie zweimal in Rechnung gestellt worden. 


8* 


116 Benno Hilliger 


die Namen der großen Bischofsstädte Mainz, Köln, Straßburg 
und andere. Sie alle waren einig geworden in dem Begehren 
nach einer starken Staatsgewalt, und im Sinne des Mittelalters 
sprachen sie es auch aus, daß der König gleichmäßig den Nutz 
von arm und reich zu wahren habe. Und da nach dem Tode 
Wilhelms niemand mehr da war, dieses Amtes zu warten, so 
vermaßen sie sich selbst, die Schützer des Reichs zu sein, bis 
wieder ein König wäre: „Da nun das Reich verwaist ist und 
wir des Herrn und Königs entbehren, so wollen wir alle Güter 
des Reichs in unseren Schutz nehmen und mit aller Kraft ver- 
teidigen, als wenn es die unsrigen wáren." Den Fürsten aber 
drohten sie, wenn die Wahl des neuen Königs zwiespältig aus- 
falle, jedem der von ihnen Erwählten die Tore zu sperren. 
So hoch war also schon das Selbstgefühl und die Macht der 
Städte gestiegen, und wir erkennen, daß hinter den Namen der 
Steuerliste mehr steht, als die paar hundert Mark jährlichen 
Bedezinses, es war die ganze gewappnete Kraft eines neu heran- 
gewachsenen Standes, die man in den Kämpfen der Wormser 
an der Seite König Konrads bereits zu spüren bekommen hatte. 


Wir alle wissen, der Bund der Städte hat bei den Aufgaben, 
die er sich in den Wirren dieser Tage gestellt hatte, kläglich 
versagt, er erlag inneren Spaltungen und der Übermacht der 
Fürsten. Ohne die schützende Macht des Königtums war er 
ein Schatten. Die Doppelwahl des Jahres 1257 war wie ein 
Hohn auf die Forderungen der Städte. Diese deutschen Für- 
sten, deren Streben nur dahin ging, die Macht des Königtums 
auszuhöhlen, um sich an ihr zu bereichern, waren die natür- 
lichen Gegenspieler der Städte, deren wachsenden Reichtum 
sie mit Furcht und Mißtrauen betrachteten. Hatten sie doch 
schon Friedrich II. das Statutum in favorem principum ab- 
gerungen, das sie niederhalten sollte. An ihrer Spitze aber stand 
der Erzbischof von Köln, Konrad von Hostaden?®, den die 
Hauptschuld trifft an dem Untergang der Staufer und der Ver- 
nichtung der deutschen Königsgewalt. In den Augen der Welt 
ein Mann, der vor nichts zurückschreckte und dem man nach- 
sagte, er habe seinem eigenen Schützer und Schutzbefohlenen 
König Wilhelm von Holland, als er bei ihm zu Gaste war, in der 


3 Über ihn vgl. Hermann Cardauns, Konrad von Hostaden, Köln 1880. 


Die Reichssteuerliste von 1242 117 


Nacht in Neuß den Brand ans Haus legen lassen, damit er darin 
mit samt dem päpstlichen Legaten umkomme. Ein Mann, der 
nach dem Hóchsten und Ungeheuersten strebte, der nach dem 
Tode seines Verbündeten, Sigfrid von Mainz, die Hand selbst 
nach diesem zweiten Erzbistum ausstreckte, bis es der Papst 
ihm wehrte. Es mochte ihm der Gedanke eines geistlichen 
Königreichs am Niederrhein vorgeschwebt haben, dessen äußeres 
sichtbares Zeichen der Wunderbau des Kölner Domes werden 
sollte, zu dem er in einem für mittelalterliche Zeit schier un- 
erhörten Ausmaße mitten in den Kriegswirren dieser Tage 
am 15. März 1248 durch Meister Gerhard?! den Grundstein 
legen ließ. Dieser Mann war es, der wenige Monate nach der 
Doppelwahl seine eigene Stadt Köln mit Krieg überzog, sie 
belagerte, beschoß und die davor liegende Flotte mit griechi- 
schem Feuer vernichten wollte. Als ihm das nicht gelang, schloß 
er Friede und fügte sich im großen Schied von 1258 den Be- 
dingungen des Albertus Magnus, um gleich darauf im nächsten 
Jahre zu seinem großen Schlag gegen die Geschlechter im Rat 
und der Münzerhausgenossenschaft auszuholen. Vergessen wir 
nicht, daß der Bund der Rheinischen Städte auf der Herrschaft 
der Geschlechter in denselben ruhte, und wenn der Erzbischof 
in Köln den Haß der Zünfte gegen die Geschlechter aufstachelte, 
traf er letzten Endes doch den Städtebund. Er ist es auch 
gewesen, der die Wahlgeschäfte des Jahres 1257 für König 


u Auf die Dauer wird man Gerhard von Riel schwerlich den Ruhm streitig 
machen können, der erste Dombaumeister gewesen zu sein, d. h. der Mann, dessen 
Haupte der erste Entwurf zu diesem Riesenbau entsprungen ist. Das hat noch 
Cardauns in seinem oben genannten Werke, S. 149, getan. GewiB besagt die Be- 
zeichnung als rector fabrice in der Urkunde von 1257 (Ennen und Eckertz, Quellen 
II, 372), wo ihm das Domkapitel zum Dank für seine Verdienste ein Grundstück 
beim Dom überläßt, nicht allzuviel. Wichtiger aber ist, daB er im Totenbuche von 
St. Pantaleon, wo er mit samt seiner ganzen Familie eingetragen ist, unterm 24. April 
als seinem Todestage als magister Gerardus initiator nove fabrice maioris ecclesie 
bezeichnet wird. Urbare von St. Pantaleon S. 27 (Publikationen der Gesellschaft 
für Rheinische Geschichtskunde XX, 1). Man kann diese Worte dem Sinne nach 
schwerlich anders als „der erste Dombaumeister“ übersetzen. Über den Begriff 
des Wortes initiator vgl. Ducange unter initiator und initiatrix, wo auch die gei- 
stige Urheberschaft klar zum Ausdruck kommt. Bezeichnend ist auch, daß wir den 
genauen Bericht über den Anfang des Baues, die Niederlegung des Ostchores und den 
dabei entstandenen Brand des alten Doms der Überlieferung des Klosters St. Pan- 
taleon verdanken. 


118 Benno Hilliger 


Richard geführt hat, die das Schamloseste eines Stimmen- 
kaufes darstellten, was man bisher in Deutschland erlebt hatte. 
Der Englànder, sagte man, habe den deutschen Fürsten sein 
gutes Geld wie Wasser vor die Füße geschüttet. Der Erzbischof 
von Köln erhielt, wie urkundlich feststeht“, für seine Bemü- 
hungen und Unkosten 8000 Mark Sterling. Das wáre nach 
unserer Berechnung das Vier- oder Fünffache unserer Steuer- 
liste, also der Steuerertrag des ganzen Reiches für 2 oder 3 Jahre. 
Der Erzbischof von Mainz erhielt die gleiche Summe und der 
Bayernfürst soll sogar 12000 Mark genommen haben, doch 
mußte er die Nachrede leiden, er habe sich von beiden Seiten 
die Hand salben lassen. Der Erzbischof von Kóln aber bedang 
sich noch des weiteren aus, daB der Kónig ihm gleich nach der 
Wahl óffentlich in Urkunde bestátigen werde, er werde im ganzen 
Land von der Mosel bis Aachen und Dortmund keinen Amtmann 
und keinen Richter ernennen, und keinen Edelherren, Ritter 
oder Bürger in Dienst nehmen, er habe sich denn zuvor mit dem 
Erzbischof verstàndigt. 

Das Kónigtum war am Ende seiner Kraft. Von ihnen aus- 
geplündert, lohnte es sich für die Fürsten nicht mehr, die Krone 
zu tragen und man schenkte sie 1273 dem Grafen von Habs- 
burg, der sich nun vor die Aufgabe gestellt sah, durch die 
Gründung einer Hausmacht, von außen her, dem deutschen 
Kónigtum einen neuen Rückhalt zu schaffen. 


33 Lacomblet II, S. 232, nr. 429. 


119 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte. 


Von 


Käthe Spiegel. 


Der Historiker kann nach längerem Aufenthalt im fremden 
Lande der Versuchung, die an jeden Reisenden herantritt, 
Werden und Sein der Fremde mit der Heimat zu vergleichen, 
nur schwer widerstehen. Die Gefahr liegt aber nahe, daß das 
fremde Land, das fremde Geschehen an den Maßen der Heimat 
gemessen, daß die Heimat sozusagen zum Normaltypus gemacht, 
daß also in unserem Falle Amerika europamorph betrachtet 
wird. In der Richtung, die charakteristischen Merkmale der 
amerikanischen Geschichte aufzuzeigen, möchte die vorliegende 
Studie, wenn auch nur in skizzenhafter Darstellung, Anregung 
und Versuch bedeuten. 

Welche Charakterzüge sind es nun, die der amerikanischen 
Geschichte, der Geschichte der Vereinigten Staaten ihr eigen- 
tümliches individuelles, von der Geschichte europäischer Länder 
verschiedenes Gepräge geben!? Wie tritt der amerikanische 


! Zum allgemeinen Vergleich seien genannt: 

S. E. Morison: The Oxford History of the United Staates 1783—1917, Ox- 
ford—London (1929), 2 Bde.; R. G. Gettell: History of American Political Thought, 
New-York—London (1928), (mit reichen Literaturangaben); Ch. u. M. Beard: 
The Rise of American Civilization, New-York (1927), 2 Bde.; F. Luckwaldt: 
Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin Leipzig (1920), 2 Bde.; 
C. Brinkmann: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Handb. d. engl. 
am. Kultur, Leipzig— Berlin (1924). 

Zum Amerikanertum: F. Schónemann: Die Vereinigten Staaten von 
Amerika, Stuttgart (1932), 2 Bde. (Wertvolle Bibliographie); W. Fischer: Haupt- 
fragen der Amerikakunde, Neuphil. Handbibl, Bd.3, Bielefeld — Leipzig (1928); 
Handbuch der Amerikakunde, Handb. der Auslandskunde, Bd. 6, Frankfurt a. M. 
(1931); E. Voegelin: Über die Form des Amerikanischen Geistes, Tübingen (1928). 

Zur Kolonialzeit im besonderen: K. Spiegel: Kulturgeschichtliche Grund- 
lagen der amerikanischen Revolution, Beih. 21 d. Hist. Zeitschr. München— Ber- 
lin (1931). 


120 | Käthe Spiegel 


Mensch aus dem Hintergrunde seiner Geschichtstradition hervor 
und wieweit verursacht sie seine Andersartigkeit im Vergleiche 
zu seinem europäischen Zeitgenossen ? 


* 4 * 

Der amerikanische Historiker Farrand betrachtet als die 
größte geschichtliche Tat Amerikas die Einwanderung‘. 
Und tatsächlich erscheint auch dem vergleichenden Blick des 
europäischen Historikers die Immigration in ihren Ursachen 
und Folgen als der bestimmendste Faktor des amerikanischen 
Geschichtsverlaufs. Ein Faktor, der in annähernd gleicher 
Stärke das geschichtliche Leben der europäischen Länder in 
jüngerer Vergangenheit niemals beeinflußt hat und noch viel 
weniger beeinflussen wird. 

Das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten ist von einer 
Bevölkerung bewohnt, die aus fremden, zumeist europäischen 
Vaterländern eingewandert ist. Da sich die weißen Einwanderer 
mit den Eingeborenen fast nicht mischten, haben wir es, mehr 
als in den benachbarten Gebieten Kanada und Mexiko, mit 
einer rein erhaltenen Einwandererbevölkerung zu tun. Mögen 
auch die Ursachen, warum die einzelnen Einwanderer ihre hei- 
matliche Scholle verlassen hatten, voneinander verschieden ge- 
wesen sein, so ist es dennoch möglich, die Einwandernden zu 
typisieren. Wir unterscheiden politisch oder wirtschaftlich Un- 
befriedigte, Abenteurer usw., die alle zusammen zur Gruppe 
der freiwillig Eingewanderten gehören, von der Gruppe der 
zwangsweise nach der neuen Heimat Deportierten. Fragt man 
aber, wie groß der Bevölkerungsanteil der Nachkommen der 
unfreiwillig Eingewanderten am heutigen Gesellschaftsaufbau 
sein kann, so muß er doch als äußerst gering betrachtet werden. 
Die Deportationen konnten ja überhaupt nur solange erfolgen, 
als das Band zwischen Kolonie und Mutterland noch Bestand 
hatte, und auch während dieser Zeit stießen sie bereits auf den 


* M. Farrand: Immigration in the light of history in New-Republic, IX 
(1916), S. 116. Der Ausdruck , Einwanderung! wird hier im Sinne des amerika- 
nischen Wortes „, Immigration“ gebraucht, schließt also die ganze Weite des Begriffs 
mit allen soziologischen Bedingtheiten und Folgerungen ein. Zur Einwanderungsfrage 
reiche Literatur bei A. M. Schlesinger: New Viewpoints in American History, 
New-York (1925). 


| 


| Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 121 


herr: Widerstand der einzelnen Kolonien. Es läßt sich also sagen, 
lei: daß die Bevölkerung der Vereinigten Staaten, soweit sie nicht 
durch natürliche Vermehrung wuchs, durch freiwillige Ein- 
wanderung ergänzt wurde. Dabei muß als freiwillige Ein- 
wanderung auch jene betrachtet werden, die den Anschein der 
; di Unífreiwilligkeit hat, wie etwa politische Landesverweisung, 
ing. Flucht nach begangenem Verbrechen u. dgl. 
- ds Aus der Feststellung, daß das amerikanische Volk seiner 
che: überwiegenden Mehrzahl nach sich durch freiwillige Einwan- 
|: derung, die in früherer oder späterer Zeit erfolgte, auf neuem 
cher. Lande zusammenfand, ergibt sich die Antwort auf die oft auf- 
'j geworfene Frage, ob es eine Eigenschaft gäbe, die allen diesen 
vie! durch Völkermischung größten Stils verbundenen und nunmehr 
in einem gemeinsamen Staatsverband lebenden Menschen ur- 
pr sprünglich gemeinsam sei, oder ob lediglich durch Angleichung 
jp, und Verschmelzung im „Melting Pot“ eine gewisse Eigenartig- 
«r keit bewußt oder unbewußt erworben wird. Wir kommen zu 
j| dem Schlusse, daB als die einzige gemeinsame Eigenschaft, 
it | gleichsam die Erbeigenschaft des amerikanischen Volks, seine 
a | Wanderungsbereitschaft angesehen werden muß. Sie war 
es, die in jedem einzelnen Falle die Auswanderer von der Masse 
i ihrer Landsleute geschieden hatte, im Kräftespiel der Motive 
1 bildete sie die stärkste Komponente. Dabei ist es gleichgültig, 
ob uns Wanderungsbereitschaft oder Seßhaftigkeit als ethisch 
wertvoller erscheinen. 

Diese Wanderungsbereitschaft konnte aber mit der Ankunft 
am ersten Bestimmungsorte nicht ihr Ende finden. In der 
Wanderung der Pioniere nach dem Westen wirkt sie fort und 
wird, gleichsam durch Zuchtwahl, von Generation zu Generation 
gesteigert®. Die Bindung an die Scholle wird nie wieder so fest, 
wie bei den in der ursprünglichen Heimat Verbliebenen. Es 
mag dabei allerdings sein, daß die Wanderungsbereitschaft der 
einzelnen Nationen dem Grade nach verschieden ist*. Für die 
Wertung des Frontiertums, der Westwärtswanderung der 
Pioniere, hat dasselbe zu gelten, wie für die Auswanderung 


— 


- ———— —ä— £ 


3 Zur Bedeutung der Wanderung für die Geschichte Amerikas vgl. F. J. Tur- 
ner: The Frontier in American History, New-York (1921). 

* VgL R. Heberle: Über die Mobilität der Bevölkerung in den Vereinigten 
Staaten, Jena (1929), S. 82f. 


122 Käthe Spiegel 


überhaupt. Man mag sie als Ausdruck der Rastlosigkeit, der 
Schwáche, der Gesetzlosigkeit deuten, man mag in ihr Willens- 
stärke, Lebensbejahung, Verantwortungsfreudigkeit erblicken! 
— Die Wanderungsbereitschaft des Amerikaners tritt aber auch 
heute noch, nachdem die Frontierwanderung mit dem Ende des 
vorigen Jahrhunderts bereits ihren AbschluB gefunden hat, 
deutlich erkennbar in Erscheinung, sie hat dem Bau der ameri- 
kanischen Gesellschaft ihr Gepräge gegeben®. 

Vom Beginn der Geschichte der Kolonien angefangen, hat 
die Frage, wer zur weiteren Ansiedlung im neuen 
Lande zugelassen werden sollte, eine Rolle gespielt. 
Waren die Kolonien auch vom Mutterlande abhängig gewesen, 
so suchten sie sich dennoch, soweit es ging, dagegen zu wehren, 
daß ihnen Bevölkerungselemente zugeführt würden, die ihnen 
nicht genehm erschienen. Hatte doch jede Kolonie, soweit 
nicht allgemeine Verfügungen des Mutterlandes maßgebend 
waren, das anerkannte Recht, selbst die jeweiligen Bedingungen 
für Zuwanderung, Ansiedlung und Einbürgerung festzusetzen. 
Es bedeutet darum nur die Fortführung einer bereits begonnenen 
Linie der amerikanischen Geschichte, wenn nach der Gründung 
der Vereinigten Staaten, ja bis zur allerneuesten Gegenwart, 
die Frage der Immigration von höchster Bedeutung blieb®. Der 
Kampf der Parteien ging stets mit darum, ob eine stárkere oder 
schwáchere Einwanderung gewünscht werde. Auch die Frage, 
welcher Art die einwandernden Elemente sein sollten, war schon 
von Jefferson aufgeworfen worden, der wünschte, daB die Immi- 
gration auf Volksstämme beschränkt bleiben möge, die leicht 
assimiliert werden könnten’. Die Frage der Einwanderung war 
immer aufs innigste mit den wirtschaftlichen Interessen einzelner 
Bevölkerungskreise verknüpft. Wünschten die Unternehmer 
des Ostens eine starke Einwanderung in dem Bestreben, billige 
Arbeitskräfte als Ersatz für die stets nach Westen abwandernden 
Pioniere zu sichern, so mußten die Lohnarbeiter in den stets 
zuströmenden Fremden mit ihrem verhältnismäßig niedrigen 
Lebensstandard unwillkommene Konkurrenten am Arbeits- 


5 Vgl. Heberle a. a. O., Teil II. 

* Über die Bevölkerungselemente der U. S.A., vgl. Fischer a. a. O., Kap. I., 
Schónemann a. a. O. I. Teil III. 

? Vgl. Gettell a. a. O., S. 200, 264. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 123 


markte erblicken. In neuester Zeit sind es die Gewerkschaften, 
die die Einwanderung nach Móglichkeit drosseln und die Ein- 
gliederung der Einwanderer in die amerikanische Gesellschaft 
erschweren?. 

Die Immigrationspolitik mußte aber nicht nur über die 
Stärke der Einwanderung, sondern jeweils auch über deren 
religióse, nationale und rassische Zusammensetzung entscheiden. 
Galt es doch, der künftigen Entwicklung des Gemeinwesens, 
der Kolonie, des Staats dadurch die Bahn zu weisen. Massa- 
chusetts gestaltete in kolonialer Zeit seine Einwanderung so, 
daB es die Hochburg des Dissentertums bleiben konnte, wáhrend 
gleichzeitig Virginia fast ausschließliche Domäne des Angli- 
kanertums war. Damit Pennsylvania nicht zu einer vollkommen 
deutschen Kolonie werde, drosselte die Assembly um die Mitte 
des 18. Jahrhunderts den stets stärker werdenden Zustrom der 
Deutschen?. Die Angst vor einer zu starken Einwanderung der 
gelben Rasse führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 
zu Einwanderungsbeschränkungen und schließlich zum Ein- 
wanderungsverbot von 1924. Immer fühlten sich die bereits 
länger im Lande lebenden Einwohner berechtigt, in der Art 
eines gesellschaftlichen Klubs über die Aufnahme neuer Mit- 
glieder nach ihrem Gutdünken zu entscheiden. Es ist dabei 
selbstverständlich, daß die jeweiligen staatstheoretischen An- 
sichten nicht ohne Einfluß bleiben konnten. So macht sich etwa 
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine gewissermaßen national- 
staatliche Tendenz bemerkbar, deren Wurzeln wohl auch in 
deutschen Einflüssen zu suchen sind». Sie wirkt sich darin aus, 


* Vel. dazu H.Pollak: Die Gewerkschaftsbewegung in den Vereinigten 
Staaten, Jena (1927) und Ch. Lütkens: Staat und Gesellschaft in Amerika, 
Tübingen (1929). 

* Vel. Spiegel a. &. O., S. 46ff. 

10 W. R. Burgess, der Begründer der Fakultät für „Political Science" an 
der Columbia Universität in New-York (die erste ihrer Art an einer amerikanischen 
Hochschule), hatte 1871—1873 in Deutschland studiert, und zwar in Berlin, Leip- 
zig und Góttingen. Seine Lehrer waren vor allem: Curtius, Mommsen, Ranke, 
Droysen, Treitschke, Zeller, Lotze, Helmholtz, Roscher, Waitz und -Gneist. (Vgl. 
H. W.Odum: American Masters of Social Science, New-York (1927), S. 23ff. 
und Gettell a.a. O., S. 401ff.); George Bancroft, der dem amerikanischen Volk 
seine Nationalgeschichte schrieb, hatte als Schüler Heerens 1820 das Doktorat der 
Universität Göttingen erworben und verbrachte das nächste Jahr in Berlin. Nach- 


124 Käthe Spiegel 


daß der Einwanderungsanteil (Quote) schwer assimilierbarer 
Nationalitäten wie Italiener, Slawen, Ostjuden, verhältnis- 
mäßig eingeschränkt wird. 

Folge der nationalstaatlichen Tendenz sind aber auch alle 
jene Erscheinungen, die der Europäer, meist überlegen lächelnd, 
als Amerikanisierungsbestrebungen kennzeichnet. Sie zielen 
dahin, die Einwanderer nicht nur praktisch und wirtschaftlich, 
sondern auch kulturell dem Volksganzen einzugliedern, sie zu 
„amerikanisieren‘‘, zu „assimilieren“. Genau besehen, sind die 
Amerikanisierungstendenzen nur dem Grade nach verschieden 
von europäischen Maßnahmen ähnlicher Art. Daß sie aber als 
neue Wendung im geschichtlichen Leben Amerikas betrachtet 
werden müssen, hat seinen Grund darin, daß bis zu ihrem Be- 
ginne davon abgesehen worden war, zu versuchen, aus den 
Kindern aller Herren Länder ein einheitliches, nationales, 
amerikanisches Staatsvolk zu schaffen!. Allerdings hat es nach 
jeder Periode verstärkter Einwanderung eine Abwehrbewegung 
mit dem Ziele gegeben, das wahre, echte, reine „Amerikaner- 
tum“ vor fremden Einflüssen zu schützen und zu bewahren. 
Man denke an die Alien and Sedition Acts von 1798, an die 
Know-nothing-Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts usw. 


dem er als amerikanischer Gesandter 1867—1874 in Berlin gelebt hatte, hatte er 
so sehr die deutsche Junkerart angenommen, daß von ihm gesagt werden konnte: 
„That is an old German, named Bancroft.“ (Vgl. J. S. Bassett: The middle Group of 
American Historians. New-York (1917), S. 138ff.) 

H Die Einwanderungsgesetzgebung knüpft hier aber auch an geschichtliche 
Wertungen an: 1921 sollte die proportionale Aufteilung der Gesamtsumme der zu- 
gelassenen Einwanderer auf die einzelnen europäischen Länder entsprechend der 
Bevölkerungszusammensetzung des Jahres 1910 bestimmt werden, 1924 wurde das 
Jahr 1890 als Normaljahr festgesetzt. (Vgl. MacDonald: Documentary Source Book 
of American History 1606 —1926, New-York (1928) S. 696ff.); 1929 aber das Jahr 17901 
(vgl. The Literary Digest 23, März 1929, S. 15; Industrial and Labour Information: 
Intern. Labour Office, Table of contents XXX, S. 127, XXXI, S. 129, Genf 1929). 
Damit ist auf jenes Jahr zurückgegriffen, in welchem die jungen Vereinigten Staaten 
ihre ersten statistischen Aufnahmen (Zensus) vornahmen. 

13 Ein kleines Handbüchlein für Einwanderer, als Einführung in ihre „Amerika- 
nisierung" wird von der Vereinigung der ,,Daughters of the American Revolution" 
in allen Immigrantensprachen herausgegeben: Manual of the United States. For the 
Information of Immigrants and Foreigners. 4. ed. comp. E. C. B. Buel, Washington, 
D. C. 1926. Der Inhalt läßt sich charakteristisieren als: Wirtschaftliche Winke 
und bürgerkundliche Einführung. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 125 


Für die geschichtliche Entwicklung Amerikas von besonderer 
Bedeutung muß die Frage sein, wie sich die Einwanderung 
im politischen Leben auswirkt. Seit kolonialen Zeiten ist 
es nun so, daß die jeweilig jüngste Einwanderergruppe die 
politische Entwicklung in radikalere Bahnen weist. Die Be- 
fürchtungen der Gegner einer liberalen Einwanderungspolitik 
waren darum von ihrem Standpunkt aus immer berechtigt. 
Katastrophale Erschütterungen erfolgten stets nach einem be- 
sonders starken Anschwellen der ImmigrationP. Nicht nur, daB 
der Einwanderer von vornherein, vielleicht auch bereits im 
Heimatlande, radikal eingestellt, wirtschaftlich und politisch 


13 Für die Immigration vor der amerikanischen Revolution vgl. Spiegel, 
a. a. O., S. 44f. Für die Zeit vor dem Bürgerkriege ergibt sich ein ganz ähnliches 
Bild: bis 1845 blieb mit Ausnahme von 1842 die Einwandererzahl unter 100000; 
1847 stieg sie bereits über 200000; 1850 über 300000; 1854 über 400000; seit 1865 
fiel die Zahl der Einwanderer rapid. Erst nach dem Ende des Bürgerkrieges, nach 
1866 betrug sie wieder über 300000, erreichte 1878 den Hóhepunkt mit 459803 
und fiel dann wieder ab. Der nächste Höhepunkt ist 1882 mit 788992 Einwanderern. 
Diese Zahl wird nach einem Auf und Ab der Einwanderungsziffern erst 1903 mit 
857000 übertroffen, 1906 zum ersten Male in der amerikanischen Einwanderungs- 
geschichte die Millionengrenze überschritten, 1907 eine Einwanderung von 1285349 
erreicht. Bis zum Weltkrieg beträgt die Einwanderung etwas über eine Million: 
1910, 1913, 1914. Seither ist im Jahre 1921 die Hóchstzahl der Einwanderung mit 
805228 erreicht worden. (Vgl. World-Almanach für 1929, Bd. 44, New York S. 256.) 

Man vergleiche diese Angaben mit dem politischen Geschehen! Nach der groBen 
Einwanderungswelle der Jahrhundertmitte der Bürgerkrieg. Gegen Ende des 
Jahrhunderts der Beginn radikaler Tendenzen und Reformen und des außerkonti- 
nentalen Imperialismus. Neuregelung der Immigration. — Es scheint sich zu zeigen, 
daß sich jedes Anschwellen der Einwanderung politisch nach etwa 10—20 Jahren 
auswirkt. Die Einwanderung bleibt also für die Politik und geschichtliche Ent- 
wicklung nicht bedeutungslos, wie leicht (z. B. nach Lütkens) geschlossen werden 
könnte, sondern wirkt im öffentlichen Leben erst nach Ablauf einer gewissen Frist. 

Von einer Gesamtbevölkerung von 105710620 Einwohnern im Jahre 1920 
(vgl. World-Alm. a. a. O., S. 284) sind 1820—1920: 33200103 Personen eingewan- 
dert, also etwa ein Drittel (vgl. ebenda, S. 256). Der gesamte Bevölkerungszuwachs 
1820—1920 betrug 96072167 (vgl. ebenda, S.284). Die natürliche Vermehrung 
der einmal eingewanderten Personen betrug also 62872064. Die Proportion der 
natürlichen Vermehrung zur Zahl der persónlich Einwandernden würe danach 2:1. 
Es muß aber berücksichtigt werden, daB die Einwanderung ständig fließt, also 
immer neue Quellen natürlicher Vermehrung schafft. Es ergibt sich also, daß für 
den Charakter der Bevölkerungsvermehrung in U.S.A. in dem behandelten Zeit- 
abschnitt die Einwanderung eine viel größere Bedeutung bat als die natürliche 
Vermehrung der Altangesessenen (aus der Zeit vor 1820!). Zu dem gleichen Er- 
gebnis gelangt auch Schönemann a. a. O. I. S. 203. 


126 Käthe Spiegel 


reformatorischen Ideen aufgeschlossen ist, so kann wohl be- 
hauptet werden, daB die Stellung, die ihm innerhalb der bereits 
in sich verfestigten Gesellschaft eingeräumt wird, danach an- 
getan ist, Wünsche nach Verbesserung zu zeitigen. Wohlstand 
und Tradition der älter Angesessenen schaffen eine soziale Kluft 
gegenüber dem Einwanderer, der oft einer ganz anderen gesell- 
schaftlichen und kulturellen Spháre entstammend, nur an der 
äußersten Linken der Gesellschaft Anschluß findet. Der gleiche 
Gegensatz, der während der Pionierzeit die älter besiedelten 
Gebiete des Ostens vom jüngeren Westen schied, zeigt sich 
jeweils ebenso in den Beziehungen der älter angesiedelten Be- 
völkerung der gesamten Union, des Ostens und des Westens, zu 
den Einwanderermassen. 

Von der äußersten Linken beginnt also auch meist die poli- 
tische Eingliederung der Immigration. Jene politische Gruppe, 
die dem Einwanderer Aussicht auf leichten Bodenerwerb, 
günstige Arbeitsgelegenheit, soziale Verbesserung bietet, kann 
auf seine Gefolgschaft zählen. Erst in einem späteren Zeitpunkt 
des Aufenthaltes im Lande trennen Farmer und Lohnarbeiter 
ihre politischen Wege. Ansässigkeitsbedingungen hindern Ein- 
wanderer oft, ihren politischen Willen unmittelbar durch 
Stimmabgabe auszudrücken. Wenn aber nachgewiesen wird, 
daß gerade die Jüngeren Einwanderergruppen ein verhältnis- 
mäßig seBhafteres Bevölkerungselement bilden!4, könnte daraus 
auf eine verhältnismäßig gesteigerte politische Mitbestimmung 
dieser Gruppen geschlossen werden. 

Die Stärke des politischen Einflusses der Einwanderer wird 
dann wachsen, wenn schon ihre Auswanderung aus der Heimat 
durch die politische (oder politisch-religiöse) Überzeugung ver- 
anlaßt worden war. Sie bringen dann meist den bewußt ge- 
formten festen Willen mit, am Öffentlichen Leben des neuen 
Landes teilzunehmen und es nach Möglichkeit so zu gestalten, 
daß die in der Heimat unbefriedigt gebliebenen Wünsche und 
Theorien Erfüllung finden mögen. Die Einstellung der Immi- 
gration zu den jeweiligen politischen Zeitfragen aber, denen 
selbstverständlich auch die religiösen Bewegungen zuzuzählen 
sind, war stets von größter Bedeutung, mag es sich beim Neu- 


14 Heberle a. a. O., S. 77f. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 127 


aufbau einer Kolonie um deren staatstheoretische Grundlagen, 
bei der Sklavereifrage um deren ethische oder wirtschaftliche 
Berechtigung und Wertung gehandelt haben. 

Bei der Behandlung der amerikanischen Geschichte und 
ihrer einzelnen Ereignisse und Probleme muß als besonders 
charakteristischem Merkmal der Einwanderung stets die ihrer 
Bedeutung entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet werden, es 
müssen die Wechselbeziehungen zwischen Immigration und poli- 
tischem und wirtschaftlichem Geschehen im Auge behalten, und 
die jeweilige Zusammensetzung der Bevólkerung querschnitt- 
weise untersucht werden. In keinem Zeitpunkte seiner Ge- 
schichte besteht das amerikanische Volk aus einer im wesent- 
lichen homogenen Bevólkerungsmasse, wie sie die Einwohner 
europäischer Länder bilden, sondern es setzt sich seinem Cha- 
rakter nach aus einer Überlagerung von Bevölkerungsschichten 
zusammen, die selbst oder deren Vorfahren zu verschiedenen 
Zeiten unter verschiedenen Bedingungen durch verschiedene 
Motive veranlaßt, eingewandert sind. Wie flüssig der Begriff 
„Amerikanisches Volk“ ist, zeigt die Fragestellung Siegfrieds 
nach der Art der künftigen Bevölkerungsentwicklung in den 
Vereinigten Staaten?®. 

Auch für die Zukunft wird die Immigration ihre Bedeutung 
für die Geschichte des Landes nicht einbüßen, mag auch der 
Zustrom der Einwandernden zeitweilig stark gedrosselt oder 
vielleicht auch ganz unterbunden werden. Die Tatsache, daß 
die Frage der Einwanderungspolitik als solche bestehen bleiben 
wird, ist das Entscheidende. Je nach der Einstellung werden 
sich die Geister scheiden, bis zu dem Zeitpunkt etwa, da die Be- 
siedlungsdichte der Vereinigten Staaten jener der europäischen 
gleich sein wird. Die Eingewanderten selbst, die jüngste Schicht 
der Immigranten, werden stets versuchen, die Gestalt des neuen 
Heimatlandes in ihrem Sinne umzubilden. 


* * 
* 


Die Art der Besiedlung des Staatsgebiets mußte in seiner 
charakteristischen Eigenartigkeit die geschichtliche Entwicklung 


18 A. Siegfried: America comes of Age, New-York (1927), S. 1: „Will America 
remain protestant and anglo-saxon?“ — dazu auch Schönemann a. a. O. I, 8. 
90f., 197fl. 


128 Käthe Spiegel 


des Landes ebenso beeinflussen, wie die sich stets wandelnde 
Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Siedlungen des Weißen 
Mannes sind stoßweise vom Küstengebiet des Ostens nach 
Westen vorgeschoben worden. Engländer, Franzosen, Hol- 
länder, Schweden, Spanier haben am Kolonisationswerke teil- 
genommen. Das Kriegsglück entschied, daß schließlich England 
allein Herr des gesamten Küstenstreifens von Kanada bis Florida 
wurde. Als sich die 13 englischen Kolonien zu einem selbstän- 
digen Staatswesen zusammenschlossen, war es eine der ersten 
Fragen, wie die weitere Besiedlung des westlichen Neulands 
geregelt werden sollte. Und um dieses westliche Neuland 
ging während der ganzen Zeit der Geschichte bis zum Ende des 
19. Jahrhunderts, als der Kontinent seiner ganzen Breite nach 
aufgeteilt und das Frontier bis zum pazifischen Ozean vorge- 
schoben war, der Streit der Meinungen. Bis heute sind im Auf- 
bau des amerikanischen Staates und seiner Gesellschaft Spuren 
der Besiedlungsweise erkennbar. 

Das jeweils vollbesiedelte Muttergebiet des Ostens schied 
aus seiner Mitte die wanderungsbereiten Bevölkerungselemente: 
Jugendliche, Eigenbrötler, Abenteurer, Verbrecher usw. aus, 
die im Westen neue Siedlung suchten!®. Diese Pioniere, die im 
„Frontier“, d.h. jenem Grenzgebiete, das die vollbesiedelten Ge- 
biete des Ostens von den Jagdgründen der Indianer schied, 
wohnten, wurden die eigentlichen Träger des amerikanischen 
Volkscharakters, wie er sich uns heute noch zeigt. Lebens- 
bejahung, Tatkraft, Optimismus, Liebe zum Kampf mit wid- 
rigen Umständen und vor allem Freude an ständigem Neu- 
aufbau. In kolonialer Zeit hatte zunächst jede Kolonie innerhalb 
ihres eigenen Gebiets ihr besonderes westliches Hinterland. 
Doch noch vor der LosreiBung vom Mutterland hat das Frontier 
am Ende der Kolonialzeit einen besonderen interkolonialen 
Charakter angenommen. Im politischen Leben hatte der Westen 


1 Während die Einwanderungskurve, wie wir oben sahen, eine Wellenlinie 
darstellt, Wellenberge und Wellentäler zeigt, gelegentlich auch sprunghaft wird, 
steigt die Bevölkerungsdichte seit 1810, also seit der Zeit nach dem Ankaufe Loui- 
sianas (1803), bis 1840, und dann nach einem Abfall im Jahre 1850, von 1850 bis 
1920 in im wesentlichen stetiger Proportion. Die Einwanderungswellen haben 
also keine wesentlichen Schwankungen im Wachstum der Bevólkerungsdichte 
verursacht. Die einzige Ausnahme bildet die Zeit vor dem mex. Krieg! (Vgl. World- 
Alm. a. a. O., S. 286.) 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 129 


auch schon zur Kolonialzeit, und lángst, ehe die einzelnen Kolo- 
nien ihre Gebietsansprüche auf westliches Land an den Bund 
abtraten, seine besondere eigenartige Stellung, und dies blieb so 
im wesentlichen unverändert, bis zur Gegenwart. Allerdings 
wechselte im Laufe der Zeit der Begriff,, Westen“, je nachdem, 
wie weit jeweils der, Osten“, d. h. die vollbesiedelte, beziehungs- 
weise durch ihren Kulturcharakter als Dauersiedlungsgebiet 
gekennzeichnete Zone reichte". Nunmehr ist zwar seit mehr 
als vier Jahrzehnten das Frontier verschwunden und dennoch 
verschiebt sich innerhalb der Union das Zentrum des amerika- 
nischen Lebenspulses ständig westwärts. Die soziologischen 
Folgen dieser stándigen Umschmelzung, die mit der Schwer- 
punktverlagerung einer Nation zusammenhängen, verursachen 
großenteils den dynamischen Charakter der amerikanischen 
Gesellschaftsstruktur, besonders in beruflicher Hinsicht!$. 

Die Art der Besiedlung zeitigte eine besondere Weite des 
Heimatgefühls!9*, die jedem Europäer auffallen muß. Da die 
Einwanderung, von asiatischer, mexikanischer oder kanadischer 
Seite abgesehen, vom Atlantischen Ozean erfolgte, ist der Weg 
vom Osten nach dem Punkte des westlichsten Wohnsitzes zum 
mindesten einmal in der Geschichte jeder Familie, ob im Ochsen- 
wagen oder Pullmann-Car, zurückgelegt worden. Das durch- 
querte Gebiet wurde zum Heimaterlebnis des Einwanderers 
selbst oder seiner Nachkommen. Für die Einstellung zu Heimat, 
Umwelt und Welt ist dies recht bedeutungsvoll. Während dem 
Europäer im allgemeinen die „Heimat“ in konzentrischen 
Kreisen vom engsten Winkel des Geburtshauses über Gemeinde 
und Bezirk zum Vaterland erwächst, beginnt sie beim Ameri- 
kaner eigentlich mit dem äußersten Kreise des Gesamtstaats 
und wird erst langsam durch Hinzufügung individueller Merk- 


17 Die wissenschaftliche Terminologie (Turner a. a. O.) unterscheidet: Old 
West, Middle West und den fernen Westen der Pazifischen Küste. Eine Geschichte 
des Frontier: F. L. Paxson: History of the American Frontier 1763—1893, Boston— 
New-York (1924). 

15 J. F. Jameson: The American Revolution considered as a social move- 
ment. Princeton (1926), S. 70f., Schönemann a. a. O. II, S. 454 A. 19. 

13a Anders charakterisiert das amerikanische Heimatgefühl Schönemann 
&. &. O. II, S. 299ff. Zur Erklärung mancher Überschneidungen der vorliegenden 
Studie und des Schönemannschen Werks sei angeführt, daB es erst während der 
Durchsicht der Korrekturfahnen vorlag! 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 9 


130 Käthe Spiegel 


male zum engeren Heimatbezirk. Ja, meist greift das Heimat- 
gefühl noch weiter aus und umfaßt die Wohnstätten der Ahnen: 
Europa, die Welt. Wir finden hier die Wurzel der überaus 
großen, jedem Europäer auffallenden Mobilität der amerika- 
nischen Bevölkerung, die mit der größeren Entfernung vom 
Atlantischen Ozean ständig zunimmt. Eigene Wanderungen 
oder Wanderungen der Ahnen lassen den Wunsch nach Wieder- 
holung wach bleiben. 

Schließlich muß noch der Willkürlichkeit der Besiedlung ge- 
dacht werden, die ganz besonders dort augenfällig wird, wo die 
siedlungsschaffende Kraft der Technik in Erscheinung tritt. 
Fast im ganzen Inneren des Kontinents, von wenigen Aus- 
nahmen, wie alten Verteidigungssiedlungen, Pelzhandelssta- 
tionen abgesehen, folgte die Besiedlung den Wegen der Land- 
straßen und Eisenbahnen. Ihre Bedeutung für die amerikanische 
Geschichte muß darum eine ganz andere sein, als für die euro- 
päische. Hier im wesentlichen belanglose Verbesserungen der Ver- 
kehrsmöglichkeiten, dort siedlungsgründende, erschließende Tat. 

Behandelt der Historiker amerikanische Fragen des 17., 18. 
und 19. Jahrhunderts, dann wird er, will er nicht vollkommene 
Unklarheit darüber lassen, was während der von ihm behandelten 
Epoche unter dem Gebiete der „Vereinigten Staaten“ zu ver- 
stehen sei, bestrebt sein müssen, jeweils die Weite des vollbe- 
siedelten Gebiets des Ostens, später auch der des äußersten 
Westens, eventuell auch des spanischen Südens und französisch- 
kanadischen Nordens zu umreißen, die Lage und Ausdehnung 
des Frontiers festzustellen und danach das noch unbesiedelte, 
den Indianern vorbehaltene Land zu bestimmen. Erst seit dem 
Ende des 19. Jahrhunderts können wir mit einem dauernd ge- 
gebenen Staatsgebiet im Sinne europäischer Länder arbeiten. 
Der Charakterzug der Veränderlichkeit des Gebiets verschwindet 
damit für die Geschichte der neuesten Zeit, der Gegenwart und 
Zukunft. 


* * 
* 


Die politische und damit historische Bedeutung des 
Westens ist eine doppelte. Einmal ergibt sich die Frage nach 
seiner eigenen Stellung im Leben des Staatsganzen, zum zweiten 
nach der Einstellung des Ostens im Verhältnis zum Westen. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 131 


Wie jedes Kolonialgebiet, so war auch der amerikanische 
Westen seinem Muttergebiete, dem Osten verschuldet. Er 
mußte darum naturgemäß alle Maßnahmen stützen, die eine 
Erleichterung seiner wirtschaftlichen Lage zu versprechen 
schienen. Geldverbilligung, Dezentralisierung des Bankwesens, 
weitgehendste Selbstbestiimmung mußte er zu seinem Programm 
erheben. Da der Westen im Gegensatz zum Osten das eigentliche 
Agrarland war und ist, wird der Gegensatz von Ost und West 
zum Gegensatze zwischen Industrie und Landwirtschaft, wie er 
in ähnlicher Weise eigentlich in jedem Staatswesen zu finden ist. 
In Amerika sind infolge seines eigenartigen Siedlungscharakters 
aber Industrie und Landwirtschaft in zwei im wesentlichen aus- 
einanderfallende Gebiete räumlich voneinander geschieden. In- 
teressengegensätze, die sich in Europa im allgemeinen innerhalb 
jeder Siedlungsgemeinschaft, die Stadt und Land, Industrie 
und Landwirtschaft umfaßt, abspielen, sind hier territorial ge- 
bunden. Wir sehen, daß wir unter dem amerikanischen ,,Sectio- 
nalism'* etwas anderes zu verstehen haben, als in Europa unter 
„Autonomiebestrebungen“. 


Im Zusammenhange damit steht das Verhältnis von 
Bund und Einzelstaat in seiner historischen Entwicklung. 
Wir sind so sehr gewöhnt, in Amerika einen Bund von Staaten 
zu sehen, daß wir geneigt sind, zu übersehen, daß eigentlich erst 
der Gesamtstaat, die Summe der zum Bunde zusammenge- 
schlossenen Einzelstaaten, den europäischen Einzelstaaten ent- 
spricht. Der amerikanische Einzelstaat ist seinem Wesen nach 
nicht mehr als ein Glied des Ganzen und war es auch, mit Aus- 
nahme der 13 Urstaaten und etwa Texas in seiner geschicht- 
lichen Vergangenheit, nie gewesen. Das ganze Gebiet des 
Westens war zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten ein 
Nichts, dann unbesiedeltes Land im Eigen des Bundes. Unter 
der Patronanz des Bundesstaates wurde es besiedelt, wurde 
jeder einzelne der heutigen Staaten zum Territorium und dann 
zum Bundesstaat. Die jeweils bereits im Bunde zusammenge- 
schlossenen Einzelstaaten haben von Fall zu Fall ein neues 
Glied, einen neuen Genossen als ebenbürtig in ihre Reihen auf- 
genommen. Der Bund war es, der seit dem Ende des 18. Jahr- 
hunderts stets seine schützende Hand über die wachsenden 
Einzelstaaten gehalten hat, sie sind als sein Kolonialland heran- 

9* 


132 Käthe Spiegel 


gewachsen und wurden mit ihrer Aufnahme in den Bund für 
großjährig erklärt. Die einzelnen Staaten, die Kinder der 
Union, sind aber Geschwister verschiedenen Alters und darum 
in ihrer Einstellung voneinander verschieden, in ihrer Gesamt- 
heit aber auch verschieden von dem Elterngebiet des alten 
Ostens, das sich durch seinen freien Entschluß zum Bunde zu- 
sammengeschlossen hatte. Die Bundesverfassung aber ist ein 
Geisteskind der konservativsten Elemente dieses alten Ostens. 
Was Wunder, wenn sie den Anschauungen der neueren und 
neuen westlichen Staaten nicht entspricht! Wir haben damit 
die Wurzeln vieler Verfassungskämpfe zwischen Bund und Einzel- 
staaten kennen gelernt, die sich aus der Gegensätzlichkeit der 
einzelstaatlichen Gesetzgebung und den Entscheidungen des 
bundesstaatlich-konservativ orientierten Supreme Court er- 
geben!“. Aber auch die Verfassungen der westlichen Einzel- 
staaten sind voneinander nach Art und Umfang je nach der Zeit 
ihrer Entstehung verschieden“. 

Wenn wir es heute auf dem Gebiete der Vereinigten Staaten 
von Amerika mit 48 Einzelstaaten zu tun haben, dürfen wir 
niemals übersehen, daß ein Vergleich mit etwaigen Vereinigten 
Staaten von Europa nicht gezogen werden kann, da die ge- 
schichtlichen Voraussetzungen durchaus und grundsätzlich ver- 
schiedene sind. Zwar wird mit Recht betont, daß die 13 Ur- 
Staaten sich freiwillig zum Bunde zusammengeschlossen haben. 
Ist es aber auch formell richtig, so war doch die vollsouveräne 
Zeit dieser Urstaaten von der Erklärung ihrer Unabhängigkeit bis 
zur Geltung der Konföderationsartikel, oder wenn man will, 
sogar bis zur Geltung der Bundesverfassung eine so kurze, 
außerordentliche, daß sie mit der alteingewurzelten, gepflegten, 
in geschichtlicher und irrationaler Tradition verankerten, durch 
dynastische Fragen verwickelten, durch nationale Gegeben- 
heiten gebundenen Selbständigkeit und Souveränität euro- 
päischer Staaten überhaupt nicht verglichen werden kann. 
Es ist hier nicht der Ort, das Für und Wider paneuropäischer 


19 Vgl. H. Rommen: Grundrechte, Gesetz und Richter in den Vereinigten 
Staaten von Nordamerika; Deutschtum und Ausland, 42, Münster (1931). 

* J. A. Smith: The Growth and Decadence of Constitutional Government, 
London (1930); Z. Peška: Přímé zakonodaiství. K novéjiímu ústavnímu vývoji 
spojených států amerických. Bratislava 1929. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 133 


Ideen und Durchführungsmóglichkeiten zu erórtern, in der an- 
gedeuteten Art geschichtlich unterbauen lassen sie sich aber 
gewiß nicht?!! Betrachten wir aber die 35 Staaten, die seit seiner 
Gründung dem Bunde angeschlossen worden sind, so haben sie 
nicht nur numerisch das Übergewicht, sondern sind territorial 
und wirtschaftlich und darum auch politisch von ausschlag- 
gebender Bedeutung. Nicht einmal rein theoretisch läßt sich 
ein freiwilliger verfassungsrechtlicher Anschluß dieser Gebiete 
an die Urgebiete konstruieren! Aber auch nicht zwangsweise, 
im Sinne der dynastischen Länderpolitik europäischer Haus- 
machtinteressen etwa (Tu, felix Austria, nube!), nicht durch 
Erbvertráge und in den meisten Fällen auch nicht durch Beute- 
kriege sind die westlichen Gebiete dem Osten angegliedert 
worden. Die vielumstrittenen „State Rights“ sind daher im all- 
gemeinen nicht Forderungen nach Wiederherstellung früherer 
verlorener Vollsouveränität, sondern das, was wir „Autonomie- 
bestrebungen' nennen würden. Mögen sie auch gelegentlich 
zu Sezessionsbewegungen geführt haben! 

Die Verschiedenwertigkeit der einzelnen Staaten der Union 
in bezug auf Alter und verfassungsrechtliche, wie wirtschafts- 
politische Einstellung bringt es mit sich, daB der Beobachter 
der Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte ihr Rechnung tragen 
muß. Er darf die ‚Vereinigten Staaten“ nicht als unveränderliche 
Konstante betrachten, sondern hat auch ihr organisches Wach- 
sen und Werden zu berücksichtigen. In den „State Rights“ der 
Jungen westlichen Staaten aber wird er das Streben fortschritt- 
licher oder radikaler Elemente erkennen müssen, die in Europa 
zu politischen Parteien oder Kulturorganisationen innerhalb der 
einzelnen Staaten zusammengeschlossen sein würden, um ihre 
Interessen am besten zu vertreten und weiteste Lokalautonomie 
zu sichern. | 

Auf die amerikanische Staatsidee konnte die Erweite- 
rung des Siedlungsgebietes nach dem Westen nicht ohne Einfluß 
bleiben. Der Bundesstaat trat im Heimatgefühl, wie wir bereits 
sahen, immer mehr in den Vordergrund, die Gemütsbeziehung 
zum Bunde wurde gefestigt. Auch in óffentlich-rechtlicher Be- 
ziehung trat die Staatsbürgerschaft des Gesamtstaats vor die 


z Vgl. dagegen J. Lambert: Histoire Constitutionnelle de l'Union Américaine. 
I. Paris/Sirey (1930), S. 25ff., 130ff. und Morison a. a. O. I., S. 11. 


134 Käthe Spiegel 


des Einzelstaats. Nur in den östlichen Urstaaten wird die Zu- 
gehörigkeit zum Einzelstaat noch sentimental gewertet. Im 
übrigen mußte es die familiengeschichtliche Tradition, die sehr 
stark gepflegt wird, mit sich bringen, daß die Wanderungen von 
einem Staat in den andern, die vor allem von Ost nach West, 
aber auch oft von Nord nach Süd und kreuz und quer führten, 
in den Pionieren nicht das Bewußtsein aufkommen ließen, damit 
irgendeine Veränderlichkeit in ihrer staatsbürgerlichen Zuge- 
hörigkeit vorgenommen zu haben. Wo sie auch ihre Hütten 
bauen mochten, ob in Iowa oder Arizona, die „Vereinigten 
Staaten“ waren es, die überall das Vaterland bedeuteten. Par- 
tikularistische Tendenzen im europäischen Sinne, verwurzelt in 
selbständiger einzelstaatlicher Tradition galt es hier nicht erst 
zu überwinden. 

Für den jeweiligen Osten der einzelnen Perioden bedeutete 
die Frage des Westens weit mehr als lediglich die Erschließung 
und Besiedlung von Neuland. Es handelte sich vielmehr darum, 
welchen Charakter dieses Neuland erhalten, welcher Stempel 
ihm aufgedrückt werden sollte. Jede politische, jede wirtschaft- 
liche Gruppe des Ostens, der Norden und der Süden wünschte 
den neuen Westen unter ihren Einfluß zu bringen, ihrem System 
nutzbringend und entsprechend einzugliedern. Damit mußte 
auch die Frage der Sklaverei zum Kampfe um den neuen Westen 
erweitert werden. Keinerlei Kompromiß konnte eine dauernde 
Lösung dafür bieten, ob und inwieweit der Westen der Sklaverei 
geöffnet werden sollte. Der Bürgerkrieg muß darum der Haupt- 
sache nach als ein Kampf um den Westen, als Entscheidungs- 
kampf zweier diametral verschiedener Wirtschaftsysteme gelten. 

In jedem Zeitpunkte der amerikanischen Geschichte wird 
der jeweiligen Bedeutung, die der Westen für den Osten hatte, 
gedacht werden müssen. Er war es, der großenteils östliche 
und gesamtstaatliche Entscheidungen und auch Katastrophen 
auslóste. Gegenwärtig, etwa seit dem Ende des 19. Jahrhun- 
derts, bewirkt die langsame industrielle Durchdringung des 
Westens eine gewisse Angleichung westlicher und östlicher In- 
teressen und Interessengegensátze??, Aber auch jetzt noch 


n Vgl. J. A. Smith a. a. O. und meine Besprechung in Vjschr. f. Sozial- u. 
Wirtschaftsgesch. XXV (1932), S. 182ff.; A. Rein: Demokratie und Partei in den 
Vereinigten Staaten von Amerika; Demokratie u. Partei, H. 2, Wien (1932), S. 21ff. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 135 


macht sich westlicher Einfluß, z. B. in außenpolitischer Hinsicht, 
deutlich bemerkbar”. | 

Die „Manifest Destiny“ “ hat „God's own country“ sein 
Gebiet von Küste zu Küste ausdehnen und in wohlgezogener 
Grenze gegen Nord und Süd, gegen Kanada und Mexiko be- 
sonders günstig und einheitlich gestalten lassen. Als die Ver- 
einigten Staaten ihr politisches Eigenleben 1783 begannen, da 
war zunächst im Frieden von Paris nur von einer westlichen 
Ausdehnung bis zum Mississippi die Rede, aber auch óstlich vom 
Mississippi blieben Florida und ein gutes Stück des heutigen 
Louisiana auBerhalb ihres Hoheitsgebietes. Erst nach und nach 
wurde durch Käufe, diplomatische Verhandlungen und auch 
gelegentlich durch kriegerische Eroberungen das heutige neun 
Millionen Quadratmeilen umfassende Gebiet am Kontinente er- 
worben und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch Kolonial- 
gebiete außerhalb des Festlands ergänzt“. 

Damit sind wir zu einem besonders eigenartigen Charakter- 
zug der amerikanischen Geschichte vorgedrungen: Der Ge- 
staltung der Außenpolitik. Die Vereinigten Staaten haben 
stets nur reinen Nützlichkeitsinteressen folgend, ihre außen- 
politischen Entscheidungen gefällt. Frei von dynastischen Bin- 
dungen aller Art, wie sie noch bis in die jüngste Vergangenheit 
die Geschichte der europäischen Länder beeinflußt haben, ging 
die amerikanische Tradition seit Washington bereits dahin, sich 
auch von belastenden Bündnissen freizuhalten. Die Interessen- 
politik aber betrachtete es als ihre vornehmste Aufgabe, dem 


5 Vgl. Lütkens a. a. O., S. 26 f., 97 f. und M. Löffler: Vereinigte Staaten 
von Amerika, Versailler Vertrag und Völkerbund. Ein Beitrag zur Europa-Politik 
der U.S.A., Berlin-Grunewald, Polit. Wissenschaft, H. 11 (1932), S. 137. 

* „M. D." ist eine seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gebrauchte Wendung, 
die dartun soll, daB offensichtlich Gottes Vorsehung das amerikanische Volk zum 
Herrn über den amerikanischen Kontinent, also auch über das damals noch nicht 
im Besitze der Union befindliche Gebiet Nordamerikas von Ozean zu Ozean bestimmt 
habe. (Vgl. J. F. Jameson: Dictionary of United States History 1492—1895, 
Boston (1894), S. 395). 

5 Die Amerikaner betrachten sich in puritanischer Tradition gern als das aus- 
erwählte Volk Gottes und benennen danach ihr Vaterland. 

* Vgl. World-Almanach a. a. O., S. 421f. In der Zeit von 1790—1920 ist das 
Areal der U.S.A. von 892135 auf 3738371 Quadratmeilen gestiegen. Davon sind 
3026789 zusammenhángendes Gebiet am Kontinent und nur 711582 außerhalb 
desselben. 


136 Käthe Spiegel 


Wunsche nach Expansion den notwendigen Raum zu ver- 
schaffen, das Gebiet der Vereinigten Staaten móglichst zu er- 
weitern. MuBte dazu aber Krieg geführt werden?  Gebietser- 
werbungen konnten, ohne daß Krieg geführt wurde, durch Ver- 
trag, durch Kauf erfolgen. Nach dem Grundsatze: Folgst du 
nicht willig, so brauch ich Gewalt, sah die amerikanische AuBen- 
politik den Kriegsfall dann gegeben, wenn es aussichtslos er- 
schien, auf andere Weise zum Ziele zu gelangen". So begegnen 
wir denn gleichzeitig imperialistischen und pazifistischen Ten- 
denzen®, finden aber auch, daß der Imperialismus als solcher 
nicht eigentlich kriegerischer Art ist (Dollardiplomatie!)99. 


T? Von 1790—1890 hatten die Vereinigten Staaten am nordamerikanischen 
Kontinent einen Gebietszuwachs von 2 725538 Quadratmeilen (Alaska mit eingerech- 
net) Davon sind durch reine Kaufverträge erworben: 1448541 Quadratmeilen 
(1803 Louisiana von Frankreich um 15 Mill. $, 1853 das Gebiet des Gadsden An- 
kaufs von Spanien um 10 Mill. $, 1867 Alaska von Rußland um 7200000 $). Durch 
Annexion 1845 (Texas) 389166 Quadratmeilen, durch Vertrag mit Spanien 1819 
(Florida und anderes spanisches Gebiet) 72101 Quadratmeilen, durch Vertrag mit 
England 1846 (Oregon) 286541 Quadratmeilen. Also auf friedlichem Wege erwor- 
ben: 2196349 Quadratmeilen. — Um mexikanisches Gebiet, dessen Verkauf von 
Mexiko abgelehnt worden war, wurde 1½ Jahre, Mai 1846 bis Februar 1848, Krieg 
geführt. Nach errungenem Siege haben die U.S.A. das gewünschte Gebiet von 
629189 Quadratmeilen um 15 Mill. $ angekauft. Es war der Krieg also nicht eigent- 
lich um eine Beute, sondern um einen Ankauf geführt worden! — Die gleiche Ver- 
flechtung von Krieg und Ankauf beobachten wir bei den insularen Gebietserwerbun- 
gen nach dem spanisch-amerikanischen Krieg 1899. Vertrag und Ankauf haben seit- 
her die Einflußsphäre der U.S.A. noch erweitert. Zuletzt wurden 1917 westindische 
Inseln von Dänemark gekauft. (Vgl. World-Almanach a. a. O., S. 421f.) 

H. Oncken: Amerika und die Großen Mächte. Eine Studie über die Epochen 
des amerikanischen Imperialismus in Hist.-Pol. Aufsätze, München— Berlin (1914), 
Bd. 1; E. Brandenburg: Die Vereinigten Staaten und Europa in Deutsche 
Rundschau 172—1917; F. Luckwaldt: Die Vereinigten Staaten und Europa 
in Festgabe F. von Bezold, Bonn und Leipzig 1921. 

Die Ausführungen von Lütkens a. a. O. 97ff. zu Außenpolitik und Im- 
perialismus sind vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, der historisch- 
soziologische Hintergrund ist für die Plastik des Bildes wohl erforderlich! Vgl. auch 
Schönemann a. a. O. I, S.79ff. — M. Silberschmidt: Großbritannien und die Ver- 
einigten Staaten, Leipzig—Berlin (1932), betont mit Recht die Andersartigkeit der 
Feindschaftsverhültnisse unter den amerikanischen Daseinsbedingumgen (S. 75); da 
sich seine Arbeit aber mit den anglo-amerikanischen Beziehungen befaBt, scheint er 
geneigt, den Faktor englisch-amerikanischer Freundschaft bei friedlich schiedlichen 
Regelungen zu überschützen. Wir sahen oben, daß die U.S.A. auch in ihren Be- 
ziehungen zu anderen Staaten der gleichen Linie ihrer AuBenpolitik folgen. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 137 


Wir müssen uns aber auch bewußt werden, daß der Begriff 
des Krieges in der amerikanischen Geschichtstradition seiner 
ideologischen Bedeutung nach von dem der europäischen grund- 
sätzlich verschieden ist. Krieg wurde dann geführt, wenn es 
galt, reine Interessenpolitik zu verfechten, um territorialer oder 
wirtschaftlicher Interessen willen: man denke an den Krieg von 
18129, an den mexikanischen Krieg 1846/48, an den spanisch- 
amerikanischen Krieg 1898. Oder aber sollte durch den Krieg 
irgendeiner Idee zum Siege verholfen werden. Als Träger einer 
weltgeschichtlichen Mission fühlt sich Amerika dann, wenn es 
sich der jeweils bedrückten oder bedrückt erscheinenden Vólker 
annimmt. So bestand nach der Bezwingung der ungarischen 
48er Revolution unter den Vertretern des amerikanischen 
Westens Stimmung, die diplomatischen Beziehungen zum re- 
aktionären Österreich abzubrechen?! In den Weltkrieg griff es 
ein, um der Welt das Geschenk der Demokratie zu bringen und 
verteidigte auf der Friedenskonferenz die Ansprüche der kleinen 
Nationen. Der Völkerbund, dem es dann selbst nicht beitrat, 
sollte die Krönung des weltbeglückenden Werkes bedeuten“. 

Wir sehen, Materialismus und Idealismus kónnen reinlich 
geschieden oder unlóslich einander durchdringend, wie etwa 
beim Eintritt in den Weltkrieg, für Amerika zur Kriegsursache 
werden. Niemals aber, auch in kolonialer Zeit nicht, ist in 
Amerika das Schwert gezogen worden für Interessen, die durch 
Jahrhunderte in der europäischen Geschichte zur causa belli 
geworden sind. Die Rechtfertigung dynastischer Hausmacht- und 
Lànderpolitik durch Ehe- und Erbrecht, sowie durch „ge- 
heiligte“ Verträge und Ansprüche blieb der amerikanischen Ge- 
schichte fremd. Darum bedeutete ihr der Sieg auch nicht mehr 
als die Erreichung eines erstrebten Zieles, er wurde nicht als 
Entscheidung für das hóhere Recht, in der Art eines Gottes- 
urteils betrachtet. Diese verschiedene Geschichtstradition be- 
wirkt selbstverstándlich auch eine verschiedene Einstellung zu 


** Wir können darum Silberschmidt, a. a. O., S. 73ff., nicht zustimmen, der 
englisch-amerikanische Verwicklungen aus dem Gebiete der Interessenpolitik in 
eine ideelle Sphäre verschieben will. In der Oregonfrage, die ja vertraglich geregelt 
worden ist (s. o.), war man in Amerika jedenfalls bereit, einen Beutekrieg gegen 
England zu führen. Man beachte doch das Schlagwort: Fifty — four — forty or fight! 
Vgl auch Schönemann a. a. O. I, S. 70. 

m Morison a. a. O. II, S. 108. s2 Vgl. Löffler a. a. O. 


138 Käthe Spiegel 


Krieg und Frieden in der Seele des Amerikaners und des Europäers. 
Dem Europäer liegt die Gefolgschaftspflicht im Blute, der Ameri- 
kaner ist dem Kriege grundsätzlich abgeneigt, doch kämpft er ge- 
gebenenfalls für seine Interessen, mógen sie ideeller oder materieller 
Art sein. Der Europäer sucht nach einer Verschmelzung seiner An- 
sichten über Krieg und Frieden zu einer einheitlichen Auffassung 
vom Ganzen, mag sie auch darin bestehen, daß er die ethische Ver- 
antwortung einem Führer (Monarchen) überläßt, und selbst seine 
ethische Pflicht lediglich im Gehorsam sieht. In der Seele des Ameri- 
kaners liegen — entsprechend seiner außenpolitischen Haltung — 
Pazifismus und Militarismus recht unverbunden nebeneinander. 


* * 
* 


In der Geschichte Amerikas hat von jeher die Macht der 
Idee eine groBe Bedeutung gehabt. Weltverbesserungsplàne, 
die auf Umgestaltung des Staates, der Beziehungen des Staates 
zum Bürger, zur Religion, zur Wirtschaft abzielten, die sich auf 
die Art der Lebensführung des Einzelnen bezogen, sie alle 
konnten und sind auch mindestens einmal im amerikanischen 
Neulande auf ihre praktische Durchführbarkeit erprobt worden. 
In Europa mußten es sich Denker und Träumer daran genügen 
lassen, Staats-, Erziehungs- und Zukunftsromane zu entwerfen, 
oder aber waren es revolutionäre Bewegungen, die neuen Rich- 
tungen zum Leben verhalfen. Der freie Raum, die traditionslose 
Luft Amerikas gestattete von allem Anfang an Experimente 
des gesellschaftlichen Lebens. Es ist stets der gleiche Geist ver- 
suchenden Willens, der uns entgegenweht, ob es sich um die 
Abschließung des ersten Staatsvertrags auf der Mayflower, um 
den Aufbau des Gottesstaats in Massachusetts, um den religions- 
losen Staat des Roger Williams, ob es sich um die Bewegung 
der Mormonen, um pädagogische Experimente oder um die 
Prohibition handelt. In jedem Falle galt es einer bestimmten, 
vorhergefaßten Idee zum Siege zu verhelfen, eine Theorie zu 
verwirklichen, oder aber eine als schädlich erkannte Idee, 
Theorie zu bekämpfen, zu besiegen, zu vernichten. Und trotz- 
dem ist der Amerikaner nichts weniger als ein Theoretiker. 
Seine Devise ist: Probieren geht über studieren! 

In das Reich der Theorie, der Macht der Idee gehórt auch 
gegenwärtig die Auffassung des Amerikaners von seinem Staat. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 139 


Er fühlt sich als Herr im Hause: l'état c'est moi. Er glaubt, die 
Möglichkeit zu haben, bestimmend einzugreifen. Die Möglich- 
keit der Verfassungsánderung (Durchführung von Amendments) 
steht ja offen! Wie wenig bewußt ist man sich, daß gerade nichts 
schwieriger ist, als an der scheinbar so biegsamen Verfassung 
Anderungen vorzunehmen®.  Reformfreudige amerikanische 
Staatswissenschaftler bemühen sich seit etwa drei Jahrzehnten 
in schonungsloser Kritik die tatsächlichen Verhältnisse, die so 
sehr den theoretischen Vorstellungen widersprechen, dem Volke 
vor Augen zu führen“. Ebenso ist es die Macht der Idee, die 
im Wirtschaftsleben die Proletarier an der Theorie der gleichen 
Chance festhalten läßt und verursacht, daß sie sich nicht klassen- 
mäßig zusammenschließen®®. 

Augenblicklich ist unter dem Einfluß der Kritik wieder der 
entgegengesetzte Ausschlag des Pendels zu beobachten. Die 
öffentliche Meinung der intellektuellen Schichten ist heute viel- 
leicht allzusehr geneigt, die Schattenseiten der amerikanischen 
Verhältnisse zu unterstreichen und unter dem Zwange be- 
stimmter Ideen Erlösung und Abhilfe zu suchen. Das Bewußt- 
sein von der willkürlichen Veränderbarkeit alles Bestehenden 
bleibt dem daneben leicht fatalistisch erscheinenden Europäer 
stets von neuem erstaunlich. Es ist aber in der amerikanischen 
Geschichtstradition verankert. 

Der Mensch mit seiner Idee stand noch in nicht zu ferner Ver- 
gangenheit am Anfange jeglicher amerikanischen Entwicklung: 
bei der Kolonisation, bei der Besiedlung des Landes, bei der 
Erweiterung des Gebiets. Niemals galt es, Gewordenes zu über- 
nehmen, sondern stets Neues zu schaffen. Dieser Geist des 
Experiments lebt und wirkt sich im privaten und Öffentlichen 
Leben aus. Politisch wird oft eine Richtung unterstützt, die 
eigentlich nicht den Anschauungen der sie unterstützenden 


3 Von 2177 Vorschlägen für Amendments, die 1789—1913 eingebracht worden 
sind, sind nur 17 durchgekommen und von diesen 10 bereits 1790, so daB für einen 
Zeitraum von etwa 120 Jahren 7 Änderungen der Bundesverfassung zu verzeichnen 
sind! (Vgl. Rommen a. a. O., S. 35, A. 3.) 1913—20 sind 4 Amendierungen erfolgt. 
Seither keine. — Die Texte von Verfassung und Amendments abgedruckt in 
World - Almanach a. a. O., S. 243ff. 

* Vgl. J. A. Smith a. a. O. und meine Besprechung a. a. O. 

= Vgl. dazu vortrefflich Lütkens a. a. O. S. 80ff., 91 und W. Sombart: 
Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? "Tübingen (1906). 


140 Käthe Spiegel 


Kreise entspricht, um ihr eine Gelegenheit zu geben, ihre Theo- 
rien in die Tat umzusetzen. Die Devise: „We will see what 
comes out of it“ ist dann die Begründung für Versuche, die dem 
Europáer fast leichtfertig erscheinen, die oft mit tiefen Ein- 
griffen in das private und óffentliche Leben verbunden sind. 

Als Gegenstück dazu beobachten wir aber das Festhalten 
an der Theorie der Heiligkeit der Gesetze. Der Idee nach ist 
das Gesetz in Amerika nicht das, was es bis in die jüngste Zeit 
uns Europáern war: ein obrigkeitlicher Eingriff, dem gehorcht 
werden muB oder soll, sondern dem Amerikaner ist das Gesetz 
eine Árt Spielregel, die er sich selbst setzt und die zu befolgen 
Ehrensache ist. In weiten Kreisen wird die Maßnahme einer 
eventuellen Aufhebung der Prohibition nur mit dem Hinweis 
darauf gebilligt, daB ihr Weiterbestehen die traditionelle Achtung 
vor dem Gesetze gefáhrde. Ein Blick auf die Geschichte zeigt 
allerdings, daß seit kolonialen Zeiten der Schmuggel eine nicht 
unwesentliche Rolle im amerikanischen Wirtschaftsleben und 
auch in seiner politischen Entwicklung gespielt hat. 

Die Idee bedeutet in Amerika weit mehr unmittelbar prak- 
tisch formendes Element als in Europa, und muß darum auch 
dort Anspruch auf die Aufmerksamkeit des Historikers erheben, 
wo es sich ihm nicht um ideen- oder geistesgeschichtliche Studien 
handelt. 


* * 
* 


Wir haben an einer ganzen Reihe uns besonders charakte- 
ristisch erscheinenden Merkmalen“ die eigenartige Bedingtheit 
des amerikanischen Geschichtsverlaufs dem europäischen gegen- 
überzustellen versucht. Werfen wir nun zum Schlusse die Frage 
nach der gemeinsamen Wurzel aller dieser Erscheinungen auf, 
so müssen wir sie wohl in der Kombination der Neube- 
siedlung eines Kontinents mit der ununterbrochen re- 
publikanischen Staatsform erkennen. Dabei spielt es keine 
Rolle, daß die Kolonien vor ihrer Losreißung vom Mutterlande 


3 Es sei hier ausdrücklich erklärt, daß uns die Negerfrage nicht als Cha- 
rakterzug der amerikanischen Geschichte erscheint. Sie ist so sehr in wirt- 
schaftliche, soziale und auch weltanschauliche Probleme eingebettet, daB deren 
Lósung — wenigstens bisher — für sie mitbestimmend ist. Sie ist jeweils Objekt 
und nicht Subjekt des Geschichtsverlaufs. 


Charakterzüge der amerikanischen Geschichte 141 


einem monarchischen Staatswesen eingegliedert waren. Ent- 
fernung vom Mutterlande und koloniale Verfassungsformen 
lieBen die Zugehórigkeit zu einem Kónigreich, dessen Herrscher 
während der ganzen Zeit der Geschichte nicht einmal amerika- 
nischen Boden betraten, leicht vergessen. Die Landesvertei- 
digung erfolgte allem Anschein nach zum Selbstschutz. Der 
republikanische Gedanke aber hat seine Ursprünge in der Theo- 
kratie von Massachusetts, in den Glaubenssätzen des Dissenter- 
tums. Mochten auch die jungen Vereinigten Staaten zeitweilig 
an die Errichtung einer Monarchie gedacht haben““, der Gang 
ihrer Geschichte hat bewiesen, daß die Republik die ihnen 
gemäße Staatsform ist. Seit der Annahme der Bundesver- 
fassung gab es zum Unterschiede von europäischen republi- 
kanischen Staatsumwälzungen, in England und Frankreich 
etwa, oder von lateinamerikanischen Staatsentwicklungen keinen 
Versuch, eine Diktatur oder eine Erbmonarchie zu errichten. 


** Morison a. a. O., I, S. 81. 


142 


Kleine Mitteilungen. 


Zu den Prudentiusglossen. 


Die meisten Handschriften des Prudentius besitzen mehr oder minder 
zahlreiche Glossen oder ausführlichere Scholien oder beides. Sie sind in den 
Ausgaben von Weitz (Hanau 1613), Arevalo (Rom 1788f.) und Dressel 
(Leipzig 1860) zum nicht geringen Teile abgedruckt. Ihre Provenienz ist 
freilich noch sehr unsicher, denn das Postulat eines Isokommentars, das seit 
Weitz immer wieder aufgestellt wurde, steht doch auf recht schwachen FüBen 
und der von Burnam (Paris 1910) gedruckte Kommentar!, den ich für Re- 
migius oder dessen Umgebung in Anspruch nehme, wird von E. K. Rand 
dem Heirie zuerteilt. Auch die Scholien, die Burnam (Cincinnati 1905) 
unter dem Titel Glossemata de Prudentio aus Vat. Pal. 237 und Paris. 13953 
abdruckte, kónnen vor der Hand einem bestimmten Verfasser nicht bei- 
gelegt werden!. Nicht geringe Unklarheit über die verschiedenen Verfasser 
entsteht aber für uns dadurch, daB in den verschiedenen Scholienarten 
oft dieselben Glossen und Scholien wiederkehren, so daB an vielen Stellen 
unbedingt an Abhängigkeit zu glauben ist. Bis zu welchem Grade sie sich 
rein oder kontaminiert bewahrt haben und wie unsre heutige Überlieferung 
interpoliert ist, wissen wir allerdings noch nicht, zumal da die neue Ausgabe 
von J. Bergman? auf Scholien (und Testimonien) leider grundsätzlich ver- 
zichtet. So sind wir zunächst auf die alten Ausgaben angewiesen, von denen 
die von Dressel (Lipsiae 1860) nur wenige Notizen bringt (aus Vatic. reg. 321 
und Vatic. 3859), die nach Dressel p. XLVII mit den Glossen des Iso über- 
einstimmen“. 

Wer ist Iso? Wir kennen ihn als Lehrer Notkers in St. Gallen aus Ekke- 
harti Casus s. Galli 30 (Meyer v. Knonau, Mitteil. zur vaterländ. Gesch. 15, 
116) und aus Conradi de Fabaria Cas. s. Galli (MG. SS. 2, 166, 7 und bei 
Dümmler, Mitteil. d. antiqu. Gesellsch. in Zürich 12, 224), sowie als Ver- 
fasser eines Indiculum zur Passio Desiderii Viennensis des Ado (Canisius, 
Lectiones antiquae 6, 452). Im Jahre 871 ist er gestorben, er reicht also 
mit seiner Kindheit in die Zeit Karls des GroBen hinein. Auf ihn führen 
zwei Handschriften des Prudentius ihre Glossen zurück, nämlich der Bon- 


1 Commentaire anonyme sur Prudence aus Valentian. 413. 
3 Die von Burnam postulierte Abfassung des Kommentars zwischen 650 und 
750 erscheint mir reichlich zu früh. Ich nenne diese Scholien B I und die aus Valent. 
413 gedruckten B II. 
Aur. Prudentii Clementis carmina (CSEL vol. LXI) 1926. 
* Nach Dressel p. XXIV haben alle älteren Hss. des Prudentius Glossen. 


Zu den Prudentiusglossen 143 


garsianus (Bern. 264 s. IX) und der Widmannianus, und nach ihnen sind diese 
zahlreichen Glossen in der Ausgabe von Weitz (2, 771—901, Hanau 1613) 
abgedruckt, ohne daß ihre Herkunft von Iso deutlich zum Ausdruck käme. 
Und da in St. Gallen selbst jeder Hinweis auf diese Herkunft zu fehlen 
scheint, so dürfte sie immerhin zweifelhaft sein. 

Sehr viele Isoscholien zeigen nun aber enge Verwandtschaft mit B I 
undnoch mehr mit B II. Da nun B II, von einem Niederdeutschen in angel- 
shsischer Schrift saec. X geschrieben, vielfache Übereinstimmungen mit 
Remigiuskommentaren besitzt, so hatte ich B II dem Remigius zugeschrieben 
(Gesch. d. lat. Lit. des Mittelalters 2, 808). Man könnte das freilich mit 
gleichem Rechte mit dem Isokommentar tun, da hier ein ähnliches Verhältnis 
watet. Und so hat E. K. Rand vielleicht etwas vorsichtiger an Heiric als 
Verfasser gedacht und damit der Remigiusforschung neue Wege eröffnet. 
Denn sollte die häufige Kongruenz dieser drei Glossenwerke mit Remigius- 
Stücken nicht auf die Vermutung führen, daB man es in letzter Linie mit 
einer Vorlage zu tun hat, auf die Iso, B I und II und R5 in vielen einzelnen 
Stücken zurückgehen? Man müßte dann auch annehmen, daß auch R 
Glossen zu Prudentius verfaßt hat, oder daß er, wenn Heiric wirklich der 
Verfasser von B II ist, dieses Werk seines Lehrers in starkem Maße benutzt 
hat. Daß I (Iso) und B II von R zeitlich nicht sehr abweichen können, 
bezeugt der Ausdruck dicebat in den beiden aus Johannes Scottus genommenen 
Stellen (Neues Archiv 49, 183), die aus Vorträgen des Meisters entlehnt zu 
sein scheinen und vielleicht von R notiert wurden. Natürlich brauchen 
diese beiden Stellen nicht die einzigen aus Johannes entlehnten zu sein, da 
man ja das Plagiat für durchaus erlaubt hielt und man die Vorlage nur selten 
anführte. 

Es wird sehr genauer Untersuchung der in Betracht kommenden Hand- 
schriften bedürfen, bis die Fragen nach Ort, Zeit und Verfasser der einzelnen 
Scholienmassen nur etwas geklärt sind. Es wird zu prüfen sein, ob die Pru- 
dentiuserklàrung nicht schon im 8. Jahrhundert einsetzt, ob nicht schon 
Lupus, der Lehrer Heirics, einen Kommentar verfaßte und ob die Erklärung 
von diesem über Heiric und Johannes Scottus zu Remigius führt. Es ist 
nämlich bei der großen Zahl griechischer Wörter und mythologischer Stellen 
bei Prudentius durchaus wahrscheinlich, daß sich Johannes mit Prudentius 
beschäftigte und außerdem liefern I und B II den strikten Beweis dafür, 
daß er über den berühmten christlichen Dichter Vorträge gehalten hat. 
Spätere Zeiten haben die karolingischen Kommentare als Fundgruben be- 
nutzt, aber keine neuen Arbeiten geliefert. 

Es soll nun im folgenden der Versuch gemacht werden, die wichtigeren 
Stücke aus I, B I und B II auf ihre Quellen zu prüfen oder zur Prüfung 
vorzulegen, und die mit Kommentaren von R ähnlichen oder gleichen Stücke 
zusammenzustellen, sowie auf das Vorhandensein und die Gleichheit einzelner 
Stücke auch in anderen Scholienmassen aufmerksam zu machen’. 


* So mag der Name des Remigius fortan gekürzt werden. 
* Dies geschieht dadurch, daB die Siglen den einzelnen betreffenden Stücken 
Dachgesetzt werden. 


144 M. Manitius 


I. Iso. 

Prud. Praef. 8 ferula proprie qua grammatici utuntur qua manus dis- 
cipulorum feriunt’. Unde Juvenalis dicit (1, 15): Et nos manum ferulae 
subduximus. Ferulae dictae eo quod fervere et tremere faciant discipulos. 
Est autem proprie genus arboris cuius succus thapsica vocatur*. B II. 

Cath. 2, 8 nitentis, splendentis. Secundum physicos loquitur qui dicunt 
omnia colorata in nocte perdere colorem, sole redeunte redire colorem. 
Vgl. B II. 

71 ebenum est genus nigri ligni vel ebenum genus est arboris quod post- 
quam incisum fuerit et proicitur in aquas ibidem quadam coagulatione 
durescit et efficitur lapis niger* unde postea fiunt utilia instrumenta ad 
discretionem bonorum et malorum munerum. B I. II. (Exzerpt?). 

9, 30 Architrielinus enim princeps lectorum. Cline graece lectus. An- 
tiqui enim tres lectos habebant, unum domino, secundum dominae; tertium 
hospiti. 

10, 1 Ignee quem Graeci vocant pyr noeron, ignem sensualem!*. 

Apoth. Praef. 25 sycophantas autem hac de causa appellatos dicunt, 
quod quondam iuvenes soliti erant in hortos prorumpere ficosque inde 
furari. Quam ob causam lege est constitutum ut qui id fecisset capite 
truncaretur; quam poenam qui persequeretur ob parvula detrimenta syco- 
phanta est appellatus, B I. 

Apoth. 196 Anubem deum Aegypti i. e. simiam caput canis habentem. 
Mercurius lingua Aegyptiaca vocatur Anubis, qui deus eloquentiae fertur. 
Unde cum capite canino depingitur, quia in animalibus nihil cane sagacius 
habetur!*?. (Der letzte Satz auch in B II zu Sym. 2, 354 mit dem Zusatz: 
Mercurius internuntius deorum dicitur cuius simulacrum Romani ab Aegypto 
Romam deduxerunt.) Latrare autem dicitur propter copiam sermonis unde 
et oratores rabulatores dicuntur. B II. 

200 Plato dicitur a latitudine humerorum; qui primum athleta invictus 
postea ad philosophiam conversus omnes philosophos superavit. B II. 

203 laborinthus erat domus subterranea centum habens ostia, quam 
Daedalus fecit ad Minotaurum etc. Dicitur autem laborinthus quia labor 
intus». B II. 

430 Geloni gentes Scythiae stigmata sibi ut Sergius dicit more Scottorum 
inurentes*, B I. 

845 bombum sonitum cornu vel tibiae, et Ennius sonitum pedum appellat 
bombum!®, 


7 Vgl. Isid. Et. 17,9, 105. 

* Plin. nat. hist. 13, 124. Die vorhergehende Etymologie ist durchaus im Stile 
des Remigius. 

* Vgl. Isid. Et. 17, 7, 36, 

19 Geht wohl auf Johannes Scottus zurück. 

11 Aus Pauli ep. Festi ed. Lindsay 392, 5—9. 

12 Mythogr. Vat. 2, 42 ed. Bode, SS. rer. mythicarum 1, 89, 24ff. 

18 Ähnlich bei R. in Sedulium ed. Huemer p. 322, 20—27. 

M Vgl. Serv. Georg. 2, 115, Isid. 9, 2, 89. 

15 Augustin Dial. 6. 


Zu den Prudentiusglossen 145 


Ham. 234 rhododaphne herba venenosissima!* foliis similis lauro, nam 
daphnis Graece laurus dicitur. arcilaurum genus herbae i. e. arcilauros i. 
foliis similis lauro. 

270 Baccas gemmas rotundas qui uniones vocantur!", eo quod in capite 
ostrearum aperto cerebro semel reperiantur in anno et unus tantum quos et 
perulos vocant. B I. II. 

Psych. Praef. 33 sed et teretes gemmae bacae dicuntur ut illud: neretque 
bacis colla rubri litoris’; nam et oleae fructus sive lauri bacas vocamus. 
Baga ferrum dicitur, quo captiva saepe mancipia strictis collis et manibus 
aguntur. 

Psych. 25 non enim in sapientia verbi syllogismos Aristotelis sive contorta 
Chrysippi sancti praedicatores iaculati sunt. 

109 Ecce tres partes esse humanae animae asserunt videlicet rationalem 
irascibilem concupiscibilem!*, 

370 Toreumata caelatura vel tornatilia®. 

Sym. 1, 7 veternus morbus est qui et intercusn. 

56 Saturnus concubuit cum Philyra nympha quibus Opis supervenit, 
qui ne deprehenderetur convertit se in equum?t, ideo dicitur Tuscis adhinisse 
puellis. B II. 

60 Lacaena civitas est Graeciae ex qua fuit Leda. Jovis versus in cygnum 
vitiavit Ledam matrem Helenae quae ovum peperit unde nati sunt Castor 
et Pollux. B I (62). | 

61 Jovis voluit concumbere cum Europa convertit se in bovem pulchrum 
et sic vitiavit eam“. B I. 

71 indignabatur Juno soror Jovis Heben sororem suam de ministerio 
depositam et Ganymedem loco eius successisse®, B I. 

87 Maia et Electra sorores fuerunt filiae Atlantis: ex Maia Graeci venerunt, 
ex Electra Troiani. 

101 quia pennas in pedibus habere dicitur, quae petasi nomine vocantur; 
petasum est volatile, nam peto volo dicitur. B I. 

118 Colchida, nam Nemea filia regis Colchorum quam ille Herculi dedit. 
Hercules cum Pallantea Evandri filia concubuit sub pelle leonis qui in Nemea 
silva captus est. 

120 Salii dicuntur qui tripudiantes aram circumeunt Herculis, require 
fabulam in Virgilio, dicti ab exsiliendo. B I. Pinarius et Potitius sacerdotes 
Herculis fuerunt®. B II. 


1* Vgl. Plin. 16, 79. 

Y Vgl. Isid. Et. 16, 10, 1. 

18 Woher? 

19 Isid. diff. spirit. 2, 26 (p. 298 I H ed Breul). 
Vgl. R in Prisc. partit. 490, 22 (Münch. Mus. 2, 94). 
n R in Sedul. p. 347, 26f. 

2 Myth. Vat. 2, 42 (Bode 1, 96, 2ff). 

2 Myth. Vat. 2, 132 (Bode 1, 119, 42ff). 

* Myth. Vat. 2, 76 (Bode 1, 100, 24ff.). 
Myth. Vat. 2, 198 (Bode 1, 139, 30ff.). 

9 Vgl Serv. Aen. 8, 270 (Thilo 2, 233). 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 10 


146 M. Manitius 


121 mons dictus ab adventu avium nam ex Tiberi fluvio emergentes 
excelsa ipsius montis petunt". B II. 

131 Bromius minister fuit Liberi (B II); Bromius i. e. Bacchus a bromo 
i. e. cellario, vel a bruma in qua multum comeditur, cui etiam caper immo- 
latur, quia vineis valde nocet. 

142 Ariadnem natam Minois regis Cretae Liber pater in coningium accepit, 
propter cuius honorem inter astra locata est vel uxor Liberi fuit; quam cum 
accepisset attulit Vulcanus coronam in qua erant septem lapides, quam 
Liber ob amorem Ariadnae in coelo collocavit, quam modo coronam dicunt“. 
B I. II (zum Teil). 

261 Fescennina nuptialia carmina dicta ab urbe Fescenna (B I) sive quia 
fascinum pellunt, item Fescenninus deus nuptiarum dicitur“. 

308 Aeoliae octo insulae sunt Siciliae Vulcano propter ignis emissionem 
deputatae . 

2, 699 mastruga quasi monstruosa?! vestis de pellibus facta; vocamus etiam 
mastrugas renones quae rustice crotina vocantur. B I. II. 

Perist. 10, 146 vernaculus ut dicit Isidorus dictus est quasi bonus here- 
ditarius natus’? qui et domigena dicitur i. e. domi natus. 

155 proceres proprie mutuli trabium eminentes e maceriis, inde proceres 
dicuntur eminentiores in populis**. 

1131 Regestum vocatur liber continens memorias aliorum librorum et 
epistolarum in unum collectas et dictum regestum quasi iterum gestum. 
Joannes Scotus registron dicebat“. 

14, 4 Quirites dicebantur Romani a Quirino i. e. Romulo, qui semper 
hasta utebatur, nam quiris lingua Sabinorum hasta“. B I zu Sym. 1, 358. 


II. Burnam I. 


Cath. 1, 89 frivolum quasi fere obolum scilicet valens?*, ponitur pro omni 
re vili. B II. 

2, 42 Classicum sonus tubarum quia sono tubarum incitantur milites 
ad bellum, et classes aliquando naves”. 

2, 45 Fenoris id est auctae pecuniae tractum a manipulis quia fenum 
manipulis augetur ita fenus id est pecunia augmentatur®. B II. 


V Vgl. Serv. Aen. 7, 657. 

Myth. Vatic. 2, 124 (Bode 1, 117, 6ff.). 

29 Pauli ep. Festi p. 76, 6ff. 

% Vgl. Isid. Et. 14, 6, 32. 

s Vgl. Isid. Et. 19, 23, 6. 

#2 Martyrius K. 7, 176f. — Remig. in Phocam p. 412, 27. Didaskaleion 2, 77. 
* Remig. in Phocam 428, 7 (Didaskaleion 2, 87) und in Sedul. p. 331, 26ff. 
# Vgl. Neues Archiv 49, 183 und Nachtrag. | 

3 Pauli ep. Festi p. 43, 1ff. s. v. Curis. 

** Ob aus Remigius? 

# Ob aus Remigius? 

38 Remig. in Prisc. part. p. 493, 28 (Münchner Museum 2, 96). 


Zu den Prudentiusglossen 147 


3, 23 brosis cibus**, inde Ambrosius proprie cibus deorum. (Gl. Vatic. 
3859, Dressel = a. B IL) 

3, 42 maculae internodia id est aperturae retis. a. B II. 

3, 52 astra ab Astraeo astrologo“. 

3, 72 payeiv graece comedere, fauces quia comedunt “. 

3, 185 Plato graece formo vel fingo, hinc plasma figmentum. 

4, 28 Nausea tractum a navi, vcbg graece navis, hinc nausea aqua xn 

4, 80 dentes quasi dementes®. 

5, 56 dracones pingebantur in Romanorum aquilis. | 

5, 119 folius genus unguenti cuius si folium capiti imponis vomitionem 
patieris totum quod in corpore est, item si sub pede digestionem. 

6, 72 Aula ab auleis id est cortinis**. 

7, 69 Locusta avis digitalis acri volatu sed cito deciduo (B II) cum oleo 
coquitur, pauperes eo utuntur. 

11, 64 Veternus morbus qui et intercutaneus dicitur*. B II (Veternus 
est morbus qui et intercus et intercutaneus.i.idrops). 

Apoth. 206 Clinicus curvus, xA»; graece lectus, inde clinicus proprie 
nomen dei vel ipse infirmus. 

400 Energia furias vel pigritia vel inertia. čoyov graece apns dicitur; 
vel energima id est imaginatio vel fantasma. Unde qui fantásias omne 
nomen daemonum patiuntur inergumini dicuntur. 

558 sollertia peritia multarum artium, graece sollon multum, hinc sollertia 
multarum artium peritia. Inde sollemnitas multorum conventus, unde res 
sollemniter facta dicitur, quae in praesentia multorum est acta. 

785 ima poli Canopum dicit quem antipodes nostri vident, ubi infernum 
aliqui dicunt esse. B II. 

Hamart. 125 fren est quae tegit cerebrum, inde freneticus qui non habet 
sanum cerebrum“ in quo pontificium est sensus. 

271 Caleulos vocamus lapillos quibus antea numerabant antiqui ante 
Iepertum numerum. 

289 Scutulatam vestem appellat orbiculatam quam rustici elintinnan“ 
vocant et pro omni opere veste varie interserta ponetur. B II. 

367 funem de scenobatis dicit id est funambulis, ayorvoc graece funis, 
batin gradus. mcAÀc graece inde palaestrae luctationes. B II. 

445 hostica hostilia. Hostire est aequare“, hinc hostis quod aequare 
inhiat proelium. Hostorium lignum quo aequatur modius“. Hosticus et 
hostilis dicitur. B II. 


* R. in Sedul p. 820, 26. 
Remigius in Sedul. 326, 30f. 
a Remig. in Sedul. p. 327, 211. 332, 20f. 
** Remigius in Phocam p. 411, 33 (Didaskaleion 2, 76). 
43 Remig. in Sedul. p. 343, 27f. 
t Remig. in Sedul. p. 347, 27. 
*$ Remig. in Martian. praef. (Didaskaleion 2,63). 
* glitinne B II. 
* Pauli ep. Festi p. 271. 
43 Priscian 6, 24. 
10* 


148 M. Manitius 


852 postlimmium est de captivitate reversio quando longo tempore quis 
limen domus suae dimissum repetit. B II. 

868 palla est vestis qua sacrificabatur Palladi, sed ponitur pro omni 
veste, sed hic pro pellicula quae tegit. pupillam. 

873 Sectas vocat cilios quos proprie tautones nominamus. B II. 

923 Volucla vel volucra dicimus involutiones vestimentorum, sed in hoc 
loco involutionem mortui corporis in sepulcro involucra vocat. B II. 

Psych. Praef. 46 mappalia et magalia idem sunt id est casae pastorum 
quae et tuguria. B II. 

Psych. 191 Lupata sunt frena eo quod in similitudine lupinorum dentium 
sunt facta.id est inaequalia. B II. 

208 Titulus est memoria a Titane dictus quia sicut Titan illuminat 
omnia, ita titulus illuminat opus®. B II. 

873 hastae venditionis captivorum. Nam apud antiquos illos quos bello 
capiebant eum multos interficerent, illos quos vendere volebant sub hasta 
transire faciebant vel coronam imponebant i. e. ramum vel signum aliquod. 

Sym..1, 90 Virgae id est caduceo quod cadere facit homines id est mori. 

Sym. 1, 171 Corone ... uxor fuit Apollinis, quae viro suo rivalem induxit; 
quod cum. nuntiatum fuisset Apollini per corvum, qui antea albus erat, 
fecit illum nigrum et illam affixit sagittis. Qua mortua ab ea abstractus est 
Aesculapius et factus est peritissimus omnium medicorum. B II. 

205 Fortuna fertur habere cornu in dextra quod nymphae omnibus bonis 
repleverunt. B II. 

395 Taurica regio est in qua peregrini immolabantur Junoni, quod Ro- 
mani reprehendebant, quod tunc ipsi novissimi fecerunt. 

555 abolla duplex vestis est qua iste induebatur in qua palma erat depicta. 

2, 204 Scythica regio est in qua filii patres suos de collibus vel de pontibus 
altis praecipitabant in mari, praevenientes mortem illorum, putantes pietatem 
esse, vel etiam comedebant praestando eis tam pia sepulchra*» B II. 

2, 653 Iovem dicit qui pelle Amaltheae caprae induebatur, qua fertur 
Iovem nutrisse et quando pluit hane dicitur concutere Iovis. Et pro Iove 
ponitur sicut hic.: B II. 

199 Hannibal cum veniret Romam occurrit ei multitudo apud Cannas 
vicum Apuliae et Hannibal superavit eos et interfecit omnem multitudinem 
Romanorum ut sex modia anulorum Africam mitteret. Tune Romam voluit 
venire sed. nimia imminente pluvia non potuit ibique moratus est atque 
sole aestuante luxui deditus, unde ipse dixit: Roma invicta erit quia quando 
ego volo ire deus non vult; quando ille vult, ego nolo*t, B II. 

Epilog. 18 Parabsis dicitur vel paribus absidis®® vel parabsis a partitis 
in eo obsoniis id est prandiis*. 


% Remig. in Phocam p. 410, 18 (Didaskaleion 2, 75). 

5 Vgl. Solin. 52, 22. 

5t Sowohl B I wie B II haben hier aus reicher Überlieferung geschöpft, und zwar 
wie es sscheint, aus Lokaltradition von Baiae, die B II wohl getreuer Yisdergins 
Der Stil beider Scholien schließt Anlehnung an Remigius aus. 

9 Isid. Et. 20, 4, 10. 

5* Wohl Veränderung der aus B II bekannten Fassung des Johannes Scottus. 


Zu den Prudentiusglossen 149 


Burnam II. 

Cath. 3, 29 Strophium eingulum, ita dictum — arenibus - anteriora 
convertitur, nam strophe graece conversio latine. — - 

5, 53 Cuneus dicitur exercitus procedens prima ironte acuminata simili- 
tudine cunei**. 

b, 117 Balsama, xilobalsamum lignum balsami nam xilon graece lignum. 
opobalsamum cortex, opos enim graece caverna; et cortex. ipsius arboris 
flebotomo inciditur et sic de caverna eius balsami gutta stillat. Carbobalsa- 
mum fructus quia xcomog graece fructus*, 

6, 41 sensa i.e. sensus. Sensa pluraliter tantum reperitur pro "um 
hinc Tullius Caro laesa ledit sensa. 

6, 86 anceps dicitur quas ambiceps i. e. duo capita habens utrimque 
acutas. 

7, 13 Lepos i. e. fecundia, tractum est a leporinis carnibus SS ad 
vescendum nulla caro suavior habetur “. 

8, 34 bonus dicitur a graeco quod est boo“, malus vero a | graeco quod 
est melan nigrum. 

9, 56 fren est membranula quae dividit superiora et Aero ventris; 
qui illam vitiatam habet frenesin patitur “. 

11, 64 Veternus est morbus qui et intercus et intercutaneus i. idrops V. I. 

12, 145 Caveo caves confirmo inde cantum et cautio est firmatio et facit 
praeteritum cavi®!. Cevo vero cevi indicativo modo est crisso i. e. clunes 
agito vel moveo®, 5 

Apoth. Praef. 26 versipellis dicitur qui se in diversas formas vertit, 
tractum a bestia quae camaeleon dicitur, nam cuiuscunque rei adheserit, 
illius colorem trahit et ideo a venatoribus difficile capitur. Est autem sine 
pilis *, a hoc autem, ut ait Solinus “, non est admirandum, parando qui est 
bos Indicus habens setas, hoc idem naturaliter habet. 

Apoth. 20 glauco i. subalbo quoniam qui subalbam papillam habet, non 
clare vidit, unde glaucoma infirmitas oculorum. 

141 hic tribus causis accenditur fornax, pice nacta et malleolis. Malleoli 
sunt sarmenta novarum vitium, nactae ossa olivarum, cremium vero fasciculi. 

846 Faunus cum iter ageret invenit hominem prae nimio frigore congela- 
tum, quem miseratus ad suam deportando speluncam vidit eum flatu calido 
manus caleficiendo animare, cumque iam in spelunca positum ad ignem 


^ Isid. Et. 19, 33, 4. 

* Vgl. Serv. Aen. 12, 457. 

* Isid. Et. 17, 8, 14. Corp. gloss. 5, 157, 127. 3, 537, 38. 
9 Remig. in Phocam 409, 14 (Didaskaleion 2, 83). | 
9 Remig. in Sedul. p. 353, 34. 

9 Remig. in Martian. Praef. (Didaskaleion, 2, 63). 

„ Remig. in Sedul. p. 347, 27. 

*! Remig. in Sedul. p. 337, 20. 

Juvenal 2, 21. 

“ Solin 40, 23 (und 30, 26). 


” ar wohl den auch sonst. verwendeten Solininterpolationen an (etwa 52, 


150 M. Manitius 


collocasset, attulit ei vinum calidum quo eius viscera vivificaret. At ille prae 
nimia caliditate illud bibere non valens anhelitu refrixit. Faunus itaque 
videns admiratus est et interrogavit quomodo ille vinum halitu posset 
refrigerare, cum antea in via manus eodem halitu calefecisset. Tum ille 
respondit: In via propter frigus calidum, nunc vero propter vini calorem 
frigidum emisi halitum. Tum ille: Perge, inquit, nolo hominem tam diver- 
sum duo qui simul ora gerat. Haec. contra bilingues “. 

Hamart. 230 Eseforium est parva tunica quae vulgo guursebalt dicitur. 

234 Rododaphnis autem dicitur croceus flos. hinc et in Homero legitur 
rhodadactilon i. e. crocei digiti. rodos graece rosa inde rododaphnen i. e. 
Niphtun quae in rosam conversa est. unde Homerus rododactilon appellat 
Auroram i. e. aureos digitos habentem “. 

852 Postliminium dicitur reversio ex captivitate; quando quis in exilium 
ire cogitur et iterum relegatus post multos dies revertit, ipse reditus post- 
liminium dicitur post captivitatem, quando quis limen domus suae diu 
dimissum revisit, vel postliminium in scripturis vocant auctores ad alia tran- 
seuntes intermittunt aliquo spatio et iterum ad incepta revertuntur. I. 

853 Cana fides ideo dicitur eo quod in canis id est in senibus habeatur 
seu quia sacrificantes fidei manum albo panno velabant, per hoc ostendentes 
fidem absconsam fieri debere*'. 

881 Tile ultima est omnium insularum ultra Britanniam ultra Orcades, 
in qua, ut Solinus dicit®, homines tempore hicmali herbis una cum suis 
pecoribus vivunt, estiva autem caseo et lacte, panem omnino nesciunt. 

Psych. Praef. 46 Magalia i. e. habitacula. Mapalia dicuntur lingua Afro- 
rum parvae casulae pastorum, idem est et magalia, magal enim lingua eorum 
casa dicitur. sed magalia longum habet ma, mapalia vero brevem . 

Psych. 208 Titulus est memoria dictus a Titane i. e. sole”®, 

621 Pluto deus inferni graece dicitur et latine interpretatur dis vel dives, 
quia inferno nil ditius, ad quem pene omnia vadunt. Unde Horatius: Debe- 
mur morti nos nostraque (A. P. 63) et idem dicit ditissima Tartara". 

632 Parapsis est quadrilaterum dictum a paribus absidibus i. e. lateribus, 
licet absidae non sunt circuli. Iohannes autem Scotus dicebat parobsis (cf. 
Dressel app. crit. p. 195) a parandis obsoniis i. e. discus ubi obsonia para- 
bantur. Obsonia namque omnes cibi generaliter dicuntur. 

620 Passeres sunt omnes minores aves vocatae ita a parvitate corporis“; 
sed revera sunt tria genera passerum, unum quod in foraminibus maceriarum 
et parietum nidificat, alterum quod lascivo et petulco volatu per plana et 
roscida rura fertur, tertium quod ad montes et squalentia loca transit. 


*5 Eine sonst unbekannte Prosaauflósung der Fabel Avian 29 mit teilweise 
wörtlicher Anführung von Vs. 21f. 
5 % Remig. in Martianum p. 52, 25 (Neues Archiv 49, 176). Hier wie dort Nennung 

omers. 

*' Remig. in Martian. 2, 21 (Neues Archiv 49, 175). 

** Exzerpt aus der Interpolation von LGSAP zu Solin 22, 17. 

Serv. Aen. 4, 259. Isid. Et. 15. 12, 4. 

70 Remig. in Phocam. p. 418, 18 (Didaskaleion 2, 75). 

* E in Martian. p. 28, 8 (zu Pluto). 

72 Isid. Et. 12, 7, 68. 


Zu den Prudentiusglossen 151 


Psych. 636 Cornicularius qui in cornicibus augurium captat. Nam a cor- 
nice cornicula fit diminutivum unde cornicularius. Tubae silent. et gladii 
reconduntur in vaginis. 

689 sica est gladii genus heltes. 

869 crystalli] Isid. Et. 16, 3, 1 und Solin 15, 31. 

Sym. 1, 30 Esset] Boeth. cons. phil. 1, 4, 16ff. 

1, 203 vaticanus (vagiticanus).” 

1, 251 Livia] längere Erzählung über Livia und Tiberius. 

1, 364f. luna] Martianus Capella p. 373, 7ff. D. 

1, 381 längere Erzählung über M. Curtius nach Liv. 7, 6, 3ff. 

1, 395 längerer Bericht über Iphigenie, nicht nach Fulgentius. 

1, 404 Vesontium civitas tres portas habebat, in quibus literis maximis in 
similitudine funditonnae factis hoc scribtum habebatur: Iulia Iulii filia hoc 
diis manibus obtulit“ i. e. diis infernalibus. 

1, 423 Inter larvas et lemures hoc distat: larvae sunt quae homines in 
amentiam vertunt, lemures vero innoxiae sunt, et dictae lemures quasi lares 
manentes. Sunt enim animae mortuorum diu manentes in corporibus. 

1, 525 Numida] lange Erzählung über Jugurtha mit allerhand sagenhaften 
Bestandteilen. 

1, 626 Fabel von Vulkan und Venus. 

1, 627 Fabel von Saturn und dem Stein abaddir. 

1, 629 Isis] Fabel von Io (mit Isis verwechselt). 

Sym. 2, 46 Apelles et Milio in fingendis statuis doctissimi fuerunt, unde 
eum Alexandro mundum subiuganti in singulis civitatibus statuae ad adoran- 
dum constituerentur, edicto praecepit ut nemo statuas eius pingeret nisi 
Apelles et metallis conflaret nisi Milio”®. 

2, 54 pudicum] breite Erzählung der Geschichte von Hippolytos und 
Phaedra (nach Ovids Metamorphosen). 

2, 186 animi imperio corporis servitio magis utimur”®. 

2, 234 naturis] Dionisius Areopagita de naturis angelorum multa deo 
inspirante scripsit", caeterum vero de illorum natura nullus scit. 

2, 354 capitis canini scil. Mercurii qui cum capite canino depingitur 
propter prudentiam sermonis, quia cane nihil est sagatius in animalibus et 
ipse Mercurius internuntius deorum dieitur, cuius simulacrum Romani ab 
Aegypto Romam deduxerunt”. I, 

2, 528 Fluctibus Actiacis] die Geschichte der Schlacht von Aktium und 
der Kleopatra. 

2, 544 Diomedis] Der Diebstahl des Palladiums aus Servius. 

2, 558 Fabricios] Geschichte aus Serv. Aen. 8, 656; Fabricius mit Curius 
Dentatus verwechselt. 


* Remig. in Sedul. p. 334, 7. 

^ Lokaltradition aus Besancon. Ob dies auf den Ort deutet, wo oder in dessen 
Nähe die Scholien entstanden? 

* Vgl. Plin. 7, 125. 

78 Sall Cat. 1, 2. 

T Ist das in karolingischer Zeit übersetzte und kommentierte Werk De cae- 
lesti hierarchia. 

78 Myth. Vatic. 2, 42 (ed. Bode 1, 89, 24ff.). 


152 M. Manitius 


2, 703 pervigil anser] Serv. Aen. 8, 652. 655. 

2, 713 Dracones i.e. signa Romana similitudinem serpentium habentia 
ex linteis fiebant, quae a vento inflata serpentis similitudinem preferebant, 
quorumque capita aurea depingebantur. 

2, 741 Baia est vicus Apuliae ubi Hannibal Romam pluviarum nimiaetate 
adire non valens cum suo exercitu luxurians resedit. Nam cum adire cọnare- 
tur cito pluviis inundantibus suo in loco prohibitus morabatur, quando 
vero serenitas adesset, luxuria dissolvebatur. Cum ergo a quodam suorum 
increparetur, quare Romam non pergeret, respondisse fertur: Quando ego 
volo deus non vult, et quando deus vult ego nolo; et ideo scio Romam esse 
insuperabilem. B I. 

2, 755 Argentum diu servatum quandam caliginem trahit, aurum vero 
si bene coctum fuerit licet interpositum numquam colorem perdit. 


Während diese Scholienmassen I, B I und B II unleugbar viele Zusammen- 
hänge zeigen, besitzt Vatic. 3559 (Dressel a) Erklärungen, die meist nur Ver- 
wandtschaft mit B II besitzen, allerdings auch zuweilen mit Remigius- 
scholien zusammenhängen. Sie werden von Dressel in seinem, dem Texte 
unterstellten Kommentar abgedruckt und es dürfte sich lohnen, einige wesent- 
liche Stücke aus dieser Erklärung hier vorzulegen. Daß sie noch der karo- 
lingischen Zeit angehört, bezeugt das Scholion zu Perist, 10, 557, da das Wort 
charaxare im 10. Jahrhundert außer Gebrauch kommt. 

Cath. 1, 43 situs est proprie lanugo quaedam in locis soli inaccessis nas- 
cens poniturque [pro] vetustate. Vgl. zu Per. 10, 518 (etwas reichhaltiger) so. 
B II. 


1, 54 praeco est proprie vocimissarius qui adventum principis nuntiat 
allegorice autem per quinque aetates ... B I. II. 

3, 23 brosis graece, cibus latine?!, hinc ambrosia dicitur cibus deorum 
(B I), sicut nectar potus (B II). ponitur autem nectar pro omni dulcedine. 
Tod praef. 26 versipellis = B II ohne die Fortsetzung haec autem — 

et. 

9, 42 maculae sunt internodia retis quae plagae dicuntur. B II. 

1, 50 sudum dicimus aerem post pluviam quasi subudum, tunc enim melius 
splendescit. B II. 

9, 79 ferrugo est purpura Hispanica nigri coloris. B I. II. 

11, 68 nardus est frutex aromatica gravi et fragili radice, quamvis pingui 
situ, redolenti cupressum, cuius cacumina in aristas se spargunt, spicas 
enim facit unde et nardum spicatum dicitur. 

Apoth. 209 Philosophi licet diversis numinibus litarent, tamen unum 
deum esse dicebant sine aliquo sexu; sed in maioribus operibus quasi mas- 
culum, in minoribus vero quasi feminam asserebant. Unde Soranus: Iuppiter 


70 Charaxare dicimus scribere unde character. 
*9 Hiermit stimmt fast 20 26 in Sedul. p. 325, 2f. 
1 Remig. in Sedul. p. 320 


Zu den Prudentiusglossen 153 


omnipotens rerum regumque** repertor Progenitor genitrixque deum, deus 
unus et omnis. B II. 

296 bardus quidam stultus, crudelis et paganissimus fuit, a quo omnes 
bardici vocantur, unde hic stultum significat. B II. 

539 Pompeius cum exercitu suo Hierusolimam, antequam a Tito devas- 
taretur, intravit et templi maximam destruens partem statuam suam in 
eo constituit; forsan et propter hoc a Iulio superatus est. B II. 

Perist. 2, 321 coneinnum est genus potionis ex diversis mixturis confectum, 
hine concinnare dicitur componere. B II. 

2, 028 Claudia familia quaedam erat, quae Vestam deam colebat. B II. 

2, 556 civica est proprie corona quercea, qua ille donabatur qui cives 
liberasset®. B II. 

3, 21 sucinum est electrum arboris id est resina, quam solent mulieres 
confricare manibus et ea faciem superducere ad provocandum cutis cando- 
rem. B II. 

4, 3 Caesaraugusta civitas est Hispaniae quam condidit Octavianus. 
Ipse enim dictus est Caesar Augustus, et Caesar quidem a Iulio Caesare 
avunculo suo, Augustus ab augendo rem publicam. Cum enim idem mortuo 
Iulio suscepisset imperium, populus Romanus in tres partes divisus est et 
singulae partes singulis eum nominibus vocaverunt: alii Octavianum, alii 
Caesarem, alii Augustum quod tamen ei permansit. 

5, 446 murices sunt summitates altissimae petrae (B. II), aliter murex 
ponitur pro purpura. 

10, 147 idem pullos pascebant ut in illorum comestione augurium caperent: 
sicuti legitur de quodam consule, qui imminentibus hostibus proiecit annonam 
ante pullos ut in corum comestione augurium caperet. Cumque nihil gustas- 
sent, proiecit eos in mare dicens: at bibite. Illi autem necati sunt. Sic con- 
tigit ut ipse fugiens hostes naufragium pateretur. 

10, 415 Romulus cum aliquando fugeret hostes invocavit Iovem et 
stetit exercitus illius fugiens, unde Stator dictus est. B II. 

10, 449 rimari est proprie porcorum qui in rimis id est in venis terrae 
cibos inquirunt. B II. 

10, 518 situs est proprie lanugo quaedam in locis neglectis et soli inac- 
cessis: hinc pro negligentia ponitur, sed hic pro vetustate“. B II. 

10, 654 Omnis ars aliud tegit et aliud ostendit, verbi gratia sic pictura 
maceriae aliud ostendit et aliud tegit, nam lapidibus intus obductis pictura 
80la videtur. 

10, 719 Tus apud antiquos cum aspiratione scribebatur habens graecam 
etymologiam 'ezxo roù O's(/)ov id est a re divina. Apud modernos autem 
[sine] aspiratione scribitur et venit a verbo tundo®. 

11, 151 metor est eligo, hinc castra metari dicimus locum eligere, ubi 
castra figantur. B II. 

Niederlößnitz. M. Manitius. 


Sedul. p 2 
** Remig. in Phocam p. 412, 5 (Didaskaleion 2, 76) und in Priscian. p. 493, 23. 


154 Fritz Hübner 


Die Grabschrift Ottos I. im Magdeburger Dom. 


Daß die Verse: 
Tres luctus cause sunt hoc sub marmore clause, 
Rex, decus ecclesie, summus honor patrie 


vor 1501 auf einem die Marmorplatte des Grabes Ottos I. umlaufenden Gold- 
blech gestanden haben, geht aus der Dombeschreibung des Sebastian Wey- 
mann in seinem Libellus de sanctis reliquiis aus dem Jahre 1501 mit Sicher- 
heit hervor!. 

Dieselben Verse werden als Ottos Grabschrift erwühnt in Gesta archi- 
episcoporum Magdeburgensium MG. SS. 14, 384 und in Annales Magdebur- 
genses MG. SS. 16, 153, schließlich finden sie sich in der poetischen Vita 
Mahumeti des Embrico von Mainz V. 421f. (Verszählung nach dem Cod. 
Phillippicus 1694 Berolinensis?) 

E. Kessel, Die Magdeburgische Geschichtsschreibung bis zum Ausgang 
des 12. Jahrhunderts“, hat glaubwürdig nachgewiesen, daß die in den Gesten 
und den Annalen zitierte Grabschrift aus der beiden gemeinsamen Quelle 
stammt, nàmlich der um 1025 entstandenen, jedoch nicht erhaltenen Chronik 
des Erzbistums Magdeburg (S. 120). Er schreibt dann S. 121, Anm. 60: 
„ . . dazu kommen die Verse in der Vita Mahumete eines Embrico aus der 
ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vor (Migne PL 171, 1352) ... Soll man 
annehmen, daB jener Embrico die Grabschrift Ottos des GroBen kannte 
und für sein Gedicht verwandte? So unwahrscheinlich und unbefriedigend 
diese Erklàrung ist, angesichts der Tatsache, daB die Grabschrift für die 
alte Chronik durch M und die MA bezeugt ist, bleibt kaum etwas anderes 
übrig.. 

Die Vita Mahumeti gehört jedoch ins 11. Jahrhundert. Denn besagter 
Embrico ist für August 1056 als Propst und unter dem 27. August 1057 als 
Erzpropst von S. Martin in Mainz urkundlich bezeugt (Guden, Cod. diplom. 
Mog. I, S. 370, Nr. 136; Böhmer, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erz- 
bischófe, 1877, S. 179, XXI, 16 und 19; vgl. auch Guden a. a. O. I, Nr. 30, 
S. 76—78). Er wurde 1064 Bischof von Augsburg (Lambert, Ann. Aug. MG. 
SS. 3, 127, Berthold, Ann. MG. SS. 5, 272; ders. Chron. MG. SS. 5, 428) 
und starb 1077 (Jaffé, Mon. Mog. 722). Seine Vita Mahumeti hat er einem 
darin nicht näher bezeichneten Godobaldus gewidmet (V. 72—83), von dem 
der Verfasser in hóchst ehrerbietigem und gehorsamem Tone spricht. Zweifel- 
los handelt es sich hier um den am 6. Oktober 1056 verstorbenen Diaconus 
und Propst von S. Martin, Godobaldus (Jaffé, Mon. Mog. 727; Böhmer, 
Fontes rer. Germ. III, 141), einen derzeitigen Kollegen und, wie der Ton der 
Widmung erweist, ehemaligen Vorgesetzten des Embrico, als dieser noch an 
der Domschule in Mainz tátig war, was aus der im Cod. Phill. Berol. und im 


1 G. Sello, Geschichtsbl. für Stadt u. Land, Magdeburg 1891, Bd. 26, Heft 2, 
S. 123 ff., bes. S. 130. 

* Migne a. a. O. druckt die Ausgabe von Beaugendre ab. Diese ist aber höchst 
unzuverlässig, da sie lediglich auf dem Pariser Cod. fußt (Nat. Bibl. Lat. 5129). 

* Sachsen u. Anhalt, Jahrb. der Histor. Kommission für d. Prov. Sachsen u. 
für Anhalt, Bd. 7, Magdeburg 1931, S. 109ff. — K. Strecker, u. d. W. „Embrico“ 
in W. Stammlers Verfasserlexikon des dt. MA., Sp. 563ff. 


Die Grabschrift Ottos I. im Magdeburger Dom 155 


Cod. Remensis 1073, 743 erhaltenen Vita auctoris zu schließen ist*. Somit 
ist die Vita Mahumeti wohl um 1040 anzusetzen. 

Wenn Kessel a. a. O., S. 121, Anm. 60, behauptet, daB die Verse ‚hier 
wie dort (d. h. in den Gesten und Annalen sowie auch bei Embrico) sehr gut 
in den Zusammenhang passen“, so trifft das für Embrico nicht zu, wenn man 
die Verse im weiteren Zusammenhang betrachtet. Es handelt sich nämlich 
in seinem Gedicht um einen vom Dichter erfundenen König von Libyen, 
der die christliche Kirche dort zu hoher Blüte gebracht hat und nun gestorben 
ist; der Tote wird von allen, besonders von der Geistlichkeit, tief betrauert 
(V. 413ff.): 

Et quisquis coluit rite Deum, doluit, - 
: Nam tutela boni fuit huius vita patroni, 
45 | Quo moriente pia corruit ecclesia. 
Sie lacrimis usque tristes casus utriusque, 
Regis et ecclesie, flentur ubique pie. 
Ergo nimis multo cum luctu rege* sepulto 
Signant in tumulo scripta sub hoc titulo: 
420 Tres luctus cause sunt hoc sub marmore clause, 
Rex, decus ecclesie, summus honor patrie. 


Embrico betont ausdrücklich, daB man in dem Verstorbenen den schmerz- 
lichen Verlust zweier Dinge, den des Kónigs und des Schützers der Kirche, 
beweinte. Diese Auswahl entspricht auch ganz dem Zweck, den der Dichter 
in bewuBtem Gegensatze zu dem auf diesen König folgenden Betrüger 
Mammutius im Auge hatte; denn dieser sollte zwar auch ein Kónig, aber 
zugleich ein Verderber der Kirche werden. Embrico hatte weder Grund 
noch auch die Absicht, in seinem Kónig einen Mehrer des Reiches zu preisen. 
Dieser Vorzug konnte aber bei Otto I. unmöglich außer acht gelassen werden; 
sah man doch in ihm neben der Größe und Ehre der Nation auch die der Kirche 
verkörpert. Der Zwiespalt zwischen V. 416f. und 420f. ist nur verständlich, 
wenn Embrico die zweifellos manchem gebildeten Laien und Kleriker be- 
kannten Verse nicht selbst erfunden, sondern übernommen hat und dort 
einfürte, wo sie zum groBen Teil gut in den Zusammenhang passen. 

Ist es nun aus stilistischen Gründen zulässig, das Epitaph in das letzte 
Viertel des 10. Jahrhunderts zu verweisen? Für einen so frühen Gebrauch 
des zweisilbig gereimten leoninischen Verses gibt es nicht viel Beispiele. 
Zwar begegnet uns diese Art bereits in der Grabschrift Ludwigs des Frommen 
in S. Arnulf zu Metz vom Jahre 840 gleich in sieben aufeinanderfolgenden 
Versen (F. X. Kraus, Die christlichen Inschriften der Rheinlande II, 1892, 
S. 102, Nr. 288): 

Imperii fulmen Francorum nobile culmen 
Erutus a seculo conditur hoc tumulo etc., 


doch ist das eine stilistische Entwicklungsstufe, die für die Mitte des 9. Jahr- 
hunderts unerhört ist, so daß ich die Echtheit des Epitaphs in der uns im 


* Wattenbach, Sb. d. Berl. Ak. 1891, S. 113; Val. Rose, Handschr. der Kgl. 
Bibl. zu Berlin, Bd. XII, 1893, S. 402. 
5 patre, Cod. Vindob. 303 (XIV saec.) u. cod. Erlang. 320 (XII. saec. ex.) 


156 Wilhelm Bóhm 


Mettensis 64 (G 76) überlieferten Form stark in Zweifel ziehe. Beweiskräftig 
für unsere Frage aber ist die Grabschrift des im Jahre 954 verstorbenen Erz- 
bischofs Friedrich von Mainz zu S. Alban (Kraus, a. a. O., S. 102, Nr. 288; 
Jaffe, Mon. Mog. 718; Böhmer, Regesten S. 107, XIII, 34): 


Cum constet vere, nihil ortum fine carere, 
Semper homo timeas ultima, ne pereas etc. 


Hier können wir ein offensichtliches und bisweilen gut gelungenes Streben 
nach zweisilbigem Reim feststellen, wenn auch von einer ausgebildeten Tech- 
nik noch keine Rede ist*. Es sind hier von 12 Versen schon 6 vorschrifts- 
mäßig leoninisch gereimt, während die übrigen wenigstens zweisilbigen Vokal- 
reim aufweisen. 

Es liegt daher weder ein formales Bedenken vor gegen die Ursprünglich- 
keit der Ottonischen Grabschrift, noch ein zeitliches und sachliches gegen die 
Übernahme durch Embrico. Das Epitaph ist also unmittelbar oder bald 
nach 973 anzusetzen. 


Tegel. Fritz Hübner. 
* Vgl. dagegen die Willigisinschrift, Kraus, a. a. O., S. 121, Nr. 261. 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen, 
6./16. November 1632. 


Über die Schlachtordnung der Schweden bei Lützen sind wir dank meh- 
rerer guter Pläne und genauer Quellennachrichten bis ins einzelne unter- 
richtet. Für die kaiserliche Aufstellung läßt sich dies leider nicht behaupten. 
Die ausnahmslos auf schwedischer Seite gestochenen Schlachtplüne! geben 
die kaiserliche Schlachtordnung niemals richtig wieder und die Quellen be- 
gnügen sich mit allgemeinen Angaben, welche wohl die taktische Form der 
friedlándischen Kampffront genügend deutlich erkennen lassen, — besonders 
seit der Auffindung von Holks Relation im geheimen Archiv in Kopenhagen. 
Über die Stellung der einzelnen Regimenter aber, die wir auf schwedischer 
Seite genau kennen, ist wenig beigebracht. 

Die ältere Literatur, der der Holkbericht unbekannt war, die daher die 
diesbezüglichen Angaben Diodatis und Gonzagas nicht nach ihrem wahren 
Werte einschätzen konnte, tappt völlig im Dunkeln. Einige Klarheit hat erst 
die Dissertation Karl Deutickes: „Die Schlacht bei Lützen“ gebracht, die 
für den Verlauf der Schlacht wohl einen Abschluß bedeutet. 

Über Einzelheiten der kaiserlichen Schlachtordnung hat dann Heinrich 
v. Srbik („Zur Schlacht bei Lützen und Gustav Adolfs Tod" Mitt. des In- 
stituts, Bd. 41) einiges festgestellt. Etwas mehr zu gewinnen, soll diese 
Arbeit versuchen. 


Die Quellen über die kaiserliche Schlachtordnung. 


An erster Stelle steht der Bericht Holks, von Hallwich in „Briefe und 
Akten zur Geschichte Wallensteins“ (Fontes rerum Austriacarum, Bd. 65, 


ii 1 Der kaiserliche Entwurf im Kriegsarchiv (s. U.) ist erst von Förster veröffent- 
icht. | 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 157 


S. 500—501) veröffentlicht. Holk als Feldmarschalleutnant hat in der Nacht 
vom 15. auf den 16. November die Aufstellung selbst geleitet und ist daher 
besonders zuverlüssig. Seine Angaben, die in allem den Eindruck voller 
Wahrhaftigkeit machen, lauten: 

„Des Herzogs Bataille war eine dreifache: 5000 zu Fuß in 5 Brigaden, 
inmitten* 2 Brigaden zu 1000 und 6 Kompagnien Reiter, 2 und 2 gemischt, 
zuletzt standen 5 Fahnen à* 500 Mann zu Fuß und 2 Eskadronen von (je) 
12 Kompagnien commandierten Volks zu Pferde. Nach Lützen in das Schloß 
und in das Dorf waren 400 Mann gelegt, obgleich man wohl 1000 vonnóten 
gehabt hätte; ebenso viele hätten billigerweise im Walde* zur linken Hand 
sein müssen, wenn man sie gehabt hätte. Auf jedem Flügel standen vor der 
Reiterei 150 Musketiere, auf dem rechten Flügel 36 Kornette und auf dem 
linken 36. Diese wurden vom rechten Flügel gleich mit 5 Kornetten sekun- 
diert, weil hier die Furie ihren Anfang nahm. Der Herzog kommandierte 
und führte selbst den rechten Flügel gegen (Bernhard von) Weimar; Holke 
der an Stelle eines Feldmarschalls kommandierte, den linken.“ 

Soweit Holk. Die Kaiserlichen standen also in drei Treffen: in erster 
Linie 3 Infanteriebrigaden zu 1000 Mann, dahinter 2 ebensolche, die offenbar 
hinter zwei grüBeren Intervallen des ersten Treffens standen, um sofort in 
die Front treten zu kónnen und drei kleine Reiterabteilungen zu 2 Kom- 
pagnien zur Unterstützung der Infanterie, wahrscheinlich einzelne Arkebusier- 
kompagnien. Das dritte Treffen bildeten zwei Reiterschwadronen zu je 12 
von ihren Regimentern detachierten (, commandierten“) Kompagnien, 
wohl gegen die Flügel zu gestellt, und die Infanteriereserve. Die Angabe: 
„5 Fahnen à 500 Mann“ ist dabei, wie schon Srbik in dem erwähnten Beitrag 
hervorhebt, sicher durch einen Abschreibfehler verdorben. „Fahne“ be- 
deutet Kompagnie und eine Infanteriekompagnie in voller Sollstärke zählte 
nur 300 Mann, — ein Stand, der im Jahre 1632 sicher nie mehr auch nur 
annähernd erreicht wurde. Es muß also heißen: „5 Fahnen mit 500 Mann.“ 

Die Reiterflügel der Schlachtordnung waren je 36 Kornette stark, zwi- 
schen und vor denen nach schwedischem Muster Musketiertrupps verteilt 
waren. Die am äußersten linken Flügel haltenden Kroaten hat Holk dabei 
als Irreguläre nicht eingerechnet. Außerdem bildeten 400 Musketiere die 
Besatzung von Lützen. 

Diodati, die zweite Quelle ersten Ranges auf kaiserlicher Seite äußert 
sich nach der Übersetzung bei Förster (Wallensteins Briefe II, Nr. 375, 
S. 295) wie folgt: 

„Bei der ersten Morgendämmerung hörte man, daß der König gegen uns 
in’s Treffen rücke und S. Durchlaucht gab seiner Seits folgende Anordnung: 
Rechts blieben in geringer Entfernung vom rechten Flügel drei Windmühlen, 
Lützen lag in der Fronte“, der linke Flügel breitete sich in das Feld aus. 
Die Artillerie war in der Fronte verteilt, welche 5 Abteilungen Infanterie 


2 d.h. im zweiten Treffen. 

* Abschreibfehler für „ mit“, s. U. 

* Das Schkölziger Holz. 

5 Dieser schwer deutbare Ausdruck bedeutet wohl, daB Lützen in die Schlacht- 
front einbezogen war, — keinesfalls „Zentrum‘‘, wie Droysen meint. 


158 ! Wilhelm Bóhm 
hatte, von zwei andern Abteilungen und einer in Reserve unterstützt. 
Gleicher Weise war die Kavallerie auf dem rechten und linken Flügel in 
Abteilungen aufgestellt, damit sie die eine und die andere Flanke der Armee 
bestens decken, nach Bedürfnis vorrücken und vereinigt mit der Infanterie 
den Feind angreifen könnte. Die ganze Armee überstieg die Zahl von 
12000 Mann nicht." 

Diodati bestátigt also in allen wesentlichen Punkten die Angaben seines 
Kameraden Holk. Er ist nur weniger ausführlich als dieser. 

Der dritte kaiserliche Bericht, den wir besitzen, ist eine Aufzeichnung 
über die Schlachtordnung allein. Wir haben es hier mit jenem Relations- 
auszug zu tun, der sich im Nachlaß des Grafen Montecuculi fand, wahr- 
scheinlich der an den König von Spanien erstatteten Relation des Marschese 
Gonzaga entnommen. Das Schriftstück liegt bei den Feldakten des Wiener 
Kriegsarchivs unter 1632 Fasc. 70 11/129 und wurde von Förster (Wallen- 
steins Briefe II, S. 300, Anm.) veröffentlicht. Khevenhüller hat den Auszug 
gekannt und im XII. Bande seiner Annales Ferdinandei, Sp. 194, wörtlich 
abgedruckt. Gonzaga bespricht zuerst die schwedische Schlachtordnung 
und fährt dann fort: 

„Friedländische Schlachtordnung. 


Der Herzog von Friedland hat des Königs in folgender Schlachtordnung 
(ob er gleich im Anfang nur m/12 Mann gehabt) erwartet. Der rechte Flügel 
stunde bey drei Windmühlen und der linke auf dem Felde, das Städtlein 
Lützen vor sich habend®. Die Artigleria wurde in Fronte ausgetheilet, welche 
in 5 Squadronen zu Fuß bestanden und von 2 und 1 risegno sustentiret. 
Die Reiterei wurde gleich auf dem recht- und linken Flügel dergestalt aus- 
geteilt, daB sie die ein und andern Squadronen der Armada bedecken und 
sich, wo es von nóten, avancieren und die Schwedischen zugleich mit dem 
Fußvolk angreifen können.“ 

Der Vergleich mit Diodati ergibt, daß Gonzaga völlig von dem Berichte 
des Generalquartiermeisters abhängt und selbst seinen Stil mit geringen 
Veränderungen übernimmt. 

Damit sind die kaiserlichen Berichte, die sich unmittelbar mit unserem 
Gegenstande befassen, erschöpft. Die schwedischen aber befinden sich 
über die Schlachtordnung ihrer Gegner in ziemlicher Unkenntnis, — ebenso 
übrigens die Kaiserlichen über die schwedische „Bataille“. Die meisten 
schwedischen Schlachtberichte erwähnen von der kaiserlichen Aufstellung 
überhaupt nichts oder geben nur einige Andeutungen. Allein die in den 
Graben der Straße Lützen—Ranstädt gelegten kaiserlichen Musketiere, 
welche die eigenen Berichte nicht erwähnen, sind den Schweden aufgefallen. 
Die fast gleichzeitige Frankfurter MeBrelation des Jacobus Frank von der 
Herbstmesse 1632 teilt zuerst Genaueres darüber mit. Von andern Berichten 
reden folgende über die kaiserliche Schlachtordnung: 

Bericht von Berlepsch an Johann Georg von Sachsen, zitiert nach Droysen: 
„Die Schlacht bei Lützen“, Forschungen zur Deutschen Geschichte V. S. 116. 


* So die Handschrift. Gonzaga hat seinen Gewährsmann offenbar mif verstan- 
den, denn Lützen deckte in Wahrheit die äußerste rechte Flanke Wallensteins. 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 159 


„Als Ihre Maytten nahe bey Lützen kommen, ist von den Mauern etwass 
auss Mussqueten gespielett worden; an der Seiten der Stadt haben sich 
4 Troppen Reuter sehen lassen, welche gantz stille gehalten. Über derselbigen 
ist eine Fronte von Reutern und Fußvolk bey den Windmühlen an der 
Stadt gestanden, worauff man dess Feindess Spiell von mehr ahn marchieren- 
den Volck klehrlich vernehmen können.“ 

Vor allem erfahren wir aus diesem Bericht, daß Wallenstein, gemäß der 
Anmarschrichtung des von Süden anrückenden Königs, der darauf genötigt 
werden sollte, in groBer Schwenkung Front gegen West-Nord-West zu machen, 
seine Armee vom rechten Flügel her aufbaute. Bis über die Windmühlen 
hinaus war die Aufstellung beendet, der linke Flügel befand sich, im Auf- 
marsch wie das klingende Spiel, das Berlepsch hörte, erkennen läßt. Ber- 
lepsch hat seine Beobachtung offenbar während des Aufschwenkens gemacht, 
zu dem die Schweden gezwungen waren, da der vorliegende Ort Lützen sie 
hinderte, dem Feinde auf die rechte Flanke zu fallen. Die „4 Troppen Reu- 
ter" stellen offenbar den rechten kaiserlichen Kavallerieflügel dar. Daß er 
aus 4 Schwadronen bestand, ist eine der wenigen brauchbaren Angaben auf 
schwedischer Seite. 

Die betreffende Stelle im Schlachtbericht des Swedish Intelligencer 
(IIL, S. 129—130), der aus den Berichten einiger bei den Kaiserlichen als 
Kriegsgefangene weilenden schottischer Offiziere schópft, ist nur eine er- 
weiterte Legende des beigegebenen Schlachtplanes, wird also besser bei 
dessen Besprechung erörtert. Er gibt Holk richtig das Komniando des linken 
Reiterflügels, irrt jedoch, wenn er Colloredo die Reiter des rechten Flügels 
führen läßt. Diese Stelle versah Wallenstein (den der Swedish Intelligencer 
in die Mitte stellt) anfangs selbst, wührend Colloredo erst nach dem Aus- 
scheiden Bertholds von Waldstein das Kommando des rechten Infanterie- 
zentrums übernahm. Fleetwood endlich, ein schottischer Oberst, der an 
seinen Vater einen leider nur in schlechter Abschrift erhaltenen, sehr guten 
Bericht sandte — er focht wahrscheinlich bei seinen Landsleuten in der 
Grünen Brigade —, sagt (Camden Miscellany, Bd. I, Nr. 5, S. 6) einfach, 
ohne Näheres feststellen zu wollen: 

„Ihe enemies army was ordered like ours, the Crabats haveing the lefte 
wynge. 

Soweit die geschriebenen oder gedruckten Quellen, die sich überhaupt 
näher mit der Kaiserlichen Schlachtordnung befassen. Ein noch größerer 
Unstern waltet über den erhaltenen 


Schlachtplänen. 


Alle, die wir kennen, bis auf einen einzigen, sind protestantisch-schwedi- 
schen Ursprungs. Auf kaiserlicher Seite ist nur einer vorhanden: derjenige, 
welcher im Original im Heeresmuseum, in zwei Kopien und einer Photo- 
kopie im Kriegsarchiv sich vorfindet. Zuerst veröffentlicht ist er von Förster 
als Anhang zum 2. Band seiner Briefe Wallensteins. 

In der Ablehnung dieses Planes ist, wie mir scheint, die neuere Literatur 
zu weit gegangen. Sicher ist er nicht von Wallensteins Hand, wie Förster 
behauptet. Wer die breit ausladenden Schriftzüge des Friedlünders gesehen 


160 Wilhelm Bóhm 


hat, kann nicht auf den Gedanken kommen, daB diese kleine, enge Schrift 
von ihm sein könne. Daß der Plan aber mit der Schlacht bei Lützen nichts 
zu tun habe, glaube ich nicht. Er zeigt in dem taktischen Aufbau der 
Schlachtfront eine so deutliche Verwandtschaft mit den Angaben Holks, 
daß schon daraus auf Beziehungen zu dem Treffen am 16. November ge- 
schlossen werden muß. Ferner stimmen die Namen der aufgeführten Regi- 
menter zu der Epoche der Schlacht, und eine Tatsache löst den Zweifel fast 
völlig. Am rechten Flügel zeigt der Plan das Fußregiment Chisa (Chiesa). 
Laut Brief Wallensteins an Gallas, Schönfeld, 8. November 1632 (Fontes 
rerum Austriacarum, Bd. 65, Nr. 1544) starb Oberst Chiesa Anfang No- 
vember und erhielt in der Person des Oberstleutnants Kehraus einen Nach- 
folger. In den Dispositionen Holks für die vor der Schlacht geplante Ver- 
teilung der Truppen in die Winterquartiere“ führt das Regiment noch ge- 
wohnheitsmäßig den alten Namen, in den nach dem 16. November entstande- 
nen Akten jedoch stets den neuen (Kehraus). Der Plan kann also jedenfalls 
sich auf kein Ereignis beziehen, das nach der Schlacht bei Lützen stattfand. 
Dazu kommt die Tatsache, daß der Plan wahrscheinlich aus dem Besitze 
Pappenheims stammt. Er ist zweimal gefaltet aufbewahrt worden und an 
drei Stellen, die sich infolge Durchschlagens der Flüssigkeit auf fünf ver- 
mehrten, mit Blut befleckt. Diese Blutflecke lassen sich in Beziehung setzen 
mit den Blutflecken auf der bekannten Order Wallensteins an Pappenheim 
vom 15. November. 

Die Aufstellung zeigt zwei stark zurückgezogene Reiterflügel, und zwar 
am linken Flügel von außen nach innen: 6 Schwadronen: 1. Kroaten; 2. Drost; 
3. Lüdela (— Leutersheim?); 4. Lamboi; 5. Benighauss undt Spar; 6. Gótz. 
Den rechten Flügel bilden ebenfalls 6 Schwadronen: von auBen nach innen: 
1. Kroaten; 2. Loh; 3. Hagen; 4. Defour; 5. Terscha Picolhuomini; 6. Holk. 

Das Zentrum steht in vier Treffen. Im ersten stehen 6 Infanteriebrigaden, 
und zwar von links nach rechts: 1. Regiment Comargo; 2. Reinach; 3. Ge- 
neral-Zeugmeister (Breuner); 4. Grana, Contreras; 5. Chisa, Colloredo; 
6. Wallenstein Altester (Berthold). 

Unmittelbar dahinter stehen 4 kleine Kavalleriekörper, links zwei vom 
Arkebusierregimente Loyers, rechts zwei ebensolche vom Regimente Breda 
(Bredow). 

Im zweiten Treffen stehen im Zentrum 4 Infanteriebrigaden: von links 
nach rechts: 1. Moriana (Pallant — Moriamez; 2. Jung-Breuner; 3. Palant. 
L. H. Breuner, Sehwis (De Suys), Marchstal (Mansfeld). Dahinter, zwischen 
Moriana und Jung-Breuner steht das Fußregiment Goltz, zwischen Jung- 
Breuner und Palant Gil de Has. Im 4. Treffen endlich halten 2 Reiter- 
schwadronen, links Gustitz (Goschütz), rechts Westrum und Westfahlen. 
Der Plan zeigt also dieselben taktischen Grundsätze, wie Holks Relation 
und sämtliche Regimenter Pappenheims. Von den Friedländischen fehlen 
die Infanterieregimenter Thun, Tréka, Baden, Alt-Sachsen und Diodati 
und Tontinellos Arkebusiere. 


? Kriegsarchiv Feldakten (F. A.) 1632, Fasc. 70, 11 ad 127a, b; Fontes rerum 
Austriacarum, Bd. 65, Nr. 1578. 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 161 


Noch sei erwähnt, daB, vom Regiment Bredow abgesehen, die Pappen- 
heimische Kavallerie auf dem linken Flügel steht, wo sie tatsüchlich ein- 
gegriffen hat. Wahrscheinlich hat Pappenheim den Plan vor seinem Ab- 
marsch nach Halle erhalten, um für den Fall einer Schlacht über die Stellung 
unterrichtet zu sein, die seine Truppen einnehmen sollten. Daraus erklärt 
es sich wohl auch, daß nicht alle Regimenter angegeben sind. 

Da Pappenheim mit der Kavallerie eine Stunde nach Kampfbeginn ein- 
traf, seine Infanterie aber überhaupt zu spät kam, so konnte der Plan nicht 
durchgeführt werden. Was er uns gibt, ist die zurückgezogene Stellung der 
Reiterflügel, die ja auch den Aufgaben der von Wallenstein beabsichtigten 
Defensivschlacht, in der sie vor allem als Flankenschutz zu wirken hatten, 
am besten entsprach. 

Bei den schwedischen Schlachtplünen lassen sich drei Traditionsgruppen 
unterscheiden. Die zweifellos ülteste wird vertreten durch eine Skizze im 
Stockholmer Kriegsarchiv, von dem das Wiener eine Photokopie besitzt. 
Sie macht den Eindruck als sei sie von einem deutschen Kampfteilnehmer 
(die Legende ist deutsch) kurz nach der Schlacht aus dem Gedächtnisse an- 
gefertigt worden. 

Wir haben es hier mit einer Bleistiftskizze zu tun, die allem Anscheine 
nach auf einem rechteckigen groben Papier angefertigt wurde und nach der 
Längsseite verläuft. Die einzelnen Truppenabteilungen sind etwa nach Art 
von Akkorden der Notenschrift durch Kombination mehrfach querver- 
bundener Kreise und Striche bezeichnet, und zwar bei beiden Parteien ohne 
Treffeneinteilung. Bei den Schweden ist der Standort einzelner Heerführer, 
so des Königs, Bernhards von Weimar, Brandensteins, beiläufig angegeben, 
im übrigen ist der Maßstab der Zeichnung für die Schrift zu klein, weshalb 
die Beischriften nur teilweise stimmen. Das Ganze ist sehr flüchtig entworfen 
und hat nur für die Artilleriestellungen einen gewissen Quellenwert. 

Die zweite Traditionsgruppe ist die größte. Sie umfaßt den Plan von 
Hulsius, den der Frankfurter Meßrelationen, des Theatrum Europaeum, 
und seltsamerweise auch der Annales Ferdinandei. Auch der von Harte 
(„Das Leben Gustav Adolfs des Großen, Bd. II.) mitgeteilte Dankaerzerische 
Plan weicht nur unwesentlich von den anderen Vertretern dieser Gruppe ab. 

Die schwedische Schlachtordnung ist auf diesen Plänen im allgemeinen 
richtig angegeben. Bei den Kaiserlichen sind zwei Reiterflügel dargestellt, 
jeder zu 4 Schwadronen, zwischen die Dankaerzer auf dem rechten Flügel 
Musketiere stellt. Im Zentrum stehen vier Infanterieterzios, wie sie noch 
bei Breitenfeld von Tilly formiert worden waren. Die Pläne wurden nach 
einem hergebrachten Schema gestochen und gehen wahrscheinlich auf die 
verlorene Karte Gablers zurück. (Deuticke, Schluß der Einleitung.) 

Die dritte Gruppe hat wieder nur einen Vertreter, den Plan im Swedish 
Intelligencer. 

Auch auf ihm ist die schwedische Schlachtordnung richtig dargestellt. 
Die Kaiserlichen stehen ohne Treffeneinteilung in einer Linie. Ihr rechter 
Flügel besteht aus 3 Kroatenschwadronen am äußersten Ende, weiter 3 Kü- 
rassierregimenter, vor denen die Windmühlenbatterie steht. Daran schließen 
sich 4 Fußregimenter, das Kürassierregiment Piccolomini, das ganz in der 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 11 


162 Wilhelm Bóhm 


Mitte steht, abermals 4 Fußregimenter, mit Reitern gemischt, 2 Reiter- 
regimenter mit Musketieren, 3 Kürassieregimenter und endlich am äußersten 
linken Flügel 1 Kroatenschwadron. An Geschützen stehen 2 etwas links 
von der Windmühlenbatterie, wo Reiter und Infanterie aneinanderstoBen 
und 6 vor dem Zentrum, gleich links von Piccolomini. 

Deuticke vermutet, daB dieser Plan auf Oberst Fleetwood zurückgehe, 
doch kann ich mich dieser Vermutung nicht anschlieBen. Hátte der schot- 
tische Oberst von der kaiserlichen Schlachtordnung eine derartige Vorstellung 
gehabt, so hätte er unmöglich schreiben können, daß die Kaiserlichen ähn- 
lich wie die Schweden aufgestellt waren. Auf dem Plan ist ihre Ordnung 
der schwedischen so unähnlich, wie möglich. Wahrscheinlicher ist es, daß 
jene schottischen Offiziere, die der Schlacht als Kriegsgefangene im kaiser- 
lichen Lager beiwohnten, einige Angaben machten. Sie berichteten wohl, 
daB im Ganzen 8 Infanterieabteilungen (7 Frontbrigaden und 1 Reserve) 
formiert worden seien, daß Kroaten am .äußsrsten linken Flügel standen 
und daß unter die Reiter nach schwedischem Vorbild Musketiere gemischt 
worden seien. Die „2 Infanterieregimenter mit Reitern“ sind wahrschein- 
lich ein Niederschlag der bei Holk angegebenen Tatsache, daB 6 Reiter- 
kompagnien knapp hinter der Infanterie standen. Die seltsame Stellung des 
Regiments Piccolomini im Zentrum kónnte zwei Gründe haben. Es war 
offenbar bei den Schweden bekannt, daß Wallenstein einmal an der Spitze 
dieses Regiments focht. DaB dies bei der Abwehr des groBen schwedischen 
Flankenangriffs gegen den linken kaiserlichen Flügel geschah, mußte in 
der gegnerischen Überlieferung um so eher verblassen, als ja die Angriffs- 
bewegung selbst in den Quellen nicht deutlich zum Ausdruck kommt und 
von Deuticke erst mühsam kombiniert werden mußte. Und da man sich 
den Feldherrn gern im Zentrum denkt, so wurde das Regiment, dessen Zu- 
sammenhang mit Wallenstein bekannt war, vom Verfasser des Planes ohne 
weiteres dorthin gestellt. Überhaupt hat dieser die ihm zugekommenen 
Nachrichten ganz kritiklos verwertet. Besser ist der Stich in bezug auf 
die Stellung der Artillerie. Die Batterie bei den Windmühlen ist richtig zu 
9 Stück angegeben. Auch die Batterie vor dem Zentrum steht am richtigen 
Ort, ist aber zu schwach angenommen. Wallenstein besaß im ganzen 21 Ge- 
schütze, nicht 17 wie auf dem Plan. 


Heeresstárke und beteiligte Truppenkórper. 


Diodati gibt den Kaiserlichen am Beginne der Schlacht 12000 Mann im 
Ganzen, der Reiterei allein 4000 Mann. Holks Relation ergibt nach Korrek- 
tur des erwähnten Abschreibfehlers an Infanterie 7500 Mann, was eine 
Spannung von 500 Mann gegenüber dem Ansatze Diodatis bedeuten würde. 
Rechnet man jedoch die 400 Musketiere in Lützen gesondert, so sind nur mehr 
100 Mann unterzubringen. Sie fielen offenbar beim Abrunden der Einzelziffern 
fort. Man kann also die Stárke der Kaiserlichen vor Pappenheims Ankunft 
auf 8000 Mann Infanterie und 4000 Reiter mit 21 Geschützen veranschlagen. 

Holks Relation gibt die Anzahl der regulären Reiterkompagnien mit 
2.36+2.12+6 = 102 an. Dazu kommen 3 Kroatenregimenter (Isolani, 
Corpes, Beygott). Ersteres hatte am 5. Dezember“ 14—16 Kompagnien, 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 163 


die beiden andern kónnen zu 10 Kompagnien angenommen werden. Es 
fochten bei Lützen also 34—36 Kroatenkompagnien und 136—138 Reiter- 
kompagnien im Ganzen. Eine Kompagnie war damals nicht stürker als 
30 Mann, wie etwa einen Monat vor der Schlacht der Kurfürst von Bayern 
angibt, der seine 42 Reiterkompagnien auf 1200 Mann schätzt. Bei Zu- 
grundelegung dieser Kompagniestürke ergeben sich für die 136—138 Kom- 
pagnien tatsächlich 4080—4140 Mann. 

Über die an der Schlacht beteiligten Regimenter ist ebenfalls Holk die 
Hauptquelle. In seinen schon erwähnten „Dispositionen zum 14. Novem- 
ber'* (s. S. 160 Anm.) gibt er einen genauen Plan für die Winterquartiere der 
einzelnen Regimenter. An der Spitze steht unter dem Titel „Pappenheimisch 
Zugordnung" das nach Halle bestimmte Korps dieses Generals, die Infan- 
terieregimenter Pallant, Pallant-Moriamez, Freiherr von der Goltz, Reinach, 
Gil de Haes und den Rest von Würzburg unter Hauptmann Willy umfassend. 
Da, wie unten noch zu erörtern sein wird, ein Infanterieregiment damals 
nieht stárker als 500 Mann war, so führte Pappenheim etwa 2700 Mann In- 
fanterie. Seine Reiterei zählte 2 Arkebusierregimenter (Lamboy und Bönnig- 
hausen) 2 Kürassierregimenter (Sparr und Bredow), 2 Kroatenregimenter 
(Orossy und Batthyani) mit zusammen 24 Kompagnien, ferner 4 Kompagnien 
Polen, 3 Kompagnien Pappenheimdragoner (,,Pappenheimisch Rennfahn‘‘) und 
4 Kompagnien Merodedragoner (,, Merodes Obwacht'*). Regiment Lamboy hatte 
nach einem Bericht des schwedischen Generalleutnants Grafen Baudissin an 
Gustav Adolf vom 19. Juli, dem eine Truppenübersicht des damals noch in 
Westfalen operierenden Korps Pappenheims beiliegt (Arkiv till uplysning om 
Svenska krigens och krigsindraettningers historia Bd. II, S. 549) 6 Kompagnien, 
die andern regulären Regimenter werden den Normalstand von 10 Kompagnien 
gehabt haben. Im ganzen zählte die Pappenheimische Kavallerie also 
71 Kompagnien oder etwa 2100 Mann. Dazu kamen nach dem „Extrakt 
Schreiben aus Berlin" vom 14./24. November (Arkiv, Bd. II) 6 Geschütze. 

Auf die „Pappenheimisch Zugordnung" folgen in Holks Dispositionen 
einige in Westfalen zurückgebliebene Truppen, Werbungsvoranschläge, 
endlich die Übersicht über die als Winterquartiere in Aussicht genommenen 
Orte in Sachsen und die einzulegenden Regimenter. Demnach nahmen an 
der Schlacht folgende reguläre Reiterregimenter teil: 


Arkebusiere: 
1. Leutersheim 6 Komp. nach Baudissin (s. o.). 
2. Tontinello 5 ,„ ^ 3: 
3. Westfalen 6 „ R - 
4. Landdrost v. Dringenberg 10 „, » 5 
5. Loyers 0. „ ? 
6. Goschütz 5 „ ? 
7. Hatzfeld 6 „ 2 
8. Hagen 11 „ laut Brief Wallensteins an Holk, 


F. A. 19/29. 
55 Arkebusierkompagnien. 


* Holks Dislokationsübersicht an Wallenstein, F. A., 12/ad 213. 
11* 


t 


164 Wilhelm Bóhm 


Kürassiere: 
1. Piccolomini 14 Komp. Silvio Piccolominis Brief erwähnt 
9, Holk, Diodati und Gallas 
5 Kompagnien. Außerdem 2 
beim Korps Dow in Schlesien 
nach F. A. 11/ad 126. 
9. Des Fours 7 „ 3 Komp. bei Dow. 
3. Gótz 5 » 9 » 57 » . 
4. Lohe 4 g Z 
5. Holk 5 „ 7 
38 Kürassierkompagnien. 
Dragoner: 
Tréka 4 Komp. 90 Mann = 3 Komp. bei Ilow. 


Die Dragonerregimenter pflegte 
man zu höchstens 7 Komp. zu 
formieren. 


Dazu kommt das Regiment Westrum, das sich sonst nirgends, auch nicht 
in Wredes „Geschichte der k. u. k. Wehrmacht" nachweisen läßt, jedoch im 
Schlachtplan des Heeresmuseums erscheint. Ferner findet sich in dem Ver- 
zeichnis gefallener und verwundeter Offiziere des „Gründlicher und ausführ- 
licher Bericht, wie und was Gestalt die ... Schlacht ... bei Lützen 
den 16. Novembris dises 1632. Jahres abgelaufen. Getruckt zu München 
im Jahr MDOXXXII" (zitiert nach: Gedruckte Relationen zur Schlacht 
bei Lützen), ein Oberst Westrum unter den Toten. Gibt man seinem Regi- 
ment — wahrscheinlich Kürassiere — 5 Kompagnien, so ergibt sich die 
Summe von 102 Kompagnien. 

An Infanterie waren folgende Regimenter beteiligt: Zeugmeister Breuner, 
Alt-Breuner, Jung-Breuner, Rudolf Colloredo, Marchese di Grana, Markgraf 
von Baden (von diesem Regiment standen 2 Kompagnien bei den Besatzungs- 
truppen am Oberrhein), Kehraus (Chiesa), Alt-Sachsen, Comargo, Berthold 
von Waldstein, de Suys, Contreras und der in Altenburg stationierte Teil 
von Tréka. Dazu tritt das Regiment des Generalquartiermeisters Giulio 
Diodati, das Wrede erst seit 1633 kennt, auch Holk nennt es nicht, da es 
offenbar in Lützen selbst liegenbleiben sollte. Es erhielt aber laut Fontes 
rerum Austriacarum, Bd. 65, Nr. 1668, 6094 Gulden Belohnung. Vielleicht 
wurde es erst 1633 gemustert. Von dem zum Pappenheimschen Korps ge- 
hörigen Regimente Reinach waren 150 Musketiere zurückgeblieben und 
bildeten am 15. November zusammen mit ebensovielen von Comargo die 
Besatzung des Schlosses Weißenfels. Beim Anmarsch des Königs von Rudolf 
Colloredo herausgezogen, war diese Truppe am Schlachttage wahrscheinlich 
bei der Verteidigung der Stadt Lützen tätig®. 

Die Sollstärke eines Infanterieregiments betrug 3000 Mann. Die Division 
der Gesamtstärke der Infanterie (3000 Mann) durch die Zahl der Regimenter 


* Die Angabe Holks: „Weißenfels von Comargo und Reinach 300 Mann“, 
verdient wegen der amtlichen Stellung des Gewährsmannes den Vorzug gegenüber 
Diodatis „100 Musketieren“. 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 165 


(1332) ergibt jedoch die Durchschnittsstärke von 592 Mann. Wahrschein- 
lich sind sogar nur 500 Mann auf ein Regiment zu rechnen, bis auf Zeug- 
meister Breuner, das bei der hohen Belohnung, die es erhielt (12316 Gulden) 
stárker gewesen sein muB. Das Regiment Diodati, das, wie erwühnt, 6094 Gul- 
den Belohnung erhielt, verlor von einer Gesamtstärke von 10 Offizieren 
588 Mann 3 Offiziere 96 Mann an Verwundeten, wozu nach dem gewóhnlichen 
Verháltnis noch etwa 30 Tote zuzuschlagen sind. Das Regiment Zeugmeister 
Breuner hat also seine Belohnung von 12316 Gulden mit einem Verlust von 
etwa 250 Mann erkauft, was nur ein starkes Regiment ertragen kann, ohne 
„reformiert“ zu werden. Zeugmeister Breuner wird also etwa 1000 Mann 
stark gewesen sein — so stark, wie Tréka, dessen eine Hälfte wahrscheinlich 
die 500 Mann Infanteriereserve stellte, während die andere zusammen mit 
7 Kompagnien von Thun (3 Kompagnien dieses Regiments standen beim 
Korps Gallas in Ostsachsen) und dem Regimente Mansfeld in Eilenburg lag. 
Diese Truppen, zusammen etwa 1500 Mann stark, trafen nach 2 Uhr auf dem 
Schlachtfelde ein und wurden im Kampf um die Windmühlenbatterie ein- 
gesetzt. Von Fleetwood wurde die Truppe für Pappenheims Infanterie 
gehalten, — er vermutet daher auch Merode als Kommandanten. Die Regi- 
menter aus Halle trafen aber erst am Ende der Schlacht ein, weshalb nur 
die Eilenburger Regimenter in Frage kommen. 


Stellung einzelner Regimenter. 
I. Infanterie. 


Da, wie wir gesehen haben, die Quellen über die Einzelheiten der kaiser- 
lichen Schlachtordnung schweigen, so ist es nötig, ihre sonstigen Angaben 
zu kombinieren, um zu genaueren Ergebnissen zu gelangen. Als Plattform 
dazu kann die ja genau bekannte schwedische Schlachtordnung dienen. 
Ist nachzuweisen, daß ein bestimmtes kaiserliches Regiment gegen ein ge- 
nanntes schwedisches focht, so ist die Stellung des ersteren damit festgelegt. 
Es sei daher die schwedische Schlachtordnung kurz geschildert. 

Die Schweden, etwa 16500 Mann (davon über 5000 Reiter) und 60 Ge- 
schütze stark, standen in zwei Treffen, jedes mit einem Infanteriezentrum 
und zwei Reiterflügeln. Herzog Bernhard von Weimar kommandierte den 
linken, der Kónig den rechten Flügel, Generalleutnant Kniphausen das 
zweite Treffen. Im ersten Treffen standen von links nach rechts die Reiter- 
regimenter Courville, Livlánder, Kurlánder, Karberg und die zwei Regimenter 
Bernhards von Weimar; die grüne, die blaue, die gelbe und die schwedische 
Infanteriebrigade mit der Infanteriereserve unter Oberst Hinderson mitten 
hinter sich; das smálándische, ostgotische, upländische, ingermanländische, 
westgotische und finnische Kavallerieregiment. Zwischen die Reiterregimenter 
waren Musketiertrupps eingeschoben. Der König befand sich bei den smä- 
lándischen Kürassieren des Obersten Stenbock. 

Das zweite Treffen bildeten, wieder von links nach rechts, die Kavallerie- 
regimenter Stechnitz, Steinbach, Brandenstein, Lówenstein, Ernst von An- 
halt und Hoffkirch, die Infanteriebrigaden Mitzlaff, Thurn, Wilhelm von 
Weimar und Kniphausen, das hessische Reiterregiment Uslar, die hessische 
Kavallerieschwadron, die Kavallerieregimenter Beckermann, Bulach, Gold- 


166 Wilhelm Bóhm 


stein und Herzog Wilhelm. Genau in der Mitte, zwischen den Brigaden Thurn 
und Wilhelm von Weimar stand die Kavalleriereserve unter Oberst Oehme. 

Eine weitere Unterstützung bedeuten die Belohnungsanweisungen 
Wallensteins, besonders für die Infanterie. In diesen Anweisungen!® erscheinen 
von den 13 ½ Infanterieregimentern 11: die 3 Breunerischen, Comargo, 
Diodati, Alt-Sachsen, Baden, Kehraus, Colloredo, Berthold von Waldstein 
und Marchese di Grana. 9 Regimenter kommen für die 5 Brigaden des ersten 
Treffens in Betracht, die sicher sámtlich ausgezeichnet wurden. Zeugmeister 
Breuner bildete für sich eine Brigade, die andern 4 Brigaden bestanden aus 
je 2 Regimentern. 

Zwei der belohnten 11 Regimenter bildeten zusammen mit den 2 unbelohnt 
gebliebenen (De Suys und Contreras) die beiden Brigaden des zweiten Treffens. 
Das Halbregiment Tréka stand wahrscheinlich in Reserve. 

Untersucht man die Belohnungen genauer, so gelangt man zu einer recht 
auffallenden Entdeckung. Mehrmals erhalten zwei Regimenter nahezu die 
gleiche Belohnung: Alt-Breuner 7100 Gulden, Jung-Breuner 6982 Gulden; 
Comargo und Kehraus je 10000 Gulden; Berthold von Waldstein 8868, 
Colloredo 9278 Gulden; endlich in etwas weiterem Abstande: Alt-Sachsen 
8508 Gulden, Baden 8064 Gulden. Aus dem Rahmen fallen nur 3 Regimenter. 
Zeugmeister Breuner erhielt 12316 Gulden, Diodati 6094 Gulden, Marchese 
di Grana nur 4094 Gulden. 

Diese Übereinstimmungen sind deshalb von Bedeutung, weil die Beloh- 
nung einen Schluß auf die Verlustziffer und damit auf die Tätigkeit des 
betreffenden Regiments zuläßt. Regimenter, die annähernd die gleiche Summe 
erhielten, werden beisammen gestanden sein, zusammen eine Brigade ge- 
bildet haben. Diejenigen, die am wenigsten erhielten, standen im zweiten 
Treffen. Dies sind Diodati und Marchese di Grana. Für das erste Treffen 
verbleiben also die 3 Breunerschen Regimenter, Alt-Sachsen, Baden, Kehr- 
aus, Comargo, Waldstein und Colloredo. 

Srbik hat überzeugend nachgewiesen, daß der Musketier, welcher den 
Arm Gustav Adolfs mit seiner Kugel zerschmetterte, einem der Breuner- 
schen Regimenter angehört hat. Dieses Regiment muB also dem smälän- 
dischen Kürassierregimente Stenbock gegenüber, dort gestanden sein, wo 
das kaiserliche Infanteriezentrum an den linken Reiterflügel schloB. Dieser 
Teil der Schlachtlinie besaB keine eigene Artillerie, Zeugmeister Breuner 
ist dort also nicht anzunehmen. Alt- und Jung-Breuner aber standen, wie 
oben erklärt, in einer Brigade, die demnach als die am weitesten links stehende 
zu betrachten ist. Das ältere Regiment stand wahrscheinlich innen, Jung 
Breuner erhielt die Anlehnung an die Kavallerie. 

Auf diese oberösterreichisch-steirische Brigade folgte ein Intervall, hinter 
dem eine gleichstarke Brigade im zweiten Treffen stand. Aus welchen Regi- 
mentern bestand sie? 

Diodati spricht gegen das Ende seines Berichtes von der tapferen Haltung 
Bertholds von Waldstein bei den Windmühlen. Aus dieser Darstellung geht 


19 F. A. 11/ad 187, 12/220, ad 220, Fontes rerum Austriacarum, Bd. 65, Nr.1616, 
1665, 1667, 1668, 1642. 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 167 


hervor, daß Waldstein das Kommando über die rechte Hälfte des Infanterie- 
zentrums führte. Dann fährt er fort: „Dasselbe tat auf seiner Seite (Or.: 
dalla sua parte) der Marchese di Grana." Dieses „dalla sua parte“ wird wohl 
taktisch zu verstehen sein, d. h. der Marchese kommandierte das linke 
Zentrum, wie Berthold von Waldstein das rechte. Da das Regiment Grana 
wegen seiner geringen Belohnung ins zweite Treffen zu verweisen ist, so 
kann es nur zu der Nachbarbrigade von Alt- und Jung-Breuner gehört haben, 

Das zweite Regiment dieser Brigade ist schwerer zu bestimmen. Diodati 
stand, das geht aus der ganzen Art seines Berichtes hervor, gewiß auf der 
rechten Seite der Schlachtfront. Der Kampf um die Windmühlen steht 
ihm im Vordergrunde. So bleiben für das zweite Treffen des linken Zentrums 
de Suys und Contreras zur Wahl. Da es aber offenbar das Bestreben der 
kaiserlichen Heeresleitung war, national einheitliche Brigaden zu bilden, 
so wird der Marchese di Grana seinen Landsmann, den Grafen Contreras 
neben sich gehabt haben. 

Südlich des Intervalls stand der dritte kaiserliche Infanteriekörper, 
mitten im Zentrum. Hier, an der Stelle der stärksten Ansammlung von 
Artillerie ist Zeugmeister Breuner anzunehmen. Das Regiment war schon 
auf dem Pappenheim mitgebenen Plan für diesen Platz in Aussicht genommen, 
seine Stellung ist mithin die einzige, bei welcher die ursprünglichen Ab- 
sichten verwirklicht wurden. 

Die 4. Brigade stand der schwedischen blauen gegenüber. Nach dem 
Berichte des Grafen Gallas an König Ferdinand von Ungarn (Förster, Wallen- 
steins Prozeß, S. 94—96, Anm.) hatte an der Vernichtung dieser Brigade das 
Regiment Comargo den Hauptanteil. Mit ihm focht, wie die gleiche Belohnung 
wahrscheinlich macht, Kehraus (Chiesa). Die 5. Brigade muß vorerst außer 
Betracht bleiben. Die 6., wieder im zweiten Treffen, muß aus den Regi- 
mentern Diodati und De Suys bestanden haben (s. o.). Die 7. und letzte 
Brigade umfaßte das Regiment Bertholds von Waldstein, der, wie erwähnt, 
an dieser Stelle das Infanteriekommando innehatte. Der Swedish Intelli- 
gencer aber nennt Rudolf Colloredo, der im schwedischen Heere großes 
Ansehen genoß, wiederholt als Kommandant des rechten Flügels. Wahr- 
scheinlich hat er Waldstein nach dessen Verwundung vertreten und sicher- 
lich stand sein Regiment in derselben Brigade, wie das des Neffen des Feld- 
herrn. 

So bleiben für die 5. rechts an Comargo-Kehraus anschließende Brigade 
nur die zwei auf Rechnung deutscher Reichsfürsten geworbenen Regimenter, 
Alt-Sachsen und Markgraf von Baden. 

An der äußersten rechten Flanke der Kaiserlichen, noch jenseits des 
Kavallerieflügels lag der Ort Lützen. Seine Besatzung bildeten 400 Mus- 
ketiere, je 150 von Comargo und Reinach, 100 von einem dritten Regiment, 
wahrscheinlich Berthold von Waldstein. 


Kavallerie. 
Bei der Kavallerie ist unsere Aufgabe besonders schwierig, da es mir leider 
nicht gelang, die Druckschrift, welche die begründeten Urteile Wallensteins 
über die flüchtig gewordenen Reiteroffiziere (,,Des durchleuchtigsten Fürsten 


168 Wilhelm Bóhm 


Ferdinandi des Andern, sowie des Herzogs von Mecklenburg-Friedland ... 
vrtheilen ...) enthält, aus Berlin zu erhalten. Glücklicherweise gehören von 
den bestraften Regimentern zwei (Bónnighausen und Sparr) zum Korps 
Pappenheims, nur das dritte (Hagen) war schon bei Beginn der Schlacht 
anwesend. Über die Tütigkeit des rechten Reiterflügels schweigen die Quellen 
fast ganz. Belohnungen erhielten von den am Anfang der Schlacht anwesen- 
den Regimentern Piccolomini (4650 Gulden), Holk (2850 Gulden), Götz 
(2690 Gulden), Trékadragoner (2660 Gulden), Des Fours (2570 Gulden), 
Loyers (1300 Gulden), Goschütz (750 Gulden). 

Wenn wir mit der Zusammensetzung der Reiterflügel beginnen, so ist zu- 
nächst zu wiederholen, daß sie je 36 Kompagnien in 4 Schwadronen stark waren. 
Links kam als 5. Schwadron die gesamte Masse der Kroaten, etwa 34—36 Kom- 
pagnien, hinzu. Jede der regulären Schwadronen war also 9 Kompagnien stark. 

Über den linken Flügel, vor dessen Front der Schwedenkönig fiel, sind 
wir am ehesten in der Lage, Genaueres feststellen zu können. 

Srbik hat es sehr wahrscheinlich gemacht, daß im unmittelbaren Anschluß 
an das Breunersche Infanterieregiment, von dem der erste Schuß auf den 
König abgegeben wurde, das Kürassierregiment Des Fours stand, da Graf 
Des Fours eine verlorengegangene, aber wahrscheinlich durch Khevenhüllers 
Erzählung auf uns gekommene Relation über das Ende des Königs erstattete. 
Mit ihm in der gleichen Schwadron stand das Regiment Götz, dessen Oberst- 
leutnant Falkenberg auf den König schoß und gleich darauf selbst fiel. Die 
2. Schwadron bestand aus Holks Kürassieren — denn ein Holkischer Trom- 
peter beteiligte sich nach dem eigenen Zeugnis seines Obersten an der Plün- 
derung der Leiche Gustav Adolfs — und wahrscheinlich den Dragonern 
Trekas, die Holk in engem Zusammenhange mit seinem eigenen Regiment 
nennt. Über die dritte Schwadron läßt sich nichts Sicheres feststellen. Am 
ehesten kommt Lohe dafür in Betracht, dessen Oberst sich unter den Toten 
findet. Die 4. Schwadron aber läßt sich genau feststellen. Sie war die Nach- 
barschwadron der Kroaten, die die rechte schwedische Flanke umritten, über 
den feindlichen Troß herfielen und nach heftigem Kampfe geworfen wurden. 
Dabei rissen sie nach Angabe der ,,vrtheilen" (zitiert nach Deuticke) das 

Regiment Hagen, das wegen dieses Verhaltens dezimiert und aufgelöst 
wurde, mit sich fort. 9 von den 11 Kompagnien dieses Regiments bildeten 
also die äußerste reguläre Schwadron des linken Flügels. 

Dieselbe Stellung auf dem rechten Flügel, also Lützen zunächst, müssen 
9 Kompagnien von Piccolomini gehabt haben. Denn sie können noch nicht 
im Gefechte gewesen sein, als der schwedische Flankenangriff auf den linken 
Flügel erfolgte und sie dahin zu Hilfe gerufen wurden. Denn das Verschieben 
bereits engagierter Truppenteile ist ja unmöglich. Die 5 übrigen Kompagnien 
dieses Regiments aber müssen zu der rechter Hand stehenden der beiden 
,auskommandierten" Schwadronen hinter dem Zentrum gehört haben. 
Anders wäre die Angabe Diodatis, daß Piccolomini an der Vernichtung der 
blauen Brigade beteiligt gewesen sei, nicht zu erklären. Eine Bestätigung 
findet sich übrigens bei Gallas, der diesen Kampf vom Regiment Comargo 
und 5 Kompagnien Reitern durchführen läßt. Diese wurden dann ebenfalls 
dem bedrohten linken Flügel zu Hilfe geschickt. 


Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 169 


Unmittelbar neben und vor den obenerwähnten 9 Kompagnien Picco- 
lomini scheint das Arkebusierregiment Goschütz gestanden zu haben. Denn 
bei diesem Regimente auf dem „linken“ (sicher Verwechslung für rechten“) 
Flügel, kam das ausgerissene Regiment Hagen zum Stehen. Es muB also, 
da die Reiterflügel sicherlich, wie auf dem Plan im Heeresmuseum, etwas 
zurückgezogen waren, hinter der Front entlang galoppiert sein, bis es auf 
Goschütz traf. Schwadronsnachbar dieses Regiments war wahrscheinlich 
Loyers, mit dem zusammen es in den Dispositionen Holks und bei den Be- 
lohnungen genannt wird. 

Die beiden inneren Schwadronen des rechten Flügels. In Betracht 
kommen die Arkebusierregimenter Westfalen, Landdrost von Dringenberg 
(im folgenden kurz Drost), Leutersheim, Tontinello und Hatzfeld, endlich 
das nicht näher bestimmbare Regiment Westrum. Nach den Dispositionen 
lag Tontinello zusammen mit Goschütz und Loyers vor der Schlacht 
in Merseburg, also westlich Lützen und auf der Seite des rechten Flügels, 
Hatzfeld und Leutersheim, die aber vielleicht gar nicht mehr zum Abmarsch 
kamen, in Eilenburg, von wo die Straße ebenfalls hinter den rechten Flügel 
der Kaiserlichen führte, Westrum wahrscheinlich in Lützen selbst. Drost 
und Westfalen dagegen hatten ihr Winterquartier in Leipzig. Es liegt daher 
nahe anzunehmen, daB Leutersheim mit Tontinello und Hatzfeld (zusammen 
wahrscheinlich 17 Kompagnien) und 1 Kompagnie von Goschütz oder 
Loyers die beiden inneren Schwadronen des rechten Flügels bildeten, wäh- 
rend Westfalen, Drost und Westrum, von deren Tätigkeit so wenig verlautet, 
für die Dauer der Schlacht aufgelöst und zur Bildung des ,,Kommandierten 
Volks" verwendet wurden. 


Am wahrscheinlichsten ist daher folgendes Bild von der Aufstellung der 
kaiserlichen Kavallerie: 


Rechter Flügel von rechts nach links: 
1. Sehwadron: Piccolomini, 9 Kompagnien 


2. i Goschütz, 4 5 
Loyers, b P 

3. vs Leutersheim, 5 M 
Tontinello, 4 " 

4. s Hatzfeld, 6 5 
Leutersheim, 1 7 
Tontinello, 1 iz 
Goschütz od. 
Loyers, 1 3: 


Sehwadron von 12 Kompagnien hinter dem rechten Zentrum: 

Je 5 Kompagnien Piccolomini und Westrum. 

Je 1 Kompagnie von Des Fours oder Gótz und Goschütz oder Loyers. 
Sehwadron von 12 Kompagnien hinter dem linken Zentrum: 

Je 6 Kompagnien von Drost und Westfalen. 

3 Abteilungen à 2 Kompagnien hinter der Infanterie: 

2 Kompagnien Hagen, 4 Kompagnien Drost. 


170 Wilhelm Bóhm: Die Schlachtordnung der Kaiserlichen bei Lützen 


Linker Flügel von links nach rechts: 
ÁuBerste Schwadron: Kroatenregimenter Isolani, Beygott, Corpes. 


2. Sehwadron: Hagen, 9 Kompagnien 
3. = Lohe, 


> 
|. 
e 
F 
w O O Hm. 


Wir sind am Ende unserer Erörterung angelangt, Ich schließe sie mit 
dem Bewußtsein, daß manches unsicher, manches Vermutung bleibt. Doch 
ist ein Fortschritt gegenüber unserer bisherigen Unkenntnis sicherlich er- 
zielt worden. 


Wien. Wilhelm Böhm. 


171 


Kritiken. 


Jahresberichte für deutsche Geschichte. Unter redaktioneller Mitarbeit von Victor 
Loewe, hrsg. von A.Brackmann und F. Hartung. [Hrsg. im Auftr. d. 
Kuratoriums d. Ges. Jberr. f. dt. Gesch.] Leipzig (Verlag von K. F. Koehler) 
1927ff. 8, — Erschienen sind bisher: 1. Jahrgang (ebd. 1927) = 1925. XIV, 
752 S. Hlw. geb. 35 RA. — 2. Jahrgang (ebd. 1928) = 1926. XIV, 806 8. 
46 RM. — 3. Jahrgang (ebd. 1929) = 1927. XIV, 800 S. 46 . — 4. Jahr- 
gang (ebd. 1930) = 1928. XIV, 700 S. 42 &. — 5. Jahrgang (ebd. 1931) = 
1929. XIV, 773 S. 40 RA. — 6. Jahrgang unter redakt. Mitarbeit von Victor 
Loewe und Paul Sattler (ebd. 1932) = 1930. XIV, 610 S. 33 RA. 

Dehimana-Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte. 9. Aufl. Unter 
Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen hrsg. von H. Haering. (Hrsg. im Auftr. 
d. Kuratoriums d. Ges. Jberr. f. dt. Gesch.] Leipzig (Verlag K. F. Koehler) 
1931—32. XL, 992 S.; Registerband S. 993—1292. 89. 52 RA; Lw. geb. 
60 RM. 

International Bibliography of Historical Seienees. Second Year. (Ed. by the Inter- 
national Committee of Historical Sciences. Washington.] Paris, Berlin (Walter 
de Gruyter) Rom, London, New York 1932. LXXX, 4318. 8. 21 ZA. 


Nur wenige Wissenschaften dürften von der allgemeinen Massenhaftigkeit mo- 
derner Produktion in so starkem Maße bedrüngt sein, wie die Geschichte. Nicht nur, 
daß sich in ihrem Bereich zugleich ein Dilettantismus betätigt, den zahllose Über- 
gänge näher mit der Forschung verbinden als anderswo; sondern auch die Fach- 
literatur gleicht einem Strom von fast unübersehbarer Breite. Diese Flut von Ver- 
öffentlichungen ist zum guten Teil aus der Weiträumigkeit des geschichtlichen Stoffes 
und seiner komplexen Natur zu erklären. Sie wird aber noch gesteigert durch eine 
positivistische Neigung der Fachwissenschaften, mit der man gerade geschichts- 
wissenschaftlich aus der Not des Stofflichen methodologisch eine Tugend gemacht hat. 
Denn während weltanschaulich der Positivismus längst überwunden scheint, zeigt 
die ihm zugehörige Wissenschaftsorganisation eine erstaunliche Kraft der Beharrung. 
Es ist das moderne Spezialistentum, das sich von diesem Geist des Positivismus nährt, 
der nachgerade die Geschichtswissenschaft von ihrem eigentlichen Ziele, Geschichts- 
schreibung zu sein, immer mehr abdrängt. Denn schon ist ein Zustand erreicht, dem- 
zufolge sich der Fortschritt des Faches immer mehr auf die Einzeluntersuchung 

, und dem entspricht der vorherrschende Typus einer nach Spezial- 
disziplinen differenzierten Kleinliteratur, in der sich die Menge der Veröffentlichungen 
und die Verengerung der Themen wechselseitig verstärken. 

Nun wäre es zwar utopisch, die verfeinerte Forschungsweise, die durch eine solche 
Vielgliedrigkeit der Arbeitsteilung einmal erreicht ist, wieder rückgängig machen zu 


172 Kritiken 


wollen. Denn es steht außer Frage, daB sie an sich der Mannigfaltigkeit der geschichts- 
wissenschaftlichen Aufgaben und der Verschiedenheit ihrer Lósungsmethoden noch 
am ehesten gerecht wird, wie sehr sie auch dazu geführt hat, die Einzelprobleme zu 
verabsolutieren. Wohl aber erwächst aus dieser Lage die Aufgabe, dem Forscher die 
Beherrschung des Literaturmaterials, an dessen wachsender Ausdehnung die eigene 
Empirie notwendig scheitert, durch eine besondere Technik zu gewährleisten: eine 
Aufgabe, der die geschichtswissenschaftliche Bibliographie ihre Notwendigkeit und 
ihre Bedeutung verdankt. Hatte sie ursprünglich den Zweck einer einführenden Weg- 
weisung, eines bloßen Nachschlagewerkes, so ist aus diesem bedarfsmäßigen Behelf 
inzwischen die Pflicht zu einem Rechenschaftsbericht entstanden, den die Fachwissen- 
schaft vor sich selber ablegt und der sich heute als unentbehrliches Glied dem fach- 
lichen ProduktionsprozeB unmittelbar einfügt, wie die Edition von Quellen auch. 
Daraus erhellt zur Genüge, welcher Wert dem eingangs genannten bibliographischen 
Instrumentarium zukommt, das zum Rüstzeug eines jeden gehórt, der ernstlich an 
dem Gedeihen der geschichtswissenschaftlichen Studien interessiert ist. 

Es war eine Tat, daB man sich trotz der Not der Zeit kurz nacheinander ent- 
schloß, sowohl die Jahresberichte als auch die Quellenkunde der deutschen Ge- 
schichte zu neuem Leben zu erwecken. Handelte es sich dort um die Wiederaufnahme 
der alten Jastrowschen Jahresberichte, die 1913 mit dem 36. Bande ihr Erscheinen 
eingestellt hatten und die nach dem Kriege der dankenswerte Versuch von Loewe und 
Stimming (,, Jahresberichte der deutschen Geschichte“, Jg. 1—7, 1918—1924, 
Breslau 1920ff.) nur notdürftig zu ersetzen vermochte, so war von noch größerer 
Tragweite eine Verjüngung des Dahlmann-Waitz, der seit nunmehr einem Jahr- 
hundert immer wieder wie ein Phónix aus seiner Asche emporsteigt und den zuletzt 
(1912) die Tatkraft und das organisatorische Geschick Herres neu aufgelegt hatten. 
Ebenso erfreulich ist daneben der Beweis eines wiedererstarkten Willens zu inter- 
nationaler Zusammenarbeit, wenn sich diesen beiden deutschen Standardwerken das 
derzeit von R. Holtzmann als Vorsitzendem geleitete Unternehmen des Internatio- 
nalen Kommitees der Geschichtswissenschaften anreiht, um die sog. nationalen Bi- 
bliographien und damit auch die deutschen Jahresberichte nach der Seite der Staats- 
und Vólkerbeziehungen zu ergünzen. Dieses Internationale Jahrbuch liegt zur 
Zeit im zweiten Bande vor, der sich dem ersten an Umsicht, Sorgfalt und Gediegenheit 
würdig zur Seite stellt. Über die mühsame Vorarbeit zu dieser internationalen Biblio- 
graphie und über ihre Bedeutung ist in dieser Zeitschrift schon ausführlich gehandelt 
worden (HV. 26, 1931, S. 633ff.), so daß sich jetzt eine weitere Empfehlung erübrigt, 
zumal, da wesentliche Änderungen in der Anlage des Ganzen erst für den nächsten 
Jahrgang vorgesehen sind. 

Welche Schwierigkeiten den beiden deutschen Plänen zunächst im Wege 
standen und wieviel Instanzen neben der Notgemeinschaft der deutschen Wissen- 
schaft das Verdienst gebührt, daß schließlich doch das Werk gelungen ist, davon 
kónnen das Vorwort der Herausgeber Brackmann und Hartung zum ersten Bande 
der Jahresberichte (Jg. 1927) und die Einleitung Haerings zum Inhalts- und Register- 
teile des Dahlmann- Waitz einen hinreichenden Eindruck vermitteln. Hier muß es 
genügen, neben dem Verlag den Herausgebern und ihrem Stabe von Mitarbeitern im 
allgemeinen zu danken: jenem, daB er das Risiko der Drucklegung auf sich genommen 
und der Ausstattung der Bánde alle erdenkliche Mühe geschenkt hat, und diesen für 
die entsagungsvolle Hingabe, mit der sie Zeit und Kraft in den Dienst der Allgemein- 


Kritiken 173 


heit gestellt haben. In besonderem Grade gilt das für den Gesamtredaktor der Quellen- 
kunde, dessen Freude am Werk sich sichtlich an dem Übermaß von Hemmnissen 
verzehrt hat, die sich der Verwirklichung seiner ursprünglichen Idee einer moderni- 
sierten „bibliographie raisonnée“ (Haering, Die Zukunft des Dahlmann- Waitz, 
HZ. 136, 1927, S. 266ff.) entgegentürmten und von dessen persönlichem Anteil 
an dem Abschluß des Ganzen man zu sagen versucht ist: inexsuperabilibus vim 
attulit. 

Was nun die Jahresberichte für deutsche Geschichte im einzelnen an- 
geht, die mit der Literatur von 1925 eingesetzt haben und damit den AnschluB an 
das Provisorium von Loewe-Stimming wahren (der jüngste sechste Band umfaßt 
bereits die Literatur von 1930), so seien zu ihrer Charakteristik noch einige allgemeine 
Bemerkungen verstattet. Während sich das alte Unternehmen das niemals erreichbare 
Ziel gesteckt hatte, das Gesamtgebiet der Weltgeschichte zu umschließen, verzichtet 
die neue Reihe von vornherein darauf, die Literatur zur Geschichte des Auslandes 
einzubeziehen. In diesem Punkte greifen, wie schon gesagt, die deutschen Jahres- 
berichte und die International Bibliography of Historical Sciences organisch inein- 
ander. So beschränkt man sich deutscherseits grundsätzlich auf die deutsche Ge- 
schichte, natürlich unter Einbeziehung auch der nicht in deutscher Sprache verfaBten 
Publikationen. Freilich enthält das Internationale Jahrbuch nur eine Titelbiblio- 
graphie und läßt sich insofern mit dem deutschen Verfahren nicht recht vergleichen. 
Denn dessen einzigartiger Vorzug beruht auf der Vereinigung von Titelregistrande 
und kritischem Literaturbericht, und zwar ist — im Gegensatz zu Jastrow und sehr 
zum Vorteil handlicher Benutzung — der Referatteil von den bibliographischen An- 
gaben räumlich getrennt worden, neuerdings (mit dem 6. Jg.) sogar soweit, daB die 
Bibliographie auch zeitlich früher erscheint. Auf diese Weise bleibt den Referenten 
ein größerer zeitlicher Spielraum, dessen sie bei den heutigen Schwierigkeiten der 
Literaturbeschaffung unbedingt bedürfen, während für die bloßen Literaturangaben 
die Spanne zwischen Berichts- und Erscheinungsjahr nach Möglichkeit verkürzt wird. 
Der Textteil nun, dessen Ausdehnung zum Umfang der Bibliographie etwa im Ver- 
hältnis 5:1 steht, bildet eine fortlaufende Darstellung zur jeweiligen Jahresliteratur, 
gegliedert nach stofflichen Einheiten, und stellt so im ganzen ein Magazin der deutschen 
Geschichte dar, das der Forschung dazu verhilft, trotz der Fülle der Spezialunter- 
suchungen die Orientierung im großen zu bewahren und dessen Anschaffung auch dem 
einzelnen Besitzer reichlich lohnt. Das Vorbild dafür hatte neben dem Jastrowschen 
Muster die „Mittelalterliche Geschichte“ von Hampe gegeben, ein kritisches Sammel- 
referat über die in den Jahren 1914—1920 erschienene Literatur des In- und Aus- 
landes zu diesem Thema (= Wissenschaftliche Forschungsberichte, hrsg. von Hönn. 
VII. Bd. Gotha 1922). Die Beiträge selbst stammen aus der Feder von weit über 
siebzig berufenen Kennern der betreffenden Spezialgebiete und ersetzen in ihrer Ver- 
einigung, wenn man so will, eine vollständige wissenschaftliche Bibliothek von 
höchster Zuverlässigkeit und Kompression. Im Hinblick darauf kann man besonders 
auch den Geschichtslehrern, denen an der Fühlung mit den Fortschritten ihres Fach- 
gebietes gelegen ist, und den Fachbibliotheken an den höheren Schulen den Bezug 
aufs wärmste empfehlen, zumal in der heutigen Zeit, wo der Kauf von Einzelver- 
öffentlichungen und vollends von größeren Werken immer schwieriger wird und wo 
der Ausbau einer eigenen ausreichenden Büchersammlung für die meisten zu den 
frommen Wünschen gehört. | 


174 Kritiken 


Um eine Vorstellung von dem inhaltlichen Reichtum der Forschungsberichte zu 
geben, sei noch kurz die Anlage des letzten 6. Bandes nach dieser Seite gestreift. Ein 
allgemeiner Teil (S. 95—145) befaBt sich mit der neueren deutschen Geschicht- 
schreibung und den historischen Hilfswissenschaften, unter denen dankenswerter- 
weise auch die mittellateinische Philologie mit einer selbstándigen Sparte vertreten 
ist. Daran schließen sich, nach Epochen gegliedert, Referate über allgemeine deutsche 
Geschichte in chronologischer Abfolge (S. 146—258), die mit der Vorzeit und Früh- 
geschichte beginnen und bis 1919 führen. Darauf folgen die Berichte zu den einzelnen 
Zweigen des geschichtlichen Lebens (S. 259—497), und zwar unter den Gesichts- 
punkten: Rechts- und Verfassungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Kirchen- und 
Kirchenverfassungsgeschichte, sowie allgemeine Geistesgeschichte und Staats- 
anschauungen. Dazwischen schieben sich außer der Territorialgeschichte (S. 336 bis 
497), die einen eigenen Abschnitt bildet, noch zwei besondere Gruppen von Beiträgen, 
die der deutschen Geschichte in slavischen und südosteuropäischen Sprachen (S. 498 
bis 520) und dem Auslandsdeutschtum (S. 521—610) gewidmet sind, dessen Ge- 
schichte mit Recht eine besonders pflegliche Berücksichtigung findet. Leider hat es 
den Anschein, als kónnten wirtschaftliche Nóte die Fortführung des Werkes in dieser 
jetzigen Form gefährden, und es wäre im Interesse der Forschung dringend zu 
wünschen daB sich dennoch Mittel und Wege finden, ein Unternehmen aufrecht- 
zuerhalten, das ebenso fachlich unentbehrlich ist, wie es sachlich zum Ansehen der 
deutschen Wissenschaft im Auslande beiträgt. 

Was zum andern die Neuauflage des Dahlmann-Waitz anlangt, auf den in dieser 
Zeitschrift (HV. 26, 1931, S. 890) bereits mit einer empfehlenden Vornotiz verwiesen 
worden ist, so hat die beste Kritik des Werkes der Herausgeber Haering in den ein- 
leitenden Bemerkungen (S. V—X) vorweggenommen. Es wäre müßig, Mängel hier 
nochmals zu erwähnen oder zu unterstreichen, auf die das eigene Vorwort, gestützt 
zum Teil auf recht bittere Erfahrungen und in Vorsorge einer künftigen Neubearbei- 
tung, bereits nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, und zwar mit einem über- 
legenen Freimut, der alles Besserwissen von vornherein entkräftet. Und wenn der 
Herausgeber seine Ausführungen mit dem Ausdrucke der Hoffnung schließt, man 
möchte seinem und seiner 54 Mitarbeiter Versuch, den alten Dahlmann-Waitz durch 
strenge Wirtschaftlichkeit und mutiges Zugreifen in heutiger Notzeit wieder flott zu 
machen, die Anerkennung ehrlichen Strebens nicht versagen, so ist das sicherlich der 
mindeste Dank, den jeder diesem Denkmal deutschen Gelehrtenfleißes abstatten wird. 
Vor allem darf eine gerechte Würdigung die finanziellen und die technischen Schwierig- 
keiten nicht aus dem Auge verlieren, die eine völlig befriedigende Vollendung des 
Werkes von vornherein in Frage stellten. Jene zwangen die Mitarbeiter dazu, die 
Literatur von dreißig Jahren nachzutragen, ohne dabei den äußeren Umfang der 
alten Auflage wesentlich überschreiten zu dürfen. Diese lagen in dem Mangel aus- 
reichender bibliographischer Vorarbeiten und in den heutigen Hemmmnissen der 
Materialbeschaffung begründet:-erschwerende Umstände, die wohl niemals dermaßen 
gehäuft und so unüberwindbar gewesen sind, wie bei diesem ersten Versuch, die 
Literatur der Kriegs- und Nachkriegsjahre systematisch zu erschlieBen. Wer die 
Wunden kennt, die die jahrelange Abschnürung Deutschlands vom Ausland und die 
fortschreitende Verknappung der öffentlichen Mittel für wissenschaftliche Zwecke 
den deutschen Bibliotheken geschlagen haben, begreift ohne weiteres, daß diesmal 
auch der redlichste Wille zu Vollständigkeit und Genauigkeit gelegentlich scheitern 


Kritiken | 175 


mußte. Doch fehlt es nicht an Lücken, die man gleichwohl mit einiger Verwunderung 
feststellt. Um für die Zukunft solchen wirklichen Desideranda vorzubeugen, wäre es 
angebracht, wenn sich die einzelnen Benützer beim Gebrauch der neuen Auflage ent- 
schlössen, entsprechende Notizen aufzuspeichern und für die nächste Bearbeitung 
bereitzustellen. Ja, es wäre vielleicht zu erwägen, ob man nicht überhaupt eine 
offizielle Sammelstelle für Nachträge, Ergänzungen und Reformvorschläge zur 
Quellenkunde einrichten sollte, gewissermaßen ein Archiv des Dahlmann-Waitz, für 
das die Erfahrungen Haerings und seiner Mitarbeiter einen wertvollen Grundstock 
abgeben könnten. Das böte am ehesten die rechte Grundlage für die künftige Dis- 
kussion sowohl der Anlage des Ganzen, als auch der Ausgestaltung der einzelnen 
Teile und ihres Verhältnisses zueinander. 

Daß eine solche grundsätzliche Revision vonnöten ist, zeigt die innere Unaus- 
geglichenheit der jetzigen Auflage und mag noch in einem Einzelfalle näher dargetan 
werden, der schon um deswillen erhöhte Aufmerksamkeit verdient, weil er vielleicht 
zugleich einen Ausweg aus der Inhaltsüberlastung aufzeigt, die schon in der vorigen 
Auflage bestand. 

Es gibt da einen Abschnitt (VIII) im Allgemeinen Teil, der die Geschichte der 
Erziehung, des Schulwesens und der Wissenschaften behandelt und dessen Auf- 
schwellung mit heterogenen und peripheren Titeln wohl kein Historiker ohne ein 
leises Kopfschütteln betrachten wird. Da findet man auf nicht weniger als 12 Seiten 
all und jedes zur Geschichte der Pädagogik und der unterrichtlichen Praxis, ohne daB 
man die notwendige Beziehung auf die deutsche Geschichte noch begriffe. Da steht 
1. B. der Skeptizismus in der Philosophie von Richter (3630) oder Willmanns Didaktik 
als Bildungslehre (3546) im Großdruck neben der geschichtlich weit ergiebigeren 
Schrift von Specht über das mittelalterliche Unterrichtswesen, die noch dazu im 
Kleindruck untergeht (3549). Da wird u.a. eir Quellenbuch zur Geschichte des 
Lyzeums in Löbau (3518) eigens genannt; da finden sich Handbücher für den latei- 
nischen Unterricht (3560) und für das höhere Mädchenschulwesen (3553), ja sogar 
für Heilpädagogik (3489), und selbst Hinweise auf die Konversationslexika von 
Brockhaus, Meyer und Herder fehlen nicht. Ähnlich ist es um den Abschnitt XI über 
Musikgeschichte bestellt. Denn man darf wohl füglich zweifeln, ob ein Reallexikon 
der Musikinstrumente (3994) oder Aufsätze zum deutschen Männergesang (4012) oder 
selbst die Briefe Max Regers (4113) in einer Quellenkunde der deutschen, Geschichte 
unentbehrlich seien, wenn man nicht konsequenterweise aus dem Dahlmann- Waitz 
eine Titelenzyklopädie von mehreren Bänden in der Stärke des jetzigen herstellen 
will, in denen dann auch die Anglistik und Romanistik neben der mittellateinischen 
Philologie die Beachtung finden müßten, die ohnehin der größeren allgemeingeschicht- 
lichen Sachnähe gerade der philologisch-literarhistorischen Disziplinen weit besser 
entspräche, als ihre aufs äußerste beschränkte, gelegentliche und räumlich zer- 
splitterte Berücksichtigung in der jetzigen Gestalt des Werkes. Wenn man daher 
überhaupt an eine Umfangsverringerung denkt, so wären wohl Seitentriebe in der 
Art der Kapitel VIII und XI in erster Linie zu beschneiden, deren Inhalt und Aus- 
dehnung sich mühelos durch wenige Hinweise auf anderweitige Orientierungsmóglich- 
keiten über die wichtigste Literatur der betreffenden Fächer erheblich einschränken 
lieBen. Das soll kein Tadel an den Bearbeitern der jüngsten Auflage, geschweige denn 
ein Vorwurf gegen den Herausgeber sein. Zu solchen einschneidenden Reformen war 
diesmal ohne Zweifel weder Zeit noch Móglichkeit gegeben. Aber vielleicht liegt in 


176 Kritiken 


den obigen Feststellungen die berechtigte Mahnung, doch einmal grundsätzlich zu 
erwägen, ob das mehr oder minder zufällig bedingte Wachstum, das das Werk in dem 
Jahrhundert seines Bestehens genommen hat, nicht die Gefahr einer Hypertrophie 
der Randgebiete heraufbeschwórt, die der Architektonik des Ganzen und der eigent- 
lichen Bestimmung des Werkes abträglich ist. Gewiß sind Zutaten von Entbehrlichem 
oder minder Wichtigem an sich noch nicht schádlich, aber sie kónnen es werden, wenn 
dadurch die Aufnahme von Unentbehrlichem oder vergleichsweise Wichtigerem be- 
einträchtigt wird. Dieses Mißverhältnis dürfte in der jetzigen Auflage und eigentlich 
schon in der vorigen in ziemlich erheblichem Maße vorliegen. Es ist in dieser Hinsicht 
eine Menge Eventualliteratur mitgeschleppt worden, die sich mit der deutschen Ge- 
schichte nur sehr entfernt berührt und die unnötig Platz wegnimmt, da sie in praxi 
kaum jemand gerade im Dahlmann- Waitz suchen wird. 


Roy Joseph Deferrari und James Marshall Campbell: A Concordance of Pru- 
dentius. [Published by the Mediaeval Academy of America, Publication 
Nr. 9.] Cambridge, Massachusetts 1932. VIII u. 833 S. 89. 12,50 $. 


Eine Konkordanz! zu Pr., die jedem, der sich um das Verständnis des schwierigen 
Dichters bemüht, eine rasche und sichere Hilfe für alle sprachlichen Fragen gibt, 
ist unbedingt willkommen. Denn die eigenartige Ausdrucksweise des Pr. wird durch 
den kurzen ‘Index verborum et elocutionum', den Bergman seiner Ausgabe an- 
gefügt hat, nicht genügend erschlossen. Und da Pr. einen einmal formulierten Ge- 
danken gern an anderer Stelle wiederholt oder variiert und überhaupt eine zu einem 
bestimmten Zwecke geprägte Wendung oder Verbindung? in ähnlichem Zusammen- 
hange auf dieselbe oder doch ähnliche Weise wieder anzubringen pflegt, so kann eine 
Konkordanz, die uns einen Überblick über das gesamte Sprachmaterial des Dichters 
verschafft, sowohl für die Einzelinterpretation wie für textkritische Probleme und 
darüber hinaus für ein wirkliches Verständnis der Diktion und somit des Dichters 
selbst von größtem Nutzen sein. 

Die „Mediaeval Academy of America‘ hat nun auch für Pr. gesorgt. Sie hat als 
Nr. 9 ihrer Publikationen durch Deferrari-Campbell ein umfangreiches Werk von 
über 800 Seiten erscheinen lassen, das analog der Boethiuskonkordanz (Nr. 1 der- 
selben Reihe) den gesamten Sprachschatz des Dichters in streng alphabetischer 


1 Ich verwende folgende Abkürzungen: C. = Cathemerinon, A. = Apotheosis, H. = 
Hamartigenia, Ps. = Psychomachia, c. S. = contra Symmachum, P. = Peristephanon, D. = 
Dittochaeon. Außerdem prf. = praefatio. 

* Z. B. immanis: an den 7 St. wird es dreimal (c. S. 1 prf. 4; 1, 469; 2, 291) von populi, 
zweimal vom lupus (Ps. 705; P. 5, 412), also in festen Verbindungen, gebraucht. lavari be- 
gegnet nur zweimal in der stehenden Wendung ‘de fonte lavari' (A. 687; D. 132) als Hexam. 
Schluß. progenies ist fünfmal verwendet; davon viermal als acc. sg. im Anfang eines Hexam. 
(A.998; H. 574.599. 636). plenus hat von den 4 abl., mit denen es vorkommt, dreimal ‘deo’ 
bei sich (daneben A. 831 gen. del). loquar steht an drei von den 5 St. in der Wendung quid 
loquar’ (H. 230; P. 1, 112; 2, 74). Die 24 Fälle von ‘male’ zeigen eine auffallende Vorliebe für 
male als Negation vor Adi. (elfmal!), davon nach klass. Mustern: male pertinax prf. 14 (Hor. 
carm. 1, 9, 21; fehlt im Ind. Imitationum bei Bergman); male sanus H. 93; Ps. 203 nach Verg. 
Aen. 4, 8 (Hor. epist. 1, 19, 3; Ov. met. 3, 474; schon Cic. Att. 9, 15, 5); male pinguis H. 217 
nach Verg. georg. 1, 105 (fehlt bei B.). Vgl. über diesen Typus Wackernagel, Syntax II 255; 
J. B. Hofmann, Umgangsspr. 145; ders. Syntax 643. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren; 
für die Beurteilung prudentianischer Diktion sind sie wichtig. 


Kritiken 177 


Reihenfolge darbietet. Die Bearbeiter haben sich bemüht, durch grundsätzliches 
Ausschreiben der Zitate zugleich eine Art „Lexikon-Ersatz“ zu geben, da sich der 
Benutzer im ausgeschriebenen Zitat ja leicht eine Vorstellung von der Bedeutung 
und Verwendungsart des betr. Wortes machen kann. Die bloßen Ziffern? werden 
lediglich da geboten, wo es sich um allzuhäufige „Allerwelts wörter“ wie Copula, 
Praepp., Partikeln, Konjunktionen, Pronom. u. dgl. handelt (ebenso die Formen 
von esse). Man wird das Bestreben der möglichst vollen Zitierung nur begrüßen, 
vorausgesetzt, daß die Sache im Einzelnen auch sinngemäß und zuverlässig ge- 
macht ist. 

Gleich ein paar Worte zur Anordnung: Die Alphabetisierung ist, wie etwa 
bei der Boethiuskonkordanz, übertrieben äußerlich. Jedes Wort ist nach seiner 
rein zufälligen, geschriebenen — oder besser: nach der bei Bergman „gedruckten“ 
Form eingeordnet. Schon dies macht das Auffinden eines Lemmas unnötig kom- 
pliziert. So findet man z. B. für 'ire' zunächst auf S. 208 eam (nicht acc. sg. f. von ist), 
eat; dann folgen S. 216 eundum, -do, eunt, euntem, -tis; weiter unter I S. 309 i, 
ibant, ibat, ibimus, ibit, ibitis, ibo. Diese Reihe wird unliebsam unterbrochen durch 
‘ibi’ adv. und noch mehr dadurch, daß zwischen ibimus und ibit ausgerechnet ibis 
= „Vogel Ibis‘‘ erscheint, das wegen des lautlichen Zusammenfalls mit ibis „du 
wirst gehen" die Abfolge der ire-Formen empfindlich stört. Weiter steht S. 315 
ganz versteckt hinter der ima-imum-Reihe ein imus, das man auf den ersten Blick 
für nom. sg. m. imus halten wird, das sich aber bei n&herem Zusehen als 1. pl. praes. 
„wir gehen" entpuppt; S. 349 kommen endlich die ir-Formen (ire, iret) und S. 851 
ito, itur, ivit. Man muB also rund 150 Seiten wälzen, bis man nur alle Formen des 
Wortes ire, das zufällig über sehr verschiedene lautliche Formen verfügt, gefunden 
hat. DaB eine solche Anordnung dem Benutzer die Arbeit unnótig schwer macht 
und viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als es eine praktische Konkordanz tun 
würde, dürfte einleuchten. 

Aber damit nicht genug! Die Bearbeiter sind in der äußerlich-mechanischen 


Alphabetisierung noch weitergegangen — sehr zum Nachteil des MIETEN wie man 
sofort erkennen wird. 


* Vgl. Vorwort 8. VIII. Konsequent sind die Herausgeber allerdings nicht verfahren: 
so sind z. B. ‘ob’ und pro' ausgeschrieben; ab, ad, ex, in u. a. nicht. Von *hic' ist der gen. pl. 
horum in vollen Zitaten gegeben, während die übrigen Formen durch Ziffern ausgedrückt sind. 
Von den qui-Formen ist quem durchweg mit Zusammenhang zitiert, ebenso quas; nicht aber 
quod oder quos, obwohl letzteres seltener ist als quem! ‘hinc’ mit seinen wenigen Stellen ist 
durch Zahlen, ‘inde’ trots seiner Häufigkeit durch volle Zitate aufgeführt. nos, vos sind in beiden 
gleichlautenden Casus im Zusammenhang gegeben, ego-me, tu-te dagegen nur mit Ziffern, trotz- 
dem etwa 'ego' weit seltener ist als 'noe'. 

* Wie ängstlich die Herausgg. am Bergman'schen Text hängen, mögen u. a. auch folgende 
Fälle zeigen: Überall, wo im Text eine notwendige Interpunktion oder sonst ein Druckzeichen 
steht, haben es die Bearbeiter der Konkordans aufgenommen, auch dann, wenn es im Zitat ab- 
solut keinen Sinn hat und nur störend wirkt. So etwa 8.21 agnosce: Da das Zitat P. 10, 546 
eine Rede abschließt, so hat es im Text natürlich ein ,,Schlu8-Gánsefü&chen". Die Herausgg. 
drucken es mit ab und setzen: ‘agnosce, qui sis, vince mundum et saeculum!“ So was lat oft 
anzutreffen. 8.191 doctores: weil im Gesamtzusammenhange der Vers als Parenthese fungiert, 
also zwischen „ Gedankenstriche'' gesetzt ist, so findet man auch bei D.-C.: '— nam totidem 
doctores misit in orbem — (A. 1006), was doch keinen Sinn hat. Wenn ein best. Lemma im 
Text bei B. zufällig einen neuen Abschnitt einleitet, also mit „, großem“ Anfangsbuchstaben 
gedruckt ist, dann setzen die Herausgg. das Lemma ebenfalls ,,gro8'', als ob es sich um ein 
Nom. propr. handelte; so s. B. 8. 68 Bratteolas', 8. 76 ‘Caligo’ u. o. 


Histor. Vierteljahrsebrift. Bd. 28, H. 1. 12 


178 Kritiken 


Erstens haben sie sich so eng an den Text von Bergman gehalten, daB sie 
auch jede orthographische Kleinigkeit des letzten Editors für verbindlich er- 
achtet und daher jedes Wort in der von B. gebotenen Schreibform aufgenommen 
haben. Und zwar so schematisch, daB sie an sich gleichlautende Formen immer dann 
suis locis ansetzen, wenn sie in B.s Text verschieden geschrieben sind. Das ver- 
ursacht ein nochmaliges ZerreiBen zusammengehöriger Wörter und macht das 
Ganze noch einmal so kompliziert, als es infolge der rein mechanischen Anordnung 
schon geworden ist. Man muB also nicht nur dem Alphabete nach die einzelnen 
Formen eines best. Lemmas zusammensuchen, man hat jetzt vielmehr noch die 
Aufgabe, auch alle eventuellen Schreibformen nachzuschlagen, da bei B. ja oft ein 
und dieselbe Wortform verschiedene Orthographie hat. Wie schwerfüllig dadurch 
das Werk geworden ist, mögen folgende Fälle dartun: 

Es finden sich: adtigerat, adtigit: attigerat, attigit; adtrita, -is: attrita, -am ; 
aruspice: aber haruspex; commisit, -ssa: conmiserat, -misit; despuit: aber dispuat, 
-enda, -ite; destruendis, -it: aber distructa bis distruet; efybo, -os, -us (je einmal): 
aber ephebum (einmal), ephybi (zweimal) ephybis und ephybum (je einmal); 
eremi: heremi; eri, erile, -li: aber herilem; Eva: Evva; exp-: exsp-; exst-: ext- (also 
z. B. exstat: aber extet; exstincto: aber sonst alles unter extinct-, exting-); Farii, 
Farios: aber Pharon! frivola (zweimal): gleich darauf einmal frivula. gluten bis 
glutino (darunter auch abl. sg. glutine): aber einmal gluttine; 21mal haud (Ziffern; 
ebenso sechsmal haudquaquam): doch einmal haut (mit Zitat); imb-: inb-; imm-: 
inm-; locustis (einmal): lucustis (einmal); paelicem: aber pelice! Pafiam: aber 
Paphiae! palfebra, -ae: aber palphebralibus (nie palpeb-); religio: rellig-; reliquiae: 
relliq-; robora, -e, -is: aber robure! secius: setius! sepulchr-: sepuler-; sofia, sofistae, 
sofistas (je einmal): aber ebenso je einmal sophiae, sophistas, sophistica! Je einmal 
Stefanus und Stephanus. subc-: succ-; subf-: suff-; subm-: summ-; subpeditare, 
subpeditat, subpetat: aber suppeditant! taetra bis taetrum (öfter): aber je einmal 
teter, teterrima, teterrimi. Zweimal Thybris, einmal Tybris: aber Tiberina (zweimal) 
und Tyberina (einmal)! transiliam, transilit, transiliunt: aber transsiliunt (einmal); 
triumf-: triumph-; tropaea bis tropaeum: unmittelbar darauf tropea, eis, eum; 
vaesana-, -i, vaesania, vaesano, us: aber vesaniam! u. a. m. 

Hier ist die Alphabetisierung ad absurdum geführt. Denn, selbst wenn die 
Herausgeber der Bergmanschen Edition so vertrauensvoll gegenüberstanden, daB 
sie sich für berechtigt hielten, alles Textliche bis ins Kleinste hinein getreu zu über- 
nehmen, so durften sie die ÁuBerlichkeiten doch nicht derart auf die Spitze treiben. 
Selbst in diesem Falle hátten sie die gleichlautenden Wortformen unbedingt zu- 
sammennehmen müssen. Hätte man dieselben unter einem Lemma vereinigt 
(natürlich stets unter dem Lemma mit , normaler“ Orthographie), dann würde man 
es nicht weiter als stórend empfinden, auch wenn unter den einzelnen Zitaten schlieB- 
lich die betr. Wörter verschiedene Schreibungen nach Maßgabe der Edition von B. 
aufwiesen. So aber, wie es D.-C. nun mit der alphabetgemäßen Ordnung gehalten 
haben, ist es beinahe ein Ding der Unmóglichkeit, das Vorkommen eines Lemmas 
sicher und bestimmt festzustellen. Wer kann denn vermuten, daB er etwa für 
palpebra nicht unter palp-, sondern unter palf- und erst noch unter palph- nach- 
suchen muB usw.? Eine Konkordanz hat in erster Linie praktisch zu sein. 
Dies hier aber ist nicht nur unpraktisch, es ist auch geführlich, weil so die Sicherheit 
des Auffindens nicht mehr garantiert ist. 


Kritiken 179 


Zweitens haben es D.-C. unternommen, die gleichlautenden Formen auch 
noch grammatisch zu scheiden. Das hat wiederum eine unliebsame Vermehrung 
der Lemmata und eine starke Unübersichtlichkeit zur Folge. Die einzelnen Wort- 
formen werden dann abgeteilt, wenn sie äußerlich zwar gleich sind, aber verschiedene 
grammatische Geltung haben. So wird z. B. 'caelesti' als Lemma dreimal angesetzt: 
als abl.sg. m., dann ebenso f. und endlich n. Käme zufällig bei Pr. der gleich- 
lautende dat. sg. vor, so ergäben sich unter Umständen wiederum drei Kategorien 
und wenn ein adi. dann schließlich noch substantivisch verwendet wird (pl. n. z. B.), 
dann wird wiederum in gleicher Weise verfahren. Den sachlichen Nutzen, der in 
keinem Verhältnis zur Kompliziertheit dieser Methode steht, kann man nicht recht 
einsehen. So bekommt das Adi. 'geminus' für die 22 St. nicht weniger als 13 Lem- 
mata: nämlich gemina, -as, zweimal -i (gen. sg. m., nom. pl. m.), viermal -is (dat. 
pl. m., abl. pl. m., dat. pl. f., abl. pl. f.), zweimal -o (abl. sg. m., ebenso n.), Os, 
zum, us. Sogar die indeklinablen Zahlwórter werden derart abgetrennt, je nach 
Casus und Genus der beigesetzten Subst. (z. B. sex 4 Lemmata; ‘septem’ gar 8 
für die 9 Fälle seines Vorkommens usw.). Ja, selbst solche Wörter, die lediglich mit 
Ziffern angeführt sind, erhalten mehrere Lemmata. Da aber in solchen Fällen 
kein Wortzitat gegeben ist, so muß der Benutzer erst nachschlagen, bevor er über- 
haupt eine Ahnung hat, worum es sich handelt. Als Beispiel für diese Gruppe 
möge ‘se’ dienen: es hat 10 Lemmata! Nämlich: 1) acc. sg. m., 2) abl. sg. m., 3) acc. 
pl. m., 5) acc. sg. f., 6) abl. sg. f., 7) acc. pl. f., 8) acc. sg. n., 9) abl. sg. n., 10) acc. 
pl. n. Das mag noch angehen, allein als 4. Gruppe findet sich folgendes: H. 359'. 
Schlägt man die Stelle (es ist die einzige) nach, dann liest man numquid equus, 
ferrum, taurus, leo, funis, olivum in se vim sceleris... habebant'; d. h., da hier 
sowohl Masculina wie Neutra als Subi. fungieren, konnte das Beispiel weder zu der 
ersten (masc.) noch zur dritten (neutr.) Gruppe genommen werden und es blieb 
nichts anderes übrig, als es in einer eigenen Kategorie unterzubringen. Man mag aus 
der Art, wie ‘se’ behandelt ist, sich für alles weitere einen Begriff bilden. (Beiläufig: 
Warum hat man die Praep. 'in' nicht nach acc. und abl. getrennt? Diese Zwei- 
teilung ist doch sachlich durchaus gerechtfertigt.) 

Doch wir würden uns schlieBlich auch noch mit diesen gewaltsamen ZerreiBungen 
von Wortgruppen abfinden, wenn sie nicht hauptsüchlich dazu geführt hátten, daB 
über das ganze Buch hin eine zahllose Menge von zum Teil peinlichen Fehlern 
verstreut sind. Es ist nötig, wenigstens die wichtigsten Versehen namhaft zu machen. 

Zuerst solche Fehler, deren Ursprung in der Nichtbeachtung der Prosodie 
liegt: S. 13 advenit (2 St.): A. 601 perf.-vönit; P.1, 10 dagegen kurzes e-. Es 
sind also zwei Lemmata nötig. S. 86 cärö „Fleisch“: H. 592; P. 10,845 lauten 
cáró, wir haben es folglich mit dem adi. cärus zu tun! S. 158 decoris: Ps. 148 kurzes 
-0-, von decus; P. 2, 226 aber lang, also decor! S. 256 fodit: A. prf. 14 ist perf. 
(-0-); P. 10, 484 dagegen - (praes.). S. 270 fugit: c. S. 2, 511 langes -u-, also 
perf. Übel ist S. 369 latere (2 St.): die erste, C. 2, 20 ist inf. praes. latöre, die 
zweite (Ps. 673) aber abl. sg. von latus (latére)! S. 372 lavit: die 4 Stellen teilen 
sich zu gleichen Teilen in praes. (lávit) P. 3, 190; 5, 230 und pert. (lävit) C. 7, 73; 
Ps. 61. S. 376 levi (2 St.): P. 10, 986 kurzes -e- („leicht“); doch P. 11, 185 „glatt“, 
weil levil S. 457 nitere (2 St.): C. 2, 63 inf. praes. nitére; aber P. 10, 741 imperat. 
von niti (exemplum ad istud nitéré, o fortis puer)! S. 478/9 oblita-oblitum. Unter den 
Formen von obliviscor (-itus) sind auch drei von oblino (oblitus) vereinigt, nämlich 


12* 


180 Kritiken 


A. 822; P. 2, 378; 13, 57. S. 541 pläga (3): C. 12, 115 mit langem -a-; gehört folglich 
als „Schlag“, „Wunde“ zu pläga (2). S.601 quiete: P.2, 63 'blande et quiete 
efflagito' zeigt, daB es sich um adv. quiété (nicht abl. sg. von quies) handelt. Ebda. 
ist unter quiétis (gen. sg. von quies) P. 5, 487 fälschlich aufgenommen; ‘quiötis 
lapsibus' ist abl. pl. von quietus! S. 614 reduci (2 St.): C. 5, 104 kurzes -u-, also 
von redux; aber P. 10, 914 inf. pass. redüci! Selbst so klare Verba wie röfert und 
réfert sind verwechselt: von den 21 St., die unter refert gebracht sind (S. 614f.), 
müssen 6 zum unpersónl. Verbum ré- zusammengenommen werden (A. prf. 55; 
c. S. 2, 823 nec r.“; H. 641 nil r. wie Ps.550; P.7, 16 und endlich P. 10,119 ‘magni...r.'). 
S. 664 sedes (4 St.): P. 10, 223 ‘spectator horum pontifex summus sódés' zeigt, daB 
wir nicht sēdēs „Sitz“, sondern die 2. sg. praes. von södeo vor uns haben! S. 739 
teneri (5 St.): c. S. 2, 980 'seminis aut tenéri' usw., also gen.sg. von tener! Die 
andern Formen inf. pass. tenéri! (stets Hex. ende: A. 811; Ps. 343. 662; c. S. 2, 70). 
S. 793 vere (3 St.): c. S. 2, 977 *véré tepenti’ im Hex.-Schluß läßt doch wohl keinen 
Zweifel übrig, daB wir es hier mit dem abl.sg. von ver (nicht adv. véré) zu tun 
haben! S. 794 vertere (5 St.): Ps. 631; P. 10, 963 vertére, 3. pl. perf. (P. 10, 963 
"timor ... et ira pectus in caliginem/vertöre’; wäre so auszuschreiben, nicht erst 
von ‘ira’ ab, da der plur. des Verbs sonst nicht klar ist. Ähnl. s. u. S. 181 f.). S. 807 
vincitur (3 St.): P. 9, 43 'vincitur post terga manus’; also von vincire! u. a. m. 

Besonders zahlreich sind die Fülle, wo ein Zitat unter den falschen Casus 
(falsche Verbalform u. ähnl.) geraten ist. Dafür ein paar Beispiele: S. 5 acies (3, 
acc. pl.): P. b, 319 nom. sg. (,., Sehschärfe“ = ,,Auge"), also zu 1. S. 24 aliqua (1, 
nom. sg.): Ps. 549; c. S. 2, 76 abl. sg. f.; es bedarf also eines neuen Lemmas. S. 50 
artus: P. 5, 499 nom. pl., wieder neues Lemma nötig. S. 134 corpus (1, nom.): P. 10, 
703 ist acc., somit zu 2. S. 158 decus (2, acc.): P. 14, 109 gehört als nom. zu 1. S. 246 
figura (1, nom.): P. 12, 18 ist abl., zu 2. S. 323 induit: C. 7, 148 sicher praes. (146 
placet, 147 spernitur, 150 spargit); es wäre somit eigens abzusetzen. S. 396 magi 
(1, soll gen. sein): das Lemma ist zu tilgen, weil ‘magi’ hier ebenso nom. pl. ist, wie 
in den sub 2 gebrachten Beispielen (C. 12, 28 cernunt periti interpretes regale vexil- 
lum magi). S. 382 lingua (2, abl.): P. 10, 22 '*mé& lingu&' im Versanfang, kann 
also nicht lang? sein; gehört zu 1 (dasselbe Zitat falsch z. B. bei mea, S. 409). S. 410 
media (3, acc. pl. n.): c. S. 1, 463 'colla tyrannorum mediä calcemus in urbe'; medi& 
als abl. zu 2 (nicht zu colla, was der Vers verbietet). S. 523 pedibus (2, abl.): D. 142 
‘pedibus ... advolvitur Iesu’ ist dat. (man vgl. A. 456 ‘plantis Herculis advolvi', 
was S. 541 richtig unter dat. steht, advolvi ebenso mit dat.: ‘aris’ H. 405; ‘tumulo’ 


* Der Fall ist typisch für die Art, wie die einzelnen Zitate oft ausgeschrieben werden 
(s. u. 8. 181f.). D.-C. geben nur regale vexillum magi’, was irreführend Ist. 

* ‘sum mutus ipse, sed potens facundiae mea lingua Christus luculente disseret’: gemeint 
ist nicht „Christus wird mit meiner Z.. . erörtern“ (abl. instr.), sondern appositiv „Christus, 
meine Zunge. Der Sinn Ist also: „ich selbst bin zwar stumm, aber Chr. ist meine Zunge; 
er wird für mich deutlich reden." Daß dies richtig ist, beweist das Metrum: wäre mea lingua 
abl. instr., dann würde erstens der II. Fuss spondeisch (lingu-|a* Christ|-us), was gegen die Jamben- 
technik des Dichters verstößt (vgl. Philologus 87, 1932, 8. 252ff.) und man müßte zweitens 
mea als Monosyllabon (durch gewaltsame Synizese) behandeln, damit man überhaupt einen 
skandierbaren Trimeteranfang bekäme. Die Interpretation „mlt meiner Z.“ verbietet sich 
folglich schon aus metrischen Gründen. Die Stelle ist übrigens bereits von Arevalo richtig 
verstanden worden, der sie im Sinne von ‘Christus est mea lingua’ gegen frühere Verbesserungs- 
versuche (z. B. mea signa) mit Recht verteidigt. Vgl. auch das unmittelbar folgende ipse ex- 
plicabit' etc. 


Kritiken 181 


P. 9,5, was S. 46 u. 768 sub vocibus ebenfalls richtig eingeordnet ist. Vgl. Th. L. 
L. II 897, 2. 9ff.). Das dürfte genügen. 

Andere Fehler: S. 7 addere: P. 5, 288 ist imperat. pass. (neben exsurge), muß 
somit ein eigenes Lemma haben (der gleiche Lapsus S. 103 cingere: C. 3, 27 ‘cingere 
tempora' neben sperne, liga; S. 106 claudere: Ps. 92 neben occide, pete). Schlimmer 
ist, daB S. 206 unter egerit (ago) auch P. 5, 204 spumas . .. frendens egerit’ steht. 
Natürlich praes. é-gero! S. 213 esse: die einzige Form des inf. von edere „essen“ 
hätte doch abgetrennt werden dürfen (A. 353 'azymon esse’). S. 417 mercatus: 
von den 3 Beispielen ist A. 710 subst. (acc. pl.); Ps. 534 und D. 17 sind part. perf., 
also müßte abgetrennt werden. S. 486 ollis liest man: angelus hanc hospes legem 
praescripserat ollis' H. 730 (sc. Loth cum suis); darunter steht 'si numen ollis, numen 
et porris inest’ P. 10, 265. Es sind also dat. pl. des Pron (,jillis") und der gleiche 
Casus von olla , Topf“ verwechselt worden! 

S. 547 pone: unter den 4 St. ist P. 5, 301 auffallend, weil pone hier = ,,depone", 
also imperat. ist; die übrigen 3 Beispiele jedoch haben pone adv. „hinten“! Nicht 
schön ist, daB S. 736 unter 'tempora' (1 und 2) auch die Fälle verzeichnet sind, wo 
es sich um das andere Wort tempora — „Schläfen, Wangen“ (z. B. C. 3, 27; Ps. 
30; c. S. 2, 1106) handelt. Und unter versus (S. 794) sind in einem einzigen Lemma 
drei verschiedene Wörter vereinigt: 1) A. 1002 'sursum versus agit', folglich adv. 
2) P. 9, 79 *emendes ... inspectos ... versüs' zeigt, daß hier acc. pl. des Subst. 
versus gebraucht ist. 3) P. 12, 17 und D. 96 endlich sind part. perf. pass. von 'ver- 
tere’. Selbst bei einem weit weniger abteilenden Verfahren hätten für versus drei 
Lemmata gegeben werden müssen. Schließlich sei auf S. 827 ‘voluit’ verwiesen, 
wo unter das perf. von ‘velle’ auch Formen von ‘volvere’ mit aufgenommen sind 
(c. S. 1, 290; P. 5, 327; 14, 97); das kommt daher, daß u und v wie bei B. gleich 
gedruckt werden (u). Und bei quacumque (S. 589) fehlt Ps. 447, da dieses Bei- 
spiel auf S. 147 unter ‘cumque’ geraten ist. Es handelt sich um eine sog., Tmesis“: 
qua se cumque fugax trepidis fert cursibus agmen', so daß infolge übertriebener 
ÁuBerlichkeit die Stelle sinnwidrig verschoben wurde. 

Was wir bis jetzt gesehen haben, nümlich eine viel zu mechanische Arbeitsweise, 
das zeigt sich ebenso im Ausschreiben der Zitate. Wir haben schon oben S. 177 
bemerkt, daß gegen das Bestreben, ein Zitat möglichst im Wortlaut anzuführen, 
nichts einzuwenden ist. Der Wortlaut muß aber so gewählt sein, daß er sowohl die 
grammat. Beziehung des Lemmas wie dessen Bedeutung klar hervortreten läßt und 
den Benutzer der Mühe enthebt, jedesmal noch an den Text selber heranzugehen. 
Ein sinngemäßes Ausschreiben kann ja schon gewissermaßen die „ersten lexi- 
kalischen‘‘ Dienste tun. 

Die Herausgeber achten aber offenbar mehr darauf, daß sie tunlichst ganze 
Verse (oft noch längere Stücke) bieten, als daß sie das ausschreiben, was gram- 
matische Funktion und Sinn verlangen. Ein weniger starres Festhalten an diesem 
„Versprinzip“ hätte sowohl die Konkordanz wesentlich kürzer gemacht, als auch 
die Beurteilung der einzelnen Gebrauchsweisen bedeutend erleichtert. 

Einige Beispiele: S. 59 ausa (2): ausa sacerdotes domini, qui proelia forte 
ductores primam ante aciem pro laude gerebant virtutum' Ps. 498. Wer verstehen 
will, was in diesem Satze 'ausa' eigentlich zu tun hat, der muB den Text selber 
heranholen. Denn jeder sieht sofort, daß alles, was auf ‘domini’ folgt, ein Rel.-Satz 
zu sacerdotes ist und nichts für ausa aussagt. Die letzten 11 Worte sind überflüssig. 


182 Kritiken 


Schreibt man dagegen: (Avaritia, v. 481) ipsos temptare manu (v. 497) ... ausa 
sacerdotes domini’, dann ist der Wortlaut einwandfrei gegeben; statt 14 Wörtern 
kommt man mit 7 aus und erreicht erst noch, daB der Benutzer das Zitat ohne 
Text versteht“. S. 42 ara (2, abl): mira loci pietas et prompta precantibus ara’ 
P. 11, 175. Jeder, der diese Stelle liest, wird konstruieren *prompta ara precantibus 
(est) und sich wundern, warum dann ara unter dem abl. steht. Der Text befiehlt 
folgende Ausschreibung: 'prompta precantibus ará spes hominum ... iuvat'; d. h. 
„denen, die am Altar beten“. Zu verbinden ist folglich prompta . . . spes. Statt der 
Worte mira loci pietas, die für ara belanglos sind, hátte spes gesetzt werden müssen. 
S. 76 calculanda: nam calculanda primitus' P. 2, 131. Man fragt mit Recht „wer?“, 
nämlich summula. Das Zitat wäre kurz und bündig calculanda ... summula; auf 
nam und primitus kann man verzichten. S. 160 defluit: ‘vestis ad usque pedes 
descendens defluit imos temperat' Ps. 634. temperat kann wegfallen; bringt man es 
schon, dann muB man auch das Obi. (gressum ebda. 635) zusetzen; doch natürlich 
hat es mit defluit nichts zu schaffen (derartige Fälle sind sehr häufig). S. 244 fida 
(2, voc.): 'fida parens, habitus! equidem praedivite cultu inlustrata cluis' c. 8. 
1,416. Die auf 'fida parens' folgenden Worte sind nicht nur ganz überflüssig, sie 
sind auch unverständlich. Gemeint ist 'exue tristes ... habitus!’ Gerade dieses 
Beispiel zeigt, wie mechanisch das meiste gemacht ist. S. 266 freni: 'Vix haec ille, 
duo cogunt animalia freni' P. 11, 89. Da der Hexameter zu Ende ist, hört auch das 
Zitat auf, obwohl freni in der Luft hüngt und 'vix haec ille' mit dem Lemma gar 
nichts zu tun hat. Schriebe man: ‘duo ... animalia freni ignara’, dann wüßte jeder 
Bescheid. S.544 plumigeram: 'vimina plumigeram seriem' C.3,44. Entweder 
Plumigeram seriem' oder dann 'vimina pl.s.impediunt'! S. 754 trahi: 'Aegypti 
per plana trahi glaebasque rigentes’ c. S. 2, 933. Man denkt, 'glaebas' hänge wie 
‘plana’ von ‘per’ ab und man vermiBt das Subi. Zu schreiben wäre für 'trahi': 
ne ... arida possint/Aegypti per plana t.' (glaebas ist Obi. zu *mollire' v. 934). Diese 
paar Beispiele dürften hinreichend sein, um von der áuBerlichen Zitiermethode 
eine Vorstellung zu geben?. 

Sachlich nicht weiter zu beanstanden, dagegen sehr unpraktisch und raumver- 
schwendend ist ferner die Tatsache, da8 die Herausgeber überall da, wo in einem 
Zitat dieselbe Wortform zweimal begegnet, grundsätzlich das Zitat wiederholen. 
So etwa S. 25 alius: non alius segetes et spicea farra subpeditat deus' c. S.2, 217; 
unmittelbar darauf: non alius segetes (so, nicht segestes) ... subpeditat deus aut 
alius dat musta racemis' c. S. 2, 218. S. 68 bonus: 'atqui nec bonus est nec con- 


Warum übrigens dieses ausa als extra Lemma abgesetzt ist, weiß ich nicht; C. 6, 110 
(füge sc. Charybdis’ = ‘Antichristus’ hinzu) und P. 6, 106 sind genau gleich und stehen zu 
Unrecht unter ausa (1) allein. Die Auslassung der Subi. sowie der zu Adi. gehörigen Subst. 
sind für die ganze Zitierweise charakteristisch: Meist, wenn das Subi. oder das Subst. aus dem 
Vorhergehenden zu entnehmen ist, fehlt der für das Verständnis unbedingt nötige Zusats. 
Ähnlich verhält es sich z. B. in entsprechenden Fällen mit den von Verben abhängigen Er- 
gänzungen (Obi., Inf. u. dgl.). 

* Vgl. vor allem noch 8. 381 inmanes: ‘inmanes placido dogmate seminans' c. 8. 1, prf. 4. 
Niemand kann das konstruieren; das Zitat müßte, wollte man den Wortlaut von D.-C. be- 
wahren, so lauten: (Paulus) Christum per populos ritibus asperis inmanes placido dogmate 
seminans’. Man hätte also zwei ganze Verse und erst noch das Subi. aus v. 1 nötig. Tatsächlich 
jedoch ist für inmanes nur per populos ritibus asperis Ii.“ wichtig; den abl. causae ‘ritibus a.’ 
darf man aber nicht weglassen. Vgl. auch o. 8. 180. 


Kritiken 183 


laudabilis ille, qui non sponte bonus’ H. 692; es folgt wörtliche Wiederholung mit 
„H. 693“. S. 627 respicit: ‘non respicit ultra Loth noster’ H. 765 und non respicit 
ultra Loth noster, fragilis sed coniunx respicit' H. 766. Diese Fälle sind unendlich 
oft anzutreffenꝰ. 

Nach diesen inhaltlichen und sachlichen Bemerkungen noch ein paar Worte 
zum äußeren Bild: Sehr anerkennenswert ist die für eine Konkordanz unerläßliche 
Totalität. Die Herausgeber scheinen hier, soweit meine Stichproben!® ein Urteil 
gestatten, bis auf eine allerdings merkwürdige Ausnahme die Vollstündigkeit 
erreicht zu haben. Bei dem oben charakterisierten Verfahren muB man diese 
Tatsache gebührend würdigen; denn die Gefahr, daB infolge der gewaltsamen Zer- 
reiBung zusammengehórender Wortformen die eine oder andere Stelle verlorenging, 
war immerhin groß. Man darf also (unter der Einschränkung, daß unser Urteil 
auf Stichproben basiert und unter Berücksichtigung dessen, was gleich über das 
Fehlen eines ganzen Verses gesagt wird) die Konkordanz im Sinne der Vollstándigkeit 
benutzen und bei einem bestimmten Worte der Überzeugung sein, daB man alle 
Stellen aus Pr. vor sich hat. 

Um so auffallender ist aber, daß der Vers Ps. 728/9 'sensibus in tuta valli 
statione locatis’ nicht aufgenommen ist; unter keinem der 6 Kennwörter ist er mit 
verzeichnet. Da D.-C. sonst nirgends auch nur den leisesten Versuch gemacht 
haben, bei textlich problematischen Versen anzugeben, daß es die und die ver- 
schiedene Lesart gibt!!, sondern einfach sklavisch ohne eine diesbezügliche Notiz 
den Text von B. abdrucken, so ist nicht ersichtlich, aus welchem Grunde sie diesen 
von B. zusammengezogenen Vers überhaupt weggelassen haben. 

Ein weiterer technischer Vorteil ist ferner, daB die Stellenziffern mit ver- 
schwindenden Ausnahmen genau sind. Ebenso ist der Druck im Ganzen zuver- 
lässig. Daß in einem so umfangreichen Werke Druckfehler nicht zu vermeiden waren, 
ist selbstverständlich. Ich stelle hierbei nur einige von denjenigen richtig, die ein 
falsches Lemma verursacht haben und also das Nachschlagen erschweren: 

S. 69 cacere (gleich das erste Wort von C): lies carcere (richtig im Zitat); gehört 
nach S. 83 sub 'carcere'. S. 74 caenosa: lies caenoso, danach zu verschieben. S. 80 
capias: lies copias, kommt nach S. 129 zwischen copia und copiis. Ebenda capillas: 
lies capillos (in den Zitaten richtig), also nach capillo einzureihen. S. 87 castarum: 
lies costarum (richtig Zitat); nach S. 136. S. 96 charis: lies choris (so Zitat), gehört 
weiter nach unten. S. 108 cocata: lies coacta (so Zitat), kommt an 3. Stelle derselben 


* Nicht weniger unpraktisch sind diejenigen Zitate, in denen zwei verschiedene Formen 
ein und desselben Wortes vorkommen. So etwa 8. 71 caecorum: sed lumine cassis caecorum,; 
caecos loquor, atra socordia quorum’ A. 126. Daran schließt das Lemma caecos, das mit genau 
den gleichen Worten belegt ist. Für caecorum hätte (oculis) .. . lumine cassis caecorum’ genügt 
(ohne ‘oculis’ undurchsichtig); unter caecos wäre ‘caecos loquor’ hinreichend gewesen. Beidemal 
ist der halbe Rel.-satz, der kein Verb hat, überflüssig. Weiter etwa S. 191 docui/docuisse u. oft. 
Konsequent wird allerdings auch hierin nicht verfahren; s. z. B. unter dic (S. 176), wo C. 9,83 
und A. 348 je zweimal der Imperat. im gleichen Verse vorkommt und trotzdem das Zitat nur 
je einmal aufgeführt wird. 

30 Ich habe folgende Verse Wort für Wort nachgeprüft (durch eigene Verzettelung): C. 3 
gans (205 V., katal. dakt. Tetram.); A. 321—350 (Hexam.); H. 952—906 (den Schluß d. hexa- 
metr. Ged.); c. S. 2, 1—22 (Hexam.); P. 5, 1—40 (akatal. iamb. Dim.). Diese etwas mehr als 
300 Verse aus versch.Gedichtarten dürften doch ein gewisses Urteil hinsichtlich Totalität erlauben. 

' Das ist ein bedauerlicher Fehler; es hätte der Konkordanz nur genützt, wenn sie auch 
wenigstens die wichtigsten Varianten aufwiese. 


184 Kritiken 


Seite. S. 216 fehlt nach eundem' das Lemma eundum' (P. 12, 26). S. 217 exanima: 
lies examina. S. 235 fehlt nach fecerit' das Lemma fecero (P. 10, 140). S. 263 
fragendum: kommt als frangendum (so Zitat) auf S. 264. S. 341 insouitum: lies 
insolitum. S. 366 lannugine: lanugine. S. 407 masci: lies nasci (richtig Zitat), das 
Lemma zu tilgen und die St. sub ‘nasci‘ S. 445 zu bringen. S. 410 medicata: lies 
medicato. S. 565 primituum (auch im Zitat): lies *primitivum', gehört vor primitus. 
S. 573 prodigio: lies prodigia (richtig Zitat), zwischen prodigam und prodigialia. 
S. 613 lies statt redimere: redimire (so Zitat), nach 'redimicula'. S. 698 sperenda: 
lies ‘spernenda‘ (richtig Zitat), hinter ‘sperne‘ einzureihen. S. 703 spuris: lies (wie 
Zitat) 'spurcis'; kommt S. 702 vor 'spurcissima'. S. 710 suadere: Lemma zu tilgen, 
gehórt S. 716 'sudare' (das Zitat richtig). S. 778 uridi: lies viridi (auch Zitat falsch); 
kommt nach S. 813 zwischen ‘virides, viridi. S. 806 uigo: lies iugo, nach S. 357 
(Zitat richtig). S. 832 lies vulpes statt vulpas!*. Endlich ist unter ‘supra‘ (S. 724) 
die Zahl ,,P. 3, 60“ zu tilgen und als ‘super‘ auf S. 721 aufzunehmen: Überall, wo 
das Zitat erscheint, liest man supra (bei astra, pararet, iter). Es handelt sich aber 
um einen reinen Druckfehler bei B., den die Herausgeber nicht h&tten aufzunehmen 
brauchen; ‘supra astra‘ konnte Pr. nicht schreiben (Hiat!) und er hat denn auch 
sonst immer ‘super astra‘ (A. 197; c. S. 1,590; 2, 66. 868). Vgl. auch die früheren 
Ausgaben. 

Störend ist schließlich der Umstand, daß auf S. 417 nach mereri“ plötzlich die 
alphabetische Ordnung unterbrochen ist: es folgen die Lemmata ‘mille‘ bis mira 
(S. 420), dann kommen *meretricis* bis *militum' (S. 424) und hier schließen endlich 
die auf mira folgenden Wörter an (‘mirabere‘ usw.). S. 420—424 müssen somit ent- 
sprechend umgestellt werden. 

Unsere Ausführungen zeigen, was man an der in Rede stehenden Pr. Konkordanz 
hauptsächlich vermißt: eine sinngemäße Durcharbeitung des umfangreichen Sprach- 
materials. Statt bloßer äußerlicher Registrierung des Stoffes hätte eine mehr geistige 
Durchdringung, ein auch nur in den allerersten Bahnen sich bewegendes Interpre- 
tieren das Werk zu einem weit besseren Hilfsmittel für jede Pr.-Forschung gemacht, 
als es jetzt ist. Was wir jetzt besitzen, ist eine rein mechanische Aneinanderreihung 
von Wortformen, die selber wegen der oben erörterten Umständlichkeit nicht einmal 
rasch zu finden sind. Hätte man aber z. B. wenigstens nur jeweils die gleichlautenden 
Verbindungen zusammengenommen, anstatt an dem starren Schema, innerhalb 
eines jeden Wortes streng in der Reihenfolge der Schriften zu zitieren, festzuhalten, 
so wäre sofort etwas für den Dichter besonders Charakteristisches (s. o. S.176, Anm.2) 
herausgekommen und das Werk wäre so zu einem wichtigen Ratgeber prudentiani- 
scher Diktion geworden. Dazu natürlich viel kürzer und praktischer. 


!* Merkwürdig ist, daß sich manche innerhalb der Zitate auftretende Druckfehler öfter 
an andern Stellen, wo die gleichen Beispiele unter anderm Lemma gebracht werden mußten, 
wieder finden, aber nicht überall im betr. Zitat. So liest man z. B. 8. 416 unter mentes für 
P. 1, 09 'stragulant' mentes usw.; der Fehler wiederholt sich 8. 425 bei miscent und bedaner- 
licherweise auch 8. 708 im Lemma (es folgen: stragulant, stramenta, stramine und richtiges 
strangulant) wie im dortigen Zitat; nicht aber 8. 663 unter sensibus. 8.271 fulcro (c. 8.1, 
275) steht recumbantem'; dasselbe findet sich unter Iove (8. 354), aber nicht unter porgere, 
medio und dem Lemma recubaptem selbst. 8. 337 inpube: P. 9, 26 ‘monuerant’ statt mouerant 
= moverant; ebenso unter ira (8. 349) und vulgus (S. 830), nicht aber als Lemma (8. 437) und 
unter metu (S. 422). Die drei Beispiele für viele. S. 25 ist übrigens unter 'alium' zweimal 'aliud' 
(c. 8. 2, 847; P. 11, 215) geraten. 


Kritiken 185 


Wenn man also, um ein konkretes Beispiel zu bringen, in der angedeuteten 
Weise verfahren wäre, dann würde das o. S. 184 zitierte ‘super astra‘ so aussehen: 
nemo Cloacinae aut Eponae super astra deabus dat solium' A. 197 (c. S. 1, 590; 
2, 66. 868; P. 3, 60); für jedermann wäre das Zitat verständlich, wenn es auf diese 
Weise unter dem Stichwort ,astra' angeführt würe. Entsprechend würe dann unter 
dem Lemma ‘super‘ das Wort astra“ zu sperren, woraus hervorginge, daß in allen 
innerhalb der Klammer genannten Fällen ‘super‘ mit 'astra' verbunden ist usw. 
Daß dieses Verfahren außerdem noch den Überblick erleichtert, ist klar. 

Und würde endlich statt der Formenalphabetisierung nach der „Grundform“ 
gearbeitet, also statt der 13 Lemmata gemina-geminus (was als Typus gelten mag) 
nur ‚geminus‘ angesetzt und unter diesem Stichwort nach Art des super-Beispieles 
das ganze Material angeordnet, dann wäre ohne große Erschwerung der Ausarbeitung 
ein Hilfsmittel entstanden, das ungefáhr die Mitte einnáhme zwischen der jetzt 
vorliegenden Konkordanz und einem wirklichen Lexicon Prudentianum. 

Vielleicht berücksichtigt die,, Mediaeval Academy of America“ diese grundsätz- 
lichen Ausstellungen und verwertet sie in einer ihrer nächsten Publikationen. Sie 
würde damit sicher den Dank aller ernten, die sich aus irgendeinem Grunde mit einem 
der von ihr bearbeiteten Autoren abgeben. Aber auch so werden wir dankbar an- 
erkennen, daß die Lücke, die mangels eines Pr.-Lexikons besteht, doch einigermaßen 
ausgefüllt ist und daß wir in dieser Konkordanz ein Werk vor uns haben, das uns trotz 
mancher Mängel in der Gesamtanlage wie im Einzelnen gestattet, den sprachlichen 
Problemen des Dichters bequemer und sicherer nachzugehen, als es bis heute mög- 
lich war. 


München. Gustav Meyer. 


Mankind, Sächsische Geschichten. Auf Grund des Textes der Scriptores 
rerum Germanicarum und nach der Übersetzung von Reinhold Schottin 
in der Ausgabe von W. Wattenbach. Neu übertragen und bearbeitet von 
Paul Hirsch. Im Anhang die Schrift über die Herkunft der Schwa- 
ben, hg. von W. Wattenbach, sowie Ibrähim ibn Ja'qfübs Bericht 
über die Slavenlánder, neu übersetzt von Georg Jacob. 5. Aufl. Leipzig: 
Verlag der Dykschen Buchhandlung, 1931. (Die Geschichtschreiber der 
deutschen Vorzeit. In deutscher Bearbeitung hg. von G. H. Pertz (u. a.]. 
Zweite Gesamtausgabe. Fortgesetzt von Karl Brandi. Bd. 33. 5. Aufl.) 
XLIII, 208 S. 8. AA 8,55; geb. AM 9,90. 


Noch vor der in Vorbereitung befindlichen 5. Ausgabe des Werkes Widukinds 
in den Scriptores rerum germanicarum, die Paul Hirsch übernommen hat, ist von 
demselben diese 5. Ausgabe der wissenschaftlichen Übersetzung erschienen. 
Die Worte des Untertitels „Neu übertragen und bearbeitet‘ erfahren ihre 
Aufklärung auf S. XXXVIII der Einleitung: „Die vorliegende Ausgabe nimmt 
zwar den bisher nahezu unveründert beibehaltenen Wortlaut der Schottinschen 

zur Grundlage; doch schien es ratsam, die nach achtzigjähriger Geltung 
allm&hlich etwas veraltete Sprache auch an solchen Stellen, die sachlich nicht zu 
beanstanden waren, mehr oder minder stark zu ändern. Im Ganzen war der Neu- 
herausgeber bestrebt, die Übersetzung móglichst dem lateinischen Text anzugleichen, 
wo nicht in wórtlicher Wendung, so doch im Gedankengang. Hierbei ist stellenweise 


186 Kritiken 


einer Annäherung an andere Verdeutschungen ... mit Bewußtsein nicht ausge- 
wichen worden, wenn sie der Schottinschen Übertragung vorzuziehen schienen.“ 
Es mischt sich also in der vorliegenden Gestalt fünferlei Deutsch: Schottins, 
Wattenbachs, Erlers, Gundlachs, Hirschs. 

Das MaB an Bedenken demgegenüber wird, je hóher man die 8 
jedes der Genannten einzuschätzen geneigt wäre, auch um so höher sein; je geringer 
man aber davon denken möchte — das Maß an Bedenken will erst recht nicht ab- 
nehmen. 

Dasteht eine Ubersetzung. durch welche hindurch man das Latein hört, 
jedoch nicht so, daß der „Geist“ der fremden Sprache uns zwar fremd, aber als 
Geist berührte; statt dessen begegnen wir einem bloBen CompromiB: zwischen der 
Wörtlichkeit der Übersetzung von Wort zu Worte, und den unvermeidlich zu er- 
füllenden Forderungen deutscher Wortstellung, deutschen Satzbaues — das durch 
gelegentlichen Gebrauch gewohnter Wortverbindungen um so fühlbarer wird. 

Wörter „treu“ übersetzen zu wollen, ist ein Ungedanke; das Wort kommt zu 
seiner Wirklichkeit im Satz, dieser bestimmt seinen Sinn. Übersetzen heißt vom 
Satz her übersetzen, noch mehr: vom ganzen Context her. Man empfindet nicht, 
daß der lateinisch geformte Sinn erst einmal „flüssig‘‘ und dann in deutscher Sprache 
wieder Gestalt geworden wäre; keine „Freiheit“ — die etwas ganz anderes ist als 
Willkür und Ungefähr, vielmehr Freiheit unter dem Gesetz der gebildeten Spra- 
che, nicht allein des Wórterbuches und der Sprachlehre. Solche Sprache darf sehr 
geprägt persönlich sein, um so schärfer vermag sie den Sinn der fremden Vorlage 
bis in seine zartesten Bestimmtheiten wiederzugeben. Wörterbuch-Wörtlichkeit 
und vollkommene Treue bedingen einander negativ: indem sie einander ausschließen. 

Sollte ein Übersetzer sich versehen und genu und gena, amica und amita ver- 
wechselt haben, so läßt sich dergleichen berichtigen; handelt es sich nicht um solche 
Berichtigungen, so bedeutet jeder Eingriff in eine persönlich geprägte Übersetzung 
eine Zerstórung ihrer Organik; war aber nicht viel zu verderben, so durfte nichts 
stehnbleiben und war ein gánzlicher Neubau unerlüBlich. Jetzt bleibt nichts übrig 
als hinzunehmen, daB eine Übersetzung vorliegt, die Studierenden zur Vorberei- 
tung um so willkommener sein wird, je geringer die Kenntnis des Lateinischen 
und die Neigung sie zu erweitern ist. 

Wilhelm Wattenbachs Einleitung ist beibehalten (S. VII—XV). Dagegen 
ist nichts Entscheidendes einzuwenden, obgleich mancherlei darin heute zum we- 
nigsten mit Fragezeichen würe zu versehen gewesen. Auch die Schulmeisterung 
„sehr unglücklicher Etymologien" Widukinds, „wie er denn ... Hermes mit Ares 
verwechselt" (I c. 12; S. XI), empfindet man nicht mehr als so befriedigend wie 
vor achzig Jahren; ein Historiker hat vielmehr zu fragen und verstehn, welches 
andere Verhältnis zur Sprache und Sprachbewußtsein in solchen mittel- 
alterlichen (wie antiken) „ falschen“ Etymologien sich ausdrückt, — daB eine Ety- 
mologie des 10. Jahrhunderts etwas ganz anderes meint, als eine der vergleichenden 
Sprachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. 

Bedenklicher als solche Bewahrung des Fragwürdigen und Unzulänglichen 
ist stillschweigende Berichtigung der Darstellung Wbch.s, wodurch diese (wenn 
auch sachlich zutreffend) in ihr Gegenteil verkehrt wird, so *S. XIV.: „An 
diesen beiden Stellen [I c. 22; III c. 2] hat auch die Fassung B Zusätze, welche 
offenbar von Widukind selbst herrühren“. Wbch.s Worte haben in Wahrheit 


Kritiken 187 


gelautet: „An diesen beiden Stellen hat auch die Steinfelder Abschrift [B1] Zu- 
sätze, welche nicht von W. herzurühren scheinen". Der einfache und zugleich 
legitime Ausweg wäre gewesen, Wbch.s Darstellung des Handschriftenverhültnisses 
wegzulassen ; niemand würde sie vermißt haben, da die eigene Einleitung des Heraus- 
gebers das Verháltnis der Texte ausführlich erórtert, und den Fachmann nimmt 

‚under, daß Wbch. 1852/82 etwa sollte Reincke-Blochs Ergebnisse von 1913 vor- 
getragen haben. 

Umgekehrt wiederholt Hirsch in eignem Namen Anschauungen Wbch.s und 
seiner Zeit, wo bessere Einsicht hätte geltend gemacht werden müssen: daß nämlich 
das Latein der Literatur des Mittelalters als eine lebendige Sprache nicht an ,,dem 
Latein“ „der römischen Literatur zu messen ist. Wir lesen aber (S. XV) von Widu- 
kinds „gegen Grammatik und Syntax auf Schritt und Tritt verstoBendem" Latein 
(— gegen Lucretius' oder Ciceros oder Tacitus'?) Schon Wattenbach hatte 
(S. XII) gesehen, welcher bestimmte Stilwille Widukinds zuweilen hindert, ihn 
auf den allerersten Blick zu verstehn; und was derselbe Wbch. (a. a. O.) schon 
angerührt hatte, wie Widukinds Sprache und Geschichtsanschauung 
einander bedingen und tragen — eine Ausführung über dieses für das ganze 
Verständnis des Werkes grundlegende Verhältnis, worauf inzwischen durch ver- 
schiedene Forschungen neues Licht gefallen ist, vermissen wir in Hirschs Einleitung. 

Diese behandelt die Entstehungsgeschichte des Werkes (S. XV ff.), „die Person 
des Verfassers (S. X XVff.), seine politische Anschauung und Stellung, seine Quellen 
und Unterlagen (S. XXVIIIff.), sowie die weitere Geschichte seines Werkes (S. 
XXXV.) ohne daB wesentliche neue Ergebnisse vorgetragen würden; die 
Darstellung besonders der Textgeschichte durfte an dieser Stelle, in den G. 
d.d. V., kürzer sein. Ein Versuch, Widukind aus und in seinem Werke tiefer zu 
verstehn, ist nicht gemacht; selbst Gegenstücke zu der schlechten Zensur seines 
Latein finden sich, wo „der übertriebene! Schwulst der Widmungen“ oder „des 
Verfassers übertriebene! Nachahmungssucht gegenüber seinen römischen Dar- 
stellungsmustern" gerügt werden (S. XXVIII Anm. 1; S. XXX); solche Negationen 
bezeichnen haarscharf, wo der „ Positivismus“ an seine Grenzen gestoßen ist, viel- 
mehr sie schon überschritten hat, — daB nicht nur nichts mehr verstanden, sondern 
daB auf Verstehn verzichtet ist. Der Hg. ist Widukind durchaus freundlich gesinnt, 
er schätzt und achtet ihn hoch und entschuldigt ihn gerne, wo er ihm es zu bedürfen 
scheint. 

Wir bekennen uns ohne Einschránkung zu gleicher Hochachtung und Liebe; 
das Werk Widukinds móchten wir noch hóher einschátzen und insbesondere über 
das *wohlmeinende' Urteil hinausgehen, zu welchem Hirsch über eine der bekann- 
testen und meisterörterten Erzählungen gelangt (S. XVI—XVIII). Es handelt sich 
um den Bericht über die Ungarnschlacht bei Augsburg 955 (III c. 44—46) 
und seine Unterbrechung in c. 46. H. ist geneigt, diese „Zerreißung‘‘ als „ gewollte 
Kontrast wirkung“, nicht aber als „künstlerische Tat“ anzusehen (S. XVI Anm. 1). 
Da das Urteil über die historiographische Kunst Widukinds wesentlich ab- 
hangt von zutreffendem Verständnis dieser Stelle, liegt uns daran, sie hier schärfer 
zu betrachten, als bisher geschehen zu sein scheint. Dieser Ungarnsieg ist in Widu- 


Von mir gesperrt; „Schwulst‘“ und ,,Nachahmungseucht sind wohl schon selbst 
Übertreibungen". 


188 Kritiken 


kinds Augen das größte und bedeutendste Ereignis in der ganzen Geschichte des 
Königs; durch ihn wird Otto in W.s Vorstellung zum imperator: triumpho celebri 
rez factus gloriosus ab exercitu pater patriae imperatorque appelatus est 
neque enim tanta uictoria quisquam regum intra ducentos annos ante eum laetatus est 
(III c. 49). Außerdem aber hatte W., als von einem mit dem Ungarnkriege gleich- 
zeitigen Ereignisse, von dem unglücklichen, mit schwerem Verlust und unrühmlicher 
Flucht endenden Slawenzuge des preses Thiadrik* zu berichten, den dieser unter- 
nahm, als Otto schon nach Süden gegen die Ungarn unterwegs war. Die Sieger des 
Lechfeldes waren Baiern, Schwaben, Franken; weniger als der achte Teil, aber 
vielleicht viel weniger, pauci admodum (1IIc. 44), waren Sachsen; solche allein 
waren mit Thiadrik gewesen. 


Der Geschichtsehreiber der Sachsen stand vor einer schwierigen Aufgabe, 
wollte er nicht die Geschichte Thiadriks unterschlagen. DaB er dies nicht getan hat, 
zeugt für seine Redlichkeit; wie er sie mit seiner Erzählung der Ungarnschlacht ver- 


bunden hat, zeigt ihn als einen aus schönem und echtem Gemüte denkenden Mann. 


Im 44. Kapitel erzählt er zunächst den Hergang von der Gesandtschaft der Ungarn 
nach Sachsen circa Kal. Iulii bis zum Aufmarsch des deutschen Heeres zur Schlacht, 
numero VIII quasi legionum. Das Treffen beginnt mit dem unvermuteten Angriff 
der Ungarn vom Rücken her, durch welchen die drei hinteren Abteilungen der 
Heeressáule (die 8., 7. und 6., die bóhmische und beide schwäbischen) nach sehr 
schweren Verlusten (plurimis ex eis [der 7. und 6. legio] fusis?) in helle Flucht auf- 
gelöst wurden. Otto, der die 5., die stärkste und aus erlesenen Leuten aller Stämme 
gebildete Abteilung, den Kern des Heeres befehligte, entschlieBt sich angesichts 
dieses bedrohlich ungünstigen Standes der Schlacht (cum intellexisset bellum ex 
adverso esse), die 4., fránkische Abteilung unter Herzog Konrad nach hinten zu 
ziehen. Dieser gelingt es in überraschendem Gegenangriff, den Ungarn ihre Ge- 
fangenen und Beute wieder zu entreiBen, die Ráubernden teils zu zersprengen, die 
übrigen zu erschlagen (fusis*). Als Sieger kehrt Herzog Konrad zurück; mirumque 
in modum, cunctantibus ueteranis militibus gloria uictoriae assuelis, cum nouo 
milite et fere bellandi ignaro triumphum peregit. Mit dieser Reflexion „gemischter 
Stimmung" schließt Widukind das Kapitel5. Nicht minder deutlich setzt das folgende 
(45.) ein, von dem unglücklichen Slawenzug der Sachsen unter Thiadrik: Dum ea 


* Warum verhochdeutscht H. den Namen halb: „Thiad rich“ ? Entweder ganz hoch: 
deutsch „Dietrich“, oder ganz altsáchsisch, wie oben (th wie englisch zu sprechen). 


* An der ersten Stelle übersetzt H. fusis zutreffend: „machten ... nieder" — die ent- 
gegensetzenden Worte daneben: in fugam uerterunt machten ein Mißverständnis unmöglich; 
an der zweiten steht bei ihm zu lesen, daß Konrad die ,,plündernden Horden davonscheuchte 
[proturbauit]. Nachdem er dann diese plündernden Scharen der Feinde [dieselben I] in die Flucht 
geschlagen hatte [fusis]'' etc. Der Unterschied zwischen ,,davonscheuchen'' und ‚in die Flucht 
schlagen'' ist hier ebenso unerfindlich, wje es bare Willkür bedeutet, dasselbe Wort fusis an 
dieser Stelle in ganz anderer Bedeutung zu verstehn: als 4 Zellen früher. 


* Davon haben wir vorher nichts gehört! Es kann allein die 5., die erlesene legio regia 
gemeint sein, an der nach der Niederlage der 8., 7. und 6. das Eingreifen gewesen wäre (von 
alacer iuuentus war innerhalb ihrer der König persönlich umgeben, ipse uallatus) ; nicht gemeint 
sein können die vorderen, im Augenblick hinteren, die 3., 2. und 1. Für die 5. griff dann die 4. 
ein. — Dazu fügt sich, daß als nächste Hörer der Ansprache Ottos wieder die 5. vorzustellen ist 
— über den Sinn dieser Ansprache s. unten. 


Die Kapitelzählung ist nach ihm eingeführt worden. 


Kritiken 189 


geruniur in Boioaria, etc. Die sich anschließenden Sätze sind unverstándig davon 
ab- und dem 46. Kapitel zugeteilt worden, welches nun beginnt: Ingens inlerea 
pauor omnem Sazontam trepidam pro rege el ezercilu eius pro hac re aduersa 
[se. Thiadrici] inuasit. terrebant nos prelerea portenia $nusilala etc.: Die um den 
König und sein Heer (wie der Leser weiß, mit Recht!) besorgten Sachsen befällt 
vollends bleiche Angst nach Thiadriks Niederlage; dazu kommen böse Vorzeichen, 
einzeln aufgezählte und andere, dictu horrenda et propterea nobis pretereunda. Widu- 
kinds nächste Worte, ja ihr ganzer vor- und rückwärtiger Zusammenhang bleiben 
freilich unverständlich, solange man sie nicht verstanden hat und „übersetzt“: 
,Als nun der Kónig erkannte, daB er jetzt die ganze Wucht des Kampfes von 
vorne zu bestehn haben werde“ (Hirsch S. 126), hielt er nämlich, um den Mut 
und die Gesinnung des Heeres zu stärken, eine kurze Ansprache, die ihre Höhe er- 
reicht in den Worten: Melius bello, si finis adiacet, milites mei, gloriose moriamur, 
quam subiecti hostibus uiam seruiliter ducamus ... Darauf ergreift Otto Schild 
und heilige Reichslanze und sprengt als erster gegen die Feinde“. Deren Mutigere 
leisten zuerst Widerstand, fallen aber, durch die Flucht der übrigen verstórt, bald 
im Gedrünge in der Vereinzelung inmitten der angreifenden Deutschen. — Es folgt 
die Erzählung der Flucht und Verfolgung der Ungarn, von Herzog Konrads Tode, 
der Gefangennahme und Hinrichtung dreier ungarischen Führer, darauf die oben 
angeführten Sätze: triumpho celebri etc. (III c. 48). — 

Man versteht nicht — der Angriff der Ungarn vom Rücken her hatte das 
Heer der Deutschen schwer getroffen, das in der entgegengesetzten Richtung auf 
den Feind zu stoBen bereit war, und nun, nachdem der Entscheidungskampf auf der 
vorgesehenen Front des deutschen Aufmarsches stattfinden sollte, spricht Otto, 
nach H.s Übersetzung deshalb (s.o.) aus tiefer Besorgnis zu seinen Leuten. 
Als deren Ursache hätte man erwartet, die Niederlage der 8., 7. und 6. Abtei- 
lung angegeben zu finden, wodurch Hoffnung und Móglichkeit des Sieges sehr viel 
schwächer geworden waren. Die in H.s Übersetzung angeführte Begründung Widu- 
kinds für die tiefernste Ansprache Ottos, dessen Erkenntnis, ,,daB er jetzt ... 
haben werde" (s. o.), lautet im Lateinischen: Totum pondus prelis ez aduerso sam 
adesse [esse B1; iam ez aduerso esse Frut.] conspiciens rez exhorlandı gratia 
allocutus est socios hoc modo: etc. Was das auf Deutsch heißt, lehren, wenn überhaupt 
ein Zweifel aufkommen kann, dann sowohl die beiden kurz vorhergehenden ange- 
führten Stellen pro hac re aduersa (c. 46) und rez autem cum intellexisset bellum 
ez aduerso esse (c. 45), wie auch eine Überlegung des Zusammenhanges. Es heißt 
wörtlich: „In der Erkenntnis, daß die ganze Schwere /pondus ist ein Begriff der 
Statik, nicht ,, Wucht"] des Kampfes Id. i. der entscheidende Kampf] unter un- 
glücklichen Umständen? jetzt bevorstehe [nun unter ungl. Umständen stehe 
B; Frul.]", usw. Welche „unglücklichen Umstände“ (ich finde keine sprachlich 
noch nähere Übersetzung) gemeint sind, ist klar: der Teilsieg der Ungarn, durch 
den 3 von den 8 Abteilungen des deutschen Heeres bis auf Reste ausgeschieden 
waren. Darum ist Otto so ernst gestimmt (nach einer anderen Darstellung bedurfte 


* Zu seiner Übersetzung der Worte fortissimi militis ac optimi imperatoris officium gerens 
merkt H. an: „Ebenso unten Kap. 60° (8. 127 Anm. 3); in der 4. Ausgabe in den Scr. rer. Germ. 
steht richtig ,,/cf.7 Sallust. Cat. e. 60: eto. 

7 Von H.s an beiden Stellen verschiedener Übersetzung der Worte ez aduerso gilt Ent- 
sprechendes wie das in Anm. 3 Gesagte. 


190 Kritiken 


er selber des Zuspruches®), darum bedurften Mut und Gesinnung des Heeres der 
Stärkung. Von einer „gewollten Kontrastwirkung“ der c. 44, 45, 46 kann 
demnach nicht die Rede sein. Von dem Stimmungseinklang der c. 45, 46 in. mit 
c. 44 ist gesprochen; die trübe Stimmung herrscht in c. 46 noch weiter bis zu Ende 
der Worte des Königs. Der Gedankengang Widukinds in diesen Kapiteln ist deutlich: 
Beginn des Kampfes bei Augsburg mit einer Niederlage; in Sachsen Sorge um den 
König und sein Heer, erst recht nach Thiadriks Unglück, dazu portenta inusitata, 
Sorge des Kónigs selber um den Ausgang der Schlacht nach dem bósen Angang — 
zu dem auch das cuncíari der Veteranen gehört (s.o. Anm. 4); man ist versucht, 
auch dieses als von Widukind als portentum gemeint zu verstehn, vielleicht nicht 
gegen den Sinn des 10. Jahrhunderts — es war ein „Zeichen“, magisch oder empirisch 
verstanden. 

Also gewiß nicht zu schelten, aber für „lesende Schnelläufer“ nützlich anzu- 
merken bleibt, auf welche schöne und denkende Weise Widukind seine Erzählung 
der Schlacht auf dem Lechfelde durch diese Unterbrechung retardiert hat. In einem 
besonderen Sinne freilich hat er seinen Bericht gar nicht „unterbrochen“, indem 
er nämlich „uns über den Gang der Hauptschlacht völlig im Dunkeln 
läßt“ . Er weiß von Konrads Fall, einiges von der Verfolgung, sonst nichts. Mit 
der Erzählung des Rückenangriffs der Ungarn war sein Tatsachen- 
wissen von den Kampfhandlungen am Ende. Daran trifft ihn keine Schuld, 
so gerne wir mehr wüBten; er hat den Ausfall erzühlerisch geistvoll auszugleichen 
verstanden, überdies aber durch die „Stimmungsbilder‘‘: die Geschichte Thiadriks 
und Ansprache Ottos, historisch nicht minder Wichtiges mitgeteilt, als eine ein- 
gehende Schilderung der Schlacht gewesen wäre. 

Ein Urteil, ob Widukind auf der Höhe seiner Erzählungskunst allein in seiner 
Zeit steht, ist bei weitem nicht möglich, mangels Untersuchungen mittelalterlicher 
historiographischer Werke (welche die ganzen Texte, und von Satz zu Satz, Kapitel 
zu Kapitel usw., auf ihren Aufbau hin zu betrachten, zu analysieren und inter- 
pretieren hätten — in welcher Richtung zuletzt S. Hellmann über Einhard in dieser 
Zsch. 27, 1932, 40—110 vorgegangen ist). 

Welcher Gewinn hier noch zu erwarten steht, vermag schon eine nähere Betrach- 
tung der Urgeschichte der Sachsen zu lehren, mit welcher Widukind sein Werk 
anfängt. Sie anzustellen, legt Hirschs Übersetzung auch hier nur allzu nahe. Die 
Kritik jener Urgeschichte, gegen die wir uns zu wenden haben werden, rührt zwar 
nicht von H. her, dem sie entgangen zu sein scheint, sondern von dem verdienten 
Germanisten Wilhelm Wilmanns. Das 3. Kapitel des 1. Buches sagt: Für gewiß 
aber wissen wir, daß die Sachsen in dies Land zu Schiff gekommen und zuerst an 
einem Orte gelandet sind, der bis heute Hadeln heißt. Der Anfang des 4. Kap. lautet 
bei H.: „Die Einwohner aber, die Thüringer gewesen sein sollen, vermerkten ihre 
Ankunft übel und erhoben die Waffen gegen sie; die Sachsen jedoch leisteten kräftigen 
Widerstand und behaupteten den Hafen." Widukind sagt das gerade Gegenteil: 
„Da aber die Einwohner, die Düringe [nicht “Thüringer’!] gewesen sein sollen, ihre 


* Siehe Kópke-Dümmler S. 254 Anm. 6; ebenda noch andere Zeugnisse seiner Besorgnis. 

* Kópke-Dümmler S. 258 Anm. 3. So konnte auch Dümmler nicht mehr darüber bieten 
als die Sátze: ,, Wie lange Zeit die Gegenwehr des Feindes dauerte, wissen wir nicht. Doch war 
eine Zeitlang das Gefecht ein ziemlich blutiges für beide Teile ... Als die Flucht end lich III 
begonnen hatte“, usw. S. 258. 


Kritiken 191 


Ankunft sich übel gefallen lassen, greifen sie [die Ankömmlinge] gegen sie zu den 
Waffen; gegen den beftigen Widerstand der Sachsen aber behaupten sie den Hafen“ “. 
Mit anderen Worten: Die Sachsen werden auf ihre Schiffe zurückgeworfen. 
Neue unentschiedene Kämpfe folgen, schließlich ein Vertrag, wonach die Sachsen 
zwar Handelsfreiheit genießen, jedoch von Land und Leuten ihre Hände lassen 
und insbesondere keine Raubzüge tun sollten. Nachdem den Sachsen das Geld aus- 
gegangen war, und sie also Hunger zu leiden begonnen hatten, begibt sich ein junger 
Sachse mit seinem goldenen Schmuck, Halskette oder Halsring (torques) und 
Armringen (Baugen), an Land (egredi de nauibus), um diesen gegen Lebensmittel 
zu veräußern. Auf die Frage eines Dürings, was er dafür fordere, erwidert er — in 
seiner Not gar keines anderen Angebotes als eines von Lebensmitteln sich ver- 
sehend —: Jeder Preis gilt mir gleich: was du mir geben willst, ist mir willkommen. 
Diese unüberlegte Antwort soll ihn zum Opfer eines Betruges machen: er aber 
läßt von dem verschlagen lächelnden (subridens) Düring für sein Gold seinen Ge- 
wandbausch ruhig mit Erde sich füllen und kehrt damit zu den Schiffen zurück, 
nach der Meinung des Dürungs um das Gold, wie um die erhoffte Stillung seines 
Hungers betrogen. Die Düringe aber belobigen ihren Landsmann für seinen Betrug 
(qui nobili fraude Saxonem deceperit) und preisen ihn als ein Glückskind mit seinem 
Golde — ceterum certi de uictoria, de Saxonibus iam quasi triumphabant. Warum? 
Noch galt doch, ungebrochen, der Vertrag und Friede! Ich ersehe keinen anderen 
Sinn dieser Bemerkung, als daß W. als Grund ibrer Zuversicht, die feindlichen 
Gáste loszuwerden, die Kundschaft des glücklichen Küufers von ihrer beginnenden 
Hungersnot sich vorstellt — eine Zuversicht, die um so gewisser sein durfte, 
nachdem der Sachse ungenießbare Erde eingehandelt hatte. 

Der macht nun von seiner Last Erde den listigen Gebrauch, ein Stück 
Land damit zu bestreuen, welches die Sachsen als erkauften Grund und Boden 
gegen rechtliche Anfechtung und Waffengewalt behaupten, wodurch sie also auf 
dem Lande jetzt zuerst festen Fuß fassen. Von dieser nun gewonnenen 
sicheren Stellung (castrorum loca) aus erobern sie, nicht ohne Verrat zu gebrauchen, 
das ganze Land der Düringe, als siegende Landnehmer auch aller Nahrungssorgen 
enthoben (Kap. 5. 6). Die sächsische List ist das Gegenspiel zum Betrug des Dürings. 

Diese ganze Geschichte bleibt unverständlich, wenn man mittels falscher Über- 
setzung die Sachsen schon gleich zu Anfang „den Hafen behaupten“ läßt. Auf 
demselben alten Übersetzungsfehler, der schon in den Deutschen Sagen der Brüder 
Grimm (411.) sich findet, beruht auch, was W. Wilmanns in seinem Kommentar 
zum Annoliede über Widukinds sächsische Urgeschichte ausgeführt hat: 

„Widukind kennt also verschiedene Sagen über den Ursprung seines Volkes ...; 
und so erscheint auch das, was er von ihrer Niederlassung auf thüringischem Boden 
erzählt, nicht als einheitliche Sage, sei es daß ein älterer Bericht durch neuen Stoff 
erweitert, sei es daß zwei verschiedene Berichte miteinander verschmolzen sind. 
Jedenfalls enthält Widukinds Erzählung Motive, die für zwei parallele Sagen aus- 
reichen: nach der einen kommen die Sachsen als Kaufleute und gewinnen, ähnlich 
wie Dido, den Boden ihrer ersten Niederlassung durch List; nach der andern kommen 


a Inoolis ... aduentum eorum graniter ferentibus, qui Thuringi traduntur fuisse, arma 
contra eos [sc. Thwringoe] monent Sa xone / Saxonibus .. acriter resistentibus, portum 
obtinent. [ Thuringi]. ` 


192 Kritiken 


sie mit Heeresmacht, setzen sich mit Gewalt fest und sichern und erweitern ihre 
Herrschaft durch Treubruch. Ein solcher Überfluß von Motiven pflegt in alten 
Sagen nicht ursprünglich zu sein, man darf ihn um so weniger für ursprünglich 
halten, wenn die Motive nicht zusammenpassen. Unserer Erzählung, so anmutig 
sie sich liest, fehlt augenscheinlich innerer Zusammenhang und konsequente Be- 
gründung. Der erste Vertrag, sagt Widukind, wurde den Sachsen unnütz, weil ibnen 
das Geld ausgegangen war und sie weder zu kaufen noch zu verkaufen hatten; und 
doch tritt gleich darauf ein junger Sachse auf mit einem groBen Schatz [siehe oben !] 
von Gold, goldener Halskette und goldenen Armringen. Der sächsische Jüngling, 
der ans Land steigt, trägt den Stempel des Hungers in seinen Zügen, und Hunger 
bewegt ihn, das Gold hinzugeben, und doch nimmt er als Kaufpreis einen Sack 
voll Erde, mit dem er das Bedürfnis des Magens ebensowenig befriedigen kann. 
(Beiträge zur Geschichte der älteren deutschen Litteratur. Hg. von W. Wilmanns. 
H. 2. Bonn 1886. S. 33f.; vgl. ebenda 31 unten.) 

Daß die didonische List der Sachsen und ihre Eroberung des Landes durch 
Waffengewalt und Treubruch einander nicht bedürfen, liegt offen; eine andere 
Frage ist, ob sie einander widersprechen. Ich sehe nicht. Die Sachsen kommen, 
um in dem fremden Lande sich anzusiedeln, gewiß nicht als Kaufleute. Der 
bewaffnete Widerstand der Eingeborenen zwingt sie zu einem für sie von vornherein 
sinnlosen Vertrage: in die Rolle von Kauffahrern. Nachdem ihnen ihr Gut 
(pecunia) bald ausgegangen war, „die nicht hatten, was sie hätten verkaufen oder 
kaufen sollen!!“, da sie ja nicht Kaufleute waren, und sie schon nach Tagen sich 
in der größten Verlegenheit befanden (inutilem sibi pacem esse arbitrabantur), er- 
möglicht ihnen die unverhofft erworbene Erde die List, welche die gewaltsame 
Landnahme einleitet. Wilmanns hat nicht nur die beiden ersten Sätze falsch ver- 
standen, sondern auch übersehen, daß der Sachse von dem Düring zunächst betrogen 
wurde, oder betrogen werden sollte und nach der Meinung dieses es auch war. Erst 
als der Sachse auf seine unüberlegte Antwort (s. o.) das Angebot vernimmt: „Was, 
wenn ich mit der Erde da dir den Bausch fülle?“ — erst in diesem Augenblicke 
blitzt in ihm der Gedanke an ihren späteren listigen Gebrauch auf und er nimmt sie 
gerne in Empfang. Widukinds Erzählung ist in sich ohne Widerspruch. 

Landkaufsage (Kap. 5) und Namensage!? (Kap. 6. 7) können wie bemerkt je 
für sich allein bestehn; (jene bedarf auch nicht des Zuges, daß der Käufer unverhofft 
in den Besitz der Erde kommt, ja damit betrogen sein sollte; typische 
Sagengestalt ist wohl, daß der Käufer schon mit der List im Sinne kauft). 
Ohne Zweifel ist die Namensage eine Volkssage, die Landkaufsage aber 
gelehrten, und das bedeutet wohl: klösterlichen Ursprungs. Widukind bezeugt 
seine Kenntnis solcher gelehrten Sagen ausdrücklich: uf ipse adolescentulus audsus 
quendam predicantem, de Graecis (originem duzisse Saxones), quia ipsi dicerent, 
Sazones reliquias fuisse Macedonici exercitus, qui secutus magnum Alexandrum 
inmalura morte ipsius per totum orbem sit dispersus (I c. 2). Als wahrscheinlich ergibt 


n Daß „sie nichts mehr zu kaufen oder verkaufen hatten“ (Hirsch), steht nicht da; auch 
die Folge quid uenderent aut emerent ist nicht gleichgiltig. 

12 Diese allein erzählen Annolied und Kaiserchronik, mit glelohgiltigen Abweichungen 
von Widukind; vgl. R. Much, Germanische Vólkerschaftsnamen in sagenbafter Deutung, 
Zschr. für Deutsche Wortforschung 1, 1901, 319—398, bes. 326 fl. über die Sachsen- 
namensage. 


Kritiken 193 


sich wohl, daß die Verbindung beider heterogenen Sagen ihm gehört. — Weitere 
Probleme seiner Erzählung zu erörtern, gibt die Übersetzung keinen Anlaß. 

Unsere Meinung ist nicht, der Übersetzer hätte, in seiner Vorrede etwa, ausführen 
sollen, was wir gegen seine Übersetzung auszuführen genötigt waren; jedoch scheint 
nicht unbillig zu verlangen, daß eine Übersetzung auf einem Grade und Maße 
privater Interpretation des Textes beruhe, das solche Versehen ausschließt, die 
Kunst und Sinn der Erzählung geradezu vernichten; wie an zwei Beispielen gezeigt 
wurde. — 

Dem Texte Widukinds beigegeben sind wie in der vorigen Ausgabe 1. ein Ab- 
schnitt der Translatio s. Alexandri Rudolfs von Fulda; 2. Abschnitte der Annales 
Quedlinburgenses; 3. die Schrift De origine gentis Sueuorum; und in dieser 5. Aus- 
gabe zum ersten Male: 4. ein Stückchen der älteren Vita Lebuini, 5. einiges aus dem 
Poeta Sazo; 6. die Auszüge der Annales Iuuauenses maximi ad a. 809—956; 7. das 
Fragmentum de Arnulfo duce Bauariae; in verschiedenen Übersetzungen; schließlich 
als Anhang Ibn Ja'qübs Bericht über die Slawenlande vom Jahre 973 mit eigenem 
Vorwort und übersetzt von Georg Jacob, aus desselben „Arabischen Berichten 
von Gesandten an germanische Fürstenhófe aus dem 9. und 10. Jahrhundert", 
Berlin 1927, mit hier vermehrten Anmerkungen. 

Die kritischen Ausführungen im Allgemeinen und im Besonderen durch die 
selbstverstándliche Anerkennung des im übrigen Geleisteten aufwügen zu wollen, 
erscheint hier wie sonst als sinnlos ; ungerechte Kritik wird nicht ertrüglicher dadurch, 
gerechte bedarf keines mildernden Scheines. 


Göttingen. Walther Bulst. 


Louis Halphen, Professeur honoraire à l'Université de Bordeaux, Directeur à l'École 
des Hautes Études historiques et philologiques (Sorbonne) L'essor de 
l’Europe (XI* et XIII® siècles). Paris, Felix Alcan 1932, 609 S. Peuples 
et civilisations, Histoire générale p. sous la direction de Louis Halphen et 
Philippe Sagnac, VI. Bd. 60 Fr. 


Die lange Zeit hindurch zum Schaden der Wissenschaft vernachlássigte welt- 
geschichtliche Arbeit macht erfreuliche Fortschritte. Ohne nach Vollständigkeit 
zu streben, heben wir hervor in Deutschland die durch glänzende Ausstattung be- 
stechende Propyläenweltgeschichte, in England die Cambridge Modern und die 
Cambridge Medieval History, in Frankreich die von Gustav Glotz geleitete Histoire 
générale und die Sammlung Peuples et civilisations, zu der unser Band gehört. 
Sein Erscheinen bietet willkommenen Anlaß, ihn unter allgemeineren Gesichts- 
punkten zu würdigen. Über das, worauf es ankommt, weiß man recht wenig. Auch 
die bekannten Werke der Art werden nach ihrer Vollendung kaum als Ganzes ge- 
würdigt, und es ist daher nicht leicht, eine Übersicht darüber zu gewinnen, was auf 
dem Gebiete schon geleistet worden ist oder noch geleistet werden kónnte. Im Vor- 
dergrunde steht doch die Frage nach der richtigen ráumlichen und zeitlichen Glie- 
derung. Wieweit soll man beispielsweise Indien und China! berücksichtigen, die 
doch ohne jeden Zweifel in die Weltgeschichte hineingehóren, aber in den älteren 
Jahrhunderten keinen deutlich spürbaren Einfluß auf das Abendland geübt haben? 


! Vgl. die lehrreichen Bemerkungen über die Vernachlässigung der chinesischen Geschichte 
bei O. Franke, Geschichte des chinesischen Reiches, Berlin 1 (1930), Vorwort. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H. 1. 13 


194 Kritiken 


Soll man erst von diesen Ländern reden, wenn sie Gegenstand europäischer Aus- 
dehnungspolitik werden, und dann einen Rückblick auf ihre frühere Geschichte 
geben? Darüber wird sich niemand täuschen, daß, wenn der Raum zu stark erweitert 
wird, der lebendige Zusammenhang aufhört und die einzig sicher erreichbare Einheit 
die des Buchbinders ist. Betreffs der zeitlichen Gliederung wird sich eine streng 
wissenschaftliche Stellungnahme zu dem inhaltleeren Begriff des Mittelalters auch 
bei aller Anhänglichkeit an bequeme Gewohnheiten auf die Dauer nicht vermeiden 
lassen. Sollte nicht endlich bewiesen werden, daB es ein Mittelalter gegeben hat, 
ehe man sich darum streitet, wann es begonnen und aufgehórt hat? Warum muB 
denn die Geschichte unbedingt in zwei erstarrte (Altertum und Mittelalter) und eine 
lebendige, immer weiter fortschreitende Periode (Neuzeit) eingeteilt werden? In 
weitverbreiteten Büchern kann man mit Befremden bemerken, daB einmal die 
politischen, dann wieder die kulturellen Verhültnisse zum MaBstab der Einteilung 
genommen werden, ohne daß vorher feststeht, ob beide übereinstimmen. Es wäre 
doch viel sachgemäßer, man grenzte erst einmal für die Geschichte der Macht, 
ferner für die der Verfassung und des Rechts, der Wirtschaft, der Religion und der 
Kirche, der Kunst und der Wissenschaft usw. Abschnitte ab und erforschte zuletzt 
das Gemeinsame. Dann würde es sich zeigen, ob alle diese verschiedenen Gebiete 
derselben Periodisierung unterliegen oder nicht. 

Von vornherein sei gesagt, daß das Buch von Halphen einen sehr beachtens- 
werten und gut gelungenen Versuch darstellt, der eben angedeuteten Schwierig- 
keiten Herr zu werden. Man móchte fast die Franzosen beneiden, daB ihnen ein so 
brauchbares Hilfsmittel zu billigem Preise geboten wird. Die Ausstattung ist einfach, 
aber durchaus zweckentsprechend, der Druck sorgfältig und sauber, ein Namen- 
verzeichnis vorhanden. 

Der vorhergehende 5. Band der Peuples et civilisations, der auch von Halphen 
stammt und schon eine 2. Auflage (1930) erlebt hat, führt den Titel: Les barbares 
des grandes invasions aux conquêtes turques du XI? siècle. Am Schluß finden wir 
darin die Ereignisse nach der Schlacht bei Manzikert (1071) und einen Ausblick 
auf die Kreuzzüge. Man wird es vollkommen billigen, daB der Verf. Asien gerecht 
werden will und ihm viel Platz gónnt, aber man wird sich doch schwer entschlieBen, die 
Eroberungen der Seldschuken als weltgeschichtlichen Markstein zu betrachten. 
Da wäre das Konzil von Clermont (1095) doch geeigneter gewesen, da es mit dem 
Aufruf zum Kreuzzuge die Antwort auf den VorstoB der Seldschuken bedeutet. 
Die vorhergehenden Kapitel des 5. Bandes handeln von Ostrom (bis 1025), dem 
Islam (etwa bis 1032) und der Erneuerung des abendlündischen Kaisertums durch 
Otto den Großen. Der Tod Ottos bleibt demnach rund 100 Jahre hinter den vorhin 
erwühnten asiatischen Ereignissen desselben Bandes zurück. Wird dadurch nicht 
das Gesamtbild gestórt? 

Der vorliegende 6. Band zerfällt in 5 Bücher, deren Überschriften den weit ge- 
spannten, wirklich weltgeschichtlichen Rahmen zeigen: I. das feudale Europa und 
der Kreuzzug, II. die Bildung der groBen Monarchien, III. die Versuche einer 
Einigung Europas in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, IV. das mongolische 
Asien und Europa, V. Europa nach dem Stillstand des mongolischen Vorstoßes. 
I. spricht im Anschluß an die cluniazensische Bewegung von Gregor VII., Urban II., 
der Eroberung Süditaliens und Englands durch Normannen und dem 1. Kreuzzug, 
abgesehen von zuständlichen Abschnitten. Das deutsche Kaisertum seit Otto dem 


Kritiken 195 


Großen finden wir erst am Anfang von II. von 973 bis 1183. Damit wird man sich 
nicht befreunden kónnen. Die Weltstellung des deutschen Reiches mit ihrem Hóhe- 
punkt 1046/1047, die in der Absetzung dreier Pápste und dem Plan einer Angliederung 
der Normannen gipfelt, kommt nicht zu ihrem Recht, ebensowenig der rasche 
Niedergang. Ein starker, über das Papsttum verfügender deutscher Kaiser hätte 
selbstverständlich die christlichen Scharen zum Heiligen Grabe geführt. Wenn 
in II. unter dem schon wiedergegebenen Titel ein 5. Kapitel von „den fränkischen 
Staaten Syriens und der Verteidigung gegen die Türken“ handelt, so hat man doch 
Bedenken, das Königreich Jerusalem als eine große Monarchie zu bezeichnen. 

Die Formel, auf die in der weltgeschichtlichen Darstellung alles ankommt, 
wird lauten: mehreren Völkern gemeinsame Ereignisse sollen tunlichst nicht an ver- 
schiedenen Stellen berichtet werden. Geschieht das doch, so fállt eben die Welt- 
geschichte in ein Nebeneinander von Landes- oder Volksgeschichten zurück. Die 
Aufgabe stellt sehr hohe Anforderungen an den Verfasser, aber man muß sich 
immer wieder darum bemühen, sie so gut zu lósen, wie es bei dem heutigen Stande 
der Wissenschaft angeht. Es sei hier deshalb nur unter allem Vorbehalt Kritik 
geübt. Man wird es beispielsweise bedauern, daß in III. ein erstes Kapitel den 
großen Krieg im Abendlande vom dritten Kreuzzug bis Bouvines, das nächste die 
Eroberung des byzantinischen Reiches durch die Abendländer, das dritte die päpst- 
liche Theokratie Innozenz’ III. schildert. Denn das gehört doch alles zusammen, 
bildet eine große Linie romanisch-germanischen Gemeinschaftslebens im Sinne 
Rankes. Philipp II. August von Frankreich und der herrschgewaltige Papst ge- 
winnen ihre überragende Bedeutung gerade durch den deutschen Thronstreit. Auch 
würde es sich empfehlen, das Laterankonzil von 1215, das der Verf. natürlich nicht 
unterschätzt, zu einem weltgeschichtlichen Einschnitt zu benutzen. Der Tod 
Heinrichs VI., ein sicher nicht nur Deutschland, sondern auch das gesamte Abend- 
land berührendes Ereignis, wirkte sich erst durch die Ermordung Philipps von 
Schwaben, die Anerkennung und Verwerfung Ottos IV., sowie die Erhebung Fried- 
richs II. so verhängnisvoll aus. Bouvines kommt hinzu, und alles das diente dem 
Siege des Papsttums, wie er auf dem Konzil verkündet wurde. Mit dem Jahre 1250 
eine Periode zu schlieBen, wie es in deutschen Büchern vielfach geschieht, ist auch 
für die deutsche Geschichte ungeeignet. Die Zerstórung der Einheit im Reiche zu- 
gunsten der Vielheit gehort in die ersten Jahre Friedrichs II., dessen bewunderungs- 
würdige geistige Vielseitigkeit und Beweglichkeit nicht zu einer Überschützung 
seiner Machtmittel führen darf. Der „Rückfall in die Landesgeschichten“ veranlaßt 
leicht Wiederholungen. So ist beispielsweise vom Tode des Staufers Konrad IV. einmal 
in dem Abschnitt L'anarchie allemande und spáter wieder unter l'anarchie italienne 
die Rede (S. 459, 471). Läßt sich das vermeiden oder ergeben sich, wenn es ver- 
mieden wird, andere Übelstände? Vielleicht wird der Verf., der seine Einteilung 
nach reiflichster Überlegung gewählt haben wird, durch die vorstehenden Bemer- 
kungen zu neuer Prüfung veranlaBt. Mit einer neuen Auflage des sehr nützlichen 
und angenehm zu lesenden Werkes ist doch wohl zu rechnen. 

Den Wert der geschichtlichen Einteilungen sollte man nicht unterschátzen, 
wie es vielfach geschieht. Sie erleichtern in hohem Maße die Beherrschung des 
Stoffes und damit den Einfluß unserer Wissenschaft auf den weiteren Kreis der Ge- 
bildeten. Wie Ranke „über die Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der 
Begebenheiten dachte, erhellt aus der nie veraltenden Vorrede zu den „Geschichten 


13* 


— 


196 Kritiken 


der romanischen und germanischen Vólker". Man kann annehmen, daB er dem 
Beispiel des dramatischen Dichters folgen wollte. Auch die Art, wie Albert Sorel 
an seiner „Geschichte der französischen Revolution" schuf, mag zum Vergleich 
herangezogen werden“. Die Technik derjenigen Historiker alter und neuer Zeit zu 
prüfen, die am meisten Eindruck auf ihre Leser gemacht und die dauerhaftesten 
Spuren hinterlassen haben, würde nicht überflüssig sein. 

Wo in einer Ereignisgeschichte, wie sie Halphen hauptsächlich gibt, also in 
einem Längsschnitt, zuständliche Schilderungen, also Querschnitte anzubringen 
sind, scheint bisher kaum untersucht worden zu sein. Das Ideal wäre wohl, sie nach 
aufwühlenden inneren und äußeren Kämpfen einzuschalten, wenn durch Verträge, 
Friedensschlüsse, Konzile oder Kongresse eine gewisse Ruhezeit gesichert ist. Bei- 
spielsweise würde eine Übersicht über die Zustände des Abendlandes um 1215 sehr 
lehrreich sein. Dabei könnte die geistige Blüte Frankreichs stark zur Geltung 
kommen. Halphen hat 3 Kapitel von I. mit 45 Seiten der Wirtschaft, dem Geistes- 
leben, der Kunst und der Kirche Europas im 12. Jahrhundert, 2 Kapitel von V. mit 
40 Seiten den wirtschaftlichen und geistigen Veränderungen des 13. Jahrhunderts 
gewidmet. Sie sind, wie man sieht, ziemlich kurz ausgefallen, aber es wäre Sache 
der französischen Leser, zu entscheiden, ob der Inhalt als ausreichend angesehen 
wird. Ich fürchte, daß doch recht große Lücken auffallen werden. Ob es abgesehen 
davon immer gelungen ist, zwischen den machtpolitischen und den kulturgeschicht- 
lichen Abschnitten eine wirkliche innere Verbindung herzustellen, damit der Vorteil 
des Lesers nicht bloß hauptsächlich darin liegt, beide in einem Bande vor sich zu 
haben, mag noch offen bleiben. Man darf das auch so ausdrücken: könnten die 
kulturgeschichtlichen Abschnitte wegfallen, ohne daß die ursächliche Verknüpfung 
der machtpolitischen Schaden litte? Die Frage wäre natürlich nicht nur an unser 
Werk, sondern ebenso an zahlreiche andere derselben Art zu richten. Kulturelle 
Querschnitte durch Asien ähnlich denen durch das Abendland fehlen, sicher, weil 
es bei den heutigen Vorarbeiten kaum möglich ist, sie zu geben. In einer kurzen 
und klaren Schlußbetrachtung hebt der Verfasser die 80er Jahre des 13. Jahr- 
hunderts hervor und erinnert an die sizilische Vesper, wiean den Tod Karls von Anjou 
und Peters III. von Aragon. Er meint, jetzt scheine die Welt in eine tiefe Verwirrung 
gestürzt. Wer, wie oben angedeutet wurde, vom Jahre 1215 ausgeht, wird unter 
dem leitenden Gedanken der päpstlichen Weltherrschaft an anderer Stelle halt- 
machen, je nachdem nur ihr Höhepunkt oder schon ihr Niedergang den Abschluß 
bilden soll. Die beiden folgenden Bände der Peuples et civilisations, die mehreren 
Verfassern zu verdanken sind, die Jahre 1285 bis 1492 umfassen und den recht 
wenig besagenden Titel La fin du moyen äge führen, sind übrigens schon erschienen. 
Im Titel hätte sich Gelegenheit geboten, den Aufstieg der Westmächte und die 
abendländischen Konzile als das große Neue kenntlich zu machen. 


Der Sinn für streng wissenschaftliche Forschung, bei der doch alles auf den 
Quellenbeweis ankommt, ist heute so wenig entwickelt, daß selbst in Fachzeit- 
schriften nicht immer beachtet wird, ob ein besprochenes Werk Belege bringt oder 
nicht. Man versucht sogar, auf den Waschzetteln es dem gutgläubigen Publikum 
immer wieder als ein Verdienst der Verfasser einzureden, daß sie sich von gelehrtem 


2 L' nom et la Révolution francaise. Discours prononcés .. en l'honneur de M. Albert 
Sorel ... Paris, Plon 1905. Darin E. Boutmy, S. 24. 


Kritiken 197 


Ballast, wie es schón ausgedrückt wird, frei halten. Es gibt zwar eine Entschuldigung 
für die Angst, die sonst vortreffliche Verleger vor Belegen haben, nämlich die häß- 
lichen überlangen Anmerkungen, deren sachlicher Inhalt oft bei gutem Willen in 
den Text hätte eingearbeitet werden können. Halphen gibt keine Einzelbelege, 
wohl aber am Anfang größerer und kleinerer Abschnitte zahlreiche Büchertitel mit 
kritischen Urteilen, die den Lesern recht willkommen sein werden. Einzelbelege 
können dadurch natürlich niemals ersetzt werden. Das ideale Ziel wird immer darin 
zu sehen sein, daß jedes Ereignis rasch auf die zeitgenössischen Berichte zurück- 
geführt und damit soweit bewiesen wird, wie es unsere Wissenschaft erlaubt. Bei dem 
auch sonst viel angewandten Verfahren Halphens ist es nicht zu vermeiden, daß es 
nicht immer leicht ist, ein Buch zu finden, und daß gelegentlich dasselbe Buch an 
mehreren Stellen wiederkehrt. Ein vollständiges alphabetisches Verzeichnis, wie 
es gerade in französischen Büchern gern gegeben wird, ist am förderlichsten, und es 
können dann die Hinweise erheblich verkürzt werden. Es läßt sich aber denken, 
daß ein solches Verzeichnis dem Geschmack des breiteren französischen Publikums 
nicht entspricht. Mit dem Verfasser über Einzelheiten zu rechten oder die wenig 
zahlreichen kleinen Versehen aufzuspüren, erscheint nicht angebracht. Ernste 
weltgeschichtliche Versuche verlangen eine der Schwierigkeit des Unternehmens 
angepaßte Beurteilung, und Fortschritte können nur in verständnisvoller Zusammen- 
arbeit der Historiker aller Kulturländer erzielt werden. Wie der Deutsche, der 
Franzose, der Engländer und andere Weltgeschichte schreiben, wird einmal einer 
vergleichenden Betrachtung zu unterwerfen sein. 


Jena. A. Cartellieri. 


Armando Sapori, Una Compagnia di Calimala ai primi del Trecento. Biblio- 
teca Storica Toscana vol. VII. Firenze, Leo Olschki 1932. 


Zu der höchst erfreulichen Lebendigkeit, die in letzter Zeit eine jüngere Ge- 
neration italienischer Wirtschaftshistoriker auf den verschiedensten Gebieten 
der wirtschaftlichen Vergangenheit ihrer Heimat an den Tag legt, hat sicherlich 
das Erscheinen von Sombarts monumentalem Werk das ihrige beigetragen. Indem 
er in dessen historischem Teil dem italienischen Frühkapitalismus zum ersten Mal 
eine eingehende, zusammenfassende Darstellung zuteil werden ließ und ihn als 
typischen Übergangszustand scharf gegen die Großzeit des modernen Kapitalismus 
abhob, während er die Grenzen gegenüber der handwerklichen Wirtschaftsform 
mehr verschwimmen ließ, wurde von ihm vor allem die relative Enge jenes viel- 
gepriesenen, seit Heyds klassischer Darstellung allbekannten italienischen „Groß- 
handels“ in quantitativer, die starke Gebundenheit und Durchsetzung mit irratio- 
nalen Bestandteilen in qualitativer Hinsicht mit besonderer Emphase hervorgehoben. 
Es ergab sich indessen bei einer exakten Nachprüfung dieser These, daß sie auf 
einer allzuengen Quellenbasis beruhte, daß einzelne Überlieferungen, wie vor allem 
der Familientraktat des Alberti, einseitig in den Vordergrund gerückt, andere 
über Gebühr vernachlässigt waren, daß ferner jene von Sombart und anderen 
vor und nach ihm als völlig unzuverlässig angezweifelten statistischen Angaben 
des Giovanni Villani und anderer italienischer Chronisten der gleichen Periode 
sich bei genauerer Untersuchung als im ganzen durchaus hieb- und stichfest 
erwiesen. 


198 Kritiken 


Unter jener jüngeren Generation italienischer Wirtschaftshistoriker hat sich 
Armando Sapori durch eine Reihe von Untersuchungen, die insbesondere den Floren- 
tiner Handelsgesellschaften, ihren wirtschaftlichen Funktionen, ihren Schicksalen 
und ihrer Bedeutung gewidmet waren, den Ruf eines Forschers von intensivstem 
Fleiß und einer unbeirrbaren Zuverlässigkeit in der Feststellung auch der scheinbar 
unbedeutendsten Einzelheiten erworben, ohne daß die Linie der großen Zusammen- 
hänge dabei zu kurz kam. Seine neueste Arbeit zeigt diese Eigenschaften wieder 
in hervorragendem Maße. Auf die Handelsbücher der Firma Francesco Del Bene 
e Compagni hatte schon Robert Davidsohn in seiner Geschichte von Florenz hin- 
gewiesen. Nicht in der Größe der Firma, deren Handelstätigkeit sie widerspiegeln, 
liegt ihre Bedeutung — es handelt sich vielmehr um ein Geschäft von mittlerem 
Umfang, nicht um eine der großen, weltbeherrschenden Firmen des damaligen 
Florenz; nicht auch in ihrer zeitlichen Ausdehnung — die von Sapori behandelten 
Bücher umfassen nur die kurze Spanne von fünf Jahren (1318—1323) —, sondern 
einzig in der relativen Vollständigkeit ihrer Erhaltung, die für lange Zeit in keinem 
Lande ihresgleichen hat, die uns deshalb Einblicke in den Gang, die Funktion, den 
Erfolg oder Mißerfolg einer gesellschaftlichen Unternehmung gewähren, wie wir 
sie sonst für jene Frühzeit nirgends besitzen. Es handelt sich, von kleinen, un- 
bedeutenden Gelegenheitsgeschäften abgesehen, um den Import französischer und 
flandrischer Tuche, zum Teil in ihrer natürlichen, zum Teil in veredelter (gefärb- 
ter, umgefärbter, appretierter) Form, die meist in Florenz, zum kleinen Teil in 
Unteritalien en gros oder auch im Ausschnitt wieder verkauft werden. Zum ersten 
Male werden wir in den Stand gesetzt, auf Grund exakter Angaben diesen Handel, 
der den Nerv des Geschäfts der Calimalakaufleute bildete, in allen seinen Phasen 
aufs genaueste zu verfolgen: den Einkauf in Frankreich, Flandern oder auf den Messen 
der Champagne, der für die nicht eben kapitalstarke Firma meist von den mit ihr in 
engster Geschäftsverbindung stehenden großen Handelshäusern der Bardiund Peruzzi 
besorgt wurde; den Transport auf verschiedenen Wegen zur See und zu Lande bis 
Florenz und seine Kosten; den Verkauf im kleinen wie im großen, die Gewinnspanne 
im einzelnen und im Laufe der Jahre; die Methoden der Buchführung und Bilan- 
zierung und vieles andere mehr. Es ergibt sich als wesentliches Resultat, daß auch 
in den relativ kleinen Verhältnissen dieser Firma wenig mehr von der Enge hand- 
werklichen Betriebs zu finden ist, daß man meilenweit entfernt ist von jener Zeit, 
da der Kaufmann mit seinem Packen selbst über Land zog, um ihn auf Märkten 
und Messen abzusetzen; daß die Transportkosten im Rahmen des ganzen Betriebs 
nicht die Rolle spielen, die Sombart ihnen zuweist; daß die Buchführung, wenn 
auch noch in einfachen Formen, dennoch durchaus auf Exaktheit ausgeht und sie 
auch in überraschendem Maße erreicht; daß endlich das Gewinnenwollen, nicht die 
Befriedigung irgendwelchen Lebensbedarfs Ziel des ganzen Geschäftsbetriebes ist 
und eine kapitalistische Atmosphäre herrscht, wie wir sie bei den Medici und den 
Fugger wiederfinden. 

Der ausführliche Dokumentenanhang gibt die Möglichkeit, all diese Resultate 
auf ihre Exaktheit nachzuprüfen; man wird sie durchaus bestätigt finden. Der 
monumentalen Ausgabe der Handlungsbücher der Peruzzi, die uns Sapori für die 
nächste Zeit in Aussicht stellt, dürfen wir nach den Resultaten der vorliegenden 
Untersuchung mit besonderer Spannung entgegensehen. 

Leipzig. A. Doren. 


Kritiken 199 


Fremerey, Gustav, Guicciardinis finanzpolitische Anschauungen. (Bei- 
l heft 26 zur Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hrsg. 
von Prof. Dr. H. Aubin.) Verlag von W. Kohlhammer, Stuttgart 1931. 

Ein Beiheft der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dürfte 
auch den politischen und Kulturhistorikern willkommen sein, zumal wenn es, wie 
hier, ein Problem behandelt, das in gleichem Maße die Geschichte des Wirtschafts- 
lebens, der Politik und der geistigen Kultur berübrt. Die kleine Schrift (80 S. 89) 
ist bemüht, unter Verzicht auf eine eingehende Schilderung der Technik und des 
Funktionierens der Florentiner Finanzpolitik ,,zu zeigen, wie sich die Probleme ... 
einem hervorragenden Kenner der Verhältnisse und einem scharfen Beobachter 
der Zeitverhältnisse, wie es Francesco Guicciardini war, darstellen‘. Sie ist aus einer, 
für Heidelberg bestimmten, Doktordissertation entstanden und hat die Vorzüge 
und Mängel einer solchen. Die Vorzüge bestehen in einer fleiBigen Sammlung und 
verständigen Durchleuchtung des Materials, die Mängel ergeben sich aus einer, 
dureh ungenügende Kenntnis der Gesamtentwicklung hervorgerufenen, etwas 
unfruchtbaren Fragestellung. Der Verfasser will offenbar durch die Anschauungen 
eines allgemein als sachverstándig anerkannten Zeitgenossen Probleme beleuchten, 
die sich aus der Forschung über das Aufkommen des Kapitalismus ergeben haben. 
Er übersieht jedoch, daB zur Zeit Guicciardinis der Kapitalismus schon voll aus- 
gebildet ist und seine erste, sich immer mehr verschärfende, Krise durchmacht. 
Infolge seines ganz auf das Vorhergegangene gerichteten Interesses làBt uns der 
Verfasser ziemlich über das im unklaren, was sein Gewährsmann zur gleichzeitigen 
Entwicklung zu sagen bat. Ähnlich erschwert er ein tieferes Verständnis durch 
isolierende Behandlung der finanzpolitischen Anschauungen. Gerade Guicciardini 
bietet für eine solche Betrachtungsweise aus noch zu erórternden Gründen keine 
wesentlich weiterführenden Gesichtspunkte. Daß für die Arbeit ferner nur die sog. 
„Opere inedite herangezogen sind, hätte im Titel ausdrücklich erwähnt werden 
müssen, da man doch auch heute noch, wenn man den Namen Guicciardini hört, 
fast unwillkürlich an die „Storia d'Italia“ denkt. Auch könnte sonst immerhin 
einer oder der andere Benutzer der Schrift auf den Gedanken kommen, nach Stellen 
zu suchen, an denen Anschauungen behandelt sind, die sich aus der eigenen Praxis 
des Geschichtsschreibers als päpstlicher Statthalter in der Emilia ergeben. 

Eine Einschränkung des Themas im Titel der Arbeit hätte den Verfasser 
auch der Notwendigkeit enthoben, den Ausschluß der „Storia d'Italia“ zu begründen. 
Er schreibt: „Seine bis dahin am meisten bekannte und angesehene ‚Geschichte 
Italiens‘, deren konventionelle Form und Quellenunklarheiten Ranke zu einer 
eingehenden Kritik veranlaßt haben, trat mit jener Veröffentlichung (der der ,Opere 
inedite") weit in den Hintergrund, die desto eindrucksvoller den großen Geschichts- 
schreiber seiner Vaterstadt, den politischen Denker und Schriftsteller und nicht 
zuletzt den Freund Macchiavellis hervortreten ließ.“ Abgesehen davon, daß es frag- 
lieh ist, ob die hier angegebene Folge von Rankes — übrigens ungenau wieder- 
gegebenem — Urteil auch noch für uns verbindlich sein muß — bekanntlich wird 
das von Fueter und anderen heftig bestritten —, so l&Bt sich doch nicht leugnen, 
daß selbst bei zugegebener Wertlosigkeit der , Storia d'Italia“ für die Zeitgeschichte 
ihr Quellenwert für die Anschauungen Guicciardinis unschützbar ist. Auch in ihr, 
und vielleicht noch mehr, als in den anderen Schriften, offenbart sich der hervor- 
ragende politische Denker und Schriftsteller und der Freund Macchiavellis, und 


200 Kritiken 


darüber hinaus ist sie dadurch bedeutsam, daB sie sein einziges für die Veröffent- 
lichung bestimmtes Werk gewesen ist, und so statt der in der „Opere inedite“ 
wiedergegebenen wechselnden Stimmungen die für Mit- und Nachwelt gültigen 
Grundsätze enthält. Daß sich aber aus ihr nichts über finanzpolitische Anschauungen 
entnehmen ließe, wird im Ernst wohl nicht behauptet werden können. 

Unter den genannten Einschränkungen in Btr. der Stoffauswahl und Behand- 
lungsweise ist die Schrift eine wertvolle Bereicherung der finanztheoretischen Lite- 
ratur. Das Material dürfte im wesentlichen vollstándig gesammelt sein, und die 
Auslegung genügt den Ansprüchen, die man an eine vorläufige Bearbeitung richten 
kann, die tieferschürfenden Fragestellungen den Weg nicht verlegen will. So ist 
das Büchlein eine vorzügliche Stoffsammlung für Arbeiten jeder Art, die auf der 
von ihm gegebenen Grundlage nach allen Richtungen weiterbauen kónnen. Die 
wichtigsten Sätze sind wörtlich im Urtext und in deutscher Übersetzung zitiert, 
und die Gedankenreihen, denen sie entstammen, ausführlich wiedergegeben und 
miteinander in Zusammenhang gebracht, was bei ihrer Herkunft aus 3. T. grund- 
verschiedenen Werken nicht immer ganz einfach war. Interessant sind die Aus- 
führungen über die Bedeutung des Reichtums und die daraus folgende Ablehnung 
konfiskatorischer Steuerprogressionen durch die hierzu aus dem Steuerdialog an- 
geführten theologisierenden Argumente, die man von dem Freund Macchiavellis 
und pfaffenfeindlichen Politiker nicht erwarten würde. Sollte der Zweck dieses Dia- 
logs vielleicht weniger in der unparteiischen Abwügung des Für und Wider der 
Streitfrage zu suchen sein, als in der Ausarbeitung wirksamer, wenn auch vom 
Verf. selbst nicht geglaubter Argumente für den von Anfang an feststehenden 
eigenen Standpunkt? Wenn dem so wäre, so könnte man sich überhaupt große 
Teile der „Opere inedite" ähnlich entstanden denken, was ihren Wert als Selbst- 
zeugnis allerdings stark beeinträchtigen würde. — Auch das Kapitel über die Steuer- 
politik der Medici und des Volkes wirft interessante Streiflichter auf die schon 
sonst bekannte Entwicklung. — Wenn sich aus der Schrift trotz der sorgfältigen 
Arbeit des Verfassers keine zusammenhängende und umfassende Finanztheorie 
ergibt, so liegt das zum groBen Teil daran, daB Guicciardini als reiner Empiriker 
eine solche nicht ausgearbeitet hat, und daß er gerade in der ,,Opere inedite" immer 
nur zu einzelnen Streitfragen, und auch nur vom praktischen Standpunkte aus 
Stellung nimmt. Daher hätte die Beigabe einer kurzen Einführung in das floren- 
tinische Finanzsystem das Verständnis der besprochenen Ausführungen Guicciar- 
dinis sicher gefördert. Sie hätte auch den Hauptteil der Arbeit in bessere Verbin- 
dung mit der Einleitung und dem Schluß gebracht, denn es wäre dann klarer als 
jetzt hervorgetreten, daß in dem Augenblick, als die Finanzen des Stadtstaates 
Florenz unter dem Übermaße der Anforderungen zusammenbrachen, sein Haupt- 
vertreter nur Einzelverbesserungen vorzuschlagen wußte, während der ihr auf- 
gezwungene Herzog Cosimo I., wenn auch zögernd und nicht ohne Rückschläge, 
ein neues System versuchte, nämlich eine das ganze Land umfassende Wohlfahrts- 
politik unter Verzicht auf kostspielige und un zeitgemäße Großmachtsbestrebungen. 

Eine auf die Wohlfahrt der Einwohner bedachte Politik hatte auch Guicciar- 
dini gefordert, aber sie sollte lediglich der Stadt Florenz und den Besitzungen ihrer 
Bürger auf dem Lande zugute kommen. Stets warnt er davor, den Sudditi des 
Territoriums Konzessionen zu machen, die nur die Folge hätten, ihre Begehrlich- 
keit höher zu reizen. Besonders bezeichnend sind für ihn die Zitate in den Ab- 


Kritiken 201 


schnitten: Der Haushalt, Das Territorium, Die Miliz. Unter diesem Gesichtspunkt 
muB man aber auch sein Verfassungsprojekt betrachten. Der Senat, ohne dessen 
Zustimmung der Herrscher keine wichtigen Schritte unternehmen sollte, sollte 
natürlich nur aus Stadtbürgern von Florenz bestehen. Für die Staatsauffassung 
Cosimos wáre aber, wenn überhaupt, nur eine Kórperschaft aus Notabeln des ganzen 
Landes annehmbar gewesen, die dann selbstverständlich auch in ihren Funktionen 
etwas wesentlich anderes geworden wäre, als Guicciardinis Senat. Eine solche 
Versammlung würe aber, selbst wenn man sich hátte über Richtlinien für die Ver- 
tretung des Territoriums einigen können, infolge der Gegensätze zwischen Stadt- 
bürgern und Sudditi arbeitsunfühig gewesen. Aus diesem Grunde schien es auch 
sachlich gerechtfertigt, irgendeine Art von mitentscheidender Körperschaft gar 
nicht erst aufkommen zu lassen, wenn auch der Hauptgrund für die Ablehnung 
des Projekts die bekannte Abneigung Cosimos war, seine Macht mit irgend 
jemand zu teilen. Durch diese wurde aber aus dem sachlichen Gegensatz auch 
ein persönlicher, da Guicciardini ja als Führer des geplanten Senats sich selbst 
gedacht hatte. 


Abgesehen von der stadtstaatlichen Beschrünktheit seines Standpunktes 
hat dieser auch deshalb keine grundlegenden Änderungen der Finanzpolitik vor- 
geschlagen, weil er mit vielen anderen hervorragenden Politikern der Vergangen- 
heit und Gegenwart der Ansicht war, daß die Finanzpolitik nur ein verhältnismäßig 
gleichgültiger Nebenpunkt der allgemeinen Politik ist. Es ist ja auch ohne weiteres 
klar, daß eine auf Förderung des Reichtums und Vermeidung unnótiger Ausgaben 
gedachte Verwaltung, wie sie Guicciardini wünscht, auch bei einer theoretisch 
falschen Finanzpolitik die nótigen Einnahmen erlangt, ohne die Steuerzahler be- 
sonders schwer zu drücken, wührend eine verkehrte Allgemeinpolitik selbst bei 
idealem Finanzsystem schlieBlich auch durch stárksten Druck nichts mehr aus den 
leeren Taschen herausholen kann!. Daher wáre es lehrreich gewesen, wenn Guicciar- 
dinis Verfassungsentwurf nicht nur mitberücksichtigt, sondern in den Mittelpunkt 
der Darstellung gerückt worden würe, denn von ihm aus empfangen alle seine andern 
Anschauungen erst den zur Beurteilung nótigen MaBstab. Die neue Verfassung 
sollte ja nicht nur eine gerechte Lastenverteilung gewährleisten, sondern die Po- 
litik des durch sie ans Ruder gebrachten Senats von Sachverständigen sollte auch 
den Druck der Lasten auf den einzelnen und womóglich ihre absolute Hóhe min- 
dern. Was Guicciardini sonst finanzpolitisch für wünschenswert hült — Abschaffung 
der Progression bei der Decima und statt dessen Erhóhung der Mehl- und Salz- 
preise, sowie der Staatsschuld — war bei der herrschenden Not undurchführbar, 
die er selbst zugibt (vgl. S. 30 und 76), und hätte ihm bei besserer Gesamtlage 
schwerlich Kopfzerbrechen gemacht. Seine ganze finanzpolitische Spekulation ist 
ihm eben nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur Wiederherstellung des Wohl- 
standes der früheren Herrenschicht, in der sich Geburtsadel, Bildung und Besitz — 
oft sogar in der gleichen Person — vereinten. Wenn diese die ausschlaggebende 
Macht zurückerhielt, wobei der Herzog eine Stellung wie der Doge von Venedig 
bekommen hátte, wührend das Volk mit dem Gran Consiglio zu einer bloBen Ja- 
sagemaschine herabgedrückt worden wäre, so wäre nach Guicciardinis Meinung auch 
finanzpolitisch alles in Ordnung gewesen. Dieser Optimismus und vielleicht auch 


! Vgl. die Zustände im Preußen Friedrichs des Großen und im heutigen Reiche. 


202 Kritiken 


die fast 20jährige, nur selten auf kurze Zeite unterbrochene Entfernung von der 
Vaterstadt läßt ihn übersehen, daB schon zur Wiederherstellung des Reichtums 
der doch meist auch auBerhalb der Stadt begüterten Herren und des Handels und 
Wandels der ärmeren Klassen nichts so dringend nötig war, wie eine Hebung des 
Untertanengebietes — namentlich der Seestädte und der Landwirtschaft treibenden 
Bezirke —, wie sie Cosimo I. tatsächlich begann, wenn er auch auf halbem Wege 
stecken blieb. Das hàtte zwar auBerdem die Entlastung der Stadt durch Erhóhung 
der Lasten des Territoriums ermóglicht, aber auch die Bedeutung der Sudditi in 
einer Guicciardini unerwünschten Weise erhöht. Die Zeiten des städtischen 
Patriziats waren eben auch nach dieser Richtung vorbei. Als Ursachen seines wirt- 
schaftlichen Niederganges nennt Guicciardini in allererster Linie, wie wir schon 
sahen, die den Ruin aller Klassen herbeiführende falsche Gesamtpolitik und daneben 
eine reichtumsfeindliche Handhabung der Steuergesetze, schlechte Wirtschaft sowie 
den allgemeinen Kreislauf der Dinge, der selten zulasse, daß ein Vermögen länger 
als drei Generationen in einer Hand bleibt. Von dem für die Wirtschaft Italiens 
verhängnisvollen Umschwung der Lage seit der Entdeckung Amerikas und dem 
Niedergange des Orienthandels weiß er also nichts. Auch hier zeigt sich Cosimo I. 
mit seiner Monopolisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, 
namentlich mit Korn, Öl und Wein und den damit zusammenhängenden Maßnahmen 
zur Mehrung und Verbesserung der Erzeugung, sowie mit seiner Hebung von Pisa 
und Livorno und der auch politisch wichtigen Pflege der Beziehungen zu Spanien 
und selbst Frankreich als der die Forderungen der Zeit besser erkennenden Politiker. 
Dabei entsprach sein Verhalten, das am Finanzsystem nur die sich aus der Gesamt- 
politik ergebenden Änderungen vornahm, völlig den Anschauungen Guicciardinis 
über den Vorrang der allgemeinen Politik vor den speziell finanzpolitischen Maß- 
nahmen. 


Leipzig. Max Hofmann. 


Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende. Stuttgart 
und Berlin. (Deutsche Verlags-Anstalt) 1932. 644 S. 8°, geb. 14.2 K. 


In seiner 1908 erschienenen Erstlingsschrift schrieb Willy Andreas, ausgehend 
von einer Analyse des Geistes, der sich in den Relazionen der venezianischen Staats- 
männer kundtut: „Man sehnt sich nach vielem Lesen einmal nach einem ihrer un- 
geschickten deutschen Zeitgenossen, nach seiner treuherzigen Hingebung und naiven 
Erzühlerbreite." Heute legt er ein Buch vor, das nichts Geringeres darstellt als 
einen Querschnitt durch die gesamte Kultur Deutschlands am Vorabend der Re- 
formation, diese üppig wuchernde, aller einfachen Formulierung spottende Kultur 
mit ihren örtlich und zeitlich so mannigfaltigen, hier plumpen und groben, dort 
wieder einen Spätstil verratenden feinen Zügen. 


Hatte einst Jacob Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien 
erstmalig versucht, die einheitliche Art eines als Ganzheit so noch nicht erfaßten 
Zeitalters herauszustellen, so fiel Andreas seinem Gegenstande gegenüber eine 
wesentlich andere Aufgabe zu. Er fand gebahnteren Weg, hatte dafür aber die 
schwerere Bürde einer riesigen, über den Stoff erwachsenen Literatur zu tragen. 
Die letzten breiteren Bearbeitungen des Themas liegen freilich schon weit zurück: 
42 Jahre Georg von Bezolds seinerzeit mit Recht bewunderte Einleitung zur Ge- 


Kritiken 203 


schichte der deutschen Reformation, 37 Jahre A. E. Bergers weniger gelungener 
Versuch über die Kulturaufgaben der Reformation. Desto gewaltiger ist die Zahl 
der Monographien, die seitdem ans Licht traten. 


In einem stattlichen Bande von mehr als 600 Seiten ziehen Menschen und 
Dinge jener Zeit an uns vorüber. Er ist in drei Hauptteile gegliedert: I. Weltbild, 
Kirche und Volksreligiosität am Vorabend der Reformation. II. Staat, Gesell- 
schaft und Wirtschaft an der Neige des Mittelalters. III. Die Zeitenwende in Geistes- 
leben und Kunst. — Es ist wohl kein Zufall, daB von Bezold seinerzeit im groBen und 
ganzen den Weg von außen nach innen einschlug, mit Reich und Staat begann, 
um mit den religiösen Zuständen und den Vorspielen der Revolution zu schließen, 
Andreas dagegen mit Kirche und Religion beginnt und im letzten Abschnitt zu 
ihnen zurückkehrt, indem er ihr Hervor- und Zurücktreten in Geistesleben und Kunst 
beobachtet. 


Die Eigenschaften, die zum Gelingen einer so schwierigen Arbeit erforderlich 
sind, vereinigt der Geschichtschreiber Andreas in glücklichster Weise: die Kunst 
farbiger Schilderung, die durch den Reichtum gut gewühlter Einzelzüge fesselt, 
die Fähigkeit, Stärkegrade abzuschätzen, im Fluß befindliche Dinge behutsam zu 
beschreiben, das Nebeneinander mannigfacher Ursachenreihen anschaulich zu 
machen, landschaftliche Unterschiede in der Ausprägung der gleichen Erscheinung 
zu erfassen, nicht zuletzt, eigenartige und umstrittene Persönlichkeiten feinsinnig 
zu verstehen und gerecht abwägend zu würdigen. (Man vergleiche u.a. die Cha- 
rakteristiken von Celtis und Mutianus Rufus, S. 494—496, des Erasmus, S. 506 bis 
623, Kaiser Maximilians, S. 230—241.) i 

Das Buch enthält auffallend wenig Jahreszahlen, gleichwohl bleibt der Leser 
nie im Unklaren, ob die geschilderten Zustände dem Beginn, der Mitte oder dem 
Ende des behandelten Zeitraums angehören. Der Verfasser hat, was er in den 
Quellen und einer weitschichtigen Literatur fand, nicht nur zusammengefaßt, ab- 
gewogen und gestaltet, sondern auch erweitert und ergänzt. In einem Anhang 
führt er die wichtigsten Schriften kurz an, nimmt Stellung zu ihnen und bezeichnet 
Lücken, die er auszufüllen suchte. So heißt es zum 7. Kapitel (Ländliche Ver- 
hältnisse und Vorboten des Bauernkrieges): ,,Diese den süddeutschen Verhältnissen 
gewidmeten Studien bedurften nunmehr einer Ergänzung für Norddeutschland, 
für dessen agrarische Zustünde eine einheitliche, zusammenfassende Schilderung 
fehlt", — und ähnlich nennt er auch sonst die besonderen Ziele, die er sich gesteckt 
hat. Wenn er an ein oder zwei Stellen trotz seiner bemerkenswerten Vorsicht in 
der Deutung der Tatbestánde nicht allen Móglichkeiten gerecht zu werden scheint!, 
bleibt das die Ausnahme und tut der anregenden Kraft des Buches keinen Eintrag, 
das dem einfachen Leser wie dem sachkundigen Fachgenossen reichen Genuß 
bereitet. 


Leipzig. Paul Kirn. 


1 Ich denke an S. 602/08, wo aus der immer mehr realistisch werdenden Darstellung 
beiliger Personen und Dinge in der Kunst gefolgert wird: „Die feste Rangordnung meta- 
physischer Werte .... gerät ins Wanken.“ Gewiß kann man das so auffassen. Aber m. E. 
kann der gleiche Tatbestand auch so verstanden werden, daß man wagte, jene erhabenen 
Personen in Alltagsbeleuchtung zu stellen, weil man nicht zu fürchten brauchte, sie büßten 
Ihren tm Volksbewußtsein sicher gegründeten hohen Rang dadurch ein. 


204 Kritiken 


Lacour-Gayet, G., Talleyrand (1754—1838). T. 1 (1754—1799), 1930, 426 S.; 
T. 2 (1799—1815), 1930, 495 S.; T. 3 (1815—1838), 1931, 519 S. Paris (Payot). 
Preis je 40 frcs. 

Bei der hohen Bedeutung, die der groBen Revolution mit ihren klaren Front- 
stellungen in Frankreich in den geistigen Auseinandersetzungen des Tages zu- 
kommt, ist das lebendige Interesse der franzósischen Geschichtschreibung an dieser 
entscheidenden Wende ihrer vaterländischen Geschichte, die der Physiognomie des 
französischen Wesens bestimmende Züge aufgeprägt hat, sehr wohl zu verstehen. 
Eher wäre es zu verwundern, daß diejenige Persönlichkeit, die bis auf zwei Jahre 
durch alle Phasen der großen Umwälzung hindurch — zuerst als hervorragendes 
Mitglied der Nationalversammlung, dann als leitender Minister der verschiedenen 
Systeme — im Blickpunkt des Interesses gestanden hat, erst rund 40 Jahre nach 
dem Erscheinen seiner Memoiren seine eingehende Biographie erhält. Ihr Verf. 
hat eine sehr fleiBige Arbeit geleistet. Zehn Jahre hat er der sorgsamen Durchforschung 
des gesamten handschriftlichen und gedruckten Materials gewidmet, und nach 
einer größeren Zahl von Einzeluntersuchungen über Teilprobleme der Geschichte 
T.’s legt er nunmehr diese seine Studien abschließende Darstellung vor, in der er 
eine erdrückende Fülle von Quellenzeugnissen vor dem Leser ausbreitet, aber die 
Forschung dadurch um so ernstlicher zur Prüfung herausfordert, ob es sich hier 
wirklich um die abschließende Behandlung der wohl am schwersten zu deutenden 
Persönlichkeit der französischen Revolution handelt, als die das Werk nach dem 
aufgewandten wissenschaftlichen Apparat angesehen zu werden doch wohl den 
Anspruch erheben dürfte. 

Die vier ersten Kapitel des 1. Bandes, der mit dem Staatsstreich des 18. Bru- 
maire abschließt, behandeln die Zeit bis zum Ausbruch der Revolution. Nach einem 
kurzen Rückblick auf die Geschichte der Familie T., die sich bis ins 10. Jahrhundert 
zurückverfolgen läßt, beginnt Verf. mit einer Schilderung der Kindheit und Jugend- 
zeit T.'s. Hauptquelle sind hier die 1816 niedergeschriebenen Memoiren. Sie be- 
zeichnen als für seine Entwicklung weithin bestimmenden Grundzug jener Jahre 
das innerlich kühle Verhältnis zu seinen Eltern, das sich bis zu dem Gefühl der 
Vereinsamung und Verlassenheit steigerte. L. erklärt diese Darstellung für einen 
Versuch T.'s, sein liebloses Verhalten späterer Jahre nachträglich zu rechtfertigen, 
und sucht sie zu entkräften, indem er aus Briefstellen der Eltern und Äußerungen 
von der Familie nahestehenden Personen zu erweisen sucht, daß kein Grund zu 
einer solchen Einstellung des Knaben T. bestanden habe. Aber angesichts der 
psychologischen Unmöglichkeit, das Vorhandensein eines Gefühls durch den Nach- 
weis seiner Unberechtigtheit zu widerlegen und angesichts der äußeren Stellung 
der Eltern — beide in hohen Hofámtern — und schließlich angesichts der respekt- 
vollen Schilderung T.'s von seiner Mutter als der vollendeten Gesellschaftsdame des 
ancien régime, die immerhin zusammen der Darstellung der Memoiren einen hohen 
Grad von Wahrscheinlichkeit geben, hütten doch schwerer wiegende Beweise bei- 
gebracht werden müssen, um die Glaubhaftigkeit der Memoiren zu erschüttern. 

Ohne Blick für das noch in die Zeit hereinragende kräftige Stück Mittelalter, 
das in den hóheren geistlichen Würden im Grund weiter nichts sah als eine Móg- 
lichkeit, den Söhnen alter Familien eine einflußreiche politische Laufbahn zu er- 
öffnen — man denke nur an die stattliche Reihe von Kardinälen in der Leitung 
der franzósischen Politik —, wird die geistliche Laufbahn T.'s geschildert. Dabei 


Kritiken 205 


scheint das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, das unüberbrückbare Auseinander- 
klaffen zwischen seiner Lebensauffassung und Lebensführung und den Anforderungen 
und Pflichten des geistlichen Amtes, diese im strengsten und ernstesten Sinne ge- 
nommen, aufzuzeigen, indem L. aus der zeitgenössischen Memoirenliteratur, selbst 
aus Pamphleten der Revolutionsjahre, kritiklos alles zusammentrügt, was zu einer 
moralischen Verurteilung T.'s dienen kann, wobei er sich sogar einmal auf eine 
heute noch im Seminar von Angers lebendige Tradition beruft, um nachzuweisen, 
daß T. wegen sittenlosen Lebenswandels das Seminar von Saint Sulpice habe ver- 
lassen müssen. Das in dieser Zeit bei T. unverkennbar hervortretende Bestreben, 
in die hohe Politik hineinzukommen, und zwar nicht nur durch Anknüpfung von 
einfluBreichen Beziehungen und durch Betátigung in der Standesvertretung der 
Geistlichkeit, sondern auch durch ernsthaftes Streben nach Aneignung des Rüst- 
zeugs zu einer erfolgreichen späteren politischen Tätigkeit, tritt gelegentlich in 
den zitierten Quellenstellen hervor, aber mehr zufällig; für eine Zeichnung des 
Charakterbildes ist es nicht verwandt, obwohl gerade hier die individuellen Züge 
liegen, die ihn sich von den allgemeinen Erscheinungen seiner Zeit und seines Standes 
abheben lassen. Die Darstellung dieser ersten, in sich geschlossenen Periode der 
Entwicklung T.'s schlieBt mit einer kurzen Charakteristik, die ohne Verstándnis 
für seine seelische und gesellschaftliche Lage eine Zusammenstellung von Eigen- 
schaften gibt, die ihn in ungünstigem Lichte erscheinen lassen. 

Drei Kapitel verfolgen seine Tütigkeit wührend der Revolution. Auch hier 
steht das moralische Raisonnement durchaus im Vordergrund. Größerer Wert 
als auf die Herausarbeitung seiner politischen Stellungnahme, die durch eine Ana- 
lyse seiner Reden und Denkschriften sehr wohl móglich würe, wird auf die Erzühlung 
von Anekdoten und Skandälchen gelegt, offenbar in der Absicht, T.'s Charakter 
und Lebensführung zu verdächtigen. Von 43 Seiten der Darstellung stehen nicht 
weniger als 18 unter diesem Gesichtspunkt, während auf den verbleibenden 25 
dem Verf. hauptsáchlich der Nachweis am Herzen zu liegen scheint, daB sein po- 
litisches Verhalten mit seiner Stellung als geweihtem Bischof der katholischen 
Kirche in einem unvereinbaren Widerspruche stand. 

Mit wie wenig Verstándnis Verf. dabei zu Werke geht, zeigt deutlich seine 
Behandlung der Bischofskonsekrationen, die T. noch nach Niederlegung seines 
bischöflichen Amtes vorgenommen hat. Obwohl von L. selbst zitierte Äußerungen 
deutlich zeigen, daß in ihm Gedankengänge des Gallikanismus lebendig waren, 
wird in eigenartigen kritischen Erörterungen die Angst als hauptsächlichste Trieb- 
feder seines Handelns nachzuweisen gesucht. Eine Besinnung auf die Situation zu 
Anfang des Jahres 1791 läßt die Angelegenheit in einem wesentlich anderen Lichte 
erscheinen. Die von der Nationalversammlung beschlossene Zivilkonstitution des 
Klerus hatte zum Konflikt mit dem Papste geführt, wodurch die Maßnahmen auf 
religiösem Gebiet einen nationalkirchlichen Anstrich erhielten. Die Opposition 
richtete sich damals gegen den römischen Zentralismus, in jenem Zeitpunkt aber 
noch keinesfalls gegen das Dogma oder gegen das priesterliche Amt als solches. 
Wollte daher die nach dem Bruch mit Rom zur Nationalkirche gewordene Gemein- 
schaft Geistliche haben, die die zur Ausübung des geistlichen Amtes erforderlichen 
Bedingungen erfüllten, so mußte für sie der durch die bischöfliche Priesterweihe 
unumgängliche unmittelbare Zusammenhang zurück bis auf Petrus und Christus 
gewahrt werden. Nun hatten sich aber durch Leistung des Priestereides zwar eine 


206 Kritiken 


Reihe von Priestern, jedoch nur ganz vereinzelt Bischófe auf die Seite der neuen 
Ordnung gestellt. Die neue Nationalkirche mußte daher zunächst darauf bedacht 
sein, sich die Möglichkeit, selbst zum Priester zu weihen, zu schaffen. Da nun in- 
folge von Verhinderung und Abwesenheit die nach den kanonischen Vorschriften zur 
Durchführung einer Bischofsweihe erforderliche Anzahl von Bischöfen ohne Hinzu- 
nahme T.'s nicht aufzutreiben war, übernahm dieser als der vornehmste der anwesen- 
den den Akt der Weihe, woran ihn die kurz zuvor vollzogene Niederlegung seines 
bischóflichen Amtes nicht hinderte, da ja nach katholischer Auffassung eine einmal 
vollzogene Weihe einen Charakter indelebilis verleiht, der durch keinen Akt des Ge- 
weibten wieder aufgehoben werden kann. Diese Auffassung ergibt sich zwanglos 
aus der Darstellung der Memoiren, wenn man ihr ohne Voreingenommenheit gegen- 
übertritt, nur vom strengen Standpunkt der zentralistischen Papstkirche erscheint 
das Verhalten T.'s als Frevel und Abfall. Auch in der Behandlung dieser zweiten 
Periode im Leben T.'s tritt seine wahre Haltung und Bedeutung nur gelegentlich 
hervor, polemisches Beiwerk und moralisches Raisonnement stehen durchaus im 
Vordergrund. 

Die einer Besprechung gezogenen Grenzen erlauben nicht, die gesamte Dar- 
stellung L.'s in der gleichen Weise einer kritischen Nachprüfung zu unterziehen, im 
Folgenden sollen daher lediglich die wichtigsten Punkte hervorgehoben werden. 
Bei der Darstellung des Eintritts T.'s ins Ministerium folgt Verf. zwei Quellen, 
dem Bericht in Barras’ Memoiren und T.'s eigener Darstellung. In der für seine 
Methode kennzeichnenden Art reiht er beide Berichte aneinander, ohne an den 
handgreiflichsten psychologischen Unmöglichkeiten Anstoß zu nehmen. DaßT. durch 
eine Intrigue der Frau von Staél ins Ministerium gekommen ist, wissen wir von 
ihm selbst, aber es müßte doch auf einiges Bedenken stoßen, sich den Hergang so 
vorzustellen, wie ihn Barras erzáhlt. Es ist doch zum mindesten unglaubhaft, daB 
die rührselige Geschichte von den Selbstmordabsichten des Ministerkandidaten 
den anfänglich widerstrebenden Barras ungestimmt haben sollte. Und welche 
Rolle läßt Barras T. spielen, den Weltgewandten, jeder Situation Gewachsenen? 
Die eines linkischen unbeholfenen Menschen, der von anderen zurechtgerückt 
werden muß. Dieser Bericht enthält doch wahrlich soviel des Unwahrscheinlichen, 
daB seine Glaubhaftigkeit erschüttert sein dürfte. Und da auch T. aus den Gescheh- 
nissen nur einen Zug heraushebt, so würde ein non liquet der historischen Wahrheit 
auf alle Fälle eher gerecht als ein kritikloser Anschluß an die Quellen. Von der 
gleichen inneren Unmóglichkeit ist der Wille zur Bereicherung, der ihm als alleiniges 
Motiv untergeschoben wird, und zwar auf Grund einer Szene von einer nicht ge- 
ringeren Unwahrscheinlichkeit. Zweifellos war es für T., der die Grundlagen seiner 
früheren Existenz verschüttet sah, und der nach seiner Rückkehr aus Amerika 
in einer sehr bedrángten Lage war, sehr wesentlich, in ein gutbesoldetes Staatsamt 
zu kommen, aber ist man deswegen berechtigt, angesichts des in seinem ganzen 
früheren Leben hervorgetretenen Dranges nach politischer EinfluBgewinnung, der ihm 
alle Aussicht eróffnet hatte, einmal die Reihe der erfolgreichen geistlichen Würden- 
träger als Leiter der französischen Politik fortzusetzen, das Streben nach politischer 
Betätigung als Motiv auszuschalten, zumal er dann später der einflußreichste und 
wirksamste der Minister der Revolution und des Kaiserreichs geworden ist ? 

Die einseitige Betonung des finanziellen Interesses bei der Übernahme des 
Ministeriums führt mit innerer Notwendigkeit dazu, T. in seinem Verhältnis zu 


Kritiken 207 


Napoleon jede Selbstándigkeit der politischen Haltung abzusprechen und ihn zum 
willenlosen Werkzeug des Usurpators zu machen. Allein in dem Straßburger Schreiben 
von 1805 und in der Warschauer Denkschrift von 1807 sieht L. den Versuch zur 
Entwicklung einer eigenen politischen Meinung. Dem könnte man aus seiner eigenen 
Darstellung entgegenhalten die Bedeutung, die er selbst ihm als dem geistigen 
Urheber der Expedition nach Ägypten beimißt, der von ihm gleichfalls behauptete 
Einfluß auf den spanischen Krieg von 1808, wozu noch zahlreiche Äußerungen 
Napoleons kommen, die nicht recht zu dieser These stimmen wollen. Vor allem 
aber die von ihm vertretene Mittelmeerpolitik, von der der Zug nach Ägypten nur 
ein Teil war, und die doch schon die ganze spätere Mittelmeerpolitik vorzeichnete. 
Ihm mit dem Verf. die Schuld an dem Mißerfolg der Expedition zuzuschreiben, geht 
doch wohl kaum an; den militärischen Teil hatte Napoleon als der zuständige Fach- 
mann gebilligt, und daB die französische Flotte durch eine Unachtsamkeit ihres 
Kommandanten vóllig vernichtet werden würde, konnte er wirklich nicht voraus- 
sehen. Daß die französische öffentliche Meinung einen Sündenbock suchte und in 
T. fand, ist weiter nicht verwunderlich, aber nach 130 Jahren sollten derartige Ur- 
teile nicht mehr ungeprüft übernommen werden. 

Entsprechend dieser Gesamtauffassung von T.'s Charakter wird auch seine 
Losung von Napoleon und der schlieBliche Bruch betrachtet. Die These der Memoiren, 
daB die Eroberungspolitik nach 1803 mit seiner politischen Gesamtanschauung 
nicht mehr vereinbar war und sich nun eine Entfremdung anbahnte, die schlieBlich 
zu seinem Ausscheiden aus dem Ministerium führte, wird abgelehnt und durch die 
L. nàherliegende Erklärung ersetzt, daB T. mit der ihm eigenen feinen Witterung für 
das Kommende Napoleons Sturz vorausgeahnt und sich rechtzeitig in Sicherheit 
gebracht habe. Dementsprechend sieht Verf. in T.'s Verhalten auf dem Erfurter 
Kongreß nichts weiter als einen nur aufs schürfste zu verurteilenden Verrat, wobei 
die finanziellen Vorteile in geschickter Weise in den Vordergrund geschoben werden. 
Es ist hier nicht der Platz, auf die schwierige Frage der auBenpolitischen Haltung 
T.’s näher einzugehen, die Dinge liegen hier keineswegs einfach und bedürfen noch 
der náheren Klárung. 

Noch stärker identifiziert Verf. 1814, als T. wieder in die Politik einzugreifen 
begann, das Interesse Frankreichs mit dem Napoleons und hat darum für T. nur 
die stärksten Worte der Verurteilung; was er für die Wiederherstellung der Bour- 
bonen tat, erscheint als reiner Landesverrat, ein anderes Motiv als das des ehrgeizigen 
Egoismus wird nicht anerkannt. 

Besonders zu bemerken ist die Stellung zu dem von T. abgeschlossenen Ersten 
Pariser Frieden. Er wird als eine unnötige Preisgabe der berechtigtsten Interessen 
Frankreichs abgelehnt, in einer eigentümlichen Einschätzung der politischen und 
militärischen Lage, die einen Frieden auf einer anderen Grundlage als den Grenzen 
des alten Frankreichs für möglich hält. Die Verträge von Basel, von Campo-Formio 
und Luneville, „ces traités où la France était parvenue à dessiner le cadre de ses 
frontiéres naturelles", werden deutlich geschieden von den maBlosen Eroberungen, 
die ihnen folgten. Nun, T. hat nicht an diese natürlichen Grenzen geglaubt, für ihn war 
das Frankreich des ancien régime das naturgegebene Glied der europäischen Völker- 
gemeinschaft. Es erweckt aber den Anschein, als ob in diesen Differenzen der politischen 
Zielsetzung einer der Gründe zu suchen sei, der dem heutigen geistigen und poli- 
tischen Frankreich weithin den Zugang zu einem seiner gróBten Politiker verschlieBt. 


208 Kritiken 


Von dieser Einstellung aus ist es schwer, der Leistung T.'s auf dem Wiener 
KongreB gerecht zu werden. Das Ansehen und die einfluBreiche Stellung, die er 
für Frankreich in diesen Verhandlungen erkämpft hat, werden anerkannt, aber wie 
etwas Selbstverständliches hingenommen, der Vertrag vom 3. Januar 1815, der 
das geschlagene Frankreich den Siegerstaaten Österreich und England gleichberech- 
tigt an die Seite stellte, wird mit schlichten Worten registriert, ohne daB die von T. 
entfaltete hohe diplomatische Kunst gewürdigt wird. Dafür wird ihm aber, wieder aus 
den Einstellungen der praktischen Politik heraus, der Vorwurf gemacht, nicht ver- 
hindert zu haben, daB PreuBen am Rhein die starke Position begründete, welche 
die Voraussetzung für die spátere Einigung Deutschlands wurde, übrigens Fragen, 
die auch von T.'s politischer Gesamtanschauung aus sich nicht unwesentlich anders 
ausnehmen. Von Interesse ist hier ferner noch die Beobachtung, daB der Behandlung 
des Wiener Kongresses ganze 11 Seiten gewidmet sind, während z. B. die also an- 
scheinend für so viel wichtiger gehaltenen Fragen der Laifizierung und Ver- 
heiratung T.'s auf nicht weniger als 22 Seiten behandelt sind. 

Die Zeit nach dem Wiener KongreB bis an sein Lebensende füllt den 3. Band. 
Zunächst wird in seiner Quellenstück an Quellenstück reihenden Art T.’s Tätigkeit 
als Minister Ludwigs XVIII. dargestellt, dann folgt in ausführlicher Breite mit 
zahlreichen Streiflichtern auf die Vorgänge der großen Politik eine Schilderung 
der Jahre der Zurückgezogenheit ins Privatleben, bis zur Rückkehr in die hohe Politik 
in der Zeit der Julirevolution. T.'s Anteil an der Revolution wird bestimmt und 
dann in eingehender Darstellung seine diplomatische Tátigkeit als Gesandter Louis 
Philipps in London gewürdigt. Wenn auch die Seitenblicke auf die persónlichen 
Motive und auf den Ehrgeiz, eine hervorragende politische Rolle zu spielen, nicht 
fehlen, so werden doch die hohen Verdienste, die er sich aus patriotischem Pflicht- 
gefühl um das Ansehen Frankreichs, die Erhaltung des Friedens und die Anerkennung 
der neuen Dynastie erworben hat, durchaus anerkannt. 

Von den Ausführungen über die letzten Lebensjahre nach dem Ausscheiden 
aus der politischen Wirksamkeit sind die Untersuchungen über T.'s Friedensschluß 
mit der Kirche von besonderer Bedeutung. Auf der Grundlage der intimen Zeug- 
nisse wird zunüchst seine ernste Grundhaltung in den Fragen der Religion und Welt- 
anschauung sichtbar gemacht, dann wird an Hand der Dokumente, der Selbst- 
zeugnisse T.'s, der Aufzeichnungen der Herzogin von Dino und ihres Beichtvaters, 
des späteren Bischofs von Orléans, Dupanloup, dessen Vermittlungstätigkeit sich T. 
zur Wiederanknüpfung der Beziehungen zur rómischen Kirche bediente, Schritt 
für Schritt die Entwicklung der Vorgänge verfolgt und einwandfrei festgestellt, daß 
diese letzte Wendung weder aus Gründen einer unmännlichen Todesfurcht, noch 
aus bloßer Opportunität zu erklären ist, sondern sich organisch aus dem Wesen 
des Fürsten erklärt, dabei allerdings seinem Charakter eine Tiefe gibt, die zu 
manchen Partien des Werkes nicht recht passen will. 

Eine Gesamtwürdigung des privaten und öffentlichen Charakters T.'s schließt 
das Werk. Für jenen wird zunächst der unwiderstehliche Zauber, der von ihm aus- 
ging, aus Urteilen seiner Zeitgenossen belegt und aus seiner Herkunft als gentilhomme 
des ancien régime erklärt, wie in gleicher Weise seine Beherrschtheit, seine Gleich- 
gültigkeit gegen die Wechselfälle des Lebens, eine gewisse Skrupellosigkeit in Geld- 
sachen und sein Verhältnis zu den Frauen. Überall in dieser Zusammenfassung 
wird das Bestreben deutlich, dem Gegenstande gerecht zu werden, und doch wird 


Kritiken 209 


dieser Wille zur Objektivität dem Staatsmanne gegenũber erschwert durch die 
schon erwähnten Differenzen in der politischen Zielsetzung. Der Glaube an die 
Rheingrenze läßt eine Anerkennung der großen Leistung des Politikers T. nicht 
zu, so daB das abschließende Gesamtbild ihm nur die Eigenschaften der Gewandt- 
heit, der Kunst der Anpassung, der Geschmeidigkeit, der Fähigkeit zu geschickter 
Ausnützung der gegebenen Umstände zuerkennt, die darüber hinausgehenden 
Qualitäten des Politikers oder gar Staatsmannes von größerem Gewicht aber versagt. 

Ist nun dieses monumentale Werk, das sich in Heranziehung auch entlegensten 
Materials nicht genug tun kann, wirklich die erschöpfende und endgültige Bio- 
graphie, die das Bild des wandlungsfähigsten aller französischen Staatsmänner für 
immer gezeichnet hat? Und wenn sie es nicht ist, woran liegt es, daB einer so 
großen Mühewaltung der letzte Erfolg versagt geblieben ist? Zwei Gründe nehmen 
dem Werk den Charakter einer abschlieBenden und seinem Gegenstande von allen 
Seiten gerecht werdenden Leistung: der eingenommene Standpunkt und die an- 
gewandte Methode. Der Verf. hat sich für seine Wertung einen ganz festen Aus- 
gangspunkt genommen, den der katholischen Kirche. An ihren Maßstäben mißt er 
alles und verurteilt, was mit ihnen nicht in Einklang ist, anstatt Handlungen und 
AuBerungen auf ihre Motive zurückzuführen und in ihrer eigentümlichen Bedingt- 
heit zu verstehen zu suchen. So kommt in die Darstellung ein zwiespältiger Zug: 
alles was in T.’s Leben sich von streng kirchlicher Auffassung entfernt, erfährt 
entschiedene Ablehnung: so seine Auffassung seiner priesterlichen Stellung im alten 
Frankreich wie seine Kirchenpolitik während der Revolution, seine Laifizierung 
wie seine Verheiratung, wohingegen mit seiner Rückwendung zur Kirche in seinem 
Alter ein völliger Umschwung in seiner Beurteilung einsetzt, so daß die dem Bilde 
zugrundeliegende Einheit der Persónlichkeit nicht genügend gewahrt erscheint. 

Bedenklicher noch erscheinen die Schattenseiten der angewandten Methode. 
Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, daB in Aufnahme zahlreicher wört- 
licher Anführungen eine möglichst große Quellennähe gesucht wird; wenn das 
hier nur mit der nötigen kritischen Besonnenheit geschehen wäre! In dieser Hinsicht 
läßt der Verf. aber so gut wie alle Wünsche offen. Nur gelegentlich wird der Versuch 
gemacht, handgreifliche Widersprüche der Überlieferung durch Interpretation aus 
der Welt zu schaffen. Im allgemeinen aber druckt er aus der überreichen Memoiren- 
literatur so gut wie alles ab, was ihm zur Beleuchtung des Charakters T.'s dienlich 
erscheint, ohne sich um die Einstellung seiner Zeugen zu kümmern. So erscheint 
das Bild T.'s in ganzen Partien des Werkes weithin bestimmt durch die Memoiren 
der Frau von Staél und Barras’, von denen beiden man eine objektive Haltung nach 
dem 18. Brumaire aus naheliegenden Gründen nicht erwarten kann, und Chateau- 
briands, der als Vertreter des romantisierenden Katholizismus von T. als dem Ex- 
ponenten des aufgeklürten ancien régime durch eine Welt von Gegensätzen geschieden 
war. Das hindert aber den Verf. nicht, auch die extremsten Behauptungen und 
Verdáchtigungen ihrer Erinnerungen ohne die geringste kritische Bemerkung ab- 
zudrucken. In manchen Partien bietet bei diesem unkritischen Verfahren die Dar- 
stellung eher ein Bild von der Zerrissenheit der Parteikämpfe und der MaBlosigkeit 
der persönlichen Angriffe in der Zeit der staatlichen Auflösung Frankreichs, sowie 
der Rivalität und des Intriguierens um die Gunst des allmächtigen Despoten, der 
Ruhe und Ordnung wiederherstellte. Indem aber die einzelnen Züge aus diesem 
Material mosaikartig zu einem Bilde zusammengefügt werden, erhält dieses etwas 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 1. 14 


210 Kritiken 


Unsicheres, Schwankendes, und da diese Mängel nicht dadurch ausgeglichen werden, 
daß der Verf. die leitenden Linien und beherrschenden Züge deutlich herausarbeitet, 
erscheint manches verzerrt, wie aus einem nicht einwandfreien Spiegel reflektiert. 
So kommt die kritische Prüfung zu dem Ergebnis, daß es Lacour-Gayet noch nicht 
gelungen ist, eine abschließende Darstellung T.’s zu geben. Sein Werk ist zu ver- 
stehen aus den Spannungen und Gegensätzen des französischen Geistes, eine ge- 
rechte Würdigung des Menschen und Staatsmannes T. ist es aber nicht. 
Leipzig. Wendorf. 


Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894—1901. Versuch 
eines Querschnitts durch die innerpolitischen, sozialen und ideologischen 
Voraussetzungen des deutschen Imperialismus. Historische Studien heraus- 
gegeben von Ebering, Berlin, 1930. Verlag von Emil Ebering. IX und 464 S. 


Das vorliegende Buch ist in der von Ebering unter Mitwirkung von verschiede- 
nen hervorragenden Gelehrten herausgebenen Reihe der Historischen Studien er- 
schienen. Die Drucklegung ist durch die Notgemeinschaft der Wissenschaft er- 
möglicht worden. Man konnte also erwarten, daß es sich um ein Buch von wissen- 
schaftlicher Bedeutung handelte. 

Ich erlebte eine bittere Enttäuschung. Trotz wissenschaftlicher Verbrämung, 
trotz des mit vielen gelehrt klingenden Fremdwörtern gespickten Stiles ist es leider 
kein objektives Geschichtswerk, sondern ein politisches Tendenzbuch. Es ist in 
die Reihe der Schriften einzureihen, die den Zweck haben, nachzuweisen, daß 
Deutschland unter seinem letzten Kaiser von Männern regiert worden ist, die teils 
Trottel, teils brutale Egoisten waren. 

Nun kann man mir vorwerfen, daB ich ebenfalls parteiisch in der Flottenfrage 
bin, denn ich bin in den Jahren 1900 bis 1907 sehr häufig für den Flottenverein, 
gelegentlich auch für die Kolonialgesellschaft, als Redner aufgetreten. Ich fühle 
mich aber nicht als befangen, glaube im Gegenteil die Pflicht zu haben, das Referat 
nicht abzulehnen, obgleich ich gestehen muß, daß es mir persönlich nicht erfreulich 
ist, vorliegendes Buch zu besprechen. 

Die ersten 34 Seiten berichten über die Entwicklung der deutschen Flotte 
bis 1894. Daß in jenen Zeiten gerade der Liberalismus marinefreundlich war, ist 
richtig. Aber die Rollen wechselten, als der junge Kaiser eine Seemacht schaffen 
wollte. Daß er seine guten Gründe dazu hatte, dafür fehlt Kehr jedes Verständnis. 
Kehr teilt (S. 177) die Ansicht Max Webers, daß „die Flottenvorliebe Wilhelms II. 
weder Einsicht in eine politische, noch in eine wirtschaftliche Notwendigkeit über- 
seeischer Machtpolitik war, sondern Spielerei. Er behandelte auch die Flottenfrage 
unter dem Gesichtspunkt eines originellen Leutnants". Die leidenschaftlichen 
Äußerungen des Kaisers für die Flotte sind nicht nur „aus der Haltlosigkeit des 
Psychopathen" zu erklären, sie wurzelten vielmehr stark in der sozialen Krisis 
seines Reiches. — , Der Kaiser wußte gar nicht, was er wollte." — „Mit dem kümmer- 
lichen Rest monarchischen Instinkts, den der letzte Hohenzoller noch besaß, hat 
er selbst begriffen, auf welcher Grundlage dieser sein Sieg in der Flottenfrage ruhte 
(S. 316). Als die Reichstagsabgeordneten die Flotte nicht bewilligen wollten, nannte 
er sie Ochsen (S. 315), als sie endlich sich fügten und das nationale Bürgertum 
sich für die Flotte begeisterte, freute er sich über das gut vorbereitete Stimmvieh 
(S. 316). Seite 413 zitiert Kehr das Schreiben des Kaisers an den Fürsten Hohen- 


Kritiken 211 


lohe vom 1. August 1897, darin der Kaiser meint, daB England den Handelsvertrag 
nicht gekündigt haben würde, wenn Deutschland eine starke, achtunggebietende 
Flotte hátte. Kehr gibt sich keine Mühe, Verstündnis für diese Ansicht zu finden, 
sondern tut sie spöttisch als „grotesk, aber offenbar ganz ernst gemeint" ab und 
sieht sie als Zeichen eines „weltfremden Doktrinarismus“ an, „der ans Patholo- 
gische grenzt“. 

Kehr schildert, wie dieser angeblich geistig nicht ganz zurechnungsfähige 
Kaiser Männer findet, die seine törichten Ideen praktisch ausführten. Zunächst 
versuchte er es mit Hollmann, der kam nicht zum erwünschten Ziel. Erst Tirpitz 
gelang es. Daß dieser ein kluger und energischer Mann war, leugnet Kehr keines- 
wegs. Aber selbst Tirpitz wußte anfangs noch gar nicht, gegen wen man eigentlich 
eine Flotte bauen wollte (S. 382). Die Gefahr, die von England her drohte, ent- 
deckte man erst später (S. 381). Tirpitz und seine Offiziere wollten eine Flotte 
bauen, , weil sie Marineoffiziere waren und ihre eigene Waffe stärken wollten“ 
(S. 380 und 381). Die Bedeutung der Flotte für die Kolonien sei anfangs auch noch 
nicht ausschlaggebend gewesen, denn für diesen Zweck brauchte man keine starke 
Schlachtflotte, da genügten die Kreuzer. Übrigens habe die ganze Kolonialpolitik 
mit einem Korruptionsskandal angefangen, dem Zusammenbruch des samoanischen 
Unternehmens des Hauses Godeffroy. Daß in Wirklichkeit die Kolonialpolitik 
damals noch nicht begonnen, sondern für eine spätere, günstigere Zeit zurückgestellt 
wurde, daß erst die Flaggenhissung zum Schutz der Unternehmungen des Hauses 
Lüderitz in Angra Pequena die Geschichte der deutschen Kolonien beginnt, scheint 
Kehr nicht bekannt zu sein. 

Seite 209 vertritt Kehr die merkwürdige Idee, daB vor Bernhard Dernburg die 
deutsche kapitalistische Wirtschaft sich nicht für die Kolonien interessiert hátte. 
Dagegen hätte sie für die Flotte Interesse gezeigt, am meisten natürlich die In- 
dustrie, die am Schiffsbau verdiente, weniger der Handel, am wenigsten die Finanz. 
Das letztere mag stimmen. 

Noch merkwürdiger aber ist die mehrfach wiederkehrende Behauptung (SS. 315, 
318, 381), mit Hilfe des Flottenbaues habe man den Sozialismus niederringen wollen. 
Gerade das Gegenteil hat man in Wirklichkeit in jenen Tagen ófter gehórt. Wieder- 
holt haben Redner, die auf die Arbeitermasse wirken wollten, gesagt, die Marine 
kàme nicht, wie das Landheer, bei der Niederwerfung innerer Unruhen in Frage. 
Tatsächlich hat die Meuterei 1918 zuerst auf den Kriegsschiffen angefangen. 

Sehr eingehend bemüht sich Kehr darzustellen, warum die verschiedenen po- 
litischen Richtungen für die Vergrößerung der Flotte eintraten. Daß Millionen von 
Deutschen aus innerster Überzeugung es taten, weil sie erkannten, daß keine moderne 
Großmacht ohne eine starke Flotte ihre Weltgeltung behaupten kann, dafür fehlt 
ihm jedes Verständnis. Er sieht überall nur Eigennutz. 

Die Nationalliberalen wurden von der Schwerindustrie unterstützt, diese war 
für die Flotte. Der Führer der Nationalliberalen Ernst Bassermann wird S. 311 
als ein Mann geschildert, der die Ehre, Rittmeister der Reserve zu sein, hóher stellte, 
als die eines politischen Führers im Reichstage, er, „der prominenteste Partei- 
führer des Bülowblockes sei von Wilhelm II. mit den unverhülltesten Bezeugungen 
der Verachtung bedacht worden, habe aber darauf mit immer wiederholten Er- 
gebenheitsbezeugungen reagiert. „Der politische Instinkt, das Gefühl für die politi- 
sche Lage erstarrte zu den grotesken Formen, deren Prototyp Ernst Bassermann“ war. 


14* 


212 Kritiken 


Wenn diese Schilderung Kehrs richtig würe, so würde es doch ganz unbegreif- 
lich sein, daB Bassermann jahrelang Führer einer Partei sein konnte, zu deren 
Mitgliedern damals eine groBe Zahl von Intellektuellen, darunter sehr viele Uni- 
versitätsprofessoren, gehörte. Wie würde es ferner möglich gewesen sein, daB Strese- 
mann, als er bereits republikanischer Minister war, so warm seines verstorbenen 
Parteifreundes gedachte? 

Ganz unzureichend ist, was Kehr über die Freisinnige Vereinigung sagt. Jeder 
Kenner unserer neuesten Geschichte weiß, daß die Trennung der deutsch-frei- 
sinnigen Partei in die freisinnige Vereinigung und in die freisinnige Volkspartei 
der Wehrfragen wegen 1893 erfolgte. Damals handelte es sich um das Landheer. 
Sieben Jahre später bildete die Vermehrung der Flotte den Gegensatz. Die frei- 
sinnige Vereinigung trat für die Flotte ein, und zwar aus innerster Überzeugung. 
Angesehene Männer dieser Partei sind in der Flottenbewegung hervorgetreten 
und haben im Flottenverein mitgewirkt. Kehr behauptet (S. 307), sie haben das 
getan, weil sie hofften, dadurch dem Konservativismus die Herrschaft zu unter- 
graben. Während er hier ihnen einen parteipolitischen Zweck unterlegt, wider- 
spricht er sich selbst im folgenden Satz, in dem er ganz richtig sagt, daß der Wille 
zur nationalen außenpolitischen Macht, die auf der innerpolitischen Freiheit be- 
ruhen sollte, für die freisinnige Vereinigung ausschlaggebend gewesen sei. 

Nicht ganz leicht ist es für Kehr, sich mit der Haltung des Zentrums ausein- 
anderzusetzen. Wenn es sich für die Flotte entschied, so geschah das nach seiner 
Ansicht, weil es glaubte, auf diesem Wege sein Ziel zu erreichen: Hegemonie-Partei 
zu werden. 

Auch die Haltung der Konservativen ist nicht immer leicht zu verstehen. Ihre 
nahen Beziehungen zu agrarischen Kreisen hemmten sie vielfach. Aber anderer- 
seits war sie so eng mit der Dynastie, der Staatsgewalt und der Wehrmacht ver- 
knüpft, daß die Entscheidung zugunsten der Flotte nicht ausbleiben konnte. Die 
Niederwerfung des Sozialismus spielte nach Kehr auch bei den Konservativen 
eine Rolle in der Flottenfrage. War im Kriege die Industrie beschäftigungslos, so 
konnte es zu Hungerrevolten kommen, darum waren die Konservativen für eine 
starke Flotte, die eine Blockade brechen konnte (S.329). Ein Hauptgrund sei ferner 
gewesen, daß die Konservativen befürchtet hätten, ihre Machtstellung an die Libe- 
ralen zu verlieren, wenn diese und nicht sie selbst, die Mittel für die Seemacht be- 
willigten. „Die Konservativen bewilligten die Flotte nicht, weil sie sie liebten, 
sondern weil sie sie fürchteten." Ein Gegensatz der Demokratie gegen das Heer 
sei zur Erhaltung des konservativen Partei- und Sozialprimates unbedingt not- 
wendig gewesen (S. 327). Auf der folgenden Seite versteigt sich Kehr zu der un- 
geheuerlichen Behauptung, der Grund, weshalb die Konservativen 1893 an der 
dreijährigen Dienstzeit festgehalten, sei der gewesen, daß sie die Freisinnigen ab- 
sichtlich in die Opposition treiben wollten, ebenso hätten sie später lieber die gräß- 
liche Flotte bewilligt, als daß diese gegen ihren Willen von der Linken gebaut wurde. 
Von den ein halbes Jahrhundert lang anhaltenden Kämpfen um die Frage zwei- 
jährige oder dreijährige Dienstzeit, von dem abweichenden Gutachten militärischer 
Sachverständiger, von der lebhaften Anteilnahme König Wilhelms I. an diesen 
Erörterungen, scheint Kehr nichts zu wissen. Daß hier ehrliche Überzeugung gegen 
ebenso ehrliche Überzeugung stand, daß beide Teile das Beste des Vaterlandes 
wollten, das ist ihm unverständlich, denn er sieht überall nur krassen Eigennutz 


Kritiken 213 


und boshafte politische Intrigue. „Die Flottenfrage", so schreibt er S. 330, „wird 
nur verständlich unter dem Gesichtspunkt der Sammlungspolitik. Die Industrie 
sollte die Flotte bekommen, aber nur, wenn sie den Agrariern ihre politische und 
soziale Vormachtstellung in PreuBen, in Ostelbien belieB, wenn in dem neuen Zoll- 
system die Agrarzólle der Mittelpunkt wurden, wenn die Industrie mit der Be- 
willigung der Zólle die Profitgarantie der Landwirtschaft übernahm und sich bereit 
erklärte, diese Sonderbesteuerung der proletarischen deutschen Stadtbevólkerung 
zugunsten der dünnen Herrenschicht des flachen Landes mit ihren polnischen 
Saisonarbeitern hinzunehmen.“ 

Ich habe diese Stelle wórtlich zitiert, denn hier offenbart sich deutlich der Kern 
des Kehrschen Buches: die Profitgier der Industriellen verband sich mit der der 
Agrarier, sie füllten ihre Taschen mit dem Gelde, das man von der armen prole- 
tarischen Bevölkerung erpreBte. 

Es gab aber neben den Parteien einen überparteilichen Verein, der das Ziel 
hatte, den Bau einer starken Flotte durchzusetzen und der dieses Ziel unter schweren 
Kämpfen erreicht hat: das war der deutsche Flottenverein. Die Bedeutung dieses 
Vereins kann von keinem ernsthaften Geschichtsforscher geleugnet werden und 
wer die Geschichte des deutschen Flottenbaues schildern will, muß sich auch ein- 
gehend mit der Tätigkeit dieses Vereins beschäftigen. 

Kehr macht sich die Sache recht bequem. S. IX sagt er, daß die Akten des 
Flottenvereins nicht mehr vorhanden sein sollen. 

Daß sämtliche Akten der Präsidialstelle, der Provinzialgruppen, sowie der 
Ortsgruppen im Laufe von dreißig Jahren verschwunden sind, erscheint mir un- 
glaublich. Wenn es aber wirklich der Fall sein sollte, dann bleibt doch noch ge- 
drucktes Material in Menge, z. B. die alljährlich erscheinenden Jahresberichte, die 
Vereinszeitschriften „Überall“ und „Die Flotte“, sowie andere Veróffentlichungen. 
Viel Material, das allerdings mühsam zu sammeln ist, bilden die oft sehr ausführ- 
lichen Zeitungsberichte über die veranstalteten groBen Versammlungen. Ferner 
war durch Erkundigung bei noch lebenden Männern, die an der Bewegung teil- 
genommen, noch manches zu erfahren. Allerdings ist der größte Teil der Führer 
gestorben, aber es leben noch genug, die Auskunft geben kónnen. Kehr nennt 
S. IX einige Herren, an die er sich gewandt, aber das sind nur wenige. So kommt 
es, daB wir von der Tátigkeit des Flottenvereins nur ein ganz unzureichendes Bild 
bekommen. 

Ausführlich behandelt Kehr die Tätigkeit von Viktor Schweinburg, der als 
Redakteur der gouvernementalen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung bekannt- 
geworden war. Man könnte zunächst glauben, daß Kehr seine Nachrichten von 
Ernst Schweinburg bekommen, der ihm nach S. IX mündliche und schriftliche Aus- 
kunft gegeben. Dann aber würde das Urteil über Viktor Schweinburg wohl freund- 
licher lauten, als wir S. 183—189 zu lesen bekommen. Was wir dort finden, ist 
dem „Vorwärts“, der,, Táglichen Rundschau“, der „Deutschen Reform“ und anderen 
Zeitungen entnommen. 

Sehr bald trat Schweinburg von seinem Posten als „Sekretär“ des Flotten- 
vereins zurück und der Hauptmann Freiherr von Beaulieu wurde sein Nachfolger, 
der sich als „Kanzler“ des Flottenvereins bezeichnete. Aber, nach Ansicht von 
Kehr (S. 186), änderte sich nichts, der Flottenverein blieb das „Agitationsbüro 
Krupps“. Daß auch Beaulieu schon 1901 wieder ausschied und durch den Leutnant 


214 Kritiken 


&. D. Hans Blum ersetzt wurde, erwähnt Kehr nicht. Blum, der auf einer Südsee- 
Insel verwundet worden war, führte sein Amt wieder mit dem Titel „Sekretär“. 
Er war ein Neffe des nationalliberalen Reichstagsabgeordneten und Leipziger Rechts- 
anwaltes Hans Blum, mit dem er häufig verwechselt wurde und ein Enkel des 1848 
erschossenen Demokraten Robert Blum. Daß um dieselbe Zeit Fürst Wied, der 
große pekuniäre Opfer für den Flottenverein gebracht, seine Stelle als Präsident 
des Flottenvereins niederlegte und Fürst Salm-Horstmar sein Nachfolger wurde, 
wird kurz erwühnt, ohne auf die Bedeutung dieser beiden Fürsten einzugehen. 
Ganz unerwähnt bleibt General Menges, der als „Geschäftsführender Vorsitzender“ 
eine groBe Tátigkeit entfaltete und in Ritterlichkeit wiederholt für seine Mitarbeiter 
eintrat. Unbekannt scheint auch Kehr zu sein, welche opfervolle Tátigkeit der 
damals schon kranke Dichter Julius Lohmeyer, sowie der Gymnasialdirektor 
Dr. Rassow entíalteten. Des letzteren Flottentabellen hingen auf allen deutschen 
Bahnhöfen aus, so daß sein Name im ganzen Reich bekannt war. 

Zweiundzwanzig Seiten (S. 343—364) widmet Kehr dem Kapitel: „Die Stände 
und die Flotte.‘ 

Die Beamtenschaft war nach Ansicht von Kehr für die Flotte, weil sie in Sub- 
ordination sich den Wünschen des Staates fügte. Das nationale Gefühl war manch- 
mal ehrlich, manchmal Aushängemantel, um Beförderung und Orden zu erhalten. 
Dazu kam das Bedürfnis nach Sekurität, man glaubte, daß die Flotte sowohl gegen 
den inneren als auch gegen den äußeren Feind nützen könnte. 

Daß im Offizierkorps der Landarmee die Meinung über die Bedeutung der Flotte 
geteilt war, ist richtig. 

Dasselbe gilt von der Professorenschaft. Erfreulicherweise erkennt Kehr an 
(S.187), daß sie aus reinem, nationalen Idealismus handelte, und daß sie den Staat 
von charakterlosen Strebern freihalten wollte. Recht hat er auch, wenn er S. 362 
schreibt: „Voll Verachtung lehnten Gelehrte alten Stils die Bezahlung ihrer agita- 
torischen Schriften durch das Reichsmarineamt ab: der Erfolg war nur, daß sie 
ohne Bezahlung das schrieben, was Tirpitz wünschte, und seinen Propagandafonds 
ungeschmälert ließen.“ 

Über eine Frage kann ich Aufklärung geben. S. 101 macht Kehr darauf auf- 
merksam, daß die vom Flottenverein als Unkosten für die Vorträge angegebenen 
Zahlen nicht stimmen könnten. Einmal würden 30 Æ, ein andermal 150—200 4 
als Durchschnitt angegeben. In Wirklichkeit stimmt es doch, es handelt sich in 
dem einen Fall um den Durchschnitt der Rednerhonorare, im andern Fall um den 
Durchschnitt der Gesamtunkosten. Ein großer Teil der Redner verzichtete auf 
Honorar, ließ sich nur Diäten und Fahrgeld oder auch nur die tatsächlichen Un- 
kosten vergüten. Aber neben den Ausgaben für den Redner standen solche für 
Saalmiete, Annoncen und wiederholt auch für Lichtbilder und Marinefilme. Der 
Film war damals eine neue Erfindung, er erwies sich als ein gutes Mittel der Propa- 
ganda, verursachte aber viel Unkosten für Anschaffung, Bedienung und Transport. 
Diese Ausgaben waren erheblich teurer als das, was der Redner an Fahrgeld und 
Wegzehrung brauchte. 

Kehr erkennt also an, daß die Professoren, die für die Flotte eintraten, aus 
reinem Idealismus handelten und daß sie sich gegen jede Bevormundung von seiten 
des Reichsmarineamtes wandten (S. 362). Aber trotz dieser Erkenntnis hält er 
das Konto der Agitation für eine schwere Belastung der Wissenschaft (S. 364). 


Kritiken 215 


Die Entscheidung der Professoren in den schwebenden Lebensfragen des deutschen 
Volkes jener Tage sei einer der Gründe gewesen für „das dauernde Sinken des An- 
sehens der Universität und für die tiefe Skepsis, die heute das Volk gegen sie und 
die von ihr vertretene Wissenschaft hegt.“ 

Das ist eine grundfalsche Behauptung. Wenn Männer wie Dietrich Schäfer, 
Schmoller, Adolf Wagner, Hans Delbrück und viele andere Professoren für die Flotte 
eintraten, so hat das der Wissenschaft ebensowenig geschadet, als wenn andre 
Kollegen dagegen auftraten; die Zahl der letzteren war freilich nur gering. Vergesse 
man nicht, daß der überwältigende Teil des gebildeten Bürgertums von den Konser- 
vativen bis zur Freisinnigen Vereinigung, um die Jahrhundertwende auch das 
Zentrum, für die Flotte eintrat, ihnen war die Haltung jener Professoren sym- 
pathisch. Einzelne Ausnahmen hatten besondere Gründe, so z. B. der Angriff der 
Zeitung ,,Post" im Februar 1900. Kehr erkennt (S. 171) richtig, daß sich hier der 
Haß der Kreise um Stumm gegen die Kathedersozialisten, besonders gegen Adolf 
Wagner, widerspiegelt. Wenn Kehr (S. 407) Adolf Wagner einen weltbürgerlichen 
Spießbürger nennt, der keine heroische Tragik hatte, so ist das freilich wieder ein 
Zerrbild, dem jede Berechtigung fehlt. Wer Adolf Wagner gekannt hat, wer seinen 
Idealismus, seinen gelegentlich wohl über das Ziel hinausschießenden Optimismus, 
vor allem den Schwung, mit dem er in begeisterter Rede zur Jugend sprach, zu 
würdigen verstand, der wird durch ein derartig schiefes Urteil abgestoßen wenden. 

Das Eintreten der Professoren für die Flotte hat ihrem Ansehen nicht geschadet, 
auch nicht bei der akademischen Jugend. Vor Jahren unterhielt ich mich einmal 
über diese Fragen mit einem angesehenen Kollegen der Berliner Universität, der 
die Zeit noch als Student miterlebt hatte. Er sagte, es habe damals auf ihn und 
weite Kreise der Studentenschaft einen tiefen Eindruck gemacht, daß die Pro- 
fessoren sich nicht gescheut, in die sozialdemokratischen Versammlungen zu 
gehen, um dort für die Vermehrung der Flotte einzutreten. 

Wenn heute der Professor, ähnlich wie auch der Offizier, von der breiten Masse 
nicht mehr so geehrt wird, wie früher, so hat das nicht das geringste mit der Flotten- 
bewegung zu tun. Freilich verloren die Universitäten die ihnen verfassungsmäßig 
gesicherten Sitze in den ersten Kammern der Bundesstaaten, die durch die neuen 
Verfassungen aufgehoben wurden, aber auch in die neuen Landtage und in den 
Reichstag zogen sie 1919 noch in stattlicher Anzahl ein. In fast allen Fraktionen, 
von der deutschnationalen bis zur sozialdemokratischen, sind sie vertreten gewesen. 
Wenn in den letzten Jahren ihre Bedeutung in den Parlamenten gesunken ist, so 
liegt das an der Änderung unserer Parteiverhültnisse. Mit der Flottenbewegung, 
die vor 30 Jahren stattfand, hat das schlechterdings gar nichts zu tun. Wer jenes 
Ringen um eine starke Flotte richtig schildern will, der muß sich in den Geist der 
damaligen Zeit versetzen. Auch heute leben glücklicherweise noch viele Deutsche, 
die höhere Ideale haben als Parteiinteresse und Eigennutz, sie werden Verständnis 
dafür finden, daß es damals Männer gab, die Zeit, Kraft, Gesundheit und Geld 
dafür einsetzten, um für eine Flotte, ohne die Deutschland seine Großmachtstellung 
nicht bewahren konnte. zu werben. 


Charlottenburg. Richard Schmitt. 


216 


Nachrichten und Notizen. 


Familiengeschichtliche Bibliographie. Herausgegeben durch die Zentral- 
stelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte, E. V. Jahrgang 1927 
bis 1930, bearbeitet von Johannes Hohlfeld, 1900—1920, Lief. 1 und 2, 
bearb. von Friedrich Wecken. — Mitteilungen der Zentralstelle für Deutsche 
Personen- und Familiengeschichte 39, 40. 42—45 Heft. Leipzig 1929—1931. 
Diese Bibliographie, die bis zum Jahrgang 1926 von Fr. Wecken und seitdem 
von J. Hohlfeld herausgegeben ist, ist allmählich zu stattlichen Jahresbünden 
herangewachsen und für jeden, der sich mit genealogischen Fragen beschüftigt, 
zum unentbehrlichen Hilfsmittel geworden. Es werden in ihr nicht nur die Arbeiten 
über die einzelnen Personen und Familien angezeigt, die naturgemäß den breitesten 
Raum für sich beanspruchen, sondern die für die wissenschaftliche Arbeit besonders 
wichtigen über methodische Fragen, Quellenveróffentlichungen und solche über 
ständische und biologische Genealogie finden sich hier verzeichnet. Sammelver- 
óffentlichungen werden nicht nur genannt, sondern einzeln verzettelt. Da ja viel- 
fach Arbeiten ganz abgelegen erscheinen und erst spáter dem Bearbeiter zu Gesicht 
kommen, so werden diese in die späteren Jahrgänge mit hineingearbeitet. Als An- 
hang finden wir Arbeiten über Heraldik und zur Namenkunde. — Nebenher kommt 
nun in Lieferungen die schon lange erwartete Bibliographie der Jahre 1900 bis 
1920 heraus, die schon teilweise in den ersten Heften der Mitteilungen als Halb- 
jahrsberichte, sowie in genealogischen Zeitschriften erschienen. Vergleicht man aber 
Weckens Arbeit damit, so kann man feststellen, wie viel reichhaltiger seine Biblio- 
graphie geworden ist. Diese beiden ersten Jahrzehnte bringen den ungeheueren 
Aufstieg der Familienkunde, den Kampf der Genealogie um ihre Anerkennung 
als Wissenschaft. Dafür ist gerade die erste Lieferung wichtig, die in dem Teil „All- 
gemeines und Methodisches‘ die Arbeiten der Vorkämpfer besonders von Heydenreich, 
Tille, Devrient und Forst bringt. Wir erleben noch einmal das schnelle Anwachsen 
der genealogischen Vereine und Zeitschriften mit. Der zweite Teil Quellen und Be- 
arbeitungen führt zuerst die Sammlungen auf und bringt dann die Arbeiten über 
einzelne Familien nach dem Abece. Die Árbeit der Herausgeber und der Zentral- 
stelle, deren Wirken jetzt durch die ráumliche Zusammenfassung mit der Deutschen 
Bücherei sehr unterstützt wird, verdient unsere vollste Anerkennung und Unter- 
stützung. 
Neuruppin. Lampe. 


Die Reform der Nationalschriften. Beiträge zur Reform der türkischen, 
russischen, chinesischen und japanischen Schrift, herausgegeben von Albert 
Schramm, Wolfenbüttel: Heckner, 1932. (44 S.) (Sondernummer des Ar- 
chivs für Schreib- und Buchwesen.) 


Nachrichten und Notizen 217 


Der Übergang der Türkei zur Lateinschrift hat eines der brennendsten Schrift- 
probleme der Gegenwart über die Fachkreise hinaus zum Bewußtsein gebracht: 
Die Frage einer einheitlichen Schrift für alle Sprachen. Eine gründliche Diskussion 
dieser Frage vom Standpunkt der einzelnen Nationalschriften muB etwaigen Ent- 
schlüssen, die nicht überall so mutig und diktatorisch gefaBt werden kónnen, wie 
in der Türkei, vorangehen. Die wichtigsten, der Antiquaschrift noch nicht an- 
geschlossenen Kulturkreise werden in den Aufsätzen des vorliegenden Heftes mit 
solcher Fragestellung behandelt. F. Braun schreibt über die „Latinisierung der russi- 
schen Schrift"; für die ganz besonderen Schwierigkeiten ausgesetzte Angleichung 
der chinesischen Schrift an die Lateinschrift kommen Fachkenner wie Joh. Schubert, 
Friedr. Wichner und Hellm. Wilhelm mit Erfahrungen, theoretischen Forderungen 
und allgemeineren Gedankengängen zu Worte. Am aufschlußreichsten für die 
Praxis ist, was F. H. WeiBbach über die türkische Lateinschrift berichtet, da ja 
hier schon die Erfahrungen einiger Jahre vorliegen. Die Behandlung der japanischen 
Schrift sucht man vergeblich ; doch kann ein groBer Aufsatz im Gutenberg-Jahrbuch 
1932 die Lücke ausfüllen. Das „Archiv für Schreib- und Buchwesen“ hat die Auf- 
sätze schon in seiner, ebenfalls als Sondernummer bezeichneten, letzten regulären 
Nummer von 1930 gebracht. In die Reihe der gezählten „f Sonderhefte“ des Archivs 
ist dieses Heft nicht aufgenommen. 

Leipzig. H. Schreiber. 


Erica Schirmer, Die Persónlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der deutschen 
Geschichtschreibung. (Vom Humanismus bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts). 
Jena, Verlag der Frommannschen Buchhandlung. 1931. XVI, 92 S. 

Neben den Einzeluntersuchungen und Dissertationen zur Aufhellung der ge- 
schichtlichen Vorgänge selber und zur Quellenkritik nehmen mit Recht in neuerer 
Leit Untersuchungen zur Geschichte der Geschichtschreibung einen wachsenden 
Raum ein und Bedeutung in der Geschichtswissenschaft in Ansprucb. Sie dienen 
dazu, die Tatbestánde der geschichtlichen Auffassung in ihrem eigenen Zusammen- 
hange, in ihren Abhüngigkeiten, etwaigen Voreingenommenheiten und dergleichen 
zu kláren und dadurch auch die sachlich-geschichtliche Erkenntnis selber zu fórdern. 
Außerdem wird dadurch die Geschichte der Geschichtschreibung als ein Teil der 
neueren Geistesgeschichte in wünschenswerter Weise ausgebaut. 

Die Verfasserin hat sich ein kleineres Sonderproblem, die Beurteilung Hein- 
richs IV., zu solcher Behandlung ausgesucht. Das bietet den Vorteil einer gewissen 
Anschaulichkeit der Ergebnisse und der Darstellung, die bei der Begrenztheit der 
Aufgabe möglich ist, dem aber etwas entgegensteht, daß der allgemeinere Zu- 
sammenhang der Geistesentwicklung nicht als Gegenstand für sich erfaBt, sondern 
nur beispielmäßig an dem Sonderfall verfolgt wird. Aber in dieser Begrenzung ist 
die Arbeit sehr sorgfältig verfaßt und ein brauchbarer Beitrag zu dem größeren 
allgemeinen Thema. Sie geht von dem Urteil schon der mittelalterlichen Geschicht- 
schreibung unmittelbar nach Heinrichs IV. Tode aus, verfolgt die Strömungen einer 
mehr geistlichen (kirchlichen) oder mehr weltlichen Beurteilung bei den Italienern 
und Deutschen, im Humanismus, der Reformation, den juristischen Historikern 
(Staatsrechtlern) des 17. und 18. Jahrhunderts und das Herauswachsen einer eigent- 
lich wissenschaftlich-gelehrten Geschichtschreibung. Für jeden der sehr vielen 
herangezogenen Geschichtschreiber wird anmerkungsweise einiges Material zur 


218 Nachrichten und Notizen 


Kenntnis seiner Lebensgeschichte und Werke bereitgestellt, in der Anlage wie in der 
Ausführung kann die Arbeit so als ein nützlicher und brauchbarer Beitrag zur Ge- 
schichte der Geschichtschreibung nur begrüßt und empfohlen werden. 

Erlangen. B. Schmeidler. 


Heinrich Sproemberg, Beiträge zur Französisch-Flandrischen Geschichte. 
Band I. Alvisus, Abt von Anchin (1111—1131). Historische Studien, herausg. 
von Dr. E. Ebering. Heft 202. Berlin, Verlag Dr. Emil Ebering 1931. 201 S. 

Alvisus, ein geborener Flame, im Kloster Saint-Bertin von dem reformfreund- 
lichen Abt Lambert erzogen, 1109 Reformprior von St. Vaast, 1111—1131 Abt von 
Anchin, dann bis zu seinem am 6. Sept. 1147 erfolgten Tode Bischof von Arras, 
hat in der flandrischen Reformbewegung eine hervorragende Rolle gespielt. Ob 
seine Bedeutung ausreicht, um eine Biographie von dem Umfang der hier vorgelegten 
zu rechtfertigen, darf man gleichwohl bezeifeln. Sie bietet aber viel mehr als der 
Titel besagt; es ist eine weitausgreifende und tief eindringende Untersuchung über 
das Vordringen der klösterlichen Reformbewegung in Flandern seit dem Ende des 
11. Jahrhunderts. Die führenden Persönlichkeiten, wie Anselm von Canterbury, 
den Abt des normannischen Klosters Bec, und Hugo von Die, den Erzbischof von 
Lyon, und die Kirchenpolitik der flandrischen Landesherren hat der Verf. mit der- 
selben liebevollen Sorgfalt herausgearbeitet wie die Abwandlungen der Reformpraxis 
und ihre wechselvolle Auseinandersetzung mit anderen kirchlichen Faktoren. Nicht 
ganz auf der Höhe der Untersuchung steht die Form, in der sie vorgelegt wird; sie 
läßt stellenweise die letzte Feile vermissen (S. 52: die Ehe mit Goda, der Schwester 
König Eduards von England, die ihn auch persönlich nach England führte. S. 54: 
eine großartige Freigebigkeit gegenüber der Kirche, die in keinem Verhältnis zur 
Kleinheit ihres Landes stand. S. 57: Die Gründung scheint schon im Jahre 10% 
stattgefunden zu haben, sie erhielt am 28. Oktober 1110 ein großes Privileg). Als 
Beilagen werden Regesten des Alvisus und eine Untersuchung zweier Urkunden 
des Papstes Paschalis II. für St. Bertin vom 25. Mai 1107 (Jaffé 6201) und 28. Ok- 
tober 1112 geboten. Die Urkunde von 1107 ist durch Interpolationen entstellt, 
deren älteste Simon von St. Bertin zur Last fällt und zum Zwecke der Bestätigung 
durch Innocenz Il. im Jahre 1139 hergestellt wurde. Die Urkunde von 1112 ist 
eine Fälschung, die nach 1139 fallen muB, aber nicht näher zeitlich festzulegen ist. 
Ob freilich durch diese Feststellungen die quellenkritischen Untersuchungen, die 
der ültere Urkundenbestand von St. Bertin erfordert, erledigt sind und die Mónche 
von St. Bertin tatsächlich, wie der Verf. (S. 184) sagt, von dem Mittel der Urkunden- 
fülschung fast niemals Gebrauch gemacht haben, erscheint uns zweifelhaft. 

Das Vorwort unterrichtet über die weiteren wissenschaftlichen Pläne des Ver- 
fassers. Die zweite Hülfte des ersten Bandes, deren Druck für die n&chste Zukunft 
in Aussicht gestellt wird, soll die Jahre 1131—1147 behandeln, in denen Alvisus 
Bischof von Arras gewesen ist. Es soll dabei dem Kampf Ludwigs VII. mit der 
Kurie und der politischen Tätigkeit Bernhards von Clairvaux besondere Aufmerk- 
samkeit geschenkt werden. Ein zweiter Band soll sieben Aufsütze bringen, welche 
u. &. die ültesten Urkunden aus Kloster St. Vaast und die ausgedehnte Fülscher- 
tätigkeit des Abtes Fulrad behandeln und damit eine Untersuchung bringen werden, 
die lángst als dringendes Bedürfnis empfunden wird. 

Utrecht. O. Oppermann. 


Nachrichten und Notizen 219 


Bruno Schumacher, 700 Jahre Preußenland im Rahmen der deutschen und der 
europäischen Geschichte. S. A. aus: Altpreußische Forschungen, Jg.8 (1931), 
Heft 2. Königsberg i. Pr. Gräfe u. Unzer in Komm. 

Die Schrift bringt die Festrede, die Verf. bei der 700-Jahrfeier der Provinz 
Ostpreußen im Großen Remter der Marienburg am 14. Juni 1931 gehalten hat. 
Knapp aber treffend, zeigt Verf. die großen Linien auf, bietet aber kaum etwas Neues. 
Vielleicht geht S. doch zu weit, wenn er sagt: „Es ist das Solidaritätsgefühl der mittel- 
alterlichen Menschheit, das auf dem Schlachtfeld von Tannenberg einem neuen, 
national eingestellten Europa wich.“ 

Neuruppin. Lampe. 


Ronneberger, Werner, Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz 
bei Saalburg a. d. Saale. Jena: G. Fischer 1932. XVIII, 324 S., mit 4 Tafeln. 
8. RM 15.—, geb. AM 17.—. (= Beiträge zur mittelalterlichen und neueren 
Geschichte, Bd. 1.) 

Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz bei Saalburg im Reu- 
Bischen Oberlande gelegen, ist um 1315 gegründet worden von den Vógten von 
Gera und hat bis 1544 bestanden. In diesem Jahre wurde es sequestriert. In der 
Reihe der geistlichen Anstalten des Vogtlandes ist dieses Nonnenkloster eine der 
jüngsten, und seine allgemeine Bedeutung für die Geschichte des Ordens wie des 
Territoriums ist sehr bescheiden geblieben. Es ist nie mehr als eine Versorgungs- 
stätte für die Töchter des umwohnenden Adels gewesen. Daran liegt es wohl auch 
mit, daß es so lange gedauert hat, ehe es einen Forscher als Gegenstand einer Unter- 
suchung gelockt hat, nachdem Mildenfurth, Cronschwitz, die Plauener Klöster und 
Weida schon längst ihren Bearbeiter gefunden haben. Ronneberger hat nun aller- 
dings gründlich nachgeholt, und es war ihm möglich, trotz der offen zutage liegenden 
Dürftigkeit des Gegenstandes ein umfangreiches Buch zusammen zu tragen. Mit 
anerkennenswertem Fleiße hat er wohl sämtliche in Betracht kommenden Archive 
durchforscht — viele vergeblich, worüber er ausführlich unterrichtet. Es ist gewiß 
in diesem Buche mancherlei über Gebühr etwas zu breit behandelt, da an bedeuten- 
den Ereignissen und Tatsachen wenig zu berichten war. So hat das Buch vor- 
nehmlich heimatgeschichtlichen Wert, und es ist in dieser Hinsicht beinahe un- 
erschöpflich. Es werden z. B. in dem Abschnitt über den Wirtschaftsbetrieb des 
Klosters im einzelnen die Besitzungen in den Ortschaften, Feldern und Wäldern 
behandelt, es wird bald jeder zinspflichtige Bauer aufgeführt mit seinen Leistungen. 
So kommt eine Unsumme von Personennamen an das Tageslicht, die für die ge- 
nealogische Forschung Thüringens einen reichen Stoff bieten. Ausführlich handelt 
der Verfasser weiter über die inkorporierten Kirchen. Nach jeder Richtung hin, so- 
weit es das Quellenmaterial, vornehmlich Urkunden, erlaubte, hat Ronneberger 
die innere und äußere Geschichte des Klosters ausgearbeitet. Wie außerordentlich 
reich die Darstellung an lokal- und personengeschichtlichen Einzelheiten ist, ferner 
wie ausführlich der Verfasser seine Darstellung zu unterbauen und zu begründen 
gesucht hat, lassen die Tatsachen erkennen, daß die Register allein ein Zehntel 
des Buches und die Anmerkungen (an Zahl 2569) ein Siebentel ausmachen. Es darf 
nicht verschwiegen werden, daß das Buch eine Dissertation darstellt. Diese fleiBige 
Arbeit verdient alle Anerkennung. 

Wolfenbüttel. H. Herbst. 


220 Nachrichten und Notizen 


Karl Holl, Gesammelte Aufsátze zur Kirchengeschichte. I. Luther. 6., neu durch- 
gesehene Auflage. Tübingen, Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1932, 
XII, 593 S. gr. 8°. Preis br. 15.— AM, Hlbl. 17,50 AM, Hbfrz. 23.— RA. 
In dem die weitesten Ráume und Zeiten umspannenden Schaffen von Karl Holl 
hat die deutsche Reformation eine bevorzugte Stellung eingenommen. Dennoch 
ist uns eine zusammenfassende Darstellung nicht beschieden gewesen, dafür aber 
hat er acht an den verschiedensten Stellen veróffentlichte Abhandlungen unter dem 
Titel, Luther“ als erster Band seiner Gesammelten Schriften erscheinen lassen, der 
in den folgenden Auflagen noch um einen Vortrag über das Táufertum unter dem 
Titel „Luther und die Schwärmer“ vermehrt wurde. Diese Untersuchungen fügen 
sich in ihrer Gesamtheit zu einer umfassenden Würdigung Martin Luthers zusammen 
und ergeben ein in sich geschlossenes Bild von der Persónlichkeit des Reformators, 
das zwar manche zeitgebundene Züge seiner Individualität im Halbdunkel läßt, 
aber die wesentlichen Elemente seiner Religiositát und Theologie mit einer solchen 
Klarheit und grundsätzlichen Schärfe herausstellt, daB eines der markantesten und 
bestprofilierten Lutherbilder der neueren Zeit entstanden ist, das an Lebendigkeit 
und Dauer der Wirksamkeit manche Lutherbiographie hinter sich lassen wird. Der 
Erfolg des Buches macht dies deutlich. In zehn Jahren (1921 war die erste Auflage 
erschienen) waren fünf Auflagen vergriffen. Die nunmehr vorliegende sechste ist 
vom Verlag mit besonderer Aufmerksamkeit vorbereitet. Der Text ist unter der 
Leitung eines unserer namhaftesten Kirchenhistoriker revidiert und sorgfáltig von 
allen Druckversehen gereinigt worden, alle Zitate sind nachgeprüft, die Register 
neu bearbeitet und vervollstándigt, endlich sind Text und Anmerkungen zeilengleich 
gesetzt, so daß diese neue Auflage die vorangegangenen an Treue in der Wiedergabe 
des Holl'schen Textes sowie an drucktechnischer Ausstattung übertrifít. 
Wendorf. 


Victor Herold, Die Brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Re- 
gister des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 1. Band: Die Prignitz. Berlin 1928 
bis 1931. VIII u. 847 S. = Veröffentlichungen der Historischen Kommission 
für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, IV. 

Vier Generalvisitationen wurden zu Beginn des 16. und 17. Jahrhunderts 
in der Mark durchgeführt. Nur gelegentlich und ganz unsystematisch sind bis jetzt 
Teile davon veröffentlicht worden, ausgenommen ist die Altmark. J. Müller und 
L. Parisius haben, allerdings in anderer Art als in der vorliegenden Arbeit, die 
Abschiede von 1540—1542 mit Anführung der folgenden Abschiede in den Anmer- 
kungen herausgebracht. Herold bewahrt sich bei der Herausgabe freie Hand. Da 
die Akten der ersten Visitation bei der zweiten ,,reiteriert, vervollstándigt und er- 
günzt" wurden, nach Form und Inhalt die der beiden letzten übereinstimmen, so 
lag es nahe, sie in Spaltendruck nebeneinander aufzuführen. Davon ist auch teil- 
weise Gebrauch gemacht worden, besonders bei den letzten beiden Visitationen. 
Voran geht die erste Visitation. Spátere Streichungen sind in Kursivdruck gegeben; 
die Texterweiterungen stehen mit Jahresangabe in runden Klammern. Auf die 
Abschiede folgen die Register. Den Stádten gehen die zum Sprengel gehórigen Dorfer 
in alphabetischer Reihenfolge nach. Zugrundegelegt ist das Konzept, soweit es 
noch vorhanden war. Die Abweichungen der Abschrift sind in die Anmerkungen 
verwiesen, wo auch die zu den Akten gehórigen Briefe, Verschreibungen usw. stehen. 


Nachrichten und Notizen 221 


So ergibt sich ein klares Bild über den Fortgang der Visitationen. Voran geht jedes- 
mal ein Literaturverzeichnis, das die Weiterforschung erleichtert. Die Ausgabe 
erschien in sechs Heften nach Maßgabe der damaligen Inspektionen (1. Kyritz, 
2. Pritzwalk und Putlitz, 3. Perleberg, 4. Lenzen, 5. Havelberg, 6. Wilsnack und 
Wittstock), als Schlußheft folgte ein sehr sorgfältiges Orts-, Personen- und Sach- 
register, dem eine Zeittafel der Visitationen und eine von Hans Volz entworfene 
Karte der Inspektionen der Prignitz im Jahre 1600 beigefügt ist. 

Hoffentlich hindert die Not der Zeit nicht die baldige Herausgabe der weiteren 
brandenburgischen Kreise. 


Neuruppin. Lampe. 


Wittrock, Georg, Gustav II Adolf (Sveriges historia till vära dagar, delen 6). 
Stockholm: Norstedt (1927), VIII, 430 S. 


Wittrock, Georg, Gustav Adolf, übersetzt von Toni Schmid. Stuttgart: Perthes, 
1930, 391 S. 


Das Gustav-Adolf-Buch Georg Wittrocks erschien 1927 als 6. Band des be- 
kannten Sammelwerkes „, Sveriges historia till våra dagar“, in dem mehrere Ver- 
fasser die einzelnen Abschnitte schwedischer Geschichte auf Grund der neuesten 
Forschung, doch in allgemein verständlicher Form behandeln. Das Buch ist eine 
Neubearbeitung des Werkes von Martin Weibull, das 1881 erstmalig herauskam. 
Unter Zugrundelegung der neuesten Literatur, der gedruckten Quellen, auch eigener 
Archivstudien — z. B. zur Wirtschafts- und Finanzpolitik des Kónigs — schildert 
Wittrock in gut lesbarer Form Leben und Werk Gustav Adolfs. Unter Hinweis 
auf den 1. Band von Johannes Pauls Lebensbeschreibung des Kónigs verzichtet 
Wittrock darauf, in der Einleitung über Gustav Adolf hinaus zurückzugreifen. 
In seiner Auffassung des Kónigs stimmt der Verfasser, wie er im Vorwort zur deut- 
schen Ausgabe seines Buches ausführt, mit Paul überein, so auch in der Ansicht, 
daB nicht religióse oder politische Überzeugungen allein oder die einen die andern 
überwiegend, Gustav Adolf veranlaBt haben, in den deutschen Krieg einzugreifen, 
sondern daß man nur aus den Anschauungen der Zeit heraus die enge Verflechtung 
und innige Durchdringung vielseitiger Gesichtspunkte, wie religióser, politischer, 
militärischer, dynastischer u.a. erkennen wird, die den König in seinem Handeln 
bestimmt haben. Ein Versehen liegt S. 130 vor: Gotthard Kettler war der letzte 
Landmeister des deutschen Ordens in Livland, nicht der Hochmeister des Schwert- 
ritterordens, der schon im 13. Jahrhundert im Deutschen Orden aufgegangen war. 

Die deutsche Übersetzung fertigte Toni Schmid an. An einigen im Vorwort 
verzeichneten Stellen weicht sie inhaltlich von der schwedischen Ausgabe ab, sonst 
hält sich Schmid genau, viel zu genau, an das Original, so daß die Übersetzung 
steif, ungeschickt und schlecht lesbar wurde. Zahlreiche Druckfehler verunstalten 
den Text. Grammatische Schnitzer (Der Reichsrat sendete S. 35, der Erzbischof 
oder jemand anderer S. 116), unmögliche Art des Ausdrucks (Die Absicht Wallen- 
steins war die Umkehrung derjenigen Gustav Adolfs S. 212, dieses Kollegium soll 
alles, was die auswärtige Politik betrifft, überhaben S. 234), Übersetzungsfehler 
und andere zahlreiche Ungenauigkeiten beweisen, daß der Übersetzer die deutsche 
Sprache nur unvollkommen beherrscht. Es ist bedauerlich, daß das Werk Witt- 
rocks in dieser, seinen Wert für deutsche Leser stark beeinträchtigenden Form 


——— im —— . 


— — —————— FGu—— — ie me 


222 Nachrichten und Notizen 


herauskommen mußte. Es wäre wohl auch die Pflicht des Verlags gewesen, den 
Verfasser auf die ungenügende Übersetzung aufmerksam zu machen. 
Dresden. Alfred Büscher. 


Veróffentlichungen des Braunschweiger Genealogischen Abends zum 
Goethe-Lessing-Jahr 1929. Degener u. Co. (Inh.: Oswald Spohr), Leip- 
zig 1931. 

Als Nr. 2 gibt Heinrich Mack die Fehde zwischen Georg Ludwig Spohr und 
Conrad Heusinger über Heusingers Gedicht „Lessings Tod“ heraus. Eine Literatur- 
fehde aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, charakteristisch für den Haß, mit dem 
die orthodoxe Geistlichkeit Lessing noch nach seinem Tode verfolgte. Die Gesell- 
schaftsschicht, aus der die beiden Kámpfer stammen, wird uns durch die beigefügten 
Stammtafeln erláutert. | 

Die dritte Veröffentlichung bringt in Faksimile, in ganz hervorragender Aus- 
führung, die beiden Lessingschen Entwürfe seiner unvollendeten Abhandlung ,,Von 
den Ahnenbildern der alten Römer‘, die Wilhelm Herse mit erläuternden Beigaben 
versieht. Die Einleitung führt uns in den Streit mit Klotz ein und sucht die Gründe 
darzulegen, weshalb Lessing seine Abhandlung nicht vollendete. Er gibt die Dar- 
legungen von Klotz und die beiden Entwürfe im Druck, sowie schlieBlich die Be- 
arbeitung der beiden Entwürfe durch Eschenburg mit Benutzung des dritten nun 
verlorenen. Heute schwerer verständliche Stellen werden von Herse in den Anmer- 
kungen erläutert. Beide Schriften sind gut gewählt als Festgaben für das Lessingjahr. 

Neuruppin. Lampe. 


Efterladte Papirer fra den Reventlowske Familiekreds i tidsrummet 
1770—1827, udgivne paa foranledning af Kammerherre, Lehnsgreve Christian 
Einar Reventlow ved Louis Bobé. 10 Bde. Kebenhavn: Lehmann & Stage 
(P. Haase & Sens Forlag) 1895—1932. 

Seit etwa 1886 hat Bobé in dänischen und deutschen Adelsarchiven erforscht 
und gesammelt, was an Briefen aus dem weitgespannten Familienkreis der Grafen 
von Reventlow erhalten geblieben ist. In der Hauptsache sind es die Reventlow, 
Stolberg und Schimmelmann, durch eine ganze Anzahl von Heiraten miteinander 
verbunden, deren Briefe in geschickter Auswahl und weiser Kürzung im Laufe der 
Jahrzehnte dargeboten worden sind. Zunächst waren 4 Bände vorgesehen, erschienen 
1895—1900; unerwartete Funde gaben aber neuen wichtigen Stoff, so daB bis 1922 
allmählich noch 5 Bände erscheinen konnten, und nun liegt ein 10. Band vor, der 
sich Schlußband nennt. Er enthält einen ausführlichen Nachruf auf den Mäzen, 
der die bisherige Arbeit betreut hat, und sein Druck ist nicht mehr von diesem, 
sondern, wie so viele wertvolle geschichtliche Veróffentlichungen in Dánemark, vom 
Carlsbergfond bezahlt. Über die Herkunft der Briefe wird genaue Rechenschaft 
gegeben; man lese das Schicksal des Schimmelmannschen Archives, das teilweise 
aus der Papiermühle gerettet werden konnte (5, 238; 8, VI; 9, 390). Aufs intimste 
erlebt der Leser den Zeitraum etwa von Struensee bis zum Staatsbankrott von 
1813, Politik und Literatur, französische Revolution und Napoleon, Negerhandel 
und Bauernbefreiung, hófisches Leben und Schulwesen, Göttinger Hain, „Lucifer 
Goethe“, Baggesen und Oehlenschläger. Der 10. Band bringt nachträglich noch 
Wichtiges aus dem Staatsrat nach der Gründonnerstags-Schlacht auf der Reede 


Nachrichten und Notizen 223 


von Kopenhagen. Alle abgedruckten Briefe sind sehr sorgfältig erläutert; auf die 
Feststellung der Persönlichkeiten und ihrer Beziehungen ist sehr große Arbeit ver- 
wendet und für das Sachliche ist die Literatur sehr eingehend herangezogen. Die 
Anmerkungen beruhen häufig sogar auf ungedrucktem Material aus den verschie- 
densten Archiven. Als besondere Beigaben sind Stammtafeln angefügt und aus- 
führliche Genealogien von Familien fremder Herkunft, die in Dänemark tätig oder 
bedeutsam geworden sind. Den Bänden gehen ausführliche Einleitungen voraus, 
die sich bis zu wertvollen Monographien von selbständiger Bedeutung erweitern. 
Alle Arbeit des Herausgebers ist in dánischer Sprache geschrieben; die Briefe sind 
in der Originalfassung wiedergegeben, französisch, deutsch und dänisch. Hervor- 
zuheben sind die vielen Bildnisse in ausgezeichneter Wiedergabe. Der 10. Band 
enthält das dringend nötige alphabetische Personenregister auf fast 300 Seiten, 
dearbeitet von A. Drachmann Bentzon. Sehr zu wünschen wäre es, wenn das mehr- 
mals verheißene zeitliche Register der Briefe doch noch erscheinen könnte. Liest 
man die Briefe so, wie sie in Rede und Antwort oder aus verschiedenen Federn 
gleichzeitig geschrieben sind, so ergibt sich rasche Erhellung und unerwartetes 
Leben. 
Leipzig. Hans Schulz. 


Hans Spellmeyer, Deutsche Kolonialpolitik im Reichstag. Beitráge zur Ge- 
schichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges. Heft II. Stutt- 
gart (Kohlhammer) 1931. 7,50 RA. 

Die Studie erweist als charakteristischen Zug aller deutschen Parteien der Früh- 
zeit einen aus Unerfahrenheit und Vorsicht resultierenden Mangel an prinzipieller 
Formung ihres Verhältnisses zu kolonialer Politik, der den wenig eindrucksvollen 
Kolonialdebatten im Reichstag immer den Stempel aufgedrückt hat. Es verdient fest- 
gehalten zu werden, daB die Erwerbung Kiautschous, überhaupt die deutsche China- 
politik, von den Parteien in seltener Einmütigkeit begrüBt und selbst in der Oppo- 
sition des Freisinns und der Sozialdemokratie, die China im Gegensatz zu Afrika 
als zukunftsreichen Absatzmarkt betrachteten, wohlwollend beurteilt wurde. — 
Bei den regierungstreuen Parteien basierte die Unterstützung der deutschen Ko- 
lonialunternehmungen mehr auf nationalen Erwägungen als auf den großen wirt- 
schafts- und bevólkerungspolitischen Prinzipien moderner Kolonialpolitik, an denen 
die erst aufgeschlossenen deutschen Kolonien vorrerst kaum gemessen werden konn- 
ten. Auf seiten der Opposition hat nach dem Abfall der bürgerlichen Parteien des 
Freisinns und des Zentrums die Sozialdemokratie bis zum Jahre 1914 an der prin- 
zipiellen Verwerfung kolonialer Expansion festgehalten, trotzdem sich in der re- 
visionistischen Richtung kolonialfreundlichere Tendenzen entwickelten. 

Berlin. Herbert Michaelis. 


Die deutschen Wahlen. Eine Übersicht über die Ergebnisse der Reichsprási- 
denten- und Reichstagswahlen seit 1919, sowie der Wahlen zu sümtlichen 
deutschen Landtagen seit 1926, die Zusammensetzungen der Reichsregierun- 
gen und der wichtigsten Landesregierungen sowie die hauptsüchlichsten wahl- 
rechtlichen Bestimmungen, mit 23 graphischen Darstellungen. Leipzig, Verlag 
Lühe & Co., G. m. b. H., 1932, 62 S. mit drei Nachträgen. Preis 1,80 RAM. 
Sowohl für die wissenschaftliche und publizistische Tátigkeit wie auch für die 
politisch Interessierten war eine vergleichende Auswertung der für die innerdeutsche 


224 Nachrichten und Notizen 


Geschichte des letzten Jahrzehntes so wichtigen Wahlergebnisse recht schwierig. 
Wohl waren die Ergebnisziffern in den amtlichen statistischen Publikationen zu- 
gänglich, aber diese sind weder verbreitet noch in der Benutzung übersichtlich genug, 
um den zu stellenden Anforderungen auch nur irgend zu genügen. Die hier zweifellos 
bestehende Lücke dürfte das vorliegende Heftchen in glücklicher Weise ausfüllen. 
Es bietet eine Zusammenstellung und sinnvolle Erschließung der Ergebnisse der 
Reichs- und Länderwahlen seit 1919, soweit die Angaben zu erfassen sind. So mußte 
für die Jahre, für die das Statistische Reichsamt die Veröffentlichung der Länder- 
wahlergebnisse in „Wirtschaft und Statistik" noch nicht durchgeführt hatte, auf 
die „endgültigen“ Ergebnisse in der Tagespresse zurückgegriffen werden. In der 
Anordnung vorangestellt sind die Reichswahlen, zur Präsidentschaft wie zum Reichs- 
tag. Für die letzteren wird zunächst eine tabellarische Übersicht mit den Ergebnissen 
aller Wahlen seit 1919 gegeben, weitere Tabellen über Prozentualergebnisse und Man- 
datsverteilung folgen. Dann schließt sich eine ausführliche Zusammenstellung der 
Ergebnisse der Wahl vom 14. September 1932 an, die die Ergebnisse nach Parteien 
und Wahlkreisen getrennt erkennen läßt. Graphische Darstellungen machen die 
Parteiverhältnisse auf eine doppelte Art sinnfällig anschaulich: eine flächige An- 
ordnung zeigt die Verteilung der Mandate im Reichstag, gibt die Reihenfolge der 
Regierungen an und hebt unter denen mit parlamentarischer Bindung deutlich 
Regierungskoalition und Opposition hervor, während andererseits die Veränderun- 
gen im Mitgliederbestand durch lineare Eintragung der Wahlergebnisse in einen 
Quadranten des Koordinatensystems veranschaulicht wird. Es ist zu begrüßen, daß 
hier über den Stand im Zeitpunkt des Erscheinens des Heftes Raum für weitere Ein- 
tragungen freigelassen ist. Ähnlich wie für das Reich sind auch die Parteiverhält- 
nisse für die Länder bearbeitet, wenn auch das Anschauungsmaterial in der gleichen 
Reichhaltigkeit nur für die größeren unter ihnen bereitgestellt ist. Den Abschluß 
bildet eine Zusammenstellung der wichtigsten Verfassungs- und wahlrechtlichen Be- 
stimmungen, die verschiedenen Anordnungen über Wahlrecht, Ermittlung der Wahl- 
ergebnisse, Zahl der Abgeordneten, Wahlperioden u. a. m. enthaltend. Um das Werk- 
chen auf dem jeweiligen Stand zu halten, erscheinen nach jeder Wahl Nachträge, so 
bisher zu den Reichstagswahlen vom Juli und November 1932 und von Lippe-Det- 
mold vom Januar 1933, die zum Preise von 0,20 ZA zu beziehen sind. Durch diese 
kleine Broschüre wird sich der Verlag den Dank aller politisch Interessierten sichern, 
so daß nur von ihrem Bekanntwerden abhängen dürfte, bis wann eine neue Auflage 
notwendig sein wird. An Vorschlägen für ihre Ausgestaltung, um die in der Ein- 
leitung gebeten wird, wäre vielleicht der Wunsch anzubringen, ob nicht bei den 
ehemals großen Parteien der Demokraten und der Deutschen Volkspartei dort, wo 
sie keine eigene Reichslisten aufgestellt haben, in einer Anmerkung angegeben werden 
könnte, wieviel Sitze sie aus eigener Kraft errungen, wieviel sie dem Bündnis mit 
einer mächtigen Partei zu verdanken haben. Durch diese Angaben würden manche 
Erscheinungen in der bürgerlichen Mitte erst deutlich erfaßt werden können. Die 
gesamte Anlage des Büchleins erscheint aber wohl durchdacht und dürfte all- 
gemeinen Anklang finden. Möchte es den Erfolg haben, den es durchaus verdient. 
Wendorf. 


HISTORISCHE z E 


m m. 72 y i». 
IER RTELJ AHRSCHRIFT . 4 
A'a i * 
E 15 * 22 b. 
NC ZEITSCHRIFT ` FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT E. e 
o * UND FÜR | RE Mor - 


 LATBINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS 


HERAUSGEGEBEN VON 


| Dm ERICH BRANDENBURG 


0. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


ent Aue 


XXVIII. JAHRGANG 


2. HEFT 


AUSGEGEBEN AM 1. JULI 1933 


* 
B2 ND 
—] 
PT ^w E. 


Fr 
— — i — 


VERLAG UND DRUCK 
I DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG - 
DRESDEN 1933 


Digitized by Google. l 


HISTORISCHE VIERTELJAHRSCHRIFT 


Herausgegeben von Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig. 
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden A 1. 


Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen zu je 
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang HAM 30.— und für 
das Heft AM 7.50. | 

Die Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters haben die 
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig ge- 
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philologischen 
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die aktuellen 
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fórdern und zu festigen. 

Die Abteilung „Nachrichten und Notizen'' bringt Angaben über neue 
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf dem 
persónlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens. 

Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgescháfte wird von 
Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von Herrn 
Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und für den mittel- 
lateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Universität, Borneria- 
num I) unterstützt wird. 

Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität, 
Bornerianum I) zu richten. 

Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift- 
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne- 
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographischer 
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, auch 
kleinereWerke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeitschriften- 
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch machen, 
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen. 


p 5 = 225 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches“. 
Entstehung und staatsrechtlicher Charakter. 


Von 
Hermann Aubin. 


Die Vorfahren unseres Volkes treten zwar in einer Bewegung, 
die im Großen gesehen von Norden nach Süden gerichtet ist, 
in die Geschichte ein, und der „Drang nach dem Süden“ hat 
sich als politisches, später als geistiges Erbe noch lange in den 
Deutschen lebendig erhalten. Je länger, desto stärker aber ist 
deutlich geworden, daß unser Schicksal vielmehr von der Stel- 
lung in der Mitte zwischen West- und Osteuropa bestimmt wird. 
Politisch hat uns der Doppeldruck, welcher von diesen beiden 
Seiten ausgegangen ist, ob er sich in Frankreich und dem Os- 
manenreich, oder in Frankreich und RuBland darstellte, durch 
Jahrhunderte fast den Atem genommen und zeitweise nieder- 
geworfen, geistig hat man uns die Wahl zwischen dem westlichen 
und dem óstlichen Menschen vorschreiben wollen, ja, die Grenze 
zwischen den so postulierten Grundformen europàischen Daseins 
wohl gar mitten durch Deutschland gezogen und unser Eigen- 
wesen damit aufgelöst. Auch heute wird um die westwärts- 
oder ostwártsgerichtete Orientierung unserer Politik wie unseres 
Geistes als um Grundfragen gerungen, von denen unser Schick- 
sal abhänge. Die Süd- und Nordprobleme treten dahinter völlig 
zurück. 

Sehr verschieden hat sich dabei das Verhältnis gestaltet, in 
welehem die Deutschen jeweils zu den Nachbarn im Westen und 
Osten gestanden sind. Es ist z. T. von den Volkscharakteren 
abhängig gewesen, welche miteinander in Berührung, in Aus- 
tausch und Kampf getreten. Es ist zum anderen Teil von den 


* Vortrag, gehalten auf dem Deutschen Historikertag zu Göttingen am 
2. August 1932. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.2. 15 


226 Hermann Aubin 


geschichtlichen Lagen bestimmt worden, in denen sich diese 
Berührung vollzogen hat. Nicht ohne Bedeutung für die Grund- 
bedingungen der großen, quer über ganz Europa hingehenden 
Auseinandersetzung ist dabei die Gestaltung der Staatsgrenze 
gewesen; und umgekehrt spiegelt sich in deren Wesen und 
Wandel ein gutes Stück der Voraussetzungen wider, unter 
denen die Deutschen an den beiden Hauptfronten ihren Lebens- 
kampf geführt haben. 

Schon das Ausgangsbild der deutschen Staatsgeschichte 
weist einen vollstándigen Gegensatz in der Grenzgestaltung 
zwischen Ost und West auf, wie er offenkundiger, wie er aber 
auch bezeichnender nicht gedacht werden kann. Das ostfrän- 
kische und das junge deutsche Reich verfügen über eine vóllig 
eindeutige, scharf gezogene Westgrenze. Ihre Ostgrenze dagegen 
ist nicht nur für unser rekonstruierendes Auge, sondern in Wirk- 
lichkeit unscharf, mehrdeutig, ja manchmal geradezu offen ge- 
wesen. 

Dieser Gegensatz läßt sich so in zwei Schlagworte fassen, 
daß die westliche eine Binnengrenze, die östliche eine AuBen- 
grenze dargestellt hat. 

Von einer Binnengrenze dürfen wir im doppelten Sinne 
reden. Staatlich zunáchst: Es handelt sich um die innere Tei- 
lungslinie des Karolingerreiches, dessen Gemeinsamkeit auch 
nach Verdun in der Idee festgehalten und auf kurze Zeit noch 
einmal verwirklicht worden ist!. Ja, man kónnte die West- 
grenze des ostfränkischen und des nachfolgenden deutschen 
Reiches einfach als eine Verwaltungsgrenze ansprechen. Wenn 
auch durch den Machtkampf der karolingischen Brüder ent- 
standen?, folgt die Grenzziehung doch ganz der gleichen Praxis, 
mit welcher man vordem schon in dem noch ungeteilten Reiche 
Karls friedlich, ich möchte sagen am grünen Tisch, große Ver- 
waltungsgebiete für die Kaisersöhne abgesteckt hatte. Die Über- 


1 R. Faulhaber, Der Reichseinheitsgedanke in der Literatur der Karolingerzeit 
bis zum Vertrage v. Verdun, Hist. Stud., hgb. v. E. Ebering, H. 204, 1931, u. dazu 
P. W. Finsterwalder in der HZ. 146 (1932) S. 537. 

2 Daß auch Einzelheiten der Grenzziehung von militärischen Gesichtspunkten 
diktiert worden seien, sucht F. Steinbach, Gesch. d. deutschen Westgrenze, SA. 
aus d. Bericht d. 18. Hauptversammlung d. Gesellschaft v. Freunden u. Fórderern 
d. Universität Bonn, 1930, S. 5 herauszustellen. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 227 


lieferungen der exakten rómischen Bureaukratie scheinen durch, 
indem sie sich an die Grenze der Diózesen, d. h. also der rómischen 
Civitates anschloB?*, und hüben wie drüben stießen in Gestalt 
der Grafschaften* gleichartige Verwaltungseinheiten, Binnen- 
zellen gleichwertiger Staaten an die Grenze an. 

Von dieser Struktur sind alle die verschiedenen Linien ge- 
wesen, welche zwischen 843 und 925 als ostfränkisch-deutsche 
Westgrenze Geltung gewonnen haben. 

Der eben dargelegte Binnencharakter gilt von dieser Grenze 
aber noch in einem anderen Sinne. Sie ist zugleich nur innere 
Linie innerhalb eines einheitlichen Kulturgebietes, das seine Ge- 
meinsamkeit nicht allein in dem — allmählich sich abschwächen- 
den — imperialen Gedanken festhielt, sondern auch in dem wach- 
senden und erstarkenden Gebäude der Kirche vor Augen sah 
und in christlichem Glauben gegenüber den Heiden, wie in roma- 
nisch-germanischem Kulturbewußtsein gegenüber den östlichen 
Fremdvölkern empfand. Von dem Gemeinschaftsgefühl dieser 
abendländischen Welt legte der Grenzverlauf selbst Zeugnis ab. 
Denn er schnitt, ohne irgendwelche Rücksicht auf Sprach- oder 
Stammeszusammenhänge zu nehmen, den romanisch-germa- 
nischen Mischungsgürtel mitten durch, welcher damals zwischen 
Seine und Rhein gelegen war, und brachte so zur Anschauung, 
daß für die Zeitgenossen hier keine Kultur- oder Völkerscheiden 
bestanden. Daher haben auch alle Schwankungen von Lud- 
wigd.D. bis Heinrich I. diesen Binnencharakter der Westgrenze 
nicht verändert. Es handelt sich nur um dynastisch-staatlich 
bedingte Verschiebungen innerhalb des gleichen Kulturraumes. 
Erst später sind in die neu auflebende Auseinandersetzung um 
unsere Westgrenze in zunehmendem Maße andere Töne hinein- 
getragen worden®. 


* Dargelegt von A. Schulte, Frankreich u. das linke Rheinufer, 1918, S. 53fl. 

* Die Markgrafschaften, welche gelegentlich bis ins 12. Jh. im Westen auf- 
tauchen, sind nicht als solche im eigentlichen Sinne anzusprechen; seit der Erhebung 
Namurs zur Markgrafschaft 1188 wird dieser Titel gewählt, um eine Erhebung in 
den Reichsfürstenstand durchzuführen, s. J. Ficker, Vom Reichsfürstenstande, 
1. Bd., 1863, 88 148, 72 u. 80. 

5 Vgl. meine Studie Staat u. Nation an d. deutschen Westgrenze, Völkerrechts- 
fragen hgb. v. H. Pohl u. M. Wenzel, H. 34, 1931, S. 6f. u. d. dort angeführten Literatur. 

* Den Beginn dieser neuen Etappe bezeichnet schon im Titel: F. Kern, Die 
Anfünge der franzósischen Ausdehnungspolitik, 1910. 


15* 


228 Hermann Aubin 


Einen gánzlich abweichenden Charakter zeigt hingegen die 
Ostgrenze. In ihrer politischen Bedeutung ist sie vom Anbeginn 
an die Außengrenze des fränkischen Reiches. Sie verläuft in 
einem Raume, der ganz dünn besiedelt ist, welcher der Kultur 
erst gewonnen werden muß, gegenüber Völkerschaften von frem- 
der Herkunft und Art, die auf einer weit niedrigeren Stufe der 
staatlichen Organisation und der Gesittung überhaupt stehen. 
Grenze bedeutet hier nicht einfach das Ende eines beliebigen 
Staatsgebietes, und Grenzschutz nicht nur die Verteidigung von 
Leben und Habe,. sondern der höheren Zivilisation gegen den 
Einbruch der primitiven; Grenzbildung wird hier Kulturarbeit 
im eminenten Sinne, Grenzvorschiebung meint nicht nur Ge- 
bietsgewinn, sondern Staatsaufbau von innen heraus. 

Es handelt sich dabei aber keineswegs nur um eine Angelegen- 
heit unseres Volkes. Diese Grenze der Deutschen ist zugleich 
die Grenze des Abendlandes, seiner Kirche, seiner Gesittung. 
Hier stand ein Bollwerk, das, wie einst der römische Limes, zwei 
große Lebensgebiete schied, und den weiten Kreis des abend- 
làndischen Daseins gegen den mehr als einmal drohenden An- 
drang der Barbaren oder vóllig fremder Kultur verteidigte. 
Seine Festigkeit war der Schutz des Okzidents, seine Vorver- 
legung dessen Erweiterung. Mit jedem Vorrücken der deutschen 
Ostgrenze war bis weit ins Mittelalter hinein die christliche 
Mission, wie die Ausstrahlung abendländischen Wesens auf allen 
Gebieten verbunden. Den Rücken an jene scharf gezogene Tei- 
lungslinie im Westen gelehnt, die noch nicht vom Nachbarn 
bedroht war, konnte das deutsche Volk damals im Osten seinen 
Bewegungsraum sehen. Hier hat es durch Jahrhunderte die Móg- 
lichkeit einer Ausbreitung seines Staats- und Volksgebietes be- 
sessen und, indem es diese verfolgt, zugleich okzidentale Auf- 
gaben erfüllt. Nirgends kommt so sinnfällig die Arbeit zur An- 
schauung, welche das Deutschtum für die Ausgestaltung und 
Formung der abendländischen Kultureinheit geleistet hat, wie 
hier. 

Die Vorgánge, die Mittel, die Kráfte dieser Leistung wollen 
wir zu erkennen trachten, indem wir die Bildung der Ostgrenze 
des alten deutschen Reiches verfolgen. 

Es bedarf keines Wortes, daß diese Leistung keineswegs von 
den Deutschen allein vollbracht worden ist. In gewissem Sinne 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 229 


hat das ganze Abendland dahinter gestanden. Unmittelbar 
haben allgemeine und besondere Mächte mit Hand angelegt. 
Namentlich greift als die geprägteste Vertreterin des universell- 
okzidentalen Gedankens bald und allenthalben die römische 
Kurie ein. Sie stellt von den partikularen vornehmlich die 
Kräfte Italiens in den Dienst der Aufgabe, dessen alte und 
reichere Gesittung auch sonst daran Teil hat“. Später, wenn 
sie dem christlichen Glauben gewonnen sind, rücken die Skan- 
dinavier in die Front ein. Wir wollen auch nicht übersehen, 
was die Ostvólker allmáhlich aus Eigenem zur Entwicklung bei- 
getragen haben. 

Das Hauptstück aber der ersten Eingliederung des Ost- 
raumes in die abendlàndische Welt ist von den Deutschen von 
ihrem Staat, ihrer Kirche, ihrem Volke vollbracht worden. 
Dabei vereinigen sich in ihrer Ausstrahlung und Ausbreitung 
aufs innigste partikuläre und universalistische Gedankengänge. 
Ich habe hier nicht das rein tatsáchliche Zusammenfallen im 
Auge, von dem ich vorhin sprach, daß die Handlungen des 
deutschen Grenzschutzes, der Eroberung und Auswanderung 
immer auch in gewissem Umfange abendlándische Belange mit- 
besorgt haben, daß das deutsche Volk also Sachwalter des 
Okzidents, wenn auch ohne Auftrag dazu, gewesen ist. Sondern 
es handelt sich jetzt um die Frage, ob die Deutschen sich selber 
auBer den realen Aufgaben der Sicherung und Ausweitung des 
eigenen Lebensraumes auch noch andere, allgemeinen Ideen ent- 
Springende Ziele gesetzt haben. Konkret gesprochen sind es 
der christliche Missionsgedanke und die imperiale Idee nach 
deren EinfluB wir fragen müssen. Die christliche Pflicht, das 
Evangelium zu predigen, wird man ohne weiteres als ein Agens 
der deutschen Ostbewegung anerkennen, um dessen Stärke 
wohl, nicht aber um dessen Existenz gestritten werden kann. 
Doch schon Julius Ficker hat geleugnet, daß irgendeine Er- 


? Wie sich in einem südöstlichen Grenzgebiete des Abendlandes neben dem 
vorherrschenden deutschen Einfluß auch der italienische geltend machte, läßt sich 
gut an der Darstellung ablesen, welche Coloman Juhász von der „Einfügung des 
Banats in die westeuropäische germanisch-christliche Kulturgemeinschaft‘ gegeben 
hat (Das Tschanad-Temesvarer Bistum im frühen Mittelalter 1030—1307, Deutsch- 
tum u. Ausland, hgb. v. G. Schreiber, H. 30/31, 1930). 


230 Hermann Aubin 


oberung der deutschen Kaiser dem Weltherrschaftsgedanken 
entsprungen seis. 

Hier berühren wir den überaus schwierigen Punkt aller Ge- 
schichtsforschung, bei der Motivierung des politischen Handelns 
den Anteil der ideellen und realen Triebkräfte gegeneinander 
abzugrenzen, die doch selbst in der Brust des Einzelnen eine un- 
bewuBte Verbindung eingehen. Wir dürfen nicht hoffen, zu 
einer reinen Scheidung zu gelangen, wieweit die Ideologien 
selbstwirksam und echt, wieweit sie nur Deckmantel gewesen 
sind, da zu den allgemeinen Hindernissen unserer Einsicht für 
unsere Periode noch hinzukommt, daß uns die ältere Zeit viel 
zu wenig ursprüngliche Zeugnisse für die Beweggründe ihres 
Handelns hinterlassen hat. Wir erleben es zwar selber zur Ge- 
nüge, wie sich die wahren politischen Interessen hinter der fable 
convenue ideologischer Phrasen verbergen, die sich wie selbst- 
verständlich überall und täglich einstellen, wo von dem Ver- 
hältnis der Völker untereinander die Rede ist. Indessen im 
frühen Mittelalter wird dieser Vorhang vor den Herzen der 
Politiker aus den Sätzen einer Weltanschauung gebildet, welche 
viel tiefer und umfassender als irgendeine seitdem die Menschen 
in Europa ergriffen hatte. Der Vorhang droht zur Kurtine zu 
werden, welche uns den Einblick in die in Wahrheit wirksam 
gewesenen Kräfte abschneidet. Nehmen wir hinzu, daß die in 
Betracht kommenden Vorstellungen und Begriffe Wandlungen 
durchgemacht haben, welche es nicht erlauben, die spärlichen 
Zeugnisse über Jahrhunderte hin einfach zusammenzufassen. 
Man denke nur an das entscheidende Wort Imperium! 

Die Fragen nach dem Ideengehalt der mittelalterlichen Po- 
litik sind allerdings in jüngerer Zeit mit einem Eifer bearbeitet 
worden, welcher sehr deutlich die Ansicht widerlegt, daB unsere 


8 J. Ficker, Deutsches Königtum u. Kaisertum, 1862, S.47f. — Über die 
Möglichkeiten der deutschen Politik in der Kaiserzeit s. F. Kern, Der deutsche Staat 
u. d. Politik des Rómerzuges, in Aus Politik u. Geschichte, Gedächtnisschr. f. G. 
v. Below, 1928, S. 32ff., bes. S. 41 ff., wo der Einklang betont wird, in welchem sich 
bei der deutschen Ostpolitik die Weltanschauung u. das „Kulturgebot der Zeit“ mit 
den realen Interessen der Deutschen befunden haben. — Nun hat A. Brackmann 
in den SB. der Preuß. Akad., Phil.-Hist. Kl. von 1932, Nr. XVII einen Vortrag 
vorgelegt: Der „Römische Erneuerungsgedanke“ und seine Bedeutung für die 
Reichspolitik der Deutschen Kaiserzeit, welcher für die eine Seite der imperialen 
Idee, welche er behandelt, die antike, diese Bedeutung sehr gering anschlägt. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 231 


Fachwissenschaft sich dem Einfluß der Probleme verschlossen 
halte?, welche die eigene Zeit bewegen. Wir haben viel wert- 
volle Klärung erfahren. Dennoch müssen wir uns zufrieden 
geben, wenn wir an dieser oder jener Stelle das Einwirken der 
einen oder der anderen Motivenreihe nachweisen oder wenigstens 
wahrscheinlich machen kónnen. Solche Beschránkung gilt in beson- 
derem Maße für eine Übersicht, wie sie hier geboten werden soll. 


* * 
* 


Schon die Ostgrenze des merowingischen Reiches läßt, so- 
weit wir unterrichtet sind, Züge erkennen, welche sie als echte 
AuBengrenze in dem vorhin dargelegten Sinne kennzeichnen. 
Da ist einmal ihr Verteidigungscharakter, welcher sich in eigenen 
militärischen Einrichtungen ausspricht. In Thüringen wird so 
gegenüber den Slawen!®, in Hessen!! und am Niederrhein!!* gegen- 


* Vorangegangen ist 1918 E. Bernheim mit seinen unvollendeten Studien: 
Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik u. Geschichts- 
schreibung, T. 1, dem von ihm angeregt H. Lubnow mit der Greifswalder phil. Diss.: 
Die Slavenkriege der Ottonen und Salier in den Anschauungen ihrer Zeit, 1919, 
gefolgt ist. Umfassender und in glücklichem Eindringen ist auf F. Bäthgens Rat 
Th. E. Mommsen darangegangen den Ideengehalt der deutschen Außenpolitik im 
Zeitalter der Ottonen u. Salier zu untersuchen (Berliner phil. Diss. 1930). Fedor 
Schneider, E. Pfeil u. P. E. Schramm haben in bekannten Schriften das Teilproblem 
des Romgedankens und des römischen Erneuerungsgedankens gründlich gefördert, 
dessen Einwirkung auf unsere Frage indessen A. Brackmann, wie gesagt (s. vorsteh. 
Anm.), für sehr gering hält. Selber hat Brackmann mit dem Aufsatz: Die Ost- 
politik Ottos d. Gr., HZ. 134 (1926), anhebend die Linien seiner Grundanschauung 
über die Auseinandersetzung mit F. Kerns Abhandlung (s. vorsteh. Anm.) in Vel- 
hagen u. Klasings Monatsheften, 1928/29, S. 443ff., die kurze Schilderung Ottos d. Gr. 
in Bd. 2 der Sammlung Menschen, die Geschichte machten (1931, S. 1ff.), u. den 
Vortrag in der Preuß. Akad., Phil.-Hist. Kl., 1931, Nr. IX, Die Anfänge der Slaven- 
mission und die Renovatio Imperii des Jahres 800, bis zu dem in vorsteh. Anm. 
genannten Vortrag immer fester herausgearbeitet. Von der Seite der Liturgie- 
geschichte sind noch H. Hirsch (MÖIG. 44 [1930]) u. Carl Erdmann (s. unten S. 242, 
Anm. 43) hinzugetreten. 

10 Gegenüber den Angriffen, welche die durch Samo zu einem Großreich geeinten 
Wenden gegen die thüringische Grenze des Frankenreiches führen, müssen die Auf- 
gebote z. T. bis von Neuster und Burgund herangeholt werden. 631 bieten sich die 
Sachsen in Nordthüringen an, Francorum limitem de illis partibus custodire, ohne 
viel auszurichten. Es bedarf der Bestellung Sigiberts zum König von Auster mit 
dem Sitze in Metz, 632, damit limes et regnum Francorum erfolgreich verteidigt 
werden, s. Fredegar IV, c. 68, 74, 75 in MG. SS. rer. Mer. II. 

1 Die Büraburg a. d. Eder sdl. Fritzlar hat sich nach den Ausgrabungen 
J. Vonderaus als ein Grenzkastell mit ständiger Besatzung herausgestellt, das in 


232 Hermann Aubin 


über den Sachsen der Fortdauer der Vólkerwanderung der 
Riegel eines neuen Limes vorgeschoben. Interessant genug ist 
seine Beschaffenheit: Neben dem uralten Verteidigungsmittel 
der Fluchtburg?, finden sich Kastelle, und die Bauanlage der 
Büraburg wie ihre ständige Besatzung lassen annehmen??, daß 
hier nicht nur der Name, sondern auch die tatsáchliche Über- 
lieferung der spátrómischen Limeskastelle fortgewirkt hat!“. 

Der Eindruck einer fast noch ganz auf Abwehr gerichteten 
Haltung wird durch die Beobachtung verstärkt, daB damals 
kaum irgendwelche kulturelle Kräfte über diese Grenze aus- 
strahlten. Was der fränkische Kaufmann Samo in seiner Herr- 
schaftsgründung den Wenden an höherer westlicher Gesittung 
einflößte, war an seine Person gebunden und ging sogleich mit 
seinem Tode wieder verloren. Die fränkische Kirche aber hat 
die Erwartungen des Bischofs von Vienne schwer enttäuscht, 
welcher die Taufe Chlodwigs als den Beginn der Christiani- 
sierung aller Germanen begrüßt hatte!®. Sind doch unter den 
Merowingern nicht einmal die rechtsrheinischen Stämme inner- 


der Mitte d. 6. Jhs. entstanden sein dürfte (s. die Vorberichte in Germania XII 
(1928), S. 34ff., XIII (1929), S. 77f., XIV (1930), S. 98). H. ZeiB, Die geschicht- 
liche Bedeutung der frühmittelalterlichen Archäologie, Historisches Jb., 51. Bd. 
(1931), S. 300 nimmt an, daB die Büraburg Parallelen z. B. in Mainfranken gehabt 
habe. 

11a S. die Alteburg bei Werden a. d. Ruhr von c. 700 mit der etwas jüngeren 
kleinen Rundanlage daneben, von der C. Schuchardt, Die Burg im Wandel der 
Weltgesch. (Museum der Weltgesch. hgb. v. P. Herre) 1931, S. 181, eine Abb. 
(Nr. 165) gibt. 

13 Nicht nur die Alteburg ist eine solche gewesen, sondern auch die Büraburg 
hat dazu gedient, s. Ann. reg. Franc. (in us. schol. [1895] S. 36): confiniales de hac 
causa (Sachseneinfall) solliciti, ... castello sunt ingressi. 

3 Mehr noch als die Vorberichte Vonderaus (s. oben Anm. 11) ließ mich ein 
Vortrag des Forschers erkennen, daB die Anlage der Mannscbaftsunterkünfte in 
Anlehnung an die Verteidigungsmauer durchaus dem Typ spätrömischer Kastelle 
von der Art Alzeys entspricht, über welche E. Anthes, Spätrömische Kastelle u. 
feste Städte im Rhein- u. Doanugebiet, X. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1917 
(1918), bes. S. 112 u. 161f. berichtet hat. — Auch die Alteburg hat Innenbauten 
besessen, über welche aber nicht genügend Klarheit herrscht. Die etwas jüngere, 
kleinere Anlage muB eine stándige Besatzung beherbergt haben. 

M So stellt auch Vonderau, Germania XII (1928), S. 45 an bautechnischen 
Einzelheiten fest, „daß die Erbauer sich an spätrömische Vorbilder in der Befesti- 
gungskunst vielfach angelehnt haben". 

15 Aviti epp. MG. Auct. antiqu. VI, 1, S. 76, Z. 7ff. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 233 


halb des Reiches dem Christentum gewonnen worden, und selbst 
die Tätigkeit der angelsächsischen Missionare, welche dann die 
Unterstützung und den Schutz der ersten Karolinger fanden, hielt 
sich noch ganz überwiegend innerhalb des engeren Reichsgebietes. 

Von einem engeren Reichsgebiet ist zu sprechen!$. Denn von 
den frühesten Zeiten her tritt uns als das andere Kennzeichen 
der fránkischen Ostgrenze die Tatsache entgegen, daB wir es 
nicht mit einer Grenzlinie, sondern mit einem Grenzsaum 
zu tun haben. Der in der geschilderten Weise bewehrten Grenze 
des eigentlichen Reichsterritoriums ist ein Streifen vorgelagert, 
in welchem tributpflichtige Stämme der Sorben“ oder Sachsen!“ 
dem Reiche lose angeschlossen sind. Man wird selbst bei den 
Herzogtümern der Thüringer und Bayern darauf hinweisen 
müssen, daß sie ihre weitgehende Selbständigkeit nicht allein 
der inneren Auflösung der Merowingermonarchie verdanken, 
sondern daß sich darin auch noch ihre lockerere Einfügung in 
das Reich ausspricht!?, Von dessen Kernlanden ausgehend, ist 
also die Staatshoheit nach Osten zu räumlich mannigfach ab- 
geschattet, bis sie sich sozusagen ohne Grenze im Niemandsland 
verliert, in welches langsam die Slawen einsickern. 

In vollerem Lichte erscheinen diese Zustände freilich erst 
unter Karl d. Gr. und nun erhebt sich vor uns ein überaus ein- 


16 In der Unterscheidung, welche E. E. Stengel in der Marburger akademischen 
Rede (Nr. 49, 1930) Regnum und Imperium. Engeres und weiteres Staatsgebiet 
im alten Reich, im Auge hat, kommt dem Begriff des engeren Staatsgebietes ein 
anderer Sinn zu. Indessen deckt sich Stengels „weiteres Staatsgebiet‘ tatsächlich 
z. T. mit unserer „Außenzone“, sodaß sein Material insoweit auch hier heran- 
zuziehen ist. 

17 Fredegar a.a. O. IV, c. 68: ...gentis Surbiorum, que ... ad regnum Fran- 
corum iam olem aspexerant (vor 631). Ebenda 117 (cont. 31) Hilfeleistung der reges 
Winidorum seu Frigionum für Pipin gegen die Sachsen 747. 

18 U. zw. die nordthüringischen seit Teuderich und wieder seit Pipin, die west- 
lichen seit Karl Martell, s. G. Waitz, VG. 2, 2* (1882), S. 252f. u. L. Schmidt, Gesch. 
d. deutschen Stämme 2 (1911), S. 54ff. 

19 Über diese Selbständigkeit s. Fr. Schneider u. A. Tille, Einführung in d. 
Thüring. Gesch., 1931, S. 3; S. Riezler, Gesch. Bayerns, 1* (1927), S. 143. Ob das 
bayrische Herzogtum tatsächlich eine „Modifikation eines vorfränkischen Volks- 
königtums (s. M. Döberl, Entwicklungsgesch. Bayerns, I (1906), S. 27) oder ein 
fränkisches Amtsherzogtum gewesen, ist allerdings immer noch umstritten, s. zuletzt 
W. Varges, Das Herzogtum, in Aus Politik u. Gesch., Gedächtnisschr. f. G. v. Below, 
1928, S. 19. ` 


234 Hermann Aubin 


drucksvolles Bild planender Staatstätigkeit, das die älteren 
Züge z. T. festhält, aber auch wesentliche neue hinzufügt und 
den vornehmlich abwehrenden Charakter der Ostgrenze in das 
Gegenteil umkehrt. Das Markensystem entsteht. 

Die militärisch-verwaltungstechnische Einrichtung der Mar- 
ken hat wahrscheinlich zuerst im Westen, gegenüber den Bre- 
tonen und den Arabern in Spanien ihre Ausbildung erfahren® 
Zur umfassenden Anwendung bot indessen erst der Osten Raum. 
Hier hat sie dann den Boden gefunden, auf welchem sie sich zu 
langdauernder geschichtlicher Wirkung entfalten konnte. 

Wir wollen den Begriff der Mark nicht streng definieren und 
das Wort System nicht pressen. Grenzgrafschaft, wie sie schon 
früher bestand, und Mark gehen wohl manchmal begrifflich und 
sicher zeitlich ineinander über“. Geographische und geschicht- 
liche Sonderlagen bewirken Sonderbildungen, und überhaupt 
ist der ganze ostmitteleuropäische Raum noch auf lange in 
dauerndem Fluß begriffen. 

Für die geschichtliche Wertung aber ist das Wesentliche, 
daß die Marken gemeinhin auf erobertem Boden errichtet 
worden sind. Das zu überlegener Machtfülle angewachsene Reich 
brauchte sich nicht mehr damit zu begnügen, eine ihm oftmals 
aufgezwungene Grenze eben noch zu behaupten. Es war viel- 
mehr imstande, nach seinen Bedürfnissen den Nachbarn ihren 
Verlauf vorzuschreiben. Es schob die erste Verteidigungslinie 
in das Vorfeld eroberten Landes vor. So wird jenseits der Elbe 
und Saale von Itzehoe bis Halle eine Burgenreihe errichtet, um 
dem engeren Reichsgebiete die unmittelbare Abwehraufgabe ab- 
zunehmen?!*, Und mehr, man richtet jenseits einen Streifen als 
Zwischenglied zwischen dem befriedeten Binnenland und der 
darüber hinaus noch bestehenden unbestimmt sich verlaufenden 


39 M. Lipp, Die Marken des Frankenreiches unter Karl d. Gr., Phil. Diss. Königs- 
berg 1892, 1. T., S. 14ff. Für den militärischen Ausbau spricht H. Zeiß, a. a. O. die 
glaubhafte Vermutung aus, daß Karl von den langobardisch-byzantinischen Burgen- 
linien in Italien Anregungen empfangen habe. 

u Das ist alles sehr gut von M. Lipp, Das fränkische Grenzsystem unter Karl d. Gr., 
Untersuch. z. deutschen Staats- u. Rechtsgesch. hgb. v. O. Gierke, 41. H., 1892, dar- 
gelegt worden. Für den Wiederaufbau seit Otto d. Gr. s. Waitz, a. a. O. 7 (1876), S. 66ff. 

218 S. K. Rübel, Die Franken usw., 1894, S. 99; H. Hofmeister, Limes Saxonicus, 
Zschr. d. Ges. f. Schleswig-Holstein. Gesch. 56 (1927); A. v. Oppermann und 
C. Schuchardt, Atlas vorgeschichtl. Befestigungen in Niedersachsen, 1887—1916. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 235 


Einflußzone ein. Der Mönch von Fulda ist gewiß ungeschickt, 
wenn er 858 hochtrabend von einer respublica Sorabici limitis 
spricht?*, Dennoch bringt er damit den Grundvorgang plastisch 
zum Ausdruck, daß nämlich die Grenzlinie des engeren Reichs- 
gebietes zu einem ráumlichen Gebilde angeschwollen ist. 

Diese neue Zwischenzone ist sehr verschieden breit. Im SO, 
wo das bayerische Herzogtum durch die Unterwerfung der Ost- 
alpen-Slawen vorgearbeitet hatte, zwang die vollstándige Er- 
ledigung des awarischen Problems bis tief in die ungarische 
Ebene hinabzusteigen?. Hier reichen die Marken bis an den 
südwärts gerichteten Lauf der Donau und an die Sau“. Dem 
Nordabschnitt hat Karl erst in seinen letzten Jahren die volle 
Aufmerksamkeit zugewendet. Seine Absicht, das im SO be- 
gründete System hierhin zu übertragen, ist jedoch erkennbar, 
und unter seinem Sohn die Zugehórigkeit von Marken zu den 
Grenzlandschaften schon eine Selbstverstándlichkeit?5. Freilich 
ist der Markengürtel hier noch recht schmal, und gegen Bóhmen 
gar — im bayrischen Nordgau — auf dem engeren Reichsterri- 
torium geblieben?®. Davor noch liegt die Zone der tributáren 
Völkerschaften: im SO eingesprengt zwischen die Marken die 
slawischen Vasallenstaaten in Kärnten, zwischen unterer Sau 
und Drau und um den Platensee, in der Mitte vorgelagert das 
umfangreiche Böhmen, weiterhin dann kleinere Stämme der 
Elbslawen in wechselndem Gehorsam“. 


* Ann. Fuld. ad. ann. Das Herrschaftsgebiet des damals unverläßlich werdenden 
Sorbenfürsten scheint innerhalb der Mark gelegen zu haben. Uber den Limes Sorabi- 
cus s. P. Honigsheim in d. Zschr. d. Ver. f. Thüring. Gesch. NF. 16 (1906), S. 303ff. 

2 Wieweit Karl, als er nach Tassilos Sturze in Regensburg fines et marcas 
Baioariorum disposuit (Ann. regn. Franc. ad ann.), schon eigentliche Marken gebildet 
hat, ist nicht auszumachen 

# Darüber zuletzt H. Pirchegger, Karantanien u. Unterpannonien zur Karo- 
lingerzeit, MIÓG. 33 (1912), S. 272ff. u. in Einzelheiten abweichend L. Hauptmann, 
Erláuterungen z. Hist. Atlas d. ósterr. Alpenlünder. 1. Abt., 4. Teil, 2. H. (Krain) 
S. 3371f., ferner, die Binnengrenzen ausfeilend, E. Klebel, D. Ostgrenze d. Karo- 
ling. Reiches, Jb. f. Landeskde. v. Niederösterreich NF. 21 (1928), S. 348ff. 

* S. die Reichsteilung v. 839: ducatum Toringie cum marcis suis, regnum 
Saxonie cum marcis suis (MG. Cap. 2, Nr. 200, S. 58). 

3 G. Waitz, VG. 7 (1876), S. 76; M. Dóberl, D. Markgrafschaft u. d. Mark- 
grafen auf d. bayr. Nordgau, 1894. 

T Den genauen Verlauf der karoling. Ostgrenze hat jüngst E. Klebel zu be- 
stimmen versucht, s. oben Anm. 24. Sein Hauptverdienst liegt in dem Abschnitt 


236 Hermann Aubin 


Die Anlage der Marken wáchst aus der reinen Verteidigungs- 
aufgabe des Reiches heraus. Indem diese aber aktiv erfaßt wird, 
wandelt sich die bloBe Abwehr zu einer Erweiterung des Staats- 
gebietes, wird ein Stück Barbarenland in die hóhere Organisation 
des Frankenreiches einbezogen. Der Markgraf muB für seine 
besonderen Pflichten mit gesteigerter Befehlsgewalt ausgestattet 
werden, und damit wird in den Markenboden der Keim einer 
besonderen Verfassungsentwicklung gelegt, welcher ihm später 
einen Vorsprung an Geschlossenheit der Territorialbezirke vor 
Altdeutschland verleihen sollte®. Zugleich lenkt Karl, geleitet 


über die SO-Marken. Beim Nordabschnitt geht er zu seinem Schaden an vor- 
handener Literatur vorüber. Die zusammenfassende Feststellung, daß „die Reichs- 
grenze bei Karls Tode keine zusammenhängende Linie gewesen“ (s. 353, vgl. auch 
364) hätte K. richtiger formuliert, wenn er von seiner eigenen Unterscheidung des 
geschlossenen Reichsgebietes und den vorgelagerten Tributärstaaten grundsätz- 
licher Gebrauch gemacht hätte. Seine lebendige Schilderung von der Unfertigkeit 
der Grenze gilt für die ,,AuBenzone". Das engere Reichsgebiet besaß eine sehr viel 
schärfere, welche das bekannte Kapitular v. 805 (MG. Cap. 1, Nr. 44, S. 123), das 
K. selber stark heranzieht, durch die Angabe der Grenzübertrittsorte zu bestimmen 
gestattet. Daß auch diese Grenze bei dem damaligen Stande des Landesausbaus 
noch nicht überall abgemarkt war und daB sie Verschiebungen erleiden konnte, 
versteht sich von selbst. 

?5 Die communis opinio s. f. d. fränk. Zeit bei Waitz a. a. O. 33 (1883), S. 370ff. 
u. H. Brunner-Cl. Fhrr. v. Schwerin, Deutsche RG. 2* (1928), S. 231ff., für das 
Mittelalter Waitz a. a. O. 7 (1876), S. 84ff. u. R. Schróder-E. Fhrr. v. KünBberg, 
Lehrbuch d. deutschen RG? (1932), S. 616ff. Letztere stehen noch unter dem 
Banne von Brunners Aufstellungen f. Österreich (D. gerichtl. Exemtionsrecht d. 
Babenberger, Wiener SB. 47 (1864), S. 315ff., bes. 320. S. auch J. Ficker-P. Punt- 
schart, Vom Reichsfürstenstande, 2, 3 (1923), $ 589. Danach hátten sich die Mark- 
grafen einer bes. günstigen Ausgangsstellung für den Erwerb einer geschlossenen 
Landeshoheit erfreut, weil ihnen allein die ganze Grafengerichtsbarkeit in den 
Marken zugestanden. O. H. Stowasser hat dieser übersteigerten Zeichnung des 
Gerichtszustandes in der Mark erfolgreich das Bild einer auch hier allmählich sich 
vollziehenden Territorialbildung entgegengesetzt (ZRG. Germ. Abt. 44 (1924), 
S. 114ff., D. Land u. d. Herzog, 1925, u. VSWG. 19 (1926), S. 413ff.). Die darüber 
entbrannte Diskussion hat für unsere Zwecke soviel ergeben (s. A. Dopsch, VSWG. 20 
(1928), S. 460ff.), daB es sich bei der territorialen Entwicklung auf dem österr. 
Markenboden mehr um einen zeitlichen und graduellen Vorsprung, als um einen 
konstitutiven Unterschied handelt. Abgeschlossen aber ist die Frage nicht; es steht 
noch aus, daB der Ursprung der Grafenrechte festgestellt ist, welche neben denen 
des Markgrafen bestanden: Handelt es sich um wirkliche Grafschaften, wie H. v. Vol- 
telini, VS WG. 19 (1926), S. 325 mit dem Worte „echte Grafen“ zu meinen scheint, 
oder um weltliche Hochimmunitäten, wie Voltelini ebenda S. 326 nahelegt? Erst 
diese Klärung würde die Lücke zur fränkischen Zeit zuschlieBen. Eine erneute 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 237 


von dem Streben, der Mark verläßliche Verteidiger zuzuführen, 
einen Strom deutscher Kolonisten in die Donau- und Ostalpen- 
landschaften. Der kónigliche Anspruch auf allen Grund und 
Boden im eroberten Lande?? bietet die vollkommenste Hand- 
habe, dieses Werk nach einheitlichen Gesichtspunkten zu unter- 
nehmen. Mit der materiellen Kolonisierung geht die geistige 
Hand in Hand. Karl hat sich mit dem Gedanken der Heiden- 
mission erfüllt, dem sich die Franken bis dahin nur zógernd 
genähert hatten. Er erkennt in ihr die hohe, unerläßliche 
Pflicht des christlichen Kónigs und treibt die Kirche seines 
Reiches zur Arbeit an. Zwar sucht er auch die Hilfe des Papstes 
dafür. Aber er befiehlt ihm, Salzburg zur Metropole für die 
Missionierung der Donaumarken zu erheben??; die Missions- 
sprengel und jene der weltlichen Verwaltung werden einander 


Gesamtbehandlung der Markenverfassung wäre erwünscht. Sie müßte auch die 
sächsischen mit heranziehen, obwohl hier z. T. erkennbar abweichende Verhältnisse 
geherrscht haben, da sie nicht, wie die bayerischen, ursprünglich dem Herzog unter- 
standen (Waitz a. a. O. 7, S. 93 u. J. Ficker-P. Puntschart, Vom Reichsfürstenstande 
2,3 (1923), $ 543) u. bier der Markgraf zu eigenen Hulden dingte (daß das aller- 
dings kein Vorzug des Mgfn. sei, macht Voltelini, a. a. O. S. 324 eine Anspielung). 
Außer Ficker - Puntschart a. a. O. $8 590 ff. s. dazu auch zusammenfassend R. Kótz- 
schke, Die deutschen Marken im Sorbenland, Festgabe f. G. Seeliger 1920. 

æ Ich halte diese Anschauung fest (s. zuletzt E. E. Stengel a. a. O. Anm. 31 
über dieses „staatliche Hoheitsrecht im ‚Vorfeld‘ des Reiches“), obwohl A. Dopsch, 
D. ältere Sozial- u. Wirtschaftsverfassung d. Alpenslawen, 1909, S. 59 mit Recht 
bemerkt, daB sich diese Ansicht durch keinen positiven Beleg stützen lasse. Dieses 
Bodenregal im eroberten Lande darf wohl als ein natürlicher AusfluB aus dem Recht 
des Eroberers angesehen werden, was nicht hinderte, daß dieser bestehende private 
Eigentumsrechte anerkannte. Solcher Art kónnen die v. Dopsch, D. Wirtschafts- 
entwicklung d. Karolingerzeit, 1. Bd., 1. Aufl. (1912), S. 108 Anm. 3 angeführten 
Belege gegen das Bodenregal erklärt werden, soweit sie nicht überhaupt auszu- 
scheiden sind. Private Eigentumsrechte sind stets bereits einige Jahre nach der 
Eroberung schon auf Grund kgl. Schenkungen zu erwarten, die Anzeichen eines 
diskrätionären kgl. Rechtes dagegen am ehesten unmittelbar nach der Eroberung. 
Die einzige erhaltene Schenkungsurk. Karls d. Gr. f. d. Ostmark, D. Car. 212, a. 811 
zeigt bei einem Areal v. 40 Hufen in offenem Lande keine Beschränkung des kgl. Ver- 
fügungsrechtes durch etwa bestehende private Ansprüche. Vgl. ferner unten S. 245 
Anm. 55. Die ganze Frage bedarf einer Neubehandlung. S. auch S. 255 Anm. 84. 

æ S. A. Brackmann, Slavenmission a. a. O. S. 9. S. auch den Befehl, den Karl 
d. Gr. den Bischófen erteilte, den neubekehrten Main- und Rednitzwenden Kirchen 
zu erbauen, u. zw. bezeichnenderweise im Zusammenwirken mit den Grafen (erhalten 
in der im Formular überlieferten Urk. Ludwigs d. Fr., Form. Imp. Nr. 40, MG. 
Formulae, S. 317, u. in DD. Ludwigs d. D. 42, a. 845). 


238 Hermann Aubin 


angeglichen. Die Mission ist Staatsaufgabe. Niemals mehr 
haben alle Elemente der Ostausbreitung so vollkommen zu- 
sammengewirkt. Denn niemals mehr waren alle Kräfte des 
Abendlandes in gleicher Weise einem einzigen Willen unter- 
worfen. So wandelt sich in der Hand des großen Ordners der 
defensive Akt der Markenbildung zu einer Tat fruchtbarster 
Schöpfung. Die Mark wird gleichsam zur großen Schulstube 
für die jungen Völkerschaften des Ostens, welche sie durch- 
machen müssen, um für die Aufnahme in die abendländische 
Kulturgemeinschaft reif zu werden. 

Hier tritt ein auffallender Unterschied gegenüber der Be- 
handlung des sächsischen Eroberungsgebietes durch Karl zu- 
tage. Die Sachsen sind ohne Zögern ins engere Reichsgebiet 
aufgenommen worden, obgleich doch auch sie erst für das 
Christentum gewonnen werden mußten. Wenn ihnen erlassen 
blieb, den Vorhof der Markenorganisation zu durchlaufen, so 
ist der Grund dafür ohne Zweifel ihr Germanentum, das sie auf 
eine Stufe mit dem Herrenvolk der Franken stellte, wie sich 
ja auch die angelsächsischen Glaubensboten ihnen als ihren 
Vettern nahe verwandt gefühlt haben? An dem Vergleich 
dieses verschiedenen Verhaltens gegenüber Slawen und Awaren 
einerseits, Sachsen anderseits wird deutlich, daß unter den 
Kompenenten des karolingischen Kulturbewußtseins das Ger- 
manengefühl nicht das letzte gewesen ist. Diese Feststellung 
schließt sich eng an den Nachweis an, den jüngst Albert Brack- 
mann erbracht hat, daß in eben den Jahren, da die Ostaus- 
breitung in das entscheidene Stadium der Markenbildung ein- 
tritt, und gerade an der großen, hier gestellten Erziehungsauf- 
gabe in dem Kreise Karls d. Gr. der Gedanke der abendlän- 
dischen Lebensgemeinschaft zu dem Bilde des allumfassenden 
Imperiums ausgeformt worden ist??. Auch in dieser Konzeption 
sind, im eigensten Sinne Karls, religiöse und kirchliche Ge- 


31 Die Abkunft der Sachsen in England von den Festlandsachsen, die Beda 
mehrmals betont (Hist. eccl. I, 15 u. V, 9), gibt Bonifaz Anlaß, seine Landsleute auf- 
zufordern, für die Bekehrung der Altsachsen zu beten. Er kennt deren Recht und 
hält es, obwohl es das Recht von Heiden, dem christlichen König v. Mercia als Beispiel 
vor, s. Die Briefe d. hl. Bonifaz u. Lullus, Epp. sel. in us. schol. I, Nr. 46, a. 738 u. 
Nr. 73, a. 746/7 (S. 150). 

32 Slavenmission, bes. S. 16f. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 239 


danken, doch sie eben nicht allein, enthalten, und sie fállt nicht 
mit jener kurialen zusammen, welcher Leo III. durch den Akt 
der Kaiserkrónung Ausdruck verleihen wollte. An sich bedurfte, 
wie hier schon klar geworden ist, der fränkische König weder 
des von den alten Augusti hergeleiteten Anspruchs auf das 
imperium mundi, noch der kurialen Sanktion, um für das Zivi- 
lisations- und Missionswerk im Osten legitimiert zu werden. 
Indessen sind in der Zukunft die verschiedenen Wurzeln der 
Kaiseridee, wie sie miteinander verschmolzen, auch in dieser 
Richtung vereint wirksam geworden? 

Mit der Markenbildung an der Slawengrenze hat Karls 
Schöpferkraft die Formen geprägt, in welcher noch auf Jahr- 
hunderte das deutsche Volk seine Verteidigung führen und die 
große, vom Kaiser gewiesene und der Natur der Sache nach 
vornehmlich den Deutschen zufallende Aufgabe verwirklichen 
sollte, dem ostmitteleuropäischen Raume die abendländische 
Gesittung zuzuführen. In dem Vorgang der Markenbildung lag 
unmittelbar eine fortzeugende Kraft. Denn wenn die intensive 
Kulturarbeit, welche an den Jungboden gewandt wurde, die 
alte Mark allmählich in Binnenland verwandelt hatte, mußte 
eine neue vorgelegt werden, um die alte zu schützen. 

Das karolingische System der Ostgrenze ist allerdings in der 
Zeit des verfallenden Reiches unter dem Ansturm der Magyaren 
zusammengebrochen. Die deutschen Randstámme sind nicht. 
imstande gewesen, bei ihrer Vereinzelung in den rasch errichteten 
NotbautenrückwártigerVerteidigungsstellungen** dieÜberflutung 


Wie gering Brackmann dabei mit Recht die Wirkung des römischen Er- 
neuerungsgedankens anschlägt s. oben Anm. 8. 

** Fs handelt sich dabei nicht einfach um die Rückverlegung des Grenzschutzes, 
wie ihn die Anlage der Ennsburg an dem alten Grenzflusse des engeren Reichs- 
gebietes um 900 oder einzelne der Bauten Heinrichs I. an der Saale, z. B. die Um- 
mauerung von Merseburg, darstellen. Vielmehr ist das karolingische Markensystem 
gänzlich zusammengebrochen, und das zeitigte Folgen, wie einst der Zusammen- 
bruch der Limeslinie bei den Einfällen der Markommen seit 166 u. der Alemannen 
259/260. An die Stelle der von einem zentralen Staatswillen eingerichteten Ver- 
teidigung des gesamten Staatsgebietes an der Grenze tritt die Notwendigkeit, sich 
durchs ganze Hinterland Ort für Ort in Verteidigungszustand zu setzen. Wie damals 
im Römerreiche die bisher offenen Städte Germaniens, Galliens u. Oberitaliens bis 
hinab zur Urbs selbst (275) mit Mauern umgürtet worden sind, so jetzt Bischofssitze 
wie Regensburg u. Augsburg, Klöster, wie St. Gallen, Hersfeld, Gandersheim, Pfalzen, 
wie Quedlinburg oder Werla in Sachsen, u. selbst in Lothringen suchte ein jeder, 


240 Hermann Aubin 


der abendländischen Welt bis tief nach Frankreich und Italien 
durch den barbarischen Feind abzuwehren. Sobald aber das 
neu geeinte Reich unter Ottos Führung erstarkt, nimmt es wie 
selbstverstándlich, in dem gleichen Bedürfnis der umfassenden 
Verteidigung und gleichfalls im Nachstoßen hinter dem östlichen 
Gegner, mit der Ostpolitik die Überlieferung der Marken- 
organisation auf. Und zwar wird nicht nur die karolingische 
Einrichtung dort, wo sie verschüttet war, nach Möglichkeit 
wieder hergestellt, sondern das Prinzip auch lebendig an neuer 
Stelle zur Anwendung gebracht, nämlich im Nordabschnitt von 
Elbe und Saale. Wieder tritt die innige Verbindung der gleichen 
Elemente auf: der staatlichen Abwehr und Herrschaftsorgani- 
sation, der Mission und Diözesenbildung und der ländlichen 
Kolonisation, letztere wenigstens im Südabschnitt der Donau- 
und Ostalpengebiete, wo die karolingischen Grundlagen keines- 
wegs vernichtet waren. Wieder wird die gleiche Technik ange- 
wandt und jenseits des Markengürtels die Tribut- und Einfluß- 
zone hergestellt. Auch die ottonische Restauration der deutschen 
Ostgrenze schafft also nicht eine einfache Grenzlinie, sondern 
einen vielgestaltigen und dreifach in die Tiefe gegliederten 
Grenzraum. 

Im Südabschnitt ist die alte Karolingische Grenze bekanntlich 
nicht wieder erreicht worden. Vor des Kaisers sáchsischer 
Heimat dagegen hat sich das Grenzwerk um so weiter auszu- 
dehnen begonnen. Am umfassendsten wird die große Kon- 
zeption von Ottos Ostpolitik in der in wenigen Akten einge- 
leiteten kirchlichen Organisation des Grenzsaumes deutlich. 
Von Jütland bis Bóhmen legt sich eine Kette von Bistümern 
vor die Grenze des engeren Reichsgebietes. Wenn denen von 
Havelberg und Brandenburg noch das Meer% und die Oder“ 


wie es eine Urk. v. 926 lebendig schildert, tuta loca perquirere, ubi aliquid firmitatis 
fieri potuisset contra predictorum insidias perfidorum (der Ungarn) Die Belege 
bei G. Waitz, JB. d. Deutschen Reiches unter Kg. Heinrich I.“, 1883, S. 92ff. u. 
für Italien bei Dümmler, Gesch. d. Ostfránkischen Reiches, 2 (1865) S. 508 m. Anm. 40. 


*5 DOI. 76, a. 946 f. Havelberg, S. 156, Z.32: ab aquilone mare Rugianorum 
s. dazu F. Curschmann im NA. 28 (1903) S. 393ff. u. derselbe, D. Diözese Branden- 
burg, 1906, S. 21, Anm. 1. 

** Curschmann, Diózese Brandenburg, S. 176 nach DOI. 105, a. 948 S. 189, Z. 21: 
Terminum ... orientem versus ad flumen Odera. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 241 


als Ostbegrenzung gewiesen worden sind, so war dem über- 
geordneten Erzbistum Magdeburg ursprünglich eine uneinge- 
schränkte Einflußsphäre nach Osten hin zugedacht?”, in welcher, 
wie sich die Tributsherrschaft des deutschen Reiches über Polen 
bis an die Warthe erstreckte“, ein eigenes Bistum in Posen an 
der Warthe errichtet wurde“. Das Bistum Prag aber sollte auch 
Mähren, das Waagtal, Krakovien und Teile RotruBlands, also 
gleichfalls ein noch nicht abzusteckendes Missionsgebiet um- 
fassen“, von dem Otto gewiß der Überzeugung war, daß es auch 
seiner Oberhoheit unterliege. Máhren aber und das Waagtal 
gehórten staatlich zu Ungarn und in der Tat scheint Otto bereits 
auch das übrige Ungarn in seine kirchlichen Organisationspläne 
einbezogen zu haben“. Wie in karolingischer Zeit dürfen wir 
nun die Grenze der deutschen Kirche als die Grenze wenigstens 
des weiteren Reichsterritoriums in Anspruch nehmen. Diese 
gibt sich derart als noch völlig offen zu erkennen. Sie verliert 
sich in nebelhaften Fernen. 

Man möchte so weitgehende Ansprüche auf den ersten Blick 
auf das Kaisertum Ottos zurückführen. Indessen die Aufgabe, 
die Kirche zu schützen, lag allen christlichen Herrschern ob, sie 
wurde an der Grenze zum Kampf gegen die Heiden“, sie konnte 
durchaus offensiv aufgefaBt werden und Carl Erdmann hat eben 
an liturgischen Texten festgestellt, daB das 10. Jahrhundert 
„den Beruf zum Heidenkrieg dem Kaisertum nicht in höherem 


* Das hat A. Brackmann, Ostpolitik Ottos d. Gr. überzeugend herausgestellt. 

3 Thietmari chron. I. II. c. 29 (19), in us. schol. S. 37: ... Miseconem inperatori 
fidelem tributumque usque in Vurta fluvium solventem ... 

»Die kirchenrechtliche Stellung des Bistums in seiner Frühzeit ist bestritten. 
P. Kehr hat in der Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Jg. 1920, Phil. Hist. Kl. Nr. 1, 
D. Erzbistum Magdeburg u. d. erste Organisation d. christl. Kirche in Polen, Posens 
Unterstellung unter Magdeburg für eine jüngere Fabel erklärt. Indessen kommt 
es hier nur darauf an, ob das Bistum zur Sphüre der deutschen Reichskirche gehórt 
habe. Brackmann hat a. a. O. S. 2451. auf diesen Gesichtspunkt hinzielend äußerst 
glaubhaft gemacht, daB das Letztere der Fall war. 

* Nach der Urk. Heinrichs IV. f. das Bistum Prag v. 1086, deren Zurückgreifen 
gerade in der Grenzbeschreibung auf die Gründungsurk. v. 973 R. Holtzmann im 
Arch. f. Urkundenforsch. VI (1918), S. 177 erwiesen hat. 

“4 So v. Brackmann, Ostpolitik S. 2541. in naheliegendem Zusammenhange 
Wahrscheinlich gemacht. 

*3 A, Brackmann, Slavenmission S. 6. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 16 


242 Hermann Aubin 


Maße beigelegt habe, als dem Königtum“ “. Sicher ist um- 
gekehrt, wie besonders Brackmann betont, daB die Ostpolitik 
deutschen Ursprungs beigetragen hat, Otto auf das Bündnis mit 
dem Papst hinzudrängen, und daß der Papst Otto als den Heiden- 
sieger der Kaiserkrone für würdig angesehen hat“. 

Wie immer dem sei: Soweit das Kaisertum Ottos von dem 
Karls abstand, um soviel weniger waren nun die Machtmittel 
des Abendlandes noch in einer Hand konzentriert. Die abend- 
lándische Aktion im Osten batte sich schon einmal aufgespalten. 
In der Zeit der Schwäche der Karolinger hatte sich das Papst- 
tum in der Vertretung der okzidentalen Interessen im Ostraum 
von der weltlichen Führung befreit und vornehmlich unter 
Nicolaus I. im Wettbewerb mit der fränkischen Kirche und 
unter deren Ausschaltung die Mährer, Bulgaren und Kroaten 
in eine lediglich römisch bestimmte Gemeinschaft mit dem 
Westen hineinzuziehen getrachtetfs, Was es davon überhaupt 
erreichte, war in der Hauptsache bald wieder hinweggewischt 
worden. Indessen erhob sich, als Otto I. mit seinen weittragen- 
den Entwürfen hervortrat, eine kuriale Opposition. Papst 
Johann XIII. schränkte jenes ausgreifende geistliche Erobe- 
rungsgebiet, das dem Magdeburger Erzbistum zugedacht war, 
auf die bereits christianisierten Slawengebiete ein. Hier trat ein 
Gegensatz zutage, welcher für die Gestaltung der deutschen 
Ostgrenze von groBer Bedeutung werden sollte: Der Gegensatz 
einer römischen und der deutschen Ostpolitik“ . Sehr bald er- 
scheint Rom als der Stützpunkt, an den der Herzog von Polen 
durch Auftragung seines Landes an den hl. Petrus Anlehnung 
sucht, um sich dem deutschen Einfluß zu entziehen, ohne auf 
die Hilfe der westlichen Zivilisation verzichten zu müssen“; 
ein Akt, welcher ein Loch in den östlichen Grenzraum reißen 


C. Erdmann, Der Heidenkrieg in d. Liturgie u. d. Kaiserkrönung Ottos I., 
MÓIG. 46 (1932), S. 130ff, bs. 140. 

4 In: Menschen, die Gesch. machten, a. a. O. S. 5f., Slavenmission S. 18, Er- 
neuerungsgedanke S. 7. 

8. H. v. Schubert, Geschichte d. christl. Kirche im Frühmittelalter, 1921, 
S. 510 ff. u. F. v. Šišić, Gesch. d. Kroaten, 1 (1917), S. 60f., 91f., 98f., 101 f. u. 105f. 

** Dies hat A. Brackmann, Ostpolitik, bes. S. 249 scharf herausgearbeitet. 
Vgl. auch Erneuerungsgedanke S. 15. 

4? S. R. Holtzmann, Böhmen u. Polen im 10. Jh., Zschr. d. Ver. f. Gesch. Schle- 
siens 52 (1918), S. 1ff., bes. 33. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 243 


mußte, wenn er von Bestand“. Und unter Otto III. gewinnt 
dieser Gegensatz fast auf der ganzen Linie Kraft. 

Allerdings nicht in der Konstellation, daB er durch die beiden 
Häupter der Christenheit wäre personifiziert worden, sondern 
vielmehr in einer Zeit von deren einträchtigstem Miteinander- 
gehen. Indem der junge Otto von universalistischen Gedanken- 
gängen getrieben“ die Entstehung einer selbständigen polnischen 
Kirche fördert und einer ungarischen nicht bindert“, bricht aus 
der deutschen Ostpolitik in breiten Stücken jene Stütze heraus, 
welche eine deutsche Kirchenorganisation im Ostraum hätte 
darstellen können. Nicht länger mehr fällt nun hier Christen- 
heit und Einordnung in den deutschen Kirchenverband zu- 
sammen, und damit hört auf weite Strecken die Grenze der 
katholischen Lebensgemeinschaft auf, die äußerste Linie des 
deutschen Grenzsaums im Osten zu tragen. 

Die Entstehung dieser Landeskirchen ist freilich nur das 
eindrucksvolle Zeichen für den sich nunmehr anmeldenden 
Willen der Ostvölker, eigene Lebensformen höheren Ranges aus- 


48 A. Brackmann, Erneuerungsgedanke, S. 14, sieht schon mit diesem Akt den 
deutschen Einfluß auf das Missionsgebiet in Polen rechtlich ausgeschaltet. Die 
Überlieferung aber von der Tradition des „Landes Gnesen'* an den hl. Petrus ist 
derart, daB es sehr fraglich scheint, ob sie irgend welche praktische Folgen gehabt 
und ob man sich ihrer je wieder erinnert habe. Der deutsche Herrscher als Lehnsherr 
Mieskos hatte auch gewiß nicht seine Zustimmung dazu gegeben, und so sind er und 
die deutsche Kirche durch die Auftragung nicht gebunden gewesen. 

Gänzlich von solchen beherrscht schildert Otto III. auch P. E. Schramm in 
der knappen Skizze, welche er zu der Revue: Menschen, die Geschichte machten, 
beigetragen hat (2, bes. S. 11). Dort wo Schramm die Wandlung jener Gedanken- 
gänge am eindringendsten verfolgt hat (Kaiser, Rom u. Renovatio, 2. T., 1929), 
hat er sich die Auswertung für die Fragen des realen Volkerlebens leider versagt 
(1, S. 138, Anm. 3 u. 2, S. 15). 

59 A. Brackmann, Erneuerungsgedanke S. 16, geht noch einen Schritt weiter 
als Schramm und sieht in Ottos Verhalten den Versuch, „jene Differenz zu über- 
brücken, die zwischen der traditionellen fränkisch-ottonischen und der kurialen 
Anschauung von der Missionstätigkeit (vgl. oben Anm. 46), bestand, und dem 
Kaiser die Móglichkeit zu schaffen, in Polen in autoritativer Form aufzutreten und 
die kirchlichen Verhältnisse selbst zu ordnen". Er spricht damit Otto, wenn auch 
innerhalb der universellen Gedankensphäre, doch gewisse realpolitische Instinkte 
zu. Die Grundlagen für diese Auffassung scheinen mir aber noch nicht so gesichert 
(vgl. auch oben Anm. 48), als daB ich Brackmann folgen möchte. — Auf jeden Fall 
bleibt die Frage nach der Bedeutung von Ottos Schritten für die deutsche Ent- 
wicklung bestehen. 


16* 


244 Hermann Aubin 


zubilden und namentlich ihre staatliche Selbstándigkeit zu er- 
langen. Während die Deutschen sich bisher im Ostraum — von 
der ephemeren Erscheinung des Großmährischen Reiches ab- 
gesehen — so ziemlich einer amorphen Masse von kleinen Gau- 
schaften gegenüber gesehen hatten, in welcher sie trotz aller 
Rückschläge doch nach ihrem Willen Ordnungen schaffen 
konnten, so ist hier nunmehr mit Gegenspielern zu rechnen, 
welche eigene aufbauende Ziele verfolgen, und welche mindestens 
als römische Christen bereits anerkannte Glieder der abend- 
ländischen Völkergemeinschaft, von der Kurie gestützt und wohl 
auch einmal gedeckt, darstellen. Die Wendenstämme zwischen 
Saale —Elbe und Oder gelangen allerdings auch jetzt noch nicht 
zu festerer und weitráumigerer staatlicher Organisation. Indem 
sie zugleich weiter im Heidentum verbarren, bleiben sie Objekt 
nur der Geschichte. Drei Kraftgebiete aber treten hervor, 
welche teils von deutsch-abendländischer Zivilisation aufgesäugt, 
teils auch aus anderen, nordischen wohl und oströmischen 
Wurzeln Säfte ziehend, untereinander und auch schon mit den 
Deutschen in die Auseinandersetzung um den Lebensraum ge- 
raten, welcher bislang die äußere Sphäre des deutschen Grenz- 
raumes im Osten gewesen war: Ungarn, Böhmen und Polen. 

Mit dem Worte von der Auseinandersetzung um den Ost- 
raum aber ist das Schlagwort gegeben, unter dem von nun an 
die Geschichte der deutschen Ostgrenze steht. 

Am frühesten hat das Herrenvolk der Magyaren ein festes 
Staatswesen aufzurichten verstanden. Die Auseinandersetzung 
mit ihm ging um zwei Ziele: Ein großes, nämlich die Einbe- 
ziehung oder Festhaltung ganz Ungarns innerhalb des äußeren 
Reichsgebietes. Das Lehnsrecht bot jetzt für ein solches Ver- 
hältnis eine sehr geeignete Form. Aber trotz aller Bemühungen 
der Salier, welche diesem Grenzabschnitt sich zuwandten, war 
es nur von kurzem Bestand. Das andere Kampfobjekt war be- 
scheidener: Der Grenzverlauf des Markengürtels. Schon im 
10. Jahrhundert ist diese Grenze im großen ganzen abgeklärt“. 


8 Die Erläuterungen z. Hist. Atlas d. österr. Alpenländer, Abt. I, bisher 4 Teile 
1906—1929, geben das Material im Einzelnen. S. bes. 1. T., S. 199, 2. T., S. 15 ff., 
4. T., S. 350 ff. Die Einzelheiten bringen interessante Beiträge zu dem Problem der 
Herausbildung der Grenzlinie aus dem Grenzs aum, für die allgemeine geschicht- 
liche Ansicht indessen sind außer der gleich im Text zu erwähnenden und der unten 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 245 


Grob, aber im Wesen nicht unrichtig, kann man sie mit dem 
Rand des Alpenlandes gegenüber der Tiefebene bezeichnen. 
Nur dort, wo die groBe VólkerstraBe entlang der Donau nach 
Ungarn hineinführte, ging der Kampf noch im 11. Jahrhundert 
um das noch siedlungsarme aber siedlungsfreundliche Gelände 
weiter, in welches die deutschen Kolonisten nach Überwindung 
der Naturscheide des Wienerwaldes und Manhartsberges hinab- 
stiegen®?. Hier ist es das Reich selber, das die Grenze vorträgt, 
das die Eroberungen nach erprobter Praxis als neue Marken 
einrichtet und kirchliche Pastorisierung wie deutsche Ansiedlung 
einleitet®®. Für sein Besitzrecht beruft es sich ausdrücklich auf 
die Eroberung durch das Schwert, ohne jede andere Moti- 
vierung“, und wieder verfügt der König dementsprechend über 
den ganzen Grund und Bodens. Zwischen 1030 und dem Ende 
des Jahrhunderts schwankt der Grenzverlauf um die nasse 


8. 267 vorgebrachten zeitweiligen Verschiebung der niederósterr.-ungar. Grenze 
nur noch das Vortragen der Krainer Grenze gegen Kroatien im 12. u. 13. Jh. über die 
untere Gurk und an die obere Kulpa und seit dem 14. Jh. im Gottscheer „Ländchen“, 
weil es von dem Vorrücken der z. T. deutschen Kolonisation hervorgerufen war 
und von Edelherrengeschlechter letzten Endes zugunsten des Deutschen Reiches 
besorgt wurde. Umgekehrt ist auch ein Verlust an Territorium im Gottscheer Bezirk 
dadurch verursacht worden, daB im 16. u. 17. Jh. die wirtschaftliche Nutzung des 
Grenzwaldes von der anderen Seite her vordrang (A. Mell, D. bist. u. territ. Ent- 
wicklung Krains (1898) u. L. Hauptmann in den Erläuterungen 1, 4 passim). 

a S. M. Vanscsa, Gesch. Nieder- u. Oberösterreichs 1 (1905), S. 199ff. 

5 Das unter Konrad II. zeitweise verlorengegangene Gebiet zwischen Fischa 
und Leitha wird 1043 v. Heinrich III. als eine Mark unter eigenem Markgrafen orga- 
nisiert, welche erst zwischen 1051—1067 an die Babenberg. Markgrafen der Ostmark 
fällt. Sie bildete auch einen Zehntbezirk des Marienstiftes in Hainburg für sich. 
S. Thausing, Die Neumark Österreich, Forsch. z. dtschen Gesch. 4 (1864), S. 35öff. 
u. Erläuterungen 1, 2, S. 183. — Auch das v. Salomon v. Ungarn an Heinrich IV. 
abgetretene, wohl bald wieder verlorene predium östl. d. Leitha (St. 2782, a. 1074) 
muß als Mark angesprochen werden, wenn auch auffällt, daB die Verpflichtung zum 
Burgwerk ausdrücklich als Gegenleistung für kgl. Landschenkung begründet wird. 

s DH III. 277, a. 1051... regionis in finibus Ungarorum gladio ab hostibus 
adquisitae. 

5 In beiden Neumarken fallen wieder außergewöhnlich umfangreiche Land- 
schenkungen der Könige auf, die bis 100 und 150 Hufen gehen. DH 111.141, a. 1051 
sieht vor, das ein nuntius des Kónigs das Areal anweisen werde. Als schon vor- 
handene Grundbesitzer kommen in diesen Urk. nur solche vor, von denen es deutlich 
ist, daB sie eben erst vom Konig beschenkt worden sind, sodaD der ganze Boden zu 
dessen Verfügung zu stehen scheint, auch wo er schon ältere Siedlungen trägt, wie 
in $t. 2782. Vgl. dazu oben S. 237 Anm. 29. 


246 Hermann Aubin 


Leitha—March-Linie hin und her, auf welcher er dann feststebt. 
Zur selben Zeit ist entschieden, daß Ungarn sich dem Vasalli- 
tätsverhältnis entzogen hat. Die äußere Hobeitssphäre des 
Reiches ist damit fortgefallen, die Markengrenze ist zur Reichs- 
grenze geworden. Indem die Marken dank der starken Ein- 
wanderung, welche die staatliche Macht unterbaut, einen raschen 
kulturellen Aufschwung nehmen, steigen sie auf die Stufe des 
deutschen Binnenlandes hinauf und verlieren mit dem Mark- 
charakter schon im 12. Jahrbundert zum größeren Teil auch 
deren Namen. Hier also grenzt nun unmittelbar das engere 
deutsche Reichsgebiet an das Ausland. Der Prozeß der Grenz- 
bildung ist in den Grundzügen schon abgeschlossen. Daß dies 
in diesem Abschnitt so früb geschehen ist, dafür wird man an- 
führen dürfen, daß Deutschland hier einem besonders zeitig 
konsolidierten Staatswesen mit eigener Kirche gegenüberstand, 
das über einen geographisch gut zusammenhängenden Raum 
verfügte. Das brachte den deutschen Vormarsch an der Marken- 
grenze zum Stehen. 

Der Fall Ungarns stellt nur die eine Möglichkeit des Ergebnisses 
dar, welche die Auseinandersetzung um den ostmitteleuropäischen 
Raum zwischen dem vordringenden deutschen Einfluß und den in 
Bildung begriffenen Ostnationen zeitigen konnte. Einen anders 
gearteten Fall bietet Böhmen mit Mähren. Geographisch in bezug 
auf die räumliche Geschlossenheit und die Naturgrenzen nicht 
minder zur Eigenentwicklung prädestiniert wie Ungarn, aber viel 
weiter nach Westen vorgeschoben, sind diese Länder völlig in 
das deutsche Reich hineingezogen worden. Wir beobachten 
den Aufstieg, den sie innerhalb der äußeren Hoheitszone Schritt 
für Schritt von der Stufe des Tributärstaates über eine als 
Lehnsverhältnis aufgefaßte Abhängigkeit zum Reichsfürsten- 
tum und endlich zur Kurwürde vollziehen. In der Frühzeit hat 
es an Versuchen, die deutsche Oberhoheit abzuschütteln, nicht 
gefehlt. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts tritt Böhmen 
zeitweise als ernster Bewerber um eine Führerstellung unter 
den Westslawen an die Stelle Polens. Die Zugehörigkeit zur 
deutschen Kirche muß demgegenüber als ein besonders starkes 
Band angesprochen werden, welches Böhmen fester in der 


56 Österreich wird 1156, die Mark Steier 1180 zum Herzogtum erhoben. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 247 


deutschen Einflußsphäre erhielt. Dazu kam der Übertritt 
deutscher Ritter, die Niederlassung deutscher Mönche und 
Chorherren, aus welchen Anfängen allmählich die starke bäuer- 
lich-bürgerliche Einwanderung des 13. Jahrhunderts hervor- 
ging, die dem Lande mehr und mehr einen deutschen Kultur- 
charakter gegeben hat, bis Prag nicht nur deutscher Kaisersitz, 
sondern auch erstes Zentrum hoher deutscher Bildung geworden 
ist. Die national-tschechische Reaktion der Hussiten droht zwar 
die Länder vom Reiche abzureißen, sie sind dabei, sich aus dem 
Reiche allmählich hinauszuleben, da auch Habsburg im Terri- 
torialinteresse den Zusammenhang nicht fördert, bis es im 
18. Jahrhundert neuerlich Anlaß gewinnt, die böhmische Kur- 
würde zur Anerkennung zu bringen, wodurch Böhmens Ver- 
bleib im Reiche entschieden ist. 

Für die Führung der Ostgrenze des alten Reiches in diesem 
Abschnitt ergibt sich daraus: Die Marken gegen Bóhmen haben 
schon früh diesen Charakter abstreifen können”. Sie werden 
etwa im 11. Jahrhundert bereits Binnenland, und die Grenze des 
eigentlichen Reichsgebietes rückt an den Ostrand des bóhmisch- 
mährischen Komplexes. Mähren, obwohl seit dem Ende des 
12. Jahrhunderts Markgrafschaft genannt®®, ist nie eine Mark 
im eigentlichen Sinne gewesen. Im Abschnitt nórdlich der 
Thaja stammt die Reichsgrenze also nicht von einer Mark, 
sondern von einem ehemaligen Vasallenstaate, der fest mit dem 
Reiche verwachsen ist. Damit ist auch hier die äußere Hoheits- 
zone des Reiches verschwunden. Sie ist zu eigentlichem Reichs- 
territorium geworden. Daß der bóhmische Länderkomplex 
allerdings innerhalb des Reiches doch noch eine gewisse Sonder- 
stellung eingenommen hat, ging aus der vorhin gegebenen 
Übersicht über seine Geschichte hervor. Und man kónnte das 
aus den besonderen Verfassungsverháltnissen, dem eigenen Erb- 
folgerecht der Dynastie und ähnlichem weiter belegen®. 

9 R. Kötzschke, Sorbische Marken (s. oben S. 237 Anm. 28) S. 93 sieht den 
Markencharakter des Reichsgebietes an der bóhmischen Grenze schon seit Hein- 
rich I. als erloschen an. Indessen hat noch Heinrich III. schwer gegen Böhmen 
gekämpft, 1056 (DH III. 376) rechnet er mit der Nutzung eines Gutes in der Baben- 
berg. Ostmark, quae contra Boemos quoquomodo haberi et conquiri potest. 

95 Wohl 1182, s. J. Ficker, Vom Reichsfürstenstande, 1 (1861), $8 71 u. 167. 


G. Pirchan, Böhmen und das Reich. Sammlung gemeinnütziger Vorträge, 
hgb. v. d. Ver. z. Verbreitg. gemeinnütziger Kenntnisse in Prag, Nr. 621 (1931), S. 7. 


248 Hermann Aubin 


In einer dritten Variation hat die Geschichte dasselbe Thema 
im Falle Polens behandelt. Kein Zweifel, daB Polen vom An- 
fang seines eigenen Staatslebens im 10. Jahrhundert an, weit 
schwächer in die deutsche Sphäre hineingezogen worden ist, 
wie Bóhmen. Sehr schmal war die ráumliche Berührung des 
Reiches mit dem áltesten Herzogtume, und sie vollzog sich nicht, 
wie Bóhmen gegenüber, unmittelbar vom deutschen Binnenlande 
aus, sondern durch Vermittlung des eben erst eroberten Marken- 
bodens der Lausitze. Weiter nórdlich war zwischen Deutsch- 
land und Polen zunächst noch die Zone der in der Völkerschafts- 
verfassung verharrenden Elbslawen gelegt. Weit nach dem 
Osten hinwiederum sich ausdehnend, entzog sich Polen dem deut- 
schen Zugriffe anders, als es Böhmen vermochte. Die erste Tribut- 
verpflichtung, welche ihm von dem großen Markgrafen Gero auf- 
erlegt wurde, betraf daher auch nur das Land bis zur Warthe"!, 
obgleich Miescos Herrschaft viel weiter nach Osten reichte. Ob 
später das ganze Polen als tributär angesehen wurde, haben wir 
meines Wissens keine Nachrichten. Indessen ist, durch den 
Treueid, der Herzog von Polen persönlich auf eine gleiche Stufe 
mit dem von Böhmen getreten. Ja, während die deutschen 
Herrscher den Prschemysliden zeitweise den auszeichnenden 
Königstitel als Belohnung zugestanden, haben sie ihn den 
Piasten immer verweigert, bei denen er allerdings auch das 
Zeichen ihrer Emanzipation von deutscher Oberhoheit war. 

Gleich wie in Böhmen ist der deutsche Einfluß anfangs auch 
in Gestalt der Kirchenorganisation aufgetreten. Doch ist dieser 
Zustand sehr bald der Ablösung von der deutschen Kirche ge- 
wichen. Durch die Konnivenz Ottos III. trat Polen derart in 
Hinsicht der kirchlichen Selbständigkeit auf die gleiche Stufe, 
welche zur selben Zeit Ungarn erlangt hatte, und genoß alle 
Vorteile eines nationalen Kirchenwesens bei seinem Streben, 
sich der deutschen Oberhoheit zu entziehen. Ob Otto diese aus 
der Hand gegeben, ist nicht zu sagen“. Sie ist jedenfalls bald 


% Vgl. C. Wersche, Das staatsrechtl. Verbältnis Polens z. Reich während des 
MA. Zschr. d. hist. Gesellschaft f. d. Provinz Posen, 3. Jg. (1888) S. 247ff. u. 375ff. 

61 5. oben S. 241 Anm. 38. 

*? Daß die weltliche Seite der Vorgänge von Gnesen im Jahre 1000 dringend einer 
Neubearbeitung bedarf, ist von Schramm a. a. O. 2, S. 14 ausdrücklich ausgesprochen 
worden u. geht ebenso aus Brackmanns Darstellung, Erneuerungsgedanke S. 17, hervor. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 249 


wieder begründet worden und dann bis ins Ende des 12. Jahr- 
hunderts anerkannt und wirksam geblieben. Das bedeutet 
für die Gestaltung der deutschen Ostgrenze, daB dem an der 
Elbe endenden Binnenlande und der bis an die Bober vor- 
gerückten Mark ein ganz auBerordentlich tief nach Osten vor- 
dringender Baum vorgelagert war, in welchem das Reich mehr 
oder minder seine Hoheit zur Geltung bringen konnte. Die äußere 
und die innere Reichsgrenze sind hier ganz besonders weit von- 
einander entfernt gewesen, wenn man sich überhaupt eine be- 
stimmte Linie als äußere Reichsgrenze vorstellen darf. 
Ungarn hat sich aus einer ähnlichen, allerdings staatsrecht- 
lich nur kurze Zeit ebenso geregelten Lage früh und gänzlich 
zur Selbständigkeit befreit, Böhmen ist umgekehrt aus ihr 
völlig ins Reich hinübergeglitten. Polen hat die Mitte beider 
Entwicklungen gehalten. Es wurde zerteilt. Die Auseinander- 
setzung zwischen dem deutschen und dem eigenständigen sla- 
wischen Wesen hat sich in diesem Abschnitt mitten im alten 
Polenreich abgespielt und eine Scheide hindurchgelegt, welche 
dann zur deutschen Reichsgrenze geworden ist. Denn nachdem 
im 12. Jahrhundert Polen in mehrere Linien zerfallen war, sind 
die von Friedrich Barbarossas Waffen zur Anerkennung ge- 
brachten schlesischen Piasten im Laufe des 13. Jahrhunderts 
gänzlich auf die deutsche Seite übergetreten®. Das übrige 
Polen aber ist in der Zeit der Schwäche des deutschen König- 
tums ebenso gänzlich aus dem Reichsverband ausgeschieden*?*, 
Kein Akt hat hier die deutsche Ostgrenze gezogen. Fast bis 
in die Mitte des 14. Jahrhunderts war in diesem Abschnitt die 
deutsche Ostgrenze vóllig offen, in Frage gestellt, bis sich eine 
neue gebildet hatte, die nun Schlesien von Polen trennte und 
es dem Reiche zuschlug. Auch dies hat sich nicht mit einem 
Schlage, sondern in Verhandlungen binnen etwa 50 Jahren 
abgespielt. Während dieses halben Jahrhunderts gehörten 
Teile Schlesiens schon in der neuen Form zum Reich, andere 


9 Zum Folgenden diene als Führer: A. Kutscha, D. Stellung Schlesiens 2. 
Deutschen Reich im MA., Hist. Stud. hgb. v. E. Ebering, H. 159 (1924). 

&a Noch im Jahre 1300 erinnert sich König Albrecht I. der Oberherrschaft, 
wenn er Wenzel II. von Böhmen die Erlaubnis, die Erbtochter von Kleinpolen 
zu ehelichen, unter der Bedingung erteilt, daß er die Lehnshoheit des Reiches. 
über deren Erbherrschaft anerkenne. B. Reg. Imp. (1844) 294 vom 29. Juni 1300.. 


250 Hermann Aubin 


hóchstens noch in der alten, welche aber eben schon lange 
nicht mehr wirksam war. Es ist bezeichnenderweise auch nicht 
das Reich unmittelbar, welches hier die Grenze gebildet hat. 
Nur sporadisch macht dieses einen lehnsherrlichen Anspruch 
an das führende der schlesischen Teilfürstentümer, das Herzog- 
tum Breslau, geltend, um ihn selber an Böhmen abzutreten“. 
Vielmehr ist es, äußerlich gesehen, dieser erstarkende bóhmische 
Staat der Prschemysliden und Luxemburger, welcher einen der 
zahlreichen Piastenherzoge nach dem anderen zur Lehnshuldi- 
gung veranlaßt und so Schlesien als Vasallenland an sich zieht. 
Auf dem Umwege also über die bóhmische Lehnshoheit wird 
Schlesien in der neuen Form und dauernd mit dem Reiche 
verbunden. Damit rückt noch eindrucksvoller vor unser Be- 
wußtsein, daB die alte deutsche Reichsgrenze nördlich der 
Thaja auf einer sehr langen Strecke — auf einem guten Drittel 
ihres Gesamtverlaufes — in Wirklichkeit die Grenze eines in 
das Reich eingelagerten Regnums, um mich des Ausdrucks von 
Walter Vogel zu bedienen®®, gewesen ist. Dieses hat mit seiner 
Anziehungskraft schon unter Ottokar II. im 13. Jahrhundert 
das Herzogtum Breslau zur engen Anlehnung veranlaßt“, dann 
zwischen 1329 und 1336 den Großteil des übrigen Schlesiens 
allmählich durch Verträge sich angegliedert und gegen Polen 
gesichert”. 1348 fanden die Akte durch die feierliche Inkor- 
poration aller dieser Teile Schlesiens in die Krone Böhmens 


*4 Es liegt darüber nur die Urk. Rudolfs v. Habsburg vor (C. Grünhagen u. 
H. Markgraf, Lehns- u. Besitzurk. Schlesiens 1, S. 63, Nr. 3, mit welcher er seinem 
Schwiegersohne Kg. Wenzel II. v. Bóhmen das durch den Tod Hzg. Heinrichs IV. 
dem Reiche ledig gewordene Herzogtum Breslau verleiht. S. z. Urk. Kutscha S. 24, 
Anm. 13. Ob Hzg. Heinrich erst wegen der Niederlage auf dem Marchfelde Vassall 
des Reiches in dem neuen, verstärkten Sinne, wie man nun es auffaßte, geworden 
ist, so wie es Kutscha darstellt, haben wir keinen Beweis. — Danach greift nur noch 
einmal in besonderer politischer Konstellation Ludwig d. B. mit lehnsherrlichen 
Ansprüchen ein, indem er an das alte Lehnsband erinnert (Grünhagen u. Mark- 
graf S. 65, Nr. 7). Kutscha spricht S. 36 vielleicht zu bestimmt von einer neuen 
Belehnung. 

as W. Vogel, Politische Geographie (Aus Natur u. Geisteswelt, Bd. 634, 1922) 
S. 63. 

66 Die staatsrechtlichen Formen dieses Verhältnisses sind unklar, s. Kutscha 
S. 22f. 

*' Dies im Trentschiner Vertrag v. 1335, s. Grünhagen u. Markgraf S. 3, Nr. 1, 
erneut 1339, S. 4, Nr 2. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 251 


durch Karl IV. als Römischen König ihren Abschluß®. Erst 
1368 allerdings fielen ihm die letzten Fürstentümer als Heirats- - 
gut zu®., 

Die Anziehungskraft, welche der aufblühende böhmische Staat 
auszuüben vermochte, in Anschlag gebracht, sie ist doch nicht der 
letzte Grund für die Ablösung Schlesiens von Polen und sein 
Verharren im Reiche gewesen. Bei dessen Schwäche im 13.Jahr- 
hundert bedeutet die Haltung der schlesischen Piasten eine 
Option für die deutsche Kultur, und diese hätte bei aller persön- 
lichen Neigung einzelner Herzoge doch kaum sich durchzusetzen 
vermocht, wenn nicht in eben diesem Jahrhundert die deutsche 
Kolonisation Schlesiens erfolgt wäre. Die polnische Forschung 
hat sich in den letzten Jahren eifrig bemüht, das Phänomen 
der ländlichen und städtischen Kolonisation Polens, in welchem 
Schlesien stets mitbegriffen gedacht wird, als einen Vorgang 
innerer Wirtschafts- und Sozialentwicklung hinzustellen, den 
das Land mit einer gewissen Phasenverschiebung hinter West- 
europa, aber doch im Zuge eines gesamteuropäischen, stufen- 
weisen Fortschrittes aus eigenen Kräften getan habe. Diese 
Anschauung, in ihren Einzelbeweisen nicht zu halten®®, über- 
sieht vor allem auch die Schlüsse, welche aus den Grund- 
tatsachen des Erlebens im Ostraum zu ziehen sind. Sie muß 
versagen, fordert man von ihr eine Erklärung der eben be- 
sprochenen Option, welche letzten Endes bedeutet, daB die ko- 
lonisatorische Arbeit der Geistlichen, Ritter, Bürger und Bauern 
Schlesien nicht nur dem deutschen Volksboden hinzugefügt, 
sondern auch dem Reiche erhalten hat. 

Kein Grenzabschnitt weist ein solches Hin und Her der 
Kräfte auf, wie der nördlich von Schlesien anschließende. Es 
ist der Raum von der Elbe bis jenseits der Oder und bis zum 
Meere, in welchem sich das Slawentum nicht mehr zu größeren 
Staatenbildungen entwickelt hat, wo sich daher das deutsche 
Vordringen in den Kampf um die kleinen Gauschaften auf- 
löste. Der deutsche Vormarsch hat hier mehrmals empfind- 


es Ebenda, S 8, Nr. 4. 

9 Nämlich Jauer mit Schweidnitz, welche allerdings für die Grenzbildung des 
Reiches nicht in Betracht kommen. 

„ S. jetzt die Kritik von R. Koebner, Deutsches Recht u. deutsche Kolo- 
nisation in den Piastenländern, VSWG 25 (1932), S. 313ff. 


252 Hermann Aubin 


liche Rückschläge erlebt. Zeitweise trat ihm zwischen Elbe 
und Oder der polnische Wettbewerb entgegen. Polen versuchte 
sich sogar in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der 
Zivilisationsaufgabe der Mission, wozu es allerdings deutsche 
Kräfte heranholen mußte, die Otto v. Bamberg nach Pommern 
führte“. Von der See her jedoch drang der dänische Einfluß 
ein. Am Ende hat sich von der Basis der Altmark an der 
Elbe aus das Zwischenglied der Mark (Mark Brandenburg und 
Neumark) über die umstrittene Interessensphäre so weit nach 
Osten ausgedehnt, bis sie an dem polnischen Widerstande zum 
Stillstand kam und sich hier die Reichsgrenze niederschlug. Dem 
Namen nach ist sie Markengrenze, wie die zwischen der Donau 
und der Adria. In der Tat aber handelt es sich um eine andere 
Erscheinung. Nicht mehr das Reich ist es gewesen, das hier 
durch Markensetzung seine Grenze gebildet hat, wie es dort 
unten im 10. und 11. Jahrhundert geschehen war. Sondern 
jetzt im 12. und 13. Jahrhundert tritt das Territorium auf den 
Plan. Als Territorium, mit dessen Eigeninstinkten, hat sich 
die Mark Brandenburg nach Osten ausgedehnt. Daher werden 
auch keine neuen Marken mehr vorgeschoben, sondern die Er- 
werbungen mit der alten Mark zu einem Territorium vereinigt. 
Das Territorium wirkt hier für das Reich grenzbildend. Aller- 
dings steht dahinter die noch lebendige Anschauung, daß dem 
Reiche alle Eroberung auf fremdem Boden zustehe. Das Terri- 
torium ist also gewissermaßen Treuhänder des Reiches. Das 
Reich aber nimmt die Neuerwerbungen des Territoriums noch 
in seinen Verband auf und in den seltenen Augenblicken, da 
es in der Stauferzeit hier noch eingreift, hat es sie wohl auch 
ausdrücklich gedeckt. 

Am längsten ist der pommersche Küstenstreifen ein um- 
kämpftes Vorfeld des deutschen Reiches geblieben. Schon unter 
Otto dem Großen glaubte man, die deutsch-christliche Organi- 
sation bis an die Odermündung vortreiben zu können“, aber 
erst im 13. Jahrhundert sind hier die letzten Stücke von dem 
Treibeis der slawischen Kleinherrschaften durch die über- 


” MG. SS. XII, S. 778f. 

71 A. Hofmeister, Der Kampf um die Ostsee, vom 9. bis 12. Jh., Greifswalder 
Universitátsreden 29, 1931. 

72 S. oben S. 240 Anm. 36. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 253 


geworfene brandenburgische Lehnshoheit an der Küste des 
deutschen Staatswesens landfest gemacht worden”. Wie im 
Falle Schlesiens ist es also eine Mittelsmacht, hier ein aus der 
Mark erwachsenes Territorium, welches die endgültige Aus- 
bildung der Reichsgrenze herbeigeführt hat. Diese Grenze ist 
dabei 1269 mit Ostpommern?* beträchtlich über die Oder 
hinüber in die alte polnische Interessensphäre vorgeschoben 
worden. Die Herzóge von Pommern treten 1320 unmittelbar 
als Fürsten unters Reich”®, der Bischof von Kamin, der seine 
Zwischenstellung und die Rivalitát des deutschen Magdeburg 
und des polnischen Gnesen ausgenützt hatte, um die Unter- 
ordnung unmittelbar unter den Päpstlichen Stuhl zu erreichen“é, 
wird gleichfalls im 14. Jahrhundert schon als Reichsfürst an- 
gesehen und empfängt im Beginn des 15. Jahrhunderts die 
Belehnung vom deutschen Konig". Mit diesen Akten wird 
dem pommerschen Küstenstreifen zugelegt, was ihm etwa noch 
zum Charakter des eigentlichen Reichsgebiets gefehlt hat, und 
damit ist auch in diesem Abschnitt von einer Reihe paralleler 
Scheidelinien verschiedener Wertigkeit innerhalb des Grenz- 
saumes die äußerste zu der nunmehr einzigen, eindeutigen 
Grenze des alten Reiches geworden. | 

Und endlich die letzte Etappe dieser Grenze, der weite 
Bogen, mit welchem sie zeitweise Preußen und die baltischen 
Landschaften bis zur Narowa umspannte, eine Strecke, welche 
allein die gleiche Länge aufweist, wie die dauerhaftere Linie 


73 Daß die brandenburg. Lehnshoheit über Westpommern älter ist als die 
Belehnung durch Friedrich II. v. 1231 (Krabbo, Reg. d. Mgfn. v. Brandenburg 605) 
hat Rachfahl, Der Ursprung des brandenburgisch-pommerschen Lehnsverhältnisses, 
Forschung. z. Brandenbg. u. Preuß. Gesch. 5 (1892), S. 403ff. nachgewiesen. Er 
knüpft die Lehnshoheit unmittelbar an die Amtsgewalt der Markgrafen der Nord- 
mark an. S. des weiteren zur Wirkung der Belehnung v. 1231 Wehrmann, Gesch. 
v. Pommern, 1 (1919), S. 97ff. Auch bei Pommerns Unterordnung unter Branden- 
burg handelt es sich um einzelne Akte wie bei Schlesien. Sie können hier unmöglich 
verfolgt werden. 

% Krabbo, Reg. a. a. O. 969. 

* S, den Exkurs II v. Rachfahl a. a. O.: Übersicht über d. Entwicklung d. 
staatsrechtl. Verhältnisses Pommerns 2. dtschn. Reiche seit dem 14. Jh., u. J. Ficker, 
Vom Reichsfürstenstande 1, $ 169. 

* S. H. Krabbo, Die ostdtschn. Bistümer ... unter ... Friedrich II., Hist. 
Stud. hgb. v. E. Ebering, H. 53 (1906), S. 30ff. 

n Ficker a. a. O. $ 205. 


254 Hermann Aubin 


zwischen Ostsee und Adria insgesamt, deren einzelne Stücke 
wir abgeschritten sind. Diese Etappe ist nicht nur die jüngste, 
sondern auch so unerhört exponiert und vorgetrieben, daß sie 
unter sehr veränderten Bedingungen ins Lebens treten mußte. 

Das Motiv des unmittelbaren Schutzes für das deutsche 
Reichsgebiet spielt hier nicht mehr mit. Für die Verteidigung 
Masowiens geschieht es, daB der Orden von St. Marien ins 
Kulmer Land gerufen wird, und es ist sein eigener Entschluß, 
diese Aufgabe offensiv durch die Unterwerfung und Bekehrung 
der preußischen Heiden zu lösen. An der Düna beginnt die 
deutsche Ausbreitung als einfache Predigt des Meinhard v. Sege- 
berg, bis sein zweiter Nachfolger, Bischof Albert von Riga, 
erkennt, daß zum Schutze der Evangelisation eine christlich- 
deutsche, weltliche Herrschaft notwendig ist. In diesem letzten 
Abschnitt ist es auch nicht das Reich, das gar nicht mehr 
die Kraft dazu besitzt, sind es aber auch keine altländischen 
Territorien, welche die deutsche Ausbreitung tragen. Sondern 
neben den zu eigenstaatlicher Macht sich konsolidierenden 
Missionsbistümern?” an erster Stelle — und ihnen erst Halt 
gebend — das völlig neue und eigenartige Gebilde geist- 
licher Ritterorden”®. Im übrigen aber nehmen auch in diesem 
letzten Abschnitt noch genug der überlieferten Elemente an 
der Grenzbildung teil, und es lohnt sich, dabei zu ver- 
weilen, weil in dieser schreibfroheren Epoche die Motive und 
begleitenden Gedanken deutlicher vor Augen treten, als in 
der wortkargen Vergangenheit. Hier wird noch einmal die 
enge Verbindung anschaulich, in welcher die deutsche Reichs- 
ausbreitung mit der Heidenbekehrung und der Kolonisation 
gestanden hatte und noch stand. Über alle Anhänger des 
katholischen Glaubens müsse er, so sagt z. B. Otto IV., im 
Hinblick auf den Schwertorden in Livland, sacri palatii nostri 


77a Außer den livländischen Bistümern ist auch der preußischen zu gedenken, 
wenngleich diese im Schatten des Deutschordens noch weniger zur Entfaltung ihrer 
Landeshoheit gekommen sind, als jene. Am Anfang standen auch hier die hoch- 
fliegenden Pläne des unglücklichen Missionsbischofs Christian, der noch 1231 der 
Überzeugung war, daß das Land Preußen ihm von „Rechten und Gnaden des 
apostolischen Stuhles* zugehöre, s. E. Caspar, Hermann von Salza, 1924, S. 23. 

78 S. die schöne Charakterisierung desselben, die E. Caspar, Treitschkes be- 
rühmtes Bild sicher und bedacht unterfangend, in seiner Kónigsberger Rektorats- 
rede, Vom Wesen des Deutschordensstaates, 1928, geboten hat. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 255 


scutum halten, und deshalb besonders die Streiter Christi gegen 
die Ungläubigen in den kaiserlichen Schutz nehmen“. Fried- 
rich II. proklamiert als die liebste seiner Kaiserpflichten, zur 
Ausbreitung des katholischen Glaubens beizutragen“, und 
noch konkreter sagt sein Sohn Heinrich, daß er den Bischöfen 
von Dorpat und Riga zur Hilfe verpflichtet sei, weil sie die 
Grenzen des Reiches erweitern und die ungläubigen Barbaren 
dem Christentum unterwerfen®!, ja er nennt in einem Atem 
diejenigen, welche honorem Dei et sacri imperii in remotis 
partibus Estensis contra insultus paganorum verteidigten ?. 
Immer stehen die Sache Gottes und die Sache des Reiches eng 
beieinander. Der Heide ist zugleich der Reichsfeind. 

Hier im jüngsten Grenzabschnitt erhalten wir aber auch 
zum ersten Male eine theoretische Begründung der Ansprüche 
des Reiches auf die Ostgebiete; freilich eine, welche der Aus- 
legung, um es gleich zu sagen, nicht geringe Schwierigkeiten 
bereitet. Das große Privileg, in welchem Friedrich II. 1226 dem 
Deutschen Orden Kulmerland und die künftigen Eroberungen 
in Preußen bestätigte, beruft sich für diese Verleihungen auf 
das alte Recht, welches dem Reiche an Bergen, Ebenen, Flüssen, 
Wäldern und dem Meere zustände®®, auf ein Bodenregal also. 
Da ein solches in dem beschriebenen Umfange in Altdeutsch- 
land nicht bestand, kann hier nur eines gemeint sein, das am 
eroberten Lande erwuchs®®. Es bleibt dabei offen, ob als begrün- 


BF. Reg. Imp. 462 v. 27. I. 1212. 

9 Ebenda 1517, a. 1224. 

*! Ebenda 3991 v. 6. XI. 1224, wiederholt Reg. 3995 v. 1. XII. 1225. 

6 Ebenda 4297 v. 20. XI. 1233. 

8 Ebenda 1598, v. 1226, s. dazu E. Caspar, Hermann v. Salza, Exkurs. 

%8 Das ist auch die Auffassung E. E. Stengels, a. a. O., S. 17f. Der Wort- 
laut der Urk. ist auffallend. Ich habe keine Parallelen dazu finden kónnen, so formel- 
haft er klingt. An Flüssen und am Meere bestand auch in Altdeutschland das Regal, 
man würde in dieser Reihe noch die StraBen erwarten, welche aber bei der Bean- 
spruchung der Berge und Ebenen nicht notwendig zu nennen waren. Die Heran- 
ziehung der Wälder könnte man als einen recht summarischen Ausdruck dafür 
ansehen, daß daheim wenigstens die geschlossenen Wälder einstmals dem Könige 
gehört hatten; dann müßte die Formel allerdings auf sehr alter Überlieferung beruhen. 
An Bergen und Ebenen (planities, neben den Wäldern offenbar: bebaute Flächen) 
hat im Reiche selbst das Bodenregal nie bestanden. Im Grunde handelt es sich wohl 
nur um den durch kasuistische Aufzählung umschriebenen Begriff: Recht am ganzen 
Land. 


256 Hermann Aubin 


dender Rechtstitel einfach die Eroberung oder ein hóherer des 
universellen Kaisertums angesehen worden ist, und nur das 
ist für die Interpretation sicher, daB in diesem Jahrhunderte 
niemand mehr in dem Worte „Imperium“ der Urkunde un- 
bedingt eine Berufung auf die rómische Kaiserwürde und ihren 
universalen Geltungsbereich wird sehen wollen ; wie ja der Rechts- 
titel der Eroberung nicht zu diesem, sondern zum deutschen 
Königtum zu stellen wäress. 

Als ein neues Moment tritt aber in diesem Grenzabschnitt 
die päpstliche Konkurrenz um die Oberhoheit über die neu- 
bekehrten Heiden auf. Wir haben gesehen, wie die Kurie an 
der Ordnung des Ostraumes im Gefolge des überlegenen Kaiser- 
tums teilgenommen, dann ihre kirchlichen Interessen zur selbst- 
stándigen Anerkennung gebracht und die deutsche EinfluB- 
sphäre eingeengt hat, indem sie der Bildung eigener National- 
kirchen der Ostvólker ihre Hilfe geliehen. In der Periode nun, 
da sie, von Innozenz III. angeleitet, allgemein den Versuch 
macht, ihre Weltherrschaftsansprüche in die Tat umzusetzen, 
meldet sie sich als aktiver Wettbewerber auch um die staat- 
liche Gestaltung der baltischen Gebiete an. Die geistlich- 
weltliche Zwischenstellung der Träger der deutschen Ausbrei- 
tung, der Bischófe und der Orden, kommt ihr dabei ebenso 
entgegen, wie der auch von der kaiserlichen Seite ge- 
flissentlich betonte  Missionscharakter des deutschen Vor- 
gehens. Erich Caspar hat vor acht Jahren in feinster Ur- 
kundenanalyse die schwebende Zwischenstellung zwischen der 
Kurie und dem Kaiserhofe dargelegt, in welcher unter 
diesen Voraussetzungen Hermann v. Salza die Gründung des 
Deutschordensstaates in Preußen sorgfältig vorbereitet und 
durchgeführt hat. Die gleichen Bedingungen herrschten 
in Litauen, Kurland, Livland und Estland. Die deutsche 


Wenn es sicher wäre, daB die karolingische und die nächstfolgende Zeit kein 
derart umfassendes Bodenregal am eroberten Lande gekannt hätten, wie es die 
Ansicht von Dopsch ist (s. oben S. 237 Anm. 29), dann hätten wir in dem Privileg 
von 1226 einen Beweis dafür, daß der Gedanke des universalen Imperiums die 
deutsche Ausbreitung nach dem Osten gefördert, indem er ihr eine ideologische 
Begründung für ein unbeschränktes Eroberungsrecht gegeben hat. Indessen scheint 
mir, wie ich oben sagte, jene schmalere Ausgangsbasis des Eroberungsrechtes keines- 
wegs genügend gesichert, um darauf einen Schluß aufzubauen. 

3 S. oben S. 255 Anm. 83. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 257 


Reichsgrenze erscheint uns hier zeitweise in einem neuen Sinne 
offen, weil die pápstlichen Hoheitsansprüche die Konsolidierung 
der deutschen Reichsherrschaft hinderten®”. In den 20er und 
30er Jahren des 13. Jahrhunderts ließ der Papst Teile jener 
Landschaften unmittelbar von sich aus verwalten® und 
darüber hinaus nahm er ein Obereigentum in Anspruch? 


#7 Diese Vorgänge erforderten einer eigenen zusammenhängenden Behandlung. 
Im allgemeinen s. außer den Landesgeschichten A. Hauck, Kirchengesch. Deutsch- 
lands, Bd. 4 (1913) S. 655ff. und für den Abschnitt Livland die gleich zu nennende 
Abhandlung von Fieberg. | 

ss H. Fieberg, Wilhelm v. Modena, ein päpstlicher Diplomat d. 13. Jhs. Phil. 
Diss. Königsberg (Maschinenschr.) 1926, S. 8ff. Der Anfang ist ein zufälliger: Der 
Legat greift 1225 als Schiedsrichter zwischen dem Schwertritterorden und den Dänen 
ein und es bleiben gewisse Gebiete Livlands in seiner Hand, aus denen er erkennbar 
die Deutschen wie die Dänen fernhalten will. Aber schon 1222 ist Honorius III. wie 
ein Landesherr aufgetreten, indem er den iudicibus in Livonia befohlen hat, die sich 
ansiedelnden Russen zur lateinischenObservanz zurückzubringen, Pothast Reg. Pont. 
6783. Formell aufgegeben hat die Kurie dieses Stückchen Kirchenstaat erst, als 
Gregor IX. 1238 die Hilfe der Dänen gegen Friedrich II. gewinnen wollte. Im 
Kampfe mit dem Kaisertum verlor auch sie ihre territorialen Außenposten. 

8 Der Anspruch des Papstes auf Oberherrschaft über alle christlichen Neu- 
erwerbungen steckt schon etwa in der Bestätigung der Landesteilung zwischen 
dem Bistum Riga und dem Schwertritterorden, Reg. Pont. 4104 f. Vgl. Heinrich 
v. Lettland, MG. SS. 23, S. 258 f. Dieser deutsche Priester, welcher von der Auf- 
tragung des Landes an den Kaiser berichtet hat, betont auch bei dem Teilungsrezeß 
ausdrücklich die Herleitung des bischöflichen Verfügungsrechtes vom Reiche und 
scheint mit dem — offenbar vom Orden herbeigeführten — Eingreifen des Papstes 
keineswegs einverstanden. — Zu denken ist auch an die päpstliche Privilegierung 
des Preußenmissionärs Christian und noch mehr an die des Deutschordens, welche 
nicht nur wegen dessen geistlichen Charakters erfolgte, sondern auch weil der Papst 
über jene Länder ein Verfügungsrecht beanspruchte. 1229 unterstellte Herzog 
Swantopolk von Pommerellen sein Land dem Schutze des Papstes (Pommerll. UB. 
Nr. 44, a. 1231). Gleichzeitig nahm der päpstliche Vertreter Balduin v. Alna die 
Unterwerfung der Kuren beiderseits der Windau entgegen, welche terras suas, se 
et obsides suos ... ad manus domini papae übertrugen (Liv. UB. Bd. 1, Nr. 103; 
in der sost parallelen Urk. 104 fehlt dieser Satz). Indessen handelt es sich hier 
nur um eine Oberherrschaft des Papstes. Tatsächlich wurden die Kuren dem Hoch- 
stift, der Stadt Riga und dem Orden als steuerpflichtig unterstellt (vgl. unten 
8. 258, Anm. 91). In dieser Form, welche übrigens schon um 990 in bezug auf 
Polen angewendet worden war (s. oben S. 243, Anm. 47) wurde die päpstliche Ho- 
heit im Baltikum auch nach dem Verzicht auf ein eigenes Verwaltungsgebiet noch 
weiter ausgedehnt. Mindowe v. Litauen bekannte 1253, daß er personam, regnum 
et omnia bona ... iurisdictioni ac protectioni apostolicae sedis unterworfen habe 
(ebenda, Nr. 252), durch welchen er zum Kónig von ganz Litauen bestellt worden 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 17 


258 Hermann Aubin 


Das Konzept eines baltischen Kirchenstaates schien vorzu- 
schweben“. 

Es ist bekannt, daß der Kampf mit dem Papsttum allgemein 
die Gedankengänge der imperialen Theorie geschärft hat. So 
sind erkennbar auch in diesem Sonderfall der Ostausbreitung 
die deutschen Herrscher durch den Wettbewerb mit den ku- 
rialen Bestrebungen angetrieben, ihre Ansprüche und Rechte 
stärker zu formulieren, vielleicht auch, den Missionscharakter 
des deutschen Vorgehens zu betonen. Wenn nun die beiden 
Spitzen des Abendlandes die Eroberungen im Osten als ihrer 
Herrschaft unterworfen ansahen, so bestand doch ein bezeich- 
nender Unterschied. Wieder E. Caspar hat schon den Gegen- 
satz des reinen Eroberungsanspruches auf der kaiserlichen Seite 
und der päpstlichen Missionstheorie auf der anderen heraus- 
gestellt, welche den unterworfenen Neuchristen ihre volle Frei- 
heit garantieren wollte“ 1. Es kommt hinzu, daß Alexander IV. 


sei. (286, a. 1255). So war ein weitgedehntes Gebiet päpstlicher Oberherrschaft 
im Umkreis der Ostsee entstanden. Das Papsttum hielt überhaupt den Anspruch 
aufrecht, über alle Heidengebiete zu verfügen (Reg. Pont. 17769, a, 1260). 

** Am schárfsten hat das Fieberg a. a. O. hervorgehoben. Man wird seiner 
Ansicht zustimmen, wenn man bedenkt, daß solches Streben nach einer von der 
weltlichen Herrschaft freien Sphäre — oder in welcher die weltlichen Herren nur 
die Beauftragten der Kirche innerhalb genau bestimmter Grenzen sein sollten — 
von der Kirche verfolgt wurde, seit die Kluniazensische Reformbewegung dieses 
Ideal für die Verwaltung der Temporalien aufgestellt hatte. (Für Deutschland s. 
namentlich H. Hirsch, Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit, 1918.) 
Eine äußerste Form seiner Ausprägung hat in einem vielleicht zu konkreten Bilde 
von dem Kirchenstaate des Reformklosters von St. Victor in Marseille A. Brack- 
mann, Die politische Wirkung der Kluniazensischen Bewegung, HZ. 139 (1929) 
gezeichnet. Eine andere jüngere ist die Übergabe des von den Kreuzfahrern er- 
oberten Jerusalem an den Patriarchen, von dem es Gottfried v. Bouillon nur pro- 
visorisch als „Beschützer“ erhielt (S. R. Röhricht, Gesch. d. ersten Kreuszuges, 
1901, S. 196f., 2171). Dieser Kluniazensische Gedanke, welcher alle weltliche 
Herrschaft zu zersetzen gedroht, hatte allerdings im 13. Jh. seine Kraft schon 
vóllig verloren. Aber es ist durchaus nicht abzuweisen, daB er unter den günstigen 
Bedingungen des Neulandes noch einmal nach Anerkennung gerungen hätte, indem 
er sich zugleich dem allgemeinen Weltherrschaftsanspruche der Kurie als eine 
besondere Form darbot. 

*! Caspar a. a. O. S. 21, Balduin v. Alna hat allerdings gegen diesen päpst- 
lichen Grundsatz verstoBen, wenn er erlaubt, daB die Kuren, denen er selber libertas 
zugesagt hatte, solange sie nicht vom christlichen Glauben abfielen (Liv. UB. Bd. 1, 
Nr. 103, a. 1229), den Deutschen steuerpflichtig wurden (ebenda, 105, vgl. auch 
oben S. 257, Anm. 89). 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 259 


deutlich erklárt, daB die neuen Herrschaftsansprüche nur gegen- 
über Heiden begründet werden®®. Vor christlichen Ländern 
fallen sie nieder. Hier also scheiden sich die Anschauungen, 
welche die Kurie und das Reich von der Neuordnung des Ost- 
raumes hegten, und es tritt wieder einmal das selbständige sae- 
culare Element zu Tage, welches trotz aller Hervorhebung des 
Missionsgedankens in den Urkunden dennoch in der Konzeption 
der Ostpolitik auf der kóniglichen Seite enthalten war. 

So bedeutsam das Eingreifen des Papsttums in diesen in 
Abklärung begriffenen Raum gewesen ist, weil es die Gedanken- 
gänge der Zeit zur Präzisierung getrieben hat, so wenig Einfluß 
kommt ihm für die endgültige Territorialgestaltung zu. Eine 
Weile wollte es scheinen, als würde die Kurie das Reich an Gel- 
tung überflügeln, das im Kampfe mit ihr und durch das Inter- 
regnum geschwächt war; dann fiel sie in der zweiten Hälfte 
des 13. Jahrhunderts selber kraftlos — durch das Ringen um 
Italien gefesselt — aus der baltischen Position zurück. Das 
Reich behauptete das Feld. 

Allerdings nicht dank seiner Leistungen. Ein einziges Mal 
hat ein Kaiser selber den Blick des Reiches auf die Zukunfts- 
länder an der Ostsee gelenkt. Das war noch ganz im Anfang 
ihrer Erschließung, als durch die Gefangennahme König Walde- 
mars der dänische Rivale lahmgelegt schien”. Die Ostpolitik 
freilich, welcher Friedrich II. damals in dem Manifest vom März 
12249 weite, wenn auch wenig bestimmte Ziele steckte, hat er 
selbst fast binnen Monatsfrist schon wieder verleugnet, um sie 
nie mehr aktiv aufzunehmen®. Die deutschen Herrscher 

* Reg. Pont. 17769, a. 1260. 

s F. Rörig, Die Schlacht bei Bornhöved, Zschr. d. Ver. f. Lüb. Gesch. u. 
Altertumskde. 24 (1928), S. 281ff. 

94 s, oben S. 255, Anm. 80. 

s Nachdem die Verträge v. Nordhausen v. 24. September 1223 Waldemar 
ganz niedergeworfen, hat Friedrich II. im Vertrag v. Danneberg am 24. Juli 1224 
dem Dánenkónig schon wieder die strittigen Landschaften Slawiens überlassen, s. 
Zickermann in d. Forsch. z. Brandenbg.-PreuB. Gesch. 4, S.36f. Heinrich VII. 
scheint allerdings bei Ausstellung der Privilegien für die Bischófe von Riga und 
Dorpat von 1224/5 (s. unten) noch unter dem Impulse des kaiserlichen Manifestes 
gehandelt zu haben, und indem Friedrichs Urk. für den Deutschorden und den 
Schwertritterorden von 1226 (BF. Reg. Imp. 1598 u. 1613) mit ihnen einen ge- 
wissen inhaltlichen Zusammenhang zeigen, wird doch etwas wie Grundsätze in der 
Behandlung der Ostfragen durch das Reich sichtbar. Es handelte sich in allen 


17* 


260 Hermann Aubin 


brauchten jedoch gar keinen Finger zu rühren. Die neuen 
deutschstämmigen Landesherren im baltischen Bereich trugen 
ihnen die Anerkennung und den Erfolg zu. Sie bedurften der 
Anlehnung an den Heimatstaat, und die Könige nahmen gerne 
die Erweiterung des Reichsgebietes an, welche ihnen durch 
das Ringen jener in den Schoß fiel”. Bischof Albert von Riga 
erklärte, wenn wir dem Chronisten folgen dürfen, dem König 
Philipp, daß Livland zum Reiche gehöre und der König über- 
trug es ihm von Reichs wegen”, wie das auch der Theorie vom 
Eroberungsregal entsprach. Hermann v. Salza war es, der die 
vollkommenste Fassung dieser Theorie diktiert hat, welche wir 
besitzen, um darauf das kaiserliche Privileg für den künftigen 
Ordensstaat in Preußen zu gründen®. Von dem bischöflichen 
Brüderpaare Albert und Hermann ist offenbar der Gedanke 
ausgegangen, Riga und Dorpat zu Marken zu erklären und zu 
Reichsfürstentümern zu erheben, dem König Heinrich VII. 
willfahrte?®. Als seine Eroberungen nach Kurland, Litauen und 
Semgallen fortschritten, versäumte der Orden von St. Marien 
nicht, wie er päpstliche Besitzbestätigungen einholte!9, so auch 


Fällen um die Aufgabe, die neuen Territorien in das System des Reiches einzufügen 
und ihnen möglichst weitgehend jene Rechte zuzusichern, welche die altdeutschen 
Territorien damals dabei waren, zu erwerben. Die allen genannten Urk. gemein- 
same Vergünstigung ist das Bergregal, ein gerade bei dem reichen Metallfunden 
des ostdeutschen Koloniallandes hóchst erstrebenswertes Recht. 

** Vel. oben S. 255, Anm. 81. DaB und in welchem Umfange die áltesten Be- 
sitzungen der Rigaer Kirche ursprünglich der russischen Hoheit unterworfen ge- 
wesen, hat am besten F. v. Keussler, Ausgang der ersten Russischen Herrschaft 
in den gegenwártigen Ostseeprovinzen, 1897, dargelegt. 

*? Heinrich v. Lettland a. a. O. S. 258 stellt es so recht als letzten Ausweg dar: 
cum ad nullum regem auxilii haberet respectum, ad imperium se convertit et Ly- 
voniam ab imperio recepit. Er faBt den Sachverhalt insofern richtig auf, als es dem 
Bischof in der Tat darauf ankam, einen Rechtstitel für die Gebiete zu gewinnen, 
welche er (s. oben Anm. 96) der russischen Hoheit entzogen hatte. 

%8 s. oben S. 255, Anm. 83. 

** BF. Reg. Imp. 3991 u. 3995. 

19 Der Orden wendet sich in diesen Fällen an den Papst nicht allein als an 
sein geistliches Oberhaupt, sondern er gibt deutlich zu erkennen, daß er ihn auch 
als Oberherren der in Betracht kommenden Gebiete ansieht; so wenn er 1253 im 
unmittelbaren AnschluB an eine Schenkung Konig Mindowes v. Litauen, welcher 
wir oben (S. 257, Anm. 89) die Erklärung der Tradition an den Päpstlichen Stuhl 
entnommen hatten, die päpstliche Bestätigung für die Schenkung einholt (Reg. 
Pont. 15099) und sich 1260 (s. die Urk. oben S. 259, Anm. 92) nochmals alle Schen- 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 261 


eine kaiserliche Schutzurkunde darüber ausstellen zu lassen!?!,. 
Ja noch im 14. Jahrhundert trat der Hochmeister an den deut- 
schen König heran, um mit Litauen belehnt zu werden!%, | 

Während im Falle der livländischen Bistümer die Stellung 
der neuen Landesherren innerhalb des Reiches durch die Zuerken- 
nung des Reichsfürstenstandes sogleich eindeutig geregelt war, 
ist sie in der großen Bewidmung des Deutschherrenordens von 
1226, weil dem Hochmeister die Qualität zum Reichsfürsten 
fehlte!®, nur — wenn auch in ähnlicher Weise — entworfen 
worden. Die Zugehörigkeit des Ordensgebietes zum Reiche 
wurde dadurch selbstredend nicht berührt. Es ist kein Zweifel, 
daß im Bewußtsein der Zeitgenossen die Reichsgrenze jeweils 
so weit vorgerückt war, als das Schwert des missionierenden 
Ordens reichte. Immerhin darf es als Zeichen für das steigende 
Verlangen nach wirkungsvollem, formalem Ausdruck dieser 
Zugehörigkeit vermerkt werden, daß der Hochmeister seit der 
Mitte des 14. Jahrhunderts zeitweise, seit dem 16. endgültig, zu 
den Reichsfürsten gerechnet wurde!“. 

So hat sich dieses weitentfernte Außengebiet aus eigenem 
Antriebe an das Reich heran- und sogleich in das Reich voll 
hineingeschoben. Denn daß der Ausdruck „Mark“ für die Bis- 
tümer Riga und Dorpat untechnisch gebraucht worden ist und 
keine Mark im reichsrechtlichen und verwaltungsmáBigen Sinne 
von einst bezeichnen sollte, ist offensichtlich. Er steht hier 
in der allgemeinen Bedeutung einer Vereinigung von Missions- 
sphäre und Grenzland und Kolonialgebiet. Doch ist es höchst 
bezeichnend, daß das Wort in diesem ihm seit der Karolinger- 
zeit gleichfalls zukommenden Begriffe immer noch lebendig 


kungen des in der Betonung seiner Unterstellung unter den Papst ganz besonders 
beflissenen Mindowe konfirmieren läßt. Theoretisch die Oberherrschaft des Papstes 
und des Kaisers anzunehmen, bereitete im Sinne der Universitas Christiana mit 
ihren beiden Oberhäuptern keine Schwierigkeiten. Dann ist hier der Kaiser aller- 
dings der Kaiser und nicht deutscher König. 

BF. Reg. Imp. 3479, a. 1245. 

ı# Nämlich von Ludwig d. B., s. dazu A. Werminghoff, Die Urkunden Ludwigs 
d. B. f. d. Hochmeister d. D. O. v. J. 1837, Arch. f. Urkd.-Forsch. 5 (1914), S. 21ff. 

1 In diesem Punkte hat E. E. Stengel die Darstellung Caspars entscheidend 
berichtigt, s. a. a. O. Anm. 80. 

1% J. Ficker, Vom Reichsfürstenstande, 1, $ 254. 


262 Hermann Aubin 


war. In der Tat ruft dieser letzte Abschnitt der alten Ostgrenze 
des Deutschen Reiches noch einmal das Bild der ganzen Leistung 
wach, aus welcher der Grenzverlauf, von der Adria angefangen, 
hervorgegangen ist. Hier im Baltikum ist das Deutschtum noch 
einmal der Reprásentant des abendlándischen Wesens im vollsten 
Sinne geworden. Hier hat es unmittelbar die Entscheidung um 
die Absetzung des lateinischen Okzidents gegenüber der grie- 
chisch-russischen Welt ausgefochten. Gerade im Gegensatze zu 
dieser und in dem reicheren Lichte, das die Quellen der vor- 
geschrittenen Epoche spenden, kommt hier die soviel gróBere 
Aktivitát der abendlándischen Art und zugleich ihr hóheres 
Streben zu überzeugendem Ausdruck. Die Zeitgenossen selber 
haben schon auf diesen Unterschied der Weltanschauungen 
und des Verhaltens hingewiesen, welche hier zusammenstieBen, 
indem für die Russen die Unterwerfung der Eingeborenen nur 
den Vorteil der Tributerhebung bedeutete!®, den man durch 
Bekehrung eher gefährdete, während die Deutschen, wie sie als 
wagende Kaufleute in die fremden Länder vorstießen, um den 
Handel zu knüpfen, so auch hinauszogen, um die Aufgabe der 
Heidenmission — wenngleich mit den Gewaltmitteln, welche 
der Zeit in ihrer innersten Überzeugung selbstverständliche 
Pflicht waren — zum Zwecke der Seelengewinnung opferbereit 
zu erfüllen. Hier auch tritt greifbar als der andere Rechtstitel 
der deutschen Ausbreitung der Segen zutage, welchen die aus- 
gebildeten Formen der starken deutschen Herrschaft für die 
amorphe Masse der kleinen Völkerschaften darstellten. Die 
Deutschen haben ihnen damit Frieden und Schutz vor der Ver- 


1% Heinrich v. Lettland a. a. O. S. 281: Est enim consuetudo regum Ruthe- 
norum, ut quamcumque gentem expugnaverint, non fidei christianae subicere, sed 
ad solvendum sibi tributum et pecuniam subjugare: oder S. 328: mater Ruthenica 
sterilis semper et infecunda, que non spe regenerationis in fide Jesu Christi, sed spe 
tributorum et spoliorum terras sibi subiugare conatur. Heinrich spricht hier als 
unmittelbarer Konkurrent und ist sich anderer Gründe, welche die orthodoxe Kirche 
wenig expansionsfreudig gemacht haben, nicht bewußt. Indessen schildert er den 
Zustand im Baltikum treffend. Die russischen Missionsversuche hier sind sehr be- 
scheiden gewesen und erst durch den deutschen Wettbewerb ausgelöst worden. 
Die Bedeutung des Naturaltributes für das russische Handelssystem hebt zutreffend 
P. v. d. Osten-Sacken, Der erste Kampf des Deutschen Ordens gegen die Russen, 
Mitt. a. d. livl. Gesch. 20, 1910, S. 89, hervor. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 263 


sklavung gebracht!“, ja manchen von ihnen, wie wir aus der 
geschichtlichen Perspektive sagen dürfen, überhaupt das Gut 
ihrer Nationalität erhalten. In der baltischen Grenzbildung 
erscheint so das ganze Werk der vorangegangenen Jahrhunderte 
in nuce vor unseren Augen gestellt und es fällt von diesem 
äußersten Winkel Licht auf die anderen, im Dunkel der Ver- 
gangenheit ausgebildeten Abschnitte. 

Fassen wir die Ergebnisse dieser Übersicht zusammen, so 
haben wir an uns das Bild einer durch Jahrhunderte hingehenden 
Bewegung vorbeiziehen lassen, in welcher die Ostgrenze des 
alten Reiches entstanden ist. Bewegung, Verschiebung der 
Grenzen findet sich nun durch die ganze Geschichte und all- 
überall in der Welt. In diesem einfachen Sinne kónnten die 
geschilderten Vorgänge noch nicht den Anspruch erheben, als 
eine besondere Erscheinung gewertet zu werden. Es handelt 
sich indessen bei den hier verfolgten Vorgángen um mehr, als 
um das Oszillieren einer gegebenen Grenzlinie. Eine solche ist 
ja ursprünglich gar nicht vorhanden gewesen. Vielmehr sahen 
wir dem eigentlichen Reichsgebiet im Osten einen breiten Streifen 
abgeschwächter Staatshoheit vorgelagert, der in sich wieder von 
verschiedener Struktur war; meist zerfiel er in organisiertes 
Markenland, Tributär- und Vasallenstaaten und manchmal wies 
er noch darüber hinaus eine unbestimmte Einflußzone auf; jaam 
Ende schienen sich die theoretischen Ansprüche des Kaisertums 
auf Oberherrschaft ins Ungemessene auszudehnen. Statt einer 
Grenzlinie hatten wir derart einen Grenzgürtel, statt einer 


19$ Heinrich v. Lettland a. a. O. S. 264 schildert aus dem Leben, wie den von 
den Liven und Esten drangsalierten Letten durch die Taufe das Selbstbewußtsein 
ihrer Menschenexistenz kommt, quod post baptismum eodem iure et eadem pace 
omnes simul gauderent, S.286. Letten ergeben sich den Deutschen, indem sie 
vom orthodoxen zum katholischen Glauben übertreten und eine Abgabe versprechen, 
eo quod tam pacis quam belli tempore semper tuerentur ab episcopo, et essent cum 
Theutonicis cor unum et anima una, et contra Estones et Letones eorum semper 
gauderent defensione. 

Daß der Übertritt der Eingeborenen zum abendländischen Christentum gewiß 
nicht immer in einer bewußten Wahl erfolgte, bieten die Letten an der Ymera ein 
Beispiel, die das Los darüber geworfen haben, welcher der rivalisierenden Kon- 
fessionen sie sich anschließen sollten. Indem uns Heinrich diese Geschichte von 
seiner eigenen Pfarre in naiver Offenheit erzählt (S. 261) — gewiß des Glaubens, 
deren Anfangs mangelnde innere Berufung durch sein treues Wirken wettgemacht 
zu haben —, gibt er uns Gewähr, daß seine Berichte ohne Harm sind. 


264 - Hermann Aubin 


Linie ein Bündel von solchen angetroffen. Sie liefen, schematisch 
angesehen, einander parallel und waren von verschiedener staats- 
rechtlicher Qualität, die von Westen nach Osten sank, indem sie 
Gebiete voneinander trennten, in welchen die Einwirkung der 
Reichsgewalt stufenweise abnahm. Innerhalb dieses Grenzgürtels 
hat sich dann die eine eindeutige Reichsgrenze herausgebildet, 
wie sie seit dem späteren Mittelalter feststand. Wir haben es hier 
also mit jenem Vorgange zu tun, welcher dem Geographen als 
ein Grundvorgang der Grenzbildung so gut bekannt ist, der 
Abklärung nämlich einer Grenzlinie aus einem Grenzsaum!"?, 
Als Besonderheit ist dabei hervorzuheben, daß, wie ich gezeigt 
habe, in den meisten Fällen eine aus jenem Bündel unter- 
geordneter und verschiedenwertiger Grenzlinien für einen Ab- 
schnitt zum Range der endgültigen Reichsgrenze emporgestie- 
gen ist. Diese setzte sich dergestalt schließlich aus Abschnitten 
verschiedenen stäatsrechtlichen Ursprungs zusammen. Zwischen 
Adria und Thaja war sie Anfangs eine Markgrenze, von der 
Thaja bis Schlesien baute sie auf der Grenze eines ehemaligen 
Vasallenstaates und sodann auf der inneren Teilungslinie eines 
solchen auf, im Verlaufe nordwärts von Schlesien haben allent- 
halben die Territorien ihre Grenzen dem Reiche untergeschoben. 

Als die Institutionen, welche die in dem Vorrücken der 
Grenze sich darstellende Ausbreitung getragen haben, traten 
uns so nacheinander das Markensystem, das Lehnswesen, das 
Territorium entgegen. Das Markensystem hat die ihm gestellte 
Erziehungsaufgabe in vollem Umfange erfüllt. Alles ehemalige 
Markland ist zu eigentlichem Reichsgebiet geworden. Nicht 
gleich wirkungsvoll hat sich die Einreihung von Teilen der 
Außensphäre in den Reichslehnsverband erwiesen. Die Lehns- 
abhängigkeit ist nicht überall zur Reichsuntertanenschaft ver- 
dichtet worden. Immerhin ist das in einem solchen Umfange 
und in einem so wichtigen Abschnitte wie den Sudetenländern 
geschehen. Seit dem 12. Jahrhundert haben die Territorien 
die Arbeit besorgt und, wo sie ansetzten, in den nächsten Jahr- 
hunderten vollen Erfolg erzielt. | 

Zu diesen staatlichen Einrichtungen traten andere tragende 
Kräfte hinzu. Die Kirchenverfassung zunächst. Ich habe Bei- 


107 Vgl. H. Helmolt, Die Entwicklung der Grenzlinie aus dem Grenzsaum. Hist. 
Jahrb. XVII. (1896). 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 265 


spiele dafür angeführt, wie die Einbeziehung des Grenzgürtels in 
den Verband der deutschen Reichskirche die Ausdehnung des 
Reichsgebietes und die Vorschiebung der Reichsgrenze gefórdert, 
wie umgekehrt die kirchliche Emanzipation der Ostvólker ihren 
Widerstand gegen die Einordnung in den deutschen Staat ge- 
stärkt hat. Die ganze Front entlang konnte das Zusammen- 
gehen und Auseinanderfallen von weltlicher und kirchlicher 
Organisation nicht verfolgt werden!®, Doch habe ich es überall 
dort zur Sprache gebracht, wo es in jenen frühen Jahrhunderten 
akut geworden ist, in denen die kirchliche Zugehórigkeit noch 
imstande war, die kulturelle Einordnung einer Landschaft maB- 
gebend zu beeinflussen. Seit dem 12. Jahrhundert nimmt diese 
Kraft zusehends ab!99, 

Der andere unpolitische Faktor, welcher bei der Bildung 
der deutschen Reichsgrenze im Osten entscheidend mitgewirkt 
hat, ist die groBe Volksbewegung der deutschen Rückwanderung. 
Es ist genugsam bekannt, daß sich die beiden Größen deutscher 
Staat und deutsches Volk räumlich niemals vollkommen ge- 
deckt haben. Dennoch kann nicht übersehen werden, in welch 
hohem MaBe die Ausdehnung des Reiches von der Ausbreitung 
des Volkes getragen worden ist. Aus einzelnen Beispielen, die 
ich vorgebracht, erhellte der abschnittsweise Zusammenhang 
zwischen der Grenzbildung und der Kolonisation bis zur ge- 
nauesten Entsprechung von deutscher Reichsgrenze und deut- 
scher Siedlungsgrenze!?, Doch möchte ich mich nicht auf die 
letzteren stützen, denen man ebensoviele oder noch mehr Gegen- 
beispiele entgegenstellen kónnte. Viel überzeugender ist die 
Parallelität der Bewegungen im Großen, im europäischen Rah- 
men gesehen. Der Wanderzug begleitet die Grenzbildung in 


1** Es handelt sich vornehmlich um die weitgehenden Aspirationen der Magde- 
burger Erzbischöfe und des Gegensatzes ihrer Erzdiözese zur Gnesener, um die 
oben (S. 265) berührte Zwischenstellung, welche das Bistum Kamin zwischen ihnen, 
als römisches Bistum, zeitweise einzuhalten vermochte, ferner um die Verselbständi- 
gung der ursprünglich von Bremen abhängigen baltischen Kirche, auf welche 
auch Magdeburg noch einmal im Anfang des 13. Jhs. ein Auge geworfen hatte. 

1* So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Unterordnung des Breslauer 
Bistums unter die polnische Metropole Gnesen das Einströmen des Deutschtums 
in Schlesien nicht aufgehalten. Vielmehr ist das Bistum selber zeitweilig sein stärkster 
Förderer geworden. 

ne S. oben S. 245, S. 251 und bes. S. 244, Anm. 51. 


266 Hermann Aubin 


ihrer ganzen zeitlichen Erstreckung. Vergleicht man ihn mit 
dem abnehmenden Faktor der kirchlichen Organisation, so kann 
man sagen: Er begleitet die Grenzbildung durch alle ihre Phasen 
und auf der ganzen Ausdehnung ihrer Front mit gleicher In- 
tensität. Dabei ist die Bedeutung der deutschen Zuwanderung 
für die einzelnen Landschaften gewiß verschieden groß, wie sie 
auch sozial verschieden zusammengesetzt gewesen ist. Dennoch 
springt in die Augen, wie das Festwerden der Reichsgrenze vom 
Südflügel her über den Elbe-Oderraum bis zu dem weitestent- 
legenen Nordpunkt hin gänzlich dem allmählichen Fortschreiten 
der Kolonisation entspricht, welche unter Karl d. Gr. in den 
Ostalpen und im Donautal begonnen hat und unter den Hoch- 
meistern in PreuBen auch dann noch weitergegangen ist, als 
sie sonst bereits erloschen war, bis endlich auch hier der poli- 
tische und kulturelle Rückschlag, den das Deutschtum durch 
die Schlacht bei Tannenberg erlitt, den Stillstand herbeigeführt 
hat. Auch hierin können wir den Gleichtakt der Bewegungen 
erkennen, daß, wie die Markenbildung, so die Kolonisation 
Anfangs und bis ins 11. Jahrhundert letzten Endes vom Reich 
geleitet worden ist, während dieses nach dem Investiturstreit 
keinen tätigen Anteil mehr daran genommen und auf beiden 
Feldern die Initiative den Territorien überlassen hat. 

Mit der Schlacht bei Tannenberg bezeichnen wir das Datum, 
von dem an in wiederholten Schlägen des 15. und 16. Jahrhun- 
derts der weitgespannte, die Ostsee umklammernde Bogen der 
deutschen Reichsgrenze völlig zusammengebrochen ist. Die 
einzelnen Akte sind hier nicht mehr zu verfolgen. Für unser 
Thema genügt die Feststellung, daß vor der Schlacht bei Tannen- 
berg die äußerste Ausdehnung der Ostgrenze des alten Reiches 
bestanden hat, die nachmals nie mehr wiedergewonnen worden 
ist. Obwohl das Brandenburgische Territorium die Verluste, 
welche der deutsche Staatskórper hier erlitten hatte, 2. T. 
wieder auszugleichen vermochte, tat es nichts, um die ehemalige 
Reichsgrenze wieder herzustellen; und in keinem anderen Ab- 
schnitte hat noch eine Vorverlegung derselben stattgefunden. 

Bei diesen Feststellungen erhebt sich die Frage, wie lange 
überhaupt die Territorien und ihre Dynastien dem Reiche die 


11 S. zuletzt C. Krollmann, Die Besiedelung OstpreuBens durch den deutschen 
Orden, VSWG. 21 (1928), S. 280ff. 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 267 


Arbeit abgenommen und ihm ihre Erwerbungen eingebracht 
haben. Die Bewegung der deutschen Kráfte nach dem Osten 
war ja keineswegs mit der Errichtung der geschilderten Reichs- 
grenze zu einem Ende gelangt. Die Landesherren z. B. der 
ehemaligen Ostmark an der Donau drängten fast ununterbrochen 
seit dem Stillstand der Marken- und Reichsgrenze an Leitha 
und March dem natürlichen Wegweiser des Stromes folgend in 
die ungarische Ebene hinab, indem sie bald nach dem Ganzen, 
bald nach Teilen griffen. Lange Zeit trat keine dauerhafte 
Besitzverschiebung ein, bis im 15. Jahrhundert mehrere Herr- 
schaften des heutigen Burgenlandes als Pfand an die Habs- 
burger gelangten!!?, Unzweifelhaft war damit ein bedeutsamer 
Ansatz zur Ausweitung des Reichsgebietes gegeben. Er fand 
günstige Voraussetzungen in der vollkommen deutschen Be- 
siedlung der Landschaft, welche damals auch einen überwiegend 
deutschen z. T. aus Niederósterreich hinübergewechselten Adel 
besaB, und auf welche das westliche, das deutsche Leben allent- 
halben seine Anziehungskraft ausübte, wie noch heute die Bau- 
werke der gotischen Periode beweisen. Indessen das Reich als 
Ganzes war an dieser Expansion gar nicht mehr beteiligt. Zum 
Reich hat man diese Eroberung der einstigen Ostmark nie 
mehr gerechnet, und es sind nur die niederósterreichischen 
Stände gewesen, welche ab und zu den Anschluß der ungarischen 
Herrschaften an ihr Land verlangt haben, um sie mitbesteuern 
zu kónnen. Die habsburgische Dynastie, obwohl selber auf den 
deutschen Königsthron erhoben, hat kein Interesse daran ge- 
zeigt, den Zuwachs dem Reiche einzubringen. Sie erringt auch 
die Stephanskrone; die alte seit den Sachsen und Saliern wache 
Tendenz des deutschen VorstoBes die Donau hinab, hat damit 
endlich vollen Erfolg erreicht. Aber doch nur in einer Form, 
welcher das Reich von jedem Anteil daran ausschloB und der 
längst errungenen Selbständigkeit Ungarns Rechnung trug. 


113 S. zum Folgenden O. Aull, Die politischen Beziehungen zwischen Österreich 
und Ungarn in ihrer Auswirkung auf das Burgenland (bis 1918), Burgenland, 3. Jg. 
(1930), S. 98ff. und O. Brunner, Geschichte des Burgenlandes im Rahmen der 
deutsch-ungarischen Beziehungen, Deutsche Hefte f. Volks- u. Kulturbodenfor- 
schung, 1. Jg., (1930/31), S. 152ff. O. Brunner hatte die Freundlichkeit, mir aus 
drücklich zu bestätigen, daß jene Herrschaften niemals dem deutschen Reiche zu- 
gerechnet worden sind. 


268 Hermann Aubin 


Die Personalunion, welche den deutschen Kaiser zum Konig 
von Ungarn macht, schiebt zugleich jeder weiteren Vorverlegung 
der deutschen Ostgrenze an dieser Stelle einen Riegel vor. Der 
Prátension von dem unverlierbaren Besitz der Stephanskrone 
hat man sogar jene Wachstumsspitze im Burgenland geopfert. 
Im 17. Jahrhundert sind die burgenländischen Ämter allmählich 
ohne Entschádigung zurückgegeben worden. 

Diese Vorgänge führen uns in die gleiche Zeit, in welcher 
dem Reich auch bereits die Kraft fehlte, die Verluste abzu- 
wehren, welche seinem Bestande im Osten, wie berührt, seit 
dem Beginn des 15. Jahrhunderts geschlagen worden sind, und 
das Beispiel der westungarischen Herrschaften ist durchaus 
kennzeichnend. Das Reich war von sich aus lángst keiner Aus- 
dehnung mehr fähig und die Dynastien der ostdeutschen Terri- 
torien haben ihm in der Neuzeit ihre Erwerbungen nicht mehr 
zugeführt. Das gilt nicht nur dort, wo es sich um völlig aus- 
gebildete Staaten handelte, welche von sich aus, auch bei Per- 
sonalunion mit deutschen Landesherren ihre Selbständigkeit 
zu wahren wuBten, wie eben Ungarn unter den Habsburgern 
oder Polen unter den Wettinern. Sondern es gilt in gleicher 
Weise auch dort, wo die deutschen Dynastien über den Gebiets- 
zuwachs völlig frei verfügten, wie Österreich und Preußen über 
die ihnen zugefallenen Teile Polens. Obwohl sie diese ohne jede 
ständische Beschränkung ihrem Altbesitz mit Haut und Haar 
einverleiben konnten, haben sie doch nicht daran gedacht, sie 
auch dem monströsen Reichskörper einfügen zu lassen. Sie 
strebten im Gegenteil danach, sich jenseits der Reichsgrenze 
eine Sphäre politischer Aktionsfreiheit zu sichern, welche nicht 
mit der Hypothek der Reichspflichten belastet war. Nur dort 
winkte volle Souveränität und europäische Gleichberechtigung. 
Gerade jene Territorialkomplexe, bei welchen die Zukunft lag, 
entwickelten sich dergestalt über die Reichsgrenze hinüber, und 
soweit sie sich auch ausdehnten, diese Grenze blieb davon un- 
berührt. Sie war nun versteinert. Noch kurz, ehe sie aufhörte 
zu bestehen, wurde ihr ihre gänzliche Bedeutungslosigkeit in 
aller Form attestiert. Die Begründung des Kaisertums Öster- 
reich im Jahre 1804 faßte alle habsburgischen Länder dies- und 
jenseits zu der staatsrechtlichen Einheit, welche die Zeit er- 
forderte, zusammen, ohne Notiz davon zu nehmen, daß durch 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 269 


ihre Mitte eine Grenze lief, die einstmals eine sákulare Kurir 
scheide bedeutet hatte. 

Diese Überlegung bringt den Wandel zum Bewußtsein, 
welchen das Wesen der deutschen Ostgrenze im Laufe der 
Jahrhunderte durchgemacht hat. Ihn noch deutlicher in seinen 
Etappen zu erfassen, greife ich noch einmal auf die Gegen- 
überstellung der Westgrenze zurück, durch welche ich eingangs 
ihren ursprünglichen Charakter in schärferes Licht gerückt 
hatte. Jener Gegensatz, von dem wir ausgegangen waren, hat 
sich während des Mittelalters mehr und mehr verloren, und zwar 
durch die Entwicklung auf beiden Seiten. Die Bildung der 
Ostgrenze erschien uns in ihren älteren Stadien als eine univer- 
sal-okzidentale Angelegenheit. Die von Kaiser und Papst 
patronisierte deutsche Einflußsphäre hatte zeitweise zugleich 
die äußerste Erstreckung abendländischen Wesens bedeutet. 
Mit der Abklärung der eigentlichen Grenzlinie ging ihr dieser 
universelle Charakter verloren. Wo immer die Auseinander- 
setzung mit den aufkommenden nationalbestimmten Ost- 
staaten um den Grenzgürtel zur Herausbildung eines festen 
Grenzverlaufes führte, drückte sie zugleich die deutsche Ost- 
grenze auf den Rang einer einfachen Staatsgrenze herab. Um- 
gekehrt war die Westgrenze, seitdem keine Aussicht mehr auf 
Wiedervereinigung des karolingischen Erbes bestand, zu der 
vollen Funktion einer Staatsgrenze aufgestiegen, hinter welcher 
sich im Westen mehr und mehr der nationalstaatliche Wille 
anmeldete. Wenn auch entsprechend den entgegengesetzten 
Ausgangsbedingungen in gegenläufigem Sinne, so machen 
derart doch beide Fronten gleichermaßen jenen Grundvorgang 
der politischen Entwicklung des Abendlandes anschaulich, 
welcher sich im Hochmittelalter angebahnt hat: Den Verzicht 
auf die einheitliche imperiale Konzeption der Staatsordnung 
und das Vordringen der Idee grundsätzlich gleichgeordneter 
Staaten. 

Noch in einem Anderen Sinne führt ebendamals die Entwick- 
lung im Westen und Osten unter dem Einfluß der gleichen Zeit- 
erscheinungen zu einander ähnlichen Zuständen. Während sich 
hier innerhalb des Grenzsaumes eine Grenzlinie abzuzeichnen be- 
ginnt, wird umgekehrt dort die bestehende scharfe Scheide ver- 
wischt. Das Lehnswesen, das wir im Osten als ein staatsrecht- 


270 Hermann Aubin 


liches Mittel zur Konsolidierung der deutschen Oberherrschaft 
innerhalb der AuBenzone erkannt haben, arbeitet zur selben Zeit 
im Westen daran, den eindeutigen Charakter der Reichsgrenze zu 
erweichen und zu durchbrechen. Lehnsabhängigkeiten sind her- 
über und hinüber geknüpft worden, zunáchst einfach aus den nach- 
barlichen Gegebenheiten, dann aber seit dem fortschreitenden 
12. Jahrhundert von seiten der Krone Frankreichs als ein ab- 
sichtsvoll verwendetes Mittel, um jenseits der Reichsgrenze Fuß 
zu fassen und die nationalstaatliche Ausbreitung vorzubereiten. 
Nicht minder macht sich die politische Größe der folgenden 
Epoche, das Territorium, in gleichsinniger Wirkung auf die 
Westgrenze geltend. Rittlings derselben bilden sich Territorial- 
. komplexe aus. Indem Frankreich, im 100jährigen Krieg mit 
England ringend, zeitweise die Bahn freigibt, kann der bur- 
gundische Hausbesitz zu einer Masse anschwellen, welche die 
deutsche Reichsgrenze verwischt, und zu einer Macht aufsteigen, 
welche sie negiert, wie es später die Habsburger und Hohen- 
zollern im Osten tun werden. Die Reichsautorität erlahmt 
gegenüber den westlichen Randgebieten bis zu dem Grade, daß 
sie sich ihm von der Schweiz über die spanischen Niederlande 
bis zu den Generalstaaten mehr oder weniger vollstándig ent- 
ziehen. In der Mitte der Front bricht dann Frankreich nicht 
nur mit klaren Gebietsabtretungen — welche ja staatsrechtlich 
neue scharfe, wenn auch geographisch oft sehr zerrissene Grenzen 
schaffen —, sondern auch mit allen Unklarheiten und den mannig- 
faltigen Rechtsgestaltungen, welche das damalige Reichsrecht 
an die Hand gab, einzelne Stücke heraus. Die einst einheitliche 
und klare Westgrenze ist völlig zersetzt, zerfetzt und aufgelöst. 
Durch Jahrhunderte liegt nunmehr an dieser Front in verschie- 
denen wechselnden Formen ein Grenzsaum vor dem unbestritte- 
nen Reichsgebiet. Damit haben sich die Verhältnisse gegenüber 
dem Osten geradezu umgekehrt. Freilich ist auch die Ostgrenze 
ihres staatsrechtlichen Inhalts so gut wie entleert und jedenfalls 
ohne entscheidende politische Bedeutung für die europäischen 
Mächtekonstellation. Aber ihr Bestand wenigstens wird durch 
die starken Territorien aufrechterhalten, welche sich hier ge- 
bildet haben. Wollte man das gegensätzliche Wesen in Ost und 
West nunmehr auf eine Formel bringen, so würde man sagen 
dürfen: Die Ostgrenze ist eine im Vorrücken erstarrte Front; 


Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 271 


im Westen handelt es sich um die vorübergehenden Wider- 
standslinien eines, von kurzen Erholungspausen abgesehen, 
fortgesetzten Rückzugs. 

Die Umkehrung der Dinge, welche daran offenbar wird, ist 
indessen noch weiter zu verfolgen. Die Westgrenze bekommt 
in dieser Periode ihren vollen Charakter erst durch einen weiteren 
Zug, welcher ihr von außen aufgeprägt wird: Der Staat, der 
von Westen her andringend, ihren Verlauf bestimmt, ist zugleich 
dabei, in ihrem Schutze mit mächtig formender Hand die 
Nation zu bilden. Staatsgrenze und Nationsgrenze, wird das 
Postulat, fallen zusammen. Damit türmen sich auf der Staats- 
grenze alle die Unterscheidungen auf, welche die aufblühende 
nationale Kultur und das anwachsende Nationalbewußtsein 
hervortreiben. Wir sehen uns wieder zurückversetzt vor das 
Bild, von welchem wir ausgingen: Einer politischen Grenze, 
welche sichtbar zur Kulturscheide wird. Nur trägt in dieser 
neuen Ära der nationalen Kulturen die Westgrenze des Reiches 
das Zeichen, das wir am Anfang der deutschen Geschichte seiner 
Ostgrenze eigen erkannten. 

Diese war, als die neue Ära vom Westen heraufzog, schon 
längst kein lebenserfülltes Gebilde mehr. Ihre Zeit hatte einer 
anderen Epoche angehört, welcher der Gedanke der Nations- 
bildung durch den Staat völlig fremd gewesen war. 

Wir sind dieses Abstandes der Epochen voll gewärtig. 
Dennoch können wir, noch einmal zu dem Verhältnis der Aus- 
breitung von Staat und Nation zurückgeführt und in dem 
schmerzvollen Bewußtsein, daß nirgends die Gleichung des 
Staats- und Volksgebietes so unvollkommen ist, wie an unserer 
Ostfront, unsere dieser Front gewidmete Betrachtung nicht 
schließen, ohne den Versuch zu unternehmen, zu jener Frage 
Stellung zu nehmen, welche immer wieder an unsere mittel- 
alterliche Geschichte gerichtet werden wird, die Frage, meine 
ich, welche Bedeutung der Reichspolitik jener Jahrhunderte 
für die Geschicke des deutschen Volkes im Ostraum zukommt. 

Tatsächlich hat doch auch vor der Ära der Nationalstaaten 
Macht und führendes Beispiel des Staates für die Verbreitung 
der Kultur des eigenen Volkes werbend gewirkt, ja wir sahen 
schon in früher Zeit das deutsche Reich unmittelbar die Zu- 
wanderung deutscher Kolonisten nach dem Osten leiten. 


272 Hermann Aubin: Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches 


Die Antwort zu bilden, ist es nicht unnütz, noch einmal 
darauf hinzuweisen, daß bereits in dem Wesen der Grenzbildung 
im Osten, wie ich sie aus ihren Grundvoraussetzungen zu erkláren 
versucht habe, eine Ungleichmäßigkeit der einzelnen Abschnitte 
bedingt war, welche auch für die Erfüllung des Reichsgebietes 
mit deutscher Bevölkerung, sei es durch Zuwanderung, sei es 
durch Eindeutschung ungleichartige Bedingungen zur Folge hatte. 
DaB indessen die Geschicke in den einzelnen Abschnitten sich in so 
hohem Grade individuell gestaltet haben, wird man nicht allein 
auf die Ausgangslage zurückführen kónnen. Man wird vielmehr 
— neben anderen geographischen und geschichtlichen Faktoren — 
auch darauf hinweisen müssen, daB die einheitlich ordnende 
Kraft des Reiches bereits zu einem Zeitpunkt erlahmt ist, wo gewiß 
noch nicht das halbe Werk der mittelalterlichen Volksausbreitung 
geleistet war. Es ist keine Gedankenspielerei, sondern dient, 
die Bedeutung der historischen Ereignisse sicherer zu erfassen, 
wenn man sich einen Geschichtsverlauf vorstellt, in welchem 
die tátige Teilnahme des Reiches den Ostfragen noch bis zum Ende 
des Mittelalters zugute gekommen wáre oder gar die Ostpolitik 
in die Periode des Nationalismus hineingeführt hätte. Man hat 
mit Recht die Konsequenz ausgemalt, daB eine rallierte Front 
auf deutscher Seite vielleicht eine geschlossenere Gegnerschaft 
hervorgerufen und damit dem Deutschtum seine kulturspendende 
Verbreitung bis tief in die östlichen Nationalstaaten hinein 
verwehrt hätte. In Zusammenhange der hier vorgeführten 
Gedankengänge wird man geneigt sein, die andere voraussicht- 
liche Folge einer solchen Entwicklung ins Auge zu fassen: Eine 
Führung der deutschen Ostpolitik durch ein starkes Reich hätte 
einen kompakteren Einsatz der deutschen Kräfte bedeutet, 
welcher wohl zu einer zwar geringeren, aber geschlosseneren 
und dem Reichsgebiet genauer entsprechenden Verteilung des 
Deutschtums im Osten geführt hätte. In diesem Sinne ergibt die 
Prüfung der Vorgänge und Kräfte, welche an der Ausbildung 
der Ostgrenze des alten deutschen Reiches mitgewirkt haben, 
die Bestätigung der Anschauung, daß das frühe Ausscheiden 
des Reichs aus der aktiven Ostpolitik zu jener langen Reihe 
von Komponenten zu rechnen ist, welche das Auseinanderklaffen 
von deutschem Staats- und Volksgebiet verursacht haben, 
das heute dieser Grenze ihren entscheidenden Charakter gibt. 


273 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserfiche Kanzlei. 
| Von | 


S. Hellmann. 


Ubersicht: 
L Die Vita Heinrici IV., literarhistorisch betrachtet. S. 273. — II. Methodolo- 
gisches zur Stilvergleichung. S. 284. — III. Die beiden großen Klagebriefe 
Heinrichs IV. S. 298. — IV. Die kürzeren Briefe, S. 311. — V. Vita und Briefe 
S. 320. — VL Die Briefe Erlungs. S. 330. — Epilog. S. 334. 


I. Der Unbekannte, der die Vita Heinrici schrieb, hat seine 
Aufgabe anders ergriffen und durchgeführt als seine Vorgánger. 

Das Mittelalter war der Entwicklung der Biographie nicht 
günstig. Von der einen Seite her sah es das Wesen der Geschichte 
zu sehr unter dem Gesichtspunkt der Bewegung von Weltanfang 
zu Weltende hin, um die Persónlichkeit als den Punkt ins Auge 
zu fassen, wo die Fáden sich schlingen und darum einen Augen- 
blick stille stehen. Daher wurde für sein Denken die lineare Ent- 
wicklung das Normale, das Pragma mit seiner Gleichgültigkeit 
gegen jedes chronologische Schema etwas bestenfalls nicht Er- 
strebenswertes, wenn nicht geradezu Bedenkliches!, die empi- 
ristische oder, wie man vielleicht sagen mag, positivistische Dar- 
stellung der Annalen zur normalen Gattung der Geschichtschrei- 
bung, die Schilderung des Einzelereignisses zum Ausnahmefall. 
Auf der anderen Seite faßte es Staat und Persönlichkeit vor- 
wiegend als Summe von Beziehungen zwischen Mensch und 
Mensch und brachte sich dadurch um die Erfassung des Indi- 
viduums im historischen, d. h. mehr als einzelpersónlichen Sinn: 
wie das Problem der Geschichte kam auch ihr letztes Element 


1 Bona dispositio est rem eo ordine quo gesta est narrare. Non est hoc observa- 
tum in libris regum novissimis, ubi praepostero ordine quorundam regum obitus, 
deinde quid in vita gesserint, narratur. Rationalis dispositio facit lucidam orationem.' 
St. Galler Rhetorik c. 49 (ed. Piper I, 670; vgl. auch c. 47, S. 667 und zu der ganzen 
Frage M. Schulz, Die Lehre von der historischen Methode bei den Geschichtschreibern 
des MA. 102, 132). 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 18 


274 S. Hellmann 


seinem Denken nicht voll zum Bewußtsein. Trotzdem hat das 
Mittelalter eine reiche biographische Literatur hervorgebracht. 
Aber die kirchliche Biographie, von Anfang an ein Ding 
zwischen Erbauungsbuch und Geschichte, sah in ihrem Helden 
mehr die exemplarische als die historische Persönlichkeit; eben- 
sowenig wie ihr dämmerte der weltlichen, die nicht zufällig ver- 
schwindend wenige Vertreter fand, das eigentliche Problem der 
Biographie auf, das Ineinander von Übereinstimmung und 
Gegensatz, die Verwobenheit von Zeit und Mensch. Daher blieb . 
Einhard mit seinem Versuch einer Charakteristik einsam stehen; 
seine nächsten Nachfolger, Thegan und der Astronom, wandten 
die Biographie ins Erzählende und Annalistische um; Wipo tat 
das gleiche: der einzige Nachahmer, den Einhard fand, so gern 
man ihm zu stilistischen Zwecken die eine oder andere Wendung 
entnahm, war der Biograph des Adalbero von Trier. 

Andere Wege ist der Verfasser der Vita Heinrici IV. gegangen. 
Er verband Charakteristik mit Erzählung: seine Schrift ist Are- 
talogie und Lebensbeschreibung zugleich. Beide hält das subjek- 
tive Element zusammen, der persönliche Anteil des Verfassers an 
Mensch und Schicksal, einem Schicksal, das aus Kampf, Ver- 
greifen, Erfolg und Untergang im Verrat tragisch gemischt ist. 
In doppelter Gestalt tritt der Subjektivismus hervor: im Urteil 
über Heinrich IV., das bei aller Einseitigkeit doch auch seine 
Mißgriffe nicht einfach verhehlt, und im Ton des Vortrags, der 
überall darauf gestimmt ist, Mitgefühl zu wecken. Auch die Form 
ist dieser Absicht unterstellt: die Vita gibt sich als Brief an einen 
nirgends Genannten, der in literarischer Selbstverstellung ge- 
beten wird, sie niemand zugänglich zu machen. 

Die kleine Schrift zerfällt deutlich in zwei Teile von sehr un- 
gleicher Länge. Der erste umfaßt nur das heutige Kapitel I®, der 
zweite alles Übrige. Trotzdem darf der erste Teil nicht nur als 
Einleitung und als einem größeren Ganzen subordiniert ange- 
sehen werden: für den Verfasser besaß er vermutlich gleiche Be- 
deutung wie der viel umfangreichere zweite, denn er enthält die 
Aretalogie. Auch sie zerfällt in zwei Teile: zuerst wird der Mann 
der Kirche und der kirchlichen Wohltätigkeit geschildert, dann 


2 Die Handschrift (Clm. 14095) bezeichnet Einschnitte nur durch Initialen und 
Alinea; W. Wattenbach hat sich zu ángstlich daran gehalten, als er die Einteilung in 
Kapitel vornahm. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 275 


der Herrscher. Die Vita stellt sie nicht. einfach nebeneinander. 
Vielmehr erhält der Bau dieses ersten Hauptteils sein Gepräge 
durch die Gelenke, die seine beiden Glieder miteinander und 
mit dem Folgenden verbinden. Zwischen sie schiebt sich die mit 
Emphase gefüllte Reflexion, die auf das eine zurück- und auf das 
andere vorausblickt. Eingerahmt wird die Aretalogie durch kurze 
rhetorische Stücke am Anfang und Ende: dort, zugleich als Ein- 
leitung zum Ganzen, die Klage über den Verlust, den mit dem 
Verfasser die ganze Welt erlitt, hier der fingierte Zweifel ob er 
fortfahren und zur Schilderung der „fraudes et scelera“ über- 
gehen solle, der feindlichen Welt?. 

Wenn die beiden rhetorischen Einfassungen und das zugleich 
trennende und verbindende Mittelstück zwischen den Bildern des 
Frommen und des Herrschers sich über die beiden Teile der 
Aretalogie wólben wie die Bogen einer Brücke über einen geteil- 
ten FluB, so wird der Bau des zweiten Hauptteils, die Lebens- 
geschichte, von einem einzigen starken Pfeiler getragen. Es ist 
in Kapitel 8 der Bericht über den Mainzer Reichslandfrieden von 
1108. Von vorne gesehen, bildet er den Abschluß der Kämpfe seit 
der Mündigkeit des Kaisers: indem die fürstlichen Gegner des 
Kaisers zur Ohnmacht verurteilt werden, scheint ein neues Zeit- 
alter beginnen zu sollen. Von rückwärts, von der Katastrophe 
Heinrichs IV. her betrachtet, ist der Friede das Vorspiel zum 
Ende, und die letzten Sätze des Kapitels präludieren dazu wieder 
in den Tonarten der Rhetorik. So wird durch einen Ruhepunkt, 
durch einen breiten Einschnitt charakterisierender, nicht erzäh- 
lender Art, auch der zweite Hauptteil in zwei Hälften zerlegt; sie 


* Aufbau des ersten Teils: Einteilung 9, 1—18 ; Charakteristik des Frommen 9,19 
bis 11, 14; Mittelstück 11, 15—26; Charakteristik des Herrschers 11, 27—13, 2; 
Epilog und Überleitung zum zweiten Teil 18, 3—18. — Die Seiten und Zeilenzahlen 
sind hier und im folgenden immer diejenigen der Schulausgabe von Wattenbach- 
Eberhard (1899). — Ich benutze die Gelegenheit, einige Anmerkungen zum Text der 
Schulausgabe zu machen. 26, 23 ist gegen Holder-Eggers Vorschlag an 'iunctus' fest- 
zuhalten, ebenso wie 29, 25 an ‘iuncti’ mit Jaffé gegen Wattenbach. Ob 33, 18c mit 
Holder-Egger 'cum' zu ergünzen ist, erscheint fraglich; vgl. vorher Z. 14 'ambo 
mediocri copia venirent’ und den Brief Heinrichs an die Römer, Jaffé, Bibl. rer, 
Germ. V, 499, wo Jaffé's Korrektur (bei a) von fragwürdigem Werte erscheint. 34, 31 
Pertz Emendation rationis statt ‘orationis’ und ihre Begründung ist nicht zu 
halten; vgl. Z. 31 'oratio'. 37, 8 ist mit C. Meiser nicht 'surreptio', sondern ‘suggestio’ 
zu lesen: 'suggerere' und ‘suggestio’ sind in der Vita häufig. : 

18* 


276 ; . 8. Hellmann. 


sind annähernd gleichlang. Aber da der ersten nur der verhält- 
nismáBig kurze aretalogische Teil vorausgeht, so füllt die Er- 
zählung der beiden letzten Jahre des Kaisers fast die Hälfte der 
kleinen Schrift. Man sieht, worauf es dem Verfasser vor allem 
ankam: durch die Schilderung von Tücke und Verrat des Sohnes, 
von vergeblicher Abwehr und vom Tode des Alten bei dem Mit- 
gefühl des Lesers zu werben. 

Die einfach-große Gliederung durch das Kapitel vom Reichs- 
landfrieden ist nicht die einzige dieses Teiles; unter ihr durch- 
zieht ihn, fast in stetem Rhythmus, dem schnell wechselnden 
Weiß und Bunt eines farbigen Bandes vergleichbar, noch eine 
zweite, die nicht nach Epochen des Geschehens fragt, sondern 
nur den Reiz der Erzählung erhöhen will. Der Fluß der Darstel- 
lung bewegt sich nicht gleichmäßig fort, sondern verbreitert sein 
Bett und verlangsamt seine Strömung, um sie dann rascher wie- 
der vorwärts zu treiben. Es sind Episoden nach antikem Vorbild, 
mittels derer diese Wirkung hervorgebracht wird, Einzelvorfälle, 
die es an sich nicht erfordern, selbst nicht einmal immer verdien- 
ten, daß die Darstellung bei ihnen verweilt, die aber doch episch 
oder wenigstens novellistisch in Kleinschilderung ausgeführt wer- 
den: das Ende des Gegenkónigs Hermann, der Untergang Ekberts 
von Meißen, der in einer Mühle, von der Sommerhitze über- 
wältigt, im Mittagsschlaf von zufällig des Weges kommenden 
Kaiserlichen überrascht und niedergemacht wird; die Einnahme 
Roms dank der Kühnheit eines Kaiserlichen, den ein Zufall auf 
die Sorglosigkeit der Besatzung aufmerksam macht; ein Mord- 
anschlag auf Heinrich IV. in Rom; der Aufruhr von Ruffach im 
Elsaß gegen Heinrich V.; die Niederlage seiner Anhänger bei 
Viset; die vergebliche Belagerung von Kóln. Die Episoden wer- 
den in ihrer Wirkung unterstützt durch zwei fingierte Kund- 
gebungen, die der Verfasser einschiebt: eine mündliche Botschaft 
Heinrichs IV. an seinen Sohn, bald nach der Flucht aus dem 
Gewahrsam“, und ein Aufgebot Heinrichs V. an die Fürsten, nach 
seiner Niederlage bei Viset. Ein weiteres Element der Abwechse- 
lung bilden rhetorische Ergüsse, die da und dort eingeschoben 
werden. Zu besserem Überblick gebe ich ein Schema. 


4 Darüber, daB es sich nicht um einen Brief bandelt, wie man beim ersten Anblick 
glauben könnte, vgl. später. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 277 


1. Teil, c. 3—7 (S.14, 31— 28, 4). 
c. 3. Erzählung (14, 31—16, 35). i 
Rhetorisches Zwischenstück (16, 
! 36—17, 16). 
c. 4. Erzählung (17, 17—19, 18). 
Ende des Gegenkónigs Hermann 
(19, 18—20, 13). 
c. 5. Erzählung (20, 14—19). 
Ende Ekberts von Meißen (20, . 
20—22, 3). 
c. 6. Erzählung (22, 4—23, 8). 
Einnahme von Rom (23, 8—24, 
19). 
Erzählung (24, 19—26). 


c. 7. Anschlag auf Heinrich IV. (24, 
27—25, 26). 
Erzählung (25, 27—28, 4). 
Mittelstück, c. 8 (28, 5—29, 14). 
9. Teil, c. 9—13 (29, 15—44, 10). 
c. 9, 10. Erzählung (29, 15—35, 18). 


c. 11. Aufstand in Ruffach (35, 19—36, 
16). 
Erzählung (36, 17—21). 
Botschaft des Kaisers an seinen 
Sohn (36, 21—38, 8). 
Erzählung (38, 9—21). 


c. 12. Kampf an der Maasbrücke (38, 
22—39, 30). 
c. 13. Schreiben Heinrichs V. (39, 
| 31—41, 4). 


Erzählung (41, 5—34). 
Belagerung von Köln (41, 35 
bis 43, 5). 
Erzählung (48, 6—28). 
Totenklage (43, 28—44, 5). 
Erzählung (44, 6—10). ` 


278 S. Hellmann 


Auffallend kurz, wenige Zeilen umfassend, wohl beabsichtigt 
in dieser Kürze ist der SchluB des Ganzen: keine Rekapitulation, 
keine Reflexion, nur unter Tränen ein Fingerzeig auf das Ge- 
schriebene. Eine Knappheit, deren Zweck es ist, die Sache, das 
Erzählte noch einmal eindrucksvoll hervortreten und durch eine 
stumme Gebärde doppelt stark wirken zu lassen. 

Der Verfasser ist ein Meister des architektonischen Aufbaus. 
Er ist Meister auch der Sprache, sofern man ihr das Recht zu- 
gesteht, nicht nur der Sache zu dienen, sondern auch selbständig, 
durch sich allein, Wirkungen aufzusuchen. 

Hier ist der Punkt, wo die Vita sich mit einer Zeitbewegung 
berührt, und diese wieder ist bezeichnet durch ihr Verhältnis zur 
antiken Rhetorik. Das Mittelalter hat sie in dem ganzen, weit- 
gespannten Sinn aufgefaßt, der dem Wort innewohnte: als Lehre 
vom Ausdruck in Prosa jeder Art. Ihre praktische Seite erfaDten 
Alchvin und der Verfasser der Sankt-Galler Rhetorik: sie schrie- 
ben ihre Leitfáden als Anleitung zum Auftreten in der Reichs- 
oder Stammesversammlung und vor Gericht®. Die Rhetorik er- 
órterte auch den Aufbau des Literaturwerkes und sein Verhältnis 
zum Gegenstand: auch diese Seite ihrer Lehre erfaßte das Mittel- 
alter und entnahm ihr seine Theorie für die Anlage der histo- 
rischen Erzählung, soweit es sich nicht der Tradition und Empirie 
überließ®. Endlich war Rhetorik die Lehre vom Ausdruck im 
engeren und eigentlichen Sinne, die Lehre von der Erhabenheit 
des Stils, mit all den Feinheiten und virtuosenhaften Zuspitzun- 
gen, die aus der griechischen in die römische Beredsamkeit und 
aus dieser in das Buch übergegangen waren. Erstorben in diesem 
letzteren Sinne war die Rhetorik niemals. Sie rettete sich über 
die große Grenzscheide in das Mittelalter hinüber, verkümmert 
und verarmt, aber niemals ganz vergessen: gerade Schriftsteller, 
die sie am heftigsten verschwören, sind am meisten verdächtig, 
nach ihren Lorbeeren zu geizen'. Mit der andern Literatur der 

5 Vgl. die ersten Sätze von Alchvins Dialogus de rhetorica et virtutibus, Migne 
CI, 919, und bei Notker besonders den Beginn der Einleitung 643, c. 16 (652) und 
den Epilog (684), wo es von der Rhetorik heiBt 'inventa occasione manifestam se 
praebet et in multitudine populi, ubi sunt iudicia plebis et consilia principum curam 
regni ministrantium, ibi maxime gloriatur'. 

* Vgl. M. Schulz, a. a. O. 104, 128, 132f. 


7 M. Schulz 84 ff. hat das nicht gesehen. Um den ältesten Vertreter der mittel- 
alterlichen Literatur heranzuziehen: Gregor von Tours betont seine literarische Un- 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 279 


Antike erlebten auch ihre Theoretiker im karolingischen Zeitalter 
die Auferstehung. Der Auctor ad Herennium, Ciceros Libri de 
inventione und Quintilian wurden zu klassischen Lehrmeistern; 
neben ihnen dienten besonders die kurzen Abrisse, die man bei 
Martianus Capella und Isidor von Sevilla fand. Der Gebrauch, 
den man von ihren Lehren machte, war nach Verfassern und 
Literaturgattungen verschieden. Je mehr das Gefühl, und am 
meisten, wo das unechte Gefühl sprach, desto hóher stiegen die 
Ansprüche an den eigenen Ausdruck, desto reichlicher wurde von 
den Anweisungen der Antike Gebrauch gemacht: die Widmung 
an den Freund oder Gónner, die Predigt, die Heiligenlegende, 
und in ihr wieder die Vorrede, waren die geeigneten Orte, pathe- 
tische oder sentimentale Tóne erklingen zu lassen. Die Geschicht- 
schreibung blieb im Ganzen nüchterner, und es gab nationale 
Unterschiede: Notker tat sich etwas darauf zugute, daD die 
Deutschen immer das Maß beobachtet hatten, sich an die Sache 
hielten und die Worte ihr folgen lieBen?. 

Mit dem 11. Jahrhundert verstärkt sich der Einfluß der Rhe- 
torik. Häufiger als früher werden die Lehren des Auctor ad 
Herennium und Ciceros über Wesen und Aufgaben der Ge- 
schichte ins Auge gefaßt?. Zugleich begann auf dem Gebiete der 
Stilistik im engeren Sinne eine Bewegung, die gerade das auf- 
suchte, was die ältere Schule nicht gerne sah. Aus dem Auctor 
ad Herennium holte man sich die Vorschriften heraus, die auf 
bloßen Schmuck der Rede ausgingen, die Lehre von den Tropen 
und Figuren, den Colores rhetorici, wie man sie jetzt nannte. 
Marbod von Rennes und Onulf von Speier paraphrasierten sie!?. 


bildung. Aber wenn man seine Vorreden darauf hin ansieht, so findet man (übrigens 
nicht nur in ibnen) überall Beweise für die Fortdauer der rhetorischen Tradition: 
Parallelismus, Chiasmus, Antithese, rhetorische Frage, Apostrophe, Anaphora, 
Correctio, Occupatio. 

* c. 52 (‘Quod bipertita sit elocutio’), über die Lehre von den beiden funda- 
menta’ (‘Latine loqui planeque dicere’) und den beiden ‘fastigia’ (‘copiose ornateque 
dicere’): ‘nostri itaque scriptores plerique in fundamentis studiosi fuerunt, fastigia 
vero quasi supervacanea refutaverunt' (ed. Piper 672). 

* M. Schulz 130 fl. 

10 Über Marbods De ornamentis verborum (Migne CLXXI, 1687ff.) vgl. M. Ma- 
nitius, Gesch. d. lat. Literatur des MA. III, 723f. Onulf von Speier, Rhetorici colores, 
hrsg. von W. Wattenbach, Berliner SB. 1894, 361ff. Vgl. Manitius II, 715ff. Das 
Verhältnis von Marbod und Onulf wäre noch zu klären. 


280 S. Hellmann 


Aber beide sind vielleicht nicht so sehr Wegbereiter als Zeugen 
der neuen Kunst. Die Bewegung ist nicht rein artistischer Natur, 
was man auch daraus ersehen kann, daß sie einsetzt, lange ehe 
im 12. Jahrhundert, wohl von der Lombardei aus, der vollstän- 
dige Text des Auctor und vielleicht auch der des Quintilian be- 
kannt wird! Es ist denkbar, daß ihre Wurzel in der Steigerung 
des religiösen Gefühls liegt, das auch nach gesteigertem Aus- 
druck verlangte. Gewirkt hat sie bis in die Dichtung in den Natio- 
nalsprachen hinein, wie der Eingang von Gottfrieds Tristan 
zeigt. Allerdings ging sie nicht darauf aus, die ältere, einfachere 
Richtung zu verdrängen. Sie wollte sie nur überhöhen, ihr eine 
neue Legierung geben. 

Durch die Vita gewinnt die Bewegung eine Vertreterin im 
Rahmen der Geschichtschreibung, wenn auch nur für einen 
Augenblick. Ihr Verfasser beherrscht all die kleinen Künste und 
Mittelchen der antiken Rhetorik mit voller Meisterschaft. Er hat 
ein Virtuosenstück des rhetorischen Stiles in seiner letzten Stei- 
gerung geliefert. 

Ich veranschauliche das Gesagte durch ein Beispiel, indem 
ich den Anfang der Vita hersetze und nach der stilistischen 
Seite erläutere. 

„Quis dabit aquam capiti meo et fontem lacrimarum oculis 
meis, ut lugeam, non excidia captae urbis, non captivitatem vilis 
vulgi, non damna rerum mearum, sed mortem Heinrici impera- 
toris augusti, qui spes mea et unicum solacium fuit, immo ut de 
me taceam, qui gloria Romae, decus imperii, lucerna mundi ex- 
titit? Erit posthac mihi vita iocunda? Erit absque lacrimis dies 
aut hora? Aut tecum, o dulcissime, potero illius mentionem 


11 Vgl. F. Marx und Ch. Fierville in der Einleitung zu ihren Ausgaben des Auctor 
ad Herennium 32ff. und von Quintilians De Institutione oratoria L. I, p. XVIff. 

13 Ein gutes Beispiel für die Richtung des rhetorischen Interesses ist der Vindo- 
bonensis 2521 (vgl. St. Endlicher, Catalogus codd. mss. bibliothecae palatinae Vindo- 
bonensis I, 165—180). Von seinem bunten Inhalt interessieren hier ausgedehnte 
Exzerpte römischer Rhetoriker: aus dem Auct. ad Her., aus Ciceros De Oratore, 
Quintilian, Martianus Capella. Wie die beiden vorangehenden hexametrischen Ge- 
dichte zeigen, stammt die Sammlung von Udalrich von Bamberg ; nach Bamberg weisen 
auch manche Lesarten der Texte. Vgl. E. Dümmler, Zu Udalrich von Bamberg, NA. 
XIX (1894) 222ff. Der Text ist verstümmelt, was D. zu Unrecht bezweifelt. AuBer der 
Sammlung des Udalrich enthält die Hs., von der gleichen Hand geschrieben, die 
Colores rhetorici des Onulf von Speier, die nur durch sie erhalten geblieben sind. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 281 


habere sine fletu? Ecce dum scribo quod dictavit impatientia 
doloris, cadunt lacrimae, madent fletu litterae, et quod notat 
manus, diluit oculus. Sed forsan impatientiam doloris mei redar- 
guis, et ut fletum meum reprimam, ne forte his qui de morte 
imperatoris gaudent innotescat, instruis. Recte me doces, fateor; 
sed non possum imperare mihi, quin doleam, non possum me 
continere quin lugeam. Licet in me furorem suum exacuant, licet 
me per membra discerpere cupiant: dolor timere nescit, dolor 
illatas poenas non sentit.“ 

Was sofort empfunden wird, ist die Hyperbolik des Aus- 
drucks, die zwar nicht einer bestimmten Regel, aber einer Tra- 
dition der Rhetorik entsprach. Dann fällt die Isokolie der Satz- 
glieder und selbst ganzer Sátze in die Augen (besonders bemerk- 
bar am Schluß, aber z. B. auch in den beiden mit ‘erit’ beginnen- 
den Fragesátzen). Diese beiden, Hyperbolik und Isokolie, die eine 
den Ausdruck bezeichnend, die andere ein formales und sinn- 
liches Element enthaltend, sind Kennzeichen des Stiles, die zu- 
sammen mit einem dritten, das wir sofort kennen lernen werden, 
sich durch die ganze Vita hindurchziehen. Sie werden durch- 
woben und umspielt von den Tropen und Figuren im eigentlichen 
Sinne. Ich weise auf einige hin, die in den oben abgedruckten 
Zeilen vorkommen, wobei ich die bekanntesten, wie rhetorische 
Frage und Anaphora, beiseite lasse: Occupatio (‘ut lugeam, non 
excidia captae urbis. ..')!?; Correctio (immo ut de me taceam’); 
Allegorie (‘dictavit impatientia doloris’; ‘diluit oculus’; dolor 
timere nescit’ usw.); Praesumptio (‘sed forsan impatientiam dolo- 
ris mei redarguis, et, ut fletum meum reprimam ... instruis’); 
Confessio (‘recte me doces, fateor). 

In den soeben abgedruckten Sätzen der Vita ist nur ein Teil 
der Redefiguren vertreten, die sie anwendet; andere, die häufig 
auftreten, wie die Alliteration, die Antonomasie, besonders die 
Traductio, für die vielleicht noch später Beispiele anzuführen sein 
werden, vervollständigen das Bild. Jedoch ist der Einfluß der 
Rhetorik auf die Vita damit nicht erschöpft. Er berührt auch den 
Aufbau wie den Inhalt. Dort entspricht rhetorischer Vorschrift 


13 Der Anfang (bis ‘vilis vulgi’ einschließlich) stammt, zum Teil schon umge- 
bildet, aus der Homilie des Johannes Chrysostomus. In Theodorum lapsum (Migne, 
ser. gr. XLVII, 277), wird aber im letzten Gliede der Occupatio selbständig fort- 
gesetzt. 


282 S. Hellmann 


die Einschiebung jener nach vorwärts und rückwärts weisenden 
Zwischenglieder!*, hier die reichliche Ausstreuung von Sentenzen 
über den Text hin“. Endlich macht sich rhetorischer Einfluß mit 
besonderer Stärke in der Anwendung eines rein sinnlichen Reiz- 
mittels bemerkbar, des Homoioteleutons. Es ist antikes Erb- 
teil!“. Aber zu rechter Entwicklung ist es erst in der kirchlichen, 
vor allem der mittelalterlich-kirchlichen Literatur gelangt. Wir 
finden es in der gehobenen Rede, im Briefstil, in der Predigt, im 
moralischen Traktat. In der erzählenden Literatur ist seit alters 
sein Platz in der Heiligenlegende, und die cluniacensische Bio- 
graphik hatte sein Recht darauf eben erst neu bestätigt!“. Weni- 
ger häufig begegnet das Homoioteleuton in der Geschichtschrei- 
bung, aber auch hier hat es sich seit Anfang des Jahrhunderts 
eine feste Stelle erobert: die panegyrischen Lebensbeschreibun- 
gen der Kaiser, die Vita Heinrici II. des Adalbold von Utrecht, 
Wipo's Leben Konrads II. wenden es reichlich an. Es ist diese 
Linie, in welche die Vita Heinrici IV. einbiegt, sie weiterführend 
und verstárkend. 

Mustern wir die Ausdrucksmittel der Vita auf ihre Herkunft, 
so fällt der Dualismus zweier Stilelemente auf. Der größte Teil 
des rednerischen Schmuckes ist nach antiker Anweisung gebildet; 
aber nicht nur war das Homoioteleuton durch die kirchliche 
Literatur hindurchgegangen, hatte gewissermaßen kirchliche 
Weihe erhalten, die Vita stellte neben Sentenzen nach antikem 
Muster und neben Zitate und Anklänge aus antiker Literatur 
auch biblische und patristische!®. Ein anderer Dualismus liegt im 
Ausdruck selbst. Dieser scheint ganz durch die Colores rhetorici 


14 Sie stellen die Form der Transitio dar (Auct. ad Her. IV 26, 35). 

18 Vgl. 13, 24: ‘sed quoniam aetas immatura parum timori est et, dum metus 
languet, audacia crescit, pueriles anni regis multis suggerebant animum sceleris.' Im 
ganzen zähle ich über zwanzig Stellen. — Der Satz 'consuetudo mala' usw. 29, 14 
steht auch im Vindob. 2521 (vgl. oben Anm. 12); ob er zu den Exzerpten Udalrichs 
gehört, ist zweifelhaft. 

1* Als „similiter cadens" und „similiter desinens“ (Auct. ad Her. IV 20, 28). — 
Vgl. zum folgenden auch K. Polheim, Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925. 

17 Vgl. des Syrus V. Maioli, Odilo's Epitaphium Adalheidae und des Jotsaldus 
V. Odilonis. Dazu deutsche Viten der Reformbewegung, z. B. Widerichs Vita Gerardi 
Tullensis. 

18 Vgl. den Apparat der Schulausgabe, und „Zur Benutzung der Vulgata in der 
Vita Heinrici IV.“. NA. XXVIII (1903) 239ft. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 283 


bestimmt zu sein. Aber durch ihre Decke hindurch gewahrt man 
eine fast entgegengesetzte Erscheinung. Wo die Literatur der 
Zeit in gehobenem Tone spricht, schreibt sie Pluralismus des 
Ausdrucks vor: der einzelne Begriff wird nicht durch die ent- 
sprechende Bezeichnung allein wiedergegeben, der einzelne Satz- 
teil nicht in der durch die Sache allein geforderten Gestalt, son- 
dern ästhetische und gefühlsmäßige Bedürfnisse verlangen nach 
Fülle und Schmuck: dem attributiven Adjektiv, den kompli- 
zierten Prädikativen, entsprechenden Umschreibungen auch für 
das Objekt. Die Vita beobachtet gegenüber dieser Zeitmode eine 
eigenartige Haltung. Sie lehnt sie nicht ab; ebensowenig aber 
folgt sie ihr ohne Rückhalt; manches, wie die Hendiadys, ver- 
meidet sie sogar offenbar absichtlich. Wir finden also ein merk- 
würdiges Nebeneinander, das zugleich ein Gegensatz ist: Ex- 
uberanz der kleinen rhetorischen Mittel, aber zugleich Zurück- 
haltung gegenüber der Abänderung, die der Zeitstil predigt. Ein 
dritter Dualismus ist derjenige der elegischen Stimmung und der 
apologetischen Absicht des Verfassers auf der einen und des 
historischen Elements auf der anderen Seite. Aber weder sind 
alle diese Dualismen voneinander geschieden — sie durchdringen 
und kreuzen sich vielmehr —, noch ist innerhalb eines jeden eine 
scharfe Grenze gezogen: auch in die historische Erzählung dringt 
nicht nur die Kunst der Colores rhetorici ein, sondern auch die 
Emotion, in der Apostrophierung der handelnden Persönlich- 
keiten, in empfindungsbeschwerter Reflexion!®. Eine einzige Aus- 
nahme gibt es: die beiden kurzen Sätze, in denen die Vita den 
allgemeinen Abfall vom Kaiser nach seiner Flucht an den Rhein 
und den notgedrungenen Übergang seiner Anhänger zum Sohne 
nach dem Tode des alten Kaisers meldet“. Es sind Wendungen 
rein sachlich-historischen Stils, bloße Feststellungen, nicht mehr, 
die scharf von der gerade unmittelbar vorher zu der vollen Höhe 
der Rhetorik sich erhebenden Diktion abstechen. 

Isaak Casaubonus hat der Vita einen Adelsbrief verliehen, 
indem er sie mit dem Agricola des Tacitus verglich, und noch 
immer wird sie als ein Meisterwerk der mittelalterlichen Historio- 
graphie gepriesen. Sofern man auf das Artistische blickt, mit 

19 Vgl. 16, 36ff.; 19, 108f.; 26, 14ff., 28, 33ff. u. à. 0 32, 20ff.; 44, 61f. 
! m So W. Wattenbach, Deutschlands GQ. im MA. II, 92. Weder in den Casau- 
boniana noch den Scaligerana vermochte ich die Stelle zu finden. 


Recht. Meisterhaft ist die durchdachte Form des Baues, erstaun- 
lich das Kónnen, mit dem der Verfasser fremde und im Innern 
Sich widerstrebende Ausdrucksmittel zu einer Einheit ver- 
schmilzt, erstaunlich zuletzt nicht nur die Korrektheit, sondern 
auch die Klarheit und zugleich Innigkeit der Sprache. Aber diese 
Innigkeit, ist sie wirklich ganz echt ? Ist der Verfasser so ganz 
nur Gefühl, wie er sich gibt? Es ist zuviel bewuBtes und über- 
legtes Können in seiner Schrift, als daß wir ihm unbedingt glau- 
ben sollten. Bernhard von Clairvaux hat Zweifler gefunden, die 
seinen Stilkünsten mi8trauten?*. Ein ähnlich gemischtes und 
zweifelhaftes Gefühl steigt auch dem Verfasser der Vita gegen- 
über auf. Man bewundert ihn. Aber darf man das, was der Vir- 
tuose leistet, auch dem Künstler zugute rechnen, oder hat der 
Künstler jenem zu bereitwillig und zuviel nachgegeben? Fragen, 
die auch die Glaubwürdigkeitskritik berühren, aber wohl niemals 
rein beantwortet werden kónnen, solange es nicht gelingt, den 
Verfasser mit einer bestimmten, auch im Geistigen greifbaren 
Persónlichkeit der Zeit gleichzusetzen. 


II. Seit Melchior Goldast wollen die Bemühungen, der Vita 
einen Verfasser zu geben, nicht zur Ruhe kommen. Otbert von 
Lüttich, der Abt Dietrich vom St. Albanskloster in Mainz, Erlung 
von Würzburg sind nacheinander in Anspruch genommen wor- 
den, ohne daß man über bloße Vermutungen hinauskam, weil der 
Text nirgends wirklich greifbare Anhaltspunkte gab. Einen neuen 
Weg schien der große Aufschwung zu zeigen, den seit Theodor 
von Sickel die Erforschung der Kaiserurkunden nahm. Mit dem 
Grundsatz der Stilvergleichung erhielt man die Móglichkeit, be- 
stimmte Urkunden und Briefe einer Kanzlei auf den gleichen 
Beamten zurückzuführen. Gelang das, dann war auch denkbar, 
daß erneuter Stilvergleich es erlaubte, in dem auf solche Weise 
Umschriebenen den Verfasser eines anonymen Werkes der Lite- 
ratur festzustellen oder in dem Verfasser eines mit Namen über- 
lieferten jenen Beamten wiederzuerkennen. Der erste, der auf 
diesem Wege die Frage der Verfasserschaft für die Vita zu beant- 
worten versuchte, war Wilhelm Gundlach (Ein Diktator aus der 


33 Vgl. Neander, Der heilige Bernhard und sein Zeitalter (Ausgabe von S. M. 
Deutsch) II, 25 und dazu Berengars von Poitiers Apologeticus pro Petro Abaelardo, 
Migne 178, 1857, 1868. 


Die Vita Heinrici IV, und die Kaiserliche Kanzlei 2.85 


Kanzlei Heinrichs IV., Innsbruck 1884). Gleichzeitig mit H.BreB- 
lau, der den Schriftvergleich durchführte, suchte er auf dem 
Wege der Sprachvergleichung eine größere Anzahl von Urkunden 
Heinrichs IV.9 dem von Breßlau festgestellten Diktator Adal- 
bero C zuzuschreiben, in dem er den späteren Propst Gottschalk 
von Aachen erkennen wollte; in ihm glaubte er auch den Ver- 
fasser der Vita erblicken zu dürfen. Mindestens für die Vita“ ist 
Gundlachs Beweis nicht geglückt. Nach fast vierzig Jahren nahm 
B. Schmeidler (Über den wahren Verfasser der Vita Heinrici IV. 
imperatoris, in: Papsttum und Kaisertum, P. Kehr dargebracht, 
München 1926, S. 233ff., und: Kaiser Heinrich und seine Helfer 
im Investiturstreit, Leipzig 1927) * die Frage wieder auf, auch er 
an der Hand des Sprachvergleichs. In dem von ihm sogenannten 
Mainzer Diktator glaubte er den Verfasser kaiserlicher Urkunden 
und zugleich der Vita wiederzuerkennen®. Als letzter ergriff 


* Und sechs Briefe aus den Jahren 1075—1082. 

* A. a. O. 107ff. Soweit sich sein Beweis auf die Lebensschicksale Gottschalks 
stützt, kommt er über Vermutungen nicht hinaus; für den Sprachvergleich (118ff.) 
vgl. was später im Text über seine Methode ausgeführt wird. Seitdem hat G. Dreves 
(Gottschalk Mönch von Limburg an der Hardt und Propst von Aachen, ein Prosator 
des 11. Jhs., Leipzig 1897) in dem Sequenzendichter Gottschalk einen Kaplan Hein- 
richs IV. und Propst von Aachen nachgewiesen. Ob er mit dem von Gundlach als 
Adalbero C angenommenen zusammenfällt, ist nicht sicher. Jedenfalls hat er mit der 
Vita nichts zu tun. Gundlach hat zwar (Heldenlieder der deutschen Kaiserzeit III, 
987.) wiederum einen Sprachvergleich versucht und dazu die von Dreves veröffent- 
lichten Sermone Gottschalks benutzt. Der Parallelismus der Gedanken und manch- 
mal auch des Ausdrucks, den schon Dreves 17 angemerkt hatte, beweist nichts, 
ebensowenig das Homoioteleuton, das beiden nicht aufgefallen zu sein scheint. 
Gundlach stützt sich auf die Verwendung der sog. Traductio in der Vita und druckt 
ein größeres Stück aus Gottschalk ab, um zu zeigen, daß auch er diese Figur an- 
wendet. Abgesehen davon, daß die Traductio zum Sprachgebrauch der Zeit gehört, 
beweist die Stelle (und beweisen andere bei Gottschalk) nicht das, was Gundlach 
will. Bei der steten Wiederholung des gleichen Ausdrucks aus Bibelstellen handelt 
es sich für Gottschalk nicht um Redeschmuck, sondern um Beweisführung; er 
schreibt scholastischen Stil, nicht rhetorischen. P. v. Winterfeld, Zur Gottschalk- 
frage, NA. X XVII (1902) 513f. berücksichtigt die sprachliche Seite der Frage nicht; 
was er ausführt, um im Hinblick auf die letzten uns bekannten Schicksale Gottschalks 
seine Autorschaft immerhin als möglich erscheinen zu lassen, kommt über eine 
ansprechende Vermutung nicht hinaus. 

“a Wo im Folgenden Schmeidler ohne weiteren Zusatz zitiert wird, ist SEI 
mal, Kaiser Heinrich" usw. gemeint. 

3$ Schmeidler hat mannigfache Kritik erfahren (H. Zatschek, Ein neues Buch 
über Heinrich IV., MÜJG. XLIII [1929] 20ff.; H. Hirsch, DLZ. LIII [1932] 26ff., 


286 S. Hellmann 


K. Pivec das Wort (Studien und Forschungen zur Ausgabe des 
Codex Udalrici, MÖIG. XLV [1931] 409ff. und XLVI [1932] 
257 fl.) und versuchte die von Giesebrecht aufgestellte Kandidatur 
des Bischofs Erlung von Würzburg zu stützen. Sein Weg trennte 
sich insofern von dem Gundlachs und Schmeidlers, als er nicht 
von der Urkunde, sondern vom Brief ausging. Eine lángere Reihe 
von Schreiben Heinrichs IV., mit wenigen Ausnahmen im Codex 
Udalrici überliefert, glaubte er durch Stilvergleichung Erlung zu- 
weisen zu dürfen, der in jener Sammlung ebenfalls mit zwei Brie- 
fen vertreten ist. Weiterer Vergleich schien ihm zu ergeben, daß 
Erlung auch die Vita zugehört, und mit ihr das Carmen de bello 
Saxonico, das schon Gundlach dem gleichen Verfasser wie die 
Vita zugeschrieben hatte“. 

Wenn Untersuchungen über ein engumgrenztes Problem zu 
so verschiedenen Ergebnissen führen, so wird die Schuld weniger 
beim Gegenstand, als der Methode zu suchen sein. In der Tat war 
auf dem Wege, den Gundlach, Schmeidler und Pivec gingen, das 
Ziel nicht zu erreichen. Indessen ist es nicht meine Absicht, ihre 
Darlegungen im einzelnen mit Kritik und Polemik zu verfolgen. 
Sie wird sich nicht immer vermeiden lassen. Zunáchstaber scheint 
es mir richtiger, nach den Grundsätzen zu fragen, auf denen sich 
ein Stilvergleich aufbauen muß“. 

Die Methode, die Gundlach, Schmeidler und Pivec anwenden, 
ist die lexikographische und phraseographische: sie stellen Iden- 
titàt fest auf Grund des Vorkommens gleicher oder áhnlicher 
Wörter und Wortkombinationen hüben und drüben. Es fehlt 
ihnen nicht ganz an der Besinnung darauf, daß ein solches Ver- 
fahren nicht genügt, und auf der Suche nach einem wirksameren 
stellt sich die eine oder andere zutreffende Beobachtung ein. 


C. Erdmann, Die Briefe Meinhards von Bamberg, NA. XLIX [1932] 3321ff.), das Ent- 
scheidende, die Methode seiner Stilvergleichung, ist fast nicht berührt, jedenfalls 
nicht prinzipieller Prüfung unterzogen worden. Einige Bemerkungen bei Zatschek 
38f., Erdmann 366ff. 

3* A. a. O. 147ff. und: Wer ist der Verfasser des Carmen de bello Saxonico, 
Innsbr. 1887. 

3 Vgl. zum folgenden Aug. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philo- 
logischen Wissenschaften, hrsg. von E. Bratuscheck, 2. Aufl. 1876. — Fdch. BlaB, 
Hermeneutik und Kritik (Teil des Handbuchs der klassischen Altertumswissenschaft, 
2. Aufl. 1892; die Neubearbeitung von Th. Birt, 1913, erreicht das Original nicht). — 
Ch. Bally, Traité de stylistique francaise, 2 Bde. Heidelb. 1909. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 287 


Aber auf das Ganze gesehen, überwiegt die Technik einer Ver- 
gleichung von Wort zu Wort und oft nur von Anklang zu An- 
klang“, ganz gleichgültig, wie unbestimmt und entfernt er sein 
mag. Sie kann ihren Zweck nicht erreichen, muß vielmehr fast 
zwangsläufig zu Fehlergebnissen führen“. Aus mehreren Grün- 
den: sie sucht nicht systematisch, sondern überläßt sich dem 


33 Die „Allgemeinen Grundsätze der Stilkritik", die Schmeidler 383ff. gibt, 
sind geradezu auf ihr aufgebaut; von Syntaktischem ist nicht die Rede. Pivec wendet 
sich an verschiedenen Stellen gegen Schmeidlers Methode und erklärt sie für un- 
genügend; im Grunde tut er nicht viel anderes, als sie selber ausüben. Eine grofe 
Rolle spielt bei ihm das, was er 452ff. die Ableitung der Latinität eines Verfassers 
nennt, d. h. die Zurückführung einzelner Worte oder Wendungen auf einen antiken 
Autor. Vgl. 428, wo er die Identit&t der Verfasser zweier nach Inhalt, Umfang und 
Ton ganz verschiedener Schreiben Heinrichs IV. mit folgendem Argument zu stützen 
sucht. In dem einen der beiden Briefe heiBt es: 'tempus est omni rei ... tempus est 
irse Domini', in dem anderen: 'iam tempus est finem imponere'. Dazu bemerkt P: 
,Die erste Wendung stammt aus der Spruchsammlung Otlohs von St. Emmeram, 
c. 19 *tempus est omni rei sub coelo'; die Phrase 'tempus est’ kommt des öfteren 
bei Terenz vor, Heaut. 1, 1, 116 'tempus est monere me’, Boöthius, ... auch bei 
Vergi), Aen. 5, 638 'iam tempus agi res' und Sallust, Bell. Iug. 66, 3 'sed ubi tempus 
fuit ... invitant’. Am wahrscheinlichsten dünkt mir die Ableitung aus Vergil und 
Terenz." Derartige Hinweise wiederholen sich auf jeder Seite. Man sieht nicht, was 
für einen Zweck sie haben. Ganz abgesehen von der Äußerlichkeit dieses Verfahrens, 
das grammatisch verschiedene Konstruktionen miteinander identifiziert, weil sie 
einen einzelnen Ausdruck gemeinsam haben, so würde gemeinsame Übereinstimmung 
zweier Schriftwerke mit einem antiken Autor für den Stilvergleich hóchstens dann 
etwas besagen, wenn es sich um einen wenig gelesenen oder sonst unbekannten han- 
delte. Aber solche Fälle zu entscheiden, dazu fehlt es Pivec an der nötigen Voraus- 
setzung, der Bekanntschaft mit Überlieferung und Verbreitung der römischen Auto- 
ren im Mittelalter. Er glaubt (456), daß Tacitus (neben Ovid und Vergil) auf der 
Bamberger Domschule viel gelesen wurde, und führt gelegentlich eine Wendung selbst 
auf Ammianus Marcellinus zurück. Dabei ist nicht einmal sicher, ob die Übereinstim- 
mung einer Wendung bei einem mittelalterlichen Autor mit der bei einem antiken 
unbedingt auf direkte Entlehnung zurückgehen muß. Es ist auch noch eine andere 
Erklärung möglich: das mittelalterliche Latein beruht nur zum einen Teil auf der 
literarischen Tradition aus der Zeit der Antike, zum anderen, wenn auch vielleicht 
kleineren, auf der mündlichen Praxis der Schule, die auch in der vorkarolingischen 
Zeit nie ganz unterbrochen gewesen sein kann, wie manche syntaktische und sprach- 
liche Gewohnheiten beweisen. Aus dem Schatz von Wendungen, den die Schule 
gebrauchte, kann ebensogut wie der mittelalterliche auch schon der antike Autor 
geschöpft haben, und vielleicht ist manches, was wir bei Cicero oder Tacitus lesen, 
gar nicht „ciceronianisch” oder „taciteisch”. 

# Teilergebnisse, wo sie erreicht werden, haben in der gemeinsamen Provenienz 
einzelner Schriftstücke (kaiserliche Kanzlei) ihre Wurzel; sie sind mehr erraten als 
die Frucht wirklicher Methode. 


Zufall; sie sieht nur die Übereinstimmungen, die ihr auf diesem 
Wege aufstoDen, nicht auch die Abweichungen; sie berücksich- 
tigt endlich den allgemeinen Sprachgebrauch gar nicht oder zu 
wenig, und bucht voreilig als individuell, was in Wirklichkeit der 
ganzen Zeit geläufig ist. Es ist die Methode, mit welcher F. Kurze 
sich an den karolingischen Annalen, Pannenborg an Schriftstel- 
lern der Salierzeit versuchte, Manitius zahlreiche Anleihen mit- 
telalterlicher Autoren bei antiken nachgewiesen zu haben glaubte; 
trotz all dessen, was schon dagegen gesagt und geschrieben 
wurde, scheint sie unausrottbar zu sein. 

Wenn ich im Gegensatz dazu mich darzulegen bemühe, welcher 
Weg eingeschlagen werden muß, so kann es sich nicht um eine 
erschópfende Darlegung handeln: sie würde nicht weniger als 
eine vollständige Stillehre mit sehr weitreichenden Ausflügen in 
das Gebiet der historischen Grammatik wie der Sprachphilo- 
sophie erfordern. Ich muß mich damit begnügen, einige Grund- 
sätze zu zeigen, und mich selbst hier mit dem Elementarsten und 
einer nur ungefähren Linienführung begnügen. 

Der Stilvergleich baut sich auf den Lehren der philologi- 
schen Interpretation auf. Er will nicht bei dem Schriftwerk 
stehen bleiben, das er ins Auge faßt; vielmehr dient es ihm nur 
als Ausgangspunkt. Wohin er vorzudringen sucht, ist die Persön- 
lichkeit des Verfassers, um festzustellen, ob sie noch an anderer 
Stelle tätig war. Deshalb geht er an der einzelnen Spracherschei- 
nung vorüber und sucht die Gewohnheiten des Denkens und Emp- 
findens auf, wie sie sich im geschriebenen Wort kundgeben; die 
Einzelerscheinung, namentlich das letzte Element der Sprache, 
das Wort, interessiert ihn nur, soweit sie als Phänomen der gei- 
stigen Anlage des Autors gewertet werden kann; sie kommt daher 
nur da in Betracht, wo sie als Vertreterin einer Kategorie oder 
als Glied eines größeren Ganzen auftritt. 

In aller Sprache wirken untrennbar Denken und Empfinden 
zusammen. In der geschriebenen überwiegt jenes insofern, als 
der Gedanke im Satz formalen Ausdruck gewinnt und damit ein 
Gefüge aufrichtet, dem sich auch die emotionalen Elemente ein- 
zuordnen gezwungen sehen. Indessen ist Gegenstand der Stil- 
analyse und der Stilvergleichung nicht der einzelne Satz, sondern 
sie bewegt sich nach oben in der Richtung auf den größeren Ge- 
dankenzusammenhang, in dem der einzelne Satz steht, nach 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 289 


unten sucht sie Satzteile und schlieBlich Redeteile, und in diesen 
wieder Wortkategorien zu erfassen. Der erste und am weitesten 
führende Schritt ist der nach oben. Die Art, wie ein Autor seine 
Sätze verbindet, ob in Parataxe oder Hypotaxe und in welchen 
ihrer Untergattungen, oder ob er sie asyndetisch nebeneinander 
stellt und die Verbindung nur innerlich, durch den Sinn merkbar 
macht, ist das wichtigste Mittel, das Gepräge seiner Denkgewohn- 
heiten und damit den beherrschenden Zug seiner schriftstelle- 
rischen Eigenart kennenzulernen. Mit Recht hat daher die klas- 
sische Philologie den Rat gegeben, den Blick vor allem auf die 
Konjunktionen eines Autors zu richten“. Neben dem Konjunk- 
tionalsatz steht der Relativsatz; ob er als echter Relativsatz, 
d. h. zur Bezeichnung einer dauernden oder vorübergehenden 
Eigenschaft, ob er statt eines Konjunktionalsatzes, oder endlich 
ob er zur Umschreibung von Subjekt oder Objekt gebraucht 
wird, erlaubt weitere Schlüsse in bezug auf Abgegrenztheit und 
Plastik des Denkens. Endlich ist im Lateinischen besondere Auf- 
merksamkeit noch den Konstruktionen zuzuwenden, die Neben- 
sátze vertreten: dem Participium coniunctum, dem Ablativus 
absolutus, dem Akkusativ cum Infinitiv: in der Häufigkeit oder 
‚Seltenheit ihrer Anwendung offenbart sich größere oder geringere 
Geschlossenheit des Denkens. 

Nach systematischer Ordnung wäre nunmehr die Behandlung 
der Satzteile erforderlich. Ich ziehe es vor, mich zuerst dem letz- 
ten Element der Sprache zuzuwenden, dem Wort. Von den 
Wortkategorien sind die wichtigsten Substantivum und Verbum. 
Über ihre Unterarten wird noch zu reden sein; hier genügt, daB 
sie Dinge und Vorgänge bezeichnen, und damit den sachlichen 
Untergrund des Satzes herstellen. Für die Erkenntnis schrift- 
Stellerischer Eigenart sind jedoch Adjektiv und Adverb bedeu- 
tungsvoller: soweit sie sich nicht auf sachliche Feststellung be- 
schränken ('rotundus', hesternus'; ‘illic’, tunc'), bezeichnen sie 
Qualitäten, Grade und Werte; durch sie erlangen Relativität 
und Subjektivitát Eingang in die Darstellung. 

Hier óffnet sich schon der Übergang, um den Stil im engeren 
Sinne zu erschließen. Er ist bestimmt durch den Wortschatz, die 
Wortbedeutung, endlich die Mittel zur Steigerung des Eindrucks, 
der durch das Schriftwerk hervorgerufen werden soll. Mit 


Vgl. Boeckh, a. a. O. 108f., 1351. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 19 


290 S. Hellmann 


dieser letzten Kategorie sehen wir neue Kräfte im Leben der 
Sprache hervortreten. Ihre Ursprünge liegen im UnterbewuBt- 
sein, dessen naiver Ausdruck ihre anfänglichen Äußerungen sind. 
Indem sie in die Sphäre der Bewußtheit und des Willens auf- 
steigen, jene ursprünglichen Elemente jedoch nicht verdrängen, 
sondern sich in mannigfacher Weise mit ihnen vermischen, ent- 
steht eine lange Skala der verschiedensten Ausdrucksmóglich- 
keiten vom unreflektierten Gefühlsausbruch über die Gemessen- 
heit von Denken und Gefühl bis zum leeren Intellektualismus auf 
der einen, zu Sentimentalität und Pose auf der anderen Seite. 
Durch die Wahl der Worte und die Bedeutung, in der er sie ge- 
braucht, umschreibt der Autor die Welt der Begriffe und An- 
schauungen, in denen er lebt. Die Auswahl kann sich einmal auf 
die Dynamik der Worte beziehen, d. h. die Enge oder Weite des 
Geltungsbereiches, die der einzelnen Wortkategorie gegenüber 
anderen zugemessen wird. Hier liegt der Ursprung des Unter- 
schiedes von Verbalstil und Nominalstil®!. Den gleichen Vorgang 
drückt das Mittellateinische aus durch ‘peccata confiteri’ oder 
durch 'peccatorum confessionem facere' ; im ersten Fall liegt der 
Sinnesakzent auf dem Verbum, im zweiten auf dem Substantiv, 
dort wird der Vorgang sinnlicher, hier gedankenmäßiger erfaßt. 
Áhnliches wie zwischen Verbum und Substantiv spielt sich zwi- 
schen Substantiv und Adjektiv ab. Wenn Gregor von Tours in 
der Vorrede zu seinem Geschichtswerk schreibt 'cum ... feretas 
gentium desaeviret, regum furor acueretur..'?? so zieht er die 
Eigenschaft aus der Einzel- oder Kollektivpersónlichkeit heraus, 
der sie anhaftet, um sie zu einem Allgemeinbegriff zu erheben, der 
sich auf die Individuen niederlassen kann: auch hier findet eine 
Abstraktivierung und dadurch eine gedankliche Schärfung statt. 
Was in den eben geschilderten Vorgàngen sich abspielt, setzt 
sich innerhalb der großen Wortklassen fort: es ist weder gleich- 
gültig noch ein Zufall, wieviel Spielraum ein Autor den im Mittel- 
lateinischen (d. h. bereits der Spátantike) häufigen Verbalsub- 
stantiven, z. B. denen auf -io' überläßt. Die Folgerungen, die 


31 Er darf nicht etwa mit dem zwischen attributiven und praedikativen Aussage- 
sätzen und Satzformen zusammengeworfen werden, den W. Wundt, Völkerpsycho- 
logie I. Die Sprache II, 268ff., 317ff. aufstellt. Vgl. C. L. Meader, Types of Sentence 
Structure in Latin Prose Writers, Transactions and Proceedings of the American 
philological association XXXVI (1905) 37ff. 33 SS. Rer. Mer. I, 31. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 291 


daraus gezogen werden müssen, laufen in der gleichen Richtung 
wie in den eben erórterten Fällen. . 

Das Vordringen des Substantivs auf Kosten anderer Rede- 
teile und die Rolle bestimmter Klassen innerhalb des Substantivs 
führt an den Unterschied von Konkret und Abstrakt heran. In- 
dessen ist derjenige von ursprünglicher und übertragener Be- 
deutung für die Erkenntnis des Stiles fast noch ergiebiger: Meta- 
pher und Vergleich lassen die Spháre der Anschauung erkennen, 
der er sein Material entnimmt®. Die Verkennung des Unter- 
schiedes von eigentlicher und übertragener Bedeutung, die selt- 
samerweise vorkommt, ist einer der schwersten Verstöße gegen 
Stilanalyse und Stilvergleich: sie übersieht, daB nur die Schrift- 
zeichen übriggeblieben sind, das Wort aber seinen Sinn ge- 
wechselt hat“. 

Ich kehre zu der Aufgabe zurück, die ich vorläufig beiseite 
schob: zu dem Zwischengebilde zwischen Satz und Einzelwort, 


33 Vgl. jedoch die Einschränkung, die Bally I, 190 vornimmt. 

* Damit man mir nicht Übertreibung vorwirft, gebe ich Beispiele, und zwar aus 
den jüngsten Untersuchungen zur Vita, zunächst aus Pivec 445f. In der Vita 
bittet Heinrich IV. seinen Sohn ne patrem omnium offenderet, ne se s put is hominum 
exponeret, ne se fabulam mundo faceret’ (S. 30, 24); damit bringt P. eine Stelle aus 
einem kurzen Schreiben des Kaisers an Hugo von Cluny in Zusammenhang, in dem er 
von seiner Absicht spricht, einen Kreuzzug zu unternehmen: ‘post confirmatam 
pacem ire Jerusalem disponimus et videre sanctam terram, in qua Dominus noster 
in carne visus est ..., ut ibi expressius eum adoremus, ubi eum alapas, sputa, 
flagella, crucem, mortem, sepulturam passum esse pro nobis cognovimus' (d'Achéry, 
Spicilegium III®, 443), und weiter stellt er dazu einen Satz aus einem noch öfter anzu- 
führenden Schreiben Heinrichs an Philipp von Frankreich (Jaffé, Bibl. rer. germ. V, 
241) 'quod de ... apostolica sede ... persecutionis et excommunicationis et omne 
perditionis flagellu m in nos emittitur' und aus dem gleichen Brief: ammonens et 
obtestans (scil. filium') per deum ..., ut, si pro peccatis meis flagellandus eram 
à deo, de me ipse nullam maculam conquireret animae, honori et nomini suo'. Er 
nennt das eine „gefühlsbetonte Parallelisierung der Leiden Heinrichs zu denen Jesu“, 
und sieht nicht, daß sputum' und flagellum', die als dünne Balken dieses ganze Ge- 
bäude tragen müssen, das eine Mal wörtlich, das andere Malin übertragenem d.h. voll- 
ständig anderem Sinn verwendet werden. Schmeidler (317f.) verfährt nicht anders. 
Die mortales inimici', von denen Heinrich in seinem großen Klagebrief an Hugo von 
Cluny (vgl. später) wiederholt spricht, zieht er zu den *mortales’ in Urkunden, z. B. 
in quantum maior ceteris mortalibus potestas nobis a Deo largita est und quanto 
maiores, potentiores et ditiores inter ceteros mortales Deus noster voluit'. Schmeidler 
bemerkt dazu: „allerdings in dem Sinne von sterblich, während es hier in den Briefen 
bedeutet: tódliche Feinde. Aber ich glaube nicht, da8 das ein Argument gegen die 
Gleichheit des Verfassers ist.“ 


19* 


292 S. Hellmann 


dem Satzteil. Das Schema: Subjekt — Prädikat oder Subjekt — 
Prádikat — Objekt kann durch Attribute und die mannigfach- 
sten Prädikative auf verschiedene Weise erweitert werden, so 
sehr, daß seine gerade Linie von Zutaten überwuchert und ver- 
deckt wird?5. Die Gegenpole sind hier: Nacktheit und Exuberanz; 
zwischen ihnen vermitteln alle nur erdenklichen Móglichkeiten 
den Übergang. Die eine wie die andere, und ebenso jede Stufe der 
Zwischenskala kann geradezu entgegengesetzte Ursachen haben: 
Dürftigkeit von Phantasie und Denken wie absichtliche Zurück- 
haltung, gedankenlose Häufung von Nebenbestimmungen oder 
überlegte Absicht barocker Formgebung. Die Entscheidung im 
Einzelfall wird nur durch den Blick auf das Ganze und das Maß 
von Einfühlung in Literarisches erreicht werden, das zu Gebote 
steht. 

Der Ausbau der Satzteile reicht in das Gebiet dessen hinüber, 
was man gehobenen Stil nennt. Einen eigenen Bezirk nehmen 
hier besondere Ausdrucksmittel ein, die dem bloßen Schmuck 
der Rede dienen. Jede Sprache besitzt ihre Rhetorik; die aus- 
gebildetste ist die, welche die Römer von den Griechen über- 
nahmen“. Die Mittel der lateinischen Rhetorik sind teils dia- 
lektischer Natur, wie etwa die Antithese, teils klanglich-sinn- 
licher, wie die Alliteration, teils verbinden sie beide Wirkungen, 
wie Anaphora, Epiphora, Symploke. Auch die Isokolie und das 
Gesetz der wachsenden Glieder in der Periode gehört hierher. 
Für das Ende und die Einschnitte von Perioden hat das Mittel- 
alter, antike Vorschriften teils umbildend, teils erweiternd, die 
Unterstreichung durch Homoioteleuton und Cursus ausgebildet. 

Ein letzter Anhaltspunkt für Stilvergleichung darf nicht 
übersehen werden: alle Rede verläuft in der Zeit. Von hier nimmt 
das Problem der Wortstellung seinen Ausgang. Ob ein Autor für 


3 Als Beispiel wähle ich den Brief Friedrich Barbarossas an Otto von Freising 
an der Spitze der Gesta (ed. Simson 1, 7): Cronica, quae tua sapientia digessit vel de- 
suetudine inumbrata in luculentam erexit consonantiam, a dilectione tua nobis trans- 
missa cum ingenti gaudio suscepimus et post bellicos sudores interdum in his delectari 
et per magnifica gesta imperatorum ad virtutes informari praeoptamus.' 

** Vgl. R. Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, 2. Aufl., Berl. 1885. 
— Ders., Rhetorik der Griechen und Rómer, 3. Aufl., bes. von C. Hammer (im Hand- 
buch d. klass. Altertumswissenschaft II, 3), München 1901. — A. Ed. Chaignet, La 
Rhétorique et son histoire, Paris 1888. — Über die Bedeutung der Rhetorik für die 
Vita vgl. oben S. 280ff. 


t. 
ahl 
uh 
len] 
“le ] 
NO 
wurde! 
er 
duch 
dm he 
dauert 
Läligig 
Natur 
au di 
Yit] 
Van 
Nor 
Xs] 
priet 
^ des 
E 
LENT 
rac 
u 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 293 


betonte Worte Kopf- oder Endstellung wáhlt oder sie an ihrer 
gewöhnlichen Stelle beläßt, ob er sie durch Chiasmus sperrt oder 
durch Parallelstellung den Ton wiederholt auf die gleiche Stelle 
fallen 1äßt?”, kann mit anderen Merkmalen zur Erkenntnis seines 
Stiles beitragen. 

Soweit hier Grundsátze für den Stilvergleich vorgetragen 
wurden, faBten sie das einzelne Schriftwerk, den einzelnen Ver- 
fasser ins Auge. Neben dem individuellen Sprachgebrauch muß 
jedoch auch der allgemeine der Zeit berücksichtigt werden. Von 
ihm hebt sich der individuelle ab, aber er speist sich zugleich fort- 
dauernd aus ihm. Vernachlässigt der Stilvergleich dieses Ab- 
hängigkeitsverhältnis, so erliegt er der Versuchung, die ihm von 
Natur innewohnt: vorschnell aus gleichen Spracherscheinungen 


| auf den gleichen Verfasser zu schließen. Diese Gefahr ist beim 


Mittellateinischen vielleicht größer als bei einer anderen Sprache. 
Wenn man von wenigen Einzeluntersuchungen absieht, ist sein 
Sprachgebrauch noch unerforscht??, Wir wissen nur, daB das 
Mittellatein als Hochsprache sich nicht von unten, vom ge- 
sprochenen Wort her, immer wieder zu erneuern vermochte, daß 
es deshalb nur über einen verhältnismäßig beschränkten Vorrat 


. an Ausdrücken verfügte und mehr dazu neigte, festgeprägte 


Wendungen durch die Schule zu vermitteln, als eine lebende 
Sprache dies tut. Aus allen diesen Gründen verwischen sich für 
den Stilvergleich die Grenzen zwischen individuellem und all- 
gemeinem Sprachgebrauch bei mittellateinischen Texten beson- 
ders leicht. Nirgends ist die eindringliche Mahnung mehr am 
Platz, die Untersuchung auf das Innere des Stils zu richten, auf 
die Art der Verbindung von Vorstellung, Begriff, Gedanke, nicht 
auf das einzelne Wort oder eine Kombination, in der es auftritt. 


Ich wähle noch einmal ein Beispiel aus Gregor von Tours, weil in ihm die 
antike Rhetorik noch unmittelbar fortlebt, nicht erst wieder zu neuem Leben erweckt 
werden muBte, und nehme die schon vorhin zitierte Stelle, diesmal mit ihrer Fort- 
setzung: ‘cum nonnullae res gererentur vel rectae vel improbae, ac feretas gentium 
desaeviret, regum furor acueretur, ecclesiae inpugnarentur ab hereticis, a catholicis 
tegerentur, ferveret Christi fides in plurimis, tepisceret in nonnullis...' Das Beispiel 
ist dadurch besonders lehrreich, daB das erste Gliederpaar Parallelismus, das zweite 
Chiasmus, das dritte wieder Parallelismus zeigt. 

38 Unerreicht steht noch immer M. Bonnet, Le Latin de Grégoire de Tours (1890) 
da; das Wenige, was sonst zu nennem ist, und jene Indices, die einen gewissen Ersatz 
bieten, verzeichnet K. Strecker, Einführung in das Mittellatein *, 8f., 11, 15. 


294 S. Hellmann 


Übereinstimmungen dieser letzten Art trügen meist; an ihnen 
erweist sich die Schwäche jener lexikographischen und phraseo- 
logischen Methode, von der früher die Rede war. In ihrer Bevor- 
zugung oder ausschlieBlichen Anwendung liegt der Grund, da6 
die Mehrzahl der stilvergleichenden Arbeiten ihr Ziel nicht er- 
reichen konnte. Dieser Umstand rechtfertigt es vielleicht, wenn 
ich etwas ausführlicher werde, und für einen Augenblick von 
meinem Vorsatz abgehe, auf Kritik zu verzichten. 

Ich beginne damit, daß ich ohne weiteren Zusatz einige Über- 
einstimmungen hierhersetze, von der Art wie sie Gundlach, 
Schmeidler und Pivec zu ihren Schlüssen verwendet haben : 
la) '... difficile est credere nisi cui contingit et videre'; 
b) ‘nulli est credibile, nisi cui contigit haec omnia loca praesen- 
tialiter videre'*?, 2a) 'si non benedictionem pro maledic- 
tione... hoc tempore reputassem' ; b) rex ab apostolico regres- 
sus, benedictione pro maledictione accepta...'*. 3a)'fra- 
tres nostri, qui sunt sanioris sententiae...’; b) ‘ex consilio 
omnium sanioris sententiae'. 

Ich will den Leser nicht länger hinhalten, sondern ihm ver- 
raten, woher diese sechs Stellen stammen: 1a) aus der Vita 
Heinrici IV.€, b) aus Bruno, De bello Saxonico, c. 123, 2a) aus 
einem Brief des Bischofs Theoderich von Verdun von 1070%, 
b) wieder aus der Vita Heinrici IV.“, 3a) aus einem Schreiben 
des Erzbischofs Siegfried von Mainz (1075)*5, b) aus dem Schrei- 
ben Heinrichs IV. an Philipp von Frankreich (1106), von dem 
noch oft die Rede sein wird“. Ich bemerke, daß ich diese Über- 
einstimmungen fand, nicht bei planmäßigem Suchen, sondern ge- 
legentlichem Blättern. 

Fälle wie die hier angeführten lassen ersehen, wie sehr die vor- 
hin ausgesprochene Mahnung und Warnung angebracht ist. Sie 


Vgl. Sall. Cat. 13, 1: quid ea memorem, quae nisi eis qui videre nemini credi- 
bilia sunt". 

“ Vgl. Gen. 27, 12: inducam super me maledictionem pro benedictione’. 

4 10, 12. 

42 Ph. Jaffé, Bibl. rer. Germ. V, 131. 

€ 17, 17. 

4 Jaffé a. a. O. 99. 

“ Jaffé 245. — Zu ‘cassa obsidione’ in der Vita (31, 3), habe ich mir notiert, daß 
die Wendung auch bei Frutolf-Ekkehard vorkommt, vermag aber die Stelle nicht 
wieder aufzufinden und lasse daher dieses Beispiel beiseite. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 295 


waren freigewählt. Ich füge noch andere aus den Untersuchungen 
von Schmeidler und Pivec an. 

Pivec stellt (S. 422) einen Passus aus dem ebengenannten 
Schreiben Heinrichs IV. an Philipp von Frankreich — ich nenne 
es der Kürze halber fortan P — neben eine andere aus einem 
Brief an Hugo von Cluny: ‘primum et praecipuum ... vos excepi, 
cui conqueri calamitateset omnes miserias measnecessarium 
duxi' und: 'ut apud te saltem miseriarum nostrarum sola- 
tium inveniamus, humiliter exposcimus'. „In gedanklicher und 
satztechnischer Hinsicht besteht demnach eine weitgehende 
Übereinstimmung.‘ Sie ist in ,,satztechnischer'" Hinsicht jeden- 
falls nicht vorhanden: Hauptsatz und Relativsatz hier, Haupt- 
satz und Finalsatz dort. Was bleibt, ist das gleichmäßige Vor- 
kommen von ‘miseriae nostrae’, bzw. ‘meae’. Aber wieder kann 
man bei gelegentlichem Bláttern im Codex Udalrici einen Brief 
der Erwählten Egilbert von Trier finden (1080), in dem es heißt: 
‘inter has multiplices calamitates et miserias, quas patitur 
et conqueritur sancto ecclesia’*. Mit der Hendiadys steht Egil- 
berts Schreiben P náher als dieses dem Brief an Hugo von Cluny. 
An einer anderen Stelle bei Pivec (448) findet man unter dem 
Material, das Identität zwischen dem Verfasser der Vita und dem 
Schreiber von P feststellen soll, folgende Wendungen: 'ad patrios 
pedes advolvi ... pedibus legati advolvitur'*'; ‘genibus vestris 
advolvi' €. ‘Pedibus’, ‘genibus advolvi' oder provolvi' sind 
konventionelle Wendungen, wie man sie in der Legende und Ge- 
schichtschreibung des Mittelalters jeden Augenblick trifft. Ich 
wähle als Beispiel einen Bericht, dessen Verfasser Heinrich IV. 
feindlich gegenübersteht, also weder mit dem Verfasser der Vita 
noch dem eines Schreibers des Kaisers aus seiner letzten, schwer- 
Sten Zeit identisch sein kann, die Annales Hildesheimenses: 
‘filius patris genibus advolutus’ und ‘eorum pedibus se ad- 
volvit'*. Noch ein letztes, sehr belehrendes Beispiel. Der Ver- 
fasser von P läßt Heinrich IV. sagen: ‘filium meum ... contra 
me animaverunt, sed etiam tanto furore armaverunt, ut' usw. 


* Jafféa.a. O. 128. 7 35, 3 und 7. % Jaffó a. a. O. 241. 

* S. 54 Z. 2 v. u. und S. 56 Z. 12 der Schulausgabe. — Noch zwei andere Autoren, 
gleichfalls Gegner Heinrich IV. für pedibus provolutus': Lampert von Hersfeld 
157, 18; 165, 7; 170, 2 (auch dies sind zufállige Funde) und Werner von Magdeburg 
(bei Bruno, De bello Saxonico c. 42, Schulausgabe S. 28). 


296 S. Hellmann 


' Animaverunt/ und armaverunt' bilden die rhetorische Figur der 
Paronomasie; dadurch, und daß es eine Steigerung von 'anima- 
verunt' darstellt, erhält armaverunt' erst seine Tönung, ganz 
abgesehen davon, daB die übertragene Bedeutung, in der es ver- 
wendet wird, durch den Hinzutritt der Metonymie 'tanto furore' 
noch Verstárkung erfáhrt. Schmeidler wie Pivec übersehen das. 
Schmeidler“ bringt als Parallelen dum subditos in praelatos 
armasti’ und et fratrem in fratrem armavit’, Pivec9! ‘contra nos 
studerent commovere et armare'. Von den beiden Stellen, die 
Schmeidler anführt, stammt die eine aus dem dreißig Jahre 
zurückliegenden Absetzungsschreiben Heinrichs IV. an Gre- 
gor VIL, die zweite aus einem nicht viel jüngeren Brief an die 
Römer°®, die von Pivec zitierte aus einem Schreiben des Kaisers 
an Paschalis II.9 — ich nenne es A —, das uns später noch be- 
scháftigen wird. Es ergibt sich folgende Lage. Schmeidler und 
Pivec haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: es ist P, nur 
daB jeder auf Grund vermeintlicher stilkritischer Argumente es 
einem anderen Verfasser zuschreibt, Schmeidler dem von ihm 
postulierten ,, Mainzer Diktator'', Pivec, der an den Mainzer Dik- 
tator.nicht glaubt, Erlung von Würzburg. Die beiden Schreiben, 
die Schmeidler heranzieht, läßt Pivec beiseite: sie gehören für ihn 
jedenfalls nicht dem Verfasser von P. A, das Pivec diesem zu- 
schiebt, ist nach Schmeidler zusammen mit den anderen großen 
Briefen aus Heinrichs letzter Zeit von einem Dritten verfaßt, 
und zwar dem Diktator Ogerius A, während Pivec sie samt und 
sonders Erlung zuweist. Als dessen Werk betrachtet er auch die 
Vita, wogegen bei Schmeidler wieder der ,, Mainzer Diktator“ auf- 
tritt. Ich weiß nicht, ob es nötig ist, noch weitere Beispiele dafür 
aufzuführen, wohin Stilvergleichung gelangen kann, wenn sie 
sich nicht vor jeder Gleichsetzung fragt, ob es sich wirklich um 
individuellen oder nicht vielleicht doch allgemeinen Sprach- 
gebrauch handelt, und wenn sie es überhaupt versäumt, nach 
vollgültigeren Beweisen als äußerlichen und zufälligen Anklängen 
zu fragen. 

Die Auseinandersetzung über diesen Gegenstand hat mich 
weiter geführt, als ich voraussah. Ich kehre an meinen Ausgangs- 
punkt zurück; in aller Kürze bringe ich zum Abschluß, was noch 
über die Methode des Stilvergleichs zu sagen ist. 


0 S. 320. 81 8. 423. ss Jaffé 500. ss Jaffé 231. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 297 


Wenn die Stilvergleichung persónlichen und Zeitstil scheidet, 
so ist ihre Aufgabe noch nicht erledigt: sie muB auch auf den 
Unterschied der Literaturgattungen Rücksicht nehmen. Sie wer- 
den konstituiert durch den Gegenstand, die Absicht des Autors, 
das Publikum, für das er sein Elaborat bestimmt: je nach ihren 
Verschiedenheiten wechselt Aufbau, Ton des Vortrags, Wahl des 
Ausdrucks“. Die mittelalterliche Forschung trägt den Erforder- 
nissen, die sich aus dieser Sachlage ergeben, nicht immer ge- 
nügend Rechnung. Wenn man Legendenschreiber abkanzelt, 
weil sie Dinge berichten, die der Prüfung nicht standhalten, so 
beweist man damit vielleicht, daß man hinreichende Übung in 
den Grundsätzen der historischen Kritik besitzt, wie sie in Semi- 
naren gelehrt werden; nur fragt es sich, ob man berechtigt ist, 
sie gegenüber Autoren anzuwenden, die, im stillschweigenden 
Einverständnis mit ihren Lesern und Hörern, gar nicht daran zu 
denken brauchten, historische Wahrheit zu geben, sondern die 
Frömmigkeit erbauen, das ethische Verhalten durch großes Bei- 
spiel stärken, das ästhetische Bedürfnis durch stilvolle Darstel- 
lung befriedigen und schließlich selbst dem Verlangen nach Ab- 
wechselung durch gelegentliche novellistische und selbst humo- 
ristische Züge Genüge leisten wollten. Um den Grundsatz, daß 
die Unterschiede der Literaturgattungen zu berücksichtigen sind, 
auf den Gegenstand dieser Untersuchung anzuwenden, so werden 
wir noch sehen, daß sich Schwierigkeiten ergeben, wenn Ge- 
schichtschreibung und Brief stilistisch miteinander verglichen 
werden sollen. 

Der generische Unterschied von Historiographie und Epi- 
stolographie macht es notwendig, noch auf eine letzte Vorsichts- 
maßregel hinzuweisen, die eine Untersuchung wie gerade die 
unsere befolgen muß. Sie wird gefordert durch die Umstände, 
unter denen die eine dieser beiden Gattungen entsteht, der Brief. 

So wenig Gemeinsames Brief und Urkunde geistlicher und 
weltlicher Gewalthaber im Mittelalter sonst haben®®, stimmen sie 


„ Das kann beim gleichen Autor der Fall sein, wenn er sich in verschiedenen 
Gattungen betätigt; vgl. Birt a. a. O. 63f. über Catull, den „zweisprachigen Dichter“. 
Der Brief bewegt sich in literarischen Formen und ist (mindestens in der 
Antike und im Mittelalter) ein Genus der Literatur. Wenn man ihn der Urkunden- 
lehre zuweist, do ist das nicht anders, als wollte man die Behandlung von Bismarcks 
Gesandtschaftsberichten aus Sankt-Petersburg in die gleiche Hand legen und nach 


298 S. Hellmann 


doch darin überein, daB sie aus einer Organisation hervorgehen, 
der Kanzlei. Das bedeutet einmal die Entwicklung einer sprach- 
lichen Tradition, die mit feststehenden Wendungen in den Wort- 
laut der einzelnen Stücke eindringt; dann, daß der Verfasser des 
Briefes, von seltenen Ausnahmen abgesehen, sich nicht der glei- 
chen Unabhängigkeit erfreut, wie der eines Literaturwerkes**, 
Der Kanzleiherr wird ein gewichtiges Wort zu sprechen haben 
und, wenn die Verhältnisse entwickelter sind, der Leiter der 
Kanzlei oder der Vorstand einer Abteilung. Auch kollegiales Zu- 
sammenwirken mit gleichgestellten oder untergeordneten Orga- 
nen ist móglich, sei es auf Befehl, sei es aus eigenem Antrieb. 
Diese Mitwirkung fremder Hände erschwert die Feststellung des 
individuellen Stiles und macht das Ergebnis unsicher. Zwei 
Briefe der gleichen Kanzlei kónnen weitgehende sprachliche 
Übereinstimmung zeigen und brauchen doch nicht vom gleichen 
Verfasser zu stammen ; umgekehrt kann hinter einem sprachlich 
geschlossenen Schriftstück eine Mehrheit von Personen stehen. 
Wir werden im Laufe dieser Untersuchung noch sehen, wie stark 
mit solchen Móglichkeiten zu rechnen ist. 


III. Für die Frage, ob der Verfasser der Vita in der kaiser- 
lichen Kanzlei zu suchen ist, kommen entscheidend sechs große 
Schreiben aus der letzten Zeit Heinrichs IV. in Frage; andere, 
nach Inhalt und Umfang weniger bedeutend, kónnen ohne Nach- 
teil beiseite gelassen werden; wohl aber ist es nótig, die Erlung- 
Hypothese auch an den zwei schon erwáhnten Briefen unter des 
Bischofs Namen nachzuprüfen. 

Drei dieser Schriftstücke sind nur im Codex Udalrici und da- 
neben in isolierter handschriftlicher Überlieferung erhalten, und 
von diesen dreien findet sich eines auch in der zeitgenóssischen 
Literatur9?". Zwei andere, die Jaffé unter die Epistolae Bamber- 
derselben Methode durchführen, wie etwa die eines modernen Notariatsinstruments 
oder der Konzession für einen Kraftwagenverkehr. Auch sie sind „aus einer Kanzlei" 
hervorgegangen. Die Hypertrophie einer Hilfsdisziplin, die aus einem Mittel zum 
Selbstzweck geworden ist, wird gegenüber der Geschichte der Epistolographie die 
gleiche Wirkung haben, wie gegenüber der Pal&ographie, die in Deutschland durch 
sie zum Verkümmern verurteilt ist. 

s Es ist ein Fehler von Schmeidler wie Pivec, daß sie die Verfasser der Briefe, 
mit denen sie zu tun haben, viel zu sehr als selbständige Politiker behandeln, die nach 
eigenem Ermessen Inhalt und Text ihrer Schreiben bestimmen. 

7 Bei Siegbert von Gembloux, MG. SS. VI, 369. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 299 


genses aufgenommen hat (im Anhang zu seiner Ausgabe des 
Codex Udalrici), sind uns gleichfalls handschriftlich aufbewahrt, 
eines der beiden daneben auch noch auf literarischem Weges’. 
Das sechste Schreiben allein nimmt insofern eine Sonderstellung 
ein, als es der handschriftlichen Beglaubigung entbehrt und uns 
nur durch die zweite Ausgabe von d’Achery’s Spicilegium erhal- 
ten blieb. Ich verzeichne zunächst die sechs großen Briefe Hein- 
richs mit ihrem Druckort (bei d'Achéry bzw. in Jaffé's Bibliotheca 
rerum Germanicarum V) und setze die Siglen bei, unter denen 
ich sie im folgenden zitiere. 

1. An Hugo von Cluny, bald nach der Flucht aus der Haft 
des Sohnes geschrieben, d'Achéry, Spicilegium, Nova editio, 
III (1723), 441ff. — €**. 2. An Paschalis II., 1105, Jaffé n. 120, 
S. 230 ff. — A. 3. An König Philipp von Frankreich; Zeit der 
Abfassung etwa wie bei 1, Jaffé n. 129, S. 241ff. — P. 4. An 
Heinrich V., ebenso wie die beiden folgenden aus den letzten 
Wochen des Kaisers, Jaffé n. 134, S. 250 ff.; MG. Const. I, 228 
n. 77 nach Jaffé — H. 5. An die Sachsen“, Jaffé, Epp. Bamber- 
genses n. 12, S. 505 f.; MG. Const. I, 130 n. 178 nach Jaffé's Aus- 
gabe — 8. 6. An die Fürsten, Jaffé n. 13, S. 506ff.; MG. Const. 
I, 131 n. 179 nach Jaffé's Ausgabe — F. 

In der kleinen Gruppe dieser Schreiben nehmen zwei, C und 
P, eine Sonderstellung ein. Schon äußerlich: jedes von ihnen 
übertrifft die anderen kürzeren Schreiben um ein Mehrfaches an 
Umfang. Dann aber durch ihre Übereinstimmung im Inhalt. 
Beide Male wendet sich Heinrich an eine auBerhalb des Reiches 
stehende Persönlichkeit, um sie für sich zu gewinnen, wenn auch 
der Zweck, zu dessen Verwirklichung sie ihm beistehen soll, hier 
ein anderer ist als dort. Beider Schreiben Hauptteil bildet die 
Schilderung seiner Katastrophe, von dem Augenblick an, wo er 


^ Bei Frutolf, MG. SS. VI, 236. 

% Der Druck, aus einer z. T. lückenhaften Hs. geflossen, ist mangelhaft. Es ist 
zu lesen: 441 B unten: *os meum et caro nostra’ (Gen. 29, 14); 442 A: 'omni genere 
contumeliae et terroris’; provoluti' statt praevoluti'; 442 B: ‘Deo utique pro- 
mittimus’; conquerimur'; letzte Zeile: ‘omnino verum non esse’. Für 'domestica 
manus' (441 B) finde ich keine Erklärung. — Neben dem großen Schreiben an Hugo: 
steht bei d'Achéry 442 f. noch ein zweites, kürzeres. Es wird gelegentlich herangezogen 
werden, im ganzen aber kann es unberücksichtigt bleiben. 

œ So in der Inscriptio der St. Emmeramer Handschrift, aus der Jaffé schöpfte; 
bei Frutolf, MG. SS. VI, 236, ist das Schreiben an die Fürsten des Reichs gerichtet. 


300 S. Hellmann 


sich nach seinem Rückzug an den Rhein in Verhandlungen mit 
seinem Sohne einläßt. Beide Male endlich Dualismus des Inhalts: 
emphatische Bitte und historische Erzählung, und beide Male 
dringt das emotionelle Element aus jener auch in diese ein. Der 
Inhalt macht C und P also in seltener Weise geeignet zu einem 
Vergleich auf die Identität des Verfassers hin. Ein äußerlicher 
Umstand erleichtert ihn noch: nimmt man sich die Mühe zu 
messen, so findet man, daB die beiden Briefe bis auf zwei oder 
drei Zeilen gleichlang sind. 

Die Übereinstimmung setzt sich im Aufbau fort: hier wie 
dort ein erster, stark rhetorisch gefárbter Teil mit dem Versuch, 
den Empfánger günstig zu stimmen; daran anschlieBend, kurz 
und nur in groBen Umrissen gezeichnet, die Empórung des Soh- 
nes bis zur Flucht des Vaters an den Rhein; nun als Hauptteil, 
in P zwei Drittel, in C etwas über die Hälfte des Ganzen ein- 
nehmend, die Erzáhlung von Gefangennahme, Absetzung und 
Flucht; endlich, wiederum kurz, ein SchluBteil, erneut an den 
Empfänger sich wendend und deutlich die Absicht aussprechend, 
für die er gewonnen werden soll. 

Die Reihe der Übereinstimmungen ist damit noch nicht zu 
Ende. An einigen Stellen finden sich wörtliche Anklänge. In- 
dessen wird es richtiger sein, sie spáter zu behandeln und zu- 
nächst zu fragen, worin sich die beiden Schreiben unterscheiden. 
Am besten ist es, vom SchluBteil auszugehen. In P ruft Heinrich, 
an Philipp sich wendend, das Solidaritätsgefühl der abendländi- 
schen Herrscher an gegenüber dem Verrat und der Schmach, die 
man ihm angetan hat; in C bittet er den Erzabt von Cluny um 
Vermittelung beim Papste und stellt, vorbehaltlich der Ehre des 
Reiches, alles in sein Ermessen: man sieht, daß P aus kriege- 
rischer, C aus einer dem Ausgleich geneigten Stimmung hervor- 
gegangen ist und die beiden Schreiben auf verschiedener Ein- 
schátzung der Lage und ihrer Aussichten beruhen. Wenden wir 
uns zum ersten Teil. P füllt ihn mit leidenschaftlichen Anklagen 
gegen den pápstlichen Stuhl, als sein Werk erscheint die Em- 
pórung Heinrichs V.; dagegen beweint in C der Kaiser sein Un- 
glück und seine Sünde, wie das Leid, das der Sohn über ihn ge- 
bracht hat: vom Papst ist nicht die Rede. Die Unterschiede 
setzen sich fort, wenn wir in das Innere der Briefe eindringen. 
Im Vordergrunde alles gegen den Kaiser gerichteten Geschehens. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 301 


steht in P der Sohn und der päpstliche Legat ; die Falschheit des 
einen wird gebrandmarkt, der andere verschleiert und doch deut- 
lich als die treibende Kraft des SchluBaktes bezeichnet: die 
kurzen, harten Antworten, die er dem Kaiser auf seine Bitten 
und Fragen erteilt, fahren dem Leser schneidend ins Herz*!. In 
C ist der Legat fast verschwunden, nur seine Anwesenheit bei der 
Abdankungsszene wird erwähnt; auch der Sohn steht nicht mehr 
ganz so stark im Vordergrunde. Dafür treten Unbekannte und 
Ungenannte hervor; die Abdankung ist besonders ihr Werk“. 
In P betont der Kaiser durch die ganze Erzáhlung hindurch die 
Todesgefahr, in der er geschwebt haben will; in C erscheint sie, 
sobald er die Reichsinsignien ausgeliefert hat, nur noch einmal®; 
desto öfter ist von seiner Befreiung die Rede, von der in P über- 
haupt nicht gesprochen wird“. 

Wenn ich die inhaltlichen Abweichungen von C und P hier 
breiter auseinandersetzte, als es auf den ersten Blick vielleicht 
nötig erschien, so geschah es, um spätere Ausführungen nicht zu 
belasten, wenn das Verhältnis beider zu den vier kleineren Brie- 
fen untersucht wird. Davon ganz unabhängig erhebt sich jetzt 
die Frage, was diese Unterschiede für die Frage der Verfasser- 
schaft von P und C bedeuten. 

Zunächst: Nichts. Sie können trotz dieser Verschiedenheiten 
noch immer aus der gleichen Feder geflossen sein. Denn — was 
die bisherigen Untersuchungen nicht genügend beachten — eben 
hier tritt eine der früher aufgestellten Vorsichtsmaßregeln in 
Kraft, die dureh die Entstehungsbedingungen fürstlicher Briefe 
notwendig gemacht waren: wir haben nicht literarische Werke 


1 A. a. O. 245f. 

*3 Vgl. 442: Contra omnem voluntatem nostram captivos nos duxerunt ...; 
Eduxerunt nos de horribili carcere ... Ingilheim ...; Ubi multa inconvenientia ... 
sunt nobis ab inimicis nostris obiecta...; Illi pro imperio renuerunt; ... Tunc pro- 
voluti ad pedes eorum coepimus suppliciter implorare ...; ... ut secundum eorum 
voluntatem redderemus imperii coronam :.. Postquam a nobis omnia pro voluntate 
et imperio extorserunt ... in eodem loco nos sine honore reliquerunt.' Heinrich V. 
ist aus der Erzählung verschwunden. Vgl. auch das wiederholte mandatum est nobis', 
‘responsum est nobis’. 

6 442 B oben. 

“ Ein kleinerer, aber nicht bedeutungsloser Unterschied: daß Heinrich die 
Weihnachtstage in Haft, ohne Priester zubringen muß, bildet in P einen der Höhe- 
punkte, in C wird die Tatsache, daß es gerade die Festtage waren, nicht erwähnt. 


302 S. Hellmann 


freier Herkunft, sondern Schriftstücke einer Kanzlei vor uns, die 
an Instruktion und Information eines Auftraggebers gebunden 
sind. Heinrich IV. aber hat von C zu P oder von P zu C seine An- 
sichten und Absichten gewechselt. Das mußte sich in den beiden 
Schreiben widerspiegeln; noch immer jedoch konnten sie von 
dem gleichen Beamten geschrieben sein. Trotzdem: P und C 
rühren von verschiedenen Verfassern her, und zwar sehr un- 
gleichen Persónlichkeiten. Den Beweis hat die Stilvergleichung zu 
erbringen. Daß sie dabei den Sprachgebrauch der beiden Briefe 
in ihrem Gesamtumfang darstellt, ist nicht nötig; es genügt, 
wenn sie eine Anzahl besonders charakteristischer Erscheinungen 
hervorhebt. 

Ich beginne mit dem Elementaren, dem Wortschatz. P hat 
168, C 165 Substantiva; die entsprechenden Zahlen sind für das 
Adjektiv 50 und 49, für das Verbum 164 und 140, für das Adverb 
60 und 70. C ist also reicher an Adverbien als P, sonst stehen sich 
beide ziemlich gleich. Das Bild ándert sich, wenn wir bei den 
Adverbien die starren Formen und die nach Bedarf von Adjek- 
tiven und Partizipien gebildeten scheiden, bei jeder Wort-Kate- 
gorie die Zahl der P und C gemeinsamen Wörter angeben und auf 
Grund dieser Gemeinschaftsziffer eine Skala herstellen. Dann er- 
gibt sich (P ist stets vor C gestellt) folgende Reihe: Substantiva 
168 — 165:71; Verba 164 — 140:49; starre Adverbien 46 — 59 
:22; Adjektiva 50 — 49:10; abgeleitete Adverbia 15 — 11:0. 
Diese Aufstellung will keine Zahlenspielerei sein, sondern einen 
ersten, allerdings vielleicht schon entscheidenden sprachlichen 
Unterschied hervorheben. Sie ergibt, daß P und C gemeinsam 
sind etwa drei Siebentel aller Substantiva, etwa ein Drittel der 
Verba, von starren Adverbien die Hälfte derjenigen in P, nicht 
mehr ganz ein Drittel der von C verwendeten, schließlich ein 
Fünftel der Adjektiva, während es überhaupt keine Überein- 
stimmung in den abgeleiteten Adverbien gibt. Am geringsten ist 
also der Abstand in den Bezeichnungen für Dinge und Tätig- 
keiten (oder Zustánde), am gróBten bei den Adjektiven und frei- 
gebildeten Adverbien. Gerade diese beiden Kategorien aber sind 
es®® die Abtónung und Wertung in die Rede bringen, und mit 
ihnen das subjektive Element. Prüfen wir noch besonders das 
Zahlenverhältnis beim Adverb, so finden wir das bestätigt. Die 


Vgl. oben S. 289. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 303 


einzige der untersuchten Wortkategorien, in der C einen größeren 
Reichtum aufweist als P, ist das starre Adverb, während bei dem 
freigebildeten das Verhältnis sich umkehrt: C bindet sich stärker 
an die Tradition, während P sich freier bewegt. Wir werden das 
auch sonst bestätigt finden; aber schon jetzt ist zu sehen, daß P 
und C nicht vom gleichen Verfasser herrühren können“. 

Ich wende mich vom Wortschatz zum selbstándigen Satz, 
und zwar in seiner einfachen Gestalt wie als Periode. Man kann 
nicht sagen, daB er in der einen oder anderen Form von P oder C 
bevorzugt würde: die Zahlen hüben wie drüben scheinen un- 
gefähr gleich zu sein. Fassen wir aber den im eigentlichen Sinne 
historischen Teil ins Auge, so sehen wir doch wieder einen Unter- 
schied, in dem sich abermals die stárkere Eigenart von P spiegelt. 
GroBe Perioden baut er da, wo Heinrich IV. leidenschaftlich sein 
Gefühl sprechen läßt, oder Erregung den äußeren Hergang 
durchzittert: bei dem Wiedersehen mit dem Sohne in Koblenz, 
bei der Schilderung der Weihnachtstage mit ihren Beschimpfun- 
gen und Bedrohungen und ohne den Trost des Sakramentes, bei 
der Abdankungsszene von Ingelheim, deren Schilderung großen- 
teils in zwei geschlossene Gefüge zusammengedrängt wird. Sonst, 
wo es sich um äußeres Geschehen handelt, bevorzugt er kürzere 
Zusammenhänge, oft ganz einfache Sätze, die er dann schnell 
aufeinander folgen läßt. Das geschieht auch bei C, aber doch ist 
ein Unterschied. Ich setze zwei Beispiele. 

P (S. 243): 'et fllius meus aliquantulum praecesserat me; cum 
ecce quidam fideles mei occurentes mihi verissime affirmabant 
me deceptum et proditum sub falsa pacis et fidei sponsione. Re- 
vocatus autem filius meus et iterum instantissime a me ammoni- 
tus, sub eiusdem fidei et sacramenti obtestatione, animam suam 
pro anima mea fore, promisit iam secunda vice. — C (442 A): 


* Nur anhangsweise sei hier das Verhültnis der Abstrakta bei P und C gestreift. 
Verbalsubstantiva auf '-io' hat P 25, C 21, gemeinsam sind 5; für die Substantiva auf 
in ist das Verhältnis 21, 15 und 7, für die auf '-tas' (nativitas Christi’ und den Typus 
pietas tua' in der Anrede abgerechnet) 7, 7 und 4. Zusammen 53, 43 und 16 (Sub- 
stantiva auf '-us', edo- und '-udo' sind so selten, daß sie unberücksichtigt bleiben 
können). Der gemeinsame Besitz ist also klein; er erreicht weder die Hälfte der 
kleineren noch ein Drittel der gróBeren Zahl. Ausnahmslos handelt es sich dabei um 
Worte, die dem allgemeinen Sprachgebrauch angehören, z. B. ‘confessio’, ‘consolatio’, 
‘persecutio’, ‘reconciliatio’, ‘tribulatio’: ihre Anwendung entspringt der Situation, in 
der die Briefe geschrieben sind. 


304 S. Hellmann 


'cum autem essemus in media via, nuntiatum est nobis quod 
traderemus. Hoc cum ipse sciret nobis relatum esse, coepit iurare 
et detestari nullo modo esse verum, recipiens nos iterum sub 
praefata fide'. Oder: P (244): 'ex omnibus meis quartus ego sum 
inclusus; nec admitti potuit quilibet alius. Custodes deputati, 
qui vitae meae erant atrociores inimici? — C (442 A): contra 
omnem voluntatem nostram captivos nos duxerunt, ibique re- 
trusi in arctissima custodia traditi sumus mortalibus nostris ini- 
micis, exclusis omnibus nostris praeter tres laicos..." Man sieht: 
ob C knapper wird oder auseinanderzieht und verbindet, P wirkt 
jedesmal anschaulicher und lebendiger: er versteht besser, die 
Szene in einzelne Vorgánge zu zerlegen und so an uns vorüber- 
ziehen zu lassen. 

Die Beobachtung der äußeren Form des Satzes vermittelte 
einen Einblick in Technik und Charakter der historischen Er- 
zählung bei P. Einen Augenblick folgt die Untersuchung dem 
Wege, der sich hier óffnet, um erst spáter wieder sich den Fragen 
der Satzform zuzuwenden. 

P erreicht die größere Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit sei- 
ner Erzáhlung zum Teil durch die Art, wie er unter den Aktions- 
arten des Verbums wählt. Im Gegensatz zu C, das durch Passiv- 
konstruktionen einen farblosen, neutralen Ton in die Erzáhlung 
bringt, gibt er dem Geschehen durch Verwendung des Aktivums 
einen unmittelbaren, persönlichen Charakter: ‘cum autem esse- 
mus in media via, nuntiatum est nobis privatim quod tradere- 
mur (C 442 A); ‘quidam fideles mei occurrentes mihi verissime 
affirmabant me deceptum et proditum sub falsa pacis et fidei 
sponsione’ (P 243). — ‘afflicti sumus fame et sit?’ (C a. a. O.); ut 
taceam ... famem ... et sitim, quam perferebam' (P 244). — 
‘Interea mandatum est nobis, quod liberationis nostrae nullum 
esset consilium’ usw. (C a.a. O.); in illis poenitentiae et tribula- 
tionis meae diebus a fllio meo missus venit ad me quidam princi- 
pum Wipertus, dicens: nullum vitae meae esse consilium" usw. 
(P. 244)". Zum Sprachgebrauch der Zeit gehórt der Ersatz des 
Verbum finitum durch seinen eigenen Infinitiv mit finiter Form 
eines anderen Verbums, also die Anwendung des Hilfszeitwortes, 


7 Vgl. auch die vielen ‘mandatum est nobis', ‘responsum est nobis’ der Erzäh- 
lung von der Gefangennahme Heinrichs und in der Abdankungsszene bei C (242 A 
und B), gegenüber der aktivisch gehaltenen Darstellung in P. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 305 


wo die Antike nur das einfache zuließ. Wir finden hier bei P, was 
uns noch öfter begegnen wird: die größere Selbständigkeit gegen- 
über der Schule, im Gegensatz zu C. Achtmal verwendet C allein 
‘posse’, das bei P ganz fehlt, und der Gesamtzahl von 21 Fällen, 
in denen C dieses oder ein anderes Auxiliare verwendet, steht nur 
die Hälfte bei P gegenüber**. Wiederum tritt C hinter P zurück: 
P erfaßt die Vorgänge sicherer und bestimmter; was er erzählt, 
tritt dadurch in festerer Form und schärferem Umriß vor die 
Augen des Lesers. P kennt noch ein anderes Mittel die Erzáhlung 
zu beleben: er beschleunigt ihr Tempo und verschárft die Gegen- 
sätze des Geschehens. Die Kontinuität des Lateinischen über die 
Grenze zwischen Antike und Mittelalter hinweg, gewissermaßen 
unter der Regeneration in der karolingischen Periode hindurch 
zeigt sich, außer in anderem Erscheinungen, auch in dem Bedürf- 
nis, die Perioden möglichst nicht unvermittelt nebeneinander zu 
stellen, sondern, unter Wahrung ihrer Selbständigkeit, doch 
irgendwie miteinander zu verbinden. Diesem Zweck dienen“ vor- 
nehmlich einmal Konjunktionen, dann deiktische Elemente, wie 
das Demonstrativpronomen, demonstrative Adverbien der Zeit 
oder des Ortes und die relativische Anknüpfung, endlich Adver- 
bien, die nicht deiktischen Charakter besitzen; auch Kombina- 
tionen dieser Elemente finden statt. Die Partikeln sind dabei 
großenteils in ihrer Bedeutung abgeschwächt und deuten nur 
noch an, daß die Darstellung sich von der Stelle bewegt: sed', 
‘sed et’, autem', ‘enim’, ‘igitur’, ‘vero’, ‘ergo’ haben kaum mehr 
eine andere Funktion als ‘aber’ oder ‘also’ im Deutschen in er- 
zählender Populärprosa, etwa dem Grimmschen Märchen. Unter- 
suchen wir P und C darauf, wie sie sich zu diesem Stilmittel ver- 
halten, dann finden wir, daB P acht, C vierzehn derartige ent- 
leerte Verbindungswörter verwendet; die deiktische Verbindung 
durch Demonstrativpronomina oder Adverbien findet dort sech- 
zehn-, hier zehnmal statt”®. Der wichtigste Unterschied aber ist, 
daß in P ‘Et’ sechsmal an der Spitze der Periode erscheint“, ‘at’, 

“ S. 243 schreibt P: iam fraus ipsa se detegere videbatur’. — 'Videri' ist hier 
nicht, wie sonst so häufig, Hilfszeitwort, sondern muß in seinem ursprünglichen Sinn 
genommen werden: „man sah, wie der Trug sich selbst entlarvte“. 

* Vgl. J. Nye, Sentence connection illustrated chiefly from Livy (ThesisYale1912). 

** Die relativische Anknüpfung kommt gleich oft vor (sechsmal). 


71 Vgl. 246: 'quo nuntio tunc satis vitae meae diffisus sum. Et ilico aufugiens, 
fugiendo veni Coloniam. Et ibi aliquot diebus commoratus, postea Leodium veni’. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 20 


306 S. Hellmann 


das einzige Adversativum, das seinen schneidenden Charakter 
nicht eingebüßt hat, in vier Fällen, während für C die entspre- 
chenden Zahlen 1 und 2 sind. Es ergibt sich: P stellt Gegensátze 
schárfer gegeneinander, bei C verblassen sie; mit 'Et' beschleu- 
nigt P die Erzählung, die Vorgänge drängen sich, die deiktischen 
Elemente weisen mit dem Finger auf das, was der Leser eben 
gehórt hat, lenken noch einmal seine Aufmerksamkeit darauf 
und lassen es fortwirken: die Erzáhlung hat ein rascheres Tempo 
und sinnlichere Fárbung gegenüber ihrem ruhigeren Fortgang 
bei C: auch diesmal erweist sich P als der Überlegene. 

Lassen wir einen Augenblick die Fragen des Erzáhlungsstiles 
ruhen und wenden wir uns zu syntaktischen Erscheinungen ; die 
Ergebnisse werden uns ohnehin bald wieder zu dem gleichen 
Punkt zurückführen. » 

Ich setze zunächst wieder einige Textstellen aus P. S. 242: 
‘In hac igitur persecutionis et odii sui inflammatione, cum parum 
viderent se proficere, contra ipsum ius naturae laborantes' (folgt 
eine zweigliedrige Paranthese) fllium meum ... non solum con- 
tra me animaverunt, sed etiam tanto furore armaverunt, ut? usw. 
— 8. 242: In hac tanta mali sui machinatione, cum essem in 
pace et in aliqua salutis meae securitate, in ipsius dominici ad- 
ventus sanctissimis diebus in locum, qui Confluentia dicitur, ad 
colloquium evocavit me; quasi de communi salute et honore 
fllius tractaturus cum patre'. — S. 244: 'Tunc, communicato con- 
silio cum inimicis meis, egrediens fllius meus, relictis ibidem fide- 
libus et amicis nostris, quasi me eo adducturus, sub multa fre- 
quentia et custodia armatorum suorum eductum ad villam, quae 
Ingelheim vocatur, me fecit ad se adduci Überall zeigt sich hier 
Übereinstimmung im Aufbau der Periode. Prádikativbestim- 
mungen verschiedener Form und verschiedenen Inhalts, tempo- 
rale, modale, kausale kurze Nebensätze, das Participium con- 
iunctum, der Ablativus absolutus eröffnen sie, füllen einen großen 
Teil ihres Raumes und drángen das regierende Verbum weit nach 
rückwärts. Die präpositionalen und partizipialen Konstruktionen 
erhalten gróDere Selbstàndigkeit, ihr Nebensatzcharakter tritt 
stárker hervor. Ein scheinbar ungeordnetes Ganzes entsteht, die 
einzelnen Periodenteile lósen einander nicht in logischer, selbst 
nicht ganz in chronologischer Folge ab, der Leser hat einen 
Augenblick lang das Gefühl, daß sie nicht nur in grammatischem 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 307 


Sinn parataktisch nebeneinander stehen, sondern überhaupt ohne 
rechten Zusammenhang von innen. Er täuscht sich; das schein- 
bare Chaos entspringt einem bestimmten Stilgefühl: die Dinge 
spielen sich nicht flächenhaft ab wie auf einem Fries, sondern hin- 
ter-, neben- und übereinander wie auf dem mannigfach gestaffel- 
ten Tiefenraum der Bühne. Auch damit erweist sich P wieder als 
die kraftvollere, eigenartigere Persónlichkeit. Denn blicken wir 
zu C hinüber, so finden wir dort wohl Verwandtes, weil es im 
Zuge der Sprachtradition liegt, aber doch eben nur Verwandtes, 
nicht das Gleiche. C stellt, mit dem Sprachgebrauch der Zeit 
übereinstimmend, das regierende Verbum weiter nach vorne, und 
verzichtet damit auf die spannende Wirkung, die P durch die 
Häufung jener Nebenbestimmungen erzielt, von denen jede eine 
neue Vorstellung erweckt, aber nach ihrer Ergánzung verlangt 
und nach vorwärts drängt, bis der Anschluß an das Prádikats- 
verbum erreicht ist. C setzt auch jenes Konglomerat von hypo- 
taktischen Bestimmungen anders zusammen, gleichmäßiger. 
Während P in auffallender Weise vom Sprachgebrauch der Zeit 
abgeht, indem er den Ablativus absolutus fast meidet, wendet C 
ihn reichlich an“, gelegentlich unter Ergänzung durch einen an- 
deren Ablativ oder eine Präpositionalkonstruktion. 

P erwies sich in diesen letzten Beispielen nicht nur als der 
stärkere Erzáhlungskünstler, sondern auch als der geübtere Syn- 
taktiker. In dieser Eigenschaft zeigen ihn zwei weitere Vergleiche, 
mit denen die lange Reihe der Gegenüberstellungen abgeschlossen 
sei. Der prádikative Gebrauch von Nominalformen findet sich 
in P 25 mal gegenüber 14 mal bei C?*; zugunsten des strafferen 
Accusativ cum Infinitiv meidet P den Deklarativsatz mit Kon- 
junktion fast ganz; er verwendet ihn nur zweimal, wáhrend er 
sich bei C immerhin an sechs Stellen findet. 

Von der Vergleichung des Wortschatzes angefangen über 
Einzelheiten der Syntax weg bis zu den Feinheiten bei der Wahl 
der Ausdrucksmittel und bis in den Stil der Erzählung hinein 
ergab sich immer wieder das gleiche Bild der Überlegenheit, 


7? Das Verhältnis ist 3 — 16. — Der reine Ablativ ist überhaupt bei P selten; 
fast immer wird er mit einer Präposition gesetzt. — P eigen ist der Typus: in hac 
igitur persecutionis et odii sui inflammatione', ‘in hac tanta mali sui machinatione' 
(242 u. ö.) an der Spitze eines Satzkomplexes. C bat ihn nicht. 

73 Das Prädikatsnomen (8 gegen 6) ist nicht mit eingerechnet. 


20* 


308 S. Hellmann 


durch die P von C sich abhebt. Nicht etwa, daB C ein Durch- 
schnittsschreiber wáre?*; er beherrscht die Sprache, wie die ein- 
gerückten Stellen das sehen lassen, und was wir spáter von ihm 
kennen lernen werden, verrát Kraft und Vielseitigkeit; er ist 
jeder Aufgabe gewachsen. Aber diese Linie überschreitet er auch 
nicht; Schule und Tradition halten ihn stark in ihrem Bann, sie 
setzen seiner Unmittelbarkeit Grenzen. P dagegen ist eine un- 
gewöhnliche Erscheinung: selbständig, eigenwillig, unabhängig der 
Schule gegenüber, dabei ein Herr der Sprache: den ganzen Reich- 
tum seiner Ausdrucksmittel, die Fülle der Vorstellungen, die in ihm 
aufsteigen, unterwirft er kraftvoll dem beherrschenden Gedanken. 
Er ist voller Anschauung; die Erzählung weiß er zu beflügeln und 
gleichzeitig dramatisch zu gestalten, und mischt in sie den weicheren 
Ton der Klage wie die Leidenschaft des Zornes und der Entrüstung. 
Sein Klagebrief ist ein Meisterwerk; wir begreifen, daß noch Jahr- 
zehnte später der Abt Hermann von Tournai darüber urteilte: 
quam si quis legerit et non fleverit, videtur mihi duri esse cordis’”®. 

Ehe ich weiter gehe und mich den vier anderen Schreiben des 
Kaisers zuwende, muß erst noch das historische Verhältnis zwi- 
schen den beiden großen Klagebriefen geklärt werden. Vielleicht 
ergeben sich dabei Erkenntnisse, die über den nächsten Zweck 
dieser Untersuchung hinausführen. 

Die Chronologie von P und C und was sich daraus ergibt, ist 
bisher noch nicht Gegenstand ernster Untersuchung gewesen. 
Stenzel stellte P vor C, aber nur in einer flüchtig hingeworfenen 
Bemerkung, ohne nähere Begründung“, Floto kehrte die Reihen- 
folge um, wieder, ohne sich weiter zu äußern“, Druffel, Giese- 
brecht, Meyer von Knonau folgten ihm?5; für Schmeidler?? und 
Pivec stand die Folge C—P von vornherein fest und sie haben 
nicht weiter daran gerüttelt®®. 


** Am wenigsten darf man mit Schmeidler 317 von dem „umständlichen und 
treuherzigen Stil" des Ogerius A sprechen (dem er diesen Brief zuweist). 

” MG. SS. XIV, 314f.; vgl. G. Meyer von Knonau, Jahrbücher des deutschen 
Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., V, 292 n. 24. 

7 Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern I, 603; II, 176. 

77 Kaiser Heinrich IV. und sein Zeitalter II 409, 413. 

18 A. v. Druffel, Kaiser Heinrich IV. und seine Söhne 89ff.; Giesebrecht KZ IIIS, 
1199; G. Meyer v. Knonau, a. a. O. V, 262 n. 62. 73 Kehrfestschrift 243. 

% Soviel ich sehe, spricht sich Pivec nicht darüber aus, aus seiner Darstellung 
geht aber hervor, daB er C für álter hàlt. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 300 


Vorhin sprach ich davon, daB beide Briefe verschiedene 
Zwecke verfolgen: der eine sucht einen Bundesgenossen, der 
andere einen Vermittler zu gewinnen, jeder rückt die Tatsachen 
entsprechend zurecht und läßt Personen hellbeleuchtet an die 
Rampe treten oder schiebt sie in das Dunkel des Hintergrundes 
zurück. Hier müssen sich Anhaltspunkte für die chronologische 
Fixierung der Briefe gewinnen lassen. Gehen wir von der heute gel- 
tenden Anschauung aus und fragen wir, wie sich nach ihr die Dinge 
abgespielt haben müssen, soweit sie aus den beiden Schreiben 
erkennbar sind. Unmittelbar nach seiner Flucht richtet Hein- 
rich IV. ein Vermittlungsgesuch an den Abt von Cluny, wobei 
die Kurie geschont wird, der Legat und sein Verhalten bei der Ab- 
dankungsszene in bemerkenswertem Maße zurücktritt. Der 
nächste Schritt des Kaisers ist ein Schreiben an den König von 
Frankreich, in welchem er an das Solidaritátsgefühl der abend- 
ländischen Herrscher appelliert; das ihm selbst angetane Unrecht 
wird als ihre gemeinsame Angelegenheit hingestellt, die Kurie als 
die Anstifterin alles Unheils bezeichnet, ihr Legat als der Inspi- 
rator und Führer des Abdankungsreichstages. Das Dritte, was 
geschieht, ist, daB Heinrich sich wieder an den Abt von Cluny 
wendet, diesmal in einem kurzen Schreiben?!, und unter Hinweis 
auf sein erstes noch einmal um Vermittelung beim Papste bittet. 
Die weiteren Briefe, an den Sohn, an die Sachsen, an die Fürsten 
schlagen nicht nur die gleiche Richtung ein, sondern gehen noch 
weiter: jedesmal wird am Schluß mit der Appellation an die 
Kurie gedroht. Man sieht sofort: stellt man P zwischen C und die 
andern Schreiben hinein, so bringt man einen Widerspruch in 
Heinrichs Aktion. Begann er damit, sich um Vermittelung beim 
Papste zu bemühen, so gefáhrdete er seine eigene Absicht, wenn 
er kurz nachher in einem Schreiben, das wohl nicht ohne sein 
Zutun weite Verbreitung erlangte®?, die Kurie heftig angriff und 
Bundesgenossen gegen sie warb. Dann wieder mit ihr anknüpfen 
und gegen das Verhalten seines Sohnes wie der Fürsten Verwah- 
rung bei ihr einlegen, d. h. auch sie um Hilfe anrufen wollen, 
wäre bei der damaligen Kräfteverteilung wohl ein vergebliches 
Beginnen gewesen. Es bleibt nichts übrig, als die jetzt anerkannte 
Reihenfolge der Briefe zu ándern und P an die Spitze zu stellen: 


*1 Es ist das oben S. 299, Anm. 59 erwähnte. 
Vgl. Meyer von Knonau a. a. O. 292 n. 24, und weiter unten. 


310 S. Hellmann 


als im Kaiser der Wille zur Abwehr gegen den Sohn wieder er- 
wachte und er versuchte, die niederlothringischen Fürsten gegen 
ihn zu einigen, warb er um Beistand bei Kónig Philipp; als spáter 
Heinrich V. gegen ihn heranzog und seine Lage schwieriger zu 
werden begann, änderte er seine Taktik: er versuchte, den ge- 
fáhrlichsten Gegner aus dem feindlichen Lager abzuziehen und 
bat Hugo von Cluny um seine guten Dienste bei Paschalis II. 

Wenn aber P vor C gesetzt werden muß, so entsteht ein neues 
Problem. Beide sind nicht lange nacheinander im Auftrage des 
Kaisers geschrieben, beide Kundgebungen in dem groDen End- 
kampf um seine Herrscherstellung. Unwillkürlich erhebt sich die 
Frage, ob der Verfasser von C vielleicht P gekannt und benutzt hat. 

Die Gleichheit des Aufbaus allein ermóglicht noch keine 
Sichere Antwort: sie kann auf Instruktion durch den gemein- 
samen Auftraggeber zurückgehen. Vielleicht wird eine Entschei- 
dung durch Beobachtungen an den Texten selbst herbeigeführt. 


P, S. 243. 'Et filius ad me: 
pater, inquit, vobis seceden- 
dum est in vicinum castellum 
.. . Ego interim, quanto instan- 
tius,quanto fidelius potero, 
pro nobis utrisque laborabo.' 


S. 244 A filio meo missus 
venit ad me quidam principum 
Wipertus, dicens: nullum vi- 
tae meae esse consilium, 
nisi sine ulla contradictione 
omnia regni insignia red- 
derem ex voluntate et imperio 
principum.’ 


S. 246. ‘Sic spoliatum et 


desolatum — nam et castella 
et patrimonia, et quicquid in 
regno conquisieram, eadem vi 
et arte sua extorserunt a 
me — in eadem villa reli- 
querunt me. 


C, S. 441 A. 'Illuc nos ipse 
duceret omni certitudine secu- 
ritatis, et cum principibus, 


quanto fidelius posset, 
de honore nostro sollicite trac- 
taret.' 
S. 442 A. Mandatum est 
nobis, quod liberationis 
nostrae nullum esset 


consilium, nisi extemplo da- 


retur et crux et lancea cete- 
raque regalia insignia.’ 


442 B. Postquam a nobis 
omnia pro voluntate et imperio 
extorserunt, abeuntes Mo- 
guntiam 

in eodem loco nos sine 
honore reliquerunt. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 311. 


S. 248. 'me in praesenti Commisisnus nos animae 
nativitate se perducturum Mo- | tuae 
guntiam, ... et inde in pace et 
securitate me reducendum pro- 
misit in ea veritate et fide, | sub ea fide, 
qua patrem a filio honorari et qua Deus voluit fi- 
filium a patre praecipit | lium diligere patrem.’ 
Deus diligi'. 

In zwei zeitlich wenig auseinanderliegenden Schriftstücken 
der gleichen Kanzlei viermal am gleichen Ort der Erzählung 
gleicher Gedankengang, kürzer, aber teilweise mit dem gleichen 
Worte wiedergegeben: es ist nicht gut anders denkbar, als daß 
der Verfasser des einen Briefes den des anderen vor Augen gehabt 
und benutzt hat“. Ein Ergebnis, das uns später noch einmal be- 
schäftigen und uns zunutze kommen wird. 


IV. Die Neuordnung des chronologischen Verhältnisses zwi- 
schen P und C hat zur Folge, daß C in größere zeitliche Nähe von 
H S F gelangt, wie es sich anderseits von A etwas entfernt. 
Damit wird eine Doppelfrage gestellt: kann, trotzdem in Gestalt 
von P ein fremdes Element sich einschiebt, noch eine einheitliche 
Reihe AC H S F angenommen werden, und wenn, wie ist jenes 
Dazwischentreten zu erklären? Ich wende mich zunächst dem 
ersten dieser beiden Probleme zu. 

Wie bei den bisherigen Untersuchungen müssen wir uns auch 
hier über die Hindernisse im klaren sein, die einem Stilvergleich 
entgegenstehen. Um mit dem Äußeren zu beginnen, so erschwert 
die Kürze von AH S F schon an sich einen Vergleich: HSF 
zusammen erreichen noch nicht den Umfang von C, und auch 
wenn man A hinzunimmt, übertreffen sie es nur wenig. Ferner 
bestehen zwischen C und den anderen Schreiben auch beträcht- 
liche Verschiedenheiten des Inhalts: dort tritt Heinrich als Bit- 
tender auf, hier verschmäht er zwar auch die Bitte nicht, läßt 
sogar durch Einschüchterungsversuche seine Schwáche und das 
Bestreben, sie zu verhüllen, erkennen, sucht aber trotzdem die 
Fiktion der kóniglichen Macht und die Stellung des Befehlenden 
beizubehalten. Der náchste, letzte Unterschied ist fast ein solcher 


*! Pivec 423 hat die starken wörtlichen Übereinstimmungen gesehen, aber in 
seiner Weise benutzt, d.h. als Beweise für die Identität von P und C angeführt. 


312 S. Hellmann 


der Literaturgattung: C arbeitet mit der Erzählung der Schick- 
sale des Kaisers, dem historischen Element, das gut die Hälfte 
des ganzen Schreibens füllt, während es für AH S F lange nicht 
die gleiche Bedeutung hat und gar nicht oder nur flüchtig berührt 
wird. Es ist unvermeidlich, daß Sprache, Ton, der ganze Cha- 
rakter der Gruppe A H S F und von C diese Verschiedenheiten 
widerspiegelt und die Untersuchung erschwert. 

Um das Ergebnis der folgenden Untersuchung vorwegzu- 
nehmen: eine sichere, vollkommen eindeutige Lósung ist nicht 
móglich. 

Zunächst fallen bei einer Vergleichung Sätze und Satzstücke 
auf, die sich von A weg durch C hindurch in die Gruppe H SF 
hineinziehen. Ich beginne, indem ich vor allem die Worte neben- 
einanderstelle, in denen C und A von dem Beginn der Erhebung 
Heinrichs V. sprechen. 


C (d'Achéry 441 B) 

‘Scire te credimus 
quanta affectione et intima 
cordis dilectione ... eundem 
filium nostrum exaltavimus 
usque ad regni solium ... 
Verum his omnibus posthabi- 
tis et oblivioni traditis con- 
silio perfidorum et per- 
iuratorum mortaliumque ini- 
micorum nostrorum ita a nobis 
Separatus est ut' usw. 


A (Jaffé 231). 

"Nunc quoque filius noster, 
quem adeo affectuose di- 
leximus, ut eum usque ad 
solium regni nostri exalta- 
remus, eodem veneno infec- 
tus, consilio quorundam per- 
fidissimorum et periura- 
torum sibi adhaerentium in- 
surgit in nos; postpositis omni- 
bus sacramentis, post- 
habita omni fide et iustitia.’ 


Ich führe noch eine stereotype Wendung an, die in À zuerst 


auftritt, C überspringt, aber in der spáteren Gruppe wieder- 
kehrt; A, S. 231: ('expectantes ... si in beneplacito Dei sit, nos) 
caritative et amicabiliter posse convenire (et ecclesiam 
suam ... in statum redire unitatis pristinae"); 232: '(volumus 
cognoscere, si est tibi voluntati) te nobis caritative et amica- 
biliter et nos uniri tibi'. — H, S. 251 ('promisisti nos ducere 
Mogontiam coram principibus). Hac fiducia cum tecum cari- 
tative et indubitanter ascenderemus...' — S, S. 505 ‘quia 
cum consilio et rogatu filii nostri ... fiducialiter et deside- 
ranter Mogontiam ... tenderemus'. In diesen Wendungen 
handelt es sich stets um das Gleiche, das auch mit gleichen Mit- 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 313 


teln ausgedrückt wird: die Gesinnung, die Heinrich dem Gedan- 
ken des Friedens entgegenbringt und die er auch auf der Gegen- 
seite wünscht, durch eine adverbiale Scheinhendiadys, zu der 
teilweise die gleichen Worte verwendet werden, die Absicht durch 
ein Verbum, das die Versóhnung selbst bezeichnet oder die Be- 
wegung zu dem Orte und der Versammlung hin, auf der sie statt- 
finden soll, 

Von dem der Gruppe Gemeinsamen wende ich mich zu den 
einzelnen Briefen, und zwar zunáchst zu H. Es nimmt insofern 
eine zentrale Stellung ein, als es am ausführlichsten unter den vier 
kleineren Schreiben auf Heinrichs V. Verrat eingeht, dies zu 
einem groBen Teil mit den gleichen Worten tut wie C, in einigen 
Wendungen aber auch S F vorwegnimmt. 


H. 25 
"Tu enim ipse scis ... qua- S, 505: 'cum consilio et ro- 
liter, data fide et securitate | gatu fllii nostri, fide et secu- 
personae et honoris nostri.. | ritate vitae et honoris ab eo 
primum accepta’; vgl. C, 441 B: 
juravit vitam et salutem per- 
sonae nostrae’. 

C, 442 A: ‘...Moguntiam. 
promisisti nos ducere Mogun- | Illuc nos ipse duceret ... et 
tiam coram principibus etinde | inde nos peracto negotio vel 
nos securissime reducere, | infecto, ad locum quem vel- 
quocunque vellemus ...' | lemussecurissime reduce- 

fet ... 


% Zu 'ascenderemus' der letzten Stelle vgl. C, 441B: cum ipse ... disposuisset 
colloquium apud Moguntiam, congregatis fidelibus nostris coepimus illuc ascendere'. 
Zum Verständnis von 'ascendere': Heinrich IV. befindet sich in Köln. — Mit einiger 
Zurückhaltung setze ich 'religiosi viri' hierher: A, 231: tempore religiosorum 
virorum, Romanorum pontificum’; 232: ‘consilio et suggestione principum nostrorum, 
religiosorum virorum nos diligentium.' — Zweites Schreiben an Hugo von Cluny, 
d'Achéry 442 B: 'nos ... de causa, quae est inter nos et papam, consilio religiosorum 


virorum voluimus pleniter agere ... ponimus nos in consilio vestro patris nostri 
aliorumque religiosorum virorum'. — H, 252: ‘consilio principum et spiritualis patris 
nostri Hugonis Cluniacensis abbatis aliorumque religiosorum virorum'. — S, 506: 


'pro consilio vestro et aliorum, qui nos odio non habent, religiosorum virorum'. 
Eine besondere Bemerkung verdient nur nos diligentium’ in A; in S kehrt es als 
Litotes wieder. 


314 


‘Contra datam fidem 
apud Bingam nos cepisti. 
Ubi nec paternae lacrimae nec 
patris maeror et tristitia, qua 
ad pedes tuos aliorumque 
provolvebamur, 


te movit ad 
misericordiam, quin nos cape- 
res et captum mortalibus 
inimicis ad illudendum et 
custodiendum traderes; 
‘ubi,omnigenerecontume- 
liae et terroris afflicti, 
compulsi sumus ferme venire 
usque ad ipsum articulum 
mortis...' 


"Verum non satis mirari 
possumus, qua ratione vel oc- 
casione hoc tam obstinate fa- 
cis; cum de domno papa et de 
Romana ecclesia tibi nulla re- 
sidua sit occasio. 

"Nunc enim nuntio domni 
papae et Romanae ecclesiae, 
te praesente, oboedire pa- 
rati fuimus et sumus; 
omnem debitam oboedien- 
tiam et reverentiam ei 
praesentialiter et semper 
exhibere; et consilio prin- 
cipum et spiritualis pa- 
tris nostri Hugonis Clu- 
niacensisabbatis aliorum- 


S. Hellmann 


S, 505: non est veritus nos 
contra datam fidem ca- 
pere’. 


C, 442 A: ‘Cum igitur pro- 
volveremur ad pedes tam 
suos quam aliorum...’ 

‘Contra omnem voluntatem 
captivos nos duxerunt ibique 
retrusi in arctissima custodia 
traditi sumus mortalibus 
inimicis nostris... 


‘Ubi etiam afflicti sumus 
fame et siti et omni genere 
contumeliae et terroris, 
usque ad ipsum articulum 
mortis.' 

S, 505 (Fortsetzung der 
vorhin angeführten Stelle): et 
usqueadarticulum mortis 
ferme ducere’. 


S, 506: 'instanter moncatis 
fllium vostrum, cum nulla ei 
secundum praefatam senten- 
tiam adversum nos residua 
sit occasio...' 

S, 506: 'Sicut domino 
papae in praesentia legati 
sui et vestra oboedire parati 
fuimus, ita et nunc parati 
sumus ei omnem debitam 
reverentiam et oboedien- 
tiam sincero corde et devo- 
tione praesentialiter exhi- 
bereet —tam consilio vestro 
quam spiritualis patris no- 
stri Hugonis Cloniacensis 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 


que religiosorum virorum 
et de statu ecclesiae et ho- 
nore regni libentissime agere. 


H, S. 252. 

'Rogamus te..., 
ut de iniuria, no- 
bis illata et de his, 
quae nobis vi et 
iniuste abstulisti, 
iustitiam facias. 

Nec non etiam 


rogamus, 

ut e e 0 9 

nos et fideles 
nostros cesses 
infestare, immo 


permittas nos 


pacifice et quie- 
te vivere, 


315 


abbatis aliorumque reli- 
giosorum virorum — de 
Statu ecclesiae et honore 


regni, quantum in nobis est, 


disponere. 


S, S. 505. 
" Quapropter 


multum vos roga- 
mus et obnixe pre- 
camur: ut pro ti- 
more Dei et ho- 
nore regni, et ho- 
nestate vestra di- 
gnemini studere, 


quomodo de in- 
iuria in manibus 
vestris nobis illa- 
ta per vos possimus 
recuperare iusti- 
tiam.’ 


| 


F, S. 507. 

‘ Quapropter, 
sicut prius rogavi- 
mus, ita et nunc ite- 
rum precamur et 
obnixe rogamus: 
quatinus pro Deo 
et anima vestra ... 
et pro honore 
regni dignemini 
apud filium no- 
strum efficere, ut 
dimisso exercitu 
cesset vos perse- 
qui; et ordinetur, 
quomodo secure et 
absque omni ambi- 
guitate ^ possimus 
nos cum ceteris sup- 
ra dictis ad agen- 
dum de iniuria 
nostra et pace in 
regno componenda 
quiete et paci- 
fice convenire’... 

‘Rogamus vos et 
obnixe precamur 
quatinus pro Deo 
et honore regni 
et vestro instanter 
moneatis filium no- 
strum, amodo 
desistat nos et fi- 


316 S. Hellmann 


deles nostros 
persequi; et paci- 
fice et quiete vi- 


utintegreetcum vere permittat, 
tranquillitate ut supra dicta 
possimus omnia integre et cum 
supradicta per- tranquillitate 
agere?5, perficiantur.' 


Darf aus diesen Parallelen auf einen gemeinsamen Verfasser 
geschlossen werden ? Wären die Briefe im Namen verschiedener 
Aussteller geschrieben, so fiele die Entscheidung nicht schwer, 
auBer man setzte den unwahrscheinlichen Fall einer privaten 
Schreibstube mit noch so primitiver Organisation, die für sie alle 
arbeitete. Hier aber ist die Schreibstube, die kaiserliche Kanzlei, 
nicht das Hypothetische, sondern das Gegebene und der Aus- 
gangspunkt, der uns zwingt, mit einer Mehrheit von Verfassern 
zu rechnen. Allerdings kommen zu den angeführten Überein- 
stimmungen weitere hinzu: die 'gratuita misericordia' Gottes in C 
(442 B) und H (252). 'absque ambiguitate’ in A (232) und F (507), 
von denen aber namentlich die zweite Formel die Frage nahelegt, 
ob sie nicht dem Sprachschatz der Zeit entstammt; weniger ist 
vielleicht ein Zweifel am Platze bei einer auffallenden Verwen- 
dung von ‘pro’: illi pro imperio renuerunt’, postquam a nobis 
omnia pro voluntate extorserunt’ in C (442 A, 442 B), und ‘ut 
iniuriis et contumeliis nos pro voluntate sua sicut prius valeat 
tractare’ in S (505), wo immer nur die iniqua voluntas ins Auge 
gefaßt wird**. Doch ist das zu wenig für eine sichere Entschei- 
dung, denn es fehlt auch nicht an Abweichungen, wenngleich sie 
nicht ausreichen, ein entschiedenes Nein zu sprechen®”. Auch ein 


*5 Auf manches, wie ‘rogamus et obnixe precamur’, das zum Sprachschatz der 
Zeit gehórt, oder auf die formelhaften Wendungen, mit denen in allen drei Briefen 
von der Appellation an den Papst gesprochen wird, lege ich kein Gewicht, ebenso- 
wenig auf den Zusatz zur Inscriptio dignantibus eam recipere' in S F. 

** Daneben hat C(442 B) fast an der gleichen Stelle ‘secundum eorum voluntatem’. 

8? C, 441 B: ‘ut vellet iam cessare ab inhumana patris persecutione'; dagegen 
verbinden H und F ‘cessare’ immer mit dem Infinitiv: 251, 252, 507, 508. In dem 
ersten, an die Geneigtheit des Empfüngers appellierenden Teil arbeitet C mit Genitiv- 
konstruktionen; in A sind sie durch die Hendiadys oder das attributive Adjektiv 
ersetzt. Aber die Stellen sind zu kurz, und in Inhalt und Ton zu verschieden, um 
einen Vergleich zuzulassen. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 317 


Vergleich zwischen der Art. wie der Verfasser von C A und wie er 
spáter P benutzt hat, hilft nicht viel weiter: es ist beide Male auf 
ziemlich gleiche Weise geschehen. Dazu kommt noch die Schwierig- 
keit, wenn nicht Unmóglichkeit, die Frage auf Grund einer Ver- 
gleichung des Wortschatzes oder der Syntax zu klären. Nicht nur 
Inhalt und Zweck der fünf Schreiben ist verschieden, wie schon 
wiederholt gesagt wurde, sondern gerade die wórtlichen Entleh- 
nungen verkleinern den ohnedies schon knappen Raum, der für eine 
solche Untersuchung zur Verfügung stánde. Und nicht nur das, er 
wird noch weiter eingeengt durch weiBe Stellen, wenigstens in 
dreien der Briefe, zu denen sich keine Parallele findet: in À ist es 
eine höfisch gefärbte Captatio benevolentiae, in der Form einer Art 
Notatio gehalten89, in S eine klagende Anrede an Gott, die Got- 
tesmutter, den Apostelfürsten und die Empfänger“, in F eine 
Beschwerde über den Bescheid der Fürsten, der in Aussicht stellt, 
daß sie ‘sub specie colloquii' an der Spitze eines Heeres erscheinen 
werden, und dem Kaiser eine Frist von acht Tagen gibt”. Um 
die Schwierigkeiten zu steigern, läßt die Zusammenstellung der 
Parallelen erkennen, daB die Übereinstimmung zwischen S und F 
größer ist als zwischen diesen beiden und A C H, und wieder, daß 
F sich noch weiter von ihnen entfernt als S. Der einzige Ausweg 
aus diesem Dilemma scheint zu sein: die Wahrscheinlichkeit 
spricht dafür, daß man einen Beamten, dem man die Abfassung 
eines so bedeutsamen und an die Sprachkunst so große Anforde- 
rung stellenden Schreibens wie das an den Erzabt von Cluny 
übertrug, auch mit der Herstellung anderer, ebenso wichtiger 
Briefe betraut haben wird. Nur bleibt es eben bloße Wahrschein- 
lichkeit, und man muß sofort einschränkend hinzufügen, daß 
hier einer der Fälle vorliegt, wo vielleicht mehrere Hände an dem 
gleichen Schriftstück tätig waren, ohne daß wir ihren Anteil zu 
scheiden vermöchten. 

Nunmehr kann an die Erörterung der zweiten Frage heran- 
getreten werden: wie es zu erklären ist, daß in eine Reihe von 
Schreiben der kaiserlichen Kanzlei, die mindestens Einfluß der 


. ‘Praeterea, quia audivimus: te, hominem discretum, Deum timentem, caritati 
insudantem, sanguinem humanum non sitire, rapinis et incendiis non gaudere, uni- 
tatem ecclesiae super omnia diligere ...' (232). 

** S. 505. 

** 8. 507. 


318 S. Hellmann 


gleichen Hand zeigen, vielleicht sogar auf sie zurückzuführen 
Sind, ein fremdes Element sich einschieben konnte. 

Den ersten Fingerzeig gibt eine stilistische Eigentümlichkeit 
von P: es ist in Reimprosa geschrieben, wenn auch mit einigen 
Unterbrechungen?!. Sie ist der kaiserlichen Kanzlei in dieser 
Zeit zwar nicht fremd9*: aber soviel ich sehen kann, findet sie 
sich nur in Urkunden, nicht in Briefen, jedenfalls nicht denen 
der letzten Zeit Heinrichs IV. Dieser Befund läßt den Zweifel zu, 
ob der Verfasser von P überhaupt der Kanzlei angehört hat. Der 
dreimalige Gebrauch der Formel ‘fides et sacramentum’ für 
Lehenseid, die sich in der kaiserlichen Kanzlei nicht findet, ver- 
stärkt diesen Zweifel®. Wenn aber P, wie es scheint, nicht in der 
Kanzlei zu suchen ist, wo dann? Wieder sind es sprachliche 
Beobachtungen, die, wie mir von berufenster Seite versichert 
wird, wenigstens eine Vermutung zulassen, wenn auch nicht 
mehr* Der Ausdruck 'regnum et omnia regalia exfestucare' 
(245) ist ungewóhnlich; 'exfestucare' gehórt dem Gebiet des 
salischen Rechtes an®; im Französischen ist daraus 'effestuer', 
‘effestuquer’ geworden. S. 246 schreibt P: ‘cum ... ex eodem 
consilio fraudis suae filius meus demandasset, ut ibidem eum ex- 
pectarem’. Auch ‘demandare’ ist ein ungewöhnliches Wort. Die 
kaiserliche Kanzlei kennt es nicht. Wenn sie ersucht, schreibt sie 
‘rogare’, ‘orare’, ‘precari’, wo sie befehlen will ‘mandare’. Wenn 
P ihr hier nicht folgte, so hatte das seinen Grund: ‘demandare’ 
entspricht dem franzósischen demander, das gleichfalls eine mit 


1 Vgl. 241: ‘clarissime’ — 'fidelissime'; ‘excepi’ — ‘duxi’ — 'advolvi' — im- 
perii’; ‘arbitramur’ — ‘oriebatur’ — ‘emittitur’; ‘saevitiae’ — 'indiscretae' ; ‘me’ — 
‘me’; ‘sedi’ — ‘mihi’. 

n H. BreBlau, Handbuch der Urkundenlehre II“, 374. 

ss S. 242 ‘contra fidem et sacramentum, quod ut miles domino iuraverat' ; dann 
noch 243 und 244. In keinem der anderen kaiserlichen Schreiben, die sich mit dem 
Abfall Heinrichs V. beschäftigen, kommt die Wendung vor. 

% Es ist die freundliche Hilfe Walter von Wartburgs, die es mir ermöglicht, 
die folgenden Ausführungen zu machen. 

% Rechts des Rheines tritt es nur selten auf (zwei Beispiele s. XII med. bei 
Ducange s. v. festuca'). Vgl. auch Ysengrimus, hrsg. von E. Voigt, im Glossar. — 

"Exfestucatio' ist ein t. t. der rechtsgeschichtlichen Forschung für „Auflassung 
geworden; man darf sich dadurch nicht verleiten lassen, das Wort in außerfränkischen 
Rechtsdenkmälern zu suchen. 

** W. v. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch, Lief. 21, 485. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 319 


Nachdruck erfüllte Bitte bedeutet und ihm offenbar geläufig 
war”. 

Wenn diese Stellen es wenigstens nicht unmöglich erscheinen 
lassen, daß die Muttersprache des Verfassers von P das Franzö- 
sische war, so kann man weiter schließen, daB wir vielleicht einen 
Lütticher Kleriker in ihm zu suchen haben. Die Zeitumstände 
würden diese Annahme begünstigen. Schon als Heinrich IV. im 
Herbst 1105 vor seinem Sohn den Rückzug an den Rhein antrat, 
muß der weitverbreitete Abfall auch seine Kanzlei ergriffen 
haben. Als er am 24. November und 3. Dezember in Köln urkun- 
dete, rekognoszierte ein sonst nicht genannter Kanzler Theoderi- 
cus, dem Namen nach vielleicht ein Lothringer®. Wie sich dann 
weiter das Schicksal der Kanzlei gestaltete, ob der Kaiser auf 
seiner Fahrt rheinaufwärts, die dann zu seiner Einkerkerung 
führte, sie mit sich führte oder in Köln zurückließ, wissen wir 
nicht. Anzunehmen ist, daß er wenigstens einen oder mehrere 
ihrer Angehörigen mitnahm. Aber seine Haft durften sie nicht 
teilen: die drei mit ihm Eingeschlossenen waren Laien“. Auf die 
Kunde von seiner Gefangensetzung und Abdankung wird die 
Kanzlei zunächst auseinandergefallen sein. Ob ihre Beamten 
gleich nach seiner Flucht den Weg zu ihm zurückfanden, wissen 
wir wieder nicht. Aber denkbar ist sehr wohl, daß Heinrich zu- 
nächst auf fremde Hilfskräfte angewiesen war, und daß erst 
nachher wieder ein Mann sich bei ihm einfand, der schon das 
Jahr vorher für ihn tätig gewesen war und fortan als Helfer und 
literarischer Berater ihm die wenigen Monate bis zu seinem Tode 
noch zur Seite stand. 


*? Vgl. W. v. Wartburg, a. a. O. Lieferung 11, S. 36. — Noch einige Stellen, die 
aus dem Sprachgebrauch der Zeit herauszufallen scheinen, verlocken dazu, sie auf 
französischen Einfluß zurückzuführen: vor allem 'habeo deplorare' (has omnes 
miserias meas 246), ex omnibus meis quartus ego’ (244), schließlich *pensare Deum' 
(241); aber der Infinitiv mit „haben“ ist im Deutschen alt, dem „moi quatrième“ 
entspricht das deutsche „selbviert“; endlich , penser Dieu“ wiegt schwerer als 
„penser à Dieu“, ist aber — ich werde wieder von W. von Wartburg belehrt — 
zwar im Italienischen und Provenzalischen, jedoch nicht im Altfranzósischen belegt. 

os Meyer von Knonau a. a. O. 251 n. 61. — Der Name scheint bei den ober- 
deutschen Stämmen in dieser Zeit verhältnismäßig selten zu sein; häufig ist er bei 
Lothringern und Sachsen; vgl. E. Fórstemann, Altdeutsches Namenbuch 1“, 1445ff., 
dazu die Indices von Giesebrecht KZ, Wattenbach GQ, den Jahrbüchern. 

” C, 442 A. 


320 S. Hellmann . 


V. Ich wende mich an den Ausgangspunkt der Untersuchung 
zurück. Nachdem sie den Ursprung der sechs groBen Briefe ge- 
klärt hat, soweit das gehen wollte, muß sie der Frage näher- 
treten, ob sie V (wie ich der Kürze halber fortan die Vita be- 
zeichne) mit ihnen iR Zusammenhang bringen darf. Die Antwort 
kann nur durch den Stilvergleich gegeben werden. Man kónnte 
einwenden, daß er sich erübrigt ; denn gerade die charakteristisch- 
sten Merkmale von V, Antithese, Isokolie, Anwendung der 
Colores rhetorici in dem Ausmaß der Vita, fehlen den Briefen, 
und mit einer Ausnahme ist das auch mit dem Homoioteleuton 
der Fall. Indessen will ich der folgenden Untersuchung nicht vor- 
greifen und gehe zunáchst zum Vergleich mit P und C über. 

Auf den ersten Anblick scheint diese Aufgabe groBe Schwie- 
rigkeiten zu bergen: es ist miBlich, Vertreter so verschiedener 
Literaturgattungen, wie Brief und panegyrische Historie, mit- 
einander zu vergleichen. Bei näherem Zusehen verringern sie sich 
jedoch. Die Vita bietet einen Ansatzpunkt, und zwar in jenem 
Teil, wo sie die Katastrophe Heinrichs IV. behandelt; hier be- 
rührt sie sich inhaltlich mit den beiden Briefen und erlaubt, eine 
Gegenüberstellung mit Aussicht auf Erfolg zu wagen. 

In V füllt die Darstellung des Kampfes zwischen Vater und 
Sohn beträchtlichen Raum, etwa ein Sechstel der ganzen Schrift. 
Die Erzählung weicht von derjenigen der beiden Briefe in ver- 
schiedenen, nicht unwesentlichen Einzelheiten ab. Am greifbar- 
sten in der Gewichts- und Raumverteilung, wie es dem anders 
gearteten Zweck der Biographie entspricht: bei PC liegt das 
ganze Gewicht auf der Schilderung der Ereignisse von der Zu- 
sammenkunft zwischen Vater und Sohn in Koblenz bis zur Ab- 
dankung in Ingelheim und der Flucht des Kaisers, während der 
Anfang der Erhebung als Einleitung zusammengedrängt wird. 
Dagegen wird er in V nicht mehr der Schilderung der Kata- 
strophe untergeordnet, sondern ihr gleichgestellt und erhält sogar 
etwas mehr Raum zugebilligt. Auch in der Darstellung erscheinen 
Abweichungen, zunächst in der Stilisierung der Ereignisse. Bei 
der Schilderung des ersten Wiedersehens auf der Zusammenkunft 
in Koblenz läßt V nicht wie P und C Heinrich IV. einen Fußfall 
vor dem Sohn tun, sondern benutzt Stücke aus den Patriarchen- 
erzáhlungen der Genesis, um eine Versóhnungsszene auszumalen, 


100 Vgl. S. 300. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 321 


ebenso wie sie bald darauf alle stilistischen Mittel zu Hilfe ruft, 
um ein sentimentales Bild von der letzten Nacht zu entwerfen, 
die Vater und Sohn vor dem Verrat zusammen verbringen!?!, 
Unterschiede von P C zeigt V auch im Tatsáchlichen. Sie sind 
oft angemerkt worden. Der auffallendste ist vielleicht, daß die 
groBe Rede Heinrichs auf dem Abdankungsreichstag ganz ande- 
ren Charakter trägt als in P und C, die in diesem Punkt auch 
ihrerseits nicht übereinstimmen. 

Diese Abweichungen, so bedeutend sie teilweise sind, würden 
an sich noch keinen Grund bilden, die Abfassung von V durch P 
oder C für ausgeschlossen zu erklären. Der mittelalterliche Histo- 
riker, der zuerst und vor allem Historiker der eigenen Zeit und 
somit Publizist war, ging mit anderen Absichten an seinen 
Gegenstand heran als der heutige, war auch bereit, dem ásthe- 
tischen Bedürfnis größeren Einfluß auf die Darstellung zuzu- 
gestehen, als sich mit unseren Begriffen von Tatsachenhaftigkeit 
vertrágt: für die Annahme, daB V und P, V und C, oder V und 
P C vom gleichen Verfasser herrühren kónnte, bleibt also noch 
Raum, und ebenso für den Gedanken, daß es nur noch der Ver- 
gleichung des Sprachstils bedürfe, um diese Vermutung zur Ge- 
wißheit zu erheben. Auffallend ist nur, daß man da, wo diese 
Vergleichung unternommen wurde, einen bedeutsamen metho- 
dischen Gesichtspunkt außer acht lieB und zu fragen vergaß, ob 
die sprachlichen Übereinstimmungen, dieman gefunden zu haben 
glaubte, nicht vielleicht auf Benutzung der Briefe durch V zurück- 
geführt werden muBten!9?, 

P ist als Propagandaschrift offenbar sofort verbreitet worden. 
Heinrich V. klagt darüber!®; Siegbert von Gembloux hat den 
Brief in seine Darstellung eingeschoben, später erwähnt ihn der 
Abt Hermann von Tournai!, und wir selbst besitzen ihn, außer 
durch den Codex Udalrici noch in zwei etwa gleichzeitigen Hand- 
schriften, einer aus Sankt Emmeram in Regensburg, die mit 

101 33,19ff. Daß Heinrich IV. die Weihnachtstage in Haft verbringen mußte, 
wird überhaupt nicht hervorgehoben. Über die verschiedenartige Stellung, die P und 
C zu dieser Tatsache einnehmen, vgl. oben S. 301 Anm. 64. 

108 In einem früheren Aufsatz „Heinrichs IV. Absetzung 1105/6 kirchenrechtlich 
und quellenkritisch untersucht", Zeitschr. der Savigny-Stiftung XLIII, Kanon. 
Abt. XII (1922) 184, hat Schmeidler mit Benutzung von P durch V gerechnet, später, 
so viel ich sehe, nicht mehr. 

18 Meyer von Knonau a. a. O. 308 n. 54. 19 Vgl. S. 308. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.2. 21 


322 S. Hellmann 


einer anderen, aus dem Besitze von Matthias Flacius herrühren- 
den in Wolfenbüttel! gegenüber den Handschriften des Codex 
Udalrici zusammengeht. Wie zu erwarten, berührt sich V mit P 
in einzelnen Gedanken: nur verführt erhebt sich Heinrich V. 
gegen seinen Vater, wobei V deutlich die Fürsten als die Anstifter 
bezeichnet, während P auf die Kurie hinweist“; nicht soll der 
Sohn eine vom Vater vor Gott verwirkte Strafe an ihm vollziehen 
wollen!??; die Erklärung endlich, mit der V den Kaiser die Ab- 
dankung vollziehen läßt, tut nichts als nur die kirchlichen Motive, 
mit denen sie in P begründet wird, ins Weltliche übersetzen!“s. 
Erst eine Untersuchung der Sprache zeigt so tiefe Unterschiede 
zwischen V und P, daß an gemeinsame Verfasserschaft nicht 
mehr gedacht werden kann. 

Schon oben wurde gesagt, daB zwischen den beiden Briefen 
und der Vita der Ansatzpunkt für den Stilvergleich gegeben ist: 
in der Behandlung der Katastrophe Heinrichs IV. Allerdings: 
dadurch, daB sie in V nur etwa die Hálfte des Raumes einnimmt 
wie in P, wird die Arbeit erschwert. 

Die Gegenüberstellung von V und P erinnert an diejenige von 
P und C. Der Verfasser von P hat die breitere Brust und den 
làngeren Atem, mehr Blut und Saft in den Adern als der Bio- 
graph, dessen Redeweise, an der seinigen gemessen, manchmal 
dünn erscheint. Sein Eigenwille zeigt sich in der Selbständigkeit 
gegenüber den Sprachgewohnheiten der Zeit: den Ablativus 
absolutus meidet er, soweit es geht, ebenso den Deklarativsatz 
mit Konjunktion statt des Accusativ cum Infinitiv!®; er führt 
ein Wort der Urkunden- und der Umgangssprache, wie 'exfestu- 
care’ in die gehobene Diktion des kaiserlichen Briefes ein, er gibt 
‘ich selbviert’ oder moi quatrième’ mit ex omnibus meis quartus 
ego’ wieder, er versucht ‘pensare Deum'!!? und wagt selbst einen 
Infinitivus futuri passivi!!!. In den übereinander getürmten Prä- 


1% 1126 (früher Helm. 1024) s. XII; vgl. O. v. Heinemann, Die Hss. d. Herzogl. 
Bibliothek zu Wolfenbüttel I 3, 15. 106 29, 15ff., P S. 241. 

107 Vita 36, 33ff.; P 242: 'ammonens et obtestans . .. ut, si pro peccatis meis 
flagellandus eram & Deo, de me ipse nullam maculam conquireret animae, honori et 
nomini suo; quia, culpae patris vindicem filium esse, nulla divinae legis unquam 
constituit sanctio'. 

108 34, 24ff. 19 Vgl. oben S. 307. 110 Vgl. oben S.319 n. 97. 

11 5.243 cum ... deliberationi suae et consilio principum in hoc totum me 
mancipandum promisissem' und ‘inde in pace et securitate me reducendum promisit". 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 323 


dikativen und Nebensátzen, mit denen er seine groBen Perioden 
eröffnet, zeigt sich die starke Hand, die scheinbar Zusammen- 
hangsloses verschweiBt. Dem Zeitgeschmack folgend schiebt er 
in seine Perioden Parenthesen ein. Sie werden bei ihm zu ge- 
schlossenen Gebilden mit Nebensätzen, fast selbst wieder Perio- 
den; in ihnen läßt er Heinrich IV. die Erzählung seiner Drangsale 
durch laute Ausbrüche des Schmerzes unterbrechen, in der Form 
der Aposiopese die Anklage gegen den Sohn bis zur letzten Hóhe 
steigern ; in eine Ich-Erzáhlung eingeschoben, táuschen sie den Ton 
des gesprochenen Wortes vor und verdoppeln die Stárke des sub- 
jektivistischen Elements!!?, Die reichlich, fast überreichlich einge- 
streuten Parenthesen in V wirken daneben matt: kurze Bemer- 
kungen sententióser Art, Exklamationen, manchmal Begründung 
oder Beurteilung eines Tuns, noch ófter Nachholen eines früheren 
Geschehens, das zum Verständnis nötig ist, aber an seinem chrono- 
logischen Ort nicht recht eingereiht werden konnte!!?: alles enger 
im Ausdruck, kleiner im Stil, mehr Kunst als Natur. Die Schwä- 
chen von V, von einem andern Standpunkt aus gesehen, ent- 
halten allerdings auch eine Stárke. Wenn P sprachliche Neuerun- 
gen wagt, so verfügt die Vita mit voller Sicherheit über ererbtes 
Sprachgut. Überall sehen wir sie den Blick auf das antike Vorbild 
richten. Bis ins Kleinste durchdacht ist die Diktion, alle Fein- 
heiten des lateinischen Gedankens wurden erfaBt!!*, Vielleicht ist 
der Verfasser dabei im Unterlassen ebenso stark wie im Tun. 
Die Pseudohendiadys, die seinem Zeitalter so geläufig war und 
in P fast jedes Satzglied füllt, vermeidet er; den historischen 
Infinitiv, den Lampert von Hersfeld der Antike absah!!5, und den 
Diese Verwendung des Gerundivums ist spátantik (vgl. Stolz-Schmalz, Lateinische 
Grammatik, 5. Aufl., neubearbeitet von M. Leumann und J. B. Hofmann 556f., 597), 
kommt aber im Mittelalter, wenigstens soviel ich sehen kann, nicht mehr vor. 

13 Als einziges Beispiel die Parenthese, die in die leidenschaftliche Darstellung 
der weihnachtlichen Haft eingeschoben ist: ‘ut taceam obprobria iniurias minas 
gladios in cervicem meam exertos, nisi omnia imperata facerem; famem etiam et 
sitim, quam perferebam, et ab illis, quos iniuria erat videre et audire; ut etiam 
taceam, quod est gravius, me olim satis felicem fuisse’. 

ns 15, 4 (von den Sachsen bei Zerstörung der Harzburg) ‘ossa filii regis — nec- 
dum enim imperator factus erat — o inhumanam mentem, o probrosam vindictam! — 
ellodere'. Anderes 13, 16; 16, 20; 20, 29; in der Schulausgabe sind die Parenthesen 
nicht immer bezeichnet. 114 Vgl. nachher S. 325. 


ns Ich greife aufs Geratewohl einige Stellen heraus: Holder-Egger 143, 7; 264, 9; 
296, 32; 297, 6. m 


21* 


324 S. Hellmann 


er selbst bei Sallust, Livius, Sulpicius Severus fand, hat er ab- 
gelehnt: er war ein Kind der Schule, aber nicht alles nahm er 
an, was sie ihm bot. 

Der Verfasser der Vita ist nicht so stark, nicht so kühn, wie 
sein Gegenpart. Wir kónnen es auch anders wenden: er ist das 
geringere Temperament und deshalb mehr intellektualisiert. 

Als das beherrschende Gesetz der Vita lernten wir die Anti- 
thetik kennen. Immer ist es der Gegensatz, die Negation, durch 
welche die Aussage erst zu voller Wirkung gebracht werden 
soll!$: der Verstand, nicht die Anschauungskraft des Lesers 
wird zu Hilfe gerufen. Die Antithetik des Gedankens wirkt hin- 
über auf die Form; sie entwickelt den Satzparallelismus und die 
Isokolie, die wieder durch phonetische Mittel, Anklänge im 
Innern der Glieder und Gleichklang am Ende unterstrichen wird. 
Derartige Formen des Ausdrucks sind P fremd. Was er gibt ist, 
wenn er erzählt, Erzählung im epischen Sinn, gefühlsdurch- 
tränkt, aber nirgends mit einander ausschließenden Gegensätzen 
arbeitend. Ein Unterschied zwischen P und C lag in der Verbin- 
dung der Perioden. Er wiederholt sich in anderer Gestalt der 
Vita gegenüber. In der Darstellung von Heinrichs Katastrophe 
arbeitet auch sie anfánglich mit dem deiktischen Element; dann 
löst sie es durch Konjunktionen ab, ‘nec’, ‘sed’, sed et’, sed nec’, 
die nur andeuten, daB die Erzáhlung weitergeht, nicht sie glie- 
dern wollen. Zweimal tritt autem' auf, nicht mehr narrativ, aber 
auch nicht mit der Schärfe, die das Unerwartete ankündigt, wie 
‘at’ bei P, sondern in dem abschwächenden Sinn „im Gegensatz 
dazu'!?, Auch das eilige emphatische ‘Et’ des königlichen 
Schreibens fehlt!!?: nirgends wird die Dramatisierung und Be- 
flügelung des Vortrags von P erreicht. Dagegen wirkt V durch die 
gerade in diesem Teile häufige Nebeneinanderstellung der Perio- 
den ohne jede Verbindung, die bei P selten ist. Zusammen mit den 
Accusativ-cum-Infinitiv-Ketten der wiederholten indirekten Re- 

110 31, 19: ‘Cur fugis non fugiendum, cur fugis patrem tuum? Sequitur te, non 
persequitur; sequitur, inquam, non ut hostis, sed ut pater, non ut perdat, sed ut 
servet'. Vgl. z. B. auch 10, 18; 12, 28. 

117 34, 31: ‘multos et oratio imperatoris et fortuna ad gemitus et lacrimas com- 
movit; filium autem ad miserationem nec ipsa natura movere potuit'. — 35, 9: 'Laici 
misericordia commoti veniam dabant; legatus autem domni apostolici absolutionem 


negabat...’ 
118 Vgl. oben S. 305, Der 'Et'-Satz 34, 33 hat anderen Charakter. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 325 


den, die P ganz fehlen, gibt sie der Rede etwas kraftvoll Gedrun- 
genes, und macht es einen Teil jenes Weniger an Unmittelbarkeit 
wett, durch die V sonst hinter P zurücksteht!!?, Im Innern der 
Periode fehlt V die oft besprochene Anháufung von Vordersátzen 
und Prádikativen in P. Aber V baut Prádikative überhaupt 
anders, einfacher. Meist erscheinen sie nicht als Präpositionalkon- 
struktionen, sondern als bloße Ablative mit oder ohne Attribut; 
man vergleiche 'patrem sicut ficta poenitudine, sic et consilio 
fefellit’ (33, 11) mit sub eiusdem fldei et sacramenti obtesta- 
tione ... promisit' (Jaffé V, 243). Erläuternde Genitive verschie- 
dener Art wie in diesem Beispiel wendet P in jeder Zeile an!; 
in V müssen sie gesucht werden; Fälle wie damnum oblectationis 
diu intermissae' oder ‘pulchra species mendacis fidei’ (33, 23 und 
34, 1) sind in den rein erzählenden Teilen selten. Auf ein dem 
Zeitstil geläufiges Mittel der Erzählung verzichtete P fast ganz, 
den Ablativus absolutus!?!: in V durchzieht er die ganze Dar- 
stellung. Ebenso häufig stellt V nach Abschluß des Hauptsatzes 
ein Partizip oder Adjektiv als Apposition zum Subjekt statt 
eines modalen oder kausalen Nebensatzes. Àuch P kennt diesen 
Gebrauch; aber die Vergleichszahlen sind elf und vier, und das 
im Rahmen eines Abschnittes, der nur die Hálfte des Raumes 
von P einnimmt. Vollstándig gehen beide in dem Gebrauch der 
Hilfszeitwörter auseinander; sind sie in P schon erheblich seltener 
als in C12, so vermeidet V sie ganz. Wo es Verba wie ‘posse’ und 
‘velle’ bringt, tut es das am rechten Ort, in einer der Antike ab- 
gelernten Weise: 'si sic occasionem fraudis invenire posset, ute- 
retur illa, sin autem, fraus ipsa pro fide ... teneretur' (33, 9); 
"misso legato patri mandavit, ut, si vitam servare vellet, absque 
mora sibi crucem, coronam et lanceam ceteraque regalia trans- 
mitteret? (34, 10)!22, Wir lernten als einen der Unterschiede zwi- 
schen P und C ihr Verhalten gegenüber dem subjektivistischen 
Mittel des vom Adjektiv oder Partizip abgeleiteten Adverbs 
kennen; hier steht V noch weiter von C ab als P: rectene secum 
an secus actum esset’ (32, 28) wirkt wie eine Seltenheit. 


us 32, 33ff.; 33, 14ff., 30ff.; 34, 24ff., dazu 29, 29ff.; 41, 15ff. 

130 Vgl. die oben S. 304 abgedruckten Stellen. 

131 Vgl. oben S. 307. 133 Vgl. S. 304 f. 

13 Vgl. im Gegensatz dazu ‘nihil esse, cum ipsi coissent in concordiam, quod illi 
resisteret" (33, 15). 


326 S. Hellmann 


Meine letzten Ausführungen prüften das Verháltnis von V und 
P an der Hand von Wortkategorien und Satzteilen. Zum Ab- 
schluß frage ich noch einmal nach den beherrschenden Stilten- 
denzen beider, nachdem ich schon am Eingang dieses Teils der 
Untersuchung mich damit beschäftigt habe. 

Wir erinnern uns an die sprachlichen Grundlagen der Vita: 
den Gedanken formt die Antithese, den Ausdruck bestimmen die 
Colores rhetorici. P ist die Antithese fremd, wie wir vorhin sahen; 
noch bleibt sein Verhältnis zum rhetorischen Virtuosentum von 
V zu untersuchen. Es beherrscht, wie alle übrigen Teile der Vita, 
so auch die Schilderung des Verrats am Kaiser und seiner er- 
zwungenen Abdankung. Gerade hier treten rhetorische Figuren 
auf, die in dem im ersten Teile dieser Untersuchung wieder- 
gegebenen Abschnitt fehlten, vor allem die Traductio. Ich führe 
ein Beispiel an, in dem sie zugleich dauernd mit Antithese ver- 
setzt ist. 'Hac instructus arte cum venisset ad patrem, pater 
credulus verbis et lacrimis filii, irruit super collum eius, flens 
et deosculans eum, gavisus instar illius evangelici patris revixisse 
filium, qui mortuus fuerat, et inventum, qui perierat. Quid 
multa ? Condonavit filio tam poenam quam culpam; et hoc fuit 
illi iniuriam filii vindicasse, paterna caritate filium corri- 
puisse, iuxta illud comici: pro magno peccato filii paululum 
supplicii satis est patri!** (33, 3ff.). Ein paar Zeilen weiter wird 
das Doppelspiel mit den Formen von 'pater' und 'filius' abermals 
aufgenommen und noch einige Male wiederholt. Vorher wie nach- 
her finden sich noch genug Beispiele für diese und verwandte 
Arten rednerischen Schmuckes, die weniger mit Sinngehalten als 
mit akustischen Mitteln zu wirken suchen!?5, Halten wir einige 
Stellen aus P daneben, die am stárksten rhetorisch gefárbt sind. 
‘Cum igitur ipso sacratissimo die nativitatis suae omnibus re- 
demptis suis ille sanctus sanctorum puer fuisset natus, mihi soli 
Filius ille non est datus. Nam — ut taceam obprobria iniurias 
minas gladios in cervicem meam exertos nisi omnia imperata 
facerem ; famem etiam et sitim quam perferebam, et ab illis, quos 


144 Der Satz stammt aus Terenz (Andr. V, 3, 32); aber ‘filii’ ist erst von V eingesetzt. 

155 33, 33—34 deduceret' — ‘adduceret’, weiterhin die Antithesen ‘dol? — 
‘fidei’, ‘dominus’ — ‘captivus’; vorher die Paronomasien recollegit' — ‘cogeret’ — 
‘coegit’ (31, 25) und ‘secum secus’ (32, 28), die Fälle von Alliteration ‘tamquam 
tanti" (31, 29), ‘multis magnisque’ (31, 31), in fide frigebant' (33. 32). 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 327 


iniuria erat videre et audire; ut etiam taceam, quod est gravius, 
me olim satis felicem fuisse — illud nunquam obliviscar, illud 
nunquam desinam omnibus Christianis conqueri, quod illis sanc- 
tissimus diebus sine omni Christiana communione in carcere illo 
fui." (244). — 'Cumque inquirerem, si saltem sic de vita mea 
certus et securus esse deberem, eiusdem apostolicae sedis legatus, 
qui ibidem aderat — non dico, qui haec omnia ordinaverat — 
respondit, me nullo modo eripi posse, nisi publice confiterer: me 
iniuste Hildebrandum persecutum fuisse; Wicpertum iniuste ei 
superposuisse; et iniustam persecutionem in apostolicam sedem 
et omnem ecclesiam hactenus exercuisse' (245). Auch hier finden 
wir rhetorischen Schmuck: die Hyperbel, die Anaphora, in dem 
zweiten Beispiel (‘iniuste — iniuste — iniustam’) mit Traductio 
verbunden, die Occultatio oder Omissio ('ut taceam obprobria' 
usw.; non dico, qui’ usw.), die Steigerung!?®, im ersten Beispiel 
mit einer kleinen Binnensteigerung ('obprobria — gladios’), 
im zweiten nach dem Gesetz der wachsenden Glieder geformt. 
Aber diese Kunstmittel werden nur sparsam angewendet, 
in Augenblicken, die eine Steigerung des Ausdrucks zulassen 
oder gebieterisch verlangen, unwiderstehlich bricht ihr Pathos 
aus dem Inneren heraus, das rein akustische, nur sinnliche Ele- 
ment wird hóchstens gelegentlich zu Hilfe gerufen, nicht gleich- 
mäßig und in steter Wiederholung, bis zur Gefährdung aller 
Wirkung über das Ganze ausgebreitet. Man lasse den leiden- 
schaftlichen Ausbruch des Schmerzes und der Empórung in 'illud 
nunquam obliviscar, illud nunquam desinam omnibus Christianis 
conquer?’ auf sich wirken, vergleiche ihn mit irgendeiner pathe- 
tisch gefárbten Stelle der Vita, und man sieht und fühlt den 
tiefen Unterschied, der beide trennt: hier wächst das Ornament 
der Idee des Ganzen gemäß aus dem Stein heraus, dort bleibt 
es äußerlich aufgeklebter Zierrat aus Stuck. 

Der Vergleich zwischen P und V gab die Móglichkeit, Seiten- 
blicke auch auf C zu tun. Sie ergaben Übereinstimmung zwischen 
C und V in der Art der Periodenverbindung, in dem abundanten 
Gebrauch des Ablativus absolutus, also Sprachgewohnheiten der 
Zeit. Aber ebenso auch Gegensátze: V ist die Verwendung des 
Hilfszeitwortes und des von Nominalformen abgeleiteten Ad- 
verbs fremd. Dafür kennt C den Gebrauch des dem Hauptsatz 


1 Nicht im Sinne der Klimax. 


328 S. Hellmann 


angehängten Partizips so gut wie überhaupt nicht. Es wendet die 
Hendiadys an, wenn auch nicht so hàufig wie P, wáhrend V sie 
fast absichtlich vermeidet. Was aber entscheidet: gerade in den 
für V bestimmenden Stilgrundsátzen trennt C sich von der Vita: 
es hat weder Antithetik noch Isokolie noch das dazugehórige 
Homoioteleuton, und beobachtet auch den kleinen Mitteln der 
Rhetorik gegenüber ebensolche Zurückhaltung wie P. 

Es wäre in manchem lohnend, diesen Gegensátzen weiter 
nachzugehen und noch andere aufzuspüren. Indessen sagen sie 
allein genug, und fruchtbarer wird es sein, statt die Liste der Ab- 
weichungen zu verlängern, V noch mit einem der kleineren 
Schreiben aus der von C geführten Gruppe zu vergleichen. 

Ich wáhle dazu H und stelle es einem Teil des 11. Kapitels der 
Vita gegenüber!?”, weil Gegenstand und Form sich nahe berüh- 
ren. In H eine Bitte an Heinrich V., nicht weiter gegen den Vater 
vorzugehen, in V eine mündliche Botschaft!“ : der Kaiser, selbst 
in Lüttich, bittet den Sohn, der Ostern auch dort feiern will, von 
seinem Vorhaben abzustehen, weil er sich bedroht fühle. Aber die 
Behandlung des Gegenstandes hier und dort ist verschieden. 
H geht von dem Vorwurf mangelnder Sohnesliebe aus und be- 
gründet ihn mit der Schilderung von Heinrich V. Auflehnung 
und seinem Verrat. Dann folgt der positive Teil: da der Vater 
zur Aussöhnung mit Rom bereit ist und schon Schritte getan hat, 
wird dem Sohn nahegelegt, von weiteren Feindseligkeiten zu 
lassen. Der Gedankengang ist historisch begründend und persua- 
sorisch. Dagegen gibt sich V ganz moralisierend und sententiös, 
ganz auf das Vater- und Sohnesverhältnis eingestellt, in der 
Weise, daß der Sohn als der Verführte, der Vater als der Nach- 
giebige, zur Verzeihung Bereite erscheint. Der politische Charak- 
ter des Briefes, die moralisierende und zugleich panegyrische 
Tendenz der mündlichen Botschaft bedingen auch eine Verschie- 
denheit des Stils. Der unnatürliche Gegensatz von Vater und 
Sohn gibt V Gelegenheit, die Antithetik noch zu steigern und 
durch kleine rhetorische Künste zu unterstützen!“. Für H ganz 

17 36, 23ff. 138 36, 23ff.: ‘legationem ad eum in hunc modum direxit’ 
und 38, 9 ‘hanc legationem patris aure surda filius audivit’. Vgl. dazu die entsprechen- 
den Stellen in A (S. 232) und P (S. 246). 

129 36, 29 ff.: isti te decipiunt, non instruunt, isti honori tuo non provident, sed 
invident, isti sub specie fidei perfidiae laqueos nectunt. Non aliter pervenire potuerunt 
ad destructionem honoris tui, nisi per destructionem nostri'. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 329 


wie für P bedeutet Rhetorik nicht Anbringung der Colores rhe- 
torici, sondern Steigerung des Ausdrucks, Kraft mit Maß ver- 
bunden, und verhaltenes Gefühl. Die Antithese herrscht auch 
hier; aber sie ist durch den Gegenstand gefordert, nicht ist sie 
ein Stilprinzip, noch äußert sie sich in den gleichen Formen wie 
in VI. Das tritt schon in scheinbar äußerlichen und nebensách- 
lichen Dingen hervor. Ego' und tu' stehen in V im gleichen 
Casus?! einander gegenüber und erhalten den Ton selbst wo der 
Sohn nicht dem Vater, sondern seinen Verführern gegenüber- 
gestellt wird!. In H spricht Heinrich von sich mit ‘nos’ und 
redet seinen Sohn mit ‘tu’ an: Vater und Sohn stehen nicht auf 
der gleichen Ebene des natürlichen Verhältnisses, sondern in dem 
Abstand des Verhältnisses von Herrscher und Untertan!®. Die 
beiden Personalpronomina und ihre Possessiva kommen häufiger 
vor als ‘ego’ und tu' in V. Aber sie werden nie in Antithese gebracht 
und nie betont. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen V 
und P: H braucht den Gegensatz nicht künstlich zu unterstreichen, 
weil es ihn aus den Tatsachen und den Argumenten der Menschen 
Sprechen zu lassen versteht. Die Parallele des Unterschieds von 
H V und V P setzt sich fort, so sehr sich auch die C- Gruppe und 
P voneinander unterscheiden: die einfachere, dünnere Diktion 
der Biographie, ihre kürzeren Sátze, die Seltenheit ausgearbei- 
teter Prádikative!**4, überhaupt der Mangel an Abundanz des 
Stils, die geringe Zahl attributiver Adjektiva, mit der sie 
gegenüber H um die Hälfte zurücksteht, das Fehlen adjekti- 
vischer und adverbialer Partizipien — all das zeigt den verstan- 
desklaren, aber weniger reichen Stilisten, der uns schon in der 
Gegenüberstellung mit dem Verfasser von P begegnete. 


19 Vgl. S. 261: Ante captivitatem etiam abstulisti nobis episcopatus et quicquid 
de honore regni potuisti; et praedia nostra; et ipsam familiam. In captione vero, 
quicquid residuum erat, etiam lanceam et crucem et omnia regalia insignia vi et 
timore mortis — ut ipse bene scis et omni ferme notum est Christianitati — a nobis 
extorsisti ; vix relicta ipsa vita.’ 

m 37, 4, 19, 21—22; 38, 3. 

133 Vgl. 36, 29ff. (oben S. 328, Anm. 129) und 37, 11—12. 


33 Die einzige Ausnahme 252: (Deus) ... forsitan de sede sancta sua inter me 
€t te sua gratuita misericordia aliud iam definivit, intercedente iustitia, quam tu ipse 
cogites et disponas.’ Vor dem Angesicht Gottes verschwindet der Unterschied. 

1 Vel. oben S. 325. 


330 S. Hellmann 


VI. Die náchste Aufgabe, die diese Untersuchung sich stellen 
muß, ist die Frage, ob Bischof Erlung von Würzburg als Ver- 
fasser der Vita in Anspruch genommen werden darf. Ich beab- 
sichtige nicht, zu prüfen, ob das Wenige, was wir von ihm wissen, 
mehr zuläßt als eine unsichere Vermutung!®®. Nunmehr hat Pivec 
den Versuch gemacht, ihn von anderer Seite her zu stützen. Er 
erinnerte sich daran, daß der Codex Udalrici zwei Schreiben unter 
Erlungs Namen enthält. Das eine wollte er einer Persönlichkeit 
zuweisen, die wir durch Ekkehard als Publizisten im Dienste 
Heinrichs V. kennenlernen, dem Iren David; ihn sieht Pivec als 
Verfasser von Urkunden und Briefen des Kaisers an, glaubt, daß 
er auch für dritte Personen tätig gewesen sei und zählt zu diesen 
auch Erlung!?®. Dagegen behält er den anderen der beiden Erlung- 
Briefe, und zwar den älteren, dem Verfasser der Vita und der 
seiner Meinung nach damit verbundenen Briefreihe vor!??, Daran 


1355 Bei dem Versuch, sie zur Gewißheit zu erheben, haben neuerdings die Anfangs- 
worte der Vita (vgl. oben S. 2801.) eine gewisse Rolle gespielt. Holder-Egger (NA. 
XXVII [1901] 176) glaubte die capta urbs’ auf Würzburg deuten zu müssen, und da 
Erlung durch Heinrich V. im Sommer 1105 vorübergehend seines Würzburger Bis- 
tums entkleidet wurde, so schien die Beweiskette geschlossen. Es war vergeblich, daB 
Paul von Winterfeld, geleitet durch sein literarisches Feingefühl, Einspruch erhob 
(NA. XXVII [1902] 5631.) und durch eine Mitteilung E. Dümmlers instand gesetzt 
wurde, zu zeigen (a. a. O. 563), daB die Stelle Johannes Chrysostomus entlehnt ist, 
der seinerseita Jeremias 9, 1 weiter fortgebildet hat. M. Tangl glaubte ein Übriges 
tun zu müssen, indem er die 'capta urbs' der Eingangsworte in der 'capta urbs' der 
Vita (18, 19) wiederfand, mit der Würzburg gemeint ist (NA. XXXI [1906] 479). 
Es klingt hart, aber man muß es aussprechen, daB hier der Punkt erreicht ist, wo 
historische Methode und literarische Verstándnislosigkeit ineinander übergehen. Das 
Chrysostomus-Zitat kehrt seit Hieronymus (Ep. XXXIX, Migne XXII, 465) háufig 
wieder (auBer bei Alchvin und Lampert von Hersfeld, die man gewóhnlich anführt, 
auch bei Jotsaldus, V. Odilonis, Migne 142, 897; anderwürts nur der Vers aus Jere- 
mias: bei Leo von Vercelli, Versus de Ottone et Heinrico 1ff. [E. Dümmler, Anselm 
der Peripatetiker 80, und H. Bloch, NA. XXII (1897) 119] und Helinand, Liber de 
reparatione lapsi, Migne 212, 716). Andeutung persónlicher Schicksale darf man erst 
von dem Punkt an suchen, wo vom Wortlaut abgewichen wird. Das ist in der Vita 
mit non damna rerum mearum' der Fall; man darf aber damna rerum mearum' 
nicht mit Holder-Egger a. a. O. 182 auf Erlungs Bistum deuten: res meae' — so 
hátte kein mittelalterlicher Bischof von seinem Amte gesprochen. Um aber zu Tangl 
und der ‘capta urbs’ zurückzukehren, so wird der Ausdruck nicht nur für Würzburg 
verwendet, sondern auch für Rom (24,6). 1% MÓJG. XLVI (1932) 264ff., 304. 

17 Schmeidler dagegen (319) läßt diesen Brief von dem Diktator Ogerius A ge- 
schrieben sein, dem er auch A C H S F (nicht aber P und V) zuweist; Schmeidlers 
Methode bleibt sich dabei gleich. Die Frage liegt auBerhalb meines Themas. 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 331 


ist soviel richtig, daB die beiden Briefe unter Erlungs Namen nicht 
von der gleichen Hand herrühren; mindestens den einen hat er 
nicht selbst verfaBt, sondern von einem Beauftragten schreiben 
lassen. Welches der beiden Schreiben das ist, wissen wir nicht und 
mit der von Pivec angewandten Methode läßt es sich nicht fest- 
stellen. Da aber bei der Hartnäckigkeit, mit der Erlungs Name sich 
in der Diskussion erhált, der Versuch, ihn stilistisch zum Verfasser 
der Vita zu stempeln, noch einmal wiederholt werden kann, so 
rechtfertigt es sich wohl, wenn ich ein letztes Mal in eine Stil- 
vergleichung eintrete, die sich auf beide Schreiben erstreckt. Die 
Folgerungen für die Vita werden sich von selbst ergeben. 

Die Erlung-Briefe (Jaffé n. 118, S. 228 und n. 209, S. 382), 
fast genau von gleichem Umfang, sind kurz: jeder umfaßt nur 
einige Zeilen mehr als eine Seite im Druck. Der Inhalt ist ver- 
schieden. In I, das etwa in den März 1105, kurz nach der Er- 
hebung des Absenders zum Bischof zu setzen sein wird!®, dankt 
Erlung dem Bischof Otto von Bamberg für dessen Bemühungen 
um seine Wahl und bittet um eine Zusammenkunft. Einige kurze 
Mitteilungen über Personen des gemeinsamen Bekanntenkreises 
schlieDen sich an, dazwischen die Nachricht von Heinrichs IV. 
Bemühungen, mit Paschalis II. zu einer Einigung zu gelangen. 
Brief II, den Jaffé zu 1107—1121 setzt, an das Bamberger Ka- 
pitel gerichtet, beschäftigt sich mit den Beschwerden eines frühe- 
ren Würzburger Propstes und soll Erlungs Verhalten in dieser 
Angelegenheit rechtfertigen. 

Ich beginne diesmal mit einer rein syntaktischen Beobach- 
tung. Untersuchen wir die Konjunktion in I und II, zunáchst die 
kopulative, und zwar mit Beschränkung auf die Fälle, wo sie 
Sätze oder Satzteile verbindet, unter Ausschluß derjenigen, in 
denen sie in einer Hendiadys oder einer áhnlichen Verbindung 
steht. Wir finden, daß sie in I achtzehn-, in II nur siebenmal vor- 
kommt. Für die Adversativpartikel ist das Verhältnis umgekehrt 
1:5. Das bedeutet, daß in II die Gedanken sich schärfer von- 
einander abheben und enger miteinander in Verbindung gebracht 
werden. Für den Satzbau läßt sich erwarten, daB in dem einen 
Schreiben die Koordination vorherrscht, in dem andern subordi- 
niert wird, und daß sich die Diktion von I in einfacheren Sätzen 
bewegt, in II zur Periodenbildung neigt, d. h. zu logischer Zu- 


138 Meyer von Knonau a. a. O. 213f. n. 5. 


332 S. Hellmann 


sammenfassung der Gedanken in größeren Gefügen. Ein Blick 
auf die Texte bestätigt diese Vermutung. In I treten die Gedan- 
ken hintereinander und in ihrer natürlichen Reihenfolge auf. Ich 
gebe wieder ein Beispiel. 'Novi enim: vos meae sublimitatis post 
Deum esse principium; nec nunquam posse me in curia tam diu 
sustinuisse, quod ad honorem pervenirem, nisi vestra largitas meo 
labori subvenisset et vestra me fovissent ac solidassent consilia' 
(S. 229). Die durch Et' miteinander verbundenen Sätze haben 
die Eigentümlichkeit, daB der zweite den Inhalt des ersten 
variiert, allenfalls auch etwas steigert oder erweitert, aber nicht 
eigentlich Neues hinzufügt!?®, so daß sich eine Art Satzhendiad ys 
ergibt, wie sie dem Zeitgeschmack entspricht. Schon hier zeigt 
II ein anderes Bild. Es kennt die Satzhendiadys zwar auch, 
wendet sie aber nicht so häufig an!“. Gewichtiger indes sind 
andere Unterschiede. Die Sátze in II sind lànger: Jaffé's Satz- 
distinktion zugrunde gelegt!*', ergeben sich, bei gleichem Um- 
fang, nur acht selbstándige Sátze gegenüber zwólf in I. Diese 
Sätze zeigen einen Bau, wie er einem schärferen und energische- 
ren Denken entspricht. Seine groBe Probe legt es in einer Periode 
ab, die allein fast ein Drittel des Ganzen einnimmt und nicht 
weniger als fünfzehn Glieder kraftvoll und durchsichtig zugleich 
zu einem Zusammenhang zu ordnen versteht!**, Auch gegenüber 
den Gebilden, die im Lateinischen dazu helfen, die Periode zu 

19 ‘Scio indubitanter et credo (nec credendo fallar in aliquo). — ‘Unde in 
praesenti grates, quot et quantas possum, vestrae paternitati refero et, dum vivo, 
me et mea ad vestrae voluntatis arbitrium exhibeo' (S. 229). 

140 Eigentlich nur einmal: in dem Satz Visum est’ S. 382. 

M1 Jaffé's Interpungierung ist ungewöhnlich geistreich, und es wäre zu wünschen, 
daB man sich daran bei der künftigen Neuausgabe der Cod. Udalrici erinnerte. Mit 
allen erdenklichen typographischen Mitteln gliedert sie die Periode, gibt durch An- 
wendung des Semikolons den Partizipial- und Ablativkonstruktionen ihren Neben- 
satzcharakter wieder, und markiert durch Spatien (vgl. z. B. S. 244, 245) die selb- 
ständigen Abschnitte der Erzählung. Man kann die Frage aufwerfen, ob diese deut- 
liche, fast überdeutliche Gliederung dem mittelalterlichen Denken immer entspricht; 
trotzdem soll man nicht übersehen, wieviel philologische Kraft und wieviel Fähig- 
keit zum Eindenken in Texte daraus spricht. 

143 In qua re cognoscere vos volo primo omnium: quod, quam diu res tulit et 
ultra quam tulit, ego eum semper toleravi; adeo ut, etiam postquam iudicio fratrum 
meorum destitutus est, electo in locum eius cognato meo, ego tamen — cum iudicii 
sententiam, quae data erat in eum, rescindere non possem — mansuetudine et 


compassione fraterna devictus, nolui prorsus omni spe eum destituere, donec beni- 
volentia, cum nihil ei deberem, duas parochias cum pecunia ei dedi, eo tenore, ut 


Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 333 


bauen, verhalten I und II sich analog. Den Accusativ cum Infini- 
tiv hat I drei-, II fünfmal, das Participium coniunctum und der 
Ablativus absolutus, von denen in II vier und zwei Fälle vor- 
kommen, fehlen I überhaupt. Die Worthendiadys, die Schwáche 
der Zeit, trägt hier und dort ein verschiedenes Gesicht. Largus 
atque propitius', 'rogo atque desidero' in I: eine konventionelle 
Manier wird ohne viel Überlegung angewendet; in den seltenen 
Fällen, wo II zur Hendiadys greift, ist sie sinngefüllt und sach- 
lich gerechtfertigt!€. Adverbien und Adverbialien, in I häufig, 
treten in II zurück, weil der Verfasser, gemessen und kraftvoll, 
einer besonderen Steigerung oder Variierung seines Ausdrucks 
nicht bedarf. Ein letztes, und was mit entscheidet: I und II 
stehen in ganz verschiedenem Verhältnis zu der Bildung ihrer 
Zeit. Der eine der beiden Verfasser ist vollständig in den Geist 
der fremden Sprache eingedrungen: er handhabt sie in über- 
legener Weise, weil er in ihr denken gelernt hat. Der andere da- 
gegen beherrscht nicht einmal ihre Regeln vollständig. Die oben 
(S. 332) angeführte, mit 'novi enim' beginnende Satzfolge zeigt 
bei den beiden Infinitiven falschen Gebrauch der Tempora. Ähn- 
lich später: 'vellem itaque vobis libenter loqui, antequam redirem 
ad curiam, si scirem, quomodo possemus utiliter convenire’. 
VerstóBe, die für II ebensowenig denkbar sind wie der Germanis- 
mus 'nos duo'. | 

Noch bin ich auf einen Einwand gefaßt: daß I und II zwar 
nicht von gleicher Hand herrühren, daß es aber doch erlaubt sein 
muß, wenigstens dem einen Verfasser die Vita, oder P, oder sei es 
auch nur einen Anteil an der C-Gruppe beizulegen. Darauf ist zu 
erwidern, daB man die Virtuosität des Biographen, die Voll- 
endung von P, die Fertigkeit und Ausdrucksfähigkeit der C- 
Gruppe, wie sie an einer langen Reihe von Stileigentümlichkeiten 
dargelegt wurde und an den abgedruckten Proben abgelesen 
werden kann, auf keinen Fall mit einem ungeübten Stilisten 
omni deinceps querela sopita nihil molestiae super hoc negotio sustinerem.’ Der 
Indikativ ‘nolui’ in dem Konsekutivsatz ist, als sinnbetont, und um einen neuen 
Träger für das ganze Gefüge zu gewinnen, wohl absichtlich gesetzt, ebenso das ihn 
stützende 'tamen'. 

16 Vgl.: ‘mansuetudine et compassione fraterna devictus (allgemein mensch- 
liches neben dem verwandtschaftlichen Gefühl); "libera et unanimi electione ... nec 


venalitate nec personae acceptione inductus, praepositum ... constitui' (juristische 
Zirkumspektion läßt die Worte genau wählen). 


334 S. Hellmann, Die Vita Heinrici IV. und die Kaiserliche Kanzlei 


wie I in Zusammenhang bringen darf. Will man es mit II ver- 
suchen, so mag man das tun, vorausgesetzt, daB man sich 
zweierlei vor Augen hält: einmal, daß ein so kurzes Schriftstück 
weder mit umfangreichen Dokumenten ganz anderen Inhalts 
noch mit einem vielleicht dreißigmal so langen Panegyrikus ver- 
glichen werden darf, ohne daß man sich Voreiligkeiten und Fehl- 
griffe zuschulden kommen läßt. Das andere ist, daß damit nicht 
viel gewonnen sein würde, weil wir immer noch nicht wüßten, 
welcher der beiden Briefe Erlung zum Verfasser hat. Denn um 
es noch einmal zu sagen: der Bischof ist und bleibt als Stilist 
eine unbekannte Größe. 

Alle Bemühungen, eine bestimmte Persönlichkeit als Verfasser 
der Vita Heinrici IV. zu nennen, sind bisher vergeblich gewesen. 
Die Lebensverhältnisse Dietrichs von Sankt Alban und Erlungs 
von Würzburg kennen wir zu wenig, um über unbestimmte Ver- 
mutungen hinauszukommen. Daß es auch nicht statthaft ist, 
den Verfasser in dem weiteren Kreise der kaiserlichen Kanzlei 
zu suchen, hoffen die eben abgeschlossenen Untersuchungen ge- 
zeigt zu haben. Auch die handschriftliche Überlieferung führt 
nicht weiter. Die Vita ist uns allein durch Clm. 14095 aus St. 
Emmeram erhalten; von eben dort stammt Clm. 14096, das 
APHSF enthált. Der Gedanke blitzt auf, ob diese Nachbarschaft 
nicht mehr sein kónnte als nur zufállig. Aber sofort kommt die 
Enttáuschung. Der Schreiber der Briefe ist álter als derjenige 
der Vita, beide Handschriften sind wesentlich jüngere Sammel- 
handschriften verschiedenen Inhalts, in den dort die Vita, hier 
die Briefe aus uns unbekannten Gründen eingelegt wurden. 
Ebensowenig besagt es, daB P. außer in Clm 14096 auch im 
Guelferbytanus 1126 enthalten ist (vgl. S. 321f.). Beide Hand- 
schriften gehen gegenüber denen des Cod. Udalrici in einer groBen 
Anzahl von Lesarten zusammen (vgl. den Apparat bei Jaffé), 
auch in der vermutlich linksrheinischen Form „Engelheim“ statt 
„Ingelheim“ (vgl. die bei Fórstemann s. v. angegebenen Stellen), 
aber ein weiterer Schluß, etwa auf die Heimat der Vita, läßt 
sich von hier aus nicht ziehen. So bleibt ein negatives Er- 
gebnis. Vielleicht wird es aufgewogen durch die Erkenntnis, die 
dann der Behandlung anderer Fragen gleicher Art zu gute 
kommen mag, mit welchen Schwierigkeiten jede Untersuchung 
rechnen muß, die den Weg der Stilvergleichung betritt. 


335 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand. 


Ein Versuch 
von 
Hermann W endorf. 


Zur Kritik der Quellen S.337. — Talleyrands Stellung in der Philosophie seiner 
Zeit. S. 342. — Seine Religiosität S. 348. — Auffassung vom Verhältnis der Menschen 
zu einander S. 353. — Die Prinzipien als die Gesetzmäßigkeit des gesellschaft- 
lichen Seins S. 355. — Das Prinzip der Legitimitát S. 361. — Das System des 
europäischen Gleichgewichts S. 367. — Die Stellung zu Napoleon S. 371. — Der 
innere Aufbau des Staates S. 373. — Talleyrands Auftreten auf dem Wiener Kongreß 
S. 378. — Zusammenfassung S. 383. 


Eine merkwürdige Zwiespältigkeit liegt über der Gestalt, in 
der Talleyrand, der wohl wandlungsfähigste aller französischen 
Staatsmänner, in die Geschichte eingegangen ist und in ihr 
scheint fortleben zu sollen. Auf der einen Seite erscheint er als 
der Undurchdringliche, Rátselhafte, Hintergründige, ‚le grand 
enigme‘‘, um eine in der französischen Geschichtschreibung mit 
Vorliebe gebrauchte Bezeichnung anzuführen. Trotzdem aber 
zeigt sein Bild eine überraschende Übereinstimmung in der Be- 
urteilung seiner Persönlichkeit; wohl finden sich Schattierungen 
und Abweichungen, aber nur in nebensächlichen und unter- 
geordneten Punkten. Die Grundauffassung von Talleyrand ist 
überall die gleiche: die des finassierenden und intrigierenden 
aalglatten Diplomaten, des Meisters der Lüge und der Kunst der 
Verstellung, der, ohne eigene tiefere Überzeugung, stets bereit ist, 
sich auf jeden Standpunkt zu stellen, jede Auffassung mit der 
gleichen Geschicklichkeit und Gewandtheit zu vertreten, voraus- 
gesetzt, daß es von Nutzen ist, von Nutzen für die Sache, die er 
vertritt, wie auch für seine Person, welche beiden Gesichtspunkte 
für ihn stets zusammenfallen, da eine hemmungslose Selbstsucht 
und ein schrankenloser Ehrgeiz ihn treiben, sich auf den Boden 
eines jeden Systems zu stellen und den Anschluß an jeden Macht- 


336 Hermann Wendorf 


haber zu suchen, um nur ja selbst an der Herrschaft zu bleiben 
und die gegebene Konstellation zu seinen Gunsten auszunutzen. 
Diese Auffassung làuft auf eine Entwertung der Gedankenarbeit 
Talleyrands hinaus, denn ein Denken, das sich mit einer solchen 
Leichtigkeit auf Situationen und Bedürfnisse ein- und umstellt, 
kann nicht den erforderlichen strengen inneren Zusammenhang 
und das mit innerer Notwendigkeit erfolgende Hervorgehen aus 
einem zentralen Punkte haben, das den Wert des Denkens aus- 
macht. Es muß durch den skrupellosen Gebrauch der logischen 
Denkfunktionen herabgedrückt werden zu einer sophistischen 
Kunstfertigkeit, die es jeder tieferen Bedeutung beraubt. „Ad vo- 
cat utilitaire" nennt ihn einer derjenigen franzósischen Histo- 
riker!, die sich eingehend und mit sichtlichem Willen zur Objek- 
tivität mit ihm beschäftigt haben, und gibt damit dieser Auf- 
fassung einen treffenden Ausdruck. 

Auf der anderen Seite stehen diesem Urteil Äußerungen von 
Männern gegenüber, die Talleyrand näher gekannt haben. Zwei 
von ihnen seien hier angeführt. So nannte ihn Napoleon einen 
Philosophen?, und der sächsische Generalleutnant von Funck, 
der 1807 in Warschau wochenlang sein täglicher Tischgast war, 
sagt von ihm: „Er war nie der schlaue Bösewicht, zu dem man 
ihn immer hat machen wollen; er besaß zuviel Genie, um zur 
Schlauheit seine Zuflucht zu nehmen“, und führt seine diploma- 
tischen Erfolge auf die persönliche Überlegenheit Talleyrands 
über seine politischen Gegner zurück, unter denen er Castlereagh, 
Metternich und Hardenberg namentlich anführt?. 

Es verdient Beachtung, daB diese Urteile, die noch um ein 
Beträchtliches vermehrt werden könnten, auf Grund einer per- 
sónlichen Bekanntschaft mit Talleyrand entstanden sind und 
nicht auf dem Wege der Bildung historischer Erkenntnis. Diese 
Beobachtung ist keineswegs gleichgültig und würde auf das 
weitere Problem hinführen, unter welchen Umstánden und in 
welcher geistesgeschichtlichen Situation das Talleyrandbild seine 


! G. Pallain, Correspondance inédite du Prince de Talleyrand et du Roi 
Louis XVIII. pendant le Congrès de Vienne, Paris 1881, S. XI. 

3 Bei La cour-Gayet, Talleyrand, Bd. III, Paris 1931, S. 146 angeführt, ohne 
Angabe der Gelegenheit, bei der die Äußerung gefallen ist. 

3 C. W. F. von Funck, Im Banne Napoleons, herausgegeben von A. Brabant, 
Dresden 1928, S. 180. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 337 


so entscheidend gewordene Formung erfahren hat. Eine der- 
artige Untersuchung würde zu aufschlußreichen Ergebnissen 
führen, würde aber den Rahmen der vorliegenden Abhandlung 
sprengen, weshalb von seiner Verfolgung Abstand genommen 
werden muß. Nur die eine Frage soll kurz aufgeworfen werden, 
ob dieses auffállige Auseinandergehen der Urteile der Zeitgenos- 
sen und der historischen Forschung etwa in den Besonderheiten 
der Quellenüberlieferung seine Erklärung finden könnte. Viel- 
leicht ist hier der Grund zu suchen für die weitgehende Überein- 
stimmung in der Geschichtschreibung; vielleicht gibt eine nähere 
Betrachtung der Quellen einige Fingerzeige und Hilfen für die 
Beantwortung der Frage, ob Talleyrandeinsophistischer Routinier 
war oder ob hinter seinen Handlungen eine einheitliche Welt- und 
Lebensanschauung stand, aus der sie zu erkláren sind. 

Auf den ersten Blick erscheint die Lage günstig; es scheint ein 
wahrer Reichtum von Quellen vorhanden zu sein: Memoiren in 
fünf stattlichen Bánden, dazu ein reichhaltiger Briefwechsel, von 
dem wohl alles, was Talleyrands óffentliche Wirksamkeit angeht, in 
zahlreichen Sonderpublikationen, wie auch an zerstreuten Stellen 
herausgegeben sein dürfte; Denkschriften und Reden, die er in 
amtlicher Eigenschaft und als Mitglied des Instituts verfaßt hat, 
und schließlich dient noch zur Ergänzung dieser persönlichen 
Hinterlassenschaft der reiche Niederschlag, den seine vielum- 
strittene Persónlichkeit in der fast unübersehbaren Memoiren- 
literatur jener schreibfreudigen Zeit gefunden hat. Man sollte 
denken, daB eine so reiche Überlieferung imstande sein müBte, 
zur Lósung wenn auch nicht aller, so doch der wichtigsten Fragen 
über Talleyrand zu führen. 

Und doch erweist sich bei náherer Prüfung das meiste von 
diesem Material als brüchig und zur Errichtung eines soliden 
Baues wenig geeignet. Und das aus Gründen, die dem innersten 
Wesen Talleyrands entspringen. Er ist, wie ein Blick über die 
Memoirenliteratur seiner Zeit zeigt, schon seinen Zeitgenossen 
ein Rátsel gewesen, das jeder anders zu deuten suchte, und das 
führt zurück auf seine Herkunft aus der Herrenschicht des alten 
Frankreich mit seiner überfeinerten und künstlichen Salonkultur 
des Rokoko, die er sich so zu seinem innersten Eigentum gemacht 
hatte, daB er als einer ihrer letzten Vertreter in eine anders geartete 
Zeit hineinragte, als der erauch in die Geschichte eingegangen ist. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 22 


* 


338 Hermann Wendorf 


. Einen mit dieser Kultur unlósbar verknüpften Zug hatte er 
zur Vollendung ausgebildet: die Kunst des Nuancierens, des 
Sprechens in feinen Abtönungen und Schattierungen des Ge- 
dankens, der bloßen Andeutungen und des geistvollen Wort- 
spiels, das, um als Mittel der Verständigung zu dienen, auf der 
Seite des Aufnehmenden die Kunst des richtigen Verstehens er- 
forderte, die ihrerseits wiederum an eine áhnliche gesellschaft- 
liche Schulung und Erziehung gebunden war. Da diese aber nicht 
immer vorhanden war, so ist es nicht zu verwundern, daß seine 
Äußerungen zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt waren, 
die noch durch die bei Diplomaten leicht ins Privatleben hinüber- 
genommene Gewohnheit vermehrt wurden, sich in bewußter Ab- 
sicht eine bestimmte Haltung zu geben. Man kann sogar so weit 
gehen, zu sagen, daß die offensichtlich mißgünstige Meinung über 
Talleyrand nicht zuletzt dem Umstande zuzuschreiben ist, daß 
er die Haltung des Grandseigneurs bis zur letzten, die wahre 
Vornehmheit der Gesinnung bezeugenden Schlichtheit des Auf- 
tretens durchgebildet hatte, daB er aber gerade dadurch seine 
gesellschaftliche Überlegenheit um so sichtbarer zum Ausdruck 
brachte und Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten und mit 
anderen Gewohnheiten des persónlichen Umganges entwaffnete, 
zugleich aber in ihnen eine Art instinktiver Abwehrreaktion 
hervorrief, die den Willen, ihm gerecht zu werden, zum Erliegen 
brachte. Weiter kommen noch hinzu die Schwierigkeiten, die aus 
verschiedener weltanschaulicher Einstellung, persónlichem Gegen- 
satze stammen, so daß leicht einzusehen ist, mit welcher Vorsicht 
alle Äußerungen Dritter über Talleyrand aufzunehmen sind. 
Keinesfalls darf eine von ihnen ohne die sorgsamste Prüfung 
übernommen und verwandt werden. 

Nicht minder schwierig ist die wissenschaftliche Auswertung 
der Korrespondenz. Zwar ist nach Pierre Bertrands scharfsinnigen 
Untersuchungen? nicht mehr an ihrer Authentizität zu zweifeln. 
Aber mit der Sicherstellung des Textes geht nicht zugleich seine 
Verwertbarkeit Hand in Hand. Talleyrand ist ja für die meiste 
Zeit seiner politischen Wirksamkeit nicht der Urheber der Politik 
gewesen, die er diplomatisch zu vertreten hatte. Es muß daher 
vor Verwendung der in dieser Tätigkeit entstandenen Schrift- 


* Pierre Bertrand, Lettres inédites de en à Napoléon 1800—1809. 
Paris 1889, Introduction. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 339 


stücke der persönliche Anteil bestimmt werden, den Talleyrand 
an ihnen gehabt hat. Da das aber in den meisten Fällen nicht 
gelingen dürfte, haben groBe Teile der Korrespondenz für die 
Behandlung mancher Probleme überhaupt auszuscheiden. 

Aber selbst Briefe von durchaus privater Natur müssen mit 
der áuDersten Vorsicht aufgenommen werden. Das sei nur an 
einem Beispiel klargelegt. Im März 1814, wenige Tage vor dem 
Einzuge der Verbündeten in Paris, findet sich in dem vertrauten 
Briefwechsel mit der Herzogin Dorothea von Kurland der Ge- 
danke ausgesprochen®, daß im Falle eines plötzlichen Todes 
von Napoleon die Krone auf seinen Sohn überzugehen hátte und 
daß für die Zeit seiner Minderjährigkeit ein Regentschaftsrat 
gebildet werden müsse. Die Persónlichkeit der ihm sehr eng ver- 
bundenen Empfängerin, sowie die Weisung, den Brief zu ver- 
brennen, kónnten als Zeichen für die Echtheit der ausgesprochenen 
Meinung angesehen werden. Damit steht jedoch in Widerspruch, 
daB Talleyrand um diese Zeit bereits, wie aus zeitgenössischen 
Memoiren hervorgeht, entschlossen war, seinen Einfluß zugunsten 
der Bourbonen geltend zu machen““. 

Zieht man hier jedoch die immerhin in dem damaligen Augen- 
blick noch vorhanden gewesene Unsicherheit des Ausganges und 
das Bestreben des Diplomaten, sich nach jeder Seite zu sichern, 
zur Erklärung heran, so wird es doch wahrscheinlicher, daß jene 
Bemerkungen in dem Briefwechsel in das kunstvolle System der 


5 Talleyrand intime, d'aprés sa correspondance avec la Duchesse Dorothée 
de Courlande, Paris 1891, S. 162, 169f. 

5a Vgl. Marquise de la Tour-Du-Pin, Journal d'une femme de 50 ans, II, 335ff.; 
Mémoires d'Aimée de Coigny S. 242ff.; Mémoires du Baron de Vitrolles, I, 59ff. 
Charles Dupuy vertritt in seinem Werk „Le ministère de Talleyrand en 1814“ Paris 
1919, B. I., S. 94ff. die Anschauung, daß T. bis unmittelbar vor der Entscheidung 
des 31. März an der Nachfolge des Sohnes von Napoleon festgehalten hätte. Als 
einzigen Beleg führt er die Briefe an die Herzogin von Kurland an. Daneben ist für 
ihn ausschlaggebend die allerdings nicht náher belegte Auffassung, T. sei durch 
seinen Ehrgeiz zu dieser Haltung bewogen worden, weil er gehofft hütte, in dem 
dann einzurichtenden Regentschaftsrat die entscheidende Rolle spielen zu kónnen. 
Aber es ist schwer einzusehen, wie bei der allgemeinen Stimmung Napoleons (den 
Brief an seinen Bruder Joseph vom 8. Februar 1814 mit seiner scharfen Anklage 
T.'s druckt D. selbst I, S. 120 ab), aber auch der Kaiserin und ihrer ganzen Um- 
gebung, über die sich der Menschenkenner T. nicht im Unklaren gewesen ist (vgl. 
Mémoires de Mme. de Chastenay II, S. 310) in T. eine solche Hoffnung sollte ent- 
standen sein kónnen. 


22" 


340 Hermann Wendorf 


Sicherheitsvorkehrungen gehórt, mit denen sich Talleyrand in 
jenen Tagen umgeben hatte, um für jeden seiner Schritte eine 
Rechtfertigung oder harmlose Deutung zu ermóglichen. Dieses 
Beispiel zeigt, wie sehr man bei Talleyrand auch in den vertrau- 
testen Äußerungen immer mit der Möglichkeit des Hereinspie- 
lens irgendwelcher durch die politische Haltung bedingter Un- 
stimmigkeiten zu rechnen hat. 

Auch die Memoiren als die in sich geschlossenste und zu- 
sammenhängendste Gruppe der Quellen haben ihre besondere 
Eigenart, die sie von anderen Vertretern dieser Gattung sich 
abheben lassen. Weit über die Hälfte des in den fünf Bänden vor- 
liegenden Inhalts ist Abdruck diplomatischer Korrespondenz mit 
dem für das Verstándnis erforderlichen verbindenden Text. Aber 
auch das noch Verbleibende wird weiterhin eingeschränkt durch 
Abschnitte mit ganz detaillierter Darstellung von Vorgángen, an 
denen Talleyrand selbst gar nicht unmittelbar beteiligt war, oderan 
denen er, wie an der Vorbereitung der Konkordatsverhandlungen, 
nur einen untergeordneten Anteil gehabt hat. So hat nur ein Bruch- 
teil der Ausführungen Memoirencharakter, und auch er enthält 
nur einen knappen Bericht über seine äußeren Lebensschick- 
sale, daneben aber eine Fülle von Urteilen über die verschiedenen 
politischen Situationen, über Personen und Maßnahmen, die den 
geborenen Staatsmann von außergewöhnlichen Fähigkeiten er- 
kennen lassen. Nur selten finden sich nähere Aufschlüsse über 
die internen Zusammenhänge der politischen Vorgänge, wie man 
sie von den Erinnerungen eines handelnden Staatsmannes er- 
warten sollte, so z.B. bei der Behandlung des Wiener Kongresses, 
wo er eine eingehende und lebensvolle Schilderung der ersten, für 
die Durchsetzung der französischen Ansprüche entscheidenden 
Sitzung gibté, um aber bald wieder in seine nur das Wichtigste 
herausschálende Darstellungsart zurückzufallen, der in der Tat 
der von Talleyrand selbst in der Vorbemerkung vorgeschlagene 
Titel ,, Mon opinion sur les affaires de mon temps“ viel besser ent- 
sprochen hätte als der zu große Hoffnungen weckende, den der 
Herausgeber gewáhlt hat. So geben denn diese Niederschriften 
für die Kenntnis Talleyrands nicht mehr her als einen kurzen 
Abriß seines äußeren Lebens und eine Reihe von Urteilen, die 


* Mémoires du Prince de Talleyrand, Bd. II, 1891, S. 279. Zit.: 
Mémoires". 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 341 


erkennen lassen, wie er aus der Rückschau des Alters Móglich- 
keiten und Wirklichkeiten der franzósischen Politik einschátzte. 

Im Ganzen ist also festzustellen, daß trotz desrelativen Reich- 
tums an Quellen die Persónlichkeit Talleyrands sehr schwer zu 
fassen ist, weil direkte Zeugnisse über sein Innenleben vollkommen 
fehlen, die vorhandenen Angaben aber nicht ohne die sorgfältigste 
Prüfung verwandt werden dürfen. Aus der Tatsache, daß man 
diese quellenkritische Notwendigkeit bisher nicht genügend be- 
achtet hat, erklärt sich sowohl die weitgehende Übereinstim- 
mung der Geschichtschreibung, als auch die Abweichungen in 
der Beurteilung, da viele Forscher aus der Fülle der sich oft kraß 
widersprechenden Zeugnisse diejenigen höher bewerteten, die 
ihrer Auffassung entgegenkamen. 

Am ungünstigsten mußte sich der geschilderte Zustand der 
Quellenüberlieferung bei Erörterung aller auf die Erkenntnis der 
Persönlichkeit und ihrer Struktur gerichteten Fragen auswirken, 
denn hier läßt sich nach der meist angewandten Methode des 
Sammelns und Zusammenfügens von Belegstellen am wenigsten 
ausrichten. Erst recht muß diese Methode bei der Aufgabe ver- 
sagen, festzustellen, welcher Art der innere Zusammenhang der 
einzelnen Elemente der Anschauung ist, ja ob es überhaupt er- 
laubt und möglich ist, nach so etwas wie einer einheitlichen Welt- 
anschauung als der Grundlage des staatsmännischen Handelns 
zu fragen. 

Hier muß eine andere Art der Behandlung eintreten, die von 
der Einsicht in die für jene Zeit in Frage kommenden welt- 
anschaulichen Möglichkeiten aus die in den Quellen unterlaufen- 
den gelegentlichen Bemerkungen in ihren gedanklichen Zu- 
sammenhang einordnet und durch die Reflexion auf die ideolo- 
gischen Voraussetzungen erst in die rechte Beleuchtung rückt. 
Nur auf diesem indirekten Wege ist es móglich, zu den Ebenen 
seiner Persónlichkeit vorzudringen, über die er sich niemals aus- 
gelassen hat, weil das gegen sein elementarstes Stilgefühl ver- 
stoßen hätte. Es kommt also darauf an, durch eine verstehende 
Interpretation aller über das ganze Material zerstreuten Einzel- 
äußerungen und Urteile, in denen seine persönlichen Anschau- 
ungen sichtbar werden, auf deren weltanschaulichen Gehalt 
zurückzuschließen. Dabei ist Ordnung zu bringen in ein un- 
systematisches, in seiner Entstehung für uns zufälliges Material, 


342 Hermann Wendorf 


und nur dessen weite Ausdehnung läßt hoffen, daß alle wesent- 
lichen Punkte irgend einmal anklingen werden. Dabei darf denn 
nicht überraschen, wenn notwendige Verbindungsglieder fehlen 
und Lücken auftreten, die sich aus dem Stoff allein nicht werden 
schlieBen lassen. 


An einer Stelle der Memoiren verbreitet sich Talleyrand aus- 
führlicher über die Philosophie seiner Zeit, nicht um seinen eigenen 
Standpunkt zu ihr zu bekennen, sondern um sein Urteil auszu- 
sprechen über Anteil und Bedeutung, die sie für die Vorbereitung 
der Revolution gehabt hat?. Diese kritische Stellungnahme ist 
für unsere Aufgabe deshalb so wertvoll, weil sie eine gründliche 
Kennerschaft ihres Urhebers in philosophischen Fragen bezeugt. 
. Es finden sich hier eine ganze Reihe von Urteilen, die nur jemand 
fállen konnte, der in dieser geistigen Bewegung selbst als denken- 
des Glied gestanden hatte. In ihnen sind Einsichten in das Wesen 
und in die Haltung der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Be- 
wertungen im Ganzen sowie auch einzelner Denker, ausge- 
sprochen, die fast ein Jahrhundert verschüttet gewesen und erst 
durch die grundsátzliche Revision der Stellung zur Philosophie 
der Aufklärung wieder entdeckt worden sinds. 

Zu lange ist das Urteil über die Aufklärung durch die Roman- 
tik bestimmt gewesen, deren ablehnende Stellung einer zwiefachen 
Wurzel entsprang: einmal dem überwindenden Hinwegschreiten 
über die von der Aufklärung eingenommene Position des Denkens, 
zum anderen aber dem Verwurzeltsein in einer grundsätzlich 
andersartigen Haltung und Begründung des Denkens überhaupt. 

Das menschliche Denken schwingt in seinem Entwicklungs- 
gange zwischen den beiden Polen der autoritáren und der auto- 
nomen Gedankenführung hin und her; beide Grundhaltungen 
lósen sich in der Führung ab, indem die Jeweils siegreiche wesent- 
liche Inhalte der als ihrer Gegnerin vorgefundenen Denkrichtung 
sich zu eigen macht und aufhebt. Dieses polare Entwicklungs- 


7 Mémoires, Bd. I, S. 82—86. 

® Für die neue Einstellung zur Aufklärung siehe neben W. Diltheys jetzt 
im III. Band der Ges. Werke, Leipzig, 1927, abgedruckten Abhandlungen: „ Fried- 
rich der Große und die deutsche Aufklärung“ und „Das 18. Jahrhundert und 
die geschichtliche Welt“, besonders: Ernst Cassirer, „Die Philosophie der Auf- 
klärung“. Grundriß der philosophischen Wissenschaften, herausgegeben von Fritz 
Medicus, Tübingen 1932. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 343 


gesetz des Geistes tritt in Frankreich vermóge der auf übersicht- 
liche Klarheit drängenden Eigenart des französischen Wesens 
deutlicher in Erscheinung als etwa in Deutschland, wo die Fülle 
der individuellen Gestalten im Geistigen die Einordnung in die 
beiden großen allgemeinen Grundhaltungen erschwert und die 
Linienführung nicht so klar hervortreten läßt. So wird in Frank- 
reich die eigentümliche Leistung der Aufklärung besonders deut- 
lich sichtbar, weil hier die beiden Parteien in reinlich geschiedene 
Heerlager auseinandertreten. 

Im 18. Jahrhundert nimmt unter dem überwältigenden Ein- 
druck der großen Fortschritte der Naturwissenschaften der 
menschliche Geist die unter dem Druck der beherrschenden 
Stellung der großen Systeme des 17. Jahrhunderts in den Hinter- 
grund getretene Linie der autonomen Haltung wieder auf und 
wagt, jetzt mit größerem Erfolg, sich ganz auf sich selbst zu 
stellen und mit den Mitteln der Vernunft allein, ohne die Krücken 
einer überpersönlichen Weltordnung und Offenbarung, an die 
Entschleierung der Welträtsel heranzugehen. 

Diese Sachlage spiegelt sich deutlich in den Bemerkungen 
Talleyrands, wenn auch nicht in der Terminologie der modernen 
Philosophie und Psychologie. Aber alle Momente finden sich 
vereinigt: die Gegnerschaft gegen die ganz unter dem Einfluß der 
großen Systeme stehenden Schulen, das Bewußtsein der An- 
knüpfung an die Philosophie der Renaissance, die Einsicht in die 
hohe Bedeutung der Fortschritte der Naturwissenschaft und die 
Rolle, die ihrem bedeutendsten Vertreter, Newton, für die Ent- 
wicklung des philosophischen Denkens zuzuerkennen ist. 

Der Denker, in dem Talleyrand die neue Richtung des Denken 
vorzüglich verkörpert sieht, ist Voltaire. Seine Äußerungen über 
ihn werden wichtig im Zusammenhang mit der allgemeinen Stel- 
lung, die Frankreich zu einem seiner größten Denker einnimmt. 
Denn Voltaire ist nicht nur der Führer und hervorragendste 
Repräsentant der französischen Aufklärung, er wird von vielen 
für einen der, ja für den charakteristischsten Vertreter franzö- 
sischer Geistesart angesprochen?. Allerdings ist das ein Urteil, 
dem nur die werden zustimmen können, die sich seinem Denken 
innerlich irgendwie verbunden fühlen. Das trifft aber, wie eine 


* Diese Auffassung wird z. B. vertreten bei Eduard WechBler, Esprit und 
Geist, Bielefeld und Leipzig 1927, S. 19. 


344 Hermann Wendort 


Überschau über die franzósischen Stimmen zeigen würde, für 
weite Kreise des franzósischen Volkes nicht zu. Gerade in Frank- 
reich ist Voltaire, nachdem die Zeit seiner beherrschenden Vor- 
machtstellung im geistigen Leben abgelaufen war, auf über- 
wiegende Ablehnung gestoßen. Selbst das Buch von George 
Pellissier!®, der mit einer weitgehenden Kongenialität an seinen 
Stoff herangeht und, gestützt auf eine gründliche Kenntnis des 
gesamten Voltaireschen Schaffens, die wahre Gestalt und Be- 
deutung dieses Philosophen durch den Nachweis seiner eigentüm- 
lichen Leistung, wie ihrer persónlichen und soziologischen Be- 
dingungen und Voraussetzungen mit groDer Eindringlichkeit und 
warmer Beredsamkeit zeichnete, hat hierin keinenWandel schaffen 
kónnen; es handelt sich hier ja im Grunde auch gar nicht um be- 
weisbare Wahrheiten, die nur einsichtig gemacht zu werden brau- 
chen, um sich durchzusetzen, sondern es geht um grundsätzlich 
anderes, nämlich um die Einstellung zu den letzten Fragen des 
Seins, eine Angelegenheit, bei der nur wenigen Menschen das Ver- 
stehen für die Art des anderen gegeben ist. So ist es auch nicht 
zu verwundern, daß auch nach Pellissier in der französischen 
Literatur die Urteile über Voltaire nicht aufgehórt haben, die 
auch beim besten Willen zur Objektivitát und Gerechtigkeit nicht 
das rechte Verstándnis aufbringen kónnen für das, was er zu- 
tiefst gewollt hat und worin das Auszeichnende seiner Leistung 
besteht!!, 

So galt und gilt auch heute noch Voltaire für einen Vertreter 
eines verschämten Atheismus und für einen Feind der Religion 
schlechthin. Und an dieser Tatsache wird auch der von Pellissier 
mit sichtlicher Wärme der inneren Zustimmung erbrachte Nach- 
weis!? nichts zu ändern vermögen, daB Voltaire eine weit über 
die bloß aus verstandesmäßigen Erwägungen hervorgegangene 
Anerkenntnis eines Gottes als Gesetzgebers und Baumeisters der 
Welt hinausgehende echte, aus den Tiefen des Herzens auf- 
quellende Religiosität verkörpert, die er selbst mit der aus den 
Werken der Kunst aufkeimenden Ergriffenheit und dem Drang 
nach dem höchsten Wesen vergleicht. Diese Revision der Auf- 


10 Georges Pellissier, Voltaire philosophe, Paris 1908. 

u Ein Beleg hierfür ist z. B. das Werk von Victor Delbos, La philosophie 
française, Paris (1919), für Voltaire siehe S. 153 ff. 

13 Voltaire philosophe, S. 66ff. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 345 


fassung wird schon deshalb nicht eintreten kónnen, weil von der 
autoritativen Einstellung aus diese Regungen gar nicht als zum 
Religiósen gehórig anerkannt werden. 

Unter diesen Umständen ist es in höchstem Maße bemerkens- 
wert, daß Talleyrand einen sicheren Blick für diese Geistesart 
Voltaires hat. Er sieht klar und deutlich den tiefen Respekt, den 
Voltaire den ewigen Wahrheiten entgegenbringt, und verteidigt 
ihn gegen den Vorwurf, durch seine Lehren zur Untergrabung der 
Sittlichkeit und der Ordnung beigetragen zu haben. Er zieht eine 
deutliche Scheidelinie zwischen ihm und den Geistern, gegen die 
er selbst diese Anklage erhebt, und beweist mit dieser Scheidung 
noch klarer seine Fähigkeit und sein Recht zu eigenem Urteil in 
Fragen der Philosophie und Weltanschauung. 

Der Gegensatz zwischen autoritativer und autonomer Hal- 
tung hatte sich in Frankreich zu außerordentlicher Schärfe zu- 
gespitzt, weil die katholische Kirche als die Vertreterin der Auto- 
rität in den Fragen des Glaubens über die Macht des Staates zur 
Unterdrückung aller ihrer Gegner hatte verfügen können. Als 
aber nach Ludwigs XIV. Tode eine Erschlaffung der Staats- 
gewalt eintrat, setzte eine Zeit nachsichtiger Behandlung ein, 
in der die publizistische Vertretung der bis dahin auf das strengste 
unterdrückten Auffassungen wieder möglich war. Aber man darf 
bei Beurteilung dieses Umschwunges nicht verkennen, daß die 
Wandlung der Verhältnisse bloß eine faktische war, daß an dem 
geltenden Rechtszustand noch auf lange Zeit hinaus nichts ge- 
ändert wurde und daherein festeres Anziehen der Zügelund damit 
eine Rückkehr zu den früheren Zuständen jederzeit möglich war. 
Durch nichts wird die Labilität der Verhältnisse deutlicher illu- 
striert, als durch die Ketzerprozesse des 18. Jahrhunderts und 
durch die Tatsache, daß die meisten Schriften der Philosophen 
nur im Auslande erscheinen konnten und keiner von ihnen sich 
öffentlich zu seinen Werken zu bekennen wagte. 

Die allen Vertretern einer freieren Auffassung drohenden Ge- 
fahren hatten zur Folge, daß diese sich alle als Kämpfer in einer 
gemeinsamen Front fühlten und Divergenzen und Differenzen 
der Anschauung zurücktreten ließen hinter dem einen hohen Ziel 
des Kampfes für Duldung und Meinungsfreiheit gegen die Macht 
der Kirche. So ist denn schon den Zeitgenossen meist verborgen 
geblieben und auch in der Forschung nicht immer genügend be- 


346 Hermann Wendorf 


achtet worden, daß in dieser Kampfgemeinschaft sich zwei grund- 
verschiedene und miteinander unvereinbare Formen des Denkens 
zusammengefunden hatten, nur scheinbar vereinigt durch die 
Grundforderung des Jahrhunderts nach erkenntniskritischer 
Besinnung. 

Das konsequente Verhalten der Aufklärungsphilosophie in 
allen Fragen der Weltanschauung schloß in sich die grundsätz- 
liche Ablehnung aller Aussagen, die über die durch die Vernunft 
gegebenen menschlichen Erkenntnismóglichkeiten hinausgingen. 
Voltaire war auch hier von klarer Folgerichtigkeit und lehnte das 
Vorhandensein eingeborener Ideen, der idées innées, entschieden 
ab, war aber konsequent genug, diesen Standpunkt auch auf die 
Negierung der Transzendenz auszudehnen. Konnte er aus seinen 
Voraussetzungen des Denkens angeborene moralische Begriffe 
nicht anerkennen, so sprach er sich unter Anlehnung an das 
analoge Beispiel aus der Pflanzenwelt, wo die fertige Pflanze ja 
auch im Samenkorn angelegt ist und sich in der Entwicklung 
entfaltet, für die den Menschen in der Anlage gegebene Móg- 
lichkeit des moralischen Verhaltens aus und wußte so dem 
Hereinragen der Transzendenz in die immanente Welt Rechnung 
zu tragen. 

Aber nicht alle waren dem eigenen Denken gegenüber von 
der gleichen Verantwortungsbewußtheit. Gerade in Frankreich 
glaubten viele in der Leugnung alles Übersinnlichen die letzte 
Konsequenz der erkenntniskritischen Fragestellung zu ziehen; 
sie machten aber damit Aussagen, die über das Beweisbare 
hinausgingen und vollzogen damit, in der irrigen Meinung, einen 
weiteren Schritt nach vorwärts zu tun, einen Rückfall in un- 
kritische Denkmethoden. Sie landeten so bei einem Materialis- 
mus, der — wenn man seine entschiedenen Vertreter durch das 
ihnen allen gemeinsame Moment der Negation des Übersinnlichen 
zusammenfaBt — den beiden Typen der autoritáren und der 
autonomen Einstellung zum Góttlichen als eine dritte, von ihnen 
toto genere verschiedene Verhaltungsweise zum Absoluten an die 
Seite gestellt werden kann. 

Die klare Einsicht in diese Dinge, die Talleyrand in seinen 
kritischen Ausführungen zeigt, ist ein weiterer Beweis für das 
Sachverständnis, mit dem er sich in den Fragen der Weltan- 
schauung bewegt. Ja noch mehr, die Art, wie er Stellung nimmt, 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 347 


macht deutlich, daB er sich der von Voltaire geführten Partei inner- 
lich zugehórig fühlt. Ihm, Locke und Montesquieu als den wahren 
Weisen, die bei aller ihrer Kühnheit immer klug und vorsichtig 
gewesen sind und die ewigen Grundlagen alles menschlichen Seins 
stets im Auge behalten haben, stellt er in Helvetius, Condorcet, 
Raynal, Holbach die weniger aufgeklärten und daher weniger 
bedachtsamen Schüler gegenüber, die mit ihren scharfsinnigen 
Analysen wohl den Verstand fesseln konnten, die aber die Herzen 
kalt lieBen, die Welt mit leeren Abstraktionen anstatt mit den 
aus den ewigen Wahrheiten geschópften moralischen Begriffen 
zu lenken suchten und darum alle Grundlagen der gesellschaft- 
lichen Ordnung erschütterten. Vor allem eine Bemerkung, die 
Talleyrand bei dieser Gelegenheit macht, zeigt wie kaum eine 
andere seine gründliche gedankliche Schulung und seine 
Fähigkeit zu philosophischem Denken. Indem er ihnen den 
Vorwurf macht, daß ihre Moralanschauung durchaus meta- 
physisch ist, hat er die anfechtbarste Stelle ihrer Position er- 
kannt, in der sie ihrem eigenen Ausgang untreu werden und 
eine Setzung vollziehen, die im Widerspruch zu ihren Voraus- 
setzungen steht. 

So zeigt eine genaue Interpretation der Stelle, an der Talley- 
rand sich über die Verantwortlichkeit der franzósischen Philo- 
sophie für den Ausbruch der Revolution verbreitet, nicht allein, 
daB er eine gründliche philosophische Schulung und Begriffs- 
bildung besessen haben muß, sondern macht darüber hinaus 
wahrscheinlich, daB er dieser Philosophie an einer ganz bestimm- 
ten Stelle einzugliedern ist, daß er der Gruppe der um Voltaire 
sich scharenden Denker zugehórt. 

Man muß sich jedoch hüten, dieses Ergebnis zu sehr zu 
pressen und Talleyrand nun für alle Lehren, die bei Voltaire oder 
anderen Angehörigen seines Kreises vorkommen, in Anspruch 
zu nehmen. Mehr besitzen wir jedenfalls nicht als eine allgemeine 
Richtlinie, einen Orientierungspunkt, ein Hilfsmittel, mit dem 
es uns vielleicht gelingen kann, noch andere Anschauungselemente 
auf ähnliche Weise zu erschließen. Aber es darf ihm dabei keine 
Meinung zugeschrieben werden, die sich nicht aus seinen Äuße- 
rungen belegen oder mit Sicherheit auf anderem Wege glaubhaft 
machen läßt. Äußerste Vorsicht bei allen Schlußfolgerungen muß 
leitender Gesichtspunkt sein. 


348 Hermann Wendorf 


Insbesondere wird man sich hüten müssen, etwa den religiósen 
Standpunkt Voltaires auf Talleyrand zu übertragen. Es lieBen 
sich wohl vereinzelte Aussprüche finden, die als eine innere Zu- 
stimmung gedeutet werden kónnten, doch sind sie viel zu all- 
gemein gehalten, um auf ihnen Rückschlüsse aufbauen zu können. 
Die schon erwáhnte Einstellung Talleyrands, die jede vertrau- 
liche Aufgeschlossenheit Dritten gegenüber als einen Verstoß 
gegen den Stil der Lebenshaltung empfindet, gilt erst recht für 
das Gebiet des Religiósen. Solche Menschen nehmen, wenn eine 
Regung des Gemütes sie zu überkommen droht, lieber ihre Zu- 
flucht zu einem Zynismus, als daß sie die Bewegtheit ihres Innern 
fremden Augen sichtbar werden lassen. Ebensowenig haben wir 
bei der geschilderten Eigenart aller Aufzeichnungen damit zu 
rechnen, daB Talleyrand jemals seinen religiósen Standpunkt 
schriftlich niedergelegt hat. 

Eher noch als die schriftlichen Quellen bieten bei entspre- 
chender Interpretation die Maßnahmen des praktischen Ver- 
haltens in der Politik die Móglichkeit eines Eindringens in die 
Zusammenhänge und die Bestimmtheit seiner inneren Einstel- 
lung. Wird es auch auf diese Weise nicht gelingen, eine pháno- 
menologische Beschreibung seiner Religiosität zu geben, so läßt 
sich diese doch vielleicht gegen andere mógliche Haltungen ab- 
grenzen. 

Am aufschlußreichsten ist unter diesem Gesichtspunkt die 
Konsekration von Bischöfen, die Talleyrand noch nach Nieder- 
legung seines bischöflichen Amtes am 24. Februar 1791 vollzogen 
hat. Der Vorwurf des Sakrilegs, der ihm hieraus wie auf Grund 
seiner ganzen kirchenpolitischen Stellungnahme während der 
Revolution von streng katholischer Seite gemacht worden ist, läßt 
sich nicht halten, da er Talleyrand an einem ihm wesensfremden 
Maßstab mißt und nicht nach seinen wahren Motiven fragt; 
ebenso unhaltbar ist auch der Versuch der Erklárung aus der 
Angst vor dem Pariser Póbel, weil er auf kritikloser Verwendung 
offensichtlich voreingenommener Berichterstatter beruht??. 

Zu verstehen ist Talleyrands Verhalten nur aus der allge- 
meinen Situation im damaligen Zeitpunkte. Die Beschlüsse der 
Nationalversammlung über das Kirchengut, die rechtliche Stel- 
lung des Klerus und die Besetzung der Stellen hatten sie in einen 


13 So Lacour-Gayet, Talleyrand I, S. 129f. 


3 —— — — 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 349 


Gegensatz zur Kurie gebracht, der durch die Einführung der 
Zivilkonstitution des Klerus den offenen Konflikt herbeiführte. 
Dabei richtete sich, wenigstens damals noch, der Gegensatz 
lediglich gegen die zentralistische Verfassung der Kirche und die 
Vormachtstellung des Papstes; insofern liegt die Kirchenpolitik 
der Nationalversammlung damals noch in der Linie des Galli- 
kanismus. Keinesfalls wollte man aber 1791 schon die Lehre der 
Kirche oder etwa ihre Idee verwerfen. Mit der Verdammung der 
Zivilkonstitution durch den Papst wurde für die franzósische 
Kirche eine sehr schwierige Lage geschaffen. Zwar entschlossen 
sich trotz Androhung schärfster pápstlicher Zensuren zahlreiche 
Geistliche zur Ablegung des Eides auf die Konstitution, aber im 
Ganzen nur vier Bischöfe. Da sich also die hohen Würdenträger 
der franzósischen Kirche auf die Seite des Papstes stellten und 
sich der nationalkirchlichen Neuordnung versagten, lag auf diesen 
vier ,,konstitutionellen" Bischöfen die Zukunft der neuen Nati- 
onalkirche, da sie ja allein die durch Handauflegung, Salbung und 
Gebet vollzogene Weihe erhalten hatten, die sie zu Nachfolgern 
der Apostel machte und befáhigte, auch ihrerseits nach den 
kanonischen Vorschriften gültige Weihen von Priestern und 
Bischófen vorzunehmen, die den ununterbrochenen Traditions- 
zusammenhang mit Petrus und über ihn mit Christus wahrten, 
aus dem allein Kraft und Fáhigkeit zur Ausübung der priester- 
lichen Funktionen sich herleiteten. Selbst nach den günstigsten 
Zählungen hätten nur 56—57 aller Geistlichen den verlangten Eid 
geleistet; diese Ziffer wird aber angezweifelt, ihre Höhe bestritten“. 
Um den Anforderungen der Seelsorge zu genügen, war die neue 
Nationalkirche darauf angewiesen, so bald wie möglich eine große 
Zahl von Priestern zu weihen und auch für den Aufbau einer 
Hierarchie Sorge zu tragen. 

Für diesen Zweck hat sich Talleyrand zur Verfügung gestellt, 
weil die zur Vornahme einer Weihe nach den kanonischen Vor- 
schriften erforderliche Anzahl von Bischöfen infolge Verhinde- 
ıung und Abwesenheit nicht aufzubringen war. 

Das ist der zu interpretierende Tatbestand; ergänzend tritt 
hinzu die Rechtfertigung, die er seinem Verhalten in seinen 
Memoiren gegeben hat!5. Auch bei der größten Vorsicht bei der Be- 


M Pierre dela Gorge, Histoire religieuse de la Révolution francaise, Paris1909, 
Bd. I, S. 389. 15 Mémoires I, S. 136. 


350 Hermann Wendort 


urteilung wird man zu dem Schluß kommen müssen, daß Talley- 
rand doch wohl in der Kirche einen Wert gesehen haben muß, 
der ihm ihre Erhaltung als unbedingt notwendig erscheinen ließ, 
zumal er noch nach dem Verzicht auf sein bischófliches Amt die 
Weihe vornahm, was keinen Widerspruch in sich schließt, da 
nach katholischer Auffassung eine einmal vollzogene Weihe einen 
character indelebilis verleiht, der nicht wieder aufgehoben 
werden kann. 

Zur Begründung seines Schrittes führt Talleyrand in seinen 
Memoiren an, daß dies der einzige Weg gewesen sei, das Abgleiten 
der französischen Kirche in den Presbyterianismus zu verhindern. 
Daraus ergibt sich zunächst, daß er diese Form der Religions- 
übung ablehnte, weil er in ihr eine Gefahr für das Glaubensleben 
sah. Es läßt sich daraus mit ziemlich weitgehender Sicherheit 
schließen, daß er das Prinzip, auf das sich der Protestantismus 
gründet, auch für seine Person ablehnte, was wiederum die 
weitere Schlußfolgerung zuläßt, daß ihm dessen Grundeinstellung, 
die aus der unmittelbaren Ergriffenheit des Innersten im Menschen 
von Gott das Gefühl der persönlichen Verantwortung vor seinem 
Gericht schöpft, innerlich fremd gewesen sein muß. 

Damit scheiden für Talleyrands religiöses Innenleben alle 
Züge einer persönlichen Heilsgewißheit, die im inneren Ringen 
mit dem in der Tiefe des Herzens erfahrenen Gott erworben ist, 
aus, also jene Art des Gotterlebens, die einem Luther mit solcher 
Kraft aufgegangen war, daß sie ihn den Kampf mit der Kirche auf- 
nehmen hieß, sie konnte ihm nur fremd und unverständlich bleiben. 

Will man hier im Verstehen noch weiter vordringen, so be- 
findet man sich seelischen Tatbeständen gegenüber, die, 80 
wichtig, ja entscheidend sie für die Willensbildung der Völker 
sind, sich der Erfassung in exakter Beweisführung entziehen. 
So viel läßt sich jedoch sagen, daß die auf dem Boden des Pro- 
testantismus häufig zu beobachtende Dynamik des Glaubens- 
lebens mit allen ihren erschütternden Zügen des Irrationalen, 
dieses Uberwältigtwerden von dem übermächtigen Einbruch 
Gottes in die Seele, dem Bedürfnis des französischen Geistes nach 
rationaler Klarheit und übersehbarer Durchsichtigkeit aller Ver- 
hältnisse durchaus zuwiderläuft. Diese Verschiedenheit der 
inneren Haltung ist ja auch der tiefste Grund dafür, daß die 
Reformation Martin Luthers in Frankreich keinen Eingang ge- 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 351 


funden hat, daß sogar schon der dem französischen Denken mehr 
angenäherte Calvinismus es schwer hatte, überhaupt dort Fuß 
zu fassen. Zu verschieden ist eben Denken und innere Wesensart 
des deutschen und französischen Volkes, um eine Gemeinsam- 
keit inneren Erlebens auf dem Gebiete der Religion zu ermög- 
lichen. Noch unterstützt werden mußte bei Talleyrand die Ab- 
lehnung der persönlichen Auseinandersetzung mit Gott durch 
den erkenntniskritischen Standpunkt der Aufklárungsphilosophie, 
der seinen aus dem Volkstum stammenden rationalen Bedürf- 
nissen entgegenkam. Je strenger er sich die Achtung der 
dem menschlichen Erkenntnisvermógen gezogenen Grenzen zur 
Pflicht machte, desto weniger konnte er einen persónlichen Ver- 
kehr des einzelnen mit Gott annehmen. 

Aus diesem Zwiespalt, daß ein Gott existiert, der sich jeder un- 
mittelbaren Erfassung entzieht, daB aber trotzdem alles moralische 
Verhalten nach ihm einzurichten ist, zeigt eine andere Eigentüm- 
lichkeit des französischen Geistes einen Ausweg, nämlich sein 
Bedürfnis, alle Verhältnisse in klare, einsichtige, faßbare juri- 
stische Formen zu kleiden, alles in Rechtsbeziehungen aufzu- 
lösen. So wird auch das religiöse Verhältnis als ein juristisches 
aufgefaBt, und da Gott nicht aus seiner Transzendenz heraus- 
tritt, so hat er sich als seine Stellvertretung, als den Vertrags- 
partner, mit dem man in gesetzlich geregelte Beziehungen ein- 
zutreten hat, die Kirche geschaffen und mit seiner höchsten 
Autoritát bekleidet. 

Diese Auffassung begründet eine ganz besondere Stellung zur 
Kirche. Diese wird für einen jeden Menschen zu einem unum- 
gánglichen Bindeglied, zum Mittler mit Gott, als dessen Stell- 
vertreter sie auftritt. Nur durch sie wird ein Verháltnis zu Gott 
ermóglicht, das gleichfalls als eine Erfüllung der aus einem Rechts- 
verhältnis sich ergebenden Verpflichtungen aufgefaßt wird. 
Diese durchgehende Rationalität aller Beziehungen rückt eine 
Erscheinung in das rechte Licht, die gerade in diesem Kulturkreis 
eine besonders eigentümliche Ausbildung erfahren hat: die Kon- 
versionen. Sie gewinnen von den Voraussetzungen dieser typischen 
Geistesverfassung aus im Seelenleben des Einzelnen eine ganz 
bestimmte Bedeutung und nehmen im Ablauf der individuellen 
Entwicklung eine mit einer Art von gesetzmäßiger Regelmäßig- 
keit auftretende Stelle ein. 


352 Hermann Wendorf 


Weil alle Phánomene des Religiósen auf der gleichen Ebene 
vernunftgemäßer Rationalität liegen, gibt es keine schroffen 
Gegensätze von kontradiktorischer Ausschließlichkeit. Es gibt 
im Gegenteil nur allmähliche Übergänge von einem Standpunkt 
zu dem ihm im logischen Fortgang der Gedankenbewegung 
nächst verwandten, so daß die Fülle der verschiedenen Welt- 
anschauungen im Bewußtsein verknüpft erscheint durch eine 
Reihe von kontinuierlichen Übergängen, und es ist gar keine 
Seltenheit, daß die verschiedenen Möglichkeiten weltanschau- 
licher Einstellung von einem und demselben Individuum ohne 
schwerere seelische Erschütterungen und innere Kämpfe rein 
an der Hand des rationalen Denkens nacheinander durchlaufen 
werden. Dabei ist die extreme Negierung des Religiösen über- 
haupt, der Atheismus, keineswegs ausgeschlossen, weder im Prin- 
zip noch tatsächlich. Dabei begegnet man häufig einer bestimm- 
ten Regelmäßigkeit in der durchlaufenen Bewegung: von einem 
positiven Ausgangspunkt nimmt das seiner Kraft bewußt ge- 
wordene Denken seine Stellung auf der Seite einer freieren Hal- 
tung, um dann später, wenn in vorgerückterem Lebensalter die 
Fragen der Ewigkeit stärker bestimmend auftreten, in eine 
rückläufige Bewegung einzutreten und die Fäden zur Kirche 
wieder anzuknüpfen, um das Fazit des Lebens zu ziehen und 
nicht ohne eine Bereinigung des Verhältnisses zu Gott aus dem 
Leben zu scheiden. 

Ganz in Übereinstimmung mit diesen unter den angegebenen 
Voraussetzungen für den geschilderten Menschentyp nicht selten 
zu beobachtenden Formen wird sich auch die innere Entwick- 
lung Talleyrands vollzogen haben. Über das abschließende Sta- 
dium, seinen Frieden mit der Kirche, sind wir durch Lacombe!“ 
und Lacour-Gayet!" gut unterrichtet; wenn beide auch von 
grundsätzlich anderer Einstellung an die Dinge herangehen, so 
widerspricht doch nichts in ihrer Darstellung der oben gegebenen 
psychologischen Deutung. So kommen wir zu dem Schluß, daß 
wir zwar nicht Talleyrands persönliche Religiosität in ihren 
individuellen Eigentümlichkeiten haben bestimmen können, daß 
es uns aber doch gelungen sein dürfte, den näheren Umkreis 


10 Bernard de Lacombe, La vie privée de Talleyrand, Paris 1910, S. 255. 
1 Lacour-Gayet, Talleyrand, Bd. III, S. 338ff. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 353 


von Móglichkeiten ziemlich genau zu umgrenzen, die für sein 
persónliches religióses Verhalten in Frage kommen. 

Auch hier wurden wir wieder auf die Kreise der Aufklärung 
hingewiesen, so daß wir für seine religiösen Anschauungen eine 
Übereinstimmung mit seinen philosophischen Ansichten fest- 
stellen kónnen. In zwei der wichtigsten Bezirken des Seelenlebens 
erscheint so die Einheit der Haltung gewahrt, ohne die der Per- 
sónlichkeit die Geschlossenheit mangeln würde, die die Voraus- 
setzung einer sich nicht durch innere Widersprüche und Dis- 
harmonien um die besten Möglichkeiten des Wirkens bringende 
Tátigkeit bildet. 


Ehe wir weitergehen und den Versuch fortsetzen, die Quellen 
zu Talleyrand auf die in ihnen sichtbar werdenden Bestandteile 
seiner Ideenwelt zu untersuchen, ist zunächst noch ein Grund- 
zug aus dem Denken der Aufklárung herauszuheben. Jhr Auf- 
treten war bedingt durch die imponierenden Leistungen der 
Naturwissenschaften, vor allem der mathematischen Physik und 
Astronomie, die den zur Zeit der Vorherrschaft der großen 
Systeme des 17.Jahrhunderts im Schatten stehenden, aber 
keineswegs ausgestorbenen Vertretern der autonomen Ein- 
stellung wieder Mut und Zuversicht gaben, durch Anwendung 
ihrer erfolgreichen Methoden den Versuch zu wagen, die Welt 
durch das empirische Denken zu erobern. Die Bedeutung der 
Naturwissenschaften mußte unter diesen Umständen für das 
gesamte Denken der Aufklärung entscheidend werden, indem 
die naturwissenschaftliche Begriffsbildung schlechthin vorbildlich 
für alle Operationen des Denkens wurde, in der Welt der Natur, 
wie auch, da die Eigengesetzlichkeit der Geisteswissenschaften 
noch nicht erkannt war, im Bereiche des gesellschaftlichen und 
geistigen Lebens. Ausgehend von den durch die Beobachtung ge- 
gebenen Tatsachen suchte man die allen Dingen zugrundeliegende 
Gesetzmäßigkeit, die allen ein feststehender Glaubenssatz war, 
zu finden und unterwarf diesem Gedanken mit rücksichtsloser 
Konsequenz alle Verhältnisse des Lebens. Wie weit man dabei 
ging, mag ein Wort Voltaires zeigen: „Nous sommes emportés 
dans le mouvement general imprime par le Maitre de la nature... 
nous ne sommes pas plus les maitres de nos idees que de la cir- 
culation du sang dans nos veines. Chaque étre, chaque maniere 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 23 


354 Hermann Wendorf 


d’être tient nécessairement àla loi universelle. Il est ridicule, dit-on, 
et impossible que l'homme se puisse donner quelque chose, quand 
la foule des astres ne se donne rien. C'est bien à nous d'étre 
maîtres absolus de nos actions et de nos volontés quand univers est 
esclave!‘‘1®, Diese Gesetzmäßigkeit dachte man sich ganz nach der 
Weise der Naturwissenschaften, hauptsáchlich der Astronomie. So 
faßte man auch die Gesellschaft auf als eine Summierung von in 
sich selbständigen Individuen, von denen jedes seinen eigenen Be- 
wegungsgesetzen folgt und seine eigene Rechts- und EinfluB- 
sphäre besitzt. Da die Aufklärung nach ihrem erkenntnis- 
kritischen Grundsatz jede die Grenzen der Erfahrung über- 
schreitende Aussage zu machen ablehnte, war ihr bei dem noch 
unentwickelten Stand der fxeisteswissenschaften die Einsicht in 
die überpersönlichen Zusammenhänge notwendigerweise ver- 
schlossen. Sie konnte den Staat von ihren Denkvoraussetzungen 
aus nicht anders als mechanisch bilden und kam darum über die 
bloße Aneinanderreihung einzelner Individuen mit ihren In- 
teressensphären nicht hinaus. Wenn nur ein Jeder seine Bahn 
nach dem Gesetz des größten Nutzens und des höchstens Glückes 
verfolgte, glaubte man, daß vermöge einer Art von prästabi- 
lierter Harmonie damit zugleich das allgemeine Wohl auch der 
Gesamtheit befördert würde, vorausgesetzt, daß die eine Be- 
dingung gewahrt würde, daß jeder Einzelne sich aller Beein- 
trächtigung und Schädigung der Rechts- und Interessensphäre 
des anderen enthielte. So kam man zu der Idee einer in der Art 
ihres Aufbaues primitiven, in der angenommenen Wirkung aber 
höchst kunstvollen Struktur der Gesellschaft, die die über- 
greifenden Gemeinsamkeiten auf eine einfache rationale Formel 
brachte und in einem individualistischen Zeitalter auch den für 
den Aufbau der Gemeinschaft unvermeidlichen altruistischen 
Notwendigkeiten Rechnung trug. 

Diese Auffassung wird bei Talleyrand an mehr als an einer 
Stelle sichtbar, so, wenn er in seinen Memoiren sagt: „que Phom- 
me dépend pour son bonheur du bonheur des autres hommes“ 
und von einem ,,besoin réciproque des services, puissant mobile 
de bienveillance générale et particuliére" spricht. Die gleiche 
Auffassung steht im Hintergrunde, wenn er dem Herzog von 


1? Brief an Mme, Du Deffand vom 24. Mai 1764. Oeuvres complètes, Bd. 43 
(Correspondance Bd. 11), S. 223. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 355 


Orléans den Vorwurf macht, „qu'il ne voyait pas dans le bien 
qu'il voulait faire aux autres la garantie de celui qu'il en recevrait ; 
son égoisme borné ne lui permettait pas de croire que, dans 
cette échange, on lui rendait plus qu'il ne donnerait'!?. Und 
da man die Beziehungen zwischen den Staaten als den Kollektiv- 
individuen analog dem bürgerlich-gesellschaftlichen Verhältnis 
konstruierte, findet sich die Grundanschauung der Aufklàrung 
von der Natur des gesellschaftlichen Zusammenlebens in gerade- 
zu klassischer Einfachheit und Deutlichkeit formuliert in dem 
Bericht an den König über den Wiener Kongreß in den beiden 
Sätzen: „pour établir un ordre de choses solide, il fallait que 
chaque État y trouvát tous les avantages auxquels il a droit 
de prétendre' und „on avait travaillé de bonne foi à procurer 
à chacun ce qui ne peut pas nuire à un autre“. 


Noch deutlicher als in dieser Spiegelung der einzelnen Ele- 
mente aufklárerischen Denkens in seinen Äußerungen tritt die 
Zugehörigkeit Talleyrands zur Aufklärung in Erscheinung, wenn 
man auf seinen Sprachgebrauch achtet. Es sei hier an einem 
besonders wichtigen Beispiel nachgewiesen, wieviel für das rich- 
tige Verstándnis Talleyrands darauf ankommt, die von ihm ver- 
wandten Begriffe in der richtigen, d. h. in der von ihm gemeinten 
Bedeutung aufzufassen. Es handelt sich dabei um das Wort 
„Prinzip“, das vor allem auf dem Wiener Kongreß eine große 
Rolle bei den diplomatischen Verhandlungen gespielt hat und 
das durch die Art, wie es ausgelegt wurde, zu Mißverständnissen 
Anlaß gegeben hat. Indem man es einfach mit dem Wort,, Grund- 
satz übersetzte, legte man Talleyrand in den Mund, er habe 
in der Politik strenge Befolgung von sittlichen Grundsätzen 
gepredigt, wobei es dann ein Leichtes war, da er sich in seiner 
eigenen Politik durchaus nicht von grundsätzlichen Erwägungen 
bestimmen ließ, sondern, wie alle wahren Staatsmänner, real- 
politisch nach den gegebenen Umstánden handelte, ihn des 
Widerspruches zwischen Worten und Taten zu zeihen und den 
Vorwurf des Machiavellismus gegen ihn zu erheben. Dabei ist 
man aber einem sprachlichen Mißverständnis zum Opfer ge- 

19 Mémoires, Bd. I, S. 157. 


2 Pallain, Correspond. inéd. du Prince de Talleyrand et du Roi Louis XVIII., 
S. 456. 


23* 


356 Hermann Wendorf 


fallen, denn Talleyrand verwendet das Wort principe im Sinne 
der Aufklärung und gibt ihm damit einen ganz anderen Sinn, als 
er ihm hier beigelegt wird. 

Im 18. Jahrhundert hatte der Begriff,, Prinzip“, wie übrigens 
auch heute noch im Französischen in höherem Maße als im 
deutschen Sprachgebrauch, die ursprüngliche Bedeutung des 
Aníangs, des Voraussetzung-Seins für ein anderes noch durchaus 
bewahrt?!, So sagt die Encyclopédie von den principes: „Les 
axiomes ou les principes sont des propositions dont la vérité se 
fait connaître par elle-même, sans qu'il soit nécessaire de la 
démontrer. On les appelle autrement des premiéres vérités: la 
connaissance que nous en avons est instinctive. Comme elles 
sont évidentes par elles-mémes, et que tout esprit les saisit sans 
qu'il lui en coute le moindre effort, quelques uns ont supposé 
qu'elles étaient innées ... Par les premiers principes nous enten- 
dons un enchainement de vérités dont l'objet existe hors de 
notre esprit'**. In ganz ähnlichem Sinne sagt Montesquieu in 
der Préface seines „Esprit des lois“: „J'ai d'abord examiné les 
hommes, et j'ai cru que, dans cette infinie diversité de lois et 
de moeurs, ils n'étaient pas uniquement conduits par leurs 
fantaisies. J'ai posé les principes et j'ai vu les cas particuliers 
S'y plier comme d'eux-mémes, les histoires de toutes les nations 
n'en étre que les suites, et chaque loi particuliére liée avec une 
autre loi, ou dépendre d'une autre plus générale ... Je n'ai 
point tiré mes principes de mes préjugés, mais de la nature 
des choses.“ 

Diese Ausführungen, von denen die eine durch den Namen 
ihres Urhebers, die andere durch die Stelle, an der sie erschienen 
ist, als charakteristisch für das Denken der Aufklärung erwiesen 
sind, die aber durch zahlreiche ähnlich lautende Äußerungen aus 
der französischen Aufklärungsliteratur ergänzt werden können, 
sind in dieser Ausführlichkeit wiedergegeben worden, weil nur 
der genaue Wortlaut zeigt, worauf es hier ankommt. Zweierlei 
ist für unsere Fragestellung wesentlich: 1. das den Standpunkt 
des Subjekts transzendierende Moment, das dem Begriff inne- 
wohnt. Aus den Erfahrungstatsachen, die das Bewußtsein vor- 
findet, wird durch das „Prinzip“ eine objektive, d. h. dem 


31 Vgl. den Artikel , principe" in: La Grande Encyclopédie, T. XVII. S. 662. 
133 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné, T. I, Paris 1751, S. 906f. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 357 


Subjekt gegenüberstehende Außenwelt erfaßt und mit intui- 
tiver Gewißheit erkannt; 2. die Tatsache, daß die auf diese 
Weise erfaßte Wirklichkeit ihrerseits von sich aus einer Gesetz- 
mäßigkeit unterworfen ist. Diese Gesetzmäßigkeit wird in den 
„Prinzipien“ in unserem Bewußtsein mit den Mitteln des empi- 
rischen Denkens gleichsam nachgebildet, so daß die Prinzipien 
ein doppeltes Gesicht bekommen: sie sind bewußtseinsimmanent, 
aber sie spiegeln eine außerhalb des Bewußtseins in der objek- 
tiven Wirklichkeit seiende Gesetzmäßigkeit wider, sie gehen auf 
eine gültige Seinsordnung und haben damit eine über die Sub- 
jektivität hinausweisende Tendenz. Das angeführte Beispiel 
Montesquieus zeigt, daß dies auch für die Welt des Staates und 
der Gesellschaft Geltung hat, daß auch dieser Teil der objektiven 
Wirklichkeit in die strenge Gesetzmäßigkeit alles Seins ein- 
bezogen ist. 

Eine Überprüfung des Sprachgebrauchs Talleyrands zeigt 
ihn mit dieser Auffassung durchaus in Übereinstimmung. Wo 
er von principes ohne nähere attributive Bestimmung spricht, 
da hat er meist die zu treffende oder zu wahrende Überein- 
stimmung der Maßnahmen staatlicher Politik mit den ewigen 
Gesetzen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung im 
Auge. Er spricht gelegentlich von den „principes constitutifs 
de la société“ und führt Schädigungen und Rückschläge des 
politischen Lebens auf ihre Nichtbeachtung zurück. So sieht er 
den Grund für den Zusammenbruch des franzósischen Staates 
und die Verirrungen der Revolution darin, daß die Stände des 
alten Frankreich von ihrer ursprünglichen Bestimmung abge- 
wichen sind und ein jeder von ihnen die ihm gesetzten Schranken 
durchbrochen hat“. Die Nationalversammlung vermochte eine 
neue staatliche Ordnung nicht zu schaffen, weil sie nicht die 
nötige Einsicht hatte, „qu'il y a pour la société civile un mode 
d'organisation nécessaire sans lequel elle ne saurait exister''?5, 
Derartige Wendungen, die auf die Annahme einer überstaat- 
lichen Ordnung hindeuten, sind von ziemlicher Häufigkeit, 
Talleyrand spricht gern von „systeme social“, „société Euro- 
peenne‘‘, vom ,,systéme?* de politique générale“, in dem Frank- 

3 Mémoires I, S. 132. 24 Mémoires I, S. 110f. 35 Mémoires I, S. 132. 


* Es sei darauf hingewiesen, daß auch der Begriff „système“ im Denken der 
Aufklárung transzendierende Bedeutung hat. Ein echtes System muB auf empirischen 


358 Hermann Wendorf 


reich den Rang wieder einnehmen solle, „qu'elle est appellée 
à occuper"? , welcher Ausdruck doch nur unter der Voraus- 
setzung einer übergreifenden Rechtsordnung verständlich ist, 
in der von dem Ganzen aus jedem der Teile sein bestimmter 
Platz angewiesen ist. Diese Rechtsordnung ist nichts anderes als 
das Naturgesetz der Aufklärung, die ,,loi morale ou de nature''?5, 
in welchen Worten Talleyrand in dem grundsätzlichen Teil 
seiner Instruktionen für den Wiener Kongreß die weltanschau- 
liche Unterbauung seiner Politik sichtbar werden läßt. 

Aber auf dem Gebiete der Gesellschaft wirkt das Gesetz nicht 
unmittelbar wie im Reich der Natur, sondern durch das Medium 
des Menschen. Er ist mit seinem Bewußtsein und seiner Fähig- 
keit zu freier Willensentschließung wie eine Art Zwischeninstanz 
eingeschaltet. In dem Bereich des gesellschaftlichen Lebens voll- 
ziehen sich die ewigen Gesetze, indem sie der Mensch in sein 
Bewußtsein erhebt und sich in seinen Handlungen durch ihre 
ewigen Wahrheiten bestimmen läßt. Damit ist gegeben, daß 
ihre Verwirklichung nicht mit der ehernen Notwendigkeit erfolgt 
wie im Naturgeschehen, sondern mannigfacher Durchbrechung 
und Durchkreuzung durch menschliche Verblendung und Irr- 
tümer aller Art ausgesetzt ist. So sehen wir auf dem Wiener 
Kongreß als der einzigen Zeit im Leben Talleyrands, in der ihm 
eine unbehinderte politische Wirksamkeit beschieden gewesen 
ist, — zugleich aber auch als derjenigen, die durch seine Instruk- 
tionen“, durch seine Berichte an den König und das Ministe- 
rium?" und durch den „ Rapport fait au Roi pendant son voyage 


Tatsachen aufgebaut sein, die einer großen Zahl von strengen Beobachtungen ent- 
stammen. Derartige Systeme gibt es in den Naturwissenschaften, aber auch in der 
Politik. Während sie dort die Aufgabe haben, Wirkungen zu berechnen, dienen sie 
hier dazu, sie vorzubereiten und hervorzubringen. „ Il n'y a point de science ni d'art 
oü l'on ne puisse faire des systémes: mais dans les uns, on se propose de rendre raison 
des effets; dans les autres, de les préparer et de les faire naitre. Le premier objet est 
celui de la physique, le second est celui de la politique." Encyclopédie, T. XV, 
Art., syst dme“. 

7 Mémoires II, S. 205; ähnlich sagt er II, S. 156: „... la replacer au rang élevé 
qu'elle doit occuper dans le système social.“ 

38 Mémoires II, S. 217. 

13 Mémoires II, S. 214—266. 

30 Pallain, Georges, Correspondance inédite ... vgl. Anm. 1 und Mémoires II, 
S. 300 bis III, S. 190. Hier auch die Korrespondenz mit dem Ministerium, beides 
nach den Konzepten T.'s. 


> Pg * — 
* T í 
a — ma a 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 359 


de Gand à Paris“ 1 die reichsten Einblicke in sein Denken und 
Handeln ermóglicht — einen ganz wesentlichen Teil seiner Be- 
mühungen darauf gerichtet, die gegnerischen Staatsmänner mit 
seiner Auffassung von der notwendigen und allein gerechten 
Ordnung der Staatenwelt zu durchdringen, die ihm gerecht 
erscheint, eben weil sie mit den einzig wahren Prinzipien der 
natürlichen Gesellschaft übereinstimmt. Darum spricht er auch, 
wenn er sie im Auge hat, mit Vorliebe von den ,,vrais prin- 
cipes‘‘®2, dem „ordre véritable"53, dem er als Gegensatz den 
,Ordre de choses existant''** gegenüberstellt. Es findet also eine 
völlige Schwerpunktsverlagerung statt. Das wahre Sein der 
Dinge liegt nicht mehr in der vorgefundenen Wirklichkeit, 
sondern in den überzeitlich naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten. 
Das Wirkliche hat seine Wahrheit nicht mehr im Seienden, 
sondern im Seinsollenden. Diesem wird daher die wahre Rea- 
litàt zuerkannt. Das ist bei Gelegenheit eines zusammenfassen- 
den Urteils über Napoleon ganz deutlich ausgesprochen. ,,Na- 
poléon est le premier et seul qui ait pu donner à l'Europe un 
équilibre réel qu'elle cherche en vain depuis plusieurs siécles ... 
Avec l'équilibre réel, Napoléon a pu donner aux peuples de 
l'Europe une organisation conforme à la véritable loi morale. 
Un équilibre réel eut rendu la guerre presque impossible. Une 
organisation convenable eut porté chez tous les peuples la civi- 
lisation au dégré le plus élevé qu'elle puisse atteindre''35, 


Diese allenthalben über Talleyrands ÁuBerungen zerstreuten 
Wendungen weisen in ihrer Gesamtheit durchaus auf eine ein- 
heitliche Quelle hin; sie sind der AusfluB einer geschlossenen 
Weltanschauung, die auf dem gedanklichen Boden der Auf- 
klärung erwachsen ist. Ihre erkenntniskritischen und meta- 
physischen Voraussetzungen hatten wir überall durchscheinen 
sehen; nun auch noch seine Anschauungen zur Staats- und Ge- 
sellschaftslehre kennen zu lernen, wird aus einem besonderen 
Grunde von besonderem Interesse sein. Der schwächste Teil der 
Aufklárungsphilosophie ist zweifellos ihre Staatslehre — auch 

n Abgedruckt: Mémoires III, S. 195—227. 

n Mémoires II, S. 281. 

9 Mémoires I, S. 253. 


M Mémoires I, S. 256. 
55 Mémoires II, S. 132. 


360 Hermann Wendorf 


das ist eine natürliche Folge ihres Ausgangspunktes und ihrer 
Methode. Da alle Erkenntnis aus der Erfahrung stammen, durch 
Verarbeitung des gegebenen Tatsachenstoffes mit den Mitteln 
des analytischen Denkens zustande kommen sollte, fehlte es den 
Aufklärern, die fast durchweg aus den Schichten des Bürger- 
tums stammten, also nach der damaligen Lage der Sache keine 
Einsicht in das Wesen und den Aufbau des Staates mitbrachten, 
durchaus an der nötigen Erfahrung, so daß sie ihre Zuflucht zu 
einer wirklichkeitsfremden Abstraktion zu nehmen gezwungen 
waren. Montesquieu mit seinem „Esprit des lois“ steht auf ein- 
samer Hóhe. Um so gróDeres Interesse weckt da die Frage nach 
der Staatsauffassung Talleyrands als eines Mannes, der dem 
Staat durch Familientradition eng verbunden war und der 
durch seinen Entwicklungsgang und durch seine staatsmän- 
nische Laufbahn eine gründliche empirische Kenntnis aller 
Funktionen des Staatslebens erworben hatte, wie sie den meisten 
Vertretern dieser Denkrichtung abgegangen war. 

Ebensowenig wie bei den übrigen Seiten seiner Ideenwelt 
werden wir in Hinsicht auf den Staat damit rechnen kónnen, 
zusammenhängende Ausführungen von Talleyrands Anschau- 
ungen zu finden. Auch auf diesem Gebiete sind wir auf den Ver- 
such der Wiederherstellung durch Rückschlüsse aus der diplo- 
matischen Korrespondenz und den Memoiren angewiesen, nur 
daß in dieser Beziehung das Material reicher fließt, weil der 
Staat ganz im Mittelpunkt dieser Betrachtungen steht. 

Nach der formalen Seite ist die Grundanschauung bereits 
festgestellt: sie besteht in der Annahme einer durchgehenden 
GesetzmáDigkeit, der alle einzelnen Momente untergeordnet 
sind. Die Grundzüge dieser Ordnung der in staatliche Verbände 
zusammengefaßten Menschen untereinander sind die,, Prinzipien“ 
als die dem Reich der natürlichen und ewigen Wahrheiten ent- 
stammenden Regeln des Verhaltens. Man wird sich also Talley- 
rands Staats- und Gesellschaftsanschauung vorzustellen haben 
als eine Summe von derartigen Prinzipien, die in ihrer Gesamt- 
heit das ganze gesellschaftliche Leben der Menschen umfassen 
und in allen seinen einzelnen Äußerungen bestimmen. Aber nicht 
alle dieser Prinzipien werden sichtbar, sondern nur diejenigen 
von ihnen, die im Bereich seiner politischen Tätigkeit berührt 
werden, oder die er in seinen Urteilen über die geschichtliche 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 361 


Entwicklung als für das politische Geschehen als bedeutsam 
hervorhebt. 


Unter den Prinzipien ist das der Legitimität mit besonderem 
Nachdruck als das wichtigste herausgehoben. Für Talleyrand 
ist es „le principe sur lequel repose tout ordre social“ . Vor 
allem zur Zeit des Wiener Kongresses steht es im Vordergrunde 
seiner Argumentation. In immer neuen Wendungen betont er 
seine Heiligkeit, Unverletzlichkeit, seine Bedeutung für die 
staatliche Ordnung, ohne daß aber klar zum Ausdruck gebracht 
wäre, was er im einzelnen unter diesem Begriff versteht. In den 
den KongreB selbst betreffenden Aktenstücken scheint es auf 
die Erhaltung der erblichen Monarchie hinauszulaufen, in den 
Memoiren aber gibt Talleyrand dem Begriff der Legitimität eine 
sehr viel weitere Fassung. Hier macht er keinen Unterschied 
zwischen den verschiedenen Staatsformen. Ganz gleich, ob eine 
Regierungsgewalt erblich ist oder auf Wahl beruht, ob sie monar- 
chisch oder republikanisch, aristokratisch oder demokratisch ist, 
wenn sie nur durch die Abfolge langer Jahrhunderte gefestigt 
und geheiligt ist, so hat sie einen Anspruch auf Schutz und Er- 
haltung. So weitet sich das Prinzip der Legitimität zu der For- 
derung auf Bewahrung des allgemeinen Rechtsstandes und auf 
seine Sicherung gegen jede Anderung, die nicht von dem Boden des 
geltenden Rechts aus erfolgt. Insofern wird die Legitimität in 
der Tat zum „principe conservateur‘‘?®, als das er sie auf dem 
Wiener Kongreß so warm empfiehlt. 


Besser und umfassender als durch derartige allgemeine An- 
gaben sind wir über Talleyrands Anschauungen von den zwi- 
schenstaatlichen Beziehungen und Verhältnissen unterrichtet, 
weil fast seine ganze staatsmännische Tätigkeit der auswärtigen 


36 Mémoires II, S. 281. 

37 „Je parle en général de la légitimité des gouvernements, quelle que soit leur 
forme, et non seulement de celle des rois, parce qu'elle doit s'entendre de tous. Un 
gouvernement légitime, qu'il soit monarchique ou républicain, héréditaire ou électif, 
aristocratique ou démocratique, est toujours celui dont l'existence, la forme et le 
mode d'action sont consolidés et consacrés par une longue succession d'années, et 
je dirais volontiers par une prescription séculaire. La légitimité de la puissance 
souveraine résulte de l'antique état de possession, de méme que pour les particuliers 
la légitimité du droit de propriété.* Mémoires II, S. 159f. 

** Pallain, Correspondance... du Prince de T. et de Louis XVIII., S. 80. 


362 Hermann Wendort 


Politik gewidmet war, deren Gegenstände daher in den ange- 
gebenen Quellen den breitesten Raum einnehmen. Da beobach- 
ten wir denn, daß der für den Verkehr der Völker und Staaten 
untereinander bei weitem wichtigste Begriff, um den sich die 
gesamten Angaben gleichsam gruppieren, der des politischen 
Gleichgewichts ist. GewiB ist daran bei einem Staatsmann des 
18. Jahrhunderts nichts Auffallendes. Für die Art seines Den- 
kens ist aber bezeichnend, in welche eigentümliche Form er 
diesen Begriff faßt. Merkwürdig ist die Verbindung, die in diesem 
Kopfe die Gleichgewichtsidee mit der Ablehnung der Politik der 
Staatsraison eingegangen ist. Sie begegnet bereits in der Denk- 
schrift von 1792. Hier erhebt er die Forderung einer Umstellung der 
französischen Politik auf die Orientierung am ,,intérét de l'espéce 
humaine" und gibt eine scharfe Absage an die auf das Interesse 
und die Selbstsucht der Staaten gegründete Politik des ancien 
régime mit ihren „grandes idées de rang, de primatie, de pré- 
pondérance''3?, 

Die gleiche grundsátzliche Einstellung zur Interessenpolitik 
ist in Talleyrands Haltung auf dem Wiener Kongreß zu be- 
obachten, wo dem auf das Interesse gerichteten staatlichen 
Machtstreben bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Not- 
wendigkeit des politischen Handelns nach den Prinzipien ent- 
gegengehalten wird. In den Quellen findet diese Einstellung an 
zwei Stellen einen besonders deutlichen Niederschlag, so in dem 
Bericht über die Unterredung mit dem Zaren Alexander vom 
1. Oktober 1814*9, bei der Talleyrand dem von diesem aufge- 
stellten Grundsatz der convenance mit Entschiedenheit und 
Geschick entgegengetreten ist, und in der Charakterisierung der 
englischen Politik, die die Seele des Widerstandes gegen den 
franzósischen Gleichberechtigungsanspruch bildete und der eine 
ihrer inneren Natur zuwiderlaufende Verquickung der Interessen 
mit den Prinzipien zum Vorwurf gemacht wird. ,,Son peu de zéle 
pour les principes ne doit point surprendre, ses principes sont 
son intérét''&t, 

Diese Ablehnung einer rein auf das Interesse gegründeten 
Politik ist eine ganz notwendige Folge der Annahme einer allen 


?? Pallain, Le Ministère de Talleyrand sous le Directoire Paris 1891, S. XLIIIf. 
“ Pallain, Correspondance du Prince de T. et du Roi Louis XVIII, S. 2. 
41 Ebenda, S. 63. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 363 


Dingen zugrundeliegenden natürlichen Ordnung und führt auf 
ein weiteres für die Auffassung der Staatenwelt charakteristi- 
sches Merkmal hin: auf den Glauben an eine verbindende Gemein- 
samkeit aller europäischen Staaten. Im Rahmen dieser Gemein- 
Schaft Europa hat jeder Staat seine bestimmten Aufgaben; 
immer muß das Auge des handelnden Staatsmannes auf das 
Ganze der Gemeinschaft gerichtet sein, er muß seine Maßnahmen 
so treffen, daß er diesem Ganzen keinen Schaden zufügt. So 
wird die Politik in der theoretischen Auffassung Talleyrands 
überstaatlich orientiert, sie wird die eines guten Europäers, und 
es bedarf eines genauen Aufmerkens, um die feinen Fäden zu 
sehen, die den guten Europáer in ihm mit dem franzósischen 
Staatsmann verbinden. Es ist ja keineswegs so, daD diese ganze 
Ideologie von ihm nur aus utilitaristischen Gründen wie eine 
Maske angenommen ist, sondern seine politischen wie allge- 
meinen Anschauungen des Denkens sind in der Auseinander- 
setzung mit den gegebenen Tatsachen der Wirklichkeit ausge- 
bildet, und es ist darum kein Wunder, daß es schließlich zu einer 
Deckung des europäischen Gemeinschaftsideals mit seiner Auf- 
fassung von den Interessen und Bedürfnissen Frankreichs kam. 
Das war um so leichter móglich, als auch diese letztere von den 
weltanschaulichen Voraussetzungen seines Denkens entscheidend 
beeinfluBt wurde. 

Des weiteren gehórt in den Zusammenhang dieser Denk- 
weise, daß der Staat nicht als Selbstzweck, als in sich ruhendes 
Sein, gefaßt wird. Wie er in das Gewebe einer Naturgesetzlich- 
keit eingefügt ist, so steht er auch im Dienste hóherer Werte, 
die in dem Begriff der geistigen und materiellen Kultur zusam- 
mengefaBt sind. Sie bedarf zu ihrer Entfaltung und Verwirk- 
lichung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Diese Voraus- 
setzungen zu schaffen, ist Aufgabe der Staaten; zu ihrer Durch- 
führung sind sie im Innern mit der Zwangsgewalt ausgerüstet. 
Nach außen hin, im Verhältnis der Staaten untereinander, fällt 
diese Funktion dem System des Gleichgewichts zu. Es hat die 
Bestimmung, durch feine Ausbalancierung der Machtverhält- 
nisse einen natürlichen Ausgleich der Verschiedenheiten herzu- 
stellen und hierdurch Kriege als die schlimmste Gefahr für die 
Kultur zu verhindern. So stellt sich uns das Gleichgewichts- 
system dar als das Produkt einer Verschmelzung der Kultur- 


364 Hermann Wendorf 


gesinnung der Aufklärung mit der realpolitischen Einsicht des 
Staatsmannes Talleyrand in das innere Wesen des Staates. Er 
hatte ihn in seinem Kern als Macht erkannt, aber er betrachtete 
ihn deshalb mit dem geheimen Mißtrauen, das diese ganze Denk- 
bewegung dem Staate entgegenbrachte, und war darum von der 
Notwendigkeit einer Ordnung überzeugt, die diese Machtinstinkte 
in ihren Schranken halten und ihren Ausbruch verhindern sollte. 
So war denn Talleyrand aus innerster Überzeugung ein Vertreter 
einer grundsátzlichen Friedenspolitik, was ihn aber, wie der Ver- 
trag vom 3. Januar 1814 zwischen England, Österreich und 
Frankreich zeigt, durchaus nicht vor der Möglichkeit eines 
Krieges zurückschrecken ließ, wenn er ihn zur Erreichung seiner 
politischen Ziele, die sich für ihn natürlich mit seinen Mensch- 
heitszielen deckten, für notwendig hielt. Im Ganzen aber ist das 
von ihm vertretene Gleichgewichtssystem durchaus als Korrek- 
tiv gegen die aus der Machtnatur der Staaten drohenden Ge- 
fahren gedacht und aufzufassen. 

Angesichts dieser stark konstruktiven Züge in der Unter- 
bauung der politischen Ideenwelt Talleyrands wird man nicht 
erwarten kónnen, daB die europáischen Staaten in sein Gleich- 
gewichtssystem mit allen ihren konkreten Interessen und Macht- 
verhältnissen eingegangen sind. Andererseits aber macht die 
realpolitische Einsicht des praktischen Staatsmannes wahr- 
scheinlich, daß sich seine Vorstellungen von utopischen Ele- 
menten freigehalten haben werden. Grundlage des politischen 
Denkens bleiben für ihn immer die historisch gewordenen 
Staaten, alle in Erwägung gezogenen Maßnahmen zur Anglei- 
chung des vorgefundenen an sein „reales“ Gleichgewichtssystem 
bewegen sich daher im Rahmen des politisch Möglichen und 
Durchführbaren. 

Die Gliederung Europas in eine Vielheit von Staaten von 
verschiedener Größe und Machtstellung scheint Talleyrand als 
Tatsache hingenommen zu haben, es deutet wenigstens nichts 
darauf hin, daß er sein Nachdenken auf dieses Problem gerichtet 
hat. Ebenso scheint ihm das Nationalstaatsproblem als solches 
mit den sich aus ihm für die Nationalitätenstaaten ergebenden 
Schwierigkeiten nicht aufgegangen zu sein. Das hat auf dem 
Hintergrunde seiner Zeit nichts Auffallendes; es ist jedoch zu 
beachten, daß sich an einer Stelle bei Talleyrand eine Einsicht. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 365 


findet, die zum Verständnis für diese Frage hätte hinführen kön- 
nen. Unter den Gründen, aus denen er eine Ausdehnung Frank- 
reichs nach Osten widerrät, befindet sich nämlich eine ganz klare 
und nüchterne Einschátzung der Schwierigkeiten, die die Assi- 
milation einer zahlreichen Bevölkerung mit sich bringt. Sind 
dabei die aus der Verschiedenheit des Volkstums herrührenden 
Gründe auch nicht ausdrücklich genannt, so là8t doch die 
Knappheit der Äußerungen, die keinerlei Begründung geben, 
die Vermutung aufstellen, daß derartige Bedenken ihm nicht 
fremd gewesen sein dürften. Aber selbst wenn sie vorhanden ge- 
wesen sind, so haben sie doch eine tiefere Bedeutung für sein 
politisches Denken nicht gehabt. 

Die natürliche Gliederung der Staatenwelt, die Talleyrand 
als Ordnungsprinzip durch die tatsáchlichen Machtbeziehungen 
der Staaten durchscheinen sieht, trägt den realen Machtverhält- 
nissen Rechnung. Als bestimmend für das Schicksal Europas 
werden die vier Großmächte Frankreich, England, Österreich 
und Rußland angesehen“. Die unbestreitbare Vormacht unter 
ihnen ist Frankreich, weil es infolge der glücklichen Vereinigung 
der bei den anderen in ungleichem MaBe vorhandenen beiden 
Voraussetzungen für die GróBe: Bevólkerung und Reichtum, so- 
wohl militárisch wie wirtschaftlich die stárkste unter ihnen ist. 
Aber trotz dieser bei einem Franzosen der damaligen Zeit selbst- 
verständlichen Einschätzung steht er im Gegensatz zu der seit 
Richelieu traditionellen Ostpolitik Frankreichs, insofern er ein 
entschiedener Gegner der Rheingrenze ist. Schon in der Denk- 
schrift von 1792 warnt er nachdrücklich vor Einbeziehung ge- 
schlossener Gebietsteile im Osten, und dieser Haltung ist er für 
seine Person sein ganzes Leben hindurch treu geblieben, wie die 
von keiner Rücksicht beeinfluBten ÁuBerungen zeigen. Die Frie- 
densschlüsse von Rastatt bis Preßburg, an denen er mitgewirkt 
hat, können nicht als Gegenbeispiel angeführt werden, weil er 
dort nur das ausführende Organ fremden Willens gewesen ist. 


* Pallain, Le Ministère de Talleyrand sous le Directoire, S. XLIX. 

“ Die zusammenhängendste Darstellung der Anschauungen Talleyrands über 
das europäische Gleichgewicht verdanken wir der Oktober-Denkschrift von 1806, in 
der er Napoleon für seine politischen Ideen zu gewinnen suchte. Vgl. Bertrand, 
Lettres à Napoléon, S. 156—174. Diese Ausführungen sind, von Ergänzungen ab- 
gesehen, der folgenden Darstellung zugrundegelegt. 


366 Hermann Wendorf 


Aber die Grenzfestsetzungen des Ersten Pariser Friedens, für die 
er die volle Verantwortlichkeit trägt, entsprechen durchaus 
seinen politischen Überzeugungen, wie er sie ganz folgerichtig 
auf dem Wiener Kongreß und in den Denkschriften jener Zeit 
vertreten hat, und bedeuten keineswegs eine Kapitulation unter 
dem Druck der militärischen und politischen Lage. Die Begrün- 
dung, die er, übrigens schon 1792, für seine Auffassung gibt, 
zeugt von wahrhaft staatsmännischer Einsicht und scharfer 
politischer Beobachtungsgabe. Talleyrand hat klar erkannt, daß 
Eroberungen nur dann einen Nutzen bringen, wenn es gelingt, 
die Bevölkerung der erworbenen Gebietsteile zu assimilieren und 
in ihren Interessen und Zielsetzungen ganz in dem neuen Mutter- 
staat aufgehen zu lassen, daß aber jeder Zuwachs an Staatsvolk, 
das im Staatsverband als Fremdkörper bestehen bleibt, für 
dessen Politik eine Belastung, in kritischen Zeiten eine ent- 
schiedene Gefahr bedeutet. So empfindet er die Rückgabe der 
seit 1792 erworbenen Provinzen als Befreiung von einer Last, 
die Frankreich die rechte Erfüllung seiner Verpflichtungen gegen 
die Völkergemeinschaft erschwert hätte“ “. „Soulagée“ du poids 
de ses conquétes, la maison de Bourbon seule, pouvait la re- 
placer au rang élevé qu'elle doit occuper dans le systéme so- 
cial“ “. In dieser Äußerung findet Talleyrands Auffassung einen 
charakteristischen Ausdruck. Sie enthált in der Bemerkung von 
dem ,,poids de ses conquétes'* einen Kern realistischer Betrach- 
tungsweise, der aber überlagert ist von dem ideologischen 
Glauben an ein System der gesellschaftlichen Ordnung, in dem 
Frankreich der ihm zukommende Platz angewiesen ist, aber 
einem ganz bestimmten Frankreich, nämlich dem des ancien 
régime mit den Grenzen von vor 1792. 

Wenig sagt er über England, obwohl die Pflege guter Be- 
ziehungen zu dem benachbarten Inselreich zu den wichtigsten 


43a Die wirklichen Interessen Frankreichs sieht er durch das Recht der freien 
Schiffahrt auf Rhein und Schelde durchaus gewahrt: „Par la libre navigation 
du Rhin et de l'Escaut, la France aura les avantages que lui eüt donnés la possession 
des pays traversés par ces fleuves, et auxquels elle a renoncé, et n'aura point 
les charges de la possession. Elle ne pourra donc plus raisonnablement la regretter.“ 
Mémoires II, S. 252, aus den Instruktionen für den Wiener Kongreß. 

* [m Zusammenhang des Textes auf ein im vorhergehenden Satze vorkommen- 
des „la France“ bezogen. 

*5 Mémoires II, S. 156f. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 367 


Grundsätzen seiner Außenpolitik gehört und er beide Länder 
durch den gemeinsamen Fortschritt in der Zivilisation und 
späterhin durch die Übereinstimmung freiheitlicher Institutionen 
als eng zusammengehórig empfindet. Aber Englands Gesicht ist 
zu sehr der überseeischen Welt zugewandt, und es zeigt sich an 
den europáischen Fragen zu wenig interessiert, als daB es ihm 
Anlaß zu grundsätzlichen Betrachtungen gäbe. 

Anders steht es mit Österreich. In seinem derzeitigen Besitz- 
stande sieht Talleyrand eine dauernde Gefahr für den ruhigen 
Bestand Europas. Er denkt dabei noch nicht an die dem Habs- 
burgerreiche aus dem Nebeneinander der verschiedenen Natio- 
nalitäten drohenden Schwierigkeiten, sondern nur an die aus 
den territorialen Besitzverhältnissen sich ergebenden Konflikts- 
möglichkeiten. Zu ihrer Behebung hält er für notwendig, zwi- 
schen ihm und Frankreich einen breiten Gürtel unabhängigen 
Gebietes zu schaffen, um auf diese Weise die Reibungsflächen 
zwischen beiden Mächten zu beseitigen. Österreich soll daher 
seine Besitzungen im südwestlichen Deutschland und in Italien 
aufgeben, dafür aber, um sein Schwergewicht nicht zu vermin- 
dern, im Südosten durch die Moldau, die Walachei und Bes- 
sarabien entschädigt werden. Durch diese Gebietsveränderungen 
würde nicht nur der Friede im Westen gesichert, sondern die 
Donaumonarchie wüchse erst in ihre wichtigste Aufgabe in der 
europäischen Staatengemeinschaft hinein: Rußland von der 
Türkei zu trennen, und so zugleich die Vernichtung der letzteren 
und das das Gleichgewicht bedrohende Anwachsen der ersteren 
Macht zu verhindern. Es würde damit allerdings zu einer völligen 
Umstellung seiner gesamten Politik genötigt, aber es würde da- 
durch seiner alten Aufgabe, die Schutzwacht Europas gegen den 
Osten auszuüben, wieder zurückgegeben; gewechselt hätte nur 
der Gegner. 

Seit dem Zurücksinken des Türkenreiches in militärische 
Ohnmacht sieht Talleyrand in dem schnellen Aufstieg Rußlands 
eine neue Gefahr sich erheben, die den Frieden und die Ordnung 
nicht weniger bedroht als vordem die Türken. Die junge GroB- 
macht des Ostens, die sich in wenig mehr denn einem halben 
Jahrhundert von unbedeutenden Anfängen zu einer Weltgeltung 
erhoben hatte und nach Erreichung seiner weitausschauenden 
Pläne auf dem Balkan im Besitz der Meerengen zueineralleanderen 


368 Hermann Wendort 


Staaten überragenden Machtentfaltung emporgestiegen wäre, 
erfüllt ihn mit sichtlichem Unbehagen und Mißtrauen. Von dieser 
Seite sieht Talleyrand die stärkste Gefährdung seines Gleich- 
gewichtssystems; ihr zu begegnen hält er für die dringendste 
Aufgabe einer am gesamteuropäischen Interesse orientierten 
Politik. Rußland muß, um der Erhaltung Europas willen, an der 
Vernichtung der Türkei gehindert werden. Darum wird für 
Talleyrand Österreichs starke Stellung an der unteren Donau 
zur ersten und wichtigsten Forderung, weil er in ihr die einzige 
praktisch durchführbare Maßnahme zur Verhinderung der rus- 
sischen Vormachtstellung im fernen Südosten sieht. 

Das Verhältnis der vier Großmächte hat Talleyrand in der 
Oktoberdenkschrift von 1805 auf eine knappe Formel ge- 
bracht, indem er die Ersetzung des bestehenden Gleichgewichts- 
systems durch ein anderes fordert, „qui, ôtant tout principe de 
mésintelligence entre la France et l'Autriche, sépare les intéréts 
de l'Autriche de l'Angleterre, les mette en opposition avec ceux 
de la Russie et, par cette opposition, garantisse l'empire otto- 
man‘‘*,. Durch alle Wendungen hindurch, die sich aus der Be- 
dingtheit der augenblicklichen Lage erklären, sieht man hier 
die tragenden Grundlagen einer auf unwandelbare Dauer ange- 
legten Ordnung deutlich sichtbar werden. 

Von hohem Interesse ist Talleyrands Stellung zu Preußen. 
Den Rang einer Großmacht erkennt er ihm nicht zu; die Zer- 
stückelung des Gebietes, die Armut des Bodens, die Zahl der 
Bevólkerung weisen ihm seinen Platz an der Spitze der Máchte 
zweiten Ranges an, über den es sich nur vorübergehend durch 
die Taten eines großen Königs erheben konnte. Wenn trotzdem 
in seinen politischen Erórterungen diesem Preußen eine größere 
Breite eingeráumt wird als selbst der für so wichtig erachteten 
russisch-türkischen Frage, so hat das zu einem guten Teil seinen 
Grund in den Besorgnissen, die sich aus der Einsicht in die Natur 
dieses Staatswesens für die Gleichgewichtsgrundlage der euro- 
päischen Staatenwelt ergeben. Wir stoßen hier auf den gleichen 
Grund, der ihm schon das russische Reich hatte verdáchtig er- 
scheinen lassen: der Voraussicht von Verwicklungen, die sich 
aus der mit Notwendigkeit aus der Natur des Landes hervor- 
gehenden Politik ergeben müssen. Von dem unruhigen Vor- 

“ Bertrand, S. 160. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 369 


wärtsdrängen, das diese Macht charakterisiert und das ihr im 
Verlauf von 63 Jahren einen Bevölkerungszuwachs von vier 
auf zehn Millionen eingebracht hat, befürchtet er deshalb außen- 
politische Gefahren. Hier zeigt sich in ihm der geborene Politiker 
und der durchdringende Beobachter. Ausgehend von der Zer- 
stückelung des preußischen Staatsgebietes sagt er voraus, daß 
Preußen nach Einbeziehung der zwischen den getrennten Teilen 
der Monarchie liegenden Gebiete streben müsse, und daß sich 
diese Arrondierungspolitik zwangsläufig zu einer Einigung des 
gesamten außerösterreichischen Deutschland unter preußischer 
Führung ausweiten werde. Mit einer Art von visionärer Klarheit 
sieht so Talleyrand schon im Jahre 1814 den Gang der deutschen 
Entwicklung voraus, aber — er lehnt ihn ab, weil er ihm mit 
dem dynamischen Charakter seines Gleichgewichtssystems un- 
vereinbar erscheint“. 

So ist Talleyrand, obwohl weder in seiner Auffassung von 
den Interessen Frankreichs, noch von seiten seines europäischen 
Gleichgewichtssystems aus eine Nötigung hierfür vorlag, zu einem 
entschiedenen Bekämpfer einer aktiven preußischen Politik ge- 
worden. Als solcher hat er in seinen Instruktionen für den 
Wiener Kongreß als Richtlinie aufgestellt, daß Preußen mit 
allen Mitteln an der Erlangung einer starken Stellung auf dem 
linken Moselufer gehindert werden müsse®. So große Erfolge er 
auch in Wien erzielt hat, in diesem Punkte hat er sein Ziel nicht 
erreicht, und man wird es wohl als ein indirektes Eingestándnis 
einer diplomatischen Niederlage ansehen dürfen, daß er bei seiner . 
Sonst sehr ins Detail gehenden Berichterstattung alle auf die 
Entschädigung Preußens auf dem linken Rheinufer gehenden 
Verhandlungen mit völligem Stillschweigen übergeht. 

Die übrigen Staaten zweiten Ranges finden in den Aufzeich- 
nungen Talleyrands keine Erwähnung, die hinreichend wäre, 
die ihnen zugedachte Einordnung in das Gleichgewichtssystem 
zu erschließen. Im Rahmen des Ganzen kann aber nicht zweifel- 
haft sein, daß sie, selbst zu unbedeutend, um von sich aus die 
allgemeine Ordnung zu stören, ihre Sicherheit und Ruhe dem 
zwischen den Großmächten obwaltenden Schwebezustand ver- 
danken, daß sie, ein jeder an seiner Stelle, eingegliedert sind in 

In den Instruktionen für den Wiener Kongreß Mémoires II, S. 2431. 

Ebenda, S. 246. 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 24 


370 Hermann Wendorf 


dieses System dynamischer Beziehungen, gleichsam eingebettet 
in das politische Kraftfeld Europa. 

In weniger einfachen Formen ist die Einordnung der kleineren 
Staaten, vor allem in Deutschland und Italien, gedacht. Sie 
erscheinen ihrerseits wieder zu besonderen partiellen Gleich- 
gewichtssystemen zusammengefaDt, deren jedes seinen eigenen 
Bewegungsgesetzen folgt; im Rahmen der Gesamtheit kónnen 
diese Teilsysteme nicht die Bedeutung selbständiger dynamischer 
Elemente haben; sie haben daher ihre Aufgaben in Anlehnung an 
eine der großen Mächte zu erfüllen, die das Ganze mit ihren Wir- 
kungen umfassen und ihm diese untergeordneten Teile einfügen, 
indem sie ihnen ihr Gesetz auferlegen*?. 

Überschaut man diesen Aufriß eines Gleichgewichtssystems, 
so fällt als einerseiner Grundzüge ins Auge, daß es in seiner Syste- 
matik an keinem Punkte der Möglichkeit von Veränderungen oder 
gar einer Entwicklung Rechnung trägt. So wie die einzelnen 
Elemente aus der denkenden Verarbeitung der in der Erfahrung 
vorgefundenen Staaten hervorgegangen sind, so sind sie auch als 
unveränderlich wirkende in Anschlag gebracht, ja es erweckt 
geradezu den Anschein, als ob diese Statik der Verhältnisse die 
Voraussetzung für die Erhaltung von Ruhe und Sicherheit bilden 
sollte. 

Diese Ordnung selbst, die dem praktischen Verhalten der 
Staaten zugrunde liegt, stellt in ihrem Aufbau wie in dem In- 
einandergreifen der einzelnen Teile ein äußerst künstliches Ge- 
bilde dar, „un équilibre tout artificiel et précaire'*, wie es Talley- 
rand selbst einmal genannt hat““. Für seine Beurteilung ist zu 
beachten, daß sein Schöpfer durchdrungen ist von der Über- 
zeugung, nicht ein Gedankengebäude seiner schaffenden Phan- 
tasie errichtet, sondern durch Beobachtung und Analyse eines 
in der Erfahrung gegebenen Tatbestandes eine in der objektiven 
Wirklichkeit gegebene und von ihm nur nachgezeichnete Natur- 
gesetzlichkeit festgestellt zu haben. Die Herkunft aus dem Geiste 
der Aufklärung ist auch aus der Bedeutung zu ersehen, die die 
Gesetze der physikalischen Astronomie für den Aufriß dieses 
Systems gewonnen haben. Alles scheint sich in analoger Kom- 
position zu den Gesetzen der Sternenwelt zu vollziehen. Wie im 


19 Instruktionen Mémoires II, S. 236. 
80 Ebenda S. 238. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 371 


Kosmos die Himmelskórper einander in freischwebenden Bahnen 
nach den ewigen Gesetzen der Gravitation in Anziehung und Ab- 
stoBung umkreisen, so auch nach ihrem Vorbilde die gesellschaft- 
lichen Körper der Staaten mit ihren „forces d'agression'" und 
„forces de résistence“ 1. Dabei sind die „corps composés“ der 
kleineren Staaten ihrerseits wieder als Gleichgewichtssysteme 
organisiert, „ils ont leur équilibre propre sujet à mille altérations 
qui affectent nécessairement celui dont ils font partie,'5* und das 
Ganze stellt sich dar als ein Zusammenhang von Wechselwir- 
kungen und Abhängigkeiten, wo eines das andere bedingt und 
hervorbringt, durchaus vergleichbar einem Planetensystem, 
dessen innerer Aufbau bei der Bestimmung der Beziehungen der 
einzelnen Teile zueinander vorbildlich gewesen zu sein scheint. 


Es erhebt sich die Frage, ob diese Auffassung eines europá- 
ischen Gleichgewichtssystems mit seinen stark konstruktiven 
Elementen in irgendeiner Form eine praktische Bedeutung in 
der Politik des Staatsmannes Talleyrand gewonnen hat. Er be- 
hauptet das selbst an der Stelle seiner Memoiren, an der er als 
Grund für die eingetretene Entfremdung von Napoleon tief- 
gehende Auffassungsverschiedenheiten über die von Frankreich 
zu befolgende Außenpolitik angibt. Bei dieser Gelegenheit gibt 
er seiner politischen Anschauung eine Formulierung, die seine 
Auffassung vom europäischen Gleichgewicht zwar nur andeu- 
tungsweise, aber doch mit Sicherheit durchscheinen läßt: ,, Étab- 
lir pour la France des institutions monarchiques qui garanti- 
raient l'autorité du souverain, en la9* maintenant dans de justes 
limites; — ménager l'Europe pour faire pardonner à la France 
son bonheur et sa gloire' 55; Napoleon aber habe durch die Maß- 
losigkeit seiner Eroberungspolitik ihm jede weitere Mitwirkung 
auf seinem ihm verderblich erscheinenden Wege unmóglich ge- 
macht, so daß ihm nur das Ausscheiden aus dem Amte ge- 
blieben sei. 

Man hat diese Darstellung als den Versuch einer spáteren 
Rcchtfertigung seines treulosen Verhaltens ablehnen zu dürfen 

5! Ebenda. 

5 Ebenda. 

535 Kann sich dem weiteren Zusammenhange nach nur auf „la France“ be- 


ziehen. 
53 Mémoires I, S. 318. 


24* 


372 Hermann Wendorf 


geglaubt, aber zu Unrecht, denn die gleiche Auffassung hat 
Talleyrand bereits zu Anfang des Jahres 1807 dem sächsischen 
Generalleutnant von Funck gegenüber vertreten“, also zu einer 
Zeit, wo Napoleon noch nicht auf der Hóhe seiner Macht stand 
und noch keine Anzeichen auf einen móglichen Umschwung hin- 
deuteten. Für die Loslósung im damaligen Zeitpunkte haben 
also Differenzen im Grundsätzlichen als Erklärung für den Bruch 
durchaus nichts Unwahrscheinliches für sich. 

Nimmt man aber diese Deutung an — und es ist kein stich- 
haltiger Grund beizubringen, der ihre Glaubhaftigkeit erschüt- 
tern kónnte —,so erscheint sein Verháltnis zu Napoleon ein- 
deutig und von in sich geschlossener Konsequenz. Er hatte ihn 
begrüßt als den einzigen, der imstande war, das Chaos in Frank- 
reich zu ordnen, und hatte alles, was in seiner Hand lag, getan, 
um seine Macht zu stützen und zu legitimieren. Als er aber sah, 
daß die Gleichgewichtsverhältnisse, die für ihn die Voraussetzung 
für die Ruhe und den Frieden Europas — für ihn die Grundlage 
alles kulturellen Lebens — waren, durch die Ma8losigkeiten der 
napoleonischen Eroberungspolitik gefáhrdet wurden, da ànderte er 
die Einstellung zu dem Träger dieser Politik. Den er für den Mann 
der Ordnung angesehen hatte, dcr wurde nunmehr unter dem 
hóheren Gesichtspunkt Gesamteuropas zum Stórenfried, von dem 
Gefahr drohte und dem entgegenzuarbeiten sich als eine Pflicht 
gegenüber dem gesamteuropäischen Interesse erweisen konnte. 
Und nun mußte es entscheidend werden, daß Napoleon nicht der 
legitime Herrscher Frankreichs, ja streng genommen nicht einmal 
Franzose war. Das gleiche Recht, das er auf Frankreich hatte, 
konnte jeder Franzose, der es ehrlich mit seinem Vaterlande 
meinte, für sich in Anspruch nehmen. Es konnte von diesem 
Standpunkt aus sogar als Pflicht erscheinen, diejenigen Pläne, 
die man für bedenklich und gefährlich hielt, mit allen Mitteln 
zu durchkreuzen zu suchen. 

Von diesen Voraussetzungen aus ist sein Verhalten auf dem 
Kongreß in Erfurt 1808 zu verstehen®®. Er unterstützte Napo- 
leon in allen Punkten, die in der Richtung seiner Konsolidierungs- 
politik lagen. Damals gewann der Gedanke an die Scheidung von 


& C. W. F. v. Funck, Im Banne Napoleons, S. 175f. 
5 Talleyrand hat dem Erfurter Kongreß in seinen Memoiren einen besonderen 
Abschnitt, I, S. 393—457, gewidmet. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 373 


Josephine und an eine ebenbürtige Heirat zum erstenmal Ge- 
stalt. Talleyrand griff ihn sofort auf, aber von den ersten Schritten 
zu seiner Verfolgung an suchte er die Lósung im Sinne seiner 
Politik umzubiegen und auf die Verbindung mit Österreich, die 
in der Richtung seiner Gleichgewichtspolitik lag, hinzulenken. 
Aber mit der ganzen Meisterschaft seines diplomatischen Auf- 
tretens wußte er die von Napoleon geplante enge Verbindung 
zwischen Frankreich und RuBlandzu verhindern, weilsieseinenAn- 
schauungen von einer gesunden europäischen Politik widersprach. 

Von französischer Seite ist ihm der Vorwurf des Verrats und 
des Vertrauensbruchs gemacht worden. Zweifellos hat er ein 
doppeltes Spiel getrieben, das Napoleon gegenüber unaufrichtig 
und doppelzüngig war. Vom Standpunkt der privaten Moral ist 
es nicht zu rechtfertigen, daß er den Zaren Alexander in vertrau- 
lichen Unterredungen beriet, wie er die geheimen Absichten 
Napoleons durchkreuzen und vereiteln könne. Aber Talleyrand 
sah keine Möglichkeit, auf geradem Wege einen Akt zu verhin- 
dern, den er für verderblich ansah, und berief sich daher auf die 
allen anderen Rücksichten übergeordnete europäische Idee. Wie 
man auch sein Verhalten beurteilen mag, es wird sich nicht wider- 
legen lassen, daß hinter allem als regulative Idee eine ganz be- 
stimmte Vorstellung von einer gesamteuropäischen Ordnung 
gestanden hat, von der aus sich sowohl der Gegensatz gegen 
Napoleon herleitet, als auch die Rechtfertigung, die Talleyrand 
für seine Handlungsweise gegeben hat. 


Wenn auf das Ganze gesehen der Zustand der Über- 
lieferung schon für den Teil der Staatsanschauung des Außen- 
politikers Talleyrand, der das Leben des Staates nach außen 
darstellt, kaum mehr als die Grundzüge festzustellen erlaubt, 
so wird man erst recht nicht erwarten können, daß es gelingen 
wird, aus den Quellen ein genaues Bild von seinen Vorstellungen 
von dem inneren Aufbau des Staates zu gewinnen. Auch hier 
wird die Interpretation seines praktischen Verhaltens in seiner 
politischen Laufbahn ergänzend einzutreten haben. 

Geht man an diese Aufgabe heran, so wird als bestimmender 
Grundzug seiner Auffassung sein konsequentes Eintreten für die 
Monarchie in Wort und Tat sichtbar. Selbst wenn man sein 
warmes Sicheinsetzen für die legitime Monarchie auf dem Wiener 


374 Hermann Wendorf 


KongreB aus anderen Gründen als ausseiner inneren Überzeugung 
bedingt aufzufassen geneigt ist, so bleibt doch immer noch sein 
bestándiges Wirken für die Wiederherstellung einer monarchi- 
schen Regierung wáhrend der ganzen Zeit seiner ministeriellen 
Tätigkeit. Sein Eintritt in den Dienst des Direktoriums bildet 
hierzu keinen Widerspruch, denn der geborene Politiker in 
Talleyrand drángte nach angemessener Betátigung, und auBer- 
dem war seine wirtschaftliche Lage nach seiner Rückkehr aus 
Amerika so wenig günstig, daß sein Streben nach einem gut be- 
soldeten Staatsamt zum mindesten verständlich erscheint. 

Einmal im Ministerium, hat er alle Bestrebungen auf Rück- 
führung Frankreichs in monarchische Verfassungszustände mit 
allen seinen Kräften unterstützt. Er hat zu dem engeren Kreis 
der Verschworenen des 18. Brumaire gehört; er war es, der als 
erster nach dem Staatsstreich Napoleon gegenüber dem Ge- 
danken von der Notwendigkeit einer Zusammenfassung der drei 
wichtigsten Ministerien in seiner Hand Ausdruck gegeben hat“,; 
er hat jedem Schritt in der Richtung auf die erbliche Monarchie 
seine helfende Hand geliehen, war einer der eifrigsten Befür- 
worter der Ehescheidung von Josephine und der Verheiratung 
mit einer Angehörigen eines der regierenden Häuser zur Begrün- 
dung einer legitimen Dynastie und hat bei der Entscheidung in 
Übereinstimmung mit seinen außenpolitischen Berechnungen 
den Ausschlag zugunsten der Verbindung mit dem österreichi- 
schen Hause gegeben. 

Über die Stellung Talleyrands zu Napoleon sehen wir heute 
noch nicht klar. Es gibt noch keine auf unvoreingenommener 
kritischer Prüfung des ganzen weitschichtigen Materials aufge- 
baute Untersuchung der Frage“. Die bisher im Rahmen größerer 
Zusammenhänge gegebenen Lösungsversuche haben in der Regel 
bestimmte Ausgangspunkte und Maßstäbe, von denen aus es 
schwer ist, Talleyrand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Be- 
sondere Schwierigkeiten bereitet bei der Erörterung die Beurtei- 
lung seiner Wendung zu den Bourbonen. Talleyrand selbst gibt 
in seinen Memoiren dafür die Erklärung, daß nach dem Sturz 
Napoleons ein anderer als der legitime Herrscher überhaupt nicht 


6% Lacour-Gayet, Talleyrand II S. 8. 
sea Es ist jedoch zur Zeit eine Leipziger Dissertation über dieses Thema in 
Vorbereitung. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 375 


hätte in Frage kommen können”. Man hat die Wahrheit dieser 
Begründung in Zweifel gezogen und ehrgeizigen Utilitarismus 
als letzte Triebfeder seines Handelns erkennen wollen. Aber dem 
kónnte entgegengehalten werden, daB die Erfüllung ehrgeiziger 
Pläne ebensogut durch jeden anderen hätte erfolgen können, dem 
Talleyrand auf den Thron Frankreichs verholfen hätte, und daß 
er bei seiner großen Erfahrung und erprobten Menschenkenntnis 
sich der Einsicht in die schweren Belastungen, denen sein Ver- 
hältnis zu Ludwig XVIII. notwendig ausgesetzt sein mußte, wohl 
kaum dürfte verschlossen haben. Es müßten daher schon stich- 
haltigere Gründe beigebracht werden, als es bisher geschehen ist, 
um die Begründung, die Talleyrand für seine Entscheidung gibt, 
zu entkräften. Nach dem gegenwärtigen Stande der Quellen- 
forschung und -kritik jedenfalls muß eine Beleuchtung von 
Talleyrands Haltung in der inneren Politik zu dem Ergebnis 
kommen, daß er den grundsätzlichen Anhängern der legitimen 
Erbmonarchie zuzurechnen ist. 

Auch seine Anschauungen über den inneren Aufbau des 
Staates lassen sich in ihren Grundzügen wiederherstellen. Er ist 
keinesfalls, woran man bei seiner Herkunft aus dem ancien regime 
denken könnte, ein grundsätzlicher Vertreter der absoluten 
Monarchie; auch teilt er nicht die bei vielen praktischen Staats- 
männern seiner Zeit aus der Befürchtung, daß die Mitwirkung 
von gewählten Volksvertretern ohne Erfahrung in den Fragen 
der Staatspolitik die kunstvolle Staatsmaschinerie in Verwirrung 
bringen müßte, hervorgehende Ablehnung aller ständischen oder 
parlamentarischen Einrichtungen. Er hat im Gegenteilden Stand- 
punkt der absoluten Fürstengewalt nicht nur theoretisch ab- 
gelehnt, sondern sogar mit Entschiedenheit bekämpft. Im Jahre 
1815 hat er in seinem dem König während der Rückkehr nach 
Paris überreichten Rapport mit einem Freimut, der allen denen 
zu denken geben sollte, die in ihm nur den ehrgeizigen Streber und 
geschmeidigen Höfling sehen wollen, auf die nach seiner Meinung 
während der ersten Restauration gemachten Fehler hingewiesen 
und sie auf die Verwechslung der Begriffe Quelle und Ausübung 
der königlichen Gewalt und auf den irrigen Glauben zurück- 
geführt, der König sei auch unbeschränkt, weil er legitim sei®®. 


5 Mémoires II, S. 161. 
5 Pallain, Correspondance du Prince de T. et du Roi Louis XVIII., S. 463ff. 


376 Hermann Wendort 


Die frühere unumschränkte Kónigsmacht sei gegründet ge- 
wesen auf den religiósen Glauben, der in dem Fürsten den Stell- 
vertreter Gottes auf Erden gesehen habe. Aber durch die in den 
letzten Jahrzehnten vor der Revolution eingerissenen Miß- 
bräuche sei das Ansehen des Kónigtums und das Vertrauen zu 
ihm schwer erschüttert worden, und jetzt verlange das Volk be- 
stimmte Garantien gegen den Mißbrauch der königlichen Ge- 
walt. Als solche führt Talleyrand an®®: Freiheit der Person und der 
Meinungsäußerung, Beschränkung der Strafverfolgung auf Fälle 
von Gesetzesübertretung und Aburteilung nur durch mit un- 
abhängigen Richtern besetzte Gerichte, Verantwortlichkeit der 
Berater des Königs und Gesetzgebung nur unter Mitwirkung des 
durch eine Repräsentation verkörperten Volkswillens, diese 
letztere Forderung ausgedrückt in den Worten: „L'esprit des 
temps où nous vivons exige que, dans les grands Etats civilisés, 
le pouvoir supréme ne s'exerce qu'avec le concours de corps tirés 
du sein de la société qu'il gouverne‘‘®. Wie sich aber Talleyrand 
diese Volksrepräsentation hinsichtlich der Art ihrer Bildung, 
Zusammensetzung, Aufgabenzuweisung und Abgrenzung der 
Kompetenzen gedacht hat, sind wir nicht mehr in der Lage fest- 
zustellen, weil er keinerlei Anhaltspunkte hierfür gegeben hat. 

Es liegt nahe, in jener Zeit bei der Forderung auf Einschrän- 
kung der absoluten Gewalt an Beeinflussung durch Montesquieus 
Lehre von der Gewaltenteilung zu denken. Obwohl aber Talley- 
rand den Namen Montesquieu des öfteren mit Verehrung nennt 
und seinen Träger zu den wahren Philosophen rechnet, sind doch 
keine Anzeichen dafür gegeben, daß er gerade dieses Element 
seines Denkens übernommen hätte. Ja es läßt sich die Unwahr- 
scheinlichkeit einer derartigen Beeinflussung durch die Erwägung 
dartun, daß Talleyrand als der Freund des Grafen Mirabeau und 
als der gründliche Kenner des Aufbaues und der Wirksamkeit 
eines geordneten Staatswesens die Gefahren sehr wohl wird er- 
kannt haben, die für das Leben des Staates aus der mechanischen 
Zerteilung organischer Funktionen erwachsen mußten. 

In einem Punkte entsprach jedoch die Staatsanschauung 
Talleyrands der Montesquieuschen: in der Ablehnung eines für 
alle Zeiten und Völker gültigen Schemas für den Aufbau eines 


59 Ebenda S. 470ff. 
% Ebenda S. 464. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 377 


Staatswesens. Nur das Prinzip, auf das Talleyrand die Verschie- 
denheiten unter den einzelnen Staaten gründet, ist ein anderes. 
Und hierin ist er durchaus ein Kind seiner Zeit, wenn er die die 
verschiedenen Staatsverfassungen in ihrer Besonderheit be- 
stimmende und gestaltende Macht in der öffentlichen Meinung 
sieht. 

Der Begriff der öffentlichen Meinung ist keineswegs ein Er- 
zeugnis des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Er läßt sich, wenn 
auch nicht in der sprachlichen Formulierung, so doch bestimmt 
in der Sache, bis in die altgriechische Polis zurückverfolgen. Im 
christlichen Mittelalter nur vereinzelt nachweisbar, ist die öffent- 
liche Meinung durch Machiavelli in das neuzeitliche Staatsdenken 
eingeführt worden, ohne jedoch durch Jahrhunderte hindurch 
allgemeinere Verbreitung zu finden, bis sich in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Durchbruch vollzieht und der 
Begriff eine Popularität gewinnt, die ihm eine Verbreitung bis in 
private Korrespondenzen hinein sichert“. Die ursächlichen Be- 
dingungen dieses plötzlichen Anschwellens sind, soweit ich sehe, 
noch nicht geklärt, ebensowenig wie der innere Zusammenhang 
mit dem Denken der Aufklärung. 

Unter den verschiedenen Fassungen, in denen damals der 
Begriff begegnet, bald als Summierung und Zusammenfassung 
der einzelnen Meinungen zu einem Gesamtbilde, bald mit einer 
Wendung ins Voluntaristische als eine Vereinigung der einzelnen 
Willen zu einem ganz bestimmt gerichteten Gesamtwillen von be- 
sonderer Festigkeit, mitunter aber auch als der Kritik, mit der die 
aufgeklärten Kreise des Volkes die Maßnahmen der Regierung 
verfolgen als eine Art von Korrektiv für den handelnden Staats- 
mann, aber auch als eine geheimnisvoll wirkende Macht, die allein 
durch ihr Vorhandensein sich auswirkt und die Mánner der Politik 
in ihre Bahnen zwingt, scheint Talleyrand der letzteren von 
diesen zuzuneigen. Zwar ließe sich die erwartete Einwirkung auf 
die Lösung des englisch-holländischen Bündnisses in der Denk- 
schrift von 1792 auf dem rationalen Wege der Beeinflussung des 
englischen Parlamentes erklären, aber wenn es in den Instruk- 
tionen für den Wiener KongreB heiBt, die Proklamierung des 
Rechtes der Eroberung durch die verbündeten Mächte „serait 


1 Wilhelm Bauer, Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grund- 
lagen. Tübingen 1914, S. 16ff. 


378 Hermann Wendort 


repoussée à l'instant par un cri de réprobation unanime“ “, so 
kann man das kaum anders deuten als einen Appell an jene un- 
faßbar geheimnisvoll wirkende Kraft, zumal da in den Staaten, 
gegen deren Leiter er gerichtet ist, von einem irgendwie gearteten 
verfassungsmäßigen Einfiuß der Bevölkerung keine Rede sein 
konnte. Es ist wohl auch kein Zufall, daB er in der angeführten 
Mahnung an den König nicht von der opinion publique spricht, 
sondern im Namen des ‚esprit des temps“ die Mitwirkung des 
Volkes verlangt, um eben die Vorstellung von der Menge der 
einzelnen fordernden Individuen zu ersetzen durch eine andere, 
der er eine stárkere Kraft der Wirkung zutraut. Ja, er erkennt 
der óffentlichen Meinung eine Wirkung zu, die über die der mili- 
tärischen Machtmittel weit hinausgeht, wenn sie sich in Über- 
einstimmung befindet mit den ,,Prinzipien". So schreibt er im 
November 1830, daß die absolutistischen Ostmächte ,,soutiennent 
leur droit divin avec du canon; l'Angleterre et nous, nous sou- 
tiendrons l'opinion publique avec des principes; les principes 
se propagent partout, et le canon n'a qu'une portée dont la me- 
sure est connue“ 24. So sehen wir, daß in seiner Auffassung vom 
inneren Wesen des Staates dasjenige Prinzip, aus dem er die 
Mannigfaltigkeit der verschiedenen Staaten hervorgehen läßt, ihn 
durch die eigentümliche Art, in der er es auffaBt, wiederum in 
die nächste Nähe zum Denken der Aufklärung bringt. 


Nachdem wir, so gut es die Dürftigkeit der Überlieferung ge- 
stattet, die Staatsanschauung Talleyrands mit ihren zahlreichen 
Momenten aufklärerischen Denkens durchmessen haben, erhebt 
sich als letztes die Frage, wie sich dieses Verwurzeltsein in einer 
als besonders dogmatisch beleumundeten Weltanschauung mit 
den Aufgaben des Staatsmannes verträgt, dessen Wesen es ge- 
radezu erfordert, nicht durch Bindungen irgendwelcher Art an 
der Ergreifung der in der jeweiligen Lage notwendigen Maß- 
nahmen behindert zu sein. Aber hat nicht auch Friedrich der 
Große zu den Kreisen der Aufklärung gehört und war er nicht 
unter ihren deutschen Vertretern einer der besten Köpfe, ohne 
daß auch nur jemand eingefallen wäre, zu bezweifeln, daß er ein 

en Instruktionen Mémoires II, S. 241. 


e383 Schreiben an Sebastiani vom 27. November 1830, vgl. Pallain, Le ministère 
de T. sous le Directoire, S. XLVII. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 379 


noch größerer Politiker gewesen ist? Man sieht, beides kann 
nebeneinander bestehen, die Frage ist nur, wie sich die beiden 
Momente auf dem Boden einer Persönlichkeit vertragen. Bei 
Friedrich dem Großen war die Lösung die, daß er, unbeschadet 
der aufklärerischen Formen seines Denkens, in seiner Politik den 
Notwendigkeiten und Forderungen seines Staates in einer Weise 
Rechnung trug, die oft inschärfstem Widerspruche zu den Lehren 
der Aufklärung von der Natur und den Gesetzen der Verhältnisse 
der Staaten stand. 

Wie steht es nun hierin bei Talleyrand? Hat er den Philo- 
sophen dem Staatsmann geopfert, oder hat er sich in seiner 
Politik von seiner Ideologie beeinflussen lassen? Die einzige 
Periode in seinem Leben, die auf diese Fragestellung Antwort 
gibt, ist die Zeit des Wiener Kongresses, die allein in seiner ganzen 
Laufbahn ihm die Möglichkeit gab, frei von Bindungen und Vor- 
schriften die Politik zu machen, die er für die richtige hielt. Es 
kann nicht unsere Aufgabe sein, sein Auftreten auf dem Kongreß 
zu verfolgen; wir haben uns im Rahmen der uns gestellten Auf- 
gabe nur die Frage vorzulegen, ob die großen Erfolge, die er bei 
den Verhandlungen errungen, in irgendeiner inneren Verbindung 
mit seiner Gedankenwelt stehen. 

Eine Antwort auf diese Frage versuchen, heißt sie dahin er- 
weitern, die Bedeutung zu bestimmen, die das Denken der Auf- 
klärung auf dem Wiener Kongreß für den Gang der Verhand- 
lungen und die schließliche Gestaltung der Verhältnisse gehabt 
hat. Vieles an diesem Kongreß in der Art seiner äußeren Auf- 
machung, der Verhandlungsführung, der Methoden der Politik ist 
nur unter dieser Voraussetzung zu verstehen. Die für die Führung 
maßgebenden Männer waren selbst durch die Schule dieses 
Denkens hindurch gegangen, hatten ihre geistige Gestalt durch 
sie formen lassen ; soweit sie ihr aber nicht zugehörten, hatten sie, 
wie etwa der Zar Alexander, ihr keine eigene durchgebildete Art 
der Gedankenführung entgegenzusetzen und beugten sich daher 
vor ihr. So kam es, daß der Geist der Aufklärung der alles be- 
herrschende war. Für Talleyrand war dies ein unschätzbarer Vor- 
teil, denn durch seine gründliche philosophische Bildung und 
Schulung verfügte er über eine Beherrschung aller Methoden des 
Denkens, die ihm eine dialektische Überlegenheit über alle Ver- 
handlungspartner sicherte. 


380 Hermann Wendorf 


In den praktischen Verhandlungen kam ihm weiter zustatten, 
daß seine an der Wirklichkeit orientierten politischen Vorstel- 
lungen von den Interessen Frankreichs, wie er sie auffaßte, sich 
mit seinen theoretischen Überzeugungen von den notwendigen 
Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens völlig 
deckten, wáhrend alle anderen Staatsmánner Forderungen zu ver- 
treten hatten, die ihre Begründung in der Staatsraison hatten und 
daher mit der unter dem EinfluB aufklárerischen Denkens gebil- 
deten diplomatischen Ideologie der Zeit im Widerspruch standen. 
So stand der Geschlossenheit der Talleyrandschen Position auf 
der Seite der Verhandlungsgegner eine innere Brüchigkeit ihres 
Standpunktes gegenüber, und Talleyrand war der Mann, alle 
Chancen, die sich für ihn aus diesem Verhältnis ergaben, rück- 
sichtslos auszunutzen. 

Auf diese Voraussetzung waren die Methoden gegründet, mit 
denen er sich durchsetzte und Frankreich seine alte Stellung 
unter den Máchten wieder errang. Wir besitzen in seinen Be- 
richten und Memoiren Einblicke genug, um sehen zu kónnen, mit 
welchen Mitteln er seine diplomatischen Erfolge erzielte. Im 
Grunde befolgt er bei den verschiedensten Situationen immer die 
gleiche, stets zum Ziele führende Taktik. Seiner schnellen Auf- 
fassungsgabe und gedanklichen Schulung entgeht keiner der 
Widersprüche, die sich einer der Verhandlungspartner inner- 
halb seiner Ausführungen oder gegenüber seinen Voraussetzungen 
zu Schulden kommen läßt. Sofort greift er ein, nützt die auf der 
Gegenseite mit einer gewissen psychologischen Notwendigkeit 
sich einstellende innere Betretenheit über die sich gegebene Blófe 
mit Geschicklichkeit aus, indem er in läng erer Rede mit großer 
Gewandtheit der Gedankenführung die gegnerische Position 
durch Aufdeckung aller logischen Widersprüche, in die sie sich 
zu ihrer eigenen Anschauungsgrundlage und den allgemein an- 
genommenen Grundsätzen des öffentlichen Rechts verwickelt 
hat, zu erschüttern weiß. Seine Schnelligkeit in der Erfassung 
der gegebenen Lage, seine Menschenkenntnis kommen ihm dabei 
ebenso zustatten wie die in den Salons des ancien régime er- 
worbene Sicherheit des Auftretens und Kunst der Menschen- 
behandlung. Alle hierin nicht anlagemäßig gegebenen Faktoren 
weisen aber auf Formen des Lebens hin, an deren Ausbildung der 
Geist der Aufklärung einen ganz wesentlichen Anteil gehabt hat. 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 381 


Das große Glück für Talleyrand, dessen auch der erfolgreichste 
Staatsmann bedarf, bestand darin, daB ihm niemand entgegen- 
getreten ist, der, auBerhalb seiner Denkart und -gewohnheiten 
stehend, die Schwächen seines Standpunktes erkannt hätte und 
seine Methoden auf ihn selbst anwenden konnte. Im Jahre 1814 
war die Aufklärung bereits eine überalterte Denkweise; die neuen 
geistigen Kräfte, die dem öffentlichen Leben neue Züge einprágen 
sollten, die Romantik im weitesten Sinne genommen, und die 
Nationalstaatsidee, der die Zukunft des staatlichen Lebens ge- 
hóren sollte, waren bereits da, aber ohne Sprachrohr unter den 
Vertretern des offiziellen Europa. Die einzige amtliche Persón- 
lichkeit, die einer Denkrichtung angehörte, die die Aufklärung 
schon überwunden hatte, Wilhelm von Humboldt, war ihrem 
innersten Wesen nach so wenig Staatsmann, war in ihrem frucht- 
barsten Streben staatsfremden Wertgebieten des geistigen Lebens 
so sehr verhaftet, daB von ihm eine gedankliche Überwindung 
der staatstheoretischen Position Talleyrands nicht gut erwartet 
werden konnte. 

Der ihm ein vollwertiger Gegner gewesen wáre, war ohne 
amtlichen EinfluB, eine bloBe Privatperson bei den Verhand- 
lungen des Kongresses. Das war der Freiherr vom Stein. Er kam 
aus einer ganz anderen seelischen und geistigen Umwelt, und er 
hatte mit der ihm eigenen gestrafften Energie seines Wesens sein 
Denken zu der gleichen Geschlossenheit gebracht wie seine 
moralische Persónlichkeit. In allen entscheidenden Punkten war 
er das entschiedene Gegenbild zu Talleyrand: dem verstandes- 
mäßigen Deismus Voltairescher Prägung gegenüber war er der 
Vertreter einer ihrer persönlichen Verantwortung zutiefst be- 
wußten Frömmigkeit altlutherischer Art; der überfeinerten 
Salonkultur des französischen Rokoko mit ihren gekünstelten 
Formen setzte er den auf die unbedingte Forderung gegründeten 
ethischen Rigorismus des sittlichen Wollens gegenüber. Ähnlich 
wie Talleyrand hatte auch er aus der denkenden Auseinander- 
setzung mit der Wirklichkeit des Staates seine Staatsanschauung 
gebildet, die, nicht weniger scharf durchdacht, von seinen anderen 
Voraussetzungen aus zu einem Aufriß ganz anderer Art führte. 
Hier hatte ein aus einer tief religiösen Wurzel entspringendes 
Verantwortungsbewußtsein in Besinnung auf die lebendigen 
Kräfte des Volkstums eine Staatsidee geboren, die in Überwin- 


382 Hermann Wendort 


dung der mechanischen Staatslehre der Aufklärung dem schópfe- 
rischen Staatsmanne neue Wege zur Gestaltung des nationalen 
Lebens wies. Im Freiherrn vom Stein wáre Talleyrand auf den 
Mann gestoDen, der in der organischen Verbundenheit und Ge- 
schlossenheit seiner Anschauungswelt fest genug in sich gegründet 
gewesen wäre, der aber auch den Blick gehabt hätte für die Mängel 
und das Überholte seines an den Maßstäben einer bereits der 
Geschichte angehórenden Denkform orientierten Standpunktes, 
um ihm nachhaltigen Widerstand entgegenzusetzen. An diesem 
Felsen wären alle Künste der Kabinettspolitik des ancien régime 
gescheitert, das Zusammentreffen beider Männer im Kampfe der 
Verhandlungen hätte zugleich ein Schauspiel von grandioser 
Wucht darbieten müssen. 

Aber ob trotzdem der Sieg auf der Seite Steins geblieben 
wäre? Das zu behaupten heißt der Struktur des Kongresses nicht 
die genügende Beachtung schenken. Alles das, was dieser Ver- 
einigung von Fürsten und Staatsmännern das äußere Gepräge 
verlieh und was ihr oft zum Vorwurf gemacht wird, hängt ja auf 
das engste mit dieser Art der Politik zusammen. Der ganze Appa- 
rat von Empfängen, Bällen, Redouten, Maskeraden war ein not- 
wendiger Bestandteil dieser finassierenden Diplomatie; man 
brauchte diese Veranstaltungen, um Gelegenheit zu haben, un- 
auffällig und ohne Argwohn zu erregen, vertrauliche Unterhal- 
tungen mit anderen Diplomaten zu pflegen, sich hier unbemerkt 
in eine Fensternische, dort in ein Seperatgemach zurückziehen 
zu können, um sich zu orientieren, zu sondieren, Verbindungen 
anzuknüpfen, Intrigen zu spinnen oder neue Möglichkeiten vor- 
zubereiten. In allen diesen Künsten war Talleyrand Meister, aufs 
trefflichste unterstützt von seiner Nichte, der Herzogin von Dino, 
die er wegen ihrer ausgezeichneten gesellschaftlichen Fähigkeiten 
mit nach Wien genommen hatte, um die so wichtigen Honneurs 
der französischen Vertretung zu machen. Keiner wußte so zu 
bezaubern wie Talleyrand, keiner verstand sich so wie er auf die 
Kunst der bonmots und des „parler par nuances“. Dieser Be- 
herrschung aller Mittel und Formen des gesellschaftlichen Lebens 
verdankt er nicht zuletzt seine großen Erfolge und seine hohe 
Eignung für den diplomatischen Dienst. Aber seine ganze Wir- 
kung konnte diese Durchschlagskraft nur entfalten in Jener ge- 
sellschaftlichen Atmosphäre, für deren Voraussetzungen der 


Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 383 


Geist der Aufklärung eine nicht geringe Bedeutung hat. Auf ihn 
sehen wir uns, wo wir uns auch immer der Persönlichkeit Talley- 
rands zu nähern suchen, stets zurückverwiesen. 


Die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassen ist fest- 
zustellen: Die Quellen zur Geschichte Talleyrands sind ein sprödes 
und schwer erschließbares Material, dessen Verarbeitung der 
allergrößten kritischen Sorgfalt bedarf. Insbesondere zur Be- 
antwortung aller Fragen, die das Innere der Persönlichkeit an- 
gehen, sind sie völlig ungeeignet. Aber es lassen sich über das 
Ganze der Überlieferung hin eine große Zahl von Äußerungen 
und Urteilen zusammentragen, die in ihrer Gesamtheit den Auf- 
riB seines Geistes zwar nicht unmittelbar zur Darstellung bringen, 
aber doch einen in sich geschlossenen Zusammenhang weltan- 
schaulicher Art als ihre Voraussetzung erkennen lassen. So finden 
sich Aussprüche, die auf eine ernsthafte philosophische Schulung 
hinweisen und zeigen, daß er der französischen Aufklärung Vol- 
tairescher Richtung zuzurechnen ist. Was in seinen Äußerungen 
an Hinweisen auf die Weltanschauung begegnet, deutet in die 
gleiche Richtung und läßt sich mühelos in die Systematik dieses 
Kreises einordnen. Das betrifft seine religiöse Haltung, die sich 
einer genauen Bestimmung zwar entzieht, aber sich doch durch 
die Möglichkeit der AusschlieBung nicht in Frage kommender 
Formen und durch verstehende Deutung wenigstens ihrer un- 
gefähren Art nach angeben läßt. 

Von besonderem Interesse sind seine Anschauungen über das 
staatliche und gesellschaftliche Leben, weil er auf diesem Gebiete 
eine entschieden selbständige Haltung des Denkens zeigt. Talley- 
rand war gewiß kein Systematiker, aber seine Gedanken lassen 
doch erkennen, welche Möglichkeiten zur Ausbildung einer 
Staatslehre von der Anschauungsgrundlage der Aufklärung aus 
gegeben waren. Er hat auf dem Gebiet des Staates, auf dem er 
über eine empirische Kenntnis verfügte, wie keiner der philo- 
sophischen Denker seiner Zeit gezeigt, wie der Grundgedanke 
der Aufklärung von der durchgehenden gesetzlichen Ordnung 
alles Seins in sinnvoller Weise auch auf dieses ihm so heterogen 
erscheinende Gebiet übertragen werden kann. Nur im Ausschnitt 
ließen sich einzelne Bruchteile dieser Anschauungen sichtbar 
machen, aber was so an einzelnen Teilen nachgewiesen werden 


3 84 Hermann Wendorf: Die Ideenwelt des Fürsten Talleyrand 


konnte, läßt sich mühelos als Glied eines sinnvollen Ordnungs- 
prinzips auffassen. Eswar so möglich, über das schwankende und 
unsichere Bild, das man sich bisher von Talleyrand machte, 
hinaus wenigstens für die geistig weltanschauliche Seite seiner 
Persönlichkeit einige klare Linien herauszuarbeiten. Welche Be- 
deutung ihnen für die Zeichnung der gesamten Auffassung des 
Menschen und Politikers Talleyrand zukommt, ist eine Frage, 
die sich auf engem Raum nicht wird beantworten lassen. 


385 


Kleine Mitteilungen. 
S. Afrae vita metriea. 


Einleitung. 
A. Die Überlieferung. 
I. Der Cod. lat. Mon. 4431. 


1. Der Cod. lat. 4431 (olim Aug. S. Ulr. et Afrae 131) der Münchner Staats- 
bibliothek ist eine kleine Papierhandschrift — 14,9 x 10,9 cm groß —. Das 
1. Blatt ist leer, auf der 1. beschriebenen Seite steht von später Hand: ‘Mon. 
S. Udalr. et Afre Aug. Vindel'. und dann mit roter Schrift: Ex monasterio 
Loricensi metra perpulchra de Sancta afra comportata et consequenter tota 
legenda'. Auf der Rückseite dieses Blattes mit roter Schrift: 'De sancta afra 
martire.’ Fol. 2 hat von der Hand des letzten Stiftsbibliothekars P. Placidus 
Braun (T 1829)! den Eintrag: Mon. S. Udalr. auguste.’ Dann beginnt der 
Text, der 12 Blätter einnimmt; am Schluß folgen noch einige leere Blätter. 

2. Die Schrift ist eine spätgotische, halb kalligraphische Minuskel, die 
jedoch schon humanistische Einschläge zeigt. 

3. Der kleine Papiercodex bekennt sich durch die oben wiedergegebene 
Überschrift als Kopie eines älteren im Benediktinerkloster Lorch in Württem- 
berg, ehemals zur Diözese Augsburg gehörig. Noch deutlicher spricht für 
diese Herkunft und zugleich für die Entstehungszeit dieser Abschrift die 
Subskription am Schlusse des Textes: 

Rescriptum ex vetustissimo quodam 
libello in quo continebantur de ortu 
et Vita beate marie virginis plura 
metra. vna cum prescriptis de 

sancta afra. Anno domini 1489. 

In monasterio sancti Benedicti Lorch. 

4. Der 'vetustissimus libellus’ von Lorch ist verschollen; auch in der 
Landesbibliothek Stuttgart haben sich? von der Lorcher Hss.-Sammlung 
keinerlei Spuren nachweisen lassen. Wir sind also nicht imstande, die Vor- 
lage unseres Textes nachzuprüfen; auch andere Textzeugen vor Clm 4431 
sind bis jetzt nicht bekannt. Daß die angegebene Vorlage ein verhältnismäßig 
hohes Alter hatte, ist glaubwürdig, auch wenn derartige Bemerkungen bei 


8787 Zusammenfassend über ihn jetzt F. Lauchert in Lex. f. Theol. u. K. II (1931) 


2 FrdL Mitt. des Herrn Bibliotheksdirektors Dr. K. Löffler (Stuttgart) vom 
14. XI. 1931. 


Histor. Viertellahrschrift. Bd. 28, H. 2. 25 


386 Anton L. Mayer 


den Humanisten sehr häufig sind* und nicht immer ganz wörtlich genommen 
zu werden brauchen. Einige Anzeichen lassen freilich vermuten, daB die 
Vorlage unserer Hs., also der unbekannte Lorcher Codex, auch nicht der 
ursprüngliche Text war: der unbekannte Lorcher Cod. (— L) scheint vielmehr 
eine schon glossierte Abschrift einer älteren Handschrift — wahrscheinlich 
auch nicht des Archetypus (A) — gewesen zu sein. Denn wenn z.B. in V.5 
oder V. 335 in Clm 4431 (— M) ganz deutliche ehemalige Glossen schon in 
den Text der Verse selber eingedrungen sind (licet, Christus’), während an 
anderen Stellen die Glossen noch interlinear erscheinen, so zeugt das von einer 
mechanischen Kopierung eines bereits vorhandenen Zustands; der Schreiber 
von Clm 4431 hätte nicht gewagt, den Text so zu verunstalten, wenn er ihm 
nicht schon genau so vorgelegen wäre. Wir müssen also diese Entstellung 
bereits in L annehmen, dem wir auch sonst manche in M sich findende Text- 
fehler zuschreiben müssen. Anderseits ist es nicht wahrscheinlich, daß A 
(das Autograph) schon selbst Glossen hatte; eher ist noch ein Zwischenglied 
(= X) möglich; dieses brachte zum erstenmal die Glossierung, die dann von 
L zum Teil mißverstanden wurde. Es ergäbe sich also — vermutungsweise — 
folgende einfache Kette: 
*A (Autograph bzw. Archetypus) 


"X (Absehrift mit Glossierung) $ 
1 (Abschrift mit mißverstandener Glossierung) 
M 
5. Das Jahr 1489, zusammengenommen mit der ehemaligen Zugehörig- 
keit von M nach dem Benediktiner-Reichsstift St. Ulrich und Afra in Augs- 
burg, führt uns in den Abschnitt der Geistesgeschichte dieses Klosters, der 
dureh den Aufschwung infolge der Melker Reform* und durch den damit 
verbundenen Aufschwung der humanistischen Studien und literarischen 
Arbeiten gekennzeichnet ist*. In dieser Zeit erfuhr auch die Geschichts- 
schreibung von St. Ulrich und Afra einen besonderen Antrieb, vor allem 
durch einen Mann wie Sigismund Meisterlin®, der i. J. 1456 seine Chrono- 
graphia Augustensium und i. J. 1483 sein Chronicon ecclesiasticum Augusta- 
num vollendete. In diesen Werken spielt auch die Afra-Legende eine be- 
sondere Rolle. Doch war Meisterlin nicht der einzige, der sich mit diesen 
historischen Studien beschäftigte. Nach ihm und vielfach von ihm abhängig 


* Vgl. z.B. P. Joachimsohn, Zur städt. u. klösterl. Geschichtschreibung Augs- 
burgs im 15. Jahrhundert (Alemannia XXII [1894]), S. 132: „W. Wittwer beruft 
sich für seinen Abtkatalog auf 'antiquissimi libri' als Quellen." 

Über diese und ihre Einführung in Augsburg jetzt bes. V. Redlich, Tegern- 
see und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert (Schriftenreihe z. bayer. 
Landesgesch., Bd. 9, München 1931), S. 162ff. 

5 Vgl. N. Bühler, Die Schriftsteller und Schreiber des Benediktinerstiftes 
St. Ulrich und Afra in Augsburg wührend des MA. (1916) S. 44ff. 

P. Joachimsohn, Die humanistische Geschichtschreibung in Deutschland. 
1. Sig. Meisterlin. (Bonn 1895.) 

A. Bigelmair, Die Afralegende. (Arch. f. d. Gesch. d. Hochst. Augsburg I 

[1909/11], S. 170.) 


S. Afrae vita metrica 387 


arbeitete der Mönch Wilhelm Wittwer (1449—1512)* an der Geschichte 
seines Klosters; er verfaßte 1493/7 den Catalogus abbatum monasterii Ss. 
Udalrici et Afrae Augustensis, die große Chronik, die gewissermaßen den 
Abschluß der mittelalterlichen Geistesgeschichte des alten Stiftes bezeichnet. 
Hier hat die Afra-Legende „ihre umfangreichste Ausgestaltung erreicht‘. 
Wie sehr sich gerade Wittwer um die Beibringung ülteren hagiographischen 
Quellenmaterials bemühte, zeigt z. B. die Kunde, daß er sich durch die Ver- 
mittlung eines Domherrn Konrad Frey und eines Kaufmanns N. Echinger 
von Ulm i. J. 1485 den Text der Narzissus-Legende 'ex civitate Gerundia' 
(in Spanien) besorgen ließ". Da das Jahr 1489, in dem die Afra-Dichtung 
aus dem Lorcher Cod. abgeschrieben wurde, eher zu den historischen Arbeiten 
Wittwers als zu denen Meisterlins paBt, liegt die Vermutung nahe, daB die 
Abschrift für die Zwecke des ersteren geschah; der Schriftcharakter verbietet 
es allerdings, seine eigene Hand anzunehmen. Die Vermutung seiner Anteil- 
nahme aber wird durch ein anderes Zeugnis zur Gewißheit. 


II. Die Abschrift von Gamans. 


1. Die Afra- Dichtung des Clm 4431 wurde schon einmal abgeschrieben, 
und zwar durch den bekannten Bollandisten P. Joh. Gamans S. J. (1605 
bis 1684}3. Diese Abschrift (4 Seiten) ist uns erhalten in der Bibliothek der 
Bollandisten zu Brüssel Collect. Bolland. n. 127 (= G unseres Apparats). 

2. Gamans hat nicht eine bloBe Kopie geliefert, sondern auch an mehreren 
Stellen, wie unser kritischer Apparat zeigt, Emendationen gemacht, die viel- 
fach mit unseren Konjekturen übereinstimmen. 

3. In der Einleitung zu seiner Abschrift sagt P. Gamans: 

S. Afrae historia metrica ex ms. Codice papyraceo corio subrubro 
assere in 8 Litt Z num 94 inscript. Meditationes, quales complures 
post hanc ipsam legendam in eodem de Vita et passione Christi (pi?) 
entissimas collegit et manu sua descripsit F. Wilhelmus Witwer S. 
Udalrici et Afrae Augustae professus an. 1492 quod ipse tribus locis 


* Bühler a. a. O. S. 58ff. 

* Bigelmair a. a. O. S. 171. 

10 P. Braun, Notitia historico-literaria de codicibus manuscriptis in biblio- 
theca monasterii ad S. Udalricum et Afram III (Augsburg 1793) S. 93 (XVI). 

u A, Schröder, Der Humanist Veit Bild, Mönch bei St. Ulrich (Zschr. d. Hist. 
Ver. f. Schwaben u. Neuburg XX [1893]) S. 194 (Reg. Nr. 28): V. B. schreibt für 
Subprior Wilhelm Ranger (Rang) an Georg N., Propst der Regularkanoniker zu 
Neuburg, das Begleitschreiben bei Übersendung einer von R. verfaBten (?) Historia 
divae martyris Christi Afrae (Vgl. Mittelalterl. Bibliothekskataloge III, S. 45.) 
Mit unserer Hs. kann die hier genannte Historia nicht identisch sein. — Ich verdanke 
diesen und manchen anderen Hinweis der Freundlichkeit des Herrn Staatsober- 
bibliothekars Dr. Paul Ruf (München). 

12 Acta Ss. Aug. II p. 44: Habemus eadem Acta conversionis et martyrii S. Afrae 
metro elegiaco, sed rudi, satis fideliter expressa, et quidem anno 1489 1 ut 
adnotatur, ex vetustissimo quodam libello ... in monasterio S. Benedicti Lorch, 
dioecesis Augustanae, ac deinde servata in coenobio St. Udalrici et Afrae Augustano; 
unde apographum huc olim dedit sua manu exaratum Gamansius noster. 

x Der date des H. P. Mauritius Coens S. J. (Brüssel) verdanke ich eine leser- 
liche Photographie dieser Bll. 


25 


388 Anton L. Mayer 


diversis testatur in fine ipsarum meditationum. Caeterum historia 
haec et alia et antiquiore manu descripta est ex nota rubricata prae- 
missa: Ex Monasterio Loricensi metra perpulchra de S. Afra com- 

portata et consequenter tota legenda. 

Am Schluß steht folgende Nota': 

Si libellus iste iam ad id temporis fuit vetustissimus sane carmen 
ipsum erit haud paullo vetustius id quod ipsa metri simplicitas ac 
ruditas indicat, haud absimilis Eclogaeilli S. Adelardi Abb.Corbeiensis(?) 
et ideo referri possit eius auctor ad tempus eiusdem fere aetatis. 
4. Von besonderer Wichtigkeit sind für uns die einleitenden Bemerkungen. 
Sie besagen, daB Clm 4431 früher einer andern Handschrift einverleibt war, 
und zwar den 'Meditationes', die Wilhelm Wittwer aus dem Werk de vita 
Christi (des Kartháusers Ludolf von Sachsen) i. J. 1492 zusammengestellt 
hat. Der Zusammenhang zwischen dem eifrigen Schreiber und Geschicht- 
schreiber Wittwer und dem Münchner Codex wird hierdurch bestätigt. Noch 
dazu ist uns die Handschrift erhalten, an deren Anfang früher die Vita metrica 
S. Afraestand. Esist: Augsburg, Stadtbibliothek Oktav 3. Sie weist folgende 
Anordnung auf: a) Pergamentbl. mit innen aufgeklebtem Exlibris des 
Klosters St. Ulrich und Afra, Sign. Nr. 673; b) Pergamentbl., dessen Rück- 
seite den Namen pro fratre Wilhelm Wittwer und die Jahreszahl 1489 trägt; 
c) 6 leere oder fast leere Blätter; das erste trägt an der Vorderseite den Namen 
Wittwer und die Bleistiftnotiz: Klostersig. B 141 und die Sign. Nr. 3; d) da- 
hinter eine Bindelücke, in die genau Clm 4431 paBt!*; e) dann beginnen die 
Meditationes. — Auch Gamans' Jahresangabe stimmt für diese Augsburger 
Handschrift. An drei Stellen gibt Wittwer pedantisch genau das Datum 
anb, Wir können also um so sicherer behaupten, daB die Afradichtung aus 
dem Lorcher Codex für Wilhelm Wittwer abgeschrieben worden ist und ein 
Stück seiner Quellensammlung für seine klostergeschichtlichen Studien war. 


M Es ist auch zu bemerken, daß Clm 4431 an mehreren Bil. so zugeschnitten 


erscheint, daB die letzten Buchstaben der Zeilen verschwunden sind; er mußte der . | 


Größe nach zu den Bil. der Meditationes passen. 
18 Da Bühler a. a. O. S. 62 die Meditationes nur streift, ohne die Hs. einiger- 
maßen zu charakterisieren, möchte ich die Notizen Wittwers hier ausheben, da sie 
für das Wesen dieses Historikers bezeichnend und auch sonst nicht ohne Wichtigkeit 
sind 
a) ene feria tercia 11 Dominicam Estomihi anno domini 1492 (also — 
II.) per Fratrem Wilhelmum Wittwer professum huius monasterii anno 
ingressionis sue vicesimo tercio, qui intravit monasterium sanctorum Udal- 
rici et affre anno dni (unleserliches Zeichen) et ipsa die sanctorum aposto- 
lorum Symonis et iude idque quinto kalendas nouembris (also — 28. X.) 
anno gracie 1469 et indictum festum erat illo anno die sabbati. Abbas huius 
loci tunc temporis erat dominus Melchior de Stamhaim E genere (?) 
sciencia et sapientia cuius anima requiescat in pace. 
b) Nota: quando ego fr. Wilhelm Wittwer scripsi istud ... infra 2 et 3 horis 
idque to Kk (= kalendas) aprilis siue in octaua sci benedicti (= 28. IIL) 
7 145 pam utilis firma (?) et postea tonitrua audita sunt prima illius anni 
80 

c) Am Schluß der Hs. ciunt oraciones ex [p ?] quarta parte de vita 
Christi per fratrem Wilhelm Wittwer feria 3a post dominicam Judica idque 
4to idus apprilis (— 10. IV.) sive ante festum sanctorum Tiburcii et Valeriani 


S. Afrae vita metrica 380 


B. Die Dichtung. 
I. Entstehungszeit. 


1. Daß die Entstehung der Afra-Dichtung geraume Zeit vor dem Ende 
des 15. Jahrhunderts — der Abschrift in M — liegen muB, ergibt sich schon 
aus dem Ausdruck 'vetustissimus libellus’, obwohl dieser Ausdruck an sich 
noch nicht die Gewähr für ein hohes Alter der Vorlage bóte. Ganz genau 
wird sich die Entstehungszeit einer Quelle nicht festlegen lassen. Wir haben 
nur einen sehr deutlichen terminus a quo: es ist das Zitat aus der 'Aurora' 
des Petrus Riga V. 303 mit ausdrücklicher Nennung der Quelle V. 3041*, 
Ferner legt V. 308 die Benutzung eines anderen Werkes des Petrus Riga 
nahe. Auch sonstige Stileigentümlichkeiten verweisen auf seinen EinfluB 
(s. u. B III 3). Da er in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts dichtete — das 
genaue Entstehungsjahr der ,Aurora' scheint nicht bekannt zu sein —, 
dürfte hiermit ein Anhaltspunkt gegeben sein. Auch die stilistischen Ein- 
flüsse des Matthàus von Vendóme weisen in diese Jahrzehnte als Grenzpunkt 
nach rückwárts. 

2. Schwieriger gestaltet sich die Auffindung eines terminus ante quem. 
Abgesehen von dem unten zu erwähnenden Stil der Dichtung, gibt es keiner- 
lei bestimmte Linien. Immerhin kónnten einige Vermutungen zu einem 
gewissen Ziele führen. Die Art nàmlich, wie V. 308 Petrus Riga zitiert wird: 
"Seribis in Aurora, Petre nobilis’ . .. läßt auf den Gedanken kommen, als ob 
der angerufene Dichter damals noch unter den Lebenden geweilt habe — 
80 lebendig, so unmittelbar ist dieses Zitat eingeführt. Petrus Riga ist 1209 
gestorben; dann wäre also unser Gedicht vor diesem Jahr 1209 und nach 
der Ausgabe der ‘Aurora’ entstanden, rund um oder vielleicht besser noch 
etwas vor 1200, eine Annahme, die durch den stilistischen und prosodischen 
Charakter nicht widerlegt, ja bestätigt wird; sie selbst bleibt freilich Hypo- 
these. Eine Vermutung, obschon begründbar, ist auch folgendes: Ein Blick 
in den Inhalt unserer Afra-Dichtung zeigt, daB er sich, namentlich in der 


quod festum fiut sabbato palmarum (— 14. IV.), anno domini 1492. Et 

feria secunda post eandem dominicam (— 9. IV.) dux Georius baioariorum 

venit cum magno apparatu ad augustam occurrente ei rege maximiliano 

usque ad pontem lici fluminis et sic honorifice fuit susceptus a rege et omnibus 

augustensibus. Die letzte Bestimmung — Zusammentreffen König Maxi- 

milians mit Herzog Georg d. R. von Bayern-Landshut — bezieht sich auf ein 

Ereignis während des Streits Albrechts IV. von Bayern-München mit dem 

Kaiser Friedrich III. und dem Schwäbischen Bund (,, Regensburger Handel“), 

bei dem der deutsche Kónig Maximilian und der Landshuter Herzog eine 

vermittelnde Rolle spielten. Am 8. April kommt Maximilian aus Tirol nach 

Augsburg; am náchsten Tag also besucht ihn schon der Herzog, der in der 

Nähe, bei Friedberg, ein kleines Kontingent zum Schutze des eigenen Landes 

zusammengezogen hatte. (Vgl. S. Riezler, Geschichte Baierns III, 550.) 

16 Es war mir bis jetzt nicht möglich, das Zitat in den Hss. des Petrus Riga 

zu verifizieren. Auch H. P. Michael Huber (Metten), der die groBe Güte hatte, 

seine auBerordentlich zahlreichen Hss.-Kopien der Aurora für mich durchzusehen, 

konnte die Stelle bis jetzt nicht nachweisen. Es liegt nahe anzunehmen, daB wir 

den eigentlichen, ursprünglichen Text dieses Werkes in keiner der uns zunáchst 

zugä lichen Hss. vor uns haben. Vgl. M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit. des MA. III 
(1931) S. 821. 


390 Anton L. Mayer 


Bekehrungsgeschichte, eng, jà zum Teil wórtlich an die alten Legenden von 
der Conversio und Passio S. Afrae" anlehnt. Diese Gestalt der Heiligen- 
geschichte war aber im Mittelalter die einzig maßgebende bis zur Erweite- 
rung der Legende durch den Prologus des Priors Adilbert von St. Ulrich 
und Afra!?; über seine Lebenszeit wissen wir nur, daß er i. J. 1235 sein Testa- 
ment gemacht hat. Von dieser Erweiterung hat — wenn wir dieses argumen- 
tum e silentio gelten lassen — unser Dichter noch keinerlei Kenntnis. Er 
folgt ganz den alten Spuren. Ist es sehr verfehlt, zu vermuten, daß er aus 
diesem Grunde vor dem Prologus des Adilbert gedichtet haben muB? 
Allerdings: die alte Legendenform hat auch über die Zeit des Adilbert hinaus 
gewirkt, vor allem auf Jacobus de Voragine und seine Nachfolger“, und diese 
Tatsache scheint die Bedeutung des Prologus als Terminus einigermaßen 
zu entkräften. Aber vielleicht muß man doch die Dinge verschieden beur- 
teilen. Es ist von unterscheidendem Gewicht, in welchem Kreis, in welcher 
Atmosphäre die Rezeption geschieht. Unsere Dichtung steht in enger Be- 
ziehung mit dem Kloster Lorch, das vom gleichen Orden besiedelt war wie 
St. Ulrich und Afra und das auch zum Augsburger Bistum gehörte, jeden- 
falls aber der Hauptpflegestätte des Afra-Kultes in mehr als einer Beziehung 
viel náher stand als der Italiener Jacobus de Voragine. Es ist schwer glaub- 
lich, daB man in dieser Umgebung auf die alte, weniger bietende Gestalt 
der Legende zurückgegrifien hätte, wenn man die neue, durch Adilbert ver- 
breitete schon kannte. Man hätte sich in Lorch wahrscheinlich keine Mühe 
mehr gegeben, etwas so Überholtes zu kopieren; erst der Frühhumanismus 
hat sich auch um solche Quellen aus rein wissenschaftlichem Interesse wieder 
gekümmert. Läßt man also die Abfassungszeit des Prologus als terminus ante 
quem gelten, so hätte die oben angenommene Entstehungszeit unserer Afra- 
dichtung eine gewisse Stütze. 


II. Entstehungsort. 


1. Bei der ganz spárlichen handschriftlichen Überlieferung ist es wohl 
so gut wie unmóglich, den letzten Ausgangspunkt einer solchen Überlieferung, 
also den Entstehungsort des Gedichtes, mit einiger Sicherheit festzustellen. 
Bei einer Dichtung über die hl. Afra, die älteste Patronin von Augsburg und 
die Schutzheilige des Klosters St. Ulrich und Afra, denkt man gewiB in 
erster Linie an dieses Kloster als die Státte, an der sie entstanden sein kann. 
Diese Annahme vorausgesetzt, lieBe sich im Hinblick auf die von uns gefundene 
Entstehungszeit gerade um 1200 im Ulrichskloster eine Periode lebhafterer 
Beschäftigung mit der Geschichte und Legende der heiligen Martyrin und 
Patronin erkennen, als deren Hauptergebnis dann eben die Arbeit des Priors 
Adilbert erschiene. Ja, unter diesen Voraussetzungen lieBe sich sogar der 
Kreis noch enger ziehen: 1187 wurde das neu gebaute Ulrichsmünster ein- 
geweiht und dort auch ein eigener und wohl auch besonders wichtiger Afra- 


17 Hrsg. von B. Krusch. Mon. Germ. hist. Ss. rer. Meroving. III (1896) S. 55ff. 
Diese zahlreichen Entlehnungen sind in unsern Anm. nicht eigens gekennzeichnet. 

19 Vgl. Bigelmair a. a. O. S. 168 und Bühler a. a. O. S. 301. 

19 Bigelmair a. a. O. S. 167. 


S. Afrae vita metrica 391 


Altar errichtet”. Sollte gelegentlich der Weihe dieses Altars — vollendet 
wurde der Münsterbau erst unter Abt Erchembold (1190—1200) — das 
Interesse an der Heiligen besonders wach geworden sein? Die Dichtung wäre 
damals im Kloster ohnedies nicht brach gelegen. Wir haben Nachricht, daß 
die vielen Heiligenbilder des neuen Münsters mit metrischen Inschriften 
versehen waren?!, die — nach dem nur wenig älteren Analogon in einer aula 
episcopalis zu Freising“ — damals wohl in dem elegischen Versmaß — wie 
unsere Afra-Dichtung — abgefaBt waren. Der Dichter dieser tituli und der 
Dichter der Vita S. Afrae kónnten identisch sein. 

2. Doch bei aller Móglichkeit einer solchen Annahme ist es doch nicht 
sehr wahrscheinlich, daß die Dichtung in St. Ulrich und Afra entstanden 
ist. Es ist kaum zu glauben, daB ein in diesem Kloster gedichteter, also auch 
dort niedergeschriebener Gesang auf die Schutzheilige seiner Geburtsstátte 
so entfremdet wird, daß der Humanist und Historiker des späten 15. Jahr- 
hunderts seiner auf dem Umwege über Lorch wieder habhaft werden muß. 
St. Afras Verehrung herrschte nicht bloB in Augsburg, sondern war um 1200 
schon ziemlich weit verbreitet**; insbesondere hat der Stoff auch schon vor 
1200 immer wieder und allenthalben zur poetischen Bearbeitung gelockt“. 
Die hl. Afra war liturgisch und infolge des novellistischen Anreizes ihrer 
Geschichte“ schon weit über ihre Bedeutung als Lokalheilige und Kloster- 
patronin hinausgerückt. 

3. Freilich: fállt es uns so nicht schwer, negativ gegen den Augsburger 
Ursprung zu entscheiden, so wird uns die positive Fixierung eines Entstehungs- 
ortes wohl ganz unmüglich sein. Wir kónnen hóchstens sagen, daB die stili- 
stischen Eigentümlichkeiten, wie wir sie im folgenden (B IIT) — absichtlich 
kurz — streifen wollen, die Dichtung entweder auch lokal in den Kreis des 
Petrus Riga oder Matthaeus v. Vendóme oder — zusammengenommen mit 
der Tatsache der Aufbewahrung in Lorch — wahrscheinlicher nach Süd- 
deutschland verweisen. 


III. Prosodischer und stilistischer Charakter. 


Ausführlicheres móchte ich spüter in anderem Zusammenhang bringen. 
Hier nur einige Punkte: 

1. Der Versbau weist keine Besonderheiten auf, die das Gedicht aus 
der Reihe der um die angenommene Zeit entstandenen Werke herausrückten. 


æ F. A. Hoeynck, Gesch. d. kirchl. Liturgie des Bist. Augsburg (1889) S. 262. 
923) 530 M. Hartig, Das Benediktiner-Reichsstift St. Ulrich und Afra in Augsburg 
1 


S. 30 

* Vel. J. Brummer, Aula episco B. Bl. f. d. Gymnas. 58 [1922]) S. 196; 
Mon. Germ. hist. Ss. XXIV S. 317. Be = i J 

Vgl. Bigelmair a. a. O. S.151f.; ferner z. B. F. v. d. Leyen, Des armen 
Hartmann Rede vom Glouven (German. Abhdlg. XIV. Breslau 1917 ) S. 117. Inter- 
essant ist auch, daß gerade um jene Zeit (1205) as Augustinerchorherrenstift St. Afra 
in Meißen gegründet wurde, das mit St. Ulrich i in Augsburg in keinerlei Beziehungen 
zu stehen scheint. 

* Bigelmair a. a. O. S. 156. 

8 d Vgl. A. Mayer, Der Heilige und die Dirne (B. Bl. f. d. Gymn. 67 (19311) 


392 Anton L. Mayer 


Außerordentlich häufig ist die kurze betonte Silbe vor jeder männlichen 
Zäsur (bzw. Schluß des Pentameters); mit ihr schaltet der Dichter ebenso 
unbeengt wie der des Asinarius“, der vermutlich um 1200 in Süddeutschland 
entstanden ist“. Sonst freilich sind die verwandten Formen und Endungen 
etwas strenger gehandhabt als im Asin.: egö 74, 172; ego 187; dagegen tibi, 
mihi, sibi, hie immer kurz; ó beim Verbum immer kurz (außer vor Zäsur) 
usw.; ‘h’ wirkt positionslängend V. 241 ‘et ab humanis’ (dagegen V. 65 
'sanetüs ad haec"). 

2. Der Reim (leoninisch, meist einsilbig zwischen Zásur und Versschluß, 
zweisilbig z. B. 64, 138, 301, 325, 340; häufig Attribut und Subst. in der sog. 
‚Reimstellung‘) ist sichtlich angestrebt, jedoch keineswegs ängstlich durch- 
geführt; außer in der 'Reim'-stellung wirkt er nicht wesentlich textgestaltend. 

3. Die Diktion des Gedichts ist weniger leicht, flüssig und beweglich 
als die des Asinarius, teilt mit ihm jedoch zeitgemäß manche stilistischen Er- 
scheinungen, wenn auch auf niedrigerer Stufe. Eine direkte Beeinflussung 
oder Übernahme irgendwelcher Art ist nicht anzunehmen. (Vgl. Anm. zu 
V. 88, 105 [Langosch S. 12 s. v. Präposition], 293). Deutliche Anklänge 
treten auf an die Sprache des Petrus Riga und des Matthaeus v. Vendóme, 
bei letzterem vor allem durch die Vorliebe für das Asyndetontf*. (Vgl. z.B. 
V. 35f.; 84 ‘sunt rata sana pia’, 199ff. 'assunt — queruntur — fallit — 
dixit’; 127f. ‘nox instat — destinat — adest’; 152 ‘pectore, voce, manu' u.a.) 


Text: 
Vitam preclare scripturus martyris Afre 
Hanc precor, ut teneri (res) velit esse metri. 
Sed nisi laudator sanctorum, non imitator 
Esse volo, mea laus est speciosa minus. 
5 Pax sit ecclesie in isto tempore, ne me 
Compellat verum pena negare deum. 
Non excusari possum tamen ex racione, 
Quin fiam martyr auxiliante deo. 
Martyrii genera demonstro tibi tria, lector, 
10 Que potes explere non paciendo necem. 
Si caste vivas, tibi florida dum viret etas, 
Et si divicias dives amare negas, 
Quelibet adversa si ferre soles pacienter 
Nec mala reddideris, sed bona, martyr eris. 


2 res von mir ergänzt; G vermutet me (7). — 3 sed cum G. 
5 paz licet st M; licet ist eingedrungene Glosse; vgl. Einl. 
14 stc bona G; über sed in M die Glosse te (7). 


LI Ausg. von K. De osch (Samml. mittellat. Texte, von A. Hilka Nr.10 
Heidelberg 1929) S. 9 = d 

7 Ebenda S. 14. 

2 Manitius III S. 740. 


S. Afrae vita metrica 393 


15 Quartum predictis genus addere possumus istis: 
Si tibi larga manus, mens et egena manent, 
Martyrii merito te virtus omnis honorat, 
Si carnis vicia spernis amore dei. 
His prelibatis narratio materiei 
20 Nostre procedat tuta favore dei. 


Egregio flore paradisi nobilis hortus 
Gaudet Narcisso, floridus inde magis. 
Non est hic, puris qui se spectabat in undis, 
Cuius stultitiam fabula vana canit. 
25 Vir prudens iste spargens tua semina, Christe, 
Dulciter in mundo fraglat odore bono. 
Tota per hunc florem suavis fit Suevia, per quem 
Suave iugum Christi suscipit atque fidem. 
Presulis officio fungens duce rege superno 
30 Augustam subiit, non eques immo pedes. 
Ordine levita meritis et nomine felix 
Huic comes unus erat, felle doloque carens. 
Luminis ignara veri fuit urbs memorata, 
Ceca per errores ydola multa colens. 
35 Famosum gemme celestes ingrediuntur 
Prostibulum: digne suscipiuntur ibi. 
Hospita turpis eos voltu ridente salutans 
Credit amatores corporis esse sui. 
Vestem crispatam putat ambobus fore gratam 
40 Et vult in roseis ipsa placere genis. 
Sed nec in hac sancti pascunt oculos nec in illis, 
Optantes animas lucrificare deo. 
Largam cum ternis cenam parat Afra puellis, 
In vitio socias quas suus error habet. 
45 Jam cenaturus vir purus psallit et orat, 
Porrigit appositis celica signa cibis. 
Hospita perpendit, hospes quod conveniens sit 
Nec Veneri nec ei servus uterque dei. 
Qui sint edocta, miratur et obstupefacta 


— 


16 si tibi larga mens et egena manus M ist prosodisch und inhaltlich unrichtig; 
vgl. Anm. Über egena in M die Glosse humilis. 
43 teneris G. 


394 


50 


55 


60 


65 


70 


75 


80 


85 


Anton L. Mayer 


Procumbit sancti presulis ante pedes. 
Sic mutare solet excelsi dextera quos volt, 
Electos dominus sic vocat, immo trahit. 
Sic Saulum stravit, ut Paulus surgeret et vas 
Electum fleret, iussa ferendo dei; 
Sic alios multos viciorum mole sepultos 
Sublevat ad celi culmina dextra dei. 
Hanc ita felicem nunc sanctam, tunc meretricem, 
Sicut ovem rabidi tollit ab ore lupi. 
Dogma salutare nondum perceperat, et iam 
Crescit in illius pectore vera salus. 
Presul', ait, ‘sancte, mihi non licet, ut videam te 
Nec tali, fateor, hospite digna fui. 
Non est hic peior seu turpior, ad mala queque 
Semper eram prona non faciendo bona.' 
Sanctus ad hec: 'Mea lux, quo volt deus ipse, meus dux, 
Pergere non timeo; quo duce tutus eo. 
Per turpes actus numquam fuit hic maculatus 
Perpetuo mundus et sine sorde manens; 
Solis enim radius, loca dum penetrat luculenta, 
Purus descendit, mundus ad alta redit. 
Ergo, filiola, fidei modo suscipe lumen, 

Ut tibi dent aditus gaudia vera mei!’ 
'Sunt', ait illa, meis mea crimina plura capillis! 
Sordibus a tantis qualiter ego laver?' 

Ile refert: Sacri mundabere fonte lavacri 
In Christum credens, ydola nulla colens.' 
Afra salutifera sitibundo pectore verba 
suscipit et famulas suspicit inde suas: 
Hospes', ait 'noster, antistes christicolarum, 
Spondet nos vero conciliare deo, 
Nos baptizari docet, in Christo renovari, 
Ut possint nobis regna patere poli. 
Quid vos consulitis, quid vobis ergo videtur? 
Eius consilia sunt rata sana pia.' 
Respondent illic tres ex uno velut ore: 
"Tu caput es nostrum, nos tua membra sumus! 


78 suscipit inde M (u. G). — 79 est bei antistes überschrieben in M. 


S. Afrae vita metrica 395 


Membra sequi iure debent, quo vult caput ire: 
Velle tuum nostrum velle frequenter erit! 
Te semper, domina, sumus ad viciosa secute 
90 Nostraque servicia prompta fuere tibi: 
Nunc potes assensum magis ad bona flectere nostrum. 
Elige: Quid placeat, nos faciemus idem.' 
Imminet interea noctis caligo sacrisque 
Insistunt sancti laudibus ambo dei. 
95 Insomnem corde peragunt et corpore totam 
Noctem cumque suis pervigil Afra manet. 
Cum iam gallorum resonat vox, lumen eorum 
Expirat; cecus inde fit ille locus. 
Hospita larga volens hunc defectum reparare 
100 Evolat et revocat iunior hospes eam, 
"Expecta', dicens, lumen clarum modo cernes, 
Quod famulis eius conferet ipse deus.' 
Sic ait et presul: Mea lux celestis, adesto: 
Jstum digneris irradiare locum" 
105 Fulgens absque mora lux celica durat ibidem, 
Dum nitet aurora, testiflcando fidem. 
Jamque micans clare fidei splendore cor Arfe 
Occultat sanctos hec imitando Raab. 
Assunt ydolatre, sancti queruntur ab illis, 
110 Prudens utiliter femina fallit eos. 
Dixit: 'Amatores venere mei, remanentes 
Hic mecum nocte, nunc abiere simul." 
His verbis credunt, certi si inde recedunt — 
Sed manet unus eam sollicitando magis. 
115 'Christicolas', inquit, patet quos querimus esse; 
Fronti namque suae signa dedere crucis.' 
Subridens illa: ‘Tales’ dixit mihi credas 
Ignotos esse, non mea tecta petunt! 

Ad me non veniunt, non concordes mihi qui sunt, 
120 Hos amo, quos video vivere more meo! 
Sic est delusus et post reliquos abit ille. 

Lini fasciculis contegit illa suos. 
Eius continuo petit hospitium genetricis, 


115 hos M; quos vermutet auch G. — 120 meo more M. 


396 


132 eoram Glosse in M zu illa. — 142 nostre legis Glosse in M. 
146 -s tua peccata Glosse in M. 
151 cyprus me genuit Korr. in M. 


125 


130 


135 


140 


145 


150 


155 


Anton L. Mayer 


Hilarie, cuncta notificando sibi. 
Mater in his gaudens ad se rogat ut venerandos 
Tempore nocturno dirigat illa viros. 
Nox instat; Christi precones filia matri 
Destinat, ipsa suis cum famulabus adest. 
Exoptat pacem presul pius atque salutem 
Huic domui signum dando salutis ei. 
Se blanda voce resalutat suscipientem 
Hilariam, pedibus sternitur illa suis 
Dicens: 'Dignare, pie vir, me purificare! 
Est multo feda crimine vita mea.' 
‘Nondum’, presul ait, 'audisti verba salutis 
Mundarique petis: munda decenter eris! 
Septenis igitur vos jeiunate diebus 
Pregustando mei dogma salubre dei! 
Octava die vos purificabit ab omni 
Crimine fons vite, quo renovatur homo.' 
Sic ait. Hec iterum: Tibi, si placeat, referemus 
Culture nostre propositique modum, 
Ut sic, dum fuerit noster tibi cognitus error, 
Edoceas veri nos iuga ferre dei.' 
Sanctus ad hec: Verum constat te querere numen, 
Si prius errores confiteare tuos. 
Claret in hoc vite verbum te corde sitire. 
Ergo mihi cultum, filia, pande tuum! 
Utilius medicus egro confert medicamen, 
Cum fuerit morbi cognita causa sibi.' 
Illa refert: Hic advena sum, Cyprus genuit me 
Et colui Venerem pectore, voce, manu. 
Obsequiis huius hanc dilectam mihi natam 
Subieci, quod ei gratior inde foret. 
Namque sacerdotes Veneris dicunt mulieres 
Per multos Veneri posse placere mares. 
In tali nostros huc usque peregimus annos 
Ritu; nos melius instrue, sancte pater!“ 
Promens ex imo suspiria corde ministro 


S. Afrae vita metrica 397 


160 Felici loquitur talia preco dei: 
'Frater, cultura lamentemur super ista, 
Que parit omne malum, negligit omne bonum! 
Aures divinas prece pulsemus, quod habundans 
Gratia fiat ibi, res ubi turpis erat" 
165 Continuo sanctis apparet fraudis amator, 
Nudus et horribilis, vulnera multa gerens. 
"Quid facis?’ hic hostis antiquus vociferatur; 
Hic, Narcisse, nihil iuris habere potes! 
Certe presentes mea vascula sunt mulieres 
170 Sordida, corde tuus nescit amare deus! 
Turpia vitare loca deberes, habitare 
In sanctis, ut ego non loca sancta peto.' 
Presul ait: 'Tibi precipio, demon scelerate, 
Ut des responsum vera fatendo mihi! 
175 Quem veneror Christum, quem predico, scis crucifixum, 
Scis hunc esse deum, vivere credis eum ?' 
Demon respondit: Utinam nescire liceret! 
Mors eius vicit me sociosque meos.’ 
Sic presul: 'Mortis ut supplicium pateretur, 
180 Christus quid fecit, que sua culpa fuit ?' 
Sic demon: 'Mortem pro peccatis alienis 
Sustinuit; nullum fecerat ipse malum.' 
Presul: 'Pro culpis quia passum scis alienis, 
Te nequam, supero, spiritus, ore tuo! 
185 Est etiam passus his pro mulieribus; ergo 
Discedas ab eis nec tibi spes sit in his!’ 
Demon: 'Tunc auffers mihi, quas lucratus ego sum 
Has animas, legem non violare timens. 
Lex iubet, ut nemo vi tollat res alienas: 
190 Non debes igitur me spoliare meis! 
Presul: 'Non facio tibi vim, sed, quod rapuisti 
Fraude, creatori plasma reduco suum.' 
Demon: 'Quid tuus est, meus est deus ille creator. 
Ergo factori me quoque redde meo! 


168 iuris niil M. 
187 tum M. 
190 Glosse rebus in M. 


398 


Anton L. Mayer 


195 Presul: 'Si pro te foret passus hic quasi pro me, 
Reddere te possem conciliando sibi. 
Sed cum sic fueris lapsus, ne surgere possis, 
Non est salvandi spes venieque tibi.' 
Demon: ‘Nunc animam tua det pietas mihi solam 
200 Nec tu me vacuum prorsus abire sinas! 
'Quem tibi tradidero, dic, quid facturus es illi ?' 
"Hunc perimens mecum semper habere volo.' 
Mane revertaris, per me dabitur tibi talis, 
Quem punire potes, qualiter ipse voles.' 
205 Ante deum dicas comedentem sive bibentem, 
Somnis utentem te dare velle mihi! 
‘Qui bibat et comedat, qui dormiat evigiletque, 
Ante deum dico me dare velle tibi.' 
‘Hac ergo nocte iubeas hic me remanere 
210 ‘Sic mihi promissa certificando tua!’ 
Si possis, maneas istic!’ Si tu modo cessas 
Ymnizare deo, tunc remanere queo.' 
Presul ait: ‘Numquam bene sit tibi, predo maligne, 
Non cessabo meum glorificare deum! 
215 Hasque requirentes lucem, tenebras fugientes, 
Divine socias laudis habere volo.' 
Vociferans igitur per terribiles ululatus 
Demon disparet nec remanere valet. 
Fortis agonista domini timidas mulieres 
220 Consolans vite nectare potat eas 
Et, se corporeis ut confortent alimentis, 
Admonet absque cibis ipse manere volens. 
Jeiunus reditum volt expectare tyranni, 
Sic ut conflictum muniat ipse suum. 
225 Cum Felice suo divinis laudibus instans 
Totam per noctem pervigil ipse manet. 
Jam lucet aurora, iam civis adest tenebrarum, 
Jam promissa petit non patiendo moram. 


203 Glosse anima in M. 
215 requiremus G. 

206 socios G. 

222 remanere M. manere G. 
223 teiunijs M. 


S. Afrae vita metrica 399 


'Presul', ait, 'sancte, tua sponsio perficiatur 
230 Nec iuramentis dissonus esto tuis!' 
Vir sincerus ad hec: 'Tu per dominum mihi iura, 
Quem tibi tradidero, mortifices ut eum! 
Quod si volueris, mox descendas in abyssum 
Semper ibi remanens precipiente deo!’ 
235 Munus ut accipiat, demon iurat sub eadem 
Lege nec est damni conscius ipse sui. 
Hoc syllogismo iustus captivat iniquum, 
Sic est conclusus simplicitate dolus. 
Victor eidem ait: 'I festinanter ad Alpes, 
240 Ad loca, que fauces nomen habere solent 
Et ab humanis obcludit ibi draco fontem! 
Occidas illum non faciendo moram!’ 
Sic se delusum, confusum seu superatum 
Invidus ille dolens clamitat ista loquens: 
245 'O quam mendosus, quam callidus atque dolosus 
Seductor, cuius occido fraude nova! 
Me predilectum morti dare cogit amicum! 
Quod si non faciam, puniar inde magis! 
Hostis inique, bona dat Narcissus tibi dona! 
250 Exultes ideo plura petens ab eo! 
Grates huic referas nec ei convicia dicas, 
Contemptor noli muneris esse boni! 
Quid moror? Horribilem crudeliter ipse draconem 
Interimit: pax est his reparata locis. 
255 Quam bonus hic fons sit, quantum constancia possit 
Ac virtus fidei, lux hodierna probat. 
Celica verba suis preclarus ductor alumnis 
Predicat instanter nocte dieque docens; 
Errorum frutices ab eis conamine toto 
260 Exstirpans vite semina spargit eis. 
Hic rigat, hic plantat, colit, incrementa deus dat; 
Fructu ditatur ubere terra bona. 
Mater cum nata, domus et cognatio tota 
Fonte sacro lota munda fit atque nova. 


298 conclusum — dolo M; conclusus — dolus auch G. 
239 victo MG. 


Anton L. Mayer 


265 Hilarie domus templum sacratur et eius 
Fratrem sublimat pontificalis honor. 
Sic confirmatis et cunctis rite peractis 
Lumen fert aliis viva lucerna locis. 
Terga dat Auguste sub mense dei vir uterque, 
270 Qui nonum sequitur undecimumque preit. 
Hispanos adeunt sancti duo lumina mundi. 
Excipit hos gremio clara Gerunda suo, 
Caelesti rore, qui sacro manat ab ore, 
Ut fructum pariant, arida corda rigant. 
275 Semina spargentes vite segetemque metentes 
Fruge student fidei vasa replere dei. 
Purificant sacri multos virtute lavacri. 
Nolentes soli scandere regna poli, 
Christi dant agnis pastum lucis tribus annis. 
280 Ambos martirii palma coronat ibi. 
Eternum munus confert his trinus et unus, 
Cuius, ut hic patuit, miles uterque fuit. 
Dulcis Narcisse, paradisi flos preciose, 
Cum Felice pio, nos prece iunge deo. 
285 Ad prelibatos, mea penna, reflectere cives 
Auguste scribens, quanta fides (inyeis, 
Qui non immemores divini dogmatis instant 
Obsequiis veri nocte dieque dei! 
Numquid amatores repetit nunc Afra priores, 
290 Per ludum Veneris ut societur eis? 
Non; quia verus amor iamiam regnabat in eius 
Pectore, depulso carnis amore procul, 
A cunis illo vellet numquam carnisse, 
Huius noticiam nollet habere modo; 
295 In vera semper optans se luce stetisse 
Hactenus in tenebris se iacuisse dolet. 
Felix Afra, dole, sed consolare dolendo! 
Digne solamen accipit iste dolor. 


267 doclor statt duclor vermutet unnótig G. 
269 Glosse zu mense: decembri M. 

286 in fehlt M. G. vermutet: deest in vel sit. 
291 iam regnat M. 

297 consociare M; consolare vermutet auch G. 


S. Afrae vita metrica 401 


Qui te salvavit, age grates omnipotenti, 
300 Nullius culpe vult memor esse tue. 
Non es ob errorem penas passura priorem, 
Cum sis conversa fine potita bono: 
"Finem quippe deus, non preteritos notat actus, 
Transactos redimit hora suprema dies.' 
305 Scribis in Aurora versus, Petre nobilis, istos; 
Hic mihi queso, tua gratia prestet eos! 
Ad celos nivea quo fine columba volarit, 
Narrabo, linguam compluat illa meam! 


Jam non apparet talis, qualis fuit ante: 
310 Jam Veneris cultus est alienus ei; 
Vestes rugosas spernit vanasque choreas, 
Que coluisse gemit, ydola nulla colit. 
Christicolam morum mutatio prodit et ipsa 
Christum constanter asserit esse deum. 
315 Accusatores instillant iudicis auri 
Ut prius hanc superis nolle litare suis. 
Impius inde fremit iudex rabieque lupina 
Carpere festinat viscera mitis ovis. 
Hanc presentari sibi precipit, illa venire 
390 Non timet ad mortem, pneumate firma sacro. 
Prefectus — Gaius idem nomen fuit eius — 
Pestifero tumidos fundit sermone sonos. 
'Enarra', dixit, ‘hec vera relacio si sit 
Spernere te superos christicolamque fore ?' 
325 Hilarie nata sic inquit: 'Vera relata 
Sunt tibi; nam superis nolo litare tuis. 
Christum corde gero, veneror, colo, semper adoro, 
Ydola sunt non di, que venerando colis" 
Gaius ad hec: 'Meretrix cum sis, Christi fore cultrix 
330 Non potes, obsequium respuit ille tuum! 
Nunc ergo superis offer libamina nostris 
Placans eternos magnificosque deos! 
Hec iterum: Digna non sum Christo famulari, 


— À—— 
— — 


302 Glosse zu potita: probata M. 
313 ipsam M; ipsa auch G. 


Histor, Vierteljahrschrift Bd. 28 H.2 26 


402 


335 


340 


345 


350 


355 


360 


365 


Anton L. Mayer 


Sed recipi spero me pietate sua. 
Humanam carnem pro peccatoribus ipse 
Induit, humanum sic redimendo genus. 
A plantis eius non est depulsa meretrix 
Cum lacrimis veniam mundiciamque petens; 
In se credentes, ad se numquam venientes 
Respuit ille reos immo recepit eos. 
Sepius illorum fieri conviva volebat, 
Verbi celestis his alimenta dabat. 

Huic — licet indigna — desidero nunc famulari 
Nec volo demoniis flectere colla tuis.' 
"Desine stulta loqui', iudex respondet iniquus, 

'Desine, que mala sunt, et sapienter age 
Sic, ut amatores possis rehabere priores 

Ac ab eis dentur munera multa tibi! 
Cultrix nostrorum si non vis esse deorum, 

Tradam te sevis ignibus absque mora" 
Ila refert: Non hos repeto, male quos adamavi, 

Nec poterunt horum dona placere mihi. 
Amodo ditari per turpia munera nolo: 

Si mundum potero vincere, dives ero! 
Acceptabilia mihi cum desint holocausta, 

Esse deo cupio victima grata pio.' 
Continuo flammis sententia iudicialis 

Addicit sanctam, perdit ut ignis eam. 
Impia tortorum manus hanc rapit, insula Lici 

Urendam recipit, fit pira grandis ibi. 

Hec denudata, manibus pedibusque ligata, 
Flammis vallata, gaudet et orat ita: 
'Suscipe, Christe, meum libamen, qui moriendo 
In cruce pro nobis hostia mitis eras, 

Justus ut iniustos salvares, dulcis amaros! 
Propiciare mihi! Laus sit honorque tibi! 

A me tartareum pellat rogus iste calorem, 
Quo simul uruntur spiritus atque caro! 


335 tipse Christus M (vgl. Einl. A I 4). 


342 verba M; verbi auch G. 
358 perdat verb. G. 


S. Afrae vita metrica 403 


Talia dicentis gratesque deo referentis 
370 Puro spiritui regna superna patent. 
Ossa levat nate pietas materna beate 
Cumque suis tumulat tempore noctis eam. 
Vilibus ex lignis constructa tegit casa bustum, 
Orando vigilat turba fidelis ibi. 
375 Sancte produntur mulieres, Gaius ad illas 
Mittit tortores, has revocare volens. 
Blandiciis variisque minis cum non superantur, 
Martirio roseas flamma coronat eas. 
Filia cum matre regnat famuleque sacrate, 
380 Que nunc in celis consociantur eis. 
Dignentur domino nos commendare precando, 
Ne nobis regni clausa fit aula sui. 


Lingua sile, requiesce manus, nostroque labori 
Merces eterna detur in arce poli! 
385 Non queras, lector bone, quis sit carminis auctor: 
Si foret hic notus vilius esset opus. 
Solvant lectores doctori ius et honores. 


Anmerkungen. 
Abkürzungen ófter zitierter Literatur. 


Antibarb. = J. F. Krebs — J. H. Schmalz, Antibarbarus der lat. Sag 
I. II. (Basel 1905). 

Asin. — Asinarius hrsg. von K. Langosch (vgl. o. S. 392, Anm. 26). 

Carm. Cant. — Carmina Cantabrigiensia ed. Kar. Streeker (Mon. Germ. 
hist. Berlin 1926). 

Krusch — o. S. 390, Anm. 17. 

Lehmann, Judas = P. Lehmann, Judas Ischarioth in der lat. Legenden- 
überlieferung des Mittelalters (Studi medievali N. S. 1930). 

Lehmann, Ps.-ant. Lit. — P. Lehmann, Pseudo-antike Literatur des Mittel- 
alters (Studien der Bibl. Warburg 1927, Leipzig-Berlin 1927). 

Mag. Heinr. = H. Grauert, Magister Heinrich, der Poet in Würzburg, und 
die rómische Kurie. (Abhandlung. der Kgl. Bayer. Akad. d. Wiss. 
Philos.-philol. und hist. Kl. XXVII. 1/2. München 1912.) 

Manitius — Gesch. der latein. Literatur des Mittelalters (Handb. d. Alter- 
tumswiss. IX 2), II (München 1923), III (1931). 

Rapul. = Rapularius (I. u. II.) hrsg. von K. Langosch; vgl. o. Asin. 


369 dicentem — referentem G; referentes M. 
387 docto M. G: forte doclori vel docturo vel magis ad sensum auctort. 


26* 


404 Anton L. Maver 


Schlecht, de el. = J. Schlecht, Kirchenpolitisches Gedicht a. d. Zeit Lud- 
wigs d. B. in Clm. 21566. (Hist. Jahrb. d. Görresges. 42 [1922].) 
Vit. Eust. — Petrus Riga, Vita S. Eustachii, hrsg. v. Fierville, Notices et 
extraits 31, 1, S. 64ff. 
Weyman Beitr. = C. Weyman, Beiträge 2. Gesch. d. christl. - lat. Poesie 
(München 1926). 
1f. Der Dichter ruft den Heiligen an, den er besingt; vgl. K. Jax, Nach- 
wirkung der homerischen Proömien (B.Bl. f. d. Gymnasialschulw. 63 [1927] 
354); ferner z. B. Petrus Riga Passio Agnetis (Migne P. L. 171, 1307; unter 
dem Namen des Hildebert von Lavardin vgl. Manitius III, 827): Agnes 
Sacra sui pennam scriptoris inauret, Linguam nectareo compluat imbre 
meam' (vgl. u. V. 308) und den Beginn der Vita S. Martini im Cod. Darmst. 
755 (14. Jh.) fol. 175v (Verfasser Petrus de Sanctis): 'O Martine pie, natum 
deposce Marie, Ut mihi prestare veniam velit et reserare Paucula de vita 
varia pietate polita.' 
2. Ergánzung unbedingt nótig, vgl. Gamans, 'velit esse' an gleicher 
Versstelle im Pyramus des Dietrich V. 262 (Lehmann, Ps.-ant. D. S. 44). 
5. Das eingedrungene 'licet' ist wichtig für die Überlieferungsverhältnisse: 
vgl. V. 335 u. Einl. 
6. Zu pena' = „physische Marter“ vgl. Weyman, Beitr. S. 5. 
9ff. Das unblutige Martyrium findet sich in der Literatur seit Cyprian und 
Kommodian (vgl. Weyman, Beitr. S. 15f.). Vgl. auch die Unterscheidung 
eines „roten“, „weißen“, „blauen“ Martyriums in einem altirischen Homiliar 
(C. Plummer, Vitae Ss. Hiberniae I [Oxon. 1910] p. CXIX und K. Weber, 
Kulturgesch. Probl. der Merowingerzeit im Spiegel frühmittelalterlicher 
Heiligenleben. Stud. und Mitt. z. Gesch. des Benedikt.-Ordens 48 [1930] 
8. 362), Caesarius von Arles Serm. I de martyr. Pervenitur non solum occasu, 
sed etiam contemptu mundi ad coronam. Absque iniuria sanctorum in per- 
secutionibus defunctorum dicere liceat carnem afflixisse, libidinem superasse, 
avaritiae restitisse, de mundo triumphasse pars magna martyrii est.' Die 
Jungfräulichkeit als eine Art Martyrium bei (Ps.-) Chrysostomus Laud. 
S. Theclae (Migne P. Gr. 50, 745), die Armut bei Origenes Exhort. ad. mart. 
15 (P. Gr. 11, 581); die Geduld bei Greg. M. hom. in Ev. 32,5 (P. L. 76, 
1236 B); der „Gnostiker“ als der wahre Märtyrer erscheint bei Clem. Alex. 
Strom. 2, 20, 104, 1; 2, 169 (Stählin). St. Martinus von Tours galt als der 
erste Confessor im späteren Sinne Keuschheit, Armut und Geduld werden 
besonders gepriesen; vgl. die Biographie des Sulpicius Severus; außerdem 
der (zu Unrecht) Leo IX. zuzeschriebene Traktat Migne P. L. 143, 559 (im 
1. Kap.). (Freundl. Hinweise zu diesem Punkt verdanke ich Dr. Odo Casel 
O. S. B. und Dr. A. Michel.). Das 4. genus ist offenbar Hinzufügung des Afra- 
Dichters an das alte Schema. 
11. florida etas’ Prov. 17, 22 (vgl. Antibarb. I, 598!); ‘florida’ an gleicher 
Stelle des Hexam. Vita Eust. V. 393. 
16. Der überlieferte Vers ist aus prosodischen und inhaltlichen Gründen 
nieht zu halten; tibi' wird an dieser Stelle und auch sonst außer vor der 
Cäsur oder am Versschluß (V. 90, 208, 348) stets O gebraucht (vgl. 


S. Afrae vita metrica 405 


72, 141, 143, 173, 186, 191, 201, 203, 249, 326); also ist die Lesung mit Cäsur 
nach ‘larga’ unmöglich; mit der Annahme der Cäsur nach ‘mens’ entstehen 
bei 'et' und 'egena' falsche Làngen. Aber auch inhaltlich gibt der über- 
lieferte Vers keinen klaren Sinn; dagegen ist "larga manus' stehender Aus- 
druck; ‘egena’ (= 'humilis in der Glosse) mens' entspricht den 'pauperes 
spiritu’ bei Matth. 5, 3 = arazo: ro nvevuarı;, (dagegen übers. die 
Vulg. arwze = 'egena' bei Gal. 4,9); zu "humilis — egenus’ vgl. Sedul. 
pasch. caım. 3, 334: ecce humilem dominus de stercore tollit egentem'. 

2]. 'nobilis hortus: fert-ilis hortus' an gleicher Stelle bei Albert v. Stade 
Troil. V. 127. 

24. ‘fabula vana’: wohl = Ov. Met. 3, 413ff. 

25. ‘spargens semina’: vgl. V. 275. 

26. Zu ‘odore fragrare' vgl. Thes. 1. L. VI, I, 1238f.; Antibarb. I, 607; 
Mag. Heinr. 123. 

28. 'suave iugum': Matth. 11, 30. 

30. non eques immo pedes’: zu (‘non’) ‘immo’ C als Pentameter- 
schluß vgl. V. 52; ferner Rapul. I 328 (Langosch S. 69) non manet immo 
fugit; Lehmann, Ps.-ant. Lit. S. 57, V.214 'non iuvat immo gravat'; 
S. 34 V. 146 non dolet immo furit’; Mag. Heinr. V. 442 numquam supprimit 
ymo legit’; J. Werner, Beitr. z. Kde. d. lat. Lit. d. Mittelalters, S. 38 'Eccle- 
siae matris filius immo pater (vgl. Jahrb. f. Liturgiewiss. 7 S. 60); Lehmann, 
Judas, S. 318 V. 148 ‘vix aliquid fieri debeat immo nichil’. — 'Eques—pedes' 
„im Mittelalter beliebt"; Langosch zu Rapul. II, 384 u. K. Strecker, 'Quid 
dant artes nisi luctum' (Studi mediev. N. S. 6 (1928] S. 388) zu Str. 12, 4. 


31. ‘meritis et nomine’ anschließend an m. e. n. dignus’; vgl. Wey- 
man Beitr. S. 223; V. Grain, Zur Liturgiegesch. des St. Kastulusstiftes in 
Moosburg (15. Sbl. d. Hist. Ver. Freising [1927]) S. 78; Versschluß 'pastoris 
nomine dignus’ in der Series episcoporum Frising. beim Conr. Saer. (Mon. 
Germ. hist. Ss. XXIV, 317) V. 11. — Zu 'ordine levita' als Versanfang vgl. 
Sedul. p. c. IV, 208 'ordine Melchisedech’; K. Löffler, Mindener Geschichts- 
quellen I (jüngere Bischofschron. 15. Jahrhundert) (Münster 1917) S. 179 
‘ordinem pontificis’; als Merkwürdigkeit die byzant. Inschrift auf dem Frei- 
singer Lukasbilde a. d. 12. Jahrhundert (J. Sighart, Dom zu Freising [1852] 
S. 70) ræğer Ae HE. 

32. 'felle doloque carens': vgl. 'labe carens fellea’ bei A. Hilka, Festschr. 
f. K. Strecker (1931) S. 109; ‘carens’ als Pent.-Schluß z. B. Rapul I, 294; 
Mag. Heinr. 434, 902; L. Sattina, Festschr. f. Strecker S. 191 V. 12. 

39. 'erispata vestis' wohl = 'rugosa' (V. 311); 'erispare' in ähnlichem 
Zusammenhang Hieron. epist. 54, 7: 'non habuit crispantes mitras (mere- 
trix); Salv. de gub. II, 19: crispantia auro textili indumenta’. 

40. 'in roseis genis': Rosenfarbenes Antlitz ist stereotypes Charakteristi- 
kum der lieblichen Schónheit überhaupt; vgl. Asin. 198 mit Anm. von Lan- 
gosch: lilia mixta rosis’ (bei Matthäus v. Vendôme in anderem Sinn ge- 
braucht; vgl. M. Manitius III 740); 'roseo ... ore puer' bei Hildebert v. 
Lavardin (Migne P. L. 171, 1387 A); Vita Eust. V. 291 ‘in vultu roseo nichil 
est quod labe notetur’; Passio Agnetis (vgl. Anm. z. V. 1): ‘sic socias roseo 


406 Anton L. Mayer 


virgo decore premit.“ Jedoch ist die Rose und die rote Farbe besonderes 
Attribut und Kennzeichen der Venus; vgl. Ennodius 388, 42 p. 277 Vog. 
(Weyman, B. Bl. f. d. Gymn. 59 [1923] S. 141 u. 139); ferner die aus dem 
Mythologen Fulgentius II, 1 (vgl. F. Keseling, De mythographi Vat. secundi 
fontibus [Halis 1908] S. 77) in den Myth. Vat. Il, 32 und von hier zu Konrad 
von Mure (A. Mayer, Quellen zum Fabularius des K. v. M. [Nürnberg 1916] 
S. 73) übergegangenen 'Veneris rosae’: zum purpurnen Schleier der Venus 
vgl. A. Frey-Sallmann, Aus dem Nachleben antiker Góttergestalten (Leipzig 
1931) S. 154: daher liebt auch das Werk der Venus solche Farbe, vgl. z.B. 
Carm. Bur. 37 ‘si dederit thorum rosa’; Carm. Bur. 34 ‘inter septa lilia locus 
purpuratus'. Vgl. den Streit zwischen Rose und Lilie bei Walther, Streit- 
gedicht S. 54 (bes. Tobler, Arch. f. d. Stud. d. n. Spr. 90 [1893] 152 ff.). Be- 
zeichnend ist eines der ganz wenigen Gedichte der Carm. Bur., wo sich das 
Mädchen selbst anbietet, Carm. Bur. 138 (Schmeller S. 210) (vgl. dazu H. 
Süßmilch, Die lateinische Vagantenpoesie des 12./13. Jahrhunderts al: 
Kulturerscheinung [Leipzig 1917] S. 35): ‘Stetit puella rufa tunica, siquis 
eam tetigit tunica crepuit (= crispata est?). Stetit puella tamquam rosula, 
facie splenduit ... hohe minne bot siir manne.' Die Dienerinnen der Venus 
haben das rotbemalte Gesicht als Kennzeichen; die Greise, die in der ,Su- 
sanna' des Petrus Riga (Migne P. L. 171, 1289 C D) die unschuldige Frau 
der Unzucht bezichtigen, nennen sie 'picta genis’ und erzählen: ‘Arte suam 
pinxit faciem, quia pectus amantis Praedari citius forma polita solet; frons 
stellata rosis ...' Stephanus de Borb. 286 (bei G. Grupp, Kulturgesch. d. 
Mittelalters III’, 356) berichtet die Spottworte, die den Dirnen von den 
Gassenbuben nachgerufen wurden: Egredere roselle cum venenosa pelle’. 
In Westbóhmen muBten die unehelichen Mütter mit einem roten Kopftuch 
vor der Kirchentüre stehen bleiben (Baechtold-Stäubli, Lex. d. d. Abergl. IV, 
509). Die 'roseae genae’ der Afra sind also Merkmal ihres Gewerbes. 


42. ‘lucrificare’: Seltenes Wort; du Cange (IV, 155) verzeichnet nur eine 
Stelle aus Tertull. de praescript. c. 24. — Die Verba auf — ficare' erfreuen 
sich unter dem überragenden Einfluß von Vulgata und Liturgie, aber auch 
aus metrischen Gründen, im Mittelalter einer wachsenden Beliebtheit, be- 
sonders in hexametrischen und elegischen Dichtungen. Einige Versstellen 
sind oft übermäßig bevorzugt, im Pentameter weitaus am meisten der 
Beginn der 2. Hälfte. Von den 8 Verba auf — ‘ficare’ in unserer Afra- 
Dichtung stehen 6 an dieser Stelle; alle 4 Verwendungen in der Pyramus- 
dichtung des Matthäus v. Vendöme ebenso; alle 3 bei Mag. Heinr. ebenso; 
von 67 solchen Verben im ‚Tobias‘ des Matthäus v. V. stehen 60 hier (davon 
allein 41 im Inf. Präs.!), von 29 in ‘De myst. miss.’ des Hildebert von La- 
vardin 18 (1 im Inf. Präs.), von 14 in des nämlichen In libr. reg.’ 6. Im 
Hexameter ist der Schluß sehr beliebt; Hildebert in de sacr. euchar.' 
hat von 37 solchen Verben allein 32 hier gesetzt, in ‘de myst. miss.’ 5, in libr. 
reg. D. 

46. ‘celica signa’ vgl. Hildeb. Lav. P. L. 171, 1186D ‘mystica signa’ an 
gleicher Versstelle. 


53/4. 'vas electum' Act. Ap. 9, 15. 


S. Afrae vita metrica 407 


58. lupi': vgl. V. 317; zum Bild vom guten Hirten Joh. 10, 12. 

65. mea lux': vgl. Joh. 8, 12; 12, 46. 

66. quo duce tutus eo’: vgl. Lehmann Ps.-ant. Lit. S. 58 V. 279 quo 
duce tuta foret’. 

73. Vgl. Ps. 39, 13. 

75. ‘sacri — lavacri': vgl. V. 277 u. Hild. Lav. P. L. 171, 1205 A in 
fonte lavacri' (VersschluB); Vita S. Barb. im Cod. Darmst. 755 fol. 1607 2. 7 
V. o. :‘sacro piscina probata lavacro’. 

81. ‘renovari’: vgl. Tit. 3, 5. Häufig in der Liturgie, z. B. Ord. Bapt. 
Adult. in Rit. Rom. Tit. II c. 4, 4 'renovetur fonte baptismatis'. 


86f. 'caput—membra': Zu diesem (allerdings aus der alten Legende — 
Krusch, S. 56 — übernommenen) Bilde vgl. auch Hild. Lav. (P. L. 171, 
1192) ‘quo sua membra caput glorificanda trahit'; Matth. Vind. Tobias (hrsg. 
v. F. A. W. Müldener [1855]) V.2098 (= P.L.205, 977 A): 'insequitur 
truncum virgula, membra caput’. Das Bild ist biblisch (vgl. H. Lietzmann — 
M. Dibelius, Briefe des Apostels Paulus (Hdb. z. N. T. III. Tüb. 1913] S. 135 
zu 1. Kor. 12, 12) und ursprünglich auf das Verhältnis Christus—Ekklesia 
angewandt; vgl. Eph. 1, 22; Kol. 1, 18. In diesem Sinne ist das Bild zu den 
Vätern übergegangen, wurde dann aber auch für andere Gehorsamsverhältnisse 
angewandt; vgl. den Bericht Avell. Nr. 223 (E. Caspar, Aus der altpäpstl. 
Diplomatie, in: Festschr. f. A. Brackmann [1931] S.8): ut . . omnibus mem- 
bris capiti suo connectatur ecclesia'. 


88. 'velle tuum': Zum subst. Infin. (bes. von 'velle' u. à) vgl. jetzt 
H. Ottinger, Zum Latein des Ruodlieb (Hist. Vierteljschr. 26 [1931] 505f.); 
dazu Lehmann, Judas S. 320 V. 218 (‘sine velle meo’). Im Ordo Cencius II 
und anderen Riten beißt es bei der Eidesleistung des Kaisers: ‘secundum scire 
meum ac posse.' 


88. 'frequenter' — sofort; vgl. Asin. V. 49: 'ergo frequenter adit, quem 
noverat arte peritum ... quem sic aggreditur’, wo der Zusammenhang die 
gleiche Bedeutung erfordert. 

95. ‘corde — corpore’: Zu dieser Alliteration vgl. E. Wölfflin, All. Ver- 
bindungen der lat. Spr. (Sitz.-Ber. d. Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl., 
1881, 2) S. 52; in einer Dichtung des Petrus Riga (P. L. 171, 1290) hat eine 
Rezension bei 'graves corpore mente leves' statt ‘mente’ wohl richtig 'corde'. 
In der Liturgie eine Oration des Bischofs vor der Pontifikalmesse ('ad an- 
nulum cordis’): Cordis et corporis mei ... Tract. Ebor. IV de cons. Pont. 
et Reg. (M. G. h. Lib. d. lit. I11675): ‘potest salvare hominum corda et corpora’. 

103. mea lux': vgl. V. 65. 

106. ‘absque mora’: vgl. V. 222 an gleicher Versstelle 'absque cibis’. 
Die auch hier auftretende Verwendung der unklassischen Konstruktion 
'absque = sine’ (vgl. Antibarb. 156), also absque + C A vor der Penthe- 
mim. bzw. am Pentameterschluß ist in der mittellateinischen Dichtung dieser 
Zeit weitaus die häufigste; ich gebe nur einige Beispiele, die sich beliebig 
vermehren lassen: Asin. 63 'absque manu', 132 'absque viro’ (ebenso Hildeb. 
Lav. P. L. 171, 1382 A u. 1383 D), 162 u. 183 'absque modo'; Mag. Heinr. 
218 ‘absque sale’, 603 ‘absque viris’; Vit. Eust. 116 'absque minis’ (im gleichen 


408 Anton L. Mayer 


Vers am Hexameterschluß die Ausnahme 'absque pruinis’; Hildeb. Lav. a.a. 
O. 1384D 'absque Joseph’; Schlecht ‘de elect.’ 18 absque nota'; Rap. II. 
370 'absque mora' u. v. a. 


108. ‘Raab’ (= Rahab) vgl. Krusch S. 57 Anm. 1. Den Vergleich Afras 
mit der Dirne R. bei Jos. 2, 6 bringt auch Warnerius von Basel im Synodicus 
(hrsg. von J. Huemer, Roman. Forsch. III, 319ff.; vgl. Manitius II, 578) 
V. 267fl. 

129. pacem ... atque salutem': vgl. Eccles. 1, 22 replens pacem et 
salutis fructum’; Benzo v. Alba (M. G. h. XI, 598): ‘pax ubique, perpes 
salus’; in einem kath. Kirchenlied der Gegenwart: „Gib, unsre Herrin, 
Friede und Heil." 


130. ‘huic domui’: wörtliche Übernahme des Grußes beim Kranken- 
besuch, der aus Matth. 10, 12 in das Rit. Rom. gekommen ist. 

140. 'fons vite': Prov. 14, 27; Apoc. 7, 17. Vgl. aueh Anm. zu V. 81. 

151. Die Korrektur ‘me genuit’ ist vielleicht in Anlehnung an das 
Epitaph Vergils: 'Mantua me genuit’ entstanden. 

160. preco dei’: vgl. V. 127. 

163. 'aures ... pulsemus’: erscheint in ähnlichen Ausdrücken um diese 
Zeit öfter, z. B. Asin. 21 pia numina pulsans' ; Carm. Cantabr. 81, 22 (Strecker) 
*precibus pulsantes deum'; Petrus Riga Aur. V.286 (Pol. Leyser, Hist. 
poet. et poem. med. aev. [Halle 1721] S. 716) 'si pulses precibus aethera'; 
Vita S. Mart. im Cod. Darmst. 755 fol. 176" Z.17 v. o. ‘precibus ut pulset 
cunctipotentem' ; Schlecht de el’ 10 'pulset monachorum concio celos’. Ferner 
die Kaiserurk. b. Stumpf, Die Reichskanzler vorn. d. X., XI., XII. Jh. Bd. II 
Nr. 2783 (= Gottschalk von Aachen nach B. Schmeidler, K. Heinrich IV. u. 
seine Helfer [1927] S.12/5): cum illam domi nam. . .honorando precibus pul- 
semus. Eine Oratio de s. Arsacio in B. Hauptst.-Arch. Klost.-Lit. Immünster 
Nr 1 fol.5Y sagt: Aures tuas.. .pulsantibus precibus aperi’. Ursprünglicher 
ist der Gebrauch im Hymnus Papst Gregors I. zur Sonntagsvesper (‘Lucis 
creator optime") Str. 4, 1: (mens) caelorum pulset intimum’, auch noch z. B. 
im Cod-Udalr. bei Jaffé V S. 87: *pia exhortationis manu pulsamus.' 


171f. 'habitare in sanctis' Ps. 21, 4. 

175. Die Tilgung des zweiten 'scis' wird verhindert durch die Quantität 
von predico' (vgl. V. 258) und durch die prosaische Vorlage (Krusch S. 58). 

184. ore tuo’: Anklang an Luc. 19, 22 de ore tuo te judico’. 

187. tunc' für tum der Hs.; der Dichter scheint die Möglichkeiten für 
Elisionen sichtlich zu meiden. 

189. ‘iubet ut’: dazu H. Ottinger (vgl. oben Anm. zu V. 88) S. 528; vgl. 
auch Krusch 58, 14. 15 "iubeo tibi ... ut des mihi responsum’. 

193ff. Diese Verse des Dialogs (vgl. Krusch S. 59, 15ff.) lassen eine An- 
spielung auf die Lehre von der Apokatastasis (Origenes, Gregor von Nyssa) 
oder auf die volkstümlichen Annahmen von einer Begnadigung auch der zur 
Hölle Verdammten, selbst des Teufels, vermuten; zum mindesten läßt der 
Volksglaube háufig eine Pause oder eine vorübergehende Milderung der Hóllen- 
strafen eintreten, jedoch findet — auch nach der dogmatischen Fixierung 
der Ewigkeit der Hóllenstrafen — in der Volkssage oft noch ein bóser Feind 


S. Afrae vita metrica 409 


Gnade oder hofft der böse Feind auf Erlösung. Es läßt sich freilich nicht 
entscheiden, ob es sich an unserer Stelle um eine Polemik gegen eine von der 
Kirehe abgewiesene Irrlehre oder gegen den Volksglauben handelt. Vgl. 
R. Brotanek, Refrigerium damnatorum (Festg. d. philos. Fak. Erlangen z. 
55. Vers. d. Philol. u. Sehulm. 1925, S. 77ff.); A. Mayer, Stetit urna paullum 
sicca (B. Bl. f. d. Gymn. 62 [1926] S. 331ff.); A. Cabassut, La mitigation des 
peines de l'enfer d'aprés les livres liturgiques (Rev. d'hist. eccl. 23 [1927] 
S. 65ff.); L. Gougaud, La croyance au répit périodique des damnés dans les 
légendes irlandaises (Mélanges brétons et celtiques off. à M. I. Loth. Ann. de 
Bret. 1927, S. 1ff.); W. Mulertt, stl. Züge in der Navigatio Brandani? 
(Zschr. f. roman. Philol. 45 [1925] S. 322) erwühnt die auch bei Brotanek 
und in der früheren Lit. auftauchende Legende von der vorübergehenden 
Begnadigung des Judas Iskariot im AnschluB an Asin. Palaccio, La escatologia 
musulmana en la Divina Comedia (Madrid 1919); vgl. auch Lehmann, Judas 
S.309 u. 340; S. Merkle, Augustin über eine Unterbrechung der Höllen- 
strafen (Festschr. d. Görr. z. 1000 jähr. Todestag des hl. Aug. [1930] S. 197fl.); 
A. Mayer-Pfannholz, Des Teufels Begnadigung (Traute Heimat, Beil. z. 
Sehwandorfer Tagblatt 1932, Nr. 1). 


197. ‘sic — ne’: vgl. Mag. Heinr. 921f. ‘Sic vellem sermone frui, ne 
ventus et aura Deferrent voces et mea vota simul.' 


205. 'sive = et’ (vgl. 207). Der Gebrauch in der Poesie ist namentlich 
seit der karolingischen Zeit außerordentlich häufig; für die Prosa muß der 
Bedeutungswandel von sive (seu) noch besonders untersucht werden; ich 
führe einstweilen nur zwei Urkundenstellen an: Th. Bitterauf, Tradit. d. 
Hochst. Freising I Nr. 34 (Stiftung von Innichen im Pustertal): 'campestria 
seu et montana' u. E. Kittel, Der Kampf um die Reform des Domkapitels 
in Lueca. (Festschr. f. Alb. Brackmann [1931] S. 245): 'de presbiteris et 
diaconis seo clericis’. Vgl. auch Otto Morena über Friedrich I. (M. G. h. 
Ss. XVIII, 587, 21): *. . .religiosissimo ac prudentissimo seu dulcissimo viro.’ 


212. hymnizare': Du Cange IV, 272; Carm. Cant. 82, 12. 

220. ‘vite nectare': vgl. Hildeb. Lav. P. L. 171, 1182 A ‘nectar supernum’; 
1382 A 'nectareum rorem terris instillat Olympus’. 

222. vgl. zu V. 105. 

225. vgl. V. 284 und V. 94. 

232. ‘mortificare’: Verdrängt im Mittelalter immer mehr die Synonyma 
für „töten“ (vgl. zu V. 42). Über die ältere Bedeutung vgl. A. H. Salonius, 
Vitae Patrum (Lund 1920) S. 154, 168. 

243. seu = et’: vgl. V. 63. 205. 

261. hic rigat’ ... 1. Kor. 3, 6. 

271. "lumina mundi’: Oft von Bischöfen und Priestern gebraucht, z. B 
Ser. episc. Fris. (s. Anm. zu V. 31) V. 27 (die Mon. lesen nach Conr. Saer 
falsch numina'). Der Gedanke geht zurück auf Matth. 5, 14 vos estis lux 
mundi'; die im Vers, bes. im daktylischen, beliebte Verwendung von lumen 
(vgl. über diese Beliebtheit L. Kraus, Die poet. Sprache des Paulinus No- 
lanus [1918] S. 38) kann zurückgehen auf den seit dem 10. Jahrhundert 
gebräuchlichen Vesperhymnus im Commune Apost. (‘Exultet orbis gaudiis’) 


410 Anton L. Mayer 


V. 6: 'et vera mundi lumina' (An. hymn. LI, 125; vgl. Cl. Blume in Lex. f. 
Theol. u. K. III, 919). 

275. vgl. V. 25. 

277. vgl. V. 75. 

284. vgl. V. 225. 

293. vellet': zu diesem Konj. vgl. Asin. 30 (mit krit. App.) und B. Bl. f. d. 
Gymnas. 67 (1931) S. 110. 

308. compluat' = beregnen, beträufeln; vgl. Amos 4, 7 pars una com- 
pluta est; et pars, super quam non plui, aruit' (also — fruchtbar machen). 
Unser Bild lehnt sich jedoch deutlich an den Eingang der Passio Agnetis des 
Petrus Riga an; vgl. Anm. zu V. 1. Clm 4408 (s. XV) notiert einen (älteren) 
Merkvers ‘in exordio libri’ (fol. 120"): *Compluat inceptum sancta Maria 
meum.’ 

311. ‘vestes rugosas’; vgl. V. 39. 

398. ‘Ydola sunt non di’: Über die geistlichen Auseinandersetzungen 
gerade jener Zeit mit den in die Ritterdichtung usw. eingedrungenen 
„Heidengöttern“ vel. jetzt L. Denecke, Ritterdichter und Heidengötter 
(1150—1220) (Form und Geist H. 13, Leipzig 1930) S. 123ff. Besonders 
bezeichnend die S. 133 ausgehobenen Verse aus dem Ernestus des Odo von 
Magdeburg (um 1206), die jedoch einer textlichen Änderung bedürfen: 

'[deirco vitam morbosi temporis illo 
vivere feliei (subst. Inf.!) mutantes, cauteriati 
peccato primi sceleris, redimamur ab istis 
idolatris, quoniam Christi blasphemat eorum 
vana superstitio nomen rituque nefasto 
divinae cultum condemnat religionis. 


335. Sehr wichtig für die Geschichte der Überlieferung. (Vgl. Einl. A I4) 

337. meretrix — Maria Magdalena. Ihre Gestalt spielt in vielen Be- 
kehrungslegenden und -historien, BuBpredigten und Sündenklagen eine große 
Rolle. Vgl. A. Mayer, Der Heilige und die Dirne (B. Bl. f. d. Gymn. 67 [1931]) 
S. 78ff., 84, 95; Die Sündenklage in des armen Hartmann Rede vom Glauben 
(Ausg. F. v. d. Leyen, Des armen Hartmann Rede vom Glouven. Germ. 
Abhdlg. XIV [Breslau 1897]) spricht z. B. V. 2114 über Maria Magdalena, 
V. 2238ff. über die hl. Afra. 


347. Trehabere': Du Cange V, 679 verzeichnet im wesentlichen rechtliche 
Dokumente als Belege; Carm. Bur. 48, 2, 10 (Ausg. von Hilka-Schumann I, 
S. 95; vgl. II, S. 102) et dolebit dum rehabuerit'. 

348. ‘ac ab’: Es wäre falsch, hier ‘atque’ anzunehmen; gerade 'ac' vor 
Vokalen (auch ‘et’ vgl. o. V. 241) kommt an dieser Versstelle häufig vor; 
Lehmann, Ps.-ant. Lit. S. 41 (Dietrichs Pyramus V. 125) ‘ac in’; Rapul I, 
424 ‘ac in’; Lehmann, Judas S. 318 V. 126 ac inventicius’; Lehmann, Ps. 
ant. Lit. S. 56 (Anon. Pyram. V. 202) ac odiosa’ am Beginn der 2. Pent 
meterhülfte. Ac' vor Vokal erscheint aber auch in der Prosa immer 
häufiger; um nur ein paar Beispiele anzuführen, hat Otto v. Freising Chron. 
VII, 30 (Hofmeister 359, 5) ‘ac omnia’, VIII, 28 (438, 29) ‘ac ad’. Dagegen 
erscheint z. B. im 14. Jahrhundert, in einer Urkunde Karls IV. für das Reichs- 


S. Afrae vita metrica 411 


stift Herford von 1377 (A. Cohausz, Herford als Reichsstadt und papst- 
unmittelbares Stift am Ausg. des Mittelalters [1928] S. 95) folgender Satz: 
'Ac omnibus et singulis contradicentibus perpetuum silentium imposuit ac a 
quibuslibet impetitionibus praedictis ac etiam futuris ipsam dominam 
Hillegundim et suam ecclesiam ac oppidum Herforde absolvit.' Hier steht 
nur vor Vok. ‘ac’, vor Kons. ‘et’. Wir haben die Erscheinung verhältnis- 
mäßig früh in den Ann. Hildesh. M. G. h. Ss. III, 92 (‘ac alii) und bei 
Gregor V II., z. B. Reg. IV, 3: ‘ac indubitabili', VIII, 26: *devotus ac utilis’, 
ferner in dem unter Heinrich IV. gefälschten Dekret Leos VIII Rez. a 


(M. G. h. Const. I, 673): eligendi ac ordinandi’ und Stumpf, Reichskanzler 
Nr. 2912: fecitac ordinavit’. 


356. deo — pio: pius = benignus’ oder ‘misericors’. Langosch zu Rapul. II, 
100 verweist nur auf Ysengrimus S. 451. Die Bedeutung ist aber durch Vul- 
gata (2 Par. 30, 9; Judith 7, 20; Eccles. 2, 13) und Liturgie (vgl. Communio 
der Missa pro Defunct: 'quia pius es’ nach Jud. 7, 20 und Apoc. 15, 4) geläufig. 
Zu den Beziehungen zwischen 'deus pius' und der Totenliturgie vgl. R. Bauer- 
reiB, Pie Jesu (München 1931) S. 9. 


366. 'laus ... honorque': vgl. den Hymnus des Theodulph v. Orl. (in der 
Palmsonntag-Liturgie): Gloria laus et honor tibi sit, rex Christe 

378. ‘rosea’: Erscheint im Zusammenhang mit dem Martyrium, aller- 
dings mit anderem Subst. in O Roma nobilis’ (L. Traube, Abh. d. Bayer. 
Akad. d. Wiss. I Kl. 19 [1891] 306): ‘roseo martyrum sanguine rubea’. 
Wieder mit anderer Wendung (an St. Afra): O martyr Afra ... rosea gemma 
inter coeli principes' (An. hymn. 4, 68). 

379. 'famule sacrate’: ‘sacratus’ hat hier ganz Adjektiv-Bedeutung; vgl. 
Weyman Beitr. S. 40; Jahrb. f. Liturgiew. 2 (1922) 154; B.Bl. f. d. Gymn. 63 


(1927) S. 382. 'Jesu victima sacrata' wird Afra genannt im Hymnus An. 
hymn. 52, 87. 


387. ‘doctori’: Von den Vorschlägen Gamans' erledigt sich ‘docturo’ 
wegen des Sinnes, 'auctori' wegen V. 385; 'doctori' liegt paläographisch am 
allernächsten. 


Freising. Anton L. Mayer. 


412 


Kritiken. 


Boéthius, Anicius Manillas Severinus: De consolatione Philosophiae 
libri quinque [lat.]. Trost der Philosophie. Übersetzt von Eberhard 
Gothein. Berlin: Verlag Die Runde, 1932. 215 S. 8%. Kart. ZA 6.— 

Das Buch ist ein Vermáchtnis: Eberhard Gotheins, der dieser letzten 
Schrift des „letzten Römers“ lange Jahre seines Lebens zugewendet blieb, und 
Marie Luise Gotheins, die seine Übersetzung, mit einem Nachwort geleitet, 
In memoriam Friedrich Gundolf herausgegeben hat — ein Vermächtnis aber 
auch eines, in Deutschland, versinkenden Zeitalters humanistisch gebildeten Bürger- 
tums. Die Unzeitgemäßheit dieser Ausgabe repliziert symbolisch geistesgeschicht- 
liche Umstánde der Entstehung des Originales. 

Das Buch ist nicht für die Wissenschaft gemeint; eine Anzeige in einer wissen- 
schaftlichen Zeitschrift kann allein dem an ihm Unwesentlichen gelten; sie darf 
jedoch stattfinden, wenn, wie es der Fall ist, auch die Wissenschaft Ursache hat, es 
willkommen zu heiBen. Der lateinische Text, dem die Übersetzung rechts gegen- 
über steht, beruht auf der Edition von R. Peiper (1871; Bibl. Teubn.), jedoch ist 
eine große Anzahl der Besserungen von Aug. Engelbrecht aufgenommen!. Da Pei- 
pers Ausgabe seit langem vergriffen ist und die neueren in Loeb's Classical Library 
(1919; 21926) und von A. Fortscue (Cambridge 1924) in Deutschland selten ge- 
funden werden, bestand für einen neuen deutschen Druck ein gewisses Bedürfnis; 
die von W. Weinberger für das Florilegium patristicum versprochene Ausgabe wird 
erst nach der im Wiener Corpus noch ausstehenden gróBeren erscheinen. 

Eine Übersetzung eines Textes wie des vorliegenden richtet sich, anders 
als etwa eine aus entlegenen Sprachen, nicht an den Gelehrten; nicht allein der 
Philologe, auch der Philosophiehistoriker wird stets ausschlieBlich des Originales 
sich zu bedienen haben. Jedoch indem jegliche Übersetzung eines philosophischen 
Textes schon durch das Medium der andern Sprache eine Interpretation darstellt, 
ist sie geeignet, gerade den Leser, der das Original sprachlich unmittelbar verstehend 
aufzuneh men gewohnt ist, Fragen zu stellen, und die Schürfe des originalen Sinnes, 
das Unübersetzbare an ihm erst recht deutlich zu machen. 

Darüber hinaus ist die Wiedergabe des Sinnes von Wort zu Wort stark bedingt 
durch die individuelle Sprache des Übersetzers, und nur in so weiten Grenzen 
durch den fremden Wortlaut vorbestimmt, daB nicht ein Satz von zwei Menschen 
gleich übersetzt würde. So wird eine eingehende Vergleichung des lateinischen und 
deutschen Textes in jedem Satze einem jeden Gelegenheit geben, sich zu besinnen, 
wie er anders übersetzt, etwas anders verstanden hätte, und so zu immer schárferen 
Zusehen nótigen — eine erwünschte Wirkung. 


! 8BWien 1902; die Abweichungen von P. sind 8. 190f. verzeichnet. 


Kritiken 413 


Der Ernst und die Würde der Sprache des Boéthius sind in Eb. Gotheins 
Übersetzung glücklich erhalten; ihre Treue wird nicht pedantisch, ihre Freiheit 
nicht Willkür. Die schwierigste Aufgabe stellen die carmina. Manche Zeilen sprach- 
lich besser oder treuer zu wünschen, fällt leicht; jedoch anstatt hier wohlfeile Kritik 
zu üben, stellte man billiger in Frage, ob auf metrische Wiedergabe nicht überhaupt 
hätte können verzichtet werden. 

DaB Anmerkungen nicht beigefügt sind, kann dem Eindruck der Schrift nichts 
abtragen; das Verständnis alles Wesentlichen wird hievon nicht berührt. Auskunft 
über die genannten Personen gibt das Namenverzeichnis zu Text und Nachwort. 
Dieses selbst gibt ein Lebens- und Persönlichkeitsbild des Boéthius und eine Würdi- 
gung seines Werkes. Die gelehrte Forschung ist, mit Angabe der Literatur, umsichtig 
herangezogen; die Darstellung selber hält hohes Niveau. Das legt den Wunsch nahe, 
die Verfasserin wäre in ebensolcher gehaltvollen Kürze auch etwa auf die Bedeutung 
seiner philosophischen Schriften für die Grundlegung des scholastischen Denkens 
eingegangen; handelt es sich doch da nicht um einen ganzen Zufall. Über das ,, Chri- 
stentum“ des Boéthius wäre mehr zu sagen gewesen: Daß er Christ war weder 
im Sinne des Mittelalters noch in dem des Zeitalters der Bekehrungen und Über- 
tritte; das Wesen dieses Christentums, das ihn in Erwartung des Todes nicht ein Mal 
an Christus und Erlösung durch ihn denken läßt, bestand in dem philosophisch- 
religiösen Theismus der spätesten Antike; es war trotz opuscula sacra das eines 
„edlen Heiden". — Die äußere Ausstattung des bei Otto v. Holten gedruckten 
Buches ist vornehm wie die der übrigen Werke des Verlages. 

Göttingen. Walther Bulst. 


Lehmann, Paul, Mitteilungen aus Handschriften. 3. München: Bayer. Akad. 
d. Wiss. 1932. (66 S.) (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der 
Wissenschaften, Philos.-hist. Abt., Jahrg. 1931/32, H. 6.) 

Zum dritten Male bringt P. Lehmann in zwangloser Form ein Heft von Auf- 
zeichnungen über Handschriften, die auf Reisen seinem suchenden Blick begegnet 
sind. Geschlossener als die früheren Mitteilungen ist dieses Heft, das fast aus- 
schließlich den kürzlich in die Universitäts-Bibliothek Prag übergegangenen Lob- 
kowitzhandschriften gewidmet ist. Lehmann hatten sie wegen ihrer überwiegend 
Weißenauer Herkunft gelockt. Es ist auch das dritte Mal, daß er zur Geschichte 
der Weißenauer Bibliothek und zur Rekonstruktion ihres Handschriftenbestandes 
das Wort ergreift. Zu der ersten Übersicht des weit zerstreuten Bestandes gelegent- 
lich der Veröffentlichung des bruchstückhaften Katalogs aus dem 13. Jahrhundert 
(in einer Lobkowitzhandschrift!) im 1. Band der „ittelalterlichen Bibliotheks- 
kataloge Deutschlands" waren im Zentralblatt für Bibliothekswesen, Jahrg. 49 
(1932), S. 1ff., weitere inzwischen aufgetauchte Handschriften, vor allem die St. Pe- 
tersburger mitgeteilt worden, dazu ein noch älterer Bibliothekskatalog der Augia 
minor; jetzt kann Lehmann aus Prag und (durch Karl Wehmers Mitarbeit) aus dem 
Berliner Historischen Seminar weitere 70 Weißenauer Handschriften beschreiben. 
Man darf erwarten, daß das nächste, was wir von Lehmann über diese Prämonstra- 
tenserbibliothek zu lesen bekommen werden, eine Geschichte ihrer Bestände sein 
wird; die Proben, die für eine solche Zusammenfassung in den bisherigen Arbeiten 
enthalten sind, machen größten Appetit darauf. Die Wissenschaft wird die Ver- 
zeichnung der deutschen Bibliotheken entstammenden Bestände unter den Lob- 


414 Kritiken 


kowitz-Handschriften froh begrüßen; noch bis vor kurzem waren die Handschriften 
nur schwer zugänglich. Und so oft Handschriften dieser Bibliothek schon in früheren 
Jahren der Forschung gedient haben, so oft muB Lehmann nun darauf hinweisen, 
daB einzelne dieser Handschriften für Textausgaben übersehen worden sind, dab 
sie eine weitere Bearbeitung verdienen. Die rund 600 Handschriften umfassende 
Sammlung, von deren letztem Drittel, offenbar, wie sich jetzt zeigt, nicht ganz zu 
Recht, Weißenauer Herkunft behauptet worden ist, hat schon mehrfach sichtende 
Gelehrte zu Mitteilungen veranlaBt. Aber was G. H. Pertz als Historiker, Hoffmann 
v. Fallersleben, J. Kelle und Steinmeyer als Germanisten, J. F. Schulte als Kano- 
nist beachtet hatten, hat bei weitem nicht so viel Geltung finden können, wie die 
neueste systematische, wenn auch nicht in allen Einzelheiten so, wie bei Hand- 
schriftenkatalogen üblich, gleichmäßige Verzeichnung, die, um nur einiges zu nennen, 
auf S. 31 ein lat.-deutsches Abendmahlspiel, noch unbeachtet, S. 43 eine Cusaner- 
Handschrift mit eigenhändigen Einträgen des Nicolaus v. Cues, an verschiedenen 
Stellen Handschriften aus Blankenheim, Erfurt (Universität und Benediktiner), 
Oybin (anderes ist schon länger in Prag), Schussenried u. a. bekanntmacht (über 
die mit dem Besitzvermerk Bibl. Ambt. [S. 48] gekennzeichneten Handschriften 
wird der Leser freilich seinem eigenen Spürsinn überlassen) Es ist die Aufgabe 
gerade eines solchen Verzeichnisses, mit den Ungenauigkeiten der bisherigen Lite- 
ratur aufzurüumen; wie sie sich forterben, zeigt z. B. S. 26/27, wo man noch aus 
der 2. Auflage von BreßBlaus Handbuch, Bd. 2, S. 252, zitiert findet, „in einer Fürst- 
lich Lobkowitzschen Hs. zu Weißenau“. Bis in diese Kleinigkeiten, ja bis in das 
gegenüber den früheren Sitzungsberichten mit dem Übergang zum Beckschen Ver- 
lag verschónte Satzbild ist der Katalog eine erfreuliche Lektüre. 

Wenn das Ziel der Lehmannschen Arbeiten über WeiBenau die Rekonstruktion 
des alten Handschriftenbestandes ist, so ist die nicht einheitliche Kennzeichnung 
des alten Besitzes besonders zu bedauern. Auffallend einheitlich ist dagegen der 
Einband, über den Lehmann freilich nur ganz kurze Angaben macht. Aber dab er 
bei den meisten Bänden schlechthin von „Weißenauer Einband" sprechen kann 
und nur ganz selten eine Beschreibung hinsichtlich Farbe und Leder geben muß, 
deutet darauf, daß für ihn der WeiBenauer Einband schon zu einem festen Begriff 
geworden ist. Wer viele WeiBenauer Einbände gesehen hat, wird diesen Begriff 
such kennen. Aber für das literarische Kennenlernen der Weißenauer Handschriften 
müßte eine nähere Charakteristik dieser Einbände erwünscht sein. Ich spüre die 
Pflicht, das was ich, freilich nur an wenigen Bänden, als typisch für Weißenau 
kennengelernt habe, hier, vorbehaltlich späterer Ergänzung, mitzuteilen. Die Weiße- 
nauer Einbände, die ich kenne (es sind die der Berliner Staatsbibliothek, einige 
Lobkowitzsche und die eine im Stift Strahov), sind Arbeiten vom Ende des 15. Jahr- 
hunderts, sorgfältige, wenn auch wenig reich geschmückte Arbeiten klösterlicher 
Buchbinder. An technischen Einzelheiten ist beachtenswert, daB die Vorsätze 
(Papier) eigens geheftet sind, mit einem Pergamentfalz innen; gelegentlich sind die 
Einstichstellen des Heftfadens noch eigens durch einen Pergamentquerstreifen ver- 
stärkt. Die Bände waren angekettet. Die Holzdeckel sind mit weißem Schweins- 
leder überzogen; die Deckel mit Streicheisen, Einzelstempeln und Rollen (?) blind 
geschmückt. Mit Streicheisen sind ein oder zwei äußere Rahmen abgeteilt; das 
innere Rechteck ist von Diagonallinien durchzogen. Der Stempelvorrat ist gering. 
Am häufigsten ist ein kreisrunder Stempel mit einem nach links gewendeten Ver- 


Kritiken 415 


kündigungsengel (20 mm Durchmesser); er füllt hauptsächlich die Mittelfelder. 
In gleicher Größe begegnet ein Rosettenstempel im Rahmen großer Bände. Zur 
Füllung kleinerer Flächen dient der von Lehmann sogenannte Netzstern. Es ist ein 
Freistempel, ein vierzackiger Stern mit 15 mm größter Ausdehnung, die ganze 
Innenfläche von einem Netz übersponnen. Die schmaleren Rahmen sind mit einem 
Fries phantastisch ornamentierter Tiere ausgefüllt, offenbar schon von der Rolle 
gedruckt, doch in einer Ausführung, welche an die Jagdrolle, das Anfangsstadium 
der deutschen Renaissancebuchbinderrolle erinnert. Der Rücken, mit echten Bünden, 
ist schmucklos. Aber an dem Weiß des Überzuges sind die Weißenauer Bände schon 
von ferne zu erkennen. Nur wenige scheinen davon abweichend eingebunden zu 
sein. Das im Exlibris vorkommende Besitzzeichen „B(onaventura) A(bt) z(u) 
W(eissenau)" erscheint auch auf späteren Einbünden (Cambridge, Fitz-William- 
Museum, McClean Coll. Ms. 6). 
Leipzig. H. Schreiber. 


W. Bornhardt, Geschichte des Rammelsberger Bergbaues von seiner Auf- 
nahmebiszur Neuzeit. Berlin: Preußische Geologische Landesanstalt 1931. 
(XII, 366 S., 10 Taf., 17 Abb. im Text) gr. 8° — Archiv für Lagerstätten- 
forschung, H. 52. 

Unter der Obhut und mit der selbstlosen Hilfsbereitschaft des Stadtarchivars 
Wilhelm Wiederhold (f 1. Jan. 1931) ist in dem letzten anderthalb Jahrzehnt eine 
Reihe trefflicher Studien zur Geschichte der Reichsstadt Goslar erschienen. Eine 
kritische Bibliographie aus der Feder des genauesten Kenners der goslarschen Rechts- 
und Verfassungsgeschichte gibt darüber wie über die künftigen Aufgaben der Goslarer 
Geschichtsforschung wertvolle Aufschlüsse; die Durchsicht dieses Aufsatzes sei all- 
gemein den Städtehistorikern empfohlen!. Unter diesen Arbeiten verdient die ,,Ge- 
schichte des Rammelsberger Bergbaues" von Wilhelm Bornhardt aus mehreren 
Gründen besondere Beachtung: Der Verfasser ist von Beruf Bergfachmann — er ist 
Berghauptmann a. D. — und bringt zu ausgedehnten und soliden historischen 
Kenntnissen daher noch ein Wissen um Fragen der Technik und des Betriebswesens 
in Bergbau und Verhüttung mit, das dem Historiker in der Regel verstündlicherweise 
abgeht. Und dort, wo Bornhardt nicht durch eigenes Studium zu Entscheidungen 
gelangen konnte, hat er sich der Unterstützung durch Fachmänner erfreut, wie etwa 
bei der Übersetzung des Goslarer Bergrechts aus dem 14. Jahrhundert, die von 
Conrad Borchling und Agathe Lasch überprüft und von Borchling durch eine 
sprachliche Untersuchung der mittelalterlichen Grubennamen ergänzt worden ist. 
Ein weiterer Vorzug des Buches ist seine zeitliche Ausdehnung von den Anfängen 
des Goslarer Bergbaues bis in die unmittelbare Gegenwart — B. schließt mit der 
Erörterung des durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen Preissturzes der 
Metalle im Hinblick auf die künftige Rentabilität des fast tausendjährigen Betriebes. 

Es bedarf nur eines Blickes in die letzte größere Darstellung des Rammelsberger 
Bergbaues®, um zu ermessen, welche Bedeutung sowohl die berg- und hüttenmän- 
nische Vorbildung des Verfassers wie sein Entschluß, auch die an sich für die Dar- 
stellung weniger reizvollen neueren Zeiten in gleicher Ausführlichkeit einzubeziehen, 


! Karl Frölich, Stand und Aufgaben der goslarschen Geschichtsforschung (Zschr. des 
Harzvereins 64, 1931, 15 — 45). 
C. Neuburg, Goslars Bergbau bis 1552 (Hannover 1892). 


416 Kritiken 


haben: ein seit der Mitte des 10. Jahrhunderts ununterbrochen betriebenes Wirt- 
schaftsunternehmen von stets überlokaler, zeitweise geradezu internationaler Be- 
deutung hat durch B. eine des Gegenstandes würdige Darstellung gefunden; auBer 
der speziellen Geschichte der Montanindustrie dürfen sich die deutsche Wirtschafts- 
geschichte im allgemeinen, die Geschichte des Bergrechtes, die Sozialgeschichte und 
in Einzelheiten manche andere Gebiete der historischen Forschung gefórdert sehen. 

Bei dieser Sachlage ist es untunlich, hier den ganzen Inhalt des Buches nach- 
zeichnen zu wollen — es gábe ein totes Gerippe von Tatsachen und Zahlen, das keinen 
Eindruck von der Fülle wertvoller Einzelbeobachtungen vermitteln würde. Ich 
beschränke mich daher auf die Hervorhebung einiger mir bedeutsam erscbeinender 
Punkte. 

Geologische und betriebstechnische Einsichten Bornhardts ermóglichen ihm 
gleich anfangs die Entscheidung in der neuerdings diskutierten Frage des Beginnes 
der Rammelsberger Erzfórderung: wührend Quiring* hier schon in der jüngeren 
Bronzezeit (etwa 850—650 v. Ghr.) Kupfergewinnung als wahrscheinlich angenom- 
men hat, erhärtet jetzt B. die mittelalterliche Überlieferung (Widukind, Thietmar), 
daB der Abbau des Alten Lagers unter Otto I. zwischen 964 und 969 begonnen worden 
ist. Im Hinblick auf die verhältnismäßig leichten technischen Probleme des Tagebaus 
und des ersten unterirdischen Betriebes lehnt B. auch die vom Annalista Saxo in 
der Mitte des 12. Jahrhunderts erstmalig gebrachte Nachricht ab, man habe fràn- 
kischer Bergleute bedurft; nach Quiring ist sogar die Zustimmung des Sachsen- 
herzogs zur Königswahl Konrads I. davon abhängig gewesen, daß Konrad als Gegen- 
leistung Bergleute seines Herzogtums (aus dem Siegerlande) für das Rammelsberger 
Bergwerk zur Verfügung gestellt habe. Die Frage der ältesten fränkischen Beziehun- 
gen zu Goslar ist also nach den wohldurchdachten Darlegungen B.'s nicht mehr von 
der Seite des Bergbaus her zu lósen, wohl aber m. E. durch eine Klárung der karo- 
lingischen Verwaltungsorganisation im Bereich der spüteren Stadt Goslar und ihrer 
Umgebung, wie sie von Wilhelm Lüders zu erwarten ist“. Demgemäß bringt B. auch 
die Frankenberg-Siedlung in Goslar nur allgemein mit der fránkischen Kolonisation 
Sachsens unter Karl d. Gr. in Verbindung, ohne daß es sich dabei um die Ansetzung 
gerade von Bergleuten gehandelt habe. Auch daran darf erinnert werden, daB die 
Goslarer Pfalz zu den fränkischen Königshöfen gezählt wurde; das läßt sich noch 
in der Ausbreitung des Goslarer Stadtrechtes verfolgen“. 

Die erste Blütezeit des Goslarer Bergbaues fand ihr Ende mit der Zerstórung 
der Hütten durch Heinrich den Lówen im Jahre 1181; Abwanderung von Bergleuten 
nach Meißen, Böhmen und Oberungarn war die Folge. Da das Bergwerk nun seinen 
Wert, der als Streitobjekt zwischen Friedrich Barbarossa und dem Welfen deutlich 
genug hervortritt, großenteils eingebüßt hatte, wurde der Bergzehnte einschließlich 
der Berghoheit und des Berggerichts 1235 als Reichslehen an Otto das Kind von 
Braunschweig überlassen. Da die Braunschweiger Herzöge es in bemerkenswertem 
Gegensatz zu Wettinern und Przemysliden nicht verstanden, diese Gerechtsame für 
sich auszunutzen, gelang es dem Rat der Stadt in hundertfünfzigjährigem zähen 


* H. Quiring, Die Anfänge des Bergbaues in Deutschland und die Herkunft der ,.frán- 
kischen'* Bergleute. (Zachr. f. Berg-, Hütten- und Salinenwesen 77, 1929, 222 — 251). 

* Die Sudburg und ihr Verhältnis zu Werla, Goslar und dem Gebiet von Harzburg 
(Braunschweigisches Magazin 29, 1923, 1—9; ferner Zschr. des Harzvereins 65, 1932, 34—30. 

a Herbert Meyer, Das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch (Weimar 1923), S. 78f. 


Kritiken 417 


Ringen, Reichsvogtei, Zehnten, Gericht und fast alle Gruben aus Privatbesitz in seine 
Hand zu bringen — um das Jahr 1400 schien der Kampf um den Berg vollständig 
zugunsten Goslars entschieden zu sein. Die Vorsicht und Geschicklichkeit, aber 
nicht weniger die von allen rechtlichen und sittlichen Bedenken freie List und Ge- 
waltsamkeit, mit der der Rat, durch die Gewandtheit und Skrupellosigkeit seiner 
Kanzleibeamten wirkungsvoll unterstützt, hierbei vorging, gewährt spannende Ein- 
blicke in das Getriebe mittelalterlicher Diplomatie und Wirtschaftspolitik®. 

Die Errechnung der Erträgnisse des Bergbaus und die mineralogische Bewertung 
der Kupfererze führen zu einer handelsgeschichtlich interessanten Feststellung: das 
„keuvre de Gosselaire“, das im 14. Jahrhundert zu Wasser und zu Lande nach West- 
europa ausgeführt worden ist, stammt teilweise gar nicht aus Goslar, sondern ist von 
den marktbeherrschenden (oder jedenfalls den Metallmarkt genau kennenden) Goslarer 
Kaufleuten von anderwürts bezogen und als gut eingeführter „Markenartikel“ weiter 
gehandelt worden. 

Der bis 1360 betriebene Raubbau hatte gefáhrliche Zusammenbrüche in den 
Schächten und das Ersaufen der tiefer gelegenen Baue zur Folge; die seit Ende des 
12. Jahrhunderts vorhandenen technischen Anlagen genügten nicht mehr, um das 
fast völlige Erliegen des Bergbaues für ein ganzes Jahrhundert zu verhindern. Die 
wiederholten Versuche des Rates, mit Hilfe tüchtiger auswürtiger Fachleute die 
Wassernot zu beseitigen, geben B. Gelegenheit zur Erläuterung der mittelalterlichen 
Bergbautechnik; ein um die Mitte des 14. Jahrhunderts angelegtes „Gewölbe“ ist 
noch jetzt wohl erhalten. Seit dieser Zeit lassen sich auch über die Arbeits- und 
Arbeiterverhältnisse nähere Angaben machen, denen B. dann bis in die Gegenwart 
fortlaufend eigene Abschnitte widmet. Daß das älteste Bergrecht (von etwa 1360) 
in neuhochdeutscher Übersetzung beigefügt ist, wurde schon erwähnt; es sei noch 
gesagt, daB B.’s Kommentierung die Verhältnisse in Obersachsen, Böhmen und 
Ungarn vergleichsweise berücksichtigt, wobei die einzigartige Stellung des Rammels- 
berg-Betriebes deutlich hervortritt. Sorgfältige Berechnungen eines Markscheiders 
gewähren auch einen Überblick über die Menge des geförderten Erzes: einer Gesamt- 
förderung von 3 Millionen Tonnen in den Jahren 968—1360 stehen 9 Millionen in 
der Zeit von 1480—1929 gegenüber. Kriegsereignisse und Betriebsänderungen (wie 
2. B. Mangel an Holz und Holzkohle, Verwendung von Steinkohle, moderne Ratio- 
nalisierungsmaßregeln) haben zeitweilig starke Schwankungen hervorgerufen, deren 
Ursachen und Auswirkungen B. jeweils sorgsam nachgeht. 

Die in den wenigsten Fällen einwandfreie Art, mit der sich der Rat die recht- 
lichen Unterlagen für seine Herrschaft über den Berg verschafft hatte, sollte ihm 
schließlich zum Verhängnis werden. Es nützte ihm nichts, daß er seit der Mitte des 
15. Jahrhunderts mit schweren Kosten einen großartigen neuen Aufschwung des 
Bergwerkes herbeiführte, wodurch Goslar zum Zentrum des mitteleuropäischen Blei- 
marktes wurde, während es nunmehr allerdings in der Kupfererzeugung hinter Mans- 
feld und Ungarn zurückstand. Es half auch nichts, daß die im 15. Jahrhundert zeit- 
weilig übermächtigen Einflüsse auswärtiger Geldgeber bis 1511 fast völlig aus- 
geschaltet werden konnten. Denn das ausschlaggebende Gefahrenmoment, das Recht 
des Rückkaufs des Bergzehnten durch die Welfen, konnte trotz wiederholter Er- 
höhung der Pfandsumme nicht gebannt werden. Sobald der Stadt in Herzog Heinrich 

^ Hierzu vgl. S. H. Steinberg, Die Goslarer Stadtschreiber und ihr Einfluß auf die Rats- 
politik bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts (Goslar 1933). 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 27 


418 Kritiken 


dem Jüngeren von Wolfenbüttel (regierte 1514—1568) ein von den Ideen des moder- 
nen Landesfürstentums durchdrungener Gegner erwuchs, mußte Goslar notwendiger- 
weise ins Hintertreffen geraten. Die engherzige Wirtschaftsgesinnung der nord- 
deutschen Stádte am Ausgang des Mittelalters führte in Goslar wie anderwürts zum 
schlimmen Ende*: Man übersah vollständig, daß mit juristischen Deduktionen (noch 
dazu von hóchst zweifelhafter Grundlage) nichts mehr zu machen sei; man versáumte 
es, auswärtigen Mächten Beteiligung an den Erträgnissen des Bergwerkes zu ge- 
wühren und sie damit gleichzeitig für die politischen Interessen der Stadt einzu- 
spannen; selbst ein erträgliches Abkommen mit dem Braunschweiger hätte sich wohl 
noch treffen lassen. Aber Goslar ging vereinsamt in den Kampf, und das Ergebnis 
war der vóllige Zusammenbruch im Jahre 1552: das Bergwerk ging in braunschwei- 
gische Hände über, und Goslar siechte fortan einem unrühmlichen Ende entgegen 
(1802). Im Jahre 1820 hat die Stadt ihre letzten Besitzrechte an den Gruben ab- 
getreten — es waren seit 1552 nur noch ZuschuBbetriebe. 

Für den Rammelsberger Bergbau hingegen ist die Zeit der braunschweigischen 
Herrschaft keineswegs unvorteilhaft geworden, was B. einwandfrei nachweist. Be- 
zeichnend für den organisatorischen Weitblick des neuen Landesfürstentums ist es 
etwa, daB die Bergordnung Heinrichs des Jüngeren von 1555 bis zum Jahre 1874 in 
Kraft bleiben konnte. Und bei den wiederholten Versuchen, neue Vorkommen zu 
erschließen, hätte man im Jahre 1749 fast schon das Neue Lager entdeckt, das dann 
1859 gefunden worden ist; bis auf 10 m hat man sich ihm damals bereits genáhert. 
Ja, die Besitzverhültnisse der braunschweigischen Zeit sind bis heute geblieben: 
die Anteile der bei der Errichtung der Kommunionverwaltung im Jahre 1635 zufällig 
gleichzeitig lebenden sieben Herzóge drücken sich, über das Kónigreich Hannover 
und das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel hinweg, noch in den anteiligen 
Verhültniszahlen der 1924 gegründeten Unterharzer Berg- und Hüttenwerke 
G. m. b. H. aus. 

Diese Ausführungen mögen genügen, um einen Anhalt dafür zu geben, was der 
Historiker in dem Buche finden kann. Zu bessernder oder tadelnder Kritik liegt kein 
AnlaB vor; es darf im Gegenteil der Meinung Ausdruck gegeben werden, daB es 
schwer móglich sein wird, im ganzen über die hervorragende Darstellung B.'s hinaus- 
zugelangen. 

Leipzig. Sigfrid H. Steinberg. 


Gustav Luhde, Der Archipoeta. Seine Persónlichkeit und seine Gedichte. Er- 
läutert und aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen. Düsseldorf: 
Industrie-Verlag u. Druckerei Akt.-Ges. 1932. — 175 S. geb. RA 2,90. 

L. ist in Jacob Grimms Kleineren Schriften (III 3—102) auf den Archipoeta 
gestoßen; der Eindruck war so stark, daß er die Gedichte genauer zu lesen anfing. 
Bemerkte Schwierigkeiten des Textes haben ihn dazu geführt, Literatur heranzu- 
ziehen; er glaubt gegen diese zum ersten Male das wahre Bild des Dichters ge- 
wonnen zu haben. Das zgwrov wevdos der gesamten Forschung ist nach L. ihre 
einhellige, zu späte Ansetzung der Geburt des Dichters: um 1140. Aber Manitius 
schreibt auf der ersten Seite der Ausgabe, 2. Aufl. 1929, 1130/40, und in der Ge- 
schichte der lat. Lit. des MA.s III 979: um 1130. L. will aus dem Sinn der Worte 


* Vgl. etwa das lehrreiche Kapitel „Lübeck und Nürnberg“ bei Fritz Rörig, Die euro- 
pälsche Stadt (Propyláen-Weltgcschichte Bd. IV). 


Rritiken 419 


puer und iuuenis den unwiderleglichen Beweis für um 1125 führen; an Stelle Hei- 
nichens und Menges Schulwörterbüchern wäre zwar Hofmeisters Aufsatz über 
puer iuuenis senex aus der Festschrift für Kehr 1926 anzuführen gewesen — davon 
abgesehen, über die fünf Jahre Unterschied soll mit L. kein Streit sein. Daß der 
uagus quidam clericus Nicolaus nomine quem uocant archipoelam, von dem Caesarius 
Heisterbac, Dial. mirac. II 15 (nicht „XII 43‘) erzählt, von der Wissenschaft für 
den Dichter angesehen werde, trifft auch nicht zu; s. Manitius, Ausg. S. 3 und 
a. a. O. III 983; umgekehrt war J. Grimm, den L. gegen die neuere Wissenschaft 
ausspielt, durchaus nicht von jener Annahme ,,weit entfernt“; er schreibt vielmehr, 
daB, nachdem man ,,nothwendig annehmen“ müsse, die Lieder seien „in schäumen- 
der Jugend verfaßt“, sie „keiner Möglichkeit widerstrebe“ (III 15. 14); wenn P. 
Zaunert (nicht „Zeunert“) vor einigen Jahren sie „wieder aufgetischt“ hat, durfte 
L. das ebenso wortlos auf sich beruhen lassen wie Hennig (nicht ,, Henning") Brink- 
manns Einfall, in dem Dichter einen Schüler Ottos von Freising oder Rahewins 
zu vermuten!. Der erregten Ehrenrettung des Archipoeta bedurfte es nicht mehr 
nach Wilhelm Meyers Vortrag (Nachr. d. K. G. d. Wiss. zu Göttingen, Geschäftl. 
Mitteil. 1914, 2. H.) und nach W. Stapels Ausführungen zu dem von L. besprochenen 
Gedichte Fama tuba dante sonum; L.s Worte: „Wie Jonas hatte er einen bestimmten 
... Auftrag nicht ausgeführt‘‘ (S. 19) berühren sich nahe mit Stapels: „Auch der 
Dichter wird [wie Jonas] irgend einen Auftrag ... nicht ausgeführt haben“ (Des 
A. erhaltene Gedichte, Hamburg 1927, S. 168); ebenda hat L. Stapels Übersetzung 
der V. 29—31, wie öfter stillschweigend, abgedruckt, auch der Schnitzer brutus 
„toll“ ist beibehalten. S. 24 will L. der Variante Mihi est propositum? ( Meum G) den 
Vorzug geben; den Sinn „Mein Vorsatz ist“ etc. dürfe man dem Dichter nicht zu- 
trauen, er sage „Meine Bestimmung ist“, „Ich soll", nicht „Ich will". Jedoch 
die folgende Zeile ut sint uina proxima morientis ori entscheidet mit Sicherheit für 
Meum. Übrigens würde auch der Ausdruck der Voraussicht (Mihi) als einer des 
Willens zu verstehn sein. DaB die 21. Strophe des 6. Gedichts (Ausg. Manitius) 
in G nur zur Hälfte steht, beweist dem Verf., daß es (oder die ganze Handschrift ?) 
„aus dem Gedächtnis niedergeschrieben" sei; daB der Abschreiber, wie wir es aus 
unzähligen Fällen kennen, mit dem Blick zum nächsten bezw. übernächsten Reim 
gesprungen war, kommt ihm gar nicht zu Sinne; er leitet dafür Rechte zu weit- 
gehenden Textänderungen daraus ab. Gebrauch davon zu machen hat er jedoch 
vermieden; 14 quo und XIV2 posse sind doch wohl bloß Druckfehler; V2 plane und 
XVI4 propier sind alte Conjekturen; bleibt XXVI4 archicancellarius für electus 
Colonie — eine bare Willkür zugunsten der Datierung auf 1167; auf deren phan- 
tastische Begründungen einzugehn nicht lohnt. Übrigens hatte Reinald nicht, wie 
L. und andere immer wieder schreiben, ein Epos verlangt, vielmehr ausdrücklich, 
breviter zu schreiben. Wenn L. Latium und Tuscus nicht synekdochisch verstehn 
will, so durfte er erst recht nicht dieses für Romanus nehmen. Das Gedicht, in dem 
er „eine Folge von [5] Bruchstücken aus ganz anderen [unbekannten] Gedichten“ 
des A. sieht, als ein Ganzes zu verstehn, hat er offenbar nicht ernstlich versucht; 
es ist wirklich nicht so schwer, daß es ihm nicht hätte gelingen sollen. Was L. zur 


1 Germ.-rom. Mschr. 13 (nicht 12), 105. 111. 

* Die weder in B steht, wie L. behauptet, noch in einer andern der vielen Handschriften, 
die das Gedicht ganz, nicht nur Str. 12ff., enthalten; s. B. Schmeidler in dieser Zschr. 14, 1911, 
369 Anm. 1 und 394. 


27* 


420 Kritiken 


Persönlichkeit des Dichters ausführt, leidet an begrifflicher Unschärfe und groben 
Übertreibungen (,, 600 Jahre vor Kant formte er . .. einen Kantisch anmutenden 
Gedanken“; „Keiner hat für das innerste Wesen des Christentums so schlichte, so 
innige und ergreifende Töne des Bekenntnisses gefunden wie er" S. 44. 49), zu- 
weilen an Ungeschmack (Mystik als „religiöse Vóllerei"); einiges Biographische 
ist allermindestens hypothetisch, wird jedoch als Factum vorgetragen. Die generelle 
Verschiedenheit metrischen und rhythmischen Zeilenbaues ist dem Verf. nicht 
bewußt geworden; die Zeile 4xx-j- 6xx bezeichnet er als „das anspringende Metrum" 
(S. 57f.). Unter „Doxologie“ ist, sooft es begegnet, „Dogmatik“ zu verstehn. 
Auf die Prüfung der Übersetzungen, des Textes (rechts gegenüber, S. 68ff.) und der 
kurzen Vorbemerkungen zu den einzelnen Gedichten habe ich verzichtet. — Daß 
nicht allein Gelehrte den Dichter lesen und studieren, ist sehr erfreulich; jedoch „80 
ziemlich alles“ über ihn gelesen und sich „mit dem Wesen des Mittellateins vertrau- 
ter“ gemacht zu haben, setzt noch nicht in den Stand, über ihn zu schreiben. Die Zu- 
versicht des Verf., es sei „kaum zu erwarten, daß die Forschung dem oben ent- 
worfenen Bild des Erzpoeten noch wesentliche Züge hinzufügen wird“, ist unbe- 
gründet; die zu beantwortenden Fragen hat L. freilich nicht einmal gestellt. 
Göttingen. Walther Bulst. 


The Cambridge Medieval History. Planned by the late J. B. Bury, edited by (vol. 
VII: the late), J. R. Tanner, C. W. Previté-Orton, Z. N. Brooke. 
Vol. VI. Victory ofthe papacy. XII, 1047 S., 10 Karten in Mappe. Cam- 
bridge, University Press, 1929. Vol. VII. Decline of empire and papacy. 
XXXVIII, 1073 S., 11 Karten in Mappe. Cambridge, Univ. Press, 1932. 

Von diesen beiden umfangreichen Bänden der englischen Weltgeschichte ist 
der erste (VI) schon 1929 erschienen und gelangt also hier mit einiger Verspätung 
zur Anzeige. Wenn dies dem Referenten mit Recht zum Vorwurf gemacht werden 
kónnte, so mag es doch eine Art Entschuldigung und Rechtfertigung darin finden, 
daB die beiden Bánde in ihrer Gesamtauffassung und -darstellung eng zusammen- 
gehören und sich ergänzen, also gut zusammen angezeigt werden können. Es ist 
gewiB nicht leicht, über zwei so starke Bánde, an denen Gelehrte von Namen und 
Rang mitgearbeitet haben, in Kürze etwas Zutreffendes und Kennzeichnendes zu 
sagen. Wenn ich in der Anzeige von Band V (Histor. Vjs. Bd. 24, [1929], S. 630 bis 
635) etwas tiefer in die Einzelanalyse einiger Kapitel zur deutschen Geschichte 
einging, so mag hier der Versuch gemacht werden, etwas über die gesamte Art und 
Anlage dieser Bánde zu sagen. 

Jeder von ihnen bietet auf mehr als 1000 Seiten ungefähr die Geschichte eines 
Jahrhunderts, Band VI die des 13., Band VII die des 14. Jahrhunderts. Nach einer 
allgemeinen Einleitung zur Gesamtcharakteristik der jeweils behandelten Zeit von 
10 bzw. 14 Seiten, beide Male von Previté-Orton (S. VII—XVII in Band VI bzw. 
S. VII—XX in Band VII) geschrieben folgt in VI ein Kapitel über Innocenz III. 
(S. 1—43) von F. Jacob-Manchester, drei Kapitel zur deutschen Geschichte von 
Austin Lane Poole-Oxford, nämlich über Philipp von Schwaben und Otto IV. 
(S. 44—19), über die Regierung Friedrichs II. (S. 80—109) und das Interregnum 
(S. 110—130); dann Italien und Sizilien unter Friedrich II. (S. 131—165) von 
M. Schipa-Neapel, Italien von 1250—1290 von Previté-Orton (S. 166—204); 
dann England unter Richard Löwenherz und Johann ohne Land von F. M. Po- 


Kritiken 421 


wicke-Oxford (S. 205—251), unter Heinrich III. von Jacob (S. 252—283); dann 
Frankreich unter Philipp II. August und Ludwig VIII. von Powicke (S. 284 bis 
330), unter Ludwig IX. von Ch. Petit-Dutaillis (S. 331—361); die skandinavi- 
schen Staaten bis zum Ende des 13. Jahrhunderts von Halvdan Koht-Oslo (8.362 
bis 392); Spanien 1034—1248 von R. Altamira-Haag (S. 393—421); Bóhmen bis 
1306 von K. Krofta-Prag (S. 422—447); Polen von 1050—1303 von A. Bruce- 
Boswell in Liverpool (S. 447—463); Ungarn von 1000—1301 von () L. Leger 
(S. 463—472). Dann eine Reihe von kulturgeschichtlichen Kapiteln (XIV—XXV), 
nàmlich über Handel und Industrie im Mittelalter von J. H. Clapham-Cambridge 
(S. 443—504), über die Städte des Nordens und ihren Handel von H. Pirenne 
(S. 505—527), über die Organisation und die Finanzen der Kirche von J. W. Wat- 
son-Oxford (S. 528—559), über die mittelalterlichen Universitäten von (T) H. Rash- 
dall-Oxford (S. 559—601), über die Staatstheorie bis ca. 1300 von H. V. Reade- 
Oxford (S. 602—633), über die Entwicklung des Glaubens und Dogmas bis zum 
4. Laterankonzil (1215) von A. H. Thompson-Leeds (S. 634—698), über Ketzer 
und Inquisition von ca. 1000—1305 von A. S. Turberville-Leeds (S. 699—726), 
über die Bettelorden von A. G.Little-Oxford (S. 727—762), endlich über die 
kirchliche Architektur von H. J. Cranage-Norwich (S. 763—772), die weltlichen 
Bauten (Burgen und Schlösser) von A. H. Thompson (S. 773—784), über die 
Kriegskunst bis 1400 von Thompson (S. 785—798); das Rittertum von Miss 
A. Abram (S. 799—814) und über Sagenkreise des Mittelalters von (T) Miss Jessie 
Laidlay Weston (S.815—842). Dazu S.843—985 eine Liste der Abkürzungen 
und eine Bibliographie, die sehr vielseitig und nach Kapiteln gegliedert ist; endlich 
ein Index von S. 986—1047. Im ganzen enthält der Band also 472 Seiten Einzel- 
darstellung zur äußeren Tatsachengeschichte der europäischen Länder und Staaten 
und 370 Seiten Durchschnitt und Übersicht gebende Kapitel kulturgeschichtlicher 
Art. 
Ähnlich ist die Anlage und Gliederung von Band VII. Ein erstes Kapitel von 
(t) E. Armstrong behandelt Italien in der Zeit Dantes (S. 1—48), ein zweites von 
R. Caggese-Mailand Italien von 1313—1414 (S. 49—77). Kapitel III—V erzählen 
die deutsche Geschichte von Rudolf von Habsburg bis zum Tode Karls IV.; III A 
von J. P. Blok () die Geschichte von 1273—1313 (S. 78—102), III B von W. 
T. Waugh-Montreal bietet allgemeine Gesichtspunkte und Betrachtungen zur deut- 
schen Geschichte der Zeit (S. 102—112); IV und V behandeln Ludwig den Bayern 
(S. 113—136) und Karl IV. (S. 137—154), von Waugh. Kap. VI bietet die Geschichte 
Bóhmens im 14. Jahrhundert von Krofta-Prag (S. 155—182), VII die Geschichte 
der Schweiz bis 1474 von P. E. Martin-Genf (S. 183—215). VIII die Geschichte 
der Hanse bis zum Ende des 15. Jahrhunderts von A. Weiner-London (S. 216 bis 
247), IX die des Deutschen Ordens bis 1466 von A. Bruce Bos well-Liverpool 
(S. 248—269). X die Avignonesischen Päpste von Mollat-StraBburg (S. 270 bis 
304), XI—XIII Frankreich, und zwar XI: Die letzten Kapetinger von Hilda 
Johnstone-London (S. 305—339), XII (S. 340—367) den Hundertjährigen Krieg 
(bis 1380) und XIII: Armagnac und Burgund 1380—1422 (S. 368—392), beide 
Kapitel von A. Coville-Lyon. Dann Kapitel XIV—XVI England, und zwar XIV 
unter Eduard I. und Eduard II. von Hilda Johnstone (S. 393—433), XV 
unter Eduard III. und Richard II. (S. 434—485), XVI: Wyclif (S. 486—507), 
beide Kapitel von B. L. Manning-Cambridge. Dann Kapitel XVII: Wales 


422 Kritiken 


von 1066— 1485, von J. E. Lloyd-Bangor (S. 508 — 526), XVIII: Irland 
bis 1316 von G. H. Orpen-Dublin (S. 527—547), XIX: Schottland bis 
1328, von C. Sanford Terry-Aberdeen (S. 548—566). Kapitel XX behandelt 
Spanien von 1252—1410 von R. Altamira-Haag (S. 567—598), XXI Rußland 
von 1015—1462, von Prinz D. S. Mirsky (S. 599—631). Das sind 631 Seiten über- 
wiegender Einzeldarstellung, daran schlieBen sich wieder fünf Kapitel mit rund 
180 Seiten kulturgeschichtlichen Durchschnitts und allgemeiner Übersicht. Nàmlich 
Kapitel XXII (S. 632—664) von Cecil Roth-Oxford über die Geschichte der Juden 
im Mittelalter (genau für die einzelnen Länder), Kapitel XXIII: Mittelalterliche 
Staaten von C. H. Mc Ilwain-Harvard (S. 660—715), eine verfassungsgeschicht- 
liche Übersicht und Analyse, Kapitel XXIV über bäuerliches Leben und ländliche 
Zustände (von ca. 1100—1500) von Eilleen E. Power-London (S. 716-750), 
Kapitel XXV über die Frührenaissance von A. A. Tilley-Cambridge (S. 751 bis 
776) und Kap. XXVI über die mittelalterliche Mystik von Evelyn Underhill- 
London (S. 777—812). Dazu wieder ein Verzeichnis der Abkürzungen, eine Biblio- 
graphie von 160 Seiten, einige Addenda zu Band II der M. C. H., eine chronologische 
Tabelle über die im Bande behandelten Ereignisse und ein Index (S. 988 — 1073) 
von Miss Marin. Endlich 11 Karten in eigener Mappe. 

Die allgemeinen Einleitungen beider Bände von Previté-Orton kennzeichnen 
sehr knapp und im allgemeinen zutreffend die allgemeine Art und weltgeschichtliche 
Lage der jeweils in dem betreffenden Bande nachher behandelten Zeit, schildern 
das 13. Jahrhundert als eine Zeit der Höhe und der Erfüllung des Mittelalters, mit 
kaum ersten Zeichen einer beginnenden Auflósung, das 14. Jahrhundert als die 
Zeit der fortschreitenden Erstarrung des Alten, mit vielen Erscheinungen von 
Neubildung und von Auflósung des Alten, die aber nach Meinung des Verfassers 
noch durchaus nicht überwiegt. Man kónnte m. E. schen im 13. Jahrhundert mehr 
Erstarrung des Alten und beginnende Neubildung, im 14. Jahrhundert mehr Auf- 
lósung und Streben nach neuen Zielen sehen als P.-O. tut; doch ist das mehr nur ein 
leichter Gradunterschied der Beurteilung, der Ansicht über die allgemeine Richtung 
des Ganges der Entwicklung wird man durchaus beipflichten kónnen. Als allgemeine 
Gesamtanschauung liegt der Redaktion und Disposition der M. C. H. durchaus die 
bisher gültige Meinung über den Unterschied von Mittelalter und Neuzeit zugrunde, 
wie ich ihn (gegen Troeltsch und Anhänger) auch in meinem Bande von Kendes 
Handbuch für den Geschichtslehrer (IV, 1) vertreten habe, wie ihn ebenso die fran- 
zósische Weltgeschichte: Peuples et Civilisations Band VII von Halphen und Sagnac 
annimmt. 

Will man die wissenschaftliche Ausführung und Begründung der einzelnen 
Sachkapitel prüfen, so wird ein deutscher Referent vor allem zu den Kapiteln über 
die deutsche Geschichte greifen, die im sechsten Bande von Austin Lane Poole, 
im siebenten hauptsáchlich von W. T. Waugh (bis auf einen ersten Abschnitt von 
dem über der Arbeit verstorbenen P. J. Blok) herrühren. Ich glaube sagen zu können 
(auch zur Charakteristik der anderen Kapitel und dieser Bände überhaupt), daB 
diese Abschnittesehr solide Kenntnisse der Tatsachen und Literatur (oft auch neuester 
deutscher Einzelliteratur), ein nüchtern gesundes Urteil und guten Überblick zeigen. 
Aber bei aller oft recht ausführlichen Einzelerz&hlung fehlt doch manchmal nicht 
Unwesentliches, der Leser gewinnt kaum jemals das Gefühl, die Darstellung eines 
durch eigene langjährige Sonderforschung auf dem Gebiete geschulten Gelehrten 


Kritiken 423 


vor sich zu haben. Die Kapitel Pooles im VI. Bande über den Streit zwischen Wel- 
fen und Staufern, zwischen diesen und den Püpsten zeigen eine deutlich ghibelli- 
nische, prostaufische Einstellung, sie arbeiten die rein weltlich-politische Haltung 
der Päpste von mindestens Gregor IX. an sehr deutlich und unbefangen heraus. 
Eine ausführliche Darstellung und einige Charakteristik für Friedrich II. bietet 
nicht Poole, sondern im V. Kapitel M. Schipa, aber da fehlt nicht weniges an Lite- 
ratur und Quellen, die Gesamtwürdigung der Problematik und Beurteilung des Kai- 
sers könnte erheblich tiefer eindringen. Bei Poole ist das Buch von Kantorowicz 
in der Bibliographie (Kapitel IV) genannt, die Kontroverse Brackmann—Kanto- 
rowicz (allerdings erst von 1929) noch nicht erwähnt; ebenso fehlen verschiedene 
Arbeiten und Mitteilungen von Hampe über Friedrich II., und Aufsätze von A. Car- 
tellieri über die staufische Politik und europäische Entwicklung um 1200, nur sein 
Aufsatz über die Schlacht bei Bouvines von 1914 ist verzeichnet. Die Kapitel von 
Waugh im VII. Bande zeigen eine verständnisvolle Auffassung des allgemeinen 
Ganges der deutschen politischen Geschichte des spáteren Mittelalters in ihrer Um- 
lagerung vom Westen nach dem Osten, ein gutes Verständnis für Ludwig den Bayern, 
etwas weniger wohl für Karl IV. Aber bisweilen scheint es, als ob er seine eigenen 
Gesichtspunkte (S. 102—112) auf die Beurteilung der Einzelhandlungen der deutschen 
Konige (besonders Karls IV.) nicht genügend eindringlich und nachdrücklich an- 
wendet, sich trotz guter Überlegungen etwas mit der Wiedergabe herkómmlicher 
Urteile begnügt, eben weil sie in dieser Weise herkómmlich sind. Die in ihren wahren 
Motiven und ihrem echten Gehalt zweifellos &uBerst raffinierte Politik Karls IV. 
kommt bei W. in keiner Weise zu entsprechenden und genügendem Ausdruck. Das 
Werk als Ganzes soll mit solchen Bemerkungen keineswegs etwa herabgesetzt 
werden; es ist umfassende Gesamtkompilation mit einer bei solcher Art und Anlage 
zum Teil wohl unvermeidlichen gelegentlichen Oberflüchlichkeit, es bietet eine Fülle 
von richtigen und fleiBig gesammelten Tatsachen in ausführlicher Darstellung, in 
durchschnittlicher Auffassung, die allerdings wohl fast überall ohne viel Mühe ver- 
tieft werden kónnte. 

Von ähnlichem Charakter ist die Bibliographie. Sie ist sehr umfangreich, 
mit 135 Seiten in Band VI und 160 Seiten in Band VII je ein stattliches Heft für 
Sich. In jedem Bande ein Kapitel allgemeiner Bibliographie und eine besondere für 
jedes Kapitel. Jeder Abschnitt wieder gegliedert in allgemeine Werke, Quellen, 
moderne Werke, und zwar Bücher und Spezialuntersuchungen (Aufsátze) je für 
sich; vielfach der Untergliederung der Kapitel entsprechend auch eine Untergliede- 
rung der Bibliographie. Es ist bei dieser Anlage, bei der Áhnlichkeit und dem engen 
Zusammenhang des Inhalts vieler Kapitel und ihrer Bibliographie nicht ganz leicht 
festzustellen, ob ein Buch, eine Einzeluntersuchung wirklich genannt sind (was ja 
noch nicht immer zugleich Benutzung bedeutet!) oder nicht. Was geboten wird, ist 
ungeheuer viel, mit zweifellos sehr groBer Arbeit und Mühe zusammengetragen. 
Natürlich kónnte man vieles Einzelnes nachtragen, das hat keinen begründeten 
Sinn; aber es ist doch ein bedenklicher und bemerkenswerter Mangel, wenn im 
VII. Bande Burdachs Werk vom Mittelalter zur Reformation in seiner neuen viel- 
bàndigen Bearbeitung nirgends gekannt und genannt wird, weder im I. und II. Ka- 
pitel über Italien (im II. wird nur das Buch Piurs, des Mitarbeiters von Burdach, 
über Cola di Rienzo genannt) noch im 25. Kapitel über die Frührenaissance noch 
im 26. über die mittelalterliche Mystik: nur im 6. Kapitel über Bóhmen (von Krofta) 


424 Kritiken 


wird Burdachs erster Band von 1893 genannt. Das zeigt doch einen Mangel an Ver- 
trautheit mit der gegenwürtigen Forschung und Fragestellung, der nicht mehr ganz 
entschuldigt werden kann. Sehr erwünscht und wertvoll sind die 10—11 Karten in 
eigener Mappe zu jedem Band. 

Die Cambridge Medieval History ist ein Werk von vielen dicken Bänden, die 
an den, der sie wirklich durcharbeiten wollte, sehr große Anforderungen stellen. 
Sie ist eine Encyklopädie der durchschnittlich geltenden Auffassungen mit Angabe 
vieler Literatur und sonstiger Hilfsmittel, ein Werk von ungeheurem Sammelfleiß 
und nüchternem Tatsachensinn, im ganzen, wie mir scheint, der englischen Geistes- 
richtung und Art entsprechend, die man philosophisch als Sensualismus und prak- 
tisch als commun sense zu bezeichnen pflegt. Auf deutschem Boden kónnte man ihr 
heutzutage wohl die von W. Goetz herausgegebene Propyläen-Weltgeschichte an 
die Seite stellen. Das deutsche Werk ist dem englischen an Umfang und in der Art 
der Disposition und Redaktion etwa gleich oder ähnlich, es verzichtet auf den ge- 
lehrten Apparat der Bibliographie, aber an Auffassung und wissenschaftlicher Ver- 
tiefung scheint es mir im Durchschnitt über dem englischen Werk zu stehen. Es 
scheint, daß die englische Weltgeschichte mit einem breiteren wissenschaftlichen 
Benutzerpublikum rechnen kann, während das deutsche Werk sich mehr an ein all- 
gemein gebildetes, aber nicht fachmännisch interessiertes Publikum wendet. Ich 
glaube, die deutsche Geschichtswissenschaft hat, an Organisation und wissenschaft- 
licher Leistung im einzelnen, auch heute noch den Vergleich mit der Geschichts- 
wissenschaft des Auslandes — hier jedenfalls Englands, nicht zu scheuen. 

Erlangen. B. Schmeidler. 


Emil Ficken, Johann von Böhmen. Eine Studie zum romantischen Rittertum 
des 14. Jahrhunderts. Göttingen 1932. 176 S. 

Daß König Johann von Böhmen aus dem luxemburgischen Hause bisher noch 
keinen modernen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Biographen gefunden 
hat, mag wundernehmen; gehört er doch zu jenen problematischen Naturen, die sich 
heutzutage in weiten Kreisen so außerordentlicher Beliebtheit und Wertschätzung 
erfreuen. Das verhältnismäßig geringe Interesse gerade der zünftigen Forschung 
ist um so merkwürdiger, als er in der deutschen wie der europäischen Politik seiner 
Zeit eine wesentliche Rolle gespielt hat, wenn er auch an historischer Bedeutung 
zweifelsohne sowohl hinter seinem Vater Kaiser Heinrich VII. als seinem Sohne 
Karl IV. oder seinem Oheim, Erzbischof Balduin von Trier, zurücksteht. Diese 
Lücke auszufüllen, hat sich die vorliegende, von A. Hessel angeregte Göttinger 
Dissertation zum Ziele gesetzt, und zwar, um es vorwegzunehmen, im großen und 
ganzen mit Erfolg. Da sie grundsätzlich auf Einzelheiten und eigene Detailforschung 
verzichtet, gibt sie allerdings mehr einen Überblick über den jeweiligen Stand der 
wissenschaftlichen Diskussion als eine abschließende Darstellung, dies aber immerhin 
mit soviel Sorgfalt und Umsicht, daß man fürs erste ein durchaus genügendes Gesamt- 
bild von Johanns Persönlichkeit erhält. 

Nach einigen einleitenden Bemerkungen, in denen die geistige Situation des 
späteren Mittelalters doch etwas gar zu vereinfacht auf die Spannung zwischen 
einem hochmittelalterlichen Idealismus und einem modernen Realismus reduziert 
wird, gibt Ficken in einem ersten Teil „das historische Lebensbild" König Johanns. 
So dankenswert an sich die zusammenfassende Darstellung ist, die dessen weit- 


Kritiken 425 


verzweigte, von Litauen und Polen über Schlesien, Bóhmen, Kürnten, Tirol bis 
nach Italien und andererseits bis nach Frankreich und den Niederlanden reichende 
Hausmacht- und Territorialpolitik hier gefunden hat, z. T. unter Heranziehung 
fremdsprachiger und sonst schwer zugänglicher Literatur, so kann man sich gleich- 
wohl nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß hierüber die Schilderung seiner Reichs- 
politik zu kurz gekommen ist. In diesem Zusammenhange würe insbesondere eine 
eingehendere Würdigung der auffallenden Tatsache erwünscht gewesen, daB die 
beiden Hauptvertreter des luxemburgischen Hauses, eben Kónig Johann und Erz- 
bischof Balduin von Trier, in ihrer Politik des ófteren erheblich divergierten. Die 
Ergebnisse würen sicherlich nicht nur für ihre Beziehungen zueinander, sondern 
auch für ihr beiderseitiges Verhältnis zur Reichsgewalt, vor allem also zu Ludwig 
d. B., hóchst aufschluBreich gewesen. 

Im 2. Teil geht Ficken sodann den verschiedenen Wurzeln von Johanns 
Ritterideal in der älteren französischen Literatur sowie der Darstellung seines 
Rittertums in der zeitgenössischen, zumal bei seinem Hofpoeten Guillaume de Ma- 
chaut, nach. Man wird diesen Ausführungen, die eine tiefere Erfassung der geistigen 
und psychologischen Eigenart König Johanns anstreben, gewiß mit größtem 
Interesse folgen, um sich doch schließlich fragen zu müssen, ob hier der Verfasser 
nicht das „Bildungserlebnis‘‘ seines Helden beträchtlich überschätzt hat. Hätte es 
nicht ungleich näher gelegen, den unleugbar romantischen Grundzug in Johanns 
Wesen, das Hochfliegende und MaBlose, das Sprunghafte und unstet Umher- 
schweifende, ja Ausschweifende seiner Natur, auf erbliche und persönliche Veran- 
lagung, statt auf das mehr oder weniger Zufällige eines durch seine niederländisch- 
französische Erziehung und Bildung geformten Ritterideals zurückzuführen ? (So 
ausdrücklich S. 11, einschränkend S. 1571) Und hätte man nicht vielleicht auf dem 
Wege einer vergleichenden Charakteristik der bedeutendsten Mitglieder des luxem- 
burgischen Hauses weit eher und unmittelbarer zu dem eigentlichen Kern der 
Persönlichkeit Johanns vordringen können, als es dem Verfasser auf seine Weise 
möglich war? So etwa, daß man dem einen, von Heinrich VII., König Johann und 
Kaiser Sigismund verkörperten Typus den andern, wie ihn Balduin von Trier und 
Karl IV. repräsentieren, gegenübergestellt hätte. Ficken macht wohl einige Ansätze 
in dieser Richtung (S. 10f., 157f.), ohne freilich gerade hierin befriedigen zu können. 
Doch das sind Fragen, die bereits weit über den Rahmen einer Einzelbesprechung 
hinausgehen; denn sie rühren letzten Endes an das Grundsätzliche und Problema- 
tische biographischer Geschichtsschreibung überhaupt.) 


München. Ernst Bock. 


Hans Ammon, Johannes Schele, Bischof von Lübeck, auf dem Basler 
Konzil. Ein Beitrag zur Reichs- und Kirchengeschichte des 15. Jahrhun- 
derts. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und Hansestadt Lübeck, 
herausgegeben vom Staatsarchiv zu Lübeck. Band 10.) Lübeck, Verlag des 
Staatsarchivs 1931. XIV u. 129 S. 40. 

Bei der vorliegenden, von H. Weigel angeregten Erlanger Dissertation handelt 
es sich um einen jener leidigen Versuche, Methoden und Stil der „Jahrbücher des 
Deutschen Reiches" auf das Gebiet biographischer Geschichtschreibung zu über- 
trazen. Damit sind bereits die Vorzüge, freilich auch die Grenzen dieser Arbeit an- 


426 Kritiken 


gedeutet. Mit rühmenswerter Hingabe und Sorgfalt wird das ganze, gerade für die 
Konzilszeit verhältnismäßig reichhaltige Quellenmaterial zusammengetragen, so 
daß das auf Grund seiner entworfene Lebensbild Johann Scheles im Tatsächlichen 
wohl erschöpfend sein dürfte. Während seine Regierungszeit (1420—1439) in der 
Geschichte des Bistums Lübeck kaum tiefere Spuren hinterlassen hat, sicbert ihm 
die rege und vielseitige Tätigkeit, die er als prominentes Mitglied des deutschen 
Episkopats sowie als diplomatischer Vertreter Kaiser Sigismunds und Albrechts IL 
auf dem Basler Konzil entfaltet hat, zweifelsohne eine gewisse historische Bedeutung. 
Diese seine Wirksamkeit, das buntbewegte Leben und Treiben, aber auch die mannig- 
fachen Intriguen und politischen Wechselfälle, die ein gedeihliches Arbeiten des 
Konzils so außerordentlich erschwert, ja nicht selten geradezu unmöglich gemacht 
haben, werden eingehend, verschiedentlich sogar allzu minutiös geschildert. Hervor- 
gehoben sei hier nur die Reise, die Bischof Johann als Konzilsgesandter wegen der 
kirchlichen Union mit den Griechen nach Avignon und an den Hof Karls VIL von 
Frankreich nach Montpellier unternahm, ferner die von ihm im Rahmen der kaiser- 
lichen Vermittlungsaktion zwischen Papst Eugen IV. und dem Konzil geführten 
Verhandlungen sowie seine Teilnahme an den Reichstagen zu Nürnberg 1438 und 
Mainz 1439, dessen Ergebnis die so berühmt gewordene Mainzer Akzeptation war. 
Einer diplomatischen Mission galt endlich auch seine letzte Reise zu dem in Ungarn 
weilenden Albrecht II.; hier ist er, fern von der Heimat, am 8. September 1439 an 
der Pest gestorben. 

Das alles wird, wie erwähnt, in beinahe epischer Breite und fast ohne jegliche 
belebenden Akzente erzählt; der gleichmäßige Fluß der Darstellung, der selbst die 
Höhepunkte des Geschehens und Momente von historischer Tragweite mehr ahnen 
als erkennen läßt, wirkt freilich auf die Dauer ziemlich ermüdend. Eine etwaige 
Erfassung der geistigen und persönlichen Wesensart Scbeles wird man nach dem 
Gesagten vollends nicht erwarten dürfen; tatsáchlich wird eine solche auch kaum 
irgendwo versucht, obwohl der Verfasser in Anhang II selbst die hierfür erforderlichen 
Voraussetzungen geschaffen hat. Es handelt sich um eine in ihrem Wortlaut bisher 
noch nicht gedruckte, für das Basler Konzil bestimmte kirchenpolitische Denk- 
schrift Bischof Johanns, die schon deshalb von besonderem Interesse ist, weil kein 
Geringerer als Nikolaus von Cues sie mit Randbemerkungen versehen und uns in 
seinem Nachlaß überliefert hat. Grund genug, um jene Reformvorschläge einer ein- 
dringlichen Analyse zu unterziehen und sie mit dessen berühmten Werke „De con- 
cordantia catholica", dem „bedeutendsten Geisteserzeugnis, das das Konzil über- 
haupt hervorgebracht hat“, zu vergleichen. Man braucht dabei durchaus nicht an 
ein förmliches Abhängigkeitsverhältnis zu denken, das bei der ungeführen Gleich- 
zeitigkeit beider sowieso wenig wahrscheinlich ist. Auf jeden Fall aber hätte eine Un- 
tersuchung gerade dieser und der hiermit zusammenhängenden Fragen ungleich tiefer 
in die ganzen Probleme der Konzilsbewegung hineingeführt, als eine noch so detaillierte 
Schilderung der jeweiligen Beratungen und Verhandlungen. 


München. Ernst Bock. 


L. von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. 
Bd. XVI: G. d. P. im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus von der Wahl 
Benedikts XIV. bis zum Tode Pius' VI. (1740—1799). 1. Abt. Benedikt XIV. 


Kritiken 427 


und Klemens XIII. (1740—1769). 1.—7. Auflage, XXI, 1011 S. Freiburg 
i. Br. 1931, Herder & Co. — 2. Abt. Klemens XIV. (1769—1774) 1.—7. Auf- 
lage X, 440 S. Freiburg i. Br. 1932, Herder & Co. 

Mit Band XVI wird die Papstgeschichte L. von Pastors zu Ende geführt werden. 
Doch bat man die gedrángtere Darstellung, die im 14. und 15. Bande durchgeführt 
wurde, wieder verlassen und ist zu der breiteren Art der früheren Bánde zurück- 
gekehrt. Es ist daher nótiggeworden, den letzten Band zu teilen, und zwar in drei 
Abteilungen, von denen bisher die beiden ersten vorliegen. Von ihnen behandelt 
Bd. XVI, 1, auf mehr als eintausend Seiten die drei Jahrzehnte von 1740—1769. 
Sie werden eingenommen von den Pontifikaten Benedikts XIV. (Prospero Lam- 
bertini &us Bologna) und Klemens' XIII. (Carlo Rezzonico aus Venedig), beide 
fünfundsechzigjährig zur höchsten Würde erhoben. Die Lage des Papsttums zwischen 
dem Staatsabsolutismus der Großmächte und dem Gallikanismus auf der einen, 
der Aufklärung und dem Rationalismus auf der andern Seite war so schwierig wie 
nur je und es hätte stärkerer Hände bedurft, als die der genannten Oberhäupter, 
um aller dieser Schwierigkeiten Herr zu werden. Übrigens war Benedikt (1740—1758) 
eine Persönlichkeit eigener Prägung, weltoffen wie wenige der Nachfolger Petri, 
und nicht ohne Verständnis für das, was die Weltlage verlangte. Den Forderungen 
der katholischen Mächte nachgebend, hat Benedikt die altüberkommenen Hoheits- 
rechte des Papsttums, die längst ihre Bedeutung eingebüßt hatten, großenteils 
fallen lassen, die geistliche Gerichtsbarkeit und Immunität eingeschränkt, Indulte, 
Reservate, Exemtionen aufgehoben u. dgl. mehr. Er hat dadurch, wie Pastor es 
auffaßt, zur Stellung der katholischen Kirche zum modernen Staat den Grund 
gelegt, wobei freilich zu bemerken ist, daß die weitere Entwicklung nicht geradlinig 
verlaufen ist. Dem immer noch starken Jansenismus in Frankreich gegenüber, der 
sich gegen Königtum und Papsttum besonders auf die Parlamente stützte, ist 
Benedikt von der Verdammungspolitik seiner Vorgänger (Bulle Unigenitas Kle- 
mens’ XI. 1713) merkbar abgerückt. Auch mit dem neuen evangelischen Landes- 
herrn von Schlesien, dem jungen Preußenkönig Friedrich II., der trotz seiner damals 
einzig dastehenden Toleranz doch nicht gewillt war, der geistlichen Macht irgend- 
welche mit der Staatsgewalt konkurrierende oder diese einschránkende Macht ein- 
zuráumen, ist Benedikt, indem er in den streitigen Materien (gemischte Ehen usw.) 
sich zugänglich zeigte, in ein leidliches Verhältnis gelangt und hat sich, indem er 
dem preußischen Monarchen auch den Königstitel wenigstens tatsächlich nicht 
länger vorenthielt, dessen persönliche Hochschätzung erworben. 

Durch die europäischen Wirren, die dem im Jahre des Pontifikatsbeginns 
Benedikts eingetretenen Tode des letzten männlichen Habsburgers folgten, kam 
der Papst als Herr des Kirchenstaats während der ersten Hälfte seiner Regierung 
wiederholt in schwere Bedrängnis, zumal im Jahre 1744, als Österreicher und Spanier 
im päpstlichen Gebiete, und zwar in nächster Nähe der ewigen Stadt, einander 
lange Monate feindlich gegenüberlagen. Dann jedoch hat der Aachener Friede 
von 1748 der apenninischen Halbinsel einen vierzigjährigen Friedensstand gebracht. 
So konnten die Päpste dieser Epoche, neben der Fürsorge für das materielle Wohl 
ihrer Untertanen, dem am Heiligen Stuhle herkömmlichen Mäzenatentum obliegen, 
auch ihre Hauptstadt bereichern und verschönern. Es ist das Rom der Piranesi, 
Winckelmann, Raphael Mengs. Benedikt hat der Wissenschaft gelehrte Aka- 
demien (wobei auch die Naturwissenschaften nicht leer ausgingen), den Künsten 


428 Kritiken 


Museen errichtet, auch der Bereicherung und Katalogisierung der Vatikanischen 
Bibliothek sein Augenmerk zugewandt. 

In voller Unmittelbarkeit offenbart sich Benedikts Wesen und Eigenart in den 
zahlreichen Privatbriefen, die sich von ihm erhalten haben, zumal seinem von 1142 
bis 1756 reichenden Briefwechsel mit dem französischen Kardinal Tencrin — einem 
Unikum, wie es von keinem anderen Papste vorliegt (Pastor S. 435), und um so 
wertvoller, als Benedikt hier seiner Feder freiesten Lauf läßt. 

Noch während Benedikt die Tiara trug, zeigten sich im Katholizismus die Vor- 
boten einer Katastrophe, die diesen schwer erschüttern sollte, und auch das Papst- 
tum vor Entscheidungen von größter Tragweite stellen mußte. Es handelte sich 
um die Gegnerschaft der katholischen Mächte wider den Jesuitenorden. Pastor 
hat diese Kämpfe und Machenschaften in größter Ausführlichkeit behandelt; schon 
in der ersten Abteilung unseres Bandes kommt fast der halbe Umfang auf die Je- 
suitenfrage. Nach ihm nämlich gilt der Kampf der Mächte eigentlich dem Papsttum, 
in dem Orden bestürmen jene das Vorwerk des letzteren, nach dessen Einsturz sie 
nicht zweifeln den eigentlichen Feind, Rom, zerschmettern zu können. Dabei ver- 
schweigt Pastor allerdings auch die mannigfaltigen Anstöße und Anstände nicht, 
die der Orden den Mächten darbot, allein eine eigentliche Schuld der Jünger Loyolas, 
die die Auflösung rechtfertigen könnte, erkennt der Verfasser nicht an. 

Klemens XIII. (1758—1769), eine unselbstándige Natur, hat sich zu einer 
festen Haltung in der Jesuitenfrage, die mehr und mehr alles andere in den Hinter- 
grund drängte, nicht aufzuschwingen vermocht, durch seine Unschlüssigkeit aber 
die Mächte nur um so mehr vorangetrieben. Unter seinem Pontifikat sind die Jesuiten 
aus Portugal, Frankreich, Spanien, Neapel, Parma und Malta vertrieben worden 
und folgerichtig sind dann auch die Mächte an den Heiligen Stuhl mit der kate- 
gorischen Forderung herangetreten, kraft seiner oberhoheitlichen Gewalt den Orden 
aufzuheben. Aber ein Mächtigerer griff ein und überhob den Papst der gefürchteten 
Entscheidung; es war der Tod, der ihn in schicksalsschwerer Stunde jählings hin- 
wegraffte. 

Es ist bekannt, daß im Gegensatz zumal zu den bourbonischen Höfen der 
habsburgische Staat sich in der Jesuitenfrage lange zurückhielt. Gleichwohl sind 
dort schon unter Maria Theresia dem kirchenfeindlichen Geist wesentliche Zuge 
ständnisse gemacht worden. Das Josefinische Zeitalter kündete sich an. Im deut- 
schen Reiche aber kam, zumal an den geistlichen Fürstenhöfen, gleichzeitig ein auf- 
geklärter Katholizismus auf, verbunden mit Wiedererstarkung des episkopalistischen 
Gedankens, der sich wider die päpstliche Oberhoheit zur Wehr setzte. Zu markantem 
Ausdruck kam diese Strömung damals in dem 1763 erschienenen Buche „Vom Zu- 
stand der Kirche und von der rechtmäßigen Gewalt des Papstes“ des „Justus 
Febronius“, d.h. des erzbischöflich Trierischen Weihbischofs Nikolaus von Hontheim. 
Die Kurie schritt mit Verboten ein, ohne damit dem tief- und weitgreifenden Ein- 
druck des Buches wesentlich Abbruch tun zu können. So warteten schwere Auf- 
gaben auf den Nachfolger Klemens’ XIII., den aus einem viermonatlichen Konklave 
als Sieger hervorgegangenen Lorenzo Ganganelli (geb. 1705 unweit Rimini), der den 
Namen Klemens XIV. annahm. Seinem fünfjährigen Pontifikat (1769—1774) 
ist die zweite Abteilung des 16. Bandes gewidmet. Verf. ist kein Freund des neuen 
Papstes; zwar spricht er ihm Frömmigkeit und Güte des Herzens nicht ab, stellt 
aber doch die Mängel seines Charakters in den Vordergrund: Klemens ist unzuver- 


Kritiken 429 


lässig, ja doppelzüngig, intrigant, ehrgeizig (die Tiara hat er durch falsche Angaben 
über seine Stellung zur Jesuitenfrage erschlichen), dazu furchtsam, mißtrauisch, 
schwach. Auch ist er der Dinge der Welt unkundig; es fehlt ihm, daß er, als Ordens- 
mann, niemals im diplomatischen Dienst der Kurie gestanden, Italien nie verlassen 
hat. Eine objektive Würdigung Klemens’ XIV., der ja zu den Männern gehört, 
deren Bild, wie der Dichter sagt, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt in der 
Geschichte schwankt, ist gewiß nicht ganz leicht. Doch hat Klemens den Schritt, 
den ihm der orthodoxe Katholizismus noch heute nicht vergibt, zum mindesten 
nicht vorschnell getan, sondern den Mut aufgebracht, dem Drängen der katholischen 
Mächte auf Aufhebung des Ordens vier Jahre lang Widerstand zu leisten. Vor allem 
aber sieht man kaum, wie die Dinge anders hätten ausgehen können ohne das An- 
sehen des Papsttums vielleicht noch mehr zu schädigen, als dies durch die schlieB- 
liche Nachgiebigkeit Klemens' geschehen ist. DaB übrigens, wie Pastor betont, 
das entscheidende Breve Dominus redemptor noster vom 21. Juli 1773 seinem 
Wortlaut nach kein vollgültiges Zeugnis gegen den Orden ist, d. h. seine Schuld 
nicht beweist, mag zugegeben werden; über die Schuldfrage selbst ist aber damit 
noch nichts gesagt. Durch eine eigenartige Fügung hat übrigens die Stellungnahme 
Maria Theresias, ihr AnschluB an Spanien, die Entscheidung über das Schicksal 
des Ordens herbeigeführt (Pastor S.193) — wogegen bekanntlich der groBe Feind 
der Kaiserin in PreuBen die Verkündigung des Auflósungsdekrets in seinen Staaten 
verbot, da er die Jesuiten als Jugenderzieher nicht entbehren zu kónnen glaubte; 
angeknüpfte Unterhandlungen mit Rom über die Modalitäten, unter denen die 
Ordensmänner im Preußischen in ihrer Tätigkeit fortfahren könnten, unterbrach 
der Tod des Papstes (Pastor S. 303 ff.). 

Aus der Fülle des ungedruckten Materials, das der Darstellung Pastors zugrunde- 
liegt, ist eine Auswahl der zweiten Abteilung des 16. Bandes anhangsweise beige- 
geben: päpstliche Erlasse, Äußerungen der Diplomaten usw., am Schluß ein kurzer 
Vermerk zu den Lebensbeschreibungen Klemens’ XIV. 

Auf Anregung des regierenden Papstes Pius XI. ist der Schlußband des Pastor- 
schen Lebenswerkes keinem Geringeren gewidmet als — dem Apostel Petrus, „dem 
Fürsten der Apostel, dem von unserem Heiland eingesetzten ersten römischen 
Papste“ („Nomini honori perbeati Simonis Petri, apostolorum principis primique 
& Christo servatore constituti Romani pontificis"). Dies Einbeziehen einer un- 
historischen Tradition in ein Geschichtswerk, das der voraussetzungslosen Aufhellung 
der Vergangenheit dient, oder doch dienen sollte, ist für den Nichtkatholiken schwer 
verstándlich. 

Wernigerode a. H. Walter Friedensburg. 


Anton Chroust, Das Großherzogtum Würzburg (1806—14). Die äußere Politik 
des Großherzogtums. Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Ge- 
schichte IX, 1. XIV, 617 S. Würzburg, Becker 1932. 36.— ,L brosch. 

Mit der Herausgabe der breitangelegten Geschichte des rheinbündischen Groß- 
herzogtums Würzburg liefert die um die Erkenntnis der Eigenart Frankens hoch- 
verdiente Gesellschaft für Frünkische Geschichte erneut den Beweis ihrer Daseins- 
berechtigung, ebenso wie sich der Verfasser abermals nicht nur als unermüdlicher 
Forscher, sondern auch als Geschichtschreiber vorstellt, der formgewandt selbst 
sprödeste Stoffe geschickt zu meistern weiß. Denn daB die Geschichte des Groß- 


430 Kritiken 


herzogtums Würzburg ein dankbarer Vorwurf für einen Geschichtsforscher ist, der 
sich den Beifall der Masse seiner Fachgenossen zu erringen hofft, das wird niemand 
behaupten wollen. Um so bereitwilliger aber werden dem Verfasser alle die danken, 
die sich ernsthaft um die Erkenntnis des Deutschlands der napoleonischen Zeit be- 
mühen, und erst recht alle Freunde und Fórderer der Geschichte Frankens. 
Erzherzog Ferdinand aus dem Hause Habsburg, durch Geburt auf den Thron 
Toskanas berufen, von den Stürmen einer gewaltigen Welterschütterung zuerst nach 
Salzburg und dann nach Würzburg geschleudert, um zuletzt in Florenz zur Ruhe zu 
kommen, war eine durchaus passive Natur, deren Kräfte sich in der bloßen Daseins- 
behauptung als Mitglied der fürstlichen Gesellschaft Europas verzehrten. Geschichte 
und Wesen des Großherzogtums Würzburg sind durch fünf Züge gekennzeichnet. Zeit 
seines kurzen Lebens liegt es mit seinem größeren Nachbarn und Todfeind, dem 
Königreich Bayern, in einem zermürbenden Kleinkrieg um seine äußere Form, um 
Dörfer und Ämter, um ritterschaftliche Enklaven und Interposen; feste Grenzen 
erlangt es hier endlich 1810, nach Westen und Norden gegen Baden, Frankfurt und 
die sächsischen Herzogtümer aber erst zu einem Zeitpunkt, als seine Einverleibung 
in Bayern bereits beschlossene Sache war. Vom Anfang bis zum Ende bestreitet 
diesem Kleinstaat der Kaiser von Österreich die volle staatliche Selbständigkeit, die 
wirkliche Eigenstaatlichkeit; nur den Charakter einer habsburgischen Sekundo- 
genitur mit dem politischen Zweck, Vorposten der Donaumonarcbie am Main zu 
sein, will Kaiser Franz dem Großherzogtum Würzburg zugestehen. Andrerseits will 
Napoleon unbedingt und restlos über diesen Kleinstaat im Herzen Deutschlands am 
mittleren Main verfügen — gemeinsam mit dem Primatischen Staat und dem franzö- 
sischen Bayreuth sichert er Napoleon die Mainlinie —, ihn ausnützen als militärisches 
Auf- und Durchmarschgebiet erster Ordnung wie als Quelle für Mensch und Tier 
und für alles, was der Soldatenkaiser sonst zum Kriegführen braucht. Unter der 
Führung des Staatsrates Johann Michael Seuffert treibt Würzburg keine große, aber 
einegeradlinige und folgerichtige Politik, durch unbedingten Gehorsam gegenüber allen 
Befehlen und Wünschen des Kaisers der Franzosen sich dessen Hilfe im Kampf gegen 
Bayern zu versichern; freilich zeitigt sie nur einen teilweisen Erfolg. Nach seinem 
Sturz verfállt der Staat einer feigen und dünkelhaften Bürokratie, die, vor Napoleons 
Generälen und ihrer Brutalität kuschend, rasch arbeitet und die Kräfte des Landes 
auf das äußerste anstrengt. In der Allianz aber sabotiert sie die maßvollen und im 
Interesse des deutschen Befreiungskampfes gestellten Forderungen des österreichi- 
schen Gouverneurs; sie legt auch die opferfreudige und reichsdeutsche Gesinnung 
aller Stánde lahm, der Bauern, Bürger und Adeligen, die sich durch jahrhunderte- 
lange Tradition, sei es eine bischóflich -würzburgische, sei es eine reichsritterschaft- 
liche, mit dem habsburgischen Kaiser als Verkórperung des Reiches verbunden fühlen. 
Ein Stück Entstehungsgeschichte des modernen Bayern, eine Episode aus dem 
europäischen Großkampf zwischen Österreich, Frankreich und Bayern, einen Aus- 
schnitt aus dem Werden des deutschen Volkes als einer politischen Größe, das ist 
von einer höheren Warte aus gesehen die Geschichte des Großherzogtums Würzburg. 
Dabei sei noch auf einen besonderen Vorzug der Chroust’schen Arbeit hinge- 
wiesen: die scharfe Herausarbeitung der bedeutenden Rolle, die damals das Recht, 
insbesondere das Reichsrecht, in der Politik spielte. 
Die Anlagen, 27 Aktenstücke, und das Register müssen als sehr willkommen be- 
zeichnet werden. Insbesondere sei verwiesen auf die Anlagen 25 und 26, die Adresse 


Kritiken 431 


des Regierungsdirektors v. Schallhammer an die verbündeten Monarchen vom 
26. April und die Gegenerklárung des Hofgerichtsrats Oehninger vom 3. Mai, die den 
nationalen und liberalen Gedanken nicht als Synthese, sondern als Antithese zeigen. 

Chrousts Buch rollt nun noch eine grundsätzliche Frage auf: die nach der 
Technik der territorialen und landschaftlichen Geschichtschreibung. 
Der Verfasser glaubt sich von vornherein gegen den Vorwurf der allzugroßen Breite 
und Ausführlichkeit verteidigen zu müssen. Ich fürchte, von den Historikern, denen 
der Begriff Geschichte unter dem Einfluß bisher nahezu allmächtig herrschender 
Schulen zu den Begriffen „Europäische Machtgeschichte“ und „Geistesgeschichte“ 
eingeschrumpft ist, wird der Verfasser kaum einen überzeugen. Auch ich rechne nicht 
damit, daß die folgenden Darlegungen einen besseren Erfolg haben. Aber jeder, der 
die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft seit Kriegsende aufmerksam 
verfolgt hat, wird zugeben müssen, daß neben der großzügigen weltgeschichtlichen 
Betrachtung eine andere Anschauung, die sich liebevoll in die Einzelheiten der Hei- 
matgeschichte vertieft, mit dem Anspruch auf Gleichwertigkeit sich mehr und mehr 
durchsetzt. Gleichwertig, weil sie zu der politisch-intellektuellen Bildung als Ergän- 
zung jene gefühls- und willensmäßigen Kräfte weckt, die nur dem Mutterboden ent- 
sprießen können. 

Chroust dient mitseinem Buch der Fränkischen Geschichte. Geschichtforschung 
und Geschichtschreibung der deutschen Landschaft müssen im Einklang stehen 
mit der Eigenart dieser Landschaft. Die innere Eigentümlichkeit der politischen 
Landschaft Franken besteht nun seit dem 13. Jahrhundert darin, daB seine Struktur 
das Chaos ist: äußerste Zersplitterung und Zerfetzung einerseits und engste gegen- 
seitige Durchdringung der Einzelbestandteile andererseits. Wenn nun der Charakter 
der Landschaft sozusagen mikroskopisch ist, dann kann seine Geschichtschreibung 
nicht makroskopisch sein, dann darf sie nicht, um Chrousts Worte zu gebrauchen „nur 
groß ausschreitend und vornehm andeutend" die Geschichte darstellen; sie muß 
„das Kleine und Örtliche maBvoll pflegen“. Aber dieses Kleinleben ist doch nur die 
eine Seite fránkischer Landschaft und Geschichte. Franken bleibt nun einmal das 
Herzstück des deutschen Mitteleuropa zwischen den europäischen Meeren mit ihrem 
Binnencharakter, Anteil habend an zwei von den drei Schicksalsstrómen Mittel- 
europas, an dem Rhein und an der Donau. Diese geographische Lage zerrt die frán- 
kischen Kleinwesen immer wieder hinein in den Strom des groBen Geschehens, des 
politischen wie des geistigen Lebens. Das heißt aber, daB das kleinste Geschehen in 
Franken mit den groBen Ereignissen der deutschen (und das ist eben der mittel- 
europäischen) Geschichte enger zusammenhängt, als das bei einer anderen deutschen 
Landschaft der Fall ist. Der dritte Abschnitt des Chroust'schen Buches, Würzburg 
und Bayern (die Bildung des Territoriums), ist ein geradezu klassischer Beweis für 
diese Erscheinung. Es ist aber für die Darstellung wahrhaftig keine leichte Aufgabe, 
inmitten der kleinen und sich wiederholenden Einzelheiten den großen Zusammen- 
hang erkennen zu lassen und in dem großen Rahmen gerade soviel von dem Kleinen 
zu geben, daß auch die einzelnen Fäden der Entwicklung klar erkennbar werden. 

Mit diesem Doppelcharakter fránkischer Geschichte hängt nun noch ein weiteres 
zusammen. Das Kleine und Örtliche an ihr muB aus den riesigen Aktenmassen der 
fránkischen Archive herausgeholt, herausdestilliert und herausgeschürft werden. 
Ihre Verbundenheit mit dem deutschen und europäischen Geschehen aber wird nur 
völlig klar aus dem Material der großen Archive der europäischen Staaten, vor allem 


432 Kritiken 


der Archive in Wien und Paris, aber auch in München und Berlin; ja bis nach Italien 
und nach RuBland hinein wird man gelegentlich greifen müssen. Damit aber ergibt 
sich für den Forscher logisch und moralisch die Pflicht, dieses Material in seiner Ge- 
samtheit gründlichst auszunutzen; er muB ganze Arbeit machen, da es unwahr- 
scheinlich ist, daB ein zweiter in absehbarer Zeit ihn ergünzen oder berichtigen wird. 
Weil somit eine jede Darstellung zur neueren fränkischen Geschichte auf einem weit- 
schichtigen und zerstreuten Material beruht, so wird sie notwendigerweise zu einer 
getarnten Aktenedition; die Darstellung wird so breit als sie eben noch sein darf; 
und die Anmerkungen sind eine Art Archivinventar. 

So mußte auch Chrousts Buch als eine Arbeit zur fränkischen Geschichte diese 
beiden Züge an sich tragen. Sie sind zwangsläufig — und bedürfen keiner Rechtferti- 
gung, sondern nur einer Darlegung. 

Wir buchen Chrousts Darstellung als einen wertvollen Beitrag zur jüngeren frän- 
kischen Geschichte, aber auch als einen solchen zur Geschichte der napoleonischen 
Zeit schlechthin. Wir möchten ihn nicht mehr missen; und erwarten in Spannung 
den zweiten Band, der uns das innere Leben dieses Rheinbundstaates vorführen soll. 

Erlangen. Helmut Weigel. 


Abel Mansuy, Jéróme Napoléon et la Pologne en 1812. Paris. Félix Alcan. 
1931. 704 S. 80 Frs. 

Das Buch ist an Stelle einer angeblich von den deutschen Truppen 1916 im 
Manuskript zerstórten umfangreichen Veróffentlichung über die franzósische Ver- 
waltung im Westen Rußlands 1812 erschienen. Kein Wunder also, daB der Verf. 
auf die Deutschen schlecht zu sprechen ist und ihnen gegenüber nicht immer die 
nótige Unparteilichkeit findet, so in der Beurteilung der Bayonner Konvention 
(S. 287) und bei Zurückführung vieler durch den Vormarsch der großen Armee 
nach einer schlechten Ernte im Herzogtum Warschau entstehender Verpflegungs- 
schwierigkeiten auf die vertragsmäßigen preußischen Getreideankäufe in Polen, 
ohne zu berücksichtigen, daß Preußen selbst infolge der französischen Truppen- 
durchzüge bis zum äußersten ausgesogen war. 

Jedenfalls hat der Direktor des französischen Lyzeums in Warschau mit Bienen- 
fleiß aus polnischen, russischen und französischen Archiven unter Heranziehung 
einer gewaltigen Literatur, auch der Presse, seinen Stoff zusammengetragen, wobei 
ihm freilich selber die Übersicht verlorengegangen ist (gleiche Zitate an mehreren 
Stellen, z. B. S. 227 und 278, S. 188 und 365). Außerdem wimmelt das Buch von 
Versehen und Druckfehlern (S. 212 Reitz statt Rietz, S. 409 Lothum statt Lottum, 
auf dem Bild S. 72 Kotska statt Kostka) und leidet unter unheitlicher Schreib- 
weise der Eigennamen (S. 509: Ville-suz-Illon, S. 512: Ville sur Illon) und pol- 
nischen Texte; sogar auf der einzigen ganz ungenügenden Karte wechseln will- 
kürlich deutsche und polnische Ortsbezeichnungen (Thorn, Posen, aber Gniezno, 
Rawicz). Bei der Literatur kommen die Deutschen gleichfalls schlecht weg (Nicht- 
erwüáhnung von Schottmüllers Polenaufstand von 1806/07, S. 13 Anführung von 
Forst Battaglias tendenzióser Schrift über die polnische Thronkandidatur des 
Landgrafen von Hessen unter Totschweigung von B. Volz’ vernichtender Kritik 
daran), wogegen ein Hinweis auf Emil Ludwig (S. 335) nicht fehlt. Hier scheinen 
M. überdies die erforderlichen Sprachkenntnisse zu mangeln (S. 93 Anm. 1: Er 
zeugte sich sehr befriedigt; er war ganz wohlwollen; er ermunterte sie zu eifrigen 


Kritiken 433 


Streben; Kinder unterhielten sich mit ihrer Vater) Im ganzen nimmt Verf. 
seinem Helden gegenüber eine stark apologetische Haltung ein und polemisiert 
vor allem gegen Masson und den Sekretär des Warschauer Ministerrats, den Hi- 
storiker Niemcewiez, kann aber nicht leugnen, daB Jéróme im Gegensatz zu dem 
Vizekönig Eugen durch seinen Luxus und arrogantes Benehmen sich viele Sym- 
pathien verscherzt hat, wenn er auch ófter als Sündenbock für seinen Bruder dienen 
mußte. Auch gerät M. dadurch in die Notwendigkeit, gerade das westfälische, also 
deutsche Korps, gegen die Vorwürfe gewaltsamer Requisitionen verteidigen zu 
müssen, ohne die Raublust und Habgier seines Kommandanten Vandamme wesent- 
lich abschwächen zu können. Bezüglich der Thronkandidatur zeigt Verf. unauf- 
hörlich, daß Jeröme selbst keine Neigung für einen Wechsel seiner Stellung besaß, 
nicht der auserwählte Anwärter des Kaisers war und endlich bei den Polen wenig 
Anklang als Monarch in ihrem zukünftigen, vergrößerten Vaterlande fand. 


Leider wird das ungeheure Material nur in 11 Kapitel gegliedert, und die Be- 
nutzung nicht durch sachliche Hinweise, sondern bloß durch ein nicht voll befrie- 
digendes Personenregister erleichtert. Da sich der Verf. zudem an eine streng chrono- 
logische Reihenfolge hält, sind zahllose Wiederholungen und Breiten unvermeidlich. 
Ferner fügt er der Darstellung viele mit seinem Thema kaum zusammenhängende 
Einzelheiten, häufig solche pikanten Beigeschmacks, ein, und das Buch wird dadurch 
förmlich zu einer Skandalchronik der Warschauer Gesellschaft (S. 419 Aufzählung 
von Jerömes Maitressen, übrigens ohne Benennung Dianas von Pappenheim, lang- 
atmige Schilderung der Poniatowski beherrschenden Gräfin Vauban). Entbehrlich 
erscheinen insbesondere die vielen Details über des Königs Umgebung in Kassel. 


Mit minutiöser Sorgfalt untersucht M. Jérómes Beziehungen zu Polen während 
des Krieges von 1806/07, dann seine Berührungen während der westfälischen Zeit 
(polnische Soldaten in seinem Dienst, Interesse für seine Regierungshandlungen 
und die Vorkommnisse am Kasseler Hof in den polnischen Zeitungen mit vielfachen 
Zitaten aus diesen). Der zweite Teil behandelt seine Reise nach Paris 1812 und 
seinen Aufbruch über Dresden nach Kalisch, sowie Napoleons Stellung zu Polen. 
Der dritte enthält die militärischen Vorkommnisse am rechten Flügel, zu dessen 
Führer der König ausersehen war, doch in drückender Abhängigkeit von Davout, 
und durch die notwendige Geheimhaltung seiner Berufung zu geringer Aktivität 
verurteilt. Eine Hauptrolle spielt die von Napoleon wohl unterschätzte Verpflegungs- 
frage mit fortwährenden Kollisionen und erbarmungsloser Auspressung der Ein- 
wohner. Das Mißlingen der zur Irreführung der Russen geplanten Demonstration 
gegen Lublin tritt nicht recht klar zutage und die Schuld daran wird einseitig 
Reynier zugeschoben. 

Eingehend werden die Momente klargelegt, die an sich die Herzen der maß- 
gebenden polnischen Kreise den Napoleoniden entfremden mußten (Kirchenfeind- 
lichkeit, Einführung der Zivilehe, Begünstigung der alle Lieferungen besorgenden 
Juden, S. 356, Wirkungslosigkeit der französischen Gesetzgebung, Besorgnis vor 
einer Bauernemanzipation usw.) Sehr breiten Raum nimmt die Behandlung der 
trostlosen Zustände in Polen und der hier wirksamen Parteien und politischen 
Kräfte ein. Der Hochadel war mit Erfolg bemüht, die Kriegslasten auf die unteren 
Schichten abzuwálzen und besorgte eine Durchkreuzung seiner Absichten, auch 
gegenüber der Szlachta, durch die mit den Gedanken von 1789 erfüllten westlichen 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 2. 28 


434 Kritiken 


Machthaber. Dann intriguierten die einzelnen Magnatenfamilien gegeneinander, 
vor allem die Jöröme durch seine Gemahlin Katharina von Württemberg verwandten 
Czartoryski, die gens Julia Polens, unter dem jungen Fürsten Adam mit seiner 
Hamletnatur und seinem ehrwürdigen betagten Vater, dem Marschall der 1812 
gebildeten Konföderation, der Kriegsminister Joseph Poniatowski, die Potocki, 
Zamojski und andere, alle unter lebhafter Anteilnahme ihrer weiblichen Mitglieder. 
Diese vielfach in Österreich und Rußland begüterten, an die dortigen Monarchen 
und den Adel geketteten Geschlechter schwankten durchweg und wichen jeder 
festen Bindung sorgfültig aus. Durch das Medium dieser Amphibien, sowie durch 
seine diplomatischen Vertreter in Dresden, Kassel usw. erlangte Alexander fort- 
dauernd die wertvollsten Informationen. 

Die unerquicklichen Reibereien setzten sich in die Ministerien und übrigen 
Behórden fort, deren Reprüsentanten gleichfalls Revue passieren. Dabei wurden 
die wirklich patriotischen Elemente, wie die Legionáre um Dombrowski und der 
Senator Wybicki beiseite geschoben und mit Undank abgespeist. Auch die Sachsen, 
wie Friedrich Augusts Minister des Auswürtigen, Senfft von Pilsach, spielten eine 
zweifelhafte Rolle. 

Alles in allem dürfte das Buch niemandem zu rechter Freude geschrieben sein, 
denn es enthält wenig schmeichelhafte Urteile über das Gebaren der Franzosen 
von polnischer Seite, und ebenso vernichtende Kritiken an den Polen aus dem 
Mund ihrer Pariser Freunde, z. B. des Geschäftsträgers Bignon. In dem Chaos der 
Verwaltung hielten nur die Deutschen einigermaßen die Ordnung aufrecht, die 
unter den 59 Stellen der Warschauer Kommunalbehörden 33 innehatten (S. 517), 
und zumal im Finanzwesen unentbehrlich waren (S.98: „les finances n'ont été 
soutenues jusqu'ici que par les soins des anciens fonctionnaires prussiens. Le désir 
des habitants d'ici (Posen) est de redevenir sujets prussiens“, nach aufgefangenem 
Brief in den archives nationales). 

M. versucht im Schlußwort, diese Erscheinungen durch die bisher zwischen 
Franzosen und Polen obwaltenden und zu jeder Zeit bestehenden Mißverständnisse 
zu erklären und appelliert an beide Parteien zu deren künftiger Behebung. Es er- 
scheint fraglich, ob dieser Versuch großen Erfolg verspricht, denn die Ursache des 
MiBakkordes liegt doch in der Natur der Sache, in der grund verschiedenen Struktur 
beider Länder und ihrer Bewohner begründet. Auch heut noch gilt das Urteil des 
neuen französischen Gesandten de Pradt: La Pologne n'est plus l'Asie: ce n'est 
pas encore l'Europe (S. 612). 

Breslau. Manfred Laubert. 


Schneider, Hans, Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates 1848 bis 
1918. Erster Halbband 1848—1874. (Allgemeine Staatengeschichte, Erste 
Abteilung, 26. Werk, Band 6.) Friedrich Andreas Perthes A.-G. Stuttgart, 
1931. XVI. 857 S. geb. RA 26,—, brosch. ZA 23,—. 

Johannes Dierauer hat die Geschichte der Eidgenossenschaft von ihren An- 
fängen bis zum Jahre 1848 in fünf Bänden dargestellt; es war das Lebenswerk des 
1920 hingeschiedenen Gelehrten. Nach seinem Wunsche sollte Hans Schneider 
das Werk fortsetzen; dieser bietet nun zunächst die Schilderung der Jahre von 
1848—1874. Der umfangreiche Halbband enthält die erste umfassende wissen- 
schaftliche Schweizergeschichte dieser Zeit; er ist mit viel Fleiß und Sorgfalt aus 


Kritiken 435 


den schweizerischen wie auslündischen Archiven und einer weitschichtigen zeit- 
genóssischen Literatur herausgearbeitet. Dem Wesen des Gesamtwerkes entsprechend 
wurde allein das staatliche Leben erforscht und beschrieben, das wirtschaftliche und 
geistige nur insoweit, als es für den Staat in Betracht kommt. Ein zweiter Halb- 
band soll der Geschichte von 1874 bis zum Ende des Weltkrieges gelten. 

Der Bundesvertrag von 1815 mit der schwachen Bundesgewalt und der Selbst- 
herrlichkeit der Kantone hatte sich schon für die Stellung nach außen als ungenügend 
erwiesen; auch die wirtschaftlichen Verhältnisse drängten zu einer strafferen Zu- 
sammenfassung. Der Sieg des Liberalismus ermóglichte es, die Schweiz durch die 
Bundesverfassung von 1848 fester zu einigen; sie besaß nun im Bundesrat ein stehen- 
des, mit der Wahrung der Gesamtinteressen betrautes Organ, neben dem die Bundes- 
versammlung den Willen des Schweizervolkes vertreten sollte. Zunächst legte man 
die Grundlagen der wirtschaftlichen Einheit, indem Zólle und Posten, Münze, 
Maß und Gewichtswesen den Kantonen entzogen und dem Bunde übertragen 
wurden, ähnlich wie dies später in Deutschland nach der Gründung des Deutschen 
Reiches geschah. Nicht gelang, wie später auch im Reich nicht, die Vereinheit- 
lichung der Eisenbahnen noch die Gründung einer gemeinsamen Universität; nur 
ein Eidgenössisches Polytechnikum in Zürich fand Verwirklichung. Der Einfluß 
des Bundes war fortwährend im Steigen, wenn auch die Kantone ihr Eigenleben 
innerhalb des ihnen verbliebenen Geltungsbereichs weiterführten; die wohlüber- 
legte Bundesverfassung bewährte sich. Im Innern schwelte zwar das Feuer der 
alten Gegensätze noch lange weiter; die siegreiche Partei hielt die Konservativen 
nach Möglichkeit vom Regimente fern, und im einzelnen versagten die eidgenössischen 
Behörden den Unterlegenen nicht selten den Schutz gegen die Willkür der radikalen 
Regierungen. Im ganzen aber verstand es der Bundesrat, die Schwierigkeiten zu 
meistern; man kann den leitenden Staatsmännern das Zeugnis nicht versagen, daß 
sie ihre Gewalt mit Klugheit und Maßhalten ausgenutzt haben. Gegen Ende der 
Epoche setzte eine Revisionsbewegung ein mit dem Schlagwort: ein Recht und 
eine Armee, und mit dem weiteren Ziel, die demokratischen Einrichtungen, wie 
sie zunächst in einzelnen Kantonen und 1869 besonders in Zürich durchgedrungen 
waren, auch in den Boden des Bundes einzupflanzen, vom repräsentativen System 
zur unmittelbaren Demokratie überzugehen. Dies geschah durch die neue Bundes- 
verfassung von 1874, welche jedoch die Grundlagen der von 1848 beibehielt. Das 
Buch Schneiders ist von dem Gedanken beherrscht, daß hier ein stetiger und not- 
wendiger Fortschritt zu bemerken sei, worüber seine Landsleute je nach ihrem po- 
litischen Standort ja verschiedener Meinung sein können. 

Die Wirtschaft der Schweiz führte längst kein sich selbst genügendes Eigen- 
leben mehr, sie war in die Weltwirtschaft verflochten, damals bereits, wie erst 
wenige Länder, auf Industrie und Export angewiesen. Für die notwendig werdenden 
Handelsverträge erschien sie nach 1848 weit besser gerüstet als der Staatenbund 
von 1815. Aber bereits begannen materielle Ziele die bisherigen Parteien mit 
ihrer ideellen Grundrichtung zu zersetzen. Das sich verschärfende Widerein- 
ander der wirtschaftlichen Interessen beherrschte das öffentliche Leben immer 
stärker; besonders das Eisenbahnwesen wurde zu deren Kampfplatz. Wenn die 
Gegensätze doch nicht zerstörend wirkten, so war die Ursache, daß die Industrie, 
wie auch sonst in Mitteleuropa, sich rasch entfaltete, was wohl der Tatkraft und 
dem Fleiß der Schweizer Bürger verdankt, im letzten Grunde doch nur durch die 

28* 


436 Kritiken 


Gunst der auswärtigen Lage und die dadurch bewirkten friedlichen Verhältnisse 
ermöglicht wurde. 

Denn darüber kann kein Zweifel herrschen, daß die Schweiz ihre Geschicke 
längst nicht mehr selber zu bestimmen vermochte, sondern von der Gruppierung 
der umgebenden Mächte abhing. Sie war 1815 für neutral erklärt worden, und die 
Schweizer hatten bald in der Neutralität ein Gesetz der Selbsterhaltung zu schätzen 
gelernt. Wenn der Bundesrat auch aus fähigen Männern bestand, so war er doch 
in der äußeren Politik noch wenig erfahren, in den diplomatischen Formen un- 
gewandt und auch durch den jährlichen Wechsel im außenpolitischen Departement 
gehemmt; er pflegte sich bei der englischen Regierung Rat zu holen und deren 
Fürspruch zu erwarten, die natürlich doch in erster Linie bei allen strittigen Fragen 
den eigenen Vorteil im Auge behielt. Wiederholt kam die Schweiz in erhebliche 
Schwierigkeiten, so wegen der politischen Flüchtlinge, welche in großer Zahl die 
Schweiz aufsuchten und von hier aus ihre Heimatländer in Unruhe versetzten, 
dann wegen des Neuenburgerhandels mit Preußen, während des Krieges von 1859, 
der besonders den Kanton Tessin aufrührte, in der Zeit des Deutsch-französischen 
Krieges, während dessen eine ganze französische Armee auf Schweizerboden über- 
trat. Aber stets gelang es ihr, unversehrt aus den gefährlichen Umständen sich 
herauszuretten. Der Grund lag nicht sowohl in der eigenen Macht und in dem vor- 
sichtigen, völkerrechtlich einwandfreien Verhalten der obersten Behörden als viel- 
mehr im Willen der umgebenden Mächte und im Widerstreit ihrer Interessen. 
Beim Hader um Neuenburg 1857 kam die Eidgenossenschaft recht glimpflich davon, 
ja mit Gewinn, weil dem übermächtigen Preußen das eigentliche Wollen zum Ein- 
greifen mangelte und es seine Heereskräfte für das ferne, längst unwert gewordene 
Ländchen nicht einsetzen mochte; man kann es verstehen, wenn die Schweizer 
selbst ihren Erfolg auf das vermeintlich bessere Recht und ihre Tatbereitschaft 
zurückführten, eine Selbsttäuschung, die auch durch das im allgemeinen ruhige 
Urteil des Geschichtschreibers noch allzusehr durchschimmert. Im Savoyer Zwist 
des Jahres 1860 dagegen sah sich die Schweiz dem festeren Machtwillen Frankreichs 
gegenüber und konnte darum mit ihrem Streben, die Abtretung des Savoyer Gebiets 
bis zu einer gewissen Militärgrenze zu erreichen, nicht durchdringen. Eine lange 
Dauer des Deutsch-französischen Krieges hätte für die Versorgung mit Lebens- 
mitteln und Kohle, für die Industrie und den Ausfuhrhandel verheerende Folgen 
nach sich gezogen, die nur abgewehrt wurden, weil die kriegerische Kraft der Deut- 
schen eine rasche Beendigung des Feldzuges erzwang. Immerhin kräftigte und ver- 
feinerte die Wiederkehr äußerer Gefahr den Begriff und das Gefühl der Neutralität: 
der Krieg von 1870/71 weckte und verschärfte freilich auch die politischen und 
nationalen Gegensätze innerhalb des Schweizervolks. Im Grund hat die Bildung 
neuer Großstaaten südlich und nördlich des Landes das europäische Gleichgewicht 
gefestigt und dadurch den Wert der Neutralität für die Eidgenossenschaft erhöht. 
Es war ein Glück für sie, daß die von außen sich erhebenden Gefahren niemals über- 
groß wurden und im ganzen die von ihr unbeeinflußten und unbeeinflußbaren aus- 
wärtigen Verhältnisse während dieses ganzen Zeitraumes ihr günstig blieben. 

Die Einleitung des Buches ist wohlüberlegt, das Urteil von politischem Ver- 
ständnis getragen und gegen außen wie innen nach Billigkeit strebend. Es hängt 
wohl mit der Eigentümlichkeit der schweizerischen Republik dieser Zeit zusammen, 
scheint aber auch der geschichtlichen Auffassung Schneiders zu entsprechen, daß 


Kritiken 437 


im Vordergrund der Schilderung durchaus die Mafregeln stehen, eine Zeichnung 
der Persönlichkeiten mit wenigen Ausnahmen kaum versucht wird, daB der Ver- 
fasser, wenn schon er das eigene Urteil auszusprechen sich nicht scheut, dies doch 
möglichst mit Anführungen aus gleichzeitigen Schriften und Äußerungen von 
Landesgenossen wiederzugeben sucht. Als Ganzes bedeutet das Buch eine recht 
wertvolle Bereicherung der geschichtlichen Literatur und bietet auch für dies Ver- 
ständnis der Geschichte der Nachbarstaaten reiche Aufschlüsse. 


Stuttgart. Karl Weller. 


Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. 
Von Bismarck bis 1918. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1931. 


Das fundamentale Problem der deutschen Geschichte: Unitarismus und Fö- 
deralismus beschränkt auf die spezifische Erscheinungsform des Dualismus zwischen 
dem Reich und seinem gróBten Gliedstaat, seinem eigentlichen Schópfer, PreuBen, 
bildet den Gegenstand des Goldschmidtschen Buches. Es will „die geschichtlichen 
Erfahrungen für die Reform der Reichs- und Länderverwaltung nutzbar machen". 
Eine sorgsam ausgewühlte Fülle von Aktenstücken kennzeichnet die verschlungene 
Problematik der inneren Situation des Reiches in dem Wechselverhältnis mit 
Preußen, der der Verfasser im ersten Teil des Buches durch kurze kritische Er- 
örterungen die grundsätzlichen Linien des beiderseitigen Wollens und Handelns 
abzugewinnen sucht. G. unterscheidet drei Entwicklungsstadien dieses Verhält- 
nisses: das des Unitarismus (1867—1880), des bündischen Unitarismus (1880—1890) 
und des Partikularismus (1890—1918). 

Den Nachweis, daß beim Ausbau der Reichsinstitutionen in Bismarck, bei 
allem Festhalten der bundesstaatlichen Grundlage des Reiches, der Wille zu uni- 
tarischer Reichsgestaltung leitend gewesen sei, glaubt G. als entscheidendes 
Ergebnis seines Buches ansehen zu kónnen, das wir im einzelnen dahin prázisieren: 

Die erste große Periode des „Unitarismus“ gipfelt aus der Vielheit der Mög- 
lichkeiten und Ansátze gedanklich in der parlamentarischen Idee eines verant- 
wortlichen Ministeriums für das Reich nach dem Muster Englands mit dem Premier 
als eigentlich verantwortlichen Führer der Regierung, im Gegensatz zu der preußi- 
schen Kollegialverfassung mit verfassungsrechtlich verantwortlichen Ministern, 
gegen deren Übertragung auf das Reich Bismarck sich stets gewehrt hat, praktisch 
in den Versuchen, die Reichskompetenzen auf Kosten der Gliedstaaten zu stärken 
und durch Ausbau und Vermehrung selbständiger Reichsámter und durch enge 
Verbindung der Behörden des Reichs und Preußens dem ersteren einen verstärkten 
Einfluß zu verschaffen, es dem preußischen Ressortpartikularismus gegenüber 
durchzusetzen und diesen für die gleichzeitige Wahrnehmung von preußischen 
und Reichsinteressen zu gewinnen und zu erziehen; vielleicht die preußischen 
Minister nach dem Modus des preußischen Kriegsministers als Bundeskriegsministers 
in die Stellung der vom Kanzler abhängigen Chefs der Reichsämter herabzudrücken. 

Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung Ende der 70er Jahre, als eine all- 
gemeine Finanzreform Hand in Hand mit der Schwenkung in der Wirtschafts- 
politik das Reich aus der finanziellen Abhängigkeit von den Gliedstaaten befreien 
und eine grundlegende Vereinheitlichung in der Verwaltung jenen Dualismus be- 
seitigen sollte. 


438 Kritiken 


Diese weitausgreifenden Pläne sind letzten Endes gescheitert, weil die parla- 
mentarischen Verhältnisse in dem unitarischen Element der Reichsverfassung, dem 
Reichstag, sich so gestaltet hatten, daß Bismarck ihm den notwendigen Einfluß 
nicht zugestehen wollte und konnte. 

Die Folge war in der Periode des „bündischen Unitarismus" das verstärkte 
Bestreben nach Minderung der Machtstellung des Reichstags und das schärfer 
akzentuierte Herausheben des föderativen Faktors der Legislative, des Bundes- 
rats, den der Kanzler allerdings erst durch eine einschneidende Reform zu einem 
für seine Zwecke handlichen Instrument umzugestalten hatte; ob diese Reform 
eine „unitarisch“ gerichtete war, wie G. urteilt, wird noch zu überprüfen sein. 
Die Plüne zur Bildung eines Volkswirtschaftsrats und Reichsrats waren weitere 
Mittel, die Reichsgewalt zu stärken und Parlament und bundesstaatliche Kompe- 
tenzen zu schwächen. 

War es der Autorität und Gewaltsamkeit Bismarcks gelungen, die ausein- 
anderstrebenden und rivalisierenden Tendenzen des Reichs und PreuBens zugunsten 
des ersteren einzuspannen und die dualistischen Lücken der Reichsverfassung zu 
überbrücken, so mangelte allen seinen Nachfolgern bis 1918 — Periode des ,,Par- 
tikularismus“ — die Kraft und der Wille, die einander bekämpfenden Kräfte den 
notwendigen Bedürfnissen des Gesamtreichs entsprechend auszugleichen. Die 
preuBischen Minister arbeiteten dem Reiche oft direkt entgegen und versagten 
sich ihm, wenn sie die Reichspolitik mit ihrem Ressortinteresse in Widerspruch 
fanden, und der ungelóste, durch das Anschwellen der Aufgaben des Reiches in 
der Wirtschafts- und Sozialpolitik immer mehr hemmend empfundene Dualismus 
hatte die unheilvollsten Folgen während der ungeheuren Belastungsprobe des 
Weltkrieges und erschwerte, ja verhinderte geradezu die nótige Geschlossenheit 
der Reichsverwaltung in den Momenten größter Gefahr. — 

Der Verfasser hat das unbestreitbar große und über alle Differenzen der Be- 
trachtungsweise und Beurteilung erhabene Verdienst, mit seinem Buche den Grund- 
Stein für eine objektiv zu greifende Verfassungsgeschichte des Bismarckischen 
Reiches gelegt zu haben. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über das 
Problem Reich—PreuBen ist durch ihn erst ermóglicht worden, und die Gegner 
seiner Auffassung erhalten erst von ihm die Grundlage und das Rüstzeug 
ihrer Kritik. Besondere Anerkennung gebührt dem Verfasser für das vorgelegte 
Aktenmaterial, das er an entlegensten und schwer zugänglichen Orten auf- 
gespürt hat. 

Aber ist es richtig, die in den von G. ausgewühlten Dokumenten zur Erórterung 
stehenden Fragen der Bismarckischen Reichsverwaltung in das auf die Gegenwart 
zugespitzte Schema: Unitarismus und Föderalismus einzuspannen? Beide Be- 
griffe sind Funktionen von Vielheit und Einheit. In G.s Buch handelt es sich um 
das von der erwähnten Fragestellung gerade zu Bismarcks Zeit sehr wesentlich 
verschiedene Problem des Dualismus zwischen dem Reich und Preußen, um die 
Frage: wie mußte verfahren werden, um das preußische Königtum mit seinem 
Machtapparat, das den Kaiser und den Kanzler für das Reich stellte und verfassungs- 
mäßig den Primat im Reich innehatte (Verfassungsveto!) mit dem Organismus 
des von ihm selbst geschaffenen Reiches zu harmonischer, dem Reichsgedanken 
förderlicher und dennoch der Eigenart des Landes Preußen gerecht werdender 
Zusammenarbeit zu bringen? G. sieht diese Sachlage nicht klar und spricht sie 


Kritiken 439 


nicht aus, und dies veranlaßt ihn stellenweise, das vorhandene Material unorganisch 
auf das Gleis seiner Betrachtungsweise zu schieben und in Vorgängen rein geschäft- 
licher Natur prinzipielle, angeblich „unitarisch“ gemeinte (Reichs-)Reformmaß- 
nahmen anzunehmen. Entscheidend ist, daß Bismarck bewußt und peinlich ver- 
mieden hat, durch eine der projektierten oder verwirklichten Vereinfachungen des 
preußisch-deutschen Verwaltungsapparates die Eigenart der preußischen Ver- 
fassung anzutasten, zumal jene organisatorischen Veränderungen nicht auf der 
Basis eines bewußt angelegten Reformprogramms erfolgten, sondern mehr aus 
zwangsläufig sich ergebenden Notwendigkeiten resultierten. Reichsreform bedeutet 
aber stets irgendwie Verfassungsänderung. 

Die kurzen kritischen Erörterungen des Verf., die nur ein Führer durch die 
Akten sein wollen, leiten den Leser doch bewußt in jenes „unitarische“ Blickfeld 
hinein. Sie stehen auf einer Stufe, die sich von der souveränen Höhe einer ver- 
arbeitenden Darstellung ebensoweit entfernen wie von dem Charakter einer bloßen 
kritischen Notiz und suchen zu erfassen und zu beweisen, was die abgedruckten 
Akten allein zu sagen nach dem richtigen Gefühle des Verf. nicht imstande sind. 
Eine zusammenfassende Darstellung hätte die Klarheit der Problemlage gebracht. 

Das von Goldschmidt erarbeitete Resultat eines „unitarischen“ Reichsaus- 
baues unter Bismarck steht an keiner Stelle so sehr in Widerspruch mit dem vor- 
liegenden Material und mit dem Wesenskern der Bismarckischen Haltung zu dem 
preußisch-deutschen Problem als auf S. 93 ff. Der Verf. hebt hier die beiden Fak- 
toren hervor, die eine Schwächung der Reichsgewalt herbeiführen könnten: die 
Ausartung der Hegemonie Preußens, das dem Reich seinen Willen aufzwänge, 
und ein Übermächtigwerden des Reichstages, ohne daß ihm ein entsprechendes 
Gegengewicht gegenüberstände. Die partikulare, oder wenn man so will, die fö- 
deralistische Kraft und die unitarische, der Reichstag, stehen, wenn auch aus 
konträren Bedingungen erwachsen, gegen das Reich. Das hierdurch bedingte Ver- 
halten Bismarcks erhellt in nicht zu leugnender Klarheit, daß für ihn die Stärkung 
der Reichsgewalt ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Prinzipien das Ziel 
seines Handelns war, das mit den nachträglich angelegten Formeln des Unitarismus 
nicht einzufangen ist, auch dann nicht, wenn man diese unitarische Tendenz zu 
einem unitarischen Medium degradiert, das alle Pläne des Ausbaus der Reichs- 
institutionen unter Bismarck passiert haben sollen. Ein solches Bemühen bedeutet 
stets Einengung, Verkümmerung, ja Vergewaltigung von Bismarcks Staatskunst. 
Die grandiose schöpferische Elastizität, mit der der Reichsgründer alle Mittel und 
Formen staatsmännischen Handelns verwandte, ohne sich ihnen jemals vollständig 
zu verschreiben, und sie rücksichtslos zerschlug, wenn er sie den Gegebenheiten 
der Situation nicht mehr adäquat fand, ist zu vielgestaltig und eigengesetzlich, als 
daß man nicht Abstand nehmen sollte, ihn für ein bestimmtes Lager zu beanspruchen, 
dessen formaler Gehalt in diesem Falle obendrein viel mehr aus den praktischen 
Erfahrungen der neuen Gegenwart seit 1918 fließt als aus geschichtlich ererbten 
Problemen. 

Wenn der Verf. im Vorwort zu seinem Buche die persönlichen Kundgebungen 
Bismarcks in der Innenpolitik dahin beurteilt, daß ihr wesentlicher Zweck gewesen 
sei, „die Staatsoberhäupter und Regierungen der Gliedstaaten glauben zu machen, 
sie würden in seiner Gefolgschaft ihr politisches Ziel, die Erhaltung ihrer Selbst- 
ständigkeit, am sichersten erreichen“, so bedeutet das neben einer vollständig 


440 Kritiken 


unmotivierten, auch durch G.s Buch nicht gerechtfertigten Verurteilung dieser 
Äußerungen des Kanzlers eine so einseitige Festlegung, daß man die Auswahl der 
von G. abgedruckten Dokumente einer sehr kritischen Durchsicht unterziehen muß. 
Ich möchte behaupten, es müsse möglich sein, dieser Auswahl „unitarisch gerich- 
teter“ Stücke eine solche „föderalistischer“ Tendenz an die Seite zu stellen. Die 
einen der anderen überzuordnen, liegt keine Veranlassung vor; es bóte sich ledig- 
lich das beinahe amüsante Schauspiel, daB die einseitigen Verfechter der einen 
wie der anderen Theorie spáte Opfer von Bismarcks eigener Taktik geworden sind. 


Diese Problemstellung ist zur ausschlaggebenden erst seit 1918 geworden. 
Die Verfassung von Weimar hat in stark und wahrhaít unitarischem Sinne die 
Kompetenzen des Reichs gegenüber den Gliedstaaten im Vergleich zu der Bis- 
marckischen Verfassung erheblich gesteigert, das Reich aber gleichsam seiner Haus- 
macht, der Gewalt über PreuBen, beraubt und damit das Nebeneinander zweier 
starker Gewalten gebracht, deren Verhältnis zueinander längst einer harmonischen 
Regelung bedarf. Immer aber sollte Preußen die ihm historisch erwachsene Stellung 
eines Treuhänders des Reiches erhalten bleiben, die ihm verpflichtendes Gebot 
sein muß gegenüber der Nation und ihren vielen eigenartigen Gliedern. 


Berlin. Herbert Michaelis. 


Nachrichten und Notizen. 


Theorie der Geschiedenis, voornamelijk met betrekking tot de cultuur door 
K. Kuypers. H. J. Paris, Amsterdam 1931. 279 Seiten. 


Wer einen Beweis für das starke Interesse sucht, das man außerhalb Deutsch- 
lands dem deutschen Historismus und der Soziologie entgegenbringt, findet am 
Schlusse dieser holländischen Publikation ein Literaturverzeichnis, das unter 103 
benützten Autoren 81 Deutsche nennt. „Theorie der Geschiedenis“ soll nicht etwa 
Geschichtsphilosophie bedeuten, sondern eine sich möglichst eng an die praktische 
Forschung anschließende Besinnung über die historischen Begriffe und ihr gegen- 
seitiges Verhältnis. Dilthey, Troeltsch, Max Weber sind die Namen, von denen der 
Autor ausgeht und mit deren Fragestellung er sich beschäftigt. Es ist indessen weder 
Absicht noch Ergebnis seines Buches, eine geschlossene eigene Systematik der histo- 
rischen Begriffe aufzustellen. Es handelt sich eher um eine kritische Einführung in 
das Vorhandene, wobei freilich bei der nüchternen und umsichtigen Art des Ver- 
fassers wertvolle Einsichten und Perspektiven nicht ausbleiben. Aus der Fülle der 
Themen seien einige Stichworte ausgewählt: Aufgabe der philosophischen Anthro- 
pologie und ihre Beziehung zu den historischen Disziplinen. Das Psychische und das 
Sinnhafte. Kultur und Sinn, Kultur und Wert, Kultur und Norm. Die Trennung der 
Kulturgebiete und ihr Zusammenhang. Die Tradition und das Problem des Gene- 
rationenwechsels. Entwicklung und Fortschritt. Historischer Zusammenhang und 
Kausalität. Die politische Geschichte in ihrem Verhältnis zu den andern Kultur- 
gebieten. Die Biographie. Der Begriff des Sozialen und die Geschichte. 

Die weite Verzweigung der Themen verbietet eine einheitliche Kritik, die Sorg- 
falt der Reflexionen und der offene Bliek für die praktischen Probleme der Forschung 
verdienen Anerkennung und Beachtung. Werner Kaegi. 


Nachrichten und Notizen 441 


„Gestalten und Gedanken in Israel, Geschichte eines Volkes in Charakter- 
bildern" von Prof. Dr. Rud. Kittel. 2. Auflage (Quelle & Meyer) Leipzig. 
536 S. In Leinw. geb. & 12,—. 

Der Verfasser der groBen Geschichte des Volkes Israel hat kurz vor seinem Tode 
noch einmal die wesentlichen Inhalte dieses eigenartigen Geschichtsablaufes in einem 
neuen Werk vor dem Leser ausgebreitet. Dieses Buch ist — natürlich auf der Basis 
des großen dreibándigen Werkes — allgemeinverständlich geschrieben; jedoch so, 
daß ein ausführlicher Anmerkungsapparat in die neue wissenschaftliche Debatte 
eingreift. Den Unterschied deutet der Titel an: Gestalten und Gedanken wollte der 
Verfasser nachzeichnen; in diesem neuen Buch kommt also das ganz persönliche 
Bekenntnis des greisen Gelehrten zum Ausdruck, daB es nämlich „nichts Aristo- 
kratischeres gibt als die Weltgeschichte“. So hat es die Darstellung in erster Linie 
auf die großen Persönlichkeiten abgesehen: Von Mose bis zu den Makkabäern wird 
eine Kette der markantesten und verschiedenartigsten Gestalten in wirklich packen- 
der Schilderung umrissen. Auch die Anonymi (Erzähler, Gesetzgeber, Propheten) 
werden dieser Reihe eingegliedert. Hier freilich spürt man wohl auch die Schranke 
dieses bedeutenden Unternehmens, die „Geschichte eines Volkes in Charakterbildern“ 
zu schreiben, denn jene Gesetzgeber, der „Jahwist“, „Deuterojesaja“ usw. sind doch 
nicht zufällig für uns Anonymi! — Den religiösen Gedanken, soweit sie sich mit 
den geschilderten Persónlichkeiten verbinden, hat der Verfasser einen breiten Raum 
gegeben, ohne daß dadurch doch das Buch zu einem theologischen Werk geworden 
wäre. Die 2. Auflage ist jetzt nach hinterlassenen Angaben des Verfassers verbessert 
und ergänzt. 

Leipzig. v. Rad. 


Bremisches Jahrbuch, Band 33, herausgegeben von der historischen Gesell- 
schaft des Künstlervereins, Bremen 1931. (G. Winters Buchhandlung, 
Fr. Quelle Nachf.) (X, 535 S.) 

Zur Pfingsttagung des Hansischen Geschichtsvereins in Bremen 1931 über- 
reichten die Bremer Gastgeber den Teilnehmern unter anderen wertvollen Fest- 
gaben ihr besonders reichhaltiges Jahrbuch 33 mit 14 Beitrügen, von denen mehrere 
besondere Bedeutung über den órtlichen Rahmen hinaus besitzen. 

K. Battré weist das älteste Schiffsmodell in der oberen Rathaushalle 
zu Bremen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu. Damit gewinnt das schöne 
Stück besonderen Erinnerungswert an die Hansezeit. — Zur mittelalterlichen 
Baugeschichte des Bremer Doms, der seit seiner Restaurierung von den 
Kunsthistorikern zu Unrecht etwas vernachlüssigt wurde, bringt Helen Rosenau 
einen zu kunstgeschichtlich lehrreichen Ergebnissen (trotz des schwer genieBbaren 
Stils) führenden Beitrag. Wesentliche Teile des heutigen Baues entstammen nach 
den Ausführungen der Verfasserin einer frühromanischen Basilika, deren Lang- 
haus Bischof Bezelin nach dem großen Brande von 1041 nach Kölner Vorbild, 
und zwar ohne den sogenannten niedersáchsischen Stützenwechsel errichtete. 
Dieser Bau wurde von einer streng romanischen Anlage des 12. Jahrhunderts ab- 
gelöst, um dann im 13. Jahrhundert einem Neubau im Sinne des rheinischen Über- 
gangsstils zu weichen. Endlich hat die Spätgotik das nördliche Seitenschiff ent- 
scheidend umgestaltet unter Anpassung an romanische Einzelheiten, worin sich 
vielleicht das früheste Auftreten des architektonischen Historismus zeigt. Eine: 


442 Nachrichten und Notizen 


Reihe guter Aufnahmen von den Grabungen der Verfasserin, darunter das zweite 
Grab des Erzbischofs Adalbert, unterstützen den Text. 


Friedrich Prüser setzt seine Untersuchungen über bremischen Kirchengüter- 
besitz fort an Hand der Güterverháltnisse des Anscharikapitels. Für seine 
sehr eingehenden Forschungen stützt er sich auf den vorzüglich erhaltenen Ur- 
kundenbestand, der ergänzt wird durch die Regula Capituli S. Anscharii und den 
Liber fundationum Vicariorum. — Einen tiefen Einblick in die sozialen und wirt- 
schaftlichen Verhältnisse des hansischen Bürgertums vom 14. bis zum 17. Jahr- 
hundert vermittelt uns der Aufsatz von Heinrich Sasse über das bremische 
Krameramt, dessen Gründung 1339 als politischer Schachzug des Rates gegen 
den Erzbischof gewertet wird, indem der Rat dadurch die Markthoheit usurpierte. 
Wir verfolgen den Aufstieg des Kramers vom wandernden Kleinhändler zum Groß- 
händler, der sich allmählich eine gesellschaftliche Stufe höher schwingt. 


Ilse Schunke beschreibt die Handschriften von Renners Bremer 
Chronik in der Staatsbibliothek zu Bremen (Urschrift nebst 15 Abschriften) und 
erweckt in uns den Wunsch nach einer baldigen Ausgabe der noch immer ungedruck- 
ten wichtigen Chronik aus der Hand der Verfasserin. Ein zweiter Beitrag von ihr 
handelt über Einbände aus der bremischen Staatsbibliothek. 


Eine militärgeschichtliche Studie liefert Hans Stuckenschmidt über das 
Artilleriewesen der Stadt Bremen. Nach seinen Ausführungen gehörte Bremen 
um 1700 zu den ersten Festungen Norddeutschlands; eine lehrreiche Karte von 
1734 zeigt die hervorragende Bestückung der Festungsbastionen. — Inhaltlich 
verwandt mit dem vorhergehenden ist der Beitrag von Fritz Lemelson über 
die bremische Bürgerwehr von 1813—1853, deren Stärke im Durchschnitt 
etwa 2100 Mann betrug. 


Wertvolle Erkenntnisse zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts liefern die 
Forschungen von Alfred Schmidtmayer, der über die Beziehungen des 
Bremer Gymnasium illustre zu J. A. Comenius und den mährischen 
Brüdern schreibt. Von welcher Bedeutung der bremische Calvinismus seit der 
Verödung der Schule zu Herborn für Böhmen gewesen sein muB, ersieht man dar- 
aus, daß 1610 fast ein Viertel der am Bremer Gymnasium immatrikulierten Stu- 
denten (20 von 83) aus Böhmen und Mähren stammte; die Empfehlungen des Spät- 
humanisten Karl von Zierotin an den böhmischen Adel haben hierzu nicht wenig 
beigetragen. Als besonders einflußreiche Lehrerpersönlichkeit stellt der Verfasser 
den klugen Matthias Martinius hin. Ein Schüler des Gymnasiums war u. a. der Arzt 
Dr. Kozak, dessen enge Beziehungen zu Comenius klargestellt werden. Ein Matrikel- 
auszug ist dem wertvollen Aufsatz beigefügt. 


Auf Grund einer Dissertationensammlung berichtet Heinz Schecker über 
Bremer Mediziner der Barockzeit und beleuchtet in einer auch für Nicht- 
mediziner fesselnden Form kulturgeschichtliche Zustände der Zeit. — Aus den 
Briefen des Humanisten Johannes Molanus veröffentlicht Wilko de Boer einen 
Bericht des genannten Bremer Rektors über eine Bremer Hexe aus dem Jahre 
1565. — In einem glänzend geschriebenen Aufsatz stellt Heinrich Tidemann 
den Pastor Rudolph Dulon als geistigen Führer der bremischen Märzrevolution 
hin und entwickelt den Werdegang dieses bedeutsamen Achtundvierzigers aus 
altem Schweizer Geschlecht, der groß geworden war im Rationalismus und sich 


Nachrichten und Notizen 443 


allmählich dem religiösen und politischen Radikalismus zuwandte. Auf die Fort- 
setzung von Tidemanns Arbeit darf man gespannt sein. 


Ernst Grohne läßt uns den weiten Rahmen der bremischen Handelsbezie- 
hungen ermessen, wenn er den fremden Import unter dem altbremischen 
Hausrat nachweist, namentlich bei Keramik und Glas, Metallgerüten, Móbeln und 
Textilien, — Einen ganz knappen Überblick über bremische Kunst und Künst- 
ler in der Fremde bietet Gerd Dettmann. — Rein lokale Bedeutung hat die 
Zusammenstellung von W. Albers, der nach alten Reiseberichten Besuche in 
Bremen mitteilt. — Literarische Besprechungen beschlieBen den vielseitig wertvollen 
Band. 

Oldenburg i. Old. Hermann Lübbing. 


Siegfried Salloch, Hermann von Metz. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen 
Episkopats im Investiturstreit. (Schriften d. Wissenschaftl. Instituts der 
Elsaß-Lothringer im Reich a. d. Universität Frankfurt, n. F. Nr. 2.) 1931, 
Selbstverlag des ElsaB-Lothringen-Instituts Frankfurt a. M. 


Wenn man diese Dissertation zu Ende gelesen hat, fragt man sich, was den Ver- 
fasser bewogen haben mag, gerade diesen Bischof Hermann von Metz zum Gegenstand 
einer Monographie zu machen. Die Arbeit stellt in ihrer ersten Hälfte fleißig und 
sauber alles zusammen, was wir über H. v. M. wissen. Es ist und bleibt sehr wenig, 
und das Wenige reicht nicht aus, um irgendwelche festen Züge des Mannes erkennbar 
zu machen. Auch der Verfasser stellt fest, daB sein Held nicht sicher zu charakteri- 
sieren ist. Um so erwartungsvoller geht man an die zweite Hälfte, in der die „staats- 
und kirchenrechtlichen Anschauungen Hermanns von Metz“ systematisch vorgeführt 
werden sollen. Die Quellen dazu sind das, was der Verfasser mehrfach den Brief- 
wechsel des H. v. M. nennt. Dieser „Briefwechsel“ besteht aber aus drei Schreiben, 
die an H. v. M. gerichtet sind, zwei von Gregor VII., eines von Gebhart von Salz- 
burg. Von Hermann selbst ist uns nichts erhalten. Dabei ist es augenscheinlich, daß 
die drei Briefe Propaganda-Schriftstücke sind, die nur an H. v. M. gerichtet werden, 
weil er der Typus des zwischen Gregorianern und Kaiserlichen schwankenden 
Kirchenfürsten ist. Gewiß ist es möglich, aus diesen Schreiben die Anfragen zu 
rekonstruieren, auf die sie antworten. Aber zu mehr als einer ganz allgemeinen 
Charakterisierung H. v. M.s reicht auch das wieder nicht aus. Der Verfasser geht 
auch in diesem Teile mit Vorsicht zu Werke, stellt das, was er als Anschauung H.v.M.s 
erschlieBen zu kónnen glaubt, in Zusammenhang mit den scharf kaiserlichen und 
päpstlichen Programmen. Aber das Ergebnis ist eben nur eine vage Vermittlungs- 
doktrin, die als solche längst bekannt ist. So bleibt auch des Verfassers Gesamturteil 
vage und blutleer. Man kónnte da sicher noch einen Schritt weitergehen und H. v. M. 
als einen der üblen Tergiversatoren bezeichnen, denen es nicht darauf ankam, drei 
oder viermal das Lager zu wechseln. — Auch die in einem Exkurs beigefügten Be- 
merkungen zur Textkritik der beiden Briefe Gregors VII. führen zu keinem Ergebnis, 
das die Mühe lohnt. Sie sind übrigens in manchen Punkten methodisch anfechtbar.— 
Ist also die fleiBige Stoffsammlung zu loben, so hätte der Verfasser doch eben bei der 
Materialsammlung bemerken müssen, daB seine Untersuchung zu keinem Ergebnis 
führen konnte. 


Breslau. Peter Rassow. 


444 Nachrichten und Notizen 


Franz Lerner, Kardinal Hugo Candidus. 77 S. 89. 1931. München. Beiheft 22 der 
Historischen Zeitschrift. Broschiert 4,— RN. 

In dieser von der Universität Frankfurt am Main gekrönten Preisschrift wird 
an Hand der letzten Forschungsergebnisse eine der umstrittensten Figuren des 
Investiturstreites in neuer Auffassung gezeigt. Hugo Candidus wird vom Verfasser 
als Vertreter feudaler Anschauungen und der Reformkurie Leo IX. aufgefaßt, der 
Entschwindendes mit diplomatischen Mitteln festhalten wollte, indem er als feudaler 
Reaktionär die Politik Gregor VII. bekämpfte. Gegenüber den bisher fast nur ab- 
schätzigen Wertungen des Kardinals dürfte Lerner trotz der überaus dürftigen 
Quellen den Beweis erbracht haben, daß Hugo Candidus als eine eigenartige Figur, 
die mehrfach extremen Parteiwechsel vornahm, zu verstehen ist. Hennig. 


Wilhelm Hotzelt, Familiengeschichte der Freiherren von Würtzburg. Freiburg i.B. 
1931. 

Es ist immer schwierig, Ordnung in die Anfänge der alten Ministerialengeschlech- 
ter hineinzubringen, treten die ersten Mitglieder doch häufig ohne Herkunftsbezeich- 
nung auf oder ändern ihren Beinamen je nach ihrem Wohnort. Diese Schwierigkeit 
bot sich auch bei der Bearbeitung der vorliegenden Geschichte. Es tauchen da neben 
der Bezeichnung von Würtzburg als weitere Geschlechtsnamen vom Markte und 
von Rabensburg auf. Mit dem erstgenannten Namen bezeichneten sich mehrere 
Ministerialenfamilien, von denen drei nach der Ansicht des Verfassers untereinander 
verwandt sein sollen. Mit dem Vitztum Herold, der seit 1152 ‚von Würtzburg“ 
genannt wird, beginnt das Geschlecht erst greifbarer in Erscheinung zu treten. Aber 
auch dann ist noch manche Abstammung fraglich, wie Verfasser in seiner Abhandlung 
auch meist hervorhebt. Leider gibt aber die beigefügte Stammtafel ein anderes Bild. 
Denn auf ihr gehören alle diese fraglichen Mitglieder als gesichert zur Familie. Diese 
Ungenauigkeit hätte sich mit Leichtigkeit vermeiden lassen. — Die älteren Würtz- 
burg bleiben bis 1282 im Bistum. Aus ihnen ragt da schon Heinrich II. als Bischof 
von Eichstätt hervor. Der Verfasser macht es glaublich, daß die seit 1227 in Thüringen 
als Ministerialen der Lobdeburger auftretenden Würtzburg eines Stammes mit den 
fränkischen sind. Diese thüringische Linie erreicht mit Konrad V., dem Vogt in der 
Lausitz (1327—1378), ihren Höhepunkt. Unklar bleibt, wessen Sohn er gewesen ist. 
Nach S. 83 der Sohn Friedrichs I., nach der Stammtafel und S. 51 der Sohn Kon- 
rads IV. — Während durch die jüngeren Söhne der Stamm in Thüringen noch für 
einige Generationen fortlebt, kehrt der älteste Konrad VII. durch die Erwerbung 
von Rothenkirchen wieder in die fränkische Heimat zurück und bringt dort das 
Geschlecht zu neuer Blüte. Der hervorragendste Vertreter wird Veit II. Bischof von 
Bamberg, über den H. doktorierte und so die Anregung zu der vorliegenden Ge 
schichte fand. Zahlreiche geistliche Würdenträger sind dem Geschlechte entsprossen 
und haben dadurch auch zu dem Aussterben des Geschlechtes beigetragen, das 1922 
mit dem Reichsrat Ludwig Veit v. W. erlosch. Seinem Schwiegersohn Theodor 
von Cramer-Klett ist die Herausgabe dieser Familiengeschichte zu danken, die uns 
in das Leben und Streben eines alten Ministerialengeschlechtes auf breitester Grund- 
lage einführt. H. hat es sehr gut verstanden, seinen Stoff zu meistern und bietet uns 
oft trotz der Spröde des selben eine ganze Reihe guter Lebensbilder der einzelnen 
Persönlichkeiten, naturgemäß ausführlicher seit dem 16. Jahrhundert, da von dieser 
Zeit an das Material sehr reichhaltig vorhanden ist. 

Neuruppin. Lampe. 


Nachrichten und Notizen 445 


Martin Ludwig, Religion und Sittlichkeit bei Luther bis zum „Sermon von den 
guten Werken“ 1520. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 
Bd. XIV). Leipzig 1931. 212 und XVI Seiten. 15,— RA. 

Diese mit groBer Sorgfalt hergestellte Untersuchung macht zunüchst mit den 
Schwierigkeiten bekannt, die sich der Darstellung von Luthers Ansicht bieten. Die 
Mystik und Scholastik kannten das Problem „Religion und Sittlichkeit" kaum. 
Ludwig zeichnet, chronologisch vorgehend, die Entwicklung der Gedanken Luthers 
zum Problem bis 1518. Quietismus und Laxismus werden vollkommen ausgeschlossen, 
Rechtfertigung und Heiligung bedingen einander. Statt der bisher immer für aus- 
schlaggebend gehaltenen Motivierung der Sittlichkeit durch die Dankbarkeit spielen, 
wie Ludwig nachweist, Wahrhaftigkeit, Furcht Gottes, Sündenerkenntnis, Liebe zum 
Guten und Nachfolge Christi die entscheidende Rolle in den Gedanken Luthers. 
Die sittliche Triebkraft des Glaubens ist der Heilige Geist. Ausführlich wird dann 
über den „Sermon von den guten Werken“ 1520 als Zusammenfassung der Luthe- 
rischen Anschauungen über das Problem berichtet. Ein umfangreicher systema- 
tischer Teil versucht schlieBlich eine Gesamtwürdigung zu geben. Hennig. 


Georg Adelheim, Revaler Ahnentafeln [in Listenform]. Eine Fortsetzung der 
Laurentyschen „Genealogie der alten Familien Revals“. 1. und 2. Lieferung 
F. Wassermann, Reval 1929. 1932. 

Im AnschluB an die von ihm bearbeitete und 1925 herausgegebene Genalogie 
der alten Familien Revals von Heinrich Laurenty (T 1692) will Vf. weitere 31 Ahnen- 
tafeln in Listenform folgen lassen, von denen bis jetzt 19 erschienen sind. Eine un- 
geheure Fülle von Material zur Stándegeschichte und zur Geschichte des sozialen 
Aufstieges steckt in diesen beiden Heften, nicht zuletzt in den Anmerkungen. Alle 
Angaben sind aus einwandfreien Quellen genommen. Fragliche Abstammungen sind 
als solche gekennzeichnet. Bei der Durchsicht der Reihen fällt die starke Mischung 
mit dem Landadel auf. Auch eine háufige Nobilitierung ist zu verzeichnen, leider 
aber erfahren wir nie, aus welchem Grunde sie erfolgt ist. In einer Anmerkung macht 
A. darauf auf die ständische Geschlossenheit Revals im 17. Jahrhundert aufmerksam. 
„In Reval schlossen sich die Gilden streng von einander ab und ihre Glieder gingen 
keinerlei Verbindungen mit einander ein." Erst 1710 kommt der erste Handwerker- 
sohn in den Rat. Das Erstarken des Literatentums wirkt fördernd auf den Zusammen- 
schluß der Stände. Und doch steckt in den alten Ratsfamilien ein gut Teil Hand- 
werkerblut, wie die Listen beweisen. Eine ganze Reihe der Vorfahren dieser Revaler 
Geschlechter stammen aus allen Teilen Deutschlands, wenn auch Norddeutschland, 
besonders Lübeck, den Hauptteil stellt. Auf Einzelheiten einzugehen, muß ich mir 
versagen. Nur den Wunsch móchte ich aussprechen, daB beim Verweis auf früheres 
Vorkommen Seite und Nummer mit angegeben wird. Das würde viel Sucharbeit 
sparen und sich ohne Mehrkosten erübrigen lassen, wenn statt Ahnentafeln abgekürzt 
AT. geschrieben würde. Dem Bearbeiter und dem Verlag gebührt unser Dank. Zeigt 
doch auch diese Arbeit recht deutlich die enge Verbundenheit des Baltikums mit 
Deutschland. 

Neuruppin. Lampe. 


Josef Karl Mayr, Die Emigration der Salzburger Protestanten von 1731—32. Das 
Spiel der politischen Kráfte. Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salz- 
burg 1931. 191 S. 89. Preis 4,— RM. 


446 Nachrichten und Notizen 


Diese Arbeit ist eine wertvolle Ergänzung zu Georg Lösches Darstellung, da sie 
mehr die außenpolitische Seite des Gegenstandes betont. Mayr weist nach, daß der 
Anteil des Erzbischofs Firmian an der Vertreibung der Salzburger nur ein mittelbarer 
und geringer gewesen ist. Die praktische Durchführung und politische Durchfechtung 
der Emigration lag vielmehr in den Hánden des Hofkanzlers Christiani. Die treiben- 
den Kräfte bei der Wiederherstellung der Glaubenseinheit im ganzen Lande, der 
kaiserliche Hof und Firmian, sind vornehmlich weltlicher Natur gewesen, obgleich 
sie sich natürlich für das zeitliche und góttliche Wohl der ihnen anvertrauten Seelen 
verpflichtet gefühlt haben. Für PreuBen war die Zuwanderung eine ebenso weltliche 
Angelegenheit wie für den Kaiser die Tatsache, daB er dem Reichsrecht Genugtuung 
verschafft hatte. Hennig. 


Georg Pfeilschifter, Korrespondenz des Fürstabtes Martin II. Gerbert von St. 
Blasien. Herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission. 
I. Band. 1752—1773. Karlsruhe 1931. 684 Seiten. 

Die Herausgabe der Korrespondenz des Fürstabtes Martin II. Gerbert von 
St. Blasien (1720—1793) stellt das Lebenswerk des verdienten Präsidenten und 
Gründers der Deutschen Akademie dar. Von dem auf 3 Bände berechneten Werke 
legt Pfeilschifter zunächst den Briefwechsel der ersten 3 Perioden im Leben des 
„deutschen Mabillon" vor. Gerbert hatte sein Kloster gleichsam zu einer Mauriner- 
metropole gemacht. Als Historiker, Kirchenmusiker und Liturgiker genoß er einen 
beinahe internationalen Ruf. Seine Korrespondenz, die mit großer Sorgfalt auf 
Grund der Vorarbeiten von Dr. Friedrich von Weech seit etwa 1906 von Pfeilschifter 
bearbeitet worden ist, trägt einen literarhistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen 
Charakter. Die in diesem Bande erschienene Korrespondenz Gerberts zeigt zunächst 
seine theologischen Reformideen, wie z. B. seine Vorschläge für eine Verbesserung 
der entarteten Spätscholastik, Vereinigung der historischen Theologie mit der über- 
kommenen systematischen Theologie. Die liturgie- und musikgeschichtlichen Studien 
wurden durch seine großen Reisen neu befruchtet. Von zirka 1770 an begann Gerbert 
mit den großen Arbeiten zur Geschichte des habsburgischen Kaiserhauses, der 
Kirchenmusik, der alemannischen Liturgie und der Geschichte des Schwarzwaldes. 
St. Blasien wurde durch Gerbert zu einer Gelehrtenakademie. Für die Arbeitsweise 
Gerberts und die Gelehrsamkeit seines Benediktinerklosters inmitten der klosterfeind- 

lichen Aufklärung sind die veröffentlichten Briefe ein wertvoller Beleg. Hennig. 


Wilhelm Zimmermann, Die Entstehung der provinziellen Selbstverwaltung in 
Preußen 1848—1875. (Hist. Studien 216). Verlag Dr. Emil Ebering, Berlin 
1932. 112 S. 

Die Arbeit verwertet ein umfassendes Material und gibt eine gründliche Über- 
sicht über ihren Gegenstand. Hinter der Darstellung der Entwürfe und parlamen- 
tarischen Verhandlungen treten die ideengeschichtlichen Grundlagen und Gegensátze 
etwas zurück, ohne ganz vernachlässigt zu werden. Auch die Vorgeschichte von 1823 
an wird berücksichtigt, die Ausdehnung der Selbstverwaltung auf Rheinland, West- 
falen und Posen in den Jahren 1884—88, obwohl sie sich nicht abtrennen läßt, nur 
im Anhang gestreift. Das Heft ist ein sehr praktisches Hilfsmittel zur Einführung 
in dies beziehungsreiche Gebiet der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. In 
manchen Einzelheiten dürfte sich Nachprüfung empfehlen. Die immer wieder an- 


Nachrichten und Notizen 447 


klingenden Gegensätze zwischen den Bestrebungen, die auf ständische Autonomie 
bzw. kommunale Selbstverwaltung, auf Dezentralisation bzw. einheitliche Zu- 
sammenfassung der Staatsgewalt, auf Wahrung lokaler und provinzieller Eigen- 
rechte bzw. auf Erziehung des Volkes zum Staat (auf dem Umwege über die kom- 
munale und provinzielle Selbstverwaltung) drängen, treten nicht so deutlich hervor, 
daß durch die Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Volks- 
vertretung die in ihnen wirksamen historischen Kräfte anschaulich werden. 
Frahm. 


Arnold Schultz-Trinjus, Die sächsische Armee in Krieg und Frieden. VII. und 
285 S. Zeulenroda in Thüringen, Verlag Bernhard Sporn, 1932. 

Im vorliegenden Buche gibt uns Oberst Schultz-Trinius einen Überblick über 
die Geschichte der süchsischen Armee vom 17. Jahrhundert bis auf unsere Zeit. 
Etwa die Hälfte der Darstellung ist der Teilnahme der Sachsen am Weltkriege ge- 
widmet. Die Tätigkeit der führenden Persönlichkeiten wird eingehend gewürdigt, 
ihr Lebenslauf geschildert. Besonders interessiert das Urteil über den General-Oberst 
von Hausen, dem jetzt wohl von allen Seiten Gerechtigkeit zu teil wird. Persönlich 
gefreut habe ich mich über die treffende Charakterisierung des Generals von Menges, 
(S. 58, 174 und 175), von dem der Verfasser sehr richtig sagt, daß er „in des Wortes 
vollster Bedeutung ein Ritter ohne Furcht und Tadel war“. Der aus der hessischen 
Armee hervorgegangene preußische General, der trotz hohen Alters seinen Degen 
dem heißgeliebten deutschen Vaterland zur Verfügung stellte und 1916 im Schützen- 
graben starb, hatte auch sächsische Truppenteile in seiner Division, so konnte Oberst 
Schultz-Trinius, der ihm unterstellt war, in seiner, der sächsischen Armee gewid- 
meten Darstellung dem Nicht-Sachsen „ein Dankeswort in die Ewigkeit“ nachrufen. 

Einige Irrtümer muß ich berichtigen. Stanislaus Leszcynski war nicht Schwieger- 
sohn, sondern Schwiegervater Ludwigs XV. von Frankreich (S. 16). S. 26 „Beitritt 
Österreichs zur pragmatischen Sanktion“ stimmt nicht, gemeint ist offenbar, daß 
Bayern die pragmatische Sanktion anerkennt. Eine kurbadische Armee (S. 33) 
gab es 1681 noch nicht, die Landesherren von Baden waren damals noch Mark- 
grafen, Kurfürsten waren sie nur von 1803 bis 1806. 

S. 65 wird leider Friccius m einem Atem mit Blücher, Yorck, Bülow und Sacken 
genannt. Die Fricciuslegende ist doch oft genug widerlegt, endgültig durch das 1913 
erschienene Buch von Henke: Oberst Otto Freiherr von Mirbach und die Erstür- 
mung des Grimmaischen Tores in Leipzig am 19. Oktober 1813. 

Gewundert habe ich mich über den Irrtum, der dem Verfasser auf S. 128 
unterlaufen ist. Dort heißt es, daB die beiden Töchter König Georgs vorzeitig ver- 
storben seien. Das trifft weder auf Prinzessin Mathilde noch auf Erzherzogin Maria 
Josepha, die Mutter des letzten österreichischen Kaisers, zu. 

Der Verlag hat das Buch geschmackvoll in weiß-grünem Einband ausgestattet. 
Es wird nicht bloß den Angehörigen der ehemaligen sächsischen Armee, sondern 
auch andern Freunden deutscher Kriegsgeschichte von Interesse sein. 

Charlottenburg. Richard Schmitt. 


Erklärungen. 
Im ersten Heft des Jahrgangs XXVIII der Historischen Vierteljabrschrift 
hat Alfred Büscher meinem „Gustav Adolf“ eine Anzeige gewidmet, deren 


448 Nachrichten und Notizen 


freundliche Bewertung meines Werkes, soweit von dessen Inhalt die Rede ist, ich 
voll Dank anerkenne. Nur kann die Bemerkung, mein Buch sei „eine Neubear- 
beitung des Werkes von Martin Weibull“ (1881), irreführen. Gewiß ist es für 
denselben Zweck auch innerhalb desselben Rahmens geschrieben, im übrigen aber 
ganz selbstándig; keine Zeile wurde darin aus der seinerzeit zwar ausgezeichneten 
weibullschen Darstellung übernommen. 

Über die Berechtigung der Kritik, der Büscher die &uBere Form der Über- 
setzung meines Buches unterzogen hat, überlasse ich im ganzen das Urteil den 
deutschen Lesern des Werkes. Die Historische Zeitschrift spricht vom ‚schön 
geschriebenen Buch“. Auf den Wunsch der Übersetzerin, Dr. Toni Schmid, 
darf ich ihr aber bezeugen, daß sie anfangs den schwedischen Text hat freier 
wiedergeben wollen und daB ich also für die Gestaltung des deutschen Textes die 
Verantwortung teile. Ich habe auch hie und da einiges selbst verándert oder hin- 
zugefügt — an den vier vom Rezensenten besonders herangezogenen Stellen je- 
doch nichts! 

Uppsala, den 9. Mai 1933. Georg Wittrock. 


AnláBlich der Besprechung in der letzten Nummer dieser Zeitschrift bringe 
ich zur Kenntnis, daß meine ursprüngliche Übersetzung geändert wurde und ich 
die Verantwortung für die im Druck vorliegende deutsche Übersetzung des Werkes 
ablehne. Toni Schmid. 


vit 


zanso FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT 
E UNT m USRA i  UNDFÜR 5 


HERAUSGEGEBEN VON 


DR. ERICH BRANDENBURG 


0. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


XXVIII. JAHRGANG 


3. HEFT 


AUSGEGEBEN AM 1. NOVEMBER 1983 


T [ rs ITa 

> VERLAG UND DRUCK 
RUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSOH STIFTUNG 
PA. DRESDEN 1933 


5 : 1 bo Digitized by Google r$ 


> 
23 
€, 


HISTORISCHE VIERTELJAHRSCHRIFT 


Herausgegeben von Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig. 
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden A 1. 


Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen zu je 
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang ZM 30.— und für 
das Heft . 7.50. 

Die Beitráge zur lateinischen Philologie des Mittelalters haben die 
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig ge- 
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philologischen 
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die aktuellen 
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fórdern und zu festigen. 


Die Abteilung „Nachrichten und Notizen“ bringt Angaben über neue 
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf dem 
persónlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens. 


Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgeschäfte wird von 
Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von Herrn 
Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und für den mittel- 
lateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Universität, Borneria- 
num I) unterstützt wird. 

Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität, 
Bornerianum I) zu richten. 

Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift- 
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne- 
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographischer 
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, auch 
kleinereWerke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeitschriften- 
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch machen, 
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen. 


- 


INHALT DES 3. HEFTES 
Aufsätze: Seite 
Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich. Von 
Univ- Prot: Dr Helmut Weigel in Erlangen l. 4 


Studien zur mittelalterlichen Dichtung 
Zum Problem der literarhistorischen Stellung des „Ruodlieb“. Von Dr. Kurt 


Dahinten in Balbasstadt . ER Ue KA 503 
II. Studia Burana. Von Dr. Walter Bulst in Göttingen ................... 512 
III. Eine unbekannte mittellateinische Satire gegen die Geistlichkeit. Von Priv.-Doz. 
Dr Hans Walther in Gn“ 2 522 
Fichte und Frankreich. Von Priv.-Doz. Dr. Hedwig Hintze in Berlin ............ 535 


(Fortsetzung s. 3. Umschlagseite) 


449 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das 
merowingisch » karolingische Reich. 
Von 


Helmut Weigel. 


I. 


Jede Forschung, die sich dem Staat der Merowinger und der 
Karolinger zuwendet, muß von einer grundlegenden Tatsache 
ausgehen, die ich die „Verstaatlichung des fränkischen 
Stammes‘! nennen möchte. 

Das Vordringen der salischen Franken vom Niederrhein her 
gegen das römische Gebiet um die Mitte des 4. Jahrhunderts 
war, durchaus vergleichbar dem Ansturm der Chatten und der 
Alamannen gegen den Limes, die Vorwärtsbewegung, die Wan- 
derung eines Volkes, das Siedlungsraum brauchte. Der Cäsar 
Julian verzichtete darauf, sie über den Rhein zurückzutreiben; 
er beließ sie 358 als Grenzwehr am Niederrhein und an der un- 
teren Maas?. Ein Entschluß von zukunftsbestimmender Trag- 
weite. Denn er ermöglichte erst die Verstaatlichung des fränki- 


Anmerkung: Diese Studien bilden zusammen mit anderen noch im Gang 
befindlichen Untersuchungen (siehe Abschnitt V) Vorarbeiten zu einer umfassen- 
den Darstellung, betitelt „Binnenkolonisation im fränkischen Reich als Mittel 
der Staatspolitik“. 

1 Vgl. K. Schumacher, Siedelungs- und Kulturgeschichte der Rheinlande 3 
(1925), 59f. 

3 Die politischen Ereignisse nach L. Schmidt, Allgemeine Gesch. der german. 
Völker bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts (1909) und Fr. Kauffmann, Deutsche Alter- 
tumskunde 2 (1923); vgl. auch Fr. Stein, D. Urgeschichte d. Franken u. d. Grün- 
dung des Frankenreiches durch Chlodwig. Archiv hist. Ver. Unterfranken 39 
(1897), 79—213. — Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände und Entwick- 
lungen im Anschluß an A. Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der 
europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen, 
(1923). 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.3. 29 


490 Helmut Weigel 


schen Stammes. Nunmehr begann námlich für die Franken, oder 
genauer gesagt für die sozial und politisch führende Schicht der 
Franken eine hundertjährige Lehr- und Lernzeit, deren äußeres 
Ergebnis man als die „technische Rezeption“ des römischen 
Staates bezeichnen kann?. Eng verbunden war damit wohl auch 
ein inneres Wachstum, ein Steigen des Selbstbewußtseins, gefür- 
dert durch die zunehmende Erkenntnis von der inneren Schwäche 
des Römertums. Ihm entsprach eine äußere Ausdehnung des 
Frankenstammes, der um 400 im Westen das Meer und im Süden 
die Linie Boulogne—Herstall erreicht hatte. Der Kohlenwald* 
bildete für diese volksmäßige Ausbreitung ein natürliches Hin- 
dernis. Noch stärker war ein anderes Hindernis, die Persönlich- 
keit des letzten Römers Aetius*. An ihm brach sich 428 der Ver- 
such des Frankenfürsten Chlodio, die römische Herrschaft abzu- 
schütteln. Aber eben diese beiden Hindernisse verursachten eine 
Aufstauung der Franken, die ihrerseits den Vorgang der Ver- 
staatlichung beschleunigt haben wird. Denn seit Beginn des 
5. Jahrhunderts treten an der Südgrenze des fränkischen Sied- 
lungsgebietes fränkische Teilstaaten, wenn auch noch innerhalb 
des römischen Reiches hervor. 

Nach dem Tode des Aetius 454 lockerte sich die Abhängig- 
keit der Franken von den Römern. Um 470 hatten sich die frän- 
kischen Teilstaaten an den Flußläufen der Lys, der Schelde und 
der Sambre auf die Höhen des Artois und auf die Ausläufer des 
Ardenner Waldes hinaufgeschoben. Childerich und Chlodwig 
residierten in Tournai, Chlodio und Rachnagar hielten Hof zu 
Cambrai. Diese neue Eroberungspolitik trug staatlichen Cha- 
rakter; sie hatte nichts mehr mit der Vorwärtsbewegung eines 
ganzen Volkes zu tun. Das schloß nicht aus, daß in den eroberten 
Gebieten sich Franken ansiedelten oder angesiedelt wurden. 
Denn sowohl das staatliche Motiv, die neu erworbenen Lande zu 
sichern, war bei dieser Ansiedlung wirksam, als auch das sozial- 
wirtschaftliche Element der Landnot. Der fränkische Einstrom 
war nun wohl stark genug, um die Ortsnamen in fränkischer 
Weise umzugestalten oder neu zu schaffen; aber er war nicht 


* Darf man dazu die äußerliche Europäisierung Japans in Parallele setzen? 

4 H. van der Linden, La forêt Charbonniére. Revue belge de philologie et 
d'histoire 2 (1923), 203—214. 

5 Th. Mommsen, Aetius. Hermes 36 (1901), 516—530. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 451 


kräftig genug, um die germanische Eigenart der Zuwanderer 
auf die Dauer zu erhalten“. 

Nur eine Fortsetzung der so gearteten Eroberungspolitik 
der fränkischen Staaten war der siegreiche Feldzug der zwei 
Frankenfürsten Chlodwig und Ragnagar gegen das gallisch- 
römische Reich des Heermeisters Syagrius. Trotzdem lenkte 
er die Weiterentwicklung des fränkischen Staates in neue, 
unvorhergesehene und unabsehbare Bahnen. Denn durch die 
Schlacht bei Soissons (486) fiel Chlodwig das gesamte römische 
Gebiet in Gallien zu. Dessen Südgrenze lag jenseits der Loire; 
im Osten gehörte Metz und der Landstrich längs der von 
dieser Festung nach dem Elsaß führenden Straße zu ihm’. 
Das bedeutete aber außenpolitisch nichts anderes, als daß das 
Frankenreich an seiner gesamten Ostgrenze von der Hochfläche 
von Langres bis zu den Ardennen und zur Eifel die Alamannen 
als Nachbarn erhielt®. Die von diesem starken und vielleicht 
auch politisch gut organisierten Volke drohende Gefahr war 
um so weniger zu unterschätzen, als es immer stärker die rhei- 
nischen Franken bedrängte. Es war Chlodwigs allereigenstes 
Interesse, seinen „Vettern“ zu Hilfe zu kommen. 

Ein Angriff der Alamannen auf die Rheinfranken unter 
König Sigibert bewog Chlodwig im Jahre 496 zur Einmischung. 
Die Schlacht — irgendwo in der oberrheinischen Tiefebene — 
endete nach einer schweren Krise doch mit dem Siege der Fran- 
ken. Aber Unruhen an der westgotischen Grenze sollen den 
Frankenkönig verhindert haben, den militärischen Erfolg zum 
politischen voll auszuwerten; er hätte sich mit einer lockeren Ab- 
hängigkeit der Besiegten zufrieden geben müssen“. 


* A. Schiber, Die fränkischen und alamannischen Siedlungen in Gallien, be- 
sonders im Elsaß und Lothringen. (1894) S. 43—62 und Karte 1. 

7 G. Wolfram, Entstehung der nationalen und politischen Grenzen im Westen. 
Frankreich und der Rhein (1925) S. 12ff. Doch kann ich der Theorie, wie die eigen- 
tümliche Form des alamannischen Siedlungsgebietes in Lothringen entstanden 
sein soll, gerade in den Hauptpunkten nicht zustimmen. 

8 L. Wirtz, Franken und Alamannen in den Rheinlanden bis zum Jahre 496. 
Bonner Jahrbb. 122 (1912), 170—240. Auch K. Schumacher, Siedelungs- und 
Kulturgesch. 3, 30—37; 52—58. 

® Unsere Kenntnis von dem alamannisch-fränkischen Konflikt ist äußerst 
dürftig. Die Quellenkritik des 19. Jahrhunderts hat in diesem Falle ganz besonders 
zersetzend gewirkt. Ich kehre mit H. Delbrück, Weltgeschichte 2, 165 zu der Auf- 


29* 


452 Helmut Weigel 


Dagegen móchte ich eine Vermutung aussprechen, die mir von 
den politischen und geographischen Verhältnissen her nahegelegt 
wird. Chlodwigs Ziel war doch unstreitig die Sicherung der 
Ostgrenze des Frankenreichs gegen die Alamannengefahr. Ge- 
lang ihm nicht die völlige Unterwerfung dieses Stammes, so 
war doch schon ein Wesentliches erreicht, wenn er seinen Einfluß 
über die oberrheinische Tiefebene von Straßburg bis Worms 
ausdehnte. Der Rhein war in seinem damaligen Zustande ein 
starkes militärisches Annäherungshindernis. Außerdem stand 
Chlodwig an den zwei Pforten ins Alamannenland, die auch die 
Römer immer benützt hatten, an den Mündungen des Neckars 
und der Kinzig. Diese Vermutung erklärt ungezwungen auch 
den Verlauf der weiteren Ereignisse!?. 

Der alamannische Aufstand zu Beginn des 6. Jahrhunderts 
konnte dann von der Rheinstellung aus ohne große Schwierig- 
keiten, jedenfalls ohne Gefahr für das Frankenreich niederge- 
worfen werden. Immerhin erschien Chlodwig eine weitere 
Schwächung der Alamannen durch eine Gebietsabtretung not- 
wendig. 

Deshalb vereinbarte, wie man annimmt, Chlodwig mit dem 
Ostgotenkónig Theoderich, der zugunsten der Alamannen diplo- 
matisch eingriff, eine genaue Grenze zwischen dem fränkischen 
und dem alamannischen Gebiet, und zwar unter Benutzung alter 
Straßen und alter Fliehburgen in der folgenden Linie: Oosbach, 
Hornisgrinde, Alt-Bulach, Hohenasperg, Lemberg, dann südlich 
der Stádte Marbach, Murrhardt, Gaildorf und Crailsheim (nàm- 
lich vorrómischer Weg Poppenweiler-Waldrems - Limes - Mónchs- 
hof-Rothenhaar-Laufen am Kocher), weiter Hoher Berg bei 
Ellwangen und Hesselberg!!. Durch siedlungsarmes, wenn nicht 


fassung H. v. Schuberts, Die Unterwerfung der Alamannen unter die Franken (1881) 
zurück. 

10 Schumacher, Siedelungsgeschichte 3, 57 setzt die fränkische Durchdringung 
des Elsaß in die Zeit unmittelbar nach der endgültigen Unterwerfung der Alamannen; 
vgl. auch ebd. S. 56—58; 101—104. Wolframs These, Frankreich und der Rhein 
S. 15, daß sich die allgemeine Umbenennung der alamannischen -ingen-Orte des 
Elsaß in -heim-Orte lediglich durch die Verwaltungspraxis vollzog, geht mir zu weit. 

11 Über die Grenzziehung K. Weller, Die Ansiedelungsgeschichte des württem- 
bergischen Franken rechts vom Neckar. Württemberg. Vierteljahrshefte für Landes- 
gesch. 3 (1894), 28f. K. Schumacher, Siedelungsgesch. 3, 15; dazu Abbildungen 
S. 15 und 92, sowie Karte 3 mit Erläuterungen. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 453 


siedlungsleeres Waldland gezogen, legte diese Grenze vor die 
fränkischen Dörfer ein Vorfeld, das gegen plötzliche Überfälle 
sicherte. | 

Nach Osten und Norden konnte der fränkische Ausdehnungs- 
drang durch zwei Elemente eingeschränkt werden, durch ein 
natürliches und durch ein politisches. Das erstere bildeten die 
großen Waldgebiete, die von dem Schwäbischen Wald als 
Frankenhöhe und Steigerwald nordwärts streichend ihren 
zweiten Ansatzpunkt in dem Waldland der Buchonia (dem Ge- 
biet von den Haßbergen bis zum Vogelsberg und vom Thüringer 
Wald bis zur Wern) fanden. Das zweite Hindernis war das Reich 
der Thüringer, das zu dem Staatensystem des großen Ostgoten- 
königs Theoderich gehörte; die den Franken zugewandte Süd- 
westgrenze des Thüringerreiches ist freilich bis jetzt nicht ein- 
wandfrei bestimmt. 

Gleichgültig nun, wie weit das zu Beginn des 6. Jahrhunderts 
gewonnene rechtsrheinische Gebiet nach Osten und Norden sich 
erstreckte, es bedurfte einer festeren Verbindung mit den älteren 
Reichsteilen. Nach Beendigung des Westgotenkrieges 507 
brachte Chlodwig die Herrschaft über die Franken am Nieder- 
und Mittelrhein an sich. Er wird auch noch das Chattenland 
seinem Reich einverleibt haben. Auch hier ergaben die vom 
Spessart nördlich zur Weser ziehenden Waldgebirge eine natür- 
liche Grenze gegen Osten, hinter der das Reich der Thüringer lag. 

Theuderich und Chlothar, die Söhne Chlodwigs, setzten 
die Politik ihres Vaters fort. Eine Einmischung Theuderichs 
in die Streitigkeiten der Thüringer Könige 516 brachte ihm 
keinen Gewinn. Ein Krieg mit Thüringen aber bedeutete bei 
Lebzeiten des großen Ostgotenherrschers Theoderich — das 
war den Frankenkönigen klar — einen Konflikt mit diesem 
mächtigen Fürsten. Erst als das Ostgotenreich durch innere 
Wirren lahmgelegt war, schritten Theuderich und Chlothar zur 
Eroberung Thüringens, die mit dem Feldzug von 531 begann, 
und mit der Niederwerfung eines Aufstandes 534 beendet war. 
Der Feldzug von 531 ging von der Rheinstrecke Mainz-Koblenz 
unter Benützung alter Fernstraüen!* aus, nicht aber vom 

ua K, Schumacher, D. Erforschung des römischen u. vorrómischen StraBen- 


netzes in Westdeutschland 3. Bericht der Römisch-germanischen Kommission 
Frankturt. S. 29. 


454 Helmut Weigel 


mittleren Main. Die politische Bedeutung dieser Gegend in der 
Merowingerzeit darf nicht überschätzt werden. 

Ebenso ging die Oberhoheit, die die Ostgoten seit Anfang 
des 6. Jahrhunderts über die Gebiete der Alamannen und der 
Baiern ausgeübt hatten, infolge der inneren Reichswirren an 
den Frankenkönig Theudebert (534—548) über. 


II. 


In diesen geschichtlichen Rahmen ist die erste Festsetzung 
der Franken in dem Gebiet zwischen den großen Wäldern 
Odenwald, Spessart, Rhón, Thüringerwald, westlicher Franken- 
wald, Haßberge, Steigerwald, südfränkischer Keuperwald und 
Schwäbischer Wald — wir wählen dafür den Namen „Ost- 
franken“ 12 — zeitlich einzuspannen. Ein solcher Versuch stößt 
auf beträchtliche Schwierigkeiten. 

Die uns zur Verfügung stehenden Quellen geben nämlich 
keine Auskunft darüber, ob dieses Ostfranken zum alamanni- 
schen oder zum thüringischen Stammesbereich gehörte. Fried- 
rich Kauffmann spricht an einer Stelle davon, daß infolge der 
Verpflanzung der Burgunden nach Savoyen um die Mitte des 
5. Jahrhunderts die Alamannen das Mainland bis in die Gegend 
von Würzburg und Aschaffenburg wieder bekamen; an einer 
zweiten Stelle führt er aus, daß die Chatten und Burgunden an 
der großen Wanderung teilgenommen und am Steigerwald und 
an der Frankenhöhe, am Main und an der Altmühl, an der Tauber 
und an der Jagst Angehörige der Ermunduri zu Nachfolgern be- 
kommen hätten; denn Abkömmlinge der Thuri: Duri heißen ,, Thu- 
ringi‘‘!®, Beide Stellen miteinander in Einklang zu bringen, über- 
läßt Kauffmann dem Leser, der sich eine von Nordost nach Südwest 
streichende alamannisch-thüringische Grenze konstruieren kann. 

Die ältere Forschung hatte eine Ausdehnung des Thüringer- 
reiches bis zum mittleren Main hin abgelehnt!?. Neuere Arbeiten 


11 H. Schreibmüller, Wanderungen und Wandelungen des Raumbegriffs 
Ost franken. Fränkische Zeitung Ansbach nr. 206. 12. 9. 1933. 

122 F. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 2 (1923), 105 und 155. Die von 
Kauffmann S. 155 Anm. 2 angeführte Stelle aus dem Geographen von Ravenna 
enthält keinen Beweis. Die gleichfalls zitierten Darlegungen Fr. Steins, Geschichte 
Frankens 2, 211 f. gelten den Thüringern an der Donau bei Regensburg. 

13 Fr, Stein, Geschichte Frankens 2 (1886), 212—214. G. Brückner, Der Renn- 
stieg in seiner historischen Bedeutung. Oder: War das obere Werra- und Main- 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 455 


zur fränkischen Geschichte nehmen kurzerhand ein geschlossenes 
thüringisches Reich bis zur Donau an; über dessen Südwest- 
grenze schweigen sie sich aus!*. Dadurch entsteht das völlig 
unzutreffende Bild, als ob nahezu das gesamte bayerische 
Franken einst dem Reiche der Thüringer angehört habe. 

Aus der einzigen schriftlichen Quelle, die uns über ostrhei- 
nische Verhältnisse um 500 belehrt, aus der Kosmographie des 
unbekannten Ravennaten!5, ergibt sich folgendes: In der „pa- 
tria Alamannorum“ und zwar weiter ab vom Rhein (,,ad aliam 
partem'', nachdem vorher die Städte am Rhein und bei Straß- 
burg aufgezählt worden sind), liegen die „civitates“ Ascapha, 
Uburzis und Solist, d. h. die befestigten Plätze, die Fliehburgen 
von Aschaffenburg, Würzburg und Salz (?)!9. Die folgenden 
Sätze fehlen, so daß von der Beschreibung der ,,patria Turrin- 
gorum“ nur ein Satz erhalten ist; er nennt die beiden Flüsse 
Bac (wohl Nab=Naab) und Reganus, die in die Donau fließen. 

Das alamannische Stammesgebiet umfaßte nach Norden hin 
also die Gegenden des unteren und mittleren Mains und viel- 
leicht auch noch den Lauf der Saale. Damit dürfen wir auch die 
Lande zwischen dem Neckar, dem Main und dem Waldgebiet 
von Kocher, Jagst und oberer Tauber als alamannischen Boden 
ansehen". Von Thüringern bewohnt erscheint lediglich das 
Donaugebiet um Regensburg. Ob aber dieser Strich mit dem 
thüringischen Hauptland um Nesse, Ilm und Unstrut sied- 


land jemals thüringisch? Neue Beiträge zur Gesch. des deutschen Alterthums 
bersg. vom Hennebergischen alterthumsforschenden Verein 3 (1867), 247—285 
bes. 280ff. 

14 Erich Freiherr v. Guttenberg, Territorienbildung am Obermain. 79.Bericht 
des histor. Vereins zu Bamberg (1928), S. 22—24. Da Guttenberg nur die Kontinuität 
der germanischen Bevólkerung in Oberfranken und in der Oberpfalz über die Slaven- 
zeit hinweg interessiert, gelten die beigebrachten Anzeichen nur für das Gebiet 
óstlich der Regnitz, und sind selbst in diesem Gebiet für den Nachweis thüringischer 
Bevölkerung kaum beweiskräftig. Die Ausdehnung der Guttenbergschen Auffassung 
auf das Gebiet am mittleren Main, wie bei B. Schmeidler, Franken und das deutsche 
Reich im Mittelalter (1930) S. 70, ist als methodisch unzulässig abzulehnen. 

15 Ravennatis Anonymi Cosmographia ed. M. Pinder et G. Parthey. Berlin 1860. 
Kritische Literatur bei F. Kauffmann, Altertumskunde 2, 192 Anm. 3. 

1* Zusammenstellung der Deutungen bei K. Schumacher, Siedelungsgesch. der 
Rheinlande 3, 79. 

17 Vgl. K. Weller, Die Ansiedelungsgeschichte des württemberg. Franken rechts 
vom Neckar. Württemberg. Vierteljahrshefte 3 (1894), 38f. 


456 Helmut Weigel 


lungsmäßig zusammenhing, erscheint mir sehr zweifelhaft!?. 
Erst recht bleibt die Frage offen, ob das mitteldeutsche Haupt- 
land und das süddeutsche Nebengebiet der Thüringer eine 
politische Einheit, ein Reich bildeten. Nicht nur die übergroße 
Ausdehnung dieses mutmaßlichen Reiches, sondern noch mehr 
die Trennung seiner beiden Teile durch den siedlungsfeindlichen 
Urwald (Thüringer Wald, Frankenwald, Fichtelgebirge) schließt 
die Annahme eines Thüringerreiches von der Bode bis zur 
Donau aus!“. 

Man kónnte nun noch eine zweite, aber auch — bei dem 
heutigen Stand der volkskundlichen Wissenschaften?“ — letzte 
Quelle zu Hilfe rufen, die Ortsnamen?!, Doch sie bringen uns 
keine Klarheit, stellen vielmehr nur neue Fragen. 

Die wenigen Orte auf -ingen zwischen der Tauber und dem 
Mittelmain: 

Simmringen, ohne Beleg für ältere Formen, wohl PN, 
Oellingen, 11. Jahrhundert Otilingum PN Odilo, 


15 Stein, Geschichte Frankens 2, 211 und Guttenberg S. 22 f. nehmen einen Zu- 
sammenhang an; L. Schmidt, Die germanischen Reiche der Völkerwanderung (1918) 
S. 52f. bestreitet ihn unter Hinweis auf den Urwald in der Oberpfalz. 

1? Ich möchte in den Donau-Thüringern einen abgesplitterten Volksteil er- 
blicken. 

39 Andere Quellen auf dem Gebiete der Überreste sind nicht oder noch nicht 
brauchbar. Die Forschungen über Orts- und Flurformen, Haus- und Hofformen 
stecken für Franken noch in den Anfängen; für die vorfränkische Zeit kommen diese 
Quellen wohl überhaupt nie in Frage. Ebenso versagt die Spatenforschung teils 
wegen ungenügender Ausgrabungen, teils wegen der eigenartigen Kulturverhältnisse 
der Völkerwanderungszeit; vgl. E. Brenner, Der Stand der Forschung über die Kultur 
der Merowingerzeit. 7. Bericht der rómisch-germanischen Kommission (1912), 253 
bis 346. Die moderne Mundartforschung eróffnet nur geringe Aussichten auf Er- 
gebnisse für das Frühmittelalter; kennzeichnend für die Schwierigkeiten: J. Schnetz, 
Das Lär Problem, Programm Lohr am Main 1913 erklärt die Eigentümlichkeiten 
des Ostfrünkischen aus einer Beeinflussung durch das Alamannische; K. Uibeleisen, 
Die Ortsnamen des Amtsbezirks Wertheim 1900 sieht in dem Gäu-Dialekt von Wert- 
heim bis Schweinfurt eine Auswirkung des thüringischen Volkstums. 

1 Die Belege und Deutung der Ortsnamen nach E. Fórstemann, Altdeutsches 
Namenbuch Bd. 2 Ortsnamen 1913—1916. Gelegentlich auch nach A. Schumm, 
Unterfránkisches Ortsnamenbuch 1901 (populär). — B. Eberl, Die bayerischen Orts- 
namen als Grundlage der Siedlungsgeschichte hat vorwiegend bairisch-schwäbische 
Verhältnisse in Betracht; seine für dieses Gebiet gewonnenen Ergebnisse sind nicht 
ohne weiteres auf Franken anzuwenden. — K. Schumacher, Siedelungsgesch. der 
Rheinlande Bd. 3 Kapitel 4 streift wenigstens Mainfranken. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 457 


Gützingen, ohne Beleg, wohl PN, 

Hóttingen, 1159 Hotingen PN Hod-, 

* Innsingen, erhalten in dem Namen: Innsinger Bach; 
weiter die geschlossene Gruppe der -ingen-Dórfer im Walt- 
sassengau, in der Hauptsache westlich von Würzburg??: 

Bettingen, 1105 Bettingen PN Bado-, 

Dertingen, 9. Jahrhundert Tharehedinges PN Dart-, 

Uettingen, 9. Jahrhundert Uotinga PN Uoto, 

Remlingen, 9. Jahrhundert Rameningen PN Ramino, 

Zellingen, 9. Jahrhundert Cellinga wohl PN Cello, 

Eisingen, 1182 Isingen PN Iso; 
endlich der wichtige Mainübergang 

Kitzingen, 9. Jahrhundert Chizzingim PN Chizo — 
all diese Siedlungen sind gerade mit Rücksicht auf den Geogra- 
phen von Ravenna, aber auch unter Abwágung des allgemeinen 
geschichtlichen Verlaufs als alamannisch anzusehen. Auch die 
Mainuferorte Volkach und Fahr gehóren wohl noch der vor- 
fränkischen Zeit an. Aber die nördlich des Mains liegenden Orte 

Bessingen, Alt- und Neu-, 974 Bezzinga (?), wohl PN, 

Nüdlingen, 772 Hnutilinga PN Hnotilo (?), 
kónnen nicht mit Sicherheit als alamannische Orte angesehen 
werden. Sehr alt dürfte wohl auch der Salzort Kissingen sein, 
der aber wegen seiner áltesten Namensformen (864 Kizzicha 
mit unsicherer Ableitung) nicht ohne weiteres den -ingen-Orten 
eingereiht werden kann. 

Östlich der Linie Bessingen- Nüdlingen finden sich Orts- 
namen auf -ungen, wie sie in den unstreitig thüringischen Ge- 
bieten ófters vorkommen. Nicht selten wechseln in der allerdings 
erst Jahrhunderte jüngeren schriftlichen Überlieferung die En- 
dungen -ungen und -ingen miteinander. Überwiegend sind diese 
Orte nicht mehr wie die -ingen-Orte links des Mains mit PN 
gebildet, sondern mit Fluß- und Bachnamen oder mit Bezeich- 
nungen, die ein Merkmal der Lage und der Umgebung aus- 
drücken. Sie geben sich damit als junge Bildungen der letzten 
Landnahmezeit zu erkennen“. Da nun alle swebischen Stämme 
auf ihrer Wanderung von der Elbe zum Rhein Ostfranken in 


23 K. Uibeleisen, Die Ortsnamen des Amtsbezirks Wertheim, hält die -ingen- 
Orte des Waldsassengaues für thüringisch. 
* Eberl, Bayer. ON 1, 28 u. 66. 


458 Helmut Weigel 


südwestlicher Richtung durchzogen haben, so wird man diese 
Ortsnamen einem Stamm zuschreiben müssen, der eben noch 
vor dem Festwerden der Siedlungen hier von Norden her ein- 
gewandert ist. Das können aber nur die Thüringer sein“. Ich 
führe diese Namen hier auf: 


Schonungen bei Schweinfurt, ohne Beleg, ahd. sconi = 
schön (?), 

Kronungen an der Wern, ohne Beleg (Grüningen?) ahd. 
kran = Wacholder oder gruoni = grün, 

Rannungen, 837 Hramnungen PN Hraban oder ahd. hra- 
ban = Rabe, 

* Jeusing, Waldbezirk zwischen Rannungen und Maßbach, 
9. Jahrhundert, Giusunga, wohl PN, 

Weichtungen, 825 Uuichtungun wohl PN, 

Strahlungen, Strolungen, ahd. strala — Rohr, 

Hendungen, 800 Hentingen PN Hando, 

Behrungen, 800 Baringe, Bachname Bahra, ebenso 

Waldbehrungen, 809 Uualtbaringi, 

Fladungen, 789 Pladungen, 1031 Fladungom, nd. flat — 
versumpfendes Wasser, 

Schwallungen, 788 Suuollunga, hd. swall = Flut, fließen- 
des Wasser, 

Wasungen, 874 Uuasunga, ahd. waso — Wiese, 

Hellingen bei Heldburg, 800 Helidungom, 838 Helidingero 
marcu, wohl PN Halido, 

Lauringen, 801 Hlurunga, Flußname Lauer, 

Wettringen, 838 Wettarungon, Bachname Wetter (vgl. 
Wettringen bei Rothenburg). 


Neben den -ungen-Namen finden wir nun noch einige Namen 
mit der gleichfalls in Mitteldeutschland üblichen Endung 
-leben, ahd. leiba = Erbgut, Nachlaß, die gedanklich der Zu- 
gehörigkeitsbezeichnung -ungen nicht fern steht. Ich verzeichne 
im Grabfeld: 

Dingsleben, 9. Jahrhundert Dingesleiba PN Thing-, 
Alsleben, 9. Jahrhundert Adalolfesleiba PN Adalolf, 
Unsleben, Unsoltesleiba PN Unnolt; 


# Eberl, Bayer. ON 1, 69 und Schumacher, Siedelungsgesch. 3, 115 sprechen 
die -ungen- (-ingen-) Orte des nördlichen Franken als thüringisch an. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 459 


dann im Maindreieck: 
Zeuzleben, 1060 Zuzeleiba PN Zuzo, 
Ettleben, 9. Jahrhundert Hettileiba PN Hatto, 
EDleben, 779 Isinleiba PN Isino, 
Güntersleben, 1113 Guntresleiba PN Gunther; 
endlich óstlich des Mains 
Kolitzheim, 791 Coldleibesheim PN Golth-. 


Die stammesgeschichtliche Deutung dieser Orte ist um- 
stritten. Die einen sehen in ihnen volksmáBige Siedlungen der 
suebisch-thüringischen Angeln; in diesem Fall würden die 
-Jeben-Orte an der Wern und am Main die südlichste Spitze des 
thüringischen Vorstoßes bilden. Andere fassen sie als staatliche 
Zwangsansiedlungen nach der Niederwerfung eines Aufstandes 
der suebisch-thüringischen Warnen zu Ende des 6. Jahrhunderts 
durch die Franken auf?. Ich neige mehr der ersteren Auf- 
fassung zu. 

Das Ergebnis: Ostfranken ist in der Völkerwanderungszeit 
Durchmarschgebiet, Durchgangsland. Nördlich des Mains saßen 
um 500 bereits Thüringer, südlich von ihm noch Alamannen. 
Man mag die ersteren als die Spitze, die letzteren als die Nachhut 
ihrer Stämme ansehen. Trotzdem wäre es zuviel gesagt, wollte 
man den Main als politische Grenze zwischen beiden Stämmen 
bezeichnen; er allein war wohl nicht einmal eine natürliche 
Grenze. Jedenfalls eine politische Einheit stellt Franken um 
500 nicht dar. Ob die Einverleibung Ostfrankens in das Mero- 
wingerreich zeitlich an die Besiegung der Alamannen oder an die 
Unterwerfung der Thüringer anzuschließen ist, bleibt also nach 
der Untersuchung der staatlich-politischen Verhältnisse dieses 
Gebietes immer noch fraglich. 


III. 


Suchen wir dieser Frage von einer anderen Seite her beizu- 
kommen. Wir wenden uns ab von dem staatlichen Denken des 
19. Jahrhunderts und fragen vielmehr einmal nach den natür- 
lichen Bedingungen, die im 5. und 6. Jahrhundert die staatlichen 
Verhältnisse Ostfrankens bestimmten. 


# Die verschiedenen Meinungen zusammengestellt bei K. Schumacher, Siede- 
lungsgesch. 3, 146. 


460 Helmut Weigel 


Die mittel- und unterfränkischen Gäulandschaften, das Main- 
tal und die beiderseits anschließenden Hochflächen (Iffgau, 
Uffenheimer, Ochsenfurter und Schweinfurter Gau, Grabfeld) 
zählen zu den „altbesiedelten“ Landschaften. Darunter versteht 
der Geograph „Siedlungsflächen, die wir uns schon seit dem 2. 
bis 3. Jahrtausend als offene, nur von kleineren Waldstücken 
durchsetzte Kulturlandschaften vorzustellen haben, und die auch 
von den vordringenden Germanen der Vólkerwanderungszeit zu- 
nächst allein besetzt worden sind‘‘. Im Umkreis um Mainfranken 
sind als altbesiedelt zu nennen: die Untermain-Ebene, die Gáu- 
landschaften am oberen und mittleren Neckar, die schwäbische 
Alb, das Ries, der Donauzug der Frankenalb bis Regensburg 
und das thüringische Becken. In diesen Gebieten, wie in Main- 
franken, sind Bodenfunde aus fast allen Kulturperioden seit 
der jüngeren Steinzeit gemacht worden. Nach Zahl und Art 
der Funde bezeichnet unter ihnen in Mainfranken die Hall- 
stattzeit nicht nur den hóchsten Stand, sondern auch die 
weiteste Ausdehnung menschlicher Kultur. Mit der La- 
Téne-Zeit werden die Funde seltener. Ja,im Regnitzgebiet und auf 
dem Nordzug der Frankenalb hóren sie in diesem Zeitraum über- 
haupt auf; die menschenleer gewordenen Gebiete verwalden, 
so daß im Mittelalter eine gewaltige Rodungsarbeit geleistet 
werden muß, um den Boden wieder siedlungsfáhig zu machen. 
In Mainfranken ist eine solche Kulturlücke nicht fühlbar. Aber 
das Seltenerwerden der Funde weist doch auch hier auf ein 
Dünnerwerden der Bevólkerung. Hand in Hand ging damit ein 
Einschrumpfen der wirtschaftlich benutzten Bodenfläche (Acker- 
und Wiesenland) und eine Ausdehnung des Waldes. Freilich 
verhinderte der nicht besonders waldfreundliche Boden Main- 
frankens und die Nutzung dieser kleineren Wälder als Hutwälder 
zur Viehzucht das Aufkommen eines dichten vollkommen 
siedlungsfeindlichen Urwaldes?$. 

Die waldfreien Stellen kommen nun freilich nicht sàmtlich 
für Ansiedlung und landwirtschaftliche Nutzung in Betracht. 
Einmal überwiegt in jenen Zeiten des 6.—8. Jahrhunderts die 


38 Vgl. Robert Grad mann, Die Arbeitsweise der Siedlungsgeographie in ihrer 
Anwendung auf das Frankenland. Zeitschrift für bayerische Landesgesch. 1 (1928), 
318f.; 320 u. 338ff. — G. Hock, Vor- und Frühgeschichte Frankens. Führer durch 
das fränkische Luitpoldmuseum in Würzburg. 1922 S. 114ff. u. 128f. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 461 


Viehzucht. Für den Ackerbau aber wáhlt man nicht die schwer- 
sten und fettesten Böden, sondern man bevorzugt Löß mit san- 
digen Beimischungen, der leicht zu bearbeiten doch eine 
genügende Ernte verspricht. Erst in der Hochkarolingerzeit 
nimmt man auch die schweren Lößböden von größerer Mächtig- 
keit in Angriff:“. 

Diesen siedlungsfähigen Boden für Mainfranken topogra- 
phisch genau zu umschreiben, ist heute noch unmóglich, da die 
Nachbarwissenschaften der Geologie und der Geographie die 
erforderlichen Karten noch nicht zur Verfügung stellen kónnen. 
Wir besitzen für Franken noch nicht einmal eine Karte der Ver- 
teilung des Wald-, Sumpf- und siedlungsfähigen Bodens um 500, 
wie sie für Elsaß-Lothringen und für die Rheinlande vorliegen?“. 
Erst recht mangelt uns eine topographische Karte der LóDvor- 
kommen, aus der sich die Mächtigkeit und die besondere Be- 
schaffenheit des Lößes ergibt. So bleibt uns nur ein indirektes 
Mittel, um die Besiedlungsfläche um 500 zu rekonstruieren, die 
Ortsnamen. Neben den wenigen Ortsnamen der ältesten Schicht 
auf -aha, -lar und -mar kommen nur die Ortsbezeichnungen auf 
-ingen und auf -heim, als die zweitälteste Schicht, in Betracht“. 

Zuerst sind aber noch einige allgemeine Bemerkungen voraus- 
zuschicken. Über die zeitliche und stammesmäßige Einreihung 
der -ingen-Orte besteht keine Differenz. Sie gehören (von den 
sog. falschen -ingen abgesehen) der Landnahmezeit und vor- 
zugsweise swebischen Stämmen, Alamannen, Thüringern und 
Baiern an. Umstritten sind die -heim-Orte. Arnold wollte sie den 
Franken zuweisen. Doch die durch ihn angeregte Forschung 


* K. Rübel, Reichshófe im Lippe-, Ruhr- u. Diemelgebiet und am Hellwege 
8. 22 ff; S. 127 f. 

28 ElsaB-Lothringischer Atlas hrsg. von G. Wolfram und W. Gley (1931), 
Karte Nr. 7. Erláuterungsband S. 26—28 (Otto Schlüter). — Geschichtlicher Hand- 
atlas der Rheinprovinz hrsg. von H. Aubin und J. Niessen (1926) Karte Nr. 1. 

39 Vgl .die in vorhergehender Anmerkung verzeichneten Ausführungen von 
O. Schlüter zur Methode. Doch können die archäologischen Funde, insbes. der 
La-Tene-Zeit, nichts gegen eine Überwaldung oder Verwaldung einer Landschaft 
in den folgenden 400—500 Jahren. Das Klima ist entscheidend nur bei der Frage 
nach der Siedlungsfähigkeit der Landschaft, nicht der einzelnen Stellen. Fluß- und 
Bachnamen aus keltischer Zeit gestatten die Annahme dauernder Besiedlung an 
dem Wasserlauf, versagen aber natürlich bei dem Versuch, die siedlungsfühigen 
Stellen genauer abzugrenzen; vgl. R. Kötzschke, Flußnamenforschung und Sied- 
lungsgeschichte. Deutsche Geschichtsblütter 8 (1907), 233—246 bes. 235 u. 240. 


462 Helmut Weigel 


kam mehr und mehr davon ab. Man begnügte sich damit, die 
-heim-Orte als Orte der Landnahme-Periode aufzufassen. Neuer- 
dings aber will man die -heim-Orte auch ihres „Rangalters“ 
berauben und sie der Ausbauzeit zuweisen??, Mit einem Wort, es 
herrscht hinsichtlich der -heim-Orte eine völlige Verwirrung, 
um so mehr, als einige Forscher mit erbitterter Záhigkeit an den 
-heim-Orten als Frankensiedlungen festhalten?! Die Forschung 
ist meines Erachtens zwei Irrwege gegangen. Sie hat einmal Er- 
gebnisse, die für eine bestimmte deutsche Landschaft gefunden 
worden waren, ohne weiteres verallgemeinert und tut das heute 
noch. Weiter sind Geographie und Philologie in einer systemati- 
schen und formalen Betrachtungsweise stecken geblieben. Immer- 
hin betonte gesprächsweise gerade ein führender Geograph, daß 
die Auswertung der Ortsnamen für die Siedlungsforschung Sache 
der Historiker“ sei. Mit vollstem Recht. Die frühmittelalter- 
liche Bevólkerungsgeschichte, die Stammesgeschichte einer 
deutschen Landschaft, muß aus anderen Quellen so genau wie 
eben möglich festgestellt sein, bevor man an die Auswertung der 
Ortsnamen gehen kann. Bei der Stammesgeschichte Süddeutsch- 
lands ist nun bisher ein einziger aber ausschlaggebender Umstand 
nicht, oder nicht genügend berücksichtigt worden: die swebischen 


% W. Arnold, Ansiedlungen und Wanderungen deutscher Stämme (1881) S. 
163, 165, 177. K. Lamprecht, Fränkische Wanderungen und Ansiedlungen, vornehm- 
lich im Rheinland. Zeitschrift des Aachener Gesch.-Vereins 4 (1882), 189ff. K. 
Weller, Ansiedlungsgeschichte des württembergischen Franken. Württembergische 
Vierteljahrshefte für Landesgesch. 3 (1894), 33—35. B. Ebert, Die bayerischen 
Ortsnamen 1, 79—81. — Weitere Literatur Dahlmann- Waitz Nr. 228; 230; 239; 240. 
— Adolf Bach, Die Ortsnamen auf -heim im Südwesten des deutschen Sprachgebiets. 
Wörter und Sachen 8(1923), S. 142—175. A. Bach, Die Siedlungsnamen des Taunus- 
gebietes in ihrer Bedeutung für die Siedlungsgeschichte. 1927. K. Bohnenberger, 
Zu den Ortsnamen. Germanica. Festschrift für Eduard Sievers (1925) S. 129—202, 
bes. S. 145 ff. — Diese letzteren drei Arbeiten interessant wegen der verschiedenen 
Auffassung von dem Wert bzw. Unwert der Bestimmungswörter. 

31 O. Bethge, Fränkische Siedelungen in Deutschland auf Grund von Orts- 
namen festgestellt. Wórter und Sachen 6 (1914), 56—89. K. Bohnenberger, Die 
-heim- und -weiler-Namen Alemanniens. Württembergische Vierteljahrshefte für 
Landesgesch. 31 (1922), 1—10. K. Schumacher, Siedlungsgesch. der Rheinlande 3 
101—104. 

33 A. Bach will zwar die Ortsnamen-Typen und ihre Verbreitung in allererster 
Linie als sprachliche Erscheinungen gewürdigt sehen. Vgl. A. Bach, Deutsche Sied- 
lungsnamen in genetisch-geographischer Betrachtung. Festschrift für O. Behaghel 
(1924) S. 233—279. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 463 


Stämme der Alamannen, Thüringer und Baiern kommen als 
landsuchende Vólker; die Franken lassen sich nieder im 
Auftrag ihrer obersten politischen Gewalt mit der Absicht, die 
besetzten Gebiete ihrem Staate fest einzugliedern. Die 
Landnahme der swebischen Alamannen ist im 6. Jahrhundert 
längst abgeschlossen, die der Thüringer dem Abschluß nahe, die 
der Baiern hingegen noch in vollem Fluß. Im gleichen Jahr- 
hundert setzt der erste Einbruch des fränkischen Staates in die 
ostrheinischen Lande ein. In Tauber- und Mainfranken sind 
also alamannische -ingen-Orte älter als die fränkischen Sied- 
lungen; die thüringischen sind etwa mit den fränkischen gleich- 
altrig. Daß der fränkische Staat bereits im 6. Jahrhundert auch 
siedlungsmäßig in das Gebiet der Baiern eingebrochen sei, ist 
wenig wahrscheinlich. In dem Jahrhundert von 561—660 scheint 
die fränkische Zentralgewalt einen nennenswerten Einfluß auf 
die ostrheinischen Gebiete nicht ausgeübt zu haben. Am rasche- 
sten muß Pippin der Mittlere spätestens um 687 Franken zwi- 
schen Neckar und Main, sowie Thüringen seiner Hausmeier- 
gewalt wieder unterworfen haben. Es gibt also eine zweite 
Gruppe fränkischer Siedlungen in Ostfranken, die dem aus- 
gehenden 7. und beginnenden 8. Jahrhundert entstammt. 
Schwieriger gestaltete sich die völlige Eingliederung Alaman- 
niens und Baierns; die meisten fränkischen Siedlungen im 
alamannischen und wohl alle im baierischen Gebiet gehören dem 
8. Jahrhundert an. Aber es wäre verkehrt, alle fränkischen Sied- 
lungen in Baiern erst der Zeit nach 788 zuweisen zu wollen; den 
Terminus post quem für fränkische Ansiedlungen in Baiern 
bilden die Kämpfe Pippins und Karlmanns in den 40er Jahren. 
Fränkische Siedlungen in Sachsen gehören natürlich erst dem 
späteren 8. Jahrhundert an. Da diese fränkischen Siedlungen 
mit der durch Kriegszüge bewirkten Machtausdehnung und der 
auf Machtbehauptung gerichteten Verwaltung des fränkischen 
Reiches zusammenhängen, s0 werden sie diesen militärisch-poli- 
tischen Charakter irgendwie erkennen lassen. Trüger und Werk- 
zeug dieser politischen Aufgabe bleibt aber immer der fränkische 
Bauer; das Dorf versieht Aufgaben, die später den Burgen und 
den Stádten zufallen sollen. Die Folgerung aus all dem: -heim- 
Orte im Bereich der Frankenherrschaft, die einen aus dem Ge- 
lànde oder dem Siedlungsbild ihrer Umgebung leicht erkennbaren 


464 Helmut Weigel 


militärischen oder verwaltungspolitischen Zug aufweisen, sind, 
besonders wenn sie gar als Kónigsgut (in Baiern als Herzogsgut) 
nachgewiesen werden können, als fränkisch anzusprechen“. Als 
äußerliches Merkmal dieser -heim-Orte erscheint vielfach die 
Benennung nach Báchen und Wasserläufen, nach Völkern und 
Stämmen, nach den Himmelsrichtungen und nach örtlichen 
Eigentümlichkeiten der Lage (Tal, Berg, Hóhe), des Bodens 
(Ried, Sulz = Sumpf, Stock = Buschwald, Stamm = Hochwald, 
Holz, Tanne, Fóhre, Buche, See), endlich nach bemerkens- 
werten Gebäuden (Kirche, Burg, Hof)“. Orte mit solch schema- 
tisch-bürokratischen Namen dürfen wir in Ostfranken, Alaman- 
nien und Baiern erst der Zeit Pippins und seiner Nachfolger zu- 
schreiben. Hingegen gehóren die mit Personennamen gebildeten 
-heim-Orte Ostfrankens überwiegend dem 6. Jahrhundert an; 
sie sind entweder nach dem Grundherrn, dem Besitzer des 
Dorfes oder nach dem (vom Staat bestellten ?) Führer des Ein- 
wanderer- bzw. Siedlertrupps benannt. Bei diesen älteren 
-heim-Dörfern ist ein politisch-militärisches Element in der Lage 
nicht einwandfrei zu erkennen; es wiegt durchaus die Rück- 
sicht auf die Erfordernisse der Landwirtschaft vor. Ob es da- 
neben schon im 6. Jahrhundert besondere militärische Stütz- 
punkte gab, ist eine noch nicht entschiedene Frage®. Es soll 
aber nun nicht behauptet werden, daß diese älteren -heim-Orte 
sämtlich Neugründungen der Franken sind; häufig ist lediglich 
ein neuer Name einem bereits vorhandenen alamannischen 
Ort von den fränkischen Einwanderern beigelegt worden“. 


3 K. Rübel, Reichshófe im Lippe-, Ruhr- und Diemelgebiete und am Hellwege. 
Beitráze zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 10 (1910). O. Bethge, 
Bemerkungen zur Besiedelungsgeschichte des Untermainlandes in frühmittelalter- 
licher Zeit. Jahresberichte der Humboldtschule Frankfurt a. M. 1910/11 u. 1913/14. 

*4 Vgl. die in Anmerkungen 31 und 33 erwähnten Arbeiten Bethges. 

*5 Vgl. K. Weller, Die Besiedelung des Alamannenlandes. Württembergische 
Vierteljahrshefte 7 (1898), 311 f. 

s Vgl. G. Göpfert, Castellum ..... Stadt oder Burg? (1920). Die hier behan- 
delten 5 castella Eltman, Hammelburg, Würzburg, Karlburg und Salz liegen auBer- 
halb oder wenigstens am Rande des Gebietes, in dem die von PN abgeleiteten 
-heim-Orte gehäuft vorkommen. Ebenso verhalten sich die beiden Burk in Mittel- 
franken und Oberfranken, sowie Castell zu dem Gebiet der alten -heim-Orte. 

* W. Veeck, Über den Stand der alamannisch-fränkischen Forschung in Würt- 
temberg. 15. Bericht der Rómisch-germanischen Kommission 1923/24. — W. Veek, 
Alamannen und Franken in Süddeutschland, Volk und Rasse 2 (1927). 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 465 


Für die Bestimmung des siedlungsfáhigen Raumes 
um 500 kommen somit neben den -ingen-Orten nur die 
álteren -heim-Orte, d. h. die nach Personen benannten, 
in Betracht. 

Dauernd besiedelt?? sind die Neckarstrecke von Gundelsheim 
bis über Cannstatt hinaus, dann die Täler der Fils, des Kochers 
und der Jagst. Das von ihnen umflossene Gebiet ist siedlungs- 
unfáhiges Waldland, abgesehen von einigen Tälern (Ohrn, 
Brettach, Bühler). Die gleichfalls besiedelten rechten Neben- 
täler der Jagst (Schefflenz, Seckach mit Kirnau) führen auf die 
Hochfläche zwischen dem Odenwald, dem Unter- und Mittel- 
lauf der Tauber und der Umpfer (linker Zufluß der Tauber bei 
Kónigshofen). Sie weist bei reichlicher Bewaldung doch auch 
zahlreiche und ausgedehnte waldfreie Stellen auf; sie gehört 
zu dem fränkischen Gau Wingarteiba, dem heutigen Bauland, 
zwei Namen, in denen sich der hohe wirtschaftliche Wert dieses 
Landstriches widerspiegelt. Die Tauber ist in ihrem Mittellauf 
von Impfingen bis Creglingen dicht besiedelt. Hingegen ist die 
Hochfläche, die sich zwischen der Tauberstrecke Königshofen— 
Creglingen, der Gollach, der Frankenhöhe, der Brettach, der Jagst 
und der Umpfer ausdehnt, ein weites, wenn auch verschieden 
dichtes Waldgebiet, das zur Siedlung wenig lockte. Es bildet 
die Verbindung zwischen dem südfränkischen Keuperwald und 
dem Schwäbischen Wald. Am dichtesten scheint die Bewaldung 
beiderseits der oberen Tauber gewesen zu sein. Doch finden sich 
gerade im Quellgebiet der Tauber einige siedlungsfähige Stellen. 
Gering sind die Siedlungsspuren auch an der unteren Tauber. 

Die Hochfläche, die von der Tauberstrecke Röttingen— 
Wertheim, den beiden Mainschenkeln Wertheim—Gemünden 
und Gemünden—Ochsenfurt, sowie dann künstlich von der 
westwärts einspringenden Linie Ochsenfurt—Oberwittighausen 
—Röttingen begrenzt wird, trug eine viel ausgedehntere Be- 
waldung als heute. Darauf deuten schon die unzähligen kleineren 
Gehölze und Wäldchen. Das nördliche Dreieck, wo der Spessart 
über den Main herübergriff, hatte nicht umsonst den Gaunamen 
„Uualtsazzi‘‘, beiden Wäldlern. In dem mittleren Teil zwischen 


38 Für die folgenden Ausführungen und die des Abschnittes IV ist es zweck- 
mäßig, die Karte des Deutschen Reiches 1:100000 heranzuziehen. Literarische - 
Arbeiten in Richtung unserer Fragestellung liegen für Franken noch nicht vor. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 30 


466 Helmut Weigel 


Aalbach und Wittigbach fallen heute noch groBe geschlossene 
Waldungen, die Forste von Waldbrunn und Rinderfeld, sowie 
der Guttenberger Wald auf. Den Charakter als Waldland hat 
sich auch der südliche Teil zwischen der Wittig und dem Tauber- 
bogen Róttingen—Lauda unverkennbar bewahrt. Besiedelt oder 
siedlungsfähig waren nur die Täler des Aalbaches mit seinen 
Zuflüssen, die bei Werbach in die Tauber mündenden Täler und 
die vom Welzbach aus zugänglichen Teile der Hochfläche. Die 
obenerwáhnten drei Forste reichten zwischen Würzburg und 
Ochsenfurt bis an den Main. Auch der ganze Mainbogen von 
Ochsenfurt bis Kitzingen war auf seinem Südufer in wachsender 
Breite mit Wald bestanden. Von Süden her reichte das Wald- 
gebiet, wie wir wissen, bis zur Gollach. Es blieb also nur ein ver- 
hältnismäßig schmaler, doch zusammenhängender Streifen von 
Siedlungsland, der westöstlich von der Tauber zum Steiger- 
wald zog. Vor diesem Hindernis bog das siedlungsfáhige Land 
nach Norden und Süden aus. In dieser letzteren Richtung wurde 
es durch den von der Frankenhóhe óstlich zur Regnitz streichen- 
den betrüchtlich breiten Keuperwald begrenzt. Doch boten die 
parallel nordostwärts in den Steigerwald hineinstoßenden Täler 
der oberen Ehe und der oberen Aisch siedlungsfähiges Land. 
Nördlich der oberen Gollach dehnte sich siedlungsfähiger Boden 
am Steigerwald entlang, die Bucht südlich des Schwanberges 
erfüllend, bis zu der Linie Mainbernheim— Kitzingen. In dem 
nördlich anschließenden Raum Einersheim—Kitzingen— Volk- 
ach—Gerolzhofen gingen der Steigerwald und der Auwald des 
Mains ineinander über. Die Südspitze des Maindreiecks bis zu 
der Linie Kitzingen—Heidingsfeld ist heute noch stark be- 
waldet; auch der Raum Würzburg—Escherndorf—Kitzingen 
wird im 6. Jahrhundert eine größere Walddecke getragen haben 
als jetzt. Der Gramschatzer Wald hat einst ganz sicher bis zum 
Westabfall der Hochfläche gereicht und sich auch nach Osten 
weiter als heute erstreckt. 

Halten wir einen Augenblick inne. Vom Spessart bei Ge- 
münden bis zum Steigerwald bei Iphofen—Kitzingen—Dettel- 
bach läuft neben dem Main auf seinem Süd-, aber auch auf 
seinem Nordufer ein nahezu geschlossener Waldgürtel einher. 
Er könnte viel eher eine Stammes- und Siedlungsgrenze gebildet 
haben als der Main selbst. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 467 


Den Ostrand des Maindreiecks scheint wiederum ein Wald- 
streifen begleitet zu haben. Östlich des Mainbogens Volkach— 
Schweinfurt bot sich siedlungsfáhiger Boden, aber stark von 
Wald und Sumpf zerstückelt. Frühbesiedelt ist endlich das Tal 
der Wern, das den natürlichen Abschluß des Maindreiecks im 
Norden bildet. Nördlich der unteren und mittleren Wern und 
des Schweinfurter Mainbogens beginnt ein breiter Gürtel lichter 
Hutwälder, der zu den Urwäldern des Spessarts, der Rhön und 
der Haßberge hinüberleitet. Er bildet zugleich die Nord- 
grenze der nach Personen benannten -heim-Orte. Nördlich und 
nordöstlich kommen nur noch -heim-Orte vor, deren Namen mit 
der Stammesbezeichnung der Franken, mit den Namen der 
Himmelsrichtungen und mit anderen Sachwörtern gebildet sind. 
Andrerseits setzen unmittelbar nördlich und östlich von Gelders- 
heim an der Wern die thüringischen -ungen-Orte ein, die sich 
nun als dünner Faden nach dem Hauptland Thüringen hin- 
ziehen. Mit anderen Worten: die Waldzone Gemünden — Ham- 
melburg— Schweinfurt stellt abermals eine Grenze in siedlungs- 
mäßiger Hinsicht dar. 

Ich glaube nunmehr sagen zu dürfen: Der Waldgürtel süd- 
lich des Mains von Gemünden nach Kitzingen bildete um 500 
die nördliche, die rückwärtige Grenze des alamannischen Stam- 
mesgebietes. An der mittleren Tauber saß noch eine starke ala- 
mannische Bevölkerung. Der Raum zwischen den Waldzonen 
des Mains und der Tauber-Gollach wird von Alamannen nur 
noch dünn bevölkert gewesen sein, am dichtesten noch im 
Westen; der dem Steigerwald benachbarte Teil war von ihnen 
anscheinend schon geräumt. Alamannische Siedlungen hielten 
sich am Aalbach; und so wird auch Würzburg noch alamannisch 
gewesen sein. | 

Entsprechend war der Waldgürtel am rechten Mainufer die 
natürliche Südgrenze des thüringischen Vorstoßes von Norden. 
Die Waldzone Hammelburg—Schweinfurt kann die Südgrenze 
um 500 nicht mehr gewesen sein; denn sie war bereits von den 
-ungen-Orten durchbrochen. So sind auch die -leben-Orte an 
der Wern wohl noch volksmäßige Siedlungen. 

In diese noch ungefestigten Verhältnisse einer Vólkerwan- 
derung stießen nach 500 die Franken hinein, und zwar nach der 
Besiegung der Alamannen. Ihr Vorstoß fand zuerst an den Main- 


30* 


468 Helmut Weigel 


wäldern Halt. Dann brachen die Franken aber durch und trieben 
ihre Siedlungen in das Gebiet der Thüringer bis an den Wald 
zwischen Main und Saale vor. Ob dieser zweite Vorstoß nun 
Anlaß oder Folge des fränkisch-thüringischen Krieges war, wird 
freilich immer dunkel bleiben. 


IV. 

Wenn wir uns nach den Quellen umsehen, die uns die Ein- 
gliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 
— einen der folgenschwersten Vorgänge der deutschen Ge- 
schichte — im einzelnen erkennen lassen, so fällt die schrift- 
liche Überlieferung nahezu völlig aus. 

Gregor von Tours schweigt. Die Einfügung der Lande 
vom Neckar bis zum Steiger- und Thüringerwald in das Franken- 
reich war kein einmaliges Ereignis, das Aufsehen erregte, kein 
Ereignis, an dem ein frommer Bischof der katholischen Kirche 
oder gar einer der mächtigen Heiligen des Himmels Anteil hatte. 
Im Gegenteil, die Durchdringung dieser Lande mit fränkischem 
Wesen war eine sehr irdische, ganz nüchterne Angelegenheit. 

Von solchen Dingen des täglichen Lebens berichten uns in 
späteren Jahrhunderten die Urkunden. Aber auch diese Quellen- 
gruppe fällt für Ostfranken während der Merowingerzeit aus. 
Glücklich preisen wir uns schon, daß wir die Urkunden der 
Klöster Fulda und Lorsch aus dem 8. und 9. Jahrhundert 
wenigstens teilweise, wenn auch oft bös mißhandelt und ver- 
unstaltet, besitzen??. Aber die Verhältnisse des 6. Jahrhunderts 
schimmern in diesen 200 bis 300 Jahre jüngeren Schriftstücken 
nur hier und da noch durch. Immerhin, sie übermitteln uns aus 
sehr früher Zeit eine stattliche Reihe von Ortsnamen, also die 
Quellenart, auf die wir vorläufig in Ostfranken noch auf das 
stärkste angewiesen sind. 

Denn die zweite Art frühmittelalterlicher Forschungstätig- 
keit, die Bodenforschung, ist gerade für unseren Zeitraum in 
dem bayerischen Ostfranken bisher wenig gepflegt worden; ihre 
Ergebnisse sind dementsprechend bescheiden. Doch bieten die 
Bodenfunde immerhin einige wertvolle Anhaltspunkte. 


3 Urkundenbuch des Klosters Fulda Bd. 1, 1. bearb. von E. E. Stengel. 1913. 
— Codex diplomaticus Fuldensis, hrsg. von E. Dronke 1850. — — Codex Laures- 
hamensis. Bd. 1, hrsg. von K. Glöckner. 1929. — Codex princeps olim abbatiae 
Laureshamensis diplomaticus. Ed. A. Lamey 1786. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 469 


Diese handgreiflichen Überreste der merowingisch-karolin- 
gischen Zeit entstammen in der Hauptsache fränkischen Rei- 
hengräbern. Denn Siedlungen dieser Periode haben sich bis 
jetzt in Franken archäologisch nicht nachweisen lassen, und 
zwar wohl deshalb, weil sie auch hier wenigstens in der über- 
wiegenden Zahl mit den heutigen Dörfern ortsgleich sind. 
Ausnahmen vermag gelegentlich die Flurnamenforschung fest- 
zustellen. Fränkische Reihengräber wurden aufgedeckt am 
unteren Main bei Mómlingen, Obernburg a. Main und Obernau; 
an der mittleren Tauber bei Werbach, Impfingen, Tauber- 
bischofsheim und Edelfingen-Mergentheim; auf der Hochfläche 
zwischen unterer Tauber und mittlerem Main bei Urphar, 
Mädelhofen, Unter-Leinach, Neubrunn und Darstadt; am mitt- 
leren Main bei Heidingsfeld, Würzburg, Thüngersheim, Karl- 
stadt; làngs des Steigerwaldes bei Uffenheim, Weigenheim, 
Seinsheim, Nenzenheim, Hellmitzheim, Iphofen, Willanzheim 
und Lülsfeld; am Main bei Gochsheim und Schweinfurt; im 
Gebiet der Wern bei Arnstein und Reuchelheim; vereinzelt bei 
Westheim an der Saale und bei Ostheim an der Rhön; imSüden 
zwischen Jagst und Tauber bei Crailsheim und Ingersheim“. 
Sehen wir von den Orten Ost- und Westheim ab, so verläuft die 
Linie der vom Neckar am weitesten vorgeschobenen Reihen- 
gráberorte ganz entsprechend dem Bogen, der von den württem- 
bergisch-südfránkischen Keuperwäldern (Frankenhóhe) dem 
Steigerwald und dem Waldgebiet zwischen Main und Saale ge- 
bildet wird. 

Über das Gebiet der mit Personennamen gebildeten -heim- 
Orte zwischen Jagst— Tauber—Steigerwald—Wern reicht das 
Reihengrábergebiet nur im Norden und Nordwesten hinaus. 
Man darf sagen: soweit beide Gebiete — das der Reihen- 
gräber und das der -heim-Orte mit Personennamen 
— sich decken, soweit erstreckte sich die erste Land- 
nahme der Franken. Die Reihengräber-Orte auf -heim liegen 
weiter sämtlich in Tälern entsprechend den Erfordernissen einer 
Landwirtschaft, bei der die Viehzucht überwiegt. Dies gilt nun 


4 K. Weller, Ansiedlungsgeschichte des württembergischen Franken. Würt- 
tembergische Vierteljahrshefte 3 (1894), 37. G. Hock in: Führer durch das Luitpold- 
museum S. 123ff.; 128; 130; 132. P. Reinecke, Die Slaven in Nordostbayern. Bayr. 
Vorgeschichtsfreund 7 (1927/28), 36f. 8 (1929), 43. 


470 Helmut Weigel 


auch für die beiden Orte Westheim und Ostheim, die in die 
großen Waldgebiete der Buchonia eingestreut sind; ersteres liegt 
an der Saale bei Hammelburg, letzteres mit anderen gleichge- 
bildeten Orten an der oberen Streu (ZufluB der Saale). Die Besied- 
lung lehnt sich also auch hier an die FluBtáler an. Aber Saale und 
Streu sind auch die natürlichen Wege vom Main nach Thüringen, 
haben also auch politische Bedeutung®!. Die anderen Reihen- 
gräber-Orte, die nicht -heim-Orte sind, machen hinsichtlich ihrer 
wirtschaftlichen Lage keine Ausnahme. Bei einigen von ihnen 
spielt auch das politische Moment herein; sie scheinen in Be- 
ziehung zu wichtigen StraDen zu stehen. Darstadt oder die sonst 
zu dem Gräberfeld gehörige (vielleicht abgegangene) Siedlung 
ist unstreitig auf den Mainübergang von Klein-Ochsenfurt orien- 
tiert. Urphar selbst ist ein weiterer alter Mainübergang. Neu- 
brunn liegt in der kürzesten Linie zwischen beiden Übergängen. 
Auch Heidingsfeld ist als Mainübergang zu werten, und zwar in 
Richtung auf Röttingen an der Tauber. Und endlich wird auch 
das Reihengräberfeld bei Karlstadt zu einer Siedlung an einem 
Mainübergang gehören, den wohl das Kastell Karlburg deckte. 
Auch bei Lülsfeld und Arnstein könnte es sich um Siedlungen 
an der Kreuzung von Wasserlauf und Straße handeln. 

Einzelforschungen über die Reihengräber, besonders über die 
für uns wichtigste Frage nach ihrer zeitlichen Einreihung und 
Erstreckung stehen noch aus. Wenn Schumacher diese Reihen- 
gräber an der Tauber und in der Umgebung von Würzburg als 
„frühfränkisch“ bezeichnet“, so ist das etwas zu summarisch; 
die von Darstadt, Neubrunn, Lülsfeld, Ostheim und Westheim 
werden aus siedlungsgeschichtlichen Erwägungen doch frühe- 
stens dem ausgehenden 7. Jahrhundert zuzurechnen sein. 

Neben, ja vor den Funden der Spatenforschung bleiben aber 
doch die Ortsnamen unsere Hauptquelle. 

In dem Gebiet zwischen Tauber, Frankenhöhe, Steigerwald 
und Wern fallen zuerst die -heim-Orte auf. Wir haben sie in 
zwei Gruppen geschieden. Die erste hat als Bestimmungswort 
einen Personennamen (PN); wir haben sie als die ältere ange- 


“ Vgl. K. Rübel, D. Franken ihr Eroberungs- und Siedlungssystem im deutschen 
Volkslande. S. 323—338. 
K. Schumacher, Siedlungsgeschichte der Rheinlande 3, 58. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 471 


sprochen. Die zweite Gruppe““ weist Sachbezeichnungen der ver- 
schiedensten Art auf, wozu wir auch Vólker- und Stammes- 
namen rechnen; handelt es sich doch dabei um Zwangsansied- 
lungen von Menschen, die nicht freiim Rechtssinn waren, also den 
Charakter einer Sache an sich trugen. Die Ortsnamen beider 
Gruppen finden sich nun in Ostfranken bunt durch- 
einander, aber nicht regellos. Das Vorkommen der zweiten 
Gruppe ist durch topographische Momente bedingt. Hinter ihr 
werden bestimmte wirtschaftliche und politische Zweckset- 
zungen erkennbar. Die Namen der ersten Art haften hingegen 
an Dórfern, die nichts weiter sind als Bauernsiedlungen ohne 
(wenigstens deutlich hervortretende) staatliche Nebenzwecke. 

Neben den -heim-Orten aber werden auch Ortsnamen mit 
anderen Endungen berücksichtigt, so auf -hofen, -hausen, 
-stadt, -feld und -brunn, soweit die entsprechenden Orte in die 
fränkische Zeit zurückzureichen scheinen. 

Wir untersuchen diese Orte Ostfrankens zuerst auf ihre 
Lage“. Es sei aber von vornherein betont, daß die folgenden 
Aufstellungen und Ergebnisse nicht ohne weiteres verallge- 
meinert werden dürfen. 

Der Siedlungsvorstoß der Franken in der ersten Hälfte des 
6. Jahrhunderts, dem die älteren, mit einem Personennamen 
gebildeten -heim-Orte ihre Entstehung verdanken, hatte zum 
Ausgangsraum die rheinische Ebene von der Mündung des Mains 
bis zu der der Oos. Die natürlichen Einfallslinien waren durch 
den Neckar bzw. die Kraichgau-Senke und durch den Main ge- 
geben. Bei dem Charakter des Alamannenkrieges ist mit Sicher- 
heit anzunehmen, daß die fränkischen Ansiedlungen dieses Vor- 
StoBes wenigstens zum Teil königlich waren. Der im Ortsnamen 
enthaltene Personenname bezeichnet also vielfach den Anführer 
der Siedler, den kóniglichen Offlzier und Beamten. Aber daneben 
haben wir grundherrlich-adelige Dórfer auf kóniglichem Schen- 
kungsland anzunehmen. Der Personenname rührt dann von dem 


Die Bezeichnung „ unechte“, „falsche“ heim-Orte ist abzulehnen. 

Eine solche Untersuchung, obwohl Grundlage jeder siedlungsgeschichtlichen 
Forschung, ist bisher noch nicht vorgenommen worden. Verfasser kennt den größeren 
Teil der Orte aus eigener Anschauung. — Die ortsgeschichtliche Literatur hier einzeln 
aufzuführen, wäre unzweckmäßig, da sie bei einer gesonderten Behandlung des 
fränkischen Königsgutes in Ostfranken im einzelnen verzeichnet werden soll. 


472 Helmut Weigel 


Grundherrn her. Das Königshofsystem der Merowinger ist wohl 
damals schon auch nach Ostfranken übertragen worden. Aber 
die Machtstellung des Königs östlich des Rheins war noch nicht 
fest genug verankert, als nach Chlothars Tod 561 die jahrzehnte- 
langen greuelvollen und zerrüttenden Wirren im Frankenreich 
ausbrachen. Sie förderten die schon vorhandenen Bestrebungen 
des ostfränkischen Adels, sich gegenüber dem Merowingerkönig 
selbständig zu machen. Die Bedrohung durch die von Osten 
heranrückenden Slaven“, gegen die der König keinen Schutz 
zu gewähren vermochte, trieben diese Selbständigkeitsgelüste 
weiter. Herzog Radulf von Thüringen war um 640 vom Franken- 
könig so gut wie unabhängig. Aber noch vor Ablauf des Jahr- 
hunderts, vielleicht als Folge der Schlacht bei Tertry 687, stellte 
der karolingische Hausmeier Pippin der Mittlere die Macht der 
Zentralgewalt, also seine eigene in Franken wieder her**. Auf ihn, 
zum Teil auch auf Karl Martell haben wir wohl den planmäßigen 
Ausbau der Staatsmacht in Ostfranken, d. h. das System der 
Königshöfe, zurückzuführen. Damit hingen auf das engste die An- 
lage von Straßen, umfangreiche Rodungen zwecks Anlage neuer 
Dörfer, die Sicherung wichtiger Fluß- und Gebirgsübergänge, 
ja die politische Organisation Ostfrankens überhaupt zusammen. 
Dieser zweiten Periode der karolingischen Durchdringung Fran- 
kens von etwa 680 bis 750, der „Hausmeierzeit“, gehören die 
jüngeren -heim-Orte an, die nach Stämmen und Völkern, nach 
Wasserläufen und Himmelsrichtungen, auch nach Eigentümlich- 
keiten ihrer Lage benannt sind. Ferner sind dieser Periode, aber 
auch den folgenden Zeiträumen der Hochkarolingerzeit (bis 814) 


* Die letzten Veróffentlichungen zur Slavenfrage als Problem der fränkischen 
Geschichte: Marga Bachmann, Die Verbreitung der slavischen Siedlungen in Nord- 
bayern. 1926. — Erich Freiherr von Guttenberg, Die Territorienbildung am Ober- 
main. 79. Ber. d. Hist. Ver. Bamberg (1927) S. 16—41. P. Reinecke, Die Slaven 
in Nordostbayern. Bayer. Vorgeschichtsfreund 7 (1928), 17—37; 8 (1929) 42f. Johann 
Schlund, Besiedlung und Christianisierung Oberfrankens 1931. A. Stuhlfauth, Die 
baierisch-fránkische Kolonisation gegen die Slaven auf dem Nord- und Radenzgau. 
1932. Grundlegend aber wenig beachtet E. Schwarz, Die Frage der slavischen Land- 
nahmezeit in Ostgermanien. Mitt. Instituts für österreich. Geschichtsforschung. 43 
(1929). 

“a Der in Würzburg wirkende Irenmissionar Kilian war vielleicht wie Iren- 
missionare in Baiern ein Werkzeug der fränkischen Politik. Vgl. R. Bauerreiß 
Irische Frühmissionäre. In: Korbinian-Festschrift Freising 1922, S. 44 f. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 473 


und Spátkarolingerzeit (bis 918) die Ortsnamen auf -stadt, 
-feld, -brunn, auch ein großer Teil der auf -hofen, -hausen und 
-burg zuzurechnen. Die Orte auszuscheiden, die in der ,,kónigs- 
losen" Zeit, etwa 560 — 680, entstanden sind, wird kaum 
móglich sein; am ehesten kommen wohl noch Ortsnamen auf 
-bach in Betracht. Ortsnamen auf -feld und -brunn mit schema- 
tisch gebrauchten, immer wiederkehrenden Bestimmungswörtern 
wird man wohl der spätmerowingisch-karolingischen Durch- 
dringung zuweisen dürfen. 

Ich beschránke mich im folgenden auf das Kerngebiet des 
alten Ostfrankens, die Landschaften zwischen der mittleren und 
unteren Tauber, der Gollach, dem Steigerwald und der Wern®, 
Das Hauptaugenmerk sei dabei auf die Orte auf -heim gerichtet, 
insbesondere auf die Frage, ob die Lage der jüngeren heim-Orte 
auf eine besondere staatlich-politische Aufgabe hinweist. 

An der unteren und mittleren Tauber, die den merowin- 
gischen Kern des Taubergaues bildet, finden wir nun: 

Wertheim, 1009 Werdheim SN ahd. warid = Insel in 
Flüssen und Sümpfen, 

Reicholzheim, 1199 Richolvesheim PN Ricolf, 

Impfingen, 1320 Umphenkeim, 1365 Umpfingen PN Um- 
mo (?), 

Tauberbischofsheim, etwa 800 Biscofesheim SN Bischof, 

Dittigheim, 1271 Dietencheim PN Diot-, 

Gerlachsheim, 1209 Gerlagesheim PN Gerlach, 

Edelfingen, 1207 Uotelfingen, wohl PN, 

Mergentheim, 1058 Merginthaim PN Maria (?), 

Igersheim, 1089 Jegersheim PN Igo, 

Markelsheim, 1054 Markolfesheim PN Markolf, 

Elpersheim, 1219 PN Ellenbert (?), 

Weikersheim, 935 Wighartesheim PN Wichart, 

Schäftersheim, 1146 Scheftersheim PN Skapto-, 

Tauberrettersheim, 1225 Rettersheim PN Ratger (?), 

Röttingen, 1215 Rotingin PN Hrod-, 

Creglingen, 1045 Chregelingen PN Krako. 


*5 Für die heute württembergischen Gaue Ostfrankens vgl. K. Weller, An- 
siedlungsgeschichte. Württembergische Vierteljahrshefte 3 (1894), 40—77. Für die 
badischen Gaue vgl. K. Schumacher, Das Land zwischen Neckar und Main in der 
alamannischen und fränkischen Zeit. 1926. 


474 Helmut Weigel 


Wir stellen fest, daß -ingen und heim-Orte nebeneinander 
vorkommen, daß sich auch einige -ingheim-Orte finden. Die 
Tauberufer waren also von Alamannen noch dicht besetzt, als 
die Franken einwanderten. Es überwiegen die mit Personen- 
namen gebildeten Ortsbezeichnungen auf -heim. Die anders 
gearteten -heim-Orte weisen einige Merkmale auf, die besprochen 
werden müssen. Wertheim ist das Dorf an der Insel, oder ge- 
nauer wohl an der Halbinsel, die durch den ZusammenfluB von 
Tauber und Main gebildet wird. Ich verweise auf ein gleichge- 
bildetes Wirtheim an der Mündung der Bieber in die Kinzig. 
Bei Wirtheim überschreitet, wie die Karte deutlich erkennen 
läßt, ein von Norden kommender Weg die Kinzig, führt dann 
als Hochstraße nach Süden zu der sog. Birkenhainer Straße, 
einem uralten Handelsweg durch den Spessart, schneidet diese 
und erreicht an Huckelheim, dem einzigen -heim-Orte des nörd- 
lichen Spessart, vorbei das fruchtbare Tal der Kahl bei dem 
Ort Kónigshofen. Das Wegesystem bei Wertheim harrt noch 
der Untersuchung. Aber Wertheim hat eine Entsprechung an 
dem spátkarolingischen Mainübergang Lengfurt (abermals eine 
schematische Ortsnamenbildung in Anlehnung an besondere 
Boden- bzw. Wasserverhältnisse). Und beide Orte liegen in dem 
Zug einer Linie zwischen dem frühkarolingischen Kloster Amor- 
bach und dem gleichfalls karolingischen Kónigshof Salz an der 
Saale. Eine Süd-Nord-Verbindung, die den Main bei Wertheim 
überschreitet, scheint gegeben durch die Orte Buchen (774 
Bucheim) an einem Odenwaldeingang, und Windheim an einer 
älteren Straße durch den Spessart. Der südliche Teil der Straße 
ist genügend gewährleistet durch den Namen Hochstraße zwi- 
schen Buchen und Hardheim, sowie durch den Ort Steinfurt 
(Namenbildung nach den Furtverhältnissen); der nördliche Teil 
ist eine einwandfreie Höhenstraße auf der Wasserscheide. 
Windheim trägt seinen Namen als eine auch zu Rodungen an- 
gelegte Wendensiedlung; Buchen ist nach den Buchenwaldungen 
genannt; beides sind also -heim-Orte der Hausmeierzeit. 

Mergentheim liegt an einer schon in der Steinzeit besie- 
delten Stelle. Man ist versucht, deshalb auch die fränkische An- 
siedlung in das 6. Jahrhundert zu verlegen. Andrerseits darf 
nicht übersehen werden, daß dem Mergentheim an der Tauber 
ein spátmerowingisches Krautheim an der Jagst entspricht, und 


| 
| 
| 


| 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 475 


daß zwischen beiden hart an der Wasserscheide ein etwa gleich- 
altriges Assamstadt liegt; die -stadt-Orte finden sich aber mit 
V orliebe an karolingischen Straßen. Mergentheim könnte sehr 
wohl ein aus politisch-verwaltungsmäßigen Gründen angelegter 
Tauberort (mit einer Marienkirche) sein. Endlich mag auch noch 
ein anderes Moment mitgesprochen haben, seine heilkräftigen 
Quellen. 

Dann Tauberbischofsheim in hervorragender Verkehrs- 
lage an einer vorrömischen Straße, die bei Miltenberg (römisches 
Kastell Miltenberg-Ost) den Main verließ und sich südöstlich 
der Tauber zuwandte; jenseits der Tauber verlief sie östlich in 
das seit der Steinzeit dauernd besiedelte Gebiet zwischen Main 
und Gollach. Nun finden wir den Namen Bischofsheim noch 
Ofters, besonders am unteren Main bis gegen Mainz hin. Ein 
zweiter ostfránkischer Ort dieses Namens, Bischofsheim vor der 
Rhön, hat gleichfalls eine wichtige Verkehrslage am Übergang 
aus dem Tal der Brend (Nebenbach der Saale) in die Täler der 
Sinn (NebenfluB des Mains) und der Fulda, oder nach karolin- 
gischen Orten bezeichnet, am Übergang zwischen dem Kloster 
Fulda und dem Königshof Salz“. 

Die drei mit Sachbezeichnungen gebildeten -heim-Orte des 
Taubergrundes sind durch ihre Verkehrslage vor den anderen 
nach rein landwirtschaftlichen Gesichtspunkten angelegten 
Orte hervorgehoben. Als Ansiedlungen einer politischen Gewalt, 
des Königs, eines Bischofs oder Abtes, sind sie frühestens dem 
ausgehenden 7., wenn nicht erst dem 8. Jahrhundert zuzuweisen. 
Klärung bringt vielleicht eine Untersuchung der Rechts- und 
Besitzverhältnisse, wobei freilich die Gründung von Städten 
stark erschwerend wirkt und genaue topographische Studien 
notwendig macht. 

Neben diesen -heim-Orten zieht nun noch der Ort Königs- 
hofen unsere Aufmerksamkeit an sich. Es ist der Endpunkt der 
von Möckmühl an der Seckach und von Widdern (774 Widdern- 
heim) an der Kessach, d. h. also der von der Jagst ausgehenden 
Siedlungstreifen und Straßen; erstere sind durch -ingen- und 
-heim-Orte, letztere durch -stadt-Orte gekennzeichnet. Ostwärts 
von Königshofen dehnte sich zwischen Tauber und Wittig ein 


Eine Straße Gemünden—Tal der Felda (Thüringen) würde an Bischofsheim 
vorbeiführen; sie läßt sich aber bis jetzt nicht einmal in Spuren erkennen. 


476 Helmut Weigel 


Waldgebiet, das in Resten noch heute erhalten ist. Wir finden 
dort eingesprengt Dörfer mit Namen, wie sie für die karolingische 
Rodungstätigkeit kennzeichnend sind, Kützbrunn, Messel- 
hausen, Oesfeld. Nun wissen wir, daß die Gewinnung neuen 
Landes durch Rodung zu den Hauptaufgaben der Königshöfe 
gehörte?”. Wir machen aber zugleich die Wahrnehmung, daß 
durch diese Rodungen siedlungsmäßig die Verbindung mit dem 
Ort Gaukönigshofen (südwestlich Ochsenfurt) hergestellt wurde; 
Gaukönigshofen ist aber der Königshof im Badanachgau. Wir 
werden sehen, daß Gaukönigshofen nach Lage und mutmaßlicher 
Verwaltungsaufgabe von Königshofen an der Tauber sich nicht 
unterscheidet. Wir stellen fest, daß die Lage an einem wich- 
tigen Flußübergang und im Waldgebiet auch für Königshofen 
an der Kahl zutrifft. Wir dürfen daraus schließen, daß diese 
Königshöfe nach ganz bestimmten Gesichtspunkten angelegt 
sind: zur Gewinnung neuen Kulturlandes, zur Sicherung wich- 
tiger Wege und Flußübergänge, endlich — und das war die poli- 
tische Auswirkung der Rodung — zurengeren Verknüpfung 
der durch die großen Wälder voneinander getrennten Siedlungs- 
streifen. Erst dadurch konnte der merowingische Gau, der nichts 
anderes war als cine siedlungsmäßig-landschaftliche Einheit, zu 
der politischen Einheit der Karolingerzeit werden. 

Es erhebt sich die Frage, wie sich der fränkische Siedlungs- 
vorstoß des 6. Jahrhunderts von der Tauber aus fortgepflanzt 
hat. Die Orte 

Böttigheim, Bettenkaim PN Bado, 

Wenkheim, 1144 Wegengheim PN Wago, 

Altertheim, Ober- und Unter-, 1137 Alterheim Adj. ahd. 

alt oder PN Adal- (?), 

Gerchsheim ohne Beleg 
deuten auf eine Ausdehnung in nordöstlicher Richtung. Man 
wird aber die beiden in Tälern gelegenen -ingheim-Orte als ur- 
sprünglich alamannische und von den Franken lediglich über- 
nommene Siedlungen ansehen dürfen. Die beiden auf der Hoch- 
fläche liegenden -heim-Orte sind vielleicht erst späteren Ur- 
sprungs. Darauf scheint bei den beiden Altertheim zu deuten, 

4 Vgl. Erich Freiherr von Guttenberg, Die Königskirche in Fürth und ihre 


Bedeutung für die Südgrenze des Bistums Bamberg. 66. Jahresbericht Hist. Ver. 
Mittelfranken (1930), 125, bes. S. 127. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 477 


daß sie in der Nähe einer Straße zwischen den beiden Mainüber- 
gängen Klein-Ochsenfurt und Urphar, einer sog. Weinstraße 
liegen; auch Gerchsheim verdankt als ein sog. Freidorf der 
staatlichen Kolonisation seinen Ursprung$?*. In ihrer Nähe finden 
wir tatsächlich wiederum frühmittelalterliche Waldorte, Neu- 
brunn an der Weinstraße, Großrinderfeld, Schönfeld und Klein- 
rinderfeld (schematische Bildungen) längs einer Linie Tauber- 
bischofsheim—-Heidingsfeld (Mainübergang südlich Würzburg). 
Somit muß sehr fraglich erscheinen, ob die Franken bereits 
im 6. Jahrhundert durch die von Heidingsfeld nach Urphar 
ziehende Waldschranke zu den alamannischen Dörfern des 
Aalbaches und seiner Zuflüsse Bettingen, Dertingen, Remlingen, 
Uettingen und Eisingen durchgestoßen sind. 
Wir finden weiter nordöstlich von Üttingen 

Greußenheim, Grüzzenheim SN grioz = Sand, Kies, 
dann am Main selbst unterhalb von Würzburg 

Höchheim, Veits- und Margets-, 800 Hocheim Adj. hoch, 

Thüngersheim, 1100 Tunigeresheim PN Dun-. 
Die Einreihung dieser Orte stößt nur scheinbar auf Schwierig- 
keiten. Es sagt uns nämlich sowohl das heutige Kartenbild, als auch 
der alte Name dieser Landschaft zwischen den beiden Mainschen- 
keln, „Waltsazzi‘‘, daß wir für die frühmittelalterliche Periode 
hier eine sehr starke Bewaldung anzunehmen haben. Die Orte 
auf -feld, -brunn und -hausen, besonders im Nordwesten, deuten 
in die gleiche Richtung und zugleich darauf, daß erst in der 
Hausmeierzeit oder darnach diese Landschaft von der Kolo- 
nisation der Franken erfaBt worden ist. Man kónnte auch auf 
den Ortsnamen Urspringen verweisen, der noch einmal mitten 
in einem einwandfrei staatlichen Siedlungsgebiet vorkommt, 
nàmlich im Gebiet der oberen Streu neben Sontheim, Ostheim, 
Nordheim. Die Gruppe der -ingen-Orte im Aalbach-Gebiet 
konnten sich also — um ein Bild Schumachers zu gebrauchen — 
wie „harte Felsenriffe“ erhalten, weil die „fränkische Hochflut“ 
erst sehr spät an sie herandrang®®. Bei Helmstadt und Hett- 
stadt werden wir nach einer Straße fragen; tatäschlich liegen sie 
an der Straße vom mittleren Neckar zum mittleren Main bei 


F. Schneider, Staatliche Siedlung im frühen Mittelalter. Aus Sozial- und 
Wirtschaftsgeschichte. Gedächtnisschrift für G. v. Below (1928), S. 16—45. 
K. Schumacher, Siedelungsgeschichte der Rheinlande 3, 96. 


478 Helmut Weigel 


Würzburg und Veitshóchheim; sie trägt noch heute zwischen 
Hardheim und Külsheim in Baden den Namen ,,Würzburger 
Steig“; östlich der Tauber bezeichnen die Orte Höhe feld und 
Neubrunn ihren Verlauf. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die 
nach Schema F benannten Orte Wiesenfeld, Steinfeld, Ur- 
springen, Birkenfeld eine von Gemünden nach Süden verlau- 
fende Linie (wohl eine Straße) bilden, als deren Endpunkte nach 
der Karte entweder die vom Neckar her kommende Straße bei 
Hóhefeld oder Tauberbischofsheim bzw. Königshofen an der 
Tauber oder auch Mergentheim anzunehmen sind. Himmel- 
stadt liegt als Übergang über den Main im Zug jener uns 
schon bekannten Linie Wertheim—Lengfurt— Stetten an der 
Wern—Hammelburg. Halten wir das alles zusammen, so bleibt 
als Gesamteindruck der, daB die Franken im 6. Jahrhundert 
dieses Gebiet zwischen den beiden Mainschenkeln als für sie 
bedeutungslos umgangen haben; ihr SiedlungsvorstoB nahm eine 
andere Richtung. Erst als das Gebiet nórdlich der Wern an der 
Saale und an der Streu — das Verbindungsstück zwischen 
Franken und Thüringen — durch die staatliche Kolonisation 
der Hausmeier dem Frankenreich fest eingegliedert wurde, und 
als andrerseits das mittlere Neckargebiet eine fränkische Basis 
in den Kämpfen gegen die Alamannen wurde, gewann das Wald- 
sassenland als natürliches Verbindungsland zwischen Neckar 
und Saale erhöhte Bedeutung. In der zweiten Hälfte des 8. Jahr- 
hunderts drehte sich dann, wenn man so sagen darf, die Achse 
des Waldsassenlandes in die Nordwest-Südost-Richtung Frank- 
furt Würzburg. 

Wir kehren zur mittleren Tauber zurück. Aus der Gegend 
Gerlachsheim scheint ein zweiter Siedlungsvorstoß nach Osten 
hin unternommen worden zu sein. In dem tief eingeschnittenen 
Tal der unteren Wittig fehlen -heim-Orte völlig. Siedlungsnamen 
auf -ingen und -heim sind erst auf der Hochfläche an den Zu- 
flüssen der Wittig nachzuweisen, und zwar am Mosbach: 

Kirchheim (nicht identisch mit dem Kyrchaim von 823) 
SN ahd. kirihha = Kirche, 
an dem Seebach und Nebenbächen: 
Gützingen, ohne Beleg, wohl PN, 
Allersheim, 1224 Alderesheim PN Adalhart, 
Herchsheim, Harichesheim PN Harja-, 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 479 


am Innsingerbach: 
Gaurettersheim, ohne Beleg PN Ratger (?), 
endlich Sáchsenheim, ohne Beleg VN Sahso = Sachse. 

Die -ingen-Orte liegen am weitesten westlich. Kirchheim 
ist als -heim-Ort ganz vereinzelt, weit in den Wald hinein vor- 
geschoben. Die Nachbarorte Moos und Sulzdorf lassen den 
wenig siedlungsgünstigen Charakter des Bodens erkennen. Nórd- 
lich schließen sich, die heutige Waldgrenze in gewissem Abstand 
begleitend, drei Orte auf -hausen an. Aus ihrer Lage schon 
können wir entnehmen, was uns Fuldaer Urkunden bezeugen, 
daß solche -hausen-Orte im Wald auf Bifängen, auf Rodungs- 
land erwachsen sind. Östlich von Kirchheim finden sich dann die 
Orte auf -feld und auf -stadt, die nahezu sämtlich in der 
Karolingerzeit urkundlich beglaubigt sind. Sie hingen wohl mit 
dem karolingischen Straßensystem zwischen Main und Tauber 
zusammen, denn Ingolstadt und Giebelstadt waren auf den 
älteren und in der Südwest-Nordost-Richtung wichtigsten Main- 
übergang Klein-Ochsenfurt, Fuchsstadt auf den von Eibelstadt 
gerichtet. Giebelstadt besaß noch erhöhte Bedeutung als Schnitt- 
punkt der Linien Kleinochsenfurt— Kirchheim — Tauberbischofs- 
heim und Würzburg—Heidingsfeld—Röttingen an der Tauber. 
Dieses Gebiet nördlich der Linie Gützingen—Allersheim— 
Herchsheim ist also erst in der Hausmeierzeit besiedelt worden. 
Es stellt die Verbindung zwischen der Erweiterung des Tauber- 
gaues östlich Tauberbischofsheim und dem Kern des Badanach- 
gaues her. 

Die oben angeführten mit Personennamen gebildeten -heim- 
und -ingen-Orte nahmen in der Merowingerzeit eine kleine, in 
sich geschlossene, rings aber von Wald umgebene Siedlungsfläche 
ein, die nach einem heute nicht mehr feststellbaren Bach als 
Badanachgau bezeichnet wurde. Über die heutige Straße 
Ingolstadt Riedenheim wird er sich östlich etwa bis zur Wasser- 
Scheide des Thierbachs erstreckt haben. 

Auffällig ist Sáchsenheim. Als Ansiedlung deportierter 
Sachsen kann es nicht vor den Sachsenkriegen Karl Martells 
entstanden sein, wenn es nicht überhaupt in die Zeit König 
Karls hinunter zu rücken ist°®. Der Lage nach erscheint es als 


® J. Schmidkontz, Sachsenansiedlungen in Unterfranken. Alma Julia. Beilage: 
zur Neuen Bayerischen Landeszeitung Würzburg 26. 2. 1906. 


480 Helmut Weigel 


Ausbauort von Sonderhofen. Dieses aber ist nachweislich 
Königsgut und unzweifelhaft ein Ableger von Gaukönigs- 
hofen. In seiner Nähe treffen wir nun 6 Orte mit der Endung 
-hausen, davon vier in dem gegenüber Klein-Ochsenfurt mün- 
denden Thierbachtal. Ein fünftes, Osthausen, liegt östlich von 
Sonderhofen, während Euerhausen nach Südwest von Königs- 
hofen vorgeschoben ist. Die Aufgabe der ersten 5 -hausen-Orte 
wird sich in der Rodung erschöpft haben, politisch gesehen in 
der Herstellung der Verbindung zum Main und zum Gollachgau. 
Euerhausen und Sächsenheim aber dienen unstreitig in 
erster Linie dem Zweck, die Verbindung zwischen dem Königs- 
hof des Badanachgaues und dem des Taubergaues enger und 
fester zu gestalten. Hinsichtlich des Verhältnisses der -hausen- 
Orte zu Königshöfen möchte ich noch auf einige Einzelfälle ver- 
weisen: bei dem Königshof Forchheim an der Regnitz liegen 
am Waldrand nördlich Buckenhofen, südlich Hausen; vom 
Königshof Oettingen im Ries ist Belzheim westlich, und von 
diesem Hausen nördlich unmittelbar an den Wald vorgeschoben; 
am Westrand der Frankenhöhe finden sich die Orte Brettheim und 
Oestheim als Siedlungen der Hausmeierzeit und zwischen ihnen 
Hausen. Der karolingische Badanachgau besteht somit aus einem 
älteren merowingischen Siedelungsgebiet im Westen und einem 
in der Hausmeierzeit gewonnenen Rodungsgebiet im Osten und 
Süden, das sich um Gaukönigshofen gruppiert; es schließt sich 
an das Rodungsgebiet des Taubergaues, östlich Königshofen an. 
Nach dem allen kam der von Gerlachsheim ausgehende Sied- 
lungsvorstoß des 6. Jahrhunderts in östlicher Richtung nicht 
vorwärts; auch den Main hat er nicht erreicht. 

Um so erfolgreicher war der Vormarsch, der von der Tauber 
bei Röttingen gollachaufwärts ging. Der tief eingeschnittene 
enge Unterlauf ist auch hier von alten Siedlungen frei. Im Gebiet 
der mittleren Gollach finden wir nun 

Baldersheim, 1009 Baldolvesheim PN Baldolf, 

Gelchsheim, 1219 Geulichsheim, 1225 Geillichsheim, 
wohl PN, 

Riedenheim, 1237 Rietheim, eher zu ahd. riutan =roden 
als zu hriad = Rohr, Ried, 

Hemmersheim, 914 Hamersheim PN Hamar, 

Gollachostheim, 1136 Ostheim SN ahd. ost = Osten, 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 481 


Uffenheim, 1161 Uffenheim PN Uffo, 
Ulsenheim, 1094 Ulsinheim PN Ulso. 
An dem der oberen Gollach parallel laufenden Holzbach liegen 
Geckenheim, 1169 Geggenheim PN Gago, 
Weigenheim, 822 Wigenheim PN Wigo. 
Vorgeschoben sind in ein südliches Seitental 
Pfahlenheim, um 1136 Pholinheim, SN ahd. phäl = Pfahl, 
in nördliche Nebentäler 
Rodheim, 1017 Rodeheim ahd. riutan = roden, 
Gülchsheim, 1119 Gullichesheim, 1136 Goulichesheim PN 
Gawi-, 
Geißlingen, 1144 Gisilinheim PN Gisilo. 

Wir halten inne; die Wasserscheide zwischen Tauber und 
Main ist wieder einmal erreicht. Die mit PN gebildete westliche 
Gruppe Hemmersheim, Gülchsheim, Geißlingen, steht mit der 
östlichen gleichgearteten Gruppe Geckenheim, Weigenheim, 
Ulsenheim, Uffenheim in Verbindung durch gleichgebildete Orte 
jenseits der Wasserscheide: Ickelsheim und Herrnberchtheim. 
Der Siedlungsvorstoß der Merowingerzeit, der sonst die Wasser- 
läufe einhält, muß an der mittleren Gollach ein Hindernis vorge- 
funden und umgangen haben. Es war der Wald, der sich im 
Raum  Bieberehren — Uffenheim — Tauberzell — Burgbernheim 
noch erhalten hat. Wir stellen fest, daß sich am Nordrand dieses 
Waldstriches von Waldmannshofen bis Adelhofen eine Kette von 
5 -hofen-Orten hinzieht. Nördlich dieser Linie liegen die schon 
genannten Orte Gollachostheim und Pfahlheim; dazu gesellte 
sich früher ein Stockheim, von dem nur noch der Stockheimer 
Brunnen zeugt. Pfahlenheim ist verwandt mit Pfahlheim östlich 
Ellwangen am Limes. Dem Namen Stockheim werden wir noch 
öfters begegnen, wie es auch viele Ostheim gibt. Alle drei sind 
planmäßige Gründungen der fränkischen Staatsgewalt auf 
einem mit Busch bestandenen feuchten Boden. Wo ist der fis- 
kalische Mittelpunkt? Gollachostheim weist auf das westlich 
gelegene Lipprichhausen. Hier münden denn auch die Täler, 
in denen Pfahlenheim und Rodheim — gleichfalls auf Wald 
(Hochwald ?) deutend — liegen; auch Stockheim hat man von 
hier unmittelbar erreichen können. Freilich der Name Lipprich- 
hausen will zu einem staatlich-fiskalischen Mittelpunkt gar nicht 
passen. Man würde ihn eher in Gollhofen, 823 Gullahaoba, 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 31 


482 Helmut Weigel 


889 Gollahofe, Flußname Gollach, suchen. Die Namenbildung 
klingt an Iphofen an, das als Kónigshof bezeugt ist. Ich bin 
versucht, den Zwiespalt so zu lösen, daß Gollhofen tatsächlich 
der Kónigshof für das Gebiet der Gollach, den Gollachgau war; 
die staatliche Aufrodung des mittleren Gollachwaldes aber wurde 
von einem Außenposten des Kónigshofes, eben Lipprichhausen, 
vorgenommen. 

Mit Ulsenheim und Weigenheim hatte der merowingische 
SiedlungsvorstoB die Südwest-Ecke des Steigerwaldes erreicht. 
Von letzterem Ort war es aber móglich, noch weiter nach Osten 
in das Tal des Ehebaches einzudringen. Am oberen Ehebach und 
an seinen Zuflüssen, die ein für die Viehzucht äußerst brauch- 
bares Gelände boten, stellen wir an -heim-Orten fest: 

Herbolzheim, 1324 Herboltsheim PN Heribolt, 

Krautostheim, SN Osten, 

Markt-Nordheim, SN ahd. nord — Norden 

Kottenheim, 11. Jahrhundert Cuttenheim PN Kutto (?), 

Deutenheim, 1220 Titenheim PN Tito, 

Krassolzheim, 1023 Graszulzun PN Grasolf (oder ahd. 
gras = Gras?), 

Etzelheim, 1023 Detzelheim, 1421 Etzelheim PN Azzo, 

Sugenheim, 1421 Sugenheim PN Sugo. 

Die Orte, deren Namen mit einem PN gebildet ist, liegen an 
der Ehe und an der sog. Kleinen Ehe. Die Siedlung, nach der 
Krautostheim und Markt-Nordheim orientiert sind, läßt sich 
mit Sicherheit nicht angeben. Ein Ort, der im Namen den 
Königshof erkennen ließe, ist nicht festzustellen; auch das 
Wüstungsverzeichnis liefert keinen Hinweis. Am wahrschein- 
lichsten ist noch Herbolzheim. Dann hätten wir in Herbolz- 
heim auch den politischen Mittelpunkt des Ehegaues zu er- 
blicken. Dazu würde passen, daB von hier aus — freilich durch 
feuchtes Gelände — das Gollachgebiet leicht zu erreichen ist; 
auch nach Osten vermittelt die Einsenkung in dem Hóhenzug 
bei Humprechtsau den natürlichen Übergang ins Tal der oberen 
Aisch, wie auch das karolingische Windsheim leicht zu erreichen 
ist. Welche Aufgaben aber haben nun die beiden Fiskaldörfer 
Krautostheim und Nordheim? Ihre Anlage kónnte mit den 
Straßen zusammenhängen, die vom Ehetal zum Hohenlandsberg 
und beiderseits um ihn herum zu der Gollach und zur Iffig, 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 483 


d. h. aus den Gebieten der Aisch und der mittleren Regnitz in 
die der Tauber und des mittleren Mains führen; eine verrát noch 
heute mit dem Namen ,,Breiter Weg'' ihre alte Eigenschaft als 
Handelsweg. Jedenfalls stellte der Weg über die Hóhe die kür- 
zeste Verbindung zwischen den genannten Tälern dar. Zudem 
bot der Wald jederzeit trockene Wege, während die Linie Her- 
bolzheim—Ulsenheim durch äußerst feuchtes Gelände führte. 
Beide Momente waren für die Scharen der fränkischen Reiter 
von größter Wichtigkeit. Es kommt also — zum mindesten ge- 
legentlich — den fiskalischen Dörfern auch militärische Be- 
deutung zu. Die Frage, warum die merowingischen Siedlungen 
nicht über Sugenheim hinaus vorgetrieben worden sind, erklärt 
sich m. E. sehr leicht aus den örtlichen Verhältnissen. Der Ehe- 
bach, der nur noch ein ganz geringes Gefälle hat, andererseits 
durch Zuflüsse aus den beiderseitigen Wäldern an Wassermenge 
zunimmt, versumpft das Gelände; dieses wird zudem durch 
die besonders nahe herantretenden Wälder stark eingeengt. 
Von Uffenheim bot sich den anrückenden Franken noch eine 

weitere Siedlungsmöglichkeit, nach Süden hin bis zum Nord- 
abfall des Keuperwaldes und diesen entlang in das Tal der 
oberen Aisch hinein. Ich verzeichne: 

Seenheim, 903 Seheim SN See, 

Ergersheim, 8. Jahrhundert Argisesheim, 1108 Ergeresheim 

PN Arg-, 
Buchheim, 1146 Buchheim SN Buche, 
Schwebheim, 8. Jahrhundert Suabheim VN Schwabe, 
Swebe, 

Wiebelsheim, 1136 Wibilisheim PN Wibold, 

Illesheim, 1328 Illensheim, Illingsheim PN Illinc, 

Urfersheim, Urbaresheim PN Urbert oder Urfrit, 

Westheim, SN ahd. west — Westen, 

Sontheim, SN ahd. sunt — Süden, 

Windsheim, 823 Windesheim PN Windo, 

Ickelheim, 1171 Itolfesheim PN It-, 

Lenkersheim, 1421 Lengkersheim PN Landger, 

Mailheim, PN Megin (?), 

Weimersheim, Weimmersheim, vielleicht PN, 

Külsheim, 790 Gullesheim PN Gullo, 

Ipsheim, 1189 Ippetesheim PN Ipp-, 


31? 


484 Helmut Weigel 


Kaubenheim, 1518 Kaubenheim PN Kub- oder Gaud-, 

Menheim, 1226 Menneheim PN Menno (jetzt mit Kauben- 
heim vereinigt), 

Berolzheim, 1317 Beroldesheim PN Berold, 

Altheim, 1158 Altheim Ad). alt, 

Dottenheim, 774 Tottenheim PN Tot-, 

Dietersheim, 1370 Dytrichsheim PN Diether, 

Schauerheim, 1421 Schawerheim PN (?), 

Burgbernheim, 889 Berenheim, 1000 castellum Bernheim 
PN Bero (oder SN bero = Bär ?). 

Die Ortsbezeichnungen des oberen Aischgrundes sind über- 
wiegend von PN gebildet. Östlich der Linie Ergersheim—-Urfers- 
heim sind sie nahezu alleinherrschend. Westlich findet sich nur 
Burgbernheim, wenn es wirklich von einem PN Bero und nicht 
von der Tierbezeichnung Bär sich ableitet. Räumlich hängen 
sich die Siedlungen nicht an Uffenheim, sondern an Ulsenheim 
an, liegen also östlich der nassen Senke zwischen den Gollach- 
wäldern und dem Höhenzug längs der Ehe und Aisch. Die allzu- 
große Entfernung und das feuchte Gelände zwischen Ulsenheim 
und Ergersheim ist im 8. Jahrhundert durch die (fiskalische) 
Anlage Seenheim überbrückt worden. 

In die obengenannte Linie Ergersheim—Urfersheim gehört 
nun auch Windsheim. Denn das frühkarolingische Windsheim 
ist nicht ortsgleich mit der heutigen Stadt Windsheim. Es ist 
bei der Kleinwindsheimer Mühle an der Ranach zu suchen, die 
heute den einzigen Rest eines Dorfes darstellt, das im 14. Jahr- 
hundert noch aus der Kirche, der Mühle und einigen Bauern- 
höfen bestand. Der Kern des karolingischen Dorfes war ein 
Königshof mit einer Martinskirche. Wir haben somit in Winds- 
heim den politischen Mittelpunkt des Rangaues zu erblicken. 
Dieser Charakter Windsheims veranlaßt mich, die Ableitung der 
Ortsbezeichnung von dem Volksnamen Windo = Wende abzu- 
lehnen; denn in Franken findet sich kein mit einem Volksnamen 
gebildeter -heim-Ort, der ein Mittelpunkt der fränkischen Ver- 
waltung gewesen wäre. Neuangelegte Verwaltungsmittelpunkte 
der spát-merowingischen und karolingischen Zeit werden in Ost- 
franken mit der Endung -hofen belegt; daneben scheinen Kónigs- 
hófe auch in -heim-Orten mit PN angelegt worden zu sein, so 
vermutlich in Herbolzheim im Ehegau, hóchstwahrscheinlich in 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 485 


Geldersheim im Grabfeld. Wir dürfen also auch Windsheim von 
einem PN Windo ableiten, wozu auch das genitivische s eher 
passen würde. 

Die Reihe der mit PN gebildeten Ortsnamen schließt — wie 
im Ehegrund mit Sugenheim — so hier im Aischgrund mit 
Schauerheim sackartig ab. Versumpftes Gelände am Zusammen- 
fluB der Aisch und des Diebaches, das sich noch heute in den 
karolingischen Ortsnamen Birkenfeld und Riedfeld, letzteres als 
Königshof bezeugt, widerspiegelt, anscheinend auch hart heran- 
tretender Wald, riegelten den Vorstoß der Franken im 6. Jahr- 
hundert ab. 

Ein Ortsname fällt uns auf: Altheim. Er kann nur eine 
ältere Siedlung im Gegensatz zu einer neueren bezeichnen. Diese 
hat der Muttersiedlung den ursprünglichen Namen bei der Grün- 
dung entwendet. Man sucht die jüngere Siedlung in dem gegen- 
überliegenden Dottenheim. Ein ähnliches Verhältnis werden wir 
bei Altendorf-Buttenheim südlich Bamberg anzunehmen haben. 
Wie Buttenheim so könnte auch Dottenheim die jüngere Markt- 
gründung neben dem älteren Bauerndorf sein. 

Weiter stellen wir östlich von Lenkersheim zwei Weiler 
fest, deren Name heute auf -heim ausgeht: Mailheim und 
Weimersheim. Beide sind bis an den Westrand des Hohen- 
ecker Forstes vorgeschoben und standen vermutlich in irgend- 
welchen Beziehungen zu den Straßen, die in das mittlere Zenntal 
und damit nach dem Regnitzübergang bei Fürth hinüberleiteten. 
Der Weilercharakter dieser Orte braucht nicht gegen karolin- 
gischen Ursprung zu sprechen; die landwirtschaftlich ungünsti- 
gere Lage hat die Entwicklung zu Großdörfern wie unmittelbar 
an der Aisch gehemmt. Ich möchte in beiden Orten fränkische 
Wegstationen sehen. Diese Vermutung gewinnt an Wahrschein- 
lichkeit, wenn wir südwestlich dieser beiden Orte am Fuß der 
Höhe ein anderes eng zusammengehöriges Ortspaar erblicken 
mit den typischen Namen Sontheim und Westheim. Ersteres 
ist nach Ickelheim orientiert, letzteres wieder nach Sontheim. 
Von beiden führen in steilem Anstieg Wege hinauf in den obersten 
Zenngrund. Wir müssen es uns einstweilen versagen, den oberen 
auf der Keuperplatte nach Osten führenden Wegen und Tälern 
nachzugehen; die Durchdringung dieses Gebietes mit fränkischen 
Siedlungen fällt erst in das 7. und 8. Jahrhundert. Nur das sei 


486 Helmut Weigel 


bemerkt, alle von der Natur vorgezeichneten Besiedlungslinien, 
die Täler der Zenn und der Bibert samt ihren Zuflüssen, führen 
auf den Regnitzübergang (vielleicht sollten wir besser sagen: 
Regnitzübergánge) bei Fürth. 

Westwärts Westheim stoßen wir erst in Burgbernheim wieder 
auf einen -heim-Ort. Dazwischen liegt ein Ort, der unsere Auf- 
merksamkeit in Anspruch nimmt: Markt Bergel, 793 Bürgel, 
837 Bargilli in pago Rangau, 1007 Biergila. Er liegt dicht vor 
dem Anstieg der großen Staatsstraße Würzburg —Ochsenfurt— 
Ansbach auf die Hochfläche des Keuperwaldes. Ihre Kurven 
schneidet eine weit ältere Straße ab, die siedlungsmäßig ge- 
sprochen aus dem Grund der Aisch zu den Oberläufen der Alt- 
mühl und der Rezat führt. Politisch angesehen, und zwar aus 
der Mitte des 8. Jahrhunderts heraus, ist diese Straße nichts 
anderes als die unmittelbarste Verbindung zwischen dem Zen- 
trum fränkischer Macht am mittleren Main, dem neuen Bischofs- 
sitz Würzburg, und dem fränkischen Vorposten gegen Baiern, 
dem gleichfalls neugegründetea Bistum Eichstätt. Oben auf dem 
Höhenrand, der den Namen Hohe Steig trägt, kreuzt sich diese 
Nord-Süd-StraBe mit einem anderen alten Weg, der von dem 
Regnitzübergang bei Fürth herankommt, über die Hohe Leite 
die Frankenhöhe westwärts hinabsteigt und das Taubertal bei 
dem keltischen Ringwall von Finsterlohr trifft. Daß Bergel frän- 
kisches Königsgut ist, nimmt uns nun nicht wunder. Auch die 
Deutung des Namens als Verkleinerungsform zu Burg erscheint 
uns passend, wobei wir sowohl an eine vorgeschichtliche Be- 
festigung auf dem Petersberg, als auch an ein fränkisches Kastell 
mit dauernder Besatzung?! denken könnten. Freilich legen die 
anderen ältesten Namensformen die Vermutung nahe, daß es sich 
um eine Ansiedlung von Bargilden, d. h. von Freien auf Königs- 
land handeln kónnte9?, Die Anlage dieser fränkischen Station 
haben wir mit der Gründung der Bistümer Würzburg und Eich- 
státt zusammenzubringen, also in die Mitte des 8. Jahrhunderts 
zu setzen. Die Verbindung zwischen Marktbergel und dem älteren 
Uffenheim an der Gollach bilden die spáten -heim-Orte Schweb- 
heim und Buchheim sowie einige -hofen-Orte, letztere z. T., 

9 K. Rübel, Das fränkische Eroberungs- und Siedlungssystem in Oberfranken. 


Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 54 (1906) Spalte 157f. 
53 Vgl. den Anmerkung 48 erwühnten Aufsatz von F. Schneider. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 487 


wie Pfaffenhofen und Rudolzhofen, mit Front gegen den Gollach- 
wald. Auch Buchheim gibt sich nach seinem Namen als wohl 
frübkarolingischer Rodungsort, àhnlich Buchen (774 Bucheim) 
an einem Eingang in den Odenwald. Schwebheim liegt wie der 
gleichnamige Ort südlich von Schweinfurt in áuBerst nassem, 
damals wohl sumpfigem Gelànde. Sollte es sich dabei um eine 
Zwangsansiedlung von Nordsweben handeln, die von ihrer nie- 
derdeutschen Heimat mit einem solchen Boden und seiner Be- 
wirtschaftung wohl vertraut waren? Jedenfalls verrát diese 
Siedlungsfolge einen zielbewußten Willen und planmäßigen 
Ausbau. 

Am Fuß einer weit nach Nordosten vorspringenden Kuppe 
der Frankenhóhe liegt, als Reichsgut eindeutig bezeugt, Burg- 
bernheim. Auch hier steigt eine alte Straße zur Frankenhóhe 
empor, um in südlicher Richtung auf der Wasserscheide nach 
Schillingsfürst, einem wichtigen Paßort, und weiter südwestlich 
nach den fränkischen Siedlungen im Maulachgau, Crailsheim, 
Onolzheim, Ingersheim und Jagstheim, zu verlaufen. Auch diese 
Straße schneidet südlich von Burgbernheim die obenerwähnte 
Ost-West-StraBe. Die rückwärtige Verbindung Burgbernheims 
mit Uffenheim wird wieder durch einige -hofen- Orte gebildet. 

Der merowingische Ehegau hat in karolingischer Zeit keine 
Erweiterung erfahren, im Gegenteil, er ist von dem Iffgau auf- 
gesogen worden. Der Rangau traf in seiner Ausbreitung nach 
Westen in den Wäldern zwischen der Gollach und der Tauber 
mit dem Gollachgau, dem Taubergau und dem von Süden her 
sich gewaltig ausdehnenden Maulachgau zusammen. Genaue und 
Sichere Gaugrenzen lassen sich hier nicht ziehen. Die Hauptaus- 
dehnung des Rangaus in karolingischer Zeit ging nach dem 
Osten und dem Süden, also den Richtungen, die durch den Lauf 
der Aisch und durch die Paßorte Westheim, Sontheim und 
Marktbergel angezeigt sind. Aber auch die Waldkette zwischen 
der Aisch und der Ehe wurde aufgelockert. 

In diesen Ausgangsräumen der karolingischen Ausdehnung 
sind denn auch einige nur urkundlich überlieferte -heim-Orte 
zu lokalisieren. So dürfte ein *Rietheim schon wegen der ur- 
kundlichen Zusammenstellung mit Riedfeld bei diesem Ort an- 
zusetzen sein. Aus dem gleichen Grund suchen wir ein *Hoch- 
heim bei Külsheim; die Ortsnamen Obern- und Unterntief 


488 Helmut Weigel 


werden uns nun erklärlich. Wir dürfen dieses Hochheim um so 
eher als karolingischen -heim-Ort hier annehmen, als die be- 
nachbarten Orte Rüdisbronn und Humprechtsau als Rodungs- 
orte der gleichen Zeit angehóren dürften. Und es ist wiederum 
kein Zufall, daB dieser Durchbruchsstelle durch den Wald 
gegenüber im Ehegrund Krautostheim und Markt-Nordheim 
liegen. Ein *Urheim dürfen wir bei Urphertshofen, also beim An- 
stieg in das Zenngebiet, und ein Hofheim bei Marktbergel, 
somit am Anstieg in die Quellgebiete der Rezat und Altmühl 
annehmen; móglicherweise ist Hofheim mit Ottenhofen oder 
dem in Marktbergel aufgegangenen Niederhofen gleichzusetzen. 
Wenn im Aischgrund nicht weniger als 4 karolingische -heim- 
Orte wieder verschwunden sind, dann wird es uns auch leichter, 
den Weilern Weimersheim und Mailheim fränkischen Ursprung 
zuzubilligen. 

Gehàuft treffen wir nun auch die -heim-Orte jenseits der 
Wasserscheide Geislingen—Weigenheim im Gebiet des Iffig- 
baches und der gleichlaufend mit ihm dem unteren Breitbach 
zufließenden Bäche: 

Herrnbergtheim, 1136 Berhtheim PN Berht, 

Ippesheim, 9. Jahrhundert Ippinesheim PN Idbert = Ippo 
oder Idwin = Ippin, 

Bullenheim, 1023 Bullem PN Bul-, 

Seinsheim, 9. Jahrhundert Saunesheim PN Savo, 

Iffigheim, ohne Beleg, Flußname Iffig, 

Ickelsheim, Ober- und Unter-, 889 Ickilenheim, 1171 Idtol- 
phesheim PN It- wie Ippesheim, 

Gnötzheim, ohne Beleg, wohl PN, 

Martinsheim, Merzensheim, Kirche St. Martin, 

Enheim, ohne Beleg. 

In der Linie Enheim—Martinsheim —Bullenheim—Iffigheim 
war der Südrand des südlichen Mainufer-Waldes erreicht. 

Im Gebiet der oberen und mittleren Breit liegen: 

Nenzenheim, 1168 Nensenheim PN Nanzo, 
Dornheim, 823 Tornheim, 889 Dornheim SN Dorn, 
Hellmitzheim, Helmboltsheim PN Helmbolt, 
Mónchsondheim, SN ahd. sunt = Süd, 
Possenheim, 1139 Bozzenheim PN Posso, 
Einersheim, 1023 Einheresheim PN Einher, 


Ne i 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 489 


*Kirchheim, 823 Kirchaim, 1297 zur Pfarrei Einersheim 
gehórig, 

Willanzheim, 889 Wielantesheim PN Wielandt, 

Herrnsheim, 1155 Hernesheim, wohl PN Her-, 

Hüttenheim, 1108 Hittenheim PN Hiddo, 

Tiefenstockheim, SN Stock. 

Auch in dem ganzen Gebiet von der Gollach bis zum Schwan- 
berg überwiegen also die von PN abgeleiteten Ortsbezeichnungen. 
Orte abweichender Bildung liegen an dem Süd- und Westrand 
des südlichen Mainufer-Waldes: Enheim, Martinsheim (nach 
einer dem hl. Martin geweihten Kirche), Iffigheim (nach dem 
Bach), Tiefenstockheim (am Buschwald im Tal). Nach Name und 
Lage wird Tiefenstockheim Ausbau des Kónigsgutes zu Willanz- 
heim sein. Mónchsondheim hingegen kónnte auch auf Iphofen 
bezogen werden; es erweckt den Eindruck einer Station zwischen 
Iphofen (5 km) und Nenzenheim (4 km), zugleich am Schnitt- 
punkt mit einer alten Verbindung von der Aisch über den Bibart- 
bach zum Main bei Marktbreit. Die Bezeichnung eines durch 
seine Straßenlage wichtigen Platzes nach der Himmelsrichtung 
haben wir ja schon mehrfach festgestellt. Die beiden letzt- 
erwähnten Gruppen von -heim-Orten füllen das Gebiet der Breit 
mit ihrem größten Nebenbach, dem Iffigbach. Keiner der ge- 
nannten Orte liegt nördlich der Wasserscheide zwischen Breit 
und Wehrbach. Den von Südwesten her kommenden Franken 
erschien die Iffig als der erste Bach von Bedeutung; so be- 
nannten sie nach ihm die Landschaft Iffgau. Die heutige 
Waldverteilung und die Ortsnamen nördlich des Wehrbaches 
lassen. vermuten, daB der linksmainische Uferwald sich bis 
herüber zum Schwanberg erstreckte, mochten auch einige 
Pfade und Wege durch ihn führen. Der fränkische Siedlungs- 
vorstoD des 6. Jahrhunderts scheint hier ins Stocken ge- 
kommen zu sein. 

Als Ostfranken aber fest in die Hand der Pippiniden ge- 
kommen war, erschien es notwendig, wohl schon mit Rücksicht. 
auf das Slavenproblem, die Verbindung zwischen Würzburg, 
dem Hauptort Frankens, und dem Iffgau siedlungsmäßig auszu- 
bauen. Als Mittelpunkt im Iffgau, hart an der Waldgrenze wurde 
ein neuer Kónigshof geschaffen, der seinen Namen von dem Gau 
erhielt: Iphofen, 823 Ippihaoba, 889 Iphahofa, vom Flußnamen 


490 Helmut Weigel 


Iffig. Hier überschritt die von Kitzingen her kommende Straße 
den Wehrbach, um wohl nördlich an Einersheim und Possen- 
heim vorbei den Grund der Bibart zu erreichen. Von da führten 
dann anscheinend mehrere Wege nach den Königshöfen Forch- 
heim und Fürth. Die siedlungsmáBige Verbindung Iphofens mit 
dem Mainübergang bei Kitzingen stellen die Orte 

Mainbernheim, ohne Beleg, PN Bero (oder SN Bär?), 

Fróhstockheim, SN Stock, 

Hoheim, Adj. hoch 
dar. Die schematische Namengebung tritt beherrschend zutage. 
Die Besiedlung ist hier Sache eines überragenden Willens. Es ist 
kein Bauernland, was hier neu gewonnen wurde. Es dient hohen 
Herren, dem König und bald darauf dem Bischof mit einem vor- 
nehmsten Erzeugnis, dem Wein. Dessen Kultur drückt ja heute 
noch dem Landstrich von Iphofen bis über Kitzingen hinaus 
seinen Stempel auf. 

Auch auf der Strecke Ochsenfurt—Kitzingen haben die 
-heim-Orte den Main so wenig erreicht, wie zwischen Ochsenfurt 
. und Heidingsfeld. Der in ihrem Charakter doch überwiegend 
bàuerlich - wirtschaftlichen Landnahme des 6. Jahrhunderts 
konnte das überschwemmungsreiche Maintal mit seinen Hoch- 
ufern nichts bieten. Die staatliche Kolonisation der Hausmeier- 
zeit hingegen rückte an den Fluß heran; für den fränkischen 
Staat waren die Mainübergänge von größter Bedeutung. Wir 
haben schon festgestellt, wie karolingische Ortsgründungen bei 
aller Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Bedürfnisse auf 
die Übergänge von Eibelstadt und Ochsenfurt gerichtet sind. 
Ihnen entsprach auf der anderen Seite des Maindreiecks Kit- 
zingen. Nicht zufällig gründete Bonifatius in Klein-Ochsenfurt 
und in Kitzingen zwei Frauenklöster; freilich ist das erstere 
wohl sehr bald mit dem Kitzinger vereinigt worden. In Kitzingen 
soll Pippin eine Brücke gebaut haben. Jedenfalls das Recht der 
Mainüberfahrt auf der Strecke von Heidingsfeld bis Köhler ge- 
hörte dem Kitzinger Frauenkloster; ebenso besaß es im Mittel- 
alter das Recht des Brückenzolls und die Baupflicht an der 
Brücke. Das Kloster war aber in all dem wohl nur der Nach- 
folger eines Königshofes. Man wird nun auch Kleinochsenfurt als 
einen Reichshof ansehen dürfen. Es muß doch auffallen, dab 
die Ortsnamen auf -furt äußerst häufig schematische Bildungen 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 491 


sind, bei denen oft Tiernamen das Bestimmungswort abgeben. 
So finden wir gerade im Maindreieck Ochsenfurt (Ohsonofurt), 
Hirschfeld (Hirzuurtin), Schweinfurt (Swinfurt); ich erinnere 
an Lengfurt am Mainviereck und an Steinfurt; ob Haßfurt neben 
Frankfurt zu stellen ist, wage ich nicht zu entscheiden. Jeden- 
falls ergibt sich doch daraus, daB am Main neben diesen alten 
Furten erst in hochfränkischer Zeit Siedlungen entstanden sind, 
besser, angelegt wurden. 

Bei Kitzingen wirkt die Bodengestaltung wie bei Würzburg. 
Sie sammelt auf dem einen Ufer die Wege von allen Seiten; ver- 
eint überschreiten sie den Fluß; auf dem anderen Ufer streben 
sie nach allen Richtungen auseinander. Nicht so bei Klein- 
Ochsenfurt. Der Übergang von Ochsenfurt ist von Natur aus in der 
Südwest-Nordost-Linie orientiert, man kann auch sagen, in der 
merowingischen Linie Paris—Metz—Kraichgau—Neckar—Ü ber- 
gang über den östlichen Thüringerwald—Saale—Elbe. Die karo- 
lingische Linie verläuft anders: Niederrhein—Frankfurt —W ürz- 
burg, um sich hier zu spalten; die Südlinie zielt auf Ostschwaben 
bei Ulm und überschreitet den Main bei Heidingsfeld ; die Süd- 
Ost-Linie strebt auf das östliche Baiern, d. h. Regensburg zu, und 
geht bei Kitzingen über den Main; dazwischen láuft eine süd- 
süd-östlich gerichtete Linie nach dem westlichen Baiern, d. h. nach 
Eichstátt und Ingolstadt, die den Main bei Ochsenfurt überquert. 
Zu dieser Linie gehórt Gnodstadt. Auf eine zweite von Ochsen- 
furt unmittelbar südlich gegen den Paß von Schillingsfürst 
ziehende Linie — es ist dies die hochmittelalterliche Straße 
Würzburg— Augsburg — deuten die Orte Hohestadt und 
Hopferstadt; auch das uns bekannte Osthausen und weiter 
Aub an der Gollach liegen neben dieser Straße. Ochsenfurt büßte 
also in der Karolingerzeit seine Bedeutung keineswegs ein, aber 
es verlegte seine Achse in der Frühkarolingerzeit um 45, bzw. 
um 90 Grad. Durch die erwáhnten -stadt-Orte waren nun 
Badanach- und Gollachgau siedlungsmäßig mit dem Main bei 
Ochsenfurt verbunden. 

Für den Iffgau stellte die Verbindung zum Main eine Gruppe 
von -feld-Orten südlich von Kitzingen her: Michelfeld, Hohen- 
feld, Sulzfeld. Hohenfeld liegt heute im Tal; nur Kirche und 
Friedhof auf dem Hochufer bezeichnen noch die Lage des karo- 
lingischen Dorfes. Nähere Forschung wird noch entscheiden 


492 Helmut Weigel 


müssen, ob diese Orte von Kitzingen oder von Iphofen her an- 
gelegt worden sind. 

Hinter den Mainübergángen Ochsenfurt und Kitzingen 
scheint der Weg über Segnitz—Marktbreit (früher Niedernbreit) 
an Wichtigkeit zurückgestanden zu sein. Er führte ja auch mitten 
hinein in das große Keuperwaldgebiet Mittelfrankens, um, soweit 
ich heute die Verháltnisse übersehen kann, sich dort zu verlieren. 

Die Verbindungswege zwischen den FluBübergàngen des süd- 
lichen Maindreiecks zu sichern, war für die karolingischen Haus- 
meier eine Notwendigkeit. So finden wir denn tatäschlich an den 
Schnittpunkten dieser Linien Fiskaldörfer mit vertrauten 
Namen: 

Kaltensondheim, ohne Beleg, SN Süd, Kalten- unerklärt, 

Westheim, ohne Beleg, SN West, 

Theilheim, ohne Beleg, mundartlich für Thalheim SN Tal. 
Die ersten beiden sind wohl nach Kitzingen benannt. 

Der Durchbruch von Süden und Osten her an und über den 
Main war in siedlungsmäßiger Hinsicht das Werk der Hausmeier- 
zeit. Wir haben dasselbe auch für den Durchbruch von Süd- 
westen her gegen Würzburg festgestellt. Trotzdem muB Würz- 
burg schon im 6. Jahrhundert von den Franken besetzt worden 
sein. Aber die Kraft des Siedlungsvorstoßes lieB merklich nach. 
Die Zahl der mit Personennamen gebildeten -heim-Orte wird 
jenseits von Würzburg absolut und relativ geringer. Mit einer 
einzigen Ausnahme, dem fruchtbaren Tal der Wern, das die 
fränkischen Bauern reizte. Die Hochfläche des Maindreiecks bis 
hin zur Wern weist nur drei oder vier ältere -heim-Orte auf. Von 
ihnen liegt Bergtheim, Berhtheim, PN Bercht-, zentral in dem 
mittleren Teil des Maindreiecks zwischen Main und Gram- 
schatzer Wald an der Straße Würzburg—Geldersheim—Salz 
(sämtliche drei Orte waren Reichsgut). Die Verbindung mit 
Würzburg ist durch die Orte Lengfeld, Estenfeld, Kürnach und 
die beiden Pleichfeld gegeben. Westlich gegen den Wald ist eine 
Vorpostenlinie von -hausen- Orten vorgeschoben, die ein Maid- 
bronn als südlicher Eckpunkt abschließt; Lage und Name lassen 
ihren Ursprung auf Rodungsland eindeutig erkennen. Ob der 
Weiler Gadheim (ohne Beleg) fränkisch ist, kann nur die 
Erforschung des StraBensystems am und im Gramschatzer Wald 
ergeben. Nordóstlich von Bergtheim finden wir dann in bunter 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 493 


Mischung an dem Ostabfall der Hochfläche eine Reihe von Orten 
auf -feld, -hausen und -stadt, die sämtlich an Mainüber- 
gàngen von beschränkter Bedeutung liegen. Von größerer Wich- 
tigkeit sind lediglich 

Theilheim, 1098 Daleheim, SN Tal, und 

Dächheim, ohne Beleg, 
beide gegenüber der alten Übergangsstelle von Hirschfeld. Nach 
Westen vermittelt Theilheim zur Wern, d. h. zu den Straßen, 
die über Gemünden nach Aschaffenburg, oder von der Wern 
südwestlich durch den Waldsassengau zum Neckar führen. 

Die Wasserscheide Wern— Main bildet wohl auch die Grenze 
zwischen Gozfeld und Werngau. Der Name Gozfeld ist noch 
unerklärt; sein Kerngebiet dürfte durch die Orte Bergtheim, 
Püssenheim, Eisenheim, Prosselsheim bestimmt sein. 

An der Wern traf der VorstoB der Franken auf die drei schon 
früher erwähnten -leben-Orte, EBleben, Zeuzleben, Ettleben. 
An ihnen vorbei glitt er in der Hauptsache wernabwärts. Wir 
finden: 

Gänheim, 889 Gouvnheim PN Gawi-, 

Maria Sontheim, SN Süd, 

Reuchelheim, 1187 Ruchilnheim, PN Rugilo, 

Müdesheim, 9. Jahrhundert Muotwinesheim, PN Muotwin, 
Halsheim, 770 Haholtesheim PN Haholt, 

EuBenheim, 1167 Uzenheim PN Uzo, 

Góssenheim, 789 Gozzinheim PN Gauto, 

Sachsenheim, VN Sachso = Sachse. 

Die mit PN gebildeten Ortsbezeichnungen überwiegen. Die 
beiden Ausnahmen sind überaus kennzeichnend. Maria-Sont- 
heim besteht heute nur noch aus einer Kirche und wenigen 
Häusern, es ist von einer Siedlung bei Arnstein oder wegen 
seiner Lage am Südufer der Wern so benannt. Es hatte den 
Übergang eines Weges über die Wern zu decken, der als Höhen- 
weg von Würzburg her kam und über Alt-Bessingen und Fuchs- 
stadt zur Saale lief, die er bei Westheim überschritt. Sachsen- 
heim, gleichfalls eine Gründung des 8. Jahrhunderts, ist zu- 
sammen mit Wernfeld wohl zu erklären als eine Niederlassung, 
die Gössenheim als letzte der älteren Siedlungen an der unteren 
Wern mit dem verkehrswichtigen, etwa 10 km entfernten Ge- 
münden verbinden sollte. Eine süd-nördliche Verbindung ist aus 


494 Helmut Weigel 


der Karte nicht mit der gleichen Sicherheit zu erkennen. Der 
Hauptort des Werngaus ist wohl Gänheim mit seinem Konigs- 
hof gewesen. Als karolingische Binnenkolonisationsorte stellen 
wir ein Mühlhausen, ein Stetten und zwei -feld - Orte, 
Binsfeld und Aschfeld fest. Nach letzterem wird in den Fuldaer 
Urkunden mehrfach ein nördlich sich erstreckendes Siedlungs- 
gebiet der Aschfeldgau genannt. 

Vom Wernknie aufwärts findet sich nur ein alter -heim-Ort, 
Geldersheim, 804 Geltherenheim, PN Galther. Nördlich von 
ihm setzen die -ungen- (ingen-) Orte der Thüringer ein. Die 
-heim-Orte, die unter sie eingestreut sind, weisen durchweg 
schematische Bildung und eine politisch wichtige Lage auf, 
sind also erst der Hausmeierzeit zuzurechnen. In den Fuldaer 
Urkunden des 9. Jahrhunderts wird Geldersheim als villa publica 
bezeichnet. Die beiden Übersetzungen Reichsdorf und Königshof 
sind zutreffend, wenn auch im 9. Jahrhundert in Geldersheim 
viel freieigener Besitz vorkommt. Wie dürfen ja nie vergessen, 
daß zwischen der Gründung von Geldersheim und den Fuldaer 
Urkunden das 7. Jahrhundert liegt, das bei der Schwäche des 
Königtums die Ausdehnung des freien Eigens begünstigte. Die 
fränkischen Hausmeier erneuerten den Charakter Geldersheims 
als eines Reichsdorfs so stark, daß die Einwohner des Ortes sich 
noch im 12. Jahrhundert als cives bezeichnen, d. h. mit dem 
Namen der für die freien Einwohner königlicher Städte üblich 
wurde. Die Lage Geldersheims ist landwirtschaftlich gesehen 
äußerst günstig; aber auch die Verbindungslinien zwischen dem 
Kastell Hammelburg und den Mainübergängen Schweinfurt und 
Grafenrheinfeld ziehen in nächster Nähe vorbei. Da Gelders- 
heim im 9. Jahrhundert dem Grabfeld zugerechnet wird, das 
jüngere Königshofen an der Saale als Königshof der einst stärker 
bewaldeten Landschaft anzusehen ist, die jetzt den Namen 
Grabfeld trägt, so liegt die Vermutung nahe, daß der mero- 
wingische Kern des Grabfeldes die Gegend beiderseits des Mains 
zwischen Geldersheim und Gochsheim war, und daß die gewaltige 
Ausdehnung des Gaues Grabfeld über die Waldgebiete des Nor- 
dens, ähnlich der Ausdehnung des Rangaues, des Iffgaues und 
des Volkfeldes, in die karolingische Zeit fällt. 

Der fränkische Siedlungsvorstoß kam an der Wern vor dem 
Waldgebiet nördlich der Linie Gemünden—Schweinfurt, also 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 495 


an der Südgrenze der Buchonia, zum endgültigen Stillstand. 
Aber er hatte von Würzburg aus neben der nórdlichen auch eine 
nordóstliche Richtung eingeschlagen. Wir finden nämlich zwi- 
schen Theilheim und Kitzingen am Main folgende -heim-Orte: 

Stammheim, SN ahd. stamm = Stamm, Hochwald, 

Eisenheim, Ober- und Unter-, 788 Isanesheim PN Iso, 

Püssenheim, ohne Beleg, wohl PN Busso, 

Prosselsheim, 903 Prozzoltesheim PN Prozzolt, 

Astheim, SN Ost, 

Nordheim, SN Nord, 

Mainsondheim, SN Süd, 

Mainstockheim, SN ahd. stock — Busch, 

*Ostheim, SN Ost. 
Die drei letztgenannten Orte gehören zu einem Königshof Det- 
telbach, der für Mitte des 8. Jahrhunderts bezeugt ist. Viel- 
leicht gehórt auch Nordheim noch zu ihm; allerdings kónnte 
dieses auch nach der Übergangsstelle von Kóhler orientiert sein. 
Mainsondheim deutet auf eine Straße, die bei Dettelbach den 
Main überschreitet, das sumpfige Mündungsgebiet des Castell- 
baches bei Münsterschwarzach umgeht, über Atzhausen zum 
Steigerwald und weiter über die Regnitz in den Raum Seußling, 
Buttenheim und Eggolsheim führt. Daneben aber hat Dettel- 
bach die zweite Aufgabe, die etwas lange Wegstrecke zwischen 
den Übergängen bei Kitzingen und an der Vogelsburg, gleich- 
falls Reichsgut, zu überbrücken. Die zwei Vogelsburger Über- 
gänge gewannen anscheinend erst in der karolingischen Zeit an 
Bedeutung. Darauf weisen nicht nur die beiden Namen Astheim 
und Nordheim, sondern auch die Breite und starke Feuchtigkeit 
des Maingrundes an diesen Stellen. Weiter führen die von Ast- 
heim und Nordheim ausgehenden Wege in ein Gebiet, das nach 
Ausweis seiner Ortsnamen nicht vor der Hausmeierzeit dem 
Wald und dem Sumpf abgewonnen wurde. Hingegen liegen die 
drei mit PN gebildeten -heim-Orte um den alten Übergang von 
Fahr, eben an der engsten Stelle des Maintales kilometerweit 
auf- und abwärts. Die rückwärtige Verbindung mit Würzburg 
wird siedlungsmäßig freilich erst später durch eine Kette von 
-feld-Orten hergestellt. Der erste Anmarschweg der Franken 
im 6. Jahrhundert ist der auf der Karte deutlich erkennbare 
Höhenweg Würzburg—Prosselsheim— Fahr gewesen. 


496 Helmut Weigel 


Ist unsere Aufstellung über das Alter der Mainübergänge 
richtig, so müssen auch auf dem östlichen Mainufer die -heim- 
Orte der Merowinger- und der Hausmeierzeit entsprechend grup- 
piert sein. Ich verzeichne: 

Langheim, Groß- und Klein-, 837 Lancheim Adj. ahd. lanc, 

Krautheim, 889 Chrutheim SN ahd. chrut = Kraut, 

Frankenwinheim, 9. Jahrhundert Winideheim VN ahd. 
Winid = Wende (Wendenheim in Franken), 

Mönchstockheim, ohne Beleg, SN ahd. stock, 

Sulzheim, ohne Beleg, SN ahd. sulz = Salzwasser, Sumpf, 

Zeilitzheim, ohne Beleg, PN Ziolf, 

Kolitzheim, 791 Coldleibesheim PN Golth-, 

Herlheim, 889 Herilindesheim PN Herlind, 

Alitzheim, ohne Beleg, wohl PN Athalolt, 

Spiesheim, Ober- und Unter-, 791 Spiozesheim, wohl PN 
Spio-, 

Schwebheim, 1122 Swebehim VN Swabo =Schwabe, Sueve, 

Gochsheim, 8. Jahrhundert Gohhesheim PN (oder SN ahd. 
gouh = Kuckuck ?), 

Gàdheim, ohne Beleg, 

Euerheim, Ober- und Unter-, PN Uro (?), 

Püsselsheim, ohne Beleg, PN (?), 

Westheim, ohne Beleg, SN West. 

Der Raum Iphofen—Kitzingen—Volkach—Michelau war 
Waldgebiet. Die beiden Langheim liegen nach Ausweis von Flur- 
namen in der Nähe von Straßen, die anscheinend auf den Steiger- 
waldhóhenweg Prichsenstadt—Seußling führten. Eingehendere 
Forschung wird den Anteil der Königshöfe Kitzingen, Iphofen, 
Dettelbach und des Klosters Münsterschwarzach an der Binnen- 
kolonisation des südlichen Volkfeldes festzustellen haben. Östlich 
des Mainüberganges bei dem Königshof Vogelsburg finden wir 
jüngere -heim-Orte, die alle in Beziehung zu dem Königshof in 
Rügshofen (bei Gerolzhofen) zu stehen scheinen. Krautheim 
und Frankenwinheim vermitteln den Weg zum Astheimer Main- 
übergang. Mónchstockheim und Sulzheim sind gegen den Wald 
und den Sumpf an der Nordwestecke des Steigerwaldes vorge- 
schoben; bei Mönchstockheim zweigt nordöstlich die Straße 
über Steinsfeld nach dem Mainübergang Haßfurt ab; Sulzheim 
verbindet mit den Übergängen von Schweinfurt und Grafen- 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 497 


rheinfeld. Von Rügshofen selbst gehen zwei Hóhenwege über den 
Steigerwald zu den Unterläufen der Aurach und der Rauhen 
Ebrach. Endlich sei noch auf die -feld-Orte südlich von Rügs- 
hofen verwiesen. Mit einem Wort, auch Rügshofen bietet das 
uns bekannte Bild eines Kónigshofs, der die großen Fernwege 
zusammenfaBt und die trennenden Wálder durch Rodung auf- 
lockert, kurz, die bisher getrennten Siedlungsflächen zu einem 
zusammenhängenden Staatsgebiet vereinigt. 

Der Mainübergang von Fahr bringt uns in das Gebiet der 
von Personennamen gebildeten -heim-Orte zwischen der Volkach 
und dem Unkenbach. Man wird diesen Raum als den mero- 
wingischen Kern des Volkfeldes ansehen dürfen. Volkach — 
nicht die Stadt, sondern das westlich am Abhang des Kirch- 
berges gelegene Dorf — wird der vorfränkische Mittelpunkt 
dieser Landschaft gewesen sein. In der karolingischen Zeit 
breitete sich dann der Gau über den Steigerwald hinweg um- 
fassend nach Osten aus, wobei Rügshofen einer der Ausgangs- 
punkte war. 

Schon bei Oberspießheim kann man sich des Gedankens 
nicht erwehren, ob nicht dessen Anlage mit der alten Straße, heute 
Hochstraßweg genannt, von Fahr nach Haßfurt zusammen- 
hängt. Erst recht drängen sich solche Fragen auf, wenn wir 
eine Hohe Straße als Weg von Hirschfeld (furt) über Heiden- 
feld nach Schwebheim feststellen, um so mehr, da wir uns 
erinnern, daß das Schwebheim im Rangau auf ganz gleichem, 
äußerst feuchtem Boden angelegt ist; wir bemerken ferner, dab 
die Verlängerung der eben erwähnten Hochstraße über Euerheim 
und Steinsfeld nach Osten um die Nordflanke des Steigerwaldes 
herumführt. Gochsheim gehört verkehrsmäßig irgendwie zu den 
Übergängen von Grafenrheinfeld und Schweinfurt Sennfeld. 
Diese vier Orte aber liegen alle noch im Hochmittelalter auf 
Reichsboden. Ihre Anlage muß mit Straßenzügen zusammen- 
hängen, die von dem Westen, Hanau—Birkenhainer Straße— 
Gemünden, herkommend, den Main bei Schweinfurt und Grafen- 
rheinfeld überschreiten und längs des Mains an dem fränkischen 
Kastell Eltmann (Altimoin) vorbei nach Hallstadt verlaufen, 
d. h. dort, wo Mitte des 8. Jahrhunderts das politisch noch nicht 
gesicherte „Slavenland“ an Franken grenzte. Die Parallele mit 
dem Lippeweg Karls in den Sachsenkriegen drängt sich auf. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H.3. 32 


498 Helmut Weigel 


Und dem Hellweg vergleichbar, erreicht jene obenerwähnte 

Hochstraße Würzburg—Fahr—Spiesheim über Dürrfeld und 

Püsselsheim bei Steinsfeld diese West-Ost-StraBe. An ihr 

liegt als wichtigster Punkt das Königsgut Knetzgau. Süd- 

westlich davon, bart an den Fuß des Steigerwaldes vorgeschoben, 
deckt Westheim einen Hóhenweg, der über Geusfeld und 

GroBbirkach, an Geiselwind vorbei, in die dichter bevöl- 

kerten Täler des Scheinbachs und des Laimbachs (Nebentäler 

der Aisch) führte. Östlich von Knetzgau finden wir im Maintal 
bis Hallstadt keine alten -heim-Orte mehr. Ebensowenig nórd- 
lich des Mains. 
Denn die -heim-Orte nördlich von Haßfurt tragen das Ge- 

präge der Hausmeierzeit; es sind typische Bildungen: 

Rügheim, 814 Rugiheim Adj. ahd. ruh = buschreich, 

Hofheim, 12. Jahrhundert Hofheim SN Hof, 

Ostheim, SN Osten. 

Das gleiche gilt von den -heim-Orten im Steigerwald: 
Theinheim, mundartlich = Thannheim SN Tanne, 
Burgwindheim, 9./10. Jahrhundert Winet Hochheim (?), 

Wined — Wende, 
Heuchelheim, 856 Huchilheim SN ahd. huckil = kleiner 
Hügel. 

Allen drei ist gemeinsam die lage: am Tal 3—4 km unterhalb 

alter Höhenstraßen, die von den Königshöfen Dettelbach und 

Vogelsburg—Astheim kommend die Regnitz bei Bamberg und 

Seußling erreichen. Auffällig ist, daß sämtliche drei an einer 

nahezu geradlinigen Nord—Südlinie liegen, die vom Main bei 

Knetzgau oder wohl richtiger bei Eltmann ausgeht und bei 

Rietheim-Riedfeld auf die Aisch trifft. Man möchte hierin einen 

frühkarolingischen Limes erblicken. 

Nun finden wir aber jenseits dieser Linie im Regnitztal noch 

Buß -heim-Orte älterer Bildung: 

Gundelsheim, 1136 Gundolfesheim PN Gundolf, 
Buttenheim, 1118 Butenheim PN Bodo, | 
Eggolsheim, 889 Eggolfesheim PN Agilolf, 
* Röthelheim, 16. Jh. Bachname bei Erlangen, PN 
Radilo (?), Ä Ä 
dazu noch als jüngere Bildung 
Forchheim, 889 Forahheim SN ahd. forah = Föhre. 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 499. 


Buttenheim und Eggolsheim könnten tatsächlich noch Sied- 
lungen des 6. Jahrhunderts sein; denn sie liegen nahe bei Seußling, 
dem Regnitzübergang der Straße Würzburg—Prosselsheim— 
Vogelsburg—Steigerwald. Bei Gundelsheim scheint mir nach 
der Lage am nórdlichen Rand der Main-Regnitz-Bucht und 
östlich des karolingischen Königshofes Hallstadt ein Hinauf- 
rücken bis ins 6. Jahrhundert bedenklicher, unmöglich aber ist 
eine solch frühe Entstehung nicht. Forchheim möchte ich nach 
seiner Namensbildung der Hausmeierzeit zurechnen. Es ist zu- 
dem der Endpunkt einer Straße ins Slavenland, die von Würz- 
burg ausgeht, bei Kitzingen den Main überschreitet, bei Castell 
die Höhe des Steigerwaldes erklimmt, ihn ostwärts über Burg- 
haslach durchzieht, bei Lauf (beliebter Name für Flußüber- 
gänge) die Aisch überschreitet und bei Burk sich ins Regnitztal 
gegen Forchheim hinabsenkt. Eine fränkische Siedlung * Röthel- 
heim südlich von Erlangen ist im Hinblick auf eine in der Nähe 
vorbeiziehende Eisenstraße aus der Oberpfalz und auf den gleich- 
namigen Vorort von Frankfurt a. Main nicht unwahrscheinlich, 
Wieder wie gegen Norden am Main und gegen Süden am 
Keuperwald, so haben wir gegen Osten an der Regnitz die 
Grenze der mit Personennamen gebildeten -heim-Orte auf frän- 
kischem Boden erreicht. Aber das -heim-Problem ist damit noch 
nicht allseitig erfaßt. Die -heim-Orte in den großen Waldgebieten 
Frankens, im Steigerwald, im Grabfeld, in der Rhön und im 
Spessart erheischen eine besondere Würdigung, nicht minder 
jene allerdings sehr kleine Zahl von -heim-Orten östlich der 
Regnitz bis zur Böhmischen Grenze. Endlich erfordern auch die 
-heim-Orte im fränkisch-baierisch-schwäbischen Grenzgebiet 
von der Naab bis zur Jagst und südlich bis zur Donau eine ein- 
gehende Untersuchung. Vorarbeiten dazu sind im Gange. 


V. 


Doch auch Ostfranken, wie wir es oben umgrenzt haben, 
bietet noch Fragen genug. Denn unsere Ergebnisse sind erst ein 
bescheidener Anfang. Fassen wir sie noch einmal kurz zusammen. 
Das Ostfranken der Merowingerzeit, begrenzt durch die Keuper- 
wälder der Hohenloher Ebene, der Tauber und der Gollach, 
durch den Steigerwald, durch die Wälder von den Haßbergen 
bis zum Spessart, war auch längs des mittleren Mains von einem 

32* 


500 Helmut Weigel 


Waldgürtel durchzogen, der aller Wahrscheinlichkeit nach Ala- 
mannen und Thüringer voneinander trennte. Die Besiegung der 
Alamannen zu Beginn des 6. Jahrhunderts führte zur Ansetzung 
fränkischer Siedler in dem Raum zwischen Neckar, Main, Steiger- 
wald und Keuperwald. Diesem älteren SiedlungsvorstoD sind 
die mit Personennamen gebildeten -heim-Orte zuzuschreiben, 
die das oben bezeichnete Gebiet geradezu beherrschen. Doch 
setzte sich das Vorrücken der Franken bis zu den Randwäldern 
der Buchonia und bis zur Regnitz fort, wenn auch mit ver- 
minderter Kraft. Die -heim-Orte älterer Bildung sind hier noch 
führend, aber nicht mehr beherrschend. Nach 561 entglitt Fran- 
ken mehr und mehr den Merowingerkónigen. Erst Pippin der 
Mittlere und Karl Martell stellten die Herrschaft der Zentral- 
gewalt in Ostfranken wieder her. Neue fränkische Anlagen, 
Königshöfe und Fiskaldörfer, letztere mit schematisch sich 
wiederholenden Bestimmungswörtern und der Endung -heim, 
hatten nicht nur die wirtschaftliche Aufgabe durch Rodungen 
neues Siedlungsland zu gewinnen, sondern auch die politische, 
eben durch die Rodung die einzelnen Siedlungsstreifen und 
Siedlungskreise zu einem großen zusammenhängenden Sied- 
lungsgebiet zusammenzufassen. Erst ein von Siedlungen, d. h. 
von Menschen hinreichend erfülltes Land vermag politisch eine 
Rolle zu spielen. Diese Umwandlung Ostfrankens aus 
einem Kolonialgebiet zu einem vollgewichtigen Reichs- 
teil, ist das Werk der karolingischen Hausmeier, also 
des Staates, der sich dabei freilich auch des einhei- 
mischen Adels bediente. 

Damit ergeben sich nun weitere Aufgaben für die Forschung. 
Das nächste wird sein, Umfang und Verteilung des fränkischen 
Reichsgutes so genau wie móglich festzustellen. Von da aus 
werden auch die von Dopsch aufgeworfenen Fragen nach der 
Organisation des Reichsgutes neues Licht erhalten. Gleichzeitig 
mit diesen Untersuchungen über die karolingischen Fisci werden 
andere unternommen werden müssen, deren Aufgabe es ist, die 
Gemarkungen der merowingischen Dórfer abzugrenzen. Es 
wird damit auch die Lósung der Frage gefórdert, inwieweit diese 
Frankensiedlungen volksmáBig genossenschaftlichen oder grund- 
herrlichen Charakter trugen. Eine dritte Gruppe von Unter- 
suchungen wird sich damit befassen müssen, den Anteil des 


Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merowingisch-karolingische Reich 501 


Königs, des Adels und der Kirche an der Gewinnung von Neu- 
land durch Rodungen abzugrenzen. Ich habe diese Unter- 
suchungen, soweit sie das gedruckte Quellenmaterial zuläßt, 
bereits in Angriff genommen. 

Aber es ist klar, daß ohne die Heranziehung von archiva- 
lischem Material des Hoch- und Spätmittelalters diese Fragen 
nicht in erforderlicher Weise behandelt werden können. Von 
grundlegender Bedeutung sind dabei die bäuerlichen Weis- 
tümer, deren baldige Herausgabe wir von der Gesellschaft für 
Fränkische Geschichte erhoffen. Auch die Flurnamensamm- 
lung bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte wird, 
wenn einmal gewisse äußere Voraussetzungen erfüllt sind, 
wertvolle Dienste leisten können. Aber all diese Schreibtisch- 
arbeiten müssen ergänzt werden durch Studien im Gelände, 
wobei die Denkmäler bäuerlichen Rechtslebens besonders be- 
rücksichtigt werden müssen. 

Erst recht gilt dieses Zusammenspiel von archivalischer For- 
schung und von Geländestudien für ein grundlegendes Sonder- 
gebiet, an dem die mittelalterlichen Historiker achtlos vorüber- 
zugehen pflegen, weil sie sich — A. Dopsch wohl bewundernd, 
ihn aber nicht nachahmend — ängstlich von der römisch-ger- 
manischen Forschung, von der Alt- und Vorgeschichte abkapseln: 
die Straßenforschung®®. Auch die Franken der Merowinger- 
zeit sind auf Straßen nach Ostfranken gekommen; freilich haben 
sie als echte Bauern ihre Dörfer nicht an den Straßen, sondern 
etwas abseits angelegt. Erst recht waren die karolingischen 
Hausmeier bei ihren Kriegszügen und Reisen auf Straßen ange- 
wiesen, ja wir wissen, daß viele Fiskaldörfer zum Schutz wich- 
tiger Straßen und Pässe angelegt sind. Es ist höchste Zeit, die 
Erforschung der mittelalterlichen Straßen und Wegesysteme 
in Ostfranken in Angriff zu nehmen. Die Aufgabe übersteigt die 


9 Über die vorgeschichtlichen Straßen: K. Schumacher, Die Erforschung des 
römischen und vorrömischen Straßennetzes in Westdeutschland. 3. Bericht der 
Römisch-germanischen Kommission S. 26ff. Fr. Hertlein, Die Eigenart vorgeschicht- 
licher Wege. Württembergische Studien. Festschrift für Eugen Nägele (1926) S. 
163—176. Zur fränkischen Königsstraße: K. Rübel, Reichshöfe im Lippe, Ruhr- 
und Diemelgebiet (1901) S. 73—75. Ihr Verhältnis zum Königsgut: O. Bethge, Pro- 
gramm der Humboldtschule Frankfurt a. M. 1913/14 S. 23—26; sowie K. Schu- 
macher, Siedlungsgeschichte des Rheinlandes 3, 117—141. 


502 H.Weigel: Studien zur Eingliederung Ostfrankens in das merow.-karol. Reich 


Arbeitskraft eines einzelnen; aber die Reichslimeskommission 
hat uns in unübertrefflicher Weise gezeigt, wie diese Forschungen 
zu organisieren sind. Ohne die StraDenforschung aber schwebt 
jede Siedlungsforschung in der Luft. 

Und sie bedarf noch einer anderen Stütze, nàmlich genauer 
Untersuchungen über die Waldbedeckung, über die größeren und 
kleineren Sumpfgebiete, also über den siedlungsfeindlichen oder 
doch siedlungsungünstigen Boden“, und andererseits über die 
Lößvorkommen und andere besonders siedlungsfreundliche 
Bodenarten®®. Die Ergebnisse einer solchen Bodenforschung sind 
in Karten niederzulegen, für die sich die Maßstäbe 1:50000 oder 
1:25000 empfehlen. Grundlage dieser Forschungen sind so- 
wohl archivalisches Material, darunter auch Karten, besonders 
alte Wildbannkarten, Flur- und Wasserlaufnamen, und vor 
allem wieder Studien im Gelände selbst, zu denen aber der Ge- 
schichtler den Geographen und den Geologen heranziehen wird. 
Auch diese Aufgabe, die naturgegebenen Grundlagen der Sied- 
lung, die Verteilung von Wald, Sumpf und agrarischem Nutz- 
land für die Zeit um 500 festzulegen, kann nur eine festgefügte, 
straffgeleitete, von sachlich und idealistisch denkenden Men- 
schen getragene Organisation in entsagungsvoller Einzelarbeit 
bewältigen. 


% Vgl. Anm. 28. 
5 Bisher noch für keine deutsche Landschaft vorhanden. 


503 


Studien zur mittellateinischen Dichtung. 
Übersicht: 


I. Zum Problem der literarhistorischen Stellung des , Ruodlieb". Von Kurt 
Dahinten. — II. Studia Burana. Von Walther Bulst. — III. Eine unbekannte mittel- 
lateinische Satire gegen die Geistlichkeit. Von Hans Walther. 


L Zum Problem der literarhistorischen Stellung des ,,Ruodlieb*. 
Von 
Kurt Dahinten. 


Größere epische Gebilde, deren Stoff nicht ausschließlich 
Eigentum ihrer Verfasser ist, gestatten stets zwei Arten der 
Betrachtung: die einen sehen nur die Vielheit einer mit mehr 
oder weniger Kunst zu einem Ganzen vereinigten Stoffmasse, 
die anderen richten den Blick unbeirrt auf das Ganze und wollen 
nur die Einheit gelten lassen. So ist es bei den homerischen Ge- 
dichten, so beim Nibelungenlied. Einordnen in eine literarhisto- 
rische Entwicklung und Beurteilung der Leistung eines Dich- 
ters kann nur ermöglicht werden durch eine Analyse, die, um 
mit Karl von Kraus zu reden „den Gesamteindruck einer Dich- 
tung in seine Teile zerlegt und die Geschichte dieser Teile ver- 
folgt". Mit Hilfe dieses Verfahrens hat man auch in das Dunkel 
der literarhistorischen Stellung des 'Ruodlieb' Licht zu bringen 
versucht, vor allem ist es Konrad Burdach gewesen, der mit 
einer ganzen Reihe wichtiger Hinweise der Forschung den rich- 
tigen Weg gewiesen hat, an dessen Endpunkt erst eine literar- 
geschichtliche Würdigung der Dichtung móglich sein wird. Hier 
sollen einige bedeutungsvolle Punkte stärker herausgearbeitet 
und mit bisher vernachlässigten Argumenten belegt werden. 


I. 


Mit guten Gründen hat Burdach (‘Die Entstehung des mittel- 
alterlichen Romans’, abgedruckt in ‘Vorspiel’ I, 1, S. 101f.) 


504 Kurt Dahinten 


auf das Verhältnis zwischen der Ruodlieb-Dichtung und der 
Antike hingewiesen, besonders in bezug auf die Beschreibungs- 
kunst des deutschen Dichters und seine Freude am Genrehaften. 
DaB uns auch sonst in dem Epos antike Luft anweht, hat bereits 
der erste Herausgeber Schmeller schón an der Szene IX, 30ff. 
gezeigt (vgl. Burdach S. 153). Nicht gesehen hat man das antike 
Motiv in der Schilderung der Grämlichkeiten und Gebrechen 
des Alters frg. XIV. Mit des Dichters Hang zu realistischer Dar- 
stellung ist jene abstoßend häßliche Schilderung nicht zu er- 
klären. (Vgl. dazu Loewenthal, Bemerkungen zum Ruodlieb, 
Z. f. d. A. 64, S. 133, wo die drastische Realistik des Dichters 
als eine Eigentümlichkeit bezeichnet wird, die er z.B. mit 
Wolfram von Eschenbach teile.) Gerade an dem genannten 
Fragment aber läßt sich zwingend erweisen, daß der Ruodlieb- 
Dichter einer literarhistorischen Tradition verhaftet ist, deren 
Entwicklungslinie man wenigstens in diesem Motiv bis ins ein- 
zelne verfolgen kann. Der Jammer über das Altwerden und die 
realistisch-widerwärtige Schilderung der Gebrechen des Alters 
ist nämlich ein uralter Topos der antiken Literatur. Zum ersten- 
mal ist er bezeugt bei Mimnermos, der geradezu sprichwörtlich 
für die Verwendung jenes Motivs in seinen Elegien geworden ist. 
‘Lieber mit 60 Jahren sterben als die Plagen des Alters erleben 
müssen' (frg. 2 bei Crusius). Diese Klage muB er ófter ange- 
stimmt haben, denn er forderte damit den Widerspruch des 
Solon heraus, der in einer männlich-schönen Elegie dem gries- 
grämigen Sänger die gebührende Antwort gab. Aber das Motiv 
ist nicht wieder verstummt: es taucht wieder in den Chorliedern 
der griechischen Tragódie auf, vornehmlich bei dem Realisten 
und Pessimisten Euripides. (Vgl. besonders Herakles V. 107 
bis 129, ferner V. 637ff.) Selbstverstàndlich hat es seinen Weg 
auch in die rómische Elegie genommen, und in den Chorliedern 
der Tragödie des Seneca begegnet es häufig, zumal die Personen 
des Chors genau wie im griechischen Drama meist Greise sind. 
Selbst der antike Roman bietet ein Beispiel für die Verwendung 
jenes Topos: in den saturae des Petronius singt der ewige Verse- 
macher Eumolpus eine Elegie auf das Alter, in der besonders 
der Haarausfall mit all seinen fatalen Folgen ausgemalt wird, 
und die in der Pointe gipfelt: 'Du fürchtest und fliehst das 
Geláchter der Mádchen. Der Tod kommt bald, das glaube mir, 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 505 


denn mit dem Ausfall der Haare ist bereits ein Teil des Kopfes 
gestorben.’ Man vergleiche damit die Verse des Ruodlieb XIV, 
45ff. VE nach M. Heyne): 


Wenn er der Jugend frohem Reigen naht, 

So weicht man aus und gibt ihm herbe Worte; 
Und will er, hingerissen vom Gesange 

Und wieder jung sich träumend, gar am Tanze 
Teilnehmen, o, dann hat der Spott kein Ende. 
Da seufzt er schmerzlich auf aus tiefstem Herzen 
Und sagt zu sich in Tránen: Tod, du Ende 

Von jedem irdschen Übel, warum kommst du 

So spät, aus dem Gefängnis mich zu lósen? 


Die verháltnismáBig groBe Ausdehnung der Schilderung im 
Ruodlieb läßt den Verdacht aufkommen, daß der Dichter über- 
haupt unmittelbar nach einer Vorlage gearbeitet hat, um so mehr, 
als doch gerade im Munde der Mutter die abstoDenden Bilder, 
mit denen die Darstellung durchsetzt ist, recht wenig geschmack- 
voll wirken. Manitius macht m. W. als einziger auf die erste 
Elegie des Maximian aufmerksam, die in überaus breiter Form 
und mit einer ans Widerwärtige grenzenden Detailmalerei, die 
vor allem auch vor dem Obszónen nicht haltmacht, eine Schil- 
derung der Gebrechen des Alters enthált. Man bekommt bei der 
Lektüre den Eindruck, da8 der Ruodlieb-Dichter diese Elegie 
gekannt und seine Darstellungskunst an ihr geschult hat, min- 
destens in Hinblick auf die in Frage stehende Episode. Hier ist 
er jedenfalls — mag man nun an eine direkte Abhängigkeit von 
einer Vorlage glauben oder nicht — ein NutznieBer antiken 
Stoffgutes, eine Tatsache, die auch an der Originalität seiner 
Schilderungskunst einige Zweifel aufkommen läßt. 


II. 


Ein zweiter áuBerst wichtiger Hinweis von Burdach in dem 
schon genannten Aufsatz betrifft die Berührungspunkte der 
Ruodlieb-Dichtung mit dem antiken Roman. Als solche Be- 
rührungspunkte können gelten das Schema Ausfahrt — Aben- 
teuer — Heimkehr und Wiedervereinigung, das Auseinander- 
fallen der Komposition, die einfach Abenteuer an Abenteuer 
reiht, die ganze Technik der epischen Erzáhlung, vor allem aber 
auch das mangelnde psychologische Interesse an den Haupt- 
personen, eine Tendenz des antiken Romans, die E. Rohde, Der 


506 Kurt Dahinten 


griechische Roman und seine Ausläufer, 1914, S. 182 dahin ge- 
kennzeichnet hat, daß ,,die mangelnde Intensität des Interesses 
durch Extension der Ereignisse, das im Innern wirkende Leben 
durch eine unruhige äußere Lebhaftigkeit ersetzt wird“. Ge- 
wisse Züge unseres Gedichtes zeigen starke Ähnlichkeit ins- 
besondere mit dem Alexander-Roman, der seit dem 4. Jahr- 
hundert n. Chr. in lateinischen Bearbeitungen zugänglich war. 
Antike Fabuliersucht hat sich hier der Person des Welteroberers 
bemächtigt und sie ihrer Attribute entkleidet; nicht mehr der 
Kriegsmann interessiert, sondern der wagemutige Abenteurer, 
der tief in das Reich des Wunderbaren eindringt (Alexander: 
Indien). Freilich hat für diese Tendenz der Sänger der Odyssee 
das große Vorbild gegeben, wie denn auch dieses Epos der Aus- 
gangspunkt für die antike Reisefabulistik geworden ist. In der 
Odyssee geht es im Grunde äußerst unheroisch zu: nichts von 
Schlachtengetöse und Kampf wenigstens als etwas Charakte- 
ristischem, dafür aber Begegnungen mit schönen Nymphen und 
verführerischen Zauberinnen, mit Seeungeheuern und märchen- 
haften Unholden. Und zwischen all dem ein Held, der indessen 
weniger durch seine kriegerischen Fähigkeiten, als durch seine 
List und Schlauheit zum Ziele kommt. Man sieht, wie sich die 
Fäden bis zu dem deutschen Gedicht spinnen: auch da der 
Held ein Ritter, wieer am Anfang ausdrücklich bezeichnet wird; 
aber von kriegerischen Tugenden läßt ihm sein Dichter keine 
bemerkenswerten Beweise geben; dafür macht er ihn zu einem 
tüchtigen Jäger, zu einem geschickten Diplomaten; der Held 
ist listenreich im Schachspiel und wenn es gilt, einer liederlichen 
jungen Dame, die es heimlich mit einem Kleriker hält, einen 
Denkzettel zu geben. Wenn ihn der Dichter am Schluß noch in 
die Welt des Wunderbaren eindringen läßt, so liegt das ganz im 
Zuge antiker Reisefabulistik. 

Daß der deutsche Dichter den Alexander-Roman gekannt 
hat, läßt sich vermuten, es spricht dafür besonders dessen große 
Verbreitung in der damaligen Zeit (vgl. Burdach S. 134). Einer 
solchen Verbreitung erfreute sich auch ein anderer antiker 
Roman, nämlich die Historia Apollonii Regis Tyri, auf die Bur- 
dach ebenfalls hinweist. Sie gehört in die Gattung der sophi- 
stischen Liebesromane und wurde ungefähr im 6. Jahrhundert 
n. Chr. lateinisch und christianisierend bearbeitet. Nicht belang- 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 507 


los scheint es mir zu sein, daß sich eine Haupt-Handschrift des 
Romans in Tegernsee befunden hat (vgl. die Ausgabe von Riese, 
praef. VII), wo die Heimat des Ruodlieb-Dichters ist. 

An Einzelheiten in diesem Roman nun, die den Vergleich 
mit dem Ruodlieb nahelegen, verzeichne ich folgende: das 
zeremonielle Weinen und Küssegeben Kap. 15, 12; der Held 
wird klingend belohnt Kap. 17; vor der Hochzeit seiner Tochter 
beruft der Kónig einen Rat von Freunden Kap. 23; Reden 
werden wörtlich wiederholt Kap. 24 (vgl. Ruodlieb XVII, 11 
bis 14 = 66—69, ferner die Wiederholungen in Frg. 4). 

Einen ganz sicheren Anhaltspunkt dafür, daß der Ruodlieb- 
Dichter den Roman von Apollonius von Tyrus in irgendeiner 
Form gekannt hat, bietet die Stelle im Ruodlieb frg. IX, 25ff.: 
Der Held, sein Neffe und die SchloBherrin lauschen dem Spiel 
von Harfnern. Ruodlieb bemerkt jedoch, daß auch der beste 
unter ihnen seine Kunst nur recht mäßig versteht. So gedenkt 
er es selbst besser zu machen; er läßt sich die Harfe des seligen 
Gemahls der Herrin reichen und entzückt durch sein Spiel die 
Zuhörer. Sehr ansprechend hat Paul von Winterfeld (Deutsche 
Dichter des lateinischen Mittelalters, 1913, S. 498) auf eine ähn- 
liche Szene in Lenaus Faustdichtung hingewiesen, in der Me- 
phisto in Jägertracht zum Tanz aufspielt, nachdem ihm die 
Spielleute ihre Sache nicht gut genug gemacht haben. Das 
Motiv ist wiederum als antik zu bezeugen: es findet sich im 
Apollonius von Tyrus Kap. 16. Dort geht es allerdings recht 
ungalant zu: das Königstöchterlein spielt auf der Lyra; alle 
spenden ihm lauten Beifall, nur der Held Apollonius verhält 
sich zur größten Verwunderung der Umsitzenden stillschwei- 
gend. Als ihn der König nach der Ursache seines merkwürdigen 
Benehmens fragt, antwortet jener reichlich ungeschlacht — 
das sind die Helden der sophistischen Liebesromane alle —: 
Herr, wenn du erlaubst, will ich meine Meinung sagen: deine 
Tochter hat zwar die mimischen Künste betrieben, aber nicht 
gelernt. (Im Original das Wortspiel incidit — didicit). Laß mir 
eine Lyra geben, und gleich sollst du erfahren, was du vordem 
nicht wußtest.’ Und nun spielt er selbst und erregt das Ent- 
zücken der Gäste, die niemals Schöneres gehört zu haben 
meinen. Dann produziert sich der Romanheld auch noch als 
mimischer Tänzer in comico habitu atque in tragico’. 


508 Kurt Dahinten 


Die Ähnlichkeit der Ruodlieb-Szene mit der eben wieder- 
gegebenen Romanstelle ist so offenkundig, daß man für die 
Episode in dem deutschen Epos keine weitere Erklärung zu 
suchen braucht und die Konstruktionen Paul von Winterfelds 
(a. a. O. S. 497ff.) mit Hilfe der Mimus-Hypothese hinfällig 
werden. 

III. 

Den Mimus hat Winterfeld auch für die Erklárung der Dorf- 
geschichte im Ruodlieb bemüht. Trotzdem scheint mir eine 
Bemerkung Burdachs einen besseren Weg zu weisen. Burdach 
hat nàmlich im Verfolg der Wirkung des antiken Romans die 
Behauptung ausgesprochen, daB auch die christliche Heiligen- 
legende geradezu von der Weiterbildung und Umwandlung an- 
tiker Romanmotive lebt (a. a. O. S. 108ff.). Diese Erwägung 
läßt die Ehebruchs-Episode im Ruodlieb in etwas anderem 
Lichte erscheinen. Burdach weist S. 109ff. darauf hin, daB sogar 
die erotischen Bestandteile des hellenistischen Romans von der 
christlichen Hagiographie mit geringen Änderungen über- 
nommen werden konnten; er nennt als Beispiel die Vita des 
heiligen Paulus von Theben des Hieronymus, in der eine obszóne 
Situation aus Apuleius eine solche Umwandlung erfáhrt. B. sagt 
dann weiter: ,,Oder es konnte auch das Liebesleben voll aus- 
gemalt werden, wenn nachher die christliche Peripetie in Form 
der Reue, Buße und Umkehr folgte." Reue, Buße, Umkehr, 
das alles begegnet uns am Schluß der Dorfgeschichte des Ruod- 
lieb. Da haben wir das Kolorit der Heiligenlegende; auch das 
didaktische Element fehlt nicht. Die Sünderin bittet in ihrer 
Selbstanklage um alle möglichen grotesken Strafen, wird von 
den Richtern freigesprochen und weiht ihr Leben fortan der 
Buße und inneren Einkehr. Suchen wir nach einem Beispiel in 
der christlichen Legendenliteratur, so bietet sich ein über- 
raschendes in der Passio Sancti Gongolfi martyris, die wir als 
dritte unter den Legenden der Hrotsvitha von Gandersheim 
lesen. (Ausgabe von Strecker, 1906, S. 36ff.) Ein Kleriker ver- 
führt das Weib des Gongolf, eines burgundischen Großen im 
Reiche Pippins, und ermordet ihren Gatten. Das Weib wird 
durch ein Wunder einer sehr kuriosen, nicht wiederzugebenden 
Strafe teilhaftig. Die Übereinstimmungen dieser Legende mit 
der Erzählung im Ruodlieb liegen am Tage: ein Weib wird von 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 509 


einem Fremden verführt, ihr Gatte vom Verführer getötet, die 
Sünderin bereut und büßt. Auch die ganze Diktion zeigt Ähn- 
lichkeiten: Burleskes und Ernstes, obszöne und religiöse Si- 
tuationen liegen unmittelbar nebeneinander. Allerdings ent- 
springt dieses Nebeneinander bei Hrotsvitha und dem Ruodlieb- 
Dichter verschiedenen geistigen Haltungen: die Gandersheimer 
Nonne will durchaus religiös wirken, sie strebt ja gerade danach, 
das Unsittliche aus der Legende zu verbannen; wenn ihr das 
nicht gelingt, so ist es ein gewisses dichterisches Ungeschick, den 
profanen Stoff religiös zu bändigen. Anders der Dichter des 
Ruodlieb: Seine Tendenz ist nicht ausgesprochen religiös, er 
sieht ja alles „mit dem billigenden Auge des Weltkindes“ 
(Schneider). Wenn dennoch über seiner Darstellung ein Hauch 
der religiös-christlichen Stimmung liegt, so beweist das eben 
eine Unfreiheit des Dichters gegenüber dem Zwang der kirch- 
lichen Tradition; seine Menschen sind Menschen von Fleisch 
und Blut, keine Heiligen, darum bedeutet die geistliche Lehr- 
haftigkeit des Gedichts einen Tribut, den sein Verfasser nicht 
nur einer geistlichen, sondern auch einer literarischen Tradition 
zollt. Mag also die Binnenerzählung des Ruodlieb in Einzel- 
heiten freie Erfindung des Dichters sein, in dem oben aufge- 
wiesenen Grundzug läßt sie eine literarische Abhängigkeit von 
der Legende erkennen und ist so entwicklungsgeschichtlich 
bedingt. 
IV. 

Schon in seiner bekannten Abhandlung über den Ursprung 
des mittelalterlichen Minnesanges (B.S.B. 1918, S. 1018) hatte 
Burdach angedeutet, daß mit Byzanz als Vermittlerin ge- 
wisser Stoffe des Ruodlieb zu rechnen sei. Bestimmter wird das 
ausgesprochen in dem nun schon mehrfach zitierten Aufsatz 
„Die Entstehung des mittelalterlichen Romans“ (Vorspiel I, 1, 
S. 156ff.). Hier werden als wichtige Punkte hervorgehoben: die 
Beschreibung der neuen byzantinischen Goldmünzen, die 
Schachspielszene, die Erwähnung gezähmter Tiere und sprechen- 
der Vögel. Diese Andeutungen hat Löwenthal (Z. f. d. A. 64, 
1927, S. 128ff.) aufgenommen, in schärfere Beleuchtung gesetzt 
und damit der Byzanz-Hypothese für den Ruodlieb kräftigere 
Stützen verliehen. In einigen Punkten möchte ich diese Aus- 
führungen ergänzen. 


510 Kurt Dahinten 


L. verweist zweimal auf Angaben des Liudprand von Cre- 
mona, die sich mit solchen des Ruodlieb berühren, nämlich auf 
die Beschreibung eines der byzantinischen mechanischen 
Kunstwerke und auf die Bezeichnung der in Nordafrika herr- 
schenden Sarazenen als Afrikani. Mir scheint, daß uns besonders 
die Darstellung Liudprands in seiner 'Relatio de legatione Con- 
stantinopolitana’ für die Erklärung der Partien im Ruodlieb 
Dienste leisten kann, die das diplomatische Zeremoniell schil- 
dern. Hier ergibt sich nämlich eine auffallende Ähnlichkeit mit 
dem byzantinischen Zeremoniell, wie es Liudprand schildert. 
Dieser war zweimal am Hofe von Byzanz, einmal im Jahre 949 
als junger Mensch auf Befehl Berengars, dann spáter 968 als 
Brautwerber für Otto II. An diese letzte Reise erinnerte er sich 
offenbar nicht gern; er wurde in Byzanz mit großer Unhóflichkeit 
behandelt, die seine Eitelkeit verletzten; man hielt ihn fort- 
während hin, bei Tafel vermißte er die gebührenden Ehrenbe- 
zeugungen, bei der Abreise das übliche Geleit. Das Positive des 
höfischen Zeremoniells kann man aus dem Negativen der Schil- 
derung Liudprands entnehmen. Dazu kommen folgende Einzel- 
heiten aus der Relatio, die ihre Parallelen im Ruodlieb haben: 
der Gesandte wird nicht sofort vorgelassen, sondern verhan- 
delt erst mit dem Kanzler; erst nach 4 Tagen wird Liudprand 
vom Kaiser empfangen, der von seinen Großen umgeben ist. 
(Ruodlieb IV, 189: quinque dies sic me non siverat ante 
venire.) 

Eine Darstellung seiner ersten Reise nach Byzanz hat Liud- 
prand in seiner Antapodosis' gegeben; aus dem 6. Kapitel ver- 
zeichne ich folgende Einzelheiten: der Kaiser verhandelt nicht 
selbst mit dem Gesandten, sondern läßt das den Kanzler be- 
sorgen; erst nach 3 Tagen wird dem Gesandten die Ehre zuteil, 
persönlich vor dem Herrscher erscheinen zu dürfen. Man lädt 
ihn zur Tafel und beschenkt ihn reichlich. Dann schildert der 
Autor, 'qualis eius sit mensa, festis praecipue diebus, qualesque 
ad mensam ludi celebrentur’. Es folgt eine Beschreibung kost- 
barer Tafelgeráte, Obstschalen u. dgl. Von den Spielen, die er 
bei Tische sah, erwähnt Liudprand nur die Darbietungen eines 
Gauklers, das andere übergeht er: nimis longum est scribere. 
Schade, denn sicher würden wir da so manches finden, was im 
Ruodlieb an Kuriositäten beschrieben wird, und vielleicht würde 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 511 


auch der dressierte Hund nicht fehlen, von dessen Kunststücken 
das fr. XIII berichtet. 

Und nun zu einer mehr als auffálligen Übereinstimmung 
einer Episode des Ruodlieb mit einer von Liudprand berichteten : 
Ruodlieb V, 176—201 wird aufgezählt, wieviel Pfund Gold die 
Adligen und geistlichen Herren aus den von dem kleinen Kónig 
bereitgestellten Geschenken bekommen sollen, je nach ihrem 
Range. Diese umständliche Aufzählung kann unmöglich eigens 
für unser Gedicht erfunden sein, sie wirkt eher kurios, da ja 
tatsáchlich die Genannten die Geldgeschenke auf Befehl ihres 
Herrn, des großen Königs, nicht annehmen, abgesehen von den 
Klostergeistlichen. Das Vorbild der Episode ist bisher nicht er- 
kannt worden, es ist offensichtlich die Münzverteilung in der 
Woche vor dem Palmsonntag am Hofe in Konstantinopel; die 
Beschreibung lesen wir bei Liudprand Antapodosis VI, 10 
(Übersetzung nach Karl von der Osten-Sacken, Aus Liudprands 
Werken in: Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 
Band 29): „In der Woche vor Vaiophoron, was wir Palmsonntag 
nennen, teilt der Kaiser sowohl an das Kriegsheer wie auch an 
die verschiedenen Staatsbeamten nach Maßgabe ihres 
Ranges goldene Münzen aus. ... Zuerst wurde der Hausmeier 
gerufen, und ihm gab man das Geld nicht in die Hand, sondern 
lud es ihm auf die Achsel, nebst vier Ehrenkleidern. Nach ihm 
wurden o domesticos tis askalónas und o delongaris tis ploos 
gerufen, von denen der eine über das Landheer, der andere 
über die Flotte gesetzt ist. Weil diese im Range einander gleich- 
Stehen, erhielten sie auch eine gleiche Anzahl von Goldstücken 
und Ehrenkleidern. ... Hierauf wurden 24 Oberbeamte vor- 
gelassen, und nach ihrer eigenen Anzahl jedem auch 24 Pfund 
Goldes nebst 2 Ehrenkleidern verabreicht. Nach diesen kam die 
Reihe an die Patrizier, deren jeder 12 Pfund Goldstücke und 
ein Ehrenkleid erhielt. ... Hierauf wurde eine zahllose Menge 
gerufen, von Protospatharen, Spatharen, Spatharocandidaten, 
Kitoniten, Manglaviten, Protokaraven, welche je nach ihrem 
Range von 7 bis zu 1 Pfund erhielten." 

Eine einzelne Parallele würde vielleicht nicht so ins Gewicht 
fallen; hier aber fordert ihre Häufung zu Prüfung und Aner- 
kennung heraus. Es würde zunächst noch die Frage zu beant- 
worten sein, auf welchem Wege dem deutschen Dichter die 


512 Kurt Dahinten 


byzantinischen Importen in die Werkstatt gekommen sind. Für 
die Schachanekdote etwa, für die Beschreibung des mechanischen 
Kunstwerks und die Verwendung griechischer Worte ist münd- 
liche Überlieferung anzunehmen; ob auch für die von mir oben 
angeführten Einzelheiten, ist schwieriger zu entscheiden. Lite- 
rarische Abhängigkeit wäre nach den zahlreichen Übereinstim- 
mungen mit den Berichten Liudprands denkbar, um so eher, 
als die Werke Liudprands in der damaligen Zeit in Deutschland 
ziemlich verbreitet waren. Die Reisen des Italieners konnten 
den Tegernseer Geistlichen deshalb interessieren, weil er selbst 
vermutlich am Hofe eines Großen tätig war und vielleicht auch 
diplomatische Missionen zu seinen Geschäften rechnete. 

Man könnte nun meinen, dem deutschen Dichter werde viel 
von seiner Originalität genommen, wenn man ihm auf größeren 
Strecken ,, Quellen" nachwiese; in Wahrheit bleibt das Problem 
seiner Kunst davon unberührt. Ihr Letztes ist nicht in der Er- 
findung von diesem oder jenem Einzelzug begründet, sondern 
vielmehr in der Komposition, der Art, wie überkommenes Stoffgut 
der Gesamtdarstellung amalgamiert wird, wie Fugen und Ritzen 
verdeckt und Übergänge hergestellt werden, so daß im Leser mit 
Leichtigkeit die Illusion geweckt wird, alles könne sich so abge- 
spielt haben, wie es der Dichter darstellt. Man könnte also von 
einer Mosaikarbeit sprechen, nicht mit einer geringschätzigen 
Geste freilich, sondern in dem Sinne, der dem Dichter gibt, was 
des Dichters ist. Darüber hinaus noch die Frage zu stellen, woher 
dem Ruodlieb -Dichter seine Kunst gekommen ist, dünkt 
mich müßig, genau wie bei jedem Dichter, dessen Werk den 
Stempel des Einmaligen trägt. Der Ruodlieb gehört in die Reihe 
der Kunstwerke, über deren Betrachtung der Literarhistoriker 
im Stile des Chronisten schreiben muß: Als die Zeit erfüllet war. 


II. Studia Burana. 
Von 


Walther Bulst. 


I. Die handschriftliche Ordnung der Carmina 
Burana Nr. 56 ff. 
Unter den mittelalterlichen Handschriften haben von früh 
an Lieder- und Gedichtsammlungen mit am stärksten die Auf- 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 513 


merksamkeit auf sich gezogen; der individuelle Charakter, den 
jede Handschrift einem gedruckten Buche voraushat, tritt in 
ihnen durch die Einmaligkeit des Beieinander der verschiedenen 
Texte, mögen sie auch sonst noch ófter erhalten sein, besonders 
deutlich hervor; nicht minder aber durch die Einmaligkeit ihres 
Nacheinander, ihrer Anordnung. Die Frage nach den Gründen 
der Textfolge in solchen Sammelhandschriften ist wichtig für 
die Erkenntnis der Absicht des Sammlers und seines und seiner 
Zeit Verháltnisses zu den enthaltenen Gedichten. Die Anordnung 
Z. B. der Dichter in der manessischen Sammlung nach ihrem 
Stande, der Lieder des cod. reg. der „Edda“ nach den Gegen- 
ständen der Dichtung sagt viel. Mit Recht hat Otto Schumann 
dieser Frage in der Einleitung der von ihm zusammen mit À. 
Hilka neu herausgegebenen Carmina Burana eingehende Un- 
tersuchungen gewidmet. Ich habe in der Besprechung der Aus- 
gabe, DLZ. 53, 1932, 1308—1315 lediglich das z. T. negative 
Ergebnis einer Nachprüfung mitteilen können (1313 f.); bei der 
Bedeutung der Frage und der Schwierigkeit und Gründlichkeit 
der von Sch. angestellten Forschungen, die einen höchst auf- 
merksamen Leser verlangen, besteht Anspruch auf Begründung 
jenes Urteils. 

Die Anordnung der ,,moralisch-satirischen'' Gedichte des 
ersten Teiles der Hdschr. in z. T. überschriebenen, inhaltlichen 
Gruppen ist nicht zu bezweifeln: auf je ein bis vier rhythmische 
Gedichte folgen metrische, Versus. Sämtliche 14 Gruppen jenes 
ersten Teiles nehmen zusammen 24 Bl. ein (f. 3848—48. 1—18"1.3). 
Unter der Überschrift Incipiunt iubili beginnt der zweite Teil, 
der die Liebesdichtung enthält. Wirkliche tubil:, Sequenzen oder 
Leiche, sind nur die 15 Nr.n 56—58. 60—63. 65. 67—73; andere 
20, Nr. 59 und 74—92 sind gleichstrophisch gebaut!. Nr. 64 und 
66, mythologische Kommentare zu den Nr.n 63 und 65, bestehn 
aus Hexametern. Nr. 91, De sacerdotibus, „eine heftige Scheltrede 
gegen die verheirateten Priester“, scheint nach textlichem und 
Schriftbefund nachgetragen; jedoch als „ganz heterogen“ (Sch. 
S. 45* f.) wird es nach mittelalterlichen Begriffen an dieser Stelle 
nicht erschienen sein; die Einreihung vor das berühmte Gedicht 
De Phyllide et Flora (Nr. 92), das die vielbehandelte Streitfrage 


1 Schumann S. 457 Z. 12 ist = Z. 14, sodaß die Darstellung eine (anschei- 
nend gróBere) Lücke hat. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.3. 33 


514 Walther Bulst 


zum Thema hat, ob clericus oder miles der aptior amator sei, ist 
gewiß Ausdruck einer zwischen beiden Gedichten hergestellten 
vagen gedanklichen Beziehung. Nr. 92 bricht auf f. 42" in der 
62. Strophe ab, die ursprünglich folgenden Blätter sind höchst- 
wahrscheinlich verloren, Bl. 49 scheint allein von der nächsten 
Lage übrig geblieben. Diese Nr.n 56—92 (f. 18'—42") bezeichnet 
Sch. als 15. Textgruppe (S. 45*f.), die also nach seiner An- 
schauung gleichen Umfang (24 Bl.) hátte wie alle 14 Gruppen 
des 1. Teiles zusammen ; auf sie bezieht er gegen den formalen 
Befund die doch nur auf Nr. 56—73 (mit Ausnahmen. o.) sinn- 
voll zu beziehende Überschrift Incipiunt iubili, um wenigstens 
dies als Kriterium weiterer Gruppeneinteilung der Handschrift 
zu haben, nachdem Stellung und inhaltliche Beziehung der 
Versus (Nr. 64. 66; 8.0.) den Dienst als Kriterien versagen. Auch 
im Folgenden versucht Sch. noch Gruppeneinteilung nachzu- 
weisen: „Möglich daß auch die Gedichte. . auf f. 49 . . derselben 
[16.] Gruppe ... angehört haben . . . Aber da f. 49 vereinzelt 
steht, tun wir doch wohl besser daran“, Nr. 93—96 als eine 
neue Gruppe (16) anzusetzen. Erst recht werden wir eine 
neue Gruppe (17) beginnen lassen mit der. . . folgenden 
Lage f. 73 ft. [—82]. Wir haben hier zunächst . . Texte, die von 
berühmten Liebesgeschichten handeln Nr. 97—100]'*; Nr. 101 f. 
sind Versus auf Trojas Fall und die Schicksale des Aeneas; „eine 
neue Gruppe begann hier [mit Nr.103] jedenfalls nicht, ob- 
wohl die Dido-Gedichte hier zu Ende sind. Die Gruppe 
reicht vielmehr weiter bis Nr. 125 (f. [50'—]52" unten). Sie enthält 
zunächst, in Nr. 103—120, Liebesklagen, die sich also. .. inhalt- 
lich ganz gut anschließen ... dazu... des Kontrastes halber 
gestellt Nr. 121... Aber was nun folgt [Nr. 122—124], sind 
Gedichte ganz anderer Art ... Es folgen die Versus Nr. 125 ... 
sie bilden also [nach der Technik des Eintrages] deutlich den 
Abschluß dieser Gruppe. Inhaltlich freilich passen sie nur zu 
dem letzten der darin enthaltenen Rhythmi, Nr. 124; also 
ganz ähnlich wie Nr. 55''— in der 14. Gruppe, deren Gruppen- 
charakter, durch Aufnahme unzugehóriger Gedichte, gleiches- 
falls schon schwer gestört war. „Die nächste Gruppe (18, f. 
52'"—654")enthált vollends Textedesallerverschiedensten 


2 Diese und die folgenden Sperrungen von mir. B. 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 515 


Inhalts[Nr.126—131a]... es sind Nachträge . . daher fehlen 
auch die Versus am Schlusse ... Hinter Nr. 131/131a sind 
noch mehrere Seiten freigeblieben; sie sind erst nachträglich 
von anderen [he, h?, h°] mit allerhand Texten beschrieben 
worden ... Auf dem Blatte, das hinter f. 55 ausgerissen ist, 
muß eine neue Gruppe (19) begonnen haben. Denn [f. 56" 
ist leer] f. 56” enthält nur den Schluß eines Gedichts (Nr. 132)...“ 
Auf Getilgtem folgen diesem ,,als eine Art naturwissenschaft- 
lichen Kommentars .. Nr. 133 f.. . . Nr. 132 hat keine 
deutsche „Zusatzstrophe“. „Wir lassen daher mit Nr 135, f. 
56° oben, obwohl hier nur die Überschrift Item al. steht, eine 
neue Gruppe (20) beginnen." Die von Sch. ihr zugeteilten 
Rhythmi Nr. 135—153 (f. 56—627) haben „Natureingang“ und 
je eine deutsche „Zusatzstrophe“ miteinander gemein; aber 
dieselben Erscheinungen hat Sch. bei den Reihen Nr. 56—59, 
Nr. 68—71. 73£., Nr. 78—85 und Nr. 112 (a)—115 (a) zwar ebenso 
ausdrücklich bemerkt, jedoch nicht als Kriterien für Gruppen- 
einheit beansprucht. Die Versus Nr. 154 schlieBen sich wiederum 
nur an Nr. 153 bezw. an deren 3. Strophe. Nr. 155/155a hat 
keinen ,,Natureingang'" und ist nachgetragen. „Auf f. 63" oben 
beginnt Gruppe 21. Sie reicht bis... zum Ende der Lage [f. 64"], 
und umfaßt die Rhythmi Nr. 156—160. Nr. 156 trägt endlich 
wieder einmaleine Hauptüberschrift...DeVere; .. lauter 
Frühlings- (und Liebes-)lieder, wenigstens haben alle, außer 
der ersten der beiden Pastourellen Nr. 157f.,... Id. h. 4 von 6 
haben] den „Frühlingseingang“; der Unterschied von Gruppe 20 
besteht im Fehlen deutscher Strophen. „Die schließenden 
Versus fehlen;“ Sch. vermutet, sie hätten sollen nachgetragen 
werden; wofür Raum ist. „Und deutlich wird das Ende der 
Gruppe hier bezeichnet durch die Doppelminiatur auf 
f. 64'." Dahinter ist vielleicht eine Lücke. „Für uns jeden- 
falls beginnt mit der neuen Lage, auf f. 657 [—69"], die 
22. Gruppe“, (Nr. 161—176), überschrieben Item al. Aber diese 
Überschrift hat Sinn allein für das erste Gedicht, Nr. 161, das 
wie Nr. 160 ,,Natureingang'' mit dem Stichwort estas in der 1. 
Zeile hat (entsprechendes Stichwort in Nr. 156. 158. 159 ist uer); 
die übrigen (Nr. 162—175) haben keinen. Man wird auch hier, 
wie schon die Worte Incipiunt iubili (s. o.), die Überschrift viel- 
mehr als auf das bezüglich verstehn, wofür sie Sinn hat: eben 


33* 


516 Walther Bulst 


Nr. 161, nicht auf die postulierte Gruppe. Dürfte man deutsche 
„Zusatzstrophen“ als Kriterium in Anspruch nehmen, so hat sie 
doch solche mit der 20. gemein; „Natureingang“ wiederum ist 
weder in der vorigen ,,Gruppe'' durchgeführt noch in dieser aus- 
geschlossen; auf die Verhältnisse in Nr. 56 ff., 68 ff., 78 ff., Sch.s 15. 
„Gruppe“, haben wir soeben hingewiesen. Als Abschluß dieser 
22. betrachtet er die (4) Versus Nr. 176, ,,die freilich inhaltlich 
zu den Rhythmi ganz und gar nicht zu passen scheinen. 
Aber die ersten drei stehen jeder auf einer besonderen Zeile; 
Nr.176 bezeichnet also deutlich den GruppenabschluB.''— Wir 
glauben auf die weitere Wiedergabe der Argumente verzichten 
zu dürfen, womit der Gruppencharakter der noch übrigen Liebes- 
gedichte, Nr. 177—186 (f. 70—72), dargetan werden soll: „Nr. 
177 ist einfach Item überschrieben. Doch beweist das ja 
nichts dagegen, daB hier eine neue Gruppe einsetzt." 
usw. usw. „Mit f. 83' treten wir ein in die dritte Abteilung, die 
in der Hauptsache Trink-, Spieler- und eigentliche Vaganten- 
lieder enthält. Sie zerfällt wieder in eine Anzahl von Gruppen, 
doch ist es nicht überall deutlich, wo wir den Beginn einer 
neuen anzunehmen haben; daher geben wir die Gruppen- 
zählung, die sich bisher leidlich durchführen ließ, nun- 
mehr auf.“ (S. 51*). 

Dieses Eingestándnis hätte 7 Seiten früher erfolgen sollen—: 
daß nämlich im 1. Teile der Handschrift die Gliederung 
in Gruppen objektiv vorliegt, im 2. es jedoch ein Unter- 
nehmen des Hg.s darstellt, sie ‘durchzuführen’. Daß er im 
3. Teile die Gruppenzáhlung aufgegeben hat, „bedeutet, obwohl 
auch weiterhin (S. 51*—54*) noch von ‘Gruppen’ die Rede ist, 
praktisch auch das Aufgeben einer Einteilung in solche; man 
kann sinnvoller Weise nicht ein begrenztes Ganze in eine endliche 
Anzahl objektiv gleichartiger Untereinheiten zerlegen wollen, 
ohne daB doch diese Anzahl objektiv bestimmbar wäre?.‘‘ Früher* 
hatte Schumann— ‚die beiden Spiele der letzten Lage [Schmellers 
Nr. CCII] als je eine besondere Gruppe gerechnet''— im Haupt- 
teil der Hdschr. (f. 1—106) 25 Gruppen gezählt, während jetzt 
nach ihm die moralisch-satirischen und die Liebesgedichte zu- 
sammen allein aus 23 Gruppen bestehn. Die verschiedene 


* DLZ. 53,1314. 
* Germ.- Rom. Monatsschrift 14 (1926) 419. 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 517 


Berechnung offenbart praktisch die bezeichnete logische Untun- 
lichkeit. Trotzdem behalten die Untersuchungen Schumann ihren 
Wert als sorgfältigste Analyse der schwer zu überblickenden 
Textfolge; die festgehaltene Voraussetzung ist heuristisch frucht- 
bar geworden. Fragt man aber, warum eine Gruppenleitung auch 
der Liebesgedichte, zu der in der Handschrift ebenso gewif 
Ansätze sich finden wie sie in ihr nicht vorliegt, nicht durch- 
geführt wurde, so wird zu antworten sein, daB die Thematik 
dieser Dichtungen es kaum gestattete und die Poetik des 13. 
Jh.s auBerstande war, an die Stelle einer beinahe unmóglichen 
inhaltlichen Ordnung eine andere nach historischen genus- 
Begriffen zu setzen. 


II. Vvere div werit alle min (n. 108a-Nr. 145a). 


Unter den deutschen Strophen der C. B. ist diese wohl die 
bekannteste— ihr und noch einer anderen (137a) allein ist die 
Ehre der Aufnahme in „Des Minnesangs Frühling“ zuteil ge- 
worden; kaum eine andere ist öfter in der Literatur behandelt. 
Aus teils Unkenntnis teils MiBachtung der hdschr.lichen Über- 
lieferung mußte sie trotz aller darauf gewandten Mühe dunkel 
und vieldeutig erscheinen. 

In der Hdschr. (Cod. Mon. lat. 4660 f. 607 1. 1.2.3.) steht: 

Vvere div werlt alle min von deme mere ünze an den rin 
diu chünegin 
des wolt ih mih darben dazchunich vonengellant lege an mi- 
nen armen. 
chunich durchgestrichen ; diuchünegin über chunich von geschrieben 
von jüngerer Hand. minen armen. aus minem arme. geändert 
durch Rasur des letzten Grundstriches in minem und Zusetzung 
des n hinter arme.; der erste Grundstrich des n ist über den 
Punkt nach e gezogen, der noch zu sehen ist. 
Als ältester Text ist also zu erreichen: 
were diu werlt alle min 
von deme mere unze an den rin 
des wolt ih mih darben 
daz (der) chunich von engellant 
lege an minem arıne. 

Ich begründe: alle — in dieser Stellung eine Altertümlich- 

keit — mit MFr. in alliu zu ändern, besteht kein Grund. — deme 


518 Walther Bulst 


und unze mit MFr. in dem und unz ändern heißt dem Texte ein 
jüngeres Aussehen geben als er in der Hdschr. hat, verbietet 
sich also trotz Theorien der Verslehre. Die von allen Hg.n auf- 
genominene hdschrl. Änderung aus chunich in dtu chünegin ist 
ohne Gewähr. Daß der nicht in M steht ist der Anlaß zu 
einer Korrektur überhaupt geworden; daß aber nicht bloß 
der eingefügt, vielmehr in diu chünegin geändert wurde, ist zu 
verstehn aus der Befremdlichkeit des Sinnes, die sich zu ergeben 
scheint, indem es eingefügt wird. Die Korrektur beweist doppelt, 
daB der sprachlich gefordert ist: indem sie überhaupt ge- 
8chah, und indem vor dem geánderten Substantivum Artikel 
steht. Außerdem ist der rhythmisch gefordert: ohne es hätte 
die Zeile sowohl innerhalb der deutschen Strophe, wie in ihrer 
formalen Entsprechung zu den lateinischen (Carm. Bur. [hg. 
v. Schmeller] n. 108 S. 185) betrachtet, eine Hebung zu wenig 
(3 statt 4). Umgekehrt beweist es die Willkür der hdschr. Kor- 
rektur, daß sie die Zeile zur rhythmischen Unmöglichkeit gemacht 
hat; — ob man ihre beiden ersten Hebungen mit Lachmann oder 
mit Vogt verteilt: dàz diu chünegtin von oder daz diu chünegin 
von liest. Daß Lachmanns Lesung unmöglich ist, hat Vogt ge- 
sehen; die von V. für seine eigne Lesung angeführten Stellen 
vermógen auch sie nicht zu rechtfertigen. Unter sámtlichen von 
Haupt und Vogt zu MFr. 154,21 und 11,20 aufgezählten (50) 
Fällen zweisilbigen Auftaktes ist keiner, wo eine kurze und eine 
lange durch zwei Konsonanten getrennte Silben den Auftakt 
bildeten — nicht einmal ein so gebildeter, der aus einem Worte 
bestünde. Die Form der lat. Strophen ist 2-7 xxa + 6xx b 
+7xxc+6 xx b. (Die Freiheiten betreffen in keiner Strophe 
die 4. Zeile). 
Die deutsche Strophe ist also zu lesen®: 
Were diu wérlt álle mín 
vón deme mére unze án den Rín 
des wolt ih mih därbeh 
dàz (der) chünich von éngellànt 
lege an minem ärnie'. 
Die Vertretung lat. fallender Zeilen (wie 8. 5) durch solche 

deutschen, in denen nach deutschem Versbau im Zeilenschlusse 


Zur Form s. auch A. Heusler, Deutsche Versgeschichte, $ 751 (II, 1927, 276), 
auch $ 642 (eb. 176). 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 519 


eine (Neben-) Hebung mehr zu zählen sein würde als die latei- 
nische Zeile Hebungen hat, ist aus den deutschen Strophen der 
Carm. Bur. mit vielen Beispielen zu belegen; darben, arme, gilt 
als xx. Daß der ursprüngliche unreine Reim darben: arme (also 
natürlich auch das ursprüngliche minem) der Hdschr. einzu- 
setzen ist, bedarf keiner weiteren Begründung. 

Nachdem der corrigierte hdschrl. Wortlaut diu chünegin 
nicht der ursprüngliche der Strophe sein kann, und der conjicierte 
Text (der) chunich sprachlich und rhythmisch gefordert ist, haben 
wir diesen sachlich zu verstehn zu suchen: außer wir setzen 
voraus, daß die Verderbnis des ursprünglichen hdschrl. Wort- 
lautes nicht in der versehentlichen Auslassung des Wortes der 
besteht, sondern in etwas anderem, ohne daß wir wissen können, 
in was anderem. Diese Voraussetzung wäre allein daraus zu be- 
weisen möglich, daß der conjizierte Text überhaupt keinen Sinn 
haben kann, d. h. sie ist unbeweisbar. Die Frage nach dem Sinn 
der Strophe in ihrem hdschrl.-korrigierten Wortlaut hat keine 
höhere Bedeutung, als daß damit gefragt wird: was hat der 
Korrektor sich bei seiner Korrektur gedacht? worüber schon 
reichlich Literatur zusammengekommen ist. Die allein wesent- 
liche Frage ist: wer ist der chuntch von engellant? Die Antwort 
gibt eine Strophe Mechthilds von Magdeburg (Offenbarun- 
gen der Schwester M. v. M. oder das fließende Licht der Gott- 
heit ... hg. v. P. Gall Morel, Regensburg 1869, 7. Th. XL. Kap., 
S. 256): 

XL. Alsus sprichet diu minnende sele ze irme lieben herren: 

Were alle die welt min 

und were si luter guldin 

und solte ich hie nach wunsche eweklich sin 

die alleredelste die allerschóneste die allerricheste keyserin 
dc were mir iemer unmere: 

Also vil gern 

sehe ich Iesum Cristum minen lieben herren 
in siner himelschen ere. 

Prövent wc si liden die sin lange beiten. 


Der chunich von engellants ist CHRISTUS, die Strophe ein 
Denkmal der Christusminne geistlicher Frauen. Die Direktheit 


* engellant ‚der Himmel’ belegt Mhd. Wb. 1936a, Lexer 1556. 


020 Walther Bulst 


des Wunsches ist nicht ohnegleichen; vgl. z. B. im Gedichte von 
unserm herren Ihesum Christ Vnd von der minnenden sel dte sın 
gemahel ist’: 

Es mócht ain mensch wunder hon 

Wie es umb diss küssen sy geton: 

Es ist in gaistlicher wis mund an mund, 

Größer fród ward nie kund, 

Vnd brust an brust, 

Wa ward ie größer lust? 

Es ist hertz an hertzen. 

etc. (Z. 1730ff.; dazu S. 93. 95f.); 


im selben Gedicht spricht Christus zur Seele: 
Vnd machte dich so wol gemut 
Das du nit nemist all der welt gut 
Für die minne min (Z. 99f.), 


sie zu ihm: 
O herr het ich dich vor als wol erkant: 
Ich hett nit genomen alle land 
Das ich als spat wär kommen (Z. 1210ff.; dazu S.98f.). 


Die innere Beziehungslosigkeit der deutschen Strophe zu 
den lateinischen, denen sie angehängt ist und formal entspricht, 
erweist wohl, daß sie unabhängig von jenen entstanden ist und 
um der formalen Entsprechung willen mit ihnen verbunden wurde. 
Daraus ergibt sich als nächste Frage, ob die deutsche Strophe eine 
Einzelstrophe oder aus einem mehrstrophigen deutschen Gedichte 
allein erhalten ist. Eine Entscheidung von einem áuDeren Um- 
stande her scheint nicht möglich; die Geschlossenheit ihres Sinnes 
spricht stark für das erste, ebenso die Erhaltung der Strophe nur 
an dieser Stelle; allerwenigstens gilt, daß sie für sich allein be- 
stehn kann. Die Strophe Tougen minne diu ist guot (Carm. Bur. 
hg. von Schmeller n. 137a S. 209), die MFr. 3, 12—16 als 
2. Strophe dahinter gestellt ist, hat mit ihr keinerlei Zusammen- 
hang. 

Die Art des ausgedrückten Empfindens der Frau, welche in 
weltlich-höfischer Dichtung auf ‚des Minnesangs Frühling’ weisen 


7 Christus und die Minnende Seele. Untersuchungen und Texte hg. von 
P. R. Banz, Breslau 1908 (Germanist. Abh. 29); vgl. ebenda Z. 1870ff.; auch 
Z. 2049 (die Seele zu Christus): O her, du bist min, so bin ich din, dazu S. 104 f. 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 521 


würde, ist bei der Altersbestimmung geistlicher Minnedichtung 
nicht ebenso anzuführen. Ähnliches gilt noch stärker von der 
Reim- und Verskunst: im Bereich der Christusminne haben Er- 
scheinungen, welche in der ritterlichen Dichtung für Beweise 
hohen Alters gelten dürfen, nicht dieselbe Beweiskraft. Die nähere 
Bestimmung des Alters und der Heimat wird in einem weiteren 
Beitrag versucht werden. 

Nach Abschluß des Obenstehenden sehe ich, daß S. Singer 
in den Beitr. 44 (1920) 427 zugunsten ,,der ursprünglichen Lesung" 
chunich v. e. gesprochen und dazu gemeint hat „ unter dem ch. v. 
e. ist doch eher Christus als ein König von England zu verstehn“, 
daB Ph. Strauch im Afd A. 19 (1893) 195 unter andern Parallelen 
zu der Strophe auch die Zeilen Mechthilds angeführt hat, ohne 
jedoch an der Lesung künegın v. E. zu zweifeln. 

Ich entnehme seiner Sammlung noch folgenden besonders 
nahekommenden Satz: tu scis, Domine, quod st lotus mundus meus 
essel cum omnibus que in eo sunt, pro amore tuo ad integrum deserere 
uellem ( Revelationes Gertrudianae ei Mechthildianae II 315). Nach 
Singer und mit Beziehung auf ihn ist Strauch noch einmal in 
den Beitr. 47 (1923) 171 auf die Strophe zu sprechen gekommen: 
„Wenn wirklich die Strophe ... auf Christus... zu deuten wäre, 
so bliebe ein solcher Nonnenwunsch im Rahmen der übrigen 
deutschen Stücke der Carmina Burana jedenfalls auffallend.’ 
Daß die Strophe diesen Sinn hat, scheint mir gar nicht zu 
bezweifeln, und da sie wie andre deutsche Strophen der C. B. 
in lediglich formaler Beziehung zu den vorangehenden lateini- 
schen steht, auch nicht so „auffallend“, daß damit ein Zweifel 
an diesem Sinn zu begründen wäre, zumal da die entschieden 
kirchliche und geistliche Gesinnung den überwiegenden An- 
teil an der ganzen Sammlung hat — so leicht das auch im Ge- 
danken an die anziehenderen amatoria, polatoria, lusoria ver- 
gessen wird. 


e „Daß man den rez angelorum als den ‚König von England’ bezeichnete“ 
(Singer a. a. O.), ist schief ausgedrückt: engellant ist auch Engelland; außer den 
Wörterbüchern (s. oben Anm. 6) s. Singer selbst ebenda, sowie Strauch in den 
Beitr. 47 (1923) 171. Zu Singers Beispielen für das Spiel mit den Worten angeli- 
Angli wäre noch eine Stelle des Hilarius (Anf. 12 Jh.) zu fügen: Errant quidem 
inmo peccant qui le uocant Anglicum: E uocalem interponant et dicant angelicum. 
(IX 7, 5. 6). 


522 Hans Walther 


III. 
Eine unbekannte mittellateinische Satire gegen die Geistlichkeit. 
Von 
Hans Walther. 


Es ist für die Blütezeit der mittellateinischen Dichtung im 
12./13. Jahrhundert des öfteren für besonders kennzeichnend er- 
klärt worden, daB sie so zahlreiche Satiren aufzuweisen hat, vor 
allem Satiren gegen die Geistlichkeit und die Kurie in Rom, 
aber auch gegen die anderen Stände, Ritter und Bauern, und 
gegen die Frauen. Das trifft zu, und es verdient auch hervorge- 
hoben zu werden, daß viele dieser Satiren außerordentlich ver- 
breitet waren, z. T. in Dutzenden von Handschriften erhalten 
sind. 

Von den mittelalterlichen Satiren gegen Papst und Klerus 
hat im 16. Jahrhundert Mathias Flacius Illyricus so manches 
gesammelt und zu einem anschnlichen Bändchen vereinigt: 
Varia doctorum piorumque virorum, De corrupto Ecclesiae 
statu Poemata. Ante nostram aetatem conscripta: ex quibus 
multa historica quoque utiliter, ac summa cum voluptate co- 
gnosci possunt; ich benutze die Ausgabe: Basileae, per Ludoui- 
cum Lucium, 1557, und zitiere auch danach. Nicht historisch- 
literarisches Interesse hat diese Sammlung veranlaßt, wie es 
später bei dem verdienstvollen Polycarp Leyser der Fall war; 
Flacius wollte vielmehr — ein damals beliebtes Verfahren! — 
mit Hilfe dieser mittelalterlichen Zeugen die protestantische 
Sache im Kampfe gegen die katholische Kirche und gegen das 
Papsttum unterstützen. Das Büchlein ist für uns in vieler Hin- 
sicht wertvoll geworden; denn von einem Teil dieser Gedichte, 
die auch in spätere Anthologien aufgenommen wurden, sind 
die handschriftlichen Zeugen verloren gegangen, so daß wir 
allein auf dem Abdruck bei Flacius fuBen, ja bisweilen nicht 
einmal unbedingt sicher sind, ob es sich um echtes mittelalter- 
liches Gut handelt oder um Nachdichtungen des 16. Jahrhun- 
derts. In solchen Fällen ist es besonders willkommen, wenn eine 
mittelalterliche Handschrift für eines dieser Gedichte auftaucht, 
Zeugnis für die Echtheit liefert und den Text revidieren hilft. 

Bei Flacius liest man S. 152f. einen ,,Sermo Goliae ad Prae- 
latos" (Inc.: A legis doctoribus lex evacuatur ...), 10 gutge- 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 523 


baute Vagantenstrophen, an deren mittelalterlicher Echtheit ich 
trotz einigen befremdenden Wendungen und trotz dem Fehlen 
jeder handschriftlichen Überlieferung im Grunde nie gezweifelt 
habe. Die Satire ist später noch zweimal wörtlich nach Flacius 
abgedruckt worden: 1. Johannis Wolfii ... Lectiones memo- 
rabiles. Sec. ed. Francofurti ad Moenum. 1671, I, 359. 2. The 
Latin Poems commonly attributed to Walter Mapes, coll. and 
ed. by Thomas Wright (Camden Society). London. 1841. 
S. 43f.!. Eine ma. Handschrift dieses Stückes hat sich, wie ge- 
sagt, m. W. bisher nicht auffinden lassen. 

Bei Durchsicht der mittelalterlichen Handschriftenbestände 
der Universitäts-Bibliothek Innsbruck? stieß ich kürzlich im 
cod. 669 auf die nachstehend abgedruckte antiklerikale Satire, 
die ich kopierte, da sie mir unbekannt zu sein schien; ich habe 
auch jetzt nirgends feststellen können, daß sie an anderer Stelle 
überliefert wäre®. Interessant ist nun, daß der von Flacius mit- 
geteilte „Sermo Goliae ad Praelatos“ zum großen Teil darin 
enthalten ist: 71, von den 10 Strophen (s. u. die Strophen- 
gegenüberstellung!), und zwar mit teilweise recht starken Vari- 
anten, die an einigen Stellen den Text F.s wesentlich verbessern. 
Der Abdruck dieser 33 Vaganten-Strophen (Inc.: Pastores ec- 
clesie principes inferni ...) schien mir um so mehr gerecht- 
fertigt, als die Satire nicht ohne Schwung und Geist ist*, und 
der im ganzen tadellose Bau der Verse vermuten läßt, daß das 
Gedicht — trotz der späten Überlieferung (15. Jahrh.) — der 
besten Zeit, d. h. dem 12/13. Jahrhundert, angehören mag; 
sichere Anhaltspunkte zur zeitlichen Fixierung bietet der Inhalt 
leider nicht. 

Die Papier-Handschrift (in Quart, 225 Bll., Provenienz un- 
bekannt) gehört zwar, wie bereits erwähnt, erst dem 15. Jahr- 
hundert an, sie enthält aber, wie aus den Proben unten hervor- 

! Vgl. auch: Polycarpi Leyseri Historia Poetarum medii aevi. Halae. 1721. 
8. 777. 

2 [ch habe Herrn Direktor Dr. Pogatscher auch hier für das sehr freundliche 
Entgegenkommen und die nachtrügliche Beschaffung einer Photographie des Stük- 
kes herzlich zu danken. — 100 der wertvollsten Hss., d. h. etwa ein Zehntel des ganzen 
Bestandes, sind nach dem Kriege von Italien entführt worden. 

* Dies gilt nur für den ersten Teil (s. u.!). 


* Die Sprache lehnt sich allerdings stark an die Bibel an, in den vae-Strophen 
besonders an Isai. 5 und Matth. 23. 


524 Hans Walther 


geht, vieles, was sicher in die oben angegebene Zeit zurückreicht, 
z. B. der angeführte Conflictus vitiorum et virtutum. Ich habe 
mir aus dem Inhalt nur einiges notiert: 
fol. 70r u. v Ein kleiner Dialog in Prosa: Es tu scolaris? 
Sum! . .., auch in Prag, Metropol. Bibl. 1643 f. 80a—b; vgl. 
Ch. H. Haskins, Mediaeval Culture. 1929. S. 83, u. Bäbler, 
Beiträge. 1885, S. 190f.; Nota Sacerdos quatuor modis expo- 
nitur ..., verschiedene etymologische Erklärungen in der be- 
kannten ma. Art, und Notizen, von denen die beiden folgenden 
Interesse haben: 1. Nota Roma dicitur quasi rodens manus 
advenarum per malicias et nequicias suorum incolarum, unde 
versus Roma manus rodit, quos rodere non valet odit, der 
Vers sehr häufig hs. überliefert, z. B. Carm. Bur. ed. Schmel- 
ler, S. 23, V. 16. 2. Nota differentiam inter formam et figuram, 
unde versus 
Flos in pictura non est flos, ymmo figura. 
Qui pingit florem, non pingit floris odorem. 
gleichfalls háufig, z. B. Carm. Bur. S. 217. 
fol. 72r—143v enthält Briefmuster aus der Zeit Karls IV. 


fol. 146r—49v Tractatus bonus de forma et modo predica- 
tionis. Inc. Ut ornate loqui scias ... 
fol. 158r—v steht unsere Satire, ohne Überschrift und Strophen- 
abteilung, zwei Vagantenzeilen in einer Zeile, die Breite der 
Seite ziemlich füllend, in flüchtiger Kursive, wie der größte 
Teil der Handschrift. 
fol. 158v Planctus anime contrite. 
Flere volo, me flere juvat, volo nil nisi flere, 
Absque modo flere gestio, flere volo. 
Flere volo, largos, oculi, rivos lacrimarum 
Ut pluvias subitas fundite! flere volo. 
Die Verse stehen auch in Lilienfeld 40 (s. XIII.) f. 151v 
(Zahl unbekannt) und S. Florian 303 (s. XIV.) f. 196v—97r; 
in letzterer Hs. sind es 50 Verse, die hier „pacceriti“ (1. parac- 
terici! gewöhnlich „reciproci!“) genannt werden. 
fol. 159r—v ein Stammbaum der 7 Hauptlaster mit ihren je 
6 Species, zu jedem Hauptlaster ein Vers; die Verse für die 
Species stehen zusammengefaßt hinter dem Stammbaum 
(Sa 49 V.); Inc.: Cetera cum supero memet transcendere 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 525 


quero ...; vgl. H. Walther, Das Streitgedicht in der lat. Liter. 
d. MAs. München, 1920, S. 117. 
fol. 165v 12 Hexam., alle mit „Nec sine doctrina“ beginnend, 
der erste: Nec sine doctrina morbum sanat medicina; hierüber 
an anderer Stelle. Es folgen zwei Nummus-Verse: 
Nummum mercantur reges et ei famulantur. 
Nummo venalis vacat ordo pontificalis. 
fol. 165 v—69 v deutsche Verse, z. B.: 
Wenn der wolf mawsen gaet 
vnd der fuchs chefer vacht (!) 
vnd der chunnig pus macht, 
so ist ir gewalt gar geswacht®. 


ebenda: 
Got vatter alle cristenhait 
lob vnd er sy dir gesait ... 
40 Zeilen®,. 
fol 166r: 


Liegen triegen ist ain sitt 
dem dy welt nun folget mit ... 
20 Verspaare”. 


Strophenkonkordanz 
für 
J (= Satire cod. Innsbruck) u. F (= Flacius „A legis doct...) 
J 16, 3 u. 4 F 1, 1 u. 3 J 20 = F 5 
J 17 =F 2 J 22 =F6 
J 18 =F 3 J 23 =F 8 
J 19 =F 4 J 24 =F 7. 


Natürlich fragt man sich sofort: Sind die gemeinsamen 
Strophen — daß F. eine andere handschriftliche Quelle vorlag, 
geht aus den Lesarten hervor — von dem Verfasser unserer Sa- 
tire aus „A legis doctoribus ...'* entlehnt, oder ist das Verhält- 
nis umgekehrt ? Von vornherein ist das erstere wahrscheinlicher: 
unserem Dichter kam bei dem Reim auf -atur (Str. 16, 3f.) der 


5 Vgl. Fridankes Bescheidenheit, v. H. E. Bezzenberger, Halle 1872, S. 133, 
V. 16—19. 

* Vgl. Fridank, l. c. S. 232. 

* Vgl. Fridank, 1. c. S. 218. 


526 Hans Walther 


Anfang des „Sermo ad Praelatos“ in Erinnerung, und nun 
setzte er die folgenden Strophen dieser Satire, die denselben 
Stoff behandelte, ziemlich in der gleichen Reihenfolge hierher, 
nur einmal durch einen eigenen Zusatz unterbrochen (Str. 21)*. 
Ähnliches läßt sich auch sonst beobachten. Daß die beiden Ver- 
fasser identisch sein kónnten, móchte ich nicht glauben; jeden- 
falls ist es mir für das Mittelalter unwahrscheinlich, daß ein 
Dichter sein eigenes Erzeugnis in ein späteres Gedicht verar- 
beitet haben sollte. Allerdings bleibt es immerhin auffällig, daß 
ein so spärlich überliefertes und kaum verbreitetes Gedicht hier 
in solchem Umfange ausgeschrieben erscheint. 

Was ergibt nun die Vergleichung der Form beider Gedichte? 
Der Reim ist bei beiden zweisilbig rein; denn in J kann Str. 7 
periti: dimitti als rein gelten. In der Silbenzahl findet sich ein 
Verstoß nur in J; aber er läßt sich leicht durch fehlerhafte Uber- 
lieferung erklären und ist unschwer zu beseitigen. Auch die Un- 
tersuchung des Taktwechsels ergibt nichts Zwingendes: in J 
33mal in 33 Strophen (einschl. der 3 Fälle in mit F gemein- 
samen Strophen), in F siebenmal in 10 Strophen. Der Hiat da- 
gegen ist in F gánzlich vermieden, wáhrend er in J innerhalb der 
Halbzeilen dreimal, zwischen den Halbzeilen einmal und zwi- 
schen den Langzeilen fünfmal begegnet; das spricht m. E. ge- 
nügend für die Annahme, daß „A legis doctoribus ...“* von 
unserm Dichter ausgeschrieben worden ist. Erschwert wird die 
Entscheidung dadurch, daß ein Vergleich des inhaltlichen Auf- 
baues beider Gedichte deshalb nicht viel hergibt, weil die ein- 
zelnen Strophen in beiden Gedichten in sich geschlossene An- 
klagen enthalten, die einen logischen Zusammenhang und Fort- 
schritt vermissen lassen. 


Aufbau des Gedichtes 


Str. 1—4: Anklage des Pastores ecclesie, bes. wegen Hab- 
sucht und Luxus, in der 2. P. Pl. — Str. 5—8: Anklage wegen 
ungerechten Richtens und Bestechlichkeit, davon nur Str. 6 in 
d. 2. P. PL, die übrigen in d. 3. P. Pl. — Str. 9—12: Anklage 
wegen allgemeiner Vernachlässigung der Priesterpflichten und 
Androhung der Höllenstrafen, in der 3. P. Pl., womit ein ge- 


® Dieser Zusatz könnte natürlich auch schon in der Vorlage von J gestanden 
haben. 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 527 


wisser Abschluß erreicht scheint. — Str. 13: nimmt eine Son- 
derstellung ein: Es ist nicht völlig klar, ob hier der Dichter, 
Petrus, den Papst (Petrus = Papa) oder einen Kirchenfürsten 
mit Namen Petrus anredet; auch ist eine eigentliche Bitte (13, 4 
sic, quod justum petimus, non repellas retro) in den folgenden 
Strophen nicht recht erkennbar. — Str. 14: gegen die betrüge- 
rischen und bestechlichen Notare (3. Pl.) (Str. 13 u. 14 scheinen 
aus anderen Satiren hier eingesprengt zu sein). — Str. 15 f. all- 
gemeine Klage: Die Welt ist schlecht geworden. 16, 3 wird die 
Anklage gegen die legis doctores (s. o. 6, 1) nach F 1 und 3 
wiederholt (3 P.). — Str. 17—23 enthalten die 7 Strophen aus 
F, allgemeine Klagen über die Schlechtigkeit der Welt, die 
durch das schlechte Vorbild der Geistlichen hervorgerufen sei; 
frühere Anklagen (Bestechlichkeit, Habsucht, Pflichtvergessen- 
heit) wiederholen sich dadurch. Die 3 ersten Strophen in 3. P., 
die übrigen, einschl. der Zus. Str. 21, in 2. P. Pl. — Str. 25—27: 
Anklagen in der 2. P. Sing. (an den Papst oder einen Kirchen- 
fürsten gerichtet ?). — Str. 28—33: Ermahnung an die Pastores 
ecclesie (3. P.), Christi Beispiel zu folgen und rechtzeitig bessere 
Sitten anzunehmen. 

Man wird aus dieser Übersicht erkennen, daß das oben aus- 
gesprochene Lob der Satire nicht für ihren Aufbau gelten kann; 
ja man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch die 
nicht aus F entlehnten Strophen z. T. (z. B. 13, u. 25—27) aus 
einem anderen Gedicht hineingeflickt sind; sicheren Aufschluß 
konnte freilich erst das Auftauchen von weiteren handschrift- 
lichen Zeugen bringen. Daß manche Anklagen und Wendungen 
sich mit ähnlichen in anderen Scheltpredigten berühren, darf 
nicht wundernehmen, auch ist nicht immer an bewußte Ent- 
lehnung zu denken; eine ähnliche Sprache gegen Klerus und 
Kurie wurde damals allgemein geführt, sie geht in vielen Fällen 
auch auf die gemeinsame Quelle (Bibel) zurück. 

Daß Strophe 1—12 von den übrigen zu trennen sind, dafür 
spricht schon die Verteilung der Taktwechsel in dem Gedicht: 
von den 33 Fällen stehen in Str. 1—12 allein 26, während sich 
die übrigen ziemlich gleichmäßig auf Str. 13—33 verteilen. 

Soweit hatte ich die Sachlage geklärt, als mich ein Hinweis 
Otto Schumanns zu Str. 31 weiter führte: Wattenbach hat im 
Anzeiger f. Kunde d. deutschen Vorzeit 15, 1868, 164—66 die 


528 Hans Walther 


Strophen 15—33 bereits aus der Münchener Hs. lat. 10751 (M) 
mitgeteilt?, in der sie auf fol. 145r—147v stehen; allerdings 
handelt es sich um eine sehr spáte Überlieferung: der Liesborner 
Benediktiner Anton Husemann hat die Stücke im Jahre 1575 
gesammelt und abgeschrieben ,,partim ex vetustis manu- 
Scriptis codicibus, partim etiam ex familiaribus bonorum virorum 
et amicorum colloquiis. Daß M auf eine andere Überlieferung 
zurückgeht als J, erhellt schon daraus, daß die Strophen 18 
und 20 fehlen, dafür aber im ganzen 5 Zusatzstrophen vorhanden 
sind: 1 hinter 25, je 2 hinter 31 und 32. 

Durch diese Feststellung gewinnt auch die oben ausgespro- 
chene Vermutung an Wahrscheinlichkeit, daß auch Str. 13/14 
aus einem anderen Gedicht hier interpoliert sind. Es bestätigt 
sich von neuem, daß Schreiber und Dichter des späteren Mittel- 
alters sehr sorglos mit den überlieferten Gedichten umsprangen, 
aus dem Gedächtnis Strophen, die sich einigermaßen in den Zu- 
sammenhang fügten, hinzusetzten oder auch neue Strophen 
hinzudichteten, wie es der Schreiber von M. getan hat!“. 

Es ist nunmehr klar, daß nicht erst der Dichter oder Schreiber 
der Innsbrucker Satire den sogen. „Sermo Goliae ad praelatos" 
seiner Dichtung einverleibt hat, sondern daß sie bereits in der 
Scheltpredigt „Suscitavit Dominus simplicem et brutum ..." 
stand, die er als Str. 15 ff. seinen eigenen, Scheltversen anhängte. 
Jene Scheltpredigt muB übrigens noch verbreiteter gewesen 
sein: Th. Wright (Mapes S. XXVII) berichtet, daB sie in dem 
dureh Brand vernichteten cod. Cotton. Vitellius D. VIII. des 
Brit. Museums unter der Überschrift „Ad utrumque statum" 
enthalten gewesen sei; er erwähnt dies, weil Leyser S. 785 sie 
als ein Werk des Walter Map ansah, wofür sich keinerlei Beweis 
erbringen läßt, so wenig wie für die anderen Zuweisungen an 
den berühmten Kanzler von Lincoln und Oxforder Diaconus!!. 


* Die Hs. M wurde von mir mit Wattenbachs Abdruck verglichen; der Direktion 
der Münchener Staatsbibliothek danke ich bestens für freundliche Übersendung. 

10 Ein ganz bezeichnendes Beispiel für dieses Verfahren bietet cod. Florent. 
Laur. Plut. XXXVI, 34 (perg. s. XIV.) fol. 16r—19r, 126 Vagantenstrophen (Inc. 
Multiformis hominum fraus et injustitia ...), meist satirischen Inhalts, die nicht 
weniger als 5 bekannte Stücke in bunter Folge aneinander reihen. 

11 Über ihn vgl. jetzt M. Manitius, Gesch, d. lat. Liter. d. MA. s. III, 1931, 
264 ff. 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 529 


1. Pastores ecclesie, principes inferni, 
qui non bona queritis pastoris eterni, 
amisistis gloriam luminis superni, 
deputati rabidis ignibus inferni. 


2. Christum enim venditis et felle potatis, 
eius sacrum lancea latus perforatis; 
precio, non precibus aurem commodatis; 
nam qui gratis accipit, debet dare gratis. 


3. Ve vobis, ypocrite, vos ypocrisantes! 
luci datis tenebras, lucem tenebrantes; 
magna pretermittitis, ^ mentam decimantes, 
a via justicie prorsus deviantes. 


4. Ve, qui vestris oculis estis sapientes, 
amara pro dulcibus pocula prebentes, 
in liris et cytharis ad mensam sedentes, 
opus sanctum Domini non respicientes! 


5. Ve, qui quasi licita illicita jungunt 
nec non et illicite licita disjungunt, 
verbis coram positis fallaces emungunt, 
quos caninis dentibus detrahentes pungunt! 


6. Ve vobis, pastores et vos legis doctores, 
immo mercenarii legis perversores 
et matris ecclesie dilapidatores, 
symonie subditi Symonis cultores! 


Wilhelm Heraeus und Otto Schumann haben sich freundlicherweise um das 
Verständnis des Stückes bemüht; ihre Bemerkungen und Hinweise sind im Apparat 
durch H, bzw. S gekennzeichnet. J = cod. Innsbruck, M = cod. München, F = 
Text des Flacius. Die aus F stammenden Strophen sind kursiv gesetzt. 


1,4 rabiis J. — 2, 1a öfter, z. B. Walter v. Chat, Mor. -sat. Gedd. ed. K. Strek- 
ker. 1929. S. 64, Str. 6, 4; Christum vendunt hodie novi Scariotes. — 2, 1b Jer. 23, 
15 cibabo eos absynthio, et potabo eos felle. — 2,2 Joan. 19, 34. — 2,3 zu dem 
Wortspiel pretio-precibus vgl. Hist. Vierteljahrschr. 26, 306. — 2,4 Matth. 10,8 
gratis accepistis, gratis date. — 3,1 Matth. 23, 13 Vae autem vobis, scribae et 
pharisaei hypocritae (vgl. auch die folg. Verse bei Matth. 14, 15, 23, 25, 27, 29). — 
3,2 Isai. 6, 20 Vae qui dicitis malum bonum, et bonum malum: ponentes tenebras 
lucem et lucem tenebras: ponentes amarum in dulce, et dulce in amarum (letzteres 
*. 4, 2). — 8, 3 mentam] mca J (was ich zuerst als marcam auflöste). Matth. 23, 
23 Vae vobis ... qui decimatis mentham, ..., et reliquistis, quae graviora sunt 
legis (S). — 4, 1 Isai. 5, 21 Vae qui sapientes estis in oculis vestris. — 4, 3 Isai. b, 
12 Cithara et lyra ... in conviviis vestris: et opus Domini non respicitis. — 
9, 1/2 Isai. 5, 8, Vae qui conjungitis domum ad domum, worauf H. hinweist, 


Histor, Vierteljahrschrift, Bd. 28, H. 3 94 


530 Hans Walther 


7. Usurpato nomine sunt legis periti, 
nam sunt lege perditi, cum sua dimitti 
credunt posse crimina, mollibus vestiti, 
delicate variis dapibus nutriti. 


8. Quorum deus dicitur venter incrassatus, 
ciborum edulio nimis dilatatus; 
quibus quando fuerit aureus oblatus, 
pupillus et orphanus jacet viduatus. 


9. In Moysi cathedra contendunt sedere 
primosque recubitus in cenis habere; 
imponentes sarcinas, quas illi movere 
suo nolunt digito, sed neque videre. 


10. Sacerdotes Domini volunt appellari, 
sed sacerdotaliter ^ nolunt operari; 
nam quecumque predicant populum sectari, 
ab ipsis conspicimus minus observari. 


11. Unde restat merito, quod eorum dicta 
sine fructu maneant vento derelicta; 
se fideles simulant in fide non ficta; 
que cavenda predicant, non cavent delicta. 


12. Judicabit Dominus, quos predixi tales, 
passuros perpetuo penas infernales; 
sed qui vita, moribus sunt spirituales, 
erunt in celestibus anglis coequales. 


erklärt wenig; S. glaubt, die Zeilen bezögen sich auf leichtsinniges Schließen und 
Lösen von Ehen, das nur Sache des Papstes ist (vgl. Walter v. Chat. MSGedd. 5, 
9, 1 Roma solvit nuptias); ich glaube doch, daß die Verse allgemeiner zu fassen sind. 
— 5,2 distringwunt J. — 5, 4 emungunt] Konj. H, injungunt J (inungunt S); zu 
den Reimwórtern dieser Str. vgl. K. Strecker, Estr. dagli Atti dell' Accad. degli 
Arcadi. 1930, vol. V/VI. S. 8, Str. 16 u. Anmerk. — 5, 4a Strecker weist in der An- 
merk. zu 6, 2, 2 der MSGedd. Walters v. Chat. auf Hieronymus Epist. 50, M. 22, 
513 A hin. — 6, 1 vos] fehlt J. — 6, 1 f. Jer. 23, 1Vae pastoribus, qui disperdunt et 
dilacerant gregem pascuae meae. — zu 6, 2a vgl. Joan. 10, 12f. — 7, 1a vgl. Deut. 
5, 11. — 7, 1f. periti—perditi, Wortspiel! — 7, 3b Matth. 11, 8. — 8, 1f. incrasatus 
J. Phil. 3, 19 quorum deus venter est ; Deut. 32, 15 incrassatus, impinguatus, dilatatus. 
— zu 8, 3 f. vgl. 2. B. Eccli. 4, 10. — 9, 1 Matth. 23, 2 super cathedram Moysi 
sederunt scribae (s. u. Str. 24, 1). — 9,2 Matth. 23, 6 amant autem primos recubitus 
in coenis et primas cathedras in synagogis. — 9, 8f. Matth. 23, 4 Alligant enim 
onera gravia et importabilia, et imponunt in humeros hominum: digito autem suo 
nolunt ea movere. — 10, 1 Matth. 23, 7 (amant) vocari ab hominibus Rabbi (5). — 
10, 4 munus J. — 11, 1 quod] über d. Zeile nachgetr. J (wohl von ders. Hand). — 
11, 3b in fide] Korr.; victa J. 1. Tim. 1, 5 caritas de corde puro. .., et fide non 


„ oo gr pm m [2 ri 


— C) —— — LER a. O — 2 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 531 


13. Petrus Petrum convenit versibus et metro, 
ut per metrum Petrus sit generosus Petro; 
sicud quondam Moyses acquievit Jetro, 
sic, quod justum petimus, non repellas retro! 


14. Fraus est in notariis, sed fraus est ignota; 
hac in parte curie fides est remota; 
carta cavens precio non carebit nota, 
sed scriptum reperies apicem pro jotha. 


15. Suscitavit Dominus simplicem et brutum, 
ut peccantes arguat subjugale mutum; 
jam se mundus erigit contra Dei nutum, 
jam Johannem video mollibus indutum. 


16. Jam pusille fidei Petrus naufragatur, 
inter fluctus ambulans fluctibus gravatur. 
A legis doctoribus lex evacuatur 
nec in cruce Domini quisquam gloriatur. 


17. Vitam claudit hominum paucitas dierum 
nec est inter homines, qui discernat verum; 
jam plebs juste murmurat contra Dei clerum, 
facta est confusio, perit ordo rerum. 


18. Puer senem arguit dignitate pari, 
Rachel plorans filios non vult consolari; 
jam ruinas Jericho vides 1nnovari 
nec jam mala Sodome possunt exstirpari. 


ficta. — 12, 1a des öfteren bibl. Versanfang! — 12,4 S vermutet angelis equales. 
— 18, 8 aquievit J. vgl. Exod. 18, 1ff. — 14, 3 cavens] carens J; ich vermag 
der La. carens keinen Sinn abzugewinnen und ändere daher trotz Zerstörung, 
wenigstens teilweiser, des Wortspiels. — Mit Str. 16 setzt M ein. Rote Ü.: Item 
alius Rhytmus (das vorhergehende Stück, Inc.: Prohdolor confusio nascitur 
antiqua ..., hat die Ü. De corrupto mundi statu Rhytmus); M hat die gemein- 
samen Reimsilben jeder Strophe ausgeklammert. — 15, 1a Jer. 51, 11 u. ö. — 
15, 1f. 2. Pet. 2, 16 u. Num. 22, 28. — 15, 3b vgl. Walter v. Chat., MSGedd. 
56,9, 1. — 15, 2 peccantem M (peccatum, Wattenbach). — 16, 1/2 Matth. 14, 22ff. 
— 16, 3f. = F 1, 1 u. 3. — 16, 3b Ephes. 2, 15. — 16, 4 non F. — 16, 4 
Gal. 6, 14 Mihi autem absit gloriari, nisi in cruce Domini nostri Jesu Christi. — 
17 = F2. — 17, 1 clausit J. — 17, 1b z. B. Job. 10, 20 numquid non paucitas 
dierum meorum finietur brevi. — 17,2 nec] vix F; discernit F. — 17, 4 fraus est 
et confusio F, ich gebe aber der La. von J den Vorzug, trotz dem Hiat; vgl. 1. Reg. 5, 
6 facta est confusio mortis magnae. — 18 = F 3; fehlt M. — 18,2 Matth. 2, 18 
Rachel plorans filios suos, et noluit consolari. — 18,3 ruinam F; videt reparari 
F; vides] unter d. (letzten) Zeile statt getilgten „non vult“ J. — 18, 4 jam] dum J 
(s. u. 20, 4); res mala dum Sodomae nequit e. F. — 19 = F 4. — 19, 1 circa mundi 


94* 


532 Hans Walther 


19. Jam in mundi vespere | mala convalescunt, 
in senili corpore sordes juvenescunt, 
suis in stercoribus pecora putrescunt 
et languente capite | membra conlanguescunt. 


20. Ve, qui propter munera justum condempnatis! 
glucientes bubalum, culicem liquatis, 
per errorum devia graviter erratis 
nec jam dona gratie gratus habet gratis. 


21. Ve, qui in sudario  ponitis talentum, 
qui nec unum spargitis, ut metatis centum! 
Male concupiscitis aurum et argentum; 
hoc in cardinalibus vetus est fermentum. 


22. Ve, pastores Israhel, | gregem non pascentes 
et a grege Domini lupos non arcentes! 
erratis pro precio Christum non sequentes, 
qui se dedit precium ad salvandas gentes. 


23. Ve vobis, ypocrite, filii meroris: 
qualis quisque lateat, jam apparet foris! 
Oui lux esse debuit vite melioris, 
per exemplum factus est — laqueus erroris. 


24. Ve, qui super cathedram Moysi sedetis! 
lex a vobis legitur, quam vos non inpletis; 
eius in ecclesia speciem tenetis, 
cu ius procul dubio vitam non habetis. 


vesperam F. — 19, 3 peccora J; sordescunt F. Joel 1, 17 computruerunt jumenta 
in stercore suo. — 19, 4 languenti capiti M. Wohl weniger an 1. Cor. 12, 26 gedacht 
als an die im ganzen MA. sehr verbreitete Fabel. — 20 — F 5; fehlt M. — 20,1 
justum] vitam F. Ahnlich bibl. öfter, z. B. Isai. 5, 23 Vae . .. qui justificatis impium 
pro muneribus, et justitiam justi aufertis ab eo. — 20, 2 vor glutientes] Bub durch- 
strichen J; colatis F. Matth. 23, 24 Duces caeci, excolantes culicem, camelum autem 
glutientes. — 20, 3b male deviatis F. — 20, 4 jam] dum J (vgl. 18, 4). — zu 20,4 
8. 0. 2, 41 Zu dem sehr beliebten Wortspiel vgl. Walter v. Chat. MSGedd. S. 23, 
Str. 11, 4, S. 107, Str. 9, 4 u. S. 111, Str. 4, 2; auch Carm. Bur. ed. Hilka-Schumann, 
Anmerk. zu 1, 4, 4. — 21,1 sudariis M. — 21, 1f. Luc. 19, 20 ecce mna tua, quam 
habui repositam in sudario. — 21, 2 spargitis] korr. a. spigis J. — 22, 3 Deut. 7, 25 
non concupisces argentum et aurum. — 21, 4b 1. Cor. 5, 7f. — 21 und 22 in M um- 
gestellt. — 22 = F 6. — zu 22, 1 s. o. Str. 1 und 6, ferner Jer. 23, 2 u. Ezec. 34, 3ff. 
— 22,2 Joan. 10, 12. — 22,3 u. 4 umgestellt in F. — 22,3 pro pr.] in invio F. — 
22, 4 1. Cor. 6, 20 empti enim estis pretio magno. — 23 — F 8. — 23, 1 vgl. o. 
Str. 8, 1. — 23, 2 lateat] fuerit F. Matth. 23, 28 vos aforis quidem paretis homini- 
bus justi, intus autem pleni estis hypocrisi et iniquitate. — 23, 3 dux F. Matth. 5, 
14 (u. 16) vos estis lux mundi. — 23, 4 exemp.] errorem F; erroris] horroris F. — 


^ 
— 


Studien zur mittellateinischen Dichtung 533 


25. Ve, qui mundum judicas sub humano die! 
sub te pugna geritur David et Golie; 
post vite periculum, post laborem vie 
nosti dare miseris literas Urie. 


26. Ve, qui per sententiam inpium non feris 
et cum pereuntibus per consensum peris! 
cum offensas principum tangere vereris, 
turpis lucri gratiam pro mercede queris. 


27. Ve, qui male spolias  Grecum et Latinum, 
ut in auro studeas coronare vinum! 
Non sic Christus habuit pondus metallinum; 
manum cum discipulis mittens in cacinum. 


28. Veniamus igitur ad agonem Christi, 
qui pro nobis voluit ad tribunal sisti! 
Quodsi bene novimus opus Antichristi, 
n non ad Christum pertinent seductores isti. 


29. Christus semet obtulit hostiam pro mundo, 
Christus crucem subiit, mundus pro immundo, 
ut suos educeret lacu de profundo, 
numero celestium collocans jocundo. 


30. Christus morti datus est patris ex decreto, 
cuius Jonas meminit positus in ceto; 
Christus fellis poculum bibens cum aceto 
dixit „Consummatum est!" ordine completo. 


24 = F 7. — 24, 1 Moysi cath. J., s. o. Str. 9, 1. — 24,2 dicitur F. vgl. z. B. Rom. 
2, 14, Jac. 4, 11. — 24, 4 procul] sine M. — 25, 1 1. Cor. 4, 8 mihi autem pro 
minimo est ut & vobis judicer, aut ab humano die. — 25, 2 in der bekannten Deu- 
tung: David = Christus (Vertreter des Guten), Golias = Satan (Vertreter des 
Bösen). — 25, 4 2. Reg. 11, 14. — Hinter 25 in M Zusatz: 

Ve qui donis hominum faves et personis 

et ad voces pauperum aures non apponis! 

Hic eclipsim patitur lumen rationis, 

ubi causa geritur precibus et donis. 


In 26 fehlt in den ausgeklammerten Reimsilben das e. M.— 26, 1 f. s. zu 20, 1. — 
26, 3 offendas precium M. — 26, 4 merc.] labore M. 1. Pet. 5, 2 neque turpis lucri 
gratia, sed voluntarie (auch Tit. 1, 11). — 27, 1b s. Carm. Bur. (ed. Hilka-Schumann) 
Nr. 50, 14,3 (H), auch Walter v. Chat. MSGedd. 4, 27, 1 wo Strecker auf Juv. 10, 
138 hinweist. — 27, 2b Verg., Aen. 1, 724 (H). — 27, 3 Christus non sic M. — 27,4 
mittes J. Marc. 14, 20 Unus ex duodecim, qui intingit mecum manum in catino. — 
28, 1 agones J. — 28, 2 tribunnal J. — 28, 3 qui si M; corpus M (opus Wattenb.). — 
28, 4 ad Chr. non pertinet M (pertinent Wattenb.). — 


534 Hans Walther: Studien zur mittellateinischen Dichtung 


31. Christus mori voluit firma ratione, 
preda factus eripit predam a predone, 
sub Pilato mutus est potens in sermone, 
hic qui Salomonior erat Salomone. 


32. Christus paciencie tribuit doctrinam, 
nostre carnis induens vestem cilicinam; 
hoc illis in tempore fecit in ruinam, 
qui tenere rennuunt eius disciplinam. 


33. Super gregem Domini  vigilent pastores 
et paulatim transeant ad honestos mores, 
ut honestis moribus congruant honores, 
ne maiorum meritis pereant minores! 


29 durch Verweisstrich hat J die 4. Zeile an die 2. Stelle gerückt; urspr. 29, 2 = 
29, 4. — 29,1 semel J. Ephes. 5,2 Christus ... tradidit semetipsum pro nobis 
hostiam deo. — 29,2b bibl. — 29,3 scelestium J. — 29, 2—4 in M: 

et qui cedrus fuerat — factus est arundo; 
sub Herode passus est mundus ab immundo, 
ut suos reduceret lacu de profundo. 

30,2 Jon. 2, 2ff. — 30,3 acceto J. — 30,3 f. Joan. 19, 28ff. — 31,1 firma] 
nova M. — 31,2 sanctus J. Zu dem Wortspiel: praeda—praedo vgl. Hilarius ad 
puerum anglicum 13, 4, 1—14 u. Spicil. Solesm. II, 466. — 31, 3 Matth. 27, 13f. — 
31, 4 hic] et M. — Hinter 31 in M 2 Zus.-Strophen: 


Christus pro Bersabee celos inclinavit, 
quam de patris solio solus adamavit; 
liber inter mortuos mortem non expavit, 
propter quod et dominus illum exaltavit. 


Christus inter scandala melius profecit, 
peccatori similis peccatum non fecit, 
cum humani corporis speciem objecit, 
non in fortitudine fortem interfecit. 
32,2 vestem] carnem J; induit M. — 32, 3 illis hoc M; factus M. — 32, 4 nes- 
ciunt M. — 
Vor 33 in M 2 Zus.-Strophen: 
Christus dedit animam mundi pro salute 
et pro mundo moritur mundus absolute, 


sed jam pro vocalibus successerunt mute, 
rosa cessit lilio, — lilium cicute. 


Ecce dicat aliquis: Factus es ut Dina, 
qui relictis propriis tractas peregrina: 
jam cortinas arguunt saga cilicina, 
locis dignioribus ^ detrahit sentina. 


93, 1 gregem dom.] greges igitur M. vgl. o. die Str. 1, 6 u. 22! — 


535 


Fichte und Frankreich‘. 


Von 


Hedwig Hintze. 


In seinen „Vorlesungen über Geschichte der Philosophie‘ 
hat Hegel das Verhalten Frankreichs und Deutschlands im Zeit- 
alter der großen Revolution bedeutsam charakterisiert: „In 
der Kantischen, Fichteschen und Schellingschen Philosophie ist 
die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und 
ausgesprochen ... An dieser großen Epoche der Weltgeschichte, 
deren innerstes Wesen in der Philosophie der Geschichte be- 
griffen wird, haben nur zwei Völker Theil genommen, das Deutsche 
und das Französische, so sehr sie entgegengesetzt sind, oder 
gerade, weil sie entgegengesetzt sind... In Deutschland ist dieß 
Princip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirk- 
lichkeit hinausgestürmt. ..“. 

In der kritischen Gesamtausgabe des Fichteschen Brief- 
wechsels, die Hans Schulz besorgt hat, wird ein Fragment ver- 
öffentlicht, das auf die innere Beziehung Fichtes und seines 
Werkes zur französischen Revolution ein besonders starkes Licht 
wirft und Hegels Auffassung in sehr charakteristischer Weise 
bestátigt. Es handelt sich um den Entwurf zu einem Briefe, der 
wahrscheinlich an den dánischen Freund Baggesen gehen sollte 
und vermutlich aus dem April 1795 stammt, aus jener Zeit, 


1 Ein wichtiger Punkt dieser Arbeit — das Verhältnis Fichtes zu Lepelletier de 
Saint-Fargeau — ist bereits kurz umschrieben in der ausführlichen Besprechung, 
die ich von Alfred Sterns Buch ,,Der Einfluß der französischen Revolution auf das 
deutsche Geistesleben“ im Herbst 1928 verfaßte und die dann erst im September 
1930 in der „Zeitschrift für Politik" erschienen ist. — Im Sommersemester 1931 
behandelte ich in historischen Übungen an der Berliner Universitát die Aufnahme 
der großen Revolution in Deutschland. Die beiden tüchtigen, materialreichen Re- 
ferate meiner Schüler Erich Leupert und Gerda Winkler sind auch dem vorliegenden 
Aufsatz zugute gekommen. 

2 Hegel, Werke 15. Bd., Berlin 1844, S. 485. 


536 Hedwig Hintze 


die Fichte in Oßmannstädt verbrachte, nachdem akademische 
Jugend ihm die Fenster eingeworfen und seine Frau „ durch Zu- 
rufung schandbarer Ausdrücke insultiert“ hatte“. 

Der Brief sollte einem ungemein praktischen Zweck dienen“. 
Fichte, der damals versichert, von keinem König oder Fürsten 
eine Pension annehmen zu wollen, möchte die französische 
Nation veranlassen, ihm eine solche zu gewähren, damit er die 
Wissenschaftslehre in Ruhe vollenden könne, im Elsaß ,,oder in 
einer andern deutschen Provinz der Republik“ lebend und 
keinen Titel tragend, ‚als den eines französischen Bürgers“, 
wenn die Nation ihm diesen Titel geben wollte. In einem solchen 
Zusammenhang wird keine Verherrlichung des revolutionären 
Frankreich überraschen; aber was Fichte hier über das innere 
Verhältnis seines Werkes zur Revolution sagt, geht doch über 
die wohlerwogene captatio benevolentiae eines selbstbewußten 
und geschmackvollen Bittstellers hinaus: 

„Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene 
Nation von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reist 
mein System ihn von den Feßeln der Dinge (?) an sich, des 
äußern Einflußes los, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze 
als selbstständiges Wesen hin. Es ist in den Jahren, da sie mit 
äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpften, durch innern 
Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurtheilen 
entstanden; nicht ohne ihr Zuthun; ihr valeur war, der mich 
noch höher stimmte, u. jene Energie in mir entwikelte, die dazu 
gehörte, um dies zu faßen. Indem ich über diese Revolution 
schrieb, kamen mir gleichsam zur Belohnung die ersten Winke 
(?)u.(?) Ahndungen dieses Systems. Also — das System gehört 
gewißer maDen schon der Nation. 

Die Schriften Fichtes über die französische Revolution, auf 
die er hier anspielt, sind sehr bekannt: es handelt sich einmal 
um die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten 
Europens, die sie bisher unterdrückten. Eine Rede“, die Fichte 
— ohne seinen Namen zu nennen — mit der sehr bezeichnenden 
Angabe von Erscheinungsort und -Jahr ausstattete: ,,Helio- 
polis, im letzten Jahre der alten Finsternis (1793)“, und zweitens 

* Vgl. J. G. Fichte, Briefwechsel ed. Hans Schulz, Zweite Auflage, Leipzig 


1930, Bd. I, S. 437. 
Briefwechsel, Bd. I, S. 449ff. 


Fichte und Frankreich 537 


um den „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums 
über die Französische Revolution“, der in erster Auflage 1793, 
in zweiter 1795 erschienen ist®. Charakteristisch für beide Schrif- 
ten ist die Art, wie der Autor die Revolution in ganz große Zu- 
sammenhänge einordnet. Lapidar beginnt der „Beitrag“: „Die 
franzósische Revolution scheint mir wichtig für die gesamte 
Menschheit. Ich rede nicht von den politischen Folgen, die sie 
sowohl für jenes Land, als für benachbarte Staaten gehabt, und 
welche sie, ohne daB ungebetene Einmischen und das unbeson- 
nene Selbstvertrauen dieser Staaten, wohl nicht gehabt haben 
würde. Das alles ist an sich viel, aber es ist gegen das ungleich 
Wichtigere immer wenig“. Was mit diesem „Wichtigeren“ ge- 
meint ist, erhellt aus einer anderen Stelle derselben Schrift: 
die Revolution erscheint dem Autor als ein Schritt vorwárts zu 
einer hóheren Entwicklungsstufe der Menschheit". 

Wenn Fichte den erdennahen demokratischen Standpunkt 
vertritt, die „politische Freiheit“, „das Recht, kein Gesetz an- 
zuerkennen, als welches man sich selbst gab“, solle in jedem 
Staate sein, so ist ihm dies doch erst die dritte Form der Frei- 
heit; die erste Form, die „transcendentale“ Freiheit, sei ,,in 
allen vernünftigen Geistern die gleiche''; es sei ,,das Vermógen, 
erste unabhängige Ursache zu sein“; zwischen diesen beiden 
„Freiheiten“ aber steht die ,,kosmologische, der Zustand, da 
man wirklich von nichts außer sich abhängt — kein Geist be- 
sitzt sie, als der unendliche, aber sie ist das letzte Ziel der Kultur 
aller endlichen Geister'?. Auf dem Wege zu einem in solchen 
Bildern geschauten einheitlichen Menschheitsziel liegt ihm die 
Revolution; er weiß, daß dies, was er postuliert, ,,nie ... ganz 

. in Erfüllung gehen .. wird“, aber die Menschheit „soll“, 
„Wird“, „„ muß“ diesem Ziele immer näher kommen. „Sie hat 
vor euren Augen an einem Ende einen Durchbruch begonnen; 
sie hat unter einem harten Kampfe mit dem gegen sie verschwo- 
renen Verderben, das an ihr selbst und außer ihr seine ganzen 


5 Vgl. zum Folgenden Georges Delobel, Fichte et les idées de la Révolution 
franccaise, Annales révolutionnaires, Bd. 4 (1911), S. 299ff. (Mai/Juni). 

* Ich zitiere beide Schriften nach der Ausgabe der ‚Philosophischen Biblio- 
thek", Bd.163: Fichtes Staatspolitische Schriften ed. Hans Schulz und Reinhard 
Stucker. 

* Vgl. Beitrag S. 65ff. ^ * Beitrag, S. 65 Anm. 


538 Hedwig Hintze 


Kráfte gegen sie aufbot, etwas geleistet, das doch wenigstens 
besser ist, als eure despotischen Verfassungen, die auf die Herab- 
würdigung der Menschheit ausgehen?.'' 

Wer ein historisches Ereignis in solchen Zusammenhängen 
sieht, findet sich auch irgendwie mit den schauderhaften Aus- 
schreitungen eines „sanften“ Volkes ab, das „herabgesunken“ 
erscheint „zur Wut der Kannibalen“, mit jenen Greueln, die 
der Revolution so viele vorgezogene Geister der Mit- und Nach- 
welt entfremdet haben; an die Fürsten, die gerne bei solchen 
Dingen verweilen, wendet sich Fichte mit überlegener Ironie: 
„ . . Wir wollen euch nicht an blutigere Feste erinnern, welche 
Despotismus und Fanatismus im gewohnten Bunde eben diesem 
Volke gaben — euch nicht erinnern, daß dies nicht die Früchte 
der Denkfreiheit, sondern die Folgen der vorherigen langen 
Geistessklaverei sind, — euch nicht sagen, daß es nirgends stiller 
ist, als im Grabe!“ 

Wenn Fichte hier zuweilen wie ein Marquis Posa spricht, 
so erinnern seine Worte über die Greueltaten noch bedeutsamer 
an einen Brief Babeufs, der am 22. Juli 1789 schmerzerfüllt die 
grauenvollen Pöbelszenen in Paris, die Ermordung des früheren 
Ministers Ludwig XVI., Foullon und seines Schwiegersohnes 
Berthier mit angesehen hatte und damals an seine Frau 
schrieb: „Die Leibesstrafen aller Art, das Vierteilen, die Folter, 
das Rad, die Scheiterhaufen, die Galgen, die überall verbreiteten 
Henker haben unsere Sitten so verdorben. Statt uns zu erziehen, 
haben die Machthaber uns zu Barbaren gemacht, weil sie selbst 
es sind. Sie ernten und werden ernten, was sie gesät habenl." 

Es kommt hier nicht darauf an, gewisse Schwankungen 
Fichtes in Beurteilung der Revolution zu verfolgen, sondern die 
Brücke zu finden, die zu seinem späteren Verhalten Frankreich 
gegenüber führen kann. 


* Ebenda, S. 67. 

10 Denkfreiheit, S. 25. Ähnlich Fichtes Gattin an Vater Rahn aus Beon, den 
26. Oktober 1793, Briefwechsel I, S. 303. 

11 Vgl. Albert Mathiez, La Révolution francaise, Bd. I, 3. Aufl. Paris 1928, 
S. 60. — In der Correspondance inédite des Marquis de Ferriéres, député de la Nob- 
lesse aux Etats Généraux, ed. Henri Carré, Paris 1932, steht eine merkwürdig ähn- 
liche Bemerkung über die gleichen Szenen: Brief vom 24. Juli an seine Schwester 
Madame de Medel, S. 97: ,,Je n'aurai jamais cru qu' un peuple aimable et bon se 
füt porté à detels excés; mais la justice du ciel se sert souvent dela main des hommes." 


Fichte und Frankreich 539 


Im „Beitrag“ hatte er 1793 geschrieben: „Glaubt ihr, daß 
dem deutschen Künstler und Landmanne sehr viel daran liege, 
daß der lothringische oder elsassische Künstler und Landmann 
seine Stadt und sein Dorf in den geographischen Lehrbüchern 
hinfüro in dem Kapitel vom deutschen Reiche finde, und daß 
er Grabstichel und Ackergerät wegwerfen werde, um es dahin 
zu bringen ?!?'' 

Ich weiß nicht, ob Fichte je von dem Enthusiasmus berührt 
worden ist, mit dem in der Föderationsbewegung des Jahres 
1790 führende Schichten der elsässischen Bevölkerung sich an 
das große französische Vaterland anschlossen!?; gerade damals, 
1790, schreibt er selbst in Briefentwürfen an den Oberkonsi- 
storialpräsidenten von Burgsdorf in Dresden, „Vaterland“ sei 
ihm „kein leerer Name“ !“; aber in dem staatlosen Deutschland 
konnte er nichts erleben, was mit dem franzósischen Vorgang 
zu vergleichen war, wo das Vaterland sich aus der gemeinsamen 
Wohnstátte der Untertanen des Kónigs von Frankreich zum 
Substrat für die selbstbewußte und verantwortungsbereite Na- 
tion wandelte und weitete!5. 

Jedenfalls sehen wir Fichte 1795 noch ganz in der Stimmung 
der von ihm 1793 gekennzeichneten Bevólkerungsschichten, die 
sich gleichgültig verhalten gegen politische Grenzen; wünscht 
er doch selbst, gerade im Elsaß als „französischer Bürger'' die 
Wissenschaftslehre zu vollenden; auf eine „deutsche Provinz 
der Republik" muß seine Wahl schon fallen; denn der franzó- 
sischen Sprache sei er „nicht so mächtig ... um sie zur gewöhnl. 
Conversationssprache zu brauchen!®.“ 

Zwischen den ersten Äußerungen Fichtes über die franzó- 
sische Revolution und diesem Briefentwurf an Baggesen liegt 
die Berufung an die Universitát Jena und der Beginn der 


132 Beitrag, S. 59f. 

13 Vgl. Confédération de Strasbourg ou Fédération du Rhin run 1790), Pro- 
ces-verbal ed. A. Aulard, Paris 1919. 

4^ Vgl. Briefwechsel I, S. 110, 113. 

* Noch am 10. Dezember 1798 — zu Beginn des Atheismusstreites spricht 
Fichte von der „deutschen Nation“ mit dem Zusatz „wenn wir eine haben“. (Brief- 
wechsel I, S. 609). Das berühmte Wort vom 29. Juli 1807 „... ich glaubte, die 
deutsche Nation müsse erhalten werden“, ebenda, II, S. 472. 

1 Briefwechsel, I, S. 450. 


540 Hedwig Hintze 


dortigen an Erfolgen, Enttäuschungen und Argernissen so 
reichen Wirksamkeit. 

Auf der Reise von Zürich nach Jena schreibt er am 12. Mai 
1794 aus Frankfurt a. M. an die bei ihrem Vater zurückgebliebene 
Gattin: „In Frankfurt fällt es niemand ein, die Franzosen zu 
fürchten; nicht einmal in Mainz ... Die Stimmung der Ein- 
wohner, deren Ländereien doch durch die Franzosen verwüstet 
sind, ist dennoch sehr zu ihrem Vortheile. Der gemeine Mann liebt 
sie; u. wer nichts mehr hat, den ernähren sie; nur die privilegirten 
Stände sind wüthend gegen sie. In Mainz u. in Frankfurt 
wünscht man sie zurück. Alles ohne Ausnahme haßt die Preu- 
Bischen, u. Oesterreichischen Völker, und verachtet, u. verlacht 
sie, und spottet ihrer schreklichen Niederlagen!7.“ Fritz Medicus 
hat bereits auf „den innern Anteil" hingewiesen, „mit dem 
Fichte für die französische Sache Partei nimmt''18, 

Am 26. Mai 1794 schreibt der Jenaer Professor an seine Frau, 
man solle ihm die „Zürcherische Zeitung“ mit jedem Posttage 
schicken; es folgen die Worte: „Wolf ... soll brav ächt den 
Moniteur, u. das Journal de Paris, u. die Englische Zeitung 
ausziehen, so will ich seine Zeitung berühmt machen bis ans 
Ende der Tage, und sie verbreiten, soweit die deutsche Mundart 
reicht ... Auch der Ex. Hirzel ... soll hübsch tolerant mit der 
Censur seyn, und nicht wegstreichen; die armen bedrängten 
Teutschen, die keinen Moniteur u. kein Journal de Paris 
bekommen, bedenken.!“ 

Es handelt sich hier offenbar um Auszüge aus den fremden 
Organen in der Zürcher Zeitung: man spürt, wie heftig Fichte 
nach solcher geistigen Kost verlangt, wie sehr der politisch enge 
Horizont Deutschlands ihn bedrückt haben muß. 

In den Anfängen seiner Jenaer Lehrtätigkeit ist Fichte erfreut 
über die Franzosen, die ,,citoyens de France“, nach seinen eige- 
nen Worten, die dort an der Universität studieren, sich an ihn 
anschließen, seine Revolutionsschrift übersetzen wollen“. 

Bemerkenswert ist eine briefliche Äußerung seiner Frau vom 
12. Juli 1794, die in Zusammenhang steht mit der falschen 


17 Briefwechsel, I, S. 360. 

18 Fichtes Leben, Zweite Auflage, Leipzig 1922, S. 6. 

1* Briefwechsel, I, S. 368. 

» Äußerungen vom 26. Mai, 24. Juni 1794, Briefwechsel I, S. 369, 375. 


Fichte und Frankreich 541 


Nachricht von der Absetzung Kants von seiner Königsberger 
Professur , wegen seiner Demokratischen Grundsätzen‘. Jo- 
hanna schreibt damals: „Mir ists immer, Frankreich könne, 
wenn einmahl Ruhe und Ordnung dort herscht, ein Zufluchts Ort 
für uns werden . . “ Und gerade sie hat sich, wie wir noch 
sehen werden, fünf Jahre später auf der Höhe des Atheismus- 
streites Reinhold gegenüber höchst diplomatisch in dieser 
schwierigen Frage ausgesprochen. Fichte ist im Juli 1794 auf 
die Anregung seiner Gattin kaum eingegangen, fühlte sich offen- 
bar damals in Jena leidlich wohl?; aber aus dem April 1796 
stammt ja hóchstwahrscheinlich jener mehrfach zitierte Brief- 
entwurf, der über den Wunsch des deutschen Philosophen, in 
den Dienst der franzósischen Republik zu treten, keinen Zweifel 
aufkommen läßt. 

Am 15. November 1795 teilt er dem Buchhändler Cotta in 
Tübingen vertraulich mit, er werde „von Frankreich aus sehr 
dringend angegangen, etwas für sie über die ersten Principien 
des Natur- und Staatsrechts zu schreiben“. Er trägt sich gerade 
mit dem Plan, sein „Naturrecht“ im Druck erscheinen zu lassen 
und wünscht sehr, ‚daß zugleich auf eine französische Über- 
setzung gedacht würde“. 

Was Fichte in der „Verantwortungsschrift“ gegen die An- 
klage des Atheismus vom 18. März 1799** über sein Verhältnis 
zu Revolution und Demokratie aussagt, muß unter dem Ge- 
sichtspunkt gewertet werden, daß es sich eben um eine Verant- 
wortungs-, eine Verteidigungsschrift handelt. Die viel zitierten 
Worte: „Ich bin ihnen ein Demokrat, ein Jacobiner; dies ist's. 
Vor einem solchen glaubt man jeden Gräuel ohne weitere Prü- 
fung“, lassen eigentlich mehr von seiner wahren Meinung er- 
raten, als die zur Abwehr solcher in Deutschland fürchterlichen 
Vorwürfe ersonnenen künstlichen Konstruktionen. Zögernd, in 


21 Briefwechsel, I. S. 393. 

33 Vgl. den Brief vom 21. Juli 1794, Briefwechsel, I, S. 394ff. 

32 Briefwechsel, I, S. 520. 

% Sämtliche Werke, Bd. V, Berlin 1845, S. 239ff. 

3$ Ebenda, S. 286. — Vgl. in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxis- 
mus“, Jahrgang III, Heft Nr. 3, S. 406ff. den Aufsatz von S—ii, Die Große Franzó- 
sische Revolution in der deutschen Rechtsphilosophie; S. 412: in der „Eudamionia 
erklärt ein Hörer Fichtes, er glaube, wenn er Fichtes Auditorium betrete, er sei 
„in einen Jakobinerklub unseligen Andenkens“ geraten. 


549 Hedwig Hintze 


hypothetischer Einkleidung, mit allerlei Drehungen, Wendungen 
und teilweiser Zurücknahme halber Zugeständnisse läßt er die 
Möglichkeit offen, als „junger Mensch", unter besonderen Ver- 
háltnissen über die Revolution schreibend, vielleicht ,,ein wenig 
übertrieben“ zu haben“,; sein Verhältnis zur Demokratie soll 
geklärt werden durch Berufung auf das 1796 erschienene Werk 
Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts- 
lehre 7, das er gern in französischer Übersetzung wollte er- 
scheinen lassen. Gerade dieses aber ist ein revolutionäres Werk, 
das Grundsätze wie den folgenden aufstellt: „... das Volk* 
ist nie Rebell ... Nur gegen einen Hóheren findet Rebellion 
statt. Aber was auf der Erde ist höher, denn das Volk“!“ 
Demokratie verwirft Fichte hier nur in dem Sinn, daB darunter 
eine Ordnung verstanden wird, in der „die ganze Gemeine die 
ausübende Gewalt in den Händen hat““. Also unmittelbare 
Volksherrschaft, im Gegensatz zur Repräsentativverfassung, 
wird abgelehnt; aber noch in der ,, Verantwortungsschrift'' selbst 
gibt Fichte zu, er sei „ein sehr entschiedener Demokrat“ in dem 
Sinne, daB er „lieber gar nicht seyn möchte, als der Laune unter- 
worfen seyn, und nicht dem Gesetze“ “. 

Mit besonderer Vorsicht ist es aufzunehmen, wenn er in der 
gleichen Schrift „mit der entschiedensten Freimüthigkeit“ er- 
klärt, „daß gegenwärtig kein anderes Land in Europa“ sei, in 
welchem er „lieber leben möchte, als Deutschland“ sI. Die fol- 
genden Worte über die Möglichkeit, „daß in Deutschland keine 
Ruhe und bürgerliche Sicherheit mehr für den Schriftsteller 
wäre“, daß diesem dann nichts übrig bleibe, als zu gehen, wohin 
man ihn „ausstößt““, deuten schon darauf hin, daB er mit 
solchen Möglichkeiten sehr stark rechnet und sich praktisch 
darauf einstellt. 

Die Absichten des deutschen Philosophen, in den Dienst der 
franzósischen Republik zu treten, reichen offenbar weit zurück. 
Einen Brief Claude Camille Perrets vom 16. März 1798 bezeichnet 


1$ Sämtliche Werke, Bd. V, S. 288. 

* Hier zitiert nach der Ausgabe der „Philosophischen Bibliothek“, Bd. 128 
(Fichtes Werke ed. Medicus, Bd. II). 

38 Werke, Bd. II, S. 186, 3? Ebenda, S. 162. Vgl. auch ebenda, S. 290f. 

3 Sämtliche Werke, Bd. V, S. 288. 

21 Ebenda, S. 295. *3 Ebenda, S. 295. 


Fichte und Frankreich 543 


Fichtes Sohn als die „erste Anregung von französischer Seite ., 
die umso merkwürdiger war, als sie seinen alten Plänen und 
Entwürfen unerwartet ein Feld zu öffnen schien“. 

Der aus Dijon gebürtige Perret war in Jena ein bevorzugter 
Hörer Fichtes gewesen, den dieser in einem Brief vom 22. Sep- 
tember 1794 mit freundlichen Worten an Lavater empfohlen 
hatte; er bezeichnete ihn damals als „jungen Republikaner, von 
welchem ich mir für seine Republik, die er sehr liebt, viel ver- 
spreche''*, 

Der junge Republikaner hatte Karriere gemacht, war im 
Jahre 1798 diplomatischer Sekretär Bonapartes. Schon 1794 
hatte Fichte seine groBen Fortschritte im Studium der Philo- 
sophie — offenbar vorwiegend der deutschen — gerühmt, wo- 
durch er seinem Vaterlande dienen wolle. Der erwáhnte Brief 
Perrets an seinen einstigen Lehrer vom 16. März 1798% schwärmt 
in hohen Tónen von der Vereinigung des deutschen und fran- 
zösischen Geistes, von der notwendigen gegenseitigen Ergänzung 
der beiden Vólker; die Erwerbung des linken Rheinufers durch 
Frankreich wird als „neues Band zwischen den beiden Nationen“ 
bezeichnet; diese günstige Lage soll ausgenützt, an den Ufern 
des Rheins sollen Schulen eróffnet werden; die Lehrer seien unter 
den Deutschen zu suchen, die reiche Kenntnisse und Talente 
mit der Liebe zur Freiheit vereinigten. Wir wissen nicht, wie 
Fichte gerade auf diesen Brief geantwortet hat. 

Mehr Raum in seinem Leben und Denken hat offenbar ein 
von anderer Seite herrührender Plan eingenommen. Es handelt. 
sich dabei um folgendes: der kurfürstlich mainzische Hofrat. 
Jung, ein Freund Hölderlins, damals Leiter der Studienkom- 
mission in dem an Frankreich abgetretenen linksrheinischen 
Gebiet, bemühte sich in hóherem Auftrag eifrig darum, die 
Mainzer Universität zu reorganisieren, der Stadt Mainz über- 
haupt im franzósischen Bildungswesen eine bevorzugte Stellung 
zu sichern. Für diese Aufgabe suchte er die Mitwirkung Fichtes 
zu gewinnen, und er hat mit ihm darüber einen regen Brief- 


33 Morgenblatt für gebildete Stände, Stuttgart und Tübingen 1831, S. 1186, 
Sp. 2, Einleitung zu der Briefpublikation: „Fichte und sein Verhältnis zur Franken- 
republik.“ 

* Briefwechsel, I, S. 403. 

33 Briefwechsel, I, S. 684ff. 


544 Hedwig Hintze 


wechsel geführt, der sich vom Herbst des Jahres 1798 bis Ende 
Juni 1799 hinzieht. 

Fichte erklärt sich am 12. September 1798, oder, wie er 
schreibt, den 29. Fructidor VI., — also vor Ausbruch des Atheis- 
musstreites — „für einen Verehrer der politischen Freiheit und 
der Nation, die dieselbe zu verbreiten verspricht“ und betont, 
wie gern er gerade in dieser Rücksicht bereit wäre, sein „Leben 
der großen Republik für die Bildung ihrer künftigen Bürger zu 
weihen''36, 

Der Briefwechsel ist nicht ganz leicht auszudeuten, einmal, 
weil er lückenhaft überliefert ist, dann, weil zwischen den Korre- 
spondierenden selbst manchmal keine volle Klarheit herrschte, 
wie denn Fichte über die Organisation des franzósischen Bil- 
dungswesens verháltnismáDig wenig unterrichtet war, und drit- 
tens, weil sich die Absichten Jungs mit dem bekannten, während 
des Atheismusstreites gereiften Plane Fichtes kreuzen, in Ver- 
bindung mit einer Anzahl von Kollegen außerhalb Jenas ein 
„neues Institut“ zu gründen?”. 

Gerade dieser letzte Punkt macht besondere Schwierigkeiten. 
In einem bekannten, während des Atheismusstreites am 22./23. 
März 1799 geschriebenen, an den Weimarer Staatsbeamten, Ge- 
heimrat Christian Gottlob von Voigt gerichteten Brief schreibt 
Fichte, gleichgesinnte Freunde hätten ihm ihr Wort gegeben, ihn 
zu begleiten, falls er, durch Verletzung seiner Lehrfreiheit ge- 
zwungen, die Universität Jena verlassen müsse: „Es ist von 
einem neuen Institute die Rede, unser Plan ist fertig.. .. 

Medicus ist der Ansicht, daß eben mit diesem Institut die 
damals unter französischer Herrschaft stehende Universität 
Mainz gemeint wars“. Fichte aber hat am 22. Mai 1799 einen 
freilich geheimnisvollen und rätselhaften, noch dazu verstümmelt 
überlieferten Brief an Reinhold geschrieben, in dem es ausdrück- 
lich heißt: „Das projectirte neue Institut war nicht für die 
Frankenrepublik, sondern für eine andere projectirt*? ...“. 

Reinhold selbst bemerkt am 24. Juni 1799 Fichte gegenüber, 
daß alles, was dieser ihm in seinen letzten Briefen „über das 


** Ebenda, S. 593 (Fichte unterstreicht). 

3! Vgl. Briefwechsel II 63ff, * Ebenda, S. 56. 
3% Fichtes Leben, S. 139. 

*9 Briefwechsel, II, S. 108. 


Fichte und Frankreich 545 


projectirte Institut“ geschrieben habe, ihm ‚völlig unver- 
ständlich und ein unauflósliches Räthsel“ sei“. 

Auch Xavier Léon, der hingebende und tiefschürfende neueste 
Biograph Fichtes“, hat dieses Rätsel nicht gelöst, er stellt aber 
folgende Hypothese zur Diskussion: Mainz sei von deutschen 
Behórden (magistrats) verwaltet worden und habe nur der Ober- 
aufsicht eines franzósischen Kommissars unterstanden; viel- 
leicht habe Fichte nun gemeint, daB wegen dieser Art von poli- 
tischer Autonomie die Universität Mainz nicht als Universität 
der französischen Republik zu bezeichnen sei“. 

Der Briefwechsel mit Jung bringt neue Beweise für die starke 
und warme Sympathie, die Fichte der französischen Republik 
entgegentrug. Freilich, es gibt diplomatische Wendungen aus 
der Feder Fichtes und seiner Gattin. So bemerkt Johanna Rein- 
hold gegenüber am 3. Mai 1799, es habe den Anschein, als wolle 
man das Ehepaar Fichte „gewaltsam nach Frankreich treiben“, 
um dann sagen zu können, „da stand sein Sinn immer hin, er 
war nie kein redlicher Deutscher", und doch werde nur ,,die 
äußerste Noth“ sie zu einem solchen Schritte veranlassen“. 

Acht Tage spáter, am 10. Mai 1799 — er datiert ,,d. 21. Flo- 
real. 7.“ — unterscheidet Fichte in einem Schreiben an Jung** 
— kritisch wie selten gestimmt — die von jedem vernünftigen 
Menschen anzuerkennenden Principien der fränkischen Re- 
publik von ihrer Praxis; aber in demselben Briefe schreibt er 
auch, anknüpfend an die ,,Greuelthat zu Rastatt“, die Ermor- 
dung der franzósischen Gesandten durch Szekler Husaren, am 
28. April 1799: „Der Despotismus wird nun consequent." „Es 
ist klar, daB von nun an nur die Fr.[anzösische] Rep.[ublik] das 
Vaterland des rechtschaffenen Mannes sein kann, nur dieser er 
seine Kräfte widmen kann, indem von nun an nicht nur die 
theuersten Hofnungen der Menschheit, sondern sogar die Exi- 
stenz derselben an ihren Sieg geknüpft ist““ . Für sich persönlich 
zieht er hieraus folgende Konsequenzen: 


*! Briefwechsel, II, S. 128 (Reinhold unterstreicht). 


4 Xavier Léon, Fichte et son temps, Bd. I, Bd. II, 1, Bd. II, 2, Paris 1922 bis 
1927 


13 op. cit. Bd. I, S. 602, Anm. 
“ Briefwechsel, II, S. 97. 
Ebenda, II, S. 99ff. — Ebenda, S. 100. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 35 


546 Hedwig Hintze 


„ . . Ich übergebe mich hierdurch feierlich mit allem, was 
ich kann und vermag, in die Hände der Republik; nicht, um 
bei ihr zu gewinnen, sondern um ihr zu nützen, wenn ich kann.“ 

„Nur die furchtbarste Überlegenheit‘, meint er, „kann der 
Republik Ruhe, und Existenz verschaffen.“ 

„Ich habe nur Ein Mittel in der Hand, für diesen Zwek mit- 
zuarbeiten: Schriftstellerei. Vielleicht ist es .. nicht un- 
möglich, den verblendeten Deutschen die Augen aufzureißen®”“. 

Aus der gleichen Stimmung stammt Fichtes Brief an Rein- 
hold vom 22. Mai 1799, der die rätselhaften Worte über ,,das 
projectirte neue Institut“ enthält. Er schreibt damals in tiefer 
Verbitterung über seine persönliche Lage, über den „gräßlichen 
Gesandtenmord" und dessen mutmaßliche Folgen. Es ist ihm 
„völlig gewiß ... daß der Despotismus sich von nun an mit Ver- 
zweiflung vertheidigen wird, daß er durch Paul und Pitt con- 
sequent wird, daß die Basis seines Plans die ist, die Geistes- 
freiheit auszurotten, und daß die Deutschen ihm die Erreichung 
dieses Zweks nicht erschweren werden““. 

„In Summa: es ist mir gewisser, als das Gewisseste, daB, 
wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Ubermacht erringen, 
und in Deutschland, wenigstens einem beträchtlichen Theile 
desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in 
Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem 
Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte 
finden wird*?.'' 

Solchen Bekenntnissen gegenüber wiegt es nicht schwer, 
wenn Fichte am 21. Juni 1799 in einem an denselben Adressaten 
Reinhold gerichteten Brief eine vorsichtige Wendung einfließen 
läßt, von Personen, denen er , wohl den größten Dienst ... 
thäte, wenn [er] nach Frankreich ginge“. 

Sicherlich haben ihm auch die durch Jung geführten Ver- 
handlungen mit den französischen Behörden manche Enttäu- 
schung gebracht. Bereits am 28. September 1798 hatte ihm dieser 
geschrieben, daß ‚sich die schönen Aussichten zu einer ganz 
zweckmäßigen National-Bildung unseres Departements um 


47 Ebenda, S. 101. 

48 Briefwechsel, IT, S. 103. 
** Ebenda, II, S. 104. 

9 Ebenda, II, S. 124. 


Fichte und Frankreich 547 


vieles getrübt“ hätten®!. Aber noch nach dem endgültigen 
Scheitern ihrer gemeinsamen Plàne schreibt Fichte am 30. Juni 
1799, kurz vor der Übersiedlung nach Berlin, an den ,,verehrungs- 
würdigen Freund“, wie „sehnlichst“ er für Frankreich ,,eine 
einer freien Nation würdige Verwaltung“ herbeiwünsche; „und 
dann wird mein zweiter Wunsch seyn“, fährt er fort, „daß die 
Republik auch mich und meine Kráfte brauchen kónne, und ich 
auf diese Weise aus Deutschland, das ich denn doch für ein frem- 
des Land in Rücksicht auf mich betrachten muß, hinweg- 
komme“. 

Der bedeutsame Briefwechsel, der in solche Töne ausklingt, 
enthält einen besonders wichtigen Kern: in jenem Schreiben 
vom 12. September 1798, in dem der deutsche Professor seine 
prinzipielle Bereitschaft, der französischen Republik zu dienen, 
zum Ausdruck bringt, gibt er auch zu, keinen rechten Begriff 
von einer französischen „Centralschule“ zu haben; an einer 
solchen hatte ihm Jung offenbar eine Stelle angeboten“. Hier- 
von seinen Ausgang nehmend, weiht Fichte den Freund ver- 
traulich in „einen andern Plan“ ein: „Ich glaubte nämlich“, 
schreibt er, „daß es Etwas geben müsse, was noch über die 
Centralschule und Universität hinausliegt, und das wir eigentlich 
noch gar nicht haben, ein Institut für das rein wissenschaft- 
liche Interesse, wo nicht gefragt werde, wozu dieses oder jenes 
diene, sondern nur, ob es wahr sey“; er glaubt, „es wäre der 
groDen Nation würdig, diese Idee zuerst zu fassen und auszu- 
führen, nicht blos für ihre Bürger, sondern für die ganze Mensch- 
heit, so alle Nationen an sich zu fesseln und die Geister zu er- 
obern“, und er glaubt ferner, „daß die Basis einer solchen Ver- 
einigung der Menschheit für Ein Interesse, das an der Wissen- 
schaft, die Vereinigung des franzósischen und deutschen Geistes 
seyn müBte, und daB daher der Sitz der Anstalt am zweck- 
mäßigsten auf dem linken Rheinufer seyn würde**'', 


sı Ebenda, I, S. 600. — Vgl. auch den in vieler Hinsicht interessanten Brief 
eines nur als Kr. bezeichneten Korrespondenten an Fichte, Offenbach, 2. Márz 1799; 
ebenda, II, S. 15f. 

55 Briefwechsel, II, S. 130f. 

Vgl. Albert Durny, L'instruction publique et la Révolution, Paris 1882, 
S. 182ff. Chapitre IV, Les écoles centrales. Vgl. im selben Werk die „Appendices“, 
Nr. 8, Nr. 9, Nr. 17. 

Briefwechsel, I, S. 594. 


35* 


048 Hedwig Hintze 


Dieser Brief ist deshalb so wichtig, weil wir hier am Quell- 
punkt der Ideen Fichtes über Universitätsreform stehen; es ist 
der Anfang der Kurve, die über verschiedene Punkte — Lands- 
huter, Erlanger Entwürfe — zum Berliner Universitätsplan 
führt*. Dabei verdient es besondere Beachtung, in welchem 
geistesgeschichtlichen und politischen Zusammenhang diese 
Ideen zuerst auftauchen: getragen von den Menschheitsgedanken 
der franzósischen Revolution, wie sein Schüler Perret für die 
„Vereinigung des französischen und deutschen Geistes“ werbend 
und wirkend, möchte Fichte damals durch die französische 
Nation auf linksrheinischem Gebiet das verwirklichen lassen, 
was er später für die verschiedenen deutschen Universitäten in 
Vorschlag bringt: „eine Akademie, die wahrhaft Akademie 
sei ... eine Schule der Kunst des wissenschaftlichen 
Verstandesgebrauches“, nach den bekannten Worten des 
Erlanger Entwurfes vom Winter 1805/0659, 

Was die Erlanger Schrift „Grundsätzliches“ enthält, bringt 
dann, wie bereits Alois Riehl betont hat, „der Berliner Univer- 
sitätsplan in ausführlicher Entwicklung““ 7. Auch dieser be- 
rühmte „Deducirte Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern 
Lehranstalt“ des Jahres 1807 bedeutet keinen Bruch innerhalb 
der weltbürgerlich-humanitären Gesinnung Fichtes, so über- 
stark auch ein Kenner wie Eduard Spranger den „preußischen“ 
Geist dieser Schrift betonen mag°®. Soll doch gerade die „Aka- 
demie des Berliner Planes“ in ihrer Verbindung mit den übrigen, 
außer ihr vorhandenen wissenschaftlichen Körpern ... das 
Bild des vollendet rechtlichen Staatenverháltnisses' darstellen. 
„Die Wissenschaft zu allererst soll eine „organische Vereinigung 
der aus lauter verschiedenen Individuen bestehenden Mensch- 
heit ... realisieren", einen ,, Verein von Republiken .. die für 


55 In der mir bekannten Literatur über Fichtes Universitätspläne wird dieser 
wichtige Brief nicht herangezogen: Vgl. z. B.: Alois Riehl, Fichtes Universitäts- 
plan, Berliner Universitätsrede 1910, Wilhelm Erben, Fichtes Universitätspläne, 
Innsbruck 1914, Eduard Spranger, Staat und Universität, Einleitung zu Bd. 120 
der Philosophischen Bibliothek (Über das Wesen der Universität, Aufsätze v. Fichte, 
Schleiermacher, Steffens), Neue Ausgabe, Leipzig 1919. 

ss Fichtes Nachgelassene Werke, Bd. III, Bonn 1835, S. 277f. 

7 Riehl op. cit., S. 10. Vgl. Spranger, op. cit., S. XXV. 

88 op. cit., S. XXIII. 


Fichte und Frankreich 549 


alle menschlichen Verhältnisse eben also angestrebte Form“; so 
wird sie „Weissagung, Bürge und Unterpfand, daß auch das 
übrige einst also gestaltet sein werde, der strahlende Bogen des 
Bundes, der in lichten Hóhen über den Háuptern der bangen 
Völker sich wólbt9?'", Der Berliner Universitätsplan läßt sich 
also mühelos in die weitgespannte, weltbürgerlich orientierte 
Ideenwelt Fichtes einordnen, die in den ersten Jahren des 
19. Jahrhunderts nun auch den nationalen Gedanken, der 
dem universalen polar zugeordnet ist, immer mehr Raum ge- 
wáhrt. 

Aus diesem harmonischen Zusammenhang fällt freilich der 
ebenfalls ins Jahr 1807 gehörige ,,Machiavell" heraus®® — eine 
Gelegenheitsschrift des nach der Schlacht von Jena aus Berlin 
nach Königsberg geflüchteten Fichte, die offenbar in Zusammen- 
hang steht mit dem ihm dort übertragenen Amt eines Zensors 
der Zeitungen; als solcher hatte er ja — nach den Worten des 
Ernennungspatents — ,,dahin zu sehen, daB die Nachrichten 
von den Kriegs- und anderen óffentlichen Begebenheiten nicht 
in einem verführerischen, den Patriotismus niederschlagenden 
Ton erzählt, gegenseitig alle Anlässe, um den Mut der Unter- 
tanen zu beleben gehörig benutzt werden““!. 

Man darf dem Franzosen Xavier Léon ruhig zugeben, daß 
im „Machiavell‘‘ la faillite de l'humanitarisme dans les rela- 
tions entre Etats“ proklamiert wird®; aus der Stimmung der 
Zeit und den damaligen besonderen Lebensumständen Fichtes 
ist das gut zu verstehen. Andererseits sollte man dem in dieser 
Gelegenheitsschrift skizzierten Typus des „realen National- 
staates“ innerhalb des Fichteschen Denkens keine allzu große 
Bedeutung beimessen, sich im allgemeinen vor einer Über- 
schätzung des „rücksichtslosen Machtstaates“ hüten. Dies 


% Philosophische Bibliothek, Bd. 120, S. 103 f. — Fritz Medicus, I. G. Fichte 
als Anhänger und als Kritiker des Völkerbundgedankens, Zeitschrift für Völkerrecht, 
Bd. 11 (1920), S. 141ff., legt viel Gewicht auf spätere AuBerungen Fichtes (Rechts- 
lehre des Jahres 1812), die ihn als „Kritiker“ des Völkerbundgedankens können er- 
scheinen lassen. 

% Kritische Ausgabe von Hans Schulz, Philosophische Bibliothek, Bd. 163 d 
(2. Aufl.). 

*! Zitiert in der Einleitung von Hans Schulz, ebenda S. VII. 

e op. cit., II, 2, S. 34. 


550 Hedwig Hintze 


hat schon Otto Braun in ein paar feinen Bemerkungen be- 
tont s. 

Es wäre reizvoll, das geistige Ringen Fichtes um den Aus- 
gleich zwischen universalem und nationalem Denken zu ver- 
folgen, wie es etwa in den „Patriotischen Dialogen''** sich aus- 
wirkt, die ja in dieselbe Zeit wie der „Machiavell‘‘ und der 
„Deducirte Plan“ gehören®®. Ich kann die wichtige Schrift unter 
diesem Gesichtspunkt hier nicht ausschópfen und móchte nur 
nachdrücklich auf den von der Forschung auch bereits betonten 
Zusammenhang dieses Werks mit den „Reden an die deutsche 
Nation“ hinweisen“. 

Gegen Schluß des zweiten Gesprächs läßt Fichte den als B. 
bezeichneten Träger seiner eigenen Gedanken folgende aufschluß- 
reiche Bemerkung machen: „Man hat gar viel von National- 
erziehung gesprochen, ehe es eine Erziehungskunst gab. Diese 
haben wir nun; gebt sie den Bürgern, und Ihr werdet zu- 
gleich eine Nation erhalten, und diese Erziehung wird im 
höchsten Sinne des Worts, als Nationalerziehung sich bewährt 
haben“ 7. 

Wir stehen hier wieder an einem wichtigen Knotenpunkt: 
die Linie, die auf Pestalozzi und seine „Erziehungskunst“ weist, 
will ich nicht weiter verfolgen; die Beeinflussung Fichtes durch 
den Schweizer Pädagogen ist ja bekannt genug; aber über die 
Genesis der Idee einer Nationalerziehung móchte ich einiges an- 
deuten, denn gerade hier berührt sich das Denken Fichtes wieder 


** Der deutsche Staatsgedanke, Erste Reihe Bd. IV, Fichte, Volk und Staat, 
München 1921, Einleitung: „Fichte und seine Staatslehre“, S. XVII. — Für die 
Überschätzung des „rücksichtslosen Machtstaates“ charakteristisch die, allerdings 
wührend des Weltkrieges 1917 geschriebene, Einleitung von Josef Hofmiller zur 
Reklam-Ausgabe des „Machiavell“. 

„Der Patriotismus und sein Gegenteil, Patriotische Dialogen, Kritische Aus- 
gabe von Hans Schulz, Philosophische Bibliothek, Bd. 163c, 2. Aufl. 

*5 Das erste Gespräch wurde in Berlin vor der Schlacht bei Jena geschrieben, 
das zweite war bestimmt im Juni 1807 vollendet. Vgl. die Einleitung von Schulz, 
S. IV, VII. 

Vgl. Otto Braun, op. cit. S. XVII, Medicus, Fichtes Leben, S. 220f. 

7 Philosophische Bibliothek, Bd. 163c, S. 60. 

** Ich nenne hier aus der weitschichtigen Fichteliteratur (sehr eingehende Bi- 
bliographie im zitierten Werke von Léon) nur Richard Wagner, Fichtes Anteil an der 
Einführung der Pestalozzischen Methode in PreuBen, Leipzig 1914. — Ernst Berg- 
mann, Fichte, der Erzieher zum Deutschtum, Leipzig. 1916. 


Fichte und Frankreich 551 


mit Ideen der franzósischen Revolution in einer — wie mir 
scheint — noch nicht genügend beachteten Weise. 

DaB der Gedanke der Nationalerziehung aus Frankreich 
stammt, wird heute kaum ernstlich bestritten werden93*, Den 
ersten wichtigen Schritt in dieser Richtung tat der Procureur 
Général du Roi au Parlement de Bretagne Louis René de Cara- 
deuc de La Chalotais mit seiner 1763 erschienenen — von 
Schlózer ins Deutsche übersetzten — Schrift „Essai d'édu- 
cation nationale ou plan d'études pour la jeunesse", die an 
Stelle des „ultramontanen“ Erziehungssystems, wie es die Je- 
suiten handhabten, eine Erziehung durch den Staat setzen 
wollte®. Schon La Chalotais vertrat den Gedanken, daß durch 
eine solche Erziehung in wenigen Jahren die Sitten der gesamten 
Nation könnten umgestaltet werden“. 

Die gleiche Idee hat etwa ein Jahrzehnt später Turgot ver- 
fochten”!, Vor allem aber war die Nationalerziehung einer der 
Lieblingsgedanken der groBen Revolution. Im April 1792 — 
tragischerweise gerade im Augenblick der Kriegserklärung — 
hatte Condorcet in der Legislative einen weitherzigen demokra- 
tischen Plan allgemeiner Volksbildung entwickelt“. Im Sommer 


«5? Die Amerikanerin Lucy M. Gidney, L'influence des Etats-Unis d'Amérique 
sur Brissot, Condorcet et Madame Roland, Paris 1930, S. 114ff., glaubt „ces trois 
grands esprits" beeinfluBt durch amerikanische Erziehungsideen. In der Besprechung 
ihres Buches von Grunebaum-Ballin in Annales historiques de la Révolution fran- 
caise, Jan./Febr. 1932, S. 87, wird betont, daß für diese Auffassung kein wirklicher 
Beweis erbracht sei. — Vgl. über die Genesis der Nationalerziehung in Frankreich 
den Artikel „Schleiermacher“ von Alfred Heubaum in W. Rein, Encyclopädisches 
Handbuch der Pädagogik, Bd. VII, S. 687, Sp. II. Dazu: Das Wesen der Revolutions- 
pädagogik, Eine historisch-systematische Untersuchung an der französischen Re- 
volution von Dr. Elisabeth Siegel, Langensalza, Berlin, Leipzig 1930 (Göttingen, 
Studien z. Pädagogik ed. Hermann Nohl, Heft 16). 

% op. cit. S. 16, S. 20. 

70 op. cit. S. 9, „Elle changeroit en peu d'années les moeurs d'une Nation en- 
tiere.“ 

n Vgl. über den Turgot-Dupontschen „Munizipalitätenplan“, der diesen Ge- 
danken enthült, mein Buch Staatseinheit und Fóderalismus im alten Frankreich 
und in der Revolution, Stuttgart 1928, S. 107ff., besonders das Zitat in Anm. 58 
zu Kapitel VI, S. 534. 

73 Vgl. Procès-verbaux du Comité d'instruction publique de l'Assembleé légis- 
lative ed. M. J. Guillaume (Collection de documents inédits sur l'histoire de France) 
Paris 1889, S. 188ff., S. 249ff. — Dazu Jean Jaurés, Histoire socialiste de la Revo- 
lution francaise ed. Mathiez, Tome III, La Législative, Paris 1922, S. 232ff. 


002 Hedwig Hintze 


1793 beschäftigten den Konvent u. a. die großen Projekte einer 
„Nationalerziehung“ von Lepelletier de Saint-Fargeau und La- 
voisier. 

Deutsche Pläne, die bereits vor Fichtes „Reden“ in solche 
Richtung weisen — etwa Johann Friedrich Zöllners, des Nach- 
folgers von Meierotto im preußischen Oberschulkollegium 
„Ideen über Nationalerziehung'', 1804 nach dem Tode des Ver- 
fassers erschienen und von Schleiermacher einer Rezension ge- 
würdigt, oder das ins gleiche Jahr 1804 gehörige „System der 
öffentlichen Erziehung“ des bayerischen Kirchenrats Heinrich 
Stephani — sind offenbar auch irgendwie beeinflußt durch fran- 
zösische Gedankenströme”®, 

Ich möchte hier nur bei dem Plane Lepelletiers einige Augen- 
blicke verweilen, weil mir dieser besonders stark auf Fichte ge- 
wirkt zu haben scheint“. 

Der von liberalen und sozialen Ideen erfüllte Großgrundbe- 
sitzer Louis-Michel Lepelletier, marquis de Saint-Fargeau, war 
am 20. Januar 1793, einen Tag vor der Hinrichtung Ludwig XVI. 
von einem früheren Leibgardisten des Monarchen, Päris, als 
„Königsmörder‘ getötet worden. Sein großzügiges Projekt einer 
„Nationalerziehung‘‘ legte am 13. Juli 1793 — dem Tag der 
Ermordung Marats — Robespierre im Namen der „Commission 
d'instruction publique" dem Konvent vor”. Der Vortragende 
bemerkte dazu, der „Genius der Humanität“ selbst schiene 


733 Für Zöllner betont dies Alfred Heubaum, Die Nationalerziehung in ihren 
Vertretern Zöllner und Stephani, Halle a. d. S., 1904, S.18, Anm. 1. — Über National- 
erziehung im allgemeinen vgl. noch das Buch von Edward H. Reisner, Nationalism 
and education since 1789, New York 1923. Aus der Literatur über Fichtes „Reden“ 
nenne ich noch: Franz Fröhlich, Fichtes Reden an die deutsche Nation. Eine Unter- 
suchung ihrer Entstehungsgeschichte, Berlin 1907, und Friedrich Janson, Fichtes 
Reden an die deutsche Nation. Eine Untersuchung ihres aktuell-politischen Gehalts 
(Abhandlungen z. mittleren und neueren Geschichte ed. Below, Finke, Meinecke), 
Berlin u. Leipzig 1911. 

74 In der deutschen Fichte-Literatur finde ich Lepelletier erwähnt in der zi- 
tierten Schrift von Richard Wagner, S. 37. — Auf eine Beeinflussung Fichtes durch 
Lepelletier verweist — unabhängig von meiner Anm. 1 zitierten, im gleichen Jahr 
erschienenen Arbeit — Siegfried Bernfeld, Léonard Bourdons System der Anstalts- 
disziplin, 1788—1795, Zeitschrift für Kinderforschung, Bd. 36, Heft 2, Berlin 1930, 
S. 168. 

75 Vgl. Procès-verbaux du Comité d'instruction publique de la Convention 
nationale, ed. Guillaume (Doc. inéd.), Bd. II, Paris 1894, S. 31ff. 


Fichte und Frankreich 553 


diesen Plan entworfen zu haben, welcher dem Weltall einen 
neuen Beweis liefern móge, daB ,,die von der Tyrannei als wild 
und blutdürstig hingestellten unversóhnlichen Feinde der Kónige 
gerade die zärtlichsten Freunde der Humanität seien''?$, 

Der „Moniteur“ brachte am 17. Juli 1793 einen ziemlich 
ausführlichen Auszug aus Lepelletiers Werk““, den Fichte viel- 
leicht direkt kennen gelernt hat, vielleicht durch Vermittlung 
der Zürcher Zeitung. Lange mógen die Ideen des Franzosen in 
ihm geruht und gekeimt haben. Als er im Winter 1807/08 sich 
mit seinen „Reden“ an die deutsche Nation wendet, erwachen 
sie zu neuem Leben. 

Die Unterschiede in der Lage des Franzosen und des Deut- 
schen sind freilich bedeutend. 

Lepelletier hat offenbar zwischen dem 24. Dezember 1792 
und dem 20. Januar 1793 seine Gedanken formuliert?*. Damals 
war Frankreich bereits in den Krieg verwickelt, den es durch- 
kämpfen mußte, um sein Weiterbestehen in der neuen demokra- 
tischen Staatsform zu sichern. Aber Lepelletier betont gleich 
im Eingang seines Projektes, daß er den „manchmal flüchtigen 

Ruhm der Eroberungen und Siege“ ziemlich gering ein- 
schätzt: „Schöne Institutionen dagegen dauern und machen 
die Nationen unsterblich. In diesem großen Zusammenhang 
bringt der Franzose gleich sehr kräftig das zum Ausdruck, was 
den eigentlichen Kern der „Reden“ Fichtes bildet: „In Ansehung 
des durch die Fehlerhaftigkeit unseres alten Gesellschafts- 
systems tief gesunkenen Menschengeschlechts, habe ich mich 
von der Notwendigkeit überzeugt, eine vollständige Wieder- 
geburt herbeizuführen und sozusagen ein neues Volk zu 
schaffen). 

Die Nation, an die Fichte sich wendet, ist nicht gleich der 
französischen im revolutionären Aufschwung begriffen, sondern 
— wie der Redner es bitter ausdrückt — sie hat „ihre Selb- 
ständigkeit und mit ihr allen Einfluß auf die öffentliche Furcht 
und Hoffnung verloren“. Ihr „bisheriges Leben' ist „erloschen 


7€ op. cit. S. 34f. 

” Vgl. Moniteur, Réimpression, Bd. 17, S. 134ff. — Eine Bemerkung Fichtes 
im Brief vom 6. Juni 1807 an Altenstein zeigt, wie gut er mit dem „Moniteur“ ver- 
traut war, Briefwechsel II, S. 58. 

78 Vgl. Guillaume, op. cit. S. 35. ?* Ebenda, S. 35, Anm. 2. 


554 Hedwig Hintze 


und Zugabe eines fremden Lebens geworden‘‘®. Aber Fichte, 
der Ja bekanntlich in diesen Reden keineswegs zum Kampf mit 
den Waffen auffordert?!, schlágt genau das gleiche Mittel, wie 
Lepelletier fast mit den gleichen Worten vor. Von einer „völligen 
Wiedergeburt“ spricht der Franzose. Fichte erblickt das „Ret- 
tunsgmittel" für die unterdrückten Deutschen in der „Bildung 
zu einem durchaus neuen ... Selbst, und in der Erziehung der 
Nation ... zu einem ganz neuen Leben‘. „Eine gänzliche Ver- 
änderung des bisherigen Erziehungswesens'' soll herbeigeführt 
werden®?. 

Lepelletier findet, daß in den bereits vorhandenen Entwürfen 
des Komitees für Öffentlichen Unterricht zu wenig Rücksicht 
genommen werde auf die Lage der arbeitenden Klassen, die ihre 
Kinder zum Broterwerb mit heranziehen müßten und dann 
nicht abends eine halbe Meile weit nach der nächsten Schule 
schicken könnten; er aber wünscht ‚einen allgemeinen Unter- 
richt für alle, den Bedürfnissen aller angepaßt ... mit einem 
Wort eine wahrhaft universale Nationalerziehung‘‘*®. 

In ähnlichem Sinne stellt Fichte fest, daß bisher die „Bil- 
dung nur an die sehr geringe Minderzahl der eben daher ge- 
bildet genannten Stände gebracht‘‘ wurde?*; er möchte hier Ab- 
hilfe schaffen. „An alles ohne Ausnahme, was deutsch ist“, will 
er „die neue Bildung ... bringen, so daß dieselbe nicht Bildung 
eines besonderen Standes, sondern, daß sie Bildung der Nation 
schlechthin als solcher ... werde ... und daß auf diese Weise 
unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche 
deutsche Nationalerziehung entstehe?5'*, 

Lepelletier beklagt es, daß in den bisherigen Plänen die kór- 
perliche Erziehung zu sehr vernachlássigt worden sei, daB dem 
„sittlichen Wesen" nur „einige nützliche Unterweisungen, 
einige Augenblicke des Studiums‘ zugebilligt würden; das 
genüge nicht zur Heranbildung von Menschen, Bürgern, Repu- 


8° Ausgabe von Medicus in der Philosophischen Bibliothek, Bd.131c, S. 21 
(Erste Rede). 

81 Vgl. loc. cit. S. 180 (11. Rede) und S. 243 (14. Rede), dazu Richard Wagner, 
op. cit. S.1. 

33 Erste Rede, loc. cit. S. 21. 

8 Guillaume, S. 36. 

*^ Erste Rede, S. 28. Ebenda, S. 23, 24. 


Fichte und Frankreich 555 


blikanern, zur Erneuerung der Nation. Darum soll auf dem Wege 
der Gesetzgebung die óffentliche Anstaltserziehung eingeführt 
werden; die Knaben im Alter von 5—12, die Mädchen im Alter 
von 5—11 Jahren sollen, ohne Berücksichtigung der sozialen 
Unterschiede auf Kosten der Republik gemeinsam erzogen 
werden, „unter dem heiligen Gesetz der Gleichheit‘‘, die gleiche 
Kleidung, Nahrung, den gleichen Unterricht erhalten®®. 

Fichte, der áhnlich wie Lepelletier betont, die bisherige Er- 
ziehung habe ,,zu guter Ordnung und Sittlichkeit hóchstens nur 
ermahnt“ 7, kann nicht an eine einige Nation, an eine große 
Republik sich wenden; er hofft auf den Wetteifer der verschie- 
denen deutschen Staaten®® oder auf wohlgesinnte Privatper- 
sonen, etwa große Gutsbesitzer®®; aber auch er fordert „gänz- 
liche Absonderung von den Erwachsenen“, gemeinsame An- 
staltserziehung für beide Geschlechter“. 

Interessant wie die Ubereinstimmung im Grundgedanken, 
ist auch der Unterschied in vielen Einzelzügen der beiden Pro- 
jekte. Im allgemeinen hebt sich die schlüssige Logik und Klar- 
heit, die praktische Durchdachtheit des französischen bedeutsam 
ab von dem stürmischen, alle Hindernisse überfliegenden Idealis- 
mus des deutschen. Sehr charakteristisch ist es in dieser Hin- 
sicht, daß Lepelletier das Hauptgewicht auf „den physischen 
Teil der Erziehung“, wie wir heute sagen würden, die ,,kórper- 
liche Ertüchtigung“ legt?! ; aber diese ist doch nicht Endzweck: 
die jungen Menschen sollen an Arbeit gewóhnt, zur Arbeit er- 
Zogen werden, damit sie sich spáter ihre Existenz sichern kónnen, 
von niemandem abzuhängen brauchen, als von sich selbst; 
darum soll schon in den Jahren der Erziehung die praktische 
Arbeit, die Handarbeit den größten Teil des Tages in Anspruch 
nehmen, 

Fichte läßt zwar im „Gemeinwesen der Zöglinge auch ... 
körperliche Ubungen“ zu, ferner die „mechanischen, aber hier 
zum Ideale veredelten Arbeiten des Ackerbaues, und die von 
mancherlei Handwerken“ “, aber der deutsche Philosoph betont 


æ Guillaume, S. 37/38. *' Zweite Rede, S. 27. 

88 11. Rede, S. 184f. 

** 11. Rede, S. 186. Dazu Bergmann op. cit., S. 222f. 

0 10. Rede, S. 169. 

21 Guillaume, S. 44. * Guillaume, S. 42f. * Zweite Rede, S. 41. 


556 Hedwig Hintze 


doch viel stärker als der französische Philanthrop, ein rein 
geistiges Prinzip: der beabsichtigte Erfolg seiner Erziehung wird 
„angeknüpft. an ... das ewige und ohne alle Ausnahme 
waltende Grundgesetz der geistigen Natur des Menschen, daß 
er geistige Tätigkeit unmittelbar anstrebe“ “. 

Freilich wirbt auch Fichte für die neue Anstaltserziehung 
u. a. mit der Begründung, daB eine ,, Verbesserung der Staats- 
wirtschaft" dabei herauskommen werde“ — hier vielleicht 
direkt durch Lepelletier beeinflußt, der nacheinander ausführlich 
die eigentliche Erziehungsfrage und die der „politischen Oeko- 
nomie“ behandelt“. Nachdem er die großen praktischen Vor- 
züge seines Planes entwickelt hat, ruft der Franzose aus: „Ich 
wage die Frage zu stellen, wo wird es jetzt noch Armut geben?" ?‘‘ 
Fichte nimmt wörtlich das Motiv auf: „Arme gibt es unter 
einem also erzogenen Volke gar nicht“?“ 

Beide Projekte stehen im Dienst der großen Humanitätsidee 
des 18. Jahrhunderts: der Menschheit und seinem eigenen Lande 
— man beachte die Reihenfolge — will Lepelletier durch seinen 
Erziehungsplan dienen’. Mit bekanntem Überschwang knüpft 
Fichte ‚alle Hofinungen des gesamten Menschengeschlechts auf 
Rettung“ an die Erhaltung, die Erneuerung der deutschen 
Nation an!99, 

Das Nationalempfinden, das er — schwer getroffen durch die 
Übergriffe des napoleonischen Imperialismus — in Deutschland 
erwecken will, hat wenig zu tun mit den ,,Antrieben der Ehre 
und des Nationalruhms"', wie er sie im kaiserlichen Frankreich 
vorherrschend findet und — gleich in der ersten Rede — als 
„leere Trugbilder“ kennzeichnet!9?!, Sein sub specie aeternitatis 
geschautes Deutschtum ist überhaupt nicht an politische Gren- 
zen oder Sprachgrenzen gebunden: , Was an Geistigkeit und 
Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung 
dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren 
sei, und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts., 
heißt es in der siebenten Rede!9?, 


% Zweite Rede, S. 33. ** 11. Rede, S. 178. 

** Vgl. Guillaume, S. 46f. 7 Guillaume, S. 47. 

78 11. Rede, S. 179. *? Guillaume, S. 41. 

19 14. Rede, S. 245. Vgl. Bergmann, op. cit., S. 215, S. 308ff. 
101 Erste Rede, S. 24. 10 7. Rede, S. 122. 


Fichte und Frankreich 557 


Vaterlandsliebe soll das Aufblühen des Ewigen, Göttlichen 
in der Welt bewirken!®; Fichte wußte sehr wohl, daß für uns 
in unsern Erdenschranken das Göttliche eben nur im Mensch- 
lichen sichtbar wird. Vaterland und Vaterlandsliebe erscheinen 
so als Gefäß und Motor wahrer Humanität!%, 

Fichte hat in der,, Staatslehre des Jahres 1813“ in der ihm 
eigentümlichen eigenwilligen Form mancherlei über die Ver- 
schiedenheit zwischen franzósischem und deutschem Volkstum, 
zwischen franzósischer und deutscher Geschichte gesagt, was 
intuitiv ganz richtig erfaßt ist. Die Deutschen sind ihm „Ein 
Stamm ... aber niemals, was auch Gelehrte ihnen aufzudringen 
suchten, ein Volkes“. „In ihnen soll das Reich ausgehen von 
der ausgebildeten, persönlichen individuellen Freiheit““. Es ist 
ein Ideal sehr áhnlich dem, das in dem aus der Zusammenarbeit 
von Goethe und Schiller erwachsenen bekannten Distichon for- 
muliert wird: 

Zur Nation Euch zu bilden, ihr hoffet es Deutsche 
vergebens; 

Bildet, ihr kónnt es, dafür 

reiner zu Menschen Euch aus. 


Sehr bemerkenswert ist es, daß Fichte in dieser Staatslehre 
zu einer überraschend leidenschaftslosen Beurteilung Napoleons 
kommt!" unter dessen Despotismus er doch als Mensch und 
als Deutscher so viel zu leiden gehabt hat. Sehr stark wird 


108 8, Rede, S. 131. 

194 Vgl. gute Bemerkungen hierüber bei Victor Basch, Les doctrines politiques 
des philosophes classiques de l'Allemagne (Leibniz, Kant, Fichte, Hegel), Paris 
1927, S. 90ff. und bei Xavier Léon, op. cit., Bd. II, 2, S. 34ff., S. 54ff. — Völliges 
MiBverstehen bei Charles Maurras, L'élève de Fichte (Mars 1903) in ,,Quand les 
Francais ne s’aimaient pas“, Paris 1916, S. 43ff. — Über eine merkwürdige Rück- 
wirkung der „Reden“ Fichtes auf Frankreich vgl. G. Claß, Über Fichtes Reden an 
die deutsche Nation, Preußische Jahrbücher, Bd. 43 (1879), S. 534ff.; knüpft an 
an folgende 1871 erschienene Schrift: Le Salut par l'Education, Lecture du XIième 
discours de Fichte à la nation allemande en 1807, faite à l’oratoire St. Honoré 'le 
80 oct 1871 devant l'Assemblée trimestrielle des moniteurs et monitrices des écoles 
du Dimanche de Paris; par Mr Charles Robert, ancien secrétaire général du ministére 
de l'Instruction publique. 

106 Zitiert nach der Ausgabe von Medicus, 132. Band der Philosophischen 
Bibliothek, S. 472. 

19 Ebenda, S. 472. 

1? Ebenda, S. 473ff. 


558 Hedwig Hintze 


betont, daß Napoleon kein Franzose sei, vielmehr aus einem 
schon unter den Alten wegen seiner Wildheit berüchtigten Volke 
stamme, das im 18. Jahrhundert verzweifelt und vergeblich 
um seine Freiheit habe kämpfen müssen. Die persönliche Be- 
deutung Bonapartes wird durchaus anerkannt: „Mit diesen Be- 
standteilen der Menschengröße, der ruhigen Klarheit, dem 
festen Willen ausgerüstet, wäre er der Wohltäter und Befreier 
der Menschheit geworden, wenn auch nur eine leise Ahnung der 
sittlichen Bestimmung des Menschengeschlechts in seinen Geist 
gefallen wäre les“. Fichtes Napoleon ist also etwas durchaus 
anderes, als das Ungeheuer, zu dessen Vernichtung Heinrich 
von Kleist so hemmungslos leidenschaftlich aufruft. Fichte sieht 
Napoleon als tragischen Helden, der seine eigentliche Mission 
nicht erfüllt hat. Man trägt nichts Fremdes in die Gedankenwelt 
des Philosophen hinein, wenn man annimmt, daß er sich diese 
Mission, die Befreiung der Menschheit, im Zusammenhang mit 
den Ideen von 1789 vorgestellt hat, als vollständige Durch- 
führung der Humanitátsgedanken der jungen, von ihm so sehr 
bewunderten franzósischen Revolution. 

Gewiß, auch Fichte war ein Mensch mit seinem Widerspruch, 
und hätte diese Feststellung gewiß nicht als Vorwurf empfun- 
den. „Einige wohltätige Schwäche und Inkonsequenz“ vermißt 
er selbst an Napoleon und führt diesen Mangel darauf zurück, 
daß dieser — kein Franzose seil“. 

Geht man darauf aus, so wird man im Gesamtwerk von 
Fichte — auch abgesehen vom ,,Machiavell" — wohl noch 
Stellen finden, die auf einen härteren egoistischeren National- 
begriff deuten, als es die von mir herausgestellte, vorwiegend 
humanitär bestimmte Nationalidee ist. Aber, wenn wir Fichtes 
Wirken in ganz großen historischen Zusammenhängen sehen 
wollen, so wie er einst in jugendfroher Begeisterung die fran- 
zösische Revolution geschaut hat, so tun wir gut, in seinem Werk 
die Momente zu betonen, die über die Jahrhunderte hinweg in 
die Zukunft weisen. Dem starren, egoistischen Nationalismus 
des 19. Jahrhunderts gehört die europäische Zukunft nicht, 
sondern einem neuen, geläuterten, völkerbundmäßigen, der mit 


108 Ebenda, S. 474. 
19 Ebenda, S. 473. 


Fichte und Frankreich 559 


der eigenen Geltung auch die der andern bejaht. Wieder, wie 
zu Fichtes Zeiten, schauen die bangen Völker aus nach dem 
„strahlenden Bogen des Bundes‘, der sich Frieden verheißend 
wölben soll über ihren Häuptern in lichten Höhen. 

„Le monde en s'éclairant s'éléve à l'unité", so hat es Lamar- 
tine in der „Marseillaise de la Paix“ des Jahres 1841 schön 
formuliert. 

Wir sahen im Anfang unserer Untersuchung, wie dankbar 
Fichte selbst den Zusammenhang seines eigenen, wie ihm schien, 
weltumwälzenden Denkens mit der großen politischen Revo- 
lution der Franzosen empfand, die ja eine neue Epoche der euro- 
päischen Staatengeschichte einleitet. 

Der Philosoph Jean Jaurés, der in seiner lateinischen Doktor- 
these den deutschen Sozialismus von Luther, Kant, Fichte und 
Hegel ausgehen là8t!9, hat als Historiker der französischen 
Revolution mit ausbrechendem Jubel festgestellt, wie Hegel und 
Schelling als ganz junge Studenten durch die großen Ideen von 
1789 begeistert worden sind. „Fern sei es von mir“, fügt Jaurés 
hinzu, „der französischen Revolution einen allzu großen Anteil 
an den künftigen Kühnheiten ihres Denkens einzuräumen. Ich 
weiß wohl, daß ihre Systeme aus den tiefen Quellen des deut- 
schen Gedankens entsprangen ... Aber schließlich, wer kann 
daran zweifeln, daß die erste Erregung durch das große Ereignis, 
das die Welt durch den Gedanken erneuerte, diese jungen 
Geister erhoben hat? ...'' 

So vollzog sich in jenen glühenden Schmelztiegeln der Ge- 
dankenwerkstätten Tübingens die Verschmelzung des deutschen 
und des franzósischen Geistes, des tiefen Idealismus Deutsch- 
lands und des tatkráftigen Idealismus Frankreichs. 

Wann endlich werden die beiden Vólker in Erinnerung an 
diese heiligen Stunden die Kraft finden, ihre Vereinigung zu 
erneuern ?‘ M, 


110 In französischer Übersetzung jetzt zugänglich in Oeuvres de Jean Jaurès, 
ed. Max Bonnafous, Etudes socialistes I, 1888—1897, Paris 1931, S. 49ff. 

11 Histoire socialiste, ed. Mathiez, Bd. V, La Révolution en Europe, 1923, 
S. 128—130. 


560 


Kleine Mitteilungen. 


Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours (507/8) und die Legende 
Gregors von Tours (Reims 496/97). 


Ein Aufsatz von den Steinens, Privatdozent in Basel, im Jahrbuch der 
Görresgesellschaft (Bd. 53, Heft 1, S. 51—66) kommt zu dem niederschmet- 
ternden Ergebnis, kein Quellenzeugnis, auch nicht das dürftigste, gibt es für 
Tours als Taufort Chlodowechs und für 507 als Taufjahr. 

So hätte ich mir also alles das nun schon zum dritten Male aus den Fingern 
gesogen. Aufgebaut, schreibt er, hátte ich meine These auf einem Druck- 
fehler in Frehers Ausgabe des Nicetiusbriefes. Unglaublich! Hoffentlich 
werden nicht alle seine Leser mir eine solche Dummheit zutrauen. Daß ich 
übrigens auch „im Irrweg“, wie er schreibt, richtig gesehen habe, erkennt er 
wenigstens indirekt an. Einen zuerst von mir ausgegrabenen Ausdruck für 
Chlodowech (competens) verwertet er schon selbst. Hier hat also mein be- 
schránkter Verstand mehr gesehen als alle früheren Forscher. 

Seinen Angriff richtet v. d. St. gegen das Taufjahr 507. Er entwirft ein 
„recht genaues“ Itinerar Chlodowechs für 507 und meint, es sei an sich kaum 
glaubhaft, habe auch alle Quellenzeugnisse gegen sich, daB der Kónig so 
viele GroBtaten 507 vollbracht habe. Vielleicht wáre es gut gewesen, wenn 
v. d. St. meinen Aufsatz erst einmal richtig gelesen hätte. Ich schreibe NA 49 
(1932) S. 468: Damals (bei dem feierlichen Einzug in Tours 508) sei auch die 
Taufe erfolgt. Der Sicherheit halber setze ich jetzt in die Überschrift 507/8, 
wie ich auch das Legendenjahr nach v. d. St.s Aufsatz erweitere. Leicht könnte 
sonst noch jemand in frommer Entrüstung wiederum gegen Windmühlen los- 
stürmen. v. d. St.s Arbeit war also schon überholt, als er sie schrieb. Er er- 
wähnt (S.53) den „byzantinischen Umzug" Chlodowechs in Tours, ver- 
schweigt aber hier und überhaupt in der ganzen Schrift, daB ich die Taufe 
„damals“ angesetzt habe. Immer und immer wieder 507! v. d. St. hat Tinte, 
Papier und Druckerschwärze umsonst verschwendet! Lassen wir das „recht 
genaue“ Itinerar Chlodowechs, das wir v. d. St. verdanken, und wenden wir 
uns sofort der Hauptsache zu. Das ist, wie ja wohl jeder leicht begreift, die 
Frage: ob Tours, ob Reims? Zum vierten Male stelle ich die Zeugnisse für 
Tours zusammen, ohne Hoffnung zu haben, daB sie die Gegenseite würdigt. 

1. Der Brief des Bischofs Avitus von Vienne an Chlodowech!, die Ant- 
wort auf dessen Einladung zur Taufe und Entschuldigung seines Ausbleibens. 
Darin gibt er seiner Freude Ausdruck über den EntschluB des Königs, dem 


1 AA. VI, 2, S. 75. 


Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 561 


athanasianischen Bekenntnis beizutreten. Der Brief ist am Tage der Taufe 
geschrieben, das álteste und vertrauenswürdigste Zeugnis, das es geben kann. 
Seine Authentizität angreifen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Der 
Brief zeigt uns den Kónig unter der Einwirkung von Schismatikern, die 
ihn für sich zu gewinnen suchten. Arianer könnten auch nach Reims ge- 
kommen sein. Avitus spricht aber von einer multitudo. Die Masse Irrlehrer 
weist auf das Westgotische Reich, zu dem Tours gehörte. 

2. Der Brief des Bischofs Nicetius von Trier an Chlodosuinda, die 
Enkelin Chlodowechs und der Chrodichilde, zwecks Bekehrung ihres ariani- 
schen Gatten Alboin, des Königs der Langobarden, von etwa 560, also auch 
ein Zeugnis von stattlichem Alter. Das einzige Zeugnis, welches mit der 
Martinskirche ausdrücklich Tours nennt?. Nicetius schreibt: 

Chlodowech sei beim Anblick der Wunder ad domni Martini limina sofort 
„sine mora") niedergefallen und habe sich taufen lassen. Alle Versuche, 
diese Martinskirche nach Reims zu verlegen und so Gregor und die Legende 
zu retten, sind unter meinen Hieben zerschellt. Aus diesem Kampfe bin ich 
als Sieger hervorgegangen. Selbst v. d. St. erkennt dies an. Ein Zusatz des 
Nicetius reicht allerdings den Gegnern den Strohhalm, an den sie sich krampf- 
haft klammerten. Nicetius schreibt der Enkelin Chlodowechs: Was der 
getaufte Chlodowech gegen die Ketzer Alarich (507) ‘und Gundobad’ (500) 
ausgerichtet habe, hast Du gehört. An erster Stelle nennt er also den stärksten 
Ketzer Alarich (507). Er verwirrt die zeitliche Reihenfolge. 

v. d. St. behauptet, daß der Nicetiusbrief eine Datierung vor 500 verlange. 
Das ist ein falscher Schluß. Nicetius stellt 507 vor 500, verlangt also bei dem 
legendarischen Ansatz eine Datierung 496 . 507 . 500, das ist Unsinn. Er war 
ein alter Mann, den das Gedächtnis im Stich ließ. Wenn aber v. d. St. diese 
Gedächtnisschwäche als Stütze von 496 und Reims benutzt, so zeigt das 
schon, daß er richtige Zeugnisse nicht anführen kann. Was ich als wahr er- 
kannt habe, verteidige ich bis zum letzten Atemzuge. An v. d. St. richte ich 
nun die Frage: Welche wirklichen Zeugnisse haben Sie für Reims ? 

Man sollte meinen, daß ein Mann wie v. d. St. selbstverständlich glänzende 
alte Zeugnisse für Reims und die Legende haben müsse. Das Gegenteil ist der 
Fall. Sein Urteil schwebt vollständig in der Luft. Was er von Tours schreibt, 
gilt Wort für Wort für Reims. Er hat gar kein Zeugnis, nicht einmal das 
dürftigste, für Reims. Selbst Gregor, der Vater der Legende, nennt Reims 
nicht als Taufort. Bei Gregor II, 31 predigt Chrotchilde unablässig Chlodo- 
wech, an den wahren Gott zu glauben und die Götzen aufzugeben. In der 
Alamannenschlacht, von den Feinden hart bedrängt, ruft Chlodowech Gott 
an, ihm den Sieg zu verleihen. Chrotchilde, fährt er II, 31 fort, ließ heimlich 
Bischof Remigius von Reims kommen; dieser ließ sich wieder Chlodowech 
kommen und vollzog die Taufe. Den Ort hat Gregor nicht verraten: Irgendwo. 
Dann war kein „recht genaues“ Itinerar vonnöten. Gregor weiß die Worte, 
welche die drei Personen: der König, die Königin, der Bischof, bei dieser Ge- 
legenheit sprachen. So genau war er unterrichtet. Erstaunlich! Sogar, was 
der König bei der Anrufung Gottes in der Alamannenschlacht sprach, hat 


3 MG. Ep. III, S. 122. Ed. Gundlach. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.3. 36 


562 B. Krusch 


er Wort für Wort aufgezeichnet. Gregor muB neben ihm in der Schlacht ge- 
standen haben. Aber Reims als Taufort nennt er nicht, und das hátte uns 
doch vielleicht mehr interessiert. Auf Reims wird nur aus der Rolle geschlos- 
sen, die Remigius bei der Feier spielt. Weshalb diese Zurückhaltung? Ich 
will nicht raten. Er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Alte Weiber und 
Kinder mögen ihm alles glauben, was er treuherzig erzählt, aber Männer und 
sogar Geschichtsforscher, welterfahrene Leute? Gregor läßt sich nicht in die 
Karten gucken. 

Der Avitusbrief bedeutet, so schloD ich, den vólligen Zusammenbruch 
der Erzählung Gregors, und das Urteil kann ich nur auf das bestimmteste 
wiederholen. 

Keine Gótzen, keine Hilfeleistung des Christengottes in der Alamannen- 
schlacht, kein Bischof Remigius: Frei hat Chlodowech seinen Entschluß 
gefaßt unter Zurückweisung der arianischen Irrlehrer, und getauft wurde er 
von einer Menge Bischófe: numerosa pontificum manus. 

So steht der historische Chlodowech da. Wer sich einen anderen Chlodo- 
wech konstruieren will, mag es tun. Aber historisch ist er nicht. v. d. St. 
leugnet nicht, daB der Avitusbrief zur Legende nicht paBt (S. 55). Aber 
seine meisterhafte Interpretationskunst sieht die Dinge ganz anders an als 
gewöhnliche Sterbliche. Das meiste, was ich bemängelte, versteht sich für 
ihn (S. 61) von selbst. Daß sich der Bischof den König kommen läßt, hatte 
ich als unverschámte Lüge bezeichnet, und Bonnet, auch ein Protestant, 
war darüber so empört, daB er den überlieferten Text ganz willkürlich durch 
eine grobe Interpolation àndern wollte. v. d. St. kennt die kirchlichen Bedinst- 
heiten und zieht nun gegen mein Fehlurteil los. Chlodowech eróffnete sich der 
Chrodichilde und ging dann, von dieser angemeldet und begleitet, zum Bischof. 
Eine Art Lakei! Genau diesen Hergang, behauptet v. d. St., schildert 
Gregor. Also statt der Disharmonie vollkommene Harmonie. Mit „genau“ 
demselben Recht, schreibt v. d. St., kónnte man auch jede K niebeuge eines 
mittelalterlichen Königs als eine unverschämte Lüge gegen die Glaubwürdig- 
keit einer Quelle zeugen lassen. Man sieht: der Verf. lebt in einer anderen 
Welt; seine Kritik muB mit anderen Augen angesehen werden, als es mir 
móglich ist. 

Den ausschlaggebenden Brief des Avitus (AA. VI, 2, S. 75, nr. 46) hatte 
der Herausgeber Peiper von 496/97 datiert, dem Taufjahre der Legende, die 
meine Kritik zerstórt. Dem vorhergehenden Brief nr. 45 hat Peiper das Jahr 
607 beigesetzt. Welch glänzendes Zusammentreffen mit meinem Ansatz des 
folgenden Briefes! Avitus preist die ‘misericordia’ des Königs, quam solutus 
& vobis adhuc nuper populus captivus gaudiis mundo insinuat, lacrimis 
Deo'. Diese Befreiung eines gefangenen Volkes kurz vor der Taufe war für 
die Legendenschwärmer der Alamannenkrieg, und so verschafften sie sich 
ein gleichzeitiges Zeugnis für die Richtigkeit der Legende. Ich wandte ein, 
dab Heiden doch wohl nicht zu Gott zu beten pflegen, und ein junger Franzose 
Reverdy? hat mir zugestimmt. Das war mir eine groBe Genugtuung. Wer mit 
mir für Tours stimmt, muß das Legendenjahr 496/97 in der Ausgabe in 507 


3 Moyen Age 26, 2 série 13. 


Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 563 


korrigieren, und dann folgen zwei Briefe von 507 aufeinander. Dagegen 
protestiert v. d. St. sehr entschieden und ruft laut in die Welt, es sei kaum 
glaubhaft, stehe auch in keiner Quelle, habe vielmehr alle Quellenzeugnisse 
gegen sich. Daß Reims alle Quellenzeugnisse gegen sich hat, selbst Gregor, 
weiß er nicht. Er weiß auch nicht, daß das Legendenjahr 496/97 ein späterer 
Zusatz im Gregortext ist, vielleicht sogar eine Interpolation. Das hatte ich 
in meinem Aufsatz klargelegt. Aber was ihm nicht paßt, liest er nicht. 

Die Datierung der Avitusbriefe beruht auf den scharfsinnigen Unter- 
suchungen Bindings; v. d. St. erklärt sie für unzuverlässig. In dem vorher- 
gehenden Briefe an den Burgunder Sigismund nr. 45 wünscht Avitus dem 
Adressaten Glück beim Auszug in den Westgotenkrieg 507. Der „alte ehrliche“ 
Gregor hatte die Burgunder als Bundesgenossen der Franken im Westgoten- 
krieg ganz gestrichen, weil er Arianer als Mitstreiter der Franken in dem 
Kriege nicht gebrauchen konnte, den er zu einem Religionskrieg umgedeutet 
hatte. v. d. St. als Schutzengel Gregors kann unmöglich diesen Brief als echt 
hinnehmen, der seinen Schützling Lügen straft. Der Brief ist also eine Fäl- 
schung. Der folgende Brief nr. 46 an Chlodowech, der von dem Gelübde in 
der Alamannenschlacht nichts, rein gar nichts weiß, muß natürlich wieder 
eine Fälschung sein. Auf diesem einfachen Wege wären wir beide ärgerlichen 
Briefe mit einem Schlage los. Geschwindigkeit ist keine Hexerei. 

Das Jahr 507 für die Datierung des Avitusbriefes nr. 46 hatte ich schon 
in meinem ersten Aufsatze* an die Stelle des Legendenjahres 496/97 bei 
Peiper wegen des Westgotenkrieges gesetzt und schon damals hatte ich 508 
als Taufjahr näher bestimmt. Dasselbe hatte ich in meinem letzten Aufsatz 
wiederholt. Also zweimal! Und zweimal hat es v. d. St. nicht gelesen! Im 
anderen Falle hátte er sich seine Entgegnung ersparen kónnen. 

Gregor, schlieBt v. d. St. seine Streitschrift (S. 66), wird in seiner Glaub- 
würdigkeit verdächtigt auf Grund einer Reihe nachweislicher Irrtümer, die 
nicht Gregor begeht. Wer denn? Nachweisliche Irrtümer hat v. d. St. 
begangen, und gar nicht wenige. Allerdings verdächtigen sie nicht Gregor, 
sondern suchen ihn rein zu waschen. Daß das vergebliche Mühe ist, dafür 
habe ich unwiderlegliche Beweise. 

Einer meiner Aufsätze? beschäftigt sich speziell mit der Unzuverlässig- 
keit der Geschichtsschreibung Gregors. Von dieser Arbeit scheint v. d. St. 
ebenfalls keine Kenntnis zu haben, wenigstens zitiert er sie nirgends. Sollte er 
sie übersehen haben ? Er entrüstet sich darüber, daß ich die Einschiebung der 
Geburt des H. Martin in die Hieronymus-Auszüge ein Kuckucksei genannt 
hatte. Die Nachricht erhált, wie ich in dem von ihm übersehenen Aufsatz 
ausführte, durch die Einschiebung an dieser Stelle eine Beglaubigung, die sie 
nicht hat. Mehr wird zur Entlastung Gregors kaum gesagt werden kónnen. 
Vor mir hat kaum jemand gemerkt, wie es mit der Nachricht steht, daD es kein 
Hieronymustext ist, sondern ein Gregorzusatz®. Als glühender Verteidiger 
der Ehrlichkeit Gregors bin ich an die Ausgabe gegangen; aber die Merkmale 


* Mitth. des österreich. Instituts 14 (1893), S. 446. 

5 Ebend. 1931, XLV, S. 486. 

Selbst in den Hieronymus-Codex von Tours ist die Nachricht eingeschmuggelt 
worden, wie ich nachwies. 


36* 


564 B. Krusch 


für das Gegenteil mehrten sich; und fortwührend finde ich auf meinem Wege 
neuen Stoff. 

Man lese, mit welcher Wärme ich den H. Aravatius, Bischof von Tongern, 
gegen den schweren Verdacht einer Namensverwechselung mit dem histo- 
rischen H. Servatius verteidigt habe. Als mir G. Kurth seine Abhandlung 
über die Identität beider sandte, blieb ich ungläubig und widersprach. Jetzt 
wieder vor die Prüfung der Frage gestellt, sah ich, daB schon ein so orthodoxer 
Mann wie L. Duchesne (III, S. 189) die Identität bejahte und die Erzählung 
Gregors als ‘inadmissible‘ ablehnte. Gregor setzt seinen Áravatius kurz 
vor den Hunneneinfall, also in das 5. Jahrhundert, während der historische 
H. Servatius im 4. Jahrhundert Konzilien beiwohnte. Servatius schlummerte 
also schon 100 Jahre im Grabe, als der fromme Aravatius (II, 5) ‘vigiliis et 
ieiuniis vacans, crebro lacrimarum imbre perfusus', Gott anflehte, er möge 
die bösen Hunnen nicht nach Gallien kommen lassen. Jedes Wort in dieser 
rührenden Geschichte ist eine Lüge, und der Ausdruck ‘inadmissible’ von 
Duchesne ist viel zu schwach. In einem späteren Kapitel desselben II. Buches 
schildert Gregor dann die Taufe Chlodowechs durch Remigius. Hier steht 
es ebenso; jedes Wort ist gelogen. Gregor war ein dreister Schwindler und 
der Schaden, den seine Legenden angerichtet haben, ist unübersehbar. 

Wer Gregors Charakter richtig beurteilen will, darf nicht bloß auf das 
achten, was er schreibt, sondern auch auf das, was er nicht schreibt. Hier 
zeigt er seine ganze Schlauheit. Schon der alte Valesius, der gewiß nicht vorein- 
genommen war, bemerkte bezüglich des Briefes des Bischofs Nicetius von 
Trier an die Enkelin Chlodowechs bei der Nachricht von der Taufe in der 
Martinskirche: Gregorius quantum in ipso erat, id scire nos noluit'. Er sah 
weiter als v. d. St. (S. 66). Einen anderen Brief derselben austrasischen Brief- 
sammlung hat Gregor, wie ich (S. 466) nachwies, gekannt, wahrscheinlich 
hat er auch diesen gekannt. Auch Valesius nimmt dies an. Zweitens hat 
Gregor auch den Brief des Avitus gekannt, denn er zitiert selbst eine Samm- 
lung der Avitusbriefe in 9 Büchern. Er hatte viel mehr Avitusbriefe, als wir 
heute besitzen. v. d. St. (S. 54, 11) weiß, daß das verlorene Epistolar des 
Avitus einen Brief an Remigius enthielt, den wir nicht mehr haben. Es wäre 
verlorene Mühe, solchem Scharfsinn zu widersprechen. — Der schlimmste 
Streich, den Gregor der Geschichtsschreibung gespielt hat, ist die voll- 
ständige Unterdrückung des Konzils von Orleans 511, das Chlodowech zur 
Einfügung der Arianer in den fránkischen Staatsverband berief. Kein Sterbens- 
würtchen findet man darüber in seinem Geschichtswerk. Es ist ein Glück, 
daß wir die Akten noch heute haben, sonst wüßten wir überhaupt nichts 
von ihm. Auf diese meine Feststellung läßt sich v. d. St. überhaupt nicht 
ein. Dagegen eifert er gegen meine Bemerkung, daB das legendarische Tauf- 
jahr 496 zu der Zeit des Konzils wenig passe. Mit großem Geschick weiß 
er immer die Nebensache in den Vordergrund zu stellen und die Haupt- 
sache zu übersehen. 

Gregor war ein Meister im Verschweigen dessen, was seine Geschichts- 
auffassung Lügen strafte. Er nennt weder Reims noch Tours als Taufort. 
Und weshalb Tours nicht, seine eigene Bischofstadt? Mit Tours hat es eine 
eigene Bewandtnis. Bis 507 war es in den Händen der Westgothen. Noch 506 


Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 565 


hat sich Bischof Verus auf den westgothischen Konzil von Agde vertreten 
lassen. Setzte Gregor die Taufe nach Tours, so kam sie in gefährliche Nähe der 
Arianer, was er auf alle Fálle vermeiden wollte. Alle seine Phantasien von den 
römischen Gótzen, dem Gelübde in dem Alamannenkriege und Remigius wären 
dann umsonst gewesen. Nach Reims konnte er sie nicht setzen, weil es doch 
noch Leute geben konnte, die es besser wuBten. So ließ er eben einen weißen 
Fleck, den die Legendenschule freudig ausgefüllt hat. Nebenbei sei bemerkt, 
daB es noch bei seiner eigenen Bischofswahl einen dunklen Punkt gibt, auf 
den bisher noch niemand geachtet zu haben scheint, wenigstens soviel ich weiD: 

Von seiner Bischofserhebung berichtet nur sein Freund Fortunat. Die 
Bischófe von Tours behandelt Gregor zweimal. In der historischen Reihen- 
folge und zusammenfassend im letzten Kapitel X, 31. Aber beide Male kein 
Wort über seine eigene Erhebung, und sogar kein Wort über den Tod seines 
Vorgängers Euphronius, seines Verwandten. Was war der Anlaß zu diesem 
Schweigen ? Wir erfahren nur, daB er einen Gegenkandidaten hatte, Riculfus; 
wie er diesen überwunden hat, alles Nähere bleibt im Dunkeln. Für seine 
religióse Verblendung noch ein letzter Beweis, auf den ich in meinem letzten 
Aufsatze schon hingewiesen hatte". Zu unserem Erstaunen lesen wir II, 20, 
daß König Gundevech von Burgund ex genere Athanarici persecutoris' 
gewesen sei. Beide waren Arianer, und die Arianer gehörten eben alle in einen 
Topf! 

DaB man ihn so lange verkannt hat, bewirkte die Biederkeit, mit der er 
sich gibt. Doch nicht alle haben sich täuschen lassen. So urteilte Bonnet, seine 
Lauterkeit sei mit Falschheit gemischt gewesen. Gregor hat sein Werk 694 
geschrieben und bald nachher ist er gestorben. Also etwa 200 Jahre waren 
damals seit der Taufe verflossen. Was wissen wir heute von den Begebenheiten 
des 17. Jahrhunderts durch Tradition? Wenn also Gregor sogar die Reden 
aufzeichnet, die damals gehalten wurden, müBten schon schriftliche Auf- 
zeichnungen von ihm benutzt sein. Auf der Suche danach ist G. Kurth, der 
katholische Biograph des Königs, auf den Einfall gekommen, es habe ihm 
eine ausführliche V. Remigii vorgelegen, die heute verloren sei. Meine Ent- 
gegnung hat den Erfolg gehabt, daB dieses Phantasiegebilde aus der Lite- 
ratur für immer verschwunden ist. Selbst v. d. St. kommt nicht mehr darauf 
zurück, wie er überhaupt das Hauptwerk seines Glaubensgenossen nirgends 
zitiert. DaB das wesentlich auf die Wirkung meiner Kritik zurückzuführen 
ist, kann ich wohl aussprechen, ohne mich zu rühmen. 

Daß übrigens Tours in der Taufgeschichte eine Rolle gespielt hat, gibt 
auch v. d. St. zu. Das Gestándnis habe ich ihm abgerungen. Auf den angeb- 
lichen Druckfehler in der alten Freherschen Ausgabe, den ich nach v. d. St.s 
Behauptung meinem ersten Aufsatz zugrunde gelegt haben soll, muB ich 
zum Schluß noch näher eingehen, weil es wohl das stärkste ist, was mir in 
meinem hohen Alter von einem Gegner geboten wird. Meine Untersuchung 
der V. Vedastii kommt zu dem Ergebnis, daß Jonas von Susa der Verfasser 
dieses Lebens ist, und meinem Nachweis hat alle Welt zugestimmt. Damit 
war das Zeugnis der Gegner für Reims erledigt, welches als das älteste galt, 


7 NA. 49, 461. 


566 B. Krusch 


und heute haben sie gar keins mehr. Sie klammerten sich nun an die Worte 
im Briefe des Nicetius, daB Chlodowech in der Martinskirche in Tours nieder- 
gefallen sei und sich ohne Säumen habe taufen lassen: Ad domni Martini 
limina cecidit et baptizare se sine mora permisit'. Hier setzt die ungeheuer- 
liche Beschuldigung v. d. St.s ein, ich hätte einen Druckfehler bei Freher zu- 
grunde gelegt. Eine dreiste Unwahrheit! Dreist, weil ich die neue Gundlach- 
sche Ausgabe MG., Epp. III, ausdrücklich zitiere. Wahr ist, daß ich die alte 
Frehersche Ausgabe überhaupt nicht in der Hand gehabt habe. Ich muß 
gestehen, daß ich für einen solchen Kniff kein Verständnis habe. 

Zu promisit' bemerkte Gundlach 'nescio an permisit legendum sit’ und 
der alte Freher hatte diese auf der Hand liegende Korrektur gleich in den 
Text gesetzt. Da tritt nun v. d. St. keck mit seiner Behauptung auf, und sie 
ist nicht etwa in der Übereilung gefallen. Im Gegenteil, er hat darüber nach- 
gegrübelt, wie er mir den angeblichen Druckfehler anhángen kónnte. 40 Jahre, 
fáhrt v. d. St. fort (S. 61), besteht nun der handschriftliche Text — und nun 
sollen wir einen abgetanen Druckfehler als notwendige Konjektur annehmen! 
Er ist entrüstet über diese Zumutung. „Offenbar“, schreibt er, „war beim 
Erscheinen seines Aufsatzes sein Manuscript bereits abgeschlossen.“ „Hier- 
gegen“, fügt er hinzu, „ist nichts einzuwenden.“ Es ist schwer, sich in eine 
solche Geistesverfassung hineinzudenken. Er hat gegen seine eigene Erfin- 
dung nichts einzuwenden! Eine gute Seele! Zwei Unwahrheiten hat er zu- 
sammengekittet, und dazu kommt noch eine dritte. Der angebliche Druck- 
fehler, von dem v. d. St. viel Redens macht — er kehrt auf mehreren Seiten 
wieder — ist eine sehr verstándige Textverbesserung Frehers. Wie 
Gundlach sah auch Freher, daB ‘permisit’ zu lesen sei, und besserte gleich 
die handschriftliche Lesart promisit'. Daß die alten Herausgeber keine 
Korrekturen lasen, ist v. d. St. bekannt, aber nicht bekannt ist ihm, daß sie 
den Text gleich besserten, wenn sie Fehler in den Handschriften bemerkten. 
Daß promisit' in der klassischen Bedeutung nicht stimmt, weil man nicht 
etwas versprechen kann, was ein anderer tun soll, weil auch hier kein Ver- 
sprechen, sondern eine vollzogene Tatsache vorliegt, liegt ja wohl auf derHand. 
Die handschriftliche Lesart war sinnlos, weil sie ja gleich zwei logische Schnit- 
zer umschließt. Nur permisit' paßt in den Sinn. Die Leitung der Epistolae- 
Abteilung hatte Wattenbach, und das war ein ausgezeichneter Philologe. Er 
muß die Konjektur permisit' wenigstens gebilligt haben. Die Lesart Frehers 
ist also, weit entfernt, ein Druckfehler zu sein, die Lesart, die der Sinn er- 
fordert. Freher konnte noch Latein. Nun gebraucht aber, wie v. d. St. selbst 
aus meinem Index S. 957 feststellt, Gregor 'prosecutio' für ‘persecutio’. 
Permisit' ist also gar kein Druckfehler, sondern ein Lateinfehler. Für diese 
Feststellung gebührt v. d. St. mein herzlichster Dank. Promisit' hat ohne 
jede Änderung die Bedeutung von 'permisit', und damit löst sich der ver- 
meintliche Druckfehler in das Gegenteil auf. 

In dem Brief Theoderichs d. Gr., Cassiodor, Variae II, 41, den Mommsen 
von 507 datierte, sind Alamannicos populos inclinatos' den 'fortioribus 
caesis' gegenübergestellt, und in den Stárkeren wollte ich die Westgothen er- 
blicken. Bei der Nachprüfung sah ich, daB v. d. St. recht hat, daß der Brief 
vor Vouillé geschrieben ist, womit meine Erklärung fällt. Für die Sache 


Nochmals die Taufe Chlodowechs in Tours und die Legende Gregors von Tours 567 


ist das ohne Bedeutung. Ebenso kann Titel 56 der Lex Gundobada beiseite 
bleiben, den der Herausgeber der Lex von Salis von 496 datiert hatte, und 
zwar, wie man sieht, eben nur wegen der Legende. Bekanntlich hat die Lex 
Burgundionum Novellen, die zum Teil fest datiert sind. Der Alamannen- 
Titel 86 (S. 91) steht vor der Novelle von 517, 29/3 (S. 93), und hinter einer 
solchen von demselben Jahre LIII (S. 87). — 

„Sonach“, schließt v. d. St. seine Entgegnung, ‚denke ich, wird niemand 
mehr auf die These ‚Tours 507“ zurückkommen; das war von jeher eine un- 
glückliche Idee". Lassen wir ihn in seinem Siegesrausche! , Wenn", wie er 
schreibt, „ meine nicht geringe Leistung für Gregor nicht zu gedankenlosem 
Nachschreiben, sondern zu tüchtiger Weiterarbeit verpflichtet", so versteht 
er doch diese „tüchtige Weiterarbeit" in einem ganz eigenen Sinne. 

Das Zeugnis des Avitusbriefes streicht er, weil er ihn nicht zu lesen ver- 
stand, das des Nicetiusbriefes, weil ich auf einem angeblichen Druckfehler 
der Ausgabe Frehers aufbaute, die ich nicht in der Hand gehabt habe, und 
die Glaubwürdigkeit Gregors verteidigt er, weil er meinen bezüglichen Auf- 
satz nicht gelesen hat. Das genügt. 

Welche tiefe Kluft gähnt zwischen uns beiden! 

In einem neuen Aufsatz in den Mitteilungen des Österreichischen Insti- 
tuts für Geschichtsforschung 1932, XII. Erg.-Bd., S. 417ff. versucht v. d. St. 
den positiven Beweis für die Richtigkeit der Legende zu führen. Seine Gründe 
sind liturgischer Natur und der gedruckten Literatur entnommen. Als wenn 
sich die Taufe des großen Königs 608 in denselben Formen vollzogen hätte, 
wie die des gemeinen Mannes. Die Taufe durch eine Menge Bischöfe erklärt 
er für unmöglich. Der Baseler Privatdozent weiß die Sache viel besser als 
der Bischof Avitus von Vienne. Über die Quellen Gregors gibt er ganz 
wundersame Aufschlüsse. Gregor benutzte u. a. das Gebetbuch der Chro- 
dichilde und hat es getreulich kopiert. Es würde keinen Zweck haben, sich 
mit solchen Trüumereien auseinanderzusetzen. 

Eben hat sich Dr. Beyer in seiner Leipziger Dissertation „König Gunth- 
chramn‘“ durchaus auf meine Seite gestellt. 

„Die unglückliche Idee“, von der v. d. St. dachte, daß niemand mehr 
darauf zurückkommen würde, hat Beifall gefunden, und v. d. St.s Prophe- 
zeiung ist nicht eingetroffen. v. d. St. ist ein schlechter Prophet. 


Hannover. B. Krusch. 


Das Ideal einer europäischen Republik. 
Ein Plan aus dem Dreißigjährigen Krieg. 


Gustav Adolf war der erste Fürst, der die Macht der Presse erkannte 
und sich ihrer systematisch bediente. Er unterhielt eine Reihe von politischen 
Schriftstellern, Rasch, Salvius, Svensson, Chemnitz, die für ihn propa- 
gandistisch agitierten. In Hamburg erschien in seinem Auftrag 1628 der 
„hansische Wecker“. 

Den bedeutendsten Rang nimmt Philipp Bogislaw von Chemnitz (1605 
bis 1678) ein. Er stammt aus deutscher Gelehrtenfamilie. Sein Vater war 
Pommerscher Kanzler und Professor an der Universität zu Rostock, sein 


568 Mela Escherich 


GroBvater ein berühmter Theologe aus der Schule von Melanchthon, den er 
noch persónlich kannte. Chemnitz selbst studierte in Rostock und Jena, 
ging 1627 in niederländische und dann in schwedische Kriegsdienste, wurde 
Kapitän, scheint aber bald den Militärdienst aufgegeben zu haben. 

Seine beiden Hauptwerke sind die „Dissertatio de Ratione Status in 
Imperio Romano-Germanico" und „Der königlich Schwedische in Deutsch- 
land geführte Krieg" (1648 und 1653). 

„De Ratione Status“, eine mit reichen historischen Kenntnissen ausge- 
stattete außerordentlich temperamentvolle Streitschrift wider Habsburg, er- 
schien 1640. Sie muß kurz zuvor geschrieben worden sein; denn mehrfach wird 
darin Kaiser Ferdinand II. (T 1637) als verstorben erwähnt. Aber sie ent- 
stand aus den Empfindungen und der Stimmung der Zeit Gustav Adolfs; 
denn der aufgesammelte Haß wider Habsburg gipfelt überall in der Kritik 
über Ferdinand. 

Es wäre wichtig zu wissen, was Chemnitz früher schrieb unter den ersten 
Eindrücken, die er von Gustav Adolf empfing. 

Aber hierüber mangeln leider die Nachrichten. Es machte schon Schwierig- 
keiten, bis man überhaupt aus seinem Pseudonym Hippolitho a Lapide seinen 
Namen Philipp Chemnitz herausbrachte (seine Familie hieß ursprünglich 
Stein und nahm erst in Pommern die wendische Übersetzung Chemnitz an). 
Verschiedene Flugschriften wurden ihm irrtümlich zugewiesen!. 

Nun findet sich ein interessierender Hinweis auf eine Schrift von Chemnitz 
in einem heute vergessenen Buch von Niklas Vogt ,,Gustav Adolph, Kónig 
in Schweden, als Nachtrag zur europäischen Republik" (Frankfurt und 
Mainz 1790). 

Vogt (1756—1836) war Professor der Mainzer Hochschule, Gelehrter, 
Dichter, Maler, Musiker, eine jener vielseitigen sprudelnden Naturen, die 
sich in einem nicht genug tun kónnen. Die grenzenlose Verehrung des Fürsten 
Metternich, der sich als seinen Freund und Schüler bezeichnete, und der ihm 
auch zu Johannisberg einen Grabstein setzte, wo Vogts Leiche ruht — sein 
Herz und Hirn wurde auf seinen Wunsch im Rhein versenkt — spricht für 
Vogts Bedeutung. 

Sein „Gustav Adolf" ist eine Mischung von Drama und historischem 
Aufsatz. Dichterisch — es muB leider gesagt werden! — eine Kasperliade. 
Aber das tut hier nichts zur Sache. Zwischen den dramatischen Szenen 
steckt eine geschichtliche Abhandlung über Philipp Bogislaw von Chemnitz. 
Leider fehlen hier die sonst sehr freigebig verstreuten Quellenangaben; 
doch ist nicht anzunehmen, daß Vogt an dieser Stelle, wo der Gelehrte den 
Dichter ablóst, gefabelt hätte. 

Offenbar stand ihm ein heute nicht mehr vorhandenes Material zur 
Verfügung. 

Zunächst weist er auf die Beziehung des jungen Chemnitz zu dem eben- 
falls jungen Cromwell hin, der gleichzeitig mit diesem im schwedischen 
Heer gedient habe. (Nur kurze Zeit móglich, da Chemnitz kaum vor 1628 
zu den Schweden kam, Cromwell aber im selben Jahr wieder in England ist.) 


! Friedrich Weber, Hippolithus a Lapide, Hist. Zeitschr., 29. Bd., 1879. 


Das Ideal einer europäischen Republik 569 


Beide politische Feuerköpfe hätten sich in gemeinsamen Schwärmereien 
republikanischer Ideale gefunden; doch seien diese bei Chemnitz durch den 
Kanzler Oxenstierna stark gemäßigt worden. Chemnitz, der völlig Oxen- 
stiernas politischer Zögling wurde, habe demnach den Gedanken, daß nicht 
die Geburt, sondern die Befähigung zum Herrschen berechtige, aufgegeben, 
und dem Kanzler einen neuen Plan vorgelegt, dessen Durchführbarkeit von 
diesem in Erwägung gezogen worden sei. 


Dieser Plan sei folgender gewesen. 


1. 


Aufteilung Europas in zwölf erbliche Monarchien und vier Republiken. 
Die Monarchien: Portugal, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Schwe- 
den, Dänemark, Preußen, Polen, Böhmen, Sardinien, Ungarn, Rußland. 
Die Republiken: die deutsche, bestehend aus den Schweizer Kantons 
und allen den deutschen Staaten, die nicht zu einer Monarchie gehören. 
Die niederländische, bestehend aus den gesamten Niederlanden und allen- 
falls aus einigen säkularisierten Bistümern. Die italienische, bestehend 
aus allen italienischen Staaten mit Ausnahme Neapels. Die griechische, 
sie enthielte alle jenseits der Donau den Türken abgenommenen Staaten. 


. In allen diesen Staaten müßte die gesetzgebende Gewalt beim Volk 


oder vielmehr seinen Repräsentanten und Ständen sein. 


. Die vollstreckende Gewalt bliebe in den Händen der nun einmal privi- 


legierten Häuser und Familien in Europa: Habsburg, Bourbon, Braganza, 
Braunschweig, Wasa, Holstein, Brandenburg, Sachsen, Wittelsbach, 
Savoyen. Für die deutsche Republik erhielte die Repräsentation das 
Haus Hessen, für die niederländische das Haus Nassau, für die italienische 
das Haus Savoyen, für die griechische das Haus Württemberg. 


. Alle diese Staaten würden durch das römische Reich verbunden. Jeder 


Regent eines großen Staates müßte zugleich Kurfürst sein, und diese Kur- 
fürsten hätten das Recht, den römischen Kaiser zu wählen. Ebenso 
wäre durch Wahl ein höchstes europäisches Reichsgericht herzustellen. 


. Ein jedes Königreich müßte zugleich noch ein Kurtum besitzen, auf dem 


die Kurstimme haftete. 


. Die drei geistlichen Kurfürsten blieben in ihrer Würde und der Erz- 


bischof von Salzburg würde ebenfalls Kurfürst und Erzkanzler. Der 
Kurfürst von Mainz hätte das Erzkanzleramt in den südlichen, der von 
Trier in den westlichen, der von Köln in den nördlichen, der von Salz- 
burg in den östlichen Staaten Europas auszuüben. Der Kurfürst von 
Mainz wäre Direktor des europäischen Reichstages. 


7. Man müßte soviel als möglich völlige Handelsfreiheit zu stiften suchen. 


Zur Ausführung dieses Planes werden folgende Mittel vorgeschlagen: 
1. Brechung der Übermacht des Hauses Österreich! Man müßte die Nieder- 


länder stützen, um sie vom spanischen Joch zu lösen, Böhmen durch 
die Utraquisten an das Haus Wittelsbach bringen, die Ragozei in Un- 
garn und die Katalonier in Spanien aufmuntern, damit die Freiheit 
dieser Völker hergestellt werde. Dafür würde Habsburg gegen die Türkei 
mit einigen beträchtlichen Provinzen entschädigt. Österreich und Neapel 
würden Kurtümer für die beiden Zweige des Hauses. 


570 Mela Escherich 


2. 


14. 


15. 


Belebung der Hugenotten. Entkräftung der Despotie des Kardinals 
Richelieu. Dafür erhielte das Haus Bourbon Elsaß und Lothringen als 
Kurtum. 


. Das Mißvergnügen der Briten gegen das Haus Stuart erhalten und ver- 


mittelst Revolution das Haus Braunschweig auf den englischen Thron 
bringen. Hannover zum Kurtum erheben. 


. Die Tochter Gustav Adolfs müßte mit einem deutschen oder dänischen 


Prinzen vermählt werden. Man könnte auch die kalmarische Union wieder 
herstellen. Holstein würde mit Pommern zu einem Kurtum gemacht. 


. Polen müßte ein erbliches Königreich werden und an Sachsen kommen. 
. Preußen, ein Stück vom nördlichen Polen, Litauen, Kurland und etliche 


säkularisierte Bistümer des deutschen Reiches würden als Königtum 
PreuBen unter dem Kurfürsten von Brandenburg vereinigt. 


. Rußland würde gegen Norden etwas eingeschränkt. Man müßte seine 


Krone an ein deutsches Haus bringen. Es bekäme eine freie Verfassung; 
dafür würde ihm die Krim eingeräumt unter dem Namen eines Kurtums 
von Taurien. 


. Die Türken würden aus Europa vertrieben. Ungarn, Moldau und Wa- 


lachei dem Haus Österreich gegeben, das Übrige zur griechischen Republik 
geschlagen. | 


. Ebenso würden auch die Raubnester und Despotien in Nordafrika zer- 


stört. Der König von Portugal würde Kurfürst von Algarbien. 
Böhmen und noch einige Länder in Deutschland kämen an Wittelsbach. 
Das Haus hätte nur eine Kurstimme und diese hafte auf Bayern. 


. Hessen würde Kurfürstentum und führte die Kurstimme für die deutsche 


Republik. 


. Der Herzog von Savoyen würde König von Sardinien und Oberdoge der 


italienischen Republik, führte darüber wechselweise mit dem Papst die 
Kurstimme, 


. Das Haus Nassau erhielte die Erblichkeit der Statthalterschaft in den 


gesamten Niederlanden und hätte die Kurstimme für die niederländische 
Republik. 

Der Herzog von Württemberg würde Oberarchont der griechischen 
Republik und wechselte in der Kurstimme mit dem Patriarchen von 
Konstantinopel. 

Rom. Konstantinopel, Hamburg und Lissabon würden die Haupt- 
städte der europäischen Republik, sie müßten alle freie Reichsstädte 
sein und in denselben die Versammlungen der Repräsentanten Europas 
gehalten werden. 

Hierzu sagt Vogt: „Dieses Projekt legte Chemnitz dem Kanzler vor, 


als er ihm auftrug, eine Zeitschrift zu verfertigen, welche hernach unter dem 
Titel Hippolithus a Lapide de ratione status in imperio Romano-germanico 
erschienen ist, und so viel Aufsehen machte. So ungeheuer und tollkühn 
nun dieses Hirngespinst war, so machte es doch einigen Eindruck auf den 
sonst kalten Oxenstierna. Chemnitz wußte auch seine Träumereien mit einer 
solchen Wärme und Beredsamkeit vorzutragen, daB der Kanzler selbst 
vieles davon für tunlich hielte, wie man aus verschiedenen Äußerungen und 


Das Ideal einer europüischen Republik 571 


Negoziazionen der Zeit ersehen konnte. Auch war eine solche Begeisterung 
dem kalten Staatsmanne in den Umständen notwendig, weil er seinen König 
von Nebenwegen und gewissen despotischen Gesinnungen abbringen wollte.“ 

Die Dissertatio de Ratione status kannte Vogt offenbar nicht; denn in 
diesem Werk ist keine der obenangeführten Ideen enthalten. 

Sehr merkwürdig ist, daß von den Einzelvorschlägen mittlerweile eine 
ganze Reihe Tatsache geworden ist: der Zerfall der habsburgischen Macht, 
die Befreiung der Niederlande 1648, das Haus Hannover-Braunschweig auf 
dem englischen Thron 1714, das Haus Sachsen auf dem polnischen Thron 1697, 
das Haus Brandenburg auf dem preußischen Thron 1701, Anfall der Krim 
an Rußland 1783, Anfall Ungarns an Österreich 1688, Hessen-Kassel wird 
Kurfürstentum 1803, Herzog von Savoyen wird König von Sardinien 1720, 
König Karl Albert von Sardinien wird Vorkämpfer der italienischen Republik 
und sein Sohn wird König von Italien 1861. Griechenland kommt zwar 
nicht an Württemberg, aber an Bayern, also immerhin an eine deutsche Schutz- 
macht 1832. 

Der Verfasser des Planes ist somit kein bloBer Phantast, sondern ein Mann 
von unleugbarem Weitblick und politischem Fingerspitzengefühl; denn es 
ist erstaunlich, wie er in den verschiedensten Richtungen Fingerzeige gibt, 
die später, unter ganz andern Verhältnissen tatsächlich sich bewahrheiteten. 

Wir kennen die Quelle Vogts nicht und so müssen wir vor allem die 
Frage aufwerfen: ist dieser Plan von Chemnitz? 

Da Vogt ihn mit seinen Worten wiedergibt, kommt ein stilistischer Ver- 
gleich in Wegfall. Bleibt also nur psychologische Kritik. Diese würde die 
kühne Phantastik des Planes, die in den reifen Werken von Chemnitz fehlt, 
bei einem Jugendwerk nicht beanstanden. 

Jedenfalls stammt die Arbeit aus dem Ideenkreis, der die Umgebung 
Gustav Adolfs beherrschte. Die Taktik des Großen Königs der Liga gegen- 
über, seine Abneigung gegen das Haus Stuart, seine Stellung zu Frankreich, 
seine zögernde Haltung in der böhmischen Frage entsprechen durchaus den 
in dem Plan angedeuteten Ideen. Und schließlich der Hauptpunkt: eine 
imperialistische Europarepublik! Sieht dieser Gedanke nicht fast aus, als 
ob er dem Haupt des Mannes entsprungen wäre, der, da ihm Schweden zu 
klein war, das Heilige Römische Reich zu seinem Tatengebiet machte, und 
über ein kleines auch dieses als zu eng empfindend, wohl Lust und Kraft 
gehabt hätte, ein neues Europa zu schaffen! 

Wiesbaden. Mela Escherich. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis- 
Soglio, Kais. Königl. Kämmerer. 
Herausgegeben von Ewald Reinhard. 


Die nachfolgend veröffentlichten Schreiben des berühmten Staatsrechts- 
lehrers Karl Ludwig von Haller an seinen Freund, den Kaiserlich-Königlichen 
Kammerherrn Anton Freiherrn von Salis-Soglio, 27 an der Zahl, entstammen 
dem Archive des Freiherrn von Salis-Soglio auf dem Rittergute Gemünden 
(Hunsrück) und wurden mir von dem jetzigen Besitzer, Herrn Oberregierungs- 


572 E. Reinhard 


rat a. D. Freiherrn von Salis-Soglio in Gemünden, in liebenswürdiger Weise 
überlassen. Dafür sei auch an dieser Stelle herzlicher Dank gesagt, um so 
mehr, da diese Überlassung von einer verständnisvollen Interpretation 
mancher Partien begleitet war, wovon schon die Einleitung Vorteil gewann. 

Der Empfänger der Briefe, Anton Freiherr von Salis-Soglio, geboren 1760, 
der Urgroßvater des jetzigen Besitzers, war ursprünglich Graubündener 
Kommissar in Chiavenna, d.h. er war Generalbevollmächtigter der Re- 
publik Graubünden in diesem Gebiete, das mit dem Veltlin die sogenannten 
Untertanenlande von Graubünden bildete. Der große Einfluß der Familie 
von Salis bewirkte, daß dieses Amt, wie auch manche andere wichtige Posten, 
geradezu im Besitze der Familie war. 

Mit dem Aufkommen des mächtigen Korsen brach eine neue Zeit herein, 
die diese gesicherten Verhältnisse für immer zerbrach. Napoleon Bonaparte 
gab nämlich den Untertanenlanden nicht nur die Freiheit, sondern beschlag- 
nahmte auch das Privatvermögen der Graubündener Herren, u. a. der Frei- 
herren von Salis, so daß sich diese von heute auf morgen dem Nichts gegen- 
über befanden. Vergebens versuchten die Geschädigten durch Anschluß an 
Österreich und England wiederzugewinnen, was man ihnen entrissen hatte, 
vergebens bildete man unter dem Schutze dieser beiden Mächte in Chur eine 
Interimsregierung, das Machtwort Napoleons hatte mehr Wirkung als der 
Schrei nach Recht und Gerechtigkeit; Anton von Salis-Soglio floh nach 
Tirol und lebte hier in der unsicheren Hoffnung auf den Sieg der gerechten 
Sache, verarmt und verbittert; Zuwendungen aus der Privatschatulle des 
österreichischen Kaisers bewahrten ihn vor der äußersten Not. Die Gast- 
freundschaft des Kaiserstaates ließ ihn dort so heimisch werden, daß er auch 
dann nicht mehr in seine Heimat zurückkehren mochte, als unter den 
veränderten politischen Verhältnissen das Tor der Heimat ihm wieder offen 
stand. Er sah, ähnlich wie sein Freund Haller, in dem Österreich des Fürsten 
Metternich den Hort der alten rechtmäßigen Ordnung. In der Heimat da- 
gegen triumphierten Freimaurer und Republikaner. 

Die Erfahrungen und Erlebnisse in dem Donaustaate brachten auch eine 
religiöse Wandlung in ihm hervor, wie sie damals viele seiner Zeitgenossen 
durchmachten. Von Hause aus Protestant und unter Lavaters Einfluß stehend, 
wandte er sich später mehr und mehr vom Protestantismus ab und näherte 
sich so der katholischen Kirche, daß auch Haller in den vorliegenden Briefen 
oflen darauf anspielen konnte. Zu einer formellen Konversion scheint er 
jedoch erst kurz vor seinem Tode gelangt zu sein. 

77 jährig floh er, obwohl selbst schwerkrank, vor der in Wien herrschenden 
Cholera zu seiner in Innsbruck wohnenden Tochter, welche mit einem Grafen 
Reisach verheiratet war, und schied hier im Jahre 1831 aus dem Leben. 

Von den übrigen Mitgliedern der Familie von Salis-Soglio, welche in den 
Briefen aufgeführt werden, seien erwähnt Anton von Salis’ Sohn Andreas; 
er war zu Hallers Zeit Kapitän der Schweizergarde in Paris und begegnete 
gelegentlich dem „Restaurator“. Karl von Salis entstammte dem in Schlesien 
ansässigen Zweige der Familie von Salis-Samaden. Der Graf Johann von 
Salis-Soglio entsandte ihn als diplomatischen Agenten nach Paris; später 
treffen wir ihn als Ingenieur-Offizier in österreichischen Diensten. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 573 


Der háufig genannte Graf Johann von Salis-Soglio war 1776 in Chiavenna 
geboren und gehörte der sogenannten englischen Linie der Familie an. Nach 
dem Tode seiner streng protestantischen Mutter, die in Chur lebte, trat er 
zum Katholizismus über und wurde später Geheimer Rat in Wien und Hof- 
marschall in Modena. Er war eine jener wertvollen Naturen, die weniger 
durch auffallende Vorzüge als durch innerliche Tugenden, wie Frómmigkeit 
und Ehrenhaftigkeit, sich angenehm machten. Mit Karl Ludwig von Haller 
war er durch gleichen Sinn und gleiches Streben innig befreundet, wie sich 
das auch in ihrem leider noch nicht veróffentlichten Briefwechsel klar und 
deutlich ausspricht. 

Die Briefe gruppieren sich einmal um die Zeit von 1814/15, d. h. um die 
Zeit des Wiener Kongresses und der damit verknüpften Neugestaltung des 
europäischen Erdteiles (hier nicht aufgenommen); es folgen dann vier Schrei- 
ben aus den Jahren 1820/21, da Hallers religióse Entwicklung durch seine 
Konversion in ein neues Stadium trat. Danach bleibt der Briefwechsel 
wiederum für längere Zeit unterbrochen, wie aus dem Anfang des Briefes 
vom 8. Juli 1823 hervorgeht. Haller ist in der Zwischenzeit nach Frankreich 
übergesiedelt und weilt als Privatmann in der franzósischen Hauptstadt. Seine 
Seele ist voll Unmut über die mangelnde Anerkennung seiner politisch- 
literarischen Tátigkeit; andererseits fühlt er sich in einer Umgebung wohl, 
die so viele treffliche Mitkämpfer aufweist. Der Briefwechsel lebt dann in 
den Jahren 1823, 1824 und 1825 wieder recht stark auf; manche Schreiben, 
wie das vom 31. Juli 1824 (Nr. 11), wachsen sich zu förmlichen politischen 
Abhandlungen aus; darauf wieder eine Lücke von fünf Monaten, in denen 
der briefliche Verkehr ruht. Um die Wende des Jahre 1825 schließt sich dafür 
ein Brief an, der der längste von allen ist, der im ersten Teile wiederum eine 
weit ausholende Übersicht über das politische Geschehen in den hauptsäch- 
lichsten europäischen Ländern bietet, während der zweite Teil privaten An- 
gelegenheiten vorbehalten bleibt. Mit diesem Briefe berührt sich vieles in 
dem vorletzten Schreiben aus dem Jahre 1826. Bis zu der nächsten Antwort 
Hallers verstreichen dann abermals 1%, Jahre; der Brief vom 25. Februar 1828 
beendet den Briefwechsel von Seiten Hallers; die letzte Antwort von Salis 
datierte vom 24. November 1828. Mit dem Tode von Salis fand die Korre- 
spondenz ihr natürliches Ende; Karl Ludwig von Haller überlebte den Freund 
noch um ein Menschenalter: er starb im Jahre 1854 auf seinem Landsitze 
vor den Toren Solothurns. (Näheres in meiner Hallerbiographie 1933.) 

Von den Antworten des k.k. Kämmerers Anton von Salis-Soglio sind 
vorläufig zwei Entwürfe beigegeben, welche einen willkommenen Einblick 
in die Schreibweise und Sinnesart des Bündener Aristokraten gewähren. 
Sie sind ebenfalls Eigentum des Herrn Baron von Salis-Soglio auf Gemünden. 


1. 
d Bern, 14. Oct. 1820. 
Hochwohlgeborener Freyherr, 
Verehrtester Freund. 


Ihr intereBanter Brief vom 6ten Sept. ist mir erst gestern durch den Östreichi- 
schen Gesandschafts-Sekretär übergeben worden. Der beygelegte treffliche Aufsatz 
geht schon heute nach Paris ab und ich habe sehr darauf gedrungen, daB er in den 


574 E. Reinhard 


Defenseur aufgenommen werde, welches auch wohl geschehen wird, wenn die Censur 
nicht etwa noch die Speise zu stark findet. Diesen wakeren Defenseur und den Dra- 

au blanc werden sie also wohl auch in Wien haben. Man sollte sie so viel möglich 
in kleinen Lesezirkelu, durch Subscription zu verbreiten suchen auch bisweilen 
Auszüge davon in den Óstr. Beobachter geben oder wenigstens kürzlich den Innhait 
jedes Heftes anzeigen. 

DaB man die revolutionäre Sekte noch nicht in der Wurzel angreifen sondern 
mit verderblichen ConceDionen, Amnistie, Garantie amalgamiren u.s. w. zu Werk 
gehen würde, ist freylich zu befürchten. Der zweydeutige Styl in einer gewiBen Note 
an den Chev. Zea, das Zaudern von Warschau her, Griechisch-Italienische Namen 
die mir übel in die Ohren klingen, schäbige Correspondenzen von Laharpe aus Lau- 
sanne u.s.w. machen mir ebenfalls bange. IndeBen tröstet mich der Gedanke, daz 
die Menschen u. selbst die großen Mächte oft durch EreigniBe weiter geführt werden, 
als sie ursprünglich wollten. Es ist Ao 1814 u. 1815 auch manches geschehen was 
noch zu Frankfurt oder zu Wien nicht in den Planen lag. Wenn man nur einmal von 
dem guten (reist ausgeht, so wird man nach und nach von selbst in alle Wahrheit 
geleitet, Wir müBen nur nicht zu ungeduldig seyn, kein Apfel reifet vor der Zeit, 
u. ich vertraue nüchst Gott, auf den Muth und die Gewandheit des Fürsten von 
Metternich!, der die Sachen zu Ende bringen wird ohne eben stets bey Verkündigung 


des Endes anzufangen. Wenigstens wird man doch in Neapel nicht die leidige 
un des General Bianchi von 1815 erneuern welche der Grund von allem 
bel ist. 

Das Andenken und die Zufriedenheit der Frau Fürstin von Metternich sind 
mir äußerst schmeichelhaft und ich bitte Sie mich derselben unterthünigst zu Füöen 
zu legen auch für die bewußte Empfehlung bey Ihrem Herrn Sohn meinen gefühl- 
testen Dank zu bezeugen. Das Freyh. Diplom wäre mir am liebsten? weil es auch 
nach meinem Tode einen Werth hat, freylich bedeutet es in Wien nicht viel, aber ganz 
anders ist es hier, besonders wenn es nicht gekauft sondern mit Ehren erworben 
worden. Auch kann es mir und meinen 2 Söhnen, den einzigen männlichen Ab- 
kömmlingen Albrechts von Haller? im Auslande nüzen, u. ich hoffe ihnen ein solch 
anständiges Vermögen zu hinterlaßen und zum Theil zu versichern, daß sie ihren 
Stand mit Ehren sollen behaupten können. Ich ersuche Sie daher recht sehr verehr- 
tester Freund diese Sache nach der Rükkunft des Kaysers in gefällige Erinnerung 
zu bringen, damit sie nicht etwa vergeßen werde, wofür Sie auf meinen ewigen Dank 
zählen können. Vermuthlich wird man erst nach genommenem Entschluß die Ma- 
terialien für die Ausfertigung des Diploms verlangen, worüber ich seiner Zeit Ihre 
Weisungen erwarte. 

Die näheren Nachrichten über die Aufnahme der Jesuiten in Gallizien haben 
mich sehr gefreut und ich ermangelte nicht sie sogleich mehreren guten Freunden 
mitzutheilen. Über die Veranlaßung und die Umstände ihrer Vertreibung aus Ruß- 
land hat mir der P. Ledrogart Neffe des Abt von St. Gallen welcher selbst zu den 
Vertriebenen gehört intereßante Details erzählt. 

Der bekannte Herr von Stein“ welcher unlängst durch die Schweiz nach Ita- 
lien reiste, hat sich hier ziemlich entlarvt. In Luzern war er sehr vertraut mit dem 
Dr. Rengger und dem SchulthB am Rhyn® (einem Erz Jakobiner) gieng aber nicht 
zu dem Präsidenten der Tagsatzung Rütimann® dem er einen Empfehlungs Brief 
durch eine Dienst Magd zusandte, u. der ihn doch durch seinen Sohn Offizier in der 


* Mit dem Fürsten, Staatskanzler Clemens von Metternich, stand Haller viele Jahre in 
Verbindung; zuletzt sah er ihn bei den Krönungsfeierlichkeiten in Paris 1825. Vgl. Ewald Rein- 
hard: Karl Ludwig von Haller und seine Beziehungen zum Kreise um Metternich. Hist.-pol. 
Blätter CX XII (1918) Heft 3. 

3 Jahrelang bemühte sich Haller um die Nobilitierung durch den österreichischen Kaiser, 
ohne Jedoch zu seinem Ziele zu gelangen. 

* Albrecht von Haller (1708—1777), der große Haller, der Dichter der „Alpen“, war der 
Großvater Karl Ludwig von Hallers. 

* Der berühmte Staatsmann Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein (1757 
bis 1831), dessen ganze Art dem „Restaurator“ naturgemäß völlig entgegengesetzt war. 

1837 * Josef Karl Am Rhyn (1777—1848). Schultheis 1817—1840. Vorsitzender der Tagsatzung 


e Vinzenz Rütimann (1769—1844), Luzernischer Politiker. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 575 


Schweizer Garde hatte complimentiren laßen. Vermuthlich hatten ihm jene Brüder 
und Freunde gesagt, daß Rütimann nicht mehr zu den ihrigen gehöre. Auch in 
Lausanne hatte er eine lange Zusammenkunft mit Laharpe. Hier in Bern war er 
beständig bey dem Schulthß v. Mülinen? (dem Freund u. Protektor aller Liberalen, 
dem Grund alles hiesigen revolutionären Elends) und machte häufige Wallfahrten 
nach Hofwyl. Mich hingegen hat er mit einem eiskalten Empfang beehrt als ich 
ihm in einer Gesellschaft bey Herrn von Billieux präsentirt wurde. Die Spanische 
Revolution lobte er offentlich, nur die Neapolitanische schien er mißbilligen zu wol- 
len. Ich denke, daß diese Notizen Ihnen vielleicht angenehm seyn möchten. 

Sagen Sie mir doch verehrtester Freund durch welchen Canal ich Ihnen ein 
Exemplar der 2ten Ausgabe meiner Restauration der Staatswißenschaft® zusenden 
könnte, denn ich schmeichle mir daß Sie dieselbe mit Intereße lesen dürften. 

Die Vorbereitungen zu einer kleinen Herbstreise ins pays de Vaud mit dem 
trefflichen Bayerschen Gesandten? zu einigen dortigen Gerechten, zwingen mich 
für heute diesen Brief zu schließen. Über den hiesigen politischen Zustand wäre 
Ihnen viel, aber nichts erfreuliches zu melden, was ich auf ein andermal verspare. 
Wir sind ganz unter dem Joche der Jakobiner und treiben tàglich tiefer in den 
Pful der Revolution. Unter gegenwärtigen Umständen empfehle ich mich mehr 
als je um häufige Nachrichten von Ihnen, die mir sehr nüzlich seyn können. Verlangen 
Sie hinwieder etwas v. hier zu wißen so stehe ich stets zu Befehl. Unterdeßen be- 
wahren Sie mir Ihre unschäzbare Freundschaft u. seyen Sie meiner aufrichtigen 
Verehrung u. unwandelbaren Ergebenheit versichert, wir wollen in Zukunft ohne 
Complimente enden. v. H. 


P.S. Ihr Vetter Graf Johann /: ein rechter Apostel :/ ist vor einigen Tagen hier 
durch nach Lausanne gereist, u. ich hoffe ihn bey dem wakeren Herrn v. Ginegins!? 
zu Orny zu sehen, demjenigen der den Druk jener Schrift über die Cortes!! bewilliget 
hat, zum großen Ärger der hiesigen Liberalen u. der Allg. Zeitung. 


2. 
| Bern, 10. Nov. 1820. 

Vom 16t bis zum 30t Oct. war ich mit dem braven, muthigen, Ihrer würdigen 
Bayerschen Gesandten v. Olry auf einer kleinen Lustreise ins pays de Vaud begriffen, 
wo wir unter anderem in dem Schloß Orny bey dem trefflichen hiesigen Rathsherren 
von Gingins Chevilly dem nemlichen der den Druck meiner Schrift über die Cortes 
bewilligte, in Gesellschaft mit Ihrem Vetter dem Grafen Johann, welcher eben von 
Lausanne zurükkam, fünf herrliche Tage zugebracht haben, alle in einerley Sinn 
und einerley Meynung. 

Gestern habe ich einen Brief von Paris erhalten, worinn man mir meldet, daß 
der bewußte Aufsatz von welchem Sie mir sprachen nächstens in dem Défenseur 
erscheinen wird, so auch meine Abhandlung über den Adel, welche aus dem 3t Band 
meiner Restauration Cap. 25 übersezt ist und (um ?) dem Französischen Publiko 
einen Vorgeschmak von dieser kräftigen Medizin zu geben. 

Schreiben Sie mir doch, verehrtester Freund, ob nicht bald nach Neapel mar- 
schirt wird! Alle Redlichen in ganz Europa harren mit Ungeduld darauf und es wird 
ein allgemeiner Jubel seyn. Laße man sich doch nicht etwa durch die wehmüthigen 
u. furchtsamen Klagen od. Vorstellungen des unterjochten Königs von Neapel!? 
und seines Sohns irre führen; die dortigen Jakobiner dürfen dem König kein Haar 
krümmen, denn nur unter seine Sinnen (?) können sie regieren, wenn er ihnen nicht 


* Nikolaus Friedrich von Mülinen (1760—1833) bekannter Staatsmann. 

* Die zweite Auflage des Hallerschen Werkes der ,, Restauration der Staatswissenschaft“ 
erschein gleichzeitig mit der ersten. Vgl. Ewald Reinhard: Der Restaurator Karl Ludwig von 
Haller und die Steinersche Verlagsbuchhandlung in Winterthur. Jahrbuch der literarischen 
Vereinigung Winterthur. 1925. 

Antoine Chevalier d Olvy (1769—1863) geb. Elsässer, Erzieher Ludwig I. von Bayern. 

1 Antoine Charles von Gingins (1766—1823). Mitglied des Kleinen Rates zu Bern 1816. 

ramtmann von Erlach 1822. 
"^ Hallers Schrift „Über die Konstitution der spanischen Cortes“, die lebhaftes Aufsehen 


* König Ferdinand IV. von Neapel (1751—1825), der auf dem Laibacher Kongresse 
erschien, und um dessentwillen Österreich tatsächlich in Neapel intervenierte. 


576 E. Reinhard 


seinen Namen liehe, so würden sie vom Volke zerriBen. IndeBen ist es nicht genug 
daß man auf Neapel marschire und das Carbonari Parlament auseinander sprenge, 
wenn nicht durch begleitende politische Maasregeln das Übel mit der Wurzel ge- 
hoben wird. Wäre es mir erlaubt, unmaßgeblich einige Bedenken zu äußern, so würde 
ich folgende Maßregeln anrathen, die auch für andere Länder zum heilsamen Berv- 
spiele dienen können. 

1. sogleich beym Aufbrechen der Armee die Carbonari u. ähnliche Gesellschaften 
durch eine wohlmotivirte Proklamation als Hochverräther zu erklären u. zu diesem 
End das Dekret der Päpstl. Regierung vom 13. Aug. 1814 zu Rath zu ziehen. 

2. auf die Fahnen zu schreiben: J. Carbonari pagaranno und es auch zu halten, 
von ihnen allein die Bezahlung der KriegsKosten u. alles seit 7. July verursachten 
Schadens zu fordern, ihre Renten aus dem großen Buche zu streichen, dagegen aber 
den unterdrükten u. ehrlichen Theil der Nation zu schonen. 

3. beym Einmarsch in Neapel den König u. seinen Sohn zu einem wohlmotivirten 
Acte de rétractation zu bewegen, da er durch seine Annahme der heillosen Consti- 
tution auch gefehlt hat. 

4. die Capitulation des General Bianchi vom J. 1815 (welche der Grund alles 
Übels ist) null u. nichtig zu erklären, weil sie von der anderen Seite gebrochen 
worden und kein Vertrag gültig ist, er werde denn von dem anderen Theil auch ge 
halten. Sie werden bemerkt haben, daß gerade wegen Aufrechterhaltung dieser den 
Jakobinern ohne Noth zugestandenen unbegreiflichen ConceBion, die Allg. Zeitung 
stets darauf deutet, man solle dem Bianchi das Commando der Armee übergeben. 

5. Die Rädelsführer der Rebellion vom "ten July öffentlich und schmählich 
hinrichten, doch nicht mehr als etwa 10 bis 12 und ihre Güter confiskiren. 

6. Alle Civil u. Militär Autoritäten apuriren, die Carbonari absezen, es sey denn 
gegen fórmliche Retractation und Beweise aufrichtiger Reue. 

7. Die Alta vendita u. alle anderen vendite schließen, die Gebäude niederreiBen, 
die Güter, wenn deren vorhanden sind, confiskiren. 

8. Den König zu bewegen Sizilien auf den alten Fuß herzustellen, nicht die 
Constitution Bentink und auch nicht die Muratische revolutionäre Uniformitàt von 
1816. Der Kónig soll wieder heiBen Ferdinand IV. K. v. Neapel u. Sizilien, nicht 
Ferdinand I. K. beyder Sizilien, als wodurch er sich nur zum Nachfolger v. Murat 
gemacht hat. 

9. Den Code Napoleon abzuschaffen, besonders das Verbot der Substitute 
art. 896. Primogenitur, Fidei Commiße u.s.w herzustellen u. ferner zu erlauben. 
Ich habe selbst in Neapel bemerkt, daB diese unglükseligen Gleichtheilungen den 
Adel ruiniren, allgemeine Gleichheit u. folglich die Demokratie herbeyführen. 

10. das Concordat zu exequiren u. die Kirche in allem gut zu begünstigen. 

11. um den König zu stüzen u. denjenigen welche Repräsentativ Ver- 
sammlungen lieben, etwas dergleichen vorzustellen, für ungefähr 6 Wochen 
Reichsstände zu berufen, aber zusammengesetzt wie folget: 

a. Erzbischöffe u. Bischöffe, v. Rechtenswegen, mit Ausschluß derjenigen, so 
im Carbonari Parlament saßen. 

b. hohe begüterte Edelleute, diBmal vom König ernannt. 

c. die ersten Vorsteher der größeren Städte, kraft ihres Amtes. Diese werden 
dann gerade das Gegentheil von dem thun, was die Jakobiner mit solch Repräsen- 
tanten wollen und die ferneren Maßregeln vorbereithen um Ruhe u. Gerechtigkeit 
gründlich herzustellen. 

Finden Sie Gelegenheit diese Gedanken dem Herrn Fürsten von Metternich 
mitzutheilen, so könnten Sie vielleicht etwas Gutes wirken. Auch Hr von Gentz”? 
sollte sie kennen. 

Da auch ein Haupt Triebrad alles Bösen, der Ex Advokat Cäsar Friedrich La- 
harpe, die Mittels Person zwischen den Franzósischen Jakobinern u. dem Kayser 
Alex. noch immer gewißes Zutrauen zu genießen scheint, so sende ich Ihnen Ab- 
schrift eines noch im J. 1817 an seinen Bruder u. Freund Usteri“ erlaßenen Briefs, 


Friedrich von Gentz (1764—1832), Metternichs rechte Hand. Haller kannte den „Sy- 
bariten‘, wie er ihn nennt, schon aus der Zeit, wo er in österreichischen Diensten stand. 
^ Paulus Usteri (1768—1831), bekannter liberaler Politiker. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 577 


welcher diesen Kerl vollends entlarvet. Die Noten, denen ich zwar ganz beystimme, 
sind nicht von mir, sondern von einer diplomatischen Person. 

Ohne Complimente, wegen ermüdeter Hand, empfehle ich mich Ihnen u. ver- 
bleibe zeitlebens 


Ihr gehorsamer ergebener Diener 
v. Haller. 


3. 


Bern, 22. Nov. 1820. 

Vor etwa 8 Tagen langten der bekannte Chev. Micheroux und unter dem be- 
scheidenen Namen de Riva ein Sohn des Duce de Campo Chiavo von Neapel hier an. 
Sie kamen von Lausanne, verlangten eine Audienz bey dem Herrn Schultheiß von 
Mülinen und giengen von da nach Aarau, Zürich und Luzern. Jetzt heißt es, sie seyen 
mit Empfehlungs Briefen von Laharpe plótzlich nach Troppau verreist. Was sie 
wollten, konnte ich nicht erfahren, da Herr Schulthß v. Mülinen behauptet sie nicht 
empfangen zu haben. 

Das jakobinische Deutschthümmelsche Produkt , Manuscript aus Süd- 
deutschland“ eine Nachäffung des Manuscrit de St Helène, ist, nach Papyr 
und Lettern zu schließen, offenbar zu Aarau bey Sauerlünder gedrukt u. wahrschein- 
lich von Zschokke oder eher noch von Benzel Sternau!® verfaßt, einem Erz 
Jakobiner der bey Zürich sein Wesen treibt u. von dem Churfürsten von Heßen 
12000 G. Pension bezieht. 

Die Artikel in der Bayreuther und Hamburger Zeitung über die Schweizerschen 
Carbonari od. Unitarier Logen haben hier viel Aufsehen gemacht, sind aber nur zu 
wahr u. zuverläßig giebt es dergleichen auch in Bern. Es ist unglaublich wie sehr 
man seit 4 Jahren wiewohl unter anderen Namen die Helvetische Republik herzu- 
stellen und ihren Anhängern allein die oberste Gewalt zu geben sucht. Bey jeder 
Tagsazung werden durch schlau aufeinander folgende Dekrete die verbündeten 
Stände mehr zu Departements gemacht, u. ihnen ein Recht nach dem anderen ge- 
nommen. Dabey Central Armee, Central Generalstäbe, Central Caßen, Central 
Auflagen u. der nemliche Canzler seit 1798. Der Impuls kómmt durch das Illuminaten 
Comité von Luzern (am Rhyn, Meyer, Pfyffer) u. Bern d. h. unsere Schultheißen 
Ist verblendet genug, dieses System, das uns desto eher mit den Teutonen verknüpfen 
soll, noch zu begünstigen. Auch zanket man mit Rom wegen dem neuen Bischoff v. 
Basel aus welchem die Herren v. Luzern u. Aarau nur einen neuen Minister de 
l'instruction publique machen móchten. In dem Augenblik wo wir 40000 catho- 
lische Unterthanen erhielten, welche die besten Leute von der Welt sind, ist es der 
Sektegelungen durch Bibel Gesellschaften, Basler Missionen, Zürchersche fanatische 
Intriganten u.s.w. einen unvernünftigen Haß gegen die Catholiken einzublasen, der 
vorhin bey uns gar nicht existirte. 

In Zürich ist eine sonderbare Sippschaft bey einander. Dr. Usteri"?, Colloborateur 
der Allg. Zeitung, seit 25 Jahren Praeses aller Schweizerschen Revolutionäre, jetzt 
Staatsrath, Benzel Sternau, Górres vertrieben aus Coblenz!?, de Wette!? flüchtig 
aus Bonn, Wolf% Dr. aus Berlin etc. Was wir 1814 u. 1815 vorhersagten, erfolgte. 
Die Schweiz ist ein Asyl und eine Citadelle aller Jakobiner von Deutschland, Frank- 
reich und Italien geworden. Was man gesäet hat, das erndet man ... 


Das Aufsehen erregende „Manuskript aus Süddeutschland" von Georg Erichson. 
London (Stuttgart) 1820, 1821 stammte von Friedrich Georg Ludwig Lindner. 

'* Christian Ernst Graf von Bentzel-Sternau (1707—1849), der in demselben Briefe noch 
einmal genannt wird, 1812 Finanzminister im GroBherzogtum Frankfurt. Auch als Schriftsteller 
tätig, Freund Wessenbergs. 

. ™ Paulus Usteri (1768—1831), s. o., der für die freisinnige Aarauer Zeitung und die 
„Neue Zürcher Zeitung“ schrieb, daneben auch für die „Allgemeine“. 

!* Josef Görres (1776—1848), der berühmte Politiker und Publizist: er kam im Mai 1821 

Mi Straßburg nach Basel. Vgl. Albert Renner: Josef Görres in der Schweiz. Freiburger Disser- 
on 1930. 

" Wilhelm de Wette (1780—1843), protestantischer Theologe, war wegen seiner Partei- 
nahme in der Sand-Angelegenheit seines Amtes verlustig gegangen. Später Professor in Basel. 

** Friedr. Aug. Wolf (1759—1824), bedeutender Philologe. Besuchte 1820 die Schweiz. 


Histor. Vierteljahrschrift. Ed. 28, H. 3. 37 


578 E. Reinhard 


4. 
Bern, 17. Febr. 1821 


Ihr Brief, theuerster verehrungswürdigster Freund, vom 5t Dezember ist mir 
seiner Zeit durch meinen Vetter Herrn Schultheß richtig aus Zürich zugeschikt 
worden, und nur die kurzen Tage, geschwächte Augen, tägliche Sinn und Körper 
abmattende große Raths-Sitzungen, Privatzeschäfte die sich am Ende jedes Jahres 
und beym Anfang eines neuen anhäufen, Vogts-Rechnungen etc. etc. waren daran 
schuld dab ich ihn nicht früher beantworten konnte, ungeachtet er zu diesem Zwek 
beständig, nebst vielen anderen, auf meinem Pulte lag. Vorgestern habe ich nun 
auch Ihr sehr intereßantes Schreiben vom 6ten Februar erhalten und ich eile Ihnen 
für beyde meinen Dank und meine Freude zu bezeugen. 

Ihre Ansicht und Prophezeyung daB die Berufung des K. v. Neapel nach Lay- 
bach nichts gutes hervorbringen werde, war wohl ganz richtig gefaBt; bereits hatten 
ihn auch die Carbonari in Zeitungen und anderswo nur ihren Advokaten oder Bevoll- 
mächtigten genannt. Allein die Erbarmung Gottes leitet oft die Dinge zum Besten, 
wenn schon die Menschen sie übel anfangen. So tróste ich mich auch mit dem alten 
Spruch: l'homme propose, Dieu dispose. Seine Gnade zeigt sich besonders da, wo 
er auch nur den guten Willen sieht. Man wollte Ende 1813 u. anfangs 1814 auch 
nicht alles was späterhin doch geschah. Sobald man nur einmal auf dem guten 
Wege ist, so wird man von selbst, ohne daran zu denken, immer weiter geführt. Es 
geht hier im Guten wie im Bösen. Das ist mein Trost und mein unerschütterlicher 
Glauben. Allein Männer die schnell und weit sehen, sind oft nur zu ungeduldig. 
Fürst Metternich klagte schon Ende 1813 zu Frankfurt über diejenigen qui vouloient 
toujours commencer par la fin. Ich hoffe, daß er auch diese neuen Historien, die ich 
als die lezten Zeitungen des Jakobinismus betrachte, zu gutem Ausgang bringen 
werde; er hat einen harten Stand auf zahlreichen CongreBen, so viele Köpfe unter 
einen Hut zu bringen, und über dem vielen Deliberiren das Handeln nicht zu verab- 
säumen, wenn es ihm aber gelingt, so wird auch sein Name unsterblich sevn. 

Der Kónig v. Neapel sollte nicht nur zu den BeschlüBen der verbündeten Mon- 
archen einwilligen, sondern nach meiner Ansicht wäre eine fórmliche w ohlmotivirte 
Retractation oder Desavouirung des gemachten Versprechens u. leid igen Consti- 
tutions Eides unentbehrlich. Diese Retractation wäre leicht zu machen, kann aber 
nicht auf Gewalt (als welche Schuld nicht vorhanden war, theils nicht ganz ent- 
schuldiget) sondern muB darauf begründet werden, daß solche Constitution höheren 
Pflichten, früheren Versprechen und fremden Rechten zuwider sey, auch wie sich 
seither gezeigt habe, von allen rechtschaffenen Menschen des ganzen Volkes mit 
Unwillen aufgenommen worden und die Carbonari nur seinen Namen usurpirt 
haben etc. Übrigens wären die seiner Zeit angerathenen weiteren Maßregeln nicht 
zu vergeDen, sonst nüzt der ganze Kreuzzug nichts. Wie gern wollte ich in dieser 
Hinsicht bey dem Frevh. v. Fiquelmont seyn! 

In der gestern erhaltenen 45t Livraison des Défenseur sah ich mit Vergnügen, 
daB endlich Ihr Aufsatz eingerükt worden ist. Mir scheint nicht, daB etwas aus- 
gelaßen sey und vielleicht kömmt er just noch zur rechten Zeit. 

Graf Johann war lezthin in Mayland, von wo er mir am 3t Febr. schrieb. 
AE u ihn alle Tage u. behalte auch noch einen für ihn aus England erhaltenen 

rief. 

Aus den Noten der Östreich. u. Preußischen Minister gegen die Deutschthümler 
und Turner in Chur?! und anderswo, ist nichts geworden, es war nur ein Hieb ins 
Waßer. Vorerst hat der Vorort Luzern oder vielmehr Mousson?! u. dann die Bünd- 
nerische Regierung eine evasive, theils heuchlerische theils arrogante Antwort ge 
geben, womit sich die Herren Minister begnügten. Tscharner? kam über Luzern 
nach Bern, wo er nur die beyden Schultheißen und die fremden Gesandten sah. 
]t um zu erforschen, ob unter lezteren sich nicht ein Bruder und Freund finde, 
2t um zu spioniren woher die den Liberalen so mißfälligen Artikel in der Hamburger 
und Bayreuther Zeitung gekommen seyen. Nach seiner Rükkehr hat er zur Beruhi- 


si Der „Demagogenklub“ zu Chur bestand aus Snell, Follen, Röder, de Prati u. a. 
*"* Markus Mousson (1736—1861), Politiker. 
** Wohl Karl Friedrich von Tscharner (1772—1842). 


e 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 579 


gung der Brüder eine Art von Rapport druken laßen, aus welcher die Aarauer 
Zeitung eine merkwürdige Stelle herausgehoben hat, die da feierlich deutlich be- 
weist, daß zwischen den bedeutendsten Regierungshäuptern der Schweiz (B. nicht 
ausgenommen) ein Bund zu Beschüzung der Liberalen u. des liberalen Systems, 
selbst gegen das Ausland geschloBen worden sey!! Eine Radical Cur würe nirgends 
nöthiger als in der Schweiz, nirgends geht es gut als in Freyburg, nirgends so schlecht 
als in B. u. das vorzüglich bey dem verbohrten Geist unserer beyden Häupter. 

Laharpe gab unlängst ein Mittagsmal zu Lausanne, wobey auch ein vornehmer 
Liefländer speiste. Dieser brachte mehrere mal die Gesundheit des Kayser Alexander 
aus. Laharpe schien nichts (?) darauf zu hóren. Als man ihn endlich daran erinnerte, 
sagte er unverholen: nein, er tránke nicht mehr auf die Gesundheit des Kayser A. 
Denn derselbe führe sich nicht gut auf, u. wenn es ihm seine Verhältniße jezt zu- 
lieBen, so würde er Laharpe sich nach Laybach begeben, um mit ihm ein paar Worte 
zu sprechen. Wollte Gott daß Alex. sich von der Vormundschaft dieses neuen Ari- 
stoteles losgemacht hätte u. nicht mehr eine jakobinische Schlange mit Orden u. 
Pensionen überhäufte. 

Mein Buchhändler schreibt mir daß der 4te Band der Restauration u. auch die 
2te Auflage in Wien verboten oder mit argem schaden (?) erlaubt sey, welches dem 
Absatz sehr schade. Kónnten Sie nun nicht vernehmen woher dieses Verbot ge- 
kommen! auf was es begründet worden und ob es streng gehandhabt werde. 

Die bewußte Sache?“ pressirt ganz u. gar nicht, man kann in der That bis nach 
der Rükkunft des Kaysers v. Laybach warten, indessen empfehle ich Sie ihrem 
Gedächtniß, nicht blos als eine Ermunterung für mich sondern als eine Art von Stär- 
kung gegen die hiesigen hohen u. niederen Antagonisten der Gerechtigkeit und 
Legitimität. 

Der Bogen ist überschritten, die Post verreiset u. läßt mir nur noch Zeit Sie 
meiner unwandelbaren Dankbarkeit u. Ergebenheit zu versichern. 

P.S. Ich werde die erste Gelegenheit benuzen um Ihnen ein Exemplar der 2ten 
Auflage der Restauration zu schicken und auch eines für den Fürsten v. Metternich 
beylegen. Der Abdruk des 3ten Bandes ist noch nicht vollendet. 


6. 
Paris 8. July 1823. 
rue du regard No 1. 

Ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit des nach Wien abreisenden Herrn 
Grafen von Senfít Pilsach*5 um demselben einen Brief an Sie mein verehrtester 
Herr und Freund mitzugeben. Unsere Correspondenz ist leider schon zu lang unter- 
brochen und ich hoffe daß meine Verlaßung des Protestantismus die nach und nach 
aus consequentem Haß gegen die revolutionären Principien hervorging und dem 
Sie wahrscheinlich auch nicht von ganzer Seele anhängen, mir ihre Achtung und 
Freundschaft nicht werde entzogen haben. Wenigstens lassen mich die Gesinnungen 
Ihres trefflichen, jezt in Spanien befindlichen Sohnes den ich hier oft gesehen habe 
nicht daran zweifeln. 

Von den Besorgnißen und Hofnungen die Sie mir in Ihrem lezten Brief vom 
28t März 1821 äußerten, hat sich in diesen zwey Jahren fast alles erwahret. Wir 
haben zwar manche Fortschritte gemacht, aber es bleibt noch viel zu thun übrig. 
Mich freut daß Sie die griechische Rebellion eben so wie ich betrachten, nemlich 
als eine Frucht des Jakobinismus und nicht des Christianismus, sonst würden 
nicht alle Liberalen so warmen Antheil daran genommen haben. In Piemont hat die 
gute Partey vollkommen gesiegt. Das jezige Franzósische Ministerium ist zwar 
beBer als das vorige, aber noch lange nicht so gut als es sevn sollte und schleppt 
sich theils in dem Moderantism, theils in den revolutionären Administrations Formen 
fort. Die Spanischen Rebellen werden zu paaren getrieben, die Portugiesische Re- 
volution zerplazt wie eine Seifenblase u. mit der neuen Königlichen Constitution 


* sc. Verleihung des österreichischen Freiherrentitels. 

^ Friedrich Ludwig Graf von Senfit-Pilsach (1774—1853). Konvertierte im Jahre 1819. 
Einer der vertrautesten Freunde Hallers, mit dem er einen eifrigen Briefwechsel unterhielt. 
Diplomat in österreichischen Diensten. 


37° 


580 E. Reinhard 


wird es wohl noch einigen Anstand haben. In Spanien befürchtet man nur union 
et oubli des Herzog von Angouleme*, doch Rom ist auch nicht in einem Tag ge- 
baut worden; Alexander hat sich gebeBert, der K. von Preußen marschirt auf guten 
Wegen, obschon viele seiner Gesandten nichts taugen und wir kónnen also noch 
manches beDere hoffen. Der Jakobinismus thront besonders in Würtemberg, Baden 
und der Schweiz. Von lezterem Land, wo die ci devant Aristokraten selbst Jako- 
biner geworden und daher schlechter als vordem sind, werden Sie vermuthlich 
durch Thren Vetter Graf Johann alle nóthigen Nachrichten erhalten haben. Er hat 
mir desgleichen sehr intereßante mitgetheilt, die ich an Mann zu bringen wüßte u. 
man versicherte mir, daB sie an allen Hófen bekannt seyen. 

Was mich betrifft. so scheint die Vorsehung zu wollen daB ich selbst wider 
meinen Wunsch, immer und ewig auf dem litterarischen Kampf Platz bleibe. Wih- 
rend so viele andre, für mittelmäßige Gelegenheits Broschüren mit Orden und Titeln, 
Ringen, Dosen oder einträglichen Ehren Ämtern überhäuft werden, erhalte ich hin- 
gegen, der das Ungeheuer bey der Wurzel angegriffen nicht das geringste Zeichen 

ürstlicher Zufriedenheit. Weit entfernt mich darüber zu beklagen, erkenne ich 
darinn eine höhere Fügung um vielleicht desto mehr zu nüzen. Daher arbeite ich 
hier an der Französischen Übersezung der Restauration, an der Vollendung des 
deutschen Originals und zugleich bisweilen an dem Drapeau blanc, zu welchem man 
mich eingeladen und beynahe genöthigt hat. Dieser Drapeau blanc, an welchem 
La Mennais”, Saint-Victor, O. Mahony!$, Jouffroy? und ich die vorzüglichsten 
Mitarbeiter sind, ist das einzige ächt royalistische Journal, welches ohne furchtsame 
ConceDion ohne feile Hingebung die wahren monarchischen Grundsäze rein ver- 
theidiget und daher theils mit den Jakobinern theils mit dem Ministern selbst viel 
zu kämpfen hat. Es soll nach unserer Absicht das allgemein antijakobinische Jour- 
nal, das Organ der guten Partey in ganz Europa werden, bestimmt ihre Fortschritte 
zu befórdern u. bekannt zu machen, ohne Gefahr zu zeigen, die Rechtschaiienen 
hervorzuziehen, zu ermuntern, die Jakobiner aber, welches Kleid sie auch tragen 
mógen, zu entlarven, zu bezeichnen und dadurch in Schreken zu sezen. Nun 
aber mangelt uns ein geprüfter Correspondent in Wien, der um desto nöthiger ist, 
da die Östreichischen Zeitungen beynahe gar nichts intereBantes melden. Sie würden 
daher, theuerster Freund, mir und der guten Sache einen auBerordentlichen Dienst 
leisten, wenn Sie die Gefálligkeit haben wollten mir etwa alle 14. Tag, oder mehr, 
wenn etwas außerordentliches begegnet, einige Nachricht mitzutheilen, versteht sich 
von solcher Natur, daß sie zwar wohl gesagt werden könne aber dennoch nicht in 
den gewóhnlichen Zeitungen stehen. Sie würden dagegen das Drapeau blanc um- 
sonst, so wie die Vergütung Ihrer Porto Auslagen erhalten und wenn Sie es wünsch- 
ten so kónnten dabey auch noch andere Vortheile für sie herauskommen. Am besten 
würe es wenn Sie die Artikel gleich Franzósisch schrieben und die Briefe entweder 
directe an mich (Mr d'Haller rue du regard No 1) oder sous enveloppe an meinen 
Banquier Mr. Louis Guebhard rue Michodiére (?) No 8 oder an die Marquise de 
Mollans rue de Sevres No 19 (welche Dame Sie bey Doblhof in Wien gesehen haben) 
adressirten. Ich bitte instándig um diesen Dienst der sehr wichtig werden kann. 

Während die Leipziger Buchhändler sich zusammen verschworen haben meine 
Restauration der Staatswißenschaft nicht mehr zu verkaufen u. daher der vormals 
starke Absaz im nórdlichen Deutschland stokt, verbietet man dieses Werk in Wien! 
Ohne Zweifel sind die Josephinischen Censoren daran schuld u. werden zum Vor- 
wand genommen haben, was etwa beyläufig, obschon mit vieler Schonung gegen 
die Conscription und die willkührlichen Auflagen, als Früchte des revolutio- 


2% Herzog von Angoulême (1775—1844), ältester Sohn des Königs Karl X. Führte die 
franzósischen Truppen nach Spanien. 

" Felicité de Lammenais (1782—1854),1816 Priester, berühmter Vorkämpfer der katholischen 
Kirche in Frankreich. In Hallers Pariser Zeit Berater des „ Restaurators“, den er auch zur Ab- 
fassung seiner Konversionsschrift bestimmte. Briefe von de Lammenais an Haller in meinen 
„Präludien zu einer Biographie K. L. von Hallers“ (Historisches Jahrbuch, Bd. 35, 3). Später 
trat Haller dem Abtrünnigen scharf entgegen. 

1 Graf d'Mahony, naher Freund Hallers, der ihn in Versailles oft besuchte. Später Heraus 
geber des Invariable. 

2 Achilie Marquis de Jouffroy (1790—1842 f). betätigte sich als Parteigänger der Restau- 
ration, außerdem Veríasser von Werken über Mechanik. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 581 


nären Systems gesagt worden ist. Graf Senfft will versuchen, ob nicht durch den 
Einfluß des Fürsten von Metternich dieses Verbott gehoben oder gemildert werden 
könnte, und ich bitte Sie sehr ihm darinn behülflich zu seyn, mich selbst aber der 
verwittweten Fürstin v. Metternich zu FüBen zu legen. Der gewóhnliche Correspon- 
dent meines Buchhändlers ist Schauenburg. Dort können Sie alles nähere erfahren, 
was es mit dem Verbott der Restauration für eine Bewandniß hat. 

Leben Sie wohl, theuerster Freund, und nehmen Sie zum Schluße noch die Ver- 
sicherung meiner unbegränzten und unwandelbaren Hochachtung an. 


von Haller. 


6. 
Paris, 29. Sept. 1823. 


Ihr intereßantes Schreiben vom 13t Aug., das ich seiner Zeit durch Frau v. 
Mollans richtig erhalten, hat mir u. den Eigenthümern der D. b. unendliche Freude 
gemacht. Aus einigen Stellen die ich dem Abbé de la Mennais las, erkannte derselbe 
gleich, daß Sie würdig seyen in hoc doctum corpus aufgenommen zu werden. Diese 
meine Antwort wird Ihnen nebst einem Exemplar der Restauration durch einen 
Östreichischen Courier mithin sicher und franco zukommen. Ich hoffe daß es Sie 
nicht gereuen wird in jenem Werk etwa täglich ein Capitel zu lesen und daß Sie 
dabey bisweilen mit Freundschaft an den Verfasser denken werden. Das Drapeau 
blanc werden Sie wahrscheinlich erhalten; da es nicht möglich war, die Francatur 
bis Wien zu besorgen; daher belieben Sie nur Noten über die Porto Auslagen zu er- 
halten, für deren Ersezung ich gut stehe. Ich arbeite zwar gewiBer Umstünde wegen 
nicht mehr an diesem Journal, kann aber gleichwohl Ihre Artikel dort einrüken 
laBen. Was Sie uns zu melden haben, wollen wir Ihnen wahrlich nicht vorschreiben. 
Es versteht sich von selbst, daB wir Ihnen nicht zumuthen gewöhnliche Neuigkeiten 
zu berichten die man in den Wiener Zeitungen auch findet. Das ist aber der Geist 
der Sache, das D. b. soll das antirevolutionäre Blatt für ganz Europa, die Allgemeine 
Zeitung en son contraire seyn. Wir müßen die Welt jezt als ein Kriegs Theater be- 
trachten, wo zwey große Parteyen die Illuminaten od. Jakobiner auf der einen 
und die Christen und rechtschaffene Menschen auf der anderen Seite gegen einander 
kämpfen. In diesem Kampf erhält die Sache der lezteren bisweilen Vortheile, er- 
leidet hinwieder bisweilen einige Nachtheile und die Thatsachen sind blos aus diesem 
Gesichtspunkt zu betrachten. Alles also was zum Besten der Religion und Kirche, 
der Kónige und Fürsten, des Adels, der Corporationen u.s.w. geschieht oder was gegen 
dieselben von den Jakobinern u. geheimen Gesellschaften gegen sie getrieben u, 
machinirt wird, gehórt in unser Blatt. Auch merkwürdige Schriften für und wider 
sind wenigstens dem Titel nach anzuzeigen und endlich selbst die Personen nicht 
zu vergeBen; denn gleichwie die Jakobiner so manchen rechtschaffenen Mann er- 
schrekt oder um seinen Credit gebracht haben: so müßen wir hingegen die gut- 
gesinnten bekannt machen und rühmen, die schlechten aber entlarven und signali- 
Siren, um sie entweder zu befern oder ihnen das blinde Zutrauen zu entreißen. 
Doch nach Umständen alles mit Behutsamkeit. 

Was Sie von Ganning®, der constitutionellen Coalition, der Lauigkeit gegen 
die Spanischen Revolutionárs, dem heillosen Moderantism u.s.w. sagen unterschreibe 
ich alles mit vollem Bevfall. Das ist auch noch die Folge des Kampfes der Doctrinen, 
die sich um die Herrschaft der Welt theilen. Was soll man denken, wenn der Herzog 
von Angouléme selbst von den schlechten angestekt ist, weil man ihm weis ge- 
macht hat, er würde keines Ansehens genießen wenn er seiner Frau Einfluß auf sich 
selbst gestatte. Doch muB man auch nicht zu ungeduldig seyn; Rom ist nicht in 
einem Tag gebaut worden. Der Gerechten giebt es hier auch noch viele u. zulezt 
on die Sachen doch wie sie gehen sollen. Bereits hat das Decret d'Andejar, den 

reybrief aller Schurken zurüknehmen müssen u. die Jakobiner werden so viele 
Tollheiten machen, daß man sie nicht schonen kann auch wenn man wollte. 

Den Rath des Herrn Fürsten v. Metternich habe ich dem Redacteur des D. b. 

mit so viel mehr Freude mitgetheilt, als er meiner eigenen Meynung desto mehr 


** George Canning (1770—1827), berühmter englischer Staatsmann. Seit 1829 Minister 
des Äußeren; bewirkte Englands Loslösung von der Hl. Allianz, 


582 E. Reinhard 


Gewicht gab. Der verwittweten Frau Fürstin von Metternich bitte ich mich zu Füßen 
zu legen und Ihr für Ihre gütige Erinnerung an meinen Namen ehrfurchtsvoll zu 
danken. Die Vorsehung scheint nicht zu wollen, daß ich zu einiger äußeren Ehre 
u. Ansehen gelange, oder Belohnungen erhalte, die von anderen wahrlich mit ge- 
ringerer Mühe verdient werden. Ich sehe darinn einen Wink mich einzig allein der 
Vollendung meines Hauptwerkes zu widmen, welches vielleicht gerade deswegen 
desto mehr wirken wird. Wenn es übrigens nur meinen Kindern gut geht, so wünsche 
ich für mich selbst nichts mehr. 

Ich werde die Aufschrift meiner Briefe an Sie immer durch eine andere Hand 
schreiben laben. Für die Ihrigen können Sie allenfalls mit folgenden Adressen ab- 
wechseln: 

à Mr Louis Guebhard rue Michodiére No 8 (sous enveloppe), 

à Mr Joseph Bourrier, rue du regard No 1 (mein Bedienter). 

Die leztere braucht kein enveloppe und die Briefe kommen mir schneller zu. 
Fr. v. Mollans hingegen scheint es nicht gerne zu sehen, daB Ihr (!) Briefe advenirt 
werden. 

Leben Sie wohl verehrungswürdiger Freund und erfreuen Sie bald mit Ihren 
Nachrichten denjenigen der Ihnen mit unwandelbarer Hochachtung zugethan ist. 

H. 


7. 
Paris, den 25t Nov. 1823. 

Ich hatte seiner Zeit, verehrungswürdigster Herr u. Freund auf Ihr Schreiben 
vom 13t Aug. welches mir die Frau Marquise de Mollans richtig übergab, zu ant- 
worten gewartet bis sich eine Gelegenheit fand Ihnen zugleich ein Exemplar der Re- 
stauration der Staatswissenschaft 2te Ausgabe — portofrey zukommen zu lassen. 
Dieses ist durch den lezten Courier, welchen die Östreichische Gesandschaft ab- 
fertigte, geschehen und es scheint daß derselbe sich mit Ihrem neuerlichen Schreiben 
vom öt Nov. gekreuzt habe. Ich bedaure indeßen sehr daß dieser Verschub mich 
und das Publikum von Ihren intereDanten Mittheilungen beraubt hat. Vielleicht 
daß einige ältere, gehörig arrangirt, gleichfalls noch intereBant wären. 

Graf Senfit und die Gräfin laBen sich Ihnen sehr empfehlen und haben mir 
ebenfalls ihr Bedauern geäußert Sie weder in Grünberg noch in Wien getroffen zu 
haben. 

Es scheint allerdings gewiß, daß die zwey Bataillons Schweizer Garden einst- 
weilen noch in Madrid bleiben. Ich werde also lange noch des Vergnügens entbehren 
Ihren Herrn Sohn hier in Paris zu sehen. 

Das hiesige Ministerium hat mit Auflösung der Kammern ein gewagtes Spiel 
angefangen. Diese, zwar noch nicht publizierte Maßregel wird hier und in den Pro- 
vinzen allgemein mißbilligt. Wenn 450 Stellen auf einmal besezt werden, so ist es 
beynahe nicht anders möglıch, als daß die Liberalen wenigstens einen guten Drittheil 
erhaschen werden. 

Der König ist in mißlichen Gesundheits Umständen“. Viele befürchten, daß 
unter seinem Nachfolger, von dem man sonst viel Gutes hoft, der Herzog von An- 
gouléme einen nachtheiligen Einfluß ausüben werde. 

Um auch etwas von unserer elenden Schweiz zu reden, so melden mir alle 
Berichte, selbst die meiner eigenen Brüder, daß die Stupidität und der damit ver- 
bundene Hochmuth des Schultheißen v. Wattenwyl® über alle Begriffe gehe u. 
täglich ärger werde. Stellen Sie sich vor, daß er den neuen Französischen Gesandten“ 
einen sehr verständigen u. gutgesinnten Mann nicht einmal sehen will, kein Wort 
zu ihm spricht, hingegen aber vor dem Esel Meuron** und vor dem nur durch sein 
scandalóses Leben bekannten Krüdener®, niederträchtig kriecht, weil sie den Libe- 


31! König Ludwig XVIII. von Frankreich starb am 16. September 1824. 

33 Nikolaus Rudolf von Wattenwyl (1779—1832), von Haller auch früher bitter befehdet. 

* Marquis de Moutier (1779—1830) wurde am 18. Juli 1823 französischer Gesandter in 
der Schweiz, blieb bis 26. September 1825. Später im Ministerium; Hallers besonderer Gönner. 

3 Wohl Charles Gustave de Meuron (1779—1838), der in der Eidgenossenschaft als pren- 
Bischer Gesandter fungierte. 

3 Baron Paul von Krüdener, Sohn der bekannten Freundin des Kaisers Alexander von 
Rußland. Von 1815—1827 Vertreter Rußlands in Bern. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 583 


ralen mehr günstig sind. Dieser Schultheiß der einhergeht wie ein Pfau und sich 
einbildet der größte Potentat von Europa zu seyn ist ganz in den Händen der 
Jakobiner u. allein an allen Dummheiten schuld die seit 1813 zu Bern ge- 
schehen sind. 

Leben Sie wohl verehrungswürdigster Freund und seyen Sie stets meiner aus- 
gezeichneten Hochachtung und unwandelbaren Ergebenheit versichert. 


v. H. 


P.S. Ich habe diesen Brief nachdem er schon versiegelt war, wieder erófnet, 
bloß um Ihnen zu melden, daß wenn Sie das Paket mit den 4 Bänden Restauration 
noch nicht erhalten haben sollten, Sie nur in der Staats Canzley nachzufragen brau- 
chen, wo es zuverläßig angelangt seyn wird. 


8. 


Paris 29 Febr. 1824. 

Ich habe, verehrtester Freund sogleich nach Empfang Ihres Briefs vom 13t Jan. 
den Baron Karcher Gesandten von Heßen u. Toskana ersucht bey der Östreichischen 
Gesandschaft wegen dem Paket mit dem Exemplar der Restauration nachzufragen. 
Er erinnerte sich dieses Pakets sehr wohl u. konnte nicht begreifen daß es nicht ab- 
eq sey. Es war in gelbes Papyr eingepakt womit man gewóhnlich die Wachs- 
ichter einzuwikeln pflegt. 

In Spanien geht es nicht gut weil man die Revolution nur beym Schweif und 
nicht beym Kopf angegriffen hat. 

Mit der clémence gegen Gonfalieri, Andriane etc. werden Sie wahrscheinlich 
so wenig als ich zufrieden seyn. 

Hier erlebt man den Skandal den Benjamin Constant®® erwählt zu sehen, ver- 
muthlich als Deputirter aller Frey Maurer Logen. Wie kann es aber anders seyn, 
wenn man in einer so ungeheuren Stadt wie Paris alle Krämer die 300 Fr. Patent- 
steur bezahlen, zu Elektoren macht. Wo sind auch mehr Acquiseurs als in Paris 
von den geraubten Häusern? 

Von der Schweiz melde ich Ihnen nichts; Ihr Vetter Graf Johann wird Ihnen 
davon genug sagen. Die stupide Verstokung des Schultheißen v. Wattenwyl wird alle 
Tage größer. 

Ich hoffe Sie werden nun beßere Nachrichten von Ihrem Sohn erhalten haben. 
Wüßte ich wo nachzufragen, so wollte ich es recht gern thun! 

Mich um fernere Briefe von Ihnen empfehlend, verbleibe ich von ganzer Seele 
der Ihrige. 

H. 


9. 
Paris 5 Apr. 1824. 
Ich benuze verehrtester Freund einen heute nach Wien abreisenden Courier 
um Ihnen in Eile zu melden, daß das für Sie bestimmte Paket mit einem Exemplar 
der Restauration d. St. durch ein Versehen bey der hiesigen óstreichischen Ge- 
sandschaft verblieben war, daB es aber nun auf gehaltene Nachfrage seit geraumer 
Zeit bestimmt abgegangen ist, so daß Sie es wohl erhalten haben werden oder in 
der Staats Canzley abholen lassen kónnen. 
Der Schulth(ei)8 v. Wattenwyl hat durch die Bernersche Annahme der Neapo- 
litanischen Capitulation?” eine Ohrfeige bekommen. Sein Credit ist erschüttert u. 
fr geinnte selbst wollen dieses Dekret als eine halbe Contrerevolution verstehen. 
ch aber erwarte nicht viel davon, die Maße unserer Patricier ist zu verdorben, keiner 


Anstrengung, keiner Consequenz fähig u. bier wirkten nur Privat Intereße nebst 
dem Einfluß zwey großer Mächte. 


* Benjamin Constant de Rebecque (1767—1830), berühmter Publizist; einer der heftigsten 
Gegner der Restauration. 1830 Präsident des Staatarats. 

d Vielmehr wurde im Jahre 1824 zunächst ein Militärabkommen zwischen König Fer- 
dinan 


I. von Neapel und den Kantonen Luzern, Uri, Unterwalden und Appenzell geschlossen, 
Bern folgte einige Zeit später. 


584 E. Reinhard 


Hier in Paris sieht man dermal alles Rosenfarb seit dem Sturz des Frances. cer 
Zins Reduction die zwar vielen und auch mir nicht behagt, vorzüglich aber wegen 
der Entschädigung der Emigrirten. Ich hoffe daB dieses leztere Bevspiel auch aaf 
Östreich wirken und nicht ohne günstigen Einfluß auf die Angelegenheit der schon 
so lang dauernden veltlinischen Conflikte seyn werde. 

Wenn Ihr Vetter Graf Johann noch in Wien ist so bitte ich Sie mich demselben 
ganz besonders zu empfehlen. Übrigens hoffe ich selbst von ihm oder anderen direkte. 
mir immer höchst angenehme Nachrichten zu erhalten und verbleibe inzwischen 
unwandelbar 

Ihr treu ergebenster 
v. Haller. 


10. 
Paris 25 Apr. 1824. 

(restern, verehrtester Freund, erhielt ich Ihren Brief vom 14t u. heute kann ich 
denselben schon durch sichere Gelegenheit beantworten. Was Sie mir über die Re- 
stauration sagen ist mir um so viel schmeichelhafter als es von Ihnen kommt und 
mir beweist, daß ich die Wahrheit getroffen haben muß; denn die wahre WiBenschaft 
ist doch nichts anderes als der deutliche und geordnete Vortrag deBen was schon 
dunkel oder wie Sie sich ausdrücken Instinktartig in dem gesunden Verstand jedes 
unbefangenen Menschen liegt. Mein einziges Verdienst besteht vielleicht in dem 
tantum ordo juncturaque pollet. Ich habe das Principium errathen und dann die 
'ousequenzen mit der natürlichen Logik die mir von Jugend auf angeboren war, 
gezogen und geordnet. Dabey sprach die Wärme des Herzens und das ist das Rezept 
des ganzen Werks. — Die Französische Übersezung des 1t Bands wird auch bald 
erscheinen; eine Italienische ward in Turin gemacht, da aber zweydeutige Censoren 
Vorwünde fanden das Imprimatur zu versagen, so ward sie nach Rom geschikt um 
dort die Bewilligung zu erhalten. Durch die Duchesse d’Escars?® will ich versuchen 
ein Exemplar an den König von Spanien® zu bringen. Übrigens habe ich weder für 
dieses Werk noch für das kleinere über die Cortes nicht die geringste Belohnung 
oder Aufmunterung erhalten, während z. B. Gentz* für ein paar Broschüren oder 
vielmehr Übersezungen mit Pensionen, Orden und Titeln überhäuft ist. Frevlich 
habe ich auch nicht meinen eigenen Nuzen gesucht u. vielleicht macht das Werk 
dadurch nun desto mehr Eindruk. 

Allerdings ist zu befürchten, daß die, wenn auch wißenschaftlich vernichteten 
Revolutions-Prineipien sich durch eine Art von Tradition behaupten werden und 
die Juristen werden stets die wieder bestehenden Chartes u. Constitutionen zu ihrer 
Stüze anführen. So gieng es in England, so mit dem Protestantismus der an und für 
sich ein gleich unhaltbares und bodenloses System ist. Allein eben deswegen muB 
man die Sache bey der Wurzel anfaßen, in die Schulen zu dringen suchen, so werden 
diese Constitutionen wohl auch über den Haufen geworfen werden. 

Ich besorge daB Ihre düsteren Ansichten über die e Europas und Frank- 
reichs selbst nur zu gegründet seyn dürften. Das hiesige Ministerium macht sich 
durch sein zweydeutiges egoistisches Betragen täglich mehr Feinde und es erscheinen 
eine Menge sehr starker Broschüren gegen daßelbe, z. B. von Juan Jermene (?), 
v. Morsbury, Sarron u.s.w. Chateaubriand ist leichtfertig und eitel, liebt Weiber 
und Spiel, man kann mit ihm nichts zum Ende bringen. Villele von tatenlosen Geld 
Menschen umringt u. ohne große politische Ideen hat sich bereits ganz in die Gunst 
des nächsten Thron Erben eingeschlichen. Den K. v. Spanien sucht man in Ab- 
hängigkeit zu erhalten u. ihm Constitutionen u. emprunts der Jakobiner aufzu- 
dringen. Ich habe Briefe von Infantinnen selbst gesehen die sehr unzufrieden lau- 
ten. Man sucht mit großen Geld Summen alle royalistischen Journale zu töden oder 


33 Mit ihr verkehrte Haller sehr freundschaftlich. 

3* Am 28. Februar 1826 erhielt der „Restaurator“ dafür den spanischen Orden Karls III. 

“ Friedrich von Gentz (1769—1832), s. Anm. 13. 

*! Francois René Chateaubriand (1768—1848), der berühmte Dichter. Als Minister ver- 
hinderte er Hallers Anstellung im Ministerium des Auswärtigen. 

a Jean Baptiste Villèle (1773—1554) war bis Januar 1828 Ministerpräsident. Er war 
Hallers Gónner. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 585 


sich derselben zu bemeistern, auf daß sie nur nichts gegen das Ministerium sagen. 
Die jakobinischen Blätter hingegen können gegen Gott u. den König sagen was sie 
wollen. Die Schweiz ist von Grund aus verdorben; so lang man dort u. vorzüglich 
in Bern die Häupter nicht ändert, so nuzen alle Noten der allirten Mächte nichts. 
Stellen Sie sich vor, daß Wattenwyl u. Mülinen, die sich allein die Schweiz nennen, 
unterstüzt von einem liberalen Französischen Gesandschafts-Sekretär, Namens 
Bourquenel, noch jezt hier in Paris alle möglichen Verläumdungen gegen den wakeren 
Marquis de Moustiers ausstreuen laDen, weil er der jakobinischen Partey ein Dorn 
in den Augen ist, um seine Zurükberufung zu veranlaßen und hätte er nicht S. K. H. 
Monsieur u. selbst Mr de Villéle für sich: so würde vielleicht Chateaubriand der 
Sollicitationen der Mme de Broglio, des zweydeutigen Alexis de Noailles u. a. des 
gleichen Gelichters nachgeben. — Aus Deutschland meldet mir Pfeilschifter“ daß 
sein Staatsmann nur noch 200 Abonnenten zähle, daß er in Preußen gar nicht 
einmal angekündigt werden und daß die große Begünstigung des Wiener Cabinets 
in der Abnahme von 12 Exemplaren bestehe. Das sind böse Zeichen. 

Ihre Notiz über den General de Mont (?) verstehe ich nicht recht. Auf der einen 
Seite beißt es daB er der Bastard eines Freyherren du Mont sey u. auf der anderen 
daB sein Vater ein gemeiner Landmann gewesen. Lezterer wird also wohl der No- 
minal Vater seyn. 

Empfehlen Sie mich verehrungswürdiger Freund, dem Grafen Johann. Wir 
wollen immer thun was von uns abhängt und das Beßere hoffen. 


H. 
10a. 
An Haller. Wien, den 23 Juny 1824. 


Es gestaltet sich im westlichen Europa eine unnatürliche Coalition gegen die 
heilige Allianz, welche den Triumph der Revolution herbeyführen, oder deren Be- 
siegung wenigstens erschwehren und unendlich verzögern wird. Zwey Mächte durch 
Lage, Intereßen und Sitten, geographisch, politisch, und moralisch, grell getrennt, 
scheinen sich jetzt enge an einander zu schließen, um das revolutionäre Prinzip, 
welches sie regiert, durch deBen Ausbreitung in auswärtigen Staaten festzuhalten; 
die eine, nicht des Princips, sondern ihres egoistischen Insular Systems wegen, 
die andere, aus dem revolutionären Grundsatz der Gleichheit, der die revolutio- 
nären Machthaber auf die hohe Stuffe brachte, die sie ohne daßelbe nie erklommen 
hätten. Erstere hoft, durch die Fortdauer der Empörungen, Bürgerkriege und con- 
vulsionen eine Art von organisirter Anarchie in den Ländern entstehen zu sehen, 
deren Handel sie sich dadurch ausschlüßig zu bemächtigen wünscht. Letztere, 
eigenen National Handel und Industrie vergeßend, will blos, auswärts wo sie kann, 
die politische VerfaBungsformen die sie besitzt, aufdringen, um Alliierte zu gewinnen, 
wenn einmal die Sonne der Wahrheit die kimmerische FinsterniB durchbrechen sollte. 

Daß England sich der Rebellen in America annimmt, für Spaniens Restauration 
weniger als nichts thun wollte; allen Empórern Schutz und Hülfe gewährt; Portugal 
den Liberalen Preis giebt, um es wieder zu einer baskischen Provinz zu erniedrigen, 
und Brasilien nun unter constitutionellen Bedingnißen jenem zu nähern suchen wird, 
um den Handel allein sich zuzueignen; daB England die Algierer schrekt, sie aber 
nicht vertilgt; die Griechen ohngeachtet ihres Liberalism, ihrem Schicksal über- 
läßt; die christlichen Irrländer als Heloten, die heidnischen Neger aber als zärtlich 

eliebte Brüder behandelt ... alles dieses begreift sich, da die Regierung dieses 
ndes alle Federn in Bewegung setzen muß, um Mittel ausfindig zu machen, die 
Ausgaben, welche aus der ungeheuren Schuldenlast, aus der Erhaltung der unermeb- 
lichen zerstreuten territorial Besitzungen, und aus der Nothwendigkeit, sich gegen 
die wüthenden Angriffe der ja mehr und mehr anwachsenden methodistisch radicalen 
faction zu vertheidigen, entspringen, zu bestreiten. 

Daß aber eine geistreiche, durch die Schule der schrecklichsten Erfahrung ge- 

witzigt seyn sollende Nation, sich abermals so blenden laßen könne, zum Werkzeug 


Johann Baptist von Pfeilschifter (1793—1874), Herausgeber des ‚„Staatsmannes‘, der 
die Metternichsche Politik mutvoll verteidigte. Vgl. Ewald Reinhard: J. B. von Pfeilschifter 
Hist.-pol. Blätter. Jahrg. 1921. 1 Heft. 


586 E. Reinhard 


der Habsucht und des Ehrgeizes einiger weniger zu dienen, welche durch d3e Adop- 
tion des verächtlichen Schaukel Systems, das sie mit Erfolg bekämpft hatten, nun- 
mehr nur zu sichtbar beweisen: daß es ihnen nicht um die Religion, den rechtmäöigen 
Thron, die NiederreiBung des revolut. Gebäudes, die Ruhe, den Frieden von Europa 
und der innere und äußere Wohlstand ihres Vaterlands, — sondern blos um die M;- 
nisterial Stelle zu thun ist — wahrlich dieses ließe sich nicht begreifen, wenn manm 
nicht durch die Erfahrung belehrt, überzeugt sein könnte, daB die praktische Ar- 
wendung der revolut. Dogmen, besonders bey einer leichtsinnigen, eitlen und durch 
30 jährige Gráuel entarteten Nation, alle Gefühle des wahren Patriotism, dem indi 
viduellen Egoism, unterordnen mu B. 

Ich weis, es giebt ehrenvolle Ausnahmen, und es zeigen sich beharrliche An- 
strengungen, das Reich des Christenthums, der Tugend, und des Rechts, zurükzu- 
führen; allein großer Gott! welcher Wiederstand wird ihnen nicht entgezengethürmt, 
und von welcher Seite? Was soll aus allem diesen werden, wenn die feste Kraft, 
sich nicht mit dem ernsten Willen zum Guten vereinigt, und wenn man einzig 
und allein auf eine langsam zu bewirkende Zukunft rechnet, während ungezügelte 
Leidenschaften die Gegenwart zum Verderben hintreiben? Hoft man auf Wunder? 
Erwartet man wieder Wunder, neue Wunder? Hat man deren nicht zahlose ge- 
sehen, hat man sie benutzt, sie verdient? Pfuy der Feigheit! 

Durch EntschloBenheit wurde der wirklich heilige Krieg gegen die rebellischen 
spanischen Cortes, trotz der Baskulanten, erzwungen; das revolutionäre Gerüst 
stürtzte in sich zusammen, ohngeachtet alles angewendet wurde es aufrecht zu er- 
halten. Portugal kaum der anarchischen Tiranney entschlüpft, neigt sich wieder 
unter dem eigensüchtigen Einfluß Englands, zu revolutionären Grundsätzen hin, 
welche unfehlbar Brasilien vom Mutterlande trennen, den Handel beyder König- 
reiche in die Hände der leitenden Macht liefern und in der pyrenäischen Halbinsel, 
den Keim zu neuen Empórungen und Umwälzungen, lebendig erhalten werden“. 
Und dennoch sucht die nemliche Regierung, welche Ferdinanden rettete und der 
Befreyung Joao's zujauchzte, beyde Monarchen unter dem liberalen Joch der 
afranasado's und der Freymaurer gebeugt zu sehen; und treibt die Verblendung, 
um nicht mehr zu sagen, so weit: sich den imperiosen Insinuationen einer Macht zu 
unterwerfen, deren tichten und trachten dahin zielt, das bourbonische Spanien und 
Portugal von ihren Colonien zu trennen, und Frankreich dahin zu beschränken, mit 
diesen Nachbar-Staaten keinen anderen Verkehr zu haben, als denjenigen einer 
Liberalitäts Verwandschaft. 

Wie verträgt sich aber dieses Benehmen, welches die Aufdringung der revolu- 
tionären VerfaBungs-Systeme dort wo sie 1815 nicht bestanden, zur Absicht hat, 
mit der heiligen Allianz der großen Continental Mächte, welche die Restaurazion 
des Legitimitäts-Prinzips der Thronen eroberte, festsetzte und garantierte, der Aus- 
breitung der antimonarchischen Theorien Schranken setzten und das gerettete 
Frankreich, deßen dringenden Wünschen gemäß, in diesem Bund aufnahmen? 
Heilt solches nicht die eingegangenen Verpflichtungen mit Füßen tretten, ja selbst 
denselben schnurstraks entgegen wirken ? 

Freilich ist dort nichts, für die Solide Begründung der Religion, und der Sou- 
verainen Autorität, so wie auch für die hermetische ZuschlieBung der revolutionären 
Pandora Büchse zu erwarten: wo ein Marchangy ausgeschloßen, und ein B. Constant 
zugelaBen wird; wo man Bourmont aus Spanien entfernt, weil er sich royalistisch 
bewies; wo alles angewendet wird, die Anleihen der rebellischen Cortes anerkennen, 
zu machen, und nichts thut, die königlichen zu begünstigen; wo der Verschärfungs- 
Vorschlag der Strafen gegen die Kirchenfrevler, die empörendste Gleichgültigkeit 
verrieth, und lieber zurückgenommen wurde, als ihn den Bedürfnißen der berrschen- 
den Religion anzupaßen; wo Millionen ausgegeben wurden, damit statt der auf- 
gelößten ächt royalistischen Kammer der Deputirten, eine neue, von ventrus be- 
setzte, erwählt würde, geeignet die Septennalität (der Minister) und die Con- 
version des rentes (um obige Millionen wieder einzubringen, ohne sie im Budjet 
einschieben zu müßen) zu decretiren, wo, um jeden PreiB, die royalistischer Jour- 


% Don Miguel (1802—1866) wurde 1824 aus Portugal verbannt. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 587 


nale zum Schweigen oder zur Belobung antiroyalistischer Verfügungen gebracht 
werden; wo endlich, die Geldmáklerey zur einzigen StaatswiBenschaft sich erhoben 
hat, und dem zufolge, die Bórse zum Staats Kabinet, die Geldkisten der Banquiers, 
zum Staats Schatz, zu den zu dirigierenden Staatsministern, die Capitalisten zu 
einer unwiederstehlichen Puißance, und der ultra Liberale Lafitte zum ersten Mi- 
nister des Presidenten du Conseil geworden sind, wo durch ein wahres goldenes 
Zeitalter entstehen wird, welches den materiellen paßiven Feinden, trotz des wüthen- 
den Krieges der Leidenschaften gegen das Recht, nothwendigerweise festbannen muß, 
wenn der pactolus, gleich dem Meander, durch seinen schleichenden und schlängeln- 
den Lauf nesenhaft angeschwollen, wieder zur Quelle zurückkehren soll. 

Im Schreiben dieser Zeilen begriffen, ersehe ich aus den Zeitungen die Verstoßung 
des VerfaBers der Monarchie (?) selon la Charte aus dem Ministerium. Aus- 
genommen über die etwas brutale Art seines Collegen's, kann sich H. Chateaubriand, 
rücksichtlich dieses MiBgeschicks nicht beklagen, denn es ist eine natürliche Folge 
des in der so hochgepriesenen Charte festgesetzten oder vielmehr bestätigten revolut. 
representativ Systems, deBen Opfer sein immediater Vorgänger auch ward! Was 
mich hiebey in Erstaunen setzt, und mein Bedauern sehr vermindert, ist: daB das 
Journal des Debats, deBen Grundsátze, vom Memorial catholique so bündig ent- 
larvt wurden, wieder meiner Vermutbung durch seine heftige Theilnahme an das 
Schicksal des gefallenen Ministers, sich als ein Blatt zeigt, welches unter seiner 
Leitung und Schutz stand!?! 

Das Decazische Scl auklwesen scheint sich vollkommen erneuern zu wollen. Frei- 
lich erhält es gegenwärtig eine neue Auflage; der Zweck, und ich fürchte auch die 
Resultate werden indeßen die nemlichen seyn, wenn man ihm nicht bei Zeiten in 
die Speichen greift. Die royalistische Farbe ist zwar wie 1815 aufgezogen, sie er- 
scheint aber schon sehr gestreckt, und kann leicht wie 1815 ff. in grelleren tincturen 
übergehen. 

Die mittel- oder unmittelbare Vereinigung der wichtigsten Portefeuilles in 
einer Hand — die zu erwartende eparationen in den Dikasterien, — die schamlose 
Dictatur über die Journale — eine muthmaßliche neue Pairs-fournée, — eine 
wahrscheinliche Aufnahme einiger Ultraliberalen im Conseil, — der handgreiflich 
gefaßte Entschluß, Spanien der Constitutions-Wuth aufzuopfern, — endlich die 
Trennung vom politischen Intereße des Continents, werden die Folgen einer Ver- 
blendung seyn, die eben so unbegreiflich als betäubt ist, wenn sie noch länger dauern 
sollte. Wolle Gott, daß dieser Staar, durch die Erfahrung und die Erkenntniß, und 
durch gelinde, nicht blutige Mittel gehoben werden könne. Verzeihen Sie mir, bester 
Freund, diese lange Rapsodie, allein weßen Herz voll ist, davon geht der Mund über; 
und ich muß gestehen, daß mir das ganze reppresentative Constitut.-Unwesen und 
alles was daraus herflieBt, ein Greuel ist, weil es, überall wo es statt fand, seinen 
en der Rebellion gegen die göttlichen und menschlichen Satzungen hatte. 
Auf die Länge, muß ein jedes Represent.-System, es mag auf aristocrat. od. demo- 
cratischen Institutionen beruhen, den Triumph der modernen Philosophismen herbei- 
führen, der die groBe Menge, mithin die phisische Kraft schmeichelt, und alle gesell- 
schaftliche Subordination tódtet. Beweis das jetzige England, wo das Ministerium, 
dem wilden Gepolder der Radikalen, wieder seine eigene Überzeugung nachgeben 
muB, um den völligen Umsturz, nicht so sehr, der unvergleichlich seyn sollenden 
brittischen Constitution, als vielmehr der Existenz des Staates noch eine Zeitlang 
aufzuhalten. 

Die letale Kälte womit die vortrefliche, und wohl meinende Zeitschrift Der 
Staatsmann in Deutschland aufgenommen wird, ist allerdings ein böses sehr böses 
Zeichen. Vom östlichen und nördlichen europ. Continente, wird das, von allen red- 
lichen Leuten so ersehnte Heil nicht ausströmen; nicht daß es an Wärme gebräche, 
sondern weil man nur Wärme für das schlechte zeigt, und duldet! Nur vom Westen 
her, kann noch das gute kommen, weil jenseits der Pyrenäen noch ein religioser u. 
monarchischer Geist herrscht, und diefeits derselbe Wurzel zu faßen sucht. Der 
Himmel segne diese Bemühungen, und zerstreue alle sich dagegen stráubenden 
HinderniBe. 

S. 


588 E. Reinhard 


11. 
Paris 31t July 1824. 
Verehrtester Freund! 

Ihr intereDantes, wenn auch nicht erfreuliches Schreiben vom 23t Juny ist 
mir etwas spät nemlich erst den 27t July zugekommen. Zweymal habe ich es mit 
Aufmerksamkeit gelesen und bin nicht wenig erschrekt worden, da ich manches 
darinn zu wahr finde. Doch kann ich Jhnen aus meinen Beobachtungen näheres 
melden, was Ihre Ostergrüße etwas mindern oder wenigstens beweisen mag daß der 
Grund des Übels nicht von der Seite kömmt welche Sie anzudeuten scheinen. 80 
kann ich vorerst unmöglich glauben, daß das hiesige Ministerium sich so sehr an 
England anschlieBe, es müßte denn (was gar wohl möglich wäre) der König selbst 
diesem System ergeben seyn. Sonst wäre dieses Benehmen so sehr dem National 
Charakter entgegen daß in diesem Punkt allein Royalisten und Jakobiner einig 
sind. Was mich in meiner Vermuthung bestärkt ist, daß der Etoile ein ganz mini- 
sterielles Journal, keine Gelegenheit versäumt, um gegen die falsche Englische Po- 
litik zu eifern. Der Infant D. Michel wird hier mit mehr Distinktion als kein 
anderer Prinz empfangen und Herr v. Villele sagte selbst er billige die Präfekten 
daß sie auf deBen Durchreise ihm sogar mehr qune en redis erwiesen hätten 
als sonst üblich gewesen. Wenn Hyde de Neuville“ vielleicht Fehler begangen 
und den Prinzen Michel paralysirt hat: so weiß ich aus den Äußerungen des Marquis 
de Moutiers selbst, daB solches hier ungern gesehen worden. — Marchangy“ ward 
nur wegen einer gesezlichen Pedanterey ausgeschloßen und die schändliche Auf- 
nahme des B. Constant, dieses Repräsentanten aller Europäischen Revolutionàr 
ist nur dem la Bourdonnaye zuzuschreiben, der wegen seinem leidenschaftlichen 
Haß gegen die Minister, mit dem cité gauche fraternisirt, durch seinen Anhang 
mit 40 Stimmen den Ausschlag gab und selbst den Dudon zum Mitschweigen brachte. 
Über das Renten Gesez konnte man verschiedener Meynung seyn u. zuverlässig 
ist es nicht zu Dekung geheimer Ausgaben vorgeschlagen worden. Sobald man die 
Rükzahlung anbot, so schien es mir wenigstens gerecht und der Monarchie offenbar 
vortheilhaft, obschon ich viel dabey verlohren hätte. Die Verwerfung deßelben war 
nur die Folge des Geschreys der Pariser rentiers (die alle gejubelt hätten wenn man 
ihnen vor 5 Monaten gesagt hätte, daB sie statt 90 — 100 Fr. bekommen würden) 
und einer Cabale der liberalen Pairs mit denen Chateaubriand wiederstand, gewesen. 
Eine neue entgegengesezte fournie von 30 à 40 um die 8%, Cazische zu über- 
wältigen, wäre höchst nothwendig, um so da mehr als die liberale Faktion seither 
sogar den Skandal gegeben hat das Gesez über Anerkennung der bereits bestehenden 
und künftig weiblichen Congregationen zu verwerfen. Was die Journale betrifít, 
so kann ich ihnen auch nicht so viele Wichtigkeit beymeBen. Ich habe diese hommes 
de lettres in der Nähe gesehen. Sie sind von einer unerträglichen Arroganz, schreiben 
sich Jnfaillibilität zu wollen in ihrer Unwißenheit die Mentors der Regierung seyn, 
Minister ein und absezen und haschen im Grund nur nach abomination ( ?). Mit solch 
täglichen Angriffen kann kein Ministerium bestehen auch wenn es aus lauter Engeln 
zusammengesezt wäre. Die Quotidienne besonders führt seit einiger Zeit ein leeres 
Oppositionsgeschwäz, greift täglich die Minister an u. fürchtet sich dagegen vor den 
unbedeutendsten fremden Jakobinern, wovon ich Beyspiele anführen könnte. Mich 
wundert nur daß man so viel Geld ausgiebt um die Actien aufzukaufen, alldieweil 
man anderswo mit diesen Herren nicht so viel Umstände macht. Allein das ist noch 
ein Beweis der hier zu Land bestehenden übergroßen Freyheit. Daß Chateaubriand 
kein Bedauern verdient, daran haben Sie ganz recht. Hat er nicht in allen seinen 
Schriften das Repräsentativ System, welches den König zu einer Nulle macht, 
hoch gepriesen und sich neuerlich in dem nicht allein zweydeutigen sondern durchaus 
schlechten Journal des Débats vollends entlarvt. Sprach er nicht auf jeder Seite von 
Chartes und Constitutionen, von libertés publiques, opinion publique, von mouve- 
ment du siécle, wollte Feuer u. WaBer, den bon sons de nos péres und den aspect 


** Hyde de Neuville (1776—1857) beschützte als Gesandter den bedrohten König von 
Portugal. Einer der unentwegtesten Verfechter der Restaurationsideen. 

** Louis Antoine Francois Marchangy (1782—1826), Schriftsteller. Wurde 1823 und 1824 
trotz seiner Wahl zum Abgeordneten zurückgewiesen. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 589 


du siécle mit einander vereinigen? Ein beBerer Christ und ein beBerer Rovalist zu 
seyn als er, ist wahrlich keine Kunst. Die Duchesse d'Escars nannte ihn schon längst 
einen Décorateur und der Abbé de Robiano*? einen parfumeur. Von Eitelkeit auf- 
gebläht und nur von sich selbst redend, will er stes gerühmt seyn, besonders von 
den sogenannten hommes de lettres, und selbst von den Liberalen, um deren Gunst 
er gleich einer Coquette buhlte. Nach London ging er mit einer comoediantin und 
lieB die Frau zu Haus, welches wahrscheinlich auch zum génie du Christianisme 
gehört. In seinem Ministerio gab er sich mit den Geschäften nichts (!) ab, war in 
die Me Bonay de Castellane die Frau eines Banqueroutier sterblich verliebt, hatte 
2 bis 3 Maitreßen, lief stets zu der Mme Récamier, zeigte große Deferenz für die 
Empfehlungen der furibonden Protestantin u. sehr liberalen Me de Broglie, der 
berüchtigten Fr. v. Stael würdiger Tochter, hat für die Royalisten nichts gethan 
und dagegen in allen mächtigen Gesandschaften revolutionäre Legations Sekretärs, 
neuerlich sogar einen Sohn und einen Neffen des Girardin angestellt, die schändlichen 
Intriguen der beyden Berner Schultheißen gegen den Marquis de Moutiers hätte 
er nachgegeben und beschüzte sogar den infamen Sekretär Bourguenet, welcher 
mit ihnen und allen Jakobinern zu seinem Sturze einverstanden war. Villéle sezte 
ihn dagegen ab und hat den M. de Moutiers noch hóher gehoben. Übrigens ist Cha- 
teaubriand noch ein Spieler u. Verschwender, u. hat in dem Ministerio 120000 Fr. 
schreyender Schulden hinterlaBen. Dagegen hat H. de Villéle vielleicht nicht den 

roßen politischen Blick der zu wünschen wäre, aber unendlich mehr Muth, gesunden 

'erstand u. Geschäfts KenntniB. Wenigstens scheut er sich nicht überall die best- 

esinnten wahrhaft religiösen u. royalistischen Männer anzustellen, als wie z.B. 
den Mr de Vauchier als Chef des Douanes an Plaz des liberalen St Coivy (?), der 
Herr v. Horrer*? als Legations Sekretär in Bern, ein trefflicher Mann, welchen 
Chateaubriand nie wollte, obschon er von dem Thron Erben selbst empfohlen war; 
was mir auch eine gute an Ea ist daB die würdigsten Mànner wie z. B. 
Chifflet*, Bonald®®, Marcellus, Frayssinous9? u.s.w. am meisten Einfluß auf ihn 
haben. Selbst meine Anstellung? hat bey ihm nicht den geringsten Anstand gefun- 
den, wáhrend Chateaubriand sich mit den Liberalen zu compromittiren gefürchtet 
hátte. Die sogenannt ministeriellen Journale, besonders das Drapeau blanc und die 
Etoile sind im Grund royalistischer als die anderen, und so wie ich sie stets gewünscht 
hätte, nemlich für die Religion und gegen die Jakobiner, ihre Prinzipien, ihre An- 
hänger, ihre Constitutionen und geheimen Verbindungen, laBen aber die Regierung 
ungeschoren, welches auch allerdings in der Ordnung ist. 

Übrigens, mein bester Freund halte ich dafür daß die Persönlichkeit des Königs 
und die unselige Charte der Grund alles Übels ist und die besten Absichten lähmt. 
Zum erstenmal in meinem Leben bin ich auch energischer als Sie und überhaupt 
daB ohne blutige Mittel das Übel nicht gehoben werden kann ja vielleicht nicht ein- 
mal gehoben werden soll. Das Blut der Rechtschaffenen muB durch das Blut der 
MiBetháter ausgesöhnt und die Gerechtigkeit befriediget werden. Ein Schreckens 
Svstem gegen die Jakobiner ist absolut nóthig und dieses wird früher oder spáter 
erfolgen u. dieses wird früh oder spät eintreten man mag wollen oder nicht. Vielleicht 
giebt Spanien das erste Beyspiel dazu. 

Ihr Vetter Graf Johann meldet mir, daB Sie mir einen Wechselbrief von 120 F. 
Augspurger Courant oder circa 300 Fr. senden werden. Derselbe wird sehr willkom- 
men seyn, da ich in diesem Augenblick eben nicht sonderlich bey Baarschaft bin 
und für verschiedene Personen um mehr als 1000 Fr. in VorschuB stehe. 


4 Vertrauter Freund Hallers in Paris. 

** Marie Joseph Chevalier d'Horrer, zweiter Gesandtschaftssekretär, auch Geschäftsträger 
Frankreichs in Bern, mit Haller innig befreundet. 

Marie Büslgue Ferreol Xavier Chifflet (1766—1835), erster Präsident de la cour de 
Besancon. 

% Louis Gabriel Antoine Vicomte de Bonald (1754—1840), der bekannte Begründer des 
Traditionalismus. 

^" Louis Marie-Auguste Graf von Marcellus (1776—1841), bedeutender Politiker; seit 
1823 Pair. 

ss Denis Graf von Frayssinous (1765—1841), Priester, von 1824—1828 Kultusminister. 

ss Nach dem Abgang Chateaubriands wurde Haller unter dem Baron de Damas Publiciste 
attaché au Ministre des affaires étrangéres (Juli 1824). 


590 E. Reinhard 


Mich freut daß Sie das Mémorial catholique lesen und sich von dem Titel nicht 
abschreken laden. Ich habe verschiedene Artikel darinn geliefert theils mit theils 
ohne meine Unterschrift, unter anderen die nouvelle acception du mot protestant 
auf welche wohl zu merken ist. Im Staatsmann werden Sie wohl auch gelesen haben, 
wie ich die Portugiesische Constitution durchmusterte. Es ist eine Ampliation des- 
jenigen was seiner Zeit im Drapeau blanc erschien. 

Leben Sie wohl theuerster Freund, ich erwarte mit Ungeduld Ihre ferneren 
Briefe, zu adressiren nicht an Louis sondern an Joseph Bourrier rue du regard No 1. 


v. H. 


12. 
Paris 4. Sept. 1824. 


Ich benuze die Gelegenheit eines nach Wien abgehenden Couriers um Ihnen 
verehrtester Freund, den Empfang Ihrer Briefe vom 1t und 11ten August nebst dem 
Wechselbrief von 300 Frs. aufs Guerin Fourin et Comp. zu avisiren. Dieser Wechsel 
ward auch richtig bezahlt und die Secondo ist also vernichtet worden. 

Seither habe ich von dem Grafen Johann einen Brief aus München und nachher 
durch Courier einen viel früheren vom 10t July aus Wien erhalten. Er gab mir die 
Adresse eines gewißen Carl Pogliese Toscano von Augspurg; ich weiß aber nicht ob 
dieser Toskano auch zu Augspurg oder nur von Augspurg und zu Chur sey. 

Mit vielem Vergnügen habe ich unlängst Ihren trefflichen Herren Sohn in bester 
Gesundheit zu Versailles* gesehen, wo er die Güte hatte, meine Frau u. meine 
Tochter so wie die bey uns auf Besuch wohnenden Frau u. Fräulein von Erlach im 
Park zu begleiten, als eben die WaBer spielten. Er ist ein würdiger Sohn seines Vaters 
und hat sich in Spanien noch sehr in den guten Principien gestárkt, scheint aber mit 
dem Benehmen der Franz. Truppen Commandantur u.s.w. gar nicht zufrieden. 
Desto beDer, es giebt dann nach ihrem Abzug, früher oder später eine Saint Barthé- 
lemy von Negros. 

Die Königliche Ordonnanz welche ein eigenes Ministerium für die kirchl. 
Angelegenheiten errichtet, ist eine indirekte Regeneration für die Eliten wegen 
den famósen u. von Ludwig) XIV selbst zurükgezogenen Quatre articles wie auch 
eine Garantie für die Zukunft. Der Pästl(iche) Nuntius hat dieses mit vieler Klug- 
heit durch den Grafen v. Artois und Herrn v. Villéle eingeleitet. 

Leben Sie wohl für heute verehrtester Freund, ich muß abbrechen um meinen 
Brief noch zu rechter Zeit an den Graf Senfít-Pilsach zu schiken. 


Ihr Ergebenster 
v. Haller. 


12a. 


Grünberg & Wien, den 16. October 1824. 


Ich hatte, theuerster Freund, Ihr Schreiben vom 31. July, erst zu Anfangs Sept. 
erhalten als der Fürst v. Metternich zu seiner Mutter nach Grünberg kam, wo ich 
ihm solchen vorwies; er nahm ihn mit sich, da ihn derselbe ungemein intereßierte, 
erstattete mir ihn aber erst nach Verlauf von 3 Wochen; diese späte Zurükgabe, 
unsere Wiederübersiedlung nach der Stadt, endlich die Durchreise meiner Tochter 
Bißingen samt Familie nach Presburg, und ihr Auffenthalt hierorts von einigen Tagen, 
hinderte mich Ihnen früher zu schreiben. Ich weis nicht, ob ich das Recht hatte, 
mir die oberwähnte Mitheilung zu erlauben, allein so viel kann ich sie (!) versichern, 
daß der Innhalt Ihres Briefs, den Fürsten in seinen Ansichten rüksichtlich des 
Ganges des franz. Ministerii bestärkte. Ich muß gestehen, daß ich bisher diese nicht 
theilte; allein profan in den Staatsgeheimnißen, entfernt von dem Kern der poli- 
tischen Umtriebe, ein unv erbeBerlicher Feind alles constit. Unwesens, trotz meines 
Alters rasch ungeduldig und reizbar, durch die Vergangenheit empört, durch die 
Gegenwart mißvergnügt, für die Zukunft zitternd; bin ich wahrlich zu entschuldigen, 


An v. Haller, Paris. 


„% Am 15. August 1824 verzeichnet Hallers Tagebuch einen Besuch in Versailles; avec 
mes fils à Versailles, visites chez Mr. de Salis, Bernoulli et O’Mahony. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 591 


sollte mein ultraismus mich irre geführt haben; ich laBe mich daher gerne eines 
beßeren bescheiden und stimme willig in die Strophe des confiteor mea culpa ein, 
wenn die franz. Minister aufrichtig und ohne Winkelzüge sich bestreben, den Im- 
puls zur Vernichtung der revolut. Grundsátze, ebenso von Frankreich aus über 
beyde Hemispheren ergehen zu laBen, wie dieselben von dorther zerstórend sich 
in allen Richtungen ergoBen. Dieser Erwartung wird man sich bey der erfolgten 
Veränderung um desto zuverläßiger überliefern dörfen, als der dirigierende Presid. 
du Conseil, welcher seit einigen Monathen bereits ein beruhigerenderes System 
angenommen zu haben scheint, ohne Zweifel seinen Platz behalten wird. 


Sie haben mich, bester Freund nicht verstanden, oder vielmehr habe ich mich 
übel ausgedrückt, als ich Ihnen den 23 Juny schrieb: „Wollte Gott, daß der Staar“, 
(nemlich der Fürsten und Minister) „durch die Erfahrung und die Erkenntniß, 
und durch gelinde nicht blutige Mittel gehoben werden möge.“ Die Phrase sollte, 
nach meinem Sinne, einen Zweifel enthalten, ob der Erfahrung von der Unver- 
beBerlichkeit der revolut. und der ErkenntniB der Pflicht der Regierungen, ge- 
màB, gelinde und unblutige Mittel hinreichten, die bevorstehende Gefahr zu beschwich- 
tizen, und Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. In meinen Ideen ist dieser Zweifel 
längst entschieden, und ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, daß das Un- 
kraut nur mit Feuer vertilgt werden könne, wenn man einen verwilderten Acker, 
wieder einer reinen Saat und einer erfreulichen Erndte empfánglich machen will. 
Diese unausweichliche Nothwendigkeit, zeigt sich auf das deutlichste in Spanien, 
wo Proklamationen, Kapitulationen, Insinuationen, Interventionen, Vorschläge 
zu Constitutionen, und endlich Amnistien, den Rebellen hinlänglich zeigen, daß 
man sie fürchtete und ihnen MuBe laBen wollte, mit mehr Klugheit und Umsicht 
den Zeitpunkt abzuwarten, bis die gelähmte Spannkraft einer zitternden Hand, 
durch die lange paßive Anstrengung völlig entkräftet niedersinken würde. Rütteln 
die in Andalusien vorgefallenen Tollháuslerstreiche, die schlaftrunkenen Kópfe nicht 
auf, entsetzt man sich immer mehr vor den absolutos, der Junta apostolica, den 
ultra royalisten, als vor den comuneros, dem comité directeur, und den literaux 
constitutionels; beharrt man, mit Halsstarrigkeit le pardon et oubli, der justice 
et sévérité vorzuziehen: so laßt uns in Caesar's Mantel uns einwickeln, die Dolche 
der modernen Brutus, werden auf den nemlichen Stuffen nebst denen, welche sie ihnen 
nn wollten, auch diejenigen morden, die sie ihnen in die Hände geben, oder 
ießen. 


In Ansehung der redaction des rentes, die vermuthlich wieder auf das Tapet 
kommen wird, kann ich nicht, theuerster Freund, Ihrer Ansicht beypflichten. — 
Der erste und einzige Zweck der Regierungen ist, die Beförderung des Wohlstandes, 
die Vermeh des Ruhms, und die Erhaltung der Sicherheit des Staats dem sie 
vorstehen; die Finanzen sind als bloßes Mittel zu betrachten, jenen zu erreichen, 
und sollen daher demselben völlig untergeordnet seyn; und ich theile vollkommen die 
Meinung Machiavell’s, welcher in seinen Fragmenten über solches sagt: es seye 
ein großer Irrthum zu glauben, daß das Geld der nervus belli wäre: denn Millioren 
seyen nicht vermógend, tapfere Soldaten zu schaffen, wührend tapfere Soldaten 
Millionen eroberten. Wie im Militär, so auch im Civil und wehe dem Staat, deßen 
Existenz nicht auf Rechtschaffenheit, Festigkeit und Tugend, sondern nur auf 
Geld und Geldkredit gestützt ist. — Was entstünde daraus, wenn es umgekehrt 
wäre, und der Zweck von den Mitteln abhinge? Wenn z. B. die Finanzen, ich will 
nicht sagen, zerüttet, sondern nur verwirrt, oder in weitaussehenden combinationen 
compliziert, bey einem unvorhergesehenen und unausweichlichen Krieg, die Staats- 
kráfte und die Politik, paralisieren würde? — Gesetzt, man entschlöße sich, Spanien 
auf eine thátige Weise zur Wiedereroberung seiner empórten Colonien zu verhelfen 
(welehes allerdings zur Aufrechthaltung der Legitimitüts-Prinzipien, mithin zur 
Ruhe von Europa höchst wünschenswerth wäre, und ohne welches der Kreuzzug 
nach der Halbinsel unütz ausfallen dürfte) würde man sich in der Lage finden, den 
allfälligen Wiederstreichen und Drohungen Englands, sich mit Würde und Ernst 
entgegenzuwerfen, wenn nebst der Vermehrung der Schuld, durch die Herab- 
setzung des ZinsfuBes der Staatspapiere, man sich außer Stande fände, zur Führung 
des Krieges, oder auch nur um eine imponirende Stellung anzunehmen, neue An- 


592 E. Reinhard 


leihen zu machen; da Niemand geneigt seyn móchte zu niederen intereDen seine 
Kapitalien aufzulegen ? Oder würde man sich bequemen, die neuen Stammsummen 
niedrig anzunehmen, um die einmal ostensibel festgesetzten IntereBen nicht zu 
erhöhen ? Welche Verwirrung, Ungerechtigkeit, und welche immense Vergrößerung der 
zu amortisierenden Schuld würde aber daraus nicht erfolgen? Oder, um alles dieses !) 
auszuweichen, wäre man gesonnen, sich in allen Fällen leidend zu verhalten, wie, 
wie man sagt, fünf als gerade gelten zu laben? Zu diesem Resultat muß die elende. 
alle hohen und edlen Gedanken erstickende Geldmäklerey die Regierungen zu einer 
Zeit führen, wo noch vieles zu thun ist, um die Altäre und die Thronen aufzubauen, 
und gegen die Angriffe einer eng verbündeten Sekte von Verschwörern zu verthei- 
digen, und zu sichern. 

Überhaupt ist Pluto jetzt der Alleinherrscher der sogenannten civilisierten 
Welt geworden, und die Alten hatten volles Recht ihn, zu gleicher Zeit zum Gott 
des Geldes und des Tartarus zu machen. 

Sucht man endlich einmal durch die gräßlichste Erfahrung belehrt, und durch 
einen noch glimmenden Funken Vernunft erleuchtet, sich von den pestilentialischen 
Influenzen des philosophischen Acherons zu befreyen: so sendet flugs der Herr des 
Abgrunds, seine Gnomen Lafitte, Rothschild, Baring und wie sie alle heißen, in die 
Oberwelt, welche die höllischen Kuxen öfnen, und die glänzenden Produkte der- 
selben, unter der Bedingung anbieten, keinen Krieg anzufangen, oder dazu, es 
geschehe was da wolle, Anlaß zu geben, damit ja die modernen Apicii und Luculli 
in Friede des Lebens froh genießen, besonders aber damit die, zur allgemeinen 
Menschenbeglückung unternommenen Geld Speculationen nicht unterbrochen 
werden, oder gar periclitieren mögen. Dann ist die Allianz zwischen den Siban- 
tischen Epikuráern und Pluto geschloßen, und Gold und Nationen fallen ihm 
anheim. 

Auf diese weise finden sich nunmehr alle Regierungen in die Hände der Ban- 
quiers verstrickt, welche ihnen die Waffen zu ihrer eigenen Vertheidigung zu er- 
greifen nicht erlauben, und sie zwingen werden, der Ausbreitung der Revolutions 
Grundsätze ruhig zuzusehen, oder höchstens mit der Zunge oder Gänsekielen zu 
bekämpfen, auf daß die Quelle immerwährender Gährungen und Unruhen nicht 
versiege, und die Geldmäkler alle Muße erhalten, ihre Speculationen vor dem aus- 

esogenen Europa, nach dem brache liegenden America zu verpflanzen, wofür sie 
Jetzt einen kleinen Theil der in ihren Kisten gerathenen Beute als Saat zu einer 
millionenfältigen Erndte hinsenden! 

Es scheint, die neue Ära beginne nach dem Einklang der disparatesten Jour- 
nale zu urtheilen, unter den constitutionellsten Auspizien. Man sehe la Gazette de 
France, und das Journal de Paris, le Drapeau blanc und das Constitutionel, T’Etoile 
und das Journal des Debats, wie sie alle gleich dem prosaischsten Dichter in seinem 
le roi est mort, viveleroi dem Könige die Beobachtung und Beschwöhrung der Charte 
einschärfen, als wenn sie die Aufrichtigkeit seiner Äußerungen in Zweifel zógen, 
und das heilige Óhl, welches den ersten Sicamber zum Kónige salbete, die Eigen- 
schaft nunmehr erworben hätte, das Stigma der gekrónten Knechtschaft einzu- 
ützen. 

Die Errichtung eines Ministeriums für die Kirchlichen Angelegenheiten und die 
Erziehung in der Person des grand maitre de l'université, ist eine große Vorberei- 
tung zu einer tróstlichen Zukunft. Móge nun auch die Bildung der Jugend nach einem 
festen Plan in einfórmiger Ausübung gebracht, und in die Hände derjenigen wieder 
gegeben werden, welche über 200 Jahre den Schulen vorstanden, und Christen und 
gründlich nützliche Männer bildeten, die man gegenwärtig überall vermiBt. Dieses 
wäre ein entscheidender Sieg über die Negros aller Länder, und wird er in Frank- 
reich erfochten, so würden hier die tausend Schwierigkeiten, die man dagegen auf- 
schichtet, leicht wegfallen, und Deutschland, nebst Italien, gerettet seyn. Hat man 
bey so günstigen aspecten, wie sie jezt in Frankreich sind, nicht den Muth, die Je- 
suiten, Jesuiten zu nennen, statt sie unter dem Rahmen von Pères de la foi oder de 
la doctrine chrétienne zu masquieren: so hat man auch den festen Willen nicht, 
das wahre Gute zu wollen. Es ist wahrlich keine Zeit mehr zu verliehren; nicht nur 
die generationen, sondern die revolut. Begebenheiten schreiten vorwürts und letztere 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 593 


gewinnen an Schnelligkeit und Gewalt nach Maasgab der Verschlechterung der 
ersteren; diese ist bereits soweit gekommen, daB die energische phisische Kraft, zur 
Hülfe gerufen werden muß, um die Erziehung mit den Ereignißen in eine Art 
von Gleichgewicht zu bringen, damit jene diese, und nicht diese, jene bestimme und 
leite, wie es nun geschieht. 

Pfeilschifter, den ich hier persönlich zu kennen Gelegenheit hatte, trägt mir 
auf ihn zu entschuldigen, daB er Ihnen noch nicht geschrieben hat, er erwartet die 
Bestimmung seines Schicksals, um es Ihnen zu melden; er ersuchte mich auch, Sie 
zu bitten, die Übersetzung des Artikels im Staatsmann, über die Ultra (den ich 
noch nicht zu Gesicht bekam) zu veranstalten, und sie dann in einem Journal dem 
franz. Publicum zu überliefern. Verbindlichst danke ich Ihnen, theuerster Freund, 
für die meinem Cousin Baron Carl v. Salis erwiesene freundliche Aufnahme und emp- 
fehle ihn zur ferneren gütigen Leitung. etc.etc.etc. 

S. 


13. 
Paris 17. Nov. 1824. 


Ich eile verehrungswürdiger Freund noch eine Stunde vor Abreise des Couriers 
zu benuzen um Ihren intreBanten Brief vom 16t Oct. zu verdanken und zu beant- 
worten. Der jezige Zustand der Dinge in Frankreich gefällt mir gar nicht. Der König 
ist ein liebenswürdiger Ritter®®, sucht sich aber, wie mir scheint, mehr durch Po- 
M als durch Gerechtigkeit und Strenge festzusezen; man befürchtet den 

influß seines Sohns, dem die Liberalen schmeicheln, und seit der Spanischen 
Expedition soll sogar die Dauphine das falsche System ihres Gemahls angenommen 
haben. Der Windbeutel Chateaubriand beträgt sich wie ein wütender conspirateur 
u. nimmt allen Masken an um neue Anhänger zu gewinnen. Während er Minister 
war sollte das Ministerium alles u. der Kónig eine Nulle seyn, jezt will er nur den 
König u. weder Kammern noch Minister, das läßt mich vermuthen daB die Liberalen 
ohne die ersteren als die lezteren zu gewinnen hoffen. Ich meines Orts finde dermal 
den wahren Royalismus und den gesunden Verstand nur in den sogenannt ministe- 
riellen Journalen. Das Renten Gesetz wird nicht wieder zum Vorschein kommen. 
Die Ráumung Spaniens, wiewohl sie nur aus finanziellen Gründen geschieht (weil 
Ferdinand VII. den Überschuß des gewóhnl. Soldes nicht zahlen kann) sehe ich 
nicht ungern u. bin überzeugt daB die Negros dabey ihre Rechnung gar nicht finden 
werden. Die Revolution war nur durch die Stimme des Kónigs stark, diese hat sie 
auf ewig verlohren, die Rädelsführer sind zerstreut, der Rest gebeßert u. die wahre 
Gerechtigkeit wird vielleicht nur dann eintreten, wenn sie nicht mehr von fremden 
Truppen comprimirt ist. Ein Auftrag den ich so eben erhalten, beweist nun daB 
das geistige Ministerium nicht auf die Anerkennung des emprunt der Cortes ge- 
drungen haben muß. Ich soll nemlich einen Rapport erstatten ob in die Reklama- 
tionen verschiedener Gláubiger welche die Verwendung des Ministeriums ansprechen 
einzutreten! sey. Sie können sich wohl vorstellen wie mein Gutachten ausfallen 
wird, der Schluß wird seyn, daB der emprunt bezahlt werden soll, aber nicht von 
dem König noch von der Spanischen Nation, sondern von den Mitgliedern der 
Cortes in solidum, zumal die ersteren gar nicht die rechtmäßigen Schuldner seyen. 
Cousin in Berlin wird alles Geschreys der Journale ungeachtet nicht unterstüzt 
werden. Der Streich ist ihm sogar von hier aus gespielt worden indem man dem 
PreuBischen Ministerio einen Wink gegeben hat. 

DaB man die Jesuiten nicht bey ihrem Namen nennen darf ist allerdings eine 
elende Schwäche, datirt aber noch von de Cazes her u. bleibt einstweilen so viel 
niemand eine Änderung verlangt. Übrigens hat der Name nicht viel zu bedeuten: 
In verbis sienae facile. (?) 

Ihr Vetter Baron Carl ist ein trefflicher junger Mann u. erweist mir oft die Ehre 
zu mir zu kommen. Ich habe ihm lezthin die hinterlaBenen Papyre des Abbé Barruel“ 


* Am 16. September 1824 folgte auf Ludwig XVIII. König Karl X., dessen Krönung in 
Reims unter mittelalterlichem Pomp stattfand. 

August in de Barruel (1741—1826), berühmter Verteidiger der Kirche, dessen Schriften 
schon früh auf Haller einwirkten. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 38 


594 E. Reinhard 


verschafft wo er nach Art der Bienen allerley Honig sucht zu dem Kuchen welchen 
er den Jakobinern u. Frey Maurern bereitet. 

Wenn Sie Pfeilschifter sehen, so sagen Sie ihm daß ich das gte 10te u. 11te Heft 
des Staatsmannes nicht erhalten habe und folglich seinen Auftrag nicht erfüllen 
konnte. 

Der nämliche Artikel im Drapeau blanc über Follknes (?) Zschokke u. Trox- 
ler? war von mir aus Auftrag der Franzós. Gesandschaft in Bern. 

Graf Johann hat mir unlängst aus Bern einen langen und intreBanten Brief 
geschrieben. 

Ich muß enden weil der Courier abreist u. verbleibe mit unwandelbarer Gesin- 
nung stets der Ihrige 

v. Haller. 


14. 
Paris 10 Juny 1825. 

Ich hätte Ihnen verehrungswürdiger Herr Baron, schon längst geschrieben 
und den Empfang Ihres Schreibens vom 31t Januar avisirt wenn es mir nicht theils 
an Stoff theils an ruhiger MuBe gemangelt hátte. Jezt aber wekt mich die Abreise 
Ihres trefflichen Vetters Carl v. Salis Samade, den ich bald wieder hier zu sehen 
hoffe auf die versáumte Pflicht nachzuholen. Drey Wochen war ich lezten Winter 
krank; dann kamen außerordentliche Arbeiten im Ministerium Helvetica betreffend 
und vorzüglich mußte ich Hals über Kopf den 5t oder vielmehr 6t Band des Ori- 

inals der Restauration über die Republiken beendigen u. das Manuscript nach 

interthur®® abgehen laBen. Dieser Band wird nun gedrukt seyn; ich habe Befehl 

gegeben Ihnen ein Exemplar zukommen zu laßen u. hoffe daß Sie mit demselben 
eben so sehr als mit den ersteren zufrieden seyn werden. 

Den Fürsten v. Metternich habe ich hier mehrere mal gesprochen u. bın von 
ihm sehr gütig empfangen worden®®, Seine lehrreiche u. unterhaltende Conversation 
haben allhier im Stillen viel genüzt. Er hat sich auch gegen den Grafen v. Senfft 
u. mich neuerdings anheischig gemacht, mir das Baronen Diplom zu verschaffen, 
von welchem schon 1820 bey AnlaB der Schrift über die Cortes die Rede war. Die 
Data zu seiner allfälligen Ausfertigung habe ich bereits durch K. de Pont an den 
Grafen Johann nach Mayland gesendet und werde sie auch noch dem Grafen v.Senft 
en Kömmt der Kayser nach Wien zurük, so empfehle ich Ihnen ebenfalls 
die Betreibung dieser Sache, damit sie im Strudel der Geschäfte nicht neuerdings 
vergellen werde. Ich gestehe Ihnen daß mir daran viel gelegen ist, vorzüglich um 
meinen Söhnen zu beweisen, daß mein Übertritt zur rechtmäßigen Kirche mir an 
äußeren Ehren nichts geschadet hat, um sie desto mehr von der Schweiz zu entwöh- 
nen, ihnen vielleicht beßere Etablißements zu verschaffen u. sie sowohl als mich 
selbst, von vielen Individuen ähnlichen Namens zu unterscheiden, die sich gleich 
allen Bernern, Zürchern, Freyburgern u.s.w. ohne BefugniB das Prädikat von be 
dienen. Die sogenannte Ehren Legion, welche man sogar Musikanten und Mahlern 
austheilt, u. die ich so eben ohne nur daran zu denken, zu meinen größten Erstaunen 
erhalten habe“, verschafft mir keinen dieser Vortheile. 

DaB Sie die Angelegenheiten Europas und Frankreichs insbesondere schwarz 
ansehen, kann ich Ihnen wahrlich nicht verargen. Sie sind darinn mit St Roman, 
Duplessis, Grenédan, la Mennais u. vielen anderen gleicher Meynung; mir selbst 
kómmt die Zukunft auch gar nicht heiter vor. Die charakterlose Politik in Rüksicht 
auf Spanien, Portugal etc. das manquirte Indemnitáts Gesetz, das illusorische 
Gesez gegen die Sacrilegien, der verkrüppelte Krónungs Eid der alles übrige zum 
bloßen Spielbub macht u. wo die charte nebst den loix de royaume, dem göttlichen 


*' Ignaz Paul Vitalis Troxler (1780—1866), Abgesandter der Schweiz auf dem Wiener 
Kongresse, Arzt und Philosoph, heftiger Gegner der Restaurationsbestrebungen. 

ss Über Hallers Beziehungen zu seinem Verleger vgl. Ewald Reinhard: Der Restaurator 
Karl Ludwig von Haller und die Steinersche Verlagsbuchhandlung in Winterthur. Jahrbuch 
der Literarischen Vereinigung Winterthur. 1925. : 

* Nach dem Tagebuche traf Haller mit Metternich, der anläßlich der Königskrönung in 
Paris weilte, am 25. März und am 16. April zusammen. 

* Am 11. Juni 1525 heißt es im Tagebuch: recu Chevalier de La Legion d'honneur. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio — 595 


Geseze vorgehen; die Gefallsucht des Kónigs der stets vom bonheur du peuple 
spricht, alldieweil er bloß die Schurken zu strafen u. sich dann über das bonheur du 
peuple nicht zu bekümmern braucht, die Überschwemmung mit schlechten Büchern, 
die Gesinnungen des Dauphin der alle Royalisten ganaches nennt, alldieweil er selbst 
der ärgste von allen ganaches ist; die Arroganz der Journalisten denen kein Ministe- 
rium in der Welt es recht machen kann; die Undankbarkeit eines großen Theils 
der ungeheuren Stadt Paris, welche blos durch die Restauration und des Kónigs 
Gegenwart über alle MaBen bereichert wird, vor allem, allem die unglükselige Charte 
die ein HinderniB alles Gnten und ein Vorwand zu allem Bósen ist — alles das ge- 
währt nur trübe Aussichten. Und überhaupt kann kein Segen auf einem Lande 
ruhen, wo man solch infame Produkte wie den Constitutionel, den Courier und selbst 
das Journal des Débats duldet. 

Ihr Vetter Carl wird Ihnen wahrscheinlich die zwey Meister Schriften von Dup- 
lessis Grenédan gegen das Indemnitätsgesez u. von la Mennais de la religion dans ses 
rapports avec l'ordre politique et civil mitbringen, daher ich von denselben nichts 
weiter beyfüge. 

Wenn Sie mir durch die Östreichische Gesandschaft schreiben, so adressiren 
Sie die Briefe wie bisher an Mr de Haller, rue du regard No 1 fauxb. St Germain à 
Paris; geschieht es aber durch die Post: so wünsche ich daB sie adressirt werden an 
Jean Blanchot, brocanteur, rue des vielles tuileries No 16 à Paris, als welcher der- 
mal mein Bedienter oder vielmehr Aufpaßer ist; ein trefflicher junger Mann der lange 
bey Graf v. Senft diente. 

Mit aufrichtiger und unwandelbarer Hochachtung verharrend 

Ihr getreuester u. gehorsamster 


v. H. 


15. 
. 30. Dec. 1825. 
Paris, { 99. Jan. 1896. 


Unsere Correspondenz, mein verehrungswürdiger Freund ist leider, wie ich 
sehe, durch meine Schuld oder durch die Schuld so vieler unwillkührlicher Hinder- 
niße seit beynahe 5. Monaten unterbrochen worden; ich will jedoch beym Schluße 
dieses anscheinend ruhigen aber Unheil verkündigenden Jahres nicht länger säu- 
men mich Ihrem Andenken zu empfehlen und wünsche vor allem daß das nächst- 
folgende Jahr für Sie und für die gute Sache recht glücklich seyn móge, welch 
lezteres ich zwar mehr wünschen als hoffen kann. Die Ansichten die Sie in Ihrem 
Briefe vom 20t July áuBerten, sind leider nur allzurichtig u. was sie (!) besonders 
am Ende gegen die fatale Graeco Manie’! sagen, unterschreibe ich von ganzem 
Herzen. Diese Bemerkungen fand ich so gründlich, daB ich sie übersezt und dem 
Minister Bn de D(ama)s mitgeschikt habe, welcher mir sehr dafür dankte; auch 
scheint mir das Lob Preisen der griechischen Rebellion habe doch in einigen Journalen 
etwas abgenommen. 

Hier gehn, wie Sie wißen, die Sachen gar nicht gut, aber die Schuld liegt meines 
Erachtens nicht an den Ministern, wiewohl sich mehrere derselben von einzelnen 
sehr zweydeutig gesinnten Divisions Chefs am Gängelbande führen laßen und durch 
die sich stets aus ihren Freunden und Anhängern rekrutierende Bureaukratie der 
revolutionáren Traditionen verewiget werden. Hier besonders liegt der Augiasstall 
welcher ausgefeget werden muß. Der König seiner seits will nur geliebt statt ge- 
fürchtet werden, ohne zu bedenken, daß lezteres die Präliminar Bedingung des er- 
steren ist. Hätte er sich doch der trefflichen Lehren erinnert, die ihm in den Gebeten 
u. anderen Ceremonien der Krönung gegeben worden, u. die ihm stets empfohlen 
Muth u. Kraft für die Gerechtigkeit an Tag zu legen, der Schuz der Guten u. der 
Schreken der Bösen zu seyn. Dieses wäre beßer als alle Charte. Der Preß Scandal 
in schlechten Büchern, brochures, Zeitungen und Lithographien ist auf den höchsten 
Grad gestiegen; den Ministern die am meisten dabey leiden kann es wohl nicht an- 


“ Gemeint ist die weite Kreise erfassende Begeisterung für die um ihre Unabhängigkeit 
kämpfenden Griechen; Metternich und seine Gesinnungsgenossen standen diesen Bestrebungen 
ablehnend gegenüber. 


38* 


596 E. Reinhard 


genehm seyn; was sollen sie aber thun wenn der König die Censur nicht herstellen 
will und die Tribunalien kein Recht halten. Das Urtheil der cour royale zu Gunsten 
des Constitutionel u. des Courier ist eine Infamie und ein ewiger Schandfleck für 
den Präsidenten Séguier*! der zu den Jakobinern übertrat weil er nicht garde des 
sceaux geworden. Unter Ultramontanisten werden alle Catholiken, unter Jesuiten 
alle Feinde der Revolution und unter den libertés Gallicanes die Unterjochung 
und Verfolgung der Kirche verstanden. Doch hat die Sache eine heilsame Indiena- 
tion erregt und gedachter premier Président ist von den Abbés Fayet“, La Mennais 
u. a. m. tüchtig zurechtgewiesen worden. Die Apotheose des verrätherischen General 
Foy, bei welcher sich der Duc d'Orléans und Chateaubriand prostituirt haben. ist 
ein affront für den König und ein Versuch der Jakobiner um ihre Kräfte zu zeigen 
u. jedermann zu ihrer Fahne anzuloken. Doch scheint mir die Sache ein vorüber- 
gehendes Strohfeuer zu seyn, sie wird bereits lácherlich und es sind in ganz Frank- 
reich nur die Frey Maurer welche Subscriptionen für die Familie ihres verblichenen 
Bruders zusammenbetteln. — Von den royalistischen Journalen wird der Drapeau 
blanc, dem Bn de Damas gehórig, durch einen ziemlich zwevdeutigen Menschen 
u Eckstein“ dirigirt, der sich bald O, bald Bn d’E. unterzeichnet und deßen 
atholicismus mir ziemlich einer Art von Universal Maurerey zu gleichen scheint. 
Die Quotidienne ist mir wenigstens wegen ihrem gedankenlosen Geschwäz und 
ihren obigen Ausfällen gegen die 3%, unerträglich. Der Aristarque wird ganz von 
persónlicher Leidenschaft dirigirt. Dort hat sich Bonaquenay eingeschlichen, der 
verrätherische Gesandschafts Sekretär in Bern welcher die Archive und Depeschen 
des Marquis de Moutiers der Bernerischen liberalen Faktion um Geld zur Einsicht 
gab und dennoch von Chateaubriand begünstigt ward; ferner Hyde de Neuville 
ein Charlatan und Sohn eines Knopf Fabrikanten, der sich für einen gerechten 
und vollkommenen Royalisten ausgiebt, obschon er als Minister in Amerika, zum 
Erstaunen des Duc de Richelieu selbst, der Advokat aller Proscribirten des champ 
d'asyle war, in Portugall gegen die Kónigin und den Infanten San Miguel machinirt 
(3t Constitution einführen wollte) den Kónig auf ein Englisches Schiff geführt, da- 
durch die vollständige Contrerevolution gehindert hat und eben def wegen aus 
Portugall zurükberufen worden ist. Diese beyden machen die unverständigen 
und verleumderischen Artikel gezen den Marquis de Moustiers, ersterer weil er 
auf Betrieb deBelben abgesezt und nicht wieder angestellt worden, lezterer weil er 
vermuthet, der Marquis de M. habe als interimistischer Directeur des travaux 
politiques auf seine Zurükberufung angetragen. Dazu kómmt noch Bryant Sekre- 
tär des Cte de Bourmont® der seinen Principalen zum Ambaßador in Madrid machen 
möchte, deBwegen dem Duc d'Infantado schrieb, solchen zu verlangen und dabey 
für sich wegen seiner Verbindung mit Baguenot das courtage allfälliger weiß emp- 
runts zu erhaschen hofft, welches keine Kleinigkeit ist, zumal Achille de Jouffroy** 
durch seine Regierung das emprunt Guebhard 1,500,000 Fr. gewonnen haben soll. — 
In dem Journal des Débats welchem Hr v.Villéle an Pensionen oder Abonnements 
Jährliche 72000 Fr. entzogen, beträgt sich Chateaubriand nebst Fiévée*?, Salvandos“ 
u. Bertin de Vaux*? wie ein wahrer Jakobiner. Ersterer, der keine selbständige, wohl- 
begründete Reputation leiden kann und nur litterarische Hof Schranzen um sich 
haben will, war im Grund immer revolutionär gesinnt u. sieht in der ganzen Welt 
nur seine eigene Person. Keiner hat dem Bonaparte so sehr geschmeichelt wie er 
und es ist nicht wahr daB er wegen der Ermordung des Duc d'Enghien seine Stelle 


* Antoine Jean Matthleu Baron de Séguier (1768—1848), Präsident in dem Prozeß des 
Constitutione!" und des „Couriers“. 

Jean Jacques Fayet (1787—1849), hervorragender Verteidiger der Kirche. Starb als 
Bischof von Orleans. 

* Freiherr von Eckstein (1790—1861), Konvertit, mit dem Haller in Paris verkehrte, 
so daß das abfällige Urteil dem Wiener Freunde gegenüber sich sehr seltsam ausnimmt. Eckstein 
zeichnet sich auch als Schriftsteller aus. 

"e ** Louis Auguste Viktor Graf de Bourmont (1773—1846), 1829 Kriegsminister. Eroberer 
giers. 

“ Siehe Anmerkung 29. 

* Josef Flévée (1767—1839), trat als Dichter und Publizist hervor. 

* Narcisse Achille Graf von Salvandy (1795—1854), Politiker und Schriftsteller. 

* Louis Francois Bertin de Veaux (1771—1842), Journalist und Politiker. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 597 


als Chargé d'affaires in Rom resignirt habe. Zur Taufe des kleinen Napoleon hat er 
Waßer aus dem Jordan „ wobey noch ein paar Tropfen für den Duc de 
Bordeaux übrig geblieben. Sein genie du Christianisme ist ein seichtes Geschwäz 
und ein Roman. Zu Hand hat er immer noch liberal riechende Rapporte an den Köni 
0 Seine royalistisch scheinenden Schriften unter de Cazes?® waren blo 
rucht seiner üblen Laune weil er damals als Staats Minister ausgestochen worden 
und dabey sind sie noch so sehr von repräsentativen und constitutionellen Ideen, 
vom Geist der Zeit und von einem so unertrüglichen Eigendünkel angefüllt, daf 
ihm die Jakobiner den royalistischen Mantel allenfalls gar wohl verzeihen kónnten. 
Als er im Conservateur am meisten gegen de Cazes schrieb, versuchte er zugleich 
alles mögliche um bey demselben wieder in Gnaden zu kommen und ließ nachher 
durch andere auf den Knieen bitten, daß man ja seine dißörtigen Briefe nicht in 
fremden Zeitungen bekannt machen möge. In Berlin ist er beynahe nie gewesen 
und fand bellas Besoldune u. die Etablißements Kosten hier in Paris zu verzehren. 
Überhaupt hat er von dem Kónig und von Buchhündlern ungeheure Summen 
bezogen, aber alles mit Spielen und 5 bis 6 MaitreBen durchgebracht. Mit einer 
Actrice gieng er als Botschafter nach London und ließ die Frau zu Hause, was ver- 
muthlich auch zum Genie seines Christianisme gehórt. Als er endlich Minister ge- 
worden, so war er es der dem Pozzo di Borgo?! den Vorsprung in Spanien gewinnen 
ließ und dem König stets Chartes und Constitutionen aufdringen wollte. Dabey 
konnte man kein Gescháft mit ihm beendigen, sie machten ihm lange Weile u. der 
Minister schmachtete dagegen mit allerley frevsinnigen Weibern als der Mme de 
Castellane, Récamier u. a. m. auf deren Empfehlung er fast lauter Revolutionürs 
als Consuln und Legations Secretairs angestellt hat. Ich weiß bestimmt daß er auch 
mit den Liberalen in der Schweiz, besonders mit dem erzfalschen Schultheiß v. 
Mülinen in vertrautem Briefwechsel stand, die notorischen Thatsachen welcheihm 
von gutgesinnten bekannt gemacht wurden, nannte er balivernes, phantasmagories 
und hätte es von ihm abgehangen, so wäre der Marquis de Moutiers niein der Schweiz 
angestellt oder auf Verlangen der in Bern herrschenden Faktion zuverläßig wieder 
zurükberufen worden. Als er endlich abgesezt worden und nur im Ministerio 
80000 frs. laufender schreyender Schulden hinterließ so ward er wieder Journalist 
und beträgt sich wie ein wahrer Rädelsführer um alle Claßen gegen König und 
Ministerium aufzuhezen, coquettirt mit den Jakobinern, lobt die Republik, spricht 
öffentlich von seiner Rache, publizirt Geheimniße die er als Minister vernommen 
und greift jezt sogar die Heil. Allianz, besonders aber den Fürsten v. Metternich an, 
deBen in ganz Europa genießendes wohlverdientes Zutrauen er eine dictature con- 
tinentale nennt. Wie würde nicht solche dictature als natürliche Belohnung des 
énie gerühmt worden, wenn sie ihm dem Chateaubriand zu Theil geworden wäre. 
wäre gut wenn dieser Gecke defen Äußeres schon unerträglich ist, einst in einer 
fremden Zeitung entlarvt würde. Die besten Journale sind noch die Etoile und die 
Gazette de France, überdem giebt es eine Legion von Wochen- und Monats Schriften; 
von denen die meisten langweilig oder schlecht sind. 

Werfen wir unsere Blicke auf das Ausland: so sehen wir das groBe Britannien 
in einer bedenklichen Geld Crisis und seine Spekulanten von der Seite bestraft wo 
sie gesündiget haben. Der Krieg mit den Biemends (?) kostet groBe Summen, 
Canning hat eine mächtige Partey gegen sich und der Augenblick scheint nicht 
ungünstig um sich vor den Drohungen dieser Insulaner eben nicht sehr zu fürchten. 
In Spanien ist wieder ein Schimmer von Hofnung. Der Mr de Moutiers steht sehr 
wohl mit dem Duc d’ Infantado, mit der Geistlichkeit u. auch mit dem Östreichischen 
Gesandten Brunetti. Aber die Wieder Eroberung der Südamerikanischen Provinzen 
sollte um jeden Preis versucht werden. Dieses müßte durch eine Art von Enthou- 
siasmus geschehen, welches zugleich eine nüzliche Diversion wäre um die gährenden 
Geister in Spanien mit etwas anderem zu beschäftigen. Die Armee welche eben nicht 
blos aus Spaniern zu bestehen braucht, könnte mit Ländereven belohnt werden, 
deren es in Südamerika genug giebt u. von denen der König sich den Zehnten vor- 


uu ” Elle Herzog von Decazes und von Glücksbjerg (1780—1860), war von 1818—1820 
gter. 


" Karl Andreas Pozzo di Borgo aus Korsika (1764—1842), russischer Gesandter in Paris. 


598 E. Reinhard 


behalten könnte und führte man dort ein verständiges Lehen System ein: so wäre 
dieses das beste Mittel um dem König beträchtliche Einkünfte zu verschaffen, 
ihm den Besitz des Ganzen zu sichern und das Land selbst in schnelle Aufnahme zu 
bringen. Ich habe neulich die Geographie dieser Lànder so wie die Geschichte der 
jezigen Revolution studirt und bin überzeugt daB 10000 Mann gut commandirter 
Truppen, in die Colombie geworfen und sich der Hauptstadt Panama bemächtigend 
zureichen würden um alles in Ordnung zu bringen. Mexico auf der einen und Peru 
auf der anderen Seite würden dann nicht sáumen von selbst das Joch der Revo- 
lutionàrs abzuschütteln. Aber man hat keinen Muth mehr und läßt die Guten ohne 
Schuz alldieweil sie zerstreut sind und sich nicht selbst helfen konnen. — Von dem 
neuen Kónig von Bayern?? erwarte ich nicht so viel als man zu hoffen scheint. Noch 
ist nichts entscheidendes geschehen und der Constitutions Fabrikant Zentner? 
soll noch immer vielen EinfluB haben. Von dem nórdlichen Deutschland hingegen 
höre ich von allen Seiten, daB eine beßere Tendenz zu herrschen anfange und selbst 
der Lutheranismus, dieser Vorläufer des Jakobinismus, gewaltig erschüttert sev. 
Mehrere deutsche Fürsten haben das constitutionelle, auf der Souveränität des 
Volks oder teilweise auf der Souveränität jedes einzelnen beruhende chartrirte 
Christenthum bereits verlaBen ohne daß es noch öffentlich bekannt ist und dem 
Vernehmen nach sollen sogar zwey Brüder und eine Schwester des Kónigs von Preu- 
Den in demselben Falle seyn. Was von Rußland zu erwarten, ob die constitutions- 
süchtigen rebellischen Offiziers der verdienten Strafe entgehen, ob Corsikaner, 
Corfuraner und Waadtländer in Gunst verbleiben werden oder den alten RuBen 
weichen müßen: dürften Sie wohl beßer als ich wißen. Fürst Metternich hat da 
wieder ein Meisterstück zu thun den neuen Kavser auf den rechten Weg zu führen. 
Am besten geht es noch in Italien mit Ausnahme von Neapel wo der König nach 
und nach alle Carbonari und Rebellen begnadiget. Man spricht viel Gutes von dem 
Östreichischen Bottschafter, welcher nächstens hierher kommen soll und ich hoffe 
mit ihm gute Bekanntschaft zu machen. Graf Senft meldete mir auch gedachter 
Bottschafter werde mir bringen was mir der Fürst v. Metternich versprochen habe. 
Nun habe ich theuerster Freund genug politisirt und muß Sie jezt noch von 
einem sehr materiellen Gegenstand unterhalten, der aber für mich nicht unwichtig 
ist. Ihr Vetter Baron Carl v. Salis, der hier fast täglich in meinem Hause und uns 
allen recht lieb war, hat mir einen sehr unangenehmen Streich gespielt, den ich von 
ihm nie erwartet hätte. Zwey Tage vor seiner Abreise kam er zu mir und frug mich 
um Rath wie er, da sein Creditbuch ausgelaufen sey sich etwa 60 Louisd’or oder 
1440 Frs. verschaffen könnte, die auf den 7ten August unfehlbar in Wien zurück- 
behalten werden sollen. Da ich diese Summe eben vorräthig hatte, so gab ich sie 
ihm selbst, was er mit vielem Dank annahm und mir dagegen ein Billet ausstellte 
zahlbar d. ten August bey dem Buchhändler Heubner in Wien. Ich negocire dieses 
Billet mit einem redossement bey einem hiesigen banquier; es wird auf die Verfall- 
zeit präsentirt, kam aber wegen Nichtbezahlung mit Protest zurük. Salis meldet 
mir am 10t August diesen Vorfall selbst, behauptet solches sey nur durch ein 
Mißverständniß geschehen, weil man den Handlungs Diener nicht zu ihm gewiesen 
habe, er würde aber morgen früh einen Wechsel nach Paris auf meine Ordre aus- 
stellen laBen und mir übersenden, worauf ich ganz zuverläßig zahlen könne. Ich warte 
vergeblich, anstatt deßen aber langt der protestirte Wechsel an, den ich nebst auf- 
ee Kosten und Zinsen mit 153 Frs. bezahlen muß. Ich melde dieses Ihrem 
etter am 27t August bitte ihn sich darüber gar nicht zu bekümmern u. füge 
bey daB wofern ich vor dem 1t October bezahlt werde, ich gar keinen Zins ver- 
lange, weil das Geld ohne dem in der Casse geblieben würe, daB es mir aber auf diese 
Zeit wezen Quartiers Änderung, Pensionsbezahlungen u.s.w. sehr nöthig sey. Da- 
rauf erfolget ein vom 16t September datierter äußerst hóflicher Brief, worinn 
Ihr Vetter sagt er könne in Rüksicht der ihm bezeigten Gefälligkeit von meinem 
Anerbieten in Rüksicht der Zinsen keinen Gebrauch machen, und habe sich nur 
die Gewißheit verschafft die ganze Summe unfehlbar in der ersten Hälfte Oktobers 


" Der kunstsinnige König Ludwig I. von Bayern, dessen kulturelle Sendung Haller natur- 
gemäß völlig verkannte. 
73 Georg Friedrich Freiherr von Zentner (1752—1835), Schöpfer der bayrischen Verfassung. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 599 


absenden zu kónnen, welches er mit seinem Ehrenwort verbürge. Allein 
es erfolgte abermal nichts und auf meinen lezten Brief vom 16t November habe 
ich noch gar keine Antwort, daher ich Sie bitten muß gedacht Ihrem Hn Vetter 
die Einlage zuzustellen. Ich gestehe Ihnen theuerster Freund daß mir dieser Vorfall 
höchst unangenehm ist nicht nur wegen der Summe deren Abgang mich 
genirte und mich zwang selbst à 5%, zu borgen, sondern auch weil ich befürchten 
muB mich in meiner guten Meynung von einem sonst so wohl denkenden Manne be- 

en zu haben. Ich habe darüber durch den von hier abgereisten Oberst u. Grafen 
Salis Zizers, auch an den Grafen Johann geschrieben, weiß aber nicht ob derselbe 
bereits wieder in Chur angelangt ist. Haben Sie indeßen die Güte mir im Vertrauen zu 
sagen ob Baron Carl v. Salis einiges Vermógen besizt oder zu erwarten hat und wie 
ich mich benehmen muß um auf gute Art von ihm zur Bezahlung zu gelangen. 
Ein Umstand der mir nicht gefüllt und den ich erst seither von dem Oberst v. Salis 
Zizers vernommen, ist auch der, daB gedachter Baron Carl sogar die Zimmermiethe 
im Hotel garni schuldig geblieben, obschon er dem äußeren Anschein nach sehr 
oekonomisch u. regelmäßig lebte, ich ihm die 60 Louisd'or zwey Tage vor seiner 
Abreise zugestellt habe und er wahrlich diese Summe nicht brauchte um von Paris 
nach Wien zu kommen. 

Dieser Brief ward, wie Sie aus dem doppelten dato ersehen können, schon zu 
Ende des vorigen Jahres angefangen und kaum habe ich in diesen kurzen Tagen 
bey großer Kälte u. zahllosen Geschäften so viel Zeit finden können um seit drey 
nen alle Tage ein paar Zeilen zu schreiben und endlich die ganze Epistel zu 

eendigen. 

So eben lese ich den Zeitungen das Manifest des Kaysers Niklaus über den 
jakobinischen Versuch vom 26t Dec worinn es heißt: ,Ja justice défend d'éparg- 
ner les coupables." Wolle Gott daß dieses in Erfüllung gehe und endlich ein strenges 
und heilsames Exempel statuirt werde. Oberst Stürler, Commandant des Regiments 
der Leibgrenadiers welcher auf Seite der Getreuen umgekommen, war ein Berner 
Sohn eines Rathsherrn des alten regime, mußte sich vor etwa 15 Jahren als Sekretär 
der Bau Commißion, wegen einem Caßa Defekt von circa 40000 Gulden von Bern 
flüchten, ward durch freymaurerische Protection und schöner Weiber Gunst, so- 
gleich äußerst vortheilhaft in Rußland placirt, obschon er nie Militär gewesen, 
außer etwa in der Berner Miliz. Es mag wohl blos ein glüklicher Zufall seyn, daB 
dieser ebenfalls treu geblieben. 

Mit unwandelbarer Hochachtung und Ergebenheit — ewig der Ihrige 


v. Haller. 


16. , 
Paris 22 May 1826. 


Ich eile, verehrtester Freund Ihnen durch einen heute abreisenden Courier, 
den Empfang Ihrer beyden Briefe vom 16t u. 31t März anzuzeigen, welch lezterer 
mir aber erst vorgestern zugekommen ist. Ihre Ansichten über Rußland sind leider 
nur allzuwahr und mir genügen die Zeitungen um einzusehen daß dort alles schlecht 
geht. Man zieht die Untersuchung in die Länge unter dem Vorwand alle Verzweigun- 
gen zu kreuzen, ein Grund aber nur Zeit zu gewinnen u. die erste Indignation ver- 
rauchen zu laßen, man danket mit Affectation allen die nur die geringste Treue 
bewiesen, als ob sie etwas Außerordentliches u. die Rebellion gewöhnliche Regel 
wäre; man füllt die Zeitungen nur mit leeren Ceremonien von Präsentationen und 
von einem Leichenzug; man giebt den Eltern oder Kindern der Hochverräther Pen- 
sionen als ob ihr Verbrechen ein Titel zu Belohnungen wäre; man streut bereits 
aus, es seyen der Schuldigen nur wenige; Gallizin wahrscheinlich Mitverschworener 
sizt selbst in der Untersuchungs Commißion; in dem diplomatischen Personale, das 
um die Sache wißen sollte, ist nicht die geringste Veränderung geschehen u. endlich 
ward Kayßer Niklaus selbst von einem deutschen Jakobiner Namens Storch er- 
zogen der nicht viel beßer als Laharpe ist. Mehr brauche ich nicht zu wißen; man 
erndet in Rußland was Alexander gesäet hat, und wird da, wie mir neulich Mme 
Potocka sagte, stets nur die Früchte aber nie die Wurzel des Übels bekämpfen. 


600 E. Reinhard 


Was Spanien betrifft: so beweisen mir ebenfalls die liberalen Blátter daB der 
wegen seiner Wachsamkeit (gegen die Royalisten) und seiner Mäßigung gepriesene 
Recacho ein neuer De Cazes und Duc d'Infantado, aus ritterlichem Leichtsinn u. 
falscher Generositát ebenfalls vom Modernetismus angestekt ist. Doch wird der 
Französische Gesandte die wahre Contra Revolution gewiß eher zu begünstigen als 
zu hindern suchen u. wahrscheinlich würde das hiesige Ministerium sie selbst gern 
sehen; denn es leidet an dem leider überhand nehmenden Jakobinismus am meisten 
u. man hat das Gute an andern gern, wenn man auch nicht das (?) courage hat es 
selbst zu thun. 

In Portugall sind die Frey Maurer, auch sogar seit dem Sturz ihrer sauber 
Constitution, immerfort Meister geblieben u. das ist im Grund alles was sie wünsch- 
ten. Man exilirt eine Kónigin und einen Kónigs Sohn; für Verbrechen der beleidigten 
Maurerey od. Revolution giebt es keine Amnestie. Wird Don Miguel nicht nach 
LiBabon zurükkehren um diesem Skandal ein Ende zu machen und Don Pedro 
in Brasilien nicht durch die gegen ihn Krieg führenden Südamerikanischen Jakobiner 
vom Liberalismus geheilt werden. 

Wie kann man sich vor England fürchten, wenn man den Krieg in Ostindien, 
die innere Finanz Verlegenheit, die Insurrektion von 40000 brotlosen Arbeitern, 
die Spannung in Irrland u. die gewaltige Partey gegen Canning selbst in Betrachtung 
zieht. Mir scheint der Augenblik sey nicht ungünstig um seine Wege zu gehen 
ohne sich um diese Insulaner zu bekümmern. Sie werden schreyen aber nichts thun. 

In Preußen ist der König mit Fabrikation einer neuen Königl. Preußischen 
Kirche beschäftigt und da sein Bruder, seine Schwester und sein Schwager diese 
neue Constitution nicht abgewartet haben sondern sich vielmehr an die alte und 
rechtmáBige Ordnung der Dinge anschloßen, so ist er über diesen Mangel an Ach- 
tung hoch erzürnt und hat sie deßwegen aus Berlin verwiesen“. Der gute Friedrich 
Wilhelm, obschon politisch gebeBert, ist noch auf Irrwegen und mit seinen Begriffen 
nicht im reinen. 

Wie die Sachen hier stehen, wiBen Sie wahrscheinlich beBer als ich, da ich nur 
flüchtig 3 royalistische Journale, aber kein liberales lese und wenig in Gesellschaften 
gehe. Alles will König seyn außer der König selbst. Drey Prütendenten melden 
sich gleichsam für die Krone. 1t Die Jakobiner gestüzt auf den Geist der Zeit u. 
früher beseBene höchste Gewalt, repräsentirt durch die Frey Mauerev, u. mittelst 
der Charte in den Steigbügel gehoben. 2t Die Bonapartisten dieein bloß militärisches 
und kriegerisches Regiment wollen. 3t Die Christen oder eigentlichen Royalisten 
gestüzt auf die alte Ordnung, repräsentirt durch die Kirche, jezt aber von Mont- 
lozier (?), dem Constitutionel u. dem J. du B. als Jesuiten oder Congreganisten 
bezeichnet. Welche von diesen Parteyen siegen werde, mag der Himmel wißen, 
zwischen ihnen giebt es nur einen Trupp von Indifferentisten, Schaafskópfen 
oder Ehrgeizigen, die da wanken und schwanken, lauernd auf den Wind, der ihr 
Schifflein treiben soll. Ohne Stürme und Commotionen wird dieses alles nicht ab- 
gehen, aber wir werden es wahrscheinlich nicht erleben und oft ist mir wie Ihnen 
der Gedanke eingefallen, daß neue Völkerschwärme aus Asien oder Afrika kommen 
dürften um unser verdorbenes kraftloses Europa zu züchtigen. 

Der Projekt des garde des sceaux über das droit d’ainesse war so elend abgefaßt, 
daß man sich über seine Verwerfung nicht wundern muß. Hätte er statt deBen 
lediglich die Testirungs Freyheit für jedermann erweitert und die beständigen 
Substitutionen gestattet, so würde es zuverläßig angenommen worden seyn. Man 
sieht auch hieraus daß die Ménagemens für die Jakobiner nichts nuzen. 

Die 10 Bischóffe haben meines Erachtens einen großen Schnizer begangen, 
indem sie durch ihre neueste Deklaration die galikanischen Maximen, wenn auch 
nur implicite bestátiget haben. In der Schrift des Abbé de la Mennais, aus welcher 
ich bloß einige zu bittere Vorwürfe gegen den ehrlichen aber schwachen Fra yssinous?* 
weggewünscht hátte, sind unnachahmlich schóne Dinge. Da die darin aufgestellten 


* Bezieht sich auf den Fürsten Friedrich Ferdinand von Anhalt-Köthen, der im Jahre 
1825 mit seiner Gemahlin, einer preußischen Prinzessin, in Paris konvertierte. Haller war mit 
dem herzoglichen Paare befreundet. 

" Biehe Anmerkung 52. 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 601 


Grundsäze auch in Östreich nicht angenommen sind, wiewohl die dortige Geist- 

lichkeit keine quatre articles publizirt hat, und das Buch daher nicht óffentlich 

verkauft werden dürfte, so will ich es Ihnen bey erster Gelegenheit senden. 
Chateaubriand ist nach Lausanne abgereist; wenn man in den Zeitungen sagen 


láBt, daB er schon = Frs. für seine noch nicht herausgegebenen Werke erhalten 


habe: so geschieht dieses um Käufer anzuloken und die Gläubiger einzuschläfern. 
Denn der politische Fant, der decorateur oder parfumeur de la révolution, wie ihn 
die Duchesse d’Escars nannte, ist ruinirt, nicht aus Uneigennüzigkeit, denn er 
zog ungeheure Summen sondern durch Spiel und MaitreBen. 

22. May. Ich danke Ihnen sehr für Ihre wenn auch fruchtlosen Bemühungen 
mir bey dem Bn Carl von Salis zur Bezahlung der ihm geliehenen 60 Louisd’or zu 
verhelfen. Er versprach auf lezte Ostern seine Schuldigkeit abzutragen, seither 
ist aber weder Brief noch Geld angelangt. Hier dachte er an Heyrathen und gab sich 
für reich aus, denn der Abbé Kenzinger?* sagte mir daß er bereits 100000 Francs 
Einkünfte habe. Ich habe dem Grafen Johann bereits vor mehreren Monaten über 
die Sache geschrieben und gab ihm zu verstehen, daß wenn ich nur der Bezahlu 
sicher sey, ich gerne Termine gestatten wolle. Er antwortete mir, daß er den Grun 
des unerwarteten Aufschubs wohl vermuthen könne und daß er hoffe, mir in kurzem 
etwas befriedigendes melden zu können. 

Diesen Brief wollte ich in der That am 6t März einem nach Wien abgehenden 
Französischen Courier mitgeben. Allein es ward mir unmöglich ihn zu rechter Zeit 
zu vollenden und deßwegen ist er jezt so alt geworden. 

Soll man nicht dem Pabst Dank wißen. daß er die Frey Maurer Sekte samt 
ihren Arten und Abarten neuerdings der Welt signalisirt hat. Wo findet man unter 
den protestantischen Geistlichen solch einsichtsvolle und aufmerksame Wächter. 

un muß ich enden, verehrtester Freund, denn ich habe noch eine Menge Briefe 
zu schreiben und finde dazu fast gar keine Zeit. Mit unwandelbarer Ergebenheit 
verharre ich ganz der Ihrige 
v. Haller. 


P.S. Sagen Sie der Fürstin von M(etternich), indem Sie mich ihr zu Füßen legen, 
daß meine Tochter Emilie ein blühendes herrliches Mädchen von beynahe 17 Jahren 
gestern ihr catholisches GlaubensbekenntniB abgelegt hat“. Sie sehnte sich dar- 
nach, gieng entschloßen voran und die übrigen werden wohl bald folgen. Die Mutter 
widersezte sich nicht ihrem Vorhaben und ist selbst gewaltig erschüttert, hórt auch 
mit Eifer dem cathol. Unterricht zu?$. Gleichen Tages erklärte ihr Fräulein von 
Erlach aus Bern, die seit einiger Zeit bey uns auf Besuch ist, den nemlichen uner- 
warteten Entschluß catholisch zu werden??, Ein paar angehörte Predigten waren 
hinreichend um sie von dem Unterschied zwischen der revolutionären Anarchie 
und der rechtmäßigen Ordnung zu überzeugen. Das wird eine gewaltige Sensation 
in Bern machen, denn das Mädchen ist nicht nur, wie Sie willen. von sehr guter 
Familie, sondern auch reich; meine Sóhne werden hoffentlich dem Beyspiel der 
Schwester und der Freundin folgen®®. Sie sehen, mein theuerster Freund daß ich 
zutrauensvoll mit Ihnen rede, als ob Sie schon von den unserigen wären. Was Sie 
eigentlich sind, weiß ich nicht, nach Ihren Briefen zu schließen sind Sie aber zu- 
verläßig kein Protestant, wenigstens nicht den Grundsätzen u. der Gesinnung nach. 


17. 
Paris 25 Febr. 1828. 


Ich ersuche Sie theuerster Freund, einliegenden Brief dem Baron Carl v. Salis 
zuzustellen, deßen dermalige Adresse mir unbekannt ist. Er hat sich jezt brav ein- 


’e Einer der geistlichen Freunde Hallers. 
" Die einzige Tochter Hallers, Cácilie, folgte zuerst dem Beispiele Hallers. 
7 Hallers Gattin bereitete der Tochter jedoch einen „eisigen“ Empfang und verteidigte 
sich Jahre hindurch gegen jede Konversionstendenz. 
t» Julie Mathilde von Erlach; sie nahm später im Sacré Coeur den Schleier. 
Jai ** Albrecht von Haller konvertierte am 10. August 1826, Karl am letzten Tage desselben 
res. 


602 E. Reinhard 


gestellt und mir für den ersten Termin einen Wechsel] von 400 Francs zugesendet, 
so daß Sie ihm gar keine Art von Vorwurf machen müßen. 

Was haben Sie nicht alles erlebt theuerster Freund seit Ihrem reichhaltigen 
und wahrhaft prophetischen Brief vom Sept. 1826, den ich nach meiner Rükkunft 
aus Turin und Bern?! gefunden habe der aber seither leider, nebst vielen anderen 
auf meinem bureau geblieben ist. Wir sahen die Portugiesische cannaillöse Revo- 
lution fortwährend begünstiget und zulezt zwar den Infanten Don Miguel rach 
Portugall geschikt, aber durch die Charte an Händen und Füßen gefeBelt, um jene 
gottlose Revolution und die Frey Maurer-Sekte, die er Ao 1824 ausrotten wollte, 
mit seinem legitimen Mantel zu bedeken; wir sahen einen Bund zwischen drey 
Monarchen um griechischen Revolutionen zu Hülfe zu kommen, welche die Schiffe 
ihrer Beschützer, sogar die Häuser ihrer Consuln plündern; zur Sicherung des Han- 
dels denjenigen beystehen welche ihn allein gestört haben und das Meer mit See- 
räubern anfüllen; zur Hinderung des BlutvergieBens 3000 Türken niedermachen, 
die ihnen nichts zu leid gethan hatten; zum Schuz ihrer zahlreichen und ruhig im 
Türkischen Reiche lebenden Unterthanen die Wegjagung derselben veranlaßen, 
und nachdem sie mit stolzer Zuversicht die Vollziehung ihres Traktats gefordert 
hatten, als ob er für die Pforte ein Gesez würe, zulezt unverrichteter Dingen ab- 
ziehen u. alle RuBen, Engländer und Franzosen demüthig der ohnmächtigen Ver- 
wendung eines niederländischen Gesandten empfohlen. Wir sehen in dem unglük- 
lichen Frankreich eine offenbare, anerkannte, eingestandene formlich organisirte 
Conspiration ruhig fortarbeiten, ohne daß man sich die geringste MaBregel gegen 
dieselbe erlaube, da doch der Kónig das Recht des Krieges, mithin auch gegen 
innere Feinde hat; die scandalöse Preß Licenz, bey deren kein Reich auf dem Erd- 
boden bestehen kann, immer weiter getrieben, die Verabschiedung einer royalistischen 
Kammer wie 1816. Die Verstärkung der Pairs Kammer (deren Majorität man auf 
anderen Wegen leicht hátte bessern kónnen u. die nur in 3 bis 4 Parteven gespalten 
ist) gerade mit den besten Deputirten, mit denjenigen die am meisten Hofnung zur 
Wiedererwählung gehabt hätten u. dadurch den Jakobinern so viele Pläze geófnet ; 
die Erwählung einer neuen Kammer zur Hälfte aus Jakobinern bestehend und 
eingestandener offenkundiger maßen von der Central Loge in Paris durch ihre Suk- 
kursal Loge eingeleitet, organisirt, theils mit Bestechungen theils mit Verläumdungen 
und Drohungen erzwungen, den Sturz eines Ministerii welches zuverläßig noch jezt 
da stehen würde wenn es muthvoller vorgeschritten wäre und nicht durch seine 
furchtsame, schlecht verdaute und widersprechende Maßregeln theils die Royalisten 
entzwevt theils die Jakobiner immer frecher gemacht hätte, die Ernennung eines 
neuen Ministerii** deBen Mehrzahl selbst von den Liberalen als ein Triumph ihrer 
Partey angesehen wird und ihnen die Gewalt in die Hände spielt, die Absezung der 
fähigsten und durch ihre Gewißenhaftigkeit ausgezeichneten Beamten, die Ver- 
folgung der unschuldigen Jesuiten welche 100000 Jünglinge unterrichten, nirgends 
hingehen, kein Journal lesen und denen nach Abbé de la Mennais nur das vorzu- 
werfen ist, daB sie von der allgemeinen Furchtsamkeit angestekt, keine Influenz 
haben, sich der geistigen Autorität nicht bemächtigen und allen doctrinellen reli- 
EH oder politischen Pest Quästionen fremde geblieben sind; den Abfall von 

0 bis 24 Royalisten in der Kammer, welche aus Verzweiflung, UnwiBenheit, Geld 
oder Ehrgeiz sich wie Narren gebärden u. nicht mehr wiBen was sie wollen, den da- 
durch bewirkten, dem König angethane affront, ihm zum Präsidenten in der Kammer 
drey Renegaten und zwev Jakobiner vorzuschlagen etc. etc. etc. Alles das, mein 
theuerster Freund kömmt daher, daß in diesem Lande kein König ist, wenigstens 
de facto kein Kónig und daher ein jeder die hóchste Gewalt an sich zu ziehen d. h. 
Kónig zu werden sucht. Bereits sind die Tribunalien wie vormals die Parlamente 
in offenbarer Opposition und üben ungestraft den unerhórten Skandal den Truppen 
u. Gens d'armes welche einen Aufruhr gedámpft und Gewalt mit Gewalt abgetrieben 


*" Im Jahre 1826 unternahm Haller eine große Reise, die ihn zunächst in die Heimat, 
von dort nach Oberitalien führte. In Turin wurde Hallers Sohn Albert als Kadett eingekleidet ; 
später verließ er den Militärdienst, studierte Theologie und starb als Weihbischof von Chur. 

n Zu Beginn des Jahres 1828 wurde das Ministerium Villéle durch das Ministerium Mar- 
tignac abgelöst. 


* 


Briefe Karl Ludwig von Hallers an Anton Freiherrn von Salis-Soglio 603 


haben, einen Prozeß anzuhängen. Eine revolutionäre förmlich organisirte Regierung 
ist neben der gesezlichen aufgestellt, unter dem Vorwand sie müße dieser lezteren 
die auch vereinigt sey, das Gegengewicht halten. Man weiß es und thut nichts 
dagegen. Wenn nun von zwey feindseligen Mächten die eine immer vorwärts die 
andere immer rükwürts geht und noch dazu die Feinde selbst zu seinen Rathgebern 
wählt, so ist leicht vorauszusehen welche von bevden die Oberhand behalten werde. 
Alles das kann nur mit dem Sábel ausgemacht werden; es kann nicht ohne Cata- 
strophe abgehen und wenn ich dazu noch den leidigen aber wie es scheint unvermeid- 
lichen Krieg im Orient betrachte, welcher der revolutionären Faktion in Frankreich 
freye Hände laßen wird, so muß ich meines Orts eine allgemeine Conflagration in 
Europa voraussehen, deren Resultat abermal problematisch ist. Zieht uns der Kay- 
ser von Östreich und Fürst Metternich für die ich alle Tage zu Gott bitte, noch aus 
diesem Wirrwarr, so sollen ihnen alle künftigen Geschlechter Bildsáulen errichten. 
Wenn man jedoch noch einmal Revolutionen dämpfen u. rechtmäßige Könige 
herstellen muß: so hoffe ich man werde sie nicht mit der einen Hand einsezen und 
mit der anderen wieder durch Chartes absezen laBen. 

Schade daß die Türken die Natur der Revolution nicht beßer kennen sie hätten 
in ihrem Manifest den 3 Mächten treffende Dinge sagen können, die mehr gewirkt 
hätten als eine ganze Armee; wie z. B. daß sie einer Sekte beystehen die nicht nur 
gezen die Mohametanische sondern gegen alle Religion u. gegen alle Kónige ver- 
schworen sey, daB der K. von F. denjenigen beystehe die ihn 29. Jahr lang entfernt 
haben u. neuerdings entthronen wollen. Rußland den Brüdern u. Freunden den- 
jenigen zu Hülf komme die das ganze Kaiserliche Haus ausrotten und Rußland um- 
stürzen wollten, dagegen aber diejenigen bekämpfen die durch ihren Frieden v. 
1812 dieses Reich gerettet haben, daß England seinen Radikalen und Colonien das 
Recht zum Aufruhr gebe u. vergeBe daB die Muselmänner an seiner Seite in Egypten 
gezen solche gekämpft haben, die, wenn es nur auf die Taufe ankömmet, so gute 

hristen waren als die griechischen Frey Maurer u.s.w. 

Leben Sie wohl theuerster Freund u. legen Sie mich der verwittweten Fürstin 
Metternich zu Füßen. Von dem wozu mir seiner Zeit Hofnung gemacht worden, 
vill ich nichts mehr melden; es scheint dieses Schwierigkeiten gefunden zu haben 
oder ganz vergeBen worden zu seyn. 1 


604 


Kritiken. 


Hennig, Richard, Geopolitik. Die Lehre vom Staat als Lebewesen. 2. vermehrte 
Auflage. Leipzig und Berlin. 1931. B. G. Teubner. VIII und 396 S. 81 Karten 
im Text. Geb. ZA 18.—. 

Daß von dem vorliegenden Werke, dessen erste Auflage ich in dieser Zeitschrift, 
25. Bd., S. 672—673, besprochen habe, schon nach drei Jahren eine neue Auflage 
nötig war, verdankt es sowohl der leichten Lesbarkeit, wie auch dem vielseitigen 
Inhalte und nicht zum wenigsten der reichen Ausstattung mit anschaulichen und 
lehrreichen Textkarten. In der 2. Auflage sind einige Schärfen des Ausdrucks ge- 
mildert worden, die besonders im Ausland Anstoß erregt hatten. Mit Recht betont 
der Verfasser im Vorwort, daß er keine Veranlassung hatte, seine politische Welt- 
anschauung in seinem Buche zu verheimlichen, woran einige Besprecher der 1. Auf- 
lage Anstoß genommen haben. Wenn die geopolitischen Betrachtungen nicht farb- 
und saftlos werden sollen, so muß deutliche Kritik an vielen Gegenwartsproblemen 
und an den brennenden Nöten der Zeit geübt werden. Damit auch hat diese Geo- 
politik eine gewisse persönliche Note bekommen, die in solchen Werken nicht zu 
entbehren ist. Der Verfasser war bestrebt, Schäden und Gebrechen der heutigen 
Weltstruktur offen zu kritisieren. So hat er z. B. auch von der scharfen Kritik am 
Genfer Völkerbund sachlich nichts zurückgenommen, da Wahrheit in wissenschaft- 
lichen Werken erwünscht sein und ertragen werden muß. 

Die neue Auflage ist, soweit es sich um die ersten acht Kapitel handelt, somit 
großenteils unverändert. Neu hinzugekommen aber ist das letzte umfangreiche 
Kapitel über , Rasse, Nationalität und Volkstum"' (46 Seiten), also ein zum Teil 
überaus heikler Stoff. Dieser Teil wurde schon vor drei Jahren mit dem übrigen 
Werk niedergeschrieben, aber in der 1. Auflage weggelassen, um den Umfang des 
Buches nicht zu stark anschwellen zu lassen. In diesem letzten Kapitel, das wieder 
eine reiche Literatur und viele Beispiele aus der Geschichte bringt, sucht der Ver- 
fasser zuerst Klarheit zu schaffen über die oft recht durcheinandergehenden Begriffe 
Rasse, Nation und Volk, worin die Ansichten verschiedener Autoren (Kirchhoff, 
Ratzel, Supan, Sieger, Schlüter, Maull, Meinecke, Vogel, Schnee) nicht unerheblich 
voneinander abweichen. In dem Abschnitt über Rassenreinheit und Rassenmischung 
tritt der Verfasser nachdrücklich für Rassenreinheit ein und wendet sich scharf gegen 
jegliche Vermischung der Menschenrassen („Mischlings-Nationen sind immer minder- 
wertig“), was er an Beispielen zu beweisen sucht. Für ganze Nationen mag das ja 
zutreffen, für einzelne Menschen aber kaum, da gerade aus Rassenmischung hoch- 
wertige und geistig hochstehende Menschen hervorgehen können. Hennig betont 
besonders, daß das von den Weißen beherrschte Nordamerika in bezug auf staatliche 
Macht, kulturelle und wirtschaftliche Blüte turmhoch über den Ländern Latein- 
amerikas mit ihren bunten Rassenmischungen steht. 


Kritiken 605 


Vom Stamm führt uns der Verfasser dann weiter über den Stadtstaat zumStaat, 
dessen Wesen er treffend kennzeichnet. Die Nation ist nach ihm das Wandelbare, 
das bewegliche Element, der Staat aber das Dauernde, der ruhende Pol in der Er- 
scheinungen Flucht, und die vóllige Entwurzelung oder Verpflanzug eines Staates 
ist ein Ding der Unmóglichkeit. Im Gegensatz zur Nation steht das Volk, d. h. eine 
Kultur- und Sprachgemeinschaft. Nation ist ein rein politischer, Volk nicht nur ein 
politischer, sondern vor allem auch ein kulturell-sprachlicher Begriff ohne zufällige 
staatliche Grenzen, während die Nation ohne Staat undenkbar ist. Sie ist nicht vor- 
stellbar ohne eine bewußt erlebte und gewollte, ruhmvolle geschichtliche Vergangen- 
heit. Damit ist eine Nation nicht zum wenigsten auch eine Schicksalsgemeinschaft. 
Mit Recht weist der Verfasser in seinem Kapitel über Toleranz und Intoleranz in 
nationalen, völkischen und konfessionellen Fragen darauf hin, daß in allen völkischen, 
staatlichen und kulturellen Angelegenheiten die Welt seit dem Altertum immer 
intoleranter geworden ist. So ist auch das Nationalgefühl erst allmählich entstanden. 
Solange weite Teile der Völker unfrei oder gar leibeigen und ohne jedes Verständnis 
für höhere Bedürfnisse als die Befriedigung tierischen Trieblebens waren, konnte 
es kaum ein eigenes Nationalgefühl geben, wie wir es heute kennen. Immer kam im 
Laufe der Geschichte dieses Nationalgefühl erst dann zur Ausbildung, wenn die Ab- 
schüttelung der persönlichen Unfreiheit der Untertanen oder der kirchlichen Be- 
vormundung des Papsttums sich einstellen. Erst seit den Tagen der Königin Elisabeth 
entwickelte sich in England ein starkes Nationalgefühl, in Frankreich erst nach der 
sozialen und kirchenfeindlichen Befreiung des Jahres 1789, in Deutschland erst ganz 
unvermittelt plötzlich als Reaktion auf die Periode des napoleonischen Joches, die 
der politischen Vormacht Preußens die Bauernbefreiung und die städtische Selbst- 
verwaltung brachte. In einem weiteren Abschnitt werden die Kämpfe der Volkheiten 
in Nationalitätenstaaten behandelt, wobei von der Schweiz ausgegangen wird, die 
das Muster eines Nationalitätenstaates mit durchaus friedlichem Nebeneinander ver- 
schiedenartiger Volkssplitter ist. Auch Kanada und die Vereinigten Staaten sind Bei- 
spiele dafür. Es ist also gut möglich, einen Nationalitätenstaat in einem ungleich 
erwünschteren Nationalstaat umzuwandeln. Voraussetzung dafür ist nur die Gleich- 
berechtigung aller Volksteile und sprachliche Toleranz. Das heute in den neu- 
geschaffenen Nationalitätenstaaten beliebte Mittel der Unterdrückung und Ent- 
rechtung der sprachlichen und völkischen Minderheiten durch die jeweilige herrschende 
Nation ist dafür allerdings das denkbar ungeeignetste. Unterdrückung völkischer 
Minderheiten ist zwar eine bequeme, aber törichte Regierungsmethode, die unter 
allen Umständen eines Tages staatszerstörend wirken muß, denn kein Staat mit 
rebellischem Bevölkerungsblute kann jemals ein wirklicher Machtfaktor in der hohen 
Politik werden, da er stets nur durch seine inneren Gegensätze behindert wird. 
Weiter behandelt der Verfasser die Mehrstaatlichkeit und kritisiert das Schlagwort 
vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Er tritt energisch für die Notwendigkeit 
des Nationalbewußtseins ein. „Eine politische Großmachtstellung ist ohne starkes 
Nationalgefühl der großen Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht denkbar, und 
da der wirtschaftliche Wohlstand überall eine Funktion der politischen Gesundheit 
des Staates ist, kann es kaum verwundern, daß die am meisten nationalbewußten 
Völker häufig auch die wohlhabendsten sind.“ Als „Staaten ohne Volk“ nennt 
Hennig den Kirchenstaat und die Europäische Donaukommission (?), als ,, Volker 
ohne Staat“ die vielen völkischen Kulturgemeinschaften, die einem fremden Staat 


606 Kritiken 


einverleibt oder unter mehrere Staaten restlos aufgeteilt sind. Zu den Volkern ohne 
Staat gehóren vor allem auch die Zigeuner und die Juden. Bei dem von England 
neugeschaffenen „Jüdischen Staat Palästina“ kann es sich immer nur um kleinere 
Teile des jüdischen Volkes handeln, die dem Zionismus anhüngen. Die groBe Mehrheit 
der Juden hat nicht die geringste Neigung, sich staatlich „erlösen“ zu lassen und 
steht dem neuen Judenstaate gleichgültig oder sogar ablehnend gegenüber. Die 
Hauptmasse der nach dem Weltkriege aus Europa auswandernden Juden zog nicht 
nach Palästina, sondern nach dem gelobten Lande der Vereinigten Staaten. So soll 
die Hóchstzahl der jüdischen Kolonisten im Zionistenstaat nur 160000 betragen 
haben, und da die Mehrzahl aller Juden niemals Bauern oder Farmer werden kann 
und es auch gar nicht will, und Palästina nicht menschenleer ist, sondern seit langem 
von Arabern bewohnt wird, so ist der jüdische Staat, aus dem die jüdischen Siedler 
in den letzten Jahren wieder stark abwandern, als Fehlgeburt zu werten. Größere 
Aussicht auf Verwirklichung haben vielleicht die Judenkolonien der Sowjetregierung 
in Südrußland und die geplante autonome Juden-Sowjetrepublik in Ostsibirien 
(zwischen Amur und Buraja-Fluß). Von den rund 14,8 Millionen Juden der Erde 
wohnten 1926 nur 160000 in Palästina, dagegen 3,6 Millionen in den Vereinigten 
Staaten (davon etwa 2 Millionen in New York) und über 2,8 Millionen in Polen. An 
dieser Verteilung der Juden wird auch durch gelegentliche freiwillige Übersiedlung 
nach Palästina in Zukunft wenig geändert werden. 

Deutlich und offen wendet sich der Verfasser gegen die nationale Zersetzung 
der Wirtsvölker durch die Juden, besonders durch die jüdische Presse. Mit Recht 
weist er auf den unverhältnismäßig großen Anteil hin, den die Juden, insbesondere 
diejenigen, die den mosaischen Glauben abgelegt, ohne ein anderes Religionsbekennt- 
nis angenommen zu haben, in der Führung der Umsturzparteien aller Länder, zumal 
im Parlament und in der Presse haben. In allen Ländern, wo der Bolschewismus die 
Macht zeitweilig an sich riß, waren jüdische Elemente die wesentlichsten Träger der 
Bewegung, lag doch die Regierungsgewalt in RuBland nach der zweiten bolsche- 
wistischen Revolution 1917 in den Händen von 47 Juden und nur 4 Nichtjuden! 
Der seit 2000 Jahren lebenskräftige Antisemitismus ist insoweit berechtigt, als er 
die weitgehenden Sonderansprüche und die staatsunterwühlende bzw. -zerstórende 
Tätigkeit erheblicher Teile des Judentums kräftig zurückweist. 

Die beiden letzten Kapitel behandeln die Vorzüge und Nachteile der nationalen 
Einheit des Staates und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Praxis der 
Gegenwart. Die Nation wird als das physische, das Volk als das kulturelle und der 
Staat als geistiges Individuum definiert. Durch die erzwungene Abtretung von Rand- 
gebieten ist das Deutsche Reich heute noch mehr ein Nationalstaat als vor dem 
Kriege, und die nationalen Minderheiten sind bei uns jetzt verschwindend klein. So 
ist das Deutsche Reich neben Portugal der geschlossenste Nationalstaat der Erde, 
aber von den 77½ Millionen geschlossen siedelnden Deutschen Mitteleuropas gehört 
fast jeder fünfte nicht zum Deutschen Reiche! Frankreich dagegen, das neben 
Italien vor dem Weltkriege zu den national am besten geschlossenen europäischen 
Großmächten gehörte, hat heute eine völkische Minderheit von 13 v.H. Die Zahl 
der reinen Franzosen im heutigen Frankreich ist um mehr als 2 Millionen kleiner als 
im Jahre 1911. — So bietet Hennigs Werk eine Fülle von verarbeitetem Material 
und reiche Anregungen zu geopolitischen Betrachtungen, wenn man auch nicht mit 
allem einverstanden zu sein braucht. Bedauerlich ist z. B., daß er öfters von Deutsch- 


R E = EEE — TR A—— _ 


Kritiken 607 


land spricht und damit das heutige Deutsche Reich meint. Gerade in einer Geo- 
politik müßten diese beiden wichtigen Begriffe klar auseinander gehalten werden. 
Im Register erscheint das Deutsche Reich überhaupt nicht, und alles ist in den 
Begriff Deutschland zusammengeworfen. 

Leipzig. Hans Rudolphi. 


Hans Sehaefer, Staatsform und Politik, Untersuchungen zur griechischen 
Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts, Leipzig (Dieterich'sche Verlagsbuch- 
handlung) 1932. VIII, 283 S. 

Die Untersuchung Sch.s setzt sich das Ziel, für das 6. und 5. Jahrhundert 
„zwischenstaatliche Formen gemein-griechischer Geltung zu suchen, ihre Herkunft 
und ihre Veründerung durch die politischen Geschehnisse zu verfolgen". Es soll 
versucht werden, ,,einen Zusammenhang zwischen dem Entstehen und Vergehen so- 
wie dem Geltungsbereich der zwischenstaatlichen Formen und dem Verhalten der 
einzelnen Staaten in der praktischen Politik festzustellen" und eine Erklürung 
„für diese Besonderheit der Griechen aus ihnen selbst und ihren politischen Aktio- 
nen“ zu finden, „die die wesensmäßige Einheit von Griechentum und politischer Form 
erweist‘ (S. 12). Damit ist ein weites Feld der Forschung abgesteckt: im 1. Kapitel 
befaBt sich Sch. mit den Formen des Einzelstaates in der zwischenstaat- 
lichen Politik und untersucht den Fremdenschutz (S. 13ff.), die Ehrungen Aus- 
wärtiger (S. 29ff.), die Verträge (S. 44ff.) und endlich die staatliche Form als zwi- 
schenstaatlichen Faktor (S. 94ff.), im 2. Kapitel betrachtet er gemeingriechische 
Formen in der zwischenstaatlichen Politik; zwei wichtige Elemente poli- 
tischer Formung finden hier Behandlung: einmal wird der Nomos als Form zwischen- 
staatlicher Politik in seinen politischen Erscheinungsformen, die der Verf. aus den 
Begriffen der evvouía, ionvouia und avrorvouía herauszuarbeiten bestrebt ist, 
einer eingehenden Erörterung unterzogen (S. 144ff.), weiter die Stellung der ago- 
nalen Formen in der zwischenstaatlichen Politik näher untersucht (S. 175ff.); 
hier interessiert den Verf. neben der begrifflichen Erfassung von agıoreverv - mootevew 
und djiailaxrg; vor allem die Problematik der für das archaische und klassische 
Griechentum so überaus bedeutsamen Begriffskomplexe von Hegemonie und Pro- 
stasie. 

Schon diese kurze Inhaltsübersicht zeigt, daB Sch. Fragen zu behandeln unter- 
nommen hat, die zu den schwierigsten gehóren, die der historischen Forschung 
gestellt sind. Nicht allein die Lückenhaftigkeit des Materials, die so häufig beklagte 
Mehrdeutigkeit der Quellen treten der Erkenntnis hemmend in den Weg; der Ver- 
such, zur tatsächlichen Wesenheit des griechischen Menschen und des von ihm 
geformten Staates vorzudringen, setzt eine völlige Ablösung von gegenwartsnahen 
Anschauungen voraus, die natürlich theoretisch stets zu fordern sein wird, deren 
reale Durchführbarkeit aber starken Zweifeln begegnen muB. Vor allem liegt die 
Gefahr nahe, daB die Bedeutung an sich richtig erkannter Besonderheiten in der 
Grundhaltung des griechischen Menschen überschátzt und das Gesamtbild in dem 
Streben, die verschiedensten Gegebenheiten politischer Formen einheitlich zu er- 
fassen, verzerrt wird. Die Schwierigkeiten, die bei einer nach solchen Gesichts- 
punkten orientierten Untersuchung wesensmáDig gegeben sind, kónnen nur gemeistert 
werden durch die Sicherheit der Methode: gründliche Kenntnis der antiken Tradi- 
tion und der modernen Literatur, völlige Beherrschung des Handwerksmäßigen 


608 Kritiken 


der Forschung, Zuverlässigkeit und Schärfe der sprachlichen Interpretation dürfen 
ebensowenig fehlen als begriffliche Klarheit, die gestützt sein muß auf peinlich 
genaue Auswertung des Materials. Nun erheben sich aber gerade in dieser Hinsicht 
Bedenken gegen die Arbeitsweise des Verfassers. Wenn auch durchaus nicht in 
Abrede gestellt werden soll, daß das Material fleißig durchgearbeitet ist, so sind 
doch ziemlich häufig Versehen, Irrtümer und Flüchtigkeiten in der Argumentation 
und Interpretation zu konstatieren, die den Wert der Beweisführung oft ganz 
empfindlich schwächen und die erkennen lassen, daß Sch. noch nicht über die me- 
thodische Sicherheit verfügt, die zur erfolgreichen Behandlung dieser an Schwierig- 
keiten so überreichen Materie notwendig gewesen wäre. Ich gehe daran, dies an einer 
Auswahl von Beispielen zu zeigen. 

So findet sich S. 13 im Zusammenhang mit & 207f. (vgl. übrigens auch E 57f.) 
7005 yao Aio; ei atavte; beivoi te royo te, docıs t oliyn re giin te der 
Satz: „Dann aber ist es für alle Gebot, ihn (nämlich den Eros) mit Speise und 
Trank zu laben, denn vor Zeus sind sie alle Bettler." Ganz abgesehen davon, daß 
die sprachliche Interpretation der Stelle unter gar keinen Umständen diese Er- 
klärung zuläßt, liegt auch der Gedanke, daß vor Zeus alle Bettler seien, dem ago- 
nalen Menschen der homerischen Welt vollkommen fern. Man schwankt, ob hier 
falsch übersetzt oder flüchtig interpretiert wurde. — S. 32 wird im Anschluß an 
Thuk. I 129, 3 xeiraí co evepyeoia dv to) perigo oïxw d; del avaypa;rto; 
folgende Behauptung aufgestellt: , Der pointierte Ausdruck rückt den Begriff 
evepyeoia von selbst in die Nähe von »ouo;, der alle Griechen in gleicher Weise 
verpflichtenden Norm, die niemals aufgezeichnet oder in festen Regeln gegeben 
werden konnte. Gleich diesem ist die Euergesie schriftlos, sie wirkt verpflichtend 
und verbindend zwischen den Staaten, die sie alle in demselben MaBe annehmen 
und vergelten.“ Hier scheint araygarrro; mit aygarrro; verwechselt zu sein. — 
S. 33 wird das athenische Ehrendekret für die Bewohner von Halikarnass nach der 
Behandlung von Ad. Wilhelm, Hermes 24 (1889) S. 126f. zitiert und in die erste 
Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert; in Wirklichkeit gehört die Inschrift in das Jahr 
410/9 v. Chr. und ist IG II? 142, sowie nach endgiltiger zeitlicher Einordnung IG 
1? 110a zu finden. — Der Rechtsvertrag zwischen Oianthea und Chaleion wäre S. 51f. 
wohl besser nach Inschriftenpublikationen, etwa IGA 322 oder SGDI 1479, zu 
zitieren gewesen, als nach Ed. Meyer, Forschungen z. Alt. Gesch. I S. 307ff. Daß 
der diesem Vertrag unterstehende Fremde vor staatlicher Willkür nicht geschützt 
gewesen sein sollte, wie Sch. S. 52 meint, ist — zumindest in dieser Formulierung — 
nach Zl. 6ff. der Inschrift unrichtig. — Daß die Symmachie ursprünglich ein von 
der ritterlichen Gesellschaft politisch formlos geübtes Zusammenkämpfen gewesen 
ist, das nach Beendigung des jeweiligen Kampfes auch als aufgelóst galt und keine 
„politischen“ Konsequenzen nach sich gezogen hat, ist sicher richtig; man darf 
aber nicht glauben, daß es erst dem 5. Jahrhundert vorbehalten blieb, die Sym- 
machie zum Träger zwischenstaatlicher Politik zu machen, ebensowenig, daß die 
Symmachie des 6. Jahrhunderts keine Vertragsform, keine „eigentlich politische 
Entscheidung‘ darstellte, die „schriftlich fixiert werden müßte“, daB sie „ihrem 
Wesen nach schriftlos“ gewesen sei (S. 66). Hier, wie auch sonst, tritt die Neigung 
Sch.s mit Argumenten e silentio zu operieren, stark zutage, ein Vorgang, der um so 
gefährlicher ist, als unsere epigraphische Überlieferung für diese Zeit mehr als frag- 
mentarisch ist. Trotzdem kann auf Grund eines inschriftlichen Zeugnisses die Un- 


Kritiken 609 


richtigkeit der Sch.schen Behauptung erwiesen werden. Auf einer Bronzetafel aus 
Olympia, Inschr. v. Olympia Nr. 9, ist ein auf 100 Jahre abgeschlossener Vertrag 
zwischen Elis und Heraia erhalten, der Zl. 2 als ovvaayıa bezeichnet unwider- 
leglich zeigt, daB hier die Symmachie tatsüchlich zum politischen Instrument ge- 
worden war; vgl. Zl. 3ff. a« de te deos: cute Fenos aate Flagyov: avyeav x alaloıs: 
za t alla) xas naje moleuo: as de pa Ovrear: talaytov xlagyvQo: anotivoiar: 
tos Ai Olwrnıo: tos xa/dalenevor: Aarpesouevov. Diese Inschrift — es ist 
Sch. scheinbar entgangen, daß sie u. a. auch Syll.3 9 publiziert ist — will 
Sch. in anderem Zusammenhang S. 80 „frühestens um die Mitte des 5. Jahrh.“ 
ansetzen, in Wirklichkeit gehört sie nach der sehr altertümlichen Form der 
Buchstaben ziemlich hoch hinein in das 6. Jahrhundert, wie ein Vergleich mit 
der sicherlich auch in Olympia selbst aufgezeichneten Weihung des Pantares, 
Inschr. v. Olympia Nr. 142 (=Hiller v. Gaertringen, Histor. Griech. Epigramme 
Nr. 5) erweist, die in die Jahre 530—520 zu setzen ist. Das Material ist in beiden 
Fällen dasselbe, so daB man wirklich vergleichen kann; die Schrift in Syll. 9 ist 
weit altertümlicher, wie denn auch Hiller v. Gaertringen Syll. 9 in das 6. Jahr- 
hundert datiert hat. Danach sind also die Ausführungen Sch.s über die Entwick- 
lung der Symmachie ganz wesentlich zu modifizieren. — Wenn Sch. S. 67 meint, 
daß „der Charakter der Vereinbarung“ von 480 gegen die Perser „durchaus unpoli- 
tisch, lediglich zur Verteidigung, nicht zum Angriff bestimmt" gewesen ist, muß 
ich gestehen, dem nicht folgen zu können und verweise auf die bedeutungsvollen 
zwischenstaatlichen Ergebnisse, über die Herodot VII 145 berichtet. — S. 106 
wird behauptet, „daß erst seit Thukydides das Wort dnuoxgaria auftaucht, wäh- 
rend es Herodot und der älteren Poesie fremd war“, S. 115 ist zu lesen, daß „das 
Wort „Innorcaria“ in der älteren griechischen Literatur gänzlich fehlt, nicht ein- 
mal bei Herodot zu belegen ist und erst der attische Anonymus, der sogen. Ps.-Xe- 
nophon ( Adrvaior zolıreia) die ersten Belege vor Thukydides bringt“; das Wort 
findet sich indes bei Herodot VI 43 robe yag rupavvovs tov Iovo* xxrazavcac 
narras 0 Magóoviog à nuoxpatiag xatiota i; tag molit, weiter wäre wohl auch noch 
ein Hinweis auf IG I? 14/15 (vor 446/5 v. Chr.) angezeigt gewesen, wo Zl. 37 die 
Ergänzung xai Oeno[xgatiav ov xaralvoo tiv nadeoroocay] doch recht wahr- 
scheinlich ist. — Man sollte auch nicht davon sprechen (S. 123), daB das Wort 
zoAwttía „überhaupt erst im attischen Schrifttum“ aufkommt und dafür 
Herodot IX 34 zitieren, wo ravra de Miyov ovrog (uuwero Melaumoóa, ws 
eixacaı BacsAmirv te xai molırninv aiteonevoy Zu lesen ist. — Die Verleihung des 
athenischen Bürgerrechtes an die Metoiken (IG II? 10) gehórt in das Jahr 401/0 
und nicht 405, wie S. 139 steht; indes wird das wohl Druckfehler sein. Aber zu dieser 
Inschrift war unbedingt außer W. Kolbe, Klio 17 S. 242ff. auch auf die Vorschläge 
von De Sanctis, Riv. Filol. 51, S. 287ff. (vgl. SEG II 11) zu verweisen. — Für ver- 
fehlt halte ich die Argumentation S. 154f.: die von B. Haussoullier, Rev. Philol. 
1928, S. 191ff. edierte Inschrift aus Erythrai zieht Sch. als Beweis dafür heran, 
daß die durch IG 1? 10 (= Syll.’ 41) bezeugte Verfassungsänderung in Erythrai 
keinen gewaltsamen Eingriff Athens in die dortige Verfassung bedeutet habe, da 
die erstgenannte Inschrift eine demokratische Ordnung voraussetze; einmal über- 


! Auf diese Stelle hat, wie ich nachträglich bemerke, auch V. Ehrenberg, Der 


griechische und der hellenistische Staat (Gercke-Norden, Einleitung in die Altertums- 
wissenschaft III/3, 1032) S. 61 hingewiesen. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3 39 


610 Kritiken 


sieht Sch. vóllig, daB auch eine demokratische Ordnung gewaltsam im Sinne einer 
schärferen Radikalisierung geändert werden kann, weiter ist aber die Deutung des 
sachlich schwer zu verstehenden Textes von Erythrai keineswegs so sicher, als daß 
man mit den Vermutungen Haussoulliers bündig argumentieren könnte. Direkt 
falsch ist es, wenn Sch. behauptet, die erythräische Inschrift sei „in das Dezennium 
zwischen 470—460 zu datieren“, Haussoullier a. O. S. 199 sagt ausdrücklich von 
ihr: ,,Elle est antérieure aux changements qui sont intervenus dans la constitution 
de cette cité ionienne vers 470—460." Auf keinen Fall geht es aber an, die gleiche 
Inschrift an verschiedenen Stellen des Buches verschieden zu zitieren und auch im 
Register so zu führen, wie dies bei dem athenischen Dekret über Erythrai geschehen 
ist: als IG I? 10 wird es S. 86, als Syll.’ 41 S. 153f. behandelt. Bei dieser Gelegen- 
heit muß auch einiges über die Art Sch.s, Inschriften heranzuziehen, vermerkt 
werden. Man ist doch verpflichtet, wenn man Inschriften ausschreibt, die Ortho- 
graphie beizubehalten und die epigraphischen Editionszeichen so zu setzen, dab 
der Leser über den Erhaltungszustand im klaren ist, zumal, wenn man damit argu- 
mentieren will. Die Orthographie ist, soweit ich sehe, konsequent vernachlässigt; 
Klammern werden zuweilen gesetzt, zuweilen weggelassen, ohne daß sich für die 
einzelnen Fälle ein Grund ausfindig machen ließe. Ferner wäre doch wohl auch 
eine Gleichmäßigkeit der Zitierweise möglich gewesen. Man zitiert heute nicht 
mehr ohne zwingenden Grund nach älteren Publikationen allein, wenn neuere vor- 
liegen; vgl. S. 187, wo Hicks and Hill Nr. 150 zu ersetzen war durch Syl.’ 261 
und Michel Nr. 20 durch IG IV/1? 71, wenn man auf Syll.5 471 wegen des Fehlens 
der Schiedsrichternamen nicht verweisen will. Man zitiert auch nicht die inschrift- 
liche Formel xe» rayà xev araylias nach Ed. Meyer, Theopomps  Hellenika 
allein, wie das S. 212 geschehen ist, sondern nach IG IX/2 257 bzw. Syll.5 55. — 
Flüchtigkeiten führen häufig zu schief formulierten Behauptungen, so z. B. eben 
S. 212, wo man die Behauptung, daß „er rayà x’er arayias (Ed. Meyer a.a. O. 
S. 232) gleichbedeutend ist mit ¿y zoA/u» xai év eh mit den weit vorsichtige- 
ren und einschränkenden Ausführungen bei Ed. Meyer, Theopomps Helleniks 
S. 2321. vergleichen móge. Auf der gleichen Seite wird über den Vertrag zwischen 
Athen, Argos, Mantineia und Elis unter Verweis auf Thuk. V 47,7 gesagt: „In 
dieser Symmachie ist derjenige Hegemon, der die Hilfe des Bundes für sich in 
Anspruch nimmt, im übrigen besteht vollkommene Gleichheit‘; dagegen berichtet 
Thukydides a. O. ) de zou; peramepwapivg thy nyenoviav fr, orav èr ty 
avtz; © moÀeuo; y. — S. 250 meint Sch., daB nur durch den persischen 
Rachezug das Bündnis von 338/7 v. Chr. „überhaupt formalen Charakter" 
erhalten habe, eine Formulierung, von der ihn gerade die Untersuchung U. Wilckens, 
Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee hätte abhalten sollen, die 
er nennt und deren Ergebnissen er sonst zuzustimmen scheint (vgl. S. 82 und 90). 

Obwohl sich die Zahl der Beispiele noch ganz bedeutend vermehren lieBe, 
breche ich ab; einmal, um den Rahmen einer Besprechung nicht allzuweit zu über- 
schreiten, zum andern, weil ich der Ansicht bin, genügend Material beigebracht zu 
haben, um mein Urteil zu begründen. 

Die Untersuchung Sch.s verdient aus methodischen Gründen allgemeines 
Interesse; denn sie zeigt mit unwiderleglicher Klarheit, daB man sich nur dann an 
die letzten Probleme der Forschung wagen darf, wenn man sich mit dem metho- 
dischen Rüstzeug sicher gewappnet weiß. Erst wenn die Quellen scharf erfaßt 


Kritiken 611 


sind, die Interpretation sprachlich und sachlich gesichert ist, kann Ideenforschung 
getrieben, Neuland gewonnen werden. Der Versuch Sch.s ist ein Versuch geblieben, 
der die Forschung nicht wesentlich bereichert hat. Und doch würe es ein Unrecht 
gegen den Verf., wollte man nun nach solchen Eindrücken das ganze Buch von 
vornherein ablehnen; seine Ausführungen sind anregend und enthalten oft wertvolle 
Gedanken, wenn sie auch leider nur zu oft berechtigten Widerspruch herausfordern. 
Ungeprüft wird man die Ergebnisse Sch.s nicht übernehmen dürfen und immer wie- 
der wird man sich vor die Notwendigkeit gestellt sehen, nachzuarbeiten und die 
Untersuchung von neuem zu führen. Denn der Grund, auf dem die stellenweise 
stark ins Spekulative gehenden Argumentationen Sch.s aufgebaut sind, scheint 
nicht sicher. Und von dem peinlichen Gefühl groBer Unsicherheit wird der kritische 
Leser sich nicht befreien können, wenn er auch den Fleiß des Verf. und die Neu- 
stellung der Problematik dankbar anerkennen wird. 
Graz. Franz Scbehl. 


Geschichte der führenden Völker. Herausgegeben von Heinrich Finke, Hermann 
Junker, Gustav Schnürer. Freiburg im Breisgau, Herder & Co. 


Bd. VI. Rómische Geschichte. Erste Hálfte. Die rómische Republik. Von 
Joseph Vogt. Mit 9 Tafeln. 1932. 350 S. 


Bd. VII. Rómische Geschichte. Zweite Hálfte. Die rómische Kaiserzeit. 
Von Julius Wolf. Mit 8 Tafeln. 1932. 286 S. 


Vogts Geschichte der rómischen Republik ist ein ernstes und gediegenes Buch. 
Unter Verzicht auf alles anekdotische Beiwerk gibt V. eine pragmatische Geschichte, 
in der die historisch wirkenden Krüfte dargelegt und aus ihrem Zusammenspiel 
die großen Linien der Entwicklung gestaltet werden. Der Verf. verfügt über die 
seltene Gabe, auf knappem Raume das Wesentliche zu sagen. Auf Schritt und Tritt 
merkt man, daß er die Ergebnisse der jüngsten Forschung berücksichtigt, aber 
keineswegs nur das übernommene Gut in neue Form einkleidet, sondern die Pro- 
bleme scharf und selbstándig durchdacht hat. Dem Plane des Gesamtwerks ent- 
sprechend, wird besonderer Nachdruck gelegt auf die diesem ‚führenden Volk“, das 
wie kein anderes der Geschichte diesen Namen verdient, eigentümlichen Eigenschaf- 
ten und Lebenswerte, auf ihre Verkórperung im Staate und auf die Mission, die dem 
Römertum im Ablauf der Universalgeschichte zufällt. Das geistige Element findet 
ebenso eingehende Berücksichtigung wie die sozialen und wirtschaftlichen Ver- 
hältnisse; dagegen tritt m. E. das militärische Moment zu wenig hervor, dem doch 
gerade in der rómischen Geschichte besondere Bedeutung zukommt. Eine Ausein- 
andersetzung mit Quellen und neuer Literatur lehnt V. im Vorwort mit dem Hin- 
weis auf eine Behandlung derselben an anderer Stelle ab, doch würe eine kurze 
Charakterisierung des Quellenmaterials mit Rücksicht auf den nicht fachlich 
geschulten Leser erwünscht gewesen. Eine Literaturübersicht findet sich am Schlusse 
des Buches. 

Bei einem Werke dieser Art kann es nicht Aufgabe einer Besprechung sein, 
in Einzelheiten des gewaltigen Stoffes einzugehen. In einer Anzahl von Punkten 
deckt sich meine Auffassung nicht mit der des Verf.; wenn im Folgenden einige von 
diesen angeführt werden, so soll dies die Anerkennung, die dem Buche gebührt, 
nicht beeinträchtigen. 

39* 


612 Kritiken 


In dem ersten Abschnitt behandelt der Verf. die „geographischen und histo- 
rischen Grundlagen" der rómischen Geschichte; gleich hier wird man einzelnen Be- 
merkungen nicht ohne weiteres beistimmen kónnen: so, wenn der Verf. (wohl im 
Anschluß an Strabon) meint, daß von Italien aus „nach allen Richtungen hin mit 
leichter Bewegung Entscheidungen herbeigeführt werden kónnen" und daB sich 
„besonders im Altertum ... hier der Sammelpunkt aller wirksamen Kräfte bilden 
mußte“ (S. 7f.); fügt er doch gleich selbst hinzu, daß „diese politische Einigung 
des Mittelmeergebiets nur einmal in der Geschichte, eben durch die Römer, ganz 
verwirklicht worden“ ist. Die historische Entwicklung in der Zeit vor der römischen 
Universalherrschaft (der Seeverkehr war damals mindestens ebenso rege als unter 
römischer Herrschaft) und in den Jahrhunderten seit dem Untergang des römischen 
Reiches beweisen, daß der Lage Italiens die Bedeutung einer „kaiserlichen Tribüne“ 
nicht zukommt; die Nachteile der geographischen Lage der Halbinsel sind oft hervor- 
gehoben worden und machen sich noch heute geltend. Dagegen kann den Bemerkun- 
gen des Verf. über die Lage Roms (S. 4) durchaus zugestimmt werden. Sehr fein 
bemerkt er: „An der großen Durchgangsstelle des Landes gelegen, war die Stadt 
vor die harte Notwendigkeit gestellt, sich äußerem Druck zu fügen oder von sich 
aus die Umgebung zu beherrschen. Der römische Charakter hat die Alternative im 
Sinne der Herrschaft entschieden." Hier kommt der Verf. zum erstenmal auf die 
nationale Wesensart des römischen Volkes zu sprechen; er betont seinen „aus- 
gesprochen männlichen Charakter“ (S. 7), „die Anerkennung einer überragenden 
Autorität und die Erziehung zum Befehlen und Gehorchen“, die bereits in der Or- 
ganisation der Familie, der patria potestas, zum Ausdruck komme (S. 13). 
Für die gesamte Darstellung gilt, daß Vogt in seiner Bewunderung für das Römer- 
tum, in welchem Machtwille, Herrschaftsgedanke und „Zweckgebundenheit“ ihre 
vollkommenste Ausprägung in der Geschichte gefunden haben, die Schattenseiten, 
die dem römischen Nationalcharakter anhafteten, außer Acht läßt, vor allem die 
„wölfische“ Art, die nicht einmal von den Römern selbst geleugnet wurde; man 
lese die Reden, die der gewiß patriotische Livius Gegnern Roms in den Mund legt. 
Der stahlharte, nüchterne, verschlagene Bauernkopf des sog. Brutus, den eine dem 
Buche beigegebene Tafel zeigt, spiegelt die Charakterzüge des Römers der herrschen- 
den Schicht ganz vorzüglich wider, ebenso wie in den Kriegern der praenestinischen 
Cista (Tafel II) die knorrige Zähigkeit und — Engstirnigkeit des römischen Bürger- 
soldaten unübertrefflich zum Ausdruck kommt. 

Dem großen Rätselvolk der Etrusker kann der Verf., der Ökonomie seines 
Werkes entsprechend, nur wenige Seiten widmen. Was er über die Etrusker sagt, 
scheint mir doch mit zu großer Sicherheit vorgetragen; über die Art der Einwande- 
rung, des Vordringens in Italien und die anderen Fragen der etruskischen Geschichte 
schwebt noch immer ein nur spärlich gelichtetes Dunkel. Ein feststehendes Faktum 
vermisse ich: den Seeraub, einen Haupterwerbszweig der Etrusker. DaB ein An- 
gehöriger des Geschlechtes rumlna die lateinische Siedlung am unteren Tiber er- 
obert und zur etruskischen Gemeinde erhoben habe (S. 17), wird durch die Ableitung 
des Stadtnamens aus dem Etruskischen noch nicht bewiesen; eine etruskische Ge- 
meinde ist Rom, wie Vogt selbst betont, nie gewesen. Da es nach der Besitzergreifung 
Toskanas wohl niemals zu etruskischen Gesamtunternehmungen gekommen ist, 
war eine zielbewuBte imperialistische Politik und die gewaltsame Etruskisierung 
einer stammfremden Gemeinde kaum móglich; die vorübergehende Beherrschung 


Kritiken | 613 


Roms durch das Geschlecht der Tarquinier wird das Werk einer kriegerischen Adels- 
sippe gewesen sein. 

Mit Recht tritt der Verf. dafür ein, daß die Legenden über die Königszeit 
manche historischen Erinnerungen enthalten. Die dunkle Zeit des ersten Jahrhunderts 
der Republik wird in dem zweiten Abschnitt „Die Republik und Italien“ mit der 
gebotenen Vorsicht behandelt. In einzelnen Punkten entscheidet sich V. für eine 
Auffassung, die ich nicht zu teilen vermag. So kann man z. B. für die Frühzeit 
gewiß noch nicht behaupten, daB „die patrizischen Gentes durch Verluste im Krieg, 
durch Inzucht und andere Gründe abzunehmen begannen" (S. 19), und ebensowenig 
wird es zutreffen, daB der Senat in diesen Zeiten „die Entscheidung der Gemeinde- 
versammlung bestátigen muBte". Die Erringung des Rechtes der Provokation — 
eine außerordentlich einschneidende Einschränkung des Imperiums — würde ich 
eher an das Ende als an den Beginn (S. 25) des „Ständekampfes“ setzen. Die ganz 
ungewöhnliche Institution der sacrosanctitas der Volkstribunen findet in der 
„feierlichen Erklärung‘ der ganzen plebeischen Gemeinde (S. 29) keine hinreichende 
Aufhellung. — Der für die Beurteilung der rómischen Machtverháltnisse hóchst 
bedeutsame erste Vertrag zwischen Rom und Karthago kann, wie zuletzt Schacher- 
meyer (Rhein. Mus. 1930, 350ff.) nachgewiesen hat, iu in das erste Jahr der Re- 
publik (S. 21) verlegt werden. 

Allen Lobes wert sind die Abschnitte , Wesen und Wirken der republikanischen 
Verfassung“, „Das Problem der römischen Expansion“ und „Staatenbild Italiens 
um 265 v. Chr.". In diesen Kapiteln sind mit sicherem Blick die Grundlinien der 
inneren und äußeren Politik Roms gezogen und „die Triebkräfte der römischen 
Machtpolitik" dargelegt, um die sich, wie V. bemerkt, die wissenschaftliche For- 
schung bisher noch wenig bemüht hat. Mit Recht hebt der Verf. die einzigartige Ver- 
bindung von (allerdings, wie mir scheint, stark formalistischer) Rechtlichkeit und 
Einräumung einer gewissen bürgerlichen Freiheit mit der Auswirkung des in strenger 
Form durchgeführten Machtgedankens hervor. Doch so wie Polybios, dessen Be- 
trachtungsweise er sich weitgehend zu eigen macht, geht er in der Bewunderung 
der organisatorischen Kunst Roms doch wohl zu weit und übersieht die auch hier 
nicht fehlenden dunklen Seiten; hätten wir zeitgenössische Nachrichten über das 
innere und áuBere Leben Roms in diesem Zeitalter, so würde vieles nicht in so ver- 
klärtem Lichte erscheinen. 

Der dritte Abschnitt „Die Republik und die Mittelmeerwelt“ setzt mit der zu- 
treffenden Ablehnung einer „von Anfang an feststehenden Planmäßigkeit der Er- 
oberungen“ ein, doch vermag Vogt den Auftakt der neuen Epoche, den Konflikt um 
Messana, nicht überzeugend zu motivieren (S. 79ff.). Roms damaliges Verhalten 
gegen Karthago ist ein unter Bruch eines Übereinkommens erfolgter Akt provoka- 
torischer Politik. Die phönizische Republik verfolgte, wie V. mit Recht betont, nur 
Handelsinteressen; sie hatte sich bis dahin kommerziell und politisch mit Rom 
ausgezeichnet verstanden; nur dank der Koalition der beiden Mächte war es möglich 
geworden, einen so gefährlichen Gegner wie Pyrrhos zu erledigen. Die Festsetzung 
der Punier in Messana bedeutete noch lange nicht die Gefahr einer Annexion der 
ganzen Insel; war doch damals das von Karthago niemals bezwungene Reich von 
Syrakus noch in voller Blüte und es lag nicht im Wesen der punischen Politik, alle 
Machtmittel des Staates an die Erreichung imperialistischer Ziele zu setzen. Die 
Besitznahme Messanas hätte demnach an den Verhältnissen nicht viel geändert, 


614 Kritiken 


zumal da den Rómern zu ihren Kolonien und Bundesgenossen an der Adria der Land- 
weg jederzeit offen stand. Es scheint mir auch kaum glaublich, daB tatsächlich, wie 
die Überlieferung besagt und auch der Verf. annimmt, die leitenden Staatsmanner 
Roms die Führung aus der Hand gaben und sich — etwa nach Art der Athener — 
von der Bürgerschaft ins Schlepptau nehmen ließen. In Wirklichkeit wird damals — 
gerade so wie später bei der Entfesselung des ebensowenig durch eigene Lebens- 
gefahr bedingten zweiten makedonischen Krieges — die Initiative von der Regie- 
rung ausgegangen sein. 

Die (gerade jetzt im Mittelpunkt einer Diskussion stehende) Frage der 
„Kriegsschuld‘ im zweiten punischen Krieg beantwortet V. dahin, daB der punischen 
Regierung und den Barkiden die systematische Vorbereitung eines Rachekrieges 
fernelag und Hannibal den Konflikt nicht gesucht hat, daB aber der junge Feldherr 
nicht zógerte, den durch das Vorgehen der Rómer unvermeidlich gewordenen Krieg 
mit raschem Zugriff aufzunehmen. Das Kriegsziel Hannibals erblickt Vogt in der 
Sprengung des italischen Bundes und in der Anerkennung der von seiner Vaterstadt 
beanspruchten Machtposition in Afrika und Spanien. 

DaB der Verf. die Ereignisse im Westen vom Ende des zweiten bis zum Ausgang 
des dritten punischen Krieges von den Vorgängen im Osten getrennt behandelt, 
ist kaum zu billigen. Der universal-historische Zusammenhang der Ereignisse geht 
dadurch verloren. Gleich der Friedensschluß, der den hannibalischen Krieg beendete, 
erscheint in ganz anderem Lichte, wenn man die damalige allgemeine politische 
Lage in Erwägung zieht. Er bedeutete keineswegs den Zusammenbruch der punischen 
Macht; vielmehr bot er bei entsprechender Gestaltung der internationalen Kon- 
stellation noch genügend nutzbare Móglichkeiten; erst bei Magnesia ist Karthago 
besiegt worden. 

„Das bedeutsamste Ergebnis des (hannibalischen) Krieges war die weltpolitische 
Orientierung Roms" (S. 116). Zutreffend spricht V. von einer „im Wesentlichen 
praeventiven Politik Roms“ im Osten, man kann noch weiter gehen und sagen, 
daß die Politik der leitenden römischen Staatsmänner, wie die Bismarcks nach 1871, 
vom cauchemar des coalitions beherrscht war. Erst nach den (gewiB auch den 
Rómern unerwarteten) schnellen und entscheidenden Erfolgen über die waffen- 
mächtigsten hellenistischen Großmächte ist „die indirekte Beherrschung der öst- 
lichen Staatenwelt" die leitende Maxime der römischen Ostpolitik geworden. Aber 
nicht einmal die Römer selbst hätten sich, wie es V. tut (S. 120), darauf berufen 
können, daß sie ‚in Italien und auf Sizilien wiederholt ihre Griechenfreundschaft 
bekundet hatten“ — man lese doch, was ein Gesandter Antiochos’ III. den Vertretern 
der Tiberstadt ins Gesicht sagt (Liv. XXXV 16). — Auch in dem „Die Organi- 
sation der römischen Herrschaft im Mittelmeergebiet“ betitelten Kapitel erscheint 
mir die Auffassung Vogts als für Rom zu günstig; seine Darstellung nimmt Er- 
scheinungen vorweg, die erst der Kaiserzeit angehören. Die Struktur des mediter- 
ranen Reiches zeigt „die politische und rechtliche Begabung der Römer“ keineswegs 
„auf ihrer Höhe“ (S. 134), sie steht vielmehr an Folgerichtigkeit und Großzügigkeit 
weit hinter den Einrichtungen des italischen Bundes zurück; gibt doch der Verf. 
an einer späteren Stelle (S. 176) selbst zu, daß „die Organisation der Provinzen keinen 
Zweifel darüber lieB, daB die Untertanenländer Ausbeutungsobjekte des römischen 
Volks waren". Während die politische Herrschaft Roms für die griechische Welt 
sich bei weitem weniger segensreich ausgewirkt hat, als man nach Vogts Ausführun- 


Kritiken 615 


gen annehmen müBte, hat umgekehrt die kulturelle Übermacht des hellenischen 
Geisteslebens die Rómer erst zu einer Kulturnation erhoben. In dem Kapitel ,, Rómer- 
tum und Hellenismus behandelt V. die Resorption des hellenistischen Kultur- und 
Zivilisationsbesitzes durch Rom, die — und dies ist der leitende Gedanke dieses 
Abschnittes — zwar eine geistige Krise des Rómertums herbeiführte, aber nicht 
zur Preisgabe der rómischen Wesensart, vor allem der Praeponderanz des Staats- 
und Machtgedankens, geführt hat. 

Der vierte Abschnitt „Die Republik und die Weltherrschaft“ legt dar, daB 
der Übergang zum Großreich eine „Revolutionierung des ganzen römischen Daseins“ 
mit sich brachte, die in politischer Hinsicht schließlich in die unabwendbare Forde- 
rung nach dem persónlichen Regiment ausmündete. Das schürfere Hervor- 
treten der einzelnen Persónlichkeit und unsere genauere Kenntnis gibt dem Verf. 
Gelegenheit zu Charakterbildern der führenden Männer, die in knapper Formu- 
lierung die beherrschenden Wesenszüge scharf herausheben!. Doch kann ich dem 
Verf. nicht beistimmen, wenn er Caesar schon frühzeitig das Ziel einer „königlichen 
Herrschaft verfolgen läßt, die aus den Trümmern von Staat und Gesellschaft eine 
Neuordnung schaffen" sollte (S. 240). Caesar ist, wie jeder große Staatsmann, in 
seine politischen Zielsetzungen erst hineingewachsen. Den Kern der Sache trifft 
dagegen die Bemerkung, daß der Feind, gegen den Caesar nach Pharsalos zu kämpfen 
hatte, „Rom als Staatsidee“ gewesen ist. Diesem Feinde ist er erlegen, während 
sein Adoptivsohn „sich den wohlgesetzten Normen des Rómertums fügte“ und 
dauernde Ordnungen zu begründen vermochte, indem er „Monarchie und Reich 
in römische Formen prägte“. 

In dem letzten Kapitel „Römertum, Hellenismus, Orient“ entwirft V. ein Bild 
des geistigen Lebens im Zeitalter des Ausganges der Republik. Auffälligerweise fehlt 
ein Hinweis auf die Jurisprudenz, eine der stolzesten Leistungen des römischen 
Geistes, die doch nicht erst eine Schöpfung der Kaiserzeit ist. Gerade dieser Bereich 
des geistigen Lebens ist ja so recht ein Beleg für die Richtigkeit des schönen Aus- 
spruches, mit dem V. den das ganze Werk durchziehenden Gedanken am Schlusse 
wieder betont (S. 321): „Die neuen Fähigkeiten und Ausdrucksformen des Geistes 
hatten sich nicht zu Selbstzwecken erhoben, sie dienten vielmehr dem Handeln 
im Staate, der höchsten Lebensaufgabe, die auch dem geistig erschlossenen Römer- 
tum unerschütterlich feststand.“ — 

Zum Schlusse seien einige störende Schreibfehler angemerkt. S. 62 soll es statt 
Manius Spurius Manius Curius heißen. — Die Triumvim hatten nicht 10000 Ve- 
teranen zu versorgen (S. 306), sondern gegen 170000. — DaB der Consul des J. 83 
v. Ch. C. Norbanus, nicht C. Junius Norbanus, hieB, hat Münzer (Hermes 1932, 
S. 222) berichtigt. — 

Die Geschichte der römischen Kaiserzeit von Julius Wolf trägt einen von dem 
Buche Vogts wesentlich verschiedenen Charakter. Die Synthese der geschichtlich 
wirksamen Faktoren und die Durchdringung des Stoffes mit leitenden Gesichtspunk- 
ten sind hier nicht in demselben Grade gelungen. Zwar hebt der Verf. aus der Fülle 
der historischen Probleme, die gerade die Kaiserzeit dem Forscher stellt, einzelne 
heraus: so erscheinen ihm die Regierungssysteme des Diktators Caesar und des 
Augustus als die beiden gegensátzlichen Regierungsprinzipien, von denen sich die 

Daß Brutus nicht Stoiker war (S. 278), sondern der Schule der Akademiker an- 
gebórte, sel nebenbei bemerkt. 


616 Kritiken 


Kaiser bis ins zweite Jahrhundert leiten ließen (Traian sei in der Innenpolitik „die 
Wege des national-römischen Principats“, in seiner Außenpolitik die Wege Caesars 
gegangen); die Umwandlung des römischen Nationalstaates in ein ‚internationales, 
universales Weltreich‘‘, in dem der Vorrang Roms und Italiens aufgegeben wurde, 
die Stadien der Orientalisierung und der Barbarisierung u. a. verliert W. nicht aus 
dem Auge, im Allgemeinen überwiegt jedoch in den politisch-historischen Abschnitten 
die erzählende Form oder der reine Tatsachenbericht, der auch (mitunter minder 
wesentliches) Detail nicht verschmäht, obwohl der ungeheure Stoff in verhältnis- 
mäßig sehr gedrängter Form dargeboten wird. 

Die Behandlung des geistigen Lebens befriedigt in höherem Maße als die der 
politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Die (von der historischen Darstellung 
getrennten) geistesgeschichtlichen Abschnitte sind bei aller Knappheit klar und for- 
mell sowie inhaltlich ansprechend; sie bieten treffliche Charakteristiken literarischer 
Größen (z. B. des Vergil, Horaz, Tacitus, Augustinus) und enthalten feinsinnige und 
prägnante Bemerkungen (z.B. S.165: „Die allgemeine Verleihung des Bürger- 
rechtes durch Caracalla wirkte sich auch auf religiösem Gebiet aus. Waren jetzt die 
Untertanen gleichberechtigt, so mußten es allmählich auch ihre Götter werden“.) 
Die Abschnitte, die sich mit dem Christentum, seiner Ausbreitung und den geistigen 
Strömungen innerhalb der Kirche befassen, heben das Wesentliche hervor und können 
als besonnen und um Objektivität bemüht bezeichnet werden, wenn man sich auch 
nicht mit allen Ausführungen des Verfassers einverstanden erklären wird. 

Leider fehlt es in dem Buche nicht ganz an störenden Versehen (z. B. Diodors 
Einreihung S. 109; „Roma-Augusta-Altar“ S. 26; Varus „sollte das verloren ge- 
gangene Land wieder erobern“ S. 31; des Tiberius „Stiefmutter“ S. 56; der „ein- 
undachtzig jährige“ Nerva S. 96; die Angabe, daß man im Osten nach dem Sture 
des Gainas „endgültig mit der Einrichtung des Privatmilitärs, der sog. bucellarii, 
aufráumte", S. 229, beruht auf einem Mißverständnis der Bemerkungen Ernst 
Steins in seiner Geschichte des spátrómischen Reiches (S. 365: bestand doch der 
Kern der Ármee Belisars aus bucellarii). 

In einer Schlußbetrachtung (S. 269ff.) legt der Verf. zusammenfassend die Mo- 
mente dar, die nach seiner Auffassung dazu führten, daß „die Römer ihre Stellung 
als führendes Volk verloren" (in politischer Hinsicht führt er den unzulänglichen 
Grenzschutz, die Barbarisierung der Armeen, die verfehlte Wirtschaftspolitik und 
die Reichsteilungen an), und betont, daß sich das Erbe des römischen Kaisertums 
hauptsächlich in der katholischen Kirche erhalten habe. 

In dem Literaturverzeichnis vermisse ich die Werke vonDopsch, Wirtschaft- 
liche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung, O. Th. Schulz, 
Das Wesen des römischen Kaisertums und Vom Prinzipat zum Dominat, Arthur 
Stein, Der römische Ritterstand. Die längst veraltete Arbeit von C. Fuchs, Geschichte 
des Septimius Severus, verdient nicht mehr angeführt zu werden. 

Wien. Edmund Groag. 


Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Hrsg. v. d. 
Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Bd. 3, Tl. 1: Bistum 
Augsburg. Bearb. von Paul Ruf. München: Beck 1932. (191 S.). 40. 

Obwohl auf dem Titelblatt dieses Bandes ein anderer Name steht als bei den 
beiden bisher erschienenen, trägt doch auch dieser Band ganz den Stempel dessen, 


Kritiken 617 


der das Unternehmen der „Mittelalterlichen Bibliothekskataloge“ bisher betreut 
hat und weiterhin als Redaktor die Leitung bei der Veröffentlichung in der Hand hat; 
und mehr als das: Paul Lehmanns Vorarbeiten sind immer wieder bei den Literatur- 
angaben zu finden, seine weitgehende uneigennützige Hilfe fördert die Zusammen- 
stellung der bibliothekshistorischen Notizen und der erhaltenen Handschriften er- 
sichtlich. Das Verdienst des neuen Bearbeiters ist deshalb nicht geringer; ein Ver- 
gleich mit den vorhergehenden Bänden zeigt, daß die Fortführung genau in dem 
Geist erfolgt, mit dem das Unternehmen begonnen ist. Keineswegs galt es, sklavisch 
das nachzuahmen, was für andere geographische Gebiete schon geleistet war; der 
neue Band stellte neue Aufgaben; sie sind ebenso selbständig, wie im Geiste des 
ganzen Unternehmens gelöst. Wieder sind es nicht nur Kataloge, welche in philo- 
logisch einwandfreier Form dem Forscher auf dem Gebiet mittelalterlichen Geistes- 
lebens dargeboten werden: die Einleitungen mit ihren gedrängten Übersichten der 
Bibliotheksgeschichte, mit ihrer Verarbeitung des erfaßbaren buchgeschichtlichen 
Materials bieten dem Leser und Forscher gleichzeitig Zusammenfassungen der Er- 
gebnisse der bisherigen Literatur, wie auch Hinweise auf Quellen und Gegenstände, 
die noch weiterer Behandlung bedürfen. Welchen Wert die Veröffentlichung der 
Mittelalterlichen Bibliothekskataloge für die verschiedensten historisch gerichteten 
Wissenszweige hat, beweist dieser Band von neuem durch die Menge gesicherten 
Materials, das zum Teil in der systematischen Zusammenstellung und einwandfreien 
Bearbeitung bequem zugänglich, zum Teil überhaupt erstmalig bekanntgemacht 
wird. An der Entdeckung der letzteren Materialgruppe für den vorliegenden Teil- 
band hat der Bearbeiter beträchtlichen Anteil. Diese Leistung wird jeder anerkennen, 
der weiß, wie verborgen solche Quellen oft fließen; und jeder wird dankbar sein, 
daß ein in der mittelalterlichen Geistesgeschichte so wichtiges Gebiet wie das Bistum 
Augsburg nun in den „Mittelalterlichen Bibliothekskatalogen“ vorliegt, die nach 
den Worten des Bearbeiters „bereits zu einem vielbenutzten Nachschlagebuch für 
das Gebiet des mittelalterlichen Geisteslebens geworden sind". 

Die überwiegend sehr kurzen Bücherlisten aus der Augsburger Diözese konnten 
trotz ihrer beachtlichen Zahl (66) einen Band im üblichen Umfang nicht füllen. 
Daß trotzdem dieser Teil einzeln ausgegeben wurde (es sollen Eichstätt und Freising 
noch folgen), ist wegen des dadurch ermöglichten rascheren Erscheinens, aber auch 
im Interesse der Lokalforscher sicher sehr zu begrüßen. Freilich müssen die Ab- 
nehmer nur dieses Teilbandes auf ein Register, ja sogar eine Liste der enthaltenen 
Kataloge verzichten; im Hinblick auf die Ökonomie des Ganzen wird man die Be- 
rechtigung dieser Regelung anerkennen. Daß ein Ausschöpfen gerade von der 
inhaltlichen Seite her ohne das Register nicht möglich ist, hat die Kommission zu- 
gegeben, als sie im Gegensatz zur österreichischen Reihe jeden Band gleich mit 
Register erscheinen ließ. Wer jetzt nicht notwendig auf das Register warten muß, 
der ortsgeschichtliche Forscher und der Bibliothekshistoriker, ist später wieder der 
Benachteiligte, da ja Orts- und Personenregister vorerst nicht zu erwarten sind; 
die Fülle von Namenmaterial war aber vielleicht noch in keinem der bisherigen 
Bände so groß, wie in diesem: Namen der Schenkgeber, Schreiber, Illuminatoren, 
Buchbinder, Bibliothekare, gelehrten Besucher, ja auch in einzelnen Bibliotheken 
tätigen Autoren. Auf die Vervollständigung der bibliothekshistorischen Nachrichten 
aus der Literatur und aus urkundlichen Quellen ist in dem neuen Band mehr Wert 
gelegt worden als bisher, um die oft kärglichen Kataloge zu ergänzen; so fällt der 


618 Kritiken 


Mangel eines solchen Namenregisters hier besonders auf. Der Bibliothekshistoriker 
denkt bei dieser Gelegenheit vielleicht noch weiter: werden die Einzelbearbeiter, 
wird die Kommission sich einst dazu entschließen, auch das in ähnlicher Weise 
bekanntzugeben, was sie über Bibliotheken, von denen mittelalterliche Kataloge 
sich nicht mehr gefunden haben, gesammelt haben? Für die Schlüsse, welche von 
den Katalogveróffentlichungen auf das mittelalterliche Geistesleben gezogen werden, 
würde damit eine sicherere Grundlage geschaffen; denn die Versuchung, von den Bi- 
bliotheken mit Katalogen aus zu verallgemeinern, ist nicht wegzuleugnen. Ange 
sichts des Augsburger Bandes wird man dies Bedenken vielleicht nicht mehr allzu 
schwer nehmen; von den wichtigeren Klosterbibliotheken wenigstens fehlt wohl so 
gut wie keine: Wir finden die Benediktinerklóster in beträchtlicher Zahl und mit 
Namen, die in Weltgeschichte und Weltliteratur eingegangen sind: Andechs, St. 
Ulrich und Afra in Augsburg, Benediktbeuren, St. Mang in Füssen, Kochel, Thier- 
haupten, Wessobrunn; auch das noch nicht gesicherte Staffelseekloster ist dabei. 
Von anderen Klóstern müssen wenigstens das Zisterzienserkloster Kaisheim bei 
Donauwörth und die Kartause Buxheim bei Memmingen genannt werden. Dazu 
kommen die Dom- und sonstigen Kirchenbibliotheken, die Bücherlisten einzelner 
Geistlicher, die umfangreichen Verzeichnisse der Grafen von Öttingen. An Buntheit 
der Bücherlisten (auch in ihrer äußeren Form) übertrifft der neue Band noch den 
ersten. 

Diese Buntheit erstreckt sich auf das Alter der Kataloge, die von der frühesten 
Zeit, aus der wir Bibliothekskataloge im Mittelalter kennen, bis tief in die Inkunabel- 
zeit reichen; das bedeutet freilich, daß nicht alle verzeichneten Bücher Handschriften 
sein müssen. Dessen muß sich der Benützer stets bewußt bleiben, zumal er durch 
den Brauch, nur die erhaltenen Handschriften, nicht auch die Inkunabeln zu ver- 
zeichnen, versucht ist, bei den Katalogen reine Handschriftenverzeichnisse anzu- 
nehmen. Nur wenigen spätmittelalterlichen Katalogschreibern erschien es wesentlich, 
den handschriftlichen oder typographischen Charakter anzumerken. — Bunt ist 
das Bild auch hinsichtlich der Sprache: Viele deutschgeschriebene Kataloge sind 
diesmal dabei; die Erklärung wird oft mehr Schwierigkeiten machen, als bei den 
lateinischen Titeln, besonders wo Fachausdrücke, noch dazu in dialektischer Form 
vorkommen. Die Folgen dieser Ungleichheit wird auch das Register zu spüren be- 
kommen. — Vor allem aber ist der Inhalt bunt: neben richtigen Inventaren zahl- 
reiche Vermächtnisse (aus denen Erstaunliches über den Bücherbesitz einzelner 
Geistlicher zu sehen ist) und Schenkungen, Teilverzeichnisse der kirchlichen Bücher, 
über Ankäufe, über die Bücher eines Abschreibers; lakonische Titelaufzählungen 
und eingehendere Beschreibungen; neben den üblichen überwiegend theologischen 
Werken auch viel Weltliches, besonders unter den deutschen Verzeichnissen. 

Für den Historiker, für die Geschichte des Buchwesens und der gelehrten 
Studien ist der Band eine reiche Fundgrube, nicht nur durch den Nachweis von 
historischen Handschriften, sondern mehr noch durch das in den Einleitungen ver- 
arbeitete Quellenmaterial. Die buchgewerbliche Tätigkeit im Kloster St. Ulrich 
und Afra in Augsburg, die Listen der von Diemot geschriebenen Bücher in Wesso- 
brunn verdienen Beachtung; daß wissenschaftliche Ausschöpfung historischer 
Handschriften noch im Mittelalter erfolgte, wird von Benediktbeuren berichtet; 
in Andechs war Herzog Ernst mit Aventin zu Gast, um zu exzerpieren. — Für die 
Buchgeschichte ist manches wertvoll, was über die Einbände zu erfahren ist: grüne 


Kritiken 619 


Einbände werden in Augsburg erwähnt (S. 39); in St. Ulrich und Afra ließ man in 
einem Jahr von einem Meister 350 Einbände herstellen. In Benediktbeuren geben 
die erhaltenen Ausgabenbücher (die Ruf in der Festschrift für Georg Leidinger ver- 
öffentlicht hat) Auskunft über den Verbrauch der Hausbuchbinderei (vielleicht 
wäre der Artikel „Peir‘‘ in Gruels Manuel zu erwähnen gewesen). Die Einband- 
beschreibungen im Katalog des Grafen Wilhelm von Öttingen sind besonders auf- 
schlußreich (,in weißleder gebunden mit langen schwentzen“). Die Beispiele mögen 
genügen. 

Den Schicksalen der Handschriften ist der Bearbeiter mit unermüdlichem Spür- 
sinn nachgegangen. Wenn nicht alle Wanderungen aufgeklärt sind, nicht alle noch 
erhaltenen Handschriften verzeichnet, so liegt das an dem beklagenswert rück- 
ständigen Zustand der modernen Handschriftenkatalogisierung. Wie weit aber die 
Verfolgung zerstreuter Bestände geglückt ist, zeigt das eine Beispiel von Buxheim. 
Ich wüßte kaum eine Bibliothek, die so weit zerstreut worden ist und noch zerstreut 
wird; kaum einen Katalog einer guten Privatsammlung, der nicht Bestände aus Bux- 
heim enthält. Soweit sie überhaupt in den Auktionskatalogen als solche kenntlich 
gemacht sind, sind sie auch erfaßt, wofür ich zahlreiche Stichproben gemacht habe 
(lediglich S. 90 oben muß die erste Zahl 122 heißen). — Nicht ersichtlich ist es, in 
welchen Fällen bei den erhaltenen Handschriften außer der Signatur der Inhalt 
angegeben ist; denn einerseits ist es bei Sammlungen mit gedruckten Katalogen 
schon nicht einheitlich gehandhabt; andrerseits fehlt die Inhaltsangabe häufig 
gerade bei Sammlungen ohne leicht zugängliche Kataloge; aber auch eine Beziehung 
zu den in den mittelalterlichen Katalogen erwähnten Titeln ist nicht zu erkennen, 
Konkordanzen sind nicht gegeben. 

Der Grundsatz, offensichtliche Schreibversehen der Vorlage stillschweigend zu 
verbessern, scheint nicht streng durchgeführt zu sein. S. 20,18 steht libriam für 
librariam, S. 152, 7 librie für librarie (wie 5 Zeilen weiter richtig steht). Ähnliche 
Versehen notierte ich S. 20, 23: in uno volumina, S. 38, 33 Collecterius; das xristi- 
fidelium S. 32, 14 ist mindestens graphisch auffallend. — In den sehr reichlichen Lite- 
raturangaben ist Ruf etwas von Lehmanns Brauch abgewichen: Manche immer wieder 
zitierten Schriften werden stark gekürzt erwähnt, aber ohne eine Übersicht dieser 
Titel mit vollen bibliographischen Angaben. Die Erspamis ist gegenüber der Er- 
schwerung nicht nennenswert. Da es sich meist um Titel handelt, die nicht nur für 
Augsburg gelten, wird man das jetzt Vermißte nach Abschluß des Bandes zu er- 
warten haben. Aber auch ohne diese Aussicht wird man diesen Teilband mit un- 
geteilter Freude aufnehmen. 

Leipzig. Heinrich Schreiber. 


Boshop, Ulrich, Die Entstehung des ländlichen Siedlungs- und Flurbildes 
in der Grafschaft Diepholz. Eine siedlungsgeographische Studie. 104 S. 
mit 30 Karten und Plänen im Anhang == Quellen und Darstellungen zur Ge- 
schichte Niedersachsens Bd. 39. Hrsg. vom Hist. Ver. f. Niedersachsen. Verl. 
August Lax, Hildesheim und Leipzig 1932. Preis brosch. 5.— RA. 

Die Untersuchung, die als Dissertation aus dem geographischen Seminar der 
Universität Göttingen bei Meinardus hervorgegangen ist und dort wohl auch um- 
fangreiche Anregung durch den Siedlungsgeographen Dörries erfahren hat, beschäf- 
tigt sich mit dem engen Raum der alten Grafschaft Diepholz, die etwa dem gegen- 


620 Kritiken 


wärtigen gleichnamigen Kreise in der preußischen Provinz Hannover entspricht. Die 
Grenzen der Grafschaft sind durch weite Moorflächen, teilweise auch durch Geest- 
rücken und bergiges Land von alters her naturgebunden. Die natürlichen geo- 
graphischen Verhältnisse haben auch die Siedlungen nach Verbreitung und Art be- 
dingt, die in den ältesten Zeiten zunächst auf die von Sumpf und Moor freien frucht- 
bringenden Anbauflächen angewiesen waren. Ein zweiter Siedlungsabschnitt setzte 
etwa um das Jahr 1000 ein und brachte eine starke Erweiterung des ursprünglichen 
Siedlungsraumes durch Urbarmachung der Heide- und Bruchgebiete. Von der Mitte 
des 19. Jahrhunderts an begann eine dritte Siedlungsperiode, die bis in die Gegenwart 
hineinreicht und das ältere Siedelbild durch die Faktoren neuzeitlicher Siedlungs- 
bedürfnisse wesentlich umgestaltet hat. Diese hier nur grob gezeichneten Ergebnisse 
hat der Verfasser in seiner nach geographischer wie historischer Seite orientierten 
Studie klar herausgearbeitet, indem er sich durchaus der heute erforderlichen und 
sehr umschichtigen Methode siedlungskundlicher Forschung zu bedienen versuchte. 
Nicht in allen Teilen ist ihm Vollkommenheit geglückt. Vielleicht hátte gerade bei 
Betonung der geographischen Einstellung (siehe Titel!) auch eine Klärung der 
modernen siedlungsgeographischen Momente ausführlicher befördert werden konnen. 
Siedlungs- und Flurdichte, Bevölkerungsstatistik nach Zahl, räumlicher, wirtschaft- 
licher und sozialer Verteilung der Gegenwart würden ebenso wie Übersichten über 
Flurgrößen, Verteilung der wirtschaftlichen Nutz- und Anbauflächen, Größe und 
Arten der Wirtschaftseinheiten, Erträgnisse u. ä. (z. T. in kartographischer Dar- 
stellung) das Bild der gesamten Siedlungsentwicklung vervollkommt haben. Auf 
dem Gebiete der historischen Darstellung würde ebenso eine vertiefte Untersuchung 
des reichhaltigen älteren und jüngeren Quellenmaterials die aufgeworfenen Fragen 
in der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung der Siedler (Voll- 
erben, Teilerben, Kótner, Brincksitzer usw.), in der Bedeutung der Gutssiedlung, in 
der Flurgliederung, schließlich auch in dem durch Dorf, Flur und gemeine Mark sehr 
wechselvoll bedingten und gegebenen Gemeinschaftszusammenschluß geklärt haben. 
Die kartographische Darstellung der Verbreitung der Orts- und Flurformen nach den 
älteren Landesaufnahmen und Kartenwerken wäre gleichfalls förderlich gewesen. 
Das schwere, aber ebenso vielseitig auswertbare siedlungskundliche Rüstzeug erfor- 
dert und ermöglicht weitschichtige und umfassende Lösung, zumal wenn sich der 
gegebene Arbeitsstoff auf engerem Raume abgrenzt. 

Trotz dieser Wünsche, die wohl an die Arbeit herangebracht werden können, 
bietet sie doch auch über die Aufhellung der Besiedlungsverhältnisse jenerLandschaft 
hinaus manch wertvollen und wichtigen Beitrag für die allgemeine siedlungskundliche 
Forschung. Besonders instruktiv sind die Ausführungen über Entstehung und Ent- 
wicklung der Eschfluren, die durch geschickt ausgewählte Flurkartenbeispiele gut 
ergänzt werden. In diesem Zusammenhange wird auch das , Wegedorf" (S. 47) 
besprochen, das gerade in der jüngsten Fachliteratur als Bezeichnung eines besonde- 
ren Formentypes eingeführt ist. Auch das Problem Einzelhof und Dorfsiedlung, das 
die Forschung immer wieder beschäftigt, wird vom Verfasser eingehender behandelt. 
Im Untersuchungsgebiet erscheint der Einzelhof und seine Kampflur entschieden 
als die Siedlungsanlage des älteren Landesausbaues, die von der Bodenbeschaffenheit 
abhängig ist. Doch gilt dies nicht als starre Regel, da auch Altsiedlungen dörflicher 
Art, vorwiegend in vergleichender Beurteilung der geographischen Situation be- 
trachtet, auf die Urform des Einzelhofes zurückgeführt werden können. Mit Recht 


Kritiken 621 


lenkt der Verfasser überhaupt die Beurteilung dórflicher Siedlungstypen von der 
rein formalen, zu einer natürlich bodengebundenen Betrachtung hin. Nicht nur die 
Entstehung, sondern auch die Weiterentwicklung der im Untersuchungsgebiet vor- 
handenen Dorfformen und ihrer Flurbildungen werden nach ihrer geographischen 
und topographischen Lage zu bestimmen versucht. Diese Untersuchungen, die immer 
wieder sehr eingehend und mit sicherem Blick für die wirklich wesentlichen und 
belangreichen Feststellungen geführt werden, gehóren zu den wertvollsten Erkennt- 
nissen der Arbeit. Sie müssen aber auch zur allgemeineren Nutzung der Forschung 
besonders unterstrichen werden. Die vorgelegte Arbeit wird geradein dieser Richtung 
besonders wirksam sein und weiterführen kónnen. 
Leipzig. Walter Uhlemann. 


Paul Rolland, Les origines de la commune de Tournai. Histoire interne de la 
seigneurie épiscopale Tournaisienne. Ouvrage bénéficiaire de la Fondation 
H. Pirenne. Bruxelles, Maurice Lamertin. 1931. 263 S. 

Der Verfasser, der seit 1924 eine lange Reihe von Einzelstudien über das mittel- 
alterliche Tournai veróffentlicht hat, legt hier eine zusammenfassende Arbeit über 
diesen Gegenstand vor. Er hat die vielen verwickelten Fragen, vor die ihn seine 
Aufgabe stellt, mit groBer Sachkunde und Umsicht erórtert. Allerdings macht er 
es dem Leser nicht leicht, aus der Fülle der Einzelheiten das Wesentliche heraus- 
zufinden, und nicht in allem Wesentlichen scheint er uns zu einem abschließenden 
Ergebnis gelangt zu sein. 

Es gilt das unseres Erachtens insbesondere von der ältesten Periode, deren Auf- 
hellung freilich den schwierigsten stadtgeschichtlichen Problemen zuzuzählen ist. 
Zu der Stadt Tournai waren schon im 11. Jahrhundert eine Marktansiedlung und 
andere Stadtteile zu beiden Seiten der Schelde mit der Burg durch eine Befestigung 
zusammengeschlossen. Über die Verfassung dieser älteren Stadt geben Zeugen- 
reihen aus Urkunden von 1098—1171 Auskunft; in ihnen werden genannt iudices 
civitatis, senatores, scabini. Nach R. sind das gleichbedeutende Bezeichnungen für die 
Schöffen, die, wie einem Schiedsspruch des Königs Philipp Augustus von Frankreich 
zu entnehmen ist, nur aus den Mannen der bischóflichen Kirche, den homines s. 
Mariae, genommen werden dürfen. Diese letztere Bestimmung ist auf die erste Hälfte 
des 12. Jahrhunderts nicht ohne weiteres anwendbar, und die senatores dürfen mit 
den scabini nicht gleichgesetzt werden. Zwar decken sich die Personenkreise teil- 
weise; doch ergibt sich daraus nur, daB beide Gruppen irgendwie verbunden waren, 
nicht ihre Identität. Die senatores sind, wie die S. 65 von R. angeführte Urkunde 
von 1130 zeigt, für die Markt- und Zollverwaltung zuständig, die scabini amtieren 
bei Handánderungen von Grundbesitz. Daß auch in Trier und Köln die scabini mit 
den Senatoren gleichzusetzen seien, behauptet R. unglaublicherweise lediglich unter 
Verweisung auf die unzuverlüssige und vóllig veraltete Kompilation von Wauters, 
Les libertés communales (1878). Die dort über Trier sich findende Angabe z. B. 
beruht auf dem Coblenzer Zolltarif des Kaisers Heinrich IV. von 1104, Beyer Mittelrh. 
UB. I Nr. 409, wo die scabini loci von den senatores unterschieden werden; an der 
Spitze der letzteren erscheint der Zöllner. Für die Aufhellung dieser älteren Zeit 
hätte unbedingt die von R. (S. 153, 156) mehrfach erwähnte Urkunde von 1108 
herangezogen werden müssen, welche von den paribus et casatis episcopi pertinen- 
tibus sive ad urbem sive ad castellum spricht: schwerlich kann man sie doch mit 


622 Kritiken 


den hospites infra muros eines päpstlichen Privilegs von demselben Jahre (Jaifé 
6202) gleichsetzen. Auch müBte gerade dieses Privileg vorab auf seine Echtheit 
untersucht werden; denn es hängt an der fraglichen Stelle mit dem Diplom des 
Königs Chilperich II. zusammen, das R. selbst 1926 als eine im 12. Jahrhundert 
zugunsten des Domkapitels hergestellte Fülschung erwiesen hat. Beide Urkunden 
sprechen diesem den Zoll zu Tournai und die iustica eiusdem telonei zu. Nach dem, 
was oben über die senatores gesagt wurde, ist der tatsächliche Rechtszustand von 
Zoll und Zollgerichtsbarkeit in Tournai während des 11. Jahrhunderts für die Be- 
urteilung der ältesten Stadtverfassung natürlich von entscheidender Bedeutung. 
Einleuchtender als über die älteste berichtet R. über die zweite Periode der mittel- 
alterlichen Geschichte von Tournai. Die Handfeste, die König Philipp Augustus 
von Frankreich der Stadt 1188 verlieh, bedeutet nicht die Errichtung, sondern die 
Bestätigung einer Kommunalverfassung, als deren Organe Geschworene neben den 
Schóffen seit 1147 erscheinen. Durch diese Kommune ist eine jüngere Schicht der 
Bevólkerung mit der alteingesessenen zur Stadtgemeinde verschmolzen. Als treibende 
Kraft sieht R. eine Kaufmannsgilde an, deren Überrest in der Handfeste von 1188 
als caritas beati Cristofori erscheint. Verschiedene Stadtplüne, Siegelabbildungen 
und ein verkleinertes Facsimile der Handfeste des Kónigs Philipp Augustus von 
1211 — die von 1188 ist nur abschriftlich erhalten — sind dem Buche beigegeben. 
Utrecht. O. Oppermann. 


Uhlhorn, Friedrich, Geschichte der Grafen von Solms im Mittelalter. 
Leipzig, Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte. (Mar- 
burg, Universitáts-Druckerei Joh. Aug. Koch) 1931. 471 S. 8°. = Beiträge 
zur deutschen Familiengeschichte, Bd. 12. 

Dieses Buch des Solmsischen Samtarchivars soll die älteren unzulänglichen 
Hausgeschichten von Hayl, Knoch, Graf Friedrich Ludwig zu Solms, J. C. Schaum 
und Graf Rudolf zu Solms-Laubach ersetzen. Mit modernem Rüstzeug geht der 
Verfasser den Ergebnissen dieser Schriftsteller — Historiker sind sie meist nicht — 
kritisch zu Leibe und setzt sich auch mit anderen Forschern wie Helfrich Bernhard 
Wenck, J. E. Chr. Schmid, die sich mit dem Ursprung des Hauses Solms beschäftigt 
haben, auseinander. Allen seitherigen Ansichten stellt er eine neue gegenüber, die 
er hauptsächlich aus dem späteren Territorialbestand der Grafschaft zu erhärten 
sucht. Nach ihm sind die Solmser die direkten Fortsetzer des Gleibergisch-Luxem- 
burgischen Hauses, und zwar durch einen nur aus zwei undatierten Nachrichten 
bekannten Grafen Otto von Gleiberg (um 1150), der eine solmsische Erbtochter 
geheiratet haben soll. Mit der Luxemburgisch-Gleibergischen Genealogie hat sich 
eine ganze Reihe namhafter Forscher bescháftigt, ich nenne nur Helfrich Bernhard 
Wenck, Kraft (Geschichte von GieBen) Wyss, Witte, G. Frhr. Schenk zu Schweins- 
berg, Kalbfuß (Geschichte von Schiffenberg), und keiner von ihnen ist der Meinung 
des anderen. So plausibel U. seine Anschauung macht und so glänzend er sie zu 
stützen sucht, sie bleibt, wie er selbst anfänglich zugibt, eine Hypothese, die er aber 
dann am Schlusse des Buches (S. 403) auch nicht als gesichertes Ergebnis betrachten 
darf, und die auch schon Widerspruch von genealogisch hervorragend sachverstàn- 
diger Seite gefunden hat. 

Im zweiten Teil werden die geographischen Grundlagen der Grafschaft Solms, 
ihre Eingliederung in die benachbarten Territorien und ihre ersten Veränderungen 


—M —— — M -— 


Kritiken 623 


aufgezeigt und dabei den StraBenzügen, die die wirtschaftliche und politische Lage 
beeinflussen konnten, Beachtung geschenkt. Er teilt das ganze Gebiet in drei Sied- 
lungs- und Wirtschaftsgebiete, von denen jedes seinen Mittelpunkt in einem festen 
Haus, z. T. ursprünglich Wirtschaftshöfen hatte: Burgsolms am Solmsbach, dann 
Werdorf für das Gebiet an der Dill, schlieBlich Kónigsberg für die Altenkirchener 
Zent. Etwa in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts trat als vierter fester Platz 
Burg Braunfels an der Lahn „als erste ausschließlich militärische Gründung“ hinzu, 
zum erstenmal 1248 urkundlich erwähnt. Während Werdorf zurücktrat, „gewann 
der Braunfels wachsende Bedeutung" als einer der nachmaligen drei Hauptorte, 
die um 1257 und dann nach dem Tode Graf Heinrichs I. (nach 1260) Sitze dreier 
Hauptlinien des Hauses wurden, die eine Mutschierung eingegangen waren. In 
diese Zeit fällt die Annahme des neuen Wappens mit dem Löwen. In den 
Kämpfen der jungen Landgrafschaft Hessen mit Mainz standen die Solmser auf 
der Seite des letzteren, nur Reinbold I. von Königsberg wurde 1257 hessischer 
Burgmann und versprach, seine Schlösser der Landgräfin Sophie und ihrem Sohn 
zu öffnen. Aber mit Reinbolds Tod (etwa 1274) erlosch die Hinneigung seines 
Zweiges zu Hessen. 

Der Raum verbietet, hier den weiteren Schicksalen des Hauses, seinen Fehden 
mit Hessen, der Reichsstadt Wetzlar u.a. zu folgen. Das Buch schließt mit der 
Beteiligung des Hauses an der Falkensteiner Erbschaft (1419), auf die die Grafen 
Bernhard II. und Johann VI. durch ihre Mutter, Tochter Philipps VI. von Falken- 
stein und Schwester des 1418 gestorbenen Erzbischofs Werner von Trier, des letzten 
Falkensteiners, Anspruch hatten. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir es hier mit einer fleiDigen und tüchtigen 
Arbeit, die vieles Neue bietet, zu tun haben. Die Richtigkeit aller Ergebnisse wird 
wohl in manchen Füllen nachzuprüfen sein, aber wir dürfen uns freuen über die Auf- 
hellung eines wichtigen Stückes deutscher Territorialgeschichte und dürfen auf die 
Fortsetzung dieser in vier Teilen geplanten Geschichte des Fürstlichen Hauses ge- 
spannt sein. Dagegen möchte ich gegen die ganz unmógliche Einteilung und An- 
ordnung der Anmerkungen entschieden Einspruch erheben. So sehr der Verfasser 
gegen die Unzulänglichkeit seiner Vorgänger zu Felde zieht, in dieser Äußerlichkeit 
ist er ganz veraltetem Gebrauch gefolgt, indem er die Anmerkungen innerhalb der 
Einteilung seines Textes stets von neuem zählt und dann alle zusammen dem Buch 
hinten anhängt. Beim Nachschlagen ist man dann jedesmal von neuem zu der Fest- 
stellung genötigt, bei welchem „Teil“ und „Stück“ man gerade steht, ein ungeheuerer 
Zeitverlust und eine große Gefahr, sich im Zitat zu irren. Ich empfehle dringend, 
bei den folgenden Bänden die Anmerkungen wenigstens durchzuzählen, auch wenn 
dieses Verfahren zu hohen Ziffern führt. 

Gießen. K. Ebel . 


Wolfgang Wießner, Die Beziehungen Kaiser Ludwigs des Bayern zu Süd-, 
West- und Norddeutschland. Beträge zur königlichen Innenpolitik. 
(Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, hrsg. von B. 
Schmeidler und O. Brandt, Bd. XII.) Erlangen, Palm & Enke, 1932. VIII 
u. 142 8. 

Der Verfasser dieser aus der Schule Schmeidlers hervorgegangenen Erlanger 

Dissertation hat sich mit dem Versuche, eine zusammenfassende Darstellung der 


624 Kritiken 


Beziehungen Ludwigs d. B. zu den einzelnen Landschaften des Reiches zu liefern, 
zweifelsohne zu viel zugemutet. Es mag hierbei dahingestellt bleiben, ob das Thema 
nicht überhaupt etwas zu weit gespannt war; jedenfalls aber stellt seine Bewältigung 
Anforderungen, die erheblich über den Durchschnitt solcher Erstlingsarbeiten wie 
der vorliegenden hinausgehen. Eine Beschrünkung auf die südwest- und mittel- 
deutschen Gebiete wäre um so eher angängig gewesen, als die Aufgabe, die Wießner 
sich gestellt hat, für Norddeutschland bereits in der Göttinger Dissertation Erich 
von Freedens: „Die Reichsgewalt in Norddeutschland von der Mitte des 13. bis 
zur Mitte des 14. Jahrhunderts“ (1931) eine fast durchweg befriedigende und alles 
Wesentliche vorwegnehmende Lösung gefunden hat. Es ist daher ein besonders 
unglücklicher Zufall, daß diese Arbeit Wießner erst während des Druckes der seinen 
zu Gesicht gekommen ist; hätte er doch nicht nur daraus ersehen, wie derartige 
verfassungsrechtliche Probleme im Rahmen und Zusammenhang mit der allgemeinen 
politischen Geschichte behandelt werden müssen, um einen entsprechenden Ertrag 
zu zeitigen, sondern auch die Mühe und Arbeit, die er auf die Untersuchung der nord- 
deutschen Verhältnisse verwandt hat, anderen Gebieten zugute kommen lassen 
können. In doppelter Hinsicht wäre eine solche Konzentration empfehlenswert und 
förderlich gewesen. : 

Niemand wird es dem Verfasser billigerweise verargen, daß er bei so weit- 
verzweigten Forschungen eine vollständige Sammlung des einschlägigen Quellen- 
materials weder erreicht, noch auch nur angestrebt hat. War es doch nicht seine 
Absicht, „eine jeweils lückenlose Geschichte der Beziehungen Ludwigs zu den einzel- 
nen Landschaften zu geben. Es soll immer nur die besondere Art, der Umfang 
königlichen Wirkens in den verschiedenen Landschaften hervorgehoben werden.“ 
Mit diesem Programm würde man sich gewiß ohne weiteres einverstanden erklären 
können, wenn nicht Wießner andererseits sein Urteil über die Regierungstätigkeit 
Ludwigs d. B. vornehmlich auf Vergleichen der jeweiligen Ergebnisse in den einzelnen 
Landschaften gründete. „Statistische Aufstellungen und Vergleiche werden unsere 
Übersicht erleichtern. Es wird die Zahl der Urkunden gezählt werden müssen, um 
einen wirklichen Überblick über Ludwigs Tätigkeit als König zu bekommen.“ (S.9.) 
Die Zweckmäßigkeit eines solchen Verfahrens mag schon angesichts der Lücken- 
haftigkeit unseres Urkundenbestandes und den Zufälligkeiten seiner Überlieferung 
ziemlich zweifelhaft erscheinen. (Vgl. z. B. S. 66!) Im vorliegenden Falle führt es 
gar zu einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen Zielsetzung und Arbeitsmethode, 
unter deren nachteiligen Folgen zwangsläufig auch der Ertrag der ganzen Unter- 
suchung leidet. Denn was wir so erhalten, ist lediglich eine mehr oder weniger will- 
kürliche und fragmentarische Aufzählung der einzelnen Reichsständen gewährten 
Privilegien und Vergünstigungen. Über die besondere Art der innerpolitischen 
Wirksamkeit Ludwigs d. B. in den verschiedenen Landschaften läßt sich eben auf 
diese Weise kein Aufschluß gewinnen, sofern man sich nicht mit einigen allgemeinen 
Ergebnissen begnügt. Das ist vielmehr nur möglich auf Grund genauester Sach- 
kenntnis und minutióser Detailforschung. Hieran gebricht es jedoch Wießner wieder- 
holt bedenklich. 

Es wäre kleinlich und würde zu weit führen, mit dem Verfasser wegen jedes 
ihm unterlaufenen Versehens und Fehlers zu rechten. Es mag daher genügen, einige 
besonders krasse und wichtige Fälle hervorzuheben. So verraten die Ausführungen 
Wießners über die fränkischen und zumal die Nürnberger Rechtsverhältnisse eine 


Kritiken 625 


sehr geringe Vertrautheit mit der spätmittelalterlichen Gerichtsverfassung, die in- 
folge ungeschickter Formulierung wohl noch besonders auffállt. Vor allem vermiDt 
man die Kenntnis des grundlegenden Buches von H. Hirsch über die hohe Gerichts- 
barkeit. Völlig im unklaren scheint sich der Verfasser auch über die rechtliche 
Stellung der zur Reichsfreiheit aufgestiegenen Bischofsstädte zu sein; denn sonst 
würde er schwerlich von einem ,,Abfall" StraBburgs von seinem Bischof sprechen 
(S. 71) oder gar Mainz auf die gleiche Stufe mit Würzburg und Bamberg stellen 
(S. 81). Vergebens sucht man ferner nach einer Würdigung der Landfriedenspolitik 
Ludwigs d. B., die deren Bedeutung angemessen wäre; ihre Darstellung — soweit 
man überhaupt von einer solchen reden kann — krankt zudem an zahlreichen 
sachlichen Unrichtigkeiten (so vor allem S. 60 und 83f.), obwohl hierüber bei 
Schwalm alles Nötige zu finden gewesen wäre. Unbedingt erforderlich wäre es 
gewesen, auf die nicht selten geradezu entscheidende Rolle der Hausmachtsinteressen 
Ludwigs d. B. bei der Gestaltung seiner Innenpolitik näher einzugehen; von ihnen 
ist z. B. sein Verhalten gegenüber den schwäbischen Ständen (S. 69) wesentlich 
mitbestimmt worden. Nicht immer glücklich ist endlich auch die Anlage und Ein- 
teilung der ganzen Arbeit. Hätte es nicht ungleich näher gelegen, das Elsaß zusammen 
mit dem Mittelrhein zu behandeln und ihnen ein eigenes Kapitel zu widmen, statt 
jenes im Anschluß an Schwaben zur Darstellung zu bringen und diesen unter die 
„Wetterau und die angrenzenden Gebiete‘ einzuordnen, wo ihn niemand vermutet ? 

Alles in allem: der gute Wille und Eifer Wießners sei gern anerkannt — eine 
Darstellung der Innenpolitik Ludwigs d. B., die man dem Titel seiner Arbeit nach 
vielleicht erwarten kónnte, und die an sich zweifelsohne einem dringenden Bedürfnis 
entsprüche, erhalten wir keinesfalls. 

München. Ernst Bock. 


Wehmer, Carl, Studien über die mittelalterlichen Buchschriften. Teil- 
druck: Die Namen der gotischen Buchschriften. Ein Beitrag zur Geschichte 
der lat. Paläographie. Berlin, Phil. Diss. von 1932. (Halle, 1932: Karras, 
Króber u. Nietschmann). 48 S. 

Die Vernachlässigung der spätmittelalterlichen Schriften durch die paläographische 
Forschung, über die mehrfach und zum Glück erfolgreich geklagt worden ist, hat nicht 
zuletzt ihren Grund darin, daB den Forschern vielfach die intime Kenntnis der 
frühesten Druckschriften fehlte, ohne die eine spätmittelalterliche Paläographie 
undenkbar ist. In der Verbindung des Handschriftenfachmannes mit dem Kenner 
der Druckschriften liegt großenteils der Wert des Kirchner-Crousschen Tafel- 
werkes. Wehmer als Mitarbeiter am Gesamtkatalog der Wiegendrucke ist also aufs 
beste für eine solche Arbeit ausgerüstet und auf jeder Seite beweist er das Geschick, 
mit dem er an die Aufgabe herangegangen ist. Er behauptet auch nicht zu viel, 
wenn er glaubt, durch den Namen „gotisch“ wichtige geistige Zusammenhänge 
berühren zu können. Durch eine ästhetisch wertende Betrachtungsweise wird der 
historische Abschnitt zu einem eigenartigen, anregenden Ausschnitt aus der Ge- 
schichte der Paläographie, einem Ausschnitt, der dem bekannten Bild neue Züge 
hinzufügt, welche dem Umstand zu danken sind, daß der Verfasser sich in der Lite- 
ratur aller Zeiten über die Grenze des Faches hinaus umgesehen und die Früchte 
davon besonnen für seine Darstellung verwertet hat. In dieser kenntnisreichen Be- 
trachtung der Entwicklungsgeschichte der Paläographie durch die Linse „gotische 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 40 


626 Kritiken 


Schrift" fehlen nicht die GroBen dieser Wissenschaft von Mabillon bis auf Traube 
und Paul Lehmann, dessen Förderung Wehmer dankbar anerkennt, auch nicht 
die Humanisten und die Schreibmeister der Renaissance (die der Verfasser sehr 
genau kennt), nicht Goethes „zornig begeistertes Schriftchen" „Von Deutscher 
Baukunst“ (es lohnt nachzulesen, was er gotisch nennt), nicht Friedrich Schlegels 
qualitätsvoller Aufsatz über die „deutschen und lateinischen Lettern“. So wird selbst 
ein solch eng begrenzter Abschnitt aus der Geschichte der Schriftterminologie 
weit über eine philologische Untersuchung hinausgehoben, ohne daB die philologische 
Grundlage verleugnet wird. Was Wattenbach an Belegen für die gestellte Frage schon 
gebracht hat, wird gründlich weiter verfolgt und ausgebaut. Ehe wir heute eine 
Terminologie festlegen, ehe wir das überlieferte Schriftgut mit heutigen Namen 
benennen, ist es nótig zu untersuchen, was die Zeitgenossen unter den einzelnen 
Schriftarten, denen sie Namen gaben, verstanden haben. Hierfür schafft Wehmer 
— wofür auch Traube schon eifrig gesammelt hat — gute Grundlagen. Die Namen 
„Textura, Fractura, Litera formata, Rotunda, Bastarda“, alles Ausdrücke, die keines- 
wegs zu allen Zeiten und in allen Kópfen das gleiche, oder nur überhaupt etwas Kla- 
res bedeutet haben, finden ihre Erklärungen aus der zeitgenössischen Verwendung 
heraus; die Forschung steht nun vor der Frage, wie weit sie sich in der Nomen- 
klatur den alten Bedeutungen anschließen will — konsequenter und einheitlicher, als es 
seit kurzem schon angebahnt worden ist. Durch den Druck im Zentralblatt für Bi- 
bliothekswesen 49 (1932) H. 1—5 ist für die Verbreitung der Arbeit genügend ge- 
sorgt. Leider aber ist von den übrigen Abschnitten der Dissertation, auf die man 
nach dieser Probe und der Inhaltsangabe über den nichtgedruckten Teil reichlich 
gespannt ist, noch nichts weiter an die Üffentlichkeit gekommen. Darin ist die Ent- 
Stehung der gotischen Schrift untersucht, wobei eine Einwirkung der Beneventana 
abgelehnt wird. Zu diesen sachlich interessanten Fragen treten methodische Hin- 
weise für die weitere Erforschung der gotischen Schriften, die ebenso der Beachtung 
der Fachwelt empfohlen werden dürfen, wie das voll veróffentlichte Specimen. 
Leipzig. Heinrich Schreiber. 


Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance. Zur Physiognomik und Rhyth- 
mik bürgerlicher Kultur. F. Enke Verlag, Stuttgart 1932. 135 S. 

Unter den Desiderata der Renaissanceforschung steht eine Soziologie der 
italienischen Renaissance seit Jahrzehnten an erster Stelle. Es sind bald hundert 
Jahre her, daß Adolphe Thiers nach seinem ersten Ministersturz 1838 von Como aus 
mit einem Stab italienischer Mitarbeiter, unter denen sich Gino Capponi befand, 
eine Geschichte von Florenz zu schreiben unternahm, in der „le florin, l'agiot, la 
soie des Florentins“ zu ihrem Recht kommen sollten. Noch in seinen letzten Lebens- 
jahren hat Thiers den Plan wieder aufgegriffen. Aber er ist über seiner unvoll- 
endeten Geschichte von Florenz gestorben, die mit einer Soziologie wohl einige 
Ähnlichkeit bekommen hätte. 

Seither haben wohl Italiener und Deutsche an dem Plan weitergearbeitet. Aber 
was so begabte Forscher wie Gaetano Salvemini und Alfred Doren zum Thema bei 
trugen, sind verhältnismäßig kleine, wenn auch höchst wichtige und sorgfältige 
Teilausschnitte geblieben. Was die eigentlichen Soziologen wie Werner Sombart 
sagten, klang so, als wäre die Einzeluntersuchung geleistet, die in Wirklichkeit 
nicht existierte, und es entsprach mehr den logischen Bedürfnissen eines reinen Ge- 


Kritiken 627 


dankenbaus, der nach sejner eigentlichen Absicht und seinem Gegenstand Italien 
fremd war. 

Auch das vorliegende Bündchen von Alfred von Martin bleibt zu sehr im all- 
gemeinen und abstrakten Räsonnement befangen, als daß es den Historiker be- 
friedigen oder überzeugen kónnte. Für den Verfasser bedeutet es das Dokument 
seines Übertritts von der Historie zur Soziologie. Der Untertitel „Zur Physiogno- 
mik uud Rhythmik bürgerlicher Kultur" ist jedenfalls für den Inhalt ausschlag- 
gebend. 

Der nachzuweisende „Rhythmus“ ist ungefähr so gedacht: Die italienischen 
Städte treten aus dem Traditionsrahmen der mittelalterlichen Gemeinschaftskultur 
heraus, beginnen statt für den Bedarf für den Markt zu produzieren, und von der 
kleinbürgerlichen Schicht, die von mittelalterlichen Lebensformen auch weiterhin 
beherrscht bleibt, löst sich allmählich eine Oberschicht der Unternehmer, der Groß- 
bankiers und Großindustriellen, welche sich eine neue Lebensform schaffen durch 
die Verbindung zweier Mächte, die an keine Tradition gebunden, leicht beweglich, 
überall und zu allem verwendbar sind: durch Geld und Verstand. Diese neue Haltung 
ist gekennzeichnet durch einen radikalen, weil geschäftsnotwendigen Bruch mit 
allen Hemmungen der Sitte, der Tradition, der sozialen Rücksicht, der gemein- 
schaftlichen Bindung und durch die Schaffung eines neuen Wissens, das nicht mehr 
in den Zusammenhang der theozentrischen Lebensansicht eingeordnet wird, sondern 
dem technischen und ökonomischen Erfolg dient, und durch das Aufkommen einer 
neuen Bildung, die ohne religiöse Hintergründe rein ästhetisch repräsentativen 
Dekorationscharakter trägt. Die Träger dieser beiden neuen Mächte sind einerseits 
der individualistische Unternehmer, andererseits der Humanist. Der eine stützt 
den andern bei seiner Ablösung vom alten Corpus mysticum. Der Unternehmer 
bedarf zu seiner Rechtfertigung der humanistischen Ratio, der Humanist des kapital- 
kräftigen Mäzens. 

Im Ablauf der neuen Bürgerkultur zeigt sich aber bald ein Erlahmen der ur- 
sprünglichen Antriebe. Hatten ursprünglich die staatlichen Mittel zur Förderung 
der Emanzipation und zur Schaffung der großen Kapitalien dienen müssen, so wird 
dem saturierten Großbürger die Politik bald zur Last. Er will das Erworbene in der 
Ruhe des Villenlebens genießen und überläßt den in seiner alten Struktur gebrochenen 
Staat einem autoritativen Hüter von Ruhe und Sicherheit, dem Stadttyrannen. 
Damit wird die Dekadenz der bürgerlichen Entwicklung vor aller Welt offenbar. 
Eine neue Anlehnung an aristokratische Formen des Mittelalters, die „Verhöfischung“ 
der Gesellschaft setzt ein, bedingt durch das doppelte Bedürfnis des dekorativen 
Glanzes und der materiellen Sicherung. Damit mündet die dynamische Kurve dieser 
Entwicklung wieder in eine neue Periode der Statik. Gleichzeitig setzt auch auf dem 
Gebiet des geistigen Lebens ein neuer Traditionalismus ein, eine neue Verkirch- 
lichung, ein neuer Konservatismus. 

Dieser Rhythmus, den der Verfasser als Typus glaubt feststellen zu kónnen, 
ist ganz vorwiegend aus der florentinischen Geschichte abstrahiert. Ob er in der 
späteren auBeritalienischen Geschichte so häufig nachzuweisen ist, daB der Not- 
wendigkeitscharakter dieses Ablaufs einleuchtet, muB dahingestellt bleiben. Für 
Italien aber konstituiert der eine florentinische Fall keinen Rhythmus. Denn ob hier 
der Ablauf wirklich aus inneren Wachstumsgesetzen gerade so geschah oder ob er 
den nach 1494 so gewaltig einsetzenden äußeren Einwirkungen zuzuschreiben ist, 

40* 


628 Kritiken 


bleibt eine offene Frage. Außerdem glauben wir, daß die Begriffe , Mittelalter", 
„bürgerliche Bildung“, „Humanismus“, wie sie in dieser Schrift verwendet werden, 
so ausgesprochen deutsche Färbung tragen, daß sie bei ihrer Anwendung auf das 
italienische Gebiet einen groBen Teil ihres Sinnes und ihrer Richtigkeit einbüßen. 
Der Verfasser selbst gibt in seinem Vorwort neben anderen starken Bedenken gegen 
seinen Versuch auch der Meinung Ausdruck, daB es „echtes“ Mittelalter nur in 
Deutschland und „echte“ Rennaissance nur in Italien gebe. Wie soll aber 2. B. ein 
italienischer Leser die wissenschaftliche Verbindlichkeit eines Geschichtsrhythmus 
für sein Land anerkennen, der teilweise auf unechten Begriffen aufgebaut ist? Wir 
möchten der Schrift mehr einen die Diskussion anregenden als einen Wege weisenden 
Wert zuschreiben. Werner Kaegi. 


Die Protokolle des Mainzer Domkapitels. 3. Band. Die Protokolle aus der Zeit des 
Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514—1545 in Regestenform bearbeitet 
und herausgegeben von D. Fritz Herrmann, Archivdirektor in Darmstadt. 
Paderborn, Ferdinand Schöningh, 1932. XXXVIII u. 1216 S. 4°. 

Es ist der wissenschaftlichen Forschung schon lange bekannt, wie sehr den 
Bischöfen und Erzbischófen der Reformationszeit durch die weitgehende Abhängig- 
keit von ihren Domkapiteln die Hände gebunden waren. Auch die Zeitgenossen 
wußten hierüber genau Bescheid. Luther, der schon bei der Verfolgung der Evan- 
gelischen in Miltenberg darauf hingewiesen hatte, daß das Domkapitel mehr ab 
der Erzbischof verantwortlich sei (Werke deutsch Erl. Ausg. 53, 233) schrieb 1527, 
in seiner Tröstung an die Christen zu Halle mit einem Vergleich, der gerade den Ein- 
wohnern dieser Stadt besonders anschaulich sein mußte, daB „in allen Stiften ge 
meiniglich die Bischöfe ihres Kapitels so mächtig sind als der Roland seines Schwerts, 
daß sie Bischöfe heißen und sind's nicht. Dompfaffen sind Bischöfe und heißen’ 
nicht" (W. A. 23, 408). 

Die lebendigste Anschauung von dieser Teilnahme der Domkapitel an der 
Landesregierung läßt sich in Mainz gewinnen, und das beste Mittel hierzu sind die 
Protokolle des Mainzer Domkapitels. Trotz der Ungunst der Zeit konnte die Histo- 
rische Kommission für den Volksstaat Hessen die Ausgabe dieser Protokolle, von 
der in der vorliegenden Zeitschrift einmal andeutend die Rede war (Bd. 26, S. 427), 
für die Zeit Albrechts aus dem Hause Hohenzollern zu Ende führen. 

Die auf uns gekommenen Protokolle setzen 1450 in lateinischer Sprache ein. 
Im April 1514 vollzieht sich der Übergang zur deutschen Sprache. Das ist ebenso 
bemerkenswert wie die S.382 N.1 verzeichnete Tatsache, daB man im Kloster 
Haina, als man Verlust der Originalurkunden befürchtete, diese, soweit sie deutsch 
waren, abschreiben, die übrigen ins Deutsche übersetzen ließ. Über die Entwicklung 
der Protokollführung selbst lassen sich allerhand Beobachtungen anstellen. Einmal 
schreibt der Protokollant, es seien mehrere Suppliken verlesen worden et praecipue 
una contra me per cancellarium et secretarios oblata, quibus falso me 
incusant (S. 10). Später unterbleiben, soviel ich sehe, solche Entgleisungen ins 
Subjektive. 

Das Gesamtbild, das man aus diesen Quellenauszügen erhält, weicht doch nicht 
unerheblich ab von dem Bilde weitgehender erzbischóflicher Ohnmacht, wie es 
die Protokolle des 15. Jahrhunderts vermitteln (vgl. meinen Aufsatz: Die Neben- 
regierung des Domkapitels im Kurfürstentum Mainz und ihr Ausdruck im Urkunden- 


Kritiken 629 


wesen des 15. Jahrhunderts im Arch. f. Urk.-Forsch. 9 [1925]). Die Mitregierung 
der Domherren ist für Erzbischof Albrecht wohl oftmals drückend, aber ohne Zweifel 
herrscht auf beiden Seiten das Gefühl, daß man aufeinander angewiesen ist. Auch 
die vielen Gravamina der Domherren (siehe dieses Stichwort im Sachregister) ver- 
hindern das Zusammenwirken nicht. Selbst die Verhaftung des Domdekans Lorenz 
Truchseß von Pommersfelden im Juli 1528 entzweit Erzbischof und Kapitel nicht 
auf die Dauer. (Kalkoffs Äußerungen zu diesem Vorgang werden S. 372 erwähnt. 
Soviel ich sehe, bleiben sie nach wie vor eine phantasievolle Vermutung.) Einer der 
wichtigsten Gründe für die Bereitwilligkeit, die kurfürstliche Politik immer wieder 
finanziell zu unterstützen, ist die Erkenntnis der Kapitulare, es sei „umb glaubens 
rettung willen" nótig (S. 835). Überzeugt, der Geistlichen Wohlfahrt stünde jetzt 
allein an Gott und kaiserlicher Majestät (S. 382), erklären sie dem kaiserlichen Vize- 
kanzler Held „als gute keyserliche und undertenige Personen", man verleumde 
sie, wenn man ihnen Begünstigung franzósischer Knechte vorwerfe (S. 749). 

So steht hinter der fast erdrückenden Fülle von Angaben, die persónliche und 
wirtschaftliche Dinge, Gericht und Verwaltung beleuchten, doch auch der tiefe Ge- 
gensatz der großen geschichtlichen Mächte. 

Keine Ausgabe kann dem Historiker ganz die Eindrücke und Erkenntnisse 
ersetzen, die er in den Gewölben des Würzburger Archivs empfängt, wenn er dort 
die Originalbände der Domkapitelprotokolle studiert. Aber was eine notgedrungen 
kürzende Ausgabe leisten kann, ist hier mit Umsicht und tiefdringender Sachkenntnis 
geleistet. Besonders sei auf das Verzeichnis der Sachen und Wörter verwiesen. Es 
erläutert viele auch dem nicht ganz Unbewanderten undurchsichtige Ausdrücke 
und gibt wertvolle Anregung zur Ausbeutung des Inhalts; als Beispiele nenne ich 
Stichwörter wie Archivalien; Bücher des Domkapitels; Siegel und Siegelbrauch; 
Ordnungen; Wahlmodi. — Dem Erscheinen der noch ausstehenden Bände I und 
II sieht man mit Spannung entgegen. 

Leipzig. Paul Kirn. 


Fritz Jafle, Elsässische Studenten an deutschen Hochschulen (1648 bis 
1870) mit besonderer Berücksichtigung des 18. Jahrhunderts. 

1932. Selbstverlag des ElsaB-Lothringischen Instituts, Frankfurt am Main. 
Rudolf Wackernagel sagt in seiner Geschichte des Elsasses (Frobenius, Basel, 
1919): „So ergibt sich durch ganz Elsaß hin ... das Bild eines von französischem 
Wesen nur stellenweise berührten deutschen Lebens ... Die durch Frankreich 
eroberte Bevölkerung ist juxtaposée plutöt que réunie à la nation victorieuse“ 
(S. 348) und meint damit die Zeit unmittelbar noch vor der französischen Revolution. 
Daß es so war, wußten wir; wir hatten aber doch keine rechte Anschauung von 
dem Ausmaß der Wanderung elsässischer Menschen ins Reich hinein. Da hat Fritz 
Jaffé auf Grund der Matrikeln der Universitäten für das fahrende Volk der Studenten 
den Beweis geliefert, daß sie bis zur französischen Revolution in hellen Scharen vom 
Wasgau reicheinwärts gezogen sind. „Ganze Geschlechterreihen, Protestanten und 
Katholiken, Barone und Landpfarrer, Patrizier und Handwerkersöhne, Gelehrte 
von Weltruf und schlichte Schullehrer sind durch den Filter deutscher Bildung 
gegangen, so lange sie irgend konnten und durften“, so kann Jafíé in seinem Geleit- 
wort (S. X) sagen. Diese dem gesamtuniversitären Raum des deutschen Kultur- 
bereichs viel mehr wie die benachbarte Schweiz etwa verbundene Welt elsässischer 


630 Kritiken 


Geistigkeit hat Goethe noch im Elsaß angetroffen, als er in Straßburg studierte. 
Man steht erschüttert vor dieser „Totenbeschwörung“ aus dem vorrevolutionären 
Elsaß. 

Jaffé hat sein Material aus 38 Matrikeln geschöpft, von denen 13 ungedruckte 
Urmatrikeln sind. Köstliche Abbildungen aus dem Stammbuch des Elsässers Vol- 
pertus Christianus Zeiß, der bis 1759 in Jena studiert, schmücken den Text; dazu 
kommen einige Tafeln aus dem Nachlaß des Pfarrers Eduard Spach. 

Die Übersicht ist gegliedert nach dem konfessionellen Charakter der Univer- 
sitäten; das lutherische Elsaß zieht natürlich nach den lutherischen, das reformierte 
nach den reformierten, das katholische nach den katholischen Universitäten des 
Reichs. 

Gießen, Tübingen, Jena weisen die größte protestantische Besucherzahl auf. 
Nach Gießen ziehen die Studenten aus dem hessischen Hanau-Lichtenberger Lande, 
nach Tübingen die aus dem württembergischen Horburg-Reichenweier, Jena hat 
ganz besondere Anziehungskraft. Hier ist aus der elsässischen Landsmannschaft der 
Mosellaner der älteste der großen studentischen Verbände hervorgegangen. Aber 
auch Wittenberg, Göttingen, Leipzig, Erlangen, Altdorf weisen recht erhebliche 
Besucherzahlen aus dem Elsaß auf. Ja sogar die kleinen norddeutschen Hochschulen: 
Frankfurt an der Oder, Rostock, Königsberg, haben überraschenderweise mehr 
Besucher aus dem Frankreich angeschlossenen Elsaß aufzuweisen wie aus dem 
übrigen Süddeutschland. Selbst ins schwedische Upsala schwärmen Elsässer hinüber. 
Es ist geradezu eine Heerschau der studierenden Söhne der führenden protestan- 
tischen Familien des Straßburger und Colmarer Bürgertums, des Adels des Unter- 
elsasses, des Beamtentums der hessischen Verwaltung in Buchsweiler, der württem- 
bergischen in Horburg, der Pfarrer- und der Lehrerschaft der protestantischen 
Stände und Städte, die wir an uns vorüberziehen sehen. 

Von den reformierten Universitäten des Reichs ist natürlich Heidelberg für 
das Elsaß von besonderer Bedeutung, aber auch Marburg weist allerhand elsässische 
Besucher auf. Auch nach Hanau und nach Herborn sind einige gezogen. Für Mül- 
hausen allerdings spielt das staatsverwandte Basel eine ganz besondere Rolle: es 
zieht die Söhne Mülhausens an sich heran und hält sie so vom Studium im Reiche ab; 
auch Leyden und Utrecht machen Konkurrenz. 

Die Zahl der katholischen Studierenden bleibt verhältnismäßig hinter der Zahl 
der protestantischen Studierenden zurück. Das geht mit auf die andersartige Struktur 
des katholischen Volkes des Elsasses zurück. Dem katholischen Elsaß fehlen die 
großen „Intelligenzzentren“ des evangelischen; sein Volk sitzt auf dem flachen 
Lande und in den kleinen Landstädten; ein großer Teil des katholischen Oberelsasses 
gehört zum Bistum Basel, das naturgemäß dadurch elsässisch-katholische Jugend 
nach Pruntrut zieht; auch Besançon und Metz üben Anziehungskraft aus. Die Ehe- 
losigkeit des Priesters beschränkt naturgemäß den akademischen Nachwuchs. Im 
ganzen ist so das studierende katholische Elsaß ortsgebundener. Ihm stehen die 
heimischen Klosterschulen und Jesuitenseminare zur Verfügung. Andererseits aber 
bindet doch gerade der Jesuitenorden ans Reich und fügt doch auch das katholische 
ElsaB dem Leben des deutschen Katholizismus ein. Wenn auch die Provinz Cham- 
pagne des Jesuitenordens sich in Colmar und in StraBburg festsetzt, so gehórt doch 
die Mehrzahl der Jesuitenkonvikte zur oberrheinischen Provinz des Ordens und 
unterhält die lebendigsten Beziehungen ins Reich hinein. Bezeichnend ist, daß Trier, 


Kritiken 631 


Köln, ja selbst Mainz verhältnismäßig wenig von Elsässern besucht werden; es zieht 
den Elsässer, so kann Jaffé sagen, nach dem Osten, den Protestanten zu den Hoch- 
schulen der reinen Lehre, den Katholiken entsprechend der alten Tradition nach 
Schwaben und über Schwaben hinaus in der Richtung auf Österreich zu, nicht 
rheinabwärts. Würzburg, Bamberg, Dillingen, Ingolstadt-Landshut, auch Wien 
kommen in Betracht. Freiburg hat kaum elsässische Jesuiten, es ist aber doch auf 
Grund seiner Nachbarschaft die Universität der weltlichen Studierenden des katho- 
lischen Oberelsasses: Bürgermeister, Schöffen, Ärzte, Notare, Chirurgen, aber auch 
weltliche Geistliche haben hier in sehr großer Zahl ihre Ausbildung genossen. Auch 
das Jesuitenseminar in Heidelberg übt große Anziehungskraft aus. 

Kein deutscher Stamm, so kann Jaffé sagen, hat in der gleichen Zeit auch nur 
annähernd in gleicher Zahl und Mannigfaltigkeit des Reiches Bildungsstätten be- 
völkert wie gerade der elsässische (S. 169). Das ist ein außerordentlich wertvolles 
Ergebnis seiner Arbeit. 

Gießen. Fr. König. 


Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Grundriß der Philosophischen 
Wissenschaften; herausgegeben von Fritz Medicus. Tübingen. J. C. B. Mohr 
(Paul Siebeck), 1932, XVIII, 491 S., gr. 80. 

Hans Leisegang, Lessings Weltanschauung. Leipzig, Felix Meiner, 1931. 
XI, 205 S., gr. 89. 

Die von Dilthey eingeleitete Revision unserer Einstellung zur Aufklárung 
wird in dem an erster Stelle angeführten Werk auf jene gesamte Bewegung des 
Denkens ausgedehnt und konsequent durchgeführt. Es wird grundsätzlich gebrochen 
mit dem seit der Romantik beliebten Verfahren des Messens an dem eigenen ent- 
wickelteren philosophischen Standpunkt und der Abwertung alles dessen, was sich 
vor ihm als rückständig erweist. Der Gedankengehalt der Aufklärung wird an 
sich zur Darstellung gebracht und daraufhin untersucht, was er dem menschlichen 
Denken für seine Entfaltung Neues gebracht hat. Es wird daher von der Behandlung 
der Geschichte einzelner Denker und ihrer Lehren abgesehen, vielmehr der Ideen- 
gehalt der Bewegung thematisch nach den einzelnen Problemen geordnet und in 
einer allgemeinen Überschau vorgeführt. 

In einem ersten, „die Denkform des Zeitalters der Aufklärung“ überschriebenen 
Kapitel wird als der zentrale Punkt, aus dem sie zu verstehen und in ihren einzelnen 
Erscheinungsformen zu erklären ist, die neue Stellung zur Vernunft bestimmt, die 
jetzt nicht mehr als die Region ewiger Wahrheiten gefaßt wird, sondern als die 
Grund- und Urkraft, mit der der Mensch die gegebene Erfahrung durchmißt, ihre 
Daten ordnet und sichtet und, ohne über den Bereich des Erkennbaren hinaus in 
die Transzendenz vorzustoßen, in der Welt der äußeren Wirklichkeit wie des See- 
lischen die letzten Prinzipien aufzusuchen hat, die der konkreten Mannigfaltigkeit 
der Welt zugrunde liegen und ihre durchgehende Gesetzlichkeit darstellen. 

Die durch diese neue Haltung hervorgebrachte grundsätzliche Umstellung des 
Denkens wird in ihrer Auswirkung auf das geistige Leben durch eine systematische 
Überschau über das gesamte Gedankengut der Aufklärung dargestellt. Entsprechend 
der hohen Bedeutung der naturwissenschaftlichen Methoden für die Begriffsbildung 
jener Zeit ist die Erkenntnis der Natur vorangestellt, dabei ist Vf. stets bedacht, 
das entwicklungsgeschichtliche Moment hervorzukehren, indem er zeigt, wie schon 


632 Kritiken 


in der Renaissancephilosophie angeklungene Fragestellungen wieder aufgegriffen 
und dank den Fortschritten der mathematischen Naturwissenschaften der Lösung 
nähergebracht werden. Eine Übersicht über das auf den Gebieten der Psychologie 
und Erkenntnistheorie Geleistete zeigt, wie fruchtbar die Grundhaltung der Auf- 
klärung für die Kenntnis und Erforschung der Zusammenhänge des Seelenlebens 
war und wieweit man ganz allgemein die erkenntniskritische Fragestellung vor- 
getrieben hatte, durch welche Einsicht aber die Leistung dessen, der den entscheiden- 
den Schritt zu ihrer Lösung tat, in ihrer einzigartigen Größe erst in die rechte Be- 
leuchtung gerückt wird. Eindringende Untersuchungen, in denen der Differenziertheit 
der Aufklärung nach der Seite der nationalen Voraussetzungen wie der einzelnen 
Persónlichkeiten Rechnung getragen ist, sind der Frage nach ihrer Religion zu- 
gewandt. Àn einigen besonders kennzeichnenden Themen, wie dem der Erbsünde, 
der Theodizee, der Toleranz und der natürlichen Religion, wird mit der Auffassung 
von der zersetzend skeptischen, religionsfeindlichen Haltung der Aufklärung ge- 
brochen und gezeigt, daß es sich bei ihr nicht um eine Abkehr vom Glauben, sondern 
von der von ihr eingenommenen Grundposition aus vielmehr um eineandere Art 
von Gläubigkeit handelt, die die Schaffung von Dogmen und ihre Auslegung ab- 
lehnt und ihre Aufgabe in der transzendentalen Begründung der GlaubensgewiBheit 
sieht. Hier läßt sich jedoch ein Bedenken nicht unterdrücken. Die inhaltliche Ver- 
gleichung einer größeren Zahl von räumlich und zeitlich weitgetrennten Persön- 
lichkeiten läßt ein Eingehen auf die Motive des Denkens bei den einzelnen nicht zu. 
So ist es wohl zu erklären, daß die neben dieser autonomen, die religiöse Gewißheit 
auf die denkende Verarbeitung der gegebenen Erfahrungstatsachen gründenden 
Haltung herlaufende materialistische Einstellung zum Göttlichen in ihrer grund- 
sätzlichen Andersartigkeit nicht genügend in Erscheinung tritt. Der gemeinsame 
Kampf gegen die Orthodoxie hat den Zeitgenossen diese Gegensätze weitgehend 
verwischt, die Forschung hat aber hier klar zu sehen und zu scheiden. 
Nachdem bereits vorher die Verdienste der Aufklärung um die historische Bibel- 
kritik hervorgetreten waren, wird alsdann ihre Stellung zur Geschichte besonders 
untersucht. Die Grundeinstellung zur gegebenen Wirklichkeit bildet nicht nur 
die Kritik der geschichtlichen Überlieferung aus, das auch auf die Gebiete der 
Geisteswissenschaften ausgedehnte Suchen nach den „Prinzipien“ bringt Werke 
hervor, die nicht nur für ihre Zeit vorbildlich gewesen sind, sondern in der Geschichte 
ihrer Wissenschaft eine bleibende Stelle gefunden haben. Auf das Ganze gesehen 
bildet die historische Leistung der Aufklärung die unumgängliche Voraussetzung 
der sehr viel tieferen historischen Besinnung der Romantik, die ohne jene gar nicht 
möglich gewesen wäre. Die Rechts- und Staatsphilosophie wird an zwei zentralen 
Problemen entwickelt, an dem ein Motiv des Renaissancedenkens wieder aufnehmen- 
den und weiterbildenden Gedanken von der Apriorität des Rechts als eines In- 
begriffs schlechthin allgemeinverbindlicher und unveränderlicher rechtlicher Grund- 
normen und an der Lehre vom Staatsvertrag. Wer sich einmal näher mit dem Staats- 
denken des 18. Jahrhunderts zu beschäftigen hatte, wird bedauern, daß die letzte, 
aber auch schwierigste Frage auf diesem Gebiete nicht angeschnitten worden ist: 
wie denn nun für die Welt des Staats und der Gesellschaft die Grundforderung der 
Aufklärung nach Erfassung der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen 
durchgeführt worden ist. Da die wenigsten ihrer Vertreter bei ihrer Staatsfremdheit 
diese Probleme zu Ende gedacht haben, wäre es für den Vf. bei seiner ausgebreite- 


Kritiken 633 


ten Kenntnis des aufklärerischen Schrifttums eine lohnende und wertvolle Aufgabe 
gewesen, zur Lösung dieser Frage beizutragen, die erst ein abgerundetes Bild von 
der Staatsphilosophie der Aufklärung zu geben vermag. 

Ein letztes Kapitel behandelt die Grundprobleme der Ästhetik, die Versuche, 
die die Kunst und Philosophie verbindenden Fäden zu fassen und in Verbindung 
von literarischer Kritik und ästhetischer Reflexion Poetik, Rhetorik und die Theorie 
der bildenden Künste systematisch zu ordnen und in ihrer eigentümlichen Wesens- 
gesetzlichkeit unter logischen Kategorien zu erkennen. 

So wertvoll und notwendig die von C. bewirkte Neuorientierung ist, so sind 
ihr doch durch ihre Betrachtungsweise gewisse Grenzen gezogen: die vergleichende 
Nebeneinanderstellung von Gedankeninhalten läßt ihre Zurückführung auf deren 
Bedingtheiten nicht zu und bringt daher eine zu weitgehende Harmonisierung des 
Gesamtbildes hervor. Andererseits werden immer wieder Vertreter herangezogen, 
deren Schaffen über die gedanklichen Kreise der Aufklürung hinausreicht, ja die 
sie zum Teil überwinden. Die C.'sche Darstellung erfordert daher Ergánzung nach 
zwei Seiten: es müssen die bei ihm nur abgeschwücht hervorgetretenen charakteri- 
stischen Verschiedenheiten in ihrem Zusammenhang mit den volkstümlichen Vor- 
aussetzungen herausgearbeitet werden, und es ist für jede Persónlichkeit dieses 
Kreises, zum mindesten für die bedeutenderen seiner Vertreter, das geistige Bild 
genau festzulegen, zu zeigen, aus welchen Voraussetzungen sie ihre Eigenart schópfen, 
welche Denkmotive Anteil an dem strukturellen Aufbau ihres Geistes haben, wie- 
weit sie der Aufklärung zugehóten und worin sie über sie hinausweisen. Eine Arbeit 
der letzteren Art ist die mit dem Lessingpreis des Reichsprásidenten ausgezeich- 
nete Untersuchung Leisegangs über eine der schópferischsten Persónlichkeiten der 
Aufklürungszeit. 

Ihre besonderen Vorzüge liegen in der durchsichtigen Klarheit in Aufbau und 
Gedankenführung, sowie in der sorgsamen quellenmäßigen Unterbauung aller Er- 
gebnisse. In einem ersten Teil werden die für die Zeit Lessings in Frage kommenden 
Weltanschauungstypen, Orthodoxie, Materialismus, Mystik und philosophischer 
Idealismus als mógliche Vergleichspunkte für die Untersuchung in ihren Grund- 
zügen kurz umrissen. In einem zweiten Teil wird an Hand der Quellenzeugnisse der 
Nachweis erbracht, daB Lessing in den letzten Gründen seiner Innerlichkeit aus den 
Tiefen mystischen Erlebens schópfte. Dieses Ergebnis wird gewonnen durch Inter- 
pretation Lessingscher Selbstzeugnisse, und zwar in der Weise, daB jeweils eine 
Schrift oder ein Fragment in den Mittelpunkt gestellt, während sein übriges Schaffen 
und das Urteil der Zeitgenossen ergánzend herangezogen wird. Als Marksteine der 
inneren Entwicklung Lessings werden behandelt das Fragment über die Religion 
von 1748, „das Christentum der Vernunft“ von 1753, „die Erziehung des Menschen- 
geschlechts“, der „Nathan der Weise“ und die „Gespräche über Spinoza“. Es wird 
an Hand dieser Texte überzeugend dargetan, daß gewisse Spekulationen über das 
Wesen Gottes, die ihn in engste Nähe zu den Mystikern verweisen und die zum Kern 
von Lessings Weltanschauung gehören, von Anfang an in seinem Denken vor- 
handen sind, ihn immer und immer wieder beschäftigt haben, bis sie schließlich in 
knappster Formulierung, die in ihrer Gedrängtheit ihren ganzen Gehalt erst ein- 
dringlicher Interpretation erschließt, ihren endgültigen Ausdruck gefunden haben. 
So begleitet bei Lessing den Kampf des Tages ein Unterstrom in seinem Wesen und 
Denken, der nur gelegentlich hervortritt und der zunáchst als nicht vereinbar 


634 Kritiken 


empfunden wird mit dem Bilde, unter dem Lessing der Um- und Nachwelt erscheint. 
Diese Äußerungen, die sich, meist in Fragmenten niedergelegt, für die ganze Zeit 
seines Lebens auffinden lassen, weisen hin auf die von Meister Eckart und Tauler 
über Jacob Böhme heranführende Linie der deutschen Mystik, die dann später in 
Schelling und Hegel in abgewandelter Gestalt eine philosophische Weiterbildung 
erfahren hat. 

Hier eróffnet sich ein Blick auf eines der interessantesten Probleme der Geistes- 
geschichte, nämlich, wie sich in einer großen schöpferischen Persönlichkeit die indi- 
viduell gegebene Anlage verbindet mit den Denknotwendigkeiten und -methoden, 
die der Geist auf dem Stufengang seiner Entwicklung gerade durchläuft und denen 
sich niemand entziehen kann. In dieser Hinsicht ist Lessing ein besonders dankbarer 
Fall, und erst der Nachweis seines mystischen Erlebniskernes gibt die Einsicht in 
die Spannweite der seelischen Auseinandersetzungen, die auf dem Boden dieser 
Individualität der Formung des erlebten und innerlich erfahrenen Gedankens 
vorausgingen, zugleich aber auch seine Tiefe und Innerlichkeit bestimmten. Nur 
eine Persönlichkeit, die aus einem solchen Urerleben schöpfte, konnte sich zu der 
Fülle und Prägnanz entfalten, die Lessing zu einer der lebensvollsten Gestalten des 
18. Jahrhunderts machen. Diesen mystischen Wesenskern in Lessing erkannt und 
herausgeschält zu haben, wird zweifellos ein bleibendes Verdienst des Vf. in der 
Lessingforschung bedeuten. Wendorf. 


I. Monteilhet, Les institutions militaires de la France (1814—1932). De la 
paix armée à la paix désarmée. 2. Auflage, Paris 1932. Verlag von Felix Alcan. 
XXIV und 472 Seiten. 

Das vorliegende Buch schildert in sehr eingehender Weise die vielen Wechsel, 
die das System der franzósischen Landesverteidigung in etwa anderthalb Jahr- 
hunderten durchgemacht hat. Auf das Berufsheer des ancien régime war die levée 
en masse der Revolution, dann das napoleonische Heer gefolgt. Nun kehrten 1814 
die Bourbonen zurück und mit ihrer Restauration entstand auch wieder das Berufs- 
heer, l'armée de métier. Darin ánderte auch die Julirevolution nichts, das Bürger- 
kónigtum behielt das Berufsheer, die armée de mercenaires, wie es damals von der 
Opposition genannt wurde (S. 28). Wohl schuf das Gesetz von 1832 neben dem 
stehenden Heer eine Reserve, aber über deren Wertlosigkeit waren sich sowohl der 
Staatsmann Guizot, als auch die Generäle Leydet und Soult klar (S. 25 und 26). 
Selbst die Februarrevolution änderte das Wehrsystem nicht und Napoleon III. hielt 
es auch für den besten Schutz seiner Monarchie. Dabei war der Kaiser keineswegs 
blind gegen die Mängel der französischen Kriegsvorbereitung. Schon 1859 schrieb 
er an den Kriegsminister, wir sind niemals bereit gewesen für den Krieg, das sei 
aber nicht die Schuld des Ministeriums, sondern des Systems (S. 54). 

Auch 1870 zeigten sich dieselben Mängel, obgleich Leboeuf erklärt hatte, wir 
sind erzbereit. Als nach der Niederlage ein parlamentarischer Untersuchungsaus- 
schuß zusammentrat, sagte Riant (S. 54), die Geschichte der letzten fünfzig Jahre 
lehre, daß Frankreich nie bereit gewesen, wenn ein Krieg ausbrach. 

Aber es gab Militärs, die die Schäden des französischen Wehrsystems erkannten 
und sich nicht scheuten, das preußische zu empfehlen. Sie wurden heftig bekämpft. 
Die preußische Armee sei nur eine Art Landwehr, sie würde im Ernstfall versagen 
(S. 39). 


Kritiken 635 


Da kam die Nachricht von dem Siege der PreuBen bei Kóniggrütz, bei Sadowa, 
wie die Franzosen sagen. Vielfach schlug jetzt die Stimmung um. Die einen verlang- 
ten, daB das preußische System sofort in Frankreich eingeführt würde, andere 
dagegen bekämpften energisch diesen Vorschlag. Napoleon erkannte die Bedeutung 
der preuBischen allgemeinen Wehrpflicht, fand aber eigentlich nur bei seinen poli- 
tischen Gegnern, den Republikanern, Zustimmung. Die Imperialisten bekämpften 
die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht. Der Gedanke sei unpopulür, die De- 
putierten befürchteten ihre Mandate zu verlieren, wenn sie dafür stimmten. Auch 
die Generalität war dagegen, so der Kriegsminister Randon. Napoleon ersetzte ihn 
durch den Marschall Niel, der versuchte, das Heerwesen zu verbessern. Unstreitig 
hat er Erfolge gehabt, dem stehenden Heer trat eine Reserve zur Seite. Aber was 
er errichtete, genügte doch nicht, wie der Krieg von 1870 bewies. Niels Nachfolger, 
der General Leboeuf, hatte vor dem Krieg die Armee für erzbereit erklärt, als er 
nach der Niederlage zur Rechenschaft gezogen wurde, meinte er, er habe nicht 
ahnen können, daß der Krieg zur Zeit seines Ministeriums ausbrechen könnte (S. 53). 

Monteilhet schreibt S. 62, die nationale Eitelkeit habe sich damit getröstet, 
die Soldaten seien Helden gewesen, aber Löwen seien von Eseln kommandiert 
worden. Das sei nicht richtig, wohl hätten einzelne mit großer Tapferkeit gekämpft, 
aber die große Masse habe schon bei Wörth versagt, Flüchtlinge von Wörth hätten 
die Disziplin der Nationalgarde von Straßburg verdorben und besonders traurig 
sei das Verhalten vieler Soldaten bei Sedan, wo schon vor der Kapitulation 
21000 Mann sich den Deutschen ergeben hätten. Nicht die schlechte Führung, 
sondern das System sei schuld gewesen. 

Ein großer Teil der Schuld fällt auf die Vertreter des Volkes, die vor 1870 sich 
gegen eine Änderung dieses Systems gewandt. Jetzt nach der Niederlage kam der 
Umschwung. Der Sieg Deutschlands, sagte Renan, ist der Sieg der Wissenschaft 
und der Vernunft gewesen (S. 129). Jetzt beeilte man sich, das preußische Wehr- 
system für mustergültig zu erklären und seine Einführung in Frankreich zu verlangen. 
Monteilhet erkennt, daß in diesem Meinungsumschwung etwas für Frankreich De- 
mütigendes liegt, aber er kann sich mit Recht damit trösten, daß die allgemeine 
Wehrpflicht eine Erfindung der französischen Revolution ist, die Preußen nach- 
geahmt hat, so daß man auf dem Umweg über Preußen wieder zu den Traditionen 
der Großväter zurückkehrte. Freilich möchte ich bemerken, daß das Kantonsystem 
Friedrich Wilhelms I. schon eine Etappe auf dem Wege zur allgemeinen Wehr- 
pflicht gewesen ist und darum der Bruch mit der Vergangenheit 1808 in Preußen 
kein so radikaler war, wie anderthalb Jahrzehnt vorher in Frankreich. Aber daB 
Scharnhorst und Gneisenau dort Vorbilder gefunden, bleibt für die Franzosen ein 
Trost. 

Aber trotzdem sträubte man sich lange in Paris gegen die notwendigen Re- 
formen. Der Widerstand wurde durch den ersten Mann der Republik, durch den 
Präsidenten Thiers, unterstützt. Ihm war das preußische Wehrsystem nie sym- 
pathisch gewesen. Was schließlich beschlossen wurde, war auch weit vom preußischen 
Vorbild entfernt. Die Zahl der Wehrfähigen, die eine längere Ausbildungszeit durch- 
machten, war zu gering, die Dienstzeit von fünf Jahren aber zu lang, tatsächlich 
ähnelte die neue französische Armee dem alten Berufsheer, wenn die Soldaten so- 
lange bei der Fahne blieben. Dazu kam die Ungerechtigkeit: nur ein Teil der Wehr- 
fähigen mußte diese fünf Jahre abdienen, sie wurden in ihren beruflichen Ent- 


636 Kritiken 


wicklungsjahren schwer gestört, während die Altersgenossen, die nicht einberufen 
wurden, ihnen gegenüber im Vorteil waren. Bald setzte deshalb auch eine Agitation 
für Verkürzung der Dienstzeit ein; die drei Jahre, die für den deutschen Soldaten 
genügten, konnten auch für den franzósischen ausreichend sein. 

Für die Gebildeten gab es freilich eine Erleichterung: das Einjáhrigen-Jahr. 
Auch hier war man dem preußischen Muster gefolgt. Ganz richtig sagte General 
Barail: Wir haben sehr viel mehr nachgeahmt als geschaffen (S. 194). 

Nun wurde im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts in Deutschland die zwei- 
jährige Dienstzeit eingeführt. Da gewannen ihre Anhänger auch in Frankreich den 
Sieg, freilich nur einen vorübergehenden, denn kurz vor dem Kriege verlängerte 
Frankreich wieder seine Dienstzeit auf drei Jahre. Der Mangel an Rekrutenmaterial 
war wohl der entscheidende Grund. Derselbe Mangel führte auch zu dem nicht un- 
bedenklichen Entschluß, farbige Truppen zur Verteidigung des europäischen Be- 
sitzes heranzuziehen. Auf jeden Fall wurde durch die Vermehrung des stehenden 
Heeres die allgemeine Dienstpflicht aller Wehrfähigen im großen und ganzen durch- 
geführt, zeitenweise noch konsequenter als in Deutschland. Monteilhet betont zu 
wiederholten Malen, daB allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wehrpflicht eng 
zusammenhängen, ein Volk, das seinen Bürgern das erstere bewilligt, kann auch 
die andere von ihnen verlangen. 

Aber trotz dieses Fortschrittes ist Monteilhet auch jetzt noch nicht mit dem 
System einverstanden, er sagt, es war zwar nicht mehr eine armée de métier, aber 
es war noch kein richtiges Volksheer, sondern eine armée de caserne. Der junge 
Franzose wurde dem bürgerlichen Leben entfremdet, er bekam nicht nur einen 
militärischen Drill, sondern auch seine Denkweise und seine Lebensauffassung 
wurden dadurch beeinflußt. 

So kam es, meint Monteilhet, daß die französische Armee auch beim Ausbruch 
des Weltkrieges 1914 nicht auf der Höhe stand. Mit großer Offenherzigkeit schildert 
Monteilhet die Mängel, unter denen sie litt (S. 314ff.). Die armée de caserne war im 
Kielwasser der armée de métier geblieben, so war sie auch demselben Schicksal 
verfallen, das ist das Resultat seiner Überlegungen (S. 344). Er schließt sich der 
Meinung an, die General Malleterre schon 1915 vertreten, genau so, wie 1870, seien 
auch 1914 die Deutschen den Franzosen in drei Punkten überlegen gewesen: stra- 
tegisch, numerisch und materiell seien sie im Vorteil gewesen. 

Ob Monteilhet und Malleterre recht haben, das zu untersuchen würde hier zu 
weit führen. Wenn sie mit bewunderswerter Selbsterkenntnis die Fehler, die Frank- 
reich gemacht hat, offen eingestehen, so glaube ich, daß wir ihrem guten Beispiele 
folgen und mit ebensolcher Wahrheitsliebe sagen sollen: dieselben Fehler haben wir 
Deutschen auch gemacht. Neben hervorragenden Leistungen strategischer Feld- 
herrenkunst sind wir leider auch mit unentschuldbaren Fehlern belastet, ich er- 
innere nur an die Marneschlacht und an Verdun (vgl. hierüber Historische Viertel- 
jahrschrift X XVII, 206 und 207). Die numerische Stärke hatten Franzosen, Russen, 
Engländer und Belgier schon von Anfang des Krieges, die Deutschen verstanden 
nur die Massen besser zu gruppieren. Und was das Material anbelangt, so sind auf 
deutscher Seite leider auch Unterlassungssünden gemacht worden, die bei Kriegs- 
ausbruch sich rächten. Aber wenn schließlich der Ausgang für die Deutschen un- 
glücklich auslief, so waren es bekanntlich weniger die militärischen, als die poli- 
tischen Fehler, die uns um den Erfolg brachten. 


Kritiken 637 


Seit 1871 sind die preuBischen Heereseinrichtungen in Frankreich als muster- 
gültig angesehen und nachgeahmt worden. Monteilhet wirft die Frage auf (S. 402), 
ob Frankreich um 1918 endlich dazu gelangt sei, seine Armee zu entpreußen 
(,déprussianiser'"). Am Tage nach dem Waffenstillstand habe es schon Leute ge- 
geben, die geglaubt, der franzósische Generalstab habe nur deshalb die Deutschen 
zur Einführung eines Berufsheeres gezwungen, weil er gehofft, daB dann auch 
Frankreich diesem Schritte folgen würde. 

DaB die 100000 Mann, die man dem Deutschen Reich gelassen hat, den Fran- 
zosen selbst dann nicht geführlich werden kónnen, wenn man die 150000 Mann 
Schupo hinzurechnet, sieht Monteilhet ein. Aber er fürchtet, daB es Deutschland 
im gegebenen Augenblick móglich sein werde, ein Heer aus dem Boden zu stampfen 
wie 1813. Allerdings, es würde ein Milizheer sein, aber trotzdem gefährlich. 
Monteilhet übersieht aber dabei, daß die Neuformationen, die Preußen im Früh- 
jahr 1813 errichtete, erst im Spätsommer kampffähig waren. So viel Zeit würden 
uns heute unsere Feinde nicht gönnen. Wir könnten in wenigen Wochen ver- 
nichtet sein. 

Wenn nun auch heute noch ein Milizheer für so gefährlich gehalten wird, so 
erweist ihm der französische Militarismus damit eine Ehre, vielleicht ohne es zu 
wollen, sagt Monteilhet (S. 402). Man baut einen großen Festungsgürtel, man holt 
Farbige aus fremden Erdteilen, bloß um Frankreich gegen die von Deutschland 
drohende Gefahr zu schützen. So ist man wieder zu einem falschen System gekom- 
men. Monteilhet wirft nun die Frage auf, wie sich die Zukunft gestalten wird. Er 
setzt große Hoffnung auf die Verhandlungen, die zu einer Abrüstung führen sollen. 
Gelingt es, hier eine Einigung zustande zu bringen, dann würden geringe Heeres- 
stärken genügen, um die Ordnung im Innern und den Schutz der Kolonien zu sichern. 
Dann würde die Zeit kommen, wo die paix armée der paix désarmée weichen würde. 
Ginge man aber nicht auf die Abrüstung ein, dann würde das Gemälde eines alten 
spanischen Malers Wirklichkeit werden: Europa würde ein Skelett in einer Waffen- 
rüstung sein. 

Mit diesen Worten schließt Monteilhet sein Werk ab. So objektiv und wahr- 
heitsgetreu er den Entwicklungsgang des franzósischen Heerwesens geschildert, so 
wenig überzeugend wirken seine Zukunftsplüne. Ich fürchte, es werden gerade seine 
Landsleute sein, die das Zustandekommen einer paix désarmée verhindern werden. 


Charlottenburg. Richard Schmitt. 


Félix Ponteil, docteur és lettres, L'opposition politique à StraBburg sous la monarchie 
de juillet (1830—1848). 1932. Paul Hartmann, éditeur. (982 S.) 


Das wechselvolle Schicksal StraBburgs und des Elsaß spiegelt sich auch insofern 
in der Geschichtsschreibung wider, als die Historiker des jeweiligen Staatsvolks 
andere Perioden der elsüssischen Geschichte in den Vordergrund zu rücken ver- 
suchen. Die deutsche Geschichtsschreibung sieht das Land natürlich unter dem 
deutschen Aspekt: das Mittelalter, die Zeit des Humanismus und der Reformation 
sind ihr die hohe Zeit des Elsasses und Straßburgs, die Zeit der französischen Herr- 
schaft aber erscheint ihr als eine Zeit fortschreitender Lähmung des autochthonen 
Eigenlebens. Die franzósische Geschichtsschreibung betrachtet demgegenüber die 
Zeit der Revolution als die entscheidende: durch sie sei das ElsaB mit Frankreich 


638 Kritiken 


eins geworden; es habe sich unter der Einwirkung der Ideen der groBen Revolution 
jene freiwillige Hingabe an Frankreich eingestellt, die dem Lande den Willen der 
Zugehörigkeit zur „Nation une et indivisible" gegeben hätten. Und in der Tat: die 
nachrevolutionäre Zeit ist für die Schau vom deutschen Gedanken her am wenigsten 
befriedigend. Das deutsche Wesen ist in eine Aschenbródelrolle zurückgedrängt; 
die liberale Bourgeoisie ist in das Leben Frankreichs eingetreten, Paris ist ihr das 
Zentrum jeglicher fortschrittlichen Entwicklung. Sie erscheint daher auch den 
Franzosen als der Repräsentant des elsässischen Lebens im 19. Jahrhundert. Kein 
Wunder, daB die franzósische Geschichtsschreibung nach dem Rückfall des Elsasses 
an Frankreich ihre Aufmerksamkeit vor allem auf diese bourgeoise Zeit der elsas- 
sischen Geschichte richtet. Georges Pariset und Chrétien Pfister haben so eine 
Reihe junger französischer Historiker auf das 19. Jahrhundert hingelenkt; auch 
Félix Ponteil ist einer ihrer Schüler. 

Ponteil hat sich die Zeit der Julimonarchie vorgenommen; nach einer Arbeit 
von vielen Jahren ist nunmehr dies außerordentlich umfangreiche Werk unter dem 
Titel: „Die politische Opposition in Straßburg unter der Julimonarchie" 
erschienen. Neben Pfister und Pariset sind der Professor an der Sorbonne Louis 
Eisenmann und der Straüburger Fritz Kiener bei dem Werke Pate gestanden. Die 
Arbeit umfaßt 982 Seiten, ein außerordentlich umfangreiches Quellenmaterial (das 
Verzeichnis umfaßt 29 Seiten) ist verarbeitet, der Index der Namen von Personen 
und Örtlichkeiten umfaßt 18 Seiten; 6 interessante Bilder, eine Karte des Departe- 
ments vom Jahre 1841 und ein Plan der Stadt Straßburg vom Jahre 1842 sind 
beigegeben. An der Finanzierung haben sich die wichtigsten staatlichen und wirt- 
schaftlichen Stellen des Departements beteiligt, ein Zeichen, welch großen Wert 
man drüben auf Arbeiten wie diese legt. In seiner Einleitung unterstreicht Ponteil 
den Wert der Lokalgeschichte, die infolge der jakobinischen Tradition in der Ver- 
gangenheit zu kurz gekommen sei, für die französische Geschichte überhaupt, von 
der Provinz her erschließe sich erst die wahre Wirklichkeit des französischen Lebens, 
dabei sei das ElsaB von ganz besonderer Bedeutung, Straßburg erscheine geradezu 
neben Paris, Lyon, Grenoble als Zentrale der liberalen, der demokratischen, der 
revolutionären Opposition. 

Wie stellt sich Ponteil den Ablauf der Geschehnisse dar? 

Das Jahr 1830 bringt den Sieg der auch in Straßburg geschlossenen liberalen 
Opposition über die ,,karlistische" Reaktion. Der Sieg des Julikönigtums aber führt 
zu einer Spaltung: die einen schließen sich dem neuen Regime an, die andern ver- 
bleiben in der Opposition. Ponteil spricht von einer ersten „heroischen‘‘ Periode 
der Opposition; sie wird durch den Putsch des Prütendenten Louis Napoléon im 
Jahre 1836 beschlossen, die Staatsgewalt erwehrt sich ihrer durch die Kampfgesetze 
vom Jahre 1834/35. Nach einer kurzen Zeit des Übergangs (1837) setzt unter neuen 
Männern, dem Präfekten Sers und dem Generalleutnant Buchet die neue Periode 
mit einer neuen Methode ein: die Opposition soll zwar niedergehalten, es soll ihr 
&ber durch eine intensive Fórderung der materiellen Interessen das Wasser abge- 
graben werden. In der Führung der Bewegung seien neben einigen Katholiken, wie 
dem Advokaten Louis Lichtenberger, vor allem Männer aus der protestantischen 
Bourgeoisie StraBburgs und des Landes gestanden. Die Bewegung habe eine ausge- 
zeichnete Presse gehabt, habe eine Fülle oppositioneller Broschüren erscheinen lassen, 
sei überhaupt bis 1836 von außerordentlicher Regsamkeit gewesen. Eine Haupt- 


Kritiken 639 


stütze war die garde nationale, die 1834 von dem Präfekten aufgelöst wurde; von 
der Garnison neigten ihr die Artillerie und die Pioniere zu, während die Infanterie 
dem Regime gegenüber loyal war, auch besaß sie eine Reihe von Gesellschaften, 
die sich recht rege betätigten. Nach 1834 sah sie sich infolge der Verbote der Re- 
gierung auf die Herrschaft im Conseil municipal, auf den „Kurier vom Niederrhein", 
auf die Agitation durch Bankette und in den Brasserien beschränkt. Nach 1840 
erscheint sie für eine Reihe von Jahren gebrochen. Von besonderer Bedeutung war, 
daß Straßburg eine Art Hochburg der Flüchtlinge aus dem Osten, sowohl derer aus 
den Ländern des deutschen Bundes, wie aus Polen war. Die Deutschen vermitteln 
zwischen den deutschen, elsässischen und französischen Liberalen hin und her, die 
flüchtigen polnischen Insurgenten finden enthusiastische Anteilnahme und Unter- 
stützung. Ereignisse, wie das Hambacher Fest und der Frankfurter Wachensturm 
spielen sowohl in der Vorbereitung wie in der Nachwirkung nach Straßburg hinüber. 
Eins allerdings glaubt Ponteil mit absoluter Gewißheit behaupten zu können: daß 
die Bewegung trotz aller Opposition, trotz aller Sympathie mit den liberalen Ge- 
sinnungsfreunden jenseits des Rheins unbedingt „national“ geblieben sei. Zwar 
habe es, so sagt er in seiner Einleitung S. 16, im Elsaß Elemente gegeben, die geistige 
und religiöse Sympathien für Deutschland kundgetan hätten, er glaubt aber auf 
Grund genauen Studiums aller Texte, der günstigen und der ungünstigen, sagen zu 
können, daß Straßburg mit voll bewußter und offen bekannter Treue und Liebe an 
Frankreich gehangen habe. Auch Ponteil bewegt sich also rein auf der Ebene des 
nationalstaatlichen Denkens der Franzosen, von der aus die Einsicht in ein volks- 
politisches Problem wie das elsässische nicht voll zu gewinnen ist. Es konnte sich 
im Zeitalter des liberalen Nationalstaatsgedankens eine Volksgruppe politisch dem 
Staatsvolk verschreiben, vor allem in ihrer Oberschicht, ohne daß dadurch die alte 
Volkstumsgrundlage der Mutterschichten der Bevölkerung und daher die Dispo- 
sition zur Rückbesinnung verlorengegangen wäre. Es genügt auf die analoge Ent- 
wicklung in Flandern oder auch in Ungarn hinzuweisen. 

Wie war's mit der Vertretung im Parlament? Es haben merkwürdig viele 
führende liberale Innerfranzosen in Straßburg kandidiert und sind gewählt worden: 
B. Constant, Voyer d’Argenson, Lafayette, Odilon Barrat. Die lokalen Kandidaten 
entstammen natürlich aus der haute bourgeoisie: Humann, der französische Finanz- 
minister, Saglio, de Türckheim, der Notar Martz, die Advokaten Coulmann und 
Ed. Martin, M. Magnier. Immer mehr entstammen die Abgeordneten dem juste- 
milieu, sind Angehörige der stádtisch-bourgeoisen Intelligenzschicht. Daß die 
Masse des Volks aber abseits vom politischen Getriebe stand, sieht auch Ponteil: 
nur die Oberschicht habe das Französische beherrscht, habe sich um das Leben 
Gesamtfrankreichs gekümmert, die Masse aber sei uninteressiert und indifferent 
gewesen; ihren materiellen Interessen und der Geistlichkeit ergeben, sei sie — 
zumeist des Französischen unkundig — eigentlich außerhalb des politischen Lebens 
gestanden (S. 17 der Einleitung). Daraus den Schluß zu ziehen, daß die civilisation 
francaise im Elsaß doch nur eine Angelegenheit der Oberschicht gewesen sei, die der 
Masse der Bevólkerung durchaus nicht gut bekam, ist Ponteil allerdings nicht in 
der Lage. 

Bezeichnend für die Stärke der Opposition in Straßburg sind die Unruhen der 
ersten Hälfte der 30er Jahre: die eigenartige „émeute des boeufs“, die die Öffnung 
der Rheinbrücke erzwingen will, und die Unruhen um die Gesetze vom Jahre 1834 


640 Kritiken 


herum. Straßburg ist in einem Zustand dauernder Gárung gewesen, es hat damals 
— so meint Ponteil — nur an einer größeren Arbeiterbevölkerung gefehlt, um sie 
recht gefährlich werden zu lassen. Sehr eingehend ist das Verhalten der Staats- 
gewalt im Departement untersucht: die beiden Prüfekten sind Gegensätze, Choppin 
d'Amouville und Sers; der erstere autoritür, rücksichtslos, von der Opposition 
gehaBt, der letztere schmiegsam, konziliant, die Losung der Schwierigkeiten durch 
gute Verwaltungsleistung suchend (Eisenbahnbau, Kanalbau, Rheinregulierune|. 
Es scheint zum Ende der Periode, als sei es der Staatsgewalt gelungen, eine Art 
Gleichgewicht herzustellen. Da aber setzt im Jahre 1846 die Wirtschaftskrise ein, 
nun erstehen die Wahlrechtsprojekte wieder und die Opposition lebt auf. Sie siegt 
in der Revolution vom Jahre 1848. 

Indem Ponteil die Bourgeoisie dem Elsaß gleichsetzt, ermöglicht er sich natür- 
lich, die Geschichte des Elsasses in der Zeit der Julimonarchie als eine ausschlieBlich 
französische zu sehen und darzustellen; damit aber ist die Erkenntnis des elsässischen 
Problems als eines zwischenvólkischen verbaut. Bezeichnend, daB Ponteil auf S. 21 
seiner Einleitung sagen kann: 

D'un patriotisme chatouilleux prompt à se transformer en ardeur guerriére, 
profondément religieux, avec un instinct de lutteur, que n'arrive pas toujours 
à tempérer le sentiment de l'ordre, animé d'un perpétuel esprit de critique, l'Al- 
sacien est une individualité, en réalité difficile à amener. Jaloux de son indépen- 
dance, dominé par un sentiment particulariste que renforcent à la fois l'usage d'un 
dialecte et des moeurs maintenues par des traditions séculaires, il considère 
souvent comme des intrus les fonctionaires que le gouvernement lui envoie pour 
l'administrer. Sans cesse, il réclame une large décentralisation, qui accorderait aux 
organes départementeaux et communaux des attributions étendues. Le régio- 
nalisme alsacien, en effet, est trés vif sous la monarchie de juillet, sans que les 
hommes qui le défendent les Boersch, les Lichtenberger, les Silbermann, puissent 
étre suspects d'opposition nationale. 

Gewiß, eine Opposition gegen die Zugehörigkeit zum französischen National- 
staat hat es damals im Elsaß nicht gegeben, wie hätte es dergleichen auch im Zeit- 
alter des deutschen Bundes überhaupt geben können ? Es gab aber diesen elsässischen 
Regionalismus im Elsaß, dessen Stärke — trotz Ponteil — aus rein französischen 
Voraussetzungen nicht zu begreifen ist, sondern die unfranzösische Volkstums- 
grundlage der Bevölkerung mit zur Voraussetzung hat; es gab auch eine deutsch- 
kulturelle Stimmung bei gar manchen einzelnen, die treu gehütet wurde, bei den 
Gebrüdern Stöber, Ludwig Spach, Daniel Hirtz, Gustav Mühl, Eduard Reuß, 
und wie sie alle heißen mögen. Davon merkt man bei Ponteil recht wenig. Jeder 
Deutsche, der die Geschichte des Elsasses des 19. Jahrhunderts kennt, hat einmal 
jene berühmte Erklärung gelesen, die Ed. Reuß in der Nummer vom 2. Juni 1833 
der „Erwinia“ unter dem Titel: „Wir reden Deutsch“ veröffentlicht hat: „Mag es 
wahr sein, daß, wer von uns etwas werden will, vor allem ein Franzose werden 
müsse, ein Franzose mit Mund und Seele — wir wollen ja nichts werden, wir wollen 
sein und bleiben was wir sind“, so steht da zu lesen. Wahrlich, der berühmte elsäs- 
sische Theologe war ebensowenig ein Kulturfranzose wie der ganze Kreis der „Er- 
winia“; aber über diese Dinge geht Ponteil entweder hinweg, oder er vermag ihnen 
nicht das rechte Gewicht zu geben. 

Gießen. Friedrich König. 


Kritiken 641 


Tbimme, Hans, Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen 
Deutschland, ihre Wirkung und ihre Abwehr. Mit sechs Abbildungen. Stutt- 
gart u. Berlin 1932. I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger. VIII und 
294 Seiten. 

Hans Thimme hat sich einer sehr schweren Aufgabe unterzogen, aber er hat 
sie mit groBem Geschick gelóst. Er zeigt, wie unsere Gegner uns nicht blof mit 
Waffen, sondern auch auf andere Weise bekämpft haben, man könnte sagen, mit 
papierenen Waffen. Wir wissen, welche Fülle von Verleumdungen elendester Art 
gegen uns in der Welt verbreitet wurde, es zum Teil jetzt noch wird. Thimmes 
Verdienst ist es, gezeigt zu haben, welche furchtbare Wirkung diese Lügenpropaganda 
gehabt hat und wie wenig wir es verstanden haben, uns dagegen zu wehren. 

Gleich nach Kriegsausbruch begann die Verleumdungsoffensive, der Einmarsch 
in Belgien und andere MaBnahmen der politischen und militárischen Leitung Deutsch- 
lands boten ihr reichen Stoff. Anfangs waren es hauptsächlich zwei Länder, die sich 
ihrer bedienten, Frankreich und England, spáter trat Amerika hinzu. Bei den anderen 
Feinden tritt diese Kampfweise weniger hervor, selbst die Italiener scheinen wenig 
Gebrauch davon gemacht zu haben. 

Was uns überaus schmerzlich berührt, ist der Umstand, daB eine ganze Reihe 
unserer Volksgenossen sich der feindlichen Propaganda zur Verfügung gestellt haben. 
Thimme weist darauf hin, daß ein sehr großer Prozentsatz dieser Verräter Männer 
jüdischen Ursprungs war. Das ist richtig, es trifft auf Grelling, Fernau, Eisner, 
Eckstein, Witting und andere zu. Es mag auch richtig sein, wenn Thimme S. 142 
und 143 meint, die Erklärung für das Verhalten der Unabhängigen Sozialisten liege 
darin, daß ihre Führer zum großen Teil international gesinnte jüdische Schriftsteller 
gewesen seien, denen der Instinkt für das Wesen und den Willen des deutschen 
Volkes gefehlt habe, die Führer von den Mehrheitssozialisten, die aus den Reihen des 
Volkes stammten, seien ihnen in diesem Punkte überlegen gewesen. Aber trotz allem, 
es waren Bürger des Deutschen Reiches, es bleibt darum ein schmerzliches Gefühl, 
daß sie sich auf die Seite unserer Feinde stellten. Grelling war Syndikus des deutschen 
Schriftsteller-Verbandes gewesen, wiederholt hatte ihn die Fortschrittspartei bei 
Reichstagswahlen als Kandidaten aufgestellt. Noch schlimmer liegt der Fall bei 
Witting. Er genoß das Vertrauen höchster Kreise. Oft hatte man ihn als den zukünf- 
tigen Finanzminister Preußens bezeichnet. Als Oberbürgermeister von Posen hatte 
er regsten Anteil an der Gründung der Akademie Posen genommen. Welche hohen 
nationalen Tóne schlug er damals an! Als er bald darauf an die Spitze der National- 
bank für Deutschland trat, begrüBte die Berliner Bórse diese Berufung mit einer 
Hausse. Schon August Winnig hat uns in seinen Erinnerungen manches mitgeteilt 
über die Rolle, die Witting gespielt. Das Bild wird durch Hans Thimme weiter 
ergänzt. Von Witting und seinen Kreisen wurde die Propaganda der Unabhängigen 
Sozialisten mit beträchtlichen Summen unterstützt, „auch der politische Streik 
im Januar des Jahres 1918 gefördert‘ (S. 85). Bekanntlich hat dieser Streik 
die Munitionsversorgung gehemmt und damit wesentlich zum Verlust des Krieges 
beigetragen. 

Die Wittingschen Kreise, die man ,,das bürgerlich-sozialistische Hauptquartier 
der werdenden Revolution“ nannte (a. a. O.), unterstützten auch die Bestrebungen des 
Reichstagsabgeordneten Hanssen, der die Abtretung von Nordschleswig an Däne- 
mark betrieb und leider durchsetzte. Von hier aus wurde auch die Broschüre des 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 8. 41 


642 Kritiken 


Fürsten Lichnowsky verbreitet, ob mit oder ohne Einverständnis des Fürsten, läßt 
sich noch nicht klar erkennen (vgl. S. 124). 

Ein anderer ehemaliger deutscher Diplomat, der sich an diesen Bestrebungen 
beteiligte, war Hans Schlieben, der Organisator der in der Schweiz gedruckten 
Freien Zeitung, die in Unmengen von Exemplaren nach Deutschland verschickt 
wurde. Auch ich habe diese und andere Schriften oft zugesandt bekommen und 
habe es nie begreifen können, daß die deutsche Reichspost die Beförderung übernahm. 

Ein reger Mitarbeiter dieser Zeitung war Edward Stilgebauer, dessen Roman 
Gótz Krafft einst viel gelesen war. 

Von groBer Bedeutung für die antideutsche Propaganda war es, daB Dr. Muehlon, 
der früher Direktor bei Krupp gewesen, für die Kriegsschuld Deutschlands eintrat. 

Ein geführlicher Verráter war auch der Münchner Rechtsanwalt Eckstein, dessen 
Tätigkeit Thimme ausführlich schildert (128 bis 135). Eckstein hatte es in der deut- 
schen Armee bis zum Gefreiten gebracht. Im Oktober 1916 lief er zu den Franzosen 
über, wurde von diesen zunächst benutzt, die deutschen Gefangenen zu verhetzen, 
womit er damals noch wenig Erfolg hatte. Dann aber schrieb er eine Fülle von 
Schmähschriften, von denen viele an der deutschen Front abgeworfen wurden. Auch 
als Mitarbeiter der oben genannten Freien Zeitung war er eifrig tätig. Er schrieb unter 
dem Decknamen Siegfried Balder. Er litt wohl an Großmannssucht. So wenigstens 
erscheint er uns in der Schilderung seines Mitarbeiters Hansi, der als Karikaturen- 
Zeichner sich an der antideutschen Propaganda beteiligte. Hansi hieß ursprünglich 
Waltz und lebte vor Kriegsausbruch in Kolmar im Elsaß. Er entstammte aber keines- 
wegs einer altelsässischen Familie, sondern einer badischen. Er wirkte zusammen mit 
dem Abbé Wetterlé, der deutscher Reichstagsabgeordneter gewesen war, und mit 
dem Elsässer Schuhl. Diesen drei Deutschen stand der Lehrer der deutschen Lite 
ratur Tonnelat zur Seite. 

Für uns Berliner Professoren ist es sehr schmerzlich, die Abschnitte über Pro- 
fessor Haguenin zu lesen, der über ein Jahrzehnt lang Professor der romanischen 
Philologie an der Berliner Universität war. Er war geborener Franzose, und es ist 
begreiflich, daß der Ausbruch des Krieges ihn in schwere Konflikte brachte. Man ver- 
stand, daß er nach Frankreich flüchtete; man würde auch entschuldigt haben, wenn 
er in ritterlicher Weise für sein Geburtsland gegen das Land, in dessen Dienste er 
getreten, gekämpft. Aber daß er einer der Hauptleiter des Verleumdungsfeldzuges 
wurde, daß er, der Deutschland kannte, wider besseres Wissen die Lügen verbreiten 
half, das war uns, die wir ihn für einen vornehmen Charakter gehalten hatten, eine 
bittere Enttäuschung. Er leitete besonders die Presse-Propaganda in der Schweiz, 
war für die Freie Zeitung tätig, nahm auch an der großen Konferenz teil, die im 
August 1918 im Crewe House stattfand (S. 25). Thimme meint (S. 99), daB er einer 
französisch-deutschen Verständigung nicht abgeneigt war, vorausgesetzt, daß die 
Ziele der franzósischen Machtpolitik vorher gesichert waren. 

Das Ziel der großen Verleumdungsbewegung war zunächst, das neutrale Ausland 
zu beeinflussen. Das ist gelungen. Von besonderer Bedeutung war, daß die öffentliche 
Meinung in Amerika für die Entente gewonnen wurde. Gewiß spielten da die geschäft- 
lichen Interessen eine große Rolle, aber gegen die Stimmung des Volkes hätten sie 
sich nicht durchsetzen können. Erst als es gelungen war, den Deutschen als den 
Friedensbrecher, den Unterdrücker der Freiheit, den grausamen Barbaren verhaßt zu 
machen, war das amerikanische Volk für den Krieg reif. 


Kritiken 643 


An die Deutschen selbst wandte sich die Propaganda erst später. Anfangs war 
die Stimmung nicht zu erschüttern. Aber nach und nach schwand die Begeisterung 
trotz der glänzenden Erfolge der Waffen im Osten. Im Westen kam man nicht vor- 
wärts; der Hunger und der Mangel an Munition und anderem Kriegsmaterial ließ 
den Mut sinken. Die deutsche Front wurde müde. Nun war der Zeitpunkt für die 
Entente gekommen, den deutschen Soldaten durch Massenabwurf von Flugblättern 
in der Front und in der Etappe zu erschüttern und gleichzeitig die Heimat durch 
heimliche schriftliche und mündliche Verhetzung zu zermürben. Mit welchem Erfolg 
das geschah, zeigt Thimme in dem Kapitel: „Die Wirkung“ (S. 159 bis 183). Der 
Erfolg war um so gróBer, als man in Deutschland selbst Bundesgenossen fand. Es 
waren nicht mehr bloß die vereinzelten Fanatiker, die seit Anfang des Krieges ihre 
Maulwurfsarbeit trieben; seitdem die radikalsozialistischen Strómungen an Boden 
gewannen, war das deutsche Volk für die Revolution reif. 

Viel zu spát haben die leitenden deutschen Stellen die Gefahr erkannt. Als man 
endlich zu Gegenmaßregeln schritt, hat man ein Ungeschick bewiesen, das uns 
Thimme in dem Kapitel: „Die Abwehr“ (S. 184—207) in treffender Weise zeichnet. 
Ende Oktober 1918 übertrug die Reichsregierung die Leitung der „Aufklärungstätig- 
keit" Herrn Erzberger. Die oberste Heeresleitung hatte nicht mehr die Kraft, das zu 
verhindern. 

Thimme sagt S. 206, man kónnte versucht sein, zu sagen, in den letzten Monaten 
des Krieges sei jeder Versuch, durch geistige Mittel die Kampfkraft der Truppen 
zu heben, aussichtslos gewesen. Er führt Stimmen an, die sehr pessimistisch waren. 
Aber Thimme meint (S. 207), daB trotzdem die Aufgabe nicht grundsätzlich unlós- 
bar war. 

Hier werden die Meinungen auseinandergehen. Wir müssen uns leider mit der 
Tatsache abfinden, daB die Propaganda der Entente ihr Ziel erreicht hat. Was den 
Waffen nicht gelungen, hat der Hunger und die Vergiftung der óffentlichen Meinung 
bewirkt. 

Mit Recht nennt darum Hans Thimme sein Buch: Weltkrieg ohne Waffen. Er 
hütet sich vor dem Fehler, dem manche andere verfallen sind, den Verlust des 
Krieges einer einzigen Ursache zuzuschreiben; verschiedene Gründe haben zusammen- 
gewirkt. Aber einer der wichtigsten war, daß wir nicht die Fähigkeit hatten, die feind- 
liche Propaganda zu besiegen. Einen wie hohen Anteil sie an unserm Untergang 
hatte, das zeigt Thimmes Buch in klarer Deutlichkeit. 

Charlottenburg. Richard Schmitt. 


Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit. De Gruyter, Berlin/Leipzig 
1931. (5. Auflage 1933.) 

Wenn dieses gehaltvolle, in schwer gedrüngter Sprache geschriebene und nur 
ernst sinnendem Denken ergreifbare Göschenbändchen in zwei Jahren bereits fünf 
Auflagen erlebte, so bestátigt das Jaspers Grundgedanken, insoweit als er das Frag- 
lichwerden alles Sinnes, sogar desjenigen des eigenen Seins, und das Suchen nach 
neuem sinngebendem Halt als ein wesentliches Zeichen unserer Zeit sieht. Dieses 
Bewußtsein der Krise nach allen Seiten hin zu erhellen und zu vertiefen, ist das 
Thema des Buches. , Was in Jahrtausenden die Welt des Menschen war, scheint 
heute zusammenzubrechen." Immer stärkeres Schwinden von substanzhaftem 
Leben, zunehmende innere Leere und Verlassenheit, die man um so betriebsamer 


41* 


644 Kritiken 


durch Veranstaltungen zu vergessen sucht, Grauen vor dem Abgrund, Lebensangst 
dessen, der vor dem Nichts steht, Vermassung und Entwurzelung allen Seins — 
das ist die Diagnose, die Jaspers der Zeit stellt. Sie läßt seine Beeinflussung durch 
die Psychopathologie und durch Max Webers Denken deutlich genug erkennen. 
Diese „Entzauberung der Welt“ ist aber der notwendige Weg der Geschichte. So- 
bald der Mensch überhaupt aus seinem ungeschichtlichen, geborgenen Sein, aus der 
gebundenen gültigen Ordnung, die ihn Ruhe in der Transzendenz finden ließ, zu 
einem geschichtlichen Bewußtsein erwachte, sich auf sich selbst stellte und nach 
eigener Vernunft zu planen begann, hatte er auch schon den Weg der unaufheb- 
baren Widersprüche betreten, die ihn schließlich zur Verzweiflung an sich selbst 
bringen müssen. Denn mit dem Glauben an die Möglichkeit einer irdischen Voll- 
endung erstand zugleich das Gefühl der Ohnmacht, des Gefesseltseins an den Gang 
der Dinge. Diese ganze geschichtliche Entwicklung und die jetzige Lage ist also 
nach Jaspers bestimmt durch die immer fortschreitende Rationalisierung, durch die 
Technik, die menschliche Planung, sie schuf immer mehr einen Apparat der Fürsorge 
für den Menschen, die in Wahrheit, weil sie ihn als bloße Funktion in ihre Maschinerie 
einspannt und über sein Leben und Wagen in wachsendem Maße vorentschied, ihm 
damit sein persönliches Selbstsein nahm, um es in ein bloßes auswechselbares Da- 
sein zu verwandeln. Heute ist vollends aus dem verantwortlichen Eigensein sub- 
stanzloses Massensein, aus der beseelten Welt eine planetarische Fabrik geworden; 
kaum ein Beruf füllt noch die Existenz voll aus; das Dasein ist an einen Apparat 
gebunden, der den Menschen durch seine Vollendung wie durch sein Zusammen- 
brechen gleicherweise ruiniert. Schlechthin alles sieht Jaspers in diesem entwurzelten 
Strudel hineingezogen, Kultur und Bildung drohen ihm gänzlich zu versanden, 
Kunst wird weithin zum Vergnügen, Forschung zum Betrieb, Philosophie zur Rou- 
tine; ja sogar „der physiognomische Ausdruck der Generationen scheint seit einem 
Jahrhundert ständig auf ein tieferes Niveau zu sinken", Weder der Mensch noch 
die Wissenschaft ist noch vertrauenswürdig. „Die Naturwissenschaften bleiben 
ohne Totalität einer Anschauung; trotz ihrer großen Vereinheitlichungen wirken 
ihre heutigen Grundgedanken eher wie Rezepte, mit denen man es versucht, denn 
als Wahrheit, die endgültig erobert wird. Die Geisteswissenschaften bleiben 
ohne Gesinnung einer humanen Bildung; es gibt noch gehaltvolle Darstellungen, 
aber sie sind partikular und wirken selbst da wie die letzte Vollendung einer Mög- 
lichkeit, der vielleicht nichts weiteres folgen wird." 

Bei aller grandiosen Einseitigkeit sind diese Gedanken ernst genug, um ebenso 
ernst geprüft zu werden. Wer in der Tat wird nicht im Innersten getroffen von der 
Dämonie des Apparats, der alles verschlingen möchte? Wer fühlte heute nicht die 
Schwierigkeit, im Ansturm der fordernden Gewalten das eigene Leben zu leben? 
Wer würde verschont von der Bedrüngnis, sich inmitten der unübersehbaren Bil- 
dungsmassen und Könnensforderungen einer ausgereiften Kultur substantielles 
Menschentum einzuformen ? Wer übersähe die Tragik wissenschaftlicher Forschung 
von heute, um den Preis wesenhafter Gesamtschau das Leben an die Erhellung 
eines kleinsten partikularen geschichtlichen oder naturwissenschaftlichen Frage- 
bestandes zu setzen, auch auf die Gefahr, dabei um der Erfüllung der Sache willen 
zu zerbrechen ? Wenn diese Spannungen zugenommen und sich vielfach bis zur Grenze 
des Tragbaren zugespitzt haben, so bedeutet das zwar eine gróBere Belastung vor 
dem Gewissen und der Geschichte, nicht notwendig aber jenen Strudel, der die 


Kritiken 645 


Existenz erdrückt. Niemand kann daran zweifeln, daB das Selbstsein um viele 
Grade gefahrvoller und schwieriger geworden ist; das heiBt aber noch nicht, un- 
möglich. Überdies müßte, wenn die rationalisierende Technik in jenem Sinne das 
gesamte geistige Leben bestimmte, eine einzige absteigende Linie der Kulturent- 
wicklung vom Erwachen des geschichtlichen Bewußtseins bis zur Jetztzeit führen, 
in der nach Jaspers nun gerade der Umschlag und „Rückstoß“ erfolgt. Nur mit 
kühnem Schwunge wohl läßt sich der Befund der heutigen Kunst und Philosophie 
überwiegend mit Vergnügen und Routine kennzeichnen; nur unter dem Zwang 
eines a priori unumschränkte Herrschaft und Bestätigung fordernden pessimi- 
stischen Grundgefühls aber sind die Leistungen der Natur- und Geisteswissen- 
schaften nach der rein negativen Seite zu beurteilen. Zwar ist das entpersónlichte 
geistige Schaffen in weitem Umfange Wirklichkeit unserer Zeit, und auf diese 
Nachtseite der Entwicklung und ihre Gefahr hinzuweisen, ist richtig; sie aber als 
das Wesen der Gegenwart gelten lassen, heißt geradezu das Menschsein dem Geiste 
der Technik erbarmungslos und von vornherein ausliefern. Gegenüber dieser Dia- 
gnose Jaspers, die überall Verfall wittert, muB gesagt werden, daB dies alles doch 
eben nur eine Seite der Sache darstellt. Oder ist nicht durch die Erweiterung der 
historischen Kunde und die Verfeinerung der kritischen Mittel zugleich mit der 
Gefahr des Zerschellens auch die Möglichkeit substantiellen Seins gewachsen? 
Oder liegt nicht in der Aufgabe, in der Zunahme des Apparats doch die Substanz 
zu wahren, selbst schon eine wesenhafte Steigerung des Menschseins, von der man 
etwa sagen müBte, sie würe in dieser Zeit nicht verwirklicht? Ist neben dem Schutt 
der Kultur die viele bescheidene, verantwortungsbewußte Hingabe an ein Werk, 
bei dem wahrlich auch das eigene Selbst wüchst auf der einen Seite, das ernste Rin- 
gen um eigene Sinngebung auf der anderen Seite zu übersehen? 

Man kann im Zweifel sein, ob Jaspers selbst die Lage so schwarz sieht oder ob 
ihn bei der Zeichnung eine mehr psychologische Erwägung leite, die ihn zunächst 
alles niederreiBen, zum Schluß aber erklären läßt, es sei so schlimm nicht gemeint. 
Wenn heute das „Menschsein in dem Adel freier Selbstschöpfung“ immer schwerer 
wird, so liegt es auch nach Jaspers dennoch ganz an ihm, in diesem Apparat sein 
eigenstes Leben zu wagen, er kann und soll „in der Ohnmacht doch die Freiheit 
zum Handeln ergreifen". Zwar kennt der bewuBt Ungeborgene nicht mehr den 
Glauben an eine objektive Ganzheit etwa einer vorgezeichneten Geschichtsentwick- 
lung, denn sie würde ihn als geschichtlichen Menschen zu einer bloBen Funktion 
machen, und auch in die ungeschichtliche Welt kann er nicht zurück, er muß „durch 
die Bewußtheit hindurch" ; ebenso verantwortungslos aber würde er handeln, wollte er 
auf eine sinngebende Orientierung überhaupt verzichten. Es gilt Distanz zu gewinnen 
zu dem Strudel der Welt und sich doch in die Konkretheit des Seins einzusenken. Jeder 
verabsolutierende Anspruch von Philosophie, Wissenschaft, Staat, Erziehung usw. 
muß abgewiesen werden; sie können dem Menschen nicht sagen, was er tun soll 
und was er schicksalhaft „ist“, sondern ihm nur Möglichkeiten des Menschseins 
zeigen, er selbst entscheidet, welche Möglichkeit gewählt wird. 

Was sich bisher als gültiges Bild der Wissenschaft formte und den Menschen 
in übergreifende Zusammenhänge hineinstellte, löst sich für Jaspers in eine Fülle 
bloß partikularer Perspektiven, in reine „Möglichkeiten des Menschseins auf, die als 
solche nicht verpflichtend sind“. Eine verwirrende Verschiebung wird aber hier 
dauernd von Jaspers in die Diskussion getragen dadurch, daB er „wirklich“ im Sinne von 


646 Kritiken 


„wesenhaft, existentiell“ und, Sein“ im Sinne von „Substanzsein“ gebraucht. In diesem 
Sinne hat er durchaus recht, mit dem Satz, daB das Sein dem Erkennen entzogen ist: 
„Keine Soziologie kann mir sagen, was ich als Schicksal will, keine Psychologie mir 
deutlich machen, was ich bin.“ Aber will denn „die“ Wissenschaft dies überhaupt und 
muß sie sich dafür als solche radikal in Frage stellen lassen? Mit Recht getroffen wird 
von der Kritik nur rationalistische und objektivistische Hybris der Wissenschaft, 
die es unternimmt, den Menschen gültig etwa aus ökonomischen Mächten abzu- 
leiten oder als bestimmte Funktion in eine Geschichtsphilosophie einzuordnen, 
kurzum ihn zum Objekt und seine Freiheit zur Illusion zu machen; nicht aber 
solche Wissenschaft und Philosophie, die nicht weniger Gültigkeit beansprucht, 
aber dabei die Spontaneität des Menschen von vornherein berücksichtigt, die des- 
halb auf eine geschichtsphilosophische Konstruktion verzichtet, weil die Geschichte 
mit dem Handeln des Einzelnen anfängt. Es ist in dieser Verallgemeinerung nicht 
wahr, wenn Jaspers meint, „Soziologie, Psychologie und Anthropologie lehren die 
Menschen als ein Objekt sehen, über das Erfahrungen zu machen sind, mit deren 
Hilfe es durch Veranstaltungen modifizierbar ist“, — es sei denn, Jaspers lasse 
Marxismus, Psychoanalyse und Rassentheorie als „die“ Wissenschaft gelten. 

Sind so gültige Erkenntnis und Selbstsein des Menschen, die Jaspers beide 
gegenseitig radikal in Frage stellen möchte, voneinander abzuheben und in ihrem 
Zusammenbestehen zu rechtfertigen, so muß auf der anderen Seite dagegen Ein- 
spruch erhoben werden, daß die aus dem Gebiet gültiger Wissenschaft verwiesenen 
persönlichen Perspektiven von Geschichte, Kultur, Staat, Bildung usw. dem 
Menschen als bloße „Möglichkeiten des Menschseins“ gegenübergestellt werden, 
für die sich der Einzelne aus Freiheit heraus jedesmal krampfhaft zu entscheiden 
hätte, als ob man bestimmte Ziele des Handelns in Staat und Geschichte oder 
bestimmte Prognosen, deren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit bereits abgewiesen 
wurde, nun gleichsam als Gegenstände zunächst vor sich hinstellen könne im ge- 
schichtlich konkreten Sein. Es gibt keine „Konstruktion der Möglichkeiten“ als 
Absteckung des Kampffeldes, auf dem um die Zukunft gerungen wird, worauf dann 
das Eintreten in dieses Kampffeld folgt; sondern in dem sich gegenseitig bedingenden 
und unlósbaren Ineinander von persónlichem Bild und Handeln verwirklicht der 
Mensch sein Eigensein und macht Geschichte; nicht mehr philosophisch-wissen- 
schaftlich faBbar, sondern nur in weltanschaulich-persónlichem Bilde. — Es st 
charakteristisch für Jaspers’ verwickelte Denkart und eine Folge seiner radikalen 
Kritik an allgemeingültiger Erkenntnis, daB er die Philosophie zur persónlichsten 
Welt- und Selbstschau macht, die nicht mehr für alle identisch sein will, daB er 
aber für die grundlegendsten seiner philosophischen Gedanken und Einsichten, 
mit denen er gerade Wissensgeltung in Frage stellt, eben solche Geltung in An- 
spruch nehmen muß, um diese Kritik halten zu können. 

Daß Jaspers hier aber so energisch zum tiefen Durchdenken der entscheidenden 
Fragen zwingt, ist das Fruchtbare an dem Buch. 

Albert Reble. 


647 


Nachrichten und Notizen. 


Ebert, Max, Reallexikon der Vorgeschichte. 15 Bände. Lexikon 80. Berlin 1924 
bis 1932. Walter de Gruyter & Co. 


Mit dem soeben erschienenen 15. Band (dem Registerband) liegt das gewaltige 
Werk Max Eberts und seiner zahlreichen Mitarbeiter nunmehr abgeschlossen vor 
uns. „Die vorgeschichtliche Forschung“, schrieb der Herausgeber im Vorwort, „hat 
während der beiden letzten Menschenalter in fast allen europäischen Ländern, 
sowohl durch die Leistungen einzelner hervorragender Gelehrter, wie durch die me- 
thodische Arbeit ganzer Schulen, wie sie mit Stolz sagen darf, mächtige Fortschritte 
gemacht und sich zu einem selbständigen Zweige der Altertums wissenschaft ent- 
wickelt.“ Den Beweis für diese Behauptung erbringen die 14 Textbände in vollem 
MaBe. Wir haben den Inhalt der ersten 6 Bände schon ausführlich gewürdigt (Hist. 
Vierteljahrschrift, 24. Band, S. 660—663) und können das dort gefällte günstige 
Urteil auch auf die folgenden acht Bánde übertragen. Besonders zu bewundern 
ist das groBe Geschick, mit dem der Herausgeber die wichtigsten Kapitel der frühe- 
sten Kulturentwicklung nicht nur Europas, sondern auch Westasiens und des 
näheren Orients auswählte und behandeln ließ. Es ist ihm wirklich gelungen, die 
Einheit in dem Überblick über die Altertumskunde dieser Gebiete, die verloren zu 
gehen drohte, wieder herzustellen, wie er das als seinen Wunsch im Vorwort ausge- 
sprochen hatte. 

Naturgemäß konnten bei der erstmaligen Bearbeitung eines so gewaltigen 
Stoffes die Hinweise auf das öftere Vorkommen des gleichen Stichwortes nicht sofort 
gezeben werden, und so war die Anfertigung eines Registerbandes eine der dringend- 
sten Forderungen zur Krönung des ganzen Werkes. Daß sie erfüllt wurde und nun- 
mehr in dem 16. Band vorliegt, ist in diesen finanziell so schwierigen Zeiten ein 
gar nicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst des Verlages. Das am Schluß 
dieses ausführlichen Registers gebotene Verzeichnis der 142 Mitarbeiter bringt ge- 
wissermaßen noch einmal den Beweis dafür, wie sorgfältig alle Stichworte ausgewählt 
und dem besten Kenner des betreffenden Gebietes übertragen wurden. Bei dieser 
Gelegenheit muB betont werden, daB das Ebertsche Reallexikon nicht nur als 
aufschlußreiches Nachschlagewerk und als Abschluß eines gewissen Forschungs- 
Stadiums zu würdigen ist, sondern gleichzeitig als Anreger neuer wissenschaft- 
licher Monographien. So hat, um nur ein Beispiel zu erwühnen, Ernst Sprockhoff 
die Bearbeitung verschiedener waffentechnischer Schlagworte aus der Bronzezeit 
übertragen bekommen. Als er erkannte, wie wenig diese Gebiete bisher durchgearbei- 
tet waren, schrieb er parallel zu seinen Lexikon-Artikeln noch eingehende wissen- 
schaftliche Monographien, die wichtige Gebiete neu erschlossen und letzten Endes 
der Anregung bei der Mitarbeit am Lexikon zu danken sind. 


648 Nachrichten und Notizen 


Leider hat der Herausgeber Max Ebert, zuletzt Ordinarius für Vorgeschichte 
an der Universität Berlin, den endgültigen Abschluß seines Lebenswerkes nicht 
mehr erleben dürfen. Sein Bild schmückt den letzten Band, und G. Lüdtke, der 
wissenschaftliche Referent für Altertumskunde beim Verlag, schrieb ihm dort 
auch den Nachruf. , Es soll hier nicht davon gesprochen werden, welche mühselige 
Kleinarbeit zu leisten war, nicht von den Sorgen, die die immer wachsende Fülle 
des Stoffes schuf, so daB die Grenzen des Werkes bedroht schienen: die treue, um- 
sichtige und unermüdliche Hilfe seiner Gattin, die seine Schaffenskraft so kongenial 
ergänzte, trug an diesen Mühen ihr reichlich Teil und half sie mildern.“ Das Vorwort 
zum ersten Band war am 1. Juni 1924 gezeichnet worden, das Nachwort zum 14. Band 
trägt das Datum vom 15. April 1929. In fünf Jahren war das Werk vollendet wor- 
den. Noch dauerte es drei Jahre bis der so unendlich viel Kleinarbeit erfordernde 
Registerband fertig gestellt wurde, aber er lohnt allen Benutzern des Lexikons die 
große Mühe seiner Anfertigung. 

Im Vorwort, schrieb Ebert in bezug auf die zeitliche Begrenzung des Werkes: 
„Die untere Grenze ist fließend. Sie war nicht allein durch theoretische Erwägungen 
zu finden, sondern auch durch praktische Rücksichten bestimmt. So wurde für 
große Teile Europas (Westen, Mitte, Norden, Südosten) mit dem Beginn der christ- 
lichen Zeitrechnung abgeschlossen. In Osteuropa, wo es besonders erwünscht ge- 
wesen würe, die Linien im vollen Umfange noch weiter zu ziehen, erlaubten dies 
weder der Stand der Forschung, noch die äußeren Verhältnisse.“ Diese vor fast 
zehn Jahren richtigen Erwägungen treffen heute zum Glück nicht mehr zu. Vor allem 
ist die Forschung auf frühgeschichtlichem Gebiete immer weiter ausgebaut worden, 
und so würe es m. E. ein weiteres groBes Verdienst des Verlages, wenn er sich ent- 
schlieBen kónnte, das Ebertsche Reallexikon durch die Herausgabe eines weiteren 
Werkes zu krónen, das an Eberts Begrenzung unmittelbar anschlieBend die für 
Mitteleuropa so wichtigen Kapitel wie provinzialrömische, völkerwanderungszeit- 
liche, wikingische, slawische Kulturen usw. behandeln müßte. Damit würde auch 
die Zusammenarbeit zwischen eigentlicher Geschichte und frühgeschichtlicher 
Altertumskunde wesentlich gefórdert werden und ein Werk geschaffen, das von 
den ültesten Kapiteln der Urgeschichte, mit denen bei Ebert die Behandlung be- 
ginnt, hinüber leitet zur Hochgeschichte. 

Hannover. Jacob-Friesen. 


Handwórterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, unter Mitwirkung 
von 800 Mitarbeitern in Verbindung mit 46 Teilredaktoren herausgegeben 
von Carl Petersen und Otto Scheel. Band 1, Lieferung 1. Ferdinand Hirt in 
Breslau 1933. XV, 80 S. Lex. 8°, 


Eine große Zahl von Forschern, Historiker, Geographen, Soziologen, Juristen, 
Nationalökonomen, Volks- und Rassenkundler, Theologen und Schulfachleute, 
haben sich zur Inangriffnahme der durch die Gestaltung des deutschen Schicksals 
dringlich gewordenen Aufgabe vereinigt, Wesen und Formen deutschen Lebens 
überall im europäischen und außereuropäischen Raum zu erkennen, wo Deutsch- 
tum im Kampf um die Bewahrung seiner Art und Sitte und seines von den Vätern 
ererbten Bodens steht, und die geistigen Kräfte zu stärken für dieses Ringen. Die 
Bewußtwerdung und Bewußtmachung des deutschen Menschen zu fördern, überall 


Nachrichten und Notizen 649 


wo er um die Behauptung seiner Art ringt und weit darüber hinaus unter allen Deut- 
schen, ist das Ziel, das sich dieses weit ausgreifende, auf fünf stattliche Bände be- 
rechnete Werk gesetzt hat. Das große und weitschichtige Gebiet, das hier erfaßt 
werden soll, wird in orientierenden Einführungen erschlossen, die zum Material 
hinführen und die Möglichkeit zu immer tieferem Eindringen in die verschiedensten 
Sachgebiete geben. Dabei ließ das hochgesteckte Ziel des Unternehmens die not- 
wendigerweise eine starke Zersplitterung und damit eine Herabminderung der gei- 
stigen Wirkungsmöglichkeit bedingende enzyklopädische Aufteilung des Stoffes 
unter eine große Zahl von Schlagworten für weniger geeignet erscheinen als die 
Zusammenfassung aller innerlich verbundenen Lebensgebiete zu größeren geschlosse- 
nen Artikeln von systematischem Aufbau und wissenschaftlichem Gehalt. Die ein- 
zelnen Beiträge zerfallen in regionale, in Sach- und in Personalartikel. Unter den 
regionalen Stichworten finden sich zusammenfassende Übersichten über die Grenz- 
fragen des geschlossenen deutschen Volks- und Kulturbodens, Behandlungen der 
Fragen der deutschen Grenzgebiete und der größeren deutschen Siedlungsgebiete 
außerhalb des geschlossenen deutschen Volksbodens, Artikel über alle europäischen 
und außereuropäischen Staaten und Ländergruppen sowie über die ehemaligen 
deutschen Schutzgebiete, wie auch über fremde Kolonien und Schutzgebiete, die 
für das Deutschtum von Bedeutung sind. Die einzelnen Beiträge sind in der Regel 
nach folgenden Gesichtspunkten gegliedert: Allgemeine Aufgaben, Raum und Gren- 
zen, Bevölkerung, Geschichte der Staatsbildung, das Werden und Wesen des deut- 
schen Volkstums, das politische, wirtschaftliche, kirchliche, geistige, künstlerische 
Leben der Deutschen, Fragen des Gesundheitswesens, der Wohlfahrtspflege, des 
Vereinslebens und andere Lebensfragen des Deutschtums. Neben diese regionalen 
Artikel tritt zur Behandlung von zum Verständnis der dort entwickelten Einzel- 
materien notwendigen Fragen eine Reihe von Sachartikeln von teils systemati- 
schem Charakter, wie Volk, Staat, Nation u. a., oder auch in Darstellungen über- 
greifender Gebilde, wie etwa Brüdergemeine, V. D. A. u. dgl. Schließlich erfahren 
Persönlichkeiten, deren Wirken für das Volkstum unter dem Gesichtspunkt des Hand- 
wörterbuchs von besonderer Bedeutung ist, eine Würdigung in biographischen 
Artikeln, wobei Zeitgenossen nur berücksichtigt werden, soweit bei ihnen bereits 
ein geschlossenes Lebenswerk sichtbar ist. 

Die vorliegende erste Lieferung umfaßt Titelblatt zu Band 1, Vorwort des 
Ganzen, das grundsätzliche Angaben über Sinn und Anlage des Unternehmens gibt, 
eine Anweisung zur Benutzung und die Stichworte von Aachen (9%, Seiten mit 
3 Karten und 1 Tabelle) bis Albanien. Von den einzelnen Beiträgen sei hervorgehoben 
der über Afrika von K. Dietzel unter Mitarbeit von W. Semmelhack mit 13 Spalten 
und zwei gut orientierenden Karten im Text. Aber auch zu den kürzer behandelten 
Schlagworten sind den Eindruck großer Zuverläsisgkeit erweckende knappe hi- 
storische Abrisse gegeben, unter besonderer Berücksichtigung der Fragen der Volks- 
tumsforschung und, bei außerdeutschen Materien, der Bedeutung des Deutschtums 
als konstituierendem Faktor des geschichtlichen Werdens. Von den allgemeinem 
historischen Artikeln enthält diese erste Lieferung den über die Agrarverfassung; in 
R. Kötzschke, K. Weimann, G. Ipsen, E. G. Bürger sind eine Reihe anerkannter 
und zuverlässiger Fachleute gewonnen worden, die die Frage von den verschiedenen 
Seiten aus, der Wirtschafts-, der Verfassungsgeschichte, der Soziologie, der Gesetz- 

gebung, umfassend und, sofern es auf dem beschränkten Raum möglich ist, erschöp- 


650 Nachrichten und Notizen 


fend behandeln. Die Literaturangaben sind bei allen Beitrágen reichhaltig und, so 
weit nachgeprüft werden konnte, zuverlässig zusammengestellt. Die Ausstattung 
des Ganzen ist solide und den an ein für eine lange Zeit bestimmtes Nachschlage- 
werk zu stellenden Anforderungen durchaus angemessen. Die beigegebenen Karten 
und Pläne sind übersichtlich und gut unterrichtend. Wenn auch ein abschlieBendes 
Urteil naturgemäß noch nicht möglich ist, so muß doch ausgesprochen werden, daß 
in dieser ersten Lieferung das Programm eines Unternehmens entwickelt wird, das 
vom Standpunkte der historischen Wissenschaft ebenso zu begrüßen ist wie von 
dem höheren und allgemeinen Gesichtspunkte der Belange von Volkstum und Nation 
überhaupt, und daß in dieser ersten Lieferung die von den Herausgebern gesteckten 
hohen Ziele durchaus erreicht sind, ein Zeichen dafür, daß die Wahl der Mitarbeiter 
glücklich war. Es sei daher die Hoffnung ausgesprochen, daß der Fortgang des Werkes 
der ersten Probe entsprechen möge. Wendorf. 


Gustav Krueger, Das Papsttum. Seine Idee und ihre Träger. 2. Aufl. Tübingen: 
J. C. B. Mohr (P. Siebeck) 1932. 

Die Neuauflage der 1907 in der 4. Reihe der Religionsgeschichtlichen Volks- 
bücher zuerst erschienenen Schrift des im vorigen Jahre siebzigjährigen Gießener 
Ordinarius für Kirchengeschichte kann mit Recht den Anspruch erheben, einem 
Bedürfnis entgegenzukommen. Auf 150 Seiten zusammengedrängt wird hier mit 
meisterhafter Erzählungskunst, die sich an einzelnen dramatischen Stellen (S. 69. 
u. S. 136ff.) zu Rankescher GróBe steigert, eine Überschau über die Geschichte der 
Idee des Papsttums und ihrer Träger gegeben, die durch ihre unbedingte Zuver- 
lässigkeit und ihren Gedankenreichtum, der jedoch nie die ganz vom Gegenstand 
her erfüllte historische Darstellung erdrückt, für den Historiker bes. den jungen — 
von gleichem Wert ist wie durch ihre Schlichtheit — Fremdsprachliches (selbst 
filioque) wird weitgehend vermieden, termini (nicht einmal Pataria) werden wie 
uneingeführt verwandt — für den Laien, ganz im Sinne des ursprünglichen Erschei- 
nungsortes. In konfessioneller Hinsicht strebt der Verf. „Vorurteilslosigkeit, nicht 
Voraussetzungslosigkeit" an. Die Darstellung der Reformation ist darin vorbildlich, 
die der jüngsten Zeit seit dem Vaticanum, die gegenüber der ersten Auflage um 
fünf Seiten vermehrt (S. 150ff.) bis zum Staatsvertrag geführt ist — zu wünschen 
wäre hier ein Eingehen auf die bedeutsamen Enzykliken zu Fragen des Gemein- 
schaftslebens —, hat  begreiflicherweise mit besonderen Schwierigkeiten zu 
kämpfen. Die Beurteilung des Verhältnisses Leos XIII. zu Thomas im Lichte etwa 
seiner Sozialencyklika wird den Katholiken nicht ganz befriedigen (bes. S. 145 und 
S. 149.) 

Darf Rez. vorschlagen, auf S. 119 Mitte „nicht mehr hervorbringe“ in „nicht 
länger hervorbringen könne“ zu ändern: Der Text lautet $ 26: animadvertimus 
societatem Jesu uberrimos illos fructus ... afferre amplius non posse ..., nàmlich 
vor allem auf Grund der veründerten Weltstimmung für die $ 15 genannten Auf- 
gaben. Es besteht daher auch kein „Gegensatz“ in der Auffassung von den „über- 
reichen Früchten“ der S. J. zwischen Klemens XIV. und Pius VII. (S. 128), was 
ja auch ganz im Sinne der Kruegerschen These liegt, daB das Breve von 1773 , keine 
grundsätzliche Verdammung des Ordens darstelle“, es zitiert ja nur Stimmen der 
Welt. 

Leipzig. J. Hennig. 


Nachrichten und Notizen 651 


Aders, Günter: Das Testamentsrecht der Stadt Kóln im Mittelalter (— Ver- 
öffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, E. V. 8). Köln: Verlag 
des Kólnischen Geschichtsvereins E. V. In Kommission bei Creutzer u. Co. 
1932. IX, 117 S. 8°. 

Der Vf. hat eine groBe Anzahl Schenkungsurkunden und Testamente von 
Kolner Geistlichen und Bürgern des Mittelalters untersucht und zeigt nun an ihrer 
Hand die allmähliche Durchdringung des altgermanischen Erbrechts mit römisch- 
rechtlichen Bestandteilen, die zur Entwicklung und Ausgestaltung des Kölner 
Testamentsrechts führte. Die Herkunft des Kölner Testaments aus der „Deutsch- 
rechtlichen Schenkung", sein erstes Auftreten und seine allmähliche Ausbreitung, 
die verschiedenen Formen der Testamentserrichtung bis zur endgültigen Festlegung 
in den „statuta civitatis" von 1437 und der Kampf der städtischen Obrigkeit gegen 
den mit der Verbreitung der Testamente stark überhandnehmenden geistlichen 
Grundbesitz werden eingehend geschildert und durch zahlreiche Beispiele erläutert. 
Ein weiterer Abschnitt des Buches behandelt die Testierfähigkeit, die Zusammen- 
hänge mit dem kölnischen Familien- und Erbrecht, Stellung, Pflichten und Rechte 
des Erblassers, der Bedachten und Erben sowie verschiedene mit dem Testamente 
zusammenhängende Rechtsfragen. 

Das letzte Kapitel ist dem Wirken des Testamentsvollstreckers gewidmet 
und befaßt sich mit der Entwicklung seines Amtes, seiner Berufung, seinen Rech- 
ten und Pflichten sowie seiner immer noch umstrittenen Rechtsnatur. — Die für 
die Geschichte Kölns wie für die allgemeine deutsche Rechts- und Kulturgeschichte 
sehr aufschlußreiche Arbeit darf in ihrem klaren Aufbau und der erschöpfenden 
Darstellung der z. T. sehr verwickelten Rechtsverhältnisse als eine mustergültige 
Leistung bezeichnet werden. 

Köln-Riehl. 7 Paul Holtermann. 
Das älteste Bürgerbuch der Stadt Hannover und gleichzeitige Quellen. 

Bearbeitet von K. Fr. Leonhardt. Verlag Degener & Co. (Inhaber Oswald 
Spohr.) Leipzig 1933. Quellen und Darstellungen zur Bevölkerungskunde der 
Stadt Hannover. I. A. des Magistrats der Hauptstadt Hannover hrsg. v. 
Verein für stadthannoversche Geschichte und Bevölkerungskunde. Bd. I. = 
Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen. Bd. VI. 

Das älteste Bürgerbuch der Stadt Hannover beginnt mit dem Jahre 1301 und 
reicht bis 1549. Doch enthalten die ersten Jahrzehnte vielfach auch Einträge von 
Statuten, die schon an anderer Stelle veröffentlicht sind. Auch sind nicht alle Bürger- 
aufnahmen in den Büchern verzeichnet, sondern nur die Namen der Zugezogenen, die 
das Bürgerrecht erwerben und die Gebühren bezahlen. Erst vom Jahre 1629 an 
werden in dem Bürgereidbuch auch die Aufnahmen von Bürgersöhnen eingetragen. 
Die meisten der Neubürger stammen aus der Umgegend Hannovers. Teilweise 
finden wir auch Doppeleintragung. Sollte es hierbei sich nicht darum handeln, daB 
der Betreffende zuerst das Bürgerrecht zwar erwerben wollte, aber das Bürgergeld 
nicht gleich bezahlen konnte und dann, als er es bezahlt hatte, noch einmal ein- 
getragen worden ist? In der ersten Zeit halten sich Herkunftsname und Eigenname 
(diese werden in der Arbeit durch Sperrdruck hervorgehoben) fast die Waagschale. 
Doch schon nach einem Jahrhundert überwiegt dieser bei weitem. Von 1440 an be- 
ginnen die Bürgen mit aufgeführt zu werden. Án das Bürgerbuch schlieBen sich 


652 Nachrichten und Notizen 


Namensverzeichnisse aus den beiden ältesten Pfandregistern von 1289—1294 und 
1310—1348. Es folgt eine Liste der Kaufleute von 1299—1533, von 1432 an jahr- 
weise aufgeführt. Daran schließen sich Listen der Ratsherren aus dem gegebenen 
Zeitabschnitt, der Geschworenen, der Kämmerer und Burmeister, die nicht in den 
sitzenden Rat gelangten. Schließlich werden die Werkmeister aus den großen und 
kleinen Ämtern abgedruckt. 

Im Vorwort werden die benutzten Handschriften sachgemäß beschrieben. 
Vorläufig ist nur ein Ortsverzeichnis beigegeben. Das Personenverzeichnis soll nach 
dem 2. Bande erscheinen, der als Häuserbuch der Stadt Hannover gedacht ist. Die 
Arbeit ist sehr sorgfältig ausgeführt und gibt zu Beanstandungen kaum Anlaß. 
Eine eingehende Durchsicht zeigt, daß die Bevölkerung der Stadt rein niedersächsi- 
schen Charakter hat. 

Neuruppin. Lampe. 


Walter Friedensburg, Kaiser Karl V. und Papst Paul III. (1534-1549). 
(Schriften d. Vereins f. Ref.-Gesch., J. 50, H. 1, Nr. 153.) M. Heinsius Nachf., 
Leipzig 1932. — IV, 99 S., 89. 

Der Altmeister der Papsturkunden-Forschung für die Reformationszeit zieht 
in diesem Schriftchen die Summe der historischen Anschauung, die sich ihm von 
dem Verhältnis Karls V. und Pauls III. in einem lebenslangen Studium gebildet 
hat. Die Quellen, die er hier mit Recht sparsam heranzieht, sind in erster Linie 
natürlich die Nuntiatur-Berichte. Darüber hinaus aber zeigt jeder Satz die profunde 
Kennerschaft des Verfassers in jeder Beziehung. So ist denn seine Darstellung 
gedrängt voll von Stoff. Die Ereignisse ziehen in klarer Zeichnung an uns vorüber. 
Der Verfasser hat sich nicht die Aufgabe gesetzt, die überpersönlichen Kräfte, die 
in den Schauspielern auf dieser Bühne lebendig sind, herauszuarbeiten. So bleibt 
seine Darstellung ohne eigentliche Spannung. Ein so hochdramatischer Moment 
wie etwa die Rede Karls V. in Rom am 18. April 1536 kommt denn auch in dem 
politischen Raisonnement des Verfassers nicht zur Wirkung. Das hängt aber auch 
mit der von Friedensburg schon in den Einleitungen zu seinen Bänden der Nuntiatur- 
Berichte vorgetragenen Auffassung von den Charakteren Karls V. und Pauls IIL 
zusammen. Für meine abweichende Auffassung verweise ich auf mein vor kurzem 
erschienenes Buch über „Die Kaiser-Idee Karls V.“ (Berlin 1932). Hinsichtlich der 
Politik Pauls III. móchte ich aber auch hier ausdrücklich der Auffassung von 
„Nepotismus“ entgegentreten, die trotz Ranke sich so fest in unserer Geschichts- 
schreibung eingenistet hat. Es ist ganz in Vergessenheit geraten, daB für die Re- 
naissance-Pápste die Verwendung von Familienmitgliedern zum Zwecke der mil- 
tárisch- politischen Kraftentfaltung des Kirchenstaates eine absolute Notwendig- 
keit war, wenn man, wie die ganze Zeit, den Kirchenstaat als Staat bejahte. In der 
Machtpolitik des Kirchenstaates von Päpsten wie Sixtus IV. und Julius II. steckte 
auDerdem die national-politische Wurzel der Einigung Italiens. Hatten jene den 
Widerstand gegen die franzósische Fremdherrschaft organisiert, so war es die Auf- 
gabe Pauls III. als Landesherrn, die spanische Fremdherrschaft abzuwehren. In 
diesem Zusammenhang also bleibt für moralisierende Kritik am „Nepotismus“, 
die ja aus der religiósen Spháre Savonerolas stammte, historisch kein Raum. 

Breslau. Peter Rassow. 


Nachrichten und Notizen 653 


Phil. Anton Ernstberger, Judr. und Dr. phil., Österreich und Preußen von 
Basel bis Campoformio 1795—1797. I. Der Westen, Krieg und Frieden mit 
Frankreich. Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte. 
Hrsg. von der Hist. Komm. d. deutsch. Gesellschaft d. Wissensch. und Künste 
für die Tschechoslowakische Republik, Bd. 12. Prag, Verlag d. deutsch. Ges. 
der Wissenschaften u. Künste f. d. Tschechosl. Rep., 1932. 450 S. 

Der Verf. hat es unternommen, die diplomatische — nur diese! — Geschichte 
Preußens und Österreichs während der drittehalb Jahre vom April 1795 bis Oktober 
1797 zu schreiben, eines für beide Länder gleich traurigen und verhängnisvollen 
Zeitabschnittes. Schon die Selbstverleugnung und Entsagung, die dazu gehört, 
verdient Anerkennung. Enthusiasmus zu erregen, was doch das Beste sein soll, 
was wir von der Geschichte haben, bei einem Preußen oder Österreicher ist 
die Zeit der beiden Friedensschlüsse wahrlich nicht geeignet. Auch versucht 
der mit kühler Sachlichkeit und möglichst unparteiisch urteilende Verf. weder 
die Eigenschaften der beiden Herrscher und leitenden Minister, die einander 
gegenüberstehen, noch ihre Politik zu beschönigen, sondern alle vier Persönlich- 
keiten erscheinen bei ihm so wie sie uns nur zu bekannt sind: Friedrich Wilhelm II. 
als der seinem hohen Berufe nur geringes Verständnis entgegenbringende König, 
Kaiser Franz als schwerfällige, nüchtern schwunglose Natur, Graf Haugwitz als der 
unentschiedene Schwächling, Thugut als der bis zum Starrsinn zähe, von bitterer 
Feindschaft gegen Preußen erfüllte Staatsmann. 

Zu rühmen ist weiter die peinliche Sorgfalt, mit der er die Archive durchforscht 
hat, besonders die von Wien und Berlin, und ebenso seine Literaturkenntnis. Nicht 
nur die neuen und neuesten Vorgänger nutzt er mit der erforderlichen kritischen 
Vorsicht aus, sondern auch ältere Geschichtsschreiber verschmäht er nicht zu be- 
rücksichtigen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wie Ranke, Sybel, Häusser. 
Mit dem Anführen von Belegstellen in den Anmerkungen tut er unbedingt des 
Guten zu viel. Ist es wirklich notwendig, für jeden einzelnen politischen Schach- 
zug, auch den kleinsten, einen aktenmüDigen Beweis zu erbringen? Fürchtet er 
etwa, daß der Leser ihm ohnedem nicht glaubt? Und nebenbei: Warum kürzt er 
nie ab? Muß es denn in den Fußnoten immer heißen: Leopold von Ranke, Heinrich 
von Sybel usw.? Namentlich viel Platz nimmt weg der oft und stets mit vollem 
Namen zitierte Alfred Ritter von Vivenot. Welche Umständ)ichkeit! Überhaupt 
leidet die Darstellung mitunter an Breite. Namentlich wünschte man die kleinlichen 
Reichshändel, das Ränkespiel in Regensburg knapper abgemacht zu sehen. 

Hinwiederum ist die klare Übersichtlichkeit ein Vorzug des Buches. Von vorn- 
herein gegeben war die Einteilung in die Geschichte der Jahre 1795 — er nennt es 
das Krisenjahr —, 96, das Schicksalsjahr, 97, das Katastrophenjahr. Im wesent- 
lichen beschränkt er sich auf „die Geschichte des Westens“, kann aber nicht um- 
hin, einmal ein Kapitel über „Rußlands Drängen und Drohen“ einzuschieben und 
auch sonst öfter Katharina II. und Kaiser Paul zu erwähnen. 

Durch seine Nachforschungen tauchen manche in Vergessenheit geratene, aber 
beachtenswerte Einzelheiten wieder auf: so daB die Not der Zeit schon damals zu 
dem Gedanken führte, einen schwäbischen Landsturm gegen die Franzosen aufzu- 
bieten, und Konstanz allein sofort ein volles Bataillon aufzustellen bereit war. 
Es blieb leider bei dem Gedanken, so sehr sich auch der österreichische Gesandte am 
schwäbischen Kreise, Graf Fugger, für ihn einsetzte (S. 337. 433). Nicht weniger 


654 Nachrichten und Notizen 


auffallen muB uns heutigen Lesern die Stelle in einer namenlosen Flugschrift: 
„Germania im Jahre 1795‘, wo zu lesen ist: „Ich erkläre mich für die große einige 
deutsche Nation und nenne meine Leute Nationalisten“ (S. 351). 

Der Genauigkeit des Verf. in allem entspricht der bis auf wenige Stellen fehler- 
freie Druck. Die Form „Feber“, die er statt Februar braucht, scheint mundartlich 
zu sein. Ein musterhaft sorgfáltiges Register erhóht die Brauchbarkeit des Buches. 

Merkwürdig ist, daB sich der Verf. Judr. und Dr. phil. nennt. Daß die erste 
Bezeichnung Dr. iuris bedeuten soll, leuchtet ein. Aber unverständlich bleibt es 
jedem nicht in Prag Geborenen, warum er nicht die bei Gelehrten und Ungelehrten 
übliche Form des juristischen Doktortitels beibehält. 

Berlin. Viktor Heydemann. 


Anne-Lore Gräfin Vitzthum, Julius Wilhelm von Oppel, ein sächsischer 
Staatsmann aus der Zeit der Befreiungskriege. Dresden, 1932, Verlag der 
Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung. 158 Seiten. 

Die Verfasserin, eine geborene von Oppel, hat dieses Buch zu Ehren eines Ver- 
wandten geschrieben und dazu eingehende Studien in staatlichen und privaten 

Archiven gemacht. Sie hat dadurch neue Quellen für die sáchsische und deutsche 

Geschichte der Jahre 1790—1815 erschlossen, und jeder, der sich mit dieser Zeit 

beschäftigt, wird das Buch dankbar benutzen. — J. W. von Oppel (1765—1832) 

war ein weitblickender Staatsmann, der seiner Zeit in vielen Dingen vorauseilte 

und daher auch vom Parteistandpunkte aus vielfach falsch beurteilt worden ist. 

Da sein Vater Oberberghauptmann und Mitbegründer der Freiberger Bergakademie 

war, wendete er von Jugend an seine Interessen dem Bergbau zu; er hatte in dem 

berühmten Geologen A. G. Werner einen vortrefflichen Lehrer und kam schon 
als junger Mann mit dem Freiherrn vom Stein zusammen, der ja auch auf diesem 

Gebiete tätig war. Nach seinem juristischen Studium in Leipzig wurde er zunächst 

in der Bergbauverwaltung verwendet, kam aber bald in die allgemeine Finanz- 

verwaltung nach Dresden, wo er 21 Jahre lang eine leitende Stellung inne hatte. 

Die Verwaltung Sachsens war nicht so verrottet, wie sie z. B. Treitschke darstellt. 

Es gab jedenfalls auch sehr tüchtige Beamte. Oppel trat für zeitgemäße Reformen 

und Zusammenfassung der Behórden der verschiedenen Landesteile ein. Da er aber 

1812 durch Marcolini bei einer Beförderung übergangen wurde, nahm er seinen Ab- 

schied. Doch als Sachsen nach der Schlacht bei Leipzig unter die Herrschaft der 

Verbündeten kam, wurde Oppel durch das Vertrauen des Freiherrn vom Stein 

als der beste Kenner der Verhültnisse mit der Finanzverwaltung beauftragt. Es 

war eine sehr schwere Aufgabe. Die Kassen waren leer, das Land ausgesogen, 

60000 Mann sollten ausgerüstet werden. Oppel leistete, was in der verzweilelten 

Lage móglich war. Eine von ihm entworfene Neueinrichtung der Kreis- und Unter- 

behórden ist zwar nicht damals, wohl aber von der neuen sächsischen Regierung 

1816 durchgeführt worden. Daneben ließ er noch den Großen Garten wieder her- 

stellen, sorgte für Kunst und Wissenschaft und plante die Abschaffung der italieni- 

schen Oper zugunsten der deutschen; aber auch hierin eilte er seiner Zeit voraus. 

Unterdessen hätte der Streit um die sächsische Frage auf dem Wiener Kongreß 

beinahe zum Kriege geführt. Oppel reiste selbst mit seinem Freunde Miltitz nach 

Wien. Aber die gefürchtete Teilung Sachsens wurde zur Tatsache. Für Oppel war 

der sächsische Staatsdienst nunmehr verschlossen. Nachdem er mehrere Jahre als 


Nachrichten und Notizen 655 


Privatmann gelebt hatte, erhielt er 1828 eine ehrenvolle Berufung als Kammerpräsi- 
dent nach Gotha, wo er 1832 gestorben ist. Oppels Bedeutung beruht auf seiner 
schöpferischen Tüchtigkeit als Finanz- und Verwaltungsmann. Viele seiner Maß- 
nahmen sind erst später gewürdigt worden. Dem französischen Einfluß stand er 
stets ablehnend gegenüber. Er liebte sein sáchsisches Vaterland. „Die Sachsen haben 
nie aufgehört, Deutsche zu sein und deutschen Ruhm zu erhöhen“, schrieb er an 
Stein. Der Gedanke der ZerreiBung Sachsens war ihm ein Greuel; lieber sollte Sach- 
sen ungeteilt an Preußen kommen. Er ersehnte ein geeintes deutsches Reich unter 
norddeutscher protestantischer Führung. — Im Anhang des Buches wird ein Teil 
von Oppels Briefwechsel mit den hervorragendsten Zeitgenossen veröffentlicht. 
Die Briefe Oppels zeichnen sich durch ihre klare offenherzige und gewandte Sprache 
aus. Oppel, der unverheiratet geblieben war, besaß eine Bücherei von über 30000 Bán- 
den und eine wertvolle Mineraliensammlung; einen Teil seines Vermögens verwendete 
er für die Gründung der Sophienstiftung mit Schule in Krebs bei Pirna. 
Dresden-Zschieren. Richard Kótzschke. 


Heinz Lehmann, Zur Geschichte des Deutschtums in Kanada. Bd. 1. Das Deutsch- 
tum in Ostkanada. (Schriften des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart. 
A. Kulturhistorische Reihe. Bd. 31.) Stuttgart 1931. 125 S. 

Der Verf. unternimmt es in dem vorliegenden Bande seiner zweibündig an- 
gelegten Studie, das heute bereits fast ganz der Geschichte angehórende Deutsch- 
tum in Ostkanada zu bearbeiten. Im wesentlichen handelt es sich um eine Besied- 
lungs- und Siedlungsgeschichte, kulturgeschichtliche Bemerkungen über Kirche, 
Schule, Presse sind hier und dort eingefügt, gelegentlich hóren wir auch von der 
Betätigung der Deutschen als Bauern, Kleinbauern oder Handwerkern, nur einmal 
aber (in einer Anmerkung S.92, Anm. 192) von ihrer Stellung im óffentlichen 
Leben. Damit ist schon gesagt, daB es dem Verf. nicht darauf ankam, die Rolle 
der Deutschen im Rahmen des geschichtlichen Lebens von Ostkanada zu schil- 
dern, sondern, daB er sie isoliert, gesondert, als Ganzes für sich, beobachtet. 

Hier bietet er wertvolles. Die Gebiete deutscher Siedlungen in den kanadischen 
Seeprovinzen, in den Provinzen Quebec und Ontario werden in ihrer Entstehung 
und Entwicklung eingehend untersucht. Die ersten deutschen Ansiedlungen gróDeren 
Umfangs erfolgen im Anschlusse an die amerikanische Revolution. Flüchtige deutsche 
Loyalisten! aus den Vereinigten Staaten und hessische Kriegsteilnehmer aus der 
englischen Armee siedeln sich in groBer Zahl im englischen Kanada an. Eine un- 
mittelbare Einwanderung aus Deutschland („reichsdeutsch“, wie der Verf. sagt), 
erfolgt, von Ausnahmen abgesehen, erst seit etwa 1830. 

Mit Recht und aufschlußreich beobachtet der Verf. im einzelnen das Schicksal 
der deutschen Sprache im óffentlichen Leben, in Kirche, Schule und Familie. Ebenso 
auch den Willen und die Gesinnung zu deutscher Abkunft. Englische Vorstöße 
zunáchst kirchlicher, dann seit Ende des 19. Jahrhunderts nationalistischer Art 

1 Die Ausführungen des Verf. bezüglich der zahlreichen Einwanderung von deutschen 
Loyalisten aus U. S. A. (vgl. auch besonders S. 5) zeigen die Haltlosigkeit der Behauptung 
von H. Kloß, daß die Deutschen (als solche, in ihrer Gesamtheit) „F besonders entschiedene 
Vertreter des Unabhángigkeltsgedankens' waren. (Vgl. Der Auslandsdeutsche XX/1931 
8. 655.) Ihre geringe Anteilnahme am politischen Leben während der amerikanischen Kolo- 


nialzeit läßt sich ebensowenig aus einer Antipathie gegen das englische Regime erklären! 
(Vgl. ebenda). 


656 Nachrichten und Notizen 


und die Neigung der kanadischen Deutschen selbst, das Englische aus wirtschaft- 
lichen und sonstigen Gründen zu pflegen, wirken zusammen, daB das deutsche Sprach- 
gut und der bewuBte Zusammenhang mit der deutschen Kultur verschwand, be- 
ziehungsweise verschwindet. Der Ausblick auf den zweiten Band, der sich mit dem 
erst etwa 50 Jahre alten Deutschtum auf der westkanadischen Prärie befassen wird, 
zeigt, daß wir es dann mit noch lebendigem Deutschtum zu tun haben werden. 

Die Arbeit ist statistisch gewissenhaft unterbaut und schlieBt mit einem reich- 
haltigen Literaturverzeichnis. 

Prag. Käthe Spiegel. 


Freiherr vom Stein, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen. Bearbeitet 
von Erich Botzenhart. Bd. III, Berlin, Carl Heymanns Verlag, o. J. 
(1932), XX, 717 S. gr. 89. 

Um in dem Fortschreiten der groBen Stein-Ausgabe durch die für die Herausgabe 
des die Materialien der Reformzeit enthaltenden II. Bandes aus den sachlichen 
Schwierigkeiten der publikationsmäßigen Bearbeitung wie aus Rücksicht auf die 
Spezialpublikation des Staatsarchivs erwachsenden Hindernisse keine zu weit- 
gehende Verzögerung eintreten zu lassen, wird der III. Band zuerst vorgelegt. 
Auch er enthált nach sorgsamster Heranziehung aller in Frage kommenden Archive 
eine Fülle bisher unbekannten Materials. Am wertvollsten ist wieder der Zuwach: 
aus dem im Staatsarchiv Breslau verwahrten Briefwechsel mit Reden. Aber auch 
was aus dem Steinarchiv in Kappenberg und hauptsächlich aus dem Geh. Staats- 
archiv in Berlin an Denkschriften und Briefen jetzt in aktenmäßig getreuer Wieder- 
gabe publiziert wird, was aus Pertz und Lehmann nur andeutungsweise, in unzu- 
länglichem Abdruck oder auch entstellt bekannt war, bringt eine beträchtliche Er- 
weiterung der Quellengrundlage für das Lebenswerk Steins. Auch hier zeigt sich 
wieder, daß nicht mehr alles vorhanden ist, was Pertz vorgelegen hatte. Für diese 
Stücke ist sein Abdruck zugrunde gelegt worden. In weitaus größerem Maße als 
in Bd. I sind Briefe von Zeitgenossen an Stein aufgenommen, wodurch sich die 
Ausgabe auf weite Partien hin zu einer Quellensammlung für die Geschichte der 
Zeit rundet, auch gewinnt dadurch die Persönlichkeit Steins eine reichere Beleuch- 
tung durch fremdes Urteil und dadurch mehr an Plastik, beides nur zum Vorteil 
der Ausgabe. Es ist nicht leicht festzustellen, wie groß der Zuwachs an neu erschlosse- 
nem Material ist, weil bei den einzelnen Stücken nicht angegeben ist, ob und wo sie 
bereits anderweit abgedruckt worden sind. Derjenige, der sich schon näher mit 
Stein befaßt hat, wird das bedauern, denn ihm wird dadurch die Orientierung 
sehr erschwert. Wer aber neu an ihn herantritt, und das wird in zunehmendem Maße 
die Situation der jungen Generation sein, der wird es begrüßen, die ganze Fülle der 
quellenmäßigen Überlieferung über diesen großen Staatsmann an einer Stelle ver- 
einigt zu finden. Der Band umfaßt die Zeit des Exils in Österreich, setzt mit dem Äch- 
tungsdekret Napoleons ein und reicht bis zu dem Schreiben Gneisenaus vom 2. April 
1812, führt also unmittelbar bis zu dem Einladungsschreiben des Zaren Alexander, 
das Steins Rückkehr in den Brennpunkt des politischen Geschehens einleitete. Auf- 
genommen sind auch die in die Zeitspanne fallenden Niederschriften Steins, so die 
von Pertz bereits unter der Bezeichnung „staatswissenschaftliche Betrachtungen" 
publizierten aphoristischen „Aufsätze und Bemerkungen über mancherlei Gegen- 
stände“ unter móglichster Herstellung der von Stein hinterlassenen Reihenfolge, 


Nachrichten und Notizen 657 


sowie Auszüge aus seiner „Französischen Geschichte“ und der „Geschichte des Zeit- 
raumes von 1789—1799“, ausgewählt unter dem Gesichtspunkt, alles zu geben, was 
zur Kenntnis der Ideen und Auffassungen Steins über Staatsphilosophie, Verfassungs- 
wesen und Stellung zur französischen Revolution dienlich ist. Das Fortschreiten der 
Ausgabe zeigt, was schon Bd. I versprach (vgl. diese Zeitschr. Bd. 27, S. 654f.), daB 
hier in editionstechnisch einwandfreier Wiedergabe eine ausgezeichnete Zusammen- 
fassung des Lebenswerkes des Freiherrn vom Stein zu erwarten ist. Wendorf. 


Bakuninstudien. Von Dr. Josef Pfitzner, Professor an der Deutschen Universität 
in Prag. Prag 1932. Verlag der deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und 
Künste für die Tschechoslowakische Republik. (Quellen und Forschungen 
aus dem Gebiete der Geschichte. Herausgegeben von der Historischen Kom- 
mission der deutschen Gesellschaft der Wissenschaft und der Künste für die 
Tschechoslowakische Republik. 10. Heft.) 

Die Studien berichten von der ersten westeuropäischen Zeit Bakunins. Sie be- 
gleiten das Leben des groBen Antipoden des 19. Jahrhunderts von seiner Ankunft 
in Westeuropa bis zu der Stunde, da er es als Gefangener des Zaren verläßt. Mit- 
teilungen von seinen persónlichen Beziehungen zu Varnhagen von Ense, George 
Sand, Proudhon und von seinem Leben in sáchsischen und ósterreichischen Gefüng- 
nissen verhelfen zu einer vertieften Kenntnis seiner menschlichen Haltung und wer- 
fen zugleich manches Streiflicht auf das Werden seiner politischen Überzeugungen. 
Wie die Welt beschaffen war, in der diese sich auswirkten und welcher Mittel er 
sich dazu bediente, lassen die Skizzen von seinem Wirken in der Pariser Februar- 
revolution, im Deutschland des Vormürz und der Revolution von 1848 erkennen. 
Von besonderer Bedeutung ist aber, was von seinen Beziehungen zu Polen, Tsche- 
chen und Sudetendeutschen erzählt wird. Dazu gehört der Bericht über die Ent- 
stehungsgeschichte des „Aufrufs an die Slaven“ und die Mitteilung einer ersten 
Fassung und bedeutsamer Varianten dieses Aufrufs. Die Beziehung dieser und der 
sonstigen in den „Studien“ erstmalig veröffentlichten und erschlossenen Materialien 
zu den bereits vorhandenen wird in der Einleitung festgestellt. Dort wird auch will- 
kommene Auskunft über den Forschungsstand, vor allem auch über die Arbeiten 
russischer Historiker gegeben. 

Welche bedeutsamen Beiträge zur politischen und sozialen Geschichte des 
19. Jahrhunderts somit in den „Studien“ enthalten sind, ließ das vorstehende Re- 
ferat wohl erkennen. Für den Verfasser ist ihre Veröffentlichung aber noch mit einem 
bestimmten Zweck verbunden. Sie sollen seine im Vorwort angekündigte Bakunin- 
biographie entlasten. In dieser sei für eine ausführliche Behandlung der „vielfach 
die Auseinandersetzung von West- und Ostkultur berührender Sonderfragen“ nicht 
der rechte Ort. Wenn das heißen soll, daB die genannten Themen und vor allem 
das eben nochmals betonte in dem späteren Werke gewissermaßen ausgegliedert wür- 
den, so wäre ein kritischer Einwand gegen die „Studien“ unvermeidlich. Diese lassen 
immer erneut die erstaunliche Beherrschung der umfangreichen und verstreuten 
Quellen erkennen. Die Hingabe an die Quellen, an ihre Erschließung und Erläuterung 
ist aber so vollständig, daß die plastische Vergegenständlichung der Situationen 
und die Erhellung des prinzipiellen Gehaltes gerade der Auseinandersetzung von 
West und Ost und der von nationaler und sozialer Frage zurücktritt. 

Leipzig. E. Thier. 


Histor.Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 3. 42 


658 Nachrichten und Notizen 


Heinrich Schaudinn, Das Baltische Deutschtum und Bismarcks Reichsgrün- 
dung. Kónigsberger Historische Forschungen, Band I. Leipzig, J. C. Hin- 
richs'sche Buchhandlung, 1932. 

Die Schriftenreihe der Kónigsberger Historischen Forschungen eróffnet diese 
gehaltvolle und anregende Untersuchung über die tragische Situation des Deutsch- 
tums der russischen Ostseeprovinzen im Kampfe gegen den erwachenden russischen 
Nationalismus, der auch die nationalen Minderheiten des Zarenreiches ihrer ver- 
brieften Autonomie berauben und sie einem allgemeinen Zentralisationsprinzip 
einordnen will. Die Politik Bismarcks steht in einem ebenso tragischen Gegensati 
zu diesem Ringen der baltischen Deutschen um die Aufrechterhaltung ihrer politischen 
und kulturellen Sonderart. Ihr nach Osten gewandtes Gesicht trug die Züge eines 
eisernen Konservativismus und verlangte die Bändigung des nationalen Lebens- 
dranges der Völkersplitter zu beiden Seiten der östlichen Grenzen; nationalstaat- 
liches Denken und liberale Idee waren aus ihm verbannt und auf den Westen be- 
schränkt. Strategische Forderungen der Reichsgründungspolitik mischten sich 
darin mit Bismarcks Überzeugung, daß die Realisierung des Nationalstaatsgedankens 
im Osten den preußischen Staat selbst zerstöre, daß ein selbständiges Polen Preu- 
Bens Existenz grundsätzlich gefährde, daß er den Rhein nicht halten könne, wenn 
er Polen im Rücken habe. Diese Anschauung mußte in der Entwicklung und dem Un- 
sichgreifen der westeuropäischen Ideen des Liberalismus und Föderalismus im rus- 
sischen Reiche für den preußischen Staat im Osten und das Werk der Reichs- 
gründung im Westen die größte Gefahr erblicken. Das konservative Regime der 
Dynastie mußte daher unterstützt, der historisch gewordene Staat gegen die an- 
drängenden jungen Nationalismen verteidigt werden. Die Politik des Jahres 1862 
hatte in der Alvenslebenschen Konvention jene gefahrvolle Entwicklung zu rechter 
Zeit auf lange Jahre gehemmt und das Zarenreich von der Schwenkung auf die 
französische Seite abgehalten, sie verhalf aber damit zugleich der radikal nationalen 
Moskauer Partei zu einem überragenden Einfluß auf das schwache russische Kaiser- 
tum. Das Schicksal der Sonderstellung der baltischen Provinzen war damit be- 
siegelt. Bismarck aber fehlte mit zwingender Logik jede Möglichkeit, sich für den 
Kampf der Ostseeprovinzen zu verwenden, wenn er deren Lage nicht noch hoffnungs- 
loser gestalten und ihren Untergang beschleunigen und das ungemein zarte politische 
Verhältnis zu Rußland nicht gefährden wollte. Blieb die polnische Frage geschlossen, 
so konnte die baltische nicht eröffnet werden. Der Familienbund der Dynastien fing 
an, mit dem Nationalismus der Völker immer stärker in Widerspruch zu geraten. 

An dieser Lagerung des Problems und der fortschreitenden Nivellierung und Rus- 
sifizierung der baltischen Provinzen haben die Reichsgründung selber und das 
preußisch-russische Bündnis bis zum Rückversicherungsvertrag keine Änderung be- 
wirken können; im Gegenteil ist die staatliche und nationale Konsolidierung Deutsch- 
lands erst der starke Förderer jener nationalen Umbildung Rußlands gewesen. 

Berlin. Herbert Michaelis. 


Paul Kluke, Heeresaufbau und Heerespolitik Englands vom Burenkrieg bis 
zum Weltkrieg. (Beiheft 27 der Historischen Zeitschrift.) München-Berlin, 

R. Oldenbourg, 1932. 208 S. 89. Preis geh. 8,50 Z<. 
Es ist sehr erfreulich, daB nach F. Upleggers Buch über die englische Flotten- 
politik vor dem Weltkrieg (Stuttgart 1930) jetzt auch die Vorkriegspolitik der eng- 


Nachrichten und Notizen 659 


lischen Armee in einer reichhaltigen und feinen Arbeit deutsch geschildert wird. 
Der Verf. behandelt in drei Kapiteln die Aufrüttelung der englischen Heeresauf- 
fassungen durch den Burenkrieg, die Reorganisation Haldanes (der so etwas wie 
der Held des Buches genannt werden kann) und mit besonders neuartigen Ergeb- 
nissen schließlich die äußere und innere Vorbereitung Englands auf den Kontinental- 
krieg mit Deutschland. 

Das erste Kapitel untersucht an Hand der Parlamentsberichte, der Blaubücher 
und der Fachpresse die Reformversuche von Haldanes Vorgängern Brodrick und 
Arnold-Forster. Mit klarem Sachverständnis werden dabei die Hauptprobleme 
herausgearbeitet: Aufgabenverteilung zwischen dem (mehr und mehr von der 
Flotte übernommenen) Heimatschutz und dem Schutz der Kolonien u. a. Außen- 
stellungen einerseits, zwischen dem (gleichzeitig der Rekrutierung für Indien dienen- 
den) regulären Soldheer und den Resten ehemaliger Wehrpflicht Militia, Yeomanzy 
und Volunteers. Wieweit die Versuche der Vorgänger Haldanes innere Verbindung 
von Expeditionary Force und Territorials bereits vorgebildet hatten, dafür muß 
sich der Rez. als Laie auf das Urteil des fachmännischen Verf. verlassen. Aber aus 
der Behandlung der politischen Dinge scheint doch hervorzugehen, daß manchmal 
von Haldanes Glanz ein zu scharfer Schatten rückwärts fällt. Z. B. stimmt für die 
Angabe, daß Arnold-Forster „durch grobe Taktlosigkeit und unnötige Schroffheit 
in Fragen nebensächlicher Art ... Eduard VII. empfindlich verletzt und sich selbst 
eines wertvollen Rückhalts beraubt“ habe (S. 47 Anm. 6), das Zitat aus Lees Bio- 
graphie des Königs weder äußerlich (2, 208—210 statt 210ff.) noch innerlich; Lee 
sagt geradezu: „The King was in cordial social relations with Mr. Arnold-Forster.“ 

Umgekehrt wäre vielleicht der Glanz des zweiten Kapitels stellenweise abzu- 
dämpfen. Wenn auch natürlich die Erfolge des englischen Eingreifens in den Welt- 
krieg Haldanes und seiner Vertrauten Haig und Robertson Hoffnungen weitgehend 
gerechtfertigt und die Zweifel der Wehrpflichtvertreter Roberts und Sir Henry 
Wilson (dessen Biographie von Callwell Kluke, wie er im Vorwort bekennt, zuerst 
angeregt hat), beschämt haben, so sollte doch nicht vergessen werden, daB gerade 
das im dritten Kapitel betonte Wagnis, sich mit dem kleinen Expeditions- und dem 
unfertigen Territorialheer zunächst ganz in die Hand Frankreichs zu geben, 
großenteils die notwendige politische Folge von Haldanes Militärsystem war. Ohne 
die Marne (vielleicht sogar ohne Amerika) hätte England da doch in eine böse Falle 
hineingeraten können. 

Das dritte Kapitel setzt zunächst sozusagen den Punkt auf die in Carl Horses 
schönem Buch über die englisch-belgischen Aufmarschpläne (Leipzig— Wien 1930) 
bereits so gut wie erreichte Gewißheit, daB seit Griersons Verhandlung im 
Frühjahr 1906 das englisch-französisch-belgische Zusammenwirken selbst für den 
Fall der Nichtverletzung Belgiens durch uns festgestanden hat. Das Wichtigste 
aber scheint mir der vom Verf. mit Recht stark betonte Nachweis, daß die noch in 
J. E. Edwards’ Official History of the Great War (1922) vorgetragene Legende 
von der völligen Unbestimmtheit der englischen Kriegsvorbereitungen der Wahr- 
heit geradezu ins Gesicht schlägt. Die seitdem reichlich veröffentlichten persön- 
lichen Erinnerungen und Nachlässe englischer Heerführer lassen nicht den geringsten 
Zweifel, daß die ganze Armee Jahre hindurch auf den deutschen Gegner systematisch 
geschult und geistig vorbereitet war. Sollte nicht sogar der ganz frühe Hinweis (in 
den Verhandlungen mit den Kolonien 1902, S. 127) auf die „notwendige“ Richtung 

42* 


660 Nachrichten und Notizen 


der gemeinsamen Schlagkraft gegen „einige Schutzgebiete“ europäischer Mächte 
eine erste Andeutung der späteren Mandatspolitik sein? 
Heidelberg. Car] Brinkmann. 


N. Mexmontan, Ur frihetskrigets förhistoria. Helsingfors, Holger Schild ts förlag. 
1929. 75.— FA. 207 8. 

Wer Gelegenheit gehabt hat, während des Krieges einmal hinter die Kulissen 
unserer Diplomatie zu schauen, weiß, daß sich der verhängnisvolle Gegensatz 
zwischen Oberster Heeresleitung und Auswärtigem Amte bei den einzelnen Aus- 
landsmissionen in dem Neben- und bisweilen auch Gegeneinanderarbeiten von 
Militär-Attaché und politischer Vertretung in oft wenig erfreulicher Weise wider- 
spiegelte. Ein schwacher Trost ist es, daB es in den finnischen Vertretungen, die in Ber- 
lin und Stockholm die Schilderhebung Finnlands vorbereiteten, ähnlich war. In 
den bisherigen Veröffentlichungen, wie dem „offiziellen“ Werke über den Freiheits- 
krieg oder dem sog. „Teilnehmerwerke“, aber auch bei Gummerus „Jägare och 
Aktivister" hat man diese minder erfreulichen persönlichen und sachlichen Difie- 
renzen zurücktreten lassen. Mexmontan dagegen, der als einstmaliger Kommandeur 
der Finnischen Garde eine Zeitlang gehofft hatte, finnischer Oberbefehlshaber zu 
werden, und der seine zweifellos wichtige Stockholmer Arbeit bisher nicht genügend 
gewürdigt glaubt, gibt seinem Buche von vornherein eine ziemlich scharfe po- 
lemische Note. Besonders greift er das Militärkommitté in der Heimat und dessen 
Mitglied Ignatius an, weil sie seine Organisationsvorschläge nicht in der erwarteten 
Weise durchführten, aber auch die Sektion Politik in Berlin und ihren Agenten 
werden Vorwürfe nicht erspart, weil sie über die militärischen Dinge gelegentlich 
auch mit anderen als nur mit ihm verhandelten. Obwohl M. nur einen kleinen Aus- 
schnitt aus der Tátigkeit der finnischen Aktivisten gibt, und sein Buch auch sonst 
nicht auf der Hóhe etwa von Gummerus steht, bringt er doch mancherlei Neues. 
Vielfach freilich steht nunmehr Behauptung gegen Behauptung und man wird 
erst nach Kenntnis aller Akten ein abschlieBendes Urteil fällen können, 

Greifswald. Johannes Paul. 


Aus genealogischen Zeitschriften. 


Im verflossenen Berichtsabschnitt bringen die Familiengeschichilichen Blätter 
eine Arbeit von W. Kilian? über die Notwendigkeit genealogischer Begriffsentwick- 
lungen. — Wilhelm Karl Prinz v. Isenburg? tritt wie schon viele vor ihm für die 
Einführung der Genealogie als Lehrfach ein. — Lehrreich ist der Aufsatz von F. 
Hugenschmidt* über die graphische Darstellung von Ergebnissen der Familien- 
forschung. Drei graphische Darstellungen erláutern treffend seine Ausführungen. — 
Walter Transfeldt5 berichtet über die familienkundlichen Quellen der preußischen 
Staatsbibliothek. — Am wichtigsten sind selbstverständlich für den Familienforscher 


! Monatsschrift für wissenschaftliche Genealogie. Hsg. v. d. Zentralstelle für deutsche 
Personen- und Familiengeschichte in Leipzig. Schriftieitung Johannes Hohlfeld. 29. Jg. (1931) 
u. 30. Jg. (1932). 

* Ebenda 29, 111—115. 

* Ebenda 29, 211—214; vgl. auch Eberhard Zwirner, Genealogie als Lehrfach. Ebenda 
30, 305—308. 

* Ebenda 29, 213—220. Ebenda 29, 1—10. 


Nachrichten und Notizen 661 


zuerst die Kirchenbücher, deren Aufbewahrung und Erhaltung doch immer noch 
zu wünschen übrig läßt. Es wäre doch wohl am richtigsten, wenn wenigstens die 
wertvollen unersetzlichen alten Kirchenbücher, die auch für die Orts- und Landes- 
geschichte Material liefern, in den zuständigen Archiven aufbewahrt würden“. — 
SchlieBlich sei noch die umfangreiche Arbeit von Herbert Koch, Zur Familien- 
geschichte der Jenaer Professoren des 16. Jahrhunderts erwähnt?. — Eine sehr wert- 
volle Besprechung und Auswertung der von der Zentralstelle herausgegebenen 
Ahnentafeln berühmter Deutscher gibt Gerhard KeBler*. — Gottfried Roeseler 
tritt für die Genealogie als Wissenschaft ein, sucht neue Bestimmungen für die 
Grundbegriffe der allgemeinen Genealogie? und beschäftigt sich in zwei Arbeiten 
mit der sogenannten genealogischen Gruppe!®. — Josef Kallbrunner weist nach- 
drücklich auf die Bedeutung der Familienforschung für das Auslandsdeutschtum 
hinH, — Wertvoll ist die Veróffentlichung der Leichenpredigten und Gelegenheits- 
schriften, die sich in der thüringischen Landesbibliothek zu Weimar befinden!?, — 
Die Neubürger der Stadt Havelberg von 1628—1800 werden von K. H. Lampe 
nach den beiden ältesten Bürgerbüchern, die sich jetzt im Geheimen Staatsarchiv 
in Berlin befinden, veröffentlicht!“. 

Die für das niedersächsische Gebiet führende Zeitschrift der Zentralstelle für 
niedersächsische Familienforschung in Hamburg heißt vom 14. Jahrgang (1932) ab 
Zeitschrift für niedersächsische Familienkunde!*, Wie bisher veröffentlicht sie viel 
Quellenmaterial. — Die Arbeit von Hans Meyer!5 ergänzt und berichtigt die Vor- 
fahren des Malers Asmus Jacob Carstens auf Grund seiner Forschungen im Schwab- 
stedter Kirchenarchiv und im Staatsarchiv in Kiel, ohne allerdings Schlüsse auf die 
Erbmasse zu ziehen. — Otto Goebel gibt Beiträge zur Geschichte der Vornamen. 
— Peter Hanssen” stellt die Hundertjährigen von Schleswig-Holstein zusammen 
und knüpft daran Betrachtungen über die Gesundheitsverhältnisse in Schleswig- 
Holstein. Er kommt zu dem Ergebnis, daß bis zum 15. Lebensjahre die Sterblichkeit 
in dieser Provinz größer ist als im übrigen Preußen, dann aber sich ständig im Ver- 
hältnis verringert. — Werner Konstantin von Arnswaldt!® erläutert Beispiele 
methodischer Forschung mit Hilfe von Kombination und Zufall. — Über den Ur- 
adel in Dithmarschen handelt Erwin Freitag!?. Er stellt eine Verbindung mit Hol- 
stein und Bremen durch Einwanderungen fest. — Hans Arnold Plöhn?® spricht über 
den Aukrug vor Rensburg, der 1588 zum erstenmal erwähnt wird, und seine Be- 
sitzer. — Im letzten Hefte veröffentlichte Ernst Reinstorf®! Beiträge zur Geschichte 
der Kirchenbücher im Hannoverschen und stellt auf einer Tabelle die noch erhal- 
tenen Kirchenbücher der einzelnen Landschaften zusammen. 


* Georg Kietz, Zur Aufbewahrung und Erhaltung der Kirchenbücher. Ebenda 29, 1151. 

? Ebenda 29, 41—48, 99f., 121f., 147—150, 197—200, 269—270; 30, 272ff. 

* Ebenda 80, 89—96. * Ebenda 30, 145—150, 177—190. 

1° Der Einzelne und die genealogische Gruppe. Ebenda 30, 251—254. — Die Mischung 
genealogischer Gruppen. Ebenda 30, 249—252. 

n Ebenda 30, 105—108. 18 Ebenda 30, 361—370. 

13 Ebenda 30, 61—68, 125—128, 149—154, 181—180, 255—258, 309—310, 329—340. 

14 Herausgeber Wilhelm Weidler in Altona. Jg. XIII (1931) u. Jg. XIV. (1932). 

1 Ebenda XIII, 69—71. 1% Ebenda XIII, 176—180. 

17 Ebenda XIII, 189—191. Vgl. Hugo Scharffenberg, Einiges über Hundertjährige. Ebenda 
XIII, 173—176. 

" Ebenda XIV, 45—54, 69—72. 1 Ebenda XIV, 11—18, 33—38. 

Ebenda XIV, 89—91. sı Ebenda XIV, 125—135. 


662 Nachrichten und Notizen 


Aus dem Deutschen Herold’? ist vor allem die Arbeit von F. Haupt mann“, 
Das angeblich älteste Wappensiegel von 1131 zu erwähnen. Es soll sich da um ein 
Siegel des Grafen Poppo v. Henneberg handeln. In Wirklichkeit ist es nicht das 
Siegel Poppos V. (XI.), sondern Poppos VI. (XII.) vom Jahre 1185. Nach den Mit- 
teilungen von W. Möllenberg ist die Urkunde, an der das Siegel hängt, erst im 
Jahre 1187 ausgestellt. — Mit der Arbeit von Hermann Stöbe über General Steubens 
Herkunft (erschienen in „Sachsen und Anhalt" Bd. 7 (1931)) beschäftigen sich 
K. H. Schäfer“ und Stephan Kekule von Stradonitz**. Durch diese Arbeit ist end- 
gültig festgelegt, daB der General aus hessischem Müllergeschlecht zu Heldra her- 
vorgegangen ist und daß sich sein Großvater den Adel angemaßt hat. Mit dem 
mansfeldischen adeligen Geschlecht hat die Familie nichts zu tun. — Als dritte 
Folge seiner Wappen- und Siegelveróffentlichungen bringt der nun verstorbene 
A. K. Hoppe“ Wappen und Siegel von großbritannischen und nordamerikanischen 
Universitäten und Wappen und Siegel deutscher Prälaten als Ergänzung der Ab- 
teilung „Bistümer und Klöster“ des Neuen Siebmacher. — Arnold Berg“ will die 
Arbeit von Hans Großkopf, Die Herren von Lobdeburg bei Jena, berichtigen. Doch 
scheinen mir die Ausführungen von Großkopf meist richtiger zu sein. — Über den 
Bischof Moritz Wrangel von Reval (1558—1560) spricht Georges Baron Wrangell”. 
— Erich Winguth?® untersucht die Herkunft des Generalfeldmarschalls Grafen 
Yorck von Wartenburg. Obwohl er neues Quellenmaterial über den Großvater 
beibringt, kann er auch nur feststellen, daß die Ahnen aus Ostpommern stammen. 

In den Mitteilungen des Roland® in Dresden veröffentlicht O. Freiherr von 
Schaumberg“ eine Zusammenfassung der Forschung über Wesen und Entstehung 
der Ministerialität und nähert sich mit seiner Ansicht der Auffassung von O. von 
Dungern. — Plenske v. Plontzike®! bespricht die pommerschen Afterlehne in 
ihren Beziehungen zu den Lehnsherren. — Elisabeth Boer“ druckt eine Studie 
über den Dresdner Baumeister Matthes Daniel Pöppelmann (1662—1736) und seine 
männlichen Nachkommen in Dresden ab. Über die Vorfahren Póppelmanns ist kaum 
etwas bekannt. Der letzte Nachfahre in Deutschland starb Ende des vorigen Jahr- 
hunderts in Dresden. Vielleicht gibt es noch geadelte Nachkommen in Polen, die 
von einem Sohne des Baumeisters abstammen. — Der 17. Jahrgang bringt eine kurze 
Geschichte des Vereins von Selle? während der 30 Jahre seines Bestehens. — 
Auf die Bedeutung eines deutschen Bildnisarchivs für Familienforscher weist Ludwig 
Munzinger“ hin. — Heinrich Butte“ unterrichtet den Familienforscher über die 
Benutzung der Archive. — E. Dobers** handelt über die Bedeutung der Kirchen- 
bücher als Grundlage bevölkerungsbiologischer Arbeiten. — Carl Hollstein“ gibt 
Nachrichten über die Kirchenbücher im Freistaat und in der Provinz Sachsen. — 
Interessant ist der kurze Aufsatz von Alfred Meiche?®, Überraschende Beziehungen 
zwischen Örtlichkeiten und Personen. 


** Schriftleiter: G. Adolf Clos. 62. Jg. (1931) u. 63. Jg. (1932). 

* Ebenda 02, 12f., 61. ** Ebenda 62, 751., 94f. 

* Ebenda 62, 77f. u. 63, 35f. ** Ebenda 03, 23f., 33ff., 43ff., 56f. 

7 Ebenda 63, 55f., 69. 1 Ebenda 03, 62—66. 

Schriftleiter H. Butte, W. Reichelt und F. Gritzner. 16. Jg. (1931) u. 17. Jg. (1932). 
Ebenda 16, 1—7. *! Ebenda 16, 15—18. 

** Ebenda 10, 29—31. Ebenda 17, 1f. 

** Ebenda 17, 2f. Vgl. F. Schulz, ebenda 17, 31. s Ebenda 17, 11—14. 

** Ebenda 17, 24. * Ebenda 17, 35. 3 Ebenda 17, 36. 


Nachrichten und Notizen 663 


Im Ekkehard® führt Hanns Frey dank*9 seine Veröffentlichung: Jugenderinne- 
rungen eines pommerschen Juristen zu Ende. — Martin Boehr*! entwirft in seiner 
Biographie von Karl Eduard Boehr (1793—1847) ein ausgezeichnetes Bild aus dem 
Berlin der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. — Günther Schmid“ untersucht 
das Verhältnis Goethes zu von Seelus. — Aus dem Nachlaß von Emil Bahrfeldt 
veröffentlicht Hanns Freydank“ Münzbeamte und Münzstätten in der Grafschaft 
Mansfeld. — Louis R. Grot e“ gibt in seinem Aufsatz: Die Genealogie in der heutigen 
Zeit einen guten Überblick. — Unter dem Titel: Mitteldeutsche Menschen im mittel- 
deutschen Raum“ spricht Hermann Kuhn über das Gesicht des mittelalterlichen 
Deutschen nach Kópfen aus dem Naumburger Dom und Hans Hahne über die 
rassische und persönliche Artung Martin Luthers und der Seinen. — Gustav Aubin“ 
behandelt die Stammeswanderung auf deutschem Ahnenboden. — Friederich 
Rieh m*' veröffentlicht in Regestenform die für den Genealogen wichtigen Stücke 
aus den Decisiones Electorales Palatinae des Johann Wolfgang Textor, des UrgroB- 
vaters der Frau Rat. — Hanns Freydank“® beginnt in der gleichen Nummer, die 
Goethe gewidmet ist, die Besprechung der Bildnisse des Kaiserlichen Rats Dr. Jo- 
hann Caspar Goethe. 

In der Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde*? werden die 
Arbeiten von Karl von Bott mer“ und Georges Baron von Wrangell®! beendet. 
— Robert Freiherr von Zedlitz veröffentlicht „Beiträge zum Schlesischen Per- 
sonal- und Besitzstand im 17. Jahrhundert" aus dem umfangreichen Briefwechsel 
des kaiserlichen Rats und Landeskanzlers Melchior v. Lest auf Polkau ( 1659). 
Zahlreiche schlesische Familien werden in alphabetischer Folge mehr oder minder 
ausführlich erwähnt. — Adolf von Einem“ bringt Lehnsträger der Herrschaft 
Oxenstein aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Leider ist die Arbeit nicht abgeschlossen, 
da die Zeitschrift ihr Erscheinen eingestellt hat. 

Die „Familiengeschichtlichen Quellen‘ haben es sich zur Aufgabe gestellt, dem 
Familienforscher die Durchsicht des genealogischen Schrifttums zu erleichtern. 
100 Bücher sind für einen Band verzettelt. In alphabetischer Folge werden die in 
diesen Werken vorkommenden Namen aufgeführt. Soweit ich feststellen konnte, 
ist die Arbeit sehr zuverlässig. Es ist also gleichsam eine gedruckte Namenskartei, 
von der wóchentlich 4 Seiten erscheinen. Keiner, der genealogisch arbeitet, kann an 
dieser fleiBigen Sammlung vorbeigehen. Leider ist man aber immer noch gezwungen, 
das betreffende Werk ganz durchzusehen, da in den ‚Quellen‘ bei den einzelnen 
Namen die Seitenangabe in den angeführten Werken fehlt. 


5 Schreiftleiter: Hanns Freydank. 6. Jg. (1930) u. 7. Jg. (1931). 

** Ebenda 6, 5f., 25f., 421., 61f., 75ff., 95ff.,; 7, 117f., 1331. 

*! Ebenda 6, 38ff., 60f. ** Ebenda 6, 58fl. 

Ebenda 7, 158—161, 181, 2011. ** Ebenda 7, 216fl. 

„Ebenda 7, 2181. % Ebenda 7, 219f. 

*! Ebenda 7, 223f. ** Ebenda 7, 226ff. 

** Hrg. vom Verein „Herold“ in Berlin unter Leitung von G. Adolf Cloß. Jg. LVI (1930) 
u. Jg. LVII (1931). 

Die niedersächsische Familie von Schilden. Ebenda LVI, 33—55. 

*! Geschichte der Wrangel zur Dünischen und Ordenszeit. Ebenda LVI, 56—97. 

5, Ebenda LVII, 11—22, 33—46. 

s Ebenda LVII, 23—32. 

** Zeitschrift familiengeschichtlicher Quellennachweise. Hsg.: Oswald Spohr. Bd. V 
41929—1931). Verlag: Degener & Co., Inh. Oswald Spohr in Leipzig. 


664 Nachrichten und Notizen 


In den Blättern für Württembergische Familienkunde** beschließt Paulus WeiBen- 
berger“ seine Arbeit aus dem inneren Leben der Abtei Neresheim im 16. Jahr- 
hundert. — Alfred Zeller“ veröffentlicht Zellerbildnisse und Zellerschicksale aus 
3 Jahrhunderten. Der im vorigen Jahr verstorbene Friedrich Freiherr von Gais- 
berg-Schöckingen®® untersucht in seiner wertvollen Abhandlung zur Geschichte 
der Freiherren von Gaisberg den Ursprung der Familie und macht es glaubhaft, 
daB die Familie zum Uradel gehört. Als Beilage wird die Stammreihe [nicht der 
Stammbaum!] der Familie gegeben. Der gemeinschaftliche Urstamm zählt 78, die 
Schnaiterlinie 159 und die Schóckinger 178 Personen. — O. Kommerell*? äußert 
sich über seine Erfahrungen bei der Aufstellung einer Ahnentafel. Er hat dieselbe 
halbkreisförmig angeordnet. — Walter Pfeilsticker'? spricht über „Horoskope als 
genealogische Quelle“ in Anlehnung an eine Schrift von Johann Rudolf Camerer. — 
Als Beilage erscheinen schwäbische Ahnentafeln in Listenform“, die mit den 
Ahnen der Philosophen Hegel und Schelling beginnen. 

Von den deutschen familienkundlichen Zeitschriften, die auBerhalb des Reichs- 
gebietes erscheinen, werden zwei in der Tschechoslowakei herausgegeben. Die 
„Sudetendeutsche Familienforschung''** veröffentlicht weiter sehr zahlreiches Namen- 
material aus Kirchenbüchern und Bürgerrollen. Neuerlich hat Anton Herglot 2 
begonnen, in alphabetischer Folge die lateinischen Ausdrücke in Kirchenmatriken 
zu erläutern. — Robert und Alfred Trótscher** sprechen über die Statistik im 
Dienste der Familienforschung mit erläuternden Beispielen. — Eine Namendeu- 
tungsecke®® ist eingerichtet, wo die bekannten Namen sprachlich erklärt werden. 
— Anton Dietl% gibt eine gute Anleitung über photographische Aufnahmen von alten 
Schriften. In einem weiteren Aufsatzes“ spricht er über die Verfilmung von Kirchen- 
büchern. Eine wohlgelungene Vergrößerung zeigt, daB sein Vorschlag wohl durch- 
führbar ist. Daraufhin sind in verschiedenen Zeitschriften kleinere Aufsátze über 
die Bedeutung der Photographie für den Familienforscher erschienen. Aber nicht nur 
für ihn ist das Lichtbild wichtig. Es ist für den Historiker schon seit längerer Zeit 
für seine Arbeiten unentbehrlich. — Auf die Veröffentlichung von Ernst Enzmann““, 
Wappenbilder Egerer Geschlechter, sei aufmerksam gemacht. — Ebenso auf eine 
kurze Zusammenfassung von Gustav Hofmann“ über seelenkundliche Familien- 
forschung. — Erbgesundheitsfragen bespricht Fritz Netolit zky“ auf Grund seiner 


5 Hsg. v. Verein für Württembergische Familienkunde, Stuttgart. Schriftleltung: K. Ad. 
Emil Müller. Bd. IV (1930f.) u. B. V (1932) = Heft 40—54. 

ss Ebenda IV, 50—60. % Ebenda IV, 78—84. 

% Ebenda IV, 101—109. Beilage 1—24; vgl. V, 341. % Ebenda V, 1—4. 

% Ebenda V, 49—56. *! Ebenda Beilage S. 1—32. 

„ Hag. v. d. Zentralstelle für sudetendeutsche Familienforschung des deutschen Ver- 
bandes für Helmatforschung und Heimatbildung in der techechoslowakischen Republik, Außig. 
Geleitet v. Anton Dietl und Franz Josef Umlauft. 3. Jg. (1930—31) u. 4. Jg. (1931— 32). 

** Ebenda 3, 15f., 4, 30. Vgl. Karl Siegl, Die lateinischen Bezeichnungen für Stand und 
Gewerbe in den Egerer Pfarrmatriken. Ebenda 3, 150—155. 

* Ebenda 3, 3—9. 

Geleitet von Karl Gaube. Ebenda 3, 29—32, 81—84, 132ff., 171—174; 4, 30ff., 126 fl., 
182f. 

** Ebenda 3, 49—53. *' Ebenda 4, 49—55. 

% Ebenda 3, 174ff.; — 4, 122ff. ** Ebenda 4, 145—147. 

** Ebenda 4, 148f; — vgl. Julius Röder, Krankheiten und Todesursachen. Ebenda 4, 
106/109. 


Nachrichten und Notizen 665 


Familiengeschichte. — Schließlich sei erwähnt, daß die Veröffentlichung der Ahnen- 
tafeln bekannter Sudetendeutscher?! fortgesetzt wird. 

Der neugegründete Deutsche Verein für Familienkunde für die tschechoslowakische 
Republik hat sein erstes Jahrbuch herausgegeben“, das durch sehr wertvolle Auf- 
sätze der führenden Männer des Vereins eingeleitet wird. Als Einführung wird vor 
diesen Aufsätzen das Bild und die Lebensbeschreibung des Verfassers gebracht. — 
Armin v. Tschermak-Seysenegg?*, der bekannte Forscher der Vererbungs- 
wissenschaft, spricht über Familienkunde und Vererbung und erläutert seine Aus- 
führungen durch Beigabe von trefflichen Bildern und Schemen. Ich móchte nicht 
verfehlen, auf die am Schluß gegebene Übersicht der wichtigsten zusammenfassenden 
Darstellungen über Vererbung aufmerksam zu machen. — Bernhard Brandt“ er- 
läutert seine Ausführungen über die neuen Ziele der Rassenkunde unter besonderer 
Berücksichtigung der Forschung in den Sudetenländern. — F. Breinl?5 spricht 
über die Entwicklungsstufe des Menschen im Verhältnis zur Siedlung. — Über die 
Wechselbeziehungen von Quantität und Qualität äußert sich Friedrich Wele- 
minsky?*. — A. P. Slechta“ gibt eine Archiv-Schau durch Prag. — Über Archiv 
und Bibliothek der dortigen israelitischen Kultusgemeinde spricht Wilhelm Klein“? 
und Siegfried Habermann“ über das Archiv der Stadt Eger. 

Die Zeitschrift der tschechoslowakischen genealogischen Gesellschaft in Prag®® 
bringt von Karl Galle?! einen Aufsatz über die höhere Intelligenz des hervorragenden 
Menschen. — Roman Procházka** veröffentlicht eine Bibliographie des familien- 
kundlichen Schrifttums über Erblichkeit, Rassen-Hygiene und verwandte Diszi- 
plinen, in der die deutschen Arbeiten weitaus den gróBten Teil einnehmen. — Zu 
beachten ist die Veröffentlichung von Johann Lintner“ über die Freilassungs- 
briefe im Archiv der Stadt Sobeslau. — Arthur Prozik gibt Bemerkungen zum 
genealogischen und biologischen Stammbaum, wobei er besonderen Wert auf die 
biologische Verarbeitung der Stammtafeln legt und zeigt, wie ein solcher biologischer 
Stammbaum auszusehen hat. — Zdenek Kolowrat® beschreibt 69 Grabdenkmäler 
in den Prager Kirchen und gibt 51 Wappenzeichnungen von diesen Denkmälern. 
Deutsche Abstammung tritt dabei überwiegend hervor. SchlieBlich sei noch auf die 
Besprechung eines Kopiars aus Sedčic von Andreas Frante® hingewiesen. — Im 
letzten Bande behandelt Jos. V. Simák*' die Anfänge des Steigbügelwappens. — 
Johann Lintner*? stellt zusammen, was er über die Beamten und die Dienerschaft 
im Kloster Selau unter dem Abte Siekurd Falkon 1661—1677 gefunden hat. — Auch 
hier wird ein lateinisches Glossar mit vorangehender Auflösung der gebräuchlichsten 
Abkürzungen veróffentlicht*?, — Als Beilage erscheint ein Namensverzeichnis der 


" Ebenda 3, 37 (Pleischl), 86f. (Ditz), 129 (Krones), 179—183 (Kolbenheyer); — 4, 
33—37 (Berger), 84—88 (Mühlig), 129f. (Schmidt), 181 (Schinzel). 

" Geleitet v. Hans Felix Zimmermann. 1. Jg. 1930 (Prag 1931). 

Ebenda 1—34. "e Ebenda 37—45. 7 Ebenda 47—52. 

* Ebenda 53—57. " Ebenda 68—76. ** Ebenda 77—80. 

7 Ebenda 81—84. 

** Geleitet von Anton Marcus. II. Jg. (1930) bis IV. Jg. (1932). 

*! Ebenda II, 1—7. e Ebenda II, 45—55, 108f. * Ebenda II, 101—105. 

Ebenda II, 101—106. * Ebenda III, 1—7, 49—92. 

„ Ebenda III, 65—83; weiter in IV, 10—17 (hier werden 21 Grabsteininschriften und 
18 Wappen gegeben). 

* Ebenda III, 86—94. % Ebenda IV, 1—9, 65—74. * Ebenda IV, 80—84. 

% y, Adolf Ld. Krejlik. Ebenda IV, 87—90, 133—152. 


666 Nachrichten und Notizen 


Einwohner im Thein-Viertel der Prager Altstadt**, in dem wir zahlreiche deutsche 
Namen finden. 

In der Schwedischen personengeschichtlichen Zeitschrift! bringt Niels Forssell*t 
ein Lebensbild von dem Brigadegeneral Johann Sarrazin, der in Südfrankreich 
geboren ist und als Gewährsmann über Bernardottes, des späteren schwedischen 
Königs Karl XIV. Johann, französische Zeit gilt. Nach einer Einleitung wird das 
Leben Sarrazins in der Revolution und unter Napoleon bis zu seiner Flucht nach 
England 1810 behandelt. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit seiner Schwe- 
denfahrt. Abschließend erfahren wir seine ferneren Schicksale. Aus der gleichen 
Zeit bringt Bo Enander“ einen Aufsatz über Karl Heinrich Anckarsvärd und das 
„Disciplinverbrechen“ 1813. — Birger Lind ön® spricht über die Stammreihe des 
aus Hamburg stammenden und in Danzig ansässigen Geschlechts von Cuyper, das 
1676 den schwedischen Adel von Cuypercrona erhielt. — Als letzte Arbeit von 
H. Södersteen® wird ein Beitrag zur Genealogie des Geschlechts Bjórnram ge- 
boten. — Über den Kammerherrn Freiherrn Adam Christian Raabe (1801—1872) 
und seinen Sohn Hugo (1831—1881), Chef des schwedischen Generalstabes 1873 
bis 1881, der auf der Berliner Kriegsakademie unter Moltke studiert hat, spricht 
Elias Tiselius9**. — Den Bild- und Wappenschneider Jost Schutze in Stockholm 
im 17. Jahrhundert behandelt Efraim Lundmark“. — Bengt Hildebrandt” 
befaBt sich mit der Abstammung des Erzbischofs Nathan Sóderblom. Die Ahnen- 
tafel zeigt auf väterlicher Seite vorwiegend Vollbauern, auf der mütterlichen Städter 
und Pfarrer. — Ausgehend von der Bulle des Papstes Alexanders IV. von 1171 
spricht Johann Erich Almquist*? über die Blutsverwandtschaft als Ehehindernis 
gemäß des schwedischen Rechtes. — Einige neue Gesichtspunkte bringt Nies 
Ahnlund!® zu Königin Christines Thronverzicht. — Der 33. Jahrgang wird mit 
einer Ahnentafel der Prinzessin Sybilla von Sachsen-Koburg, der Gemahlin des 
Prinzen Gustav Adolf von Schweden, eróffnet!?!, — Im gleichen Heft untersucht 
Beth Hennings?!® eingehend die Gouverneurszeit von Karl Gustav Tessin bei dem 
jungen Kronprinzen Gustav, dem späteren König Gustav IV. — Der Band bringt 
eine große Anzahl Besprechungen von Arbeiten über Gustav Adolf und Oxen- 
stierna!®, 

Im neuen Jahrgang der Ungarischen heraldischen und genealogischen Zeitschrift 
„Turul' e veröffentlicht Alexander Mihalik““ eine sehr wertvolle Abhandlung 
über alte ungarische Siegel der Goldschmiedezünfte aus sieben ungarischen Städten. 
— In der Hauptsache führen sie die Gestalt des heiligen Eligius im Wappenbild. Das 
älteste von ihm behandelte Siegel ist das der Kaschauer Goldschmiedezunft aus 
dem Jahre 1476. — Josef Follajtar!® untersucht die Abstammung (zuerst 1358 
erwühnt) und die Geschichte der Familie Ocskay de Ocsko. Besonders eingehend 


** Eduard Sebesta, Beschreibung der Prager Bevölkerung vom Jahre 1770, aus den Kon- 
skriptionsakten des alten Stadtarchives zusammengestellt. Bis jetzt sind 48 Seiten erschienen. 

*! Hag. von der Personengeschichtlichen Gesellschaft in Stockholm. Schriftleiter: Bengt 
Hildebrandt. Jg. 31 H. 3—4 (1930), Jg. 32 (1931), u. Jg. 33 (1932). 

** Ebenda 31, 139—167. ** Ebenda 31, 174—198. ** Ebenda 31, 168—173. 

s Ebenda 32, 1—10. * Ebenda 32, 28—68. * Ebenda 32, 69—76. 

% Ebenda 32, 153—169. ® Ebenda 32, 160—176. 10% Ebenda 32, 196—214. 

1 Ebenda 33, 1—3. 1 Ebenda 33, 4—37. 1* Ebenda 33, 103—118. 

1% Hag. von Antal Aldásy u. Alfred Czobor. Jg. 35 (1930) u. Jg. 36 (1931). 

1% Ebenda 35, 20—31. 1* Ebenda 35, 1—19, 83—90. 


Nachrichten und Notizen 667 


wird über die Gütererwerbung der Familie gehandelt. Stammtafeln sind beigefügt. 
— Über das rein Genealogische hinaus führt der Aufsatz Lorends v. Szilágyi”, 
Die Rolle der ungarischen königlichen Kanzlei in der Zentralverwaltung 1458—1526. 
Er behandelt die Übergangszeit zwischen der mittelalterlichen und der neuzeitlichen 
Zentralverwaltung. — Das öffentliche Wirken des Bischofs Gregor unter der unglück- 
lichen Regierung Ladislaus IV. schildert Koloman Juhácz!9*, — Berndt Ludwig 
Kumorovitz!® bespricht den liber judiciarius der Stadt Kassa der Jahre 1392 
bis 1406 und veróffentlicht die Aufzeichnungen über die Gerichtssitzung vom 10. Mai 
1395. — Im 36. Jahrgang, der einen Bericht über das 50jährige Jubiläum der Un- 
garischen Heraldischen und Genealogischen Gesellschaft bringt, behandelt Béla 
Bitto!!? die Geschichte seiner Familie, die sich seit 1287 lückenlos verfolgen läßt, 
bringt Wappenabbildungen und 13 Stammtafeln. — Paul Lukcsics!!! versucht in 
Anschluß an eine Arbeit von K. H. Schäfer im „Deutschen Herold“ durch ein- 
gehendere Forschung die einzelnen Wappen von ungarischen Söldnern in Italien 
genauer zu bestimmen. — J. Holub!!2 antwortet „Noch einmal und zum letzten 
Male über die Quarta" auf den Aufsatz von L. Kelemen im Jahrgang 34 der Zft. 

Die Mühlhäuser Geschichisblütler!* bringen wie immer sehr reichhaltiges fa- 
milienkundliches Material. Aus der Anzahl der Lebensbeschreibungen nenne ich die 
Arbeit von Paul Alfred Merbach!!4, Gottfried Christoph Beireis, Prof. der Medizin 
an der Universität Helmstedt (1730—1810), der ,, Wundermann von Helmstedt‘. 
— Im Anschluß daran untersucht Ernst Brinkmann!! den Einfluß Mühlhausens 
auf Beireis und gibt Nachrichten über seine Familie. — Theodor Wotschke!!e 
schildert Marie Sophie von Marschall in ihren Briefen an A. H. Francke. — Wilhelm 
Auener!!? entwirft das Wirken des Mühlhäuser Kindes Johann August Röbling 
(1806—1869), der ein berühmter Brückenbauer in Nordamerika war. Von ihm 
stammt auch der Gedanke der Brooklynbrücke, während er die Ausführung seinem 
Sohne überlassen mußte. — Den Bürgerschuldirektor Friederich Otto (1806—1876) 
würdigt Fritz Kaisers. — Über das Leben und Wirken des Dramatikers Johannes 
Cuno im 16. Jahrhundert spricht Karl Eberlein. — Fred Fis cher!“ entwirft 
ein anziehendes Lebensbild des Theologen und Dichters Ludwig Helmbold zu 
seinem 400. Geburtstag. Als Nachfolger Starkes wurde er Superintendent in Mühl- 
hausen. Über dieses Geschlecht Starke spricht Gustav Starke. — „Neues über 
Johann Sebastian Bach in Mühlhausen“ liefert Ernst Brinkmann!®#. Der rührige 
Herausgeber der Zeitschrift schildert u. a. Beiträgen auch die Geschichte des Mühl- 
häuser Syndikatshauses !*, das auf dem Boden des alten Franziskanerklosters er- 


10 Ebenda 36, 45—83. 1" Ebenda 35, 00—94. 1% Ebenda 35, 95ff. 

110 Ebenda 36, 1—66. 111 Ebenda 36, 84—88. 1? Ebenda 36, 89—93. 

113 Zeitschrift des Altertums vereins für Mühlhausen in Thüringen u. Umgegend. Hsg. 
von Ernst Brinkmann. Jg. 29 (1928—1929), Jg. 31 (1932). 

11 Ebenda 29, 1—54; 30, 62—73. H5 Ebenda 29, 55— 60. 

118 Ebenda 29, 100—119. u” Ebenda 30, 1—61. 

1* Ebenda 30, 74—93, dazu Ergänzungen von Bernhard Heetzsch. Ebenda 31, 71—88. 

110 Rbenda 30, 206—225. Vgl. Ebenda 31, 235—250 Joh. Biereye, zum Leben des Dichters 
&us Erfurt. 

1% Ebenda 31, 147—103, dazu gibt Biereye Ergänzungen über sein Leben in Erfurt. 
Ebenda 31, 251—256. 

1" Ebenda 31, 257—993. 

128 Ebenda 31, 204—299. Vgl. auch „Neue Beiträge zur Mühlhäuser Musikgeschichte“. 
Ebenda 29, 225—306. 133 Ebenda 29, 307—345. 


668 Nachrichten und Notizen 


richtet ist und 1597 zuerst erwähnt wird. — In das „Mittelalter“ führt uns die 
Arbeit von Georg Thiele!#, Vorreformatorische Geistlichkeit in der Freien und 
Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen. Es ist aber nicht nur die Stadt selbst, sondern 
das ganze reichsstándische Gebiet berücksichtigt worden. Ich hätte gewünscht, daB 
zu den Jahreszahlen auch die Monats- und Tagesangaben beigefügt worden wären. 
— Wichtig für die Stadtgeschichte sind die Kámmereirechnungen von 1407—1410, 
die Hugo Groth!*^ veröffentlicht. Dankenswert ist auch desselben Verfassers!“ 
Arbeit über Geldwerte, Preise und Löhne in Mühlhausen um 1400. Am Schluß 
möchte ich auf die neuen Studien zum Mühlbäuser Reichsrechtsbuch von Herbert 
Meyer!* hinweisen, in der er sich mit der unsachlichen Schrift von Hans Reichard 
über die deutschen Stadtrechte des Mittelalters auseinandersetzt. Aus dem letzten 
Bande ist besonders die Arbeit von Ernst Brinkmann!#, Gelegenheitsfunde im 
Mühlhauser Archiv hervorzuheben. B. druckt verschiedene noch nicht veróffentlichte 
Urkunden- und Aktenstücke ab: zuerst eine Urkunde des Landgrafen Albrecht des 
Entarteten von Thüringen über sein Bündnis mit den Städten Mühlhausen, Eise- 
nach, Gotha, Nordhausen und Weißensee vom 24. Februar 1258. Es ist die älteste 
deutsche Urkunde des Archives, die aber leider nur in einer Abschrift des 17. Jahr- 
hunderts erhalten ist. Auch die folgende Urkunde, Innungsprivileg für die Woll- 
weber oder Tuchmacher vom 18. Januar 1302 ist nur in einer beglaubigten Über- 
setzung erhalten. Daran schließt sich die Liste der Ratsmeister von 1441—1524 aus 
einem Bruchstück aus dem sonst verlorenen liber consulum, civium et ansarum. 
Ferner Nachrichten über die ültesten Dorfrechnungen des Archives von Eigenvieden 
über die Jahre 1449—53; Notizen zur Geschichte des Gymnasiums, aus dem ältesten 
Gesindebuch von 1502 ff, zum Bauernkrieg, vom Dorfe Eigenrode, das 1545 
wiedererbaut ist, über Mühlhäuser Dorfpfarrer während des Interims u. a. — Weiter 
sind aus dem Bande zu erwähnen: Fritz Kaiser“, Zur Geschichte der Salzsteuer 
in Mühlhausen, Hugo Grothe!*9, Die ältesten Straßennamen Mühlhausens, Gustav 
Picard, Mühlhausens Wasserläufe, Heinrich Wetterling , Aus der Geschichte 
der Lehrerbildungsanstalten in Mühlhausen i. Thür. und Otto Drenckhahn, sein 
Lebenslauf und Schülererinnerungen an ihn!33, — Es ist mir natürlich unmöglich, 
den äußerst reichhaltigen Inhalt dieser Jahrgänge hier voll auszuschöpfen. 

Fünf genealogische Vereine des Baltikums!** geben zusammen die Baltischen 
Familiengeschichtlichen Mitteilungen!*5 heraus. R. A. v. Lemm!? behandelt einen 
baltischen Zweig des Geschlechtes Leibniz, der mit dem Großneffen des Philosophen 
beginnt. — Erich Säuberlich!?? teilt die ältesten Vorfahren von Carl Ernst 
von Baer mit und A. v. Schmidt!» gibt einige Daten über die Vorfahren des 


14 Ebenda 31, 164—234. 125 Ebenda 29, 119—168; 30, 133—168. 

!5 Ebenda 30, 169—179. 1 Ebenda 30, 226—240. 13 Ebenda 32, 98—119. 

1% Ebenda 32, 76—86. 126 Ebenda 32, 92—97. 11 Ebenda 32, 130—133. 

188 Ebenda 32, 42—97. 

1 von Werner Drenckhahn und Alwin Schmidt, Ebenda 32, 68—75. 

124 Genealogische Gesellschaft Lettlands, vormals Genealogische Gesellschaft der Ostsee- 
provinzen in Mitau. — Sektion für Genealogie der Gesellschaft für Geschichte u. Altertumskunde 
in Riga. — Sektion für Genealogie der Estländ. Literür. Gesellschaft in Reval. — Livländ. Ge- 
ncalogische Gesellschaft in Riga. — Dorpater Deutsche Genealogische Gesellschaft. 

*" Hrsg. u. Schriftleiter: W. Baron Maydell. Jg. 1 (1931) u. Jg. 2 (1932). 

120 Baltische Familiengeschichtl. Mitteilungen 1, 2—5. 

127 Ebenda 1, 6. ?* Ebenda 1, 6f. 


Nachrichten und Notizen 669 


Dichters Reinhold Lenz. — Als Beitrag zur Frage der Herkunft und der Soziologie 
des Literatentums veröffentlicht G. Adelheim die Lehrer der großen Stadtschule!“ 
und der Jungfern-Schule“ in Reval. — Mit dem Leben und der Familie des aus 
Sachsen gebürtigen Johann Ernst Gluck, Propstes in Marienburg (Livland), der 
dann als Gefangener in Moskau das erste russische Gymnasium gründete (1708), 
beschäftigt sich Frhr. J. v. Koskull!“, In seinem Hause wuchs die elternlose 
litauische Bauerntochter Marta Skavronski, die spätere Kaiserin Katharina I. auf. 
Die Vorfahren des Propstes bringt N. v. Essen!“ “. — Baron Frhr. v. Wolff ver- 
öffentlicht die Ahnentafel des weil. livl. Landmarschalls Friedrich Frhr. v. Meyen- 
dorff. — Erich Säuberlich!“ bringt Nachrichten über die Herkunft einiger Adels- 
familien und N. v Essen!“ über die Familie (von) Peucker. Schließlich sei noch die 
Arbeit von A. v. Transche- Roseneck** erwähnt, Zur Frage Namengebung und 
Wappenannahme alter livländischer Geschlechter. — Fast alle diese Aufsätze und 
die anderen Veróffentlichungen zeigen wieder die enge Verbundenheit der baltischen 
Provinzen mit dem großen Deutschland. 

Zusammenfassend sei bemerkt, daß alle familienkundlichen Zeitschriften viel 
Namensmaterial bieten, das fast ausschließlich aus noch ungedruckten Quellen alpha- 
betisch oder nach Jahren geordnet zusammengestellt ist. AuBerdem bringen sie in 
reichstem MaBe Anzeigen genealogischer Bücher und Zeitschriften sowie von Werken 
verwandter Gebiete. Es sind selbstverstándlich nur Überblicke über die Zeitschriften 
gegeben worden, die regelmáBig dem Referenten zur Berichterstattung zugehen. 

Neuruppin. K. H. Lampe. 


Wissensehaftliehe Gesellschaften und (Publikations-) Institute. Wie das Thü- 
ringische Volksbildungsministerium mitteilt, hat das 1913 begründete Karl- 
Augqust-Werk unter der Leitung von Willy Andreas-Heidelberg seine Tätigkeit 
wieder aufgenommen. Von den bisher im Zusammenhang mit dem Unternehmen 
erschienenen Veröffentlichungen sind zu nennen: Der Briefwechsel Karl Augusts 
mit Goethe, hsg. von H. Wahl, 3 Bde. 1915—18; F. Hartung, „Das Großherzog- 
tum Sachsen unter der Regierung K. A.s 1775—1828“, 1923; W. Andreas, „Johs. 
von Müller in Weimar“, H. Z., Bd. 145, 1932; Ders., „Preußen und Reich in K. A.s 
Geschichte", Rektoratsrede Heidelberg 1932; H. Blesken, „Der Landtag im Groß- 
herzogtum Sachsen-Weimar- Eisenach 1816—1848“, Z. V. Thür. G. N. F. 30, 1932; 
G. Bahls, „K. A. als Soldat“, 1933. Die Verwirklichung des letzten Zieles der Unter- 
nehmung einer umfassenden Biographie K. A.s liegt in der Hand von W. Andreas 
selbst, dem zur Durchführung der archivalischen Vorarbeiten U. Crämer und 
A. Bergmann beigegeben sind, von welch letzterem als erste Frucht ihrer Tátig- 
keit soeben eine K.-A.-Biographie erschienen ist. Weiter sind an vorbereitenden und 
unterbauenden Publikationen ins Auge gefaBt: Die Bearbeitung der namentlich 
für die Zeit von den französischen Revolutionskriegen bis zum Wiener Kongreß 
aufschluBreichen politischen Korrespondenz K. A.s, die teils im Wortlaut veróffent- 
licht, teils zu einer Darstellung der auswärtigen Politik K. A.s verarbeitet werden 
soll; die Promemorien Goethes über den Empfang K. A.s bei der Rückkehr aus den 
Befreiungskriegen (im Jb. der Goetheges.); der für die Beziehungen König Ludwigs I. 
zu Weimer aufschlußreiche Nachlaß des Kanzlers Müller. Es ist lebhaft zu begrüßen, 
daB durch die tatkräftige Förderung durch das Thüringische Staatsministerium 
und unter der sachkundigen Leitung durch W. Andreas die Durchführung des Karl- 
August- Werkes gesichert erscheint. 


"* Ebenda 1, 18—24. 14° Ebenda 2, 2—4. 

1 Ebenda 1, 35—39, 50—57; vgl. dazu Ebenda 1, 571. u. 2, 10f. 

1% Ebenda 2, 20, vgl. 2, 45f. 14° Ebenda 2, 4—8. 144 Ebenda 2, 50—55. 
M5 Ebenda 2, 21—28, 34—28. ** Ebenda 2, 41—45. 


670 Nachrichten und Notizen 


Entgegnung. 

Sachliche Bemerkungen zu der Kritik von G. Fischer, Dresden über M. A. H. 
Fitzler, Die Handelsgesellschaft Felix v. Oldenburg & Co. 1758— 1760. Ein Beitrag 
zur Geschichte des Deutschtums in Portugal im Zeitalter des Absolutismus. Statt- 
gart 1981. Beiheft 28 zu V.S.W.G. 

Der erste Teil der Kritik wird den Fachmann, der das Buch gelesen hat, aufs 
äußerste befremden. Doch genügt es, im Gegensatz zu G. Fischers Meinung, auf die 
außerordentlich eingehenden Würdigungen des Buches durch H. Sieveking (Hit. 
Ztschr. Bd. 146, Hett I, S. 179) und durch E. Baasch (Jhb. f. Nat. u. Stat. Bd. 155, 
S. 928/9) hinzuweisen. 

Dagegen verlangt der zweite Teil der Fischerschen Kritik wegen Inhalt und 
Form eine Richtigstellung. 

Unter Anführung eines reichen Quellenmaterials (S. 113/114) kommt die Ver- 
fasserin nach sorgfältigen Untersuchungen über die Schiffsgrößen des spanisch- 
portugiesischen Überseehandels im 16., 17. und 18. Jht. zu einem von Sombart ab- 
weichenden Ergebnis, das sie auf S. 114 (Anm. 38) in folgender, nach Form und In- 
halt einwandfreier Weise formuliert: „Die Angabe Sombarts (Der moderne Kapi- 
talismus II, I, 281), daß die Tonnenzahl der größten Handelsschiffe des 17. und 
18. Jhs. durchschnittlich nur 300—400 t betragen habe, kann nicht aufrechterhalten 
werden." Als weiteren Beweis führt sie neben ihrem eigenen Forschungsergebnis 
noch die Studien von Morse in der Ausgabe der „Chronicles of the East India Com- 
pany (1653— 1834)" über Schiffsgrößen in England an (S. 114 Anm. 39). Einen ‚Stoß 
ins Leere", eine „zwar heftige, aber ganz ungerechtfertigte Kritik“ nennt Fischer 
diese sachliche, wohlbegründete Feststellung, rät der Verfasserin „gewissenhafter“ 
zu lesen, da der Hinweis „völlig fehlgreife“, und endet schließlich mit dem ebenso 
unberechtigten, wie die Form einer vornehmen Kritik verletzenden Vorwurf „leicht- 
sinniger Voreiligkeit“, die sich die Verfasserin in dieser Frage habe zuschulden kom- 
men lassen. Die schweren Geschütze fallen indessen sämtliche auf den Kritiker selbst 
zurück. Die Angaben bei Sombart beziehen sich nicht „lediglich auf solche Schiffe, 
die auf lübischen Werften gebaut wurden“, wie Fischer behauptet, sondern sie 
dienen Sombart zur Bekräftigung seiner allgemeinen Feststellung: ‚Wir werden 
es begreiflich finden, daß die Schiffsgrößen während der ganzen frühkapitali- 
stischen Epoche, jedenfalls während des 17. und 18. Jhs., nachdem der Ostindien- 
fahrertyp aufgekommen war, unverändert geblieben ist." (A. a. O. 1I, I, 281). 
Die von H. Fitzler und Morse gebotenen einwandfreien Quellen beweisen, daß 
dieser Satz, trotz der als Beleg angeführten Angaben über lübische Schiffsgrößen, 
weder für Spanien und Portugal, noch für England, wahrscheinlich auch nicht für 
Holland aufrechterhalten werden kann. 

Ferner hat H. Fitzler, wie ihr G. Fischer „unterschiebt“, ganz und gar nicht 
übersehen, daß die 18 von Sombart nach E. Baasch angeführten zwischen 105 
und 193 Lasten liegenden lübischen Schiffsgrößen aus den Jahren 1560—1765 in 
Tonnen umzurechnen waren; das zeigen ja schon die uns hier von der Verfasserin 
zum Vergleich gebotenen Durchschnittszahlen in Tonnen, die, wie G. Fischer leicht 
hátte berechnen kónnen, etwa das Doppelte vom Durchschnitt der von Sombart 
gebotenen Zahlenreihe in Lasten ergeben. Hätte der Kritiker sich hier keine „leicht- 
sinnige Voreiligkeit zuschulden kommen lassen“, dann hätte er sich auch den „ völlig 
verfehlten", kaum verständlichen Hinweis auf W. Vogel (Gesch. d. deutschen 
Seeschiffahrt, I, 553—560) erspart, dessen Ausführungen über die „gegenwärtigen 
drei Maßstäbe zur Angabe von SchiffsgróBen: Raumgehalt, Depalcement, Trag- 
fähigkeit, Erórterungen über lübische, hamburgische Lasten etc., die Regel für die 
Umrechnung in die ab 1854 in Geltung gekommenen Registertonnen (Rt zu 100 ku- 
bikfuB englisch), mit den Ausführungen von H. Fitzler aber auch nicht das 
mindeste zu tun haben." — 

Colombo. P. E. P. Pieris. _ 


Schlußwort. 
Zu den vorstehenden Ausführungen von P. E. P. Pieris bemerke ich das Folgende: 


Die Aufnahme des Buches von Hedwig Fitzler durch die Kritik ist eine durch- 
aus einheitliche gewesen. Bei aller Anerkennung des Fleißes der Verf. hat es doch 


Nachrichten und Notizen 671 


nirgends restlose Zustimmung gefunden, auch nicht von seiten E. Baaschs und 
H. Sievekings. Meine eigene Stellungnahme weicht — das hätte auch P. E. P. Pieris 
sehen können, wenn ihn nicht die enge Arbeitsgemeinschaft, die ihn seit Jahren 
mit Hedwig Fitzler verbindet, offenbar gehindert hätte, meine Ausführungen un- 
befangen zu lesen — von der allgemeinen Linie höchstens dadurch ab, daß ich 
wärmer, als es von sämtlichen Kritikern geschehen ist, für die Vorzüge des Buches 
eingetreten bin. Wenn ich es bedauert habe, daß sich die Verf. durch Titelwahl 
und Aufbau allzu bescheiden selber das Licht weggenommen hat, so stehe ich auch 
damit nicht allein. Von anderer Seite ist ebenfalls auf die kompositorische Un- 
zulänglichkeit des Buches hingewiesen worden!. Der erste Teil meiner Besprechung 
wird also nirgends Befremden erregen. 

Damit, daß Pieris sich die von mir gerügte Kritik Hedwig Fitzlers an Sombarts 
Ausführungen über Schiffsgrößen zu eigen macht, hat er weder sich noch Hedwig 
Fitzler einen Dienst erwiesen. Der Vorwurf leichtsinniger Voreiligkeit, der gegen 
diese erhoben werden mußte, fällt nunmehr in voller Schwere auch auf ihn. Was er 
zur Stützung der Fitzlerschen Behauptung ins Feld führt, ist — um in seiner mili- 
tanten Terminologie zu bleiben — nur leichte Kavallerie, die gegen betonierte 
Schützengräben angesetzt wird, und zwar auch noch in falscher Richtung. Sombarts 
Ansicht wird von Fitzler und Pieris nicht — wie beide glauben — widerlegt, sondern 
im Gegenteil erneut vollauf bestätigt. Sombart sagt ja gar nicht, was Fitzler und 
nun auch Pieris von ihm behaupten. Von der von Fitzler nach Pieris in einwandfreier 
Weise wiedergegebenen angeblichen Ansichten Sombarts, „daß die Tonnenzahl der 
größten Handelsschiffe des 17. und 18. Jhs. durchschnittlich nur 300—400 t be- 
tragen habe“, findet sich an der von ihr zitierten Stelle auch nicht ein einziges Wort. 
Sombart äußert sich dort überhaupt nicht selbst, sondern gibt nur im Anschluß 
an die von E. Baasch veróffentlichen Schiffslisten der Lastadienbücher eine Tabelle 
über die Durchschnittsgrößen der auf lübischen Werften von 1560—1785 erbauten 
Schiffe wieder und führt dann weiter den Raumgehalt der größten davon gesondert 
auf, und zwar mit 300—400 lübischen Lasten, d. h. also rund 600—800 t. Wie Hed- 
wig Fitzler diese Angaben als „Sombartsche Zahlen“ bezeichnen und aus ihnen die 
Behauptung herauslesen konnte, Sombart habe die Tonnenzahl der größten Handels- 
schiffe des 17. und 18. Jhs. mit nur 300—400 t angegeben, ist um so unerfindlicher, 
als sich auch sonst in den vier Bánden seines Werkes nicht eine Zeile findet, die in 
ihrem Sinne gedeutet werden könnte?. Vielmehr zeigt sich überall dort, wo sich 
Sombart über SchiffsgróBen äußert, eindeutig und ganz unmißverständlich, daB 
er den 600—800 t-Typ seit dem 16. Jht. kennt, und vóllig in Übereinstimmung 
mit dem von Fitzler und Pieris zitierten Morse das 500 t-Schiff für die lange Fahrt 
als das Regelmäßige ansieht, und zwar tut er das gerade unter Hinweis auf die 
Indienfahrer englischer, holländischer und spanischer Flagge, welche Fitzler und 
Pieris gegen ihn glauben anführen zu sollen; ja, er tut das weiter — freilich in einem 
anderen als dem von Fitzler und Pieris zitierten Bande — sogar mit Benutzung 
der gleichen Stelle bei Klerk de Reuss, die Fitzler zur Widerlegung seiner angeb- 
lichen Ansicht geltend machen wills. Der Sachverhalt ist vollkommen klar und kann 
auch von jedem Nichtspezialisten sofort nachgeprüft werden. Sombarts Ansicht in 
dieser Frage ist zudem, wie jeder mit der Literatur einigermaßen Vertraute weiß, 
längst Allgemeingut der deutschen und fremden Wirtschaftsgeschichtschreibung 
geworden. DaB nicht ich es bin, der Sombart — soweit das überhaupt móglich sein 
sollte — miBverstanden hat, zeigen, um nur zwei Äußerungen zu der Frage aus letzter 
Zeit anzuführen, z. B. die Angaben von Eugene H. Byrne und H. Sieveking — 


1 Von Paul Darmstädter in Ztsch. f. d. ges. Staatsw. 91, 1931, 608. Er nennt die 
Arbeit „unübersichtlich“ und meint, daß die Geschichte der kurzlebigen Oldenburgschen 
Gesellschaft allein kaum als Thema für ein 300 Seiten starkes Buch ausreiche. 

* Am allerwenigsten gilt das von dem Satz, den Picris oben aus II, 1, 280 (nicht 
281, wie er schreibt) anführt. 

* I, 2, 764. Nebenbei: eine Autorität vom Range Walther Vogels hat übrigens in 
den Angaben von Klerk de Reuss keine Widerlegung van Dams gesehen. Vgl. Dietrich 
Schäferfestschrift, 1915, 316 und 317. 


672 Nachrichten und Notizen 


zweier Autoren, deren fachliche Kompetenz wohl weder Hedwig Fitzler noch ihr 
Verteidiger werden bestreiten wollen. Eugene H. Byrne spricht“ unter Berufung 
auf das gleiche Kapitel bei Sombart, aus dem Fitzler und Pieris ihre Meinung heraus- 
lesen, von den spanischen, holländischen und englischen Überseehandelsschiffen 
des 16. Jhs., „listed by the same authority (= Sombart G. F.) as 600 to 800 tons“ 
und H. Sieveking hebt im Anschluß an Byrne ebenfalls ausdrücklich hervor, „daß 
nach Sombart die Überseeschiffe des 16. Jhs. 6—800 t faßten“ 5. Die von Fitzler 
gemachten Feststellungen über die Größe der von der Oldenburgschen Gesellschaft 
für die kleine und große Fahrt verwendeten Schiffe bringen also nichts Neues. Sie 
sind viel mehr lediglich eine abermalige Bestätigung bereits seit langem bekannter 
und besonders von Sombart betonter Tatsachen. Ihr Kampf gegen diesen ist, 
dabei bleibt es, ein Kampf gegen einen imaginären Gegner, „ein Stoß ins Leere“. 

Entstehen konnte Fitzlers Meinung nur durch oberflächliches und unvoll- 
ständiges Lesen und einen simplen Rechenfehler. Es ist nicht mehr als ein billiges 
Fechterkunststückchen, wenn Pieris oben den SpieB umdreht und mir vorwerfen 
will, ich sei es, der den an Fitzler gerügten Schnitzer begangen hätte. Fitzler bezieht 
sich nicht, wie er sagt, auf die Durchschnittszahlen der von Baasch übernommenen 
Tabelle, sondern, wie sich aus Text und Seitenangabe ergibt, ausdrücklich auf den 
dieser Tabelle folgenden Absatz über den Raumgehalt der „größten Handelsschiffe“. 
Bezóge sie sich auf die Tabelle, würde ihre Behauptung nur noch sinnloser. Dieses 
Fehlers wegen war der für Hedwig Fitzler sicher etwas peinliche Hinweis auf Wal- 
ther Vogels grundsätzlichen Exkurs über die Umrechnungen von Lasten in t nötig. 
Jeder Fachgenosse wird ihn verstehen. 

Es hütte nahegelegen, aus dem bedenklichen Lapsus, der Hedwig Fitzler in 
dieser Frage unterlaufen ist, und aus einigen weiteren Oberflüchlichkeiten, die sich 
in ihrem Buche finden, Schlüsse auf die Zuverlüssigkeit der Partien ihres Buches zu 
ziehen, die sich nicht in gleicher Weise nachprüfen lassen. Ich habe das nicht getan 
und tue es auch heute nicht. Ich sehe in ihrer mißglückten Polemik vielmehr nur 
einen jener Fehler, ohne die nach einem Worte Treitschkes es nun einmal unmöglich 
ist, einen historischen Aufsatz zu schreiben und lasse mir dadurch, wie ich es schon 
am Ende meiner Besprechung betonte, die Freude am übrigen Inhalt ihres Buches 
nicht verkümmern. Übergehen konnte ich bei gewissenhafter Erfüllung meines 
Kritikeramtes ihre fehlgegangene Auseinandersetzung mit Sombart deshalb aber 
nicht. Gewiß: Sombarts Werke sind für den Wirtschaftshistoriker nicht Bücher 
von kanonischer Geltung. Kritik an ihnen ist möglich und nötig. Man wird Som- 
barts Leistung damit nicht zu nahe treten. Sein Gesamtwerk ist von einer Art, die 
auch Passivposten verträgt®. Voraussetzung einer solchen Kritik ist aber doch 
zum mindesten, daß man ihn zunächst einmal gewissenhaft liest, dann richtig ver- 
steht und schließlich seine Meinung zutreffend wiedergibt. Das hat Hedwig Fitzler 
aber nicht getan. Was sie, die sich auch sonst gerne als Sombartkritikerin gefällt, 
in unserem Falle bietet, ist vielmehr ein Schulbeispiel für jene „Detailkritik“ an 
Sombarts Werk, deren „üble Manier“ Karl Diehl vor kurzem? mit Recht an den 
Pranger gestellt hat. Eine scharfe Zurückweisung ihrer Ausführungen war daher 
nicht zu umgehen. Ich habe daran kein Wort zu ündern. 

Dresden. Georg Fischer. 


* Genoese Shipping in the twelfth and thirteenth Centuries-, Monographs of the 
Mediaeval Academy of America No.1, Cambridge, Massachusetts, 1930, 11. Vgl. dazu die 
Besprechung von H. Sieveking in Ztschr. f. d. ges. Staatsw. 91, 1981, 166 ff und meine 
Anzeige in Hist. Ztschr. 146, 1932, 159. 

* 4.8. 0.107. Byrne hat auch die einzige Korrektur, die an Sombarts Ansicht 
möglich war, vorgenommen; sie betrifft nicht die Schiffsgröße, sondern die Zeit des ersten 
Vorkommens des 600 t-Typs. 

* Schumpeter in Schmollers Jb. 51, 1927, 369. 

* Schmollers Jb. 56, 1932, 867. 


G 
Jp Zr wm — Qe C 
| ESTER 3 995509 
"2 
P 'TERTELJ AHRS CHRIFT 
ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT 
UND FÜR 
| LATEINISCHE PHILOLOGIE DES MITTELALTERS 1 
% - HERAUSGEGEBEN VON 
Su D. Dr. ERICH BRANDENBURG | 
à O O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 
d 32% | 
| 205 8 | 
| Bm .. XXVIII. JAHRGANG | 
E , 8 | 
LS 
u 4. HEFT : 
i JA 1 
4 AUSGEGEBEN AM 10 FEBRUAR 1934 | 
LIES 
| | 
Em VERLAG UND DRUCK | 
BUOHDRUCKEREI DER WILHELM UND BERTHA v. BAENSCH STIFTUNG [ 
| DRESDEN 1934 ki 
iy 


- T" Digitized » Google 


= 
* 


HISTORISCHE VIERTELJAHRSCH x 


Herausgegeben von Prof. D. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig. T 
Verlag und Druck: Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, I 


RTI 


Y^ 
gi wy: 
how re 


s. 


Die Zeitschrift erscheint in Vierteljahrsheften von 14 Bogen 2 zu je 
16 Seiten Umfang. Der Preis beträgt für den Jahrgang AM 30.— u in id fü 
das Heft . 7.50. Fr 

Die Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters €: * 
Aufgabe, die in der heutigen Wissenschaftsentwicklung notwendig g 
wordene Arbeitsgemeinschaft zwischen der historischen und philelo gische 
Erforschung des Mittelalters, namentlich im Hinblick auf die < ellen. » 
Bedürfnisse der Geistesgeschichte, zu fördern und zu festigen. E- A 


Die Abteilung „Nachrichten und Notizen“ bringt Angaben übe 
literarische Erscheinungen sowie über alle wichtigeren Vorgänge auf i f. dem | 
persönlichen Gebiet des geschichtswissenschaftlichen Lebens. 3 


Die Herausgabe und die Leitung der Redaktionsgeschäfte wird von 
Herrn Geh. Hofrat Prof. D. Dr. Erich Brandenburg geführt, der von 
Herrn Priv.-Doz. Dr. H. Wendorf als Sekretär der Zeitschrift und fur den 
mittellateinischen Teil von Herrn Dr. W. Stach (Leipzig, Univers itt, 
Bornerianum I) unterstützt wird. o ud 

Alle Beiträge bitten wir an die Schriftleitung (Leipzig, Universität, 
Bornerianum I) zu richten. Té ^ 

Die Zusendung von Rezensionsexemplaren wird an die Schrift- 
leitung der Historischen Vierteljahrschrift (Leipzig, Universität, Borne- l 
rianum I) erbeten. Im Interesse pünktlicher und genauer bibliographiseher - 
Berichterstattung werden die Herren Autoren und Verleger ersucht, au 
kleinere Werke, Dissertationen, Programme, Separatabzüge von Zeits: ri 
aufsätzen usw., die nicht auf ein besonderes Referat Anspruch m ! | 
sogleich beim Erscheinen der Schriftleitung zugehen zu lassen. 2 hy 


- 
ô 


Digitized by Google — 


673 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frank- 
reich gegen Aragon. 
Von 
Walther Kienast. 


Selten“ hat die kapetingische Monarchie so schlimme Tage 
gesehen wie im Herbst des Jahres 1285. Mit dem stärksten 
Heer, das Frankreich je aufgebracht, war Philipp III. in Aragon 
eingefallen. Nun strömten die Trümmer der stolzen Macht zu- 
rück, auf den von tagelangen Regengüssen zerweichten Pyrenäen- 
straßen, von Seuchen furchtbar heimgesucht, von den Almo- 
gavaren verfolgt und den sarazenischen Bogenschützen aus dem 
Hinterhalt beschossen. Der Paßweg von Panisars war bedeckt 
mit Leichen und Gepäck. Auf die Nachhut stürzte sich König 
Pedro an der Spitze seiner Ritter, die Banner entfaltet, mit dem 
Schlachtruf Aragon, Aragon! Nur ein Bruchteil der Franzosen 


1 Dem folgenden Aufsatz liegt in umgestalteter Form das erste Kapitel einer 
„Geschichte Philipps des Schönen von Frankreich“ zugrunde. Vgl. auch meinen 
Aufsatz „Der franz. Staat im 13. Jahrh.“, in: Hist. Zs. 148 (1933), 457 —519. 

Laufend sind zu vergleichen: Ch. V. Langlois, Le Règne de Philippe III. 
le Hardi (1887), 138—166; J. Petit, Charles de Valois (1900), 1—23; Lecoy de 
la Marche, Les relations pol. d. 1. France avec le roy. de Majorque I (1892), 182 
bis 310. 338ff.; Amari, La guerra del vespro sic. (1886) J, 191—1I,? 248; M. Gai- 
brois de Ballesteros, Hist. del reinado de Sancho IV. de Castilla I (1922), 210 
bis 238. II (1928), 18f. 39—51. 137—165. 187f. 198—206. 212. 231—248; G. Dau- 
met, Mém. sur les relations d. I. France et d. I. Castille de 1255 à 1320 (1913), 86 
bis 114; Ch. dela Roncière, Hist. d. I. marine franç. I (1899), 189—210; besonders 
L. Klüpfel, Die äußere Politik Alfonsos III. von Aragonien (Bln. 1911), und H. E. 
Rohde, Der Kampf um Sizilien in den Jahren 1291—1302 [1295] (Berlin 1913). 
Diese Werke werden im Folgenden nur noch in besonderen Füllen angeführt. — 
Die Hauptquellen für den Krieg Philipps III. mit Aragon sind Bern. Desclot, 
Crónica ed. J. Coroleu (Barcel. 1885), cap. 137—168, transl. by Critchlow (Prin- 
ceton 1928), 223—380; Ram. Muntaner, Crónica ed. A. de Bofarull (Barcel. 
1860), cap. 119—139, übs. von K. F. W. Lanz (Lpg. 1842), I, 253—307. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 43 


674 Walther Kienast 


sah die heimatliche Erde wieder. In einer Sánfte, schwer krank, 
hatte Kónig Philipp den Rückzug mitgemacht. Am 5. Oktober 
ist er in Perpignan gestorben. „Solange die Welt steht, wird 
man in Frankreich nicht den Namen Katalonien aussprechen, 
ohne dieses Unglücks zu gedenken.“ Mit diesen Worten schließt, 
der katalanische Chronist seinen Bericht?. 


Philipp III., „der Kühne“, hatte seinem Hause durch den 
Feldzug eine neue Krone erwerben wollen. Als die „sizilische 
Vesper'' die Franzosen von der Insel gefegt und das Joch Karls 
von Anjou, Philipps Oheim, gebrochen hatte, als König Pedro, 
der Gemahl einer Enkelin Friedrichs II., unter dem Jubel des 
Volkes in Palermo einzog (1282), da hatte Papst Martin IV., 
durch und durch Franzose und eine Kreatur Karls, dem Ara- 
gonesen sein Reich, das von der Kurie zu Lehen ging, entzogen 
und es dem französischen König angetragen. Auf einer feier- 
lichen Versammlung von Adel und Prälaten in Paris, in An- 
wesenheit des Kardinallegaten Cholet, nahm Philipp die Krone 
für seinen zweiten Sohn, Karl von Valois, an. Die Einsetzung 
einer kapetingischen Nebenlinie, die einst in Süditalien so gut 
gelungen war, sollte jetzt also in Aragonien wiederholt werden. 
Gegen König Pedro, den Rebellen wider den römischen Stuhl, 
wurde das Kreuz gepredigt; ein Kirchenzehnt auf mehrere Jahre 
in ganz Frankreich und den angrenzenden Reichsdiözesen aus- 
geschrieben; gewaltig rüstete die Monarchie zum Kriege“. Im 


® Nach Desclot 361 cap. 167, transl. 366 hätte Roger Loria jenseits des 
Passes gestanden und die Franzosen angegriffen. Auch nach Muntaner cap. 139, 
übs. I, 304 hatte Roger Loria mit seinen Seeleuten den Paß vor Ankunft des feind- 
lichen Heeres besetzt. Versteht man schon nicht, daß unter diesen Umständen der 
Rückzug überhaupt möglich war, so wird die Nachricht widerlegt durch die Urkunde 
bei Vaisséte, Hist. de Languedoc X (1885), pr.195 nr. 42 II. — Die im Text zitierte 
Stelle bei Muntaner cap. 139 Ende, übs. I, 307. 


* Auch eine Anzahl deutscher Landesherren, die mit Philipp befreundet oder 
verwandt waren, nahmen an dem „Kreuzzug“ teil: Herzog Johann I. von Brabant, 
sein Bruder Gottfried, Graf Gottfried II. von Vianden, Gerhard von Lützelburg 
und Herr von Durbuy, Herr Rase von Gavre, Pfalzgraf Otto IV. von Burgund. 
Jan van Heelu, Rijmkronijk betr. den slag van Woeringen, ed. Willems (Brüssel 
1836), 98 v. 2573ff. 102 v. 2680ff. 434 nr. 60—62; Recueil des Hist. d. 1. France 
[im folg. abgekürzt: Rec. J. XXII, 470B. 481L. 482 FH. 492E. 673—675. 674C; 
A. Castan, Le siège de Besançon .. (Bes. 1869), 16. pièc. just. nr. 5. 7. 8. 10. 13. 19; 
Cartulaire des Comtes de Bourgogne (Mém. et doc. .. dela Franche Comté VIII, 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 675 


Mai 1285 begann der Einmarsch in Roussillon, das dem König 
Jayme von Mallorca, Pedros feindlichem Bruder, gehörte. Die 
Stadt Elne, die Aragon anhing, wurde gestürmt und völlig zer- 
stört, die gesamte Einwohnerschaft, auch Frauen und Kinder, 
auf Befehl des Legaten niedergemetzelt. In der ersten Juni- 
hälfte überschritt das Heer die Pyrenäen auf einem schmalen 
Fußpfad, den die Verteidiger zu sperren versäumt hatten. Der 
Feind, zahlenmäßig sehr unterlegen, zog sich in voller Ordnung 
zurück und beobachtete das weitere Vordringen der Franzosen. 
Auf dem Schloß Lers krönte Cholet Karl von Valois zum König. 
Ende Juni fing die Belagerung von Gerona an; sie dauerte 
Monate, bei glühender Sommerhitze. Die Entscheidung des 
Krieges führten die Katalanen, die damals die erste Seemacht 
des westlichen Mittelmeers waren, auf dem Wasser herbei. 
Roger Loria, Pedros großer Admiral, war aus Sizilien herbei- 
geeilt und vernichtete die Kreuzflotte in einer großen Schlacht; 
der französische Führer wurde gefangen. Damit war Philipp 
der gesamte Nachschub abgeschnitten. Obwohl sich Gerona 
endlich ergab, mußte wenige Tage später das französische Heer, 
von Krankheiten schon stark gelichtet, den Rückzug antreten, 
der zur Katastrophe wurde®. 


Auch der Thronfolger, Philipps gleichnamiger Sohn und 
älterer Bruder Karls, hat an dem Feldzug teilgenommen — als 


Besançon 1908), 378 nr. 409. Vgl. A. Wauters, Le duc Jean I. et le Brabant (Brüssel 
1862), 63; L. de Piépape, Hist. d. I. réunion d. l. Franche-Comté I (Paris 
o. J.), 37. 

5 Auf willkürlicher Verbindung verschiedener Quellenangaben beruht die Er- 
zählung von Petit, Valois 9f., der Kardinal habe in Lers Karl mit seinem Hute 
gekrönt, da eine Krone nicht zur Hand gewesen sei. Desclot cap. 155, transl. 297 
(diese Stelle zitiert Petit nicht) sagt nur kurz, in Lers habe Cholet den Prinzen zum 
König krónen lassen; nichts von einem Hute. Dagegen bei der Pariser Versammlung 
von Febr. 1284 hat der Legat Karln mit seinem „capell burgueren y“ investiert, 
Desclot262 cap.136. Was, burguereny' bedeutet, habe ich nicht sicher feststellen 
konnen, auch Erkundigungen bei katalanischen Romanisten durch freundliche Be- 
mühung der ‚Deutschen Wissenschaftlichen Vermittlungsstelle" in Barcelona 
blieben erfolglos. Doch meint ‚capell’ zweifellos den Kardinalshut; die Wiedergabe 
transl. 219 mit „Burgundian helmet" ist falsch. (Vgl. Labernia, Diccionari 
de la lengua Catalana, Barcelona 1864, 300 s. v. Capelo). Diese Stelle führt Petit 
zu seiner Geschichte von der Hutkrónung in Lers allein an (neben der ausdrücklich 
abgelehnten Nachricht Muntaners cap. 103, übs. I, 211 von seiner Krönung durch 
den Papst in Rom). 


43* 


676 Walther Kienast 


Gegner des ganzen Unternehmens“. Seinen Bruder, dem hier 
der Legat mit dem Kardinalshut sein neues Reich übertrug, 
soll er als „König Hut“ verhöhnt haben“. Während der Kämpfe 
vor Gerona stand der französische Thronfolger mit Pedro in 
geheimem Briefwechsel. Das verräterische Schriftstück, ein 
Brief Pedros, ist noch heute erhalten®. Als dann der Rückzug 
notwendig wurde, versprach, so wird erzählt, der Aragonier dem 
Prinzen auf seine Bitte, die Paßstraße nicht zu sperren; doch 
könne er seine leichten Truppen nicht vom Angriff zurückhalten. 
In der Tat verlegte er den Franzosen den Weg nicht und be- 
genügte sich mit einem Angriff auf die Nachhut?. Mochte Philipp 
schon aus Liebe zu seiner verstorbenen Mutter, Pedros Schwe- 
ster, mit seinen Gefühlen auf Seiten des Oheims, des berühmten 
Kriegshelden stehen — bewußt oder unbewußt lehnte er damit 
ein Unternehmen ab, das weniger den Interessen Frankreichs 
diente als denen Neapels und der Kurie. Philipps Stellung wirkt 
wie ein Leitmotiv für seine künftige Regierung!?. 


In Narbonne hielt Philipp dem Vater eine Leichenfeier; 
langsam zog er von dort durch Languedoc, Auvergne, Bour- 
bonnais nordwärts nach ParisH. Hier wurde der Leib des toten 


* Nach J. de Hocsem, Chronique ed. G. Kurth (Brüssel 1927), 69 Z. 10 
würe auch Karl von Valois Gegner des Krieges gewesen, sicher unzutreffend. — Als 
Philipp III. bereits mit den GroDen der Languedoc letzte Abreden traf, ja von 
Navarra aus schon einen Einfall in feindliches Gebiet machen lieB, erhielt der Thron- 
folger noch von Pedro ein in herzlichstem Ton gehaltenes Schreiben, 1283 Nov. 16: 
J. Carini, Gli archivi ele bibl. di Spagna .. II (Palermo 1884), 51. Vgl. Langlois, 
Phil. 146; Petit, Valois 7. Auf dem großen Pariser Hoftag soll der Erbprinz vor 
dem Kriege mit Aragon gewarnt und Pedro, den Abgesetzten, zum Arger des 
Legaten „König“ genannt haben, Desclot 258f. cap. 136, transl. 214f. 

7 Muntaner cap. 108, „rey del xapeu“, was nach Bofarulls Anm. zur Stelle 
„Hutkönig“ bedeutet; von Lanz I, 212 u. ö. als Windkönig übersetzt. 

* Pedro an Kronprinz Philipp, 1285 Aug.: Petit, Valois 371 nr. 1; Carini 
59 (mit Aug. 5). 

® Desclot 357 cap. 167, transl. 361f.; Muntaner cap. 138, übs. I, 301ff. 
Die Richtigkeit der Nachricht sucht zu widerlegen Molinier bei Vaisséte In. 3] 
IX, 113 n. 3. Moliniers Gründe reichen nicht aus, die Angaben zu verwerfen, doch 
bleiben hier, wie so oft, wenn eine Nachricht nur von den beiden spanischen Chro- 
nisten überliefert wird, Zweifel. 

10 K. Wenck, Philipp d. Sch. .. (Marburg 1905), 41f. betont ausschließlich 
die persönlichen Beweggründe bei Philipp. Über Pedros Persönlichkeit vgl. O. 
Cartellieri, Peter von Aragon (Heidelbg. 1904), 30ff. 

11 Rec. XXII, S. XL; Harduin, Acta Concil. VII (1714), 1063f. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 677 


Kónigs in der Erbgruft der Kapetinger zu St. Denis begraben, 
aber ohne das Herz, das Philipp auf Bitten seines dominika- 
nischen Beichtvaters den Predigerbrüdern in Paris überließ. 
Darob große Zwietracht zwischen den Prädikanten und den 
Mönchen von St. Denis. Die Magister der Theologie von der 
Pariser Universität veranstalteten Streitgespräche und bewiesen 
klärlich das Recht der Abtei. Die Prälaten und Barone, der 
Legat selbst wurden bei dem jungen Herrscher vorstellig: der 
letzte Wille seines Vorgängers werde mißachtet, dem uralt-ehr- 
würdigen Kloster seines Hauses geschehe schweres Präjudiz. 
Doch alles umsonst — der König bestand fest auf seinem Willen. 
Ein kleiner Zug, belanglos als Begebenheit, aber bezeichnend 
für Philipps Sinnesweise!?, 


Zu Epiphanias 1286 wurde er als der Vierte seines Namens, 
zusammen mit seiner Gemahlin Johanna von Champagne- 
Navarra, in der Kathedrale von Reims gekrónt!?. Als Philipp 
die Krone empfing, zählte er erst 18 Jahre, Johanna erst 13. 
Bereits vor zwei Jahren in noch überaus jugendlichem Alter, wie 
so häufig in jenen Zeiten, war das Paar vermählt worden!“. Der 
König war ein Jüngling von hohem Wuchs und starkem Knochen- 
bau. Das bleiche, regelmäßige Gesicht, aus dem blaue Augen 
kalt und klar blickten, umrahmte langes Lockenhaar. Die Jagd, 
die er leidenschaftlich liebte, hatte seinen Körper gestählt; er 
verfügte über ungewöhnliche Kräfte: zwei Ritter, auf deren 
Schultern er sich stützte, konnte er zu Boden beugen. Die Zeit- 
genossen gaben ihm den Beinamen des Schönen", 


2 Guill. de Nangis, Chronique lat. ed. H. Géraud (1843) I, 266 und Gesta 
Phil. in Rec. XX, 538. 539. | | 


13 Nang is, Chron. I, 267. Kosten der Feier: 23. 160 lib. 72 s. 1d. par., L. De- 
lisle, Mém. sur les opérations financiers des Templiers (Acad. Inscript. et Belles 
Lettres, Mém. XXXIII, 2, 1889), 52f. 55. 


M Philipp war 1268 (Nangis, Chron. I, 233 und Gesta Lud. in Rec. XX, 
428C), die Königin 1273 geboren, Arbois de Jubainville, Hist. .. de Champagne 
VI (1866), 102 nr. 3856; vgl. auch Wenck, Philipp 44. Die Hochzeit fand 1284 
Aug. 16 statt, Nangis, Chron. I, 262. 


15 Les Gestes des Chiprois publ. par G. Raynaud (Genf 1887), 313 (Templier 
de Tyr.); Anon. reg. Franc. Chron. in Rec. XXII, 17F; Aegid. li Muisis im 
Corpus chron. Flandr. ed. J. de Smet II (1841), 184. 200; Nic. Triveti Annales 
ed. Th. Hog (Lond. 1845), 311; Giov. Villani, Cronica, ed. Moutier et Dragomanni 
(Florenz 1844), IT, 187 nennt ihn den schönsten Mann der Christenheit. Ein Porträt, 


678 Walther Kienast 


Währenddessen standen an der aragonischen Grenze schwache 
französische Streitkräfte unter dem Befehl des Königs von 
Mallorca. Philipp stellte ihm genügend Geldmittel zur Ver- 
fügung, um den Feind abzuwehren und zu beschäftigen, zu 
wenig, um den Angriff in größerem Maßstab wieder aufzunehmen. 
Auch als Roger Loria eine Reihe von Küstenstädten der Lan- 
guedoc bis nach Aigues-Mortes niederbrannte und ausplünderte, 
ließ er sich nicht zu einem neuen Einfall nach Aragon fort- 
reißen!®. Sein Vater habe ihm sterbend, so erzählt ein Chronist, 
den Eid abgenommen, er werde seinem Bruder die Krone Ara- 
gons erkämpfen“. Hat Philipp diesen Schwur wirklich geleistet, 
so betrachtete er sich an ihn nicht gebunden; er dachte nicht 
an ernsthafte Fortsetzung des Krieges. Aber er schloß auch 
nicht Frieden; das verbot nach dieser Niederlage schon die 
Ehre Frankreichs. Er hielt die Ansprüche Karls von Valois 
auf das Nachbarland aufrecht, willens, sie möglichst teuer zu 
verkaufen. Die diplomatische Lage begünstigte solche Ab- 
sichten. 

Die sizilische Vesper, ein Ereignis von weltgeschichtlicher 
Tragweite, hatte die Verhältnisse ganz Süd- und Westeuropas 
erschüttert. Gewaltig hatte Karl von Anjou, der päpstliche 
Lehnskönig von Neapel und Sizilien, nach Ost und West aus- 
gegriffen. Er erwarb die Würde eines Königs von Jerusalem. 
Er erneuerte die alten normannischen Pläne auf Byzanz, wo 
nach dem Sturze des lateinischen Kaisertums die Paläologen 
residierten. Schon reichte sein Arm über die Adria: er hatte die 
Lehnshoheit über das fränkische Fürstentum Achaja erworben 
und seine Verwaltung in eigene Hand genommen, hatte Korfu 
besetzt und das Königreich Albanien und Epirus gewonnen. 
Der König der Serben, der Zar der Bulgaren waren seine Ver- 
bündeten. Ein Vertrag mit Venedig war geschlossen, 1283 sollte 
sich das Heer in Brindisi sanımeln, zur Verschiffung nach Kon- 
stantinopel. Das Reich der Romäer schien dem Untergang ge- 


das auf Ähnlichkeit Anspruch erheben könnte, ist von Philipp IV. nicht erhalten, 
vgl. Ch. Maumené et L.d’Harcourt, Iconographie des rois de France I (1929), 271. 
1* Chron. Gir. de Fracheto in Rec. XXI, 7E; Lecoy I, 284 n. 1; Muntaner 
cap. 152, übs. II, öff. 
17 Chron. Frachet. 7C. Das Gegenteil behauptet Muntaner cap. 138, übs. 
I, 302. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 679 


weiht!®. Und ebenso drohte eine bedeutende Erweiterung des 
angiovinischen Machtbereiches im Nordwesten. Vor Jahrzehnten 
war einst Karl durch Heirat Graf der Provence geworden, von 
dort aus hatte er später, wenn auch unter erheblichen Rück- 
schlägen, seine Herrschaft in die westliche Lombardei aus- 
gedehnt. Er war das natürliche Haupt aller Welfen der Halb- 
insel. Sein Enkel Karl Martell sollte jetzt mit Clementia, der 
Tochter Rudolfs von Habsburg vermählt werden und mit ihrer 
Hand das Königreich Arelat erhalten. Unter dem Druck der 
Kurie mußte Rudolf auf diese südburgundischen Gebiete, in 
denen die Reichsgewalt nur noch ein Schattendasein fristete, 
Verzicht leisten. Schon ankerten Karls Schiffe auf der Rhöne, 
um das Land in Besitz zu nehmen”. 

Vor dem Blitzstrahl der sizilischen Vesper zergingen die 
arelatischen wie die byzantischen Entwürfe in nichts. Die spon- 
tane Erhebung der Sizilianer führte König Pedro von Aragon 
auf den Thron der Insel. Schon früher hatte Pedro, der mit dem 
schismatischen Kaiser von Ostrom gegen Karl ein Bündnis 
eingegangen war, als Gemahl der staufischen Konstanze Erb- 
ansprüche erhoben. Zu den dynastischen Interessen kamen 
wirtschaftliche. Dem katalanischen Handel, den die Sizilianer 
durch mannigfache Privilegien förderten, eröffneten sich durch 
die Eroberung der Insel glänzende Aussichten. Den Katalanen 
galt der Kampf um Sizilien als wahrer Volkskrieg, ihre Flotte 
schlug unter Führung Roger Lorias die neapolitanische in zahl- 
reichen Schlachten. Anders in dem binnenländischen Teil des 
Staates, dem eigentlichen Aragon. Hier sah man in dem sizi- 
lischen Unternehmen lediglich eine persönliche Angelegenheit 
des fremden Königshauses von Barcelona, die ohne den Rat 
der Großen unternommen worden war. Die Stände schlossen 
sich gegen den König zu einer Union zusammen, trotzten ihm 


18 W. Norden, Papsttum und Byzanz (Bln. 1903), 440ff. 467 ff. 474ff. 592ff. 
621ff.; O. Cartellieri 69ff. 133ff. 

19 Vom Arelat sollten jedoch die Hochstifter Bisunz und Lausanne, sowie die 
Grafschaft Burgund abgetrennt werden und nicht mit zur Mitgift Clementias ge- 
hóren. G. M. Monti, La dominazione angioina in Piemonte (Turin 1930), cap. 
1—4; O. Redlich, Rud. v. Habsburg (Innsb. 1903), 396ff. 595ff.; P. Fournier, 
Le royaume d'Arles (1891), 231ff.; R. Grieser, Das Arelat in der europ. Politik 
(Jena 1925), 31f.; A. Demski, Nikolaus III. (Münster 1903), 150ff.; F. Kern, 
Ausw. Politik Rudolfs von Habsbg., in MóJG. XXXI (1910), 61ff. 


680 Walther Kienast 


das große Generalprivileg ihrer Freiheiten ab, ja sie knüpften 
mit dem Feinde an. Das Land, von Parteikámpfen zerrissen, litt 
schwer unter dem jahrelangen Krieg und dem Interdikt“. 


Die inneren Schwierigkeiten Aragoniens bildeten ein wich- 
tiges Druckmittel für die zähe und tatkräftige französische Po- 
litik. Die Hauptakteure waren von der Bühne abgetreten: 
Karl I. starb bereits Anfang 1285, tief verdüstert, daß sein 
Lebenswerk halb zerstört und sein gleichnamiger Sohn und 
Nachfolger, der Fürst von Salerno, von Roger Loria gefangen 
genommen war. Karl I. trug am Tode seines Neffen Philipp 
ebenso die Schuld, wie er einst seinen Bruder Ludwig den Hei- 
ligen ins Grab gebracht hatte, als er ihn der Mittelmeerpolitik 
Neapels zuliebe in den Krieg gegen Tunis zog®!. Auch Martin IV. 
hatte den Beginn des Feldzuges nicht mehr gesehen. König 
Pedro endlich überlebte seinen geschlagenen Feind Philipp III. 
nur um einige Wochen; seine Sóhne Alfons III. und Jayme 
folgten ihm in der Regierung Aragons und Siziliens. Die Herr- 
scher hatten gewechselt, aber die übermächtige Koalition gegen 
Aragon hielt zusammen. Doch statt des Kampfes mit den Waffen 
hob nun ein diplomatisches Ringen an. Wir führen im Folgenden 
die äußerst langwierigen und verwickelten Verhandlungen nicht 
im einzelnen vor, sondern begnügen uns mit den Hauptlinien 
und Wendepunkten. 


Philipps Bestreben mußte darauf gerichtet sein, weitere 
Bundesgenossen zu gewinnen und den Gegner noch mehr zu 
vereinzeln. 


Von dem englischen Vermittlungsversuch, der im Sommer 
1286 einsetzte, konnte er Vorteile nach dieser Richtung nicht 
erwarten. Den äußeren Anlaß für das Eingreifen König Ed wards I. 
bot die Bitte der Söhne Karls von Salerno, sich um die Befrei- 


Neben dem Buch von O. Cartellieri [n. 10] vgl. R. Sternfeld, Der Vertrag 
zwischen . . Michael VIII. und Peter v. Aragon 1281, in Arch. f. Urkf. VI (1918); 
W. Heyd, Hist. du commerce du Levant, éd. franç. par F. Raynaud (Lpz. 1885), 
I, 475; Klüpfel, Alf. 20. 83. Anh. I; Ders., Verwaltungsgeschichte .. Aragons 
(Stuttg. 1915), 192ff.; A. de Bofarull, Hist. crit. de Catalufia III (Barcel. 1876), 
552f. 

31 Über Karl von Anjou und Ludwigs IX. 9. Kreuzzug urteilt Sternfeld anders. 
Nähere Literaturangaben W. Kienast, Die Deutschen Fürsten im Dienste der 
Westmächte, II, 1 (München 1931), 219 n. 5. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schónen von Frankreich gegen Aragon 681 


ung ihres Vaters zu bemühen*?, Edward sagte gern seine Hilfe 
zu. Karl war sein persónlicher Freund, und noch mehr: ein 
baldiger FriedensschluB lag durchaus im eigenen Interesse des 
Plantagenet. Denn die Sicherheit der englischen Besitzungen 
in Südfrankreich heischte gebieterisch, Aragon vor einer Nieder- 
lage zu bewahren, welche die Machtstellung der Kapetinger in 
der Languedoc unerträglich verstärkt hätte. Um den Druck 
Frankreichs von Guyenne abzulenken, hatte Edward auf die 
verschiedenste Weise versucht, die Monarchie von Süden und 
Osten zu umklammern. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte er 
eine Vermählung seiner Tochter Eleonore mit Alfons von Aragon, 
dem jetzigen König, in die Wege geleitet. Sie war durch Pro- 
kuration vollzogen worden, doch befand sich die Braut noch 
in England“. Zur selben Zeit verlobte er seinen Sohn mit Jo- 
hanna, der Erbtochter des Grafen von Champagne und Königs 
von Navarra. Durch die Heirat wäre das angevinische Reich, 
in neuer Form, wieder aufgerichtet, wären vielleicht die Ge- 
schicke Frankreichs in andere Bahnen gelenkt worden. Doch der 
Bräutigam starb bald darauf. Johanna wurde zur Gemahlin 
Philipps des Schönen bestimmt; ihr gewaltiges Erbgut fiel an 
die Monarchie, nicht an den Staat der Plantagenets ?“. Immerhin 
hatte bis vor kurzem, Anfang 1284, Edwards Bruder als zweiter 
Gemahl von Johannas Mutter die Champagne verwaltet; zu 
diesem Zeitpunkt, als die Erbin volljährig wurde, fand die vor- 
mundschaftliche Regierung ihr Ende?5*. — Und ähnlich weiter 
südwärts. In dem Königreich Burgund, den Landen zwischen 
Rhöne, Meer und Alpen, bestanden jahrhundertealte englische 
Interessen. Während der Gefangenschaft Richard Löwenherzens 
tauchte vorübergehend der Plan auf, ihn mit dem Arelat zu 
belehnen?$, Mit Savoyen knüpfte bereits Heinrich II. eine Ver- 


33 1286 Mai 2: Rymer, Foedera [im folg. cit. nach der Record-Edition, London 
1816] I, 2, 664. 1283 Jan. 12 hatte Edward jede Unterstützung Aragons abgelehnt, 
ebd. 625. Siehe auch Klüpfel, Alf. 22. 

33 Swift in EHR.V (1890), 326ff.; Kern, Eduard I. und Peter, in MöJG. 
XXX (1909), 412. 415ff.; Langlois, Phil. 73. 

** Langlois ebd.; Arbois [n. 14] IV, 1, 440f.; Ramsay, Dawn of the Consti- 
tution (Lond. 1908), 352. 

3$ W. E. Rhodes, Edmund Earl of Lancaster, in EH R. X (1895), 214. 216. 224; 
Arbois IV, 1, 446. 4521. 

3€ A. L. Poole, England and Burgundy in the last decade of the 12th century, 
in: Essays in history pres. to R. L. Poole (Oxf. 1927), 261—273. 


689 Walther Kienast 


bindung an, die sein Enkel sorgfältig pflegte und durch die 
Heirat mit einer Tochter des Grafen von Provence ergänzte?”. 
Noch festeren Fuß suchte Edward zu fassen durch die Ver- 
lobung einer seiner Töchter mit Hartmann, dem zweiten Sohne 
Rudolfs von Habsburg. Das alte Königreich Arelat sollte wieder- 
hergestellt und der Prinz damit vom Reiche belehnt werden. 
Doch auch diese Pläne scheiterten: die Kurie führte die Ver- 
bindung des Habsburgers mit dem Anjou herbei. Ebenso zeigt 
Edwards Beteiligung an der „Liga von Mäcon‘ wie sehr er 
nach Einfluß in den burgundischen Landen strebte: Er ver- 
pflichtete sich seiner Muhme Margarete, der greisen aber noch 
recht tatkräftigen Witwe des heiligen Ludwig, zur Waffenhilfe, 
als sie ihre Erbansprüche auf die Provence gegen Karl von 
Anjou mit dem Schwerte verfechten wollte und eine Liga ins 
Leben rief, bestehend aus zahlreichen burgundischen Landes- 
herren und Edwards Bruder, dem Verwalter der Champagne. 
Schon hatte Margarete die Streitkräfte aufgeboten, als auch 
hier die sizilische Vesper einen Umschwung herbeiführte. Die 
Verbündeten der Königin brauchten nun eine angiovinische 
Herrschaft im Arelat nicht mehr zu fürchten und verloren da- 
mit das Interesse an dem Bunde. — Höchst unangenehm 
mußte es in Paris berühren, daß Edward durch seine Gemahlin, 
Eleonore von Kastilien, die zwischen Flandern und der Nor- 
mandie gelegene Grafschaft Ponthieu erbte und damit einen 
wertvollen Stützpunkt an der nordfranzösischen Küste gewann“. 

Hält man sich diese gefährliche Betriebsamkeit der englischen 
Politik an den Grenzen der Monarchie vor Augen, so nimmt es 
nicht Wunder, daß die Mittlerrolle Edwards, der im Mai 1286 
selbst auf das Festland gekommen war“, um Philipp dem Schönen 
für seine Lehen zu huldigen?!, in Frankreich mit tiefem Miß- 
trauen betrachtet wurde. Zwar ließ sich Philipp zu einem Waffen- 


7 Kienast I, 78ff.; II, 1, 81ff. 101ff. 118ff. 1408. 158ff. 

38 Redlich [n. 19] 410 ff. 594ff.; Fournier, Arl. 230f. 250ff.; Gries er 291f.; 
F. Kern, Die Anfänge der frz. Ausdehnungspolitik (Tüb. 1910), 92f.; Dems ki 
[n. 19] 142ff. Die Liga bestand aus dem Herzog und dem Pfalzgrafen von Burgund, 
den Grafen von Savoyen und Piemont, dem Erzbischof von Lyon und dem Bischof 
von Langres, und einigen kleineren burgundischen Herren. 

3 Johnstone, County of Ponthieu, EHR. XXIX (1914), 435ff. 

% Calendar of the Close Rolls, Edward I. II, 396. 

31 1286 Aug.: J. Dumont, Corps univ. dipl. I, 1 (1726), 264 nr. 496. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 683 


stillstand herbei, aber er verfolgte argwóhnisch die aragonisch- 
neapolitanischen Verhandlungen, die Edward leitete??. Sie 
stießen auf den Widerspruch der Kurie. Der neue Papst Nico- 
laus IV., kaum gewählt, erklärte das Abkommen für nichtig®®, 
das Edward in Oléron zwischen diesem und Karl von Salerno 
zustande brachte (Juli 1287) und welches gegen große Pfänder 
die Freilassung des Gefangenen vorsah**. 

Nach der Aufhebung des Vertrages begann Frankreich um 
die Jahreswende 1287—1288 wieder den offenen Krieg. Philipp 
ließ bekanntmachen, der Waffenstillstand sei aufgehoben. Er 
verbot jeden Handel mit dem Feinde, befahl, die aragonischen 
und katalanischen Kaufleute einzusperren und ihre Güter zu 
beschlagnahmen. Geräuschvoll rüstete er zum Krieg. In der 
Seneschallei Carcassone wurden die ritterlichen Vasallen auf- 
geboten, die Burgen in Stand gesetzt, ein Küstenschutz ein- 
gerichtet. Der König von Mallorca erhielt Hilfe von Kron- 
beamten bei Anwerbung von Söldnern; die königlichen Zeug- 
häuser lieferten ihm Waffen. Eine Flotte wurde in Marseille 
ausgerüstet. Jenseits der Grenze fürchtete man einen neuen 
französischen Einfall. Man wollte wissen, Karl von Valois werde 
binnen kurzem die Pyrenàen überschreiten. Doch der ganze 
Kriegslárm gebar nur eine Maus: Der Kónig von Mallorca legte 
sich vor eine katalanische Grenzfeste und wurde von Alfons 
bald zum Abzug gezwungen®®. Dachte Philipp tatsächlich an 
einen neuen großen Feldzug? Alles deutet darauf hin, daB die 
plótzlich erwachte Kampflust nur gespielt war, um den Papst 
zu täuschen. Der Zehnt, den einst Martin IV. auf vier Jahre 
Philipp III. bewilligt hatte, war abgelaufen?**. Der französische 


? Nangis, Chron. In. 12] I, 268. Philipp IV. verfolgte die Verhandlungen 
aufmerksam; seine Gesandten Peter von Mornay und Johann von Akkon suchten 
den englischen Kónig in Bordeaux auf, Delisle, Temp. [n. 13] 141 nr. 113. 151. 

* 1288 März 15: Reg. Nicol. In. 39] nr. 560—565. Bereits das Kardinalskolleg 
hatte wührend der Sedisvakanz den Vertrag verworfen, ebd. nr. 107. Es wurde über 
die näheren Bedingungen der Freilassung verspätet unterrichtet, Ry mer I, 2, 679; 
Raynaldus, Ann. eccl. (Bar-le-Duc) XXIII, 27 ad 1288 § 12. 

** Vertrag betr. Karl, 1287 Juli 25: Rymer I, 2, 677. 

* Vaisséte In. 8] X, pr. 207. 229 nr. 51. 57; IX, 132f.; J. Régné, Amauri 11 
vicomte de Narbonne (Narb. 1910), 40 nr. 36; Klüpfel, Alf. 49 n. 2; Petit, Valois 
15 n. 7; A. Baudouin, Lettres inéd. de Philippe le Bel (1887), 208 nr. 182, 2. 

* Rec. XXI, 524; Rob. Mignon, Invent. d'anc. comptes roy., ed. Ch. V. 
Langlois (Rec. Hist. de France. doc. financ. I, 1899), 93 nr. 639; L. Bourgain, 


684 Walther Kienast 


Kónig schickte eine Gesandtschaft nach Rieti, die Nicolaus 
um Verlängerung des Zehnten für den Krieg gegen Aragon 
bitten, sowie dafür wirken sollte, daß Alfons keinen Dispeus 
für seine englische Ehe erhielt*?, die er in Oléron von neuem 
mit Edward verabredet hatte“. Der Papst wollte die Unter- 
werfung Siziliens wie seine Vorgànger. So willfahrte er, obschon 
zógernd und zaudernd. Er verlieh Philipp im September 1288 
den Zehnten der französischen Kirche erst auf zwei“, dann, 
nachdem die Gesandten etliche Kardinäle, wohl mit metallischem 
Händedruck, umgestimmt hatten, auf drei Jahre“. Der Papst 
bedang sich ein Viertel des Gesamtertrages, 200000 Pfd. Tur- 
nosen, als seinen Anteil aus. Aber auch so war das Geschäft 
für Philipp noch glänzend. Es wurde ein Goldstrom von jähr- 
lich rund 190000 Pfd. Tur. in die kóniglichen Kassen gelenkt — 
vorausgesetzt freilich, daB nicht ein unzeitiger FriedensschluB 
dazwischen kam“!. In diesem Falle sollten, das war ausdrück- 


Contribution du clergé à l'impót, in Rev. Quest. hist. 48 (1890), 66 nach ungedr. 
Urkunde. Ausschreiben an Reichsbistümer, 1284 Mai 5: F. Kaltenbrunner, Akten- 
stücke zur Gesch. d. dtsch. Reiches (Wien 1889), 293 nr. 262; A. Gottlob, Die 
päpstl. Kreuzzugssteuern im 13. Jahrh. (Heiligst. 1892), 129; M. A mari, Storia 
dei Musulmani di Sic. II, 113. 

7 Klüpfel, Alf. 86 n. 2; Petit, Valois 14 n. 7. Schon 1286 Juni 17 hatte 
Honorius IV. die aragonische Heirat Edward ausdrücklich verboten, Rymer l. 
2, 666; ob auf Philipps Wunsch, ist unbekannt und anzunehmen unnótig. 

35 1287 Juli 28: Rymer I, 2, 678. 

® Zweijährig und nur in Frankreich, 1288 Sept. 11: Registres de Nicolas IV. 
ed. E. Langlois (1886ff.), nr. 613. 

40 1288 Sept. 25: für Frankreich und die Kirchenprovinzen Bisunz, Lyon, 
Vienne, Tarentaise und den nicht zur Provence gehórigen Teil von Embrun, sowie 
für die Sprengel von Lüttich, Metz, Tull und Verdun: ebd. nr. 615. Erster Zahlungs- 
termin sollte 1289 Juni 24 sein. Siehe auch Mignon [n. 36] 95 nr. 669; St. Baluze, 
Vitae paparum Avenion., ed. G. Mollat (1914—28) III, 6 nr. 4 (Alte Ausg.: II, 10). 
1289 Mai 31 und Juni 28 legte der Papst auf Philipps Bitten statt den Provinzen 
Embrun und Tarentaise der Diózese Kamrik den Zehnten auf, ebd. nr. 1004—5; 
E. Boutaric, Doc. inéd. .. sous Phil.-le-Bel (Notices et Extraits des mscr. d. l. 
Bibl. imp. XX, 2, 1862), 91 nr. 1. Siehe ferner Reg. Nicol. IV. nr. 991ff. 1006ff. 
Vgl. A. Baumhauer, Phil. d. Sch. u. Bonifaz VIII. in ihrer Stellung zur frz. Kirche 
(Phil. Diss. Freibg. i. Br. 1920), 35; O. Schiff, Stud. z. Gesch. Nikolaus IV. (Bln. 
1897), 22. 

4 Zehntertrag (1289—1291): 793. 192 lib. tur., einschließlich der Reichs- 
diózesen. Nach Abzug der Zahlung an Rom und der 23. 353 lib. Erhebungskosten 
bleibt ein Reingewinn für Frankreich von rund 570.000 lib. tur., Rec. XXI, 556 
n. 5; Gottlob [n. 36] 132. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 685 


lich ausgemacht, die Zehnten sogleich aufhóren. MuBte sich 
nicht bei solchem Himmelslohn der „Rex christianissimus‘‘*? 
dem gottgefälligen Werk des Ketzerkrieges mit frommer Aus- 
dauer widmen? 

Für die Zehnten, die er einstrich, zog Philipp zwar nicht das 
Schwert, aber er erweckte Alfons einen neuen gefährlichen 
Feind: Kastilien. Noch immer lasteten auf König Sancho von 
Kastilien die Thronansprüche der Cerdas, der Nachkommen 
seines vor ihm verstorbenen älteren Bruders, der mit einer 
französischen Prinzessin vermählt gewesen war. Dazu kam, 
er lebte in kirchlich ungültiger Ehe, und Philipp bearbeitete 
die Kurie nach Kräften, Sancho nicht den ersehnten Dispens zu 
erteilen. Noch die letzte französische Gesandtschaft, deren 
Hauptgeschäft der Zehnte war, bat den Papst, er möge Sancho 
nicht König betiteln und seine Ehe nicht legitimieren“®. Philipp 
wollte, wie die Instruktion der Gesandten deutlich durchblicken 
ließ, mit diesem Druckmittel die bereits eingeleiteten Verhand- 
lungen mit Kastilien fördern. Im Juli 1288 haben in Lyon die 
Unterhändler beider Mächte den Vertrag besiegelt. Ein Kriegs- 
bündnis gegen Aragon wurde abgeschlossen. Der französische 
König versprach, nun umgekehrt, den Papst um Anerkennung 
von Sanchos Ehe zu bitten und ließ die Cerdas fallen. Sie sollten 
mit Murcia, das noch nicht lange den Mauren entrissen war, 
als selbständigem Königreich entschädigt werden. Als die Cerdas 
das ausschlugen und als Verbündete des Aragoniers zu offenem 
Kampfe gegen Sancho fortschritten, gab Philipp ihre Ansprüche 
gänzlich preis“. 

Durch den Anschluß Kastiliens an die feindliche Koalition 
bedrängt, kam König Alfons dem Wunsche Edwards nach, der 
als eifriger Vermittler dauernd persönlich mitwirkte, und ließ 
Anfang November 1288 den kerkermüden Fürsten von Salerno, 
der dafür seine jüngeren Söhne als Geiseln überlieferte, unter 
der Bedingung frei, daß er entweder einen Frieden herbeiführte, 


*3 Der Titel „Rex christianissimus“ wurde auch auf andere Könige angewendet, 
erst am Hofe Karls V. entstand die Idee, ihn für Frankreich vorzubehalten, vgl. 
N. Valois, Le roi trés chrétien, in: La France chrétienne dans l'hist., publ. p. 
Baudrillart (Paris 1896), 317—330. 

Klüpfel, Alf. 93 n. 2. 

1288 Juli 13: Daumet 184 nr. 19. 


686 Walther Kienast 


der Sizilien bei Aragon ließ, oder in die Gefangenschaft zurück- 
kehrte**. Die Maßnahme erwies sich als völliger Fehlschlag“. 
Denn weder erreichte Karl, der sich nach Paris begab, die Zu- 
stimmung seines Vetters, noch bewogen Edwards Mahnungen 
an den Papst“, er möge um des Heiligen Landes und der Not- 
wendigkeit eines Kreuzzuges willen dem Blutvergiefen unter 
den christlichen Vólkern endlich Einhalt gebieten, diesen dazu, 
Sizilien den Ketzern zu überlassen. Vielmehr versagte Nicolaus 
dem Plantagenet den Dispens für die aragonische Heirat“, 
krónte Karl zum Kónig von Sizilien (Mai 1289) und schrieb, 
um die Sizilianer zu züchtigen, einen dreijährigen Zehnt“ in 
ganz Italien und der Provence aus. Karl aber unterwarf sich 
dem unbeirrbaren Kriegswillen der Kurie. Der Akt des Dramas, 
in dem der Plantagenet die Führung an sich zu reiBen gesucht 
hatte, war damit zu Ende. Sein Abschlu8 wird durch die Rück- 
kehr Edwards nach England (August 1289) auch äußerlich 
gekennzeichnet“. 


So blieben Aragon und Sizilien dem lastenden Druck einer 
gewaltig überlegenen Koalition weiter ausgesetzt; von keinem 
Gliede der christlichen Staatenwelt durften sie noch wirksamen 
Beistand erwarten. In dieser Lage richtete Alfons seine Blicke 
auf das Morgenland. Die Vormacht des Islam war damals Agyp- 
ten. Der große Mameluckensultan Kalaün gebot von der ly- 
bischen Wüste bis zum Taurus und Euphrat, die wenigen 


“ Canfranc, 1288 Okt. 28: Rymer I, 2, 687f.; Schiff In. 40] 24f. Während 
der Verhandlungen um Karls Freilassung reisten in die Provence arag. Gesandte ab, 
welche die Bürgen und Pfünder in Empfang nehmen sollten, aber Philipp verweigerte 
den Geiseln das Geleit und brachte das Geschäft der Bevollmächtigten damit zum 
Scheitern: Alfons an Jayme von Sizilien, 1288 Juni 1, G. La Mantia, Cod. dpl. 
dei ré Aragonesi di Sicilia I (1917), 421 nr. 181. Instruktion arag. Gesandter an 
Edward, 1288 Juni 17: Klüpfel, Alf. nr. 6 S. 154. 

Klüpfel, Alf. vgl. zu diesem Absatz Schiff 25ff. 

@ 1289 Mai 8: Rymer I, 2, 708f.; Barth. de Neocastro, Hist. Sicula, ed. 
G. Paladino (Rer. Ital. SS. XIII, 3, 1922), 110f. 

48 Reg. Nicol. IV. nr. 1005. 

4 1289 Juni 20: ebd. nr. 1142—1152. Den Vertrag von Canfranc hob Nicolaus 
auf, 1289 Sept. 12: ebd. nr. 1389. 

99 Aug. 12: Rymer I, 2, 711. Als 1290 Febr. 3—13 in Perpignan auf englische 
Einladung eine Gesandtentagung stattfand, um gewisse Schadenersatzansprüche 
zu prüfen, da war die Vollmacht der Franzosen so zweideutig abgefaßt, daß die 
Konferenz noch vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen aufflog: eb d. 726—729. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schónen von Frankreich gegen Aragon 687 


Christenstädte in Syrien ausgenommen; er übte die Oberherr- 
schaft über die heiligen Stätten in Mekka und Medina; der 
Khalif, das oberste religiöse Haupt der Gläubigen, der seit der 
Eroberung Bagdads durch die Mongolen in Kairo residierte, war 
eine bloße Drahtpuppe in seinen Händen. An Kalaün schickte 
Alfons Anfang 1290 seine Gesandten, um ein Bündnis nachzu- 
suchen. Am 25. April wurde der Vertrag abgeschlossen®!, wäh- 
rend die christliche Welt um das heilige Land zitterte und immer 
lauter der Ruf nach einem neuen Kreuzzug ertönte; zu einer 
Zeit, da der Sultan Tripolis erobert hatte und Akkon, die letzte 
Frankenveste, bedrohte. 

Die Beziehungen Aragoniens zu Ägypten waren bisher rein 
wirtschaftlicher Natur gewesen; in dem schwunghaften Mittel- 
meerhandel mit dem Nillande standen die katalanischen Küsten- 
plätze neben den italienischen Seestädten an erster Stelle. Die 
Kaufleute holten die kostbaren indischen Gewürze und Luxus- 
waren aus den Häfen des Sultans und lieferten dafür Nahrungs- 
mittel, Sklaven, Pech, vor allem aber Holz und Eisen, die beide 
Ägypten nicht erzeugte und deren genügende Einfuhr für das 
Land eine Lebensfrage war. Daß Ägypten in zweien, für Rüstung 
und Schiffsbau so unentbehrlichen Stoffen vom Westen ab- 
hing, hatte man früh erkannt, und das spätere 12. und das 
13. Jahrhundert durchzieht eine ganze Kette von Konzils- 
beschlüssen und Synodalstatuten und päpstlichen Mandaten, 
die alle den Handel mit Ägypten teils ganz untersagten, um 
den Sultan auch durch den Fortfall der hohen Zölle zu schädigen, 
teils den mit Holz und Eisen verboten und über die dawider- 
handelnden „schlechten Christen“ Bann, Beschlagnahme der 
Güter und Versklavung verhängten. Erst Ende 1289 hatte 
Nicolaus IV. abermals eine solche Handelssperre verkündet, und 
seine Nachfolger erneuerten sie alle paar Jahre. Wie hoch man 
die Wichtigkeit dieser Maßnahme einschätzte, zeigen auch die 
zahlreichen Kreuzzugsgutachten, die Entwürfe Karls II. von 
Neapel und des Franziskaners Fidentius von Padua, des Ar- 
menierprinzen Hayton und des Johannitermeisters, des Königs 
von Cypern und Nogarets, der Raimund Lull, Marino Sanudo 
und Pierre Dubois: sie alle sehen in einer möglichst vollständigen 


1 Text des Vertrages in ital. Übersetzung bei Amari, Vespro III, 364 nr. 81. 
Vgl. ebd. II, 216ff.; La Mantia [n. 45] I, 456 nr. 194. 


688 Walther Kienast 


Blockade Ägyptens die unumgängliche Voraussetzung und zu- 
gleich die sicherste Gewähr für das Gelingen eines Kreuzzuges. 
Aber wie die háufige Wiederholung dieser Handelsverbote schon 
zeigt, wurden sie keineswegs lückenlos durchgeführt. Die italie- 
nischen, spanischen, südfranzósischen Seestädte erlitten durch 
den Ausfall eines ihrer Haupterwerbszweige schwere Verluste, 
und oft genug war, zum Hohn der Mohammedaner, die Gier nach 
Gewinn stärker als das Gefühl der christlichen Gemeinschaft“. 
Als Abwehr gegen die neuerliche Handelssperre mußte 
sich Alfons in einer Klausel des Vertrages verpflichten, die 
freie Ausfuhr von Eisen, Waffen und Holz zu gestatten. Aber 
was dem Bündnis sein besonderes Gesicht gab, waren die po- 
litischen Bestimmungen. Brechen die syrischen Christen den 
gegenwärtigen Waffenstillstand mit Kalaün, so werden ihnen 
die Könige von Aragon und Sizilien keinerlei Hilfe gewähren. 
Ebenso werden Alfons und Jayme dem Papst, dem König von 
Frankreich oder anderen christlichen Mächten jeden Beistand 
durch Hilfstruppen, Geld, Schiffe verweigern, vielmehr dem 
Sultan schnellstens Nachricht senden, wenn diese einen Kreuz- 
zug gegen ihn vorbereiten und ihm das voraussichtliche Angriffs- 
ziel mitteilen. Wollen der Papst oder irgend ein christlicher Staat 
oder die Ritterorden die Länder des Sultans bekriegen, so werden 
Alfons und Jayme sie daran mit Waffengewalt verhindern, zu 
Wasser und zu Lande. Leider wissen wir nicht, welche politisch- 
militärischen Gegenleistungen Kalaün übernahm; es ist nur 
die ägyptische Ausfertigung des Vertrages überliefert, die davon 
nichts enthält. Man wird eine entsprechende Kriegshilfe voraus- 
setzen dürfen oder doch Subsidien, gewissermaßen eine Parallele 
zu den päpstlichen Zehnten für Philipp den Schönen. 
Versuchen wir, uns klar zu machen, welche Stelle dieses 
bedeutsame Bündnis in den allgemeinen Weltbegebenheiten 
einnimmt. Auf der Pyrenäenhalbinsel und in Nordafrika be- 


5? Heyd In. 20] I, 378ff. II, 23ff.; G. Caro, Genua u. d. Mächte am Mittel- 
meer, II (Halle 1899), 133. 1289 Dez. 28, Reg. Nicol. IV. nr. 6789. Verschärft 
1291 Aug. 23, ebd. nr. 6784—6788, vgl. 6782—6783. Fr. Heidelberger, Kreuz- 
zugsversuche um die Wende des 13. Jahrh. (Bin. 1911), 4. 6ff. 12. 391. 66ff.; J. 
Delaville-le-Roulx, La France en Orient au 14e siècle I (1886), 16ff. 31. 35fl.; 
M. Heber, Gutachten u. Reformvorschläge f. d. Vienner Generalkonzil (Phil. 
Diss. Lpz. 1896), 22ff., 45f.; H. Finke, Acta Arag. II (1908), 744 nr. 461. 915 nr. 
587. 


Der Kreuskrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 689 


stimmte die Religion lángst nicht mehr das politische Handeln. 
Wie es der Vorteil des Augenblicks heischte, verbanden sich 
christliche und muhammedanische Fürsten gegen ihre Nachbarn. 
Diese Besonderheit der spanischen Verhältnisse spielte auch 
bei dem Bündnis zwischen Aragon und Ägypten mit, aber 
es bedeutete doch viel mehr: ein Ereignis, das in tiefsten 
Wandlungen des historischen Lebens wurzelt, eine Wegmarke 
der mittelalterlichen Geschichte. Es ist kein Zufall, daB die 
Gesandten Alfonsens auf jenen Vertrag Kaiser Friedrichs II. 
mit dem Sultan El Kamil verwiesen®®, der hauptsächlich die 
Abtretung Jerusalems regelte, daneben aber für die Dauer der 
Waffenruhe beide Teile zu gegenseitigem Beistand verpflichtete. 
Als der kaiserliche Kreuzfahrer das neue Kónigreich Jerusalem 
begründete, stand er unter Kirchenbann, hatte er das hóchste 
Ziel der Christenheit gegen die haßerfüllte Kurie zu erkämpfen, 
die sein Erbland mit ihren Schlüsselsoldaten überschwemmte. 
Später, nach der zweiten Bannung Friedrichs, hielt der Papst 
mit allen Mitteln die Kreuzträger vom Zuge ins Heilige Land 
zurück, damit sie sich den Sündenablaß lieber im Krieg mit dem 


53 Der arabische Biograph des Kalaün, der uns den Text des Vertrages über- 
liefert hat, bemerkt dazu, die aragonischen Unterhändler hätten vom Sultan erbeten 
„la pace nei medesimi termini, ne’ quali fu stabilita tra lo imperatore 
[Federigo II.] e (il sultano] Malec Camil“. Der Friedensvertrag von 1229 ist 
nicht vollstándig auf uns gekommen (Winkelmann, Jahrb. Friedr. II, II, 113), 
er enthält eine Bestimmung, wonach sich beide Teile für die Dauer des Stillstandes 
im Falle eines Angriffs von dritter Seite gegenseitigen Beistand versprechen (ebd. II, 
116; MG. Epp. saec. XIII. I, 298 § 7—9). Für den Frieden von 1229 ist bisher, 
soviel ich sehe, die angeführte Stelle des arabischen Chronisten nicht herangezogen 
worden. Stellt das Bündnis von 12% wirklich in größerem oder kleinerem Umfang 
eine Wiederholung von Abreden zwischen Friedrich und El Kamil dar? Die Frage 
zu lösen, könnte nur ein Arabist versuchen. Viel hängt davon ab, ob Amari, Vespro 
III, 368 mit seiner Auffassung des Satzes gegen de Sacy im Recht ist. Durchaus 
unbegründet scheint mir die Bezugnahme A maris ebd. II, 222f. auf einen Vertrag 
zwischen Friedrich und dem Sultan Malek Saleh von 1242. Ganz abgesehen davon, 
daß der arabische Biograph ausdrücklich El Kamil nennt (siehe oben), findet sich 
an der von Amari angezogenen Stelle einer arabischen Chronik der Patriarchen von 
Alexandria (A mari, Bibl. Arabo-sicula, Vers. ital. I (1880), 522f., bzw. 325f.) nur 
ein Bericht über zwei Gesandtschaften Friedrichs an den Sultan von Ágypten — 
die übrigens in den Regesta Imperii nicht erwühnt sind —, die erste zwischen 1241 
Aug. 29 und 1242 Aug. 28, die zweite zwischen 1242 Aug. 29 und 1243 Aug. 28. 
Von einem damals abgeschlossenen Vertrag des Kaisers mit dem Sultan steht in 
dieser Chronik kein Wort. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 44 


690 Walther Kienast 


Kaiser verdienten. Die Katastrophe Ludwigs von Frankreich 
in Ágypten gab man dieser Haltung des Papstes schuld. Vollends 
in dem furchtbaren Endkampfe des vierten Innocenz mit dem 
abgesetzten Staufer wird es den Augen der Welt offenbar: die 
Religion umhüllte nur noch wie ein schlechtsitzendes Kleid die 
weltumspannenden  Herrschaftsziele der römischen Kirche. 
Kein geistliches Strafmittel, das nicht mißbraucht, keine 
Kirchenvorschrift, die nicht gebrochen, kein Sittengesetz, das 
nicht politischen Vorteilen bedenkenlos geopfert wurde. Meuchel- 
mord wurde wider den Imperator versucht, und der heilige 
Vater war Mitwisser. Der Gedanke von der Überordnung der 
spiritualen Gewalt, den seit Gregor VII. die Kirche nicht wieder 
aufgegeben hatte, war zu seinen letzten Folgerungen vorgeschrit- 
ten: Der Vikar deB, der verkündete: „mein Reich ist nicht von 
dieser Welt‘‘, verdammte seine politischen Feinde als Ungläubige 
und Ketzer. Die Kirche hatte ihre ideale Mission eingebüßt, die 
sie ehedem innegehabt. Umsomehr mußte die Überspannung 
der geistlichen Tendenzen entgegengerichtete Ideen auf den 
Plan rufen. Es war ein unerhörtes Geschehnis: Dem Papsttum 
zu Trotz erkoren und behaupteten die Sizilianer ihren nationalen 
König. Vielleicht zum ersten Male in den mittleren Jahrhunderten 
stieß damit der Wille eines Volkes zu unmittelbarer historischer 
Wirkung vor. „Glücklich der Herrscher, der nach dem Willen 
der Sizilianer auf dem Thron des Königreiches sitzt‘‘, läßt der 
patriotische Chronist eine seiner Personen ausrufen. Für die 
Ziele seiner italienischen Territorialpolitik setzte der römische 
Stuhl die Mittel der universalen Kirche ein: die Kreuzzugs- 
zehnten, die das Lyoner Konzil für das heilige Land bewilligt 
hatte, die erste Steuer der gesamten katholischen Kirche, stellte 
der Papst zum großen Teil Frankreich und Neapel zur Ver- 
fügung“; gegen die Ketzervölker von Aragon und Sizilien rief 
er das Schwert der Gläubigen auf und verhieß den Gottesstreitern 
vollständigen Ablaß ihrer Sünden. Nicolaus IV. schlug Jayme 
vor, zum Schutze Palästinas auszuziehen; er werde ihn dafür 
zum päpstlichen Gonfaloniere machen. Statt Bannerträger der 
Kirche wurde Jayme lieber Bundesgenosse des Sultans. In dem 
angiovinischen Heere fochten unter der Kreuzesfahne, vom 


Gottlob In. 36] 116ff. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 691 


Legaten geführt, die Sarazenen von Lucera, die ehemalige Leib- 
garde des staufischen Antichrist®®. Es ist, als hätte eine damals 
herrschende Tendenz der Weltgeschichte Gestalt gewonnen: 
Die Einheit der christlichen Welt, die das Hochmittelalter trotz 
aller Kämpfe zwischen Päpsten und Kaisern bewahrt hatte, 
sie begann zu zerfallen; aus der Res publica christiana schälten 
sich die einzelnen Glieder mehr und mehr heraus; wider die 
universale Macht der römischen Kirche erhob sich der auf sich 
selbst beruhende, nur seinen eigenen Interessen dienstbare, 
autonome Staat. 

Des geistigen Zusammenhanges wegen, als ein wichtiges 
Moment dieses Auflösungsprozesses, verdient das Bündnis unsere 
Aufmerksamkeit. Eine unmittelbare politische Wirkung auf 
den aragonisch-französischen Krieg hat es dagegen nicht aus- 
geübt. Wir wissen nicht einmal, ob Alfons es bestätigte. Denn 
seine Politik nahm jetzt eine entscheidende Wendung vor: unter 
dem Druck der auswärtigen Lage und der inneren Schwierig- 
keiten entschloß sich der König, Sizilien aufzugeben, das zu 
verteidigen jenes Bündnis vor allem hatte dienen sollen. Er 
überließ seinen Bruder sich selber, in der stillen Hoffnung, Jayıne 
werde angesichts der militärischen Überlegenheit, die er bisher 
bewiesen, auch auf sich allein gestellt die Insel behaupten. Doch 
wie würde sich Frankreich bei so verwandelter Lage verhalten ? 
Philipp der Schóne war im April 1290 mit Sancho von Kastilien 
in Bayonne zusammengetroffen und hatte mit einigen Abände- 
rungen den Vertrag von Lyon erneuert“. Einer Waffenruhe, die 
Alfons mit Karl von Neapel verabredete, versagte er seinen Bei- 
tritt und brachte sie so zum Scheitern”. Aber einen großen 
Schritt zum Frieden bedeutete es, daB Karl von Valois die 
Tochter des Kónigs von Neapel heiratete, die als Mitgift die 
Grafschaften Anjou und Maine erhielt, und er sich dafür zum 
Verzicht auf seinen aragonischen Schattenthron bereitfand®®. 


55 Neocastro [n. 47] 109 Z. 35. 114 Z. 35. Die wörtlich zitierte Stelle ebd. 
139 Z. 40. 

** 1290 Apr. 9: Daumet 200 nr. 21; Gaibrois II, 39ff. 

87 Alfons an Jayme, 1290 Sept. 18: G. La Mantia, Documenti su le relazioni 
del rè Alfonso III. di Arag. con la Sicilia (Institut d'Estudis Catalans. Barcel. 
1908), 362 nr. 22. 

s Heiratsvertrag, 1290 Aug. 18: Marténe et Durand, Thesaurus nov. I, 1236. 
Vgl. Petit, Valois 17ff. Zum Lohn für die großen Gebietsopfer, die sein Vetter 


44* 


692 Walther Kienast 


Philipp stimmte zu; sein Bruder war reich entschädigt und der 
Krone Frankreich der Anfall beider Grafschaften zugesichert, 
falls die Ehe kinderlos bliebe. Der Papst gab sofort den wegen 
der Verwandtschaft nótigen Dispens; er wünschte, würde nur 
das angiovinische Recht auf Sizilien nicht angetastet, durchaus 
den Frieden mit Aragon. Nicolaus stand damals in etwas ge- 
spanntem Verháltnis zu Frankreich. Innere Fragen der franzó- 
sischen Kirche hatten zu einem Konflikt zwischen König und 
Papst geführt. Zwei Legaten gingen nach Paris ab, um die 
Angelegenheit zu bereinigen?. Die beiden Kardinäle waren 
gleichzeitig für die Friedensverhandlungen mit Aragon bevoll- 
máchtigt, die in dem provencalischen Rhónestádtchen Tarascon 
stattfanden. Der Kónig von Neapel war selber anwesend; der 
Papst, Aragon und England ließen sich durch Gesandte ver- 
treten. Alfons ließ feierlich erklären, er mißbillige das Unter- 
nchmen seines Vaters auf Sizilien; er wurde dafür von Bann 
und Interdikt gelöst und bekam die Krone zurück, die der Papst 
einst dem Valois verliehen hatte. Auf dieser Grundlage, wenn 
wir uns auf die Hauptpunkte beschränken, ward der Friede 
zwischen Aragonien und der Kurie am 19. Februar 1291 ge- 
schlossen$?, Daß Nicolaus selbständig, ohne Frankreich, den 
Krieg mit Aragon beendete, scheint für seine Stimmung gegen 
Philipp immerhin bemerkenswert, wenn auch der Beitritt des 
Königs zu erwarten stand. Während die Legaten in Paris weil- 
ten, hatte sich Philipp durch ein Privileg (August 1290) vor der 
Friedensgefahr gesichert: Er sollte die Zehnten, auch wenn 
Aragon die Waffen niederlegte, noch für die vorgesehenen zwei 
Jahre beziehen, nur würde er dann dem Papst für die sizilischen 


Karl von Neapel gebracht hatte, trat Philipp ihm die Hälfte von Avignon ab, das 
bisher dem frz. König und Karl als Grafen der Provence gemeinsam gehört hatte, 
wie einst dem alten Grafen von Toulouse und denen von Provence aus dem Hause 
Barcelona. Aus der Erbschaft Alfons’ von Poitiers fiel die eine Hälfte an die franz. 
Krone, die andere kam durch die Heirat mit der provengalischen Erbtochter an Karl 
von Anjou. Seb. Franc. Castrucci, Istoria .. d’Avignone I (Vened. 1678), 153: 
A. Longnon, La Formation de l'unité franc. (1922), 153f. 177. 

5 1290 März 23: Reg. Nicol. IV. nr. 4254—47; Raynaldus ad 1290 $ 19. 20. 
Vgl. H. Finke, A. d. Tagen Bonifaz VIII. (Münster 1902), 13ff. 

* Rymer I,2, 744f.; G. Curita, Anales I (1669), 344 ff.; Neocastro In. 47] 
121f.; Muntaner cap. 173, übs. II, 43ff.; Gesta Comitum Barcin., ed. L. B. Dihigo 
. J. M. Torrents (Barcel. 1925), 101f. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 693 


Kriegskosten statt der bisher vereinbarten 200000 Pfd. Tur. 
deren 400000 bezahlen. So hatte Philipp selbst für diesen Fall 
einen groBen Teil der Beute gerettet. 

Da trat ein plótzliches Ereignis ein, das alles Erreichte wieder 
umstürzte: Alfons erkrankte an einer Drüsengeschwulst und 
starb nach wenigen Tagen am 18. Juni 1291. 


Sein Nachfolger war sein Bruder Jayme. Er eilte aus Sizilien 
herbei und ließ dort seinen dritten Bruder Friedrich als Statt- 
halter, zusammen mit seiner Mutter, der staufischen Konstanze, 
zurück. Die Verzichtpolitik Alfonsens brach er schroff ab, ja 
.er ging über die ursprünglichen Absichten seines Bruders noch 
hinaus: Er wollte die Insel nicht nur seinem Hause bewahren, 
sondern sie mit der Krone Aragon vereinigen, lenkte also wieder 
in die Bahnen Pedros des GroBen ein. 


Philipp dem Schónen konnte der Wiedereintritt des Kriegs- 
zustandes nur lieb sein. In diesem Jahre lief der von Nicolaus 
bewilligte Zehnt ab, und es war an der Zeit, die Schleusen des 
Goldstroms abermals aufzuziehen. Dem kastilischen Bundes- 
genossen schlug Philipp einen Doppelangriff auf Aragon vor; 
man mußte jetzt wieder für den nötigen Waffenlärm in den Ohren 
des Papstes sorgen®. Eine französische Gesandtschaft ging 
nach Rom. Sie forderte, Nicolaus möge von neuem das Kreuz 
gegen Aragon predigen lassen und den französischen Kirchen- 
zehnten verlängern — diesmal gleich auf sechs Jahre, vermut- 
lich, um dem Papst nicht durch zu häufige Bitten lästig zu fallen. 


€ 1290 Aug. 19: Amari, Mus. (n. 36] II, 226 nach ungedr. Urkd. Wenn die 
Eroberung der Insel übers Jahr und 2 Monate vollendet sei, sollte sich die Summe 
von 400000 lib. tur. auf 300000 ermäßigen. Der Vertrag galt nur, wenn Sizilien im 
Widerstand verharrte. Daß Jayme aber nicht an Unterwerfung dachte, hatte Phi- 
lipp erst zuletzt aus dessen Friedensvorschlügen von 1290 Juni 14 ersehen, wo 
Jayme für sich Sizilien und Kalabrien forderte, La Mantia In. 45] I, 472 nr. 200. 
493 nr. 209. 


Rohde 19 n. 1; Gaibrois III, COXCIX nr. 445. Die Darstellung der ka- 
stilisch-franzósischen Verhandlungen bei Rohde ist viel klarer und ausführlicher, als 
die bei Daumet 111ff. Beide stützen sich auf denselben, jetzt von Gaibrois a. a. O. 
herausgegebenen Gesandtschaftsbericht. Die Angabe Daumets 112, Philipp habe 
Sanchos Kriegshilfe gegen Edward gewünscht, ist ein Versehen, statt der gegen 
Aragon. 


694 Walther Kienast 


Es war eine starke Zumutung. Philipp hatte jahrelang das Geld 
eingestrichen und nichts dafür geleistet, hatte alle Bitten des 
Papstes überhört“, er möge als „filius benedictionis et gratiae" 
den Zehnt, den einst sein Vater für einen (dann unterbliebenen) 
Kreuzzug ins heilige Land erhalten, zurückzahlen. Und vor 
allem: im Mai war Akkon gefallen, in schmerzdurchzitterten 
Klagebriefen hatte Nicolaus die Schreckensbotschaft der ganzen 
Christenheit verkündet und zu einem allgemeinen Kreuzzug 
aufgerufen; den Beginn setzte er auf Johanni 1293 fest“. Auch 
Philipp hatte er mahnend an die „Fußspuren seiner Ahnen“ 
und deren fromme Werke erinnert*5, Indeß den König schreckten 
diese Spuren, und die frommen Werke wollte er lieber gegen 
Aragonien verrichten. Doch diesmal wich der Papst seinen 
Wünschen aus. Aus triftigen Gründen, erklärte Nicolaus“, 
müsse er seinen Entscheid auf später verschieben; er fürchte, 
durch die Kreuzpredigt gegen Jayme werde der fromme Eifer 
des englischen Königs und der übrigen Fürsten erkalten, werde 
vielleicht das Ganze in Frage gestellt. Selbst den Stachel sparte 
er nicht und führte als Hindernis auch die Gewalttaten der könig- 
lichen Beamten gegen die französischen Kirchen an. Es war eine 
kaum verhüllte Absage. 


Philipp hätte sich damit nicht zufrieden gegeben, doch bald 
darauf starb Nicolaus (April 1292) und eine Sedisvakanz von 
27 Monaten folgte. Eine unerfreuliche Lage. Der König hatte 
alle Lombarden seines ganzen Landes unter dem Vorwand un- 
erlaubten Wuchers in einer Nacht gefangen setzen lassen und 


** 1290 Apr. 25: Raynald. ad 12% $ 17. 12% Dez. 9: Reg. Nicol. IV. nr. 
44111f.; Sbaraleae Bullar. Francisc. IV (1768), 199 nr. 370. 1291 Aug. 24: Reg. 
ebd. nr. 6779f. Nach Edg. Boutaric, La France sous Philippe le Bel (1861), 280 
habe Philipp als Antwort den Nachweis geführt, die Kurie schulde umgekehrt ihm 
noch Geld. Das Quellenzitat stimmt nicht. Ist Rec. XXI, 531 B gemeint? Aber 
dieses Schriftstück ist erst nach 1307 abgefaBt. Immerhin ist eine solche Entgegnung 
Philipps sehr wohl denkbar, denn in der Tat war ihm seit der ganz einseitig Frank- 
reich begünstigenden Generalabrechnung unter Martin IV. die Kurie mehrere 
hunderttausend Pfund schuldig, Gottlob [n. 36] 128; siehe auch Reg. Nicol. IV. 
nr. 616, col. 123. 

„ 1291 Aug. 1. 13. 23: Reg. ebd. nr. 6800—5. 7625. 

4 Ebd. nr. 6778. 

* 1291 Dez. 13: ebd. nr. 6849. Vgl. Schiff [n. 40] 54f.; Vaissète In. 3] 
IX, 159. 


Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon 695 


ihnen die Freiheit gewiß nicht umsonst zurückgegeben“, hatte 
die Juden des Poitou und der Saintonge vertrieben, ihre Habe 
beschlagnahmt und sich von der dortigen Bevólkerung, die diese 
Maßnahme gewünscht, eine mehrjährige Herdsteuer bewilligen 
lassen®®. Doch was bedeutete dies neben den gewaltigen Summen, 
die er den Kirchen abgenommen hätte? Er hielt sich schadlos, 
so gut es ging: 137000 Pfd. Tur., die er vom letzten Kirchen- 
zehnten noch der Kurie zu erstatten hatte, behielt er ein®. 
Die Kardinäle bekamen seinen Ärger zu spüren, als sie von der 
französischen Kirche ein Subsidium für das heilige Land ver- 
langten. Er verbot kurzerhand, es zu bewilligen?®. Es sei dem 
Staat ersprießlich, daß die Bewohner wohlhabend seien. Durch 
die Steuern verarmten die Kirchen, und nicht nur die Geist- 
lichkeit, sondern dem ganzen Gemeinwesen geschehe schwerer 
Schade; zudem habe man die königliche Erlaubnis nicht ein- 
geholt. Offen war am Schluß dieses Mandates ausgesprochen: 
er wolle die Sammlung nicht unterbinden, sondern fördern, aber 
nur, wenn sie mit seinem Einverständnis und in der alten Weise 
vorgenommen werde, — das heißt, wenn er das Geld in die 
Hand bekomme und darüber verfügen könne“. 


© Borrelli de Serres, Recherches sur div. services publics III (1909), 13f.; 
P. Emiliani-Giudici, Storia dei communi Italiani III (Florenz 1866), 424ff.; 
J. Olivier, Le livre de Comptes .., ed. A. Blanc (1899), 444 nr. 30 bis; A. Gherardi, 
Le consulte della Repubblica Fiorentina II (Flor. 1898), 142. 

*$ E. Audouin, Rec. de doc. concernant .. Poitiers, in Arch. hist. du Poitou 
44 (1923), 226 nr. 147; Vincent, Les juifs du Poitou, in Rev. d'hist. écon. et soc. 
XVIII (1930), 289f., vielfach fehlerhaft, mißt u. a. den Angaben des im 16. Jahrh. 
schreibenden J. Bouchet, Les annales d'Aquitaine (ed. nouv. Poitiers 1644), 179 
zu viel Gewicht bei. 

® Rec. XXI, 631B; Registres de Boniface VIII., ed. Digard u. a. (1884ff.), 
nr. 2318. 2327. 2329; Fr. Baethgen, Quellen und Untersuchungen z. Gesch. d. 
päpstl. Hof- und Finanzverwaltung unter Bonifaz VIII., in Quellen u. Forsch. XX 
(1928/29), 177, der aber dahin zu berichtigen ist, daB die von Philipp 1297 gezahlten 
20. 000 lib. ein Teil der Restsumme von 37. 000 lib. sind, denn nach Rec. a. a. O. waren 
von den geschuldeten 200.000 lib. bis Himmelfahrt 163.000 lib. bezahlt. 

æ 1292 Aug. 3: Ordonnances XI (1769), 372. 

n Nach Kervyn de Lettenhove, Etudes sur l'hst. du 13. siécle (Mém. del’Acad. 
roy. des sciences .. de Belgique XXVIII, 1854), 8, dem sich Baumhauer [n. 40] 
39 anschließt, hätte Philipp 1292 vom Cisterzienserorden drohenden Tones die 
Zahlung eines Zehnten gefordert, den Gregor X. vor 17 Jahren Philipp III. ver- 
liehen hatte. Die Urkunde, auf die sich Kervyn stützt, hat er selbst spüter veróffent- 
licht, Kervyn, Cod. Dunensis (Brüssel 1875), 186 nr. 117. Es ist eine Protest- 


696 Walther Kienast 


Inzwischen wühlte und zettelte er in Aragon. Der Statthalter 
von Navarra sollte die ihrem Kónig Abtrünnigen vereidigen. 
Unzufriedene Große erklärten sich als Vasallen Philipps und 
traten in den Dienst des Valois. Die Kurie unterstützte das 
Werk nach Kräften“. Zusammen mit dem König von Neapel 
schickte Philipp Gesandte nach Genua und bemühte sich— 
vergeblich — um ein Bündnis mit der seemächtigen Republik“. 
Mit Kastilien, das sich, durch einen Maurenangriff schwer be- 
drängt, im November 1291 mit Aragon gegen Frankreich ver- 
bündet“, aber im Herbst 1292 durch einen Sieg über die Moslem 
wieder größere Handlungsfreiheit verschafft hatte, verständigte 
er sich im geheimen über die Bedingungen, unter denen Jayme 
Frieden erhalten würde. So sah sich dieser, der Anfang 1293, 
anscheinend aus dem Verlangen nach Subsidien, das frühere 
ägyptische Bündnis mit dem jetzigen Sultan, dem Sohn Ka- 
laüns und Eroberer von Akkon, erneuert hatte?5, derselben 
Koalition gegenüber, der sein Bruder erlegen war. Er mußte 
sich, wollte er Frieden haben, zum Verzicht auf Sizilien ent- 
schließen. Aber anders als Alfons, überließ er nicht die Insel 
sich selber, sondern wollte sie, nótigenfalls mit Gewalt, der 
Kurie ausliefern, die ihn dafür mit Sardinien belehnen 
würde. Auf dieser Grundlage verabredeten die Könige von 
Aragon und Neapel, als sie Ende des Jahres in dem kata- 
lanischen Grenzort Junquera zusammentrafen, den Frieden. 
Der Vertrag sollte vor Kastilien und den Sizilianern streng 


erklärung im Namen der Äbte von Citeaux und Clairvaux, 1292 April 4. Darin steht 
von Philipp IV. kein Wort; die Erzáhlung von seinen Drohungen ist reine Phantasie. 
Vielmehr verlangt ein Beauftragter Nicolaus’ IV. von den genannten Äbten die 
Zahlung gewisser Restbestünde jenes Zehnten zu Gunsten der Kurie. Im Vorwort 
zum Cod. Dun. S. IV hat Kervyn seine alte falsche Darstellung aus den Études 
wiederholt. 


733 Amari, Vespro II, 236 n. 1; Petit, Valois 20. 

78 Wende 1292—1293: Caro, Gen. [n. 52] II, 165ff. 

74 1291 Nov. 28: Gesta Bare. In. 60] 103f.; Rohde 23ff. 155; Schiff [n. 40] 
61f.; Gaibrois II, 137—152. Der Vertrag setzte auch eine Kriegshilfe Kastiliens 
gegen Frankreich fest. Zugleich wurde die Hochzeit Jaymes mit der erst neun- 
jährigen Tochter Sanchos gefeiert. 

75 1293 Jan. 29: Amari, Vespro III, 489 nr. 72. Jayme ließ als seine Verbün- 


deten auch Kastilien und Portugal aufnehmen. Die Instruktion für die arag. Ge- 
sandten, 1292 Aug. 10: ebd. III, 391 nr. 33. II, 234f. 


Der Kreuskrieg Philipps des Schónen von Frankreich gegen Aragon 697 


geheim bleiben, bis ein Papst gewählt sei und ihn bestä- 
tigt habe“. 

So hatte Philipp acht Jahre lang Krieg geführt, ohne zu 
kämpfen. Allein durch eine überlegene und zähe Diplomatie 
hatte er Aragon zur Aufgabe Siziliens gezwungen; die Unter- 
werfung der Insel unter ihren alten Herrn schien nur noch eine 
Frage der Zeit. Dem Traumbild einer kapetingischen Herr- 
schaft in Barcelona und Saragossa brachte er keine neuen Blut- 
opfer. In dem Heiligen Krieg suchte er nicht Ruhm, sondern 
Geld. In den Mitteln seiner Politik war er freilich sehr wenig 
wählerisch. Während der Verhandlungen von Oléron ließ der 
Seneschall von Beauceire, wenn nicht auf Befehl, so doch im 
Sinne seines Herrn, einen Bericht, den die vom Papste ab- 
geordneten Nuntien nach Rom sandten, dem Boten gewaltsam 
entreißen und erbrechen“. Als nach der Freilassung Karls von 
Salerno eine aragonische Friedensgesandtschaft durch die 
Languedoc nach Rom reiste, wurde sie, trotz päpstlicher Geleit- 
briefe, schimpflich festgenommen, ihrer ganzen Habe beraubt 
und der Führer, aller Einsprüche des Apostolischen Stuhles 
ungeachtet, noch jahrelang im Kerker festgehalten”®. Doch der 
französische Stolz, der sich über solchen gemeinen Rechtsbruch 
wenig kränkte, verschmerzte es schwer, daß Philipps III. kläg- 
liches Ende ungerächt blieb. Man war keineswegs allgemein 
einverstanden mit der Aufgabe der Eroberungspolitik jenseits 
der Pyrenäen. Dem König schob man die Schuld am Unglück 
seines Vaters zu. Ganz Aragons hätte sich dieser bemächtigt, 
wäre nicht der junge Philipp heimlich auf Seiten seines Oheims 
gestanden“. Böse Gerüchte liefen um: Vor Gerona habe der 
Kronprinz durch den Erzbischof von Saragossa, der die Über- 
gabe der Stadt anbot, Pedro zu weiterem Ausharren ermuntert, 


Joh. de la Ferté, Archidiakon von Brügge, ging als franz. Gesandter nach 
Sevilla. Abrechnung 1293 Febr. 2: Delisle, Temp. In. 13] 56. Das übrige in diesem 
Absatz nach Rohde 43ff. und Gaibrois II, a. a. O. (oben n. 2). Vorfriede von 
Junquera, 1293 Dez. 14: Finke, Acta Arag. III, 21 nr. 13 (siehe auch ebd. 19 
nr. 11 zu Rohde 65f.); Gesta Barc. [n. 60] 105. 

" Reg. Nicol. IV. [n. 39] nr. 6981. 

78 Alfons an Nicolaus, 1289 April 28, Klüpfel, Alf. 156 nr. 6. Siehe auch 
Reg. Nicol. IV. nr. 638—644. 7389; Finke, Acta Arag. I, 13 nr. 7 n. 

73 Hocsem In. 6] 74 Z. 10, die Eroberung wurde durch Philipps Parteinahme 
für Pedro verhindert, „sicut postmodum veritas detexit". 


698 Walther Kienast: Der Kreuzkrieg Philipps des Schónen gegen Aragon 


da die Franzosen bald die Belagerung aufgeben müßten“. In 
einem giftigen Schmähgedicht, das damals entstanden ist, hält 
der unbekannte Verfasser seinem König hóhnend vor: ‚Selber 
bist du ein Aragonier; nie wirst du Aragonien deinem Joch 
unterwerfen !''81 

Frankreich war mißvergnügt über den Frieden. Es sollte 
die Schrecken des Krieges noch gründlich auskosten. Denn 
nun traten Verwicklungen ein, in die Philipp -nicht als 
Bundesgenosse einer kapetingischen Nebenlinie und aus finan- 
ziellen Ursachen, sondern zum Ausbau und zur Vergrößerung 
des eigenen Staates, mit dem ganzen Gewicht seiner Macht ein- 
griff. Das Sturmzentrum der europäischen Politik, das bisher 
über dem westlichen Mittelmeer lag, verschob sich nach Norden. 
Der säkulare Gegensatz zwischen Plantagenets und Kapetingern 
gebar einen neuen Krieg, der die spanisch-sizilianischen Ver- 
hältnisse zu einer bloßen Funktion im englisch-französischen 
Koordinatensystem herabdrückte. Der Friede um Sizilien wurde 
in Anagni (Juni 1295) geschlossen, wie er in Junquera geplant 
worden war, und zugleich mündete der „Kreuzkrieg‘‘ Philipps 
des Schönen aus in ein Militärbündnis mit Aragon, das seine 
Spitze gegen Edward I. richtete. 


* Joh. Longus de Ipra, Chronica, ed. O. Holder-Egyer (MG. SS. XXV), 863 
Z. 40. Die Nachricht geht auf eine sonst unbekannte zeitgenössische Quelle zurück, 
vgl. Holder-Eggers Einleitung. Auch die Bitte um freien Abzug (oben 676), ob 
sie nun der Wahrheit entspricht oder nicht, wurde gerüchtweise bekannt, Des- 
clot 357:... „segons que es fama publicha e continua." 

*! Bordier, Une satire contre Phil. I. B., in Bull. d. I. 1 b. de l'hist. de 
France, 2. Ser. I (1857—58), 199. NW 


699 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol. 


Von 


Otto Stolz. 


Inhaltsübersicht, 


I. Die bisherige Literatur über die Landstandschaft der Bauern in Tirol 
8.699: Albert Jägers Geschichte der landstándischen Verfassung Tirols S. 700. — Die 
allgemeinen Werke zur österreichischen und deutschen Verfassungsgeschichte, 
Luschin, Huber, Dopsch, Below, Gierke, Brunner, Schróder u. a. S. 702f. — Die 
Tiroler Landeshistoriker Roschmann, Beda Weber, Staffler, Ladurner, Egger, 
Noggler u. a. S. 704f. 

II. Ständisches Auftreten der Bauern in Tirol vor dem 14. Jh. S. 706: 
Urkundliche Angaben aus dem 11.—13. Jh. über die Mitwirkung der Insassen der 
Grafschaft an den öffentlichen Angelegenheiten S. 706. — Die Formel „Edel und 
Unedel, Reich und Arm“ als Ständebezeichnung in Tirol im 13. Jh. S. 707. — Die 
Bezeichnungen für den Bauernstand in Tirol seit dem 11. Jh. S. 708. — Der Bestand 
der Landgemeinden und ihre Beschwerden gegen die adeligen Amtsleute im Jahre 
1313 S. 712. 

IIL Die Anfänge der Landstände (Landschaft) in Tirol und die Teil- 
nahme der Bauern an dieser vom 13.bis 15. Jh. S. 716: Die ältesten urkundlichen 
Nachweise über das Auftreten landständischer Einrichtungen in Tirol und ihre Be- 
ziehungen zur indesfürstlichen Rat von 1289—1320 S. 716. — Das landesfürstl. 
Hofgericht und ein Verhältnis zu den Anfängen der Landstände S. 718. — Das Auf- 
treten der Landstände in Tirol von 1330—1342 in der Form von „Edel und Unedel, 
Arm und Reich“ S. 724. — Der große Freiheitsbrief der Tiroler Landschaft von 1342 
und die Einschließung der Landgemeinden in jenen S. 726. Das Auftreten der 
Landgemeinden in der Landschaft im J. 1363 S. 728. — Die Fortbildung der Frei- 
heiten der Landschaft 1406 und 1511 S. 730. — Die Sammlung der „Landesfrei- 
heiten" S. 731. — Der Zusammenhang zwischen der politischen Stellung des 
Bauernstandes und seinen Besitzrechten und seiner Wehrhaftigkeit, Belege für diese 


seit dem Ende des 13. Jahrh. S. 732. 
(Fortsetzung und Schluß im nächsten Heft.) 


I. Die bisherige Literatur. 
Die Tatsache, daß in Tirol wie in einigen schwäbischen Terri- 


torien, in der Schweiz und in Friesland die Bauernschaft an 
den Landtagen teilnahmsberechtigt gewesen ist, die Land- 


700 Otto Stolz 


standschaft also besessen hat, ist in der verfassungs- und 
rechtsgeschichtlichen Literatur schon seit längerem hervorge- 
hoben. Es mußte dies als eine besondere Erscheinung, als eine 
Ausnahme von der allgemeinen Regel um so mehr auffallen, als 
in den meisten anderen Ländern des alten deutschen Reiches, 
im Norden und im Süden, im Osten und im Westen die Bauern 
ein derartiges politisches Recht nicht besessen haben. Es handelt 
sich aber nicht bloß um die Feststellung dieser verfassungsge- 
schichtlichen Sondererscheinung an sich, sondern auch um eine 
Aufklärung, seit wann und wie die Bauernschaft in der ge- 
fürsteten Grafschaft Tirol zu diesem Rechte gekommen ist. 
Hierüber finden wir in der bisherigen Literatur Angaben, die an 
sich nicht ganz einhellig und ausgeglichen sind, aber auch sonst 
einer Nachprüfung an der Hand der Quellen bedürfen. Es emp- 
fiehlt sich, vorerst diese Angaben hier in Kürze vorzuführen. 
Gleich hier sei auch bemerkt, daß man in Tirol die Körperschaft 
der Landstände stets als,, die Landschaft“ bezeichnet hat!. Auf 
die Grafschaft Tirol, die im 13. Jahrhundert durch die territoriale 
Vereinigung der in den Alpen gelegenen Teile des Etsch- und 
des Inntales entstanden ist, ist der Begriff und Ausdruck „Land““ 
(„terra“) fast gleichzeitig, nämlich seit dem Ende des 13. Jahr- 
hunderts angewendet worden?. Dieser Begriff mußte natürlich 
vorher gegeben sein, ehe sich der Begriff „Landschaft“ in dem 
angedeuteten verfassungsrechtlichen Sinne bilden konnte. 


In sehr breiter Anlage hat in den Jahren 1881—1885 Albert Jägers Werk 
„Geschichte der landstündischen Verfassung Tirols" den Gegenstand behandelt. 
Der 1. Band bietet eine Sozial- und Verfassungsgeschichte Tirols für die Zeit vom 
6. bis 13. Jahrhundert, womit der Verfasser die Entwicklung der Stände erklären 
wollte. Manche Abschnitte dieses Bandes sind allerdings durch die spátere Forschung 
weit überholt worden, andere harren noch dieses Schicksals, aber im ganzen war 
es für die damalige Zeit eine gute Leistung exakter Geschichtsdarstellung. Der 2. Band 
bringt eine politische Geschichte der Landstünde Tirols vom Anfang des 14. bis zu 
jenem des 16. Jahrhunderts, eine zeitlich angeordnete, in alle Einzelheiten eingehende 
Darstellung des Auftretens der Landstánde in Tirol, ihrer politischen Handlungen 
und Verhandlungen. Die quellenmäßigen Unterlagen Jägers reichen in beiden 
Bänden allerdings meist nur soweit, als sie damals durch den Druck bekannt waren, 
diese führt er aber mit jener Genauigkeit an, die eine rasche Überprüfung seiner 
Darlegung ermóglicht und sein Werk gerade auch zum Nachschlagen sehr brauchbar 


! Náheres über das Aufkommen dieser Bezeichnung siehe unten S. 729. 
3 Vgl. Stolz, Begriff des tirol. Landesfürstentums in Schlernschriften Bd.9 (1925), 
S. 4221f. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 101 


macht. Das ungedruckte Quellenmaterial, das im Archive der Innsbrucker Regie- 
rung und in anderen Archiven vorhanden ist, hat Jüger nicht herangezogen, nur 
einige Handschriften des landschaftlichen Archives und des Stadtarchives Meran. 
Daher fehlt bei ihm die Verwertung der vielen in Druck nicht bekannten landes- 
fürstlichen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts, die manchen Hinweis auf die 
Anfänge der Landstände geben können, so wie der Akten und Verhandlungsschriften, 
die über die Tätigkeit der Landschaft seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vorhanden 
sind. Die vollstándige Sammlung und Veróffentlichung derselben würe wohl eine 
der lohnendsten Aufgaben, die die landesgeschichtliche Forschung für Tirol — glück- 
licherweise, möchte ich sagen — noch vor sich hat. Jägers Werk hat aber — bei 
aller Verdienstlichkeit, die man ihm billigerweise nicht absprechen soll — einen 
weiteren erheblichen Mangel. Jäger hätte nämlich im 2. Bande nicht bloß eine 
zeitlich geordnete politische Geschichte der Landstände geben sollen, sondern we- 
nigstens in einem Abschnitte auch eine systematische Darstellung ihrer Verfassung. 
In zwei „Rückblicken“, die Jäger im 2. Bande, 1. Teil, S. 393—411 und 2. Teil, 
S. 513—517 einfügte, suchte er zwar jenem Mangel abzuhelfen, allein diese Rück- 
blicke sind im Verhältnis zur sonstigen Anlage des Werkes allzu knapp geraten, um 
die einzelnen Elemente der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Tiroler 
Landschaft in voller Deutlichkeit aufzuzeigen. So müssen wir uns dieselben immer 
wieder aus seiner weitläufigen zeitlichen Schilderung zusammensuchen. 

Die Hauptmomente der Entwicklung der landständischen Verfassung Tirols 
sind nach Jäger folgende: Aus Urkunden seit rund 1300—1320 ergibt sich, daB bei 
gewissen Verfügungen des Landesfürsten nicht nur die Zustimmung des von ihm 
aus den obersten Würdenträgern des Hofes und der Regierung gebildeten „Rates“, 
sondern auch anderer angesehener Personen des Landes eingeholt worden ist (Jüger2, 
1, S. 15 und 25ff.). Für die Zusammensetzung und die Befugnisse der Landstánde 
findet Jäger (S. 83f.) die ersten Angaben in dem Freiheitsbriefe Markgraf Ludwigs 
für die Tiroler Landschaft vom Jahre 1342. Denn als Empfánger desselben werden 
angeführt außer dem Adel „die Gotteshäuser, Städte, Märkte und Dörfer, alle 
Leute, edel und unedel, arm und reich, wie sie heißen und wie sie gelegen oder ge- 
sessen sind in der Grafschaft Tirol“. Jäger bemerkt, daß der Freiheitsbrief zwar auf 
Grund von Verhandlungen zwischen dem Adel und dem neuen Landesfürsten zu- 
stande gekommen sei, daß er sich aber auf ‚alle Klassen und Stände des Landes“ 
beziehe. Er betont aber zu wenig entschieden, daß laut dieser Urkunde alle diese 
Stände an der Vertretung des Landes damals gewohnheitsmäßig Anteil gehabt 
haben und ihnen dieses Recht nun verbrieft werden sollte. Auch die Befugnisse, wie 
sie in dieser Urkunde den Ständen zugesichert werden, gibt Jäger S. 84 richtig an, 
aber auch wieder nicht mit jenem Nachdruck, daß sie als eine Hauptsache in die 
Augen springen würden. Noch mehr schwächt Jäger seine Erörterung über den 
Freiheitsbrief von 1342 durch die Bemerkungen im weiteren Verlaufe seiner Dar- 
stellung ab. So sagt er S. 172, Herzog Rudolf von Österreich habe nach der Erwer- 
bung Tirols im Jahre 1363 „die Städte und Landgemeinden in die politisch berech- 
tigten Landstände eingeführt". Er folgert dies daraus, daß eine Urkunde dieses 
Fürsten „die gemeine Landschaft, edel und unedel, arm und reich“ anführe. Daß 
die Städte und Märkte „zum ersten Male an einer Versammlung der Landschaft 
teilgenommen hätten“, schließt Jäger S. 120 aus einem Schreiben vom Jahre 1362, 
das zwar stark an spätere Erfindung anklingt, von Alfons Huber aber als echt ver- 


702 Otto Stolz 


teidigt wird. Ungeachtet dieser Feststellungen bezeichnet Jäger (2, 1, S. 262) die 
Einigung, welche die Herrn und Ritter Tirols mit den städtischen und ländlichen 
„Gemeinschaften“ zur Sicherung ihrer Rechte auch gegenüber dem Landesfürsten 
im Jahre 1407 geschlossen haben, als „die erste Verbindung des Adels mit den Städten 
und Gerichten“ und als „den ersten Bund der sich wechselseitig anerkennenden 
vier Stände Tirols“. (Die Urkunde dieser in der späteren Literatur anscheinend 
ohne Grund als „Falkenbund“ bezeichneten Einigung ist neuerdings abgedruckt 
bei Schwind und Dopsch, Urk. z. öst. Verf.-Gesch., S. 304 und bei Sander und Span- 
genberg, Urk. z. deutschen Verf.-Gesch., Bd. 2, 3 S. 40.) Es ist richtig, daB dies die 
erste beurkundete Einigung zwischen den genannten Ständen der tirolischen Land- 
schaft ist, aber unrichtig wàre zu behaupten, daB bei dieser Gelegenheit überhaupt 
die Städte und Gerichte überhaupt zum ersten Male neben dem Adel als politischer 
Stand anerkannt werden. Von einer weiteren solchen Einigung vom Jahre 1416, 
als deren Glieder die betreffende Urkunde „Herren, Ritter und Knechte, Städte und 
Märkte, Täler und Gerichte“ anführt, meint Jäger (Bd. 2, 1, S. 328), daB hier „die 
bäuerliche Bevölkerung zum ersten Male mit den anderen Ständen, Adel und Städte 
gleichberechtigt bei den wichtigsten Landesangelegenheiten mitwirkend erscheine". 
Diese Behauptung Jägers steht ebenfalls in Widerspruch zu seinen eigenen Aus- 
führungen über den Freiheitsbrief von 1342. Richtig ist nur, daß der Ausdruck „Täler 
und Gerichte“ zur Bezeichnung der Landgemeinden hier erstmals in Verbindung mit 
landständischen Rechten aufscheint. Jedoch nicht überhaupt, denn wie Jäger S.180 
selbst mitteilt, spricht Bischof Johann von Brixen im Jahre 1368 von „dem Bauern- 
volk seiner Täler und Gerichte“, das er gegen das Heer der Herzoge von Bayern 
aufgeboten habe. Endlich verweist Jäger S. 301 ohne weitere Auseinandersetzung 
auf die „Volkssage“, laut der Herzog Friedrich von Österreich (als Landesfürst von 
Tirol von 1406—1439) dem Tiroler Bauernstand die Teilnahme an der Landschaft 
verschafft habe. 

Fehlt so in der Darstellung Jägers in der Frage des Alters der Landstandschaft 
der Tiroler Bauern die nötige Klarheit und Entschiedenheit, so erklärt es sich, daß 
jene von der allgemeinen Literatur nicht in seinem Sinne übernommen 
worden ist. Daß der Adel in Tirol seit dem Ende des 13. Jahrhunderts landständische 
Rechte ausgeübt habe, hat man zwar aus Jägers Darstellung anerkannt, hinsichtlich 
des Bauernstandes ließ man aber den Freiheitsbrief von 1342 völlig unter den Tisch 
fallen. A. Luschin sagt in seiner Österr. Reichsgeschichte (Ausgabe von 1896, 
S. 180 und von 1914, S. 217), daß ‚in Tirol die Bauernschaft der Täler und Gerichte 
seit Anfang des 15. Jahrhunderts bzw. seit 1416 an der Landschaft beteiligt sei". 
Die Österr. Reichsgeschichte von A. Huber (1. Aufl. 1894) und A. Dopsch (2.Aufl. 
1901, S. 78) sieht in einer Urkunde vom Jahre 1363, in der „die Landschaft gemeinig- 
lich, edel und unedel, arm und reich" genannt werde, den ersten Hinweis, dab 
„vielleicht Vertreter auch einzelner Landgemeinden‘ an einer Versammlung der 
Landschaft teilgenommen hätten“. Ferner erklärt Huber u. Dopsch a. a. O., dab 
Wendungen wie „gemeiniglich alle Landesleute' oder „gemeiniglich all unser Landes- 
volk“ in landesfürstlichen Urkunden von 1404, 1406 und 1415 ‚wohl schließen 
lassen, daB auch Vertreter der Bauern zu den damaligen Beratungen beigezogen 


* Die Urkunde ist näher angeführt bei A. Huber, Gesch. d. Vereinigung Tirols 
mit Üsterreich (1863), S. 94, Anm. 2 und S. 232, Reg. 330. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 703 


worden sind“, bzw. daß „ohne Zweifel“ dies geschehen sei“. E. Werunsky's Österr. 
Reichs- und Rechtsgeschichte, deren Lieferungen über Tirol in den J. 1917—1926 
erschienen und sonst sehr sorgfältige Darlegungen über Verfassung und Verwaltung 
enthalten, bringt auffallender Weise nichts über die Landstände, vielleicht ist dies 
einer weiteren Lieferung dieses Werkes vorbehalten. 


G. Below in seinem Buche „Territorium und Stadt“ (1900) S. 219f. schließt 
sich dieser Meinung, daB in Tirol „die freie Bauernschaft der Täler und Gerichte 
sicher seit 1415 zu den Landständen gehöre“, an und fügt die bedeutungsvolle weitere 
Annahme hinzu, daß „hiebei in Tirol ohne Zweifel das Vorbild der Schweiz maß- 
gebend mitgewirkt habe“ (vgl. dazu unten im nächsten Heft). Nach O. Gierke, 
Deutsches Genossenschaftsrecht (1868, Bd. 1, S. 540) ist der Bauernstand in Tirol 
zeit dem Anfang des 15. Jahrhunderts der vierte Landstand geworden. Nach H. 
Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, neu bearbeitet von Schwerin 
(1930) S. 159 haben die Bauern in Tirol „das Recht der Landstandschaft seit 
1407 erworben“, während R. Schröder in seinem Lehrbuch der deutschen Rechts- 
geschichte, 6. Aufl. bearbeitet von E. KünBberg (1922) S. 671, hierfür keinen 
näheren Zeitpunkt angibt, ebenso nicht H. Spangenberg (Vom Lehensstaat zum 
Ständestaat 1912, S. 144) und F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte 
(2. Aufl. 1928, S. 34f.). Letzterer unterschätzt überhaupt die Bedeutung der 
Landstandschaft des Bauernstandes in Tirol (vgl. dazu unten). O. Hintze erwähnt 
in seiner Abhandlung „Typologie der ständischen Verfassungen“ (Histor. Zeitschrift, 
Bd. 141, 1930, S. 233ff.) für die deutschen Länder nur das Dreikuriensystem — 
Geistlichkeit, Adel, Bürger —, übergeht die Teilnahme des Bauernstandes in einigen 
wenigen deutschen Ländern, darunter eben Tirol, wohl aber führt er für die Ver- 
fassung Schwedens wegen des Hinzutrittes des Bauernstandes den Ausdruck „Vier- 
kuriensystem" ein. 

Wáhrend also hier eigentlich nur festgestellt wird, wann in Tirol die Bauern 
erstmals als Glied der Landschaft auftreten, gibt hierfür A. Dopsch in seiner kürz- 
lich veröffentlichten Vortragsreihe über die „Die ältere Wirtschafts- und Sozial- 
geschichte der Bauern in den Alpenländern Österreichs“ (gedruckt Oslo 1930) 
8.118f. eine nähere Erklärung. Infolge der Kämpfe, welche Herzog Friedrich, der 
damalige Landesfürst von Tirol, 1415 und in den nächsten Jahren gegen die vom 
Kaiser gegen ihn aufgerufenen Schweizer sowie besonders gegen den Adel des eigenen 
Landes zu führen hatte, habe jener „um einen Rückhalt zu gewinnen, die Bauern 
begünstigt und ihnen geradezu eine Vertretung auf den Landtagen als vierter Stand 
gewährt“. 


* Der von Huber angeführte Freiheitsbrief von 1406 hat nicht, wie dieser 
schreibt, den Ausdruck „land volk“ sondern „landesvolk“ ebenso wie jener von 
1415 „landesleute“. Der Ausdruck soll demgemäß die Gesamtheit des Volkes bzw. 
der Leute andeuten, die im Lande wohnen und zu ihm gehóren, nicht aber etwa 
Landleute oder Bauern zum Unterschied von Städtern. Denselben Sinn hat der 
Ausdruck „gemainleich all landsleut unsers landes und der grafschaft ze Tyrol und 
in dem Intal" in der Landesordnung von 1404, die Huber nach einem unvoll- 
kommenen älteren Abdrucke anführt, seit 1903 in der zuverlässigen Wiedergabe 
bei Wopfner, Gesch. d. Erbleihe Deutschtirols (1903), S. 203 vorliegt und zu 
benützen ist. 


704 Otto Stolz 


Diese Auffassung wird in ähnlicher bestimmter Form auch in der älteren 
Tiroler Geschichtschreibung, wie sie vor Jägers Werk erschienen ist, ausgesprochen, 
so in J. Eggers Geschichte von Tirol, Bd.1, S. 628 (1870) und bei Staffler, Tirol, 
1. Teil, S. 625 (1839). Dieser sagt: „Im Jahre 1363 wird bei der Übergabe des Landes 
an Österreich der vierte Stand ziemlich deutlich unterschieden. Doch erst von 
Herzog Friedrich mit der leeren Tasche im Jahre 1417 erhielten die Bauern, deren 
Treue gegen den unglücklichen, in Kirchenbann und Reichsacht gefallenen Fürsten 
nicht wankte, sondern sich glänzend bewährte, allgemeine Freiheit, Eigentum und 
förmliche Landstandschaft. 1420 kam der erste Landtagsabschied zu Stande." Das- 
selbe behauptet J. Hórmann in seinem 1816 ohne Verfassernamen erschienenen 
Buche Tirol, S. 148, und eine im Jahre 1778 erschienene Geschichte der Grafschaft 
Tirol, die dem Archivar C. A. Roschmann zugeschrieben wird, S. 72: „Herzog 
Friedrich habe die Leibeigenschaft aufgehoben und das Erbleiherecht eingeführt, 
dadurch die Bauern als den vierten tirolischen Landstand am meisten gekräftigt.“ 
Weiter zurück kónnen wir in der tirolischen Geschichtschreibung diese Meinung 
nicht verfolgen, die Brandis und Burglechner erwühnen nichts davon, vielleicht 
weil man im 17. Jahrhundert nicht so bauernfreundlich eingestellt war wie in der 
Theresianischen Zeit. Diese Behauptungen können sich aber auch nicht auf Urkunden 
stützen, sondern sind frei erdacht. Es ist nicht der geringste Anhalt dafür gegeben, 
daB Herzog Friedrich hinsichtlich der Leibeigenschaft etwas verfügt habe; nach 
einem amtlichen Gutachten vom Jahre 1769 schrieb man übrigens die Aufhebung 
derselben dem Kaiser Max I. als tirolischem Landesfürsten zu (vgl. Stolz, im Arch. 
öst. Gesch., Bd. 102, S. 138f., wo diese letztere Behauptung auf das richtige geschicht- 
liche MaB zurückgeführt wird). Die gesetzliche Festigung der Erbleihe in Tirol 
brachte die Landesordnung von 1404, die nicht Herzog Friedrich, sondern sein 
älterer Bruder und Vorgänger, Herzog Leopold, erlassen hat. GewiB ist richtig, 
wie Ladurner (Zt. Ferd. 1860, S. 124) und nach ihm Egger a. a. O. angeben, 
daB Herzog Friedrich den Bürger- und Bauernstand neben dem Adel zur Beratung 
der Landesangelegenheiten herangezogen hat, aber zur Annahme, daB dies unter 
Herzog Friedrich zuerst geschehen sei, fehlt jede positive Unterlage in der zeit- 
genóssischen schriftlichen Überlieferung. Diese wird allerdings seit 1417 für die Be- 
tátigung der Landstánde gegenüber früher viel reichhaltiger und bestimmter, aber 
für alle Stände, nicht etwa bloß für die zwei unteren. Auch für die zwei oberen 
Stände kommt vor 1417 nicht wesentlich mehr in den einschlägigen Urkunden vor 
als für die beiden unteren. Von der speziellen Literatur über die Regierung Herzog 
Friedrichs von Tirol enthält das Buch von Clemens Brandis (1823), das auch einen 
sehr reichen Anhang von Urkunden bringt, keinen Hinweis auf besondere Mab- 
nahmen zugunsten des Bauernstandes. Beda Weber, Herzog Friedrich und Oswald 
von Wolkenstein (1850) schreibt S. 333f. dem Herzog die bewuBte Einführung einer 
Reihe neuer Grundsätze für „die tirolische Staatslehre“ (er wollte damit sagen 
„Staatsrecht“) zu, die aber in Wahrheit zum Teil schon früher vorhanden, zum Teil 
erst spáter zur Reife gelangt sind. Darunter wird auch angeführt, daB die Landtage 
von den Fürsten nach dem Bedürfnis des Landes einzuberufen seien und daß gemäß 
der bisherigen Gewohnheit hierbei Adel und Volk teilzunehmen und in allen An- 
gelegenheiten mitzusprechen hátten. Weber scheint also die Heranziehung der unteren 
Stánde nicht als eine Neuerung Herzog Friedrichs zu betrachten, wie es auch durch- 
aus richtig ist. A. Noggler, der die Niederwerfung der Herren von Starkenberg 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 705 


durch Herzog Friedrich an der Hand des gesamten im Innsbrucker Staatsarchiv 
vorhandenen archivalischen Stoffes neu bearbeitet hat (Programm des Gymnasisums 
Innsbruck 1882/3 und Zt. d. Ferd., Bd. 27), sieht in diesem Vorgang und überhaupt 
in der Bändigung des Tiroler Adels, der damals offen die Reichsunmittelbarkeit 
und damit die Zertrümmerung des tirolischen Landesfürstentums angestrebt hat, 
mit Recht die besondere Bedeutung der Regierung dieses Fürsten. Jenes Ziel der 
Adelsbündner geben klipp und klar die Aussagen ihrer gefangenen Hauptleute vom 
Jahre 1423 wieder (wórtlich mitgeteilt aus einem gleichzeitigen Kanzleibuch von 
Noggler in der Zt. d. Ferd. 26, S. 172). Daß Herzog Friedrich den unbotmäßigen 
Adel nur mit Hilfe der kriegerischen Aufgebote der Bürger und Bauern niedergewor- 
fen hat, ist hinreichend belegt (s. unten S. 735). Wenn Noggler (Programm 1883, 
S. 38) erklärt, daB gerade deshalb „der tirolische Adel fortan die Leitung der 
landesangelegenheiten — besser wäre zu sagen, die Mitwirkung hierbei im Wege 
der Landschaft — mit dem Bürger und Bauer teilen muBte, so ist das an sich richtig. 
Aber es darf auch dies nicht so aufgefaBt werden, daB die rechtliche Grundlage für 
diese politische Bedeutung des Bürger- und Bauernstandes erst damals geschaffen 
worden ist, jene ist hóchstens seit der Regierung Herzog Friedrichs zu einer noch 
stärkeren politischen Geltung gekommen. H. Wopfner, Die Lage Tirols am Aus- 
gang des Mittelalters (1908) S. 117 erklürt ohne auf Einzelheiten einzugehen, daB 
unter Herzog Friedrich (der eben von 1410—1439 in Tirol regiert hat) die formelle 
Entwicklung des Ständewesens in der Hauptsache zum Abschluß gelangt sei. Diese 
Ansicht ist den bisher dargelegten Auffassungen angepaßt, ohne über die Frage, 
wann die Landstandschaft der Bauern in Tirol zuerst auftritt, etwas Bestimmtes 
auszusagen. 

Mit einem Worte, für die gesamte Literatur gilt es als ausge- 


macht, daß die Bauernschaft von Tirol erst seit dem Anfang 
des 15. Jahrhunderts das Recht der Landstandschaft dauernd 
erworben und besessen habe. Allein schon mit Rücksicht auf 
die oben angedeuteten Darlegungen Jägers über den Freiheits- 
brief von 1342 erscheint diese Auffassung einer näheren Nach- 
prüfung in dem Sinne bedürftig, ob jenes Recht des Bauern- 
standes nicht doch etwa hundert Jahre älter ist. Es sind ferner. 
noch Urkunden, die Jáger nicht bekannt wurden, anzuführen, 
die diese Frage in ein neues Licht rücken. Ich habe nun hierauf 
bereits vor einigen Jahren mehrfach hingewiesen, aber nicht an 
Stellen, die von der Fachwissenschaft beachtet zu werden pflegen, 
und auch nicht mit jener quellenmäßigen Ausführlichkeit, die 
nötig ist, wenn eine bisherige Lehrmeinung abgeändert und dies 
begründet werden soll. Das móge nun durch die folgende Dar- 
legung geschehen‘. 

5 In folgenden kleineren Abhandlungen habe ich die vorerwühnte Frage be- 


rührt: „Das staatliche Selbstbestimmungsrecht in der Geschichte Tirols“ (Sonder- 
schrift des Andreas-Hofer-Bundes Innsbruck 1921, 16 S.). ,,Die alte Tiroler Landes- 


Histor. Vierteljahrscbrift. Bd. 28, H. 4. 45 


706 Otto Stolz 


IL Ständisches Auftreten der Bauern in Tirol 
vor dem 14. Jahrhundert. 


Als den áltesten Keim der landstándischen Verfassung Tirols 
bezeichnet Jäger (Bd. 2, 1, S. 8ff.) die Tatsache, daß laut Ur- 
kunden des 12. und 13. Jahrhunderts bei den Grafschafts- 
und Gerichtstagen die Insassen der betreffenden Gebiete an- 
wesend waren, so insbesondere die „universi incolae provinciae 
für die andechsische Grafschaft im Inntal (mit Innsbruck als 
Mittelpunkt) zum Jahre 1187, und für das Landgericht Bozen 
1293 die Edeln und Dienstmannen, Bürger und Bauern (, nobiles 
magnates et ministeriales, cives et cultores“)s. Jäger wollte 
damit den gewiß richtigen Gedanken ausdrücken, daß diese 
Mitwirkung der Bevólkerung an den óffentlichen Angelegen- 
heiten innerhalb der alten Grafschaften und Landgerichte es 
nahegelegt hat, jener ein ähnliches Recht für die Angelegen- 
heiten des ganzen Landes zu geben, das durch die Vereinigung 
eben dieser alten Grafschaften und Landgerichte entstanden 
war. Außer den von Jäger hierfür erwähnten urkundlichen Be- 
legen sind noch zwei andere anzuführen: Zum Jahre 1078 er- 
scheinen die „comprovinciales“, d. h. Landsgenossen der Graf- 
schaft Bozen bei dem „placitum“, dem Taiding derselben’. Als 
Graf Albert von Tirol im Jahre 1230 dem Kloster Neustift bei 
Brixen das Eigentumsrecht an den von ihm angelegten Neu- 
rodungen in der Umgebung desselben verlieh, tat er dies mit 
Zustimmung der „ganzen Gemeinde der (zuständigen) Graf- 
schaft Raas, der Reichen und Armen, Edlen und Unedlen, Ritter 
und Bauern“. Es war also nicht nur der Adel, sondern auch der 


verfassung — ein Erbstück bodenständiger Demokratie" in Tir. Heimat, Bd.2 
(1922), S. 39—53. „Die Magna Charta des Landes Tirol (1342) in der Zeitschrift 
„Tirol“, 2. Folge, 2. Heft (1929) S. 8—17 mit Schriftabbild der Landesfreiheit von 
1342. „Die alte Verfassung des Landes Tirol" in den Schweizer Monatsheften, 
10. Jg. (1930) S. 403—413. Von fachwissenschaftlicher Seite hat A. Wretschko 
in seiner Abhandlung „Zur Geschichte der Tiroler Landesfreiheiten" in Schlern- 
schriften, Bd. 9 (Festschrift für Ottenthal 1925) S. 312 f. meine Darlegungen gebilligt. 

* Die Urkunden von 1293 seither auch abgedruckt bei Schwind und Dopsch, 
Urk. z. öst. Gesch. S. 146f. 

7 Mon. Boica 9, S. 372; vgl. Stolz im Arch. öst. Gesch. 102, S. 109. 

* Mairhofer, Urkundenbuch von Neustift, Font. rer. Austr. 34, S. 90: ,, „ 
consenciente tota communitate ... divitum pauperum, nobilium et ignobilium, 
militum, rusticorum omnimodum ...* | 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 707 


Bauernstand vor Erlaß einer solchen, die Rechte der umliegen- 
den Gemeinden berührenden Anordnung befragt wurden. Ähn- 
lich befreit im Jahre 1227 Graf Albert von Tirol einen Hof des- 
selben Klosters in der Nähe von Klausen von allen Rechten der 
Grafschaft und der Gemeinde ausdrücklich mit dem Rate und 
der Zustimmung aller Nachbarn?. 1218 übereignet derselbe Graf 
dem Stifte Marienberg einen bisher der Gemeinde Mais bei 
Meran gehórigen Grund, aber nicht er allein, sondern zusammen 
mit seinen Ministerialen und Leuten und der ganzen Gemeinde!?, 

Wenn jene Urkunde von 1230 zur Kennzeichnung der Ge- 
samtheit der Bevólkerung die Formel ,,Edel und Unedel, 
Reich und Arm, Ritter und Bauer‘ verwendet, so können 
wir hierzu Anklänge auch in anderen Urkunden jener Zeit aus 
dem Gebiete Tirols anführen. So werden in Brixner Urkunden 
von 1250, 1264 und 1282 die Untertanen des Hochstiftes Brixen 
und der Gerichtsherren von Kastelruth und Schóneck zusammen- 
fassend als „nobiles et ignobiles“ bezeichnet!!. Diese Un- 
edlen oder Gemeinen sind eben die Bürger und Bauern zum 
Unterschiede von Edlen oder den Rittern. Als die Gemeinde 
Schleis im obern Vinschgau im Jahre 1292 das Stift Marienberg 
in ihren Verband aufnahm, werden die Angehórigen oder Nach- 
barn derselben auch als ,,Edle und Unedle, Vornehme und Ge- 
ringe“ 12 genannt. Andererseits wird im Innsbrucker Stadtrechte 
von 1239 die Teilnahme an der Gemeinweide der ,, Gesamtheit 
der Reichen und Armen“ zugesprochen?®, 1331 erläßt der Lan- 
desfürst von Tirol in einer ähnlichen Sache — wegen Weide- 
nutzung — einen Schutzbrief für die „armen Leute“ gegenüber 
den „edlen Leuten“ der Gemeinde Eppan bei Bozen“. In einem 

A. a. O. S. 87: „... ab omni jure comicie atque communitatis convicinorum 
sano consilio et bona omnium voluntate atque consensu." 

19 ,... ministeriales et nostri homines et tota universitas de Mays“ (Goswin 
von Marienberg ed. Schwitzer, S. 72). 

11 Santifaller, Urkunden d. Arch. v. Brixen, S. 130, 153, 220. — Auch in einer 
weiteren Urkunde von 1266 Dez. 10 (Staatsarchiv Innsbruck Urk. II 521), einem 
Vertrag zwischen dem Bischof Bruno von Brixen und dem Edlen Hugo v. Taufers 
wird von den beiderseitigen „nobiles et ignobiles“ gesprochen. 

13 „. .. Vicini ... nobiles et ignobiles, maiores et minores“ (Goswin v. Marien- 
berg ed. Schwitzer, S. 110). Noch früher bringt die Formel „nobiles et ignobiles“ 
eine Urk. v. 1158 für den Vintschgau (Veróff. d. Ferd. 12 S. 294). 


18 „ .. universitati divitum et pauperum" (Schwind u. Dopsch, Urk. z. öst. 
Gesch., S. 80). 1* Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 2, S. 37. 


45* 


708 Otto Stolz 


in sozialer Hinsicht höchst merkwürdigen Testamente des tiro- 
lischen Kanzlers Heinrich vom Jahre 1306 vermacht dieser dafür, 
daß er durch seine Ämter von den „Reichen und Armen“ vielen 
Nutzen gezogen habe, den letzteren hohe Geldbetràge!5. Laut 
einer Stiftung, die im Jahre 1332 für das Deutschordenshaus in 
Sterzing gemacht wurde, soll der davon gehaltene Gottesdienst 
„den purgeren von Sterzing und allen lantherren in dem Wibtal 
und allem lant, reichen und armen“ zugute kommen!®. Diese 
„Armen“ sind jedenfalls die weniger bemittelten und hart ar- 
beitenden Leute des Bauern- und Handwerkerstandes, aber der 
Zusammenhang der meisten dieser Urkunden zeigt doch, daß 
sie als Mitglieder der ländlichen und städtischen Gemeinden ge- 
wisse politische Rechte gehabt haben. 

In einem Privileg des Tiroler Landesfürsten für den Deut- 
schen Orden vom Jahre 1311 wird den Mitgliedern desselben 
zugesichert, daß über diese nur Adelige und landesfürstliche 
Dienstmannen, nicht aber Bürger und andere gemeine Leute 
zu Gericht sitzen sollen!**. Diese anderen gemeinen Leute 
sind dann eben Bauern, der Ausdruck „gemein“ entspricht dem 
„unedel“. 

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß diese Bezeichnungen 
edel und unedel, reich und arm in Tirol schon im 13. und be- 
ginnenden 14. Jahrhundert vorkommen, denn wir finden sie in 
bedeutsamem Zusammenhange hier auch in den ersten land- 
ständischen Freiheitsbriefen; um ihr Auftreten in den letzteren 
zu erklären, braucht man daher nicht Ubertragungen aus ähn- 
lichen Urkunden benachbarter Länder, insbesondere Baierns 
anzunehmen, sondern sie können in Tirol selbst aus ihrer 
früheren Verwendung in die Verfassungsurkunden übernommen 
worden sein. 

Der Bauer wird in seiner Abhängigkeit vom Grundherrn, 
die wohl auch in Tirol im weitesten Umfange bestanden hat, in 
den lateinischen Urkunden des 11. bis 13. Jahrhunderts als 
»,colonus'' bezeichnet. Daneben wird aber auch ein anderer 
Ausdruck dafür verwendet, der weniger die Abhängigkeit von 


Heuberger, Kanzleiwesen d. Grafen von Tirol in Mitt. d. Inst. öst. Gesch. 
Erg., Bd. 9, S. 887. 

1* Schadelbauer in Schlernschriften, Bd. 12, S. 70. 

1** Siehe Ladurner in der Zt. d. Ferd. Bd. 10 S. 368. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 709 


den Grundherrn, als vielmehr die Tätigkeit als Bodenbebauer 
im Auge hat, nämlich „rusticus“ oder auch „cultor“, also 
eine eigentliche Standesbezeichnung ist. Wir finden dieselbe in 
den Traditionsbüchern des Hochstiftes Brixen besonders im 
12. Jahrhundert", ferner in Urkunden für Bozen aus dem Jahre 
1190 und 1293. In einer Satzung, die Bischof Konrad von Trient 
im Jahre 1190 zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen den 
Gemeinden Bozen und Gries mit deren Zustimmung erlassen 
hat, werden einleitungsweise die drei Stánde dieser Gemeinden 
angeführt: nämlich „Ritter, Bürger und Bauer“ 1s. Die Gerichts- 
ordnung von Bozen von 1293 bringt eine ähnliche Reihe, wobei 
aber das deutsche „Bauer“ statt mit „rusticus“ mit „cultor“ 
wiedergegeben wird!“. Reimprecht von Voitsberg verspricht im 
Jahre 1277 die Untertanen des Bischofs von Brixen nicht zu be- 
lästigen, weder die Dienstmannen und Diener, noch die Bürger 
und Bauern“. In einer Urkunde Graf Meinhards von Tirol von 
1284 werden die Leute auf Schenna bei Meran, die gewisse 
Frondienste zu leisten haben, als „rustici“ bezeichnet?!. In 
Sarntein werden zu einem Schiedsgerichte im Jahre 1333 
20 Adelige (nobiles) und 40 Bauern (rustici) herangezogen??, 
Vor dem landesfürstlichen Hofgerichte zu Bozen wird im Jahre 
1322 festgestellt, daB die Edelleute (nobiles), die einen Bürger 
oder Bauer (civis seu rusticus) verletzen, vor dem Gerichte, in 
dem letztere wohnen, zu belangen seien, nur wenn sie dort nicht 
zu Recht stehen wollen, vor dem Gerichte des Landesfürsten. 
Es wird also hier ein Unterschied zwischen dem Adel und den 
beiden unteren Ständen in gerichtlicher Hinsicht als bisherige 
Gewohnheit betont:“. 


1? Deutschmann, Entstehung des Tir. Bauernstandes (1913), S. 127f. Dazu 
die bereits oben S. 706 angeführte Urkunde von 1230 für Neustift bei Brixen. 

15... miles, burgensis, rusticus" (Kink Cod. Wang. Font. Austr. 5, S. 101). 

19 Siehe oben S. 706. 

39 „ .. ministeriales et servitores, cives et rusticos" (Santifaller, Urk. Brix. 
S. 207). 

31 Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/2, S. 180, Reg. 33. Hingegen ,,cultor'' 
für Algund a. a. O., S. 184, Vr. 3a. 

33 A. a. O. S. 13. 

*Die Urkunde (aus dem Archive Gandegg zu Eppan, Abschrift Ladurners 
und Durigs im Besitze der hist. Komm. des Ferd.) ist eine der ältesten für das landes- 
fürstliche Hofgericht (s. unten S. 719) und hat folgenden, bisher noch nicht bes pro- 
chenen Inhalt: 1322 Juni 23. „Bozani coram novo hospitali S. Spiritus.“ Vor dem 


710 Otto Stolz 


Besonders beachtenswert sind die Bezeichnungen für die 
bäuerliche Bevölkerung, die in einer landesfürstlichen Verord- 
nung über eine allgemeine außerordentliche Vermögensabgabe 
vom Jahre 1312 enthalten sind, weil sie eben für das ganze Land 
einheitlich verwendet werden“. Die steuerpflichtigen Personen 
sind nach dieser Verordnung „quilibet colonus“, d. h. jeder 
Bauer und zwischen ihnen wird nur unterschieden, ob der 
Bauer Eigengut oder Lehen-, d. i. grundherrliches Leihegut 
(bona propria seu feudalia) besitze, und bei letzterem, ob zu 
Erbrecht oder auf Zeitpacht. Von diesen ,,bona propria, die man 
freyes aygen nenne‘, sagt die Stiftungsurkunde des Grafen 
Meinhard II. von Tirol für das Kloster Stams vom Jahre 1275, 
daB sie bzw. ihre Besitzer ihm als Herrn der Grafschaft in be- 
sonderer Weise zugehóren und solche Güter dem Stifte nicht 
vermacht werden dürfen”. 

Den deutschen Ausdruck „Bauer“ finden wir erstmals in 
einer Urkunde von 1318, mit der Seifried von Rottenburg, der 
damalige Richter zu Hall im Inntal, „die paurschaft ze Ar- 
celle und uf dem Wald“ (die heutigen Gemeinden Arzl und Gna- 
denwald) auf Klage des Abtes von Georgenberg gerichtlich an- 
weist, die Steuerfreiheit der in ihrem Bereiche gelegenen Höfe 
dieses Stiftes zu achten®. Im Jahre 1315 nahm Konrad der Ar- 
berger, Pfleger zu Taufers im Pustertale, über das Patronat an 
der dortigen Pfarrkirche eine Kundschaft auf mit ,,den tiwristen 
(d. h. angesehensten) und mit den eltisten ze Taufers, mit ritter 
und mit chnechten und mit den eltisten der gemaine der pau- 
leute‘‘??, Also auch hier werden die Bauern — unbeschadet ihrer 


Landesfürsten von Tirol K. Heinrich und mehreren Adeligen klagt die Frau Villiebis, 
Witwe des Martin Chombostus, und ihr Sohn Batolomeus gegen den Herrn Haeclinus 
de novo burgo Bozani, daß dieser den ersteren mit einem Steinwurfe verwundet 
habe. Der Beklagte stellt die Tat in Abrede und, wenn er sie getan hätte, so bestreitet 
er die Zuständigkeit des Gerichtshofes. Der Landesfürst läßt darüber einen Spruch 
fällen und dieser lautet: ,,Si quis nobilis homo in terra Bozani aliquem de civibus 
seu rusticis male tractaret verbis operibus aut vulneribus, quod de hoc stare debet 
juri coram illo judice, in cuius judicio factum esset, secundum consuetudinem 
hucusque conservatam et si hoc vellet protrahere aut juri non dare, quod tunc 
stare debeat juri coram dicto domino Heinrico rege." 

* Vollinhaltlich mitgeteilt bei Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/2, S. 247. 

Rapp, Beschr. d. Diözese Brixen 3, S. 286. 

3* Arch. Gesch. Tirol, Bd. 4 (1869), S. 58. 

# Staatsarchiv Innsbruck Cod. 18, fol. 114. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 111 


besonderen grundherrlichen Abhängigkeit — als Ganzes, als ein 
Stand den Adeligen, Rittern und Knechten, das waren die 
Kriegsleute, die nicht den Ritterschlag empfangen hatten, 
gegenübergestellt. 

Vielfach werden die Bauern auch kurzweg in die Bezeichnung 
„homines“, Leute, mit eingeschlossen. So wird in den Ver- 
trägen, die im 13. Jahrhundert wegen des Gebietsumfanges 
der Grafschaft Tirol geschlossen wurden, die Bevólkerung, die 
zu dem betreffenden Gebiet gehórt, in zwei Klassen angeführt, 
nämlich ,,ministeriales et ceteri homines‘‘, das sind die adeligen 
Dienstmannen und alle übrigen Leute, darunter auch die 
Bauern?», In einem Vertrage von 1290 sichern sich die beiden 
Landesfürsten Graf Meinhard von Tirol und Graf Albert von 
Görz für ihre „Leute“ in ihren beiderseitigen „Herrschaften und 
Landen‘ Freiheit der Eheschließung und Teilung der Kinder aus 
diesen Ehen zu“. In den Verträgen von 1359 und 1363 über die 
Übergabe der Grafschaft Tirol wird die zu dieser gehörige Be- 
völkerung genauer nach ihren Ständen unterschieden, nämlich 
in Landherren, Ritter, Knechte, Burggrafen, Pfleger, Richter, 
Amtleute, Räte, Bürger, Holden — d. s. die Bauern — und an- 
dere Landsassen?9, 

Diese bäuerlichen Leute konnten entweder im Eigentume 
eines adeligen Herrn oder Stiftes stehen, ,,homines proprii“ oder 
Eigenleute oder freie Leute sein. Für beide Kategorien haben 
wir aus den verschiedensten Teilen des Landes für das 13. und 
14. Jahrhundert zahlreiche Belege, die wir aber hier nicht náher 
anführen wollen. Im Laufe des 15. Jahrhunderts treten in Tirol 
die Merkmale der Leibeigenschaft zurück und die Bauern unter- 
scheiden sich nur mehr nach der Art der grundherrlichen Be- 


28 So im Vertrage von 1263 über die Erwerbung des Inntales durch Graf Mein- 
hard von Tirol (Hormayr, Beitr. Gesch. Tirols, Bd. 2, S. 312) und in jenem von 
1271 über die Teilung der Grafschaften Tirol und Górz (Sammler f. Gesch. Tirols, 
4, S. 39). 

* 1290 Aug. 29 Or. Staatsarchiv Innsbruck Pestarch. Urk. 1, 287. Nach dem 
Wortlaut der Urkunde ist nicht sicher zu entscheiden, ob es sich um landes- oder 
leibherrliche Untertanen handelt und ob die Teilung der Kinder gebietsweise — 
nach der landesherrlichen Zugehórigkeit ihres Geburts- und Wohnortes — oder 
wie bei den Eigenleuten von nicht fürstlichen Adeligen, nach dem Geschlechte 
und der leibherrlichen Zugehórigkeit des betreffenden Elternteiles gedacht war. 

39 Huber, Ver. Tirols mit Öst., S. 193 u. 221. 


712 Otto Stolz 


lastung ihres Grundbesitzes*!, Die Nachkommen dieser Eigen- 
leute, die in den Landgerichten wohnten und mit den anderen 
báuerlichen Bewohnern derselben verschmolzen, gewannen mit 
diesen Anteil an der Landstandschaft. Ein anderer, erheblicher 
Teil der Eigenleute saß aber gerade in jenen, an sich allerdings 
kleinen Hofgerichten, die im Eigentume von Stiftern und Ade- 
ligen standen, und die Bewohner dieser Gerichte haben, wie 
im náchsten Heft náher angeführt, keinen Anteil an der Land- 
schaft erlangt. 

Aus manchem der bereits angeführten und zahlreichen an- 
deren urkundlichen Angaben kónnen wir ersehen?*: Bereits im 
13. Jahrhundert haben in Tirol órtlich geschlossene Ge meinden 
— ohne Rücksicht auf die grundherrliche Abhängigkeit ihrer 
Angehórigen — bestanden, und in jenen haben die Bauern eine 
gewisse Selbstverwaltung und damit auch ständische Geltung 
besessen. Die Weistümer, wie sie seit dem 14. Jahrhundert zur 
Aufzeichnung gelangten, zeigen noch deutlicher die Organisation 
dieser ländlichen Gemeinden, sowie insbesondere die Selbst- 
verwaltung, die der Bauernstand in diesen durch selbstgewählte 
Vorsteher (meist Dorfmeister genannt) und Räte (Geschwo- 
rene, Riegler und Ausschüsse genannt) ausgeübt hat“. Die 
großen Gemeinden bildeten häufig auch je ein Gericht, sonst 
waren mehrere zu je einem Landgerichte zusammengeschlossen, 
das außer der Rechtspflege als autonomer Verband auch gewisse 
Aufgaben der Verwaltung, wie Wege- und Wasserbau, Steuer- 
wesen und Landwehraufgebot, zu besorgen hatte. Den Vorstand 
des Gerichtes, Pfleger oder Richter, ernannte in alter Zeit, im 
13.—16. Jahrhundert, der Landesfürst, den Gemeinden war 
nur selten ein Vorschlag- oder Wahlrecht für dieses Amt einge- 
räumt“. Stets wurden aber von den Gerichtsgemeinden aus 


31 Vgl. Stolz im Arch. öst. Gesch., Bd. 102, S. 134ff. — Näheres über diese 
Standesunterschiede zwischen den Bauern in Tirols. bei Wopfner, Tirol am Ausgang 
des Mittelalters S. 71ff. und bei Werunsky, Österr. Reichsgesch. S. 687ff. 

33 Siehe die Angaben von 1213—1230 oben S. 706f., von 1331 oben S. 707 f., von 
1318 und 1320 oben S. 710. Sonstige erstmalige Erwähnungen von bestimmten Ort- 
schaften in Tirol als Gemeinden seit dem 13. Jahrhundert siehe auch in meiner 
Polit.-Histor. Landesbeschreibung von Tirol, Arch. óst. Gesch., Bd. 107. 

33 Vgl. Jäger, Gesch. d. Landständ. Verf. 1, S. 581ff. Egger, Tir. Weistümer, 
Bd. 4. S. 1056 u. 1059. Werunsky, Ost. Reichsgesch. (10. Lief. 1926), S. 723ff. 

** Stolz, Gesch. d. Gerichtes Deutschtirols, Arch. öst. Gesch. 102, S. 2231. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 713 


deren bäuerlichen Mitgliedern die Geschworenen oder Gerichts- 
ausschüsse gewählt, in alter Zeit Eidschwörer, mitunter auch 
die Ältesten oder Besten des Gerichtes genannt®. Die letz- 
teren Bezeichnungen kommen in ältester Zeit auch für die Ver- 
treter der Landstände vor*$, wir ersehen hierin einen gewissen 
Zusammenhang zwischen den Öffentlichen Befugnissen im Ge- 
richts- und Gemeindeverband wie im ganzen des Landes. 

In der geschichtlichen Literatur noch nicht verwertet ist ein 
anderes verhältnismäßig frühes Zeugnis politischer Geltung des 
Bauernstandes in Tirol, auf das ich hier hinweise. Im Jahre 1312 
hatte nämlich der damalige Landesfürst von Tirol, Heinrich, zu- 
gleich Herzog von Kärnten, infolge einer kurzen Regierung in 
Böhmen bis zu seinem Tode stets König genannt, die Regierung 
der Grafschaft Tirol, deren Finanzen durch seine abenteuernde 
Politik arg zerrüttet waren, einem Kollegium von zehn Landes- 
verwesern (provisores terre oder Pfleger des Landes genannt), 
meist höheren Beamten, auf drei Jahre übertragen und sich 
selbst nach Kärnten begeben, wo er ebenfalls die Herzogswürde 
bekleidet hat. Diese Verweser haben in Tirol bald eine außer- 
ordentliche Landessteuer zur Wiedereinrichtung der Finanzen 
ausgeschrieben, deren Einhebung aber Verhandlungen mit den 
Steuerpflichtigen bedingte. Eine Niederschrift zum mindesten 
eines wesentlichen Teiles dieser Verhandlungen aus dem Jahre 


3$ Außer den von mit a. a. O. S. 229 erwähnten „Geschworenen“ sind noch 
anzuführen: 1315 die „eltisten der Pauleute zu Taufers“ (oben S. 710 Anm. 27). — 
In dem Urbar des Hochstiftes Brixen von 1320 heißt es, daß die Grundzinse für das 
Tal Lüsen nach der eidlichen Aussage der „meliores et seniores vallis Lusene“ ein- 
getragen seien. — 1326 Dez. 8 verleiht der Landesfürst K. Heinrich dem Ulricus de 
Flittes ein Grundstück Egerde, das durch die „precones et seniores communitatis 
hominum in Gufduna (Gufidaun im Eisacktal) ausgesteckt worden war (Ferd. Inns- 
bruck, Sammlung Schónach). — 1393 die Pfarre in Sarntein soll nur mit „der pesten 
will und wort“ besetzt werden (Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/2, S. 135). — 
1398 an der Dingstätte sprechen die „aytsweren und eltisten" auf Schenna Recht 
(a. a. O. S. 308). — 1309 Juni 2 beurkundet Bischof Johann von Brixen eine Kund- 
schaft der „lantleut und nachgepowern die in dem tale ze Phunders gesessen sind“ 
über die Rechte des Hochstiftes dortselbst (Archiv des Hochstiftes Brixen, jetzt im 
Staatsarchiv Bozen). 

36 So 1306 „seniores terre“ (Jäger 2, 1, S. 15), in der Landesfreiheit von 1342 
„die Besten, die im Lande gesessen sind“ (s. unten S.726). Bereits in dem allgemeinen 
Privileg des deutschen König Heinrich von 1231 wird von den ,, maiores et meliores 
terre“ gesprochen, die jeder Landesfürst vor dem Erlaß neuer Gesetze um ihre Zu- 
stimmung zu fragen habe (A. Winkelmann, Verfassungsgesch. 1901, S. 286). 


114 Otto Stolz 


1313 ist uns erhalten, und zwar in ihrer ursprünglichen Gestalt“. 
Der Inhalt derselben ist: Beauftragte der Regierung haben die 
Listen der Steuerpflichtigen nach ihren Gemeinden zusammen- 
gestellt und zugleich Beschwerden derselben über ungerechte 
Behandlung seitens der landesfürstlichen Amtleute, Pfleger und 
Richter, sowie sonstige Angehórige des Adelsstandes entgegen- 
genommen. Obige Niederschrift bezieht sich auf das Inntal vom 
Ziller aufwárts bis zum Arlberg, soweit es eben damals zu Tirol 
gehörte. Die Beschwerden, die — wie es meist heißt — von 
den Leuten gemeinlich einer Ortsgemeinde oder auch mit- 
unter eines ganzen Gerichtes vorgebracht werden, beziehen sich 
auf folgende Gegenstände: 1. die adeligen Amtleute erhöhen 
widerrechtlich Steuern und andere Abgaben. 2. Sie eignen sich 
Grundstücke aus der Gemeinweide an, beengen die Holz- und 
Weiderechte der Gemeinden und treiben ihre Rosse auf die 
Felder der Bauern zur Weide. 3. Sie und andere Adelige zwingen 
die Bauern widerrechtlich zu Fronarbeiten und beeinträchtigen 
das Erbrecht an ihren Baugütern. 4. Sie maßen sich das Eigen- 
tum über Leute an, die bzw. deren Vorfahren niemals ihre Eigen- 
leute, sondern Untertanen des Landesfürsten gewesen sind. 6. 
Die adeligen Richter sind in der Erteilung und Durchführung 
von Rechtssprüchen zum Schaden der Leute lässig und ver- 
hängen hohe Vermögensstrafen, nur um sich zu bereichern. 
Diese Beschwerden sind in der kräftigen gedrungenen mittel- 
hochdeutschen Sprache jener Zeit gehalten, und gipfeln meist 
in der halb drohenden, halb auf Mitleid berechneten Ankündi- 
gung, daß die Leute, wenn ihnen nicht Abhilfe werde, verderben, 
d. h. wirtschaftlich zugrunde gehen oder aus dem Lande ziehen 
müssen. 

Ich führe einzelne Stellen wörtlich an, um von dem Ton dieser Beschwerden 
einen Begriff zu machen. (Die Beschwerden der Bürger von Hall, die in derselben 
Handschrift enthalten sind, habe ich bereits in meiner Abhandlung „Zur Verkehrs- 
geschichte des Inntales im 13. und 14. Jh.“ in den Veröffentl. d. Ferdinandeum 
Bd. 12 Jg. 1932 S. 103ff. wörtlich mitgeteilt.) 


(Cod. 17, fol. 16): „Item chlagent alle, die in hern Seifrides gerihte“ sint, daz 
er si mit uberger stellunge und mit unrehter stiure verderbet hab so sere, daz si 


7 Staatsarchiv Innsbruck Cod. 107. Näheres darüber bei Stolz, Verkehrsgesch. 
d. Inntales, Veróffentl. d. Ferdinand., Bd. 12 (1932), S. 103. 

35 Seifried von Rottenburg hatte damals die Gerichtsgewalt im Unterinntal 
von Hall bis Münster. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 715 


muezen von dem lande und sprechent alle gemainlich, und sul er lenger rihter sein, 
so sein si rehte verdorben. Item chlagen Wisinger”, daß er si mit seinen wilden rossen 
verderbet naht und tach. ... Daz er si verderbet mit holzfuore zuo ainer sage. Si 
chlagent uber hern Thomas den Vriuntsperger, daz er in hiure in dem winder ir 
heu und ir vuoter nam, daz in ir vihe starb." 


(Cod. 17 fol. 23): „Ez chlagent Obernhover und Phaffenhover alle gemain- 
lich, daz si der rihter ab Hertenberch*? mit ubermaze des chornes, daz si ze zinse 
gebent, so groezlich ubernuzzet, daz si da von verdorben sint. Si chlagent auch, daz 
er si verderbet mit vuerunge holtzes, staine und chalches. Si chlagent umme ir 
garten, die in mein herre gelazen hat ucz der gemainde, so ainre stirbet, so under- 
windet er sich des garten und lat den hin umme zins. Si chlagen auch, daz er sich 
ains akkers underwunden hat, der was ir aller gemainlich, und solt man in ir gattern 
da von machen. Si chlagent auch umme ain auwe, diu ir rehtiu gemainde ie gewesen 
ist, daz er si daran enget und ir aime weder zounholtz noch ander holtz daruz niht. 
Si chlagent auch, daz er in ir velt etzet und ir wisen mit seinen ochsen und mit 
seinen rossen. Si chlagent auch, daz er in mit stellunge gar unmazlichen wetuot. 
So chlagent auch, daz seine chnechte in iriu ros raitent.“ 


(Cod. 17 fol. 27): „Item chlagent Unster“ alle gemainlich, daz er Gebhart 
von Starchenberch in iriu chorn haizet sneiden rocke und gersten und sleht seiniu 
rinder und seiniu ros uf ir wisen und in ir gras, daz peste, daz si indert haben und 
enget si an ainem pach, da si ir wisen mit solten wezzern, den ziuhtet sich vur aigen 
an und hat si zwaier alben entwert, die si ze recht haben solten.“ 


(Fol. 28): „Item chlagent die von Grindes in hern H. Hirzperges gerihte“, 
si habe her Hirzperch gezigen, si wolten sich einen andern herren geben haben und 
wolten sich dem chunege“ haben enphroemdet und wellen sich des entreden, swie 
si sulen. Umme die selben rede sint si im niht holt, so ist er in niht genedich ... 
Si pittent alle gemainlich, daz man in einen andern rihter gebe und disen verchere 
oder si muezen alle von dem lande und chlagent er tue in grozen ungemach mit 
fuetrunge, da von si sein verdorben ... Si chlagent umme ain stiure, diu man von 
in nam und solt in die haben wider geben, das hat man niht getan. Und chlagent, 
daz man des chuneges leute und der dienstmanne solte haben getailt, da ist her 
Hirzperch sumich an gewesen und swaz die selben solten geben, daz muezent allez 
dise geben. Si iehent auch, daz vier und zwainzich wirtsleute von rehter armout 
sin gangen von dem lande, da diu stiure von ab get. Item habent die von Ramusse 
und die von Schrovenstain sich underwunden der leute, die diu stiure niht wolten 
geben und habent si gehaimzet uf ir veste mit ir libe und mit ir guote.“ 


3° Dorf Wiesing östlich Jenbach. 

% Gegend von Telfs im Oberinntal. 

*1 Imst, Ort und Gericht im Oberinntal, vgl. dazu Stolz, Schwaighöfe in Tirol 
(1930), S. 45. 

4 Grins bei Landeck, Heinrich von Hirschberg war Richter in dem „gerihte 
ze Landekke", wie es auch in diesen Beschwerden heißt. Vgl. Veröffentl. d. Ferdi- 
nand. 12, S.160. 

** Heinrich, Graf und Landesfürst von Tirol, Herzog von Kärnten, Exkönig 
von Böhmen, daher hier König genannt. 


716 Otto Stolz 


Zur Sprache dieser Beschwerden bildet ein wirksames Gegenstück eine Bitt- 
schrift, die um dieselbe Zeit zu Gunsten eines in Not geratenen Baumannes an den 
Landesfürsten gerichtet worden ist. Sie ist im Original in der Schrift von Anfang 
des 14. Jahrhunderts, ohne Datierung, erhalten, auf einem Papierstreifen von 21 cm 
Länge und 5 cm Höhe und ist eines der ältesten Beispiele eines „Aktes“ (im archiv- 
theoretischen Sinne), der aus der Kanzlei eines Landesfürsten erhalten ist (Staats- 
archiv Innsbruck, Urk. 63). Sie lautet: „Herre es ist iwer armer pawman ainer, 
haizzet Hans von Raye, der hat wol zehen clayniu chynt und sol noch zinsen von 
zwain jaren lib. XXV und tuoch XXXVII ellen und pit iwer gnade, daz ir im dar 
an genaedlichleich tuot oder in verderbet der irhter gar darumb, sol er ez geben 
und muest mit chynde und mit hausfrawe von dem lande. Daz understet durch 
Got, lieber herre." — Raye ist Rojen, ein Hochtal bei Reschen im obersten Vinsch- 
gau, wo es einige besonders hoch (über 1900 m) gelegene Schwaighófe gegeben hat, 
die heute noch bestehen (vgl. Stolz, Die Schwaighöfe in Tirol, S. 194). 


Jene Beschwerden und Klagen zeigen uns, daß damals zu 
Beginn des 14. Jahrhunderts in Tirol die bäuerlichen Gemeinden 
als ein geschlossener Stand dem Adel gegenüber getreten sind 
und ihre Anliegen der landesfürstlichen Regierung vorgebracht 
haben, was vermutlich durch Wortführer und Bevollmächtigte 
geschehen ist. Der Bauernstand Tirols zeigt also schon zu dieser 
Zeit die Möglichkeit und Befähigung zu politischem Auftreten; 
dies bedeutet eine wesentliche Voraussetzung zu seiner Teil- 
nahme an der Landschaft und war daher hier anzuführen. Wir 
wenden uns nun jener selbst zu. 


III. Die Anfänge der Landstände (Landschaft) und die Teilnahme 
der Bauern an derselben vom Ende des 13. bis zum 15. Jahrhundert. 


Bereits zum Jahre 1289, nicht wie Jäger aus Unkenntnis 
angibt, erst zum Jahre 1305, liegt der erste urkundliche Be- 
weis vor, daß der Landesfürst für wichtige Entscheidungen und 
Gesetze neben seinem Rate auch sonstige, eben nicht beamtete 
Vertreter der Bevölkerung befragt hat. Diese Urkunde Herzog 
Meinhards II. vom Jahre 1289 beinhaltet ein Landesgesetz über 
die Ersitzungsfrist von Liegenschaften und sagt, daß der Landes- 
fürst dieses „mit ersamer, weiser leute und unserer 
dienstmanne rat“ erlassen habe“. Der eigentliche landesfürst- 


“4 Die Urkunde ist mir allerdings nicht im Original, sondern in einer Abschrift 
von Just. Ladurner nach dem Or. oder einer beglaubigten Kopie vom Jahre 1384 
im Archiv des Schlosses Gandegg bei Eppan bekannt. Ich habe sie in den Urkunden- 
beilagen zum 3. Bande meines Werkes „Deutschtum in Südtirol", S. 18, Nr. 1, 
vollinhaltlich mitgeteilt. Kurz habe ich auf sie bereits in meiner Abhandlung über 
das tirol. Landesfürstentum in Schlernschriften, Bd. 9, S. 433, Anm. 1, hingewiesen. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 717 


liche „Rat“, der aus den obersten Hofbeamten bestand, wird 
in dieser Urkunde zwar nicht angeführt, der Ausdruck ,,ehr- 
same weise Leute und Dienstmannen'' stimmt aber gerade mit 
jenen zusammen, mit welchen in Urkunden von 1305 und 1317 
neben dem Rate und auBer diesem stehende Vertreter des Lan- 
des bezeichnet werden, nämlich ,,die Ältesten und Vornehmsten 
des Landes“ oder die „biederen“ oder „ehrbaren Leute!“ (s. 
Jàger S. 15 u. 30). In den Urkunden Graf Meinhard II. (1258 
bis 1295) wird sonst der Ausdruck „Rat“ bzw. , consilium" 
nicht erwähnt, wenn auch die Hofbeamten in den Urkunden 
als Zeugen háufig wiederkehren, also das Wesen eines Rates 
doch schon gegeben erscheint“. Unter Meinhards Nachfolgern 
Herzog Otto und Heinrich, besonders unter letzterem (1310 
bis 1335) tritt der landesfürstliche „Rat“ als feste Körperschaft, 
als ein ständiges Regierungskolleg stark hervor. Aus diesem 
Rate und mit dessen Einverstándnis bestellte Heinrich im Jahre 
1312 auf drei Jahre zu seiner Vertretung ein Kollegium von 
zehn Landesverwesern oder Landpflegern, die aber nach den 
darüber erhaltenen Urkunden nicht etwa als ein Ausschuß des 
Adels als Stand, sondern als Beauftragte des Landesfürsten auf- 
zufassen sind“. 

Die vorerwähnten Urkunden zeigen also, daß für besonders 
wichtige Angelegenheiten der Landesfürst außer jenem stän- 
digen Rate seiner obersten Beamten auch noch andere hervor- 
ragende und vom allgemeinen Vertrauen des Landes getragene 
Persónlichkeiten zur Beratung herangezogen hat. Auch spáter 
noch — in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts — werden 
gemeinsame Beratungen der landesfürstlichen Räte und der 
gemeinen Landschaft erwáhnt, insbesondere bei Gelegenheit des 
Hofgerichtes“. Deswegen darf man aber wohl nicht sagen, daß 


Dies ergibt eine Durchsicht der fast vollständigen Sammlung landesfürst- 
licher Urkunden jener Zeit, die L. Schönach angelegt hat und im Ferdinandeum zu 
Innsbruck aufbewahrt wird. 

Näheres bei Heuberger, Die ältesten Kanzleivermerke auf den Urkunden 
der Tir. Landesfürsten in Mitt. d. Inst. öst. Gesch., Bd.33, S. 443f. 

7 Vgl. Heuberger in Zt. d. Ferd. 56, S. 265ff. Jäger, Landstánd. Verf., Bd. 2,1, 
S. 21ff. hat in der Einsetzung dieser Landpfleger eine besonders wichtige Etappe 
in der Entwicklung der Landstände in Tirol gesehen, was aber im erwähnten Sinne zu 
berichtigen ist. — Siehe dazu auch oben S. 713. 

43 Siehe unten S. 730 zum Jahre 1404 und S. 720 zum Jahre 1417. 


718 Otto Stolz 


aus dem landesfürstlichen Rate die Landschaft, d. i. die Körper- 
schaft der Landstände, hervorgegangen sei, sondern alle diese 
Einrichtungen haben sich ziemlich gleichschrittig entwickelt. 

Jene Angaben von 1289, 1305 und 1317 über die Heran- 
ziehung von gewissen angesehenen Personen außerhalb des 
landesfürstlichen Rates zur Besprechung óffentlicher Angelegen- 
heiten, sowie die Auslegung dieser Angaben wird sehr bedeutsam 
durch ein anderes geschichtliches Zeugnis gestützt. Der Frei- 
heitsbrief vom Jahre 1342, der die Rechte und Befugnisse der 
Tiroler Landschaft erstmals näher feststellt, betont, daß die- 
selben gewohnheitsmäßig schon unter den früheren Landes- 
fürsten und ausdrücklich unter Herzog Meinhard II. gegolten 
hätten. Im Jahre 1342 konnte man von den Zuständen, wie sie 
50 Jahre früher im Lande geherrscht haben, wohl noch eine 
richtige Vorstellung gehabt haben. Daß man gerade den Namen 
des Herzogs Meinhard dabei hervorhob, war wohl auch nicht 
Zufall, sondern sollte mit Rücksicht auf das Ansehen dieses 
Herrschers auch die Bedeutung der von ihm anerkannten Rechte 
der Landschaft steigern. Meinhard II., der von 1258—1295 re- 
gierte, hat eigentlich das Land Tirol geschaffen, das Inntal, das 
durch die Teilung von 1254 vom Etschland abgesondert worden 
war, wieder mit der Grafschaft Tirol vereinigt und deren alleinige 
Herrschaft über das untere Etschland und Eisacktal sicher- 
gestellt; er hat durch ein straffes Verwaltungssystem eine wirk- 
liche Landeshoheit und Landeseinheit geschaffen. Und nun zeigt 
sich, daß dieser tatkräftige Landesfürst zu wichtigen Regierungs- 
handlungen außer seinem Rate auch noch Vertreter der Be- 
vólkerung herangezogen hat. Die Anfänge der Landstände in 
Tirol fallen also so ziemlich zusammen mit der ersten Ausbildung 
der landesfürstlichen Gewalt, beide Einrichtungen sind zugleich 
miteinander aus älteren Grundlagen erwachsen. 

Am landesfürstlichen Hof versammelten sich die Vasallen — 
adeligen Lehensträger — auch zur Rechtsprechung über ihre 
Standesgenossen. Das war schon am Hofe der Bischófe von Trient 
so, aus der Zeit von 1200—1220 kennen wir sechzehn Rechts- 
sprüche des Trientner Lehenshofes, die zum Teil das Gepräge 
von Weistümern haben, also auch Rechtssátze in allgemeiner 
Form aussprechen“. Eine ähnliche Einrichtung dürfte auch am 


Veröffentlicht von Durig in den Mittlg. d. Inst. óst. Gesch. 6. Erg. Bd. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 719 


Hofe der Grafen und Landesfürsten von Tirol bestanden, und 
daraus sich das sogenannte Hofgericht oder Hofrecht ent- 
wickelt haben. Nach Meinung mancher Forscher ist dasselbe 
unmittelbar aus dem Grafschaftsgericht der Grafschaft Bozen 
um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert hervorgegangen. 
Mir scheint das aber nur in dem Sinne richtig zu sein, daß diesem 
Grafschaftsgericht wohl die Gerichtsbarkeit über gewisse Stan- 
desklassen entzogen und dem Hofgerichte übertragen worden ist, 
nicht aber in dem Sinne, daß das Gericht der Grafschaft selbst 
zum Hofgericht geworden ist, vielmehr lebte dieses in dem 
späteren Landgerichte fort“. Das tirolische Hofgericht, wie es 
sich im 14. Jahrhundert darstellt, stand unter dem Vorsitz des 
Landesfürsten und in dessen Vertretung des Landeshauptmanns, 
früher auch Hauptmann an der Etsch genannt, die Urteiler 
waren aus den Kreisen des Adels und der Bürgerschaft der 
Städte genommen. Ob auch Vertreter der Landgerichte beim 
Hofgerichte teilnahmen, ist für diese Zeit nicht direkt über- 
liefert. Zuständig war es in Klagen gegen Adelige, Stifter und 
Gemeindeverbánde. Die ältesten mir bekannten Urkunden, 
welche Sprüche dieses Hofgerichtes enthalten, sind aus den 
Jahren 1322 und 132751. Die Verhandlungssprache war, wie die 
Urkunde von 1327 ausdrücklich angibt, deutsch, die schriftliche 
Ausfertigung der Urteile damals noch lateinisch. Ferner waren 
vor dieses Gericht die Berufungen (Appellationen) aus den 
Stadt- und Landgerichten zu bringen. Dieses ,,Dingen an Hof'' 
wird erstmals durch Urkunden von 1392 und 1396 erwáühnt*?, 


50 Werunsky, Österr. Reichs- u. Rechtsgesch. (10. Lief. 1926), S. 796, äußert 
sich zurückhaltend über die Ansicht von Voltelini, daß das Landgericht von Bozen, 
dessen Wesen aus einem Weistum von 1293 ersichtlich ist, sich in ein Adelsgericht 
verwandelt habe. In der Tat hat sich das Bozner Landgericht weiter erhalten, 
wenn auch der Adel aus demselben ausgeschieden ist. 

51 Über die Urkunde von 1322 s. oben S. 709, Anm. 23. — Die Urkunde von 
1327 ist näher besprochen und mitgeteilt bei Stolz, Deutschtum in Südtirol, Bd. 3/1, 
S. 70 u. Bd. 3/2, S. 29. In dieser werden die bei der Gerichtsverhandlung anwesenden 
Personen zum großen Teil namentlich angeführt, zuerst Bischöfe und Äbte, dann 
Adelige und schließlich Bürger von Bozen und Meran. Weitere Urteile dieses Hof- 
gerichtes, nun unter dem Vorsitz des Hauptmannes an der Etsch, aus den Jahren 
1366, 1376, 1377 und 1385 siehe bei Stolz a. a. O. 3/2, S. 53, 56, 58, 64. 

ss Stolz a. a. O., Bd. 2, S. 238, Nr. 43a und Bd. 3/2, S. 307. Daß der Stadtrat 
von Meran ein Weistum über das Dingen an Hof abgibt, zeigt die Mitwirkung der 
Bürgerschaften an diesem Hofgericht. 


720 Otto Stolz 


Seitdem der landesfürstliche Hof um das Jahr 1420 von Meran 
nach Innsbruck verlegt worden war, wurde das Hofgericht zu 
Bozen und Meran meist nur unter dem Vorsitze des Landes- 
hauptmannes abgehalten und erhielt infolgedessen die Bezeich- 
nung „Landeshauptmannschaftliches Gericht an der Etsch", 
und war auch nur für Stifter, Adelige und Gemeinden in den 
Vierteln an der Etsch, im Vinschgau und am Eisack zuständig, 
während die Gerichtsbarkeit über die genannten Standesklassen 
in den Vierteln des Unter- und Oberinntales und Pustertales 
die landesfürstliche Regierung zu Innsbruck übernahm“. 
Manche Forscher äußerten die Ansicht, daß aus diesem Hof- 
gerichte im Laufe des 14. Jahrhunderts die Landtage sich 
entwickelt haben, indem die bei jenem versammelten Adeligen 
und Vertreter der Stadtgemeinden seitens des Landesfürsten 
nicht nur über Rechtsklagen, sondern auch über politische und 
finanzielle Angelegenheiten des Landes befragt worden seien 
und entschieden hätten, und zwar in derselben Form, die bei den 
Gerichtsverhandlungen üblich war. Die ältesten Urkunden 
über das Auftreten der Landschaft im 14. Jahrhundert, das sind 
die Freiheitsbriefe der Landesfürsten von 1330, 1336, 1342 und 
1406, und andererseits die Beschlüsse der Landschaft von 1336 
und 1363°° lassen zwar noch nicht einen Zusammenhang zwischen 
Hofgericht und Landschaftsversammlung unbedingt feststellen, 
wohl aber die nächstälteren Urkunden über Landschaftsbe- 
schlüsse aus den Jahren 1417—1423. Demnach sind tatsächlich 
in Sitzungen, welche die Ráte des Landesfürsten und die ge- 
meine Landschaft gemeinsam abhielten, eigentliche Gerichts- 
verhandlungen geführt und Urteile gefällt worden59. Anderer- 


6 Stolz, Gesch. d. Gerichte Deutschtirols, Arch. öst. Gesch., Bd. 102, S. 257. 

5 So Wopfner, Die Lage Tirols am Ausgang des Mittelalters (1908), S. 1161. 

85 Siehe unten S. 722—130. 

55 1417 Sept. 29 bekennt Vogt Wilhelm von Matsch, Hauptmann an der Etsch 
und des Bistums Trient, daß ‚auf heut für mich und ander meins gnedigen herrn 
rät ritter und knecht und für die gemaine landtschafft komen ist“ der Bischof Se- 
bastian von Brixen und sich beklage, der Burggraf von Tirol habe die bischóflichen 
Bauleute zu Algund wegen eines Zehenten vor sein Gericht gezogen, was wider die 
Freiheiten des Hochstiftes sei. Es wird geurteilt, daB gegen jene Bauleute nur an 
den Stätten, wo es billig und recht sei, Klage zu führen und Recht zu sprechen sei 
(Or. im Arch. d. Hochstiftes Brixen Lade 107, 9 A, jetzt kgl. ital. Staatsarchiv zu 
Bozen, Abschrift Ferdinandeum Innsbruck, Sammlung Egger Quart II, 190, Aus- 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 721 


seits wurden Verhandlungen und Beschlüsse der Landschaft 
über rein politische Gegenstände in ganz ähnlicher Weise wie 
bei den Gerichtsverhandlungen protokolliert und beurkundet, 
also wohl auch abgeführt?”. Endlich werden solche politische 
Verhandlungen — Landtage — ausdrücklich anläßlich eines 
Hofrechtes angesetzt), Demnach ist wohl auch für die frühere 
Zeit anzunehmen, daß bei den Hofgerichtstagen politische Ge- 
genstände zwischen dem Landesfürsten und der Landschaft be- 
sprochen und erledigt worden sind. Nachher haben sich aber 
dann die Sitzungen der Landschaft — die Landtage — einerseits 
und das Hofgericht bzw. das landeshauptmannschaftliche Ge- 
richt andrerseits voneinander durchaus getrennt. 

Politisch bedeutsam ist die Tiroler Landschaft hervorge- 
treten, als mit König Heinrich das bisherige görzische Geschlecht 
der Tiroler Landesfürsten im Mannesstamme zu erlöschen drohte 
und sich um seinen Landbesitz die drei mächtigsten Fürsten- 
häuser des damaligen Deutschland, Wittelsbacher, Habsburger 
und Luxemburger bewarben. Der Luxemburger, Johann, der 
Sohn des gleichnamigen Königs von Böhmen, wurde im Jahre 
1330, obwohl erst neun Jahr alt, mit der Margareta, der Tochter 
des tirolischen Landesfürsten König Heinrich, vermählt, die auch 
als alleinige Erbin seines Fürstentums erklärt wurde. Schon bei 
der Vermählung hat König Johann von Böhmen als Vormund 
seines Sohnes im Jahre 1330 in einer Urkunde versprochen, daß 
er „Edel und Unedel, Bürger, Arm und Reich der Graf- 
schaft Tirol" bei allen ihren Rechten und Handfesten, die sie 
unter Kónig Heinrich, dem bisherigen Landesfürsten, gehabt 


zug bei Sinnacher, Gesch. v. Brixen VI, S. 69). — 1417 März 4 Herzog Friedrich 
bestätigt einen Urteilsbrief, daB „fur uns unser rett und gemaine lantschafft ist 
kommen Hanns Pletscher zu Pletsch“ und gegen den Bischof Ulrich von Brixen 
klage wegen der Lehenschaft seines Ansitzes. Das Urteil verfügte die Rückgabe 
desselben an den Kläger (Brixner Archiv Lade 43, 23A, Abschrift wie oben II, 189, 
Auszug bei Sinnacher VI, S. 60). 

87 Dies wird besonders deutlich in einem Abschiede der Landschaft über ihre 
Verhandlungen mit dem Landesfürsten wegen eines eigenmächtigen Bundes mehrerer 
adeliger Mitglieder jener vom Jahre 1423 (Urkunde bei Brandis, H. Friedrich, S.492f. 
Auszug bei Jäger, Landständ. Verf., Bd.2, 1, S. 374). Darauf verweist insbesondere 
Wopfner a. a. O. 

5* In dem Landtagsabschied von 1420 (Brandis, H. Friedrich, S. 484) wird ge- 
sagt, daß der Landesfürst „der ganzen lantschaft, edel und unedel, als die bey ain- 
ander was auf dem hofrecht ze Botzen“, die schwierige Lage des Landes vorgetragen 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.4. 46 


722 Otto Stolz 


hätten, bewahren und sie mit keinem Gast übersetzen, d. h. 
keinem Ausländer in Tirol ein wichtiges Amt verleihen werde. 
Jäger erwähnt wohl S. 51 in der Anmerkung diese Stelle, aber 
er erkannte nicht ihre Bedeutung für die Geschichte der Land- 
schaft®®. Denn eine solche rechtsverbindliche und zugleich im 
eigentlichen Sinne politische Erklärung hat König Johann gewiß 
nur deshalb gegeben, weil eben die Gegenseite einen juristischen 
und politischen Faktor dargestellt hat, und das war eben nur 
dann denkbar, wenn die Stánde, wie sie eben in jener Urkunde 
als deren Empfänger genannt werden, eine kórperschaftliche 
Form bereits angenommen haben. Als König Heinrich für seine 
sieche Tochter Adelheid im Jahre 1335 eine besondere Versor- 
gung in Form eines Vermächtnisses traf, setzte er als Wahrer 
desselben aufer seinen eigenen Erben noch ,,die Getreuen, die 
zur Herrschaft zu Tirol gehören“, ein; unter letzteren waren 
wohl auch jene landständischen Vertreter gemeint“. 

Nach dem Tode des Landesfürsten Heinrich im Jahre 1335 
hat die Tiroler Landschaft als seine Erben Johann und Margareta 
anerkannt, und Johanns Bruder Karl, der spátere Kaiser, kam 
nach Tirol, um für jenen wegen seiner Minderjáhrigkeit die Zügel 
der Regierung zu ergreifen und seine landesfürstliche Stellung 
zu befestigen. Kaiser Ludwig hatte damals mit den Herzogen 
von Österreich vereinbart, sich in den Besitz des Landes Tirol 
zu teilen. Aber gerade dieser Plan hat den einmütigen Wider- 
stand des Landes gegen den Kaiser hervorgerufen und die 
Luxemburger als die Verfechter der bedrohten Einheit des 
Landes erscheinen lassen. Karl schloß mit der Landschaft einen 
fórmlichen Vertrag, daB diese seinen Bruder Johann und dessen 
Gemahlin Margareta als Landesfürsten anerkennen und gegen 
jeden Feind verteidigen wollen, wohingegen Karl das Land und 
seine Einheit gegen jedermann, auch gegen den Kaiser schützen 
werde. Von diesem gegenseitigen Versprechen wußte die Ge- 
schichtschreibung lange, und so auch Jäger (S. 62 u. 67), nur das, 
habe und daraufhin eine Reihe von Maßregeln zur Herstellung von Ordnung und 
Sicherheit im Lande getroffen worden seien. — In dem Landtagsabschiede von 1424 
heißt es, daB der Landesfürst „der lantschaft gegunt hat ainen tag zu laisten ze 
Botzen auf dem nechsten hofrecht“ (Röggl in Zt. d. Ferd. 1828, S. 273). 

5 Die Urkunde ist nach dem Original gedruckt bei Chmel, Ust. Geschichts- 


forscher 2, S. 393. 
% Huber, Vereinigung Tirols mit Österreich, S. 139, Z. 10 v. o. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 793 


was Kaiser Karl darüber in seiner Lebensbeschreibung und 
Johann von Viktring in seiner ebenfalls zeitgenóssisch geschrie- 
benen Geschichte mitteilt. Der erstere erzáhlt, daB er von den 
„terrigenae“, d. h. Landsassen der Grafschaft Tirol zur Regierung 
ihres Landes berufen worden sei. Jäger übersetzt jenes Wort 
etwas einseitig als „Landherren‘‘, bezieht es also allein auf die 
adeligen Landsassen, diese haben dabei jedenfalls eine führende 
Rolle gespielt, aber jener Ausdruck schlieBt die Vermutung 
keineswegs aus, daB nicht auch die Unedlen dabei beteiligt ge- 
wesen sind. Johann von Viktring berichtet, daß am Fronleich- 
namstag 1336 Karl und die Edlen des Landes sich den Schwur 
gegenseitigen Beistandes gegen den Kaiser geleistet hätten. 
Seither hat sich aber der volle Wortlaut des Vertrages selbst in 
einem Registerbuch der Tiroler landesfürstlichen Kanzlei, in 
das er schon damals — im Laufe des Jahres 1336 — eingetragen 
worden ist, gefunden?! Der formelle Aussteller der Vertrags- 
urkunde ist die Landschaft, der Empfänger ist Karl für seinen 
minderjährigen Bruder. Am Beginn der Urkunde sind, wie öfters 
in Kanzleiregistern, der oder in diesem Fall die Namen der Aus- 
steller weggelassen, wohl aber werden diese im Innern des 
Textes®? in einer Weise bezeichnet, die für unsere Zwecke vollauf 
genügt, nämlich als „nos prescripti et alii nobiles, et ignobiles 

€ Staatsarchiv Innsbruck Cod. 108, Fol. 29. Vollinhaltlich herausgegeben von 
L. Schónach in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Bóh- 
men, Bd. 43 (1905), S. 507f. Wenn Schönach den Text im Kanzleibuch als Entwurf 
bezeichnet, so liegt hierfür kein zwingender Grund vor. Denn es findet sich in jenem 
keine einzige nennenswerte Korrektur oder sonstige Abänderung, woran Entwürfe 
oder Konzepte meist zu erkennen sind. DaB am Schlusse die Datierung fehlt, kommt 
in den Kanzleibüchern ófters vor. Andere Stücke in diesem Kanzleibuch besitzen 
allerdings in stärkerem Maße Korrekturen und R. Heuberger bezeichnet dasselbe 
daher im Ganzen als ein Konzeptregister (Das Urkunden- und Kanzleiwesen der 
Grafen von Tirol in den Mitt. d. Inst. f. öst. Gesch. 9., Erg. Bd., S. 374ff.). Daß da- 
mals irgendein ähnlicher Vertrag zwischen den Luxenburgern Karl und Johann 
einerseits und der Tiroler Landschaft andererseits geschlossen worden ist, ergibt sich 
auch aus den andern obenangeführten Nachrichten. Und selbst wenn keine un- 
bedingte Sicherheit besteht, daB der Vertragstext, wie er im Kanzleibuche steht, 
auf Pergament mit Siegel reingeschrieben und ausgefertigt worden ist, so genügt 
für die Erkenntnis der Geschichte der Tiroler Landschaft doch die Tatsache, daB 
damals eine solche Urkunde in der landesfürstlichen Kanzlei entworfen worden ist. 
Denn schon dies beweist, daB die Landschaft damals eine entsprechende rechtliche 
und politische Stellung eingenommen hat. 

A. a. O. S. 509, Zeile 7 von unten. 


46* 


124 Otto Stolz 


communiter cuiuscunque dignitatis", d. h., wir die vorgeschrie- 
benen und anderen Edlen und Unedlen gemeiniglich 
jedes Standes. Die „Vorgeschriebenen‘ sind eben am Beginn 
der ausgefertigten Urkunde mit ihren Vor- und Eigennamen 
genannt gewesen und haben jedenfalls als Wortführer und Ver- 
treter aller anderen gewirkt. Der Vertrag ist in lateinischer 
Sprache verfaßt, es fällt dies auf, weil damals die landesfürst- 
lichen Urkunden bereits meist in deutscher Sprache geschrieben 
sind; die Stilisierung macht den Eindruck besonderer Gewandheit 
und Ausdrucksfülle und darf vielleicht einer persönlichen Mit- 
wirkung Karls, der sehr sprach- und schreibgewandt war, zu- 
gemutet werden. Daß nun dieser Vertrag wirklich geschlossen 
worden ist, beweist ferner eine Urkunde Kónig Johanns von 
Böhmen vom 23. Dezember 13369. Derselbe bestätigt hierin, 
daß seine Söhne mit der Tiroler Landschaft — „alllantleut, 
edel und unedel" — sich zur Aufrechterhaltung der Selb- 
ständigkeit und Unversehrtheit der Grafschaft Tirol gegen jeder- 
mann eidlich verpflichtet hätten, und verspricht, sie in diesem 
Vorhaben zu unterstützen. Jäger erwähnt S. 67 Anm. 2 wohl 
diese Urkunde aus den Regesten Böhmers, übersieht aber wieder 
ganz die Art, wie die Landschaft hier bezeichnet wird. 

Aus diesen beiden Urkunden vom Jahre‘ 1336 ergibt sich 
mit Gewißheit, daß damals an der Landschaft außer den Edlen 
auch die Unedlen beteiligt gewesen sind. Man könnte sagen, 
daß mit den letzteren nur die Städte gemeint waren und nicht 
auch die Landgemeinden. In dem Handfesten, laut der die 
Stände von Niederbayern 1311, 1322 und 1331 von ihren Her- 
zogen für die Bewilligung einer einmaligen Steuer die niedere 
Gerichtsbarkeit erhalten, wird die Formel „Arm und Reich“ 
mit ausdrücklicher Beziehung auf die Städte und deren Bürger 
gebraucht; in weiteren Bestätigungen dieser Handfesten von 
1315, 1341 und 1347 wird die Formel auf „Edel und Unedel, 
Arm und Reich“ mit derselben Beziehung auf Herren, Ritter 
und Knechte, Städte und Märkte erweitert, und ebenso in einer 
ähnlichen Urkunde für Oberbayern von 13569*, In Bayern waren 

s Von Schönach ebenfalls a. a. O. S. 509 aus dem Original wörtlich mitgeteilt. 

** Abdrücke dieser Handfesten siehe bei Lerchenfeld, Die Altbaier. Landstánd. 
Freibriefe (1853) S. CL u. S. 1ff. Quellen und Erörterungen z. bayr. u. d. Gesch., 


Bd. 6 (1861), Altmann u. Bernheim, Urk. z. d. Verfassungsgesch., S. 354 u. 361. 
Hierauf verwies Wretschko in Schlernschriften, Bd.9, S. 313. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 795 


weder damals noch spáter die Landgemeinden Mitglieder der 
Landschaft. Allein die Beziehung in diesen Urkunden hat keine 
unbedingte Geltung, da — allgemein genommen — auch Bauern 
unter unedel und arm gemeint sein kónnen. Auch kann man 
keineswegs behaupten, daB jene Ausdrücke nach dem Vorbild 
der bayrischen Urkunden in die tirolischen übernommen worden 
sind, denn nach unserer Darlegung (s. oben S. 707) haben die 
tirolischen Urkunden jene Ausdrücke schon vor dem Regierungs- 
antritte Ludwigs von Bayern-Brandenburg in Tirol verwendet. 
Wenn nun für Tirol — wie wir gleich hóren werden — Urkunden 
von 1342 und 1363 die Teilnahme von Landgemeinden an der 
Landschaft ausdrücklich anführen, so ist auch für die Urkunden 
von 1330 und 1336 die weitere Auslegung des Ausdruckes Unedel 
— im Sinne von Bürger und Bauern — eher gestattet, als die 
engere — im Sinne von Bürger allein. Auch scheint mir die Hinzu- 
fügung ,,Unedle gemeiniglich jedes Standes“ in der lateinischen 
Urkunde von 1336 stark darauf hinzuweisen, daB man damit 
unbedingt alle unedlen Leute, daher auch Bauern gemeint hat. 

Diese Urkunden vom Jahre 1336 zeigen außer der Zusammen- 
setzung der Landschaft deren allgemeine Bedeutung kräftig an. 
Die Tiroler Landschaft ist damals bereits der Träger des Ge- 
dankens der Selbständigkeit und Unversehrtheit des Landes, 
sie entscheidet und bestimmt darüber, indem sie jenem Be- 
werber, der die Erfüllung jener Forderung am besten gewähr- 
leistet, zur landesfürstlichen Würde und Gewalt verhilft. 

Die bekannte Vertreibung des Luxemburger und die Be- 
rufung des Wittelsbachers Ludwig, des Sohnes des damaligen 
Kaisers, zur landesfürstlichen Würde von Tirol im Jahre 1341 
war wieder ein Werk der führenden adeligen Kreise der Land- 
schaft. Ludwig hat alsbald, sei es als Dank oder als Preis dafür, 
wohl aus beiden Rücksichten zugleich, in einer feierlichen Ur- 
kunde vom 28. Januar 1342 die Rechte und Befugnisse der 
Tiroler Landschaft, wie sie unter den bisherigen Landes- 
fürsten, namentlich unter Herzog Meinhard II. gegolten haben, 
nicht nur im allgemeinen bestátigt, sondern auch im einzelnen 
näher bestimmt. Nämlich, der Landesfürst soll keine ungewóhn- 
liche Steuer auflegen ohne der Landleute Rat, d. h. ohne Zu- 
stimmung der Landschaft; er soll die Grafschaft Tirol handeln 
und haben nach der Besten Rat, die darin gesessen sind, 


726 Otto Stolz 


d. h., er soll sie regieren im Einklange mit den Vertretern der 
Landschaft; und er soll ebenso nur mit deren Rat das Recht, 
d. h. die Gesetze des Landes bessern. Also Steuerbewilligung, 
Zustimmung zu neuen Gesetzen und Prüfung der Regierung und 
Verwaltung im allgemeinen werden hier als Befugnisse der 
Landschaft gegenüber dem Landesfürsten und seiner Regierung 
scharf umrissen, jene haben auch weiterhin das Wesen der land- 
ständischen Betätigung ausgemacht. 

Diese Urkunde von 1342, die wir demnach mit gutem Grunde 
als den Großen Freiheitsbrief der Tiroler Landschaft be- 
zeichnen können, ist aber in zwei Ausfertigungen erhalten. Der 
bestimmende (dispositive) Inhalt sowie die Datierung ist in beiden 
wörtlich gleichlautend, verschieden aber sind die Empfänger 
bzw. Adressaten. Die eine Ausfertigung (1) richtet sich nämlich 
an „alle Gotteshäuser und Edelleute in der Grafschaft Tirol“, 
die andere (2) an „alle Gotteshäuser, geistliche und weltliche, 
alle Städte, Dörfer und Märkte und auch alle Leute, 
edel und unedel, reich und arm, wie sie geheißen und wo 
sie gelegen oder wo sie gesessen sind in der Grafschaft Tirol“. 
Auch Kaiser Ludwig hat diese Handfeste seines Sohnes mit 
zwei verschiedenen Adressen bestätigt, die eine derselben ist 
wörtlich gleichlautend mit der zweitangeführten des neuen 
Landesfürsten, die andere wendet sich nur an die Edelleute, 
nicht wie die erstangeführte auch an die Gotteshäuser®®. Die 


*5 Diese zweifache Ausfertigung des Freiheitsbriefes von 1342 hat erst F. Haug 
in seiner Abhandlung über die Regierung Ludwigs des Brandenburgers in Tirol in 
den Forsch. u. Mitt. z. Gesch. Tirols, Bd. 3 (1906) S. 276f. festgestellt und näher 
besprochen. Das Original der erst erwähnten Ausfertigung (1) befindet sich im land- 
schaftlichen Archive zu Innsbruck (s. Böhm, D. Tir. Landesarchiv 1911, S. 31), 
die Ausfertigung (2) im Hauptstaatsarchiv zu München. Man würde natürlich auch 
diese im Archiv der Tiroler Landschaft vermuten, sie ist auch wahrscheinlich erst 
zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Innsbruck nach München gelangt. Das Archiv 
der Tiroler Landschaft hat nämlich die bayerische Regierung im Jahre 1808, als 
sie damals während ihrer Herrschaft in Tirol die alte Landesverfassung aufhob, 
in Beschlag genommen und dem staatlichen Archiv in Innsbruck in Verwahrung 
übergeben. Da 1813 alle Urkunden vor 1400 von diesem an das Münchner Reichs- 
archiv eingefordert wurden, dürfte auch jener Freiheitsbrief von 1342 darunter 
gewesen sein. Bei der Rückstellung der Innsbrucker Archivalien nach 1815 konnte 
das Münchner Archiv infolge der Nachlässigkeit der österreichischen Stellen nicht 
wenig davon zurückbehalten, für die Urkunde eines Wittelsbachers lag dies besonders 
nahe, vgl. M. Mayr, Gesch. d. Innsbrucker Statthaltereiarchivs in Mitt. d. Archivs- 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 727 


ausdrückliche Anführung der Dörfer, sowie die auch sonst mög- 
lichst weitgezogene Umschreibung der an der Landschaft be- 
teiligten Bevölkerungskreise machen es sicher — wenn man 
überhaupt eine wortgetreue Auslegung anwenden darf — daB 
die Landgemeinden damals zur Landschaft gerechnet worden 
sind, und zwar auf Grund alter Gewohnheit. 

Wenn wir den Freiheitsbrief der Tiroler Landschaft von 1342 
mit den landständischen Privilegien der benachbarten anderen 
Länder vergleichen, so zeigt er einen ganz besonderen — man 
darf wohl sagen — einzig dastehenden Charakter99, Die Land- 
handfesten für Steiermark von 1186 und 1237 und jene für 
Kärnten von 1338 sind lediglich Privilegien für den Adel dieser 
Lànder, beziehen sich mehr auf diesen als einen besonderen 
Stand, als auf das Land im ganzen; ähnliche Bestimmungen ent- 
halten für den Adel auch die beiden Fassungen des Landrechtes 
des Herzogtums Österreich aus dem 13. Jahrhundert‘, Die 
Handfesten für die Landstände der Herzogtümer Nieder- und 
Oberbayern seit 1311 und für jene des Erzstiftes Salz- 
burg seit 1327 sind auch nur Schadloserklärungen für ein- 
malig bewilligte Steuern oder gewähren diesen Ständen beson- 
dere Rechte für den eigenen Gebrauch, wie die niedere Gerichts- 
barkeit in der ottonischen Handfeste für Niederbayern von 
131193. Der Tiroler Freiheitsbrief von 1342 enthält aber eine 
zusammenfassende Erklärung der einzelnen Rechte der Land- 
schaft mit Bezug auf das Land und dessen Verwaltung im ganzen 
und gegenüber dem Landesfürsten, er ist daher bei aller Ge- 
drängtheit eine wirkliche, schriftlich festgelegte Landesver- 
fassung. In den vorerwähnten Ländern ist eine solche auch im 
sektion, Bd.2 (1894), S.172. Die Ausfertigung (2) ist gedruckt bei Schwind und 
Dopsch, Urk. z. öst. Gesch. (1895) S. 179, ferner samt Schriftabbild von mir heraus- 
gegeben in der Zeitschrift , Tirol", Jg. 2 (1928) H. 2, S.15. 

% Es darf daher wohl als ein Mangel bezeichnet werden, daß in dem Werke 
,Ausgewühlte Urkunden zur deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte'', 
Bd. III, Heft 3 (1923), „Die Entstehung d. landständ. Verfassung“, bearbeitet von 
P. Sander und H. Spangenberg dieser tirol. Freiheitsbrief von 1342 nicht aufgenom- 
men worden ist. Er wäre neben den bayr. ständ. Handfesten (a. a. O. S. 19f.) wohl 
am Platze gewesen. 

7 Den Wortlaut dieser Urkunden s. bei Schwind und Dopsch, Urk. z. óst. 
Gesch. Nr. 13, 84, 87, 94 u. S. 468. 

** Über die bayrischen Ständebriefe s. oben S. 724, Anm. 64, die salzburgischen 
bei Mell in den Mitt. f. Salzburger Landeskunde, Bd.44 (1904), S. 351ff. 


728 Otto Stolz 


weiteren 14. und im 15. Jahrhundert nicht gegeben worden, 
sondern es sind nur die alten Handfesten wieder bestätigt und 
die Rechte der Landschaft im allgemeinen, wie sie sich gewohn- 
heitsmäßig entwickelt haben, anerkannt worden. Auch waren in 
keinem jener Länder — das sei auch hier wieder betont — die 
Landgemeinden an der Landschaft beteiligt, sondern eben nur 
Geistlichkeit, Stifter, Adel und Städte. In Vorarlberg waren die 
Landstände allerdings nur aus Städten und Landgemeinden zu- 
sammengesetzt, allein hier besteht gegenüber Tirol der Unter- 
schied, daB die Vorarlberger Landstände entsprechend der 
späteren Bildung des Landes erst seit dem Anfang des 16. Jahr- 
hunderts in Erscheinung treten und es auch niemals zu einer 
ausdrücklichen feierlichen landesfürstlichen Beurkundung ihrer 
Befugnisse, sondern nur zu einer gewohnheits mäßigen Aner- 
kennung gebracht haben““. 


Im weiteren Verlaufe der Regierung Markgraf Ludwigs in 
Tirol finden wir die Betätigung der Landschaft nur noch einmal 
beurkundet, nämlich bei Erlaß eines Landesgesetzes oder so- 
genannten Landesordnung über die Rechts verhältnisse der Bau- 
leute, der bäuerlichen Dienstboten und der Handwerker vom 
Jahre 13527. Der Landesfürst sagt hier nämlich, daß er die 
Ordnung mit Rat seines Rates und der Gotteshäuser und aller 
ehrbaren Leute, die Eigen und Urbar, d. h. Grundeigentum und 
davon pflichtige Abgaben im Lande besitzen, erlassen habe. Die 
Bauleute, die die große Masse der Bauern bildeten, erscheinen 
also wohl als Gegenstand dieser Ordnung, nicht aber als Mit- 
wirker an derselben. 


Stürker treten dann die Landschaft, und als ein Glied der- 
selben auch die Landgemeinden in Tirol beim Wechsel im Lan- 
desfürstentum in den Jahren 1361—1363 hervor, wie Jäger 
S. 120ff. bereits näher ausgeführt hat. Die Belege hierfür sind: 
In einem Schreiben der Landschaft vom September 1362 an den 
bald nachher verstorbenen Herzog Meinhard IIL, den Sohn 
Ludwigs und der Margareta nennt sich jene ,,eure Dienstleute, 
Ritter und Knechte, Städte und Märkte und alle Gemeinschaft, 


® Siehe A. Brunner, Die Vorarlberger Landstände bis zum 18. Jahrhundert 
(1929). 
7 Schwind und Dopsch, Urk., S. 184f. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 729 


arm und reich in dem Gebirge“. Hier könnte man noch eine be- 
stimmtere Erwähnung der Vertreter der Landgemeinden wün- 
schen. In der Urkunde vom 26. Januar 1363, mit der die Erb- 
gräfin Margareta dem Herzog Rudolf von Österreich und dessen 
Bruder das Fürstentum Tirol vermacht, und bereits ihnen des- 
sen Regierung übergibt, beruft sie sich auf Verhandlungen, die 
sie mit den „edlen Landherren und Ratgeben von wegen aller 
anderen, Geistlichen und Weltlichen, Edlen und Unedlen, 
Armen und Reichen, in den Städten und auf dem Lande, 
die zum Fürstentum Tirol gehören“, geführt habe. Auch die For- 
mel ,,Landherren, Bürger und Landsassen“ kommt in dieser Ur- 
kunde ebenfalls mit Bezug auf die Gesamtheit der Landstände 
vor”!. Der Ausdruck „auf dem Lande“ neben „in den Städten“ 
kann nur im Gegensatz oder als Ergänzung hierzu eben auf die 
Landgemeinden gedeutet werden, auch „Landsassen“ im Ver- 
hältnis zu „Bürger“ auf die Landbewohner. Mit der Urkunde 
vom 11. September 1363 bestätigt die Landschaft, daß Margareta 
die Grafschaft Tirol den österreichischen Herzogen ganz über- 
eignet habe und bezeichnet sich hierbei als Aussteller der Ur- 
kunde zuerst mit namentlicher Anführung von 24 Landherren 
und im unmittelbaren Anschlusse daran als „die Landschaft 
gemeinlich, edel und unedel, arm und reich, die zur 
Herrschaft von Tirol gehóren''. Das ist die erste schriftliche Ver- 
wendung des Ausdruckes „Landschaft“, die für Tirol überliefert 
ist. Daß sich diese damals zu gemeinsamer Tagung versammelt 
hat, ist aus dem Zusammenhang anzunehmen, aber der Aus- 
druck „Landtag“, den Jäger S. 148 hierfür gebraucht, kommt 
in Schriften, die zu jener Zeit verfaßt worden sind, nicht vor. 
Im Einklang mit jener Urkunde sagt der gleichzeitige Geschichts- 
schreiber Goswin von Marienberg, die Abtretung des Landes 
sei erfolgt „cum consilio nobilium et ignobilium‘‘”?, 


Nach dem Jahre 1363 findet man mehrere Jahrzehnte nichts 
über irgendeine Betätigung der Tiroler Landschaft. Es muß 
aber gesagt werden, daß die urkundliche Überlieferung — ins- 


71 Die erstere Formel steht im Abdruck der Urkunde bei A. Huber, Vereinigung 
Tirols mit Österr., S. 225, Zeile 1 von oben, die letztere S.222, Zeile 1 von unten. 

7? Huber, Vereinigung, S. 94 u. 233. Jäger, 2, 2, S. 147f. Goswin Chronik 
von Marienberg (Ausgabe in Tir. Geschichtsquellen Bd. 2) S. 217. 


730 Otto Stolz 


besondere was die landesfürstliche Kanzlei betrifft — aus der 
Regierungszeit der ersten Habsburger in Tirol im Vergleich zu 
den vorausgegangenen Jahrzehnten überhaupt ziemlich spärlich 
ist. Man darf deshalb wohl nicht annehmen, daß jede Betätigung 
der Landschaft seit 1363 geruht hat und insbesondere die Land- 
gemeinden aus dieser wieder gänzlich verdrängt worden seien. 
Die Landesordnung vom Jahre 1404, die das rechtliche Verhält- 
nis zwischen den Grundherrn und den Bauleuten in Tirol im 
Vergleich zu andern Ländern sehr zugunsten der Bauern in 
Gestalt der Erbleihe festgelegt hat, ist vom Landesfürsten er- 
lassen worden „nach Rat und Erkenntnis unserer Räte und mit 
dem mehrern Teil der Landesleut und über Bitten der Prälaten, 
Herren, Ritter, Knecht, Städte und gemeinlich aller Lands- 
leute der Grafschaft zu Tirol“. Dieser letztere Ausdruck be- 
zieht sich wohl auf die Mitwirkung der Landgemeinden bei 
diesem Gesetze. Ferner wird hier zum ersten Male das Mehrheits- 
prinzip für die Entscheidungen der Landschaft bezeugt“. 1406 
haben dann die Herzoge Leopold und Friedrich für die Hilfe, 
die ihnen und ihren Vorfahren ,,die Landesherrn, Ritter, Knechte 
Stádte und gemeinlich all unser Landesvolk in unser Grafschaft 
zu Tirol" geleistet haben, die früheren Freiheitsbriefe bestätigt 
und erneuert und außerdem um einige wichtige Bestimmungen 
erweitert”®. Kein Landesangehöriger darf seinem ordentlichen 
Gerichte entzogen, ohne Spruch desselben verurteilt oder be- 
straft werden, auch verspricht der Landesfürst in den Gang 
dieser Rechtspflege nicht einzugreifen. Diese Bestimmungen er- 
innern uns an ähnliche Vorkehrungen zum Rechtsschutze der 
einzelnen Landesangehörigen in anderen älteren und neueren 
Verfassungen. Die nächste Fortbildung der Tiroler Landesver- 
fassung ist dann das Grundgesetz, das Kaiser Maximilian I. als 
Landesfürst von Tirol für die Wehr- und Steuerverfassung dieses 
Landes im Jahre 1511 mit der Landschaft vereinbart hat und 
gewöhnlich das elfjährige Landlibell genannt wird. In dieses 
wurde die Bestimmung aufgenommen, daß der Kaiser und seine 
Nachfolger ohne vorherige Verständigung und Einwilligung der 
Landschaft keinen Krieg beginnen dürfen, der „durch das Land 


n Wopfner, Gesch. d. Erbleihe Tirols (1903), S. 2081. 
74 Weiteres hierüber s. unten im nächsten Heft. 
*$ Wortlaut bei Schwind und Dopsch, Urk. 3. Gesch. Österreichs, S. 297. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 731 


gehe“, d. h. dieses zum Kriegsschauplatz mache oder es unmittel- 
bar bedrohe"$, 

Bereits seit etwa 1420 begannen einzelne Landstände, Adels- 
geschlechter und Stadtgemeinden, sich Abschriften der be- 
sprochenen Verfassungsurkunden, Landesordnungen und der 
Schadlosbriefe, d. s. Erklärungen der Landesfürsten, daß die 
Bewilligung einer Steuer seitens der Landschaft diese nicht für 
weitere derartige Ansuchen des Landesfürsten binde, anzulegen, 
um sie für ihren Gebrauch stándig zur Hand zu haben. Diese 
Abschriften wurden dann in einem Hefte oder Bande gesammelt 
und im Ganzen als „Landesfreiheiten‘ oder „Landesfreiheit 
der fürstlichen Grafschaft Tirol“ bezeichnet. Diesen Ausdruck 
finde ich zum erstenmal in einer Eingabe der Südtiroler Gerichte 
an die Landschaft vom Jahre 1473 gebraucht". Früher, so 1363 
und 1406 wird wohl von ‚Freiheiten und Rechten‘, die dem 
Lande zukommen, gesprochen’®, ferner seit 1420 von „Freiheits- 
briefen‘ der Landschaft??. Die Wortverbindung „Landesfrei- 
heiten“ ist aber erst seit der 2. Hälfte des 15. Jh. belegt. 

Die erwähnte Landesordnung von 1404 zeigt wohl die enge 
Verbindung, die einerseits zwischen der besitzrechtlichen 


?* Wortlaut des Landlibells von 1511 siehe Brandis, Gesch. d. Landeshaupt- 
leute von Tirol (Druck 1850) S. 412ff., jene Stelle S. 418, Zeile 12 von oben. 

77 Näheres darüber bei Wretschko, Zur Gesch. d. Tiroler Landesfreiheiten in 
Schlernschriften, Bd. 9 (1925), S. 309ff. Doch fehlt hier der Hinweis auf die erste 
schriftliche Überlieferung jenes Ausdruckes vom Jahre 1473: „Vermerckt das an- 
pringen und beswärung der hernachgeschrieben gericht: am ersten von des vichs 
wegen daselbig nach innhallt der landsfreihait aus dem land nicht verkaufft sol 
werden.. (Staatsarchiv Innsbruck chronolog. Landtagsakten 1473, Niederschrift 
der Zeit). — Eine der Schrift nach um 1460 angelegte Sammlung jener Urkunden 
(ebenda Cod. 511 fol. 26) trägt die Bezeichnung: „Copien der lanntschaft an der 
Etsch freyhaiten und bestettung." Eine andere nach der Schrift auch Mitte des 
15. Jahrhunderts angelegte Sammlung derselben Verfassungsurkunden seit 1342 
hat von einer kaum sehr viel späteren anderen Hand die Bezeichnung „Lanndes- 
freyhayten“ erhalten. (Landesarchiv Innsbruck Hs. 16 fol. 105.) Alle späteren, seit 
dem 16. Jahrhundert überlieferten Sammlungen dieser Art tragen, wie erwähnt, 
die Überschrift „Landesfreiheiten“. 

73 So 1363 Huber, Vereinigung Tirols mit Österreich, S. 193, 1406, Schwind 
Urk. S. 298. Der Freiheitsbrief von 1342 spricht nur von „Rechten“. Ferner auch 
„Freiheiten“ in Urk. von 1415 und 1419 (Böhm, Tir. Landesarchiv, S. 37). 

7» Noggler in Zt. Ferd. 27, S. 107. Brandis, H. Friedrich, S. 493. Im Landtags- 
abschied von 1483 heißt es „Freiheiten“ (Chmel, Mater. S. 73), nicht wie Jäger 2, 2, 
S. 57 angibt, „Landesfreiheiten“. 


732 Otto Stolz 


und sozialen Stellung des Bauernstandes, und andrerseits 
seiner politischen Stellung als Mitglied der Landschaft bestanden 
hat, an. Aber man kann deswegen nicht sagen, daß die politische 
Stellung älter sei als die besitzrechtliche und diese hervorge- 
bracht habe, noch kann man schlechtweg das Gegenteil davon 
behaupten. Sondern die beiden Bevorzugungen, die der Bauern- 
stand in Tirol auf diese Weise gegenüber jenem in anderen deut- 
schen Ländern besessen hat, bedingen sich zeitlich und ursäch- 
lich gegenseitig. Der Bauernstand hat in Tirol schon bei den 
Anfängen der Landstände zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit- 
wirken können, weil er in seinen Gemeinden und in seinem 
Verhältnis gegenüber den Grundherren schon damals ein 
gewisses Gewicht besessen hat und er hat andererseits die- 
ses Verhältnis auch weiterhin günstig für sich gestalten 
können, weil er eben Teilnahme an der Landesvertretung be- 
sessen hat. 

Die politischen Rechte des Bauernstandes in Tirol haben 
sich auch hier wohl nur deshalb durchsetzen kónnen, weil jener 
Stand unmittelbaren Anteil an der kriegerischen Kraft des 
Landes nach außen genommen hat, und auch bei inneren 
Kämpfen sich mit der Waffe in der Hand zur Geltung gebracht 
hat, mit einem Worte, weil in Tirol seit jeher der Bauernstand 
wehrhaft gewesen und geblieben ist. Die Nachrichten über ein 
solches Auftreten bäuerlicher Kreise im Sinne einer Landwehr 
sind aus dem 14. Jahrhundert auch für Tirol selten, um so wich- 
tiger ist es, darauf hinzuweisen. Für das Jahr 1302/3 bucht der 
damalige Vorstand des Gerichtes Thauer oder Hall im Inntal 
Ausgaben für einen Kriegszug, den die steuerpflichtigen, also 
bürgerlichen und báuerlichen Insassen seines Gerichtes im Auf- 
trage der Grafen von Tirol an die Südgrenze des Landes, auf 
den Nonsberg und nach Trient unternommen hätten“. Zu diesem 
Kriegszuge sind anscheinend alle Gerichte der Grafschaft Tirol 
aufgeboten worden, denn der Richter von Mühlbach bei Brixen 
verrechnet ebenfalls zum Jahre 1312 eine Abgabe von den 
Leuten des Lüsentales, weil sie nicht nach Trient gezogen seien, 


89 Straganz, Gesch. d. Stadt Hall (1903), S. 21, Anm. 2. Kogler, Steuerwesen 
Tirols im Arch. óst. Gesch. 90 (1901), S. 474 z. Jahre 1303. M. Mayr in Zt. d. Ferd. 
42, S. 153, Nr. 237. — Diese und die folgenden Angaben stelle ich hier erstmals aus 
sehr verstreuten Quellen zusammen. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 733 


offenbar wie die andern Gemeinden des Gerichtes 1. Im Jahre 
1336 bezeugt Karl von Mähren, der damals in Tirol die Regierung 
für seinen Bruder führte, die Teilnahme der „Bauerschaft auf 
dem Gäu im Gericht zu Hall“ an der Reise, d. h. am Kriegszug 
gegen Bayern bis an die Klause von Auerburg, nördlich Kuf- 
stein??, Die Bergknappen und Salinenarbeiter von Hall standen 
im Jahre 1347 über drei Monate beim Heere des Landesfürsten 
im Süden des Landes®. Die Bürger von Bozen waren laut Ur- 
kunde von 1290 zum Kriegsdienste und zur „hervart“ für die 
Tiroler Landesfürsten verpflichtet, ebenso die Insassen des Ge- 
richtes Neuhaus oder Terlan?*. Als im Jahre 1369 die Herzóge 
von Bayern in Tirol einflelen, um jenen von Österreich das neu 
gewonnene Land wieder zu entreißen, bot im Dienste der letz- 
teren der Bischof von Brixen zur Verteidigung Tirols nicht nur 
die Edlen und Ritter, sondern auch ,,die burger aus den stetten 
zu rossen und zu fuessen und ander gross fuesvolck von dem 
land aus sein telern und gerichten“ auf®®. Diese unbedingt zeit- 
genóssischen Aufzeichnungen beweisen, daB die Land- und 
Stadtbevölkerung Tirols schon seit dem Anfang des 14. Jahr- 
hunderts an den Landeskriegen wehrhaften Anteil genommen 
hat, und zwar nicht bloB im engsten Heimatsbereiche, sondern 


51 Jener Richter verrechnet 1315 die Einnahme von „xv marcis de hominibus 
de Lusen, datis pro eo, quod non iverunt ad Tridentum" (Staatsarchiv München, 
Tir. Raitbuch Nr. 10, fol. 93). 

533 Huber, Regesta Imp. Karl IV., S. 5, Nr. 31. 

53 Laut einer Rechnung des Salinenamtes Staatsarchiv Innsbruck Cod. 288, 
fol. 39. Als Kampforte werden da genannt: Brixen, Rodenegg, Beutelstein auf der 
Grenze zwischen Pustertal und Ampezzo, Nonsberg und Fürstenburg im oberen 
Vinschgau. — Vgl. Schónach in Tir. Stimmen 1908, Nr. 153. 

94 Stolz, Gesch. d. Gerichte Tirols in Arch. óst. Gesch. 102, Bd. S. 105. — Um 
1320 erhält Peterl der Frey einen Hof zu Neuhaus bei Terlan auf Bitte der Frau 
Elspeten, der edlen chunigin von Sicili, mit der ich über mer (Meer) fur, mit der Be- 
dingung, daB er als Besitzer dieses Hofes „chain wagenvart noch tagwerch noch 
stewer noch chain hervart aus dem land zu leisten habe“ (Staatsarchiv Innsbruck, 
Cod. 18, fol. 78). Da die zuerst genannten Dienste rein báuerlicher Art sind und 
eben von allen Hofbesitzern des Gerichtes Neuhaus zu leisten waren, so ist dies auch 
für den Heerfahrtsdienst anzunehmen. — Königin Elisabeth von Sizilien und Argonien 
war eine Tochter des Herzogs Otto von Kürnten und Tirol und seit 1323 mit dem 
Inhaber der genannten Kronen verheiratet (Ladurner im Arch. f. Gesch. Tirols 
1, S. 121). 

85 Sinnacher, Gesch. von Brixen (1827) Bd. 5, S. 454, Abdruck aus Urkunde. 
Huber, Vereinigung Tirols mit Österreich, S. 114 u. 226. 


734 Otto Stolz 


auch an den äußeren Landesgrenzen und jenseits derselben, 
nicht wenige Tagreisen vom eigenen Haus und Hof entfernt, 
und daher jedenfalls in einer gewissen organisierten Form 
Wenn in der Landesfreiheit von 1406 die Dienste, die die Herren 
und Ritter, Städte und alles Landvolk der Grafschaft Tirol 
gegen „Lamparten“, d. i. gegen die Stadtstaaten der Lombardei 
geleistet haben, erwähnt werden, so entsprachen diese Waffen- 
dienste auch auf Seite der Stadt- und Landgemeinden also einer 
damals schon eingebürgerten Einrichtung. Übrigens haben wir 
aus demselben Jahre 1406 als ältestes dieser Art ein Aufgebot- 
schreiben des Landesfürsten für das Gericht Passeier zu einem 
Kriegszug gegen die Feinde, die damals von Süden Trient und 
damit Tirol bedrohten, erhalten?9. 1407 erklärte der Landes- 
fürst Herzog Friedrich gegenüber den Leuten des Gerichtes 
Taufers, daß sie nur für ihn Kriegsdienste zu leisten haben, nicht 
aber in den Fehden seines Hauptmannes auf Schloß Taufers?”. 
In dem Bürgerkrieg, der 1415 infolge der Ächtung des Herzog 
Friedrich zwischen diesem einerseits und seinem Bruder Ernst 
und einem Teile des Adels andererseits entbrannt ist, haben die 


es Dieses bisher nicht veröffentlichte Schreiben vom 14. Jan. 1406 hat folgenden 
Wortlaut: „Wir Leupolt herczog ze Osterreich, graf ze Tyrol etc. enbieten u. I. getr. 
Hilpranten und Hannsen in Passeyr oder wer ir stat daselbs haltet unser gnad und 
alles gut. Wir lassen ew wissen, das sich die veind, so in unserm land an der Etsch 
bey Tryendt ligend tegleich sterkhen und herauf rukhen und uns unsern freund von 
Tryendt und unser land und leut grossleich beschedigen, daz wir aber maynen mit 
der hilffe Gotes understen und in mechticleich engegen und unser land und leut 
vor in beheben. Davon emphelhen wir ewch ernstleich bey unserm hulden und 
gnaden, das ir mit allen den, so in dem gericht zu Paseyr siczen und darzu gehoren 
und die zu wer geschikht sein, von unsern wegen schaffet und aufgebietet, das sy 
mitsampt ew ze ross und ze fussen, so sy aller sterkhist mugen, sich zu uns gen Sa- 
lurn bey nacht und tag furderleich und (on) alles vercziehen fugen und kost und 
speis mit in bringen und unser land und leut und auch sy selber helffen ze retten, 
wan versehenleich ist, solten wir in solicher mass nicht engegen, das sy mitsampt 
unsern landen und leuten in gross und verderbleich scheden geseczt wurden. Das 
wellen wir gen in mit sundern gnaden gern erkennen. Geben ze Brichsen an pfincztag 
nach sand Erharts tag a. d. etc. quadragentesimo sexto (d. dux in consiglio). (Staats- 
archiv Innsbruck, Urk. I, 4214.) 1403 bestätigte der Landesfürst H. Friedrich, daß 
er „die Hilfe und Steuer, die die Aigenleute des Hofmeisters Heinrich von Rotten- 
burg zu seinem Zuge nach welischen Landen getan haben, von pete und nicht von 
eines rehtes wegen erhalten habe (a. a. O. I, 3577). Ob unter dieser Hilfe auch persón- 
liche Kriegsdienste jener Eigenleute gemeint sind, ist fraglich. 

8° Archivberichte aus Tirol 3, S. 369, Nr. 1830. 


Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 735 


Aufgebote der Landgemeinden oder, wie es damals hieß, der 
Bauernschaft die Stellung des Herzog Friedrich behauptet, und 
damit auch den Versuch des Adels, seine Macht auf Kosten des 
Landesfürsten und der Landgemeinden zu erhóhen, zurückge- 
wiesen. Das hervorragendste Zeugnis hierfür ist das Gedicht 
Oswalds von Wolkenstein über den Sieg der báuerlichen Auf- 
gebote des Etschlandes über den Adel vor Greifenstein bei 
Bozen“. In ähnlicher Weise hat Herzog Friedrich im Jahre 1417 
die Gerichte des Burggrafenamtes aufgeboten, ,,ein Viertel ihres 
wohlbezeugten Volks' zur Bekámpfung der Herren von Schlan- 
dersberg ihm zuzusenden®®. Auch die Bürger der Stadt Sterzing 
lagen damals mit dem Landesfürsten im Felde und vergossen 
für ihn ihr Blut, wie eine Urkunde sagt. Laut des Landtags- 
abschiedes von 1424 bestand damals schon seit einiger Zeit ein 
fester Anschlag, nach dem Städte und Gerichte auf das Aufgebot 
des Landesfürsten ihre Mannschaft gegen innere und äußere 
Feinde zu stellen hatten®!. Auch in andern Teilen des Landes 
wurden wichtige Punkte durch die Aufgebote damals besetzt 
und verteidigt. Der Sieg Friedrichs hat sehr dazu beigetragen, 
daB die Stellung der Bauern in der Landschaft für die Folgezeit 
sich verstärkt hat. Im Laufe des 15. Jahrhunderts mehren sich 
dann die Zeugnisse über die stándige Teilnahme der Bauern- 
schaft in Tirol an der Landesverteidigung, insbesondere auch 


5*5 [n der Ausgabe der Gedichte O. v. Wolkenstein von J. Schatz (1904) S. 183, 
besonders die SchluBzeilen: „Die Potzner, der Ritten und die von Meran, Hafning, 
der Melten, die zugen oben dran, Sárntner, Jenesier, die freidige man, die wolten 
uns (den Adel unter Führung der Herren von Wolkenstein) vergämen, do kamen 
wir dervon.“ — Daß der gegnerische Bruder Friedrichs, Herzog Ernst, hauptsächlich 
„wider die Bauerschaft der Grafschaft Tirol“ zu kämpfen hatte, steht auch in einem 
Schreiben von 1416 (Jäger, Bd.2, 1, S. 329). 

** Jäger, Landstünd. Verf. 2, 1, S. 342. Das Aufgebotschreiben ist eingetragen 
im St.A. Innsbruck, Schatzarchivrepert. Bd. 4, pag. 8. 

*9 Fischnaler, Regesten aus dem Stadtarchiv Sterzing, Nr. 186. 

21 Jäger a. a. O. 2, 1, S. 378, Anm. 4. — Über die Teilnahme der Etschländer 
Gerichte an der Belagerung der Churischen Feste Fürstenburg im Vinschgau im 
Jahre 1430 siehe Lechner im Tir. Almanach 1926, S. 19ff. 

en Laut einer Urkunde vom 2. März 1415 fand damals vor dem Elichtaiding des 
Gerichtes Steinach eine Verhandlung statt wegen Bezichtigung zweier Leute wegen 
landesverráterischer Umtriebe. Hier heißt es, daß die Leute des Gerichtes Steinach 
an der Klausen an dem Rottschrein (bei Ellbogen) gelegen wären, jedenfalls um sie 
zu verteidigen (Staatsarchiv Innsbruck, Urk. I, 5783). 


736 Otto Stolz: Die Landstandschaft der Bauern in Tirol 


Zählungen über die wehrfähige Mannschaft und ihre Waffen 
in den einzelnen Gerichten“. 


*3 Berichte über die Zahl der „wehrlichen Mannschaft" in den einzelnen 
Gerichten des Etschlandes aus dem Jahre 1460 verzeichnet das Schatzarchiv Re- 
pert. Bd. 4, pag. 35 und 108 (Urk. Nr. 9501—6, Staatsarchiv Innsbruck). Für das 
Landgericht Lienz, das damals zur Grafschaft Görz, seit 1500 zu Tirol gehörte, 
sind sog. Musterlisten, Verzeichnisse der wehrhaften Leute und ihrer Waffen bereits 
aus den Jahren 1410 und 1444 erhalten (ebenda Cod. 63). Einen Anschlag der ‚‚wer- 
lichen Mann“ für die einzelnen Gerichte des Fürstentums Brixen vom Jahre 1479 ist 
bei Sinnacher, Gesch. Bd.6, S. 617, wörtlich mitgeteilt. (Schluß folgt.) 


797 


Zur Geschichte der spanischen Musik des 
Mittelalters. 


Von 
Hans Spanke. 


Der vor zwei Jahren an dieser Stelle! ausgesprochene Wunsch 
nach einem „Corpus musicae mediaevalis piae non liturgicae" 
scheint nunmehr, wenigstens auf einem Teilgebiete, doch noch 
seiner Erfüllung sich zu nähern. Die Biblioteca de Catalunya in 
Barcelona (Departement de Musica) beschert uns eine prachtvolle 
Ausgabe einer sowohl durch den reichen Inhalt als durch ihre 
Sonderbedeutung für die Musikgeschichte äußerst wichtigen 
Sammlung spanischer (bzw. in Spanien gesungener und auf- 
gezeichneter) Vokalmusik des 13.—-14. Jahrhunderts: Higini 
Anglés, El Codex musical de Las Huelgas, Barcelona 1931; wei- 
tere Publikationen ähnlichen Inhalts werden in Aussicht gestellt. 

Bei dem heute in Deutschland erfreulich zunehmenden Inter- 
esse für Hispanica dürfte es angebracht sein, hier auf den Inhalt 
dieses bedeutenden Werkes, das über so manche bisher dunkle 
Punkte Klarheit schafft, etwas näher einzugehen. Ein schönes 
Bild Fr. Ludwigs schmückt den ersten Band (Introducció): den 
Geist des Meisters — Anglés war lange Jahre sein Schüler und 
Freund — spüren wir auf jeder Seite. —- Es galt in der Einleitung, 
nicht nur den Inhalt der Huelgashandschrift und die darin ver- 
tretenen Gattungen in den groBen Rahmen der mittelalterlichen 
Musik einzuordnen, sondern überhaupt festzulegen, welche Rolle 
denn eigentlich Spanien im Vergleich zu den andern europäischen 
Völkern in der mittelalterlichen Musik gespielt hat. Bisher war 
das Bild, das wir von dieser Rolle hatten, nur kümmerlich und 
teilweise schief; man maß vielfach episodischen Strömungen, in 
die zufällig durch Spezialforschungen etwas Licht gekommen 


1 Bd. 27, S. 375. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 47 


738 Hans Spanke 


war, eine zu groBe Bedeutung bei, und wenn man von spanischer 
Musik sprach, dachte man an Mozarabisches oder auch Sara- 
zenisches. Mit Benutzung eines gewaltigen Materials (man vgl. 
die Bibliographie, die mit ihren 300—400 benutzten Handschrif- 
ten in der Literatur wohl einzig dasteht und für weitere For- 
schung auf mehreren Gebieten grundlegend ist) ist es Anglés 
gelungen, von der Entwicklung der Musik Spaniens ein, wenn 
auch nur skizziertes, doch so deutliches Bild zu entwerfen, daß 
vom 6. Jahrhundert an die Vacua relativ nicht zahlreicher und 
umfangreicher sind als sonst in Europa, und vor allem, daß für 
die noch zu schlagenden Brücken die Pfeiler festliegen. 

Vor dem Einfall der Araber, im 6. und 7. Jahrhundert, gab 
es auf der Pyrenäenhalbinsel drei blühende Musikzentren: Sevilla 
mit dem Komponisten St. Leander und dem Theoretiker Isidor, 
Toledo mit St. Eugenius, Ildefons und Julianus und Saragossa 
mit den Brüdern Johannes und Braulius, letzterer der Lehrer 
Eugens. Leander nahm größeren Anteil an der Schaffung des 
westgotischen, spáter mozarabisch genannten Ritus, dessen 
eigentliche Blütezeit von 711 bis 1085 reicht. Über diese Periode, 
deren Poesien uns textlich bequem im Bd. XXVII der Analecta 
hymnica zugänglich sind, bringt Anglés wertvolle Quellen- 
angaben. Interessant sind besonders seine Mitteilungen über die 
Gattung der „Preces“, die bekanntlich W. Meyer? als verderbte 
bzw. mißverstandene Sequenzen betrachtete; die Chronologie 
spricht dagegen, da sie schon im 7. und 8. Jahrhundert nach 
jüngerer Angabe gedichtet wurden. Die Preces müssen sehr 
beliebt gewesen sein; denn noch nach Abschaffung der mozara- 
bischen Liturgie sind einige in Hss. mit Melodie aufgezeichnet 
worden. Die bisher unedierten Melodien (A. verspricht, sich ihrer 
anzunehmen) scheinen volkstümlichen Charakters zu sein. Sollte 
hier vielleicht, ähnlich wie bei der Sequenz, ein Einströmen welt- 
licher Musik im Bereich der Möglichkeit liegen ? Und sollte die 
(von Meyer teils übersehene) freie Verwendung antiker Verse 
und Strophen in stark verwilderter Form vielleicht ähnliche 
Schlüsse zulassen? Jedenfalls ist auch die textliche Seite der 
Preces noch durchaus ungeklärt; W. Meyer kam nicht recht 
voran, da er (ausgenommen zwei Stücke) nur spáte Drucke als 


3 „Über die rhythmischen Preces der mozarabischen Liturgie“ in Nachrichten 
der Kgl. Ges. der Wiss. in Göttingen aus dem Jahre 1913, S. 177ff. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 739 


Quellen benutzte. — Seit 1076 siegte die Lex Romana über die 
Lex Toledana im Ritus der Reiche Navarra, Kastilien und Leon, 
und ungefáhr um dieselbe Zeit drang sie in Katalonien ein; aber 
das alte nationale Gut verschwand keineswegs vóllig: einzelne 
Klóster und Hauptkirchen hielten záh daran fest, und Einzelzüge 
der mozarabischen Art finden sich in zahlreichen Sammlungen und 
Handbüchern viel spáterer Zeit. Die mozarabische Musik, speziell 
ihre Notation, birgt noch manche Rätsel’, deren Lösung dadurch 
besonders erschwert wird, daß spanische Musiktraktate aus dieser 
Zeit leider fehlen, — abgesehen von dem (keine Aufschlüsse 
bringenden) Breviarium de Musica des Mónches Oliva von dem 
katalonischen Kloster Ripoll; diese Abtei verdient wegen ihrer 
reichen Bibliothek und ihrer frühen Beziehungen zu südfran- 
zösischen Klöstern (St. Martial in Limoges, St. Peter in Moissac 
und Fleury an der Loire) besondere Beachtung. Der Theorie 
einer arabischen Einwirkung auf mittelalterliche spanische 
Musik, heute nur noch von einigen Arabisten vertreten, steht 
Anglés mit Recht sehr skeptisch gegenüber; solange wir von 
älterer arabischer Musik auch nicht das geringste authentische 
Stück besitzen, schweben tatsächlich alle Erörterungen in der 
Luft. 

Bisher hielt man die teilweise neumierten Versus und Planc- 
tus der Handschrift Paris BN lat. 1154 für die ältesten erhaltenen 
Beispiele mittelalterlicher weltlicher Vokalmusik. Geschrieben 
wurde der Codex in St. Martial am Ende des 9. Jahrhunderts; 
die genannten Texte, und auch wohl die beigefügten Melodien, 
sind bedeutend älter“. Anglés weist nun darauf hin, daß in der 
mozarabischen Hs. Madrid BN 10029 (aus dem 9. bis 10. Jahr- 
hundert) mehrere Poesien des Eugentus von Toledo (gest. 657) 
wenigstens teilweise neumtert überliefert sind; es sind Planctus 
(hier „Epitafion‘‘) auf den König Chindaswinthus (f 652) und 
die Königin Reciberga (, Recciverga“, T 657) und das „ Disticon 
Filomelaicum''. Mit den Notenzeichen (vgl. die Faksimilia S. 26 
und 27) ist allerdings wenig anzufangen; sie sind anscheinend 
teils auf die Silbenquantität, teils auf die Tonhóhe bezüglich. 


* Es dürfte interessieren, daB P. Wagner 1926 eine Studienreise nach Spanien 
unternahm, eigens zu dem Zweck, diese Rátsel zu lósen. 


* Vgl. Spanke, Rhythmen- und Sequenzenstudien" in Studi Medievali N. S. 
1932, S. 2861f. 


47* 


740 Hans Spanke 


Ebenso alt ist ein,, Carmen de nubentibus“, ohne Noten erhalten, 
aber mit zahlreichen musikalischen Ausdrücken durchsetzt (Anal. 
XXVII S. 283), in asklepiadeischen Strophen, deren 12-Silbner 
großenteils daktylischen Charakter tragen. Derartige Lieder 
waren bei den kirchlichen Behórden verpónt, und das oft zitierte 
Konzil von Toledo im Jahre 587 verbot sogar ein ,,funebre car- 
men, quod vulgo defunctis cantari solet'5. Zahlreiche musi- 
kalische Ausdrücke enthält auch ein Epithalamium für die 
Kónigin Leodegundia aus dem 9. Jahrhundert, in dem eine 
Strophe: 
Nervi repercussi manu cithariste 
Tetracordon tinniat, armoniam concitet, 

Ut resonent laudes dulces domine Leodegundie — 
vielleicht auf mehrstimmige (instrumentale) Musik hindeutet; 
auch die Strophenform ist interessant und in der mittelalterlichen 
Lyrik isoliert. Die erste Strophe ist neumiert; vgl. das Faksimile 
S. 31. Internationale Verbreitung hatte das berühmte Sibyllen- 
lied, für welches Anglés eine bisher unbekannte mozarabische 
Quelle vom Jahre 960 anführt; er hält es nicht für ausgeschlos- 
sen, daB das Lied westgotischen Ursprungs ist, da die Nieder- 
schrift weit ab von der franzósischen Grenze (bei Burgos) erfolgt 
ist. Ein mozarabischer Codex enthält auch die älteste bisher 
bekannte Fassung des Totentanzes; vielleicht stammt das Genre 
aus Spanien. 

Von den spanischen Heldenromanzen, von denen eine (Ro- 
manz del Infant Garcia) schon erklang, als der Cid Herr von 
Valencia war, sind keine Melodien erhalten; ebensowenig von 
den zahlreichen hófischen Liedern des 13. Jahrhunderts, mit allei- 
niger Ausnahme von sechs Melodien des galicischen Sängers 
Martim Codax, doppelt wertvoll, da es Frauenlieder sind ; Anglés 
will sie demnächst transkribiert herausgeben. Eine Art Ersatz 
für diese Lücke bieten die Weisen der geistlichen Cantigas des 
Königs Alfons von Kastilien, sorgfältig aufgezeichnet in Hss., 
die teilweise unter Aufsicht des Verfassers selbst hergestellt wur- 
den. Leider ist noch keine brauchbare Gesamtausgabe der Melo- 
dien vorhanden; hoffen wir, daß Anglés (als Berufenster) auch 
diese Lücke ausfüllen wird. 


5 In dem Texte der Konzilverordnung dürfte statt des überlieferten sinnlosen 
„peccatores cedere“ eher „pectora cedere“ zu lesen sein; vgl. Anglès I S. 29 Fußnote2. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 741 


Trotz des schon erwähnten Fehlens spanischer musiktheore- 
tischer Werke steht fest, daß man schon früh in mehreren Hoch- 
schulen Spaniens, anscheinend sogar früher als sonst irgendwo in 
Europa (vgl. Anglés S. 36) die Lehre vom Organum (d.h. der 
mehrstimmigen Musik) vortrug. Der „ maestro en organo'', für 
den 1254 der gelehrte Kónig Alfons bei der Organisation der 
Universitát Salamanca eine Lehrstelle schuf, scheint allerdings 
eher ein richtiger Organist gewesen zu sein. — Ungefähr gleich- 
zeitig berichtet der Vielschreiber Juan Gil de Zamora, daB die 
Orgel nunmehr in der Kirche alle andern Instrumente, die ,,prop- 
ter abusum histrionum“ in den Bann getan wurden, verdrängt 
hatte. Das früheste Dokument, das von der Benutzung der Orgel 
in Spanien als Kircheninstrument berichtet, stammt aus dem 
Jahre 972; über die ältere Zeit schweigen Urkunden und Minia- 
turen. Allerdings geht aus mozarabischen Gedichten und ara- 
bisch-andalusischen Geschichtsnotizen hervor, daß die Orgel als 
weltliches Instrument schon früher bekannt war; — ähnlich in 
Frankreich, wo Pipin schon 757 eine Orgel von dem byzanti- 
nischen Kaiser Konstantinos Kopronymos bezog, wo aber erst 
827 die erste Orgel in einem Kloster aufgestellt wurde. Andere 
Instrumente erklangen vielfach in spanischen Kirchen; bemer- 
kenswert ist die urkundlich bezeugte Schenkung einer citara 
an ein Kloster im Jahre 1040. 

Ein noch fast unbebautes Gebiet ist die Geschichte der mehr- 
stimmigen Vokalmusik auf der Pyrenäenhalbinsel. Vielleicht wäre 
es verfehlt, wenn man aus dem Fehlen von Nachrichten aus dem 
12. Jahrhundert zu weit gehende Schlüsse ziehen wollte, und 
Anglès mag recht haben, wenn er die Bezeichnung ,,magnus 
organista'', die urkundlich einem 1164 verstorbenen Kanonikus 
der Kathedrale von Tarragona beigelegt wird, auf eine Pflege 
des Organums an dieser Kirche deutet: wohlbemerkt, zu einer 
Zeit, als in Paris der berühmte Komponist Leoninus an der 
Notre-Dame-Kirche noch nicht lange seine Tätigkeit aufgenom- 
men hatte. In mozarabischen Codices ist von Mehrstimmigkeit 
keine Spur erhalten; doch ist noch vieles von den handschrift- 
lichen Schätzen der Kathedrale von Toledo unerforscht. Toledo 
konnte als international bedeutende Stätte des Geisteslebens im 
11. Jahrhundert wohl mit Paris konkurrieren, und seine Blüte 
wührte noch das 13. Jahrhundert hindurch. Andere in Betracht 


142 Hans Spanke 


kommende Musikzentren sind Santiago de Compostela im Nor- 
den, Burgos (neben Toledo) im Zentrum und Ripoll und Tortosa 
in Katalonien. 

Alfons VIII. von Kastilien (T 1214) war nicht nur tapferer 
Kàmpe in Maurenkriegen, sondern groBer Freund der Musik. 
Zwei große Königinnen waren seine Töchter, Berenguela von 
Kastilien und Blanca, die Mutter Ludwigs des Heiligen und 
Schützerin bedeutender altfranzösischer Dichter. Auch der Sohn 
Berenguelas, Ferdinand der Heilige (T 1252), ist bekannt als 
Förderer der Joglares und Trobadors, noch mehr sein Sohn, der 
als Dichter und Schriftsteller so berühmte König Alfons der Ge- 
lehrte. Seine Cantigas sind keineswegs, wie Ribera behauptet, 
von arabisch-andalusischer Lyrik formal oder musikalisch beein- 
fluBt, sondern zeigen im Strophenbau Abhängigkeit von dem 
franzósischen Tanzlied, das schon vor Alfons durch andere Tro- 
badors in Spanien eingeführt war und auch auf die geistliche 
lateinische Dichtung in Ripoll und Montserrat nachweislich ein- 
gewirkt hat. Auch die Musik der Cantigas hat, wie Anglés betont, 
keine Züge, die sie von der sonstigen Vokalmusik der damaligen 
Zeit wesentlich trennen, wenngleich sie derselben an Schónheit 
und Originalität durchaus ebenbürtig ist. Überzeugend wirkt die 
Zusammenstellung von Transkriptionen einiger Cantigas und 
eines ungefähr aus der gleichen Zeit stammenden lateinischen 
Ripoll-Virelais. Die Diskussion um die Ribera-Theorie, soweit sie 
die Cantigas des Königs Alfons betrifft, dürfte damit abgeschlos- 
sen sein. Zweifellos ist nicht Kastilien oder gar Andalusien die 
Ursprungsstätte der musikalischen Rondeauform, sondernFrank- 
reich, wo dieselbe schon vor 1150 in der Conductusliteratur hei- 
misch war und auch in regelrechten Tanzliedern der Kleriker 
benutzt wurde. Zu meinen früheren Feststellungen über das Vor- 
kommen der Form in Notre-Dame-Hss.® sei hier nachgetragen, 
daß auch in St. Martial anscheinend zu Rondeaus getanzt wurde; 
denn die dort entstandene Hs. London Brit. Mus. Add. 36881 
enthält fol. 16" ein bisher nicht ediertes Rondeau, dessen erste 
Strophe hier mitgeteilt werden móge: 

Ave, mater salvatoris, 
NOSTRI TERMINUS DOLORIS, 


„Das lateinische Rondeau“, in Zts. für frz. SpLit. LIII, S. 113ff. Vgl. ferner 
Neuphil. Mitt. XXXI (1930), S. 143ff. u. ib. XXXIII (1932), S. 1ff. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 1 43 


Virga Jesse, cuius floris 
Mater es et filia. 

NOSTRI TERMINUS DOLORIS 
CONFERT NOBIS GAUDIA. 


Obwohl hierdurch das Alter des textlich erfaßbaren lateini- 
schen geistlichen Rondeaus um mindestens 50 Jahre hinauf- 
gerückt wird, während für französische Rondeaus immer noch 
der gegen 1200 entstandene Roman Guillaume de Dole mit seinen 
lyrischen Einschiebseln die älteste Quelle bildet, ist die Frage der 
Priorität weiterhin unentschieden. Einen neuen Anstoß zur Dis- 
kussion wird das kürzlich erschienene, weitausgreifende und 
äußerst ernst zu nehmende Werk von Paul Verrier, „Le Vers 
francais“, bringen“. 

Juden und Sarazenen spielten auch in den erlösten Gebieten 
des mittelalterlichen Spaniens kulturell noch lange eine 
Rolle, nicht zum mindesten im Dienste der Musik. Noch 1322 
klagt ein Konzil in Valladolid über Judaei et Sarraceni, qui (in 
vigiliis nocturnis) „tumultum faciunt suis vocibus vel quibus- 
libet instrumentis". Anglès bemerkt dazu, daß von orientalischer 
Instrumental- und Vokalmusik in Spanien irgendwelche Frag- 
mente nicht erhalten sind; ich móchte es für wahrscheinlich 
halten, daß die betreffenden Künstler überhaupt nicht eigene 
Produktionen vorgetragen haben, sondern lediglich als Virtuosen 
mit den sonstigen mittelalterlichen Joculatores auf eine Stufe 
zu stellen sind, deren Auftreten in der Kirche die hohen Behórden 
so oft bekämpften. Was sie sangen, waren sicher nicht maurische 
oder hebräische Lieder (dafür hätte sich das Publikum wahr- 
scheinlich bedankt), sondern religiöse Stücke außerliturgischer 
Art, naive Volkslieder oder feine Motetten, beides in heimischer 
oder lateinischer Sprache; was sie spielten (oder handelt es sich 
nur um Begleitmusik ?), bleibt uns verschlossen. 


Die älteste historisch erfaßbare volkssprachliche Lyrik der 
Pyrenäenhalbinsel scheint weit oben im Norden, in Galicien, 
beheimatet gewesen zu sein. Sie war anscheinend zunächst aus- 
gesprochen volkstümlich und ihre Wurzeln gehen (deutlicher als 
bei irgendeiner sonstigen romanischen Literatur) offenbar in 
uralte Schichten; das war schon lange durch monumentale 


7 P. Verrier, Le Vers francais, Paris 1931/32 (drei Bände). 


744 Hans Spanke 


Werke iberischer Forschung erwiesen, wurde aber kürzlich durch 
ein schönes Buch des Portugiesen Rodrigues Lapa (Jeanroy- 
Schüler!) besonders plastisch dargelegt. Was mag der 1154 in 
dem Testament eines Erzbischofs erwähnte Jongleur und Trou- 
badour des Königs Alfons VII., Palea benannt, gesungen haben ? 
Waren es Imitationen der frühesten Troubadours nördlich der 
Pyrenäen, oder einheimische Frauenlieder ? Eine dritte Möglich- 
keit ist kaum denkbar. — Die schon oben erwähnten Melodien 
des galicischen Sängers Martim Codax aus der ersten Hälfte des 
13. Jahrhunderts sind wertvoll als einzige musikalische Quellen 
der galicisch-portugiesischen Minnelyrik und besonders deshalb, 
weil es sich um Frauenlieder handelt. Es tritt hier das gleiche, zu- 
nächst überraschende Phänomen auf wie bei den altfranzósischen 
Romanzen: womanzudenformalundinhaltlich primitivenund auf 
den Geschmack weiter Kreise zugeschnittenen Strophengebilden 
einer Frühzeit Melodien erwarten sollte, die im Verhältnis zur 
sonstigen Trouvére-Lyrik in einfachen, vielleicht syllabischen 
Linien verliefen, stoßen wir auf teilweise komplizierte Weisen 
mit mehr oder weniger reich melismierter Ausführung. Nun 
braucht freilich Melismierung und Volkstümlichkeit nicht in 
innerm Gegensatze zu stehen, und ein Kenner wie P. Wagner hat 
noch kürzlich darauf hingewiesen, daß Melodien, die ursprünglich 
einfach und syllabisch waren, zuweilen im Munde des „Volkes“ 
eine gegliedertere Form annehmen. So ist es wohl möglich, daß 
die 6Codax-Melodien Schlüsse auf die der sonstigen gleichzeitigen 
und älteren Frauenlieder zulassen. Seit kurzem bietet P. Wagners 
klassische Ausgabe der Vokalmusik des berühmten Codex Calix- 
tinus® die Gelegenheit, lateinische geistliche Liedkunst Galiciens 
des frühen 12. Jahrhunderts mit den Codax-Weisen zu verglei- 
chen: es springt in die Augen (was auch schon 1905 Fr. Ludwig 
aussprach), daß hier eine im Vergleich zu Späterem ziemlich 
reichliche Melismierung vorwiegt, ähnlich wie in Frankreich in 
dem gleichzeitigen bzw. noch etwasälteren St. Martial-Conductus. 

Santiago de Compostela war im 12. Jahrhundert als viel- 
besuchter Wallfahrtsort auch das Zentrum einer reichen und 
hochstehenden Musikpflege, die neben anspruchsvoller Mehr- 
stimmigkeit auch einfachere, dem Geschmack der Pilger durch 


8 P. Wagner, Die Gesänge der Jakobsliturgie zu Santiago de Compostela (Collec- 
tanea Friburgensia N. F. XX), Freiburg (Schweiz) 1931. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 745 


Verwendung von Refrains (auch an sonst ungewohnter Stelle) 
und Einstreuung volkssprachlicher Bruchstücke entgegenkom- 
mende Lieder zum Vortrag brachte. Berühmt ist eine von Pilgern 
gesungene, in einen Hymnus de St. Jacobo eingeschobene 
Strophe: 

Herru Sanctiagu, 

Grot Sanctiagu, 

E ultreia, 
E sus eia, 

Deus aia nos! 
Da die Strophe an eine der sonst gleichen Strophen dieses 
Hymnus als zusátzlicher Fremdkórper angefügt ist, dürfte die 
Melodie, zumal da sie ohne Beziehungen zu den sonstigen Zeilen 
des Hymnus ist, als original anzusprechen sein. Die beiden Rufe 
ultreia und sus eia, hier mit gleicher Melodie versehen, müssen 
besonders beliebt gewesen sein; denn sie stehen auch am Schluß 
des Halbversikels 8b einer polygotten Sequenz des gleichen Co- 
dex, die einer älteren südfranzósischen Sequenz nachgebildet ist. 
Aber hier ist die Melodie, wie zu erwarten war, eine andere, näm- 
lich eine auch im Original vorhandene Versikelklausel; durch 
alte kleine Überschrift wird erklärt: sus eia = sursum perge und 
ultreia — vade ante. 

Man ist darüber einig, daß der Inhalt des Codex Calixtinus 
gegen 1137 zusammengestellt bzw. geschaffen wurde. Neuerdings 
wurden jedoch berechtigte Zweifel daran geäußert, ob die noch 
vorhandene, in Santiago aufbewahrte Fassung der Urtext ist. 
Im Jahre 1173 kam der weitreisende Mönch Arnaldus de Monte?, 
seBhaft im Kloster Ripoll, auch nach Santiago und nahm eine 
Kopie vom Jakobsofficium, die wir noch besitzen. Nun hat diese 
Kopie statt der zweistimmigen Melodien der andern Fassung nur 
einstimmige und trágt auch sonst in der Notation primitivere 
Züge. Anscheinend hat Arnaldus ein anderes, álteres Exemplar 
benutzt ; sicher ist es jedoch, wie P. Wagner bemerkt, nicht, denn 
vielleicht folgte er beim Kopieren und Ändern seinem persón- 
lichen Geschmack oder der Stilrichtung seines Klosters. An dem 
ursprünglich angenommenen hohen Alter des Kompostelaner 
Kodex ließ noch ein weiterer Umstand zweifeln: das Vorhanden- 


* Arnaldus ist auch als Verfasser weltlicher Lyrik bekannt; vgl. Neuph. Mitt. 
XXXIII (1932), S. ff. 


146 Hans Spanke 


sein einer dreistimmigen Melodie, zu dem Conductus ,,Congau- 
deant catholici" (fol. 185). P. Wagner, dessen Arbeit Anglés 
nicht mehr benutzen konnte, hat nun gefunden, daß die Melodie 
in Wirklichkeit nicht drei, sondern nur zwei Stimmen hat, ge- 
trennt durch die in der Hs. übliche zackige Linie; die anschei- 
nende dritte, zwischen den beiden andern Systemen nachträglich 
mit blasserer Tinte eingetragene Stimme ist in Wirklichkeit eine 
Ersatzoberstimme, die in ihrem Stil (fast syllabisch, strenge 
Gegenbewegung) eine andere, jüngere Richtung als die erste 
Oberstimme (reich melismiert) verkórpert. Das von Anglés S. 65 
gebotene Faksimile scheint mir die Auffassung Wagners durchaus 
zu bestätigen. — Der Verfasser, nach der Rubrik ein ,, Magister 
Albertus Parisiensis“, war bis vor kurzem in der Musikgeschichte 
noch unbekannt. Meine 1931 geäußerte Vermutung!?, daß die 
Zuweisung, wenn auch mit Vorsicht aufzunehmen, doch wohl 
für die Existenz eines so benannten Musikers um 1150 in Paris 
beweiskräftig scheine, fand kürzlich ihre Bestätigung: Wie 
Handschin!! in einer Urkundensammlung der Notre-Dame- 
Kirche in Paris entdeckte, starb gegen 1180 ein Albertus, Kantor 
an dieser Kirche, der er verschiedene musikalische Sammlungen, 
u. a. zwei „versarii“ vermachte; er muß recht alt geworden sein, 
denn schon viel früher, zuerst 1147, tritt er in gleicher Eigen- 
schaft auf. Man darf annehmen, daß es sich tatsächlich um eine 
und dieselbe Persönlichkeit handelt; und da 1147 Albertus schon 
Kantor war (ein in der Hierarchie der Haupt- bzw. Klosterkirchen 
recht hohes Amt), wird die Kompostelaner Fassung des Jakobs- 
officiums, da sie ihn noch als Magister nennt, im Gegensatz zu den 
oben geäußerten Bedenken doch in eine recht frühe Entstehungs- 
zeit hinaufgerückt. Will man noch weiter gehen und den Pariser 
Musiker mit der musikalischen Fassung von ,,Congaudeant 
catholici" in direkte Beziehung bringen, so tauchen verschiedene 
wichtige stilhistorische Fragen auf, denen nachzugehen hier zu 
weit führen würde. 

Wie schon angedeutet, wird die Frage nach dem Verhältnis 
zwischen der frühesten iberischen Trobadorlyrik und der dortigen 
gleichzeitigen und früheren volkstümlichen geistlichen lateini- 

19 7ts. für franz. SpLit. LIV (1931), S. 404. 


11 Mitteilungen der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft (Acta 
Musicologica) Jahrg. IV S. b. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 747 


schen Liedkunst hinsichtlich der melodischen Seite durch eine 
Vergleichung der Codax-Melodien und der Conductus der Calixti- 
nischen Handschrift bearbeitet werden müssen. Darüber hinaus 
wird jedoch festzustellen sein, in welchem Umfange, was das 
Teætliche angeht, Beziehungen zwischen originellen, bzw. sonst 
wenig verbreiteten Strophenformen auf den beiden Gebieten sich 
beobachten lassen, wobei neben den Frauenliedern des Martim 
Codax die zahlreichen andern (ohne Melodie überlieferten) 
Frauenlieder heranzuziehen wáren. Die Beantwortung der Frage 
mochte ich auf eine andere Gelegenheit verschieben; hier sei nur 
erwähnt, daß im galicisch-portugiesischen Frauenlied eine sehr 
einfache Strophe eine Hauptrolle spielt, die sich aus zwei gleich 
langen Textzeilen und einem einzeiligen, oft kurzen Refrain zu- 
sammensetzt ; die gleiche Strophe, den romanischen Troubadours 
und dem Notre-Dame-Conductus fremd, findet sich auch in 
volkstümlichen Einschiebseln des Jakobsofficiums. Sie ist dort 
nicht entstanden, da sie Frankreich schon in der áltesten Quelle 
des St. Martial-Conductus, mit kindlich-einfachen Texten, auf- 
tritt. Im weltlichen franzósischen Volksliede erlebte sie im 
14. Jahrhundert und spáter eine groBe Blüte; daB sie dort jedoch 
schon viel früher bekannt war, zeigt das in der áltesten franzósi- 
schen Tanzliederquelle, dem gegen 1200 geschriebenen Roman 
Guillaume de Dole, erhaltene, zu einer Carole gesungene Lied- 
chen: 
Renaus et s'amie chevauche par un pré, 
Tote nuit chevauche jusqu'au jor cler. 
(Refrain:) Ja n'avrai més joie de vos amer. 


In seiner schónen Ausgabe der altfranzósischen Tanzlieder (Ron- 
deaux und Virelais Bd. I) versuchte Fr. Gennrich — etwas ge- 
waltsam — wegen der Isoliertheit dieser Form die Strophe durch 
Ánderungen zu einem Rondeau zu machen; das ist überflüssig, 
denn gerade in Frankreich tanzte man schon viel früher zu 
solchen Liedern. Eine gegen 1130 in Ostfrankreich geschriebene 
Fassung der Sage von den Kólbigker Tänzern! enthält folgenden 
Text, zu dem angeblich 1015 eine tanztolle Schar in der Weih- 
nacht zu Kölbigk vor der Kirche tanzte, worauf sie, vom Priester 
der Kirche verflucht, ein volles Jahr weitertanzen mußte: 


13 Näheres darüber s. Neuph. Mitt. XXXIII, S. 16. 


748 Hans Spanke 


Equitabat Bovo per silvam frondosam, 
Ducebat sibi Merswindam formosam. 
(Refrain:) Quid stamus ? Cur non imus? 


Schwierig, doch nicht aussichtslos wird die Lósung der Frage 
sein, auf welchen kulturhistorischen Grundlagen die anscheinend 
vorhandenen Wechselwirkungen zwischen der frühesten volks- 
sprachlichen und der lateinischen geistlichen Liedkunst sich voll- 
ziehen mochten. In helles Licht gestellt, freilich noch làngst 
nicht gelóst wurde dieses Problem von Rodrigues Lapa in seinem 
oben erwáhnten Werk über die Ursprünge der lyrischen Poesie 
in Portugal; vgl. besonders die Kapitel IV und VI“. 


Während der Codex Calixtinus mit textlichen und musikali- 
schen Sonderzügen deutlich Verwandtschaft mit der früheren 
Periode der mehrstimmigen franzósischen Liedkunst, verkórpert 
in den aus dem Kloster St. Martial stammenden Handschriften, 
aufweist, führt uns eine weitere von Anglés behandelte Quelle 
in Spanien gesungener mehrstimmiger Musik mitten in die Blüte- 
zeit der „Ars antiqua", in die Notre-Dame-Periode, eng ver- 
knüpft mit den großen Musikern Leoninus und Perotinus. Es sei 
hier erwähnt, daß das Dunkel, welches bisher letzteren umhüllte, 
kürzlich durch einige wertvolle Feststellungen Handschins etwas 
gelichtet wurde, der ihn mit einem urkundlich in der ersten Hälfte 
des 13. Jahrhunderts (1211—1238) mehrfach belegten ,,Petrus 
succentor'' in Beziehung brachte!*, Besonders interessant ist eine 
Urkunde aus dem Jahre 1236, in der dieser Petrus zusammen 
mit dem berühmten Kanzler Philipp auftritt, der gegen Ende 
dieses Jahres starb; schon lange wußten wir, daß Perotinus 
Magnus Texte vertont hat, die von Philipp gedichtet waren. — 
Es handelt sich um die heutige Hs. 20486 der BN von Madrid, 
die früher (vor 1869) seit undenklichen Zeiten der Kathedrale 
von Toledo gehórte und eine der vier wichtigsten Quellen der 
Notre-Dame-Musik ist. Lange glaubte man, die Hs. sei in Paris 
entstanden, ein Irrtum, der 1930 von Fr. Ludwig (in der Adler- 
Festschrift) berichtigt wurde; die Orthographie und Teile des 
Inhalts beweisen die Niederschrift — und damit die frühzeitige 
Pflege der Notre-Dame-Musik in Spanien, allem Anscheine nach 


13 Vg]. meine Besprechung des Werkes in Studi Medievali N. S. IV, S. 194. 
14 Gleiche Quelle wie Anm. 11 angegeben, S. 10. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 749 


in Toledo, dem damaligen geistigen Zentrum des Landes. — 
Nunmehr steht also fest, sei hier erwähnt, daß von den vier 
großen Handschriften, die uns den Schatz der Notre-Dame- 
Musik überliefern, nur zwei in Frankreich niedergeschrieben 
sind: die Florentiner und die jüngere der beiden Wolfenbütteler 
Hss.; denn die ältere stammt, wie Handschin schon vor Jahren 
nachwies, aus England. Man hat früher, hauptsáchlich von ita- 
lienischer Seite, behauptet, die Florentiner Hs., die sich schon 
im 15. Jahrhundert in Italien (im Besitz des Piero de Medici) 
befand, sei in Italien niedergeschrieben worden. Doch dagegen 
spricht, wie schon Fr. Ludwig betonte, die sicher franzósische 
Miniaturenmalerei und die gute Erhaltung des Exemplars. 
Beachtenswert ist ferner die Tatsache, daB in Spanien und Eng- 
land auch die sonst zu ermittelnden Beziehungen zur franzó- 
sischen Musik viel stärker und vielseitiger sind als in Italien. 
Von der Musik der spanischen Notre-Dame-Hs. war bisher sehr 
wenig publiziert; Anglés gibt anerkennenderweise (zur Illustrie- 
rung seiner Huelgasmelodien) ein Dutzend Motetten und Con- 
ductus aus ihr heraus. 

Während die Madrider Sammlung nach Zusammensetzung 
und Textgestalt schon lange durch Publikationen von W. Meyer, 
Guido Dreves und Fr. Ludwig bekannt war, wußten wir bisher 
kaum etwas von 14 weiteren Manuskripten, die Anglès zur 
Grundlegung einer Geschichte der spanischen mehrstimmigen 
Musik des Mittelalters ausführlich bespricht. Das álteste von 
ihnen, Madr. BN 289, aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, ist 
interessant durch seine Beziehungen zum Narrenofficium von 
Sens; es enthált z. B. den berühmten Eselsconductus ,,Orientis 
partibus“ 18. Sollte der Codex tatsächlich obiges Alter haben, 
wäre das nord französische Officium in der uns vorliegenden Form 
erheblich jünger. Als gemeinsame Quelle für Sens und Madr. 289 
kommt nur eine Sammlung in Betracht, die älter als die Notre- 
Dame-Kunst ist, wahrscheinlich ein St.-Martial-Corpus; tatsäch- 
lich scheinen die von Anglés angegebenen Initien der ,,Conduc- 
tus“ der spanischen Hs. auf mehrere bekannte St.-Martial-Stücke 
hinzuweisen. Interessant ist auch das Auftreten des Wortes 
„Conductus in Madr. 289: anscheinend neben den Hilarius- 
dramen die älteste Stelle; ferner das Vorkommen zweier Dramen: 


15 Den Text s. Anal. hymnica XX, S. 217. 


790 Hans Spanke 


das eine, „Muleres“, dürfte eine der bekannten Fassungen des 
Osterspiels sein, mit dem andern, „De peregrino in die lune 
Pasche“ (fol. 117—118") weiß man vorläufig nicht viel anzu- 
fangen. Singulár ist hier die Bezeichnung der bekannten Weih- 
nachtssequenz „Letabundus“ als eines Conductus. Falls es sich 
nicht um einen lapsus calami handelt, würde daraus hervorgehen, 
daB man neben Strophenliedern gelegentlich auch eine Sequenz 
zu kirchlichen Umzügen sang; es sei hier daran erinnert, daß die 
berühmteste Ostersequenz, „Victime paschalis", in Frankreich 
gelegentlich zum Tanz der Kleriker in der Kirche gesungen 
wurde!®. Auffallerd gering war die Ausbeute Anglès’ auf der 
Suche nach Stücken spanischer mehrstimmiger Musik der Ars 
nova; der ihr zugehörige „Llibre Vermell" von Montserrat ist 
kostbar als Dokument für die Pflege des kirchlichen Tanzes im 
spanischen Mittelalter". 


Der nunmehr von Anglés edierte Codez des Zisterzienserin- 
nenklosters Las Huelgas bei Burgos ist an seinem Aufbewah- 
rungsort im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geschrieben 
worden. Der Inhalt ist systematisch nach Gattungen geordnet: 
Organa zum Ordinarium und zum Proprium Missae, Prosen 
(Sequenzen), Motetten und Conductus. Zu jedem dieser Ab- 
schnitte gibt Anglés im Einleitungsbande einen AbriB der Ge- 
schichte der betreffenden Gattung, zunächst für die ältere (fran- 
zösische oder englische), dann für die spanische Entwicklung der- 
selben. Wieder sind diese Skizzen als Arbeitsbasis wegen ihrer 
Sicherheit, Gründlichkeit und ihrer sonst nirgends so vereinigten 
Angaben über Handschriften, Ausgaben und Untersuchungen 
von einzigem Werte. Man hat das Gefühl, daß sich hier manches 
findet, was Fr. Ludwig gern in seine klassische Bearbeitung der 
mittelalterlichen Musik in Adlers Handbuch gesetzt hätte, wäre 
der Raum vorhanden gewesen. — Die mehrstimmigen Organa 
der Huelgashs. sind für die Musikgeschichte wertvoll als eins der 
wenigen Zeugnisse, daß überhaupt mehrstimmige Musik in Spa- 
nien frühzeitig gepflegt wurde; denn die meisten andern paralle- 
len Sanımlungen sind nur mit einstimmiger Notation versehen. 
Der Stil der Huelgas-Organa ist nicht einheitlich; ihre Fassung 


16 Vgl. Neuph. Mitt. XXXI, S. 149. 
17 Vgl. Volkstum und Kultur der Romanen III. S. 276. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 791 


stammt, bei teilweiser Benutzung älterer Grundmelodien, teils 
aus der ersten oder der zweiten Hálfte des 13. Jahrhunderts, 
teils aus dem Anfange des vierzehnten; letzteres u. a. ein am 
Ende der Hs. nachgetragenes dreistimmiges Credo, das schon 
der Ars nova zuzuzählen ist. Der Literaturhistoriker wird sich 
besonders für die Tropen dieses Abschnittes interessieren, welche 
Gattung bekanntlich für die Entwicklung des mittellateinischen 
Strophenliedes von größerer Bedeutung ist. Auch die Sequenzen- 
form ist schon in diesem Abschnitt vertreten, nämlich, wie auch 
sonst in der Regel, in Hosannatropen. Zahlreich sind in ihm die 
Benedicamusmelodien (18, davon 11 tropiert). Man könnte sich 
fragen, ob diese Benedicamus, da sie nach bzw. zwischen den 
Messestücken stehen, in der Messe gesungen wurden, oder ge- 
legentlich auch in den kirchlichen Tagzeiten (Officien) Verwen- 
dung fanden. Eine sichere Antwort läßt sich nicht geben. — Zu 
den einzelnen (49) Nummern des Organa-Teiles gibt Anglés 
nicht nur vollständige bibliographische Angaben, aus denen für 
den kundigen Leser Alter und Heimat der Stücke hervorgehen, 
sondern auch die auftretenden Bauarten. Zwei mehrstimmige 
Agnustropen sind „Rondelli“ nach der Definition Walter Oding- 
tons: Et si, quod unus cantat, omnes per ordinem recitent, voca- 
tur hic cantus rondellus, id est rotabilis vel circumductus. Wenn 
nicht aus dem Zusammenhange der Odington-Stelle hervorginge, 
daB es sich um mehrstimmige Musik handelt (Discantus), so 
kónnte man die Stelle auch auf das einstimmige Rondeau, bei 
den Theoretikern Rotundellus genannt, beziehen; Walter hatte 
die Musikform im Auge, die wir heute als Kanon bezeichnen: 
man vergleiche das allbekannte deutsche ,,O wie wohl ist mir 
am Abend“, wo drei Stimmen zugleich nacheinander und über- 
einander erklingen. Falls, wie hier und auch in den zwei Agnus- 
tropen von Las Huelgas, dre: musikalische Abschnitte vorliegen, 
erwartet man Dreistimmigkeit. Diese liegt tatsáchlich in dem 
einen Tropus (,, Regula moris“, Nr. 24) vor; der andere, Nr. 23, 
in Las H. zweistimmig, ist in andern Fassungen (spanischer Her- 
kunft) ebenfalls dreistimmig. Noch andere Fassungen der Melo- 
die, darunter auch eine schweizerische aus dem 14. Jahrhundert, 
haben nur eine Stimme. Es liegt auf der Hand, daß dieses Genre 
nur aus der mehrstimmigen Poesie stammen kann; es wáre ja 
auch ein sonderbarer Zufall, daß man eine einstimmige Melodie 


752 Hans Spanke 


komponiert hätte, deren zweiter Teil, mit dem ersten zusammen 
gesungen, dessen zweite Stimme ergeben hätte. 

Unter den Schätzen des Nachlasses von W. Meyer, der in der 
Göttinger Universitätsbibliothek aufbewahrt wird, befinden sich 
mehrere Handexemplare von Bänden der Analecta hymnica, 
wertvoll durch Randbemerkungen (manchmal recht bissig gegen 
Dreves) und Textbesserungen nach Vergleich der Handschriften. 
Als ich sie vor einiger Zeit durchblätterte, fand ich in Bd. XXI 
Nr. 40 zu dem Conductus ,, Veris ad imperia“, einem dreist immi- 
gen Unicum der berühmten Florentiner Notre-Dame-Hand- 
schrift, an mehreren Stellen ein bei Dreves fehlendes „, eya“ ein- 
gesetzt. Es war mit einem Schlage klar, daß es sich um eine 
Nachbildung des vielbehandelten provenzalischen Tanzliedes von 
der Regina avrillosa (weiter nördlich würde man Maikönigin 
sagen) handeln mußte. Die beiden ersten Strophen seien hier 
nebeneinander gesetzt: 

Al'entrade del tens clar, eya, ^ Veris ad imperia, eya, 


Pir joie recomengar, eya, Renascuntur omnia, eya, 
Et pir jalous irritar, eya, Amoris próemia, eya, 
Vol la regine mostrar, Corda premunt saucia 
K'ele est si amorouse! Querula melodia, 
A la vi' a la vie, jalous! Gratia previa corda marcentia 
Lassaz nos, Media. Vite vernat flos intra nos. 
Lassaz nos ballar entre nos, 
entre nos! 


Ein von der Laurenziana freundlichst geliefertes Photo der 
Seiten 228' und 229 der lateinischen Hs. (Plut. 29 I), verglichen 
mit fol. 82' der altfranzósischen Liederhs. Paris BN fr. 20050 
ergab Gleichheit auch der Melodien. Ein Vergleich des Textes 
zeigt schon, daB der Conductus ein Kontrafaktum ist; man vgl. 
besonders den StrophenschluB. Das provenzalische Lied, mit 
nördlichen Sprachformen gemischt, von denen man nicht weiß, 
ob sie dem Schreiber oder dem Dichter zuzuschreiben sind (denn 
das Lied steht in der Hs. zwischen Trouvéreliedern, und es gibt 
sonst noch Beispiele solcher Mischpoesien), diente offenbar zur 
Tanzbegleitung und hat den primitiven Bau AAAABCD. Der 
unbedeutende lateinische Text (eine zweite Strophe ist frommen 
Inhalts) ist offenbar nur gedichtet, um eine Unterlage für die 
Benutzung der beliebten, recht ansprechenden Melodie in der 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 753 


hohen Kirchenmusik zu schaffen. Der Verfasser kannte anschei- 
nend auch ein hübsches Frühlingsgedicht von Walther von Chä- 
tillon, dessen erste Strophe lautet: 
Imperio eya 
Venerio eya 
Cum gaudio cogor lascivire, 
Dum audio volucres garrire. 
Ob man es wagen darf, aus dem ,,eya'' dieses Liedchens, das 
nach der Strophenform (aa bb mit längerem b; die Melodie ist 
leider nicht erhalten) ein Tanzlied sein kónnte, den SchluB zu 
ziehen, daB auch Walther das provenzalische Tanzlied kannte? 
Dann wäre für letzteres der sonst fehlende terminus ad quem 
gegeben: etwa 1175. Interessant ist der Ausdruck eya, hier offen- 
sichtlich ein Tanzruf, ähnlich wie mehrfach in mittelhochdeut- 
schen Tanzleichs, worauf ich im vorigen Jahrgang dieser Zts. 
S. 384 hinwies, weiteres Material s. Zts. f. d. Altertum 1932 
S. 59. Man könnte fragen, was denn im Nordfranzösischen aus 
dem alten Spielmannsruf eia geworden sei; aus den (spärlichen) 
Belegen führe ich den refrainartigen Abschluß einer Estampien- 
strophe an: 
Ail Ail 
Et si troverai 
Chansonettes, hokés et notes novelles 

Et si dancerail 
Wozu man etwa den Refrain eines Osterliedes der Hs. Tours 927 
vergleiche: 

Die tertia, 
Eia, 
Gaudeat ecclesia 
Nova colens sollemnia! 

Als kürzlich Fr. Gennrich, der die Konkordanz A l'entrade: 
Veris ad imperia, ebenfalls gefunden hatte, das Notenmaterial in 
Transkription herausgab!8, stellte sich heraus, daß die drei- 
stimmige Melodie des Conductus in den beiden Begleitstimmen — 
und damit kehren wir zu dem vorhin besprochenen spanischen 
Rondellus zurück — teilweise kanonartig gebaut ist. Allerdings 
nur in den beiden Begleitstimmen, denn die Grundstimme hat 
den Bau des Vorbildes getreu beibehalten. Demgegenüber macht 


18 Formenlehre des mittelalterlichen Liedes (1932), S. 85. 
Histor. Vierteljahrschrift. Bd.28, H.4. 48 


754 Hans Spanke 


das Verfahren des spanischen Komponisten, der alle drei Stim- 
men in den Kanon einbezieht, einen, wenn nicht primitiveren, 
so doch gleichsam architektonischeren Eindruck; wenn man, 
den mittelalterlichen Notenschreibern folgend, die Grundstimme 
zuunterst stellt, so ergibt sich folgendes Bild: b c a. — Ähnlich 
cab 
abc 
gebaute Melodien sind in der Huelgashs. auch sonst vertreten; 
vgl. Anglés I S. 319. Diese Form setzt a priori eine noch primi- 
tivere, nur zwei Stimmen umfassende Vorstufe voraus: b a. Die- 
a b 

selbe ist tatsächlich vorhanden, und zwar in einem Unicum 
unserer Handschrift, dem Benedicamustropus Qui nos fecit ex 
nichilo (Anglés Nr. 34), wo den sechs Zeilen der Bau entspricht: 
b a b a b a. Die ziemlich reich melismierte Singweise läßt sich 
ababab 

nach Anglés auf eine sehr einfache Grundmelodie zurück- 
führen. — Bisher galt der englische Sommerkanon, geschrieben 
ungefáhr 1240, als áltestes Beispiel der Gattung, die schon wegen 
ihrer leichten Singbarkeit etwas Volkstümliches hat; vielleicht 
sind die spanischen Stücke ungefáhr ebenso alt. Doch das Prinzip 
des Stimmentausches wurde in Frankreich erfunden; denn 
„Veris ad imperia", freilich kein reiner Kanon, ist zweifellos 
älter als 1240, und noch früher verwandte Meister Perotinus 
Magnus in seinen gewaltigen mehrstimmigen Schópfungen das 
Kunstmittel des Stimmentausches, wie zuerst Fr. Ludwig fest- 
stellte. 

Zu den beiden Agnustropen 26 und 27 ist nachzutragen, daB 
auch Gennrich, in seinem eben erwáhnten Werke (S. 46 und 52), 
ihre Melodien herausgab; seine Rhythmisierung des letzten 
Verses von 26 (. . . SU — —pé— —ra— — vít), die Anglès natürlicher 
gestaltet, dürfte kaum Anklang finden. Die beiden Melodien sind 
gleich, der Bau jedoch verschieden: in 26 AAB und in 27 AABAB 
(durch Zusatz zweier Zeilen). Gennrich benutzt die beiden Bei- 
spiele zur Illustrierung von zwei der Typen, in die er die Formen- 
kunst des mittelalterlichen Liedes einteilt: das erste ist eine 
„Laissenstrophe“, das zweite eine „Rotruenge‘‘. Er erklärt die 
zweite Form durch ein „Anwachsen“ der ersten; in Wirklichkeit 
sind jedoch beide Formen, wenn man sie durchaus „erklären“ 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 755 


will, eher als Kürzungen der beliebten Rondeauform AAABAB 
aufzufassen, der ein dritter Agnustropus unserer Sammlung 
(Nr. 28), im Bau Nr. 27 völlig gleich, dadurch noch besonders 
angenähert wird, daß die beiden letzten Zeilen ein Refrain sind. 
Derartige Veränderungen von Melodien durch Weglassung einer 
Zeile sind in der mittelalterlichen Musik auch sonst nachzuwei- 
sen; in einem der von E. Coussemaker (Drames lit. du Moyen- 
Age, 1861) edierten Musikdramen, einem Nikolausspiel des 
13. Jahrhunderts, tritt 35 mal eine Refrainstrophe mit dem musi- 
kalischen Bau ABABC auf, die mehrfach durch Fortlassen ein- 
zelner Zeilen zu ABBO, ja sogar ABC verkürzt wird!“. 

Die soeben besprochenen drei Benedicamustropen stammen, 
mógen sie in Spanien oder anderswo entstanden sein, aus einer 
Zeit, als die ursprünglich unstrophische Form des Tropus schon 
ins Strophenlied eingemündet hatte. Beim Ben.-Tropus scheint 
dieser Vorgang schon besonders früh stattgefunden zu haben, 
oder vielmehr: wir besitzen nur sehr wenige Ben.-Tropen in 
Hexametern oder prosaischem Text. Vielleicht wáren wir reicher 
orientiert, wenn Blume, der kürzlich Verschiedene, noch die Zeit 
gehabt hátte, den beabsichtigten Band der Tropi antiphonales?? 
herauszugeben. Zwei Tropen ältester Fassung hat unser Codex. 
Die eine: „Benedicamus benigno voto, qui cuncto preside?! 
mundo, celo, arvo atque ponto, Domino sidereo" stammt an- 
scheinend aus St. Martial; der tropische Charakter kennzeichnet 
sich in den vielen Endungen auf -o. Der andere ist Unicum, 
aber anscheinend noch älter: „Benedicamus, Hic est enim pre- 
cursor et magnus Johannes Baptista, qui viam Domino prepara- 
vit in heremo in Jordane baptizato Domino. Deo dicamus Hodie 
natus est Johannes de Helisabet ; repletus spiritu sancto magnum 
predicavit. Eya, nunc pueri dicite: Deo gratias!" 

Bei dem Fehlen von Literatur dürften hier einige Notizen zur 
ältesten Geschichte des Benedicamustropus nicht unangebracht 
sein. In den Troparien des 9. Jahrhunderts (Ostfrankreich und 
Oberitalien) und denen des 10. Jahrhunderts, soweit sie in Frank- 


19 Vgl. Zts. für frz. SpLit. LIV (1931), S. 420. 

2 Die Tropen, die in den kirchlichen Tagzeiten gesungen wurden. — Die 
in der Messe gesungenen Tropen wurden in den Bänden 47 und 49 der Anal. hymn. 
ediert. 

31 Man sollte presidet erwarten; aber alle Quellen haben preside. 


48* 


156 Hans Spanke 


reich entstanden sind, fehlen die Ben.-Tropen. Die älteste Quelle 
ist anscheinend der Limousiner Troparius Paris BN lat. 887, 
dessen erster Teil, der hier in Betracht kommt, dem frühen 
11. Jahrhundert angehört. Auf fol. 45' —46' stehen am Ende einer 
Lage als Nachtrag, aber von alter Hand etwa ein Dutzend Ben.- 
Tropen ältesten Stiles, meist in Prosa, aber auch in Gebilden, die 
man als Anfánge einer sich auf diesem Gebiete selbstàndig ent- 
wickelnden Strophenkunst ansprechen kann. Den Anstoß zu 
dieser Entwicklung gaben anscheinend die Reime auf -o, bzw. 
(beim Deo-gratias) auf -as: man bestrebte sich, die zunächst 
ungleichen und beliebig langen gereimten Abschnitte in bezug 
auf ihre Länge unter ein wenigstens einigermaßen gleiches Maß 
zu bringen. Man vgl. folgenden Abschnitt aus dem Ostertropus 
„Odie surrexit leo“: . . . Ex eo processit benedictio, — largitor 
omnis alfa et o, — clementissimo domino etc. Auch das wohl- 
bekannte eya ist vertreten; z. B. in Anfängen wie: Eia pueri, 
jubilo clangentes tinnulo etc., oder: Eia nunc pueri voce pre- 
celsa etc. Interessant ist, sei nebenbei bemerkt, auch der vorher- 
gehende Teil der Hs. 887 (fol. 8—45), der auch für andere Tropen- 
gattungen eine gute Vorstellung von ihrem primitivsten Stadium 
vermittelt; da diese Tropen prosaisch sind, hat Blume sie nicht 
in die Analecta (Bd. 47 und 49) aufgenommen. Und auch hier 
spielt wieder der Ruf eia eine bemerkenswerte Rolle, besonders 
in den Einleitungstropen, und zwar in dem Teile, der unmittelbar 
vor dem liturgischen Text steht; z. B. . .. dic domne eia: Can- 
tate etc. (Tropus zum Psalm Cantate), oder ...dicite eia: ..., 
je nachdem der Tropus Chor oder Sologesang einleitet. So bildet 
hier der Tropus eine Art Ankündigungskommando, und diese 
Rolle wird dadurch noch besonders deutlich, daB er sehr oft mit 
demselben Ton endet, mit dem der liturgisch^ Text beginnt, — 
was sich bei der guten Diastemmatie der Neumen dieser Hs. ein- 
deutig feststellen läßt. Vielleicht spielte hier der gesungene Tro- 
pus zuweilen die Rolle unseres heutigen Orgelpräludiums. Zu- 
weilen umfaBt diese musikalische Angleichung zwischen Tropen- 
schluß und Liturgieanfang mehrere Töne und ganze Wörter, wie 
z. B. in einem Tropus fol. 12’ der Tropenschluß „domne“ die- 
selben 4 Töne hat wie das folgende „Etenim“. 

Den zweiten Abschnitt der Huelgas-Sammlung bilden 31 Se- 
quenzen, teils ein-, teils zweistimmig. — Man hat kürzlich die 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 757 


Geschichte der frühesten Sequenz mit Irland zusammengebracht, 
freilich mit vorläufig noch etwas dünnen Belegen. Irische Mönche 
als Klostergründer und Träger hoher literarischer Kultur sind 
speziell nachzuweisen in Deutschland, Nord- und Mittelfrank- 
reich, Ober- und Süditalien, aber nicht in Spanien“. Dazu würde 
stimmen, daß die Pyrenäenhalbinsel für die Geschichte der 
Frühsequenz tatsáchlich unfruchtbar ist. Zwar hat Blume im 
Bd. 53 der Analecta hymnica für drei in einem im 11. Jahrhun- 
dert in dem Kloster Silos geschriebenen ,,Breviarium et Missale“, 
heute Lond. Brit. Mus. Add. 30850, erhaltene Sequenzen ältesten 
Stils mozarabischen Ursprung angenommen. Doch diese Hs. ist, 
wie (nach Anglés) die Solesmes-Benediktiner bemerkten, gar 
nicht mozarabisch, sondern die Abschrift einer Benediktiner- 
sammlung in westgotischer Schrift. Zudem sind die auffallend 
weit verstreuten franzósischen Quellen der ersten dieser Sequen- 
zen, ,, Adludat letus ordo“ (Anal. 53, 189), wenn auch nicht der 
ältesten Schicht angehórig, doch zweifellos älter als der Codex 
von Silos, und auch die sonstige Verbreitung (Italien, 11. Jahr- 
hundert!) spricht keineswegs für spanischen Ursprung. Der Text 
stammt sicher aus dem 10. Jahrhundert; denn das Melodie- 
schema, ausdrücklich als ,, Adludat letus“ bezeichnet, diente u. a. 
einer in der ältesten St.-Martial-Schicht erhaltenen Sequenz, 
„Phoebus nunc pollens'', die schon im 11. Jahrhundert auch in 
Süditalien bekannt war, als Vorbild®. Die beiden andern von 
Blume als „mozarabisch“ bezeichneten Sequenzen des Silos- 
Codex (Anal. 53, 232 und 233) sind Unica und Nachtráge aus dem 
12. Jahrhundert. Also wird der erste der Analecta-Bearbeiter, 
G. Dreves, mit seiner Behauptung doch recht behalten, daß der 
mozarabische Ritus keine Sequenzen kannte. Dazu stimmt die 
von Anglés festgestellte geringe Anzahl von späteren Sequenzen- 


33 Dem irischen Einschlag in der frühmittelalterlichen Literatur weist neuer- 
dings Philip Schuyler Allen, in seinem geistreichen Buche „Medieval latin Lyrics“ 
großen Raum zu; vgl. das Kapitel IV: „The seed of St. Patrick". Weniger als ich 
erwartet, fand sich darüber in dem üuBerst gründlichen Werke des Benediktiners 
Dom Louis Gougaud „Christianity in celtic Lands“; der Verfasser teilt mir liebens- 
würdigerweise brieflich mit, daB ihm von einem Auftreten irischer Mönche in Spa- 
nien nichts bekannt sei. 

*9 Quellen und Text s. Anal. hymn. VII Nr. 212 und LIII Nr. 231a; auch diese 
Sequenz móchte Blume, da in drei nordspanischen Prosarien des 12. Jahrhunderts 
erhalten, als spanisch ansprechen. 


798 Hans Spanke 


quellen auf kastilischem Boden — wahrend im Norden, in Kata- 
lonien solche recht zahlreich sind. Man wußte bisher wenig von 
diesen Hss., und Anglés hat sich durch seine auf jahrelangen 
Nachforschungen beruhenden Quellennachweise ein großes Ver- 
dienst erworben. Interessant ist die Bezeichnung einer in einem 
Legat erwähnten Sammlung als „Presser cum Himner“ (vom 
Jahre 1055); man hatte also ganze Sammlungen von Preces. — 
In die Diskussion um die Ursprünge der Sequenzengattung ein- 
zugreifen hat Anglés vermieden; vielleicht weil es dem monumen- 
talen Charakter des Werkes nicht entsprochen hätte. Doch dafür 
gibt er eine Bibliographie von Sequenzenausgaben und -unter- 
suchungen, auch der neuesten, wie sie sonst nirgends existiert. 
Eine Kleinigkeit möchte ich hier nachtragen: das Studium der 
noch ganz unerforschten zahlreichen Hss. des portugiesischen 
Klosters Alcobaca wird jetzt erleichtert durch das neuerschienene 
„Inventario dos Codices Alcobacenses'' (Lisboa, Bibliotheca Na- 
cional, 1930—1932), 456 Nummern umfassend. 

Der Kirchenmusiker, der im Anfang des 14. Jahrhunderts den 
Nonnen von Las Huelgas, jedenfalls dem Geschmack seiner 
Zeit folgend, für ihren Gebrauch eine Anzahl Sequenzen auf- 
schrieb und teilweise mit einer zweiten Stimme ausstattete, be- 
vorzugte entschieden die jüngste Periode; an älteren Stücken 
nahm er nur „Verbum bonum“ und ,,Victime paschalis“ auf, 
beide zweistimmig. Beachtung verdienen die Unica; sie neigen 
textlich stark zur franziskanischen Mystik hin und zeigen in den 
Melodien deutliche Anklánge an mehrere Cantigas des Königs 
Alfons. Wenn man nun, so führt Anglés aus, in Betracht zieht, 
daß Alfons, der für das Huelgas-Kloster großes Interesse hatte, 
den Franziskaner Gil de Zamora, der als Verfasser von Sequenzen 
bezeugt ist, zum Erzieher seines Sohnes, des späteren Königs 
Sancho IV., bestimmte, so erscheint nicht ausgeschlossen, daß 
dieser Dichter mehrere der Huelgas-Sequenzen verfaßt habe. 
Gehen wir einen Schritt weiter und weisen wir ihm auch die 
Melodien zu, so käme Gil de Zamora auch als Komponist von 
Cantigasmelodien in Betracht. 

Die Melodien der Huelgas-Sequenzen nehmen in der Musik- 
geschichte eine Sonderstellung ein: durch ihre mensurale Nota- 
tion und durch ihre Zweistimmigkeit. Anglés teilt, über die An- 
gaben Fr. Ludwigs (Repertorium S. 12) hinausgehend, eine gró- 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 759 


Bere Anzahl von Hss. mit zweistimmigen Sequenzenmelodien 
mit. Die Zweistimmigkeit hat natürlich mit dem Wesen der 
Sequenz nichts zu tun, steht sogar zu ihm in gewissem Wider- 
spruch, wenigstens was die liturgische, mit dem Alleluia in Be- 
ziehung stehende Sequenz angeht. Bei der außerliturgischen 
(archaischen) Sequenz freilich tritt Zweistimmigkeit gelegentlich 
schon in einem sehr frühen Zeitalter auf“. Übrigens ist nicht 
ausgeschlossen, daB noch weitere Sequenzen als bisher bekannt, 
zweisilbig sind; denn gelegentlich vereinfachten sich die Schrei- 
ber bei der Aufzeichnung zweisilbiger Melodien zu sequenzen- 
artig gebauten Stücken ihre Arbeit dadurch, daß sie zu den ersten 
Halbversikeln die erste, zu den zweiten die zweite Stimme nieder- 
schrieben. Dadurch sah das Ganze aus wie eine einstimmige 
Melodie, und die ersten beiden Vollversikel erhielten etwa das 
Bild AB CD. In Wirklichkeit erklang jedoch A und B gleich- 
zeitig zu jedem der beiden ersten Halbversikel: À -- B À -- B 
C + D C + D etc. Jedesmal, wenn also in den Analecta hymnica 
der Herausgeber vermerkt: ,,Dem Parallelismus des Textes ent- 
spricht kein Parallelismus in der Melodie“, ist daher nachzuprüfen, 
ob nicht die beiden verschiedenen Melodien von zusammenge- 
hórenden Halbversikeln zusammen eine zweistimmige Melodie 
ergeben können“. Das gleiche gilt, nebenbei bemerkt, von allen 
Strophenliedern, in denen die erste Strophe eine andere Melodie 
hat als die folgenden“. — Daß sich die modale Rhythmik des 


3 Vgl. Handschin, „Über Estampie und Sequenz", in Zts. für Musikwissen- 
schaft XII (1929), S. 11. 

35 So ist der in meinen St.-Martial-Studien (Zts. f. frz. SpLit. LIV, S. 299) als 
„durchkomponiert“ bezeichnete Conductus „Noster cetus psallat letus“ in Wirklich- 
keit zweistimmig und sequenzartig gebaut, wie aus der mir erst kürzlich zugänglich 
gewordenen Fassung der Hs. London Brit. Mus. Add. 36881, fol. 3 hervorgeht, 
wo die beiden Stimmen übereinanderstehen, wührend die ülteste Quelle, Paris 
BN lat. 1139, die oben angedeutete Stimmenanordnung aufweist. 

Als Beispiel sei der Benedicamustropus „Prima mundi seducta subole“ 
angeführt. Auch hier gab die Fassung der Londoner Hs. den Schlüssel für die in 
der alten Quelle sich über die zwei ersten Strophen ausdehnende, anscheinend nur 
einstimmige Melodie. Über weitere ähnliche Fälle vgl. meine in den ,, Memories de 
l'Institut d'Estudis Catalans", Jahrg. 1934, erscheinende Studie „Die Londoner 
St.-Martial-Conductushandschrift". Es soll nicht verschwiegen sein, daB auch Paris 
NB 1139 zweistimmige Notation mit übereinandergesetzten Stimmen kennt; 
aber nur in zwei Fällen, von denen der eine Nachtrag ist. — Jedenfalls war die 
Formulierung der Zweistimmigkeit durch Nacheinandersetzung der Stimmen, 


160 Hans Spanke 


12. bis 18. Jahrhunderts auch auf die damals entstandene 
Sequenzenproduktion erstreckt, war eine Entdeckung P. Aubry's, 
die er 1909 veróffentlichte, nachdem er noch 1900 die Prosen 
Adam's von St. Victor wie gregorianische Musik herausgegeben 
hatte. Bei 24 seiner 31 Sequenzenmelodien hat der kastilische 
Schreiber das ternáre TaktmaB durch recht konsequente Mensu- 
ralnoten wiedergegeben, so daß Anglés sich in seiner Transkrip- 
tion im allgemeinen eng an sie anschließen konnte; andere 
Stücke waren, entsprechend der Aufzeichnung, im *, Takt zu 
übertragen. Bei längeren Melismen (z. B. auf „Amen“) war ein 
„ad libitum" vorzuziehen. 


1923 schrieb Fr. Ludwig, der beste Kenner der Materie, über 
die Rolle Spaniens für die Geschichte der Motette: „An Nach- 
richten aus Spanien, die die älteste Motettenkunst betreffen, 
fehlt es leider ganz." Wie oben erwähnt, fand später Ludwig 
selbst, daß eine der vier großen Notre-Dame-Hss., die Madrider, 
in Spanien niedergeschrieben wurde; sie enthält 37 Motetten, 
zum allergrößten Teil auch aus der sonstigen Literatur bekannt, 
aber teilweise in selbständiger Fassung. Daß die Sammlung tat- 
sächlich spanisch ist, ging, abgesehen von Sprachformen, auch 
daraus hervor, daß sie in einigen sonst singulären Stücken mit 
der (früher unbekannten) Huelgas-Handschrift zusammengeht. 
Letztere zeigt mit ihrem auffallend reichen Inhalt an Motetten, 
daß diese schwierige Kompositionsart in Spanien recht beliebt 
gewesen sein muß: nicht weniger als 21 von den 59 Nummern des 
Motettenabschnittes sind in Spanien komponiert, bzw. mit neuen 
Texten versehen worden. Wer die Entwicklung der Motette im 
13. Jahrhundert studieren will, findet in der Angles’schen Aus- 
gabe ein einzigartiges Material; denn der Verfasser liefert nicht 
nur eine ausführliche, den neuesten Stand der Forschung berück- 
sichtigende Geschichte der Gattung, sondern in den Anmerkun- 


wie sie die Regel ist in den Motetten, auch anderswo gerade in der ältesten Periode 
üblich. Ich möchte hier — mit aller gebotenen Vorsicht — erwähnen, daß auch in 
den Versus der Karolingerhs., Paris BN lat. 1154, mehrfach die zweite Strophe eine 
andere Melodie zeigt als die erste; vgl. meine Behandlung dieser Hs. in den Studi 
Medievali N. S. 1932, wo ich hinsichtlich des Planctus Caroli (fol. 132b) die melo- 
dische Divergenz der beiden ersten Strophen dadurch zu erklären suchte, daß die 
reicher melismierte Melodie der ersten Strophe vielleicht die Begleitmusik (ich 
meinte: instrumentale) zur einfacheren Melodie der zweiten Strophe darstelle. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 761 


gen zu den einzelnen Stücken Transkriptionen der (meist un- 
edierten) Parallelüberlieferung. Besonders wertvoll ist der 
Huelgas-Codex durch seine mensurierte Fassung der Melodien, 
worin er sich der spáteren Überlieferungsschicht anschlieBt, zu 
deren Behandlung Fr. Ludwig (im beabsichtigten 2. Band seines 
klassischen Repertoriums)? leider nicht mehr gekommen ist. 
Auch in englischen Handschriften steckt bisher noch unbenutztes 
Material zur Geschichte der Motette; zu einer derselben, Oxf. 
New coll. 362, gibt Anglés (S. 229) das Initienverzeichnis. 


Eine beachtenswerte und erfolgreiche Arbeit steckt in der Er- 
mittlung der Tenores der einzelnen Stücke: das sind die prä- 
existierenden, meist liturgischen Melodien, die der Komposition 
gleichsam als Grundpfeiler dienen und über denen die neuge- 
schaffenen Melodien mit eigenen Texten im Diskant erklingen. 
Die ältesten Tenores sind Benedicamusmelodien; eine solche 
scheint mir, sei hier bemerkt, im Motetus I (Belial vocatur) vor- 
zuliegen, wo Anglès zu keiner Feststellung gelangt ist. Darauf 
deutet der im Text vorkommende 0o-o-o-Jubilus, der Abschluß 
mit der liturgischen Formel und der Beginn mehrerer Abschnitte 
mit der Silbe Be-; ähnlich wie es im Motetus III zu beobachten 
ist; vgl. dazu Streckerfestschrift (1931) S. 179. Dort vermutete 
ich, daß in dem „Dorenlot“ der französischen Fassung dieser 
Motette eine Nachbildung von „Domino“ stecken könne. Will 
man das akzeptieren, so dürfte man in dem eigenartigen Passus 


Je voi le jour, deurenleu, 

Je voi le jour, deurenleu, 
Je voi le jour, deurenleu, compaigne, 
Je voi le jour, Dex le vous amaigne! 

Et dont vient il, deurenleu, 

Et dont vient il, deurenleu ? 
Devers Paris, Dex le vous amaigne! 


der in der altfranzósischen Handschrift Paris Arsenalbibl. 3517, 
fol. 144c, in die Mirakel des Gautier von Coinci eingebettet, kurz 
auf die soeben erwähnte Motettennachbildung (Hui matin à la 
journée) folgt, wohl den Tenor einer (mir unbekannten, vielleicht 


37 Hoffen wir, daß dieser Band, dessen Manuskript der Meister druckfertig 
hinterlassen hat, von einem seiner Schüler in nicht allzu ferner Frist herausgegeben 
wird. 


162 Hans Spanke 


verlorenen) Motette erblicken. Die einstimmige, fast syllabische 
Melodie hat den Bau AABB!AAB?, Der Text zeigt, daß die Kom- 
position aus den Elementen eines Tanzrefrains aufgebaut ist; 
Wiederholungen der obigen Art finden sich ófters in Tenores, 
auch in solchen der Huelgashandschrift. 


Die Verwendung von Tanzrefrains als Tenores in der Motet- 
tenliteratur, neben solchen liturgischer Herkunft, führt uns auf 
das jetzt so aktuelle Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen 
geistlicher und weltlicher Musik des Mittelalters. Wie schon oben 
angedeutet, liegen die Wurzeln der Motettengattung in der Tro- 
pik, genauer gesagt, im strophischen Benedicamustropus, wie er 
um 1100 in der Klostermusik Südfrankreichs gepflegt wurde”. 
Wenngleich nun die Tropik, im ganzen betrachtet, ein Grenz- 
oder vielmehr Verschwisterungsgebiet zwischen geistlicher (litur- 
gischer) und weltlicher (neuschaffender, bindungsloser) Musik 
darstellt, steht der liturgisch-traditionelle Charakter der T'enores 
dieser ältesten Epoche wohl außer Zweifel. Auch die hochoffizielle 
Motettenkunst, die seit etwa 1150 an der Notre-Dame-Kathe- 
drale in Paris unter GróBen wie Leoninus und Perotinus erblühte, 
zeigt in der Auswahl der Tenores ein durchaus exklusives Ge- 
präge: in der Regel alte, reich melismierte Teile der liturgischen 
Vokalmusik. Nun treten in einem spáteren Stadium der Motette, 
als die Komponisten die Gattung weiteren Kreisen durch Ver- 
wendung volkssprachlicher Texte schmackhaft zu machen ver- 
suchten, neben den alten lateinischen Tenores auch solche in 
franzósischer Sprache auf: auch hier bevorzugte man Bekann- 
testes: man nahm Refrains aus Tanzliedern oder ganze Tanz- 
lieder. Genau wie bei den liturgischen werden auch bei diesen 
Tenores einzelne Teile, Silben oder lángere Bruchstücke auch in 
den andern Stimmen der Motette verwandt, besonders gern am 
Anfang und am SchluB. Da nun auch sonst vom franzósischen 
Tanzlied zur geistlichen mittellateinischen Poesie Brücken hin- 
führen, dürfte die Frage nicht unangebracht sein, ob und inwie- 
fern die Tanzlieder-Tenores mit den lateinischen Tenores formal 
und insbesondere musikalisch verwandt sind. Die Frage ist weni- 


38 Die älteste Motette ist ein Benedicamustropus der St. Martial- Hand- 
schrift Paris BN. lat. 1139: „Stirps Jesse florigeram". Vgl. Zts. f. frz. SpLit. LIV, 
S. 299. 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 763 


ger kühn als es den Anschein hat: man denke an die teils ganz 
überraschenden auf ähnlichen Gebieten in den letzten Jahren 
ermittelten Beziehungen zwischen geistlicher und weltlicher 
Lied kunst des Mittelalters. — Für Motetten mit französischem 
Text hatte man in Spanien kein Interesse; oder vielmehr man 
schuf zu solchen, die man benutzen wollte, einen neuen latei- 
nischen Text. Interessant ist z. B. Nr. XXV der Huelgas-Motet- 
ten, mit einem sonst nirgends vertretenen lateinischen Text zu 
einer Schöpfung des Trouvères Richard de Fournival: „Chascuns 
qui de bien amer“; der neugeschaffene Text ist hübsch und ori- 
ginell. Beachtung verdient ferner Nr. LVII mit dem auch in der 
deutschen Musikgeschichte nicht unbekannten Tenor „Brumas 
est mort", mit dessen bisher bekannter Fassung „Brumas e 
mors“ man nicht viel anfangen konnte, wenngleich die deutsche 
Fortsetzung „Brumas ist tod, o wê der not!“ auf den richtigen 
Weg wies. 

Der Ausdruck Conductus für ein- oder mehrstimmige Stro- 
phenlieder neuer Komposition (im Unterschied zur Motette san- 
gen hier die verschiedenen Stimmen den gleichen Text) war auch 
in Kastilien bekannt, wie die Schreibereintragung ,,condutz*' 
beweist. Über das Wesen dieser Gattung, ihren Ursprung und 
ihren Umfang innerhalb der mittelalterlichen Liedkunst waren 
wir bisher, trotz verschiedener trefflicher Vorarbeiten, noch nicht 
in allen Punkten im klaren. Anglés hat diese Lücke in seiner 
meisterhaften Skizze (S. 305—330 des Einleitungsbandes) nun- 
mehr ausgefüllt; wer weiter arbeiten will, findet hier alles Nótige. 
Wie man eigentlich nicht erwarten sollte, bietet die Transkrip- 
tion der Conductus, und gerade der einstimmigen, oft besondere 
Schwierigkeiten. Denn die Melodien sind vielfach an den Stro- 
phenenden (caudae), teils auch an anderen Stellen so reich ver- 
ziert, daB die Einordnung dieser Melismen in eine modale Taktie- 
rung auf groBe Schwierigkeiten stoBen würde; Anglés hat in 
solchen Fállen, wenn auch schweren Herzens, auf die Taktein- 
teilung verzichtet. Über die Hälfte der 32 Conductus unserer 
Handschrift, nämlich 18, stammen wieder aus dem Notre-Dame- 
Repertoire; zwölf sind sonst nirgends erhalten. Mehrere stehen, 
man weiß nicht weshalb, schon zwischen den Motetten; der erste 
von ihnen hat einen Doppelgänger, der Anglés entgangen ist. 
Man vergleiche: 


164 Hans Spanke 


Huelgas fol. 93 u. Carm. Bur. fol. 38’ 

Surrexit de tumulo Exiit diluculo 

Fulgens plus quam stella Rustica puella 

Frangit in diluculo Cum grege, cum baculo, 

Hostis dira bella. Cum lana novella. 

Vitam dedit seculo Sunt in grege parvulo 

Celi prebens mella, Ovis et asella, 

De cruoris rivulo [Hs. Da] Vitula cum vitulo, 

Gaudia novella. Caper et capella. 

Dulce leta concio Conspexit in cespite 
Pangat alleluya, alleluya! Scolarem sedere: 


Quid tu facis, domine? 

Veni mecum ludere! 
Schon durch seinen mehr als mittelmäßigen Text kennzeichnet 
sich der Huelgas-Conductus als Imitation; entscheidend aber ist, 
daß die in der kostbaren Handschrift München Staatsbibl. lat. 5539 
erhaltene zweistimmige Melodie der Pastorelle mit der kasti- 
lischen, ebenfalls zweistimmigen Weise große Ähnlichkeit auf- 
weist. Die Pastorelle folgt in den CB auf den eigenartigen, alle- 
gorischen Leich „Nos duo boni“, der wohl vom gleichen Verfasser 
stammen kónnte und mir den Eindruck erweckt, als gehóre er 
in die zweite Hálfte des 12. Jahrhunderts. Die Münchener Va- 
riante hat nur die ersten acht Verse, und der abweichende Rhyth- 
mus der vier letzten Verse der CB erweckte mir früher den Ein- 
druck eines Zusatzes; heute móchte ich die Frage offen lassen, 
denn auch Huelgas hat nach den ersten acht Versen einen formal 
abweichenden, allerdings mit dem Pastorellenschluß auch nicht 
übereinstimmenden Abschluß. 

Die andern drei in den Motettenabschnitt eingeschobenen 
Conductus stehen in dem dreistimmigen Conductusfaszikel der 
Florentiner Notre-Dame-Handschrift bemerkenswert nahe zu- 
sammen. Zwei von ihnen, „Crucificat omnes“ (auch in den CB 
erhalten) und ,,Parit preter morem“ gehören der Gattung des 
Strophenlais an. Der zweite ist musikalisch identisch mit einem 
altfranzósischen Strophenlai, einstimmig erhalten in der Lieder- 
handschrift Paris BN fr. 20050. Ob die franzósische oder die 
lateinische Fassung álter ist, bleibt unentschieden; Anglés mag 
mit seiner Ansicht, daB vielleicht beide Fassungen auf eine [in- 
strumental] präexistierende Melodie zurückgehen, recht haben, 


Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 165 


denn gerade innerhalb der Lai-Literatur läßt sich Ähnliches 
mehrfach beobachten. Auch „Crucifigat omnes“ zeigt nach 
Anglés in seiner Grundmelodie Züge, die an weltliche Musik 
erinnern; das etwaige Original scheint verloren zu sein, am ersten 
dürfte ein provenzalisches Stück in Betracht kommen. In der 
Florentiner Handschrift werden (aufeinander folgend) die beiden 
letztgenannten Stücke durch zwei weitere Strophenlais ein- 
gerahmt: „Latex silice“ und ,,Isaias cecinit“; auch hier sind Be- 
ziehungen zur weltlichen Musik nicht ausgeschlossen. 

Mehrfach hat der Huelgas-Schreiber seine Vorlage dadurch 
verstümmelt wiedergegeben, daB er nur die erste Strophe notierte, 
auch bei solchen Conductus, die bei gleichgebauten Strophen 
durchkomponiert sind oder Sequenzenbau aufweisen. Zuweilen 
springen andere Handschriften ergänzend ein; in andern Fällen 
jedoch ist die (anzunehmende) Lücke nicht auszufüllen — ähn- 
lich wie übrigens auch in Notre-Dame-Handschriften der Haupt- 
tradition und mehrfach in Unicis der Carmina Burana. 

Am Schluß des Conductusabschnittes stehen mehrere Planc- 
tus auf hohe Personen der spanischen Geschichte: auf die kasti- 
lischen Könige Alfons VIII. (T 1214) und Sancho III., den 1158 
jung verstorbenen álteren Bruder Fernandos II. von Leon (der 
1188 starb und in einem Planctus der Florentiner Hs., ,,Sol 
eclipsim patitur‘‘, besungen wurde) und auf eine Äbtissin, Maria 
Gonzalez, die um 1330 starb. Alfons VIII., den Ph. A. Becker 
irrig mit Alfons XI. (T 1850) verwechselte, ist der Gründer des 
Klosters Las Huelgas, das auch spáterhin mit dem spanischen 
Konigshause aufs engste verbunden blieb: Prinzessinnen erhiel- 
ten dort ihre Erziehung, andere wurden dort Äbtissinnen. 

Geschrieben wurde der Huelgas-Codex, der zeit seines Be- 
Stehens an seinem Entstehungsorte verblieb und, wie deutliche 
Spuren zeigen, fleiBig benutzt wurde, wohl kurz nach 1330. Ob 
sein Inhalt von mánnlichen Sángern oder den Nonnen gesungen 
wurde, steht nicht genau fest; einzelne Kompositionen konnten 
nur von Männerstimmen vorgetragen werden, andere auch von 
Frauenstimmen. Jedenfalls bestand im Kloster dieser spanischen 
Zisterzienserinnen ein künstlerisch hochstehender, gut geleiteter 
Kirchenchor. Vielleicht spielte in seiner Leitung kurz nach 1300 
ein Johannes Roderici eine Rolle, der in der Handschrift an 
einigen Stellen als Korrektor und auch als Komponist auftritt. 


766 Hans Spanke: Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters 


Ph. A. Becker sah in ihm den bekannten Erzpriester von Hita, 
Juan Ruiz; doch dieser starb um 1351, und schon der Inhalt und 
Stil der Kompositionen des Johannes läßt eine so späte Zeit 
keineswegs zu. Eher dürfte er, wie Anglés fand, mit einem ,, Johan 
Rodriguez“ identisch sein, der 1308 in einer Urkunde in den 
Diensten einer kastilischen Infantin bescháftigt auftritt. 


Nachtrag zu S. 761. 


Die Melodie des Textes ,,Je voi le jour“ erschien jetzt im Bd. XXXIV (1933) 
der Neuphil. Mitteilungen (S. 173). 


767 


Kritisches zu mittellateinischen Texten. 
Von 


K. Strecker. 


Mehr als einmal habe ich mir erlaubt, darauf aufmerksam zu 
machen, daB man etwas vom Mittellatein verstehen muB, wenn 
man mittellateinische Texte edieren oder sonst behandeln will. 
Ich habe aber nicht den Eindruck, daß der Erfolg sehr groß ge- 
wesen ist; der Fall scheint ziemlich hoffnungslos zu sein. Erfah- 
rungen, die ich gemacht habe, waren für mich sehr lehrreich. 
Davon vielleicht ein andermal; heute móchte ich noch einmal ein 
kürzlich erschienenes Buch in dem obigen Sinne durchgehen und 
Bemerkungen zu einigen andern Texten folgen lassen. 


Comoediae elegiacae. 


Die Bescháftigung mit den sogenannten Comoediae elegiacae 
war bisher dadurch recht erschwert, daß sie sehr zerstreut ediert 
und teilweise fast unzugänglich waren. G. Cohen hat sich daher 
ein großes Verdienst dadurch erworben, daß er diesem Mangel 
abgeholfen hat: La «comédie» latine en France au XIIe siécle. 
Textes publiés sous la direction et avec une instruction de Gus- 
tave Cohen. Textes établis et traduits .. Paris 1931, wo dankens- 
werterweise fast die ganze Überlieferung, freilich ungleichmäßig, 
herangezogen ist. Bedauerlich ist es ja dabei, daß nicht in Frank- 
reich entstandene Stücke von dieser Sammlung ausgeschlossen 
sind, zumal bei einigen der aufgenommenen die Herkunft wohl 
nicht ganz sicher ist, doch soll diese Schrulle uns die Freude an 
der Sammlung nicht stören. Ein anderer Umstand darf aber 
nicht unerwähnt bleiben, der schon eher diese Wirkung haben 
könnte: es ist eine große Arbeit, die da geleistet werden mußte, 
denn es sind 15 Stücke in dieser Sammlung vereinigt. Cohen hat 
sich diese Aufgabe nun ziemlich erleichtert, indem er sie auf drei- 


768 K. Strecker 


zehn seiner Schüler verteilt und sich mit der Oberleitung begnügt 
hat. Zweifellos ein guter Gedanke, vorausgesetzt, daB sich 13 Ge- 
lehrte finden, die dafür hinreichend ausgerüstet sind; aber 
man muß sich dabei klar machen, daB man ein trefflicher klas- 
sischer Philologe, Romanist oder sonst etwas sein kann, ohne 
doch das Rüstzeug für Arbeiten auf mittellateinischem Gebiete 
mitzubringen. Das ist bei der Verteilung der Arbeit wohl nicht 
hinreichend beachtet worden; so stößt man denn immer wieder 
auf recht ärgerliche Versehen. Fast komisch mutet es an, daB 
immer wieder derselbe Beweis für die franzósische Heimat eines 
Stückes auftaucht, nämlich der, daß nach dico usw. quod gesetzt 
wird wie im Französischen dire que. Ich habe schon vor Jahren, 
Zs. f. d. A. 57, 188, gesagt, daß man mit solchen Beweisen auch 
den hl. Hieronymus mit seiner Vulgata und sämtliche Kirchen- 
väter zu Franzosen stempeln kann — es hilft nichts. Auf der- 
selben Stufe steht es, wenn Cohen es als eine treffliche Konjektur 
('corrections qui restituent heureusement des passages déses- 
pérément corrompus' 1, S. VIII) rühmt, daB jemand flagrat in 
fraglat geändert hat, während es doch eigentlich nicht unbekannt 
sein sollte, daß die beiden Wörter in den Hss. andauernd ver- 
wechselt werden und nach dem geforderten Sinne gesetzt werden 
müssen. Daß fore = esse ist, müßte ein Bearbeiter der Comoe- 
diae e. eigentlich auch wissen, vgl. 1 S. 196 (Miles glorios. 20). 
Der Herausgeber scheint es sogar abzulehnen, sich für solche 
Dinge zu interessieren, 1 S. XXIX sagt er in dem Abschnitt über 
den Stil ‘il ne s'agit pas ici .. d'en faire une étude complete (ce 
sera le róle de quelque étudiant allemand ou américain qui vou- 
dra y consacrer une thése de doctorat assurément riche en en- 
seignements)'. Unter den angedeuteten Umständen hat es nicht 
ausbleiben können, daß die Mitarbeiter sehr verschiedene Arbeit 
geleistet haben; bei der Lektüre habe ich mir manche Notiz ge- 
macht, die ich im folgenden mitteile, ohne irgendwie Vollstàn- 
digkeit anzustreben!. 

Ziemlich mißglückt — milde ausgedrückt — ist die Ausgabe des 
Babio. Für diese ist es von groBer Bedeutung, daB auBer den 
drei bisher benutzten Hss. (vgl. Filippo Ermini, Il Babio. 
Commedia latina del secolo XII. Roma 1928. Dagli atti dell’ 


1 Auf Fragen nach der'Aufführung' dieser Stücke u. a. a. gehe ich hier nicht ein; 
ich glaube nicht daran. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 769 


accademia degli Arcadi 1927) von dem Herausgeber Henri 
Laye auch die Berliner Florilegienhs. Phillippicus 1827 — P, 
13. Jh. fol. 56" (außer wenigen einzelnen Versen fehlen V. 55 bis 
202)* und L — Cod. 105 von Lincoln, 18. Jh., in dem leider sogar 
262 Verse fehlen, herangezogen werden konnte. Der Herausgeber 
gibt 2 S. 28 an, daß er sich auf eine vollständige Kollation der 
6 Hss. stütze. Leider muß ich aber Zweifel äußern, ob er seiner 
Aufgabe völlig gewachsen war, denn die Verwertung der bisher 
noch nicht benutzten Hs. P, die ich allein kontrollieren kann, 
läßt doch ganz außerordentlich zu wünschen übrig; an vielen 
Stellen sind Varianten aus P gar nicht erwähnt, an anderen ist 
der Text völlig verlesen. Ich bringe nur ein Beispiel: V. 401 cum 
carmen gallı letum cecinere. Dazu gibt der Apparat als Variante 
aus P: ter carmen galli cecinere pocum. Was heißt das? In Wirk- 
lichkeit hat P ter cantum galli cecinere posum ( = perosum). Ich 
habe daher eine Nachkollation vorgenommen und teile das Er- 
gebnis hier mit; die Abkürzungen der Hs. sind durch kursiven 
Druck angedeutet: 

8 malo, über dem o: ü —claua trinodis mit Umstellungszeichen, 
trınodis aus trinodit korr. 10 hic übergeschr. 12 ut didici: uber- 
geschr. l'interdum — gruis. 13 quid adest. 15 stipis externe. 19 
audeat unus. 20 illa, uiola als Glosse übergeschr. Die nicht seltenen 
Glossen erwähne ich im übrigen nicht. 21 Heu dabo. non. 23 
morear. 26 Sed: Si. 27 lepus est, darüber es. 31 precurrunt socii 
sequor hos pede cl. 32 esse: isse. 34 c' = cuius. 36 thetidis. 42 
Sed: Si, das doch wohl einzusetzen 1st. 47 floris nitor inuiolate. 
49 parentum. 50 pene, n Korr. 51 uiolà uiola — plus übergeschr. 
m. 1. 53 deuoueo ganz deutlich. V. 55—201 fehlen. 203 asperis. 
204 erigyus, Schluß undeutl. 205 difficiles getilgt u. dissimiles 
übergeschr. 206 rerent. 210 pudicicam. 216 panses. 217 Plebs: 
Pheb;, h getilgt u.l übergeschr. pacuisse a. pecuisse korr. 221 eras. 
225 Spendidus. 226 actibus eximius. 227 h' suptus — cin- 
bala. secula tanti. 228 tot numero, nicht minimo. 230 dana. 231 
Dum sic seruitur male. 233 parauit. 236 modo fit cuculus illa. fit. 
237 Addita — sic: sibi oder tibi. 238 pernam. 241 Inconcinca. 
242 Resq; mihi — filea trahis. 245 O petula pelans, tu übergeschr. 
— petissimus. 247 scandet auch P — crematur. 249 michi: nisi 


3 Über die Hs. vgl. V. Rose, Meermanhss. S. 430ff., wo auch auf die Erwähnung 
des Babio bei Robertus Holcot hingewiesen wird, die bei Laye übersehen ist. 


Histor, Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 49 


770 K. Strecker 


— hortis. 251 phebi. 252 dicet für discet. 253 forsam. 255 l'nguo. 
259 frus (a übergeschr.) fune peremto. 264 a causa perire. 266 
uelis (uel fehlt) aqua. 270 fructificant. 272 non: nec. 276 Scit: 
Sic. 277 tib: babio uendit. 279 celeus. 281 scit: stt. 283 preuidiat 
— loquar (die Lesart ist einzusetzen). 285 periisse. 288 Forsitam 
— Im Apparat: fedet in hac sacra sermo. 289 Talis ego uideor. 
290 similem simli thaide nate. 291 Aüt. 292 letes infatuaris.? 
293 tibi ... quietem. 295 niuescant. 296 Mennona. 297 Ledere 
(einzusetzen l). 302 michi: bene. 303 multis: miti. 309 obod'. 
313 non abit transacta voluntas. 315 extorquabit — ista. 317 
cohibunt. 321 nequ:as — mille fehlt mtt Zeichen. 323 hortis. 327 
auch redibit. 328 sit (einzusetzen) — tep'. 329 noctem ducat 
mihi titan. 330 almene. 331 rerum. 333 Hie foramen erat sehr 
ansprechend. Nicht „hier wird ein Loch sein“ (erit); Bab io steht 
vor seinem eigenen Hause und entsinnt sich, daß da ein Loch ist: 
„hier war doch ein Loch“ oder „hier muß doch ein Loch sein“. 
334 luculus — evum. 335 arcanum: artoum. 337 captus: abiens. 
338 deuenient uincula uirga salax. 339 esse fehlt. 343 Canta tuba. 
345 curite. 346 Strangule — olla prei fehlt, dafür esto. 347 
michi: tibi (einzusetzen?). 348 cape Jura flagella dabunt. 349 
salutat. 351 parcite ne neies, über ne steht . f. (= Fodius). 352 
En soleen esse nequid. 354 caüses — et: set. 357 cessascem. 
360 gemens: geras. 362 qua: que. 364 Nud' (o übergeschr.) 
erat (i übergeschr.) — ficta. 365 nigredie. 366 nodum. 368 
quando: ante. 369 Experie — urrtutis adictus. 370 Pax. 371 
scinseris. 372 Nec sus: Nexus. 373 serpens mitis. 375 sunt mea 
dapna pudoris et estus. 376 has. 379 sala — uiarum: uiuam? 
385 Cure fata. 387 comites: socii — ferte: ferre. 389 inconnita. 
891 rui: tui oder cui — labor h:c fuit et dolor inde. 392 capto. 
893 Reppulit — arcem faueam. 394 Cum. 395 succedet. 397 Pro- 
sequor. 401 ter cantum — perosum, vgl. oben S. 769. 402 App.: 
capd hoc. 408 Iam ludunt fessi, fast sessi, i korr. ? 405 hc plausus; 
fiet mthi set dolor illi. 406 ternis. 411 Surgo nimis moror hie ra- 
pimur uir adest tuus et pl. 412 Nunc vter michi sint dolia pl. d. 
413 ero. morior vter. 415 gloria uite (nicht gratia). 419 Febre: 
Freb*. 423 Sum felix diues rex habet ita ciues. 426 Ypocresisq; 
decus, hic fehlt. 428 crux, x undeutlich. 431 tenobrose. 432 Et 


3 Über dem t ist das ur-Zeichen durch Punkt getilgt. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 771 


patria — sata praua (einzusetzen). 433 thicii ... icsionis (nicht 
orionis). 434 ferens. 435 Sabata nuc instras (oder instrat), a 
etwas undeutlich. 436 adest. 439 Prestorlare — nam: non. 441 
Quo tibi — sophisma: doc's. 446 fodio: facto. 448 leues. 451 
Nunc: Nö - trinis: certus. 452 Cinbala. 453 Ve mihi non moraor. 
465 acellus. 457 quia. 458 quid — nimis. 459 Tantila — arce. 
460 leniter. 463 rerum res pessima, a korr. 464 Non est quo (ein- 
zusetzen). 465 quam: tam. 467 lector .. h michi mit Lücke dazwi- 
schen. 469 Hic terit illa. 471 Curus. 472 bono: nolo. 473 linquis. 
— sere. 477 farater. 479 nunc litere uocis. 480 credis, is getilgt 
u. e übergeschr. — vraq; facta. 481 crocius. 482 germine, — ge- 
tilgt. 483 timete. 


Leider muß ich auch sonst bezweifeln, ob der Herausgeber 
seiner Aufgabe gewachsen war. Man wird doch recht stutzig, 
wenn er S. 6 anfängt 'Gallicismen' nachzuweisen. Zum Glück 
sind es nur vier“: 

1. ‘plus suivi d'un adjectiv‘. 

2. ‘probabo quod', vgl. oben. 

3. emploi de unus comme pronom indefini‘. 


Es sei erlaubt, an diesen drei Beweisen mit einem leisen Kopf- 
schütteln vorüberzugehen, dagegen verdient der vierte nähere 
Betrachtung: testa. Was damit gemeint ist, zeigt V. 371f. 


Se sues ostro seu testas cinzerıs auro, 
mec sus sorde caret mec labe testa luti, 


das ist übersetzt: 'Que tu aies couvert des pores de pourpre ou 
la téte d'or, le porc n'est pas dépourvu de saleté ni la téte de la 
souillure de la fange‘. Ich bekenne, daß das über mein Fassungs- 
vermógen geht. DaB man ein Schwein mit einer Purpurdecke aus- 
statten kann, die dann bald entsprechend aussehen wird, kann 
ich mir vorstellen, aber warum wird ein Kopf, den man mit Gold 
bedeckt — es ist doch wohl an einen Goldreif, eine Krone oder 
dergl. zu denken ? — alsbald wieder schmutzig ? Der Kónig wird 
doch wohl morgens die Krone absetzen und sich den Kopf gründ- 
lich waschen? — téte hángt natürlich mit testa zusammen, das 
ist ja bekannt, aber ich entsinne mich keiner Stelle in mittel- 
lateinischen Texten, wo testa — téte ist, wohl aber mehr als einer, 


* Ich bemerke, daß ich die französische Herkunft des Babio gar nicht be- 
zweifeln will, jedenfalls ist sie doch wohl durchaus möglich. 


49* 


172 K. Strecker 


wo testa seine alte Bedeutung hat. Der Sinn ist natürlich: man 
kann einen Topf (oder irgend ein anderes Gefäß) vergolden, er 
wird doch immer wieder schmutzig werden. — Ein noch drol- 
ligeres Mißverständnis haben wir V. 295f.: 


Fama fide careat, que cum volet atra nılescunt; 
Cum volet hec eadem, Memnona vestit olor. 


Das ist übersetzt: 'ce qui est noir brille comme neige; à sa volonté 
encore un parfum enveloppe la statue de Memnon'!5 Was das 
wohl für ein Parfum um die Memnonssäule sein mag! Memnon 
ist natürlich der schwarze Mohr, olor der weiBe Schwan, die 
weiße Farbe! — Auch 125 ist nicht verstanden. Babio begrüßt 
den Croceus: valeas valeantque coortes. Dann murmelt er für sich: 
Heu mihi dico; vale dicere posse velim. Das ist nicht ‘Hélas pour 
moi dis-je, alors que je voudrais pouvoir dire salut et prosperité', 
sondern ‘wenn ich doch Lebewohl'' (oder besser auf Nimmer- 
wiedersehn") sagen kónnte'! — V. 65 sagt Viola zum Babio: Quid 
mihi cum Croceo? Sibi quam vult eligat ipse. Das heißt nicht 
qu'il se choisisse lui-même celle qu'il veut’, ‘lui-même gibt 
keinen Sinn, ¿pse ist wie unzählige Male in mittellateinischen 
Texten =‘er’ gebraucht. — In V. 37 Fert Helene faciem, gracilem 
precincta Corinnam wird gracilem Corinnam als Akkusativ der 
Beziehung erklärt! (vgl. S. 11) ‘elle presente le visage d’Helene 
avec la taille de la fine Corinne‘. Das verstehe ich leider wieder 
nicht. Ich würde vorschlagen, zu lesen: fert Helenam facte, wie 
P L haben, dann brauchen wir diesen abenteuerlichen Akkusativ 
d. B. nicht. (Übrigens hátte auf Ovid, Am. 1, 5, 9 hinge- 
wiesen werden sollen.) Überhaupt wird der Text wohl noch an 
mancher Stelle geándert werden müssen, freilich mit Vorsicht, 
die m. E. G. Colien bei seinen gelegentlichen Eingriffen zuweilen 
vermissen läßt. V. 179 endet ludumque ibi parcit. Das ist Unsinn, 
und Cohen ändert in parat. Das wäre sachlich möglich; aber durch 
Konjektur einen schweren prosodischen Fehler in diesen Text 
zu bringen, ist ganz unerlaubt. Erminis carpit ist sicherlich vor- 
zuzichen. (Sollte nicht auch Alda 455 carpente für parcente zu 
schreiben sein? Bücheler wollte pascente.) 432 nunc fata prava 
metes ist ebenso unmöglich wie Erminis nunc prave fata metes. 


5 Ich habe nur sporadisch die Übersetzung angesehen, vielleicht ist mir da 
mancher Scherz entgangen. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 773 


Ich schreibe nunc sata prava metes. Damit vergleiche man 183 sevt 
sata, messust alter. Meiner Ansicht nach muß hier das Komma 
hinter sevi stehen, sata messuit gehört zusammen wie 432. — 


Hóchst bedenklich ist V. 165: 
Surgite, scandam; Viole substernite mulum. 


Laye will uns hoffentlich nicht zumuten, daB wir den Vers 
in dieser Form für richtig halten. Wie soll er denn gelesen wer- 
den? Da ist er bei Ermini doch besser, wenn er auch keinen 
Sinn gibt: 

Surgite, sancta domus, molae substernite mulum. 

Ich gestehe, daß ich mich über diese Verse wundere; die 
Heilung ist doch wirkiich nicht schwer. sancta wird bekanntlich 
sca geschrieben, was man auch scan lesen kann, bzw. umgekehrt ; 
wenn sca und dam' etwas voneinander entfernt standen, konnte 
es unschwer in sancta damus oder domus verlesen werden, und 
es ist noch die Frage, ob nicht in der Hs. C wirklich damus steht. 
Jedenfalls wird wohl niemand meine Behauptung bestreiten, daB 
der Vers Surgite, scandamus beginnen muß. — Auch ein richtiger 
FünffüBer wird uns, wie schon von Ermini, zugemutet 411: 


Surge, nimis moror; hic vw adest tuus et plebs. 


Wenigstens hátte eine Bemerkung gemacht werden müssen. 
Die oben mitgeteilte Lesart von P hic rapımur gibt wenigstens 
einen ordentlichen Vers. Ob rapımur richtig ist, steht freilich 
dahin. 

Noch ganz kurz einige Bemerkungen. Daß V. 269 dem Babio 
in den Mund gelegt wird, leuchtet mir nicht ein. 136 Sollte nicht 
Sortes Sortes zu schreiben sein? 138 ist mir nicht ganz klar; an 
den prosodischen Fehler magister ven: glaube ich nicht; für quid 
doch wohl quod. 235 l. nondum glutire oder necdum glutire. — 
Undeutlich ist auch 236. Zunáchst ist cuculus, nicht cucullus zu 
schreiben, dann sicherlich mit P fit — fit statt sit — sit. nero 
bleibt unklar, aber zweifellos ist es, daB Cohens veto abzulehnen 
ist. 266 Igne velis vel aqua, si magis esse placet ou par l'eau, s'il 
te convient mieux qu'il en soit ainsi'. Das scheint mir kaum 
möglich, drei Hss. haben tlla oder tpsa für esse, beides gut. 
268 trahar, nur in P, besser als trahor. Ebenso 283 mit P loquar 
statt loquor. 23 Hanc dabo; si dicam, moriar verstehe ich nicht, 
wohl aber Erminis ‘Hanc dabo’ si dicam. 162 nolo geht kaum. 


774 N K. Strecker 


284 solent und minus darf nicht fehlen, etwa: Expectata solent 
pungere dampna minus. 

Zitate sollten nachgewiesen werden: 37 praecincta 
Corinna: vgl. Ovid, Am. 1,5,9. — 66 prece vel precio ist Zitat, 
Horaz, Ep. 2, 2, 173. Ovid, Fast. 2, 806. — 480 Vergil, Aen. 
11, 283. — 117 tribulus nunquam feret uvas ist biblisch, Matth. 
7, 16. Dagegen hat V. 79 mit Catull nichts zu tun. Daß 171f. 
mit Geta 483, 177f. mit Geta 489f. zusammenhängt, hätte 
nicht übersehen werden sollen. Ich hátte noch manche Stelle zu 
diskutieren, breche aber ab. 

Die übrigen Stücke werden uns nicht so lange aufhalten, 
obwohl auch da gelegentlich Anmerkungen gemacht werden 
müssen. Namentlich Girard mit seiner Ausgabe der Aulularia 
(Bd. I, 61ff.) gibt dazu Veranlassung. Wie er sich das gedacht 
hat, weiß ich nicht, jedenfalls läßt sich eine ganze Reihe von 
Versen überhaupt nicht lesen! Ist das lediglich Flüchtigkeit oder 
steht er auch auf dem Standpunkt, daB es im Mittelalter nicht 
so genau darauf ankommt? Man braucht wirklich nur Müllen- 
bachs Ausgabe aufzuschlagen, um das Richtige zu finden. Neh- 
men wir den Hexameter' 255 Dum tenet ille vam spaciumque 
locumque! reducem fehlt vor tenet. 103 aut certe débeat homo deus 
esse deorum; Müllenbach hat deberet. 264 läßt sich nur lesen, wenn 
suis in suus geändert wird. So bei Müllenb. 309 Der Versanfang 
Propositum modum ist unmöglich, 1. Proposttumque, ebenso 423 
Die ait Gnatho; Müllenb. hat Dic art o Gnatho; ebenso 595 Feton- 
temque sol retrogradum, Müllenb. Faetontem s. r. 712 Non im- 
pune suo movebis ossa loco: l. moveris. 732 fuerat: l. futt. 678 
recipit: l. recepit. 457 Versschluß: aut est Gnatonis virtus: Müllenb. 
Gnathonza virtus. Daß dem Leser solche Verse vorgesetzt werden, 
wo doch Müllenbachs Ausgabe vorliegt und nur mit einiger Auf- 
merksamkeit abgedruckt zu werden brauchte, ist mindestens 
etwas überraschend. 

Auch sonst móchte ich einige Bemerkungen zufügen. Ich habe 
nicht etwa den Text mit Müllenbach verglichen, das lohnte mir 
nicht der Mühe, sondern nur wo ich stockte, bei M. nachgesehen. 
149 si se putat esse beatus; l. beatum. 152 discere disce tacens 
(apprends à apprendre): M. richtig dicere. 157f. 1. arcet res; Iovis 
wie M. 210 largus amicitias urget Girard und M.: 1. auget? 
348 vocas Gir. und M., iclt denke voces. 340 nach ne muß putetur 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 775 


stehen wie bei M. 126 l. Perpetuam wie M. 270 Seque ptum 
wie M. 300 ignoret wie M. 305 würde ich mit M. Büchelers duos 
für dolis vorziehen. 371 dvmetiar wie M. 668 M. hat liminibus, 
Gir. luminibus, beide ohne v. I., also ist wohl liminibus über- 
liefert. 671 usquam huc ades, wie M. hat, zweifellos richtig, Gir. 
unquam huc ades ohne v. I. Ebenso muß 734 huc ades mit M. 
geschrieben werden, Gir. hat hic ades ohne v. I. 781 furtaque: 
l. furataque. 699 hinter urnam Komma. 461 nunc cogere nosirum 
est ist Unsinn; das Folgende zeigt, daB mit M. nec zu schreiben 
ist. Auch 498 erkennt man nicht, was vicinus heißen soll gegen- 
über dem richtigen vicinum. 500 l. differat. Diese Blütenlese 
genügt wohl. 

Auf die Angabe der Zitate wird in diesem Buche wenig Wert 
gelegt. So ist auch in der Aulularia einiges übersehen. 552 war 
auf die zum Babio 66 schon angeführte Horaz- bzw. Ovidstelle 
hinzuweisen nec prece nec precio. 685 vielleicht ist es Zufall, daB 
Vergil, Aen. 1, 637. 2, 486 die Verbindung domus interior an der- 
selben Versstelle steht. 86 Horaz, Sat. 1, 8, 4. 2, 1, 22. 132 Vgl. 
Horaz, Ep. 2, 2, 28. 

Der Geta ist ja oft abgeschrieben® und oft behandelt worden; 
80 ist der Text im allgemeinen gut. Natürlich kann man an vielen 
Stellen anderer Meinung sein, doch ist es nicht meine Absicht, 
die Lesarten einzelner Stellen zu diskutieren. Nur einige wenige 
seien erwähnt. 30 utor: warum nicht utar? 199f. suum allein- 
stehend scheint mir doch bedenklich, die Lesung amicum mit 
Komma davor ist jedenfalls leichter, und daB man hinter parcat 
das amicum in amico korrigierte, ist erklärlich. 464 Amphitryo 
treibt die beiden Sklaven, ihn beim Angriff auf die Haustür zu 
unterstützen: nos lucra multa manent ' Quel butin nous allons 
faire'! Nein, eurer warten Belohnungen, vos lucra manent, wie 
bei Wright steht. 473 sine ist nicht übel. 494 minima statt 
nimta, nimio scheint mir sehr gut. 

Auch für den Geta sind nicht alle Zitate festgestellt. Zu 489f. 
ist richtig auf Babio 177f. verwiesen, dagegen zu 483 nicht auf 
Babio 172. Zu 197 vgl. Alda 315. 458 uncta poptna: vgl. Horaz, 
Ep. 1, 14, 21. 488 Quis furor? vgl. Lucan 1, 8. 


* Auch in dem oben behandelten Berliner Phillippicus stehen Proverbia Getae, 
Aululariae, Pamphili, doch bin ich der Kürze halber zu diesen Stücken nicht darauf 


eingegangen. 


776 K. Strecker 


Alda'. Hier haben wir ja die Ausgabe von Lohmeyer, es ist 
also nicht viel zu bemerken. 31 das Komma hinter prosperitatis 
macht den Satz unverständlich, es muB hinter homini stehen. 
Anders bei Lohm. 57 zu lesen impia fata, nicht facta, der Tod 
würde für ihn ein Glück sein. 103 tıbique gibt einen unmöglichen 
Vers: I. tibi quae wie bei Lohm. 168 furit (so auch Lohm.) scheint 
undenkbar, l. furat. 260 mußte angedeutet werden, daB die Rede 
des Pyrrus beendet ist. 286 die Konjektur sato ist schwer glaub- 
lich, doch weiß ich pulvis sacer (so alle Hss.) nicht zu erklären. 
455 dente parcente: vgl. zu Babio 179. 

Auch hier ist auf fehlende Zitate hinzuweisen. Lohmeyer war 
doch schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Was er bringt, 
wiederhole ich nicht. 158 fit fabula: vgl. Horaz, Ep. 1, 18, 8. Zu 
165 ist richtig Vergil, Aen. 4, 2 zitiert; vielleicht war auch Ovid, 
Met. 3, 490 zu nennen. 243 genus aut formam: Horaz, Ep. 1, 6, 37. 
244 vgl. Juv. 3, 140f. 281 carnis suille: vgl. Juv. 14, 98. 384 crescit 
amor: vgl. Juv. 14, 139. Lohmeyer 31 denkt an Pamphilus 259. 
429 vgl. Ovid, Met. 4, 350. 401 vgl. Carm. Bur. (ed. Schmeller) 
Nr. CXCIV Str. 12. 231 vgl. Carm. Bur. (ed. Schmeller) Nr. 
LXVIII, ed. Hilka- Schumann 4, 2, 5. 315 vgl. Geta 197. 318 
vgl. Geta 10 Aulul. 792. Diese zuletzt angeführten Stellen wies 
Lohmeyer nach, ebenso Zusammenhang mit dem Mathematicus. 
Davon erfährt man hier nichts. Wenn ein Herausgeber dafür 
kein Interesse hat, so kann er diese Interesselosigkeit doch nicht 
bei allen Lesern voraussetzen. Auch das ist wohl nicht unwichtig, 
daB Heinrich von Settimello die Alda exzerpiert hat, wie ich 
gelegentlich nachgewiesen habe. 466 virginitatis honor: vgl. De 
tribus puellis 152, Sedulius, c. p. 1, 67. 

Von De tribus puellis haben wir ja den Jahnkeschen Text 
und kónnen damit zufrieden sein. Auch der Herausgeber Maury 
ist es im ganzen. V. 14 druckt er post salto ‘je bondis aprés elles', 
wenig überzeugend. Aber Jahnkes subtta ...solea ist es ebenso- 
wenig. Wenn salto richtig ist, muß post doch wohl temporal gefaßt 
werden. — 129 fehlt est aus Versehen. 155 Büchelers pattantur 
ist wohl mindestens ebenso berechtigt wie parentur (von parare), 
sie nimmt doch Abschied. 123 wird bene für quoque gesetzt. Wie 


* Ich möchte bemerken, daß der Lambacensis 100 jetzt der Staatsbibliothek 
in Berlin gehört. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 777 


soll die Korruptel entstanden sein? Und ist quoque denn un- 
móglich? Im allgemeinen schlieBt der Herausgeber sich an 
Jahnke an, es bleibt aber mancher Anstoß. 183 Annuitur usw. 
schlug Bücheler vor und Jahnke, Maury sind ihm gefolgt; von 
den Hss. hat eine Annutiter, zwei Annuts, eine annuis ac. Mir 
scheint dies Annuttur ganz unmöglich, eher noch, ebenfalls mit 
Bücheler, annuimus, obwohl auch das wenig überzeugend ist. 
Oder annu: tum? Annu: iam? 196 Maury druckt Igne calescebam 
corpora nostra grato, ohne irgendeine Bemerkung. Ich hatte mir 
schon calescebant notiert, als ich bei Jahnke sah, daB calescebam 
nur in einer Hs. steht, sonst calescebant. grato am Pentameter- 
schluß kommt nicht in Frage, eher noch gravi wie Jahnke. 
163 beginnt fürchterlich Nam illi mentitus. Ich will nicht be- 
haupten, daB der Vers unmóglich ist, aber unvergleichlich besser 
bei Jahnke Nam stib: m. Im Apparat steht weder bei Maury noch 
bei Jahnke ein Wort; ich nehme an, daß Nam stb: überliefert ist. 
140 lautet bei Jahnke und Maury Cuius Helenam tuvenem 
Susctptt in pretium. Der Vers ist nicht zu lesen; P. v. Winterfeld, 
dessen Exemplar ich besitze, vermutet eine Glosse und schreibt 
Cuius suscepit in pretium iuvenem. — Der Text des Stückes ist 
ja nur in ganzen Hss. und Inkunabeln erhalten, und ohne Kon- 
jekturalkritik kommt man nicht aus. Jahnke hat da mit solchem 
Erfolge vorgearbeitet, daß Maury den Text zum größten Teil 
übernehmen konnte und nur an wenigen Stellen abwich. Und 
auch da nicht immer mit Recht. DaB 227 valebat nicht durch 
volebat ersetzt werden darf, ist ja klar; ebenso daß facilis aus 
dem Verse wieder verschwinden muß. Auch wird 222 Jahnkes 
soltum wohl bleiben müssen wie 226, wo auch Maury zustimmt. 
Kaum eines Wortes bedarf es auch, daß 64 Büchelers dirimam 
statt dıruam einzusetzen war; ich weiß nicht, warum so evidente 
Verbesserungen nicht wenigstens im Apparat erwáhnt werden. 
Neue wichtige Verbesserungen bringt die Ausgabe kaum außer 
232, wo Cohens cigni statt agn? ausgezeichnet ist. Dagegen ist 
273 Jahnkes lacertis statt gente viel einleuchtender als Maurys 
labellis. 

In einer Beziehung bin ich mit dem Herausgeber gar nicht 
einverstanden. Er hat erkannt, daB der Dichter stark unter ovi- 
dischem EinfluB steht (S. 228 'd'un scholar qui avait trop lu 
Ovide’), ja er behauptet S. 227 sogar, der Dichter scheue sich 


778 K. Strecker 


nicht d'attribuer à Ovide la paternité'. Nicht jeder Leser wird 
sich mit dieser Behauptung abspeisen lassen, man wird sich 
wundern, daß der Herausgeber seine Aufgabe damit als erledigt 
ansah, daB er eine Stelle aus Horaz, die jeder Leser zur Not auch 
ohne Nachhilfe kannte ( Ibam forte via sacra), und eine aus Vergil, 
dazu einige mehr oder weniger dahingehórige aus den Carmina 
Burana anführte, von Ovid kein Sterbenswórtchen. Ich fürchte, 
nicht alle werden es sofort bemerken — was der Herausgeber 
doch wohl getan hat? — daß z. B. Amores 1, 5 teilweise wörtlich 
benutzt ist: 45 Am. 1, 5, 20. 53 Am. 1,5, 23. 250 Am. 1, 5, 18. 
255 Am. 1, 5, 19. 269 Am. 1, 5, 21. 144 Heroid. 15, 162. 278 
Heroid. 2, 58 wórtlich. 221 Amores 1, 4, 53. So wird sich die 
Abhängigkeit von Ovid wohl noch oft nachweisen lassen, ich 
führe nur an, was mir zur Hand ist, denn ich bin nicht in der 
Lage, die Arbeit auf mich zu nehmen, die dem Herausg. zukam. 

So steht es auch mit dem Pamphilus. Freilich sind 
S. 173f. einige Entlehnungen aus Ovid, auch aus Terenz mit- 
geteilt, aber eben nur einige, und von Vergil ist gar nicht die 
Rede. Ich gehe nicht weiter darauf ein. Und ebensowenig auf die 
Textgestaltung, ich sehe keine Móglichkeit, sie — wenigstens 
ohne einen sehr großen Aufwand von Mühe — nachzuprüfen. 
Der Herausg. Évesque hat aus der großen Zahl von Hss. einige 
wenige, 10, herausgesucht und behauptet, daß aus diesen der 
Text hergestellt werden müsse, ohne daß man es prüfen kann. 
Das möchte sein, wenn der Text überzeugender wäre. Aber da 
steht z. B. 69 ein Vers, der mit einer Konjektur von Cohen und 
einer von Dain ausgestattet ist und trotzdem so aussieht: Justa 
precando michi tum dolor anzvus instat: ich wüßte gern, wie er 
gelesen werden soll, denn ich komme damit nur zustande, wenn 
ich dolor skandiere, móchte aber darauf hinweisen, daB V. 250, 
463 an derselben Versstelle dolör steht. — Wie liest man 202 
Quid quid nocet aut prodest noscere nescit adhuc?, 213 Ire venire 
loqui tibi nec cuiquam non prohibebo?, wie 621 He duo discordes 
hunc die mocteque fatigant?? An den Vers mit dolor erinnert 
529 Est crimen immensum si dives fallit egenum, wo 532 ein Vers 
mit crimine folgt. Im Apparat findet man neben crimen auch 
scélus, damit wäre der Vers in Ordnung wie bei Baudouin. Über 


* Diese Monstra sind wörtlich aus Baudouins Ausgabe übernommen (vgl. dazu 
Cohen 1, S. VII). 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 779 


die Ausgabe wäre noch manches zu sagen, doch verzichte ich bei 
dem dürftigen Apparat darauf. 

De nuntio sagaci von A. Dain macht einen besseren Ein- 
druck als manche der bisher genannten Stücke; der Herausg. 
hat sorgfältig gearbeitet, die Hss. sind voll ausgenutzt und, 
wie es scheint, neu verglichen. Allerdings macht der Text auch 
kaum solche Schwierigkeiten wie etwa der Babio. Natürlich 
könnte man auch hier über manche Stelle streiten, doch erwähne 
ich nur kurz weniges. — Es wäre praktisch gewesen, wenn wie 
in der Ausgabe von Jahnke die Personen am Rande bezeichnet 
worden wären; auch für den Pamphilus u. a. hätte sich das 
empfohlen. 89 Die Textänderung vivus scheint mir mindestens 
überflüssig zu sein, dagegen war 169 eine solche nötig: His con- 
cessıs volo finem ponere verbis. Jahnke druckt His ita concessis, 
im Apparat ist nichts erwáhnt, ist «ta nur durch einen Druck- 
fehler ausgefallen ? Ein solcher liegt vor V. 60 bona statt dona, 
250 dicit statt dicis. Warum 160 spem...certam in s. cretam 
geándert wird, sehe ich nicht. 329 Komma hinter monstrum, da- 
gegen ist es hinter cognata zu tilgen. 322 quod male non facıebas 
ist unmóglich, ebenso ist es V. 336, denn Corporé darf nicht in 
Corpori geändert werden (Traube, Karol. Dichtg. 28, 1), auDer- 
dem fehlt zwischen proficit und spero ein Dactylus. 346 cernerent 
ist metrisch unmóglich und nicht einmal überliefert, cernent da- 
gegen metrisch und sachlich nicht zu beanstanden. 

Zu den übrigen Stücken nur noch ein paar Worte. Miles 
gloriosus 90 quid voluere mei: es muß selbstverständlich quod 
heißen. 307 Hanc procul esse putans cutus preferat amorem ist 
kein Vers. ^ s 

Pamphilus, Gliscerium und Birria macht im ganzen 
einen befriedigenden Eindruck, vor allem auch, weil die bib- 
lischen Zitate sorgfáltig nachgewiesen sind. Freilich findet man 
sie auch schon in der Ausgabe von Lohmeyer, Zs. f. d. À. 41, 
1897, 144ff., die dem Bearbeiter erst nach Abschluß seiner Arbeit 
oder während derselben bekannt geworden ist. Anklänge an 
klassische Autoren sind selten, aber sie sind doch da und hátten 
auch berücksichtigt werden sollen wie 174 Quaerentes patriam, 
nomen et unde genus, vgl. Prudenz, Psych. 706. 175 Der Vers- 
anfang Conticuere vgl. Aen. 2, 1. Doch ist wohl nicht viel Der- 
artiges vorhanden. V. 35 ternarius ist nicht ‘der dritte’, sondern 


180 K. Strecker 


die Dreizahl! 148 tn me mora nulla: Bucol. 8, 52. Natürlich ist 
zu schreiben: Quid obiurgas? Auch sind noch einige weitere 
Fehler vorhanden, zumeist wohl Versehen wie 108. 171. 207. 

Noch manches wäre zu bemerken, doch muß ich fürchten, 
daß ich die Zeit des Lesers schon zu lange in Anspruch genommen 
habe. Zusammenfassend muß ich sagen, daß mir das Lob, das 
Salverda de Grave im Neophilologus 1932? der Ausgabe spen- 
det, doch reichlich übertrieben zu sein scheint. 


Inschriften und Verwandtes. 


E. Areus hat Ann. d. hist. Vereins f. d. Niederrhein 118, 
1931, 32ff. neben anderen einige Stücke aus den Christl. In- 
schriften der Rheinlande, herausgegeben von F. X. Kraus 2, 
1894, kritisch behandelt. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich 
sage, daß die von Kraus dort gedruckten Texte vielfach drin- 
gend der Nachprüfung bedürfen, und so bringe auch ich eine 
Reihe von Notizen, die ich mir gelegentlich gemacht habe. 
Kraus Nr.373 Sehr beachtenswert ist diese Sammlung von 
Inschriften zu Stickereien auf Teppichen, die in Trier in der 
Kirche von S. Maximin hingen; sie sind in der Hs. T — Trier 
1337, chart. XV s., ol.s. Maximini fol. 94r erhalten, eine andere 
Überlieferung scheint nicht vorhanden zu sein. Der Druck von 
Kraus macht einen etwas merkwürdigen Eindruck, so daB ich 
mich veranlaßt sah, die Hs. selbst einzusehen, was sich als sehr 
notwendig erwies. Ich gebe ihren Text, ohne jedesmal die Le- 
sung von Kraus mitzuteilen. Zur Vereinfachung der Angaben 
habe ich die Zeilen numeriert. 4 QVOSV IS Kraus, quus (g. 
6 Schäfte, s) T. Was ist gemeint? — 12 Es sind leoninische 
Hexameter, deshalb hatte ich auch in diesem Verse Quodque 
dolens lepra Job scripsit quodque prophete die La propheta ver- 
mutet, aber T hat wirklich H das Zeichen für prophete. — 
16 infernas T. — Hinter V. 16 hat T: In alto panno veter: deætri 
chori reiro dorsum domini abbatis. Plato: Triumphus innocencie 
est non peccare ubi liceat posse. Socrates: Virtus usw. 21ff. Item 
in predicto panno depingitur ymago philosophie et tristis Boecius 
eic. Quem philosophia alloquitur: Agnosctsne me?  Letargum 

* Bd. 17, S. 205. — Kritische Beitráge, die mir aber infolge Krankheit nicht 


zugänglich sind, lieferten inzwischen auch W. B. Sedgwick, Archiv. lat. med. aevi 
VIII, 1933, 164—168 und M. Manitius. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 781 


pateris. Ascende si placet. Abite syrenes meisque eum (cum T) 
musis curandum relinquite. Kraus hat offenbar nicht erkannt, 
daB wir wörtliche Zitate aus der Consolatio ph. (S. 5, 37f., 7, 6. 11 ed. 
Peip.) haben. — 29 peccati T. — 31 status est via. — 32 hatholomei.— 
1221 = 1227. 34 dextri. 35 Pheniz degit avis ... Scherzhaft ist der 
Text von Kraus Pheniæ degit anus! V. 36 ist der Anfang des 
Physiologus Theobaldi. 38 Et fehlt T. panthere 'T. monstratur 
T. V. 39 virginis agnus ovis formam dat rinocerotis. 40 repara- 
tor. V. 38 und 40 erklären sich aus dem Physiologus Th., auch 
39 ist Physiologusgelehrsamkeit, doch verstehe ich die Kon- 
struktion nicht. 45 1. Angelus hunc istis gregis innuit ecce magistris 
T nach Lucas 2, 9. — 46. Enea qui regum sumens dat munera 
legum: enea verstehe ich nicht; es handelt sich um die An- 
betung der Magier, also etwa zenta? Das Wort wird auch sonst 
gelegentlich mit e gebraucht. 47 Templis oblatus limphas beat T. 
49 mortis. — 50—52 Kraus Nr. 395. V. 53—56 = Kraus Nr.372 
I, doch V. 56 H1; T. Apokal. 14, 13. 58 an: l. tu V. — 62—64 die 
Lücken auch in T. 64 presule ... 66ff. = Kraus Nr. 393. 1 Fun- 
dite, nicht Effundite, wie Kraus angibt. corda T, also derselbe 
Anfang wie im Epitaph Brunos von Kóln, Kraus Nr. 583, 1, 1.— 
8 Ecclesijs T. hinc oder husc T. 7 mortis ganz deutlich T. — 
Auf 393 folgt in T Kraus Nr. 394 Epithaphtum cuiusdam ab- 
batis prope arcum eundem. 394, 3 Idib; T.Auf 394 folgt Kraus 
Nr. 375, darauf Kraus 376 = 890, 2—3. 376, 2 Supplex T. 4 
sibi «ure T. 9 celebres richtig? vite T. 10 Illico lese ich auch. et 
fehlt T. 

Zu andern Nummern bei Kraus mache ich kurz Ánderungs- 
vorschláge, ohne jedesmal seinen Text mitzuteilen. Wieweit es 
sich um Druckfehler handelt, habe ich nicht jedesmal feststellen 
kónnen. Zunáchst noch Trier: Nr. 346, 9, 6 meus Druckfehler, 
wie der Apparat zeigt. V. 23 l. ferrea. 35 Posce deum. Nr. 352. 
Der Vorschlag zu V. 8 tecum ist unmóglich. 357, 1 urbs. 364, 1 
ist natürlich aetas oder besser etas am Versende zu schreiben, 
nicht artes im Reim auf etas, das Gedicht besteht aus 4 Paaren 
von Caudati. Dieser Reim etas ... metas auch in Nr. 262, 5. 
318, 3—4. 366, 21. ovans. 367, 31. complens. 8 l. centuplicei. 
372, 3, 11. Sis memor illarum. 377, 2, 4 l. spectoso. — 11 l. ast. 
Auffallend ist 1, 4 superno mit kurzem o, ebenso aber auch 
376, 10 Weomado. 462b l. tempore degens. 535, 2, 1 l. Claret 


182 K. Strecker 


opus domino. 550, 7 (S. 260) reddere vota. 579, 3 1. Adstruæere. 
586, 4 doch wohl Ornantur ? 586, 6 I. aptantur. 619, 3 l. immensıs. 
623, 4 conquesacravit oder conquesecravit mit Tmesis. Nr. 4 
S.3 war statt Durandus vielmehr Isidor, Etym. 7, 5, 10ff. 
heranzuziehen. ustas ist nicht der Genetiv, abhängig von media- 
tor, sondern Acc. Plur. prospice terrigenas usias (Wesen). So 
schon P. E. Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige in 
Bildern ihrer Zeit, 1, 1928, S. 199. Nr. 28, 2 domini. 3 Komma 
hinter constat fort. 7 Coeperit ut. 33, 1 1. carcere, so auch in der 
Wiederholung Nr. 80, 1. V. 4 verstehe ich nicht, cunctis (ohne 
Reim) ist wohl verdorben. 100 Ein Stein in Ebersmünster im 
Unterelsaß hatte 2 Inschriften: 1. in circumferentia lapidis, 
2. in medio lapidis. Die letztere läßt sich verhältnismäßig leicht 
und sicher herstellen (bei Kraus ist sie nicht lesbar): 


Tertia lux Februr quod vidit ad ista pararı, 
En Iudithae corpus conditur hoc tumulo, 
Pro cuius requie legis haec quicunque precare, 
Ui quae sperabat gaudia percipiat. 
Schwieriger sind die beiden Zeilen, die auf der ctrcum- 
ferentia. stehen: | 


Matris Adelgaudi patris hic vocem degaudı 
Quam pro me tibi dat: meritis in pace quiescat. 


Adelgaudus war der Sohn der Judith, der Tochter der Schwe- 
ster Herzog Rudolfs von Schwaben, darum wurde er von 
Heinrich IV. schlecht behandelt, wie die Hs. mitteilt!9. Wie 
sind die beiden Verse zu verstehen? Wer wird mit tibt angeredet ? 
Ich denke, es muß deus sein, deus audi in degaud« verdorben. 
Aber wer ist Subjekt zu dat? 


119, 11. tria dona. 135, 2 meritis: I. mentis. 4 opus: l. opes. 
140, 4 spernens, elegit pauperiem. 146, 4 anglis; die Änderung 
von similis in simul würde einen falschen Vers ergeben. 12 ab. 
16 regum. 17 dignanter. 20 exto. 23 Der Text bei Eccard ist 
besser. 190, 3 paret. 201 virtute sequaces. 208 1. Hec, rogo, qui 
cernant, Eberhardo gaudia poscant. 210 II 2 Die vorgeschlagene 
Ergänzung divina clementia motus ist wertlos. 218 steht auch 
im Vindobonensis 3381 = V. 2 h«c lateat V. 8 sita: fixa V. hoc: 


19 Vgl. Meyer v. Knonau, Jahrb. d. d. R. u. Heinrich IV., Bd. 3, S. 634 
M. G. SS. 23, 444. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 783 


hw V. 4 suum: sacrum V. opus: onus V. 9 richulfi V. 219 auch 
im Vindob. 3381. 1 pronus qui V. 8 ovans V. 10 urbe V. 11 me- 
hori V. 18 semper letus V. 295, 4 doch wohl in domino gaudens. 
16 l. cor elevatur. 300, 11 l. tota. 306, 1 Gens subiecta parem te 
sentiat, effera grandem. Es ist ein Elfenbeinstab, der diese In- 
schrift trägt. Kraus bemerkt dazu: ‘in Zeile 1 ist ohne Zweifel 
zu lesen efferat.' Das Gegenteil ist richtig: ein unterwürfiges Volk 
soll dich als gleich, als einen, der sich ihm gleichstellt, ein re- 
bellisches als erhaben, überlegen kennen lernen. 321, 13 Pes. 
26 necis. 822, 5 ceu. 327 S. 160, 2 fundaverunt, dahinter Inter- 
punktion, wáhrend der Punkt hinter monumentum zu tilgen ist. 
V. 4 Punkt hinter idem. 6 l. alter fuerat Machabaeus. V. Tf. 
hinter opinor und aevum ein Komma. 328, 4 wohl norma statt 
forma. 6 archimandrite Abl. 7 et: 1. est. 8 plenis oder plenam? 

In seinen Horae Belgicae, Bonner Jahrb. 50/51, 1871, 200ff., 
hat F. X. Kraus aus dem Codex 2164 von Mons (17. Jh. = M) 
einige Inschriften mitgeteilt, die teilweise auch sonst überliefert 
sind und natürlich erst, wenn sie mit der sonstigen Überlieferung 
zusammengestellt werden, rechten Wert bekommen. Leider 
gibt er teilweise nur Exzerpte. So druckt er S. 202 (IV 118) 
von dem Epitaph des Gervilius nur das Initium Patrius affectus 
und verweist im übrigen auf Joannis, Rer. Mogunt. 2, 170. Dort 
findet man freilich nichts, wohl aber steht der Epitaph Joann. 1, 
170 (= Jo) zusammen mit Quid latcus faciet. Dieselben beiden 
Stücke finden wir bei F. Zorn, Wormser Chronik, herausgegeben 
von W. Arnold in den Zusátzen von F. B. v. Flersheim 1857, 
S.19 und in dem bekannten Würzburger Codex theol. fol. 
187 — W, W1 =W fol. 141v und W2 — W f. 207 v. (Über den 
Codex vgl. vor allem A. G’sell NA 43, 1922, 29ff.) 1, 1 facet: 
faceret WI. pergit Jo, pergat Z WI W2.1, 3 gladio non: non 
gladio WI. 2, 2 quam fehlt WI. tuli: lus W2. 2, 4 At: nunc W2. 
S. 200 hat Kraus aus M 1, 31 den Epitaph des Amandus von 
Worms. Derselbe steht auch bei Zorn S. 20 und W 1 = f. 187, 
W2 = f. 307. V. 3 deum Z WI W2, deus M. V. 4 Et: Is W. 
Aus derselben Hs. M (III 205) gibt er S. 202 die häufiger über- 
lieferten Epitaphien der Stifter von Brauweiler Erenfrid (Ezzo) 

11 Es ist offenbar der in dem Catal. des manuscr. de la biblioth. de la ville de 


Mons par P. Faider 1931 als Nr. 590 erscheinende, obwohl der Druck von Kraus 
nicht erwähnt wird. 


184 K. Strecker 


und Mathilde, (Brunwilre, Mathildis abbatissae). Von dem 
letzteren, Inc. Otto avus teilt er nur V. 2 mit, der öfter anders 
überliefert wird: Sub queis (I) Roma potens su(b) didit omne 
nocens. Von der Grabschrift des Erenfrid stehen in der Hs. 
von Mons nur die 4 ersten Verse, die Kraus abdruckt, frei- 
lich ohne Nutzen. V.3 hat M factum ... factum. 4 et haec 
subitt. 

Ebenfalls S. 202 druckt er aus M (VI 269) die Grabschrift 
des Ebbo von Worms, der 1115 gestorben ist, Überschrift: 
Wormatiae. Inc. Laurishami consors. Sie findet sich auch in Z 
(Zorns Wormser Chronik) S. 50 und W (Würzburger Hs. Theol. 
fol. 187) f. 218r. Zorn sagt: 'Nach ihm (sc. Bisch. Dietmar) 
kommt Ebbo, ein Mónch zu Lorch und darnach Canonicus zu 
Goslar, stirbt anno 1115. In dem Nachtrage von Flórsheim 
findet sich dann die Grabschrift. Ich teile auch hier nur die 
Abweichungen mit. 1 Laurtsham*: Lorchorum Z, Lurchorum W. 
Ebbo: Eppo W, ebenso V.6. 2 Goslartas W, Goslarıus Z, Ger- 
tariae M. 3 die Variante flevit zu demit nur in M. 4 que fehlt W. 
6 credite fratri M, credite patri Z, patri fehlt W. Recht interessant 
ist schließlich eine Grabschrift aus derselben Hs, V 126, Kraus 
S. 202. 

Laureshami. 
D. O. M. 
Qui vestes geritis pretiosas, qui sine fine 
Non profecturos accumulatts opes, 
Discite quam paucis opibus post funera sitis 
Contents, saccus sufficit atque lapis. 
Conradus rex tacet hic, qui tot castella, tot urbes 
Possedit, tumulo clauditur iste brevi. 
Obut 1152. XV Kal. Marin non sine veneni suspicione. 


Kraus bemerkt: Conrad III., F 15. Februar 1152, starb 
aber zu Bamberg, wo er auch begraben wurde. Es muB also ein 
Irrtum vorliegen.' Der Irrtum wird aufgelöst durch A. de Terre- 
basse, Inscriptions de Vienne. II. Inscr. du moyen áge 1, 1875, 
150, danach sind es die ersten 6 Zeilen der Grabschrift König 
Conrads von Burgund, der am 19. Oktober 998 starb und in 
Saint-André-le-Bas in Vienne bestattet wurde. (Also die Über- 
schrift Laureshami ist ebenfalls ein Irrtum.) Warum die sechs 
letzten Zeilen fortgelassen worden sind, wissen wir nicht. Im 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 185 


12. Jahrhundert ist die Inschrift in Vienne erneuert worden, 
und dabei sind dem Steinmetzen erhebliche Fehler unterlaufen, 
so daB ein Vers in der jetzt vorliegenden Fassung ganz unver- 
stándlich ist, und der Sammler hat diese letzten Verse fort- 
gelassen. Dann würde diese Abschrift erst nach dem 12. Jahr- 
hundert von der restaurierten Platte genommen sein. Anderer- 
seits bietet diese Platte V. 3 Dicite, die Hs. von Mons das rich- 
tige Discite. Wenn dies nicht eine ziemlich nahe liegende Korrek- 
tur des Abschreibers ist, die Verwechslung ist ja unendlich 
häufig, müßte man hier schließen, daB die Abschrift von der 
ursprünglichen Platte, also vor dem 12. Jahrhundert, genommen 
wurde; ich glaube es nicht. V. 5 der den Vers zerstórende Zu- 
satz rex fehlt auf dem Stein. S. 201 druckt Kraus aus M (II 62) 
die Grabschrift des Balderich von Utrecht ab. Wattenbach 
GQ 1,7 420 wiederholt sie und stellt die falschen Änderungen 
von Kraus richtig. 

Die Ausgaben der zahlreichen une en Miniaturen- 
hss. des MA. erregen zuweilen den Eindruck, daß der Bearbeiter 
sich nur für die kunstgeschichtliche Seite seiner Aufgabe in- 
teressiert und die philologische wenig beachtet hat. Es wäre 
zweifellos richtiger, wenn es nötig ist, einen Philologen heran- 
zuziehen, als solche unglaublichen Texte zu drucken, wie man 
sie zuweilen findet. H. Ehl, Die ottonische Kólner Buchmalerei, 
1922 S.49 gibt bei der Beschreibung des Lektionars des Erz- 
bischofs Evergerus (985—999), Köln, Dombibl. Fol.143 die 
Inschrift der bekannten Miniatur (f. 3“) so wieder: Neæus 
alme pater vitiorum solve potenter | Paulo deo lectus pariter tu 
solve reatus | Consequor ut veniam Christi regnante. episcope 
superarem. Das verstehe, wer kann. Es ist zu lesen Paule statt 
Paulo, Consequar statt Consequor, Christo donante supernam 
statt Christt regnante episcope superarem. Dabei ist die Schrift 
durchaus lesbar, so steht die Inschrift auch bei A. Goldsch midt, 
Die deutsche Buchmalerei o. J. (1928) zu Taf. 80 richtig, 
Consequor ist wohl nur ein Versehen. Ebenso bei J. Prochno, 
Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buch- 
malerei I (800—1100) 1929 S. 58, doch hat dieser dolante ge- 
lesen; das erste n ist etwas undeutlich, aber doch gar nicht zu 
bezweifeln. All diese Fehler waren unnótig, richtig steht der 
Text schon bei Jaffé und Wattenbach im Katalog. — E. F. 


Hist. Vierteljahrschrift Bd. 28, Heft 4. 50 


786 K. Strecker 


Bange, Eine bayerische Malerschule des XI. und XII. Jahrhun- 
derts o. J. (1923) S.115 druckt ein Hexameterpaar aus clm 23343: 
Istum messyae librum sanctaeque martae in 
Libro vitae quo scriptus stt sine fine. 

Die Verse sind nur zu lesen, wenn man in an die Spitze des 
zweiten Verses setzt. — Das erwáhnte Buch von Prochno gibt 
ebenfalls zu einigen Bemerkungen Anlaß. Namentlich S. 66, Die 
Miniatur in der Hs. Brüssel, Kgl. Bibl. II 2570 (früher Chelten- 
ham 12349), 10. Jh.!* Die Hs. enthält Werke des Gregor v. Na- 
zianz. Christus thront in der Mandorla, rechts von ihm Johannes 
d. T., links die hl. Jungfrau. Gregor, flankiert von St. Petrus und 
St. Paulus und vielen andern Heiligen, reicht mit der Linken den 
Codex zu Christus hinauf, während er mit der Rechten den linken 
Arm des Schreibers faßt. Über Christus steht Qui dator es vite, 
scriptori crimina parce, und etwas darunter zwischen den beiden 
Erzengeln Angelus huic Gabrihel subvenit et Raphahel. Auf der 
Mandorla die zwei Hexameter: 


Celum perpetuo virtutis ure guberno, 
Atque meis pedibus 1ncurvat pondera mundus. 


Die beiden Figuren rechts und links (Maria und Johannes) 
weisen jede auf einen Spruch Huic miserere deus, so daß man 
einen Pentameter hat: Hutc miserere deus, huic miserere deus, 
dazu der Vers Poscit cum matre hoc baptista tuus. Möglich wären 
auch die Verse 80 zu lesen: 


Poscit cum matre Huic miserere deus 
Hoc baptista tuus Huic misere deus’, 


aber weniger wahrscheinlich. Rechts und links oberhalb der 
Schar der Heiligen auch wieder Huic miserere deus (rechts Huic 
schlecht zu lesen, Prochno druckt miserere ev deus), dazu links 
der Pentameter Supplicat hinc precibus, hoc cuncti petimus. Das 
Subjekt zu Supplicat ist nicht klar. Hinter dem Rücken des 
Schreibers schließlich unterhalb des Buches: Aufer htnc scelera 
quot sunt hic grammata scripta, darunter Postulat extensis Grego- 
rius brachiis. 

Sonst habe ich bei Prochno nur kleinere Versehen bemerkt: 
S. 4 doch wohl in hunc mundum? S. 9 benedicit. S. 27 rusticus 
poaela. S.49 pietate, pietati metrisch falsch und auch nicht über- 


12 Die falschen Lesungen wiederhole ich nicht. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 187 


liefert. S. 78, 5 1. genetrici, nachher dempserit illum. S. 89, 2 
l. renouauerat. S. 90, 1 I. serenus. S.90, 3 Juditte? S.90, 8 sit vita. 

In dem erwähnten Buche von Goldschmidt, 2 zu Taf. 53 
Bild 2 ist zu lesen tuvenili flore. Zu 54 Bild 2 muß es heißen Utdom:- 
num credas, hominem tu Didyme palpas. Zu 72, 6 l. praesignando. 

Stephan Beissel, Des hl. Bernward Evangelienbuch, Hildes- 
heim 1894, druckt S. 22 Verse aus dem Wyschrader Evangelien- 
buch zu Prag, die verschiedene Fehler enthalten: 3, 2 1. vero 
tudice. 3, 8 ist Manasses oder Manases geschrieben? Das letztere 
wäre prosodisch richtiger. 4, 8 inficit ist unmöglich, wohl infit? 
17 B qui cor lavat. 18 B deus ut. 24, 2 surrexisse deum. 25, 2 
super astra. 26, 4 der Vers ist unmöglich, wie überhaupt noch 
mancher bedenklich ist; die Hs. muß noch einmal verglichen 
werden. Auch aus dem Evangelienbuche des Prager Domes 
druckt Beissel a. a. O. S. 28 Verse mit manchen Fehlern ab, doch 
übergehe ich dies, weil er sie in seiner Geschichte der Evangelien- 
bücher korrigiert hat. 

Recht merkwürdige Verse bietet auch G. Swarzenski, die 
Regensburger Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, 1901, 
namentlich in seinem Bericht über den Utakodex. Ich habe 
diesen gesehen und konnte die Irrtümer feststellen. Das S. 101 
gedruckte Gedicht wiederhole ich ohne die Irrtümer: 


A Christi genealogia En menti contemplabili 
Formans ceu doctrinalia Carmen occurrit domini, 
Punctum in archipatribus Si primos fide typice, 
Locat priscis temporibus Ftongum ponas melodię. 

B Dehinc per ducum stemmata Sed rudis dudum populus 
Ducta Judae prosapia, Cum se subegit ducibus 
Secundus honor apicis Dum affectat mosaica 
Ut telon paret grammatis Ceu psallit diastemata. 

C Sed David per imperia Sub regibus prophetica 
Dum crevit stirps magnifica, Dum concordant praeconia, 
Quasi per sceptri gloriam Per plura testimonia 
Exarat epiphaniam. Clara sonant sistemata. 

D Tandem propago caelica Concentus huius carminis 
Per virginis vitalia Concluditur ab angelis, 
Dum carnem veram suscipit, Cum nato canunt domino: 
Cybi ceu formam subrigit. Doxa en ipsistis theo. 


50* 


188 K. Strecker 


4,4 d.i. % vwioros De. Swarzenski druckt en ipsis tistheo. 
— Ich trage noch einige Korrekturen zu dieser Hs. nach. 
Swarzenski S. 91 (Mitte) l. perpetuo. S. 94 ecce: l. Arce und einige 
Zeilen weiter l. quia Christum. S. 95 links unten caelica spes 
titulum secreta deique profundum. S. 99 rectriæ agnarum Christus 
te conloquor agnus ... quo se mec pietas penitus nec norma recla- 
met. S. 100 unten racionis dogmate veloz. 

Zum Schluß zu Swarzenski S. 85. Dort sind aus clm 14176 
f. 19" und 20' zwei Verse gedruckt: 

labro hoc Guntpoldus fuerat se poscere suetus, 

Bubeda adhuc teneris viguit sed et acribus annis. 

Swarzenski fügt hinzu: über den Ort Bubeda bedaure ich, 
keine Auskunft geben zu kónnen.' Zum Glück gibt der clm 18628 
f. 94" diese Auskunft: in dem Gedicht Postquam nocturnas, 
das Dümmler, Anz. f. K. d. d. Vorz. 23, 1876, S. 238, gedruckt 
hat, steht der Vers: Bubeda, quid dormis? Jam 1am rogo surgito 
dulcis. bupaeda, bupaes, Bovneıs vgl. Mart. Capella 1 § 31, 
9 8 908. 

Vita Frodoberti. 

Der Kodex, der das historisch nicht wertlose Gedicht er- 
halten hat, ist verloren. Mabillon verzichtete leider darauf, es 
in seine AASS. aufzunehmen, die Bollandisten haben es dann 
nach einer Abschrift, die F. Chifflet genommen hatte, = A, 
in ihren Analecta 5, 1886, 59ff. abgedruckt, = E. Einige Stellen 
bedürfen wohl noch der Erläuterung, und ich trage nach, was 
mir auffiel, als ich mich kürzlich wieder mit der Vita beschäftigen 
mußte. Leider sind die Verse nicht durchgezáhlt. S. 59, 11 Ex 
infelici cursu feliciter acto: l. Exin felici cursu f. a. Der Vers- 
anfang Exin auch S. 61, 22. 65, 3. S. 60, 2f. vetustas (Nomi- 
nativ) aedes consumpsit. Alias manus hinc loca struxit, et licet 
has alto satagat fundare locello ... E drucken alta manus hinc 
loca struxit, wobei loca wohl synonym mit aedes sein soll; aber 
dann schwebt das folgende has in der Luft, alas muB also 
bleiben. Eine andere Frage ist, was mit loca anzufangen ist, 
ich verstehe es vorläufig nicht. Die Änderung alto in alto ist 
wohl nötig, denn die Erzählung sagt uns ja, daß die Kirche an 
derselben Stelle, nicht an einer anderen, errichtet wird. Freilich 
erscheint alto recht überflüssig. S. 60, 12 ist sacrato more sácrata 
richtig? S. 60, 18f. pignus herile illud, quod studeat ... Der 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 189 


Satz ist final; ich schlage vor, das Komma hinter herile zu setzen 
und fortzufahren: llud quo ... studeat. S. 60, 27 Exanımes 
ardet: die Änderung der Herausgeber in Ex animo cadere ist nicht 
sehr überzeugend, aber sicherlich wird der oder ein ähnlicher 
Sinn hier gefordert. S. 61, 1 Quo nach a tempore liegt ja sehr 
nahe, aber es fragt sich immerhin, ob das überlieferte Quod 
nicht zu halten ist, es wird nicht selten im Sinne von Seit' 
gebraucht. Einige Beispiele Poetae 4, 1036 zu V. 8. S. 61, 26 J. 
iamiam. S. 61, 28 Irradiant: Levison S. S. rer. Mer. 5, 71 korri- 
giert wohl mit Recht stillschweigend Irrad:at. S. 62, 12 hinter 
ipsa Komma, hinter S. 62, 13 hora vielleicht Punkt, doch kann 
V. 14 noch dazu gezogen werden. S. 62, 15 1. anglorum. S. 62,171. 
fratris (nur Druckfehler?). S. 62, 30 voluit ist unmöglich, 1. 
volvit von volvere. S. 62, 35f. I. stupefecit ipsum, nam 
S. 63, 17ff. Schwierige Konstruktion, ich schreibe Tum für 
Cum. S. 64, 13 Christi verstehe ich nicht und würde Christus 
vorziehen. S. 64, 21 et culto: E vermuten excluso; vielleicht 
expulso. S. 64, 26f. thesaurum patris geht wohl nicht. Punkt 
hinter ostensum, patris von aures abhängig. S. 65, 21 potis est 
ist überliefert und doch auch wohl möglich, die Änderung es 
unnötig. S. 66, 24 l. curvos crypiae arcus (nicht artus). 
Anschließend füge ich auch die Zitate bei, die ich mir nere 
habe: S. 60, 2: Aen. 8, 415. 12, 686. S. 60, 14 n. 62, 27: Aen. 
4, 859. S. 60, 17 Sedul. 4, 32. S. 60, 21: Aen. 1, 26. S. 61, 2: 
Arator 1, 164. S. 61, 7 Arator 1, 610. S. 62, 5f. Arator 1, 1022f. 
vgl. Herigers Vita Ursmari, N. A. 50, 147. S. 62, 18 Juvenc. 8, 1. 
S. 62, 19 Aen. 4, 183. S. 62, 20 Aen. 3, 669. 6, 547. S. 62, 22 
Arator 1, 54. S. 62, 25 Aen. 4, 129. S. 62, 26 Aen. 4, 6. S. 62, 33. 
S. 68, 20. S. 64, 35. S. 65, 35: vgl. Arator 1, 815. S. 63, 5 Aen. 
2, 774. 8, 48. S. 63, 9 Aen. 1, 29. S. 63, 10 Juvenc. 1, 326. S. 63, 
30 vgl. Georg. 4, 548. S. 64, 1 coeli convexa (61, 8) Aen. 5, 
461. S. 64, 28 Aen. 1, 93. S. 64, 30 Aen. 3, 588. S. 65, 7 signa 
virtutum Sedul. 1, 95. S. 65, 9 Aen. 2, 9. 4, 81. S. 65, 18 Georg. 
1, 78. Aen. 5, 836. Über das Verhältnis dieses Gedichtes zu den 
Vitae Ursmari und Landelini habe ich N. A. 50, 148ff. gehandelt. 


Uffings Vita Liudgeri. 
Um das Jahr 1000 lebte im Kloster Werden ein Ordensmit- 
gled, das an der Bearbeitung hagiographischer Stoffe Freude 


490 K. Strecker 


hatte, Uffing. Er ist vor allem bekannt als Vf. einer Vita der 
hl.Ida. Von ihm haben wir auch ein kurzes hexametrisches 
(xedicht von 63 Versen über den hl. Liudger, den Stifter seines 
klosters. Es wurde 1515 gedruckt von dem Werdener Joannes 
Cincinnius am Schlusse seiner Prosavita divi Liudgeri, dessen 
Druck von Leibniz mit einigen Änderungen wiederholt wurde, 
SS. rer. Brunsv. 3, 604f. In den AASS. Boll. Mart. III, 1865, 
656 wurde es unter Heranziehung des Cincinnius aus der ältesten 
Hs. (in Kassel) gedruckt. Zum letzten Mal erfuhr es eine Bearbei- 
tung von Wilh. Diekamp in seiner Sammlung der Vitae s. Liud- 
geri 1881 S. 223ff., leider so, daß ich dringende Veranlassung 
habe, in kritischen Betrachtungen zu mittellateinischen Texten 
von seiner Ausgabe zu sprechen. So druckt er V. 51f.: 


O pater alme! tuts narratis summa decoris 
Jam modo, iam meas tuaearis undique caulas etc. 


Diekamp sagt S. LXXXVIII, die Hexameter des Gedichtes 
seien nicht leicht verständlich, und in der Tat dürfte er die 
eben abgedruckten kaum verstanden haben. Aber die beiden 
Hss. C und M, von denen ich sofort sprechen werde, haben 
nicht narratıs, sondern mratts, d. i. nostratis, Gen. von nostras. 
Wenn Diekamp es nicht lesen konnte, so hatte er doch Vorgänger, 
und er gibt sogar im Apparat an, daB die Bollandisten und Cin- 
cinnius nostratis haben. Dann ist alles in Ordnung, nur weiß man 
mit dem Dativ (Abl) tws nichts anzufangen, solange man 
wie Diekamp interpungiert. tuis ist zu alme zu ziehen und die 
Interpunktion, Komma, hinter tuts zu setzen, und so hat 
auch die älteste Hs. C, während die zweite, M, und Cinc. über- 
haupt nicht interpungieren. — V. 54 steht bei Diekamp ullum 
ab agnis im Apparat 'ullum Boll. Leibn.', das ist unverständlich, 
aber in den Hss. ist ullam überliefert, es sollte also offenbar 
in V. 54 ullam gedruckt werden. Ein Druckfehler ist es wohl 
auch, wenn man V. 34 morte statt des überlieferten marte liest. 
Dagegen bin ich nicht ganz sicher, ob auch V. 61 ein Druck- 
fehler steht. 


Hoc auferre velit, iustisque sidera pandit. 


Der Vers ist falsch, ist aber auch nicht so überliefert; die 
älteste Hs. C hat zustis q (mit dem Kürzungsstrich für ur), die 
andere, M, zustıs q, und Cinc. noch deutlicher tustis qui. 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 191 


Ich habe das Gedicht vor allem herangezogen, weil sich 
eine schwer zu entscheidende Frage daran knüpft. Es ist in 
der Hauptsache in zwei Hss. überliefert: 1) C — Kassel, Cod. 
theol. 4? Nr. 29, über die Diekamp S. LVIIIf. handelt, wohl 
nicht viel nach 1000 geschrieben. Daraus abgeschrieben die Hs. 
Msc. II 12 des Staatsarchivs in Münster aus der Kindlinger- 
schen Sammlung, 17. Jahrhundert, kritisch für unser Gedicht 
wertlos. Daneben haben wir 2) M = Münster, Staatsarchiv, 
Mscr. 136 der Bibliothek des Altertumsvereins, um 1500 ge- 
schrieben. Diese Hs. legte Cincinnius zugrunde. Diekamp 
S. LX XXVIIIf. sagt, M. sei nach einer von C abweichenden, 
damals noch in Werden befindlichen Vorlage abgeschrieben. 
Das ist natürlich kritisch wichtig und muß sorgfältig geprüft 
werden. Ich war dank dem gütigen Entgegenkommen der be- 
treffenden Bibliotheks- bzw. Archivverwaltungen in der Lage, 
beide Hss. nebeneinander zu benutzen. Dadurch ergaben sich 
recht interessante Beobachtungen, die Diekamp offenbar ent- 
gangen sind, denn sein Apparat ist hóchst lückenhaft und für 
diese Frage gar nicht zu gebrauchen. So zu V. 29. Er lautete 
in C ursprünglich: tyrannos Principes sederum iunzit ferus ille 
chelydrus. Der Vers ist weder zu lesen noch zu verstehen, und 
schon früh, m. E. von der Hand des Schreibers, korrigiert 
worden, und das Wort sieht nun so aus: Principes (was das 
heißen soll, ist eine Frage für sich, wahrscheinlich wird mit 
den Bollandisten Principiis zu korrigieren sein). Man ist über- 
rascht, wenn man in die Hs. M sieht, denn dort steht der Un- 
sinn principes, von Cincinnius wiederholt. Kann man das 
anders erklären als durch die Annahme, daß M aus C abgeschrie- 
ben wurde? — Ein ähnlicher Fall: 


35 Arıda de vero qui moz rigat ora docendo 
Aeternam in vitam puteo salientis aquai!*, 


So in C. In M für aqua: das unsinnige aquelt, so auch Cincin- 
nius, während Leibniz aqualı daraus machte. Sieht man das 
Wort aqua: in C flüchtig an, so kann man es leicht in aquel 


13 Von Diek. in etwas peinlicher Weise miBverstanden, er erklärt das Salz- 
wasser ist das Taufwasser'. Dabei hat er auch übersehen, daß es ein wörtliches und 
sogar recht bekanntes Zitat aus Ev. Joh. 4, 14 ist. 


792 K. Strecker 


verlesen; das a ist etwas merkwürdig, der Bauch ungewöhnlich 
rund und dick, ein wenig ausgelaufen, dabei der senkrechte 
Schaft länger als sonst. So liegt die Erklärung sehr nahe, daß 
aqueli in M aus dem aqua: in C verlesen ist. Dazu stimmt nun 
aber ein dritter Fall nicht: 45 Intonsı montes (Zitat aus Vergil, 
Ecl. 5, 63) in C, dafür in M In tonu m. Das Wort ist in C ganz 
deutlich zu lesen; kann daraus dieser Unsinn entstehen? Nun 
ist freilich in C das s etwas stark über das schließende i hinüber- 
gebogen, so kann immerhin si in % verlesen sein, es ist möglich, 
wenn auch nicht wahrscheinlich — jedenfalls würde man auf 
Grund dieser Lesart wohl noch nicht die Unabhängigkeit der 
Hs. M von C behaupten dürfen, aber es kommt ein zweiter, 
recht erschwerender Umstand dazu: C hat in den 63 Versen 
nicht weniger als 7 falsche Initialen, wie Condere statt Pondere, 
Effingi statt Uffingi, Nam statt Jam u. a. a., während sie in M 
richtig sind. Wollte man also behaupten, daB M direkt aus C 
abgeschrieben wäre, so müßte man sich damit abfinden, daß 
derselbe Mann, der skrupellos principies oder aqueli schrieb, 
andererseits doch so philologisch geschult gewesen sein müßte, 
daß er die 7 falschen Initialen aus Konjektur richtig änderte. 
Also direkte Abschrift liegt sicherlich nicht vor, zumal M in 
Werden geschrieben ist, während C im 12. und im 17. Jahrhun- 
dert in Abdinghof lag, mithin auch wohl in der Zwischenzeit 
nicht in Werden war. Also daß M auf C zurückgeht, ist mir 
sehr wahrscheinlich, aber direkter Zhg. kann nicht vorliegen, 
in den 5—6 Jahrhunderten von 1000 bis 1500—1600 wird der 
Text eben verschiedene Abschriften und Korrekturen über 
sich haben ergehen lassen müssen. — Und dann noch ein 
merkwürdiger Umstand: M und C haben auch gemein- 
sam falsche Initialen, was bisher nicht beachtet worden 
ist: 30 Contulit ulterius ... colla omnisator ... multarter in 
C M ist unverständlich, obwohl es noch nie beanstandet 
worden ist; es muß Non tulit heißen. 37 Nunc quoque signorum 
iuvat efficientia gibt ebenfalls keinen Sinn, man muß Hunc 
lesen. Wer also die Herkunft von M aus C leugnet, muß eine 
Herkunft der beiden Überlieferungen aus einer Quelle an- 
nehmen, die auch schon einige falsche Initialen hatte, die an- 
deren wären dann in C hinzugekommen, was nicht sehr wahr- 
Scheinlich ist. | 


Kritisches zu mittellateinischen Texten 798 


Felix Saxonia. 

Wie geringe Sorgfalt W. Diekamp gelegentlich beim Abdruck 
aus Hss. aufwandte, sieht man ebenfalls bei seiner Wiedergabe 
von Feliz Sazonıa aus der Berliner Hs. in der Zs. f. vaterländ. 
Gesch. u. Altertumsk. 44, 1886, S. 79. Wie mir scheint, verdient 
das kleine Gedicht, das zwar oft, aber in den verschiedensten 
Fassungen gedruckt ist, noch eine Behandlung, darum stelle 
ich zusammen, was mir von der Überlieferung bekannt ge- 
worden ist. 


1. B. Die sámtlichen 21 unten wiedergegebenen Verse 
stehen nur in der Hs. Berolin. Theol. quart. 141 s. 15 u. 16, 
f. 123', vgl. Archiv 8, 846f. Daraus sehr unzuverlässig gedruckt 
von Diekamp a. a. O. Die falschen Lesungen notiere ich nicht. 

2. E — Dietrich Engelhus, Chronicon bei Leibniz, SS. rer. 
Brunsv. 2 S. 1066f. Er hat V. 1—11, woran sich V. 21 schließt. 
Vorher aber zitiert Leibniz auf derselben Seite noch V. 14—17, 
es fehlen V. 12—13 und 18—20. 

8. L! — Joh. Letzner, Corbeische Chronica 1590 Kapitel 19. 
Es fehlen V. 17, 18. 

4. L? = Joh. Letzner, Chron. Lodowici Pii 1604f. 51". 
Es fehlen ebenfalls V. 17, 18. 

5. Br = Chr. Brower, Sidera 1616. Schol. in vitam Mein- 
werci S. 105 hat 1—5, 10—11. Ebenso Brower, Scholia in vi- 
tam s. M. recognita ab A. Overham 1681, S. 212. 

6. H. Meibom, Rerum Germanic. Tomi III Bd. 1, 1688, 
S. 789, daraus AASS. Boll. Juni III S. 515 mit einigen Ab- 
weichungen. 

7. S = N.Schaten, Annales Paderbornenses 1, 1693, 110 
und zweite Auflage 1774 S. 73, hat nur V. 1—11. | 

8. Ebenfalls 11 Verse hatte die Fassung, die auf einem ver- 
lorenen Blatt stand, das 1904 in Köln versteigert worden ist, 
vgl. P. Lehmann, Corveyer Studien, München 1919, S. 60. Das 
Blatt war nach dem Auktionskatalog aus dem 12. Jahrhundert, 
das Gedicht ist aber spáter eingetragen, denn die V. 12 genannte 
Chronica Martini ist Martinus Polonus, vgl. AASS. a. a. O., 
Lehmann a. a. O. S. 62. 


Fehz Saxonia, gaude per pignora sacra 
Viti ditata, que dat tibi Francia grata. 


794 K. Strecker: Kritisches zu mittellateinischen Texten 


Abbas Warinus regali semine primus 
Francorum natus Viti venerabile corpus 

6 Transtulit a Francis Corbeiam ceu patet istis. 
Romano fretus ptus imperio Ludowicus 
Hoc, Hildewine, donat te patre favente, 
Quando Dionysii rexisti limina claustri, 
Quo tam praeclaro gaudebas ante patrono. 

10 Eætunc translatum furt a te, Francia, sacram 
Imperium, divi quo nunc gaudent Alamannı. 
Cronica Martini dant hec veteres quoque libri, 
Ez qua re sanctum veneremur carmine Vitum. 
Octingentenus dum vicenusque secundus 

15 Annus erat Christi, claustro fundum dedit isti 
Filius iste pius magni Karoli Ludowicus, 
Uzor Juditta cui votum prestat ad ista, 
Quorum dat natus liciatum rer Ludowicus. 
Quos septenne puer foveas sancta prece semper 

20 Ei benefactores omnesque tibi famulantes. 

Care puer Vite, nos duc ad pascua vite. 


1. Saxonia: Westphalia Br. — gaudet Br. — de pignore Br. — 
sacra BEL'!L?, cara Meib. S, nata Br. 2. dicata Li, dotata Br. 
tibi: sibi Br. 3. stemmate E. — regalis L?. — Primis AS. 5. Trans- 
fert E. — e Meib. LI L? S, a B Br E. — patet: paret Br. — istic 
B E, istis LI L? Meib. S, «n istis Br. (Sidera, nicht ed. Overham). 
6—9 fehlen Br. 6. Lodewicus, Lodovicus, Ludovuicus, Ludu- 
wicus die Hss. und Drucke. 7. Hildewine EL!, Hildewino B, 
Hilduwine Meib. S, Hilduino L?. 8. Dyonisii B, Dionisii L?. — 
texisti S. — lumina LI L?. 9. Quod ... gaudebat AS. 10. futt: 
est Br. sacrum. Meib. LI. 11. Imperium domini de quo gaudent 
A. Br., domini las auch Diekamp, aber es sind 4 Schäfte hinter 
D. Alimam B. — Hinter 11 hat E den Vers Care puer rite duc 
nos ad pascua vitae, vgl. zu 21. 12.13 fehlen E. 14. dum: dm B, 
domini druckt Diekamp. 15. claustrum LI LI. — iste LI Li. 
16. Ludowicus: vgl. zu V. 6. 17. nur in BE. cw B, bene E. 
18. nur in B. 19. Quas L! L?. foveas: fovens Meib., aber foveas 
AASS. 21. Care puer B. E vgl. zu 11. Conserves Meib. LI Li. 
Vite: vitae L? duc nos Meib. LI L? (E), nos duc B. pascua B L 
L? (E), pabula Meib. 


195 


Die Bauernbefreiung und die Ablósung des Ober- 


eigentums — eine Befreiung der Herren? 


Von 


Annmarie Wald. 


Aufklärung, moderne Staatsidee und französische Revo- 
lution sind die geistigen Urheber der Stein-Hardenbergischen 
Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einen wichtigen Be- 
standteil dieses Reformwerkes bildet die sogenannte Bauernbe- 
freiung, wichtig in bezug auf das Ziel, das sie sich steckte, die 
Beweggründe der Beteiligten, Durchführung und Erfolg. 

Das Ziel der Befreiung war die Aufhebung der persónlichen 
Hörigkeit oder Guts-(Erb-) Untertänigkeit, ein Problem des 
öffentlichen Rechts, die Beseitigung der bäuerlichen Leistungs- 
pflichten (Frondienste) und die Verwandlung der ganz verschie- 
denartigen Besitzrechte der Bauern in freies Eigentum samt Ab- 
lösung der auf ihren Gütern ruhenden Reallasten — dies letz- 
teres alles auf dem Gebiete des Privatrechts liegende Aufgaben. 
Hier interessiert ausschließlich die Verbesserung des bäuerlichen 
Besitzrechts oder die Ablósung des gutsherrlichen Obereigen- 
tums. Das Besitzrecht war sehr oft auBerordentlich schlecht. 
Während der Bauer hier und da seinen Hof zu Eigentum, im 
Erbpacht- oder Erbzinsverhältnis besaß, waren die herrschaft- 
lichen Bauern in Preußen meist zu „lassitischem“ Besitz ange- 
siedelt, und zwar in Altvorpommern zu erblichem, in Hinter- 
pommern und OstpreuBen aber zu unerblichem, d. h. ihr Grund- 
stück war ihnen nur zu Kultivierung und Benutzung gegen ge- 
wisse dem Eigentümer vorbehaltene Vorteile eingeräumt; sie 
standen sich kaum besser als die reinen Zeitpächter in Neuvor- 
pommern. Schlechtes Besitzrecht und schwere Fronen gingen 


796 Annmarie Wald 


Hand in Hand, besonders bei der slawischen Bevölkerung des 
Ostens!. 


Die Wissenschaft hat sich mit diesen eigentümlichen Besitz- 
verhältnissen eingehend beschäftigt und für die Scheidung von 
Ober- und Untereigentum zwei Theorien aufgestellt. Die eine An- 
sicht hált nur den Obereigentümer für den wirklichen Eigen- 
tümer, während der báuerliche Untereigentümer nur ein, wenn 
auch ausgedehntes, Nutzungsrecht besitze. Diese Auffassung 
findet ihre Stütze in der Rechtsstellung der Beteiligten: an den 
Herrn fállt vermóge des wahren Eigentums das Gut zurück, 
wenn die Familie des Untereigentümers ausstirbt (Heimfall- 
recht). Auch kann er gewöhnlich vindizieren, wenn das Anwesen 
ohne seine Einwilligung veräußert wird. Der Untereigentümer 
dagegen besitzt das Recht zu ausschließlicher Nutzung, hat aber 
auch alle ordentlichen und außerordentlichen Lasten der Sache 
zu tragen. Diese Rechtssätze werden übrigens zuerst in den Ko- 
difikationen der Aufklärungszeit anerkannt, im bayerischen und 
preußischen (Teil I Titel 18) Landrecht und im Code Napoléon“. 
Die unteren Gerichte stellten sich auf den soeben gekennzeich- 
neten Standpunkt, ebenso zahlreiche, meist ältere Schriftsteller 
wie Vangerow?, Platner“, Gustav Hartmann’, Randa®, Heusler’, 
Huber, Stobbe? und Oertmann!”, ferner das Reichsgericht, das 
die Rechtslage an dem Beispiel des Erbpachtverhältnisses er- 


1 Gg. Fr. Knapp, Art. ,,Bauernbefreiung. I. Die Bauernbefreiung in den öst- 
lichen Provinzen des preußischen Staats“, HWB. St W. 2. Aufl. 1899, Bd. 2, S. 843ff. 

3 Oertmann, Bayerisches Landesprivatrecht in „Das Bürgerliche Recht des 
Deutschen Reiches und PreuBens" von Heinrich Dernburg, Ergünzungsband 1, 
1903, S. 314. 

3 Lehrbuch der Pandekten, 7. Aufl. Bd. 1, 1863, S. 560. 

* Sachenrecht mit besonderer Rücksicht auf das frühere Kurfürstentum Hessen, 
1876, S. 23. 

5 Rechte an eigener Sache. Untersuchungen zur Lehre vom Eigentumsrecht, 
Iherings Jahrb. Bd. 17, S. 81, 1879. 

* Das Eigentumsrecht nach ósterr. Rechte mit Berücksichtigung des gemeinen 
Rechts und der neueren Gesetzbücher, erste Hälfte 1884, S. 17. 

7 Institutionen des deutschen Privatrechts Bd. 1, Systematisches Hdbch. der 
deutschen Rechtswissenschaft 2. Teil, Bd. 2a, 1885, S. 288. | 

3 System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts Bd. 4, 1893, S. 692. 

* Handbuch des deutschen Privatrechts, neu bearbeitet von H. O. Lehmann, 
Bd. 2, Hlbbd. 1, 3. Aufl. 1896, S. 280. 

10 g. o. Note 2, S. 316. 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablósung d. Obereigentums — e. Befreiung d.Herren? 797 


órtert!!, Selbst verständlich haben auch die adeligen Grund- 
herren energisch an dieser Meinung festgehalten: Eine Ver- 
sammlung von Gutsherren begründete ihre einstimmige Ab- 
lehnung der Eigentumsverleihung an die Bauern bezeichnender- 
weise damit, diese sei ein Eingriff in das Privateigentum, denn 
es gehe damit das Recht verloren, „den NieBbraucher wegen 
grober Exzesse zu exmittieren“ 12. Dagegen räumten die andern 
oberen Gerichte und neuere Autoren dem Untereigentümer eine 
einflußreichere Stellung ein. Sein Recht ist nach ihnen kein ein- 
faches dingliches Recht an fremder Sache, sondern ein nutzbares 
Eigentum, eine eigentumsmäßige Herrschaft!?, So Bernatzik'4, 
wohl auch Gerber!5, — Beide Ansichten enthalten einen richtigen 
Kern; die ältere trifft für den Anfang der Entwicklung durchaus 
zu; im Laufe der Zeit aber, unter dem Einfluß individualistischer 
Strómungen, ausgehend von der Wiedererweckung des rómi- 
schen Rechts, erwies sich das Nutzungsverháltnis und die tat- 
sächliche Gewalt als stärker denn das Obereigentum und ist 
schließlich, nachdem es diesem zunächst die Wage gehalten, 
zum vollständigen Eigentum geworden, während das Ober- 
eigentum seinerseits in die Rolle des ius in re aliena zurückge- 
drängt wurde (Reallasten). Im Grund aber läßt sich die wirt- 
schaftliche Seite dieser Besitzverhältnisse durch unsere Theorien 
gar nicht deutlich genug charakterisieren: Während Eigentümer 
und dinglich Berechtigter häufig entgegengesetzte Interessen 
vertreten, decken sich die des Ober- und Untereigentümers nahe- 
zu vollständig!®. Otto Gierke beschreibt diese Interessenver- 
kettung folgendermaßen!”: „Weil das Wesen des germanischen 
Eigens nicht in der abstrakten Beziehung auf eine Person, son- 
dern in der Zusammenfassung aller denkbaren Herrschaftsbe- 
fugnisse zu einem Ganzen lag, dessen Rechtscharakter alle seine 


11 Entscheid. in Zivilsachen Bd. 18 Nr. 52, S. 252ff. (254). 

13 Steffens, Hardenberg und die stándische Opposition 1810/11, Veróff. d. 
Vereins f. Geschichte der Mark Brandenburg, 1907, S. 113. 

13 Vgl. Platner ob. Note 4. | 

14 Kritische Studien über den Begriff der jur. Person und die juristische Per- 
sönlichkeit der Behörden insbesondere, Arch. f. öff. Recht Bd. 5, S. 288f. Anm. 
281, 1890. | Ä 

15 System des deutschen Privatrechts, 17. Aufl. von K. Cosack, 1895, S. 128f. 

16 Bernatzik, s. o. Note 14. 

17 Das deutsche Genossenschaftsrecht Bd. 2, 1873, S. 138. 


798 Annmarie Wald 


einzelnen Bestandteile bestimmen helfen: so fehlte es an dem 
Gegensatz des Eigentums und der Rechte an fremden Sachen. 
Vielmehr schien soweit, als ein Grundstück tatsächlich mehr- 
facher Herrschaft unterworfen sein konnte, dieselbe Sache auch 
rechtlich das gleiche unmittelbare Objekt mehrfacher Befugnisse 
zu sein. Es gab kein Sachenrecht, das andere Sachenrechte aus- 
zuschließen hätte.“ Trotzdem hat die Lehre vom Ober- und 
Untereigentum, abgesehen davon, daß es sich um einen festen 
Sprachgebrauch handelt, einen praktischen Sinn für die Be- 
leuchtung des Rechtsverháltnisses der Beteiligten zum Gut, wie 
sie auch durchaus nicht einem MiBverstándnis der Glossatoren 
entsprang, sondern altdeutsche Volksanschauungen wiedergibt. 
Es bedarf nur nicht der Annahme einer Teilung des Eigentums 
in Proprietäts- und Nutzungsrechte, wie sie seitens der Wissen- 
schaft um das Jahr 1800 erfolgt und spáter mit Recht verworfen 
worden ist. 

Von den Triebkráften, die zu der umwálzenden Erscheinung 
der Bauernbefreiung, dieser Umschichtung eines großen Teils 
der ländlichen Besitzwerte, führten, seien zunächst die aus der 
betriebswirtschaftlichen Sphäre emporsteigenden erwähnt. Wir 
erinnern uns, daß die Bauernbefreiung zeitlich mit dem er- 
wachenden Kapitalismus zusammenfällt; so nimmt auch Som- 
bart!? an, daß vornehmlich die kapitalistischen Interessen die 
Ursachen der Befreiung gewesen sind. Die landwirtschaftliche 
Betriebsweise erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 
einen gewaltigen Aufschwung“: das System der Dreifelder- 
wirtschaft wurde von dem der Koppel- und Schlagwirtschaft 
oder auch einer Art der Wechselwirtschaft abgelöst, der Futter- 
bau eingeführt und dadurch ausgedehntere Viehzucht ermóg- 
licht und vieles mehr. Die verbesserte Technik stieß sich am 
Flurzwang, die Leistungen der Fronbauern wurden im Ver- 
hältnis zu dem Interesse an der Ertragssteigerung mehr und 
mehr unzureichend, also unwirtschaftlich, die bäuerliche Eigen- 
wirtschaft selbst war ungeregelt, denn der Bauer wurde häufig 


18 Vgl. den Ausdruck „onderhave“ im altfriesischen Recht, Heck, Die alt- 
friesische Gerichtsverfassung, 1894, S. 105 Anm. 8. 

19 Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrh. und im Anfang des 20. Jahr- 
hunderts, 6. Aufl., 1923, S. 67. 

% Vgl. die Agrargeschichte. 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 799 


unvorhergesehen von seiner Arbeit abgerufen — kurz die Er- 
kenntnis vom Wert der freien Arbeit gewann immer mehr an 
Boden. Nachdem die Vorteile intensiver Bewirtschaftung er- 
probt worden waren, war man geneigt, die alte Agrarverfassung 
zum Opfer zu bringen und auf den gezwungenen Dienst für den 
Grundherrn zu verzichten. Danebenher ging die Entwicklung 
zum Großgrundbesitz in Ostdeutschland, der den vom Staat ge- 
botenen ,,Bauernschutz" als lästige Fessel empfand“. Als 
das staatliche Befreiungswerk einsetzte, war die alte Gutsver- 
fassung bereits in der Auflösung begriffen; zahlreiche Herr- 
schaften arbeiteten schon mit Tagelóhnern und eigenen Ge- 
spannen; die gesetzliche Abschaffung der Fron beschleunigte 
nur die Entwicklung und bestätigte sie**. Ein wichtiger Faktor 
ist ferner die Zerrüttung des Wohlstandes bei Bauern und Herren 
infolge der langjährigen Kriege, die teilweise das flache Land 
selbst in Mitleidenschaft zogen; sie verlangte gebieterisch eine 
Änderung der bestehenden Verhältnisse, deren Auswirkung 
unten noch zu schildern sein wird. 

Der Gedanke an den Einfluß der Kriegsläufte verweist schon 
auf das lebendige Interesse des Staates selbst am Bauerntum. 
Er mußte seine wachsende Bevölkerung ernähren, er zog die 
Bauern wieder zum Kriegsdienst heran, sein gesteigerter Geld- 
bedarf wurde hauptsächlich vom Bauernstand gedeckt, bis all- 
mählich auch der Adel zur Steuerzahlung verpflichtet wurde. 
Somit hatte die Regierung allen Grund, die Leistungsfähigkeit 
der Bauernstellen zu stärken und der Ausbeutung bäuerlicher 
Wirtschaftskraft durch den Grundherrn entgegenzuarbeiten. 
Sie nahm gewissermaßen eine Doppelstellung ein, indem sie 
einerseits die Bauern gegen völlige Herabdrückung zu schützen, 
andererseits aber auch dem adeligen Grundherrn seine Vor- 
machtstellung zu erhalten suchte. In bezug auf die Staats- oder 
Domänenbauern, d. h. die ländlichen Siedler auf staatlichem 
Grund und Boden, handelte der Staat als Grundherr nicht 
wesentlich anders als die adeligen Privatbesitzer: auch er schritt 
aus denselben in den unhaltbar gewordenen Verhältnissen gründen- 
den Erwägungen zu einer allmählichen Auflockerung und schließ- 

11 Skalweit, Gutsherrschaft und Landarbeiter in Ostdeutschland, Schmollers 


Jahrb. Jg. 35, S. 1353, 1911. 
33 Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 1931, Bd. 1, S. 328. 


800 Annmarie Wald 


lich zur endgültigen Beseitigung des alten Bundes. Die Herren selbst 
widersetzten sich als Anhänger des bestehenden Regimes an sich 
allen Neuerungen, die die leitenden Staatsmänner und ihre in 
der Königsberger Schule und in den Manchesterideen herange- 
bildeten Mitarbeiter planten. Allein die Zeugnisse sind doch 
zahlreich, nach denen gerade auch der Adel die Aufhebung der 
patriarchalischen Zustände auf dem Lande begrüßte, und zwar 
natürlich in seinem eigenen Interesse. Dieses galt zunächst der 
Vermehrung des gutsherrlichen Landbesitzes; ein Motiv war der 
Landhunger?. Der Bauernschutz (Grundsatz: Bauernland muß 
Bauernland bleiben), d. h. der Zwang, die lassitischen Bauern 
nicht zu „legen“, nicht von der Scholle zu vertreiben und dem 
ungewissen Schicksal unter dem stádtischen Armeleutevolk preis- 
zugeben, —vielmehr aufgehende Bauernhófestets mit neuen Land- 
wirten zu besetzen, war den Grundherren ein Dorn im Auge; 
viel lieber hátten sie die betreffenden Stellen zu ihrem Vorwerks- 
land geschlagen, besonders wenn der Krieg den Hof verwüstet 
hatte, und in Eigenbewirtschaftung übernommen. Der Kauf- 
preis dafür in Gestalt der Aufhebung der Erbuntertänigkeit er- 
schien ihnen aus den unten zu erórternden Gründen als nicht 
allzu hoch. Bezeichnend, daB da, wo der Bauernschutz nicht 
durchgeführt war, wie in Ostpreußen, der Widerstand gegen die 
Bauernbefreiung besonders stark gewesen ist**. Diesen Bestre- 
bungen kam der ,,manchesterlich freihändlerische Doktrinaris- 
mus“, wie Schmoller® sich ausdrückt, eines der Reformer, 
Schoens, entgegen: er sah in der Freiheit des Adels, seine 
Bauern zu legen, einen Fortschritt, denn er erwartete davon die 
Beseitigung der deutschen Kleinbauern und ihre teilweise Er- 


33 Vgl. hierzu Gg. Fr. Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Land- 
arbeiter in den älteren Teilen Preußens, 2. Aufl., Bd. 1, Ausgewählte Werke Bd. 2, 
1927, S. 135ff. Im Folgenden wird häufig auf dieses Werk verwiesen, das in bezug 
auf Darstellung und Deutung der sozialpolitischen Verhältnisse der damaligen Zeit 
immer noch unübertroffen dasteht. Auf die Bemängelungen Schmollers, s. u. Note 25, 
S. 646, und Guradzes, s. u. Note 27, kann nicht eingegangen werden, da dies bei 
dem Ausschnitt aus der Fülle des Materials, der hier gegeben wird, nicht erfor- 
derlich ist. 

x Vel. etwa Knapp s. o. Note 23, S. 172f. 

3 Der Kampf des preußischen Königtums um die Erhaltung des Bauernstandes, 
Schmollers Jahrb. Jg. 12, S. 649f, 1888. 

26 Knapp 8. o. Note 23, S. 132. 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums —e. Befreiung d. Herren? 801 


Die Verbindung dieses Gedankens mit dem Interesse der Guts- 
besitzer wirkte sich später denn auch verhängnisvoll genug aus. 
Die Stimme Guradzes?, der wegen des Umstands, daß damals 
noch im deutschen Osten sehr viel unbebautes Land vorhanden 
war, das sich zu Äckern eignete, den Gutsbesitzern das Interesse 
am Verschwinden des Bauernstandes abspricht, scheint mir des- 
halb nicht sonderlich ins Gewicht zu fallen, weil auch er dieses 
Interesse wenigstens für die Fälle zugibt, in denen der Gutsherr 
das Land selbst bewirtschaften wollte; und dies muß sehr häufig 
vorgekommen sein, zumal das làndliche Proletariat bereits in 
der Bildung begriffen war und die nótigen Arbeitskráfte als 
Ersatz für die Fronbauern liefern konnte. Eine Ausnahme 
machte nur Schlesien; dort waren die Güter stark verschuldet, 
Untertänigkeit und Frondienste stellten einen guten Teil ihres 
Wertes dar, Zuwachs an Land galt daher als ‚ein Uebel“ ?. Die 
Grenze für die VergróBerungssucht bildete nur das dem Guts- 
herrn in verhältnismäßig geringem Umfang zur Verfügung ste- 
hende Kapital“. 

Der entscheidende Beweggrund für das Entgegenkommen 
einsichtiger Grundbesitzer in der Frage der Bauernbefreiung 
war aber ihr Wunsch, sich selbst von den Verpflichtungen, die 
ihnen gegenüber ihren abhängigen Bauern oblagen, auch einer 
Art „Wohlfahrtslasten“, zu befreien. Das Treueverhältnis zwi- 
schen Herr und Hintersassen, ein Überrest aus dem mittelalter- 
lichen Recht, hatte die Korrespektivität der beiderseitigen 
Leistungen zur notwendigen Voraussetzung: dem ,,Arbeits- 
zwang“ der Bauern stand der ,,Versorgungszwang'' der Herren 
gegenüber“. Im Anfang hielten sich die wirtschaftlichen Kräfte 

?' Der Bauer in Posen. Beiträge zur Geschichte der rechtlichen und wirtschaft- 
lichen Hebung des Bauernstandes der jetzigen Provinz Posen durch den preuBischen 
Staat von 1772 bis 1805, Zeitschr. d. histor. Gesellschaft f. d. Provinz Posen, hsg. 
v. Rodgero Prümero Jg. 13, S. 275ff., 1898. 

39 Ziekursch, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertus- 
burger Frieden bis zum AbschluB der Bauernbefreiung, Darstellungen und Quellen 
zur schlesischen Geschichte, hsg. v. Verein f. Gesch. Schlesiens Bd. 20, S. 327f., 1915. 

2 Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795—1815), Monogra- 
phien zur Weltgeschichte, hsg. v. Ed. Heyck, Bd. 25, 1913, S. 92, berichtet von einem 
Schriftsteller aus dem Jahr 1812: „Hätten sie nur noch mehr Kapital gehabt, so 
würden sich die größeren Güter schnell zu unfórmlichen Massen gehäuft und die 


achtbare Klasse der kleinen Ackerbürger schon verschlungen haben". 
2 Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit, 1891, S. 59. 


Hist. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 51 


802 Annmarie Wald 


die Wage. Der Gutsherr war der wirtschaftliche Machthaber, 
weil er das Hauptproduktionsmittel der damaligen Zeit, den 
Grund und Boden, kraft seines Obereigentums in Anspruch 
nahm und den Besitz des Bauern nur als gegen Dienst und Zins 
geliehen betrachtete. Es entsprach aber seinen eigenen Zwecken, 
den Untertan im gesicherten GenuB eines so eintráglichen Kapi- 
tals zu sehen, da8 dieser Fron- und Kriegsdienstpflicht erfüllen 
konnte. Dafür übernahm er gern die Fürsorge in Notfällen. 
Diese Wechselwirkung der beiderseitigen Rechte und Pflichten 
war aber allmáhlich aus dem Gleichgewicht gekommen, und 
zwar hatten sich die Pflichten auf der Seite der Herren erhalten, 
wührend ihre Rechte sich fast verflüchtigten. Umgekehrt war 
der wirtschaftliche Wert der Fronden und Zinsen zurückge- 
gangen, während der Bauer nach wie vor auf seiner Stelle saß. 
Wiewohl er als Nutzeigentümer in einem Punkt zum Entgelt für 
das commodum auch das onus zu tragen hatte, nämlich die 
öffentlichen Lasten, die auf seinem Grundstück ruhten, war das 
gestórte Mißverhältnis damit nicht ausgeglichen. Wir haben hier 
ein Beispiel — vgl. die Forschungen Erich Jungs aus Philosophie 
des Eigentums — für die übermáBige Belastung des juristischen 
Eigentums, deren sich der Tráger durch Aufgabe des Rechtes 
selbst zu entledigen sucht, wobei ihm allerdings vielerlei andere 
Bestrebungen zu Hilfe gekommen sind. 


Wie sich die Verhältnisse kurz vor dem Eingreifen der Ge- 
setzgebung zugespitzt hatten, soll nun des näheren dargelegt 
werden. Es wird sich zeigen, daß die Bedeutung des Obereigen- 
tums mit Ausnahme sehr weniger Fälle völlig illusorisch und rein 
ideell war und nur noch die Grundlage für lästige Verbindlich- 
keiten bildete?!, 


Der Gutsherr war zunáchst verpflichtet, seinen Hintersassen 
bei Unglücksfällen Unterstützung zu gewähren®®,. Dies folgt aus 
der mit dem Grundsatz des Bauernschutzes zusammenhängenden 
Verpflichtung des Herrn zur „Konservation der Hufen“ x. Im 


31 Steffens s. o. Note 12, S. 113ff. (aufgrund von Protestationen und Gut- 
achten). 

833 Knapp s. o. Note 23, S. 106f. 

33 Hannssen, Die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Umgestaltung der 
gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse überhaupt in den Herzogtümern Schleswig 
und Holstein, 1861, S. 23f. 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 803 


einzelnen handelte es sich um Aufbau und Reparierung zer- 
stórter Gebáude**, Ersatz der Hofwehr und des Abgangs an 
Vieh, Lieferung von Saat- und Brotgetreide bei schlechter Ernte 
und ebenso von Viehfutter, wenn daran Mangel entstand; auch 
Vorschüsse an Geld waren nicht selten. Konnte der Bauer sich 
auf der Stelle nicht mehr halten, einerlei, ob er durch üble Wirt- 
schaft oder auf andere Weise zurückgekommen war, man konnte 
ihm sein Gut nicht wegverkaufen und ihn selbst nicht verjagen, 
er blieb vielmehr auf dem Hof hangen. Lästig war auch die 
Pflicht, die Bauernhófe überhaupt besetzt zu halten, beziehungs- 
weise die eingegangenen Stellen wieder zu besetzen ; damit waren 
große Kosten verbunden, denn der Gutsherr mußte regelmäßig 
die ganze Bauernwirtschaft mit Gebáuden, Vieh und Acker- 
geräten ausstatten, „oft sogar alle Möbel und Hausgeräte bis 
zum Löffel herab den anziehenden Wirten liefern“ “'; noch kost- 
spieliger waren die Anstrengungen bei der Neuansetzung auf un- 
kultivierten oder verwilderten Böden“. Diese Hilfeleistungen 
steigerten sich naturgemäß in allgemeinen Notzeiten und im 
Kriege. Die kriegerischen Verwicklungen zu Anfang des vorigen 
Jahrhunderts, die vor allem auch das preußische Gebiet heim- 
suchten, hatten sowohl den bäuerlichen wie den gutsherr- 
lichen Wohlstand zerrüttet. Viele Gutsbesitzer waren nicht im- 
stande, die Bauernhöfe ihrer Güter, denen es zum Teil an Ge- 
báuden und in der Regel an Inventar gebrach, wiederaufzu- 
richten?”. Im Jahre 1814 sahen die in den Provinzen beschäf- 
tigten Generalkommissare, die die inzwischen eingeleiteten Re- 
gulierungen betrieben, in den schlimmen Wirkungen des Krieges 
keinen Grund, die Regulierungen zu unterbrechen; fast nirgends 
konnten die Gutsherren den Bauern die verfassungsmäßige Un- 


** Knapp s. o. Note 23, S. 156 (nach Weber, Über den Zustand der Landwirt- 
schaft in den preußischen Staaten und ihre Reformen, 1808). 

æ Guradze s. o. Note 26, S. 275. 

** Übrigens haben die bäuerlichen Wirte das ihnen gesetzlich oder vertrags- 
mäßig zugestandene Recht, in Unglücksfällen oder bei Brandscháden Remissionen 
an Diensten und Abgaben zu fordern, auch durch das Ablósungsgesetz vom 2. 3. 1850 
nicht verloren, vgl. Lette und Rónne, Die Landes-Kultur-Gesetzgebung des Preuß. 
Staates usw. in Ludwig von Rönne, Die Verfassung und Verwaltung des Preuß. 
Staates usw. TI. 7 Abt. 3 Bd. 2 Halbbd. 1, 1853, S. 301. 


3” Schön bei Knapp s. o. Note 26. 
51* 


804 Annmarie Wald 


terstützung leisten*$. Kein Wunder, daß man sich von der Be- 
freiung der Bauern eine Heilung der Zustände versprach und die 
Rettung zu ergreifen suchte, ehe der Bauernstand wieder die 
größten Einbußen erlitt. 

Seit alters besaß der Bauer Anspruch auf den Bezug von 
Bau- und Brennholz aus dem Gutswald. Dazu kamen andere, 
unbedeutendere Waldberechtigungen, wie das Recht auf Raff- 
und Leseholz und auf Waldstreu sowie Hütungsgerechtsame, 
z. B. das häufig vorkommende Recht der Bauern, ihr Vieh in 
den gutsherrlichen Wald zu treiben®®. Der Wald unterlag somit 
gewissermaßen der Mitbenutzung durch die Bauern. Im Mittel- 
alter, bei dem gewaltigen Umfang der herrschaftlichen Forsten 
und dem noch unentwickelten Holzhandel, waren die Berech- 
tigungen für die Waldeigentümer durchaus tragbar gewesen. 
Dies änderte sich, seitdem der Holzreichtum der Wälder als be- 
deutende Einnahmequelle erkannt worden und der Gesamt- 
besitz der Gutsherren im Laufe der Jahrhunderte merklich zu- 
rückgegangen war und trotzdem eine immer teurere Bewirt- 
schaftung nötig machte. Für die württembergischen Verhält- 
nisse ist bezeugt, daß gerade die Holzabgaben unter den guts- 
herrlichen Gegenleistungen die wichtigste Stelle einnahmen, und 
das mag für andere Landstriche und geordnete Zeitläufte eben- 
falls gegolten haben. Diese Bezüge waren für die Bauern von 
grobem Wert, ja — und hier zeigt sich die Untragbarkeit für den 
Herrn — sie überstiegen bei den damaligen Holzpreisen hin und 
wieder den Wert der Grundabgaben“. Trotzdem sicherte das 
preußische Regulierungsedikt vom Jahre 1811 (830) dem Bauern, 
wo es bestand, das Recht zu, Brennmaterial zu eigenem 
Bedarf zu beziehen; dafür sollte er aber die Walddienste weiter 
leisten. Und in Lippe war 1849 in Aussicht genommen, den 
Bauern für die aufgehobenen Holzberechtigungen Forstgrund- 
stücke abzutreten, eine Regelung, die dann aber nicht Gesetz 
wurde“. 

38 Knapp s. o. Note 23, S. 178. 

*9? Knapp s. o. Note 23, S. 193. 

« Werner, Die neuesten Ablösungsgesetze für das Königreich Württemberg 
usw., Handausg. 1. Abt. 1850, S. 71f. 

41 Wilh. Meyer, Guts- und Leibeigentum in Lippe seit Ausgang des Mittel- 
alters. Ein Beitrag zur Geschichte der Grundentlastung und Bauernbefreiung, 
Halle- Wittenberg. Diss. 1896, S. 38. 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 805 


Ferner war der Gutsherr dem Staat gegenüber verpflichtet, 
im Notfall für die Steuerleistungen“ und für die Entrichtung 
anderer Öffentlicher Abgaben seiner Bauern einzutreten®. War 
der Bauer nicht leistungsfähig, so wartete der Fiskus nicht, bis 
er sich wieder erholt hatte, sondern überließ es dem Gutsherrn, 
sich später schadlos zu halten, nachdem er die Steuer vorläufig 
für den Bauer bezahlt hatte. Wie oft mag der Herr da wieder 
zu seinem Gelde gekommen sein?“ In diesen Zusammenhang 
gehórt auch die Verpflichtung des Gutsherrn zur Übernahme der 
Deichlasten für unvermögende Hintersassen$5, Zur Veranschau- 
lichung diene ein Abschnitt aus der Glogauer Kammerverord- 
nung an die Landräte der an der Oder liegenden Kreise vom 
22. Juli 1786**: „Da durch die Durchbrüche der Oder viele 
Grundstücke unwiederbringlich versandet, oder auf andere 
Weise gänzlich ruiniert wären und verschiedene Untertanen 
hierdurch außer Nahrungsstand gesetzt worden, so daß sie die 
auf ihren Gütern haftende Kontribution nicht bezahlen könnten, 
und da in der Folge hieraus zum großen Nachteil der Dominien 
Wüstungen entstehen müßten, deren Retablissement ihnen ob- 
liegen würde ..., so sei kein anderes Mittel übrig, als daß die 
Grundherrschaften dergleichen verunglückte Untertanen durch 
Anweisung von anderem zu Ackerbau und Wiesewachs taug- 
lichem Lande von Dominialgrundstücken im ene e 
zu erhalten suchten 
Die Fürsorgepflicht der Gutsherren ging aber noch viel 
weiter und umfaßte alle die Wohlfahrtseinrichtungen, soweit 
man sie damals schon kannte, die im Lauf der folgenden Jahr- 
zehnte vom Staat übernommen worden sind, z. B. Armen- und 


43 Grundsteuern, soweit das an sich steuerpflichtige Bauernland infolge von 
Besitzverschiebungen noch dazu gehalten war. 

Knapp s. o. Note 23, S. 11. 

“ v. Brünneck über Knapp, Die Bauernbefreiung usw., Conrads Jahrb. f. 
Nationalökonomie u. Stat., N. F. Bd. 16 (ganze Reihe Bd. 50), S. 376f., 1888, 
betont allerdings, diese Verpflichtung sei nur hóchst selten einmal praktisch ge- 
worden; meist habe es sich um zeitweilige Vorschüsse gehandelt, und fast immer 
sei es gelungen, diese wieder beizutreiben. 

4 v. Bülow und Hagemann, Praktische Erörterungen aus allen Teilen der 
Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 2, 2. Aufl., 1807, S. 4. 

** Krug, Geschichte der staatswirtschaftlichen Gesetzgebung im preußischen 
Staate, von den ältesten Zeiten bis zu dem Ausbruch des Krieges von 1806, Bd. 1, 
1808, S. 72f. 


806 Annmarie Wald 


Gesundheitspflege, Schulwesen und Wegebau. Der Gutsherr 
stellte eben den in der Dorfgemeinde zusammengefaßten Dienst- 
leuten gegenüber die „Obrigkeit“ mit allen ihren feudalen Rech- 
ten und mit allen ihren vielfältigen sozialen Pflichten dar. Jene 
durften, soweit sie den Untertan belasteten, nicht willkürlich 
ausgedehnt werden, diese aber steigerten sich in dem Maß, als 
die Fürsorge für die niederen Schichten der Landbevólkerung das 
Gebot der Stunde wurde. Die Folge war, daB die Mittel der mit 
diesen Hilfsmaßnahmen Beschwerten immer unzureichender 
wurden, zumal die Zeitumstände selbst eine Umwälzung der 
Landwirtschaft mit sich brachten. 

Einige Beispiele aus verschiedenen deutschen Landstrichen, 
vornehmlich aus den preußischen Provinzen, sollen die Lage 
noch mehr verdeutlichen. So meldete nach Knapp“ im Jahr 
1808 ein Herr von L. aus Westpreußen, „daß ihm auf seinen 
drei Rittergütern die Bauern durch den Krieg völlig zurück- 
gekommen seien; sie können nicht mehr bestehen, und er kann 
ihnen nicht helfen, denn ihm selbst ist ein Vorwerk nebst sieben 
Bauernhöfen abgebrannt“. — „Herr von W. hat zwei Ritter- 
güter in der Neumark; von seinen Bauern haben vier schon 
während des Krieges ihre Höfe verlassen; die andern zwölf 
Bauern sind so entkräftet, daß unausbleiblich die meisten ihre 
Wirtschaften niederlegen müssen. Jene vier ledigen Höfe hat 
der Gutsherr während der Anwesenheit der französischen Trup- 
pen verschenken wollen, aber niemand wollte diese annehmen 
wegen der großen Lasten und der schlechten Beschaffenheit 
des Landes und der Gebäude. ... Von den noch bestehenden 
zwölf Bauern haben die meisten nur noch ein Pferd, zwei Ochsen 
und eine Kuh oder zwei Pferde und eine Kuh; der Gutsherr 
kann ihnen nicht helfen." — Die pommersche Regierung be- 
richtete 1809%, daß einige Herrschaften nicht imstande waren, 
ihre Hintersassen zu unterstützen, weshalb 500 Wirte ihre Höfe 
verließen. — Besondere Beachtung verdient die Stellung der 
niederschlesischen Dreschgärtner. Diese „sind“ eine eigentüm- 
liche Art von Feldarbeitern, die, weder ganz frei, noch ganz 


*? S. o. Note 23, S. 138f. 

1$ Knapp s. o. Note 23, S. 197f., Anm. 2. 

Bericht des Direktors des Landes-Ükonomie-Kollegiums v. Beckedorff, 1845, 
Knapp s. o. Note 23, S. 216f. 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablósung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 807 


dienstbar, in einem nach den Örtlichkeiten mannigfach modi- 
fizierten Verhältnisse zu der Gutsherrschaft stehen. Häufig ist 
dies Verháltnis für beide Teile — immer aber für die Herrschaft 
und für die Wirtschaftsführung — lästig und hindernd. In 
Hermsdorf (Kr. Waldenburg) gibt es 10 oder 18 solche Dresch- 
gärtner. Jeder besitzt sein eigenes Haus und mehrere Morgen 
Land, wohl bis zu 10 Morgen, wofür ein ganz unbedeutender 
Grundzins an die Herrschaft gezahlt wird. Die ganze Dienst- 
verpflichtung besteht darin, daB er 60 Schock Strohseile zu 
Getreidebünden macht, wogegen er das Recht hat, ... die ganze 
Getreideernte des Guts gegen die zehnte“ Garbe und den ganzen 
Ausdrusch gegen den 19. Scheffel zu besorgen.“ Der Bericht- 
erstatter urteilt über die Beziehung zwischen Gärtner und Herr, 
offenbar sei hier die Grundherrschaft der allein verpflichtete 
und belästigte Teil. Sie ist ihren Dreschern zehntpflichtig und 
„bezahlt ihre Ernte und ihren Ausdrusch mit dem Zehntel alles 
Strohes und mit über 159459! aller gewonnenen Körner“. In- 
folge davon verliert das Gut einen groBen Teil des Strohs; 
jede Verbesserung des landwirtschaftlichen Betriebs, soweit sie 
mit einer Einschränkung des Kórnerbaus verbunden sein würde, 
muß an dem Widerstand der Dreschgärtner scheitern; Meliora- 
tionen und Neubrüche sind wegen der Abgabe des Zehnten er- 
schwert. Die Ablösung war also keineswegs für die „abhängigen“ 
Landleute, sondern im Gegenteil für die Gutsherren ein dringen- 
des Bedürfnis. — Über die Zustände im westfälischen Münster- 
land äußert sich Taine®? zum Vergleich mit den feudalen Ver- 
hältnissen in Frankreich: „Niemals fällt es einem ... ein, zu 
remonstrieren ..., denn wenn der Herr als Familienvater ihn 
schlägt, beschützt er ihn auch als Familienvater, hilft ihm im 
Unglück und pflegt ihn wáhrend einer Krankheit; er gibt ihm 
im Alter eine Zufluchtsstütte ..., versorgt seine Witwe, ist 
mit ihm durch gemeinsame Sympathie verbunden. Der Bauer 
weiß, daß der Herr ihm in allen extremen und unvorhergesehenen 
Notfállen beistehen wird und ist daher weder elend noch un- 
ruhig." — Für Württemberg ist eine starke Parzellierung des 


% Anderwärts 13. 

& ? port 

53 Die Entstehung des modernen Frankreich, deutsch von L. Katscher, Bd. 1: 
Das vorrevolutionäre Frankreich, 2. Aufl. (1907/08), S. 77f. 


808 Annmarie Wald 


Bauernlandes charakteristisch. Die Einnahmen der Gutsherren 
setzten sich daher großenteils aus winzigen Beträgen zusammen; 
deren Einziehung kostete Zeit und Mühe und erforderte eine 
verhältnismäßig große Zahl von Verwaltungsbeamten, abgesehen 
davon, daß sie vielfach gar nicht durchgeführt werden konnte“. 
— Aus Schleswig-Holstein, das damals noch zu Dänemark 
gehörte, sei das Beispiel von Rütschau5* herangezogen: dieses 
Gut ging 1777 in den Besitz eines gewissen Schalburg über; 
vorher war es mit zwei dazugehórenden Dórfern und deren 
Diensten für 2900 Rthl. holstein. Kurant®® verpachtet gewesen. 
Von dieser geringen Summe gingen auBer der Kontribution 
von 288 Rthl. die Unterhaltungskosten für die Hof- und Dorf- 
gebäude und die häufig erforderlichen Unterstützungen der 
Leibeigenen mit Saat- und Brotkorn, Vieh usw. ab, so daß in 
manchen Jahren die Ausgaben durch die Pachteinnahmen 
nicht einmal gedeckt wurden®®. Diese Beispiele zeigen zur Ge- 
nüge, daß die Verpflichtungen der Gutsherren gegenüber ihren 
Hintersassen keineswegs „ mehr dem Gebiet der Moral als des 
Rechts angehören“ 7, sondern einen greifbaren Inhalt hatten. 

Fast ein Kuriosum ist es, daB auch beim reinen Zeitpacht- 
verháltnis der gutsherrliche Volleigentümer gegenüber dem 
bäuerlichen Pächter den kürzeren zog. Wegen der großen 
Lasten, die auf den Äckern ruhten, meldeten sich bei Neu- 
verpachtungen nie vermögliche Leute; der Gutsherr erzielte 
also keine nennenswerten Einnahmen. Im Interesse der Landes- 
kultur wurde von Regierungsseite beschlossen®®, auch die Pacht- 
bauern zu Eigentümern zu machen, also den Gutsherren ihr 

Theodor Knapp, Neue Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des 
württ. Bauernstandes Bd. 1, 1919, S. 154. 

5* Holstein; Hannssen s. o. Note 33, S. 809. 

55 — 3480 Rthl. preuß. Kurant. 

5 Daß die Verhältnisse in Frankreich ähnlich lagen, zeigt Cauwés und Gide, 
Die Bauernbefreiung in Frankreich, HWBStW. Bd. 2, 2. Aufl. 1899, S. 382. Über die 
irischen Zustánde (Belastung der Landlords durch die 1881 von Gladstone verwirk- 
lichten „drei F“ der Pächter und Abbau der Pachtbeziehungen durch staatliche 
Hilfsmittel) vgl. z. B. Kantorowicz, Der Geist der englischen Politik und das Ge- 
spenst der Einkreisung Deutschlands, 1929, S. 247. 

7 Art. „Gutsherrlich-bäuerliche Regulierungen“, HWB. der preuß. Verwaltung, 
hsg. von v. Bitter Bd. 1, 1906, S. 756. 

9 Kriegsrat Scharnweber über den Entwurf zum Regulierungsedikt von 1811 
in der Versammlung der Nationalreprüsentanten, Knapp s. o. N. 23, S. 1671. 


Die Bauernbefreiung u. d, Ablósung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 809 


Land wegzunehmen, während diese doch grundsätzlich den 
obligatorischen Vertrag hátten auflósen kónnen. Hereinspielt, 
und zwar entscheidend, daB der Gutsherr auch nach Ablauf 
der sechs- oder zwölfjährigen Pachtzeit über die Stellen nicht 
frei verfügen durfte, sondern gezwungen war, sie stets besetzt 
und in ihrer bisherigen Verfassung zu erhalten. Durch Zu- 
billigung einer Entschädigung an die Eigentümer in Gestalt 
der Hälfte des bisherigen Bauernlandes zu freier Verfügung 
wurden die Betroffenen, zumal diese Regelung ihren Landhunger 
zu stillen geeignet schien, willfáhrig gestimmt. 

Lediglich um das Bild der sozialpolitischen Zustände zu 
vervollständigen, sei auch auf das Spannungsverhältnis zwischen 
dem preußischen Staat und seinen eigenen Bauern kurz hin- 
gewiesen. Hier lagen die Dinge ganz ähnlich wie zwischen Guts- 
herren und Privatbauern. Die Domänenkammern als Verwal- 
tungsbehörden versprachen sich durch den Wegfall von Unter- 
stützungen (Kriegsschäden!) und den Verzicht der Bauern auf 
Waldberechtigungen®? Ersparnisse, beziehungsweise eine Wert- 
steigerung des staatlichen Grundbesitzes — im ganzen also ein 
einigermaßen vorteilhaftes Geschäft auch für den Staat! Da 
es sich hier aber nicht um eine übermäßige Belastung privaten 
Eigentums handelt, sondern gewissermaßen um ein staatliches 
Hilfsunternehmen zugunsten eines Standes auf der Grundlage 
des Gemeineigentums, erübrigt sich die eingehende Darstellung. 

Dem Verantwortungsgefühl des Herrn, dem Bewußtsein, 
der Vormund der Bauern zu sein, und der patriarchalisch-päda- 
gogischen Behandlung der Hintersassen entsprach auf der 
anderen Seite nicht Diensteifer und Strebsamkeit. Im Gegen- 
teil, der fortwährende Rückhalt am Herrn machte den Bauer 
unselbständig und nahm ihm den Antrieb zu eigener Verant- 
wortung“; sein Erwerbsstreben wurde durch die sichere Aus- 
sicht auf die gutsherrliche Unterstützung mehr gelähmt als be- 
flügelt; es fehlte am Anreiz zur Verbesserung des Besitzes, denn 

Diese spielten die Hauptrolle: die Bauern sollten ihre Holzbenefizien auf- 
geben und fortan das Bauholz nach der Forsttaxe bezahlen (Wert des Freiholzes 
1808 für den 12jährigen Durchschnitt im Königsberger Kammerdepartement 
14800 Taler, im Gumbinnenschen 27000 Taler, vgl. Theodor Knapp, Gesammelte 
Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte vornehmlich des deutschen Bauern- 
standes, 1902). 

** Knapp s. o. Note 23, S. 106. 


810 Annmarie Wald 


dieser ist nur von einem gesicherten und schlechthin vererblichen 
Recht zu erwarten; die Dienstleistungen wurden daher wider- 
willig und lássig und ohne viel Sorge für das Interesse des Herrn 
vollzogen?!, Daraus erklärt sich auch die, wenigstens teilweise, 
Gegnerschaft der Bauern selbst gegen das Reformwerk. Wáhrend 
die Kräftigeren unter ihnen die persönliche Freiheit und den 
freien Besitz eines Stück Landes als erstrebenswertes Gut an- 
sahen, wollten die Schwácheren und Schwerfälligen an dem 
alten Zustand festhalten. Entweder war ihnen das Einkaufsgeld 
trotz niedrigster Bemessung zu hoch®®, oder sie mochten auf die 
gutsherrlichen Gegenleistungen, die ihnen ein festes Brot, eine 
ordentliche Wohnstätte und umfassenden Schutz, kurz eine 
„Versorgung“ boten, nicht verzichten. Lieber erblicher Laß- 
besitz mit allen seinen Vorteilen, dachten sie, als freies Eigentum 
und eine ungewisse Zukunft, die sie womöglich dem Proletarier- 
dasein auslieferte. 

All dies wurde von den Gutsbesitzern in Rechnung gezogen, 
und „viele begriffen‘‘, wie Ritter in der großen Stein-Biographie 
sich ausdrückt®, ‚daß die Fronarbeit nur scheinbar billig, in 
Wahrheit unverhältnismäßig teuer bezahlt wurde: mit der Für- 
sorgepflicht des Herren für seinen Untertan, der Haus, Hof, 
Herde und Ackergerät aus stumpfer Gleichgültigkeit verkommen 
ließ, alle Jahre Ersatz seines Inventars brauchte und nach jeder 
MiBernte oder Viehseuche dem Gutsherrn mit Schulden, Steuer- 
rückständen und anderen Nöten zur Last fiel“. Sie bequemten 
sich, wenn auch ungern von ihrem konservativen Standpunkt 
lassend, den Reformgedanken sich zu eigen zu machen, und der 
Erfolg gab ihnen recht. Ganz abgesehen davon, daß mit jeder 
Etappe des staatlichen Gesetzgebungswerks® die einschlägigen 
Bestimmungen immer mehr zugunsten der Gutsherren ausfielen 
(vor allem bezüglich der Ersatzleistungen der Bauern), die spä- 
teren Jahrzehnte brachten für den Gutsbetrieb den erhofften 
Aufschwung in vollem Maße. Das pessimistische Urteil v. d. Mar- 
witz’®, die Auseinandersetzung mit den Hintersassen sei zwar 

1 Klagen über schlechten Zustand des Ackergeráts und der Zugtiere, Gut- 
mann, Art. „Bauernbefreiung“, HWBStW. Bd. 2, 4. Aufl. 1924, S. 385. 

€ Knapp s. o. Note 23, S. 106. 

€ S, o. Note 22, S. 321. 


“ Edikte vom 9. 10. 1807, 14. 11. 1811, Deklaration vom 29. 5. 1816. 
Aus dem Nachlasse Bd. 1 Lebensbeschreibung TI. 2 „Hausbuch“, 1852, S. 451. 


pw 


Die Bauernbefreiung u. d. Ablösung d. Obereigentums — e. Befreiung d. Herren? 811 


im allgemeinen für vermógliche Grundherren vorteilhaft ge- 
wesen, aber es gebe eben selten „Vermögen, und die kleinen 
Bauern machten sämtlich Bankerott ...', traf vielleicht ver- 
einzelt zu. So war man im Jahr 183999 in Schlesien enttäuscht, 
daß die Erfolge hinter den Erwartungen zurückgeblieben waren, 
suchte die Ursache aber in den besonderen Verhältnissen der 
Provinz und den niedrigen Preisen für landwirtschaftliche Er- 
zeugnisse. Im ganzen hatten aber doch die Gutsherren ihren 
Grundbesitz betráchtlich vergróBert, teils durch die Landentschá- 
digungen der Bauern“, teils durch freihändigen Erwerb von 
Bauernstellen, teils auch durch Einziehung solcher, die keinen 
gesetzlichen Schutz genossen; ihnen standen ferner die not- 
wendigen Arbeitskräfte zur Verfügung, die einen modernen Be- 
trieb zu heben vermógen. Hier und da haben auch vielleicht 
die Ablósungssummen zur Verbesserung der Wirtschaft nen- 
nenswert beigetragen. Technische Reformen, Feldbereinigung, 
gewerbliche Anlagen und nicht zuletzt die Gunst der Zeit für 
die Ausdehnung der Landwirtschaft trugen schlieBlich noch 
dazu bei, die Stellung der Gutsbesitzer zu kräftigen. Die Bauern- 
befreiung kann daher ebenso eine Befreiung der Grund- und 
Gutsherren® von ihren ,,hochberechtigten''*? bäuerlichen Arbeits- 
kräften genannt werden. Eine rückläufige Bewegung durch- 
leben wir heute: Der Großgrundbesitz war an der Grenze seiner 
Leistungsfáhigkeit angelangt. Die Weltagrarkrise und die spezi- 
fischen deutschen Verhältnisse erschütterten seine Rentabilität. 
Die Pläne für eine ausgedehnte Ostsiedlung versuchen nun im 
Verfolg einer bewußten Bevölkerungspolitik und einer Tendenz 
zum Anbau veredelter Erzeugnisse das Werk der Bauern- 
befreiung fortzusetzen, bedeuten aber nach ihren Motiven keine 
Befreiung, sondern eine Verdrängung der letzten Grundherren 
alten Stils. 


* Anonymus, Einige Bemerkungen über die Entwicklung der ländlichen Ver- 
hältnisse im preußischen Staate usw., Zeitschr. f. gutsherrlich-bäuerliche Verhält- 
nisse usw. Bd. 1, 1839, S. 5. 

7 Hierdurch erhielten die Herren ein Drittel bis die Hälfte der regulierten 
Stellen als freies Eigentum, Bornhak, Die Bauernbefreiung und die Gutsherrlichkeit 
in PreuBen, PreuB. Jahrb. Bd. 61, S. 284, 1888. 

Fuchs, Art. „Agrargeschichte“, WB. der Volkswirtschaft, 3. Aufl. 1911, S. 36. 

% Knapp s. o. Note 1 am Ende. 


812 


Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher 
Erkenntnis im Gebiet der neuesten Zeit. 


Dargestellt an der Monarchenzusammenkunft zu Racconigi, 
24. Oktober 1909. 


Von 


Hugo Preller. 


Die Frage lautet: Ist eine historisch-methodische Schulung 
zu Forschung und Darstellung, wie wir sie auf dem Gebiete der 
mittelalterlichen und neueren Geschichte an unseren Universi- 
táten gewóhnt sind, auch auf dem Gebiete der neuesten Zeit 
móglich? Die Frage hat ihren Grund in der Tradition, welche 
die Schulung der jungen Historiker an den Stoffen des sogen. 
Mittelalters oder auch des Altertums als das Übliche und sachlich 
allein Berechtigte erscheinen läßt mit Rücksicht auf die Be- 
schaffenheit des hierfür zur Verfügung stehenden Materials. 
Hinzu kommen Erwägungen über den „geschichtlichen Ab- 
stand'" als psychologische Voraussetzung geschichtlicher Er- 
kenntnisse; ferner das verehrungswürdige Beispiel des Altmeisters 
Ranke, der, ein keineswegs teilnahmsloser Zeitgenosse der kon- 
servativ-liberalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts 
(,,Historisch-politische Zeitschrift“ 1832—36), den Gegenstand 
seiner historischen Erkenntnis wenn auch keineswegs ausschlieB- 
lich, so doch ,,vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert'' wáhlte; 
endlich die Gepflogenheit der Archive, kein Aktenmaterial frei- 
zugeben unter einem Alter von wenigstens 80 Jahren. Alles das 
hatte in derselben Richtung gewirkt, und besonders Rankes 
historisches Seminar wurde der Ausgangspunkt jener Anschau- 
ung, daß historisch-methodische Schulung an den Stoffen des 
Mittelalters zu gewinnen sei. 

Wenn während der letzten zwei Jahrzehnte hierin ein tief- 
greifender Wandel unverkennbar eingetreten ist, so aus folgenden 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 813 


Erfahrungen. Jeder, der zunächst Fühlung mit geschichtlichen 
Stoffen aus den letzten Jahrzehnten zu gewinnen wünscht, greift 
zu „Schultheß’ Europäischem Geschichtskalender', beginnend 
mit 1860, oder zu „Wippermanns Deutschem Geschichtskalen- 
der“ ab 1885. Er benutzt sie als ,, Quelle“. Aber woher haben hier 
die einzelnen Jahrgänge ihren Stoff? Und so entsteht die Frage 
nach der Zeitung als Quelle geschichtlicher Erkenntnis, eine 
Frage, die darum von so grundsätzlicher Bedeutung ist, weil 
hier aller „historischer Abstand“ fehlt. Unter Hinweis auf Wilh. 
Mommsens Abhandlung! über „Die Zeitung als historische 
Quelle“ sei gleich bemerkt, daB gerade der Fall Racconigi zu 
der Frage nach mehr als einer Seite instruktives Material bietet. 
Auf alle Fälle ist die Zeitung die Form, in der das Publikum — 
und dazu gehört auch der Zeithistoriker — in all den Fällen 
„Geschichte“ erlebt, wo es nicht mit Augen und Ohren dabei 
sein kann. Wir werden sehen, wie das Tagesereignis sodann 
durch die Stufe der vorsichtigen Publizistik geht, um von da 
aus als bedeutend genug zur Einarbeitung in größere Zusammen- 
hánge erkannt zu werden; und wie es im weiteren Erkenntnis- 
prozeB in Biographien über die beteiligten Mánner, in Lebens- 
erinnerungen dieser Männer selbst auftaucht, um schließlich, 
in unserem Falle bei einem Zeitabstand von nur 12 Jahren, die 
erste aktenmäßige Bestrahlung zu erfahren. 


I. Am 25./26. Oktober erfuhr die Öffentlichkeit aus der 
Tagespresse folgendes: Zar Nikolaus II. von Rußland hat dem 
König Viktor Emanuel III. von Italien in dessen Schloß Rac- 
conigi südlich von Turin einen Besuch abgestattet. Um dorthin 
zu gelangen, ist er von seinem Schloß Livadia (Südspitze der 
Krim) zu Schiff nach Odessa gefahren, von dort aber per Bahn 
über Posen, Frankfurt a. M., Straßburg, Lyon, Modane und 
Bardonnecchia gereist. Ankunft Sonnabend, 23. Oktober, nach- 
mittags 2 Uhr 37 Min.; Abreise Montag, den 25., 3 Uhr nach- 
mittags. Beide Monarchen waren von ihren Außenministern be- 
gleitet. Auch die bei dem Galadiner gehaltenen Trinksprüche 
wurden dem Publikum mitgeteilt. Dies der erste nackte Tat- 
bestand. 


1 Archiv f. Pol. u. Gesch. 1926, S. 244ff. 


814 Hugo Preller 


In dem politischen Teil der Trinksprüche? betonte der 
König ,,die Bekräftigung der aufrichtigen Freundschaft und der 
Übereinstimmung der Ziele, die Unsere Häuser, Unsere Re- 
gierungen und Unsere Lànder verbindet, die Gemeinsamkeit der 
Interessen“ und „das feste Vertrauen, mit Eurer Majestät zu- 
sammenwirken zu können, um unsern Völkern diese Wohltat 
(nämlich der ‚Erhaltung des Friedens‘) zu sichern‘. Ent- 
sprechend unterstrich der Zar ‚die aufrichtige Freundschaft und 
die Gemeinsamkeit der Ansichten und Interessen, die Unsere 
Häuser, Unsere Regierungen und Unsere Länder verbinden‘ 
und sprach weiter von dem ,,festen Vertrauen, daß Unsere Re- 
gierungen zielbewußt vorgehen werden, um diese Sympathien 
(zwischen Unsern beiden Vólkern) zu pflegen, und daB sie durch 
beharrliches und vertrauensvolles Zusammenarbeiten nicht nur 
an der Annäherung zwischen Italien und Rußland, die so ganz 
den beiderseitigen Interessen der beiden Länder entspricht, 
sondern auch an dem Werke des allgemeinen Friedens mit- 
wirken werden“. 

Diese Töne konnten denjenigen, der damals die Entwick- 
lung der italienisch-russischen Verhältnisse mit In- 
teresse verfolgt hatte, nicht überraschen. Aus der Tages- 
presse war bereits folgendes bekannt: Tittoni, seit 29. 5. 1906 
zum zweiten Male italienischer Außenminister, hatte schon am 
11. März des Vorjahres 1908 in öffentlicher Kammerverhandlung 
betont?, die Beziehungen zu Rußland seien immer gut gewesen 
„und gegenwärtig ausgezeichnet geworden‘ und hatte bald 
danach in der offiziellen ‚Tribuna‘ der Öffentlichkeit mitteilen 
lassen, daß zwischen dem in der Kammer vorgetragenen Bal- 
kanprogramm der italienischen Regierung und einem russischen 
Rundschreiben bezüglich der Balkanfrage „Übereinstimmung 
herrsche“. Ferner hatte nach einer Zusammenkunft des rus- 
sischen Außenministers Iswolski mit Tittoni in Desio (29/30. 
Sept. 1908) die „Agenzia Stefani“ für die Öffentlichkeit den Schluß 
gezogen, „daß die Beziehungen zwischen Italien und Rußland 
intimer sind, als seit langer Zeit‘‘. Endlich hatte in der Kammer- 
rede vom 4. Dezember Tittoni mitgeteilt: „Ich habe mich be- 
müht, Rußland und Italien in nähere Beziehung zu bringen, 


2 Jetzt bei SchultheB 1909, S. 529; Wippermann 1909, S. 152. 210f. 
* SchultheB 1908, S. 351. 353. 368. 363f. 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 815 


und die Annäherung Italiens und Rußlands ist heute eine voll- 
endete Tatsache.“ Dann hatte er Italiens Stellung im europäi- 
schen Bündnissystem mit den Worten umschrieben: „Das 
Bündnis mit Deutschland und Ósterreich-Ungarn, dem wir treu 
bleiben, darf kein Hindernis sein für unsere traditionelle Freund- 
schaft mit England, für unsere erneuerte Freundschaft mit 
Frankreich und für unsere jüngste Verständigung mit Ruß- 
land.“ 


Entsprechend hatte Iswols ki, seit 12. Mai 1906 Außen- 
minister des Zaren, am 17. April 1908 in der Duma erklärt“, in 
der Frage der makedonischen Reformen (s. u.) habe Osterreich- 
Ungarn keine Einwendungen erhoben, auch Deutschland habe 
seine Zustimmung erklärt; „besonderes Entgegenkommen habe 
Rußland bei Frankreich gefunden, mit dem es sich in vollster 
Harmonie und herzlichen alliierten Beziehungen befinde; in 
ganz kategorischer Form habe sich Italien angeschlossen“. Nach 
der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich- 
Ungarn und nach der gleichzeitigen Unabhängigkeitserklärung 
Bulgariens (Oktober 1908) sprach Iswolski in der Duma (25. 
Dezember) von der ‚jüngsten Annäherung Rußlands und 
Italiens" als der „natürlichen Folge gemeinsamer Interessen 
beider Länder an der Wahrung des territorialen Status quo auf 
dem Balkan und der politischen und ökonomischen Unabhängig- 
keit der Balkanstaaten‘‘. Er messe der Annäherung an Italien 
großen Wert bei und sei überzeugt, sie werde eine friedliche und 
gerechte Lösung der auf der Tagesordnung stehenden wichtigen 
Fragen wesentlich fördern‘‘. Hinsichtlich der durch die bosnische 
Annexion entstandenen Krise betonte Iswolski, Rußland habe 
hier von Anfang an „nicht nur mit Frankreich, sondern auch 
mit England und Italien im Einverständnis gehandelt“. 


Was konnte also der damalige Historiker hinsichtlich 
des Sinnes der Zusammenkunft von Racconigi unzweifelhaft er- 
kennen? 1. Daß es sich nicht nur um die reichlich späte Er- 
widerung des Antrittsbesuches gehandelt hat, den Viktor 
Emanuel III. 1902 in St. Petersburg abgestattet hatte; schon 
die Gegenwart der beiderseitigen Außenminister unterstrich den 
hochpolitischen Charakter der Zusammenkunft. 2. Daß die in 


* Schultheß 1908, S. 388. 404. 


816 Hugo Preller 


den Trinksprüchen einmütig betonte Gleichheit der Interessen- 
richtung, obwohl von einem bestimmten Objekt in beiden Reden 
nicht gesprochen war, sich auf die schwebenden Balkanfragen 
bezog. Dazu kam die eigenartige Reiselinie des Zaren, die offen- 
kundig die ósterreichisch-ungarische Monarchie umging; es war 
also 3. mit unzweifelhafter Sicherheit schon damals zu erkennen, 
daB die Reise zu werten sei als eine russisch-italienische Kund- 
gebung über die beiderseitige Einigkeit in Balkanfragen im 
Gegensatz zum Habsburgerreich, das soeben einen großen 
Schritt nach dem Balkan hin getan hatte. — 


II. Die Monarchenzusammenkunft von Racconigi hat die 
Presse so auffallend lebhaft und lange beschäftigt, daß die 
Behandlung des Ereignisses in der Presse Gegenstand einer be- 
sonderen Arbeit sein müßte. Da aber die dann in Büchern ein- 
setzende Publizistik (s. u.) in erster Linie auf den Presseerör- 
terungen aufbaut, so mag hier wenigstens einiges von dem 
gesagt werden, was wir darüber in den späteren Aktenveröffent- 
lichungen finden. Das ist methodisch unbedenklich, da ja die 
in den Akten erwähnten Erörterungen doch schon damals sich 
an aller Öffentlichkeit abspielten und also auch dem etwa sam- 
melnden Historiker zur Verwertung zugänglich waren. 

Zunächst brachte am 25. Oktober die „Agenzia Stefani“ ein 
amtliches Kommuniqué5, aus dem die Welt erfuhr, daß 
unter den von den beiden Außenministern besprochenen Fragen 
„besonders die Balkanfragen“ erörtert seien; „es wurde fest- 
gestellt, daß Italien und Rußland das gleiche Ziel verfolgen, 
nämlich die Erhaltung des politischen Status quo in der Türkei 
sowie die Unabhängigkeit und die normale friedliche Entwick- 
lung der Balkanstaaten“. Es war also schon am Tage nach der 
Zusammenkunft allgemein aus dem Inhalt der Verhandlungen 
bekannt, daß und in welcher Linie ein Einvernehmen zwischen 
den beiden Staaten über die akuten Balkanfragen abgeschlossen 
war. 

Die italienische Presse begrüßte „mit seltener Ein- 
mütigkeit" die Zusammenkunft als Zeichen willkommener An- 
näherung®. Selbst der sozialdemokratische „Avanti“ prophezeite 


5 Jetzt abgedruckt im Gr. Pol. Bd. 27, 1, S. 407. 
* Chlumecky S. 152 vom 26. Okt., veröffentlicht am 1. November. 


Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 817 


eine Loslösung Italiens vom Dreibunde?, und der Republikaner 
Barzilai prägte die Worte, der Ruf „ Nieder mit dem Zar!“ käme 
dem Ruf „Hoch Habsburg!“ gleich, und darum müsse er ver- 
stummen?*. Die ,| Tribuna" teilte mit, „daß unter anderem die 
innere Lage in Serbien, Albanien und Griechenland Gegenstand 
des Gedankenaustausches gebildet hat““. Die unabhängige 
Presse sah in dem bekundeten Einvernehmen ein weiteres Glied 
in der ,,Kette der diplomatischen Versicherungen und Rückver- 
sicherungen‘‘, eine Ergänzung der Tripelallianz mit dem Ziel, 
Italien gegen Österreichs Übergriffe im Orient zu decken. „Die 
offiziöse Presse dagegen fährt fort zu betonen, daß der Dreibund 
durch die Ereignisse von Racconigi keine Beeinträchtigung er- 
fahren und die letzten Tage nichts Neues gebracht haben, als 
höchstens eine Freundschaft mehr unter den Völkern Europas, 
einen weiteren Kitt des allgemeinen Friedens“ ““. 


Auch die russische Presse knüpfte an die Begegnung 
vielfach „übertriebene Schlußfolgerungen‘‘; so vor allem die 
„Nowoje Wremja“. Sie benutzte schon am 25. Oktober „immer 
wieder“ die Monarchenzusammenkunft „zu Angriffen gegen den 
Dreibund‘‘: Italien begreife, daß mit dem Dreibund keine Ge- 
scháfte mehr zu machen seien; Italiens erhöhte Rüstungen seien 
bestimmt, dem Staate „bei der bevorstehenden Neugruppierung 
der Mächte die freie Entschliebung über seine Bündnisbe- 
ziehungen zu sichern“; es sei zu hoffen, daß die kombinierte 
Kraft Rußlands, Italiens und Frankreichs „in naher Zukunft 
das Zentrum durchbrechen“ werde. Von Racconigi dürfe man 
„ein Balkanbündnis zwischen den slawischen Staaten und der 
Türkei und den Anschluß Italiens an die Tripelentente er- 
warten, 

Mit der russischen war die französische Presse in der 
dreibundfeindlichen Ausdeutung der Monarchenzusammenkunft 
einig! Aus ihr erfuhr man zunächst, daß der Zar, obwohl er 
inkognito reisen wollte, schon auf der Hinfahrt an der fran- 


7 Gr. Pol. a. a. O. S. 404. 

5 Chlumecky S. 152. 

* Gr. Pol. S. 407. 

19 Daselbst S. 409. 

n Daselbst S. 413. 404; Schiemann S. 356. 371f. 
12 Gr. Pol. S. 403 Abs. 2. 6. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 52 


818 Hugo Preller 


zösischen Grenze von Vertretern des französischen Staats- 
präsidenten begrüßt und bis Belfort geleitet worden war!, und 
daB unmittelbar nach Racconigi während der Rückfahrt der 
Zar und Iswolski im Zuge mit dem französischen Außenminister 
konferierten!& Das „Echo de Paris" nannte unumwunden als 
Hauptthema der Monarchen- und Ministerbesprechungen die 
Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan!5. Das 
„Journal des Débats“ berichtete: „Herr Iswolski soll einen Ge- 
danken aufgenommen haben, der ihm lieb ist, nämlich eine 
Balkanfóderation zu konstruieren, in die auch die verjüngte 
Türkei und selbst Griechenland eintreten könnten!®.‘‘ Auch sei 
die in Racconigi besiegelte italienisch-russische Entente sofort 
Frankreich und England mitgeteilt und in London wie in Paris 
durchaus gebilligt worden; es bestehe also eine Quadrupel- 
entente. 

Wie in Italien, so war schon für den damaligen Beobachter 
auch in der russischen, ósterreichischen, deutschen Presse ein 
deutlicher Unterschied zu verfolgen zwischen der ausschwei- 
fenden Tonart der unabhängigen Presse und einer auf Be- 
ruhigung eingestellten Haltung der regierungsseitig beein- 
flußten Presse", 


III. Konnte, so lautet die Frage, der damals nach dem Tat- 
sáchlichen suchende historisch interessierte Mensch aus der 
Presse über den Inhalt der in Racconigi gepflogenen Besprechun- 
gen mehr erfahren als aus den offiziellen Verlautbarungen 
(Trinksprüchen und Kommuniqué)? Statt aller Theorien zwei 
Beispiele aus der Publizistik jener Tage. 

Theod. Schiemann notierte schon am 27. Oktober in 
seinen die Tagesereignisse begleitenden Betrachtungen, die dann 
jährlich unter dem Titel „Deutschland und die Große Politik" 
erschienen: „Wir wissen von italienischer wie von russischer 
Seite, daB keinerlei gegen die Stipulationen des Dreibundes 
gerichtete Unternehmungen in Racconigi Boden finden kónnen 
und enthalten uns deshalb jeder Besprechung der nicht be- 

12 Schulth. 1909 8. 573. 

M Gr. Pol. S. 404. 

15 Daselbst S. 404 Abs. 5. 


16 Schiemann, S. 370f. 
Y Gr. Pol. 413. 414 („die verstündige Presse“), Chlum. S. 153. 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 819 


glaubigten Nachrichten über das politische Resultat der Zu- 
sammenkunft, die durch die Presse gehen!5." Mit anderen Wor- 
ten, Schiemann, Professor in Berlin und in persónlicher Fühlung 
mit dem Auswärtigen Amt, lehnt alle Andeutungen der Presse 
als „unbeglaubigt‘‘ ab; für ihn ist maßgebend, was amtlich „von 
italienischer wie von russischer Seite‘‘ vorliegt und was wir 
unten kennen und unter die Lupe nehmen werden. Diesen 
Standpunkt hat er auch noch festgehalten, als er acht Tage 
später notiert: „Die Erörterungen über die Zusammenkunft in 
Racconigi dauern immer noch fort und nehmen je länger desto 
mehr einen Charakter an, der eine Entgegnung notwendig 
macht.“ Er bespricht dann mit überlegener Ironie einen russi- 
schen und einen englischen Zeitungsartikel und schreibt in der 
Entgegnung: „Was in Racconigi an geheimen Abmachungen 
stattgefunden hat und ob überhaupt es solche gegeben hat, 
wissen wir ebensowenig wie Herr Wesselitzky (russischer Korre- 
spondent der ,,Nowoje Wremja'' in London mit sehr guten Be- 
ziehungen zu amtlichen Kreisen) und die Redaktion der ,,No- 
woje Wremja''. Wir sehen hier ganz deutlich in den Erkenntnis- 
prozeß hinein, freilich auch in seine damaligen Bedingtheiten. 
Auf Grund der Presseerórterungen taucht der Gedanke an 
„geheime Abmachungen‘ auf; aber er wird, weil er aus der 
Presse stammt, nicht aus amtlichen Äußerungen, mit deutlichem 
Einsatz eines Willensaktes zur Seite geschoben: was wir nicht 
amtlich wissen, existiert nicht. — Und doch bleibt auf die Dauer 
das, was immer wieder in der Presse auftaucht, nicht ganz 
wirkungslos. Denn wieder sieben Tage spáter kommt Schiemann 
in seinen Betrachtungen noch einmal zurück auf ,,die Abmachun- 
gen von Racconigi (sic!), als deren Folgen (in Rußland) ein 
Balkanbündnis zwischen den slawischen Staaten und der Türkei 
und der Anschluß Italiens an die Tripelentente mit voller Be- 
stimmtheit erwartet wird". Das klingt nun doch schon anders 
als die souveráne Geste vom 27. Oktober; als ob er Jetzt sagen 
móchte: es kónnte da doch noch einiges verborgen liegen, was 
auch gegen den Dreibund seine Spitze haben kónnte. 


Ganz in derselben Zeit, am 1. November 1909, notierte, sehr 
viel weniger optimistisch, der Baron Leop. von Chlumecky, 


13 2.2.0. S. 342. 366f. 369ff. 
52* 


820 Hugo Preller 


Schriftleiter der „Osterreich. Rundschau“ und Gesinnungs- 
genosse des Kreises von Männern, die sich im strikten Gegensatz 
gegen die offizielle Politik der Wiener Hofburg, besonders des 
k. u. k. Außenministers Aehrenthal im Belvedere um den Erz- 
herzog-Thronfolger Franz Ferdinand gesammelt hatten, seine 
Betrachtungen. Vom Auswärtigen Amt war die Presse angewie- 
sen worden, der Zusammenkunft keine Bedeutung beizumessen. 
Chlumecky schreibt (S. 153): „Ein Teil der österreichischen 
Presse glaubt die politische Bedeutung dieses Besuches und 
deren Folgen aus der Welt zu schaffen, indem sie ihr gegenüber 
Vogel Strauß spielt ... Kindisch scheinen die krampfhaften 
Bemühungen, welche darauf abzielen, die Ergebnisse der jüng- 
sten Monarchenbegegnung als für uns höchst nebensáchlich, ja 
sogar erfreulich darzustellen.. Eine Tartüfferie ist es, wenn 
man dergleichen tut, hóchst befriedigt zu sein, weil auch Tit- 
toni in einer offiziellen Kundgebung nicht von fixen Verträgen 
oder neuen politischen Bündnissen spricht, sondern ‚bloß‘ von 
der Annäherung Rußlands und der vollständigen Identität der 
Interessen und Ansichten, welche zwischen den beiden Regie- 
rungen bestehen... Wenn nun Tittoni offiziell konstatiert, ‚daß 
Italien und Rußland auf diesem Gebiete dieselben Ziele ver- 
folgen‘, so ist es klar, daß der Kurs der italienischen Balkan- 
politik gegen Österreich gerichtet sein wird und daß wir einer 
uns feindlichen russisch-italienischen Koalition gegenüber- 
stehen.“ Mit anderen Worten, in der Ausdeutung der Monarchen- 
zusammenkunft, im Suchen nach dem Wesentlichen, kam der 
ósterreichische Publizist genau zu dem entgegengesetzten Er- 
gebnis wie in denselben Tagen und auf Grund des gleichen 
Materials der deutsche. Schrieb Chlumecky doch am 9. Novem- 
ber: „Die italo-russische Annäherung hat die Balkanstaaten neu 
aufgerüttelt und allerhand Hoffnungen, allerlei Begierden ge- 
weckt. Viele Pláne tauchen wieder aus der Versenkung auf, 
eifrig wird das Material zur Errichtung des Balkanbundes zu- 
sammengetragen, dessen Baumeister Rußland und Italien werden 
sollen.“ 

In einem Punkte stimmen allerdings beide Publizisten 
schließlich doch überein, nämlich in dem Argwohn, daß hinter 
dem Tage von Racconigi doch mehr steckt als was Tischreden 
und amtliches Kommuniqué vermuten lassen. Aber was? 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 821 


Hier wird nun der Wert der Presse als geschichtlicher Quelle 
besonders deutlich. Unter dem 29. Dezember námlich notierte 
Schiemann!** ein Zeugnis wesentlichen Erkenntnisfortschritts, 
der, wie er selbst sagt, auf das Studium der Presse zurückgeht. 
„Der Zar hat dem König Eduard in England seinen Gegen- 
besuch gemacht, an dem auch der Minister des Auswärtigen 
teilnahm. Es gehórt in diesen Zusammenhang, auch der Zu- 
sammenkunft in Racconigi zu gedenken, bei der es dem Leiter 
der russischen Politik Iswolski gelang, auch Italien für das 
Balkanprogramm der Tripelentente (sic!) zu gewinnen, das offl- 
ziell Erhaltung des Status quo lautete, in Wirklichkeit aber, 
wie die Presse der vier Staaten zeigt, jene Balkanföderation 
zum Ziele nimmt, von der wir oben geredet haben.' Hier wird 
der Beweis erbracht, daB allein aus der Presse ein, wie sich 
spáter ergeben wird, sehr wesentlicher Teil der Racconigi-Ver- 
abredungen als geschichtliche Erkenntnis abgeleitet werden 
konnte. 

Auf der Grenze von der Publizistik zur Geschichtsschreibung 
steht, was Egelhaaf in der „Historisch-politischen Jahres- 
übersicht von 1909‘ (2. Jahrg. S. 19) schreibt. Er findet den 
Reiseweg „in hohem Grade auffallend“, hebt aus den Trink- 
sprüchen die „Übereinstimmung der Ziele“ und die „Gemein- 
samkeit ihrer Interessen“ hervor und ergänzt sie durch eine 
Äußerung Iswolskis, die der „Temps“ aufgefangen und mitge- 
teilt hatte: „Die Erhaltung des bestehenden Zustandes auf dem 
Balkan und die Entwicklung der Autonomie der Balkanstaaten 
ist unser gemeinsames Ziel.“ Eine Äußerung übrigens, die auch 
Schiemann zugänglich gewesen war, so daß von hier aus auf 
die damalige deutsche Publizistik ein eigenartiges Licht fällt. 
Sie war innerlich nicht frei, sondern Sprachrohr der Regierung, 
wie wir gleich auch an einem andern Falle zu beobachten haben 
werden. Egelhaaf versieht zum Schluß die amtliche italienische 
Versicherung, daß keine Spitze gegen den Dreibund vorliege, 
wenigstens mit einem recht kräftigen Fragezeichen, ohne doch 
so weit zu gehen wie die „Osterreichische Rundschau“. 


Auch auf der Grenze von Publizistik und Geschichte steht 
das seinerzeit hoch verdienstvolle Werk des Grafen Re vent lo v 


188 a. a. O. S. 438. 


822 Hugo Preller 


über „Deutschlands auswärtige Politik 1888—1914'', in erster 
Auflage erschienen 1914 in Berlin. Hier schreibt der zum Aus- 
wärtigen Amt in persönlichen Vertrauensvcerháltnissen stehende 
Verfasser (S. 366): „Im Herbste 1909 machte der Zar seinen 
lange aufgeschobenen Besuch in Italien und begegnete sich zu 
Racconigi mit Kónig Viktor Emanuel. Anstatt den Landweg 
zu wählen, wurde die viel längere Reise zu Schiff gemacht. nur 
damit der Zar keinen österreichischen Boden zu betreten 
brauchte‘ (ein merkwürdiger Irrtum der Verfassers, daß er den 
Zaren zu Schiff, also durch das Schwarze Meer, die Meerengen 
und das Ägäische Meer nach Italien kommen läßt). Wie unsicher 
noch 1914 der historische Boden war, zeigen nun die nächsten 
Sätze Reventlows: „Man versuchte, diese russisch-italienische 
Annäherung als gegen Österreich-Ungarn gerichtet auszubeuten. 
Es mag sein, daß sie auch einen solchen Einschlag, im Hinblick 
auf eine künftige Balkanpolitik, enthalten hat." Das sind die- 
selben Gedankengänge, die bei Schiemann zu beobachten 
waren. Bezeichnend für die deutsche Mentalität jener Jahre 
1913 auf 1914 ist dann der Satz, mit dem Reventlow diese Be- 
trachtung schließt: „Er (dieser Einschlag) ist jedoch nicht zu 
tatsächlicher Geltung gekommen“. Das schrieb Reventlow, als 
bereits der Balkan durch die Verwickelungen von 1911 an zum 
Hauptthema der großen Politik geworden war. Kam ihm selbst 
damals gar nicht der Gedanke an die Möglichkeit eines Zu- 
sammenhanges zwischen Racconigi und dem Balkanbund von 
1912? Freilich müssen wir in Rechnung setzen, daß Reventlow 
publizistische Zwecke verfolgte, und es ist nicht zu erkennen, 
wie weit er dabe etwa unter offizieller Beeinflussung gestanden 
haben mag. 


IV. Wir kommen nun auf den Boden der eigentlchen Ge- 
schichtsschreibung. Ein freundlicher Zufall läßt mich in 
einem aus demselben Jahre wie Reventlows Aufzeichnungen 
stammenden Geschichtswerk! den Vorfall behandelt finden: 
„Der erste Schritt einer Aktion nach jener Richtung hin (Kon- 
stantinopel mit den Meerengen die Herrschaft auf der Balkan- 
halbinse') war die Zusammenkunft des Zaren mit König Viktor 


18 Sturmhófel & Kämmel, Illustr. Gesch. d. neuesten Zeit, Bd. III, S. 765; 
vgl. auch S. 704. 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 823 


Emanuel III. von Italien n Racconigi vom 23 bis 25. Oktober 
1909, wohin sich Nikolaus II. auf e nem ungeheuren Umwege 
um Österreich herum durch Deutschland und Südfrankreich 
begab.“ Hier wird ganz deutlich gesagt, daB es russische Balkan- 
pläne sind, die den Zaren nach Racconigi führen. Leider ist nicht 
zu erkennen, womit der Verfasser seine Kombination des Be- 
suches mit der Balkanpolitik begründet; aber wir sahen ja 
schon, daB die Tagesblätter von 1909 dazu allen Grund gaben. 

Sehr vorsichtig und die Grenzen des exakten Wissens sehr 
eng ziehend, drückt sich Lindner 1916 in seiner ,,Weltge- 
schichte der letzten hundert Jahre (1815—1914)“ Bd. II S. 435 
aus. Nachdem er den gewaltigen Umweg des Zaren betont hat, 
fáhrt er fort: ,, Man weiB nicht, was die von ihren Staatsministern 
begleiteten Herren besprachen, gewiß nichts Freundliches für 
Österreich und die Türkei." Hier wird also auf ein Eingehen 
auf den gedanklichen Inhalt der Monarchenzusammenkunft aus- 
drücklich verzichtet; er gilt als nicht bekannt. 

Wie sehr man noch acht Jahre nach dem Ereignis im Dunkeln 
tasten zu müssen glaubte, zeigt sodann Moldens Aehrenthal- 
Biographie von 1917. Hier heißt es: „Der Gedanke (Tittonis 
an einen Balkanbund) dürfte auch eine Rolle bei der náchsten 
Begegnung der beiden Minister gespielt haben, die im Oktober 
1909 stattfand. Es scheint, daD sie sich gegenseitig auch vor 
österreichisch-ungarischen Absichten auf Saloniki warnten?“ 
Nachdem dann der Reiseweg als die Hauptsache in den Presse- 
erörterungen jener Tage besprochen ist, führt Molden noch an, 
de Marini habe 1916 in der Presse mitgeteilt, in Paris von IS“ 
wolski erfahren zu haben, Italien sei an Rußland „durch mehr 
als durch Sympathie“ gebunden. Molden fährt fort: „Aber viel 
kann dahinter nicht gesteckt haben.“ Der offenbare Unterschied 
Moldens in diesem Punkte von Chlumeckis Ausführungen von 
1909 in der „Osterreich. Rundschau“ geht auf die grundver- 
schiedene Einstellung beider Osterreicher zurück: in Moldens 
Bemerkung wirkt die offizielle, von Aehrenthal 1909 selbst aus- 
gegebene Parole (s.u.) nach; Chlumecki war, wie schon erwáhnt, 
gegen Aehrenthal eingestellt. 

So ergibt sich eine für das Werden geschichtlicher Erkennt- 
nis im Gebiete der neuesten Zeit wichtige Feststellung: Die 
von den amtlichen Stellen ausgegebenen Lesarten 


824 Hugo Preller 


stellen ein viel gróBeres Hindernis der Erkenntnis 
wirklicher Sachverhalte dar als die Äußerungen der 
Presse, wenn diese unabhängig ist. 

Hochinteressant und lehrreich nach verschiedenen Seiten ist 
nun, was Reventlowinseiner dritten Auflage über Racco- 
nigi gibt; man vergleiche es mit seiner ersten Auflage (s. o.) und, 
da die dritte Auflage 1916 erschienen ist, mit der gleichzeitigen 
Haltung Lindners sowie derjenigen Moldens, die sogar noch 
etwas später niedergeschrieben ist. „Der Zar und der König von 
Italien und ihre Minister haben sich in Racconigi besonders mit 
südöstlichen Fragen beschäftigt und ihre völlige Übereinstim- 
mung über die Balkanangelegenheiten feststellen können. Als 
möglich erscheint, daß der Bundesgenosse Deutschlands und 
Österreich-Ungarns damals schon in das Vertrauen Rußlands 
und damit des Dreiverbandes gezogen wurde, daß man Italien 
den Inhalt der in Reval vereinbarten Beschlüsse (S. 352: ‚im 
Vereine mit Frankreich und den Balkanstaaten den Vernich- 
tungskrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zu führen, 
sobald Rußland seine Armee reorganisiert haben würde‘; 
Reval, 19. Juli 1908, König Eduard und Unterstaatssekretär 
Hardinge mit Zar und Iswolski) mitteilte, und für den Fall 
eines europäischen Krieges bei entsprechendem italienischen 
Verhalten Beute in Aussicht stellte. Außerdem wurde man sich 
in Racconigi darüber einig, daß gegen eine Besetzung von Tri- 
polis durch Italien auch russischerseits nichts einzuwenden sei. 
Der in diesem Falle zu erwartende Krieg mit der Türkei sollte, 
wenn möglich, dazu benutzt werden, um die Türkei auch auf 
dem europäischen Festlande zu schwächen. Daß Italien bei 
dieser Gelegenheit versuchen werde, sich in Albanien festzu- 
setzen, dürfte ebenfalls in Racconigi besprochen worden sein. 
Genug, diese Zusammenkunft ist ein wichtiges Ereignis von 
politischer Bedeutung gewesen und hat die Knüpfung eines 
neuen Bandes zwischen Italien und dem Dreiverbande be- 
deutet.“ 

Der große Fortschritt in der historischen Erkennt- 
nis, den wir hier zwischen 1914 und 1916 beobachten, ist ein 
dras tisches Beispiel für die auf diesem Gebiete schöpferische 
Bedeutung des Krieges. Schon sieben Jahre nach dem Ereignis 
ist die wirkliche Bedeutung der Monarchen- und Ministerbe- 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 825 


sprechung zwar noch nicht in ihrem vollen Umfange, wohl aber 
in wesentlichen Teilen erkannt. Leider läßt Reventlow die 
Quellen seines Erkenntnisfortschrittes nicht erkennen, und es 
würde Aufgabe einer eingehenden Quellenkritik sein, diese zu 
ermitteln; eine Aufgabe, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen 
würde. — 

Am 23. November 1917 begannen die Aktenveróffentlichun- 
gen der Sowjetregierung Rußlands in der ,,Iswestija''; sie wurden 
als Weißbuch vom deutschen Auswärtigen Amt in Übersetzung 
veröffentlicht 1918 unter dem Titel „ Dokumente aus russischen 
Geheimarchiven bis 1918". Halten wir also, ehe wir den neuen 
Boden betreten, an mit der Frage: Was wußte der Historiker 
in Deutschland über Racconigi, ehe die großen Akten- 
veröffentlichungen einsetzten? 

Fest steht die Tatsache, daß zwei Monarchen, von denen der 
eine, um den andern zu besuchen, einen höchst auffälligen Reise- 
weg wählt, mit ihren Außenministern zu der und der Zeit an dem 
und dem Ort sich treffen. Fest steht durch Kombination der 
Trinksprüche und des Kommuniqués mit ministeriellen Äuße- 
rungen in den Kammern der Charakter dieser Veranstaltung: 
Abschluß und Besiegelung eines beiderseitigen Annäherungs- 
prozesses mit der Möglichkeit einer anti-österreichischen Spitze. 
Fest steht als Hauptthema der Verhandlungen die beiderseitige 
Balkanpolitik: etwas widerspruchsvoll die Erhaltung des poli- 
tischen Status quo, die Unabhängigkeit und normale friedliche 
Entwicklung der Balkanstaaten unter dem Gesichtswinkel der 
Autonomie, wobei auch Albanien genannt wird. Fest steht aber 
darüber hinaus auch, daß italienische Tripolis- und russische 
Meerengenpläne erörtert wurden; endlich seit 1916 durch die 
Veröffentlichung des „Temps“, daß in Racconigi ein Vertrag 
geschlossen wurde. Inhalt und Text des Geheimabkommens sind 
aber acht Jahre nach dem Abschluß noch nicht bekannt. Man 
kann indessen nicht sagen, daß es damals einem Historiker nicht 
hätte möglich sein können, über Racconigi zu referieren. 


V. Die Entwicklung der Erkenntnis unter Einfluß 
der ersten Aktenveröffentlichungen (1919—1922). 

Am 23. Februar 1919 veröffentlichte der russische Historiker 
Pokrowski in Nr. 5 der „Prawda“ gelegentlich eines Aufsatzes 


826 Hugo Preller 


zur Kriegsschuldfrage einen Teil des Geheimvertrages von Rac- 
conigi!®. Es heißt dort: „Am 24. Oktober 1909 wurde in Ver- 
bindung mit dem Besuche Nikolaus’ bei Viktor Emanuel in 
Racconigi ein Vertrag geschlossen. Der letzte Paragraph dieses 
Vertrages lautet: ,Italien und RuBland verpflichten sich, sich 
wohlwollend zu verhalten, das erstere zu den Interessen der rus- 
sischen Meerengenfrage, das zweite zu den Interessen der Ita- 
liener in Tripolis und in der Cyrenaika'. Was das bedeutet, wird 
uns klar, wenn wir uns erinnern, daf ein Jahr nach Racconigi 
der Krieg mit der Türkei um Tripolis begann.“ 

Àm 14. Juli 1909, drei Monate vor Racconigi, war in Deutsch- 
land Bethmann Hollweg Reichskanzler geworden ; er warschon 
seit 1907 mit der Stellvertretung des Reichskanzlers betraut 
gewesen. Im Jahre 1919 veróffentlichte er seine ,,Betrachtun- 
gen“ Bd. I; hier schreibt er (S. 76): „Zwar fehlte uns genauere 
Kunde, wie weit man sich in Racconigi mit den Russen einge- 
lassen hatte — erst die jüngsten bolschewistischen Veróffent- 
lichungen haben uns darüber belehrt, daß sich Italien damals im 
Oktober 1909 das russische Einverstándnis mit seinen tripoli- 
tanischen Wünschen durch Zusagen in der Meerengenfrage ge- 
sichert hatte — aber auch ohne diese positive Wissenschaft war 
hinsichtlich des Maßes italienischer VerláBlichkeit Skeptizismus 
geboten.“ 

Hier erfahren wir, daß auch in der Verschwiegenheit des 
amtlichen diplomatischen Verkehrs über den wirklichen Inhalt 
der Monarchenzusammenkunft genauere Kunde, wenigstens in 
Berlin, damals nicht vorgelegen hat. Ferner wird hier zum ersten 
Male in der geschichtlichen Literatur Deutschlands auf die rus- 
sischen Aktenveröffentlichungen Bezug genommen, und da tritt 
nun als wesentlich neuer Gesichtspunkt hervor, daß zwischen 
den italienischen Tripoliswünschen und dem russischen Meer- 
engenbegehren in Racconigi ein vertragsmäßiges Wechselver- 
hältnis hergestellt wurde. 

Im gleichen Jahre 1919, wie Bethmanns „Betrachtungen“, 
erschienen die belgischen Zirkularberichte“ im Druck. 
Hier findet sich aus einem Bericht des in Berlin akkreditierten 

198 Deutsch veröffentlicht in: „Deutschland schuldig?" Deutsches Weißbuch 
über die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges, Berlin 1919, S. 188ff. 


% Amtliche Aktenstücke z. Gesch. d. europ. Politik 1885—1914, her. v. Bernh. 
Schwertfeger, Bd. 3 für 1908—1911: Bosnische Krise, Agadir, Albanien; S. 182f. 


Móglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 827 


belgischen Barons Greindl schon vom 26. Oktober 1909 ein Aus- 
zug, in welchem es heißt: „Die Annexion Bosniens und der Her- 
zegowina sowie die Unzufriedenheit, die in St. Petersburg und 
in Rom durch die Lósung des ósterreichisch-serbischen Kon- 
fliktes verursacht wurde, haben eine Annäherung zwischen St. 
Petersburg und Rom herbeigeführt und die Gemeinsamkeit der 
Interessen geschaffen, von der die beiden Souveräne in ihren 
Trinksprüchen gesprochen haben .... Die Entente hat sich ent- 
wicklet mit der Aufgabe, sich neuen Zugriffen Österreich-Un- 
garns auf der Balkanhalbinsel zu widersetzen, wo Rußland, im 
fernen Osten geschlagen, von neuem seine Rolle als Protektor 
der kleinen christlichen Staaten ausüben will und wo Italien 
Pläne verfolgt, die zu verbergen es sich nicht immer die Mühe 
genommen hat.“ Man sieht, daß dieser 1919 zugänglich gemachte 
Bericht von 1909 nicht wesentlich über das schon damals aus 
der Presse Erkennbare hinausgeht. 

Trotzdem muß man sagen, daß das, was Egelhaaf?! 1920 
über Racconigi gibt, hinter dem damals Erkennbaren erheblich 
zurückbleibt. Wunderlich ist, daß er seine 1909 an den Tag ge- 
legte Skepsis hinsichtlich der Rückwirkungen auf den Dreibund 
jetzt nach den Erfahrungen des Weltkrieges aufgegeben hat und 
die Unberührtheit des Dreibundes über 1909 hinaus noch be- 
sonders unterstreicht. 


Im folgenden Jahre, 1921, veröffentlichte der ehemalige 
Sekretär der Kaiserlich Russischen Botschaft in London, 
B. von Siebert, „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte 
der Ententepolitik der Vorkriegsjahre‘‘. Hier erfahren wir neu 
unter dem 3. November 1909, daß dem zwischen Italien und 
Rußland in Racconigi getroffenen Abkommen England und 
Frankreich beigetreten seien (S. 144. 145), unter dem 15. No- 
vember, daß in London und Paris Gerüchte über schriftliche 
Verpflichtungen umlaufen und dementiert werden sollen (145), 
endlich, daß die türkische Regierung durch Racconigi stark be- 
unruhigt worden ist und hinsichtlich der Abmachungen von 
Racconigi beschwichtigt werden mußte (121). 

Was 1922 Friedjung*?? bietet, stützt sich hinsichtlich des 
kaiserlichen Reiseweges offenkundig auf Reventlow, hinsichtlich 


31 Gesch. d. neuesten Zeit, 8. Aufl., Bd. I, S. 329. 
33 Friedjung, Das Zeitalter des Imperialismus, Bd. II, S. 281f. 


828 Hugo Preller 


des Inhalts der Vereinbarungen auf die Aktenveróffentlichung 
in „Deutschland schuldig?“ von 1919, auf denen auch Bethmann 
Hollweg fuBt. 

Friedjung konnte noch nicht Nutzen ziehen aus der fran- 
zósischen Sammlung russischer A ktenveróffentlichun- 
gen, die 1922 erschien und in der sich, nun zum ersten Male 
allgemein zugänglich, der volle Wortlaut des zu Racconigi ab- 
geschlossenen Geheimvertrages findet. Hier erfahren wir, daß 
der von Pokrowski mitgeteilte Paragraph im Vertrage von 
Racconigi noch vier Vorgänger hat. „1. Rußland und Italien 
werden es sich in erster Linie angelegen sein lassen, den Status 
quo auf der Balkanhalbinsel aufrechtzuerhalten. 2. Bei allen 
auf dem Balkan möglichen Fällen müssen sie in der Entwicklung 
der Balkanstaaten auf der Befolgung des Nationalitätenprinzips 
unter Ausschluß jeder fremden Herrschaft bestehen. 3. Sie sollen 
in gemeinsamen Aktionen alles zu verhindern suchen, was den 
vorerwähnten Zielen entgegengesetzt ist. Unter ‚gemeinsame 
Aktion‘ ist eine diplomatische Aktion zu verstehen. Jedes ander- 
weitige Eingreifen in die Verhältnisse muß natürlich einer spä- 
teren Verständigung vorbehalten bleiben. 4. Wenn Rußland und 
Italien hinsichtlich des europäischen Ostens mit einer dritten 
Macht Verträge außer den bereits bestehenden abschließen 
wollen, darf jede der beiden Mächte dies nur unter gleichzeitiger 
Beteiligung der andern tun.“ Hier folgt der schon seit 1919 be- 
kannte Schlußparagraph (s. o.). Kurz interpretiert heißt das: 
Hände weg vom Balkan für beide Teile (1), desgl. für Österreich- 
Ungarn und für die Türkei (2), denn die Balkanstaaten sollen 
sich selbst nach dem Nationalitätenprinzip entwickeln. Gemein- 
samer diplomatischer Schutz dieses Entwicklungsprozesses; da- 
her auch nur gemeinsamer etwaiger Weiterbau des Vertrags- 
werkes und nur gemeinsames Handeln auch jenseits der Grenzen 
der bloßen Diplomatie. 

Daß in Racconigi ein schriftliches Geheimabkommen ge- 
schlossen, war seit 1916 durch Schluß, seit 1919 unmittelbar 
bekannt. Der Umfang seines Inhalts war um 1916 mit großer 


3 Un Libre noir: Diplomatie d’avant-guerre d’après les documents des 
archives russes. Novembre 1910— Juillet 1914; préface par René Marchand; Paris 
o. J.; t. I, S.358ff. Deutsch in: „Der Diplomat, Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914“, 
her. v. Fr. Stieve, Bd. II (1924), S. 363f. 


Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 829 


GewiBheit zu ermitteln, kam aber erst 1922 durch allgemeine 
Zugànglichkeit des Vertragstextes auf den denkbar festesten 
Boden. Zugleich sieht man, wie stark der Eindruck der ersten 
Veróffentlichung Pokrowskis wirkte: Bethmann, der doch 1909 
selbst in den Dingen drin stand, sieht 1919 in seinen Betrach- 
tungen nur den fünften Teil des Vertrages, obwohl damals selbst 
für den auBenstehenden Historiker die Bedeutung des Vertrages 
für die Balkanpolitik durchaus klar war. 

Unsere Untersuchung ergibt also: bereits acht Jahre 
nach dem Ereignis war in einer Zeit der anerkannten Geheim- 
diplomatie wesentlich durch die Presse der Inhalt der Racco- 
nigi-Verhandlungen bekannt; die mit 1917 einsetzenden Akten- 
veróffentlichungen liefern Bestátigungen. Es ist also durchaus 
móglich, auf dem Gebiete der neuesten Geschichte nach allen 
Regeln einer an weiter zurückliegendem Material entwickelten 
Methode wissenschaftlich Forschungsarbeit zu leisten. Die wich- 
tigste Eigentümlichkeit für die neueste Geschichte ist die, daB 
an die Stelle der Quellenkritik hier eine sehr ausgedehnte und 
gründliche Zeitungskunde zu treten hat. Sie muB die große 
Presse der zivilisierten Welt kennen, dabei besonders auch über 
eine ganz eingehende Personalkenntnis hinsichtlich der von den 
großen Tagesblättern gehaltenen politischen Korrespondenten, 
der Leitartikler, der Zeitungsinhaber und der etwaigen Geld- 
geber verfügen. Hier tut sich ein im wesentlichen verkehrstech- 
nisches Problem auf, und Orte mit Zeitungsinstituten oder Uni- 
versitäten mit besonderen Professuren für Zeitungswissenschaft 
werden dafür am günstigsten gestellt sein. 

Anhangsweise sei in diesem Abschnitt noch ein Blick auf 
die geschichtlichen Arbeiten bis 1925 geworfen, d. h. bis 
zum Erscheinen der auf Racconigi bezüglichen deutschen Akten- 
veröffentlichung“. 

Erich Brandenburg“, fußend auf v. Siebert und auf deut- 
schem Aktenmaterial, das sonst damals noch nicht zugänglich 
war, entwickelt zunächst ein großzügiges und planmäßiges Vor- 
gehen Rußlands in den Balkandingen, in welchem der Zaren- 
besuch zu Racconigi nur eine EinzelmaBnahme ist. Er bespricht 
sodann voraufgegangene, aber nicht mehr rechtzeitig zum Ab- 


% Für Racconigi kommt Bd. 27, I. Teil v. Jahre 1925 in Betracht. 
3$ Brandenburg, Von Bismarck zum Weltkrieg, Berlin 1924, S. 305ff. 


830 Hugo Preller 


schluB gebrachte Verhandlungen zwischen Wien und Rom. Bei 
der Wiedergabe des Inhalts der Abmachungen erfahren wir neu, 
daB darin auch Albaniens besonders gedacht sei. In der Würdi- 
gung des Abkommens heißt es, für den Fortschritt der histo- 
rischen Erkenntnis sehr bezeichnend: ,,So schuf die Zusammen- 
kunft von Racconigi ein gewisses Einvernehmen über die Zu- 
kunft der europäischen Türkei zwischen den Ententemächten 
und Italien. Das war hóchst bedeutsam, weil hierin die erste 
Einigunz der Ententemächte selbst über Fragen des nahen 
Orients lag, und zwar zugleich ein weiterer Schritt Italiens vom 
Dreibund zur Entente hinüber. 

Um so mehr mag überraschen, daB im gleichen Jahre Fr. 
Stieve seine hochverdienstvolle Sammlung des diplomatischen 
Briefwechsels Iswolskis mit einer Klage über ,, Mangel an zuver- 
lässigem Aktenmaterial“ begleitet“. Freilich stellt er die For- 
derung, „die Gedankengänge Iswolskis im einzelnen zu ver- 
folgen“. Diese Forderung läßt ganz außer acht, in welcher 
glücklichen Lage sich der Erforscher der neueren Zeiten be- 
findet. Stehen wir nicht hinsichtlich Iswolskis günstiger da, 
als hinsichtlich selbst der größten Kaiser des Mittelalters? Und 
haben wir nicht über jenen ein erdrückendes Material im Ver- 
gleich zu dem bedeutendsten unter ihnen? Auf v. Siebert 
und Brandenburg fuBte dann, unmittelbar vor Erscheinen 
der einschlägigen deutschen Akten, Preller“, und gleich- 
zeitig und in voller sachlicher Übereinstimmung mit ihm 
Herre®#, Gerade die Übereinstimmung beider bei völliger gegen- 
seitiger Unberührtheit kennzeichnet den Stand des Wissens im 
Augenblick der deutschen Veróffentlichung. Er würde zur Er- 
weisbarkeit der Möglichkeit eines quellenkritischen Studiums 
neuester Geschichte durchaus hinreichen auch ohne die deutsche 
Aktenveróffentlichung samt allem, was diese an anderweitigem 
Material nach sich gezogen hat und noch weiterhin erzwingen 
wird. 

Die Bedeutung dieser erstrangigen Quellen für den Fort- 
schritt der historischen Erkenntnis kann erst erfaßt werden, 


9* Stieve, Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, Berlin 1924, 
4 Bde., dazu: „Iswolski und der Weltkrieg", hier S. 7. 

*?' Preller in Friedrichs Handbuch IV, 2, Lpg. 1926, S. 329. 383. 

38 Herre in Pflugk-Harttungs Weltgesch. VII, 2, S. 518. 


PN 


Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher Erkenntnis usw. 831 


wenn der deutschen (1925), österreichischen (1929) und eng- 
lischen (1931) Publikation auch die nur sehr zógernd fort- 
schreitende franzósische und eineseit 1926 verheiBene italienische 
gefolgt sein werden. Auch die große russische Veröffentlichung, 
die begonnen hat, muß für diese Zeit noch abgewartet werden. 
Die Bedeutung dieser erstrangigen Quellen wird sich als so groß 
herausstellen, daB die im vorstehenden gebotenen Nachweise 
ihr nicht abträglich sein können. 


832 


Kleine Mitteilungen. 


Kann frater „Schwager“ bedeuten? 


In der Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg wird der Markgraf 
Gunzelin von MeiBen (1002—1009), der Bruder und Nachfolger Ekkards des 
Großen, mehrmals als frater des berühmten Polen-Herzogs Boleslaw Chabri 
(Chrobry) bezeichnet!, ein Ausdruck, der viel Kopfzerbrechen verursacht 
hat, da sonst von einer Verwandtschaft der Ekkardiner mit den Piasten, die 
diese Bezeichnung (im Sinne von „Bruder“) rechtfertigen könnte, nichts 
bekannt ist. Daß Boleslaw und Gunzelin Brüder oder auch nur Stiefbrüder 
gewesen seien, darf nach allem, was wir über ihren Stammbaum wissen, als 
völlig unmöglich bezeichnet werden. Einen Fingerzeig für die Lösung des 
Problems muß die Beobachtung abgeben, daß bei Thietmar immer nur 
Gunzelin, nie aber sein viel bekannterer und bedeutenderer Bruder Ekkard 
uns als Boleslaws frater vorgestellt wird. In einer Untersuchung der ganzen 
Frage* glaubte ich die Hypothese vertreten zu dürfen, daB Gunzelin eine 
Schwester Boleslaws geheiratet habe und also nicht sein Bruder oder Stief- 
bruder, sondern sein Sehwager (Schwestermann) gewesen sei. Diese, alle 
Schwierigkeiten beseitigende Annahme hat zur Voraussetzung, daB ein 
Gebrauch von fraterin der Bedeutung von Schwager, Schwestermann móglich 
ist. GewiB standen Boleslaw und Gunzelin sich persónlich und politisch nahe. 
Aber das allein würde ihre Bezeichnung als,, Brüder“ nicht genügend erklären. 
Es bleibt zu beweisen, daB dieser Ausdruck für Schwüger auch sonst vorkommt. 

Nun wird das Wort frater schon im klassischen Latein nicht nur in seiner 
eigentlichen Bedeutung für Bruder, sondern gelegentlich auch in einem etwas 
freieren Sinn für andere nahe Verwandte gebraucht. So für Vetter und für 
Neffe, ja allgemein für einen Blutsverwandten?. Das gleiche gilt vom Latein 
der Vulgata-Bibel, wo beispielsweise Lot, der Neffe (Bruderssohn) Abrahams, 
mehrfach als sein frater bezeichnet wird‘, und wo Jakob, der Neffe 
(Schwestersohn) Labans, sich dessen frater nennt und von ihm mit frater 
angeredet wird*. Immerhin handelt es sich hier überall um Blutsverwandte. 


1 Thietmar, Chron. V, 18 (10). 36 (22); VI, 54 (36). In der Ausg. v. F. Kurze 
(1889) S. 117, 127, 166. 

2 Sachsen und Anhalt Bd. 8 (1932), S. 123—129. Den hier angeführten älteren 
Ansichten füge ich hinzu: Otto Forst-Battaglia in den Jahrbüchern f. Kultur u. 
Gesch. der Slaven, N. F. Bd. 3 (1927), S. 256, der aus Gunzelins mütterlichem GroB- 
vater und Boleslaws mütterlicher Großmutter Geschwister macht, was völlig in 
der Luft schwebt. 

3 Thesaurus linguae Latinae Bd.6, fasc. 6 (1922), Sp. 1264f. 

* Gen. 13, 8. 11; 14, 16. Vgl. 11, 27. 5 Gen. 29, 12. 15. Vgl. 24, 29; 28, 5. 


Kann frater „Schwager“ bedeuten? 833 


Aber sogar für uxoris frater, also für Schwager (Gattinbruder), ist das 
einfache frater bereits belegt*. Von da ist gewiB kein weiter Weg zum 
Schwestermann. 

Und in der Tat hat bereits Georges auf einen Fall hingewiesen, wo 
frater im klassischen Latein für den Schwestermann gebraucht werde: 
Livius 28, 35, 8. Ich übernahm dieses Zitat?, nicht als einen Beweis, aber als 
eine Stütze für meine These von der Verschwügerung Gunzelins mit Boleslaw. 
Ein Kritiker meiner Untersuchung hat mir das Recht dazu bestritten, da 
nach Ausweis von Liv. 27, 19, 9 an der anderen Stelle des Livius lediglich 
ein „Irrtum“ vorliege*. In diesem Einwand dürfte jedoch eine Petitio principii 
stecken. Eine kurze Betrachtung der Erzählung des Livius mag das zeigen. 

Liv. 28, 35, 8 berichtet, daß der Numidierkónig Masinissa bei einer Zu- 
sammenkunft mit dem älteren Scipio Africanus diesem gedankt habe de 
fratris filio remisso, also wörtlich: für die Rücksendung des Sohnes 
seines Bruders. Was damit gemeint ist, ergibt sich aus Liv. 27, 19, 9, wo wir 
das Nähere über diesen filius fratris Masinissas erfahren: es handelte 
sich um den jungen Massiva, der durch seine Mutter ein Enkel von Masi- 
nissas Vater Gala war, und Masinissa wird dabei ganz richtig als avunculus 
(Mutterbruder) des Massiva bezeichnet*. Massiva war mithin nicht der Sohn 
des Bruders, sondern der Sohn der Schwester und des Schwagers von Masi- 
nissa, und mit dem frater Masinissas ist also nicht sein Bruder, sondern 
sein Schwager (Schwestermann) gemeint. Von einem „Irrtum“ des Livius 
sollte man keinesfalls reden, da es ja Livius selbst ist, der uns an anderer 
Stelle über die verwandtschaftlichen Verhältnisse im Haus des Masinissa 
genauer orientiert. Hóchstens kónnte man an ein Versehen, einen Lapsus 
calami, eine Unaufmerksamkeit des Verfassers denken. Die Möglichkeit, 
daB eine solche vorliegt, soll nicht ganz in Abrede gestellt werden!®. Wahr- 
scheinlicher bleibt doch das Gegenteil. Und jedenfalls bedeutet es einen 
ZirkelschluB, die Móglichkeit der Bedeutung von frater — Schwager an 
unserer Stelle durch die kategorische Behauptung von einem Irrtum des 
Livius zu bestreiten. Wer dem Vorkommen des Wortes frater für Schwager 
nachgeht, wird auch in Zukunft an Liv. 28, 35, 8 anzuknüpfen haben. 

Indes da wir hier einen Beitrag zum Mittellatein und zur Erklärung eines 
Ausdruckes bei Thietmar geben wollen, wenden wir uns der Frage zu, ob 
sich auch im Mittelalter die Bedeutung frater — Schwager noch anderweit 


* Thes. a. a. O. 1254 Zl. 81. Da bei Thietmar Gunzelin zweimal der fraler 
(wir glauben: Schwestermann) Boleslaws, einmal aber, nämlich VI, 54 (36), auch 
Boleslaw Gunzelins frater (das wäre Gattinbruder) genannt wird, gewinnt dieser 
Beleg für uns erhóhte Bedeutung. 

7 Es hätte im Thes. keinesfalls ungenannt bleiben dürfen, selbst wenn man 
in ibm ein Versehen des Autors erblicken will. 

Histor. Ztschr. Bd. 146 (1932), S. 389. 

* Vgl. A. W. Ernesti, Glossarium Livianum (Bd. 5 der Livius-Ausg. v. A. Dra- 
kenborch, 4. Aufl. 1827), S. 274. 

10 W. Weißenborn, Livius 6, 1 (3. Aufl. 1878), S. 213 will das Wort durch ein 
Versehen oder durch eine andere Quelle des Autors erklären. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 53 


834 Robert Holtzmann 


nachweisen lasse. Bei dem geringen Stand der lexikalischen Arbeiten zum 
Mittellatein ist es schwer, hier AbschlieBendes zu bringen. Ducange enthált 
kein Beispiel, das hier als Beleg dienen kónnte, und man ist bei einer Frage 
wie der unsrigen immer auf ein mehr oder weniger zufälliges Teilwissen an- 
gewiesen. DaB ich nun in der Tat einige weitere Zeugnisse für den Gebrauch 
des Wortes frater in der Bedeutung von Schwager beibringen kann, ver- 
danke ich der Freundlichkeit von Harold Steinacker, dem sie bei seinen Samm- 
lungen für die Regesta Habsburgica aufgestoBen sind. Es wird, denke ich, 
nichts austragen, daB sie nicht, wie Thietmar, dem Anfang des 11., sondern 
dem Ausgang des 13. Jahrhunderts angehören!!. Liefern sie so doch den 
Beweis, daB frater bis ins späte Mittelalter hinein für den Schwager vor- 
kommt, und darüber hinaus, daB ganz entsprechend auch soror von der 
Schwägerin (Brudersgattin) gesagt werden konnte. 

Es handelt sich um drei Urkunden Herzog Albrechts I. von Österreich, 
des Sohnes König Rudolfs von Habsburg, aus den Jahren 1288—1295, also 
aus der Zeit, bevor Albrecht 1298 selbst deutscher König geworden ist. Wie 
bekannt, hat König Rudolf es verstanden, durch die Heiraten seiner Kinder 
weitverzweigte Familienverbindungen zu gewinnen. Mit den Wittelsbachern 
in Bayern kam solches schon bei Gelegenheit seiner Königswahl (1273) zu- 
stande, mit dem Pfemysliden in Böhmen nach dem Tod König Ottokars 
auf dem Lechfeld (1278), und so waren von Albrechts Schwestern Mathilde 
mit Ludwig dem Strengen von Oberbayern und der Pfalz (dem Vater Kaiser 
Ludwigs des Bayern), Guta oder Jutta mit König Wenzel II. von Böhmen 
(dem Sohne Ottokars) vermählt; ein Bruder Albrechts, der 1290 noch vor 
dem Vater verstorbene Rudolf II. (Vater des Johann Parricida), hatte Agnes 
von Böhmen, eine Schwester Wenzels II., geheiratet. Ludwig der Strenge 
und Wenzel II. waren also Albrechts Schwäger (Schwestermänner), Agnes 
seine Schwägerin (Brudersfrau). Albrecht aber beurkundete am 20. Mai 1288 
einen Waffenstillstand, abgeschlossen cum fratre nostro dilecto, nämlich 
dem König Wenzel II. von Böhmen”. Ebenso schreibt er am 9. September 
1290 Ludwig dem Strengen fratri nostro karissimo; und am 20. Mai 
1295 nennt er Agnes von Böhmen seine soror!*. Dabei steht fest, daB die 

11 Einen Beleg aus dem 12. Jh. böte das Chronicon Ebersheimense, wo in 
cap. 25 (SS. 23, S. 444, Z1. 12, 15) der Graf Radbot vom Klettgau, ein Habsburger, 
als frater des Bischofs Werner von StraBburg bezeichnet wird, wenn Steinacker mit 
der Ansicht Recht hat, daß Werner mit Radbots Schwester Ita vermählt war. 
Doch ist die Genealogie umstritten. Hermann Bloch in der Ztschr. f. d. Gesch. des 
Oberrheins, N. F. Bd.23 (1908) sieht in Werner einen Oheim Radbots (Bruder 
seines Vaters). Die Frage soll hier unerórtert bleiben. 

13 Eine Wiener Briefsammlung zur Geschichte des Deutschen Reiches und der 
österreichischen Länder in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. Nach den Abschriften 
von Albert Starzer hrsg. v. Oswald Redlich (Mitteilungen aus dem Vaticanischen 
Archive, Bd. 2, 1894), S. 253 Nr. 253. Auch in MIÓG. 4. Erg. - Bd. (1893) S. 161, 
Nr. 2 (vgl. S. 154f.). 12 Mon. Germ. Constitutiones Bd.3, S. 425, Nr. 441. 

14 Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, bearb. v. J. Escher u. 
P. Schweizer, Bd. 6 (1905), S. 298, Nr. 2332. — Einige Jahre früher (vor 1. März 


Kann frater „Schwager“ bedeuten? 835 


Urkunde von 12% gar nicht in der österreichischen, sondern in der baye- 
rischen Kanzlei abgefaBt wurde!®, so daß der Gebrauch des Wortes frater 
für Schwager gleich für zwei verschiedene Kanzleien nachgewiesen ist. 

Diese Beobachtung hat auch gar nichts Auffallendes. Das Lateinische be- 
sitzt ja kein unmißverständliches Wort für Schwager, weder für den Schwester- 
mann noch für den Gattinbruder!*. Es behilft sich da mit Ausdrücken wie 
affinis, womit aber jede durch Heirat verwandte Person bezeichnet werden 
kann, oder gener, was aber eigentlich und hauptsächlich Schwiegersohn 
bedeutet; will man genau sein, so muß man zu einer Umschreibung greifen 
(vir sororis, frater uxoris, mariti). Lag es da nicht nahe, das Wort frater, 
wie für Vetter und Neffen und andere nahe Verwandte, so auch für den Schwa- 
ger zu verwenden? Moderne Sprachen weisen ja gleichfalls auf die enge Zu- 
sammengehörigkeit der Begriffe Bruder und Schwager. So das Französische, 
indem es den Schwager beau-frère (die Schwägerin belle-soeur) nennt. 
Noch näher steht das Deutsche der Gleichung frater — Schwager. „Wir 
gebrauchen Bruder", laut Grimmschem Wörterbuch 2, 417, außer vom 
leiblichen und Stiefbruder „auch von dem angeheirateten Schwager; da- 
gegen werden Neffen und Vetter nicht Bruder angeredet.“ 

Jedenfalls darf die gelegentliche Verwendung des Wortes frater für 
Schwager im Mittelalter als erwiesen gelten. Robert Holtzmann. 


Ein unveröffentlichter Brief Friedrichs des Großen. 


Im Besitze der Familie von der Mosel befindet sich ein eigenhändiger 
Brief Friedrichs des Großen an den General von der Mosel aus der Zeit des 
Siebenjährigen Krieges!. Der König schreibt: 


1284) gibt Herzog Rudolf II. seine Einwilligung zu einer Dotierung seiner Schwägerin 
Elisabeth, der Gemahlin Albrechts, quam veluti sororem nostram  karissimam 
singularis amoris privilegio ampleramur; Archiv f. Kunde österreichischer Ge- 
schichts- Quellen 2 (1849), 273 Nr. 35. Er bedenkt sie somit ,als unsere teuerste 
Schwester“. Da man aber versucht sein könnte, das veluti auch mit „wie“ (gleichsam 
als) wiederzugeben, soll auf dieses Beispiel kein Gewicht gelegt werden. 

15$ [vo Luntz in MIÓG. Bd. 37 (1916), S. 454. Die Urkunde ist von einem, in 
den Jahren 1286—93 häufig nachweisbaren Kanzleischreiber Ludwigs geschrieben, 
diejenige von 1295 dagegen von einem österreichischen Schreiber, den Luntz mit der 
Sigle R bezeichnet (ebenda 451); die Urkunde von 1288 ist nicht im Original erhalten. 

16 Für den Bruder des Mannes kommt das seltene Wort levir vor, für die Schwe- 
ster des Mannes glos, für die Frau des Bruders (oder auch des Bruders des Mannes) 
fratria. Aber für den Mann der Schwester wie auch für den Bruder der Gattin gibt 
es kein eindeutiges Wort. 


1 Für das liebenswürdige Entgegenkommen und die Veróffentlichungserlaubnis 
möchte ich auch an dieser Stelle Fräulein Berta von der Mosel danken. 

3 Die Textgestaltung erfolgte nach dem Vorbild der „Politischen Correspon- 
denz Friedrichs des Großen“. Die Rückseite des Briefumschlages enthält von gleich- 
zeitiger Hand, wohl der des Generals von der Mosel, den Vermerk: „vom König 
eigenhändig geschrieben." 

53* 


836 Helmut Eckert 


(Auf dem Umschlag:) A Mon major-général de Mossel à Hirschberg“. 


Ich habe Nachricht, daß Ihm der Feind die Nacht oder morgen Nacht 
von Fridtberg* aus attaquiren will. Ich lasse deswegen den General Bülow 
mit 6 Bataillons, 2 Kürassier-, 1 Dragonerregiment und Husaren diesen 
Abend nach Spiller® marschieren. Wor seine Patrouillen was entdecken, so 
lasse Er Bülow gleich avertiren, daB er zu Ihm marschiret. Der Zweck des 
Feindes ist dem Devillet, der bei Freiburg? stehet, Brot durchzuschicken, und 
solches müssen Sie beiderseits zu verhindern suchen. Es gehet auch an, wenn 
man nur dem Feind den Uebergang des Bobers disputiret, und daß man nur 
des Nachts die Lomnitzer* Steinbrücke brav mit Holz bewerfen läßet, damit 
sie nicht darüber sogleich fortkommen und immerdar mit Bülow zugleich 
auf den Hals gegangen wird. Das Holz von der Brücken kann des Tages 
wieder aufgeráumt werden. Friderich. 

Umb sie 80 besser aufzuhalten, darf man nur das Holz anzünden. 


Der Empfünger des Briefes, Friedrich Wilhelm von der Mosel, ist ein Sohn 
des Gouverneurs von Wesel, Generalleutnants Konrad Heinrich von der Mosel 
(1663—1733), der 1730 nach dem Fluchtversuch des Kronprinzen Friedrich 
diesen wáhrend des ersten Verhórs in Wesel vor dem Degen des Vaters ge- 
schützt hat. 1709 geboren, trat er nach einer Zeit des Studiums und nach 
einer Frankreichreise mit einem Patent vom 20. März 1727 als Fähnrich in 
das Füsilierregiment von Dossow (Nr. 31) in Wesel ein*. Am 7. April 1729 ist 
er Leutnant und am 10. Oktober 1729 bereits Oberleutnant. Am 11. März 1734 
wird er Kapitän, und zwar beim ehemaligen Regiment seines Vaters, jetzt 
Graf Dohna (Nr. 28), zu Wesel. 1748 wird er Major, 1756 Oberstleutnant und 
am 5. September 1758 gleich Generalmajor. Am 10. Februar 1759 übernimmt 
er das bisherige Infanterieregiment von Pannwitz (Nr. 10). Alle Feldzüge 
von 1741—1759 hat er mitgemacht, bei Hohenfriedberg wurde er ver- 
wundet. 1758 fiel von der Mosel die Aufgabe zu, den gewaltigen Transport 
von mehr als 3000 Fuhren, über 40 Geldwagen und 940 Munitionskarren, 
Rekruten und Wiedergenesenen, von 8 Bataillonen und 1700 Reitern bedeckt, 
dem Belagerungskorps von Olmütz zuzuführen!*. Am 30. Juni bei Domstadl 
von den 5 angegriffen, geriet der größte Teil des Transportes in 
Feindeshand. Der Verlust nötigte den König zur Aufgabe der Belagerung. 
Wie sein baldiges Avancement beweist, hat Friedrich aber von der Mosel 
keinen Vorwurf daraus gemacht. Erst das Unglück in die Kapitulation von 
Maxen verwickelt worden zu sein, trug ihm noch 1765 auf die Bitte um die 
Präbende des Kanonikus Poggen die bittere Antwort des Königs ein: „Das 
Canonicat hat er bei Maxsen verlohren.“ Am 18. Januar 1768 erhielt er auf sein 
Ansuchen den Abschied in den ehrendsten Ausdrücken und starb 1777 zu Mórs. 


* Hirschberg SW von Liegnitz. * Friedeberg am Queis. ® Dorf O Friedeberg. 

© Karl, Marquis de Ville de Canon (1705—1792) österr. Feldmarschalleutnant. 

7 SO Liegnitz. * Dorf bei Hirschberg. 

* Das Fühnrichs-, Leutnants- und Generalspatent sowie die Entlassungs- 
urkunde im Besitze von Fráulein Berta von der Mosel. Die übrigen Daten nach 
„Militärisches Pantheon“ 1797. 

10 Preuß, Friedrich der Große, Bd. 2, Berlin 1833, S. 226. 


Ein unveróffentlichter Brief Friedrichs des GroBen 837 


Im Folgenden soll eine Datierung des ohne jeden Zeit- und Ortsvermerk 
gebliebenen Schreibens versucht werden. Es führt in die Zeit des Jahres 1759, 
zu der der Kónig im Lager von Schmottseiffen dem bei Marklissa verschanzten 
Daun in Niederschlesien gegenüberstand und Feldzeugmeister Graf Harsch 
und Feldmarschalleutnant de Ville vereint von Trautenau aus in Schlesien 
eindrangen, um das preußische Korps Fouqué von Landeshut abzudrängen 
und den König in Flanke und Rücken zu bedrohen!!, Am 17. Juli waren sie 
bis Schómberg vorgedrungen, wo Harsch erkrankte und vor seiner Rückkehr 
nach Bóhmen den Oberbefehl de Ville übergab. Am 20. setzte dieser den 
Marsch fort, und zwar auf Konradswaldau. Die Absicht de Villes, sich zwischen 
Fouqué und dessen Magazin Schweidnitz zu schieben, erriet der König so- 
gleich und wies Fouqué an, zwischen Konradswaldau und Friedland in Stel- 
lung zu gehen, um de Ville die Verbindung mit Böhmen zu nehmen. Gleich- 
zeitig beschloB Friedrich das Korps Fouqué durch den General von Krockow, 
der mit dem Grenadierbataillon von-Kleist, dem Infanterieregiment von- 
Rebentisch und 2 Eskadrons Gersdorff-Husaren Hirschberg besetzt hielt, zu 
verstárken!*, Am Abend des 22. Juli löst ihn General von der Mosel mit dem 
Füsilierregiment Jung-Braunschweig und 2 Eskadrons Gersdorff-Husaren aus 
dem Lager von Schmottseiffen ab. Am gleichen Tag ist de Ville über Gottes- 
berg, Salzbrunn bis in die Gegend von Freiburg vorgestoBen. Am 23. Juli 
wird ihm durch General von der Goltz, der auf Befehl Fouqués die Hóhen 
bei Friedland besetzt, die Zufuhr aus Bóhmen abgeschnitten. Fouqué selbst 
steht am 25. auf den Höhen westlich von Konradswaldau, hat die Verbindung 
mit Goltz aufgenommen und verlegt de Ville den Rückweg. Dieser sieht seine 
Pláne vereitelt und unter dem Drucke empfindlichen Brotmangels sucht er 
am 27. und 28. Juli bei Konradswaldau und Friedland durchzubrechen. Da 
das Korps Fouqué standhält, entschließt sich de Ville über Waldenburg— 
Tannhausen auszubiegen und bricht in der Nacht zum 29. auf. Nach einem 
36stündigen Gewaltmarsch erreicht er Johannesberg und ist der Vernichtung 
entronnen. In diese Vorgänge reiht sich unser Brief ein. Wie schon erwähnt, 
bezieht sein Empfänger am Abend des 22. Juli den Posten Hirschberg. Das 
Schreiben zeigt, daß bei seiner Niederschrift dem König die Stellung de Villes 
bei Freiburg bereits bekannt war. Es handelt sich hierbei um das Lager 
Fürstenstein—Liebichau—Kuntzendorf, das de Ville bezogen hatte, und von 
dem Fouqué dem König am 24. Juli nachmittags Bericht erstattet“. In seiner 
Antwort vom 25. zweifelt der König bereits daran, ob sich de Ville in diesem 
Lager werde halten können“, und schon am 26. teilt Fouqué mit, daB dem 
österreichischen Korps die Zufuhr aus Böhmen abgeschnitten sei und de Ville 
in der Freiburger Gegend Brotlieferungen ausgeschrieben habe!*. Dieser 
Bericht kann allerfrühestens am 26. Juli Schmottseiffen erreicht haben und 


11 Die Darstellung nach dem Generalstabs werk: Die Kriege Friedrichs des Gro- 
Ben, Abtl. III, Bd. 10, Berlin 1912. 

12 Politische Correspondenz Friedrichs des Großen (P C) Bd. 18, Berlin 1891, 
Nr. 11200. 

33 Mémoires du baron de la Motte-Fouqué T. 1, Berlin 1788, S. 277. 

M PC, Bd. 18, Nr. 11281. U Mémoires a.a. O. S. 280. 


838 Helmut Eckert: Ein unveróffentlichter Brief Friedrichs des Großen 


somit kann unser Brief nur am 26. oder 27. geschrieben sein, denn erst dann 
kann der König Truppenbewegungen „von Fridtberg aus“, d. h. bei der 
Hauptarmee, dahin deuten oder Deserteuraussagen darin Glauben schenken, 
daB „dem Deville Brot durchgeschickt" werden soll, wenn er weiß, daß 
de Ville von seinen Magazinen abgeschnitten ist und die Hauptarmee Grund 
hat, ihn von sich aus zu verproviantieren. Für den 28. Juli aber ist eine Da- 
tierung nicht möglich, weil der König an diesem Tag bereits weiß, daß de Ville 
das Lager bei Freiburg verlassen hat und jetzt bei Gottesberg steht“. Der 
Verpflegungsschwierigkeiten ist de Ville noch nicht enthoben, aber der 
König würde jetzt nicht mehr geschrieben haben, „Deville, der bei Freiburg 
stehet“. Fouqués Bericht vom 26. Juli gibt die Vorgänge bei dem Korps an 
diesem Tage in der Landeshuter Gegend wieder. Er kann also frühestens am 
Spätnachmittag verfaßt sein und nicht vor Nacht Schmottseiffen erreicht 
haben. Den Brief an General von der Mosel muß aber der König mehrere 
Stunden vor Abend geschrieben und in Hirschberg gewußt haben. Seine 
Wendung, er werde Bülow „diesen Abend" marschieren lassen und die An- 
gabe der noch zu treffenden Maßregeln in Hirschberg deuten darauf hin. 
Diese Überlegungen nun führen zu dem Ergebnis, daB nur der 27. Juli 
1759 als Tag der Briefniederschrift angenommen werden kann, die in Dürings- 
Vorwerk, dem Hauptquartier des Königs im Lager von Schmottseiffen, 
stattgefunden hat. Eine solche Datierung wird noch durch eine Eintragung 
im Tagebuch des Feldpredigers Balke vom Kürassierregiment von Seydlitz 
bekräftigt“: „Den 27. [Juli] ging das Regiment Seydlitz nach Spiller. Der 
Feind ging auf die Nachricht davon zurück. Das Regiment kam den 28. 
wieder ins Lager" [von Schmottseiffen]. Es kann wohl kein Zweifel sein, 
daB das Regiment Seydlitz eines der beiden Kürassierregimenter des Korps 
Bülow ist, das der Kónig nach Spiller entsenden will. Was aber ist über die 
Tátigkeit dieses Korps zu sagen? Anscheinend haben Bewegungen bei der 
Hauptarmee Daun oder dem zu ihr gehórigen Korps Siskovisz, das in der 
Gegend von Friedeberg, bei Gebhardsdorf, stand, oder irgendwelche Kund- 
schafter- und Deserteuraussagen dem König eine Detaschierung von der 
Armee Daun zu de Ville wahrscheinlich erscheinen lassen. Ob sie wirklich 
geplant war und ob Bülow in der angegebenen Stärke ausgerückt ist, wage 
ich nicht zu entscheiden. Weder die Generalstabswerke, noch Tempelhoff, 
noch Regiments- und Armeejournale, die mir zugänglich waren, sprechen von 
einem solchen österreichischen Plan, von solchen preußischen Gegenmaß- 
nahmen. Das Journal des Regiments Jung-Braunschweig, das unter General 
von der Mosel in Hirschberg stand, berichtet in den betreffenden Tagen nichts 
von irgendeiner feindlichen Unternehmung!s. Sicher ist, daß Hirschberg und 
die Lomnitzer Brücke nicht angegriffen wurden. Deutlich aber geht aus dem 
Tagebuch Balke hervor, daß feindliche Bewegungen in dieser Richtung statt- 
gefunden haben. | Helmut Eckert. 


16 P C, Bd. 18, Nr. 11296. 

17 Tagebuch des Feldpredigers Balke 1759—62, bearbeitet von E. Buxbaum 
1889, S. 11. 

18 Sammlung ungedruckter Nachrichten, so die Geschichte der Feldzüge der 
Preußen von 1740—1799 erläutern. Dresden 1782. Bd. 2, S. 102ff. 


839 


Kritiken. 


Hugo Hassinger, Geographische Grundlagen der Geschichte. (Geschichte 
der führenden Völker. Herausgegeben von Heinr. Finke, Herm. Junker und 
Gustav Schnürer. II. Bd.) Freiburg i. Br. 1931. Herder & Co. XIII und 331 S., 
8 Karten. 


Das vorliegende Werk bildet eine geographische Einleitung zu der auf 30 Bände 
veranschlagten, von anerkannten Historikern geplanten „Geschichte der füh- 
renden Völker“. In Bänden mittleren Umfangs und in volkstümlicher Sprache 
soll die Geschichte der führenden Völker behandelt werden. Auffallend ist dabei, 
daß in dem aufgestellten Plane die nordischen Völker fehlen, die doch keinesfalls 
vernachlässigt werden sollten. Einige Bände liegen bereits vor, u. a.: „Der Sinn der 
Geschichte“ und „Die Urgeschichte der Menschheit“ von H. Obermaier, „Die griechi- 
sche Geschichte“ von H. Berve und „Die geographischen Grundlagen der Geschichte“ 
von H. Hassinger. Der Verfasser dieses letzteren Bandes, der auf dem Gebiete der 
Anthropo- und Kulturgeographie und der Länderkunde eine geachtete Stellung 
einnimmt, will den Zusammenhang zwischen Erdraum und Kulturentwicklung einer- 
seits, zwischen Erdraum und Staatenleben andererseits untersuchen. Diese Aufgabe 
war um so dankbarer, als wir in der deutschen wissenschaftlichen Literatur noch kein 
Werk besitzen, das systematisch diese Zusammenhänge über die Schauplätze der 
Geschichte hinweg und in Beziehung zu ihr verfolgt. Dabei hat sich der Verfasser 
nicht darauf beschränkt, nur den heutigen Zustand der Erdräume zu schildern, 
sondern er hat, darüber hinausgehend, die Entwicklung der Kulturvölker auf den 
Hintergrund der Landschaft vergangener Zeiten und auf die Lageverhältnisse der 
Staaten vergangener Jahrhunderte und Jahrtausende projiziert und die allgemeine 
Entwicklungslinie der Kultur in ihrem Verhältnis zum Erdraum herausgearbeitet. 
Denn mit dem Fortschritt eines Kulturvolkes ändert sich ständig auch das Land- 
schaftsbild seines Wohnraumes und der Wert von dessen Lagebeziehungen. Damit 
wird die ehemalige Urlandschaft in eine Kulturlandschaft umgewandelt. Bewußt 
wurde dabei auf eine Darstellung der historisch-geographisch gut untersuchten einzel- 
nen Landschaften Griechenlands, Italiens und Deutschlands verzichtet, da sie, ebenso 
wie die Vorgeschichte, in einigen Bänden des Sammelwerkes sowieso behandelt 
wird. Beider überwältigenden Fülle desüber große Räume und weite Zeitspannen ver- 
teilten Tatsachenmaterials einerseits und der Raumbeschränkung des Bandes an- 
dererseits mußte der Vf. auf eine systematische und erschöpfende Bearbeitung des 
Themas verzichten, und so betrachtet er sein Werk nur als vorläufige grobe Umriß- 
zeichnung, in der das Wesentliche aus der Stoffülle als erste Überschau herausgehoben 
werden soll. | | 


840 Kritiken 


Das ganze Buch umfaßt acht Kapitel. Ausgehend von der Betrachtung des 
Verhältnisses der Geographie zur Geschichte behandelt der Vf. Erde und Mensch, 
dann die Erdteile der Alten Welt (Europa, Asien und Afrika), die Schauplätze der 
ersten Staatenbildungen (die Strom- und Hochlandoasenländer des Orients: Ágyp- 
ten, Mesopotamien, Arabien und den vorderasiatischenIsthmus, die vorderasiatischen 
Hochlandoasen und ihr nördliches Vorland, ferner die Monsunlánder: Indien, Ost- 
asien), dann die Mittelmeerlünder, die Erweiterung des geschichtlichen Schauplatzes 
bis zum kontinentalen Zusammenschluß der Völker der Alten Welt, die Überwindung 
der ozeanischen Räume und die Neue Welt. Zum Schluß gibt er dann eine politisch- 
geographische Übersicht der Großreiche der Vergangenheit und Gegenwart mit 
einem Rückblick und Ausblick. 

Die engen Beziehungen zwischen Geographie und Geschichte sind ja so alt wie 
diese beiden Wissenschaften selbst und kommen schon in den Geschichten des Hero- 
dot zum lebendigen Ausdruck. Hatte doch die Geographie des Altertums neben 
der mathematischen auch eine ausgesprochen historische (länderbeschreibende) 
Richtung. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es besonders Karl 
Ritter, zusammen mit A. von Humboldt, dem Begründer der neueren Geographie, 
der den Versuch machte, in einer großzügig angelegten Länderkunde die Erdräume 
im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen erklärend zu schildern. 
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts unternahm es der Geograph Friedrich Ratzel, 
die Lehre von der Geographie des Menschen und seinen staatlichen Organisationen 
in ein System zu bringen. Er schrieb die erste „Anthropogeographie“ mit dem 
programmatischen Untertitel „Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die 
Geschichte“ und ließ ihr bald die erste „Politische Geographie“ folgen. Diese poli- 
tisch-geographischen Ideen Ratzels gaben dann dem schwedischen Staatsrechts- 
lehrer Rudolf Kjellén Anlaß zu seiner „Geopolitischen Betrachtung" des heutigen 
Systems der Großmächte. Nach dem Weltkriege hat diese „Geopolitik“ eine umfang- 
reiche Literatur geschaffen (Haushofer, Dix, Vogel, Maull, Wütschke, Lautensach, 
Hennig, Supan, Braun, Ziegfeld u. a.). Die Geopolitik ist nach Kjellén die Lehre von 
der Abhängigkeit der inneren und äußeren Politik eines Volkes von den Eigenschaften 
der Erdoberfläche seines Wohngebietes. Im Gegensatz zur Anthropogeographie, 
deren Aufgabe es ist, die heutige Kulturlandschaft mit ihren ererbten und mit ihren 
Gegenwartsformen zu betrachten, steht die historische Geographie, die die Kultur- 
landschaft vergangener Zeiten zu beschreiben und zu erklären hat. Unter den 
, Weltgeschichten" nimmt die Helmolts, zu der Ratzel einen einleitenden Abriß 
der Anthropogeographie lieferte, insofern eine Sonderstellung ein, als sie geographisch 
orientiert ist. Sie ist durchaus nach ráumlichen Gesichtspunkten angelegt, und die 
Geschichte der einzelnen Erdräume wird durch alle Zeiten verfolgt, denn jeder 
Erdteil besitzt seine eigene Geschichte, wenn auch die Gleichstellung von Ländern 
geringerer Kulturbedeutung mit den führenden Kultur- und politischen Máchten 
von historischer Seite mit Recht beanstandet worden ist. 

Nach diesem ersten Kapitel, in dem der Vf. sich in vorsichtig abwügenden 
und knappen Formulierungen über das Verhältnis von Geographie und Geschichte 
äußert, untersucht er dann das Verhältnis Erde und Mensch, indem er vom Wohn- 
raum der Menschheit über die Brennpunkte des Lebens zum „Gang der Hochkultur“ 
gelangt und dann in groBen Zügen die Erdteile der Alten Welt darstellt, worauf im 
4. Kapitel die „Schauplätze der ersten Staatenbildungen“ in den Strom- und Hoch- 


-- — h wi 


Kritiken 841 


landoasen des Orients und in den Monsunländern eingehend behandelt werden. 
Nun folgt die Darstellung der Mittelmeerlünder, ihr Wesen und ihre Einheit, die 
natürlichen Veränderungen der Mittelmeerlandschaft in geschichtlicher Zeit und die 
Kulturlandschaften des Mittelmeergebietes von Palästina, Phönikien, Syrien und 
Kleinasien im Osten bis zur Iberischen Halbinsel und den Atlasländern im Westen. 
Die Erweiterung dieses geschichtlichen Schauplatzes bis zum kontinentalen Zu- 
sammenschluß der Völker der Alten Welt nach der Nord- und Ostsee, den nord- 
atlantischen Inseln und Osteuropa hin, ist der Inhalt des nächsten Kapitels. Hier 
wird der Versuch gemacht, darzustellen, wie sich die Alte Welt durch Kulturein- 
flüsse, Reisen, Entdeckungen, Kolonisation und Eroberungen räumlich zusammen- 
schloß und der geographische Gesichtskreis sich immer mehr erweiterte. Mit der 
Überwindung der ozeanischen Räume und der Besitzergreifung und Erschließung 
der Neuen Welt befaßt sich ein weiteres Kapitel, dem sich schließlich eine politisch- 
geographische Übersicht der Großreiche der Vergangenheit und Gegenwart anreiht. 
Diese Übersicht zeigt, daß der Vf. vom geschichtlichen Werdegang ausgeht und 
auch die für den Historiker wichtigen geographischen Kenntnisse und Erklärungen 
eines Gebietes jeweils bringt, wenn sie für diese in der zeitlichen Reihenfolge gegeben 
ist. Maßgebend für die Anordnung des Stoffes ist der vorderasiatisch-mediterran- 
europäische Standpunkt, wenn er auch nicht immer vorwiegt. Da das Gebiet des 
Mittelmeeres im weiteren Umfange für den Historiker das meiste Interesse hat, 
so steht dieser Raum in der Ausdehnung der Behandlung weitaus im Vordergrunde, 
denn die geschichtlich-geographische Erforschung dieses Gebietes ist ja besonders 
weit gediehen. Dagegen werden die dem europäischen Gesichtskreis erst später be- 
kannt gewordenen Teile der Erde und ihre Schicksale bedeutend kürzer dargestellt. 
Trotz dieser Ungleichheit in der Behandlung des Stoffes liegt hier ein Werk von 
sachlicher Nüchternheit, solidem Wissen und straffer Zusammenfassung vor, das 
in weiten Teilen mustergültig geschrieben ist und sowohl dem Historiker wie dem 
Geographen reiche Belehrung bietet. Der Zwang, bei der Fülle des Stoffes mit dem 
zur Verfügung stehenden Raume hauszuhalten, hatte zur Folge, daB manche Vor- 
gänge etwas kurz weggekommen sind oder vermißt werden. Auch ist die Zahl der 
Kärtchen zu gering, und manches ließe sich kartographisch als Ergänzung zum Text 
noch anschaulicher darstellen. BegrüBenswert sind die reichen Literaturangaben am 
Schluß eines jeden Kapitels und das ausführliche Sach- und Personenregister. 


Leipzig. Hans Rudolphi. 


Saxonis Gesta Danorum primum a G. Knabe & P. Herrmann recensita recogno- 
verunt et ediderunt J. Olrik & H. Raeder. Tomus I. textum continens. 
Hauniae. 1931. apud librarios Levin & Munksgaard. Typis Fr. Bagge. LI, 
609 S. 


Die für die germanische Sagengeschichte als Ergänzung zur Edda so bedeut- 
samen Gesta Danorum des Saxo Grammaticus haben in der Überlieferung ein 
eigentümliches Schicksal gehabt: bis auf wenige Fragmente sind uns Handschriften 
nicht erhalten; man ist für die Textherstellung fast ausschließlich auf den Pariser 
Druck des Christern Pedersen von 1514 angewiesen, der aber auf einer guten alten 
Handschrift beruht, wohl kaum der gleichen (wie jetzt feststehen dürfte), von der 
die Fragmente von Angers stammen. 


842 Kritiken 


Die vor fast 100 Jahren erschienene dänische Ausgabe von Müller und Velschow 
ist seit langem vergriffen; für wissenschaftliche Zwecke benutzte man bisher die von 
Alfred Holder (Straßburg 1886); sie ist auch verhältnismäßig selten, und außerdem 
haben sich inzwischen zahlreiche Philologen um das Werk und seinen Text bemüht, 
so daß eine Neuausgabe eine Notwendigkeit war. Daß diese uns jetzt von dänischer 
Seite geschenkt worden ist, ist nur in der Ordnung, da es sich um ein einzigartiges 
Denkmal der Geschichte dieses Volkes handelt, wie es ähnlich keinem anderen Volke 
aus dem Mittelalter erhalten ist. 

Die gegenwärtigen Herausgeber konnten sich so weitgehend auf die Vorarbeit 
zweier deutscher Forscher stützen, daB sie der Ehrenpflicht genügten, deren Namen 
auf dem Titelblatt zu nennen. Namentlich der Torgauer Gymnasialprofessor G. Knabe, 
der 1912 Prolegomena zu einer Neuausgabe erscheinen lieB, hatte durch Textkritik 
und durch den für Saxo Grammaticus sehr wichtigen Zitatennachweis (besonders 
aus Valerius Maximus) schon auBerordentlich viel getan, als ihm der Tod den Ab- 
schluß seines Werkes unmöglich machte. P. Herrmann, der seine Arbeiten fort- 
führte, starb ebenfalls vor der Vollendung. Der handschriftliche NachlaB der beiden 
Gelehrten, der sich auf der Kgl. Bibliothek zu Kopenhagen befindet, ist von den 
dänischen Herausgebern der neuen Ausgabe dankbar benutzt worden. Die Arbeit 
verteilt sich so, daB Raeder den Text mit Valerius Maximus verglichen, Olrik das 
Manuskript Knabes weiter ausgearbeitet und auch die Prolegomena zu der Ausgabe 
(lateinisch und dänisch) verfaßt hat, die über den Autor, die bisherige Forschung 
und die Textgeschichte (Handschriftenfragmente und frühere Editionen) erschóp- 
fende Auskunft geben. Danach scheint die Hauptlast der Arbeit auf J. Olrik geruht 
zu haben. 

Die beiden dánischen Gelehrten haben gründliche Arbeit getan, es ist von ihnen 
mit gróBter Vollstándigkeit alles herangeholt worden, was die gelehrte Forschung 
bisher geleistet hat; um nur eins zu erwähnen: auch die sämtlichen Konjekturen 
von M. C. Gertz, die sich in dessen Handexemplar fanden, sind nach sorgfältiger 
Prüfung entweder in den Text aufgenommen oder in den Variantenapparat ver- 
wiesen worden. Von der Holderschen Ausgabe unterscheidet sich die neue vor allem 
dadurch, daB die Orthographie modernisiert worden ist, die Holder nach dem Frag- 
ment von Angers in mittelalterlicher Form durchgeführt hatte (e für ae, u für v, 
-cio für -tio usw.), und daB die von Knabe herrührende Einteilung der 16 Bücher 
in Kapitel und Paragraphen überall angenommen worden ist. Die textlichen Ab- 
weichungen gegenüber der Holderschen Ausgabe sind, soweit meine Nachprüfungen 
(Praefationes, Buch I. und Buch XV und XVI) gehen, verhältnismäßig geringfügig. 
In der Partie des I. Buches, die auch die Angersfragmente überliefern, hat Holder 
meist deren Text übernommen, und hier sind daher die Abweichungen stärker, da 
ihr Wert von Olrik anders beurteilt wurde. Im übrigen hielt sich Holder strenger an 
den Text des Pariser Druckes; wo die neuen Herausgeber diesen Text verlassen, 
geschieht dies meist mit guter Begründung. 

Nur eins vermisse ich bei der von ihnen geleisteten Arbeit: sie haben sich nirgends 
mit der Frage des rhythmischen Satzschlusses (Cursus) auseinandergesetzt, und dies 
war m. E. unbedingt notwendig, da Saxo Grammaticus ihn fast regelmäßig anwendet. 
Ich habe mir die Mühe gemacht, daraufhin die Praefationes, Buch I. und Buch XV. 
(also eins der zuletzt und eins derzuerst entstandenen Bücher) durchzuarbeiten, und 
teile kurz das Ergebnis mit: Im XV. Buche(621 Zeilen) begegnet Planus 457 mal, Tardus 


Kritiken 843 


198 mal, Velox 174 mal; außerdem findet sich — offenbar mit Absicht, allerdings meist 
nur im Innern der Periode, in diesem Buche aber auch am Ende derselben — ein rhyth- 
mischer Kolonschluß, den ich mit y bezeichnen will, in der Form / x x x/ x, und zwar 
94 mal; keinen Cursus finde ich in diesem Buche an 267 Stellen. Im I. Buche (521 
Zeilen) — also später — ist das Verhältnis folgendes: Planus 271 mal, Tardus 
207 mal, Velox 179 mal, y (nie als Schluß der Periode!) 77 mal, kein Cursus 98 mal. 
In den Praefationes (232 Zeilen), meist als zwischen den beiden obigen Büchern 
verfaßt angenommen, Planus 112 mal, Tardus 99 mal, Velox 89 mal, y 20 mal, kein 
Cursus 26 mal. Die Aufstellung zeigt ein anfängliches Bevorzugen des Cursus planus 
bei einer verhältnismäßig großen Zahl von cursusfreien Kolaschlüssen; das Verhältnis 
verschiebt sich mit der Zeit zugunsten der beiden anderen Cursusarten, der Cursus y 
wird seltener (wenigstens als Periodenschluß), immer seltener werden vor allem die 
Satzpausen ohne den Schmuck des Cursus gelassen. Ich will nicht so vorschnell sein 
zu behaupten, daß sich mit Hilfe einer eingehenden Cursusuntersuchung zu einer 
größeren Sicherheit in der Feststellung der Reihenfolge des Entstehens der einzelnen 
Bücher wird vordringen lassen; aber notwendig erscheint mir die Untersuchung der 
befolgten Cursusregeln auch deswegen, weil die Einsetzung von Konjekturen in den 
Text nicht im Widerspruch stehen darf zu der geübten Cursuspraxis. Nur ein paar 
Beispiele dafür: S. 27,2 bietet a (der Druck von 1514) „muletavit“, wofür aus der 
Chronica Jutensis „mutilavit“ übernommen ist, das den Cursus planus zerstört; 
S. 30,25 gehört das Komma offenbar hinter „abruptum“, da „forte deferebat" 
keinen Cursus ergibt, wohl aber , deferebat abruptum". S. 538,5 war (gegen Holder) 
richtig , praesidiis irrupisset" (velox) einzusetzen, S. 539,30 richtig „circumvenire 
studentis" (planus). 

Eine Eigentümlichkeit fällt mir im übrigen beim Cursusgebrauch des Saxo auf: 
er wendet gern mehrmals hintereinander denselben Cursus an; die Fülle sind sehr 
zahlreich; ich weise nur auf Buch I. cap. V, § 6 hin, wo in 5 Zeilen ausschließlich der 
Tardus vorkommt, 8mal hintereinander. In Hinsicht auf die Cursusberücksichtigung 
halte ich also die neue Ausgabe für ergünzungsbedürftig. 


Sonst ist von den Herausgebern vortreffliche Arbeit geleistet worden. Der Les- 
artenapparat ist mit größter Sorgfalt angelegt; der Zitatennachweis dürfte jetzt 
nahezu vollständig sein. Druck und Ausstattung des Buches sind mustergültig. 
Dieser I. Band bringt außer dem Index editionum et versionum nur den wichtigen, 
sorgfältig redigierten Index nominum; den Index verborum wird ein besonderer 
ll. Band bringen; das läßt darauf schließen, daß er das Wortmaterial sehr voll- 
ständig enthalten wird, was bei der eigentümlichen Sprachkunst des Schriftstellers 
sehr zu begrüßen ist. Für die Arbeit am neuen Du Cange (m. W. ist Olrik unter den 
dänischen Mitarbeitern) dürfte dieser noch ausstehende Band einen bemerkens- 
werten Beitrag liefern. 


Góttingen. H. Walther. 


Neuere Sehriften über den Deutschen Orden. 


Die Erinnerung an die 700jährige Zugehörigkeit des Deutschordenslandes zu 
Preußen bringt es mit sich, daB im Verlauf dieser Jahre die Beschäftigung mit dem 
Deutschen Ritterorden gewachsen ist. Vor allen Dingen ist nach langer Zeit vom 


844 Kritiken 


Preußischen Urkundenbuch die erste Lieferung des 2. Bandes erschienen!, die 
die Jahre 1310—1324 umfaßt. Sie bringt demnach die Schlußzeit der Regierung 
Siegfrieds von Feuchtwangen und die gesamte Zeit des Hochmeisters Karl von 
Trier. Hoffentlich gerät die Arbeit nun nicht wieder ins Stocken, so daß wir in ab- 
sehbarer Zeit die Schlußlieferung und das so notwendige Register erwarten können. 
Für die äußere Form war die Diplomata-Ausgabe der Monumenta Germaniae 
historica maßgebend. Es sind also alle Vorbemerkungen vor den Text gesetzt. Die 
Benutzung von Vorurkunden ist bei den betreffenden Stücken durch Petitdruck 
kenntlich gemacht. Hinweise auf das Diktat fehlen nicht. Als Frucht dieser Arbeit 
bringt Hein in den Alipreugischen Forschungen 9 (1932) eine Untersuchung 
über die Ordenskanzleien in Preußen“. Er kommt dabei zu dem Ergebnis: „Starkes 
Leben herrscht nur in den beiden großen Komtureien, die sich vorwiegend dem Fort- 
schreiten der Kolonisation widmen, in Christburg und Elbing, die Zentrale hat nur 
vorübergehend das Bedürfnis nach einer ständigen Kanzlei, ist also noch von ge- 
ringem Einfluß, im Westen darf das Fehlen von Kanzleien als sicher angenommen 
werden; hier sind die eigentlichen Kulturzentren noch die beiden Klöster Pelplin und 
Oliva. Unfertig erscheinen die Verhältnisse noch in Königsberg. Die Kolonisation 
in den Komtureien Brandenburg und Balga hat noch kaum begonnen. Die Syste- 
matik in der Kolonisationsarbeit des Ordensstaates wird daraus erkennbar“ (S. 21). 


Von den 478 Urkunden des Urkundenbuches sind 167 neu, davon werden 6 als 
Regesten gebracht (Nr. 227), deswegen weil das in Zuckau liegende Original nicht 
einzusehen war. 106 Stücke waren schon in der Literatur bekannt. Dieser verhältnis- 
mäßig geringe Ertrag an neuen Urkunden ist nicht weiter verwunderlich, da ein 
Teil der Landschaften und Orte schon eigene Urkundenbücher herausgegeben haben. 
Hierin veróffentlichte Stücke werden meistens als Regest gebracht. Nur dort, wo die 
Veröffentlichung nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügte (besonders im Po- 
mesanischen Urkundenbuche und im Urkundenanhang zu Cramers Geschichte der 
Lande Lauenburg und Bütow) war ein Neudruck notwendig. 


Vom Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen ist keine Urkunde mehr aus- 
gestellt, von Karl von Trier nur 49. Die letzte von ihm in Preußen datiert vom 
2. Juli 1317 (Nr. 185). Bald darauf legte er sein Hochmeisteramt nieder und zog 
sich nach Deutschland zurück. Auch als er die Würde wieder übernahm, ist er nicht 
nach Preußen zurückgekehrt, hat aber besonders am päpstlichen Hofe in Avignon 
für den Orden gewirkt. Auch sonst ist seine Tätigkeit für den Orden erfolgreich 
gewesen. So wird die Urkunde vom 17. Januar 1321 (Nr. 312) abgedruckt, in der 
König Johann von Böhmen und Polen in Trier dem Deutschen Orden seine Rechte 
in Böhmen und Mähren bestätigt. Im eigentlichen Sinne gehört diese Urkunde nicht 
in das preußische Urkundenbuch hinein, da sie keine preußischen Verhältnisse be- 
handelt, auch schon einwandfrei gedruckt vorliegt*. — Es erhebt sich aber da die 
Frage, ob es nicht überhaupt ratsam wäre, in das preußische Urkundenbuch alle 
Urkunden, die die Hochmeister betreffen, aufzunehmen, sei es auch nur in einer An- 


! Preußisches Urkundenbuch. Zweiter Band, 1. Lieferung (1309—1324). Herausgeg. 
im Auftrage der Histor. Komm. für ost- und westpr. Landesforschung von Max Hein und 
Erich Maschke. Königsberg 1932. Komm.-Verlag Gräfe u. Unzer. 

3 Max Hein, Die Ordenskanzleien in Preußen 1310—1324. In: Altpr. Forschungen 9. Jg. 
(1032) 8. 9—21. 

* Johannes Voigt, Die Ballei des Deutschen Ordens in Böhmen. Wien 1803. 8. 581. 


Kritiken 845 


merkung, damit alles, was den derzeitigen Hochmeister betrifft, hier vereinigt wäre. — 
Nach der Abreise Karls von Trier aus Preußen treten die Urkunden des Landmeisters 
Friedrich von Wildenberg und des Großkomturs Werner von Orseln, späteren Nach- 
folgers im Hochmeisteramt, in den Vordergrund. Recht breiten Raum nehmen die 
Urkunden über den Streit in Pommerellen ein. Der Prozeß des Königs von Polen 
mit dem Deutschen Orden um Pommerellen vor den päpstlichen Richtern im Jahre 
1320/21 (Nr. 310) füllt allein 25 Seiten. 


Wir sind dankbar, daß die Arbeit am preußischen Urkundenbuch uns endlich 
wieder einen Band beschert hat, dessen Wert vollanerkannt werden kann. Es soll keine 
Herabsetzung sein, wenn ich auf einiges aufmerksam mache. Das Original von Nr.16 
(1310 Juli 27) befindet sich im Geheimen Staatsarchiv in Berlin und von Nr. 231 
(1319 Juli 12) im Deutschordens-Zentralarchiv in Wien (K.61). Bei den Geheim- 
urkunden fehlt eine Stellungnahme der Herausgeber. Oder soll die Arbeit von Forst- 
reuterin denaltpreußischen Forschungen 5 (1928)* alsmaßgebend angesehen werden ? 
Daß tatsächlich nicht alle Urkunden erfaßt sind, ist schon von anderer Seite hervor- 
gehoben worden. 

Schon in den Jahren 1927—29 erschienen die drei letzten Lieferungen vom 
4. Bande des Codex Diplomaticus Warmiensis*, so daB zum Abschluß dieses 
Bandes nur noch das Register fehlt. Nicht durch Schuld des Referenten erscheint 
jetzt erst die Anzeige. Ebenfalls über 2 Jahrzehnte sind seit Erscheinen der ersten 
beiden Hefte dieses Bandes, die noch Röhrich und Liedtke besorgten, verstrichen. 
Die Schlußhefte, die als Jahresgabe für die Mitglieder des Historischen Vereins für 
Ermland erschienen sind, bringen nicht ganz 400 Urkunden (die Nrn. 218—609) 
und umfassen die Jahre 1428—1435, einen Teil der Regierungszeit des Bischofs 
Franz Kuhschmalz (1424—1457). Außerdem stehen in den Bemerkungen, die am 
SchluB jedes Stückes gebracht werden, zahlreiche Teildrucke und Regesten. 


Es ist die Zeit der Hussitengefahr und der dauernden Bedrohungen durch die 
Polen, die natürlich auch in dem vorliegenden Urkundenbuch ihren Niederschlag 
finden. Die Schreiben des Deutschordensprokurators aus Rom betreffen in der 
Hauptsache livländische Verhältnisse. Da aber ermländische Kanoniker als Schlich- 
ter eingesetzt sind, so mußten sie auch hier teilweise abgedruckt werden. Im Streit 
des Deutschordens einerseits, des Erzbischofs von Riga und seines Kapitels anderer- 
seits wegen deren Habitwechsel treten gleichfalls ermländische Kanoniker als Ver- 
mittler auf. Ferner berühren eine ganze Anzahl Urkunden die Stellung des Deutschen 
Ordens auf dem Baseler Konzil. Aus allen diesen Äußerungen wird uns die enge 
Bindung des Ermlandes an den Deutschen Orden und seine Geschicke deutlich. 
Noch nirgends finden wir eine Andeutung von Mißhelligkeiten zwischen beiden. 

Nr. 4% bringt ein Verzeichnis der Urkunden, die 1433 das Domkapitel dem 
Bischof Franz übersendet. Ein Vergleich zeigte, daß die Originale dieser Urkunden 
noch größtenteils erhalten sind. Erwähnung verdient auch die Willkür Eberhards von 
Wesentau, des Vogtes von Seeburg, für den ermländischen Bauernstand vom 


* Kurt Forstreuter, Die Bekehrung Gedimins und der Deutsche Orden. In: Altpr. 
Forschungen 5. Jg. (1928) 8. 239— 61. 

* Monumenta Historiae Warmiensis. 32.—34. Liefg. Bd. IX, 3—5. I. Abt. Codex 
Diplomaticus Warmiensis oder Regesten und Urkunden zur Geschichte Ermlands. — Ge- 
sammelt u. in N. d. Hist. Ver. f. Ermland herausgegeb. von Hans 8chmauch. Bd.IV. Bogen 
17—39. Braunsberg 1927—29. 


846 Kritiken 


12. März 1435 (Nr. 571). In 29 Artikeln werden Rechte und Pflichten der Schulzen 
und Bauern festgelegt. Nachträge ergeben sich auch hier. Schmauch berichtet 
bereits 1927, daB er für das Gesamturkundenbuch schon 500 neue Stücke gefunden 
hat. Die Zahl hat sich seitdem noch vermehrt. 


Kurz nach seiner Arbeit über die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen 
in dem Sammelwerk, das der Landeshauptmann der Provinz OstpreuBen zur 
Jubelfeier veranlaßte®, hat Krollmann eine selbständige politische Geschichte 
des Deutschen Ordens in Preußen? erscheinen lassen. Die Arbeit ist aus genauester 
Kenntnis mit der Entwicklung des Deutschen Ordens-Staates geschrieben und stellt 
eine hervorragende Leistung dar. Jedem Abschnitt merkt man die innige Vertraut- 
heit mit dem Stoffe an. Wie ein groBes Drama von erschütternder Tragik spielt sich 
die Geschichte des Deutschen Ordens vor unseren Augen ab. Drei Jahrhunderte: 
Aufstieg, Blüte und Verfall. Besonders packend weiB K. die letzten Zeiten zu schildern: 
das vergebliche Bemühen, Preußen vor der Ländergier der Polen zu retten. Der 
Übergang in ein weltliches Herzogtum blieb die einzige Rettung. Zu bewundern ist 
die straffe Zusammenfassung. Dabei wird der ständige Fortgang des Geschehens 
durch die Einteilung in kleine, ja kleinste Abschnitte nicht gestört. Allerdings wird 
uns meist die allmähliche Entwicklung eines Ereignisses nicht gebracht. Erst dann 
wird es erwähnt, wenn es in Erscheinung tritt. Dies ist allerdings richtig für den 
Zweck, für den das Buch geschrieben ist: es will sich an einen weiteren Leserkreis 
wenden. Ich glaube aber, daB der Fachgelehrte mehr von dem Buche haben wird, 
und bedauere deswegen auch, daB die Anmerkungen fortgefallen sind. Vielleicht 
entschlieBt sich der Verlag noch, dies bei der zweiten Auflage nachzuholen. Und dann 
will K. nur die „politische Geschichte" bringen. Dies wird allerdings nicht streng 
durchgeführt und kann es auch nicht, da sich gerade im Deutschordensstaate Kultur 
und Wirtschaft nicht von den politischen Maßnahmen trennen lassen. Im Vorder- 
grund der Schilderung steht aber immer das Ringen des Deutschen Ordens mit den 
Grenzmächten und die Bündnispolitik. Besonders deutlich ist das völlige Versagen 
von Kaiser und Reich um die Erhaltung dieser deutschen Feste im Nordosten und 
das Bestreben der Polen, dort zu ernten, wo sie nicht gesát haben, herausgearbeitet. 
Trotz der Schwachheit und Unzuverlässigkeit der polnischen Stände gelingt es dem 
Könige, im 2. Kriege mit dem Deutschen Orden zu siegen, durch — die gewaltige 
Anstrengung der preußischen Städte, die zwar ihre Freiheit vom Deutschen Orden 
erstrebten, diese aber nicht an die Polen zu verkaufen gedachten; hierin sollten sie 
sich táuschen. Ein treffendes Beispiel dafür, daB Deutsche sich immer selber ver- 
nichten müssen. 


Leider hat Krollmann sich nur ganz auf Preußen beschränkt und nicht den 
Anteil, den die zahlreichen Balleien besonders in Deutschland am Werden und Ver- 
gehen des Deutschordensstaates haben, mit einbezogen. Der Umschlagtitel: „Poli- 
tische Geschichte des Deutschen Ordens“, der zu dieser Annahme führen konnte, ist 
also irreführend und kommt wohl auf Konto des Verlages. Hervorzuheben sind die 
ausgezeichneten zahlreichen bildlichen Beilagen aller Art. 


* Vgl. HVj. XXVII. Hg. S. 877f. 

* Christian Krollmann, Politische Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. 
Gräfe u. Unzer. Königsberg 1. Pr. (1932) = Ostpr. Landeskunde in Einzeldarstellungen 
(Bd. 3). 


Kritiken 847 


Gleichsam als Ergänzung zu Krollmanns politischer Geschichte erscheint von 
Oscar Schlicht, Das Ordensland Preußen®. Deshalb wird auch hier die politische 
Geschichte nur in zwei kurzen Abschnitten (S. 23—50 u. 116—134) gegeben. In der 
Einleitung verweist Schlicht selbst auf Krollmanns Darstellung, sowie auf die an- 
deren Arbeiten, die in der von ihm herausgegebenen OstpreuBischen Landeskunde 
in Einzeldarstellungen erschienen sind, für ein tieferes Eindringen in den Stoff. Be- 
sonderer Wert ist auf die kulturelle Entwicklung gelegt. Der dritte Abschnitt: „Der 
Orden als Lehnsherr“ (S. 51—82) weist starke Anleihen bei Voigt, „Die Balleien des 
Deutschen Ritterordens in Deutschland'?, auf, ohne daB das Werk erwühnt wird. 
Im folgenden, „Kultur und kulturelles Leben im Ordensstaat“, werden die Bauten 
der Ordenszeit, geistiges Leben und Kunst, Klóster und Klosterwesen, sozial-kirch- 
liche Einrichtungen und Anschauungen behandelt. Den Abschluß bilden die Kapitel 
über „Livland und der Deutsche Ritterorden“ und „Die Balleien des Deutschen 
Ritterordens". Diese Inhaltsangabe zeigt ein erfreuliches Programm, das wirklich 
eine wertvolle Ergänzung zu Krollmanns politischer Geschichte und besonders nach 
der kulturellen Seite hin wäre, wenn das Werk nicht so viele Fehler enthielte. Es ist 
sehr schade, daß die Liebe zur Heimat den Verf. nicht auch zu sorgfältigerem Arbeiten 
veranlaßte. So ist leider das Buch nur mit großer Vorsicht zu benutzen. Hoffentlich 
fällt der 2. Teil besser aus. Hervorragend sind aber die sehr zahlreichen bildlichen 
Beigaben, die mit feinem Verständnis ausgewählt sind. 


Rechtsgeschichtlicher Natur sind zwei eingehende Untersuchungen von 
Guido Kisch über „Die Kulmer Handfeste“ io und „Das Fischereirecht im Deutsch- 
ordensgebiet 11 erschienen. Kisch knüpft an die Arbeiten Wilhelm von Brünnecks 
über die Quellen zur Altpreußischen Rechtsgeschichte an, die aber nicht den ver- 
dienten Widerhall gefunden haben. Seit seinem Tode (1918) schien dieses Gebiet 
völlig verwaist zu sein. Da hat sich Kisch in seiner Königsberger Zeit von neuem 
in diesen Stoff vertieft und ist diesen dort begonnenen Arbeiten treu geblieben. In 
verschiedenen kleinen Studien hat er zuerst Teiluntersuchungen veröffentlicht !? 
und bringt nun als erste reife Frucht rechtshistorische und textkritische Unter- 
suchungen über die Kulmer Handfeste, denen er die Herausgabe der wichtigsten 
Texte dieses Privilegiums anhängt. 

Die Kulmer Handfeste ist das bedeutendste und einflußreichste Rechtsdenkmal 
des Deutschordensgebietes. Gleichsam als Richtungsweiser steht es am Anfang der 


* Oscar Schlicht, Das Ordensland Preußen. (T. DerOrdensstaat. Buchdruckerei der 
Wilh. u. Bertha v. Baensch Stiftg. Dresden 1933. 

* Bd. I, erschienen 1857. 

" Guido Kisch, Die Kulmer Handfeste. Rechtshistorische und textkritische Unter- 
suchungen nebst Texten. = Deutschrechtl. Forschungen. Herausgegeb. von Guido Kisch 
1. Heft. W. Kohlhammer. Stuttgart 1931. Vgl. dazu: H. Kleinau, Untersuchungen über die 
Kulmer Handfeste, besonders ihre Stellung im Recht der deutschen Kolonisation. Zugleich Be- 
merkungen zu Guido Kisch, Die Kulmer Handfeste. In: Altpr. Forschungen 10. Jg. (1933) 
8. 231—201. 

" Guido Kisch, Das Fischereirecht im Deutschordensgebiet. Beiträge zu seiner Gc- 
schichte. = Deutschrechtl. Forschungen. 5. Heft. W. Kohlhammer. Stuttgart 1932, 

13 Das Mühlenregal im Deutschordensgebiet. Sav. ZRG. Germ. Abt. 48 (1028) S. 176—193. 
— Studien zur Kulmer Handfeste. Die Rechtsvorbehalte der Kulmer Handfeste, ihre Rechts- 
grundlagen und Rechtsnatur. In: ZSRG. Germ. Abt. 50 (1930) S. 180—239. — Zur Geschichte 
des Fischereiregals im Deutschordensgebiet. In: Beiträge zum Wirtschaftsrecht. Festschrift 
für Ernst Heymann. Marburg 1931. 8. 399—413. 


848 Kritiken 


Eroberung PreuBens durch den Deutschen Orden. 1231 beginnt der Kampf um 
PreuBen, 1233 wird die Urkunde für Kulm und Thorn ausgestellt. Dadurch wird es 
klar, daB diese verfassungsrechtliche Urkunde, die Kulm als Oberhof für die zu- 
künftigen Städte einsetzt, auch Bestimmungen enthält, die sich später als untunlich 
erwiesen. Es war ein Programm. Dies zeigt Kisch in dem Abschnitt: „Unange- 
wendet gebliebene Bestimmungen der Kulmer Hand feste“. Darunter fallen . B. 
die Freiheit der Bürger, eine Mühle zu erbauen, sofern ihr Acker an ein geeignetes 
Gewässer grenzt (Art. 13), ferner die freie Richterwahl, die den Bürgern mit ge- 
wisser Einschränkung zugesichert wurde (Art. 1). Deutlich tritt das Programmatische 
in der Urkunde bei Art. 11 hervor, wo sich der Deutsche Orden ein Regalvorbehalt 
für die edlen Metalle, namentlich für Gold und Silber, ausmacht. Eine Hoffnung, 
die nie in Erfüllung ging. 

Nachdem Kisch sich mit den Forschungen von Brünnecks u. a. auseinander- 
gesetzt hat und sich dabei besonders gegen die juristisch-konstruktive Denkweise 
wendet, behandelt er die Einwirkungen des alten Gewohnheitsrechtes auf die 
Kulmer Handfeste. Er stellt die Frage: „Ist neben der Kulmer Handfeste das alte 
heimatliche Gewohnheitsrecht der Ansiedler oder der eine oder andere wichtige 
Rechtsgrundastz daraus auch für die neuen Verhältnisse im nordöstlichen Kolo- 
nisationsgebiet in Geltung geblieben? Oder ist altes heimisches Gewohnheitsrecht 
der deutschen PreuBensiedler von der Kulmer Handfeste aufgenommen und an- 
erkannt und so zur Geltung gebracht worden?“ (S. 41 f.). Wie dem Siedler im 
Osten das ius theutonicum nur durch ein besonderes Privileg zuteil wird und damit 
die Bedeutung des Gewohnheitsrechtes verliert, so kommen dem alten Gewohnheits- 
recht ,nur infolge und im Rahmen seiner Anerkennung durch die Kulmer Hand- 
feste ... im Ordenslande noch Wirksamkeit zu“ (S. 47). Die Hand feste beweist 
aber, daB auf dieses Gewohnheitsrecht der Siedler weitgehend Rücksicht genommen 
worden ist. Leider geht Kisch auf diese Abhängigkeit nicht näher ein. 

Der 2. Teil (S. 57—108) bringt textkritische Untersuchungen über die einzelnen 
Fassungen. Einzeluntersuchungen fehlen leider auch hier. Zur Frage, ob Hermann 
von Salza selbst bei der Abfassung des Privilegs im Deutschordenslande geweilt hat, 
drückt sich Kisch schon im 1. Teil unter Anführung der gesamten Literatur 
sehr vorsichtig aus (S. 6ff.). Er scheint aber zu der Annahme zu neigen, daB der 
Hochmeister tatsächlich im Ordenslande war. Ebenso fehlt eine Untersuchung über 
das Verhältnis des Originals von 1233 und der Neuausfertigung von 1251. Welcher 
Text lag der Erneuerung zu Grunde? Im allgemeinen begnügt sich Kisch, die 
Handschriften zu besprechen und die Grundsätze seiner Edition klarzulegen. 
Allein für die Übersetzungen sucht er die Abhängigkeit nachzuweisen, die an einem 
„Stammbaum“ (S. 106) schematisch dargestellt wird. Ich glaube also, daß noch nicht 
mit dieser Veröffentlichung das letzte Wort für die textkritische Untersuchung ge- 
sprochen ist. 

Anschließend an diese Untersuchungen legt Kisch die Arbeit über „Das 
Fischereirecht im Deutschordensgebiet" 11 vor. Das Forschungsverfahren ist das 
gleiche wie im ersten Werke. Im 1. Teil unterrichtet er über den Stand der 
Forschung. Durch die Überschrift des 2. Teiles: „Das Fischereiregal", der haupt- 
sächlich sich mit Art. 10—12 der Kulmer Handfeste befaßt (S. 23—99), läßt Kisch 
sofort seine Stellung zu der Frage erkennen, wie er sie schon in seinen Studien 
zur Kulmer Handfeste!?, S. 187ff., gegen von Brünnecks Scheidung in Eigentums- 


Kritiken 849 


und Regalienvorbehalte auseinandergesetzt hatte und nochmals hier ausführlicher, 
S. 35— 39, wiederholt. Seinen Ausführungen ist zuzustimmen. Die gleichen Verhält- 
nisse haben wir in den Balleien, deren Urkundenmaterial nicht herangezogen wird. 
Er lehnt es ab, daB das Binnenfischereiregal erst später aus dem Meeresfischereiregal 
entstanden ist, sondern nimmt die Gleichaltrigkeit beider Regale an. Die Unter- 
suchung über die rechtlichen Grundlagen der Fischereiprivilegien, ihr Verhältnis 
zur alten Fischereifreiheit und zu den Rechtsverhältnissen an Grund und Boden faßt 
Kisch in die Worte zusammen: „Der Nachweis konnte erbracht werden, daß dem 
Deutschen Orden von Anbeginn seiner ordnenden Tätigkeit auf dem Gebiete des 
Fischereirechts ein allgemeines Fischereiregal in weitestem Umfange als Ziel vor- 
geschwebt hat, das zu erreichen, durchzuführen und zu behaupten er allezeit eifrigst 
bestrebt gewesen ist“ (S. 103). Dieses Bemühen des Deutschen Ordens, das Fischerei- 
regal genau wie das Mühlenregal auch in seinen sonstigen Besitzungen durchzu- 
führen, lassen zahlreiche Urkunden aus den Balleien erkennen. Andere Territorien 
ergeben allerdings wenig Vergleichungspunkte. 

Der letzte Teil der Arbeit will nun durch Untersuchungen des Rechtsinhaltes 
der Fischereiprivilegien im Deutschordensland die gewonnenen Erkenntnisse stützen 
und erweitern. Er zeigt, ‚in welcher Weise das Fischereiregal seit der 2. Hälfte des 
13. Jahrhunderts bis zur Zeit des Sinkens der politischen Macht des Deutschen 
Ordens gehandhabt worden ist“ (S. 105) und „wie sich praktisch die Ausübung der 
verliehenen Fischereigerechtigkeiten abspielte, wie sie sich ráumlich, zeitlich, gegen- 
stándlich und persónlich innerhalb der engen Grenzen zu halten hatten, die der 
Orden in Anwendung seiner hoheitsrechtlichen Gewalt vorschrieb'* (S. 105f.). Die 
Bodenberechtigungsfrage und die Fischereigerechtigkeit sind keine untrennbaren 
Begriffe. Das Recht zum Fischen wurde besonders verliehen. So bleibt auch das 
Fischereirecht an gróBeren Seen nicht ausschlieBlich dem Deutschen Orden vorbe- 
halten, wie es die Kulmer Handfeste vorgesehen hatte. Zahlreiche Privilegien durch- 
löchern dieses Recht. Neben diesen selbständigen Fischereiprivilegien finden wir 
vielfach auch in Pertinenzformeln die Fischerei erwähnt. Welche Bedeutung dieses 
Vorkommen hat, darüber gehen die Meinungen noch auseinander. Doch scheint es, 
darin stimme ich Kisch vollkommen zu, daß ihrer Erwähnung besondere Be- 
deutung zukommt. Denn durchaus nicht in allen Pertinenzformeln von Verleihungs- 
urkunden am oder beim Wasser gelegener Grundstücke wird die Fischerei erwähnt. 
Ausführlich werden auch an Hand des gedruckten Materials die Beschränkungen 
der Fischereigerechtigkeit auseinandergesetzt. Abschließend wird über die Fischerei- 
rechtsstreitigkeiten gesprochen, soweit es das bis jetzt lückenhafte Material zuläßt. 
Alle aufgeworfenen Fragen konnten nicht geklärt werden, da dazu noch viele Einzel- 
untersuchungen auch in anderen Hoheitsgebieten nötig sind. Wir sind aber auch 
dankbar für die reichen Anregungen und die Untersuchungen, die uns in der Er- 
kenntnis dieses schwierigen Gebietes wesentlich gefördert haben. 

Rudolf Grieser untersucht das älteste Register der Hochmeisterkanzlei in 
Preußen (1238—58)1®, das er im Königsberger Staatsarchiv als Blatt 222 bis 
254 des Ordens-Folianten 105 entdeckt hat, und gibt dabei auch wichtige Auf- 
schlüsse über die Einrichtung dieser Kanzlei und über ihre Beamten. Sehr wichtig 
sind die Feststellungen, daß die Eintragungen nach Konzepten vorgenommen sind, 

? Rudolf Grieser, Das älteste Register der Hochmelsterkanzlel des Deutschen Ordens. 
S.A. a. MöIG. Bd. XLIV (1930) 8. 417—456. f 

Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 94 


850 Kritiken 


und daß bei gleichartigen Beurkundungen nach Formularen gearbeitet wurde. — 
In einem anderen Aufsatz!® versucht er die Entstehung der Lischken und ihre Ent- 
wicklung zur Stadt festzustellen. Doch nicht bei allen Orten läßt sich genau die Zeit 
bestimmen, in der sie Stadt wurden, d. h. als letzte Rechte den Wochenmarkt und 
das freie Brauwerk bekamen, sondern es findet allmählich ein Hinübergleiten statt. 

Als weitere Veröffentlichungen erwähne ich kurz zwei gemeinverstándliche Vor- 
träge aus dem preußischen Gebiet des Deutschen Ordens von Stolz el, die ursprüng- 
lich für den Rundfunk bestimmt waren. Im ersten gibt er einen Überblick über die 
geschichtliche Bedeutung OstpreuBens als Eckstein des Deutschtums im Nordosten 
gegen Polen und Russen. Im zweiten hebt er die staatlichen und kulturellen Lei- 
stungen des Deutschordenslandes und der Provinz Preußen hervor. 

Aus der Literatur der Ordensballei weise ich zuerst die quellenkritische 
Arbeit von Willy Flach, Urkundenfälschungen der Deutschordensballei Thü- 
ringen im 15. Jahrhundert hin!*. Er ergänzt und erweitert seine Forschungen, 
die er uns zuerst als Anhang in seiner Arbeit über das Urkundenwesen der Vögte 
von Weida vorlegte. Die Arbeit zerfällt in drei Teile: Schriftuntersuchung, Diktat- 
untersuchung und der Zweck der Fälschungen. Im ersten Abschnitt zeigt Flach, 
daß alle bis jetzt bekannten Fälschungen der Deutschordensballei Thüringen von 
dem Notar Gregorius Wernher aus Eger stammen, der sie sicher im Auftrage des 
Landkomturs Eberhard Hoitz ausgeführt hat. Daß Wernher nach vorliegenden 
echten Urkunden arbeitete, beweist Flach im zweiten Teile. Die Originale, die ihm 
für seine Arbeiten als Unterlage dienten, sind teilweise noch vorhanden. Flach stellt 
vielfach die Stücke zum Vergleich nebeneinander. Von den verlorenen Originalen, 
die der Notar verfälschte, ist wahrscheinlich noch das Pergament vorhanden, denn 
es ist anzunehmen, daß da, wo der Fälscher abgeschabtes Pergament benutzt, dies 
von den verlorenen Originalen herrührt. Der Zweck aller Fälschungen läßt sich 
ebenso meist noch nachweisen. Größtenteils ist es der Streit um Landbesitz, in dem 
der Landkomtur alte Urkunden beibringen mußte, um die Rechtmäßigkeit seiner 
Ansprüche zu erhärten. Mit den in vorliegender Arbeit behandelten Fälschungen 
ist aber die Reihe derselben, die sich bis jetzt auf die Häuser Altenburg, Nägelstedt, 
Plauen, Reichenbach und Saalfeld erstreckt, noch nicht erschöpft, wie Flach auch 
am Schluß der Arbeit andeutet. Über Nägelstedt haben sich neue Fälschungen 
herausgestellt. Ebenso ist eine Urkunde für das Deutschordenshaus Halle aus der 
Werkstatt von Gregorius Wernher hervorgegangen. 

Über die Deutschordensballei Thüringen hat Bernhard Sommerlad!? in 
Halle promoviert. Wenn auch Verfasser die gesamte gedruckte Literatur für seine 
Arbeit herangezogen hat, so würe doch die ausführliche Bearbeitung eines Ordens- 
hauses wertvoller gewesen, denn das vorliegende Material reicht eben noch nicht aus, 

34 Rudolf Grieser, Lischke und Stadt. Ein Beitrag zur Geschichte der Städte im Lande 
des Deutschen Ordens. S.A. a. Prussia. Heft 29 (1931). 8. 232—243. 

"5 Wilhelm Stolze, Ostpreußens geschichtliche Sendung. Zur 700-Jahrfeier der Ver- 
bindung Ostpreußens mit Deutschland. Langensalza 1931. Hermann Beyer u. Söhne. 

1% Willy Flach, Die Urkundenfälschungen der Deutschordensballei Thüringen im 15. Jahr- 
hundert. S. A. a. Festschrift. Valentin Hopf zum 80. Geburtstage. 27. Januar 1933. S. 86—136. 

Bernhard Sommerlad, Der Deutsche Orden in Thüringen. Geschichte der Deutach- 
ordensballei Thüringen von ihrer Gründung bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderte. = For- 
schungen zur thür.-sächs. Geschichte. 10. Heft. Gebauer-Schwetschke. Halle (Saale) 1931. — 


Vgl. dazu meine ausführliche Besprechung in Z. Thür. G. u. A. Neue Folge. 30. Bd. (1932). 
8. 342—354 und von Willy Flach in Sachsen u. Anhalt 1933. 


Kritiken 851 


um ein einwandfreies Bild über die Ballei zu geben. Besonders da, wo er kulturelle 
und wirtschaftliche Fragen des 15.—16. Jahrhunderts berührt, zeigt sich dieser 
Mangel an Material sehr. 

Die späteste größere Erwerbung des Deutschen Ordens ist die Neumark, die 
1402 als Pfandbesitz, 1429 für dauernd dem Ordensgebiet angeschlossen wurde. Sie 
war für den Deutschordensstaat die Verbindung mit dem Reich und mufte bei der 
beginnenden Auseinandersetzung mit Polen sehr wichtig sein. Da die Lützelburger 
Geld brauchten und unter allen Umstánden dieses Gebiet versetzen oder verkaufen 
wollten, so mußte der Orden zugreifen. Tat er es nicht, so bestand die Möglichkeit, 
daB Polen dieses Gebiet an sich riB und dadurch den Orden vóllig vom Reiche 
trennte. 

Diese außenpolitischen Verwicklungen berührt Heidenreich!* nur kurz im 
ersten Teil seiner Arbeit, sonst beschránkt er sich bewuBt auf die Behandlung der 
innerpolitischen Verhältnisse. Insofern ist auch der Titel des Werkes irreführend. 
Verf. kommt es darauf an, zu zeigen, wie sich der Orden mit dem ganz anders ge- 
arteten staatlichen Aufbau in der Neumark abfand und trotzdem Ruhe und Ordnung 
hineinbrachte. Hier weitgehendste Vorherrschaft der Stände mit fast völliger Aus- 
schaltung des Landesherrn und daher fortschreitender Verfall durch die Selbstsucht 
der Stände, dort straffste Zusammenfassung des Staates unter einem zielbewußten 
Führerwillen und daher ein blühendes Gemeinwesen. Es ist nun Heidenreich gut 
gelungen herauszuarbeiten, wie sich der Deutsche Orden mit der völlig veränderten 
Struktur des neuen Gebietes abfindet. Der Hochmeister paßt sich den dortigen Ver- 
hältnissen an und sucht nur Schritt für Schritt, soweit es ohne wesentliche Reibungen 
geschehen kann, seine Stellung zu befestigen (Rückerwerbung der Hoheitsrechte). 
Dies beweist, wie beweglich trotz der Starrheit in Preußen doch die politische 
Leitung des Ordens war. Durch Verhandlungen mit den Ständen und ihre Heran- 
ziehung zu gemeinsamer Arbeit (Landtage) — also ganz im Gegensatz zu Preußen — 
gewinnt er Boden im neuerworbenen Lande. Allerdings kann ihm unter den ver- 
änderten Zeitverhältnissen und bei den Sorgen im Stammgebiet nicht alles gelingen. 
Überblicken wir aber die ganze Zeitspanne der über 50jährigen Ordensherrschaft, 
so sehen wir deutlich, wie groß der Segen dieser Regierung für die Neumark gewesen 
ist. In einem Zeitpunkt tiefster innerer Zerrissenheit und alleinherrschender Eigen- 
sucht von Adel und Städten zwingen die im Ordenslande geschulten Vögte diese 
beiden Gruppen, wieder etwas staatlicher zu denken. Wie schwer die Arbeit der 
Vögte gewesen ist, tritt oft deutlich genug hervor. Ein kurzer Überblick über das 
Verzeichnis der Neumärkischen Ständetage während der Ordenszeit (Anhang I) 
veranschaulicht uns dies. Meist zweimal jährlich beruft der Vogt — auch dies ist 
bemerkenswert — diese Versammlungen zur Aussprache und Beschlußfassung über 
wichtige Angelegenheiten. In der Beschränkung auf innere Verhältnisse ist die 
Arbeit voll anzuerkennen. Allerdings glaube ich, daß die Schwierigkeit des ganzen 
Problems erst durch die Verbindung mit der außenpolitischen Lage des Deutschen 
Ordens und damit der Neumark völlig zu verstehen ist. Reiches ungedrucktes Mate- 
rial, besonders das des Königsberger Staatsarchivs, stand Verf. zur Verfügung. Auf 
Grund der genauen Durcharbeitung gelingt es ihm, verschiedene, besonders un- 


Karl Heidenreich, Der deutsche Orden in der Neumark (1402—1455). = Einzel- 
schriften der Historischen Komm. für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptetadt 
Berlin. 5. Komm.-Verlag von Gsellius. Berlin 1932. 


54* 


852 Kritiken 


datierte Stücke richtig einzureihen. — Die beiden Thobenecker oder Tobenecker (so 
wechselnd) gehóren zu dem aus dem Vogtlande teilweise nach PreuBen eingewan- 
derten alten Geschlecht von Dobeneck. Da sonst die moderne Schreibung der Namen 
durchgeführt wurde, so hätte es sich auch bei diesem Namen empfohlen. — Auf S. 78f. 
und 81 ist versehentlich wiederholt Hofmeister statt Hochmeister stehen geblieben. 

Endlich erwähne ich zwei Arbeiten von Schnettler!*. In der ersten gibt Verf. 
einen Überblick über die Deutschordensballei Westfalen und berücksichtigt be- 
sonders den Anteil der Westfalen als Ritter des Deutschen Ordens in PreuBen und 
Livland. — Im zweiten Aufsatz macht Verf. auf eine Handschrift im Staatsarchiv 
Münster aufmerksam, die nach 1745 abgefaBt ist. Der Schreiber steht nicht fest. 
Aus dieser Lebensbeschreibung geht hervor, daB der livlándische Landmeister 
Walter von Plettenberg aus Meyerich i. W. stammt. 

Über einzelne Hochmeister handeln zwei Arbeiten. Willi Cohn“ stellt in den 
Elbinger Jahrbüchern geschickt und anschaulich zusammen, was er über die Be- 
urteilung Hermann von Salzas von Peter von Dusburg bis Erich Caspar gefunden 
hat, allerdings ohne die polnische Literatur zu berücksichtigen. AbschlieBend kann 
er sagen: „... alle Männer, seien es Chronisten des Mittelalters, seien es moderne 
Geschichtsforscher, stimmten in der Anerkennung der GróBe dieses Mannes überein. 
Wohl ist die Auffassung von ihm im einzelnen verschieden gewesen, aber alle be- 
wundern gemeinsam die Reinheit seiner Gesinnung, die edlen Motive seines Handelns. 
Nur über wenige Männer, die in der Weltgeschichte eine hervorragende Rolle ge- 
spielt haben, ist man in ihrer Gesamtbeurteilung so einig. 

Das Lebensbild des Hoch- und Deutschmeisters Wolfgang Schutzbar behandelt 
Renz#l. Schon Johannes Voigt hat im 2. Bande seiner Geschichte des Deutschen 
Ritterordens? die Hoch- und Deutschmeisterzeit Schutzbars behandelt. Für ihn 
spielen nur die großen Geschichtspunkte eine Rolle, während Renz mehr das Milieu 
schildert. Mergentheim steht bei Renz im Mittelpunkt der Regierungszeit. Über 
Voigt hinaus macht uns Renz mit der Familie des Ordensritters bekannt. Der Tag 
seines Eintrittes in den Deutschen Orden ist bekannt. Von da aus glaubt Renz sein 
Geburtsdatum feststellen zu kónnen. Das ist immerhin zweifelhaft, da wir wissen, 
das vielfach die jüngeren Sóhne des Adels schon sehr früh das Ordenskleid nahmen. 
Leider übergeht Renz die Griefstedter Zeit ganz. Da hätte doch die Arbeit von Ander- 
son® einiges geboten. Eingehender wird seine Wirsamkeit als Landkomtur in Hessen 
und sein Kampf mit dem Landgrafen Philipp dem Großmütigen um die Erhaltung 
der Ballei und besonders des Hauses Marburg geschildert. Wenn man von einigen 
Wiederholungen und Druckfehlern absieht, so gibt das Buch ein gutes Bild- 
Wirken des Deutschmeisters, besonders für Mergentheim. Allerdings hat wohl Renz 
auf jede selbständige Forschung — wenigstens außerhalb von Mergentheim — ver- 


1 Otto Schnettler, Westfalen und der Deutsche Ritterorden. In: Auf Roter Erde. 
Beiträge zur Geschichte des Münsterlandes und der Nachbargebiete. Aschendorffsche Verlags- 
buchhandlung. Münster i. W. 1932. S. 35ff. — Ders., Eine unbekannte Lebensbeschreibung 
Wolters von Plettenburg. Ebda. 8. 62. 

% Willy Cohn, Hermann von Salza im Urteil der Nachwelt. 8.A. a. Elbinger Jb. Heft 10 
(1932° 8. 33—50. 

" Gustav Adolf Renz, Wolfgang Schutzbar genannt Milchling. Das Lebensbild eines 
Reichsfürsten und Ordensritters. Hans Kling. Bad Mergentheim (1932). 

*! 8. 94-180: Der Orden unter d. Deutschmstr. Wolfg. Schutzbar, gen. Milchling. 1543-1566. 

1 Gesch. d. Deutschen Ord.-Commende Griefstadt. Erfurt 1867. 


Kritiken 853 


zichtet und stützt sich auf die schon genannte sehr viel ausführlichere Arbeit Voigts, 
den er zwar nicht erwähnt, dessen Angaben er aber unbesehen übernimmt. Sonst 
wäre es ihm z. B. aufgefallen, daB das Schreiben des Speyerer Generalkapitels vom 
16. [nicht 15.] April 1543, durch das dem Kaiser Karl V. die Ernennung Schutzbars 
zum Deutschmeister angezeigt und um seine Bestütigung gebeten wird, nicht mehr 
im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien (Renz nennt es Reichsarchiv) liegt, son- 
dern im Deutschordenszentralarchiv in Wien. 

- Abschließend möchte ich auf die kleine Schrift von Ledermayer* hinweisen, 
der von dem ehemaligen und gegenwärtigen Wirken des Deutschen Ordens in 
schlichter Form berichtet, wobei er sich für die früheren Zeiten vielfach auf Voigt 
stützt. Ihm kommt es darauf an, zu zeigen, daß der Deutsche Ritterorden eigentlich 
ein Hospitalorden ist und sich zu diesem seinem ursprünglichen Zwecke nach der Neu- 
organisation durch den Hochmeister Maximilian Josef von Österreich-Este (1835—63) 
wieder zurückgefunden hat. Manch einem wird das Schriftchen zur Unterrichtung 
über die auch jetzt noch bedeutsame Tätigkeit des Ordens willkommen sein. Leider 
sind die bildlichen Beigaben nicht besonders gut ausgefallen. Lampe. 


Ernst Rietschel, Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Lu- 
ther. Darstellung und Lósungsversuch. Mit einem Anhang: Die Kirche bei 
Melanchthon. — Schrr.Ver. f. Ref.-Gesch. 164, M. Heinsius Nachf., Leipzig 
1932. 110 S. 

Der Vf.legt in sorgfältiger Auseinandersetzung mit der neueren Literatur und in 
durchgehender z. T. etwas sophistischer Polemik gegen ein seinem Urteil nach 
melanchthonisierendes und katholisierendes Neuluthertum (W. Elert u, a.) seine 
schon 1900 (Th. St. Kr. 404—456) im Grundzug entwickelte Lösung eines Problems 
vor, das zwar so durchaus Anliegen der Lehre von der Kirche in der lutherischen 
Orthodoxie ist, das aber doch an Luther selbst mehr herangetragen als von ihm ge- 
stellt wird. Führer bei dem Lósungsversuch ist dem Vf. R. Sohm (Weltliches und 
geistliches Recht, 1914; vgl. Rietschel, Exkurs 2, S. 91—93). 

Bereits A. Ritschl hat (Th. St. Kr. 1859) entgegen der Zweikreise-Theorie — 
die unsichtbare Kirche als communio fidelium der kleinere Kreis in der die Sakra- 
mente verwaltenden Kirchenanstalt —, die für Zwingli und z. T. für Melanchthon 
bezeichnend ist, die Einheit der unsichtbaren und sichtbaren Kirche in einer Doppel- 
heit der Betrachtungsweise betont: Der Glaube sieht die Kirche, ihm ist sie sichtbar; 
der Verstand des natürlichen Menschen sieht die àuBere Ordnung, ihm ist die Kirche 
unsichtbar. E. Rietschel bezieht die doppelte Betrachtungsweise auf einen Be- 
trachter, auf den Glauben: für den Glauben ist die wesensmäßig unsichtbare Kirche 
dennoch an ihren Gnadenzeichen sichtbar. Wie das Verständnis für Musik, heißt es, 
musikalischen Sinn voraussetzt, so gilt es analog für das Problem der Sichtbarkeit 
der unsichtbaren Kirche als für einen „Spezialfall“ des Glaubens eben „mit den 
Augen des Glaubens das Góttliche, Ewige, Übernatürliche im Endlichen, Zeitlichen, 
Natürlichen zu sehen“ (80). „Vom Glaubensstandpunkt aus zu urteilen — das ist 
der Schlüssel zu Luthers Kirchenbegriff‘‘ (82). 

Die Voraussetzung dieser beiden von A. Ritschl und E. Rietschel (und áhnlich 
auch von anderen) vorgeschlagenen Antworten, nämlich die Identität der unsicht- 


* P, Kanisius Ledermayer O. T., Der Deutsche Orden einst und jetzt. Freudenthal 
(in Schlesien, Tsch.-81.) 1933. 


854 Kritiken 


baren und der sichtbaren Kirche bei Luther, das Fehlen eines über die Gemeinde der 
Gläubigen hinausgreifenden erweiterten (anstaltlichen) Kirchenbegriffs, hat Vf. sehr 
nachdrücklich herausgestellt und gesichert (bes. Exkurs 1, S. 83—91). ,,Die Ver- 
waltung von Wort und Sakrament schreibt Luther der innerlichen Christenheit, 
der wahren Kirche, der unsichtbaren Gemeinde der Gläubigen zu“ (36/37). Man wird 
Vf. hierbei gern zustimmen. Ebenso im allgemeinen bei seinen vorbereitenden und 
den Stand der Forschung zusammenfassend auswertenden Ausführungen: Die Kirche 
die Gemeinde der Gläubigen (Kap. 1); Die Kirche unsichtbar für den natürlichen 
Menschen (Kap. 2), sofern es hier um die Sichtbarkeit des Wesens der Kirche geht; 
die Kirche Inhaberin der sichtbaren Gnadenmittel (Kap. 3). 

Dagegen sind die für die These des Vf. entscheidenden Kapitel 4—6 doch in 
ihren Fragestellungen und in ihren Antworten da und dort anfechtbar. Die Kirche 
Luthers droht in Kap. 4 (Die Gnadenmittel in ihrem Wesensgehalt unsichtbar für 
den natürlichen Menschen) unversehens zu der — vom Vf. abgewiesenen — Kirche 
Schleiermacher zu werden, die sich bekanntlich „bildet ... durch das Zusammen- 
treten der einzelnen Wiedergeborenen zu einem geordneten Aufeinander- und Mit- 
einanderwirken" ; aber der (mit Sohm) versuchte Nachweis, dem dieses Kap. gilt, 
daB nämlich Luther „unter dem die Kirche ebenso erzeugenden wie bezeugenden 
Wort nicht festbestimmtes Schrift- oder Bekenntniswort, sondern mündliches, 
lebendiges Menschenwort versteht“ (45), und zwar nicht das Wort der Predigt als 
solches, sondern „die brüderliche und unmittelbare" Bekundung des ‚Herzens- 
glaubens“, dieser Nachweis kann nicht als geglückt angesehen werden, trotz des 
Euangelium vocale, des Euangelium viva voce (WA 7, 721), das Luther betont. 
Die Unsichtbarkeit des Wortes für den natürlichen Menschen ist eben nicht dadurch 
begründet, daB es persönliches Glaubenszeugnis ist, sondern daß es Wort Gottes ist; 
und dieses ist auch den Gläubigen noch immer irgendwie unsichtbar. Es stimmt also 
nicht, wenn Vf. gegen den Hinweis auf das „objektive Wort“ in der Verkündigung 
(viva vocel) sagt: „Keine Rede von einem Gotteswort in der Schrift, im Bekenntnis, 
im Gottesdienst oder in der Sakramentsfeier, das für Luther nicht in irgendeiner 
Weise persónliches Glaubenszeugnis, lebendige Stimme des Evangeliums und damit 
auch nur (!) für das gläubige Verständnis sichtbar und im übrigen unsichtbar 
wäre“ (50). 

Es stimmt daher zweitens auch nicht — im Rahmen des vom Vf. behandelten 
Problems — wenn die Kirche in ihren Gnadenmitteln ausschlieBlich für die Gláubigen 
„sichtbar“ ist. Hier hätte Vf. dem Zeichenbegriff bei Luther, dem Luther sehr 
wichtigen Gedanken des signum und der signa salutis im besonderen weiter nach- 
gehen müssen, um deren objektiven Hinweis- Charakter entsprechend würdigen 
und auswerten zu kónnen. Das Zeichen sagt, daB etwas da oder dort vorhanden ist. 
Für den Vf. aber sind Wort und Sakrament nach Luther „Zeichen der Kirche als 
unmittelbarer Ausdruck ihres inneren Wesens, als (was ich nur für die entscheidende, 
dem ,Herzensglauben', dessen Bekundung Kirche erzeugt und bezeugt, entsprechen- 
de Auslegung des bis dahin angüngigen Satzes nehmen kann) natürliches Mittel 
des in ihr sich auswirkenden Gemeinschaftslebens“ (53). Hätte das nicht besser in 
einer Studie über den Kirchenbegriff Schleiermachers seinen Platz gefunden? Die 
notae ecclesiae sind für Luther doch wirklich — was Vf. allerdings gegen Kohlmeyer 
ablehnt — so etwas wie „heuristische Prinzipien“, d.h. sie sagen, daß Kirche da 
ist; und sie sagen es auch dem Ungläubigen. Diese ihre Funktion schließt aber not- 


Kritiken 855 


wendig einen Syllogismus ein, auch beim Gläubigen. Man verdeutliche sich das etwa 
an der verschiedenen signa praedestinationis bzw. electionis in Luthers Römerbrief- 
Vorlesung. Rietschel behauptet allerdings: „Für eine Verstandesoperation, an deren 
Ende die Erkenntnis vom Dasein einer unsichtbaren Gemeinde der Gláubigen steht, 
bleibt kein Raum. In dem gläubigen Verständnis des Wortes wird vielmehr ohne 
weiteres die Kirche selbst getroffen“ (57). „Im Zeichen des gläubig bekannten Wortes 
bezeugt sich die Kirche und wird deshalb ganz unmittelbar in diesem Zeichen dem 
Gläubigen erkennbar, faßbar, wahrnehmbar“ (60). Zu dieser schlußfreien betonten 
Unmittelbarkeit paßt es allerdings nicht sonderlich, wenn kurz darauf ein ganz 
bezeichnender Satz aus „Von den Konziliis und Kirchen“ (1539) zitiert wird: „Wo 
du nun solch Wort hórest und siehest predigen, glauben, bekennen und darnach 
tun, da habe keinen Zweifel, daB gewißlich daselbst sei eine rechte ecclesia sancta 
catholica." Also: die sichtbaren, hörbaren Erkennungszeichen der wahren Kirche 
sind Hinweis auf das Vorhandensein von Kirche dort, wo solche Zeichen 
wahrgenommen werden. „Sichtbar“ ist auch für den Gläubigen offenbar nur das 
Dasein von Kirche; sein „Sehen“ ist freilich ein anderes, als das des Ungläubigen, 
sofern es eben eine glüubige persónliche Stellungnahme ist, einen dieser entsprechen- 
den Syllogismus einschlieBt, und sofern es, wenn die Frage darauf eingeengt und 
zugespitzt wird, ob der Gläubige auch den Nächsten als solchen Gläubigen bestimmt 
erkennen könne, ein von der Liebe befohlenes Sehen ist; die Liebe aber darf sich 
täuschen lassen. Die Beschränkung der Sichtbarkeit der Kirche auch für den Gläu- 
bigen (Kap. 6) bezieht sich daher, streng genommen, nur auf das Daß des Daseins 
von Kirche da und dort, so daß m. E. der Satz Gottschicks, des Forschers, der am 
Eingang der neueren Beschäftigung mit Luthers Kirchenbegriff steht (Z K G VIII, 
1885, S. 345 ff., 543ff.), diese Schranke genauer wahrt: die Kirche „hat an dem 
Wort ihr Zeichen, das — natürlich nur für den Glauben, der aus eigener Erfahrung 
seine Kraft kennt — das Dasein des Reiches Christi ausweist.“ 

Es ist m. E. eine Folge der starken Betonung „realer Wechselbeziehung gläubiger 
Persönlichkeiten“ in Luthers Kirchenbegriff, daB sich Vf. verführen ließ, die richtig 
beobachtete starke, mitunter formalistische Zurückhaltung Luthers im Urteil über 
die „Sichtbarkeit“ der Kirche doch wieder außer acht zu lassen, und die Frage nach 
der Sichtbarkeit der Kirche so unmittelbar auf das Wesen, auf die Substanz der 
Kirche zu beziehen, als ob die Gemeinschaft der Gläubigen das Wesen der Kirche 
selbst wäre; vielmehr: tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo Dei (WA 7, 
121). Zugleich wird in jener unmittelbaren Beziehung auf das Wesen die „Sichtbar- 
keit" der Kirche ihrer Unsichtbarkeit nebengeordnet, was wiederum an der theolo- 
gischen Begründung des Kirchenbegriffs bei Luther vorbeiführt, für den Kirche 
gleich Christus die Offenbarungsgegenwürtigkeit Gottes ist, d.h. wesensgemäße 
Unsichtbarkeit mit ihr eingeordneter, also nur mittelbar auf das Wesen bezogener 
„Sichtbarkeit“, die beide grundsätzlich an alle Menschen, Ungläubige und Gläu- 
bige, gerichtet sind. 

Wenn Rietschel von der Sichtbarkeit der Kirche für den Gläubigen redet, 
sagt er zuviel; wenn er von der Sichtbarkeit der Kirche für den Gläubigen 
spricht, zu wenig. 

Der bei allen angedeuteten Bedenken anregenden und sorgfältigen Studie sind 
vier lehrreiche Exkurse angefügt und eine knappe Untersuchung der Kirche bei 
Melanchthon. Von da aus (S. 99) ist S. 44, Z. 13 „an“ statt „in“ zu lesen; von da 


856 Kritiken 


aus wird das Urteil über Schwabacher Artikel 12 (S. 44 unten) doch wieder ab- 
geschwácht. 
Bonn. E. Wolf. 


Helmut Weigel, Franken, Kurpfalz und der BóhmischeAufstand 1618—1620, 
Erster Teil: Die Politik der Kurpfalz und der evangelischen Stände Frankens 
Mai 1618 bis Márz 1619. Verlag von Palm und Enke, Erlangen 1932. 274 S. 
Preis br. 8 RA, geb. 10 RM. 

Altbekannte Dinge, etwas ausgeweitet und mit neuen Einzelfunden ausge- 
schmückt — so denkt man, wenn man Weigels Buch zur Hand nimmt. Indes stutzt 
man: Für 10 Monate des DreiBigjáhrigen Krieges 17 Druckbogen! Und doch ist die 
gründliche Durchforschungsmethode Weigels allgemein — und insbesondere für 
die behandelten Territorien notwendig, wenn wir, was auf vielen Gebieten der Historie 
bitter notwendig ist, von dem gelegentlich Schematischen der zünftigen Geschichts- 
auffassung uns losmachen und den Menschen und Dingen, wie sie nun einmal waren, 
gerecht werden wollen. Der „Sondercharakter des einzelnen Staates, seine Persönlich- 
keit" muB, wie Weigel mit Recht betont, mehr als bisher, möglichst tief erfaßt 
werden für eine Zeit, in welcher die großen Staaten und starken Persönlichkeiten 
„bereits dem modernen Machtgedanken“ huldigten, während die Schwächeren die 
sie schützenden Rechtsbeziehungen als papierne Schutzmauern ihrer politischen 
Kartengebäude immer dichter und höher zu bauen versuchten. Aber was bedeutet 
Recht vor Macht? So wie ich in meinem Werk „Nürnberg, Kaiser und Reich — Studien 
zur reichsstädtischen Außenpolitik“ (München 1930) wiederholt richtigstellen oder 
wesentlich vertiefen mußte, — ich denke u. a. an meinen Aufriß der politischen Ein- 
stellung der maßgebenden evangelischen bzw. kalvinistischen Fürsten und der deut- 
schen Reichsstädte in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts — so hat Weigel die Per- 
sönlichkeit des Pfälzer Kurfürsten Friedrichs V. in ein ganz neues Licht gestellt und 
damit seine Politik. Das gleiche gilt für Kursachsen. 

Im einzelnen behandelt Weigel zunächst den Fenstersturz zu Prag und seinen 
Einfluß auf Franken im Mai und Juni 1618, das Verhältnis zwischen Böhmen, Kaiser, 
Reich und Franken und arbeitet dabei die Sonderstellung Nürnbergs zu Böhmen, 
dem Kaiser und Kurpfalz heraus. Die zweite Frage lautet: Vermittlung oder Krieg 
im Sommer 1618? Der Einfallin Böhmen und die Durchzugsgefahr vom August 1618, 
die Interpositionsverhandlungen und die Vorbereitung des Unionstages im Sep- 
tember bilden die Themen der beiden nächsten Kapitel. Der Kaiser hatte in Franken 
nur Bamberg, Würzburg und Eichstätt auf seiner Seite. Im Westen bemühte sich 
König Ferdinand, Kurpfalz für seine Auffassung zu gewinnen, die böhmischen Un- 
ruhen seien politischen Charakters. Kurfürst Friedrich versagte sich mit Ausreden 
den königlichen Hilfsforderungen der verschiedensten Art. Er wollte wie bisher eine 
böhmenfreundliche Vermittlungspolitik — dies ist wichtig gegenüber der her- 
kómmlichen Auffassung — durchsetzen! Kursachsen und das unionistische Franken 
suchte er bei sich festzuhalten. Indessen drohte vom Niederrhein her ein Durchzug 
ligistischer Truppen. Von Bayreuth dagegen „hatten die böhmischen Stände niemals 
etwas zu erwarten‘; der Markgraf war zwar ein guter evangelischer Christ, hatte 
aber doch seine Bedenken gegen die Opportunität des Vorgehens der böhmischen 
Stände. Bayreuth und Koburg erwogen vor allem, wie sie sich selbst schützen 
könnten. Der Nürnberger Rat dagegen ließ es nach beiden Seiten sein Bewenden 


Kritiken 857 


haben; er bereitete sich nur darauf vor, daB er im Notfall genügend geschulte Offiziere 
und hinreichendes Kriegsmaterial für die Stadttruppen zur Verfügung hatte. Kaiser, 
Union und Böhmen bestürmten die Stadt. Nürnberg stand, wie so oft, zwischen 
zwei Gruppen. Es ist die Politik der Halbheiten, die ich in meinem Werk „Nürnberg, 
Kaiser und Reich“ seit Beginn der Reformation für die alte Reichsstadt so oft fest- 
stellen mußte und begründet habe. „Temporisieren“ war Trumpf. 

Mit dem Angriff des Kaisers in Bóhmen steigt die Durchzugsgefahr in der 
zweiten Augusthälfte des Jahres 1618. Kurfürst Johann Georg von Sachsen war zwar 
mit der Wiener Politik nicht einverstanden, enthielt sich aber doch vorerst der Zusam- 
menarbeit mit den Gegnern des Kaisers. Kurfürst Friedrich, der Fürst von Anhalt, 
sein väterlicher Freund, der Markgraf von Ansbach und der Herzog von Savoyen 
spielen in einem — gegenüber dem Savoyer — nicht ganz ehrlichen Spiel zusammen. 

Am 6. September gab der Kaiser seine Bedingungen bekannt, zu denen ihn 
die Erfolge seiner Waffen berechtigten. Der Vermittlung war dies natürlich nicht 
dienlich. Bayreuth und der sächsische Kurfürst hielten „absolute Neutralität mit 
Neigung nach der Seite des Kaisers. Der einzige Unterschied lag in der Aktivität, 
die Johann Georg in und mit der Interposition entwickeln muBte, wührend Christian 
[von Bayreuth] in die bóhmischen Dinge sich nicht im geringsten einmischte und 
einzumischen brauchte". Der Kaiser konnte daher die Interposition Sachsens am 
7. September annehmen. Koburg, Anhalt und Kurpfalz waren einig in der Auffassung, 
daB die bóhmische Frage als Religionsangelegenheit anzusehen sei. Nürnberg 
dagegen blieb auch weiterhin neutral mit Vorbereitung des eventuell nótigen mili- 
tärischen Schutzes. 

Wichtiger noch als die sächsische Vermittlungsaktion war für Frankens politische 
Zukunft der Unionstag von Rothenburg (7.—14. Oktober 1618). Von den Städten 
gingen gegenüber der anhaltisch-pfälzischen Aktionspartei die stärksten Hemmungen 
aus. Die Unklarheit der Nürnberger Delegiertenäußerungen brachte gerade diese 
Reichsstadt in eine besonders schwierige Lage. Das Ergebnis der Tagung war jeden- 
falls für den Pfälzer besonders peinlich: die Union lehnte jede militärische und selbst 
eine heimliche Geldhilfe für ihn in Böhmen zu seinem großen Verdruß ab. Straßburg 
hatte hier die Städte geführt. Als es ans Zahlen aus eigener Tasche ging, versagte 
sich u. a. auch der sonst so eifrige Freund des Pfälzers, der Markgraf von Ansbach. 
Nur Anhalt setzte sich heftig gegen den Kaiser ein. Trotzdem blieb, wie Weigel mit 
Recht behauptet, das Ergebnis des Rothenburger Unionstags kläglich. Weigel zeigt 
die Gründe hiefür deutlich auf. Die pfälzischen Wünsche zu Rothenburg hatten 
gelautet: 1. Geldhilfe von der Union für Böhmen, 2. Die Aufstellung einer Unions- 
armee, die weit größer, als in der Unionsverfassung vorgesehen war, sein sollte, also 
für Böhmen und für Deutschland überhaupt eingesetzt werden konnte. Eine Geld- 
hilfe, die hauptsächlich zu Lasten der Städte ging, wurde schließlich doch noch 
bewilligt; aber hier blieben die Städte weit hinter den gestellten Forderungen, 
ebenso wie die Fürsten sich zu keiner militärischen kostspieligen Hilfe bequemen 
wollten. Kurpfalz hatte nichts erreicht. Und die Koburger Politik brach in den 
gleichen Wochen auch zusammen. Nun begannen die Durchzüge der zu ihrer Ziel- 
setzung stehenden beiden Parteien. 

Für die deutschen Protestanten war die Lage im Spätjahr günstig — voraus- 
gesetzt, daB sie zu wagen verstanden. Der Kaiser gab die Forderung der Waffen- 
streckung auf und wollte sich zu einem zweimonatlichen Waffenstillstand verstehen. 


858 Kritiken 


Dieser sollte nur ein Anfang sein. Inzwischen war Heidelberg seit Ende November der 
Kernpunkt der großen europäischen Politik geworden. Weigel sieht dabei in Fried- 
rich von der Pfalz immer noch einen ehrlichen Vermittler, auch wenn er das bóh- 
mische Angebot nicht von vornherein ablehnte. Dem kaiserlichen Vermittlungs- 
werk freilich miBtraute Kurfürst Friedrich von Anfang an. Er hielt es mit Recht für 
höchst wichtig, daB die Gemeinsamkeit des Handelns zwischen Böhmen und Schle- 
sien einerseits, den evangelischen Ständen anderseits nicht durch den Kaiser unter- 
brochen werden konnte. Getrennt wären beide Parteien wesentlich leichter zu erledi- 
gen gewesen. Anhalt und Ansbach standen auf seiner Seite. Im Dezember 1618 
bereitete sich große pfälzische Politik vor, die „das Reich und Europa um Böhmens 
willen umfaßte“. Anhalt war aktiver noch als Kurpfalz. In schwierigste Lage kamen 
die kleineren Territorien, so besonders die Reichsstadt Nürnberg. Auf dem Kreistag 
stritten Bamberg und Bayreuth wegen der Kreiskanzlei. Nürnberg und Ansbach 
dagegen stellten ihre Politik in den Rahmen der Unionspolitik und der europäischen 
Fragen, ersteres mit Vorbehalten. Ein wirres Bild bietet dieses Deutschland von da- 
mals und Franken im besonderen. Nürnberg geriet schließlich zwischen Pfalz und 
Habsburg. Seine notwendigerweise vorsichtige Politik war teuer. Die Böhmen brauch- 
ten Geld, Friedrich von der Pfalz ebenso und der Kaiser nicht minder. In einem 
fränkischen Unionskonvent sahen die Beauftragten des Rates die für Nürnberg 
günstigste Lösung. Erst nach diesem hätte ein evangelischer Partikularkreistag zu- 
sammentreten sollen. Faktisch trat er schon in den nächsten Wochen zusammen. 

Ich sagte: ein buntes Gewirr spielt sich vor unseren Augen ab; die Schilderungs- 
weise des Verfassers, welche immer wieder abbricht und uns den Faden dann 
mühsam wieder finden läßt, verstärkt dieses Bild vielleicht noch. Aber es blieb ihm 
wohl nichts anderes übrig. Das notwendige, dem Leser höchst erwünschte Korrelat 
bildet die Zusammenfassung des Schlußkapitels. Drei Gruppen unterscheidet Weigel: 
Die erste ist die der Staatsmänner: der koburgisch-bayreuthische Geheimrat Christof 
von Waldenfels, der Nürnberger Ratskonsulent Johann Christof Oelhafen und 
Christian Fürst von Anhalt, kurpfülzischer Statthalter in Amberg. Sie sind die 
Männer der vorwärtstreibenden Erkenntnis, daß die große religiöse Entscheidung 
kommen müsse im Anschluß an die böhmische Frage. 

Die 2. Gruppe bilden Herzog Johann Kasimir von Koburg und Friedrich von 
der Pfalz: evangelische Stände und doch innerlich dem Reich im Gewissen noch 
verpflichtet und dem katholischen Kaiser. Beide bemühen sich, das Haupt des deut- 
schen Protestantismus, den Kurfürsten Johann Georg von Sachsen, zu einem ener- 
gischen Vorgehen zugunsten der Böhmen zu bewegen. 

Die 3., in sich nicht einheitliche Gruppe bilden Markgraf Christian von Bayreuth 
und die Nürnberger Ratsherren. Sie wünschen sich von einer Aktion in Böhmen 
fernzuhalten. Die Gunst des Kaisers ist ihr belebendes Element, das sie nicht ver- 
missen können. Nürnberg freilich lavierte, wie immer, mehr; der Markgraf dagegen 
war unbedingt neutral; seine Hauptsorge war sein Land und die Sicherung gegen 
Bamberg. Diese Sicherungspolitik verband ihrerseits wiederum Nürnberg und Bay- 
reuth besonders innig. — Eine zusammenfassende Kritik der Tätigkeit der drei 
Gruppen beschließt die Darstellung, welcher sich ein reicher Anmerkungsapparat 
anschließt. 

Das Buch ist von hohem Wert als Antwort auf die Frage: Wie konnte es zum 
Dreißigjährigen Krieg kommen? Durch die Tragweite dieser Aufklärung recht- 


Kritiken 859 


fertigt sich die Ausführlichkeit der Darstellung. Wollte man diese Art durch 30 Jahre 
fortsetzen, so würde ein vieltausendseitiger Wülzer geboren. Dies hat der Verfasser 
nicht vor. Den 2. Band aber, der in das Jahr 1620 hinüberführen soll, wird man 
mit Freuden erwarten. Außerdem stimme ich mit dem Verfasser darin völlig überein, 
— ich habe es hier einleitend und anderwärts wiederholt betont —, daß das Stereo- 
type unserer Historiographie eine Gefahr ist, die nur durch solche Einzelstudien 
überwunden werden kann. Voraussetzung ist dabei, daB es sich um ausschlaggebende 
Persönlichkeiten, Ereignisse, Zeiten handelt. Anderenfalls würde die Detailforschung 
zum Ballast. Hier aber hat Weigel mit einem glücklichen Griff einen der grofen 
historischen Momente der europäischen Geschichte herausgegriffen und faßt das 
Geschehen in dem wichtigen Herzland des Deutschen Kaiserreichs und damit Euro- 
pas, in Franken und der Pfalz, wie in einem Brennspiegel zusammen zu starker 
Wirkung. Über die Gliederung und Einteilung wird man mit dem Autor nicht ernst- 
lich rechten; er mußte aus der Kenntnis des historischen Bodens am besten wissen, 
wie er ihn auflockerte und in welchen Abständen. Hervorzuheben aber ist die un- 
bedingte Sachlichkeit, die Abgeklärtheit des ruhigen historischen Urteils über eine 
Zeit, die uns nationaldenkende Historiker, denen das Schicksal unseres Volkes 
mehr ist als eine Materie, die wir sezieren, an sich zu manchem harten subjektiven 
Urteil verleiten könnte. 

Persönlich empfinde ich die Publikation als sehr erfreulich, weil sie eine Zeit, die 
ich in meinem Werk „Nürnberg, Kaiser und Reich — Studien zur reichsstädtischen 
Außenpolitik“ in Anbetracht des großen, viele Jahrhunderte umfassenden Rahmens 
nicht ausführlicher behandeln konnte, so eingehend untersucht. Ich darf aber dabei 
noch auf eine Frage eingehen, welche Weigel früher schon aufgeworfen hat und in 
seinem jetzigen Buch noch einmal betont. Er schreibt: „Nürnbergs Wesen war die 
Wirtschaft. Sie hatte in der alten Reichsstadt den Primat vor allen anderen Zweigen 
menschlicher Betätigung.“ Weigel stellte seinerzeit zur Diskussion, ob ich diesen 
Punkt gelegentlich zugunsten einer selbständigen Politik nicht unterschätzt habe? 
Ich glaube nicht. Denn ich stehe wie Weigel auf dem Standpunkt, und habe an 
verschiedenen Stellen meines Buches diese Ansicht betont, daß die Nürnberger 
Außenpolitik zu einem guten Teil wirtschaftlich bestimmt ist. Trotzdem glaube ich 
nach wie vor behaupten zu dürfen, daß diese Politik doch etwas Selbständiges ist, 
daß sie zwar wirtschaftlich stark unterbaut, aber in ihrer Betätigung nach den ver- 
schiedenen Richtungen, gegenüber den Schwesterstädten des Reiches, gegenüber 
dem Kaiser, gegenüber den großen Territorien sich doch einen eigenartigen, oft 
eigenwilligen Charakter bewahrt hat, und zwar deshalb, weil wichtiger noch als 
die wirtschaftlichen Vorteile für jenen Kreis, der die Stadtregierung innehatte, 
den aristokratischen Nürnberger Rat, die Huld des Kaisers erschien. Es war 
u. a. unwirtschaftlich, daß Nürnberg sich des Kaisers wegen in ungeheuere 
Schulden stürzte; aber der politische Lebenswille schien dem Rat zu gebieten, 
sich des Kaisers Gunst zu erhalten, auch wenn sie wirtschaftlich unren- 
table Summen kostete, um sich als politisches Gebilde, als Stadtstaat zu 
erhalten auch in einer Zeit, welche mehr und mehr gegen die Stadt und zugunsten 
der großen Territorien sich auswirkte. Wirtschaftlich hätte Nürnberg in einem 
der großen Territorien, mindestens seit dem 17. Jahrhundert besseren Schutz 
und reichere Einnahmen erzielt, als in seiner kostspieligen, wirtschaftlich nach- 
teiligen Selbständigkeit. Die Entwicklung benachbarter kleinerer Städte — z. B. 


860 Kritiken 


Schwabachs — beweisen diese meine Behauptung. Ich glaube daber, daB meine 
seinerzeit aufgestellte Behauptung doch zu Recht besteht, daB Nürnbergs Politik 
durch zwei Motive bestimmt wird: Durch Rücksichtnahme auf den Kaiser und 
durch ihre wirtschaftliche Stellung, wobei die Huld des Kaisers bei wichtigen Ent- 
scheidungen für den Rat den Ausschlag gab vor dem wirtschaftlichen Vorteil. Nur 
vorübergehend hat das Glaubensmotiv die beiden anderen maßgebenden Gründe der 
Nürnberger Außenpolitik in den Schatten gestellt. — Auf jeden Fall hat die von 
Weigel begonnene Diskussion m. E. zu einer letzten, scharfen Klärung der Frage 
geführt; in der praktischen Wertung der Ereignisse, so glaube ich, sind wir — Weigel 
in seinem Buch von 1932 und ich in meinem von 1930 — nicht allzuweit auseinander. 
Der verworrenen deutschen Geschichte des beginnenden Dreißigjährigen Krieges hat 
Weigel eine Bresche geschlagen, durch die wir einen freien, weiten Blick gewonnen 
haben. Dafür wird ihm der Historiker Dank wissen. 
München. Eugen Franz. 


Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. 
Band XVI. Geschichte der Päpste im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus 
von der Wahl Benedikts XIV. bis zum Tode Pius’ VI. (1740—1799). Dritte 
Abteilung: Pius VI. (1775—1799). Freiburg i. Br., Herder 1933. XXXIX., 
678 8. 

Endlich liegt uns von Pastors bändereicher Papstgeschichte der abschließende 
Teil vor, mit dem nun der Plan zur Verwirklichung gekommen ist, den der junge 
Gelehrte vor fast einem halben Jahrhundert entwarf. Und es zeugt von dem Weit- 
blick des Verfassers, daB die Durchführung seines Planes sich auch im einzelnen 
nach dem zu Anbeginn aufgestellten Schema gestaltet hat. Die Grundlage des 
Werkes ist erwachsen aus der Bewältigung eines überaus umfänglichen Schrifttums, 
dessen Ergebnisse ausgedehnteste Archivforschung erweitert und vertieft hat, in 
dem Grade, daB im ganzen Umfang des Werkes wohl kaum eine Seite ist, die nicht 
wenigstens in einer Kleinigkeit Neues brächte. Ausgewählte Proben des ungedruck- 
ten Materials neben gelegentlichen kritischen Exkursen sind der Mehrzahl der Bände 
beigegeben. Den so gewonnenen Stoff hat Pastor mit bewunderungswürdiger 
Darstellungsgabe zu farbenreichen Bildern zusammengefügt, die uns das Walten 
der Nachfolger des Fischers von Galiläa als Herren des Kirchenstaates, als Regenten 
der katholischen Kirche und in allen den Beziehungen und Verwicklungen vor Augen 
stellen, in die sie als höchste Inkarnation des kirchlich-religiösen Prinzips im christ- 
lichen Abendlande geführt wurden. Naturgemäß ist der Anblick, den das Papsttum 
in den verschiedenen Zeiten darbietet, ein überaus wechselnder. Bei ihm, wie bei 
jeder anderen geschichtlich erwachsenen Macht, wechseln je nach dem Geist der 
Zeiten und den Fähigkeiten und Handlungen des jeweiligen Trägers der Tiara Zeiten 
des Aufschwungs mit denen des Abstiegs und Verfalls. Von den Wogen des geschicht- 
lichen Lebens umspült und umbrandet, schwankt wohl auch der ,,Fels Petri“, und 
das Schifflein der Kirche kommt nicht selten in Gefahr, vom Sturme fortgerissen zu 
werden. 

Gerade der Schlußteil von Pastors Papstgeschichte zeigt uns vorwiegend Bilder 
dieser letzten Art. Den Gegenstand bildet der Pontifikat Pius' VI. (Gianange o 
Braschi), der mit seiner fast fünfundzwanzigjährigen Dauer der längste aller Ponti- 
fikate war, die die Christenheit bisher gesehen hatte, zugleich einer der unglücklich- 


Kritiken 861 


sten. Pius trat eine schwierige Erbschaft an. Die Unterwühlung der Zeitmeinung 
durch die Aufklárung bedrohte in zunehmendem MaBe die Idee des Papsttums 
und der fürstliche Absolutismus der katholischen Monarchien war unentwegt darauf 
gerichtet, die Kirche dem weltlichen Herrscher zu unterstellen. Schon hatte das 
Papsttum seinen wertvollsten Gehilfen, den Jesuitenorden, dem Machtstreben der 
katholischen Höfe preisgeben müssen, und es bezeichnet die Lage, daß der Nach- 
folger Klemens’ XIV. vor seiner Wahl sich verpflichten mußte, die Verfügung seines 
Vorgängers unangetastet zu lassen. Pius wäre freilich auch nicht der Mann gewesen, 
heroische Entschlüsse zu fassen und zur Ausführung zu bringen. Er überragte nach 
keiner Richtung hin den allgemeinen Durchschnitt; doch war sein Auftreten in den 
Stürmen seiner Regierung nicht ohne Würde, und wo Nachgiebigkeit unvermeidbar 
schien, suchte er wenigstens grundsátzlich die Rechte der Kirche zu wahren. Seinem 
Ansehen war freilich das Laster des Nepotismus, dem er frónte, nicht fórderlich. 

Dem beim heiligen Stuhle herkömmlichen Mäzenatentum für Wissenschaft und 
Kunst versagte sich Pius VI. nicht. Es geschah auch nicht ohne sein Zutun, daB da- 
mals bei den gebildeten und höheren Klassen der europäischen Gesellschaft ein Be- 
such Roms zur Modesache wurde und, solange der Friede andauerte, ein gewaltiger 
Fremdenstrom sich in die ewige Stadt ergoB (Goethe; fürstliche Besuche, Kolonien 
auswärtiger Künstler in Rom). Einem Lieblingsplan Pius’, für den er bedeutende 
Geldmittel ohne wesentlichen Erfolg opferte, der der Austrocknung der Pontinischen 
Sümpfe, ist erst die Gegenwart mit Aussicht auf Gelingen nähergetreten. 

Daß der kirchliche Sinn damals noch nicht ganz erloschen war, bezeugte der 
Aufschwung, den der schon 1732 gestiftete Orden der Redemptoristen und Re- 
demptoristinnen nahm, solange zumal der erst 1787 einundneunzigjährig ins Grab 
sinkende Stifter Alphons de Liguori (für dessen Schilderung Pastor ausschließlich 
die leuchtendsten Farben in Anwendung bringt), tätig war. Die Redemptoristen 
traten gleichsam in die Fußtapfen der Jünger Loyolas. Pius sah auch den erzwungenen 
Widerruf des greisen Hontheim - Febronius; allein die hinter dem Febronianismus 
stehende Richtung bereitete in dem sogenannten Nuntiaturstreit (einer Folge der 
Errichtung einer Nuntiatur in München) der Kurie größte Schwierigkeiten; eine 
Zeitlang schien der Episkopalismus in Deutschland es über den Papalismus davon- 
tragen zu sollen; man hat diese Vorgänge wohl als die schwerste Krise bezeichnet, 
die seit Luthers Zeiten das Papsttum in Deutschland durchlebt habe. 

Tiefe Eingriffe in das kirchliche Gebiet mußte Pius von den nördlichen und süd- 
lichen Nachbarn des Kirchenstaates — von der Republik Venedig, den Habsburgern 
in Toskana, den Bourbonen in Unteritalien — sich gefallen lassen. InRußland mischte 
sich die Zarin Katharina II., durch die polnischen Teilungen Herrin zahlreicher 
Katholiken geworden, in die kirchlichen Angelegenheiten dieser ein; u.a. machte 
sie die Veröffentlichung päpstlicher Erlasse von ihrer Genehmigung abhängig. Wenn 
aber Katharina andererseits (wie übrigens bekanntlich auch Friedrich der Große) 
Jesuiten nach der Aufhebung des Ordens den Aufenthalt in ihren Staaten erlaubte, 
so geschah das natürlich nicht aus Wohlwollen für Rom. Ein gefährlicher Gegner 
erstand der Kurie auch in dem österreichischen Herrscher und deutschen Kaiser 
Joseph II., dem ebenso mächtigen wie rücksichtslosen Vertreter des kirchenfeind- 
lichen Geistes der Aufklärung (Josephinismus). 

Allein was wollte das alles bedeuten im Vergleich mit den Ereignissen in Frank- 
reich, einst der geliebtesten Tochter der römischen Kirche? Der Schilderung dieser 


862 Kritiken 


Ereignisse von den letzten Ursachen und dem Ausbruch der Revolution an ist das 
letzte Drittel unseres Bandes eingeráumt, und in eindrucksvollen Bildern sehen wir 
das große Drama, soweit die katholische Kirche von ihm berührt und fortgerissen 
wird, sich vollziehen: in der Aufhebung der kirchlichen Privilegien im Lande der 
Revolution, der Säkularisation der Kirchengüter, der Aufhebung der Klöster, der 
Zivilkonstitution des Klerus, der Verfolgung der eidverweigernden Priester. Bald 
überschreiten die revolutionären Gedanken die französischen Grenzen und dringen 
u.a. auch in den Kirchenstaat ein, der auf der anderen Seite in weitem Umfang 
zur Zufluchtsstätte des französischen Klerus wird. So sammelt sich hier ein Zünd- 
stoff an, der, als Pius unbesonnenerweise sich der ersten Koalition der Mächte gegen 
Frankreich anschließt, zur Katastrophe führt. Bonaparte dringt in den Kirchenstaat 
ein und erzwingt den Frieden von Tolentino, der die Kurie u.a. Avignon kostet. 
Aber das Ende der Leiden des heiligen Stuhles ist durch dieses Abkommen nicht er- 
reicht worden; unruhige Bewegungen in Rom führen in Kürze zu dauernder Be- 
setzung der Stadt durch die Franzosen und der Errichtung der römischen Republik, 
und als Folge davon der Ausweisung des Papstes. Den durch Alter und Krankheit 
Geschwächten hat man schließlich noch über die Alpen nach Frankreich ge- 
schleppt; dort, in Valence, ist Pius als ein macht- und hilfloser Greis ins Grab 
gesunken. 

In einem kurzen Schlußwort gibt der Verfasser einen Ausblick auf den Wieder- 
aufbau des Papsttums nach dem Sturze Napoleons. Pastor möchte diesen Verlauf 
im Lichte eines ganz außerordentlichen Ereignisses, wenn nicht eines Wunders, 
aufgefaßt wissen; tatsächlich ist neben dem Papsttum bekanntlich auch die Mehr- 
zahl der alten Staaten, die durch Napoleon zertreten waren, im „Zeitalter der Re- 
stauration“, das dem revolutionären Zeitalter folgte, „restauriert“ worden und das 
hatte zumal für den Kirchenstaat gute Gründe; nach der Erschütterung jeg- 
lichen Herkommens und der Aufpeitschung aller Leidenschaften mußten die in Wien 
versammelten Mächte auf die Wiederaufrichtung einer geistigen, ihrer Natur nach 
fortschrittsfeindlichen Macht, wie es das Papsttum war, einen erheblichen Wert 
legen. Und daß das Papsttum nach und in seiner tiefsten Erniedrigung die Kräfte 
für einen künftigen Aufstieg fand, was Pastor wiederum als etwas Außerordentliches 
herausheben möchte, ist eine Erscheinung, von der die Geschichte eine Fülle von 
Beispielen aufweist, ja, die sich auch im einzelnen Menschenleben zeigen kann. 

Aber diese Betrachtungsweise hängt bei Pastor eben mit der ganzen Richtung 
zusammen, die seine Feder lenkt. Wenn er im Vorwort zum ersten Bande der Papst- 
geschichte sich neben Leopold Ranke stellt und die Absicht ankündigt, dessen Ge- 
schichte der Päpste als veraltet und ersatzbedürftig durch sein Werk zu ersetzen, 
so hat er diese Absicht bis zu einem gewissen Grade unzweifelhaft verwirklicht. 
Kein Forscher, der sich mit der neueren Kirchengeschichte, ja der europäischen 
Geschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts beschäftigt, kann ohne ständige Beachtung 
des großen Pastorschen Werkes auskommen. Allein, wenn Ranke es einmal als 
Ziel seiner Geschichtschreibung bezeichnet hat, daß er sehen wolle, wie die Dinge 
eigentlich verlaufen seien, so liegt diese Voraussetzungslosigkeit Pastor durchaus 
fern. Ihm stand, noch ehe er das erste Wort zu Papier gebracht hatte, das Ziel schon 
klar vor Augen. Er hatte zu zeigen, wie in der Geschichte des Papsttums für die Zeit, 
die er behandelte, das (seiner Authentizität nach mehr als zweifelhafte) Wort unseres 
Heilandes bei Matth. 16 V. 18f.: „Du bist Petrus“ usw., sich auswirke und bewahr- 


Kritiken 863 


heite. „Ihr habt einen anderen Geist", werden wir, von Ranke herkommend, dem 
Vertreter dieser gebundenen Geschichtsbetrachtung zuzurufen uns gedrungen fühlen. 
Wernigerode a. H. Walter Friedensburg. 


Josef Sauer, Finanzgeschäfte der Landgrafen von Hessen-Kassel. Ein 
Beitrag zur Geschichte des kurhessischen Haus- und Staatsschatzes und zur 
Entwicklungsgeschichte des Hauses Rothschild. Fulda 1930, Fuldaer Aktien- 
druckerei. 149 S. 89, 

Diese Münchner Dissertation verdient als Erstlingsschrift wegen ihres ruhigen 
und vorsichtigen Urteils, wegen der umsichtigen Anlage, der Benutzung umfang- 
reicher archivalischer Quellen und der ausgedehnten Literatur besonderes Lob, 
Die Grundlage des kurhessischen Schatzes bilden die Gelder, die aus den berüchtigten 
„Subsidienverträgen“ geflossen sind. Es ist und bleibt eine Schande, daß deutsche 
Fürsten ihre Landeskinder fremden Mächten gegen Geldzahlungen zur Verfügung 
gestellt haben, ohne an den Kämpfen dieser Mächte irgendwie politisch interessiert 
gewesen zu sein. Kam es doch vor, daß — im österreichischen Erbfolgekrieg — 
hessische Truppen auf beiden Seiten standen, „wenn auch durch einen Geheimartikel 
ein direkter Kampf zwischen den hessischen Soldaten theoretisch ausgeschlossen 
war“! Durch einen Subsidienvertrag, den Wilhelm VIII. mit England abschloß, 
wurde sein Land einer der Kriegsschauplätze des Siebenjährigen Krieges und hatte 
jahrelang furchtbare Brandschatzungen durch die Franzosen zu erdulden. Der Land- 
graf aber konnte mit den ihm gezahlten Geldern den ,,Grundstock zu dem späteren 
kurhessischen Haus- und Staatsschatz" legen. Das größte Finanzgeschäft des Fürsten- 
hauses ist der Subsidienvertrag vom 31. Januar 1776, den Friedrich II. mit Eng- 
land schloß. Dieser Landgraf aber besaß dennoch hohe Regententugenden und be- 
mühte sich mit Erfolg um die Wohlfahrt seines Landes. Es ist auch ganz falsch, 
ihm und seinem Hause allein den Abschluß von Subsidienverträgen zur Last zu 
legen. Andere deutsche Fürsten haben dasselbe getan, und wieder andere hätten es 
getan, wenn ihre Truppen nicht zu schlecht gewesen wären. Dies richtig herausgestellt 
und damit hoffentlich den Streit über die hessischen Subsidienvertráge beendet zu 
haben, ist ein Verdienst des Verfassers. 

Durch die Ansammlung groBer Überschüsse aus den Subsidiengeldern wurden 
die Landgrafen unabhüngig von dem Steuerbewilligungsrecht ihrer Landstünde und 
konnten mit ihrem Gelde gewinnbringende Finanzoperationen unternehmen. Als 
Muster ihrer Kapitalanlagen dienten ihnen die des Kantons Bern, die sie aber an 
Zinsgewinnen weit übertrafen. Von 1762 an stiegen die Zinseinnahmen auf zuletzt 
950000 Rth. im Jahre 1805. Die ersten größeren Kapitalanlagen geschahen durch 
Vermittlung des Hauses Notten u. Sóhne in Amsterdam bei der hollündischen Ost- 
indischen Kompanie. Später folgten Darlehen an die eigenen Landstände und an 
deutsche Fürsten, die in scharfen Bedingungen meist Landesteile mit höheren Ein- 
künften verpfänden mußten, Die erste ausländische Millionenanleihe (1200000 Rth.) 
zu 4%, wurde 1784 mit Dänemark abgeschlossen. Friedrich II. hinterließ ein Kapital- 
vermögen von 10 Millionen Rth. Unter seinem Sohn Wilhelm (IX.) trat seit 1786 
u.a. auch der Hessen-Hanauische Hoffaktor Meyer Amschel Rothschild als Dar- 
lehensvermittler auf. Jüdische Banken in Kassel (Feidel David, Michel Simon u. a.) 
verwerteten die für Subsidiengelder in Zahlung genommenen Wechsel, wurden aber 
auch später von Frankfurter Banken an den von diesen übernommenen Anleihe- 


864 Kritiken 


geschäften beteiligt. Die amtliche Stelle, die die Gelder verwaltete, war die Kriegs- 
kasse. Sie bevorzugte neuerdings Obligationenankäufe zur Anlage ihrer Kapitalien, 
ohne das Anleihegescháft zu vernachlüssigen. In Frankfurt arbeitete sie mit der Firma 
Rüppel und Harnier und mit Rothschild, der 1803 zum Oberhofagenten ernannt 
wurde und bald alle seine Konkurrenten am Kasseler Hof überflügelte. Durch ihre 
Verbindung mit dem Kurfürsten aber, der als Geldgeber ganz im Hintergrund blieb 
und somit nur finanzielle Gesichtspunkte zu berücksichtigen brauchte, konnten die 
Frankfurter Bankhäuser die Anfänge der modernen bankmäßigen Organisation des 
öffentlichen Kredits zeitigen. Unter den Anleihenehmern befanden sich Kaiser Franz, 
die Könige von Preußen und Dänemark, der russische Thronfolger. Nach 1800 nahm 
die Beteiligung Wilhelms an den Frankfurter Anleihen einen ganz großen Umfang 
an. Das Streben der hessischen Kassen ging auf Erhöhung ihrer Zinseinnahmen, 
wodurch sich das Kapitalvermögen beständig erhöhte, von 1801—1806 durchschnitt- 
lich jedes Jahr um 520000 Rth. Um Kapitalrückgang zu verhindern, mußten die 
zurückflutenden Anleihegelder neu angelegt werden, so daß jährlich etwa 800000 Rth. 
unterzubringen waren. Für alle Darlehen an die Banken wurden 1—3% Provision 
verlangt und an Wilhelms Kabinettskasse abgeführt, die auf diese Weise ein eigenes 
Kapitalvermögen bilden konnte. Das Kapitalvermögen der mit den Darlehen 
arbeitenden hessischen Kassen ist von 10 Millionen Rth. im Jahre 1794 auf minde- 
stens 25 Millionen am 1. November 1806 angewachsen. Bei aller Geschäftstüchtigkeit 
Wilhelms wirft es auf ihn doch ein gutes Licht, daB er schon von seinem Regierungs- 
antritt an auffallend häufig Darlehen in Höhe von 1000—3000 Rth. an hessische 
Bauern und Handwerker zu dem niedrigen ZinsfuB von 1—3% gegeben und ihre 
Gewührung durch besondere Verordnung vom 20. Februar 1786 geregelt hat. Ebenso 
wurden an Gemeinden Darlehen zu 2 und 3%, zum Bau von Kirchen und Schulen 
gegeben. 

Von der Beschlagnahme seines Kapitalvermógens durch Napoleon rettete der 
Kurfürst nur etwa 13 Millionen, hieraus wurde eine Kabinettskasse gebildet, die auch 
nach der Restauration Privatkasse des Landesherrn verblieb. Mit der Vertreibung 
Wilhelms erhielt das Haus Rothschild eine Monopolstellung in den kurfürstlichen 
Finanzgeschäften, durch die es in die Lage kam, mit den billigen hessischen Geldern 
groBe Spekulationen auszuführen und so den Grund zu seiner Weltstellung zu legen. 
Eine ganz merkwürdige Finanzoperation waren die Darlehen der Kabinettskasse 
an die Kriegskasse, die in den Jahren nach der Restauration bis 1816 die für das Heer 
nótigen Mittel nicht aufbringen konnte, die Vorschüsse aber, diesie von der Kabinetts- 
kasse erhielt, als Darlehen zu 414%, verzinsen mußte. Um dies zu verschleiern, wurde 
ein Consortium creditorum in Frankfurt eingeschoben, das als Geldgeber auf- 
trat. Hierdurch sollte dem Kurfürsten ZinsgenuB und für den Fall der bevorstehenden 
Trennung des Staatsvermógens vom Privatvermógen hohe Geldeinkünfte aus dem 
Steueraufkommen des Landes gesichert werden. Der Feststellung des Staatsvermó- 
gens widersetzte sich Wilhelm I. mit allen, nicht immer einwandfreien Mitteln, ob- 
gleich die Staatsfinanzen nur durch äußerste Sparsamkeit und Erhöhung der Steuern 
im Gleichgewicht erhalten werden konnten, während sich die Kapitalanlagen der 
Kabinettskasse weiter vermehrten. Auch seinem tief in Schulden steckenden Sohn, 
dem späteren Kurfürsten Wilhelm II., half er nicht. Nach seiner Wiedereinsetzung 
hatte er versucht, die nicht von den Franzosen genommenen Nominalkapitalien zu 
retten, es war ihm nur bei inländischen Schuldnern auf dem Weg der Gesetzgebung 


Kritiken 865 


gelungen. Verhandlungen mit den auslándischen wurden erst unter Wilhelm II. mit 
einem Verlust von 47—48% abgeschlossen. Die zurückflieBenden Gelder erhielt die 
Kabinettskasse. Endlich wurde in den Jahren 1830/31 mit der Einführung der Ver- 
fassung das kurhessische Kapitalvermógen in einen Staatsschatz und einen Haus- 
schatz zu gleichen Teilen geteilt (je 14 253 827 Gulden), nachdem die Vorschüsse der 
Kabinettskasse an die öffentlichen Kassen niedergeschlagen und über 414 Millionen 
zur Tilgung der kurfürstlichen Schulden verwendet waren. Vom Hausschatz, der 
Fideikommiß sein sollte, wurden dann noch etwa 1½ Millionen als Schatullvermógen 
des Kurfürsten abgespalten, er bestand danach aus 12 760 479 Gulden. Nach der 
Annexion Kurhessens 1866 wurden beide Schátze von PreuBen beschlagnahmt, 
der Staatsschatz, bald an den Regierungsbezirk Kassel zurückgegeben, bildete den 
Grundstock des Kasseler Kommunalfonds. Den Hausschatz verwandte Preußen 
hauptsächlich zur Bekämpfung der Umtriebe der verjagten Fürstenhäuser. Beim 
Tode des Kurfürsten 1876 war er verbraucht. 

Ein interessantes Stück deutscher Geschichte und Finanzgeschichte wird vor 
uns aufgerollt, so daß wir auch viele bei Corti und Losch erzählten Dinge in schärferer 
Beleuchtung sehen. 

Gießen. K. Ebel f. 


Joachim Hild, August Hennings, ein schleswig-holsteinischer Publizist um die 
Wende des 18. Jahrhunderts (Erlanger Abhandlungen zur mittleren und 
neueren Geschichte, hrsg. von B. Schmeidler und O. Brandt, 11. Bd.). Er- 
langen, Palm & Enke, 1932. 184 S. 8,— AM. 

August v. Hennings ist der leidenschaftlichste und publizistisch rührigste Vor- 
kämpfer für die Ideen der Aufklärung in Schleswig-Holstein gewesen. Seine Stellung 
im geistigen Leben der Herzogtümer, besonders seinen Gegensatz zu dem pietistisch- 
religiösen, ritterschaftlich-ständischen, kulturell-deutschbewußten, um Fritz und 
Julia Reventlow sich scharenden Emkendorfer Kreis hat Otto Brandt vor einigen 
Jahren in seinem ,,Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende 
des 18. Jahrhunderts" klar umrissen. Jetzt unternimmt es ein Schüler Brandts, 
unter Heranziehung des bündereichen handschriftlichen Nachlasses von Hennings — 
Brandt hatte sich vor allem auf dessen Briefwechsel mit Ernst Schimmelmann 
gestützt — Leben und Streben dieses unruhvollen, letztlich unfruchtbaren Auf- 
klürers von neuem darzustellen. Ein unbefriedigendes Bemühen! — Nach vollendeten 
Göttinger Studienjahren, in denen die französische Aufklärungsphilosophie ihm zum 
geistig bestimmenden Erlebnis wurde, drängte den jungen Hennings gesteigerter 
Ehrgeiz zu praktischer staatlicher Wirksamkeit. Besondere Förderung erhofite er 
von seiner Freundschaft mit Ernst Schimmelmann, dem Sohn des dänischen Schatz- 
kanzlers. Sie eröffnete ihm auch den Zugang zur Verwaltungslaufbahn, die nur an- 
fangs eine kurze Verwendung im auswärtigen Dienst in Berlin und Dresden unter- 
brach. Bedeutsam wurde für Hennings der Berliner Aufenthalt: er schenkte ihm 
die Freundschaft Moses Mendelssohns. Nach der Rückkehr in die dänische Haupt- 
stadt erweiterte und erhöhte sich wohl sein amtlicher Pflichtenkreis, allein er ge- 
währte dem Ehrgeizigen keine Befriedigung. So entstanden in diesen Jahren, an- 
geregt zumeist durch fremde Werke, denn Hennings war kein originaler Denker, 
volkswirtschaftliche und philosophische Schriften, so der großes Aufsehen erregende 
„Olavides“, in denen er seine aufklärerischen Gedanken über religiöse Duldung oder 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 55 


866 Kritiken 


den Wert der Freiheit für den Aufbau eines gesunden Staatswesens aussprach, oft 
in schroffer Form und nicht, ohne die regierenden Kreise zuweilen heftig anzugreifen. 
Das erschütterte seine Kopenhagener Stellung, 1784 wurde er aus den dortigen Äm- 
tern entlassen. Auch in den Herzogtümern, zuerst in Schleswig lebend, dann lange 
Jahre als Amtmann in Plón, schlieBlich in Rantzau, hat er neben seiner amtlichen 
eine rege schriftstellerische Tätigkeit entfaltet, Zeitschriften wie den „Genius der 
Zeit" herausgegeben und umfangreiche wissenschaftliche Werke geschrieben. In 
der französischen Revolution begrüßte er, der grimmige Adelshasser, den Aufstieg 
des „Volkes“ zur Menschheit, und als die blutigen Wogen der Volksherrschaft hoch 
gingen, da pries er in seinem „Wort der Mäßigung an Europa“ den Gebrauch der 
Vernunft als Förderin höchsten Glückes, da erblickte er in dem französischen Ge- 
schehen bewundernd den Anbruch einer neuen, vom Geist der Aufklärung beherrsch- 
ten Zeit. 

Besonderes Interesse erweckt sein Verhältnis zu Deutschland. Seiner Ab- 
stammung — seine väterlichen Vorfahren waren Dithmarscher — seinem Wesen 
und seiner geistigen Haltung nach durchaus deutsch, fühlte er sich dennoch ganz 
als Däne, in Dänemark sein Vaterland erblickend. Mit leidenschaftlicher Verachtung 
sah er auf die staatliche Zerrissenheit Deutschlands herab, auf seine geistig-kulturelle 
Rückständigkeit und auf die Unfähigkeit der in gegenseitigem Haß sich zerspaltenden 
Deutschen, Nation zu werden. In einer seiner letzten Arbeiten, der „Geschichte der 
Deutschen in der Vorzeit“ wollte er nachweisen, daß es nie ein deutsches Volk gegeben 
habe. Aber dennoch hielt er eine künftige deutsche Volkwerdung für möglich. Der 
von deutschem Kultur- und Nationalgefühl getragenen geistigen Bewegung in den 
Herzogtümern, deren Anfänge er erlebte, mußte dieser Rationalist verständnislos 
gegenüberstehen. 

Ein kümpferisches Leben, das nie zum Ausgleich seiner inneren Kráfte gelangt 
ist, nie teilhatte an jener Harmonie, die nach seinem Glauben das Weltall durch- 
waltet. — Energisch hat sich der Vf. um ein seinem „Helden“ gerechtwerdendes 
Verstehen bemüht und die geistige und charakterliche Eigenart von Hennings zu 
erfassen und zu analysieren erfolgreich versucht. Wenn der Schrift dennoch etwas 
Unbefriedigendes anhaftet, so deshalb, weil sie einem von Disharmonien erfüllten 
Dasein gewidmet ist, das zu schópferischem Gestalten nie gelangte. 

Kiel. G. E. Hoffmann. 


Edgar Bonjour, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848—56. (Berner 
Untersuchungen zur Allgemeinen Geschichte.) (Paul Haupt, Bern und Leip- 
zig.) Geh. 4,— RM. 

Wir sind uns heute kaum noch bewußt, in welchem Maße Neuenburg in den 
Jahren 1848—67 die öffentliche Meinung und die große Politik beschäftigte. Trotz 
Revolution und Krimkrieg waren Regierungen und Diplomatie gezwungen, den 
politischen Entwicklungen in Neuenburg ihre sorgende Aufmerksamkeit zuzuwenden, 
Entwicklungen, die sich bis zur Gefahr eines europäischen Krieges steigerten. 

Wir folgen der Darstellung Bonjours. 

I. Am 1. März 1848 wurden Monarchie und Regierung im Fürstentum Neuen- 
burg durch eine republikanische Bewegung gestürzt und der eidgenössische Vorort 
Bern anerkannte alsbald den neuen Zustand: „es stehe jedem Kanton das unveräußer- 
liche Recht zu, sich seine Verfassung selbst zu geben". Der schweizerische Bundes- 


Kritiken 867 


rat, in dem der Radikalismus maßgebend war, zeigte sich bereit, allenfalls über eine 
Geldentschádigung zu verhandeln, auf andere Verhandlungen werde er sich nicht 
einlassen. 

Die republikanische Verfassung wurde am 30. April mit 5813 gegen 4395 Stim- 
men angenommen. Auf der einen Seite die Ideale der Aufklärung und des schweize- 
rischen Gesamtnationalgefühls und die Befreiungswünsche der unter der monarchi- 
schen Regierung sozial und wirtschaftlich benachteiligten Kreise, auf der anderen 
Seite, geführt von Graf Wesdehlen, Frédéric de Chambrier und dem preuBischen 
Gesandten von Sydow die Idee des christlich-germanischen Ständestaates und der 
gottgewollten Ordnung: „ihren Fürsten betrachteten sie als die Quelle und Garantie 
ihrer Rechte und Freiheiten“. Sie hofften auf Unterstützung durch die Großmächte, 
von deren keiner aber materielle Hilfe zu erwarten war. 

Dem König Friedrich Wilhelm IV. war Neuenburg besonders durch seinen 
Besuch im Jahre 1842 ans Herz gewachsen. Das Land „bot seinen Augen ein Bild 
altständischer Schichtung der Gesellschaft und patriarchalisch-christlicher Einfach- 
heit“. Auf keine seiner Untertanen war der König so stolz wie auf seine allertreuesten 
Neuenburger. 

Nun mußten die sehr weitgehende Autonomie der Gemeinden, die Selbständig- 
keit der vier Bourgeoisien Landeron, Boudry, Neuenburg und Valangin, die in 
der Compagnie des Pasteurs organisierte Geistlichkeit den modernen Ausgleichs- 
bestrebungen weichen. Alle diese Maßregeln riefen große Unruhe unter den Alt- 
gesinnten hervor, die noch dadurch gesteigert wurde, daB die Regierung ihrerseits 
bewaffnete Trupps aus den republikanisch gesinnten Gemeinden und Milizen auf- 
bot, die sie zur Strafe bei den kóniglich Gesinnten einquartierte. Die Unzufrieden- 
heit wurde so groß, daB mancher der Altgesinnten dem Lande der Väter den Rücken 
kehrte. Aus dem Dorfe Lingniéres allein hatten Anfang 1850 schon 47 Personen die 
Heimat verlassen. 

II. Nachdem die in der Schweiz vorbereiteten und von einigen Kantonen unter- 
stützten Aufstánde in Baden (April und September 1848) niedergeschlagen waren, 
retteten sich zahlreiche Flüchtlinge in die Schweiz. Die von der badischen Regierung 
erhobenen Vorstellungen fanden die Unterstützung Sydows, in dessen Augen der 
Putsch in Baden und der Neuenburger Aufstand Auswirkungen eines und desselben 
Prinzips waren. Als das preußische Heer unter der Führung des Prinzen von Preußen 
in Baden und in der Pfalz siegreich vordrang, regte sich in der Schweiz die Besorgnis, 
nun werde Preußen die Gelegenheit benutzen, um die Neuenburger Angelegenheit 
in seinem Sinn zu regeln. Der von Sydow angefochtenen Neigung des Königs und 
des Prinzen von Preußen, in Neuenburg mit militärischer Gewalt einzugreifen, 
stand die „junge Real- und Opportunitätspolitik des Grafen Brandenburg gegen- 
über, die sich insbesondere über die von den Großmächten zu erwartende Gegner- 
schaft im klaren war. Der König gab mit großemWiderstreben nach. Unter den re- 
gierenden Personen fand dadurch ein Wechsel statt, daB Sydow nach Berlin berufen 
wurde und an seiner Stelle Major Ludwig von Wildenbruch als interimi:tischer 
Gescháftstráger nach Bern geschickt wurde. Als in dieser Zeit eine Gruppe von 
38 Neuenburger Royalisten dem Prinzen von Preußen in Baden ihre Aufwartung 
machte, schwor ihnen der Prinz bei Gott, sie nie zu verlassen. 

III. Da die Wiedergewinnung von Neuenburg durch das Schwert aussichtslos 
erschien, versuchte der Kónig, auf diplomatischem Wege zum Ziele zu gelangen. 


95* 


868 Kritiken 


Aber die mit Rußland, Österreich, Frankreich und England aufgenommenen Unter- 
handlungen hatten keinen Erfolg. Ein unerwarteter Vorschlag des schweizerischen 
Bundesrats, die Neuenburger Sache zum Gegenstand von Verabredungen zu machen, 
wurde von der preußischen Regierung dahin erwidert, daB sie gern zu Verabredun- 
gen die Hand bieten werde, welche die Wiederherstellung der rechtmáBigen Regie- 
rung im Fürstentum Neuenburg bezweckten. Ein von Preußen und Österreich 
gemeinschaftlich dem französischen Außenminister La Hitte unterbreiteter Vor- 
schlag, eine Konferenz der Nachbarstaaten nach Paris einzuberufen und der 
Schweiz das Ultimatum zu stellen, alle Flüchtlinge auszuweisen, fand Zurück- 
weisung. 

Der Bundesrat sah sich veranlaßt, sich gegen die preußische Auffassung zu ver- 
wahren, wonach in seiner ersten Note irgendwelche Anerkennung einer Rechts- 
verletzung gelegen habe. Der schroffe Ton des bundesrätlichen Schreibens veranlaßte 
die preußische Regierung zur Abberufung Wildenbruchs, an dessen Stelle nun wieder 
Sydow trat. 

Erneute Versuche des Kónigs, Frankreich und England für den preuBischen 
Rechtsstandpunkt zu gewinnen, schlugen fehl. Die dabei in den Vordergrund treten- 
den realpolitischen Gesichtspunkte fanden auch bei Bunsen trotz seiner Freund- 
schaft mit dem Kónig Vertretung. 

Eine Demonstration der Gemeinde La Sagne zugunsten der Anhänglichkeit 
an das Königshaus wurde von dem republikanischen Staatsrat mit harten Vergel- 
tungsmaBregeln bestraft. DaB der Kónig seinerseits an seiner einmal ergriffenen 
Rechtsauffassung festhielt, bewies er durch ein Patent, wonach die durch die re- 
publikanischen Mehrheiten bewirkten oder noch zu bewirkenden Veräußerungen 
von Staats- und Kirchengut die Genehmigung der rechtmüBigen Obrigkeit nicht 
erhalten würden. 

IV. Der auf Befehl des Kónigs mit der Erstattung eines Berichts beauftragte 
Major von Roeder kam zu dem Schluß, der König möge gegen eine von der Schweiz 
zu gewährende Genugtuung auf Neuenburg verzichten. Sydow hielt dagegen an 
seinem Standpunkt fest, Neuenburg zu behaupten; schweizerischer Kanton könne 
es dann allerdings nicht mehr bleiben. Von der Auffassung ausgehend, daß eine 
friedliche Erledigung der Neuenburger Sache nur durch ein Zusammenwirken aller 
GroBmáchte sichergestellt werden könne, machte der König den Vorschlag, dem 
schweizerischen Bundesrat möchte in seinem Auftrag von den vier anderen GroB- 
mächten die friedliche Mediation in der Neuenburger Frage angeboten werden. 
Nach dem Ausscheiden Neuenburgs aus dem Bundesstaat werde das Fürstentum 
zu der gesamten Eidgenossenschaft in dasselbe ewige Verhältnis treten, in dem es 
früher zu den einzelnen Kantonen gestanden habe. Wien und Petersburg stimmten 
zu, Palmerston dagegen widersetzte sich jedem Beschluß, der die Trennung Neuen- 
burgs von der Schweiz bezweckte. 

Bei der am 28. März 1852 vorgenommenen Wahl zum Großrat wurden nur 
14 Royalisten gegenüber 74 Republikanern gewählt, ein Ergebnis, welches nicht 
geeignet war, die preußischen Bestrebungen zu unterstützen. Nach längeren Ver- 
handlungen zwischen den Großmächten fand am 24. Mai 1852 die Unterzeichnung 
des Londoner Protokolls statt, das zwar die Rechte des Königs auf Neuenburg an- 
erkannte, aber die Selbsthilfe während der zu unternehmenden Vermittlung aus- 
schloß. 


Kritiken 869 


Am 20. August 1851 hatten 65 Royalisten die sogenannte Pilgerfahrt nach 
Hechingen unternommen. Der Kónig und der Prinz von Preufen gaben ihr Ehren- 
wort, sie nie zu verlassen. 

V. Die Monarchisten schöpften aus der europäischen Anerkennung der königlichen 
Rechte frischen Mut und bereiteten einen Putsch vor. Durch den ehemaligen Staats- 
ratspräsidenten de Chambrier machte der König indessen ein Verbot bekannt, zu 
den Waffen zu greifen. Um den in England und Frankreich festgewurzelten Gedanken, 
als ob die Mehrzahl der Neuenburger der Republik anhinge, zu widerlegen, betrieb 
Bunsen im Einverständnis mit Wesdehlen und Rougemont die Abfassung einer 
Dankadresse an den König, welche 5900 Unterschriften erhielt. Einer auf den 6. Juli 
einberufenen Heerschau der Royalisten bei Valangin setzte die Regierung eine repu- 
blikanische Kundgebung zu Boudevilliers im Val de Ruz entgegen, und am 30. Juli 
beschloß der Große Rat, die Bourgeoisie von Valangin aufzuheben; am 7. August 
folgte die Wegnahme des Vermögens, des Archivs und des Siegels. Wiederum sprach 
der König die Erwartung aus, daß jede Schilderhebung unterbleibe. 

Der von der preußischen Regierung an die übrigen Großmächte ergangenen 
Aufforderung, mit der Schweiz Unterhandlungen zur Wiederherstellung der könig- 
lichen Gewalt in Neuenburg anzuknüpfen, zeigten sich nur Frankreich und Öster- 
reich entgegenkommend, während Rußland den Zeitpunkt nicht für günstig erachtete 
und England sich weigerte, der Schweiz das Protokoll vom 24. Mai zur Kenntnis zu 
bringen. Auch alle weiteren Bemühungen des Königs, England umzustimmen, 
blieben vergeblich. 

Als im Frühjahr 1853 Weesdehlen, Pourtalés-Steiger und der Schotte Ibbetson 
sich verabredeten, den Aufstand zu wagen, trat der Kónig dem Vorhaben energisch 
entgegen. 

Die inzwischen ausgebrochene orientalische Krise gab dem König neuen Anlaß 
zu einem Versuch, England in der Neuenburger Sache auf seine Seite zu ziehen. 
Preußen verlangte als Preis seiner „autonomen Neutralität“ erstens die Garantie des 
europäischen Besitzstandes, zweitens die Unanfechtbarkeit des deutschen Bundes- 
territoriums in seiner Totalität, und drittens das heilige Versprechen, ihm nach und 
durch den Frieden sein treues Neuenburg ohne Bedingungen wieder zu verschaffen. 
Friedrich Wilhelms Briefe an Bunsen haben etwas Ergreifendes. 

Nach Beendigung des Krimkrieges wurde auch Preußen zu den Schlußsitzungen 
der Pariser Konferenz eingeladen. In der Sitzung vom 8. April verlangte Manteuffel, 
daß man auch die Neuenburger Frage unter die zu behandelnden Gegenstände auf- 
nehme. Der Antrag hatte keinen Erfolg. 

Am 20. April erfolgten Neuwahlen zum Großen Rat. Sie ergaben 37 Republi- 
kaner, 25 Unabhängige und 27 Royalisten. 

VI. Auf Grund dieser Wahlen unterbreitete Weesdehlen dem König eine Denk- 
schrift, wonach von der Gesamtheit der Wähler (14898) zunächst 4966 Schweizer 
abzuziehen seien, die in den letzten zwei Jahren infolge ihrer Niederlassung im Kanton 
Neuenburg durch die Republik das Wahlrecht erhalten hätten. Von den 9932 Neuen- 
burgischen Wählern seien ¼ (gleich 5934) Royalisten. Den auf solchen Erwägungen 
gestützten Hoffnungen trat Major von Roeder mit der kühlen Betrachtung entgegen, 
daß das wirksamste Mittel, dem Zerfall der alten Institutionen Einhalt zu tun, in 
der Anerkennung Neuenburgs als Kanton bestehe. Damit gäbe der König nur eine 
traditionell gewordene romantische Fiktion auf. Die Wahlen hatten in der Tat der 


870 Kritiken 


royalistischen Partei einen Erfolg gebracht: im Juli bestand die Versammlung aus 
36 Gouvernementalen, 22 Unabhängigen und 31 Royalisten. „Vom Auslande ganz 
im Stich gelassen, in Neuenburg durch das Anwachsen der industriellen Bevölkerung 
republikanischer Gesinnung immer mehr beiseite geschoben, aus den Reihen der 
eigenen Partei durch Zersetzung bedroht", faBten die unbedingten Royalisten den 
Plan eines bewaffneten Aufstandes. Weesdehlen war die Seele der Verschwórung. 
Professor Matile, der seinerzeit nach Amerika ausgewanderte, „durch bittere Er- 
fahrungen ruhig gewordene Mann“ urteilte, daß die Neuenburger Bevölkerung allent- 
halben der gegenwártigen Regierung überdrüssig geworden sei. Im Mai und Juni 
weilte Weesdehlen in Berlin, um dort das Terrain zu sondieren. Der Prinz von 
Preußen redete ihm ab, auch der König war „wie immer (Schreiben des Prinzen von 
Preußen an den Prinzgemahl) dagegen". Weesdehlen schrieb an Sydow, er habe von 
den hóchstgestellten Persónlichkeiten die ermutigendsten Versicherungen erhalten, 
ausgenommen vom König. Auf der Heimreise besuchte Weesdehlen den Grafen 
Pourtalés, der sich indessen weigerte, irgend etwas ohne Aufforderung durch den 
König zu unternehmen. Als am 19. August eine Versammlung in La Sagne beschloB, 
auch ohne Pourtalés loszuschlagen, reiste dieser nach Berlin, um sich Klarheit zu 
verschaffen. Er hatte dort u. a. Unterredungen mit dem Prinzen von Preußen, dem 
Ministerpräsidenten von Manteuffel und dem Generaladjutanten von Gerlach. Der 
Prinz von Preußen verhehlte, wie er an Prinz Albert schrieb, „nicht die Bangigkeit 
des manquiren des coups", und auch der König erklärte seine Besorgnis, daß er die 
große Bangigkeit nicht unterdrücken könne. Da aber en tout cas losgeschlagen 
werden solle, so könne er nur sagen, daß er im Falle des Gelingens wisse, was seine 
Ehre, gestützt auf seine Erklärungen von 1848 und das Protokoll der Mächte von 1852 
zu tun verpflichten würde. Über die in Neuenburg bevorstehenden Ereignisse machte 
die preußische Regierung den Mächten geheime Mitteilungen. Der König schrieb 
außerdem im gleichen Sinne an den Kaiser Franz Joseph und der Prinz von Preußen 
auf seine Veranlassung an den Prinzen Albert. Ein dem preußischen Gesandten in 
Karlsruhe, von Savigny, erteilter Auftrag, mit dem schweizerischen Bundesrat zu 
verhandeln, erledigte sich dadurch, daß Savigny erst in Bern eintraf, als der Putsch 
schon niedergeschlagen war. Die Royalisten, die große Hoffnungen auf eine Einwir- 
kung Preußens auf den Bundesrat gesetzt hatten, waren bitter enttäuscht. Sydow, 
der in die Vorbereitungen zur Erhebung nicht eingeweiht war, war sehr bestürzt, als 
er davon hörte, und ließ Weesdehlen seine Bedenken noch einmal vorstellen. „Der 
König könne nur billigen, was er unterstützen könne und mißbillige folglich ein 
solches Unternehmen.“ Da erhielt Sydow am 30. August von Manteuffel die Mit- 
teilung, man wisse in Berlin, was sich in der Schweiz vorbereite, Sydow solle nicht 
dagegen wirken, sondern der Sache fremd bleiben. Weesdehlen aber teilte ihm mit, 
der König wünsche und billige die Schilderhebung. Sydow war überzeugt, die Roya- 
listen würden von bernischen und waadtländischen Truppen erdrückt werden. Nach 
dem Mißerfolg des Unternehmens schrieb Manteuffel an Sydow, er habe Pourtalés 
immer erklärt, er könne als Minister nur davon abraten. 

In der Nacht vom 2. zum 3. September brach der Aufstand aus, und für kurze 
Zeit wehte die königliche Fahne auf dem Neuenburger Schloß. 

„Es scheint uns nicht Aufgabe des Historikers zu sein, hier die Frage nach der 
Allein- oder Hauptschuld zu stellen, und so über die Vergangenheit zu Gericht zu 
sitzen. Eine solche rein moralische Betrachtungsweise kann der Mannigfaltigkeit 


Kritiken 871 


geschichtlichen Lebens nicht gerecht werden. Wir haben vielmehr danach getrachtet, 
die in den Verhältnissen liegenden Gegebenheiten zu erfassen und Verschuldungen 
im einzelnen — bei den Neuenburger Royalisten sowohl wie bei den Leitern der 
preußischen Politik — festzustellen. Erst aus dem Zusammenwirken aller dieser 
Kräfte ist der Neuenburger Konflikt entstanden, auf dessen Verständnis es uns hier 
vor allem ankam.“ 

Die Arbeit Edgar Bonjours schließt mit einer Niederschrift des Generals Karl 
von der Gröben, eines „untadeligen Charakters und frommen Christen“, der die 
gegen die Schweiz zu führende Armee befehligen sollte. 

„Mein heißgeliebter König hat die Unterstützung nie verheißen. Aber — das 
unsägliche Wehe: eine Perle aus seiner Krone verloren zu haben, hat ihn getötet.“ 

In der Einleitung sagt Edgar Bonjour, es solle im Gegensatz zum Streitschriften- 
charakter der bisherigen Literatur der Gegenstand aus den Bezirken der Politik, des 
Gefühls und der Moral in das Gebiet der Wissenschaft verlegt werden. Er sucht 
nicht den Schuldigen, sondern forscht nach den tieferen Ursachen des geschichtlichen 
Ereignisses. Wir sind überzeugt, daß Bonjour ernstlich bemüht gewesen ist, dies Ziel 
unter Benutzung aller ihm zu Gebote stehenden Quellen zu erreichen, und daß seine 
Bemühungen im wesentlichen von einem schönen Erfolge gekrönt worden sind. 

Wenn wir die treibenden Kräfte des Geschehens innerlich erfassen und klar und 
unzweideutig hinstellen wollen, so ist es einerseits der unanfechtbare und von der 
Überzeugung von dem unerschütterten Wert der verlorenen staatspolitischen Güter 
getragene Rechtsstandpunkt des Königs Friedrich Wilhelm und der altgesinnten 
Bevölkerung des Fürstentums und andererseits das für die heutigen Begriffe nicht 
ganz verständliche Verhältnis der gegenseitigen Liebe, Treue und Verantwortung 
zwischen Fürst und Volk. Wir haben den Eindruck, daß Bonjour gerade das letztere 
nicht seinem ganzen inneren Wert nach würdigt, wie er auch den Besuch des Königs- 
paares in Neuenburg im Jahre 1842, der mit seiner offenbar aus aufrichtigem Herzen 
kommenden Huldigung der ganzen Bevölkerung ein wahrer Triumphzug war, keine 
Erwähnung schenkt. Hat nicht auch die Beifügung des Wortes „vielgeliebt“ oder 
„heiß geliebt" bei Erwähnung des Königs ironische Bedeutung? 

Seite 30 spricht Bonjour von „dem sonst so wankelmütigen Monarchen, der wie 
immer, wenn es sich um Grundsätzliches handle, eine verblüffende Beharrlichkeit an 
den Tag legte". Wir finden dieses Urteil reichlich widerspruchsvoll und meinen im 
übrigen, daß der König während aller der Jahre 1848—56 mit bewunderungswerter 
Zähigkeit an seinem Standpunkt festgehalten hat. Und ist die „allgemeine Unauf- 
richtigkeit des Königs, die Bonjour Seite 46 hervorhebt, wirklich ein Ergebnis unvor- 
eingenommener geschichtlicher Forschung? Palmerston, der alles preußische Auf- 
würtsstreben mißgünstig beobachtete, ist jedenfalls ein ungeeigneter Gewührsmann; 
auch Kónige haben Anspruch auf gerechte Beurteilung. 

Auf Seite 29 sagt Bonjour, daB das Doppelverhältnis Neuenburgs zu Preußen 
und der Schweiz unglücklich gewesen sei. Wie sehr aber der überwiegende Teil der 
Bevólkerung damals an seinem Hohenzollerschen Fürstenhause hing, beweisen die 
Vorgünge bei und nach dem Aufstand von 1831 (siehe E. Kayser, Die Neuenburger 
Revolution vor 100 Jahren, Historische Vierteljahrschrift 1932, Seite 589). Dem 
Vorwurf des Dr. A. Chatelain gegenüber, daß die Leiter von Berlin betrogen worden 
seien, hátte meines Erachtens der Brief des Pfarrers Fr. Godet, des Erziehers des 
Kaisers Friedrich, an den Grafen Fr. Pourtalés vom 23. März 1857 nicht unerwähnt 


872 Kritiken 


bleiben dürfen, in dem es heißt: „Je crois à la parfaite loyauté du roi et du prince de 
Prusse. Si il y a des apparences contraires je les envisage comme le résultat d'un 
malentendu. Je ne mois pas seulement qu'il a eu malentendu, je mois comprendre 
quel il a été.“ 

Alles in allem, darin glauben wir mit dem Verfasser einig zu gehen, das Ende 
des Fürstentums Neuenburg stellt die ergreifende Tragódie eines Fürsten und eines 
Landes dar. 

Freiburg i. Br. Emil Kayser. 


R. P. Oszwald, Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Köln, 
1931. Gilde-Verlag. XII und 284 Seiten. 

Zu den unerquicklichen Streitfragen des Weltkrieges, die nicht zur Ruhe kom- 
men, gehört der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Immer wieder werden 
von belgischer Seite die alten, oft widerlegten Geschichten von den deutschen Greuel- 
taten aufgewärmt. Selbst das Buch des ehemaligen Unterstaatssekretärs im eng- 
lischen Außenministerium, Arthur Ponsonby, über die Lügen in Kriegszeiten hat 
daran leider nichts ändern können, obgleich dieser englische Diplomat mit erfrischen- 
der Offenheit darlegt, wie bewußt man damals gelogen hat. 

Oszwald wendet sich zunächst gegen die belgische Behauptung, daß die durch 
die heimische Presse aufgehetzten deutschen Soldaten mit einer Franktireur-Psy- 
chose in den Krieg gezogen seien und unschuldige, harmlose Leute des heimtückischen 
Mordes beschuldigt und erschossen hátten. Er zeigt, in wie widersprechender Weise 
die Belgier wiederholt die Franktireur-Bewegung abgeleugnet und andere Male als 
patriotische Tat gepriesen haben. Das ist übrigens eine Erscheinung, die wir auch 
anderwürts beobachten, je nach den Umständen wird eine Tat verherrlicht oder als 
Legende erklärt. Ausführlich schildert dann der Verfasser die Tätigkeit der belgischen 
aktiven und inaktiven Garde civique, welche letztere angeblich nur zum Polizeidienst 
aufgerufen war, in Wirklichkeit aber am Kampfe teilgenommen hat. Die Bedingungen 
der Haager Konvention sind hierbei vielfach verletzt worden. Oszwald macht der 
belgischen Regierung den Vorwurf, daß sie es versäumt hat, die Garde civique über 
die Bestimmungen dieser Konvention zu unterrichten, und daB sie nicht zur rechten 
Zeit dafür gesorgt, sie mit Abzeichen und erlaubten Waffen zu versorgen. Wahrschein- 
lich hat der gróBte Teil dieser Bürgerwehr gar nicht gewuBt, daB Zivilkleider und 
Schrotmunition gegen die Haager Abmachungen verstoßen. Oszwald bringt genaue 
Beweise, schriftlich und bildlich, daB mit Schrot geschossen worden ist, Róntgen- 
bilder sind dem Texte beigefügt. 

Energisch wendet sich Oszwald auch gegen die tórichte Behauptung, daB die 
protestantischen Deutschen die katholischen Belgier aus religiösem Haß verfolgt 
hätten. Er bringt Zeugnisse deutscher katholischer Kriegsteilnehmer, aber auch 
belgischer katholischer Geistlicher, die solche Lügen widerlegen. Eins scheint mir 
aber durch Oszwalds Darstellung nicht genügend geklärt zu sein: Sind nicht doch 
vielleicht belgische Geistliche, die man als Geisel genommen, erschossen worden. 
wenn nach ihrer Verhaftung ohne ihre Schuld Überfälle stattgefunden haben? Ich 
habe beim Lesen des Oszwaldschen Buches an Vorgänge denken müssen, die sich am 
27. Juni 1866 in Trautenau ereignet haben, die ich in meinem Buche über die Ge- 
fechte bei Trautenau geschildert habe. Auch damals sind optische und akustische 
Täuschungen vorgekommen, die zu irrtümlichen Annahmen führten. Jener Brief- 


Kritiken 878 


schreiber Ther, den Oszwald S. 103 und 104 zitiert, hat vielleicht nicht unrecht, wenn 
er annimmt, daB gelegentlich unschuldige Zivilisten verdächtigt worden sind, weil 
aus der Nachbarschaft ihrer Häuser Kugeln kamen, für die sie in Wirklichkeit gar 
nicht verantwortlich waren. 

Wir dürfen ferner nicht vergessen, zwei Entschuldigungsgründe für die Belgier 
zu berücksichtigen. Oszwald weist auf die psychologische Verfassung des belgischen 
Volkes in jenen Tagen hin, einerseits hatten die ruhmredigen Prahlereien über Helden- 
taten der Belgier und Feigheit der Deutschen die Bevólkerung in den Glauben ver- 
setzt, es sei nicht schwer, die Feinde zu vertreiben, andererseits hatten die Erzäh- 
lungen von den Greueltaten den Gedanken erweckt, man sei in der Notwehr, es sei 
erlaubt, sich gegen grausame Mórder zu wehren. Ich móchte noch hinzufügen, daB 
der unter Bruch der Neutralität erfolgte Einmarsch der Deutschen naturgemäß die 
Belgier verbittern mufite, um so mehr, als der oberste Beamte des Deutschen Reiches, 
der Reichskanzler von Bethmann Hollweg, diesen Akt óffentlich als ein Unrecht 
bezeichnet hatte. So gern wir bereit sind, den Belgiern entgegenzukommen, so müssen 
wir aber doch verlangen, daß auch diese endlich bereit sind, die Streitfragen ohne 
Voreingenommenheit zu prüfen. Davon ist leider bis jetzt wenig zu merken. Oszwald 
nennt uns eine sehr groBe Reihe von Büchern, die er Seite 121—227 eingehend 
bespricht, man sieht daraus, wie wenig bis heute die Wahrheit Fortschritte gemacht 
hat. Mit welchen Mitteln die belgische Propaganda arbeitet, das zeigt Oszwald 
S. 202—206 an dem Beispiel der von dem Mónch Norbert Nieuwland und dem Di- 
nanter Staatsanwalt Moritz Tschoffen verfaBten Broschüre: Das Märchen von den 
Franktireurs von Dinant, Gembloux 1928 erschienen. In 170000 Exemplaren ist 
diese Tendenzschrift versandt worden, auch ich habe ein Gratis-Exemplar bekommen 
und ich vermute, daß meine Fachkollegen ebenso bedacht worden sind. 

Oszwald sagt S. 86, die besonders schweren Fälle von Löwen, Dinant und Aerschot 
erforderten eine besondere Darstellung, im Rahmen des vorliegenden Buches kónnen 
sie nur gestreift werden. Ich stimme ihm zu, ich móchte wünschen, daB Oszwald sich 
entschließt, diese uns noch fehlende Darstellung zu geben. Er würde sich damit ein 
Verdienst erwerben sowohl um die Wissenschaft, als auch um das deutsche Volk. 

Charlottenburg. Richard Schmitt. 


Nachrichten und Notizen. 


Württembergische Vergangenheit. Festschrift des Württ. Geschichts- und 
Altertums vereins zur Stuttgarter Tagung des Gesamtvereins der deutschen 
Geschichts- und Altertums vereine. Stuttgart, Kohlhammer 1932. 

Zur Stuttgarter Tagung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 
(1932) sind württembergische Organisationen mit zwei Festgaben hervorgetreten. 
Die eine gab die Württembergische Kommission für Landesgeschichte als Sonder- 
heft der Württembergischen Vierteljahrshefte für Landesgeschichte heraus. Die 
zweite, die hier angezeigt werden soll, ist die Festschrift des Württembergischen 
Geschichts- und Altertums vereins. Beide hat Prof. Dr. Karl Weller redigiert. Er 
hat jeder der beiden Festgaben ihren besonderen Charakter gegeben. So enthält die 
„Württembergische Vergangenheit“ weniger Beiträge zur staatlich-politischen Ge- 
schichte als solche zur Urgeschichte und Kunstgeschichte. Hier können nur die für 
den Historiker im engeren Sinne wesentlichen Aufsätze genannt werden. 


874 Nachrichten und Notizen 


Im Mittelpunkt dieser Aufsätze steht der Beitrag von K. Weller: „Die 
HauptverkehrsstraBe zwischen dem westlichen und südóstlichen Europa in ihrer 
geschichtlichen Bedeutung bis zum Hochmittelalter." Es handelt sich um die 
Verbindung von Metz nach Passau, die ein Stück der alten groBen Linie zwischen 
Paris auf der einen und Wien und Ungarn auf der anderen Seite ausmacht. Weller 
stellt nun als erster Verlauf und Bedeutung dieses Weges auf deutschem Boden, 
besonders zwischen Worms und Pföring an der Donau, genau fest. Er war schon von 
den Römern begangen und behielt seine Wichtigkeit durch die Jahrhunderte unter 
den verschiedensten politischen Verhältnissen, bis der Bau der Regensburger Donau- 
brücke ihn außer Gebrauch brachte und den Durchgangsverkehr auf die nördlichere 
Linie über Würzburg und Nürnberg zog. Der frühere Direktor des württembergischen 
Staatsarchivs E. Schneider schreibt über den ältesten Herrn von Württemberg 
und versucht in Anlehnung an frühere Theorien nachzuweisen, daß der um 1080 
genannte Konrad von W. aus der Gegend von Luxemburg stamme und Luitgart 
von Beutelsbach geheiratet habe. Der jetzige Direktor des Staatsarchivs, Fr. Wint- 
terlin, behandelt „Untertanenrechte, Naturrecht und Menschenrechte in der alt- 
württembergischen Verfassung“ und zeigt die außerordentlich große Rolle der alten 
Freiheiten in der Verfassung des württembergischen Herzogtums seit dem 16. Jahr- 
hundert, besonders im Vergleich zu der franzósischen Erklárung der Menschenrechte 
von 1789. Diesen allgemeinen historischen Aufsätzen reiht sich noch die Veröffent- 
lichung und Erläuterung politischer Stellen aus Briefen Eduard Zellers dureh 
A. Wahl an; auch Max Ernsts neue Studien zu den Beziehungen der Stadt Ulm 
und dem Kloster Reichenau sind hier zu erwähnen. 

Zahlreich sind die urgeschichtlichen und archäologischen Beiträge. Ich nenne 
den Aufsatz von Karl Schumacher über „Siedlungs- und Kulturgeschichtliches 
aus dem Tauberland", den Versuch R. Raus, in „Das Alter der Neckar- und Alb- 
kastelle“, den Bau dieser Befestigungen im Zusammenhang mit einer Untersuchung 
der Germanenkriege zwischen 80 und 90 neu zu datieren, den Aufsatz O. Parets 
über die „alemannische Besiedlung des Langen Feldes“, der römische und alemannische 
Besiedlung desselben Gebiets vergleicht und sich besonders mit der Auswahl der 
Siedlungsplätze — die Alemannen bevorzugen im Gegensatz zu den Römern Wasser- 
läufe — und den alemannischen Markungsgrenzen beschäftigt, und schließlich 
W. Veecks Beitrag: „Der fränkische Formenkreis der Völkerwanderungszeit im 
Gegensatz zum alemannischen“, in dem gegenüber anderen Ansichten an dem Be- 
stehen eines deutlichen Unterschieds zwischen fränkischen und alemannischen 
Formen bei den Bodenfunden festgehalten wird. Die genannten und eine Reihe 
weiterer Arbeiten zeigen in den verschiedenen behandelten Gebieten, wie mannig- 
faltig die in den Geschichtsvereinen gepflegten Interessen sind und wie man gerade 
in Württemberg bemüht ist, des alten guten Rufes, den die landesgeschichtliche 
Forschung genieBt, sich weiter würdig zu erweisen. 

Tübingen. Fritz Ernst. 


SchieB, Traugott, Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz. Mittei- 
lungen zur vaterländischen Geschichte, hrsg. vom Historischen Verein des Kan- 

tons St. Gallen XXXVIII. St. Gallen, Fehr'sche Buchhandlung 1932. 419 S. 

Der um die schweizerische Geschichte verdiente Stadtarchivar von St. Gallen 

hat eine Auswahl seiner kleineren Arbeiten zusammengestellt, 18 Abhandlungen, 


Nachrichten und Notizen 875 


die mit einer Ausnahme schon an andern Stellen veróffentlicht wurden. Manche haben 
rein órtlichen Belang; im folgenden sollen nur diejenigen Aufsátze besprochen werden, 
welche für die allgemeine Geschichte wichtig sind. Im ersten ,,Die st. gallischen 
Wil-(Weiler-) Orte“ lehnt der Vf. die von Behaghel in seiner verfehlten Schrift „Die 
deutschen Weilerorte“ (Wörter und Sachen II, 1910, S. 142 ff.) verfochtene An- 
sicht, daß diese romanischen Ursprungs seien, mit vollem Recht ab. Der nördliche 
Teil des Kantons St. Gallen ist unter allen Gebieten mit der Ortsnamenendung 
-weiler am dichtesten mit so benannten Siedlungen besetzt. SchieB selber glaubt, 
die ebenfalls irrige Auffassung Wilhelm Arnolds wieder aufnehmend, die Endung 
sei geradezu kennzeichnend für den Alamannenstamm; sie spricht jedoch nur über- 
haupt für grundherrschaftliche Siedlungsweise. Es ist merkwürdig, wie langsam 
lángst erreichte Erkenntnis durchdringt: die Entstehung der Ortsnamen auf -weiler 
wurde bereits in den Württembergischen Vierteljahrsheften für Landesgeschichte, 
Neue Folge VII, 1898, S. 29ff. aufgehellt; man hat sich leider bisher begnügt, die 
veralteten und falschen Erklárungen immer aufs neue vorzubringen. — Die Frage 
„Hat St. Gallus Deutsch verstanden?“ wird selbstverständlich bejaht. — Von den 
acht „ältesten Kirchen der st. gallischen Stiftslandschaft“ sind sieben als Eigenkir- 
chen des Klosters, als von diesem ausgegangene Gründungen anzusehen: sie bezeugen, 
wie mit Recht geschlossen wird, eine vom Kloster ausgeübte Missionstätigkeit. — 
Der bedeutendste Aufsatz, der einzige zuvor noch ungedruckte, handelt von der 
„St. gallischen Klostertradition“; Schieß führt die Forschungen von Sickel, Meyer 
von Knonau, Beyerle, Caro und Ganahl weiter; er stellt sich vielfach auf die Seite 
des Letztgenannten, der eine Ehrenrettung der st. gallischen Tradition vollzogen 
hat. St. Gallen war von Anfang an nicht etwa ein königliches Kloster, es hatte 
vielmehr eine unabhängige Stellung und stand zum Könige nur in einem Schutz- 
verhältnis. Seine Abhängigkeit von Constanz trat erst durch den Vertrag von 759/60 
ein und wurde nur in der Entrichtung eines jährlichen Zinses zum Ausdruck gebracht, 
während die Verwaltung des Klosterguts dem Abte überlassen blieb. — In der 
Abhandlung „Zur älteren Geschichte von Herisau bis zu den Appenzellerkriegen“ 
kommt der Verfasser auch auf die Freien des Appenzeller Landes, die Freivogtei 
im oberen Thurgau, zu sprechen; er faßt sie wie alle bisherigen Forscher und zumal 
Friedrich von WyB als einen Überrest der einstigen alamannischen Gemeinfreiheit 
auf. Was sich von freien Bauern in Schwaben bis in die neuere Zeit erhalten hat, 
ist jedoch als eine Neubildung der Stauferzeit zu betrachten, ihre Freiheit als eine 
Neuschöpfung für Neusiedler auf Reichsgut oder Reichsvogteigut, wie ich an anderer 
Stelle begründen werde. — „Der Schluß der Appenzellerkriege 1420—1429"' sucht 
die Ereignisse und Verhandlungen dieser Jahre zu entwirren. Mit dem Frieden von 
1408 war der Streit zwischen dem Abt und den Appenzellern keineswegs beigelegt, 
sondern zog sich infolge der Hartnäckigkeit und Widerspenstigkeit der Appenzeller 
Bauern noch zwei Jahrzehnte hin. Der diesen günstige Spruch der Eidgenóssischen 
Orte von 1421 wurde nach langem Hadern 1429 bestátigt, weil Kaiser Sigismund 
der Hussitenkriege wegen auf AbschluB drang. — Ein Aufsatz behandelt den Hu- 
manistenkreis um den Bodensee zu Beginn der Reformation, den Briefwechsel des 
Johannes von Botzheim in Constanz und des Michael Hummelburg in Ravensburg. — 
Eine Anzahl von Flugschriften zugunsten der Reformation aus den Jahren 1520 bis 
1522 werden von neueren Forschern dem St. Galler Reformator Vadian zugeschrie- 
ben; SchieB lehnt das mit durchschlagender Begründung ab. — In einem Aufsatz 


876 Nachrichten und Notizen 


über ,,Goldasts Aufenthalt in St. Gallen" weist er aus dem St. Galler Stadtarchiv 
den Verdacht als durchaus begründet nach, daB dieser Gelehrte seine kostbare 
Bibliothek zum Teil durch unrechtmäßige Aneignung erworben habe. — Andere 
Abhandlungen bringen aus demselben Archiv Beitráge über die Belagerung von 
Constanz durch die Schweden 1633 und über die Folgen der Französischen Revolution 
im st. gallischen Mittellande, nämlich die revolutionäre Bewegung der Bauern gegen 
die Abtei und den Übergang von Stadt und Landschaft an die Helvetische Republik. 
— SchieB hat durch alle diese Aufsátze die Geschichte St. Gallens mannigfach ge- 
fördert. Am Schluß wird ein Register vermiBt. 
Stuttgart. Karl Weller. 


Literatur zur Ordensgeschichte. 


Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens 
und seiner Zweige. Hrsg. von der Bayerischen Benediktinerakademie. 
Ergánzungshefte. 


1. Wilh. Fink, Entwicklungsgeschichte der Abtei Metten. Teil I. Das ProfeBbuch 
der Abtei. München 1926. 144 S. ZA 3,50. Teil II. 1928. Das königliche Klo- 
ster. 138 S. mit Karten. & 3,50. Teil III. 1930. Das landstándische Kloster. 
1275—1803. A. Die politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. 
A7, 50. 300 8. 

Der Bibliothekar des Klosters bietet eine großangelegte Geschichte seines 
Klosters, auf die hier im Rahmen einer gedrüngten Sammelbesprechung nur kurz 
hingewiesen werden kann. Die Entwieklung wird durch die Hauptdaten bestimmt 
von der Gründung um 770 bis zum Aussterben der Babenberger 1246. Bis zur Wende 
des 10. Jh.s waren Mönche im Kloster, dann bis 1157 Kanoniker und darauf wieder 
Mönche. Nachdem Metten bis zum Ende des 10. Jh.s eine königliche Abtei gewesen 
war, kam es in Abhängigkeit von den Babenbergern und nach deren Aussterben zu 
den Landständen des Herzogtums Bayern- Straubing. Versuche um 1270, die Exemp- 
tion zu erreichen, scheiterten. 1803 wurde das Kloster säkularisiert und 1830 wieder 
errichtet. Das nach den 54 Abten aufgestellte ProfeBbuch ist eine überaus mühsame 
Arbeit mit wertvollen Angaben über die Personalien, die Ämter, die Ausbildung 
und die wissenschaftliche Tátigkeit der Klosterinsassen. Zu den von P. Lindner 
herausgegebenen ProfeBbüchern anderer bayerischer Abteien bildet dieses Buch 
eine willkommene Ergänzung. Im 3. Teil ist die erschöpfende Statistik des Kloster- 
besitzes beachtenswert. F.s auf reichem archivalischem Stoff aufgebaute Darstellung 
bedeutet einen gewaltigen Fortschritt gegenüber der Materialsammlung des P. Rupert 
Mittermüller aus dem Jahre 1856. 


2. Sigisbert Mitterer, Die bischóflichen Eigenklóster in den vom hl. Bonifazius 
139 gegründeten bayerischen Diözesen. 1929. IV, 158 S. ZA 5,—. 

Gleich anderen, von Michael Doeberl angeregten Dissertationen zeichnet sich 
diese Arbeit durch sorgfältige, quellenmäßige Untersuchungen aus. M. weist nach, 
daß der Niedergang der Eigenklöster nicht erst nach dem vielfach überschätzten 
Ungarneinfall und den Säkularisationen des Herzogs Arnulf im 10. Jh. eingesetzt 
hat. Der Verfall hat innere Ursachen: die Verkettung der benediktinischen Kloster- 
familie mit dem Eigenkirchenherrn mußte in der Beobachtung der Ordensregel 
zersetzend wirken. Der Bischof wurde Eigentümer und Abt des Klosters. Um 800 


Nachrichten und Notizen 877 


war kaum in einem der bischöflichen Eigenklöster noch ein Abt. Seit dem 11. Jh. 
wirkte der Reformgedanke aufbauend, aber keines der Eigenklöster (außer Mond- 
dee) wurde reformiert. 


3. Barnabas Schroeder, Die Aufhebung des Benediktiner-Reichsstiftes St. Ul- 
rich und Afra in Augsburg 1802—1806. Ein Beitrag zur Säkularisations- 
geschichte im Kurfürstentum Bayern und in der Reichsstadt Augsburg. 
1929. IV, 159 S. mit Tafeln. ZÆ 5,76. 

Nach der unzulänglichen Arbeit Scheglmanns über die Säkularisation in Bayern 
(1903/08) sind derartige Sonderuntersuchungen sehr zu begrüßen. Die Münchener, 
Neuburger und Augsburger Archivalien sowie die Flugschriften-Literatur sind reich- 
lich herangezogen. Der letzte Abt war Gregorius II. Schäffler. Die Bestandsaufnahme 
in der Abtei ist für die Geschichte des Archivs, der Bibliothek und der Kunstgegen- 
stände beachtenswert. Die Darstellung haftet nicht an Einzelheiten und weiß die 
leitenden Ideen der Aufklärung und Säkularisation geschickt zu verweben. 


4. Ildefons Stegmann, Anselm Desing, Ábt von Ensdorf 1699—1772. 1929. 
XXVIII, 330 S. & 8,—. 

Unter den gelehrten Benediktinern des 18. Jh.s nimmt Desing eine hervorragende 
Stelle ein. Zuletzt hat wohl J. Rottenkolber seine Bedeutung für die Neugestaltung 
des Geschichtsunterrichts (1921) gewürdigt. Seine zahlreichen Schriften hat schon 
Meusel 2, 336 ff. zusammengestellt. Sein NachlaB ist in der Münchener Staatsbiblio- 
thek. AuBer diesem hat der Vf. umfangreiche andere Quellen herangezogen und so 
ein abgeschlossenes Lebensbild des Ensdorfer Benediktiners gezeichnet. Abgesehen 
von seinen Schulschriften über Geographie, Geschichte und Latein, auch einer 
,, Reichsgeschichte" (bis auf Ludwig das Kind) ist D. besonders als Kritiker der natur- 
rechtlichen Theorien und der Philosophie Christian Wolffs bekannt geworden. 


5. Bernhard Walcher, Beiträge zur Geschichte der bayerischen Abtswahlen mit 
besonderer Berücksichtigung der Benediktinerklóster. 1930. XI, 79 S. AA 3. 
Es ist sehr zu begrüBen, daB Berliéres Arbeit über die mittelalterlichen Abts- 
wahlen (1927) und Bernheims Greifswalder Dissertationen neue Anregungen geben. 
Der erste Abschnitt behandelt die Stellung der bayerischen Herzóge und Kurfürsten 
zu den Abtswahlen, der zweite die wirtschaftliche Belastung der Klóster durch die 
Abtswahlen, wobei namentlich die Kosten eine groBe Rolle spielen. Seit 1486 sind 
Wahlkommissare der Bischöfe und Landesherren nachweisbar. Die saubere Arbeit 
ist so inhaltreich, daß das Fehlen eines Registers doppelt zu bedauern ist. 


6. Adelhard Kaspar, Die Quellen zur Geschichte der Abtei Münsterschwarzach 
am Main. 1930. XII, 86 S. RA 3,—. 

Die Überlieferung über diese 1913 wieder besetzte fránkische Abtei ist so reich, 
daB zunüchst eine quellenkritische Untersuchung notwendig war, bevor an eine Dar- 
stellung der Geschichte des Klosters zu denken ist. In dem ersten, der „Tradition“ 
geltenden Abschnitt der Dissertation werden folgende Aufzeichnungen geprüft: 
die Chroniken und Sammelwerke, wie Bruschius, Ussermann und Link. Unter den 
Chroniken stehen an erster Stelle die Chronik des Augustinerchorherrn Balthasar 
von Birklingen; das von J. P. v. Ludewig (1718) veröffentlichte „Chronicon Schwar- 
zacense“; die Werke des Würzburger Juristen Konrad Dinner (16. Jh.) sowie die 
Werke der Münsterschwarzacher Mönche Leopold Wohlgemuth (f 1686) und Bur- 


878 Nachrichten und Notizen 


kard Bausch (17. Jh.). Im 2. Teil „Überreste“ sind die Quellen im Staatsarchiv 
Würzburg, das die Reste des Klosterarchivs verwahrt, und in anderen Kirchen-, 
Ordens- und Privatarchiven besprochen. Dem Heft sind gute Register beigegeben. 


7. Placidus Sattler, Die Wiederherstellung des Benediktiner-Ordens durch 
Kónig Ludwig I. von Bayern. I. Die Restaurationsarbeit in der Zeit Eduards 
von Schenk. 1931. IV, 223 S. & 7,—. 

Eduard von Schenk, der Romantiker und Minister Ludwigs I., steht im Mittel- 
punkt dieser Epoche der Säkularisation und Restauration. Sein Briefwechsel 
mit dem König und der neuerdings veröffentlichte Briefwechsel des Bischofs Sailer 
bringen reichen Stoff für die Beurteilung der führenden Persönlichkeiten dieser be- 
wegten Zeit, die uns aus vielen Arbeiten M. Doeberls vertraut ist. Doeberl gebührt 
auch das Verdienst, diese Dissertation angeregt zu haben. Sie ist mit lobenswertem 
Fleiße unter Bewältigung eines überaus großen Quellenstoffes und Schrifttums ab- 
geschlossen worden. Der Kampf um die Wiederherstellung Mettens steht im Vorder- 
grund. Ein zweiter Teil steht noch aus. 


Analecta Praemonstratensia. Tomus VI und VII. Tongerloae 1930 und 1931. 

Die vorliegenden Bände bringen mancherlei bibliographische Beiträge, die für 
die deutschen Stifte in Frage kommen: A. Stara, Beiträge zur Bibliographie 
O. Praem. (6, 375—409): Die durch böse Druckfehler entstellte Übersicht ist leider 
sehr lückenhaft. Für die hessischen Niederlassungen hátte ein Hinweis auf meine 
viel vollständigere Abhandlung in den „Analecta“ I (1925), 69ff. genügt. Wertvoller 
ist N. Backmund, Zur Bibliographie ord. Praem. (7, 172—182), der mit Recht 
das schon im 6. Bande, S. 206 und 422—427 angezeigte Werk von Raphael van 
Waefelghem, Répertoire des sources imprimées et manuscrites relatives à l'hi- 
stoire et à la liturgie des monastéres de l'ordre de Prémontré (Bruxelles 1930) ab- 
lehnt, Berichtigungen gibt und bedauert, daB die Mitarbeit ausländischer Fach- 
männer nicht angerufen wurde (vgl. auch meine Anzeige im Korrespondenzblatt 
d. Gesamtver. 78. 1930. Sp. 290f.). Der Reisebericht (1928) von A. Zák (Iter Prae- 
monstratense 6, 196—205, 414—418. 7, 27—65, 293—320) enthält auch vielfach 
bibliographische Angaben über die Stifte in Süddeutschland, im Rheinland und 
Westfalen. Leider ist der unermüdliche Sammler und Forscher 1931 gestorben 
(Nachrufe: 7, 206—208); sein Bullarium und eine Ordensgeschichte blieben un- 
vollendet. Ein Literaturbericht von J. Ramackers (7, 339—347) berücksichtigt 
vornehmlich die Bedeutung des Ordens im Kolonisationsgebiet der Bistümer Branden- 
burg, Havelberg und Ratzeburg. R. beschließt seine Arbeit über die adligen Prae- 
monstratenserstifte in Westfalen und am Niederrhein (6, 281—332) mit einer alpha- 
betischen Reihenfolge der Kanoniker von Kappenberg, Varlar, Klarholz, Hamborn 
und Scheda. Aus dem Rheinland sind zu nennen die Beiträge von Th. Paas, Die In- 
korporation [1678] der Pfarre Müddersheim in die Abtei Steinfeld (6, 255—269) und 
H. Kissel, Das ehem. Prämonstratenserstift Altenberg (6, 144-154). Es wäre 
dankenswert, wenn die Chronik des Altenberger Priors Petrus Diederich (1643 bis 
1655) im Solmsischen Archiv in Braunfels (vgl. auch Zák 7, 43) eine kritische Aus- 
gabe fände. — Nach Ostdeutschland führen die Aufsätze von: A. Stära, Die Prae- 
monstratenser-Handschriften im Magdeburger Liebfrauenkloster (6, 190f.). M. A. 
van den Oudenrijn, Miracula quaedam et collationes fratris Wichmanni (6, 1—53): 
Neues aus Handschriften in Utrecht, Rom und München. O. konnte den Aufsatz 


mn. ^ 


Nachrichten und Notizen 879 


von W. Mollenberg in d. Zsch. d. Vereins f. Kirchengesch. der Provinz Sachsen 24 
(1928), 21 ff. noch nicht verwerten. K. Pfándtner, Ein Brief des Prámonstratenser- 
Bischofs Anselm v. Havelberg (7, 97—107): Der oft falsch gedeutete Brief an Wibald 
von Stablo erführt hier eine Interpretation, die zu einer gerechteren Beurteilung des 
Bischofs den Weg zeigt. — A. Zäk bringt einige Ergänzungen zu der Czarnowanzer 
Festschrift (7, 219f., vgl. auch 6, 338—340, 349—359, 448f.). — Dem böhmisch- 
österreichischen, polnischen und ungarischen Kreis gehören folgende Abhandlungen 
an: B. F. Grassl, Das älteste Totenbuch des Pr.-Chorfrauenstiftes Chotieschau 
1200—1640 (7, 1—41). A. Zák (V. Besdeka), Insignia abbatiae Siloensis (6, 367 bis 
373). A. Zák, Praepositi in monasterio Zwierzyniec in Polonia (6, 359—363). A. T. 
Horvath, Ad bibliographiam monasteriorum ex Hungaria (7, 183—201, Berich- 
tigungen zu Waefelghem). B. L. Kumorovitz, De conventus Lelesziensis activi- 
tate authentica diplomatibus expediendis usque 1569 (6, 168—183). Aeg. Hermann, 
Das Praemonstratenser-Gymnasium von Roznyo (Rosenau) 1778—1787 (7, 255 bis 
269). — Folgende französisch-belgische Stifte werden behandelt: Bucilly (von 
Th. Béjalot 7, 143—171, 225—254), Averbode (von E. Valvekens 6, 225—254, 
7,270—292, 324—337), Antwerpen (von A. Erens 6, 102—143), Floreffe (von A. Maes 
4, 108—142) und Tusschenbeek (von M. de Meulenmeester 6, 270—280). E. Val- 
vekens würdigt das Nationalkapitel in Pare 1572, durch dessen Beschlüsse die 
Tridentiner Reformen, namentlich das Gelübde der Armut, im Orden eingeführt 
wurden (6, 74—101). — Pl. Lefévre weist auf die eifrige Tätigkeit der Prämon- 
stratenser in der liturgiegeschichtlichen Forschung hin. Es besteht der Plan einer 
Neuausgabe des von Waefelghem (1913) nur teilweise benutzten „Liber ordinarius“ 
in der Münchener Bibliothek von etwa 1175 (6, 333—337 und 7, 20—26). In den 
beigehefteten Sonderveröffentlichungen werden abgeschlossen: die ,Capitula Sue- 
viae‘ (6, 97—103) und die Urkunden von St. Catharinadal (6, 241—288, 289—336. 
4, 969—400, 401—502; bis z. J. 1588). — Aus einem Knechtsteder Codex veröffent- 
licht Th. Paas die Beschlüsse des Kólner Provinzialkapitels für die westfülische 
Zirkarie a. d. J. 1665—1717 (6, 1—88). 


Franziskanische Studien. 19. Jahrgang 1932. Münster i. W., Aschendorff. 


Die Lehren der groBen Klassiker der Scholastik aus dem Franziskanerorden 
finden immer wieder neue Deutungen, weil sie vielfach noch zeitgemäß sind und 
eine Zukunft haben. Mehrere Aufsätze von Jos. Klein befassen sich mit dem „sub- 
tilsten Meister der Hochscholastik Johannes Duns Skotus, oder vielmehr mit 
dem von P. Parthenius Minges hinterlassenenen Werk über die ,,Doctrina philoso- 
phica et theologica“ des Skotus (S. 40—51, 128—133, 256—208, 327—335). — Jul. 
Kaup und F. Imle, denen wir ein Buch über die dogmatischen Lehren Bonaventuras 
(Werl 1931) verdanken (vgl. Fr. Stud. 19, 344f.), besprechen besonders die Sozial- 
ideen Bonaventuras und die Konkurslehre des Petrus Olivi und B.s (S. 81—98, 
315—326). — Jos. Lechner und M. Schmaus bringen sorgfältige Untersuchungen 
zur Geschichte der Oxforder Schule, insbesondere des Wilhelm von Ware und Wil- 
helm von Nottingham (} 1336) (S. 1—12, 99—127, 195—223). — Ludger Meier 
weist nach (S. 269—291), daB die Lehre vom Primat des Papstes in Lehre und Juris- 
diktion von der Erfurter Schule des ausgehenden Mittelalters, mit Ausnahme von 
Matthias Döring, klar vertreten worden ist. — Abraham a Sancta Claras Predigt 
. über den hl. Antonius von Padua, die wohl 1683 in Graz gehalten worden ist, wird 


880 Nachrichten und Notizen 


von K. Bertsche nach einer Wiener Hs. erstmalig herausgegeben. — Die bisher 
wenig beachtete Bedeutung des Franziskanerordens für die Entwicklung der rómi- 
schen Liturgie, insbesondere der Kirchenmusik, namentlich in der sächsischen 
Provinz, wird von Sig. Cleven behandelt (S. 173—194). — Hnr. Hermelinks ,,Die 
hl. Elisabeth im Licht der Frömmigkeit ihrer Zeit" (Marburg 1932) hat Gisb. Men- 
ges angeregt, sich über einige Fragen der Elisabethforschung kritisch zu äußern 
(S. 292—314). — Der Aufsatz von Rich. Rysávy, Die erste Hussitenmission des 
hl. Johannes von Capestrano in Máhren 1451 (S. 224—255), schildert unter 
Verwertung der im deutschen Schrifttum bislang nicht beachteten tschechischen 
Literatur die Reise Capistranos von Venedig nach Wien, Brünn, Olmütz und Znaim. 
— Ortsgeschichtlich fördernd sind zwei Aufsätze, die Rheinland und Tirol angehen: 
H. H. Roth, Das Franziskaner-Rekollekten-Kloster von der Unbefleckten Empfäng- 
nis Marias zu Neuss (S. 52—63) und Gerold Fussenegger, Einführung und erste 
Schicksale des Dritten Ordens zu Schwaz (S. 134—152). Das Schwazer Tertiaren- 
haus für Personen beiderlei Geschlechts wurde erst 1518 begründet. In den abge- 
druckten Statuten von 1522 heißt es, daB diejenigen ausgetrieben werden sollen, 
„welch lutherisch oder ander verworffen irrsal lernen oder solche pücher pebalten". 


Franziskanische Studien. Beihefte 12. 13. 14. Münster i. W., Aschendorff. 


Julian Kaup, Die theologische Tugend der Liebe nach der Lehre des hl. Bona- 
ventura. 1927. IV, 100 S. & 3,50. 

Bernh. Stasiewski, Der heilige Bernardin von Siena. Untersuchungen über die 
Quellen seiner Biographen. 1931. VII, 112 S. ZA 6,12. 

Ferd. Doelle, Der Klostersturm von Torgau im Jahre 1525. Mit 4 Bildtafeln. 1931. 
126 S. RA 6,12. 

Kaups dogmengeschichtliche Untersuchung verdient schon wegen der Per- 
sónlichkeit des Bonaventura auch in Historikerkreisen bekannt zu werden, zumal 
schon A. Harnack und K. Reitzenstein sich 1916 mit dem Ursprung der Formel 
„Glaube, Liebe, Hoffnung" beschäftigt haben. 

Stasiewskis quellenkritische Untersuchungen gelten den Lebensbeschrei- 
bungen des Heiligen Bernardin von Siena aus der Zeit vom 15. bis zum 18. Jh. In 
einer Einleitung werden Lesefrüchte aus den „wichtigsten biographischen Büchern“ 
der letzten zwei Jh. vorangestellt. Abschließendes konnte schon deshalb nicht ge- 
boten werden, weil der Vf. manche Quellen, wie er selbst bedauert, nicht ausschöpfen 
konnte. Manche Abschweifungen stóren. Einzelne Richtigstellungen haben schon 
Ger. Fussenegger im Archivum Francisc. histor. 25 (1932), 280ff. und M. Bihl in d. 
Franz. Studien 19 (1932), 347f. gebracht. 

Doelles Arbeit ist ein neuer willkommener, sorgfáltiger Beitrag zur Geschichte 
der sächsischen Franziskanerprovinz. Obwohl Agnes Bartscherer 1926 auf Grund 
des Torgauer Stadtarchivs und P. Kirn in demselben Jahre in seinem Buche „Fried- 
rich der Weise und die Kirche“, allerdings nur kurz, den Torgauer Klostersturm 
behandelt haben, war eine erneute Inangriffnahme des Gegenstandes, den schon 
Seckendorf vor mehr als 200 Jahren richtig beurteilt hat, notwendig, weil wichtige 
Briefe des Weimarer Archivs inzwischen bekannt geworden sind. Das Verhalten des 
Kurfürsten auch bei dieser Gelegenheit bis zu seinem Todestage beweist, daß er 
durchaus unparteiisch das Unrecht, das an den Mönchen verübt worden war, miß- 
billigte und nicht als einseitiger Bekenner der Lutherischen Bewegung angesprochen 


Nachrichten und Notizen 881 


werden kann. Die Arbeit hátte gewonnen, wenn die in den umfangreichen Beilagen 
(40 Seiten) mitgeteilten Texte, die z. T. schon bei Geß gedruckt sind, in der Dar- 
stellung kürzer aufgenommen worden wären. Der Vf. wendet sich gegen eine ein- 
seitige Besprechnung des Buches in der „Thuringia Franciscana“ 1931, S. 213f. 
durch G. Haselbeck in dem Aufsatz: ‚Ist der Guardian Urban Abern zu Torgau der 
katholischen Kirche treu geblieben?“, in den Franz. Studien 19 (1932), 64—68, 
auf den Haselbeck nochmals gereizt antwortet, ebenda S. 155—162. S. 163f. be- 
spricht M. Bihl D.s Arbeit, die auch kulturgeschichtlich in den Angaben über das 
Inventar des Klosters und die Kleinodien bemerkenswerte Beiträge bringt. Das 
Heft ist dem früheren Provinzialminister in New York Matthias Faust gewidmet, 
dessen Bild vorgeheftet ist. 


Archivum historicum Societatis Iesu. Periodicum semestre a Collegio scrip- 
torum de historia S. I. in Urbe editum. Anni I fasc. I und II. Romae 1932. 
VIII, 384 S. Jährl. 30 L. 


Als P. Bernhard Duhr S. I. in seinem letzten Aufsatz in der Festschrift für Georg 
Leidinger (1930) erneut auf die Notwendigkeit einer Zeitschrift für die Geschichte des 
Jesuitenordens hinwies, ahnte er kaum, daB schon seit dem Januar 1932 diese neue 
Zeitschrift in vornehmer Ausstattung erscheinen würde. Die Beiträge sind in der 
Regel in lateinischer Sprache abgefaBt, doch werden auch die übrigen Kultur- 
sprachen Europas zugelassen. Da aber jedem Aufsatz in nichtlateinischer Sprache 
ein „Summarium“ in lateinischer Sprache vorangestellt ist, wird die Benutzung 
sehr erleichtert. Jedes Heft gliedert sich nach folgendem Inhalt: I. Lucubrationes 
nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen. II. Textus inediti vel rarissimi, soweit 
sie nicht den „Monumenta historica Societatis Iesu“ vorbehalten bleiben. III. Bre- 
viores textus. IV. Selectorum operum iudicia. V. De historia Missionum S. I. com- 
mentarius bibliographicus. VI. Selectiores nuntii de Historiographia S. I. Hinzu 
kommt vom zweiten Jahrgang ab die von Edm. Lamalle S. I. bearbeitete, sehr 
sorgfáltige Bibliographia de Historia S. L, die mit dem Jahre 1931 einsetzt. 

Von den Beitrügen sollen hier die für Deutschland in Betracht kommenden 
in erster Linie genannt werden. Eine quellenkritische Untersuchung von Arth. Co- 
dina, Regulae antiquorum Ordinum et praeparatio Constitutionum S. L, weist 
nach, welche Teile der Augustiner-, Franziskaner- und Benediktinerregel durch 
Johannes de Polanco bei der Gestaltung der Constitutiones verwertet worden sind. 
(S. 41—72.) — W. Kratz veröffentlicht 7 Briefe Friedrichs des Gr. aus dem 
Vatikanischen und dem Ordensarchiv (1769—1774), die an den Jesuitengeneral 
und den preußischen Agenten in Rom Abbé Ciofani gerichtet, wichtig sind 
für die Beurteilung des Königs in seiner Jesuitenpolitik (S. 281—291). — Jos. 
Grisar bespricht die 1931 erschienene große ‚Geschichte des Gymnasium Tri- 
coronatum" in Kóln (S. 109—117). — Zur Geschichte der Jesuiten in Westfalen 
ist zu nennen: Jos. Kuckhoff, Ex litteris P. Quinckenii superioris Lippensis ad 
P. Bavingh provincialem 27. dec. 1630 (S. 306/7). — Die Besprechungen, unter 
denen W. Kratz meist die deutsche Literatur anzeigt, sind sorgfältig und bieten 
vielfach eigene Forschungen. Wir wünschen der vortrefflichen neuen Zeitschrift, 
die der wissenschaftlichen Tradition des Ordens würdig ist, einen gedeihlichen 
Fortgang zum Ruhme des Ordens in aller Welt. 

Breslau. Wilhelm Dersch. 


Histor. Vierteljahrschrift. Bd. 28, H. 4. 56 


882 Nachrichten und Notizen 


Kallmerten, Paul, Lübische Bündnispolitik von der Schlacht bei Bornhöved bis zur 
dänischen Invasion unter Erich Menved (1227—1307). Diss. Kiel 1932. 104 S. 
Kallmertens Dissertation behandelt einen Abschnitt aus der frühen Geschichte 
Lübecks und schildert die Politik der Travestadt von dem Siege der norddeutschen 
Fürsten und Städte über Waldemar II bei Bornhöved bis zu den Vorstößen Erich 
Menveds. Diese Politik, die von rein kaufmännischen Gesichtspunkten bestimmt 
wurde, war ein Kampf um die wirtschaftliche Führerstellung im Ostseeraum. 
Von diesem Ziel wurde das Verhalten Lübecks gegenüber seinen fürstlichen Nach- 
barn, gegenüber den anderen Städten, den skandinavischen Reichen und auch den 
westlichen Seemáchten Holland und England beherrscht. Ein feines Gefühl für die 
Kunst des Móglichen und die Wahl des richtigen Augenblicks verbunden mit kluger 
Voraussicht bestimmt die Bündnispolitik Lübecks, die der Vf. in ihrem bunten Wech- 
sel anschaulich darstellt. 
Dresden. Alfred Büscher. 


R. Straus, Die Judengemeinde in Regensburg im ausgehenden Mittelalter, in: 
Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 61, Heidel- 
berg 1932. 

Die Vertreibung der Regensburger Juden im Jahr 1519 stellt in den Zusammen- 
hang der politischen und wirtschaftlichen Nóte Regensburgs im 15. Jh. und deckt 
in durchaus gerechten und umsichtigen Darlegungen die „intrigante Prozeßführung“ 
auf, der die Juden in dem Augenblick des Interregnums nach Maximilians Tod zum 
Opfer gefallen sind. Die Anteile der einzelnen Faktoren, des Klerus, des Herzogs, 
des Kaisers, der Stadt werden in auch allgemeingeschichtlich ertragreicher Weise 
gemessen, wobei vor allem auf das Ergebnis hinzuweisen ist, nach dem der Juden- 
schutz bei Friedrich III. weniger dem rein fiskalischen Gesichtspunkt, als dem 
Streben des Kaisers zuzuschreiben ist, das kaiserliche Hoheitsrecht an den Juden, 
den „Kammerknechten“, zu wahren. Wirtschaftsgeschichtlich ergibt sich, daß die 
ganze Judenfeindschaft neben den allgemeinen spätmittelalterlichen geistigen 
Voraussetzungen ein deutliches Zeugnis für den wirtschaftlichen Abstieg Regensburgs 
im 15. Jh. ist und besonders für das Überwiegen der zunftmeisterlichen Interessen, 
denen gegenüber die patrizischen Kreise nur zögernd an die Vertreibung herangingen. 
Es ist schade, daß S. nicht sozusagen als Gegenprobe auf das Verhältnis des fern- 
händlerischen Patriziats zu den Juden in der Zeit der Blüte Regensburgs eingegangen 
ist. Eine Geschichte der Regensburger Juden im Ma. überhaupt würde sich nach 
meiner Kenntnis der Überlieferung! lohnen; es wäre zu begrüßen, wenn S. selbst sich 
dieser größeren Aufgabe zuwenden würde. Einen Dokumentenband? zu seiner jetzt 
vorliegenden Darstellung kündigt er an. 

Freiburg i. Br. H. Heimpel. 


V. A. Nordmann, Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer. 
Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Bd. XXVIII, 2, Helsinki, 1932, 

101 Seiten. 
Das Hauptthema, Lipsius im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte 
der Historiographie darzustellen, wird aufgelöst in drei Sonderthemen: Begründung 
! AufschluB über eigenartige Formen der Einbeziehung der J. in den christlichen Ka- 
pitalverkehr gibt z. B. Bastian, Oberdeutsche Kaufleute in den oberdeutschen Raitbüchern, 


München 1931. 
* Urkunden und Aktenstücke zur G. der J. in Regensburg im ausgehenden Mittelalter. 


Nachrichten und Notizen 883 


der historischen Kritik; Erhebung der Geschichte zur selbstándigen akademischen 
Disziplin; Periodisierung in die vier Weltreiche und Kritik dieser Tradition. Der 
Vf., der durch eine frühere Untersuchung über Victorinus Strigelius (gest. 1569), 
einen unmittelbaren Schüler Melanchthons, in diese Probleme eingeweiht ist, zeichnet 
mit lebendiger Kürze den universal-humanistischen Rahmen für die Gestalt des 
Lipsius, der von Geburt Niederlánder, nach Abstammung und Bildung ebensogut 
Franzose als Deutscher heiBen kann. Die innere Bindung des Lipsius an die rómische 
Geschichte, die durch einen jahrelangen Aufenthalt in Rom vertieft wurde, stellt 
er eindrücklich in diese Zusammenhänge. Lipsius (1547—1606), der seiner ganzen 
Art nach an seinen größeren Landsmann und Kollegen an der Universität Leiden, 
an Hugo Grotius erinnert, vertritt als Professor in Jena, Leiden und Löwen jenen 
Typ des gelehrten Humanisten, der auch nach der Kirchenspaltung am geistigen 
Erbe der Renaissance festhält, seine Konfession je nach den Bedürfnissen seiner 
Laufbahn wechselt, aber mit Passion über den Blumenduft im alten Ägypten dis- 
putiert und Wert darauf legt, daß ihm die kalvinistische Universität Leiden neben 
dem Gehalt auch die Benutzung eines alten Klostergartens sicherstellt. Bedeutender 
als Schriftsteller wie als Lehrer, hat er die alte Periodisierung der Geschichte in die 
vier Weltreiche umgedeutet in eine Abfolge von Historia Orientalis, Graeca, Romana 
und Barbara und für die Einzelbehandlung neben der politischen und der Kirchen- 
geschichte auch eine profane Kulturgeschichte vorgeschlagen und versucht. Der Ein- 
fluß Jean Bodins wird vom Vf. als selbstverständlich angenommen, wohl mit Recht; 
für Lipsius aber weist er eine selbständige Fortbildung der Gedanken Bodins nach, 
die an mancher Stelle schon beinahe an Vico erinnern. Die Nachwirkung des Lipsius 
im XVII. und XVIII. Jh., insbesondere in Frankreich und Italien, bleibt eine in- 
teressante und vorläufig unbeantwortete Frage. 
Oetwil a. 8. Werner Kaegi. 


Concilium Tridentinum. Diariorum, actorum, epistularum, tractatuum Nova 
Collectio edidit Societas Goerresiana. Tomus tertius. Diariorum pars tertia 
volumen prius ... collegit edidit illustravit Sebastianus Merkle. Friburgi 
Brisg. 1931, Herder & Co. VIII, 762 S. gr. 49. ZA 60,—. 

Sebastian Merkle, der seinerzeit die beiden ersten Teile der Abteilung Diaria 
des Concilium Tridentinum der Górresgesellschaft bearbeitet und herausgegeben hat, 
legt nun auch von dem abschließenden dritten Teil die erste Hälfte vor. Die früheren 
Bánde brachten uns den Konzilskommentar des Hercules Severoli und vor allem 
die grundlegenden Tagebücher des Angelo Massarelli, der vorliegende Teil fügt dem 
hinzu die Acta concilii Tridentini ann. 1562 et 1563 des Gabriel Paleottus. Der Ka- 
nonist Gabriel Paleottus wurde in seiner Eigenschaft als Auditor Rotae von Pius IV. 
nach Trient entsandt und empfing hernach als Lohn für die der Kurie dort geleisteten 
Dienste von dem nümlichen Papste in der großen Kardinalspromotion des 12. März 
1565 den roten Hut; auch wurde er Erzbischof von Bologna. Seinen handschrift- 
lichen Nachlaß fand Merkle schon vorlängst im Archiv Isolani in Bologna auf (vgl. 
Römische Quartalschrift XI, 1897). Auf dessen Grundlage und mit Hilfe mehrerer 
Hss. der Abteilung Concilium des Vatikanischen Archivs liefert uns Merkle nun von 
den in nicht weniger als vier verschiedenen Rezensionen vorliegenden Acta concilii 
des P. (von denen bisher nur die Schlußredaktion gedruckt war) eine in jeder Bezie- 
hung abschlieBende, musterhafte Ausgabe. Den Rest des Bandes nehmen die kürzeren 


56* 


884 Nachrichten und Notizen 


Ausarbeitungen von Aistulf Servantius, Philippus Musottus und Philippus Gerius 
ein. Was noch übrig ist von einschlägigen Quellen, wird die zweite Hälfte des dritten 
Bandes bringen, die uns hoffentlich nicht mehr lange vorenthalten bleibt. Mit ihr 
sollen auch die Prolegomena zum dritten Band nebst den Registern ausgegeben 
werden. 

Wernigerode a. H. Walter Friedensburg. 


LindnerscheStamm- und Ahnentafelsammlung. Manuldruck. Degener u. Co. 
(Inhaber: Oswald Spohr). Leipzig (1931f.). Stammtafeln Band I, Lieferung 
6, 7 u. 9; Ahnentafeln Band II, Lieferung 1—3. 

Der sächsische Lehnsgerichtssekretär Heinrich August Lindner (t 1787) hat in 
53jähriger Tätigkeit eine große handschriftliche Sammlung von über 4000 Stamm- 
und Ahnentafeln, die zumeist mitteldeutsche Adelsgeschlechter betreffen, aus den 
ihm zugänglichen Lehnsakten zusammengetragen. Diese Sammlung erwarb der auch 
als Genealoge bekannte Dresdner Hofprediger Christian Friedrich Jacobi (} 1821), 
der sie ergänzte und selber eine große Sammlung hinzufügte. Nachdem diese Samm- 
lungen durch ständige Ergänzungen vervollständigt und durch neue Sammlungen 
erweitert, noch durch verschiedene Hände gegangen waren, waren sie über ein halbes 
Jahrhundert verschollen. Oswald Spohr ist es vor einigen Jahren gelungen, sie nicht 
nur wieder zu entdecken, sondern die zerstreuten Teile fast vollständig zu erwerben. 
Von diesem ganzen sehr umfangreichen Material will er nun die Lindnersche Stamm- 
und Ahnentafelsammlung allmählich in Manuldruck lieferungsweise veröffentlichen. 
Schon 1930 überreichte er den Teilnehmern der Wiener Tagung des Gesamtvereins 
zur Probe die sehr gut gelungene Vervielfältigung der Langenauschen Stammtafel. 
Auch an den vorliegenden Lieferungen ist drucktechnisch nichts auszusetzen. Be- 
wundern muß man den Mut des Verlegers, in so schwerer Zeit an die Herausgabe 
eines so großen Unternehmens heranzugehen. 

Da Spohr, wie schon bemerkt, auch die Sammlungen der Nachbesitzer erworben 
hat und somit wohl über die größte Sammlung für den mitteldeutschen, wenn nicht 
gesamtdeutschen Adel verfügt, könnte man geteilter Meinung sein, ob es nicht rat- 
samer wäre, alles erst noch einmal genau zu vergleichen und zu ergänzen, bevor an 
die Veröffentlichung herangegangen würde. Eine solche Arbeit würde wohl aber kaum 
unter den heutigen Verhältnissen zum Abschluß gebracht werden können. Deswegen 
begrüße ich die Veröffentlichung der Tafeln, die nach den vorgenommenen Proben 
äußerst sorgfältig gearbeitet sind. Schmerzlich wird allerdings manch einer das 
häufige Fehlen der Daten besonders bei den Ahnentafeln bemerken. Soweit es mir 
möglich war, habe ich auch da die Tafeln einer Prüfung unterzogen und keinen Fehler 
feststellen können. Steht doch jeder der Anführung von Ahnen, bei denen sämtliche 
Daten fehlen, von Anfang an skeptisch gegenüber. Die Probanden der 16stelligen 
Ahnentafeln sind meist um 1700 geboren. Diese Tafeln haben häufig die Eigentüm- 
lichkeit, daß sie auch die Nachfahren des Probanden bringen. Man sieht es an der 
Schrift, daß dies Nachträge sind, die jedenfalls nach dem Tode des Lehnsinhabers 
bei Belehnuug zu gesamter Hand gemacht worden sind. Dazu kommen auch Ver- 
weise auf andere Tafeln des Gesamtwerkes. Hier findet man dann die Stamm- oder 
Ahnentafeln von den Personen, die gegebenenfalls auch lehnsberechtigt waren. Aus 
diesen Feststellungen können wir erkennen, daß die Tafeln, die heute für uns von 
großem Werte sind, von Lindner für seinen Privatgebrauch zu einem rein praktischen 


Nachrichten und Notizen 885 


Zweck angefertigt worden sind, ihm als urkundliche Unterlage dienten und deshalb 
wohl jede Fehlerquelle móglichst ausschalten. Die Stammtafeln bringen z. T. die 
Beschreibung des Geschlechtswappens. Hoffentlich findet der Herausgeber, der 
zugleich auch Verleger ist, immer die genügende Anzahl von Abnehmern, zu denen 
vor allem die Archive und Bibliotheken gehóren sollten, um die weitere Herausgabe 
des Werkes zu ermóglichen. 

Neuruppin. Lampe. 


Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus 
im ehemaligen und im neuen Österreich, ed. Karl Völker. 53. Jahr- 
gang, Wien und Leipzig 1932. 162 S. 80. 

Johann Loserth berichtet in einem Vortrag „zur Geschichte des Brucker Li- 
bells“ von den Zugeständnissen, die in der Brucker Pacification 1778 den Protestan- 
ten von der katholischen Regierung wegen der Türkennot gemacht werden mußten. 
Ignaz Hübel bietet in der Fortsetzung seiner Aufsatzreihe ,,Das Schulwesen Nieder- 
österreichs im Reformationszeitalter“ interessante Einzelheiten zur Geschichte der 
einzelnen Schulen. Christian Stubbe gibt in einem Bericht „vom dänischen Gesandt - 
schaftsprediger Burchardi in Wien“ einen Beitrag zur Geschichte des evangelischen 
Gottesdienstes in Wien vor dem Toleranzpatent und damit eine Ergänzung zu seinem 
Aufsatz in den „Veröffentlichungen des Vereins für Schleswig-Holsteinsche Kirchen- 
geschichte“ 1932. Die wertvolle Abhandlung von Karl Völker über das Protestanten- 
patent in Tirol vom 12. April 1861 schildert, wie die evangelischen Gemeinden 
eine günstige Entwicklung trotz zahlreicher Schwierigkeiten erlebt haben. Theodor 
Hasse schreibt über das evangelische Schulwesen in Bielitz bis zum Toleranzpatent 
und Paul Dedic setzt seine „Geschichte des Protestantismus in Olmütz“ (52. Jahr- 
gang, 1931) fort. | 

Leipzig. K. Hennig. 


The social and political ideas of some representative Thinkers of the 
Revolutionary Era. Ed. F. J. C. Hearnshaw. 252 S. George G. Harrap 
& Comp. London 1931. 

Der vorliegende hübsche und handliche Band — der sechste einer laufenden Serie 
— umfaßt neun Vorlesungen, die im Studienjahr 1929/30 am Londoner King's 
College gehalten worden sind. 

Die erste von R. Mc Elroy behandelt „die Theoretiker der amerikanischen Re- 
volution", die zweite von G. S. Veitch „die englischen Alt- Radikalen“. J. Holland 
Rose widmet eine großzügige Studie der „Revolutions-Ara in Frankreich“; dann 
folgen eingehende Charakteristiken einzelner Denker und Politiker: „Edmund 
Burke" von F. J. C. Hearnshaw, dem verdienstvollen Herausgeber des Bandes, 
„William Godwin“ von C. H. Driver, „Jeremy Bentham“, von J. W. Allen. Mit 
bemerkenswert eigener Stellungnahme untersucht Harold J. Laski „die sozialistische 
Tradition in der französischen Revolution“; den Schluß bildet eine feinsinnige Studie 
über „die deutschen Denker des Revolutionszeitalters“ von H. G. Atkins. 

Diese trockene Aufzählung vermag freilich keine Vorstellung zu erwecken von 
der Farbigkeit und Fülle des hier Gebotenen. Es handelt sich um jene Form der 
Vermittlung gesicherter Forschungsergebnisse, welche die Franzosen „haute vulga- 
risation“ nennen; der von jedem gelehrten Ballast freie, aber mit nützlichen biblio- 


886 Nachrichten und Notizen 


graphischen Notizen ausgestattete Band ist dem gebildeten Laien sehr wohl zugäng- 
lich, bietet aber auch dem Forscher eine Fülle von Anregung. Auf Schritt und Tritt 
wird man angereizt zum neuen Durchdenken alter Probleme, fühlt man sich verlockt, 
die angeknüpften Gedankenfüden aufzunehmen und weiterzuspinnen. 

Die Einleitung des Herausgebers schafft dem in sich lose gefügten Werk den 
festen einheitlichen Rahmen; sie steckt den Zeitraum ab — 1760—1820 —, dem die 
einzelnen Essays sich einfügen und sie charakterisiert mit ganz knappen, aber sehr 
eindringlichen Worten die drei großen Umwälzungen jenes Zeitalters: die amerika- 
nische Revolution, die industrielle Revolution Englands, endlich die französische 
Revolution, die als die gewaltigste soziale und politische Erhebung gekennzeichnet 
wird zwischen der Reformation des 16. Jahrhunderts und dem mit dem Jahre 1914 
anhebenden Zeitalter neuer gesellschaftlicher und politischer Erschütterungen. 

Berlin-Charlottenburg. Hedwig Hintze. 


H. Voges: Der Handstreich der Preußen gegen die Festung Bitsch in der Nacht 
vom 16. zum 17. November 1793. Alsatia, Colmar und Winter, Heidelberg, 
37 Seiten. 

Die vorliegende Schrift ist ein Sonderdruck aus dem Jahrbuch der ElsaB- 
Lothringischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. V. Wenn als Erscheinungsjahr 
auf dem Umschlag 1922 angegeben ist, so ist das wohl ein Druckfehler für 1932. 

Die kleine Festung Bitsch, die im Kriege von 1870 von den Deutschen nicht 
genommen werden konnte, hat auch 77 Jahre früher im Kriege gegen die französische 
Revolution den Preußen erfolgreich Widerstand geleistet. Allerdings war der preußi- 
sche Angriff auch sehr ungeschickt ausgeführt worden. Der Oberbefehlshaber, 
Herzog von Braunschweig, war erst gegen den Plan, gab aber schlieBlich seine Ein- 
willigung. Verschiedene Bitscher waren von den Preußen gewonnen worden, 30 
ein Leutnant, ein Kantinenwirt und ein Gutspüchter. Den Kommandanten zu be- 
stechen, gelang nicht, ein Ingenieur, der schon nachgeben wollte, bekam Angst 
und zog sich zurück. Trotzdem waren die Preußen überzeugt, daß der Handstreich 
gelingen würde. Aber sie führten ihn so ungeschickt durch, daB er völlig mißlang. 
Mit einem Verlust von 24 Offizieren, 21 Unteroffizieren und 518 Mann wurden sie 
zurückgeschlagen. 

Mit der damals üblichen Ruhmredigkeit trösteten sie sich über die Niederlage 
und meinten, daß die Nacht von Bitsch, wie die Nacht von Hochkirch, ewig zum 
Ruhme der preuBischen Armee beitragen werde. Knesebeck verglich den Kampf 
mit dem Sturme der Giganten auf den Olymp. So kam es, daB dieses für den Verlauf 
des Krieges ganz belanglose Gefecht von der zeitgenóssischen Berichterstattung 
überschátzt wurde. 

Charlottenburg. Richard Schmitt. 


Bopp, O. F. M., Dr. oec. publ. P. Hartwig, Die Entwicklung des deutschen Hand- 
werksgesellentums im 19. Jh. unter dem EinfluB der Zeitstrómungen. 4. Heft 
der Veröffentlichungen der Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft 
der Görres-Gesellschaft. Verlag von Ferdinand Schóningh, Paderborn 1932. 
382 S. RM 8,—, geb. AM 10,—. 

Der Vf. gibt eingangs ein treffendes Bild von der Entstehung des Handwerks- 
gesellentums und dessen Werdegang bis zum 18. Jh., um uns dann mit seinem 


Nachrichten und Notizen 887 


Kernthema vertraut zu machen — der Geschichte des deutschen Gesellenstandes im 
19. Jh. Wir sehen die Jugend des Handwerks im Lernen, Wandern und Ringen, 
getragen oder überspült von den starken Ideenstrómungen des Zeitalters — sozial, 
wirtschaftlich und politisch ergriffen und betroffen. Was Bopp auch schildern mag, 
sei es die Auseinandersetzungen der Gesellenschaft mit den Zunftmeistern oder mit 
dem überall Rebellen witternden und kleinlich reglementierenden Staat — immer 
versteht er es, den Leser zu fesseln und dem sonst ja schon häufig behandelten Stoff 
neue Seiten abzugewinnen und uns eigenartige Gesichtspunkte zu bieten. Der Vf. 
stützt sich auf eine große Literatur, die er souverän verwendet, ohne in eine leidige 
Abhängigkeit zu geraten. Sehr verdienstvoll ist seine Bemühung um die Begründung 
und Deutung jeglicher Stellungnahme, zu der die Gesellen in den sozialen Kämpfen 
ihrer Zeit gelangen. Man gewinnt den Eindruck: so und nicht anders mußten sie 
fühlen und handeln! Konservativ und revolutionär, bewahrend und begehrend, in 
merkwürdiger und doch so verständlicher Doppelnatur, steht der Gesell der 40er, 
50er und 60er Jahre vor uns: Verfechter alten wirtschaftlichen Handwerksschutzes 
und neuer politischer und sozialer Freiheit. Besonders reizvoll ist die Darstellung der 
Berührungs- und Unterscheidungspunkte zwischen dem handwerklichen Denken 
und der sozialistischen Ideologie des aufkommenden Industrieproletariats, das vor 
allem in Marx, Engels und Lassalle seine geistigen Führer fand. 

Am Schlusse seines Buches zeigt Bopp die Gefahren religiöser und sittlicher 
Verwahrlosung, denen der Gesellenstand ausgesetzt war, und die Bemühungen von 
Katholizismus und Protestantismus um seine seelische wie materielle Betreuung. 
Es ist menschlich begreiflich, aber auch sachlich nicht ungerechtfertigt, wenn der 
Vf. als katholischer Priester die Gesellenstandpflege seiner Kirche in erster Linie 
würdigt. Im ganzen ist seine Haltung von peinlicher Objektivität. Das Werk bietet 
viel und ist eine wirkliche Bereicherung des sozialgeschichtlichen Schrifttums. 

Leipzig. Kurt Ammon. 


Leipzig um 1832. Aus Zeit und Umwelt des Gustav-Adolf-Vereins in seinen An- 
fängen, herausgegeben von Otto Lerche. Leipzig 1932. 95 Seiten. 

Diese Festschrift zur Hundertjahrfeier des Gustav-Adolf-Vereins wird durch 
einen umsichtigen und weitblickenden Aufsatz von Hermann Wendorf über „die 
nationalen und politischen Strómungen vor 100 Jahren" eingeleitet, in dem die 
relative Einheitlichkeit dieser oft miBachteten Periode trotz aller einzelstaatlichen 
Verschiedenheit gut herausgearbeitet wird. Mit Humor schildert Otto Lerche die 
Leipziger Bürger von 1832. Er druckt auch die zeitgenössischen Zeitungsberichte 
über die Anfänge des Gustav-Adolf-Vereins ab. Friedrich Schulze zeigt in seinem 
wertvollen Beitrag: Das geistige und künstlerische Leben Leipzigs um 1832, wie sich 
während der sogen. Restaurationszeit eine neue Epoche gleichsam unter der Ober- 
fläche vorbereitete. Carl Niedner weist nach, daß die Zustände im „kirchlichen Leben 
Leipzigs zur Zeit der Gründung des G.-A.-V.“ auf eine Reform hindrängten. Eine 
besonders feinsinnige Würdigung dieser Entstehungszeit des Gustav-Adolf-Vereins, 
die ja als theologische Durststrecke gilt, gibt Horst Stephan in seinem Beitrag: Die 
theologische Fakultät um 1832. Der historische Sinn und die kirchliche Aktivität 
der damaligen Theologie sind die Grundlagen für die kommenden großen Entschei- 
dungen geworden. 

Leipzig. Hennig. 


888 Nachrichten und Notizen 


Meyen, Fritz, „Riksmälsforbundet“ und sein Kampf gegen Landsmäl. Oslo 1932, 
XV, 92 S. Diss. Leipzig. 

Meyens Arbeit gibt einen guten Überblick über die Sprachkämpfe, die in Nor- 
wegen in den letzten hundert Jahren ausgefochten worden sind, und verhilft so zu 
einem klareren Verständnis dieser Streitigkeiten, das sich der ausländische Beobach- 
ter so schwer verschaffen kann, der von der Um- und Rückbenennung norwegischer 
Städte gehört hat, und dem aus norwegischen Büchern eine verwirrende Fülle ver- 
schiedener Sprachformen entgegentritt. Meyen weist darauf hin, daB die Landsmäl- 
und Riksmälbewegung geschichtlich darauf zurückzuführen ist, daß Norwegen 
jahrhundertelang in politischer und kultureller Abhängigkeit von Dänemark gelebt 
hat und erst im 19. Jh. zu eigenem VolksbewuBtsein erwachte. Die Landmálleute 
möchten möglichst radikal alle Erinnerungen an die dänische Fremdherrschaft 
tilgen, bekämpfen daher die in Norwegen gebräuchliche, dem Dänischen nah ver- 
wandte Schriftsprache und erstreben eine auf den norwegischen Bauerndialekten 
aufgebaute und aus ihnen konstruierte neunorwegische Sprache, eben das Landsmäl. 
Diese konstruierte Sprache lehnen die Riksmälleute als nicht lebensfähig ab; sie 
knüpfen an die augenblicklich lebende Schriftsprache, das Riksmäl, an, das wohl 
aus dem Dänischen entstanden ist, sich aber schon beachtlich davon entfernt hat 
und sich nach dem Willen der Riksmälleute organisch zu einer norwegischen Sprache 
entwickeln soll. Der Bericht Meyens über das Vordringen und die Propaganda der 
Landsmälanhänger und die Abwehr und Verteidigung der Riksmälanhänger gibt 
ein seltsam buntes Bild durcheinander gehender politischer, nationaler und sprach- 
licher Gesichtspunkte. Die Bewertung der Bewegungen durch den Vf. leuchtet ein. 
Der Abschnitt über die Städteumbenennung besitzt aktuelle Bedeutung. Die bei- 
gefügten Sprachproben sind sehr zu begrüßen. Insgesamt ist die Arbeit Meyens, die 
zwar mit Zitaten sparsamer hätte umgehen, überhaupt im Ausdruck hätte gedrängter 
sein können, verdienstvoll. 

Dresden. Alfred Büscher. 


Preisausschreiben der Rubenowstifitung der Ernst Moritz Arndi-U niversitàl 
Greifswald: 1. Der Führergedanke als verfassungsorganisatorisches Prinzip. 2. Eine 
kritische Bearbeitung der Genealogie des alten Pommerschen Herzoghauses. 3. Sinn 
und Grenzen des Eigentums in der nationalsozialistischen Wirtschaftsauffassung. 
Der Preis für die beste Bearbeitung jeder dieser Aufgaben beträgt Eintausend 
Reichsmark. Die Beteiligung an dem Wettbewerb steht jedermann frei. Die Be- 
werbungsschriften sind in deutscher Sprache abzufassen und mit einem Kennwort 
zu versehen. Der Name des Verfassers darf nicht auf der Arbeit stehen, sondern 
soll auf einem Zettel in einem versiegelten Umschlag verzeichnet sein, der außen 
das Kennwort trägt. Die Bewerbungsschriften müssen spätestens am 1. März 1996 
bei dem Sekretariat der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald eingeliefert 
werden. Die Zuerkennung der Preise erfolgt am 17. Oktober 1936. 


Au 


INHALT DES 4. HEFTES 


%%% DUM 4. En - a ee oss 
Die Landstandschaft der Bauern in Tirol. Von Univ.-Prof. Dr. Otto Stolz in Innsbruck 
Zur Geschichte der spanischen Musik des Mittelalters. Von Dr. Hans Spanke in Duisburg 
Kritisches zu mittellateinischen Texten. Von Univ.-Prof. Dr. Karl Strecker in Berlin 
Die Bauernbefreiung und die Ablósung des Oberei beer — eine Befreiung der Herren? 

Von Rechtsanwältin Annmarie Wald in Stuttg 
Möglichkeit und Bedingtheit geschichtlicher n im Gebiet der neuesten Zeit. 

^ Dargestellt an der Monarchenzusammenkunft zu Racconigi, 24. Oktober 1909. 

Von De Hugo d ²˙ mw wre X ARR oh en 


e 7. ae We 96 e 


Kleine Mitteilu 


ngen 
Kann fraler „Schwager“ bedeuten? Von Univ.-Prof. Dr. Robert Holtzmann in 
.. ĩ˙ TAT. ĩ¾ ᷣ d ĩ ̃ EAN CA SEL FOR 
Ein unveróffentlichter Brief Friedrichs des Großen. Mitgeteilt von Dr. Helmut Eckert 
% ům v ͤ . ·..76ßðĩẽͤ mm KÄO[ ü WOW OE 


Kritiken: 


Hassinger, xe Geographische Grundlagen der Geschichte. Von Univ.-Prof. Dr. 
H. Rudolphi in Leip i» „FFT !! ð ̃ ] -! 
Saxonis Gesta Deserum. ei. J. Olrik u. H. Raeder. Von Priv.-Doz. Dr. H. Walther 
Menn ) . 
Neuere Schriften über den Deutschen Orden. Von Dr. Karl H. Lampe in Neu— 
Nieten hel Ernst, Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther. Von 
Univ.-Prof. D. Ernst Wolf in Boon 
Weigel, Helmut, Franken, Kurpfalz und der Böhmische Aufstand 1618—1620. Von 
Priv.-Doz. Dr. Eugen Franz in ad en „ Xo Wim WS Au do S x X woo 


Hild, Joachim, Fin aho ein schleswig-holsteinischer Publizist um die Wende 
r / ek ar 
Bonjour, Edgar, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts. Von Ministerialrat Dr. 
E. Kayser in Freiburg E!!! €—— "PT 
Oszwald, R. P., Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Von Univ.-Prof. Dr. 
B Rubia Bel. C 


Nachrichten und Notizen: 


Württembergische Vergangenheit, Festschrift des Württ. Gesch.- u. Altertums- 
vereins (F. Ernst) S. 873. — Schieß, Traugott, Beiträge zur Geschichte St. Gal- 
lens und der Ostschweiz (Weller) S. 874. — Literatur zur Ordensgeschichte: 
Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und 
seiner Zweige, Erg. Hfte. 1—7 S. 876, Analecta Praemonstratensia T. VI 
und VII S. 878, Franziskanische studien, Jg. 19 und Beihefte 12—14 S. 879, 
Archivum historicum Societatis Iesu I; 1 u. 2 S. 881 (Dersch); Kallmerten, 
P., Lübische Bündnispolitik von der Schlacht bei Bornhöved bis zur dänischen 
Invasion unter Erich Menved (Büscher) S. 882. — Straus, R., Die Judengemeinde 
in Regensburg im ausgehenden Mittelalter (Heimpel) S. 882. — Nordmann, Ys, 
Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer (Kaegi) S. 882, — Con- 
cilium Tridentinum, T. 3, 1. Hälfte (Friedensburg) S. 883. — Lindnersche 
Stamm- und Ahnentafelsammlun UR LAGE) S. 884. — Jahrbuch der Ge- 
sellschaft für die Geschichte des Protestantismus im ehemaligen und 
im neuen Österreich, ed. K. Völker. 53. Jg. (Hennig) S. 885. — The social and 
political ideas of some representative thinkers of the revolutionary Era, ed. Hearn- 
shaw (H. Hintze) S. 885. — Voges, H., Der Handstreich der Preußen n die 
Festung Bitsch in der Nacht vom 16. zum 17. November 1793 (Schmitt) - B86. — 
Bopp, O. F. M., Die Entwicklung des deutschen Handwerksgesellentums im 19. Jh 
(Ammon) S. 886. — N qns um 1832 (Hennig) S. 887. — Meyen, F., Riksmälsfor- 
bundet und sein Kampf gegen Landamfl (Bi (Büscher) S. 888. 

—. Lupa. E cw x e XX eX ²˙ ] . · ¶ ͤ dl! ꝗ V. w4 EI 


Bitte Rückseite beachten 1 


P 


P 


fsälze: Seite 
Der Kreuzkrieg Philipps des Schönen von Frankreich gegen Aragon. Von Priv.-Doz. 


699 
737 
767 
795 


812 


832 


872 


a * 


SCHRIFTEN DER KRIEGSGESCHICHTLICHEN 
ABTEILUNG IM HISTORISCHEN SEMINAR DER 
FRIEDRICH -WILHELMS - UNIVERSITAT BERLIN 


HERAUSGEGEBEN VON WALTER ELZE 


In unserem deutschen Volke zeigt sich allgemein ein Wieder- 
erwachen des Interesses an der wissenschaftlichen For- 
schung auf dem Gebiete der Kriegswissenschaft und Kriegs- 
geschichte. Die vorliegende Schriftenreihe bringt Arbeiten 
aus diesem Gebiete, die wichtige Einzelprobleme unter dem 
gemeinsamen Gesichtspunkt der schicksalhaften Bedeu- 
tung des Krieges in der Geschichte behandeln. Sie erfüllt 
damit eine pädagogische Aufgabe, die in dem großen Rah- 
men der neuen Politik unserer Nation liegt: sie soll zu 
einer Bildung hinführen, die den Kampf einschlieBt. Die 
Wissenschaftlichkeit der Problembehandlung und die Zu- 
sammenstellung des Materials wird darüber hinaus beson- 
ders für Fachleute wertvoll sein. 


Bisher sind erschienen: 


Heft 1. Dr. Albert Perizonius, Die französischen Inva- 
sionswege in das Reich von Ludwig XIV. bis 
zur Gegenwart. — XII, 210 Seiten, mit 8 Karten- 
skizzen, brosch. RM 9.—. 


Heft 2. Dr.Hermann Gackenholz, Entscheidung in Loth- 
ringen 1914. Der Operationsplan des jüngeren 
Moltke und seine Durchführung auf dem linken 
deutschen Heeresflügel. — XII, 174 Seiten, brosch. 
RM 8.—. 


Heft 3. Dr. Günter Nikolaus, Die Milizfrage in Deutsch- 
land von 1848—1933. Brosch. RM 8.50. 


Heft 4, Dr. Walter Elze, Der strategische Aufbau des 
Weltkrieges. Betrachtungen und Anregungen, ca. 
25 Seiten, brosch. ca. RM 1.—. 


Unser vollständiges Verlagsverzeichnis geben wir kostenlos ab 


JUNKER UND DUNNHAUPT VERLAG / BERLIN 


Digitized by Google 


Digitized by Google 


BOUND 


UNIV OF MICH. 
LIBRARY 


U 
"Bo 
O 
Q 

£N 


"1 
F 
Ar 


z 


BOUND 


nm 


57 4360 


LIBRARY 


— aaaŘħĂ | 
— 


n. 
90 
O 
s 

— EM 


," 


BOUND 


UNIV OF MICH. 
LIBRARY 


Y 
"60 
Q 
e 

PN 


" nv 


i 
bia 


EI 


“er 1 E 
À d 
CTI 


28 
"i 


Digitized 


f 


— 
* 


* 


UNE 
IT] 


4 


* 
Á* 


BOUND 


x 
o, 
Tg 
sS 
M 
>5 
z 
— 


n.. » Google